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1.

Kapitel

Schiffsgräber, Fernbeziehungen und eine beleidigte


Leberwurst

Wusstet ihr, dass ein Indianervolk in Amerika seine Toten


früher in hohlen Bäumen bestattet hat? Verrückt, oder? Andere
Völker haben ihre Verstorbenen auf Bäume oder Türme
gebracht und Aas fressenden Vögeln überlassen. Das finde ich
nicht so nett. Dann schon lieber ein Schiffsgrab, wie bei den
Wikingern. Die haben ihre Toten gleich in kompletten Schiffen
verbuddelt. Das muss ziemlich viel Arbeit gewesen sein. Noch
früher, in der Steinzeit, wurden Gräber in die Felsen gehauen.
Man kann sie heute noch sehen. Aber am tollsten finde ich die
Pyramiden in Ägypten. Sie wurden vor über viertausend Jahren
als Begräbnisstätte der Könige gebaut. Stellt euch das mal vor!
Dagegen sind unsere modernen Gräber richtig langweilig.
Meine Oma liegt auf dem Tupfinger Friedhof. Sie wollte das
so. Wahrscheinlich hätte sie es nicht besonders toll gefunden,
in einen hohlen Baum gestopft zu werden. Von der Sache mit
den Aas fressenden Vögeln mal ganz abgesehen. Ihr Grab ist
zwar nicht so beeindruckend wie eine Pyramide oder ein
Wikingerschiff, aber es sieht trotzdem hübsch aus. Letzte
Woche wurde der Grabstein aufgestellt. Er ist ziemlich hell mit
einer leichten braunen Maserung. Omas Name ist in den Stein
gehauen: Gertrud Johanna Pauli. Außerdem steht dort ihr
Geburtstag und ihr Todestag. Das macht man so. Damit sich
jeder ausrechnen kann, wie alt man geworden ist.
An einem Freitagnachmittag im Herbst stand ich vor Omas
Grab und betrachtete das Heidekraut, das wir in die braune
Erde gepflanzt hatten. Dazwischen blühten violette
Herbstastern. Oma war seit fünf Wochen und einem Tag tot.
Und damit ihr nicht länger herumrätseln müsst: Nein, sie hatte
keinen Unfall und auch keinen Krebs. Oma hatte ein schwaches
Herz. Eines Tages ist sie einfach umgekippt. Erst dachten wir,
sie erholt sich wieder, aber dann ist sie gestorben.
Ich griff in meine Hosentasche und zog zwei Kieselsteine
heraus, die ich im Sommer am Strand gefunden hatte. Die
Wellen hatten sie ganz glatt geschliffen, und sie passten genau
in meine Handfläche. Der eine Stein war hellgrau, der andere
schwarz-weiß gesprenkelt.
»Für dich, Oma«, sagte ich und legte die Steine zwischen das
Heidekraut. »Als Erinnerung an unseren Urlaub.«
Oma und ich waren in den Sommerferien nach Wattenbüll
ans Meer gefahren. Wir hatten in einem schicken Hotel
gewohnt und es uns gut gehen lassen. Oma hatte die Reise bei
einem Preisausschreiben gewonnen, und es war der schönste
Urlaub, den ich je gemacht hatte. Na ja, genau genommen war
es auch der einzige. Wir haben nicht so viel Geld, darum
bleiben wir in den Ferien meistens hier. Ist aber nicht so
schlimm, Tupfingen ist ja auch ganz schön.
»Heute kommt Tim übers Wochenende nach Hause«,
erzählte ich Oma.
Tim ist mein Zwillingsbruder. Er ist sieben Minuten älter als
ich und ein echtes Genie. Darum geht er seit diesem Schuljahr
auf ein Internat für besonders schlaue Schüler. Wirklich wahr!
Leider ist das Internat Mühlenberg so weit weg, dass er nur ein
Mal im Monat nach Hause kommen kann. Und in den Ferien
natürlich.
Erst war ich ziemlich sauer, dass er einfach ohne mich
abhaut. Doch wie Oma immer sagt: Wer liebt, muss loslassen
können. Oma ist die weltbeste Sprücheklopferin. War, meine
ich. Sie wusste für jede Lebenslage das richtige Sprichwort.
Immer wenn mir einer von Omas Sprüchen in den Sinn kommt,
schreibe ich ihn auf. Damit ich ihn nicht vergesse. Ich habe ein
extra Heft dafür angelegt. Vornedrauf steht: Omas beste
Sprüche.

Omas beste Sprüche: Wer liebt, muss loslassen können.

»Ich muss los, Oma«, sagte ich. »Gleich gibt’s Abendessen.


Mach’s gut.«
Ich warf einen letzten Blick auf den stummen Grabstein,
drehte mich um und ging davon. Die Sonne war bereits hinter
der Kirche untergegangen. Der Friedhof war um diese Zeit
menschenleer. Ich gehe am liebsten zu Oma, wenn sonst
niemand da ist. Dann kann ich in Ruhe mit ihr reden, ohne mir
albern vorzukommen. Eigentlich weiß ich natürlich, dass Oma
tot ist und mich nicht mehr hören kann. Obwohl ich mir da
nicht hundertprozentig sicher bin. Vielleicht hört sie mich ja
doch! Außerdem kann ich ein bisschen Ordnung in meine
Gedanken bringen, wenn ich Oma erzähle, was gerade so los
ist. Manchmal herrscht in meinem Kopf nämlich ein
riesengroßes Kuddelmuddel. Dann geht alles durcheinander,
und ich weiß gar nicht, worum ich mich zuerst kümmern soll.
Während ich durch die klare Herbstluft nach Hause
spazierte, war es in meinem Kopf ausnahmsweise einmal schön
friedlich und still. Ich lauschte dem Rascheln des Laubs unter
meinen Füßen und summte leise vor mich hin. Als ich in den
holprigen Weg einbog, der zu unserem Haus führt, flitzte ein
brauner Blitz auf mich zu. Puck! Er sprang an mir hoch,
wedelte begeistert mit dem Schwanz und leckte mir die Hände
ab. Puck ist mein Hund, aber das habt ihr euch wahrscheinlich
schon gedacht. Er ist ein Mischling und noch ziemlich jung.
»Hallo, mein Süßer!« Ich kraulte ihn zwischen den Ohren.
»Ist Tim schon da?« Puck bellte. Das hieß eindeutig Ja. Ich
sag’s euch, er versteht jedes Wort. »Dann ab nach Hause!«
Puck rannte sofort los, und ich folgte ihm etwas langsamer.
Mein Herz klopfte, und mein Mund war trocken. Ich war
tatsächlich nervös! Dabei war es doch nur Tim, den ich gleich
begrüßen würde, mein eigener Bruder, den ich fast besser
kenne als mich selbst. Verrückt! Aber wir hatten uns
schließlich vier Wochen nicht gesehen. So lange waren wir
noch nie getrennt gewesen. Ob Tim sich im Internat verändert
hatte?
»Ich bin wieder da!«, rief ich, als ich das Haus betrat. Ich zog
meine Jacke aus und warf sie über die schon völlig überfüllte
Garderobe. Tims Reisetasche stand im Flur, und aus der Küche
waren Stimmen zu hören. Ich öffnete die Küchentür. Mama saß
am Tisch, sie hatte meine kleine Schwester Lili auf dem Schoß
und fütterte sie mit ihrem Abendbrei. Gesa und Mona
bereiteten das Abendessen vor. Mona deckte den Tisch, und
Gesa schnippelte Gurken.
Gesa ist Mamas beste Freundin und Mona ihre Tochter. Sie
wohnen bei uns, seit Papa vorletzten Sommer ausgezogen ist.
Erst konnte ich Mona nicht leiden. Ich hab sogar mit allen
möglichen Tricks versucht, sie und Gesa zu vergraulen. Hat
aber nicht geklappt. Jetzt verstehe ich mich prima mit Mona,
und wir sind gute Freundinnen.
Inzwischen sind meine Eltern geschieden. Ziemlich blöd, ich
weiß. Aber vorher haben sie sich ständig gestritten, das war
auch nicht so toll. Mama ist jetzt mit Thomas zusammen.
Thomas ist Student und viel jünger als sie. Seit ein paar
Wochen wohnt er bei uns. Meistens ist er ganz nett, aber
manchmal geht er mir auch ziemlich auf die Nerven. Wenn er
frühmorgens schon versucht, gute Laune zu verbreiten, zum
Beispiel. Oder die Badezimmertür nicht abschließt, bevor er
unter die Dusche geht. Ich sag’s euch, ich hab den Schock
meines Lebens gekriegt, als ich eines Morgens im Halbschlaf
ins Bad geschlurft bin und Thomas dort fröhlich trällernd unter
der Dusche stand. So was kann bei einem Kind in meinem Alter
ein echtes Trauma hervorrufen. (Außerdem singt Thomas so
schief, dass es einem in den Ohren wehtut …)
Papa hat auch eine neue Freundin. Sie heißt Melinda und ist
Australierin. Eigentlich wollte sie nur einen kleinen Trip durch
Europa machen. Jetzt wohnt sie in Papas WG in Dederstadt
und will hier ein Auslandssemester einlegen. Melinda ist
nämlich auch Studentin. Ich finde ja, wenn Eltern sich schon
scheiden lassen, müssen sie sich nicht auch noch neue Partner
anlachen. Aber mich fragt ja keiner.
Tim lehnte neben Mona an der Spüle. Er zwinkerte mir zu.
»Hallo, Emma!«
Ich blieb auf der Türschwelle stehen. »Wow! Ich hätte dich
fast nicht erkannt.«
Tim zupfte verlegen an seinem roten Pullunder herum. »Das
liegt bestimmt an der Schuluniform. Für mich ist sie auch noch
etwas ungewohnt. Ich zucke jedes Mal zusammen, wenn ich
mich darin im Spiegel sehe.«
»Dabei steht sie dir wirklich gut.« Mona lächelte Tim an.
»Na ja …«, murmelte ich.
Die Schuluniform des Internats bestand aus einer
dunkelblauen Stoffhose, einem weißen Hemd und einem roten
Pullunder, auf den ein blauer Kreis mit den ineinander
verschlungenen Buchstaben IMB gestickt war. Dreimal dürft
ihr raten, wofür die Buchstaben stehen. Genau! I NTERNAT
M ÜHLEN B ERG.

»Ich geh mich schnell umziehen.« Tim verschwand in seinem


Zimmer, dabei hatten wir uns noch nicht mal richtig begrüßt.
Na toll! Das fing ja gut an.
Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen. Lili mümmelte gerade
den letzten Löffel Brei und quiekte fröhlich, als sie mich sah.
Sie ist acht Monate alt und futtert wie ein Scheunendrescher.
»Kannst du sie bitte kurz nehmen?« Mama setzte Lili auf
meinen Schoß, um die Breischüssel wegzuräumen. Wie so oft in
letzter Zeit sah sie ziemlich müde und abgespannt aus.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich, während Lili mit ihren
kleinen Fingern nach meinen Haaren griff. Sie liebt es, andere
Leute an den Haaren zu ziehen.
Mama rang sich ein Lächeln ab. »Ja, ja. Ich bin nur etwas
frustriert, weil wir heute Gesas Vollwertkochkurs absagen
mussten. Es gab nur zwei Anmeldungen.«
Mama und Gesa betreiben ein Gesundheitszentrum in
unserem Haus. Mama bietet Mal- und Zeichenkurse an, Gesa
unterrichtet Yoga und Vollwertkochen. Erst lief es richtig gut,
aber in letzter Zeit wollten kaum noch Leute mitmachen. Dies
war nicht der erste Kurs, den sie absagen mussten. Mama
bekam inzwischen bereits auf dem Weg zum Briefkasten
schlechte Laune, weil sie Angst vor neuen Rechnungen hatte,
die sie nicht bezahlen konnte.
»Dieser Typ von der Bank hat heute auch schon wieder
angerufen.« Mama seufzte. »Allmählich weiß ich wirklich nicht
mehr, wie ich ihn noch länger hinhalten soll. So weit waren wir
mit den Raten für den Kredit noch nie im Rückstand!«
Gesa schüttelte den Kopf, während sie die klein
geschnittenen Gurken schwungvoll in die Salatschüssel warf.
»Ich verstehe das nicht! Sonst war der Kochkurs doch immer
gut besucht. Und gesunde Ernährung ist schließlich nach wie
vor ein großes Thema. Gerade wenn man an all die
Lebensmittelskandale der letzten Zeit denkt …«
Ich schaltete auf Durchzug. Sobald Gesa anfängt, über
gesunde Ernährung zu reden, kann sie nichts mehr stoppen.
Sie ist überzeugte Vollwertköchin, kauft nur Bioprodukte und
überprüft bei jedem Ei persönlich, ob es von einem rundum
glücklichen Huhn gelegt wurde. Ich finde das etwas
übertrieben. Ein paar Geschmacksverstärker haben schließlich
noch niemandem geschadet.
Kurze Zeit später kam Tim zurück, diesmal in seiner
Lieblingsjeans und einem ausgeleierten T-Shirt. Jetzt sah er
wieder aus wie mein Bruder. Ich setzte Lili auf den Boden,
damit sie unter dem Tisch nach Krümeln suchen konnte (das ist
ihre absolute Lieblingsbeschäftigung), und grinste Tim zu.
»Schön, dass du da bist!«
Tim grinste zurück. »Finde ich auch. Ich hab euch ganz
schön vermisst.«
»Das will ich doch stark hoffen. Obwohl du ja selbst schuld
bist«, fügte ich schnippisch hinzu. »Du hättest ja nicht
wegzugehen brauchen.«
Tim verdrehte die Augen. »Nicht schon wieder, Emma,
okay?«
Ich biss mir auf die Lippe. Manchmal war ich wirklich eine
dumme Kuh. Warum konnte ich nicht einfach mal nett sein?
»Übrigens soll ich dich ganz lieb von Felix grüßen.« Tim
zwinkerte mir vielsagend zu. »Ich glaube, er vermisst dich noch
viel mehr als ich.«
Ich wurde rot. »Ehrlich?«
Felix ist so was Ähnliches wie mein Freund. Na ja, genau
genommen nicht nur so was Ähnliches. Felix ist mein Freund.
Punkt. Wir sind allerdings erst seit ein paar Wochen
zusammen. Und wir haben uns in dieser Zeit kein einziges Mal
gesehen. Seltsam, oder? Man könnte auch sagen: tragisch.
Dramatisch. Unfassbar unerträglich. Felix geht ebenfalls aufs
Internat Mühlenberg und wohnt mit Tim in einem Zimmer. Wir
führen eine Fernbeziehung. Das müsst ihr euch mal auf der
Zunge zergehen lassen:

Emma führt eine Fernbeziehung.

Klingt das nicht wahnsinnig erwachsen? Leider ist das aber
auch schon das einzig Positive an einer Fernbeziehung. Alles
andere finde ich ziemlich nervig.

Was mich an meiner Fernbeziehung mit Felix nervt:

1. Wir können uns nur alle paar Wochen sehen.


2. In der Zwischenzeit müssen wir telefonieren.
3. Wir können nie spontan ein Eis im Venezia essen.
4. Oder ins Kino gehen.
5. Wenn ich traurig bin, ist Felix nicht da, um mich zu
trösten.
6. Am Telefon kann man nicht Händchen halten.
7. Und sich auch nicht küssen.


»Das Essen ist fertig!«, verkündete Gesa und stellte den Salat
auf den Tisch.
Ich zuckte zusammen und verscheuchte alle Felix-Gedanken
aus meinem Kopf. Manchmal bringen sie mich ganz schön
durcheinander. Obwohl es mich so glücklich macht, an Felix zu
denken, dass mein Herz wie verrückt in meiner Brust klopft,
macht es mich manchmal auch sehr traurig. Versteht ihr, was
ich meine? Wenn nicht, ist es auch nicht schlimm. Manchmal
verstehe ich mich selbst nicht richtig.
Tim nahm sich eins von Gesas selbst gebackenen
Sonnenblumenkern-Vollkornbrötchen. Zur Feier des Tages gab
es nicht nur den üblichen Salat, sondern auch frisches
Kürbisbrot, getrocknete Tomaten und Tims Lieblingskäse
(Brennnessel-Bärlauch-Gouda).
»Wie ist es denn jetzt so im Internat?«, fragte Mona
neugierig, als sich alle an den Tisch gesetzt hatten.
»Super!« Tim schnitt sein Brötchen auf und verteilte Butter
auf den beiden Hälften. »Die Lehrer sind toll, und der
Unterricht macht richtig Spaß. In meiner Klasse sind nur zehn
Schüler, da kann man ganz anders arbeiten. Mein Tutor ist
total nett. Er hat gleich dafür gesorgt, dass ich in den
Förderkursen Naturwissenschaften und Mathe mitmachen
kann.«
Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Tim ist nicht
in diesen Förderkursen, weil er so schlecht ist, sondern weil er
so gut ist. Im normalen Unterricht langweilt er sich, darum
bekommt er Extrastunden mit lauter anderen Genies. Aber
denkt jetzt bloß nicht, ich wäre auch so eine Intelligenzbestie.
Keineswegs! In Mathe bin ich sogar eine absolute Niete. Ich
kapier den Kram einfach nicht! Sobald Zahlen im Spiel sind,
sehe ich rot. Keine Ahnung, warum ausgerechnet Tim so ein
Schlauberger ist. Wahrscheinlich hat er derart viel Grips
abbekommen, dass für mich nur noch ein kleiner Rest übrig
war. Aber damit habe ich kein Problem (zumindest solange
keine Mathearbeit ansteht …).
»Hast du schon Freunde gefunden?«, fragte Mama.
Tim schnitt sich dicke Scheiben von seinem Lieblingskäse ab.
»Die anderen aus meiner Lerngruppe sind alle ganz nett. Und
Felix natürlich sowieso. Ich bin wirklich froh, dass wir uns ein
Zimmer teilen. Felix hat mir am Anfang alles gezeigt. Aber
meistens hab ich gar nicht so viel Zeit für irgendwelche
Freizeitaktivitäten. Das Lernpensum ist ziemlich hoch.
Außerdem bin ich ja noch in der Schach-AG und in der Jugend
forscht-Gruppe.«
»Du machst also den ganzen Tag nichts anderes als lernen
und Schach spielen?« Ich verzog das Gesicht. »Klingt ja
furchtbar!«
Ganz ehrlich, das wäre mein persönlicher Albtraum. Ich bin
immer froh, wenn ich mit den Hausaufgaben fertig bin und
mich mit sinnvolleren Dingen beschäftigen kann. Mein Motto
lautet: Nie mehr für die Schule tun als unbedingt nötig!
Tim schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht! Mir macht das
Lernen total viel Spaß – und das Schachspielen auch.« Seine
Augen leuchteten. Er sah tatsächlich glücklich aus.
Unglaublich! Aber so ist Tim nun mal. Zwischen seinen
Büchern und seinen Schachfiguren fühlt er sich einfach am
wohlsten.
»Klingt gut.« Gesa schnitt das Kürbisbrot auf. »Dann war es
also die richtige Entscheidung, das Internatsstipendium
anzunehmen?«
Tim nickte heftig. »Definitiv!«
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Ohne eine
Millisekunde des Zögerns. Es versetzte mir einen Stich, dass
Tim nicht wenigstens kurz überlegen musste. Hatte er sich hier
bei uns so unwohl gefühlt?
Während Tim weiter vom Internat schwärmte und die
anderen ihn mit Fragen löcherten, stocherte ich lustlos in
meinem Gurkensalat herum. Der Appetit war mir vergangen,
genauso wie die Freude auf das Wochenende mit Tim. Musste
er uns ständig unter die Nase reiben, wie toll es im Internat
war und wie gut er ohne uns klarkam? Wie gut er ohne mich
klarkam? Er hätte wenigstens so tun können, als wenn er ab
und zu Heimweh hätte.
Kaum hatte ich das letzte Gurkenstück hinuntergewürgt,
schob ich meinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich geh nach
oben.«
»Wie wär’s mit einem gemütlichen Fernsehabend?«, schlug
Mona vor. »Wir könnten uns irgendeine nette DVD
anschauen.«
Tim zuckte mit den Schultern. »Von mir aus gerne.«
Ich zögerte. Eigentlich war die Gelegenheit günstig, denn
Thomas war heute Abend nicht da. Er hatte sich mit ein paar
Studienkollegen in Dederstadt verabredet. Sonst blockierte er
nämlich mit einer seiner zahlreichen Referatsgruppen gerne
mal das Wohnzimmer – und unseren einzigen Fernseher. Er
und seine Freunde qualmten dann alles voll, diskutierten lang
und breit über irgendwelche völlig langweiligen Themen und
fanden einfach kein Ende. Nicht zum Aushalten! Von daher
hätte ich mir eigentlich sofort die Fernbedienung schnappen
müssen. Aber ich schüttelte den Kopf. »Ohne mich. Ich hab
heute keine Lust auf Fernsehen.«
Mona runzelte die Stirn. »Ist was?«
»Nö«, behauptete ich. »Ich bin bloß müde.«
Tim sah mich aufmerksam an, und ich schlug schnell die
Augen nieder. Betont langsam schlenderte ich aus der Küche.
Als wäre alles in bester Ordnung. Auf dem Flur sackten meine
Schultern herab. Eigentlich hätte ich ganz gerne eine DVD
geguckt. Aber nicht mit Tim, dem Verräter. Der saß doch bei
uns sowieso nur seine Zeit ab und war bestimmt heilfroh, wenn
er am Sonntag wieder in sein heiß geliebtes Internat fahren
konnte. Warum tauchte er eigentlich überhaupt noch hier auf?
Von mir aus konnte er das nächste Mal gleich ganz im Internat
bleiben. Ich kam auch ohne ihn zurecht!
Als ich an der geöffneten Wohnzimmertür vorbeikam, fiel
mein Blick auf das Telefon. Plötzlich hatte ich wahnsinnige
Sehnsucht nach Felix. Am liebsten hätte ich mich in seine Arme
geworfen und mich von ihm trösten lassen. Und wenn das
schon nicht möglich war, wollte ich wenigstens seine Stimme
hören. Ich ging zum Telefon und tippte seine Handynummer
ein, die ich inzwischen auswendig kannte. Während es am
anderen Ende der Leitung klingelte, stellte ich mir sein Gesicht
mit der Stupsnase, den Sommersprossen und den meergrauen
Augen vor. Ich dachte an seine strubbeligen blonden Haare, die
immer leicht nach Zitronenshampoo dufteten, und an sein
schiefes Grinsen, das ich so sehr mochte …
Dann meldete sich die Mailbox. Eine freundliche
Frauenstimme informierte mich darüber, dass der Teilnehmer
gerade nicht erreichbar war. Ärgerlich drückte ich das
Gespräch weg. Wie ich diese Stimme hasste! Immer wenn ich
sie hörte, konnte Felix aus irgendeinem Grund nicht an sein
Handy gehen.
Ich sah auf die Uhr, rechnete kurz nach und kam zu dem
Ergebnis, dass Felix eigentlich schon zu Hause sein musste.
Wie alle Schüler des Internats Mühlenberg fuhr er einmal im
Monat zu seinen Eltern. Auch wenn die oft gar nicht da waren.
Felix’ Familie ist ziemlich reich. Sie wohnt in einem riesigen
Haus mit lauter Angestellten. Seine Mutter hat sogar eine
persönliche Yoga-Trainerin! Könnt ihr euch das vorstellen? Ich
bin fast vom Stuhl gefallen, als ich das gehört habe.
Felix’ Mutter ist Pianistin und gibt auf der ganzen Welt
Konzerte. Sein Vater hat eine große Firma und arbeitet rund
um die Uhr. Außerdem ist er ständig auf Geschäftsreise. Darum
gehen Felix und seine Schwester Julia aufs Internat. Ganz
ehrlich, ich möchte nicht mit den beiden tauschen. Es muss
doch blöd sein, in ein Internat abgeschoben zu werden und an
den seltenen Heimfahrwochenenden meistens allein mit den
Angestellten in einer riesigen Villa zu sitzen, weil die Eltern
mal wieder in der Weltgeschichte herumgondeln. Und was
würde Oma dazu sagen?

Omas beste Sprüche: Geld allein macht auch nicht


glücklich.
Ich starrte einen Moment auf das Telefon, dann tippte ich
Felix’ Festnetznummer. Ich war ein bisschen nervös, weil ich
noch nie bei ihm zu Hause angerufen hatte. Es klingelte
ziemlich lange, ohne dass jemand abnahm. Vielleicht hatte
Felix’ Zug Verspätung und er war noch nicht da. Bestimmt
würde gleich der Anrufbeantworter anspringen. Als ich mich
gerade darauf gefasst machte, wieder eine freundliche Stimme
vom Band zu hören, meldete sich doch jemand.
»Meckle bei Familie von Kronenburg, einen wunderschönen
guten Tag, was ich kann ich für Sie tun?«, ratterte eine
Frauenstimme im Maschinengewehrtempo hinunter.
»Äh … hallo«, sagte ich verwirrt. »Ist Felix da?«
»Wären Sie so freundlich, mir zu verraten, mit wem ich
spreche?«, fragte die Frau.
»Emma … Emma Laurenz.«
»Der junge Herr von Kronenburg ist noch nicht
eingetroffen«, informierte mich die Frau in reserviertem
Tonfall. Bestimmt war sie eine der Angestellten. Vielleicht die
Haushälterin. Auf jeden Fall hätte sie etwas freundlicher sein
können.
»Oh. Hat sein Zug Verspätung?«
»Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu erteilen.«
»Ach so.« Ich kam mir ziemlich blöd vor. Für wen hielt die
Tante sich eigentlich? Und für wen hielt sie mich? Ich war
schließlich nicht irgendjemand, sondern immerhin Felix’
Freundin. »Könnten Sie Felix bitte ausrichten, dass ich
angerufen habe?«
»Selbstverständlich«, sagte die Frau mit Eiswürfelstimme.
»Auf Wiederhören.«
Bevor ich noch etwas sagen konnte, hatte sie aufgelegt.
Fassungslos schüttelte ich den Kopf und murmelte: »Dumme
Kuh!«
»Wer, ich?«, fragte jemand hinter mir.
Ich fuhr herum. Mona und Tim kamen gerade mit einer Tüte
Bio-Chips und einem Stapel DVDs herein. Mona sah mich
fragend an.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, du natürlich nicht.«
»Wen hast du denn angerufen?«, erkundigte sich Mona. Sie
ist leider furchtbar neugierig. Ich sag’s euch, das kann ganz
schön nerven.
»Geht dich gar nichts an«, stellte ich klar und betrachtete
sehnsüchtig die Chips.
Tim winkte mir mit der Tüte zu. »Möchtest du auch welche?«
»Nö, danke.« Ich riss meinen Blick von der Tüte los und
marschierte aus dem Wohnzimmer.
Manchmal ist es ganz schön hart, die beleidigte Leberwurst
zu spielen.
2. Kapitel

Was ist eine Vernissage?

Italienischer Heiliger († 1595) mit vier Buchstaben


Weiß nicht.
Blutvergiftung mit sechs Buchstaben
Keine Ahnung!
Körperspray (Kurzwort) mit drei Buchstaben
DEO?
Riechorgan mit vier Buchstaben
NASE!

Ich schrieb die vier Buchstaben in die dazugehörigen Felder.
Das Wort passte! Seufzend schob ich das Heft weg. Dieses
Kreuzworträtsel war wirklich wahnsinnig knifflig. Da hatte ich
mir ganz schön was vorgenommen!
Nein, ich bin eigentlich kein besonderer Fan von
Kreuzworträtseln. Ganz im Gegensatz zu Oma. Sie liebte
Kreuzworträtsel. Jede Woche hat sie sich ein neues Heft
gekauft und stundenlang darüber gebrütet. Aber ihr letztes
Kreuzworträtselheft konnte sie nicht mehr zu Ende lösen.
Darum machte ich das jetzt für sie. Pfarrer Pauli, mit dem Oma
seit Pfingsten verheiratet gewesen war, hatte mir das Heft kurz
nach ihrem Tod geschenkt, und seitdem schlug ich mich immer
mal wieder mit Riechorganen, Körperspray und irgendwelchen
Heiligen herum. Manchmal hatte ich keine Lust mehr und ließ
das Heft eine Weile liegen. Aber ich gab nicht auf. Niemals! Ich
würde Omas letzte Rätsel lösen, das hatte ich ihr versprochen.
Außerdem war es eine gute Ablenkung. Solange ich mich mit
den Rätseln beschäftigte, dachte ich wenigstens nicht ständig
an Felix oder meinen verräterischen Zwillingsbruder. Felix
hatte mich noch nicht zurückgerufen, obwohl ich ihm doch
gestern extra eine Nachricht hinterlassen hatte.

Sieben mögliche Gründe, warum Felix sich nicht bei mir


meldete:

1. Er musste sein Zimmer aufräumen.


2. Er musste für eine wichtige Mathearbeit lernen.
3. Sein Handy war kaputt und der Festnetzanschluss
gestört.
4. Er machte einen Ausflug mit dem familieneigenen
Segelboot.
5. Er musste das viele Geld seiner Eltern zählen.
6. Er hatte keine Lust, mit mir zu sprechen.
7. Die Haushälterin hatte ihm überhaupt nichts von
meinem Anruf gesagt. (Dumme Schnepfe!)


Der sechste Grund gefiel mir überhaupt nicht. Ich tippte auf
Grund Nummer sieben. Die Frau war so komisch am Telefon
gewesen, dass ich mir gut vorstellen konnte, wie sie
naserümpfend den Hörer weggelegt und meinen Anruf sofort
wieder vergessen hatte. Ob ich es noch mal auf Felix’ Handy
probieren sollte? Aber falls Grund 1, 2, 4 oder 5 zutrafen, war
er vielleicht genervt, wenn ich ihn störte. Außerdem sollte er
nicht denken, ich würde ihm nachlaufen. Das tat ich nämlich
grundsätzlich nicht. NIEMALS!
Mist, jetzt dachte ich ja schon wieder an Felix! Ärgerlich
schlug ich das Kreuzworträtselheft zu. Ich hasse Mädchen, die
ständig irgendwelche Jungs im Kopf haben. Meine Ex-beste-
Freundin Lea zum Beispiel hängt nur noch mit ihrem neuen
Freund herum. Dabei ist Markus ein totaler Idiot! Aber das
merkt sie gar nicht. Wahrscheinlich, weil sich die beiden nie
unterhalten, sondern immer nur herumknutschen. Igitt! So
wollte ich AUF GAR KEINEN FALL werden …
Die Tür zum Dachzimmer wurde aufgerissen, und Mona
stürmte mit wehenden Haaren herein. »Schnell, Emma!«,
keuchte sie. »In einer Viertelstunde müssen wir los. Und ich
hab mich noch nicht mal umgezogen!«
Ich starrte sie verwirrt an. »Los? Wohin denn?«
Mona rannte in ihre Zimmerhälfte, zog die oberste Schublade
ihrer Kommode auf und fing an, in ihren Klamotten
herumzuwühlen. »Zu Rudis Vernissage natürlich! Hast du das
etwa vergessen?« Sie hielt einen kurzen Moment inne und sah
mich mit gerunzelter Stirn an.
Ich wurde rot. »Quatsch, natürlich nicht!«, schwindelte ich,
dabei hatte ich vor lauter Kreuzworträtsel-Grübeleien und
Felix-Gedanken tatsächlich überhaupt nicht mehr an den
Termin gedacht. Ganz schön peinlich!
Rudi ist übrigens mein Vater. Er mag es, wenn wir ihn Rudi
nennen. Ich glaube, er fühlt sich dann jünger. Rudi ist Künstler.
Allerdings kein besonders berühmter, sondern einer, für den
die Zeit noch nicht reif ist. (Zumindest behauptet er das
immer …) Aber das könnte sich bald ändern. An diesem Tag
wurde nämlich Papas erste Ausstellung in einer Galerie in
Dederstadt eröffnet. Wahnsinn, oder? Ich war ziemlich stolz auf
ihn. Hoffentlich würde alles glattgehen. Papa war schon seit
Wochen total aufgeregt wegen dieser Vernissage. Das spricht
man übrigens Wernissaasch aus. Das ist französisch und heißt
Ausstellungseröffnung. (Hat Papa mir erklärt.)
»Jetzt mach schon, Emma!«, drängelte Mona. »Wir dürfen
nicht zu spät kommen.« Sie zog eine weiße Bluse und den
neuen Jeansrock aus ihrer Kommode und begann, sich
umzuziehen.
»Ja, ja, keinen Stress.« Ich stand auf und ging zu meinem
Schrank hinüber. Dabei musste ich über einen Stapel
Comichefte, einen Haufen schmutziger Wäsche und meine
Sporttasche hinwegsteigen. In meiner Zimmerhälfte sieht es
leider meistens aus wie Kraut und Rüben. Ich bin nicht gerade
der ordentlichste Typ (und das ist noch untertrieben, würde
Mama sagen). Ganz im Gegensatz zu Mona. Bei ihr ist immer
alles picobello aufgeräumt. Keine Ahnung, wie sie das schafft.
Seufzend starrte ich in meinen Schrank. Was sollte ich
anziehen? Früher hab ich mir nie Gedanken darüber gemacht,
in welchen Klamotten ich herumlaufe. Es war mir auch egal,
dass meine Haare immer zerzaust aussehen, meine Knie
knubbelig sind und ich selbst im Sommer total käsig bin. Jetzt
wünsche ich mir schon manchmal seidig glatte Haare, hübsche
Knie und sanft gebräunte Haut. Aber pssst, nicht verraten! Das
braucht niemand zu wissen. Eigentlich finde ich es ziemlich
blöd, stundenlang vor dem Spiegel zu stehen und ein
Riesentrara um Klamotten, Schminke und Frisuren zu machen.
Ganz ehrlich, es gibt wichtigere Dinge im Leben!
Bloß dass ich mir in diesem Moment sehnlich eine gute Fee
wünschte, die aus meinem Schrank flatterte, ihren Zauberstab
zückte und mich in ein gut aussehendes Mädchen mit dem
perfekten Outfit für eine Vernissage verzauberte. Simsalabim!
Tja, Pech gehabt. Aus meinem Schrank flatterte höchstens
die eine oder andere Kleidermotte. Ansonsten sah es dort
ziemlich düster aus.
»Äh – was zieht man eigentlich zu einer Vernissage an?«,
fragte ich ratlos. »Meinst du, das wird sehr feierlich?«
Mona nickte nachdrücklich, während sie ihre weiße Bluse
zuknöpfte. »Auf jeden Fall! Ich mache mich jedenfalls richtig
schick.« Sie schlüpfte in den Jeansrock, griff nach ihrer Bürste
und kämmte sich ausgiebig die Haare.
Ich seufzte. Super! Das brachte mich auch nicht weiter.
Schließlich griff ich nach einer halbwegs sauberen Leggins
ohne Löcher und einem schlichten, weißen Shirt. Darüber zog
ich mein Lieblingssommerkleid – das grüne mit den bunten
Blümchen – und warf einen Blick in den Spiegel. Ich nickte
zufrieden. Perfekt! Nicht übertrieben, aber trotzdem hübsch.
Meine Haare band ich zu einem Pferdeschwanz (die einzige
Frisur, bei der sie halbwegs ordentlich aussehen), kniff mir in
die Wangen, damit sie nicht ganz so käsig waren, und trug
etwas Lipgloss auf. Er schmeckte nach Himbeere und ließ die
Lippen schön glänzen. Ich hatte ihn mir vor Kurzem in der
Drogerie in Dederstadt gekauft, aber noch nie benutzt.
»Seit wann hast du denn Lipgloss?«, fragte Mona überrascht.
Ich zuckte mit den Schultern. »Schon länger«, behauptete ich
und versuchte so auszusehen, als würde ich täglich Lipgloss
auftragen. »Fertig!« Ich drehte mich zu Mona um. »Wollen wir
los?«
»Gleich.« Mona strich sich ihre langen, dunklen Haare hinter
das Ohr und betrachtete sich prüfend im Spiegel. »Okay, ich
bin so weit.«
»Du siehst gut aus«, stellte ich fest.
»Danke!« Mona lächelte und wurde ein bisschen rot. Früher
ist sie immer in Gesundheitslatschen und merkwürdigen
Kleidern herumgelaufen, die wie Kartoffelsäcke aussahen. Aber
seit einiger Zeit zieht sie sich ganz annehmbar an. Vielleicht
hängt das mit Daniel zusammen, ihrem Freund. Die beiden sind
zwar schon eine Weile zusammen, aber immer noch total
verliebt.
»Ich bin echt gespannt auf Daniels Auftritt heute Abend«,
sagte ich, als wir hintereinander die steile Dachbodentreppe
hinunterpolterten.
»Und ich erst!« Mona verzog das Gesicht. »Ich glaube, ich
bin nervöser als er.«
Daniel ist Sänger einer Heavy-Metal-Band. Zumindest hatten
er, Jonas und Markus als Heavy-Metal-Band angefangen, aber
inzwischen spielten sie auch andere Stücke, die etwas ruhiger
und melodischer waren. Papa hatte dafür gesorgt, dass sie auf
seiner Vernissage auftreten durften. Daniel wohnt nämlich mit
seiner Mutter (und einigen anderen Mitbewohnern) in Papas
WG.
»Ein bisschen Beeilung, bitte!«, rief Gesa, als wir aus dem
Haus kamen. »Steigt ein, sonst kommen wir zu spät!«
Mona und ich kletterten in Gesas klapprigen VW-Bus. Tim
saß auf dem Vordersitz. Er trug eine normale Jeans und ein
braunes T-Shirt. Im Gegensatz zu mir hatte er offenbar einfach
irgendetwas aus dem Schrank gegriffen und keinen zweiten
Gedanken an seine Klamotten verschwendet. Typisch Junge!
»Du hättest dich ruhig etwas schicker machen können«,
sagte ich vorwurfsvoll.
Tim sah mich überrascht an. »Warum denn?«
Ich verdrehte die Augen. »Schließlich fahren wir zu einer
Vernissage! Das ist eine feierliche Veranstaltung.«
»Genau!« Mona nickte eifrig.
»Ach was, das muss man nicht so eng sehen«, beruhigte Gesa
Tim. Sie ließ den Motor an, und der Bus tuckerte vom Hof.
»Wo ist denn Klaus?«, erkundigte sich Mona.
Klaus ist mein anderer Bruder. Er ist schon siebzehn und
meistens nicht zu Hause. Entweder ist er bei seiner Freundin
Nadine, oder er tuckert auf seinem geliebten Mofa durch die
Gegend.
»Klaus und Nadine fahren direkt zur Galerie«, sagte Gesa.
»Schade, dass Mama nicht mitkommt«, murmelte ich.
Gesa seufzte. »Sie wollte sich unbedingt noch mal an die
Buchhaltung für das Gesundheitszentrum setzen. Die Bilanz
der vergangenen Monate sieht leider gar nicht gut aus.«
Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und schwieg. Mama
hatte in letzter Zeit wirklich viel Zeit mit dem
Buchhaltungskram verbracht. Als wenn das Geld mehr werden
würde, je länger sie daran herumrechnete. Aber ich hatte noch
einen anderen Verdacht. Ich war mir ziemlich sicher, dass
Mama keine große Lust auf die Vernissage hatte. Wie gesagt,
sie und Papa gehen sich lieber aus dem Weg. Und mit Melinda
kann Mama auch nicht allzu viel anfangen. Na ja, das verstehe
ich sogar irgendwie. Geht mir genauso. Aber warum kann
Mama nicht mal über ihren Schatten springen und sich einfach
für Papa freuen? Immerhin ist die Ausstellung ein großer
Erfolg für ihn. Das könnte sie ihm wirklich mal gönnen, finde
ich. Stattdessen hockt sie über ihrem Papierkram und stänkert
herum. Manchmal benehmen sich Erwachsene wirklich
unmöglich!

