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Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 2017; 4(1–2): 325–363

Falko Schmieder*
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
Zur Kritik und Aktualität einer Denkfigur

https://doi.org/10.1515/zksp-2017-0017

Zusammenfassung: Die Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ge-


hörte lange zum Standardrepertoire des historischen Selbstverständigungs-
diskurses der Moderne. Sie fehlt in keinem größeren Entwurf einer Theorie der
bürgerlichen Gesellschaft und es gibt wohl kaum eine geistes-, kultur- und
sozialwissenschaftliche Disziplin, in der sie nicht zum Einsatz gelangt und in
jeweils fachspezifischer Perspektive ausgearbeitet worden wäre.
Umso schärfer tritt vor diesem langen Traditionshintergrund die Wendung
zur Kritik hervor, die sich an den Aufstieg postmodernen Denkens seit den
1980er Jahren knüpft. Um die Frage der Relevanz und Aktualität der Denkfigur
der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen angehen zu können, werden im ersten
Teil in einem begriffs- und problemgeschichtlich orientierten Zugriff ihre his-
torischen Dimensionen und Problemgehalte rekonstruiert. Das vorrangige Inte-
resse ist die Darstellung des historischen Charakters und der inneren Historizi-
tät der Denkfigur sowie der Nachweis, dass ihre Entwicklung selbst durch die
von ihr verhandelte Problematik der Ungleichzeitigkeit durchzogen und geprägt
ist. Auf dieser Grundlage sollen dann im zweiten Teil die Argumente der Kritik
und die in diesem Zusammenhang vorgeschlagenen Alternativen diskutiert und
die Frage der Relevanz der Denkfigur erörtert werden. Es wird gezeigt, dass die
Denkfigur unverzichtbar ist, um die mit der blinden Dynamik der modernen
Gesellschaft unausweichlich verbundenen temporalen Konflikte und die histori-
schen Dimensionen und Reservoirs der Archaik der Moderne zu bestimmen.

Schlüsselbegriffe: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Historizität, Zeit, Fort-


schritt, Moderne Beschleunigung, Bloch, Koselleck

Abstract: The concept of the simultaneity of the non-simultaneous has long since
become part of the discourses on the historical self-understanding of modernity.
It seems no attempted theory of bourgeois society can do without it anymore, and
there is hardly any field of study in the humanities where it has not been adopted

*Kontaktperson: PD Dr. Falko Schmieder, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für


Literatur- und Kulturforschung Berlin, E-Mail: schmieder@zfl-berlin.org
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and elaborated in a specific perspective.


By contrast, this concept has been equally sharply criticized by advocates of
post-modernism since the 1980 s, which can be the more clearly discerned against

the backdrop of that tradition. In order to estimate the concept’s relevance today,
one ought to explore its origins, particularly the historical and societal conditions
under which it emerged. Therefore, the first part of this paper will present a few
outstanding features, so as to highlight both the historical character and the inner
historicity of this concept, which in itself is in many ways characterized by the
problems of non-simultaneity it deals with. The second part will discuss critical
arguments as well as alternative concepts being suggested in this context. The
aim is to demonstrate the unabated importance of the concept of the simultaneity
of the non-simultaneous, which may prove still relevant and even indispensable
in order to determine the temporal conflicts inevitably emerging from the blind
dynamics of modern society. Moreover, it enables a critical understanding of the
historical dimensions of modern archaisms.

Keywords: simultaneity of the non-simultaneous, historicity, time, progress, mo-


dernity, acceleration, Bloch, Koselleck

Die Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gehörte lange zum Stan-
dardrepertoire des historischen Selbstverständigungsdiskurses der Moderne. Sie
fehlt in keinem größeren Entwurf einer Theorie der bürgerlichen Gesellschaft und
es gibt wohl kaum eine geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche Disziplin, in
der sie nicht in jeweils fachspezifischer Perspektive ausgearbeitet worden wäre:
In der Geschichtswissenschaft in der Diskussion um historische Sonderwege, in
der Politikwissenschaft als Frage nach dem Verhältnis von Industrie-, Schwellen-
und Entwicklungsländern, in der Soziologie als Problem der nachholenden Mo-
dernisierung, in der Ethnologie als Frage nach den Überbleibseln indigener Kul-
turen, in der Kulturwissenschaft in der Figur des Nachlebens etc. Die Breite und
Vielfalt ihrer Gebrauchszusammenhänge führte dann in den 1970er Jahren zu
ersten reflexiven Historisierungen dieser Denkfigur (vgl. Koselleck 1977, S. 323 f.),

deren systematische Bedeutung als Instrument einer historisch informierten Ge-


genwartsanalyse jedoch unbestritten blieb. Im Gegenteil lässt sich vielmehr
sagen, dass die Analyse ihrer historischen Entstehungsbedingungen mit der
Bekräftigung ihrer aktuellen Relevanz verbunden war, weil sie auf einen Problem-
zusammenhang stieß, dessen Bann ungebrochen erschien.
Umso schärfer tritt vor diesem langen Traditionshintergrund die Wendung
zur Kritik der Denkfigur hervor. Die ersten Distanzierungsversuche ergaben sich
Ende der 1980er Jahre im Zusammenhang der Diskussionen um das Verhältnis
von Moderne und Postmoderne bzw. das ,Ende der Geschichte‘ (,Posthistoire‘).
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Seitdem hat die Kritik sowohl an Differenziertheit wie auch an Breite und
Schwungkraft gewonnen, so dass diejenigen, die die Denkfigur auch weiterhin
für unverzichtbar halten, unter einem gewissen Legitimationsdruck stehen. Die
Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist strittig geworden (vgl.
Walter 2016), und in Anbetracht ihrer engen Verbindung zu Theorien der Moderne
bzw. der modernen Gesellschaft lässt sich wohl sagen, dass bei diesem Streit
einiges auf dem Spiel steht. Sind wir wirklich „nie modern gewesen“, wie Bruno
Latour (1991) geltend gemacht hat? Oder ist, umgekehrt, die Moderne (und der an
sie geknüpfte historische Zeitbegriff) nun selbst historisch geworden, so dass die
mit ihrer Entwicklung verknüpfte Denkfigur als Element eines überkommenen
Geschichtsbewusstseins erscheint? Ist die Zeitkategorie der Zukunft nur mehr ein
Anachronismus, der durch das Konzept der gedehnten Gegenwart ersetzt werden
muss? Fragen wie diese betreffen die Substanz der Denkfigur der Gleichzeitigkeit
des Ungleichzeitigen sowie das historische und kulturelle Selbstverständnis einer
ganzen Epoche.
Um Relevanz und Aktualität der Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleich-
zeitigen beurteilen zu können, muss man die historischen Dimensionen und Pro-
blemgehalte der Denkfigur genauer in den Blick bekommen. Im ersten Teil sollen
deshalb in einem begriffs- und problemgeschichtlichen Zugang wichtige Knoten-
punkte und Wendungen der Denkfigur herausgearbeitet werden. Es geht dabei
nicht um Vollständigkeit; das Interesse gilt vor allem der Darstellung des histori-
schen Charakters und der inneren Historizität der Denkfigur sowie dem Nachweis,
dass die Entwicklung der Denkfigur selbst durch die von ihr verhandelte Pro-
blematik der Ungleichzeitigkeit durchzogen und geprägt ist. Auf dieser Grundlage
sollen dann im zweiten Teil die Argumente der Kritik und die in diesem Zusam-
menhang vorgeschlagenen Alternativen diskutiert und die Frage der Relevanz der
Denkfigur erörtert werden.1

1
Der Begriff der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist offenkundig vorausset-
zungsvoll. Er ist eminent theoriehaltig, und die theoretische Konzeption ist wiede-
rum von sozialen Umständen, die nicht immer existiert haben, und von kulturellen

1 In der Literatur wird oft uneinheitlich vom Begriff, Theorem, Konzept, Motiv oder Interpreta-
ment der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gesprochen. Der im vorliegenden Aufsatz zumeist
verwendete Begriff der Denkfigur wird als Oberbegriff verstanden, der nicht nur theoretische oder
theoriehaltige Ausdrücke (also Begriffe im engeren Sinne), sondern auch Metaphern und Allego-
rien einbegreift.
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Erfahrungen abhängig, die nicht zu jeder Zeit gemacht werden konnten. Beides
klingt an bei Karl Mannheim, der den im Jahre 1926 geprägten Ausdruck ‚Gleich-
zeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ als „geradezu genial“ (Mannheim 1928, S. 521)
bezeichnet. Zu den Voraussetzungen des Begriffs gehört die Konstruktion einer
homogenen, universalen Zeit sowie das Bewusstsein eines Gegensatzes verschie-
dener Zeitbegriffe. In der Artikulation der Erfahrung, dass an einem Punkt der
chronologischen Zeit unterschiedliche historische Zeiten oder Zeitauffassungen
aufeinanderstoßen, sind normative und temporale Dimensionen verschränkt. Die
Normativität impliziert eine Kritik, die auf praktische Veränderung drängt.
Der (Begriffs-)Historiker Reinhart Koselleck, der neben Ernst Bloch wohl der
wichtigste Referenzautor in den Diskussionen um die Figur der Gleichzeitigkeit
des Ungleichzeitigen ist, verortet ihre Entstehung in der von ihm sogenannten
Sattelzeit (1750–1850). Für das von ihm gemeinsam mit Otto Brunner und Werner
Conze herausgegebene Wörterbuch Geschichtliche Grundbegriffe war die heuristi-
sche Vermutung leitend, „daß sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein tief-
greifender Bedeutungswandel klassischer topoi vollzogen“ habe, der als sprach-
licher Ausdruck der „Auflösung der alten und der Entstehung der modernen
Welt“ (Koselleck 1972 a, S. XV) verstanden wird. Die Begriffe dieser Transformati-

onsperiode tragen für Koselleck ein „Janusgesicht: rückwärtsgewandt meinen sie


soziale und politische Sachverhalte, die uns ohne kritischen Kommentar nicht
mehr verständlich sind, vorwärts und uns zugewandt haben sie Bedeutungen
gewonnen, die zwar erläutert werden können, die aber auch unmittelbar ver-
ständlich zu sein scheinen.“ (Koselleck 1967 a, S. 82). Die neuen Sprachcharakte-

re, als deren hervorstechendstes Merkmal Koselleck die Verzeitlichung bestimmt,


lassen sich nicht nur am Bedeutungswandel überkommener, sondern auch an der
Entstehung einer Vielzahl neuer Ausdrücke greifen, an denen der verzeitlichte
Sinn unmittelbar zutage tritt. Eine Reflexionsform des neuen Zeitbewusstseins
und der in ihm zum Ausdruck kommenden neuen gesellschaftlichen Erfahrungen
ist die Geschichtsphilosophie, der Koselleck konzediert, die Gleichzeitigkeit des
Ungleichzeitigen bzw. die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen als erste auf den
Begriff gebracht zu haben (vgl. Uhl 2002, S. 166).
Um die längerfristigen historischen Voraussetzungen der Denkfigur zu erfas-
sen, geht Koselleck bis zum Beginn der Neuzeit zurück. Zu ihrer Vorgeschichte
gehört die in diesem Zeitraum aufkommende emphatische Entgegensetzung von
Alt und Neu, wie sie in den Titeln der Werke von Francis Bacon anklingt: Novum
Organum, New-Atlantis.2 Eine (u. a. im Titelkupfer von Bacons Instauratio Magna

2 Bacon spielt dann auch in der Begriffsgeschichte von ,Innovation‘ eine besondere Rolle, die am
Beginn der Neuzeit erste Konturen gewinnt, vgl. Godin 2015 a, bes. S. 177–207 sowie Godin 2015 b.
   
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ins Bild gesetzte) kulturhistorische Voraussetzung der Denkfigur liegt in der neu-
zeitlichen, mit der Erschließung des Globus verbundenen Erfahrung der Anders-
artigkeit der außereuropäischen Kulturen,3 die im Horizont zeitgenössischer In-
novationen und im Bewusstsein der eigenen (technologischen, militärischen,
kognitiven) Superiorität temporal, als Differenz im Entwicklungsstand ausgelegt
wurde. Das Modell der Interpretation dieser Differenzerfahrung bildete die mit
antiken oder christlichen Motiven vermittelte Naturzeit, speziell der Vorgang der
organischen Entwicklung aus einem Keim sowie die als Reife- und Bildungspro-
zess gedeutete Sukzession vom Kind über den Erwachsenen zum Greis. Über das
Modell der Generationenfolge wurde diese zyklische Grundstruktur zunehmend
progressiv ausgelegt, wie die im 18. Jahrhundert im Rahmen der Universal-
geschichtsschreibung verbreiteten Konzepte des perfectionnement und der per-
fectibilité verdeutlichen. Durch diese Operation wurde das Kontinuum eines uni-
versalen Zeithorizontes und damit eine spezifische Niveaudifferenz konstruiert,
gemäß der die Europäer die von ihnen entdeckten Kulturen im Vergleich mit sich
selbst als rückständig bzw. als frühes Stadium ihrer eigenen Entwicklung be-
trachteten (vgl. Koselleck 1977, 323 f.). Friedrich Schiller bringt in seiner Antritts-

vorlesung aus dem Jahre 1789, „Was heißt und zu welchem Ende studiert man
Universalgeschichte“, deren geschichtsphilosophisches Programm auf den
Punkt, wenn er in kulturvergleichender Perspektive auf die „rohen Völkerstäm-
me“ befindet, dass sie „wie Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen
herumstehen und durch ihr Beispiel ihm in Erfahrung bringen, was er selbst
vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist“ (Schiller 1789, S. 280 f.).  

