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Kapitel
»Das Essen ist fertig!«, verkündete Gesa und stellte den Salat
auf den Tisch.
Ich zuckte zusammen und verscheuchte alle Felix-Gedanken
aus meinem Kopf. Manchmal bringen sie mich ganz schön
durcheinander. Obwohl es mich so glücklich macht, an Felix zu
denken, dass mein Herz wie verrückt in meiner Brust klopft,
macht es mich manchmal auch sehr traurig. Versteht ihr, was
ich meine? Wenn nicht, ist es auch nicht schlimm. Manchmal
verstehe ich mich selbst nicht richtig.
Tim nahm sich eins von Gesas selbst gebackenen
Sonnenblumenkern-Vollkornbrötchen. Zur Feier des Tages gab
es nicht nur den üblichen Salat, sondern auch frisches
Kürbisbrot, getrocknete Tomaten und Tims Lieblingskäse
(Brennnessel-Bärlauch-Gouda).
»Wie ist es denn jetzt so im Internat?«, fragte Mona
neugierig, als sich alle an den Tisch gesetzt hatten.
»Super!« Tim schnitt sein Brötchen auf und verteilte Butter
auf den beiden Hälften. »Die Lehrer sind toll, und der
Unterricht macht richtig Spaß. In meiner Klasse sind nur zehn
Schüler, da kann man ganz anders arbeiten. Mein Tutor ist
total nett. Er hat gleich dafür gesorgt, dass ich in den
Förderkursen Naturwissenschaften und Mathe mitmachen
kann.«
Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Tim ist nicht
in diesen Förderkursen, weil er so schlecht ist, sondern weil er
so gut ist. Im normalen Unterricht langweilt er sich, darum
bekommt er Extrastunden mit lauter anderen Genies. Aber
denkt jetzt bloß nicht, ich wäre auch so eine Intelligenzbestie.
Keineswegs! In Mathe bin ich sogar eine absolute Niete. Ich
kapier den Kram einfach nicht! Sobald Zahlen im Spiel sind,
sehe ich rot. Keine Ahnung, warum ausgerechnet Tim so ein
Schlauberger ist. Wahrscheinlich hat er derart viel Grips
abbekommen, dass für mich nur noch ein kleiner Rest übrig
war. Aber damit habe ich kein Problem (zumindest solange
keine Mathearbeit ansteht …).
»Hast du schon Freunde gefunden?«, fragte Mama.
Tim schnitt sich dicke Scheiben von seinem Lieblingskäse ab.
»Die anderen aus meiner Lerngruppe sind alle ganz nett. Und
Felix natürlich sowieso. Ich bin wirklich froh, dass wir uns ein
Zimmer teilen. Felix hat mir am Anfang alles gezeigt. Aber
meistens hab ich gar nicht so viel Zeit für irgendwelche
Freizeitaktivitäten. Das Lernpensum ist ziemlich hoch.
Außerdem bin ich ja noch in der Schach-AG und in der Jugend
forscht-Gruppe.«
»Du machst also den ganzen Tag nichts anderes als lernen
und Schach spielen?« Ich verzog das Gesicht. »Klingt ja
furchtbar!«
Ganz ehrlich, das wäre mein persönlicher Albtraum. Ich bin
immer froh, wenn ich mit den Hausaufgaben fertig bin und
mich mit sinnvolleren Dingen beschäftigen kann. Mein Motto
lautet: Nie mehr für die Schule tun als unbedingt nötig!
Tim schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht! Mir macht das
Lernen total viel Spaß – und das Schachspielen auch.« Seine
Augen leuchteten. Er sah tatsächlich glücklich aus.
Unglaublich! Aber so ist Tim nun mal. Zwischen seinen
Büchern und seinen Schachfiguren fühlt er sich einfach am
wohlsten.
»Klingt gut.« Gesa schnitt das Kürbisbrot auf. »Dann war es
also die richtige Entscheidung, das Internatsstipendium
anzunehmen?«
Tim nickte heftig. »Definitiv!«
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Ohne eine
Millisekunde des Zögerns. Es versetzte mir einen Stich, dass
Tim nicht wenigstens kurz überlegen musste. Hatte er sich hier
bei uns so unwohl gefühlt?
Während Tim weiter vom Internat schwärmte und die
anderen ihn mit Fragen löcherten, stocherte ich lustlos in
meinem Gurkensalat herum. Der Appetit war mir vergangen,
genauso wie die Freude auf das Wochenende mit Tim. Musste
er uns ständig unter die Nase reiben, wie toll es im Internat
war und wie gut er ohne uns klarkam? Wie gut er ohne mich
klarkam? Er hätte wenigstens so tun können, als wenn er ab
und zu Heimweh hätte.
Kaum hatte ich das letzte Gurkenstück hinuntergewürgt,
schob ich meinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich geh nach
oben.«
»Wie wär’s mit einem gemütlichen Fernsehabend?«, schlug
Mona vor. »Wir könnten uns irgendeine nette DVD
anschauen.«
Tim zuckte mit den Schultern. »Von mir aus gerne.«
Ich zögerte. Eigentlich war die Gelegenheit günstig, denn
Thomas war heute Abend nicht da. Er hatte sich mit ein paar
Studienkollegen in Dederstadt verabredet. Sonst blockierte er
nämlich mit einer seiner zahlreichen Referatsgruppen gerne
mal das Wohnzimmer – und unseren einzigen Fernseher. Er
und seine Freunde qualmten dann alles voll, diskutierten lang
und breit über irgendwelche völlig langweiligen Themen und
fanden einfach kein Ende. Nicht zum Aushalten! Von daher
hätte ich mir eigentlich sofort die Fernbedienung schnappen
müssen. Aber ich schüttelte den Kopf. »Ohne mich. Ich hab
heute keine Lust auf Fernsehen.«
Mona runzelte die Stirn. »Ist was?«
»Nö«, behauptete ich. »Ich bin bloß müde.«
Tim sah mich aufmerksam an, und ich schlug schnell die
Augen nieder. Betont langsam schlenderte ich aus der Küche.
Als wäre alles in bester Ordnung. Auf dem Flur sackten meine
Schultern herab. Eigentlich hätte ich ganz gerne eine DVD
geguckt. Aber nicht mit Tim, dem Verräter. Der saß doch bei
uns sowieso nur seine Zeit ab und war bestimmt heilfroh, wenn
er am Sonntag wieder in sein heiß geliebtes Internat fahren
konnte. Warum tauchte er eigentlich überhaupt noch hier auf?
Von mir aus konnte er das nächste Mal gleich ganz im Internat
bleiben. Ich kam auch ohne ihn zurecht!
Als ich an der geöffneten Wohnzimmertür vorbeikam, fiel
mein Blick auf das Telefon. Plötzlich hatte ich wahnsinnige
Sehnsucht nach Felix. Am liebsten hätte ich mich in seine Arme
geworfen und mich von ihm trösten lassen. Und wenn das
schon nicht möglich war, wollte ich wenigstens seine Stimme
hören. Ich ging zum Telefon und tippte seine Handynummer
ein, die ich inzwischen auswendig kannte. Während es am
anderen Ende der Leitung klingelte, stellte ich mir sein Gesicht
mit der Stupsnase, den Sommersprossen und den meergrauen
Augen vor. Ich dachte an seine strubbeligen blonden Haare, die
immer leicht nach Zitronenshampoo dufteten, und an sein
schiefes Grinsen, das ich so sehr mochte …
Dann meldete sich die Mailbox. Eine freundliche
Frauenstimme informierte mich darüber, dass der Teilnehmer
gerade nicht erreichbar war. Ärgerlich drückte ich das
Gespräch weg. Wie ich diese Stimme hasste! Immer wenn ich
sie hörte, konnte Felix aus irgendeinem Grund nicht an sein
Handy gehen.
Ich sah auf die Uhr, rechnete kurz nach und kam zu dem
Ergebnis, dass Felix eigentlich schon zu Hause sein musste.
Wie alle Schüler des Internats Mühlenberg fuhr er einmal im
Monat zu seinen Eltern. Auch wenn die oft gar nicht da waren.
Felix’ Familie ist ziemlich reich. Sie wohnt in einem riesigen
Haus mit lauter Angestellten. Seine Mutter hat sogar eine
persönliche Yoga-Trainerin! Könnt ihr euch das vorstellen? Ich
bin fast vom Stuhl gefallen, als ich das gehört habe.
Felix’ Mutter ist Pianistin und gibt auf der ganzen Welt
Konzerte. Sein Vater hat eine große Firma und arbeitet rund
um die Uhr. Außerdem ist er ständig auf Geschäftsreise. Darum
gehen Felix und seine Schwester Julia aufs Internat. Ganz
ehrlich, ich möchte nicht mit den beiden tauschen. Es muss
doch blöd sein, in ein Internat abgeschoben zu werden und an
den seltenen Heimfahrwochenenden meistens allein mit den
Angestellten in einer riesigen Villa zu sitzen, weil die Eltern
mal wieder in der Weltgeschichte herumgondeln. Und was
würde Oma dazu sagen?
Der sechste Grund gefiel mir überhaupt nicht. Ich tippte auf
Grund Nummer sieben. Die Frau war so komisch am Telefon
gewesen, dass ich mir gut vorstellen konnte, wie sie
naserümpfend den Hörer weggelegt und meinen Anruf sofort
wieder vergessen hatte. Ob ich es noch mal auf Felix’ Handy
probieren sollte? Aber falls Grund 1, 2, 4 oder 5 zutrafen, war
er vielleicht genervt, wenn ich ihn störte. Außerdem sollte er
nicht denken, ich würde ihm nachlaufen. Das tat ich nämlich
grundsätzlich nicht. NIEMALS!
Mist, jetzt dachte ich ja schon wieder an Felix! Ärgerlich
schlug ich das Kreuzworträtselheft zu. Ich hasse Mädchen, die
ständig irgendwelche Jungs im Kopf haben. Meine Ex-beste-
Freundin Lea zum Beispiel hängt nur noch mit ihrem neuen
Freund herum. Dabei ist Markus ein totaler Idiot! Aber das
merkt sie gar nicht. Wahrscheinlich, weil sich die beiden nie
unterhalten, sondern immer nur herumknutschen. Igitt! So
wollte ich AUF GAR KEINEN FALL werden …
Die Tür zum Dachzimmer wurde aufgerissen, und Mona
stürmte mit wehenden Haaren herein. »Schnell, Emma!«,
keuchte sie. »In einer Viertelstunde müssen wir los. Und ich
hab mich noch nicht mal umgezogen!«
Ich starrte sie verwirrt an. »Los? Wohin denn?«
Mona rannte in ihre Zimmerhälfte, zog die oberste Schublade
ihrer Kommode auf und fing an, in ihren Klamotten
herumzuwühlen. »Zu Rudis Vernissage natürlich! Hast du das
etwa vergessen?« Sie hielt einen kurzen Moment inne und sah
mich mit gerunzelter Stirn an.
Ich wurde rot. »Quatsch, natürlich nicht!«, schwindelte ich,
dabei hatte ich vor lauter Kreuzworträtsel-Grübeleien und
Felix-Gedanken tatsächlich überhaupt nicht mehr an den
Termin gedacht. Ganz schön peinlich!
Rudi ist übrigens mein Vater. Er mag es, wenn wir ihn Rudi
nennen. Ich glaube, er fühlt sich dann jünger. Rudi ist Künstler.
Allerdings kein besonders berühmter, sondern einer, für den
die Zeit noch nicht reif ist. (Zumindest behauptet er das
immer …) Aber das könnte sich bald ändern. An diesem Tag
wurde nämlich Papas erste Ausstellung in einer Galerie in
Dederstadt eröffnet. Wahnsinn, oder? Ich war ziemlich stolz auf
ihn. Hoffentlich würde alles glattgehen. Papa war schon seit
Wochen total aufgeregt wegen dieser Vernissage. Das spricht
man übrigens Wernissaasch aus. Das ist französisch und heißt
Ausstellungseröffnung. (Hat Papa mir erklärt.)
»Jetzt mach schon, Emma!«, drängelte Mona. »Wir dürfen
nicht zu spät kommen.« Sie zog eine weiße Bluse und den
neuen Jeansrock aus ihrer Kommode und begann, sich
umzuziehen.
»Ja, ja, keinen Stress.« Ich stand auf und ging zu meinem
Schrank hinüber. Dabei musste ich über einen Stapel
Comichefte, einen Haufen schmutziger Wäsche und meine
Sporttasche hinwegsteigen. In meiner Zimmerhälfte sieht es
leider meistens aus wie Kraut und Rüben. Ich bin nicht gerade
der ordentlichste Typ (und das ist noch untertrieben, würde
Mama sagen). Ganz im Gegensatz zu Mona. Bei ihr ist immer
alles picobello aufgeräumt. Keine Ahnung, wie sie das schafft.
Seufzend starrte ich in meinen Schrank. Was sollte ich
anziehen? Früher hab ich mir nie Gedanken darüber gemacht,
in welchen Klamotten ich herumlaufe. Es war mir auch egal,
dass meine Haare immer zerzaust aussehen, meine Knie
knubbelig sind und ich selbst im Sommer total käsig bin. Jetzt
wünsche ich mir schon manchmal seidig glatte Haare, hübsche
Knie und sanft gebräunte Haut. Aber pssst, nicht verraten! Das
braucht niemand zu wissen. Eigentlich finde ich es ziemlich
blöd, stundenlang vor dem Spiegel zu stehen und ein
Riesentrara um Klamotten, Schminke und Frisuren zu machen.
Ganz ehrlich, es gibt wichtigere Dinge im Leben!
Bloß dass ich mir in diesem Moment sehnlich eine gute Fee
wünschte, die aus meinem Schrank flatterte, ihren Zauberstab
zückte und mich in ein gut aussehendes Mädchen mit dem
perfekten Outfit für eine Vernissage verzauberte. Simsalabim!
Tja, Pech gehabt. Aus meinem Schrank flatterte höchstens
die eine oder andere Kleidermotte. Ansonsten sah es dort
ziemlich düster aus.
»Äh – was zieht man eigentlich zu einer Vernissage an?«,
fragte ich ratlos. »Meinst du, das wird sehr feierlich?«
Mona nickte nachdrücklich, während sie ihre weiße Bluse
zuknöpfte. »Auf jeden Fall! Ich mache mich jedenfalls richtig
schick.« Sie schlüpfte in den Jeansrock, griff nach ihrer Bürste
und kämmte sich ausgiebig die Haare.
Ich seufzte. Super! Das brachte mich auch nicht weiter.
Schließlich griff ich nach einer halbwegs sauberen Leggins
ohne Löcher und einem schlichten, weißen Shirt. Darüber zog
ich mein Lieblingssommerkleid – das grüne mit den bunten
Blümchen – und warf einen Blick in den Spiegel. Ich nickte
zufrieden. Perfekt! Nicht übertrieben, aber trotzdem hübsch.
Meine Haare band ich zu einem Pferdeschwanz (die einzige
Frisur, bei der sie halbwegs ordentlich aussehen), kniff mir in
die Wangen, damit sie nicht ganz so käsig waren, und trug
etwas Lipgloss auf. Er schmeckte nach Himbeere und ließ die
Lippen schön glänzen. Ich hatte ihn mir vor Kurzem in der
Drogerie in Dederstadt gekauft, aber noch nie benutzt.
»Seit wann hast du denn Lipgloss?«, fragte Mona überrascht.
Ich zuckte mit den Schultern. »Schon länger«, behauptete ich
und versuchte so auszusehen, als würde ich täglich Lipgloss
auftragen. »Fertig!« Ich drehte mich zu Mona um. »Wollen wir
los?«
»Gleich.« Mona strich sich ihre langen, dunklen Haare hinter
das Ohr und betrachtete sich prüfend im Spiegel. »Okay, ich
bin so weit.«
»Du siehst gut aus«, stellte ich fest.
»Danke!« Mona lächelte und wurde ein bisschen rot. Früher
ist sie immer in Gesundheitslatschen und merkwürdigen
Kleidern herumgelaufen, die wie Kartoffelsäcke aussahen. Aber
seit einiger Zeit zieht sie sich ganz annehmbar an. Vielleicht
hängt das mit Daniel zusammen, ihrem Freund. Die beiden sind
zwar schon eine Weile zusammen, aber immer noch total
verliebt.
»Ich bin echt gespannt auf Daniels Auftritt heute Abend«,
sagte ich, als wir hintereinander die steile Dachbodentreppe
hinunterpolterten.
»Und ich erst!« Mona verzog das Gesicht. »Ich glaube, ich
bin nervöser als er.«
Daniel ist Sänger einer Heavy-Metal-Band. Zumindest hatten
er, Jonas und Markus als Heavy-Metal-Band angefangen, aber
inzwischen spielten sie auch andere Stücke, die etwas ruhiger
und melodischer waren. Papa hatte dafür gesorgt, dass sie auf
seiner Vernissage auftreten durften. Daniel wohnt nämlich mit
seiner Mutter (und einigen anderen Mitbewohnern) in Papas
WG.
»Ein bisschen Beeilung, bitte!«, rief Gesa, als wir aus dem
Haus kamen. »Steigt ein, sonst kommen wir zu spät!«
Mona und ich kletterten in Gesas klapprigen VW-Bus. Tim
saß auf dem Vordersitz. Er trug eine normale Jeans und ein
braunes T-Shirt. Im Gegensatz zu mir hatte er offenbar einfach
irgendetwas aus dem Schrank gegriffen und keinen zweiten
Gedanken an seine Klamotten verschwendet. Typisch Junge!
»Du hättest dich ruhig etwas schicker machen können«,
sagte ich vorwurfsvoll.
Tim sah mich überrascht an. »Warum denn?«
Ich verdrehte die Augen. »Schließlich fahren wir zu einer
Vernissage! Das ist eine feierliche Veranstaltung.«
»Genau!« Mona nickte eifrig.
»Ach was, das muss man nicht so eng sehen«, beruhigte Gesa
Tim. Sie ließ den Motor an, und der Bus tuckerte vom Hof.
»Wo ist denn Klaus?«, erkundigte sich Mona.
Klaus ist mein anderer Bruder. Er ist schon siebzehn und
meistens nicht zu Hause. Entweder ist er bei seiner Freundin
Nadine, oder er tuckert auf seinem geliebten Mofa durch die
Gegend.
»Klaus und Nadine fahren direkt zur Galerie«, sagte Gesa.
»Schade, dass Mama nicht mitkommt«, murmelte ich.
Gesa seufzte. »Sie wollte sich unbedingt noch mal an die
Buchhaltung für das Gesundheitszentrum setzen. Die Bilanz
der vergangenen Monate sieht leider gar nicht gut aus.«
Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und schwieg. Mama
hatte in letzter Zeit wirklich viel Zeit mit dem
Buchhaltungskram verbracht. Als wenn das Geld mehr werden
würde, je länger sie daran herumrechnete. Aber ich hatte noch
einen anderen Verdacht. Ich war mir ziemlich sicher, dass
Mama keine große Lust auf die Vernissage hatte. Wie gesagt,
sie und Papa gehen sich lieber aus dem Weg. Und mit Melinda
kann Mama auch nicht allzu viel anfangen. Na ja, das verstehe
ich sogar irgendwie. Geht mir genauso. Aber warum kann
Mama nicht mal über ihren Schatten springen und sich einfach
für Papa freuen? Immerhin ist die Ausstellung ein großer
Erfolg für ihn. Das könnte sie ihm wirklich mal gönnen, finde
ich. Stattdessen hockt sie über ihrem Papierkram und stänkert
herum. Manchmal benehmen sich Erwachsene wirklich
unmöglich!
Die Vernissage fand in einer Galerie am Dederstädter Hafen
statt. Gesa parkte zwei Straßen weiter, und wir liefen das
kurze Stück.
»Wow!«, rief Mona, als wir um die Ecke bogen.
Die Galerie war in einem ehemaligen Lagerhaus, das zu
einem Kunst- und Kulturzentrum umgebaut worden war. Papa
hatte mir erzählt, dass sich im ersten Stock Ateliers und Büros
befanden und im Erdgeschoss die Galerie. Rechts und links
vom Eingang, einer schweren Eisentür, brannten zwei große
Fackeln. Es war zwar erst später Nachmittag, aber das
lodernde Feuer wirkte trotzdem ziemlich beeindruckend.
Gesa drückte die Tür auf, und wir traten ein. Die Galerie
bestand aus einem einzigen großen Raum mit hohen Fenstern.
An den Wänden hingen Papas Bilder. Ich blieb stehen und sog
überrascht die Luft ein. Es sah toll aus! Die meisten Bilder
kannte ich, weil Papa sie vor der Scheidung gemalt hatte, als er
noch zu Hause wohnte. Es waren großformatige Leinwände,
und sie wurden so geschickt ausgeleuchtet, dass die dick
aufgetragenen Ölfarben fast dreidimensional wirkten. Sein
neuestes Bild hatte einen Ehrenplatz direkt gegenüber vom
Eingang bekommen. Es war kleiner als die anderen und hieß
Die Liebende. Es sollte ein Porträt von Melinda sein, aber das
konnten wirklich nur Eingeweihte erkennen. Für alle anderen
waren es rote, gelbe und orangefarbene Kreise und Wirbel
(was aber auch sehr hübsch aussah).
»Irre!« Tim schien ebenfalls beeindruckt zu sein.
