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// Nr.

10

LEAD
AWARDS
2016
Newcomer-Magazin
des Jahres
MEIN BRUDER SILBER
Er wurde
als Kind im Wald
ermordet.
Das war alles, was
ich wusste.
Bis ich die ganze
Geschichte
erfuhr

D
EIN COP
IN DER FALLE
Er glaubt,
er hat sie überführt.
Er glaubt, er
ist der Jäger.
Doch plötzlich dreht
sich alles

JAMES LEE
BURKE
Der Schriftsteller
über Gott
und den Teufel d ie frau
mit dem
feuer
Er hat alles. Einen guten Job. Kinder.
Eine glückliche Familie.
Aber dann fängt er diese Affäre an
Der neue Thriller
der internationalen
Bestsellerautorin.

Paperback
€ 16,00 [D] | € 16,50 [A]
CHF 21,50* (*empf. VK-Preis)

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// editorial

JEMANDEN ZU VERLIEREN …
… gehört zu den schlimmsten Erfahrungen, die man sich vorstel-
len kann. Das erleben unsere Autoren immer wieder, wenn sie
mit den Angehörigen von Opfern sprechen. Der Verlust eines
Kindes oder Partners durch ein Verbrechen bedeutet nicht nur,
Christian Krug, jemanden nie wiederzusehen, den man so sehr liebt. Er bringt die
Crime-Herausgeber ganze Welt ins Wanken, weil man am eigenen Leib erfahren hat,
dass jederzeit das Allerfurchtbarste passieren kann. Die Welt wird
unbegreiflich.
Unser amerikanischer Kollege David Kushner kennt diese Er-
schütterung sehr gut. Er hat als Vierjähriger seinen großen Bruder
durch einen Mord verloren. In dieser Ausgabe erzählt er seine sehr
persönliche Geschichte. Sie handelt nicht nur vom Trauern, sondern
vor allem vom Wunsch, zu begreifen, was genau passiert ist.
Kushner musste jahrelang warten, bis er die ganze Wahrheit über
den Tod seines Bruders erfuhr. Was er hörte, war furchtbar. Aber
es war eine Wahrheit, nach der er sehr lange gesucht hatte. Er
beschreibt den Schmerz, der mit ihr einherging, aber auch, wie
sie ihm half, sich im eigenen Leben besser zurechtzufinden, die
Giuseppe Di Grazia,
Crime-Redaktionsleiter
eigenen Gefühle einordnen zu können. Nicht zuletzt die Wut.
Wenn wir uns als Journalisten auf die Suche nach der Wahrheit
machen, geht es auch uns immer darum, nachzuvollziehen, wie
es zu einer Tat kam. Nicht zuletzt wollen wir dabei wissen, was die
Täter angetrieben hat. Unsere westliche Kultur und unser Rechts-
system basieren darauf, die Hintergründe eines Mörders zu durch-
leuchten, bevor ein faires Urteil über ihn gefällt werden kann. Rich-
ter kennen aus guten Gründen Begriffe wie „mildernde Umstände“
und „die zweite Chance“. Aber auch das erzählt uns Kushner sehr
eindringlich: Für jemanden, der einen geliebten Menschen durch
ein Verbrechen verloren hat, ist das Begreifen zwar extrem wich-
tig, Milde kann man von ihm jedoch nicht erwarten.

Fotos: Andra (2) Wie gefällt Ihnen Crime? Ihre Meinung interessiert uns: info@stern-crime.de

crime 10 // 003
80
8 Als Jon Kushner mit
seinem Rad losfuhr, wollte
Sie hatte noch nie Glück mit Männern. Und sie
hasst nichts mehr, als zu verlieren
er seinem Bruder
Kaugummi mitbringen.
Erst Jahre später
erfuhr David, was dann
passierte

// inhalt

T
6 / FÜRCHTET EUCH NICHT 24 / OMA LIEGT IM BAD 48 / „MAN DACHTE, SO ETWAS GIBT
Angst soll uns schützen, aber manch- Der Tod kam natürlich, sagen die ES BEI UNS NICHT“
mal treibt sie uns auch vor sich her. Angehörigen. Sie war ja schon alt. Der ehemalige Mafiaermittler Wolf-
Wir sollten widerstehen. Ein Essay Doch bald steht das SEK vor der Tür gang Neiß über organisierte Krimina-
lität und Verstrickungen im Ruhrpott
8/ DIE FRAU MIT DEM FEUER 32 / „… BIS ES SICH FAST WIE
Für sie ist es endlich die große Liebe. ROUTINE ANFÜHLT“ 56/ SIE TÖTETE GUCCI
Für ihn ist es nur eine Affäre. Er Ein Polizist und sein Land: Jean L. Besuch bei Patrizia Reggiani, die ihren

A
hat schließlich Familie. Da fasst die von den belgischen Spezialkräften Mann, den Modezaren, ermorden ließ
Geliebte einen Plan
34 / GEFÄHRLICHE DINGE 66 / DIE HANDSCHUHE VON O. J.
22 / TOD EINES HACKERS Man kann auf vielerlei Arten morden. Ein Bild und seine Geschichte:
Aus der Asservatenkammer: der Und mit vielerlei Gegenständen. Von wie Vince Bucci per Fernbedienung
Gürtel, durch den „Tron“ starb außergewöhnlichen Tatwerkzeugen O. J. Simpson fotografierte

004 // crime 10
90
Der Schuss in diesem Haus schien ein Routinefall zu sein.
Er wurde zu einem der spektakulärsten in Texas

104
Mahsa, 17, brachte ihren Vater um, weil er ihr die Liebesheirat verbot.
Sie wurde daraufhin selbst zum Tode verurteilt

56 Patrizia Reggiani sah die Welt schon immer durch eine eigene Brille

68/ DIE NASHORNRÄUBER 90/ EIN COP IN DER FALLE 126 / WIE SCHREIBT MAN KRIMIS?
Eine Bande irischer Wanderdiebe hat Der Detective war sich sicher: Es Werkstattgespräch mit dem amerika-
sich auf ein delikates Geschäft spe- war Mord, und er wusste, wer es war. nischen Starautor James Lee Burke
zialisiert. Die Museumschefs zittern Doch dann drehte sich alles
131/ BÜCHER UND FILME
80/ MEIN BRUDER 104/ DAS WARTEN DER MÄDCHEN
Unser Autor war vier, als Jon in den Im Iran bekommen auch Minderjährige 138/ NICHT GANZ GERADEAUS
Wald fuhr und nie wieder zurückkehr- drakonische Strafen. Fotoreportage Der prominente Fall: wie der Schau-
te. Hier erzählt er seine Geschichte aus einem Teheraner Gefängnis spieler Kiefer Sutherland in einen
echten Knastoverall schlüpfen durfte
88/ WAS DAS BLUT SAGT 116 / HOLMES’ HOTEL
Eine Spezialistin: Silke Brodbeck Er war einer der gefährlichsten Serien- 03 / EDITORIAL
rekonstruiert aus Tropfen, Flecken killer der Geschichte. Und er baute 134/ LESERBRIEFE
und Spritzern Tathergänge sich eine ganz besondere Herberge 136 / MITARBEITER, IMPRESSUM

crime 10 // 005
// essay

Angst ist ein verrücktes Gefühl: Wer am meisten Grund


dazu hat, sorgt sich am wenigsten. Wer am wenigsten bedroht ist,

S FÜRCHTET
ie lähmt uns. Sie peitscht uns voran. Sie rettet uns.
Sie macht uns krank. Ohne sie wären wir tot. Mit
ihr kann das Leben zur Qual werden.
Sie schärft unsere Sinne. Sie blockiert unser Han-
deln. Sie lässt uns rennen. Sie lässt uns gefrieren. EUCH
NICHT
Wir werden mit ihr geboren, sie stirbt mit uns: die Angst.
Anne hieß meine Studienfreundin. Anne konnte Karate.
von FRAUKE HUNFELD
Anne besaß Reizgas. Anne hatte eine Schreckschusspistole.
Anne hatte immer Angst.
Wenn es dunkel wurde, war Anne zu Hause. Anne hatte
Angst vorm Trampen. Vor Bahnhöfen in der Nacht. Vor frem-
den Menschen. Anne stieg nie allein in ein Taxi. Anne war
!
stets auf der Hut.
Mit Anne konnte man nicht: ausgehen. Am See zelten. Mit
Fremden auf dem Moped durch Rom fahren. Anne träumte
nachts sehr oft von ihrer Ermordung. Anne war noch nie
etwas passiert. Anne kannte Verbrechensopfer nur aus dem
Fernsehen. Irgendwann hatte sie Angst vorm Einschlafen.
Angst ist das Gefühl unserer Zeit. Angst vor einem Raub-
überfall, Angst vor einem Einbruch, Angst vor einem Terror-
angriff, Angst vor Veränderung, zum Schlechten natürlich,

F
Angst vor der Angst.
Wir brauchen die Angst ja wie die Luft, wie das Licht, wie
Wasser. Die Angst hilft uns, zu überleben. Die Angst ist die
kleine Schwester der Vorsicht. Menschen ohne Angst sterben

006 // crime 10
Junge Männer haben in Deutschland am wenigsten Angst –
aber bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, Opfer
einer Straftat, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden.
Ältere Leute sind am sichersten, fürchten sich aber am meis-
ten. Die Forscher raufen sich die Haare. Der gesunde Men-
schenverstand sagt: siehste! Wer Angst hat, passt besser auf,
wer besser aufpasst, dem geschieht auch weniger.
Die Bösen, denken wir, sind meistens die anderen. Die man
nicht kennt. Die man nicht mag. Die von woanders herkom-
men. Sind sie nicht. Die Bösen sind oft unter uns. Die Gefahr
lauert eher um die Ecke. Der Feind liegt schon im eigenen
Bett. Schwere Verbrechen geschehen mehrheitlich unter
Bekannten. Morde sind fast immer Beziehungstaten. Und
gemordet und geschlagen und missbraucht wird mit Vor-
liebe zu Hause.
73 Prozent aller Deutschen haben Angst vor einem Terror-
anschlag, ergab eine repräsentative Studie im Sommer dieses
Jahres. Statistisch gesehen starb in den vergangenen 20 Jah-
ren jedoch weniger als ein Mensch pro Jahr in Deutschland
durch einen Terroranschlag. Dem einen, den es traf, nützt
die Statistik nichts. Allen anderen aber vielleicht schon, wenn
bangt am meisten die Angst uns nicht lähmen soll. Wenn die Angst uns helfen
soll, zu überleben, im richtigen Moment loszurennen, und
nicht im falschen, dann müssen wir lernen, uns vor den
schlimmeren Dingen zu schützen: Jährlich sterben mehr als
200 000 Menschen an Krebs, etwa 10 000 Menschen durch
Suizid, rund 3500 im Straßenverkehr, um die 500 ersticken
oft früh, wie Menschen ohne Schmerz. Unsere Angst ist gut, beim Essen. Das Risiko, durch einen Blitzschlag getötet zu
wenn sie uns warnt, wenn sie bei Gefahr anschlägt. Unsere werden, ist größer als das, durch einen Terroranschlag zu
Angst ist schlecht, wenn sie nicht mehr weggeht, auch wenn sterben. Wenn man den Statistiken glauben will. Was, un-
die Gefahr vorüber ist. Unsere Angst ist schlecht, wenn Ge- bestritten, viele nicht mehr wollen. Die gefühlte Wirklichkeit
fahr gar nicht besteht. Unsere Angst spielt uns oft Streiche. ist manchmal wirklicher als die Statistik.
Verbrechen und Angst gehören zusammen. Manche Ver- Dürfen wir unserer Angst also noch trauen? Wird sie ge-
brechen lösen erst im Nachhinein Angst aus. Manche Ver- schürt? Wird sie benutzt? Kann man ein Volk voller Angst
brechen funktionieren nicht ohne die Angst. Von manchen leichter regieren?
Verbrechen ist die Angst das Ziel. Die Angst wurde von der Natur erfunden, um uns zu schüt-
Terror zum Beispiel. Harmlose Begebenheiten und Gegen- zen, nicht um uns zu lähmen. Die Gefahr erkennen, die Ge-
stände haben ihre Unschuld verloren. Dieser Koffer hier, wem fahr bekämpfen oder der Gefahr entkommen – dazu diente
gehört der? Dieser Typ da, wohin will der? Soll ich wirklich die Angst. „Flight or fight“ nennen das die Wissenschaftler.
in das Flugzeug steigen? Ist es möglich, eine Konzerthalle zu Unsere innere Alarmanlage darf nicht auf Dauerton stehen.
schützen? Der neben mir, mit dem Bart, was wispert der? Wir wollen nicht abstumpfen. Wir wollen aber auch kein
Die Polizei am Bahnhof, wirken die nicht irgendwie ange- Volk voller Angsthasen sein, die sich nicht mehr aus ihrem
spannt? Was wissen die, was wir nicht wissen? Viertel trauen. Die nicht mehr am See zelten, die Bahnhöfe
Unsere Angst verwirrt uns. Lange hat man gedacht, dass meiden, allen Fremden misstrauen. Irgendwann werden wir
sich die Verbrechensangst vor allem dann erhöht, wenn man sterben, aber fast alle von uns nicht als Opfer eines Verbre-
selbst Opfer wurde oder wenn im Bekanntenkreis jemand chens, sondern an Altersschwäche.
Opfer wurde. Dem ist nicht so.
Unsere Angst ist verrückt: Wer am meisten Grund dazu
hat, fürchtet sich am wenigsten. Wer am wenigsten zu be-
Frauke Hunfeld, stern-Autorin, trampte mit 20
fürchten hat, hat am meisten Angst. Die größte Gefahr ist da,
monatelang durch Amerika. Ob sie keine Angst
wo wir sie nicht vermuten, wo wir uns sicher fühlen, wo wir habe, fragten sie viele der Menschen, die sie mitnah-
keine Angst haben. men. Damals fürchtete sie sich eher vorm Fliegen

crime 10 // 007
Lyke Byrne

008 // crime 10
derjunge
fragte:

wo
istdiefrau
mit
demfeuer

Fotos: Luke
Die Familie war glücklich auf der kleinen Insel im Meer.
Das Leben schien leicht. Doch dann kam sie
v o n INGRID RAAGAARD u n d BERND VOLLAND

009
010 // crime 10
s

Fotos: Luke B
ie lässt sich die Spitzen schneiden. Sie sitzt beim Friseur in
Kopenhagen. 150 Kilometer entfernt von dem Ort, den sie „Be-
verly Hills“ nennen, weil dort alles so leicht und sophisticated
ist, als lebe man in einer kalifornischen Soap-Opera. Ein paar schnelle
Schnitte. Einfach abschneiden. Den Ruß. Die Schuld.
Dort, in Beverly Hills, war sie ins Meer gegangen, um sich reinzuwa-
schen. Nur 500 Meter von dem Haus entfernt. Im Garten lag der Junge.
Er fragte: „Wo ist die Frau mit dem Feuer?“

011
b ornholm, eine Insel, etwas kleiner als Rü-
gen, 150 Kilometer östlich von Kopenha-
gen unterhalb der Südspitze Schwedens
Iris und Bjørn haben eine kleine Familie gegründet. Ben-
jamin kam vor sechs Jahren zur Welt, sein jüngerer Bruder
Carl vor drei Jahren. Es gibt schlechtere Orte für kleine Kin-
gelegen, gilt als einer der schönsten Fle- der als eine Insel in der Ostsee, mit warmem Klima, grünen
cken Dänemarks. Ein Eiland in der Ostsee, gesegnet Wiesen und weißen Stränden, alles übersichtlich, und jeder
mit einem fast mediterranen Klima, in dem Apriko- kennt jeden. Diese Unbeschwertheit ist für viele der Grund,
sen- und Maulbeerbäume blühen. Auch Mandeln und auf Bornholm zu bleiben.
Weinreben wachsen hier, sogar das Dänisch klingt Die Larsens wohnen in Rønne in einem der gelben Back-
lieblicher als auf dem Festland. Früher zog die Leicht- steinhäuschen in der Ärztesiedlung am Helsevej, wo die
füßigkeit Bornholms Künstler an, doch nun, 1994, sind meisten der Klinikangestellten untergebracht sind. Im
es vor allem Touristen aus Kopenhagen, die gern für kleinen Garten stehen ein Sandkasten, das Fahrrad und das
ein verlängertes Wochenende in Rønne einfliegen, mit Dreirad der Jungs. Hier in der Siedlung sind alle irgend-
13 000 Einwohnern die größte Stadt auf Bornholm. wie eine große Familie. Die Ärztekinder erkunden zusam-
Um hier allerdings dauerhaft zu leben, braucht man men die Strände, sie machen gemeinsam ihre ersten Tapser
das passende Gemüt, sonst kann einen das Inselleben in die Wellen, später die ersten Schwimmzüge, sie gehen in
auch erdrücken vor Langeweile. Oder man braucht denselben Kindergarten und dieselbe Schule, und nach-
genügend Geld, um zwischendurch mit einem schnel- mittags können sie einfach über die Straße zu den Freun-
len Flug nach Kopenhagen Luft schnappen zu können. den laufen. Die Kinder toben und lernen zusammen, die
Die Larsens haben beides. Bjørn Larsen* ist gebür- Erwachsenen spielen Tennis, sie surfen, man grillt mit-
tiger Bornholmer, genau wie seine Frau Iris. Sie kennen einander. Man sorgt auf vielfältige Art dafür, dass einem
sich seit 22 Jahren, seit 1989 sind sie verheiratet. Jetzt nicht langweilig wird.
arbeiten beide in der Klinik in Rønne, er als Arzt in der
Urologie, sie als Krankenschwester in der Kardiologie. Schnitt für Schnitt fallen die versengten Spitzen. Sie trägt
Bjørn, 41, ist ein schlanker Mann mit einem Schnauz- das Haar ohnehin kurz. Burschikos nennen manche sie.
bart, wie ihn in den 90er Jahren nicht nur Fußbal- Vielleicht klappt es deshalb mit den Männern nicht? Da-
ler tragen. In Kombination mit seiner Halbglatze ver- bei hat sie sich schon immer so sehr nach einem gesehnt,
leiht der Bart ihm etwas Seriöses, fast Biederes, aber der bleibt. Nach einer Familie. Nach Kindern. Vielleicht
Freunde beschreiben Larsen als „lebenslustig“, und liegt es auch an ihrer Verschlossenheit? Sie hat noch nie

Fo
wer mag, kann aus diesem Wort ein Augenzwinkern gern über sich selbst geredet, es fällt ihr schwer, aus sich
herauslesen. Die Larsens passen gut zusammen. Auch herauszugehen. Oder liegt es daran, dass sie es den Män-
Iris, 39, gilt als quirlig und gesellig, als jemand, der nern zu einfach macht? Vielleicht denken die, sie könnten
gute Laune versprüht. Ein glückliches Paar, sagt man mit ihr spielen? Ein Spiel? Man sollte nicht unterschätzen,
auf Bornholm. wie ernst es ihr ist.

* Alle Namen von der Redaktion geändert


012
So vertraut man in der Ärztegemeinschaft ist, so wird, wenn der Vater einen immer mit dem Auto zur Schu-
offen ist man auch Neuen gegenüber. Die Aushilfs- le bringt. Jedenfalls hatte sie sich als Kind innerlich zurück-
ärztin, die im Herbst 1994 nach Rønne kommt, wird gezogen, sprach nur mit leiser Stimme. Man habe gar nicht
mit offenen Armen empfangen. Victoria Moeller passt wahrgenommen, dass sie überhaupt existiere, wird ein ehe-
gut hierher. Sie ist eine Tochter aus besserem Hause. maliger Klassenkamerad später sagen. Sie war auch keine
Ihre Familie gehört zu den reichsten in der süddäni- wirklich gute Schülerin, alles musste sie sich erkämpfen,
schen Kleinstadt Haderslev, wo ihrem Vater ein gro- den Sprung aufs Gymnasium, das Abitur, das Studium. Sie
ßes Autohaus gehörte. Victoria, die alle nur Vic nen- spielte Querflöte, das konnte sie wirklich gut, genauso wie
nen, kam 1954 zur Welt. Die späten 50er und frühen Tennis, aber es war immer harte Arbeit. Sie wäre gern an
60er Jahre waren auch in Dänemark eine Zeit des ein Musikkonservatorium gegangen, aber sie entschied sich
Aufschwungs, der Autohandel florierte. Der Tochter für ein Studium mit mehr Prestige, auch wenn sie dafür
sollte es an nichts mangeln. Sie wuchs in der vierstö- noch mehr pauken musste.
ckigen Villa der Familie auf, machte Abitur, studierte
Medizin in Kopenhagen, der Schweiz und England,
arbeitete danach als Assistenzärztin im schwedischen
Lund. Mittlerweile ist sie am Herlev-Kreiskranken-
haus in der Nähe von Kopenhagen angestellt, wo sie ictoria Moeller ist mit ihren streng kurz geschnit-
sich dank des väterlichen Vermögens ein Appartement v tenen Haaren und dem etwas herben Gesicht kei-
im teuren Stadtteil Frederiksberg leisten kann. Auf ne klassische Schönheit. Aber sie hat große blaue
Bornholm will sie sich noch etwas dazuverdienen. Es Augen und eine schlanke, sportliche Figur. Und dass sie eine
ist in Dänemark nicht ungewöhnlich, dass Ärzte mit hervorragende Tennisspielerin ist, macht den Einstieg leich-
Wochenenddiensten ihr Gehalt aufbessern. ter, denn die Ärzte hier lieben diesen Sport. In den 90er Jah-
Die Neue hat gute Referenzen. Die Kinderchirurgie ren gilt ein Racket noch als Statussymbol, und für die Ärzte
im Herlev genießt einen hervorragenden Ruf, und in Rønne ist der Tennisklub das Epizentrum ihres Freizeit-
Moeller hat sich dort hervorgetan, indem sie regel- und Liebeslebens. Hier wird gespielt, gefeiert und geflirtet.
mäßige Doktoranden-Dinner veranstaltet, bei denen Alles gut gegen die Langeweile.
angesehene Mediziner zum Nachtisch Fach- Und alle haben etwas davon. Die einen
vorträge halten. Sie ist eine ehrgeizige, fähi- treiben es miteinander, die anderen trat-
ge Kinderärztin und bei den Patienten be- schen darüber. Es wird gestritten, sich
liebt, weil sie sich Zeit für sie nimmt. Mit den getrennt und wieder versöhnt. Das ist
Kindern in der Pädiatrie von Bornholm kann sehr unterhaltsam. Auch darum heißt die
sie genauso gut umgehen wie mit denen aus Ärztekommune „Beverly Hills“, in An-
den Ärztefamilien. Wenn irgendwo Not am lehnung an die Hollywoodserie „Beverly
Mann ist, bietet sie bereitwillig ihre Hilfe an. Hills 90210“, in der die Reichen und
Das scheint eine zu sein, der man ohne Die Neue auf Bornholm: Schönen sich die Zeit mit Seitensprün-
Probleme die Kleinen für ein paar Stunden Victoria Moeller, Kinderärztin gen vertreiben.
anvertrauen kann. Kurzum: Victoria Moeller mit besten Referenzen Doch so etwas bleibt nicht ohne Fol-
ist gern gesehen. Auf der Insel freut man sich gen, Menschen werden eifersüchtig,
sowieso über Springer. Sie ermöglichen den Kollegen Menschen werden verletzt. Auch die Larsens haben ihre
freie Wochenenden – und sie bringen etwas Abwechs- Schlachten geschlagen. Jeder weiß, dass Bjørn nicht nur am
lung in den Alltag. Frischfleisch gewissermaßen. Tennisplatz aktiv ist, sondern ebenso seine Fortbildungen in
Kopenhagen und seine Reisen zu Ärzteturnieren für Affären
Ihr eiserner Wille hat sie schon immer ausgezeich- nutzt. Iris ist langmütig genug, seine Abenteuer nicht allzu
net. Eine Härte, die man nicht auf den ersten Blick ernst zu nehmen, sie ist selbst kein Kind von Traurigkeit. Als
erkennt, sie hat gelernt, sich anzupassen, nicht auf- sie vor ein paar Jahren mal was mit ihrem Skilehrer anfing,
zufallen. Niemand will ein Außenseiter sein. Und stand das Paar kurz vor der Trennung. Heute sind die Wun-
sie fühlte sich schon früh irgendwie falsch. Ihre El- den verheilt. Affären können eine Beziehung ja auch lebendig
tern hatten sich einen Jungen gewünscht, vielleicht halten, sie können ihr sogar eine Art von Sicherheit geben,
war es das. Vielleicht auch, dass man in einem klei- weil sich zeigt, dass zwar immer wieder Unwetter aufkommen,
nen Kaff von den Mitschülern komisch angeschaut die das Boot durchschütteln, aber die Stürme weiterzie-

crime 10 // 013
hen, ohne dass man ertrunken Und von einer Familie wird sie bald
wäre. Und wenn man auf einer nicht mehr träumen können, sie ist
Insel lebt und arbeitet, die Kin- schon über 40. Dabei mag sie Kinder
der dort in die Schule oder die doch sehr. Und Kinder mögen sie. Wäre
Kita gehen, dann trennt man sie nicht eine gute Mutter? Vielleicht die
sich nicht so schnell. Die Ärzte beste, sie will doch in allem die Beste
halten ohnehin zusammen. Man sein. Aber trotzdem bekommt sie nicht,
kann fast sagen: Es bleibt in der was sie will. Was sie verdient. Was sie
Familie. Alles nicht so wild. braucht.

Ja, es war ein langer Weg, Es dauerte nicht lange, da passierte


bis sie der Mensch gewor- Wenn sie nicht auf der Insel ist, es auch schon. Natürlich geschah es im
den ist, als den sie heute vie- wohnt Moeller in diesem Haus Tennisklub. Vic, die neue Assistenzärz-
le wahrnehmen. Aber man in Kopenhagen. Larsen besucht tin, tat gerade mal seit ein paar Wochen
sie dort regelmäßig
kann Freundlichkeit und Zu- ihre Aushilfsdienste auf Bornholm,
gewandtheit lernen, so wie Bjørn hatte mit ihr ein Match gespielt,
man Flöte spielen lernt oder Anatomie. Der eine danach war er einfach nackt rüber zu ihr in die Umkleideka-
boxt sich mit Gewalt zum Ziel, der andere versucht, bine gekommen. Mal schauen, was passiert.
Menschen für sich einzunehmen, um seine Ziele zu Sie flog bald wieder zurück nach Kopenhagen, Bjørn
erreichen. Um zu siegen. Wenn sie etwas gar nicht schickte ihr eine Postkarte mit einer Bornholmer Ansicht
ausstehen kann, dann ist es verlieren. Allerdings hinterher: „Das ist die Aussicht von dem Ort, an dem ich Dich
gibt es Dinge, die kann man nicht erkämpfen. Die zum ersten Mal verführt habe.“ Es waren die Worte eines
bekommt man geschenkt oder gar nicht. siegreichen Schürzenjägers. Aber man kann sie auch so lesen,
als wäre es etwas ganz Besonderes gewesen, ein bedeutender
Es fängt irgendwann im Sommer 1995 an. Diese An- Moment in beider Leben. Ein Jahr lang ging es. Sie trieben
rufe. Das Telefon der Larsens klingelt, aber wenn Ben- es miteinander, wenn sie in Bornholm war oder er sie in Ko-
jamin rangeht und mit seiner Kinderstimme „Hej!“ penhagen besuchte. Er sandte ihr Briefe, Karten. Schrieb:
sagt, hört er nur ein Schnaufen, dann klickt es und „Ich erinnere mich an den letzten schmerzhaften Abschied
macht „Tuuuut“. Auch bei Iris legt der Anrufer auf. im Umkleideraum der Damen …“ Sie arbeiteten miteinander,
Nur wenn Bjørn abhebt, wird nie aufgelegt. Er muss spielten Tennis miteinander, schliefen miteinander. Immer
dann oft sehr lange Gespräche führen, von denen er mal wieder besuchte er sie in ihrer Stadt. Kopenhagen, Born-
nicht möchte, dass die Kinder sie mitbekommen. holm, Kopenhagen. Er erklärte ihr seine Liebe. Irgendwann
sagte er sogar, er wolle sie heiraten, Dr. Larsen, Vater von
Nicht dazuzugehören bedeutet Schmerz, und unge- Benjamin, 7, und Carl, 4. Natürlich machte er kurz darauf
stillter Schmerz wird zur Wut, die sich langsam auf- einen Rückzieher. Und weinte vor ihr über seine eigene Zer-
staut. Diese alte, ewige Wut lässt sich nicht dadurch rissenheit, ließ sich von ihr trösten.
lindern, dass man sich so sehr anpasst und verbiegt, Seine Familie, sie müsse das doch verstehen!
bis man sich irgendwie angenommen fühlt. Viel- Später wird er sagen, dass er nie vorhatte, seine Familie
leicht legt sich eine dünne Schutzschicht über die zu verlassen, dass er nicht wisse, was ihn geritten habe, von
Wut. Aber jede kleine Zurückweisung kann einen Heirat zu sprechen. Vielleicht waren seine Gefühle tatsäch-
Riss erzeugen, aus dem die Wut wie eine Stichflam- lich größer. Vielleicht wollte er Victoria Moeller auch nur bei

Fo
me hervorschießt. Wut kann zum Hass werden. Und Laune halten.
der kann vernichtend sein. Es ist nicht bekannt, woher seine Ehefrau Iris ihre Tole-
Jahr für Jahr ist sie älter geworden, und sie hat ge- ranz nahm. Dass zwischen ihrem Mann und Victoria etwas
sehen, wie auch die Frauen um sie herum älter wur- lief, war in der Ärztesiedlung kein Geheimnis. Vielleicht hielt
den, aber bei denen hieß älter zu werden auch ir- sie das Ganze nur für ein Spiel. Vielleicht führten die Larsens
gendwann zu heiraten, Kinder zu bekommen. Und eine offene Beziehung. Und irgendwann hat Bjørn Larsen ja
sie? Noch nie hatte sie eine richtige Beziehung. Die selbst eingesehen, dass es so nicht weitergehen konnte.
Nachbarn sahen zwar immer mal Männer bei ihr Aber seit er Victoria gesagt hat, dass Schluss sei, klingelt
ein und aus gehen. Aber irgendwann blieb jeder weg. nun ständig das Telefon. „Hej“, piepst Benjamin. Tuuuut.

014 // crime 10
siearbeitetenmiteinander,spieltentennis
miteinander,schliefenmiteinander

„Hej“, sagt Iris. Tuuuut. Nur bei Bjørn bleibt Vic am Sie hat nicht mehr gegessen, abgemagert ist sie. Ihre ho-
Apparat. Er hört ihr zu. Vielleicht hat er ein schlech- hen Wangenknochen stehen scharf aus dem Gesicht hervor.
tes Gewissen, vielleicht fühlt er sich verantwortlich, Aber ist diesmal nicht etwas anders?
sie zu trösten. Und er telefoniert nicht nur mit ihr, Er hat sich doch trotzdem immer wieder mit ihr getroffen.
manchmal trifft er sie auch. Er spricht von Freund- Die Blumen! Die Spaziergänge! Und hatte er nicht auch
schaft. Schickt Blumen. Endlose Gespräche. Hoff- von Heirat gesprochen? Ihm schien es doch ernst zu sein.
nungslose Gespräche. Und noch etwas ist anders.
Es ist im August 1995, als er abends seiner Frau er- Damals haben die Männer selbst dem Glück im Weg ge-
zählt, dass er mal wieder mit Vic gesprochen habe. standen. Vielleicht weil sie nicht begriffen, wie besonders
Sie habe ihm gestanden, dass sie sich ein Kind von sie war. Vielleicht weil sie unreif oder die Falschen waren.
ihm wünsche. Iris lacht nur und sagt: „Jetzt ist sie ja Aber diesmal? Diesmal steht etwas anderes ihrem Glück
wohl völlig übergeschnappt.“ im Wege.
Was hat er denn als Grund dafür genannt, dass es keine
Bei ihrer ersten großen Liebe an der Schule hatte es Zukunft gebe für sie beide?
so bitter wehgetan. Der Junge machte einfach
Schluss. Sie hatte ihn verloren. Verlieren, das durf-
te nicht sein. Sie rief bei ihm zu Hause an. Wieder
und wieder. Es dauerte lange, bis sie aufgab. Spä-
ter, als Erwachsene, hatte sie sich in einen Anästhe- m Sonntag, den 27. August 1995, ist Bjørn Larsen
sisten verliebt. Aber er wollte sie nicht. Sie konnte a wieder auf dem Festland, um an einem Ärztetur-
es nicht ertragen. Sie bombardierte ihn mit Anru- nier teilzunehmen. Er nutzt die Gelegenheit, sich
fen. Vielleicht würde er kapitulieren, wenn seine mit Victoria, die gerade Dienst in ihrer Kopenhagener Klinik
Festung geschliffen war? Vielleicht würde er sich hat, zu einem klärenden Gespräch zu treffen. Sie gehen spa-
zumindest schuldig fühlen und einen Hauch ihres zieren. Plötzlich zieht sie ihn ins Gebüsch. Sie will Sex, greift
Schmerzes und ihrer Wut spüren? Aber er wandte ihm in den Schritt. Er lässt sie stehen. Sie blickt vollkommen
sich an die Polizei, und sie gab auf. apathisch, als wäre sie in einen Tunnel getreten. So wird
Und dieses Mal? Sie hat am Telefon geweint, ge- Bjørn Larsen es später schildern. Er wird sagen: „Ich kann-
klagt, geflucht. Sie hat ihm gesagt, sie würde sich te sie ja nun schon seit einem Jahr, aber so hatte sie sich
umbringen. Sie hat ihm gedroht, dass sie als Ärztin noch nie benommen.“
auf den Balkan gehe, das habe er nun davon. Sie Er kehrt zurück zum Tennisturnier. Er wird den ganzen
hat ihre Verzweiflung herausgebrüllt: „Warum will Sonntag und auch noch den Anfang der Woche in Kopenha-
mich nur keiner haben?!“ gen verbringen.

crime 10 // 015
„aber

sohattesie

sich

noch nie

benommen“

016
Am Sonntag, beim letzten Gespräch
mit ihrem Ex-Geliebten, hat Moeller
irgendwie entrückt gewirkt.
Kurz darauf kauft sie ein Flugticket
Fo
crime 10 // 017
Schnitt für Schnitt fallen die Spitzen. Der Ruß. Die
Schuld. Den Geschworenen wird sie später erzählen,
dass seine Ehefrau sie zu sich nach Hause eingeladen
habe. Die tolle Gattin habe selbst eine Affäre gehabt
und habe ihren Rat einholen wollen. Irgendwann an
diesem Abend sei die Frau ihres Ex-Geliebten betrun-
ken auf dem Wohnzimmersessel eingeschlafen. Da-
rum habe sie, die Kinderärztin, seine Söhne versorgt
und ins Bett gebracht. Den Kleinen in sein Gitterbett-
chen, den Älteren ins größere. Sie habe ihnen aus
einem Buch vorgelesen, eine Geschichte über Petzi,
den kleinen Bären, der mit seinen Freunden, dem
Pelikan Pelle und dem Pinguin Pingo, über die Mee-
re reist und Abenteuer erlebt. Und während sie sich
fürsorglich um die Kinder des Mannes, den sie liebt,
gekümmert habe, sei die untreue Ehefrau im Sessel
gehangen, und da sei der Betrunkenen das Malheur Nachdem der Brand gelöscht ist, finden die Feuerwehr-
passiert, das alles auslöste. männer zwei verkohlte Leichen im Haus. Im Gitterbett: Carl.
Im Wohnzimmersessel: Iris Larsen. Die Polizisten wundern
Es ist Benjamin, der ältere der beiden Söhne von sich, dass sie dort sitzt. Warum ist die Mutter nicht aufge-
Bjørn und Iris Larsen, der die entscheidende Aussage sprungen, als sie Rauch gerochen hat? Ist sie im Sessel ein-
machen wird. geschlafen – oder ist etwas anderes passiert?
Am Montag, 28. August, um 6.30 Uhr, bemerken Gleich nach Bjørn Larsens Anruf überprüft die Bornholmer
zwei Krankenschwestern, die auf dem Rad zum Dienst Polizei Victoria Moeller. Die Ärztin ist zwar zum Dienst in
fahren, dass das Haus der Familie Larsen im Helsevej Kopenhagen eingeteilt, aber sie hat sich für den Montag
brennt. Sie hören das Weinen eines Kindes. Sie laufen krankgemeldet. War sie am Morgen auf der Insel? Laut Pas-
um das brennende Gebäude herum und finden einen sagierliste ist zwar weder nach Bornholm noch von Bornholm
Jungen, der im Gras liegt. Benjamin stammelt immer jemand mit ihrem Namen geflogen. Doch als die Beamten
wieder etwas von einer „Frau mit dem Feuer“. Als die am kleinen Insel-Airport Bilder von Moellers markantem Ge-
Feuerwehr und die Rettungsärzte kommen, wird er sicht zeigen, erinnern sich mehrere Fluglinienmitarbeiter,
gefragt, ob noch jemand im Haus sei. „Mama, mein dass diese Frau am Montagmorgen die Maschine nach Ko-
kleiner Bruder und die Frau mit dem Feuer“, sagt er. penhagen genommen hat, allerdings unter dem Namen Anna
Er sagt, er spüre seine Hände nicht mehr. Im Born- Johannsen. Unter diesem Namen ist auch jemand am Vortag
holmer Krankenhaus fragt ihn ein Arzt, wie er den von Kopenhagen nach Bornholm geflogen.
Flammen entkommen sei. „Ich musste kämpfen. Aber Als Victoria Moeller den Ermittlern in ihrer Wohnung in
ich habe es geschafft. Die anderen nicht.“ Kopenhagen die Tür öffnet, ist sie blass. Im Hintergrund läuft
das Radio, in dem bereits den ganzen Tag über die Tragödie
Er sitzt im Krankenhaus am Bett seines Sohnes. Der von Bornholm berichtet wird. Ob sie von dem Unglück gehört
Junge hat die Besinnung verloren. Mit dem Hub- habe, fragen die Polizisten. Nein, behauptet sie. Sie sei krank,
schrauber ist das Kind von Bornholm nach Kopen- sie sei in Kopenhagen gewesen, und darum habe sie nichts
hagen geflogen worden. Er selbst war da noch in mitbekommen. Die Beamten teilen ihr mit, dass Iris Larsen
der Stadt. Freunde haben ihn angerufen und gesagt, und ihr kleiner Sohn Carl tot sind. Erstaunlich, wie ungerührt

Fo
dass es gebrannt habe und niemand wisse, wie es die Kollegin von Carls Vater die Nachricht aufnimmt.
dazu gekommen sei. Er ist sofort in die Klinik ge- Nachdem sie auf dem Präsidium mit den Aussagen der
rast. Und nun sitzt er hier. Er schaut seinen Sohn Flughafenmitarbeiter konfrontiert worden ist, beharrt sie an-
an. Er sieht, dass der Junge Hämatome im Gesicht fangs auf ihrer Aussage. Erst auf dem Weg zur Zelle gibt sie
hat. Ist er gestürzt? Wurde er geschlagen? Hat sein zu, unter falschem Namen nach Bornholm geflogen zu sein.
Sohn mit jemandem gekämpft? Da ahnt er, was pas- Sie erzählt eine erste Variante ihrer Geschichte. Iris habe sie
siert ist. Sofort ruft er die Polizei in Bornholm an eingeladen, um sich bei ihr über die eigene Affäre auszuwei-
und erzählt seine Geschichte. nen, sie habe ihr sogar das Ticket bezahlt. Darum sei Moeller

018 // crime 10
Nach dem Brand ist das Haus der Larsens komplett zerstört. Die Ermittler haben zunächst keine Ahnung, warum
das Feuer ausgebrochen ist. Sie haben nur die Leichen und die mysteriösen Sätze von Benjamin Larsen

am Sonntag nach Bornholm geflogen. Als sie Montag- dass es drei unterschiedliche Brandherde gab. Am Boden,
früh zum Haus gekommen sei, um mit Iris zu spre- direkt neben Iris Larsens Sessel, war ein Feuer entfacht wor-
chen, habe es schon gebrannt. Aber warum hat sie den. Ebenso neben einer Matratze in einem der Zimmer. Und
nicht die Feuerwehr gerufen? Warum sollte Iris ein in einem weiteren Sessel waren Kleider angefackelt worden.
Gespräch um 6.30 Uhr vorschlagen? Sich mit der stal- Außerdem waren alle Türen, auch die zur Terrasse, abge-
kenden Ex-Geliebten ihres Mannes über ihren eigenen sperrt worden.
Liebeskummer austauschen? Warum sollte Moeller Es findet sich niemand, der etwas von einer Affäre Iris Lar-
dafür unter falschem Namen anreisen? Warum ist sie sens mitbekommen hat. Dafür erinnern sich Passanten, dass
einfach wieder zurückgeflogen, nachdem sie vor einem sie an jenem Montagmorgen eine Frau sahen, die rund 500
brennenden Haus stand? Es ist einfach nur wirr. Meter vom brennenden Haus entfernt nackt ins Meer stieg.
Die ganze Frau wirkt wirr. Später bei der Haus- Und eine Friseurin aus Kopenhagen meldet sich. Moeller sei
durchsuchung steht sie teilnahmslos im Raum und am Tattag bei ihr gewesen. Die Ärztin habe sich die Spitzen
spielt Panflöte. Die Polizisten finden ein Blatt mit dem schneiden lassen.
Titel „Spickzettel für Bornholm“, darauf ist notiert: Ihre Haare seien angesengt gewesen.
„Sonnenbrille, Gummiband, Spritzen, Nadeln, in Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage wegen Brandstif-
Wasser aufgelöste Pillen, Handschuhe, Rucksack.“ tung und Mord. Victoria Moeller war demnach am Sonntag
Eine Arztkollegin sagt aus, dass sie Moeller einige unter falschem Namen nach Bornholm geflogen. Im Ruck-
Tabletten Morphium gegeben habe. Moeller habe be- sack trug sie Spritzen, in denen sich in Wasser aufgelös-
hauptet, dass eine Bekannte mit Brustkrebs unter tes Morphium befand. Iris Larsen ließ ihre frühere Rivalin
Schmerzen leide. arglos ein, um sich mit ihr bei einem Bier auszusprechen.
Zwölf Tage nach dem Brand liegen die Obduktions- Dann verabreichte Moeller der Frau eine tödliche Dosis Mor-
ergebnisse vor. In Iris Larsens phium, die sie ihr entweder ins Glas träufel-
Lungen fand sich kein Ruß. Sie te oder mit einer Spritze injizierte. Als Lar-
hatte also nicht mehr geatmet, sen tot in ihrem Sessel zusammengesackt
als das Feuer ausbrach. Dafür war, legte Moeller an mehreren Stellen Feu-
wurden in ihrer Leber Reste er. Sie sperrte außerdem die Türen ab, damit
entdeckt, die nur durch eine die Kinder nicht entkommen konnten. Bevor
große Menge von aufgenom- sie selbst fliehen konnte, wachte allerdings
menem Morphium zu erklären Benjamin auf und rannte ins Wohnzimmer.
sind. Sie stieß ihn ins Feuer. Dabei zog er sich sei-
Die Kriminaltechniker kön- ne Verbrennungen und die Hämatome im
nen im Haus zwar keine Fin- Gesicht zu. Dann lief Moeller aus dem Haus
gerabdrücke und DNA-Spuren Victoria Moeller wird nach ihrer zum Strand. So haben die Ermittler den Tat-
sichern. Sie stellen aber fest, Festnahme abgeführt hergang rekonstruiert.

crime 10 // 019
Er wirkt ganz still, als er ein Jahr nach dem Brand den Ge-
richtssaal betritt. Er hat davor nicht in der Öffentlichkeit
über diese Tat gesprochen und wird es auch danach nicht
tun. Er starrt nur geradeaus. Er wirft keinen Blick auf die
Angeklagte. Er sagt aus, dass er nie ernsthaft erwogen
habe, seine Familie zu verlassen. Als ihm seine Liebes-
schwüre aus den Briefen vorgelesen werden, sagt er:
„Wenn ich damals gewusst hätte, dass sie hier vorgelegt
werden, hätte ich mich anders ausgedrückt.“
Er erzählt seine Geschichte.
Sie erzählt ihre Geschichte.
Zusammen ergeben sie ihre gemeinsame Geschichte.

jørn Larsen muss sich auch anhören, wie sie das Ende
b schildert. Sie hat ihre erste Variante mittlerweile ab-
geändert. Sie erzählt eine Version, in der Iris sie am
Sonntag eingelassen habe und im Verlauf des Abends betrun-
ken eingeschlafen sei. Womöglich sei Iris später aufgewacht,
während sie selbst die Kinder ins Bett brachte, habe dann mit
Morphium Selbstmord begangen und im Sterben eine Kerze
umgestoßen. Und wie kommt es dann zu drei Brandherden?
Warum rief sie nicht die Feuerwehr? Warum reiste sie unter
falschem Namen an? Und wofür das erschlichene Morphium?
Der Spickzettel mit den Spritzen? Niemand glaubt ihr.
Er hört, was der psychiatrische Gutachter über seine eins-
tige Geliebte sagt: Es würden sich in ihrer Persönlichkeit auf-
fällige Normabweichungen zeigen, Übersensibilität, extremer
Ehrgeiz und die Unfähigkeit, Abweisungen und Niederlagen
zu ertragen. Sie neige zu übersteigerten Reaktionen. Doch
sie sei voll schuldfähig.
Aber er erfährt nicht, warum sie es getan hat. Weder die
Staatsanwälte noch der Psychiater können es ihm wirklich
sagen. Wollte sie sich an ihm rächen? An seiner Familie, weil
die ihrem Glück im Wege gestanden habe? Wollte sie nur Iris
umbringen? Und vielleicht die Kinder gar nicht töten, son-
dern später selbst an die Stelle der Mutter treten? Oder woll-
te sie seine ganze Familie auslöschen, damit er für sie frei sei?
Er findet keine Antwort. Aber er hört, wie die Geschwore-
nen zum ersten Mal seit 50 Jahren eine Frau in Dänemark
zu lebenslanger Haft verurteilen. Zuvor hat der Richter ih-
nen erklärt, dass allein die Worte von Benjamin für einen
Schuldspruch ausreichen würden.
Vier Wochen hatte der Vater an Benjamins Bett gestanden.
Seine Kollegen in der Klinik in Kopenhagen hatten dem Sie-

Fotos: L
benjährigen ein Bein und einen Fuß amputieren müssen. Aber
es half nicht mehr. Benjamin war noch am Tag des Brands in
ein Koma gefallen, aus dem er nicht mehr aufwachte.
Aber davor hatte er noch gesagt: „Es war die Frau mit dem
Feuer.“

020
Epilog: Heute lebt Victoria Moeller wieder
in Freiheit. Sie wurde 2010 auf Bewährung
entlassen und zog nach Jütland. Sie ist nun
nicht mehr allein. Während der Haft hat
sie einen Mann kennengelernt, der vorbestraft
ist, weil er seinen Stiefsohn getötet hat.
Die beiden haben geheiratet

crime 10 // 021
Durch diesen
Lederriemen starb
Boris F. Seine
Eltern glauben bis
heute, dass ihr
Sohn umgebracht
wurde

// asservat

TOD EINES GENIES


Die Polizei sagt, es sei Selbstmord gewesen. Doch im
Fall des Hackers „Tron“ sind noch viele Fragen offen.
Im Mittelpunkt: ein zu langer Gürtel

D
a lag der Gürtel nun vor ihnen, Während Polizei und Staatsanwalt- In den 80er und 90er Jahren war eine
eingepackt in einen Plastikbeu- schaft davon ausgehen, dass Boris F. Generation herangewachsen, für die
tel. An diesem schwarzen Rie- sich selbst getötet hat, glauben Eltern Computer selbstverständliche Haus-
men hatte man ihren Sohn Boris im wie Freunde, allen voran Andy Müller- haltsgegenstände waren, für manche so-
Oktober 1998 gefunden. Erhängt. Alter Maguhn vom Chaos Computer Club, gar der Lebensinhalt. Unter ihnen junge
Schmerz kam hoch, als die Eltern das bis heute, dass er ermordet wurde. Zu Menschen mit außergewöhnlichen Fä-
Beweisstück endlich vor sich hatten. viele Fragen sind ungeklärt. Suizid higkeiten, die bei Unternehmen und
Aber da war auch ein gutes Gefühl, Er- schien auch nicht zu Boris F. zu passen, Regierungsorganisationen sehr gefragt
leichterung. Jetzt gab es Gewissheit: der fröhlich war, voller Tatendrang und waren, für diese aber auch bedrohlich
Der Gürtel muss einem Fremden gehört zur Zeit seines Todes viele Pläne hatte. sein konnten. Boris war ein Held jener
haben, er war viel zu groß für Boris. Nun Und nicht zuletzt dürfte es genügend Blütezeit. Ein Genie, sagten manche.
konnten sie Druck machen. Die Ermitt- Leute gegeben haben, die daran inte- „Tron“ wurde er in der Hackerszene
ler würden klären müssen, wem dieses ressiert waren, dass Boris F. seiner genannt, nach der Figur eines Disney-
Stück Leder gehörte, durch das ihr Sohn Arbeit nicht mehr nachgehen konnte. Films. Er war, was man einen Nerd
gestorben war. Ob ein Fremder mit sei- Er war einer der begabtesten Hacker nennt. Mit 26 lebte er noch bei seinen
nem Tod zu tun hatte. seiner Zeit. Eltern, eine Freundin hatte er nie.