Die Vernissage fand in einer Galerie am Dederstädter Hafen
statt. Gesa parkte zwei Straßen weiter, und wir liefen das
kurze Stück.
»Wow!«, rief Mona, als wir um die Ecke bogen.
Die Galerie war in einem ehemaligen Lagerhaus, das zu
einem Kunst- und Kulturzentrum umgebaut worden war. Papa
hatte mir erzählt, dass sich im ersten Stock Ateliers und Büros
befanden und im Erdgeschoss die Galerie. Rechts und links
vom Eingang, einer schweren Eisentür, brannten zwei große
Fackeln. Es war zwar erst später Nachmittag, aber das
lodernde Feuer wirkte trotzdem ziemlich beeindruckend.
Gesa drückte die Tür auf, und wir traten ein. Die Galerie
bestand aus einem einzigen großen Raum mit hohen Fenstern.
An den Wänden hingen Papas Bilder. Ich blieb stehen und sog
überrascht die Luft ein. Es sah toll aus! Die meisten Bilder
kannte ich, weil Papa sie vor der Scheidung gemalt hatte, als er
noch zu Hause wohnte. Es waren großformatige Leinwände,
und sie wurden so geschickt ausgeleuchtet, dass die dick
aufgetragenen Ölfarben fast dreidimensional wirkten. Sein
neuestes Bild hatte einen Ehrenplatz direkt gegenüber vom
Eingang bekommen. Es war kleiner als die anderen und hieß
Die Liebende. Es sollte ein Porträt von Melinda sein, aber das
konnten wirklich nur Eingeweihte erkennen. Für alle anderen
waren es rote, gelbe und orangefarbene Kreise und Wirbel
(was aber auch sehr hübsch aussah).
»Irre!« Tim schien ebenfalls beeindruckt zu sein.
Mona nickte. »Und es sind sogar richtig viele Leute da.«
Ich war so auf die Bilder konzentriert gewesen, dass ich die
anderen Besucher noch gar nicht wahrgenommen hatte. Aber
Mona hatte völlig recht. Wir waren längst nicht die Ersten. Ich
atmete auf. Ehrlich gesagt hatte ich ein bisschen Angst gehabt,
dass kein Mensch kommen würde. Die meisten Menschen
interessieren sich nicht besonders für Kunst, glaube ich. Das
sagt Rudi auch immer. Darum verdienen Künstler so schlecht,
und Papa muss langweilige Koch- oder Schulbücher
illustrieren, anstatt seine schönen, großen Bilder zu malen. Ich
hatte schon überlegt, wie ich ihn trösten könnte, wenn
niemand außer uns aufkreuzte. Aber wie es aussah, war das
gar nicht nötig. Ungefähr ein Dutzend Erwachsene standen mit
Sektgläsern in der Hand in kleinen Grüppchen im Raum und
unterhielten sich leise. Im Hintergrund lief dezente Jazzmusik.
Die Männer trugen Anzüge und die Frauen hübsche Kleider.
Die meisten sahen ziemlich elegant aus, und ich war froh, dass
ich das Sommerkleid angezogen hatte. Gerade öffnete sich die
Tür, und es kam noch ein Schwung Besucher herein.
»Da sind Klaus und Nadine!« Mona winkte den beiden zu, als
sie Hand in Hand hinter den anderen Gästen die Galerie
betraten.
Nadine sah wie immer ausgesprochen gut aus. Ihre blonden
Haare fielen seidig glänzend über ihren Rücken, und sie war
unauffällig geschminkt. Wie bekam sie es nur hin, trotz des
Make-ups kein bisschen aufgedonnert zu wirken?
»Hallo, ihr drei!« Nadine lächelte Mona, Tim und mir zu.
Klaus nickte nur zur Begrüßung. Er ist kein Freund vieler
Worte.
Ich musterte ihn von oben bis unten. Er trug stinknormale
Jeans, Stiefel und seine Lieblingslederjacke. Nicht mal die
Haare hatte er sich gekämmt! Unter seinen Fingernägeln
befanden sich Reste von Schmieröl. Klaus hatte nach den
Sommerferien die Schule geschmissen und eine Lehre als
Automechaniker angefangen. Mama passte das überhaupt
nicht. Sie hatte mit Engelszungen auf ihn eingeredet, aber
Klaus war nicht von seinem Entschluss abzubringen gewesen.
Er ist nun mal ein riesengroßer Sturkopf. Seitdem tuckerte er
jeden Morgen um kurz vor sieben nach Dederstadt, um an
kaputten Autos herumzuschrauben, und wirkte dabei eigentlich
ganz zufrieden. Vielleicht hatte er tatsächlich seinen Traumjob
gefunden.
Wieder einmal fragte ich mich, was Nadine an meinem
großen Bruder fand. Er war weder besonders charmant noch
besonders gut aussehend. Man konnte sich nicht mal richtig
mit ihm unterhalten, weil er keine fünf Sätze am Tag redete.
Das war doch total öde! Aber vielleicht benahm er sich bei
Nadine ja ganz anders. Vielleicht quatschte er mit ihr
stundenlang über Gott und die Welt. Obwohl ich mir das
irgendwie nicht so richtig vorstellen konnte. Andererseits
konnte man nie wissen …

Omas beste Sprüche: Stille Wasser sind tief.

Plötzlich stürmte Melinda auf uns zu. Hab ich schon erzählt,
dass sie ziemlich klein und pummelig ist? Trotzdem zieht sie
mit Vorliebe knallenge Sachen an. So wie an diesem Tag. Sie
trug ein rotes Minikleid, das die Rettungsringe rund um ihre
Hüften gut zur Geltung brachte. Ihre blonden Haare hatte sie
hochgesteckt, was, wie ich zugeben musste, gar nicht so
schlecht aussah.
»Hello everybody!«, rief sie überschwänglich. »I’m so glad to
see you!«
Inzwischen hab ich mich halbwegs an Melindas komischen
australischen Akzent gewöhnt, auch wenn ich immer noch
nicht alles verstehe, was sie sagt. Zum Glück kann sie aber
auch ganz gut Deutsch.
»Wo steckt Rudi?«, fragte ich.
»Er ist hinten und bespricht noch etwas mit Jack, dem
Galeristen.«
Melinda deutete mit dem Daumen über ihre Schulter. Sie
hatte knallrot lackierte Fingernägel, in derselben Farbe wie ihr
Kleid. Ganz schön mutig!
»Ist er sehr aufgeregt?«, erkundigte sich Mona.
»Oh yes!« Melinda rollte vielsagend mit den Augen. »Er hat
letzte Nacht kaum geschlafen und bis vor fünf Minuten noch
die Bilder umgehängt, damit alles perfekt ist.«
»Gibt’s hier auch was zu trinken?«, fragte Klaus, der sich
nicht allzu sehr für Papas Bilder zu interessieren schien.
»Toll, dass du plötzlich in ganzen Sätzen sprechen kannst«,
bemerkte ich bissig.
Klaus warf mir nur einen abfälligen Blick zu. Kritik
interessiert ihn nämlich ebenfalls nicht.
»Sure!«
Melinda zeigte auf eine kleine Theke am anderen Ende des
Raums, wo Sekt und Orangensaft ausgeschenkt wurden. »Holt
euch ruhig was, I’m looking for Rudi.«
Klaus marschierte sofort auf die Bar zu, und Nadine folgte
ihm.
»Ich glaube, ich könnte auch einen Orangensaft vertragen«,
sagte Tim. »Soll ich euch was mitbringen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich schau mich lieber noch ein
bisschen um, bevor es losgeht.«
»Und ich suche Daniel«, sagte Mona.
3. Kapitel

Ein guter Anfang

Während Tim zur Bar schlenderte, umrundeten Mona und ich


ein Grüppchen elegant gekleideter Besucher, die sich gerade
mit ihren Sektgläsern zuprosteten, und gingen an den
großformatigen Leinwänden entlang in den hinteren Teil der
Galerie.
»Guck mal, da ist die Bühne!« Ich zeigte zur Fensterfront
hinüber. Davor waren ein Schlagzeug, zwei Lautsprecherboxen
und einige andere Geräte aufgebaut. Überall lagen Kabel
herum. Eigentlich war es gar keine richtige Bühne, sondern
nur ein Podest. Aber immerhin. Markus und Jonas waren
gerade dabei, ihre Instrumente zu stimmen, während Daniel
den Ständer für das Mikro etwas weiter nach vorne rückte.
»Hey, da seid ihr ja endlich!« Daniel kam auf uns zu. Seine
Haare waren mit viel Gel zu einer stacheligen Igelfrisur gestylt.
Er gab Mona einen Kuss zur Begrüßung. »Alles klar?«
Mona nickte. »Schön, dich zu sehen!« Ihre Augen leuchteten,
und ihre Wangen hatten eine zartrosa Färbung angenommen.
Es war nicht zu übersehen, wie verliebt sie in Daniel war.
Ich seufzte. Plötzlich wünschte ich mir, Felix wäre hier. Ich
hätte ihm gerne Papas Bilder gezeigt und ihn genauso verliebt
angeschaut wie Mona Daniel. Warum musste er so verdammt
weit weg sein? Das war einfach ungerecht! Statt uns
regelmäßig zu sehen, konnten wir nur miteinander
telefonieren – wenn ich Felix denn erreichte …
Mona hatte Daniels Hand genommen. »Bist du nervös?«
Daniel verzog das Gesicht. »Ziemlich. Wir haben noch nie in
einer Galerie gespielt. Die Leute sehen alle so geschniegelt
aus. Keine Ahnung, ob denen unsere Musik gefällt.«
»Bestimmt!« Mona lächelte Daniel aufmunternd zu.
»Schließlich seid ihr doch inzwischen so was wie
Internetstars«, fügte ich hinzu. »Kommt euer Video immer
noch so gut an?«
Daniel nickte. »Allerdings! Es wurde inzwischen mehrere
Tausend Mal angeklickt. Unser Song ist vor ein paar Tagen
sogar von einer kleinen Radiostation gespielt worden.«
»Ehrlich?« Mona riss die Augen auf. »Das ist ja toll! Warum
hast du mir nichts davon erzählt?«
Daniel winkte ab. »Ich weiß es selbst erst seit heute.
Außerdem war es nur ein kleiner Lokalsender, aber immerhin.
Montagnachmittag will uns ein Redakteur vom Dederstädter
Anzeiger interviewen.«
»Nicht schlecht!«, sagte ich anerkennend. »Dann seid ihr
bestimmt bald reich und berühmt.«
»Montagnachmittag?« Mona runzelte die Stirn. »Da wollten
wir uns doch im Venezia treffen.«
Habe ich schon erwähnt, dass das Venezia die beste (und
einzige) Eisdiele von Dederstadt ist? Besonders der
Erdbeerbecher ist sensationell.
»Stimmt!« Daniel schlug sich mit der flachen Hand gegen die
Stirn. »Sorry, aber das hatte ich total verschwitzt. Fändest du
es sehr schlimm, wenn wir ein andermal Eis essen gehen?
Dafür darfst du dir dann auch den größten Eisbecher auf der
ganzen Karte aussuchen.«
»Klar, kein Problem.« Mona lächelte tapfer, aber ich war mir
ziemlich sicher, dass sie trotzdem enttäuscht war. Daniel
schien nichts davon zu merken.
»Du bist die Beste!« Er nahm Mona in die Arme und drückte
ihr einen Kuss auf die Lippen.
Ich drehte mich weg. Diese ewige Knutscherei ging mir echt
auf die Nerven. In meiner Familie knutschten alle ständig
herum: Mama knutschte mit Thomas, Papa mit Melinda, Klaus
mit Nadine und Mona mit Daniel. Bäh! Da konnte einem doch
nur schlecht werden, oder?
Na ja, vielleicht lag es auch ein bisschen daran, dass ich
selbst niemanden zum Knutschen hatte. Womit wir wieder
beim Thema Felix wären. Verflixt! Ich wollte doch nicht mehr
ständig an ihn denken. Klappte ja wirklich prima!
In diesem Moment tauchte ein großer, dünner Mann mit
Glatze und roter Hornbrille auf. Er stellte sich in die Mitte der
Galerie und klatschte in die Hände. Die Gespräche der Gäste
verstummten, und alle sahen neugierig zu ihm hinüber.
»Ist das dieser Jack?«, raunte Mona mir zu. »Dem die Galerie
gehört?«
Ich zuckte mit den Schultern und flüsterte zurück: »Ich
schätze schon.«
»Liebe Gäste!«, rief der Mann mit ungewöhnlich tiefer
Bassstimme. »Ich freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen
sind. Heute möchte ich mit Ihnen auf die Eröffnung einer
neuen Ausstellung anstoßen und Ihnen einen ganz besonderen
Künstler vorstellen, von dem wir sicherlich noch viel hören
werden: Rudolf Laurenz!«
Alle applaudierten. Ich klatschte so laut, dass mir die Hände
wehtaten. Papa erschien zwischen den Gästen und stellte sich
neben Jack. Er grinste unsicher und verbeugte sich leicht.
Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. Ich drückte ganz fest
beide Daumen, kniff die Augen zusammen und schickte einen
Wunsch ans Universum.
Mach, dass alles gut geht!
Mach, dass alles gut geht!
Mach, dass alles gut geht!
Sicherheitshalber schickte ich den Wunsch gleich dreimal ab.
Man kann schließlich nie wissen …

Omas beste Sprüche: Doppelt hält besser. Und dreimal


sowieso. (Kleiner Zusatz von mir!)

»Nun wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Betrachten dieser


ausdrucksstarken Bilder und uns allen einen inspirierenden
Abend!« Jack hob sein Sektglas. »Zum Wohl!« Während die
Erwachsenen einander zuprosteten und einen Schluck tranken,
nickte Jack Daniel zu.
»Es geht los!« Daniel gab Mona noch einen schnellen Kuss,
dann spurtete er zur Bühne.
»Hoffentlich geht alles gut«, flüsterte Mona, und ich musste
grinsen, weil sich das fast wie mein Wunsch ans Universum
anhörte. Wie es aussah, hatte das Universum heute alle Hände
voll zu tun.
Daniel stellte sich vors Mikro und räusperte sich. Es gab eine
Rückkopplung, und ein unangenehmes Quietschen ertönte. Die
Gäste zuckten zusammen, und Daniel grinste entschuldigend.
Immerhin hatte er jetzt die volle Aufmerksamkeit des
Publikums.
»Hallo, alle zusammen!«, rief er. »Wir sind die Band ohne
Namen und werden diesen Abend musikalisch begleiten. Viel
Spaß!«
»Hieß die Band nicht vor einer Weile noch anders?«, fragte
ich Mona leise.
»Ja«, antwortete Mona. »Sie haben in letzter Zeit dreimal
den Namen gewechselt. Bis Jonas auf Band ohne Namen
gekommen ist. Klingt nicht schlecht, oder?«
»Allerdings.« Ich kicherte. »Wie sagt man doch so schön?
Aus der Not eine Tugend machen …«
Der erste Song begann. Es war eine schnelle Nummer, bei
der man automatisch mitwippen musste. Seit Daniels Band kein
Heavy Metal mehr spielte, fand ich sie richtig gut. Den anderen
Gästen ging es offenbar ähnlich. Ich sah viele nickende Köpfe
und wippende Füße. Ein paar Leute blieben vor der Bühne
stehen und hörten zu, andere machten die Runde, um sich
Rudis Bilder anzusehen.
Rudi! Den hatte ich ja noch gar nicht begrüßt! Ich sah mich
um und entdeckte ihn neben der Bar. Er unterhielt sich gerade
mit einem älteren Ehepaar. Ich lief zu ihm hinüber und zupfte
am Ärmel seines weißen Hemdes. Es war etwas zerknittert,
stand ihm aber trotzdem ziemlich gut.
»Hallo, Papa!«
Er drehte sich um, und ein Lächeln erschien auf seinem
Gesicht. »Emma!« Er nahm mich in die Arme und drückte mir
einen Kuss auf die Stirn. Ausnahmsweise hatte er sich
gründlich rasiert und duftete nach Aftershave. »Schön, dass du
da bist!« Er wandte sich an das ältere Ehepaar. »Darf ich
vorstellen? Das ist meine Tochter Emma.«
»Wie nett!« Die Frau lächelte mir zu. Sie hatte schneeweiße,
perfekt geföhnte Haare und trug eine Bluse mit
Leopardenmuster, was in ihrem Alter ziemlich albern wirkte.
Aber das sagte ich natürlich nicht laut. Früher hätte ich das
vielleicht gemacht, aber inzwischen bin ich fast dreizehn und
beinahe erwachsen. Da weiß man, wie man sich benimmt.
»Tim ist auch da«, informierte ich Papa. »Und Klaus mit
Nadine. Und Mona.«
»Toll!« Papa grinste.
»Wie viele Kinder haben Sie denn?«, erkundigte sich die
Dame leicht verwirrt.
»Ach, nur vier«, antwortete Papa. »Klaus ist mein Ältester,
Emma und Tim sind Zwillinge, und Lili ist ein halbes Jahr alt.«
»Acht Monate«, korrigierte ich.
»Tatsächlich?« Papa fuhr sich mit der Hand über sein frisch
rasiertes Kinn. »Unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht!«
»Ja, ja, man muss es genießen, solange die Kinder noch klein
sind.« Die Frau nickte weise.
»Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen«,
fügte ihr Mann hinzu und trank sein Sektglas aus. Ich verkniff
mir ein Grinsen. Der Spruch hätte glatt von Oma sein können!
»Dann ist Ihre Frau bestimmt sehr stolz auf Sie, oder?« Die
Dame lächelte. »Eine eigene Ausstellung, das ist doch was!«
Papa kratzte sich am Kopf. »Tja, so einfach ist das leider
nicht …« Er schien nicht so recht zu wissen, wie er unsere
Familiensituation erklären sollte. Dabei war das doch
eigentlich ganz leicht!
»Erst hatten Mama und Papa eine Beziehungskrise«, sprang
ich ein. »Jetzt sind sie geschieden, und Mama ist mit Thomas
zusammen, obwohl er eigentlich viel zu jung für sie ist.
Außerdem wohnen Mamas Freundin Gesa und ihre Tochter
Mona bei uns. Meistens ist auch noch Betty da, Gesas
Freundin. Gesa ist nämlich lesbisch, aber das wissen wir erst
seit ein paar Wochen. Und Papa ist mit Melinda zusammen.
Melinda kommt aus Australien. Sie wohnen in einer WG in
Dederstadt.«
»Aha.« Die Dame lächelte immer noch, aber es sah ziemlich
gequält aus. »Wie interessant.« Sie griff nach dem Arm ihres
Mannes. »Komm, Helmut, wir müssen los. Es ist schon spät.«
Ich sah, wie ihr Mann im Weggehen den Kopf schüttelte.
»Zustände sind das heutzutage …«, raunte er seiner Frau zu.
»Das arme Kind!«, flüsterte die Frau zurück.
Papa blickte den beiden nachdenklich hinterher. »Ich weiß
nicht, ob das so schlau war, Emma«, sagte er. »Die kaufen mir
jetzt bestimmt kein Bild mehr ab.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Na und? Aber welches Kind
hat sie gemeint?«
Papa sah mich seltsam an. »Dich natürlich, Emma.«
»Mich?«, fragte ich überrascht. »Aber warum glaubt sie, dass
ich arm bin?«
Papa seufzte. »Weil Mama und ich nicht mehr
zusammenleben und du in einer zerrütteten Familie
aufwächst.«
Darüber musste ich nachdenken. Zerrüttete Familie? So
hatte ich das noch nie gesehen. Chaotisch war meine Familie
auf jeden Fall, aber zerrüttet? Was sollte das bedeuten? Es
klang auf jeden Fall gar nicht gut.
»Ich finde nicht, dass wir zerrüttet sind«, sagte ich. »Und ich
finde auch nicht, dass ich arm bin.«
Papa zerstrubbelte mir liebevoll die Haare. »Das freut mich,
Emma.«
Jack, der vor einem von Papas großformatigen Bildern stand
und mit ein paar Besuchern sprach, winkte Papa hektisch zu.
»Ich glaube, ich muss mich mal ein bisschen um die Gäste
kümmern.« Papa klang nicht besonders begeistert.
»Viel Glück!«, wünschte ich ihm. »Ich drück dir die
Daumen.«

Um es gleich vorwegzusagen: Die Vernissage wurde ein voller
Erfolg. Erstaunlicherweise waren die Leute total begeistert von
Papas Bildern. Alle wollten mit ihm reden. Die Frauen hingen
an seinen Lippen, während er von seinen Motiven, der
Farbauswahl und der Bildkomposition sprach. An Melindas
Stelle wäre ich ganz schön eifersüchtig geworden. Aber
Melinda stand nur strahlend neben Rudi und himmelte ihn
mindestens genauso sehr an wie die weiblichen Gäste.
Auch der Auftritt von Daniels Band kam ziemlich gut an. Sie
bekamen eine Menge Applaus. Eine Frau wollte sogar ein
Autogramm von Daniel für ihre Tochter, die sein Video im
Internet gesehen hatte. Verrückt, oder?
Klaus bewegte sich kaum vom Büfett weg und futterte
kiloweise Häppchen. Typisch! Als ob wir zum Essen
hergekommen wären …
Es war schon ziemlich spät, als wir alle am Büfett wieder
zusammentrafen. Die meisten Gäste waren inzwischen
gegangen, nur ein paar hartgesottene Kunstfans quatschten
immer noch mit Papa und Jack.
Mona gähnte, Tim hatte ganz kleine Augen, und ich war auch
ziemlich müde.
Gesa sah auf die Uhr. »Wir sollten jetzt nach Hause fahren.
Lia fragt sich bestimmt schon, wo wir bleiben. Zum Glück ist
morgen Samstag, und wir können ausschlafen.«
Daniel, Markus und Jonas verabschiedeten sich gerade von
Jack. Sie hatten ihre Sachen zusammengepackt und warteten
auf Daniels Mutter, die sie mit dem Auto abholen wollte.
Papa kam zu uns herüber. »Wollt ihr los?«, fragte er.
Gesa nickte. »Es wird Zeit.«
»Schön, dass ihr da wart.« Papa umarmte uns alle der Reihe
nach. Nur Klaus, der gerade das letzte Lachsbrötchen futterte,
klopfte er männermäßig auf die Schulter. »Ich hoffe, es hat
euch gefallen.«
»Und wie!«, versicherte Mona eifrig. »Es war ganz toll!«
»Hat denn jemand ein Bild gekauft?«, erkundigte sich Tim.
»Nicht nur eins.« Papa grinste stolz. »Ich habe heute Abend
drei Bilder verkauft!«
»Das ist ja super!«, rief ich. »Heißt das, du musst jetzt keine
Kochbücher mehr illustrieren?«
Papa verzog das Gesicht. »Ich fürchte, die Pfannkuchen und
Rindsrouladen werde ich so schnell nicht los. Leider sind die
Preise für meine Bilder noch nicht besonders hoch.«
»Ach, das ändert sich bestimmt bald«, sagte ich
zuversichtlich. »Und dann wirst du reich und berühmt.«
»Ja, vielleicht.« Papa fuhr sich durch seine leicht zerzausten
Haare. »Auf jeden Fall ist es ein guter Anfang.«
4. Kapitel

Schlechte Nachrichten

Gut gelaunt kehrten wir nach Hause zurück. Gesa drehte das
Radio im VW-Bus voll auf, und wir sangen den Hit des
vergangenen Sommers laut mit. Nur Tim nicht, der alte
Spielverderber. Trotzdem war ich froh, dass er neben mir saß.
Meine Wut auf ihn hatte im Lauf des Abends ein wenig
nachgelassen. Ich werde zwar schnell wütend, aber meistens
rege ich mich auch schnell wieder ab. Vielleicht sollte ich
versuchen, das restliche Wochenende mit meinem Bruder
einfach zu genießen. Schließlich würden wir uns danach erst in
vier Wochen wiedersehen.
Als Gesa den VW-Bus auf den Hof lenkte, brannte in der
Küche noch Licht. Ich sprang aus dem Bus und lief ins Haus,
um Mama von Papas Erfolg zu erzählen. Wenn sie hörte, wie
toll die Leute seine Bilder gefunden hatten, würde sie in
Zukunft vielleicht etwas netter zu ihm sein.
Ich stürmte in die Küche und rief: »Rate mal, wie viele Bilder
Papa verkauft hat!«
Mama saß mit gebeugtem Rücken am Küchentisch, auf dem
jede Menge Papiere, Rechnungen, Kontoauszüge und anderes
Zeug lagen. Erst als sie aufblickte, merkte ich, dass sie weinte.
Sie wischte sich hastig mit der Hand über das Gesicht, aber ich
hatte es trotzdem gesehen.
Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Was ist denn?«, fragte ich
erschrocken. »Ist etwas passiert?«
Mein Herz klopfte wie verrückt. Ich musste an die Nacht
denken, in der Oma gestorben war. Als ich frühmorgens in die
Küche kam, hatte Mama auch am Tisch gesessen und geweint
wie jetzt. Und dann hatte sie mir gesagt, dass Oma tot war. Das
war die schlimmste Nachricht, die ich in meinem ganzen Leben
bekommen habe.
»Ist was mit Lili?«, fragte ich weiter, als Mama nicht
antwortete.
Mama schüttelte den Kopf.
Gesa kam herein. »Ach du je«, sagte sie nur, als sie Mama
sah. »Stress mit Thomas?«
Mama schüttelte wieder den Kopf. Mona und Tim blieben auf
der Türschwelle stehen und machten ratlose Gesichter.
»Jetzt sag doch endlich, was los ist!«, platzte ich heraus.
Mama seufzte. Sie sah uns alle der Reihe nach an, dann
verkündete sie langsam und deutlich: »Wir sind pleite.«
»Was?« Ich hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber nicht
damit.
»Pleite?«, fragte Mona. Sie sah genauso ratlos aus wie
vorher.
Gesa zog einen Stuhl an den Tisch und setzte sich. »Jetzt mal
ganz ruhig«, sagte sie. »Was soll das heißen, Lia?«
Mama lachte auf. Es klang ziemlich hysterisch. »Was das
heißen soll? Dass wir pleite sind! Wir haben keinen Cent mehr,
so sieht’s aus.«
»Aber … was ist mit den Einnahmen der letzten Monate?«,
fragte Gesa hilflos. »Da haben doch einige Kurse
stattgefunden.«
»Weg«, antwortete Mama knapp. »Alles weg. Aufgebraucht.
Ausgegeben. Futsch.« Sie schob Gesa die Kontoauszüge
hinüber. »Überzeug dich selbst, wenn du mir nicht glaubst.«
Gesa hob abwehrend die Hände. »Ich glaub dir ja! Aber bist
du sicher, dass wirklich gar nichts mehr da ist?«
Mama seufzte. »Hundertprozentig sicher. Ich hab den ganzen
Abend herumgerechnet. Das Gesundheitszentrum ist pleite.
Unser Geschäftskonto ist bis zum Anschlag überzogen. Und ich
habe keine Ahnung, wovon ich all diese Rechnungen bezahlen
soll.« Sie nahm einen Stapel Papiere vom Tisch und wedelte
damit herum.
»Die Bank könnte uns doch Geld geben, oder?«, schlug ich
vor. Banken horteten schließlich jede Menge Geld. Warum
sollte uns nicht eine von ihnen etwas leihen? Das hatte
schließlich schon einmal geklappt, als meine Eltern vor vielen
Jahren das Bauernhaus gekauft hatten.
Mama schüttelte müde den Kopf. »Die Bank gibt uns kein
Geld mehr. Wir sind nicht mehr kreditwürdig, weil wir keine
Einnahmen zu erwarten haben. Die letzten beiden Kurse
mussten wir absagen, weitere Veranstaltungen sind zurzeit
nicht geplant. Außerdem sind wir mit den Raten für unseren
Kredit im Rückstand. Der Kerl von der Bank macht sowieso
schon Druck. Wenn wir nicht bald zahlen, nehmen sie uns das
Haus weg!«
»Was?«, rief ich. »Das können sie doch nicht machen! Das
Haus gehört schließlich uns!«
»Schön wär’s«, erwiderte Mama. »Das Haus gehört leider
größtenteils der Bank, Emma. Weil sie uns das Geld dafür
geliehen hat und wir längst noch nicht alles zurückgezahlt
haben.«
Mir wurde flau im Magen. Das hatte ich nicht gewusst.
»Aber … aber … das geht doch nicht«, stammelte ich. »Heißt
das, wir müssen ausziehen?«
Bei dem Gedanken drehte sich mir beinahe der Magen um.
Ich wohnte hier, so lange ich denken konnte. Und jetzt sollten
wir plötzlich vertrieben werden? Das war einfach
unvorstellbar …
»Immer mit der Ruhe«, sagte Gesa. »So weit ist es ja noch
nicht. Irgendwie kriegen wir das schon hin.«
»Ach ja?« Mamas Stimme klang schrill. »Und wie, wenn ich
fragen darf?«
Gesa zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich noch nicht.
Aber es gibt für jedes Problem eine Lösung.«
»Du klingst schon fast wie Thomas!« Mama schlug mit der
flachen Hand auf die Tischplatte. Es knallte so laut, dass wir
alle zusammenzuckten. »Immer schön positiv denken! Das wird
schon wieder! Kommt Zeit, kommt Rat!« Sie schnaubte
verächtlich. »Ich kann’s echt nicht mehr hören.«
»Jetzt reg dich doch nicht so auf«, sagte Gesa. »So hab ich
das gar nicht gemeint …«
»Es ist mir egal, wie du das gemeint hast.« Mamas Lippen
waren schmal, wie immer, wenn ihr etwas gegen den Strich
ging. »Ich kann einfach nicht mehr. Es ist alles zu viel. Fakt ist:
Wir sind pleite, und ich habe keine Ahnung, wie lange wir noch
ein Dach über dem Kopf haben. Und jetzt gehe ich schlafen.«
Sie stand auf und marschierte an Mona und Tim vorbei aus der
Küche. Einfach so.
»Aber …«, begann ich, doch Gesa schüttelte den Kopf.
»Lass sie. Es war wirklich zu viel in letzter Zeit. Der ganze
Stress der vergangenen Monate, die Trauer um Gertrud, die
Geldprobleme …« Gesa seufzte. »Da kann man schon mal die
Nerven verlieren.«
»Müssen wir wirklich ausziehen?«, fragte Mona leise.
»Ich hoffe nicht.« Gesa erhob sich. »Lasst uns das morgen
besprechen, okay? Jetzt sollten wir ins Bett gehen. Es war ein
langer Tag.«
Tim nickte. Er war ziemlich blass um die Nase. »Gute
Nacht!« Er drehte sich um und verschwand in seinem Zimmer.
Gesa und Mona machten sich ebenfalls auf den Weg ins Bett.
Ich blieb noch einen Moment in der Küche sitzen und spürte
die nagende Angst, die sich in meinen Eingeweiden festgekrallt
hatte, seit ich die Verzweiflung in Mamas Blick gesehen hatte.
Ich fühlte mich so hilflos. Wir sollten aus unserem Zuhause
vertrieben werden, und ich konnte nichts dagegen tun.
Überhaupt nichts. Was würde aus uns werden, wenn wir das
Haus räumen mussten?
Ich stand auf, schlich zu Tims Zimmer und klopfte leise an
die Tür.
Tims Stimme ertönte. »Herein!«
Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit und schlüpfte hinein. Tim
saß am Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm seines
Computers. Früher hatten wir abends oft hier gesessen und
geredet. Ich hatte Tim alles erzählt, was mir durch den Kopf
ging, und ihn um Rat gefragt, wenn irgendetwas schiefgelaufen
war. Er war mein engster Vertrauter gewesen. Aber das war
lange her.
»Störe ich?«, fragte ich.
Tim schüttelte den Kopf. »Ich wollte eigentlich noch ein
bisschen an meinem Chemie-Referat arbeiten, aber ich kann
mich nicht konzentrieren.« Er drehte sich um und sah mich an.
»Ich wusste nicht, dass es so schlimm um das
Gesundheitszentrum steht.«
Ich ließ mich auf Tims Bett nieder. »Ich auch nicht.« Dabei
hätte ich es wissen müssen. Mama war schon seit Monaten
schlecht drauf. Sie hatte oft über die wenigen
Kursanmeldungen geklagt und sich Sorgen ums Geld gemacht.
Aber ich war so mit mir und meinen eigenen Problemen
beschäftigt gewesen, dass ich gar nicht richtig zugehört hatte.
»Vielleicht sollte ich zurückkommen«, sagte Tim leise.
Ich setzte mich mit einem Ruck auf. »Was?«
»Vielleicht sollte ich meinen Internatsplatz kündigen und
wieder nach Hause kommen.« Tims Stimme klang rau.
»Warum denn? Ich dachte, es gefällt dir im Internat.«
»Ja, klar.« Tim sah zu Boden. »Aber wir müssen jetzt
zusammenhalten und Mama unterstützen, sonst klappt sie noch
zusammen.«
Ich starrte ihn an. Gestern noch hätte ich bei dieser
Ankündigung einen Luftsprung vor Freude gemacht. Wie oft
hatte ich mir das heimlich gewünscht? Aber jetzt freute ich
mich kein bisschen. Tim sah so unglücklich aus, dass es mir ins
Herz schnitt. »Das würdest du wirklich tun?«, fragte ich
ungläubig.
Tim zuckte mit den Schultern »Ich kann euch doch jetzt nicht
alleinlassen, oder?« Seine Augen waren dunkel.
In diesem Moment wurde mir etwas klar: Ich wollte nicht,
dass mein Bruder unglücklich war. Ich wollte, dass er glücklich
war, auch wenn das hieß, ihn nur ein Mal im Monat zu sehen.
»Doch, das kannst du«, sagte ich fest. »Es hilft Mama kein
bisschen, wenn du dein Stipendium sausen lässt. Du fährst
morgen wieder zurück ins Internat und damit basta.«
»Meinst du wirklich?«, fragte Tim zögernd.
Ich nickte. »Auf jeden Fall.«
Tim sah mich ernst an. »Danke, Emma.«
»Keine Ursache«, murmelte ich und überlegte, ob ich gerade
einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Dies war die
einmalige Chance gewesen, Tim zurück nach Hause zu holen.
Und ich hatte sie nicht genutzt. Doch als ich die Erleichterung
sah, die sich auf Tims Gesicht abzeichnete, wusste ich, dass es
kein Fehler gewesen war.

Omas beste Sprüche: Reisende soll man nicht aufhalten.

Ich stand auf. »Wir schaffen das schon irgendwie.«


Tim nickte. Als ich an der Tür war, hörte ich noch einmal
seine Stimme. »Gute Nacht, Schwesterherz.«
Ich lächelte. »Gute Nacht.«
5. Kapitel

Omas letzter Gruß

Auf dem Weg nach oben warf ich noch einen schnellen Blick ins
Wohnzimmer. Der Anrufbeantworter blinkte mir aus der
Dunkelheit entgegen. Augenblicklich begann mein Herz,
schneller zu schlagen. Mit einem Satz war ich am Telefon und
drückte auf Wiedergabe. Zwei neue Nachrichten!
Der erste Anruf war von Pfarrer Pauli. Er bat Mama,
dringend zurückzurufen. Ich atmete geräuschvoll aus. Erst
jetzt fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten
hatte. Die Enttäuschung überkam mich so heftig, dass meine
Knie zitterten. Wahrscheinlich ging es mal wieder um die
Pflege von Omas Grab oder irgendetwas anderes Langweiliges.
Mit bebendem Finger drückte ich auf den Knopf, um den
zweiten Anruf abzuhören. Erst blieb alles still, dann begann
jemand zu sprechen.
»Äh … hallo … Emma? … Tja, du bist wohl gerade nicht da.
Schade. Ich wollte nur mal hören, wie’s dir so geht. Kannst
dich ja mal melden. Okay … also, bis dann.«
Mit einem Schlag war die Enttäuschung wie weggeblasen.
Stattdessen breitete sich ein riesengroßes Grinsen auf meinem
Gesicht aus. Die Stimme aus dem Lautsprecher hatte zwar
etwas blechern geklungen, aber ich hatte sie natürlich
trotzdem sofort erkannt. Felix, Felix, Felix, sang es in meinem
Kopf. Er hatte mich nicht vergessen!
Sofort griff ich nach dem Telefon und tippte seine
Handynummer. Aber sein Handy war ausgeschaltet. Verflixter
Mist! Ob Felix schon schlief? Auf dem Festnetz seiner Eltern
traute ich mich um diese Zeit nicht mehr anzurufen. Es war
zum Aus-der-Haut-Fahren! Warum telefonierten wir eigentlich
ständig aneinander vorbei? So viel Pech konnte man doch gar
nicht haben!
Seufzend ging ich nach oben. Mona lag schon im Bett und las
in einem ihrer geliebten Heftchenromane. Ich hätte mich jetzt
auch gerne irgendwie abgelenkt. Von meiner Sehnsucht nach
Felix. Und von der Angst, die immer noch an meinen
Eingeweiden nagte. Was, wenn wir unser Haus wirklich
verlieren würden? Klaus würde wahrscheinlich zu Nadine
ziehen. Das hatte er schon mal gemacht, allerdings war er
ziemlich schnell wieder rausgeflogen. Tim würde einfach
zurück ins Internat fahren, dort hatte er ja sein Zimmer, das er
sich mit Felix teilte. Gesa und Mona würden sich eine Wohnung
in Dederstadt suchen, so wie früher, und Thomas könnte
bestimmt zurück in seine WG. Dann wären nur noch Mama, Lili
und ich übrig. Wo sollten wir hin?

Wo Mama, Lili und ich schlafen könnten, wenn wir kein


Dach mehr über dem Kopf haben:

1. Bei Papa in der WG (das fände Mama aber


wahrscheinlich nicht so toll)
2. Bei Pfarrer Pauli im Pfarrhaus (das fände ich nicht so
toll, weil mich da alles an Oma erinnert)
3. Bei Klara (das fänden ihre Eltern nicht so toll)
4. In einem Zelt auf dem Campingplatz
5. In einem leer stehenden Gartenhäuschen in der
Schrebergartenkolonie
6. In einer Notunterkunft für Obdachlose
7. Unter einer Brücke (das hab ich mal in einem Film
gesehen)


Mir gefiel Nummer vier am besten, aber ich war mir nicht
sicher, ob Mama die Idee gefallen würde. Bei den Punkten fünf
bis sieben wurde mir ziemlich mulmig zumute. Hoffentlich
würde es nicht so weit kommen …
Mona legte ihren Heftchenroman zur Seite und knipste das
Licht aus. »Gute Nacht, Emma«, sagte sie.
»Gute Nacht, Mona.«
Sie drehte sich ein paarmal hin und her, dann war sie
eingeschlafen. Ich lauschte ihrem ruhigen Atem und starrte in
die Dunkelheit. Ob Papa uns Geld leihen konnte? Immerhin
hatte er heute drei Bilder verkauft. Aber das Geld brauchte er
bestimmt für sich, schließlich verdiente er selbst nicht
besonders viel.
Was Oma wohl zu dem ganzen Schlamassel gesagt hätte?
Wenn sie noch leben würde, hätte ich ihr natürlich sofort alles
erzählt. Sie hätte bestimmt eine Lösung gewusst.
Ich kniff die Augen zusammen und dachte so fest an Oma,
wie ich nur konnte. Gleichzeitig sprach ich mit ihr. Natürlich
nicht laut, sondern nur in meinem Kopf.