Mona nickte. »Und es sind sogar richtig viele Leute da.«
Ich war so auf die Bilder konzentriert gewesen, dass ich die
anderen Besucher noch gar nicht wahrgenommen hatte. Aber
Mona hatte völlig recht. Wir waren längst nicht die Ersten. Ich
atmete auf. Ehrlich gesagt hatte ich ein bisschen Angst gehabt,
dass kein Mensch kommen würde. Die meisten Menschen
interessieren sich nicht besonders für Kunst, glaube ich. Das
sagt Rudi auch immer. Darum verdienen Künstler so schlecht,
und Papa muss langweilige Koch- oder Schulbücher
illustrieren, anstatt seine schönen, großen Bilder zu malen. Ich
hatte schon überlegt, wie ich ihn trösten könnte, wenn
niemand außer uns aufkreuzte. Aber wie es aussah, war das
gar nicht nötig. Ungefähr ein Dutzend Erwachsene standen mit
Sektgläsern in der Hand in kleinen Grüppchen im Raum und
unterhielten sich leise. Im Hintergrund lief dezente Jazzmusik.
Die Männer trugen Anzüge und die Frauen hübsche Kleider.
Die meisten sahen ziemlich elegant aus, und ich war froh, dass
ich das Sommerkleid angezogen hatte. Gerade öffnete sich die
Tür, und es kam noch ein Schwung Besucher herein.
»Da sind Klaus und Nadine!« Mona winkte den beiden zu, als
sie Hand in Hand hinter den anderen Gästen die Galerie
betraten.
Nadine sah wie immer ausgesprochen gut aus. Ihre blonden
Haare fielen seidig glänzend über ihren Rücken, und sie war
unauffällig geschminkt. Wie bekam sie es nur hin, trotz des
Make-ups kein bisschen aufgedonnert zu wirken?
»Hallo, ihr drei!« Nadine lächelte Mona, Tim und mir zu.
Klaus nickte nur zur Begrüßung. Er ist kein Freund vieler
Worte.
Ich musterte ihn von oben bis unten. Er trug stinknormale
Jeans, Stiefel und seine Lieblingslederjacke. Nicht mal die
Haare hatte er sich gekämmt! Unter seinen Fingernägeln
befanden sich Reste von Schmieröl. Klaus hatte nach den
Sommerferien die Schule geschmissen und eine Lehre als
Automechaniker angefangen. Mama passte das überhaupt
nicht. Sie hatte mit Engelszungen auf ihn eingeredet, aber
Klaus war nicht von seinem Entschluss abzubringen gewesen.
Er ist nun mal ein riesengroßer Sturkopf. Seitdem tuckerte er
jeden Morgen um kurz vor sieben nach Dederstadt, um an
kaputten Autos herumzuschrauben, und wirkte dabei eigentlich
ganz zufrieden. Vielleicht hatte er tatsächlich seinen Traumjob
gefunden.
Wieder einmal fragte ich mich, was Nadine an meinem
großen Bruder fand. Er war weder besonders charmant noch
besonders gut aussehend. Man konnte sich nicht mal richtig
mit ihm unterhalten, weil er keine fünf Sätze am Tag redete.
Das war doch total öde! Aber vielleicht benahm er sich bei
Nadine ja ganz anders. Vielleicht quatschte er mit ihr
stundenlang über Gott und die Welt. Obwohl ich mir das
irgendwie nicht so richtig vorstellen konnte. Andererseits
konnte man nie wissen …
Plötzlich stürmte Melinda auf uns zu. Hab ich schon erzählt,
dass sie ziemlich klein und pummelig ist? Trotzdem zieht sie
mit Vorliebe knallenge Sachen an. So wie an diesem Tag. Sie
trug ein rotes Minikleid, das die Rettungsringe rund um ihre
Hüften gut zur Geltung brachte. Ihre blonden Haare hatte sie
hochgesteckt, was, wie ich zugeben musste, gar nicht so
schlecht aussah.
»Hello everybody!«, rief sie überschwänglich. »I’m so glad to
see you!«
Inzwischen hab ich mich halbwegs an Melindas komischen
australischen Akzent gewöhnt, auch wenn ich immer noch
nicht alles verstehe, was sie sagt. Zum Glück kann sie aber
auch ganz gut Deutsch.
»Wo steckt Rudi?«, fragte ich.
»Er ist hinten und bespricht noch etwas mit Jack, dem
Galeristen.«
Melinda deutete mit dem Daumen über ihre Schulter. Sie
hatte knallrot lackierte Fingernägel, in derselben Farbe wie ihr
Kleid. Ganz schön mutig!
»Ist er sehr aufgeregt?«, erkundigte sich Mona.
»Oh yes!« Melinda rollte vielsagend mit den Augen. »Er hat
letzte Nacht kaum geschlafen und bis vor fünf Minuten noch
die Bilder umgehängt, damit alles perfekt ist.«
»Gibt’s hier auch was zu trinken?«, fragte Klaus, der sich
nicht allzu sehr für Papas Bilder zu interessieren schien.
»Toll, dass du plötzlich in ganzen Sätzen sprechen kannst«,
bemerkte ich bissig.
Klaus warf mir nur einen abfälligen Blick zu. Kritik
interessiert ihn nämlich ebenfalls nicht.
»Sure!«
Melinda zeigte auf eine kleine Theke am anderen Ende des
Raums, wo Sekt und Orangensaft ausgeschenkt wurden. »Holt
euch ruhig was, I’m looking for Rudi.«
Klaus marschierte sofort auf die Bar zu, und Nadine folgte
ihm.
»Ich glaube, ich könnte auch einen Orangensaft vertragen«,
sagte Tim. »Soll ich euch was mitbringen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich schau mich lieber noch ein
bisschen um, bevor es losgeht.«
»Und ich suche Daniel«, sagte Mona.
3. Kapitel
Schlechte Nachrichten
Gut gelaunt kehrten wir nach Hause zurück. Gesa drehte das
Radio im VW-Bus voll auf, und wir sangen den Hit des
vergangenen Sommers laut mit. Nur Tim nicht, der alte
Spielverderber. Trotzdem war ich froh, dass er neben mir saß.
Meine Wut auf ihn hatte im Lauf des Abends ein wenig
nachgelassen. Ich werde zwar schnell wütend, aber meistens
rege ich mich auch schnell wieder ab. Vielleicht sollte ich
versuchen, das restliche Wochenende mit meinem Bruder
einfach zu genießen. Schließlich würden wir uns danach erst in
vier Wochen wiedersehen.
Als Gesa den VW-Bus auf den Hof lenkte, brannte in der
Küche noch Licht. Ich sprang aus dem Bus und lief ins Haus,
um Mama von Papas Erfolg zu erzählen. Wenn sie hörte, wie
toll die Leute seine Bilder gefunden hatten, würde sie in
Zukunft vielleicht etwas netter zu ihm sein.
Ich stürmte in die Küche und rief: »Rate mal, wie viele Bilder
Papa verkauft hat!«
Mama saß mit gebeugtem Rücken am Küchentisch, auf dem
jede Menge Papiere, Rechnungen, Kontoauszüge und anderes
Zeug lagen. Erst als sie aufblickte, merkte ich, dass sie weinte.
Sie wischte sich hastig mit der Hand über das Gesicht, aber ich
hatte es trotzdem gesehen.
Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Was ist denn?«, fragte ich
erschrocken. »Ist etwas passiert?«
Mein Herz klopfte wie verrückt. Ich musste an die Nacht
denken, in der Oma gestorben war. Als ich frühmorgens in die
Küche kam, hatte Mama auch am Tisch gesessen und geweint
wie jetzt. Und dann hatte sie mir gesagt, dass Oma tot war. Das
war die schlimmste Nachricht, die ich in meinem ganzen Leben
bekommen habe.
»Ist was mit Lili?«, fragte ich weiter, als Mama nicht
antwortete.
Mama schüttelte den Kopf.
Gesa kam herein. »Ach du je«, sagte sie nur, als sie Mama
sah. »Stress mit Thomas?«
Mama schüttelte wieder den Kopf. Mona und Tim blieben auf
der Türschwelle stehen und machten ratlose Gesichter.
»Jetzt sag doch endlich, was los ist!«, platzte ich heraus.
Mama seufzte. Sie sah uns alle der Reihe nach an, dann
verkündete sie langsam und deutlich: »Wir sind pleite.«
»Was?« Ich hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber nicht
damit.
»Pleite?«, fragte Mona. Sie sah genauso ratlos aus wie
vorher.
Gesa zog einen Stuhl an den Tisch und setzte sich. »Jetzt mal
ganz ruhig«, sagte sie. »Was soll das heißen, Lia?«
Mama lachte auf. Es klang ziemlich hysterisch. »Was das
heißen soll? Dass wir pleite sind! Wir haben keinen Cent mehr,
so sieht’s aus.«
»Aber … was ist mit den Einnahmen der letzten Monate?«,
fragte Gesa hilflos. »Da haben doch einige Kurse
stattgefunden.«
»Weg«, antwortete Mama knapp. »Alles weg. Aufgebraucht.
Ausgegeben. Futsch.« Sie schob Gesa die Kontoauszüge
hinüber. »Überzeug dich selbst, wenn du mir nicht glaubst.«
Gesa hob abwehrend die Hände. »Ich glaub dir ja! Aber bist
du sicher, dass wirklich gar nichts mehr da ist?«
Mama seufzte. »Hundertprozentig sicher. Ich hab den ganzen
Abend herumgerechnet. Das Gesundheitszentrum ist pleite.
Unser Geschäftskonto ist bis zum Anschlag überzogen. Und ich
habe keine Ahnung, wovon ich all diese Rechnungen bezahlen
soll.« Sie nahm einen Stapel Papiere vom Tisch und wedelte
damit herum.
»Die Bank könnte uns doch Geld geben, oder?«, schlug ich
vor. Banken horteten schließlich jede Menge Geld. Warum
sollte uns nicht eine von ihnen etwas leihen? Das hatte
schließlich schon einmal geklappt, als meine Eltern vor vielen
Jahren das Bauernhaus gekauft hatten.
Mama schüttelte müde den Kopf. »Die Bank gibt uns kein
Geld mehr. Wir sind nicht mehr kreditwürdig, weil wir keine
Einnahmen zu erwarten haben. Die letzten beiden Kurse
mussten wir absagen, weitere Veranstaltungen sind zurzeit
nicht geplant. Außerdem sind wir mit den Raten für unseren
Kredit im Rückstand. Der Kerl von der Bank macht sowieso
schon Druck. Wenn wir nicht bald zahlen, nehmen sie uns das
Haus weg!«
»Was?«, rief ich. »Das können sie doch nicht machen! Das
Haus gehört schließlich uns!«
»Schön wär’s«, erwiderte Mama. »Das Haus gehört leider
größtenteils der Bank, Emma. Weil sie uns das Geld dafür
geliehen hat und wir längst noch nicht alles zurückgezahlt
haben.«
Mir wurde flau im Magen. Das hatte ich nicht gewusst.
»Aber … aber … das geht doch nicht«, stammelte ich. »Heißt
das, wir müssen ausziehen?«
Bei dem Gedanken drehte sich mir beinahe der Magen um.
Ich wohnte hier, so lange ich denken konnte. Und jetzt sollten
wir plötzlich vertrieben werden? Das war einfach
unvorstellbar …
»Immer mit der Ruhe«, sagte Gesa. »So weit ist es ja noch
nicht. Irgendwie kriegen wir das schon hin.«
»Ach ja?« Mamas Stimme klang schrill. »Und wie, wenn ich
fragen darf?«
Gesa zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich noch nicht.
Aber es gibt für jedes Problem eine Lösung.«
»Du klingst schon fast wie Thomas!« Mama schlug mit der
flachen Hand auf die Tischplatte. Es knallte so laut, dass wir
alle zusammenzuckten. »Immer schön positiv denken! Das wird
schon wieder! Kommt Zeit, kommt Rat!« Sie schnaubte
verächtlich. »Ich kann’s echt nicht mehr hören.«
»Jetzt reg dich doch nicht so auf«, sagte Gesa. »So hab ich
das gar nicht gemeint …«
»Es ist mir egal, wie du das gemeint hast.« Mamas Lippen
waren schmal, wie immer, wenn ihr etwas gegen den Strich
ging. »Ich kann einfach nicht mehr. Es ist alles zu viel. Fakt ist:
Wir sind pleite, und ich habe keine Ahnung, wie lange wir noch
ein Dach über dem Kopf haben. Und jetzt gehe ich schlafen.«
Sie stand auf und marschierte an Mona und Tim vorbei aus der
Küche. Einfach so.
»Aber …«, begann ich, doch Gesa schüttelte den Kopf.
»Lass sie. Es war wirklich zu viel in letzter Zeit. Der ganze
Stress der vergangenen Monate, die Trauer um Gertrud, die
Geldprobleme …« Gesa seufzte. »Da kann man schon mal die
Nerven verlieren.«
»Müssen wir wirklich ausziehen?«, fragte Mona leise.
»Ich hoffe nicht.« Gesa erhob sich. »Lasst uns das morgen
besprechen, okay? Jetzt sollten wir ins Bett gehen. Es war ein
langer Tag.«
Tim nickte. Er war ziemlich blass um die Nase. »Gute
Nacht!« Er drehte sich um und verschwand in seinem Zimmer.
Gesa und Mona machten sich ebenfalls auf den Weg ins Bett.
Ich blieb noch einen Moment in der Küche sitzen und spürte
die nagende Angst, die sich in meinen Eingeweiden festgekrallt
hatte, seit ich die Verzweiflung in Mamas Blick gesehen hatte.
Ich fühlte mich so hilflos. Wir sollten aus unserem Zuhause
vertrieben werden, und ich konnte nichts dagegen tun.
Überhaupt nichts. Was würde aus uns werden, wenn wir das
Haus räumen mussten?
Ich stand auf, schlich zu Tims Zimmer und klopfte leise an
die Tür.
Tims Stimme ertönte. »Herein!«
Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit und schlüpfte hinein. Tim
saß am Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm seines
Computers. Früher hatten wir abends oft hier gesessen und
geredet. Ich hatte Tim alles erzählt, was mir durch den Kopf
ging, und ihn um Rat gefragt, wenn irgendetwas schiefgelaufen
war. Er war mein engster Vertrauter gewesen. Aber das war
lange her.
»Störe ich?«, fragte ich.
Tim schüttelte den Kopf. »Ich wollte eigentlich noch ein
bisschen an meinem Chemie-Referat arbeiten, aber ich kann
mich nicht konzentrieren.« Er drehte sich um und sah mich an.
»Ich wusste nicht, dass es so schlimm um das
Gesundheitszentrum steht.«
Ich ließ mich auf Tims Bett nieder. »Ich auch nicht.« Dabei
hätte ich es wissen müssen. Mama war schon seit Monaten
schlecht drauf. Sie hatte oft über die wenigen
Kursanmeldungen geklagt und sich Sorgen ums Geld gemacht.
Aber ich war so mit mir und meinen eigenen Problemen
beschäftigt gewesen, dass ich gar nicht richtig zugehört hatte.
»Vielleicht sollte ich zurückkommen«, sagte Tim leise.
Ich setzte mich mit einem Ruck auf. »Was?«
»Vielleicht sollte ich meinen Internatsplatz kündigen und
wieder nach Hause kommen.« Tims Stimme klang rau.
»Warum denn? Ich dachte, es gefällt dir im Internat.«
»Ja, klar.« Tim sah zu Boden. »Aber wir müssen jetzt
zusammenhalten und Mama unterstützen, sonst klappt sie noch
zusammen.«
Ich starrte ihn an. Gestern noch hätte ich bei dieser
Ankündigung einen Luftsprung vor Freude gemacht. Wie oft
hatte ich mir das heimlich gewünscht? Aber jetzt freute ich
mich kein bisschen. Tim sah so unglücklich aus, dass es mir ins
Herz schnitt. »Das würdest du wirklich tun?«, fragte ich
ungläubig.
Tim zuckte mit den Schultern »Ich kann euch doch jetzt nicht
alleinlassen, oder?« Seine Augen waren dunkel.
In diesem Moment wurde mir etwas klar: Ich wollte nicht,
dass mein Bruder unglücklich war. Ich wollte, dass er glücklich
war, auch wenn das hieß, ihn nur ein Mal im Monat zu sehen.
»Doch, das kannst du«, sagte ich fest. »Es hilft Mama kein
bisschen, wenn du dein Stipendium sausen lässt. Du fährst
morgen wieder zurück ins Internat und damit basta.«
»Meinst du wirklich?«, fragte Tim zögernd.
Ich nickte. »Auf jeden Fall.«
Tim sah mich ernst an. »Danke, Emma.«
»Keine Ursache«, murmelte ich und überlegte, ob ich gerade
einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Dies war die
einmalige Chance gewesen, Tim zurück nach Hause zu holen.
Und ich hatte sie nicht genutzt. Doch als ich die Erleichterung
sah, die sich auf Tims Gesicht abzeichnete, wusste ich, dass es
kein Fehler gewesen war.
Auf dem Weg nach oben warf ich noch einen schnellen Blick ins
Wohnzimmer. Der Anrufbeantworter blinkte mir aus der
Dunkelheit entgegen. Augenblicklich begann mein Herz,
schneller zu schlagen. Mit einem Satz war ich am Telefon und
drückte auf Wiedergabe. Zwei neue Nachrichten!
Der erste Anruf war von Pfarrer Pauli. Er bat Mama,
dringend zurückzurufen. Ich atmete geräuschvoll aus. Erst
jetzt fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten
hatte. Die Enttäuschung überkam mich so heftig, dass meine
Knie zitterten. Wahrscheinlich ging es mal wieder um die
Pflege von Omas Grab oder irgendetwas anderes Langweiliges.
Mit bebendem Finger drückte ich auf den Knopf, um den
zweiten Anruf abzuhören. Erst blieb alles still, dann begann
jemand zu sprechen.
»Äh … hallo … Emma? … Tja, du bist wohl gerade nicht da.
Schade. Ich wollte nur mal hören, wie’s dir so geht. Kannst
dich ja mal melden. Okay … also, bis dann.«
Mit einem Schlag war die Enttäuschung wie weggeblasen.
Stattdessen breitete sich ein riesengroßes Grinsen auf meinem
Gesicht aus. Die Stimme aus dem Lautsprecher hatte zwar
etwas blechern geklungen, aber ich hatte sie natürlich
trotzdem sofort erkannt. Felix, Felix, Felix, sang es in meinem
Kopf. Er hatte mich nicht vergessen!
Sofort griff ich nach dem Telefon und tippte seine
Handynummer. Aber sein Handy war ausgeschaltet. Verflixter
Mist! Ob Felix schon schlief? Auf dem Festnetz seiner Eltern
traute ich mich um diese Zeit nicht mehr anzurufen. Es war
zum Aus-der-Haut-Fahren! Warum telefonierten wir eigentlich
ständig aneinander vorbei? So viel Pech konnte man doch gar
nicht haben!
Seufzend ging ich nach oben. Mona lag schon im Bett und las
in einem ihrer geliebten Heftchenromane. Ich hätte mich jetzt
auch gerne irgendwie abgelenkt. Von meiner Sehnsucht nach
Felix. Und von der Angst, die immer noch an meinen
Eingeweiden nagte. Was, wenn wir unser Haus wirklich
verlieren würden? Klaus würde wahrscheinlich zu Nadine
ziehen. Das hatte er schon mal gemacht, allerdings war er
ziemlich schnell wieder rausgeflogen. Tim würde einfach
zurück ins Internat fahren, dort hatte er ja sein Zimmer, das er
sich mit Felix teilte. Gesa und Mona würden sich eine Wohnung
in Dederstadt suchen, so wie früher, und Thomas könnte
bestimmt zurück in seine WG. Dann wären nur noch Mama, Lili
und ich übrig. Wo sollten wir hin?
Mir gefiel Nummer vier am besten, aber ich war mir nicht
sicher, ob Mama die Idee gefallen würde. Bei den Punkten fünf
bis sieben wurde mir ziemlich mulmig zumute. Hoffentlich
würde es nicht so weit kommen …
Mona legte ihren Heftchenroman zur Seite und knipste das
Licht aus. »Gute Nacht, Emma«, sagte sie.
»Gute Nacht, Mona.«
Sie drehte sich ein paarmal hin und her, dann war sie
eingeschlafen. Ich lauschte ihrem ruhigen Atem und starrte in
die Dunkelheit. Ob Papa uns Geld leihen konnte? Immerhin
hatte er heute drei Bilder verkauft. Aber das Geld brauchte er
bestimmt für sich, schließlich verdiente er selbst nicht
besonders viel.
Was Oma wohl zu dem ganzen Schlamassel gesagt hätte?
Wenn sie noch leben würde, hätte ich ihr natürlich sofort alles
erzählt. Sie hätte bestimmt eine Lösung gewusst.
Ich kniff die Augen zusammen und dachte so fest an Oma,
wie ich nur konnte. Gleichzeitig sprach ich mit ihr. Natürlich
nicht laut, sondern nur in meinem Kopf.