022 // crime 10
Wenn er nicht in seinem Kinderzimmer puter ließ er an. Fünf Tage später fan- rie versteift und alles andere außer Acht
tüftelte, hing er im Berliner Büro des den ihn Spaziergänger am Ast eines gelassen. Ob an dem Gürtel DNA-Spu-
Chaos Computer Clubs ab. Dessen Mit- Baums in einem Berliner Park. ren eines möglichen Täters waren, wur-
glieder verstanden sich damals wie Laut Obduktionsbericht war Boris F. de jedenfalls nie geprüft. Die Familie
heute als moderne Robin Hoods, die frühestens zwei Tage zuvor gestorben. reagierte mit Beschwerden. Ergebnis-
Missbrauch und Sicherheitslecks in der An seiner Leiche fanden sich keine los. Anfang 2002 kam dann ein Brief.
Informationstechnologie aufdecken, Kampfspuren, nur die typischen Ver- Sie könnten in der Asservatenstelle des
den Mächtigen in Wirtschaft und Poli- letzungen bei Tod durch Erhängen, in Amtsgerichts Tiergarten die Gegen-
tik auf die Finger schauen. seinem Blut waren keine Reste von Be- stände abholen, die bei ihrem Sohn ge-
Manche Hacker wollen mit ihren Fä- täubungsmitteln. Keine Hinweise auf funden worden waren, verpackt in zwei
higkeiten reich werden, teils auch auf einen Mord, sagten die Ermittler. Kartons und einen Umschlag. Die Er-
kriminelle Weise. Aber Boris F. zählte Doch die Eltern und Hackerfreunde mittlungen waren eingestellt.
zu den Aufklärern, sagen seine Freun- stellten immer neue Fragen. Was war Am 7. März 2002 öffneten die Eltern
de, ihm sei es nicht ums Geld gegangen. in den fünf Tagen nach seinem Ver- und Müller-Maguhn im Beisein eines
Mit wem er sich anlegte, war ihm egal. schwinden passiert? Wenn er erst drei Notars und eines Anwalts den ersten
Er knackte die Verschlüsselung der Pay- Tage später gestorben war, warum fand Karton, „AL 2000 Nr. 12197 XII 20“.
TV-Firma Premiere und entwickelte man dann in seinem Magen Reste der Darin in einem zerknitterten Plastik-
eine Smart Card, die alle Bezahlsender Kräuterspaghetti, die doch längst ver- beutel der Gürtel. Der Vater zeichnete
Europas frei zugänglich machen sollte. daut gewesen sein müssten? Könnte alles mit seiner Videokamera auf. Mül-
Der Markt war milliardenschwer, und es sein, dass er bereits am ersten Tag ler-Maguhn untersuchte das Asservat,
auch Kriminelle hatten Interesse an getötet wurde und die Mörder seine Lei- ohne es aus der Tüte zu holen. Er stell-
entschlüsselten Chips. „Tron“ provo- che kühlten, bis sie sie an den Baum te fest, dass das vorletzte Loch am häu-
zierte auch die Telekom, indem er Tele- hängten? figsten gebraucht worden war, dann
fonkarten entwickelte, deren Guthaben In den Monaten vor seinem Tod hat- nahm er Maß. 96 Zentimeter. Der
sich nie erschöpfte. Und er erfand ein te Boris F. von Geheimdienstlern und Bauchumfang eines kräftigeren Man-
abhör sicheres Telefon für ISDN-An- Geschäftsleuten erzählt, die ihn kontak- nes. Der spindeldürre Boris konnte den
schlüsse, das er weiterentwickeln woll- tierten. Hatten die ihn anwerben oder Gürtel nicht getragen haben. Aber wa-
te, damit auch Laien Daten im Internet aus dem Weg räumen wollen? Wer wa- rum sollte er sich mit dem Gürtel eines
verschlüsseln konnten. Das hätte Ge- ren die Männer, mit denen er laut Zeu- anderen erhängen? Und wo war sein
heimdiensten die Arbeit erschwert. gen am Nachmittag seines Verschwin- eigener geblieben? Im Gras neben der
„Boris hat sich viele Feinde gemacht“, dens in einer Kneipe gesessen hatte? Birke waren das schwere Handy und die
sagt Müller-Maguhn, der damals im Vor- Die Polizei schien wenig beein- Werkzeugtasche gefunden worden, die
stand des Chaos Computer Clubs war. druckt. Die Kühlhaustheorie: theore- Boris immer an seinem Gürtel befestigt
„Er war naiv und sah die Gefahr nicht.“ tisch möglich, aber abwegig. Auch für hatte. Sie hätten nicht an den dünnen
Der 17. Oktober 1998, an dem Boris die Kräuterspaghetti im Magen fand Riemen des Unbekannten gepasst.
F. verschwand, war ein sonniger Sams- sie eine Erklärung: Er hat später noch Der Anwalt schrieb an die Staatsan-
tag. Nach dem Mittagessen, es gab sei- mal welche gegessen, Pasta gibt es waltschaft. Betreff: „Wiederaufnahme
ne Leibspeise Spaghetti mit Basilikum- nicht nur bei der Mutter. des Ermittlungsverfahrens“, Begrün-
sauce, ging er hinaus. „Bin gleich wieder Die Eltern warfen den Ermittlern vor, dung: „Es ist ein neues Beweismittel
da“, rief er seiner Mutter zu, die Com- sie hätten sich auf die Selbstmordtheo- aufgetaucht.“ Am 8. Mai 2002 antwor-
tete der Staatsanwalt. Für eine Wieder-
aufnahme bestehe kein Anlass. „Dass
die Möglichkeit besteht, auch mit einem
fremden Gürtel Selbstmord zu begehen,
liegt auf der Hand.“
„AL 2000 Nr. 12197 XII 20“ lagert
heute im Tresor des Chaos Computer
Clubs. „Wir hoffen noch immer, dass die

Foto: Christoph Mac


Polizei die Ermittlungen irgendwann
Das Asservat mit der Num- Indizien, die auf ein Ver- wieder aufnimmt“, sagt Müller-Maguhn.
mer 12197 XII 20 ist für brechen hinweisen. Sein
Zu deutlich seien die Hinweise, dass
Andy Müller-Maguhn (r.) Freund „Tron“ habe sich
vom Chaos Computer Club mit seiner Arbeit viele Boris F. sich nicht selbst getötet hat.
nur eines von mehreren mächtige Feinde gemacht Veronica Frenzel

crime 10 // 023
Kein Respekt / Keine Fürsorge /

024
Keine Liebe / Keine Gnade

eine alte frau stirbt. die familie drängt auf den totenschein.
wenige stunden später umstellt die polizei ihr haus

von TOBIAS SCHMITZ

Foto: Anastasia P
crime 10 // 025
Er meidet die Leute im Dorf. Er meidet seine Nachbarn. Er meidet eigentlich alle Menschen. Er teilt
das Leben nur mit seiner Mutter. Die war einmal eine schöne Frau. Jetzt verfällt sie wie das Haus,
in dem sie zu zweit leben, zwischen Gerümpel, in moderig riechender Luft, ohne fließend Wasser,
ohne Stromanschluss, ohne richtige Heizung. Sie gehen kaum noch vor die Tür. Auch Mutter will
mit den Leuten nichts mehr zu tun haben. Die behandeln sie wie Aussätzige – seit damals. Abends,
im Schutz der Dunkelheit, entweicht Jens Fischer* mit seinem Hund für ein paar Minuten seinem
selbst geschaffenen Gefängnis. Dann kehrt er wieder zurück in jenes Haus, in dem vor 15 Jahren
seine Großmutter starb. Die Leute sagen, sie sei ermordet worden. Von ihm und seiner Familie.

G
erichtsmedizinische Untersu- aber sie muss sich schon wieder beeilen. zum Zimmer von Anna Fischer zu zei-
chung vom 14. August 2001, Sie ist immer in Eile. Zu wenig Zeit für gen. Nicht Martin, ihr 58 Jahre alter
aus dem Protokoll: zu viele Menschen. Ziegler, 52, arbeitet Sohn, ein dünner, unscheinbarer Mann,
„Leiche einer alten Frau. Die Leiche als Altenpflegerin. Viele Senioren, die der nie ein Wort an sie richtete. Erst recht
ist mit einem hellen, hautfarbenen sie besucht, sind ganz reizende Men- nicht Marianne, seine fünf Jahre jünge-
Korsett bekleidet. An den Füßen schen. Manche sind seltsam. Mit Anna re, attraktive Frau, Annas Schwieger-
heruntergerollte Nylon-Knie- Fischer aber ist es etwas Besonderes. tochter. Schmaler Mund, strenger Blick,
strümpfe, der rechte dunkelbraun, Die 82-Jährige lebt ganz allein in einem alles andere als herzlich. Sie ließ die Pfle-
der linke heller braun. Die Leiche Zimmer in einem riesigen Haus, das gerin durch das leer stehende Haus irren,
ist 148 cm lang und 61,7 Kilogramm früher mal eine Pension war. Stefanie bis sie die alte Frau zufällig fand.
schwer. Kopfhaar grauweiß, Ziegler betritt es nur ungern. Auch Jens Fischer, der Enkel der al-
schütter. Am rechten Ohrläppchen Nicht der herz- und zuckerkranken ten Frau, verhielt sich merkwürdig ab-
ein goldfarbener Ohrring mit Frau wegen, der sie jeden Tag Insulin weisend. Alle drei signalisierten ihr:
Stein. Ungepflegte Fußnägel.“ spritzt. Es liegt an Fischers Familie. Sie Verschwinde von hier! Nur: Warum?
lebt im Nachbarhaus, scheint sich um
14. August 2001. Stefanie Ziegler hat die alte Frau überhaupt nicht zu küm- „Hirngewicht 1120 Gramm,
keinen Blick für die Schönheit dieses mern. Unangenehme Leute. Noch im- Herzgewicht 344 Gramm, rechte
Morgens. Nicht für die Sonne, die sich mer geht Ziegler ihr erster Besuch im Lunge 476 Gramm, linke Lunge
im nahen Fluss spiegelt, nicht für das Hause Fischer nicht aus dem Kopf. Kei- 366 Gramm, Leber 1066 Gramm.
Blau des Himmels, nicht für die impo- ne Begrüßung, kein freundliches Wort. Milz 154 Gramm.“
sante Landschaft. Es ist erst acht Uhr, Niemand hielt es für nötig, ihr den Weg
Es ist 8.19 Uhr. Stefanie Ziegler schließt
die Haustür auf, geht in den ersten
Stock. Sie betritt das Zimmer der Se-
niorin. Das Bett ist leer. „Frau Fischer?“
Keine Antwort. Stefanie Ziegler geht in
Richtung Badezimmer. „Frau Fischer?“
Keine Antwort. Da sieht sie sie. „Frau
Fischer!“
Anna Fischer liegt auf dem Bauch,
leblos, in Unterwäsche, mit dem Kopf
unter der Toilette. Neben ihr ihre drit-
ten Zähne. Die Altenpflegerin läuft zu
den Nachbarn. „Schnell! Einen Notarzt!
Wir brauchen einen Notarzt!“ Stefanie
Ziegler trifft auf Marianne Fischer. Aber
die Schwiegertochter interessiert nicht,

F
was passiert ist. Sie wirkt vollkommen
unbeteiligt. Dreht sich in aller Seelen-
ruhe die Lockenwickler aus dem Haar.
Dann verweist sie die Altenpflegerin
Die Natur in dieser Gegend: erhaben. Hier lebt Jens Fischer, der Enkel der alten Frau des Grundstücks. „Verschwinden Sie!“
Marianne Fischer geht in den Garten
und hängt Wäsche auf.

* Alle Namen von der Redaktion geändert


026
„Es zeigt sich, dass die Totenfleck- „In der Gesichtshaut zahlreiche idyllisches, florierendes Gästehaus, in
ausbildung in der Oberbrust- punktförmige Blutaustritte, das sogar Politiker und Manager aus
region ganz korrespondiert mit ebenso in den Augenlidpartien der nahen Metropole einkehrten. Die
der oberen Grenze des Korsetts. In und der Rachenschleimhaut. Fischers galten damals als kleine Kö-
dem Totenfleckbereich finden sich Zeichen stumpfer Gewalteinwir- nige. Wohlhabend, einflussreich, an-
Aussparungen, die insgesamt an kung: Kratzer an der linken spruchsvoll. Manche erinnern sich an
eine große Schmetterlingsfigur Halsseite, grobfleckige Blutun- Anna Fischer als eine herrische, geizige
erinnern. Diese Schmetterlings- gen an der Halsvorderseite. Frau, die ihre Angestellten stets auf
figur hat eine Höhe von etwa 13 cm Weichteilblutungen über beiden Trab hielt, sie aber schlecht bezahlte.
und eine Gesamtbreite von 21 cm. Augenbrauenwulsten sowie Aber mit den Jahren wurden die
Der Schmetterling wirkt wie mit seitlich unter dem linken Auge. Zeiten für die Familie härter: Das Sä-
nach unten ganz schmal ausgezo- Weichteilblutungen an beiden gewerk ging pleite, 1995 starb der Pa-
genen Flügeln.“ Armen, über beiden Schulter- triarch. In den Folgejahren ging es mit
blättern, Blutungen im Lenden- dem Gästehaus bergab. Und Anna Fi-
Wenig später treffen Notarzt und Sani- bereich.“ scher wurde immer kränklicher und
täter ein. Sie sind verwirrt. Wo müssen gebrechlicher. Diabetes. Das Herz.
wir hin? Wo ist die alte Frau? Wo ihr Der Hausarzt trifft ein: Hanspeter Als die alte Frau im Februar 1996
Zimmer? Marianne Fischer weist mit Meinecke kennt die Verstorbene seit in ein Pflegeheim kommt, hat sie ihren
einer vagen Kopfbewegung in Richtung Langem. Die Fischers wollen den To- millionenschweren Besitz an Haus
Pension. Und hängt weiter Wäsche auf. tenschein. Schnell. Alte Frau, schwa- und Grund längst ihrem geliebten
Endlich findet der Arzt das Badezim- ches Herz, klare Sache. Aber der Haus- Enkel Jens überschrieben – mit der
mer. Doch er kann nichts mehr tun. arzt hat so ein Gefühl, das er nicht Auflage, das Grundstück nicht zu ver-
Anna Fischer ist tot, die Leichenstarre näher benennen kann. Immer wieder kaufen. Jens muss ihr auch ein lebens-
bereits ausgeprägt. „Unklare Todes- war in der Gegend getratscht worden. langes Wohnrecht einräumen. Ihr
ursache“, notiert der Notarzt. Für die Die Anna komme ja gar nicht mehr aus Sohn Martin und dessen Frau Mari-
eigentliche Leichenschau ist nicht er zu- dem Haus. Zwischen ihr und der anne gehen leer aus. Anna macht kei-
ständig. Das erledigt ein anderer Medi- Schwiegertochter herrsche blanker nen Hehl daraus, was sie von Sohn und
ziner: Anna Fischers Hausarzt. Hass. Erbstreitigkeiten. Der Arzt ist Schwiegertochter hält: Martin „tickt
Stefanie Ziegler ist schon auf dem sich sicher: unklare Todesursache. Er nicht richtig“, Marianne sei „ein
Weg zum nächsten Pflegefall. Aber sie muss die Polizei rufen. Ganz normal in Schrapnell“. Anna ahnt nicht, dass ihr
kann sich nicht mehr auf ihre Arbeit solchen Fällen. Enkel Jens das Grundstück später in
konzentrieren. Ihre Gedanken rasen: Die Fischers starren ihn an. Die Poli- eine von ihm kontrollierte GmbH
Anna Fischer tot. Tot! Hatte sie nicht zei rufen? Kommt gar nicht infrage! überführen wird, um es so dennoch
von ihrer Angst gesprochen, sterben zu Schon gar nicht von unserem Telefon verkaufen zu können.
müssen? Die Altenpflegerin hatte die aus! Raus! Raus mit Ihnen, Herr Dok- Und längst besitzt Jens Fischer eine
Worte nicht allzu ernst genommen. Äl- tor! Sie setzen ihn einfach vor die Tür. Generalvollmacht – auch für die Kon-
tere Menschen reden oft vom Sterben. ten der Großmutter –, um ihre Ge-
Andererseits: Die alte Frau hatte be- „Als Todesursache ist von einem schäfte zu regeln. Der Enkel habe im-
unruhigende Dinge erzählt. „Meine Erstickungsvorgang und damit mer wieder Geld abgehoben, beschwert
Familie behandelt mich wie ein Tier“, von einem nicht natürlichen Tod sich Anna, sie sehe davon keinen Cent.
hatte sie gesagt. Sie sei in eine Truhe auszugehen.“ „Die geben mir nichts“, klagt sie ihrem
gesperrt worden. Man habe in ihrem Freund Bernhard Graf. Für die Fischers
Zimmer im ersten Stock eine Balkontür ist die alte Frau vor allem teuer. Das
eingebaut. Dabei gebe es gar keinen Pflegeheim kostet monatlich 5000

I
Balkon! Eine Falle! Sie solle umge- m Nachbarstädtchen lebt ein Mark – das Sozialamt verlangt Geld
bracht werden. Stefanie Ziegler hatte Mann, der sich bis heute fragt, ob zurück. Was ließe sich da sparen!
sich die Fassade des Hauses angesehen. er den Tod der alten Frau nicht Die Fischers überreden Anna, das Se-
Tatsächlich. Im ersten Stock: eine Bal- hätte verhindern können: Bernhard niorenheim wieder zu verlassen. „Du
kontür ohne Balkon. Dafür war sogar Graf kannte Anna seit seiner Kindheit. kannst doch bei uns im Gästehaus woh-
die schön verzierte Fassade zerstört Sie war Hausmädchen bei seinen Groß- nen. Wie früher!“ Obwohl eine Freun-
worden. Wer hatte das getan? Und wa- eltern gewesen. Später heiratete sie din sie eindringlich davor warnt,
rum? Welche Familie bringt schon die einen wohlhabenden Mann aus dem stimmt Anna Fischer zu. Sie sehnt die
eigene Oma um? War Anna Fischer Ort, Sägewerkbesitzer, eine wirklich alten Zeiten zurück. Als ihr Wort hier
nicht einfach verwirrt? gute Partie. Und betrieb schließlich ein im Ort noch etwas galt.

crime 10 // 027
Am 31. Januar 2001 kehrt Anna Fi- Doch am 11. August 2001 überrascht die Fischers befragen. Sie werfen ihn
scher nach Hause zurück. Bald darauf Graf die alte Frau mit einer Nachricht: hinaus. Das dürfen sie, denn noch sind
beginnt ihr Martyrium. Sie ist in dem „Ich fahre in den Urlaub. Ich kann mich sie keine Beschuldigten. Aber die Poli-
leer stehenden Gästehaus vollkommen drei Wochen nicht um dich kümmern.“ zei lässt den Körper der Toten nun in
auf sich allein gestellt. Ihre Familie Anna Fischer erstarrt. „Die werden die Rechtsmedizin bringen, wo er noch
kappt alle Verbindungen zur Außen- mich umbringen!“ Graf versucht sie zu am selben Tag obduziert wird.
welt. Kein Telefon. Keine Klingel. Die beruhigen. Ach Anna, so schlimm wird
Sprechverbindung zur Haustür wird es schon nicht werden. Dann fliegt er „Die Obduktion der Leiche der
unterbrochen. Anna Fischer bekommt in die USA. Drei Tage später ist Anna Anna Fischer erbrachte Befunde,
nur wenig zu essen, die Heizung bleibt Fischer tot. wie sie bei Erstickungsvor-
kalt. Die Bettwäsche wird wochenlang Sie liegt im Bad, mit dem Kopf unter gängen, wie sie aber auch
nicht gewechselt. der Toilette. Unklare Todesursache. bei direkter Gewalteinwirkung
Als ihr alter Freund Bernhard Graf Hausarzt Meinecke, von der Familie aus gegen den Hals sowie auch
nach dem Rechten sieht, ist er entsetzt. dem Haus geworfen, ruft seinen Kolle- gegen andere Körperregionen zu
Auch über das, was ihm Anna Fischer gen Sven Beerbaum an: „Wenn sich die beobachten sind. Bezüglich der
über ihre Familie berichtet: „Sie behan- Fischers bei dir melden, sieh dich vor. augenscheinlich erstickungs-
deln mich schlecht! Sie haben mich Da stimmt etwas nicht.“ Jens Fischer bedingten Befunde ist vor allem
nachts nackt in einen Käfig gesperrt!“ und sein Vater erscheinen tatsächlich ein Geschehen in Betracht zu
Graf weiß nicht, was er glauben soll. Als gegen 10 Uhr persönlich in Beerbaums ziehen mit Ver legung von Mund
er sich bei Familie Fischer erkundigt, er- Praxis, es gebe einen Notfall. „Was für und Nase evt. in Kombination
teilt die ihm ein Hausverbot. Graf lässt ein Notfall?“ Die Fischers eiern ein we- mit einer Halskompression.
nicht locker. Er informiert den Haus- nig herum. Genau genommen handele Dieser Befundkomplex ist zu-
arzt, der bei Anna Fischer Verwahrlo- es sich um einen Todesfall, es sei nur gleich als todesursächlicher
sung feststellt. Vom 12. Juli 2001 an ein kurzer Besuch vonnöten, man brau- Befundkomplex anzusehen.“
kümmert sich täglich ein Pflegedienst che lediglich einen Totenschein.
um die alte Frau. Sie scheint gerettet. Beerbaum fährt ins Gästehaus, unter- Ein Tötungsdelikt also. Und Angehö-
sucht die Leiche. Er kommt zum selben rige, die alles tun, um höchst verdäch-
Ergebnis wie sein Kollege: ungeklärter tig zu erscheinen. Martin, Marianne
Todesfall. Martin Fischer und sein Sohn und Jens Fischer sollen festgenommen

D
as Blatt wendet sich einen knap- bedrängen den Arzt. Alte Frau, schwa- werden. Aber die drei Verdächtigen
pen Monat später: Am 8. August ches Herz. Ist doch klar, wie sie ge- verschanzen sich in ihrem Haus. Die
besucht eine Mitarbeiterin des storben ist. Beerbaum bleibt hart. Und Polizei alarmiert ein Sondereinsatz-
Gesundheitsamtes die Seniorin. „Ich will verständigt die Polizei. kommando.
zurück ins Heim“, klagt Anna Fischer. 12 Uhr. Zwei Beamte erscheinen. Die So ein Aufgebot an Mensch und Ma-
Die beiden sprechen über die General- Türen zum Nachbarhaus, in dem die terial hat der kleine Ort noch nicht ge-
vollmacht, die sie ihrem Enkel erteilt hat. Fischers leben, sind verschlossen. Die sehen: überall Polizei, Feuerwehr,
Nun möchte die alte Frau sie widerrufen. Polizisten klingeln Sturm. Über die Krankenwagen. Das Gebiet wird weit-
Die Besucherin vom Amt bittet Mari- Sprechanlage meldet sich eine Frau, räumig abgesperrt.
anne Fischer um ein Stück Papier. Die offenbar überrascht. Aber Marianne 20.30 Uhr. Als die Einsatzkräfte den
Schwiegertochter ist empört: „Kommt Fischer will die Beamten weder ins Ring um das Haus noch nicht ganz ge-
gar nicht infrage!“ Schließlich wider- Haus lassen noch ihre Personalien schlossen haben, versucht sich Martin
ruft Anna Fischer die Vollmacht auf der nennen. Jens Fischer taucht auf. Er no- Fischer davonzuschleichen – mit einer
Rückseite einer Broschüre. Sie ent- tiert sich das Kennzeichen des Polizei- Schubkarre. Darin: ein Eimer. Darin:
gleitet der Kontrolle ihrer Familie. Ihr autos und verweist die Beamten des ein geladener Revolver. Vater Fischer
Todesurteil? Grundstücks. wird entdeckt. Er will nach der Waffe
Bernhard Graf besucht die Freundin Eine gute halbe Stunde später geht in greifen. Eine Polizeibeamtin überwäl-
weiterhin regelmäßig – auch wenn das einem 650 Kilometer entfernten Bestat- tigt ihn. Festnahme.
der Familie nicht passt. „Mischen Sie tungsinstitut ein bizarrer Anruf ein. Aber noch immer befinden sich Jens
sich nicht in unsere Angelegenheiten Hier Fischer. Wir bräuchten einen Lei- Fischer und seine Mutter im Haus. Es
ein!“, schnauzt Marianne Fischer ihn chentransport. Wann? Ganz schnell! wird Nacht. Die Polizei wartet ab. Dann,

Fo
an. Graf kommt trotzdem wieder. Meist 13 Uhr. Die Kriminalpolizei rückt an. der neue Tag ist schon angebrochen, die
ist die Haustür unverschlossen, er hat Das Gasthaus ist verschlossen. Ein letzte, unmissverständliche Aufforde-
keine Mühe, zu der schwer kranken Schlüsseldienst sperrt auf. Der Kripo- rung: Hier spricht die Polizei. Kommen
Frau zu gelangen. Mann untersucht die Leiche und will Sie mit erhobenen Händen heraus!

028 // crime 10
Bernhard Graf fragt sich noch immer, ob er seine Freundin
hätte retten können, wäre er nicht in Urlaub gefahren

029
2009 zwangsversteigert. Den Zuschlag
erhält eine Unternehmerfamilie. Sie
will das Haus abreißen und Wohnhäu-
ser errichten.

D
er kleine Ort im Sommer 2016.
Menschen gießen die Blumen in
ihren Vorgärten. Die Geranien
stehen in voller Blüte. Auch in einem
Marianne Fischer (r.), die Schwiegertochter, nach ihrer Verhaftung
Blumenkübel vor dem Gästehaus, in
dem Anna Fischer starb. Das Gebäude
steht noch immer, aber es leidet. Spinn-
Marianne Fischer tritt auf den Bal- Rücksicht auf fremde Verluste. Ich kann weben überall, aus einer kaputten Re-
kon, in der Hand eine Waffe, die sich und werde es nicht hinnehmen, dass genrinne tropft Wasser. Die Türen und
später als Gaspistole entpuppt. Sie feu- charakterlose Elemente der Gesellschaft Fenster im Erdgeschoss sind von Bü-
ert in den Garten, in Richtung der SEK- uns besiegen. Wir müssen den Gegner schen und Sträuchern überwuchert.
Beamten. entwaffnen. Deshalb setze ich in Deinen Im zweiten Stock stehen die Fenster
15. August 2001, 2 Uhr. Das SEK Verstand und Deine Schönheit.“ offen. Jens Fischer und seine Mutter
stürmt das Haus. Ende. Untersu- Dem Gericht läuft die Zeit davon. Marianne sind zurückgekehrt, sie ha-
chungshaft. Ohne Beweise wiegt das Schweigen der ben das Haus, das längst nicht mehr ih-
März 2002. Vor dem Landgericht Angeklagten doppelt schwer. Im Febru- nen gehört, wieder in Besitz genom-
beginnt der Prozess. Vorwurf: gemein- ar hebt das Gericht die Untersuchungs- men. Wovon sie leben? Niemand weiß
schaftlicher Mord. Motiv: Habgier. Die haft auf. Wenig später steht die Familie es. Die rechtmäßigen Eigentümer wol-
Fischers hätten zu verhindern versucht, in der Turnhalle und gibt wie selbst- len das Haus zwangsräumen lassen. Die
dass Anna wieder ins Heim kam. Sie hät- verständlich ihre Stimme bei der Kom- Polizei befürchtet das Schlimmste. Was,
ten die Pflegekosten nicht zahlen wollen. munalwahl ab. Im Dorf: Entsetzen. Am wenn die Fischers bei einer Räumung
Auch hätte Anna Fischer nach dem Wi- 2. Mai 2002 verkündet der Vorsitzende allem ein Ende machen und sich mit
derruf der Generalvollmacht die dubio- Richter das Urteil. Er lässt erkennen, den Gasflaschen, die sie zum Heizen
se Übertragung des Grundstücks in die dass das Schwurgericht nicht den brauchen, in die Luft jagen? Wenn es
GmbH ihres Enkels verhindern können. Hauch eines Zweifels daran hat, den so weit ist, dürfte wieder das Sonder-
Doch vor Gericht stellt sich heraus: oder die wahren Täter vor sich zu ha- einsatzkommando die Sache überneh-
Es gibt keine Beweise, die die Fischers ben. Niemand anderes komme infrage. men. Sicher ist sicher. Gelingt die Räu-
als Mörder überführen. Keine Zeugen, Aber wer war es genau, der Anna Fi- mung, werden womöglich die Eigentü-
keine eindeutigen DNA-Spuren, nichts. scher vermutlich mit einem Kissen mer Türen und Fenster zumauern lassen.
Schon jetzt spekuliert die Presse, ob erstickte? Wer war Mörder, wer Mord- Vater Fischer ist inzwischen verstor-
hier ein „perfekter Mord“ gelungen kumpan? Die Richter wissen es nicht. ben. Mutter und Sohn hausen gemein-
sei. Martin, Marianne und Jens Alle drei müssen freigesprochen wer- sam in der Vergangenheit, im Gäste-
Fischer bestreiten die Tat – schweigen den – aus Mangel an Beweisen. haus, Tür an Tür zu jenem Raum, in
zu den Umständen des Todes aber Der kleine Ort ist in Aufruhr. Die dem Anna Fischer starb. „Die sind nicht
eisern. Trotz dieser Strategie bringt der Fischers frei? Ja, hat der Herrgott denn ins Gefängnis gekommen, aber leben wie
Prozess bizarre Details ans Tageslicht. keinen Sinn für Gerechtigkeit? Die Gefan gene“, sagt jemand im Ort. „Das
Vor Gericht werden äußerst ungewöhn- Fischers werden endgültig zu Ausge- ist ihre Strafe: mit uns hier leben zu
liche Liebesbriefe von Jens Fischer an stoßenen. In Geschäften weigert sich müssen.“
seine Mutter verlesen: das Personal, sie zu bedienen. Die Leu-
„Meine tiefstherzinnigste Verbind- te flüstern. Mörderbande! Bringen die Er mag die Leute nicht. Im verwilderten
lichkeit zu Dir wird wie ein Weizenkorn Oma um und gehen dann sonntags in Garten des Gästehauses steht Jens
aufgehen und zur strahlenden Wieder- die Kirche! Am Stammtisch entbren- Fischer und mäht mit einer Motorsen-
erstarkung unserer eigenen Triebkraft nen Diskussionen: Die Marianne war se das hohe Gras. „Herr Fischer? Haben

Fo
und eigenen Tatkraft führen“, heißt es es! Die und ihr Sohn! Oder doch der Sie Ihre Großmutter umgebracht?“ Hat
da. Und: Der Teufel solle ihre Feinde Martin? er die Frage gehört? Er dreht sich nicht
„bei lebendigem Leib über den Spieß Die Fischers fliehen, angeblich bis mal um. Er stellt die Sense aus und ver-
drehen. Wir müssen kämpfen ohne nach Ungarn. Das Gästehaus wird schwindet im Haus.

030 // crime 10
Journalismus Schicken Sie
uns Ihre Vorschläge:
Einsendeschluss:
6. Januar 2017
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Für inszenierte Fotografie.

Foto: Oliver Schw veranstaltet vom


// ein polizist und sein land

JEAN L., BELGIEN


bei einer Durchsuchung plötzlich ge-
schossen. Wir schickten unsere Zugriff-
spezialisten hin. Abdeslam war in der
Wohnung, konnte aber fliehen. Wir
nahmen ihn später in Molenbeek fest.
Wie realistisch sind die vielen
Filme über Spezialeinsatzkräfte?
Eher unrealistisch. Nehmen Sie Geisel-
nahmen: Im Kino trifft da der Einsatz-
leiter alle Entscheidungen und spricht
mit den Kriminellen. In Wirklichkeit
arbeiten wir als Team. Geschulte Spe-
zialisten führen die Verhandlungen, an-
dere analysieren die Entwicklung, und
wieder andere bereiten den Zugriff vor.
Und die Einsatzleitung gibt das Okay
Commissaire L., 48, von der Direction des Unités Spéciales, den Spezialkräften erst, nachdem sie sich mit Kollegen aus
der belgischen Polizei, muss aus Sicherheitsgründen anonym bleiben anderen Bereichen besprochen hat.
Ist es nicht zermürbend, häufig in
Notsituationen zu arbeiten?
Unsere Beamten werden zwar danach

H
err L., seit den Anschlä- ausgesucht, ob sie stressresistent sind
gen von Paris, die von und unter Druck einen kühlen Kopf
Brüssel aus geplant wur- bewahren, aber die Arbeit ist trotz-
den, gilt Ihre Hauptstadt als Verbrechen in Zahlen dem sehr belastend. Nach besonders
Brennpunkt des Terrorismus. schwierigen Einsätzen, zum Beispiel
Haben Sie mehr Arbeit? wenn einer von uns verletzt wurde,
Ja. Auch deswegen werden wir bald
547 können sie auf Wunsch eine psycho-
POLIZISTEN
100 zusätzliche Kollegen einstellen. Wir arbeiten bei den Spezialkräften logische Supervision bekommen. Wir
arbeiten ja nicht nur in der Terrorbe- versuchen außerdem, Stress durch
kämpfung, sondern in allen Bereichen Training zu reduzieren: Zugriffe wer-
der Schwerkriminalität, wenn unsere 150 den so wirklichkeitsnah wie möglich
Fertigkeiten gefragt sind. VON IHNEN eingeübt, damit die Abläufe im Ernst-
Was sind Ihre Fertigkeiten? sind pro Woche in Bereitschaft. fall so eingeschliffen sind, dass es sich
Sie müssen 24 Stunden am
Wir führen gefährliche Festnahmen Tag erreichbar und jederzeit fast wie Routine anfühlt.
durch, kommen bei Geiselnahmen zum einsatzfähig sein Es dürfte nicht einfach sein, in
Einsatz, kümmern uns aber auch um Ihrem Job Familie zu haben.
komplexe Observierungen oder unter- Stimmt. Wer gerade in Einsatzbereit-
stützen die Kollegen technisch, indem 250 schaft ist, muss jederzeit damit rech-
wir etwa Kriminelle abhören. Manch- BEAMTE nen, dass es losgeht, auch wenn er ge-
der Unités Spéciales waren
mal schleusen wir auch unsere verdeck- rade zu Hause sitzt. Da braucht man
an der Jagd nach dem Attentäter
ten Ermittler ein. Salah Abdeslam beteiligt jemanden an der Seite, der für diese
2016 wurde in Brüssel einer der Lebensentscheidung Verständnis hat.

Fo
Attentäter von Paris festgenom- Jeder von uns wird bestätigen: Die
men. War Ihre Einheit beteiligt? wahren Helden sind unsere Partner
Ja. Salah Abdeslam schien wie vom und unsere Kinder.
Erdboden verschwunden. Dann wurde Interview: Margherita Bettoni

032 // crime 10
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DASDING
undseingeheimnis

WAS MACHT DEN FORTSCHRITT DER ZIVILISATION AUS? DAS WERKZEUG.


WAS IST SYMBOL UNSERES MORALISCHEN STILLSTANDES? DIE TATWAFFE.
DER FOTOGRAF THOMAS EVALDSEN INSZENIERTE ASSERVATE
AUS DEM DÄNISCHEN POLIZEIARCHIV.

