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Jazz als gelungene Perfor mance

Ästhetische Normativität und Improvisation

Von Alessandro Bertinetto

I. Einleitung

Die Hauptfrage, die ich in diesem Aufsatz diskutieren will, lautet: Welcher ist der
ästhetische Rahmen bzw. welche sind die ästhetisch-normativen Voraussetzungen
für das richtige Verständnis und die richtige Evaluation von Jazz? Oder, wenn man
diese Frage genauer artikulieren möchte: Wie ist die Frage nach den Kriterien einer
Jazz­ä sthe­t ik zu stellen, um der Jazzpraxis gerecht zu werden? Meine These lautet:
Die Jazz­ä sthe­tik ist eine Ästhetik der gelungenen Performanz. Sie ist nicht eine mut-
maßliche Ästhetik der Unvollkommenheit, wie einige Autoren glauben.1
Ohne eine detaillierte Erörterung der (Beziehungen zwischen den) verschiede-
nen Stile(n) des Jazz liefern zu können, werde ich mich einer Reflexion über die
allgemeine Kernvoraussetzung der Jazz­ä sthe­tik widmen, die in den (nicht beson-
ders häufigen) philosophischen Diskussionen über die Ästhetik des Jazz oft missver-
standen wird.2 Die Skizze einer philosophischen Jazz­ä sthe­t ik geht also einher mit
der Ausräumung von zwei zusammenhängenden, verbreiteten Missverständnissen.
Das erste Missverständnis wird deutlich in den folgenden Worten William Ca-
merons. In seinen Sociological Notes on the Jam Session (1954) schreibt er nämlich 3:
»The jazz aesthetic is basically a paradox, tragic in that it is ultimately unrealizable.
The comprehensibility of traditionalism and radical originality are irreconcilable«.
Diese Behauptung der paradoxen Natur des Jazz aufgrund der Unvereinbarkeit
von Tradition und Innovation, oder, anders gesagt, von Norm und Praxis, ist das
Ergebnis einer Perspektive, die die spezifische normative Dynamik des Jazz gar

1 Vgl. Ted Gioia: The Imperfect Art – Reflections on Jazz and Modern Culture, Oxford 1988; Andy
Hamilton: The Aesthetics of Imperfection, in: Philosophy 65/253 (1990), 323-340; ders.: The Art of
Improvisation and the Aesthetics of Imperfection, in: British Journal of Aesthetics 40 (2000), 168-185;
Lee B. Brown: Musical Works, Improvisation, and the Principle of Continuity, in: Journal of Aesthetics
and Art Criticism [im Folgenden: JAAC] 54 (1996), 353-369; ders.: »Feeling My Way«: Jazz Impro-
visation and Its Vicissitudes – A Plea for Imperfection, in: JAAC 58 (2000), 113-123.
2 Indem ich über die allgemeinen Züge der Jazz­ä sthe­t ik nachdenke, will ich die Bedeutung
der subtilen ästhetischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Genres des Jazz nicht ver-
gessen und am allerwenigsten verneinen. Meine These ist jedoch die folgende: Man ist in der
Lage, über die ästhetischen Nuancen der verschieden Stile des Jazz und über deren ›Kompossi-
bilität‹ Rechenschaft abzulegen, nur nachdem man den allgemeinen und grundlegenden Zug
der Ästhetik des Jazz verstanden und erklärt hat. Diese erste Stufe der Konstruktion einer Äs-
thetik des Jazz ist die Vorbedingung für die Analyse der verschiedenen ästhetischen Stile des Jazz
und kann separat und unabhängig absolviert werden.
3 Zitiert nach Paul Rinzler: The Contradictions of Jazz, Lanham, Maryland 2008, 124.

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nicht richtig in den Blick bekommt. Das, was Cameron für ein tragisches Para-
doxon hält, ist eigentlich eine glückliche, wesentliche Qualität des Jazz als Kunst
der Improvisation, die außerdem sogar als paradigmatisch für die Kunstpraxis als
solche zu verstehen ist.
Damit will ich nicht sagen, dass man das scheinbare Paradoxon einfach schweren
Herzens annehmen und akzeptieren soll, um die Besonderheiten der Jazz­ä sthe­tik
(und damit deren »realizability«) zu erklären. Dies ist genau die Haltung derjenigen,
welche, irregeführt vom ersten Missverständnis, die sehr weit verbreitete These
verteidigen, dass die Ästhetik des Jazz als eine Ästhetik der Unvollkommenheit zu ver-
stehen sei. Ich halte diese These, die das zweite Missverständnis bezüglich der Jazz­
ästhe­t ik ausdrückt, für falsch. Ich möchte sie hier kritisieren und zurückzuweisen,
indem ich die (meines Erachtens fruchtbarere) These vertreten werde, dass die Jazz­
ästhe­t ik eine Ästhetik der gelungenen Performanz sei. Ich werde argumentieren, dass
man sie, um der normativen Dynamik der Ästhetik der gelungenen Performanz
gerecht zu werden, aus der Innen-, nicht aus der Außenperspektive betrachten
muss. Was genau dies heißen soll, wird sich – so hoffe ich wenigstens – im Verlauf
dieses Beitrages klären, nachdem ich die entscheidende Frage der Bedeutung und
Rolle des Fehlers im Jazz, in den Improvisationskünsten und in den Praktiken der
Kunst überhaupt, erklärt haben werde.
Meine Argumentation gliedert sich in folgende Abschnitte: In II. wird die These
der Unvollkommenheit dargestellt und in III. werden anschließend einige Argumente
dagegen diskutiert. In den Abschnitten IV und V werden die für die Jazz­ä sthe­tik
wichtige Frage nach dem Fehler und das entscheidende Thema der Normativität
untersucht. Dazu werde ich darlegen, dass die These der Unvollkommenheit insbeson-
dere deswegen unbefriedigend ist, weil sie die spezifische Normativität von Jazz
als Improvisationskunst missversteht. In VI. wird schließlich erklärt, in welchem
Sinne im Jazz von einer Normativität der gelungenen Performanz die Rede sein kann
und warum dies für unser Verständnis von Jazz bedeutend ist. Abschließend ( VII.)
wird diese Idee gegen mögliche Einwände verteidigt.

II. Jazz­ästhe­tik als Ästhetik der Unvollkommenheit

Vertreter einer Ästhetik der Unvollkommenheit (bzw. Imperfektionsästhetik) verteidi-


gen ihren Ansatz, indem sie zu bedenken geben, dass Jazz eine Kunstpraxis ist, die
wesentlich auf Improvisation basiert, und dass es unangebracht sei, bei improvisa-
torischen Prozessen dieselben Qualitätsstandards der Aufführung wie bei kompo-
nierten und durch die Schrift kodierten Werken anzuwenden – und dies sowohl
in Bezug auf die artikulierte Strukturierung der Musik als auch in Bezug auf den
Verlauf der Aufführung.
Die Ästhetik des Jazz sei als eine Ästhetik der Unvollkommenheit zu verstehen, im
Gegensatz zur Werkästhetik, die als Ästhetik der Vollkommenheit erfasst wird. Für die
Vollkommenheitsästhetik zählen etwa das komponierte Werk, das vor der Aufführung

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geplante Projekt, das komplexe und wohlstrukturierte Produkt, die ›platonisie-


rende‹ ontologische Permanenz des Werkes jenseits seiner treuen Ausführungen.4
Die Aufführung ist auf das musikalische Werk gerichtet, welches als der erste und
wichtigste Maßstab für das Gelingen der Aufführung gilt. Die Voraussetzung für
das Gelingen der Aufführung besteht mit anderen Worten darin, dass sie das vor-
her komponierte und durchaus wohl strukturierte Werk auf befriedigende Art und
Weise wiedergibt. Das Werk ist vor seinen Ausführungen ganz vollendet. Die Auf-
gabe der Ausführungen ist das Re-Aktualisieren des Werkes.5
Der Begriff Vollkommenheit (Perfektion) hat hier zwei Bedeutungen: Er bezeichnet
einerseits die vollkommen wohl gedachte und wohl formierte, strukturierte Gestalt
des komponierten Werks, d. h. die komplexe und geschichtete, aber zugleich ba-
lancierte, zielgerichtete, detaillierte und raffinierte Artikulierung der Komposition.
Andererseits bezeichnet der Begriff Perfektion die Art und Weise, wie die Auffüh-
rung diese Werkvollkommenheit darbietet: Tritt das Werk durch die Performance
vollkommen in Erscheinung bzw. stimmt die Aufführung mit der Werkstruktur
völlig überein, dann ist die Aufführung perfekt gelungen, da sie dem Werk treu ist.
Ausgehend von diesen Voraussetzungen wird die These der Imperfektionsästhetik
auf folgende Weise weiter ausgeführt: Die Musik wird im Jazz, wenigstens teil-
weise, im Augenblick bzw. in der Situation erfunden. Auch wenn ein Jazzkonzert,
wie es im Mainstream-Jazz der Fall ist, in den Aufführungen von schon komponier-
ten Songs besteht – den Standards des Repertoires der Jazztradition oder neuen Stü-
cken, die von denselben Performern vorkomponiert worden sind –, sind die Auf-
führungen nicht die genauen Ausführungen von schon im Detail vorbereiteten und
unveränderbaren Plänen, die die Musiker als sets von Anweisungen zu rezipieren
haben, die in der Performance vollzogen werden müssen. Das Gelingen der Per-
formance hat Priorität vor der Idee einer Übereinstimmung von Komposition und
Ausführung. Denn einerseits (1) ist ein Stück nicht ein für alle Mal fertig, nachdem
der Komponist es notiert hat: Ein Stück kann immer weiter komponiert werden.
Anderseits (2) wird die Ausführung eines Stückes mittels Improvisation realisiert,
bzw. sie ist (wenigstens teilweise) improvisiert: Das Stück wird als Sprungbrett für
die Improvisation verwendet.
1. Auf der einen Seite können und sollen – da das Publikum des Jazz dies auch
erwartet – die Musiker jede überlieferte Musik anders und neu interpretieren, ar-

4 Dazu Andy Hamilton: Aesthetics & Music, New York 2007, 199. Hamilton suggeriert, dass
die ›Ästhetik der Unvollkommenheit‹ das Moment der Performance fokussiert, während die
›Ästhetik der Vollkommenheit‹ die Zeitlosigkeit des Werkes betont. Vgl. Hamilton: The Art of
Improvisation [Anm. 1], 170.
5 Selbstverständlich unterscheiden sich die Meinungen darüber, was ›befriedigend‹ konkret
bedeuten sollte bzw. welche die beste Art und Weise ist, das Werk wiederzugeben, und bezüg-
lich der Frage, ob es nur eine oder mehrere richtige Interpretationen eines Werkes gibt. Vgl.
dazu The Interpretation of Music – Philosophical Essays, ed. by Michael Krausz, Oxford 1993; Peter
Kivy: Authenticities – Philosophical Reflections on Musical Performance, Ithaca, N. Y. /London 1995;
Stan Godlovitch: Musical Performance – A Philosophical Study, London and New York 1998.

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rangieren, und – bezüglich jedes musikalischen Parameters (Melodie, Harmonie,


Rhythmus, Klangfarbe, Instrumentation, Dynamik, Zeitdauer, etc.) – verändern:
Das komponierte Werk hat also keine unbestreitbare und zeitlose Autorität über
seine Ausführungen. Man kann, darf und soll immer weiter (und anders) kompo-
nieren. Die Performer können die musikalischen Parameter eines Standards gele-
gentlich ändern, egal ob die Performer dem Standard (bzw. dem komponierten
Werk) treu oder untreu6 sein wollen.
Obwohl die Rede von einer Beziehung zwischen Aufführung und Werk in ei-
nigen Jazzrichtungen (nicht so sehr im Free Jazz) durchaus berechtigt ist, da die
improvisierte Performance ein Werk oder eine Werkvariation manifestiert 7, ist nicht
klar, was die Rede von einer Übereinstimmung zwischen der Aufführung und dem
Werk in der Jazzpraxis bedeuten soll, da a) das Kriterium für die Bedeutung der
Treue der Aufführung bezüglich des Werks nicht festgesetzt und unveränderbar
ist, sondern mit den verschiedenen performativen Situationen variiert und b) der
Wert einer Jazzperformance nicht an der Art und Weise messbar ist, wie ›treu‹ sie
einer Komposition ist. Auch im Fall, dass die Bedeutung der Komposition für die
Artikulation und Wertschätzung der Performance groß ist und die Improvisation
im Gegenzug wenig Raum hat (es genügt diesbezüglich, das berühmte Beispiel
von Duke Ellingtons Big Band zu nennen), ist zu bemerken, dass in der Jazzpraxis
der Begriff Werk nicht die Bedeutung von einer absoluten ›ewigen‹ Entität hat.8
Das Werk wird vielmehr für eine bestimmte Gelegenheit, für eine bestimmte mu-
sikalische Besetzung, für ein bestimmtes Publikum, für eine Situation komponiert
und/oder arrangiert (und entsprechend verändert), um spezifischen Aufführungs-
situationen gerecht zu werden.
2. Auf der anderen Seite gilt für den Jazz, dass nicht nur wie, sondern auch we-
nigstens zum Teil auch was gespielt wird, im Moment der Aufführung aus dem

6 Wie es z. B. in der Praktik des Signifyin’ geschieht: Das Signifyin(g) ist im Jazz eine transfor-
mative Aneignungspraxis, bei der die Gestaltung einer kulturellen Identität durch die Differenz
geschieht. Es geht um eine Praxis, die verzerrende und störende Wirkungen hat. Ein berühmtes
Beispiel ist John Coltranes Version von My Favorite Things, die die heitere Stimmung vom von
Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II für das Musical The Sound of Music komponierten
Werk ganz zersetzt. Vgl. Ingrid Monson: Saying Something – Jazz Improvisation and Interaction,
Chicago 1996, 98-132; Davide Sparti: Musica in nero – Il campo discorsivo del jazz, Torino 2007,
103-107.
7 Vgl. dazu Alessandro Bertinetto: Paganini Does Not Repeat – Musical Improvisation and the
Type Token Ontology, in: Teorema 31/3 (2012), 105-126, hier 118 f.
8 Die Idee, dass das musikalische Werk eine abstrakte Entität ist, die vom Komponisten
entdeckt und nicht geschaffen wird, wird bekanntlich von ›Platonisten‹ wie Peter Kivy (Platonism
in Music – A Kind of Defense, in: Grazer Philosophische Studien 19 [1983], 109-129) und Julian Dodd
(Works of Music – An Essay in Ontology, Oxford 2007) vertreten. Ich habe diese Richtungen der
Musikontologie in meinem Aufsatz Musical Ontology – A View Through Improvisation (in: Cosmo –
Comparative Studies in Modernism 2 [2013], 81-101) kritisch diskutiert. Eine gegen den Platonismus
gerichtete und an der Performance orientierte phänomenologische Ontologie der Musik wird
bei Bruce Ellis Benson in seinem Buch The Improvisation of Musical Dialogue (Cambridge 2003)
angeboten.