Liebe Oma,
wenn du mich hörst, dann hilf uns bitte! Wir brauchen
dringend Geld, sonst fliegen wir aus unserem Haus. Kannst
du da nicht was machen? Einen Schatz in unserem Garten
verstecken, zum Beispiel? Den könnte ich dann heben. Oder
den Mann von der Bank dazu bringen, dass er noch eine
Weile auf sein Geld wartet. Das wäre ganz, ganz toll!
Liebe Grüße,
Emma
Als ich mich auf die Seite drehte und mir die Decke bis zum
Kinn zog, musste ich grinsen. Wer hätte gedacht, dass ich mal
Gedankengespräche mit meiner toten Oma führen würde?
Eigentlich war das ziemlich verrückt. Trotzdem fühlte ich mich
jetzt ein bisschen besser. Ich gähnte, schloss die Augen und
war im Handumdrehen eingeschlafen.
Am Sonntagmorgen stand ich wie immer als Erste auf. Das ist
ganz komisch bei mir: In der Woche komme ich morgens nicht
aus dem Bett – vor allem, wenn wir in der ersten Stunde Mathe
haben –, dafür bin ich am Wochenende immer superfrüh wach.
Ich zog mich schnell an, ging in die Küche und begrüßte
Puck, der mich begeistert wedelnd empfing. Ich gab ihm sein
Hundefutter und sah ihm beim Fressen zu. Puck hat morgens
immer einen Mordshunger. Dann ging ich zum Kühlschrank
und holte eine Packung Eier, Butter und Milch heraus. Beim
Aufwachen hatte ich eine tolle Idee gehabt. Früher hatte Oma
mir immer ihren berühmten Schokoladenkuchen gebacken,
wenn ich traurig war. Der schmeckte so lecker, dass man
einfach nicht genug davon bekommen konnte. Und er half
gegen alles: Liebeskummer, schlechte Noten, Lehrer- oder
Elternstress und sämtliche Probleme, die man sich nur
vorstellen kann.
Darum hatte ich beschlossen, einen Schokoladenkuchen für
Mama zu backen. Das würde sie bestimmt aufmuntern. Leider
kannte ich das genaue Rezept nicht. Aber das war egal. Ich
hatte Oma so oft beim Backen zugesehen, dass ich den Kuchen
auch ohne Rezept hinbekommen würde.
Ich holte eine Rührschüssel, Mehl und Zucker aus dem
Küchenschrank. Schwungvoll kippte ich die halbe Mehltüte in
die Schüssel. Es staubte so heftig, dass ich husten musste.
Dann folgten ein paar Eier, Zucker (nicht zu wenig!), ein
großes Stück Butter, etwas Milch und jede Menge Kakao. Mit
dem Mixer verrührte ich alles zu einer gleichmäßigen Masse.
Eigentlich gehörten auch noch Schokoraspeln in den Kuchen,
aber die hatten wir nicht da. Ich steckte meinen Finger in die
Schüssel und probierte die dunkle Masse. Schmeckte gar nicht
schlecht. Zufrieden füllte ich den Teig in die Kuchenform und
stellte sie in den Backofen. Die Temperatur drehte ich voll auf.
Je heißer der Ofen war, desto schneller wäre der Kuchen fertig.
Vielleicht konnte Mama schon zum Frühstück ein Stück
probieren! Das würde sie bestimmt zum Lächeln bringen …
Kaum hatte ich alles wieder notdürftig weggeräumt, klingelte
es an der Haustür. Puck lief sofort bellend in den Flur. Ich
folgte ihm etwas langsamer. Wer konnte das sein? So früh am
Sonntagmorgen bekamen wir normalerweise keinen Besuch.
Neugierig öffnete ich die Tür.
»Hallo, Emma!«
Pfarrer Pauli! Sein Gesicht war knallrot, und seine sonst
immer sorgfältig gekämmten Haare standen wirr vom Kopf ab.
Er war außer Atem, als wäre er den ganzen Weg vom Pfarrhaus
bis zu uns gerannt.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Ja, ja«, antwortete Pfarrer Pauli hastig. »Ich muss mit
deiner Mutter sprechen. Warum hat sie mich denn gestern
nicht mehr zurückgerufen?«
»Mama war im Stress«, erklärte ich. »Was gibt es denn so
Dringendes?«
Pfarrer Pauli wedelte mit mehreren Papieren vor meinem
Gesicht herum. »Es geht um Gertruds Testament!« Er rannte
an mir vorbei in die Küche.
Ich schloss kopfschüttelnd die Haustür. Aus dem
Schlafzimmer hörte ich Lili krähen. Na toll, jetzt hatte Pfarrer
Pauli sie aufgeweckt. Die Tür zum Schlafzimmer ging auf, und
Mama erschien auf der Türschwelle. Sie trug ihren
Morgenmantel über dem Nachthemd, hatte dunkle Ringe unter
den Augen und sah ziemlich müde aus. Auf ihrem Arm gluckste
Lili fröhlich vor sich hin. Meine kleine Schwester hat fast nie
schlechte Laune. Eigentlich nur, wenn sie hungrig ist oder eine
volle Windel hat.
»Welcher Idiot hat denn da gerade geklingelt?«, fragte Mama
gähnend.
»Äh – das war Pfarrer Pauli«, sagte ich.
Mama runzelte die Stirn. »Gerhard? Was wollte er denn?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, irgendwas mit
Omas Testament. Er ist in der Küche.«
»Auch das noch …«, murmelte Mama genervt. Sie drückte
mir Lili in die Arme. »Nimmst du sie mal kurz, bitte? Ich muss
nur schnell ins Bad.«
Lili jauchzte begeistert, als ich mit ihr in die Küche
galoppierte. Sie spielt gern Rennpferd. Fast so gern wie
Autorennen im Kinderwagen.
»Mama kommt gleich«, informierte ich Pfarrer Pauli, der
nervös auf und ab lief.
Ich holte ein Gläschen Haferbrei mit Obstmus aus dem
Kühlschrank, nahm einen Plastiklöffel aus der Schublade und
setzte mich mit Lili an den Tisch, um sie zu füttern. Das klappt
meistens richtig gut. Wenn Mama Lili füttert, macht sie
manchmal den Mund nicht auf oder schlägt Mama den Löffel
aus der Hand. Manchmal spuckt sie den Brei auch einfach
wieder aus. Das macht sie bei mir nie. Ich schneide immer
Grimassen, und das findet Lili so spannend, dass sie den Mund
ganz von selbst aufsperrt. Als wir gerade beim dritten Löffel
waren, kam Mama herein. Ihr Gesicht war blass. Immerhin
hatte sie sich die Haare gekämmt und ihren Morgenmantel
ordentlich zugebunden.
»Hallo, Gerhard!«, begrüßte sie Pfarrer Pauli. »Was gibt es
denn so früh am Morgen?«
Pfarrer Pauli stürmte auf sie zu. »Es geht um Gertruds
Testament. Das musst du dir ansehen! Du wirst es nicht
glauben! Ich konnte es selbst kaum glauben. Deshalb hab ich
dich gestern auch gleich angerufen. Leider hab ich dich nicht
erreicht …«
Mama fuhr sich über die Augen und unterdrückte ein
Gähnen. »Ich hatte zu tun, darum bin ich nicht ans Telefon
gegangen.« Sie nahm Pfarrer Pauli die Blätter aus der Hand.
»Aber ich verstehe immer noch nicht so ganz, was los ist. Was
ist denn mit dem Testament?«
»Hier steht, dass du Gertruds Sparbuch erben sollst.« Pfarrer
Pauli tippte auf eine Stelle in dem Dokument.
Mama zuckte mit den Schultern. »Na und? Da werden
höchstens ein paar Euro drauf sein. Mutti hatte doch nichts.«
»Das habe ich auch gedacht.« Pfarrer Pauli fuhr sich durch
seine zerzausten Haare. »Ich hatte in letzter Zeit so viel zu tun,
dass ich erst gestern dazu gekommen bin, Gertruds
Bankunterlagen durchzugehen. Dabei ist mir das Sparbuch in
die Hände gefallen. Bitte schön!« Er zog ein kleines blaues
Heft aus der Innentasche seines Jacketts und reichte es Mama.
»Vielen Dank.« Mama griff nach dem Sparbuch. »Aber du
hättest deshalb wirklich nicht extra vorbeikommen müssen.
Das hat schließlich keine Eile …« Sie wollte das Heft zur Seite
legen, doch Pfarrer Pauli hielt sie zurück.
»Sieh hinein«, sagte er nachdrücklich.
Mama seufzte. Sie fragte sich offenbar genau wie ich, was
das Ganze sollte. Während ich Lili einen Löffel Brei nach dem
anderen in den Mund schob, beobachtete ich gespannt, wie
Mama das Sparbuch aufschlug und es langsam durchblätterte.
Als sie auf der letzten Seite angekommen war, wurde sie noch
etwas blasser, als sie es ohnehin schon war.
»Aber … das … das ist ja …«, stammelte sie.
Pfarrer Pauli nickte. »Das ist ein ganz ordentliches
Sümmchen«, vollendete er den Satz.
Mama ließ das Sparbuch sinken. »Woher hatte Mutti so viel
Geld?«
»Das habe ich mich auch gefragt.« Pfarrer Pauli machte ein
nachdenkliches Gesicht. »Wahrscheinlich hat sie ihr Leben
lang immer wieder etwas zur Seite gelegt. Da kommt im Lauf
der Jahre ganz schön was zusammen.«
»Was ist denn los?«, fragte ich dazwischen.
»Oma hat uns Geld vererbt.« Ein Lächeln erschien auf
Mamas Gesicht. Sie schien erst jetzt so richtig zu verstehen,
was das bedeutete.
»Wie viel?«, wollte ich wissen.
»Genug.« Mama strahlte über das ganze Gesicht. »Genug,
um die ausstehenden Raten für den Kredit und alle fälligen
Rechnungen zu bezahlen.« Sie fiel Pfarrer Pauli um den Hals.
»Danke! Das ist ein Geschenk des Himmels!«
Pfarrer Pauli wurde rot und rückte verlegen seine Brille
gerade. »Es hätte Gertrud bestimmt gefreut, dass sie dich mit
ihrem Ersparten so glücklich machen kann.«
Mama wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie
umklammerte das Sparbuch, als wäre es ein letzter Gruß von
Oma. Und das war es ja auch irgendwie.
Trotzdem war ich mir nicht ganz sicher, ob ich alles richtig
verstanden hatte. »Heißt das, wir können jetzt doch hier
wohnen bleiben?«, vergewisserte ich mich.
Mama nickte. »Vorläufig ja. Die Erbschaft kommt genau zum
richtigen Zeitpunkt.«
Mir fiel ein riesengroßer Stein vom Herzen. Alle düsteren
Gedanken der letzten Nacht lösten sich in Luft auf. Wir
mussten nicht unter einer Brücke schlafen! Und auch nicht in
einem Heim für Obdachlose. Wir konnten hierbleiben, in
unserem Zuhause. Alle zusammen.
»Hast du das gehört?« Ich drückte Lili einen Kuss auf ihre
weiche Wange. »Es ist alles in Butter!« Aber Lili interessierte
sich nicht für Sparbücher und Erbschaften. Sie interessierte
sich nur für ihr Frühstück. Und es gefiel ihr gar nicht, dass ich
aufgehört hatte, sie zu füttern. Sie begann zu quengeln, und
ich kratzte schnell das Glas aus, um ihr einen letzten Löffel
Brei in den Mund zu schieben.
Plötzlich zog Mama die Nase kraus. »Hier riecht es irgendwie
seltsam …«
Ich schnupperte. »Der Kuchen!« Ich sprang so schnell auf,
dass Lili vor Schreck einen feuchten Rülpser ausstieß.
Aber Mama war noch schneller. Mit einem Satz war sie beim
Backofen, schaltete ihn aus und riss die Ofentür auf. Dichter,
dunkler Qualm strömte heraus. Mama begann sofort zu husten.
»Fenster auf!«, japste sie.
Pfarrer Pauli hastete zum Küchenfenster und öffnete es
sperrangelweit. Kühle Herbstluft wehte herein und vermischte
sich mit dem Brandgeruch.
»Mein schöner Schokoladenkuchen!«, jammerte ich.
Mama nahm zwei Topflappen und holte die heiße
Kuchenform vorsichtig aus dem Ofen. Der Kuchen war völlig
verkohlt und sah absolut ungenießbar aus. »Ich fürchte, den
können wir nur noch entsorgen.« Mama stellte die Kuchenform
zum Abkühlen auf die Fensterbank. »Was hast du dir nur dabei
gedacht, Emma?« Sie nahm mir Lili ab, die mit großen Augen
den stinkenden Qualm betrachtete, der von dem Kuchen
aufstieg.
Ich ließ den Kopf hängen. »Ich wollte dir eine Freude machen
und Omas Schokoladenkuchen für dich backen. Es sollte eine
Überraschung werden. Aber ich hatte das Rezept nicht, darum
hab ich den Ofen wohl etwas zu heiß eingestellt.«
»Allerdings.« Mama setzte Lili auf den Boden und nahm mich
in die Arme. »Trotzdem danke«, flüsterte sie und drückte mir
einen Kuss aufs Ohr.
Pfarrer Pauli warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich
muss mich jetzt leider verabschieden, sonst schaffe ich es nicht
mehr pünktlich zum Sonntagsgottesdienst.«
Mama brachte ihn zur Tür. Ich starrte währenddessen
gedankenverloren auf das Sparbuch. Es war etwas verblichen
und sah völlig unscheinbar aus. Ob es tatsächlich ein letzter
Gruß von Oma war?
Als Mama wieder in die Küche kam, wirkte sie längst nicht
mehr so müde wie vorhin. Sie lächelte mir zu. »Was hältst du
davon, wenn wir zur Feier des Tages ein richtig schönes
Sonntagsfrühstück für die ganze Familie zaubern? Die anderen
werden staunen, wenn sie von der Erbschaft hören.«
»Gute Idee!« Ich nickte eifrig. »Aber vorher muss ich schnell
noch mal weg. Dauert auch nicht lange.«
»Wo willst du denn hin?«, fragte Mama überrascht.
Ich war schon im Flur. »Zum Friedhof!«, rief ich über die
Schulter zurück. Hastig griff ich nach meiner Jacke und verließ
das Haus.
6. Kapitel
Okay, ich gebe zu, bei Punkt sieben und acht ist meine
Phantasie ein bisschen mit mir durchgegangen. Aber man wird
ja wohl noch träumen dürfen, oder?! Obwohl ich gar nicht
weiß, ob ich Felix wirklich heiraten möchte. Verheiratete
streiten sich ständig, und irgendwann lassen sie sich scheiden.
Und geschiedene Leute sind wirklich die Pest! Dann doch
lieber ein Kilo Schokolade …
E-Mail an Tim
Von: Emma.Laurenz@webmail.de
An: Tim2000 @ultranet.de
Betreff: TEST
Hallo, Tim,
ich wollte nur mal ausprobieren, ob das mit dem Mailen auch
klappt. Bist du gut im Internat angekommen? Hier gab es heute
Abend eine Krisensitzung. Schade, dass du nicht dabei warst.
Mama und Gesa möchten, dass du eine Homepage für das
Gesundheitszentrum einrichtest. Das kriegst du doch hin, oder?
Und stell dir vor, Gesa will vielleicht mit Mona ausziehen!! Weil
wir hier zu wenig Platz haben. Das geht gar nicht, finde ich. Falls
du eine Idee hast, wie wir das Platzproblem lösen können, sag
bitte Bescheid.
Alles Liebe,
Emma
»Baut doch einfach an«, schlug Klara vor und biss in ihr
Käsebrot. »Dann haben alle genug Platz.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist viel zu teuer.«
»Oder zieht in ein größeres Haus«, nuschelte Klara mit
vollem Mund.
»Das ist auch zu teuer, du Scherzkeks.« Ich verdrehte die
Augen. »Fällt dir nichts Besseres ein?«
Wir standen in der ersten großen Pause auf dem Schulhof,
und ich hatte Klara gerade erzählt, was am Wochenende bei
uns los gewesen war.
»Tut mir leid, ich bin noch nicht ganz wach«, entschuldigte
sie sich. »Wenigstens wird es bei euch nie langweilig. Ich
musste das ganze Wochenende bei diesem Fußballturnier
herumhängen, das hat mich echt genervt.«
»Ich dachte, du spielst gerne Fußball.«
Klaras Vater war Fußballtrainer aus Leidenschaft, und Klara
spielte in der Mädchenmannschaft des Dederstädter
Fußballvereins.
»Klar mag ich Fußball«, sagte Klara. »Aber am Samstag wäre
ich viel lieber bei Rudis Vernissage dabei gewesen.«
»Ja, da hast du echt was verpasst.« Ich seufzte. »Wenigstens
für Rudi läuft es im Moment richtig gut. Stell dir vor, er hat an
diesem Abend drei Bilder verkauft!«
»Wahnsinn!« Klara klang ehrlich beeindruckt. Dann
schüttelte sie den Kopf. »Eigentlich blöd, dass sich immer alles
ums Geld dreht.«
»Das kannst du laut sagen«, murmelte ich.
Es klingelte zur nächsten Stunde, und Klaras Miene hellte
sich auf. »Jetzt haben wir Sport!«, verkündete sie fröhlich.
»Hab ich dir übrigens schon erzählt, dass ich neue
Sportklamotten habe?«
»Nein«, sagte ich. »Was war denn mit den alten nicht in
Ordnung?«
Klara machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die waren
doch total abgenutzt und ausgeleiert. In den Sachen konnte
man echt nicht mehr herumlaufen.«
»Was du nicht sagst.« Während wir uns langsam auf den Weg
zur Sporthalle machten, grinste ich Klara zu. »Kann es sein,
dass es dir eher darum geht, einen gewissen Herrn Hummel zu
beeindrucken?«
Herr Hummel ist unser neuer Klassenlehrer. Wir haben ihn
erst seit diesem Sommer. Er unterrichtet Sport und Mathe und
ist noch ziemlich jung (für einen Lehrer zumindest). Und er
sieht ein bisschen aus wie der Hauptdarsteller in Monas
Lieblingssoap, weshalb alle Mädchen aus unserer Klasse in ihn
verschossen sind. Alle außer mir natürlich. Ich würde mich
NIEMALS in einen Mathelehrer vergucken. Mathelehrern
kann man nicht trauen. Wer freiwillig so ein stinklangweiliges
Fach unterrichtet, mit dem stimmt etwas nicht.
Klara wurde rot. Ich hatte offenbar richtig getippt. »Meinst
du, er mag pinkfarbene Gymnastikhosen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Er ist sowieso
zu alt für dich, wie oft soll ich dir das noch sagen?«
Jetzt verdrehte Klara die Augen. »Ich will ihn ja auch nicht
heiraten, okay? Aber du musst zugeben, dass er in seinen
Sportsachen ziemlich gut aussieht. Diese leichte
Ganzkörperbräune und die muskulösen Waden …«
Ich schüttelte mich. »Hör auf, sonst wird mir schlecht! Ich
kapier einfach nicht, wie man sich in einen MATHELEHRER
verknallen kann!«
Klara öffnete mit verträumtem Blick die Tür zur Sporthalle.
»Ich hätte das auch nie gedacht. Aber wenn ER eine Formel
vorliest, klingt das wie ein Gedicht.«
Dazu fiel mir nichts mehr ein. »Ganz ehrlich, Klara,
allmählich frage ich mich, ob du noch zurechnungsfähig bist.«
»Auf jeden Fall bin ich unfähig zu rechnen, wenn ER in der
Nähe ist«, gab Klara zurück. »Ich fürchte, das wird meiner
Mathenote ganz und gar nicht guttun. Aber vielleicht kann ich
mich dafür ja in Sport verbessern.«
Ich starrte sie an. Im ersten Moment war ich mir nicht sicher,
ob sie das ernst meinte. Doch dann grinste sie, und ich
prustete erleichtert los.
Als ich nach der Schule von der Bushaltestelle nach Hause lief,
hatte ich immer noch keine Lösung für unser Platzproblem.
Schade, dass man Häuser nicht einfach aufpusten kann wie
Luftballons. Das wäre echt praktisch! Aber so was hat natürlich
noch niemand erfunden. Stattdessen gibt es Matheunterricht,
Schnellkochtöpfe, elektrische Dosenöffner und tausend andere
Dinge, die kein Mensch braucht. Typisch!
Vielleicht sollte ich später Erfinderin werden und mir nur
wirklich nützliche Sachen ausdenken. Aufblasbare Häuser, zum
Beispiel. Oder eine Fernbeziehungsabschaffungsmaschine, mit
der man sich in Sekundenschnelle an jeden beliebigen Ort
beamen kann. Oder einen Herzschrittmacher, damit das Herz
nie aufhört zu schlagen …
Doch als Allererstes würde ich einen automatischen
Wolkenschieber erfinden, um dicke Regenwolken einfach
wegzuschieben. Da es den automatischen Wolkenschieber aber
leider noch nicht gab, konnte ich mir nur die Kapuze meiner
Jacke über den Kopf ziehen, als plötzlich dicke Tropfen vom
Himmel fielen. Auch das noch! Ich hasse es, so kurz vor der
Haustür nass zu werden. Missmutig stapfte ich über den Hof.
