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EDITORIAL

N
eue Technologien und Erkenntnisse aus dem
Labor revolutionieren die Medizin – von
Genetik über Neurobiologie bis hin zu Ro-
botik. So kommt es nicht von ungefähr, dass sich
diese Ausgabe von Spektrum der Wissenschaft
schwerpunktmäßig medizinischen Themen widmet –
der Herzchirurgie, der Zahnmedizin und dem welt- Reinhard Breuer
Chefredakteur
weiten Impfproblem. Freilich bieten solche Artikel
oft nur Versprechungen und Prophezeiungen, auf die wenig Verlass ist.
Doch diesmal berichten wir von Behandlungsfortschritten, die teils schon
Kliniken und Patienten erreicht haben.
1. Herz. Bypassoperationen – weltweit rund 800 000 pro Jahr – sind
kostspielig und nach wie vor riskant. Der Brustkorb muss aufgesägt, der
etwa einstündige Herzstillstand mit einer Herz-Lungen-Maschine über-
brückt werden. Seit Anfang der neunziger Jahre verfolgen Mediziner
schonendere Ansätze. Bypässe lassen sich auch am schlagenden Herz
anbringen – ohne Herz-Lungen-Maschine. Bis zum Jahr 2005 soll die
Hälfte dieser Operationen so durchgeführt werden. Sogar das traumati-
sche Aufsägen des Brustkorbs lässt sich inzwischen vermeiden. Die neue
Technik – bereits praktiziert in München, Leipzig und Dresden – verdankt
ihren Erfolg nicht zuletzt einem Roboter, der den Chirurgen beim Eingriff
unterstützt (Seite 50).
2. Zähne. Vom Zahnschmerz geplagt, begibt sich jeder notgedrungen,
aber nicht immer gerne in Medizinerhände. Dabei hat in der Zahntechnik
in den letzten Jahren eine Revolution stattgefunden: Raffiniertere Dia-
gnostik, neue Materialien und endlich ein Paradigmenwechsel in Rich-
tung einer konservierenden Präventionsmedizin kennzeichnen die moder-
ne Zahnarztpraxis. Motto: vom Klempner zum Dienstleister (Seite 84).
3. Seuchen. Es klingt unglaublich: Jährlich sterben zwei Millionen
Kinder vor allem in der Dritten Welt an Seuchen, weil sie nicht geimpft
wurden. Warum? Klassische Impfstoffe müssen gekühlt, transportiert und
zumeist per Spritzen verabreicht werden. Das erfordert ein Versorgungs-
system, das vor allem die Ärmsten der Armen nicht erreicht. Seit einem
Jahrzehnt arbeiten deshalb Pflanzengenetiker an einer „lokalen Lösung“,
nämlich daran, essbare Impfstoffe zu erzeugen, die vor Ort angebaut wer-
den können. Dafür werden Bananen, Tomaten oder Kartoffeln genetisch
so verändert, dass ihr Verzehr zugleich gegen bestimmte Krankheiten
immunisiert (Seite 64).
Noch werden diese Produkte an Tieren getestet. Erweisen sie sich als
erfolgreich, profitieren wir alle. Denn in einer mobilen Welt könnte uns
die Wiederkehr der Seuchen mit einer Wucht treffen, die sich heute noch
niemand vorstellen mag.

Herzlich Ihr

PS: Johannes Kepler war einer der großen Wegbereiter der modernen
Astronomie. Ohne seine Hartnäckigkeit, die Umlaufbahn des Planeten
Mars penibel zu analysieren, wären die Planetengesetze vermutlich erst ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○
viel später entdeckt worden. Dass der Kaiserliche Hofastronom aber
auch seine Mutter vor dem Hexentod durch Verbrennung retten musste,
lesen Sie in unserer neuen Biografie über den großen Schwaben.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


INHALT: JANUAR 2001

TITELBILD:

Zwei Sonnen scheinen am Himmel


dieses Planeten im Doppelsternsystem
CM Draconis.
Illustration: Mark A. Garlick
TITELTHEMA: ASTRONOMIE

MONATSSPEKTRUM
Die Suche
12 Bodennahes Ozonloch in der Arktis nach erdähnlichen
Brom aus Meerwasser vernichtet
arktisches Ozon im Frühjahr Planeten Seite
Seite 42
14 Turbo im Ohr
Schallverstärkung beim Hören Von L. R. Doyle, H.-J. Deeg und T. M. Brown

16 Neues Impfkonzept gegen Tropenseuche Außerhalb unseres Sonnensystems haben


Immunisierung gegen die Eier Astronomen bereits Dutzende von Riesenplaneten
des Bilharziose-Erregers ausfindig gemacht. Inzwischen sind ihre Messmethoden
22 Nachgehakt ausgefeilt genug, um auch extrasolare Himmelskörper von
Die unerträgliche Gleichartigkeit der Größe unserer Erde zu entdecken.
des Scheins
23 Mikroskopie mit einem Molekül
als Lichtquelle
Optische Abbildung von KLONEN
Nanostrukturen
Die neue Arche Noah Seite 34
25 SERIE: Die Botschaft des Genoms IV
Von Robert P. Lanza,
Insulin: Hüter des Zuckerhaushalts
Betsy L. Dresser und Philip Damiani
26 Manche mögen’s warm
Gentechnische Anpassung von Um selten gewordene Tiere vor dem Aussterben
Pflanzen an wärmeres Klima zu retten, könnte man sie klonen. Leihmütter, die zu
27 Bild des Monats einer nicht bedrohten Art gehören, würden die
Kosmischer Kokon Klone austragen.

SPEKTROGRAMM

30 Künstlicher Bizeps • Erste Zweibeiner • MEDIZINTECHNIK


Pyramiden und Sterne • Neue Halbaffen
• Ranke Männer • Galaxienhaufen u.a. Operieren am schlagenden Herz Seite 50
Von Cornelius Borst
HAUPTARTIKEL

34 Die neue Arche Noah Bypass-Operationen am Herz – riskant, aber oft lebensrettend – werden
Weibchen anderer Arten als schonender. Hightech-Robotersysteme für die Herz-Chirurgie brauchen nur noch
Leihmütter knopflochgroße Schnitte als Zugang, und dank mechanischer Herzstabilisatoren
kann das Organ während des Eingriffs sogar weiterschlagen.
42 TITELTHEMA:
Suche nach erdähnlichen Planeten
Trabanten ferner Sonnen trickreich
aufgespürt
ARCHÄOLOGIE
50 Operieren am schlagenden Herz
Bypass-Operationen werden Wracksuche im
schonender Bodensee Seite 56
56 Schiffsarchäologie am Bodensee Von Klaus-Dieter Linsmeier
Hölzerne Wracks künden von
glorreichen Zeiten Jahrhundertelang diente
Deutschlands größter Binnensee
64 Essbare Impfstoffe
als Drehscheibe für den über-
Gentechnik als Hoffnung
regionalen Handel, doch die
70 Mörderseen Geschichte seiner Schifffahrt
Lässt sich ein erneuter Giftgas- erkunden Archäologen erst seit
ausbruch am Nyos-See in Kamerun wenigen Jahren. Mitunter auch
verhindern? in dunkler Tiefe.

4 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


GENTECHNIK

Essbare Impfstoffe Seite 64 78 Der erste Atomreaktor


Fermi, Szilard und die
Von William H. R. Langridge
Kettenreaktion
Jedes Jahr sterben Millionen Menschen, weil 84 Technoskop: Report Zahnmedizin
sie keinen Zugang zu traditionellen Weniger ist oft mehr – die neue
Impfstoffen haben. Vor allem viele Kinder Devise der Zahnpräparation
könnten vor oft tödlichen Krankheiten
bewahrt werden, wenn es gelingt, sie allein FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT
durch Essen von genetisch veränderten
Bananen und anderen Früchten zu impfen. 94 Jäger, Schamanen, Künstler
Steinzeitliche Felskunst als Spiegel
menschlicher Evolution
95 Zwischen Orient und Okzident
Interkultureller Dialog im Institut
du Monde Arabe in Paris
EXPEDITION 96 Revolution in der Forschungslandschaft
Umstrukturierung der Leibniz- und
Tödliche Gaswolken aus afrikanischen Seen Seite 70 der Helmholtz-Gemeinschaft
Von Marguerite Holloway 98 Am Rande
Ins Hirn geguckt
Zwei Seen in Kamerun setzten in den achtziger Jahren tödliche Gaswolken frei,
denen mehr als 1700 Menschen und ungezählte Tiere zum Opfer fielen. Da sie REZENSIONEN
jederzeit wieder ausbrechen könnten, versuchen Wissenschaftler nun im Wettlauf
mit der Zeit eine weitere Tragödie zu verhindern. 104 Neandertal von R. W. Schmitz u.a.
Die Innenwelt der Mathematik
von B. Heintz
Darwins gefährliche Erben von S. Rose
Die Architektur der Mathematik
WISSENSCHAFTSGESCHICHTE von P. Basieux
Fermi, Szilard und der Rittertum & Mittelalter
von D. Herrmann u. a.
erste Atomreaktor Seite 78
Das fünfte Wunder von P. Davies
Von William Lanouette Drogenkonsum – bekämpfen oder
freigeben? von B. Kanitscheider
Kurz vor Beginn des Zweiten
Weltkriegs trafen in den USA zwei aus MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN
Europa emigrierte Physiker zusammen,
die nur in ihrer Begeisterung für die 114 Die Rinder des Sonnengottes
Wissenschaft übereinstimmten.
WEITERE RUBRIKEN
Dennoch glückte dem ungleichen Paar
der Bau des ersten Kernreaktors. 3 Editorial
Szilard Fermi
8 Leserbriefe
10 Impressum
111 Preisrätsel
113 Im Rückblick
Spektrum-Report: 116 Wissenschaft im Alltag
Das Sicherheitsetikett
Zahnmedizin Seite 84 118 Vorschau Februar 2001

Bessere Präparationstechniken und


Werkstoffe sollen den Verlust an
Zahnsubstanz begrenzen, neue
diagnostische Verfahren Zahnerkran-
kungen im Frühstadium ausmachen. Kompetenz und Aktualität
Themen: Täglich Meldungen aus Wissenschaft,
Karies unter Strom Forschung und Technik. Dazu Hintergrund-
Implantate & Co. informationen, Software, Preisrätsel und
Das schleichende Übel Spektrum-Produkte.
www.spektrum.de

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 5


LESERBRIEFE

Es geht ans Eingemachte – Streitgespräch zwischen Anmerkungen von Professor G. Vollmer:


G. Vollmer und G. Roth – Oktober 2000 Peter Gerke verweist auf zwei Schwierigkeiten: 1. die Fähig-
keiten, künftige Artefakte vorherzusagen, 2. ihnen die ent-
Der Glaube an das Machbare scheidenden Fähigkeiten gezielt einzupflanzen. Es mag ja
Das Interview macht zweierlei deutlich: Einerseits ist künstli- leicht sein, einem Roboter ein Bewertungssystem einzubauen;
ches Bewusstsein eine Frage des eigenen Bewertungs- und ungeheuer schwierig ist es, ihm ein sinnvolles, erfolgreiches,
Entscheidungssystems, also der Autonomie des Automaten, ein für eine unabhängige Existenz brauchbares zu verleihen.
andererseits entpuppt sich vor dem Hintergrund der Bewusst- Die biologische Evolution braucht dafür Jahrmillionen!
seinsforschung die menschliche Willensfreiheit als Illusion. Der Grund für die zweite Schwierigkeit liegt aber weniger
Wir haben bereits heute so viel praktische Kompetenz formali- in dem vermeintlich nicht-physischen Ursprung unserer geisti-
siert und somit abgegeben, dass gen Fähigkeiten. Gerade die Physik be-
das Netzwerk unserer objekti- schäftigt sich ausgiebig mit Information,
vierten Intelligenz komplex und und auch dafür gelten Naturgesetze, zum
in sich rückgekoppelt genug Beispiel für die Mindestenergie, die man
sein dürfte, um schon jetzt als in unserer Welt braucht, um ein Bit zu
selbstorganisierendes und weit- übertragen. Andererseits können offenbar
aus überlegenes Subjekt gelten schon heute Computer hervorragend mit
zu können, mehr Leviathan als Zahlen umgehen, obwohl sie etwas hoch
Golem. Bill Joys Forderung Abstraktes sind. Die These „Was das Ge-
nach einem Moratorium für die hirn kann, kann auch die Maschine“, ist
KI-Forschung erscheint mir zwar notorisch umstritten, aber bis heute
deshalb etwas hilflos. Es gibt Vollmer Roth jedenfalls nicht zwingend widerlegt.
hier nichts aufzuhalten, ist es Peter Angermann betont eine dritte
doch gerade der Glaube an das Machbare, der diesen beunru- Schwierigkeit: die Selbsttäuschung, als Einzelperson sei ich
higenden Evolutionsschritt bewirkt. Der Geist ist „raus“ aus Steuermann oder gar Kapitän der Menschheitsentwicklung.
der Kleinschen Flasche. Geplatzt ist bloß wieder mal die Illu- Was geschieht, bestimmen alle Menschen zusammen; aber die
sion, dass wir die Welt beherrschen. Menschheit als Ganzes hat keinen Willen, keine Wünsche,
Prof. Peter Angermann, Thurndorf nicht einmal genug Überblick. So wäre zwar vieles im Prinzip
machbar (oder verhinderbar); aber wir schaffen es nicht, das
Computer-Roboter ohne Machtgefühl Machbare auch wirklich zu machen, das Verhinderbare, etwa
Das vermeintliche Fehlen eines limbischen Systems wird nicht die Bevölkerungsexplosion, zu verhindern.
der Grund sein, der uns vor der Machtübernahme durch die Den Hinweis von Wilfried Müller finde ich äußerst wichtig.
Computer schützt. Seit langem existieren technische limbische Die entscheidende Frage ist nicht: „Sind Computer oder Robo-
Systeme, sie heißen allerdings anders, nämlich „Sollwertge- ter gefährlich?“, sondern „Sind Menschen mit Computern
ber“ in Regelprozessen. Entscheidend für etwaige Gefahren gefährlicher als ohne?“ Und diese Frage ist heute ohne weite-
durch machtbesessene Computer ist, ob diese ihre Umwelt und res mit Ja zu beantworten. Müllers Forderung, den technischen
ihr Innenleben auf irgendeine nicht-physische Weise als Reali- Fortschritt sozial verträglich zu gestalten, ist völlig berechtigt;
täten erkennen, um damit eigenständig mit neuen Erfahrungen sie zu erfüllen, scheitert aber leicht an den genannten drei
umgehen zu können. Schwierigkeiten.
Es ist ein Unterschied, ob ein Computer nur auf Bitmuster
seiner Sensoren reagiert oder ob er etwas „wahrnimmt“, „sieht“,
„spürt“. Im ersten Fall kann man alle Gefahren durch macht-
hungrige Computer-Roboter vergessen, denn erstens spüren sie Die unsichtbaren Dimen-
nicht das berauschende Gefühl der Machtfülle als erstrebens- sionen des Universums
wertes Ziel, und zweitens können sie nur mit Hilfe der Men- Oktober 2000
schen auf neue Herausforderungen reagieren. Ob jedoch Com-
puter-Roboter mit einem geeigneten technischen limbischen Scheinbar überlichtschnell
System wahrnehmen werden, lässt sich nicht vorhersagen, da Die Autoren schlagen unter dem eine
jene dritte Entität außerhalb unserer Naturgesetze steht. anderem ein „gefaltetesUni- nahe liegende Hpothese,
Prof. Peter R. Gerke, Gräfelfing versum“ vor. In diesem Mo- dass es nicht nur eine oder
dell müsste es zu scheinbar zwei solcher durch Faltung
Technischer Fortschritt sozial verträglich überlichtschnellen Wechsel- übereinander liegende
Wichtiger als der Diskurs der Chancen und Risiken von tech- wirkungen kommen können, Schichten gibt, sondern viele.
nischer Entwicklung ist die ethische Diskussion, die Joy in nämlich zwischen Raum- Hier gäbe es zwischen vielen
seinen Thesen in WIRED kurz anspricht. Trotzdem ist dort Zeit-Punkten, die durch die für uns anscheinend weit
immer die Rede von „wir können besser leben“ usw. Faltung nah aneinander zu entfernten Punkten Abkür-
Doch wir können eben nicht, jedenfalls nicht alle. Wenn die liegen kommen. Scheinbar zungen durch höhere Dimen-
Roboter wirklich mal die ganze Arbeit machen, für wen arbei- überlichtschnell, weil ja in sionen. Werden also die
ten die dann? Für sich selber? Das ist zu weit gegriffen. Für Wirklichkeit höchstens eine Hyperraumsprünge früherer
uns alle? Das können nur blauäugige Optimisten glauben. Für Entfernung von einem Milli- Science-Fiction-Raumfahrer
die Besitzenden? Darauf dürfte es hinauslaufen. meter zu überwinden wäre – doch noch Realität, wenn
Wir wären besser beraten, wenn wir den technischen Fort- allerdings durch eben die auch vielleicht beschränkt auf
schritt sozial verträglich gestalten würden. Das dürfte die „unsichtbaren“ Dimensionen. Quantenmaßstab?
anspruchsvolle Aufgabe unserer Zukunft werden. In einem solchen Modell Hasko Heinecke,
Dr. Wilfried Müller, Unterföhring des Universums wäre außer- Richterswil, Schweiz

8 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


LESERBRIEFE

Das Geschäft mit den Genen Informationen und auch Implikationen auf Megacitys – Die bessere
September 2000 unsere Wirtschaft. Vor 15 Jahren wurde ja Wahl: intermodal
gerade in Zentraleuropa Gentechnologie Oktober 2000
Nutzen statt Angst massiv negativ gebrandmarkt, sodass der
Die Beiträge geben einen ausgezeichneten Boden der Biotechnologie nachhaltig der Senkung des Fahrpreises
Überblick über den derzeitigen Stand der Landwirtschaft entzogen worden ist. Die Aussage, dass in den west-
Genomforschung. Sie steht sicherlich noch Die Gentechnologie ist aber noch nicht lichen Staaten Passagiere nur
am Beginn. Aber man kann aus den Erkennt- das Ziel, sondern die Entwicklung in Rich- durch „höhere Standards wie
nissen schon schrittweise Ansatzpunkte zur tung Proteom, wo der Ansatz des Eingrei- Komfort, Bequemlichkeit und
Diagnose und der Therapie von Erkrankun- fens in die Proteinsynthese direkt möglich Design“ zum öffentlichen
gen entwickeln. Parallel geht ein enormer ist. Vergleichende Genanalysen zeigen Ähn- Nahverkehr gelockt werden
Wandel in unserem Denken einher. Zum lichkeiten im Aufbau bei der Hefe, dem können, halte ich für nicht
einen zeigt die Gentechnologie eine neue Wurm, den Fliegen und der Maus. Das hat zutreffend, denn das hier seit
Bioinforma- Einfluss auch auf unser evolutionäres Den- Jahren trotz diverser Preiserhö-
tik, die das ken. Die Gentechnologie in diesem Ausmaß hungen ungebrochen erfolgrei-
Weltbild in weckt nicht nur medizinisches und wirt- che „schönes Wochenende“-
einem neuen schaftliches Interesse mit allen juridischen Ticket beweist das Gegenteil.
Licht er- Implikationen, sondern hilft auch theolo- Haupthinderungsgrund für die
scheinen gisch und philosophisch auf der Suche des Akzeptanz des öffentlichen
lässt. Zum Menschen nach seiner Basis. Die Forschung Personennahverkehrs ist also
anderen darf nicht Angst auslösen, man darf sich auch in der industrialisierten
ergeben sich nicht blind verschließen, sondern soll mit Welt der Fahrpreis.
auch klare Zuversicht in die Zukunft schauen. Dr. Andreas Fuß,
rechtliche Prof. Felix Unger, Salzburg Staufenberg

Was haben wir mit Hefe, Würmern, Fliegen und Müll dazwischen bestehen, die Funktion „ihrer“ Gene zu
Mäusen gemein ? – September 2000 sind die Gene der Prokaryon- gelangen.
ten meistens direkt in die Prof. Dietrich H. Nies, Halle
Durchbrüche bei Prokaryonten zwei Dutzend sind öffentlich vermutlichen Proteinsequen-
Hier fehlen bei den Modell- zugänglich. Da die Pflanzen zen übersetzbar. Da Proteine Briefe an die Redaktion ...
Organismen der Genom- und Tiere lediglich artenreiche sich auch zu evolutionären
Forschung komplett die Bak- Randgruppen im Reich der Verwandtschaftsgruppen ... richten Sie bitte mit Ihrer
terien und Archäa. Bei diesen Lebewesen sind, sind somit ordnen lassen und diese sehr vollständigen Adresse an:
wurden die Durchbrüche und die Baupläne für die ganze oft in allen drei Organismen- Spektrum der Wissenschaft
Quantensprünge in der Ent- Breite unterschiedlicher Le- Reichen vorhanden sind, Ursula Wessels
wicklung der biologischen bensmöglichkeiten bei den brauchen die Vielzeller-For- Postfach 104840
Forschung erzielt. Mikroorganismen zu finden. scher die Ergebnisse der 69038 Heidelberg
Dutzende bakterieller und Während die Genome der mikrobiologischen For-
archäeller Genome sind be- Vielzeller hauptsächlich aus schung, um überhaupt an E-Mail: wessels@spektrum.com
reits sequenziert worden, etwa gestückelten Genen mit viel sinnvolle Hypothesen über Fax: (0 62 21) 504-716

Postfach 104840, 69038 Heidelberg; 63, 40017 Düsseldorf, Tel. (02 11) 30 135-20 57, Fax (02
Hausanschrift: Vangerowstraße 20, 69115 Heidelberg 11) 13 39 74; Frankfurt: Anette Kullmann, Dirk Schaeffer,
Tel. (0 62 21) 504-60, Fax (0 62 21) 504-751. Markus Horn, Holger Schlitter, Große Eschenheimer Straße 16-
Geschäftsführer: Dean Sanderson 18, 60313 Frankfurt am Main, Tel. (0 69) 92 01 92 82, Fax
Leser-Service: Marianne Blume; Tel. (0 62 21) 504-743, (0 69) 92 01 92 82; Stuttgart: Erwin H. Schäfer, Norbert
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10 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


MONATSSPEKTRUM

ATMOSPHÄRENCHEMIE Wissenschaft längst nicht alle Vorgänge


kennt, die sich in der irdischen Lufthülle
abspielen.
Bodennahes Ozonloch Wie es öfter geschieht, wurde auch
diese Entdeckung zufällig beim Studium

in der Arktis eines anderen Phänomens gemacht. Ende


der siebziger und Anfang der achtziger
Jahre untersuchten Umweltforscher den
Transport von anthropogenen Ver-
Erst kürzlich entdeckten Atmosphärenforscher, dass in schmutzungen in die Arktis, wo sich da-
der Nordpolarregion im Frühjahr immer wieder kurzfristig raus der so genannte arktische Dunst bil-
det. Für diesen Zweck errichteten sie ein
alles Ozon in der unteren Atmosphäre verschwindet. Netzwerk von Messstationen für ver-
Was verursacht dieses überraschende Phänomen? schiedene Gase. Bald fiel auf, dass die
Monatsmittel für Ozon im Frühling nied-
Von Rolf Sander und Paul J. Crutzen ist). Auch die jüngst festgestellte Aus- riger lagen als in den anderen Jahreszei-
dünnung der Ozonschicht über der Nord- ten. Wie weitere Nachforschungen zeig-
polarregion im Frühjahr geht auf FCKWs ten, sanken die Werte in dieser Jahreszeit
ass Fluorchlorkohlenwasserstoffe zurück, die früher in großen Mengen als allerdings nicht gleichmäßig ab; viel-