Liebe Oma,
wenn du mich hörst, dann hilf uns bitte! Wir brauchen
dringend Geld, sonst fliegen wir aus unserem Haus. Kannst
du da nicht was machen? Einen Schatz in unserem Garten
verstecken, zum Beispiel? Den könnte ich dann heben. Oder
den Mann von der Bank dazu bringen, dass er noch eine
Weile auf sein Geld wartet. Das wäre ganz, ganz toll!
Liebe Grüße,
Emma

Als ich mich auf die Seite drehte und mir die Decke bis zum
Kinn zog, musste ich grinsen. Wer hätte gedacht, dass ich mal
Gedankengespräche mit meiner toten Oma führen würde?
Eigentlich war das ziemlich verrückt. Trotzdem fühlte ich mich
jetzt ein bisschen besser. Ich gähnte, schloss die Augen und
war im Handumdrehen eingeschlafen.

Am Sonntagmorgen stand ich wie immer als Erste auf. Das ist
ganz komisch bei mir: In der Woche komme ich morgens nicht
aus dem Bett – vor allem, wenn wir in der ersten Stunde Mathe
haben –, dafür bin ich am Wochenende immer superfrüh wach.
Ich zog mich schnell an, ging in die Küche und begrüßte
Puck, der mich begeistert wedelnd empfing. Ich gab ihm sein
Hundefutter und sah ihm beim Fressen zu. Puck hat morgens
immer einen Mordshunger. Dann ging ich zum Kühlschrank
und holte eine Packung Eier, Butter und Milch heraus. Beim
Aufwachen hatte ich eine tolle Idee gehabt. Früher hatte Oma
mir immer ihren berühmten Schokoladenkuchen gebacken,
wenn ich traurig war. Der schmeckte so lecker, dass man
einfach nicht genug davon bekommen konnte. Und er half
gegen alles: Liebeskummer, schlechte Noten, Lehrer- oder
Elternstress und sämtliche Probleme, die man sich nur
vorstellen kann.
Darum hatte ich beschlossen, einen Schokoladenkuchen für
Mama zu backen. Das würde sie bestimmt aufmuntern. Leider
kannte ich das genaue Rezept nicht. Aber das war egal. Ich
hatte Oma so oft beim Backen zugesehen, dass ich den Kuchen
auch ohne Rezept hinbekommen würde.
Ich holte eine Rührschüssel, Mehl und Zucker aus dem
Küchenschrank. Schwungvoll kippte ich die halbe Mehltüte in
die Schüssel. Es staubte so heftig, dass ich husten musste.
Dann folgten ein paar Eier, Zucker (nicht zu wenig!), ein
großes Stück Butter, etwas Milch und jede Menge Kakao. Mit
dem Mixer verrührte ich alles zu einer gleichmäßigen Masse.
Eigentlich gehörten auch noch Schokoraspeln in den Kuchen,
aber die hatten wir nicht da. Ich steckte meinen Finger in die
Schüssel und probierte die dunkle Masse. Schmeckte gar nicht
schlecht. Zufrieden füllte ich den Teig in die Kuchenform und
stellte sie in den Backofen. Die Temperatur drehte ich voll auf.
Je heißer der Ofen war, desto schneller wäre der Kuchen fertig.
Vielleicht konnte Mama schon zum Frühstück ein Stück
probieren! Das würde sie bestimmt zum Lächeln bringen …
Kaum hatte ich alles wieder notdürftig weggeräumt, klingelte
es an der Haustür. Puck lief sofort bellend in den Flur. Ich
folgte ihm etwas langsamer. Wer konnte das sein? So früh am
Sonntagmorgen bekamen wir normalerweise keinen Besuch.
Neugierig öffnete ich die Tür.
»Hallo, Emma!«
Pfarrer Pauli! Sein Gesicht war knallrot, und seine sonst
immer sorgfältig gekämmten Haare standen wirr vom Kopf ab.
Er war außer Atem, als wäre er den ganzen Weg vom Pfarrhaus
bis zu uns gerannt.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Ja, ja«, antwortete Pfarrer Pauli hastig. »Ich muss mit
deiner Mutter sprechen. Warum hat sie mich denn gestern
nicht mehr zurückgerufen?«
»Mama war im Stress«, erklärte ich. »Was gibt es denn so
Dringendes?«
Pfarrer Pauli wedelte mit mehreren Papieren vor meinem
Gesicht herum. »Es geht um Gertruds Testament!« Er rannte
an mir vorbei in die Küche.
Ich schloss kopfschüttelnd die Haustür. Aus dem
Schlafzimmer hörte ich Lili krähen. Na toll, jetzt hatte Pfarrer
Pauli sie aufgeweckt. Die Tür zum Schlafzimmer ging auf, und
Mama erschien auf der Türschwelle. Sie trug ihren
Morgenmantel über dem Nachthemd, hatte dunkle Ringe unter
den Augen und sah ziemlich müde aus. Auf ihrem Arm gluckste
Lili fröhlich vor sich hin. Meine kleine Schwester hat fast nie
schlechte Laune. Eigentlich nur, wenn sie hungrig ist oder eine
volle Windel hat.
»Welcher Idiot hat denn da gerade geklingelt?«, fragte Mama
gähnend.
»Äh – das war Pfarrer Pauli«, sagte ich.
Mama runzelte die Stirn. »Gerhard? Was wollte er denn?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, irgendwas mit
Omas Testament. Er ist in der Küche.«
»Auch das noch …«, murmelte Mama genervt. Sie drückte
mir Lili in die Arme. »Nimmst du sie mal kurz, bitte? Ich muss
nur schnell ins Bad.«
Lili jauchzte begeistert, als ich mit ihr in die Küche
galoppierte. Sie spielt gern Rennpferd. Fast so gern wie
Autorennen im Kinderwagen.
»Mama kommt gleich«, informierte ich Pfarrer Pauli, der
nervös auf und ab lief.
Ich holte ein Gläschen Haferbrei mit Obstmus aus dem
Kühlschrank, nahm einen Plastiklöffel aus der Schublade und
setzte mich mit Lili an den Tisch, um sie zu füttern. Das klappt
meistens richtig gut. Wenn Mama Lili füttert, macht sie
manchmal den Mund nicht auf oder schlägt Mama den Löffel
aus der Hand. Manchmal spuckt sie den Brei auch einfach
wieder aus. Das macht sie bei mir nie. Ich schneide immer
Grimassen, und das findet Lili so spannend, dass sie den Mund
ganz von selbst aufsperrt. Als wir gerade beim dritten Löffel
waren, kam Mama herein. Ihr Gesicht war blass. Immerhin
hatte sie sich die Haare gekämmt und ihren Morgenmantel
ordentlich zugebunden.
»Hallo, Gerhard!«, begrüßte sie Pfarrer Pauli. »Was gibt es
denn so früh am Morgen?«
Pfarrer Pauli stürmte auf sie zu. »Es geht um Gertruds
Testament. Das musst du dir ansehen! Du wirst es nicht
glauben! Ich konnte es selbst kaum glauben. Deshalb hab ich
dich gestern auch gleich angerufen. Leider hab ich dich nicht
erreicht …«
Mama fuhr sich über die Augen und unterdrückte ein
Gähnen. »Ich hatte zu tun, darum bin ich nicht ans Telefon
gegangen.« Sie nahm Pfarrer Pauli die Blätter aus der Hand.
»Aber ich verstehe immer noch nicht so ganz, was los ist. Was
ist denn mit dem Testament?«
»Hier steht, dass du Gertruds Sparbuch erben sollst.« Pfarrer
Pauli tippte auf eine Stelle in dem Dokument.
Mama zuckte mit den Schultern. »Na und? Da werden
höchstens ein paar Euro drauf sein. Mutti hatte doch nichts.«
»Das habe ich auch gedacht.« Pfarrer Pauli fuhr sich durch
seine zerzausten Haare. »Ich hatte in letzter Zeit so viel zu tun,
dass ich erst gestern dazu gekommen bin, Gertruds
Bankunterlagen durchzugehen. Dabei ist mir das Sparbuch in
die Hände gefallen. Bitte schön!« Er zog ein kleines blaues
Heft aus der Innentasche seines Jacketts und reichte es Mama.
»Vielen Dank.« Mama griff nach dem Sparbuch. »Aber du
hättest deshalb wirklich nicht extra vorbeikommen müssen.
Das hat schließlich keine Eile …« Sie wollte das Heft zur Seite
legen, doch Pfarrer Pauli hielt sie zurück.
»Sieh hinein«, sagte er nachdrücklich.
Mama seufzte. Sie fragte sich offenbar genau wie ich, was
das Ganze sollte. Während ich Lili einen Löffel Brei nach dem
anderen in den Mund schob, beobachtete ich gespannt, wie
Mama das Sparbuch aufschlug und es langsam durchblätterte.
Als sie auf der letzten Seite angekommen war, wurde sie noch
etwas blasser, als sie es ohnehin schon war.
»Aber … das … das ist ja …«, stammelte sie.
Pfarrer Pauli nickte. »Das ist ein ganz ordentliches
Sümmchen«, vollendete er den Satz.
Mama ließ das Sparbuch sinken. »Woher hatte Mutti so viel
Geld?«
»Das habe ich mich auch gefragt.« Pfarrer Pauli machte ein
nachdenkliches Gesicht. »Wahrscheinlich hat sie ihr Leben
lang immer wieder etwas zur Seite gelegt. Da kommt im Lauf
der Jahre ganz schön was zusammen.«
»Was ist denn los?«, fragte ich dazwischen.
»Oma hat uns Geld vererbt.« Ein Lächeln erschien auf
Mamas Gesicht. Sie schien erst jetzt so richtig zu verstehen,
was das bedeutete.
»Wie viel?«, wollte ich wissen.
»Genug.« Mama strahlte über das ganze Gesicht. »Genug,
um die ausstehenden Raten für den Kredit und alle fälligen
Rechnungen zu bezahlen.« Sie fiel Pfarrer Pauli um den Hals.
»Danke! Das ist ein Geschenk des Himmels!«
Pfarrer Pauli wurde rot und rückte verlegen seine Brille
gerade. »Es hätte Gertrud bestimmt gefreut, dass sie dich mit
ihrem Ersparten so glücklich machen kann.«
Mama wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie
umklammerte das Sparbuch, als wäre es ein letzter Gruß von
Oma. Und das war es ja auch irgendwie.
Trotzdem war ich mir nicht ganz sicher, ob ich alles richtig
verstanden hatte. »Heißt das, wir können jetzt doch hier
wohnen bleiben?«, vergewisserte ich mich.
Mama nickte. »Vorläufig ja. Die Erbschaft kommt genau zum
richtigen Zeitpunkt.«
Mir fiel ein riesengroßer Stein vom Herzen. Alle düsteren
Gedanken der letzten Nacht lösten sich in Luft auf. Wir
mussten nicht unter einer Brücke schlafen! Und auch nicht in
einem Heim für Obdachlose. Wir konnten hierbleiben, in
unserem Zuhause. Alle zusammen.
»Hast du das gehört?« Ich drückte Lili einen Kuss auf ihre
weiche Wange. »Es ist alles in Butter!« Aber Lili interessierte
sich nicht für Sparbücher und Erbschaften. Sie interessierte
sich nur für ihr Frühstück. Und es gefiel ihr gar nicht, dass ich
aufgehört hatte, sie zu füttern. Sie begann zu quengeln, und
ich kratzte schnell das Glas aus, um ihr einen letzten Löffel
Brei in den Mund zu schieben.
Plötzlich zog Mama die Nase kraus. »Hier riecht es irgendwie
seltsam …«
Ich schnupperte. »Der Kuchen!« Ich sprang so schnell auf,
dass Lili vor Schreck einen feuchten Rülpser ausstieß.
Aber Mama war noch schneller. Mit einem Satz war sie beim
Backofen, schaltete ihn aus und riss die Ofentür auf. Dichter,
dunkler Qualm strömte heraus. Mama begann sofort zu husten.
»Fenster auf!«, japste sie.
Pfarrer Pauli hastete zum Küchenfenster und öffnete es
sperrangelweit. Kühle Herbstluft wehte herein und vermischte
sich mit dem Brandgeruch.
»Mein schöner Schokoladenkuchen!«, jammerte ich.
Mama nahm zwei Topflappen und holte die heiße
Kuchenform vorsichtig aus dem Ofen. Der Kuchen war völlig
verkohlt und sah absolut ungenießbar aus. »Ich fürchte, den
können wir nur noch entsorgen.« Mama stellte die Kuchenform
zum Abkühlen auf die Fensterbank. »Was hast du dir nur dabei
gedacht, Emma?« Sie nahm mir Lili ab, die mit großen Augen
den stinkenden Qualm betrachtete, der von dem Kuchen
aufstieg.
Ich ließ den Kopf hängen. »Ich wollte dir eine Freude machen
und Omas Schokoladenkuchen für dich backen. Es sollte eine
Überraschung werden. Aber ich hatte das Rezept nicht, darum
hab ich den Ofen wohl etwas zu heiß eingestellt.«
»Allerdings.« Mama setzte Lili auf den Boden und nahm mich
in die Arme. »Trotzdem danke«, flüsterte sie und drückte mir
einen Kuss aufs Ohr.
Pfarrer Pauli warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich
muss mich jetzt leider verabschieden, sonst schaffe ich es nicht
mehr pünktlich zum Sonntagsgottesdienst.«
Mama brachte ihn zur Tür. Ich starrte währenddessen
gedankenverloren auf das Sparbuch. Es war etwas verblichen
und sah völlig unscheinbar aus. Ob es tatsächlich ein letzter
Gruß von Oma war?
Als Mama wieder in die Küche kam, wirkte sie längst nicht
mehr so müde wie vorhin. Sie lächelte mir zu. »Was hältst du
davon, wenn wir zur Feier des Tages ein richtig schönes
Sonntagsfrühstück für die ganze Familie zaubern? Die anderen
werden staunen, wenn sie von der Erbschaft hören.«
»Gute Idee!« Ich nickte eifrig. »Aber vorher muss ich schnell
noch mal weg. Dauert auch nicht lange.«
»Wo willst du denn hin?«, fragte Mama überrascht.
Ich war schon im Flur. »Zum Friedhof!«, rief ich über die
Schulter zurück. Hastig griff ich nach meiner Jacke und verließ
das Haus.
6. Kapitel

Ein kleines Wunder

Es war ein kühler Oktobermorgen. Der Himmel war von einer


gleichmäßigen grauen Wolkenschicht überzogen, und der Wind
ließ das welke Laub auf den Gräbern tanzen. Auf dem Friedhof
war bei diesem Wetter nicht viel los. Ein paar ältere Damen
machten sich gerade auf den Weg in die Kirche, als ich auf dem
schmalen Kiesweg zu Omas Grab marschierte. Gleich begann
der Sonntagsgottesdienst. Ich nickte den Frauen im
Vorbeigehen zu und war froh, mit Oma allein sein zu können.
Vor ihrem Grab blieb ich stehen. Es sah nicht ganz so
gepflegt aus wie die Nachbargräber. Ich kam zwar oft hierher,
aber meistens, um mit Oma zu reden, und nicht, um Unkraut zu
zupfen.
»Danke!«, flüsterte ich. »Dafür, dass du mir geholfen hast,
meine ich. Das mit dem Sparbuch war eine super Idee. Viel
besser als ein Schatz im Garten. Mama war total happy, das
hättest du sehen müssen …« Ich seufzte. »Du fehlst mir. Uns
allen. Ich hoffe, es geht dir gut.«
Ich blieb noch einen Moment vor dem Grab stehen, während
die Traurigkeit mein Herz einhüllte wie ein warmer Mantel. Sie
fühlte sich nicht mehr so schwer und düster an wie direkt nach
Omas Tod. Da hatte mir Oma manchmal so sehr gefehlt, dass
es richtig wehgetan hatte. Inzwischen war die Traurigkeit
sanfter geworden, fast zutraulich. Wie eine Katze, die einem
erst die Krallen zeigt und sich nach einer Weile doch kraulen
lässt.
Ȇbrigens wollte ich heute deinen Schokoladenkuchen
backen«, fügte ich hinzu und zog die Nase kraus. »Hat leider
nicht geklappt. Stattdessen hätte ich fast die Küche
abgefackelt. Vielleicht kannst du mir bei Gelegenheit mal das
Rezept verraten, dann starte ich einen zweiten Versuch.«
Manchmal vergaß ich fast, dass Oma tot war, wenn ich mit
ihr redete. Was ein bisschen verrückt war, weil ich schließlich
an ihrem Grab stand. Und gab es einen besseren Beweis dafür,
dass jemand gestorben war, als sein Grab? Aber wenn ich mich
mit Oma unterhielt, wurde sie für mich wieder so lebendig wie
vor ihrem Herzinfarkt. Ich konnte fast hören, wie sie über die
Geschichte mit dem Kuchen lachte, und ich meinte zu spüren,
wie ihre Hand über mein Haar strich. Aber in Wirklichkeit war
es nur der Wind.
Hinter mir ertönte ein Räuspern, und ich fuhr herum. Einen
kurzen Moment erwartete ich beinahe, Oma hinter mir stehen
zu sehen. Mit ihren grauen Ringellöckchen, die immer etwas
widerspenstig vom Kopf abstanden, und ihrem verschmitzten
Lächeln. Aber Oma war nicht da. Natürlich nicht. Oma war tot
und damit basta. Stattdessen erblickte ich einen alten Herrn
am Grab gegenüber. Er war sehr groß und sehr dünn und trug
einen dunklen Anzug mit schwarzem Hut. Er stützte sich auf
einen Spazierstock. Ich hatte ihn noch nie auf dem Friedhof
gesehen. Er blickte sich um, als würde er etwas suchen.
»Entschuldige bitte, junge Dame«, sagte er.
Erst wusste ich nicht, mit wem er sprach. Da wir aber
inzwischen die Einzigen auf dem Friedhof waren, musste er
wohl mich meinen. Junge Dame! Fast hätte ich laut
losgekichert. Ich kenne niemanden, der weniger eine junge
Dame ist als ich. Aber das konnte der Mann ja nicht wissen,
schließlich kannte er mich nicht.
»Kannst du mir vielleicht sagen, wo ich eine Gießkanne
finde?«, fragte der alte Herr.
Ich nickte. »Klar. Die stehen dort drüben, hinter der Kapelle.
Da ist auch der Wasserhahn.«
»Allerherzlichsten Dank.« Der Mann verbeugte sich leicht,
und ich musste schon wieder ein Kichern unterdrücken.
So ein komischer Kauz! Er erinnerte mich ein bisschen an
den alten Herrn Marten, um den ich mich letztes Jahr
gekümmert hatte. Herr Marten wohnte ganz allein in einem
Haus in Tupfingen, und ich hab ihn regelmäßig besucht, um
ihm aus der Zeitung vorzulesen. Aber dann wurde er immer
verwirrter und fing an, komische Sachen zu machen. Ohne
Schuhe und Jacke rauszugehen, zum Beispiel. Mitten im
Winter! Einmal hat er sogar einen Topf Milch auf der heißen
Herdplatte vergessen, da war es in seiner Küche fast so
verqualmt gewesen wie bei uns heute Morgen. Zum Glück bin
ich gerade noch rechtzeitig gekommen, um Schlimmeres zu
verhindern. Jetzt wohnt Herr Marten bei seiner Tochter Inge in
München.
Der Mann im dunklen Anzug hatte sich inzwischen auf den
Weg zur Friedhofskapelle gemacht. Er ging leicht gebeugt und
machte kleine Schritte. Dabei stützte er sich auf seinen Stock.
Der würde es bestimmt nicht schaffen, die schwere Gießkanne
quer über den Friedhof zu schleppen!
»Warten Sie, ich helfe Ihnen!« Ich rannte hinterher.
Der Mann blieb stehen und blickte sich überrascht um. Ein
Lächeln erschien auf seinem runzligen Gesicht.
»Allerherzlichsten Dank!«, sagte er noch einmal. »Das ist
wirklich sehr freundlich von dir.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Kein Problem.« Ich musterte
von der Seite seinen Anzug, der schon etwas zerschlissen war,
und die ordentlich polierten Schuhe. »Wenn Sie zum
Gottesdienst wollen, sind Sie spät dran«, informierte ich ihn.
»Der hat schon vor zehn Minuten angefangen.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, nein, mit der Kirche
habe ich nichts am Hut. Ich wollte nur beim Grab nach dem
Rechten sehen.«
Wir hatten die Friedhofskapelle erreicht. Neben dem
Wasserhahn standen mehrere zerbeulte Gießkannen. Ich füllte
eine davon mit Wasser, und wir machten uns auf den Rückweg.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und der alte Herr
schwieg ebenfalls.
»Soll ich das Gießen für Sie übernehmen?«, fragte ich, als
wir wieder vor dem Grab standen.
Der Mann nickte. »Das wäre eine große Hilfe. Ich kann leider
nicht mehr ganz so, wie ich will. So ist das, wenn man alt
wird.« Er lächelte wehmütig.
Ich begann, die Rosen auf dem Grab zu gießen. Sie hatten es
bitter nötig. Dabei warf ich einen schnellen Blick auf den
Grabstein. Dort stand in großen schwarzen Buchstaben:

Hier ruht meine geliebte Ehefrau


Henrietta Magdalene Luisa Freifrau von Kahlberg

* 29. August 1935 † 10. Oktober 2004

Für immer in meinem Herzen.
Ich rechnete schnell nach. Die Frau war 69 Jahre alt geworden.
Nicht ganz so alt wie Oma.
Der Mann hatte meinen Blick bemerkt. »Ich habe mich ja
noch gar nicht vorgestellt!« Er schüttelte den Kopf, als würde
er sich über sich selbst ärgern. »Wie unhöflich von mir.« Er
lüftete seinen Hut, sodass ich seine Glatze sehen konnte.
»Gestatten? Ottokar von Kahlberg. Und mit wem habe ich das
Vergnügen?«
Ich stellte die Gießkanne ab. »Emma«, sagte ich. »Emma
Laurenz. Ist das Ihre Frau?« Ich zeigte auf den Grabstein.
Ottokar von Kahlberg nickte. »Ja, dort liegt meine Jette. Sie
ist nun schon einige Jahre tot, aber ich vermisse sie trotzdem
jeden Tag.«
Erst jetzt fiel mir das Sterbedatum auf. Der 10. Oktober – das
war doch heute! Bestimmt war Herr von Kahlberg zum
Friedhof gekommen, weil seine Frau ihren Todestag hatte. Wie
traurig! Ich hätte ihn gerne etwas aufgemuntert, ich wusste
bloß nicht, wie.
»Meine Oma liegt direkt gegenüber.« Ich zeigte auf Omas
Grab. Vielleicht war es ja ein Trost für Herrn von Kahlberg,
dass seine Frau in netter Gesellschaft war.
»Oh!« Er drehte sich um und warf einen Blick auf Omas
Grab. »Deine Oma ist noch nicht lange hier, was?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie ist letzten Monat gestorben.
Herzinfarkt.«
»Das tut mir leid«, sagte Herr von Kahlberg. »Wenigstens
musste sie nicht lange leiden.«
»Woran ist Ihre Frau gestorben?«, fragte ich.
»Krebs«, antwortete Herr von Kahlberg knapp. »Diese
Krankheit wünscht man nicht mal seinem ärgsten Feind.« Er
presste die Lippen zusammen, und ich beschloss, lieber nicht
weiter nachzufragen. Die Oma meiner Ex-besten-Freundin Lea
war vor drei Jahren an Krebs gestorben. Am Schluss hatte sie
nur noch im Bett gelegen und so starke Schmerzmittel
bekommen, dass sie völlig weggetreten gewesen war. Im
Vergleich dazu hatte Oma mit ihrem Herzinfarkt fast noch
Glück gehabt.
»Kommst du oft hierher und besuchst deine Oma?«, fragte
Herr von Kahlberg.
»Ja, ziemlich oft«, erwiderte ich. »Heute wollte ich mich aber
nur kurz bei ihr bedanken. Sie hat mir einen Wunsch erfüllt.«
Herr von Kahlberg zog seine buschigen Augenbrauen hoch.
»Deine Oma erfüllt Wünsche? Wie praktisch!«
Ich nickte heftig. »Finde ich auch.« Ich erzählte von der
Pleite des Gesundheitszentrums, Omas Testament, dem
Sparbuch und dem Geld, das Mama nun erben würde. »Ist das
nicht verrückt? Die Erbschaft kommt genau zum richtigen
Zeitpunkt.«
»Klingt wie ein kleines Wunder«, stellte Herr von Kahlberg
fest.
Ich schaute zu Omas Grab hinüber. Der Gedanke, dass Oma
ein Wunder vollbracht haben könnte, gefiel mir. Und ihr hätte
er bestimmt auch gefallen.
»Ja«, sagte ich. »Da haben Sie recht.« Ich sah auf die Uhr
und bekam einen Schreck. »Jetzt muss ich aber los! Mama
wartet bestimmt schon mit dem Frühstück.«
»Ich wünsche dir und deiner Familie weiterhin einen
wunderschönen Sonntag.« Herr von Kahlberg lüftete zum
Abschied noch einmal seinen Hut. Er wirkte etwas verloren,
wie er so auf seinen Stock gestützt zwischen den Gräbern
stand, und er tat mir irgendwie ein bisschen leid.
»Was haben Sie denn heute so vor?«, erkundigte ich mich.
Herr von Kahlberg umklammerte seinen Stock. »Ich werde
noch ein bisschen hier bei Jette bleiben. Und dann fahre ich
zurück nach Hause zu meiner Ella, die mich sicherlich schon
sehnsüchtig erwarten wird.«
»Ist das Ihre Tochter?«
Herr von Kahlberg lächelte. »Nein. Es war uns leider nicht
vergönnt, Kinder zu haben. Ella ist mein Hund. Ein Kleiner
Münsterländer. Ich habe sie seit fünfzehn Jahren. Früher sind
wir gemeinsam auf die Jagd gegangen, inzwischen sind wir
beide zu alt dafür.«
»Ich habe auch einen Hund«, erzählte ich. »Er heißt Puck
und ist ein Mischling. Früher hatten wir einen Labrador, Paul,
aber der ist letzten Winter gestorben.«
»Komm mich doch mal mit Puck besuchen«, schlug Herr von
Kahlberg vor. »Ella freut sich bestimmt über nette
Gesellschaft. Wir wohnen außerhalb von Tupfingen, hinter dem
Heidkrug rechts und dann immer geradeaus.«
»Wohnen Sie etwa in diesem großen, alten Gutshaus mitten
im Wald?«, fragte ich. Da war ich früher manchmal
vorbeigefahren, wenn ich mit Papa eine Radtour gemacht
hatte.
Herr von Kahlberg nickte. »Dort haben die Hunde jede
Menge Platz zum Toben. Meine Ella liegt auf ihre alten Tage
allerdings lieber in ihrem Körbchen vor dem Kamin und lässt
sich das Fell wärmen.«
»Vielleicht komme ich wirklich mal vorbei«, sagte ich. »Aber
jetzt muss ich los.«
Ich lächelte Herrn von Kahlberg noch einmal zu und rannte
nach Hause.

Am späten Nachmittag erreichte ich Felix endlich auf seinem
Handy.
»Emma!« Er klang richtig froh, meine Stimme zu hören, und
mir wurde sofort warm ums Herz. »Wie war dein
Wochenende?«
Ich dachte kurz nach. »Chaotisch. Bist du schon wieder im
Internat?«
»Ja, ich bin vor einer halben Stunde angekommen. Aber Tim
ist noch nicht da.«
»Er hat vorhin angerufen, sein Zug hat Verspätung.« Ich
seufzte. Das Wochenende mit Tim war definitiv zu kurz
gewesen. Zumal ich viel zu viel Zeit damit verbracht hatte,
nicht mit ihm zu reden. Warum war ich bloß immer so ein
Dickkopf? Zum Glück war Tim nicht nachtragend. Zum
Abschied hatte er sogar eine kleine Überraschung für mich
gehabt.
»Tim hat mir seinen alten Computer geschenkt«, erzählte ich
Felix. »Damit wir uns E-Mails schreiben können.« Tim hatte
den Computer vor seiner Abreise sogar extra noch in meinem
Zimmer aufgebaut. Jetzt konnten wir uns mailen, wann immer
wir wollten.
»Cool!«, sagte Felix. »Dann können wir uns ja auch mal Mails
schreiben. Mit dem Telefonieren ist es ja scheinbar nicht so
einfach. Ich hab’s mehrmals bei dir versucht, aber du warst nie
da.«
»Ja, wir haben irgendwie immer aneinander
vorbeitelefoniert.«
»Es wäre viel leichter, wenn du ein Handy hättest«, stellte
Felix fest.
»Stimmt.« Ich seufzte. »Aber daraus wird erst mal nichts.
Mama dreht durch, wenn ich sie jetzt nach einem Handy frage.
Sie hat auch so schon genug Probleme.«
»Wieso? Was ist denn los?«
Ich erzählte schnell, was am Wochenende geschehen war.
»Deine Oma hat euch Geld vererbt?«, fragte Felix. »Das ist ja
toll! Dann ist doch jetzt alles gut, oder?«
Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. »Eben nicht!«
»Wieso?«
»Omas Geld wird nicht ewig reichen.« Das hatte Mama uns
heute Morgen beim Frühstück erklärt und damit die Freude
über die unverhoffte Erbschaft gleich wieder gedämpft.
»Wovon sollen wir in Zukunft leben, wenn das
Gesundheitszentrum nicht genug abwirft?«
»Das spielt sich schon wieder ein«, meinte Felix beruhigend.
»Ist bestimmt nur eine vorübergehende Flaute.«
»Dafür dauert sie aber schon ziemlich lange«, sagte ich
düster. Ich wollte lieber über etwas anderes reden, darum
fragte ich: »Und was hast du am Wochenende so gemacht?«
Während Felix von einem Ausflug mit dem familieneigenen
Segelboot (ich hatte es doch gewusst!), einem DVD-Abend im
großzügigen Heimkino und einem Abendessen mit
ausländischen Geschäftspartnern seines Vaters erzählte, wurde
mir wieder einmal bewusst, in was für unterschiedlichen
Welten wir lebten. Ob Felix überhaupt nachvollziehen konnte,
wie schrecklich Geldsorgen waren? Seit ich denken konnte,
war Geld immer ein Thema bei uns gewesen. Meine Eltern
hatten sich ständig deswegen gestritten, und den Satz »Dafür
ist kein Geld da, Emma« hatte ich ungefähr tausend Mal
gehört. Egal, ob ich mir ein Handy, ein Mountainbike oder
einen Familienurlaub in der Sonne wünschte, die Antwort war
immer dieselbe. Felix’ Eltern hingegen verdienten so viel, dass
sie sich ein eigenes Segelboot, Angestellte und ein Heimkino
leisten konnten. Woher sollte Felix also wissen, wie es war,
kein Geld zu haben?
»Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte Felix nach einer
Weile. »Tim kommt gerade herein.«
»Grüß ihn von mir.« Ich versuchte, fröhlich zu klingen, aber
in Gedanken war ich immer noch bei dem leidigen Geldthema.
»Du kannst dich übrigens auf eine Überraschung gefasst
machen«, kündigte Felix an.
Mit einem Schlag war ich wieder die Aufmerksamkeit in
Person. »Eine Überraschung? Was meinst du damit?«
Felix lachte leise. »Das verrate ich nicht, sonst wär’s ja keine
Überraschung. Außerdem weiß ich noch nicht, ob es auch
klappt. Ich muss erst mit jemandem sprechen.«
»Klingt ja sehr geheimnisvoll.« Am liebsten hätte ich Felix
noch weiter gelöchert, aber mir war klar, dass ich nichts aus
ihm herausbekommen würde.
»Wir telefonieren wieder, ja?«, sagte Felix. Ich hörte
Stimmen im Hintergrund, wahrscheinlich bekamen Felix und
Tim gerade Besuch von irgendwelchen Mitschülern.
»Klar«, sagte ich. »Mach’s gut.«
»Du auch.« Felix schmatzte einen Kuss in den Hörer.
Mit einem Lächeln auf den Lippen legte ich auf. Felix war
sooo süß! Aber leider viel zu weit weg. Am liebsten hätte ich
ihm jetzt höchstpersönlich einen Kuss gegeben. Auch wenn ich
ja grundsätzlich gegen diese ständige Knutscherei war – bei
Felix machte ich eine Ausnahme. Seine fein geschwungenen
Lippen musste man einfach küssen. Da das jedoch gerade
leider nicht möglich war, versuchte ich mich abzulenken,
indem ich an etwas anderes dachte. An die mysteriöse
Überraschung zum Beispiel, die Felix angekündigt hatte.

Was könnte Felix’ Überraschung sein?

1. Ein riesiger Blumenstrauß


2. Ein Kilo von meiner Lieblingsschokolade
3. Ein Flugzeug, das über unserem Haus kreist und rote
Rosen abwirft
4. Ein unangekündigter Besuch (geht aber erst nächsten
Monat, weil vorher kein Heimfahrwochenende ist)
5. Ein selbst geschriebenes Liebesgedicht
6. Ein selbst komponierter Song (kann Felix überhaupt
singen?)
7. Ein wertvoller Diamantring, den er extra für mich
ausgesucht hat
8. Ein Heiratsantrag!!!


Okay, ich gebe zu, bei Punkt sieben und acht ist meine
Phantasie ein bisschen mit mir durchgegangen. Aber man wird
ja wohl noch träumen dürfen, oder?! Obwohl ich gar nicht
weiß, ob ich Felix wirklich heiraten möchte. Verheiratete
streiten sich ständig, und irgendwann lassen sie sich scheiden.
Und geschiedene Leute sind wirklich die Pest! Dann doch
lieber ein Kilo Schokolade …

Omas beste Sprüche: Lieber den Spatz in der Hand als


die Taube auf dem Dach.
7. Kapitel

Liebe macht blind

Nach dem Abendessen fand eine Krisensitzung in der Küche


statt. Mama und Gesa wollten sich ein neues Konzept für das
Gesundheitszentrum überlegen. Thomas war natürlich auch
dabei. Er muss ja überall seine große Nase reinstecken. Mona
und ich hatten ebenfalls unsere Hilfe angeboten. Schließlich
ging es hier um uns alle.
»Wenn wir es nicht bald schaffen, das Gesundheitszentrum
wiederzubeleben, haben wir ein echtes Problem«, sagte Mama
nachdrücklich. »Die Erbschaft von Mutti ist zwar ein Segen,
aber sie wird nicht ewig reichen. Je eher das
Gesundheitszentrum wieder Geld abwirft, desto besser.«
Thomas fuhr sich durch seine dunklen Locken. »Die
wichtigste Frage ist: Wie könnt ihr neue Kunden gewinnen?«
»Vielleicht sollten wir uns doch eine Homepage zulegen«,
überlegte Gesa.
»Eine sehr gute Idee!« Thomas nickte. »Präsenz im Internet
ist heutzutage furchtbar wichtig für eine Firma. Außerdem
können sich die Leute dann gleich online anmelden, das ist
praktisch und spart Zeit.«
Mama seufzte. »Für eine eigene Homepage müssten wir aber
eine Agentur beauftragen, und das ist bestimmt furchtbar
teuer.«
»Quatsch, das könnte Tim machen«, entgegnete ich sofort.
»Er kennt sich super mit so was aus. Und er hatte doch sowieso
schon mal angeboten, sich um diese Internetgeschichten zu
kümmern.«
»Perfekt!« Thomas klatschte in die Hände. »Damit wäre
dieser Punkt abgehakt.« Er grinste wie ein Honigkuchenpferd.
Warum musste er bloß immer so schrecklich gute Laune
haben? Das war einfach wahnsinnig nervig. Schließlich ging es
hier um ein ernstes Thema und nicht um die Planung einer
Party.
»Vielleicht sollten wir auch unsere Seminare etwas
umstrukturieren, damit sie für die Leute attraktiver werden«,
sagte Mama. »Aber wie?«
Gesa runzelte nachdenklich die Stirn. »Wir könnten
Wochenendseminare anbieten«, schlug sie vor. »Mit
Übernachtungsmöglichkeit. Und an einem Wochenende Yoga,
Malen und gesunde Ernährung miteinander verbinden.«
»Genau!« Mona nickte eifrig. »Morgens machst du mit den
Teilnehmern Yoga, nachmittags malt Lia mit ihnen, und abends
kochen alle zusammen.«
»Ein echtes Wellness-Wochenende«, fasste Gesa zusammen.
»Das kommt bestimmt gut an.«
»Die Idee ist nicht schlecht«, gab Mama zu. »Aber wo sollen
die Leute schlafen? Wir haben keinen Platz für
Übernachtungsgäste. Das Haus platzt ja so schon aus allen
Nähten.«
»Wie wär’s mit der Dachkammer?«, fragte Mona.
»Die ist viel zu klein für Gäste«, sagte Mama. »Außerdem
brauchen wir das Zimmer für Lili. Sie kann schließlich nicht
ewig bei Thomas und mir im Schlafzimmer wohnen.«
»Wir könnten den Schuppen als Gästezimmer ausbauen«,
schlug Thomas vor.
»Den Schuppen sollte ich doch bekommen!« Ich sah Thomas
empört an. »Das hat Mama selbst gesagt. Weil ich irgendwann
auch mal wieder mein eigenes Reich brauche.«
Mama seufzte. »Darum geht es doch jetzt gar nicht. Wir
müssen uns alle einschränken und zusammenrücken. Thomas
bräuchte auch dringend einen ruhigen Rückzugsort zum
Lernen.«
»Stimmt, dann müsste er nicht ständig das Wohnzimmer
blockieren«, bemerkte ich. »Nie kann man abends in Ruhe
fernsehen, weil irgendwelche Referatsgruppen bei uns
herumsitzen und die Bude vollqualmen.«
»Nun übertreib mal nicht, Emma.« Thomas grinste. Nicht
einmal jetzt wurde er sauer! Es war wirklich zum Aus-der-
Haut-Fahren. »In letzter Zeit haben wir uns meistens woanders
getroffen.«
Gesa räusperte sich. »Ich hätte vielleicht eine Lösung für das
Platzproblem.«
»Tatsächlich?« Mama zog beide Augenbrauen hoch. »Welche
denn?«
Gesa zögerte. Dann sagte sie: »Mona und ich könnten
ausziehen.«
»Waaas?«, riefen Mona und ich gleichzeitig. Ich fiel vor
Schreck fast vom Stuhl, und Mona schien es ähnlich zu gehen.
Auch Mama machte ein verblüfftes Gesicht. »Ihr wollt euch
wieder eine eigene Wohnung suchen? Warum denn?« Offenbar
hatte Gesa ihr bisher nichts von ihren Plänen erzählt. Dabei
besprachen sie und Mama sonst alles miteinander.
Gesa fummelte verlegen an ihrem Leinenschal herum. »Na
ja … Es war doch eigentlich von vorneherein nur als
Übergangslösung gedacht, dass Mona und ich bei euch
wohnen. Und jetzt sind wir schon über ein Jahr hier. Vielleicht
wird es allmählich Zeit für eine Veränderung.«
»Ich will aber nicht weg!«, rief Mona. »Ich will hier wohnen
bleiben.«
»Es ist auch nicht so schlimm, wenn Mona und ich uns noch
eine Weile das Dachzimmer teilen«, fügte ich schnell hinzu.
»Eigentlich klappt es ja ganz gut, oder?«
Mona nickte eifrig. »Genau!«
Mir kam es vor, als würden Gesa und Mona schon viel länger
als ein Jahr bei uns wohnen. Ehrlich gesagt konnte ich mir den
Alltag ohne sie gar nicht mehr vorstellen. Dabei hätte ich
anfangs alles dafür gegeben, sie wieder loszuwerden. Wenn ich
daran dachte, wie ich mit lauter fiesen Tricks versucht hatte,
Mona hinauszuekeln, wurde ich jetzt noch rot wie eine Tomate.
Ich hatte mich einfach unmöglich verhalten. Zum Glück hatte
sich Mona nicht so leicht vergraulen lassen. Wer hätte gedacht,
dass wir mal so gute Freundinnen werden würden? Ich selbst
wahrscheinlich am allerwenigsten.
»Geht dir unsere WG auf die Nerven?«, fragte Mama. »Willst
du deshalb ausziehen?«
Gesa schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht! Es ist nur …
na ja … Betty und ich haben letztens darüber gesprochen, dass
wir vielleicht irgendwann mal zusammenziehen wollen.«
»Ehrlich?« Mona starrte ihre Mutter an. Sie schien nicht so
recht zu wissen, was sie von dieser Neuigkeit halten sollte. Sie
hatte sich zwar inzwischen halbwegs daran gewöhnt, dass Gesa
mit Betty zusammen war, aber sich eine Wohnung zu teilen war
natürlich noch mal etwas ganz anderes.
»Ist doch toll«, sagte ich. »Aber deshalb müsst ihr ja nicht
gleich wegziehen. Kann Betty nicht bei dir in der Scheune
wohnen?«
Gesa seufzte. »Das ist es ja gerade! Wir haben jetzt schon zu
wenig Platz. Außerdem würde ich den Yoga-Raum gerne
vergrößern, wenn wir das Gesundheitszentrum neu aufziehen.«
Mama nickte langsam. »Ich verstehe, was du meinst.
Eigentlich müssten wir anbauen, aber dafür fehlt uns das
Geld.« Sie zuckte ratlos mit den Schultern. »Es läuft immer
wieder darauf hinaus, dass wir zu wenig Platz haben. Leider
habe ich keine Ahnung, wie wir dieses Problem lösen sollen.«
»Das kriegen wir schon irgendwie hin«, sagte ich und klang
dabei fast wie Thomas.
(Igitt!)
Es wurde Zeit, dass ich die Dinge in die Hand nahm. Ich
musste mir dringend etwas einfallen lassen, denn eins war klar:
Mona und Gesa durften auf keinen Fall ausziehen! Wir waren
inzwischen schließlich so etwas wie eine große Familie. Die
Frage war nur: WAS SOLLTE ICH TUN?