Als ich gerade meinen Hausschlüssel ins Schloss steckte,
fuhr ein Auto vor. Es war ein schwarzer Wagen mit dem
Aufdruck KURIER FLÜGELFUSS. Neben dem Schriftzug war
ein Fuß in einer Sandale mit zwei kleinen Engelsflügeln
abgebildet. Ich runzelte die Stirn. Ein Kurierdienst? Was
wollten die denn hier? Vielleicht hatte Thomas irgendetwas
bestellt …
Die Autotür öffnete sich, und ein junger, spindeldürrer Mann
sprang heraus. Er hielt ein kleines Päckchen in der Hand und
sprintete über den Hof, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Oder als hätte er Engelsflügel an den Füßen.
»Emma Laurenz?«, fragte er atemlos und blieb direkt vor mir
stehen.
Ich nickte verdutzt.
»Eine Eilsendung für dich.« Der Mann drückte mir das
Päckchen in die Hand. Es war nicht besonders schwer und
steckte in einer grauen Plastiktüte. »Bitte hier
unterschreiben.« Er zückte einen elektronischen Notizblock,
tippte irgendetwas ein und reichte ihn mir. Ich klemmte das
Päckchen unter den Arm und setzte meine Unterschrift auf das
Display. Sie wurde ziemlich krakelig, aber das schien den
Kurierfahrer nicht zu stören.
»Von wem ist das?«, fragte ich und betrachtete neugierig das
Päckchen.
»Keine Ahnung.« Der Mann befestigte den elektronischen
Notizblock wieder an seinem Gürtel. »Ich muss weiter.
Tschüss!« Er rannte zurück zu seinem Auto, sprang hinein, ließ
den Motor aufheulen und raste vom Hof. Offenbar waren einige
seiner Eilsendungen wirklich sehr eilig.
Der Regen wurde stärker, und ich ging schnell ins Haus. Im
Flur befühlte ich das Päckchen, konnte aber nicht erraten, was
sich darin befand. Oder war das Ganze ein Irrtum? Nein, auf
dem Adressaufkleber stand eindeutig und gut leserlich EMMA
LAURENZ. Neugierig riss ich das Päckchen auf. Eine
Postkarte flatterte mir entgegen. Außerdem zog ich eine kleine
Pappschachtel heraus. Ich öffnete zuerst die Schachtel – und
ließ sie vor Überraschung beinahe fallen.
»Das gibt’s doch nicht!«, flüsterte ich.
In der Schachtel lag ein todschickes, schwarz glänzendes
Smartphone. Ehrfürchtig nahm ich es heraus. Ich hatte keine
Ahnung, wie so ein Teil funktionierte. Meine Mutter hatte sich
bisher strikt geweigert, mir vor meinem dreizehnten
Geburtstag ein Handy zu kaufen. Ihrer Meinung nach waren
Handys nichts als neumodischer Schnickschnack, der eine
Menge Geld kostete und einen vom Wesentlichen ablenkte. Als
ich sie gefragt hatte, was denn das Wesentliche sei, antwortete
sie: »Menschliche Wärme und ein stabiles inneres
Gleichgewicht.«
Jetzt wisst ihr, wie meine Mutter tickt. Ganz ehrlich: Wie
viele Zwölfjährige kennt ihr, die kein Handy haben? Genau! In
meiner Klasse bin ich die Einzige. Wahrscheinlich auch an der
gesamten Schule und in ganz Dederstadt. Würde mich
jedenfalls nicht wundern.
Erst nachdem ich das Handy ausgiebig begutachtet und von
einer Hand in die andere genommen hatte (es war nicht
besonders schwer), las ich, was auf der Karte stand:
Liebe Emma,
hier kommt die angekündigte Überraschung – damit wir
miteinander sprechen können, wann immer wir wollen.
Auch wenn ich sehr gerne mit dir telefoniere, würde ich dich
noch lieber so bald wie möglich persönlich wiedersehen. Bis
zum nächsten Heimfahrwochenende dauert es leider noch viel
zu lange. Darum wäre es toll, wenn du mich hier im Internat
besuchen würdest. Wie wär’s gleich nächstes Wochenende?
Ich würde mich SEHR freuen!
Viele liebe Grüße,
Felix
Ich schnappte nach Luft. Vor lauter Aufregung hatte ich glatt
vergessen zu atmen. Mir war ein bisschen schwindelig, und
meine Knie fühlten sich weich an. Ob das mit dem
Sauerstoffmangel zusammenhing oder damit, dass ich so super-
ober-absolut glücklich war? Keine Ahnung, aber eigentlich war
das auch egal.
Auf wackeligen Beinen stakste ich in die Küche. Mama
kochte sich gerade einen Kaffee. Irgendetwas war anders als
sonst. Es dauerte eine Weile, bis ich darauf kam, was. Dann fiel
es mir wie Schuppen von den Augen: Der Küchentisch war
leer! Kein einziges Blatt Papier lag darauf. Keine dicken
Aktenordner, keine Kontoauszüge, keine Rechnungen.
»Musst du heute gar keine Buchhaltung machen?«, fragte
ich.
Mama schüttelte den Kopf und grinste vergnügt. »Fürs Erste
habe ich alles erledigt. Sämtliche Rechnungen sind bezahlt, die
ausstehenden Raten für den Kredit überwiesen, und unser
Konto ist auch wieder in den schwarzen Zahlen. Das ist ein
richtig gutes Gefühl!«
»Toll!« Ich lächelte Mama zu. So gut gelaunt hatte ich sie
lange nicht mehr erlebt. »Das hat sich Oma prima ausgedacht,
oder?«
Mama nickte. »Allerdings.« Ihr Blick wurde ein bisschen
traurig. Wahrscheinlich vermisste sie Oma genauso sehr wie
ich. Sie zeigte auf das Päckchen in meiner Hand. »Was ist denn
das?«
Stolz hielt ich ihr das Smartphone hin. »Von Felix! Schick,
oder?«
Mama nahm das Gerät in die Hand und betrachtete es mit
gerunzelter Stirn. »Das hat Felix dir geschenkt?«
Ich nickte. »Kam gerade per Eilsendung. Weil wir am
Wochenende ständig aneinander vorbeitelefoniert haben. Jetzt
können wir uns viel besser erreichen.«
Mama sah nicht besonders begeistert aus. »Also, ich weiß
nicht …«
»Darf ich es behalten?«, fragte ich. »Bitte! Ich wünsch mir
doch schon so lange ein Handy. Außerdem ist es ein
Geschenk!«
»Das ist es ja gerade.« Mama legte das Smartphone auf den
Tisch. »So ein Ding ist bestimmt furchtbar teuer, oder?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung …«
»Setz dich bitte mal kurz zu mir, Emma.« Mama nahm am
Küchentisch Platz, und ich setzte mich neben sie. »Ich finde es
nicht gut, dass Felix dir so teure Geschenke macht.« Sie sah
mich ernst an.
»Warum nicht?«
»Weil du dich nicht dafür revanchieren kannst.« Mama
seufzte. »Wir haben nun mal nicht so viel Geld wie Felix’
Familie. Du würdest in seiner Schuld stehen, verstehst du? Das
ist nicht gut für eine Beziehung. Beide Partner sollten
gleichberechtigt sein.«
Ich starrte zu Boden. Meine Freude über Felix’
Überraschungsgeschenk verpuffte wie ein Silvesterknaller.
»Heißt das, ich soll das Handy zurückgeben?«
Mama überlegte. »Das musst du entscheiden. Aber ich fände
es, ehrlich gesagt, die beste Lösung. Zumal du für so ein Handy
auch einen Vertrag brauchst, und der kostet jeden Monat
Geld.«
Mist! Daran hatte ich gar nicht gedacht. Während ich
darüber nachgrübelte, was ich jetzt tun sollte, begann das
Handy auf dem Tisch zu vibrieren und eine fröhliche Melodie
zu spielen. Mama und ich starrten es an, als hätte es sich
plötzlich in eine Schlange verwandelt, die uns mit ihrem Blick
hypnotisierte.
»Äh – ich geh mal ran«, sagte ich schließlich und griff nach
dem Smartphone. Auf dem Display leuchtete Unbekannte
Nummer auf.
»Hallo?«, fragte ich vorsichtig.
»Hallo, ich bin’s!«
»Felix!« Hätte ich mir eigentlich denken können! Wer sonst
sollte mich unter dieser Nummer anrufen?
»Dann scheint das Handy ja angekommen zu sein.«
Mama zog sich diskret ins Wohnzimmer zurück, was ich
ziemlich nett von ihr fand. Manchmal kann sie richtig feinfühlig
sein. (Aber leider nicht immer …)
»Ja, es wurde geliefert, als ich gerade von der Schule nach
Hause gekommen bin.« Ich kaute auf meiner Unterlippe
herum. Eigentlich wäre jetzt der richtige Moment gewesen, um
mich für das Handy zu bedanken. Aber wollte ich es wirklich
behalten? Oder war es vielleicht doch besser, es Felix
zurückzugeben? Mamas Worte gingen mir durch den Kopf. Sie
hatte ausgesprochen, was mich schon die ganze Zeit
beschäftigte. Dass Felix aus einer völlig anderen Welt kam und
wir eigentlich nichts gemeinsam hatten. Ich hätte ihm nie im
Leben ein Handy schenken können …
»Und?«, fragte Felix. »Wie gefällt es dir?«
Ich schluckte. »Gut.« Das war die Wahrheit. »Aber …«
»Aber du willst kein gebrauchtes Handy, stimmt’s?« Felix
klang plötzlich zerknirscht. »Das hatte ich schon befürchtet.
Zumal ja gerade das brandneue Modell herausgekommen ist,
das viel mehr Funktionen und eine längere Akkulaufzeit hat …«
»Moment mal«, unterbrach ich ihn. »Das Handy ist
gebraucht?«
»Ja, klar. Es ist Julias altes Handy. Sie hat letzte Woche zum
Geburtstag ein neues bekommen.«
»Das Handy hat Julia gehört?« Ich brauchte ein paar
Sekunden, um diese Neuigkeit zu verdauen.
»Genau. Deshalb wusste ich am Sonntag auch nicht, ob es
mit der Überraschung klappt. Ich musste erst Julia fragen, aber
sie hatte nichts dagegen.«
»Dann hast du also gar nichts dafür bezahlt?«
»Keinen Cent!«, bestätigte Felix fröhlich. »Du kannst sogar
Julias Vertrag übernehmen, der ist echt günstig. Mit Flatrate
und allem Drum und Dran.«
»Klingt gut!« Mir wurde plötzlich ganz leicht ums Herz.
Gegen ein gebrauchtes Handy würde Mama bestimmt nichts
einzuwenden haben. Ich konnte es ohne schlechtes Gewissen
behalten. Und den Handyvertrag würde ich von meinem
Taschengeld bezahlen. Dann blieb zwar kaum noch etwas
übrig, aber das war mir egal. »Danke!«, platzte ich heraus.
»Das ist ein tolles Geschenk! Ich hab mir schon ewig ein Handy
gewünscht.«
»Freut mich, dass es dir gefällt.« Ich hörte das Lächeln in
Felix’ Stimme. »Jetzt können wir immer telefonieren.«
»Genau.« Ich grinste. »Tag und Nacht.«
»Von mir aus jederzeit.« Felix lachte. »Und was ist mit
nächstem Wochenende?«, fragte er gespannt. »Kommst du?«
Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Mist,
das hab ich Mama noch gar nicht gefragt!« Vor lauter
Aufregung über das neue Handy hatte ich Felix’ Einladung
glatt vergessen. »Ich würde sehr gerne kommen. Ich rede mit
Mama und melde mich später noch mal, okay?«
»Prima!«, sagte Felix.
Wir verabschiedeten uns, und ich legte auf. Ich steckte mein
nigelnagelneues Handy ein und machte mich auf die Suche
nach Mama. Wenn sie einverstanden war, würde ich Felix am
Wochenende endlich wiedersehen. Allein bei dem Gedanken
daran begann mein Herz vor Freude in meiner Brust zu hüpfen
wie ein Gummiball, und in meinem Kopf war nur noch Platz für
ein einziges Wort:
FELIX,
FELIX,
FELIX !
9. Kapitel
Besuch im Märchenschloss
Ich grinste. So ein Angeber! Aber eigentlich war die Idee gar
nicht so schlecht. Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen
und stellte mir vor, wie Felix mich am Bahnhof abholen
würde …
Felix steht mit einer roten Rose am Bahnsteig und erwartet
mich sehnsüchtig. Kaum bin ich aus dem Zug gestiegen, kommt
er auf mich zu und umarmt mich. Er drückt mir einen Kuss auf
die Lippen und die Rose in die Hand. Von seinem Lächeln
bekomme ich weiche Knie. Dann beugt er sich zu mir und
flüstert in mein Ohr: »Du bist das tollste Mädchen, das ich je
gesehen habe …«
Mit einem Ruck erwachte ich. Die Bremsen des Zuges
quietschten, und der Schaffner sagte gerade etwas durch. Mir
fuhr der Schreck in die Glieder. Wie lange hatte ich
geschlafen? Hatte ich die richtige Station verpasst? Der Zug
wurde langsamer, und draußen tauchte ein altes
Bahnhofsgebäude auf. Auf den Schildern stand weiß auf blau:
MÜHLENBERG. Mist, ich musste aussteigen!
Hektisch sammelte ich meine Sachen zusammen und zerrte
die Reisetasche unter dem Sitz hervor. Der Zug war bereits
zum Stehen gekommen, als ich durch den Gang zur Tür rannte
und in letzter Sekunde hinaussprang. Puh, gerade noch
geschafft! Der Schaffner blies in seine Trillerpfeife, die Türen
schlossen sich, und der Zug rollte weiter. Ich stellte die
schwere Tasche ab und atmete erst einmal tief ein und aus.
Dann fuhr ich mir durch meine zerzausten Haare und sah mich
neugierig um.
Ich stand auf einem schmalen Bahnsteig mitten im
Nirgendwo. Abgesehen von einem kleinen, ziemlich schäbigen
Bahnhofsgebäude gab es hier nur Wiesen und Felder. Weiter
hinten begann ein Waldstück mit hoch aufragenden Fichten.
Die wenigen Leute, die ebenfalls aus dem Zug gestiegen
waren, waren in Windeseile verschwunden. Eine Frau wurde
von ihrem Mann abgeholt, ein älteres Paar stieg in ein
wartendes Taxi, und ein Mann mit schwarzem Rollkoffer ging
zu Fuß davon. Ich blieb als Einzige zurück und fühlte mich ein
wenig verloren.
Ich blickte von rechts nach links. Kein Felix weit und breit.
Wo steckte er? Hatte er etwa vergessen, dass er mich vom
Bahnhof abholen wollte? War ihm etwas
dazwischengekommen? Hatte er keine Lust mehr auf meinen
Besuch? Unsinn! Bestimmt würde er gleich völlig abgehetzt
angerannt kommen und sich tausendmal für seine Verspätung
entschuldigen. Ich musste nur warten. Und das tat ich auch.
Drei Minuten.
Fünf Minuten.
Sieben.
Acht …
Nach zehn Minuten war Felix immer noch nicht da. Ich war
inzwischen so nervös, dass ich kaum still stehen konnte. Was
hatte das zu bedeuten? Und was sollte ich jetzt tun? Weiter
warten? Zu Fuß zum Internat gehen? Mit dem nächsten Zug
zurück nach Hause fahren?
Da fiel mir ein, dass ich ja jetzt ein Handy besaß! Erleichtert
stöhnte ich auf. Ich konnte Felix einfach anrufen! Warum war
ich nicht gleich darauf gekommen? Wahrscheinlich hatte ich
mich einfach noch nicht richtig daran gewöhnt, stolze
Handybesitzerin zu sein … Doch gerade als ich Felix’ Nummer
aufrufen wollte, bog eine Gestalt in Schuluniform um die Ecke.
Felix!, dachte ich im ersten Moment. Aber er war es nicht.
»Tut mir leid, bin etwas zu spät«, keuchte Tim.
Ich blinzelte verwirrt. »Was machst du denn hier?«
»Dich abholen, was sonst?« Tims Atmung beruhigte sich
allmählich wieder. »Wartest du schon lange?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Geht so. Wo ist Felix? Warum
holt er mich nicht ab?«
»Ihm ist etwas dazwischengekommen«, erklärte Tim. »Sein
Tutor hat ihn kurzfristig zu einem individuellen
Zielsetzungsgespräch gebeten. Es geht um sein Lernprofil und
die Wahl seiner Gilden.«
»Aha.« Ich verstand nur Bahnhof. Der rosarote Traum von
Felix mit einer Rose in der Hand zerplatzte lautlos in meinem
Kopf. Mein Herz schrumpfte ein bisschen. Nicht viel, nur ein
ganz klein wenig. Niemand außer mir würde es merken.
»Sei nicht sauer.« Tim sah mich aufmerksam an, und ich
senkte den Blick. Mein Zwillingsbruder kannte mich so gut wie
ich mich selbst. Manchmal sogar besser. »Felix freut sich
schon die ganze Woche auf dich.«
»Aha.« Das tröstete mich nicht wirklich. Aber ich riss mich
zusammen und griff nach meiner Reisetasche. »Gehen wir?«
Vom Bahnhof zum Internat lief man ungefähr zwanzig
Minuten. Es war ein hübscher Weg, der erst an der
gewundenen Landstraße entlangführte und dann über einen
Schotterweg zum Schulgelände. Ich kannte das
Internatsgebäude bisher nur von Fotos aus der Schulbroschüre
und riss überrascht Mund und Augen auf, als es vor uns
auftauchte.
»Das ist ja riesig!«, stellte ich beeindruckt fest. »In der
Broschüre wirkt es irgendwie kleiner.«
Das Internat befand sich in einer alten Wassermühle. Neben
dem Haupthaus plätscherte ein Bach, der früher
wahrscheinlich das Mühlrad bewegt hatte. Heute drehte es
sich nicht mehr, sondern war nur noch zur Zierde da.
Tim zuckte mit den Schultern. »Wenn man eine Weile hier
ist, wird es einem trotzdem irgendwann zu eng.«
Ich verstand nicht so richtig, was er damit meinte. Aber ehe
ich nachfragen konnte, redete Tim schon weiter.
»Im Haupthaus sind die Klassenzimmer untergebracht,
außerdem der Speisesaal, die Küche und der große
Aufenthaltsraum«, erklärte er. »In den Nebengebäuden
wohnen die Internatsschüler in ihren Heimfamilien. Und in der
ehemaligen Scheune befinden sich die AG-Räume.«
Wir hatten das Internatsgelände erreicht, und ich sah mich
neugierig um. Schmale Wege führten von einem Gebäude zum
anderen, dazwischen lagen ordentlich gemähte Wiesen, auf
denen knorrige Apfelbäume wuchsen. Hier konnte man im
Sommer bestimmt prima im Gras liegen und ein Buch lesen. Es
wirkte alles sehr idyllisch. Auf den Wegen liefen Schüler hin
und her, die alle die Schulkleidung des Internats trugen. Sie
erinnerten mich ein bisschen an Soldaten in einheitlicher
Uniform. Obwohl mich niemand offen anstarrte, hatte ich das
Gefühl, in meinen normalen Alltagsklamotten total aufzufallen.
Zumindest konnte jeder sehen, dass ich nur zu Besuch war und
eigentlich nicht hierhin gehörte.
»Müsst ihr die Schuluniform eigentlich immer tragen?«,
fragte ich.
»Ja, das ist Vorschrift«, antwortete Tim. »Am Anfang kam mir
das auch seltsam vor, aber man gewöhnt sich dran.« Eine helle
Glocke begann zu läuten. Ihr Ton war so durchdringend, dass
er bestimmt auf dem ganzen Gelände zu hören war. »Das ist
die Glocke fürs Abendessen. Komm, wir gehen am besten
direkt zum Speisesaal. Vielleicht ist Felix ja auch schon da.
Dein Gepäck kannst du später wegbringen.«
Ich folgte Tim zum Hauptgebäude, einem großen
Fachwerkhaus mit zahlreichen Sprossenfenstern und einer
dunkelgrün gestrichenen Eingangstür. Die Tür stand offen, und
aus allen Richtungen strömten Schüler hinein. Wir folgten
ihnen ins Haus, durch eine große Eingangshalle und über einen
langen Flur. Der Speisesaal war nicht schwer zu finden. Schon
von Weitem waren die Stimmen vieler Menschen zu hören.
Trotzdem blieb ich überrascht stehen, als wir den Raum
betraten.
»Du meine Güte!«, platzte ich heraus. »Hier ist ja was los!«
Tim grinste. »Das hab ich an meinem ersten Tag im Internat
auch gedacht. Alle Schüler und Lehrer essen zusammen, das
soll angeblich die Gemeinschaft stärken.« Er zuckte mit den
Schultern, als wäre er nicht ganz sicher, ob das wirklich
stimmte. »Unsere Heimfamilie sitzt dahinten.«
Während ich Tim durch den Saal folgte, versuchte ich, die
vielen Eindrücke, die auf mich einstürmten, in meinem Kopf zu
sortieren. Der Speisesaal war riesig. Er hatte hohe Fenster,
durch die man auf das weitläufige Internatsgelände blicken
konnte. Auf der Rückseite waren die Essensausgabe und der
Zugang zur Küche. Lange Tische standen nebeneinander, und
die Internatsbewohner setzten sich gerade lachend und
schwatzend auf ihre Stühle. Alle schienen genau zu wissen, an
welchen Tisch sie gehörten, offenbar gab es feste Plätze. Ältere
und jüngere Schüler saßen bunt durcheinander. Dazwischen
versuchten einige Erwachsene, für Ruhe zu sorgen, was aber
ziemlich aussichtslos war. Der Raum war erfüllt vom
Stimmengewirr und Lachen der Schüler, dem Quietschen von
Turnschuhsohlen und dem Scharren der Stuhlbeine auf dem
glänzenden Holzfußboden, trappelnden Schritten und dem
Klappern von Geschirr. Es war so laut, dass ich mir am liebsten
die Ohren zugehalten hätte.
