Frank Zechner
Lead
Der Artikel beschreibt die Umsetzung der Haltung der Achtsamkeit auf der Abteilung für
Psychotherapie und Psychiatrie des Klinikum Klagenfurt am Wörthersee und die
wesentlichsten Elemente der in Klagenfurt entwickelten Achtsamkeitsbasierten
Psychiatrischen Pflege.
Einführung
Gibt man bei Amazon den Suchbegriff mindfulness (dt. Achtsamkeit) ein, so erhält man mehr
als 200.000 Treffer. Natürlich sind das nicht alles Bücher über Achtsamkeit, doch die Menge
der Treffer zeigt, in welchem Ausmaß Achtsamkeit momentan boomt. Es gibt Achtsamkeit
für gestresste Menschen, Therapeuten, Kinder, Eltern, Lehrer, Schwangere, depressive
Menschen und Manager. Es scheint, dass Achtsamkeit für jeden etwas zu bieten hat.
Auch auf wissenschaftlicher Ebene zeigt sich dieses starke Interesse an Achtsamkeit. Allein
im Jahr 2017 wurden 692 wissenschaftliche Artikel in englischsprachigen Fachzeitschriften
veröffentlicht (vgl. American Mindfulness Research Association). Da entsteht leicht der
Eindruck, dass jedes psychologische und neurowissenschaftliche Universitätsinstitut eine
eigene Studie zum Thema Achtsamkeit laufen hat.
Mhm.
Doch wie begann eigentlich dieser Boom und wie kann er sich auf die psychiatrische Pflege
auswirken?
Vor über 120 Jahren (1896) erschien von Karl Eugen Neumann die erste deutsche
Übersetzung des Grundlagentextes zur buddhistischen Achtsamkeitsmeditation: die Vier
Grundlagen der Achtsamkeit (vgl. Neumann, 1922, 122-142). Erst 20 Jahre später erlangte
dieser Text die Aufmerksamkeit westlicher Intellektueller. Es war wohl C.G. Jung, der sich als
erster Psychiater in den 1930er Jahren mit buddhistischer Spiritualität beschäftigte. Er
schrieb einige Vorwörter zu buddhistischen Übersetzungen, hatte aber den Eindruck, dass
Anfang der 1980er Jahre gründete Jon Kabat-Zinn gemeinsam mit Saki Santorelli an der
Medizinischen Fakultät der Universität Massachusetts eine Stressklinik und begann dort
Achtsamkeitstrainer und -trainerinnen auszubilden. Gleichzeitig beforschten sie die
Wirksamkeit des MBSR-Trainings und erlangten mit den positiven Forschungsergebnissen
die medizinische Anerkennung ihres Ansatzes.
Ab 2002 entwickelten Zindel Segal, Mark Williams und John Teasdale in Kooperation mit
Kabat-Zinn die präventive Depressionstherapie MBCT (Mindfulness Based Cognitve Therapy).
Diese präventive Therapie hat die gleiche Erfolgsquote bei der Rückfallvermeidung von
schweren Depressionen wie traditionelle pharmakologische Therapien. Dies führte dazu,
dass das staatliche Gesundheitssystem (National Health Service) in Großbritannien MBCT für
Menschen mit schweren Depressionen empfiehlt und bezahlt (vgl. Piet/ Hougaard 2011,
Segal et. al., 2008, Williams 2010)
Auf Basis dieser langen Begegnung von buddhistischer Achtsamkeitspraxis mit westlicher
Psychotherapie und Psychiatrie wurde ich 2012 von Edith Laure, der Oberschwester der
Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie (APP) des Klinikums am Wörthersee,
eingeladen, mit ihr gemeinsam die Haltung der Achtsamkeit in die Pflege der APP
einzuführen. Die APP ist mit 10 Stationen und 188 Betten eine der größten stationären
Psychiatrien in Österreich.
Ziel war es, die Haltung der Achtsamkeit auf den Ebenen der Gesundheitsförderung der
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, der achtsamen Teamkultur und des achtsamen Umgangs
mit Patienten umzusetzen. Gerade für multiprofessionelle Teams in der stationären
Psychiatrie ist es wichtig, sowohl auf die eigene Psychohygiene und den heilsamen Umgang
miteinander als auch auf den achtsamen Umgang mit Patienten zu achten (vgl. Germer 2010
und Knuf/Hammer 2013). Zu diesem Zeitpunkt waren wir die Ersten in Österreich, die auf
einer psychiatrischen vollversorgenden Abteilung den Achtsamkeitsansatz einführten.
Im Rahmen dieses Projektes entwickelten wir ein eigenes Verständnis von psychiatrischer
Pflege, das wir Achtsamkeitsbasierte Psychiatrische Pflege nannten. Wir unterscheiden in
unserem Ansatz folgende sechs Aspekte: achtsam, säkular, integrativ, ressourcen-orientiert,
praxisbezogen und interdisziplinär.
Herz der Achtsamkeitsbasierten Psychiatrischen Pflege ist die achtsame Haltung zu sich
selbst, zu Kolleginnen und Patienten. Doch worin besteht nun diese achtsame innere
Haltung? Im Sinne von Jon Kabat-Zinn besteht sie in einer offenen Wachheit, die
wertschätzend das wahrnimmt, was im Moment geschieht. Diese Haltung der wachen
Präsenz und der wohlwollenden Gelassenheit verändert den Umgang mit den eigenen
Gedanken und Gefühlen als auch den Umgang mit Kollegen und Patienten.