Omas beste Sprüche: Kommt Zeit, kommt Rat.

E-Mail an Tim

Von: Emma.Laurenz@webmail.de
An: Tim2000 @ultranet.de

Betreff: TEST


Hallo, Tim,

ich wollte nur mal ausprobieren, ob das mit dem Mailen auch
klappt. Bist du gut im Internat angekommen? Hier gab es heute
Abend eine Krisensitzung. Schade, dass du nicht dabei warst.
Mama und Gesa möchten, dass du eine Homepage für das
Gesundheitszentrum einrichtest. Das kriegst du doch hin, oder?
Und stell dir vor, Gesa will vielleicht mit Mona ausziehen!! Weil
wir hier zu wenig Platz haben. Das geht gar nicht, finde ich. Falls
du eine Idee hast, wie wir das Platzproblem lösen können, sag
bitte Bescheid.

Alles Liebe,
Emma

»Baut doch einfach an«, schlug Klara vor und biss in ihr
Käsebrot. »Dann haben alle genug Platz.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist viel zu teuer.«
»Oder zieht in ein größeres Haus«, nuschelte Klara mit
vollem Mund.
»Das ist auch zu teuer, du Scherzkeks.« Ich verdrehte die
Augen. »Fällt dir nichts Besseres ein?«
Wir standen in der ersten großen Pause auf dem Schulhof,
und ich hatte Klara gerade erzählt, was am Wochenende bei
uns los gewesen war.
»Tut mir leid, ich bin noch nicht ganz wach«, entschuldigte
sie sich. »Wenigstens wird es bei euch nie langweilig. Ich
musste das ganze Wochenende bei diesem Fußballturnier
herumhängen, das hat mich echt genervt.«
»Ich dachte, du spielst gerne Fußball.«
Klaras Vater war Fußballtrainer aus Leidenschaft, und Klara
spielte in der Mädchenmannschaft des Dederstädter
Fußballvereins.
»Klar mag ich Fußball«, sagte Klara. »Aber am Samstag wäre
ich viel lieber bei Rudis Vernissage dabei gewesen.«
»Ja, da hast du echt was verpasst.« Ich seufzte. »Wenigstens
für Rudi läuft es im Moment richtig gut. Stell dir vor, er hat an
diesem Abend drei Bilder verkauft!«
»Wahnsinn!« Klara klang ehrlich beeindruckt. Dann
schüttelte sie den Kopf. »Eigentlich blöd, dass sich immer alles
ums Geld dreht.«
»Das kannst du laut sagen«, murmelte ich.
Es klingelte zur nächsten Stunde, und Klaras Miene hellte
sich auf. »Jetzt haben wir Sport!«, verkündete sie fröhlich.
»Hab ich dir übrigens schon erzählt, dass ich neue
Sportklamotten habe?«
»Nein«, sagte ich. »Was war denn mit den alten nicht in
Ordnung?«
Klara machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die waren
doch total abgenutzt und ausgeleiert. In den Sachen konnte
man echt nicht mehr herumlaufen.«
»Was du nicht sagst.« Während wir uns langsam auf den Weg
zur Sporthalle machten, grinste ich Klara zu. »Kann es sein,
dass es dir eher darum geht, einen gewissen Herrn Hummel zu
beeindrucken?«
Herr Hummel ist unser neuer Klassenlehrer. Wir haben ihn
erst seit diesem Sommer. Er unterrichtet Sport und Mathe und
ist noch ziemlich jung (für einen Lehrer zumindest). Und er
sieht ein bisschen aus wie der Hauptdarsteller in Monas
Lieblingssoap, weshalb alle Mädchen aus unserer Klasse in ihn
verschossen sind. Alle außer mir natürlich. Ich würde mich
NIEMALS in einen Mathelehrer vergucken. Mathelehrern
kann man nicht trauen. Wer freiwillig so ein stinklangweiliges
Fach unterrichtet, mit dem stimmt etwas nicht.
Klara wurde rot. Ich hatte offenbar richtig getippt. »Meinst
du, er mag pinkfarbene Gymnastikhosen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Er ist sowieso
zu alt für dich, wie oft soll ich dir das noch sagen?«
Jetzt verdrehte Klara die Augen. »Ich will ihn ja auch nicht
heiraten, okay? Aber du musst zugeben, dass er in seinen
Sportsachen ziemlich gut aussieht. Diese leichte
Ganzkörperbräune und die muskulösen Waden …«
Ich schüttelte mich. »Hör auf, sonst wird mir schlecht! Ich
kapier einfach nicht, wie man sich in einen MATHELEHRER
verknallen kann!«
Klara öffnete mit verträumtem Blick die Tür zur Sporthalle.
»Ich hätte das auch nie gedacht. Aber wenn ER eine Formel
vorliest, klingt das wie ein Gedicht.«
Dazu fiel mir nichts mehr ein. »Ganz ehrlich, Klara,
allmählich frage ich mich, ob du noch zurechnungsfähig bist.«
»Auf jeden Fall bin ich unfähig zu rechnen, wenn ER in der
Nähe ist«, gab Klara zurück. »Ich fürchte, das wird meiner
Mathenote ganz und gar nicht guttun. Aber vielleicht kann ich
mich dafür ja in Sport verbessern.«
Ich starrte sie an. Im ersten Moment war ich mir nicht sicher,
ob sie das ernst meinte. Doch dann grinste sie, und ich
prustete erleichtert los.

Omas beste Sprüche: Liebe macht blind.


8. Kapitel

Emma bekommt ein Überraschungsgeschenk

Als ich nach der Schule von der Bushaltestelle nach Hause lief,
hatte ich immer noch keine Lösung für unser Platzproblem.
Schade, dass man Häuser nicht einfach aufpusten kann wie
Luftballons. Das wäre echt praktisch! Aber so was hat natürlich
noch niemand erfunden. Stattdessen gibt es Matheunterricht,
Schnellkochtöpfe, elektrische Dosenöffner und tausend andere
Dinge, die kein Mensch braucht. Typisch!
Vielleicht sollte ich später Erfinderin werden und mir nur
wirklich nützliche Sachen ausdenken. Aufblasbare Häuser, zum
Beispiel. Oder eine Fernbeziehungsabschaffungsmaschine, mit
der man sich in Sekundenschnelle an jeden beliebigen Ort
beamen kann. Oder einen Herzschrittmacher, damit das Herz
nie aufhört zu schlagen …
Doch als Allererstes würde ich einen automatischen
Wolkenschieber erfinden, um dicke Regenwolken einfach
wegzuschieben. Da es den automatischen Wolkenschieber aber
leider noch nicht gab, konnte ich mir nur die Kapuze meiner
Jacke über den Kopf ziehen, als plötzlich dicke Tropfen vom
Himmel fielen. Auch das noch! Ich hasse es, so kurz vor der
Haustür nass zu werden. Missmutig stapfte ich über den Hof.
Als ich gerade meinen Hausschlüssel ins Schloss steckte,
fuhr ein Auto vor. Es war ein schwarzer Wagen mit dem
Aufdruck KURIER FLÜGELFUSS. Neben dem Schriftzug war
ein Fuß in einer Sandale mit zwei kleinen Engelsflügeln
abgebildet. Ich runzelte die Stirn. Ein Kurierdienst? Was
wollten die denn hier? Vielleicht hatte Thomas irgendetwas
bestellt …
Die Autotür öffnete sich, und ein junger, spindeldürrer Mann
sprang heraus. Er hielt ein kleines Päckchen in der Hand und
sprintete über den Hof, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Oder als hätte er Engelsflügel an den Füßen.
»Emma Laurenz?«, fragte er atemlos und blieb direkt vor mir
stehen.
Ich nickte verdutzt.
»Eine Eilsendung für dich.« Der Mann drückte mir das
Päckchen in die Hand. Es war nicht besonders schwer und
steckte in einer grauen Plastiktüte. »Bitte hier
unterschreiben.« Er zückte einen elektronischen Notizblock,
tippte irgendetwas ein und reichte ihn mir. Ich klemmte das
Päckchen unter den Arm und setzte meine Unterschrift auf das
Display. Sie wurde ziemlich krakelig, aber das schien den
Kurierfahrer nicht zu stören.
»Von wem ist das?«, fragte ich und betrachtete neugierig das
Päckchen.
»Keine Ahnung.« Der Mann befestigte den elektronischen
Notizblock wieder an seinem Gürtel. »Ich muss weiter.
Tschüss!« Er rannte zurück zu seinem Auto, sprang hinein, ließ
den Motor aufheulen und raste vom Hof. Offenbar waren einige
seiner Eilsendungen wirklich sehr eilig.
Der Regen wurde stärker, und ich ging schnell ins Haus. Im
Flur befühlte ich das Päckchen, konnte aber nicht erraten, was
sich darin befand. Oder war das Ganze ein Irrtum? Nein, auf
dem Adressaufkleber stand eindeutig und gut leserlich EMMA
LAURENZ. Neugierig riss ich das Päckchen auf. Eine
Postkarte flatterte mir entgegen. Außerdem zog ich eine kleine
Pappschachtel heraus. Ich öffnete zuerst die Schachtel – und
ließ sie vor Überraschung beinahe fallen.
»Das gibt’s doch nicht!«, flüsterte ich.
In der Schachtel lag ein todschickes, schwarz glänzendes
Smartphone. Ehrfürchtig nahm ich es heraus. Ich hatte keine
Ahnung, wie so ein Teil funktionierte. Meine Mutter hatte sich
bisher strikt geweigert, mir vor meinem dreizehnten
Geburtstag ein Handy zu kaufen. Ihrer Meinung nach waren
Handys nichts als neumodischer Schnickschnack, der eine
Menge Geld kostete und einen vom Wesentlichen ablenkte. Als
ich sie gefragt hatte, was denn das Wesentliche sei, antwortete
sie: »Menschliche Wärme und ein stabiles inneres
Gleichgewicht.«
Jetzt wisst ihr, wie meine Mutter tickt. Ganz ehrlich: Wie
viele Zwölfjährige kennt ihr, die kein Handy haben? Genau! In
meiner Klasse bin ich die Einzige. Wahrscheinlich auch an der
gesamten Schule und in ganz Dederstadt. Würde mich
jedenfalls nicht wundern.
Erst nachdem ich das Handy ausgiebig begutachtet und von
einer Hand in die andere genommen hatte (es war nicht
besonders schwer), las ich, was auf der Karte stand:

Liebe Emma,

hier kommt die angekündigte Überraschung – damit wir
miteinander sprechen können, wann immer wir wollen.
Auch wenn ich sehr gerne mit dir telefoniere, würde ich dich
noch lieber so bald wie möglich persönlich wiedersehen. Bis
zum nächsten Heimfahrwochenende dauert es leider noch viel
zu lange. Darum wäre es toll, wenn du mich hier im Internat
besuchen würdest. Wie wär’s gleich nächstes Wochenende?
Ich würde mich SEHR freuen!

Viele liebe Grüße,
Felix

Ich schnappte nach Luft. Vor lauter Aufregung hatte ich glatt
vergessen zu atmen. Mir war ein bisschen schwindelig, und
meine Knie fühlten sich weich an. Ob das mit dem
Sauerstoffmangel zusammenhing oder damit, dass ich so super-
ober-absolut glücklich war? Keine Ahnung, aber eigentlich war
das auch egal.
Auf wackeligen Beinen stakste ich in die Küche. Mama
kochte sich gerade einen Kaffee. Irgendetwas war anders als
sonst. Es dauerte eine Weile, bis ich darauf kam, was. Dann fiel
es mir wie Schuppen von den Augen: Der Küchentisch war
leer! Kein einziges Blatt Papier lag darauf. Keine dicken
Aktenordner, keine Kontoauszüge, keine Rechnungen.
»Musst du heute gar keine Buchhaltung machen?«, fragte
ich.
Mama schüttelte den Kopf und grinste vergnügt. »Fürs Erste
habe ich alles erledigt. Sämtliche Rechnungen sind bezahlt, die
ausstehenden Raten für den Kredit überwiesen, und unser
Konto ist auch wieder in den schwarzen Zahlen. Das ist ein
richtig gutes Gefühl!«
»Toll!« Ich lächelte Mama zu. So gut gelaunt hatte ich sie
lange nicht mehr erlebt. »Das hat sich Oma prima ausgedacht,
oder?«
Mama nickte. »Allerdings.« Ihr Blick wurde ein bisschen
traurig. Wahrscheinlich vermisste sie Oma genauso sehr wie
ich. Sie zeigte auf das Päckchen in meiner Hand. »Was ist denn
das?«
Stolz hielt ich ihr das Smartphone hin. »Von Felix! Schick,
oder?«
Mama nahm das Gerät in die Hand und betrachtete es mit
gerunzelter Stirn. »Das hat Felix dir geschenkt?«
Ich nickte. »Kam gerade per Eilsendung. Weil wir am
Wochenende ständig aneinander vorbeitelefoniert haben. Jetzt
können wir uns viel besser erreichen.«
Mama sah nicht besonders begeistert aus. »Also, ich weiß
nicht …«
»Darf ich es behalten?«, fragte ich. »Bitte! Ich wünsch mir
doch schon so lange ein Handy. Außerdem ist es ein
Geschenk!«
»Das ist es ja gerade.« Mama legte das Smartphone auf den
Tisch. »So ein Ding ist bestimmt furchtbar teuer, oder?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung …«
»Setz dich bitte mal kurz zu mir, Emma.« Mama nahm am
Küchentisch Platz, und ich setzte mich neben sie. »Ich finde es
nicht gut, dass Felix dir so teure Geschenke macht.« Sie sah
mich ernst an.
»Warum nicht?«
»Weil du dich nicht dafür revanchieren kannst.« Mama
seufzte. »Wir haben nun mal nicht so viel Geld wie Felix’
Familie. Du würdest in seiner Schuld stehen, verstehst du? Das
ist nicht gut für eine Beziehung. Beide Partner sollten
gleichberechtigt sein.«
Ich starrte zu Boden. Meine Freude über Felix’
Überraschungsgeschenk verpuffte wie ein Silvesterknaller.
»Heißt das, ich soll das Handy zurückgeben?«
Mama überlegte. »Das musst du entscheiden. Aber ich fände
es, ehrlich gesagt, die beste Lösung. Zumal du für so ein Handy
auch einen Vertrag brauchst, und der kostet jeden Monat
Geld.«
Mist! Daran hatte ich gar nicht gedacht. Während ich
darüber nachgrübelte, was ich jetzt tun sollte, begann das
Handy auf dem Tisch zu vibrieren und eine fröhliche Melodie
zu spielen. Mama und ich starrten es an, als hätte es sich
plötzlich in eine Schlange verwandelt, die uns mit ihrem Blick
hypnotisierte.
»Äh – ich geh mal ran«, sagte ich schließlich und griff nach
dem Smartphone. Auf dem Display leuchtete Unbekannte
Nummer auf.
»Hallo?«, fragte ich vorsichtig.
»Hallo, ich bin’s!«
»Felix!« Hätte ich mir eigentlich denken können! Wer sonst
sollte mich unter dieser Nummer anrufen?
»Dann scheint das Handy ja angekommen zu sein.«
Mama zog sich diskret ins Wohnzimmer zurück, was ich
ziemlich nett von ihr fand. Manchmal kann sie richtig feinfühlig
sein. (Aber leider nicht immer …)
»Ja, es wurde geliefert, als ich gerade von der Schule nach
Hause gekommen bin.« Ich kaute auf meiner Unterlippe
herum. Eigentlich wäre jetzt der richtige Moment gewesen, um
mich für das Handy zu bedanken. Aber wollte ich es wirklich
behalten? Oder war es vielleicht doch besser, es Felix
zurückzugeben? Mamas Worte gingen mir durch den Kopf. Sie
hatte ausgesprochen, was mich schon die ganze Zeit
beschäftigte. Dass Felix aus einer völlig anderen Welt kam und
wir eigentlich nichts gemeinsam hatten. Ich hätte ihm nie im
Leben ein Handy schenken können …
»Und?«, fragte Felix. »Wie gefällt es dir?«
Ich schluckte. »Gut.« Das war die Wahrheit. »Aber …«
»Aber du willst kein gebrauchtes Handy, stimmt’s?« Felix
klang plötzlich zerknirscht. »Das hatte ich schon befürchtet.
Zumal ja gerade das brandneue Modell herausgekommen ist,
das viel mehr Funktionen und eine längere Akkulaufzeit hat …«
»Moment mal«, unterbrach ich ihn. »Das Handy ist
gebraucht?«
»Ja, klar. Es ist Julias altes Handy. Sie hat letzte Woche zum
Geburtstag ein neues bekommen.«
»Das Handy hat Julia gehört?« Ich brauchte ein paar
Sekunden, um diese Neuigkeit zu verdauen.
»Genau. Deshalb wusste ich am Sonntag auch nicht, ob es
mit der Überraschung klappt. Ich musste erst Julia fragen, aber
sie hatte nichts dagegen.«
»Dann hast du also gar nichts dafür bezahlt?«
»Keinen Cent!«, bestätigte Felix fröhlich. »Du kannst sogar
Julias Vertrag übernehmen, der ist echt günstig. Mit Flatrate
und allem Drum und Dran.«
»Klingt gut!« Mir wurde plötzlich ganz leicht ums Herz.
Gegen ein gebrauchtes Handy würde Mama bestimmt nichts
einzuwenden haben. Ich konnte es ohne schlechtes Gewissen
behalten. Und den Handyvertrag würde ich von meinem
Taschengeld bezahlen. Dann blieb zwar kaum noch etwas
übrig, aber das war mir egal. »Danke!«, platzte ich heraus.
»Das ist ein tolles Geschenk! Ich hab mir schon ewig ein Handy
gewünscht.«
»Freut mich, dass es dir gefällt.« Ich hörte das Lächeln in
Felix’ Stimme. »Jetzt können wir immer telefonieren.«
»Genau.« Ich grinste. »Tag und Nacht.«
»Von mir aus jederzeit.« Felix lachte. »Und was ist mit
nächstem Wochenende?«, fragte er gespannt. »Kommst du?«
Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Mist,
das hab ich Mama noch gar nicht gefragt!« Vor lauter
Aufregung über das neue Handy hatte ich Felix’ Einladung
glatt vergessen. »Ich würde sehr gerne kommen. Ich rede mit
Mama und melde mich später noch mal, okay?«
»Prima!«, sagte Felix.
Wir verabschiedeten uns, und ich legte auf. Ich steckte mein
nigelnagelneues Handy ein und machte mich auf die Suche
nach Mama. Wenn sie einverstanden war, würde ich Felix am
Wochenende endlich wiedersehen. Allein bei dem Gedanken
daran begann mein Herz vor Freude in meiner Brust zu hüpfen
wie ein Gummiball, und in meinem Kopf war nur noch Platz für
ein einziges Wort:
FELIX,
FELIX,
FELIX !
9. Kapitel

Besuch im Märchenschloss

Nachmittags machten Mona und ich eine Radtour.


»Das wird dich bestimmt aufmuntern«, sagte ich, während
wir die Tupfinger Hauptstraße entlangradelten. »Es bringt
schließlich nichts, sich die ganze Zeit im Haus zu verkriechen
und Trübsal zu blasen. Außerdem ist dafür viel zu schönes
Wetter.«
Die Regenwolken hatten sich verzogen, als hätte jemand den
Himmel mit einem großen Wolkenschieber bearbeitet. Die
Sonne war herausgekommen und ließ die bunt gefärbten
Blätter an den Bäumen leuchten. Ihre Strahlen wärmten unsere
Gesichter, aber im Schatten war es kühl. Das perfekte Wetter
für einen Ausflug ins Grüne!
Mona seufzte. »Wahrscheinlich hast du recht.« Sie lächelte
mir zu. »Außerdem haben wir schon ewig keine Radtour mehr
gemacht.«
»Stimmt, es wird wirklich mal wieder Zeit.« Ich trat kräftig in
die Pedale. Ich platzte fast vor Energie. Wahrscheinlich, weil
ich so glücklich war. In vier Tagen würde ich Felix
wiedersehen! Ich konnte es kaum erwarten. Mama war zwar
erst nicht so begeistert von der Idee gewesen, dass ich ganz
alleine nach Mühlenberg fuhr, aber schließlich hatte sie doch
Ja gesagt. Zum Glück gab es eine direkte Zugverbindung –
außerdem fuhr Tim die Strecke auch jeden Monat. Was er
konnte, konnte ich schon lange!
»Geht’s auch ein bisschen langsamer?«, rief Mona von
hinten. Ich drosselte das Tempo und wartete, bis sie mich
eingeholt hatte.
»Wann hat Daniel denn das Interview mit der Lokalzeitung?«,
fragte ich.
»Um halb fünf«, antwortete Mona etwas außer Atem. »Der
Reporter kommt zu ihm nach Hause.«
»Ist doch toll!« Ich grinste. »Wer hätte gedacht, dass die
Jungs mit ihrer Band wirklich mal berühmt werden?«
Mona lächelte etwas gequält. »Ich gönne ihnen den Erfolg ja
auch. Echt!« Sie zögerte, dann fügte sie etwas leiser hinzu:
»Aber seit das Video zum Geheimtipp im Internet geworden ist,
hat Daniel kaum noch Zeit für mich. Es ist schließlich heute
nicht das erste Mal, dass er mich versetzt.«
»Tatsächlich?« Das war mir neu. Sofort nagte das schlechte
Gewissen an mir. Manchmal bin ich so mit mir selbst
beschäftigt, dass ich gar nicht merke, was um mich herum
passiert.
»In den letzten Wochen hat er schon häufiger Verabredungen
abgesagt«, erzählte Mona geknickt. »Und gestern am Telefon
meinte er, er wäre die ganze Woche schon voll verplant mit
dem Interview, Bandproben und zwei Auftritten am
Wochenende.«
»Wahnsinn, die Band ist zurzeit ja wirklich gefragt«, stellte
ich fest. Wir fuhren gerade an der Kirche vorbei, und ich warf
einen schnellen Blick zum Pfarrhaus hinüber, aber Pfarrer
Pauli war nicht zu sehen.
Mona nickte. »Freitag spielen sie auf einer Party im
Jugendzentrum und Samstag beim Familientag von Möbel
Busse.«
»Dann seht ihr euch also erst nächste Woche wieder?«
»Keine Ahnung.« Mona seufzte. »Manchmal frage ich mich,
ob Daniel mich überhaupt noch sehen will. Vielleicht hat er ja
auch einfach genug von mir und traut sich bloß nicht, es zu
sagen.«
Ihr Blick war starr auf die Straße gerichtet.
»Das glaube ich nicht«, sagte ich schnell. »Er ist bestimmt
nur total im Stress. Dieser plötzliche Erfolg muss ihn und die
anderen völlig überrollt haben.«
»Sie lassen sich sogar Autogrammkarten drucken«, sagte
Mona. »Im Internet gibt es ziemlich viele Anfragen von Fans,
und bei den Konzerten stehen die Mädels inzwischen auch
Schlange. Manche lassen sich sogar Autogramme auf ihre
Arme oder den Bauch geben. Ist das nicht verrückt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Unglaublich!«
»Zumindest hat Daniel jetzt jede Menge Auswahl, wenn er
sich eine neue Freundin suchen will«, stellte Mona bitter fest.
»Nun hör aber auf!« Ich bremste, um eine Frau mit
Kinderwagen über die Straße zu lassen. »So einer ist Daniel
nicht.«
»Manchmal weiß ich gar nicht mehr, wie er ist.« Monas
Stimme war so leise, dass sie fast vom Wind davongetragen
wurde. »Oft erkenne ich Daniel kaum wieder. Erfolg verändert
die Menschen.«
»Aber doch nicht Daniel«, sagte ich mit Nachdruck. »Der
hebt nicht gleich ab, bloß weil viele Leute sein Video im
Internet anklicken. Und er sucht sich bestimmt auch keine
neue Freundin.«
Wir sausten am Ortsausgangsschild vorbei und bogen auf
den Radweg neben der Landstraße ein. Es waren kaum Autos
unterwegs, und der Wind wehte uns ins Gesicht. Es hätte alles
so schön sein können, wenn Monas Stimmung nicht dermaßen
im Keller gewesen wäre. So kannte ich sie gar nicht! Eigentlich
war sie überzeugte Optimistin und im Gegensatz zu mir
meistens sehr ausgeglichen und gut gelaunt. Die Sache mit
Daniel musste ihr wirklich ziemlich zusetzen.
»Vielleicht passe ich einfach nicht in sein neues Leben«,
murmelte Mona. »Vielleicht braucht Daniel jetzt so eine gut
aussehende Tussi, die bei jedem Konzert in der ersten Reihe
steht und ihm zujubelt.«
»Ich finde, ihr solltet dringend mal in Ruhe miteinander
reden«, schlug ich vor. »Sonst machst du dich noch völlig
verrückt.«
»Würde ich ja gerne«, sagte Mona. »Aber Daniel hat doch nie
Zeit!«
Ich seufzte. Da biss sich die Katze in den Schwanz. »Ich
glaube jedenfalls, dass du dir völlig umsonst Sorgen machst
und Daniel gerade einfach nur viel um die Ohren hat.« Ich
beschloss, das Thema zu wechseln, um Mona auf andere
Gedanken zu bringen. »Was hältst du davon, wenn wir zum
alten Gutshof radeln?«
Wir fuhren gerade am Heidkrug vorbei, einer ziemlich
heruntergekommenen Gaststätte direkt an der Landstraße.
Früher war es hier mal ganz nett gewesen, aber jetzt kamen
kaum noch Leute her. Die Fenster waren schmutzig, die
Fassade fleckig, und der Biergarten wirkte ungepflegt und
wenig einladend.
»Was für ein Gutshof?«
»Wenn man dort hinten abbiegt, kommt man zu einem alten
Gutshaus.« Ich zeigte auf den Weg, der hinter dem Heidkrug
rechts in den Wald hineinführte. »Früher bin ich mit Rudi ab
und zu da langgefahren.«
Ich musste an die langen Radtouren denken, die ich mit Papa
gemacht hatte, als ich noch kleiner war. Manchmal war Tim
auch mitgekommen, aber er hatte sich schon damals lieber in
sein Zimmer verzogen und irgendwelche Bücher gelesen.
Währenddessen war ich auf meinem Kinderfahrrad eifrig neben
Papa hergestrampelt, um ihm zu zeigen, wie groß ich schon
war. Manchmal hatten wir beim Heidkrug angehalten und ein
Eis gegessen, bevor wir in einer großen Runde durch den Wald
nach Hause zurückgeradelt waren.
Mona zuckte mit den Schultern. »Von mir aus.«
Wir verließen die Landstraße und bogen in den schmalen
Sandweg ein. Hier im Wald war es ganz still. Das bunte Laub
der Bäume raschelte über uns im Wind. Vereinzelte
Sonnenstrahlen schienen zwischen den Blättern hindurch und
malten helle Kringel auf den Boden. Die Luft roch nach Moos,
verrottendem Laub, Holzfeuer und Herbst. Ich nahm einen
tiefen Atemzug.
Die Idee, bei Herrn von Kahlberg vorbeizufahren, war mir
ganz spontan gekommen. Als ich den Heidkrug gesehen hatte,
war mir wieder eingefallen, dass er ganz in der Nähe wohnte.
Vielleicht freute er sich ja über ein bisschen Gesellschaft.
»Schön hier, oder?«, fragte ich, während wir auf dem
Sandweg immer tiefer in den Wald radelten.
»Ja«, sagte Mona. »So friedlich.«
Nach einer Weile kam das Gutshaus in Sicht. Die
Baumstämme lichteten sich, und dahinter tauchte ein großes
Haus auf, das von einem parkähnlichen Grundstück umgeben
war.
»Wahnsinn!« Mona pfiff beeindruckt durch die Zähne. »Das
ist ja fast ein richtiges Schloss!«
Ich nickte. »Früher hab ich mir immer vorgestellt, ich wäre
eine Prinzessin und würde hier wohnen.« Daran hatte ich ewig
nicht mehr gedacht. »Komm, wir sehen uns das Haus mal aus
der Nähe an.« Ich bog in die Auffahrt zum Gut ein.
Mona folgte mir zögernd. »Wir können da doch nicht einfach
so hinfahren«, sagte sie. »Das ist Privatgelände!«
»Keine Sorge, ich kenne den Besitzer«, beruhigte ich Mona.
»Ehrlich?«, fragte sie überrascht. »Woher denn?«
»Vom Friedhof. Oma Gertrud und seine Frau sind sozusagen
Nachbarn.«
Die Auffahrt mündete in einen großen Hof. Dahinter erhob
sich das alte Gutshaus. Aus der Nähe wirkte es noch
beeindruckender. Eine breite Steintreppe führte zur
Eingangstür aus massivem Holz, und auf der Vorderseite
befanden sich mindestens zwölf Fenster. Wie viele Zimmer das
Haus wohl hatte? Wenn man genauer hinsah, war allerdings
nicht zu übersehen, dass das Anwesen ziemlich
heruntergekommen war. Die schmutzig graue Fassade war von
wildem Wein überwuchert, von den Fensterrahmen blätterte
die Farbe ab, und die Steinstufen der Freitreppe waren rissig
und spröde.
»Lass uns klingeln.« Ich stieg vom Rad und lehnte es gegen
die Hauswand.
»Können wir denn einfach so unangemeldet hier
hereinplatzen?«, fragte Mona skeptisch. »Vielleicht hätten wir
besser vorher anrufen sollen …«
»Ach was!« Entschlossen stieg ich die Stufen empor. Ich
suchte nach einer Klingel, fand aber keine. Darum griff ich
nach dem rostigen Eisenring, der an der Tür hing, und schlug
damit gegen das dunkle Holz. Das Klopfen hallte im Innern des
Hauses wider, und ich bekam eine Gänsehaut. Es klang
irgendwie ein bisschen unheimlich. Wie in einem Gruselfilm,
bevor die blutrünstigen Zombies auftauchen.
Auch Mona schien ein mulmiges Gefühl zu haben. »Niemand
zu Hause«, stellte sie fest. »Lass uns weiterfahren.«
»Schade.« Ich zuckte mit den Schultern. »Na ja, vielleicht
klappt es ein andermal.«
Doch als wir gerade wieder auf unsere Räder steigen wollten,
bog eine große, dunkle Gestalt um die Ecke. Gleichzeitig
schoss ein kläffender Hund auf uns zu.
Mona wurde bleich. »Der Typ hat ein Gewehr!«, zischte sie.
»Schnell! Nichts wie weg!«
Ich kniff die Augen zusammen. Tatsächlich! Über der
Schulter des Mannes hing ein länglicher Gegenstand. War er
wirklich bewaffnet? Doch dann nahm die Gestalt den Hut ab,
und ich erkannte sie.
»Herr von Kahlberg!«, rief ich erleichtert. Inzwischen hatte
der Hund Mona und mich erreicht. Er bellte jetzt nicht mehr,
sondern wedelte freudig mit dem Schwanz. »Und du bist Ella,
stimmt’s?«
»Das ist ja eine schöne Überraschung!« Herr von Kahlberg
lächelte und begrüßte Mona und mich mit einer kleinen
Verbeugung. »Das junge Fräulein Emma Laurenz. Und mit
wem habe ich noch das Vergnügen?« Er sah Mona an.
Mona wurde rot. »Ich bin Mona, Emmas Freundin.«
»Ottokar von Kahlberg, sehr angenehm!« Herr von Kahlberg
deutete auf den Hund. »Ella und ich waren gerade im Wald und
haben ein wenig nach dem Rechten gesehen.«
»Ist das ein Gewehr?« Ich zeigte auf den länglichen
Gegenstand, der über Herrn von Kahlbergs Schulter hing.
»Nein, nein.« Herr von Kahlberg winkte ab. »Früher war ich
passionierter Jäger, aber jetzt nicht mehr. Meine Augen sind zu
schlecht und meine Hände zu zittrig. Das überlasse ich lieber
den Jüngeren. Ich habe mich im Alter aufs Tierebeobachten
verlegt.« Er griff nach dem gewehrartigen Ding und klappte es
auf.
»Ein Hocker!«, rief Mona verblüfft.
»Genau.« Herr von Kahlberg nickte. »Dieser Klapphocker hat
mir schon gute Dienste geleistet. Meine Beine wollen nicht
mehr so richtig, darum muss ich mich zwischendurch immer
mal hinsetzen.«
»Praktisch«, sagte ich.
»Aber da stehe ich hier und rede, anstatt euch hereinzubitten
und euch etwas anzubieten.« Herr von Kahlberg schüttelte den
Kopf. »Wie unhöflich von mir! Ihr seid sicher durstig. Möchtet
ihr etwas trinken?«
»Gerne«, sagte ich. »Ein Wasser wäre toll.«
»Dann erlaube ich mir, vorzugehen. Wenn die jungen Damen
mir bitte folgen wollen?«
»Der ist nett«, flüsterte Mona mir zu, während wir hinter
Herrn von Kahlberg über den Hof liefen.
»Ja, nicht wahr?«, flüsterte ich zurück.
Herr von Kahlberg stapfte die Stufen empor und öffnete die
Haustür. Sie war gar nicht abgeschlossen!
»Haben Sie keine Angst vor Einbrechern?«, fragte ich
überrascht.
»Nein.« Herr von Kahlberg schüttelte den Kopf. »Hier kommt
niemand her, nicht mal ein Einbrecher. Und wenn doch, ist Ella
ja auch noch da. Sie ist ein prima Wachhund.«
»Wow!«, entfuhr es Mona, als wir das Haus betraten.
Ich nickte nur. Wir standen in einer riesigen Eingangshalle
mit hoher Decke und schwarz-weißem Steinfußboden. Weit
oben hing ein Kronleuchter, der aus vielen fein geschliffenen
Glaskristallen bestand. Sie klirrten leise im Luftzug, der von
draußen hereinwehte.
»Kommt bitte weiter in den Wintergarten.« Herr von
Kahlberg führte uns durch ein sehr geräumiges, leicht
angestaubtes Wohnzimmer. Der Parkettboden war mit dicken
Teppichen ausgelegt, und überall standen schwere, alte Möbel
herum. Die Decke aus dunklem Holz war mit kunstvollen
Schnitzereien verziert.
»Hier sieht es ja aus wie in einem Museum!« Mona
betrachtete ehrfürchtig ein düsteres Ölgemälde, das über dem
wuchtigen Sofa an der Wand hing.
Ich wusste genau, was sie meinte. Man hatte den Eindruck,
dass in diesem Haus seit hundert Jahren nichts mehr verändert
worden war. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ein
Hausmädchen mit gestärkter Schürze aufgetaucht wäre, um
uns mit einem Knicks Gläser mit Eistee zu servieren. Ich kam
mir vor, als würde ich in eine andere Zeit eintauchen.
»Die meisten Möbel stammen noch von meinen Großeltern«,
erklärte Herr von Kahlberg. »Meine Familie lebt schon seit
Jahrhunderten hier.«
»Ehrlich?«, fragte ich. »Toll! Ich hätte auch gerne ein
Zuhause, aus dem mich niemand vertreiben kann. Außerdem
hatten hier bestimmt immer alle genug Platz, und jeder konnte
sich um jeden kümmern.«
»Ja, früher war das wirklich sehr schön«, meinte Herr von
Kahlberg. »Als ich klein war, haben meine Großeltern noch
gelebt. Wir haben alle gemeinsam hier gewohnt, zusammen mit
meinen Geschwistern und einer Menge Personal. Es war immer
etwas los. Meine Brüder und ich hatten viele Freiheiten. Wir
haben bei jedem Wetter draußen gespielt, im Garten oder im
Wald. Es war eine wundervolle Kindheit.«
»Und jetzt wohnen Sie ganz allein hier?«, fragte Mona.
Wir waren im Wintergarten angelangt, der an das
Wohnzimmer grenzte und zum Garten hinausging. Die
Scheiben waren nicht besonders sauber, aber man hatte
trotzdem einen tollen Blick. Der Garten war riesig und sah
richtig verwunschen aus. Überall wuchsen alte, knorrige
Bäume, und ganz hinten glitzerte ein kleiner Teich in der
Sonne. Das Grundstück wurde von den größten
Rhododendronbüschen eingerahmt, die ich je gesehen hatte.
»Setzt euch doch.« Herr von Kahlberg deutete auf mehrere
Korbstühle, die um einen niedrigen Tisch herumstanden. »Ich
hole schnell etwas zu trinken.« Er ging hinaus, und Mona und
ich nahmen in zwei Korbstühlen Platz.
»Ich fühle mich wie ein edles Fräulein aus einem
Heftchenroman.« Mona kicherte. »Bloß meine Klamotten
passen nicht so richtig dazu.« Sie betrachtete ihre abgewetzte
Jeans und die alten Turnschuhe an ihren Füßen.
Mona las für ihr Leben gerne kitschige Heftchenromane.
Meistens ging es um arme Krankenschwestern, die sich in
reiche Ärzte verliebten. Aber manchmal spielten die
Geschichten auch in der Vergangenheit. Dann verliebten sich
arme Bauerntöchter in reiche Adlige.
Ich musste lachen. »Nein, wie ein edles Fräulein siehst du
wirklich nicht aus.«
Kurze Zeit später kam Herr von Kahlberg zurück. Er schob
einen kleinen Teewagen vor sich her, auf dem ein Krug Wasser,
drei Gläser und ein Teller mit Keksen standen. »Leider habe
ich nicht allzu viel zum Anbieten«, entschuldigte er sich. »Ich
bekomme nicht oft Besuch. Seit dem Tod meiner Frau ist es
hier recht still geworden.« Er schenkte Wasser in die Gläser
und ließ sich in einem Korbsessel nieder. Ella spazierte in den
Wintergarten und legte sich neben ihrem Herrchen auf die
Steinplatten.
»Was ist aus Ihren Brüdern geworden?«, fragte ich.
»Karl ist vor fünf Jahren gestorben, und Richard ist als junger
Mann nach Amerika ausgewandert.« Herr von Kahlberg trank
einen Schluck Wasser. »Er hat eine Rinderfarm in Texas. Wir
haben kaum noch Kontakt.«
»Es muss ziemlich einsam sein, so ganz allein in dem großen
Haus«, stellte Mona fest. »Also, ich hätte bestimmt
schreckliche Angst.«
Herr von Kahlberg lächelte. »Das Haus macht mir keine
Angst. Im Gegenteil, es ist mein bester Freund. Es flüstert mir
Geschichten aus längst vergangenen Zeiten zu, und in jedem
Zimmer warten Erinnerungen auf mich. Manchmal verbringe
ich Stunden damit, von einem Zimmer ins andere zu gehen und
mir anzuhören, was sie zu erzählen haben.«
Das klang wunderschön und geheimnisvoll. Und ein bisschen
traurig.
»Vielleicht erzählt unser Haus ja auch Geschichten«,
überlegte ich. »Aber wir können sie nicht hören, weil es immer
so laut ist. Entweder schreit Lili, oder Puck bellt, oder Thomas
und seine Studienkollegen machen Krach, oder Mama streitet
sich mit Klaus, oder Mona übt Flöte …«
»… oder du hast eine deiner Drei ???-Kassetten mal wieder
bis zum Anschlag aufgedreht«, vollendete Mona den Satz.
»Genau.« Ich grinste. »Jedenfalls ist es bei uns nie so schön
ruhig wie hier.«
»Klingt nach einer großen Familie«, sagte Herr von
Kahlberg.
Ich nickte. »Eine große und chaotische Familie.« Ich erklärte
ihm, wer alles dazugehörte. »Komisch«, fügte ich hinzu. »Sie
wohnen ganz alleine in diesem riesigen Haus, und wir stapeln
uns wie die Sardinen. Eigentlich könnten Sie uns ein paar
Zimmer abgeben.« Ich kicherte.
Herr von Kahlberg sah mich nachdenklich an. »Da hast du
nicht ganz unrecht, Emma. Manchmal frage ich mich, für wen
ich dieses große, alte Anwesen eigentlich erhalte. Ich habe ja
doch niemanden, dem ich es vererben kann. Und seit der letzte
Pächter in die Stadt gezogen ist, kommen Haus und Garten
immer mehr herunter. Ich bin einfach zu alt, um alles in Schuss
zu halten. Es ist wie ein Kampf gegen Windmühlen.« Er seufzte
und sah plötzlich traurig aus.
»Also, ich finde es toll hier«, sagte Mona voller Überzeugung.
»Fast wie im Märchen.«
»Oder wie in einem Heftchenroman«, sagte ich.
Herr von Kahlberg lächelte. »So kann man es natürlich auch
sehen.«
Ich trank mein Wasser aus und stellte das leere Glas zurück
auf den Teewagen. »Ich glaube, wir müssen jetzt los.«
Mona sah auf ihre Uhr und nickte. »Stimmt. Vielen Dank für
das Wasser.«
»Keine Ursache«, sagte Herr von Kahlberg. »Ich habe mich
sehr über euren Besuch gefreut. Kommt gerne jederzeit
wieder.«
Herr von Kahlberg brachte uns zur Tür. Wir verabschiedeten
uns, stiegen auf unsere Räder und fuhren davon.
Ehe wir in den Waldweg einbogen, warf Mona einen Blick
zurück. »So ein wunderschönes Haus! Wie traurig für Herrn
von Kahlberg, dass er ganz allein dort leben muss.«
»Wenigstens hat er Ella«, sagte ich. Aber mir tat der alte
Mann auch ein bisschen leid. »Wir können ihn ja von jetzt an
öfter besuchen.«
»Gute Idee!« Mona nickte. Ihre Wangen waren rosig, und sie
lächelte.
Ich grinste zufrieden in mich hinein. Mein Plan, Mona mit
dem Besuch im Gutshaus von ihrem Liebeskummer
abzulenken, hatte schließlich doch noch perfekt funktioniert!
10. Kapitel