Helga Nowotny meint, dass in der alten, vom europäischen Ethnozentrismus


geprägten evolutionären Stufenleiter der gesellschaftlichen Entwicklung die hie-
rarchisch-zeitliche Konzeption von unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindig-
keiten „auch eine – patriarchalische – Schutzfunktion“ gehabt habe, denn „den
weniger entwickelten Gesellschaften wurde zugestanden, in einer anderen Zeit zu
leben“ (Nowotny 1993, S. 35). Zugleich bedeutet die Subsumtion unter das an der
natürlichen Chronologie orientierte Entwicklungsmodell aber auch, dass es nur
eine Richtung gibt und alternative Wege ausgeschlossen sind. Mit ihrer Integration
in einen universalen Zeithorizont haben die ,Wilden‘ an einer rudimentären und
höchst asymmetrischen Reziprozität teil, die in Aussicht stellt, dass durch beson-
dere Anstrengungen der Abstand zu den ,Erwachsenen‘ wettgemacht werden

3 Uhl (2003, S. 54) sieht als eine Art Urszene den Bericht von Christoph Kolumbus an den
spanischen Hof, in dem er mitteilt, dass die Eingeborenen der entdeckten Inseln „weder Eisen
noch Stahl“ kennen würden.
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könne (vgl. Offe 1994, S. 241). Im Zuge der Aufhebung der Universalgeschichte (und
der klassischen Geschichtsphilosophie) in eine historisch-materialistische Theorie
der modernen Gesellschaft wird diese ,deterministische‘ Dimension grundlegend
neu bestimmt, aber eben nicht verworfen. In diesem Sinne heißt es bei Marx im
Vorwort zu ersten Auflage des Kapital: „Das industriell entwickeltere Land zeigt
dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft“ (Marx 1867, S. 12).
Der an der Naturzeit orientierte (präformationistische und später dann epi-
genetische) Entwicklungsbegriff reichte aber bald nicht mehr aus, um die gesell-
schaftliche Dynamik zu erfassen, die von der industriell-politischen Doppelrevo-
lution entfesselt wurde. Die Modernisierungsschwelle und damit der genuin
historische Ursprung der Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen lässt
sich dann auch an der Wende zum 19. Jahrhundert verorten. Sie wird markiert
durch die Entdeckung einer spezifisch geschichtlichen Zeit, die qualitativ von
naturalen, zyklischen Zeitbestimmungen unterschieden ist und oft als Bruch mit
der Naturzeit dargestellt wurde. Dem korrespondiert die Häufung von Indizien,
die auf den Begriff einer neuen Zeit im emphatischen Sinne verweisen (vgl. Kosel-
leck 1977). In der neuen, parallel zur politischen Ökonomie entstandenen Wis-
sensform der Geschichtsphilosophie, die diese Veränderungen semantisch mit-
bewirkt und als erste theoretisch reflektiert hat, bleibt die Zeit, wie Koselleck
dargelegt hat, nicht mehr länger bloß der äußere Rahmen, innerhalb dessen sich
die einzelnen Geschichten abspielen, sondern sie „gewinnt selber eine geschicht-
liche Qualität. [...] Die Zeit wird dynamisiert zu einer Kraft der Geschichte selber“
(ebd., S. 321). Komplementär zur Vergeschichtlichung der Zeit vollzieht sich eine
Verzeitlichung und Autonomisierung der Geschichte, wie sie in den um 1800
entstandenen selbstbezüglichen Kollektivsingularen ,der‘ Geschichte oder ,des‘
Fortschritts zum Ausdruck kommt.
Mit der Bildung der Kollektivsingulare werden die pluralen Geschichten und
die partikularen Fortschritte als Einzelmomente eines übergreifenden Prozesses
gedacht, der erst die Erfahrung der ,neuen Zeit‘ ermöglicht. Er wird entfesselt
durch immanente Kräfte, die nicht mehr aus naturalen Bestimmungen ableitbar
sind, und der als ein permanenter Übergang zu einem jeweils Neuen verstanden
wird, das nicht mehr aus überkommenen Erfahrungen ableitbar ist. Historia
Magistra Vitae – dieser alte Lehrsatz zum Verhältnis von Geschichte und Leben
verliert in der Moderne an Geltungskraft (vgl. Koselleck, 1967b). Die Grunderfah-
rung der Zeitgenossen um 1800 ist die eines tiefgreifenden sozialen und kulturel-
len Wandels hin zu einer offenen Zukunft, die sich zuspitzt zur Erfahrung, in einer
permanenten Übergangszeit zu leben. Erfahrungsraum und Erwartungshorizont
treten fortscheitend auseinander. Dass die Zeitgenossen der industriellen und
politischen Doppelrevolution das Überschreiten der Modernitätsschwelle als epo-
chale Wende angesehen haben, zeigen neben dem Begriff der ,neuen Zeit‘ auch
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 331

die grundstürzende Transformation der Geschichtsmetaphorik sowie die neuen


Allegorien für Geschichte: ein Hinweis auf Goethes Zauberlehrling, seinen Neo-
logismus des Veloziferischen (vgl. Osten 2003) oder auf Hegels Komplementärge-
stalt der Furie des Verschwindens (vgl. Hegel 1807, S. 435 f.) muss hier genügen.

Wie Koselleck ausführt, wurde im Horizont der bewegten Geschichte die


Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen „zum Grundraster, das die wachsende Ein-
heit der Weltgeschichte seit dem 18. Jahrhundert fortschrittlich auslegte“ (Kosel-
leck 1977, S. 336), und bald zu einer „Grunderfahrung“ und einem „Axiom, das
im 19. Jahrhundert durch soziale und politische Veränderungen angereichert
wurde, die den Satz in die Alltagserfahrung einholten“ (ebd., S. 325).
Dass die Herausbildung der neuen Geschichtszeit kein linearer Vorgang und
die Denkfigur von Beginn an eine spannungsgeladene war, zeigen die Kritiken an
den universalhistorischen Entwürfen. Speziell die Kritiken Herders an Schlözer
und seinen früheren Lehrer Kant exponieren Motive, die im Kontext der post-
modernen Kritik am Kollektivsingular Geschichte unter veränderten Vorzeichen
wiederkehren werden. Gegen Schlözer hat Herder etliche Einwände, „insonder-
heit aber, daß es mit dem Einen in der Geschichte, ,fürs menschliche Geschlecht‘
betrachtet, immer für uns Menschen eine so problematische Sache sey – wo steht
der Eine, große Endpfahl? wo geht der gerade Weg zu ihm? was heists, ,Fortgang
des menschlichen Geschlechts?‘ Ists Aufklärung? Verbesserung? Vervollkomm-
nung? mehrere Glückseligkeit? Wo ist Maaß? wo sind Data zum Maaße in so
verschiednen Zeiten und Völkern, selbst, wo wir die besten Nachrichten der
Aussenseite haben?“ (Herder 1772, S. 438). In eine ähnliche Richtung stößt Her-
ders Kritik am Zeitbegriff von Kant, in der er postuliert, dass „jedes veränderliche
Ding das Maß seiner Zeit in sich [hat]; [...] keine zwei Dinge der Welt haben
dasselbe Maß der Zeit. [...] Es gibt also [...] im Universum zu einer Zeit unzählbar
viele Zeiten.“ (zit. n. Koselleck 1977, S. 323). Herder konstatiert hier die unhinter-
gehbare Pluralität der Zeit – dennoch aber setzt seine Kritik die Vorstellung der
einen und universalen Zeit voraus, in der alle anderen Zeiten enthalten seien und
in der man einen Maßstab finde, der an die anderen Zeiten angelegt werden
könne. Zu einer Zeit, schreibt er, und evoziert dadurch eine Erfahrung absoluter
Gleichzeitigkeit (vgl. Jordheim 2011, S. 449).
Die Wendung „um 1800“ hat sich weit über die Kultur- und Geschichtswis-
senschaft hinaus zu einer Formel verdichtet, mit der die fundamentale Trans-
formation der gesellschaftlichen Wahrnehmungsweisen und speziell des Zeitbe-
wusstseins erfasst werden soll; Vergleichbares leistet mit spezifischem Bezug auf
die Semantik der von Koselleck geprägte und theoretisch unterfütterte Begriff der
„Sattelzeit“. Die damit erfasste Verzeitlichung der Sprache schlägt sich in einer
Vielzahl neuer Temporalbestimmungen nieder, die sich zur Figur der Gleichzei-
tigkeit des Ungleichzeitigen zusammenziehen und diese Figur zugleich facettie-
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ren. Dazu zählt der Ausdruck Ungleichzeitigkeit, der am Beginn des 19. Jahrhun-
derts als Antonym zu Gleichzeitigkeit geläufig wurde (Uhl 2002, S. 166); des
weiteren das Konzept der Jetztzeit, dem bereits der Modus der Heraushebung und
Selbstüberbietung der Gegenwart eingeschrieben ist. Ein anderes Beispiel ist der
am Beginn des 19. Jahrhunderts aus der ehemals räumlichen in die zeitliche
Dimension und in eins damit aus der Militärsprache in die bürgerliche Zivilsphäre
überführte Begriff der Avantgarde, der zur Charakterisierung jener Akteure dient,
die für sich in Anspruch nehmen, die Frontseite der Geschichte oder die in der
Gegenwart angelegten Potentiale der Zukunft zu verkörpern und auf diese Weise
in der Zeit der Zeit voraus zu sein (vgl. Bürger 1974; Barck 2000 ff.). Parallel- oder

Nachfolgebegriffe sind die des Pioniers, des Schrittmachers oder des Innovators.
Ein weiteres Element des neuen temporalisierten Begriffsfeldes ist der Begriff des
Unzeitgemäßen, der einen deutlichen Vorwurf, quasi ein Existenzialurteil in sich
schließt. Ähnlich wie der parallele Ausdruck des Veraltetseins, der ebenfalls um
die Wende zum 19. Jahrhundert entsteht, rührt er im Namen einer dezidiert
historischen Zeitnorm am Existenzrecht bestimmter Phänomene, die zwar der
Gegenwart zugehören, von einer politisierten Rhetorik aber der Vergangenheit
zugeschlagen werden. Weitere Begriffe, die um 1800 herum entstanden sind und
eine solche Spaltung der Zeit (und der daran jeweils gebundenen Lebensformen)
vornehmen, sind die des Überlebt-Seins, des Obsoletseins, des Anachronismus
oder des Antiquiert-Seins.4
Der Breite des neuen verzeitlichten Begriffsfelds entspricht die Vielfalt der
Anwendungen. Wie Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge gezeigt hat, voll-
zieht sich die Verzeitlichung des Wissens auf allen Feldern, auch dem der Natur,
wo der Begriff der Ungleichzeitigkeit um 1800 u. a. im Forstdiskurs, in der Biologie

und auch in der Geologie präsent war – Foucault spricht deshalb auch generali-
sierend von der „modernen episteme“ (Foucault 1966, S. 461). Argumentations-
geschichtlich ist die Entstehung und Verfestigung der verzeitlichten, den Gegen-
satz von alt und neu, Vergangenheit und Gegenwart exponierenden Begriffe mit

4 Jeder dieser Begriffe hat eine spezifische Geschichte und es wäre eine eigene Untersuchung
wert, wie sie jeweils ihre alten, vormodernen Bedeutungen abstreifen und den modernen, ver-
zeitlichten Sinn annehmen, der ihren gemeinsamen Nenner bildet und der Grund dafür ist, dass
sie oft synonym verwendet werden. Der Begriff des Veraltens z. B. wurde vor seiner Verzeitlichung

in der Bedeutung von ,altern’ verwendet: ein veralteter Greis, ein veraltetes Kleid. – Eine breiter
angelegte Untersuchung müsste selbstverständlich auch andere Sprachen einbeziehen und ver-
gleichend analysieren; im Englischen etwa das komplementäre Begriffsfeld outdated, outmoded,
anachronistic, superannuated, obsolete, outworn, dead, archaic, out of date, antiquated, outli-
ved, old-fashioned, unfashionable, backwards, unmodern, dem die Substantive entsprechen:
leftover, left-behind, bygone, survivals, relics.
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 333

spezifischen Denkmustern, Rhetoriken und Narrativen verbunden. Oft begegnen-


de Protoperiodisierungsleistungen sind die aufeinander bezogenen Wendungen
„schon“, „noch“, „immer noch“, „noch nicht“; ähnliche Orientierungen stiften
Begriffe wie „hemmend“, „bahnbrechend“, „immer schneller“; eine historische
Prozesslogik und Gerichtetheit der Entwicklung kommt zum Ausdruck in der
Wendung „früher oder später“. Die temporalen Entgegensetzungen wurden ver-
knüpft mit neuen politischen Frontbildungen, die sich in Gegenbegriffen artiku-
lierten. Dem Fortschritt wurden etwa die Begriffe Rückschritt oder Reaktion, dem
Progressiven das Konservative entgegengestellt.
Mit der Beschleunigung der modernen Geschichte im Zuge der Durchsetzung
des kapitalistischen Wirtschaftssystems gewinnt die Denkfigur der Gleichzeitig-
keit des Ungleichzeitigen an Komplexität, weil sie nun nicht mehr nur auf die
äußeren Ränder der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Gegensatz zum Erbe
vorbürgerlicher Tradition bezogen ist, sondern als Konsequenz der mit der indus-
triellen Revolution verbundenen Modernisierungsschübe nun sukzessive in die
bürgerliche Gesellschaft selbst hineinverlagert wird.5 In den Blick kommen so
einerseits die temporalen Relationen verschiedener bürgerlicher Gesellschaften
und andererseits die strukturellen Differenzierungen und ungleichen Entwick-
lungsgeschwindigkeiten verschiedener sozialer und kultureller Sphären inner-
halb einer jeweiligen Gesellschaft. Ein Beispiel für ersteres ist Friedrich Schlegels
geschichtsphilosophische Standortbestimmung Deutschlands im Blick auf die
Ereignisse im postrevolutionären Frankreich. Schlegel bemerkt, dass Charakter
und Lebensweise der Franzosen „ganz dem Genius der Zeit gemäß“ seien, wäh-
rend „die heterogenen Elemente der alten und der gegenwärtigen Zeit [...] in
unserm deutschen Leben so wunderlich und konfus durcheinander gemischt
sind“ (Schlegel 1803, S. 72). Marx spitzt diesen Gegensatz in seiner Einleitung zur
Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie erheblich zu und differenziert ihn zu-
gleich: „Wollte man an den deutschen status quo selbst anknüpfen, wenn auch in
einzig angemessener Weise, d. h. negativ, immer bliebe das Resultat ein Anachro-

nismus. Selbst die Verneinung unserer politischen Gegenwart findet sich schon

5 In der Literatur sind diese beiden Formen der Entgegensetzung in verschiedenen Begriffen
gefasst worden, die auf unterschiedliche theoretische Vorannahmen und Moderne- bzw. Ge-
schichtskonzepte verweisen: Ernst Bloch versteht unter ,echter‘ bzw. ,realer‘ Ungleichzeitigkeit
die Präsenz vorkapitalistischer Reste in der Moderne; Burkhard Conrad dagegen reserviert den
Begriff der ,absoluten‘ Ungleichzeitigkeit‘ für die inneren Widersprüche der modernen Gesell-
schaft (vgl. Conrad 2002, S. 12); Uhl unterscheidet das Problem der (vermeintlichen) Antiquiert-
heit vom Problem der Asynchronisiertheit; Koselleck (1972b, S. 307) differenziert historisch zwi-
schen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen.
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als verstaubte Tatsache in der historischen Rumpelkammer der modernen Völker.