»Das ist unser Tisch.« Tim blieb neben einem langen Tisch
direkt neben dem Fenster stehen. »Und das ist Bodo, unser
Heimfamilienbetreuer.«
Ein schlaksiger Typ, den ich eher für einen älteren Schüler
gehalten hätte, unterhielt sich gerade mit einem
dunkelhaarigen Mädchen. Als er Tim und mich sah, stand er
auf und kam auf uns zu.
»Hallo!«, begrüßte er mich. »Du musst Emma sein, Tims
Schwester.« Ich nickte. »Ich bin Bodo.« Er lächelte mir zu.
»Herzlich willkommen im Internat Mühlenberg.«
»Danke!« Ich versuchte, ganz locker zu wirken, aber so
richtig gelang mir das nicht. Ich fühlte mich ziemlich fehl am
Platz mit meinen normalen Klamotten, den zerzausten Haaren
und der Reisetasche in der Hand.
»Schön, dass du deinen Bruder besuchst«, sagte Bodo. »Fühl
dich bei uns wie zu Hause. Und wenn irgendein Problem
auftauchen sollte, kannst du dich gerne jederzeit an mich
wenden.«
»Okay«, sagte ich leicht verdutzt. Wie kam dieser Bodo
darauf, dass ich Tim besuchte? Natürlich war ich auch
seinetwegen hier, aber eigentlich hatte mich doch Felix
eingeladen. Apropos – wo steckte er eigentlich? Ich konnte ihn
nirgendwo entdecken.
»Wir haben dich bei Bodo als meine Schwester angemeldet«,
raunte Tim mir zu, während wir uns ans andere Ende des
Tisches setzten. »Verwandtenbesuch wird leichter genehmigt
als der Besuch von Freunden.«
»Aha.« Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte.
Musste ich jetzt etwa die ganze Zeit so tun, als ob ich gar nicht
mit Felix zusammen wäre? Dann hätte ich ja genauso gut zu
Hause bleiben können!
Felix erschien in letzter Sekunde, als das Küchenpersonal
gerade die dampfenden Schüsseln mit dem Essen auf den
Tischen verteilte. Es gab Kartoffelpüree, Würstchen, Erbsen-
und Möhrengemüse und Salat.
»’tschuldigung, ich hatte noch ein Gespräch mit meinem
Tutor«, sagte er zu Bodo, während sein Blick unruhig über den
Tisch glitt. Als er mich sah, leuchtete sein Gesicht auf. »Hallo,
Emma!«
Felix’ Lächeln haute mich beinahe um. Das geht mir jedes
Mal so. Ich versank in seinen meergrauen Augen. Am liebsten
wäre ich aufgesprungen und hätte mich in seine Arme
geworfen. Aber ich blieb wie festgeklebt auf meinem Stuhl
sitzen. Felix nahm weiter vorne am Tisch Platz. Er fügte sich in
seiner Schuluniform perfekt zwischen den anderen Schülern
ein. Ich schluckte. War das alles? Ein einfaches Hallo, Emma?
Kein Schön, dass du da bist, kein Ich hab dich vermisst, kein
Du bist das tollste Mädchen, das ich je gesehen habe … Keine
Rose, keine Umarmung, kein Kuss. Mein Traum von unserer
romantischen Begrüßungsszene kam mir plötzlich total
lächerlich vor. Mein Herz schrumpfte noch etwas mehr
zusammen. Wenn das so weiterging, war es irgendwann klein
wie eine Rosine.
Willkommen im echten Leben, Emma!
Als die Schüsseln herumgereicht wurden, nahm ich mir
automatisch etwas Kartoffelpüree, Gemüse und Salat. Dabei
hatte ich eigentlich überhaupt keinen Hunger. Der Appetit war
mir vergangen. Mit gesenktem Kopf stocherte ich in meinem
Salat herum, während sich um mich herum alle lebhaft
unterhielten. Mit mir sprach niemand. Als wäre ich unsichtbar.
Aber im Grunde war ich ganz froh darüber. Meine Kehle war
wie zugeschnürt. Wenn ich den Mund aufgemacht hätte, hätte
ich bestimmt sofort losgeheult.
Tim sah mich prüfend von der Seite an. »Alles klar?«, fragte
er leise.
Ich nickte und schob mir schnell eine Gabel Kartoffelpüree in
den Mund.
Nach dem Essen gingen Tim und ich hinaus, damit ich endlich
meine Reisetasche wegbringen konnte.
»Du wohnst bei uns in der alten Schmiede«, sagte Tim. »Da
gibt es ein kleines Zimmer extra für Gäste.«
»Okay«, murmelte ich. Dabei wäre ich am liebsten direkt
wieder nach Hause gefahren. Dieses Internat war einfach nicht
meine Welt.
»Emma, warte!« Felix’ Stimme ertönte hinter uns.
Ich blieb stehen und drehte mich um. Felix rannte auf uns zu.
Direkt vor mir stoppte er.
»Tut mir leid, dass ich nicht zum Bahnhof kommen konnte.«
Er fuhr sich durch seine hellblonden, strubbeligen Haare. Sie
waren ein ganzes Stück gewachsen, seit wir uns das letzte Mal
gesehen hatten. »Mein Tutor hat mir kurzfristig noch einen
Gesprächstermin reingedrückt. Ich war total sauer. Ich hatte
mich doch schon so darauf gefreut, dich abzuholen!« Er nahm
meine Hand. »Aber jetzt bist du ja da.«
»Ja«, sagte ich. »Jetzt bin ich da.«
Felix’ Hand fühlte sich warm und vertraut an. Vorhin im
Speisesaal war er mir richtig fremd vorgekommen, aber unsere
Hände erkannten einander sofort wieder. Meine Finger
verschränkten sich mit seinen, und eine angenehme Wärme
durchflutete mich. Doch plötzlich fiel mir etwas ein, und ich
zog die Hand zurück.
»Was ist?« Felix runzelte die Stirn. »Bist du sauer, weil ich es
nicht zum Bahnhof geschafft habe?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber dürfen die anderen
denn wissen, dass wir zusammen sind?«
Felix griff nach meiner Hand und drückte sie ganz fest. »Das
darf jeder wissen! Keine Sorge, wir müssen uns nicht
verstecken.«
»Und dieser Bodo?« Ich schaute mich besorgt um, aber der
Betreuer war nirgendwo zu sehen.
»Bodo ist in Ordnung«, beruhigte mich Felix. »Und es ist
schließlich nicht verboten, seine Freundin einzuladen. Hier im
Internat gibt es auch einige Pärchen, da drücken die Lehrer
meistens ein Auge zu. Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen.
Besuche von Verwandten werden einfach schneller
genehmigt.«
»Ach so.« Mein verschrumpeltes Herz sog sich mit der
Wärme voll, die in Felix’ Blick lag, und wurde wieder prall und
rund in meiner Brust. Wie auf Wolken lief ich neben Felix her
zur alten Schmiede. Das kleine Fachwerkhaus hatte ein spitzes
Dach, schiefe Wände und Blumenkästen vor den Fenstern. Es
lag am Rand des Internatsgeländes direkt neben dem Bach.
Tim hielt uns die Tür auf, dann zog er sich diskret zurück.
»Hier ist das Gästezimmer.« Felix führte mich gleich in das
erste Zimmer, das vom Flur abging.
Ich stellte die Reisetasche ab. »Sieht nett aus.«
Der Raum war nicht besonders groß, aber gemütlich
eingerichtet mit einem frisch bezogenen Bett, einer kleinen
Kommode, einem bunten Teppich und weißen Gardinen.
»Warte mal kurz, bin gleich zurück.« Felix verschwand. Nach
wenigen Sekunden tauchte er wieder auf. Mit hinter dem
Rücken verschränkten Händen stellte er sich vor mich hin.
»Schön, dass du da bist, Emma.« Er lächelte so lieb, dass ich
weiche Knie bekam. »Ich hab dich vermisst, weißt du?« Er zog
eine rote Rose hinter seinem Rücken hervor und überreichte
sie mir. »Für das tollste Mädchen, das ich je gesehen habe!«
Ich schluckte. Meine Kehle wurde eng. Aber diesmal nicht
vor Enttäuschung, sondern vor Freude. Es war, als wäre ich
direkt in meinen Traum hineinkatapultiert worden. Wir standen
zwar nicht am Bahnsteig, sondern im Gästezimmer der alten
Schmiede, aber sonst war alles genau so, wie ich es mir
vorgestellt hatte. Unglaublich! Hatte Felix vielleicht denselben
Traum gehabt?
»Danke«, murmelte ich verlegen und schnupperte an der
Rose. Ihr süßer Duft passte perfekt zu der romantischen
Stimmung, die Felix und mich jetzt einhüllte wie ein
kuscheliges Tuch.
»Ich hab mich so auf dich gefreut.« Felix kam einen Schritt
näher, und ich konnte das Zitronenshampoo riechen, mit dem
er sich die Haare wusch. Er beugte sich zu mir und drückte mir
einen sanften Kuss auf die Lippen.
Ich schloss die Augen und wünschte, die Zeit würde stehen
bleiben. Leider tat sie es nicht.
»Huch, ich glaube, wir stören!«, rief eine helle Stimme, und
jemand kicherte.
Die romantische Stimmung zerplatzte wie eine Seifenblase.
Felix und ich fuhren auseinander. In der Tür standen zwei
Mädchen, eine Blonde und eine Dunkelhaarige.
»Hallo, Emma!« Das Mädchen mit den blonden Haaren
lächelte mir zu, und einen Wimpernschlag später erkannte ich
sie.
»Julia!« Verlegen fuhr ich mir durch meine zerzausten Haare.
Felix’ Schwester ist ein Jahr jünger als er und geht auch aufs
Internat Mühlenberg. Außerdem sieht sie aus wie ein Model.
Alles an ihr ist perfekt: ihre Figur, ihre Haut, ihre
wohlgeformte Nase, ihr fein geschwungener Mund, sogar ihr
Lächeln. Trotzdem ist sie sehr nett und kein bisschen
eingebildet.
»Toll, dass du hier bist!« Julia kam auf mich zu und umarmte
mich.
Ihre Freundin, die gerade so albern gekichert hatte, grinste.
»Kommen wir etwa ungelegen?« Sie warf ihre langen
dunkelbraunen Haare über die Schulter zurück.
Ich merkte, wie ich rot wurde, und ärgerte mich darüber. Es
war nichts Schlimmes, seinen Freund zu küssen – schon gar
nicht, wenn man sich so lange nicht gesehen hatte. Warum war
es mir dann trotzdem peinlich, dass die beiden uns überrascht
hatten?
»Das ist Cornelia«, stellte Julia vor. »Wir teilen uns ein
Zimmer.«
»Du kannst mich Nelli nennen«, sagte Cornelia großzügig. Es
klang, als wäre das eine große Ehre.
»Wohnt ihr auch in der Schmiede?«, fragte ich.
Julia schüttelte den Kopf. »Wir wohnen im Kornspeicher, das
ist auf der anderen Seite des Geländes.«
»Aha.« Mehr fiel mir nicht ein.
»Kommt ihr nachher zum Kinoabend?«, fragte Nelli.
Felix zuckte mit den Schultern. »Ich weiß noch nicht.« Er sah
zu mir. »Was meinst du?«
»Eigentlich würde ich lieber …«, begann ich, aber Nelli
unterbrach mich.
»Heute wird der neue Film mit Robert Pattinson gezeigt. Den
müsst ihr euch einfach ansehen! Magst du Robert Pattinson?«
Nelli warf mir einen fragenden Blick.
»Na ja, geht so …«, murmelte ich.
»Prima, dann ist die Sache geritzt!« Nelli strahlte Felix an,
drehte sich um und verschwand auf den Flur.
Julia rollte hinter Nellis Rücken mit den Augen und raunte
mir zu: »Nelli ist der größte Robert-Pattinson-Fan von ganz
Mühlenberg. Sie freut sich schon seit Wochen auf den Film.
Also dann, bis nachher.« Sie folgte ihrer Mitbewohnerin nach
draußen.
Ich sah ihr kopfschüttelnd nach. »Wie hält deine Schwester
es bloß mit dieser Nelli aus? Ich würde sterben, wenn ich mir
mit ihr ein Zimmer teilen müsste.«
Felix lächelte entschuldigend. »Nelli kann zwar manchmal
etwas anstrengend sein, aber eigentlich ist sie ganz nett.«
»Wenn du meinst …« Ich runzelte die Stirn. Es gefiel mir
nicht, dass Felix diese Nervensäge verteidigte.
»Hast du überhaupt Lust auf Kino?«, fragte Felix. »Wenn du
lieber etwas anderes machen willst, ist das auch okay.«
Ich überlegte kurz. Eigentlich wäre ich ja gerne eine Weile
mit Felix allein gewesen. Bei der Filmvorführung war
wahrscheinlich das halbe Internat dabei. Andererseits wollte
ich gerne Felix’ Freunde kennenlernen. Und was würden die
anderen denken, wenn wir uns den ganzen Abend in Felix’
Zimmer verkrochen? Wahrscheinlich hielten sie mich dann für
arrogant oder – noch schlimmer – glaubten, ich hätte Angst vor
ihnen. Ich straffte die Schultern. »Kein Problem. Ich wollte
schon immer einen Film mit Robert Pattinson sehen. Wann
geht’s los?«
Felix sah auf die Uhr. »In einer Viertelstunde. Ich zieh mich
nur schnell um, dann hole ich dich ab, okay?«
Ich nickte. »Perfekt!«
12. Kapitel
Etwas später standen wir wieder vor der alten Schmiede.
»Tschüss dann«, sagte ich, bevor Nelli auf die Idee kam, uns
ins Haus zu folgen.
»Bis später.« Felix nickte ihr zu.
»Seid ihr heute Abend bei der Party dabei?«, fragte Nelli.
Wenn ich ein Pflaster dabeigehabt hätte, hätte ich es ihr jetzt
auf den Mund geklebt. Diese Nelli entwickelte sich zu einer
waschechten Klette!
»Weiß noch nicht.« Felix zuckte mit den Schultern.
»Wird bestimmt super!« Nelli vergrub die Hände in den
Hosentaschen. »Das solltet ihr euch nicht entgehen lassen.«
Ich hatte zwar keine Ahnung, von was für einer Party sie
sprach, aber wenn sie auch dabei war, hatte ich bestimmt
keine Lust darauf.
»Ich bin nicht so in Partystimmung«, behauptete ich. »Du
wirst wohl ohne uns auskommen müssen.« Ich griff nach Felix’
Hand. »Komm, lass uns reingehen.«
Ich zog Felix ins Haus, ehe Nelli uns weiter nerven konnte.
Ich war froh, als die Tür hinter uns zufiel. Wir gingen in Felix’
Zimmer, und ich ließ mich auf sein Bett fallen. Tim war noch
bei seiner Schach-AG, sodass wir wenigstens hier ungestört
waren.
»Puh!«, stöhnte ich. »Ich dachte schon, die lässt uns gar
nicht mehr in Ruhe.«
»Nelli wollte bestimmt nur nett sein.« Felix setzte sich neben
mich. »Auch wenn ihr Verhalten vielleicht ein bisschen
aufdringlich gewirkt hat.«
»Ein bisschen?« Ich starrte ihn ungläubig an. »Das war der
reinste Terror!«
Felix seufzte. »Du musst versuchen, sie zu verstehen. Es
ist … na ja …« Er zögerte und wurde rot. »Es ist das erste Mal,
dass mich ein Mädchen im Internat besucht. Vielleicht ist sie
ein wenig eifersüchtig.«
»Meinst du?« Ich runzelte die Stirn. Auf den Gedanken war
ich noch gar nicht gekommen. Aber eine andere Frage ging mir
schon die ganze Zeit im Kopf herum. »Warum hast du mir
eigentlich nie von ihr erzählt? Nelli scheint ja eine ziemlich
gute Freundin von dir zu sein.«
»Das ist sie auch. Wir kennen uns schon ewig und sind
zigmal zusammen in Urlaub gefahren.« Felix senkte den Blick.
»Aber in letzter Zeit haben wir uns irgendwie
auseinandergelebt. Wahrscheinlich hab ich sie deshalb nicht
erwähnt. Außerdem gibt es wirklich wichtigere Dinge, über die
wir reden können, als ausgerechnet Nelli.« Er drückte mir
einen Kuss aufs Ohr. »Zum Beispiel darüber, wie froh ich bin,
dass du hier bist.«
Ich kicherte. »Das kitzelt!«
»Heute Nachmittag hab ich eine Überraschung für dich«,
sagte Felix geheimnisvoll.
»Ehrlich? Was denn?«
»Wie wär’s mit einer Radtour mit Picknick?« Felix sah mich
erwartungsvoll an. »Ich hab schon alles vorbereitet.«
»Eine tolle Idee!« Ich lächelte ihm zu. »Ich liebe Picknicks.«
»Ich weiß«, sagte Felix.
Ich dachte an unsere erste gemeinsame Radtour in
Wattenbüll. Wir waren zum alten Leuchtturm gefahren, und
dort hatte Felix mich mit einem supertollen Picknick
überrascht. An diesem Nachmittag war mir klar geworden,
dass ich mich richtig in ihn verliebt hatte.
»Glaubst du, wir können Nelli diesmal abhängen?«, fragte ich
halb im Scherz.
Felix grinste. »Dafür werde ich persönlich sorgen! Wir
schleichen uns einfach in einem unbeobachteten Moment aus
dem Haus. Wenn wir immer schön in Deckung bleiben, dürfte
es kein Problem sein, die feindlichen Linien zu überwinden.«
Ich musste lachen. »Ich sehe schon, das wird ein
superromantischer Nachmittag!«
Vielleicht wäre es wirklich ein romantischer Ausflug geworden,
wenn das Wetter mitgespielt hätte. Während des Mittagessens
zogen dunkle Wolken auf, und es begann genau in dem
Moment zu regnen, als wir auf die Fahrräder stiegen.
»Mist!« Felix warf einen ärgerlichen Blick zum Himmel.
»Sieht nicht so aus, als würde es demnächst wieder aufhören.«
»Was soll’s.« Ich zuckte mit den Schultern. »Von dem
bisschen Regen lassen wir uns doch nicht die Laune
verderben.«
»Stimmt.« Felix nahm den Picknickkorb vom Gepäckträger.
»Dann picknicken wir eben drinnen.«
Wir stellten die Fahrräder zurück, rannten durch den Regen
zur alten Schmiede und verzogen uns in Felix’ Zimmer. Felix
breitete eine Wolldecke auf dem Boden aus und drapierte das
Essen darauf. Ich bekam große Augen, als ich sah, was er alles
hervorholte: frische Erdbeeren, Weintrauben, duftende
Pfirsiche, Blaubeer-Muffins, Nussecken, Rosinenschnecken,
eine Tüte Gummibärchen, unterschiedlich belegte Sandwiches
und einen Minischokoladenkuchen.
»Aber das sind doch die gleichen Sachen, die wir in
Wattenbüll am alten Leuchtturm gegessen haben!«, rief ich
überrascht.
Felix grinste von einem Ohr zum anderen. »Stimmt genau.
Ich wollte eigentlich zum Mühlenberger See mit dir radeln.
Dann hätten wir so tun können, als würden wir auf die Nordsee
blicken, so wie bei unserem Picknick im Sommer.« Er zuckte
bedauernd mit den Schultern. »Hat leider nicht geklappt.« Er
zog eine Thermoskanne und zwei Becher aus dem Korb.
»Kakao?«
»Gerne!« Ich war richtig gerührt. Felix hatte sich so viel
Mühe gemacht – nur für mich! Kopfschüttelnd betrachtete ich
all die Leckereien. »Wo hast du um diese Jahreszeit bloß
Pfirsiche und Erdbeeren herbekommen?«
»Das ist streng geheim.« Felix legte einen Finger an die
Lippen und flüsterte: »Ich hab den Besitzer des Feinkostladens
in Mühlenberg bestochen. Aber sag’s nicht weiter.«
Grinsend griff ich nach einer Rosinenschnecke und biss
hinein. In diesem Moment öffnete sich die Tür. Es war Tim. Als
er uns auf dem Boden sitzen sah, blieb er stehen.
»Was macht ihr denn da?«, fragte er verdutzt.
»Picknick!«, nuschelte ich.
»Draußen war es uns zu nass«, erklärte Felix.
»Ach so.« Tim ging zu seinem Schreibtisch und zog eine
Schublade auf. »Bin gleich wieder weg. Ich wollte nur schnell
ein Schachbuch holen.«
»Wie läuft das Training?«, fragte ich.