EINE MEDITATION ÜBER DIE DÜSTERE SEITE DER OBJEKTE

von STEPHAN MAUS fotos THOMAS EVALDSEN

034
FLEISCHWOLF
Nørrebro, Kopenhagen, 1948

Eine Frau wies einen Mann


ab. Er zertrümmerte
ihren Schädel mit einem
Fleischwolf

crime 10 // 035
ARMBRUST
Hellerup, Seeland, 1993

Ein Mann hatte Schul-


den bei seinem besten
Freund. Er konnte das Geld
nicht mehr zurückzahlen.
Er erschoss seinen Freund
mit einer Armbrust

036 // crime 10
crime 10 // 037
KRAWATTE
Bispebjerg, Kopenhagen, 1955

Ein Mann beschloss, seine


ganze Familie auszulöschen
und anschließend Selbst-
mord zu begehen. Das Einzige,
was ihm gelang: seine zehn-
jährige Tochter mit einer
Krawatte zu erdrosseln. Die
Polizei fand das Mädchen im
Keller des Familienheims

038 // crime 10
crime 10 // 039
GESCHOSSE
Slagelse, Seeland, 2005

Ghazala Khan hatte


geheiratet. Doch nicht
den Mann, der ihr von
ihrer Familie bestimmt
worden war. Ihr Vater
sah die Familienehre ver-
letzt und befahl seinem
Sohn, die junge Frau
zu töten. Der Sohn er-
schoss seine Schwester
am Eingang zum
örtlichen Bahnhof

040 // crime 10
HERDPLATTE
Maribo, Lolland, 1982

Frede Sander Jensen


vergewaltigte das zehn-
jährige Nachbarmädchen
Malene. Danach erwürgte
er es. Die Ermittlungen
ergaben, dass Jensen noch
weitere Mädchen miss-
braucht hatte. Während
seiner Gefängnisstrafe ver-
suchten seine Mithäftlinge,
ihn mit einem Spieß zu
töten. Daraufhin wurde
Jensen verlegt. In der
nächsten Strafanstalt setz-
ten seine Mitgefangenen
ihn auf eine Herdplatte
und schmorten ihn

crime 10 // 041
Z
ivilisation beginnt mit 1735 erfand François de Cuvilliés der In den 1920er Jahren begann der New
Werkzeug. Mit dem Werk- Ältere den ersten gemauerten Herd mit Yorker Schneider Jesse Langsdorf, den
zeug tritt der Mensch aus aufliegender Eisenplatte, auf der die Stoff diagonal zur Webrichtung zu ver-
sich heraus, verstärkt, ver- Kochtöpfe platziert wurden. 1893 wurde arbeiten. Langsdorf hatte festgestellt,
bessert, erweitert die Funk- ein erster Elektroherd auf der Weltaus- dass sich Krawatten so besser binden lie-
tionen seines Körpers. Mit dem Werk- stellung in Chicago präsentiert. Es dau- ßen. Heißt Fortschritt nicht immer auch
zeug ergreift der Mensch die Macht erte, bis sich die neuen Kochstellen Optimierung der Kraftübertragung?
über die restliche Schöpfung. Am An- durchsetzen konnten. Zu unheimlich Durch diese Schneidertechnik ist das
fang der menschlichen Kulturgeschich- war den Menschen die unsichtbare Krawattenmuster noch heute oft diago-
te steht das nutzbar gemachte Ding. Energiezufuhr. Sie fanden, die Gerichte nal. Im „amerikanischen Schnitt“ zeigt
Erst das Ding, dann die Kultur. schmeckten „elektrisch“. Aus dem wuch- das Krawattenmuster eine Diagonale
Das älteste bekannte Werkzeug ist tigen Elektroherd entwickelte sich Mitte von oben links nach unten rechts. Im
der Chopper. Ein Stück Geröll, dessen des vergangenen Jahrhunderts die trag- „europäischen Schnitt“ zeigt das Muster
Kante bearbeitet wurde. So entstand bare Kochplatte für moderne Nomaden. von unten links nach oben rechts.
das erste Schneidegerät der Steinzeit. In den 80er Jahren setzten Insassen 1955 erdrosselte ein Mann in Kopen-
Der Chopper wurde vor etwa drei Mil- einer Strafanstalt im dänischen Städt- hagen seine zehnjährige Tochter mit
lionen Jahren benutzt. Nach und nach chen Maribo auf der Insel Lolland einer Krawatte in europäischem
erweiterte die große Werkstatt der ihren Mitgefangenen, den Kindsver- Schnitt. Die Polizei fand das Mädchen
Menschheit ihr Sortiment: Faustkeil, gewaltiger und -mörder Frede Sander im Keller des Familienheims.
Handsäge, Schlagbohrer. 1935 führte Jensen, auf eine elektrische Herdplat- Was ist ein Ding? Der Philosoph
die deutsche Firma Ackermann & te. Und schmorten und schmorten ihn. Martin Heidegger schrieb: „Der Krug
Schmitt aus Steinheim an der Murr den Vor über 30 000 Jahren begann der west als Ding. Der Krug ist der Krug als
Trennschleifer ein. Mensch erste Näharbeiten. Seine Kno- ein Ding. Wie aber west das Ding? Das
Im Jahre 2000 würgte Peter Lundin chennadeln hatten ein gespaltenes Ding dingt.“ Raunend umkreisen Phi-
seine Freundin und ihre beiden Söhne, Ende, durch das Tierdarm oder Sehnen losophen und Dichter das Geheimnis
brach ihnen mit bloßen Händen das Ge- geführt wurden. Damit fertigte er Über- der Dinge. Versuchen, ihm den Indi-
nick und fror ihre Körper ein. Dann griff würfe aus Tierfell. Der Mensch zog von zienprozess zu machen. Doch stumm
er zum Werkzeug. So, wie es der Mensch Höhle zu Hütte, von Hütte zu Häus- steht das Ding vor ihnen, mauert, ver-
seit etwa drei Millionen Jahren tut. Mit chen, und die Mode wurde immer rät von sich: erst einmal nichts.
einem Trennschleifer zerteilte er die raffinierter. Im alten Rom schützen Sicher ist: Ein Ding ist gefrorene
steifen Opfer und verteilte sie auf ver- Soldaten ihren Hals mit einem Tuch, Zivilisation. In ihm konzentrieren sich
schiedene Abfalleimer. Die Körperteile genannt „Focale“. Ab dem 17. Jahrhun- Kultur, Technik, Design. Man kann die
wurden nie gefunden. dert trugen Männer eine Halsbinde, ganze Menschheitsgeschichte an Din-
Vor etwa einer Million Jahren lernte Vorläufer der Krawatte. Im Jahre 1827 gen entlangerzählen. Neil MacGregor
der Mensch, das Feuer zu zähmen. führte der französische Adelige Saint- hat dies mit seinem Buch „Geschichte
34000 Jahre alt sind die tönernen Herd- Hilaire in seinem Buch „L’Art de mettre der Welt in 100 Objekten“ gezeigt.
stellen, die Archäologen auf der griechi- sa Cravate“ bereits 32 verschiedene An ausgewählten Exponaten aus dem
schen Halbinsel Peloponnes entdeckten. Knoten auf. British Museum zeichnet er ein Porträt

042 // crime 10
der menschlichen Zivilisation über die TRENNSCHLEIFER Kleinkinder suchen sich ein Ding, das
Jahrtausende. Rødovre, Seeland, 2000 sie mit sich führen. Stofftier, Schmuse-
Das Ding ist der Fetisch der moder- Peter Lundin würgte tuch, Kissen. Psychologen nennen es
nen Warengesellschaft. Aber es berührt seine Freundin und „Übergangsobjekt“. Laut dem Psycho-
ihre beiden Söhne und
auch uns selbst. Es ist Objekt unserer analytiker Donald Winnicott hilft es dem
brach ihnen mit bloßen
Sehnsüchte. Spendet Trost. Mit seiner Händen das Genick. Er Kind, die frühkindliche Beziehung zur
Hilfe definieren wir uns selbst. Wir fror die drei Leichen ein Mutter in eine reifere Beziehung zu ver-
sammeln um uns herum Dinge, um und zerteilte die steifen wandeln. Es ist ein Stück Welt, das man
Körper anschließend
unserem flüchtigen Selbstbewusstsein in die Hand nehmen kann. Im Objekt
mit einem Trennschleifer.
etwas mehr Konsistenz zu verschaffen: Die Körperteile wurden eignen sich Kinder die Welt an. Sie ler-
Kette, Kastanie, Angelschnur. Etwas nie gefunden nen, das Dinghafte, das unkontrollierbar
Ungreifbares wird im Ding greifbar: vor sich hindingt, zu beherrschen.
verlorene Zeit, entfernte Freunde, ver- Schleifen es mit sich, setzen es neben
flossene Liebe. In den Dingen unseres sich. Im Ding wird die Welt gezähmt.
Besitzes spiegeln wir uns selbst. Sie Doch manchmal schlägt das Ding zu-
scheinen magische Kraft zu haben. „Wir rück. In der Tatwaffe konzentriert sich
definieren uns über Gegenstände“, sagt nicht nur eine ganze Zivilisation, son-
die Schriftstellerin und Rumänien- dern materialisieren sich auch Gewalt
Exilantin Herta Müller. und Verbrechen.

crime 10 // 043
PACKPAPIER
Kopenhagen, 1916–1920

Per Zeitungsinserat suchte


Dagmar Overbye nach un-
ehelichen Kindern und bot an,
sie gegen Bezahlung in ihre
Obhut zu nehmen. Meist noch
am Tag der Kindsübergabe
erdrosselte sie ihre Schützlinge
mit einer Schnur und ver-
brannte sie in einem Kachel-
ofen. Acht Morde wurden ihr
nachgewiesen. Doch sie gab
zu, noch weit mehr Kinder
umgebracht zu haben. Hier
sind die Überreste eines ihrer
Opfer zu sehen, das nicht
verbrannt, sondern in Pack-
papier gewickelt wurde

044 // crime 10
crime 10 // 045
Wird ein Alltagsgegen- rinde. Erst nach längerer Be-
stand zu einer Tatwaffe, trachtung schälen sich die
symbolisiert die Zweck- Konturen des Babys aus dem
entfremdung das Paradox Bild heraus. Den Arm er-
einer technisch sich im- hoben, als wollte es sich vor
mer weiter entwickelnden der Mörderin schützen. Es
Gesellschaft, die mora- ist dieses Asservat, das den
lisch auf der Stelle tritt. Fotografen am meisten be-
Im Laufe der Mensch- rührt. „Ich habe selbst zwei
heitsgeschichte wird der Söhne“, sagt er.
Stein zum Faustkeil, der Evaldsen fotografierte die
Faustkeil wird zur Säge, meisten seiner Objekte im
und die Säge zum Trenn- Keller des Polizeiarchivs. Sei-
schleifer. Doch Mord ne Ästhetik: den Dingen Le-
bleibt Mord bleibt Mord. ben einhauchen. Er drehte
Der Mensch, so sagen sie, betrachtete sie von allen
Messer, Armbrust, Winkelschleifer, Seiten, suchte interessantes Lichtspiel
bleibt des Menschen Wolf. PISTOLEN auf ihren Oberflächen. Er spürte ihr Ge-
Die Mordwaffe ist metaphysisches Nørrebro, Kopenhagen, 1951 wicht, wog sie in der Hand. Dinge, die
Spekulationsobjekt. In ihr verdichtet Zwei Männer waren Zellen- andere Menschen ausgelöscht hatten.
sich das Rätsel des Todes. Durch jenes genossen im Staatsgefängnis Die Krawatte eines Mörders legte er
fatale Objekt vollzog sich das Unbe- von Horserød. Nach ihrer sich selbst um den Hals, um den Kno-
Freilassung versetzte der
greifliche: der Übergang vom Leben eine den anderen in Hypnose.
ten zu binden. In optimaler Kraftent-
zum Tod. In der Mordwaffe fließen zwei Der Mann in Trance über- faltung übte der Stoff Druck auf seine
Existenzen zusammen: die des Mör- fiel eine Bank und erschoss Kehle aus. Die tödliche Seide fühlte sich
ders und die des Opfers. Nüchtern und dabei einen Angestellten. gespenstisch an auf seiner Haut. Euro-
Der Hypnotiseur wurde
kühl scheint das Asservat. Objektiv. zu lebenslänglicher Haft
päischer Schnitt.
Doch es gibt wohl wenig Subjektiveres. verurteilt. Der Räuber wurde Seine Objekte fixierte Evaldsen mit
Die Mordwaffe ist das finale Über- in eine psychiatrische einer Angelschnur, um sie schweben zu
gangsobjekt. Gebannt betrachten wir Anstalt eingewiesen lassen. Dann begann er, Schatten zu
dieses moderne Totem, als könnte es modellieren. Evaldsen ist Schatten-
uns das Geheimnis von Leben und Tod Skulpteur. Durch klug gesetztes Licht
enthüllen. Ebendiese Aura macht die erhalten die Asservate Volumen und Be-
beschwörende Kraft von Tatwaffen- drohlichkeit. Die Alltagsgegenstände er-
Asservaten aus. So spürte Evaldsen Asservate von scheinen wie herausgefallen aus einem
Es war ein ikonisches Ding, das dem Fällen auf, die die dänische Kriminal- Thriller, der seinen Schrecken durch
dänischen Fotografen Thomas Evaldsen geschichte prägen und die Gesellschaft nüchterne Zurückhaltung potenziert.
die Idee für eine Fotoserie über Tatwaf- veränderten. Einer davon: der Fall der Einer dieser Thriller spielte sich 1948
fen gab. Evaldsen liebt Museen. Dort Kachelofen-Mörderin. In den Jahren in Kopenhagen ab. Ein Mann ermorde-
holt er sich Inspiration. In einem Mu- 1916 bis 1920 suchte Dagmar Overbye te eine Frau. Wohl, weil sie ihn abge-
seum in Kopenhagens Norden entdeck- per Zeitungsinserat uneheliche Kinder, wiesen hatte. Er zertrümmerte ihren
te er das riesige Ölgemälde einer Pis tole. die sie gegen Bezahlung in ihre Obhut Schädel mit einem Fleischwolf. Von Tä-
Er war gebannt. Evaldsen, der als Wer- nahm. Meist noch am Tag der Über gabe ter und Opfer bleiben uns keine Namen.
befotograf schon so viele Objekte foto- brachte sie die Kinder um. Sie erdros- Doch aus dem Metallobjekt wölbt sich
grafiert hatte, war fasziniert von dem selte sie und verbrannte sie in einem das Wort „Stockholm“. Die Buchstaben
Ding, das die Kehrseite der glitzernden Kachelofen. Dieser Fall war einer der scheinen aus dem schweren Gusseisen
Warenwelt symbolisierte. Vor sich hat- Gründe für die Einführung einer Iden- hervorzuquellen. Wie unter dem Druck
te er das Werkzeug des Bösen. tifikationsnummer für jeden dänischen all des toten Fleisches, das man in den
Es begann, in ihm zu arbeiten: Wie Bürger. Mithilfe dieser Nummern kann Fleischwolf gepresst hat. Dieses Wort
konnte er sich Zugang zu jenen Tat- man feststellen, wer vermisst wird. Vor- scheint hier mehr als eine geografische
waffen verschaffen, mit denen die her wusste man nicht, wie viele Bürger Bezeichnung. Es scheint das letzte Ge-
schwersten Verbrechen der dänischen es überhaupt gab. heimnis zweier namenloser Existenzen
Kriminalgeschichte begangen worden Evaldsen fotografierte die Überreste offenbaren zu wollen. So wie in Orson
waren? Er fand einige Exponate im eines der kleinen Opfer von Dagmar Welles’ Film „Citizen Kane“ das Wort
Kopenhagener Polizeimuseum. Der Overbye, mumifiziert und eingepackt in „Rosebud“ das ganze Lebensgeheimnis
Direktor öffnete ihm die Türen zum Packpapier. Auf den ersten Blick sieht des Pressemagnaten Kane enthält.
Hauptarchiv der dänischen Polizei. das Asservat aus wie ein Stück Holz- „STOCKHOLM“.

046 // crime 10
VON FANS FÜR FAN
DIE NR. 1 FÜR FILMVERR

JEDEN
DAS BES
KINO,
UND VOD
BEWERTE

DAS HEFT: JEDEN


ES GIBT KEINE
MÖGLICHKEIT,
DIE ORGANISIERTE
KRIMINALITÄT
ZU ZERSCHLAGEN
Und man sage ihm nicht nach, er habe es nicht versucht. Die Bilanz eines Ruhrpott-

interview von MICHAEL STRECK fotos BERND OBERMANN

048 // crime 10
Kommissars nach Jahrzehnten an der Front zwischen Recht und Unrecht

049
Herr Neiß, Sie gehörten zu den machte, musste schlicht erkennen, dass ZUR PERSON
Gründern eines der ersten das keine zufälligen Straftaten waren. Wolfgang Neiß, 66, wurde
bundesweiten Dezernate gegen Es ging eindeutig um die Versorgung im schleswig-holsteini-
schen Glücksburg geboren,
Organisierte Kriminalität. von Junkies. Also musste es auch so et-
zog aber mit seinen Eltern
Das war Mitte der 80er Jahre was wie Absatzplanung und Bedarfs- schon als Kleinkind ins
in Duisburg. Warum haben forschung geben. Ruhrgebiet. Er arbeitete
die Deutschen dieses Phäno- Und also begann in Deutsch- zunächst für die Mordkom-
mission und übernahm
men so spät entdeckt? land der Kampf gegen … Ja,
1984 das neu gegründete
Man hatte die Organisierte Kriminalität gegen was und gegen wen Dezernat für Organisierte
bei uns tatsächlich nicht richtig auf dem eigentlich? Kriminalität in Duisburg,
Schirm. Es wurde nicht so ernst genom- Genau das war und ist das Problem. das er bis zu seiner Pensio-
nierung 28 Jahre lang
men, im Vergleich zum Beispiel mit Denn zum Wesen der OK, der Organi-
leitete. Neiß lebt heute in
Morden und anderen Gewalttaten. Man sierten Kriminalität, gehört, dass man Moers am Niederrhein,
dachte bestenfalls an Sizilianer mit brei- sie nicht erkennt. Die Leute im Hinter- liest viel, züchtet Bienen.
ter Hutkrempe. Bei uns gab es Leute, grund setzen alles dran, dass Einblicke Und schaut so gut wie
keine Krimis im Fernsehen
die glaubten, so was gebe es in Deutsch- verhindert werden. Es ist ein bisschen
land nicht. Selbst der Duisburger Kripo- wie der Eisberg. Du weißt, dass es da ist,
Chef sagte damals: Hier gibt es keine dass da unter der Oberfläche großes kri-
organisierte Rauschgiftkriminalität. minelles Potenzial ist. Aber du erkennst
Aber er änderte seine Mei- nur die Spitze, wenn überhaupt. Wir
nung? mussten mit Erschrecken feststellen,
Kaum hatte er das gesagt, wurden am dass wir einfach kaum etwas wussten.
Bahnhof zwei Kilo Heroin beschlag- Der Klassiker. Sie wussten,
nahmt. Die Drogendelikte nahmen dass Sie nichts wussten …
drastisch zu. Und außerdem war ein Sehr wenig jedenfalls. Wir kannten zwar
Angehöriger der Mafia aus einem Ge- die Zuhälter, aber wir kannten die Ab-
fängnis in Wuppertal mit Dynamit läufe nicht. Was machen die kurdischen
rausgesprengt worden. Jeder, der sich Rauschgifthändler, was machen die
nicht die Hose mit einer Kneifzange zu- Russen? Wer kontrolliert das Rotlicht?

050 // crime 10
Bei der OK gibt es einen erheblichen Organisiertes Verbrechen als zern und suchten, verständlicherweise,
Unterschied zu allen anderen Strafta- Zeitgeist-Phänomen? Wie nach Autoritäten, die sie schützen soll-
ten. Sie wird nicht angezeigt. Wenn ein meinen Sie das? ten vor marodierenden Banden. So ist
Kilo Heroin über die Grenze geschafft Diese „Geiz ist geil“-Mentalität zum die Mafia entstanden und hat sich dann
wird, schädigt das erst mal keinen. Dazu Beispiel. Der Wunsch, alles billig zu über die Jahrhunderte in diese Parallel-
kam und kommt bis heute die Angst – kriegen, fördert die Hehlerei. Wenn gesellschaft entwickelt. Und manchmal
gerade im Bereich von Prostitution und Arbeitskräfte so billig sind, dass jeder läuft OK sogar unter ausdrücklicher
Menschenhandel. Menschen ohne Auf- wissen muss: Es kann sich bei diesen Duldung des Staatsapparats. In Japan
enthaltsgenehmigung wollen sich na- Menschen nur um Leute ohne Aufent- vor allem.
türlich nicht offenbaren aus Furcht, haltsgenehmigung handeln. Die Leute Sie meinen die berühmt-
abgeschoben zu werden. Oder nehmen sind geneigt, Dinge zu kaufen, die zu berüchtigten Yakuza …
Sie die Korruption: Da gibt es den Geber solchen Preisen definitiv nicht zu haben … die größte Verbrecherorganisation
und den Nehmer, aber die beiden er- sind. Wir konnten das bei den Italie- der Welt mit rund 65 000 eingetrage-
zielen meistens Konsens. Das ist das nern hier ganz schön beobachten. Da nen Mitgliedern. Die Yakuza waren im-
Konzept von Korruption. wurden Lkw-Diebstähle vorgetäuscht, mer kaisertreu und kontrollierten das
Und wie sind Sie schließlich Ladungen mit Pasta. Und plötzlich sank Glücksspiel. Der Kaiser ließ sie tradi-
vorgegangen? der Nudelpreis in den Im- oder Export- tionell gewähren. Bis heute gibt es an
Wir haben ein Netzwerk von Informan- läden der Gegend dramatisch. Aber jeder Ecke Yakuza-Büros. Wer Außen-
ten aufgebaut. Das waren am Anfang auch da galt: Hier ist das Bedürfnis, und stände hat, wendet sich an die Gangster,
Milieu-Angehörige. Gegen viele liefen dort wird es befriedigt. Historisch be- weil jeder weiß, dass die japanische
Strafverfahren, die suchten also nach gann das alles im Übrigen in Sizilien. Justiz überfordert ist. Jede Gesellschaft
Vergünstigungen. Später kamen ver- Irgendwie wundert uns das hat die Kriminalität, die sie verdient.
deckte Ermittler dazu. Professionell nicht richtig … Dass die Justiz nicht nach-
ausgebildet und mit einer Legende aus- Es ist aber anders, als Sie vielleicht den- kommt, ist aber doch gewiss
gestattet. Und nach und nach kriegten ken. Denn es fing an mit einem legitimen kein rein japanisches
wir ein Bild davon. Fast alle Ermitt- Wunsch: dem nach Sicherheit im 12. Problem.
lungsverfahren sind nur aufgeklärt wor- Jahrhundert. Das hatten sie in Sizilien Das stimmt. Das ist in Deutschland
den, weil wir Zuträger hatten. Diese nicht. Das Land war besetzt von fremden kaum anders. Wir haben oft dicke Bret-
Leute haben wir monatelang eingesetzt. Herrscherhäusern. Die Menschen wur- ter zu bohren. Bei uns muss der Staat
Die Leute riskierten ihr den ausgebeutet von Großgrundbesit- ja nachweisen, dass Tätervermögen
Leben? illegal erlangt wurde. In vielen anderen
Ja, es gab auch Tote. Das Milieu reagier- Ländern ist das nicht so. Und in vielen
te allerdings unterschiedlich. Wenn Ländern darf die Polizei auch viel mehr.
unsere eingeschleusten Ermittler er- In den Niederlanden zum Beispiel kann
tappt wurden, hieß es: „Okay, der ist die Polizei ohne Gerichtsbeschluss und
Bulle, das ist sein Job.“ Aber aus den Vorwarnung Telefone abhören. Hier
eigenen Kreisen, vielleicht sogar aus der wäre das der Untergang des Abend-
eigenen Familie? Das ging gar nicht. Das landes. Stellen Sie sich hier mal den
war Verrat und wurde bestraft. Daran Aufschrei vor.
hat sich nichts geändert. Und auch das Der Aufschrei wäre
Grundmuster der OK war und ist gleich. berechtigt.
Und wird auch immer gleich bleiben. Natürlich. Aber es erschwert die Arbeit.
Dann erklären Sie uns doch In einem Verfahren hatten wir 200
bitte mal das Grundmuster. Diebstähle hochwertiger Autos, die in
Sie befriedigt immer die Bedürfnisse Mailand geklaut worden waren, Ferra-
der Bevölkerung nach illegalen Dienst- ris und Lamborghinis, diese Schießklas-
leistungen und illegalen Waren. Diese se. Daran haben wir ein Dreivierteljahr
Bedürfnisse hat es stets gegeben in der Die JVA Wuppertal im April 1980. gearbeitet, konnten aber keine Tat in
Geschichte. Unbekannte haben die Stahltür Deutschland klären. Mit viel Personal
der Anstalt weggesprengt, fünf
Das hört sich an wie aus dem Gefangene können fliehen. Unter
über einen derart langen Zeitraum nur
Polizeilehrbuch. ihnen zwei Schutzgelderpresser. Taten im Ausland aufzuklären, traf auf
Ich weiß, aber es war und es ist so. Spätestens jetzt ist der Kripo klar: geringes Verständnis.

Foto: DPA
Gelegentlich allerdings passen sich die-
se Bedürfnisse auch dem Zeitgeist an.
Hier handelt die Organisierte
Kriminalität
Das muss ziemlich frustrie-
rend sein.

crime 10 // 051
Ist es. Immerhin konnten wir eine Gang
hochgehen lassen. Grundsätzlich ge-
hört es aber zu den schlimmsten Erfah-
rungen in meinem Beruf, wenn man
Leute nicht unschädlich machen kann,
die täglich und bösartig menschliches
Leid herbeiführen. Darunter habe ich
auch persönlich gelitten. Ein Fall ist mir
da in ganz besonderer Erinnerung.
Nur zu.
Da ging es um fast 1000 rumänische
Roma, die nach Deutschland geschleust
worden waren – unter erbärmlichen
Bedingungen. Prügel und Vergewalti-
gungen waren da an der Tagesordnung.
Die meisten der Geschleusten hatten
kein Geld und wurden gezwungen, hier
zu arbeiten. Arbeiten hieß in diesem
Fall: Straftaten begehen, um die Gebüh- Das Lokal „Da Bruno“ in Duisburg, Tatort des wohl
spektakulärsten Verbrechens der italienischen
ren für die Schleuser zu begleichen.
Mafia auf deutschem Boden. Im August 2007 werden
Betteln, Erpressungen, Ladendiebstäh- sechs Männer mit Schüssen in den Kopf getötet
le, diese Art von Delikten. Den größten
Gewinn machten die aber mit dem Be-
trügen der Sozialämter.
Betrügen der Ämter. Wie das? es das Gesetz nun mal vor. Der ver- Einige Ihrer Kollegen wurden
Ja, die konnten sie regelrecht abziehen. schwand und tauchte nie mehr auf. Wir dann selbst korrupt.
Und brauchten nicht mal gültige Papie- hatten zwei Jahre ermittelt gegen 200 Das kommt vor, natürlich. Kriminelle
re dafür. Sie konnten sagen: „Das ist Verdächtige. Am Ende eben für nichts. tun alles, um ihre Möglichkeiten zu op-
meine Frau, und das hier sind meine Da wird man sehr nachdenklich. Es gab timieren. Und sie sind dabei auch sehr
sieben Kinder.“ Und dann bekamen die Kollegen, die konnten diese Niederla- kreativ, wenn es ums Bestechen geht.
Geld in die Hand gedrückt. Irgendwann gen kaum ertragen. Die haben einen Blick dafür, welcher
mussten selbst die Kinder nicht mehr Die Bekämpfung der Polizist anfällig ist. Hat einer Schul-
persönlich auf dem Amt erscheinen. Organisierten Kriminalität den? Zockt einer gerne? Ist einer auf
Foto reicht, hieß es. Und dann wurden ist mithin ein Kampf Sex aus? Und dann kommen diese
die Kinder in Foto-Automaten gestellt, gegen Windmühlen. Angebote. Das ist bekannt, und das ist
bekamen ’ne neue Mütze auf den Kopf. Über eines muss man sich ständig im unstrittig.
Und auf diese Weise vervielfältigte sich Klaren sein: Es gibt keine Möglichkeit, Haben Sie das selbst erlebt?
auch der Nachwuchs. sie zu zerschlagen. Sie können immer Ja. Wir hatten den Fall eines Schrott-
Sie wussten es und konnten mal wieder eine herausragende Figur händlers, auch ein besonderes Milieu,
nichts dagegen tun? verurteilen. Aber da wächst immer wie- gerade hier im Ruhrgebiet. Die Hütten
Heute ginge das. Aber damals durften der jemand nach. Weil, tja, die Bedürf- im Revier bedienten sich auch beim
die Leute eben noch nicht erkennungs- nisse eben immer da sind. Schrott. Daraus entwickelte sich ein
dienstlich behandelt werden. Der Chef gigantischer Markt. Die Angestellten
der Bande kriegte sogar einen Führer- dieses Schrotthändlers hatten die Ho-
schein ausgestellt, obwohl er auf einem sentaschen vollgestopft mit Schmier-
Auge blind war. Der hatte einfach sei- geld. Und der zuständige Kripo-Sach-
nen Bruder geschickt. Das Schlimmste bearbeiter ging bei dem ein und aus.
aber war, dass wir einen Zeugen hat- Irgendwann sagte der Schrotthändler:
ten, der auch aussagen wollte. Als der „Sie könnten mir einen Gefallen tun.
Hauptschleuser endlich in Untersu- Ich habe diese Finca auf Mallorca, kann
chungshaft saß, war unser Zeuge aber SCHON GLEICH ZU da aber gerade nicht hin. Wir haben
nicht erreichbar. Und nach einem Jahr BEGINN HATTEN schon die Flugtickets. Könnten Sie
musste der Kopf der Bande aus der
U-Haft entlassen werden. So schreibt
WIR DAS „DA BRUNO“
AUF DEM RADAR
nicht?“ Der ist dann nicht nur einmal
dort hingeflogen und hatte am Ende Foto
052 // crime 10
WAS HABEN COCA-COLA
sogar ein Nummernkonto in der Schweiz
McDONALD
DONALD■S UND
mit mehr als 100 000 Mark drauf.
Und was passierte mit dem? DER INTERNATIONALE
Der Schrotthändler hat sich in der Haft
umgebracht. Und der Ermittler hat
viereinhalb Jahre Gefängnis bekom- DROGENHANDEL
men. Wenn ich ich so zurückblicke, gab
es eigentlich kein großes Verfahren
ohne undichte Stelle. Nicht nur bei uns. GEMEINSAM?
Da waren Standesbeamte darunter,
auch beim Straßenverkehrsamt und in
Empfohlen von
der Justiz wurde gemauschelt. Einmal
hatten wir von einem V-Mann die prä- Das True-Crime-Magazin vom stern

zise Auskunft bekommen, dass zwei


Kilo Koks in einer Wohnung an einem
ganz bestimmten Platz liegen sollten.
Am nächsten Tag haben wir dort durch-
sucht. Und nichts gefunden. Da hatte
eine Angestellte bei der Staatsanwalt-
schaft gesungen. Die Dame war mit
einem Zuhälter befreundet.
Wie kann man sich gegen
Maulwürfe überhaupt schüt-
zen, wenn undichte Stellen
derart verbreitet sind?
Wir haben uns abgeschottet, eigene
Gebäude bezogen und die zum Teil
auch als Firma getarnt. Manchmal ha-
ben wir aus Vorsicht Einsätze auch
falsch deklariert. Falscher Ort, falsche
Zeit, falsche Angaben über die Zahl der
Einsatzkräfte. Und die Putzfrauen
durften dort nur arbeiten, wenn wir
auch da waren. Das musste sein. Es gab
immer spezielle Flurtüren, die nur von
uns geöffnet werden konnten. Das ist
immer noch so. Die Dienststellen für
Organisiertes Verbrechen sind kon-
sequent von den anderen Polizeiappa- 352 Seiten I Gebunden I € 19,99 [D] I Auch als E-Book
raten getrennt.
Der größte Mafiafall der
deutschen Kriminalgeschich- Die Strategien, mit denen Großkonzerne globale
te ereignete sich gewisser- Märkte beherrschen, haben sich längst auch die
maßen vor Ihrer Haustür. Im Drogenbosse angeeignet. Wer die Kartelle auf-
August 2007 wurden sechs
halten will, muss sie vor allem als Wirtschafts-
Männer vor dem Restaurant
„Da Bruno“ im Duisburger unternehmen begreifen.
Zentrum erschossen …
Das war der Höhepunkt einer sehr „Ein phänomenales Buch, das klarmacht: Der
langen Entwicklung. 1984, gleich zu Be- War on Drugs kann nur von Ökonomen gewon-
ginn unseres Dezernats, hatten wir das nen werden.“ LITERATUR SPIEGEL
„Da Bruno“ und die Betreiber schon auf
dem Radar.
Warum?

053 Leseprobe auf blessing-verlag.de


Das waren einige Italiener, die Autoun- richt Duisburg wegen Drogenhandels In Ihren vielen Dienstjahren
fälle fingierten. In Deutschland wie in zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wor- hatten Sie oft mit Banden
Italien. Die Versicherer merkten das na- den. Nach der Wende zog der nach aus dem Ausland zu tun. Läuft
türlich und machten uns darauf auf- Erfurt und machte ein Lokal auf. Er war man nicht Gefahr, irgend-
merksam, dass immer wieder dieselben auch dort in illegale Geschäfte ver- wann auch in Klischees zu
Leute an den Unfällen beteiligt waren. wickelt. Und als wir ihn festnehmen verfallen und einen dicken
Fast alle stammten aus San Luca in Ka- wollten, waren auch gerade der thürin- Hals auf, sagen wir, Italiener
labrien, ein kleines Nest. Ein paar Stra- gische Innenminister und der Minister- oder Russen oder Kurden
ßen, eine Kreuzung, ungefähr so. Es gibt präsident im Restaurant. oder Chinesen zu bekommen?
eine Aufnahme aus der Zeit von einem Wie im Film. Nein. Rückschlüsse auf Nationalitäten
Unfall in Luca. Zwei Autos knallen auf Es ging aber noch verrückter, wie damals sind falsch und nicht zulässig. Ich kann
einsamer Kreuzung ineinander. Und die Presse berichtete. Im saarländischen Ihnen das an einem Beispiel erklären:
beide Autos haben Duisburger Kenn- Innenministerium hatte jemand einen Die OK-Dienststellen können eigene
zeichen. Zufälle gibt es … Verfolgungsschwerpunkte setzen. Eine
San Luca gilt selbst in Mafia- Einheit ermittelt etwa innerhalb eines
kreisen als legendärer Ort. Jahres gegen eine Vielzahl russischer
San Luca ist komplett untertunnelt. Dort Rauschgifthändler. Dann erscheint in
wurden Entführte festgehalten, oder der Kriminalstatistik dieses Ortes plötz-
Flüchtige versteckten und verstecken lich ein sprunghafter Anstieg von
sich dort. Ich habe mich mal eingelesen Rauschgiftdelikten – und von verdäch-
in historische Quellen und festgestellt, tigen Russen. Hätten sie sich stattdes-
dass der Ort schon in der Antike erwähnt ZWEI AUTOS KNALLEN sen entschieden, massiv gegen, sagen
wurde wegen der vielen Pferdehändler IN SAN LUCA AUF wir, Kfz-Verschieber aus dem Libanon
und Diebe. Es hieß, man solle diese Ort- EINSAMER KREUZUNG vorzugehen, hätten eben Libanesen und
schaft nach Möglichkeit meiden. INEINANDER. Kfz-Hehlerei eine hohe statistische Be-
Konnten Sie aber nicht. Sie BEIDE HABEN DUIS- deutung erlangt.
mussten ja ermitteln. BURGER KENNZEICHEN. Die Statistiken täuschen also?
Und das war nicht leicht. Da gab es 71 ZUFÄLLE GIBT ES … Zahlen bilden immer das Ergebnis einer
Leute, die Francesco Giorgi hießen, und nur punktuellen Betrachtung ab. Was
46 Antonio Pelles. Von den Giorgis hat- aus dem „Da Bruno“-Umfeld an den man nicht genau untersucht, liefert
ten drei sogar am selben Tag Geburtstag. Staat Usbekistan vermittelt. auch keine Einblicke. Auf eine Domi-
Wir haben uns behelfen müssen, in dem An Usbekistan? nanz bestimmter Nationalitäten zu
wir sie einfach nummeriert haben. Pelle Ja, Usbekistan. Und zwar mit den bes- schließen wäre vermessen. Und falsch.
eins bis zwölf. Eins spricht mit sieben. ten Empfehlungen und Wünschen für Wenn Sie jetzt zum Beispiel
Fünf mit neun. Sehr einfallsreich bei der eine verantwortungsvolle Stelle dort. lesen, dass die Zahl der krimi-
Vergabe von Namen sind sie dort nicht. Der Mann wurde später Delegierter von nellen Nordafrikaner steigt …
Wie kamen die ausgerechnet Usbekistan bei einer Interpol-Konfe- … genieße ich das mit Vorsicht. Das mag
nach Duisburg? renz in Rom. Thema war im Übrigen statistisch so sein, aber es bildet doch
Im italienischen Milieu Duisburgs hat die Bekämpfung des internationalen nur einen kleinen Teil der Realität ab.
die ’Ndrangheta eine gewisse Domi- Rauschgifthandels. Aber natürlich hatten wir eher auffälli-
nanz. In Köln ist es die Cosa Nostra. Das Es ist fast ironisch, dass die ge und weniger auffällige Gruppen.
hat sich historisch einfach so ergeben. sechs Morde in Duisburg auf Und?
Das Lokal „Da Bruno“ war der klassi- eine Bagatelle zurückgingen. Neuseeländer, sagen wir so, spielten in
sche Rückzugs- und Ruheraum. Von Das stimmt. Es war ein Streich. Kinder der Duisburger Szene keine große Rolle.
dort aus wurden die Geschäfte kontrol- hatten während eines Karnevalsumzugs Heute sind Sie im Ruhestand
liert, vor allem Rauschgift. Wenn in ein Hühnerei auf das Auto eines verfein- und züchten Bienen. Ein
Kalabrien jemand zu verbergen war, deten Clanmitglieds geworfen. Der klei- ungewöhnliches Hobby.
brachte man ihn eben nach Duisburg. ne Eierwerfer wurde daraufhin von dem Aber es gibt durchaus Parallelen zur
Die waren sehr gut vernetzt. Die Kon- Autobesitzer verprügelt und schwer ver- Kriminalität. Bienen können sehr bru-
takte reichten bis in die Politik. letzt. So entstand dieser Familienkrieg. tal sein. Wer krank ist, bleibt draußen.
In die italienische Politik? In seinem Verlauf wurde eine Frau er- Ab Ende Juli, wenn nicht mehr genug
Nein, nein, auch die deutsche. Wir hat- schossen und ein fünf Jahre altes Kind Blüten da sind, überfallen sie sogar
ten einen Herrn, einen Geschäftsführer verletzt. Die Morde in Duisburg waren andere Völker. Und verschwiegen sind
vom „Da Bruno“, der war vom Landge- dann die Rache für diesen Exzess. sie auch.

054 // crime 10
#ich #liebe #dich:
Partnerschaft heute.

Jetzt
im Handel.

www.geo-wissen.de
Manche
würden
fürGucci
töten.

056 // crime 10
Sie
tötete
Gucci
Foto: action press
Er war einmal ihr Mann. Ein Besuch bei Patrizia Reggiani

von ABIGAIL HAWORTH und MICHAEL STRECK

057
Pa
tri
z
ia
Kaum war sie aus dem Gefängnis entlassen worden, erschien
in Mailand ein Kamerateam vor dem Eingang ihres neuen
Arbeitgebers, einer Modeschmuckfirma. Der Reporter eines
Trash-Senders rief ihr zu: „Patrizia, warum hast du einen
Killer angeheuert, um Maurizio zu töten? Warum hast du ihn
nicht selbst erschossen?“ Sie rief von der anderen Straßen-
seite zurück: „Meine Augen sind so schlecht. Ich wollte nicht
danebenzielen.“
Blattschuss. Wieder eine Schlagzeile. Patrizia Reggiani
kann nicht anders.
Diese Episode ereignete sich vor zwei Jahren, aber die
Folgen dieses dahingeworfenen Satzes reichen bis heute. Reg-
gianis engster Freundeskreis schirmt sie seitdem noch mehr
ab. Auch und gerade vor Journalisten. Sie gilt als stur und
dickköpfig. Einige sagen, sie sei manchmal scheu, dann wie-
der verblüffend scharfzüngig und spitz. Andere sagen, sie sei
geisteskrank, womöglich infolge eines Hirntumors. Das ist
das Wenige, das aus ihrem Schutzwall herausdringt.

A
16 Jahre hatte Patrizia Reggiani wegen Anstiftung zum
Mord an ihrem geschiedenen Ehemann, dem Modehaus-Chef
Maurizio Gucci, in Haft gesessen. Heute ist sie wieder
draußen, man könnte sagen, sie hat es hinter sich. Doch für
einige Menschen hört die Vergangenheit nie auf. Sie ist prä-
sent wie die Gegenwart und immer da. Ein Schatten, der
vom Früher ins Heute reicht, selbst wenn sie diesem Schat-
ten zu entkommen versuchen. Für einige Menschen hört
die Vergangenheit aber auch deshalb nicht auf, weil sie die

F
Vergangenheit der Gegenwart vorziehen und dem Früher
hinterherlaufen.

Auf Patrizia Reggiani trifft beides zu.

058 // crime 10
Patrizia Reggiani ist
68 Jahre alt, 16 davon
hat sie im Gefängnis
verbracht – für den
Mord an Maurizio
Gucci, dem Erben des
Modeimperiums

059
Sie ist ein Rätsel. Und der Versuch, es zu ergründen, be-
ginnt gleich mit einer Absage. Alessandra Brunero sagt ent-
schuldigend: „Sie ist nicht hier. Sie ist krankgeschrieben.“
Brunero ist Mitinhaberin von Bozart, der Firma, bei der Reg-
giani, heute 68 Jahre alt, als Beraterin arbeitet.
Man muss wissen, dass Reggiani das Gefängnis nur unter
der Auflage verlassen durfte, einen Job anzunehmen. Man
muss aber auch wissen, dass Patrizia Reggiani reguläre Arbeit
verabscheut. Zeitlebens hatte sie nie gearbeitet, nicht richtig
jedenfalls.
Sie war eine Gucci, Gattin des Firmensprosses. Als eine
Gucci musste sie nicht arbeiten, sie war mit dem Namen
geadelt und natürlich reich. Aber dann verlor sie den be-
rühmten Namen, weil Maurizio sie verließ und die Scheidung
einreichte und dann sogar mit einer anderen zusammenzog.
Und sie, Reggiani, konnte nicht leben mit dieser Schmach
und dieser Wut. Also ließ Patrizia Reggiani, ehemalige Guc-
ci, ihren geschiedenen Mann Maurizio im Frühjahr 1995 von
Auftragskillern ermorden. Hinrichten trifft es wohl eher.
Das ist die kurze Version.
Sie wurde zu 26 Jahren Haft verurteilt. Vor fünf Jahren
hätte sie bereits in den offenen Vollzug wechseln können,
aber Reggiani bedeutete ihrem Anwalt: „Ich habe es nie
getan, und ich denke nicht daran, jetzt mit dem Arbeiten
anzufangen.“
Einen halbwegs akzeptablen Kompromiss fand sie schließ-
lich bei Bozart, Modeschmuck, mit stilvollen Verkaufsräu-
men im Renaissance-Stil und prunkvollen Kronleuchtern.
Ein Abklatsch zwar nur von einstiger Größe, nicht mehr als
flüchtiger Glanz, aber doch zumindest Mode und damit er-
träglich. Brunero und deren Ehemann und Geschäftspartner
Maurizio Manca sind seither faktisch Reggianis Aufpasser.
Die beiden versuchen dafür zu sorgen, dass sie sich an die
Bewährungsauflagen hält und ein Leben als Normalbürger
aufbaut. Aber sie haben ein Problem: Patrizia Reggiani hat
nie aufgehört, sich wie eine Gucci zu fühlen und zu geben.
„Oh, Mamma mia, es ist nicht einfach“, klagt Brunero, eine
elegant gekleidete Mittvierzigerin. „Nach dem Satz im Fern-
sehen vor zwei Jahren bin ich in Tränen ausgebrochen.“ Sie
vergräbt den Kopf zwischen den Händen. „Natürlich hat Pa-
trizia das nur als Witz gemeint …“ Aber es gibt nun mal lusti-
gere Witze als solche über einen Mord am eigenen Mann.
Womöglich, das sieht Brunero inzwischen auch so, war es
von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen, Reggiani
davon zu überzeugen, dass sie sich mäßigen und zurückhal-
ten müsse. Wie mäßigt man jemanden, dessen Lebenselixier
die Extravaganz ist? Bei dem alles, was er macht, außerge-
wöhnlich sein muss?

Italien ist ein Land, das Kummer gewohnt ist. Die Roten Bri-

F
gaden, Mafia und Camorra. Aber der Mord an Maurizio Guc-
ci war so eigenartig, dass er noch einmal herausragt aus der
Masse aufsehenerregender Verbrechen. Es passierte am hell-
Am 31.1.1997 wurde dieses erkennungsdienstliche Foto
lichten Tag, und es passierte eben in Mailand, der Modeme-
von Reggiani gemacht. Zwei Jahre zuvor war Maurizio
tropole, und nicht irgendwo im heißblütigen Süden. Dass in Gucci in Mailand auf offener Straße erschossen worden
Mailand ein Mitglied des Jetsets hingerichtet wurde, hatte
es bis zu diesem Tag noch nicht gegeben, dem 27. März 1995.

060 // crime 10
M a
turiz
Anfang der Siebziger
wurden Reggiani
und Gucci ein Paar. Für
die junge Frau begann
ein Jetset-Leben:
Penthouse in New York,
Chalet in St. Moritz,
Ferienhaus in Acapulco

Maurizio Gucci verließ gegen 8.30 Uhr sein Haus in der


Corso Venezia 38. Er ging nur wenige Hundert Meter hinü-
ber zu seiner neu gegründeten Firma Vierse in der Via Pales-
tro 20. Gucci grüßte wie immer flüchtig den Portier Giusep-

i
pe Onorato, der unter dem gewölbten Eingang des prächtigen
Gebäudes Blätter fegte. Onorato war der einzige Zeuge des-
sen, was danach geschah. In seinen Worten geschah dies:
„Es war ein wunderschöner Frühlingsmorgen. Herr Gucci
erschien mit ein paar Zeitschriften unter dem Arm und

o
wünschte mir einen Guten Morgen. Ich grüßte ihn, er war
elegant wie immer. Er kam zehn Stufen die Treppe hoch bis
zur Glastür, die ich geöffnet hatte. Ein Mann folgte ihm. Er
war ebenso elegant, gebräunt und trug einen Kamelhaar-
mantel. Er sah aus wie ein zweiter Doktor Gucci, nichts deu-
tete auf etwas Unheilvolles hin. Bis er seinen Mantel öffnete.
Dann sah ich eine Hand. Es war eine schöne und saubere
Hand – die eine Pistole hielt. Nur der Schalldämpfer lugte
hervor. Ich dachte, es sei ein Scherz, es war so unwirklich.
Doch der Mann schoss vier Mal auf Herrn Gucci, dann dreh-
te er sich zu mir um und sah mich. Er riss die Augen auf, so
als hätte er nicht mit mir gerechnet, und schoss auch auf
mich. Ich hob den Arm zum Schutz, fühlte etwas und setzte
mich auf die Stufen. Ich dachte wirklich, dass ich in dem Mo-
ment sterben müsste, so wie in einem Film.“
Maurizio Gucci, von vier Kugeln Kaliber 7.65 getroffen in
Rücken, Gesäß und ins Gesicht, starb in den Armen des
Portiers, der, selbst verwundet, in der Lache seines eigenen
Blutes saß. Der Killer floh auf die Straße, sprang in einen
grünen Renault Clio, der mit einem Fahrer an der Ecke Via
Marina bereitstand. Sie brausten davon. Der Fluchtwagen
wurde nie gefunden.
Patrizia Reggiani, die „Liz Taylor der Luxusmarken“, galt
sofort als verdächtig. Nach der Trennung und Scheidung von
Gucci zehn Jahre zuvor hatte sie mehrmals damit gedroht,
Maurizio zu töten oder töten zu lassen, sie kündigte es selbst
in Gegenwart der eigenen Mutter an. „Ich habe jeden gefragt.
Ich hätte sogar den Metzger nebenan gefragt. Aber ich habe
es nicht ernsthaft gemeint“, sagte sie später. Zwei Jahre lang
suchten die Ermittler nach Beweisen. Vergebens.