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Stegreif entschieden wird. Im Jazz wird mit anderen Worten improvisiert: Die
Musik ist teilweise on stage erfunden. Wenn auch der Grad, die Tragweite und die
Bedeutung der Improvisation mit den verschiedenen Stilen des Jazz variiert – sie ist
normalerweise sehr groß im Free Jazz und sehr klein in den Swing Big Bands – ist
die Improvisation auf jeden Fall ein wesentlicher Bestandteil des Jazz.
Aus 1. und 2. schließen die Vertreter der Imperfektionsthese, dass Jazz eine
Kunst der Unvollkommenheit sei. Aus 1. folge, dass Jazz imperfekt sei, weil das
Werk in der Jazzpraxis nicht mehr als perfektes und zeitloses Muster gilt, an das
sich die musikalische Praxis der Aufführung anpassen soll. Aus 2. folge, dass die
Jazzmusik unvollkommen sei, da sie nicht im Detail vorbereitet werden kann, nicht
komplex strukturiert und prinzipiell nicht vollkommen präzise sein kann.9 Was
improvisiert werde, sei per se nicht perfekt.
Ted Gioia meint, diese These durch die Unterscheidung von zwei verschie-
denen Arten musikalischer Praxis – des blueprint und des retrospective model – gut
untermauern zu können. Anders als bei der Aufführung von komponierten und
aufgeschriebenen Werken fallen in der Improvisation der kreative und der perfor-
mative Prozess zusammen. Dies bedeute nicht, so Gioia, dass die Improvisation
formlos sei. Spezifisch für die Improvisation sei vielmehr die Tatsache, dass ihre
Struktur (oder wenigstens ein Teil ihrer Struktur) sich retrospektiv, also als Ant-
wort oder Reaktion auf gewisse Ereignisse, in der Echtzeit konstruiere. Bezüglich
des »retrospective model« schreibt Gioia10: »One can imagine an opposite approach to
art [= opposite to the blueprint model]: the artist can start his work with an almost
random maneuver – a brush stroke on a canvas, an opening line, a musical motif –
and then adapt his later moves to this initial gambit«.
Um das retrospektive Modell zu erklären, benutzt Gioia das folgende berühmte
Beispiel. In der ersten Improvisation über Gershwins Standard Embraceable You
beginnt Charlie Parker sein Solo mit einer Fünf-Noten-Phrase, welche dann in
raffinierter Weise entwickelt wird. In dem im alternate take hörbaren zweiten Solo
über dasselbe Stück ist der Anfang der Improvisation ganz anders. Dies bezeugt
deutlich, so Gioia, dass die Planung des improvisierten Solos minimal war.11 Der
Mangel an Planung steht zwar nicht notwendigerweise der Gestaltung einer forma-
len Ordnung entgegen. Diese Ordnung gestaltet sich jedoch dank der Reaktion auf
irgendwelche (in diesem Fall musikalischen) Gesten und kann nicht vorhergesehen
werden. Außerdem ist dieser Gestaltungsprozess immer prekär. Denn da, wo die
Musikproduktion einphasig ist, weil Plan und Aufführung zusammenfallen und
die Form sich nur retrospektiv auf baut, kann man die Musik nicht korrigieren. Die
Musikproduktion trägt deswegen prinzipiell das Risiko des Fehlers, des Irrtums,
der Nachlässigkeit und der Inkonsistenz in sich. Diese Imperfektion ist konstitutiv

 9 Brown: Musical Works [Anm. 1], 362: »Jazz practice lives with the lack of precision. Indeed,
it thrives on it«.
10 Gioia: The Imperfect Art [Anm. 1], Anm. 29, 60.
11 Vgl. Hamilton: The Aesthetics of Imperfection [Anm. 1], 38.

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für den Jazz. Denn die retrospektive Reaktion auf eine unvorhergesehene musika-
lische Geste kann prinzipiell immer misslingen.12
Die Ästhetik des Jazz soll daher dieser konstitutiven Imperfektion Rechnung
tragen. Will man der Praxis des Jazz gerecht werden, kommt man nicht umhin,
seine Imperfektionen nicht nur als charakteristisch, sondern auch als unvermeidbar
zu betrachten. Und aus der deskriptiven Annahme, dass Jazzmusik nicht perfekt
ist und nicht perfekt sein kann, zieht man den normativen Schluss, dass man von
ihr auch keine Perfektion verlangen darf, wie es mit musikalischen und künstle-
rischen Praktiken anderer Art der Fall ist. Zusammenfassend: Perfektion ist nicht
Sache des Jazz. Jazz ist eine imperfekte Kunst; die Ästhetik des Jazz ist eine Ästhetik
der Unvollkommenheit.
Es ist aber noch unklar, wie man die Unvollkommenheit genießen und guthei-
ßen kann. Warum sollte man überhaupt Jazz hören, wenn es viele vollkommene Mu-
sikarten gibt? Das Etikett Ästhetik der Imperfektion sei dadurch gerechtfertigt, dass
man – so Ted Gioia weiter – Jazz trotz dessen Imperfektion würdige; und zwar we-
gen folgender Elemente: 1. seiner Expressivität, 2. dem gespürten Zusammenhang
zwischen der Musik und den produzierenden Musikern, 3. der Art und Weise, wie
die Musik die Perspektive der Jazzspieler über die Welt und die Kunst reflektiert,
4. der Möglichkeit, den kreativen Prozess live bezeugen zu können.13
Es ist nicht notwendig, Einwände gegen Gioias Argumente zugunsten des Wer-
tes von Jazz zu erheben – zu offensichtlich ist es, dass die ersten drei von ihm an-
geführten Punkte keine für Jazz oder Improvisation spezifischen Eigenschaften
sind14, sondern für jede Kunstform gelten können15 und dass das vierte Argument,
das übrigens für alle Improvisationskünste zu gelten scheint, wenigstens irgendeine
Erklärung verlangt.16 Dies ist jedoch nicht der für uns interessante Punkt.

12 Man kann zwar behaupten, dass man die Aufnahmen überarbeiten kann, und eine Auf-
nahme anderen vorzuziehen. In diesem Sinne ist jede aufgenommene Aufführung korrigierbar.
Wie ich aber schon argumentiert habe, ist eine aufgenommene Improvisation nicht mehr eine
Improvisation (als Prozess), weil für die Improvisation das Zusammenfallen von Prozess und
Produkt wesentlich ist. Vgl. Bertinetto: Paganini Does Not Repeat [Anm. 7].
13 Vgl. Gioia: The Imperfect Art [Anm. 1], 66 f.
14 Vgl. Rinzler: The Contradictions of Jazz [Anm. 3], 147 f. Das zweite Argument scheint üb-
rigens »ein der Kunst äußerlicher Aspekt [zu] sein, so als würde man ein Kunstwerk mit einem
biographischen Bekenntnis verwechseln, wodurch der Wert dieses Werks nicht wirklich mehr
verständlich wird« (Daniel M. Feige, persönliche Mitteilung).
15 Man könnte sich diesbezüglich z. B. auf die nach der Romantik und der Avantgarde übli-
che Idee einer Ästhetik des Hässlichen berufen (vgl. dazu natürlich Karl Rosenkranz [1853]: Die
Ästhetik des Häßlichen, Leipzig 1990). Dass dieser move nicht über die Ästhetik des Jazz als solche
Rechenschaft geben kann, wird sich in der Folge dieses Aufsatzes zeigen.
16 Man sollte wenigstens präzisieren, dass im Jazz nur ein Teil des kreativen Prozesses live
bezeugt wird. Typisch für Jazz ist die Art und Weise, wie die Musiker sich das Material ihrer
Aufführungen durch die Übung schaffen. Dieses Material (z. B. bestimmte Riffs und Skalen etc.)
wird dann kreativ in der performativen Situation verwendet. Vgl. Robert R. Faulkner: Shedding
Culture, in: Art from Start to Finish – Jazz, Painting, Writing, and other Improvisations, ed. by How-
ard S. Becker, Robert R. Faulkner and Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Chicago /London 2006,

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Von deutlich größerem Interesse ist die Tatsache, dass das Etikett Ästhetik der
Unvollkommenheit einerseits nicht jazzspezifisch und anderseits, was viel wichtiger
ist, weder treffend noch sinnvoll ist. Die Gültigkeit des retrospektiven Modells für
die Gestaltung improvisatorischer Prozesse – die ich gar nicht bestreite – ist kein
Freibrief für eine Unvollkommenheitsästhetik, die gerade nicht erklärt, was sie erklä-
ren sollte. Ich werde im Sinne dieser Kritik in den folgenden Abschnitten argu-
mentieren.

III. Einige Argumente gegen die Unvollkommenheitsästhetik

Die Idee einer der Vollkommenheitsästhetik entgegengesetzten, besonderen Ästhetik


der Unvollkommenheit ist ungeeignet, um etwa die Sphäre der westlichen, klassischen
Musik und die des Jazz jeweils einzugrenzen und voneinander zu unterscheiden.
1. Der Begriff Ästhetik der Perfektion passt nicht zu aller westlichen, traditionell
komponierten Musik. Viele wichtige Beispiele aus der traditionellen westlichen
Musik könnten sehr gut als Ausdrücke einer »imperfekten Kunst« im Sinne Gioias
verstanden werden. In der Barockmusik wird z. B. nicht nur ein gewisser Raum
für die Improvisation der Musiker gelassen (wie im Fall des Generalbasses). Auch
die Behandlung des metrischen Impulses innerhalb eines Taktes war (und ist) in
diesem Bereich flexibel und geringe Intonationsabweichungen waren (und sind)
sehr üblich.17 Die Idee, dass das Werk eine ewige und unveränderliche Konsistenz
und Subsistenz hat, hat hier außerdem auch wenig Anwendung: Die Komponis-
ten komponierten für bestimmte Gelegenheiten und eine sehr übliche Praxis war
diejenige der adaptiven Verwendung und Veränderung von alten Stücken für neue
Situationen. Es war nicht der Fall, dass die musikalischen Werke für unveränder-
liche, ›ewige‹ und perfekte Entitäten gehalten wurden, die die Ausführungen in
vollkommener Weise wiedergeben sollten.
1.1. Wenn man im Rahmen der klassischen Musik mit dem Wort ›Perfektion‹ die
Perfektion der Aufführung meint, beschreibt der Ausdruck Ästhetik der Perfektion
also die musikalische Tradition, die auf eine bestimmte Auffassung der musikali-
schen Praxis angewiesen ist, nämlich auf eine, die durch das Ideal der Werktreue
geregelt ist. Nicht alle westliche klassische Musik ist jedoch durch dieses Ideal be-
stimmt, sondern nur ein Teil der klassischen Musik in der Zeit zwischen dem Ende
des 18. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts.18

91-117; Paul Berliner: Thinking in Jazz – The Infinite Art of Improvisation, Chicago 1994; Davide
Sparti: Suoni inauditi – L’improvvisazione nel Jazz e nella vita quotidiana, Bologna 2005; Silvana K.
Figueroa-Dreher: Uncertainty as a Creative Principle in Free Jazz Improvising, in: auditive perspektiven
2/2012 (online unter http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2012-2/figueroa-dreher-silvana-
k.-2/PDF/figueroa-dreher.pdf, zuletzt eingesehen am 11.03.2014).
17 Vgl. Sebastian Kiefer: Improvisation und Komposition – Wiederholbarkeit und Unvorhersehbar-
keit. Begriffserklärung und ästhetische Kriterien – Ein Essay, Berlin 2011, 243.
18 Dazu Lydia Goehr: The Imaginary Museum of Musical Works – An Essay in the Philosophy of
Music, Oxford 2002.

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1.2. Falls man mit dem Wort ›Perfektion‹ die Perfektion der Komposition meint,
ist dieser Ausdruck gleichwohl unangemessen. So wird man nicht nur der Praxis
der Barockmusik nicht gerecht; man wird z. B. auch dem kompositorischen Kon-
zept des »offenen Werkes« der Avantgarde-Musik nicht gerecht, wo viele Elemente
vor der Aufführung unbestimmt bleiben.19 Wenn man das Etikett Ästhetik der Im-
perfektion überhaupt verwenden möchte, so könnte sicherlich auch viele komposi-
torische Avantgarde-Musik damit versehen werden.20
2. Man kann außerdem noch den folgenden Einwand erheben. Der Begriff
Ästhetik der Imperfektion erklärt gewiss nicht jede Jazzpraktik oder jede Jazzperfor-
mance. Es gilt nun, diesen Punkt genauer zu fassen.
Das Argument, die Ästhetik des Jazz sei eine Ästhetik der Imperfektion, weil sie eine
Ästhetik des Prozesses und nicht des Produkts ist 21, welche auf dem retrospektiven
Modell basiert, greift zu kurz.
2.1. Erstens kann man die These anfechten, dass nur die Jazz­ä sthe­t ik eine Äs-
thetik des Prozesses ist. Jazzspezifisch sind vielmehr:
– die Wechselwirkung zwischen dem bestehenden Wert der Tradition (von re-
nommierten Performern, ästhetischen Stilen, berühmten Aufnahmen, unver-
gesslichen Standards), welche die Jazz-Musiker als ein kulturelles Produkt erben,
und der spezifischen Situation der einzelnen Performance, in der die Tradition
dadurch lebt, dass sie (potentiell) zugleich bestätigt und verändert wird (falls die
Tradition nicht als erstarrte Konvention verstanden wird);
– die Integration der prozessualen Erfindung aus dem Stegreif und der oft minu­
tiösen Vorbereitung der Performance, sowohl hinsichtlich Komposition und
Arrangement als auch hinsichtlich der Aufführung: Diesbezüglich kann man
von Vorbereitung sprechen im Sinne sowohl der Einübung der Fähigkeit der
Improvisation einzelner Musiker als auch des häufigen gemeinsamen Improvi-
sierens22;
– die Verankerung der improvisierenden Interaktion in den Schienen einerseits des
Swings und des Grooves und/oder andererseits der Akkordfolge, welche (wenigs-
tens teilweise) eine beständige Regelmäßigkeit herstellen, die für den Flusscha-
rakter des Prozesses des Musikmachens verantwortlich ist.23

19 Dazu Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973.


20 Vgl. Kiefer: Improvisation und Komposition [Anm. 17]. In der neuen Musik der Avantgarde
sind bekanntlich die Aleatorik und die Improvisation sehr verbreitete Arten und Weisen des
Musizierens. Dazu Sabine Feißt: Der Begriff ›Improvisation‹ in der neuen Musik, Berlin 1997; Kai
Lothweisen: Klang – Struktur – Konzept – Die Bedeutung der Neuen Musik für Free Jazz und Impro-
visationsmusik, Bielefeld 2009.
21 Vgl. Brown: »Feeling My Way« [Anm. 1].
22 Paul Berliner hat bekanntlich gezeigt, wie und wie viel sich die Musiker technisch und
stilistisch vorbereiten müssen, um überhaupt Jazz spielen zu können (Berliner: Thinking in Jazz
[Anm. 16]).
23 Vgl. dazu Vincenzo Caporaletti: La definizione dello swing – I fondamenti estetici del jazz e delle
musiche audiotattili, Teramo 2000; Stefano Zenni: I segreti del Jazz, Viterbo 2008 und Daniel M.
Feige in diesem Band.

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2.2. Außerdem ist selbst die Unterscheidung von ergebnisorientiertem und pro-
zessorientiertem Spiel nicht stringent, obwohl sie gewiss heuristisch nützlich sein
kann.24
– Die Zuhörer sind nicht nur am Prozess der Musikerfindung, sondern auch an
der erfundenen Musik interessiert. Dass eine musikalische Improvisation als
Prozess wesentlich vergänglich und unwiederholbar ist 25, widerspricht nicht der
Tatsache, dass die Improvisation ein produktiver Aufführungsprozess ist, dessen
Produkt die gespielte Musik ist.
– Wie der deutsche Musikwissenschaftler und Baritonsaxophonist Ekkehard Jost
richtig schreibt, kann »ein zur Zufriedenheit aller Beteiligten abgelaufener Pro-
zess als ein gut gelungenes Ergebnis gewertet werden […]«.26
– Jazz-Musiker stellen tatsächlich bleibende und bei den Zuhörern mehrmals kon-
sumierbare Produkte her. Es geht einerseits um Tunes, Songs oder Themen, über
die man mehrmals improvisiert, und anderseits auch um schon vorbereitete und
eingeübte Melodien, Phrasen, Licks etc., mit einem Wort um die vielen Materia-
lien, auf die die Performer zurückgreifen, um ihre Aufführungen in der Echtzeit
zu gestalten, und die teilweise dazu beitragen, auch den Stil eines Performers zu
bestimmen.
– Außerdem werden selbstverständlich auch Aufnahmen produziert, die man als
Schallplatte, CD, MP3 wiederholt hören kann. Die Aufnahmen sind oft nicht
nur bloße Dokumente von vergangenen Aufführungen, wodurch man noch ein
Gefühl der authentischen Performance erleben kann, sondern auch das Ergebnis
der Nachproduktion von Aufführungen, mit der man das Erfundene aus dem
Stegreif beliebig ergänzen, korrigieren, verbessern oder einfach modifizieren
kann, mit jeweils verschiedenen ästhetischen Absichten und Wirkungen. In
diesem zweiten Fall kann die Aufnahme also nicht als Dokument einer Kunst-
performance, sondern selbst als Kunstwerk gelten.27
2.3. Nehmen wir aber doch an, for the sake of the argument, dass es wenigstens
aus heuristischen Gründen erlaubt und nützlich ist, den Unterschied zwischen Jazz
und anderen musikalischen Praktiken so zu verstehen, dass – im Gegensatz zu an-
deren musikalischen Praktiken – im live improvisierten Jazz der Prozess des Mu-
sikmachens ästhetisch wichtiger als die Qualität der produzierten Musik sein kann.
Doch selbst wenn dies der Fall sein sollte, was ich in manchen Fällen für plausibel
halte, wäre man nicht dazu berechtigt, von der These der Prozessästhetik auf die
Imperfektionsthese zu schließen. Genau wie jedes andere Kunstwerk kann eine

24 Vgl. Rinzler: The Contradictions of Jazz [Anm. 3], 152 und 183.
25 Vgl. dazu Alessandro Bertinetto: »Performing the Unexpected«  – Improvisation and Artistic
Creativity, in: Daimon 57 (2012), 117-135, hier 129-131.
26 Ekkehard Jost: Notizen zur Improvisation, in: Improvisieren, hg. von Wolfram Knauer, Hof-
heim 2004, 153-165, hier 160.
27 Ich bedanke mich bei Daniel M. Feige für diese Anmerkung. Dies gilt natürlich auch für
andere musikalische Genres, nicht nur für Jazz und nicht nur für improvisierte Musik.