[...] Wenn ich die deutschen Zustände von 1843 verneine, stehe ich, nach franzö-
sischer Zeitrechnung, kaum im Jahre 1789, noch weniger im Brennpunkt der
Gegenwart.“ (Marx 1844, S. 379). „Deutschland hat die Mittelstufen der politi-
schen Emanzipation nicht gleichzeitig mit den modernen Völkern erklettert.
Selbst die Stufen, die es theoretisch überwunden, hat es praktisch noch nicht
erreicht“ (ebd., S. 386). Aus dem Befund der vielfältigen Ungleichzeitigkeit zieht
er die Konsequenz, dass die „einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands“
die „Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie [ist], welche den Menschen für
das höchste Wesen des Menschen erklärt“ (ebd., S. 391) – ein Anschluss an
Ludwig Feuerbachs anthropologischen Materialismus also, von dem sich Marx
kurze Zeit später schon wieder distanziert.
Während in Deutschland die Problematik der Ungleichzeitigkeit im 19. Jahr-
hundert politisch oft mit Blick auf die Entwicklungen in Frankreich diskutiert
wird, ist in der ökonomischen Betrachtung England der Maßstab und das Vorbild,
das einzuholen zur Herausforderung wird. Der Nationalökonom Moritz Mohl etwa
diskutierte im Jahre 1828 anhand der württembergischen Gewerbeindustrie, wie
schwierig es sei, den englischen Vorsprung an Erfindungen und Fertigkeiten
einzuholen. In der Mechanisierung der Textilindustrie schätzte er den Rückstand
auf zwanzig bis dreißig Jahre ein – „und was bedeutet ein Vorsprung von
20 Jahren für die Mechanik in unserer industriellen Zeit, wo jeder Tag neue
mechanische Wunder gebärt!“ (Mohl 1828, S. 216.) Die Prämissen von Mohls
Überlegungen macht Friedrich List explizit, wenn er, ebenfalls mit Blick auf Eng-
land, jede gesellschaftliche Organisation unter dem Zwang sieht, fortzuschreiten:
Nur wer schneller gehe als andere, komme auf, „geht er langsamer, so ist sein
Untergang gewiss“ (List 1841, S. 286). Diese Problematik des deutschen Entwick-
lungsrückstands im Vergleich mit den fortgeschritteneren europäischen Nationen
lässt sich über Friedrich Nietzsche und Ernst Bloch bis zu Helmuth Plessners
Buch Die verspätete Nation (1935/1959) weiterverfolgen. Jürgen Habermas hat 1971
im Hinblick auf einflussreich gewordene zeitgenössische Studien zur Spezifität
der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands „drei miteinander vereinbare
Theorien der Ungleichzeitigkeit“ unterschieden: die von Georg Lukács im Rah-
men des Buchs Die Zerstörung der Vernunft entwickelte Theorie der zurückgeblie-
benen kapitalistischen Entwicklung, die von Helmuth Plessner entwickelte Theo-
rie der verspäteten Nation sowie die von Rolf Dahrendorf entwickelte Theorie der
verzögerten Moderne (vgl. Habermas 1971, S. 21). Die von List formulierte systemi-
sche Zwangsalternative bringt es mit sich, dass sich – parallel oder zeitversetzt –
ähnliche Reflexionsfiguren auch in anderen Ländern finden, die in den Sog der
kapitalistischen Entwicklung geraten sind und auf die neuen Herausforderungen
der beschleunigten Geschichte Antworten finden mussten.
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 335

Im Begriff der industriellen Revolution6 ist die permanente Veränderung der


Grundlagen der Gesellschaft festgehalten, die bei den Zeitgenossen das Gefühl
hervorrief, in einer Übergangszeit oder Übergangsgesellschaft zu leben. Spätere
Konzepte wie ,schöpferische Zerstörung‘ (Joseph Schumpeter) oder ,totale Mobil-
machung‘ (Ernst Jünger) schreiben das modifiziert fort. Daraus ergibt sich, dass
die Erfahrung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auch in Entwicklungen
innerhalb einer Gesellschaft begründet sein konnte – etwa als Erfahrung unter-
schiedlicher Zeitlogiken und Veränderungsgeschwindigkeiten innerhalb oder
zwischen einzelnen sozialen Sphären. Christoph Martin Wieland notiert 1788,
dass „bey dem schnellsten Fortschritt der Cultur in den einzelnen Künsten und
Wissenschaften [...] die königliche Kunst, Völker durch Gesetzgebung und Staats-
verwaltung in einen glücklichen Zustand zu setzen [...], verhältnismäßig am
weitesten zurückgeblieben ist“ (Wieland 1788, S. 337). Für Schlegel ist „das
eigentliche Problem der Geschichte“ die „Ungleichheit der Fortschritte in den
verschiedenen Bestandteilen der gesamten menschlichen Bildung, besonders die
Divergenz in dem Grade der intellektuellen und der moralischen Bildung“ (Schle-
gel 1795, S. 7). Sein wichtigster Einwand gegen die Geschichtsschreibung Condor-
cets ist, dass dieser die ungleichen Rhythmen der Geschichte, die „Rückfälle und
Stillstände“ (ebd.) außer Acht lasse und den Fortschritt im Sinne einer einheitli-
chen und völlig synchronen Bewegung konzipiert. Bei Hegel finden sich vielfache
Variationen der Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, so etwa in
seiner Unterscheidung von geschichtlichen und geschichtslosen Völkern, in der
(im Sinnbild der Eule der Minerva verdichteten) Reflexion auf die Diskrepanz von
Geschichte und Philosophie oder in seinen Ausführungen zum Verhältnis der
Gestalten von Kunst, Religion und Philosophie, die dann jeweils auch selbst noch
einmal temporal auseinandergelegt werden. So hält Hegel in seiner Ästhetik mit
Blick auf die Werke von Homer, Sophokles, Dante, Ariost und Shakespeare fest,
es handle sich um „Stoffe, Weisen, sie anzuschauen und aufzufassen, die aus-
gesungen sind. Nur die Gegenwart ist frisch, das andere fahl und fahler“ (Hegel
1842, Bd. 1, S. 581). Bei Marx, der sich noch in seinem Hauptwerk als „Schüler
Hegels“ bezeichnet, finden sich viele dieser Motive kritisch modifiziert aufgenom-
men. Mit seiner Kritik der politischen Ökonomie vollzieht er eine theoretische
Revolution, in deren Licht auch die Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleich-
zeitigen eine neue theoretische Fundierung bekommt. In der Einleitung zu den
Grundrissen (1857) hebt er als einen Punkt der Analyse die Reflexion auf das

6 Die Angaben zur Entstehung des Begriffs in den Geschichtlichen Grundbegriffen sind wider-
sprüchlich: Lucian Hölscher gibt in seinem Beitrag zum Artikel ‚Industrie‘ als frühesten Beleg für
‚industrielle Revolution‘ einen aus dem Jahre 1827 an (vgl. Hölscher 1982, S. 294); im Artikel
‚Revolution‘ dagegen wird der erste Beleg auf das Jahr 1797 datiert (vgl. Koselleck 1984, S. 769).
336 Falko Schmieder

„unegale Verhältnis der Entwicklung der materiellen Produktion z. B. zur künst-


lerischen“ heraus. „Mit der Kunst etc. diese Disproportion noch nicht so wichtig
und schwierig zu fassen als innerhalb praktisch-sozialer Verhältnisse selbst. Z. B.

der Bildung. [...] Der eigentlich schwierige Punkt [...] ist aber der, wie die Pro-
duktionsverhältnisse als Rechtsverhältnisse in ungleiche Entwicklung treten.“ In
diesem Zusammenhang formuliert Marx auch die Maxime, es sei „überhaupt der
Begriff des Fortschritts nicht in der gewöhnlichen Abstraktion zu fassen“ (Marx
1857, S. 43). Diese Abgrenzung vom bürgerlichen Fortschrittsbegriff ist motiviert
nicht zuletzt durch die Einsicht in den Widerspruchscharakter der bürgerlichen
Gesellschaft, die als neue Form gesellschaftlicher Herrschaft zugleich auch neue
Formen der Ungleichheit, der Entzweiung, der Gewalt und, temporal betrachtet,
neue Formen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen generiert. Zur dialekti-
schen Kritik der Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft gehört auch die Kritik
der bürgerlichen Geschichtsbetrachtung, die sich nicht nur gegen den Anthro-
pologismus, Naturalismus und die Geschichtslosigkeit (mit der zugehörigen und
schon von Marx kritisierten These vom Ende der Geschichte, vgl. Marx 1857,
S. 552) kehrt, sondern die Entwicklung der modernen Gesellschaft (,den Fort-
schritt‘) selbst dialektisch betrachtet: als naturwüchsigen Prozess anwachsender
Antagonismen, als unerledigtes Erbe der Geschichte, als Produktion neuer For-
men der Barbarei. Verbunden damit ist die Zurückweisung des Stufenmodells der
Entwicklung, das von der Wildheit über die Barbarei zur zivilisatorischen Ver-
nunft führt, sowie generell von linearen Geschichtsauffassungen. Um die bürger-
liche Gesellschaft selbst in ihrer Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit sowie als
eine historisch überholbare Gesellschaftsordnung vorzuführen, bedient sich Marx
der spezifischen Darstellungsstrategie, Kampfbegriffe der bürgerlichen Fort-
schrittsphilosophie und Geschichtsbetrachtung, die immer auch temporal kon-
notiert sind und ein bestimmtes Entwicklungsmodell implizieren, gegen die
bürgerliche Gesellschaft (und deren historisches Selbstverständnis) selbst zu
kehren – etwa indem er die Kategorie des Fetischismus auf den Formenzusam-
menhang und die Anschauungsweisen der bürgerlichen Gesellschaft bezieht,
indem er den naturwüchsigen Fortschritt als einen „scheußlichen heidnischen
Götzen“ betrachtet, „der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken
wollte“ (Marx 1853, S. 226), indem er den Begriff der „Vorgeschichte“ auf die
bürgerliche Gesellschaft anwendet oder das Mehrwertsystem als „Lohnsklaverei“
bezeichnet. Die Konzepte sowohl der „Religion des Alltagslebens“ als auch vom
„Werwolfsheißhunger“ des Kapitals haben denselben epistemischen Status. Im
Rahmen der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie ist eine gesellschaftstheo-
retische Chiffrierung und Begründung der Denkfigur der Gleichzeitigkeit des
Ungleichzeitigen möglich und ein Problembewusstsein erreicht, hinter das der
weltanschauliche Marxismus (vgl. zum Konzept Heinrich 2004, S. 23–26) zurück-
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 337

fällt und das erst vor dem Hintergrund der Katastrophen der bürgerlichen Gesell-
schaft von der kritischen Theorie wieder erreicht bzw. neu pointiert wird.
Wie diese Beispiele bereits andeuten, differenziert sich die Denkfigur der
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen mit der Entwicklung der bürgerlichen Ge-
sellschaft in vielfältiger Weise aus. Ihre Geschichtlichkeit lässt sich am sukzessi-
ven Vordrängen und am Bedeutungszuwachs derjenigen Dimensionen erkennen,
die auf die Widersprüche innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft selbst zielen –
ein Prozess, in dem sich die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise
und der damit verbundene realhistorische Prozess der Entwicklung eines Welt-
marktes und der Verdichtung globaler Austauschbeziehungen reflektiert, der
durch verschiedene Formen und Medien der Synchronisation wie der Uhrenzeit,
dem Kalender, der Eisenbahn oder der Telegraphenkommunikation den ganzen
Globus einheitlichen Zeitregimes zu unterwerfen beginnt und auf verschiedenen
Feldern und zwischen unterschiedlichen Akteuren (Einzelunternehmen, Wirt-
schaftszweigen, Nationalstaaten, Wirtschaftsblöcken) immer auch temporal be-
stimmte Konkurrenzverhältnisse etabliert. Parallel wird die Denkfigur aber wei-
terhin auch für die Problematisierung der vorbürgerlichen Ränder und Relikte
innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft verwendet. Aus der permanenten Revolu-
tionierung der Grundlagen der Produktion erwachsen Modernisierungsschübe,
die zu Spannungen zwischen überkommenen und neuen Formen führen, so dass
sich die Problemzusammenhänge, auf die sich die Denkfigur bezieht, permanent
verschieben und neu zusammensetzen.
Dieser Bedeutungszuwachs immanenter Widersprüche soll nun anhand eini-
ger exemplarischer Arbeiten näher veranschaulicht werden. Ein Klassiker in der
Geschichte der Denkfigur ist das 1871 erschienene Buch Primitive Culture des
britischen Kulturanthropologen Edward Tylor, der zu den Begründern der Kul-
turwissenschaft gehört und als einer der ersten Analysewerkzeuge entwickelt hat,
die verschiedene Formen und Modi der Präsenz des Vergangenen in der modernen
Kultur erkennbar machen sollen. „Fortschritt, Verfall, Überleben, Wiederauf-
leben, Umgestaltung, alles dies sind Formen des Zusammenhangs, welcher das
bunte Netzwerk der Zivilisation erhält. Es bedarf nur eines Blickes auf die unbe-
deutenden Vorgänge unseres eigenen täglichen Lebens, um einsehen zu können,
wie weit wir selbst wirklich ihre Urheber, wie weit nur Erben und Umformer der
Ergebnisse längst vergangener Zeiten sind“ (Tylor 1871, S. 18). Insbesondere un-
terscheidet Tylor zwischen Überlebseln, Auflebseln und Entartung. Bei den Über-
lebseln (survivals) handelt es sich nach Tylor um Phänomene (Gebräuche, An-
schauungen und Redensarten, aber auch Gegenstände wie beispielsweise das
Spinnrad) aus früheren Epochen, die sich beim Übergang in eine neue Kulturstufe
erhalten, dabei aber ihren ursprünglich ernsten Sinn und ihre lebenspraktische
Bedeutung verloren haben (vgl. S. 16). Tylor hält fest, dass die moderne Gesell-
338 Falko Schmieder

schaft diese Phänomene „entschieden niemals hervorgebracht haben würde,


sondern im Gegenteil aufs Eifrigste zu verdrängen sucht“ (S. 71). – Als erstes
Gegenkonzept zum „passiven Überleben“ bringt Tylor das Konzept vom „aktiven
Wiederaufleben“ (active revival, S. 136) in Stellung, das eine Revitalisierung und
Aktivierung der „für längst ausgestorben oder sterbend“ (S. 17) gehaltenen Vor-
stellungen meint. Ein zweites Gegenkonzept zum passiven Überleben ist das der
Entartung (degeneration) bzw. des Verfalls (decline). An mehreren Stellen hält
Tylor beide Gegenkonzepte zum Überleben kategorial streng auseinander. Wäh-
rend es sich beim aktiven Wiederaufleben um das Aufleben von altem Gedanken-
gut handelt, das einer vorangegangenen Epoche entstammt, ist die Entartung als
ein Rückfall hinter ein erreichtes Kulturniveau zu begreifen, dessen Ursprung und
Ursache „innerhalb der eigenen Grenze“ (S. 69) der modernen Kultur selbst zu
suchen ist. Tylor insistiert auf der grundlegenden epistemologischen Differenz
zwischen barbarischen Zuständen, die noch nicht das Niveau der modernen Kultur
erreicht haben, und solchen, die nicht mehr dieses Niveau besitzen, und er räumt
ein, „daß wir in unserer Mitte etwas Schlimmeres als Wildheit haben. Das ist aber
keine Wildheit; das ist herabgesunkene Zivilisation“ (S. 43).
Ohne das selbstreflexiv einzuholen, wechselt Tylor in seiner Darstellung
verschiedener Formen der Ungleichzeitigkeit methodisch vom Kulturvergleich
zur Zivilisationsanalyse. Tylor sieht zwar, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht
nur die ungleichzeitigen Elemente vormoderner Traditionen abarbeitet, sondern
selbst neue Formen der Ungleichzeitigkeit produziert; er erfasst diese neuen
Formen aber nur als Anomalien oder temporäre Ausnahmesituationen, die das
Wesen der Gesellschaft und ihren Gesamtkurs nicht tangieren.7 Sein Ansatz bleibt
so noch dem für das 19. Jahrhundert charakteristischen geschichtsphilosophi-
schen bzw. dem evolutionistischen Fortschrittsparadigma verpflichtet, das mit
der progressiven Aufhebung bzw. Verdrängung aller ungleichzeitigen Elemente
in einer weltweit synchronisierten bürgerlichen Vernunftkultur rechnet. Span-
nungen ergeben sich zu den (freilich nicht sehr zahlreichen) zeitgenössischen
Stimmen, die mit Blick auf die kolonialen Praktiken der europäischen Nationen
ein Auseinanderfallen zwischen technisch-wissenschaftlichem und moralischem
Fortschritt thematisieren.