»Super!« Tim klang richtig begeistert. »Es macht total viel
Spaß, ist aber auch ziemlich anstrengend.«
Ich hielt ihm die Dose mit den Nussecken hin. »Ein bisschen
Nervennahrung für zwischendurch?«
Tim griff zu. »Danke! Bis später.« Er ging hinaus und schloss
die Tür hinter sich.
Ich nahm mir eine Erdbeere und steckte sie in den Mund. Sie
schmeckte erstaunlich süß. Draußen prasselte der Regen
gegen die Fensterscheibe. »Richtig gemütlich hier«, stellte ich
fest. Zum ersten Mal an diesem Wochenende fühlte ich mich
rundum wohl.
»Finde ich auch.« Felix sah mich an. Von seinem Blick wurde
ich ganz kribbelig. »Ich bin so froh, dass du gekommen bist.
Ich hab dich echt vermisst.«
Ich merkte, wie ich rot wurde. »Ich dich auch«, sagte ich
leise.
Felix lächelte, und mir wurde warm. Ob wir uns gleich
wieder küssen würden? Ich fuhr mir mit der Zunge über die
Lippen und hielt die Luft an …
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. »Ach, hier seid ihr!«
Ich stöhnte. Nelli!
»Was willst du denn hier?«, fragte ich nicht besonders
freundlich.
»Ich wollte nur mal nachschauen, ob ihr schon zurück seid,
und euch Bescheid sagen, dass die Party im Bootshaus bereits
um acht anfängt«, sagte Nelli. »Hattet ihr nicht eine Radtour
geplant?«
»Doch, aber das Wetter hat uns einen Strich durch die
Rechnung gemacht«, sagte Felix. »Hör mal, Nelli, eigentlich
wollten Emma und ich …«
»Erdbeeren!«, quietschte Nelli. »Darf ich?« Ohne eine
Antwort abzuwarten, schnappte sie sich eine dicke Erdbeere,
biss hinein und schloss genießerisch die Augen. »Lecker!«
Ich knirschte mit den Zähnen. Erst platzte diese Ziege
einfach hier rein, und jetzt futterte sie uns auch noch die
Erdbeeren weg. Dabei hatte Felix die extra für mich besorgt!
Das war so unverschämt, dass mir glatt die Worte fehlten –
aber nur kurz.
»Was soll das?« Ich starrte Nelli wütend an.
»Was meinst du?« Sie klimperte unschuldig mit ihren
Wimpern.
»Das weißt du ganz genau«, sagte ich so ruhig wie möglich.
»Kann man hier denn nicht mal fünf Minuten seine Ruhe
haben?«
»Die erste goldene Internatsregel: Im Internat ist man nie
allein.« Nelli grinste mich an, nach außen hin immer noch die
Freundlichkeit in Person.
Bevor ich endgültig explodieren konnte, tauchte Julia im
Türrahmen auf. Sie erfasste die Situation mit einem Blick.
»Nelli, ich hab dich schon überall gesucht! Du musst uns im
Bootshaus mit der Dekoration helfen.« Sie griff nach Nellis
Arm und zog sie aus dem Zimmer.
»Bis später!«, rief Nelli, bevor Julia nachdrücklich die Tür
schloss.
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. »Was für eine Nervensäge!
Gut, dass Julia sie weggelotst hat. Sonst wäre ich ihr glatt an
die Gurgel gesprungen!«
»Nelli hat uns bestimmt nicht absichtlich gestört«, sagte
Felix.
»Pffft!«, machte ich. Manchmal sind Jungs wirklich
unglaublich naiv. »Natürlich war das Absicht! Nelli gönnt uns
einfach keine ruhige Minute.«
»Quatsch!« Felix schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir
nicht vorstellen.«
»Ich aber«, sagte ich düster. Allmählich ging es mir auf den
Wecker, dass Felix diese Kuh ständig verteidigte. »Ich kapier
einfach nicht, wie du mit dieser Nervensäge befreundet sein
kannst. Außerdem hättest du ruhig auch mal was sagen
können.«
»Was denn?« Felix runzelte verwirrt die Stirn.
Ich verdrehte die Augen. »Dass sie sich verziehen soll, zum
Beispiel! Weil wir allein sein wollen und sie stört.«
Felix sah mich ungläubig an. »Das finde ich aber ziemlich
krass.«
»Ach ja?«, fragte ich herausfordernd. »Ich nicht. Diese Nelli
versteht offenbar nur Klartext.«
»Willst du noch etwas Kakao?« Felix hielt die Kanne hoch.
Ich schüttelte den Kopf. »Versuch nicht, vom Thema
abzulenken.«
Felix seufzte. »Ich will mich nicht mit dir streiten, okay? Lass
uns einfach den Nachmittag genießen.«
Ich zögerte, aber schließlich nickte ich. »Okay.« Eigentlich
hatte ich ja auch keine Lust auf Streit. Dafür war die Zeit mit
Felix viel zu kostbar. Morgen nach dem Frühstück musste ich
schon wieder zurück nach Hause!
Aber irgendwie war die Stimmung dahin. Wir beendeten
unser Picknick schweigend und räumten die Sachen zurück in
den Korb.
Wenn Nelli vorgehabt hatte, uns den Tag zu verderben, hatte
sie ihr Ziel erreicht.
13. Kapitel
Habt ihr schon mal in einem Zug gesessen und geweint? Nein?
Da habt ihr aber Glück gehabt! Ganz ehrlich, ich kann das
nicht empfehlen. Keine Ahnung, wie es euch geht, aber ich
weine am liebsten allein. (Also, am allerliebsten weine ich
natürlich gar nicht. Aber wenn es schon sein muss, dann bitte
ohne Zuschauer!) In einem voll besetzten Zug zu sitzen,
während einem die Tränen kommen, ist einfach die Hölle!
Ich merkte es schon, als ich mir einen Platz suchte. Meine
Kehle wurde eng, ich konnte kaum noch schlucken, und meine
Augen begannen zu brennen. Ich wandte Trick Nummer eins
an und biss die Zähne so fest zusammen, dass mein Kiefer
knackte. Stumm setzte ich mich an einen Vierertisch zu einer
alten, weißhaarigen Dame und einer Mutter mit zwei kleinen
Kindern.
Aber das Zähnezusammenbeißen half nicht. Die Tränen
drückten von hinten gegen meine Augen und wollten unbedingt
hinaus. Ich kniff mich kräftig in den Arm. Vor Schmerz schrie
ich beinahe laut auf. Mist! Das würde bestimmt einen blauen
Fleck geben. Und alles nur wegen Felix! Kaum hatte ich an ihn
gedacht, rollte auch schon die erste Träne über meine Wange.
Ich wischte sie weg und wühlte in meinem Rucksack nach der
Wasserflasche. Hastig setzte ich sie an die Lippen und trank
einen Schluck. Meine Kehle war so eng, dass ich das Wasser
kaum hinunterbrachte. Ich verschluckte mich und musste
husten. Jetzt kamen mir erst recht die Tränen. Denk an was
Schönes, Emma! Schnell! Leider fiel mir absolut nichts
Schönes ein.
Sommerferien? Waren schon vorbei.
Meine Familie? Versank im Chaos.
Oma? Lag auf dem Friedhof.
Mona? Hatte Stress mit Daniel.
Klara? War in unseren Mathelehrer verknallt.
Felix? Uuäääähhhh!
»Tränen reinigen die Seele.« Die alte Dame, die mir
gegenübersaß, reichte mir ein Taschentuch. Sie lächelte.
Ich bekam einen Schluckauf. Hastig nahm ich das
Taschentuch und putzte mir die Nase. Vor allen Leuten
loszuheulen, wie peinlich! Wieder tauchte Felix’ Gesicht in
meinem Kopf auf, aber diesmal machte es mich nicht traurig,
sondern wütend. Er hatte mir die ganze Zeit etwas vorgespielt,
genau wie in den Sommerferien, als ich ihn für einen
Angestellten des Hotels gehalten hatte. Er hatte so getan, als
würde er mich mögen, dabei war er immer noch in diese
nervige Nelli verknallt. Ja, so musste es sein.
Aber warum hatte er mich dann überhaupt ins Internat
eingeladen? Wollte er Nelli eifersüchtig machen? Genau! Das
war die einzig mögliche Erklärung: Nelli hatte mit Felix
Schluss gemacht, er wollte sie zurück, und deshalb versuchte
er, ihre Eifersucht anzustacheln. Mit mir! Was ja offensichtlich
auch geklappt hatte.
Je wütender ich auf Felix wurde, desto weniger Tränen
rollten meine Wangen hinab. Schließlich waren sie ganz
versiegt. Und ich beschloss, nie, nie, NIE wieder mit Felix zu
reden. Kein einziges Sterbenswörtchen! Ab sofort war Felix
von Kronenburg für mich gestorben. Und zwar für immer und
ewig. Basta!
14. Kapitel
E-Mail an Tim
Von: Emma.Laurenz@webmail.de
An: Tim2000 @ultranet.de
Betreff: Hausbesichtigung
Hallo, Tim,
ich hab nicht viel Zeit, weil wir gleich losfahren, um das alte
Gutshaus zu besichtigen. Ich bin schon total aufgeregt! In der
Schule hab ich heute Vormittag kaum etwas mitgekriegt, weil
ich ständig überlegt habe, ob Mama und Gesa das Haus wohl
gefallen wird oder nicht. Mir gefällt es auf jeden Fall! Und Mona
auch. Schade, dass du nicht hier bist, um es dir mit uns
zusammen anzuschauen. Aber das können wir ja beim nächsten
Heimfahrwochenende nachholen.
Gesa fand die Idee mit dem Umzug erst mal nicht schlecht,
glaube ich. Im alten Gutshaus wäre auch genug Platz für Betty.
Die beiden könnten endlich zusammenziehen, ohne sich eine
eigene Wohnung suchen zu müssen. Und wir könnten weiterhin
alle zusammenwohnen. Wäre das nicht toll?
Obwohl ich den Gedanken, aus unserem lieben alten
Bauernhaus auszuziehen, schon sehr merkwürdig finde. Ich
kann mir das irgendwie gar nicht vorstellen. Schließlich hab ich
fast mein ganzes Leben hier verbracht! Aber so weit ist es ja
noch nicht.
Jetzt muss ich los, die anderen warten schon auf mich. Ich meld
mich wieder!
Alles Liebe,
Emma
Der VW-Bus war voll besetzt, als wir über den schmalen
Waldweg zum Gutshaus rumpelten. Vorne saßen Gesa und
Betty, dahinter Mona und ich und ganz hinten Thomas, Mama
und Lili in ihrem Kindersitz.
»Da vorne rechts, dann sind wir da!«, rief ich Gesa zu.
Gesa bog in die Auffahrt ein. Ich hatte vor Aufregung ganz
feuchte Hände. Würde den anderen das Haus gefallen? Würden
Mama und Gesa es wirklich kaufen? Würden wir bald nicht
mehr im Bauernhaus wohnen, sondern auf dem Gut? Und wie
würde das Leben dort sein?
»Das ist ja unglaublich!« Gesa parkte den VW-Bus im Hof,
stellte den Motor ab und stieg aus. Während wir anderen nach
und nach aus dem Bus kletterten, sah sie sich verblüfft um.
»Das Haus ist riesig, oder?«, sagte Mona.
Gesa nickte. »Allerdings. So groß hatte ich es mir nicht
vorgestellt.«
»Platz ist jedenfalls reichlich vorhanden«, stellte Betty fest.
»Und diese Ruhe – herrlich!«
Aber mit der Ruhe war es jetzt vorbei, denn Mama schnallte
gerade Lili ab und hob sie aus dem Autositz. Lili mag es
überhaupt nicht, in diesem blöden Sitz festgeschnallt zu sein,
darum quietschte sie vor lauter Freude darüber, endlich wieder
frei zu sein, in den höchsten Tönen.
»Also, Lili fühlt sich jedenfalls richtig wohl hier!«, sagte ich
und grinste meiner kleinen Schwester zu.
Thomas warf einen kritischen Blick zum Haus hinüber. »Der
alte Kasten sieht ganz schön marode aus«, stellte er fest. »Die
Fassade ist ewig nicht mehr gestrichen worden. Da bröckelt ja
schon der Putz ab.«
»Na und?«, entgegnete ich. »Ist doch nicht so wichtig, wie
das Haus von außen aussieht.«
»Dann wollen wir mal«, sagte Mama und marschierte mit Lili
auf dem Arm auf das Haus zu.
Da öffnete sich schon die große Haustür, und Herr von
Kahlberg erschien auf der Schwelle. »Willkommen!« Er
strahlte über das ganze Gesicht. »Treten Sie doch näher!«
Neben ihm tauchte Ella auf und wedelte mit dem Schwanz.
Sie schien sich auch über unseren Besuch zu freuen. Ich
sprang die Steinstufen empor und streichelte Ella.
»Guten Tag, Emma!« Herr von Kahlberg nickte mir
freundlich zu. »Dieses Mal hast du also deine ganze Familie
mitgebracht.«
»Ja«, sagte ich. »Bis auf Klaus, der müsste aber gleich noch
kommen. Er wollte direkt mit dem Mofa herfahren.«
Jetzt begann die große Begrüßung. Gesa, Mama, Betty und
Thomas schüttelten Herrn von Kahlberg die Hand. Dann
redeten sie über das Wetter, die Schlaglöcher auf dem
Waldweg und Gesas alten VW-Bus.
Ich trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. »Können wir
jetzt endlich mit der Hausbesichtigung anfangen?«
Diese ewige Quatscherei machte mich noch ganz verrückt!
Schließlich ging es hier um unsere Zukunft! Wie konnten sich
die Erwachsenen da seelenruhig über den verregneten Herbst
unterhalten?
»Du hast recht, Emma«, sagte Herr von Kahlberg. »Wenn Sie
mir bitte folgen wollen?«
Die Führung begann im Erdgeschoss. Die Eingangshalle, das
Wohnzimmer und den Wintergarten kannten Mona und ich ja
bereits.
»Du meine Güte, das ist ja ein richtiger Ballsaal!«, stellte
Betty beeindruckt fest, als wir das Wohnzimmer betraten.
Herr von Kahlberg nickte. »Ja, früher haben hier tatsächlich
rauschende Feste stattgefunden. Für heutige Begriffe ist die
Größe des Salons sicher etwas überdimensioniert.«
Mamas Gesicht hellte sich auf, als wir in den Wintergarten
kamen. »Wie schön!«, rief sie und betrachtete die großen
Fensterfronten. »Dieser Raum würde sich perfekt als Atelier
eignen. Das Licht ist ein Traum!«
»Und es gibt auch einen direkten Zugang zum Garten.« Herr
von Kahlberg zeigte auf eine kleine Seitentür, von der aus man
über eine wackelig aussehende Holztreppe auf die große
Rasenfläche hinter dem Haus gelangte.
»Das ist praktisch«, sagte Thomas. »Allerdings müssten die
Scheiben dringend erneuert werden. Hier zieht es im Winter
bestimmt mächtig rein.«
Herr von Kahlberg seufzte. »Wie gesagt, die letzten
Sanierungsmaßnahmen sind Jahre her. Ich will Ihnen nicht
verschweigen, dass da einiges auf Sie zukommen würde. Das
Dach ist alt, genauso wie die Fenster, die Heizungsanlage und
die sanitären Anlagen.«
Thomas runzelte die Stirn. »Das wird richtig teuer.«
»Können wir jetzt nach oben gehen?«, fragte ich schnell. Was
war nur mit Thomas los? Sonst nervte er uns tagein, tagaus mit
seiner guten Laune, und ausgerechnet heute musste er überall
ein Haar in der Suppe finden.
»Erst sehen wir uns noch die Küche an.« Herr von Kahlberg
ging vor, und wir marschierten im Gänsemarsch hinterher.
»Bitte schön!« Er blieb neben der Küchentür stehen und ließ
uns den Vortritt.
»Das ist ja ein Traum!«, entfuhr es Gesa, als sie den großen,
hellen Raum betrat. Die Küche war sehr geräumig. Es gab
einen großen Holztisch samt Küchenbank, an dem mindestens
zehn Personen Platz hatten.
»Die Einrichtung ist leider ziemlich alt«, entschuldigte sich
Herr von Kahlberg.
»Sechzigerjahre, oder?« Gesa betrachtete mit Kennerblick
die Hängeschränke. »Das ist heute schon wieder modern.«
Dann inspizierte sie den Herd. »Ein echter alter Gasherd!«,
jubelte sie. »So einen hab ich mir schon immer gewünscht. Mit
einem Gasherd lässt sich die Temperatur viel besser regeln als
mit einem Elektroherd.«
»Die Küche wäre auf jeden Fall groß genug für deine
Kochseminare«, stellte Mama fest.
Gesa nickte. »Und an dem Tisch könnten hinterher alle
gemeinsam essen.« Sie sah zu Herrn von Kahlberg. »Das
heißt – wenn Sie uns die Möbel überlassen würden.«
»Die Küche können Sie so übernehmen, wie sie ist«, sagte
Herr von Kahlberg. »Ansonsten hatte ich vor, mir ein paar
Möbelstücke auszusuchen, um das Kutscherhaus einzurichten.
Den Rest können Sie gerne haben.«
»Aber das geht doch nicht!« Mama fuhr mit der Hand über
eine alte, etwas wurmstichige Anrichte, in der geblümtes
Porzellan stand. »Das sind echte Antiquitäten. Wer weiß, was
die wert sind?«
Herr von Kahlberg winkte ab. »Den ideellen Wert dieser
Möbelstücke kann mir sowieso niemand ersetzen. Sie sind zum
Teil über hundert Jahre alt und wurden von meinen Eltern und
Großeltern extra für dieses Haus angefertigt. Mir ist es lieber,
sie bleiben hier, wo sie hingehören.«
Gesa war an die Küchentür getreten, die in den Garten
führte. »Sind das dort drüben Gemüsebeete?«
Herr von Kahlberg nickte. »Das ist der sogenannte
Küchengarten. Früher wurde dort Gemüse angebaut. Meine
Frau hatte einen grünen Daumen. Sie hat jedes Jahr große
Mengen Spinat, Möhren, Kürbisse, Erdbeeren und vieles mehr
geerntet. Aber seit ihrem Tod sind die Beete leider verwaist.«
»Wir könnten einen Kräutergarten anlegen«, schlug Betty
vor. »Und unser eigenes Gemüse ziehen.«
»Genau!« Gesa starrte auf die mit Unkraut überwucherten
Beete, als könnte sie die frischen Kräuter schon vor sich sehen.
»Vollwertkochkurse mit selbst angebautem Gemüse – das ist
bestimmt eine Marktlücke!«
Nach der Küchenbesichtigung marschierten wir endlich über
eine breite, geschwungene Holztreppe in den ersten Stock. Von
einem langen Flur gingen eine Menge Türen ab.
»So viele Zimmer!«, staunte Mona.
»Oh, das ist noch längst nicht alles – im zweiten Stock sind
noch mal so viele Räume«, sagte Herr von Kahlberg.
Während die Erwachsenen im Schneckentempo von einem
Zimmer ins nächste gingen und dabei wahnsinnig viel redeten,
machten Mona und ich eine schnelle Erkundungsrunde.
»Sechs Zimmer«, stellte Mona fest.
»Plus zwei Bäder«, fügte ich hinzu. »In welchem Zimmer
würdest du gerne wohnen?«
Mona überlegte kurz. »Im letzten auf der rechten Seite. Das
ist zwar ziemlich klein, aber dafür hat es einen eigenen Balkon
und ist total ruhig.«
»Ich hätte gerne dieses hier!« Verträumt sah ich mich in dem
großen Raum mit der hohen Decke um. An den Wänden
standen alte, dunkle Möbel, doch die dachte ich mir einfach
weg. »Meinen Schreibtisch würde ich vors Fenster stellen,
dann kann ich in die Baumwipfel gucken, wenn ich
Hausaufgaben mache. Mein Bett passt prima hinter die Tür.
Aber wo könnte ich meine Hängematte aufhängen?«
»Vielleicht im Garten?«, schlug Mona vor.
»Gute Idee!« Ich grinste. »Also, ich kann mir prima
vorstellen, hier zu wohnen. Und du?«
»Ich auch«, sagte Mona wie aus der Pistole geschossen.
Wir waren uns also einig. Das war doch schon mal was! Jetzt
mussten wir nur noch die Erwachsenen überzeugen. Die waren
nun auch endlich fertig mit ihrem Rundgang durch den ersten
Stock.
»Die Räume oben werden seit Jahren nicht mehr genutzt,
darum ist es leider etwas staubig«, entschuldigte sich Herr von
Kahlberg, als er vor uns die Treppe hinauf in die zweite Etage
ging.
»Das macht doch nichts«, sagte Mama. Lili auf ihrem Arm
sah sich mit großen Augen um. Wahrscheinlich wunderte sie
sich, dass es überhaupt so große Häuser gab.
Die zweite Etage sah genauso aus wie die erste – nur viel
staubiger. Die Fensterläden waren geschlossen, und im
Dämmerlicht wirkten die klobigen Möbel wie schlafende
Riesen.
»Hier wäre Platz für mehrere Gästezimmer«, stellte Gesa
fest. »Dann könnten wir tatsächlich Wochenendseminare mit
Übernachtungsmöglichkeit anbieten.«
Mama nickte. »Und das besondere Ambiente des Gutshofes
wäre ein klarer Wettbewerbsvorteil. So was kommt bei den
Leuten garantiert gut an.«
Wir liefen einmal durch alle Zimmer, dann marschierten wir
wieder nach unten, und Herr von Kahlberg zeigte uns den
Garten und die Nebengebäude.