D (FCKWs) die Ozonschicht schädi- Treibgase für Sprühdosen, zum Feuerlö-


gen, ist mittlerweile Allgemeinwis- schen und als Wärmetauscher in Kühl-
sen. Vor allem verursachen sie das be- schränken verwendet wurden.
mehr gingen die Ozongehalte nur episo-
disch auf Null zurück und bewegten sich
dazwischen im normalen Bereich.
rüchtigte Ozonloch über der Antarktis, Die beiden genannten Ozonlöcher Was war die Ursache der seltsamen
das alljährlich im Frühling auf der Süd- befinden sich allerdings nicht am Boden, Schwankung? Einen deutlichen Hinweis
halbkugel auftritt (wenn bei uns Herbst sondern in der Stratosphäre in ungefähr lieferten die Messwerte für eine andere
12 bis 22 Kilometer Hö- Klasse von Substanzen: reaktive Brom-
he. Dort wirkt die dreiatomi- verbindungen. Gleichzeitig mit dem
ge Modifikation des Sauer- Ozonverlust stieg deren Konzentration in
stoffs als Schutzschild gegen der Luft an.
Während des „Polar Sunrise die schädliche UV-Strahlung
Experiment 2000“ nahe der
kanadischen Siedlung Alert
der Sonne. Die Ausdünnung Brom kurbelt
wurden mit diesem Mess- und Durchlöcherung dieses Vernichtungskreislauf an
turm meteorologische Daten Schildes ist das eigentlich
und Ozonwerte ermittelt. Bedrohliche am Rückgang Diese Beobachtung war Anlass, in meh-
des stratosphärischen Ozons. reren großen Feldkampagnen dem Phä-
Vor einigen Jahren wur- nomen auf den Grund zu gehen. So findet
de nun aber am Nordpol nun fast jedes Jahr im Frühling ein „Pola-
auch in der untersten Schicht res Sonnenaufgangsexperiment“ (PSE)
der Atmosphäre – der Tro- bei der Siedlung Alert in Kanada (82
posphäre – ein Ozonloch ge- Grad Nord) statt. Außerdem wurden auf
funden: Mehrmals im arkti- der europäischen Seite Messkampagnen
schen Frühling verschwindet auf Spitzbergen (79 Grad Nord) durchge-
über einer Fläche von eini- führt. Diese Untersuchungen haben we-
gen tausend Quadratkilome- sentlich dazu beigetragen, die Chemie
tern das Gas dort vollstän- der arktischen Ozonzerstörungs-Episo-
dig. Der Vorgang läuft sehr den aufzuklären. Danach gibt es auffal-
schnell ab: Innerhalb weni- lende Ähnlichkeiten, aber auch grundle-
ger Stunden kann alles Ozon gende Unterschiede zur Entstehung des
vernichtet sein. stratosphärischen Ozonlochs.
Anders als sein strato- In beiden Fällen kurbelt ein Stoff eine
sphärisches Gegenstück hat chemische Reaktion an, in deren Verlauf
dieses Ozonloch zwar keine Ozon zu normalem zweiatomigem Sau-
negativen Auswirkungen. Im erstoff-Gas abgebaut wird. Er wirkt dabei
Gegenteil: Ozon am Boden als so genannter Katalysator, der zwar in
ist in höheren Konzentratio- die Reaktion eingreift, selbst aber nicht
nen gesundheitsschädlich; verbraucht wird. Deshalb können bereits
das merken wir vor allem kleinste Mengen der Substanz eine enor-
beim Smog im Hochsom- me zerstörerische Wirkung entfalten.
mer. Dennoch war die ver- Beim stratosphärischen Ozonloch
JAN BOTTENHEIM, ENVIRONMENT CANADA

blüffende Beobachtung fas- spielt hauptsächlich Chlor die Rolle die-


zinierend und auch etwas be- ses Katalysators, beim neu entdeckten
unruhigend: Zeigte sie doch, Loch in der arktischen Troposphäre ist es
dass die Chemie der Atmo- dagegen das Brom, das in einer völlig
sphäre noch immer Überra- analogen Reaktion Ozon abbaut. So hat
schungen parat hat und die ein Messgerät an Bord des europäischen

12 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


Januar Februar März

Konzentration an Bromoxid

niedrig hoch

Messungen mit dem europäischen Radarsatel-


liten ERS-2 zeigen, dass auch im letztjährigen
Frühling wieder erhöhte Konzentrationen von
bodennahem Bromoxid, das bei der Zerstörung
von Ozon entsteht, in der Arktis auftraten.

April Mai Juni


während der Ozonabbau-Episoden nicht
ähnlich stark in der Luft anreichern wie
ANDREAS RICHTER, UNIVERSITÄT BREMEN

das Brom. Außerdem ließe sich so nicht


verstehen, warum das Ozon nur im Früh-
jahr verschwindet.
Die Erklärung ist vermutlich, dass
sich während der arktischen Nacht Salz-
aerosole am Rand der Packeiszone abla-
gern und dort allmählich ansammeln.
Sobald die Sonne im Frühling aufgeht,
aktiviert sie das Brom aus diesen Abla-
gerungen. Wenn es dann zusammen mit
Forschungssatelliten ERS-2 im Frühling inaktiver Form aufnehmen. Der Reakti-
frischen Meersalz-Aerosolen über das
wiederholt in der gesamten arktischen onszyklus beschleunigt sich somit selbst.
Packeis geweht wird, verursacht es dort
Troposphäre erhöhte Konzentrationen Diese so genannte Bromexplosion er-
die komplette Vernichtung des Ozons. In-
von Bromoxid (BrO) gemessen, das beim klärt, warum in kurzer Zeit alles Ozon
zwischen gibt es auch Hinweise darauf,
Ozon-Abbau vorübergehend entsteht. zerstört werden kann.
dass solche bodennahen Ozonzerstö-
Bereits ein Anteil von 1 zu 100 Milliarden Was aber ist die eigentliche Brom-
rungs-Episoden auch regelmäßig im ant-
Luftmolekülen reicht für das Zerstö- quelle, und wieso findet der Ozon-Abbau
arktischen Frühling auftreten.
rungswerk aus. nur im Frühjahr statt? Organische Brom-
Da Meerwasser die Hauptquelle des
Wie kann dieses sehr reaktionsfreudi- verbindungen menschlichen Ursprungs
zerstörerischen Broms ist, handelt es sich
ge Gas lange genug in der unteren Atmo- scheiden aus, weil die Sonnenstrahlung in
also um ein rein natürliches Phänomen.
sphäre bleiben, ohne durch die vielen Bodennähe nicht stark genug ist, um sol-
Dennoch kann es nicht isoliert von ande-
Stoffe dort in weniger reaktive Verbin- che Moleküle in ausreichender Menge zu
ren Bereichen der Atmosphärenchemie
dungen umgewandelt zu werden? Bei- spalten. Einen wichtigen Hinweis auf die
gesehen werden. Mit Computermodellen
spielsweise sollten winzige Schwebteil- Bromquelle lieferten meteorologische
untersuchen wir zur Zeit, ob reaktive Ha-
chen – so genannte Aerosolpartikel – Beobachtungen. So kommt es nur dann
logene (Chlor, Brom und Iod) auch in
Bromverbindungen aus der Luft aufneh- zum Abbau des Ozons, wenn der Wind
anderen Regionen und Jahreszeiten eine
men und sie auf diese Weise abfangen. vom Meer her weht. Demnach dürfte das
Rolle in der Ozonchemie über den Ozea-
Genauere Untersuchungen zeigten je- Brom aus dem Meerwasser stammen.
nen spielen können. Diese Simulationen
doch, dass die Aerosolpartikel in Wahr- Allerdings wird es nicht direkt von
sowie die Feldmessungen und Auswer-
heit genau das Gegenteil bewirken. In ih- der See herangeführt, da sich andere
tungen von Satellitendaten führen wir zu-
rem Inneren finden chemische Reaktio- Komponenten von Meersalz-Aerosolen
sammen mit anderen deutschen (in Bre-
nen statt, die inaktive Bromverbindungen
men und Heidelberg) und ausländischen
wie Bromwasserstoff in einer Art Recyc-
Arbeitsgruppen durch.
ling wieder in reaktive Formen wie zwei-
Noch sind die Atmosphärenforscher
atomiges Brom verwandeln und sie in die
erst dabei, die komplexen Zusammenhän-
Gasphase zurückbefördern, wo sie ihr
ge zwischen Luftverschmutzung, Klima-
Zerstörungswerk fortsetzen.
änderung und stratosphärischem Ozon-
Hinzu kommt, dass ein Teil der Aero-
loch zu verstehen. Umso wichtiger ist es,
solpartikel aus Salzwasser-Tröpfchen
unerwartete Befunde mit den bekannten
vom Meer besteht. Diese enthalten ihrer-
Tatsachen in Einklang zu bringen. ■
seits Brom und schleusen es in den Kreis-
lauf ein. Dadurch können sie mehr reakti-
ve Bromverbindungen erzeugen als sie in Dr. Rolf Sander befasst sich in der Abteilung
Chemie der Atmosphäre am Max-Planck-
Institut für Chemie in Mainz unter anderem
Im hier vereinfacht dargestellten Kreislauf der mit der Computermodellierung von Halogen-
Ozonzerstörung bilden sich in Aerosolteilchen re- und Ozonchemie in der Troposphäre.
aktive Bromverbindungen wie Bromchlorid (BrCl) Dr. Paul J. Crutzen leitete diese Abteilung bis
oder Dibrom (Br2), aus denen durch Einwirkung Juli 2000. Für seine Untersuchungen zur
des Sonnenlichtes Brom-Radikale (Br) entstehen. Ursache des Ozonlochs erhielt er 1995 den
Diese reagieren mit Ozon zu normalem Sauerstoff Chemie-Nobelpreis. Weblink: www.mpch-
ROLF SANER

und Bromoxid, das in Aerosolteilchen wieder in re- mainz.mpg.de/~sander/res/spektrum.html


aktive Bromverbindungen zurückverwandelt wird.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 13


MONATSSPEKTRUM

SINNESPHYSIOLOGIE logische Studien, dass die meisten Haar-


zellen von Säugetieren in einem elektri-
schen Wechselfeld von sich aus schwin-
Turbo im Ohr gen. Außerdem stellte sich heraus, dass
im Ohr selbst unentwegt Schwingungen
entstehen. Als so genannte otoakustische
Die Sinneszellen im Innenohr fungieren anscheinend Emissionen kann sie der Ohrenarzt heute
zugleich als mechanische Verstärker. Dabei nutzen sie auf der Außenseite des Trommelfells mit
einem Mikrofon hörbar machen. Ihr Feh-
offenbar ungewöhnliche Motorproteine, die elektrische len deutet in den allermeisten Fällen auf
statt chemischer Energie verbrauchen. Funktionsstörungen oder Defekte im In-
nenohr hin. Das Hörorgan funktioniert
also offenbar nicht nur als Empfänger für
Von Hanno Charisius nische Impuls durch den gesamten Zell- eintreffende Schallwellen, sondern er-
verband fort und verschiebt die Haarzel- zeugt selbst permanent Schwingungen.
len relativ zur Deckmembran. Die Ver-
war kann es das menschliche Gehör formungen lösen Nervenreize aus, die Aktive Vibrationen

Z bei weitem nicht mit dem von Hun-


den oder gar Fledermäusen aufneh-
men, trotzdem leistet es Beachtliches:
zum Gehirn geleitet werden, das dann
interpretiert, ob es sich bei dem Geräusch
um eine Opernarie oder das Pfeifen eines
verstärken Schall

Seit dieser Entdeckung überlegen Gehör-


Junge, gesunde Menschen nehmen Töne Teekessels handelt. forscher, ob und wie solche aktiven Vi-
über das weite Frequenzspektrum von 20 Bereits im Jahre 1948 postulierte brationen den eintreffenden Schall ver-
bis 20 000 Hertz wahr – und das in einem Tommy Jones, damals Astrophysiker an stärken könnten. Jetzt haben Biophysiker
breiten Empfindlichkeitsbereich; denn der Universität Cambridge, dass die um Frank Jülicher vom Curie-Institut in
das leiseste noch hörbare Geräusch ist Haarzellen keine einfachen Empfänger Paris ein mathematisches Modell entwi-
millionenmal schwächer als das lauteste, sind, sondern den eintreffenden Schall ckelt, das die Eigenschaften des Gehörs
das gerade die Schmerzgrenze erreicht. zusätzlich verstärken. Er stieß mit seinen und insbesondere die große dynamische
Der Hörvorgang ist buchstäblich eine Überlegungen allerdings auf taube Oh- Breite der Hörwahrnehmung sowie die
haarige Angelegenheit: Zellen im Innen- ren. Die Hörzellen, so die damalige Lehr- beachtlichen Verstärker-Effekte elegant
ohr, an deren Oberseite filigrane Härchen meinung, könnten wie eine angeschlage- auf ein einziges Funktionsprinzip zurück-
– so genannte Stereocilien – sitzen, ne Klaviersaite ausschließlich passiv auf führt (Proc. Nat. Acad. Sciences, Bd. 97,
wandeln die Schallwellen in elektrische eintreffenden Schall reagieren. Eine Ver- S. 3183). Demnach sollen die Hörzellen
Reize um (Bild unten). Die Haarzellen stärkung finde nur auf der Ebene der Ner- oder die Härchen permanent schwingen;
liegen zwischen zwei Membranen. Sie ven statt und nicht über ein mechanisches die Vibrationen würden aber durch einen
selbst sind unten mit der so genannten System im Hörorgan selbst. bislang unbekannten Mechanismus ge-
Basilarmembran verwachsen, während Doch dreißig Jahre später fanden sich dämpft. Mathematisch gesehen, befindet
die Stereocilien oben in eine Deckmem- tatsächlich Hinweise auf eine biomecha- sich dieses dynamische System an einer
bran ragen. Treffen Schallwellen auf die nische Verstärkung des Schalls im Ohr. so genannten Hopf-Verzweigung: Ein
untere Membran, pflanzt sich der mecha- Ende der siebziger Jahre zeigten physio- kleiner äußerer Einfluss, beispielsweise
eine eintreffende Schallwelle, bewirkt ei-
nen abrupten Wechsel aus dem gedämpf-
Als Schallwandler im Ohr dienen ten Zustand in ungehinderte, aktive Os-
Haarzellen, die in der Schnecke
zillationen und intensiviert dadurch die
zwischen Basilar- und Deckmem-
Schnecke bran eingebettet sind. An ihrer Geräuschwahrnehmung.
Oberseite sitzen feine Härchen, so Je nach ihrer Position im Hörorgan
genannte Stereocilien. Treffen spricht jede Sinneszelle dabei nur auf
Schallwellen auf die untere Mem- eine bestimmte Frequenz an und verstärkt
bran, pflanzt sich der mechanische ausschließlich diesen Anteil des Schalls.
Impuls durch den Zellverband fort Nach den Berechnungen der Pariser Wis-
und verschiebt die Haarzellen rela- senschaftler justiert ein zusätzlicher Me-
tiv zur Deckmembran. Die Verfor- chanismus das ganze System automatisch
mungen lösen Nervenreize aus, genau auf den kritischen Verzweigungs-
die zum Gehirn geleitet werden.
punkt ein.
Beim Menschen haben Physiologen
Stereocilie Dachmembran bisher lediglich die erwähnten Oszillatio-
K. SUTLIFF UND C. CAIN

nen der Haarzellen in einem elektrischen


Wechselfeld entdeckt; spontane Schwin-
gungen der Stereocilien ließen sich dage-
gen nicht beobachten. Härchen aus
äußere Haarzelle Froschohren führen jedoch, wie Pascal
Martin und Jim Hudspeth von der Rocke-
feller-Universität in New York kürzlich
herausfanden, auch ohne äußere Einflüs-
se permanente Bewegungen aus (Proc.
Basilarmembran
Nat. Acad. Sciences, Bd. 96, S. 14306).

14 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


Die Haarzellen selbst sind bei Amphibien Haarzelle ihre Form verändern, wenn alle anderen überlassen. Mit seinen Kollegen
– wie auch bei Vögeln oder Fischen – Moleküle gleichzeitig umspringen. plant er derzeit Experimente, das Prestin-
starr und reagieren nicht wie die von Säu- Um diese Vermutung zu überprüfen, Gen in Mäusen gezielt auszuschalten. So
gern auf elektrische Reize. Möglicher- bauten die Wissenschaftler das Prestin- wird sich zeigen, wie der Hörvorgang
weise arbeiten bei Säugetieren beide Me- Gen in kultivierte menschliche Nieren- funktioniert, wenn der vermutete Verstär-
chanismen – oszillierende Zellen und zellen ein, die sich normalerweise nicht ker-Effekt durch das Prestin wegfällt.
schwingende Härchen – zusammen. So rühren. Und tatsächlich: Beim Anlegen Daneben wollen die Wissenschaftler die
ließe sich die enorme Leistungsfähigkeit einer Wechselspannung fingen die mani- Struktur des Proteins genauer ermitteln,
des Gehörs von Säugern erklären, das im pulierten Nierenzellen unmittelbar an mit um so die Bestätigung für ihre Annahme
Tierreich unübertroffen ist. derselben Frequenz zu vibrieren. Für zu finden, dass die Zellbewegung durch
Jülicher und seine Kollegen gehen Dallos, der seit über dreißig Jahren das das Umschlagen der unterschiedlich ge-
davon aus, dass molekulare Motoren die Gehör untersucht, ist das ein eindeutiger ladenen Protein-Bereiche entsteht.
aktiven Vibrationen im Innenohr hervor- Beleg – auch wenn er noch keine Ahnung Außerdem bleibt zu klären, welche
rufen. Inzwischen haben Peter Dallos hat, wie im Ohr die nötigen Ladungsän- Aufgaben die übrigen Proteine haben, die
und seine Kollegen von der Northwestern derungen zu Stande kommen. in den bewegungslosen Haarzellen nicht
University in Evanston (Illinois) auch vorkommen. Vielleicht helfen sie dem
schon einen Kandidaten dafür aufge- Antrieb für Prestin dabei, die spontanen Eigen-
spürt. Es handelt sich um einen neuen molekulare Maschinen? schwingungen der Haarzellen von Säu-
Typ von Motorprotein. Er unterscheidet gern auszulösen. Sollten die kommenden
sich klar von den anderen bekannten Das neu entdeckte Motorprotein könnte Experimente die vermutete Rolle des
Zell-Motoren wie dem Kinesin im Zell- auch technische Anwendungen finden. Prestins nicht bestätigen, wäre auch das
skelett, dem Myosin aus den Muskeln Vielleicht lässt es sich eines Tages als noch ein Fortschritt: Dann müsste man
und dem Dynein, das bei der Bewegung Antrieb für Maschinen im Molekül-Maß- davon ausgehen, dass allein spontane
der Geißeln und Wimpern von Einzellern stab nutzen. Die anderen Motorproteine Schwingungen der Härchen den Verstär-
eine Rolle spielt; anders als diese benö- eignen sich dafür weniger, weil sie viel kungseffekt hervorrufen. ■
tigt er nämlich keine chemische Energie langsamer sind und chemische statt elek-
in Form des zellulären Energielieferanten trischer Energie benötigen.
Hanno Charisius ist Biologe und lebt
Adenosintriphosphat (ATP). Doch solche nanotechnologischen
als freier Journalist in München.
Um unbekannte Motorproteine in den Anwendungen will Dallos einstweilen
Säugetier-Haarzellen zu identifizieren
und näher zu charakterisieren, bedienten
sich Dallos und seine Kollegen einer ge-
schickten, aber aufwändigen Strategie
(Nature, Bd. 405, S. 149). Sie isolierten je
1000 aktiv vibrierende und passive Haar-
zellen aus dem Innenohr einer Wüsten-
springmaus und analysierten die beiden
Zelltypen auf molekulare Unterschiede.
In den vibrierenden fanden sie einige Pro-
teine, die beim anderen Zelltyp fehlen.
Gleich das erste davon, das sie näher un-
tersuchten, erwies sich als Volltreffer.
Zellen, in deren Membranen der Eiweiß-
stoff sitzt, können bis zu 80 000-mal pro
Sekunde hin und her schwingen. Nach
der in der Musik verwendeten Tempobe-
zeichnung presto – schnell – nannten die
Forscher das Protein deshalb Prestin.
Die Analyse seiner Aminosäure-
sequenz lieferte zwei bemerkenswerte
Erkenntnisse. Zum einen ähnelt Prestin
in seinem chemischen Aufbau einem
weit verbreiteten Transporter-Protein,
dem so genannten Pendrin. Zum anderen
enthält es zwei Abschnitte, die unter-
schiedliche elektrische Ladungen tragen.
Der positiv geladene Bereich liegt nur ein
paar Aminosäuren neben dem negativ ge-
ladenen am einen Ende der Aminosäure-
kette. Die beiden Abschnitte könnten da-
her die Bewegung der Haarzellen hervor-
rufen, indem sie im Takt einer angelegten
Wechselspannung hin- und herklappen.
Da die Zellmembran wahrscheinlich
dicht bepackt ist mit Prestin, würde die

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 15


MONATSSPEKTRUM

SEUCHENBEKÄMPFUNG Während das Immunsystem den


Wurmlarven wenig und den ausgewach-
senen Parasiten gar nichts anhaben kann,
Neues Impfkonzept erkennt es die etwa 0,05 mal 0,17 Milli-
meter großen Eier als Fremdkörper und

gegen Tropenseuche schließt sie in einem so genannten Gra-


nulom ein (Bild unten). Dieser Abwehr-
versuch erfolgt allerdings am untaugli-
chen Objekt und verursacht letztlich erst
Medikamentös lässt sich die Bilharziose nur durch regelmäßige die Krankheitssymptome. Das Granulom
Massentherapien bekämpfen, die aufwändig und teuer sind. verdrängt nämlich etwa das Hundertfa-
che des Eivolumens an gesundem Gewe-
Eine Alternative bietet ein neuartiger Impfstoff, der statt am be und wird, wenn das abgekapselte Ei
Parasiten bei der Immunreaktion gegen dessen Eier ansetzt. nach einigen Monaten abstirbt, durch
eine bindegewebige Narbe ersetzt. Bei
Von Hermann Feldmeier Die erwachsenen Würmer schmarot- Personen mit einigen Hundert Wurmpaa-
zen in der Endstrombahn der Beckenor- ren – im Endemiegebiet keine Seltenheit
gane – Schistosoma haematobium vor- – entstehen so innerhalb weniger Jahre
indestens 200 Millionen Menschen wiegend in den Venen der Blase und der Millionen winziger Narben, die bei-

M in Afrika, Asien und Südamerika


leiden an einer oder mehreren For-
men der Bilharziose – einer Infektion
Harnleiter, die anderen Arten primär in
den Venen des Dickdarms. Sie leben dort
in einem Zustand lebenslanger Kopula-
spielsweise einen großen Teil des norma-
len Lebergewebes verdrängen. Schließ-
lich werden Harnleiter, Blase oder Leber
durch so genannte Pärchenegel (Schisto- tion. Die Weibchen produzieren mehrere auf diese Weise fast völlig zerstört –
somen). Die Seuche ist überall dort ver- Dutzend bis einige Hundert Eier pro Tag. Siechtum und Tod sind programmiert.
breitet, wo Menschen regelmäßig Haut- Diese versuchen die Wand von Blase Zwar gibt es gegen die adulten Wür-
kontakt mit offenen Gewässern haben beziehungsweise Darm zu durchbohren, mer ein wirksames Medikament, doch da
und wegen schlechter hygienischer Ver- um dann passiv mit den Exkrementen sich die Menschen unter den herrschen-
hältnisse Stuhl und Urin in Flüsse, Seen den Körper zu verlassen. Etwa die Hälfte den Verhältnissen immer wieder infizie-
oder Kanäle gelangen, in denen spezielle der Eier bleibt allerdings im Gewebe ste- ren, müssen die Patienten – und sinnvol-
Arten von Schnecken den Schistosomen cken oder wird mit dem Blutstrom in die lerweise häufig die gesamte Bevölkerung
als Zwischenwirte dienen (siehe Kasten Leber geschwemmt, wo sie die feinen – Jahr für Jahr erneut behandelt werden.
rechts oben). Verästelungen der Pfortader verstopfen. Regelmäßige Massentherapien üben je-
doch unweigerlich einen Selektionsdruck
auf die Parasitenpopulation aus – mit der
Folge, dass über kurz oder lang resistente
Mutanten entstehen. Eine Impfung hätte
demgegenüber große Vorteile.
Allerdings ist es bisher nicht gelun-
gen, einen Impfstoff zu entwickeln, der
wirksam vor einer Infektion mit den Pär-
chenegeln schützt. Immerhin zeichnen
sich nun jedoch Erfolge bei einer ande-
ren, völlig neuartigen Immunisierungs-
strategie ab. Sie richtet sich nicht gegen
die ausgewachsenen Schmarotzer selbst,
sondern gegen deren Eier oder genauer:
gegen die überzogene Abwehrreaktion
des Körpers diesen Eiern gegenüber.
Die Probleme mit der Impfung gegen
Bilharziose haben vielfältige Gründe. So
entwickelt sich eine schützende Immuni-
tät gegen Schistosomen beim Menschen
nur sehr langsam – und ihre Effizienz ist
mehr schlecht als recht. Zwar gelingt es
dem Immunsystem nach 10 bis 15 Jahren

Für das chronische Stadium der Bil-


harziose sind nicht die Pärchenegel
selbst, sondern ausschließlich ihre Eier
HERBERT THOMAS, BAYER AG

verantwortlich. Sie bleiben teilweise


im Gewebe stecken, wo sie heftige
Entzündungen hervorrufen. Jedes Ei
sitzt dann – wie dieser gefärbte Gewe-
beschnitt einer Leber zeigt – mitten in
einem Mikroabszess, einem Granulom.