7 Bei Friedrich Engels sowie im Marxismus der Zweiten Internationale tritt die Persistenz des
bürgerlichen Fortschrittsparadigmas am Verständnis des Antisemitismus hervor, der als „Atavis-
mus“ oder als „Merkzeichen einer zurückgebliebenen Kultur“ (Engels 1890, S. 49) betrachtet wird
und von dem man annimmt, dass er mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft von selbst
verschwinden werde. Dass gerade die bürgerliche Gesellschaft den modernen Antisemitismus (im
Unterschied zum traditionellen christlich geprägten Antijudaismus) allererst hervorbringt, wird
hier noch nicht gesehen.
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 339

Eine im Vergleich mit Tylor hervortretende deutliche Verschiebung der Pro-


blemwahrnehmung findet sich in Thorstein Veblens Theory of the leisure class
(1899), das zu den Klassikern der amerikanischen Soziologie zählt. Während Tylor
die Survivals als seltsame Überbleibsel aus früheren Kulturstufen begreift, ver-
ortet sie Veblen im Zentrum der zeitgenössischen Kultur (vgl. Murphree 1961). Der
Problembereich des Unzeitgemäßen wird damit enorm ausgeweitet und gewinnt
politisch an Brisanz. Die soziale Schicht, in der die Survivals beheimatet sind und
kultiviert werden, ist die Freizeitklasse. Ihre Privilegien gehen auf den älteren
Adel zurück, dessen Tradition der ostentativen Verachtung der Arbeit und der
Apologie eines verschwenderischen Lebensstils konserviert und fortgesetzt wer-
den, etwa in der Kultivierung toter Sprachen, im Zeremoniell, in der Verteidigung
des Unnützen und in der Pflege des Sports. Veblen kritisiert all diese Phänomene,
weil sie in einem scharfen Kontrast zu den Institutionen und Werten der modernen
Arbeitskultur stehen und ihm deshalb als nicht mehr zeitgemäß erscheinen.
Neben dem Begriff survival bietet Veblen eine Fülle benachbarter Kampfbegriffe
auf, die den Widerspruch zu den Erfordernissen der Zeit zum Ausdruck bringen
sollen, wie etwa incompatibility, maladjustment oder inadaequacy bzw. die tempo-
ralen Kampfformeln out of date, archaic oder obsolete. Das Ziel, das Veblen
zufolge wegen der Trägheit der Kultursphäre allerdings niemals erreicht werden
kann, ist die vollkommene Anpassung (,adjustment‘) der Kultur an die Werte der
Arbeitswelt, zu denen u. a. Sparsamkeit, Nützlichkeit, Effizienz und Rationalität

gehören. Theodor W. Adorno hat Veblens Theorie als „Anpassungslehre“ (1941,


S. 85) bezeichnet und auf zahlreiche zeitgenössische Strömungen hingewiesen, in
denen sich ganz ähnliche Positionen dieser die Fortschrittsideologie radikalisie-
renden Perspektive finden: dazu gehören die amerikanische Technokratie- und
Effizienzbewegung und der die Befreiung der Arbeit (im Sinne ihrer ,Entfesselung‘
aus den ,hemmenden‘ Produktionsverhältnissen) proklamierende Weltanschau-
ungsmarxismus.8 Das von dem amerikanischen Soziologen William Ogburn (1922)
in seinem Werk Social Change entwickelte Konzept des ,cultural lag’ ist ebenfalls
stark von Veblen inspiriert. Über die Kritik der ornamentalen Kultur ergeben sich
enge Verbindungen zur Bewegung der neuen Sachlichkeit, speziell zu Adolf Loos,
für den das Ornament aufgrund seiner archaischen Herkunft und der daraus
abgeleiteten Inkompatibilität mit den modernen Verfahren industrieller Massen-
produktion zum Sinnbild des Unzeitgemäßen wird. Weil das Ornament für Loos
nicht mehr als „ein natürliches Produkt unserer Kultur“ angesehen werden kann,

8 Eine Kritik an dieser Grundeinstellung des Marxismus, die man als Kritik avant la lettre an
Thorstein Veblen lesen kann, hat Paul Lafargue (1883) formuliert. Die Singularität seiner Position
verweist auf die tiefe Verankerung des am eindimensionalen Fortschrittsbegriff und einem
positiven Begriff von Arbeit orientierten Kritikmodells des Marxismus.
340 Falko Schmieder

stellt es „entweder eine Rückständigkeit oder eine Degenerationserscheinung“


(Loos 1908, S. 282) dar; der moderne Ornamentiker ist deshalb entweder „ein
Nachzügler oder eine pathologische Erscheinung“ (ebd., S. 283). Beide stellen für
Loos ein Entwicklungshemmnis dar. „Das Tempo der kulturellen Entwicklung
leidet unter den Nachzüglern. Ich lebe vielleicht im Jahre 1908, mein Nachbar aber
lebt um 1900 und der dort im Jahre 1880. Es ist ein Unglück für einen Staat, wenn
sich die Kultur seiner Einwohner auf einen so großen Zeitraum verteilt. Der Kalser
Bauer lebt im zwölften Jahrhundert. Und im Jubiläumsfestzuge gingen Völker-
schaften mit, die selbst während der Völkerwanderung als rückständig empfun-
den worden wären. Glücklich das Land, das solche Nachzügler und Marodeure
nicht hat. Glückliches Amerika! Bei uns gibt es selbst in den Städten unmoderne
Menschen, Nachzügler aus dem 18. Jahrhundert, die sich über ein Bild mit vio-
letten Schatten entsetzen, weil sie das Violett noch nicht sehen können“ (ebd.,
S. 280). In ähnlicher Stoßrichtung wie Loos formuliert Bruno Taut in seinem Buch
Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin das Leitprogramm der „Beseitigung der
Atavismen“, die nicht nur in den Resten des „üppigen Orients“ der Gründerzeit-
wohnungen gewittert werden, sondern in allen dysfunktionalen Erscheinungen
(vgl. Lethen 1994, S. 166). Diese Modernisierungsmanifeste reagieren auf die Ent-
stehung des Taylorismus und der fordistischen Produktionsweise, aus deren
Revolutionierung der überkommenen Produktionsweisen sie Konsequenzen für
das Alltagsleben ziehen. In gewisser Hinsicht markieren sie den Endpunkt der
klassischen Fortschrittsphilosophie, deren Prämissen sie in Reinform zum Aus-
druck bringen. Dazu gehört ein weithin monokausales Verständnis von Ungleich-
zeitigkeit und seine Bewertung als irrational, unaufgeklärt, gestrig und falsch; die
Annahme einer letztlich unumkehrbaren und unaufhaltsamen Durchsetzung des
Programms der ,Entzauberung der Welt‘ (Max Weber) durch Rationalisierung und
Versachlichung der Sozialbeziehungen sowie durch die praktische Anwendung
von Wissenschaft und Technologie, die zur Auflösung überkommener Partikulari-
täten und zur Herstellung einer weltweiten Synchronkultur führt. Teleologisch ist
eine Entfaltungsdynamik am Werk, durch die im Gleichschritt mit der Gesellschaft
eine immer höhere Stufe des Fortschritts erklommen wird. Was zurückbleibt, wird
Vergangenheit, kann aber den Modernisierungsrückstand durch Aufholjagd wie-
der wettmachen (vgl. Wiesendahl 2016).
Theodor W. Adorno hat 1941 unter dem Eindruck der Erfahrung des National-
sozialismus Veblen als Exponenten dieser Fortschrittsphilosophie betrachtet und
zum Anlass genommen, um „das Verhältnis von Fortschritt – ,Moderne‘ – und
Regression – ,Archaik‘ – thesenhaft zu formulieren. In einer Gesellschaft, in der
die Entwicklung und die Stauung der Kräfte aus dem gleichen Prinzip unabding-
bar hervorgehen, bedeutet jeglicher technischer Fortschritt zugleich auch eine
Regression. Veblens Rede vom babarian normal verrät davon die Ahnung. Normal
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 341

ist die Barbarei, weil sie nicht in bloßen Rudimenten besteht, sondern in gleichem
Maße wie die Naturbeherrschung immerfort reproduziert wird. Diese Äquivalenz
hat Veblen zu harmlos genommen. Er hat die Ungleichzeitigkeit der Ritterburg
und des Bahnhofs gewahrt, nicht aber diese Ungleichzeitigkeit als geschichts-
philosophisches Gesetz“ (Adorno 1941, S. 99). „Ihm ist die falsche Ritterburg
nichts als anachronistisch. Er weiß nichts von der Moderne der Regression. Ihm
sind die trugvollen Bilder der Einmaligkeit in der Ära der Massenproduktion
bloße Rückstände, nicht aber Repliken auf die hochindustrielle Mechanisierung,
die über diese selber etwas aussagen“ (ebd., S. 97).
Das Bedeutungsspektrum der Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleich-
zeitigen erweitert sich im Zusammenhang der Diskussionen um den Imperialis-
mus, wo sie herangezogen wurde, um nationale Entwicklungsunterschiede und
-gegensätze erfassen zu können (vgl. Altvater/Mahnkopf 2002, S. 147). Lenin
(1915) sah in ihnen nicht nur den Hauptgrund für die Entstehung und Verschär-
fung der internationalen Konflikte, die im Weltkrieg kulminierten, sondern er zog
daraus auch die Konsequenz, dass der Sozialismus nicht gleichzeitig in allen
Ländern siegen könne. Die enttäuschte Erwartung, dass die Oktoberrevolution im
rückständigen Russland das Signal für die Revolution in den weiter entwickelten
westlichen Nationen geben werde, führte einerseits in das Programm einer staat-
lich forcierten nachholenden Modernisierung, wie es vor allem unter Stalin ver-
folgt wurde, der von der „Notwendigkeit“ sprach, „die in technischer und wirt-
schaftlicher Beziehung fortgeschrittenen kapitalistischen Länder nicht nur
einzuholen, sondern mit der Zeit auch zu überholen“ (Stalin 1938, S. 447 f.).  

Andererseits führte es zur Radikalisierung der Ungleichzeitigkeitsthese im Plä-


doyer für den Schulterschluß mit den kolonisierten Nationen (vgl. Walther 1982,
S. 224). Letzteres bedeutet eine Distanzierung von der Annahme eines unilinearen
Weges von traditioneller Rückständigkeit zur Modernität. Zugleich wird damit die
Denkfigur auch erstmals für die Geschichte des Marxismus selbst relevant, der
sich bis zu dieser Zeit mit der Fortschrittsdynamik identifiziert hatte. Vor dem
Hintergrund des Ersten Weltkrieges treten nun auch parteiübergreifend die ‚re-
gressiven‘ Dimensionen innerhalb der Gesellschaften der führenden Länder her-
vor, die bislang den weithin unbefragten Maßstab für die Bewertung der Entwick-
lung bildeten. Ernst Bloch aktualisiert im Zusammenhang der Analyse des Ersten
Weltkrieges wieder die schon bei Marx und Nietzsche begegnende Auffassung
vom ,ungleichzeitigen Zustand‘ Deutschlands als ,verspäteter Nation‘9, und auch
bei Karl Mannheim erscheinen Ungleichzeitigkeiten als Indizien krisenhafter