»Herrlich!« Gesa sog tief die Luft ein, als wir auf der großen
Rasenfläche hinter dem Haus standen. »Der perfekte Ort für
morgendliche Yoga-Einheiten. Und in der Scheune dort drüben
könnte ich mir einen Yoga-Raum einrichten.« Sie nickte zu dem
alten Gebäude hinüber, das hinter den Bäumen aufragte.
»Neben der Scheune liegen noch der Holzschuppen, das
Hühnerhaus und der Pferdestall«, erklärte Herr von Kahlberg,
während wir weitergingen.
»Gab es hier früher Pferde?«, fragte ich, als wir am Stall
vorbeikamen.
»Natürlich!« Herr von Kahlberg lächelte mir zu. »Auf jedem
Gut gab es Pferde. Aber jetzt steht der Stall schon seit
Jahrzehnten leer. Und etwas abseits auf der anderen Seite des
Geländes befindet sich das alte Kutscherhaus. Dort würde ich
einziehen, wenn Sie sich dafür entscheiden, das Gut zu
übernehmen.«
»Ist das Kutscherhaus denn groß genug?«, erkundigte sich
Mama.
»Aber natürlich«, beruhigte sie Herr von Kahlberg. »Ich
brauche ja nicht viel Platz.«
Wir waren wieder auf dem Hof angelangt und blieben neben
Gesas VW-Bus stehen.
»Ich finde, das Gut ist einfach perfekt«, sagte Gesa. Es war
nicht zu überhören, dass sie völlig begeistert war.
Betty nickte. »Das Haus ist toll, genauso wie der Garten. In
einem der Nebengebäude könnten wir einen kleinen Hofladen
einrichten, vielleicht sogar mit angeschlossenem Café, in dem
selbst gebackener Bio-Kuchen verkauft wird. Das war schon
immer mein Traum.«
Betty arbeitet im Bioladen in Dederstadt. Dort hat Gesa sie
auch kennengelernt. Beide haben haargenau denselben Bio-
Fimmel – was das betrifft, passen sie wirklich prima
zusammen.
»Gute Idee!« Mama nickte. »Ein Hofladen mit Café wäre die
perfekte Ergänzung zu unseren Gesundheitskursen.«
»Und das Café würde Leute aus der Region und
Tagesausflügler anlocken, die später vielleicht mal einen Kurs
bei uns buchen«, ergänzte Gesa. »Das Gut ist ein tolles
Ausflugsziel, wenn man eine Radtour durch den Wald macht.«
Herr von Kahlberg hörte sich die Pläne mit einem
verschmitzten Lächeln an und zwinkerte Mona und mir zu. Es
schien ihm zu gefallen, dass sein Haus bei uns so gut ankam.
»Das ist ja alles schön und gut«, mischte sich Thomas ein.
»Aber habt ihr eigentlich eine Ahnung, was die Renovierung
eines so großen Hauses kostet?«
Ich starrte ihn böse an. Warum musste er schon wieder
herummeckern?
Mama seufzte. »Du hast recht, die finanzielle Seite dürfen
wir natürlich nicht außer Acht lassen. Zum Glück ist ja noch
etwas von dem Geld übrig, das Mutti mir vererbt hat. Das wäre
immerhin ein Anfang.«
»Wir müssen eben ganz viel selbst machen«, sagte Gesa.
»Dann wird es nicht so teuer.«
»Genau!« Betty nickte. »Ich helfe euch natürlich. Und
vielleicht kann ich noch ein paar Leute aus dem Bioladen
zusammentrommeln.«
»Papa macht bestimmt auch mit«, warf ich ein.
»Wir schaffen das schon. Alle zusammen.« Mama klang so
zuversichtlich wie lange nicht mehr.
»Heißt das, Sie möchten das Haus haben?«, fragte Herr von
Kahlberg.
Mama zögerte. Ich hielt den Atem an und drückte vor
Aufregung Monas Hand. Das war der Moment der
Entscheidung!
»Ja«, sagte Mama schließlich fest. »Wir würden gerne hier
einziehen. Natürlich nur, wenn Sie sich uns als zukünftige
Bewohner Ihres Hauses vorstellen können.«
Herr von Kahlberg lächelte. »Das kann ich mir sogar sehr gut
vorstellen. Ich bin mir sicher, Sie werden mein Haus im
Handumdrehen mit neuem Leben füllen.« Er streckte die Hand
aus. »Abgemacht?«
Mama schlug ein. »Abgemacht!«
In diesem Moment knatterte Klaus auf seinem Mofa auf den
Hof. Er bremste, blieb kurz vor uns stehen und schaltete den
Motor aus.
Mama runzelte die Stirn. »Da bist du ja endlich! Du bist viel
zu spät.«
Klaus nahm seelenruhig den Helm ab und fuhr sich durch die
Haare. »Sorry. Hab’s nicht eher geschafft. In der Werkstatt
war jede Menge los.«
»Wir ziehen um!«, platzte ich heraus. »Stell dir vor, Mama
hat gerade das Gutshaus gekauft!«
»Na ja, erst müssen noch die Formalitäten erledigt werden«,
sagte Mama. »Aber wenn alles klappt, können wir hoffentlich
bald mit dem Renovieren loslegen.«
»Na toll! Ich werde wohl gar nicht gefragt, was?«, murrte
Klaus.
Mama seufzte, und mir fiel wieder einer von Omas Sprüchen
ein.
Aber ich sagte nichts, denn ich wollte keinen Streit anfangen.
Jetzt ging es um wichtigere Dinge.
»Also, Klaus, was sagst du zu dem Haus?«, fragte Gesa
höflich. »Bist du damit einverstanden, dass wir hier
einziehen?«
Klaus pustete sich seine etwas zu langen Ponysträhnen aus
der Stirn und betrachtete skeptisch das Gutshaus. Sein
Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Klaus hat das beste
Pokerface, das ich kenne. Man weiß nie, was gerade in seinem
Kopf vorgeht. Meistens wahrscheinlich gar nichts. Aber ganz
sicher kann man sich da nie sein.
Schließlich zuckte er mit den Schultern und sagte:
»Gebongt.« Er zeigte auf den Holzschuppen. »Aber nur, wenn
ich mir da drin meine eigene Werkstatt einrichten kann.«
Mama und Gesa wechselten einen Blick, und Mama sagte:
»Gebongt.«
16. Kapitel
E-Mail an Tim
Von: Emma.Laurenz@webmail.de
An: Tim2000 @ultranet.de
Betreff: Umzug
Hallo, Tim,
jetzt hab ich dir eine ganze Weile nicht mehr geschrieben, aber
hier war einfach zu viel los. Sorry!!!
Gestern war der Termin beim Notar, und es ist alles
glattgelaufen. Stell dir vor, jetzt gehört das Gutshaus richtig
uns!!! Herr von Kahlberg hatte eine Flasche Champagner dabei,
um mit Mama und Gesa anzustoßen. Dann hat Mama ihm
feierlich den Kaufpreis übergeben: einen Euro! Ich hab
vorgeschlagen, dass er sich die Münze einrahmen und übers
Bett hängen soll, aber das wollte er nicht. Stattdessen hat er sie
mir geschenkt. Nett, oder? Ich glaube, ich werde sie
aufbewahren, als Erinnerung an diesen besonderen Tag.
Mama, Gesa, Betty und Thomas haben sofort mit den ersten
Renovierungsarbeiten losgelegt. Gut, dass du letztes
Wochenende hier warst und dir das Haus noch mal im
Originalzustand angeschaut hast. Jetzt sieht es nämlich ziemlich
chaotisch aus. Papa, Klaus, Thomas und ein paar von Thomas’
Studienkollegen haben alle Möbel in die Scheune geschleppt
und im Erdgeschoss angefangen, die Tapeten abzureißen. Mona
und ich haben mitgeholfen. Das ist vielleicht eine fiese Arbeit!
Aber wenn man sich vorstellt, wie schön hinterher alles wird,
macht es trotzdem Spaß. Schade, dass es noch so lange dauert,
bis alles fertig ist. Mama sagt, wir können erst im Frühjahr
umziehen. Und bis dahin wartet noch jede Menge Arbeit auf uns.
Ich muss jetzt Schluss machen, Herr Hummel hat uns schon
wieder irre viel in Mathe aufgegeben. Was für ein
Sklaventreiber! Keine Ahnung, wie Klara so jemanden toll finden
kann. Aber ich sag nichts mehr dazu, sonst ist sie gleich wieder
beleidigt.
Mach’s gut und alles Liebe,
Emma
Am nächsten Tag ging ich zu Omas Grab. Ich war länger nicht
mehr dort gewesen, weil ich so viel zu tun gehabt hatte. Im
Heidekraut hatten sich welke Blätter verfangen. Ich zupfte sie
vorsichtig ab.
»Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme«, sagte ich. »Aber
bei uns war eine Menge los. Stell dir vor, Mama hat das alte
Gutshaus gekauft! Mona und ich fahren jeden Nachmittag hin
und helfen beim Tapetenabreißen.« Ich betrachtete Omas
Grabstein. Er gab keine Antwort. Natürlich nicht. Trotzdem
redete ich weiter. »Ich hab eine Überraschung für dich, Oma.«
Ich zog das Rätselheft aus meiner Jacke und hielt es hoch.
»Tada! Was sagst du jetzt? Ich hab alle Rätsel gelöst! Ganz
alleine! Na ja, zumindest fast. Manchmal haben die anderen
mir ein bisschen geholfen.«
Ich kniete mich hin und grub mit den Händen ein kleines
Loch, direkt vor dem Grabstein. Die Erde war kalt und schwer.
Als das Loch tief genug war, legte ich das Heft hinein. »Für
dich, Oma«, murmelte ich und warf einen letzten Blick auf das
Rätselheft. Ich hatte es so lange mit mir herumgeschleppt, dass
die Seiten ganz zerknittert waren. Jetzt würde es hier in der
Erde vermodern, genau wie Oma. Ich schob Erde in das Loch
und klopfte sie fest. Dann drapierte ich die Steine aus
Wattenbüll darauf, die ich Oma vor einer Weile mitgebracht
hatte.
»Sieht doch hübsch aus, oder?« Ich erhob mich und klopfte
die Erde von meiner Jeans. Ein Lächeln erschien auf meinem
Gesicht. Ich hatte alle Rätsel gelöst, und das Heft war dort, wo
es hingehörte. Bei Oma.
Oma ist tot.
Der Gedanke zuckte durch meinen Kopf, und ich lauschte
ihm nach. Er machte mich traurig, aber nicht mehr so wie am
Anfang. Die Traurigkeit schlug nicht mehr ihre Zähne in mein
Herz. Sie legte sich still und leise wie ein Nebelschleier auf
meine Seele. Das tat nicht weh. Es war nicht einmal besonders
unangenehm. Und meine Augen blieben trocken.
Ein kalter Windstoß fuhr über den Friedhof und wehte die
Traurigkeit fort. Fröstelnd schlang ich die Arme um den
Oberkörper. »Wahrscheinlich kann ich in der nächsten Zeit
nicht mehr so oft herkommen«, sagte ich. »Wir müssen so
schnell wie möglich das Gutshaus renovieren, damit wir im
Frühjahr umziehen können. Aber ich denke natürlich trotzdem
ganz oft an dich«, fügte ich sicherheitshalber hinzu, doch das
wusste Oma ja sowieso. »Tschüss, Oma. Mach’s gut.« Ich warf
dem Grabstein einen Luftkuss zu. Dann drehte ich mich um
und ging davon.
Zu Hause wartete eine neue Nachricht in meinem Postfach. Sie
war von Julia! Was wollte die denn von mir? Einen Moment saß
ich reglos vor dem Computer, die Hand auf der Maus, der
kleine Pfeil auf dem Bildschirm über dem Papierkorb. Aber ich
löschte die Mail nicht. Stattdessen klickte ich auf Öffnen. Ehe
ich es mir anders überlegen konnte, begann ich zu lesen.
Von: Juliavk@ultranet.de
An: Emma.Laurenz@webmail.de
Betreff: Bitte melde dich!
Hallo, Emma,
ich habe keine Ahnung, ob du die Mails gelesen hast, die Felix
dir geschrieben hat. Wahrscheinlich nicht. Sonst hättest du dich
bestimmt bei ihm gemeldet. Aber vielleicht liest du ja meine
Nachricht, das wäre schön.
Ich schreibe dir, weil Felix so traurig ist. Seit eurem Streit hockt
er nur noch in seinem Zimmer herum und bläst Trübsal. Erst
wollte er mir nicht sagen, was los ist, aber dann ist er doch mit
der Sprache herausgerückt.
Stimmt es, dass ihr euch wegen Nelli gestritten habt? Wenn ja,
dann muss das Ganze ein riesengroßes Missverständnis sein.
Ich weiß nicht, was Nelli dir erzählt hat, aber ich kann es mir
denken. Wahrscheinlich hat sie behauptet, sie sei mit Felix
zusammen gewesen. Richtig?
Manchmal gibt es mehrere Wahrheiten. Und Nellis Wahrheit ist
nicht unbedingt die von Felix oder mir. Du weißt ja, dass Nelli,
Felix und ich schon seit Ewigkeiten miteinander befreundet sind.
Und fast genauso lange ist Nelli in Felix verliebt. Sie hat ihn
schon angehimmelt, als wir noch zusammen im Sandkasten
gespielt haben, und daran hat sich auch später nichts geändert.
Leider hat sich Felix nie für Nelli interessiert. Er mag sie als gute
Freundin, aber mehr nicht. Nelli konnte das nicht akzeptieren.
Darum hat sie sich einfach ihre eigene Wahrheit
zusammengeträumt. Ihrer Meinung nach ist Felix in sie verliebt,
aber zu schüchtern, um seine Gefühle auszusprechen. Tja, das
klingt jetzt vielleicht verrückt, aber sie glaubt das wirklich!
Vor den Sommerferien hat Felix Nelli bei ihrem
Geschichtsreferat geholfen, damit sie ihre Note ein bisschen
aufbessern kann. Für Nelli war klar, dass Felix das nur macht,
weil er in sie verliebt ist. Irgendwann hat sie dann behauptet,
sie und Felix seien ein Paar. Felix war das total unangenehm. Er
wollte Nelli nicht verletzen, aber er wollte natürlich auch nicht
ihren Freund spielen. Es hat eine Weile gedauert, bis er den Mut
gefunden hat, mit Nelli zu sprechen. Das war am letzten
Schultag vor den Sommerferien. Er hat ihr gesagt, dass er nicht
in sie verliebt ist, aber gerne weiter mit ihr befreundet sein will.
Nelli ist weinend weggelaufen, und Felix hatte ein furchtbar
schlechtes Gewissen. Du kennst ihn ja, er ist einfach zu nett für
diese Welt!
Dann hat er dich in Wattenbüll getroffen. Und Nelli hat nach den
Sommerferien überall herumerzählt, sie hätte mit Felix Schluss
gemacht. Felix hat nicht widersprochen, um es Nelli nicht noch
schwerer zu machen.
Nun ist es eine ziemlich lange Mail geworden. Dafür kennst du
jetzt meine Wahrheit, Emma. Welche Wahrheit du glauben
willst, musst du selbst entscheiden. Hoffentlich sprichst du dich
bald mit Felix aus. Denn dass du ihn schon vergessen hast, wie
Felix meint, kann ich mir einfach nicht vorstellen.
Viele liebe Grüße,
Julia
Ich las die Mail drei Mal hintereinander. Und dann noch ein
viertes Mal. Erst war ich skeptisch, dann verwirrt und
schließlich unglaublich erleichtert. Felix war gar nicht mit Nelli
zusammen gewesen! Er hatte mich nicht angelogen! Und er
hatte mich auch nicht benutzt, um Nelli eifersüchtig zu
machen.
Als ich an Nelli dachte, wurde ich wütend. Was fiel dieser
blöden Ziege eigentlich ein, mir so einen Unsinn zu erzählen?
Ihretwegen hatte ich mich mit Felix gestritten und wochenlang
nicht mit ihm gesprochen. Und alles nur, weil sie die Wahrheit
nicht ertragen konnte!
Eine leise Stimme meldete sich in meinem Kopf.
Nicht nur deswegen, Emma. Wenn du mit Felix geredet
hättest, wäre die Wahrheit schon viel früher ans Licht
gekommen. Aber du konntest ja mal wieder nicht über deinen
Schatten springen. Dein Dickkopf wird dir irgendwann noch
mal zum Verhängnis!
»Ja, ja«, murmelte ich. »Du hast ja recht.«
Ich öffnete eine neue Mail und begann zu schreiben.
E-Mail an Felix
Von: Emma.Laurenz@webmail.de
An: Felixvonkronenburg@ultranet.de
Betreff: Ruf mich an!
Hallo, Felix,
ich war so blöd. Wenn du noch mit mir reden willst, ruf mich
bitte an!
Alles Liebe,
Emma
1. Mit zwölf ist man noch ein Kind, mit dreizehn fast
erwachsen
2. Man darf sich offiziell Teenager nennen
3. Man hat das ganze Jahr Glück, weil die 13 eine
Glückszahl ist!
Nachdem ich mich endlich mit Felix versöhnt hatte, war ich
genau in der richtigen Stimmung für eine große Party. Weil
mein Geburtstag auf einen Wochentag fiel, wollte ich am
Samstag danach feiern, und dazu lud ich die ganze Familie und
alle meine Freunde ein.
Am Tag der Party schmückten Mona, Tim und ich das
Wohnzimmer mit Girlanden und Luftballons. Mama, Gesa und
Betty standen in der Küche und bereiteten alles für das Büfett
vor. Gesa kochte einen riesigen Topf Gemüsesuppe, Mama
backte einen Käsekuchen, und Betty machte Nudelsalat. Klaus
sollte sich als DJ um die Musik kümmern und Thomas um die
Getränke.
»Jetzt können die Gäste kommen«, sagte Tim, nachdem er
den letzten Luftballon aufgeblasen hatte.
Ich nickte und sah mich im Wohnzimmer um. »Perfekt!« Die
Girlanden hingen kreuz und quer unter der Decke, und die
Luftballons bildeten lustige Farbtupfer dazwischen. Es sah
richtig schön bunt aus. Ich seufzte. »Schade, dass Felix nicht
kommen kann. Ich hätte so gerne mit ihm zusammen gefeiert.«
Mona legte die Hand auf meinen Arm. »Sei nicht traurig,
Emma. Ihr feiert einfach nach, wenn ihr euch das nächste Mal
seht.«
»Ja, wahrscheinlich bleibt uns nichts anderes übrig. So ist
das nun mal, wenn man eine Fernbeziehung führt.« Ich grinste
schief. Dass ich meinen Geburtstag ohne Felix feiern musste,
setzte mir mehr zu, als ich zugeben wollte. Wir hatten uns
schon so lange nicht mehr gesehen, und ich vermisste ihn
furchtbar. Wir telefonierten zwar jeden Tag, aber das war
natürlich nicht dasselbe. Ich wollte endlich wieder in seine
meerblauen Augen sehen, die Sommersprossen auf seiner Nase
zählen und an seinen Haaren schnuppern, die so lecker nach
Zitronenshampoo dufteten …
»Echt blöd, dass Felix ausgerechnet heute dieses
Familientreffen hat«, sagte Tim.
Ich nickte. »Das kannst du laut sagen.«
Felix war total zerknirscht gewesen, als er mir abgesagt
hatte. Am zweiten Adventswochenende traf sich immer seine
ganze Familie samt Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, und
alle gingen zum Brunchen in ein piekfeines Hotel.
»Da kann ich unmöglich fehlen«, hatte Felix gesagt. »Auch
wenn ich viel lieber bei dir wäre.«
Aber ich hatte Felix versprochen, mir die Stimmung davon
nicht verderben zu lassen, sondern diesen Tag von Anfang bis
Ende zu genießen – auch ohne ihn. Nur dass mir das gerade
nicht so leichtfiel …
»Helft ihr bitte, das Essen reinzutragen?«, rief Mama aus der
Küche. »Der Countdown läuft, in zehn Minuten geht’s los.«
»Mist, so spät schon!« Mit einem Schlag wurde ich nervös.
»Und ich bin noch gar nicht umgezogen!«
Mona fing an zu lachen. »Du müsstest dich mal hören,
Emma! Vor einem Jahr wäre es dir noch völlig egal gewesen,
wie du aussiehst.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Vor einem Jahr war ich ja
auch erst zwölf«, stellte ich fest. »Jetzt bin ich dreizehn. Das ist
etwas völlig anderes.«
Tim grinste. »Stimmt, da fühlt man sich glatt wie ein neuer
Mensch.«
Ich boxte ihn in die Seite. »Mach dich ja nicht über mich
lustig!«
»Das würde ich nie wagen.« Geschickt wich Tim einem
weiteren Hieb aus und flüchtete aus dem Wohnzimmer.
Als Mona, Tim und ich in die Küche kamen, blieben wir
überrascht stehen.
»Hey, das sieht ja toll aus!«, rief Mona beeindruckt.