16 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


Infektionskreislauf der Pärchenegel

Ein tückischer Parasit


D ie Bilharziose ist eine tropische Wurm-
infektion, die der deutsche Arzt Theo-
dor Bilharz 1851 bei Obduktionen in ei-
se und verankern sich mit ihren Saugnäp-
fen an deren Innenwänden.
Von nun an produzieren die weiblichen
nem Krankenhaus in Kairo entdeckt hat. Parasiten jeden Tag Dutzende bis Hunder-
Der Mensch infiziert sich beim Kontakt mit te von Eiern, die die Wand der feinen Blut-
Wasser, das so genannte Gabelschwanz- gefäße durchbohren und so in Blase oder

HERBERT THOMAS, BAYER AG


larven enthält. Diese durchbohren in Minu- Darm gelangen. In Gegenden ohne ausrei-
tenschnelle die Haut und begeben sich chende sanitäre Einrichtungen werden die
dann auf eine komplizierte Wanderung Eier mit dem Urin oder Stuhl in Flüsse,
durch den Körper, während der sie ausrei- Seen oder Bewässerungsgräben befördert.
fen. Nach etwa sieben Wochen erreichen Die daraus schlüpfenden Larvenstadien
die erwachsenen getrennt geschlechtli- dringen in Süßwasserschnecken ein, wo
chen Würmer, die zu den Egeln gehören, sie ihre ersten Entwicklungsstadien durch- Das Egelmännchen umhüllt das
die Blutgefäße der Darmwand und der Bla- laufen, bevor sie den Menschen befallen. Weibchen mit den Seitenlappen.

des „Lernens“, mehr und mehr junge, ge- mit dem Pärchenegel selbst unterbindet, ruft eine Immunisierung mit GST eine
rade in den Körper eingedrungene Schis- dann wäre einer, der vom Ei ausgelöste deutlich stärkere Abwehrreaktion hervor
tosoma-Larven „abzufangen“, bevor sie Krankheitsfolgen verhindert oder min- als eine natürliche Infektion.
zu reproduktionsreifen Würmern heran- dert, bereits ein Fortschritt. Zwei Wege Die Gruppe um André Capron am In-
wachsen können; gegen die adulten Tie- für eine solche Anti-Krankheits-Vakzine stitut Pasteur in Lille hat seit einigen Jah-
re, die bereits im Körper schmarotzen wurden in jüngster Zeit beschritten – mit ren systematisch ausgelotet, wie das in
und eine Lebenserwartung von bis zu 30 ersten Erfolgen. Bakterien klonierte Enzym am effizien-
Jahren haben, sind die Abwehrkräfte al- Ein Konzept zielt darauf ab, die Bil- testen als Vakzine wirkt. Wie üblich zeig-
lerdings machtlos. Dieses Phänomen tritt dung der Eigranulome zu verhindern oder te sich, dass die Wahl eines Adjuvans –
in der vielfältigen Welt der Parasiten gar deren Volumen zu verkleinern. Das Ent- eines die Immunisierung fördernden,
nicht so selten auf. stehen der Granulome wird über Boten- aber selbst nicht als Antigen wirkenden
Bis heute ist nicht ganz klar, wie stoffe gesteuert (in der Maus zum Bei- Hilfsstoffes – eine große Rolle spielt. Je
diese „Minimalimmunität“ zu Stande spiel die Interleukine IL-4, IL-10 und IL- nach Tiermodell ließ sich die Eiproduk-
kommt. Tiermodelle, in denen man die 13), für deren Freisetzung bestimmte tion um 50 bis 80 Prozent reduzieren. Im
komplexen Hintergründe analysieren Antigene des Parasiten sorgen. Die Idee gleichen Maße verringerten sich auch die
könnte, stifteten bislang mehr Verwir- ist nun, durch Impfung mit modifizierten Schäden, welche die Eier in Blase, Harn-
rung als Einsicht: In so verwandten Tier- Antigenen die Immunreaktion so abzu- leiter oder Leber anrichten.
arten wie Maus und Ratte wurden völlig wandeln, dass vorwiegend entzündungs- In so genannten Phase-I-Studien hat
konträre Mechanismen identifiziert. Ein- hemmend wirkende Botenstoffe wie IL- sich bereits erwiesen, dass die GST-Vak-
zig eine seltene afrikanische Affenspe- 12 entstehen, die mäßigend auf die Bil- zine gegen S. haematobium frei von uner-
zies (Erythrocebus patas) hat sich bis- dung von Granulomen einwirken. Die wünschten Nebenwirkungen bei gesun-
lang als ein Modell erwiesen, aus dem Realisierung der Idee ist freilich nicht den Personen ist. Seit dem Sommer letz-
man Schlussfolgerungen für die Situation über erste Versuche hinausgekommen. ten Jahres läuft auch eine erste Phase-II-
beim Menschen ziehen kann. Studie im Senegal, die den Wirksam-
Jedenfalls sind die Schistosomen in Immunisierung drosselt keitsnachweis unter realistischen Bedin-
der Lage, bestimmte Komponenten des Eiproduktion gungen erbringen soll. Die Ergebnisse,
Immunsystems in ihrem Sinne zu „mani- die frühestens in zwei Jahren vorliegen
pulieren“. Dadurch werden zum Beispiel Bereits weiter fortgeschritten ist der dürften, werden von der Fachwelt mit
wirklich Schutz gewährende Mechanis- zweite Ansatz: die Entwicklung einer Spannung erwartet. Schließlich handelt
men unterdrückt und stattdessen Subpo- Vakzine, welche die Fertilität der weibli- es sich nicht nur um die erste Vakzine
pulationen von weißen Blutkörperchen chen Würmer einschränkt. Dieser Taktik gegen einen vielzelligen Parasiten beim
(T-Lymphocyten) aktiviert, die gegen liegt die Überlegung zu Grunde, dass Menschen, sondern zugleich um eine
Schistosomen nichts ausrichten können. umso weniger Granulome und damit völlig neue Kategorie von Impfstoffen –
Diese „Immunmodulation“ hat unter an- Narben in lebenswichtigen Organen ent- sind doch alle bislang entwickelten Vak-
derem zur Folge, dass Bilharziosepatien- stehen, je weniger Eier die weiblichen zinen dafür gedacht, das Eindringen von
ten mit gewissen Virusinfektionen nicht – Pärchenegel produzieren. Krankheitserregern zu verhindern, ihre
oder nur verzögert – fertig werden. Als Schlüsselmolekül hat sich hier- Vermehrung zu bremsen oder die freige-
Ein wie immer gearteter Impfstoff bei das Enzym Glutathion-S-Transferase setzten Giftstoffe zu neutralisieren. Wenn
müsste also deutlich mehr schaffen, als (GST) herauskristallisiert, das für die sich der neue Ansatz bewährt, könnte er
die Natur selbst leistet. Dass dies schwie- Fortpflanzung der Parasiten essenziell auch gegen andere Parasiten bessere Be-
rig ist, zeigen 30 Jahre bislang weitge- ist. Jede Schistosomenspezies verfügt kämpfungsmöglichkeiten eröffnen. ■
hend vergeblicher Bemühungen um die über eine charakteristische Variante die-
Entwicklung einer Bilharziose-Vakzine ses Enzyms. Die GSTs von S. haematobi- Prof. Dr. med. Hermann Feldmeier
für Menschen. um und S. mansoni lassen sich bereits in lehrt an der Freien Universität
Lässt sich schon kein zuverlässiger gentechnisch veränderten Bakterien in Berlin Tropenmedizin.
Impfstoff entwickeln, der die Infektion großen Mengen herstellen. Tatsächlich

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 (Seiten 18 bis 21: Anzeige und Beihefter) 17
MONATSSPEKTRUM

NACHGEHAKT

Die unerträgliche Gleichartigkeit des Scheins Wahl stellen, wie die Eisverkäufer
eigentlich alle dasselbe anzubieten,
oder zumindest ist für den Wähler
kein wesentlicher Unterschied erkenn-
E s war ein Schmetterlingseffekt der
besonderen Art, mit kleinen Pa-
pierzipfeln in unvollständig gelochten
Preis anzubieten, also läuft jeder Kunde
zu dem Verkäufer, der ihm näher steht.
Welches sind die optimalen Standorte für
bar. Jeder „Kunde“ wählt den Kandi-
daten, der seiner eigenen Position am
Stimmzetteln anstelle der Schmetter- die Eiswagen? nächsten steht; das wissen die Kandi-
lingsflügel. Aber der Effekt war in der Der erste Gedanke ist: bei einem Vier- daten und nehmen ungeachtet ihrer
Tat erheblich, und „Chaos“ ist ein an- tel und drei Vierteln der Strandlänge. eigenen Überzeugung die Position ein,
gemessenes Wort für den Ausgang der Dann hat nämlich jeder Kunde höchstens die ihnen am meisten Stimmen ein-
letzten amerikanischen Präsident- eine Viertelmeile und der Durchschnitts- bringt. Da sie dabei das Verhalten des
schaftswahl (der noch unklar ist, wäh- kunde nur eine Achtelmeile zu laufen. Konkurrenten genau beobachten, lan-
rend diese Zeilen in Druck gehen). Die „Wasserscheide“, also der Punkt, der den sie irgendwann beide völlig un-
Eigentlich ist es nichts weiter als die Einzugsgebiete beider Verkäufer unterscheidbar in der Mitte. So sehen
eine Messung, nämlich des Volkswil- trennt, liegt genau in der Strandmitte. das die Wähler auch und verteilen ihre
lens. Aber auf eine Messgenauigkeit Leider ist diese Lösung sozialistisch: Stimmen zu gleichen Teilen auf beide
von 10–6 (wenige hundert unter mehr gut für das (eisessende) Volk, aber nur Kandidaten – so präzise, dass kleine
als 100 Millionen Wählern) war das durch Dekret durchsetzbar, denn sie ist Abweichungen unmäßig große Folgen
politische System verständlicherweise nicht stabil unter dem freien Spiel der haben.
nicht vorbereitet. Marktkräfte. Einer der Verkäufer hat ei- Die Situation ändert sich nicht we-
Ist ein derart knapper Ausgang ein nen guten Grund, seinen Wagen ein sentlich, wenn – wie üblich – der
historischer Zufall ohne tiefere Bedeu- Stück Richtung Strandmitte zu schieben, „Strand“ nicht gleichmäßig bevölkert,
tung, oder musste es irgendwann so denn dadurch verrückt er die Wasser- sondern die Mitte des politischen
kommen? Gibt es Tendenzen, die ein scheide ein Stück zu seinen Gunsten, Spektrums stärker besetzt ist als die
Kopf-an-Kopf-Rennen begünstigen? ohne an seinem Ende des Strandes Kun- Extreme; es verschärft sich nur der
Das amerikanische Wahlmänner- den zu verlieren: Die müssen zwar ein Drang zur Mitte. Anders wird es erst,
system ist nicht verantwortlich, im wenig weiter laufen, haben aber keinen wenn die Bevölkerung in zwei Lager
Gegenteil: Von Anlass, zur Konkur- mit einer kamelhöckerartigen Dichte-
seiner Idee her ist renz zu wechseln. verteilung gespalten ist.
es darauf ausge- Gore-Eis oder Bush-Eis – Für den anderen Ver-
legt, kleine Un-
terschiede zu ver-
gröbern, indem
wo ist der Unterschied?
käufer gilt genau
dasselbe, denn die
Situation ist völlig
N atürlich gibt es jede Menge Ein-
wände gegen diesen Vergleich.
Das politische Spektrum ist nicht so
die entscheiden- symmetrisch. Also eindimensional wie der Strand, die
den Stimmen nur in Blöcken einer ge- rücken sie beide unaufhaltsam aufeinan- Persönlichkeit eines Politikers spielt
wissen Mindestgröße, nämlich bun- der zu, bis sie sich in der Mitte treffen. vielleicht doch eine Rolle, und
desstaatenweise, vergeben werden. Das ist schlecht für die Eisesser, die schließlich geht nicht jede Wahl so
Die deutsche Fünfprozentklausel ver- jetzt den doppelten Weg zurückzulegen knapp aus. Schon recht – man soll
folgt mit anderen Mitteln denselben haben, sowohl im Mittel als auch im Ex- eine mathematische Abstraktion nicht
Zweck: klare Verhältnisse zu schaffen, tremfall, und nicht besonders gut für die über ihren Gültigkeitsbereich hinaus-
selbst wenn der Wille des Volkes so Verkäufer, denn sie haben genau densel- treiben. Wenn dabei Unfug heraus-
klar nicht ist. ben Marktanteil, wie wenn sie auf ihren kommt, liegt das nicht unbedingt an
sozialistischen Plätzen stehen geblieben der Abstraktion.
Immerhin hilft sie einen Aspekt
B egeben wir uns zur besseren Über-
sicht auf einen abstrakteren
Standpunkt. Betrachten wir aus-
wären. Schlimmer noch: Der Umsatz
sinkt, denn einigen Leuten vom äußers-
ten Ende des Strandes ist der weite Weg
der deutschen Situation in einem
neuen Licht zu sehen. Nehmen wir an,
schließlich die Situation im Staate Flo- zu dumm geworden. Gleichwohl rücken ein Start-Up-Unternehmer sieht die
rida und vernachlässigen wir die vielen die Verkäufer nicht voneinander ab, denn vielen potenziellen Kunden am Rande
chancenlosen Kandidaten. Es bleiben sie stecken in einer Falle, die als Nash- des Strandes, die wegen des weiten
zwei Einzelpersonen, die jeder unter Gleichgewicht in die Wirtschaftstheorie Wegs auf das Eis verzichten, und
Einsatz beträchtlicher Mittel möglichst eingegangen ist: Die Lage ist nicht unbe- schnappt mit einem neuen Eiswagen
viele „Kunden“ für sich zu gewinnen dingt optimal, aber stabil, weil jeder, der vom Rand her den Etablierten die
suchen. sich alleine bewegt, sich dadurch ver- Kunden weg. Da rückt doch lieber ei-
Noch ein bisschen mehr – nicht schlechtern würde. Heraushelfen könnte ner von ihnen aus seiner Mitte-Posi-
unbedingt realitätsferne – Abstraktion, allenfalls vertrauensvolle Kooperation, tion nach außen, als den
und man landet beim berüchtigten womit man beim nicht minder berüchtig- Neuen hochkommen zu las-
Problem der Eisverkäufer am Strand, ten Gefangenendilemma wäre (Spektrum sen. Oder wie Edmund
das Harold Hotelling 1929 in die der Wissenschaft Digest 1/1998 „Koope- Stoiber kürzlich sagte: „Es
Wirtschaftswissenschaften eingeführt ration und Konkurrenz“). darf keine Volkspartei rechts
hat. Der Strand ist eine Meile lang und In seinem Buch „Synergetik“ ver- von der Union geben.“
gleichmäßig dicht mit Sonnenhungri- gleicht Hermann Haken den Strand mit Christoph Pöppe
gen bevölkert. Irgendwo stehen zwei dem Spektrum der politischen Positio-
Eisverkäufer mit ihren Wagen. Beide nen, sagen wir von links bis rechts. Dem- Der Autor ist Redakteur bei
haben genau dasselbe zum gleichen nach haben die Kandidaten, die sich zur Spektrum der Wissenschaft.

22 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


OPTIK her Auflösung liefert. Dabei beleuchtet
man eine Probe mit einer Lichtquelle, die
sehr viel kleiner ist als die Wellenlänge
Mikroskopie mit einem des von ihr ausgesandten Lichts, aus ei-
ner Entfernung von weniger als der

Molekül als Lichtquelle Lichtwellenlänge (Spektrum der Wissen-


schaft 11/97, S. 27). Es heißt, die Probe
befinde sich im Nahfeld der Lichtquelle.
Die Analyse der durchgelassenen Photo-
Wissenschaftler an der Universität Konstanz konnten erstmals nen gibt dann Aufschluss über die loka-
ein Objekt abbilden, indem sie es mit nur einem einzigen len optischen Eigenschaften des Untersu-
chungsobjekts.
fluoreszierenden Molekül beleuchteten. Das Verfahren Wie klein der betrachtete Bereich ist,
verspricht Auflösungen für Lichtmikroskope bis fast in den hängt nur vom Durchmesser der Licht-
atomaren Bereich. quelle und von ihrem Abstand zur Probe
ab. Bewegt man das Untersuchungsob-
jekt in kleinen Schritten unter der Licht-
Von Jens Michaelis, Christian dann als getrennte Punkte, wenn sie wei- quelle vorbei und nimmt jeweils das Si-
Hettich und Jan Zitzmann ter als etwa eine halbe Wellenlänge von- gnal auf, so kann man Punkt für Punkt
einander entfernt sind. ein Bild zusammensetzen. Dabei agiert
Zur Untersuchung von noch feineren die Lichtquelle gleichsam als Sonde. Ent-
ehen heißt verstehen“ – diese Rede- Strukturen wurden deshalb zunächst an- sprechend heißt diese Methode optische

S wendung illustriert den engen Zu-


sammenhang zwischen der opti-
schen Wahrnehmung und dem menschli-
dere Arten der Mikroskopie entwickelt,
insbesondere die Elektronen- oder die
Kraftmikroskopie. Damit kann man be-
Rastersondenmikroskopie oder SNOM
(nach englisch: Scanning Near-field Op-
tical Microscopy).
chen Denken. Kein anderes Sinnesorgan stimmte Eigenschaften einer Probe unter- Zur Entwicklung eines hochauflösen-
liefert mehr Informationen in kürzerer suchen – etwa ihre elektrische Leitfähig- den optischen Nahfeldmikroskops benö-
Zeit als das Auge, erfasst es doch drei keit oder Rauigkeit. Die optischen Eigen- tigt man zunächst eine Nano-Lichtquelle
Raumdimensionen und Farbe auf einmal. schaften eines Objektes wie Farbe oder mit entsprechend kleinen Abmessungen.
Aber auch das Gehirn ist in hohem Maße Opazität bleiben dagegen verborgen. Ge- Meist dient dafür eine Glasfaser, in deren
auf die Verarbeitung optischer Reize kon- rade darin stecken jedoch wichtige zu- eines Ende Licht eingekoppelt wird, so-
ditioniert. So verwundert es nicht, dass in sätzliche Informationen, die Aufschluss dass das andere Ende als leuchtende Son-
der Wissenschaft abbildende Verfahren über die Materialeigenschaften geben. de dient. Um die Austrittsfläche des
einen enormen Beitrag zum Erkenntnis- Im Jahre 1984 stellten Dieter Pohl, Lichts möglichst klein zu halten, spitzt
fortschritt geleistet haben und immer Wilfried Denk und M. Lanz am For- man die Glasfaser an und überzieht sie
noch leisten. schungslaboratorium der Firma IBM in mit einem Metallfilm, der an der Spitze
Auf dem Weg zur Erforschung der Rüschlikon (Schweiz) eine Methode vor, ein kleines Loch hat. Der Durchmesser


Welt des Kleinen bildete beispielsweise die auch optische Informationen mit ho- dieser Öffnung bestimmt die Größe der
die Erfindung des Mikroskops durch An-
tony van Leeuvenhoek im Jahre 1683 ei- Lichtleitfaser Glasfaser
nen wichtigen Meilenstein (Spektrum der
Wissenschaft 6/98, S. 68). Seit damals
konnte die Leistungsfähigkeit dieses In-
struments immer weiter verbessert wer-
den, sodass es auch heute noch enorme Anregungslicht
Bedeutung hat. floureszierendes 2 Mikro-
Wie Ernst Abbé 1874 herausfand, Molekül meter
JENS MICHAELIS, CHRISTIAN HETTICH UND JAN ZITZMANN

lässt sich durch Verbesserung der opti- 30 Nanometer


schen Qualität die Auflösung von Mikro-
skopen allerdings nicht beliebig steigern.
Linsen können einen Lichtstrahl nur auf
eine Größe fokussieren, die etwa der durchgelas- durchgelasse-
Untersuchungsobjekt
Wellenlänge des Lichtes entspricht – ty- senes Licht nes Licht
pischerweise rund 500 Nanometer; klei-
nere Details lassen sich deshalb nicht da-
mit auflösen. Man muss jedoch zwischen elektronische Lichtdetektoren
„noch sehen“ und „auflösen“ unterschei-
den. Eine Punktlichtquelle mit einem
Durchmesser von einem Nanometer – et-
Im Nahfeldmikroskop wird eine Lichtquelle punktweise über das abzubildende
wa ein leuchtendes Molekül – kann man Objekt geführt; je geringer ihr Durchmesser und ihr Abstand vom Objekt, desto
mit einem Mikroskop durchaus sehen, besser ist die Auflösung. Üblicherweise wird die Probe durch eine mit Metall be-
wenn sie nur hell genug ist. Dem Auflö- schichtete Glasfaserspitze beleuchtet (links). Eine noch kleinere Lichtquelle erhält
sungsvermögen sind dagegen physikali- man jedoch, wenn man ein einzelnes fluoreszierendes Molekül in einem Träger-
sche Grenzen gesetzt: Zwei benachbarte kristall auf einem Glasfaserende selektiv zum Leuchten bringt, indem man es bei
leuchtende Moleküle erscheinen nur sehr tiefer Temperatur mit Laserlicht passender Frequenz bestrahlt (rechts).