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improvisatorische Performance, sowohl im Jazz als auch in anderen artistischen


Improvisationspraktiken, als ästhetisch imperfekt beurteilt werden, falls sie aus ei-
ner evaluativen Perspektive betrachtet nicht gelungen ist. Dies bedeutet aber nicht,
dass die Improvisation deswegen unvermeidbar imperfekt ist, weil sie prozesshaft
ist. Nicht alle Prozesse sind unvollendet und unzusammenhängend. Vielmehr können
Prozesse, genauso wie Produkte, perfekt und imperfekt sein, und dies sowohl im
evaluativen als auch im deskriptiven Sinne.
Auch die Rechtfertigung der scheinbar paradoxen Redewendung Ästhetik der
Unvollkommenheit, die Andy Hamilton vorschlägt, ist deswegen falsch. Die Pointe
der These der Unvollkommenheitsästhetik sei, so Hamilton, dass die Begriffe ›Perfek-
tion‹ und ›Imperfektion‹ hier die vom Lateinischen perficere hergeleitete, deskriptive
Bedeutung hätten. Sie hätten keinen normativen Sinn. Perfekt sei demzufolge et-
was, das vollendet, fertig und vollständig ist (wie das komponierte Werk), wäh-
rend imperfekt das Gegenteil bedeutet: unvollendet, unfertig, unvollständig (wie die
improvisierte Performance, die dem retrospektiven Modell folgt). Dies heiße jedoch
nicht, so Hamilton, dass dem Perfekten eine normative Priorität gegenüber dem
Imperfekten zukäme: Etwas, das in diesem Sinne unvollendet ist, könne gewiss
andere Vorzüge besitzen, weshalb Jazz Wert habe, trotz seiner Unvollkommenheit
im Vergleich zu anderer Musik.
Diese deskriptive Verwendung des Etiketts Unvollkommenheitsästhetik überzeugt
jedoch nicht. Eine solche Beschreibung ist für viele Jazzarten und Jazzperforman-
ces einfach unpassend und falsch. Darf man mit guten Gründen Brad Mehldaus
Interpretation des Beatles-Songs Blackbird als unvollkommen beschreiben? Darf man
die ›logische‹ Kohärenz von unzähligen Solos von Charlie Parker, Stan Getz, Diz-
zie Gillespie (u. a.) als unvollkommen bezeichnen? Die Antwort ist ein deutliches –
Nein!
Statt einer deskriptiven Bezeichnung klingt dieses Etikett vielmehr wie eine un-
begründete Behauptung, die eigentlich nichts erklärt. Es funktioniert nur, wenn
man voraussetzt, dass sich die artistische Improvisation, aber auch weitere typische
Merkmale des Jazz 28 , die trotzdem auch in vielen anderen musikalischen Traditio-
nen zu finden sind, mit dem Begriff Unvollkommenheit deckt. Dieser move ist jedoch
nicht akzeptabel. Sowohl viele musikalische, improvisierte Solos und Interaktio-
nen, als auch viele Jazzkonzerte zeigen in ihrer Gesamtheit Folgerichtigkeit, Logik,
Struktur, Entwicklung und Ausgewogenheit. Sie sind wohl bearbeitet und struk-
turiert. Viele der besten Jazzperformances – etwa die Version von John Coltranes
Giant Steps, die im gleichnamigen Album (1960) enthalten ist 29, oder einige Auf-
führungen von Bill Evans, um nur zwei unter unendlich vielen möglichen Beispie-

28 Kiefer (Improvisation und Komposition [Anm. 17], 242 f.) erwähnt z. B. die »hörbare Neben-
luft im Singen, d[ie] Rauhigkeit des Tons, die Überanstrengung der Stimmbänder, d[ie] absichts-
vollen Unsauberkeiten der Intonation gemessen am temperierten System und der metrischen
Impulse, d[ie] Klappengeräusche der Instrumente, d[ie] absichtsvolle Ungenauigkeit von Tut-
tieinsätzen«.
29 Atlantic Records (LP Atlantic 1311).

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Jazz als gelungene Performance 115

len zu nennen – sollten genauso als deskriptiv vollkommen verstanden und beurteilt
werden wie die Meisterwerke der klassischen Musik.30
Natürlich gibt es auch Jazz-Aufführungen, Veranstaltungen und Stile, die keine
klare formelle und ausgewogene Ordnung zeigen. Der Free Jazz ist das klassische
Beispiel (wobei man vergisst, dass es sehr verschiedene Formen und Arten von Free
Jazz gibt). Dies schließt aber nicht aus, dass solche Aufführungen bezüglich ihrer
expressiven, affektiven und auch energetischen Qualitäten Kohärenz, Entwick-
lung, Artikulation und Komplexität, und damit auch Vollkommenheit, ästheti-
sches Gelingen, zeigen. Entscheidend ist aber dies: Ob diese Eigenschaften als die
richtigen Qualitäten zählen, um Perfektion der Performance im deskriptiven Sinne
herzustellen, ist eine normative, nicht eine deskriptive Frage. Es ist deshalb einfach
eine formalistische Karikatur des Vollkommenheitsbegriffs, wenn man expressiven
Free Jazz-Improvisationen absprechen will, dass sie in anderer Weise vollkommen
sein können, als das in der europäischen Kunstmusik, zumindest bis zur Spät­
romantik, der Fall ist.31
Formelle Imperfektionen können nämlich Absicht sein, indem die gespielte Musik
die ästhetischen Intentionen der Spieler widerspiegelt. Der Performer könnte z. B.
die Absicht haben, die Tonalität des Stückes zeitweise zu verlassen, um ein Span-
nungsmoment in die Musik einzuführen. In diesem Fall sollte man die Improvisa-
tion mit denselben Kriterien wie komponierte Musik beurteilen, die, wie etwa im
Fall der Avantgarde-Musik, auf den ersten Blick alogisch und irritierend scheint. Wenn
die gespielte Musik dem Willen des Improvisators entspricht – d. h. sie ist nicht nur
das Ergebnis eines ungewollten und danach nicht aufgelösten technischen Irrtums
(später mehr über dieses Thema) – reduziert sich das Unvollkommenheitsetikett zu
der normativ-stipulativen Annahme, dass sich Perfektion mit Begriffen wie deut-
licher Form, strukturellem Gleichgewicht und rigider Ordnung deckt und dass die
Improvisation imperfekt sei, weil sie gerade diesen Parametern nicht genügt.
Diese Auffassung ist jedoch falsch.32 Der Begriff der Vollkommenheit, den die
Vertreter der Ästhetik der Unvollkommenheit in Anschlag bringen, ist eine Karika-

30 Robert Kraut: Why Does Jazz Matter to Aesthetic Theory?, in: JAAC 63/1 (2005), 3-15.
31 Für diese Formulierung bedanke ich mich bei Daniel M. Feige.
32 Rinzler: The Contradictions of Jazz [Anm. 3], 166 f.: »The title of Ted Gioia’s The Imperfect
Art implies a criticism of jazz improvisation: it fails to live up to the standards for complexity and
structure compared to composition. But holding jazz up to the highest formalist criteria, being
disappointed when it fails to achieve those criteria, and making excuses for jazz nonetheless (the
process is the important thing, somehow) is a little bit like criticizing Lewis and Clark for not
taking the shortest and easiest route to the Pacific Ocean, as well as apologizing for how difficult
their journey was. It is illogical as well as a category mistake to expect Lewis and Clark to have
taken a beeline (or even the shortest realistic route) to the Pacific, as if they already had the route
laid out for them, when the whole point of their journey was to discover any route, even as they
obviously desired the perfect one and strove to find it. Lewis and Clark’s route to the Pacific,
structurally, may not have been the perfect route, but the fact that they were trailblazing, not
knowing how to get to where they wanted to go, makes their lesser structure, the more indirect
route, all the more amazing. They did not fail in a quantitative sense (that is, traveling some

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116 Alessandro Bertinetto

tur. Denn es ist fraglich, ob Perfektion per se nur formelle Ordnung, Symmetrie und
Folgerichtigkeit impliziert. Perfekt bzw. vollkommen kann auch die Intensität ei-
ner Erfahrung sein (man spricht z. B. von der Perfektion eines Augenblicks); und
in diesem Sinne kann die Expressivität oder die intensive Energetik einer Perfor-
mance perfekt sein – und dies trotz der scheinbaren formalen Unordnung der mu-
sikalischen Entwicklung. Dies gilt selbst dann, wenn es, wie oftmals im Falle hek-
tischer Aufführungen, auch aus der Perspektive der Musiker nicht mehr relevant
oder möglich ist, zwischen den Intentionen der Spieler und deren Aufführungen
zu unterscheiden. Die unvollkommene Form würde von einer intensiven Energetik
kompensiert. In diesem Fall scheint das deskriptiv verstandene Etikett der Imperfek-
tion berechtigt. Es hätte aber keinen besonders relevanten ästhetischen Sinn. Denn
eine deskriptiv unvollkommene Aufführung könnte in diesem Fall aus dem eva-
luatorischen Blickwinkel ästhetisch vollkommen gelungen sein.
Man muss deshalb darauf insistieren, dass sich die artistische Improvisation von
der alltäglichen Improvisation darin unterscheidet, dass improvisierte Lösungen
im Alltag – etwa eine Bierkiste zu verwenden, um einen Tisch zu stützen – oft
imperfekt, da provisorisch und nur teilweise gelungen sind, während eben dies für
die absichtliche artistische Improvisation nicht gilt. Eine improvisierte Aufführung
kann ebenso scheitern oder gelingen, wie es bei der Ausführung einer Komposition
der Fall ist. Die These, Jazz und andere Improvisationskünste seien konstitutiv zu
einer »radikale[n] Akzeptanz des Imperfekts«33 verurteilt, scheint sich daher auf eine
bloße rhetorische Aussage zu reduzieren und ist auf jeden Fall einfach falsch. Dass
der Jazz und die Improvisationskünste das Imperfekte spielbar machen 34, heißt doch
nicht, dass das Imperfekte (was dies auch sein sollte) im Jazz als solches ästhetisch
akzeptabel ist oder dass der ästhetische Wert der Improvisation trotz ihrer Imper-
fektion entsteht. Das Imperfekte spielbar zu machen heißt, es eben nicht als imperfekt
zu behandeln, indem man eine andere Normativität ins Spiel setzt (s. ausführlicher
unten, Abschn. IV und V).
Ferner, wie schon erwähnt, ließen sich mit dem Etikett der Imperfektionsästhe-
tik auch andere Musikarten versehen – etwa die Neue Musik – und könnten damit
nur einige Arten von Jazz bezeichnet werden, nicht der Jazz insgesamt. Ein sol-
ches Etikett wäre demzufolge für eine spezifische, aber umfassende Ästhetik des
Jazz nutzlos.
Um ihre These zu verteidigen, berufen sich die Imperfektionisten jedoch auf ein
weiteres, ihnen zufolge entscheidendes Moment, und zwar auf eine bestimmte

number of miles when they could have traveled fewer miles); rather, their task was qualitatively
different. They were explorers, not tour guides consulting maps to find the best route. There is
no apology necessary for not meeting the standard of the absolutely shortest route; Lewis and
Clark were operating in a completely different realm and context, and yet, they strove to find
the shortest or easiest route.«
33 Christopher Dell: Das Prinzip Improvisation, Köln 2002, 192.
34 Vgl. Christopher Dell: Die improvisierende Organisation  – Management nach dem Ende der
Planbarkeit, Bielefeld 2012, 137.

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Jazz als gelungene Performance 117

Auffassung der Rolle und der Gründe des Fehlers im Jazz. Ich halte die Frage des
Fehlers für eine besonders wichtige Frage, weil sie die Eigenheit der Jazz­ä sthe­tik
deutlich macht.35 Ich bin aber der Meinung, dass die Vertreter der Unvollkommen-
heitsästhetik die Frage des Fehlers auf die falsche Weise verstehen. Das Problem des
Fehlers möchte ich in den nächsten Abschnitten diskutieren.

IV. ›Fehler‹ im Jazz: ein Argument für die Imperfektionsästhetik?

Viele Jazzmusiker betrachten den Fehler als eine Conditio sine qua non des Jazz. Der
Pianist Kenny Barron soll einmal gesagt haben: »If you don’t make mistakes, you
don’t play Jazz.« 36 Und Miles Davis drückt dieselbe Idee aus 37: »When they make
records with all the mistakes in, as well as the rest, then they’ll really make jazz re-
cords. If the mistakes aren’t there, too, it ain’t none of you«. Solche Beteuerungen
scheinen die Richtigkeit und die Plausibilität der Imperfektionsthese zu bestätigen.
Was die Fehlerfrage betrifft, vertreten die Anhänger der Unvollkommenheitsästhetik
üblicherweise zwei Positionen.
1. Die erste Position lautet: Trotz der Fehler und der Mängel, die Jazz als Impro-
visationskunst unvermeidbar enthält, ist Jazz ästhetisch zu schätzen. Mit anderen
Worten: Jazz ist imperfekt; trotzdem ist Jazz ästhetisch gut; die für Jazz passende
Ästhetik ist daher eine Ästhetik der Unvollkommenheit.
2. Das zweite Argument ist das folgende: Nicht trotz der Fehler, sondern gerade
wegen (wenigstens einiger seiner) Fehler ist Jazz eine sehr wertvolle Kunst. Die für
Jazz passende Ästhetik ist deswegen eine Ästhetik der Unvollkommenheit.
Zunächst zu ersterer Position. Die These ist folgende: Da das Moment der Mu-
sikerfindung sich mit dem Moment der Musikaufführung deckt, können auch
gut vorbereitete und technisch professionelle Spieler, die unter Zeitdruck spie-
len, Fehler machen und scheitern. Jazz ist eine imperfekte Kunst, weil er wegen
seines experimentellen Charakters jenseits bestehender normativer Erwartungen
vorgeht und wegen seiner prozesshaften Natur scheitern kann. Improvisierte Jazz-
performances erscheinen manchmal bloß als Versuche, als Explorationen, in denen
letztlich keine deutliche Richtung und kein Zusammenhang der Teile zu finden

35 Diese Frage betrifft gewiss nicht nur den Jazz, sondern jede Kunst, die mit der Improvi-
sation lebt und wirkt. Analogerweise könnte man argumentieren, dass die Unvollkommenheits-
ästhetik für alle Improvisationskünste gilt und deswegen sowohl für den Jazz als auch für die auf
Improvisation gründende Musik.
36 Zit. in Peter Rüedi: Jenseits des Denkens – Kleines Plädoyer für eine Kunst des Beiläufigen, in:
Improvisation 4, 49-63, hier 53; vgl. http://www.zwitschermaschine.li/ruedijenseits.html.
37 Zitiert nach Robert Walser: Out of Notes – Signification, Interpretation, and the Problem of
Miles Davis, in: Jazz Among the Discourses, ed. by Krin Gabbard, Durham 1995, 165-188, hier 176.
Sind Korrekturen in den Aufnahmen also für Miles per se verf älschend? Wie wir sehen werden,
ist dies nicht die richtige Antwort. Die richtige Antwort hängt vom genauen Verständnis der
Bedeutung des Begriffs ›Fehler‹ im Jazz ab, wovon in diesem und im folgenden Abschnitt die
Rede sein wird.