Träume sind Schäume

Die Woche verging wie im Flug. Herr Hummel bombardierte


uns mit Hausaufgaben, sodass ich jeden Nachmittag
stundenlang über meinem Mathebuch saß. Was für eine Folter!
Und Tim war nicht da, um mir zu helfen. Außerdem passte ich
mehrmals auf Lili auf, weil Mama und Gesa immer noch viel
Zeit mit den Planungen für das neue Gesundheitszentrum
verbrachten. So richtig kamen sie allerdings nicht voran, weil
die meisten Ideen an unserem Platzproblem scheiterten.
Am Freitag bekam ich vor lauter Aufregung in der Schule
nicht das Geringste vom Unterricht mit. Heute würde ich
endlich zu Felix fahren! Ich konnte es kaum erwarten. Mittags
schlang ich eine Portion Nudeln mit Bio-Pesto hinunter und
packte schnell meine Sachen.
Kaum war ich fertig, rief Mama auch schon von unten: »Wir
müssen los, Emma! Sonst verpasst du deinen Zug.«
Ich verabschiedete mich eilig von Mona, Lili und Puck.
Lili quietschte und zog mich an den Haaren.
Puck sprang an mir hoch und leckte mir die Hände ab.
Mona seufzte und sagte: »Am liebsten würde ich mitkommen.
Ich hätte so gerne mal ein echtes Internat von innen gesehen.«
»Beim nächsten Mal klappt es bestimmt«, versuchte ich, sie
aufzumuntern. Mona hatte am Samstag einen Auftritt mit
ihrem Flötenchor, darum musste sie zu Hause bleiben. »Und
ich erzähle dir alles haarklein, okay?«
Mona nickte und winkte zum Abschied, als Mama und ich in
Gesas VW-Bus vom Hof tuckerten. Wir schafften es gerade
noch rechtzeitig. Auf dem Bahnsteig umarmte Mama mich
schnell, bevor ich in den Zug sprang. Zum Glück hatte sie keine
Zeit mehr, mir tausend Ermahnungen mit auf den Weg zu
geben.
»Grüß Tim von mir!«, rief sie. Dann gingen die Türen zu, und
der Zug fuhr ab.
Mit klopfendem Herzen suchte ich mir einen freien Platz und
verstaute meine Reisetasche unter dem Sitz. Draußen flogen
abgeerntete Felder und bunt belaubte Bäume vorbei. Ich
lehnte mich zurück und versuchte, mich zu entspannen. Aber
mein Herzschlag wollte sich einfach nicht beruhigen. Kein
Wunder – schließlich war ich zum allerersten Mal allein mit
dem Zug unterwegs. Hoffentlich klappte alles! Da ich eine
direkte Verbindung ohne Umsteigen hatte, konnte eigentlich
nicht allzu viel schiefgehen. Hatte ich meine Fahrkarte dabei?
Obwohl ich im Auto schon zwei Mal nachgesehen hatte, begann
ich hektisch, in meinem Rucksack zu wühlen. Wo war das blöde
Ding nur? Da! Ich atmete auf, als meine Finger den
Computerausdruck ertasteten. Thomas hatte das Ticket für
mich im Internet gebucht. Manchmal war es doch ganz
nützlich, ihn im Haus zu haben.
Die Zugfahrt dauerte ewig. Zwei Stunden später hatte ich
meinen kompletten Proviant aufgefuttert (ein Stück selbst
gebackenen Kürbiskuchen, ein belegtes Brot mit Käse, einen
Apfel, eine Banane und einen Müsliriegel), drei Comichefte
gelesen und zweimal meine Fahrkarte vorgezeigt. Außerdem
hatte ich mit meinem neuen Handy ungefähr zehn SMS an
Felix geschrieben und mindestens genauso viele von ihm
bekommen. Ich wusste gar nicht mehr, wie ich so lange ohne
Handy ausgekommen war. Es war einfach TOLL, immer
erreichbar zu sein und jederzeit Nachrichten verschicken zu
können!
Da ich gerade sowieso nichts anderes zu tun hatte, griff ich
noch einmal nach dem Smartphone und schrieb:

Mir ist langweilig!!! Was soll ich tun?

Prompt kam die Antwort von Felix:

Träum von mir, dann vergeht die Zeit wie im Flug!

Ich grinste. So ein Angeber! Aber eigentlich war die Idee gar
nicht so schlecht. Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen
und stellte mir vor, wie Felix mich am Bahnhof abholen
würde …
Felix steht mit einer roten Rose am Bahnsteig und erwartet
mich sehnsüchtig. Kaum bin ich aus dem Zug gestiegen, kommt
er auf mich zu und umarmt mich. Er drückt mir einen Kuss auf
die Lippen und die Rose in die Hand. Von seinem Lächeln
bekomme ich weiche Knie. Dann beugt er sich zu mir und
flüstert in mein Ohr: »Du bist das tollste Mädchen, das ich je
gesehen habe …«

Mit einem Ruck erwachte ich. Die Bremsen des Zuges
quietschten, und der Schaffner sagte gerade etwas durch. Mir
fuhr der Schreck in die Glieder. Wie lange hatte ich
geschlafen? Hatte ich die richtige Station verpasst? Der Zug
wurde langsamer, und draußen tauchte ein altes
Bahnhofsgebäude auf. Auf den Schildern stand weiß auf blau:
MÜHLENBERG. Mist, ich musste aussteigen!
Hektisch sammelte ich meine Sachen zusammen und zerrte
die Reisetasche unter dem Sitz hervor. Der Zug war bereits
zum Stehen gekommen, als ich durch den Gang zur Tür rannte
und in letzter Sekunde hinaussprang. Puh, gerade noch
geschafft! Der Schaffner blies in seine Trillerpfeife, die Türen
schlossen sich, und der Zug rollte weiter. Ich stellte die
schwere Tasche ab und atmete erst einmal tief ein und aus.
Dann fuhr ich mir durch meine zerzausten Haare und sah mich
neugierig um.
Ich stand auf einem schmalen Bahnsteig mitten im
Nirgendwo. Abgesehen von einem kleinen, ziemlich schäbigen
Bahnhofsgebäude gab es hier nur Wiesen und Felder. Weiter
hinten begann ein Waldstück mit hoch aufragenden Fichten.
Die wenigen Leute, die ebenfalls aus dem Zug gestiegen
waren, waren in Windeseile verschwunden. Eine Frau wurde
von ihrem Mann abgeholt, ein älteres Paar stieg in ein
wartendes Taxi, und ein Mann mit schwarzem Rollkoffer ging
zu Fuß davon. Ich blieb als Einzige zurück und fühlte mich ein
wenig verloren.
Ich blickte von rechts nach links. Kein Felix weit und breit.
Wo steckte er? Hatte er etwa vergessen, dass er mich vom
Bahnhof abholen wollte? War ihm etwas
dazwischengekommen? Hatte er keine Lust mehr auf meinen
Besuch? Unsinn! Bestimmt würde er gleich völlig abgehetzt
angerannt kommen und sich tausendmal für seine Verspätung
entschuldigen. Ich musste nur warten. Und das tat ich auch.
Drei Minuten.
Fünf Minuten.
Sieben.
Acht …
Nach zehn Minuten war Felix immer noch nicht da. Ich war
inzwischen so nervös, dass ich kaum still stehen konnte. Was
hatte das zu bedeuten? Und was sollte ich jetzt tun? Weiter
warten? Zu Fuß zum Internat gehen? Mit dem nächsten Zug
zurück nach Hause fahren?
Da fiel mir ein, dass ich ja jetzt ein Handy besaß! Erleichtert
stöhnte ich auf. Ich konnte Felix einfach anrufen! Warum war
ich nicht gleich darauf gekommen? Wahrscheinlich hatte ich
mich einfach noch nicht richtig daran gewöhnt, stolze
Handybesitzerin zu sein … Doch gerade als ich Felix’ Nummer
aufrufen wollte, bog eine Gestalt in Schuluniform um die Ecke.
Felix!, dachte ich im ersten Moment. Aber er war es nicht.
»Tut mir leid, bin etwas zu spät«, keuchte Tim.
Ich blinzelte verwirrt. »Was machst du denn hier?«
»Dich abholen, was sonst?« Tims Atmung beruhigte sich
allmählich wieder. »Wartest du schon lange?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Geht so. Wo ist Felix? Warum
holt er mich nicht ab?«
»Ihm ist etwas dazwischengekommen«, erklärte Tim. »Sein
Tutor hat ihn kurzfristig zu einem individuellen
Zielsetzungsgespräch gebeten. Es geht um sein Lernprofil und
die Wahl seiner Gilden.«
»Aha.« Ich verstand nur Bahnhof. Der rosarote Traum von
Felix mit einer Rose in der Hand zerplatzte lautlos in meinem
Kopf. Mein Herz schrumpfte ein bisschen. Nicht viel, nur ein
ganz klein wenig. Niemand außer mir würde es merken.
»Sei nicht sauer.« Tim sah mich aufmerksam an, und ich
senkte den Blick. Mein Zwillingsbruder kannte mich so gut wie
ich mich selbst. Manchmal sogar besser. »Felix freut sich
schon die ganze Woche auf dich.«
»Aha.« Das tröstete mich nicht wirklich. Aber ich riss mich
zusammen und griff nach meiner Reisetasche. »Gehen wir?«
Vom Bahnhof zum Internat lief man ungefähr zwanzig
Minuten. Es war ein hübscher Weg, der erst an der
gewundenen Landstraße entlangführte und dann über einen
Schotterweg zum Schulgelände. Ich kannte das
Internatsgebäude bisher nur von Fotos aus der Schulbroschüre
und riss überrascht Mund und Augen auf, als es vor uns
auftauchte.
»Das ist ja riesig!«, stellte ich beeindruckt fest. »In der
Broschüre wirkt es irgendwie kleiner.«
Das Internat befand sich in einer alten Wassermühle. Neben
dem Haupthaus plätscherte ein Bach, der früher
wahrscheinlich das Mühlrad bewegt hatte. Heute drehte es
sich nicht mehr, sondern war nur noch zur Zierde da.
Tim zuckte mit den Schultern. »Wenn man eine Weile hier
ist, wird es einem trotzdem irgendwann zu eng.«
Ich verstand nicht so richtig, was er damit meinte. Aber ehe
ich nachfragen konnte, redete Tim schon weiter.
»Im Haupthaus sind die Klassenzimmer untergebracht,
außerdem der Speisesaal, die Küche und der große
Aufenthaltsraum«, erklärte er. »In den Nebengebäuden
wohnen die Internatsschüler in ihren Heimfamilien. Und in der
ehemaligen Scheune befinden sich die AG-Räume.«
Wir hatten das Internatsgelände erreicht, und ich sah mich
neugierig um. Schmale Wege führten von einem Gebäude zum
anderen, dazwischen lagen ordentlich gemähte Wiesen, auf
denen knorrige Apfelbäume wuchsen. Hier konnte man im
Sommer bestimmt prima im Gras liegen und ein Buch lesen. Es
wirkte alles sehr idyllisch. Auf den Wegen liefen Schüler hin
und her, die alle die Schulkleidung des Internats trugen. Sie
erinnerten mich ein bisschen an Soldaten in einheitlicher
Uniform. Obwohl mich niemand offen anstarrte, hatte ich das
Gefühl, in meinen normalen Alltagsklamotten total aufzufallen.
Zumindest konnte jeder sehen, dass ich nur zu Besuch war und
eigentlich nicht hierhin gehörte.
»Müsst ihr die Schuluniform eigentlich immer tragen?«,
fragte ich.
»Ja, das ist Vorschrift«, antwortete Tim. »Am Anfang kam mir
das auch seltsam vor, aber man gewöhnt sich dran.« Eine helle
Glocke begann zu läuten. Ihr Ton war so durchdringend, dass
er bestimmt auf dem ganzen Gelände zu hören war. »Das ist
die Glocke fürs Abendessen. Komm, wir gehen am besten
direkt zum Speisesaal. Vielleicht ist Felix ja auch schon da.
Dein Gepäck kannst du später wegbringen.«
Ich folgte Tim zum Hauptgebäude, einem großen
Fachwerkhaus mit zahlreichen Sprossenfenstern und einer
dunkelgrün gestrichenen Eingangstür. Die Tür stand offen, und
aus allen Richtungen strömten Schüler hinein. Wir folgten
ihnen ins Haus, durch eine große Eingangshalle und über einen
langen Flur. Der Speisesaal war nicht schwer zu finden. Schon
von Weitem waren die Stimmen vieler Menschen zu hören.
Trotzdem blieb ich überrascht stehen, als wir den Raum
betraten.
»Du meine Güte!«, platzte ich heraus. »Hier ist ja was los!«
Tim grinste. »Das hab ich an meinem ersten Tag im Internat
auch gedacht. Alle Schüler und Lehrer essen zusammen, das
soll angeblich die Gemeinschaft stärken.« Er zuckte mit den
Schultern, als wäre er nicht ganz sicher, ob das wirklich
stimmte. »Unsere Heimfamilie sitzt dahinten.«
Während ich Tim durch den Saal folgte, versuchte ich, die
vielen Eindrücke, die auf mich einstürmten, in meinem Kopf zu
sortieren. Der Speisesaal war riesig. Er hatte hohe Fenster,
durch die man auf das weitläufige Internatsgelände blicken
konnte. Auf der Rückseite waren die Essensausgabe und der
Zugang zur Küche. Lange Tische standen nebeneinander, und
die Internatsbewohner setzten sich gerade lachend und
schwatzend auf ihre Stühle. Alle schienen genau zu wissen, an
welchen Tisch sie gehörten, offenbar gab es feste Plätze. Ältere
und jüngere Schüler saßen bunt durcheinander. Dazwischen
versuchten einige Erwachsene, für Ruhe zu sorgen, was aber
ziemlich aussichtslos war. Der Raum war erfüllt vom
Stimmengewirr und Lachen der Schüler, dem Quietschen von
Turnschuhsohlen und dem Scharren der Stuhlbeine auf dem
glänzenden Holzfußboden, trappelnden Schritten und dem
Klappern von Geschirr. Es war so laut, dass ich mir am liebsten
die Ohren zugehalten hätte.
»Das ist unser Tisch.« Tim blieb neben einem langen Tisch
direkt neben dem Fenster stehen. »Und das ist Bodo, unser
Heimfamilienbetreuer.«
Ein schlaksiger Typ, den ich eher für einen älteren Schüler
gehalten hätte, unterhielt sich gerade mit einem
dunkelhaarigen Mädchen. Als er Tim und mich sah, stand er
auf und kam auf uns zu.
»Hallo!«, begrüßte er mich. »Du musst Emma sein, Tims
Schwester.« Ich nickte. »Ich bin Bodo.« Er lächelte mir zu.
»Herzlich willkommen im Internat Mühlenberg.«
»Danke!« Ich versuchte, ganz locker zu wirken, aber so
richtig gelang mir das nicht. Ich fühlte mich ziemlich fehl am
Platz mit meinen normalen Klamotten, den zerzausten Haaren
und der Reisetasche in der Hand.
»Schön, dass du deinen Bruder besuchst«, sagte Bodo. »Fühl
dich bei uns wie zu Hause. Und wenn irgendein Problem
auftauchen sollte, kannst du dich gerne jederzeit an mich
wenden.«
»Okay«, sagte ich leicht verdutzt. Wie kam dieser Bodo
darauf, dass ich Tim besuchte? Natürlich war ich auch
seinetwegen hier, aber eigentlich hatte mich doch Felix
eingeladen. Apropos – wo steckte er eigentlich? Ich konnte ihn
nirgendwo entdecken.
»Wir haben dich bei Bodo als meine Schwester angemeldet«,
raunte Tim mir zu, während wir uns ans andere Ende des
Tisches setzten. »Verwandtenbesuch wird leichter genehmigt
als der Besuch von Freunden.«
»Aha.« Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte.
Musste ich jetzt etwa die ganze Zeit so tun, als ob ich gar nicht
mit Felix zusammen wäre? Dann hätte ich ja genauso gut zu
Hause bleiben können!
Felix erschien in letzter Sekunde, als das Küchenpersonal
gerade die dampfenden Schüsseln mit dem Essen auf den
Tischen verteilte. Es gab Kartoffelpüree, Würstchen, Erbsen-
und Möhrengemüse und Salat.
»’tschuldigung, ich hatte noch ein Gespräch mit meinem
Tutor«, sagte er zu Bodo, während sein Blick unruhig über den
Tisch glitt. Als er mich sah, leuchtete sein Gesicht auf. »Hallo,
Emma!«
Felix’ Lächeln haute mich beinahe um. Das geht mir jedes
Mal so. Ich versank in seinen meergrauen Augen. Am liebsten
wäre ich aufgesprungen und hätte mich in seine Arme
geworfen. Aber ich blieb wie festgeklebt auf meinem Stuhl
sitzen. Felix nahm weiter vorne am Tisch Platz. Er fügte sich in
seiner Schuluniform perfekt zwischen den anderen Schülern
ein. Ich schluckte. War das alles? Ein einfaches Hallo, Emma?
Kein Schön, dass du da bist, kein Ich hab dich vermisst, kein
Du bist das tollste Mädchen, das ich je gesehen habe … Keine
Rose, keine Umarmung, kein Kuss. Mein Traum von unserer
romantischen Begrüßungsszene kam mir plötzlich total
lächerlich vor. Mein Herz schrumpfte noch etwas mehr
zusammen. Wenn das so weiterging, war es irgendwann klein
wie eine Rosine.
Willkommen im echten Leben, Emma!
Als die Schüsseln herumgereicht wurden, nahm ich mir
automatisch etwas Kartoffelpüree, Gemüse und Salat. Dabei
hatte ich eigentlich überhaupt keinen Hunger. Der Appetit war
mir vergangen. Mit gesenktem Kopf stocherte ich in meinem
Salat herum, während sich um mich herum alle lebhaft
unterhielten. Mit mir sprach niemand. Als wäre ich unsichtbar.
Aber im Grunde war ich ganz froh darüber. Meine Kehle war
wie zugeschnürt. Wenn ich den Mund aufgemacht hätte, hätte
ich bestimmt sofort losgeheult.
Tim sah mich prüfend von der Seite an. »Alles klar?«, fragte
er leise.
Ich nickte und schob mir schnell eine Gabel Kartoffelpüree in
den Mund.

Omas beste Sprüche: Träume sind Schäume.


11. Kapitel

Wer steht schon auf Robert Pattinson?

Nach dem Essen gingen Tim und ich hinaus, damit ich endlich
meine Reisetasche wegbringen konnte.
»Du wohnst bei uns in der alten Schmiede«, sagte Tim. »Da
gibt es ein kleines Zimmer extra für Gäste.«
»Okay«, murmelte ich. Dabei wäre ich am liebsten direkt
wieder nach Hause gefahren. Dieses Internat war einfach nicht
meine Welt.
»Emma, warte!« Felix’ Stimme ertönte hinter uns.
Ich blieb stehen und drehte mich um. Felix rannte auf uns zu.
Direkt vor mir stoppte er.
»Tut mir leid, dass ich nicht zum Bahnhof kommen konnte.«
Er fuhr sich durch seine hellblonden, strubbeligen Haare. Sie
waren ein ganzes Stück gewachsen, seit wir uns das letzte Mal
gesehen hatten. »Mein Tutor hat mir kurzfristig noch einen
Gesprächstermin reingedrückt. Ich war total sauer. Ich hatte
mich doch schon so darauf gefreut, dich abzuholen!« Er nahm
meine Hand. »Aber jetzt bist du ja da.«
»Ja«, sagte ich. »Jetzt bin ich da.«
Felix’ Hand fühlte sich warm und vertraut an. Vorhin im
Speisesaal war er mir richtig fremd vorgekommen, aber unsere
Hände erkannten einander sofort wieder. Meine Finger
verschränkten sich mit seinen, und eine angenehme Wärme
durchflutete mich. Doch plötzlich fiel mir etwas ein, und ich
zog die Hand zurück.
»Was ist?« Felix runzelte die Stirn. »Bist du sauer, weil ich es
nicht zum Bahnhof geschafft habe?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber dürfen die anderen
denn wissen, dass wir zusammen sind?«
Felix griff nach meiner Hand und drückte sie ganz fest. »Das
darf jeder wissen! Keine Sorge, wir müssen uns nicht
verstecken.«
»Und dieser Bodo?« Ich schaute mich besorgt um, aber der
Betreuer war nirgendwo zu sehen.
»Bodo ist in Ordnung«, beruhigte mich Felix. »Und es ist
schließlich nicht verboten, seine Freundin einzuladen. Hier im
Internat gibt es auch einige Pärchen, da drücken die Lehrer
meistens ein Auge zu. Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen.
Besuche von Verwandten werden einfach schneller
genehmigt.«
»Ach so.« Mein verschrumpeltes Herz sog sich mit der
Wärme voll, die in Felix’ Blick lag, und wurde wieder prall und
rund in meiner Brust. Wie auf Wolken lief ich neben Felix her
zur alten Schmiede. Das kleine Fachwerkhaus hatte ein spitzes
Dach, schiefe Wände und Blumenkästen vor den Fenstern. Es
lag am Rand des Internatsgeländes direkt neben dem Bach.
Tim hielt uns die Tür auf, dann zog er sich diskret zurück.
»Hier ist das Gästezimmer.« Felix führte mich gleich in das
erste Zimmer, das vom Flur abging.
Ich stellte die Reisetasche ab. »Sieht nett aus.«
Der Raum war nicht besonders groß, aber gemütlich
eingerichtet mit einem frisch bezogenen Bett, einer kleinen
Kommode, einem bunten Teppich und weißen Gardinen.
»Warte mal kurz, bin gleich zurück.« Felix verschwand. Nach
wenigen Sekunden tauchte er wieder auf. Mit hinter dem
Rücken verschränkten Händen stellte er sich vor mich hin.
»Schön, dass du da bist, Emma.« Er lächelte so lieb, dass ich
weiche Knie bekam. »Ich hab dich vermisst, weißt du?« Er zog
eine rote Rose hinter seinem Rücken hervor und überreichte
sie mir. »Für das tollste Mädchen, das ich je gesehen habe!«
Ich schluckte. Meine Kehle wurde eng. Aber diesmal nicht
vor Enttäuschung, sondern vor Freude. Es war, als wäre ich
direkt in meinen Traum hineinkatapultiert worden. Wir standen
zwar nicht am Bahnsteig, sondern im Gästezimmer der alten
Schmiede, aber sonst war alles genau so, wie ich es mir
vorgestellt hatte. Unglaublich! Hatte Felix vielleicht denselben
Traum gehabt?
»Danke«, murmelte ich verlegen und schnupperte an der
Rose. Ihr süßer Duft passte perfekt zu der romantischen
Stimmung, die Felix und mich jetzt einhüllte wie ein
kuscheliges Tuch.
»Ich hab mich so auf dich gefreut.« Felix kam einen Schritt
näher, und ich konnte das Zitronenshampoo riechen, mit dem
er sich die Haare wusch. Er beugte sich zu mir und drückte mir
einen sanften Kuss auf die Lippen.
Ich schloss die Augen und wünschte, die Zeit würde stehen
bleiben. Leider tat sie es nicht.
»Huch, ich glaube, wir stören!«, rief eine helle Stimme, und
jemand kicherte.
Die romantische Stimmung zerplatzte wie eine Seifenblase.
Felix und ich fuhren auseinander. In der Tür standen zwei
Mädchen, eine Blonde und eine Dunkelhaarige.
»Hallo, Emma!« Das Mädchen mit den blonden Haaren
lächelte mir zu, und einen Wimpernschlag später erkannte ich
sie.
»Julia!« Verlegen fuhr ich mir durch meine zerzausten Haare.
Felix’ Schwester ist ein Jahr jünger als er und geht auch aufs
Internat Mühlenberg. Außerdem sieht sie aus wie ein Model.
Alles an ihr ist perfekt: ihre Figur, ihre Haut, ihre
wohlgeformte Nase, ihr fein geschwungener Mund, sogar ihr
Lächeln. Trotzdem ist sie sehr nett und kein bisschen
eingebildet.
»Toll, dass du hier bist!« Julia kam auf mich zu und umarmte
mich.
Ihre Freundin, die gerade so albern gekichert hatte, grinste.
»Kommen wir etwa ungelegen?« Sie warf ihre langen
dunkelbraunen Haare über die Schulter zurück.
Ich merkte, wie ich rot wurde, und ärgerte mich darüber. Es
war nichts Schlimmes, seinen Freund zu küssen – schon gar
nicht, wenn man sich so lange nicht gesehen hatte. Warum war
es mir dann trotzdem peinlich, dass die beiden uns überrascht
hatten?
»Das ist Cornelia«, stellte Julia vor. »Wir teilen uns ein
Zimmer.«
»Du kannst mich Nelli nennen«, sagte Cornelia großzügig. Es
klang, als wäre das eine große Ehre.
»Wohnt ihr auch in der Schmiede?«, fragte ich.
Julia schüttelte den Kopf. »Wir wohnen im Kornspeicher, das
ist auf der anderen Seite des Geländes.«
»Aha.« Mehr fiel mir nicht ein.
»Kommt ihr nachher zum Kinoabend?«, fragte Nelli.
Felix zuckte mit den Schultern. »Ich weiß noch nicht.« Er sah
zu mir. »Was meinst du?«
»Eigentlich würde ich lieber …«, begann ich, aber Nelli
unterbrach mich.
»Heute wird der neue Film mit Robert Pattinson gezeigt. Den
müsst ihr euch einfach ansehen! Magst du Robert Pattinson?«
Nelli warf mir einen fragenden Blick.
»Na ja, geht so …«, murmelte ich.
»Prima, dann ist die Sache geritzt!« Nelli strahlte Felix an,
drehte sich um und verschwand auf den Flur.
Julia rollte hinter Nellis Rücken mit den Augen und raunte
mir zu: »Nelli ist der größte Robert-Pattinson-Fan von ganz
Mühlenberg. Sie freut sich schon seit Wochen auf den Film.
Also dann, bis nachher.« Sie folgte ihrer Mitbewohnerin nach
draußen.
Ich sah ihr kopfschüttelnd nach. »Wie hält deine Schwester
es bloß mit dieser Nelli aus? Ich würde sterben, wenn ich mir
mit ihr ein Zimmer teilen müsste.«
Felix lächelte entschuldigend. »Nelli kann zwar manchmal
etwas anstrengend sein, aber eigentlich ist sie ganz nett.«
»Wenn du meinst …« Ich runzelte die Stirn. Es gefiel mir
nicht, dass Felix diese Nervensäge verteidigte.
»Hast du überhaupt Lust auf Kino?«, fragte Felix. »Wenn du
lieber etwas anderes machen willst, ist das auch okay.«
Ich überlegte kurz. Eigentlich wäre ich ja gerne eine Weile
mit Felix allein gewesen. Bei der Filmvorführung war
wahrscheinlich das halbe Internat dabei. Andererseits wollte
ich gerne Felix’ Freunde kennenlernen. Und was würden die
anderen denken, wenn wir uns den ganzen Abend in Felix’
Zimmer verkrochen? Wahrscheinlich hielten sie mich dann für
arrogant oder – noch schlimmer – glaubten, ich hätte Angst vor
ihnen. Ich straffte die Schultern. »Kein Problem. Ich wollte
schon immer einen Film mit Robert Pattinson sehen. Wann
geht’s los?«
Felix sah auf die Uhr. »In einer Viertelstunde. Ich zieh mich
nur schnell um, dann hole ich dich ab, okay?«
Ich nickte. »Perfekt!«
12. Kapitel

Wie man eine Nervensäge wieder loswird – oder auch nicht

Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, wusste ich


im ersten Moment nicht, wo ich war. Draußen war es noch
dunkel, und ich vermisste Monas Schnarchen. Im Zimmer war
es ganz still. Dann fiel mir alles wieder ein: Ich war im Internat
Mühlenberg, im Gästezimmer der alten Schmiede, und Felix
schlief zwei Zimmer weiter. Ich gähnte. Doch obwohl ich noch
total müde war, konnte ich nicht wieder einschlafen. Also
drehte ich mich auf den Rücken, verschränkte die Hände hinter
dem Kopf und dachte an den gestrigen Abend.
Der Film mit Robert Pattinson war ziemlich blöd gewesen,
aber Nelli hatte trotzdem die ganze Zeit verzückt geseufzt. Der
Aufenthaltsraum, in dem jeden Freitagabend ein Film gezeigt
wurde, war rappelvoll. Felix hatte mir ein paar seiner Freunde
vorgestellt und die anderen Mitglieder seiner Heimfamilie. So
wurden die Wohngruppen hier genannt. Ein komisches Wort –
Heimfamilie. Das Internat war schließlich kein Heim, und Felix
und seine Mitschüler waren keine Familie. Aber egal.
Zehn Jungs und Mädchen wohnten in der alten Schmiede. Sie
waren unterschiedlich alt und teilten sich jeweils zu zweit ein
Zimmer. Bodo, der Betreuer, hatte eine Wohnung am Ende des
Flurs, außerdem gab es ein Wohnzimmer und eine kleine
Küche, die alle benutzen durften.
Zum Glück trugen die Schüler abends keine Schuluniformen,
sondern ihre normalen Klamotten, sodass ich mich nicht mehr
ganz so außerirdisch fühlte. Trotzdem schwirrte mir immer
noch der Kopf, wenn ich an die vielen Gesichter dachte. Nie im
Leben würde ich mir all die Namen merken können. Felix hatte
während des ganzen Films meine Hand gehalten, das war
schön. Aber zum Reden waren wir kaum gekommen, denn nach
dem Film war ich todmüde ins Bett gefallen.
Ich rekelte mich, stand auf und zog die Gardinen zurück.
Draußen ging gerade die Sonne auf. Der Himmel war stahlblau,
und die ersten Sonnenstrahlen kitzelten mich an der Nase. Ich
öffnete das Fenster und atmete die kühle Herbstluft ein. Das
Internat lag noch in tiefem Schlaf, nur das Rauschen des
Baches war zu hören. Während ich mich langsam anzog,
begann ich mich auf den Tag zu freuen. Heute würde ich Felix
endlich ganz für mich allein haben, und wir würden alles
nachholen, was wir in den vergangenen Wochen verpasst
hatten.

Eine Stunde später ging ich mit Felix und Tim zum Frühstück
ins Haupthaus.
»Am Wochenende sind die Essenszeiten etwas lockerer«,
erklärte mir Felix. »Morgens gibt es bis zehn Uhr ein
Frühstücksbüfett, und man kann kommen und gehen, wann
man will.«
Wir waren früh dran, darum war nicht allzu viel los. Der
Lärmpegel hielt sich noch in erträglichen Grenzen, worüber ich
ziemlich froh war.
»Ist es nicht anstrengend, immer mit so vielen Leuten zu
essen?«, fragte ich, während ich mir am Büfett Müsli in ein
Schälchen füllte.
Felix häufte sich neben mir kleine gebratene Würstchen auf
seinen Teller. »Doch, aber man gewöhnt sich dran«, sagte er.
»Zu Hause kommt es mir bei den Mahlzeiten dann immer total
still vor.«
Wir setzten uns an den Tisch am Fenster. Tim gesellte sich zu
uns.
»Ich muss gleich wieder los«, nuschelte er zwischen zwei
Bissen von seinem Marmeladenbrötchen. »Um halb zehn fängt
das Schachtraining an.«
»Ihr habt am Samstag Schachtraining?«, sagte ich
mitfühlend. »Du Ärmster!«
Tim schüttelte den Kopf. »Gar nicht! Ich freu mich schon die
ganze Woche darauf. Ich will unbedingt bei den nächsten
Schul-Schachmeisterschaften mitmachen.«
»Verrückt!«, murmelte ich.
Manchmal ist mein Bruder ziemlich durchgeknallt. Ich meine,
wer setzt sich schon freiwillig stundenlang vor ein Schachbrett
und zermartert sich das Gehirn, um irgendwelche Züge ewig
im Voraus zu planen? Ich finde Schach zum Gähnen langweilig.
Was vielleicht auch daran liegt, dass ich die Regeln nie so
richtig kapiert habe. Selbst Tim hat es irgendwann aufgegeben,
sie mir erklären zu wollen.
»Und was habt ihr heute vor?«, fragte Tim.
Felix sah mich an. »Soll ich dir nach dem Frühstück erst mal
das Gelände zeigen, damit du dich besser zurechtfindest?«
Ich nickte. »Gerne!«
Das war die perfekte Gelegenheit, sich abzuseilen und Zeit
mit Felix allein zu verbringen. Inzwischen füllte sich der
Speisesaal immer mehr, und auch an unserem Tisch nahmen
einige Schüler Platz. Ein paar Leute, die ich gestern beim Kino
kennengelernt hatte, nickten mir zu. Ich nickte zurück, obwohl
ich mich nicht mehr an ihre Namen erinnern konnte. Schnell
aß ich mein Müsli auf. Doch bevor Felix und ich aufbrechen
konnten, tauchten Julia und Nelli auf.
»Guten Morgen!« Julia lächelte mir zu. »Gut geschlafen?«
Ich nickte.
»Einen wunderschönen guten Morgen allerseits!«, rief Nelli
aufgekratzt in die Runde und ließ sich neben Felix auf einen
Stuhl sinken. »Also, ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber
ich hab die ganze Nacht kein Auge zugetan. Nach dem Film
gestern musste ich ständig an Robert Pattinson denken. Er ist
ja so süß!« Sie wickelte sich eine Strähne ihrer langen, dunklen
Haare um den Finger und machte ein verträumtes Gesicht.
»Schade, dass er nicht auch aufs Internat Mühlenberg geht.«
»Das fehlte gerade noch!« Felix verzog das Gesicht. »So
einen Schnösel können wir hier bestimmt nicht gebrauchen.«
Nelli knuffte Felix spielerisch in die Seite. »Du bist ja nur
neidisch, weil alle Mädchen auf ihn stehen.«
»Unsinn«, murmelte Felix und erhob sich. »Wollen wir los?«,
fragte er mich.
»Klar.« Es war mir ganz recht, von dieser Nelli
wegzukommen. Sie ging mir mit ihrem Robert-Pattinson-Tick
ziemlich auf die Nerven. Außerdem gefiel es mir nicht, dass sie
so tat, als wäre Felix ihr bester Freund. Schließlich war Felix
mein Freund!
»Wo wollt ihr denn hin?«, erkundigte sich Nelli.
Am liebsten hätte ich geantwortet, dass sie das gar nichts
angeht, aber ich hielt mich zurück. Bloß weil ich Nelli nicht
sonderlich mochte, musste ich mich ja nicht gleich mit ihr
anlegen.
»Ich zeige Emma das Internatsgelände«, antwortete Felix.
»Ich komme mit!« Nelli sprang auf.
Vor Schreck bekam ich keinen Ton heraus. Was sollte das
denn jetzt?
»Du hast doch noch gar nicht gefrühstückt«, sagte Felix.
»Ich hab sowieso keinen Hunger«, behauptete Nelli.
»Außerdem kenne ich mich super auf dem Gelände aus. Du
wirst sehen, Emma, ich kann dir Ecken zeigen, die nicht mal
Felix kennt.« Sie zwinkerte mir zu.
»Das ist wirklich sehr nett, aber …«, begann ich, doch Nelli
fiel mir ins Wort.
»Kein Problem, das mach ich doch gerne!« Sie hakte sich bei
mir unter. »Auf geht’s, Leute!«
Ich warf Felix einen Hilfe suchenden Blick zu, aber er zuckte
nur mit den Schultern und folgte uns hastig, als Nelli mich aus
dem Speisesaal zog.