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 23


MONATSSPEKTRUM

moleküloptische Aufnahme Die Abbildung von Metalldreiecken Forschungszentrum der Firma IBM in
auf Glas mit dem Einzelmolekül- San Jose (Kalifornien) – inzwischen ist
Nahfeldmikroskop (oben) zeigt die Moerner an der Stanford-Universität
Intensität des durchgelassenen Flu- (Kalifornien) – und von Michele Orrit am
oreszenzlichts. Dagegen liefert die
Centre de Physique Moleculaire Optique
Rasterkraftmikroskop-Aufnahme
(unten) Informationen über die Hö- et Hertzienne in Bordeaux gezeigt.
he der Dreiecke. Die Messwerte Um diese Lichtquelle als Rastersonde
sind jeweils farblich kodiert. Die einzusetzen, klebten wir den nur zwei
optische Aufnahme hat eine relativ Mikrometer großen Trägerkristall auf die
geringe Auflösung, weil sich das Spitze einer herkömmlichen Glasfaser,
zufällig ausgewählte fluoreszieren- die das Anregungslicht lieferte. So konn-
de Farbstoffmolekül offenbar tief im ten wir ihn mitsamt dem fluoreszieren-
Inneren des Trägerkristalls und so- den Molekül gezielt positionieren. Dann
mit nicht in unmittelbarer Nähe der mussten wir die Sonde nur noch in einer
Durchlässigkeit abzubildenden Strukturen befand.
Apparatur unterbringen, die sich tief ge-
0 1 nug abkühlen ließ.
Eine erste Aufnahme mit dieser neuen
Im Prinzip bieten sich einzelne Moleküle Art der Mikroskopie ist im nebenstehen-
rasterkraftmikroskopische Aufnahme an – schließlich haben sie Durchmesser den Bild gezeigt. Als Probe diente eine
von nur etwa einem Nanometer. Tatsäch- Glasplatte, auf der kleine Aluminium-
lich konnten wir demonstrieren, dass eine dreiecke sitzen. Zum Vergleich ist auch
Beleuchtung mit einem einzigen Molekül eine Rasterkraftaufnahme desselben Ob-
realisierbar ist (Nature, Bd. 405, S. 325). jekts wiedergegeben. Der Unterschied
Damit eröffnet sich die Möglichkeit, erst- fällt unmittelbar ins Auge: Während die
JENS MICHAELIS, CHRISTIAN HETTICH UND JAN ZITZMANN

mals Details optisch abzubilden, die an- Rasterkraftaufnahme die Höhe der Alu-
nähernd atomare Dimensionen erreichen. miniumdreiecke darstellt, zeigt das opti-
Wie kann man ein isoliertes Molekül sche Bild ihre lokale Durchlässigkeit für
zum Leuchten bringen? Die Antwort Licht einer bestimmten Frequenz. Beide
heißt Fluoreszenz: Die Moleküle be- Methoden liefern also völlig andere, sich
stimmter Farbstoffe lassen sich mit ener- ergänzende Informationen.
giereichem Licht anregen und strahlen
dieses dann bei etwas größeren Wellen- Optische Abbildung
Höhe in Nanometern längen wieder ab. Durch einen Filter von Molekülen?
kann man das schwache Fluoreszenz-
0 40
vom Anregungslicht trennen. Was die Auflösung der Aufnahme an-
Um nun ein einzelnes fluoreszieren- geht, bleibt sie mit rund 200 Nanometern
des Molekül gleichmäßig im Abstand allerdings noch weit hinter den Erwar-
Lichtquelle. Mit Techniken, die von an- von wenigen Nanometern über eine Pro- tungen zurück. Das hat einen einfachen
deren hochauflösenden Rastersondenme- be zu führen, muss man es vorher fixie- Grund. Wie schon erwähnt, hängt die er-
thoden bekannt sind, bringt man die Fa- ren. Dazu baut man es in einen Träger- reichbare Auflösung nicht nur von der
serspitze sehr nahe an eine Probe heran kristall ein. Allerdings existiert kein Ver- Größe der Lichtquelle, sondern auch von
und behält diesen Abstand während des fahren, mit dem sich genau ein Farbstoff- deren Abstand zur Probe ab. Zwar lässt
Abrasterns bei. molekül in einem Träger unterbringen sich der Trägerkristall sehr nahe an die
Mit einem solchen Mikroskop lassen ließe; stets gelangen mindestens einige Glasoberfläche bringen, die Position der
sich typischerweise 50 bis 100 Nanome- Tausend in einen wenige Mikrometer Moleküle im Kristall ist jedoch nicht ge-
ter große Details abbilden. Eine noch hö- großen Kristall. Zum Leuchten angeregt nau bekannt. Die zufällig ausgewählte
here Auflösung scheitert daran, dass dün- werden darf aber nur eines davon. Wie ist Lichtquelle kann sich also auch tief im
ne Metallfilme Licht zwar weitgehend, das möglich? Innern des Trägers befinden und somit
aber nicht vollständig blockieren. Man Glücklicherweise bietet die Natur nicht nah genug an der Probe sitzen. Das
erinnere sich nur an die Schutzbrillen zur eine elegante Lösung. Die Farbstoffmo- war bei unserem Experiment offenbar der
Beobachtung der Sonnenfinsternis vor leküle im Kristall befinden sich alle in Fall. Unsere weiteren Anstrengungen ge-
eineinhalb Jahren, durch deren metalli- einer leicht unterschiedlichen atomaren hen nun dahin, gezielt Moleküle anzu-
sche Folie die Sonnenscheibe gut zu er- Umgebung, sodass auch ihre Anregungs- sprechen, die am äußeren Ende des Kris-
kennen war. Da der Metallfilm rund um frequenzen geringfügig differieren. Bei talls sitzen.
eine SNOM-Spitze sehr dünn ist, sind die Raumtemperatur verwischen die starken Ein weiteres Ziel ist, Fluoreszenz-
Ränder des Lochs nicht scharf, sodass es Wärmebewegungen im Kristall norma- farbstoffe zu finden, die sich auch bei
effektiv größer wirkt. Die kleinsten rea- lerweise diese Unterschiede. Kühlt man Raumtemperatur als Einzelmolekül-
lisierbaren effektiven Lochdurchmesser aber auf –271 Grad Celsius ab und regt Lichtquelle eignen. Nur unter dieser Vo-
betragen etwa 30 Nanometer. die Fluoreszenz mit einem Laser passen- raussetzung lässt sich die optische Nah-
In der Nanooptik-Gruppe von Vahid der Frequenz an, lässt sich gezielt nur feldmikroskopie für Untersuchungen im
Sandoghdar am Lehrstuhl von Jürgen jeweils ein Molekül zum Leuchten brin- Bereich der Medizin und Biologie nut-
Mlynek an der Universität Konstanz gen. Auf diese Weise erhält man eine zen. Ein Nachteil der bisher bekannten
wollten wir uns damit nicht zufrieden ge- Einzelmolekül-Lichtquelle; das haben Fluoreszenzfarbstoffe ist auch, dass sie
ben. Wir machten uns deshalb auf die schon vor über zehn Jahren die Gruppen an der Luft nach ein paar Minuten mit
Suche nach noch kleineren Lichtquellen. von William E. Moerner am Almaden- Sauerstoff reagieren. Dabei erlischt die

24 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


Fluoreszenz, und der Farbstoff bleicht tisch abzubilden. Biologen hätten dann
aus. Zur Zeit bemühen sich viele Wissen- ein fantastisches neues Werkzeug in der Dr. Jens Michaelis hat in der Nano-
schaftler aus der Chemie und anderen Hand, um etwa die Funktionsweise ein- optikgruppe an der Universität
Fachbereichen, neue Moleküle zu syn- zelner Zellbestandteile zu untersuchen. Konstanz promoviert, in der
thetisieren, die auch bei Raumtemperatur Aber auch Chemiker dürften von der Christian Hettich als Doktorand
an der Luft längere Zeit leuchten. Möglichkeit angetan sein, nanometerge- arbeitet. Jan Zitzmann führt als
Sind diese Probleme erst überwun- nau hinzusehen. Für sie könnte sich mit Nachfolger von Michaelis dessen
den, dürfte es gelingen, Strukturen bis der Nanofotochemie ein völlig neues Arbeiten fort.
hinab zu molekularen Dimensionen op- Arbeitsgebiet eröffnen. ■

Serie: Die Botschaft des Genoms (Teil IV)

GRAFIK: JEFF JOHNSON


Anlässlich der Entschlüsselung des
menschlichen Erbguts stellen wir
Insulin
zwölf darin codierte Proteine in ei-
ner Serie beispielhaft vor. Hüter des Zuckerhaushalts Michael Groß ist
Biochemiker in
Oxford (England)

V on den vielen Erkrankungen, die bringt die Nachricht, dass genügend Koh-
durch Ausfall eines einzelnen Prote- lenhydrate (Zucker, Stärke und ähnliche
ins ausgelöst werden können, ist die Zu- Moleküle) vorhanden sind, die aus dem
Altersdiabetes). Beim Typ-II-Diabetes ist
außerdem die Empfindlichkeit der Insu-
linrezeptoren beeinträchtigt. Die genauen
ckerkrankheit (Diabetes mellitus) wohl Blutstrom in die Nahrungsspeicher etwa Ursachen dieser (häufigeren) Art der Zu-
eine der häufigsten und am besten be- der Leberzellen überführt werden sollten. ckerkrankheit sind noch ungeklärt. Der
kannten. Noch bis vor 80 Jahren war Die umgekehrte Reaktion, der Abbau von juvenile Diabetes beruht dagegen auf der
Diabetes unheilbar und verlief allzu oft Speicherstoffen zur Freisetzung von Zu- Vernichtung der Langerhansschen Inseln
tödlich, weil man seine Ursache nicht cker, wird vom Insulin gehemmt. durch eine Autoimmunreaktion.
verstand. Dann machten die Kanadier Ist das Hormon einmal im Umlauf, Das menschliche Insulin ist dem der
Frederick Banting und Charles Best die bleiben ihm nur wenige Minuten, seine anderen Säugetiere sehr ähnlich. Vom
mit dem Medizin-Nobelpreis 1923 ge- Aufgabe zu erfüllen. Da seine Anwesen- Schweine-Insulin unterscheidet es sich
würdigte Entdeckung, dass ein zum Beispiel nur in einer
besonders schwierig zu ge- einzigen Aminosäure; des-
winnender Extrakt bestimmter Steckbrief halb kann Insulinmangel
Zellen der Bauchspeicheldrüse meist mit dem Schweine-
einen Wirkstoff gegen diese Er- ➤ Molekulargewicht: 5734 hormon behandelt wer-
➤ Aminosäuren: 51
krankung enthielt. Damit wur- den. Um jedoch auch die
➤ zwei Ketten
de erstmals ein Protein zum ➤ Hormon sehr seltenen Unverträg-
Medikament: das Hormon In- ➤ Chromosom Nr.11 lichkeiten dieses Ersatz-
sulin. Es erhielt seinen Namen stoffs auszuschließen, ver-
SWISS PROTEIN DATA BANK

von der Gewebestruktur, in der wendet man heute meist


es produziert wird: den Lang- menschliches Insulin, das
erhansschen Inseln. Insulin besteht aus zwei Ami- in genmanipulierten Bak-
Wegen dieser frühen Ent- nosäureketten, die durch zwei terien erzeugt wird.
deckung, aber auch aus prakti- Disulfidbrücken (nicht gezeigt) Die richtige Dosierung
schen Gründen wie dem gerin- miteinander verbunden sind. des Hormons, das durch
gen Molekulargewicht wurde intravenöse Injektion per
Insulin bald zu einem der bestuntersuch- heit im Blutstrom eine Botschaft dar- Spritze verabreicht werden muss, ist al-
ten Eiweißstoffe. An ihm bestimmte Fre- stellt, die nur zu einer bestimmten Zeit lerdings schwierig. Kleinere Fehler über
derick Sanger Anfang der fünfziger Jahre gültig ist, muss es schnell wieder abge- Jahre können Nebenwirkungen bis hin
erstmals die Aminosäuresequenz eines baut werden. Dazu genügt es, dass ein zur Erblindung haben und größere unmit-
Proteins. Sie zeigte, dass es aus zwei spezielles Enzym die beiden Ketten von- telbare (lebens)gefährliche Komplikatio-
Ketten (A und B) besteht, die allerdings einander trennt. Da das herausgeschnit- nen hervorrufen. Außerdem ist das Sprit-
aus einem einzelnen Genprodukt durch tene C-Peptid einen Teil der für die Fal- zen des Hormons nach jeder Mahlzeit
Abtrennen eines Signalabschnitts und tung benötigten Information enthält, kön- lästig. Deshalb zielen neuere Entwicklun-
Herausschneiden eines weiteren Teils, nen einmal getrennte A- und B-Ketten gen bei den gentechnisch erzeugten Insu-
des C-Peptids, entstehen. Die beiden Ket- sich nicht wieder zu aktivem Insulin ver- lin-Varianten darauf ab, durch Austausch
ten werden nur durch zwei chemische einigen, sondern werden wie andere de- einzelner Aminosäuren den zeitlichen
Querverbindungen, so genannte Disulfid- fekte Proteine in der Leber zerlegt. Verlauf der Wirkung zu steuern. So gibt es
brücken, zusammengehalten. Bei Diabetikern unterbleibt die natür- bereits besonders schnell wirksame Insu-
Insulin ist ein Hormon, also ein Si- liche Insulinausschüttung nach Nah- lin-Analoga, aber auch langsam und lang-
gnalstoff, der alle Zellen anspricht, die rungsaufnahme entweder völlig (beim anhaltend wirkende, die entsprechend
eine geeignete „Antenne“, das heißt ei- Typ-I- oder juvenilen Diabetes) oder ist verzögert abgebaut werden.
nen Insulinrezeptor, aufweisen. Es über- stark abgeschwächt (beim Typ-II- oder Michael Groß

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 25


MONATSSPEKTRUM

BOTANIK schwächt. Wenn die Protonen aber die


undichte Membran einfach so durchque-
ren können, sind sie nicht mehr gezwun-
Manche mögen’s warm gen, durch die ATP-Synthase zu strömen
und sie in Rotation zu versetzen.
Den bisher besten Beleg für diese
Lassen sich Pflanzen gentechnisch an den globalen Theorie lieferten jetzt japanische Wissen-
Temperaturanstieg anpassen? Japanischen Forschern gelang schaftler (Science, Bd. 287, S. 476). Yuuki
Murakami und seine Kollegen an der Ky-
es, wärmeresistenten Tabak zu erzeugen. ushu-Universität in Fukuoka gingen von
der Beobachtung aus, dass bei Pflanzen,
Von Wolfgang Hachtel derheit: Sie enthält ausnehmend viele un- die an warme Standorte angepasst sind,
und Silvia Berger gesättigte Fettsäuren mit mehreren Dop- der Gehalt an dreifach ungesättigten Fett-
pelbindungen. Das macht sie relativ flüs- säuren – wie Linolensäure – umso mehr
sig (aus demselben Grund ist mehrfach abnimmt, je heißer es wird. Für die Syn-
ie meisten Pflanzen vertragen Tem- ungesättigtes Keimöl flüssiger als Marga- these solcher Fettsäuren sorgt ein Enzym

D peraturen über 35 Grad Celsius


schlecht. In der Hitze können sie nur
noch eingeschränkt Photosynthese betrei-
rine, die aus einfach ungesättigten oder
gesättigten Fettsäuren besteht). Diese Be-
sonderheit hängt vermutlich mit der Auf-
namens Omega-3-Fettsäuredesaturase.

Photosynthese auch in der Hitze


ben, also mittels Lichtenergie aus Wasser gabe der Thylakoidmembran zusammen.
und Kohlendioxid (CO2) jene Zuckermo- Sie fungiert gleichsam als Kraftwerk, das Dem Forscherteam gelang es nun, Tabak-
leküle herstellen, die sie zum Wachsen die chemische Energie für den Aufbau pflanzen genetisch so zu modifizieren,
brauchen. Die Ursachen der Photosynthe- der Zuckermoleküle bei der Photosynthe- dass die sonst in Chloroplasten vorhan-
se-Hemmung, die auch bei gut an Wärme se bereitstellt. Dazu enthält sie eine Art dene Version der Desaturase nicht mehr
angepassten Arten heißer Standorte spä- Turbine namens ATP-Synthase, die von gebildet wurde. Dadurch nahm der Anteil
testens ab 40 Grad Celsius einsetzt, waren hindurchströmenden Protonen in Rota- an Fettsäuren mit drei Doppelbindungen
bisher unklar. Die meisten Wissenschaft- tion versetzt wird und dabei den Energie- in der Thylakoidmembran drastisch ab
ler glaubten, dass die pflanzliche Atmung träger Adenosintriphosphat (ATP) er- und der mit zweifach ungesättigten Fett-
(Photorespiration) in der Hitze zunimmt zeugt. Sie muss daher flüssig genug sein, säuren zu; so enthielten die Chloroplas-
oder die Aktivität der CO2-fixierenden um die Drehung der ATP-Synthase zu er- ten statt der Linolensäure nun überwie-
Enzyme sinkt. Nun aber zeigte sich, dass lauben, trotzdem aber fest genug, um dem gend Linolsäure. Die Konzentration an
der Temperaturanstieg die so genannte Druck der Protonen zu widerstehen, die einfach ungesättigten Fettsäuren blieb
Thylakoidmembran in den Chloroplasten zuvor mittels Sonnenenergie auf die eine dagegen gleich. Auch die Zusammenset-
beeinträchtigt – jene zellinterne Struktur, Seite der Membran gepumpt wurden. zung der Lipide in Membranen außerhalb
an der entscheidende Schritte der Photo- Demnach könnte die Photosynthese der Chloroplasten war kaum verändert.
synthese stattfinden. Zugleich gelang es, bei hohen Temperaturen darunter leiden, Der genetische Eingriff war ein voller
Tabakpflanzen genetisch so zu verändern, dass die Lipid-Doppelschicht in der Wär- Erfolg: Die modifizierten Tabakpflanzen
dass sie auch in der Hitze noch gut gedei- me allzu sehr erweicht. Dafür sprechen vertrugen Hitze weitaus besser. Beim Er-
hen. Damit zeichnet sich eine Möglich- unter anderem die Ergebnisse neuerer wärmen auf 40 Grad stieg ihre Photosyn-
keit ab, Nutzpflanzen für die drohende Untersuchungen, die Nicolai G. Bukhov theseleistung sogar um 20 Prozent und
Erderwärmung fit zu machen. vom Institut für Pflanzenphysiologie in lag selbst bei 45 Grad noch auf dem
Biomembranen bestehen aus einer Li- Moskau zusammen mit Christian Wiese Niveau von normalen Pflanzen bei Zim-
pid-Doppelschicht mit Fettsäureschwän- und Ulrich Heber von der Universität mertemperatur. Entsprechend wuchs der
zen, die nach innen gerichtet sind, und Würzburg durchgeführt hat. Danach wer- genveränderte Tabak bei höheren Tempe-
Kopfgruppen, die zur wässrigen Umge- den Thylakoidmembranen bei erhöhten raturen viel besser. Er überstand sogar
bung nach außen zeigen. Die Thylakoid- Temperaturen für Protonen durchlässig, unbeschadet drei Tage bei 47 Grad Cel-
membran hat dabei eine auffällige Beson- noch bevor sich die Photosynthese ab- sius – Bedingungen, unter denen die
Wildtyp-Exemplare eingingen (Bild).
0 Tage 2 Tage 3 Tage Wegen der drohenden Erderwärmung
SCIENCE BD. 287, S. 476

durch den steigenden Gehalt der Atmo-


sphäre an Treibhausgasen ist die Wir-
normaler Tabak

kung von hohen Temperaturen auf Pflan-


zen ein wichtiges Forschungsfeld. Die
Normale Tabakpflan- Ergebnisse von Murakami und seinen
zen, die einer Tempe- Kollegen bieten einen aussichtsreichen
ratur von 47 Grad Ansatzpunkt, gentechnisch Varianten zu
Celsius ausgesetzt erzeugen, die auch unter Wärme-Stress
werden, sind nach
noch effizient Sonnenlicht zum Aufbau
drei Tagen abgestor-
transgener Tabak

ben (oben), während ihrer Biomasse nutzen können. ■


genetisch veränderte
Exemplare mit einem Prof. Dr. Wolfgang Hachtel forscht am Botani-
geringeren Gehalt an schen Institut der Universität Bonn über die
dreifach ungesättigten Physiologie der Pflanzen. Seine Mitarbeite-
Fettsäuren keinen rin Silvia Berger ist Diplom-Geografin.
Schaden nehmen.

26 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


BILD DES MONATS

Kosmischer Kokon

NASA AND THE HUBBLE HERITAGE TEAM (STSCI/AURA)

A ls filigranes Gespinst ähnlich dem Kokon der Seiden-


raupe und zugleich vielfarbig leuchtend wie ein Opal
erscheint der planetarische Nebel IC 418 auf dieser jüngs-
expandierende Hülle, die inzwischen einen Durchmesser
von 0,1 Lichtjahren erreicht hat. Der heiße Überrest des
roten Riesen badet den Nebel in UV-Licht und bringt ihn
ten Aufnahme des Hubble-Weltraumteleskops. Vor einigen so zum Fluoreszieren. In der farbkodierten Aufnahme
tausend Jahren war der Stern im Zentrum ein roter Riese – erscheint ionisierter Stickstoff in den relativ kühlen äußeren
ein spätes Stadium der stellaren Entwicklung, das die Regionen rot und ionisierter Sauerstoff im Zentrum blau.
Sonne in etwa fünf Milliarden Jahren erreichen wird. Dann IC 418 liegt rund 2000 Lichtjahre entfernt im Sternbild
blies er seine äußersten Schichten davon. So entstand eine „Hase“. Die Ursache der fädigen Struktur ist noch unklar.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 27


SPEKTROGRAMM

ASTRONOMIE MEDIZIN

Frühe Galaxienhaufen Weibliches Hormon hält


Männer schlank
W ie gigantische glühende
Gaskugeln sehen sie
ge Betriebsdauer 1999 ende-
te. Doch die von ihm geliefer-
aus: die neu entdeckten Gala-
xienhaufen in fünf Milliarden
ten Daten sind immer noch
für manche Überraschung
gut. So identifizierte Harald
W enn Frauen in die Wechseljahre kommen, erleben sie oft
eine unliebsame Begleiterscheinung der hormonellen
Umstellung: Sie nehmen zu. Ursache hierfür ist die nachlas-
NASA, HUBBLE

Ebeling vom Institut für sende Produktion des Geschlechtshormons Östrogen. Dadurch
Astronomie der Universität verlangsamt sich der Stoffwechselumsatz, und die Einlagerung
Hawaii bei ihrer Auswertung von Fett nimmt zu. Doch nicht nur Frauen produzieren das
bisher 101 uralte Galaxien- weibliche Steroidhormon. Auch Männer bilden es in geringen
haufen, die jeweils Hunderte Konzentrationen, allerdings in der Nebennierenrinde statt in
bis Tausende von Milchstra- den Ovarien. Entsprechend ist ihre gute Figur gleichfalls vom
ßensystemen umfassen. Östrogenspiegel abhängig. Wie Patricia Heine von der Univer-
Während einige Kerne haben, sität Illinois in Urbana-Champaign herausfand, gilt dies zumin-
weisen andere fadenförmige dest für männliche Nager. Das Team der amerikanischen For-
Strukturen auf, die Schleifen scherin untersuchte so genannte Knock-out-Mäuse, denen der
und Bögen bilden. Die Lage Rezeptor für Östrogen fehlte. Somit konnte das Hormon nicht
der Galaxien am Rand des an die Zielzellen andocken und seine Wirkung entfalten. Trotz
sichtbaren Universums be- gleicher Futtermenge bildeten die Knock-Out-Mäuse über ei-
deutet, dass sie bereits ent- nen Zeitraum von einem Jahr um bis zu 170 Prozent mehr
standen sind, als das Weltall Fettgewebe als die Tiere mit intakten Östrogen-Rezeptoren.
halb so alt war wie heute. Herren mit Bauchansatz bietet sich damit eine elegante Ausre-
Galaxienhaufen am Rande des Kosmos Ihre große Zahl läßt sich nur de: Nicht mangelnde Bewegung und falsche Essgewohnheiten
erklären, wenn man an- sind schuld am Übergewicht, sondern ein weibliches Hormon
Lichtjahren Entfernung. Auf- nimmt, dass eine Art Antigra- – beziehungsweise das Fehlen desselben. (Proceedings of the
genommen wurden die kos- vitation die Expansion des National Academy of Sciences, Bd. 97, S. 12729)
mischen Ballungszentren sei- Universums stetig beschleu-
nerzeit vom Röntgen-Satelli- nigt. Dies stützt die neuesten
ten ROSAT, dessen neunjähri- kosmologischen Modelle. ZOOLOGIE

Zuwachs bei Lemuren


PALÄONTOLOGIE

FIELD MUSEUM OF NATURAL HISTORY (CHICAGO)