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118 Alessandro Bertinetto

ist. Trotzdem wird das Risiko des Scheiterns bewusst in Kauf genommen.38 Spie-
ler und Zuhörer bewerten die Bereitschaft, Risiken einzugehen, positiv.39 Spieler
und Zuhörer legen auf das experimentelle Moment einer Performance Wert, trotz
der Schwierigkeit oder sogar der Unmöglichkeit, die Musik unmittelbar zu ver-
stehen und zu genießen. Trotz des Scheiterns des Versuches bzw. der Exploration
schätzen wir den gewagten Schritt, gerade weil der Spieler sich getraut hat, zum
Unbekannten vorzudringen.40 Dass dieses Unternehmen keine guten Ergebnisse
hervorgebracht hat, weil es zu gewagt oder einfach zu schwierig war, hindert uns
nicht daran, solche gescheiterten Versuche ästhetisch zu genießen und zu schätzen.
Im Gegenteil würdigt man den Mut des Experimentierens, weil der Versuch gerade
als Versuch – und nicht nur wegen seines eventuellen Ergebnisses – zu loben ist. Die
Imperfektion – dies ist die erste verbreitete These – ist also ästhetisch geduldet: Wir
genießen den Mut, um des Experimentierens willen Risiken einzugehen, unab-
hängig davon, ob man damit gute Ergebnisse produziert, d. h. unabhängig davon,
ob man gute Musik macht.41 Ist eine Praktik oder eine Tätigkeit positiv evaluiert,
trotz der Irrtümer, denen sie unvermeidbar verfällt, weil sie, als Zeichen ihres ex-
perimentellen Charakters, ihre Möglichkeitsbedingungen sind, ist die Rede einer
Ästhetik der Unvollkommenheit berechtigt, wenigstens in Hamiltons schon erwähn-
tem deskriptiven Sinne.
Man kann jedoch dagegen sofort den Einwand wiederholen, dass, falls dies so
sei, es wieder schwierig wäre, die Tatsache zu erklären, dass Jazz häufig wohlge-
ordnet, strukturell sauber und deutlich ist. Auch scheint Jazz häufig keine Fehler
zu enthalten: Handelt es sich dann nicht um Jazz?42 Außerdem wäre es schwierig
zu verstehen, warum das Risiko des Fehlers in den Improvisationskünsten größer
als bei den Ausführungen von Kompositionen sein soll. Einerseits können Kompo-
sitionen tatsächlich Fehler enthalten, welche u. a. die Instrumentierung, die tech-
nische Aufführbarkeit, die Organisation oder auch bloß die Niederschrift der Par-
titur betreffen.43 Der Unterschied ist wohl, dass Kompositionen, im Gegensatz zu
Improvisationen, korrigierbar sind. Trotzdem scheint es wenigstens auf den ersten
Blick, dass bezüglich der Möglichkeit des Fehlers kein Unterschied zwischen Aus-

38 Diese These ist gut begründet in Sparti: Suoni inauditi [Anm. 16], 181-208. Vgl. Gary Pe-
ters: The Philosophy of Improvisation, Chicago 2009, 62-64.
39 Vgl. Brown: Musical Works [Anm. 1] und ders.: Jazz, in: The Routledge Companion to Philo-
sophy and Music, ed. by Theorodor Gracyk and Andrew Kania, New York 2011, 426-436.
40 Hans-Jost Frey: Versuch über das Unvorhergesehene, in: Improvisation VI, hg. von Walter
Fähndrich, Winterthur 2007, 107-129.
41 Vgl. Brown: »Feeling My Way« [Anm. 1], aber auch Rinzler: The Contradictions of Jazz
[Anm. 3], 151-153.
42 Vgl. dazu Robert Krauts lapidaren Kommentar (Why Does Jazz Matter [Anm. 30], 8):
»I would not want to argue about whether John Coltrane’s solo in Giant Steps contains more
imperfections than Stravinsky’s harmonizations in The Rite of Spring and thus whether it demands
a different sort of aesthetic theory.«
43 Vgl. Rinzler: The Contradictions of Jazz [Anm. 3]; Dieter A. Nanz: Einleitung, in: Aspekte
der freien Improvisation in der Musik, hg. von dems., Hof heim 2011, 9-26, hier 23.

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Jazz als gelungene Performance 119

führungen von Kompositionen und Improvisationen besteht. Andererseits kann


auch die Ausführung einer Komposition scheitern: Hier ist nichts korrigierbar,
wenn es sich um eine Livesituation handelt. Man könnte sogar behaupten, dass man
nur während der Ausführungen von Kompositionen Fehler machen kann: Denn,
könnte man argumentieren, in der Improvisation kann man keine Fehler begehen,
weil man in diesem Fall keinen im Voraus etablierten, festen Plan zu verwirklichen
hat.44
Bei der Aufführung einer Partitur ist es nämlich klar, was ›Fehler‹ bedeutet:
Man spielt nicht die Töne, die notiert sind, oder man spielt sie mit einer falschen
Expressivität. (Man spielt z. B. ein grave-Stück insgesamt zu hektisch, man spielt ein
con-brio-Stück insgesamt zu langsam.) Falls es keine Partitur gibt, ist es scheinbar
schwieriger zu bestimmen, was überhaupt ein Fehler ist. Wenn die Töne, die ge-
spielt werden, nicht der Vorschrift einer Partitur unterliegen, wie kann man dann
Fehler machen?45 Es könnte so scheinen, dass ein Improvisator mehr oder weniger
das spielen kann, was er will.46 Dann würde der Fehler in der Improvisation ge-
nau genommen keinen Platz finden: Denn nur die Aufführung von komponierten
Werken könnte scheitern.47 Miles Davis soll deswegen diesbezüglich gesagt haben:
»Do not fear mistakes – there are none.«48 Wie verträgt sich diese Behauptung mit
der These, dass es ohne Fehler keinen Jazz gibt? Ob Miles sich damit widerspricht
oder nicht, werden wir später überprüfen. Wir können jetzt mindestens schon dies
sagen: Falls die These wahr wäre, dass in der Improvisation kein Fehler möglich ist,
wäre dies ein schwerer Schlag gegen die These der Imperfektionsästhetik. Ein Prozess,
der nicht einmal die Möglichkeit hat, zu scheitern, kann gar nicht imperfekt sein.
Diese These ist jedoch in dieser überspitzten Version zu radikal und auch falsch.
Das Scheitern einer Improvisation ist nicht so deutlich vom Scheitern einer Aus-
führung von komponierter Musik zu unterscheiden. Während einer Improvisation
kann man wohl in Irrtümer stolpern die – genauso wie in der Tradition der west-
lichen klassischen Musik – als Irrtümer zu verstehen sind, die zu vermeiden wären.
Selbst wenn kein fester Plan zur Verfügung steht, gibt es doch Kriterien, um das,
was gespielt worden ist, als technisch und/oder als ästhetisch korrekt oder unkor-

44 Vgl. Vijay Iyer: Embodied Mind, Situated Cognition, and Expressive Microtiming in Afro-Ame-
rican Music, in: Music Perception 19/3 (2002), 408 (zitiert nach Rinzler: The Contradictions of Jazz
[Anm. 3], 151): »It is never clear what is ›supposed‹ to happen in improvised music, so it makes
little sense to talk about mistakes.«
45 Vgl. Sparti: Suoni inauditi [Anm. 16], 191-193. Dies betrifft eher die sogenannte freie Im-
provisation als die Improvisation auf Standards, weil es im ersten Fall wenigstens so scheinen kann,
als dass weder bestimmte Idiome noch vorstrukturierte Modelle oder voretablierte Ziele den
Musikern zur Verfügung stehen. Vgl. Kiefer: Improvisation und Komposition [Anm. 17], 241. Ich
glaube jedoch auch nicht an die absolute Voraussetzungslosigkeit der freien Improvisation.
46 Sparti: Suoni inauditi [Anm. 16], 193.
47 Vincenzo Caporaletti (I processi improvvisativi nella musica – Un approccio globale, Lucca, 2005,
37) kritisiert den Topos des Risikos improvisatorischer Prozesse, um ihn dann selber zu wieder-
holen (vgl. ebd., 163).
48 Dieser Spruch wird Miles Davis in unzähligen Webpages und Büchern zugeschrieben.

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120 Alessandro Bertinetto

rekt (bzw. als Fehler) zu evaluieren. Man kann tatsächlich beim Improvisieren we-
sentlich zwei Fehlertypen unterscheiden.
– Man kann gegen strukturelle Voraussetzungen (Ordnung der Akkorde; Tempo;
rhythmische, melodische und harmonische Artikulation des Solos; performative
Konventionen; usw.) verstoßen (handwerklich-technische Fehler). Dies sind Fehler,
die aufgrund von Unvermögen zustande kommen.
– Man kann ästhetische Fehler machen, indem das, was man spielt, in einem spezi-
fischen Kontext uninteressant, langweilig oder inkonsequent ist.49
In beiden Fällen gibt es jedoch keine guten Gründe, um von einer Ästhetik der
Unvollkommenheit zu reden. Denn nicht nur können auch die Kompositionen und
deren Aufführungen im Rahmen der Tradition der klassischen Musik in dem Sinne
imperfekt sein, dass sie Fehler haben können. Es wäre übrigens auch unklar, wa-
rum und in welchem Sinne die Unvollkommenheit des Fehlers geschätzt werden
sollte. Es ist daher unverständlich, inwiefern Jazz (sowie andere improvisatorische
Praktiken) das Etikett Ästhetik der Unvollkommenheit besonders verdient. Die Auf-
führung einer klassischen Komposition und die improvisierte Jazzperformance
wären durch die Möglichkeit des Fehlers nicht zu unterscheiden: Das Etikett der
Unvollkommenheitsästhetik ist in beiden Fällen unangemessen, da Fehler in beiden
Praktiken, wenn auch möglich, lieber zu vermeiden sind.50
Die einzige Rechtfertigung der These der Unvollkommenheitsästhetik wäre tat-
sächlich die Feststellung, dass, wenn einmal ein Fehler während einer Aufführung
gemacht ist, es (oft) unangemessen ist, die Aufführung zu unterbrechen. Man
macht eher mit dem Spielen weiter. Laut Pianist Uri Caine beschränkt sich da-
her die These der Unvollkommenheitsästhetik bloß auf die Anerkennung, dass man
in einer musikalischen Aufführung, egal ob improvisiert oder nicht, Fehler ma-
chen kann.51 Denn jede live-Aufführung in allen performativen bzw. darstellenden

49 Vgl. Rinzler: The Contradictions of Jazz [Anm. 3], 146 f.


50 Peter Rüedi: Jenseits des Denkens [Anm. 36] beschreibt den »Impetus der Improvisation«
als »gegen die Perfektion gerichtet« (62) und schreibt: »Als Vorgang im Strom der Zeit widersetzt
sich die Improvisation zudem, auch davon wird zu reden sein, allen Vorstellungen von Perfek-
tion, von der eine die Originalität ist. Der Satz des Pianisten Kenny Barron ist mir unvergesslich:
›If you don’t make mistakes, you don’t play Jazz‹« (53; was freilich nur für Improvisation gilt, die
von Vorgaben ausgeht: Wo alles erlaubt ist, gibt es auch keine Fehler). Jazz ist und das ist nun
allerdings wieder eine Qualität, oft virtuos, aber unvollkommen. Fragmentarisch per definitio-
nem.« Rüedis Gedanken sind für die Missverständnisse der Unvollkommenheitsthese paradig-
matisch. Wir haben eben gesehen, dass Prozesse auch perfekt (vollkommen, wohlgeordnet,
strukturell gelungen) sein können und dass auch Improvisationen ohne deutliche Vorgaben
misslingen können. Improvisationen können original sein, und dies kann auch davon abhängen,
dass die Performer einen musikalischen Zug nicht als falsch bzw. als Fehler, sondern als genau
richtig in dem in der Echtzeit sich entwickelnden ästhetischen normativen Rahmen ansehen.
Dies werden wir im folgenden Abschnitt erörtern. Damit wird sich auch zeigen lassen, dass
Fehler nur dann für Jazz wesentlich sind, wenn sie, dank der Veränderung des normativen Kon-
textes, gar keine Fehler sind. Dies ist genau das Gegenteil dessen, was die These der Unvollkom-
menheitsästhetik behauptet.
51 Persönliche Mitteilung (am 29. 01. 2010, nach seiner Performance im Jazz Club Turin).

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Jazz als gelungene Performance 121

Künsten bringt die konstitutive Möglichkeit der Erfahrung von Fehlern mit sich:
Im Gegensatz zu den bildenden Künsten, wo das Publikum fertige Kunstwerke als
Produkte und nicht Prozesse und Performances wahrnimmt, werden hier Fehler
bis zu einem gewissen Punkt toleriert.52
Unsere Bereitschaft, das Scheitern zu verzeihen, ist aber nicht grenzenlos. Ob
wir wirklich das Scheitern dulden, hängt davon ab, wie sehr die Performance miss-
lingt und welche Ansprüche wir haben. Zwar kann eine Jazzimprovisation und
auch eine Jazzperformance in ihrer Ganzheit schief gehen (wie ich an anderer Stelle
selbst behauptet habe53). Jedoch ist Jazz nicht wesentlich anders als andere musika-
lische Praktiken dem Risiko des Scheiterns ausgesetzt. Auch komponierte Musik
ist dem Risiko des Fehlers ausgesetzt. In beiden Fällen kritisiert man den Fehler
als Fehler. Der Fehler wird betrachtet als etwas, das vermieden werden muss. So
verstanden, spielt der Fehler dieselbe Rolle im Jazz, die er in anderen Musikprak-
tiken spielt, weshalb ein Rekurs auf ihn als Verteidigung einer Jazz-spezifischen
Unvollkommenheitsästhetik misslingt.
3.2. Nach einer solchen Argumentation bleibt aber noch unklar, warum Jazz-
musiker so großen Wert auf die Fehler legen. Als Rechtfertigung der Idee, dass
der Fehler dem Jazz wesentlich ist, könnte daher der zweite Versuch prima facie
erfolgreicher scheinen, die Frage nach dem Fehler als Argument für die Unvoll-
kommenheitsthese zu verwenden. Das Argument ist, wie schon gesagt, das folgende:
Nicht trotz seiner Imperfektionen, sondern gerade wegen wenigstens einiger seiner
Imperfektionen ist Jazz eine sehr wertvolle Kunst. Barron und Davis sollten gerade
dies gemeint haben: Das Unvorhersehbare, der Fehler, das Hindernis (etwas Ne-
gatives) werden zu positiven Anreizen der artistischen Kreativität. Um Jazz richtig
zu evaluieren, müsse man der Fähigkeit Rechnung tragen, durch kreativen Anreiz
das umzuwandeln, was sonst bloßer Fehler geblieben wäre. Um mit dem unge-
wollten Fehler umzugehen, ist man dazu gezwungen, musikalische Ereignisse zu
generieren, die nicht antizipierbar waren.54 Nicht die geplanten Lösungen, sondern
die unvorhersehbaren Probleme geben den kreativen Impuls.
Die Ästhetik des Jazz ist diesem Ansatz zufolge nicht nur in dem Sinne eine
Ästhetik der Unvollkommenheit, als man Situationen riskiert, in denen man scheitern

Vgl. auch Rinzler: The Contradictions of Jazz [Anm. 3], 151.


52 Die Aufnahmen, wenn es welche gibt, dienen eventuell gerade dazu, einen Rückzieher
zu machen: Indem man den Fehler wiederholt anhört, kann man dessen Ursache verstehen und
sich in den folgenden Auftritten korrigieren. Außerdem kann man auch die Aufnahme verbes-
sern bzw. korrigieren. Man kann sagen, dass es keine Aufnahmen gibt, die in der Nach-Produk-
tion, d. h. nach der Aufführung, nicht modifiziert werden. Darin unterscheiden sich kompo-
nierte und improvisierte Musik aber wieder nicht.
53 Vgl. Bertinetto: Paganini Does Not Repeat [Anm. 7] und ders.: Improvisation  – Zwischen
Experiment und Experimentalität?, in: Experimentelle Ästhetik – Akten des VIII. Kongresses der Deut-
schen Gesellschaft für Ästhetik (http://www.dgae.de/kongress-akten-band-2.html).
54 Vgl. Richard K. Sawyer: Improvisation and the Creative Process: Dewey, Collingwood, and the
Aesthetics of Spontaneity, in: JAAC 58, 149-161, hier 152; Brown: Musical Works [Anm. 1], 365;
Sparti: Suoni inauditi [Anm. 16], 199.

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122 Alessandro Bertinetto

kann, dieses Risiko aber trotzdem per se gut ist. Vielmehr ist die Ästhetik des Jazz
eine Unvollkommenheitsästhetik, gerade weil Jazz die Unvollkommenheit ausnutzt und
das Negative ins Positive umwandelt.
Die These, dass man im Jazz den Fehler nicht bloß dulden, sondern ausnutzen
kann, ist plausibel. Man muss sie aber genau erklären und artikulieren, um ihr
Potential für die Jazz­ä sthe­tik richtig zu verstehen. Dieses Potential ist nicht im
Sinne der Unvollkommenheitsthese verwendbar. Um klar zu machen, warum dies so
ist, muss man also die entscheidende Frage der Normativität, ausgehend vom Jazz
und im Jazz, angehen. Ich bin der Meinung, dass die Unvollkommenheitsästhetik die
Bedeutung der Fehlerfrage falsch versteht, weil sie mit der Normativitätsfrage un-
befriedigend umgeht.