»Das ist unser Sportplatz.« Nelli machte eine ausholende
Armbewegung. Sie sah so stolz aus, als würde der Platz ihr
gehören.
»Toll«, sagte ich ohne große Begeisterung.
Auf der Aschenbahn trabten ein paar Läufer im Kreis herum.
Wahrscheinlich irgendeine Sport-AG. Der Himmel war immer
noch blau, aber es war herbstlich kühl. Perfektes Laufwetter.
Ich wäre am liebsten auch weggelaufen. Seit einer
geschlagenen Stunde marschierten wir nun schon kreuz und
quer über das Internatsgelände. Nelli hatte mir den alten
Kornspeicher, das Backhaus, die Scheune und den Pferdestall
gezeigt. Im Pferdestall lebten tatsächlich echte Pferde, in den
anderen Nebengebäuden waren die Heimfamilien oder AG-
Räume untergebracht. Außerdem waren wir am Ententeich
gewesen, in dem neue Schüler »getauft« wurden, wie Nelli mir
hinter vorgehaltener Hand erzählt hatte. Im Klartext hieß das,
sie wurden einfach mit Klamotten ins Wasser geschmissen.
Ganz schön gemein, oder?
Und jetzt standen wir also am Sportplatz. »Dort drüben
hinter der alten Eiche treffen sich immer die Raucher«, raunte
Nelli mir zu. »Das ist aber streng geheim, denn eigentlich ist
Rauchen natürlich auf dem gesamten Gelände verboten.«
Felix griff nach meiner Hand und drückte sie. »Ich glaube,
jetzt haben wir alles gesehen. Vielen Dank, Nelli.«
Ich zwang mich, nicht die Augen zu verdrehen. Wie schaffte
Felix es bloß, so höflich zu bleiben? Ich hätte Nelli am liebsten
auf den Mond geschossen.
»Hab ich doch gerne gemacht.« Nelli strahlte Felix an.
»Übrigens freue ich mich schon total auf unseren Segeltörn in
den Herbstferien! Hoffentlich spielt das Wetter mit.«
»Ja, das wird sicher nett«, murmelte Felix.
Ich schluckte. Hatte ich mich gerade verhört? Sofort tauchte
ein glasklares Bild vor meinem inneren Auge auf: Felix und
Nelli gemeinsam auf einem Segelboot, das mit geblähten
Segeln über ein azurblaues Meer schoss. Felix trug schicke
Segelklamotten und eine Kapitänsmütze und steuerte das Boot
lässig durch die Wellen, während sich Nelli im Bikini an Deck
sonnte …
»Ihr fahrt zusammen weg?«, krächzte ich und blinzelte
mehrmals, um das Bild in meinem Kopf zu verscheuchen.
Nelli nickte. »Zum Segeln, wie jeden Herbst. Dieses Jahr geht
es ans Mittelmeer.«
Die Vision von Nelli im Bikini wurde immer lebendiger. Jetzt
ließ sie sich auch noch von Felix den Rücken mit Sonnencreme
einreiben. Beide lachten gut gelaunt über einen Witz, den sie
gerade gemacht hatte …
»Unsere Familien sind befreundet«, erklärte Felix hastig.
»Unsere Väter sind zusammen zur Schule gegangen.«
»Ach so.« Die Vision verschwand. Ich atmete auf – aber nur
kurz.
»Papa und Felix’ Vater waren auch hier im Internat
Mühlenberg«, erzählte Nelli. »Lustig, oder? Das ist eine alte
Familientradition. Und Felix kenne ich, solange ich denken
kann.« Sie tätschelte seinen Arm. »Wir haben uns schon im
Sandkasten gegenseitig die Schaufeln weggenommen,
stimmt’s, Felix?«
Felix grinste etwas gequält. »Na ja, genau genommen hast du
meistens mir die Schaufel weggenommen.«
Nelli lachte. »Stimmt! Du warst schon als Kind so gut
erzogen und nett, dass es fast unheimlich war. Aber unsere
gemeinsamen Segelurlaube sind immer richtig toll. Weißt du
noch, wie wir letztes Jahr vor Korsika in diesen Sturm geraten
sind? Fast wäre unser Boot gekentert. Ich hatte solche Angst!
Wir haben uns unter Deck in deine Kajüte verkrochen, und du
hast mir Geschichten erzählt …« Sie lächelte verzückt. Dann
schien ihr wieder einzufallen, dass ich auch noch da war.
»Segelst du auch?«
»Nein«, antwortete ich knapp.
»Na ja, Segeln muss man eben mögen«, plapperte Nelli
weiter. »Das ist kein Sport für jeden. Spielst du Tennis?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Golf?«
»Auch nicht.« Allmählich wurde ich sauer. »Wird das jetzt ein
Kreuzverhör, oder was?«
Nelli lachte. »Quatsch! Ich möchte dich nur etwas besser
kennenlernen, das ist alles.«
»Emma ist ein echtes Schwimmtalent«, sagte Felix schnell.
»Beim Wettschwimmen hängt sie jeden ab.«
»Klingt ja toll!« Nelli lächelte, aber ihre Lippen waren
schmal.
Ich war kurz vorm Explodieren. Warum hielt diese blöde
Ziege nicht endlich den Mund?

Was ich am liebsten mit Nelli machen würde, um mir ihr


Gequatsche nicht mehr anhören zu müssen:

1. Ihr mit einem großen Pflaster den Mund zukleben


2. Ihr ordentlich gegen das Schienbein treten
3. Kräftig an ihren langen Haaren ziehen
4. Sie zum Abkühlen in den Ententeich schubsen
5. Sie im nächsten Wandschrank einsperren und erst
wieder rauslassen, wenn ich nach Hause fahre
6. Sie in ein Segelboot setzen und damit zum Südpol
schicken
7. Sie mit Robert Pattinson verkuppeln, dann kann er sich
mit ihr herumärgern!!!


Etwas später standen wir wieder vor der alten Schmiede.
»Tschüss dann«, sagte ich, bevor Nelli auf die Idee kam, uns
ins Haus zu folgen.
»Bis später.« Felix nickte ihr zu.
»Seid ihr heute Abend bei der Party dabei?«, fragte Nelli.
Wenn ich ein Pflaster dabeigehabt hätte, hätte ich es ihr jetzt
auf den Mund geklebt. Diese Nelli entwickelte sich zu einer
waschechten Klette!
»Weiß noch nicht.« Felix zuckte mit den Schultern.
»Wird bestimmt super!« Nelli vergrub die Hände in den
Hosentaschen. »Das solltet ihr euch nicht entgehen lassen.«
Ich hatte zwar keine Ahnung, von was für einer Party sie
sprach, aber wenn sie auch dabei war, hatte ich bestimmt
keine Lust darauf.
»Ich bin nicht so in Partystimmung«, behauptete ich. »Du
wirst wohl ohne uns auskommen müssen.« Ich griff nach Felix’
Hand. »Komm, lass uns reingehen.«
Ich zog Felix ins Haus, ehe Nelli uns weiter nerven konnte.
Ich war froh, als die Tür hinter uns zufiel. Wir gingen in Felix’
Zimmer, und ich ließ mich auf sein Bett fallen. Tim war noch
bei seiner Schach-AG, sodass wir wenigstens hier ungestört
waren.
»Puh!«, stöhnte ich. »Ich dachte schon, die lässt uns gar
nicht mehr in Ruhe.«
»Nelli wollte bestimmt nur nett sein.« Felix setzte sich neben
mich. »Auch wenn ihr Verhalten vielleicht ein bisschen
aufdringlich gewirkt hat.«
»Ein bisschen?« Ich starrte ihn ungläubig an. »Das war der
reinste Terror!«
Felix seufzte. »Du musst versuchen, sie zu verstehen. Es
ist … na ja …« Er zögerte und wurde rot. »Es ist das erste Mal,
dass mich ein Mädchen im Internat besucht. Vielleicht ist sie
ein wenig eifersüchtig.«
»Meinst du?« Ich runzelte die Stirn. Auf den Gedanken war
ich noch gar nicht gekommen. Aber eine andere Frage ging mir
schon die ganze Zeit im Kopf herum. »Warum hast du mir
eigentlich nie von ihr erzählt? Nelli scheint ja eine ziemlich
gute Freundin von dir zu sein.«
»Das ist sie auch. Wir kennen uns schon ewig und sind
zigmal zusammen in Urlaub gefahren.« Felix senkte den Blick.
»Aber in letzter Zeit haben wir uns irgendwie
auseinandergelebt. Wahrscheinlich hab ich sie deshalb nicht
erwähnt. Außerdem gibt es wirklich wichtigere Dinge, über die
wir reden können, als ausgerechnet Nelli.« Er drückte mir
einen Kuss aufs Ohr. »Zum Beispiel darüber, wie froh ich bin,
dass du hier bist.«
Ich kicherte. »Das kitzelt!«
»Heute Nachmittag hab ich eine Überraschung für dich«,
sagte Felix geheimnisvoll.
»Ehrlich? Was denn?«
»Wie wär’s mit einer Radtour mit Picknick?« Felix sah mich
erwartungsvoll an. »Ich hab schon alles vorbereitet.«
»Eine tolle Idee!« Ich lächelte ihm zu. »Ich liebe Picknicks.«
»Ich weiß«, sagte Felix.
Ich dachte an unsere erste gemeinsame Radtour in
Wattenbüll. Wir waren zum alten Leuchtturm gefahren, und
dort hatte Felix mich mit einem supertollen Picknick
überrascht. An diesem Nachmittag war mir klar geworden,
dass ich mich richtig in ihn verliebt hatte.
»Glaubst du, wir können Nelli diesmal abhängen?«, fragte ich
halb im Scherz.
Felix grinste. »Dafür werde ich persönlich sorgen! Wir
schleichen uns einfach in einem unbeobachteten Moment aus
dem Haus. Wenn wir immer schön in Deckung bleiben, dürfte
es kein Problem sein, die feindlichen Linien zu überwinden.«
Ich musste lachen. »Ich sehe schon, das wird ein
superromantischer Nachmittag!«

Vielleicht wäre es wirklich ein romantischer Ausflug geworden,
wenn das Wetter mitgespielt hätte. Während des Mittagessens
zogen dunkle Wolken auf, und es begann genau in dem
Moment zu regnen, als wir auf die Fahrräder stiegen.
»Mist!« Felix warf einen ärgerlichen Blick zum Himmel.
»Sieht nicht so aus, als würde es demnächst wieder aufhören.«
»Was soll’s.« Ich zuckte mit den Schultern. »Von dem
bisschen Regen lassen wir uns doch nicht die Laune
verderben.«
»Stimmt.« Felix nahm den Picknickkorb vom Gepäckträger.
»Dann picknicken wir eben drinnen.«
Wir stellten die Fahrräder zurück, rannten durch den Regen
zur alten Schmiede und verzogen uns in Felix’ Zimmer. Felix
breitete eine Wolldecke auf dem Boden aus und drapierte das
Essen darauf. Ich bekam große Augen, als ich sah, was er alles
hervorholte: frische Erdbeeren, Weintrauben, duftende
Pfirsiche, Blaubeer-Muffins, Nussecken, Rosinenschnecken,
eine Tüte Gummibärchen, unterschiedlich belegte Sandwiches
und einen Minischokoladenkuchen.
»Aber das sind doch die gleichen Sachen, die wir in
Wattenbüll am alten Leuchtturm gegessen haben!«, rief ich
überrascht.
Felix grinste von einem Ohr zum anderen. »Stimmt genau.
Ich wollte eigentlich zum Mühlenberger See mit dir radeln.
Dann hätten wir so tun können, als würden wir auf die Nordsee
blicken, so wie bei unserem Picknick im Sommer.« Er zuckte
bedauernd mit den Schultern. »Hat leider nicht geklappt.« Er
zog eine Thermoskanne und zwei Becher aus dem Korb.
»Kakao?«
»Gerne!« Ich war richtig gerührt. Felix hatte sich so viel
Mühe gemacht – nur für mich! Kopfschüttelnd betrachtete ich
all die Leckereien. »Wo hast du um diese Jahreszeit bloß
Pfirsiche und Erdbeeren herbekommen?«
»Das ist streng geheim.« Felix legte einen Finger an die
Lippen und flüsterte: »Ich hab den Besitzer des Feinkostladens
in Mühlenberg bestochen. Aber sag’s nicht weiter.«
Grinsend griff ich nach einer Rosinenschnecke und biss
hinein. In diesem Moment öffnete sich die Tür. Es war Tim. Als
er uns auf dem Boden sitzen sah, blieb er stehen.
»Was macht ihr denn da?«, fragte er verdutzt.
»Picknick!«, nuschelte ich.
»Draußen war es uns zu nass«, erklärte Felix.
»Ach so.« Tim ging zu seinem Schreibtisch und zog eine
Schublade auf. »Bin gleich wieder weg. Ich wollte nur schnell
ein Schachbuch holen.«
»Wie läuft das Training?«, fragte ich.
»Super!« Tim klang richtig begeistert. »Es macht total viel
Spaß, ist aber auch ziemlich anstrengend.«
Ich hielt ihm die Dose mit den Nussecken hin. »Ein bisschen
Nervennahrung für zwischendurch?«
Tim griff zu. »Danke! Bis später.« Er ging hinaus und schloss
die Tür hinter sich.
Ich nahm mir eine Erdbeere und steckte sie in den Mund. Sie
schmeckte erstaunlich süß. Draußen prasselte der Regen
gegen die Fensterscheibe. »Richtig gemütlich hier«, stellte ich
fest. Zum ersten Mal an diesem Wochenende fühlte ich mich
rundum wohl.
»Finde ich auch.« Felix sah mich an. Von seinem Blick wurde
ich ganz kribbelig. »Ich bin so froh, dass du gekommen bist.
Ich hab dich echt vermisst.«
Ich merkte, wie ich rot wurde. »Ich dich auch«, sagte ich
leise.
Felix lächelte, und mir wurde warm. Ob wir uns gleich
wieder küssen würden? Ich fuhr mir mit der Zunge über die
Lippen und hielt die Luft an …
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. »Ach, hier seid ihr!«
Ich stöhnte. Nelli!
»Was willst du denn hier?«, fragte ich nicht besonders
freundlich.
»Ich wollte nur mal nachschauen, ob ihr schon zurück seid,
und euch Bescheid sagen, dass die Party im Bootshaus bereits
um acht anfängt«, sagte Nelli. »Hattet ihr nicht eine Radtour
geplant?«
»Doch, aber das Wetter hat uns einen Strich durch die
Rechnung gemacht«, sagte Felix. »Hör mal, Nelli, eigentlich
wollten Emma und ich …«
»Erdbeeren!«, quietschte Nelli. »Darf ich?« Ohne eine
Antwort abzuwarten, schnappte sie sich eine dicke Erdbeere,
biss hinein und schloss genießerisch die Augen. »Lecker!«
Ich knirschte mit den Zähnen. Erst platzte diese Ziege
einfach hier rein, und jetzt futterte sie uns auch noch die
Erdbeeren weg. Dabei hatte Felix die extra für mich besorgt!
Das war so unverschämt, dass mir glatt die Worte fehlten –
aber nur kurz.
»Was soll das?« Ich starrte Nelli wütend an.
»Was meinst du?« Sie klimperte unschuldig mit ihren
Wimpern.
»Das weißt du ganz genau«, sagte ich so ruhig wie möglich.
»Kann man hier denn nicht mal fünf Minuten seine Ruhe
haben?«
»Die erste goldene Internatsregel: Im Internat ist man nie
allein.« Nelli grinste mich an, nach außen hin immer noch die
Freundlichkeit in Person.
Bevor ich endgültig explodieren konnte, tauchte Julia im
Türrahmen auf. Sie erfasste die Situation mit einem Blick.
»Nelli, ich hab dich schon überall gesucht! Du musst uns im
Bootshaus mit der Dekoration helfen.« Sie griff nach Nellis
Arm und zog sie aus dem Zimmer.
»Bis später!«, rief Nelli, bevor Julia nachdrücklich die Tür
schloss.
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. »Was für eine Nervensäge!
Gut, dass Julia sie weggelotst hat. Sonst wäre ich ihr glatt an
die Gurgel gesprungen!«
»Nelli hat uns bestimmt nicht absichtlich gestört«, sagte
Felix.
»Pffft!«, machte ich. Manchmal sind Jungs wirklich
unglaublich naiv. »Natürlich war das Absicht! Nelli gönnt uns
einfach keine ruhige Minute.«
»Quatsch!« Felix schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir
nicht vorstellen.«
»Ich aber«, sagte ich düster. Allmählich ging es mir auf den
Wecker, dass Felix diese Kuh ständig verteidigte. »Ich kapier
einfach nicht, wie du mit dieser Nervensäge befreundet sein
kannst. Außerdem hättest du ruhig auch mal was sagen
können.«
»Was denn?« Felix runzelte verwirrt die Stirn.
Ich verdrehte die Augen. »Dass sie sich verziehen soll, zum
Beispiel! Weil wir allein sein wollen und sie stört.«
Felix sah mich ungläubig an. »Das finde ich aber ziemlich
krass.«
»Ach ja?«, fragte ich herausfordernd. »Ich nicht. Diese Nelli
versteht offenbar nur Klartext.«
»Willst du noch etwas Kakao?« Felix hielt die Kanne hoch.
Ich schüttelte den Kopf. »Versuch nicht, vom Thema
abzulenken.«
Felix seufzte. »Ich will mich nicht mit dir streiten, okay? Lass
uns einfach den Nachmittag genießen.«
Ich zögerte, aber schließlich nickte ich. »Okay.« Eigentlich
hatte ich ja auch keine Lust auf Streit. Dafür war die Zeit mit
Felix viel zu kostbar. Morgen nach dem Frühstück musste ich
schon wieder zurück nach Hause!
Aber irgendwie war die Stimmung dahin. Wir beendeten
unser Picknick schweigend und räumten die Sachen zurück in
den Korb.
Wenn Nelli vorgehabt hatte, uns den Tag zu verderben, hatte
sie ihr Ziel erreicht.
13. Kapitel

Für immer und ewig

Am Sonntag musste ich direkt nach dem Frühstück zum Zug.


Felix brachte mich zum Bahnhof. Vorher verabschiedete ich
mich vor der alten Schmiede noch von Tim. Julia und Nelli
waren auch gekommen, um mir Auf Wiedersehen zu sagen.
»Wir sehen uns beim nächsten Heimfahrwochenende.« Tim
umarmte mich.
»Halt die Ohren steif!« Ich drückte ihn kurz an mich. Der
Abschied von meinem Bruder fiel mir schwerer, als ich gedacht
hatte. Jetzt tat es mir leid, dass wir nicht mehr Zeit zusammen
verbracht hatten.
»Mach’s gut, Emma!« Julia nahm mich ebenfalls in die Arme.
»Du auch«, sagte ich. »War schön, dich zu sehen.«
Was ich von Nelli wirklich nicht behaupten konnte. Sie
hauchte mir zwei Küsschen auf die Wangen, ehe ich mich
wehren konnte. Igitt!
»Wirklich schade, dass ihr gestern nicht mehr zur Party
gekommen seid«, sagte sie. »Ihr habt echt was verpasst.«
»Wir hatten auch so unseren Spaß«, behauptete ich.
Sie brauchte ja nicht zu wissen, dass Felix und ich nur vor
dem Fernseher herumgehangen und uns durch das schlechte
Samstagabendprogramm gezappt hatten.
Nelli beugte sich zu mir herüber und raunte mir ins Ohr:
Ȇbrigens, falls du mal Beziehungstipps brauchst, kannst du
dich gerne jederzeit an mich wenden.«
Ich starrte sie an. War sie jetzt komplett ausgeflippt?
»Niemand kennt Felix so gut wie ich«, fügte Nelli leise hinzu.
»Wir waren mal zusammen, aber das weißt du ja sicher.«
Ich schnappte nach Luft. »Wie bitte?«
»Hat Felix dir das gar nicht erzählt?« Nelli zog die
Augenbrauen hoch. »Na ja, vielleicht hat er immer noch an
unserer Trennung zu knabbern. Er war ganz schön fertig, als
ich nach den Sommerferien mit ihm Schluss gemacht habe.«
»Nach den Sommerferien?« Das wurde ja immer schöner!
Dann war Felix also noch mit Nelli zusammen gewesen, als wir
uns kennengelernt hatten?
»Aber sag ihm nicht, dass du Bescheid weißt, okay?«
Ich starrte Nelli ungläubig an. Mir wurde gleichzeitig heiß
und kalt. Wahrscheinlich stand ich unter Schock. Was redete
sie da? Sagte sie die Wahrheit, oder hatte sie sich die
Geschichte nur ausgedacht, um mich zu ärgern?
»Wir müssen los, Emma.« Felix griff nach meiner
Reisetasche.
Ich folgte ihm wie im Traum. Einem Albtraum. Dass Tim,
Julia und Nelli winkten, bekam ich kaum mit. Ich war froh, als
wir das Internatsgelände verlassen hatten und die Landstraße
entlangliefen. Stumm starrte ich auf den rissigen Asphalt und
kickte mit dem Fuß einen Kieselstein vor mir her. In meinem
Kopf fuhren die Gedanken Karussell.
»Ist was?«, fragte Felix nach einer Weile.
»Was soll denn sein?«, fragte ich zurück.
Felix zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht.«
»Ich bin müde«, behauptete ich. Das stimmte sogar. Ich hatte
nicht besonders gut geschlafen, weil mir so viel durch den Kopf
gegangen war. Aber das war nichts im Vergleich zu dem
Chaos, das jetzt in meinen Gehirnwindungen tobte. War Felix
wirklich mit Nelli zusammen gewesen? Das konnte ich einfach
nicht glauben! Aber warum eigentlich nicht? Die beiden
kannten sich schon ewig, fuhren regelmäßig zusammen in
Urlaub und hatten viel gemeinsam erlebt. Mir war gleich
aufgefallen, dass sie sehr vertraut miteinander umgingen.
Trotzdem …
»Hat dir das Wochenende überhaupt gefallen?«, wollte Felix
wissen. »Die Stimmung war ja manchmal … na ja … irgendwie
nicht so toll.«
»Stimmt«, sagte ich.
»Ist eben doch ziemlich speziell, so ein Besuch im Internat«,
stellte Felix fest. »Besonders viel Privatsphäre hat man hier
nicht.«
Nellis Spruch fiel mir ein. »Im Internat ist man nie allein«,
murmelte ich.
»Da ist was dran«, bestätigte Felix. »Trotzdem finde ich es
toll, dass du gekommen bist.«
Wir hatten den Bahnhof erreicht und blieben auf dem
Bahnsteig stehen. Der Zug war noch nicht da. Es war kaum
etwas los. Ich fröstelte, als der Wind unangenehm kalt über die
Gleise pfiff.
In den Lautsprechern knackte es. »In wenigen Minuten fährt
ein: der IC von Frankfurt nach Dederstadt. Bitte Vorsicht an
der Bahnsteigkante.«
Ich schluckte. Gleich kam der Zug. Ich würde einsteigen und
davonfahren, zurück nach Hause. Und Felix erst in mehreren
Wochen wiedersehen. Wenn überhaupt. Es waren unsere
letzten gemeinsamen Sekunden, und die durfte ich nicht
ungenutzt verstreichen lassen. Jetzt oder nie!
Ich holte tief Luft. »Stimmt es, dass du mal mit Nelli
zusammen warst?«
Felix starrte mich verdutzt an. »Was?«
»Nelli und du, wart ihr mal zusammen?«, wiederholte ich.
Felix wurde erst leichenblass, dann tomatenrot. Das war
Antwort genug.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, fragte ich heiser.
»Du hättest es mir sagen müssen!«
»Ich wusste nicht …« Felix brach ab. »Ich wollte nicht …«
In meinen Ohren rauschte es. Mir war ein bisschen
schwindelig, und ich konnte nicht klar denken. Zwei Namen
hämmerten von innen gegen meinen Schädel wie zwei spitze
Fäuste.
Felix und Nelli!
FELIX UND NELLI!
FELIX UND NELLI!!!
Nelli hatte also die Wahrheit gesagt. Sie war Felix’ Freundin
gewesen. Die Puzzleteile dieses Wochenendes fügten sich zu
einem glasklaren Bild zusammen. Aber das Bild gefiel mir
überhaupt nicht. Darum hatte Nelli sich also so merkwürdig
verhalten! Darum hatte sie uns kaum eine ruhige Minute
gegönnt. Sie wollte nicht, dass Felix wieder eine Freundin
hatte. Sie war eifersüchtig. Obwohl sie ja offensichtlich selbst
Schluss gemacht hatte. Seltsam …
»Warum habt ihr euch getrennt?« Meine Lippen formten die
Worte ganz von allein. Mein Körper hatte auf Autopilot
umgeschaltet. Ich stand nur daneben und schaute zu.
»Hör mal, es ist nicht so, wie du denkst …«, begann Felix.
Ich lachte höhnisch. »Woher willst du denn wissen, was ich
denke?«
»Mit Nelli und mir, das war ziemlich speziell, weißt du …«
»Nein, weiß ich nicht!« Ich stemmte die Hände in die Hüften.
»Woher auch? Du erzählst mir ja nichts! Aber wenn es so
speziell zwischen euch war, warum habt ihr euch dann
getrennt?«
Felix seufzte. »Das ist alles nicht so einfach …«
»Vielleicht magst du sie ja immer noch.« Ich hatte meine
schlimmste Befürchtung ausgesprochen. »Vielleicht bin ich nur
ein Lückenbüßer.«
Felix schüttelte heftig den Kopf. »Quatsch! Das stimmt nicht,
Emma, das musst du mir glauben. Lass mich doch erklären …«
In diesem Moment fuhr der Zug ein, und was auch immer
Felix mir hatte erklären wollen, ging im Rattern der Räder und
Quietschen der Bremsen unter. Die Türen öffneten sich, und
ein paar Leute stiegen aus.
»Weißt du was, Felix von Kronenburg?« Ich funkelte ihn
wütend an. »Ich glaub dir gar nichts mehr. Du bist ein ganz
fieser Lügner, das hab ich ja von Anfang an gewusst!« Ich
schnappte mir meine Reisetasche und kletterte in den Zug.
»Emma!«, rief Felix. »Warte doch!«
Aber ich konnte nicht warten, weil der Schaffner schon
wieder in seine Trillerpfeife blies. Als die Türen zugingen, warf
ich einen letzten Blick aus dem Fenster. Felix stand mit
hängenden Armen auf dem Bahnsteig. Er sah genauso
unglücklich aus, wie ich mich fühlte. Ich hätte ihm gerne zum
Abschied gewunken, aber ich konnte mich nicht rühren. Wie
gelähmt stand ich im Gang, während sich der Zug langsam in
Bewegung setzte und Felix, der Bahnsteig, das Internat und
ganz Mühlenberg allmählich in der Ferne verschwanden.

Wie man es schafft, die Tränen zurückzuhalten, wenn


man eigentlich am liebsten losheulen würde:

1. Die Zähne ganz fest zusammenbeißen


2. Sich alle zehn Sekunden kräftig in den Arm kneifen
3. Die Tränen mit etwas zu trinken oder zu essen
hinunterschlucken
4. Sich ablenken, indem man an etwas Schönes denkt
5. WÜTEND werden (denn wer wütend ist, weint nicht!)


Habt ihr schon mal in einem Zug gesessen und geweint? Nein?
Da habt ihr aber Glück gehabt! Ganz ehrlich, ich kann das
nicht empfehlen. Keine Ahnung, wie es euch geht, aber ich
weine am liebsten allein. (Also, am allerliebsten weine ich
natürlich gar nicht. Aber wenn es schon sein muss, dann bitte
ohne Zuschauer!) In einem voll besetzten Zug zu sitzen,
während einem die Tränen kommen, ist einfach die Hölle!
Ich merkte es schon, als ich mir einen Platz suchte. Meine
Kehle wurde eng, ich konnte kaum noch schlucken, und meine
Augen begannen zu brennen. Ich wandte Trick Nummer eins
an und biss die Zähne so fest zusammen, dass mein Kiefer
knackte. Stumm setzte ich mich an einen Vierertisch zu einer
alten, weißhaarigen Dame und einer Mutter mit zwei kleinen
Kindern.
Aber das Zähnezusammenbeißen half nicht. Die Tränen
drückten von hinten gegen meine Augen und wollten unbedingt
hinaus. Ich kniff mich kräftig in den Arm. Vor Schmerz schrie
ich beinahe laut auf. Mist! Das würde bestimmt einen blauen
Fleck geben. Und alles nur wegen Felix! Kaum hatte ich an ihn
gedacht, rollte auch schon die erste Träne über meine Wange.
Ich wischte sie weg und wühlte in meinem Rucksack nach der
Wasserflasche. Hastig setzte ich sie an die Lippen und trank
einen Schluck. Meine Kehle war so eng, dass ich das Wasser
kaum hinunterbrachte. Ich verschluckte mich und musste
husten. Jetzt kamen mir erst recht die Tränen. Denk an was
Schönes, Emma! Schnell! Leider fiel mir absolut nichts
Schönes ein.
Sommerferien? Waren schon vorbei.
Meine Familie? Versank im Chaos.
Oma? Lag auf dem Friedhof.
Mona? Hatte Stress mit Daniel.
Klara? War in unseren Mathelehrer verknallt.
Felix? Uuäääähhhh!
»Tränen reinigen die Seele.« Die alte Dame, die mir
gegenübersaß, reichte mir ein Taschentuch. Sie lächelte.
Ich bekam einen Schluckauf. Hastig nahm ich das
Taschentuch und putzte mir die Nase. Vor allen Leuten
loszuheulen, wie peinlich! Wieder tauchte Felix’ Gesicht in
meinem Kopf auf, aber diesmal machte es mich nicht traurig,
sondern wütend. Er hatte mir die ganze Zeit etwas vorgespielt,
genau wie in den Sommerferien, als ich ihn für einen
Angestellten des Hotels gehalten hatte. Er hatte so getan, als
würde er mich mögen, dabei war er immer noch in diese
nervige Nelli verknallt. Ja, so musste es sein.
Aber warum hatte er mich dann überhaupt ins Internat
eingeladen? Wollte er Nelli eifersüchtig machen? Genau! Das
war die einzig mögliche Erklärung: Nelli hatte mit Felix
Schluss gemacht, er wollte sie zurück, und deshalb versuchte
er, ihre Eifersucht anzustacheln. Mit mir! Was ja offensichtlich
auch geklappt hatte.
Je wütender ich auf Felix wurde, desto weniger Tränen
rollten meine Wangen hinab. Schließlich waren sie ganz
versiegt. Und ich beschloss, nie, nie, NIE wieder mit Felix zu
reden. Kein einziges Sterbenswörtchen! Ab sofort war Felix
von Kronenburg für mich gestorben. Und zwar für immer und
ewig. Basta!
14. Kapitel

Irgendwann ist immer das erste Mal

Die nächste Woche begann mit Regen. Das passte prima zu


meiner Stimmung. Montagmorgen wäre ich am liebsten im Bett
geblieben. Die Regentropfen prasselten auf das Dachfenster,
und ich war schrecklich müde. Das Wochenende steckte mir
noch in den Knochen. Nachts hatte ich wirres Zeug geträumt
von Felix, Nelli, Tim und merkwürdigerweise auch von Herrn
von Kahlberg. Er war ein freundlicher Vampir, der ganz allein
in einem riesigen Schloss lebte und Mona und mir statt Wasser
eisgekühltes Blut anbot. Igitt!
Ich quälte mich aus dem Bett, ich quälte mich unter die
Dusche, und schließlich quälte ich mich durch den ganzen
langen Schulvormittag. Manche Tage sind eben eine einzige
Quälerei!
»Hört dieser Regen denn gar nicht mehr auf?«, schimpfte
Mona, als wir nach der Schule im Bus nach Tupfingen saßen.
Sie war mindestens so schlecht gelaunt wie ich. Am
Wochenende hatte sie Zoff mit Daniel gehabt. Offenbar war die
Aussprache nicht ganz so gelaufen wie geplant. Genaueres
hatte sie nicht erzählt, und ich hatte auch nicht nachgefragt.
Ich war voll und ganz damit beschäftigt, nicht an Felix zu
denken.
»Wieso? Ist doch gemütlich!«, behauptete Klara, die neben
uns saß. »Bei Regenwetter kann man es sich zu Hause so
richtig schön kuschelig machen und einfach vor sich hin
träumen …« Sie seufzte. Es war natürlich völlig klar, von wem
sie träumen würde.
»Ich hab gehört, Herr Hummel ist verheiratet und hat fünf
Kinder«, sagte ich. Das stimmte zwar nicht, aber ich konnte
Klaras gute Laune einfach nicht ertragen. Nicht heute.
Doch Klara schien gar nicht richtig zugehört zu haben. »Er
hat mich heute im Sportunterricht gelobt«, erzählte sie mit
verzücktem Gesichtsausdruck. »Hast du das mitbekommen,
Emma?«
»Nein«, sagte ich.
»Echt nicht?« Klara ließ sich von meinem unfreundlichen Ton
nicht abschrecken. »Als ich über den Kasten gesprungen bin,
hat er gesagt: ›Gut gemacht, Klara!‹«
Ich verdrehte die Augen. »Das sagt er doch zu jedem!«
»Aber mich hat er dabei ganz lieb angelächelt«, trumpfte
Klara auf. »Ich glaube, er mag mich. Aber er darf es nicht
zeigen, weil ich seine Schülerin bin.«
»Jetzt hör endlich auf mit dem Unsinn!«, fuhr ich Klara an.
»Es ist echt peinlich, wie du Herrn Hummel anhimmelst.
Glaubst du im Ernst, er interessiert sich für eine
Achtklässlerin?«
»Das kann man nie wissen«, gab Klara eingeschnappt zurück.
Sie wandte sich ab und starrte aus dem Fenster. Na toll, jetzt
war sie beleidigt. Das hatte ich ja prima hingekriegt!