Steinalte Zweibeiner
D ass der Mensch den aufrechten Gang nicht erfunden hat,
ist bekannt. Schon in der späten Trias, vor 210 Millionen
Jahren, erhoben sich einzelne Dinosaurier und im Jura die Vö-
gel auf ihre Hinterbeine. Wie Ausgrabungen von Robert R.
Reisz nun zeigten, waren auch sie jedoch nicht die Ersten, die
auf zwei Beinen über die Erde wandelten. Das Team von der
Universität Toronto fand in einem Steinbruch bei Gotha das Schädel der drei neuen Mausmakis
fast vollständig erhaltene Skelett eines Reptils, das lange vor
den Dinosauriern lebte und schon alle Merkmale einer auf-
rechten Fortbewegung aufwies: Seine Hinterbeine sind um 64
Prozent länger als die Vorder-Extremitäten und länger als der
S ie wiegen weniger als
100 Gramm, und ihr
Kopf ist nicht größer als der
eigene Spezies. Die langen
Nasen, hochbeweglichen Lip-
pen und großen, durchdrin-
Rumpf. Auch die Füße waren ungewöhnlich groß für das 26 menschliche Daumennagel: genden Augen der Tiere be-
Zentimeter kleine Reptil Eudibamus cursoris, das wahrschein- Die Rede ist von Mausmakis. kommt man allerdings selten
lich ziemlich schnell über den Boden des frühen Perm rannte. Nun hat ein internationales zu sehen; denn die Äffchen
Den langen Schwanz nutzte es dabei als Ruder, um die Balan- Forschungsteam drei neue werden erst nachts aktiv.
ce zu halten. Wie weitere Funde zeigen, gehört Spezies dieser baumbewoh- Dass sie nur auf Madagaskar
Eudibamus cursoris zu einer Familie früher nenden Primaten in ihrem Le- und den umliegenden Inseln
Reptilien, die im Zeitalter des Perm – bensraum auf Madagaskar vorkommen, liegt an der Ab-
vor etwa 290 bis 268 Millionen und den nordwestlich vorge- geschiedenheit der Ökosyste-
Jahren – weit verbreitet waren. lagerten Komoren entdeckt. me. Vor etwa 165 Millionen
(Science, Bd. 290, S. 320) Genetische Untersuchungen Jahren wurde Madagaskar
bestätigten, dass die Distanz vom afrikanischen Festland
zwischen den jetzt aufgefun- getrennt, und seine Flora und
denen Winzlingen sogar grö- Fauna hat sich seither weit-
ßer ist als die zwischen den gehend eigenständig entwi-
SCIENCE

Eudibamus cursoris lief schon bekannten vier Arten. ckelt. (International Journal of
als Erster auf zwei Beinen. Demnach bilden sie eindeutig Primatology, Bd. 21, S. 963)

30 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


ARCHÄOLOGIE

Pyramidenbauer befragten die Sterne


D ie Pyramiden von Gizeh
in Ägypten beeindrucken
nicht nur durch ihre Größe, Großer
Wagen
sondern auch durch ihre fast
exakte Orientierung in Nord-
Süd-Richtung. Wie konnten Nordpol
die Ägypter die Himmelsrich-
tungen schon vor etwa 4500
Jahren so genau bestimmen? Kleiner
Bär
Einen Kompass gab es jeden-
falls noch nicht, und auch

NATURE
der Polarstern stand nicht am
Nordpol. Kate Spence von
der Cambridge Universität An den Sternen ausgerichtet:
hat nun einen anderen Rich- die Pyramiden von Gizeh
tungsweiser am damaligen
Sternenhimmel ausgemacht.
Bei der Suche danach bezog erhielt jede Pyramide
sie die Präzession der Erd- eine neue, leicht diver-
PREMIUM

achse mit einem Rhythmus gierende Ausrichtung.


von 26 000 Jahren in ihre Damit aber kann man
Berechnungen ein. Wie sie im Sternbild Kleiner Bär und erklärt zugleich die Abwei- die Pyramiden nun auch auf
herausfand, konnten die Mizar im Großen Wagen zu chungen der verschiedenen zehn Jahre genau datieren,
ägyptischen Baumeister zwei einem bestimmten Zeitpunkt Pyramiden von der exakten während die historischen
Sterne zur Orientierung he- so übereinander, dass eine Nord-Süd-Orientierung: Die Zeugnisse einen Spielraum
ranziehen. Denn im Jahre Senkrechte zwischen ihnen beiden Sterne verlagerten von hundert Jahren ließen.
2467 v. Chr. standen Kochab den Nordpol bestimmte. Dies sich im Laufe der Zeit, und so (Nature, Bd. 408, S. 320)

PHYSIK
CHEMIE
Laser lassen künstliche
Guter Ton für Gen-Taxis Muskeln spielen
B ei der Gentherapie die- zwei Lagen befindet sich

NATURE
nen meist Viren als
Transportmittel, da sie ihr
Erbmaterial mühelos
jeweils ein Zwischenraum,
der mit negativ geladenen
Ionen gefüllt ist. Diese
B islang sind Roboter noch ein wenig
ungelenk, da ihnen die zur Feinmoto-
rik nötigen Muskeln fehlen. Doch japani-
durch die Zellmembran können durch ebenso ge- sche Wissenschaftler haben nun den Weg
schleusen können. Aller- ladene DNA-Moleküle er- zu einem künstlichen Bizeps gebahnt, der sich per Laser steu-
dings rufen sie gelegent- setzt werden, wobei sich ern lässt. Hiroaki Misawa und sein Team von der Tokushima
lich gefährliche Nebenwir- der Abstand der beiden Universität experimentierten hierzu mit Gelen aus polymeri-
kungen hervor, die diese Schichten an die Größe siertem N-Isopropylacrylamid. Diese setzen sich aus langen
Behandlungsform in Verruf der eingelagerten Moleküle Molekülketten zusammen und quellen in Wasser stark. Was-
gebracht haben. Nun hat anpasst. Gut abgeschirmt, serstoffbrückenbindungen und Van-der-Waals-Kräfte suchen
das Team um Jin-Ho Choy kann das Gen dann die die Ketten zusammenzuziehen, elektrostatische und hydropho-
von der Universität Seoul Membran passieren. Inner- be Kräfte sie dagegen auseinanderzudrücken. Misawa und sei-
einen völlig neuen und un- halb der Zelle wird die ne Mitarbeiter konnten diese heikle Balance gezielt mit einem
gefährlichen Weg ent- Fähre anschließend von so Laser beeinflussen. Wenn sie einen mit dem Gel gefüllten Zy-
deckt, auf dem sich das genannten Lysosomen ver- linder bestrahlten, zog er sich hantelförmig zusammen, kehrte
Erbmolekül DNA (Desoxy- schluckt, deren Aufgabe es aber nach Abschalten des Lasers augenblicklich in seine Aus-
ribonukleinsäure) in die unter anderem ist, einge- gangsform zurück. Die reversible Bewegung lief in weniger als
Zielzelle einbringen lässt. drungene Fremdstoffe un- einer Sekunde ab. Um eine Erhitzung zu vermieden, benutzten
Die Chemiker benutzten schädlich zu machen. Im die Chemiker schweres Wasser –
NATURE

eine anorganische Verbin- sauren Milieu dieser Or- D2O – als Lösungsmittel. Denn Künstlicher Muskel
dung aus Magnesium-Alu- ganellen löst sich das die Bindung zwischen dem Was- beim Kontrahieren
minium-Hydroxid als Gen- Transportmittel auf und serstoffisotop Deuterium und
fähre. Es handelt sich um gibt das Gen frei. (Ange- Sauerstoff absorbiert den Laser-
ein schichtartig aufgebau- wandte Chemie, Bd. 112, strahl nicht, und das Wasser
tes Tonmineral. Zwischen S. 4042) bleibt somit kühl. (Nature, Bd.
408, S. 178)

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 31


KLONEN

Um selten gewordene Tiere vor dem Aussterben zu retten, könnte man sie klonen.
Der biotechnische Eingriff bietet sich besonders bei solchen gefährdeten Arten an, die
sich allein nicht genügend vermehren oder deren Lebensraum schwindet. Leihmütter,
die zu einer nicht bedrohten Art gehören, würden die Klone austragen.
VON ROBERT P. LANZA, BETSY L. DRESSER UND PHILIP DAMIANI

oah soll jetzt (im November über Generationen zum Zeitvertreib und die „Leihmutter“ für einen Klon – ein
2000) zur Welt kommen – das zerstörte in letzter Zeit auch seinen Le- genaues Duplikat eines bestimmten er-
erste geklonte Jungtier einer bensraum immer mehr. Deswegen führt wachsenen Tiers – durchaus einer frem-
bedrohten Art. Seine „Mutter“, der Internationale Naturschutzverband den Art angehören kann.
die ihn austrug, ist ein Hausrind, eine (IUCN) den Gaur auf der Roten Liste der In ähnlicher Weise möchten wir zu-
Kuh in Iowa. Das Kalb Noah aber ist ein gefährdeten Arten. Das Washingtoner Ar- künftig den Bongo – eine große afrikani-
junger Gaur und damit ein Spross des tenschutzabkommen (CITES) verbietet sche Antilope –, den Sumatra-Tiger und
größten heutigen Wildrindes, dessen den Handel mit Gauren: mit lebenden Tie- den Großen Panda (den Bambusbären)
Bullen mehr als zwei Meter hoch und ren genauso wie mit ihren Hörnern, Fel- klonen, den Liebling von Zoobesuchern,
über drei Meter lang werden. len, Hufen und anderen Teilen. der sich in Gefangenschaft schwer fort-
In Indien, Indochina und Südostasien Mit Noah beginnt eine neue Zeit der pflanzt. Vielleicht gelingt es uns sogar,
bewohnen die Gaure Wälder, Bambus- Schutzbemühungen um bedrohte Arten. einige jüngst ausgestorbene Säugetierar-
dschungel und Grasländer. Von den massi- Ihm sollen andere Jungtiere derselben ten oder Unterarten wieder zum Leben
gen Rindern leben in freier Natur vermut- und anderer seltener, gefährdeter Säuger- zu erwecken. Wir denken beispielsweise
lich noch höchstens 36 000 Tiere in eini- arten folgen. Das eigentlich Aufregende an den Pyrenäen-Steinbock, der eine Un-
gen Restpopulationen. Der Mensch be- an Noahs Geburt: Dieses Kalb stellt den terart des Spanischen (Iberischen) Stein-
jagte den tonnenschweren Wiederkäuer quicklebendigen Beweis dafür dar, dass bocks darstellt. Spanier nennen diese

CHRISTIAN GRZIMEK / OKAPIA

34 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


„Bergziege“ Bucardo. Die letzte Bucar-
dogeiß wurde vor einem Jahr von einem
Baum erschlagen. Spanische Wissen-
schaftler haben von dem Tier aber Zell-
proben konserviert.
Dank der Fortschritte im Klonen
könnten wir zum Beispiel bedrohte Arten Das erste
retten, deren Lebensraum verschwindet, geklonte Säuge-
tier, dessen
deren Vermehrung in Gefangenschaft „Mutter“ zu einer
aber sehr schwierig ist. Auf diese Weise anderen Art

NAS / T. MC HUGH / OKAPIA


würde man die Spezies solange erhalten gehört, wird
und weiter vermehren, bis wir diesen voraussichtlich
Tieren wieder ausreichend natürlichen ein Gaur sein. Die
Lebensraum bieten können. Dann ließen Aufnahme dieses
Bullen gelang
sich die Tiere aus der Menschenobhut in Indien.
wieder auswildern.
Der größte Vorteil des Klonens ge- Auch dann stellt Klonen zwar kein All- klont werden soll, unter die Glashaut des
fährdeter Arten: Leben von einer Art nur heilmittel dar. Aber die Technologie dürf- entkernten Eies. Ein sanfter Stromstoß
noch wenige Tiere, sodass das Erbgut te zumindest ermöglichen, ein paar der sorgt anschließend dafür, das die beiden
jedes einzelnen zählt, können wir mit gefährdeten Arten zu retten, die sonst Zellen miteinander verschmelzen. Damit
Hilfe von Körperzellen die Gene jedes vielleicht untergingen. ist der Prozess des Klonens abgeschlos-
Einzeltiers in den Genpool der Art zu- Nun benötigt auch ein geklontes Säu- sen. Das neue Gebilde, ein „früher Em-
rückbringen. Im Prinzip ließen sich Em- getier noch immer eine „Mutter“, der man bryo“, beginnt sich bald darauf zu teilen.
bryonen auch durch künstliche Befruch- den Embryo einpflanzt, die ihn austrägt Im Idealfall bildet sich in den nächs-
tung isolierter Eizellen erzeugen und und zur Welt bringt. Außerdem braucht ten Tagen eine so genannte Blastocyste,
dann auf Leihmütter übertragen. Doch man Eizellen, in die man das Erbgut des ein frühes Embryonalstadium mit viel-
die Praxis sieht vorläufig anders aus. We- zu klonenden Tieres einbringt. Kaum ein leicht hundert Zellen, das weit genug
der verfügen die meisten Zoos über eine Artenschützer würde aber wollen, dass da- entwickelt ist, um es in die Gebärmutter
entsprechende Ausstattung, um von den für einige der letzten wildlebenden Weib- eines Ersatzmuttertieres verpflanzen zu
oft besonders heiklen Pfleglingen Samen chen einer gefährdeten Art eingefangen können. Zuvor wurde dieses Weibchen
zu gewinnen und fachgerecht einzufrie- würden. Auch die in Zoos gehaltenen we- auf seine Rolle hormonell eingestimmt.
ren. Noch lassen sich Eizellen ohne grö- nigen Individuen sind zu wertvoll, als dass Doch in der Praxis erweist sich ein
ßeren Aufwand beschaffen; und sie wer- man sie der Prozedur aussetzen wollte. Es solcher „Kerntransfer“ – wie die Wissen-
den durch Einfrieren beschädigt. Zum gibt nur einen Ausweg: Weibchen von ei- schaftler die Technik bezeichnen – alles
Klonen genügt es dagegen, Körperzellen ner anderen, nicht bedrohten Art zu Hilfe andere als leicht. Unser Gaur-Projekt be-
aufzuheben. In solchen Gewebeproben zu nehmen; diese Tiere können Eizellen schrieben wir kürzlich in der Wissen-

SLIM FILMS (GRAFIK), ROLAND SEITRE / PETER ARNOLD, INC. (GAUR),


bleiben auch die Gene des Tieres erhal- liefern beziehungsweise die Jungen aus- schaftszeitschrift „Cloning“. Das Kalb
ten. Dieses Genmaterial könnte dazu bei- tragen. Wir und andere Wissenschaftler Noah blieb als einziger von 692 Klonen
tragen, die genetische Vielfalt von be- suchen darum nach Wegen, Klone mittels übrig, die wir bei Advanced Cell Techno-

JOHN CANCALOSI / PETER ARNOLD, INC. (STEINBOCK)


drohten Populationen einer Art zu be- Zellen zweier verschiedener Spezies zu er- logy (ACT) in Worcester (US-Bundes-
wahren, vielleicht sogar zu bereichern. zeugen, Körperzellen der bedrohten Art staat Massachusetts) aus Hautzellen ei-
Manche im Naturschutz tätigen Bio- und Eizellen einer anderen. Außerdem soll nes Gaur-Bullen und entkernten Eizellen
logen können sich selbst mit inzwischen die zweite Art die Leihmütter stellen. von Kühen erzeugten. Denn von den fast
grundlegenden Verfahren einer „gestütz- 700 frühen Embryonen entwickelten sich
ten Fortpflanzung“ nur langsam anfreun- Zellen von zwei Tierarten überhaupt nur 81 bis zu implantierbaren
den, etwa mit Hilfsmethoden wie einer In- für einen Klon Blastocysten. 42 von diesen Embryonen
vitro-Fertilisation – also der Befruchtung konnten wir schließlich auf 32 Kühe
des entnommenen Eies im Reagenzglas, Die beiden verschiedenen Zellen zu ver- übertragen. Von diesen behandelten Kü-
das erst später einem Weibchen übertra- einigen, wirkt äußerlich ganz einfach hen wurden wiederum nur acht trächtig.

gen wird. Noch zögerlicher stehen viele (siehe Zeichnungen auf der nächsten Zwei der Feten entnahmen wir für wis-
Artenschützer dem Klonen als Maßnah- Doppelseite). Mit einer Hohlnadel muss
me zum Arterhalt gegenüber. Sicher – man die äußere, schützende Glashaut
auch wir plädieren dafür, alles zu tun, um des Eies durchstechen, das sich Stunden
vorrangig natürliche Lebensräume zu er- vorher noch in einem lebenden Eierstock
halten, Wildnisregionen für die ungeheure befand. Dann saugt man damit den so
Vielfalt der Lebensformen. Doch leider ist genannten Polkörper und die Chromoso-
diese Schlacht manchmal schon verloren, men heraus. Somit beraubt man die Ei-
und in anderen Fällen sind die Aussichten zelle ihres Kerns und damit fast all ihres
gering, den Kampf noch zu gewinnen. Erbmaterials. Zurück bleibt ein Sack vol-
ler Zellplasma. Ein wenig Erbmaterial
enthalten nun nur noch die Mitochondri-
Gaure, die größten heutigen Wildrinder,
sind vom Aussterben bedroht. Diese
en – Zellorganellen, die zur Zellatmung
Herde spürte der Fotograf in Nepal auf. dienen. Jetzt injiziert man mit einer
Das Klonen seltener Arten könnte einen zweiten Hohlnadel eine ganze speziell
Beitrag zum Artenschutz darstellen. kultivierte Körperzelle des Tiers, das ge-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 35


KLONEN

Wie man durch Kerntransfer einen Klon erzeugt

Haltepipette Hohlnadel
Glashaut
Chromosom Polkörper

Eizelle

Eizellen, die fremdes Erbmate- Der Polkörper und die Die Chromosomen der Von dem Tier, das geklont
rial aufnehmen sollen, Chromosomen der Eizelle Eizelle und der Polkörper werden soll, werden Hautzel-
gelangen im Labor zur werden in eine Hohlnadel sind entfernt worden. In len gewonnen und in Kultur
Reifung. Jede Eizelle enthält aufgesaugt. Eine andere der Eihülle, der Glashaut, genommen, und zwar
noch einen Polkörper, eine Pipette hält dabei das Ei in bleibt nur Zellplasma (Cyto- „Fibroblasten“, Bildungszellen
Restzelle von der Reifeteilung. der Position fest. plasma) zurück. für Bindegewebe.

senschaftliche Untersuchungen. Von den werden soll. Die beste Statistik erzielen hoffen, dass wir die Gründe dafür bald
restlichen sechs Kühen hatten vier im andere Forscher und wir von ACT bisher verstehen. Andererseits ist aber auch die
zweiten oder dritten Monat der Trächtig- mit dem Klonen von Hausrindern. Aber Technologie der „gestützten Reprodukti-
keit, die etwa neun Monate dauern sollte, selbst in diesem Fall, bei dem Embryo on“ noch nicht genügend ausgereift.
einen Spontanabort. Eine weitere Kuh und Leihmutter zur selben Art gehören, Wir erwarten deswegen, dass die ers-
verlor das Kalb völlig unerwartet im entwickeln sich von hundert frühen Em- ten Klone bedrohter Tiere von Arten mit
letzten August im Spätstadium der bryonen nicht mehr als fünfzehn bis gut erforschtem Fortpflanzungssystem
Schwangerschaft. zwanzig zu Blastocysten. Und von denen stammen werden. Verschiedene Zoos
Die geringe Erfolgsquote macht wie- entsteht nur etwa aus jedem zehnten ein und Naturschutzgesellschaften befassen
der einmal nur allzu deutlich, dass beim lebend geborenes Kalb. Das bedeutet: Aus sich bereits mit der Fortpflanzungsphy-
Klonen bisher ebenso viel Glück und For- hundert erzeugten Klonen gewinnen wir siologie einer Reihe bedrohter Arten.
schergeschick wie Wissenschaft im Spiel nur ein oder zwei Kälber. Auch unsere Arbeitsstelle, das Zentrum
ist. Das gilt ganz besonders, wenn der Die Schwierigkeiten rühren einerseits zur Erforschung bedrohter Arten am
Embryo in eine fremde Art eingepflanzt von Problemen beim Kerntransfer her. Wir Audubon-Institut (AICRES) in New Or-
ROLAND SEITRE / PETER ARNOLD, INC.

AGE / MAURIMIT

36 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


kultivierte Hautzelle
Hautzelle Zellkern

Zellkern

Zellkern
der Haut-
zelle

Von den kultivierten Hautzel- Die Hautzelle wird nun unter Anschließend bewirkt ein Der neue Zellkern samt
len saugt man eine ganze die schützende Glashaut leichter Stromstoß, dass genetischem Material wandert
Zelle in eine Hohlnadel. des kernlosen Eies einge- die injizierte Hautzelle ins Eizell-Cytoplasma. Binnen
Damit sticht man nochmals bracht. Sie bleibt aber noch und das Cytoplasma der weniger Stunden beginnt sich
durch die Glashaut des von dessen Zellplasma Eizelle miteinander die verschmolzene Zelle zu
entkernten Eies. getrennt. verschmelzen. teilen.

GRAFIK: LAURIE GRACE; FOTOS: PHILIP DAMIANI


leans beteiligt sich daran. Wir haben ei- ges Huftier, trug einen Bongo aus, eine einer der Gründe, warum Geparden in
nige beachtliche Erfolge vorzuweisen. der seltensten Antilopen; Gefangenschaft so selten Nachwuchs
So brachte vor einem Jahr eine Hauskat- ➤ ein Hausschaf gebar ein Mufflon; haben. Der erhebliche Gebietsanspruch
ze eine lebende Afrikanische Wildkatze ➤ ein Weißwedelhirsch, der in Nord- lässt umso mehr fürchten, dass diese
zur Welt. Dem Muttertier hatten wir ei- amerika lebt, einen Rothirsch, der eben- Katze bei einer weiteren Verkleinerung
nen vorher eingefrorenen Embryo der falls in der Neuen Welt vorkommt. ihres Lebensraums ausstirbt.
teils gefährdeten Wildkatze eingepflanzt. Von allen vier Arten erhielten wir leben- Eine der spektakulärsten Arten für
Außer bei dieser Wildkatze und beim de Junge – wohlgemerkt nicht Klone. die neue Arche Noah wäre der Große
Gaur gelang anderen Forschern und uns Vielleicht helfen die Erfahrungen mit Panda, das Emblem des WWF (World
in vier weiteren Fällen ein Embryotrans- den Katzenarten, eines Tages Geparden Wide Fund For Nature). Von dieser Bä-
fer auf eine fremde Art: zu klonen. Von ihnen leben im südlichen renart leben in den Bambuswäldern Chi-
➤ Eine Hauskatze war Leihmutter für Afrika allenfalls noch zwölftausend. Um nas vermutlich noch höchstens tausend
eine indische Wüstenkatze; sich zu paaren, brauchen diese schnellen Tiere, auch wenn die Bestände sich in
➤ eine Elenantilope, ein in Afrika häufi-


Jäger ein ausgedehntes Territorium, wohl den letzten Jahren vielleicht stabilisiert

Um gefährdete Säugerarten vor dem Aus-


sterben zu retten, könnten andere Arten
einspringen – so die Vision. Kühe als Leih-
mütter werden geklonte Gaure (ganz links)
zur Welt bringen. Elenantilopen (links)
werden Bongos (unten) gebären.
CHARLES V. ANGELO / PHOTO
RESEARCHES, INC.
ANUP SHAH / OKAPIIA

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 37


KLONEN

Anmerkungen eines Verhaltensbiologen

Fatale Folgen für die Anpassungsfähigkeit Geburt, zu welcher Art ein Tier sich
zugehörig fühlt. Auch arteigene
gleichaltrige Spielkameraden üben in