V. Jazz und Normativität: Warum die Wrong Notes richtig sind

1. Der Begriff Fehler existiert in verschiedenen Domänen. Das Verständnis seiner


Bedeutung setzt jedoch auf jeden Fall im Allgemeinen die Idee einer normativen
Ordnung voraus. Was ist also ein Fehler? Fehler kann man allgemein definieren
als die Abweichung von vorgegebenen Forderungen oder Normen bzw. als die
»Nichterfüllung einer Anforderung«, d. h. einer »Erwartung, […] die festgelegt,
üblicherweise vorausgesetzt oder verpflichtend ist«.55 Um eine Tatsache (oder ein
Ereignis) als Fehler zu bezeichnen, braucht man also einen Kontext von normati-
ven Voraussetzungen bzw. Kriterien und entsprechenden Erwartungen, vor deren
Hintergrund die Tatsache (bzw. das Ereignis), die (oder das) nicht in diesen Kon-
text passt, als Fehler klassifiziert wird. Das Auftreten eines Fehlers stellt in Bezug
auf die normativen Erwartungen einen Mangel dar: Denn die Folgen eines Fehlers
sind in der Regel im bestehenden normativen Rahmen unerwünscht.
Auch im Bereich der Kunst wird in diesem Sinne von Fehlern gesprochen. Wie
wir schon oben gesehen haben, sollte man jedoch zwei verschiedene Arten von
Fehlern unterscheiden: Technische Fehler, d. h. Fehler, die auf Grund eines Unver-
mögens zustande kommen, und ästhetische Fehler, d. h. Züge und Momente eines
Kunstwerkes oder einer Aufführung, die in einem spezifischen Kontext als unan-
gemessen empfunden und beurteilt werden.
Es gilt zu verstehen, inwiefern ein artistischer und insbesondere ein musikali-
scher Zug als ästhetischer Fehler verstanden werden kann. Die Antwort auf diese
Frage scheint einfach. Dies hängt davon ab, ob er die Folge eines technischen Feh-
lers ist und/oder er den normativen Voraussetzungen der jeweiligen Praktik bzw.
der Erwartungen von Performer, Mitspieler und Zuhörer nicht entspricht.
Es ist jedoch falsch, dass ein unerwarteter und normativ unvorhergesehener Zug
als solcher ein ästhetischer Fehler ist. Originelle Kunstwerke weichen mehr oder

55 Diese Definition stammt aus dem Deutschen Institut für Normung, DIN EN ISO 9000:
2005 Qualitätsmanagement – Grundlagen und Begriffe, Punkt 3.6.2.

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Jazz als gelungene Performance 123

weniger vom Kanon ab, d. h. von etablierten normativen Ordnungen. Man kann
sogar sagen: Jedes Kunstwerk tut das und in diesem Sinne ist jedes Kunstwerk ori-
ginell. Die Abweichung vom Kanon ist also per se nicht die Ursache des Scheiterns
eines Kunstwerkes. Die Originalität eines Kunstwerkes wird im Gegenteil als ei-
ner der Gründe seines ästhetischen Wertes hoch geschätzt.56 Gegen die normati-
ven Voraussetzungen und die Erwartungen zu spielen ist daher kein spezifischer
Zug von Jazz und improvisatorischer Praktiken: Es ein Zug von Kunst überhaupt.
Die atonale Musik kann dann tatsächlich falsch klingen, nämlich für Ohren, die
an der tonalen Musik attuned sind. Atonale Musik ist jedoch deswegen nicht fehler-
haft. Auf ähnliche Weise gilt dies für die wrong notes etwa eines Thelonious Monk.
Diese berühmten falschen Noten sind Noten, die zu der allgemeinen Tonalität des
Stückes oder dem unterliegenden Akkord im Widerspruch stehen oder die einfach
verstimmt sind (d. h. sie stehen in Widerspruch zum temperierten System). Nun
sind diese Noten nur deswegen wrong, weil sie einem bestimmten System von Er-
wartungen nicht entsprechen. In einem veränderten normativen Kontext stimmt
gerade das, was Monk über die von ihm verwendeten falschen Noten sagt: »wrong
is right«.57 Etwas, das in einem alten oder etablierten normativen Kontext falsch
(wrong) ist, ist richtig (right), d. h. ist gar kein Fehler, falls es dazu beiträgt, die nor-
mative Ordnung zu verändern. Eine wrong note ist die Ursache und gleichzeitig das
Zeichen der Transformation bzw. der Umgestaltung ästhetischer Normen.
Deswegen ist unsere Erklärung des Begriffs ›Fehler‹ im Bereich der Kunst und
des Jazz noch unvollständig. Ein Fehler ist nicht nur etwas, das in eine bestimmte
normative Ordnung nicht passt: Es ist etwas, das in eine normative Ordnung nicht
passt und, aus irgendwelchen Gründen nicht dazu beiträgt, diese normativen Voraussetzun-
gen zu verändern. Man kann Züge unternehmen, die in der bestehenden normativen
Ordnung als technische und/oder ästhetische Fehler zählen würden, die sich aber
im neuen Kontext, in dem sie dazu beitragen, die alte ästhetische Normativität zu
verändern, als technisch und ästhetisch richtig erweisen können.
Das passiert mit den wrong notes, deren Falschheit man deswegen mit guten Grün-
den zurückweisen kann. Art Tatum hat in diesem Sinne Recht: Er soll gesagt ha-
ben: »There’s no such thing as a wrong note. It all depends on how you resolve it.«
Oder, mit Bill Evans’ Worten: »There are no wrong notes, only wrong resolutions«.
Und derselbe Gedanke wird von Miles Davis auf folgende Weise ausgedrückt 58:
»There are no wrong notes in jazz: only notes in the wrong places.« Etwas (eine
Note, ein Akkord, etc.) ist ein Fehler (d. h. es ist wrong) nur dann, wenn es in ei-
nem unpassenden normativen Kontext (»a wrong place«) stattfindet, ohne diesen

56 Originalität ist Teil des artistischen Wertes eines Kunstwerkes bzw. einer Performance,
weil Kunstwerke und Aufführungen Leistungen bzw. Errungenschaften sind. Dazu Jerrold Le-
vinson: Elster on Artistic Creativity, in: The Creation of Art – New Essays in Philosophical Aesthetics,
ed. by Berys Gaut and Pasley Livingston, Cambridge 2003, 235-256.
57 Zit. in Rinzler: The Contradictions of Jazz [Anm. 3], 55.
58 Vgl. http://www.bryanjudkins.com/post/149429495/there-are-no-wrong-notes-in-jazz-
only-notes-in (zuletzt aufgerufen am 31. 8. 2013).

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124 Alessandro Bertinetto

Kontext auf eine solche Art und Weise zu verändern, dass er als genau richtig er-
scheint (d. h., es wird nicht gut aufgelöst). In diesem Fall, wenn die Veränderung
des normativen Rahmens scheitert, kann man wohl mit Monk ausrufen 59: »I played
the wrong wrong notes.«
Genauso wie im Fall von komponierter Musik muss man im Jazz darauf achten,
richtige und passende evaluative Kriterien zu verwenden. Wenn man stilistische
Züge, die im Jazz ästhetisch bedeutend sind, als Fehler bezeichnet, beruft man
sich auf falsche Kriterien. Man soll stattdessen jede Praktik mit den zu der Praktik
passenden Normen beurteilen. In einem anderen Bereich, demjenigen der Male-
rei, hat auch Picasso etwas zu diesem Thema zu sagen. Als man sein Portrait von
Gertrude Stein kritisierte, weil das Gemälde – eines der Ergebnisse von Picassos
Auseinandersetzung mit der afrikanischen Kunst – nicht seinem Vorbild ähnelte,
soll Picasso folgendes geantwortet haben: »Vous verrez, elle finira par lui ressem-
bler«. Picasso meinte, um die Ähnlichkeit anzuerkennen, soll man sich auf andere
ästhetische Kriterien berufen: In diesem Fall auf die neuen ästhetischen Kriterien
von Picassos Avantgarde-Malerei.
Was geschehen kann, wenn man eine Praktik mit inadäquaten Kriterien evalu-
iert und beurteilt, zeigt Hans Groiner in wirksamer, humoristischer, ja ironischer
Weise, indem er Monks wrong notes korrigiert, d. h. richtig macht.60 Die Tatsache, dass
diese Korrektur ganz verfälschend klingt, zeigt, dass das, was ästhetisch richtig oder
unrichtig (bzw. fehlerhaft) ist, vom normativen ästhetischen Kontext abhängt. Im
Groiners Monk verbessernder Interpretation findet ein deutlicher Konflikt zwischen
zwei normativen ästhetischen Ordnungen – derjenigen des Jazz und derjenigen der
klassischen Musik – statt, woraus man – auch dank des allgemeinen Kontextes des
Videoclips – die komische Absicht der Performance leicht verstehen kann. Man
hört diese Korrektur von Monks wrong notes nicht als seriös, sondern als ein komi-
sches und lustiges Divertissement, d. h. als einen absichtlichen Scherz, der durch
die Umkehrung von Monks mistakes zeigt, dass die mistakes in Monks Musik keine
Fehler sind bzw. bleiben.
Ein wichtiger und damit zusammenhängender Punkt ist der folgende. Interes-
santerweise kann auch die Tatsache, dass etwas als Fehler erscheint, uns bewusst
machen, dass vor dem Hintergrund normativer Voraussetzungen agiert bzw. geur-
teilt wird. Wie Picassos Beispiel gezeigt hat, geschieht dies häufig im Bereich der
Kunst und der Kunstgeschichte und der Jazz ist dafür exemplarisch. Gerade die
Tatsache, dass ein artistischer bzw. ein musikalischer Zug als Fehler anerkannt und
bezeichnet wird, offenbart, dass auch die scheinbare Abwesenheit von expliziten
normativen Voraussetzungen (wie im Free Jazz) doch eine gewisse Normativität als
ästhetische Gelungenheitsbedingung der Aufführung bzw. des Kunstwerkes ver-

59 Zit. in Allen Shawn: Arnold Schoenberg’s Journey, Cambridge, MA 2003, 105.


60 Hans Groiner: The Music of Thelonious Monk, episode 1: http://www.youtube.com/
watch?v=51bsCRv6kI0, 2007 (zuletzt aufgerufen am 30. 8. 2013).

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Jazz als gelungene Performance 125

birgt. Ornette Coleman sagt diesbezüglich61: »From realizing that I can make mis-
takes, I have come to realize that there is an order to what I do«. Die Fehler lassen
also nicht nur die strukturellen Voraussetzungen einer Performance, sondern auch
die ästhetische Normativität, der die Performer mehr oder weniger bewusst folgen,
retrospektiv erscheinen. Und dies gilt natürlich auch, wenn die Normativität ohne
Normen ist 62 bzw. im Flux in fieri ist, wie im Fall der Improvisation.
Wie jetzt jedoch klar sein sollte, ist diese Auffassung der reziproken Beziehung
von normativer Ordnung und Fehler noch zu statisch. Normative Ordnungen
und Fehler gestalten auch, und wesentlich, eine dynamische reziproke Beziehung.
Deswegen können ›Fehler‹ »als Generatoren neuer Lösungen« 63 kreativ wirken. Dies
geschieht besonders gut, falls man auf das Unerwartete vorbereitet ist. Die norma-
tiven Rahmen verändern sich in diesem Fall. Dies geschieht z. B. dann, wenn ein
musikalisches Ereignis E1, das zum Zeitpunkt t1 als Fehler gilt, zum Zeitpunkt t2
kein Fehler mehr ist. Dies ist wiederum dann möglich, wenn sich durch das Ereig-
nis E2, mit dem man auf E1 reagiert, die Normativität der Performance geändert
hat und retrospektiv auch E1 einen anderen Sinn bekommen hat. Dies­bezüglich ist
es ganz treffend, wieder auf ein Zitat von Miles Davis zu rekurrieren 64: »It’s not the
note you play that’s the wrong note – it’s the note you play afterwards that makes
it right or wrong«.
Dies ist ein Gemeinplatz des Jazz. Don Byas berichtet, dass Art Tatum ihm ge-
nau dasselbe beigebracht hatte 65:

»Don, don’t ever worry about what you’re going to play or where the ideas are go-
ing to come from. Just remember there is no such thing as a wrong note. […] What
makes a note wrong is when you don’t know where to go after that one. As long as
you know how to get to the next note, there’s no such thing as a wrong note. You
hit any note you want and it fits in any chord.« Und Don Byas fügt hinzu: »And
that’s right! There is no such thing as hitting a wrong note. It’s just that when you
hit that wrong note, you’ve got to know how to make it right. That’s when the
doors started opening for me musicwise. […] There’s no way you can hit a wrong
note, as long as you know where to go after. You just keep weaving and there’s no
way in the world you can get lost. You hit a tone. If it’s not right, you hit another.
If that’s not right you hit another one, so you just keep hitting. Now who’s going to
say you’re wrong? You show me anybody who can prove you’re wrong. As long as

61 Zit. in Rinzler: The Contradictions of Jazz [Anm. 3], 193.


62 Ich entnehme diese Redewendung Georg Bertram: Improvisation und Normativität, in: Im-
provisieren – Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis, hg. von Hans-Friedrich
Bormann, Gabriele Brandstetter und Annemarie Matzke, Bielefeld 2010, 21-40, hier 36.
63 Dell: Die improvisierende Organisation [Anm. 34], 384.
64 Vgl. http://www.bryanjudkins.com/post/149429495/there-are-no-wrong-notes-in-jazz-
only-notes-in (zuletzt aufgerufen am 30.8.2013)
65 Zit. in Arthur Taylor: Notes and Tones – Musician-to-Musician Interviews, New York 1993,
52.

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126 Alessandro Bertinetto

you keep going you’re all right, but don’t stop, because if you stop you’re in trouble.
Don’t ever stop unless you’re at a station. If you’re at a station then you stop, take a
breath and make it to the next station«.

Nicht nur sind absichtliche Fehler wie die wrong notes oder Monks verrückter laid-
back-Rhythmus keine Fehler: Sie sind einfach Züge, die die Veränderung der Nor-
mativität verursachen und zeigen, dass die Aufführung bzw. das Kunstwerk auf
Basis einer anderen ästhetischen Normativität betrachtet und evaluiert werden soll.
Auch unabsichtliche ›Fehler‹ können sich, falls die Musik von keinem festen Plan
geregelt ist, als Ressourcen erweisen, falls man darauf angemessen reagiert und neue
Stationen bzw. neue normative Kontexte durch die Fehler gestaltet. »Accomplished
jazz musicians« – so Mary Jo Hatch – »know that mistakes are defined by their con-
text, so, if someone plays a wrong note, changing the context can save the situation
and, in the best cases, produces a novel idea.« 66 Dies ist der richtige und fruchtbare
Sinn von Gioias These, dass die Improvisation sich retrospektiv und (wenigstens
teilweise) autonom und »autopoietisch« 67 gestaltet und normiert: Dass dieser Ge-
danke keinen Anhaltspunkt für die Thesen der Unvollkommenheitsästhetik bieten
kann, sollte schon klar sein: Ich werde diesen wichtigen Punkt weiter erklären.
Nehmen wir als Beispiel einen typischen Fall im Jazz: die interaktive Perfor-
mance einer Jazzcombo. Hier, nehmen wir an, spielt der Pianist einen falschen
Akkord, d. h. einen Akkord, der die Harmonie des Stücks verletzt; oder der So-
list spielt, ohne die rhythmischen Strukturen der Musik zu berücksichtigen. Die
Musik könnte in beiden Fällen einfach ästhetisch missfallen. Nun kann es jedoch
sein, dass dasjenige, was außerhalb dieses performativen Zusammenhangs als ein falscher
Schritt erscheinen würde, von den Mitspielern (oder auch nur einem der Mitspieler)
aufgenommen wird. Plötzlich ist die Musik wieder, wenn auch anders, ästhetisch
richtig. Nicht nur das: Sie ist auf überraschende Weise richtig.
Was ist passiert? Die Reaktion, bzw. die Interaktion, hat dem Ereignis eine an-
dere, vorher unvorhersehbare ästhetische Bedeutung zuerkannt, indem es als Auf-
forderung (affordance) und nicht als Hindernis aufgegriffen wurde.
Herbie Hancock erzählt von einem Fehler, den Miles Davis als Gelegenheit für
eine musikalische Invention genutzt hat 68: »The music was building, the audience

66 Mary Jo Hatch: Exploring the Empty Spaces of Organizing – How Improvisational Jazz Helps
Redescribe Organizational Structure, in: Organizational Improvisation, hg. von Ken N. Kamoche,
Miguel Pina e Cunha und João Vieira da Cunha, London /New York 2002, 71-92, hier 77. Vgl.
auch Dell: Die improvisierende Organisation [Anm. 34], 170 und 278.
67 Über den Begriff ›Autopoiesis‹ vgl. Humberto Maturana und Francisco Varela: Autopoiesis
and Cognition – The Realization of the Living, Dordecht 1980. Dieser Begriff wird auf die perfor-
mativen Künste insbesondere von Erika Fischer-Lichte in ihrer Ästhetik des Performativen (Frank-
furt a. M. 2004) angewendet. Insbesondere auf die Improvisation wird der Begriff Autopoiesis
u. a. von Edgar Landgraf (Improvisation as Art, London 2011) angewendet. Vgl. auch Alessandro
Bertinetto: Improvvisazione e formatività, in: Annuario filosofico 25 (2009), 145-174, hier 155-177.
68 Zit. in Gary Eskow: Herbie Hancock, in: Mix 1 (2002); vgl. Sparti: Suoni inauditi [Anm. 16],
184.