Säkular
Obwohl die historischen Wurzeln der westlichen Pflege im christlichen Ideal der
Nächstenliebe wurzeln, leiten wir unseren Ansatz aus der humanistischen Tradition der
Aufklärung ab. Pflege wird nicht mehr aus religiösen Motiven begründet, sondern aus der
Einsicht, dass die Unterstützung von kranken und alten Menschen eine notwendige
Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft darstellt.
Integrativ
Ressourcen-orientiert
Der Fokus unserer Arbeit liegt auf den gesunden Anteilen und Ressourcen des Patienten und
nicht auf der defizit-orientierten Sichtweise von Krankheit. Wir gehen davon aus, dass alle
Menschen grundlegend gesund sind. Diese grundlegende psychische Gesundheit wird im
Falle von psychischer Erkrankung durch dysfunktionale Mechanismen überdeckt. In der
psychiatrischen Arbeit erforschen wir Wege, wie Patienten wieder in Kontakt mit ihren
gesunden Anteilen kommen können und unterstützen sie, diese im Alltag zu leben.
Praxisbezogen
Interdisziplinär
Wir sehen uns in der Tradition der Psychiatrie-Reform und halten die multiprofessionelle
Zusammenarbeit im psychiatrisch-stationären Bereich für wesentlich. Jede Berufsgruppe hat
aufgrund ihrer beruflichen Sozialisation eine eigene Sicht auf den Patienten. Durch den
Austausch dieser unterschiedlichen Perspektiven in interdisziplinären Team- und
Fallbesprechungen entsteht ein umfassendes Bild des Patienten, das die Grundlage für
erfolgreiches therapeutisches Vorgehen bildet.
Die Umsetzung
Die Umsetzung des Projektes erfolgte Top-Down. Nach der Planung begannen wir 2012 mit
der Durchführung eines 8-Wochenkurses Stressbewältigung durch Achtsamkeit (MBSR) mit
den Pflegedienstleitungen der 10 psychiatrischen Stationen der APP. Der Kurs richtete sich in
seiner Grundstruktur nach dem von Jon Kabat-Zinn entwickelten MBSR-Ansatz, wobei wir
die Inhalte durch den Psychiatrischen Notfallkoffer ergänzten.
Anerkennungen
Für dieses Projekt der Umsetzung der Haltung der Achtsamkeit in der stationären Psychiatrie
wurden wir vom Österreichischen Netzwerk Gesundheitsfördernder Krankenhäuser und
Gesundheitseinrichtungen (2014; eine Einrichtung des Gesundheitsministeriums)
ausgezeichnet und erhielten den Österreichischen Kommunikationspreis des
Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (2015) und den
Gesundheitspreis der Stadt Klagenfurt (2015).
Resümee
Rückblickend können wir sagen, dass wir durch die Integration der Achtsamkeitsbasierten
Psychiatrischen Pflege in die Abteilung Psychotherapie und Psychiatrie des Klinikums
Klagenfurt am Wörthersee die Qualität der Psychohygiene der Pflegenden, die Teamkultur
der multiprofessionellen Teams und den Umgang mit Patienten nachhaltig verbessert haben.
Zum Autor
Publikationen:
Bohus, Martin und Martina Wolf (2011): Interaktives SkillsTraining für Borderline-Patienten.
Schattauer Verlag, Stuttgart.
Fromm, Erich; D.T. Suzuki; Richard de Martino (1963): Zen-Buddhismus und Psychoanalyse.
Szeczesny Verlag, München.
Germer, Christopher (2010): Der achtsame Weg zur Selbstliebe. Arbor, Freiburg.
Hayes, Steven (2009): In Abstand zur inneren Wortmaschine. dgvt Verlag, Tübingen.
Jung, Carl Gustav (1935): Psychologischer Kommentar zum Tibetanischen Totenbuch. In:
Evans-Wentz (1935): Das Tibetanische Totenbuch. Rascher Verlag, Zürich, 17-42.
Jung, Carl Gustav (1939): Vorwort. In: D.T. Suzuki (1988): Die große Befreiung. Einführung in
den Zen-Buddhismus. Barth Verlag, München, 9-38.
Jung, Carl Gustav (1955): Psychologischer Kommentar zum Tibetischen Buch der Großen
Befreiung. In: Evans-Wentz (1955): Die Große Befreiung. Barth Verlag, München, 13-
54.
Kabat-Zinn, Jon (2006): Zur Besinnung kommen. Die Weisheit der Sinne und der Sinn der
Achtsamkeit in einer aus den Fugen geratenen Welt. Arbor, Freiburg.
Knuf, Andreas und Matthias Hammer (2013): Die Entdeckung der Achtsamkeit. Psychiatrie
Verlag, Köln.
Piet, Jacob and Esben Hougaard: The effect of mindfulness-based cognitive therapy for
prevention of relapse in recurrent major depressive disorder: A systematic review and
meta-analysis. In: Clinical Psychology Review. 31, 2011, 1032-1040. Elsevier,
Amsterdam.
Segal, Zindel; Williams, Mark; Teasdale, John (2008): Die Achtsamkeitsbasierte Kognitive
Therapie der Depression. dgvt-Verlag, Tübingen.
Williams, Mark et.al. (2010): Der achtsame Weg durch die Depression. Arbor-Verlag,
Freiburg.