D ie in diesem Artikel vorgestellten


Befunde sind zwar in der Tat be-
eindruckend. Gefährdete Tierarten zu
Darum plädieren Tiergärtner nun für ein
„life-history-management“, das auch ver-
haltensbiologische, ökologische und an-
vielem einen beträchtlichen Einfluss
aus. Ebenfalls macht sich bemerkbar,
ob während der Aufzucht beispiels-
klonen ist in einigen Spezialfällen si- dere lebensgeschichtliche Anpassungen weise Kontakt zu einem erwachsenen
cher auch gerechtfertigt. Aus Sicht und Anpassungsprozesse berücksichtigt. männlichen Artgenossen besteht. Stu-
eines Verhaltensbiologen, der viel Das bedeutet zwar Chancengleichheit, dien aus dem Freiland belegen sogar,
mit Zoos, Erhaltungszuchtprogram- aber nicht Gleichmacherei. Chancen- dass Tiere derselben Art in verschie-
men und deren Organisationen zu tun gleichheit heißt: Ein Tier erhält, soweit denen Populationen nicht nur anderes
hat, seien dazu jedoch ein paar kriti- im Zoo machbar, die Möglichkeit zur art- Futter wählen – was mit dem Verhal-
sche Bemerkungen erlaubt. typischen Partnerwahl. Auch sollten die ten der Mutter korreliert – sondern
Der erste Einwand betrifft das von Aufzuchtbedingungen für den Nach- auch unterschiedliches Sozial- und
den Autoren am Beispiel des Gepar- wuchs der Situation von natürlichen Po- Aktivitätsverhalten zeigen. Die meis-
den dargelegte Problem. Die einschlä- pulationen in möglichst vieler Hinsicht ten dieser Befunde stammen keines-
gigen Gremien der europäischen Zoo- ähneln. Das berührt den zweiten Kritik- wegs von hochkomplexen Menschen-
Assoziation, wie die Elefanten- und punkt: Interspezifisches Klonen – Klonen affen oder wenigstens rudellebenden
Nashornberatungsgruppen, betonen mit Beteiligung von zwei verschiedenen Großraubtieren, sondern von so kom-
Arten – wird gravierende verhaltensbiolo- munen Tierarten wie Meerschwein-
gische Probleme aufwerfen. chen, Wildschafen, Feldmausarten
Bei Säugetieren tragen Lern-, Prä- oder eben Ziegen und Hirschen.
gungs- und Sozialisationsvorgänge er-
heblich zum individuellen Verhalten bei.
Dies haben Verhaltensbiologen vielfach
belegt. Die Anpassungsfähigkeit des er-
A ll das ist zu berücksichtigen,
wenn man den Einsatz von Re-
produktionstechnologien im Arten-
wachsenen Individuums an seine Um- schutz erwägt. Künstliche Besamung,
welt hängt von diesen Prozessen ent- Embryotransfer und vielleicht auch
M. NICHOLS / NGS / PREMIUM

scheidend ab. Nahrungsprägung etwa Klonen mit einer Leihmutter dersel-


ist nicht nur bei einigen Kleinraubtie- ben Art können ermöglichen, über
ren zweifelsfrei nachgewiesen (so bei Länder- und Kontinentgrenzen hinweg
dem stark bedrohten nordamerikani- Zuchtprogramme auf breiter geneti-
schen Schwarzfußiltis); sondern sie fin- scher Basis zu vollziehen, ungehin-
det offenbar auch bei vielen anderen dert von Veterinärvorschriften. Mit
Auch Antilopen – wie diese Bongos – Säugerarten statt. Bisher wissen wir dies Hilfe solcher Techniken ließe sich bei
lernen vieles erst durch Artgenossen. unter anderem von vielen Mäuseartigen Zuchtprogrammen etwa auch das
und von einigen Huftieren, etwa von Zie- Erbmaterial von solchen Wildfängen
gen und Schwarzwedelhirschen. mit einbeziehen, die sich bisher in der
stets, dass gestützte Reproduktion – Gefangenschaft nicht oder kaum ver-
etwa durch künstliche Besamung –
kein Ersatz für natürliche Vermehrung
sein darf und schon gar kein Hilfsmit-
D er vom Aussterben bedrohte Bongo,
der geklont werden soll, bewohnt
dichte Regen- und Bergwälder. Die Elen-
mehrt haben.
Doch die Klone – oder auf natürli-
chem Wege entstandene Embryonen
tel bei unzureichender Haltung. antilope, die dazu die Leihmütter liefern – Weibchen einer fremden Spezies zu
Die Zucht von Geparden ist mög- soll, lebt aber in der Savanne. Eine Blatt- überlassen, wäre bestenfalls als letzte
lich. Viele Zoos und Zuchtzentren zei- und Knospenfresserart wie der Bongo Rettung von Arten mit nur noch weni-
gen dies. Das langwierige Werbever- kann sicher durch eine Savannenart gen Dutzend Vertretern überlegens-
halten und die dazu nötigen großen nicht aufgezogen werden, ohne dass dies wert. Dann nehme man aber bitte
Territorien stellen einen wichtigen Teil erhebliche Auswirkungen auf seine spä- Empfängertiere, die mit etwas mehr
der natürlichen Partnerwahl des Ge- tere Nahrungsauswahl haben dürfte. In Kenntnis der Biologie und Ökologie
parden dar. Diese Ansprüche der Tiere ähnlicher Weise werden offenbar Habi- ausgewählt wurden als
gewissermaßen auszuhebeln, könnte tatbevorzugungen, Artgenossen- und So- Milchkuh zu Gaur oder Elen
sich auf die Anpassungsfähigkeit der zialpartnerschemata weitergegeben – zu Bongo.
erzeugten Jungtiere auf lange Sicht man denke an die Probleme mit hand- Udo Gansloßer
nachteilig auswirken. Stattdessen aufgezogenen Rehböcken, die später je
sollte man sich eben um bessere Hal- nach Art der Aufzucht Menschen, Rehe Der Autor lehrt Zoolo-
tungsbedingungen bemühen! oder beide angreifen. gie, Verhaltensforschung
Tiergärtner wissen heute, dass es Noch viel mehr Schwierigkeiten wird und Tiergartenbiologie
keine selektionsfreie Erhaltungszucht die Sozialisation bereiten, die Entwick- unter anderem an der
geben kann. Früher versuchten sie, lung des Sozialverhaltens. Man weiß Universität Erlangen und
möglichst alle Grundtiere „ohne Anse- heute, wie sehr sich schon der Hormon- im Zoo Nürnberg. Er ist
hen des Einzelnen“ in gleichem Maße und Belastungsstatus der Mutter wäh- Mitglied des Forschungskomitees
zu vermehren, um eine möglichst gro- rend der Trächtigkeit auf das spätere Ver- und mehrerer Taxon-Beratungsgrup-
ße genetische Vielfalt zu erhalten. halten auswirkt. Vielfach entscheidet die pen der European Association of
Die Erfahrung spricht aber dagegen. Bindung an die Mutter bald nach der Zoos and Aquaria (EAZA).

38 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


MARTIN WENDLER / PETER ARNOLD, INC.

L. ZHI / NGS / PREMIUM


Ob gefährdete Wildkatzen – wie der amerikanische Ozelot (links) –
oder Bärenarten wie die Pandas (oben ein junger Großer Panda):
Wahrscheinlich wird es bald möglich sein, sie zu klonen.

haben. In Zoos gelten sie als Rarität. mütter eignen, haben Forscher von Bear für 1999 fast 550 Bergbongos in Zoos.
Zwar hat bisher noch niemand versucht, Country USA in Rapid City (US-Bun- Vom Tieflandbongo dürften noch mehrere
Embryonen des Pandas auf Weibchen desstaat South Dakota) bereits gezeigt. Tausend Tiere in Zentral- und Westafrika
anderer Arten zu überpflanzen. Doch an- Eine Schwarzbärin brachte das Junge ei- existieren. Diese Unterart wird zur Zeit als
dere die Fortpflanzung unterstützende ner Artgenossin zur Welt, das ihr als Em- „beinahe gefährdet“ eingestuft. Mehrere


Maßnahmen mussten die Tiere schon bryo eingepflanzt worden war. Den Be- kenianische und amerikanische Natur-
über sich ergehen lassen. Ein Pandapaar fund veröffentlichten die Forscher 1999
des Zoos von San Diego, das allein kei- in der Zeitschrift „Theriogenology“.
GERRY ELLIS / MINDEN PICTURES

nen Nachwuchs zu Wege brachte, bekam Für andere Projekte hoffen die Wis-
nach einer künstlichen Befruchtung im senschaftler bei AICRES, auch auf die
August 1999 ein Baby. Erfahrungen zurückgreifen zu können,
die der Zoo von Cincinnati (US-Bundes-
Internationale Projekte staat Ohio) mit Bongos machte. Beteiligt
an dem Projekt zum Erhalt dieser Antilo-
Wir von ACT verhandeln zur Zeit mit der penart war eine von uns (Dresser), die
Regierung Chinas, den Großen Panda zu damals an dem Zoo beschäftigt war, au-
klonen. Erste Schritte dazu haben chine- ßerdem Charles Earle Popevu von der
sische Wissenschaftler bereits unternom- Universität von Alabama in Birming-
men. In der Augustausgabe der englisch- ham, der jetzt bei AICRES und an der
sprachigen Zeitschrift „Science in Chi- Louisiana State University arbeitet.
na“ von 1999 berichteten Dayuan Chen Schon 1984 konnten wir die Geburt ei-
und seine Kollegen, sie hätten erfolg- nes Bongokalbs vermelden, das eine
reich Muskel-, Gebärmutter- und Milch- Elenantilope zur Welt gebracht hatte. Die
drüsenzellen des Großen Pandas mit Ei- Forscher hatten einem trächtigen Bongo-
zellen von Kaninchen verschmolzen. Die weibchen sehr frühe Embryonen ent-
Klone hätten sie im Labor dazu gebracht, nommen und der Elenkuh eingepflanzt.
sich zu Blastocysten zu entwickeln. Am stärksten ist der Bergbongo ge-
Als Leihmütter des Bambusbärs kä- fährdet. Schon heute leben die meisten
men Kaninchen natürlich nicht in Frage. Tiere dieser Unterart in Menschenobhut.
Unsere chinesischen Kollegen und wir Laut IUCN behaupten sich nur noch un-
möchten Pandas vielmehr von amerika- gefähr fünfzig Bergbongos in einem klei-
nischen Schwarzbärinnen austragen las- nen Gebiet in Kenia. In Vergleich dazu
sen, von denen wir Eizellen während der verzeichnete das Internationale Zuchtbuch
Jagdsaison im Herbst gewinnen. In die
Eizellen möchten wir Gewebezellen ei-
nes männlichen und eines weiblichen
Der Gepard gehört zu den Arten, die
Pandas einbringen, die im Zoo von Wa- sich in Gefangenschaft nur unter
shington starben. Die Embryonen wollen günstigsten Bedingungen fortpflan-
wir einer Schwarzbärin einpflanzen. zen. Viele der Freilandpopulationen
Dass sich Schwarzbärweibchen als Leih- sind vom Aussterben bedroht.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 39


KLONEN

schutzorganisationen planen, Bergbongos erwecken können? Mit Dinosauriern Australische Forscher würden gern
aus Zoo-Nachzuchten in zwei Gebieten oder Mammuts dürfte das in absehbarer den Beutelwolf klonen, der in den dreißi-
Kenias anzusiedeln. AICRES arbeitet in Zeit wohl kaum gelingen. Als Haupthin- ger Jahren ausstarb. Sie kämpfen dabei
Kenia in einem Projekt, bei dem Bongo- dernis steht dem entgegen, dass es an ge- mit ähnlichen Schwierigkeiten. Mitarbei-
embryonen, die eingefroren waren, auf nügend gut konservierten Geweben mit ter des Australien Museum Sydney möch-
Elenkühe übertragen werden sollen. Auch einigermaßen erhaltener DNA mangelt. ten Zellen eines Beuteljungen klonen, das
diese Kälber könnten helfen, die Bestände Erst kürzlich wurden Forscher ent- seit 1866 in Alkohol liegt. Seine DNA ist
zu vergrößern. Wenn wir außerdem Bon- täuscht: Sie hatten gehofft, das Erbgut aber in einem so schlechten Zustand, dass
gos klonen und die Klone von Leihmüt- eines gefrorenen Mammuts aus Sibirien die Wissenschaftler praktisch alle Chro-
tern aufziehen lassen, könnten wir die Be- zu gewinnen. Doch offenbar war der mosomen rekonstruieren müssen.
mühungen um den Erhalt dieser Art unter- Körper im Laufe der Zeit mehrfach auf- Der Pyrenäen-Steinbock oder Bucar-
stützen. getaut und erneut eingefroren. Dadurch do hingegen ließe sich vielleicht wirklich
Wie steht es aber um bereits ausge- entstanden in den Erbsequenzen Lücken. wieder zum Leben erwecken. Alberto
storbene Arten? Werden wir manche von Noch wissen die Molekularbiologen kei- Fernandez-Arias von der Landwirt-
ihnen durch Klonen wieder zum Leben nen Weg, diese wieder zu füllen. schafts-Forschungsanstalt im spanischen

Klonbanken für Hunde und Katzen

Der neue Hund soll wieder der alte sein Die ebenfalls benötigten Eizellen ge-
winnen wir bei ACT aus Eierstöcken,
die beim Sterilisieren von Hunden
und Katzen anfallen. Sämtliche er-

S chafe, Rinder, Ziegen und Labor-


mäuse vermochten Wissenschaft-
ler schon erfolgreich zu klonen, nicht
lich auch im Artenschutz bedrohter
Raubtiere einsetzen. Bei ACT wollen wir
neben Heim- auch Gebrauchstiere klo-
kennbaren Follikel stechen wir an und
lassen die daraus hervorgeholten Ei-
zellen in einem speziellen Nährmedi-
aber gewöhnliche Katzen und Hunde. nen, die sich besonders bewährt haben: um reifen, dem wir Hormone, Protei-
Von Katzen konnten unsere beiden etwa Polizei- und Blindenhunde oder ne und Nährstoffe zusetzen. Erst die
Forscherteams geklonte Embryonen Vierbeiner, die man bei Verhaltensthera- reifen Eizellen verwenden wir zum
erzeugen und diese auch in Katzen- pien einsetzt. Das Audubon-Institut und „Kerntransfer“. Dabei wird eine ihres
weibchen einpflanzen, doch sie wur- die Louisiana State University möchten Genmaterials beraubte Eizelle mit ei-
den bisher nicht voll ausgetragen. Das sich zusammen mit der Firma Lazaron ner gezüchteten Zelle samt Zellkern
Klonen von Hunden bereitet wegen BioTechnologies in Baton Rouge (US- des Tieres verschmolzen, das geklont
deren besonderem Fortpflanzungssys- Bundesstaat Louisiana) vor allem auf werden soll.
tem noch mehr Schwierigkeiten. Heimtiere konzentrieren.
Wir erwarten aber, dass wir diese
Probleme bald meistern werden. Die
Erkenntnisse lassen sich dann sicher-
Erstaunlich viele Menschen können
sich vorstellen, ein ihnen nahe stehendes
Tier klonen zu lassen. Sie hoffen, da-
U nser Hauptaugenmerk gilt bisher
der Hauskatze, denn deren Fort-
pflanzungsbiologie ist vergleichsweise
durch wieder einen Vierbeiner mit ähnli- gut erforscht. So warfen Katzen be-
chen Verhaltenseigenschaften zu erhal- reits lebende Junge, nachdem ihnen
ten. Schließlich beruht nach heutiger normal entstandene Embryonen ein-
Auffassung ein gut Teil des Wesens von gepflanzt worden waren. Dies gelang
Katzen und Hunden auf genetischen An- sowohl bei Übertragung von frühen
lagen. Gegen das Klonen von geliebten wie späten Embryonen. Außerdem
ROB MC EWAN / PHOENIX PICTURES

Haustieren ließe sich einwenden, dass in konnten unsere beiden Forschergrup-


der Welt genug Hunde und Katzen leben, pen Kultursysteme etablieren, um
die ein Zuhause gebrauchen könnten. Katzen-Eizellen im Labor zur Reifung
Viele Tierliebhaber legen aber auf be- zu bringen. Wir können von Katzen
stimmte Verhaltenseigenschaften Wert, inzwischen auch zuverlässig geklonte
welche die Züchter immer noch in altbe- Embryonen produzieren, die in Emp-
währter Manier durch gelenkte natürli- fängertiere eingepflanzt werden.
che Fortpflanzung hervorrufen. Hunde bereiten bisher wesentlich
Klonen wäre hier eine effizientere Al- mehr Schwierigkeiten, denn ihre Fort-
ternative, vor allem bei Gebrauchshun- pflanzungsphysiologie ist innerhalb
den. Derzeit werden zum Beispiel männ- der Säuger recht einmalig. Die Eier
liche Blindenhunde früh kastriert, damit sind bei der Ovulation noch so unreif,
BIOS / PETER ARNOLD, INC.

sie sich besser auf das Training konzen- dass sie danach eine sehr lange Rei-
trieren. Wenn sich ein solcher Hund spä- fungszeit benötigen. Das System, das
KLEIN / HOBERT /

ter als besonders gut erweist, kann er wir für Katzeneier verwenden, können
seine Anlagen nicht mehr weitergeben. wir hier deswegen nicht gebrauchen.
ACT und einige andere Firmen bieten Eine andere Folge ist, dass wir am
Tierärzten bereits Ausstattungen an, um Ende über erheblich weniger Eier ver-
Bald sollen Tierliebhaber einen Hautproben von Heimtieren zu gewin- fügen. Die Katzen werden den Hun-
Klon ihres verstorbenen Hausge- nen. Ein Labor züchtet daraus dann reine den um einige Schnauzenlängen vo-
nossen bestellen können. Zell-Linien, die sich zum Klonen eignen. raus sein – beim Klonen.

40 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


ZEFA-WISNIEWSKI
Saragoza, der Gewebe der letzten Bucar-
dogeiß einfror, kämpfte wie sein Kollege
José Folch jahrelang um die letzten die-
ser Steinböcke. Dennoch wurde der klei-
ne Bestand durch Wilderei, Zerstörung
seines Lebensraums und Bergrutsche
ausgelöscht. Vor zwei Jahren gelang es
den spanischen Forschern, Embryonen
einer anderen Unterart des Spanischen
Steinbocks in eine Hausziege zu ver-
pflanzen, die auch tatsächlich lebende
Junge warf.
Um den Pyrenäen-Steinbock zu klo-
nen, will ACT mit den Spaniern zusam-
menarbeiten. Doch aus den vorhandenen
Zellproben können wir natürlich allen-

JOHN CANCALOSI
falls genetisch identische Weibchen er-
halten. Wir planen deswegen, männliche
Zellen eigens herzustellen: Dazu wollen
wir einer vorhandenen weiblichen Zelle
eines ihrer beiden X-Chromosomen ent-
nehmen und dieses durch ein Y-Chromo-
som eines nah verwandten Steinbocks
ersetzen. Für den Menschen wurde für
solche Manipulationen an den Chromo- Der Pyrenäen-Steinbock oder
somen eine Technik entwickelt, bei der Bucardo starb vor kurzem aus.
man künstliche „Mikrosomen“ verwen- Man könnte ihn aber noch
klonen: mit Hilfe eingefrorener
det. Zum Klonen hat dieses Verfahren Zellen des letzten Tiers.
bisher aber niemand eingesetzt. Eine
eigens gegründete Sponsororganisation,
die „Soma Foundation“, unterstützt das ment zum Artenerhalt. Nur sind manche genetische Mannigfaltigkeit gewährleis-
Vorhaben. Länder einfach so arm und die Verhält- ten, wäre besonders bei großen Tieren
nisse mancherorts so instabil, dass diese sehr kostenträchtig.
Klone aus dem Tiefkühlzoo Regionen dauerhafte Schutzmaßnahmen Manche Gegner befürchten, unser
einfach nicht durchsetzen können. Über- Vorhaben könnte Spendengelder von Ar-
Das Klonen gefährdeter Arten bietet im- dies wird wahrscheinlich auch einigen tenschutzprojekten abziehen, die für den
mer noch Anlass zu Kontroversen. Wir anderen heute noch nicht unmittelbar ge- Erhalt der Lebensräume kämpfen. Aber
vertreten die Ansicht, dass diese Metho- fährdeten Arten wegen der wachsenden nicht jeder potenzielle Spender möchte
de neben anderen Anstrengungen um den Weltbevölkerung irgendwann nicht mehr Bemühungen unterstützen, die Lebens-
Erhalt gefährdeter Arten ihren Platz hat. genug Lebensraum bleiben. Wenn wir raumzerstörung abzuwehren. Wir sollten
Einige Forscher halten dagegen, Klonen solche Tiere mit Hilfe anderer Arten berücksichtigen, dass Menschen, die für
würde die ohnehin schwindende geneti- durch interspezifischen Kerntransfer Artenschutz um jeden Preis kein Geld
sche Vielfalt solcher Arten noch weiter klonten, ließe sich dennoch ein umfang- aufbringen würden, das Klonen oder an-
einschränken. Das sehen wir anders. Wir reicher Genpool bewahren. Entspre- dere Methoden künstlicher Fortpflan-
plädieren dafür, soweit als möglich von chend große Populationen in Gefangen- zung vielleicht gern fördern. – Es ist Zeit
allen Individuen gefährdeter Arten Ge- schaft zu erhalten, die eine ausreichende zum Handeln. ■
webeproben einzufrieren und in einem
weltweiten Netz verfügbar zu halten.
Viele Tiergärten haben bereits „Tiefkühl- Robert P. Lanza, Betsy L. Dresser und Philip Damiani erforschen die Fortpflanzungsbiologie
zoos“ mit Sperma und Eizellen von In- von Tieren. Lanza ist Vizepräsident für medizinische und wissenschaftliche Entwick-
sassen eingerichtet. Ähnlich könnte eine lung beim ACT, „Advanced Cell Technology“, in Worcester (Massachusetts). Dresser
Sammlung von Körperzellen ein geneti- ist Vizepräsidentin für Forschung am Audubon-Institut in New Orleans (Louisiana).
sches Guthaben darstellen, aus dem sich Sie leitet AICRES, das dortige Zentrum für Forschung an bedrohten Tieren, und das
ganze Populationen wieder aufbauen las- Arterhaltungs-Zentrum Freeport-McMoRan in Audubon. Damiani forscht bei ACT.
sen. Erschwinglich wäre dies allemal.
Leider unterhalten bisher nur zwei Stel- Literaturhinweise
len solche Zellbanken: AICRES und das Klonen für medizinische Zwecke.Von Ian Wilmuth in: Spektrum der Wissenschaft, April
Zentrum zur Reproduktion gefährdeter 1999, S. 34.
Arten (CRES) am Zoo San Diego. Biodiversity Hotspots for Conservation Priorities. Von N. Myers et al. in: Nature, Bd.
Andere Kritiker befürchten, die Be- 403, S. 853. 24. Febr. 2000.
mühungen um den Erhalt der Lebensräu- Preservation of Endangered Species and Populations: A Role for Genome Banking,
me von bedrohten Arten würden in den Somatic Cell Cloning, and Androgenesis? Von G. E. Corley-Smith & B. P. Brandhorst
Hintergrund gedrängt, wenn die Tiere in: Molecular Reproduction and Development, Bd. 53, Heft 3, Juli 1999, S. 363.
geklont werden können. Auch wir halten Weblinks finden Sie unter www.spektrum.de/aktuellesheft.html
den Lebensraumschutz für das Funda-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 41


ASTRONOMIE

Die Suche nach


erdähnlichen Planeten

Außerhalb unseres Sonnensystems


haben Astronomen bereits Dutzende
von Riesenplaneten ausfindig
gemacht. Inzwischen sind ihre
Messmethoden ausgefeilt genug, um
auch extrasolare Himmelskörper von
der Größe unserer Erde zu entdecken.
VON LAURANCE R. DOYLE, HANS-JÖRG DEEG UND
TIMOTHY M. BROWN

inen Planeten, der nicht um unsere nomen. Denn der Planet war bisher nur Umlaufbahn um ihren