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Jazz als gelungene Performance 127

was right there with us, and at the peak of Miles’ solo on So What I played a really
wrong chord. Miles took a breath and played a phrase that made my chord right.
Miles didn’t hear it as wrong, but instead as something that happened.« Hancocks
Fehler war kein Fehler für Miles, sondern etwas, das geschehen ist.69 Aus der Au-
ßenperspektive betrachtet ist der Fehler einfach gerechtfertigt oder gerettet. Aus der
Innenperspektive ist er jedoch vielmehr ein Moment der Entwicklung von ästhe-
tischer Normativität durch die Rückkoppelung von Situation und Norm. Dass die
Improvisationskünste und auch der Jazz einer retrospektiven Logik folgen (Gioias
These), ist also genau richtig. Jedoch weit davon entfernt, ein Fall von Unvollkom-
menheitsästhetik zu sein, ist dies das paradigmatische Beispiel einer Normativität, die
sich (auch) in der Echtzeit auf baut und verändert: Denn die ästhetischen Kriterien
ihres eigenen Gelingens werden selbst in der Echtzeit bzw. im Verlauf der Perfor-
mance festgestellt und etabliert.
Auf diese Weise kann man das Rätsel des scheinbaren Widerspruches zwischen
zwei berühmten Aussprüchen von Miles Davis auflösen. Miles Davis widerspricht
sich gar nicht, wenn er einerseits sagt, dass Jazz von (kreativen) Fehlern lebe, und
anderseits, dass man keine Angst vor Fehlern zu haben brauche, da es sie nicht
gebe: Jazz speist sich aus relativ unerwarteten Zügen, die in anderen normativen
Kontexten bzw. aus der äußerlichen Perspektive als mistakes (wrong notes) erscheinen
(können). Das Eigene von Jazz ist es, gerade diese Züge als Aufforderung für kre-
ative Inventionen zu nehmen. Auf diese Weise gibt es keine Fehler an sich im Jazz
als Improvisationskunst. Denn jedes emergente, unvorhergesehene Ereignis kann
aus der inneren Perspektive der Performance als Material zur Gestaltung neuer äs-
thetisch normativer Kontexte verwendet werden.
Ich will dies an einem musikalischen Beispiel zeigen. Das Beispiel wird in einem
Aufsatz gegeben, der die Performance von In Walked Bud (1958) aus dem Album
Misterioso von Thelonious Monk analysiert.70 In dieser Aufnahme kann man hö-
ren, wie Monk, nachdem Griffin sein großartiges Solo beendet hat, anfängt, auf
seine typische Art und Weise Klavier zu spielen. Auf einmal stolpert er sozusagen
über sich selbst. Der Punkt ist nicht auffällig, gerade weil Monk das Geschehen
sofort als Aufforderung zur Kreativität verwendet; aus dem Vergleich mit ande-
ren Performances des Stücks wird aber deutlich, dass sich durch diese spezifische
Situation der ästhetisch-normative Rahmen bewegt hat. Bedeutsam ist eben die
Tatsache, dass wir durch einen Vergleich mit anderen Performances, d. h. aus der
äußerlichen Perspektive des Beobachtenden, das Ereignis als Fehler wahrnehmen,

69 Ein unvorhersehbares Ereignis, das mit einer anwesenden systematischen Ordnung und
deren vorausgesetzten Normativität eher inkompatibel und unerklärbar ist, kann auch ›Emer-
genz‹ genannt werden, wenn, wie im Fall der Improvisation, es in einem Prozess stattfindet, der
in der Echtzeit abläuft. Aus emergenten Ereignissen können sich neue normative Ordnungen
retrospektiv und ›autopoietisch‹ gestalten. Über den Zusammenhang von Improvisation und
Emergenz vgl. Dell: Die improvisierende Organisation [Anm. 34]; Mathias Maschat: Performativität
und zeitgenössische Improvisation, in: kunsttexte.de/auditive_perspektiven 2 (2012).
70 Misterioso, Riverside Records 1959 (US RLP 1133).

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128 Alessandro Bertinetto

während aus der Teilnehmerperspektive es vielmehr etwas Unvorhersehbares ist,


das einfach geschehen ist. Die Autoren des Aufsatzes »Plans, takes, and ›mis-takes‹«
schreiben dazu71:
»Figure [1…] offers a transcription of the marked performance from 1958. Simi-
lar to the other two in its basic melodic and rhythmic structure, the most apparent
difference is the divergent note in L6 (on the Misterioso recording, the transcription
begins at 6:53, and the mis-take happens at 7:04). The triplet figure is shifted up a
whole-step on the keyboard. Instead of playing A flat at the start of the triplet, Monk
plays a B flat. It breaks the triplet pattern found throughout all the themes, and the
intriguing changes that both precede and follow the irregular note make it worthy
of analysis. […] Monk uses the tension and dissonance of the mis-take to develop
what follows: he ›saves‹ the mis-take by introducing half-step dissonance (minor sec-
onds chords consisting of two notes played a half-step apart) that alter the rhythm
of the pattern and echo the dissonance that looms from Monk’s original mis-take.
The use of half-step dissonance plays a dominant role from lick six through the end
of the solo. […] The general pattern that emerges after the mistake creates a new
environment enabling the hearer to locate the mistake as the beginning of a larger
pattern that fuses the dissonance of the mistake with the existing melody. Monk
creates a coordination of parts and a whole in which a future following a mistake
has the opportunity to reshape the past preceding the mistake. Following his mis-
take, Monk does not continue the pattern set by the unmarked theme. The jarring
dissonance of the mis-take seems to reconstruct his improvisational plan; it prompts
him to change the normal pattern by developing new melodic ideas. The mis-take
becomes not so much a momentary interruption of his improvisational imagination
as an occasion for a new take, a reconceptualization of where he is going melod-
ically and harmonically, one that swallows the mis-take by developing the harsh
dissonance of the wrong note. In L7 and L8, Monk increases the amount of tension
and dissonance and transforms the mis-take into a seemingly intentional aspect of
the dissonant pattern.«
Dies bestätigt, was Miles Davis, Thelonious Monk, Art Tatum, Don Bias, Bill
Evans (und andere) über Fehler im Jazz sagen. Dass Fehler, wenn sie einmal ge-
macht worden sind, unter allen Umständen Fehler bleiben, ist falsch. Man sollte die
Sache eher so ausdrücken: Fehler ist das, was im Verlauf der Performance Fehler bleibt.
Und ein Fehler ist ein Fehler, falls sich die von der Performance vorausgesetzte äs-
thetische Normativität nicht ändert. Ein kreativer »Fehler« ist gar kein Fehler, sondern
ein Impuls für eine unvorhersehbare Änderung der ästhetischen Normativität im Verlauf der
Performance. Die philosophische Tragweite dieser Idee kann (u. a.) mit Wittgenstein
und Derrida ausgelotet werden.

71 Nathaniel Klemp, Ray McDermott, Jason Raley, Matthew Thibeault, Kimberly Powell
und Daniel J. Levitin: Plans, Takes, and ›Mis-take‹, in: Critical Social Studies 1 (2008), 4-21, hier
12-15.

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Mit Wittgenstein kann man folgendes sagen: Kein Einzelereignis ist eine Norm,
aber es ist aus einem Netz normativer Voraussetzungen verstehbar. Dies heißt
aber nicht, dass etwas, das gegen die Normen oder jenseits der Normen ist, not-
wendigerweise einen Fehler (oder sogar ein Scheitern) enthält. Die Normanwen-
dung ist situationsspezifisch und das heißt: Man erkennt eine Norm an bzw. nimmt
Bezug auf die Norm immer in einer spezifischen Situation und dadurch kann
die Norm sich ändern. Und diese Änderung bringt wiederum die Stiftung ei-

»In Walked Bud« (drei Aufnahmen, gespielt von Thelonious Monk). Copyright © 1957, 1958,
1959. Transkription: Nathaniel Klemp und Matthew Thibeault.

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130 Alessandro Bertinetto

ner weiteren Norm hervor. In diesem Sinne gilt, »we make up the rules as we go
along«.72 Die Anwendung einer Norm in der menschlichen Praxis bringt die prin-
zipielle Möglichkeit der Verhandlung dessen mit sich, was die Norm ist. Wird aber
die Norm verändert, dürfen wir das Ereignis, das zur Veränderung der Normati-
vität Anlass gegeben hat, nicht als Irrtum verstehen. Um das richtige Verständnis
des innerhalb der vergangenen normativen Ordnung unvorhersehbaren Ereignisses
zu gewinnen, muss sich das Kriterium der Evaluation ändern.
Mit anderen Worten: Eine gewisse Normativität steht zwar auf dem Spiel. Dies
ist aber nicht nur so zu verstehen, dass die Performance Kriterien des Gelingens und
des Scheiterns bzw. dessen, was falsch und richtig ist, voraussetzt. Vielmehr ist die
Normativität selbst dem Spiel der Performance unterworfen. Sie ist ein retrospek-
tives Produkt. Man kann und darf also die verschiedenen musikalischen Ereignisse
einer Jazzimprovisation nur retrospektiv evaluieren, weil man nicht vorher weiß, ob
die Normen, die anfänglich gelten, während und nach dem Prozess noch unver-
ändert bleiben werden.73
In dieser Hinsicht ist die Normativität der Aufführung von Kompositionen der
klassischen Musik vor der Aufführung (mehr) fixiert bzw. etabliert, während die
Normativität der Jazzperformance (und auch von anderer improvisierter Musik)
sich im Verlauf der Performance, im Zusammenhang mit deren jeweiliger unvor-
hersehbarer autopoietischer Gestaltung, wo die Form durch den und als Prozess
entsteht 74, entwickeln kann. Wenn die Planung situativ ist, ist man berechtigt, die
rigide Trennung von Improvisation und Norm radikal zu leugnen: »Die Ordnung
wird nicht vor, sondern während des Prozesses erzeugt« und die »Improvisation
wird selbst zur Norm«.75 Man ist daher berechtigt, von einer Prozessästhetik zu
reden, im Sinne einer dynamischen (Um-)Gestaltung von Normativität, die jazz-
spezifisch ist. Im Jazz geht es nämlich um eine Dialektik zwischen den bestehenden
Normen und der Normveränderung. Es geht um eine Dialektik, die im Verlauf
der Performance im Gang ist. Im Verlauf der durch Normen geregelten situierten
Performance wirken die Situationen auf die Normen zurück und gestalten sie (we-
nigstens potentiell) um. Diese Dialektik zieht auch die Zuhörer in sich hinein, da
sie, um die Performance richtig zu verstehen, in die Wechselwirkung von Norm
und Situation eindringen müssen.76

72 Ludwig Wittgenstein: Philosophical Investigations, Oxford 1953, § 83; vgl. Georg Bertram:
Kreativität und Normativität, in: Kreativität, hg. von Günther Abel, Berlin 2005, 273-283; ders:
Improvisation und Normativität [Anm. 62].
73 Vgl. dazu Bertinetto: Zwischen Experiment und Experimentalität? [Anm. 53], 4-7.
74 Vgl. Dell: Das Prinzip Improvisation [Anm. 33], 19: »Die Form entsteht aus dem Prozess
selbst, wobei dieser wiederum auf die Strukturen und Variationsprinzipien des Situationsfeldes
rekurriert.«
75 Dell: Die improvisierende Organisation [Anm. 34], 148, 24; vgl. 135.
76 Es geht um die Wechselbestimmung des emergenten Ereignisses und der Norm bzw.
zwischen der Anschlussf ähigkeit eines Geschehens und dessen Erfolg, die Gregory Bateson als
eine dynamische Spirale veranschaulicht. Von der äußerlichen Perspektive der Beobachtenden
erscheint die Spirale aber als ein Kreis, in dem die beiden Pole sich wechselseitig voraussetzen.

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Jazz als gelungene Performance 131

Man kann sich diesbezüglich auch auf einen Gedanken Derridas beziehen.77
Die Norm ist in jeder besonderen Situation durch ihre Anwendung suspendiert.
Das Misslingen ist also eine normativ »strukturelle Möglichkeit« 78 , die kreativ sein
kann. Nicht nur das: Normativität entsteht durch die Wiederholung des Differen-
ten, durch die eine Kontinuität (eine normative Gewohnheit) sich konstituiert, die
sich in jeder einzelnen Situation auf unvorhersehbare Weisen prinzipiell ändern
kann. Eine Norm kann deswegen aus einem wiederholten ›Fehler‹ (aus der Tatsa-
che, dass man einen Fehler als Anlass zur Kreativität nimmt) entstehen. Wie Miles
Davis außerdem gesagt haben soll: »If you make a mistake, repeat it. Then it’s not
a mistake anymore … it’s a part.«79 »It’s a part«, weil durch Wiederholung des ›Feh-
lers‹ deutlich wird, dass sich die normative Ordnung der Performance bewegt hat.
Es ist dasselbe, was auch Monk in der analysierten Aufnahme von In Walked Bud
macht: Er kehrt zum mis-take zurück, um den unerwarteten musikalischen Zug für
die Veränderung der Normativität der Performance kreativ zu verwenden.
Jazzimprovisation zeigt damit einen wichtigen Aspekt der Normativität von
menschlicher Praxis. Die Logik der Normativität von menschlichen Praktiken ist
dialektisch. Die performative Situation wird erst auf der Basis der Normativität
einer Praxis verstanden. Die Norm wird durch die reflexive Bezugnahme aus der
Situation, in der sie durch ihre Suspension angewendet wird, als Norm bestätigt
oder im Gegenteil verneint und verändert und wird entsprechend als Norm aner-
kannt oder eben nicht anerkannt. Um diese prozessuale Logik der Normativität zu
verstehen, muss man den Standpunkt der Teilnehmer einnehmen, d. h. man muss
den Prozess der Normkonstitution durch Normveränderung von seiner innerli-
chen Seite her betrachten. Sonst würde man bloß die Unvereinbarkeit zwischen
der normativen Ordnung und der besonderen Situation objektivieren: Die Unver-
einbarkeit könnte nur als Fehler verstanden werden. Man würde nicht die Art und
Weise verstehen, wie der Überschuss der besonderen Situation aus der Norm für
die Normativität konstitutiv sein kann. Mit anderen Worten, man könnte nicht
erfahren, dass das sonst als Fehler verstandene emergente unvorhergesehene Ereig-
nis die Normativität nicht nur ändern, sondern eben konstituieren kann. Nur aus
der internen Teilnehmerperspektive kann man diesen ›performativen Widerspruch‹
auf heben und auflösen. Einerseits betrachtet man die Fehler als Fehler, genauso wie

Für die Bedeutung dieses Bildes für das Verständnis der Kreativität vgl. Simone Marenholz:
Kreativität – Eine philosophische Analyse, Berlin 2011, 230.
77 Vgl. Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien
21999, 325-351. Dazu Georg Bertram: Die Dekonstruktion der Normen und die Normen der Dekon-
struktion, in: Philosophie der Dekonstruktion, hg. von Andrea Kern und Christoph Menke, Frankfurt
a. M. 2002, 289-310.
78 Derrida: Signatur [Anm. 77], 342.
79 Vgl. http://www.dansmithguitar.com/quotes.html (zuletzt aufgerufen am 30. 8. 2013). Im
Internet kann man weitere Versionen dieses Spruchs finden: »If you make a mistake, repeat it
and people will think you’re a genius«; »If you make a mistake, repeat it, and it will sound like
you meant it!« »If you make a mistake, repeat it, and it will sound deliberate.« »If you make a
mistake, repeat it - that’s called jazz«. Vgl. Rinzler: The Contradictions of Jazz [Anm. 3], 146-148.