9 Vgl. Bloch (1918a), speziell den Abschnitt VIII: Das verspätete Deutschland und eine mögliche
Regeneration, S. 517–530, sowie Bloch (1918b, S. 468).
342 Falko Schmieder

gesellschaftlicher Verwerfungen oder gar als Gründe politischer Katastrophen


(vgl. Uhl 2003, S. 61).
Diese Verwerfungen brachten auch die Sensibilität für die Vielfalt koexis-
tierender Zeitformen zurück, die Herder gegen die auf die Fortschrittsgeschichte
einschwenkende Geschichtsphilosophie eingeklagt hat. In seinem Essay „Der
Geist des naturalistischen Zeitalters“ hat Alfred Döblin diese Pluralität heraus-
gestellt: „Es leben immer verschiedene Epochen, Zeitgeister neben- und miteinan-
der. Ja sogar im einzelnen Menschen ineinander. [...] Eine Zeit ist immer ein
Durcheinander verschiedener Zeitalter, ist durch große Abschnitte hindurch un-
gegoren, schlecht gebacken, trägt Rückstände anderer Kräfte, Keime neuer in
sich“ (Döblin 1924, S. 78 u. 80). Als Konsequenz dieses veränderten Zeitbewusst-
seins entstehen dann in den 1920er Jahren zahlreiche neue Variationen der
Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die sich dem eindimensiona-
len Fortschrittsbegriff und seinen Implikationen wie der Unterstellung einer un-
historischen Rahmenvernunft oder eines Telos der Geschichte entgegensetzen.
Die Diversifizierung von Konzepten der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, zu
denen in einem weiten Sinne auch die kulturtheoretisch bedeutsamen Begriffe
des Nachlebens (Aby Warburg), der Latenz, der Nachträglichkeit, des Traumas,
der Wiederkehr des Verdrängten (Sigmund Freud) oder des dialektischen Bildes
(Walter Benjamin) gehören, beförderten eine reflexive Theoretisierung, die sich
auch in der neuen sprachlichen Wendung ,Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‘
bekundet. Geprägt hat sie der Kunsthistoriker Wilhelm Pinder 1926 im Zusam-
menhang seiner Kritik an einer linearistischen Kunst- und Stilgeschichtsschrei-
bung. Pinder stützt sich zentral auf das Konzept der Generation, um das gleich-
zeitige Nebeneinander verschiedener Kunststile zu erfassen. Bei der Datierung
von Kunstwerken müsste nicht nur das Entstehungsjahr, sondern auch das jewei-
lige Alter eines Künstlers berücksichtigt werden: „Für jeden ist die gleiche Zeit
eine andere Zeit, nämlich ein anderes Zeitalter seiner selbst, das er nur mit Gleich-
altrigen teilt“ (Pinder 1926, S. 11). Über die kunstgeschichtlichen Zeiten sagt er:
„Sie sind nicht ein-, sondern mehrdimensional. (Zeiträume!) Sie entstehen aus dem
Übereinander verschieden weit gediehener Generations-Entelechien von ver-
schiedenartiger Wurzel, mitbestimmt auch von ,Stilen‘, vom Kultur-Alter der
beteiligten Nationen und Stämme, von der Qualität der Künstler, kurz von allem
bisher Genannten“ (ebd., S. 151).
Einen wichtigen Markstein in der Entwicklung der Denkfigur bildet Ernst
Blochs Auseinandersetzung mit dem Faschismus, den er in seinem Buch Erb-
schaft dieser Zeit aus dem Jahre 1935 als „Explosion des Ungleichzeitigen“ (Bloch
1935, S. 203) begreift. Die Figur der Ungleichzeitigkeit, deren sich Bloch bereits
zur Zeit des Ersten Weltkrieges gelegentlich bedient hatte (Bloch 1918 a, 1918b),

arbeitet er nun in Reaktion auf die Machtergreifung durch den Nationalsozialis-


Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 343

mus systematisch aus und unterzieht zugleich die Grundprämissen und -begriffe
der marxistischen Geschichtsphilosophie wie Ideologie bzw. falsches Bewußt-
sein, Geschichte, Fortschritt und Dialektik einer Revision. Die Geschichte, so
Bloch, „ist kein einlinig vorschreitendes Wesen, worin der Kapitalismus etwas,
als letzte Stufe, alle früheren aufgehoben hätte; sie ist ein vielrhythmisches und
vielräumiges, mit genug unbewältigten und noch keineswegs ausgehobenen, auf-
gehobenen Winkeln“ (Bloch 1935, S. 69). Gerade die jüngsten Entwicklungen in
Deutschland, das Bloch als „das klassische Land der Ungleichzeitigkeit“ (ebd.,
S. 113) ansieht, verwiesen auf das Erfordernis „einer mehrschichtigen revolutio-
nären Dialektik“ (ebd., S. 123) mit dem speziellen Interesse, „das bewegte Jetzt
[...] breiter zu machen“ (ebd., S. 122). Die Grunderfahrung ist, dass in der Krisen-
zeit die politische Reaktion die Widersprüche des Ungleichzeitigen für sich aus-
zunutzen wusste, was umso leichter war, als sich viele Marxisten „vielleicht allzu
limine von okkulten oder archaischen Erscheinungen“ (ebd., S. 195 f.) abgekehrt

hätten. Die politische Aufgabe des Theorems der Ungleichzeitigkeit sieht Bloch
darin, die „ungleichzeitigen Widersprüche aus der Reaktion zu lösen und an die
Tendenz heranzubringen“ (ebd., S. 123). Zu diesem Zweck transformiert er den
Begriff des falschen Bewusstseins in den der Ungleichzeitigkeit, den er dann
nach verschiedenen Seiten weiter ausdifferenziert. Allgemein unterscheidet er
zwischen „echter Ungleichzeitigkeit“, die er als „Restsein“ (ebd., S. 16) aus frühe-
ren, vorkapitalistischen Zeiten bestimmt, und „Zurückgebliebenheit“, „die zum
Heute zwar schlecht steht, aber zu ihm gehört“ (ebd., S. 111) – erstere wird vor
allem vom Bauernstand repräsentiert, letztere vom Mittelstand, speziell den
Angestellten. Das ungleichzeitige Bewusstsein wird dann weiter unterschieden in
ungleichzeitiges Bewusstsein mit Zukunft (unerledigte Vergangenheit) und un-
gleichzeitiges Bewusstsein ohne Zukunft (überholte Vergangenheit). Von den
ungleichzeitigen Widersprüchen unterscheidet Bloch die gleichzeitigen, und bei-
de trennt er nochmals in subjektive und objektive Faktoren des Widerspruchs:
„Der subjektiv ungleichzeitige Widerspruch ist gestaute Wut, der objektiv ungleich-
zeitige unerledigte Vergangenheit; der subjektiv gleichzeitige die freie revolutionäre
Tat des Proletariats, der objektiv gleichzeitige die verhinderte, im Jetzt enthaltene
Zukunft, die verhinderte technische Wohlfahrt, die verhinderte neue Gesellschaft,
womit die alte in ihren Produktivkräften schwanger geht“ (ebd., 122).
Bloch setzt sich mit seiner Theorie der Ungleichzeitigkeit zwar in vieler
Hinsicht von den Prämissen des weltanschaulichen Marxismus ab, in wichtigen
Punkten bleibt er ihnen aber auch verhaftet, wie an seiner Affirmation des Pro-
letariats und der Produktivkräfte deutlich wird. Während Marx die Kategorie des
Fetischismus als eine objektive Gedankenform begriffen hat, in die auch das
Bewusstsein des Proletariats eingebannt ist – eine Einsicht, die Georg Lukács in
seinem 1923 erschienenen Buch Geschichte und Klassenbewußtsein unter der
344 Falko Schmieder

Formel der „Verdinglichung des Bewußtseins“ aktualisiert hat (vgl. Lukács 1923,
S. 164 f.) – ist für Bloch die Nähe zum Produktionsprozess der Garant einer

richtigen Einstellung. Damit setzt er nicht nur „das gleichzeitige Verhältnis zwi-
schen Sein und Bewußtsein [...] als Abbildverhältnis voraus, das dadurch de-
finiert ist, daß es ,genau an der vorgeschrittensten Wirtschaft orientiert ist‘“
(Konersmann 1982, S. 213), sondern es gilt ihm auch die direkte Ausdrucksbezie-
hung zwischen der Ideologie und dem ökonomischen Klasseninteresse als der
Normalfall. Widersprüchlich ist auch seine Einschätzung der Bedeutung des
Mittelstands und der Triebquellen der nationalsozialistischen Barbarei. Für Bloch
speist sie sich wesentlich aus vorkapitalistischen Quellen, denn er geht davon
aus, dass gleichzeitige Menschen „trotz aller Mittelstellung, die ökonomisch
dumm hält, trotz allen Scheins, der daran Platz hat, sich nicht großenteils so
archaisch verwildern und romantisieren lassen“ (Bloch 1935, S. 112 f.). Anderer-

seits sieht er gerade den Mittelstand als besonders anfällig für irrationalistische
Angebote und regressive Anschauungen an: „Die Unwissenheit des Angestellten,
wie sie vergangene Bewußtseinstufen, Transzendenz in der Vergangenheit sucht,
steigert sich in einen orgiastischen Haß gegen die Vernunft, in einen ,Chtho-
nismus‘, worin Berserker und Kreuzzugsbilder sind, ja worin – mit einer Un-
gleichzeitigkeit, die stellenweise Exterritorialität wird – Negertrommeln dröhnen
und Zentralafrika aufsteigt“ (ebd., S. 110). Auffällig ist, dass Bloch hier zur Illus-
tration der Archaik des Nationalsozialismus auf Bilder zurückgreift, die weit-
gehend ungebrochen auf vorkapitalistische Verhältnisse verweisen und daher
eigentümlich anachronistisch erscheinen. Obwohl Bloch also den Begriff der
Dialektik zeitgemäß weiterentwickeln möchte, bleibt bei ihm die Dialektik der
bürgerlichen Gesellschaft unterbestimmt. Karl Kraus‘ dialektisches Bild des „elek-
trisch beleuchtete[n] Barbaren“ (Kraus 1933, S. 41) rückt im Vergleich mit Bloch
die Modernität des Nationalsozialismus stärker in den Blick.
Dennoch markiert Blochs Reflexion im Vergleich mit den Vorgaben von Tylor
oder Veblen eine deutliche Vertiefung des Problembewußtseins. Mit seiner Be-
stimmung des Ungleichzeitigen als historisch Unerledigtes hat der Begriff erneut
seinen Ort gewechselt, denn Ungleichzeitigkeit erscheint nicht mehr nur in der
Begründungsfunktion von historischem Versagen und Schuld, sondern zugleich
auch als Potential für emanzipatorisches Handeln, das sich uneingelöst gebliebe-
nen Möglichkeiten und Hoffnungen verpflichtet weiß (vgl. Uhl 2003, S. 64 f.). 

Zur selben Zeit wie Bloch (und im Austausch mit ihm) hat sich auch Walter
Benjamin vom eindimensionalen Fortschrittsbegriff distanziert und die Bedeu-
tung vermeintlich vergangener Geschichte für die Kämpfe der Gegenwart erkannt.
In einem Aufsatz aus dem Jahre 1929 spricht er dem Surrealismus zu, „zuerst auf
die revolutionären Energien“ gestoßen zu sein, „die im ,Veralteten’ liegen“ (Ben-
jamin 1929, S. 299). Komplementär dazu beobachtet er in „Erfahrung und Armut“
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 345

eine Wiederbelebung abgestorbener Bildungsgüter und eine gespenstische Wie-


derkehr vermeintlich überwundener Anschauungsweisen, die sich in den Dienst
der politischen Reaktion stellen. Vor diesem Hintergrund versucht er (durchaus
im Sinne von Blochs Interesse einer Umfunktionierung irrationaler Motive), „die
Kräfte des Rauschs für die Revolution zu gewinnen“ (Benjamin 1929, S. 307) und
„einen neuen, positiven Begriff des Barbarentums einzuführen.“ (Benjamin 1933,
S. 215) Die Experimente mit dieser Denkfigur gibt Benjamin aber angesichts der
Festigung der Herrschaft des Nationalsozialismus auf. Eine Reaktion darauf ist
die Radikalisierung seiner Kritik am Fortschrittsbegriff, den er in der „Idee der
Katastrophe“ (Benjamin 1927 ff., S. 592) fundiert. „Es ist niemals ein Dokument

der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“ (Benjamin 1940,
S. 696). Eine Konsequenz dieser Sicht, die Benjamin allerdings nicht explizit
formuliert, ist, dass die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nun nicht mehr nur,
wie bei Bloch, aus der hemmenden oder ablenkenden Wirkung vormoderner
Elemente erklärt wird (vgl. Welskopp 2017, S. 39), sondern der Dialektik der
modernen Gesellschaft selbst entspringt. Weit radikaler als Bloch unterzieht
Benjamin auch den Marxismus einer Kritik, wenn er etwa in der Rückschau an
dessen Fortschrittsbegriff die „technokratischen Züge“ wahrnimmt, „die später
im Faschismus begegnen werden.“ (Benjamin 1940, S. 699). In der Befangenheit
des Marxismus im traditionellen Fortschrittsparadigma sieht Benjamin auch den
Grund für die Hilflosigkeit gegenüber dem Faschismus: „Das Staunen darüber,
daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ,noch‘ möglich sind,
ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn
der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist“
(Benjamin 1940, S. 697).
So schreibt Benjamin 1940, noch vor dem Holocaust. Mit diesem kommt zwar
nicht das Staunen zurück, aber es bricht in die kritische Philosophie der Schre-
cken darüber ein, dass dieses unvorstellbare Grauen geschehen konnte. In der
gemeinsam mit Max Horkheimer verfassten Dialektik der Aufklärung arbeitet
Adorno an einer Konzeption des Ungleichzeitigen, die dieses nicht als bloßen
Rückstand, sondern als Produkt der Widersprüche der modernen Gesellschaft
selbst begreift. Was immer als ungleichzeitig erscheint, ist nach einem solchen
Verständnis auf den Formenzusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft zu
beziehen und nicht als Abweichung, Rück- oder Sonderfall zu exterritorialisieren.
Anders als Bloch, der wie der gesamte weltanschauliche Marxismus mit dem
Marxschen Fetischtheorem nichts anzufangen wusste, betrachtet Adorno gerade
auch das ,zeitgemäße‘ Bewusstsein mit Skepsis. Damit verbunden ist nun, ähn-
lich wie bei Bloch und Benjamin, ein verstärktes Interesse an den überholten,
uneingelösten Momenten der Geschichte, die ein Movens der Gesellschaftskritik
bilden: „Gerade je unbarmherziger der Weltgeist triumphiert, um so eher vermag
346 Falko Schmieder

das nach seinem Maße Zurückgebliebene nicht bloß fürs Verlorene, für die
romantisch verklärte Vergangenheit einzustehen, sondern als Schlupfwinkel und
Zufluchtsstätte eines zukünftigen Besseren sich zu erweisen.“10 „Der Anachro-
nismus“ wird „zur Zuflucht des Modernen“ (Adorno 1946/47, S. 296). Anders als
Nietzsche in den Unzeitgemäßen Betrachtungen spielt Adorno nicht einfach das
Alte oder Ältere gegen das Neue aus, sondern seine Kritik bleibt immer auf die
objektiven Möglichkeiten der avanciertesten Entwicklungen (der Produktivkräfte
ebenso wie der Künste) bezogen. Dialektisch ist dieses Vorhaben auch darin, dass
es die Produktivkräfte zugleich als Destruktivkräfte begreift, die ihre Vorausset-
zungen in der Totalität eines Gesellschaftssystems haben, das sich gegenüber den
Produzenten verselbständigt hat. Die Unbeherrschtheit eines blind fortwuchern-
den Apparats erzeugt Adorno zufolge permanent neue Ungleichzeitigkeiten, z. B.  

zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Klassen, einzelnen Ländern oder grö-