Es dauert nur eine Woche, dann kommt die Nachricht, dass


die Bruneros tatsächlich ein Treffen mit Patrizia Reggiani

crime 10 // 061
arrangiert haben. Das ist eine kleine Sensation. Denn dass der junge Gucci setzte ihr nach mit allem, was er hatte. Und
Reggiani Fremden Einblick gibt in ihre sehr eigene Welt, pas- er hatte viel. Schließlich gab sie sich geschlagen.
siert äußerst selten. Hochzeit 1972, beide waren da 24 Jahre alt. Die Ehe führ-
Patrizia Reggiani betritt den Salon in einem kurzen, ge- te zum Bruch mit Guccis Vater Rodolfo, einem der Söhne
blümten Kleid. Sie ist winzig, kaum mehr als 1,52 Meter des Firmengründers Guccio Gucci. Rodolfo, der mit seinen
groß. Und doch wirkt sie mit ihrem hochtoupierten Haar, beiden Brüdern mittlerweile das Unternehmen führte, em-
inzwischen rötlich braun getönt, und mit ihren hautfar- pörte sich über Reggianis Herkunft und ihre starke Persön-
benen Stöckelschuhen größer. Zum Eisbrechen ein Kom- lichkeit. Maurizio war Einzelkind, seine Mutter starb, als er
pliment: „Sie tragen ein hübsches Kleid.“ Sie wirft einen fünf war, und sein Vater hatte ihn stets überbehütet. Heute
verärgerten Blick auf ihre Arbeitgeber und Gönner und sagt: würde man ihn einen Helikopter-Vater nennen. In ihrem
„Es ist von Zara. Hier verdiene ich nicht genug, um mir et- Buch „The House of Gucci“ schreibt die Autorin Sara Gay
was Ordentliches leisten zu können.“ Forden, Maurizio sei das „Objekt einer obsessiven, posses-
Sie setzt sich auf eines der beiden weißen Sofas und spricht siven, autoritären Liebe“ gewesen. „Maurizio wich dem Va-
über die Zeit im Mailänder San-Vittore-Gefängnis. Sie nennt ter aus. Wenn er Geld brauchte, wandte er sich eher an den
es nicht Gefängnis, sie nennt die 16 Jahre bar jeder Ironie Chauffeur, weil er sich nicht traute, den Vater zu fragen.
„mein Aufenthalt in der Vittore-Residenz“. Reggiani spricht Noch als erwachsener Mann stand der Sohn stramm, sobald
ein breitgezogenes Englisch, es ist der Akzent der Jetset-Jah- der Vater das Zimmer betrat.“ Maurizios einzige Rebellion
re. London, New York, Florida. Sie sagt: „Ich halte mich für bestand darin, Patrizia zu heiraten.
eine starke Person, weil ich all die Jahre in der Haft überlebt „Mit mir fühlte sich Maurizio frei. Wir hatten Spaß, wir
habe.“ Erwähnt allerdings nicht, dass sie sich im Jahr 2000 waren ein Team“, sagt Reggiani. Die Geburten der beiden
im Knast erhängen wollte, aber von den Wachen noch recht- Enkelinnen Alessandra und Allegra besänftigten den Vater.
zeitig entdeckt wurde. Erwähnt auch nicht, dass ihre An wälte Der sah ein, dass Patrizia seinen Sohn tatsächlich liebte
auf Hafterleichterungen drangen wegen epileptischer und es nicht auf dessen Vermögen abgesehen hatte. Beru-
Anfälle und psychischer Defekte. higt und befriedet schenkte der alte Gucci dem Paar Im-
Sie erzählt vielmehr von ihren Privilegien, eigener mobilien, darunter ein Luxus-Penthouse im Olympic Tower
Gemüsegarten, mehr Stunden an der Luft als die anderen von New York. Die Guccis ließen sich in einer Limousine
Straf täterinnen. „Ich habe viel geschlafen. Ich habe meine mit dem personalisierten Kennzeichen „Mauizia“ durch
Pflanzen gewässert und mich um mein Haustier Bambi, ein Manhattan chauffieren. Sie feierten mit Jackie Onassis und
Frettchen, gekümmert.“ Das Frettchen verdankte sie dem der Familie Kennedy, wann immer sie in der Stadt waren.
Verhandlungsgeschick ihrer Advokaten, noch so ein Privi- Sie waren ganz oben.
leg. Es lebte allerdings nur so lange, bis sich ein Mithäftling „Wir waren ein wunderschönes Paar, und wir hatten
versehentlich draufsetzte. „Ich rede nicht gern über damals“, selbstverständlich ein wunderschönes Leben“, sagt sie. Und:
sagt sie schließlich. „Es kommt mir alles vor wie ein schlech- „Es tut immer noch weh, wenn ich daran zurückdenke.“ Sie
ter Traum.“ schwärmt von den rauschenden Partys der 80er Jahre, den
Reggiani redet lieber von noch früher, von der Zeit, als Reisen auf ihrer legendären 64-Meter-Yacht „Creole“, die
ihre Träume noch aus Samt und Gold waren. Sie will weder Maurizio anlässlich der Geburt ihrer zweiten Tochter Alle-
über die Tat noch über den Prozess sprechen. Und dennoch gra kaufte. Die „Creole“ war und ist noch immer die größte
handelt ihre Erzählung auch davon, wie es dazu kam, dass Holz-Segelyacht der Welt. Zu ihrem Leben gehörten ein
Maurizio Gucci sterben musste. Chalet in St. Moritz, ein Ferienhaus in Acapulco und eine
Die Geschichte von Patrizia Reggiani begann in einer Klein- Farm in Connecticut.
stadt bei Mailand. Geboren wurde sie als Tochter
einer Kellnerin und eines wesentlich älteren Va-
ters, der als Spediteur reich wurde. Die Familie
war zwar wohlhabend, gehörte aber nicht zur
Mailänder High Society. Ihr Vater kaufte ihr
Nerzmäntel und schnelle Autos, und Patrizia klet-
terte hinauf in die höheren Gesellschaftskreise.
Dann traf sie ihren späteren Mann.
„Ich sah Maurizio auf einer Party, und er ver-
liebte sich Hals über Kopf in mich. Ich war auf-
regend und anders“, sagt Reggiani auf dem wei-
ßen Sofa. Die Guccis stammten ursprünglich aus
Florenz, Maurizio fühlte sich in Mailand wie ein
Außenseiter. „Anfangs hielt ich nicht viel von
ihm. Er war ein ruhiger Junge mit schiefen Vor-
derzähnen.“ Sie dagegen exaltiert und hübsch
und umschwärmt von anderen Verehrern. Aber

062 // crime 10
1983 starb Rodolfo Gucci. Der Impresario hinterließ sei- Weil sie genau solche Sätze auch schon damals, 1997, ge-
nem Sohn Immobilien, rund 20 Millionen Dollar auf sagt hatte, war niemand wirklich überrascht, als die Polizei
Schweizer Konten und die Hälfte des Gucci-Imperiums. schließlich doch noch Erfolg hatte. Wenngleich die Wende
Außerdem eine kleine schwarze Brieftasche aus Krokodil- eher zufällig kam. Man hatte einen verdeckten Ermittler ins
leder mit dem Gucci-Symbol aus den 30er Jahren. Sie ge- Drogenmilieu eingeschleust. Carlo Maria Collenghi gab sich
hörte einst dem Großvater und Firmengründer Guccio. Nun als „Carlos“ und kolumbianischer Drogenboss aus, erschlich
trug sie Maurizio – und damit die Verantwortung für den sich Vertrauen und stieß irgendwann auf den Namen Ivano
ganzen Clan. Sie wog zu schwer. Reggiani sagt: „Maurizio Savioni.
drehte durch. Bis dahin war ich seine Hauptberaterin in al- Savioni arbeitete als Concierge und Zuhälter im Puff seiner
len Gucci-Angelegenheiten. Aber er wollte unbedingt der Tante und prahlte in seinen Kreisen damit, in den Gucci-Mord
Beste sein und hörte nicht mehr auf mich.“ Die Marke hat- verwickelt zu sein. Dummerweise prahlte er damit auch in
te wegen der Überlizenzierung des berühmten Logos, zweier Gegenwart von „Carlos“, und dann ging alles ganz schnell.
ineinander verschlungener Gs, und der Massenproduktion Savioni, stellte sich heraus, war gut bekannt mit der Neapoli-
von Segeltuchtaschen bereits erheblich an Prestige verlo- tanerin Pina Auriemma, Magierin und Gesellschaftsdame –
ren. Maurizio wollte der Firma ihren einstigen Glanz wie- vor allem aber beste und engste Vertraute der Patrizia Reg-
dergeben. Er plante eine Rückbesinnung auf die exquisite giani, der sie die Karten legte, mit der sie gemeinsam in den
handwerkliche Qualität. Urlaub fuhr und bei der sie überhaupt ein und aus ging.
Dazu sollte es nicht mehr kommen. Die Telefone wurden abgehört, und die aufgenommenen
Gespräche ließen alsbald keine Zweifel mehr zu. Drohungen,
Jahrelang stritt er sich mit seinem Onkel und seinen Cou- Verhandlungen über Geld und noch mehr Geld, Erpressun-
sins, denen die andere Hälfte der Firma gehörte, bis er gen. Und im Zentrum, „Angelpunkt und Ausgangspunkt“,
schließlich mithilfe von Investcorp, einer Bank aus Bahrain, wie die Richter festhalten würden: Patrizia Reggiani.
die Anteile seiner Verwandten aufkaufte. In dieser Zeit im- Es kam heraus, dass sie in ihrem Groll und ihrer Verbitte-
plodierte die Ehe der beiden. Der ständigen Mäkeleien seiner rung die Freundin Pina bat, sich nach Killern umzuschauen.
Frau überdrüssig, packte Maurizio eines Abends einen klei- Was die auftragsgemäß tat, indem sie ihren Bekannten Savio-
nen Handkoffer, ging und hatte so schnell eine Neue, dass ni verständigte, der wiederum dank seiner Verbindungen zwei
klar war: Da musste schon vorher etwas gelaufen sein. Es Männer rekrutierte: Benedetto Ceraulo, einen sizilianischen
dürfte das Einzige gewesen sein, über das er sich in jener Zeit Bauarbeiter, berüchtigt für seine, wie es später vor Gericht
freute. Unter seiner Ägide hatte das Gucci-Unternehmen Mil- heißen wird, „geistesklare Professionalität und Kälte“, er war
lionen verloren. Sein persönliches Vermögen schrumpfte, bis der Mann im Kamelhaarmantel, der Todesschütze. Und Ora-

Fotos: actio
er 1993 gezwungen war, die Firma für 120 Millionen Dollar zio Cicala, einen vorbestraften Spielsüchtigen. Er war der
komplett an Investcorp zu verkaufen. Fahrer. Beide Tagelöhner des organisierten Verbrechens, bei-
„Damals war ich aus vielerlei Gründen wütend auf Mau- de chronisch klamm und insofern empfänglich. Selbst für
rizio“, sagt sie. „Aber vor allem, weil er das Familienunter- einen Mord gegen Bezahlung, geplant und finanziert von der
nehmen verspielt hat. Es war so dumm. Es war eine solche früheren Frau des Opfers. Am 31. Januar 1997, 22 Monate
Niederlage. Ich war so voller Zorn, aber ich konnte nichts nach den Schüssen auf Gucci, wurden alle fünf Tatverdäch-
tun.“ Sie dreht ihren Kopf und spricht nun so leise, dass sie tigen festgenommen. Unter dem Beweismaterial, das die Poli-
kaum noch zu verstehen ist. „Das hätte er mir niemals an- zei bei Reggiani sicherstellte, befand sich auch ihr Cartier-
tun dürfen.“ Tagebuch. Am Todestag von Gucci hatte sie nur ein

Mit der Hochzeit 1972


wurde die Spediteurs-
tochter eine echte
Gucci. 1976 und 1981
kamen die Kinder
Alessandra und Allegra
zur Welt. Als sie sich
so entspannt vor dem
Fotografen rekelte,
hatten ihre Töchter
bereits den Vater ver-
loren und die Mutter
galt als Hauptverdäch-
tige. Das vermutliche
Motiv für den Mord:
Reggiani war wütend
über die Liaison ihres
Exmannes mit Paola
Franchi (r.)

063
Wort hineingeschrieben: „Paradeisos“, griechisch für Paradies.
Es folgte das, was Patrizia Reggiani heute den „schlechten
Traum“ nennt.

Sie sitzt auf dem Sofa, mal gestikuliert sie, mal ruhen die
Hände ruhig auf ihren Oberschenkeln. Sie versucht im Lau-
fe des Gespräches immer wieder, dem schlechten Traum ein

G
wenig Glanz einzuhauchen, der Gemüsegarten im Knast, das
Haustier „Bambi“. Aber die Risse und Brüche in ihren Er-
zählungen geben Einblick hinter ihre Fassade aus Stolz. Und
dort liegt viel Bitterkeit. Sie klagt, dass das Gericht ihr zur
Bewährung auferlegt hat, im freien Vollzug bei ihrer noch
rüstigen Mutter Silvana in einem Mailänder Reihenhaus zu

uc
wohnen. Sie, Lady Gucci, in einem Reihenhaus. „Ab und zu
sehne ich mich wieder zurück in die Vittore-Residenz, weil
meine Mutter sehr schwierig ist. Sie beschimpft mich jeden
Tag, und das ganz ohne Grund.“
Reggiani, das wird an diesem Nachmittag deutlich, lebt im-
mer noch in einem Gefängnis. Im Gefängnis der Illusion und
Selbsttäuschung. Vergangenheit ist Gegenwart, Gegenwart
Vergangenheit. Nach ihrer Haftentlassung hatte Reggiani so-
gar erklärt, sie hoffe, in die Firma zurückkehren zu können.
Sie sprach: „Ich fühle mich immer noch wie eine Gucci. Ich
bin es, die Gucci am besten verkörpert. Sie brauchen mich.“
Gucci brauchte sie natürlich nicht.

Das hatte das Unternehmen bereits am Tag der Urteilsver-


kündung klargestellt. Landesweit dekorierten alle Gucci-
Läden ihre Auslagen mit silbernen Handschellen. Vor Ge-
richt hatte die Witwe gestanden, sie habe Auriemma eine
Viertelmillion Euro gezahlt, das Geld sei aber nicht für die
Ermordung bestimmt gewesen. Pina habe den Mord arran-
giert und gedroht, ihr die Tat anzuhängen, falls sie nicht

i
bezahle. Etwas verwirrt hatte Reggiani noch hinzugefügt:
„Aber es war jede Lira wert.“
Alle fünf an dem Mordkomplott Beteiligten wurden schul-
dig gesprochen und zu langen Haftstrafen verurteilt.
In den italienischen Medien wurde Reggiani zur Vedova
Nera, zur Schwarzen Witwe, die Zeitungen überboten sich jah-
relang an Spekulationen über die Tatmotive. Es stand zu lesen:
Reggiani war eifersüchtig auf ihre Nachfolgerin, Maurizios
neue Lebensgefährtin Paola Franchi.
Reggiani wollte an sein Geld.
Reggiani war verbittert über seine Missachtung.
Reggiani war einfach nur wütend auf ihn.
Reggiani ist geistesgestört.
All das stimmt womöglich in Teilen, die wahren Gründe
aber liegen tiefer. Die Staatsanwaltschaft attestierte ihr
ein „ansteigendes Rachegefühl, verletzten Stolz“, eine „nar-
zisstische und histrionische Persönlichkeitsstörung“ und
subsumierte ihren Charakter unter „abnorm“. Besonders
gekränkt sei Reggiani gewesen, als ihr Exmann mit Paola

F
Franchi zusammenzog und diese Liaison eben mehr war
als eine Affäre mit einem hübschen Blondchen. Franchi,
die Gucci schon seit Jugendzeiten kannte, lebte fünf Jahre
wie eine Ehefrau mit ihm zusammen. Es fehlte nur der
Trauschein.

064 // crime 10
Reggiani ertrug es nicht. „Sie hat uns gestalkt“, sagt Paola
Franchi. „Sie hatte ihre Spitzel im Freundeskreis von Mau-
rizio, sie wusste alles über unsere Pläne, seine Geschäfts-
beziehungen, alles. Sie hat ihn oft angerufen, um ihn zu be-
leidigen und ihm zu drohen, sie werde ihn töten.“ Wenn er
die Anrufe nicht entgegennahm, schickte sie ihm Hetzreden
auf Kassette. Sie nannte ihn „Monster“, weil er sie und die
gemeinsamen Töchter vernachlässige. Einmal drohte sie:
„Dein Inferno wird kommen.“ Franchi bekniete ihren Ge-
liebten, er solle sich Leibwächter nehmen. „Aber er glaubte
Fünf Tatbeteiligte (v. l.) nicht, dass Patrizia ihre Drohungen wahr machen würde,
wurden für die Ermor- schon allein wegen der beiden Töchter.“ Ein Irrtum.
dung von Maurizio
Gucci verurteilt: der Reggiani, sollte sich weisen, hatte ihre Komplizen unter
Schütze Benedetto Druck gesetzt, den Mord so schnell wie möglich auszufüh-
Ceraulo (zu 29 Jahren ren – ehe Franchi und Gucci heiraten konnten.
Haft), der Mittelsmann Und sie hatte offenbar bereits einen Plan für den Erfolgs-
Ivano Savioni (20
Jahre), der Flucht wa- fall gehabt. Am Tag nach Maurizio Guccis Tod erhielt Paola
genfahrer Orazio Franchi einen Räumungsbefehl, mit dem Reggiani sie zum
Cicala (26 Jahre), die Auszug aus der Luxuswohnung zwang, die Franchi noch
Auftraggeberin Patrizia 24 Stunden zuvor mit Gucci geteilt hatte. Am notariell be-
Reggiani (26 Jahre)
und ihre enge Freundin glaubigten Zeitstempel konnte sie erkennen, dass die Papie-
und Komplizin Pina re am Vortag um elf Uhr morgens ausgestellt worden waren,
Auriemma (19 Jahre) keine drei Stunden nach Maurizios Tod.

Patrizia Reggiani hatte sich damals noch einmal als die wah-
re Signora Gucci fühlen können. Aber heute ist ihr Leben
Reihenhaus und nicht mehr Residenz. Es ist nicht mehr Guc-
ci. Es ist Bozart. Bozart verhält sich zu Gucci ungefähr so wie
Fiat zu Ferrari. Ihr Job ist ein Berater-Job. In Wahrheit be-
steht er darin, Modemagazine zu lesen und dem Glanz von
früher nachzutrauern. Sie sagt, sie sei „a-technisch“ und dass
Computer böse seien. Als sie ins Gefängnis kam, galten Fax-
geräte noch als Spitzentechnologie. Vor einiger Zeit löschte
sie mit einer falschen Tastenkombination das gesamte Foto-
archiv der Firma. Seitdem hat sie keinen Zugang mehr.
Die beiden Töchter Alessandra und Allegra waren 18 und
14 Jahre alt, als die Mutter ihren Vater hinrichten ließ. Heu-
te sind sie verheiratet und leben in der Schweiz. Beide sind
durch das Erbe unvorstellbar reich, aber sie besuchen die
Mutter selten. „Sie verstehen mich nicht und haben die finan-
zielle Unterstützung für mich gestoppt. Ich habe nichts und
kenne noch nicht mal meine beiden Enkelsöhne“, klagt sie.
In wenigen Monaten läuft ihre Bewährung ab. Reggiani
weiß nicht, was sie danach tun wird. Sie würde gern reisen,
sobald sie das Land verlassen darf. Von einem Job bei Gucci
träumt sie nicht mehr.
Es geht auf den Abend zu, Patrizia Reggiani wird langsam
müde. Sitzt auf dem weißen Sofa, die Hände gefaltet. Und
plötzlich, wie aus dem Nichts, sagt sie: „Wenn ich Maurizio
wiedersehen könnte, würde ich ihm sagen, dass ich ihn liebe.
Er war der Mensch in meinem Leben, der mir am meisten
bedeutete.“ Der Satz schwebt für einen Moment im Raum.
Eine Pause entsteht. Und was würde er wohl dazu sagen, Pa-
trizia? Was würde der Mann dazu sagen, den Sie haben töten
lassen? Sie überlegt eine Weile. „Ich glaube, er würde sagen:
Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit.“
Mitarbeit: Luisa Brandl und Annette Streck

crime 10 // 065
21. JUNI 1995, SUPERIOR COURT, LOS ANGELES

Der Schauspieler und


frühere Footballstar
O. J. Simpson wurde
beschuldigt, seine Exfrau
Nicole Brown und deren
Freund Ron Goldman
ermordet zu haben.
Hauptbeweisstück war
ein Paar Lederhandschuhe,
das die Polizei am
Tatort gefunden hatte

066 // crime 10
// mein bild und seine geschichte

„DA BRÖCKELTE SEINE COOLE


FASSADE FÜR SEKUNDEN“
Es war der Prozess des Jahrzehnts. Und Vince Bucci
saß draußen vor der Tür. Dennoch gelang ihm
das berühmteste Foto von O. J. Simpson

D
er Fall O. J. Simpson war in den USA rum nicht mehr. Sie besorgte ein neues Paar,
ein Jahrhundertereignis. Erst konn- genau das gleiche Modell. Auf meinem Bild
te man stundenlang live im Fernse- sieht man, dass daran noch das Etikett aus
hen verfolgen, wie O. J. in seinem weißen dem Laden hängt. Simpson streifte sie über.
Bronco durch Los Angeles raste und die Poli- Sie passten perfekt. Für ein paar Sekunden
zei ihm hinterherjagte. Dann erlaubte Rich- bröckelte seine sonst so coole Fassade. Ein
ter Lance Ito für den Prozess Kameras im seltener Moment der Schwäche, er zog sogar
Saal. Das war damals, 1995, eine Sensation. seine Augenbrauen erschrocken nach oben.
Ich freute mich, denn ich arbeitete seiner- Genau da drückte ich ab – und zwar vom
zeit für die Bildagentur AFP. In den kleinen Gang vor dem Gerichtssaal aus. Dort saß ich
Gerichtssaal passten allerdings gerade mal mit einem kleinen Monitor und einem Joy-
die Fernsehkameras. Für Fotografen war stick. Ich hoffte, dass ich die Kamera scharf
kein Platz mehr. Wir mussten uns also etwas und den Winkel richtig eingestellt hatte. Und
ausdenken. Ein Kollege hatte die Idee, an der dass die Fernsteuerung funktionierte. Sie war
Wand hinter dem Richter einen Fotoapparat eine Katastrophe. Mal rutschte ein Kabel
zu installieren, der per Fernbedienung ge- raus, mal klemmte der Auslöser.
steuert wird. Das war genial. Ob ich Simpsons Blick wirklich eingefan-
Der ehemalige Footballstar Simpson war gen hatte, sah ich erst Stunden später, denn
angeklagt, seine Exfrau Nicole Brown und wir hatten damals noch keine Digitalkameras
ihren Freund Ron Goldman mit einem Messer und mussten erst die Filme entwickeln. Aber
niedergemetzelt zu haben. Am Tatort hatte als das Bild vor mir lag, wusste ich, dass mir
man einen blutgetränkten Lederhandschuh etwas Großartiges gelungen war. Es wurde
gefunden. Der Täter musste ihn getragen ha- von Zeitungen rund um die Welt gedruckt.
ben. Den zweiten fand man in Simpsons Gar- Bis zum Urteil saß ich noch vier Monate
ten. Tagelang drehte sich alles um diese Hand- mit der Fernbedienung vor dem Gerichtssaal.
schuhe. Die Anklage war sich sicher, dass sie Der Freispruch für Simpson war keine Über-
Simpson gehörten, und wollte das durch eine raschung. Ich war mir sicher, dass er schuldig
Anprobe belegen. Aber Simpson bekam sie war. Aber den Verteidigern war es gelungen,
Vince Bucci, 58, nicht über die Finger. Er stand da, mit den zu bei den Geschworenen Zweifel zu säen. Spä-
fotografierte lange
Zeit vor allem Holly-
engen Handschuhen, und winkte theatralisch ter wurde Simpson in einem Zivilprozess für

Fotos: Getty
wood-Events. Heute in Richtung Geschworenenbank: „Zu klein.“ schuldig befunden und musste 33,5 Millionen
lebt er in Venice Was für eine Pleite für die Anklage. Dollar Schmerzensgeld an die Hinterbliebe-
Beach und hat sich Mein Foto entstand am Tag danach. Die nen zahlen. Heute sitzt er ja tatsächlich im
einem ruhigeren
Aufgabengebiet zu-
Staatsanwältin hatte eine Idee: Womöglich Knast. Wegen eines Raubüberfalls. Er konn-
gewandt: Hochzeiten waren die Handschuhe durch das feuchte te seinem Karma nicht entkommen.
und Bar-Mizwas Blut eingegangen und passten Simpson da- Protokoll: Alexandra Kraft

067
068 // crime 10
F
THE
IRISH
CONNECTION
Das Horn des Rhinozeros
ist begehrt und teuer,
die Tiere zu jagen verboten.
Aber wozu auch jagen?
Ein paar Clans aus Limerick
suchten das Nashorn nicht
in der Savanne
v o n ADAM HIGGINBOTHAM

069
Nigel Monaghan, Chef der naturhistorischen Abteilung des irischen Nationalmuseums. Er brachte seine Nashorn-Trophäen in einem Lagerhaus

070 // crime 10
n der Nacht, in der es passierte, wurde
Nigel Monaghan gegen drei Uhr früh von einem
Anruf geweckt. Der Leiter der naturhistorischen Abteilung
des Nationalmuseums lag eingerollt in einem Schlafsack auf
dem Boden seines Büros, denn im Museum wurde gerade
fürs Kinderfernsehen gedreht, und Monaghan wollte im Haus
bleiben. Zehn Jungen und Mädchen eine Nacht lang in Ir-

D
lands bedeutendster Sammlung präparierter Tiere, dazu die
Eltern, die Kamera- und Tonleute – man musste aufpassen.
Aber der Anruf, der dann kam, hatte nichts mit den Kin-
dern zu tun. Es war das zentrale Sicherheitsbüro des Mu-
seums. Monaghan erfuhr, dass sich um 22.40 Uhr drei mas-
kierte Männer gewaltsam Zugang zum Museumslager in der
Nähe des Dubliner Flughafens verschafft hatten. Sie fesselten
den diensthabenden Wachmann und suchten die Regale, in
denen die Nashornköpfe lagerten – vier monströse Kreatio-
nen aus Haut und Knochen, Gips und Holz, Pferdehaar und
Stroh, fachmännisch angefertigt von Präparatoren in den ers-
ten Dekaden des 20. Jahrhunderts. Als Monaghan und sein
Team die größte der Trophäen, den Schädel eines 1914 im
in Sicherheit. Dachte er jedenfalls Sudan erlegten weißen Nashorns, von der Wand im Museum
abgenommen hatten, um sie ins Lager bringen zu lassen,
mussten vier Männer mit anpacken. Aber die Diebe schaff-
ten es, innerhalb einer Stunde alle Köpfe in einem weißen
Lieferwagen zu verstauen und in die Dunkelheit zu ver-
schwinden. Zurück blieben die Lücken in den Regalen.
Nigel Monaghan konnte nicht mehr schlafen in dieser
Nacht vom 17. auf den 18. April 2013. Er setzte sich an
seinen Schreibtisch und begann, eine Pressemitteilung zu
schreiben. Er hatte getan, was er konnte. Er hatte die Köpfe
mit den kostbaren Hörnern an einen Ort bringen lassen, der
sicherer war als das Museum. An einen Ort, der nachts be-
wacht wurde. Aber auch das hatte nichts genützt.

071
Das Horn eines Rhinozerosses besteht aus Keratin, wie die
Hufe eines Pferdes oder die Zehennägel des Menschen. Doch
sein Grammpreis liegt höher als der von Kokain. Es ist das
alte Spiel von Nachfrage und Angebot: Die Nachfrage ist rie-
sig, weil die mächtige Waffe des Tieres in gemahlener Form
zu den Wundermitteln der traditionellen Medizin Asiens
zählt. Das Angebot ist klein, weil der Handel mit dem Horn
der geschützten Tiere streng reguliert wird. In den vergan-
genen Jahren hat sich die Schere sogar noch weiter geöffnet.
Denn in vielen fernöstlichen Ländern haben die Eliten das
kostbare Heilmittel als Statussymbol entdeckt. Als Partykick
und Weinwürze.
Wer ist zuerst auf die Idee gekommen, dass man das be-
gehrte Pulver nicht nur aus den Hornkegeln frisch gejagter
Tiere herstellen kann? Dass man sich nicht auf gefährliche
illegale Geschäfte mit Wilderern einlassen muss, um mit
Nashorn Geld zu machen? Von 2006 an explodierten die Prei-
se für Trophäen, die so alt waren, dass man sie aus Europa
exportieren durfte. 2010 wurde in Großbritannien ein ein-
zelnes Horn für die Rekordsumme von 164 000 Dollar ver-
steigert. Dann allerdings machten die europäischen Behör-
den dem erstaunlichen Treiben ein Ende und untersagten
den Export von Rhinozeros-Hörnern jeden Alters.
Es begann etwa zu dieser Zeit, dass Polizeistationen in
Im Februar 2012 wurden im Offenburger Museum im Ritterhaus die
mehreren Ländern merkwürdige Einbrüche verzeichneten.
Nächtliche Attacken auf Museen und naturkundliche Samm-
lungen, bei denen stets nur Nashorn-Trophäen verschwan-
den. Es dauerte eine Weile, bis die Ermittler erkannten, dass
sie alle dieselbe Handschrift trugen. Und bis ihnen dämmer-
te, wessen Handschrift es war.

ohn Reid stutzte erstmals im Sommer


2010. Er war zu diesem Zeitpunkt der Verbin-
dungsbeamte Irlands bei Europol. Und er
konnte nicht ahnen, wohin die Spur führen
würde, die er gerade aufnahm.
Über viele Wochen verzeichnete Reid Anfra-
gen, die sich auf verdächtige Art ähnelten. Sie kamen aus
Frankreich, Belgien, Deutschland, Skandinavien. Da ging
es um ein in Großbritannien registriertes Fahrzeug, dessen
Fahrer sich als Ire ausgab. Oder um ein in Irland registrier-
tes Auto, dessen Fahrer Brite sein wollte. Sämtliche Fahrer
waren in Betrügereien verwickelt, hatten für Dienstleistun-
gen kassiert, ohne sie zu erbringen, hatten minderwertige
Generatoren oder Werkzeuge verkauft. Die Namen der Män-
ner waren sich erstaunlich ähnlich, teils hatten sie mehrere

Arzneien aus pulverisiertem Horn. Es gilt in der traditionellen Medizin Asiens als Wundermittel und wird teurer gehandelt als Kokain

072
Colorado zu schicken, um dem Prä-
parator vier Hörner abzukaufen.
Tatsächlich waren es dann zwei
Männer, die am 9. September 2010
mit dem Präparator und einem Un-
dercover-Agenten des USFWS zu-
sammenkamen. Sie nannten sich
Richard O’Brien und Michael He-
garty, und beide sprachen mit brei-
tem irischem Akzent. O’Brien sagte,
er wisse, dass Rhinozeros-Horn
nicht auf legalem Wege aus den USA
exportiert werden könne. Aber sie
seien im Antiquitätenhandel tätig,
und die Hörner außer Landes zu
schaffen sei nicht schwierig. Sie
würden alle paar Wochen Container
voller Möbel nach Großbritannien
einschiffen. Der Undercover-Agent
behauptete, dass sein Cousin auch
noch vier Hörner habe und dafür
8500 Dollar verlange.
Hegarty und O’Brien flogen nach
Hörner zweier Tiere gestohlen, ein Jahr später in Dublin die Schädel von vier Weißen Nashörnern
Irland, kehrten aber am 13. Novem-
ber zurück, um den Kauf zu besie-
geln – und wurden bei der Übergabe
Identitäten. Hatte ein Polizeibeamter den Herkunftsort des von 12 850 Dollar verhaftet. Sie gaben zu, im Auftrag von
Verdächtigen notiert, lautete er „Raheele“ oder „Rackeel“. Sullivan zu handeln, aber ansonsten blieben sie bei ihrer Ge-
In Befragungen waren die Männer aggressiv geworden; oft schichte: Die Hörner seien für die Einrichtung eines irischen
stellte sich heraus, dass alles, was sie sagten, gelogen war. Schlosses gedacht.
Die Polizeidatenbanken gaben nichts über sie her. „Schatten, Gut 1000 Kilometer weiter südlich war im Herbst ein an-
die hin und her schweben“, dachte Reid. derer Ire durch Texas gereist, auch er auf der Suche nach
Ein skandinavischer Beamter schloss seinen Bericht, der Nashörnern. Michael Slattery Jr. hatte versucht, einen aus-
die Aktivitäten eines irischen Verdächtigen im Detail be- gestopften Rhinozeros-Kopf von einem Präparator in Austin
schrieb, mit nahezu flehenden Worten: „Gibt es irgend- zu kaufen. Als er erfuhr, dass die Trophäe nur von in Texas
jemanden, der weiß, wie man mit diesen Leuten umgeht?“ ansässigen Personen legal erworben werden konnte, rekru-
Reid beschloss, sich der Sache anzunehmen. tierte Slattery einen Obdachlosen, der das 18 000-Dollar-
Geschäft für ihn abwickelte.
Auf der anderen Seite des Atlantiks hörten Mitarbeiter der Drei Tage nach der Festnahme von O’Brien und Hegarty
amerikanischen Natur- und Artenschutzbehörde USFWS im landete Slattery in New York, wo er zusammen mit Kompli-
Sommer 2010 erstmals seltsame Geschichten über Iren, die zen vier Hörner mit gefälschten Zertifikaten an einen chine-
versuchten, illegal Rhinozeros-Hörner in den USA zu kaufen. sischen Interessenten verschob, für insgesamt 50 000 Dollar.
Im Juli hatte ein Mann, der sich als John Sullivan ausgab, Slattery bestieg noch am selben Tag ein Flugzeug, das ihn

Fotos: M
eine Nachricht an einen Tierpräparator in Commerce City, außer Landes brachte. Auch die vier Rhinozeros-Hörner ver-
Colorado, geschickt. Sullivan behauptete, er wolle sein ließen schließlich die USA – allerdings erst, nachdem sie in
Schloss in Irland im afrikanischen Stil einrichten und sei New York noch zweimal weiterverkauft worden waren.
deshalb auf der Suche nach Nashorn-Trophäen. Der Tier-
präparator wusste, dass es eine Straftat war, Nashorn-Teile Im November 2010, nur wenige Tage nach Slatterys Deal,
ohne USFWS-Zertifikat nach Irland zu exportieren. Er in- wurde ein Mitarbeiter des USFWS in Washington mit einem
formierte die Behörde und setzte die Korrespondenz mit irischen Beamten bekannt gemacht. Man kam ins Gespräch,
Sullivan fort – nun aber als Informant der Ermittler. und der USFWS-Mitarbeiter erzählte von dem seltsamen
„Nur an Nashorn interessiert“, schrieb Sullivan. „Je mehr Fall in Colorado. Von dem angeblichen Schlossherrn Sulli-
Nashorn Sie uns besorgen können, desto mehr Geld springt van, von Richard O’Brien und Michael Hegarty. Der irische
für Sie dabei heraus.“ Er kündigte an, seinen Bruder nach Beamte hieß John Reid, er arbeitete für Europol und

crime 10 // 073
zeigte sich sehr interessiert. Er sagte, er habe von ähnlichen Ein CAB-Ermittler erzählt von einem Regionalflughafen,
Fällen gehört. dessen Start- und Landebahnen nach einem Regenguss
Tatsächlich hatte Reid zu diesem Zeitpunkt bereits meh- nicht mehr zu erkennen waren.
rere Monate mit der Sammlung und Auswertung von Infor- Inzwischen haben die Rovers ihren Wirkungskreis bis nach
mationen aus ganz Europa verbracht. Unterstützt hatten ihn Kanada, Hongkong, Russland und in die Dominikanische
Ermittler des Dubliner Criminal Assets Bureau, kurz CAB, Republik ausgeweitet. Neben ihrem Asphaltierungsgeschäft
einer behördenübergreifenden Ermittlungseinheit, die zur handeln sie mit Möbeln, Teppichen, Autos und insbeson dere
Bekämpfung des organisierten Verbrechens in Irland ge- mit Antiquitäten. Sie zeigen einen bemerkenswerten Ge-
gründet worden war. Das Ergebnis der Recherchen war ein schäftssinn sowie eine Vorliebe für Bargeldtransaktionen und
umfassendes Dossier über eine kriminelle Bande aus dem legen oft kurzfristig mehrere tausend Kilometer zurück, um
Milieu der irischen Traveller – eines schwer durchschauba- einen guten Deal zu machen.
ren Netzwerks von umherziehenden Clans, die ihre eigenen Am Ende jedes Jahres versammeln sich die Rovers in einer
Gebräuche und ihre eigene Sprache pflegen. Kleinstadt drei Autostunden von Dublin entfernt – Rath-
Das CAB hatte die Bande, die sogenannten Rathkeale keale in der Grafschaft Limerick. Wenn sie dort im Novem-
Rovers, schon seit fast zehn Jahren auf dem Radar, aber sie ber und Dezember zusammenkommen, sind die schmalen
strafrechtlich zu verfolgen gestaltete sich als schwierig. Straßen der Stadt mit BMW- und Mercedes-Geländewagen zu-
Nicht zuletzt deshalb, weil sie offenbar selten Verbrechen geparkt, und die Clans konkurrieren darum, wer die protzigs-
auf irischem Boden begingen. Und weil sie im Gegensatz zu te Hochzeit ausrichten kann. Diejenigen, die richtig Geld
gewöhnlichen Gangs, die sich
nur für die Ausübung eines Ver-
brechens zusammenschließen,
Teil eines Clanverbunds waren,
in dem man sowohl bei legalen
als auch bei illegalen Geschäften
zusammenarbeitete.
Die meiste Zeit des Jahres zo-
Die „Rathkeale Rovers“ gehören zum Milieu der irischen „Traveller“ – umherziehender Clans, die ihre eigen
gen sie umher. Sie lebten in ihren pflegen. Der internationale Nashorn-Handel erwies sich als lukrative Geschäftsidee, zumindest bis die Poliz
Wohnwagen, die sie jeweils für
ein paar Monate auf Camping-
plätzen oder in Caravan-Siedlun-
gen abstellten. Laut Eugene Cor-

Fotos:
coran, dem Leiter des CAB, rührt
der Name „Rovers“, Wanderer,
aus der Zeit, als sie durch Groß-
britannien und Europa zogen
und Asphaltierungsarbeiten an-
boten – oft in der Absicht, gut-
gläubige Leute auszuplündern.
Sie nahmen ihnen Geld ab und
asphaltierten ihre Einfahrten
mit minderwertigem Material.
Manchmal stahlen sie auch oder
fielen durch andere Betrügereien
auf. Zum Beispiel, weil sie Stra-
ßenmarkierungen mit billiger
wasserlöslicher Farbe auftrugen.

Von der Grafschaft Limerick in die Welt: Rathkeale ist eine unscheinbare Kleinstadt drei Stunden südwestlich von Dublin und die Basis der reisenden

074 // crime 10
gemacht haben, können in der Hierarchie aufsteigen und Am 17. November 2010, einige Tage nachdem Richard
stellen ihren Reichtum deshalb offen zur Schau. Andere nen- O’Brien und sein Schwager Michael Hegarty in Colorado ver-
nen sie „Gucci Traveller“. haftet worden waren, fand bei Europol ein wichtiges Treffen
Aber während die Traveller genau wissen, wer in ihrer statt. John Reid hatte Ermittler und Verbindungsbeamte aus
Gemeinschaft welche Rolle spielt, sind die Strukturen für einem Dutzend EU-Staaten nach Den Haag geladen. Er zeig-
Außenstehende kaum zu durchschauen. Die Mitglieder te auf, dass all die Vorfälle und Verbrechen, die in den ver-
unterschiedlicher Clans tragen denselben Nachnamen und gangenen Monaten aus verschiedenen Ländern gemeldet
erweitern ihn zwecks Unterscheidung um feststehende worden waren, auf ein kriminelles Netzwerk irischer Travel-
Spitznamen: Die „Kerry“ O’Briens sind nicht zu verwech- ler-Familien zurückzuführen waren. Und er enthüllte, dass
seln mit den „Turkey“ O’Briens, den „Bishop“ O’Briens oder diese Traveller auch in den illegalen Handel mit Rhinozeros-
den „Pa Turkey“ O’Briens. Alle Familien sind groß, und oft Hörnern verwickelt waren. Es war der Startschuss für ein
haben Väter, Söhne und Cousins denselben Vornamen, was europaweites Ermittlungsverfahren gegen die Rathkeale
die Identi fikation noch schwieriger macht. „Wenn Dan Rovers. Der Beginn der „Operation Eichenblatt“.
O’Brien in Deutschland ein Konto eröffnet, um welchen Während Polizeibehörden aus 33 europäischen Ländern
Dan O’Brien handelt es sich?“, sagt ein CAB-Ermittler. „Es begannen, ihre Ermittlungen gegen die Rovers untereinander
gibt 15 Dan O’Briens in Rathkeale.“ Und die haben noch und mit dem amerikanischen USFWS zu koordinieren, in-
etwas anderes gemeinsam als den Namen. Sie sind ständig tensivierte die Bande ihre Suche nach Rhinozeros-Hörnern.
auf der Suche nach dem nächsten großen Geschäft. In Südafrika wurden zwei Rathkealer erwischt, als sie ver-
suchten, Nashorn-Wilderer anzuheuern. In Europa gaben vie-
le ihre betrügerischen Haustürgeschäfte auf und begannen,
von einem Ort zum anderen zu fliegen, um Schlösser, herr-
schaftliche Anwesen und Naturkundemuseen heimzusuchen.

m Silvestertag 2010 wurde ein Horn


aus dem Allwetterzoo in Münster ge-
en Gebräuche, ihre eigene Sprache und ihre eigenen Betrugsmethoden
ei die Masche durchschaute. Heute sind viele Clanmitglieder in Haft stohlen, im Februar ein Nashornkopf in
einem britischem Auktionshaus von der
Die Gucci-Mörderin Wand gerissen. Es folgten Vorfälle in Frank-
reich, Belgien, Deutschland, Italien, Groß-
britannien und den Niederlanden. Und immer häufiger han-
delte es sich um Blitzeinbrüche am helllichten Tag: In Paris
attackierten Diebe die Wachleute des Jagd- und Naturkun-
demuseums im Marais-Viertel mit Tränengas, ehe sie sich
mit einem Horn davonmachten.
Zum Ärger der Ermittler war die Beweislage diffus – hier
ein Telefonmitschnitt, da eine Videoaufnahme, auch mal ein
Nummernschild. In vielen Museen ging den Diebstählen ein
Besuch von Männern voraus, die nach Meinung der Zeugen
irisch ausgesehen hatten. Sie interessierten sich für die
Nashorn-Trophäen oder andere ungewöhnliche Stücke und
verschwanden, nachdem sie Fotos gemacht hatten. Die Die-
be, die auf frischer Tat erwischt wurden, stammten nur in
den seltensten Fällen aus Rathkeale. Es handelte sich oft um
Arbeiter, die von einem Clan für Asphaltierungsarbeiten an-
geheuert worden waren, oder um britische Kriminelle, die
einen Einbruchsauftrag bekommen hatten. Nur wenige von
Gauner. Von hier aus betrieben sie Handel mit fünf Kontinenten ihnen waren Experten.
Nach einem nächtlichen Museumseinbruch im portugiesi-
schen Coimbra im April 2011 konnte die Polizei einen Anruf
zurückverfolgen, der um ein Uhr morgens aus dem Museum
heraus an ein irisches Handy ging, das auf die Ehefrau eines
führenden Mitglieds der Rathkeale Rovers zugelassen war.
Offenbar fragten die Diebe nach letzten Anweisungen.