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132 Alessandro Bertinetto

im Fall der auf das Ideal der ›Werktreue‹ gestützten Praktiken: Der Fehler muss also
vermieden werden. Andererseits – Miles docet – gibt es prinzipiell keine Fehler, da
jedes scheinbar falsche Klangereignis vom weiteren Verlauf der Performance auf
kreative Weise uminterpretiert werden kann.
Die kontextuell vorausgesetzte Normativität (konkreter: die Jazztradition, ein
Genre, ein Stil, eine harmonische Regel, eine formale Artikulation …), dank der
die Ereignisse Sinn haben, wird wirklich und wirksam nur dank der Anerken-
nung der Teilnehmer in der Situation, die in jedem Moment ausbleiben kann.
Die Normativität kann also in jedem Moment verändert werden, oder besser: Die
Normativität ist genau diese Veränderung.80 Die Möglichkeit des Fehlers (und des
Scheiterns) wird also zur konstitutiven und notwendigen (transzendentalen), ob-
wohl nicht hinreichenden Möglichkeitsbedingung des Gelingens einer Handlung,
einer Geste, einer Performance. Denn das Gelingen hängt von der Art und Weise
ab, wie die Normativität in einer spezifischen Situation aufs Spiel gesetzt wird und
von den am Spiel Teilnehmenden während des Spiels (wieder)hergestellt wird.81
Wenn das Geschehen gelingt, wird die Normativität als Repertoire von Grenzen
und auch von Möglichkeiten selbst durch ihre Verneinung bestätigt.
Die Tatsache, dass es keine unveränderbaren äußerlichen Evaluierungskriterien
für eine Praxis gibt bzw. dass der Fehler Bestandteil der artistischen Performance
ist, ist aber kein Passierschein für die Ästhetik der Unvollkommenheit. Es scheint viel-
mehr, dass man, um die Spezifizität der Ästhetik des Jazz genau zu verstehen, den
ästhetischen Begriff von Perfektion anders verstehen muss als den intellektualis-
tischen und formalistischen Begriff von Perfektion, den die ›Imperfektionisten‹
voraussetzen.

VI. Die ›Perfektion‹ des Gelingens im Jazz

Die These, die ich mit dem Schlagwort ›Perfektion als Gelingen‹ bezeichnen will,
lautet: Die Kriterien der ästhetischen bzw. künstlerischen Evaluierung einer Jazz
Performance sind – wenigstens zum Teil – nicht voretabliert und vorausgesetzt.
Sie werden sozusagen im Verlauf der Performance und im historischen Aufeinan-
derfolgen der verschiedenen Performances eines Stücks, eines Musikers oder eines
Ensembles sowohl bei den Musizierenden als auch bei den Zuhörern ausgehandelt
und anerkannt.
Ein Ereignis, das man vor der musikalischen Performance bzw. unabhängig
von einer spezifischen Performance als Fehler verstanden hätte, kann in der Per-
formance einen anderen Sinn annehmen. Deshalb kann die Frage nach der ästhe-
tischen Qualität der Performance (ungeachtet des Unterschieds zwischen Prozess
80 Für diese Formulierung bedanke ich mich bei Daniel M. Feige.
81 Ulrich Bielefeld: Die Form der Freiheit, in: Menschliches Handeln als Improvisation, hg. von
Ronald Kurt und Klaus Näumann, Bielefeld 2008, 67-97, hier 94: »Improvisatorisches Handeln
geschieht auf der Grundlage von Regeln, ist jedoch nicht deren Ausführung. Es verändert den
klassischen modernen Versuch, Regel und Ausführung zur Deckung zu bringen.«

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und Produkt) nicht immer oder nicht nur in Bezug auf etablierte Muster, Vorbil-
der, Kriterien oder Normen beantwortet werden. Die Tatsache, dass sich die Per-
formance an bereits etablierte Normen anpasst, ist weder hinreichend noch not-
wendig, damit die Performance als gelungen angesehen wird. Da die Normen, mit
denen man die Performance beurteilt, in jeder Situation möglicherweise variieren
bzw. immer wieder anerkannt und reflexiv bestätigt werden müssen, damit sie Gel-
tung haben, kann man von einer perfekt gelungenen Performance nicht in dem
Sinne reden, dass sie sich an vorbestimmte Normen vollkommen angepasst hat.
Genau in diesem Sinne ist man berechtigt zu sagen, dass, im Gegensatz zu eini-
gen Tendenzen der ›Westlichen klassischen Musik‹ (ich beziehe mich hier insbeson-
dere auf die schon erwähnte Tradition des Werktreue-Ideals), Jazz zu denjenigen
musikalischen Praktiken gehört, die die Bedeutung der Aufführung (der Situation) für
das Werk und für die ästhetischen Kriterien oder Normen explizit in der perfor-
mativen Praxis zeigen. Jede situierte Jazzperformance dient nicht ausschließlich
dem Werk (bzw. dem Standard) oder auch voretablierten ästhetischen Normen; sie
ist vielmehr Teil des Lebens eines Standards und trägt dazu bei, die ästhetischen
Kriterien zu verändern, mit denen man sowohl den Standard als auch die jeweilige
Performance evaluiert. Im Gegensatz jedoch z. B. zu einigen Tendenzen der soge-
nannten ›freien Improvisation‹, wo alle Beziehungen zwischen Improvisation und
Normativität für autoritär gehalten und entsprechend abgelehnt werden, zeigt Jazz
die Bedeutung der Norm (bzw. der Tradition) für die Situation. Es geht weder um die
Idee, dass ein Element sich dem anderen anpassen muss, noch um die Idee, dass gar
keine Beziehung besteht. Es geht um die Idee, dass diese Beziehung immer wieder
anders bestätigt oder eben nicht bestätigt wird. Weder ist der Raum des Norma-
tiven statisch, noch ist er inexistent. Einerseits kann die Performance auch jenseits
der oder gegen die Vorschrift einer Übereinstimmung zwischen Aufführung und
Komposition bzw. zwischen Situation und vorbestimmtem normativen Rahmen
gelingen; andererseits, um überhaupt gelingen oder scheitern zu können, setzt die
Performance einen normativen Rahmen voraus und zugleich fort und um.82
Dies hindert nicht daran, bezüglich der Jazzerfahrung von Perfektion (wenn die
Performance ganz gelingt) oder auch Imperfektion (wenn die Performance nicht
(ganz) gelingt) zu reden. Die Kriterien der Perfektion einer Situation sind aber
nicht der Situation äußerlich. Es geht um eine Art des Gelingens, die die Norm
der Perfektion potentiell immer wieder anders setzt. Zwischen einer der Ästhetik
des Gelingens entgegengesetzten Ästhetik des Werkes und der Perfektion und ei-
ner der Ästhetik des Werkes und der Perfektion entgegengesetzten Ästhetik des
unvorhersehbaren Gelingens der Improvisation besteht daher keine Entgegenset-
zung, keine schlichte und exklusive Alternative. Die Kriterien des vollkommenen
Gelingens einer performativen Situation bzw. eines Kunstwerkes werden in der

82 Man könnte diesbezüglich auch die integrative Dialektik Gadamerscher Art heranziehen.
Etwas in diese Richtung, im allgemeinen Rahmen der Kunstphilosophie, hat Daniel M. Feige
in seinem Buch Kunst als Selbstverständigung, Münster 2012, vorgeschlagen.

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Situation selbst bzw. durch das Werk selbst gesetzt. Die Verteidiger der Unvollkom-
menheitsthese setzen voraus, dass die formalistischen Kriterien der Vollkommenheit
(Symmetrie, Proportion, Gleichgewicht, etc.) geltend sind. Dass der formalistische
Begriff von Vollkommenheit in jeder artistischen und performativen Situation an-
wendbar sei, ist aber falsch. Der Fehler der Unvollkommenheitsthese besteht also da-
rin, dem Formalismus zuviel zu schenken. Die Jazzpraxis und ihre Weisheit zeigt
indessen, dass nur in einigen spezifischen Situationen und Jazzarten der formalis-
tische Vollkommenheitsbegriff wahr sein und wahr bleiben kann.83
Deswegen ist die Meinung des Musikwissenschaftlers und Komponisten Claus-
Steffen Mahnkopf, wenn auch in vielen Aspekten sehr nah an meiner These, doch
problematisch. Seine These ist folgende 84: »Die Komposition hat ihr Ziel im per-
fekten Kunstwerk; die Improvisation in der gelungenen Performanz. Perfekt heißt,
das alles sitzt, jede Note, jeder Klang, jede formale Weichenstellung, jeder Bezug,
jeder Kontrast. Kurz: Das perfekte Musikstück ist formal vollkommen. […] In der
Improvisation würde man nicht von Perfektion sprechen, denn Perfektion ist be-
zogen auf ein Muster, und genau darum geht es bei der Improvisation nicht. Da-
her die Rede von Gelungenheit. Doch was heißt das? Etwas gelingt, wenn etwas
entsteht, was selbst bei bester Vorbereitung und konstitutioneller Disposition nicht
vorprogrammiert werden kann. […] Perfektion ist nicht das Ideal der Improvisa-
tion. Diese freilich hat den Vorzug, ja die Gnade, erscheinen zu lassen, was sonst
nicht möglich wäre: das Einmalige, Spontane, das Zufallende bzw. Klangkomple-
xionen, die schlicht zu komplex sind, als dass man sie komponieren, erlernen oder
einüben könnte, sondern die man nur zulassen, provozieren, ausreizen, intensivie-
ren, zuspitzen kann. Die Tugenden lauten nicht, wie in der Komposition/Interpre-
tation, Zuverlässigkeit, Genauigkeit, Treue, Niveaukonstanz, sondern eher Mut,
Wagnis, Risiko, Exhibitionismus, Eigensinn.«
Diese strenge Entgegensetzung von Perfektion und Gelungenheit ist nicht über-
zeugend. Fraglich ist, ob sowohl Zuverlässigkeit, Genauigkeit, Treue, Niveaukon-
stanz als auch Mut, Wagnis, Exhibitionismus, Eigensinn per se – d. h. unabhängig
von jeglichem Kontext – positive und richtige Kriterien für die Evaluierung der
Ausführung einer Komposition bzw. einer Improvisation sind. Es ist erstens frag-
lich, ob sie unabhängig von einem normativen Kontext positiv sind bzw. ob die
Interpretation einer Komposition oder eine improvisierte Aufführung nur dann
gelingen, wenn sie sich den oben genannten Kriterien anpassen. Es ist jedoch auch
fraglich, ob die ersten Kriterien nur als Kriterien der perfekten Werkaufführung
verstanden werden können und die zweiten Kriterien nur als Kriterien des per-
formativen Gelingens zu verstehen sind, unabhängig von der Art und Weise, wie

83 Vgl. Luigi Pareyson: Estetica – Teoria della formatività, Milano 1988; Jean Starobinski: La
perfection, le chemin, l’origine, in: Starobinski en mouvement, sous la direction de Murielle Gagnebin,
Seyssel 2001, 471-492; G. E. Yoos: A Work of Art as a Standard of Itself, in: JAAC 26 (1967), 81-89;
Bertinetto: Improvvisazione e formatività [Anm. 63]; Bertinetto: Performing the Unexpected [Anm. 25].
84 Claus-Steffen Mahnkopf: Komposition und Improvisation, in: Nanz: Aspekte [Anm. 43], hier
91 f.

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man sich auf sie reflexiv bezieht. Unter welchen Bedingungen beispielsweise ist die
improvisierte Musik komplexer oder intensiver als die komponierte? Es kann wohl
der Fall sein, dass eine improvisierte Musik als zu einfach, zu unausgearbeitet, zu
oberflächlich erscheint. In diesem Sinne wurde manchmal der Jazz, oft unberech-
tigterweise, beurteilt. Der Punkt ist also vielmehr der folgende:
Einerseits hängt es davon ab, ob man eine improvisierte Jazzperformance als
gelungen oder misslungen versteht, wie sich die Normativität während des perfor-
mativen Spiels – oder während einer Folge von Aufführungen – entwickelt (hat).
Andererseits hängt die Entwicklung der Normativität davon ab, was sich in der je-
weiligen Spielsituation ereignet und wie sich der Gestaltungsprozess entsprechend
vollzieht. Es gibt daher keine absolute Garantie des Erfolgs einer Performance. Dies
ist kein unüberwindliches Hindernis für ihr Gelingen, sondern die strukturelle Vo-
raussetzung nicht nur des Jazz oder der improvisierten Musik, sondern der Kunst als
menschliche Praxis überhaupt.85 In der ästhetischen Erfahrung der Kunst nehmen
die Künstler und das Publikum Stellung zu der Möglichkeit und den Potentialen
des Unvorhersehbaren (bzw. des ›Fehlers‹) in den jeweiligen spezifischen Situatio-
nen: Jazz als auf der Improvisation basierte artistische Praxis hebt diese Rolle von
unerwarteten und ›emergenten‹ Vorkommnissen für die Entwicklung der ästheti-
schen Normativität hervor.
Inwiefern das Gelingen der Performance ›vollkommen‹ ist, kann nur aus der
Teilnehmerperspektive erklärt werden und nicht auf eine äußerlich beobachtende
und deskriptive Weise: Dies häng davon ab, welche Eigenschaften, Kriterien und
reflexiven Beziehungen sich in einer spezifischen Situation als relevant erweisen.
Dies bedeutet, dass man nicht zu abstrakten Kriterien greifen sollte, um eine Per-
formance zu beurteilen. Man sollte eher auf die einzelne Situation jeweils Bezug
nehmen, genauso wie die Musizierenden auf das musikalische Geschehen in ihrer
spezifischen Situation reflexiv Bezug nehmen müssen (und ihre Evaluation hat in
diesem Fall performatives Potential86). Genauso wie die Musizierenden, um sinn-
voll am Verlauf der Performance teilnehmen zu können, davon angesprochen sein
müssen, muss ich von den musikalischen Ereignissen der Performance angespro-
chen werden, um die Jazzperformance sinnvoll evaluieren zu können. Dies bietet
uns weder ein Rezept für das Verfertigen von Performances (und Kunstwerken)
noch eins für deren Evaluierung. Dies ist jedoch genau das, was in der ästhetischen
Erfahrung der Kunst sowohl aus der Perspektive der Produktion als auch aus der
Perspektive der Rezeption zu erwarten ist.87

85 Vgl. Georg Bertram: Kunst als menschliche Praxis – Eine Ästhetik, Berlin 2013; Daniel M.
Feige: Philosophie des Jazz, Berlin 2014.
86 Vgl. Stephen Nachmanovitch: Free play – Improvisation in Life and Art, New York 1990, 160;
Bertram: Improvisation und Normativität [Anm. 58], 30; Bertinetto: Improvisation – Zwischen Expe-
riment und Experimentalität? [Anm. 62], 5; Dell: Das Prinzip Improvisation [Anm. 33], 81, 166; Dell:
Die improvisierende Organisation [Anm. 34], 187, 365.
87 Diese These könnte mit kantschen Argumenten bezüglich des ästhetischen Urteils unter-
mauert werden. Das muss ich hier aber implizit lassen.

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VII. Konklusion

Die These der Ästhetik des Jazz als Ästhetik der gelungenen Performanz muss in
der Konklusion dieses Aufsatzes gegen mögliche Einwände verteidigt werden. Ich
werde drei davon erwähnen.
1. Man kann behaupten, dass jede improvisierte Performance sowohl im Jazz
als auch in anderen Kunstpraktiken und Kunstgenres sich auf schon etablierte und
akzeptierte Kriterien des Gelingens beruft; sonst hätte die Rede vom Gelingen
keinen Sinn. Mit den Worten des deutschen Free-Jazz-Spielers und Jazzsoziolo-
gen Ekkehard Jost 88: »Die Frage nach dem Gelingen einer Improvisation setzt das
Vorhandensein von Kriterien voraus, von allgemein akzeptierten Wertmaßstäben«.
Die Kriterien des Gelingens der Performance werden deshalb nicht im Verlauf der
Performance entwickelt. Sie machen vielmehr, zusammen mit spielerischen Kon-
ventionen und gattungsästhetischen Erwartungen, die normative Stütze der Per-
formance aus. Diesen Einwand können wir leicht beseitigen. Wahr ist: Sowohl die
Spieler als auch das Publikum können nicht umhin, sich auf Vorlieben, »psycho-
musikalische und soziale Bedürfnisse und Gewohnheiten« 89, erfahrungsbedingte
Erwartungen, kulturelle Konventionen, artistische Muster und bestehende ästhe-
tische Normen zu berufen. Was diese letzten angeht, geht es um genrespezifi-
sche Kriterien – die untereinander entgegensetzt sein können – wie Originalität,
Identität, Autonomie, Spontanität, sound, Einfallsreichtum, direction, Entwicklung,
Schlüssigkeit, Logik, Entspanntheit, Aussage, Angesprochensein, Klarheit, rhyth-
mische Energie.90
Die Genrespezifizität von Kriterien ist ein besonderer Fall der Tatsache, dass die
Normen einer Performance situationsspezifisch sind.91 Die Tatsache, dass jede Jazz-
performance irgendeine ästhetische Norm voraussetzt, wie es in jeder Kunstpraxis
der Fall ist, widerspricht also nicht der These, dass die Normativität sich im Verlauf
der Performance entwickelt. Denn die Normen sind reflexiv durch das in Frage
gestellt, was in der spezifischen Situation der Performance geschieht. Damit die
Normen gelten können, müssen sie bestätigt werden. Wie das Beispiel von Monk

88 Jost: Notizen zur Improvisation [Anm. 26], 160.


89 Ebd., 165.
90 Vgl. ebd., 162. Wie wir schon früher gesehen haben, verlangt jede Jazzart tatsächlich nach
eigenen Kriterien der Evaluierung. Vgl. Wolfgang Knauer: Noodlin’ and Doodlin’ and Playin’
Around… Zum sich wandelnden Selbstverständnis des Jazz als improvisierter Musik, in: Knauer: Impro-
visieren [Anm. 26]: 19-40, hier 23: »Wer […] den Bebop der 1940er Jahre nach den Regeln des
New-Orleans-Jazz bewertet, muss ein vernichtendes Urteil sprechen. Wer im Free Jazz partout
nach swing sucht, wird nun mal nicht überall fündig, wer Melodie, Thema und Harmoniefolge
benötigt, kann an einzelnen Entwicklungen dieser Musik verzweifeln. Wer schließlich in der
Fusion der 1970er Jahre eine Fortentwicklung jener Dinge sucht, die relativ stringent auf den
Free Jazz zugesteuert hatten – eben die Zunahme an Komplexität auf allen Ebenen – tut den
Musikern und ihrer Musik Unrecht.«
91 Über die Situationspezifizität der Evaluationsnormen von Kunstwerken vgl. u. a. Noël
Carroll: On Criticism, New York 2009.