Nachmittags lag ich in meiner Hängematte und versuchte, das
letzte Kreuzworträtsel aus Omas Heft zu lösen. Ich hatte es fast
geschafft! Darauf war ich ziemlich stolz. Aber was zum Teufel
war ein Lurchtier? Vielleicht ein Frosch? Nein, das passte
nicht. Ich brauchte ein Wort mit acht Buchstaben …
Ich musste an Oma denken, die immer und überall ihre
geliebten Kreuzworträtsel gelöst hatte. Sie wäre mit dem Heft
in ein paar Tagen fertig gewesen, während ich Wochen dazu
brauchte. Ich seufzte. Plötzlich vermisste ich sie ganz
schrecklich. Ich hätte mich jetzt so gerne an ihren warmen
Bauch gekuschelt, ihren Duft nach Kölnisch Wasser und
gebratenen Zwiebeln eingeatmet und ihr von Felix erzählt. Sie
hätte mir einen heißen Kakao gekocht und ein Stück
Schokoladenkuchen abgeschnitten. Dann hätten wir über Felix,
Nelli und das verkorkste Wochenende im Internat geredet, und
hinterher wäre es mir schon viel besser gegangen.
»Warum bist du jetzt nicht hier?«, murmelte ich, während
mir eine Träne über die Wange lief. Diesmal hielt ich sie nicht
zurück. Tränen reinigen die Seele, hatte die Frau im Zug
gesagt. Vielleicht stimmte das ja tatsächlich. Es kam mir vor,
als würde mit jeder Träne ein kleines Stück von dem Schmerz
in meiner Brust weggespült. Nach einer Weile fühlte ich mich
ganz leer, aber es tat nicht mehr so weh. Dafür war das
Rätselheft jetzt ziemlich aufgeweicht. Die leeren Kästchen
starrten mich höhnisch an. Und plötzlich wusste ich die
Lösung: AMPHIBIE! Genau, das passte perfekt. Schnell
schrieb ich das Wort auf.
Unten klingelte es an der Haustür, aber ich achtete nicht
darauf. Das war bestimmt nicht für mich. Wahrscheinlich
jemand aus Thomas’ Lerngruppe. Ich grübelte über den
nächsten Begriff nach: Frisurhalter. Ein Haargummi vielleicht?
Nein, das Wort war nicht lang genug …
Mamas Stimme ertönte von unten. »Emma!«
Ich schreckte hoch. »Ja?«
»Kommst du bitte mal?«
Ich stöhnte. »Bin beschäftigt!«
»Du kommst jetzt sofort nach unten!« Mamas Stimme ließ
keinen Widerspruch zu. »Hier ist Besuch für dich.«
Widerwillig wälzte ich mich aus der Hängematte, warf das
Rätselheft auf den Schreibtisch und polterte die Treppe
hinunter. Wer konnte das sein? Klara war vermutlich immer
noch beleidigt, und sonst wohnte niemand aus meiner Klasse in
Tupfingen. Außer Lea natürlich, meiner Ex-besten-Freundin.
Aber die war schon ewig nicht mehr spontan vorbeigekommen
und würde es sicher auch jetzt nicht tun. Allmählich wurde ich
neugierig. Als ich die Küche betrat, blieb ich überrascht
stehen.
»Hallo, Emma!«
Herr von Kahlberg lächelte mir zu. Er saß auf einem unserer
Küchenstühle und passte mit seinem dunklen Anzug, den
glänzenden schwarzen Schuhen und dem Spazierstock
ungefähr so gut hierher wie ich ins Internat.
Ich starrte ihn an. »Was machen Sie denn hier?«
»Also wirklich, Emma!« Mama runzelte die Stirn. »Das ist
nicht besonders höflich.«
Herr von Kahlberg winkte ab. »Lassen Sie mal, Frau Laurenz,
ich kann Emma schon verstehen. Schließlich platze ich völlig
unangemeldet bei Ihnen herein. Wofür ich mich übrigens
aufrichtig entschuldigen möchte. Ich hätte vielleicht besser
vorher anrufen sollen …«
»Quatsch – äh, ich meine: nein«, sagte ich. »Das geht schon
in Ordnung.«
»Ihr kennt euch?«, fragte Mama.
Ich nickte. »Vom Friedhof.«
»Aha.« Mama sah nicht so aus, als würde sie aus meiner
Antwort schlau werden. Was eigentlich auch kein Wunder war.
»Außerdem haben Mona und ich Herrn von Kahlberg letzte
Woche besucht«, fügte ich hinzu. »Er wohnt in dem großen
Gutshaus im Wald.«
»Davon hast du mir gar nichts erzählt.« Mama runzelte die
Stirn.
»Keine Angst, Herr von Kahlberg ist total harmlos«,
beruhigte ich sie.
Mama wurde rot. »Natürlich ist er das.« Sie warf unserem
Gast einen verlegenen Seitenblick zu. »Etwas anderes hatte ich
auch nicht angenommen.«
Herr von Kahlberg räusperte sich. »Ihre Tochter hat mir von
Ihrem häuslichen Platzproblem erzählt. Das ist auch der Grund
meines Besuchs. Ich möchte Ihnen ein Angebot unterbreiten.«
»Ein Angebot?«, fragte Mama verwirrt. »Was für ein
Angebot?«
Herr von Kahlberg legte beide Hände auf den Knauf seines
Stocks und beugte sich vor. »Ich biete Ihnen mein Haus an. Sie
können es kaufen.«
»Was?«, rief ich. »Wir sollen Ihr Haus kaufen?«
Herr von Kahlberg nickte. »Ganz genau. Wie du und deine
Freundin Mona schon richtig festgestellt habt, ist es für mich
eigentlich viel zu groß. Darum würde ich es gerne an eine
Familie abgeben, die den Platz besser nutzen kann.«
»Aber … das … das wäre ja super!«, stammelte ich. Ich war
so durcheinander, dass ich kaum einen vernünftigen Satz
herausbrachte.
Doch Mama schüttelte den Kopf. »Das können wir uns nicht
leisten, Emma«, sagte sie ruhig. »Wir haben nicht genug Geld,
um ein Haus zu kaufen. Trotzdem vielen Dank für das
freundliche Angebot.« Sie nickte Herrn von Kahlberg zu.
»Sie sollten es sich noch einmal durch den Kopf gehen
lassen«, riet Herr von Kahlberg. »Ich würde Ihnen einen sehr
günstigen Preis machen.«
»Es geht wirklich nicht«, versicherte Mama. »Unsere
finanzielle Lage ist gerade ziemlich angespannt. Wir können
uns mit Sicherheit keinen Hauskauf erlauben.«
»Sie haben ja noch gar nicht nach dem Preis gefragt«, stellte
Herr von Kahlberg fest.
Mama sah allmählich etwas genervt aus. Sie fragte sich
bestimmt, warum Herr von Kahlberg nicht lockerließ. Und da
war sie nicht die Einzige.
»Wie viel soll das Haus denn kosten?«, platzte ich heraus.
Herr von Kahlberg lächelte verschmitzt. »Ich dachte an …
nun ja … vielleicht … einen Euro?«
Ich starrte ihn an. »Soll das ein Witz sein?«
»Keineswegs«, antwortete Herr von Kahlberg vergnügt.
Ich warf Mama einen verwirrten Blick zu. Sie schüttelte
ärgerlich den Kopf.
»Niemand verkauft ein Haus für einen Euro«, sagte sie. »Und
schon gar nicht so ein großes Anwesen wie das Gutshaus im
Wald.« Ihre Lippen wurden schmal, wie immer, wenn ihr etwas
nicht passte. »Ich denke, Sie sollten jetzt besser gehen und
Ihre Scherze mit anderen Leuten treiben, Herr von Kahlberg –
oder wie auch immer Sie heißen.«
Herr von Kahlberg machte ein bestürztes Gesicht. »Bitte
verzeihen Sie, wenn ich mich nicht klar genug ausgedrückt
habe. Vielleicht kommt mein Vorschlag auch etwas zu plötzlich.
Aber mir ist es durchaus ernst damit. Ich würde Ihnen das
gesamte Anwesen für einen Euro verkaufen. Allerdings nur
unter bestimmten Bedingungen.«
»Was für Bedingungen?«, wollte ich wissen.
»Ich möchte in meinem Alter nicht mehr umziehen«, erklärte
Herr von Kahlberg. »Ich habe mein ganzes Leben auf dem Gut
verbracht und will auch dort sterben.«
Ich nickte. »Einen alten Baum verpflanzt man nicht.« Das
war noch so einer von Omas Sprüchen. Ich musste ihn nachher
sofort in mein Heft schreiben.

Omas beste Sprüche: Einen alten Baum verpflanzt man


nicht.

»Genau.« Herr von Kahlberg nickte. »Darum hätte ich gerne


lebenslanges Wohnrecht auf dem Gut. Ich könnte mir zum
Beispiel vorstellen, ins alte Kutscherhaus zu ziehen. Dort hätte
ich meine Ruhe und würde niemanden stören. Trotzdem wäre
ich noch auf dem Gelände und könnte mich ein bisschen um
den Garten kümmern oder mich anderweitig nützlich machen.«
»Und das ist die einzige Bedingung?«, fragte ich.
»Nicht ganz.« Herr von Kahlberg sah Mama an. »Sie müssten
das Haus in Eigenregie renovieren. Es ist länger nichts mehr
daran gemacht worden. Wenn Sie es für Ihre Zwecke nutzen
wollen, müsste sicher das eine oder andere erneuert werden.«
Mama runzelte die Stirn. »Sie meinen das also tatsächlich
ernst?« Sie klang immer noch etwas misstrauisch.
Herr von Kahlberg nickte. »Vollkommen!«
»Aber warum wollen Sie uns Ihr Haus praktisch schenken?«,
fragte Mama. »Sie könnten doch sicher einen ganz guten Preis
erzielen, wenn Sie es auf dem freien Markt anbieten würden.«
Herr von Kahlberg wiegte den Kopf. »Da bin ich mir nicht so
sicher. Natürlich könnte ich mehr für das Haus bekommen.
Aber bestimmt nicht so viel, wie Sie jetzt vielleicht denken.
Dafür ist das Anwesen zu abgelegen und das Haus in einem zu
schlechten Zustand. Wer es kauft, muss jede Menge
investieren – Geld oder eigene Arbeitsleistung oder beides. Das
schreckt viele Käufer ab. Außerdem …« Er zögerte. »Außerdem
gibt es noch einen anderen Grund.«
»Welchen denn?«, wollte ich wissen.
»Ich habe, wie schon gesagt, mein ganzes Leben in diesem
Haus verbracht. Meine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern
haben bereits darin gelebt. Das Haus ist so eng mit mir und
meiner Vergangenheit verwoben, dass es mir einfach
undenkbar erscheint, es zu verkaufen. Eigentlich sollten meine
Nachfahren jetzt dort leben, doch leider waren mir und meiner
Jette keine Kinder vergönnt.« Er seufzte. »Ich möchte, dass das
Haus in gute Hände kommt. Auf keinen Fall soll es sich nach
meinem Tod ein Investor unter den Nagel reißen, der es in ein
Luxushotel umwandelt oder alles abreißt, um
Einfamilienhäuser auf dem Grundstück zu bauen.« Er sah von
Mama zu mir. »Deshalb ist es mir wichtig, jemanden zu finden,
der das Haus genauso schätzt wie ich und der die alten Mauern
mit neuem Leben füllt.«
»Und Sie glauben, wir sind die Richtigen dafür?«, fragte
Mama zweifelnd.
Ein breites Lächeln erschien auf Herrn von Kahlbergs
faltigem Gesicht. »Ich glaube, dass es kein Zufall war, dass
Ihre Tochter Emma und ich uns auf dem Friedhof begegnet
sind. Zufälle gibt es nicht. Alles andere wird sich finden.«
»Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll …« Mama
zuckte etwas hilflos mit den Schultern.
»Lassen Sie sich alles in Ruhe durch den Kopf gehen.« Herr
von Kahlberg stützte sich auf seinen Stock und erhob sich. »Ich
will Sie keinesfalls drängen. Besprechen Sie die Angelegenheit
mit Ihrer Familie. Und kommen Sie gerne vorbei, um sich vor
Ort ein Bild zu machen.«
»Au ja!«, rief ich. »Eine Hausbesichtigung! Wann denn?«
»Von mir aus jederzeit.« Herr von Kahlberg zwinkerte mir zu.
Dann wandte er sich an Mama. »Melden Sie sich einfach, wenn
Sie so weit sind. Meine Tür steht Ihnen immer offen.«
»Danke«, sagte Mama schwach. »Das ist sehr nett. Ich
glaube, das muss ich jetzt erst mal verdauen.«
»Lassen Sie sich Zeit.« Herr von Kahlberg streckte Mama die
Hand hin. »Auf Wiedersehen, gnädige Frau. Und entschuldigen
Sie bitte nochmals die Störung.«
Ich brachte Herrn von Kahlberg zur Tür. Als ich zurück in die
Küche kam, saß Mama reglos am Tisch und starrte stumm vor
sich hin.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich vorsichtig.
Mama sah auf und schüttelte langsam den Kopf. »Ich
glaube«, sagte sie, »wir haben gerade tatsächlich ein Haus
geschenkt bekommen, Emma. Hast du so was schon mal
gehört?«
Ich überlegte kurz. »Nein, hab ich nicht. Aber irgendwann ist
eben immer das erste Mal.«
Und dagegen konnte nicht einmal Mama etwas sagen.
15. Kapitel

Ein Traum von einem Haus

E-Mail an Tim

Von: Emma.Laurenz@webmail.de
An: Tim2000 @ultranet.de

Betreff: Hausbesichtigung


Hallo, Tim,

ich hab nicht viel Zeit, weil wir gleich losfahren, um das alte
Gutshaus zu besichtigen. Ich bin schon total aufgeregt! In der
Schule hab ich heute Vormittag kaum etwas mitgekriegt, weil
ich ständig überlegt habe, ob Mama und Gesa das Haus wohl
gefallen wird oder nicht. Mir gefällt es auf jeden Fall! Und Mona
auch. Schade, dass du nicht hier bist, um es dir mit uns
zusammen anzuschauen. Aber das können wir ja beim nächsten
Heimfahrwochenende nachholen.
Gesa fand die Idee mit dem Umzug erst mal nicht schlecht,
glaube ich. Im alten Gutshaus wäre auch genug Platz für Betty.
Die beiden könnten endlich zusammenziehen, ohne sich eine
eigene Wohnung suchen zu müssen. Und wir könnten weiterhin
alle zusammenwohnen. Wäre das nicht toll?
Obwohl ich den Gedanken, aus unserem lieben alten
Bauernhaus auszuziehen, schon sehr merkwürdig finde. Ich
kann mir das irgendwie gar nicht vorstellen. Schließlich hab ich
fast mein ganzes Leben hier verbracht! Aber so weit ist es ja
noch nicht.
Jetzt muss ich los, die anderen warten schon auf mich. Ich meld
mich wieder!

Alles Liebe,
Emma

Der VW-Bus war voll besetzt, als wir über den schmalen
Waldweg zum Gutshaus rumpelten. Vorne saßen Gesa und
Betty, dahinter Mona und ich und ganz hinten Thomas, Mama
und Lili in ihrem Kindersitz.
»Da vorne rechts, dann sind wir da!«, rief ich Gesa zu.
Gesa bog in die Auffahrt ein. Ich hatte vor Aufregung ganz
feuchte Hände. Würde den anderen das Haus gefallen? Würden
Mama und Gesa es wirklich kaufen? Würden wir bald nicht
mehr im Bauernhaus wohnen, sondern auf dem Gut? Und wie
würde das Leben dort sein?
»Das ist ja unglaublich!« Gesa parkte den VW-Bus im Hof,
stellte den Motor ab und stieg aus. Während wir anderen nach
und nach aus dem Bus kletterten, sah sie sich verblüfft um.
»Das Haus ist riesig, oder?«, sagte Mona.
Gesa nickte. »Allerdings. So groß hatte ich es mir nicht
vorgestellt.«
»Platz ist jedenfalls reichlich vorhanden«, stellte Betty fest.
»Und diese Ruhe – herrlich!«
Aber mit der Ruhe war es jetzt vorbei, denn Mama schnallte
gerade Lili ab und hob sie aus dem Autositz. Lili mag es
überhaupt nicht, in diesem blöden Sitz festgeschnallt zu sein,
darum quietschte sie vor lauter Freude darüber, endlich wieder
frei zu sein, in den höchsten Tönen.
»Also, Lili fühlt sich jedenfalls richtig wohl hier!«, sagte ich
und grinste meiner kleinen Schwester zu.
Thomas warf einen kritischen Blick zum Haus hinüber. »Der
alte Kasten sieht ganz schön marode aus«, stellte er fest. »Die
Fassade ist ewig nicht mehr gestrichen worden. Da bröckelt ja
schon der Putz ab.«
»Na und?«, entgegnete ich. »Ist doch nicht so wichtig, wie
das Haus von außen aussieht.«
»Dann wollen wir mal«, sagte Mama und marschierte mit Lili
auf dem Arm auf das Haus zu.
Da öffnete sich schon die große Haustür, und Herr von
Kahlberg erschien auf der Schwelle. »Willkommen!« Er
strahlte über das ganze Gesicht. »Treten Sie doch näher!«
Neben ihm tauchte Ella auf und wedelte mit dem Schwanz.
Sie schien sich auch über unseren Besuch zu freuen. Ich
sprang die Steinstufen empor und streichelte Ella.
»Guten Tag, Emma!« Herr von Kahlberg nickte mir
freundlich zu. »Dieses Mal hast du also deine ganze Familie
mitgebracht.«
»Ja«, sagte ich. »Bis auf Klaus, der müsste aber gleich noch
kommen. Er wollte direkt mit dem Mofa herfahren.«
Jetzt begann die große Begrüßung. Gesa, Mama, Betty und
Thomas schüttelten Herrn von Kahlberg die Hand. Dann
redeten sie über das Wetter, die Schlaglöcher auf dem
Waldweg und Gesas alten VW-Bus.
Ich trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. »Können wir
jetzt endlich mit der Hausbesichtigung anfangen?«
Diese ewige Quatscherei machte mich noch ganz verrückt!
Schließlich ging es hier um unsere Zukunft! Wie konnten sich
die Erwachsenen da seelenruhig über den verregneten Herbst
unterhalten?
»Du hast recht, Emma«, sagte Herr von Kahlberg. »Wenn Sie
mir bitte folgen wollen?«
Die Führung begann im Erdgeschoss. Die Eingangshalle, das
Wohnzimmer und den Wintergarten kannten Mona und ich ja
bereits.
»Du meine Güte, das ist ja ein richtiger Ballsaal!«, stellte
Betty beeindruckt fest, als wir das Wohnzimmer betraten.
Herr von Kahlberg nickte. »Ja, früher haben hier tatsächlich
rauschende Feste stattgefunden. Für heutige Begriffe ist die
Größe des Salons sicher etwas überdimensioniert.«
Mamas Gesicht hellte sich auf, als wir in den Wintergarten
kamen. »Wie schön!«, rief sie und betrachtete die großen
Fensterfronten. »Dieser Raum würde sich perfekt als Atelier
eignen. Das Licht ist ein Traum!«
»Und es gibt auch einen direkten Zugang zum Garten.« Herr
von Kahlberg zeigte auf eine kleine Seitentür, von der aus man
über eine wackelig aussehende Holztreppe auf die große
Rasenfläche hinter dem Haus gelangte.
»Das ist praktisch«, sagte Thomas. »Allerdings müssten die
Scheiben dringend erneuert werden. Hier zieht es im Winter
bestimmt mächtig rein.«
Herr von Kahlberg seufzte. »Wie gesagt, die letzten
Sanierungsmaßnahmen sind Jahre her. Ich will Ihnen nicht
verschweigen, dass da einiges auf Sie zukommen würde. Das
Dach ist alt, genauso wie die Fenster, die Heizungsanlage und
die sanitären Anlagen.«
Thomas runzelte die Stirn. »Das wird richtig teuer.«
»Können wir jetzt nach oben gehen?«, fragte ich schnell. Was
war nur mit Thomas los? Sonst nervte er uns tagein, tagaus mit
seiner guten Laune, und ausgerechnet heute musste er überall
ein Haar in der Suppe finden.
»Erst sehen wir uns noch die Küche an.« Herr von Kahlberg
ging vor, und wir marschierten im Gänsemarsch hinterher.
»Bitte schön!« Er blieb neben der Küchentür stehen und ließ
uns den Vortritt.
»Das ist ja ein Traum!«, entfuhr es Gesa, als sie den großen,
hellen Raum betrat. Die Küche war sehr geräumig. Es gab
einen großen Holztisch samt Küchenbank, an dem mindestens
zehn Personen Platz hatten.
»Die Einrichtung ist leider ziemlich alt«, entschuldigte sich
Herr von Kahlberg.
»Sechzigerjahre, oder?« Gesa betrachtete mit Kennerblick
die Hängeschränke. »Das ist heute schon wieder modern.«
Dann inspizierte sie den Herd. »Ein echter alter Gasherd!«,
jubelte sie. »So einen hab ich mir schon immer gewünscht. Mit
einem Gasherd lässt sich die Temperatur viel besser regeln als
mit einem Elektroherd.«
»Die Küche wäre auf jeden Fall groß genug für deine
Kochseminare«, stellte Mama fest.
Gesa nickte. »Und an dem Tisch könnten hinterher alle
gemeinsam essen.« Sie sah zu Herrn von Kahlberg. »Das
heißt – wenn Sie uns die Möbel überlassen würden.«
»Die Küche können Sie so übernehmen, wie sie ist«, sagte
Herr von Kahlberg. »Ansonsten hatte ich vor, mir ein paar
Möbelstücke auszusuchen, um das Kutscherhaus einzurichten.
Den Rest können Sie gerne haben.«
»Aber das geht doch nicht!« Mama fuhr mit der Hand über
eine alte, etwas wurmstichige Anrichte, in der geblümtes
Porzellan stand. »Das sind echte Antiquitäten. Wer weiß, was
die wert sind?«
Herr von Kahlberg winkte ab. »Den ideellen Wert dieser
Möbelstücke kann mir sowieso niemand ersetzen. Sie sind zum
Teil über hundert Jahre alt und wurden von meinen Eltern und
Großeltern extra für dieses Haus angefertigt. Mir ist es lieber,
sie bleiben hier, wo sie hingehören.«
Gesa war an die Küchentür getreten, die in den Garten
führte. »Sind das dort drüben Gemüsebeete?«
Herr von Kahlberg nickte. »Das ist der sogenannte
Küchengarten. Früher wurde dort Gemüse angebaut. Meine
Frau hatte einen grünen Daumen. Sie hat jedes Jahr große
Mengen Spinat, Möhren, Kürbisse, Erdbeeren und vieles mehr
geerntet. Aber seit ihrem Tod sind die Beete leider verwaist.«
»Wir könnten einen Kräutergarten anlegen«, schlug Betty
vor. »Und unser eigenes Gemüse ziehen.«
»Genau!« Gesa starrte auf die mit Unkraut überwucherten
Beete, als könnte sie die frischen Kräuter schon vor sich sehen.
»Vollwertkochkurse mit selbst angebautem Gemüse – das ist
bestimmt eine Marktlücke!«
Nach der Küchenbesichtigung marschierten wir endlich über
eine breite, geschwungene Holztreppe in den ersten Stock. Von
einem langen Flur gingen eine Menge Türen ab.
»So viele Zimmer!«, staunte Mona.
»Oh, das ist noch längst nicht alles – im zweiten Stock sind
noch mal so viele Räume«, sagte Herr von Kahlberg.
Während die Erwachsenen im Schneckentempo von einem
Zimmer ins nächste gingen und dabei wahnsinnig viel redeten,
machten Mona und ich eine schnelle Erkundungsrunde.
»Sechs Zimmer«, stellte Mona fest.
»Plus zwei Bäder«, fügte ich hinzu. »In welchem Zimmer
würdest du gerne wohnen?«
Mona überlegte kurz. »Im letzten auf der rechten Seite. Das
ist zwar ziemlich klein, aber dafür hat es einen eigenen Balkon
und ist total ruhig.«
»Ich hätte gerne dieses hier!« Verträumt sah ich mich in dem
großen Raum mit der hohen Decke um. An den Wänden
standen alte, dunkle Möbel, doch die dachte ich mir einfach
weg. »Meinen Schreibtisch würde ich vors Fenster stellen,
dann kann ich in die Baumwipfel gucken, wenn ich
Hausaufgaben mache. Mein Bett passt prima hinter die Tür.
Aber wo könnte ich meine Hängematte aufhängen?«
»Vielleicht im Garten?«, schlug Mona vor.
»Gute Idee!« Ich grinste. »Also, ich kann mir prima
vorstellen, hier zu wohnen. Und du?«
»Ich auch«, sagte Mona wie aus der Pistole geschossen.
Wir waren uns also einig. Das war doch schon mal was! Jetzt
mussten wir nur noch die Erwachsenen überzeugen. Die waren
nun auch endlich fertig mit ihrem Rundgang durch den ersten
Stock.
»Die Räume oben werden seit Jahren nicht mehr genutzt,
darum ist es leider etwas staubig«, entschuldigte sich Herr von
Kahlberg, als er vor uns die Treppe hinauf in die zweite Etage
ging.
»Das macht doch nichts«, sagte Mama. Lili auf ihrem Arm
sah sich mit großen Augen um. Wahrscheinlich wunderte sie
sich, dass es überhaupt so große Häuser gab.
Die zweite Etage sah genauso aus wie die erste – nur viel
staubiger. Die Fensterläden waren geschlossen, und im
Dämmerlicht wirkten die klobigen Möbel wie schlafende
Riesen.
»Hier wäre Platz für mehrere Gästezimmer«, stellte Gesa
fest. »Dann könnten wir tatsächlich Wochenendseminare mit
Übernachtungsmöglichkeit anbieten.«
Mama nickte. »Und das besondere Ambiente des Gutshofes
wäre ein klarer Wettbewerbsvorteil. So was kommt bei den
Leuten garantiert gut an.«
Wir liefen einmal durch alle Zimmer, dann marschierten wir
wieder nach unten, und Herr von Kahlberg zeigte uns den
Garten und die Nebengebäude.
»Herrlich!« Gesa sog tief die Luft ein, als wir auf der großen
Rasenfläche hinter dem Haus standen. »Der perfekte Ort für
morgendliche Yoga-Einheiten. Und in der Scheune dort drüben
könnte ich mir einen Yoga-Raum einrichten.« Sie nickte zu dem
alten Gebäude hinüber, das hinter den Bäumen aufragte.
»Neben der Scheune liegen noch der Holzschuppen, das
Hühnerhaus und der Pferdestall«, erklärte Herr von Kahlberg,
während wir weitergingen.
»Gab es hier früher Pferde?«, fragte ich, als wir am Stall
vorbeikamen.
»Natürlich!« Herr von Kahlberg lächelte mir zu. »Auf jedem
Gut gab es Pferde. Aber jetzt steht der Stall schon seit
Jahrzehnten leer. Und etwas abseits auf der anderen Seite des
Geländes befindet sich das alte Kutscherhaus. Dort würde ich
einziehen, wenn Sie sich dafür entscheiden, das Gut zu
übernehmen.«
»Ist das Kutscherhaus denn groß genug?«, erkundigte sich
Mama.
»Aber natürlich«, beruhigte sie Herr von Kahlberg. »Ich
brauche ja nicht viel Platz.«
Wir waren wieder auf dem Hof angelangt und blieben neben
Gesas VW-Bus stehen.
»Ich finde, das Gut ist einfach perfekt«, sagte Gesa. Es war
nicht zu überhören, dass sie völlig begeistert war.
Betty nickte. »Das Haus ist toll, genauso wie der Garten. In
einem der Nebengebäude könnten wir einen kleinen Hofladen
einrichten, vielleicht sogar mit angeschlossenem Café, in dem
selbst gebackener Bio-Kuchen verkauft wird. Das war schon
immer mein Traum.«
Betty arbeitet im Bioladen in Dederstadt. Dort hat Gesa sie
auch kennengelernt. Beide haben haargenau denselben Bio-
Fimmel – was das betrifft, passen sie wirklich prima
zusammen.
»Gute Idee!« Mama nickte. »Ein Hofladen mit Café wäre die
perfekte Ergänzung zu unseren Gesundheitskursen.«
»Und das Café würde Leute aus der Region und
Tagesausflügler anlocken, die später vielleicht mal einen Kurs
bei uns buchen«, ergänzte Gesa. »Das Gut ist ein tolles
Ausflugsziel, wenn man eine Radtour durch den Wald macht.«
Herr von Kahlberg hörte sich die Pläne mit einem
verschmitzten Lächeln an und zwinkerte Mona und mir zu. Es
schien ihm zu gefallen, dass sein Haus bei uns so gut ankam.
»Das ist ja alles schön und gut«, mischte sich Thomas ein.
»Aber habt ihr eigentlich eine Ahnung, was die Renovierung
eines so großen Hauses kostet?«
Ich starrte ihn böse an. Warum musste er schon wieder
herummeckern?
Mama seufzte. »Du hast recht, die finanzielle Seite dürfen
wir natürlich nicht außer Acht lassen. Zum Glück ist ja noch
etwas von dem Geld übrig, das Mutti mir vererbt hat. Das wäre
immerhin ein Anfang.«
»Wir müssen eben ganz viel selbst machen«, sagte Gesa.
»Dann wird es nicht so teuer.«
»Genau!« Betty nickte. »Ich helfe euch natürlich. Und
vielleicht kann ich noch ein paar Leute aus dem Bioladen
zusammentrommeln.«
»Papa macht bestimmt auch mit«, warf ich ein.
»Wir schaffen das schon. Alle zusammen.« Mama klang so
zuversichtlich wie lange nicht mehr.
»Heißt das, Sie möchten das Haus haben?«, fragte Herr von
Kahlberg.
Mama zögerte. Ich hielt den Atem an und drückte vor
Aufregung Monas Hand. Das war der Moment der
Entscheidung!
»Ja«, sagte Mama schließlich fest. »Wir würden gerne hier
einziehen. Natürlich nur, wenn Sie sich uns als zukünftige
Bewohner Ihres Hauses vorstellen können.«
Herr von Kahlberg lächelte. »Das kann ich mir sogar sehr gut
vorstellen. Ich bin mir sicher, Sie werden mein Haus im
Handumdrehen mit neuem Leben füllen.« Er streckte die Hand
aus. »Abgemacht?«
Mama schlug ein. »Abgemacht!«
In diesem Moment knatterte Klaus auf seinem Mofa auf den
Hof. Er bremste, blieb kurz vor uns stehen und schaltete den
Motor aus.
Mama runzelte die Stirn. »Da bist du ja endlich! Du bist viel
zu spät.«
Klaus nahm seelenruhig den Helm ab und fuhr sich durch die
Haare. »Sorry. Hab’s nicht eher geschafft. In der Werkstatt
war jede Menge los.«
»Wir ziehen um!«, platzte ich heraus. »Stell dir vor, Mama
hat gerade das Gutshaus gekauft!«
»Na ja, erst müssen noch die Formalitäten erledigt werden«,
sagte Mama. »Aber wenn alles klappt, können wir hoffentlich
bald mit dem Renovieren loslegen.«
»Na toll! Ich werde wohl gar nicht gefragt, was?«, murrte
Klaus.
Mama seufzte, und mir fiel wieder einer von Omas Sprüchen
ein.

Omas beste Sprüche: Wer zu spät kommt, den bestraft


das Leben.

Aber ich sagte nichts, denn ich wollte keinen Streit anfangen.
Jetzt ging es um wichtigere Dinge.
»Also, Klaus, was sagst du zu dem Haus?«, fragte Gesa
höflich. »Bist du damit einverstanden, dass wir hier
einziehen?«
Klaus pustete sich seine etwas zu langen Ponysträhnen aus
der Stirn und betrachtete skeptisch das Gutshaus. Sein
Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Klaus hat das beste
Pokerface, das ich kenne. Man weiß nie, was gerade in seinem
Kopf vorgeht. Meistens wahrscheinlich gar nichts. Aber ganz
sicher kann man sich da nie sein.
Schließlich zuckte er mit den Schultern und sagte:
»Gebongt.« Er zeigte auf den Holzschuppen. »Aber nur, wenn
ich mir da drin meine eigene Werkstatt einrichten kann.«
Mama und Gesa wechselten einen Blick, und Mama sagte:
»Gebongt.«
16. Kapitel

Liebesleid und Liebesfreud

E-Mail an Tim

Von: Emma.Laurenz@webmail.de
An: Tim2000 @ultranet.de

Betreff: Umzug


Hallo, Tim,

jetzt hab ich dir eine ganze Weile nicht mehr geschrieben, aber
hier war einfach zu viel los. Sorry!!!
Gestern war der Termin beim Notar, und es ist alles
glattgelaufen. Stell dir vor, jetzt gehört das Gutshaus richtig
uns!!! Herr von Kahlberg hatte eine Flasche Champagner dabei,
um mit Mama und Gesa anzustoßen. Dann hat Mama ihm
feierlich den Kaufpreis übergeben: einen Euro! Ich hab
vorgeschlagen, dass er sich die Münze einrahmen und übers
Bett hängen soll, aber das wollte er nicht. Stattdessen hat er sie
mir geschenkt. Nett, oder? Ich glaube, ich werde sie
aufbewahren, als Erinnerung an diesen besonderen Tag.
Mama, Gesa, Betty und Thomas haben sofort mit den ersten
Renovierungsarbeiten losgelegt. Gut, dass du letztes
Wochenende hier warst und dir das Haus noch mal im
Originalzustand angeschaut hast. Jetzt sieht es nämlich ziemlich
chaotisch aus. Papa, Klaus, Thomas und ein paar von Thomas’
Studienkollegen haben alle Möbel in die Scheune geschleppt
und im Erdgeschoss angefangen, die Tapeten abzureißen. Mona
und ich haben mitgeholfen. Das ist vielleicht eine fiese Arbeit!
Aber wenn man sich vorstellt, wie schön hinterher alles wird,
macht es trotzdem Spaß. Schade, dass es noch so lange dauert,
bis alles fertig ist. Mama sagt, wir können erst im Frühjahr
umziehen. Und bis dahin wartet noch jede Menge Arbeit auf uns.
Ich muss jetzt Schluss machen, Herr Hummel hat uns schon
wieder irre viel in Mathe aufgegeben. Was für ein
Sklaventreiber! Keine Ahnung, wie Klara so jemanden toll finden
kann. Aber ich sag nichts mehr dazu, sonst ist sie gleich wieder
beleidigt.

Mach’s gut und alles Liebe,
Emma

Ich schickte die Mail ab und überprüfte kurz, ob ich neue


Nachrichten bekommen hatte. Nein, mein Postfach war leer.
Keine Nachricht von Felix. Nicht dass ich das erwartet hätte.
Seit dem verpatzten Wochenende im Internat hatte Felix mir
drei Mails geschrieben. Ich hatte nicht geantwortet. Außerdem
hatte er mehrmals versucht, mich anzurufen. Auf dem Festnetz
und auf dem Handy. Ich hatte nicht zurückgerufen und das
Handy ausgeschaltet. Ich wollte seine Erklärungen nicht hören.
Und ich wollte nicht mehr an ihn denken. Jungs machten nur
Ärger. Am besten, man ließ sich gar nicht erst mit ihnen ein.
Seufzend fuhr ich den Computer herunter.
Da ertönte Monas Stimme von unten. »Emma, kommst du?
Wir müssen los!«
»Bin gleich da!«, rief ich zurück, sprang auf und lief die
Treppe hinunter. An diesem Tag wollten Mona und ich wieder
beim Tapetenabreißen helfen.

Omas beste Sprüche: Je eher daran, desto eher davon.

Dann mussten die Mathehausaufgaben eben warten. Die


konnte ich heute Abend immer noch machen.
Mona und ich schwangen uns auf unsere Räder und fuhren
los.
»Was machst du eigentlich an deinem Geburtstag?«, fragte
Mona, als wir über den Schotterweg zur Landstraße holperten.
»Keine Ahnung.« Ich umrundete ein besonders großes
Schlagloch. »Das ist doch noch ewig hin!«
In etwas mehr als drei Wochen, am 6. Dezember, wurde ich
dreizehn. Genauso wie Tim. Er würde im Internat feiern, weil
unser Geburtstag dieses Jahr auf einen Wochentag fiel. Zum
ersten Mal in unserem Leben würden wir an unserem
Geburtstag nicht zusammen sein.
»Finde ich nicht«, sagte Mona. »Wir haben schließlich schon
Mitte November. Wenn du eine große Party planst, solltest du
die Leute bald einladen, sonst haben alle schon etwas anderes
vor.«
Wir bogen auf die Landstraße ein. »Eigentlich ist mir gar
nicht nach Feiern zumute«, sagte ich. »Vielleicht übergehe ich
meinen Geburtstag dieses Jahr einfach.«
»Warum denn?« Mona warf mir einen ungläubigen Blick zu.
»Man muss die Feste feiern, wie sie fallen.« Der Spruch hätte
glatt von Oma sein können. »Außerdem wird man nur ein Mal
dreizehn«, fügte Mona hinzu.
»Ja, ja«, sagte ich. »Mal sehen.«
Ich hatte keine Lust mehr auf das Thema, aber Mona ließ
nicht locker.
»Wen würdest du denn einladen?«, erkundigte sie sich,
während wir gemächlich durch Tupfingen radelten.
»Weiß nicht.«
»Klara und Jonas?«
»Logisch.«
»Ein paar Leute aus deiner Klasse?«
Ich überlegte. »Ja, Simone und Maike auf jeden Fall.
Vielleicht auch Lukas. Und Daniel natürlich.« Das war die
perfekte Gelegenheit, das Thema zu wechseln. »Wie läuft es
eigentlich zwischen euch? Ich hab Daniel lange nicht mehr bei
uns gesehen.«
Mona seufzte. »Er war ja auch lange nicht mehr da. Seit
unserem Streit ist irgendwie alles anders.«
»Aber ihr habt euch doch wieder vertragen, oder?«
»Ja, schon. Trotzdem ist es nicht mehr wie früher. Wir sehen
uns kaum noch, weil Daniel ständig mit der Band beschäftigt
ist. Sie drehen gerade ein zweites Video und arbeiten an neuen
Songs. Da hat er eben keine Zeit für mich.« Sie klang ziemlich
bitter.
»Das geht bestimmt vorüber«, sagte ich. »Wart’s ab.«
»Ich weiß nicht …« Mona schluckte. »Erst dachte ich auch,
nach einer Weile würde sich alles von alleine einrenken. Aber
inzwischen …« Sie zögerte.
»Was?«
»Inzwischen glaube ich das nicht mehr. Wahrscheinlich will
Daniel einfach nichts mehr von mir wissen.« Trotzig fügte sie
hinzu: »Und ich werde mich bestimmt nicht aufdrängen!«
Mir fiel ein, was mir vorhin durch den Kopf gegangen war.
»Jungs machen nur Ärger«, sagte ich. »Am besten, man lässt
sich gar nicht erst mit ihnen ein.«
»Heißt das, du hast immer noch nicht mit Felix
gesprochen?«, erkundigte sich Mona.
Mist! Jetzt hatte ich ihr aus Versehen ein super Stichwort
geliefert. Dabei hatte ich nicht die geringste Lust, über Felix zu
sprechen. Ich wollte ihn doch so schnell wie möglich
vergessen!
»Felix ist für mich gestorben«, stellte ich klar. »Ein für alle
Mal.«
»Findest du das nicht etwas unfair?«, fragte Mona vorsichtig.
»Wieso? Er ist doch derjenige, der mich angelogen hat!«, rief
ich. »Er hat mich nur benutzt, um seine Exfreundin eifersüchtig
zu machen. Findest du das etwa fair?«
»Du weißt doch gar nicht, ob es wirklich so gewesen ist«,
sagte Mona. »Vielleicht hast du dir das völlig falsch
zusammengereimt.«
»Es war so und damit basta!«
Warum hatte ich Mona nur von der ganzen Sache erzählt?
Das war ein großer Fehler gewesen! Ich hätte es für mich
behalten sollen. Jetzt würde sie mich ständig mit dem Thema
nerven, und darauf hatte ich wirklich keine Lust.
»Ich finde, du reagierst etwas zu heftig«, sagte Mona ruhig.
»Du solltest Felix wenigstens die Chance geben, dir alles zu
erklären, statt einfach den Kontakt abzubrechen. Das ist
jedenfalls meine Meinung.«
»Deine Meinung interessiert mich aber nicht!«, fauchte ich.
»Ich will einfach nichts mehr mit Felix zu tun haben, klar?«
Wir bogen in den Waldweg ein, und ich steigerte das Tempo.
Mona blieb hinter mir zurück. Der Fahrtwind kühlte meine
heißen Wagen. Die Bewegung tat gut, nun hatte mein Herz
wenigstens einen Grund, wie wild in meiner Brust zu pochen.
Es tat mir schon wieder leid, dass ich Mona so angeschnauzt
hatte. Sie wollte mir schließlich nur helfen. Und vielleicht hatte
sie ja sogar ein klitzekleines bisschen recht (auch wenn ich mir
das nur sehr ungern eingestand). Ich wurde wieder langsamer.
»Entschuldigung«, murmelte ich, sobald Mona keuchend
neben mir auftauchte. Ich muss mich mit dem Entschuldigen
immer beeilen, sonst bekomme ich das Wort nicht mehr über
die Lippen. »Jetzt hab ich wohl tatsächlich etwas zu heftig
reagiert.«
»Stimmt.« Mona grinste. »Aber Einsicht ist der erste Weg zur
Besserung.«
Wir radelten schweigend weiter, bis das Gutshaus hinter den
Bäumen auftauchte. Manchmal ist einfach alles gesagt.

Omas beste Sprüche: Reden ist Silber, Schweigen ist


Gold.