075
Die „Operation Eichenblatt“ nahm Fahrt auf. Nach und sind nur selten bewohnt. „Sie leben in ihren Wohnwagen,
nach gelang es den Ermittlern, das Netzwerk der Rathkeale auch wenn sie zu Hause sind“, erklärt Fleming. „Das Haus
Rovers zu entflechten. Sie dokumentierten die Clanstruk- ist so etwas wie eine Trophäe“, fügt Claffey hinzu.
turen, die Verbindungen der Mitglieder untereinander. Sie Es gibt viele Trophäenhäuser in Rathkeale. In den ver-
schafften es, die zwei Dutzend wichtigsten Personen im Ring gangenen 20 Jahren haben die Rovers viele bisherige Haus-
der Nashorn-Händler zu identifizieren. Und sie konnten auch eigentümer mit Koffern voller Geld besucht und ihnen das
praktische Erfolge verbuchen. Zwei- bis Dreifache des Marktpreises geboten. Beim CAB
Im September 2011 stoppte die portugiesische Polizei am vermutet man, dass der Grundbesitz auch dazu dient,
Lissaboner Flughafen einen australischen Antiquitätenhänd- schmutziges Geld zu waschen.
ler, als er gerade mit seinem Sohn ein Flugzeug nach Dublin Claffey rät davon ab, Fotos zu machen. „Sie wundern sich
besteigen wollte. Bei der Durchsuchung ihres Gepäcks nicht, wenn wir hier in der Gegend auftauchen, aber sie ha-
stellte die Polizei 100 000 Euro Bargeld und sechs Hörner ben es nicht gern, wenn wir fotografieren“, sagt er. „Letztes
im Wert von 500 000 Dollar sicher. Nach Aussage der CAB- Jahr Weihnachten hat eine Gruppe von ihnen unser Auto mit
Ermittler arbeitete der Händler von Shanghai aus und flog Ziegelsteinen beworfen.“
bis zu einmal wöchentlich nach Europa, um Mitglieder der
Rathkeale Rovers in Frankreich, Spanien oder Portugal zu
treffen. Der Australier wurde wegen Verstoßes gegen das ach der „Operation Eichenblatt“ sind
internationale Artenschutzabkommen angeklagt. Man ver- die Horn-Diebstähle in Europa zu-
dächtigte ihn, für die Rovers gestohlene Hörner an asiatische rückgegangen. Aber das liegt nicht
Kunden verkauft zu haben. allein am Verfolgungsdruck und an den
Anderthalb Jahre später, im Januar 2013, führten koordi- zahlreichen Verhaftungen. Viele Museums-
nierte Razzien in mehreren europäischen Ländern zur Fest- direktoren sind sich des Wertes der Hör-
nahme von 30 Personen, die alle Verbindungen nach Rath keale ner bewusst geworden. Sie haben sie aus den Ausstellungen
hatten. Und am 10. September 2013 erreichte die „Operation entfernt und durch Repliken aus Kunstharz ersetzt. Und die
Eichenblatt“ ihren Höhepunkt. An diesem Tag führte die Poli- Traveller-Clans haben bereits vieles von dem abgeräumt, was
zei zeitgleich Durchsuchungen in Rathkeale und an sieben abzuräumen war. „Sie haben den verfügbaren Bestand an
weiteren Orten in Irland und Großbritannien durch und stell- Rhinozeros-Hörnern erschöpft“, sagt Sergeant Cyril Claffey.
te vier Hörner und diverse Kunstgegenstände sicher. Die Rathkeale Rovers haben sich auf die Suche nach einer
Gekrönt wurde der Erfolg der „Operation Eichenblatt“ von neuen Handelsware gemacht. Schon bei der Razzia im Sep-
einer Meldung aus den USA: Einen Tag nach den Razzien in tember 2013 ging es nicht nur um gestohlene Hörner. Die
Europa nahmen Ermittler des USFWS Michael Slattery Jr. Polizei suchte nach 18 chinesischen Artefakten aus den Ming-
fest, der an Gate 55 des New Yorker Flughafens Newark auf und Qing-Dynastien, die 2012 aus zwei britischen Museen
seinen Flug nach London wartete. Im November bekannte geraubt worden waren. Die über 400 Jahre alten Stücke hat-
Slattery sich schuldig, gegen den Lacey Act, der den Handel ten einen Wert von 20 Millionen Pfund und waren mit ziem-
mit illegal erworbenen Wildtieren untersagt, verstoßen zu licher Sicherheit von Auftragstätern entwendet worden.
haben. Bei einem Gerichtstermin in Brooklyn brach er in Einige Monate nach der Razzia meldete einer der Sicher-
Tränen aus. Er wurde zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt. heitsleute der Chester Beatty Bibliothek im Dubliner Schloss
einen Besucher, der sich besonders für die antike chinesi-
Wer nach dem großen Schlag gegen die Rovers durch Rath- sche Jadesammlung zu interessieren schien. Er unterschied
keale fährt, könnte meinen, in einer normalen Kleinstadt zu sich deutlich von den anderen Besuchern, die flüsternd die
sein. Aber Detective Paul Fleming und sein Partner Sergeant berühmten Schätze aus Fernost bewunderten. Er machte
Cyril Claffey wissen es besser. Als sie auf den Kreisverkehr ein paar Fotos mit seinem iPhone. Dann war er verschwun-
in der Roches Road einbiegen, zeigen sie auf die Reihen be- den. Kurz darauf ließ der Museumsdirektor die komplette
scheidener Einfamilienhäuser, die die Straße säumen. Die Jadesammlung aus dem Ausstellungsraum entfernen. Und
meisten sind fachgerecht verblendet und mit neuen Fenstern Sergeant Claffey hätte ihm recht gegeben. „Heute sind es
und Terrassen ausgestattet. „Jedes einzelne dieser Häuser Rhinozeros-Hörner und morgen chinesische Artefakte“, sagt
ist im Besitz der Traveller“, sagt Fleming. „Sie sehen alle er. „Wer weiß, was es nächste Woche sein wird.“
gleich aus: große Eisentore, Fensterläden. Und nirgendwo
findet man auch nur einen Grashalm.“ Die Stahlverschläge Aus dem Englischen übersetzt von Anuschka Tomat
vor den Fenstern dienen dem Schutz der Häuser während
der langen Reisen der Besitzer; ehemalige Gärten und Grün-
flächen sind betoniert, um Stellplätze für die Last-, Gelände-
und Wohnwagen zu schaffen. Wo Caravans stehen, sind sie
oft durch Kabel mit dem Haus verbunden. Die Häuser selbst

076 // crime 10
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DER TAG,
AN DEM
MIR MEIN
BRUDER
GENOMMEN
WURDE
David Kushner war vier, als Jon auf seinem Rad in
den Wald fuhr und nie wieder zurückkehrte.
Hier erzählt er vom Schweigen danach – und wie er
erst Jahre später die ganze Wahrheit erfuhr
von DAVID KUSHNER illustrationen SHOUT

080 // crime 10
081
David Kushner und sein großer Bruder
Jon Anfang der 70er Jahre

1973:
MEINE LETZTE ERINNERUNG AN MEINEN BRUDER „Und wenn es regnet?“, fragte ich Jon. Ich musste an
JON WAR DIE ZWEIFELHAFTESTE. Es war der 28. Ok- einen Nachmittag in unserem vorigen Haus denken. Jon
tober, und wir standen auf dem Gehweg vor unserem Haus. war mit dem Fahrrad zu einem Laden gefahren, kurz vor
Ich war vier, ein stämmiger kleiner Kerl mit braunem Haar einem typischen Florida-Wolkenbruch. Ich erinnerte mich,
und Topfschnitt. Jon, drahtig, hager, welliges rotes Haar, wie ich neben meiner Mutter in der Küche stand, als er
war elf. Anfang des Jahres waren wir in das kleine Häus- anrief. Meine Mutter sagte zu mir, dass wir ihn mit dem
chen in Tampa, Florida, gezogen. Es war das letzte Gebäu- Kombi abholen müssten, weil er, wie sie sagte, „im Regen
de an der letzten Straße vor dem Wald. Für die Kinder im feststeckte“. Ich hatte diesen Ausdruck noch nie gehört, und
Viertel war der Wald das große Unbekannte, ein Dickicht er kam mir komisch vor. Ich hatte dieses Bild vor Augen,
der Freiheit, ein moosbewachsenes Labyrinth voller Zypres- wie Jon buchstäblich in einem Käfig aus fallenden Tropfen
sen und Palmen, das erforscht werden wollte. Sie wagten gefangen war.
sich zu Pferd, mit dem Fahrrad und barfuß hinein. Sie „Wenn es regnet, rufe ich an“, versprach er.
hatten einen Pfad zu dem Tante-Emma-Laden auf der an- „Ruf mich auf jeden Fall an, wenn du da bist“, sagte ich.
deren Seite des Walds getrampelt, und dorthin wollte Jon „Dann sag ich dir noch mal, was ich haben will.“
an jenem Tag. „Alles klar.“
Er stieg auf sein rotes Fahrrad und steuerte die Bäume an. Jon packte den Lenker und trat in die Pedale. Er radelte
Es waren die Easy-Rider-Jahre, und die Gefährte der Jungs rasch den Gehweg hinunter Richtung Wald. Ich beobachtete
sahen ein bisschen wie Motorräder aus. Das von Jon hatte meinen Bruder, wie er wegfuhr, und wünschte mir, ich könn-
einen länglichen bananenförmigen Sattel, einen chromglän- te mit ihm fahren. Ich habe ihn nie wieder gesehen.
zenden hohen Lenker und extradicke Reifen. Um noch mehr Es sollte Jahrzehnte dauern, bis ich begreifen würde, was
herzumachen, steckten die Kinder Spielkarten zwischen die wirklich geschehen war, sowohl in diesen letzten gemein-
schwarzen Speichen ihrer Bonanza-Bikes, damit sie sich beim samen Minuten als auch in den folgenden Jahren. Doch
Fahren wie Motorräder anhörten. meine Suche sollte mich immer wieder zurück zu diesem
Jon wippte mit den Füßen auf den Pedalen, ich wusste, es Moment führen.
kribbelte ihn, er wollte los.

„Du wirst das auch bestimmt nicht vergessen?“, fragte ich 1985:
ihn. Eines Tages im März 1985 wurde ich dabei erwischt, dass ich
„Nein, versprochen“, antwortete er. den Terminplan für die Studienberatung manipuliert hatte.

F
„Lass mich mitfahren.“ Ich war auf der Highschool und hatte ein gefälschtes Formu-
„Geht nicht. Du bist zu klein.“ lar benutzt, um ein Mädchen aus dem Unterricht zu locken
Ich wollte unbedingt einen Snappy-Gator-Kaugummi. Das und sie zum Abschlussball einzuladen. Ich dachte, das sei
war nicht nur ein Kaugummi, sondern ein Spielzeug. Der eine charmante Idee, aber es ging schief. Ich wurde für einen
Kaugummi steckte im Schlund eines Plastikkrokodils, der Tag vom Unterricht ausgeschlossen. Meine Suspendierung
sich öffnete und schloss, wenn man auf den Hals drückte. war, wie sich herausstellte, genau an dem Tag, an dem John-
Ich musste ihn haben, und ich wollte auf keinen Fall, dass ny Paul Witt, der ältere der beiden Männer, die meinen
etwas dazwischenkam. Bruder ermordet hatten, hingerichtet werden sollte.

082 // crime 10
Am Morgen jenes 6. März wachte ich früh auf. Ich ging und ich wusste nie, was ich eigentlich glauben sollte. Jetzt
auf die Terrasse und setzte mich zu meinem Vater. Er hör- stellte sich heraus, dass einige der schlimmsten Geschichten
te gerade die Nachrichten. „Vielleicht sollte es so sein, dass der Wahrheit entsprachen. Und als ich nun meinem Vater
du heute zu Hause bist“, sagte er zu mir, als ich einen Stuhl zum ersten Mal von meiner letzten Erinnerung an Jon er-
neben ihn zog. zählte, sah ich Trauer und Mitgefühl in seinen Augen. Meine
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten mein Vater und ich noch im- Erinnerung entspreche nicht der Wirklichkeit, sagte er. Als
mer nicht viel über Jon gesprochen. Und keiner von uns sprach Jon weggefahren war, hätte ich im Haus gespielt. Der letzte
je über Jons Mörder. Das ging so weit, dass ich nicht einmal Mensch, der ihn lebend gesehen habe, sei er, mein Vater.
wusste, was meine Eltern überhaupt wussten. Als wir auf der Mir schwirrte der Kopf. Ich hatte meine Kindheit damit
Terrasse saßen und auf die Stunde der Hinrichtung warteten, verbracht, eine Geschichte rund um diesen letzten Moment
sagte er, es sei Zeit, dass ich die ganze Geschichte höre. mit meinem Bruder zu konstruieren und sie mit Bedeutung
Da Jon mich nicht, wie versprochen, vom Laden aus an- zu füllen. Ich hatte so viel an diese Erinnerung geknüpft, weil
gerufen hatte, war ich davon ausgegangen, dass er an jenem sie mich mit Jon verband. Doch sie erzeugte in mir auch
Morgen auf dem Weg dorthin entführt worden war. Das hät- Schuldgefühle. Jahrelang hatte mich der beschissene Gedan-
te auch erklärt, warum niemand den Kaugummi gefunden ke geplagt, dass er damals nicht zu dem Laden gefahren wäre,
hatte, um den ich ihn doch gebeten hatte. wenn ich ihn nicht um den Kaugummi gebeten hätte.
Aber als mein Vater mir seine Version der Geschehnisse Mein Vater sagte, man habe die Süßigkeiten gefunden, die
erzählte, dauerte es nicht lange, bis meine Geschichte in sich Jon an dem Tag gekauft hatte, aber es sei kein Snappy- Gator-
zusammenfiel. Jon hatte es bis zum Laden geschafft, sagte Kaugummi darunter gewesen. Nur ein paar Sachen, die er
er. Auf dem Rückweg schlugen Witt und sein Komplize Gary für sich gekauft hatte, und auch etwas für meine Mutter und
Tillman ihn mit einem Rohr nieder. Sie fesselten und kne- meinen Vater. Wenn mein Gespräch mit ihm wirklich statt-
belten ihn und warfen ihn in den Kofferraum ihres Wagens. gefunden hätte, so dachte ich mir, hätte er mir sicher gekauft,
Sie fuhren an eine abgelegene Stelle im Wald und holten Jon worum ich ihn gebeten hatte, oder?
aus dem Wagen. Jon war erstickt. Das brachte sie aus dem Aber vielleicht hatte Jon ja auch so gewusst, was ich mir
Konzept, denn sie hatten geplant, ihn lebendig zu foltern. Da wünschte, aber er hatte es trotzdem nicht gekauft? Plötzlich
draußen im Wald vergingen sich die beiden an seinem Leich- kam in mir so ein Urgefühl auf: Geschwisterrivalität. Scheiß
nam. Dann schnitten sie ihm die Genitalien ab und steckten auf ihn! Diese Wut weckte in mir keine Schuldgefühle, son-
sie als Souvenir in eine kleine Tasche. Schließlich verscharr- dern fühlte sich seltsam tröstlich an.
ten sie ihn in einer flachen Grube in einem Orangenhain. Es war einfach ein ehrliches brüderliches Gefühl. Mein
Einige Zeit später, sagte mein Vater, ganzes Leben lang wollte ich wenigs-
habe Witts Ehefrau ihren Mann an- tens irgendein Gefühl haben, das Jon
gezeigt. Er wurde verhaftet und wegen betraf, egal welches, sogar dieses.
Mordes zum Tode verurteilt. Tillman MEIN LEBEN Doch als die Wut und das Schuld-
bekam lebenslänglich. Bei ihm war LANG WOLLTE ICH gefühl verflogen waren, saß ich da
Schizophrenie diagnostiziert worden, draußen, und etwas anderes machte
und die Staatsanwaltschaft hatte be-
WENIGSTENS sich in meinem Kopf breit: Verwir-
fürchtet, er würde vielleicht wegen Un- IRGENDEIN GEFÜHL rung. Eine neue geheimnisvolle Welt
zurechnungsfähigkeit freigesprochen, HABEN, DAS JON er öffnete sich mir, und ich hatte keine
wenn man die Todesstrafe forderte. BETRAF Ahnung, wie ich mich in ihr zurecht-
Doch Witts letzter Tag war endlich finden sollte. Es war, als hätte ich die
da, heute, zwölf Jahre nach der Tat. Verbindung zu den Menschen in mei-
Es war schrecklich, all das zu hören. nem Leben verloren, zu meinem Va-
Jahrelang hatte ich in der Schule gräss- ter, meiner Familie, zu mir selbst –
liche Gerüchte über Jons Tod gehört, sogar zu Jon.

Lorraine und Gilbert Kushner sprachen


fast gar nicht über Jons Tod. David,
ihr Jüngster, versuchte darum allein
zu rekonstruieren, was wirklich
passiert war

083
Um 7.10 Uhr an jenem Morgen, dem Moment von Witts Hin- bereit. Ich bat einen Journalisten, man solle uns bitte nicht
richtung auf dem elektrischen Stuhl, schaute mein Vater auf die filmen. Er sagte, sein Boss würde ihm das nicht durchgehen
Uhr. „Jetzt ist er tot“, sagte er. lassen. Aber vielleicht könnte er uns ja nur von hinten auf-
nehmen, nur unsere Hinterköpfe.
Wir hörten die Aussagen von Tillmans Mutter und seinem
1998: Bruder.
Mein Bruder Andy und ich waren informiert worden, dass Sie hatten nicht viel zu sagen, außer dass Tillman in der
geprüft werde, ob Tillman auf Bewährung freikommt. Trotz Haft fleißig lernen würde. Danach zählte ihr Anwalt sämtli-
des großen öffentlichen Interesses an diesem Fall hatte nicht che Rehabilitierungsprogramme auf, an denen Tillman teil-
einmal das Büro der Staatsanwaltschaft davon gewusst. Als genommen hatte, und er habe gute Noten beim Unterricht
Andy mit dem zuständigen Staatsanwalt sprach, konnte der im Gefängnis bekommen.
es nicht glauben und war empört, dass dieser Vorgang selbst Walker leistete uns Beistand. Er wandte sich an das Gericht.
in seiner Behörde irgendwie durchgerutscht war. Nun stand Er nannte den Fall „den brutalsten und sadistischsten Mord
unsere Anhörung vor der Bewährungskommission an. Und an einem Kind, dessen Aufklärung mir je übertragen wurde“.
viele Leute kamen hinter dem Ofen hervor, um uns bei der Er beschrieb die Entführung, den Überfall. Er erzählte auch,
Vorbereitung zu unterstützen: Abgeordnete, Rechtsanwälte, dass er Tillman Monate nach der Festnahme gemeinsam mit
ein Vertreter der Staatsanwaltschaft, Ruheständler. einem Polizeibeamten an einen anderen Ort gebracht habe.
Am Abend vor dem Termin trafen Andy und ich Captain Damals habe der Gefangene ihm erzählt, er besäße eine Liste
James Walker in unserem Hotel. Walker, ein einfühlsamer von Leuten, die er umbringen wolle. Darunter einen der da-
älterer Herr, war einer der Ermittler gewesen. maligen Staatsanwälte, einen der Ermittler, einen Kaplan,
„Gibt es noch etwas, das Sie wissen wollen?“, fragte er. seinen Anwalt und einen Gefängnismitarbeiter.
Ich erzählte ihm von meinen Erinnerungen. Wie ich als Kind Als Nächstes kam Andy zu Wort. Ich schaute zu, wie er sich
einem Polizisten erzählt hatte, dass ich meinen Bruder gebe- über das Tischmikrofon beugte, sein Manuskript in der Hand.
ten habe, zu dem Laden zu fahren und mir einen Kaugummi Andy und ich waren immer dicke Freunde gewesen. Nun
mitzubringen. Ich erzählte ihm auch, mein Vater habe Jahre machten wir das alles gemeinsam durch, und das brachte
später darauf bestanden, das sei nicht so gewesen. „Doch“, uns einander noch näher. Unsere Erfahrungen mit Jons Er-
sagte Walker, „Sie haben recht.“ Er erinnerte sich an eine da- mordung waren so verschieden – allein, wenn man unsere
malige Aussage von mir, in der ich beschrieb, wie ich mit Jon Persönlichkeiten und den Altersunterschied betrachtet –,
auf dem Gehweg gestanden hatte, bevor er in den Wald fuhr. aber in unserer Trauer und unserem Zorn waren wir vereint.
Die nächste Frage kam ganz automatisch, ohne dass ich über- Ich war so stolz auf ihn, als er sprach.
haupt darüber nachdachte. „Was ist mit dem Kaugummi?“, „Über zehn Jahre lang habe ich vollkommen dicht gemacht
fragte ich. „Nun“, sagte er. „Witt hat ihn seinem Sohn gegeben.“ und kaum mit irgendjemandem darüber gesprochen, auch mit
Ich fing an zu weinen. Mit den Tränen lösten sich auch die meinen eigenen Eltern nicht“, sagte er. „Es war furchtbar, die
Gefühle. Ich war auf dem Gehweg gewesen. Ich hatte dieses wichtigsten Jahre meines Erwachsenwerdens zu durchleben
Gespräch mit Jon. Er hatte mir den Kaugummi gekauft. Witt und ein so tiefes, dunkles, schreckliches Geheimnis in mir zu
hatte ihn getötet und den Kaugummi genommen. Ich fühlte tragen, es zu unterdrücken. Obwohl ich seitdem viel Unter-

F
mich gestärkt durch die Tatsache, dass meine Erinnerung stützung bekommen habe, bin ich für mein Leben gezeichnet.
keine Lüge war, aber zugleich war ich empört über das, was Bis zum heutigen Tag ringe ich mit vielen komplizierten The-
ich erfahren hatte. Ich war wü- men. Jede Faser meines Körpers
tend. Zornig. Rachedurstig. kämpft gegen dieses Wissen,
Der Raum, in dem die Be- dass der allerschlimmste Alb-
währungsanhörung stattfand, traum jeden Moment für mich
war zum Bersten voll. Kamera- und für jeden geliebten Men-
team und Beleuchtung standen schen wahr werden kann.

Die Mörder: Johnny Paul Witt (l.)


wurde zum Tode verurteilt, Gary Tillman
zu lebenslanger Haft

084 // crime 10
085
Meine schönsten Momente sind dennoch die, in denen Wie Sie wissen, würde Tillman, wenn er dasselbe Verbre-
ich abends im Schaukelstuhl sitze, mein Kind mit seinem chen heute begehen würde, für eine Bewährung nicht mal
kleinen weißen Stoffhund auf meinem Schoß, und zusam- infrage kommen. Florida hat heute ein Gesetz, das uns glück-
men hören wir ein paar Lieder und singen dazu. Und dann licherweise davor schützt. Der einzige Grund, aus dem wir hier
drücken wir uns ganz fest und geben uns einen Kuss, und sind, ist der, dass er sich noch früh genug einen elfjährigen
ich lege es ins Bett und decke es warm zu. Ich blicke in Jungen ausgeguckt hat, ihn gepackt, ermordet und verstüm-
die süßen, unschuldigen Kinderaugen, und fast jedes Mal melt hat. Um der Gesellschaft willen, um meiner Familie und
durchfährt mich dann ein Schaudern. Wie kann ich meine meines toten Bruders willen: Gary Tillman darf nicht von
Kinder jemals in eine Welt hinausschicken, von der ich weiß, seinem guten Timing profitieren. Er verdient es nicht, auch
dass sie so entsetzlich und gefährlich war und es auch noch nur einen einzigen Tag seiner Lebenszeit in Freiheit zu ver-
immer sein kann, eine Welt, in der vielleicht jemand wie bringen, denn diese Zeit hat er meinem Bruder Jon verwehrt.“
Tillman wartet? Was werde ich tun, Der Vertreter der Staatsanwaltschaft
wenn sie so weit sind, dass sie ein Fahr- sprach als Letzter. Als er rekapitulierte,
rad bekommen und allein damit los- was die Verteidigung über Tillmans di-
fahren?“ verse Leistungen im Gefängnis vorge-
Dann war ich dran. „Ich würde Ihnen JON bracht hatte, schloss er mit donnernder
gern ein Bild aus dem Jahr 1970 zei- Stimme: „Na und?“
gen“, fing ich an. Ich reichte den Mit-
NAHM MICH Die Mikrofone wurden abgeschaltet,
gliedern des Bewährungsausschusses UNTER die Bewährungskommission begann zu
ein altes Schwarz-Weiß-Foto. Eine Auf- SEINE FITTICHE. diskutieren. Nach ein paar endlosen Mi-
nahme von Jon, Andy und mir. Wir sit- ICH HIMMELTE nuten konnte ich hören, wie über Zahlen
zen vor unserem Kamin. Ich zwischen IHN AN geredet wurde – Jahre, vermutete ich.
ihnen, mit einem breiten Lächeln im Schließlich beugte sich der Staatsanwalt
Gesicht, mit meinen Händen ziehe ich herüber und flüsterte: „Er kommt nie
beide an mich heran, während sie – mehr raus.“
sichtlich verärgert über meine uncoole Sie fingen an zu addieren. Jahre für die
Liebesbekundung – versuchen, sich zu befreien. „Das links Brutalität und die Niedertracht des Verbrechens. Jahre für die
ist mein älterer Bruder, der heute hier bei mir ist“, sagte ich Schändung und die Verstümmelung. Jahre für den Versuch,
unter Tränen. das Verbrechen zu vertuschen, indem er Jon im Orangenhain
„Ich bin in der Mitte, rechts ist Jon, mein anderer älterer verscharrte. Endlich verkündete die Kommission ihr Ergeb-
Bruder, mein anderer bester Freund. nis: Tillman musste weitere 102 Jahre im Gefängnis verbrin-
Jon ist besonders lustig und liebevoll gewesen. Er hat mich gen, also bis zum Jahr 2096.
unter seine Fittiche genommen, ich hab ihn angehimmelt. Draußen vor dem Gerichtssaal riefen wir unsere Eltern an,
Jeden Tag hat er neue Spiele erfunden. Er ist so gerne zelten um ihnen die Nachricht zu überbringen. Aber für mich war
gegangen. Er war kreativ und konnte unheimlich gut Donald die Geschichte noch nicht zu Ende. Es gab noch so vieles, was
Duck nachmachen. Er hat sehr hart dafür gearbeitet, seine ich nicht wusste. Den Rest der Geschichte. Ich wollte alles
Lernschwäche zu überwinden, und er hat große Fortschritte erfahren. Ich wollte mehr über die Mörder meines Bruders
gemacht. Er ist so gern Rad gefahren. wissen. Ich war überzeugt, je mehr ich erführe, desto voll-
Obwohl ich wirklich dankbar für die Möglichkeit bin, heu- ständiger würde ich mich fühlen. Vielleicht sagt das etwas
te hier zu sprechen, macht es mich auch krank. Es widert Grundsätzliches über das Leben an sich aus. Etwas, das für
mich an, dass ich oder irgendjemand anderes erklären muss, jeden Menschen gültig ist. Vielleicht können wir uns nicht
warum dieser Barbar, der meinen lieben hilflosen Bruder vollständig fühlen, ehe wir genug wissen, um unsere Ge-
ermordet und geschändet hat, nicht auf Bewährung frei- schichte zu erzählen. Aber unsere Geschichte erfahren, das
kommen darf. können wir nicht allein.

Auszug aus „Alligator Candy“ von David Kushner,


Verlag Simon & Schuster.

Aus dem Englischen übersetzt


von Karin Rausch

086 // crime 10
»Ich sehe in ihre toten Auge
Wer wart ihr? Wer hat Euch ge
Ich werde es herausfinden.«
Smoky BarretT ist zu
Endlich!
Der neue Thriller
von Bestsellerautor
Cody Mcfadyen.

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A
n einem Herbsttag des Jahres
2012 bricht in einem Wohn-
block der finnischen Stadt Tur-
ku ein Feuer aus, das schnell gelöscht
ist. Bald darauf besprühen Menschen
in weißen Schutzanzügen verrußte
Wände, Fußböden und Möbel mit flüs-
sigem Latex. Als die milchige Substanz
getrocknet ist, ziehen sie die dünne
Haut behutsam von den Oberflächen.
Der Ruß bleibt an ihr hängen, und auf
den Tischen, Schränken und Mauern
kommen Blutflecken und rote Finger-
abdrücke zum Vorschein.
Das Feuer wurde absichtlich gelegt,
von Kriminalisten einer internationalen
Forschungsgruppe. Sie hatten zuvor die
Wohnung mit den Spuren präpariert. Ihr
Ziel: herauszufinden, auf welchen Ober-
flächen das „Flüssiglatexlifting“ nach Blutspritzer an einer Wand: Sie zeigen, aus welcher Richtung geschlagen wurde
Bränden die besten Ergebnisse erzielt.
Initiatorin des Projekts war eine Deut-
sche: Silke Brodbeck, Medizinerin –
und Expertin für Blut.
Brodbeck, 43, die in Usingen bei
Frankfurt das „Blutspureninstitut“ be-
treibt, forscht nicht nur, sie untersucht
auch im Auftrag der Polizei Tatorte,
schreibt Gutachten für Staatsan-
// eine spezialistin für
waltschaften oder Gerichte und bildet
Polizisten und Ärzte in der sogenannten
Bloodstain Pattern Analysis aus. In
einem „Nischenfach“, wie sie es nennt.
Dass Beamte am Tatort nach Blut su-
BLUTSPUREN
chen, damit daraus DNA extrahiert
werden kann, ist kriminalistischer Jede Gewalttat hinterlässt etwas. Blut zum
Standard. Doch gibt es bundesweit nur Beispiel. Silke Brodbeck liest aus
wenige Experten, die sich wie Brodbeck
Flecken und Tropfen Hinweise auf das
mit der Analyse von Blutspurenmus-
tern beschäftigen: der Kunst, aus roten heraus, was geschehen ist
Spritzern, Tropfen und Flecken Hinwei-
se auf einen Tathergang herauszulesen.
Wenn Brodbeck zum Einsatz gerufen
wird, sitzt sie manchmal schon Stunden sichtbar. Wenn sie alles fotografiert hat, etlichen Mythen aufgeräumt wurde,
nach einer Tat mit ihrem „Blutspuren- ist die Sammelarbeit beendet. die manchmal zu Fehlern in Gutachten
koffer“ im Auto. Vor Ort kriecht sie mit Der nächste Schritt ist die Analyse, in geführt hatten. Lange dachte man etwa,

F
der Lupe unter Tische, leuchtet Decken, ihrem Institut, unterstützt vom Com- dass Blut, das aus einer Wunde heraus-
Wände und Böden mit einer Speziallam- puter. Die Basis dieser Arbeit ist streng schießt, in lang gezogenen Tropfen
pe aus, die nicht nur beim Aufstöbern, wissenschaftlich: Physik. „Genauer: durch die Luft fliegt – und zwar auf
sondern auch beim Unterscheiden von Flüssigkeitsphysik. Im Grunde geht es einer geraden Flugbahn. Doch in Wahr-
Spuren hilft: Blut hat einen anderen um die Frage, wie sich Blut im Raum heit sind die Tropfen kugelförmig, und
Farbton, eine andere Konsistenz und bewegt, um bestimmte Abbildungen die Flugbahn verläuft darum nicht ge-
Dichte als Rotwein oder sonstige Fle- hervorzurufen.“ rade, sondern im Bogen.
cken. Und Brodbecks Infrarotlicht Naturwissenschaftler wie Silke Brod- Ein simples Beispiel: „Wenn ein Opfer
macht es auch auf dunklem Untergrund beck haben dazu beigetragen, dass mit von einem Hammer getroffen wird,

088 // crime 10
fliegt jeder Blutspritzer erst aufwärts, des amerikanischen Arztes Sam Shep- beteuerte, bekam lebenslang und wur-
hat dann einen Scheitelpunkt und fliegt pard, der das Vorbild für den Film „Dr. de erst zehn Jahre später in einem Wie-
wieder abwärts“, erklärt Brodbeck. Kimble auf der Flucht“ war, ist ein Bei- deraufnahmeverfahren freigelassen.
Wenn er anschließend irgendwo auf- spiel dafür. Nachdem Sheppards Ehe- Brodbeck vermutet eine viel profane-
schlägt, hinterlässt er eine ganz spezi- frau 1954 ermordet in ihrem Ehebett re Ursache für den ominösen Fleck: „Die
fische Spur, aus der Brodbeck auf sei- gefunden wurde, fanden Ermittler eine auffällige Spur ist höchstwahrscheinlich
nen konkreten Flugweg schließen kann. auffällige Blutspur auf ihrem Kopfkis- die Folge einer Falte im Kissen. Wenn
Je schmaler und länger die Spur, desto sen. Mit genügend Fantasie konnte man man genau hinschaut, sieht man in der
spitzer war zum Beispiel der Winkel, in darin die Form einer chirurgischen Mitte eine höhere Farbdichte. Die
dem der Spritzer auftraf. Daran kann Zange erkennen. Die Beamten schlos- Silhouette ist durch diese Faltung ent-
Brodbeck erkennen, aus welcher Rich- sen, dass der Arzt seine Frau mit einer standen, in der Blut zusammengeflos-
tung, Höhe und Entfernung das Blut solchen ermordet und das blutver- sen ist, möglicherweise in Verbindung
ungefähr kam. Und wenn sie mehrere schmierte Werkzeug auf das Kissen ge- mit Haaren des Opfers.“
Spritzer findet, kann sie bestimmen, wo legt hatte. Sheppard, der seine Unschuld Um selbst Trugschlüsse zu vermei-
genau sich deren Flugwege kreuzen. den, stellt Brodbeck manchmal beson-
Dort müssen sie ihren gemeinsamen ders schwierige Tatort-Konstellationen
Ursprung haben. Dort muss sich das mit Schweineblut in einer Scheune
Opfer beim Schlag befunden haben. neben ihrem Institut nach. Dort hat sie
Wichtig sind nicht nur Stellen, an de- einen Zeltpavillon aufgebaut. Auf den
nen Blut haftet, sondern auch jene ohne weißen Wänden sieht man noch Blut-
Spuren, die Aussparungen. „Stellen Sie spritzer und dunkle Abdrücke aus einer
sich vor, ich sitze am Tisch und jemand ihrer Fortbildungen für Kriminalbeam-
erschlägt mich“, sagt Brodbeck. „Wo te, bei denen sie manchmal zu Demons-
finden sich dann wohl Blutspuren?“ Auf trationszwecken einen triefenden Ham-
dem T-Shirt, auf der Tischplatte, aber mer durch die Luft kreisen lässt.
ziemlich sicher nicht unter der Platte. Eine der Lektionen, die die Polizisten
Auf dem Boden, aber ziemlich sicher dabei lernen: Wessen Kleidung mit Blut
nicht auf der Sitzfläche des Stuhls. bespritzt ist, muss nicht zwangsläufig
Für sich allein sagen diese Informa- der Täter sein. Zugleich kommt je-
tionen vielleicht noch nicht viel. Sie mand, dessen Shirt noch strahlend weiß
können aber spätestens vor Gericht ist, durchaus als Mörder infrage. Wenn
wichtig sein, um Aussagen eines Ange- etwa ein Täter eine blutige Keule über
klagten zu überprüfen, zum Beispiel seinen Kopf schwingt, hat er danach
wenn der behauptet, er habe das Opfer womöglich selbst gar kein Blut an sich,
in Notwehr während eines Kampfes er- die Umstehenden hingegen viel.
schlagen, die Aussparungen aber zeigen, Die Medizinerin Brodbeck ist Das Material, mit dem Brodbeck
dass das Opfer auf dem Stuhl saß. Expertin für die „Bloodstain Pattern arbeitet, bietet viele Überraschungen.
Analysis“. Die Abdrücke auf
Die Hypothesen über den möglichen dieser Platte wurden nach einem
Da wäre etwa der Fall des amerikani-
Tathergang entwickeln letztlich die er- Brand mittels Latex freigelegt schen Mitarbeiters eines Bestattungsin-
mittelnden Kriminalbeamten, und sie stituts, der seine Frau ermordet hatte.
entstehen im Austausch zwischen ver- „Er schob ihre Leiche ins Krematorium.“
schiedenen Disziplinen wie etwa der Sie verbrannte vollständig.
Rechtsmedizin oder den Fallanalytikern. Doch die Ermittler fanden im
„Wir liefern Puzzlesteinchen dafür, kei- Ofen dunkle Flecken: Blut, mit
ne fertigen Antworten“, sagt Brodbeck. der DNA der Ermordeten. Einer
„Und wir bewegen uns immer nur im Be- der beiden Brenner hatte nicht
reich des Möglichen.“ Denn meist gibt richtig gezündet. Die Tempera-
es mehrere plausible Erklärungsansätze tur reichte zwar aus, um den Kör-
für ein Spurenbild. per der Frau zu Asche werden zu
Und was manchem plausibel er- lassen. Doch Blut übersteht selbst
scheint, muss nicht richtig sein. Der Fall Temperaturen von 800 Grad,
das liegt über dem Schmelzpunkt
von Aluminium. Damit hatte der
Fehlschlüsse können fatale Folgen haben.
Der Fleck auf diesem Kissen führte zu einem Mann nicht gerechnet.
der bekanntesten Justizirrtümer der USA Ingrid Eißele

crime 10 // 089
DER
GOTT
DER
RACHE

von SKIP HOLLANDSWORTH


fotos ALLISON V. SMITH

Als Detective Thompson in das Haus an der Spring Grove gerufen wurde, war er schnell sicher:

090 // crime 10
Er weiß, was passiert ist. Doch man sollte sich nie zu sicher sein

091
E
ES NIESELTE, ALS DETECTIVE DWAYNE THOMPSON IN DEN FRÜHEN MORGENSTUNDEN DES
9. MAI 2010 VOR EINEM KLEINEN HAUS AN DER SPRING GROVE AVENUE IM NORDEN VON
DALLAS HIELT. GEGEN 0.30 UHR HATTE DORT EINE FRAU DIE NOTRUFNUMMER GEWÄHLT.
Olivia Lord, die Freundin des Hausbesitzers Michael Burn- „Und wer ist das?“, fragte Thompson und zeigte auf einen
side. Sie hatte gesagt, dass sie ihn gerade auf dem Küchen- Mann, der neben Lord im Vorgarten kniete. Der Mann trug
boden gefunden habe, mit einer Schusswunde im Kopf. Beim ein T-Shirt, Kakishorts und Sandalen. „Brian Jaffe, 30, Bau-
Eintreffen der Sanitäter hatte Burnside noch schwache Le- ingenieur, Burnsides bester Freund.“ Jaffe habe ausgesagt,
benszeichen von sich gegeben, doch kurz danach war er in er habe Burnside am Vorabend geholfen, einen Geschirrspü-
der Notaufnahme des Parkland Memorial Hospital gestorben. ler anzuschließen, während Lord in der Zwischenzeit Türen
Auf einem Stuhl im Vorgarten sah Thompson eine junge und Fußleisten strich. Er sei vor Mitternacht gegangen. Zu
Frau sitzen, die Hände vor dem Gesicht. Sie trug ein blaues Hause habe er dann einen Anruf von Lord erhalten. Sie sei

D
T-Shirt und eine graue Trainingshose mit blutbefleckten so hysterisch gewesen, dass er sie nicht verstanden habe. Er
Knien. Der Detective ging zu einem Kollegen in Uniform, der sei zu Burnsides Haus zurückgerast und zeitgleich mit den
bereits erste Aussagen aufgenommen hatte. Die Frau sei Sanitätern eingetroffen.
Olivia Lord, 33, sagte der Kollege. Er blätterte in seinem No- Thompson musterte Lord und Jaffe einen Moment lang,
tizbuch. Lord sei Darlehensberaterin bei einer Bausparkasse, dann ging er zu ihnen hinüber. Der Detective war 47 Jahre
ihr Freund sei Mitinhaber einer Haussanierungsfirma gewe- alt und mit seinen 1,89 Meter und gut 100 Kilo gebaut wie
sen. Sie und Burnside seien sehr verliebt gewesen, die beiden ein Footballprofi. Weicher Filzhut, dunkler Anzug, weißes
hätten über Heirat gesprochen. Sie wollte zu ihm ziehen, Hemd, Krawatte, elegante Schuhe. Um die Schultern ein
sobald sein Haus fertig renoviert war. dickes Lederholster mit seiner Dienstpistole geschnallt,
„Und was ist passiert?“, fragte Thompson. einer 9 mm Sig Sauer. Nachdem er Lord und Jaffe sein Bei-
Lord und Burnside hätten gestritten – irgendwas wegen leid ausgesprochen hatte, forderte er sie auf, Einverständ-
einer Geburtstagsparty. Burnside habe stark getrunken und niserklärungen für einen Schmauchspurentest zu unter-
irgendwann, mitten im Streit, sei er in die Küche gegangen schreiben. Reine Routine, versicherte er. Dann bat er sie,
und habe sich erschossen. in getrennten Polizeiwagen zum Präsidium mitzufahren, um
Der Uniformierte zuckte mit den Achseln. ihre Aussagen zu Protokoll zu geben. Schluchzend bat Lord,

092 // crime 10
man möge sie ins Krankenhaus bringen, damit sie bei ihrem gaben ihm den Spitznamen „D-Zug“. Sobald er einem Ver-
Freund sein könne. „Das ist leider nicht möglich“, sagte dächtigen auf den Fersen sei, sei er nicht zu bremsen, sagten
Thompson. sie. Als die Produzenten der Crime-Dokureihe „The First 48“
Ihm fiel ein chemischer Geruch an ihrer Kleidung auf. nach Dallas kamen, waren sie sofort von Thompson angetan.
Thompson begab sich ins Haus. Er ging in die Küche und Die Kameras folgten ihm, als er einen Mordfall löste, bei dem
nickte Detective Dale Lundberg zu, seinem Partner. Auf dem die Leiche nie gefunden wurde. Es war die meistgesehene
Boden sah er eine Blutlache, blutige Handtücher, ein paar Folge der Serie. Wenn Thompson Zeugen umgarnte und sich
Flaschen mit Haushaltsreinigern – und eine 9 mm Beretta, danach entschlossen auf einen Verdächtigen stürzte, wirkte
etwa 1,50 Meter von der Stelle entfernt, an der Burnside ge- er wie ein Schauspieler, der einen Detective spielt.
legen hatte. In einer Wand entdeckten sie knapp unterhalb In der Freizeit restaurierte er Sportwagen und düste in sei-
der Zimmerdecke ein Einschussloch. ner schwarzen Corvette Cabrio herum. Er unterrichtete auch
Die beiden Detectives wurden stutzig. Warum befanden an der Dallas Police Academy und hielt im ganzen Land Se-
sich hier blutige Handtücher und Flaschen mit Haushalts- minare über Polizeiarbeit. Zwei Sätze sagte er dabei immer
reiniger? Müsste die Waffe nicht näher am Körper liegen, wieder: Es sei äußerst wichtig, das Leben des Opfers genau
wenn der junge Mann sich selbst erschossen hätte? Noch unter die Lupe zu nehmen. „Viktimologie“ sei die am stärks-
etwas passte nicht ins Bild: eine Blutspur, die in ein anderes ten vernachlässigte Disziplin bei Mordermittlungen.
Zimmer führte. In diesen frühen Morgenstunden des 9. Mai war Thomp-
Irgendwas war hier faul. son ausgesprochen interessiert an der viktimologischen
Untersuchung von Burnside. Eine Frage ließ ihn nicht in
Ruhe: Warum sollte ein Mann sich nach einem ganz norma-
len Streit mit seiner Freundin plötzlich erschießen?
Der Tod von Michael Burnside entwickelte sich zu einem der Thompson betrachtete eine Kopie von Burnsides Führer-
ungewöhnlichsten Kriminalfälle im Staate Texas. Ich habe schein. Das Foto zeigte einen gut aussehenden jungen Mann
ihn vier Jahre lang begleitet mit gewinnendem Lächeln. Er war so groß wie
und dabei mit vielen der Be- DIE BLUTIGEN Thompson, schlank und athletisch. Thompson rief
teiligten immer wieder ge- Burnsides Vater John an, einen erfolgreichen
sprochen. Es ist die Ge-
HANDTÜCHER, Wirtschaftsanalysten aus Dallas. John Burnside
schichte einer verzweifelten DAS PUTZMITTEL, war von Jaffe schon über den Tod seines Sohnes
Frau, die als Einzige die DIE BERETTA. informiert worden. Er rang um Fassung. Mikey
Wahrheit kennt. Und es ist sei der positivste Mensch gewesen, den er kenne.
die Geschichte eines Star- Anfang der Woche habe Mikey seiner Mom noch
Polizisten, der plötzlich vom gesagt, wie sehr er sich auf das Familien essen
Jäger zum Gejagten wird. am Muttertag freue. Das hätte an diesem
Häufig hörte ich von Mittag stattfinden sollen. „Ausgeschlossen, dass
Thompsons Kollegen, wie be- er sich selbst erschossen hat“, sagte der Vater.
liebt und angesehen er war. Könnte Jaffe etwas mit dem Tod zu tun haben?
Er sei „ein Berg von einem UND EINE SPUR, Wäre es zum Beispiel möglich, dass er eine Affä-
Mann, temperamentvoll und re mit Mikeys Freundin Olivia Lord hatte? Auf
mit tiefer kraftvoller Stim-
DIE IN EIN keinen Fall, sagte John, Jaffe hätte Mikey niemals
me“, sagte etwa Lieutenant ANDERES ZIMMER hintergangen, die beiden waren Freunde seit der
Craig Miller, sein damaliger FÜHRTE Highschool.
Vorgesetzter. Thompson war Nach dem Telefonat prüfte Thompson die
in Ohio aufgewachsen, hatte fünf Jahre beim Militär gedient, Mobilverbindungen von Lord und Jaffe und hielt die Daten
zuletzt als Captain. Während der Operation „Desert Storm“ in seinem Notizbuch fest. Dann klingelte sein eigenes Han-
befehligte er eine Einheit der Militärpolizei in Saudi-Arabien. dy. Lundberg, aus dem Krankenhaus: Die Wunde an der rech-
1991 wurde er ehrenhaft entlassen und trat in Dallas in den ten Schläfe des Toten weise auf einen aufgesetzten Schuss
Polizeidienst ein. Zunächst fuhr er Streife in den härteren hin, die Mündung sei direkt an den Kopf gedrückt worden.
Vierteln der Stadt, anschließend arbeitete er im Raubdezer- Typisch für einen Selbstmord. Es gebe auch keine Abwehr-
nat, bevor er 2007 zur Mordkommission kam. verletzungen, die auf einen Kampf hinwiesen.
Thompson, einer der wenigen schwarzen Detectives in der Aber, fuhr Lundberg fort, es gebe auch keine Spuren von
Abteilung, machte sich rasch einen Namen. „Lasst uns ein Blutspritzern auf Burnsides rechter Hand oder dem Arm. Die
paar Mordfälle lösen, Jungs“, pflegte er gut gelaunt zu bel- Kugel sei außerdem auf der linken Seite weit oberhalb der
len, wenn er morgens ins Büro stürmte. Seine Mitarbeiter Schläfe ausgetreten. Wenn jemand sich in die Schläfe

crime 10 // 093
Dwayne Thompson, Detective bei der Mordkommission in Dallas, war ein Karriere-Cop. Bei seinen
Ermittlungen hatte ihn sogar schon das Fernsehen begleitet. Die Zuschauer waren begeistert gewesen