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gezeigt hat, können diese Normen im Verlauf der Performance auch geändert bzw.
von anderen Normen auf unvorhersehbare Weise ersetzt werden.
Um die spezifische Normativität einer Performance oder eines Genres zu ver-
stehen, muss man die Teilnehmerperspektive einnehmen. Nur aus der Teilnehmer-
perspektive darf die Performance als gelungen oder misslungen beurteilt werden.92
Es handelt es sich also um ›situationsspezifische Normativität‹. Nehmen wir den Fall
von Free Jazz. Man kann seine ideale Normativität als das Prinzip der ›zweckfreien‹
Improvisation bezeichnen. Doch heißt dies nicht, dass die Vertreter von Free Jazz
nicht auch von Fall zu Fall über deutliche ästhetische Kriterien verfügen können.
Die Gültigkeit dieser Kriterien ist aber nicht unabhängig von der spezifischen Situ-
ation der Performance. Im Prinzip lässt sich deswegen »nahezu jedes positiv gepolte
Kriterium in ein negatives umdeuten«.93 Was positiv für die Performance x ist,
kann im Fall der Performance y negativ sein: Jede einzelne Performance entwickelt
eine eigene spezifische Normativität und erfüllt sie mehr oder weniger vollständig.
2. Man kann nun einwenden, dass oft nicht alle Zuhörer darin übereinstim-
men, dieselbe Performance als gelungen zu bewerten.94 Einige Zuhörer empfin-
den die Performance als gelungen, andere als gescheitert, einige als perfekt, wie-
der andere als nur in gewissen Hinsichten gelungen. Dies hängt davon ab, ob
man unterschiedliche Kriterien, unterschiedliche Tatsachen und unterschiedliche
Beziehungen von Tatsachen und Kriterien in Betracht zieht, weil man in jeweils
spezifischen Weisen von der Performance angesprochen wird und auf sie reflexiv
Bezug nimmt. Wie kann man also sicher sein, dass die Aufführung gelungen ist
und in welchem Maß?

92 Peter N. Wilson versteht die Sache nur teilweise richtig, wenn er schreibt: »Die Rede von
›gelungener‹ Improvisation ist so paradox nicht, wie es scheint. Doch von ›Gelingen‹ wäre […]
zu sprechen nicht im Sinne des ›Ertrags‹ einer Improvisation (der auch vor strengen Werk-Kri-
terien bestünde), sondern im Sinne eines ›Fluss‹-Zustandes, in den der Musiker gerät – und den
er mit seinen Zuhören zu teilen vermag« (Peter N. Wilson: Hear and Now – Gedanken zur impro-
visierten Musik, Hof heim 1999, 33). Hier wird der ›Fluss‹-Zustand wieder zu einem deskriptiven
äußerlichen Kriterium objektiviert. Wahr ist aber, dass sich nur in der Performance entscheiden
kann, ob der ›Fluss‹-Zustand wirklich als normative Bedingung bzw. als Richtmaß des Gelingens
der Performance gilt. Über den Begriff des ›Flows‹ vgl. Mihály Csíkszentmihályi: Creativity –
Flow and the Psychology of Discovery and Invention, New York 1996; David Borgo: Sync or Swarm –
Musical Improvisation and the Complex Dynamics of Group Creativity, in: Algebra, Meaning, and Com-
putation, hg. von Kokichi Futatsugi u. a., Berlin 2006, 1-24.
93 Jost: Notizen zur Improvisation [Anm. 26], 162.
94 Auf ähnliche Weise sind die Mitmusizierenden manchmal nicht darüber einig, ob und wie
gut eine Aufführung gelungen ist. Auch während des Verlaufs der Performance können sie die
musikalischen Ereignisse unterschiedlich empfinden und dementsprechend unterschiedliche
performative Züge unternehmen. Die Uneinigkeit zwischen den Musikern kann auch die Per-
formance zum Misserfolg verurteilen. Jedoch ist dies nicht immer der Fall: Der performative
Streit zwischen den Spielern bezüglich dessen, was und wie gespielt werden soll, kann wohl
auch – wenigstens bei Teilen des Publikums – ästhetisch positiv empfunden werden. Man kann
somit u. a. auch die Art und Weise würdigen, wie dasselbe Geschehen unter unterschiedlichen
spezifischen Normen verstanden und beurteilt wird.

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Die Antwort ist einfach. Selbst wenn man glaubt, dass »unter den Mitwirken-
den eines Konzerts kaum etwas schwerer herzustellen ist als ein Konsens über das
Gelingen oder Misslingen dieses Konzerts« 95  – was aber eigentlich übertrieben
scheint –, ist dies kein Hindernis für die hier verteidigte These, sondern eher eine
Tatsache, der diese These Rechnung trägt. Diese Situation ist eben der Erfahrung
der Kunst eigen96: Die faktische Uneinigkeit zwischen den Beurteilenden – die
Tatsache also, dass jeder Beurteilender sein Urteil für das richtige und allgemein-
gültige hält – hindert nicht daran, dass jede Einschätzung geändert werden kann,
falls der Beurteilende  – oft nach der Auseinandersetzung mit anderen Beurtei-
lenden – lernt, die Sache anders zu sehen bzw. zu hören.97 Im Prozess des Urteils
über die ästhetische Qualität eines Kunstwerkes können also auch die Kriterien
des Urteils geändert werden. Dies passiert, wenn der Beurteilende, getrieben von
der Auseinandersetzung mit den anderen Beurteilenden und mit dem Kunstwerk
selbst, die eigenen unreflektierten ästhetischen Vorlieben in Zweifel setzt, indem
er Eigenschaften und Aspekte des Kunstwerkes, die er vorher nicht wahrnehmen
konnte, jetzt entdeckt. Subjektive Präferenzen werden somit in Klammern gesetzt,
um »kunstspezifische Werturteile« 98 über die Gelungenheit oder die Misslungen-
heit des Werkes oder der Performance formulieren zu können. Die Evaluierung
des betreffenden Werks bzw. der betreffenden Aufführung verlangt den Ersatz von
solchen ästhetischen Normen, die irrigerweise vorausgesetzt wurden und die je-
doch für die spezifische Situation gar nicht passend sind. Das ästhetische Genießen
einer artistischen Aufführung besteht nicht nur in der Bestätigung der eigenen äs-
thetischen Vorstellungen, sondern auch darin, dass die eigenen Kriterien bei der
originellen Gestaltung des Kunstwerkes bzw. vom unerwarteten Verlauf der Auf-
führung überrascht werden (können).
Dies ist gewiss ein wichtiges Element der ästhetischen Erfahrung von Jazz. Dies-
bezüglich scheint aber die Spezifizität von Jazz verloren zu gehen. Nicht nur alle
Improvisationskünste, sondern alle Kunstformen (und nicht nur die Kunst) sind
normativ situationsspezifisch und ihr Gelingen oder Misslingen kann nicht aus-
schließlich auf der Basis von vorher etablierten Normen beurteilt werden.99 Das
ist die geläufige Situation im Fall der ästhetischen Beurteilung von Kunstwerken.
3. Im Sinne eines dritten Einwands gegen die von mir verteidigte These könnte
man daher die folgende Frage stellen: Was ist also an der Jazz­ä sthe­t ik spezifisch? Es
kann so aussehen, dass, nachdem einmal die These der Ästhetik der Unvollkommenheit

95 Ebd., 162.
96 Auch dieser Aspekt der ästhetischen Erfahrung könnte mit Kants dritter Kritik untermau-
ert werden.
97 Auf der Bedeutung der Auseinandersetzung mit anderen Zuschauern und Zuhörern für
die ästhetische Erfahrung der Kunst hat Georg Bertram insistiert: Vgl. Georg Bertram: Kunst –
Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2005. Dazu auch Feige: Kunst als Selbstverständigung [Anm.
82], insbes. 138-145.
98 Feige: Kunst als Selbstverständigung [Anm. 82], 139.
99 Vgl. Bertinetto: Performing the Unexpected [Anm. 25].

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erfolgreich zurückgewiesen worden ist, es unmöglich ist, Jazz eine spezifische Äs-
thetik überhaupt zuzuerkennen. Denn die Ästhetik des Gelingens scheint eher ein
gemeinsamer Nenner für die Kunstästhetik als solche zu sein als ein spezifischer
Zug der Erfahrung von Jazz. Man könnte auf diesen Einwand durch die Auf lis-
tung von Merkmalen antworten, die charakteristisch für Jazz erscheinen und als
Symptome von Jazz im Sinne Nelson Goodmans verständlich sein könnten100:
Elemente wie die Improvisation101, der Swing 102 , die Rauhigkeit des Tons, die
Unsauberkeiten der Intonation103, aber auch die ambivalente Synthesis zwischen
den ästhetisch-stilistischen Normen der Musik der westlichen Tradition und den
mündlichen Traditionen der ›audio-taktilen‹ Musiken, der reziproke Einfluss von
live-Aufführung und technischer Aufnahme und Reproduktion104, die Ambivalenz
zwischen der Suche nach einer musikalischen Identität des Jazzspielers (der zwar
einzigartig sein muss, aber gleichwohl von den anderen anerkannt werden muss)
und der Integration in eine Gruppe.105
Ich möchte hier aber eine andere und etwas allgemeinere Antwort vorschlagen.
Jazzspezifisch ist die Art und Weise, wie aus der Geschichte und aus den Elemen-
ten des Jazz die Dynamik von Norm und Situation auf dialektische Weise artiku-
liert wird. Jazzspezifisch ist nicht nur die Tatsache, dass die kontinuierliche Wie-
derbearbeitung der normativen Rahmen auf dem Makroniveau von Jazz als einer
historischen musikalischen Praxis sich auf dem Mikroniveau jeder performativen
Situation widerspiegelt. Jazzspezifisch ist außerdem die Tatsache, dass diese Re-
flexion des Makroniveaus (musikalischer Praxis und sogar Kunstpraxis überhaupt)
auf dem Mikroniveau (einzelner Performance) als konstitutives Element der Sich-
Gestaltung der Performance performativ und direkt gezeigt ist. Die ästhetische
Besonderheit des Jazz ist die Fähigkeit, die »sich bewegende« Normativität der
Improvisation nicht nur zu verstehen, sondern auch zu praktizieren. Hier wird das
Verstehen der Entscheidungssituation, welches situationsspezifische Kriterien ge-
staltet, zum Teil der Aufführung, da die Musizierenden ihren eigenen normativen
Raum performativ aushandeln. Der geschichtliche diskursive Rahmen der Praxis
ist somit das Produkt des Sich-Herstellens der situationsspezifischen Normativität
jeder Performance in der Situation. Gleichzeitig bietet jede performative Situation
die normativen Bezugspunkte, auf die sie sich in einer potentiell kreativen Weise
bezieht.

100 Vgl. Nelson Goodmann: Sprachen der Kunst, Frankfurt a.M 1995.
101 Vgl. Brown: »Feeling My Way« [Anm. 1] und Sparti: Suoni inauditi [Anm. 16].
102 Vgl. Caporaletti: La definizione dello swing [Anm. 23]; Zenni: I segreti del jazz [Anm. 23]
und Feige (in diesem Band).
103 Vgl. Kiefer: Improvisation und Komposition [Anm. 17]; Berliner: Thinking in Jazz [Anm. 16].
104 Vgl. Caporaletti: I processi improvvisativi [Anm. 47], 126 f.
105 Vgl. Monson: Saying Something [Anm. 6]; Davide Sparti: L’identità incompiuta – Paradossi
dell’improvvisazione musicale, Bologna 2010; Kurt Lüscher: Freies musikalisches Improvisieren – Spiel
mit Ambivalenzen, in: Kreativität und Improvisation – Soziologische Positionen, hg. von Udo Göttlich
und Ronald Kurt, Wiesbaden 2012, 209-237.

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Dies ist sicher nicht der einzige, und auch nicht der wichtigste, Grund dafür,
dass man Jazz liebt. Es handelt sich jedoch um einen der Gründe für seine kul-
turelle Bedeutung.106 Seine performative Normativität – in der der Respekt für
die Geschichte und die Norm, auf die jede jetzige Situation reagiert, sich mit der
Überzeugung deckt, dass die Geschichte jetzt auf unvorhersehbare Weise gemacht
wird107 – ist für die Möglichkeitsbedingungen des ästhetischen Gelingens über-
haupt paradigmatisch. Damit meine ich nicht, dass andere Kunsterfahrungen kei-
nen Anlass zu einer Überlegung über die Struktur ästhetischen Gelingens geben
können. Die Erfahrung des Jazz ist aber als Erfahrung gelungener (und auch nicht
gelungener) Performanz besonders gut geeignet, um diese Reflexion über die Frage
nach dem ästhetischen Gelingen in Gang zu setzen.
Die Jazz­ä sthe­t ik ist also kein Paradox, wie William Cameron meinte, da die Jazz­
erfahrung mit der These der Unvollkommenheitsästhetik vielmehr unbegreif bar ist.
Ihre Widersprüche, wie Paul Rinzler sie nennt, scheinen vielmehr für die ästhetische
Normativität der Kunsterfahrung ›performativ‹ exemplarisch zu sein.108

106 Und dies gilt sowohl im Sinne der ästhetischen und artistischen Entwicklungen einer
musikalischen Praxis als auch im Sinne der reziproken Kreuzungen zwischen Kunst und Leben,
die von Anfang an eine aus einer fürchterlich grausamen Geschichte entwickelte musikalische
Ausdrucksweise und deren Diskurs nähren. Darüber Sparti: Musica in nero [Anm. 6]; Christian
Béthune: Le Jazz et l’Occident, Paris 2008; Alessandro Bertinetto: Arte e terrore – La filosofia dell’arte
di Félix Duque e il jazz, in: Tropos 1 (2011), 67-78.
107 Die Kontinuität der Tradition entsteht durch die Situation, bei der die Tradition auch
radikal verändert werden kann. Deswegen ist Winton Marsalis’ konservative Auffassung vom
Jazz als vor kulturellen Verunreinigungen zu schützende klassische schwarze Musik falsch. Vgl.
Winton Marsalis: In Defense of Standards, in: keynote – A Magazine for the Musical Arts (December
1984) und ders.: Why We Must Preserve Our Jazz Heritage, in: Ebony (November 1990). Dazu
Sparti: Musica in nero [Anm. 6], 101.
108 Ich bedanke mich ganz herzlich bei der Alexander von Humboldt Stiftung, die in den Jahren
2011-2013 mein Forschungsprojekt »Ästhetik der Improvisation« mit einem Aufenthalt an der FU
Berlin großzügig unterstützt hat, sowie bei dem Spanischen Ministerium für Wissenschaft und Inno-
vation (Forschungsprojekt FFI2011-23362). Für viele Anregungen und hilfreiche Kritiken danke
ich den Teilnehmern der Diskussion im Rahmen der Tagung Ästhetik des Jazz (FU Berlin, 16.-17.
November 2012) und insbesondere G. Bertram, J. Levinson, D. Sparti, D. Schweikard, D. K.
Ritter und A. Becker. Vielen Dank an D. M. Feige für die präzise Lektüre des Manuskripts und
viele Vorschläge. Für die Verbesserung der deutschen Fassung des Textes danke ich L. Friedrich,
D. Blumenthal und T. Wieland.

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