Am nächsten Tag ging ich zu Omas Grab. Ich war länger nicht
mehr dort gewesen, weil ich so viel zu tun gehabt hatte. Im
Heidekraut hatten sich welke Blätter verfangen. Ich zupfte sie
vorsichtig ab.
»Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme«, sagte ich. »Aber
bei uns war eine Menge los. Stell dir vor, Mama hat das alte
Gutshaus gekauft! Mona und ich fahren jeden Nachmittag hin
und helfen beim Tapetenabreißen.« Ich betrachtete Omas
Grabstein. Er gab keine Antwort. Natürlich nicht. Trotzdem
redete ich weiter. »Ich hab eine Überraschung für dich, Oma.«
Ich zog das Rätselheft aus meiner Jacke und hielt es hoch.
»Tada! Was sagst du jetzt? Ich hab alle Rätsel gelöst! Ganz
alleine! Na ja, zumindest fast. Manchmal haben die anderen
mir ein bisschen geholfen.«
Ich kniete mich hin und grub mit den Händen ein kleines
Loch, direkt vor dem Grabstein. Die Erde war kalt und schwer.
Als das Loch tief genug war, legte ich das Heft hinein. »Für
dich, Oma«, murmelte ich und warf einen letzten Blick auf das
Rätselheft. Ich hatte es so lange mit mir herumgeschleppt, dass
die Seiten ganz zerknittert waren. Jetzt würde es hier in der
Erde vermodern, genau wie Oma. Ich schob Erde in das Loch
und klopfte sie fest. Dann drapierte ich die Steine aus
Wattenbüll darauf, die ich Oma vor einer Weile mitgebracht
hatte.
»Sieht doch hübsch aus, oder?« Ich erhob mich und klopfte
die Erde von meiner Jeans. Ein Lächeln erschien auf meinem
Gesicht. Ich hatte alle Rätsel gelöst, und das Heft war dort, wo
es hingehörte. Bei Oma.
Oma ist tot.
Der Gedanke zuckte durch meinen Kopf, und ich lauschte
ihm nach. Er machte mich traurig, aber nicht mehr so wie am
Anfang. Die Traurigkeit schlug nicht mehr ihre Zähne in mein
Herz. Sie legte sich still und leise wie ein Nebelschleier auf
meine Seele. Das tat nicht weh. Es war nicht einmal besonders
unangenehm. Und meine Augen blieben trocken.
Ein kalter Windstoß fuhr über den Friedhof und wehte die
Traurigkeit fort. Fröstelnd schlang ich die Arme um den
Oberkörper. »Wahrscheinlich kann ich in der nächsten Zeit
nicht mehr so oft herkommen«, sagte ich. »Wir müssen so
schnell wie möglich das Gutshaus renovieren, damit wir im
Frühjahr umziehen können. Aber ich denke natürlich trotzdem
ganz oft an dich«, fügte ich sicherheitshalber hinzu, doch das
wusste Oma ja sowieso. »Tschüss, Oma. Mach’s gut.« Ich warf
dem Grabstein einen Luftkuss zu. Dann drehte ich mich um
und ging davon.

Zu Hause wartete eine neue Nachricht in meinem Postfach. Sie
war von Julia! Was wollte die denn von mir? Einen Moment saß
ich reglos vor dem Computer, die Hand auf der Maus, der
kleine Pfeil auf dem Bildschirm über dem Papierkorb. Aber ich
löschte die Mail nicht. Stattdessen klickte ich auf Öffnen. Ehe
ich es mir anders überlegen konnte, begann ich zu lesen.

E-Mail von Julia

Von: Juliavk@ultranet.de
An: Emma.Laurenz@webmail.de

Betreff: Bitte melde dich!


Hallo, Emma,

ich habe keine Ahnung, ob du die Mails gelesen hast, die Felix
dir geschrieben hat. Wahrscheinlich nicht. Sonst hättest du dich
bestimmt bei ihm gemeldet. Aber vielleicht liest du ja meine
Nachricht, das wäre schön.
Ich schreibe dir, weil Felix so traurig ist. Seit eurem Streit hockt
er nur noch in seinem Zimmer herum und bläst Trübsal. Erst
wollte er mir nicht sagen, was los ist, aber dann ist er doch mit
der Sprache herausgerückt.
Stimmt es, dass ihr euch wegen Nelli gestritten habt? Wenn ja,
dann muss das Ganze ein riesengroßes Missverständnis sein.
Ich weiß nicht, was Nelli dir erzählt hat, aber ich kann es mir
denken. Wahrscheinlich hat sie behauptet, sie sei mit Felix
zusammen gewesen. Richtig?
Manchmal gibt es mehrere Wahrheiten. Und Nellis Wahrheit ist
nicht unbedingt die von Felix oder mir. Du weißt ja, dass Nelli,
Felix und ich schon seit Ewigkeiten miteinander befreundet sind.
Und fast genauso lange ist Nelli in Felix verliebt. Sie hat ihn
schon angehimmelt, als wir noch zusammen im Sandkasten
gespielt haben, und daran hat sich auch später nichts geändert.
Leider hat sich Felix nie für Nelli interessiert. Er mag sie als gute
Freundin, aber mehr nicht. Nelli konnte das nicht akzeptieren.
Darum hat sie sich einfach ihre eigene Wahrheit
zusammengeträumt. Ihrer Meinung nach ist Felix in sie verliebt,
aber zu schüchtern, um seine Gefühle auszusprechen. Tja, das
klingt jetzt vielleicht verrückt, aber sie glaubt das wirklich!
Vor den Sommerferien hat Felix Nelli bei ihrem
Geschichtsreferat geholfen, damit sie ihre Note ein bisschen
aufbessern kann. Für Nelli war klar, dass Felix das nur macht,
weil er in sie verliebt ist. Irgendwann hat sie dann behauptet,
sie und Felix seien ein Paar. Felix war das total unangenehm. Er
wollte Nelli nicht verletzen, aber er wollte natürlich auch nicht
ihren Freund spielen. Es hat eine Weile gedauert, bis er den Mut
gefunden hat, mit Nelli zu sprechen. Das war am letzten
Schultag vor den Sommerferien. Er hat ihr gesagt, dass er nicht
in sie verliebt ist, aber gerne weiter mit ihr befreundet sein will.
Nelli ist weinend weggelaufen, und Felix hatte ein furchtbar
schlechtes Gewissen. Du kennst ihn ja, er ist einfach zu nett für
diese Welt!
Dann hat er dich in Wattenbüll getroffen. Und Nelli hat nach den
Sommerferien überall herumerzählt, sie hätte mit Felix Schluss
gemacht. Felix hat nicht widersprochen, um es Nelli nicht noch
schwerer zu machen.

Nun ist es eine ziemlich lange Mail geworden. Dafür kennst du
jetzt meine Wahrheit, Emma. Welche Wahrheit du glauben
willst, musst du selbst entscheiden. Hoffentlich sprichst du dich
bald mit Felix aus. Denn dass du ihn schon vergessen hast, wie
Felix meint, kann ich mir einfach nicht vorstellen.

Viele liebe Grüße,
Julia

Ich las die Mail drei Mal hintereinander. Und dann noch ein
viertes Mal. Erst war ich skeptisch, dann verwirrt und
schließlich unglaublich erleichtert. Felix war gar nicht mit Nelli
zusammen gewesen! Er hatte mich nicht angelogen! Und er
hatte mich auch nicht benutzt, um Nelli eifersüchtig zu
machen.
Als ich an Nelli dachte, wurde ich wütend. Was fiel dieser
blöden Ziege eigentlich ein, mir so einen Unsinn zu erzählen?
Ihretwegen hatte ich mich mit Felix gestritten und wochenlang
nicht mit ihm gesprochen. Und alles nur, weil sie die Wahrheit
nicht ertragen konnte!
Eine leise Stimme meldete sich in meinem Kopf.
Nicht nur deswegen, Emma. Wenn du mit Felix geredet
hättest, wäre die Wahrheit schon viel früher ans Licht
gekommen. Aber du konntest ja mal wieder nicht über deinen
Schatten springen. Dein Dickkopf wird dir irgendwann noch
mal zum Verhängnis!
»Ja, ja«, murmelte ich. »Du hast ja recht.«
Ich öffnete eine neue Mail und begann zu schreiben.

E-Mail an Felix

Von: Emma.Laurenz@webmail.de
An: Felixvonkronenburg@ultranet.de

Betreff: Ruf mich an!


Hallo, Felix,

ich war so blöd. Wenn du noch mit mir reden willst, ruf mich
bitte an!

Alles Liebe,
Emma

Drei Minuten später klingelte mein Handy. Als ich Felix’


Namen auf dem Display sah, begann mein Herz wie wild zu
klopfen.
Aber erst als ich seine Stimme hörte, merkte ich, wie sehr er
mir gefehlt hatte.
17. Kapitel

Happy birthday, Emma!

Natürlich feierte ich meinen Geburtstag doch. Wie Mona so


schön gesagt hatte: Schließlich wird man nur ein Mal dreizehn!

Warum der 13. Geburtstag ein ganz besonderer ist:

1. Mit zwölf ist man noch ein Kind, mit dreizehn fast
erwachsen
2. Man darf sich offiziell Teenager nennen
3. Man hat das ganze Jahr Glück, weil die 13 eine
Glückszahl ist!


Nachdem ich mich endlich mit Felix versöhnt hatte, war ich
genau in der richtigen Stimmung für eine große Party. Weil
mein Geburtstag auf einen Wochentag fiel, wollte ich am
Samstag danach feiern, und dazu lud ich die ganze Familie und
alle meine Freunde ein.

Gästeliste für meinen 13. Geburtstag:

1. Mama und Thomas


2. Papa und Melinda
3. Klaus und Nadine
4. Tim und Lili
5. Gesa, Betty und Mona
6. Puck
7. Felix!!!
8. Klara und Jonas
9. Daniel
10. Herr von Kahlberg und Ella
11. Pfarrer Pauli
12. Simone, Lea, Lukas und noch ein paar andere aus
meiner Klasse


Am Tag der Party schmückten Mona, Tim und ich das
Wohnzimmer mit Girlanden und Luftballons. Mama, Gesa und
Betty standen in der Küche und bereiteten alles für das Büfett
vor. Gesa kochte einen riesigen Topf Gemüsesuppe, Mama
backte einen Käsekuchen, und Betty machte Nudelsalat. Klaus
sollte sich als DJ um die Musik kümmern und Thomas um die
Getränke.
»Jetzt können die Gäste kommen«, sagte Tim, nachdem er
den letzten Luftballon aufgeblasen hatte.
Ich nickte und sah mich im Wohnzimmer um. »Perfekt!« Die
Girlanden hingen kreuz und quer unter der Decke, und die
Luftballons bildeten lustige Farbtupfer dazwischen. Es sah
richtig schön bunt aus. Ich seufzte. »Schade, dass Felix nicht
kommen kann. Ich hätte so gerne mit ihm zusammen gefeiert.«
Mona legte die Hand auf meinen Arm. »Sei nicht traurig,
Emma. Ihr feiert einfach nach, wenn ihr euch das nächste Mal
seht.«
»Ja, wahrscheinlich bleibt uns nichts anderes übrig. So ist
das nun mal, wenn man eine Fernbeziehung führt.« Ich grinste
schief. Dass ich meinen Geburtstag ohne Felix feiern musste,
setzte mir mehr zu, als ich zugeben wollte. Wir hatten uns
schon so lange nicht mehr gesehen, und ich vermisste ihn
furchtbar. Wir telefonierten zwar jeden Tag, aber das war
natürlich nicht dasselbe. Ich wollte endlich wieder in seine
meerblauen Augen sehen, die Sommersprossen auf seiner Nase
zählen und an seinen Haaren schnuppern, die so lecker nach
Zitronenshampoo dufteten …
»Echt blöd, dass Felix ausgerechnet heute dieses
Familientreffen hat«, sagte Tim.
Ich nickte. »Das kannst du laut sagen.«
Felix war total zerknirscht gewesen, als er mir abgesagt
hatte. Am zweiten Adventswochenende traf sich immer seine
ganze Familie samt Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, und
alle gingen zum Brunchen in ein piekfeines Hotel.
»Da kann ich unmöglich fehlen«, hatte Felix gesagt. »Auch
wenn ich viel lieber bei dir wäre.«
Aber ich hatte Felix versprochen, mir die Stimmung davon
nicht verderben zu lassen, sondern diesen Tag von Anfang bis
Ende zu genießen – auch ohne ihn. Nur dass mir das gerade
nicht so leichtfiel …
»Helft ihr bitte, das Essen reinzutragen?«, rief Mama aus der
Küche. »Der Countdown läuft, in zehn Minuten geht’s los.«
»Mist, so spät schon!« Mit einem Schlag wurde ich nervös.
»Und ich bin noch gar nicht umgezogen!«
Mona fing an zu lachen. »Du müsstest dich mal hören,
Emma! Vor einem Jahr wäre es dir noch völlig egal gewesen,
wie du aussiehst.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Vor einem Jahr war ich ja
auch erst zwölf«, stellte ich fest. »Jetzt bin ich dreizehn. Das ist
etwas völlig anderes.«
Tim grinste. »Stimmt, da fühlt man sich glatt wie ein neuer
Mensch.«
Ich boxte ihn in die Seite. »Mach dich ja nicht über mich
lustig!«
»Das würde ich nie wagen.« Geschickt wich Tim einem
weiteren Hieb aus und flüchtete aus dem Wohnzimmer.
Als Mona, Tim und ich in die Küche kamen, blieben wir
überrascht stehen.
»Hey, das sieht ja toll aus!«, rief Mona beeindruckt.
Ich nickte. Auf dem Küchentisch standen

eine große Schüssel Nudelsalat,
ein duftender Käsekuchen,
ein Teller mit Frikadellen,
frisch geschnittenes Fladenbrot,
ein Schälchen selbst gemachte Kräuterbutter,
ein Blech Zwiebelkuchen,
eine Schüssel rote Grütze,
eine Schüssel grüner Wackelpudding,
ein Krug mit Vanillesoße,
eine Schale Zaziki und
drei verschiedene Dips.

Auf dem Herd köchelte die Gemüsesuppe vor sich hin. Ihr
würziger Geruch breitete sich im ganzen Haus aus.
»Wer soll das denn alles essen?«, fragte ich. In diesem
Moment knurrte mein Magen laut und vernehmlich. Vor lauter
Aufregung hatte ich den ganzen Tag kaum etwas
hinunterbekommen. Das schien mir mein Magen allmählich
übel zu nehmen.
Tim grinste. »Im Zweifelsfall du.«
»Und was du nicht schaffst, bekommen deine Gäste.« Betty
wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und lachte
ihr tiefes, kollerndes Lachen, das immer direkt aus dem Bauch
herauszukommen scheint.
»Verhungern werden wir jedenfalls nicht«, sagte Mama.
»Und nun ein bisschen Beeilung, bitte, sonst werden wir nicht
rechtzeitig fertig.«
Wir trugen das Essen ins Wohnzimmer und drapierten es auf
einem langen Biertisch, den Thomas an die Wand gestellt
hatte. Dann verschwanden Mona und ich nach oben und zogen
uns um. Viel Zeit blieb nicht mehr. Ich war gerade in eine
saubere Jeans geschlüpft und hatte mir die neue Tunika über
den Kopf gezogen, die ich von Mama zum Geburtstag
bekommen hatte, da klingelte es auch schon.
»Verflixt!«, schimpfte ich. »Warum müssen die Leute
ausgerechnet heute so pünktlich sein?«
Hastig fuhr ich mir mit der Bürste durch die Haare, warf
einen prüfenden Blick in den Spiegel und lächelte meinem
Spiegelbild zu. Eigentlich sah ich ganz okay aus. Ich polterte
die Treppe hinunter, lief zur Tür und riss sie auf.
»Hallo, Emma!« Pfarrer Pauli lächelte mir zu. »Herzlichen
Glückwunsch nachträglich zum Geburtstag!« Er überreichte
mir einen Blumenstrauß.
»Danke!« Ich schnupperte an den Rosen. »Die duften toll.«
»Warte, ich hab noch etwas für dich.« Pfarrer Pauli kramte in
seiner Manteltasche. »Hier!« Triumphierend zog er ein leicht
zerknittertes Papier heraus und hielt es mir hin.
Neugierig faltete ich das Blatt auseinander. Mein Herzschlag
setzte einen Moment aus. Es war mit einer feinen Handschrift
bedeckt, die ich gut kannte. »Aber … das ist ja Omas Schrift!«,
stammelte ich. Ich musste mehrmals blinzeln, bevor ich die
Überschrift lesen konnte: Extra saftiger Schokoladenkuchen
(geeignet für alle Anlässe). Ich schluckte. »Das Rezept für
Omas Schokoladenkuchen!« Ich ließ das Blatt sinken und
starrte Pfarrer Pauli an.
»Ja, ich hab es in Gertruds Rezeptbuch gefunden, als ich vor
einer Weile ihre Sachen sortiert habe«, sagte Pfarrer Pauli.
»Ich dachte, du freust dich vielleicht darüber, weil du Gertruds
Schokoladenkuchen doch immer so gerne gegessen hast.«
Ein Strahlen breitete sich auf meinem Gesicht aus. »Vielen
Dank!« Ehe er wusste, wie ihm geschah, drückte ich dem
verblüfften Pfarrer einen Kuss auf die Wange. »Das ist ein
richtig tolles Geschenk!«
»Schön, schön«, murmelte Pfarrer Pauli verwirrt.
Da erschien Mama im Flur. »Gerhard, wie nett! Komm doch
herein.«
Während Pfarrer Pauli an mir vorbeiging, strich ich
vorsichtig das Rezept glatt, faltete es zusammen und steckte es
ein. »Danke, Oma!«, flüsterte ich.
Die Nächsten waren Papa und Melinda. Sie hielten
Händchen, und Papa lächelte glücklich.
»Stell dir vor, Emma, meine Ausstellung ist verlängert
worden!«, erzählte er stolz. »Jack meinte, so viele Besucher
hätte er das ganze Jahr noch nicht gehabt. Und es wurden zwei
weitere Bilder verkauft. Ist das nicht toll?«
Ich nickte. »Spitze! Heißt das, du wirst jetzt reich?«
Papa lachte. »Noch nicht.«
»Happy birthday, Emma!« Melinda fiel mir um den Hals.
»Alles Gute zum Geburtstag!«
»Danke.« Melindas süßliches Parfüm stieg mir in die Nase,
und ich spürte ihre Speckröllchen an meinem Bauch. Ich
versuchte, sie möglichst unauffällig wegzuschieben.
»Übrigens habe ich noch eine tolle Neuigkeit.« Papa grinste
wie ein Honigkuchenpferd.
»Ach ja?«, fragte ich neugierig. »Was denn?«
Aber da tauchten schon die nächsten Gäste auf: Simone,
Maike und ein paar andere aus meiner Klasse.
»Erzähl ich dir nachher. Jetzt suche ich erst mal Tim, ihm
muss ich schließlich auch noch gratulieren.« Papa
zerstrubbelte mir die Haare und verschwand mit Melinda im
Haus.
Eine halbe Stunde später waren alle da. Das Wohnzimmer
war proppenvoll. Klaus stand an der Stereoanlage und machte
Musik, Thomas versorgte die Leute mit Getränken, Gesa
schöpfte eifrig Gemüsesuppe auf die Teller, und Tim quatschte
mit Papa und Melinda. Ich nippte an einem Glas Orangensaft.
»Willst du gar nichts essen?« Klara stellte sich neben mich.
Sie hielt einen Teller mit einem Stück Käsekuchen in der Hand
und schob sich gerade einen großen Bissen in den Mund. »Der
Käsekuchen ist superlecker!«, nuschelte sie.
Ich sah sie verblüfft an. »Du isst Kuchen?«, fragte ich. »Was
ist mit deiner Sportler-Ernährung?« In letzter Zeit hatte Klara
auf alles Süße verzichtet, um fit für Herrn Hummels
Sportunterricht zu sein. Ziemlich bescheuert, wenn ihr mich
fragt. Klara ist schließlich auch ohne besondere Ernährung
superfit. Aber versucht mal, mit einer Verliebten vernünftig zu
reden – ich sag’s euch, das könnt ihr glatt vergessen!
»Ich esse jetzt wieder, was mir schmeckt«, erklärte sie
betont fröhlich. »Das ist die beste Art, sich zu ernähren.«
»Ehrlich?« Ich warf ihr einen misstrauischen Blick zu. »Wie
kommt’s?«
Klara starrte auf ihren Teller. »Herr Hummel hat eine
Freundin.« Ihre Stimme war so leise, dass sie fast in der lauten
Musik unterging.
»Was?«, rief ich überrascht.
»Ich hab die beiden vorgestern in Dederstadt gesehen.«
Klara blickte konzentriert auf ihren Käsekuchen. »Sie saßen
vor dem Venezia und haben sich den Großen Liebesbecher für
zwei geteilt.«
»Verflixt!« Ich schaute Klara mitfühlend an.
Klara zuckte mit den Schultern. »Was soll’s. Er war sowieso
zu alt für mich.« Sie sah auf und grinste schief.
Ich drückte ihren Arm. »Du findest einen Besseren. Ganz
bestimmt.«
»Wenigstens kann ich mich jetzt wieder voll und ganz auf den
Matheunterricht konzentrieren«, witzelte Klara. »Und diesen
ausgesprochen leckeren Käsekuchen genießen.« Sie schob sich
noch eine Gabel in den Mund und kaute eifrig. »Tolle Party
übrigens, Emma!«
Ich ließ meinen Blick durch das Wohnzimmer wandern. Klara
hatte recht. Die Gäste hatten sich im ganzen Raum verteilt und
schienen sich gut zu amüsieren. Herr von Kahlberg unterhielt
sich angeregt mit Pfarrer Pauli, Papa und Thomas stießen
gerade mit zwei Flaschen Bier an, Simone quatschte mit Jonas,
und die Jungs aus meiner Klasse fragten Tim über das
Internatsleben aus und futterten dabei kiloweise Nudelsalat.
Nur Mona stand etwas verloren neben dem Büfett, während
Daniel mit Klaus redete. Bei den beiden herrschte leider immer
noch schlechte Stimmung. Mona hatte sich in den letzten
Wochen mehr und mehr zurückgezogen, und Daniel war
offenbar so mit seiner Band beschäftigt, dass er es gar nicht
merkte. Gerade nickte Klaus ihm zu und drehte die Musik
leiser.
»Achtung, Achtung, ich bitte um eure Aufmerksamkeit!«, rief
Klaus mit lauter Stimme. »Jetzt kommt eine kurze
Unterbrechung für eine ganz besondere Einlage. Wir schalten
jetzt live zu Radio Dederstadt!«
»Was soll das denn jetzt?«, fragte Klara.
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
Radio Dederstadt ist unser Lokalsender. Warum mussten wir
den auf meiner Geburtstagsparty hören? Die Gäste warfen sich
verdutzte Blicke zu. Die Unterhaltungen verstummten, alle
sahen gespannt zu Klaus. Er fummelte an seiner Anlage herum,
und plötzlich ertönte Musik. Ich erkannte einen Song von
Daniels Band und wippte automatisch mit. Das musste man
Daniel lassen: Er und seine Band machten wirklich verdammt
gute Musik!
Daniel stand jetzt neben Mona und sah sie an. Mona
fummelte nervös an ihrer Bluse herum. Sie schien auch nicht
zu wissen, was das Ganze sollte. Als der Song zu Ende war,
ertönte die Stimme des Moderators.
»Hallo, alle zusammen, und herzlich willkommen zu unserem
Special über Bands aus der Region. Gestern hatten wir die
Band ohne Namen zu Besuch, die gerade so richtig
durchstartet. Die Jungs sind durch ein Internet-Video in den
letzten Wochen zu überregionalen Stars geworden. Hier im
Studio haben Daniel, Jonas und Markus meine Fragen
beantwortet. Zum Beispiel wollte ich von ihnen wissen, wie sie
sich ihren großen Erfolg erklären. Daniel, der Sänger der
Band, hat mir folgendermaßen geantwortet.«
Ein Räuspern ertönte, dann war Daniels Stimme zu hören.
»Ja … äh … erst mal vielen Dank für die Einladung ins Studio.
Für uns ist das alles noch ziemlich ungewohnt, schließlich sind
wir eigentlich ganz normale Jungs.« Er lachte. Es war
merkwürdig, seine Stimme aus den Lautsprechern zu hören
und ihn gleichzeitig dort neben Mona stehen zu sehen. Als
würde es ihn zweimal geben. »Ehrlich gesagt finde ich Erfolg
gar nicht so wichtig«, sagte der Daniel im Radio. »Wichtig sind
ganz andere Dinge im Leben.«
»Zum Beispiel?«, fragte der Moderator.
»Die Menschen, die einen umgeben«, antwortete Daniel.
»Familie, Freunde und so weiter. Ein Mensch ist mir ganz
besonders wichtig, und diesem Menschen würde ich bei dieser
Gelegenheit gerne etwas mitteilen, wenn ich darf.«
»Nur zu!«, ermunterte ihn der Moderator.
Daniel räusperte sich noch einmal. »Ich möchte gerne meine
Freundin Mona grüßen: Ich weiß, dass ich in den letzten
Wochen nicht so viel Zeit für dich hatte, und das tut mir
wahnsinnig leid. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, Mona.
Denn du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ohne
dich macht mir die ganze Musik keinen Spaß. Mona, ich liebe
dich!«
»Da soll noch mal jemand sagen, Rockmusiker hätten kein
weiches Herz«, witzelte der Moderator.
Klaus stellte das Radio aus. Plötzlich war es furchtbar still im
Wohnzimmer. Alle starrten Mona und Daniel an. Mona war
knallrot im Gesicht.
»Hast du das ernst gemeint?«, fragte sie leise.
Daniel nickte. »Natürlich!« Er nahm sie in die Arme und
drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Irgendjemand fing an zu
klatschen, und eine Sekunde später applaudierten alle. Mona
wurde noch etwas röter und vergrub ihr Gesicht an Daniels
Schulter.
»Wie schön!«, hauchte Klara neben mir.
Ich nickte stumm. Vor lauter Rührung kamen mir fast die
Tränen. Schnell wischte ich mir über die Augen. »Eine
Liebeserklärung über das Radio, darauf muss man erst mal
kommen«, sagte ich anerkennend.
Der Applaus verebbte, und die Leute wandten sich wieder
ihren Gesprächen zu. Daniel und Mona verschwanden
unauffällig aus dem Wohnzimmer. Wahrscheinlich gingen sie
erst mal eine Runde knutschen. Ausnahmsweise hatte ich
nichts dagegen. Das hatten sie sich nach dem ganzen Stress
wirklich verdient.
18. Kapitel

Und zum Schluss einen Kuss

»Ich hol mir jetzt auch was zu essen«, sagte ich.


»Sehr gute Idee.« Klara nickte. »Sonst kriegst du zumindest
vom Nudelsalat nichts mehr ab. Die Jungs futtern ja wie die
Scheunendrescher!«
Ich drängelte mich zwischen den Gästen hindurch zum
Büfett. Auf dem Weg kam ich an Papa und Thomas vorbei.
»Echt? Nach Australien?«, fragte Thomas gerade. »Wow, das
ist ja toll! Glückwunsch!« Er klopfte Papa auf die Schulter.
»Was ist mit Australien?«, fragte ich. »Geht Melinda etwa
wieder nach Australien zurück?« Der Gedanke stimmte mich
überraschenderweise fast ein bisschen traurig. Melinda ging
mir zwar manchmal ziemlich auf die Nerven, aber inzwischen
hatte ich mich irgendwie an sie gewöhnt. Und Papa war viel
fröhlicher, seit er mit ihr zusammen war.
»Nicht nur Melinda«, sagte Papa. »Wir beide.«
»Ihr beide?« Ich starrte Papa an, ohne ihn richtig zu
verstehen. »Meinst du, ihr wollt da Urlaub machen?«
Papa kratzte sich am Kopf. »Na ja, eigentlich nicht. Wir
gehen für länger dorthin. Mindestens für sechs Monate.«
»Aber … aber warum?«, stammelte ich.
»Ich hab ein Stipendium bekommen«, erzählte Papa stolz. »In
einem Künstlerhaus in Sydney. Dort kann ich ein halbes Jahr
umsonst arbeiten und wohnen. Ich bekomme sogar die
Reisekosten erstattet. Ist das nicht toll? Das wollte ich dir
vorhin schon erzählen. Freust du dich?«
Ich schluckte. »Du gehst weg?«, fragte ich. »Nach
Australien? Für ein halbes Jahr? Und Melinda kommt mit?«
Papa nickte. »Genau! Super, oder?« Seine Augen leuchteten
vor Begeisterung.
Ich wollte ihn anschreien. Ich wollte ihm sagen, dass ich das
überhaupt nicht super fand. Ich wollte ihn fragen, was ihm
überhaupt einfiel, sich für ein Stipendium am anderen Ende
der Welt zu bewerben. Dachte er denn überhaupt nicht an uns?
An Klaus, Tim, Lili, Mama und mich? Wir waren doch seine
Familie! Und seine Familie lässt man nicht im Stich.
Aber ich sagte nichts. Ich bekam keinen Ton heraus. Ich
drehte mich einfach um und rannte aus dem Wohnzimmer. Im
Flur blieb ich stehen. Hier war es leiser, und ich konnte mein
Herz schlagen hören. Es schlug im Takt mit dem Satz, der in
meinem Kopf aufblinkte wie ein Warnsignal.
Papa geht weg.
Papa geht weg.
Papa geht weg.
»Emma?« Ich hörte Papas Stimme hinter mir, aber ich wollte
jetzt nicht mit ihm reden.
Ich rannte auf die Toilette und schloss die Tür ab. Dann
setzte ich mich auf den Klodeckel, zog die Beine an und
vergrub das Gesicht zwischen den Knien. Warum verließen
mich alle Menschen, die mir wichtig waren?

Liste der Menschen, die mich verlassen haben:


1. Papa (ist ausgezogen und will nach Australien gehen)
2. Lea (ist jetzt Simones beste Freundin)
3. Bastian (hat mit mir Schluss gemacht)
4. Tim (ist ins Internat gegangen)
5. Oma (ist gestorben)


Na ja, die Liste war vielleicht etwas ungerecht. Lea hatte mich
nicht direkt verlassen. Wir waren keine Freundinnen mehr,
weil wir uns auseinandergelebt hatten. Tim war zwar ins
Internat gegangen, aber er würde trotzdem immer mein
Bruder bleiben. Und Oma konnte schließlich nichts dafür, dass
sie gestorben war. Sie wäre bestimmt gerne noch länger bei
uns geblieben. Ich überlegte, was sie zu Papas Plänen gesagt
hätte. Sie hätte sich für ihn gefreut, ganz sicher. Fast konnte
ich ihre Stimme hören.
Wer liebt, muss loslassen können, Emma-Kind. Warum freust
du dich nicht für Rudi? Dieses Stipendium ist eine einmalige
Chance für ihn. Dann muss er endlich keine Kochbücher mehr
illustrieren, sondern kann das tun, was ihm Freude bereitet.
Außerdem sind sechs Monate schließlich keine Ewigkeit,
stimmt’s?
»Stimmt«, flüsterte ich. Ich musste daran denken, wie Papas
Augen gerade geleuchtet hatten. Oma hatte wie immer recht.
Und ich war ein Dummkopf. Statt mit meinen Gästen zu feiern,
saß ich auf dem Klo und heulte. Aber damit war jetzt Schluss!
Schließlich war ich kein Baby mehr. Ich war dreizehn und fast
erwachsen. Ich wischte mir mit dem Ärmel meiner Tunika die
Tränen von den Wangen und stand auf. Mein Handy vibrierte
in meiner hinteren Hosentasche. Ich nahm es heraus und sah
auf das Display. Eine SMS von Felix!

Hi, Emma, viel Spaß auf deiner Geburtstagsparty!


Schade, dass ich nicht dabei sein kann. Ich denke an
dich!!!!!

Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, und mir ging es sofort
ein bisschen besser. Felix war so süß!
»Und ich denke an dich«, murmelte ich.
Ich wollte das Handy gerade wieder wegstecken, als noch
eine Nachricht kam.

PS: Guck mal vor die Haustür! Vielleicht wartet dort


ja eine Geburtstagsüberraschung auf dich …

Ich runzelte die Stirn. Was sollte das denn heißen? Hatte Felix
wieder einen Kurierdienst beauftragt? Würde gleich ein Auto
mit quietschenden Reifen im Hof halten, um mir ein Geschenk
von Felix zu überbringen?
Mit klopfendem Herzen verließ ich das Klo, lief durch den
Flur und riss die Haustür auf. Nichts. Kein Paket auf dem
Boden. Kein Auto auf dem Hof. Alles war dunkel und still. Ich
trat einen Schritt vor die Tür und schlang fröstelnd die Arme
um den Oberkörper. Es war ganz schön kalt. Der Boden war
von einer dünnen weißen Raureifschicht bedeckt. Im
Wetterbericht hatten sie für heute Nacht den ersten Schnee
angekündigt.
Da entdeckte ich etwas vor mir auf der Erde. Eine Rose. Ich
bückte mich und hob sie auf. Sie war lang, dornig und
dunkelrot. Wie kam sie hierher? Sie passte nicht zu Kälte und
Raureif, sondern wirkte wie ein Überbleibsel des Sommers. Ein
Gruß aus der Vergangenheit. Letzten Sommer war viel
passiert. Ich hatte Felix kennengelernt und Puck gefunden, Tim
hatte beschlossen, aufs Internat zu gehen, und Oma war
gestorben. Ich drehte die Rose nachdenklich zwischen meinen
Fingern hin und her. Unglaublich, wie viel in einem einzigen
Sommer geschehen konnte. Aber jetzt war Winter, und ich war
dreizehn Jahre alt. Was würde mir das Leben bringen? Würde
ich glücklich werden?
Ich zuckte zusammen, als mich ein spitzer Dorn in den Finger
pikste. Ein winziger Blutstropfen quoll hervor. Schnell fuhr ich
mit der Zunge darüber und leckte ihn ab. Da hörte ich ein
Geräusch. Ein leises Knacken hinter mir im Garten. Ich sah auf.
Alles war dunkel. Die Schaukel ragte in den schwarzen
Nachthimmel, dahinter kauerten die Rhododendronbüsche wie
struppige Ungeheuer. Aber was war das? Leuchtete hinter den
Büschen nicht ein flackerndes Licht?
Zögernd ging ich über den Rasen, an der Schaukel vorbei
und zwischen den Büschen hindurch. Ich setzte die Füße so
leise auf, dass meine Schritte kaum ein Geräusch verursachten.
Die Rose hielt ich immer noch in der Hand, und ihr süßlicher
Duft stieg mir in die Nase.
Da! Da war tatsächlich ein Licht! Ich ging darauf zu. In der
hintersten Ecke des Gartens, auf der Bank unter dem
Fliederbusch, wo ich im Frühling so gerne saß, brannten
Kerzen. Nicht nur eine, sondern ein Dutzend Flammen
leuchteten mir entgegen. Sie bildeten ein Herz. Ich blinzelte,
aber die Kerzen brannten weiter. Sie erhellten die Nacht und
leuchteten mit den Sternen um die Wette. Ich blieb stehen.
Woher kamen all die Kerzen? Wer hatte sie angezündet?
»Felix?«, flüsterte ich so leise, dass nur die Rose und ich es
hören konnten.
Eine Gestalt trat aus dem Schatten des Fliederbusches.
»Hallo, Emma!«
Felix blieb direkt vor mir stehen. Er grinste von einem Ohr
zum anderen.
»Wo … wie …«, stammelte ich. Weiter kam ich nicht.
»Dachtest du etwa, ich lasse dich deinen Geburtstag alleine
feiern?«, fragte Felix. »Kommt nicht in die Tüte! Ich bin gleich
nach dem Familienbrunch in den Zug gestiegen. Hab ich schon
was verpasst?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte es immer noch nicht
glauben. Felix war hier! Er war wirklich gekommen! Oder etwa
doch nicht? Im Schein der Kerzen sah er so unwirklich aus. Es
hätte mich nicht gewundert, wenn alles nur ein Traum gewesen
wäre. Ein schöner, schöner Traum. Vorsichtig streckte ich die
Hand aus und berührte seinen Arm. Er war echt. Ganz
eindeutig echt.
»Ich hab auch ein Geschenk für dich.« Felix holte einen
weißen Umschlag hervor. »Bitte!«
Ich nahm den Umschlag, öffnete ihn und zog eine Karte
heraus. Darauf war ein bunter Heißluftballon abgebildet, der
über einen blauen Himmel schwebte. »Was ist das?«
»Ein Gutschein«, erklärte Felix. »Für eine Fahrt mit dem
Heißluftballon. Du kannst ihn im Frühjahr einlösen, wenn es
wieder wärmer wird. Ich komme natürlich mit. Und dann
schweben wir in den siebten Himmel.«
Ich musste lachen. Das klang furchtbar kitschig und
gleichzeitig wunderschön. »Wahnsinn!« Ich strahlte Felix an.
»Woher wusstest du, dass ich mir schon immer gewünscht
habe, fliegen zu können?«
Felix grinste verlegen. »Ich würde ja gerne sagen, dass ich
deine geheimsten Wünsche kenne. Aber ehrlich gesagt hat Tim
mir den Tipp gegeben.«
»So ein Verräter!« Ich schüttelte den Kopf. »Er hat mir kein
Sterbenswörtchen davon gesagt.«
»Das will ich auch hoffen. Sonst wäre es ja keine
Überraschung mehr gewesen.«
»Danke.« Ich sah von Felix zu dem Gutschein und den
Kerzen. »Für alles. Das ist eindeutig der tollste Geburtstag
meines Lebens!«
»Und du bist eindeutig das tollste Mädchen, das ich je
getroffen habe.« Felix kam noch einen Schritt näher, beugte
sich zu mir herüber und gab mir einen sanften Kuss. Seine
Lippen waren so kalt wie die Winternacht, aber mir wurde
plötzlich ganz warm. Bevor ich die Augen schloss, sah ich noch,
wie ein paar einzelne Schneeflocken vom Himmel tanzten und
in den Kerzenflammen verglühten. Aber vielleicht war das auch
nur ein Traum. Vielleicht war das ganze Leben ein Traum.
Doch das war mir in diesem Moment völlig egal. Wichtig waren
nur Felix und ich. Und in diesem Augenblick wurde mir klar,
dass ich eigentlich gar keine Ballonfahrt brauchte. Denn ich
hob jetzt schon ab vor lauter Glück.

Was mich glücklich macht:

1. Ein großer Erdbeerbecher aus dem Venezia


2. Omas Schokoladenkuchen (aber nur, wenn er mir nicht
anbrennt …)
3. Ein Becher heißer Kakao mit Schlagsahne
4. Der Duft von blühendem Flieder
5. In meiner Hängematte liegen und vor mich hin träumen
6. Pucks schlabberige Hundeküsse
7. Lilis Lachen, wenn sie an meinen Haaren zieht
8. Eine E-Mail von Tim
9. FELIX
10. Das Leben mit meiner nervigen, wunderbaren,
chaotischen Familie!!!
Maja von Vogel wurde 1973 geboren und wuchs im Emsland
auf. Sie studierte Deutsch und Französisch, lebte ein Jahr in
Paris und arbeitete als Lektorin in einem Kinderbuchverlag.
Heute lebt Maja von Vogel als Autorin und Übersetzerin in
Norddeutschland.
© Oetinger Taschenbuch GmbH, Hamburg 2014

Originalausgabe
Alle Rechte vorbehalten
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich
geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages
unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für
Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die
Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Lektorat: Eva-Maria Kulka
Covergestaltung: Miriam Cordes
E-Book-Umsetzung: 2014

ISBN 978-3-86418-018-7
Lust auf mehr?

www.oetinger.de
www.oetinger.de/ebooks

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