094
schießt, richtet er die Waffe aber normalerweise gerade auf Am Vorabend habe Burnside auch eine Waffe hervorge-
seinen Kopf, die Kugel tritt dann in einer fast parallelen Li- holt. „Wir haben rumgeblödelt – ich weiß nicht mehr, wo-
nie auf Höhe der anderen Schläfe aus. rüber –, und ich hab gesagt: ‚Hey, wo ist eigentlich deine
„Wäre es möglich, dass eine Person, die wesentlich klei- Beretta?‘ Da hat er eine Küchenschublade aufgezogen und
ner als Burnside ist – sagen wir, 1,57 Meter, so wie Olivia gesagt: ‚Hier ist sie.‘“
Lord –, schräg von unten mit der Beretta auf Burnsides Kopf Aber Burnside habe diesmal nicht mit der Pistole gespielt.
gezielt und abgedrückt hat?“, fragte Thompson. Ohnehin, sagte Jaffe, habe er in den vergangenen 15 Jahren
„Ja“, sagte Lundberg. nur zwei- oder dreimal gesehen, wie Burnside leichtfertig mit
Hier war ganz sicher etwas faul. einer hantierte.
Thompson ging zum Vernehmungszimmer. Jaffe saß dort Dann fügte er noch etwas hinzu. „Ich sage Ihnen eins:
auf einem Plastikstuhl an einem kleinen, an die Wand Mikeys Motto war ‚Ich liebe mein Leben‘. Jedes Mal, wenn
gerückten Tisch. Der Detective setzte sich ihm gegenüber. irgendwas gut gelaufen ist, kam: ‚Ich liebe mein Leben‘.“
„Mikey“ sei ein „prima Kerl“ gewesen, der gerne gejagt und Tatsächlich sei genau dieser Satz auch an diesem Tag ge-
geangelt habe, hörte er von dessen bestem Freund. Und die fallen. Burnsides Firma habe nämlich gerade einen Auftrag
Beziehung zwischen Mikey und Olivia Lord? „Klassisch: Sie abgewickelt – 70 000 Dollar für eine einzige Woche Arbeit.
hat gekocht und geputzt, und er war zufrieden.“ „Mikey war auf keinen Fall ein depressiver Typ. Im Gegen-
„War sie die Richtige fürs Leben oder die Richtige für den teil, er war eine richtige Stimmungskanone.“
Moment?“ Thompson verließ den Raum, ging durch den Flur und öff-
„Sie war die Richtige, jedenfalls für ihn“, antwortete Jaffe. nete die Tür zu einem anderen Vernehmungszimmer.
Aber, fügte er hinzu, sein Freund sei nicht so der Heiratstyp Es war jetzt 5.44 Uhr am Morgen, und Lord saß zusam-
gewesen. mengesunken auf einem Stuhl. Sie trug noch immer ihre
An dem Abend hätten er und Burnside den Geschirrspüler blutbefleckte Kleidung. Ihre Stimme zitterte.
anschließen wollen. Aber ein Ventil sei defekt gewesen und Auch sie habe an dem Abend getrunken, Wodka-Eistee.
Wasser auf den Boden gelaufen. Also hätten sie eine Pause Und ja, sie sei genervt gewesen, als sie von der Geburtstags-
gemacht und was getrunken, Jaffe trank Shiner-Bock-Bier party hörte. „Ich hab deswegen den ganzen Abend auf ihm
und Burnside Wodka mit Red Bull. Sie hätten über eine Über- rumgehackt“, sagte sie. Nachdem Jaffe weg war, sei der Streit
raschungsparty gesprochen, die sie für einen alten Freund eskaliert. Burnside habe gesagt, er habe Geldprobleme,
schmeißen wollten, und über einen Junggesellenabschied in da er sowohl seine Hypothek abzahlen als auch die Einkom-
Las Vegas im kommenden Sommer. Als Lord das mitbekam, mensteuer begleichen müsse. Er sei unausstehlich und
sei sie „sauer“ geworden. Sie habe gesagt, es verletze sie, wie sarkastisch geworden, wie nicht selten, wenn er trank.
sehr sich ihr Freund in eine Geburtstagsparty für einen Kum- Sie habe irgendwann genug von der Streiterei gehabt und
pel reinhänge. Zu ihrem eigenen Geburtstag habe er nämlich sei ins Bad gegangen. Er sei im Schlafzimmer geblieben. „Er
so gut wie nichts gemacht. Und diesen Junggesellenabschied lief auf und ab, brüllte mir hinterher.“ Als er es nicht geschafft
in Las Vegas: Den solle er mal lieber vergessen. habe, sie zu einer Reaktion zu provozieren, sei er aus dem
„Die Botschaft war: ‚Ich weiß, was da abgeht in Las Vegas‘“, Zimmer gegangen.
sagte Jaffe. „Mikey antwortete: ‚Ich werd dich schon nicht „Ich hörte etwas und dachte, da ist Glas zersplittert. Es war
betrügen. Reg dich ab.‘“ Die beiden hätten so getan, als sei wahnsinnig laut“, sagte Lord. „Ich bin in die Küche, und da
alles nur eine scherzhafte Kabbelei, „aber man konnte spü- lag er auf dem Boden, und überall war Blut. Ich hab ihn in
ren, wie ernst es war“. den Arm genommen und festgehalten.“
Darum habe er beschlossen, besser nach Hause zu fahren. Thompson schaute in sein Notizbuch.
Als er dann nach Olivias verzweifeltem Anruf wieder zu Burn- Warum habe sie eigentlich zuerst Jaffe angerufen und erst
sides Haus zurückkehrte, habe er Olivia im Vorgarten gefun- sieben Minuten später den Notruf getätigt? Lord schien
den. „Sie sagte immer wieder: ‚Ich wollte ihn nicht verlassen. perplex zu sein. Sie habe Jaffe angerufen, da sie zunächst
Ich wollte ihn nicht verlassen. Das war nur ein blöder Streit.‘“ dachte, Burnside sei nur gestürzt. Doch als sie gemerkt habe,
Brian Jaffe machte eine Pause. wie ernst die Verletzung war, habe sie mehrfach die Notruf-
„Brian, wir haben ein Problem“, sagte Thompson. „Heute nummer gewählt, bis sie durchkam.
Abend ist etwas passiert. Und etwas stimmt an der ganzen Und warum war kaum Blut an ihren Händen und Armen?
Sache nicht.“ Hatte sie sich mit den Handtüchern abgewischt, bevor die
„Mir fällt dazu nur ein, dass Mikey manchmal sehr unvor- Rettungskräfte eintrafen? „Nein.“
sichtig mit Waffen umging“, sagte Jaffe. „Ab und an dachte Hatte sie die Waffe ihres Freunds angerührt? „Nein.“
er, eine Waffe wäre nicht geladen, und fuchtelte damit rum. Und was die Finanzen anbelange: Er habe gehört, dass
Aber das war nur Spaß. Dann musste man ihm erklären: ‚Das Burnside gut verdient habe. „Mikey stand keineswegs unter
ist kein Spielzeug.‘“ Druck“, sagte Thompson.

crime 10 // 095
„Er hat mir wortwörtlich gesagt, dass er dem Finanzamt keinen Heiratsantrag gemacht hatte. Sie sagte auch, dass er
eine Menge Steuern schuldet“, antwortete Lord. „Das war einem ein bisschen Angst machen konnte, wenn er wütend
ein Riesenproblem.“ war, er habe dann oft Gegenstände kaputt geschmissen.
Thompson lehnte sich zurück und fixierte Lord. „Etwas Gewöhnlich habe sie ihn einfach ignoriert, wenn er seine
fehlt“, sagte er. „Etwas stimmt hier nicht.“ Anwandlungen hatte. Aber das habe ihn diesmal nur noch
Er ließ ein paar Sekunden vergehen. Wieder fragte er sie, wütender gemacht.
was sie in den sieben Minuten zwischen den Anrufen getan Vorsichtig brachte Lundberg die blutverschmierten Hand-
habe. tücher zur Sprache. Ob sie diese benutzt habe, um sich das
„Ich habe mich über den Körper meines zukünftigen Ehe- Blut abzuwischen? Nein, sagte Lord. Die Handtücher hätten
mannes gebeugt“, sagte Lord. auf dem Küchenboden gelegen, um das Wasser aufzusaugen,
Dann schlug Thompson zu. „Sie haben ihn erschossen, ver- das aus dem Geschirrspüler lief. Lundberg wies sie auf den
dammt noch einmal!“, brüllte er und sprang fast vom Stuhl außergewöhnlichen Schusskanal in Burnsides Kopf hin. Sei-
auf. „Genau das haben Sie getan! Sie haben ihn erschossen!“ ne Stimme wurde noch eine Spur sanfter. „Ich arbeite schon
Lord war für einen Augenblick fassungslos, sagte dann: lange als Ermittler, und ich weiß, dass manchmal irgendwel-
„Nein, das habe ich nicht!“ che Dinge passieren und wir Situationen nicht immer unter
„Olivia, Sie sagen mir nicht die Wahrheit.“ Kontrolle haben“, sagte er. „Ich kann gut verstehen, dass
„Ich habe Ihnen genau gesagt, was passiert ist!“ Menschen außer sich geraten, Angst bekommen, wütend wer-
„Sie haben über eine scheiß Geburtstagsparty gestritten, den – und dann tun sie manchmal etwas …“
und er denkt: ‚Ich bin so sauer wegen der scheiß Geburts- Er hielt inne und behielt Lord im Blick. „An Weihnachten
tagsparty, dass ich mich jetzt umbringe‘?“ Thompson wurde haben Sie damit gerechnet, einen Verlobungsring zu bekom-
immer lauter. „Wie wollen Sie das seiner Familie erklären? men. Sie waren sehr enttäuscht. Und jetzt gibt er auch noch
Glauben Sie, die werden Ihnen diesen Bullshit abnehmen, einen Haufen Geld für einen Freund aus, und für ihren Ge-
den Sie mir da auftischen?“ burtstag hat er nicht annähernd so viel übrig gehabt. Das tut
Eine Stunde lang redete er auf Lord ein. Aber sie wieder- weh. Sie haben gesagt, er war wütend und er brüllte rum und
holte immer wieder, sie habe ihren Freund geliebt, sie seien fing an, Sachen kaputt zu hauen. Sie haben auch gesagt, dass
miteinander glücklich gewesen, und warum er sich das Le- er einem Angst machen konnte. Für mich sieht das so aus:
ben nahm, könne sie sich absolut nicht erklären. „Ich bin Sie waren aufgebracht, haben die Nerven verloren, und Sie
genauso ratlos wie Sie“, sagte Lord. „Ob ich eine Antwort haben ihn erschossen. Das ist die einzige Erklärung, die einen
haben möchte? Ja. Habe ich schreckliche Schuldgefühle, Sinn ergibt.“
weil ich vielleicht etwas provoziert habe? Ja. Ich bin am Lord schüttelte den Kopf. „Ich kann Ihnen nur eins sagen,
Boden zerstört.“ das einen Sinn ergibt: Wenn er getrunken hat, ist er vollkom-
Thompson legte nach. „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie men unberechenbar.“
sind? Verdammte Scheiße! Was glauben Sie, wer Sie sind?“ „Olivia, alle, mit denen wir gesprochen haben, sagen über
„Ich bin eine Frau, die gerade ihren Freund verloren hat!“ Michael, dass er das Leben geliebt hat.“
„Und ich bin ein Mann, der denkt, dass Ihr Verhalten über- „Er hat das Leben geliebt. Wir haben unser gemeinsames
haupt keinen Sinn ergibt.“ Er zeigte mit dem Finger auf sie. Leben geliebt.“
„Wenn ich irgendwas finde, das beweist, was ich glaube, dann „Und jetzt ist er tot“, sagte Lundberg.
krieg ich Sie wegen Mordes dran.“ Er durchbohrte sie mit Die folgenden vier Tage verbrachte Lord bei ihrer Mutter.
seinem Blick. „Ich bin überzeugt, dass Sie ihn getötet haben. Sie blieb im Bett, nahm Schlaftabletten. Ihr Handy hatte sie
Ich bin absolut davon überzeugt.“ ihrer Tante gegeben, die ihre Anrufe checkte. Ihr Vater, der
Thompson stürmte aus dem Raum. von der Mutter getrennt in Kalifornien lebte, flog nach Dal-
Nun sollte Lundberg sein Glück versuchen. las, um Olivia beizustehen. Sie erzählte ihm, Thompson sei
Thompsons Partner war ein ruhiger Mann. Er trug eine unglaublich grob mit ihr umgesprungen. Jedes Mal, wenn
Brille und sprach langsam. In seiner Freizeit las er histori- sie versucht habe zu antworten, sei er ihr dazwischengefah-
sche Bücher über den amerikanischen Bürgerkrieg und ren und habe sie eine Lügnerin genannt. Am Ende des Ver-
spielte Schach im Internet. Lundberg betrat das Verneh- hörs habe er sie sitzen lassen wie „ein Stück Dreck“.
mungszimmer, zog seinen Stuhl dicht an Lord heran und Lord war damals eine attraktive Frau. Grüne Augen, kas-
übernahm die Rolle des guten Cops. Er sprach mit ihr, wie tanienbraunes Haar, das ihr bis über die Schultern fiel. Sie
ein liebevoller Vater. war in der Umgebung von Dallas aufgewachsen. Nach der
Verständnisvoll lächelte er, als sie wieder erzählte, wie ver- Highschool arbeitete sie als Immobilienmaklerin, dann ver-
letzt sie an ihrem Geburtstag war. Sie gab ein Detail preis, kaufte sie Kosmetikartikel in einem Nobelkaufhaus, und
das sie Thompson gegenüber nicht erwähnt hatte. Sie sei schließlich wurde sie Darlehensberaterin. Im Oktober 2008
enttäuscht gewesen, weil Burnside ihr an Weihnachten stellte ein gemeinsamer Freund ihr Burnside vor. Doch

096 // crime 10
damals steckten sie noch in anderen Beziehungen. Einige sieben Minuten gab. Lord hatte die Notrufnummer bereits
Monate später – nun waren sie beide Single – rief Burnside Sekunden nach dem ersten Anruf bei Jaffe gewählt.
sie an, weil er sein Haus umschulden wollte. Er lud sie zum Aber das schloss sie für Thompson nicht als Hauptver-
Essen ein, und das Date dauerte das ganze Wochenende. dächtige aus. Es schien ihm völlig plausibel, dass sie in der
Ihr Freund sei kein Kind von Traurigkeit, erzählte Lord Hitze des Streits die Pistole nahm, hinter Burnside trat und
ihrer Familie später. Er trinke gern und sei manchmal leicht- abdrückte. Mit den Handtüchern, die er auf dem Küchenbo-
sinnig. Er war in ein paar Unfälle verwickelt gewesen und den gesehen hatte, wischte sie sich die Hände und Arme ab.
hatte Schulden: bei einer Leihwagenfirma, weil er ein Auto Dann holte sie die Flaschen mit dem Haushaltsreiniger unter
zu Schrott gefahren hatte, und beim Finanzamt – mehr als dem Spülbecken hervor und befreite ihre Kleidung von Blut
50 000 Dollar Steuerrückstände. und Schmauchspuren. Das erklärte auch den Chemikalien-
Doch er habe ein gutes Herz, sagte sie immer wieder. Sie geruch, den er an Lord wahrgenommen hatte.
umsorgte ihn gern, half ihm bei seinen Finanzierungen, pass- Aber er brauchte unwiderlegbare Beweise.
te auf, dass er seine Rechnungen bezahlte. Sie war so verliebt, Am 5. Juni 2010, knapp einen Monat nach dem Tod von
dass sie ihm jedes Mal verzeihen konnte, wenn er etwas ver- Burnside, klingelte Thompsons Telefon. Burnsides Vater. Er
masselte – wie an ihrem Geburtstag, als er sich volllaufen sagte mit aufgeregter Stimme, jemand habe ihm erzählt, dass
ließ, im Restaurant herumtorkelte und sie selbst das Essen ein Nachbar seines Sohnes, ein Anwalt namens Sheida Ras-
zahlen ließ. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sie tegar, etwas mitbekommen habe.
bald heiraten würden. Thompson und Lundberg fuhren zu Rastegars Haus.
Am 14. Mai war Burnsides Begräbnis. In der Kapelle trat Der Anwalt wollte sie nicht hereinlassen. Nachdem Thomp-
Olivia Lord nach vorn, um sich von ihrem aufgebahrten son ihn zusammengestaucht hatte, trat er aber auf die Ve-
Freund zu verabschieden, ihre Beine gaben beinahe nach, randa und erzählte ihnen eine Geschichte, die Thompson
als sie seinen Namen flüsterte. Nach der Trauerfeier ent- später wie folgt wiedergeben würde: Rastegar hörte in den
schuldigte sie sich bei Burnsides Freunden, dass sie nieman- frühen Morgenstunden des 9. Mai in Burnsides Vorgarten
den zurückgerufen habe, der jemanden schreien. Es war Lord. Er rannte
Schmerz sei zu groß gewesen. Da- „ER HAT DAS zu ihr und fragte, was geschehen sei. Sie sank
nach gingen alle in Burnsides auf die Knie und sagte, es sei ein Unfall ge-
Lieblingskneipe. Aber Lord war
LEBEN GELIEBT. wesen, sie habe „ihn“ nicht töten wollen.
nicht eingeladen. Einige der WIR HABEN Und warum hatte er das der Polizei nicht
Freunde hatten mit Thompson ge- UNSER LEBEN gleich erzählt? Rastegars Antwort: Noch be-
sprochen, und sie hatten von ihm vor er etwas sagen konnte, hätten die unifor-
Folgendes gehört: Er verwette sei-
GELIEBT“, mierten Beamten ihn angeherrscht, zurück
ne Karriere darauf, dass Olivia SAGTE SIE. ins Haus zu gehen. Thompson lud Rastegar
ihren Freund getötet habe. ins Präsidium vor, damit er dort seine Aus-
Als Lord einige Tage später ihre sage offiziell zu Protokoll gab.
Sachen aus Burnsides Haus holen Bald darauf hatte er einen Haftbefehl
wollte, sperrte sein Vater für sie gegen Olivia Lord in der Hand.
auf. Lord wollte ihm sagen, dass Doch Lord war nicht in ihrer kleinen Woh-
sie Mikey nicht umgebracht habe. nung zu finden. Der Detective rief Jaffe an,
Der Vater schrie nur: „Und warum
„UND JETZT der sich inzwischen auch gegen sie gewandt
hast du sieben Minuten gewartet, IST ER TOT“, SAGTE hatte. Vielleicht konnte der ihm helfen, sie
bis du den Notruf gewählt hast? DER DETECTIVE zu finden. Am nächsten Tag rief Jaffe zurück,
Warum hast du meinen Sohn auf er habe Lord erreicht. Sie hatte sich in ein
seinem eigenen Küchenboden verbluten lassen? Ich hoffe, Flugzeug nach Kalifornien gesetzt. Sie hatte Jaffe erzählt, sie
du stirbst im Knast und schmorst in der Hölle!“ sei vorher an Burnsides Haus vorbeigefahren und habe dort
Burnsides Vater hatte regelmäßig Kontakt zu Thompson. die Wagen der Spurensicherung gesehen. Sie wollte wissen,
Der Detective sagte, er tue, was er könne. Was er nicht sagte, warum die Polizisten dort waren.
war, dass die Ermittlungen feststeckten. Unter anderem weil Für Thompson stand außer Zweifel: Lord war auf der
der Labortechniker auf der blutüberströmten Beretta keine Flucht.
Fingerabdrücke gefunden hatte. Thompson verriet den Burn- Olivia Lord wurde im Haus ihres Vaters festgenommen
sides auch nicht, dass ihm selbst ein Irrtum unterlaufen war. und kam in U-Haft. Eine Gefängnismitarbeiterin meinte,
Am Tag nach der Vernehmung hatte er die Telefonprotokolle man müsse sie wegen Suizidgefahr unter Beobachtung stel-
noch einmal überprüft und festgestellt, dass es zwischen len. Lord wirkte sehr niedergeschlagen. „Ich bin unschuldig“,
Lords Anruf bei Jaffe und dem Notruf gar keine Lücke von sagte sie immer wieder. „Ich bin unschuldig.“

crime 10 // 097
Ihre Eltern heuerten Joe Shearin an, einen der prominen- seien – zu einem Zeitpunkt, als Lord im Bad gewesen sein
testen Strafverteidiger von Dallas. Als Shearin einen Freund wollte.
im Morddezernat anrief, um ein wenig über Thompson in Shearin bohrte weiter. Hatte Thompson denn dann auch
Erfahrung zu bringen, stand Thompson zufällig am Schreib- erwähnt, dass der stark betrunkene Burnside seinem Freund
tisch des Kollegen und sprach bereitwillig mit dem Anwalt. vorher die Beretta gezeigt hatte? Und dass er ziemlich große
Er sagte, wenn man sich das Leben und die Einstellung des Sorgen hatte, weil er dem Finanzamt Geld schuldete?
Opfers anschaue, sei es unmöglich, dass ein junger Mann mit Nein, sagte Quinton, davon habe ihm Thompson nichts
einer vielversprechenden Zukunft sich eine Kugel in den Kopf erzählt.
jagt, nur weil seine Freundin sauer auf ihn ist. Er habe in- Im August, drei Monate nach der Tat, beantragte Shearin
zwischen einen Zeugen, dessen Aussage „wie eine Bombe“ ein „examining trial“, eine Anhörung vor Gericht, bei der ein
einschlagen werde. Polizeibeamter den hinreichenden Verdacht für eine Fest-
Er sei nun so weit. Jetzt könne er vor Gericht ziehen. nahme belegen muss. Thompson sagte aus, Lord habe kaum
Shearin holte Lord auf Kaution aus dem Gefängnis. Sie Blut an den Händen gehabt und nach „Reinigungsmittel“ ge-
hatte stets beteuert, nicht vor der Polizei geflüchtet zu sein. rochen. Daher habe er angenommen, sie habe sich die Hän-
Und tatsächlich: Sie hatte schon 13 Tage vor dem Haftbefehl de sauber gemacht. Als Shearin fragte, ob er mit jemandem
das Ticket nach Kalifornien gekauft. Als sie wieder in Dallas über die Blutspritzer an Lords Kleidung gesprochen habe,
war, befragte Shearin seine Klientin. antwortete er: „Schon möglich, aber ich weiß es nicht mehr
Warum befanden sich Flaschen mit Haushaltsreiniger auf genau.“ Dann fragte Shearin ihn nach dem Schusskanal in
dem Küchenboden? Burnside habe sie unter dem Waschbe- Burnsides Kopf. Thompson formte seine Hand zu einer
cken hervorgeholt, als er versuchte, den Geschirrspüler an- Pistole, setzte den Finger an seinem Kiefer an und zielte steil
zuschließen. Sie habe das Putzzeug nicht benutzt. Und der aufwärts in einem 70-Grad-Winkel. Shearin wurde wütend:
Chemikaliengeruch, den Thompson wahrgenommen hatte? Thompson übertreibe maßlos!
Der müsse vom Farbverdünner und vom Abbeizer für den Der Richter entschied: Der Verdacht sei zwar hinreichend
Boden stammen, die sie und für eine Festnahme gewesen, doch die Zeugenaus-
Burnside verwendet hatten. EINE SCHMAUCH- sagen in der Anhörung reichten nicht aus, um
Und die Blutspuren, die aus
der Küche herausführten?
SPUR AUF SEINER irgendetwas zu beweisen, weder Lords Schuld
noch ihre Unschuld.
Wegen des schwachen Emp- HAND. EINE Auch der Laborbefund zu den Schmauchspuren
fangs habe sie den Notruf SCHMAUCHSPUR brachte später keine Klarheit. Auf Burnsides lin-
nicht erreichen können. Da-
her sei sie verzweifelt von
AUF IHRER HAND. kem Handrücken hatte man zwei Partikel ent-
deckt, die typisch für Rückstände eines Anzünd-
Zimmer zu Zimmer gelaufen, satzes sind. Ein weiteres Partikel war auf Lords
um eine Verbindung zu be- T-Shirt gewesen. Aber das konnte unterschiedlich
kommen. Mikeys Blut müsse interpretiert werden.
dabei von ihrer Kleidung ge- Shearin glaubte, die Schmauchspuren wurden
tropft sein. auf Lord übertragen, als sie ihren sterbenden
Schließlich fragte Shearin, Freund in der Küche im Arm hielt.
ob sie in Burnsides Testa- Thompson glaubte, dass Lord nicht alle
ment oder seiner Lebens- Schmauchspuren auf ihrer Hand abgewischt hat-
versicherung berücksichtigt VIEL RAUM ZUM te. Oder dass das Paar um die Waffe kämpfte und
sei. Natürlich nicht, sagte sie. INTERPRETIEREN dabei sich der Schuss löste und Partikel auf beider
Der Anwalt nahm sich Hände hinterließ.
Lords Handyverbindungen vor. Thompson hatte noch im- Der Forensiker Quinton befand, dass die Spuren an Lord
mer niemandem außerhalb seines Kommissariats von seinem „nicht notwendig darauf hinweisen, dass sie die Waffe gehal-
Irrtum erzählt, aber nun entdeckte der Anwalt von selbst, ten oder abgefeuert hat“. Doch er konnte es auch nicht mit
dass es die ominöse Sieben-Minuten-Lücke gar nicht gab. Sicherheit ausschließen. Was aber die Blutspritzer auf ihrer
Shearin fragte auch den Gerichtsmediziner Reade Quinton, Kleidung betraf, war er sich ganz sicher: Im Blutspurenmus-
warum er kurz vor Lords Verhaftung die Todesursache im ter waren keine „Hochgeschwindigkeitsspuren“ zu erkennen,
Obduktionsbericht von „offen“ in „Tötungsdelikt“ geändert wie sie entstehen, wenn man direkt neben jemandem steht,
habe. Der Forensiker antwortete, Thompson habe ihm von der von einer Kugel getroffen wird. Er war überzeugt, dass
der belastenden Aussage des Nachbarn erzählt. Thompson Thompson ihn in die Irre geführt hatte, als er von eindeuti-
habe auch gesagt, dass die Blutspritzer auf Lords Kleidung gen Spuren sprach. Am 22. September änderte er Burnsides
seiner Überzeugung nach direkt beim Schuss entstanden Todesursache in „offen“.

098 // crime 10
Olivia Lord beteuerte von Anfang an, dass ihr Freund Mikey sich selbst getötet hatte. Und sie
wollte mit allen Mitteln darum kämpfen, von den Vorwürfen freigesprochen zu werden

099
Eindeutig ein Pluspunkt für Lord, doch für einen überzeu- „Trete der Gott der Rache mir nun seinen Platz ab, um die
genden Freispruch reichte er kaum aus. Bösen zu bestrafen!“
Shearins Durchbruch kam Ende 2011. Er bekam das Video Lord engagierte einen neuen Anwalt, Don Tittle aus Dallas,
von Rastegars Vernehmung. Es war entstanden, als der Nach- spezialisiert auf Bürgerrechtsprozesse. Ende 2011 reichte er
bar ins Präsidium kam, um seine Aussage von der Veranda gegen Dwayne Thompson und die Stadt Dallas Schadens-
noch einmal für das offizielle Protokoll zu wiederholen. Lund- ersatzklage ein: Der Detective habe Olivia Lord „böswillig ver-
berg leitete die Befragung. Rastegar sagte auch hier, Lord sei folgt“. Er habe absichtlich „Fakten falsch wiedergegeben“ und
auf die Knie gefallen und habe „etwas gesagt wie ‚er stirbt‘.“ „entscheidende Entlastungsbeweise“ unterschlagen. Dadurch
Und: „Ich hatte den Eindruck, sie versuchte mir zu sagen, habe er Lords Ruf „dauerhaft beschädigt“ und ihr „extremes
dass es ein Unfall war. Dass sie es nicht tun wollte.“ emotionales und mentales Leid“ zugefügt, „Depressionen,
Im weiteren Verlauf der Vernehmung meinte Rastegar Schlaflosigkeit, Albträume und ständige, extrem starke
jedoch, er sei sich nicht ganz sicher. „Ich erinnere mich nicht Angstgefühle“.
an den genauen Wortlaut. Ich kann nicht einmal sicher sa- Bald ging in Juristenkreisen das Gerücht um, dass Tittle
gen, dass das Wort ‚Unfall‘ vorgekommen ist.“ Er habe nach den Rechtsstreit nicht unter einer Million Dollar beilegen
jenem Abend irgendwann „gemutmaßt“, Lord habe Burnsi- wolle. Burnsides Familie und sein bester Freund Jaffe waren
de erschossen. Es sei ja auch das Gerücht umgegangen, dass vor den Kopf gestoßen: Lord war von den Vorwürfen freige-
Burnside in den Hinterkopf getroffen wurde. Gegen Ende sprochen worden, aber warum reichte ihr das nicht? Warum
der Befragung betrat Thompson den Raum. Rastegar ver- musste sie nun auch noch Geld mit Michaels Tod machen?
suchte nochmals zu erklären, was er in jener Nacht gehört Die Vorbereitungen zogen sich hin. Aber im Januar 2014,
hatte. „Ich hatte den Eindruck, dass sie mir sagte, Burnside fast vier Jahre nach dem Tod ihres Freundes, betrat Lord in
hätte es nicht getan, sie sei es gewesen.“ Aber ob sie wirklich einem schwarzen Kleid und schwarzen Pumps den Verhand-
ein Geständnis abgelegt hatte, könne er nicht mit Gewiss- lungssaal eines Bundesgerichts in Dallas. Sie wurde begleitet
heit sagen. von Freunden und Familie. Thompson, im dunklen Anzug,
Anwalt Shearin war außer sich. In Thompsons Antrag für begab sich betont lässig zu seinem Platz. Im Zuschauerraum
den Haftbefehl stand nichts davon, dass der Nachbar seine saß ein gutes Dutzend seiner Kollegen aus der Mordkommis-
erste Aussage revidiert hatte. Und das war nicht das Einzige. sion. Lord warf Thompson einen Blick zu. Er erwiderte ihn.
Der Detective hatte dem Untersuchungsrichter auch vorent- Sie hatten sich seit dem Verhör nicht mehr gesehen.
halten, dass der Rechtshänder Burnside aus kürzester Ent- Die Klägerin hatte von vornherein die schlechteren
fernung in die rechte Schläfe getroffen worden war. Karten. Ein Bürger, der einen Prozess wegen unberechtigter
Ein Indiz für Selbstmord. Verhaftung anstrengt, muss beweisen, dass der Beamte „bös-
willig“ gehandelt hat. Und das ist schwierig. Selbst eine Lüge,
um einen Verdächtigen zu einem Geständnis zu bewegen, ist
kein Beleg für Böswilligkeit. Die Anwältin von Detective
Am 11. Mai 2011 befand eine Grand Jury in Sachen „Texas Thompson erklärte es den Geschworenen im Eröffnungs-
gegen Lord“, dass die Beweise nicht für eine Anklage aus- plädoyer: „Vielleicht machen Kriminalbeamte manchmal
reichen. Shearin hatte den Prozess angestrengt. Die Staats- Fehler bei der Bewertung der Beweise. Vielleicht unterlaufen
anwaltschaft hatte zuvor zwar angeboten, die Anklage fallen ihnen gutgläubig nachvollziehbare Irrtümer. Aber solche
zu lassen, doch Lord wollte ein verbindliches Urteil, damit Fehler sind nicht mit Böswilligkeit gleichzusetzen.“
ihre Akteneinträge gelöscht würden. Nun hatte der Anwalt Lords Anwalt Tittle ging sofort zum Angriff über: „Dafür,
der Grand Jury neben Akten auch die Ergebnisse zweier dass Olivia Lord irgendetwas mit Michaels Tod zu tun hat,
Lügendetektortests vorgelegt, die bei Lords Unschulds- gab und gibt es nicht den Hauch eines stichhaltigen Bewei-
beteuerung „keine Täuschung“ angezeigt hatten. Seine Man- ses. Aber Detective Thompson konnte oder wollte das nicht
dantin hatte gewonnen. Aber als er ihr die frohe Kunde am akzeptieren.“ Der Polizist, der ja auch im Fernsehen auftre-
Telefon mitteilte, sagte Lord: „Wen interessiert das schon? te, habe die Ermittlungen „nach einem Drehbuch in seinem
Thompson hat mein Leben zerstört, und er ist noch immer Kopf“ geführt. „Und das ist gefährlich, wenn jemand Detec-
da draußen und bearbeitet Fälle. Ich will, dass er zur Strecke tive bei der Mordkommission in Dallas ist.“
gebracht wird.“ Lord erzählte unter Tränen von ihrer Liebe zu Burnside.
Früher war Olivia Lord für ihren gutmütigen Charakter Sie nannte Thompsons Verhör eine „mentale Vergewalti-
bekannt gewesen. Sie mochte Hunde, sie malte gern. gung“. Sie bezeichnete ihre Tage im Gefängnis als „Folter“.
Sie arbeitete als Freiwillige in einem Aids-Hospiz. Doch Noch heute fühle sie sich wie eine Ausgestoßene, sie habe
während der Haft hatte sie sich verändert. Sie hatte „Der Angst, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Ihre Berufs-
Graf von Monte Christo“ gelesen. Eine Zeile daraus kannte aussichten seien zerstört, potenzielle Arbeitgeber stießen
sie auswendig: bei ihrer Recherche immer wieder auf die Sache mit dem

100 // crime 10
Mordverdacht. Sie müsse Tabletten nehmen, um schlafen zu „Leute trinken und haben Waffen, das ist nichts Besonde-
können. „Ich werde für den Rest meines Lebens unter dieser res. Das heißt nicht, dass sie sich umbringen.“
Geschichte leiden“, sagte sie. Dann blickte sie zu Thompson. Und was war mit dem Nachbarn Rastegar?
„Ich kann nicht ungeschehen machen, was er getan hat.“ Thompson gab zu, dass er ohne dessen Aussage keinen
Als Thompson in den Zeugenstand trat und über seine Haftbefehl beantragt hätte.
Arbeit sprach, wirkte er sehr sympathisch. Mit ruhiger Stim- Und wann genau habe er den Antrag ausgefüllt, in dem
me erklärte er, dass er im Verhör einfach nur eine gängige stand, wie der Nachbar Lords „aufgeregte Bemerkungen“ bei
Vernehmungstechnik angewandt habe. Die sogenannte „di- der Polizei „zu Protokoll gab“?
rect method“ würden Detectives landauf, landab einsetzen: Thompson musste gestehen, dass er ihn schon verfasst
Man bezichtigt einen Verdächtigen offen eines Verbrechens, hatte, bevor Rastegar ins Morddezernat kam, um Lundberg
um zu sehen, wie er reagiert. Und dass Lord etwas zu ver- seine Aussage protokollieren zu lassen. Sein Partner habe
bergen hatte, habe er gewusst. ihm später erzählt, dass Rastegar diesmal zwar „ein wenig
Tittle fragte: „Sind Sie noch immer überzeugt, dass Olivia geschwankt“ habe, aber „nicht grundsätzlich“ von dem ab-
Lord Michael Burnside ermordet hat?“ gewichen sei, was Thompson bereits für den Haftbefehl
Thompson zögerte keine Sekunde. „Ja, das bin ich.“ geschrieben hatte.
„Gab es kein einziges Indiz, das Sie veranlasste, Ihre Ein- Lundberg wurde in den Zeugenstand gerufen. Ob auch er
schätzung noch einmal zu überdenken?“ von Lords Schuld überzeugt sei? Ja, das sei er. Was Rastegar
„Nein, Sir.“ ihm im Präsidium erzählt habe, stimme mit dem überein,
Schweigen im Gerichtssaal. Lediglich Lords unterdrücktes was er auf der Veranda gesagt hatte.
Schluchzen war zu hören. Dann fragte Tittle, ob Thompson „Nur weil die Worte weniger direkt waren, heißt das nicht,
einem von Burnsides Freunden erzählt habe, die Sache sei dass sie weniger wahr waren“, sagte Thompsons Partner.
„der Fall seines Lebens“, einer dieser Fälle, die einen Cop be- Als Nächstes rief Tittle einen pensionierten Mordermittler
rühmt machen können. in den Zeugenstand. Der sagte, das aggressive Verhör von
„Nein, das trifft nicht zu“, sagte Lord sei haarsträubend gewesen. Dann ließ
Thompson. „TRETE DER GOTT Tittle Videoaufnahmen der Befragungen von
„Das ist doch ein sexy Verbre- Lord und Rastegar vorführen. Und schließ-
chen: Eine attraktive Frau er-
DER RACHE MIR lich erzählte der Gerichtsmediziner, was
schießt ihren Freund, Sie lösen NUN SEINEN Thompson ihm über die Blutspritzer an
den Fall. Genau die Art von Fall, PLATZ AB, UM DIE Lords Kleidung gesagt habe.
den man bei ‚The First 48‘ zeigen Vielleicht spürte Thompsons Verteidiger-
könnte, nicht wahr?“, fragte Tittle.
BÖSEN ZU team, dass die Stimmung der Geschworenen
„Ich bearbeite keine Fälle, weil BESTRAFEN!“ sich gegen den Detective gewendet hatte.
sie sexy sind. Ich arbeite an Fällen, Dass es wohl keine Chance mehr auf einen
weil ich dafür bezahlt werde.“ lupenreinen „Freispruch“ gab und man Ab-
Und warum habe es ihn eigent- striche machen musste, um die Juroren für
lich nicht sonderlich beeindruckt, sich zu gewinnen. Jedenfalls griff sein zwei-
dass Burnside am Tatabend ter Anwalt beim Abschlussplädoyer zu einer
1,7 Promille hatte und mit seiner Überraschungstaktik. Er wandte sich an Lord
Beretta protzte? und sagte: „Ich weiß, dass Sie es nicht getan
AUS „DER GRAF VONhaben.“ Dann sprach er die Geschworenen
MONTE CHRISTO“ an: „Aber in diesem Verfahren geht es darum,
ob dieser Detective einen hinreichenden
Grund hatte, anzunehmen, dass sie es getan hat.“ Dann zähl-
te er alle Gründe auf, die einen Polizisten glauben machen
konnten, dass Lord ihren Freund getötet hatte.
Die Geschworenen ließen sich nicht darauf ein. Ihr Urteil
war einstimmig: Die Stadt Dallas musste Lord 1,2 Millionen
Dollar zahlen.
Am nächsten Tag wurde Thompson in den Innendienst
verbannt. Bald sprach sich herum, dass die Ethikabteilung
der Polizei Thompsons Arbeit untersuchte. Seine Kollegen
waren sicher: Es war nur eine Frage der Zeit, bis er entlassen
und womöglich sogar angeklagt würde.

crime 10 // 101
Es kam anders. Am 15. Juli 2014 landete der Abschlussbe- jetzt einfach Schluss.‘ Und dann hat er aus Versehen abge-
richt der Ethikabteilung auf dem Schreibtisch des Polizeichefs: drückt. Oder weil er dachte, die Beretta sei nicht geladen.“
Es gebe „keine Beweise, dass Detective Thompson irgendwel- Jaffe war voller Zweifel, er war sich nur sicher, dass etwas an
che vom Zeugen Rastegar gelieferten Fakten falsch dargestellt“ der bisher erzählten Geschichte nicht stimmte. „Ich bin
habe. Man könne auch nicht behaupten, dass es „keine An- bereit zu akzeptieren, dass es ein Unfall gewesen sein könn-
zeichen einer Straftat“ gebe. Thompson habe „hinreichenden te. Aber wir haben zumindest das Recht, es zu wissen. Mal
Grund für die Verhaftung der Verdächtigen Lord“ gehabt. im Ernst: Kann irgendjemand die Geschichte glauben, die
Thompson wollte nach dem Urteil der Grand Jury nicht Olivia von sich gibt? In diesem kleinen Haus soll sie einen
mit mir über den Fall sprechen. Doch Bekannte von ihm Pistolenschuss für Glas gehalten haben, das zersplittert?“
taten es, sie sagten mir, er sei weiterhin überzeugt, dass er Lord schloss die Augen, als ich ihr von den Vorwürfen er-
genügend gegen Lord in der Hand habe. Er war sich sicher: zählte. „Das ist so lächerlich. Angenommen, ich hätte Michael
Das Video des Verhörs hatte bei den Geschworenen einen getötet – wäre es dann nicht viel logischer, wenn ich nach
falschen Eindruck hinterlassen, den eines bedrohlichen dem Entscheid der Grand Jury Ruhe gegeben hätte? Hätte
schwarzen Bullen, der eine attraktive, trauernde, weiße Frau ich dann Klage eingereicht und Thompson noch einmal die
in die Ecke drängte. Und nun war Lord nicht nur um die Stra- Chance gegeben, sich auszulassen?“
fe herumgekommen, sondern hatte auch noch einen Haufen Einige Wochen später rief ich Lord erneut an. Mich be-
Geld bekommen. „Es ist verrückt“, sagte er zu einem seiner schäftigte ein Detail, das Jaffe dem Detective Thompson
Freunde, „sonst fällt mir dazu nichts mehr ein.“ erzählt hatte. Als er am Haus ankam, habe Lord verzweifelt
Als ich Olivia Lord ein Dreivierteljahr nach dem Urteil traf, gesagt: „Ich wollte ihn nicht verlassen. Ich wollte ihn nicht
hatte sie sich mittlerweile in einem College eingeschrieben verlassen.“
und wollte später Jura studieren. Von den 1,2 Millionen Dol- Als ich sie nun am Telefon danach fragte, sagte sie etwas,
lar hatte sie kaum etwas ausgegeben, stattdessen arbeitete sie das sie zuvor nicht erwähnt hatte. „Am Ende unseres Streits
für 14 Dollar die Stunde in einem Bekleidungsgeschäft. Sie wurde Michael auf einmal ruhig und sachlich. Er sagte, er
hatte schon vor dem Prozess gesagt, dass es ihr nicht ums Geld halte es einfach nicht aus, dass er mich enttäuscht. Und dazu
gehe, sondern darum, Thompson das Handwerk zu legen. noch die ganzen Geld- und Steuerprobleme.“
Wir saßen an einem Tisch ganz hinten in einem italieni- Hatte sie tatsächlich zu ihm gesagt, sie werde ihn verlas-
schen Restaurant. Sie blickte sich nervös im Raum um. „Ich sen?
muss immer daran denken, dass vielleicht irgendjemand „Ich wollte ihn nicht verlassen“, antwortete sie mit brüchi-
sagt: ‚Guck mal, das ist die Frau, die ihren Freund umge- ger Stimme.
bracht hat.‘“ Vor einiger Zeit habe sie angefangen, mit einem „Aber was haben Sie genau gesagt? War es möglich, dass
Mann auszugehen. „Aber irgendwann hat er von der Verhaf- er dachte, ich verliere gerade die Frau, die ich liebe?“
tung erfahren, und danach hat er sich nie mehr gemeldet. Lord hatte Mühe, ihre Atmung zu kontrollieren. „Darauf
Thompson ist derjenige, der ungestraft davongekommen ist.“ möchte ich nicht antworten“, sagte sie.
Sie sei nicht überrascht, dass die Ethikabteilung ihn entlas- Schweigen.
tet habe. „Was soll schon herauskommen, wenn die Polizei „Ich glaube, Michael hatte vielleicht den Eindruck, dass
sich selbst kontrolliert?“ ich ihn verlassen wollte.“
Vor diesem Treffen hatte ich Burnsides Ex-Nachbarn Ras- Sie brach in Tränen aus. „Jeden Tag denke ich Dutzende
tegar getroffen. Er hatte die Unschuldsbekundungen von Male an dieses Gespräch, und ich wünschte, ich könnte das
Lord gestützt: Weder auf der Veranda noch im Präsidium alles zurücknehmen“, sagte sie. Wieder Schweigen. 30 Se-
habe er den Ermittlern gesagt, dass Lord ihm gegenüber den kunden lang. „Es gibt noch immer Abende, an denen ich an
Schuss gestanden hätte. Ich hatte aber auch mit Burnsides unserem Haus vorbeifahre. Manchmal möchte ich hinein-
Vater gesprochen. Die Eltern glaubten nach wie vor nicht an gehen und denke, er wird dort sein. Aber der Mann, den ich
einen Selbstmord. „Wir wollen, dass Olivia ein Strafprozess geliebt habe, ist für immer fort. Können Sie sich überhaupt
gemacht wird“, sagte John Burnside. vorstellen, wie ich mich fühle?“
Auch Jaffe, Burnsides bester Freund, war weiterhin über-
zeugt, dass Lord etwas verheimlicht. „Vielleicht hat Mikey
zu Olivia im Streit gesagt, dass er sie niemals heiraten werde,
und sie ist daraufhin durchgedreht. Vielleicht aber hat Mikey
die Beretta geholt, sie Olivia gegeben und in seiner theatra-
lischen Art gesagt: ,Wenn du mich so hasst, dann erschieß
mich doch.‘ Und sie hat es getan. Oder vielleicht war Mikey Aus dem Englischen von Karin Rausch

es doch selbst. Vielleicht hat er sich im Suff die Waffe an den


Kopf gehalten und zu Olivia gesagt: ‚Scheiß drauf, ich mach

102 // crime 10
Gelassenheit. Geborgenheit. Glück.
Zwischen Furcht und Faszination:
ein Blick auf das Böse im Menschen.