E Sonne, sondern um einen fernen


Stern kreist, hat noch kein Mensch
direkt gesehen. Aber im November 1999
indirekt anhand der winzigen Geschwin-
digkeitsschwankungen nachgewiesen
worden, die er seinem Zentralgestirn
Zentralstern bewegen,
etwa zehn Prozent. Als
Charbonneau und Henry
erhaschten zwei Astronomen immerhin aufzwingt. Charbonneau und Henry ihre Beobachtung durch-
den Schatten eines solchen Trabanten. wollten sich nun auf eine andere Art Ge- führten, waren die meisten
David Charbonneau, Doktorand an der wissheit verschaffen: Könnte es nicht anderen extrasolaren Planeten
Harvard-Universität in Cambridge (Mas- sein, fragten sich die Beobachter, dass bereits auf Durchgänge über-
sachusetts), analysierte die Helligkeit des der Planet von der Erde aus gesehen ge- prüft worden – jedoch ohne Er-
sonnenähnlichen Sterns HD 209458 an- legentlich vor dem Stern vorbeizieht und folg. Einige Astronomen fragten
hand von Daten, die er gemeinsam mit ihn dabei teilweise abschattet? Die Hel- sich deshalb, ob dieser negative Be-
einem von uns (Brown) erhoben hatte. ligkeit des Sterns müsste dann auf mar- fund nicht die Existenz extrasolarer
Fast zur gleichen Zeit beobachtete Greg kante Weise abnehmen. Planeten generell in Frage stelle: Viel-
Henry, Astronom an der Tennessee State Damit ein solches Ereignis – von den leicht hatte man ja die vermeintlichen
University in Nashville, denselben Stern. Astronomen Durchgang oder Transit ge- Geschwindigkeitsschwankungen falsch
HD 209458 ist ein unauffälliger Stern nannt – beobachtet werden kann, darf die interpretiert, und sie waren in Wirklich-
im Sternbild Pegasus; nicht einmal mit Umlaufbahn des Planeten nur wenig zu keit nur Schwingungen eines Sterns, der
bloßem Auge ist er zu sehen. Der Him- unserer Sichtlinie geneigt sein. Dies ist seinen Radius rhythmisch ändert?
melskörper zeichnet sich jedoch durch durchaus nicht so unwahrscheinlich, wie Charbonneaus und Henrys Untersu-
eine Besonderheit aus: Um ihn kreist ein man zunächst vermuten könnte. Die chungen beseitigten diese Zweifel. Ge-
Planet, der mindestens zwei Drittel der Chance für die „richtige“ Ausrichtung nau zu dem Zeitpunkt, zu dem nach den
Masse Jupiters aufweist. Zumindest war beträgt bei Planeten, die sich wie der Be- Geschwindigkeitsmessungen ein Durch-
das damals der Kenntnisstand der Astro- gleiter von HD 209458 auf einer engen gang hätte erfolgen können, nahm die

42 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


Ein erdähnlicher Planet umkreist
womöglich das Doppelsternsystem
CM Draconis. Die Autoren haben
eine geringe, sich rhythmisch
MARK A. GARLICK

wiederholende Abnahme des


Sternenlichts registriert – verur-
sacht vermutlich von einem
vorüberziehenden Planeten.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 43


ASTRONOMIE

Helligkeit des Sterns für drei Steckbrief nomen. Schließlich ist eine
Stunden um 1,8 Prozent ab. Sonnenfinsternis im Prinzip
Dieses leichte Verblassen be- Bisherige Erfolge: nichts anderes als der Vorüber-
wies nicht nur die tatsächliche Mit spektroskopischen Verfahren können Astronomen fest- gang des Mondes vor der Son-
Existenz des Planeten, son- stellen, ob sonnennahe Sterne von Riesenplaneten um- ne. Anfang des 17. Jahrhun-
dern erlaubte auch, dessen kreist werden. Zahlreiche Trabanten von etwa Jupitergröße derts sagte Johannes Kepler
wurden in den letzten fünf Jahren gefunden.
Durchmesser zu berechnen: Durchgänge des innersten Pla-
Man fand das 1,3fache des Ju- Probleme: neten Merkur vor der Sonnen-
piter-Durchmessers. Damit Die Methode versagt jedoch bei Planeten kleinerer Masse. scheibe voraus. Der Seefahrer
war erstmals die Größe eines Trabanten von der Größe unserer Erde – auf denen sich James Cook hatte auf seiner
extrasolaren Planeten be- möglicherweise Leben entwickelt haben könnte – lassen ersten Südseereise den Auftrag,
stimmt worden. sich somit nicht aufspüren. den für 1769 erwarteten Durch-
Mit der Transitmethode Trickreiche Lösung: gang der Venus zu beobachten.
verfügen die Astronomen nun Ein anderes Verfahren – das Beobachten von Durchgängen Die damaligen Astronomen
über ein zweites Verfahren der Planeten vor der Scheibe ihres Zentralsterns – erlaubt nutzten dieses Ereignis, um tri-
zum Aufspüren ferner Plane- es, auch erdähnliche Himmelskörper nachzuweisen. gonometrisch die Entfernung
ten. Die ersten Erfolge brach- der Erde zur Sonne zu berech-
ten Messungen der Geschwin- nen. Dass Durchgänge auch
digkeitsschwankungen der Sterne. Hat sich damit nicht nachweisen. Aber auch vor anderen Sternen zu beobachten sein
ein Stern einen planetaren Begleiter, die Transitmethode hat einen Nachteil: müssten, erwähnte zuerst Otto Struve
dann liegt der Schwerpunkt des Systems Sie lässt sich nur anwenden, wenn Stern, vom Yerkes-Observatorium 1951. Frank
nicht im Zentrum des Sterns, sondern et- Planet und Erde zufällig in einer Linie Rosenblatt von der Cornell-Universität
was abseits davon. Mit anderen Worten: stehen. Wenn aber ein Durchgang beob- in Ithaca (New York) und William Bo-
Er eiert. Von der Erde aus lassen sich achtet wird, können die Astronomen auch rucki vom Ames-Forschungszentrum der
diese rhythmischen Verschiebungen, die die Größe und andere Eigenschaften des Nasa in Huntsville (Alabama) haben die-
der Bewegung des Sterns im Raum über- Planeten bestimmen, selbst wenn er recht se Idee später weiterverfolgt.
lagert sind, anhand der Änderungen der klein ist. Bei einem Durchgang von Merkur
Radialgeschwindigkeit feststellen. Be- Somit ist die Transitmethode derzeit oder Venus wandern diese Planeten als
wegt sich der Stern auf die Erde zu, dann das einzige Verfahren, mit dem man ex- kleine schwarze Flecken über die Scheibe
erscheinen seine Spektrallinien zu kürze- trasolare Planeten auch von der Größe der Sonne. Durchgänge extrasolarer Pla-
ren Wellenlängen verschoben; entfernt er unserer Erde ausfindig machen kann. neten können dagegen nur indirekt an-
sich von ihr, verschieben sie sich zu grö- Zwei von uns (Doyle und Deeg) haben hand der Lichtkurve des zugehörigen
ßeren Wellenlängen. Erstmals wurde auf mit dieser Methode das Sternsystem CM Sterns festgestellt werden. In einem sol-
diese Weise 1995 ein Planet um den son- Draconis nach erdähnlichen Welten ab- chen Diagramm ist die gemessene Hellig-
nenähnlichen Stern 51 Pegasi entdeckt. gesucht. Dort könnten wir Himmelskör- keit als Funktion der Zeit aufgetragen.
Seitdem haben die Astronomen mehr als per mit dem nur 2,5fachen Durchmesser Das Messen der stellaren Lichtstärke ist
fünfzig weitere Planeten gefunden. Die- der Erde registrieren. Die Suche nach an- Gegenstand einer astronomischen Spe-
se Radialgeschwindigkeitsmethode kann deren Welten – die möglicherweise auch zialdisziplin, der Fotometrie. Das unbe-
grundsätzlich bei jedem Stern angewandt Leben in der uns bekannten Form beher- waffnete menschliche Auge kann erken-
werden, doch vermag sie nur solche Pla- bergen – hat somit begonnen. nen, wenn ein Stern seine Helligkeit um
neten aufzuspüren, die eine große Masse Der Durchgang eines Himmelskör- den Faktor 2,5 ändert. Geübte Amateur-
haben. Trabanten von Erdgröße lassen pers vor einem Stern ist kein neues Phä- astronomen, die regelmäßig die Hellig-
relative Helligkeit des Sterns in Prozent

101

100

99
JENNIFER JOHANSON

98
ALFRED T. KAMAJIAN

9. Sept. 1999

17:00 18:00 19:00 20:00 21:00 22:00 23:00


Uhrzeit (koordinierte Weltzeit, UTC)

Ist die Bahnebene eines Planeten nur wenig gegen die Sichtlinie 1,4 Jupiterdurchmessern hin (durchgezogene Linie); innerhalb
des Beobachters geneigt, so zieht der Himmelskörper regelmäßig der Messgenauigkeit könnte der Durchmesser auch zehn Prozent
vor der Scheibe seines Zentralsterns vorbei (links). Die gemesse- größer oder kleiner sein (gestrichelte Linien). Die Messfehler der
ne Helligkeit des Sterns verringert sich dann in dem entspre- Beobachtung (Punkte mit senkrechten Fehlerbalken) nehmen
chenden Rhythmus. So wurde an dem sonnenähnlichen Stern nach dem beobachteten Durchgang zu, da der Stern dem
HD 209458 eine Abnahme der Helligkeit um 1,8 Prozent Horizont nahe kam. Neue Mehrfarbenbeobachtungen weisen auf
registriert. Die Lichtkurve (rechts) deutet auf einen Planeten mit eine Größe von 1,6 Jupiterdurchmessern hin.

44 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


Die Lichtkurve eines diglich mit Hilfe einiger
Doppelsternsystems technischer Kunstgriffe ist
weist charakteristische die benötigte Präzision zu
Einsenkungen auf, wenn
es von einem Planeten erreichen.
umkreist wird. Betrag Der Abstand eines Pla-
und Dauer der Hellig- neten von seinem Stern
keitsabnahme hängen spielt ebenfalls eine Rolle.
von der Stellung der Die Empfindlichkeit der Ra-
Sterne in ihrem gegen- dialgeschwindigkeitsmes-
seitigen Umlauf ab.
sung nimmt in dem Maße
Hier ist der scheinbare Abstand der Sterne am größten. Der Planet ab, mit dem die Anziehungs-
macht einen Doppeldurchgang: Er zieht erst vor dem einen, dann
vor dem anderen Stern vorbei. kraft zwischen beiden Him-
keit veränderlicher Sterne melskörpern kleiner wird,
mit derjenigen benachbarter also mit der Quadratwurzel
Sterne vergleichen, können ihrer Entfernung. Dies ist
wesentlich feinere Schwan- der Grund dafür, warum die
kungen feststellen. Mit elek- meisten auf diese Weise ge-
tronischen Kameras an klei- fundenen Planeten jupiter-
nen Fernrohren vermag man ähnliche große Trabanten
eine Genauigkeit von 0,1 auf engen Umlaufbahnen
Prozent zu erzielen. Groß- sind. Durchgänge hingegen
teleskope, die mehr Licht können registriert werden,
einfangen und atmosphäri- egal wie weit der Planet von
sche Störungen besser he- dem Stern entfernt ist. Es
rausfiltern können, erreichen kommt nur darauf an, dass
noch bessere Resultate. die geometrischen Voraus-
Fotometrische Messun- setzungen erfüllt sind: Stern,
gen sind vor allem bei der Planet und der irdische Be-
Suche nach kleinen Plane- Wenn der Planet vorbeizieht, während sich die Sterne gegenseitig obachter müssen in einer Li-
ten anderen Verfahren über- bedecken, kann der Durchgang länger dauern und eine größere nie stehen.
legen. Das Messsignal – die Helligkeitsabnahme verursachen. Allerdings ist die Chan-
zeitweilige Abnahme der ce, einen Durchgang zu be-
Sternhelligkeit – ist propor- obachten, umso geringer, je
tional zur verdunkelten Flä- größer die Umlaufbahn des
che des Sterns und hängt so- Planeten ist. Beispielsweise
mit vom Verhältnis der Qua- beträgt die Wahrscheinlich-
drate des Planetenradius keit, dass für einen willkür-
und des Sternradius ab. Im lich positionierten außerir-
Gegensatz dazu variiert die dischen Beobachter ein
Radialgeschwindigkeit ei- Transit der Erde vor der
nes Sternes proportional Sonne sichtbar wäre, nur
zum Verhältnis der Masse etwa 0,5 Prozent. Aus die-
ALFRED T. KAMAJIAN

des Planeten zur Masse des sem Grunde wurde die


Sterns – also proportional Transitmethode lange ver-
zum Verhältnis der dritten nachlässigt. Aber zwei Ent-
Potenzen ihrer Radien. Da wicklungen ließen die As-
Planeten bedeutend kleiner tronomen umdenken. Ers-
sind als Sterne (der Radius Wenn die Bewegung des Planeten langsamer ist als die der Sterne, tens zeigte sich, dass die
von Jupiter ist etwa zehnmal können dreifache Durchgänge auftreten: Zuerst zieht der Planet vor entdeckten Riesenplaneten
kleiner, der Erdradius gar dem uns näheren Stern vorbei, dann tritt ein kürzerer Durchgang ihre Zentralsterne auf relativ
hundertmal kleiner als der- vor dem ferneren Stern auf (kürzer deshalb, weil dieser sich in der
Gegenrichtung bewegt), und schließlich holt der Planet den ersten
engen Bahnen umlaufen
jenige der Sonne), wirkt Stern wieder ein (gestrichelter Umriss). und nicht auf weiten, wie
sich diese unterschiedliche wir es von unserem Sonnen-
Abhängigkeit zu Gunsten system kennen. Die engen
der Transitmessungen aus. kleinere Teleskope verwendet werden, Bahnen erhöhen die Wahrscheinlichkeit
Ein Beispiel mag das verdeutlichen: um einen Planeten einer bestimmten von Transitkonstellationen um das Zehn-
Um den Durchgang des Planeten vor HD Größe zu finden. Ein Himmelskörper fache. Zweitens wurden großflächige
209458 mit einem Fotometer zu regis- von Jupiters Größe schwächt die Hellig- Messsysteme eingeführt, die mehrere
trieren, reichen im Prinzip etwa 40 000 keit seines Zentralsterns um etwa ein hunderttausend Sterne gleichzeitig beob-
Photonen aus. Um denselben Himmels- Prozent, was gut mit einem Ein-Meter- achten können. Der Hintergedanke da-
körper über die Schwankungen der Ra- Teleskop zu registrieren ist. Ein Planet bei: Wenn man lange genug sehr viele
dialgeschwindigkeit anhand des Spek- von Erdgröße vermindert die Helligkeit Sterne simultan betrachtet, müssen eini-
trums nachzuweisen, wären rund 10 Mil- jedoch nur um 0,01 Prozent, was die Fä- ge von ihnen Durchgänge aufweisen.
lionen Photonen erforderlich. Deswegen higkeiten selbst der größten gegenwärtig Auf diese Weise werden Astronomen

können mit der fotometrischen Methode verfügbaren Teleskope überfordert. Le- nicht nur Listen von Planeten zusam-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 45


ASTRONOMIE

Extrasolare Planeten – ein Statusbericht

Ferne Welten Stern Mindest-


masse
(in Jupiter-
Bahn-
exzen-
trizität
große Halbachse
(in Astronomischen
Einheiten)
massen)

D ie Anzahl bekannter Planeten, die sonnenähnliche Ster-


ne in unserer kosmischen Nachbarschaft umrunden,
erhöht sich fast jeden Monat. Gegenwärtig sind es 49. Doch
HD 16141
HD 168746
0,22
0,24
0,28
0,00
0,350
0,066
trotz des immensen Fortschritts lassen sich mit den bisheri- HD 46375 0,25 0,00 0,041
HD 108147 0,34 0,56 0,098
gen Messverfahren nur relativ große Planeten entdecken, HD 83443 0,35 0,08 0,038
die ihren Mutterstern auf recht engen Bahnen umkreisen. HD 75289 0,42 0,05 0,046
Deswegen ist die vorläufige Liste dieser Trabanten (siehe 51 Pegasi 0,47 0,00 0,051
Tabelle) sicherlich nicht repräsentativ. Gleichwohl zeichnen BD–10 3166 0,48 0,00 0,046
sich einige überraschende Befunde ab, die uns zwingen, HD 6434 0,48 0,30 0,15
HD 187123 0,52 0,03 0,042
unsere bisherigen Vorstellungen über die Entstehung und HD 209458 0,69 0,00 0,045
die Vielfalt von Planetensystemen zu revidieren. Ypsilon And b 0,71 0,03 0,059
Alle extrasolaren Planeten wurden indirekt nachgewie- HD 192263 0,76 0,03 0,150
sen, und zwar durch die Unwucht, die sie ihrem Zentral- HD 38529 0,81 0,28 0,129
stern aufzwingen. Bewegt sich der Stern dabei etwas in 55 Cancri 0,84 0,05 0,110
Epsilon Eridani 0,86 0,61 3,3
Richtung Erde, erscheinen die Spektrallinien zum blauen HD 121504 0,89 0,13 0,32
Ende des optischen Spektrums verschoben, also zu kürze- HD 37124 1,04 0,19 0,585
ren Wellenlängen hin. Umgekehrt zeigen die Linien eine HD 130322 1,08 0,05 0,088
geringe Rotverschiebung, wenn sich der Stern etwas von der Rho CrB 1,1 0,03 0,23
Erde entfernt. Aus dieser periodischen Doppler-Verschie- HD 52265 1,13 0,29 0,49
HD 217107 1,28 0,14 0,07
bung können die Astronomen die Änderung der Radialge- HD 177830 1,28 0,43 1,00
schwindigkeit errechnen und auf die Bahndaten des Plane- HD 210277 1,28 0,45 1,097
ten schließen. Weil aber von vornherein nicht bekannt ist, in 16 Cygni B 1,5 0,67 1,70
welcher Ebene sich der Planet bewegt, lässt sich für seine HD 134987 1,58 0,25 0,78
Masse nur eine untere Grenze angeben. HD 19994 2,0 0,2 1,3
Freilich ist die beobachtete Änderung der Radialge- Gliese 876 2,1 0,27 0,21
Ypsilon And c 2,11 0,18 0,830
schwindigkeit winzig. Jupiter zum Beispiel, der größte Planet HD 92788 2,12 0,44 0,99
unseres Sonnensystems, verursacht eine Änderung von 12,5 HD 82943 2,24 0,61 1,16
Metern pro Sekunde im Laufe seiner zwölfjährigen Umlauf- Iota Hor (HR 810) 2,26 0,16 0,925
periode. Die Linien im Sonnenspektrum (mit einer Wellen- 47 Ursae Majoris 2,41 0,10 2,10
länge von rund 500 Nanometern) schienen einem fernen HD 12661 2,83 0,33 0,789
HD 169830 2,96 0,34 0,823
Beobachter dadurch um 0,000 02 Nanometer verschoben.

QUELLE: CFA-WWW.HARVARD.EDU/PLANETS/CATALOG.HTML
14 Herculis 3,3 0,35 2,5
Die Erde verursacht eine viel kleinere Variation der Radialge- HD 1237 (GJ 3021) 3,31 0,51 0,49
schwindigkeit von nur etwa zehn Zentimetern pro Sekunde – HD 195019 3,43 0,05 0,14
also weit weniger als die Geschwindigkeit eines Fußgängers. Tau Bootis 3,87 0,02 0,046
Gliese 86 4,23 0,05 0,11
Ypsilon And d 4,61 0,41 2,50
N ach jahrelangen Anstrengungen entdeckten Michel Ma-
yor und Didier Queloz von der Sternwarte Genf 1995
den ersten extrasolaren Planeten mit dieser Methode. Sie
HD190228
HD 168443
HD 222582
4,99
5,04
5,4
0,43
0,54
0,71
2,31
0,277
1,35
wiesen nach, dass ein Objekt von etwa Jupitergröße den HD 10697 6,59 0,12 2,0
Stern 51 Pegasi umkreist, und zwar in dem verblüffend 70 Virginis 6,6 0,40 0,43
HD 89744 7,2 0,70 0,88
kleinen Abstand von nur 0,05 Astronomischen Einheiten HD 114762 10,93 0,34 0,351
(also dem 0,05-fachen des mittleren Abstandes Sonne– HD 162020 13,73 0,28 0,072
Erde). Kurz darauf fanden Geoffrey W. Marcy und R. Paul

menstellen, sondern auch gleich Statisti- Quirrenbach von der Universität von Ka- Science Institute in Baltimore (Massa-
ken über die Eigenarten ihres Vorkom- lifornien in San Diego und Keith Horne chusetts), und Brown den Kugelstern-
mens anlegen können. von der St.-Andrews-Universität in haufen 47 Tucanae. Die Forscher ver-
Viele solcher Suchaktionen sind der- Schottland leiten eine Planetenjagd in of- folgten 34 000 Sterne. Rein statistisch
zeit mit bodengebundenen Teleskopen fenen Sternhaufen, Gruppen aus Hunder- betrachtet hätten sie 17 Durchgänge se-
im Gang, wobei meist nach Riesenplane- ten oder Tausenden von Sternen, die sich hen müssen. Tatsächlich gab es keinen
ten wie jenem Trabanten von HD 209458 etwa zur selben Zeit gebildet haben. Da einzigen. Noch immer grübeln die Astro-
gesucht wird. Beim STARE-Projekt (un- die Astronomen abschätzen können, wie nomen über dieses Null-Resultat: Viel-
ter der Leitung von Brown) und dem alt ein Sternhaufen ist, kennen sie damit leicht weist der Sternhaufen zu wenig je-
Vulcan-Projekt (geleitet von Borucki, auch gleich das Alter der darin mögli- ner schweren Elemente auf, die sich zu
David Koch vom Ames-Forschungszen- cherweise georteten Planeten. Planeten formen können. Oder die hohe
trum der Nasa sowie von Jon Jenkins Eine andere Suche wurde unlängst räumliche Dichte der Sterne hat die Pla-
vom benachbarten Seti-Institut in Moun- mit dem Hubble-Weltraumteleskop un- neten in den rund 10 Milliarden Jahren
tain View, Kalifornien) wird in die ternommen. Acht Tage lang beobachtete seit Entstehung des Sternhaufens aus ih-
Milchstraße hinein beobachtet, wo es ein Team unter Führung von Ron Gilli- ren Bahnen geworfen. Alle diese Be-
Sterne in Hülle und Fülle gibt. Andreas land, Astronom am Space Telescope mühungen verschaffen Erkenntnisse da-

46 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


menteam den dritten Planeten dieser Gewichtsklasse nach-
weisen. Diese Befunde lassen vermuten, dass kleinere Pla-
neten generell recht häufig sind. Andererseits gibt es am
oberen Ende der Massenskala – an der sich Braune Zwerge
von etwa 10- bis 80facher Jupitermasse befinden – offen-
sichtlich weniger Objekte als erwartet. Es könnte also sein,
dass Braune Zwerge und Planeten durch verschiedene Pro-
zesse und mit unterschiedlicher Häufigkeit entstehen.
51 Pegasi

D
ie mitunter stark elliptischen Umlaufbahnen geben
noch Rätsel auf. Weil sich Planeten in einer Scheibe aus
Gas und Staub bilden, die den jungen Zentralstern umgibt,
sollten sich die Bahnen infolge von Reibungseffekten immer
mehr einem Kreis angenähert haben. Warum ist das bei 70
Virginis und anderen Systemen nicht der Fall? Die Antwort
könnten uns die Kometen unseres eigenen Sonnensystems
liefern. Einige von ihnen werden offenbar durch nahe Vo-
rübergänge an den äußeren Planeten in elliptische Bahnen
geschleudert. Ähnliches könnte auch größeren Himmelskör-
pern widerfahren. Dann wäre unser Sonnensystem mit sei-
nen nahezu kreisförmigen Umlaufbahnen der Planeten eher
die Ausnahme als die Regel. In manchen Sternsystemen wie
ALFRED T. KAMAJIAN
etwa bei 16 Cygni B könnte auch ein zweiter Zentralstern die
Störungen der Planetenbahnen verursachen.
70 Virginis Einigen Wissenschaftlern ist eine Besonderheit bei den
bisher bekannten Planetensystemen aufgefallen: Ihre Zen-
tralsterne enthalten Elemente, die schwerer sind als Was-
Viele der bisher entdeckten extrasolaren Planeten umrunden serstoff und Helium, in ungewöhnlich hoher Konzentration.
ihre Zentralsterne auf engen und fast kreisförmigen Bahnen Dies könnte darauf hinweisen, dass ein Mindestgehalt an
wie etwa im System 51 Pegasi. Die zweite Klasse von
Planeten weist exzentrische Umlaufbahnen und einen großen diesen schweren Elementen erforderlich ist, damit sich in
Abstand zum Zentralstern auf wie etwa im System 70 Virginis. der zirkumstellaren Scheibe überhaupt Planeten bilden kön-
nen. Vielleicht haben sich die Sterne diese Elemente aber
auch nachträglich einverleibt, indem sie einige ihrer neu
Butler – damals an der San Francisco State University – gebildeten Planeten verschlangen.
zwei weitere extrasolare Planeten großer Masse. Einer von Zweifelsohne werden die Astronomen noch weite-
ihnen umkreist den Stern 70 Virginis auf einer stark ellipti- re Überraschungen erleben, je mehr extrasolare Planeten sie
schen Bahn – ebenfalls etwas, was man aus unserem Son- entdecken. Über die Doppler-Verschiebung lassen sich
nensystem nicht kennt. gegenwärtig Änderungen der Relativgeschwindigkeit von
Nach Messungen an inzwischen rund 800 Sternen in etwa drei Metern pro Sekunde nachweisen. Planeten von
der Umgebung der Sonne schätzt man, dass etwa jeder der Größe des Uranus und des Neptuns, die etwa nur fünf
zwanzigste sonnenähnliche Stern von einem Riesenplaneten Prozent der Jupitermasse haben, ließen sich damit entde-
umrundet wird. Manche ähneln dem 51-Pegasi-System, an- cken. Dynamische Vorgänge auf der Oberfläche der Sterne
dere dem 70-Virginis-System. Mindestens ein Stern, Ypsilon begrenzen womöglich die Nachweisgenauigkeit auf einen
Andromedae, wird von mehreren Trabanten umrundet. Meter pro Sekunde. Um Planeten von Erdgröße zu entde-
Weitere Fortschritte in der Messtechnik erlaubten es der cken, bedarf es also völlig neuer Beobachtungsverfahren.
Forschungsgruppe von Marcy und Butler, auch zwei Plane- Ray Jayawardhana
ten von der Größe des Saturn zu entdecken, der nur etwa
ein Drittel der Jupitermasse hat. Kurz nach dieser Entde- Der Autor forscht an der Universität von Kalifornien in
ckungsmeldung im März 2000 konnte das Genfer Astrono- Berkeley über die Entstehung von Planeten.