ßeren Machtblöcken. In der Analyse ist so mit verschiedenen Formen der Un-
gleichzeitigkeit zu rechnen, die das Potential für neue Ausbrüche von Gewalt und
Barbarei haben. Zur Gesellschaftskritik Adornos gehört daher untrennbar die
Erinnerung an die begangenen Verbrechen und die Reflexion darauf, dass die
gesellschaftlichen Bedingungen, die zu diesen Verbrechen geführt haben, modifi-
ziert fortbestehen. „Der Nationalsozialismus war möglich nur durch das Zusam-
mentreffen der Wirtschaftskrise mit rückständigem Bewußtsein und jener Pro-
paganda, die nichts anderes ist als die zur äußersten Konsequenz gesteigerte
kulturelle Manipulation der Massen. Rückfall in die Barbarei droht durch die
Explosion des gesellschaftlich Anachronistischen. [...] Es wäre illusionär, zu
glauben, die militärische Niederlage des Dritten Reiches hätte die gesellschaftli-
chen Voraussetzungen finsterer Gewaltherrschaft beseitigt. In einer offenen Kri-
sensituation können sie aufs neue hervortreten, und ein wie immer auch geartetes
totalitäres System könnte erneut die Massen einfangen“ (Adorno 1952, S. 613).
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lassen sich weitere Vergeschicht-
lichungsschübe der Denkfigur ausmachen. Unterscheidungen wie die zwischen
Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern, zwischen Erster, Zweiter und
Dritter Welt oder zwischen developed, developing und underdeveloped countries
zielen auf das Erbe des Kolonialismus unter den Bedingungen einer zunehmen-
den Integration der um nationale Unabhängigkeit kämpfenden ehemaligen Kolo-
nien in den Weltmarkt. Daneben wurde die Denkfigur der Gleichzeitigkeit des
Ungleichzeitigen zur Bewältigung neuer Probleme herangezogen. Einflussreich
geworden sind Günther Anders‘ Überlegungen zur Antiquiertheit des Menschen.
Die Entwicklung der Gesellschaft habe zu einer Verselbständigung und Über-

10 Theodor W. Adorno, „Die auferstandene Kultur“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 20.2, S. 456.
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 347

macht der Technik und damit verbunden zu einer „A-synchronisiertheit der ver-
schiedenen menschlichen Vermögen“ geführt, die Anders als „prometheisches
Gefälle“ (Anders 1956, S. 17, 267) bezeichnet und erkenntnis- und geschichtstheo-
retisch ausbuchstabiert hat. Der Soziologe Ulrich Beck hat Anders‘ Konzept im
Rahmen seiner Theorie der Risikogesellschaft vor allem im Hinblick auf die unbe-
absichtigten Folgen des kapitalistischen Einsatzes der Technik weiterentwickelt
und damit auch den temporalen Dimensionen des ,Gefälles‘ Rechnung getragen.
„Die Gefahren, denen wir ausgesetzt sind, und die Sicherheitsversprechen, die sie
zu bändigen versuchen, gehören verschiedenen Zeitaltern an. Die Herausforde-
rungen des Atom-, Chemie- und Genzeitalters an der Wende ins 21. Jahrhundert
werden in Begriffen und Rezepten verhandelt, die der frühen Industriegesell-
schaft des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts entnommen sind“ (Beck 1988,
S. 9). Ein aktuelles Thema, an dem sich die Problematik der Gleichzeitigkeit des
Ungleichzeitigen erneuert, ist der Klimawandel. Der time lag zwischen Hand-
lungen und Handlungsfolgen übergreift Generationen, so dass „Maßnahmen, die
in der Gegenwart entwickelt und angewandt werden, nur höchst unsichere und
überdies in einer weit entfernten Zukunft sichtbare Erfolge zeitigen können“
(Welzer 2008, S. 120). Während die führenden westlichen Industrieländer, die
bislang die terms of trade bestimmt haben, entdecken, dass ihr Lebensstil nicht
verallgemeinerbar ist, beharren die Schwellen- und Entwicklungsländer auf dem
Projekt einer nachholenden ökonomischen Modernisierung. Die Widersprüche
verschärfen sich weiter dadurch, dass die Folgen des Klimawandels höchst un-
gerecht verteilt sind, weil die größten Verursacher, soweit abzusehen ist, den
geringsten Schaden davontragen werden und zugleich aufgrund ihrer öko-
nomisch und technisch entwickelteren Position die größten Chancen haben, sich
an die Veränderungen anzupassen oder sogar Gewinn daraus zu ziehen.
Die Überwindung des Ost-West-Konflikts und die damit verbundene weltwei-
te Ausbreitung des kapitalistischen Wirtschaftssystems lässt sich als Prozess der
Vergleichzeitigung noch der letzten vorkapitalistischen Residuen und damit als
das Ende der Problemgeschichte jener Dimensionen der hier verhandelten Denkfi-
gur begreifen, die wesentlich auf den Gegensatz von Moderne und vorbürgerli-
chen Kulturen bezogen waren. Hartmut Rosa stellt in seiner Studie zur Verände-
rung der Zeitstrukturen in der Moderne als neue Formen und Erscheinungsweisen
der Vergleichzeitigung unter anderem die Raumschrumpfung infolge der Trans-
portbeschleunigung, die durch neue Kommunikationsverbünde wie das Internet
hergestellte Synchronizität, die durch Innovationsverdichtung und beschleunigte
Produktionszyklen bewirkte zunehmende Flüchtigkeit der Dinge und schließlich
übergreifende Konvergenzprozesse wie Urbanisierung, Massenmigration, Tech-
nisierung und Medialisierung heraus (Rosa 2005). Als Folge der systembedingten
Steigerungslogik und der verselbständigten Beschleunigungskräfte des auf Ex-
348 Falko Schmieder

pansion verpflichteten Marktes reißen jedoch innerhalb und zwischen den moder-
nen Gesellschaften selbst immer wieder neue Ungleichheiten und, damit verbun-
den, neue Formen von Ungleichzeitigkeit auf (vgl. Brose 2010, S. 555), die den
Anspruch demokratischer Gesellschaften auf soziale Synchronisation und Inte-
gration gefährden und anzeigen, dass es offenbar immer schwerer wird, naturale
Zyklen sowie überkommene Traditionsbestände mit der Innovationsdynamik der
modernen Gesellschaft zu vermitteln (vgl. Rosa 2005, S. 467; Lübbe 1992).

2
Die Herausbildung des postmodernen Denkens in den 1980er Jahren ging mit
einem neuen Zeit- und Geschichtsbewusstsein einher, das zur Infragestellung
wichtiger Grundannahmen der klassischen Modernetheorie führte. Die zahlrei-
chen Gefahren der gegenwärtigen Welt und ihre drohende Eskalation zu Welt-
katastrophen verdichteten sich im Gefühl eines Verlusts der Zukunft; die Vielfalt
der Probleme erweckte den Eindruck einer „neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen
Habermas), die zu einer zunehmenden Skepsis gegenüber Vorstellungen zeitli-
chen Verlaufs führte. Die Komplexität und Vielfalt der Konflikte und deren
jeweilige temporale Eigendynamik schienen das Fundament zu erschüttern, auf
dem die Vorstellung von der Geschichte erwachsen war, nämlich die Annahme
einer weitgehenden Konstanz temporaler Strukturen, aus der sich historische
Verlaufsregeln ableiten ließen. Eine Konsequenz der verlorenen Eindeutigkeit der
Moderne war die Kritik an den sogenannten großen Erzählungen, die sich um die
einheitsstiftenden Kollektivsingulare wie Geschichte, Fortschritt oder Revolution
zentrierten, und eine Hinwendung zu Brüchen, Differenzen und Eigenzeiten, die
sich nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Mit der post-
modernen Historisierung der historischen Zeit scheinen die Moderne und ihre
Zentralbegriffe selbst historisch geworden zu sein – die Vorsilbe ,post‘ verweist so
auf eine Zeit nach der Moderne, deren spezifisch eigener Charakter allerdings
unbestimmt bleibt.
Eine Konsequenz der postmodernen Kritik an der Moderne war denn auch die
Kritik an der Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die seit der
Sattelzeit zum Standardrepertoire des historischen Selbstverständigungsdiskures
der Moderne gehörte. Nachdem im ersten Teil wichtige Stationen der Problem-
geschichte dieser Denkfigur diskutiert wurden, sollen nun in einer stärker systema-
tischen Perspektive die wesentlichsten Argumente der Kritik diskutiert werden.
Begonnen werden soll mit der Diskussion einer Auffassung, die das Konzept
der Ungleichzeitigkeit nicht verwirft, sondern als Universalie – als „Grundmatrix
der conditio humana“ (Zuckermann 2016, S. 67) oder als „Strukturelement der
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 349

condition humaine überhaupt“ (von Bredow 2016, S. 22) – betrachtet. Es lässt sich
kaum bestreiten, dass durch das Neben- und Miteinander der Generationen, die
jeweils unterschiedlich tief gestaffelte Erfahrungshorizonte haben, gleichsam
eine natürliche Ungleichzeitigkeit besteht; ebenso evident ist es, dass das ge-
sellschaftliche Leben auf einer Vielzahl natur- und kulturhistorischer Voraus-
setzungen beruht, die ganz verschiedene temporale Tiefenstaffelungen und
unterschiedliche Veränderungsgeschwindigkeiten haben. Wie die bisherige Dar-
stellung deutlich werden lässt, nivelliert die naturalisierende Auffassung jedoch
den Umstand, dass die Problematik der Ungleichzeitigkeit als Strukturphänomen
an ganz spezifische historische Voraussetzungen gebunden ist, die keineswegs
als selbstverständlich angesehen wurden. Ganz im Gegenteil ist die Herausbil-
dung der Denkfigur an die Erfahrung einer neuen Zeit mit genuin eigenen his-
torischen Problemen geknüpft, die traditionellen Kulturen unbekannt waren. Das
Vergessen dieser Problemgeschichte indiziert die Habitualisierung dezidiert his-
torischer Zeitregime zu einer ,zweiten Natur‘ – eine Naturalisierung, wie Marx sie
seinerzeit an Kategorien wie Arbeit, Ehe, Eigentum, Familie, Freiheit und Gleich-
heit, Geschichte oder Individuum kritisiert hat: „Dies Beispiel der Arbeit zeigt
schlagend, wie selbst die abstraktesten Kategorien trotz ihrer Gültigkeit – eben
wegen ihrer Abstraktion – für alle Epochen doch in der Bestimmtheit dieser
Abstraktion selbst ebensosehr das Produkt historischer Verhältnisse sind und
ihre Vollgültigkeit nur für und innerhalb dieser Verhältnisse besitzen“ (Marx
1857, S. 39). Adorno ist dem Marxschen Credo, die „geschichtliche Spur“ (Marx
1867, S. 183) von Begriffen und den Zeitkern von Theorien freizulegen, unter
anderem in seiner Analyse von Freuds Konzeption der Zeitlosigkeit des Unbe-
wussten gefolgt, auf die sich die unhistorische Auffassung von Ungleichzeitigkeit
stützen könnte. „So viel ist wahr an Freuds Ansicht von der Archaik, wo nicht gar
,Zeitlosigkeit‘ des Unbewußten, daß konkrete gesellschaftliche Verhältnisse und
Motivationen nicht unverwandelt, nur ,reduziert‘ in jenes Bereich eingehen. Die
Ungleichzeitigkeit von Unbewußtem und Bewußtem ist selbst ein Stigma der
widerspruchsvollen gesellschaftlichen Entwicklung. Im Unbewußten sedimen-
tiert sich, was immer im Subjekt nicht mitkommt, was die Zeche von Fortschritt
und Aufklärung zu bezahlen hat. Der Rückstand wird zum ,Zeitlosen‘“ (Adorno
1955, S. 60 f.). So wichtig es ist, den quasi naturgegebenen Dimensionen von

Ungleichzeitigkeit Rechnung zu tragen, so wird doch die anthropologische Be-


trachtung zum Erkenntnishindernis, wenn sie die historisch spezifischen Vermitt-
lungsformen und gesellschaftlichen Charaktere der ,Natur‘ und damit auch die
spezifisch historischen Formen von Zeit und daraus erwachsenden Zeitkonflikten
nivelliert. Denn obzwar sich diverse Protoformen eines Bewusstseins ,ungleich-
zeitiger‘ Verläufe in der gesamten Geistesgeschichte finden lassen, kristallisiert
sich doch im Durchgang durch gesellschafts-, zeit- und begriffsgeschichtliche
350 Falko Schmieder

Studien eine historische Epochenschwelle heraus, an der diese Formen als Sozial-
formen entstehen und als ein massives Problem erfahren werden. Erst mit der
Neuzeit bricht diese Problematik hervor; ähnlich wie andere, quasi überhistorisch
scheinende Kategorien wie Zukunft (vgl. Hölscher 1999) oder das Begriffspaar
Erfahrungsraum/Erwartungshorizont (vgl. Koselleck 1976) hat es eine klare his-
torische Signatur, die nicht verschliffen werden sollte.11
Der historischen Universalisierung der Denkfigur steht die Auffassung gegen-
über, dass sie, als historisch entstandene, nun ihrerseits historisch, zu einem
Anachronismus geworden ist, was mit verschiedenen Argumenten begründet
wird. Für den Wissenschaftshistoriker Wolf Schäfer handelt es sich dabei um „das
temporale Äquivalent zur hierarchisch abgestuften Ständeordnung des Ancien
regime“ (Schäfer 1994, S. 146). Er betrachtet es als Teil und Stütze einer „Ideo-
logie“, weil die mit ihm verbundenen Normsetzungen das lineare Fortschritts-
konzept legitimieren und zur Abwertung von Erscheinungen beitragen, die ande-
ren Rhythmen und Zeitlogiken folgen. Gerade unter den Bedingungen einer
allgemeinen Krise des westlichen Fortschrittsmodells lasse sich dieses Denkmo-
dell nicht länger aufrechterhalten.
Im Zusammenhang der Postcolonial Studies und kritischer Analysen von
Modernetheorien ist diese Argumentation erweitert worden (vgl. zum folgenden
Kim 1993, S. 9–15). Zu den Haupteinwänden gehört die Betonung eines univer-
sellen globalen Entwicklungsweges, mit der implizit oder explizit das heutige
westliche Gesellschaftssystem als das Vorbild bzw. als der Wegweiser der gesell-
schaftlichen Entwicklung präsentiert wird. Die vom westlichen Typus abweichen-
den Gesellschaften werden nicht als Gesellschaften eigenen Rechts betrachtet,
sondern der allgemeinen Entwicklungslogik unterstellt, womit sie als latecomers
behandelt und auf eine nachholende Modernisierung verpflichtet werden. Das
lineare Entwicklungsmodell funktionaler Differenzierung vernachlässige dabei
synchrone Entdifferenzierungsprozesse verschiedenster Art ebenso wie die infor-
mellen Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse zwischen einzelnen Ländern,
die auch nach der Entkolonialisierung fortbestehen und in neuen Formen aus-