Ich nickte. Auf dem Küchentisch standen
eine große Schüssel Nudelsalat,
ein duftender Käsekuchen,
ein Teller mit Frikadellen,
frisch geschnittenes Fladenbrot,
ein Schälchen selbst gemachte Kräuterbutter,
ein Blech Zwiebelkuchen,
eine Schüssel rote Grütze,
eine Schüssel grüner Wackelpudding,
ein Krug mit Vanillesoße,
eine Schale Zaziki und
drei verschiedene Dips.
Auf dem Herd köchelte die Gemüsesuppe vor sich hin. Ihr
würziger Geruch breitete sich im ganzen Haus aus.
»Wer soll das denn alles essen?«, fragte ich. In diesem
Moment knurrte mein Magen laut und vernehmlich. Vor lauter
Aufregung hatte ich den ganzen Tag kaum etwas
hinunterbekommen. Das schien mir mein Magen allmählich
übel zu nehmen.
Tim grinste. »Im Zweifelsfall du.«
»Und was du nicht schaffst, bekommen deine Gäste.« Betty
wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und lachte
ihr tiefes, kollerndes Lachen, das immer direkt aus dem Bauch
herauszukommen scheint.
»Verhungern werden wir jedenfalls nicht«, sagte Mama.
»Und nun ein bisschen Beeilung, bitte, sonst werden wir nicht
rechtzeitig fertig.«
Wir trugen das Essen ins Wohnzimmer und drapierten es auf
einem langen Biertisch, den Thomas an die Wand gestellt
hatte. Dann verschwanden Mona und ich nach oben und zogen
uns um. Viel Zeit blieb nicht mehr. Ich war gerade in eine
saubere Jeans geschlüpft und hatte mir die neue Tunika über
den Kopf gezogen, die ich von Mama zum Geburtstag
bekommen hatte, da klingelte es auch schon.
»Verflixt!«, schimpfte ich. »Warum müssen die Leute
ausgerechnet heute so pünktlich sein?«
Hastig fuhr ich mir mit der Bürste durch die Haare, warf
einen prüfenden Blick in den Spiegel und lächelte meinem
Spiegelbild zu. Eigentlich sah ich ganz okay aus. Ich polterte
die Treppe hinunter, lief zur Tür und riss sie auf.
»Hallo, Emma!« Pfarrer Pauli lächelte mir zu. »Herzlichen
Glückwunsch nachträglich zum Geburtstag!« Er überreichte
mir einen Blumenstrauß.
»Danke!« Ich schnupperte an den Rosen. »Die duften toll.«
»Warte, ich hab noch etwas für dich.« Pfarrer Pauli kramte in
seiner Manteltasche. »Hier!« Triumphierend zog er ein leicht
zerknittertes Papier heraus und hielt es mir hin.
Neugierig faltete ich das Blatt auseinander. Mein Herzschlag
setzte einen Moment aus. Es war mit einer feinen Handschrift
bedeckt, die ich gut kannte. »Aber … das ist ja Omas Schrift!«,
stammelte ich. Ich musste mehrmals blinzeln, bevor ich die
Überschrift lesen konnte: Extra saftiger Schokoladenkuchen
(geeignet für alle Anlässe). Ich schluckte. »Das Rezept für
Omas Schokoladenkuchen!« Ich ließ das Blatt sinken und
starrte Pfarrer Pauli an.
»Ja, ich hab es in Gertruds Rezeptbuch gefunden, als ich vor
einer Weile ihre Sachen sortiert habe«, sagte Pfarrer Pauli.
»Ich dachte, du freust dich vielleicht darüber, weil du Gertruds
Schokoladenkuchen doch immer so gerne gegessen hast.«
Ein Strahlen breitete sich auf meinem Gesicht aus. »Vielen
Dank!« Ehe er wusste, wie ihm geschah, drückte ich dem
verblüfften Pfarrer einen Kuss auf die Wange. »Das ist ein
richtig tolles Geschenk!«
»Schön, schön«, murmelte Pfarrer Pauli verwirrt.
Da erschien Mama im Flur. »Gerhard, wie nett! Komm doch
herein.«
Während Pfarrer Pauli an mir vorbeiging, strich ich
vorsichtig das Rezept glatt, faltete es zusammen und steckte es
ein. »Danke, Oma!«, flüsterte ich.
Die Nächsten waren Papa und Melinda. Sie hielten
Händchen, und Papa lächelte glücklich.
»Stell dir vor, Emma, meine Ausstellung ist verlängert
worden!«, erzählte er stolz. »Jack meinte, so viele Besucher
hätte er das ganze Jahr noch nicht gehabt. Und es wurden zwei
weitere Bilder verkauft. Ist das nicht toll?«
Ich nickte. »Spitze! Heißt das, du wirst jetzt reich?«
Papa lachte. »Noch nicht.«
»Happy birthday, Emma!« Melinda fiel mir um den Hals.
»Alles Gute zum Geburtstag!«
»Danke.« Melindas süßliches Parfüm stieg mir in die Nase,
und ich spürte ihre Speckröllchen an meinem Bauch. Ich
versuchte, sie möglichst unauffällig wegzuschieben.
»Übrigens habe ich noch eine tolle Neuigkeit.« Papa grinste
wie ein Honigkuchenpferd.
»Ach ja?«, fragte ich neugierig. »Was denn?«
Aber da tauchten schon die nächsten Gäste auf: Simone,
Maike und ein paar andere aus meiner Klasse.
»Erzähl ich dir nachher. Jetzt suche ich erst mal Tim, ihm
muss ich schließlich auch noch gratulieren.« Papa
zerstrubbelte mir die Haare und verschwand mit Melinda im
Haus.
Eine halbe Stunde später waren alle da. Das Wohnzimmer
war proppenvoll. Klaus stand an der Stereoanlage und machte
Musik, Thomas versorgte die Leute mit Getränken, Gesa
schöpfte eifrig Gemüsesuppe auf die Teller, und Tim quatschte
mit Papa und Melinda. Ich nippte an einem Glas Orangensaft.
»Willst du gar nichts essen?« Klara stellte sich neben mich.
Sie hielt einen Teller mit einem Stück Käsekuchen in der Hand
und schob sich gerade einen großen Bissen in den Mund. »Der
Käsekuchen ist superlecker!«, nuschelte sie.
Ich sah sie verblüfft an. »Du isst Kuchen?«, fragte ich. »Was
ist mit deiner Sportler-Ernährung?« In letzter Zeit hatte Klara
auf alles Süße verzichtet, um fit für Herrn Hummels
Sportunterricht zu sein. Ziemlich bescheuert, wenn ihr mich
fragt. Klara ist schließlich auch ohne besondere Ernährung
superfit. Aber versucht mal, mit einer Verliebten vernünftig zu
reden – ich sag’s euch, das könnt ihr glatt vergessen!
»Ich esse jetzt wieder, was mir schmeckt«, erklärte sie
betont fröhlich. »Das ist die beste Art, sich zu ernähren.«
»Ehrlich?« Ich warf ihr einen misstrauischen Blick zu. »Wie
kommt’s?«
Klara starrte auf ihren Teller. »Herr Hummel hat eine
Freundin.« Ihre Stimme war so leise, dass sie fast in der lauten
Musik unterging.
»Was?«, rief ich überrascht.
»Ich hab die beiden vorgestern in Dederstadt gesehen.«
Klara blickte konzentriert auf ihren Käsekuchen. »Sie saßen
vor dem Venezia und haben sich den Großen Liebesbecher für
zwei geteilt.«
»Verflixt!« Ich schaute Klara mitfühlend an.
Klara zuckte mit den Schultern. »Was soll’s. Er war sowieso
zu alt für mich.« Sie sah auf und grinste schief.
Ich drückte ihren Arm. »Du findest einen Besseren. Ganz
bestimmt.«
»Wenigstens kann ich mich jetzt wieder voll und ganz auf den
Matheunterricht konzentrieren«, witzelte Klara. »Und diesen
ausgesprochen leckeren Käsekuchen genießen.« Sie schob sich
noch eine Gabel in den Mund und kaute eifrig. »Tolle Party
übrigens, Emma!«
Ich ließ meinen Blick durch das Wohnzimmer wandern. Klara
hatte recht. Die Gäste hatten sich im ganzen Raum verteilt und
schienen sich gut zu amüsieren. Herr von Kahlberg unterhielt
sich angeregt mit Pfarrer Pauli, Papa und Thomas stießen
gerade mit zwei Flaschen Bier an, Simone quatschte mit Jonas,
und die Jungs aus meiner Klasse fragten Tim über das
Internatsleben aus und futterten dabei kiloweise Nudelsalat.
Nur Mona stand etwas verloren neben dem Büfett, während
Daniel mit Klaus redete. Bei den beiden herrschte leider immer
noch schlechte Stimmung. Mona hatte sich in den letzten
Wochen mehr und mehr zurückgezogen, und Daniel war
offenbar so mit seiner Band beschäftigt, dass er es gar nicht
merkte. Gerade nickte Klaus ihm zu und drehte die Musik
leiser.
»Achtung, Achtung, ich bitte um eure Aufmerksamkeit!«, rief
Klaus mit lauter Stimme. »Jetzt kommt eine kurze
Unterbrechung für eine ganz besondere Einlage. Wir schalten
jetzt live zu Radio Dederstadt!«
»Was soll das denn jetzt?«, fragte Klara.
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
Radio Dederstadt ist unser Lokalsender. Warum mussten wir
den auf meiner Geburtstagsparty hören? Die Gäste warfen sich
verdutzte Blicke zu. Die Unterhaltungen verstummten, alle
sahen gespannt zu Klaus. Er fummelte an seiner Anlage herum,
und plötzlich ertönte Musik. Ich erkannte einen Song von
Daniels Band und wippte automatisch mit. Das musste man
Daniel lassen: Er und seine Band machten wirklich verdammt
gute Musik!
Daniel stand jetzt neben Mona und sah sie an. Mona
fummelte nervös an ihrer Bluse herum. Sie schien auch nicht
zu wissen, was das Ganze sollte. Als der Song zu Ende war,
ertönte die Stimme des Moderators.
»Hallo, alle zusammen, und herzlich willkommen zu unserem
Special über Bands aus der Region. Gestern hatten wir die
Band ohne Namen zu Besuch, die gerade so richtig
durchstartet. Die Jungs sind durch ein Internet-Video in den
letzten Wochen zu überregionalen Stars geworden. Hier im
Studio haben Daniel, Jonas und Markus meine Fragen
beantwortet. Zum Beispiel wollte ich von ihnen wissen, wie sie
sich ihren großen Erfolg erklären. Daniel, der Sänger der
Band, hat mir folgendermaßen geantwortet.«
Ein Räuspern ertönte, dann war Daniels Stimme zu hören.
»Ja … äh … erst mal vielen Dank für die Einladung ins Studio.
Für uns ist das alles noch ziemlich ungewohnt, schließlich sind
wir eigentlich ganz normale Jungs.« Er lachte. Es war
merkwürdig, seine Stimme aus den Lautsprechern zu hören
und ihn gleichzeitig dort neben Mona stehen zu sehen. Als
würde es ihn zweimal geben. »Ehrlich gesagt finde ich Erfolg
gar nicht so wichtig«, sagte der Daniel im Radio. »Wichtig sind
ganz andere Dinge im Leben.«
»Zum Beispiel?«, fragte der Moderator.
»Die Menschen, die einen umgeben«, antwortete Daniel.
»Familie, Freunde und so weiter. Ein Mensch ist mir ganz
besonders wichtig, und diesem Menschen würde ich bei dieser
Gelegenheit gerne etwas mitteilen, wenn ich darf.«
»Nur zu!«, ermunterte ihn der Moderator.
Daniel räusperte sich noch einmal. »Ich möchte gerne meine
Freundin Mona grüßen: Ich weiß, dass ich in den letzten
Wochen nicht so viel Zeit für dich hatte, und das tut mir
wahnsinnig leid. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, Mona.
Denn du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ohne
dich macht mir die ganze Musik keinen Spaß. Mona, ich liebe
dich!«
»Da soll noch mal jemand sagen, Rockmusiker hätten kein
weiches Herz«, witzelte der Moderator.
Klaus stellte das Radio aus. Plötzlich war es furchtbar still im
Wohnzimmer. Alle starrten Mona und Daniel an. Mona war
knallrot im Gesicht.
»Hast du das ernst gemeint?«, fragte sie leise.
Daniel nickte. »Natürlich!« Er nahm sie in die Arme und
drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Irgendjemand fing an zu
klatschen, und eine Sekunde später applaudierten alle. Mona
wurde noch etwas röter und vergrub ihr Gesicht an Daniels
Schulter.
»Wie schön!«, hauchte Klara neben mir.
Ich nickte stumm. Vor lauter Rührung kamen mir fast die
Tränen. Schnell wischte ich mir über die Augen. »Eine
Liebeserklärung über das Radio, darauf muss man erst mal
kommen«, sagte ich anerkennend.
Der Applaus verebbte, und die Leute wandten sich wieder
ihren Gesprächen zu. Daniel und Mona verschwanden
unauffällig aus dem Wohnzimmer. Wahrscheinlich gingen sie
erst mal eine Runde knutschen. Ausnahmsweise hatte ich
nichts dagegen. Das hatten sie sich nach dem ganzen Stress
wirklich verdient.
18. Kapitel
Na ja, die Liste war vielleicht etwas ungerecht. Lea hatte mich
nicht direkt verlassen. Wir waren keine Freundinnen mehr,
weil wir uns auseinandergelebt hatten. Tim war zwar ins
Internat gegangen, aber er würde trotzdem immer mein
Bruder bleiben. Und Oma konnte schließlich nichts dafür, dass
sie gestorben war. Sie wäre bestimmt gerne noch länger bei
uns geblieben. Ich überlegte, was sie zu Papas Plänen gesagt
hätte. Sie hätte sich für ihn gefreut, ganz sicher. Fast konnte
ich ihre Stimme hören.
Wer liebt, muss loslassen können, Emma-Kind. Warum freust
du dich nicht für Rudi? Dieses Stipendium ist eine einmalige
Chance für ihn. Dann muss er endlich keine Kochbücher mehr
illustrieren, sondern kann das tun, was ihm Freude bereitet.
Außerdem sind sechs Monate schließlich keine Ewigkeit,
stimmt’s?
»Stimmt«, flüsterte ich. Ich musste daran denken, wie Papas
Augen gerade geleuchtet hatten. Oma hatte wie immer recht.
Und ich war ein Dummkopf. Statt mit meinen Gästen zu feiern,
saß ich auf dem Klo und heulte. Aber damit war jetzt Schluss!
Schließlich war ich kein Baby mehr. Ich war dreizehn und fast
erwachsen. Ich wischte mir mit dem Ärmel meiner Tunika die
Tränen von den Wangen und stand auf. Mein Handy vibrierte
in meiner hinteren Hosentasche. Ich nahm es heraus und sah
auf das Display. Eine SMS von Felix!
Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, und mir ging es sofort
ein bisschen besser. Felix war so süß!
»Und ich denke an dich«, murmelte ich.
Ich wollte das Handy gerade wieder wegstecken, als noch
eine Nachricht kam.
Ich runzelte die Stirn. Was sollte das denn heißen? Hatte Felix
wieder einen Kurierdienst beauftragt? Würde gleich ein Auto
mit quietschenden Reifen im Hof halten, um mir ein Geschenk
von Felix zu überbringen?
Mit klopfendem Herzen verließ ich das Klo, lief durch den
Flur und riss die Haustür auf. Nichts. Kein Paket auf dem
Boden. Kein Auto auf dem Hof. Alles war dunkel und still. Ich
trat einen Schritt vor die Tür und schlang fröstelnd die Arme
um den Oberkörper. Es war ganz schön kalt. Der Boden war
von einer dünnen weißen Raureifschicht bedeckt. Im
Wetterbericht hatten sie für heute Nacht den ersten Schnee
angekündigt.
Da entdeckte ich etwas vor mir auf der Erde. Eine Rose. Ich
bückte mich und hob sie auf. Sie war lang, dornig und
dunkelrot. Wie kam sie hierher? Sie passte nicht zu Kälte und
Raureif, sondern wirkte wie ein Überbleibsel des Sommers. Ein
Gruß aus der Vergangenheit. Letzten Sommer war viel
passiert. Ich hatte Felix kennengelernt und Puck gefunden, Tim
hatte beschlossen, aufs Internat zu gehen, und Oma war
gestorben. Ich drehte die Rose nachdenklich zwischen meinen
Fingern hin und her. Unglaublich, wie viel in einem einzigen
Sommer geschehen konnte. Aber jetzt war Winter, und ich war
dreizehn Jahre alt. Was würde mir das Leben bringen? Würde
ich glücklich werden?
Ich zuckte zusammen, als mich ein spitzer Dorn in den Finger
pikste. Ein winziger Blutstropfen quoll hervor. Schnell fuhr ich
mit der Zunge darüber und leckte ihn ab. Da hörte ich ein
Geräusch. Ein leises Knacken hinter mir im Garten. Ich sah auf.
Alles war dunkel. Die Schaukel ragte in den schwarzen
Nachthimmel, dahinter kauerten die Rhododendronbüsche wie
struppige Ungeheuer. Aber was war das? Leuchtete hinter den
Büschen nicht ein flackerndes Licht?
Zögernd ging ich über den Rasen, an der Schaukel vorbei
und zwischen den Büschen hindurch. Ich setzte die Füße so
leise auf, dass meine Schritte kaum ein Geräusch verursachten.
Die Rose hielt ich immer noch in der Hand, und ihr süßlicher
Duft stieg mir in die Nase.
Da! Da war tatsächlich ein Licht! Ich ging darauf zu. In der
hintersten Ecke des Gartens, auf der Bank unter dem
Fliederbusch, wo ich im Frühling so gerne saß, brannten
Kerzen. Nicht nur eine, sondern ein Dutzend Flammen
leuchteten mir entgegen. Sie bildeten ein Herz. Ich blinzelte,
aber die Kerzen brannten weiter. Sie erhellten die Nacht und
leuchteten mit den Sternen um die Wette. Ich blieb stehen.
Woher kamen all die Kerzen? Wer hatte sie angezündet?
»Felix?«, flüsterte ich so leise, dass nur die Rose und ich es
hören konnten.
Eine Gestalt trat aus dem Schatten des Fliederbusches.
»Hallo, Emma!«
Felix blieb direkt vor mir stehen. Er grinste von einem Ohr
zum anderen.
»Wo … wie …«, stammelte ich. Weiter kam ich nicht.
»Dachtest du etwa, ich lasse dich deinen Geburtstag alleine
feiern?«, fragte Felix. »Kommt nicht in die Tüte! Ich bin gleich
nach dem Familienbrunch in den Zug gestiegen. Hab ich schon
was verpasst?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte es immer noch nicht
glauben. Felix war hier! Er war wirklich gekommen! Oder etwa
doch nicht? Im Schein der Kerzen sah er so unwirklich aus. Es
hätte mich nicht gewundert, wenn alles nur ein Traum gewesen
wäre. Ein schöner, schöner Traum. Vorsichtig streckte ich die
Hand aus und berührte seinen Arm. Er war echt. Ganz
eindeutig echt.
»Ich hab auch ein Geschenk für dich.« Felix holte einen
weißen Umschlag hervor. »Bitte!«
Ich nahm den Umschlag, öffnete ihn und zog eine Karte
heraus. Darauf war ein bunter Heißluftballon abgebildet, der
über einen blauen Himmel schwebte. »Was ist das?«
»Ein Gutschein«, erklärte Felix. »Für eine Fahrt mit dem
Heißluftballon. Du kannst ihn im Frühjahr einlösen, wenn es
wieder wärmer wird. Ich komme natürlich mit. Und dann
schweben wir in den siebten Himmel.«
Ich musste lachen. Das klang furchtbar kitschig und
gleichzeitig wunderschön. »Wahnsinn!« Ich strahlte Felix an.
»Woher wusstest du, dass ich mir schon immer gewünscht
habe, fliegen zu können?«
Felix grinste verlegen. »Ich würde ja gerne sagen, dass ich
deine geheimsten Wünsche kenne. Aber ehrlich gesagt hat Tim
mir den Tipp gegeben.«
»So ein Verräter!« Ich schüttelte den Kopf. »Er hat mir kein
Sterbenswörtchen davon gesagt.«
»Das will ich auch hoffen. Sonst wäre es ja keine
Überraschung mehr gewesen.«
»Danke.« Ich sah von Felix zu dem Gutschein und den
Kerzen. »Für alles. Das ist eindeutig der tollste Geburtstag
meines Lebens!«
»Und du bist eindeutig das tollste Mädchen, das ich je
getroffen habe.« Felix kam noch einen Schritt näher, beugte
sich zu mir herüber und gab mir einen sanften Kuss. Seine
Lippen waren so kalt wie die Winternacht, aber mir wurde
plötzlich ganz warm. Bevor ich die Augen schloss, sah ich noch,
wie ein paar einzelne Schneeflocken vom Himmel tanzten und
in den Kerzenflammen verglühten. Aber vielleicht war das auch
nur ein Traum. Vielleicht war das ganze Leben ein Traum.
Doch das war mir in diesem Moment völlig egal. Wichtig waren
nur Felix und ich. Und in diesem Augenblick wurde mir klar,
dass ich eigentlich gar keine Ballonfahrt brauchte. Denn ich
hob jetzt schon ab vor lauter Glück.
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