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DVD erhältlich

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sowgand, 16
Sie war allein zu Hause,
als die Polizei kam
und 250 Kilo Opium
sicherstellte. Um ihren
Vater zu schützen, nahm
sie die Schuld auf sich.
Nun wartet sie auf
ihre Hinrichtung.
Die Revolutionsgerichte
verurteilen auch
Minderjährige zum Tode,
vollstreckt wird nach
dem 18. Geburtstag

104 // crime 10
im vorzimmer des todes
Mädchen werden im Iran schon mit neun Jahren als strafmündig behandelt,
etwa 160 Minderjährige warten gar auf ihre Hinrichtung.
Der Fotograf Sadegh Souri durfte einige Verurteilte besuchen;
sie erzählten ihm ihre Geschichten

von SILKE MÜLLER fotos SADEGH SOURI

105
zahra, 17
Sie ist zum dritten Mal
wegen Diebstahls im
Gefängnis, diesmal waren
es Mobiltelefone. Ihr
erstes Kind lebt bei ihrem
Mann, den sie mit 14
heiratete. Ihr zweites Kind
darf bei Zahra bleiben,
bis es zwei Jahre alt wird

106 // crime 10
mahsa, 17
Sie wollte ihren Freund
heiraten, doch ihr Vater
war dagegen. Nach einem
heftigen Streit beschlos-
sen Masha und ihre Mutter,
den Vater zu töten.
Masha stach mit einem
Messer zu. Nach isla-
mischem Recht forderten
ihre Brüder den Tod der
Schwester. Später ließen
sie sich umstimmen

107
hasrat, 17
Schafe und Tauben
stahl sie mit ihrem
Freund, sie raubte
Handtaschen und be-
klaute ihre Familie.
Ihre einzige Hoffnung:
mit dem Leben
davonzukommen

108 // crime 10
109
W
enn man die Stun-
de ihrer Geburt
ausnimmt, gibt es
im Leben des Mäd-
chens Sowgand
zwei Schicksalsmomente. Jenen Tag, an
dem die Polizei ihr Elternhaus stürmte,
250 Kilogramm Opium und 30 Gramm
Kokain fand und Sowgand mitnahm.
Und jenen Tag irgendwann nach ihrem
18. Geburtstag, an dem sie hängen
wird.
Ein kurzes Leben, das nicht viel Ge-
legenheiten bietet für eine lange Ge-
schichte. Aber eine einzige für eine

110 // crime 10
shaqayeg, 15
Nach einem Jahr
bekommt sie erstmals
Besuch von ihrer
Großmutter. Mit ihrem
Freund hatte sie
einen bewaffneten
Raubüberfall ausgeübt,
er kam davon,
Shaqayeg nicht. Nun
wartet sie auf ihren
18. Geburtstag – und
den Tod

Hofgang, essen, putzen:


Alltag im Jugend-
gefängnis von Ziba Shar

Heldentat. Sowgand hat sich für ihre im Nordwesten Teherans. Sie alle war- men“, erzählt er. Doch als 2015 ein be-
Familie geopfert. Im Verhör gestand sie, ten. Manche auf das Ende einer Strafe. freundeter Filmemacher samt Crew in
die Drogen ins Haus gebracht zu haben. Manche auf den sicheren Tod. Acht der Anstalt von Ziba Shar drehen durf-
Sie nahm die Schuld auf sich, um ihren Länder auf der Welt richten Minderjäh- te, sei er einfach mitgegangen.
Vater zu retten. Das wird vermutlich rige beziehungsweise Menschen, die „An manchen Tagen durfte ich nicht
von einem ansonsten nicht besonders zum Zeitpunkt der Tat minderjährig fotografieren, dann habe ich mit den
geschätzten Menschen wie einem jun- waren, bei schweren Vergehen hin, Mädchen geredet, um ihre Welt und
gen Mädchen im Iran erwartet. Auf ein doch keines so häufig wie der Iran. ihre Probleme besser zu verstehen. Ei-
Zeichen der Zuneigung, gar Dank, hofft Wie geht man mit dieser Tatsache nige wollten sehr schnell ihre ganze
sie vergebens. Niemand aus der Familie um, wenn man selbst in diesem Land Geschichte erzählen, sie haben gelacht
hat sie je im Gefängnis besucht. lebt, als Mann, als Künstler, als jemand, und geweint. Und sie fanden es gut,
Sowgand ist 16 Jahre alt, und zusam- der auch international beachtet wird? dass ich Bilder von ihnen mache. An-
men mit ungefähr 60 weiteren minder- Der Fotograf Sadegh Souri, 31, ent- dere wollten gar nicht mit mir reden.“
jährigen Mädchen sitzt sie im Jugend- schied sich, hinzuschauen. „Es ist sehr Streng bewacht hätten die Aufse-
gefängnis von Ziba Shar, einem Stadtteil schwierig, in das Gefängnis zu kom- herinnen ihn, erzählt Souri, und

crime 10 // 111
112 // crime 10
khatereh, 13
Als ihr Onkel sie miss-
brauchte, rannte sie
weg von zu Hause. Eine
Woche später griffen
Jugendliche das Mädchen
in einem Park in Teheran
an und vergewaltigten sie.
In ihrer Verzweiflung
verletzte sie sich selbst.
Als Polizisten sie fanden,
war sie bewusstlos.
Nach der medizinischen
Versorgung wurde sie
für zwei Monate ins
Jugendgefängnis gesperrt

113
Jeden Tag ruft
ein Geistlicher die
Mädchen zum Gebet.
Anschließend spricht
er sei auch längst nicht in alle Bereiche ist eine Maske, und es wirkt nicht nur er mit ihnen über
vorgedrungen, in denen er gern foto- so, als verstecke sie sich dahinter, son- gute Erziehung und
bittet Allah darum,
grafiert hätte. „Es gab auch Situationen, dern als habe sie ihr eigenes Gesicht tat- ihnen zu vergeben
in denen die Wärterinnen den Mädchen sächlich verloren.
empfahlen, bestimmte Fragen nicht zu Die Fotos geben den jungen Frauen
beantworten.“ Raum, und diesen Raum füllen sie mit
Seine Bilder zeigen die jungen Frau- der Ausstrahlung tiefster Einsamkeit.
en in ruhigen Momenten des Innehal- So eindeutig als individuelle Persön-
tens, bei Handarbeiten oder dem Gebet. lichkeiten und beschützenswerte Wesen
Er kommt ihnen nahe, fotografiert Hän- sind sie im Leben draußen vermutlich
de und Gesichter, sogar Haaransätze niemals wahrgenommen worden. Jedes
und Hosenbeine sind zu erkennen – die Bild ist ein stummer Aufschrei vor dem
Kleiderordnung im Gefängnis scheint Spektakel des Todes. Allein das macht
legerer zu sein als auf vielen Straßen des die Fotos bereits zu einem Ereignis, zu
Landes, privater. Sie sind hier unter einem humanitären Akt.
sich: Bewacht werden sie von Frauen, Nicht viel deutet darauf hin, dass die
nur zum Gebet erscheint ein Mann. Mädchen hier festgehalten werden. Es
Khatereh, eine 13-Jährige, die mehr- sind keine Zellen zu sehen, keine Wär-
fach vergewaltigt und schließlich an- terinnen, keine Strafmaßnahmen, keine
stelle der Täter selbst eingesperrt wur- Uniform. Der Schatten eines Gitters
de, zeigt sich mit einem zweiten Gesicht: wirkt geradezu malerisch, seine einge-
Hell ist es, glatt die Haut, freundlich das fügten Schmuckornamente zeichnen
Lächeln, die Haare lang und blond. Es Herzformen auf die Wand. Fast könnte

114 // crime 10
man annehmen, es handele sich um ein sind Menschen wie wir, und sie hatten Winkel des privaten und öffentlichen
etwas ärmliches Internat. es oft sehr schwer. Sie wurden unter- Lebens fortsetzt.
Die stille Verzweiflung dringt auf an- schätzt und alleingelassen, mussten viel Und es gilt das alte Recht der Wieder-
dere, subtilere Art aus den Bildern: Es durchmachen. Hätten ihre Familien sie vergeltung, „Qisas“: Es besagt, dass An-
ist ein dunkles Gefühl, das Souri mit stärker unterstützt, wäre das alles wohl gehörige eines Opfers nicht nur beim
seinem Bildaufbau, seiner Lichtfüh- nicht passiert.“ Strafmaß für den Täter mitreden, son-
rung und der satten Schwärze entfacht. Die Lage der Mädchen ist nicht im- dern die Strafe auch teilweise selbst
Manche Motive wirken wie in einen mer eindeutig. Einige von ihnen wer- vollstrecken dürfen.
finsteren Rahmen gefasst, das Gefäng- den nach einer verbüßten Strafe wieder In Mahsas Fall waren es ihre Brüder,
nis erscheint als ein dunkler Ort. entlassen – in ein Leben, das für eine die sie in den Tod schicken wollten –
Nur dort, wo sich die Mädchen auf- verurteilte Kriminelle kaum mehr zu aus Rache dafür, dass Mahsa den ge-
halten, in ihrer unmittelbaren Nähe, bieten hat als der Alltag hinter Gittern. meinsamen Vater erstochen hatte. Dem
lässt Souri Licht zu. „Ich habe Schwarz- Das Schicksal der anderen liegt in den vorausgegangen war ein Streit darum,
Weiß gewählt, weil es dort so farblos war. Händen eines unberechenbaren Re- welchen Mann Mahsa heiraten solle.
Schwarz-Weiß stellt zudem die Verlas- gimes und der jeweiligen Kläger. Denn Zuletzt aber ließen sich die Brüder um-
senheit der Mädchen noch stärker he- seit 1982 ist das islamische Strafrecht stimmen. Auch Vergebung ist ein Be-
raus“, begründet er seine Entscheidung. Grundlage der Rechtsprechung im standteil des islamischen Rechts.
Diese sorgfältige Inszenierung, die Iran. Mädchen sind demnach bereits Nach einem Bericht der Vereinten Na-
ohne voyeuristische Szenen und schril- mit neun Jahren strafmündig, Jungen tionen von 2014 harren mehr als 160
le Anklage auskommt, scheint den mit 15. Eine strukturelle Diskrimi- zum Tode verurteilte Minderjährige in
Fotografen vor größerem Ärger im eige- nierung, die sich bis in die kleinsten iranischen Gefängnissen aus. Manche
nen Land bewahrt zu haben. Souri hat von ihnen schon über zehn Jahre. Die
die Serie, die bei internationalen Wett- häufigsten Urteile ergingen wegen
bewerben prämiert wurde, sogar auf Mords, Vergewaltigung und Drogende-
zwei Festivals im Iran gezeigt. likten. Zwischen 2005 und 2015 hat Am-
Dort hätten die Bilder eine Menge nesty International 73 Hinrichtungen
Fragen provoziert, berichtet Souri: Minderjähriger im Iran dokumentiert.
„Manche Leute konnten nicht verstehen, Und das sind nur die bekannten Fälle.
warum die Kläger den Mädchen nicht Um den eklatanten Verstoß gegen die
verzeihen wollen. Andere fragten sich, UN-Kinderrechtskonvention zu ver-
wie es ihnen wohl erginge, wenn sie wie- schleiern, die auch der Iran unterzeich-
der freikämen – ob sie draußen jemals net hat, warten die Henker häufig den
von den Menschen akzeptiert würden.“ 18. Geburtstag der Verurteilten ab.
Nicht alle Ausstellungsbesucher Wenn dieser Tag für Sowgand gekom-
brachten so viel Mitgefühl auf. „Einmal men ist, wird sie an einem Galgen ster-
hat eine Frau gesagt, es wäre besser, sie „Als Fotograf möchte ich dazu ben, hinter den Gefängnismauern. „Nur
blieben im Gefängnis, denn sie seien ge- beitragen, dass die Mädchen wenn sie in der Öffentlichkeit Recht ver-
eine neue Chance bekommen.“
fährlich. Und wer einmal etwas Krimi- Sadegh Souri, 31 letzt haben, wird das Urteil auch öffent-
nelles getan habe, wiederhole es.“ lich vollzogen“, beschreibt Sadegh Sou-
Souri selbst sind die persönlichen Ge- ri die mörderischen Gepflogenheiten.
schichten der Verurteilten nahegegan- 20 Tage verbrachte er im Gefängnis,
gen. Er hat die Schwelle vom Bericht- zwölf davon durfte er fotografieren.
erstatter zum Beteiligten überschritten Es habe auch unbeschwerte Augenbli-
und kämpft nun für ihre Begnadigung. cke gegeben, sagt er, „vergängliche
Nach den Tagen im Gefängnis nahm er Momente des Glücks“. Doch ganz be-
Kontakt zu den Familien der Mädchen sonders bewegt hat ihn der Satz des
und den Klägern auf. „Wir versuchen Mädchens Somayeh:
sie zu überzeugen, auf die Todesstrafe „Die Mauern sind mit Schmerz ge-
zu verzichten“, erklärt er. „Die Mädchen tränkt.“

crime 10 // 115
das
hotel
des
doktor
holmes
Er ist charmant,
er ist gewinnend.
Und dann baut
er ein Haus,
wie es die Welt
noch nicht
gesehen hat
von JUDKA STRITTMATTER illustration NAZARIO GRAZIANO

116 // crime 10
Chicago 1893, das
Jahr der Weltaus-
stellung. H. H. Holmes
nennt seine Herberge
„World’s Fair Hotel“.
Die Nachbarn nennen
sie „The Castle“

117
a Als das 19. Jahrhundert seinem Ende zugeht, ist
zerquetscht oder von einem der Züge der Chicago
reichen Brände, die immer wieder am Lake Michigan

Dann wird man erwürgt oder erhängt, dann muss man ver-
hungern oder ersticken, in einem verriegelten Zimmer, in
welches Gas strömt. Man wird in einem Kellergrab enden, in
einer Kalkgrube. Oder man wird in Säure gelegt, bis nur das
Skelett von einem übrig bleibt. Sauber, befestigt an einem
Ständer, wird es in einer Arztpraxis stehen oder im Hörsaal
einer Universität.
Chicago ist damals eine dieser Städte, die sich so rasant
häuten, dass man sehr tough und schnell sein muss, um mit-
zukommen. Ein urbaner Dschungel mit über einer Million
Einwohnern, nur New York hat mehr. Die ersten Wolken-
kratzer, die sich auch so nennen dürfen, wachsen hier in den
Himmel, zehn bis 20 Stockwerke hoch. Aber die Straßen sind
unbefestigt und verschlammen bei Sturm und Regen, die
Gaslampen durchdringen kaum den Kohlenqualm, und vor
den Häusern verrottet der Müll, blähen sich die Kadaver
toter Hunde und Pferde. Chicago ist ein Moloch, erfüllt vom
Lärm ratternder Kutschen und Karren. Und dann sind da
noch die Schlachthöfe, so viele wie nirgends sonst im Land.
14 Millionen Tiere zerlegen sie hier im Jahr, Chicago ist
die Stadt, in der das Töten zur Industrie wird. An manchen
Tagen ist der Gestank bestialisch.
Kann eine solche Stadt die Welt anlocken, ein Ort für Kunst
und Visionäres sein? Kann sie leuchten? Die Weltausstellung
1893 ausrichten?
Ja, sie kann. Denn ihre Bürger haben schon einmal Kraft
und Zuversicht bewiesen, nach einem großen Brand, dem

118 // crime 10
a
Die Weltausstellung lockt 1893 Millionen Menschen nach Chicago.
Überall Wachstum, Prosperität, Aufbruch. Auch in der Medizin: Der Bedarf
an Leichen zu Forschungszwecken wächst rasant

Chicago eine Stadt, in der man auf viele Arten ums Leben kommen kann. Man kann bei Bauarbeiten
Limited erfasst werden, man kann an Typhus oder Cholera sterben oder verkohlen bei einem der zahl-
ausbrechen. Man kann aber auch ihm in die Hände fallen. Dem effektivsten Serienmörder seiner Zeit.

von 1871. Einer Stadt, die größtenteils in Asche lag, gaben Leib und verwahrt ihre Schädel und Knochen in einer Kiste.
sie wieder Puls und Herzschlag. Prosperität. Nun kommt die Die anderen Kinder hänseln ihn. Einmal verschleppen sie
Belohnung: die Weltausstellung. Oder, wie sie richtig heißt: ihn in eine Arztpraxis – damals ein Angst-Ort, mit Schmerz
die „World’s Columbian Exposition“. Denn auch der 400. und Tod verbunden. Gruseln soll sich der kleine Herman,
Jahrestag der Entdeckung Amerikas soll gefeiert werden und das tut er auch; er schreit und jault, als er sich einem
1893. Acht Architekten, unter ihnen der spätere Erbauer des Skelett gegenübersieht. In seinen Memoiren wird er später
Flat iron Building in New York, Daniel H. Burnham, machen schreiben: „Es war gemein und gefährlich, einem kleinen
sich an die Arbeit, sie haben nur zwei Jahre Zeit. Und eine Kind von zarter Gesundheit Derartiges anzutun, doch stellte
Konkurrenz, die kaum zu übertreffen ist: Paris. Das hat die es sich als geradezu wundersame Behandlungsmethode
Weltausstellung 1889 ausgerichtet, den Eiffelturm hinge- heraus, da ich von meinen Ängsten kuriert und ein starkes
klotzt, 300 Meter hoch. Eine Schmach für das ambitionierte Gefühl der Neugier und später der Wunsch geweckt wurde,
Amerika, das in allem gern als Pionier vorangeht. Erst 1930 mehr über Anatomie zu lernen, weshalb ich die Medizin zu
kann es wieder den Höhen-Superlativ für sich reklamieren: meinem Beruf wählte.“
mit dem Chrysler Building in New York.

Fotos: i
Auch die Heilkunde macht ihre größten Schritte Ende des
Im Chicago dieser Jahre lebt ein Mann, der die Großstadt 19. Jahrhunderts, Wunddesinfektion und Narkose kommen
und ihre Anonymität besonders zu schätzen weiß. Herman auf, die Patientensterblichkeit sinkt. Die Ärzte, die den Fort-
Webster Mudgett stammt aus Gilmanton, New Hampshire, schritt vorantreiben, brauchen frische Leichen, an denen sie
rund 1500 Kilometer östlich der Metropole. 1861 ist er dort forschen können. Viel mehr, als ihnen zur Verfügung stehen.
zur Welt gekommen, als eines von drei Kindern eines Far- So werden die Methoden zur Beschaffung von Körpern kri-
mers. Die Verhältnisse sind einfach, beide Eltern fromme minell. Ärzte graben Leichen auf dem Friedhof aus oder kau-
Methodisten, der Nachwuchs hat zu spuren. Der Vater säuft fen sie von anderen, die ihnen die Drecksarbeit abnehmen.
und prügelt mit dem Rohrstock, nur von der Mutter kommt Einer davon ist Herman Webster Mudgett, Medizinstudent
dann und wann ein gutes Wort. Die Eltern empfinden Sohn an der Universität von Michigan seit 1882. Ekel oder Rüh-
Herman als merkwürdiges Kind. Er liest Jules Verne und rung sind kein Problem für den jungen Mann, er kennt den
Edgar Allan Poe, ist gern allein, liebt Technik, bastelt Appa- Anblick einer Leiche von vielen Studierstunden am Sezier-
rate. Und er seziert Tiere, zerschneidet sie bei lebendigem tisch. Es regt sich sogar eine gewisse Freude in ihm.

crime 10 // 119
Endlich ein leichter Weg, ein paar Extra-Dollar zu machen. bei den Frauen der Boomtown. Er liebt die jungen Blonden,
Mudgett baucht Geld, denn er hat bereits geheiratet, mit 17, gern etwas proper, und er charmiert sie, dass sie staunend
ein Mädchen namens Clara A. Lovering. Sie kommt aus gu- dastehen. Männer sind doch meist recht ungehobelt, warum
tem Hause, finanziert zu großen Teilen sein Studium, er aber nur dieser nicht? Seine formidable Art spricht sich herum,
muss dazuverdienen, verdingt sich als Lehrer, Verlagsver- auch dass er – gegen jede Etikette – die Damen gern anfasst.
treter, als Wärter in einem Irrenhaus und eben als Leichen- Nicht unschicklich, es ist nur aufmunternd gemeint, wenn
beschaffer. Inzwischen haben die beiden einen kleinen Sohn. er ihnen an die Schulter oder die Taille greift. Keine sträubt
sich dagegen, schon gar keine, die noch auf der Suche ist nach
einem Ehemann. Aber die anderen auch nicht. Es ist die Zeit,
in der junge Frauen erstmals allein aus der Provinz in die

e
großen Städte ziehen, sie suchen Arbeit und Abenteuer, das
Wirtschaftswunder verlangt nach Schreibkräften und Steno-
typistinnen. Oft sind die Neuankömmlinge naiv. Und nur
Es sind die Jahre, in denen Mudgett zu spüren beginnt, dass vertraut mit ländlichen Umgangsformen sind sie leichte
es ihn nach Macht verlangt, Macht über Menschen. Zu klein Opfer. Die „Chicago Tribune“ warnt vor Stellenanzeigen, die
das Leben als Provinzarzt, das nach dem Studium auf ihn nur auf Äußerliches abzielen.
wartet. Zu eng die Bande von Ehe und Familie. Rasender Ehr- Aber auch weniger attraktive Frauen müssen mit allem
geiz treibt ihn, er will viel Geld besitzen, Anerkennung ernten. rechnen. Dr. Holmes macht die Bekanntschaft einer älteren
Er will jemand anderes sein als Herman Webster Mudgett. Dame, die im Bezirk Englewood, an der Ecke Wallace und
Noch ehe er seinen Abschluss macht, verlässt er Frau und 63. Straße, eine Drogerie besitzt. Mrs Holton ist voller Kum-
Kind. Als fertiger Doktor zieht er durch die Städte, arbeitet mer, denn ihr Mann wird sterben, er hat Krebs, und sie allein
mal im Krankenhaus, mal in einer Drogerie, perfektioniert kann den Laden und die Pflege nicht mehr schaffen. Hier ist
seinen Auftritt als gebildeter Bürger und ersinnt sich einen Holmes richtig. Frauen zu trösten, ihnen zu schmeicheln, ist
neuen Namen, was nicht allzu riskant ist in einer Zeit, in der sein Elixier. Ihre Verletzlichkeit berührt ihn, zu gern fühlt er
persönliche Daten nur spärlich erfasst, geschweige denn zwi- sich ihnen überlegen, dirigiert und manipuliert sie. Erst wenn
schen verschiedenen Städten ausgetauscht werden. er sie ganz in der Hand hat, spürt er Befriedigung. Erst wenn
Als er 1886 in Chicago ankommt, heißt er Dr. Henry sie keinen Ton mehr sagen, ist es gut.
Howard Holmes. Er ist 25 Jahre alt. Ein fescher junger Mann, Mrs Holton bekommt er dahin, dass er sie im Laden unter-
augenscheinlich ledig, mit einem Schnauz und Augen, die stützen und diesen später sogar kaufen kann. Er bedankt sich
hypnotisch blau sind. „Holmes liebte Chicago“, schreibt der mit Tränen in den Augen, er streichelt ihren Arm. Und als
amerikanische Autor Erik Larson 2003 in seinem Buch „The die Geschäfte prächtig laufen, absentiert sich die inzwischen
Devil in the White City“, „vor allem liebte er es, wie Lärm und verwitwete Mrs Holton Richtung Kalifornien. Sagt jedenfalls
Rauch eine Frau derart einhüllen konnten, dass keine Spur Holmes, als die Leute nach ihr fragen. Es sieht ihr nicht ähn-
von ihr übrig blieb, höchstens ein schmaler, messerscharfer lich, sich sang- und klanglos aus dem Staub zu machen, fin-
Hauch von Parfüm inmitten des Gestanks nach Pferdemist, den alle. Doch wer steckt schon drin in einer Frau, die den
Kohleruß und Verwesung.“ Tatsächlich hat Holmes Schlag Tod des Ehemanns zu verkraften hat?

H. H. Holmes alias Herman


Webster Mudgett entwirft sein
Hotel allein. Und immer wieder
feuert er die Bauarbeiter,
damit niemand die mörderische
Architektur durchschaut

120 // crime 10
Und wo der eine trauert, verfällt der andere dem
Glücksrausch: Holmes verliebt sich wieder, Myrta Z.
Belknap heißt die Erwählte, sie ist jung und blond.
1886 hat er sie kennengelernt, bei einem Besuch in
Minneapolis. Sie blieb ihm im Gedächtnis, unter Ge-
schäftsvorwänden ist er wieder bei ihr aufgetaucht. Chicago ist die Stadt des industriellen Tötens. Bis zu 14 Millionen Tiere
Belknap ist ihrerseits von Holmes entzückt, ein ge- werden im Jahr zerlegt. Manchmal ist der Gestank bestialisch
machter Mann umwirbt sie da, zumal noch aus dem
düster-verheißungsvollen Chicago. Ohne zu zögern, nimmt Das Hotel nimmt Form an, und Chicago wächst auf seine
sie seinen Antrag an. In seinen Briefen schreibt er zwar selt- Weise, als aus Europa düstere Nachrichten herüberschwap-
sam oft von den Schlachthöfen und wie die Schweine dort pen. Ein Frauenmörder macht ganz London kirre, schneidet
aufgeschlitzt und ausgeblutet werden, doch will Myrta darauf Prostituierten die Kehle durch, entfernt ihre Geschlechts-
keinen Argwohn richten. Sie heiraten im Januar 1887. Dass organe, drapiert ihre Brüste, die Nase und auch Eingeweide
Holmes schon Ehemann ist, verschweigt er. neben dem toten Körper. Die Polizei fahndet nach „Jack the
Er zieht mit Myrta in Mrs Holtons alte Wohnung, und bald Ripper“. Auch Holmes liest darüber in den Gazetten. Er tut
wird Myrta schwanger. Sie hilft im Laden und registriert es begieriger als andere.
schnell, dass andere Frauen ihrem Mann ein bisschen zu Am Ende hat Holmes’ Hotel ein paar Dutzend Zimmer. Im
sehr an den Lippen hängen. Doch sonst kann sie nicht kla- Erdgeschoss richtet er eine Drogerie, ein Restaurant und
gen: Er ist in Gänze ein vorzüglicher Gatte. Gut und sanft zu einen Juwelierladen ein. Zudem betreibt er dort einen Me-
Tieren und zu Kindern. Immer freundlich und besonnen mit dizin-Versandhandel, spezialisiert auf Mittel gegen Trunk-
der Kundschaft und den Nachbarn. Weder ein Spieler noch sucht und Glatzenbildung. Die Holton-Drogerie verkauft er.
ein Säufer oder Schläger. Im Chicago dieser Tage ist er ein Obwohl der aufstrebende Geschäftsmann nicht zuletzt dank
Hauptgewinn. diverser Betrügereien genügend Geld hat, um das Interieur
Trotzdem wird es bald eisig im Hause Holmes, Myrta für seine Läden bar zu bezahlen, kauft er auf Pump und
kommt von der Eifersucht nicht los. Und Holmes ist keiner, vertröstet die Lieferanten mit Likör, Zigarren und salbungs-
der lange entflammt bleibt. Außerdem hat er ein neues Pro- vollen Worten. Es hat den Anschein, als hätten nicht sie ihn
jekt, das seine ganze Aufmerksamkeit erfordert. Im Jahr 1888 in der Hand, sondern er sie.
kauft er ein Stück Brachland vis-à-vis der Drogerie. Er will Und das ist nicht die einzige Merkwürdigkeit in diesen Ta-
ein Hotel bauen. Nach außen unauffällig, Läden im Erdge- gen. Beim Apotheker Erickson kauft Holmes flaschenweise
schoss, darüber Zimmer und ein Büro. Im Inneren aber soll Chloroform. Darauf angesprochen, schützt er wissenschaft-
die perfekte Umsetzung der Holmes’schen Fantasien entste- liche Experimente vor. Seiner Wäschefrau Mrs Strowers bie-
hen: eine Burg, in der er der Herr ist und in der er jene All- tet er 6000 Dollar an, damit sie eine Lebensversicherung
macht haben wird, nach der er sich so sehnt. In der er über abschließt über 10 000 Dollar, der Nutznießer: H. H. Holmes.
Tod und Leben richten wird. Im Falle ihres Todes würde er so 4000 Dollar erlösen, sie
Er zeichnet alle Skizzen selbst, niemand außer ihm soll wis- könne bis dahin mehrere Tausend Dollar verjubeln. Für Mrs
sen, was da entsteht. Im Hotelbauch sieht Holmes Falltüren Strowers ist das eine Menge Geld, doch irgendetwas hält sie
vor und einen Schacht, ein geheimes Treppenhaus und meh- davon ab, den Deal zu akzeptieren.
rere luftdicht verschlossene Räume, in die über eine Düse Gas
einströmen kann. Dazu weitere Zimmer, die finsteren Zwe-
cken dienen sollen. Und geheime Kammern für die Lagerung

m
von delikatem Material. Technische Begabung hat er schon
als Kind bewiesen, er ist kein schlechter Handwerker. Und
auch kein lascher Bauherr: Den angeheuerten Helfern kürzt
er gnadenlos den Lohn, angeblich wegen Pfusch am Bau. Auf
diese Weise hält er die Kosten niedrig. Auch feuert er die Män- Mit dem Jahr 1891 wächst Holmes’ Vorfreude ins Unermess-

Fotos: Getty
ner so häufig, dass sie nicht genug sehen, um Verdacht zu liche. Längst hat er seine Frau und seine kleine Tochter nach
schöpfen. Bringt ein Arbeiter eine Gasdüse an, dann weiß er Wilmette geschafft, in einen Vorort von Chicago, den er nur
nicht, dass die Leitung aus dem Raum nebenan kommt. Ein besucht, um Myrta ruhig zu halten. Die Stadt gibt in diesem
Maurer wird später sagen, dass der Bauherr ihm merkwürdig Jahr bekannt, wo die Weltausstellung 1893 stattfinden soll:
vorkam und dass der ihn auch einmal überreden wollte, sei- im Jackson Park, ganz in der Nähe von Holmes’ Neubau,
nen Schwager aus dem Weg zu schaffen. Mit einem Ziegel- der den Namen „World’s Fair Hotel“ bekommt. Die Lage
stein, für 50 Dollar. Doch war er sich nicht sicher, ob das nur verspricht dem Hausherrn Gäste, viele Gäste. Weitsichtig
Spaß sein sollte. prophezeit der Polizeichef Major R. W. McClaughry die

crime 10 // 121
Dachboden
Schacht vom
Dach bis in den Keller

2. Etage
Falltür in
die 1. Etage

Falltür in
die 1. Etage
b
Im Erdgeschoss befinden sich
eine Drogerie, ein Restaurant,
ein Juwelierladen und ein Zimmer mit
Versandhandel Gaseinleitung

1. Etage a
Sezierraum Holmes‘ Büro

Hungerkammer

c Geheimraum
Galgenraum

d
Hotelrezeption

WALLACE St.
Logistik
eines Serienmörders
Aufenthaltsraum

Das „World’s Fair Hotel“ ist ein ver-

63rd.
winkelter Bau mit speziellen Todes-
geheimes Treppenhaus
zimmern, mit geheimen Räumen und
Falltüren. Die Grafik zeigt exemplarisch
den unauffälligen Transport einer Leiche

Keller
vom 2. Stock in den Keller:
Weg einer Leiche Weg des Mörders
Holmes zieht sein Opfer aus einem der
Tötungsräume (a) zu einer der Falltüren (b) e Verbrennungsofen
und lässt sie in die zweite Etage hinab (c),
Kalkgrube
womöglich mithilfe eines Stricks. Dann geht

In
er selbst über das Treppenhaus nach unten.
Nun schafft er die Leiche zum verborgenen
Schacht (d) und lässt sie in den Keller hinunter (e).
Er selbst nutzt ein geheimes Treppenhaus. Im Keller Bottiche mit
entsorgt Holmes die Leiche in einer Kalkgrube oder legt Karbolsäure
mithilfe von Werkzeugen und Karbolsäure das Skelett frei.
Schematische Darstellung. Von den meisten Tötungsräumen ist nicht bekannt,
wo sie sich genau befunden haben.

122 // crime 10
e
höchste Anzahl von Verbrechen, die Chicago je gesehen ha- Es bricht die Zeit des großen Schlachtens an. Nur wenige
ben wird. Und Holmes fällt ein, dass ihm im Keller etwas Kilometer entfernt von den Fabriken, in denen Rinder und
Essenzielles fehlt – ein Verbrennungsofen. Den Setzer brieft Schweine ausbluten, und kaum weniger effizient. Holmes
er: „Glasschmelzarbeiten!“ Der Ofen wird rechtzeitig fertig will Frauen sterben lassen, viele Frauen. Sie kommen als Ver-
für ein ganz besonderes Opfer. käuferinnen in seine Läden oder als Gäste in sein Hotel –
Die schöne Julia Conner reist gemeinsam mit ihrem Gat- Zimmeranfragen von Herren schlägt der Hausherr meistens
ten Ned und ihrer achtjährigen Tochter Pearl an. Conner ist aus. Holmes ist am Ziel all seines Wünschens und Begehrens,
Juwelier, sucht Sinn und Zukunft, er findet sie in Holmes’ er hat die Allmacht. Zur Tat schreitet er vornehmlich nachts,
Hotel und in dessen Laden mit Geschmeide. Frau Julia be- wenn seine Opfer schlafen, er dringt in ihre Zimmer ein, er-
kommt eine Stellung in der Drogerie, die Familie bezieht eine stickt oder erwürgt sie, er hängt sie auf oder schafft sie in eine
kleine Wohnung in der Nähe von Holmes’ Privaträumen im verschlossene Kammer, in der sie verhungern und verdurs-
Hotel. Auch Julias Schwester Gertie quartiert sich im Hotel ten. Oder er lässt Gas in ihre Schlafkammern strömen und
ein, sie ist gerade süße 18 Jahre alt. ergötzt sich daran, wenn hinter den Türen das Röcheln ver-
Ned registriert argwöhnisch, dass die beiden Frauen zu hallt. Dann schafft er die Toten über die Falltüren und den
schnell zu gut mit Holmes bekannt werden und dass er selbst Schacht abwärts in den Keller, wo er manche verscharrt und
ins Abseits gerät. Das ändert sich nur kurz, als Holmes ihm anderen mittels Skalpell und Karbolsäure das Fleisch ablöst.
die Drogerie zum Kauf anbietet, bald darauf tobt wieder Streit Fasern, Fett und Eingeweide entsorgt er im Verbrennungs-
zwischen den Eheleuten Conner – die nicht bemerken, dass ofen. Die blanken Knochen baut er zum Skelett zusammen
Holmes feinnervig die Fäden spinnt. Dass er Julia nicht nur und verscherbelt es. In der Stadt sieht man ihn meist auf
in sein Bett, sondern auch auf seine Seite zieht, sie ganz ein- einem Fahrrad, dem „Must-have“ dieser Tage. Er grüßt
saugt in die Sphäre seiner Macht und seiner Manipulation. freundlich nach allen Seiten. Mit den Polizisten ist er gut
Als es zur Scheidung kommt und Ned die Stadt verlässt, ver- Freund, hat Zigarren und Likör für sie.
spricht Holmes der Geliebten die Ehe – und ersehnt tatsäch- Zur Weltausstellung läuft die Holmes’sche Mordmaschine
lich doch nur eines: ihr rasches Ende. auf Hochtouren. Menschen strömen in die Stadt, suchen Zim-
Das wird unausweichlich, als sie ihm eines Tages offen- mer, suchen Jobs, und kaum eine Unterkunft liegt so nah an
bart, dass sie ein Kind von ihm erwartet. Da hat er ihre den Pavillons wie das „World’s Fair Hotel“. Nur wenige Op-
Schwester Gertie längst vergiftet. Und Lügen über ihr Weg- fer wird man später identifizieren können, eines davon ist
bleiben verbreitet. Bei der Hochzeit, sagt er Julia, werde es Emeline Cigrand. Emeline fängt als Sekretärin bei Holmes
bleiben. Ein Kind aber wolle er nicht. Sie solle ihm vertrau- an, er lädt sie in die Oper ein, umschmeichelt sie, er will sie
en, er sei doch Arzt, die Schwangerschaft zu beenden sei für heiraten. Er sei der Sohn von Lords, fabuliert er, doch müs-
ihn kein Problem. Während er redet, schaut er mit seinen se sie das unbedingt für sich behalten. Bald fällt ihr auf, dass
blauen Augen, streichelt ihren Arm. Den Eingriff nimmt er Ersparnisse verschwinden, die sie ihm anvertraut hat, und
am Weihnachtsabend vor. Während auf Chicago zarter dass es Gerüchte über Kreditschulden gibt, die Holmes nicht
Schnee fällt, sortiert er das OP-Besteck. Julia kommt und bezahlt haben soll. Ihr Vertrauen bröckelt, und sie stellt Fra-
sieht Knochensägen, Wundhaken und Schädelbohrer, doch gen. Zu viele Fragen für den Verlobten. Als Freunde von Eme-
da ist auch schon Druck auf Mund und Nase, das Tuch mit line wissen wollen, wohin sie Knall auf Fall verschwunden
der tödlichen Dosis Chloroform. Schnell lässt ihr Zappeln sei, holt Holmes ein Blatt Papier hervor: Emelines Anzeige,
nach, als Stille einkehrt, geht Holmes mit dem Tuch ins dass sie bald einen anderen heiratet. Er hat sie selbst getippt
Zimmer der kleinen Pearl. Dann macht er sich an die Ver- auf seiner Schreibmaschine.
arbeitung der Leichen. Die nächste Sekretärin lässt nicht lange auf sich warten,
Er lässt Charles Chappell kommen, einen Arbeiter von der ihr Name: Minnie R. Williams, sie ist jung und blond, und
Hotel-Baustelle. Von Chappell hieß es, er sei auch „Zerleger“. wieder springt die Balzmaschine an. Hier kommt es tat-
Weil Holmes Arzt ist, wundert sich Chappell nicht, dass er sächlich zur Heirat. Holmes trotzt der jungen Gattin ein
zwei Tote im Hause hat. Er stellt keine Fragen. Die Frau hat Grundstück in Texas ab, verschweigt seine Ehen mit Clara
zwar kein Gesicht mehr, ist bereits gehäutet wie ein Wildtier, A. Lovering und Myrta Z. Belknap. Und muss am Ende zwei
doch was soll’s: Holmes gibt ihm 36 Dollar. Dafür schält er ihr Frauen entsorgen: sowohl Minnie als auch ihre Schwester
das Fleisch ab, packt es in den Verbrennungsofen, arbeitet das Anna, die zu viel herumäugt.
Skelett heraus. Holmes selbst streicht später sehr viel mehr So unablässig geht das Töten, dass Nachbarinnen und dem
ein von der Universität, an die er die Geliebte verkauft. Personal nun auffällt, dass chemische Gerüche durch die Ho-
tel-Etagen wabern und dass junge Verkäuferinnen kommen
und gehen wie auf einem dieser Fließbänder, die sie in den
Schlachthöfen von Cincinnati benutzen. Nun ist die Groß-
stadt kein Ort der Verbindlichkeit, doch warum lassen

crime 10 // 123
viele der verschwundenen Mädchen ihre Sachen da? Und Aber inzwischen ist Holmes jemand auf den Fersen, der
was hat es zu bedeuten, dass gleichzeitig bei der Polizei mindestens so zäh und hartleibig ist wie er selbst. Es ist Frank
Briefe eingehen, in denen Eltern nach ihren vermissten Töch- Geyer von der Detektei Pinkerton in Philadelphia. Die Ver-
tern fragen, die zur Weltausstellung wollten? sicherung hat den Privatermittler eingeschaltet, ihr schwant
Betrug im Todesfall Pitezel. Sie hat anonyme Hinweise be-
kommen, dass Holmes nicht koscher sei, gegenüber Frem-
den mit Betrügereien prahle. Am 17. November 1894 nimmt

e
Geyer den Verdächtigen in Boston fest. Ohne zu wissen, dass
er einen der schlimmsten Serienkiller der amerikanischen
Geschichte vor sich hat.
Holmes kommt ins Gefängnis Moyamensing, Philadelphia,
Es wird ungemütlicher für Holmes. Immer häufiger kommen und sitzt dort monatelang ein, während die Ermittlungen
Nachfragen, er kann sie nicht mehr so geschmeidig von sich gegen ihn weiterlaufen. Die Fahnder durchsuchen jetzt sein
halten. Er spürt, dass seine Hoch-Zeit in Chicago vorbei sein Hotel in Chicago, befragen Leute, finden Schmuck, Haar-
könnte. Der sonst so Kaltblütige gerät in Panik. Er schließt büschel, Knochen, hochhackige Schuhe, einen blutver-
das Hotel und setzt sich ab, gemeinsam mit einem windigen schmierten Raum und den Abdruck eines Frauenfußes
Geschäftspartner aus den Zeiten des Hotelbaus, der nichts an einer Metalltür. Die Presse hat für Wochen nur noch ein
von seinen Morden weiß: Benjamin F. Pitezel. Zwei Jahre Thema. Hat Amerika je mehr Scheußlichkeit gesehen, ver-
lang driften die beiden herum, leben von Betrügereien, sammelt in nur einem Mann?
treten unter falschem Namen auf. Dann wird es Holmes zu Man macht sich Vorwürfe und fragt sich, wie lange dieser
lästig, Pitezel mitzuschleppen. Er überredet ihn zu einem Holmes sein Unwesen wohl schon getrieben hat. Man fragt
Deal: Die beiden wollen mithilfe einer falschen Leiche Pite- sich, wie viele Menschen er auf dem Gewissen hat. Unter-
zels Tod vortäuschen, sich seine Lebensversicherung aus- dessen bringt der Mörder seinen letzten falschen Liebreiz
zahlen lassen und dann getrennter Wege gehen. Diese Art auf, um im Gefängnis die Wärter für sich einzunehmen. Und
von Versicherungsbetrug hat Holmes schon früher kultiviert. es gelingt ihm. Hatten sie je einen netteren und an genehme-
Denn Leichen hatte er meistens, er musste nur jemanden ren Gefangenen? Sie lassen ihn seine eigene Kleidung tra-
dazu bringen, eine Police auf sich selbst abzuschließen. gen, gegen Geld erledigen sie Gefälligkeiten, besorgen ihm
Im Falle von Pitezel erscheint es Holmes nun aber doch zu Zeitungen. Mit Genugtuung sieht er, dass er draußen ein
umständlich, noch einen Extra-Toten zu beschaffen und ihn Star ist.
unkenntlich zu machen. Er erstickt den echten Pitezel mit Im Herbst 1895 steht Holmes vor dem Richter, die Ankla-
Chloroform und fackelt seine Leiche ab – damit es aussieht ge: Mord an Benjamin F. Pitezel. Mehr ist Holmes zu diesem
wie ein Unfall. Es ist der Anfang vom Ende des Serienmör- Zeitpunkt noch nicht nachzuweisen. Er wird zum Tod durch
ders H. H. Holmes. den Strang verurteilt. Die Hinrichtung vor Augen, bricht Hol-
Noch drei weitere Menschen müssen in den nächsten mes sein Schweigen. Er verfasst seine Memoiren. Und er legt
Monaten sterben, in einer letzten Raserei vernichtet Holmes ein Geständnis ab, gibt 27 Morde zu, darunter die an Julia
seinen Kompagnon Pitezel über dessen Tod hinaus. Er macht und Pearl Conner. Vermutet aber werden um die 200. „Ich
der Frau des Ermordeten weis, ihr vagabundierender Mann konnte nichts dagegen tun, dass ich ein Mörder wurde“,
wolle drei seiner Kinder sehen. Holmes nimmt Alice, Nellie schreibt er in seinen Erinnerungen, „so wenig wie ein Dich-
und Howard in Empfang, sperrt sie in Schrankkoffer, lässt ter dagegen tun kann, dass die Muse ihn zum Singen verführt.
Gas einströmen, blickt hernach in blaue, verzerrte Gesichter. Der Teufel stand neben dem Bett, in dem ich in die Welt hi-
Nackt begräbt er die Mädchen in einem Keller. Nellie findet nausgestoßen wurde, und seitdem war er immer bei mir.“

F
man später mit amputierten Füßen, ihr Klumpfuß hätte all- In der letzten Nacht seines Lebens schläft Holmes ruhig
zu schnell ihre Identität verraten. Howards Zähne entdecken und fest, er frühstückt am Morgen des 7. Mai 1896 Eier,
die Fahnder in einem Kamin. Kaffee und Toast und besteigt den Galgen ohne jede Aufwal-
lung von Gefühlen. Sieben Ärzte wollen zusehen, und auch
andere Chicagoer haben ein Hinrichtungsbillett gelöst. Ein
Priester betet mit dem Todgeweihten, um 10.12 Uhr geht die
Schlinge zu, das Genick des Delinquenten bricht, er zappelt
Benjamin F. Pitezel
ist ein Kompagnon lange. 20 Minuten später wird der Tod dokumentiert. Seinen
von Holmes – und eines Henkern konnte Amerikas effektivster Serienmörder das Ver-
seiner letzten Opfer. sprechen abringen, seinen Sarg in Beton einzugießen. Ihm
Auch drei seiner Kinder
war nicht wohl bei dem Gedanken, sie könnten irgendwas
tötet er. Es ist der
Anfang vom Ende des mit seiner Leiche anstellen.
Serienkillers

124 // crime 10
Einer, der

zu Hause hat
RUDI CERNE
Exklusiv fotografiert
für HÖRZU

HÖRZU ist eine Marke der FUNKE Mediengru


// das werkstatt-gespräch

KRIMIS
SCHREIBEN
Wie geht das eigentlich?