11 Es kann hier nur darauf hingewiesen, aber nicht näher ausgearbeitet werden, dass die
Behauptung der Unhintergehbarkeit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf ein ähnliches
Problem verweist, wie es schon in Bezug auf das damit verbundene Thema der Ideologie durch-
gespielt worden ist. In der marxistischen Diskussion hat vor allem Louis Althusser die Auffassung
vertreten, dass jede Wahrnehmung der Realität subjektiv geprägt und psychologisch überdeter-
miniert ist, woraus er die These der Unaufhebbarkeit des Ideologischen ableitet (vgl. Althusser
1968, S. 182). Dem lässt sich entgegenhalten, dass der Ideologiebegriff bei Marx an einen spezi-
fischen gesellschaftlichen Formzusammenhang gebunden ist, und dass eine Theorie der Gesell-
schaft, die Bewusstseinsformen auf ihren Realitäts- und Wahrheitsgehalt hin befragt, nicht ohne
einen kritischen Begriff von Ideologie auskommt.
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 351

gebaut werden. Abweichungen werden mit dem Stigma des Ungleichzeitigen


(rückständig, feudal, vormodern) belegt, wobei oft nicht bedacht wird, dass sich
viele Phänomene, die als ungleichzeitig erscheinen, keiner eigenständigen Tradi-
tion verdanken, sondern allererst das Produkt der krisenhaften Auseinanderset-
zung mit dem westlichen Gesellschaftstypus sind (vgl. Kaube 2017) – als Stich-
worte müssen hier Fundamentalismus und invention of tradition genügen.
Die Geschichtswissenschaft, speziell die historische Komparatistik, hat aus
dieser Kritik und dem damit verbundenen Vorwurf eines methodologischen Impe-
rialismus bzw. Ethnozentrismus Konsequenzen gezogen, die auch für die Denkfi-
gur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen relevant sind. Jörn Leonhard kriti-
siert vor allem, dass sich damit „die retrospektive Teleologie, das Schreiben vom
Ergebnis her, mit der Suggestion gelungener, gleichsam ,herstellbarer‘ Gleich-
zeitigkeit von politisch-konstitutionellen, nationalen und sozial-ökonomischen
Veränderungen [verband]“ (Leonhard 2009, S. 147). Demgegenüber plädiert er
dafür, Ungleichzeitigkeit nicht mehr im wertenden Sinne einer gedachten Norm
von Gleichzeitigkeit zu verstehen, sondern in wertneutraler Perspektive „nach
den grundsätzlich unterschiedlichen Temporalstrukturen von Erfahrungen“
(ebd., S. 148) zu fragen. In die gleiche Richtung weist Wolfram Drews, der zwar im
Rahmen der transkulturellen historischen Komparatistik auf die Konstruktion von
Gleichzeitigkeit angewiesen ist, jedoch darauf verzichten will, „in normativer
Absicht irgendwelche ,Ungleichzeitigkeiten‘ zu benennen“ (Drews 2008, S. 42).
„Das Theorem von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ markiert für ihn
„einen wertneutralen Differenzbegriff, der die jeweiligen Eigenzeiten unter-
schiedlicher kultureller und religiöser Traditionen ernst nimmt, ohne sie nach Art
eines totalisierenden Projekts dem Maßstab einer vermeintlichen europäischen
Norm zu unterwerfen“ (ebd., S. 49). Aus dieser Perspektive bestimmt er Ungleich-
zeitigkeit im Sinne der Annahme der multiple modernities „als Indikator für
Pluralität und Vielschichtigkeit, also für Ungleiches“ (ebd., S. 51).
In diese Richtung geht der Historiker Achim Landwehr noch einen Schritt
weiter, indem er dafür plädiert, auf die Denkfigur ganz zu verzichten (vgl. Land-
wehr 2012). Im Anschluss an die Philosophin Elke Uhl zeigt er auf, dass es sich
dabei unweigerlich um eine normative, Machtasymmetrien perpetuierende Figur
handelt. Gegen die Versuche, den Begriff als „wertneutralen Differenzbegriff“ zu
verwenden, sieht Landwehr die ideologischen Gehalte bereits tief in die Sprache
eingelassen: zum einen impliziere das Präfix ,Un-’ notwendig eine negative
Wertung. Zum anderen verweise die Rede von ,der’ Gleichzeitigkeit im Singular
auf ein zugrunde liegendes Totalitätskonzept, das die Zeit, die als normativer
Maßstab der Bewertung angelegt wird, als homogene und universelle Kategorie
bestimmt. Landwehr spricht deshalb auch von einem „Chronozentrismus“, dem
im Zusammenhang mit dem Moderneprojekt ein latenter „Eurozentrismus“ inne-
352 Falko Schmieder

wohne. Landwehr hält im Hinblick auf die komplexen temporalen Verhältnisse


der Gegenwart sowohl die zugrunde liegende Modernetheorie als auch die mit der
Denkfigur verbundenen Bewertungsmuster für überholt und inadäquat. Er plä-
diert deshalb für eine Preisgabe des singularischen Begriffs der Gleichzeitigkeit,
den er durch den Pluralbegriff der ,Gleichzeitigkeiten’ zu ersetzen vorschlägt. Aus
ähnlichen Gründen möchte auch der Soziologe und Systemtheoretiker Rudolf
Stichweh die Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen durch das Kon-
zept der Diversität ersetzen, das die unaufhebbare Pluralität verschiedener Zeit-
konzepte betont und eine Hierarchisierung von Zeitverhältnissen bzw. die Privile-
gierung einer Zeitform, die als normativer Maßstab an die anderen herangetragen
wird, konzeptuell verhindern soll (vgl. Stichweh 2000).
Obwohl Landwehrs Argumentation, die dem postmodernen Paradigma der
Kritik der Kollektivsingulare und Totalitätsbegriffe folgt, in seinen deskriptiven
Teilen viele wichtige Punkte trifft, kann sie dennoch nicht vollends überzeugen. Er
sieht im Hinblick auf die weite Teile der Gesellschaft bestimmenden ökonomischen
Diskurse selber, „dass es zu basalen Annahmen wie ,Fortschritt’, ,Steigerung’, ,
Zunahme’ oder ,Aufwärtsbewegung’ kaum Alternativen gibt“ (Landwehr 2012,
S. 21), und er stellt dar, dass „der Eindruck einer zunehmenden globalen Syn-
chronisierung [...] nicht von ungefähr [kommt]“ (ebd., S. 26), denn „die Entwick-
lungsschübe im Bereich der Telekommunikationstechnologien, deren Zeugen wir
sind, erhöhen den Druck zur monolithischen Gleichzeitigkeit derart, dass das Recht
auf eine eigene Entwicklungsgeschwindigkeit verloren geht“ (ebd., S. 27). Er meint
dann aber offenbar, dass diese Zeitkategorien lediglich der Ausdruck eines moder-
nistischen, an der Uhrenzeit und am Fortschrittsmodell orientierten Denkens sind,
und hält es „inzwischen für möglich, sich von dieser rigiden Form der Zeitlichkeit
zu verabschieden“ (ebd.). Es scheint symptomatisch, dass Landwehr an dieser
Stelle von der empirischen Ebene aktueller Zeitzwänge auf die imaginative Ebene
der Möglichkeit ihrer Verabschiedung wechselt. Wird bei Landwehr immer noch
deutlich, dass die inkriminierten Zeitkategorien an die gesellschaftlichen Struktu-
ren der Moderne geknüpft sind, die Wachstums- und Steigerungsimperativen
folgen, so vertritt Bruno Latour, ein wichtiger Referenzautor der neueren Wissen-
schaftsgeschichte, in seinem Buch Wir sind nie modern gewesen die Auffassung,
dass die Moderne „nie begonnen“ bzw. dass es „nie eine moderne Welt gegeben“
(Latour 1991, S. 65) habe. Die Kategorien, die das Zeitregime der (vermeintlichen)
Moderne charakterisieren – Latour führt hier unter anderem die Begriffe Irrever-
sibilität, Fortschritt, permanente Revolution, Modernisierung oder die Wendung ,
Flucht nach vorne‘ an – begreift er (latent verschwörungstheoretisch)12 als das

12 Vgl. zu diesem verschwörungstheoretischen Aspekt auch Latour (1999, S. 19–27).


Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 353

„provisorische Resultat einer Auswahl, die von einer kleinen Anzahl Akteure im
Namen aller getroffen wurde“ (ebd., S. 103). Den Ausweg sieht er darin, „unsere
Aufmerksamkeit [zu] verschieben. Wir sind nie vorgerückt oder zurückgegangen.
Wir haben immer aktiv Elemente sortiert und ausgewählt, die zu verschiedenen
Zeiten gehören. Wir können immer noch auswählen. Dieses Auswählen macht die
Zeiten und nicht die Zeiten das Auswählen“ (ebd., S. 102 f.).

Latour löst damit die Probleme der historischen Zeit und der entfesselten
Geschichte, die für die Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen von
zentraler Bedeutung sind, in theoretische Konstruktionen und reine Anerken-
nungsfragen auf. Dies wiederum verweist auf eine weitere Debatte, in der mit der
grundlegenden Veränderung des Geschichts- und Zeitbewusstseins in der Post-
moderne argumentiert wird, die zur Unterminierung der Denkfigur der Gleich-
zeitigkeit des Ungleichzeitigen führe. Im Mittelpunkt steht der vermeintliche
Bedeutungsverlust oder gar die „Abschaffung“ (vgl. Nowotny 1993, S. 55, 73) der
Kategorie Zukunft und ihre Ersetzung durch etwas, das – mit Blick auf jeweils
andere Problemfelder – Helga Nowotny (1993) die „erstreckte“, Hans Ulrich Gum-
brecht (2001) die „breite“ und Hanns-Georg Brose (2010) die „gedehnte Gegen-
wart“ nennen.
Der Literaturwissenschaftler Gumbrecht sieht es für die klassische Moderne
als charakteristisch an, dass sie sich als eine sich beständig selbst überholende
Bewegung in eine offene Zukunft hinein verstanden habe, die im Zuge ihres
Fortschreitens die jeweilige Gegenwart in eine Vergangenheit verwandelt, die
sich in keiner Zukunft wiederholen könne (Gumbrecht 2001; 2006, S. 6). Das
postmoderne Gegenwartsverständnis sieht Gumbrecht dagegen durch eine all-
gegenwärtige Musealisierung und eine historistische Grundeinstellung charakte-
risiert, die keine emphatischen Zukunftsbilder mehr produziere und der der Mut
fehle, auch nur irgendetwas als vergangen abzuhaken. Mit dem Verlust eines
innovatorischen Taktgebers verliere der Imperativ der Zeitgemäßheit seine Kraft;
die Folge sei eine nachlassende ordnungsstiftende Wirkung einer Differenzierung
im linearen Nacheinander und eine wachsende Bedeutung der Differenzierungen
im Nebeneinander. Aus ihr resultiert das, was Gumbrecht ,wachsende Gegen-
wartsverbreiterung‘ nennt, die er am Stilpluralismus und den Retromoden der
Architektur und der Künste veranschaulicht. Seit den 1960er Jahren, so Gum-
brechts zugespitzte These, trete die Zeit auf der Stelle, und verbreitere sich die
Gegenwart zu einer „Zone der Simultaneitäten“ (Gumbrecht 2006, S. 33).
Ein komplementäres Argument entwickelt die Wissenschaftstheoretikerin
Helga Nowotny mit Bezug auf die schon angesprochenen ökologisch-sozialen
Folgelasten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts (vgl. Nowotny 1993,
S. 47–56). Am Beispiel der Anhäufung von Abfall zeigt sie, dass die Gesellschaf-
ten seit den 1950er Jahren zunehmend irreversible Effekte produzieren, die weit in
354 Falko Schmieder

die Zukunft vorgreifen und die Handlungsspielräume der kommenden Generatio-


nen einschränken. Zukunftsvisionen transformierten sich unter diesen Bedingun-
gen in Risikokalkulationen und ähnelten sich auf diese Weise immer mehr der
Gegenwart an. Die Differenz zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont,
die an der Wende zum 19. Jahrhundert aufgebrochen ist, verliere sich wieder und
die Gegenwart breite sich ins Unendliche aus. Durch die Folgelasten, die gerade
die entwickeltsten Länder produzieren, gerate zudem auch ihr Führungsanspruch
bzw. ihre historische Leitbildfunktion in die Krise, denn die ökologischen Pro-
bleme machten deutlich, dass der Lebensstil der westlichen Nationen nicht ver-
allgemeinerbar sei (vgl. auch Altvater/Mahnkopf 2002, S. 464). Der für die Denk-
figur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen unverzichtbare Maßstab, wer oder
was objektiv auf der Höhe der Zeit bzw. der Taktgeber für die Geschichte sei, wird
damit nicht nur strittig, sondern es stellt sich die noch viel fundamentalere Frage,
ob es in Zeiten der verallgemeinerten Krisenerfahrung überhaupt noch einen
Maßstab der Orientierung geben könne. In der Konsequenz fordert daher Nowot-
ny, die jeweiligen Eigenzeiten verschiedener Gesellschaften, kultureller und reli-
giöser Traditionen ernst zu nehmen und sie nicht mehr einem einheitlichen Maß-
stab der Betrachtung zu unterwerfen.
Die Diagnosen einer Schließung der Zukunft sind allerdings in vielem an-
fechtbar. Bei Gumbrecht fällt auf, dass er den Eintritt in das Posthistoire mit dem
Verlust von Prämissen begründet, die nach Kosellecks Analysen schon mit dem
Eintritt in die Moderne ihre Plausibilität verloren haben: dazu gehört etwa die
Annahme, dass sich aus der Vergangenheit verbindlich ,lernen‘ ließe, oder die
Unterstellung des klassischen Subjekts als eines, das im emphatischen Sinne ein
„handelndes Subjekt“ gewesen sei.13 Auch die Diagnose des Versiegens der Zu-
kunftsimagination sowie die Annahme, „dass sich zentrale Gegenstände und
Strukturen in unserer Welt langsamer ändern als bis vor kurzem“ (Gumbrecht
2001, S. 771), sind angesichts der medientechnischen Revolutionen und der poli-
tischen Veränderungen seit 1989 kaum überzeugend.14 Triftig ist aber, dass sich
die ,Frontseiten‘ der Geschichte vervielfacht haben, was etwa an der Depotenzie-

13 Auch Rosas These „des Kontingent- und Unsicherwerdens der Zukunft“ (Rosa 2005, S. 449)
bzw. die zugrundeliegende Auffassung, dass in der klassischen Moderne die Geschichte noch den
„Charakter einer gerichteten und politisch zu gestaltenden“ bzw. „planbaren“ Bewegung (S. 477,
450) angenommen habe, während sie jetzt als „richtunsglos“ und „unkontrollierbar“ erscheine,
ist zur Unterscheidung von Moderne und Spätmoderne wenig plausibel, wie die ubiquitären
Unverfügbarkeitssemantiken der Moderne nahelegen.
14 Die zeitgleich zu Gumbrechts Beitrag formulierte These vom Anthropozän als neuem Erdzeit-
alter z. B. wird dann auch gerade mit dem qualitativ neuen Problem der gesellschaftlichen

Mobilisierung von ,Natur‘ begründet.


Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 355

rung der Leitbildfunktion des liberal-demokratischen Kapitalismus zugunsten


neuer Autoritarismen und der Herausbildung verschiedener globaler Machtzen-
tren deutlich wird. Damit verbunden ist eine zunehmende Peripherisierung als
Folge des verschärften globalen Verdrängungswettbewerbs und der Umfunktio-
nierung der ehemals kolonialisierten Länder zu agrarischen Monokulturen oder
mineralischen Exklavenwirtschaften. Mit Blick auf diese Entwicklungen hat Die-
ter Senghaas bereits Anfang der 1980er Jahre resümiert, dass „das Ausmaß an
dissoziativen Rahmenbedingungen für nachholende Entwicklung [...] zugenommen
[hat]“ (Senghaas 1982, S. 57; vgl. auch S. 281).
So wichtig die Kritik an den Abstraktionen unifizierender Deutungsmuster
und die Betonung der unhintergehbaren Eigenzeitlichkeit und Vielfalt kultureller
Formen und Modernisierungsverläufe ist, so zweifelhaft erscheint die Preisgabe
der Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Im ersten Teil wurde
schon am Beispiel von Herders Kritik an Kant gezeigt, dass das Bewusstsein für
die Vielfalt von Eigenzeiten bereits am Beginn der Entstehung des historischen
Zeitbewusstseins aufweisbar ist (vgl. Schneider/Brüggemann 2010) und dass
weite Teile der jüngeren Geschichte der Denkfigur als Kritik an jedweder Form
eindimensionalen Zeitdenkens zu verstehen sind. Die Unverzichtbarkeit dieser
Figur ist nicht zuletzt darin zu sehen, dass sie aufgrund ihrer dialektischen
Spannung in der Lage ist, temporale Konflikte ins Bewusstsein zu heben, wie sie
mit der blinden Dynamik der modernen Gesellschaft unausweichlich verbunden
sind. Es geht bei ihrem kritischen Einsatz nicht, wie Landwehr argwöhnt, um die
Rechtfertigung vorhandener Machtasymmetrien, sondern um die theoretische
Reflexion temporal vermittelter Herrschaftsverhältnisse und konfligierender Zeit-
regime. Die ubiquitäre Rhetorik des Zeitzwanges und der Befristung ergibt sich
gerade daraus, dass in der modernen Gesellschaft zeitlich-technische Anschluss-
zwänge und auf verschiedenen Ebenen ein temporaler Veränderungsdruck exis-
tieren, die bei Strafe des Zurückbleibens im Wettbewerb zu respektieren sind.
Wenn moniert wird, das Konzept der ,Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen’ sei
„nicht in der Lage, das grundsätzliche und vor allem parallele Vorhandensein
unterschiedlicher soziokultureller Zeiten zu konzipieren, ohne dies als diachrone
Dissonanz darzustellen“ (Landwehr 2012, S. 20), so kann dem entgegengehalten
werden, dass die Umwälzungen und Verwerfungen der kapitalistischen Moderni-
sierung fortwährend solche Dissonanzen – also Konflikte zwischen den Wert-
maßstäben und Eigenzeiten verschiedener Systeme – erzeugen, zu deren Be-
schreibung und Reflexion die Figur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
überhaupt entwickelt worden ist. Konventionelle Einteilungen wie die in Erste,
Zweite und Dritte Welt, in Industrie-, Entwicklungs- und Schwellenländer oder
das Konstrukt vom Europa der zwei Geschwindigkeiten sind Paradebeispiele für
die Aktualität und Brisanz der Denkfigur. Unzweifelhaft ist diesen Einteilungen
356 Falko Schmieder

eine Machtasymmetrie eingeschrieben, aber diese Asymmetrie hat gesellschaftli-


che und kulturgeschichtliche Gründe, die nach theoretischer Reflexion verlangen.
Die Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist eine Spannungs- und
Konfliktfigur. Mit ihrer Ersetzung durch Begriffe wie Differenz oder Diversität wird
eine gleichberechtigte Koexistenz des Verschiedenen unterstellt, was aber in
einem eklatanten Kontrast zu den temporal vermittelten Hierarchien und den
Zeitzwängen steht, die sich notwendig aus dem Akkumulationsprozess ergeben.
Aus dem Bedeutungsverlust der alten Fortschrittsideologie folgt nicht, dass sich
damit auch die Problematik der dynamisierten Geschichte – ihre, mit Benjamin
und Adorno gesprochen, katastrophale Verselbständigung – erledigt hätte. Das
über die Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu bearbeitende
Konfliktpotential wird fassbar am Gegensatz von zwei kulturellen Leitsymbolen
der Gegenwart, dem ins Unendliche weisenden Wachstumspfeil der Ökonomen
und dem Recyclingsymbol, das an der zyklischen Zeit orientiert ist. Der Zukunfts-
horizont mag verstellt und die Vergangenheit erdrückend erscheinen, aber zu-
gleich ist doch auch zu sehen, dass noch nie eine Zeit von der zyklischen Zeit-
struktur der Vormoderne so weit entfernt war wie die Gegenwart mit ihren
Wachstums- und Innovationsimperativen. Ein Ende ,der‘ Geschichte ist also
keineswegs in Sicht, ebensowenig wie eine Auflösung der Zeit in ungleichzeitige
Zeitverläufe. Es kann keine Rede davon sein, dass das Fundament erschüttert sei,
das die Rede von ,der‘ Geschichte legitimiert. In der – weithin unangefochtenen –
Fetischisierung des Wachstums lebt die Fortschrittsideologie in einer aufs Öko-
nomische reduzierten Schwundform fort. Nowotny hält denn auch fest, dass der
Zeitpfeil ungeachtet des gewachsenen Interesses an zyklischen Zeiten weiterhin
„unumkehrbar nach vorne weist“ (Nowotny 1993, S. 34). Mit der Preisgabe der
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als einer auf Totalität bezogenen Vermitt-
lungsfigur wird die Reflexion auf den übergreifenden Richtungssinn der Gesell-
schaft gekappt. Wie Ralf Konersmann konstatiert, bezeichnen „die aufeinander
bezogenen Kategorien Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit [...] Momente eines
kulturellen Zusammenhangs, der sich weder auf eine scheinbare Linearität des
Faktischen beschränken noch als unverbundene Vielheit von Ereignissen oder als
bloßer Niederschlag transhistorischer Gesetzlichkeit fassen lässt“ (vgl. Koners-
mann 1982, S. 205). Mit der Umstellung der Leitbegriffe auf Differenz, Diversität
oder Pluralität geraten „die zeitlichen Beziehungen des Verschiedenen aufeinan-
der und damit der Einheitsaspekt eines sie umgreifenden und sie zugleich situie-
renden zeitlichen Zusammenhanges“ (Uhl 2003, S. 50) aus dem Blick. Umgekehrt
führt das Interesse an einer gesellschaftlichen Vermittlung auch zu einer Neu-
bestimmung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, etwa bei Altvater/Mahn-
kopf (2002, S. 150), wenn sie bei ihrer Analyse der Globalisierung die metho-
dische Maxime formulieren, „die nationalen und regionalen Ökonomien nicht als
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 357

einzelne für sich und unabhängig voneinander, sondern als besondere Teile des
Ganzen (der Totalität des kapitalistischen Weltsystems)“ zu behandeln, oder bei
Conrad (2002), der die Denkfigur für die internationale Konfliktforschung für
unverzichtbar hält, weil die gegensätzlichen Elemente einer Gesellschaft in einem
wesentlichen Zusammenhang stehen, Momente einer Einheit bilden, deren Iden-
tität und Bestand an diese Einheit von Gegensätzen gebunden sind. Anders als
die Auffassung der Diversität, die das Partikulare isoliert und verabsolutiert,
verhilft die Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen dazu, das Gegen-
überstehen und Vereintsein von Strukturen mit unterschiedlicher innerer Logik,
Dynamik und Zeitlichkeit zu reflektieren.
Auf die postmoderne Geschichts- und Zeitkritik haben Vertreter der kritischen
Gesellschaftstheorie mit zeittheoretischen Rekonstruktionen reagiert, die speziell
dem Zusammenhang von Ökonomie und historischer Zeit bzw. der Zeit der Öko-
nomie gewidmet waren (vgl. Kittsteiner 1991, Postone 1993, Osborne 1995, Rosa
2005). Wenn der Zeitpfeil nämlich, wie Nowotny einräumt, weiterhin nach vorne
zeigt, dann liegt die Frage nahe, was es ist, „das die wissenschaftlich-technische
Zivilisation zeitlich so unerbittlich vorantreibt, das den unersättlichen Bedarf
nach Neuem generiert, der auf noch mehr Beschleunigung drängt“ (Nowotny
1993, S. 12). Gesellschaftstheorien im Anschluss an Marx heben hervor, dass bei
der Verwertung der Arbeitskraft als Ware die konkreten Arbeiten und Arbeits-
zeiten durch die Konkurrenz vermittelt sind und in abstrakt gesellschaftliche
Arbeit (und damit in eine homogene und leere Zeit) übersetzt werden, die im Geld
ihr allgemeines Äquivalent findet. Das Abstraktum der gesellschaftlich notwendi-
gen Arbeitszeit ist Resultat eines über den Markt hergestellten Ausgleichsprozes-
ses, der mit der Konkurrenz der Kapitale um den gesellschaftlichen Durch-
schnittsprofit identisch ist. Die Konkurrenz der Einzelkapitale läuft notwendig
auf eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität hinaus, die gleichbedeutend ist mit
einer Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit. Durch diesen naturwüchsigen
Prozess wird die Arbeitszeit intensiviert und der Produktionsapparat permanent
verbessert, weil Zeit- und Produktionsvorsprünge eines Konkurrenten die ande-
ren, durch die Innovationen zu Nachzüglern gewordenen jeweils zu Anpassungen
(Einführung neuer Maschinen, effektiverer Produktionsmethoden etc.) zwingen,
so dass sich der Verwertungsprozess auf stets höherer Stufenleiter bewegt, was in
Begriffen wie „Akzelerationszirkel“ (Rosa) oder „Tretmühlendynamik“ (Postone)
beschrieben wird. Die permanenten Umwälzungen vollziehen sich dabei, wie
schon Joseph Schumpeter dargestellt hat, nicht gleichmäßig und ruhig, sondern
in Form von abrupten Schüben und Krisen, die mit erheblichen Zerstörungen und
Verlusten verbunden sind (vgl. Schumpeter 1926 und 1928). Welche neuen For-
men der Akkumulationsprozess auch hervorbringt, sie dienen immer nur dem
einen Ziel, die Verwertungsgeschwindigkeit des Kapitals möglichst zu steigern.
358 Falko Schmieder

Aus all dem ergibt sich eine dynamische Gesellschaft, „in der die Kreisbewegung
des sich verwertenden Werts eine aufsteigende Zeitachse in wachsender Ge-
schwindigkeit aus sich heraus hervorbringt“ (Kittsteiner 1991, 122 f.). Moishe

Postone hat im Rahmen seiner neuen, um die Kategorie der Zeit zentrierten
Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie eine gesellschaftstheoretische
Begründung für die Möglichkeit der Herausbildung des Kollektivsingulars ,Ge-
schichte‘ geliefert. „Seine [Marx‘; F.S.] Analyse zeigt, daß es tatsächlich eine Form
von Logik in der Geschichte gibt, von historischer Notwendigkeit, aber daß diese
nur der kapitalistischen Gesellschaftsformation immanent ist und nicht der
menschlichen Geschichte als ganzer“ (Postone 1993, S. 460). Und an anderer
Stelle heißt es: „Insofern man beim Marx des Spätwerks von einem Begriff der
Menschheitsgeschichte sprechen kann, unterstellt er dieser nicht ein singuläres
transhistorisches Prinzip: vielmehr bezieht er sich auf eine anfänglich zufällige
Bewegung von verschiedenen einzelnen Geschichten hin zu der Geschichte – zu
einer notwendigen, zunehmend globalen, durch entfremdete gesellschaftliche
Formen konstituierten richtungsgebundenen Dynamik“ (ebd., S. 567).
Der mit der Akkumulationsbewegung verbundene Innovationszwang ist
gleichbedeutend mit einem permanenten Veralten-Machen, aus dem eine Zwei-
oder Mehrzeitigkeit erwächst, die zur Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleich-
zeitigen zurückführt. Schäfers Rede vom „temporalen Äquivalent zur hierarchisch
abgestuften Ständeordnung des Ancien regime“ (Schäfer 1994, S. 146) wäre also
gegen den Strich zu lesen und als Reflexion eines historischen Formenwandels
von Herrschaft zu verstehen. Die Geschichte der Denkfigur kann dafür sensibili-
sieren, dass es bei den in der Moderne entstehenden Formen der Ungleichzeitig-
keit nicht lediglich „um einen quantitativen Abhub der Vergangenheit in der
Gegenwart geht, um bloße Restposten, sondern um eine mögliche, wirkmächtige
Reaktionsbasis bestimmter gesellschaftlicher Kräfte“ (Conrad 2002, S. 10). Für
Welzer stellt denn auch der enge Zusammenhang von extremen Gewaltprozessen
wie ethnischen Säuberungen, rassistisch begründeten Vernichtungsfeldzügen
und Völkermorden mit Modernisierungsprozessen eine große Herausforderung
für die Gesellschaftstheorie dar, denn bis heute werden „Gewaltprozesse und ihre
nachhaltigen Folgen in einem seltsamen intellektuellen Blackout“ immer noch
entlang des alten Fortschrittsparadigmas „stets als Abweichungen von ,norma-
len‘ Entwicklungsverläufen, als ,Rück-‘‚ oder ,Sonderfälle‘ interpretiert und damit
von der glückverheißenden Moderne isoliert“ (Welzer 2008, S. 123). Ein aktuelles
Konzept zur Neubestimmung der Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleich-
zeitigen, das sich als ein Gegenbegriff zum postmodernen Ansatz verstehen lässt,
ist das auf Habermas zurückgehende und von Sighard Neckel neu profilierte
Konzept der Refeudalisierung. Es bezeichnet einen „paradoxen Modus sozialer
Transformation, der im Zuge eines neoliberalen Umbaus von Wirtschaft und
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 359

Gesellschaft überwunden geglaubte vormoderne Sozialformen und Ordnungen


wieder entstehen lässt“, und zwar „nicht als Rückfall in alte Zeiten, sondern als
paradoxes Ergebnis gesellschaftlicher Transformationen, die Altes als Neues
erzeugen und hierbei ,neofeudale‘ Muster in der Verteilung von Reichtum, An-
erkennung und Macht produzieren“ (Neckel 2016, S. 76). Dass Neckel mit Thor-
stein Veblen und Max Weber zwei Soziologen als Ahnherren der These der
Refeudalisierung bestimmt, die von Adorno noch dem traditionellen Fortschritts-
paradigma zugeschlagen wurden, verweist einmal mehr darauf, wie unerlässlich
es ist, sich über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen theoretisch klar zu
werden und entsprechende Fragen weiterhin zu stellen.

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