Ein Treffen mit dem Bestsellerautor


James Lee Burke
interview von THOMAS SCHUMANN
fotos KYTE JOHNSON

126 // crime 10
„Ich plan
crime 10 // 127
M Mr Burke, wir wollen über die
Kunst reden, einen guten Kri-
mi zu schreiben.
Und schon müssen wir uns entschei-
den: Reden wir über Kunst oder Kri-
mis? Ich mag das Wort nicht; die Leser
denken bei Krimi an sogenannte „pulp
fiction“, an Bücher von Mickey Spillane.
Bei allem Respekt: Das verstehe ich
nicht unter Kunst.
Einigen wir uns auf Kriminal-
geschichten?
Wie auch immer. Die Frage von Gut und
Böse hat stets große Kunst hervorge-
bracht. In diesem Sinne ist Shakespeares
„Heinrich V“., der Tausende Franzosen
tötete, Kriminalgeschichte. Bluttriefend. ZUR PERSON Damit Sie aufzeichnen kön-
Episch. Natürlich große Kunst. James Lee Burke, 80, in Texas nen, was Ihnen in der Nacht
Und in diesem Sinne sind Ihre geboren, lebte lange an der eingefallen ist?
Golfküste Louisianas, Schauplatz
20 Romane um den Südstaa- Oder was ich geträumt habe. Wie sagte
der meisten seiner 20 Romane
ten-Deputy Dave Robicheaux – um den mit seinen Dämonen Shakespeare? Alle Macht liegt in der
was? kämpfenden Deputy Dave Robi- Welt der Träume.
Jedenfalls keine reinen Romane über cheaux. Burke selbst hat seine Empfinden Sie das nie als
Alkoholsucht öffentlich ge-
Polizeiermittlungen. Gott bewahre. Mühsal?
macht, die er in den Achtzigern
Auch bei ihnen geht es um den steten überwand. Nachdem er mit drei Nie. Ich habe eine Zeit lang kreatives
Kampf zwischen Erleuchtung und Dun- Büchern frühe Erfolge erzielt Schreiben unterrichtet. Einer meiner
kelheit. Das ewige Thema westlicher hatte, fand er über ein Jahrzehnt Studenten fragte mich: Hey, Jim, glaubst
lang keinen Verlag für seine Pro-
Philosophie und Religionen: Bist du ein du, ich habe Talent? Falsche Frage, mein
jekte und arbeitete unter ande-
Kind des Lichts – oder stehst du auf der rem als Lehrer, Lastwagenfahrer, Sohn. Wahre Schriftsteller kümmert es
anderen Seite des Zauns? Sozialarbeiter und Reporter. Die nicht, was andere denken. Die legen los:
Zentrale Fragen Ihres Romans Robicheaux-Serie ab 1987 und Just do it! Joyce Carol Oates saß mal mit
der Verkauf von Filmrechten si-
„Vater und Sohn“, der gerade ihrem Mann bei einem Bankett an einem
cherten spät sein Auskommen
in Deutschland erschienen ist, als Schriftsteller. In jüngster Zeit Tisch mit einer weißen Leinendecke,
während in den USA schon wuchs seine Popularität in und er hielt ihre Hände eisern fest.
ein weiterer in den Buchläden Deutschland vor allem durch die Jemand fragte: Alles in Ordnung bei Ih-
Romane um Sheriff Hackberry
steht, „The Jealous Kind“. nen? Klar, sagte der Mann. Nur: Wenn
Holland (unter anderem „Regen-
Wie schaffen Sie eigentlich götter“, 2014). Eine andere Linie ich ihre Hände loslasse, schreibt sie eine
dieses Pensum? der Familie Holland behandeln Kurzgeschichte auf die Tischdecke.
Weil ich das Schreiben genieße. Ich „Fremdes Land“ (Mai 2016) und Demnach kennen auch Sie
das gerade erschienene „Vater
arbeite derzeit an zwei Büchern gleich- nicht, was Schriftsteller und
und Sohn“. Burke lebt mit seiner
zeitig, eines ist schon weit gediehen. Je- Frau Pearl in Lolo, Montana. manchmal uns Journalisten
den Tag bringe ich 1000 Wörter zu quält: eine Schreibblockade?
Papier. Ich schreibe frühmorgens, ich Machen Sie Witze? Ich habe nie an die-
schreibe tief in der Nacht. Wenn ich sen Quatsch geglaubt: Schreibblockade.
schlafe, liegt ein Notizbuch neben mir. (Setzt sich hin und kritzelt auf ein Stück

128 // crime 10
Ein Beispiel nur. Ich habe mich aber niemand, wo ich geklaut habe ... Ansons-
immer an das gehalten, was John ten empfinde ich das Verschwinden klas-
Wordsworth postulierte: Schriftsteller sischer Bildung als dramatisch.
müssen aufsaugen, was sich die Men- Die Holland-Saga basiert
schen erzählen, Menschen, die geerdet auf der Lebensgeschichte der
sind, die körperlich arbeiten. Haltet Familie Ihrer Mutter.
euch fern von Akademikern! Haltet Das ist richtig. Ich habe nicht einmal
euch fern von abstraktem Geschwätz! ihre Namen geändert. Mein Großvater
Setzt euch hin und hört zu. Die Ge- wurde 1866 geboren, im Jahr nach dem
schichten liegen auf der Straße. Bürgerkriegsende. Ich kannte ihn noch
„Vater und Sohn“ ist der gut. Meine Großeltern waren echte
zweite Teil der Saga um die Cowboys. Sam Morgan Holland, ein
Familie Holland, mehr Verwandter meiner Mutter, war Bap-
Western und US-Historie als tistenprediger – und ein Mann des Re-
Kriminalroman. Er spielt vor volvers. Er hat neun Menschen er-
Ihrer Geburt. Wie schreibt schossen, das wissen wir zuverlässig.
man Dialoge, die man nicht Vermutlich waren es noch mehr. Und
gehört haben kann? vermutlich hatten sie es verdient.
Sprache verändert sich nicht dramatisch Die Hollands der Romane tref-
Er hat in Abgründe
schnell. Ich habe meinen Südstaaten- fen auf besonders sinistre
geschaut, jetzt schaut
er mit Wohlgefallen Akzent, Ihnen hört man an, dass Sie kein Gestalten, den antisemitischen
auf seine Farm: Burke Muttersprachler sind. Aber wenn wir Milliardär Dalton Wiseheart
daheim in Montana nur ein Zeitschräubchen drehen wür- in „Fremdes Land“, den Waf-
den, sprächen wir beide das Englisch des fendealer Arnold Beckman in
Mittelalters und würden uns weiter gut „Vater und Sohn“. Robicheaux
verstehen. Schwarze mussten im 17. schlägt sich herum mit Psy-
Papier, liest vor:) It was hot and bright, Jahrhundert ihr Englisch vom Cockney chopathen, Killern, fiesen Bul-
and the houses were sharply white. Ein ihrer Sklaventreiber lernen, und man er- len. Das sind doch hoffentlich
einfacher und doch großartiger Satz von kennt bei vielen ihrer Nachkommen das Ausgeburten Ihrer Fantasie
Hemingway. So fängst du an, dann Cockney-Englisch bis heute. Hier in den und nicht das Ergebnis inten-
schreibst du den nächsten Satz, dann USA. Die Vergangenheit ist allgegenwär- siver Recherche?
den nächsten. tig, sie ist nur ein paar Generationen ent- Fangen wir mit dem Einfachen an: beim
Doch ganz ohne Recherche, fernt. Erneut gilt für mich: zuhören. Südstaaten-Cop. Jedenfalls dem der
nur aus der Lust am Schrei- Und daraus entstehen 500 70er Jahre. Wenn Sie Cop-Filme sehen
ben, können auch Ihre Krimi- Seiten Literatur? Klingt fast und denken, das ist jetzt aber übles Kli-
nalromane nicht entstehen. ein wenig zu einfach. schee: Sie täuschen sich. Es ist eher
Ihre so lebendigen Dialoge Jedenfalls plane ich meine Bücher noch schlimmer. Ich war Reporter zu
der Robicheaux-Serie, wo nicht. Jeder Künstler weiß, dass seine der Zeit und recherchierte über einen
kommen die her? Geschichten aus anderen Sphären kom- Polizisten. Der erzählte mir ganz frei-
Ach, alle Dialoge, alle guten Sätze sind men, sie sind im Unterbewusstsein mütig, wie sie wehrlose Verdächtige mit
doch schon da. Ein guter Autor ist zu- längst geschrieben. Man muss sie nur dem Totschläger verprügelten, bevor sie
nächst ein guter Zuhörer. Ich habe als entdecken. Sagte Leonardo da Vinci eine Frage stellten. Ich dachte bei dem
junger Mann auf einer Ölplattform ge- nicht sinngemäß, er habe den Marmor Interview, das gibt es doch gar nicht,
arbeitet in Texas und fuhr mit dem Bus nicht behauen, er habe nur die Figur das ist „Versteckte Kamera“, aber nein.
zur Arbeit, ein Bus voller schwarzer befreit, die darin steckte? Halte das fest, mein Sohn!, sagte er und
Frauen, die auf dem Weg zum Putzen Die Plots, die Themen – die schaute auf meinen Block, ob ich seinen
in weißen Haushalten waren. Eine von kommen ganz von selbst? Namen auch richtig schreibe. Joe!
ihnen sagte zu ihrer Freundin: It sure Nein. Ich entlehne viele Ideen den J-O-E! Das Einzige, was er in der Zei-
done get cold when de evenin’ sun goes großen Mythen des Altertums, Prome- tung nicht lesen wollte, war, dass er aus
down. Poetisch. Jede Silbe ein Gedicht. theus etwa. Des Mittelalters: die Suche einfachen Verhältnissen stammte. „Wir
John Milton hätte das nicht besser nach dem Heiligen Gral. Oder des Alten haben nie Sozialhilfe bekommen. Mein
hinbekommen. Goethe auch nicht. Testaments; in „Vater und Sohn“ ist das Vater hatte immer einen Job!“
Das Gespräch zweier Putz- eigentlich unübersehbar. Es hat schon Und die Psychopathen?
frauen vor Jahrzehnten zieht Vorteile, dass so wenige Menschen noch Schon wieder eine Geschichte aus mei-
ein in Ihre Romane? klassische Bildung genießen – so merkt nem Leben: Ich habe in Los

crime 10 // 129
Angeles gearbeitet, als Sozialarbeiter im von Montana ist: Wenn ein Verbrecher fast in Vergessenheit geraten
kalifornischen Strafsystem, und da ein was anfängt, ist es meist schnell vorbei. waren. Der Weg zum Erfolg
paar echte Psychopathen kennenge- Der wird aus den Schuhen geballert. war aber kein leichter.
lernt. Viele dieser Menschen sind nicht Jetzt klingen Sie wie die Mit Anfang 30 schrieb ich drei Romane,
böse, sie haben nur böse Dinge getan. Republikaner, die Sie so die gut gingen, dann schrieb ich 17 Jah-
Sie sind krank, wofür sie nichts können; sehr verabscheuen. re lang Bücher, die kein Verlag haben
etwa vom Alkoholmissbrauch ihrer Nein, und es war und ist immer reine wollte. Ein Freund riet mir zu Krimi-
Mutter während der Schwangerschaft Propaganda, dass die Demokraten uns nalromanen. Ich saß eines Tages mit
Geschädigte. Wir kümmern uns um sie, die Waffen wegnehmen wollen. Der meiner Frau in San Francisco vor
ja, wir sperren sie ein, und das ist ver- Verkauf von Schnellfeuerwaffen, mit einem italienischen Restaurant, blickte
mutlich richtig so. Aber wenn ich über denen man viele Menschen rasch um- auf eine katholische Kirche, die Luft
die wahren Bösen schreibe, dann sind bringen kann, sollte verboten werden. schmeckte salzig nach Meer, ich fühlte
das Menschen, denen jeder von uns be- Und in Manhattan muss wahrhaftig mich wie in New Orleans. Ich schrieb
gegnet oder begegnet ist. Auch Sie. mit der Hand den allerersten Satz von
Dem puren Bösen? Von wem „Neonregen“, dem ersten Robicheaux:
sprechen Sie? Wenn ich über „Der Abendhimmel war von Streifen
Es sind Menschen, derer man nicht die wahren Bösen durchzogen, violett wie eine überreife
habhaft werden kann, die Mächtigen schreibe, dann Pflaume.“ Und ich wusste: Das ist es.
dieser Erde. Macht und Bosheit sind sind das Menschen, Was passierte dann?
siamesische Zwillinge. Man sieht sie aus denen jeder von Ich brachte zwei Kapitel zu Papier und
der Ferne oder im Fernsehen, und man uns begegnet ist“ sandte sie Charles Willeford nach
sieht ihnen den Schatten des Teufels an. Miami, einem der Giganten der Krimi-
Ich habe das Gefühl, dass manche mit nalliteratur. Ein guter Freund. Der
den Mächten der Finsternis zusammen- niemand eine Knarre mit sich herum- antwortete: Du hast einen der größten
wirken. Der ehemalige US-Gouverneur tragen. Aber hier haben wir eine ande- Charaktere unseres Genres erschaffen.
George McGovern, ein guter Freund re Situation. Hier treiben sich Wölfe Nach zwei Kapiteln?
von mir, der hier ganz in der Nähe eine rum, die meine Pferde töten können; Exakt. Nach zwei Kapiteln. Später
Ranch hatte bis zu seinem Tod, schrieb da muss man mal in die Luft schießen konnte ich die Rechte an „Black Cherry
einen Essay für „The Nation“. Das war, dürfen. Blues“ verkaufen, dem dritten Robi-
kurz bevor George W. Bush im Irak ein- Gewalt, sagt Dave Robicheaux cheaux. Ich verdiente als Lehrer 27 000
marschieren ließ: „Ich sehe ganz sicher einmal, ist immer eine Nie- Dollar im Jahr, nun bekam ich 200 000
nicht Gott am Werk in dem Schlachten derlage für alle Beteiligten. auf einen Schlag, das war Ende der
und der Zerstörung, die nun anstehen. Ihre Bücher sind voller Gewalt. Achtziger sehr viel Geld. Und kaufte mir
Die Hand des Teufels? Vielleicht.“ Ist demnach jeder geschlagen die erste Farm in Montana.
Sie sind Katholik, woraus am Ende des letzten Kapitels – Schreibt es sich leichter, wenn
Sie keinen Hehl machen. auch die Guten? man auf der Erfolgs leiter
Ein gottesfürchtiger Mann Gewalt ist gegenwärtig in meinen Ro- oben ist? Oder lähmt die Sor-
fürchtet sich vor den manen, aber sie ist nicht die Lösung, ge runterzufallen?
Menschen, vor dem Teufel? sondern schlicht Teil der Geschichten. Ach, da halte ich es mit Hemingway:
Nein. Letztendlich werden wir Beute Gewalt ist immer die erste Option der Wenn du jenen glaubst, die sagen, dass
der Demagogen, wenn wir ängstlich Ängstlichen, der Ohnmächtigen, der du gut bist, musst du ihnen auch glau-
sind. Darin war Donald Trump in die- Ignoranten. Es ist die letzte Option des ben, wenn sie sagen, jetzt bist du
sem Wahlkampf gut: Furcht einflößen. zuversichtlichen, des denkenden Men- schlecht. 95 Prozent der Kritiker und
Dieses Flüstern: Habt Angst, habt schen, dessen Wertesystem intakt ist. Journalisten sind ohnehin feine Kerle.
Angst. Vor Mexikanern! Vor Flüchtlin- Aber vergessen Sie nicht: Ich lebe in Die wollen nichts weiter, als ihren Ar-
gen! Man hat hier in Montana ein paar einem der gewalttätigsten Länder der tikel zu Ende zu bringen, damit sie
Leute aus dem Kongo aufgenommen, Erde. Unsere Sportarten sind brutal. rechtzeitig in der Kneipe sind.
eine Handvoll bloß, bedauernswerte Wenn ich „Ultimate Fighting“ sehe auf Sie schreiben unentwegt fort?
Schicksale. Daraufhin ließ der republi- einem der Kabelsender – das ist Bruta- Ja. Ich kann Autoren nicht verstehen,
kanische Kandidat Spots schalten: Die lo-Porno. Schrecklich. Und Sie stellen die sagen, sie hörten auf mit dem
Demokraten gefährden die Sicherheit Fragen nach Gewalt in Büchern? Schreiben. Für mich hieße das zu sagen:
unserer Familien. Jesus! Was für ein Sie verkaufen weltweit Mil- Ich höre auf zu atmen. Wenn man mal
Unsinn. Niemand lebt sicherer als wir. lionen Bücher, auch in schlecht verkauft, hat man wahrschein-
Wir besitzen genug Waffen, um einen Deutschland sind Sie wieder lich Mundgeruch. Aber auch das ist kein
Krieg zu beginnen. Einer der Vorteile sehr gefragt, nachdem Sie Grund, nicht mehr zu atmen.

130 // crime 10
// bücher und filme SACHBUCH
DR. MADE ERZÄHLT
Kriminalbiologe Mark
Benecke, auch Dr. Made
genannt, entlarvt eine
Blut weinende Mystikerin
als Schwindlerin, löst das
Rätsel um einen toten
„Alien“, pult Insekten aus
Augen höhlen und re-
konstruiert die Geschichte ihres Wirts. Was
man in „Mumien in Palermo“ lernt, muss
man zwar nicht unbedingt wissen. Aber
spannend ist es schon … Lübbe, 18 Euro

ROMAN
MENSCH ODER MONSTER?
Deutschland im 16. Jahrhun-
dert: Advokat Melchior soll
mit Inquisitor Fromme den
Prozess gegen einen Massen-
mörder leiten. Melchior sieht
ihn als Menschen, der als
Mensch zu verurteilen sei,
Fromme als Monster, das mit
dem Teufel paktiert. Beginnende Aufklärung
gegen Aberglaube: Neil Mackays „Des Menschen
KINO Keine Gnade im Furcht“ ist eine gelungene Mischung aus Justiz-
Thriller und „Name der Rose“. Heyne, 14,99 Euro
römischen Sumpf: der italienische
Polit-Thriller „Suburra“
KINO
HOWDY!
Zwei Brüder rauben

D
aran geglaubt hatte kaum noch einer, aber Italien erlebt nach jahrzehn- Filialen der Bank
telanger Dürreperiode seit einiger Zeit eine Fernsehblüte. Es fing 2008 aus, die ihre Fami-
mit der Serie „Romanzo Criminale“ an, die ebenso für internationales lienfarm zwangsver-
steigern ließ. Ihnen
Aufsehen sorgte wie später „Gomorrha“ und „1992“. Allesamt Produktionen, auf den Fersen:
die sich mit den verrotteten Zuständen, mit Korruption in Politik, Wirtschaft, der großartige Jeff
Mafia und Kirche auseinandersetzen. Direkt oder indirekt an jeder von ihnen Bridges als rauer Texas Ranger. Der sozialkriti-
beteiligt und somit eine der Schlüsselfiguren dieser Renaissance: der römische sche Neo-Western-Krimi „Hell or High Water“
Autor und Regisseur Stefano Sollima. ist mit prärietrockenem Humor erzählt.
Aus der Ferne seiner unendlichen Weiten grüßt
Basierend auf dem gleichnamigen Roman (vorgestellt in Crime Nr. 09) des
„No Country for Old Men“. Start: 12. Januar
Journalisten Carlo Bonino und des Richters und Krimischriftstellers Giancar-
lo De Cataldo hat er nun mit „Suburra“ einen durchgestylten, wuchtigen und
komplexen Kino-Thriller gedreht, der in die düsteren Untiefen Roms eintaucht. DVD
Auslöser der sieben Tage umspannenden Geschehnisse ist der selbstgefällige TOCHTER IM VISIER
Parlamentsabgeordnete Filippo Malgradi, dessen wilde Sexnacht zu dritt mit Klingt etwas konstruiert,
funktioniert aber: Ein
dem Drogentod einer minderjährigen Prostituierten endet. Die Entsorgung Serienkiller geht um in
der Leiche überlässt er dem zweiten Mädchen, das dafür ein befreundetes Mit- Schweden, und ausgerech-
glied einer Verbrecherfamilie zu Hilfe ruft. Malgradi hat sich damit erpressbar net die autistische Tochter
gemacht und wird zur Hauptfigur in einer Fehde dreier Mafia-Clans, die ihn der Ex-FBI-Profilerin Inger
für ihre Interessen instrumentalisieren wollen. Johanne Vik beobachtet
einen der Morde, was sie
Sollimas fein verästeltes, rauschhaftes Epos mutet an wie das Exposé für eine
zum nächsten Ziel des Täters macht. Der smart
TV-Serie. Und tatsächlich wird er die Geschichte ausführlicher weitererzählen. konzipierte Achtteiler „Modus – Der Mörder
Der Zehnteiler „Suburra“ soll 2017 online gehen – als erste italienische in uns“ basiert auf Motiven von Anne Holts
Netflixproduktion. Kinostart: 26. Januar Bernd Teichmann Bestseller „Gotteszahl“. Aktuell im Handel

crime 10 // 131
das true-crime-magazin
vom stern kommt 2017
auf die bühne

LIVE
mit

CHRISTIAN REDL
Eine inszenierte Lesung von Crime-Geschichten im St. Pauli

Fotos: Jim R
132 // crime 10
Theater, Hamburg, 1. und 3.–5. Februar 2017

tickets für die vier vorstellungen


im st. pauli theater: 040/47 11 06 66
oder www.st-pauli-theater.de

crime 10 // 133
die nacht von
Als ich 13 war, schoss er mir in den K
b von
o malte
d oherwig
m fotos juuso westerlund Sara

EinSees.
des Fleckchen
Hier Erde, am
brach dasRande
Unheil
aus, entlud
Brutalität. sich
Und mit
zog ungeheurer
sich zurück,
so schnell, wie es gekommen war
crime 02 // 011

protokolliert von andreas a


d
e
r

„BOBBY“
von bernd volland
m
a

LEAD
von uta eisenhardt fotos jÜrgen herschelmann
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schlendert
ses Gesichtdurch
und e
Leonie me
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eine 15Frau,bis dieMet
20 beid

NYAWARDS
Sie unterhalten
himmel ragen.
si

Fotos: Marc Smerling/HBO/Sky;


Jeff Rayner/Bulls; Daily News Polaris
Archiv
Liebe?
eine Gibt es sie
Illusion? nich
Die
Unterhaltung
ne Stimme ist tief
Sie
Sie ist acht Monate alt.

2016
vertraut den Menschen. verstanden werden.
crime 04 // 033 Zu Unrecht
010

crime 05// 077

Eine weitere Auszeichnung


„Newcomermagazin des Ja
076

und tiefsinnigste Weise den

LESERBRIEFE
// Ähnlich gefühlt // Moralisch mitschuldig gefällt mir die Bandbreite der Fälle,
Ich freue mich jedes Mal, wenn Nora Ich lese mit Begeisterung jedes Heft über die Sie berichten. Es geht nicht
Gantenbrink einen Artikel veröffent- von Crime! Einfach unglaublich nur um Mord und Totschlag, Serien-
licht. Ihre Schreibweise ist klasse. Sie und erschreckend, was es alles in der killer und Massenmörder, sondern
fühlt mit den Protagonisten ihrer Ar- Welt gibt. Der Artikel „Ich bin Anwalt, auch um eine breit gefächerte Aus-
tikel mit. Jetzt mit Hanno M., der sich die Wahrheit ist mir egal“ hat bei mir wahl anderer Fälle. Beim Lesen der
in der Anonymität der Universitäten aber nur ein Gefühl hinterlassen: aktuellen Ausgabe ist mir wieder posi-
verliert. Meine Studienzeit liegt lange Entsetzen. Justiz und Gerechtigkeit – tiv aufgefallen, dass die gewählten
zurück. Doch als junger Mensch habe existieren tatsächlich nicht. Und ja, Fälle nicht nur aus Deutschland oder
ich mich ähnlich gefühlt. Weiter so, ich finde, dass ein Anwalt, der einen den USA stammen, sondern auch aus
Nora Gantenbrink! In Nachrodt- Verbrecher wieder auf die Menschheit anderen Ländern oder Kontinenten,
Wiblingwerde haben Sie einen Fan. loslässt, obwohl er weiß, dass er ein von denen man in den Medien nicht
gabriele beil abscheuliches Verbrechen begangen so oft hört. charlotte hain
hat, für weitere Taten dieses Verbre-
// Gut fürs Studium chers moralisch mitschuldig ist. Für
Ich habe so etwas noch nie gemacht, mich als „normalen“ Menschen ein- // Alle zwei Monate
und bei telefonischen Meinungsum- fach unfassbar. ulla schrödel Crime ist das einzige Magazin, das
fragen würge ich das Gespräch kurzer- ich lese. Ich lese nicht einmal Krimis,
hand ab. Aber Ihnen möchte ich sehr doch auf die aktuelle Ausgabe freue
gerne schreiben. Nächstes Jahr begin- // Die Auswahl der Fälle ich mich jedes Mal! Top Aufmachung,
ne ich mein Psychologiestudium, und Seit der ersten Ausgabe bin ich treue Handhabung, Stil und Storys. Doch
ich will mich auf Forensik speziali- Leserin von Crime, dem ersten seriö- eine Sache ärgert mich: Vor fünf
sieren. Danke, dass Sie dieses unter- sen Kriminalistik- bzw. Kriminologie- Wochen brachte eine Freundin mir
haltsame und interessante Magazin magazin, das ich auf dem deutschen die damals frisch gepresste Ausgabe
herausgeben! clarice kinner Markt gefunden habe. Besonders gut mit. Und gestern hechtete ich in

Wenn Sie uns schreiben möchten: info@stern-crime.de


Die Redaktion behält sich vor,
Leserbriefe zu kürzen und auch elektronisch zu veröffentlichen. Bitte geben Sie Namen und Anschrift an.

134
HEFTE BESTELLEN

// nr.01 // nr.02

das die
Versprechen verlorenen
kinder
Der Mord an
einem Jungen Zwei Mütter.
lässt ihn Der Sohn
nicht ruhen. der einen nimmt

Der Park ist eine weitläufige Waldlandschaft, durchzogen von Wegen und Bächen
Mit einem der anderen
Ermittler auf die Tochter.
der Jagd Wie können beide
weiterleben?

gewagtes
die jägerin

2000 Hektar Einsamkeit:


spiel
Sie ist die Sie zeichnet
Sklavin, er ihr die Gesichter
Master. der Bösen.
Es endet blutig So gut wie sonst

Deutsch
De
das Fernsehen berichtet jeden Tag über ihn. Viele könnten
niemand
auf der Welt

Kondom. Undnäher
der Mann derspricht
der Mörder sein.
über Intimität. Später wird
das dUell

Aber Supermarktangestellte?
Der Supermarktangestellte. Auf einmalsie ist sie sicher, dass
Ein Gespräch undercover

er sagen: „Je dir eine Person ist und je besser du


über die Erfolgsautor
Der
dieser Mann mit den kräftigen Händen, ihr Arbeitskollege,
Kunst der Jo NesbØ

kennst, desto mehr Vergnügen bereitet es, sie zu töten.“


Vernehmung als Ermittler

letzte Sommer
SieEr
de. hatte nicht im
arbeitet erwartet,
selben dassAus
derder
ihnen MannFerne
herüber,
Supermarkt so dringt
wie ernst
aber
sie, der das
seinMörder
schlingt
hier,
vor einerGelächter
wür- ist.
einen
fernabhal- Sie
von sieht
Baumstamm,
der Straße, jetzt
Betrunkenen
sind sehr,
fällt
nur zusehr müde zu
schluchzend
Bäume aus.Boden
Sie um-
und spurlos Ein Wochenende am See. Vier Freunde gehen
zelten. Nur einer kehrt zurück

ben
machtenStunde hat er sie
Scherze. Er bot und
chen,
ihr Schatten.
angesprochen.
eine sich Sie
an
Zigarette Der
kamen
den kneift
Manninshielt
wissen,
Wortlaut
an, sie ihre
sagtzu Augen
etwas
Plaudern,
dass
sie er
in es
erinnern–zu.
ist?
–,Der
später
Aber
dann Mann
wird erist
dann
grinst verdutzt.
versu-
muss
er. Under Wie grinsen.
wieder kann sie Ein Highway in Kanada. 43 Frauen sind hier
verschwunden. Und es hört nicht auf – Der unheimlichste Fall Skandinaviens –

-
der
dann hohlen
lachte Hand,
sie überwährend sieht,
irgendetwas, wie
er einsie
weiß sich
Streichholz
von
das er den Und
in ihrem
anzündete,
Vermissten.
sagte. als
Gesicht
obErerschlug
sie dieJeder
jetzt Frau,
und etwas
töten Rindenstücke
weiß verändert.
werde, es.
da Sie weiß
antwortetaner:
den
Natürlich
von Wangen, ihn fragt,
dem
„Ja.“
t
einen
gut, aberSpaziergang
gut genug. imUnd Mörder,
vor. Sie den
Parkaußerdem
Gesprächsthema noch
kannte
wollte ihn
in
sie niemand
den
noch zu Gesicht rund
nichtWohnblöcken
wirklich
eine bekommen
um den hat. Er ist
Park,
crime 04 // 011 Ausgabe 01 Ausgabe 02
k,
se
ei-
ill Jetzt
am treten sie auf
Zigarette. Sie willigte ein.
Wegesrand liegen Äste, auf Bonbonpapier
Flaschen, ein undein
Stofftier, Kippen,
benutztes
crime 04 //
// nr.03 // nr.04

Meine Der Preis


Mutter, die Der Wahrheit
Mörderin Eine Frau geht in
sie hätte ihm eine Fernsehshow.
alles geben sollen. Und bringt sich
Rohe
von Gewalt:
den Der jungewurde
„Americans“ Mannmit sie hat ihm alles damit in tödliche
genommen.
mehreren Schüssen in seiner Gefahr
Wohnung hingerichtet (l.), seine
Mutter trauert um den Sohn.
sogar den Vater
Die der stille
Waffen sind bei den Gangmit-
gliedern so obligatorisch wie die
Tattoos (o). Und die Polizei?
der auftrag
ein mann, ein
Frauen im
verfluchter
rembranDt nachbar
Kommt dann, wenn es zu spät ist Ein Mann stiehlt

Straße. Die Gangs kontrollieren Townships sanD


Boot und ein Meisterwerk.
500 Kilo Kokain: Und sein
der Trip seines Leben gerät aus
Lebens den Fugen

mit seinem Leben

Deutsch
De
DerGefängnisse.
und Staat hat kapituliert.
Wer Es nicht
sich gilt das Gesetz der
crime 02 // 043fügt, bezahlt oft siMon beckett
Der Bestseller-
autor über seine
Knochenarbeit
Exklusiv
stePhen King
Ein Kurzkrimi
des Meisters

042
Ein Mann bestellt sie auf eine Insel.
Die sie niemals mehr verlassen werden Er liebt es zu töten.
– Die Jagd nach einem s erienmörder –
Am liebsten Menschen, die er kennt

Ausgabe 03 Ausgabe 04

// nr.05 // nr.06

die party schlag


auf schlag
Er will eine
Zwei junge
Nacht, die keiner
Männer im Boxring.
vergisst. Und
Einer wird im
keiner darf ihn
daran hindern
Gefängnis landen, das
die
der andere
sterben mädchen
zweite haut Die und der
Eine Maske
verbirgt das
Gesicht des Täters.
entscheiDung
Er kümmert
sich jahrelang um
tote
Und verrät doch das Frau und Kinder.

ende
viel über Eines Tages
den Menschen bringt er alle um

einer r eise
dahinter

Deutsch
De
Die
gutachterin
jilliane Des Bösen
hoffman Ein Gespräch
Was die Erfolgs- über die Abgründe
autorin als des Menschen.
Staatsanwältin Und über den Fall
erlebte Josef Fritzl

Die Suche nach einem Mörder


Vier Deutsche in Australien. Eine von führt in die Vergangenheit. Und offenbart die
ihnen findet man tot unter Palmenblättern. Geheimnisse eines abgelegenen Dorfes

Anmerkung der Redaktion:


Die anderen schweigen

den Supermarkt und schnappte


mir die aktuelle – erst zu Hause Liebe Frau Lendzian, es freut uns, Ausgabe 05 Ausgabe 06
merkte ich, dass es die gleiche war dass unser Heft und auch die
wie die vor fünf Wochen!? Whiskey-Geschichte Ihnen gefal- // nr.07 // Nr.08

constanze köpp len. Zu Johnny Depp: Er hat


145 tage

sich zwar die Rechte gesichert,


Hoffen. Bangen. FREMDES BLUT
Verzweifeln. Es ist schwer,
Aber nie aufgeben. ein Kind
Die Suche nach zu adoptieren.
Mirco Und noch
schwerer, es wieder
loszuwerden
DeR

Anmerkung der Redaktion: aber das Projekt noch nicht um-


PeRFeKte MORD

Deuts
DE
Eine Studentin DAS DUELL
wird erschossen. SEINES LEBENS
Es gibt keine
Er ist sich
Beweise, kein Motiv.
sicher, dass er alles
nur einen
im Griff hat.
unglaublichen
Bis Sergeant Smyth

Liebe Frau Köpp, das tut uns leid, gesetzt. Wann das sein wird,
Verdacht
ihn zum Verhör
bittet

JUSSI
aDLeR-OLSeN
DIE
aber wir sind nun mal ein ist unbekannt. Allerdings haben
Ein echter ARNE DAHL
Mörder wurde sein
der
bester freund.
Der Bestseller-
autor und WITWE
Anruf
und machte ihn zum
sein zweites Ich
Erfolgsautor

Magazin, das nur alle zwei Monate die Ungarn die Attila-Ambrus- Ein Fremder dringt ins Haus
einer Familie ein. Die Mutter alarmiert die Polizei.
Genau das wird ihr zum Verhängnis
Sie ist zart, sie ist zierlich, sie ist zerbrechlich.
Und eiskalt

neu erscheint. Wir bemühen Story verfilmt. Vielleicht kommt


uns, die Cover so unterschied - das Werk nach Deutschland. Ausgabe 07 Ausgabe 08
lich zu gestalten, dass eigentlich In jedem Fall als Lesestoff können
keine Verwechslungsgefahr wir Ihnen „Die Ballade vom
bestehen sollte. Whiskeyräuber“ empfehlen.

// Johnny Depp? // Auf die nächsten 100


Mit einem Lächeln habe ich Ihren Nichts ahnend stehe ich am Flug-
Artikel über den Whiskey-Täter hafenkiosk und habe mir eine Crime
gelesen. Sehr gut geschrieben! Dem gekauft. Schon ein paar Stunden
Hinweis im Text, dass die Geschich- später lag ich am Strand und konnte Ausgabe 09

te mit Johnny Depp verfilmt wurde, einfach nicht aufhören zu lesen!


bin ich nachgegangen, konnte aller- Kaum war ich wieder in Deutsch- http://www.stern-crime.de
dings keinen dazugehörigen Film land, habe ich mir ein Abo bestellt, Auf unserer Internetseite können Sie die
finden. Sind Sie sich sicher, dass es nun bin ich stolze Besitzerin aller aktuelle Ausgabe und die bisher erschienenen
Hefte bestellen. Über den Digitalkiosk
diesen besagten Film gibt? Und bisherigen Crime-Hefte, und ich
Blendle gibt es die Möglichkeit, das komplette
wenn ja, unter welchem Namen? freue mich auf die nächsten 100. Magazin oder einzelne Geschichten
lisa lendzian kittiya horwarth herunterzuladen: blendle.com

crime 10 // 135
// mitarbeiter dieser ausgabe

INGRID RAAGAARD, freie Journalistin, aus DAVID KUSHNER ist Journalist und MICHAEL STRECK,
München, hat 25 Jahre in Kopenhagen gelebt Buchautor aus New York. Seine London-Korrespondent
traumatischen Erlebnisse nach der des stern, wuchs am
und unternimmt regelmäßig Reisen in ganz Rande des Ruhrgebiets
Entführung und Ermordung seines
Skandinavien. Sie recherchiert dabei immer wie- Bruders verarbeitete Kushner in auf. Für diese Crime-
der über aufsehenerregende Verbrechen, wie den dem Buch „Alligator Candy“, aus dem Ausgabe fuhr er zurück
in dieser Ausgabe beschriebenen Fall der Kinder- Crime in dieser Ausgabe einen Aus - in die alte Heimat und
zug druckt. Kushner sagt: „Als ich mit sprach mit dem ehema-
ärztin auf Bornholm. Diese und andere Geschich- ligen Ermittler Wolfgang
der Arbeit an dem Buch begann, hatte
ten aus Dänemark, Schweden, Finnland und ich vermutlich dieselben Fragen, die Neiß in Duisburg. Es war
Norwegen schildert Raagaard auch in ihrem jeder hat, der so etwas durchmachen auch eine Reise in die
Buch „Oslo Utøya und andere authentische Kri- muss: Was geschah wirklich? Wie Vergangenheit. Als Neiß
habe ich das alles durchgestanden? den Fall eines Mafiosi
minalfälle“(Militzke Verlag). BERND VOLLAND erwähnte, der 1980 aus
Wie haben meine Eltern das ausgehal-
hat sich häufiger mit Mordfällen beschäftigt, bei ten?“ Die Antworten, die er während dem Knast in Wuppertal
denen Kinder die Opfer waren. Als Vater einer seiner Recherchen fand, gaben ihm freigesprengt wurde,
Tochter gehen sie ihm besonders unter die Haut. nicht unbedingt immer die Ruhe, die konnte sich Streck leb-
er so lange gesucht hatte. haft erinnern – obwohl
Meist sind Männer die Täter. Als er Freunden er damals noch zur
vom Fall aus Bornholm erzählte, waren sie viel- Schule ging: „Die Leute
leicht auch deswegen besonders geschockt, merkten da zum ersten
vermutet er. „Eine Frau, die Kinder tötet, und Mal, dass die Mafia nicht
nur in Italien aktiv ist.“
das nicht, weil sie eine überforderte oder psy-
chisch kranke Mutter ist, ist außergewöhnlich.“

TOBIAS SCHMITZ, stern-


Redakteur, denkt noch immer
voller Liebe an seine 2013 THOMAS SCHUMANN, Textchef bei stern und Crime,
gestorbene Großmutter. Dass traf James Lee Burke auf dessen abgelegener Farm am
eine alte Frau von der eigenen
Ende eines langen Schotterwegs. Schumann, der Burkes
Familie umgebracht werden
könnte, lag für ihn außerhalb Kriminalromane seit Ende der 80er Jahre liest, war
des Vorstellbaren. Bis er auf fasziniert vom eigenwilligen Humor des 80-Jährigen,
jenen Todesfall aus Deutsch- von seinem Füllhorn an Anekdoten und von seiner
land stieß, der sich 2001 ereignete. Schmitz recher-
beeindruckenden Schusswaffensammlung. „Ich schieße
chierte in einem idyllischen Ort und merkte: Nichts
wirkt auf ihn so unheimlich wie das Grauen, das nicht auf Wild, sondern auf Jäger“, knurrte Burke –
sich hinter einer schönen Fassade abspielt. und schüttete sich aus vor Lachen.

136 // crime 10
// impressum
Crime erscheint in der
Gruner + Jahr GmbH & Co KG,
Am Baumwall 11, 20459 Hamburg,
Tel. 040/3703-0
Herausgeber
Christian Krug, V. i. S. d. P.
(Chefredakteur stern)
Redaktionsleitung
Giuseppe Di Grazia
(Stellvertr. Chefredakteur stern)
Creative Director
Frances Uckermann
Art Director
Felix Bringmann
Textchefs
Arne Daniels, Dagmar Gassen,
Thomas Schumann, Bernd Volland
Bildredaktion
Trixi Rossi
Chefs vom Dienst
Derik Meinköhn, Andreas Projahn, Dirk Seeger
Mitarbeiter dieser Ausgabe
STEPHAN MAUS, stern-Autor, hütet selbst ein Asservat in seinem Büro. Margherita Bettoni (fr.), Ulrike von Bülow,
Ingrid Eißele (fr.), Veronika Frenzel (fr.),
Es ist eine traditionelle Massai-Wurzelkeule, die ihm eine Kollegin Hildegard Frilling, Angelika Hala, Christa Harms,
überließ, bevor sie in Rente ging. Das Objekt stammt von der keniani- Abigail Haworth (fr.), Kerstin Herrnkind, Adam
Higginbotham (fr.), Skip Hollandsworth (fr.),
schen Insel Lamu. Im Jahre 2000 wurde der dort ansässige Diskothe- Frauke Hunfeld, Birte Kaiser, Alexandra Kraft,
kenbesitzer Joe Brunlehner von Ernst August von Hannover zusam- David Kushner (fr.), Cyprian Lothringer (fr.),
Werner Mathes, Stephan Maus, Bettina Müller,
mengeschlagen. Mit dem imposanten Massai-Totschläger wollte sich Silke Müller, Kristin Pötschke, Ingrid
Brunlehner gegen zukünftige Prinzenattacken schützen. Doch er Raagaard (fr.), Kester Schlenz, Matthias Schmidt,
Tobias Schmitz, Christian Schwan, Dagmar
schenkte die Waffe dem stern, der damals eine Geschichte über ihn Seeland (fr.), Michael Streck, Judka Strittmatter
(fr.), Bernd Teichmann, Anuschka Tomat
schrieb. Maus fühlt sich sehr sicher in seinem Büro.
Publisher
Alexander von Schwerin
Anzeigen
Anja Dreßler (verantwortlich), G+J Media Sales,
Am Baumwall 11, 20459 Hamburg.
Es gilt die aktuelle Preisliste.
Infos hierzu unter www.gujmedia.de
Vertrieb
Christopher Höpfner,
DPV Deutscher Pressevertrieb

Fotos:
Marketing
Pascale Victoir
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Frank Thomsen
SILKE MÜLLER, stern-Repor- BETTINA MÜLLER, Koordinatorin der Herstellung
G+J Herstellung, Heiko Belitz (Ltg.),
terin und Kunsthistorikerin, stern-Infografik, glaubt: Viele kompli-
Bernd Pieper
hat sich häufiger mit dem zierte Sachverhalte lassen sich besser
Lithografie
Iran beschäftigt und immer verstehen, wenn man sie zeichnet. Als
Peter Becker GmbH, Würzburg
wieder erfahren, wie Künst- sie vom Hotel des Serienkillers H. H.
ler, Schriftsteller und Jour- Holmes hörte, war sie sicher, dass dies Druck
Mohn Media Mohndruck GmbH, Gütersloh
nalisten für ihre Arbeit ihr so ein Fall ist. Mit der Grafik beauftragte
Leben riskieren. An Sadegh sie den Illustrator CYPRIAN LOTHRINGER, Abonnement- und Einzelheftbestellung
Crime-Kundenservice, 20080 Hamburg
Souris Bildern über Frauen der auch für die „New York Times“ Tel. 040/55557800 (Mo.–Fr. 7.30–20,
in Gefängnissen hat sie arbeitet. „Die Umsetzung war spannend, Sa. 9–14 Uhr), Fax 01805/8618002 (14 Cent/Min.
deshalb nicht nur die künst- aber auch verstörend“, sagt Lothringer. aus dem dt. Festnetz).
lerische Leistung des Foto- „Die vielen Räume, Türen und Flure Einzelheft bestellen: heft-service@guj.de;
grafen beeindruckt, sondern haben, neben den ganzen Schrecken, Kosten: 4,80 € (D), 5,40 € (A), 7,90 CHF (CH),
alle Preise zzgl. Versandkosten, bitte geben Sie
mindestens ebenso seine die dort geschehen sein sollen, definitiv die gewünschte Heftnummer an.
Zivilcourage. klaustrophobischen Charakter.“ Abonnement bestellen: abo-service@guj.de;
Kosten: 28,80 € (D), 32,40 € (A), 47,40 CHF (CH),
Preise für weitere Länder auf Anfrage erhältlich.
www.stern-crime.de
ISSN 2364-7930

Die nächste Crime-Ausgabe erscheint am 4. Februar 2017 www.stern-crime.de


// ein prominenter fall

KIEFER SUTHERLAND

E
s war offensichtlich ein Fall von DUI!
„Driving Under the Influence“, wie
man in den USA sagt. Fahren unter
Einfluss von Alkohol. Der Mann, den die Cops
vom Glendale Police Department in Kalifor-
nien spätnachts verfolgten, war nicht mehr
ganz geradeaus unterwegs. Kiefer Sutherland.
Es war im September 2007, und der Schau-
spieler, Sohn des großen Donald Sutherland,
hatte einen freien Abend. Er war als Jack
Bauer berühmt geworden, der Superagent
aus „24“, der in Echtzeit ermittelte; einen Tag
lang, 24 Stunden. Bauer folterte, er war kein
Kerl von diplomatischer Traurigkeit, doch
das sah man ihm nach, weil „24“ irre Action
bedeutete: Dauernd holte Bauer eine Waffe
raus und bellte: „Get down!“ Doch jetzt hörte
Sutherland, wie die Cops ihm Befehle zu-
brüllten. Hände über den Kopf!
Kiefer Sutherland, damals 40, war ein
Wiederholungstäter. Ihm war 2004 eine Be-
währungsstrafe auferlegt worden, weil er an-
getrunken Auto gefahren war. Diesmal wur-
de er festgenommen. Die Nachricht ging um
die Welt; so ist das, wenn Schauspieler mit
ihren Serienfiguren verschwimmen: der Typ,
der gnadenlos Verbrecher jagt, in Polizei-
gewahrsam? Super Geschichte!
Sutherland wurde angeklagt – und von
Sohn eines berühmten Vaters, einem Richter zu 48 Tagen Gefängnis ver-
urteilt. Er hätte sich mit seinem Haftantritt
Darsteller eines knallharten Agenten. Zeit lassen können, begab sich aber bald in
Berüchtigter Autofahrer – und das Glendale City Jail – als bei den Dreh-
arbeiten zur siebten Staffel von „24“ die Win-
der Polizei wohlbekannt
terpause begann. Dafür guckte er nun auf
seinem Polizeifoto grantig wie Jack Bauer.
Er zog in eine Zelle mit kargen Wänden
und trug einen orangefarbenen Overall, wie
er ihn in der Filmrequisite bestimmt schon
tausendmal gesehen hatte: typisches Häft-
lings-Outfit. Sutherland arbeitete in der Ge-

Fo
fängnisküche, Alkohol gab es keinen. Er ist
seither nicht mehr straffällig geworden.
Ulrike von Bülow

138 // crime 10
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