rüber, wie Planeten entstehen und wie nem Zeitraum, der lang genug ist, um stern aufweist. Ist der Planet zu nahe,
verbreitet sie sind. Aber die Grenzen in mehrere Transite zu erfassen. Selbst leidet er unter einem sich selbst verstär-
der Empfindlichkeit der Teleskope und wenn das Signal jedes Durchgangs sehr kenden Treibhauseffekt. Die Atmosphäre
die relativ kurzen Messkampagnen füh- klein ist und sich kaum von den Hinter- eines solchen Planeten sättigt sich dann
ren zu einem selektiven Effekt, der die grundschwankungen abhebt, lassen sich mit Wasserdampf. Das Sonnenlicht spal-
Entdeckung großer Gasplaneten bevor- Mehrfachquerungen wegen ihrer Perio- tet das Wasser in Sauerstoff und Wasser-
zugt. Leben, wie wir es kennen, können dizität zu einem aussagekräftigen Signal stoff, wobei sich letzterer ins Weltall ver-
diese Himmelskörper nicht beherbergen. vereinen. flüchtigt. Die Folge ist ein knochentro-
Um potenziell bewohnbare Welten Was die Größe der Himmelskörper ckener, überhitzter Planet ähnlich der Ve-
zu finden, haben zwei von uns (Doyle betrifft, muss man sich vergegenwärti- nus. Umgekehrt kühlt ein Planet, der zu
und Deeg) einen weiteren Ansatz ge- gen, wie ein Ort beschaffen sein muss, weit von seinem Stern entfernt ist, immer
wählt. Wir konzentrieren uns auf relativ damit er Leben beherbergen kann. Eine weiter aus. Kohlendioxid und andere
kleine Sterne, von denen bekannt ist, erdähnliche Biochemie erfordert flüssi- Treibhausgase kondensieren und legen
dass sie die geometrischen Bedingun- ges Wasser. Dies kann ein Planet nur bie- sich als Schnee über die Oberfläche. Da
gen zur Beobachtung von Durchgängen ten, wenn seine Umlaufbahn einen be- Schnee mehr Strahlung reflektiert als

erfüllen. Wir beobachten sie dann in ei- stimmten Abstand von seinem Zentral- Gestein, verstärkt sich die Abkühlung

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 47


ASTRONOMIE

noch. Auf dem Planet herrscht ewiger of Extrasolar Planets), damit wir diesen
Frost – ähnlich wie auf dem Mars. Literaturhinweise Doppelstern für mindestens 1000 Stun-
Sterne, die kleiner sind als die Sonne, A Search for Jovian-Mass Planets den beobachten konnten. An dem Mess-
haben eine geringere Oberflächentempe- around CM Draconis using Eclipse programm beteiligten sich Jean Schnei-
ratur, sodass die lebensfreundliche Zone Minima Timing. Von Hans-Jörg der in Paris, Walerij Koshewnikow von
näher am Stern gelegen ist. Enge Um- Deeg et al. in: Astronomy and der Ural-Universität in Jekaterinburg
laufbahnen erhöhen aber die Wahr- Astrophysics, Bd. 358, S. L5, 20. (Russland), Brian Oetiker von der Uni-
scheinlichkeit, den Durchgang eines Pla- Juni 2000. versität von Neu-Mexiko in Albuquer-
neten zu beobachten. Zudem liefert ein Observational Limits on Terrestrial- que, Eduardo Martín vom Astrophysi-
Planet einer gegebenen Größe ein umso Sized Inner Planets around the CM kalischen Institut der Kanarischen In-
deutlicheres Transitsignal, je kleiner der Draconis System Using the Photo- seln, J. Ellen Blue von SRI International
Stern ist. Die Chance, potenziell belebte metric Transit Method with a Mat- in Menlo Park (Kalifornien), Remington
Planeten zu finden, ist also in der Umge- ched-Filter Algorithm. Von Lau- P. S. Stone vom Lick-Obervatorium nahe
bung kleinerer Sterne am höchsten. rance R. Doyle et al. in: Astro- San Jose (Kalifornien) und Efthimious
Das zweite Merkmal der Sterne in physical Journal, Bd. 535, S. 338, Paleologou von der Universität Kreta.
unserer Auswahl ist, dass sie alle die nö- 20. Mai 2000. Die Aufgabe bestand nun darin, das
tige Stellung aufweisen, um Transitbeob- Weblinks unter www.spektrum.de/ gesuchte Transitsignal aus dem störenden
achtungen zu ermöglichen. Wir haben sie aktuellesheft.html „Rauschen“ herauszufiltern, das von dy-
aus astronomischen Katalogen von so namischen Vorgängen in der Erdatmo-
genannten Bedeckungsveränderlichen sphäre, Instabilitäten der Messgeräte,
herausgepickt – das sind Doppelsterne, lich die Bahnebene der Planeten im We- Veränderungen der Sternaktivität und an-
deren Umlaufebenen parallel zu unserer sentlichen mit der Bahnebene der Dop- deren Faktoren hervorgerufen wird. Un-
Sichtlinie liegen. Astronomen können pelsterne zusammenfällt – wozu es gute ser Suchalgorithmus, den wir gemeinsam
diese Konstellation aus dem deutlichen Gründe gibt –, sollte die Wahrscheinlich- mit Jenkins entwickelt haben, vermag so-
und periodischen Wechsel der Helligkeit keit, Durchgänge zu beobachten, 100 gar Signale zu erkennen, die kleiner sind
dieser Systeme ableiten: Die Lichtkurve Prozent betragen. Zieht ein solcher Pla- als die Fluktuationen im Hintergrundrau-
zeigt immer dann „Dellen“, wenn sich net vor seinen Muttersternen vorbei, soll- schen. Wir erstellten 400 Millionen Test-
die beiden Sterne bedecken. Im Laufe te er eine verräterische Doppeldelle in profile, die bei einem Durchgang eines
der Jahre haben Hobby- und Profi-Astro- der Lichtkurve produzieren, da er erst Planeten erzeugt werden könnten, und
nomen Tausende solcher Bedeckungs- das Licht des einen und dann das des verglichen sie mit unserem fotometri-
veränderlicher entdeckt. Abgesehen von anderen Sterns reduziert. Die Art der schen Datenmaterial. Wir erhielten neun
ihrer speziellen Ausrichtung relativ zu Doppeldelle wird dabei von der momen- Kandidaten, die alle zu Planeten von etwa
unserer Sichtlinie sind diese Systeme tanen Stellung der Sterne und des Plane- zweieinhalbfachem Erddurchmesser pas-
völlig gewöhnliche Doppelsterne. Sie ten abhängen (Grafik auf Seite 45). sen würden. Die spannende Frage war
können stabile Planeten-Umlaufbahnen Für unsere Suche nach erdähnlichen nun, ob diese Signale regelmäßig wieder-
aufweisen, sofern der Abstand zwischen Welten hatten wir zunächst CM Draconis kehren. Bis zur Drucklegung dieses Arti-
Planet und Doppelstern wenigstens vier- ausgewählt. Es ist einer der kleinsten kels blieben noch zwei Kandidaten übrig:
mal größer ist als die Distanz der beiden bekannten Bedeckungsveränderlichen. einer mit einer 21-tägigen und einer mit
Sterne untereinander. Der Planet zieht Dieses System ist 54 Lichtjahre von uns einer 26-tägigen Umlaufbahn. Mittler-
um beide Sterne auf ganz gewöhnliche entfernt und besteht aus zwei sehr klei- weile haben wir unsere Suche auf einige
Weise seine Kreise – nur stehen bei ihm nen, kühlen Sternen, die etwa neun Mil- hundert weitere Bedeckungsveränderli-
zwei Sonnen am Firmament. liarden Jahre alt sind. Planeten innerhalb che ausgeweitet.
Wie Jean Schneider und Michel Che- seiner lebensfreundlichen Zone müssten Möglicherweise ließe sich durch ge-
vreton von der Meudon-Sternwarte in eine Umlaufzeit von etwa 18 bis 35 Ta- naues Registrieren der Durchgangszeiten
Paris erstmals darlegten, sind Bede- gen aufweisen. 1994 gründeten wir ein auch enthüllen, ob die Planeten ihrerseits
ckungsveränderliche für den Planetenjä- weltweites Netzwerk von Teleskopen der über Trabanten verfügen. Wenn bei-
ger ein Geschenk der Natur. Falls näm- Ein-Meter-Klasse, genannt TEP (Transit spielsweise außerirdische Astronomen
0,02
Helligkeitsänderung in Größenklassen

0,01

0,00
JENNIFER JOHANSEN

– 0,01

– 0,02
22. Mai 1994 9. Mai 1997 31. Juli 1999
02:24 UTC 14:24 UTC 08:24 UTC
Nichts als ein Hintergrundrauschen? Oder versteckt sich doch können, suchten die Autoren nach sich wiederholenden Mustern.
das Signal eines Planeten in diesen Helligkeitsmessungen des Die durchgezogenen Linien stellen jeweils den Durchgang eines
Doppelsterns CM Draconis (Messpunkte)? Um Zufallsschwan- Planeten mit zweieinhalbfachem Erddurchmesser auf einem 23
kungen (verursacht durch die Erdatmosphäre) ausschließen zu Tage währenden Umlauf dar.

48 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


Wie man Planeten findet
unsere Sonne beobachten ter Erdgröße zu entde-

Masse des Planeten in Jupitermassen


würden, könnten sie alle cken. Das „Eddington“-

Masse des Planeten in Erdmassen


100 32 000
365,24 Tage eine geringe Projekt der Europäischen
Abnahme ihrer Helligkeit 70 Vir Raumfahrtorganisation
10 3200
bemerken und so auf die 47 UMa
Esa, an dem einer von
Anwesenheit der Erde uns (Deeg) mitarbeitet,
schließen. Im Laufe der 1 HD 209458 320 wird tatsächlich auch erd-
51 Peg inzelstern)
Jahre würden sich die i n d igkeit (untere Grenze für E große Planeten ausfindig
esch w
Durchgänge allerdings Radialg machen können. Das am-
0,1 Bedeckungszeit 32
um bis zu zwei Minuten bitionierteste Projekt ist

JENNIFER JOHANSEN
CM Dra Durchgang
früher oder später ereig- (Kandidat)
bekannte Planeten jedoch der vorgeschlage-

JENNIFER JOHANSON
nen, was auf das Vorhan- 0,01 3,2 ne Nasa-Satellit „Kep-
0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5
densein unseres Mondes ler“: Er soll 170 000 Ster-
hinweisen würde. Andere Abstand vom Zentralstern in Astronomischen Einheiten ne im Sternbild Schwan
auf den Orbit einwirken- beobachten. Man erwar-
de Faktoren können nur
Störungen von wenigen
D
argestellt ist die Nachweisempfindlichkeit für Planeten einer
bestimmten Masse und eines bestimmten Abstandes zum
Zentralstern. Selbst an ihren theoretischen Grenzen versagt die
tet, die Durchgänge von
über 600 erdgroßen Pla-
Sekunden hervorrufen. Radialgeschwindigkeitsmethode (siehe Text, schwarze Kurve) für neten zu registrieren so-
Wäre die Fotometrie der Planeten mit weniger als 0,3 Jupitermassen, sofern sie nicht sehr wie die Reflexionen von
Außerirdischen beson- nah am Zentralstern sind. Die Transitmethode (siehe Text) kann rund 1700 Riesenplane-
ders präzise, könnten sie erdgroße Trabanten identifizieren. Die gegenwärtige Messgenau- ten. Künftige Interfero-
auch eine winzige zusätz- igkeit schränkt den zugänglichen Bereich auf kleine Abstände des meter im Weltraum könn-
liche Abschattung fest- Planeten von seinem Zentralstern ein (gelb), während Beobach- ten schließlich das glei-
stellen, die der Durch- tungen vom Weltraum aus das komplette Diagramm abdecken ßende Licht der Sterne
gang des Mondes vor der würden. Für Doppelsterne kann die Radialgeschwindigkeitsme- ausblenden und richtige
Sonne selber verursacht. thode nicht angewendet werden. Die Methode der Zeitmessung Bilder der Planeten lie-
Durchgänge sind in- ihrer gegenseitigen Bedeckungen (blau) ist umso empfindlicher, fern (siehe „Die Suche
des nicht der einzige je weiter der Planet entfernt ist. nach Leben auf fernen
Weg, auf dem ein Planet Planeten“, Spektrum der
einem Fotometer seine Wissenschaft 6/1996, S.
Anwesenheit verraten kann. Ein Bede- Planeten reflektierte Licht zu entdecken. 90). Während der Durchgänge werden
ckungsveränderlicher stellt eine Art prä- Planeten, die ihren Sternen hinreichend die Planeten von ihren Sonnen rückseitig
zise Uhr dar: Die beiden Sternkompo- nahe sind, reflektieren nämlich einen Teil bestrahlt, was es ermöglichen sollte,
nenten sollten sich in regelmäßigen Inter- des Sternenlichtes in Richtung Erde. spektroskopisch die chemische Zusam-
vallen bedecken. Wenn Abweichungen Ähnlich wie der Mond einmal pro Monat mensetzung ihrer Atmosphäre zu unter-
von diesem Rhythmus auftreten, kann einen kompletten Phasenzyklus durch- suchen. So würden sich möglicherweise
dies bedeuten, dass ein weiterer Him- läuft, rufen sie eine zyklische Helligkeits- Hinweise auf biologische Vorgänge fin-
melskörper durch seine Schwerkraft auf veränderung hervor, die sich von ande- den lassen.
das System einwirkt. ren Schwankungen der Sternenhelligkeit Alle unsere Kollegen, die sich an der
unterscheiden lassen müsste. Dieses Ver- Suche nach erdähnlichen Planeten beteili-
„So viele Sonnen, so viele Erden“ fahren dürfte Planeten enttarnen, die eine gen, fühlen das Privileg, in einer Zeit der
Umlaufzeit von einer Woche oder weni- Neuentdeckungen zu leben. Wie der Re-
Angenommen, ein Planet von der ger haben. Es könnte sogar weitere naissance-Astronom Christiaan Huygens
Masse Jupiters zöge den Doppelstern von Eigenschaften des Planeten aufdecken, schrieb: „Welch wundervolles und ver-
uns weg, dann würde die Bedeckung ei- denn raue Oberflächen sollten größere blüffendes System weist die herrliche
nige Sekunden später auftreten, weil das Helligkeitsveränderungen hervorrufen Weite des Weltalls auf! So viele Sonnen,
Licht der beiden Sterne einen längeren als glatte. Auch im Spektrum des Sterns so viele Erden!“ Hatte Huygens recht?
Weg zur Erde zurücklegen müsste. Je könnte von dem Planeten reflektiertes Gibt es da draußen Planeten wie den uns-
größer die Masse und je weiter entfernt Licht zu erkennen sein. So berichteten rigen? Sind sie bewohnt? Gegen Ende die-
der Planet, umso größer wäre die Abwei- Andrew Collier Cameron von der St.-An- ses Jahrzehnts sollten wir es wissen. ■
chung. Ein Riesenplanet könnte also drews-Universität und seine Kollegen
auch entdeckt werden, ohne dass es über- 1999, dass sie die Reflexion eines gigan-
haupt zu einem Durchgang vor dem Dop- tischen Planeten um den Stern Tau Bootis Laurance R. Doyle arbeitet am Seti-
pelgestirn kommt. Anhand der Daten des erfasst hätten, doch ist diese Entdeckung Institut in Mountain View (Kalifor-
TEP-Projekts haben wir bereits Grenzen noch umstritten. nien). Hans-Jörg Deeg forscht am
für das Vorkommen von großen Planeten Da die größten Fehlerquellen beim Astrophysikalischen Institut von
in CM Draconis ermittelt: Körper von Messen der Sternhelligkeit auf die Erdat- Andalusien in Granada (Spanien).
mehr als drei Jupiter-Massen können in mosphäre zurückgehen, würden Beob- Timothy M. Brown ist am Nationalen
diesem System ausgeschlossen werden. achtungen von einem Weltraumobserva- Zentrum für Atmosphärenforschung
Es gibt jedoch Hinweise auf einen Plane- torium aus die Genauigkeit deutlich er- der USA in Boulder (Colorado)
ten mit 1,5 bis 3 Jupitermassen und einer höhen. Mehrere solcher Missionen wer- tätig. Die drei Astronomen setzen
Umlaufperiode von 750 bis 1050 Tagen. den gegenwärtig vorbereitet. Das von seit Anfang der neunziger Jahre
Hohe fotometrische Präzision und Frankreich geplante Teleskop COROT fotometrische Methoden ein, um
jahrelange Beobachtungen eröffnen noch soll 2004 gestartet werden und empfind- extrasolare Planeten aufzuspüren.
eine weitere Möglichkeit: das von einem lich genug sein, um Planeten von doppel-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 49


MEDIZINTECHNIK

Operieren am
schlagenden Herz
Bypass-Operationen am Herz – riskant, aber oft lebensrettend – werden schonender.
Hightech-Robotorsysteme für die Herz-Chirurgie brauchen nur noch knopflochgroße
Schnitte als Zugang, und dank mechanischer Herzstabilisatoren kann das Organ
während des Eingriffs sogar weiterschlagen.
VON CORNELIUS BORST

D
ie kleinste Anstrengung – und Weltweit unterziehen sich derzeit die Ränder weit auseinander spreizen.
schon fühlt sich Maria W., als sei grob 800 000 Menschen einer Bypass- Da kein Chirurg eine Gefäßbrücke prä-
ihr ein Elefant auf den Brustkorb Operation an den Herzkranzgefäßen, zise genug an einem pulsierenden Herz
gestiegen. Die Schmerzattacken im eine zugleich teure Angelegenheit. Wer vernähen kann, wird es vorübergehend –
Brustbereich machen für die ältere Dame nur unzureichend versichert ist, kann gewöhnlich für etwa eine Stunde – still-
inzwischen fast jede körperliche Aktivi- sich oft den Eingriff samt Krankenhaus- gelegt. Dies geht nicht ohne eine Herz-
tät unmöglich. Aufstehen und Anziehen aufenthalt nicht leisten. In den USA etwa Lungen-Maschine, die das Blut künstlich
dauern mindestens eine Stunde. kosten Operation und Krankenhausauf- durch den Körper pumpt und die Gewe-
Verursacht werden diese Schmerzen enthalt zirka 45 000 Dollar, in Europa be mit Sauerstoff versorgt – bis die Ärzte
von verengten Herzkranzgefäßen, die immerhin noch die Hälfte. In Deutsch- das Herz erneut starten.
den Herzmuskel mit sauerstoffreichem land werden jährlich rund 100 000 Men- Mit dieser ausgeklügelten Apparatur
Blut versorgen sollen. Eine Bypass-Ope- schen am Herz operiert, drei Viertel da- begann vor rund vierzig Jahren die Ära
ration, die Ersatzgefäße als Umleitung – von wegen koronarer Herzerkrankungen. der modernen Herzchirurgie. Bis heute
englisch bypass – um die Engpässe legt, aber blieb ihr Gebrauch mit ernsten
wäre bitter nötig. Doch Lunge und Nie- Beginnt eine Revolution? Komplikationen behaftet, vor allem bei
ren der Rentnerin sind geschädigt. Zu- älteren oder geschwächten Patienten. Die
dem erlitt sie erst kürzlich einen Schlag- Eine herkömmliche Bypass-Operation Herz-Lungen-Maschine ist hauptverant-
anfall. Zwar würde ihre Versicherung die ist für die Patienten keine leichte Sache. wortlich für den relativ langen nachope-
Kosten für den Eingriff übernehmen. Der Den verengten Bereich eines Herzkranz- rativen Krankenhausaufenthalt (im Mit-
zuständige Herzchirurg hält aber einen gefäßes überbrückt der Chirurg gewöhn- tel zwischen sechs und acht Tagen) und
Eingriff für zu gefahrvoll und lehnt eine lich mit einer gesunden Vene aus dem die beachtliche Rekonvaleszenz-Zeit von
Operation ab. Bein oder mit einer Brustwandarterie oft zwei bis drei Monaten. Zudem erho-
Szenenwechsel: Bodo B., Betreiber (Bild Seite 52 oben). Um an das Herz len sich viele Patienten nur langsam vom
einer eigenen kleinen Software-Firma, selbst heranzukommen, muss er nach Öffnen des Brustkorbs; sie sind dann
bräuchte einen dreifachen Bypass. Er klassischer Methode vorher jedoch den auch anfälliger für bestimmte Infektio-
fürchtet aber Komplikationen, die unter Brustkorb öffnen, sprich das Brustbein nen wie eine Lungenentzündung.
Umständen die Hirnfunktionen beein- mit einer Säge längs durchtrennen und Mit zwei neuen chirurgischen Tech-
trächtigen. Dieses niken, die Mitte der 90er Jahre entwickelt
Risiko möchte der Steckbrief wurden, bahnt sich nun vielleicht eine Re-
Selbstständige kei- volution in der koronaren Bypass-Chirur-
nesfalls eingehen, da gie an. Einige Wissenschaftler, darunter
seine Programmier- Das Hauptproblem bei Bypass-Operationen am Herz auch ich, begannen damals Möglichkeiten
Fähigkeiten schließ- Bei der herkömmlichen Methode muss der Brustkorb zu prüfen, wie sich doch am schlagenden
lich seine Existenz- meist weit geöffnet, das Herz stillgelegt und der Patient Herz operieren und so die Herz-Lungen-
an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen werden.
grundlage darstellen. Maschine überflüssig machen ließe. An-
Konstellationen Zwei Lösungsansätze dere Teams widmeten sich Methoden für
wie diese (Namen ➤ Statt den Brustkorb weit zu öffen, steuert der Opera- endoskopische Eingriffe am Herz – eine
reaktionell geändert) teur ein endoskopisches Chirurgie-Robotersystem, des- Operationsart, die in Perfektion nur einige
illustrieren beispiel- sen „Hände“ durch kleine Öffnungen passen. Der große, knopflochgroße Schnitte in der Brustwand
haft den Bedarf an belastende Brustschnitt entfällt. Einige Herzzentren er- erfordert. Nach meinen Einschätzungen
schonenderen, mög- proben inzwischen diese Hightech-Geräte. wird dank dieser Entwicklungen in den
lichst auch kosten- ➤ Statt das Herz komplett stillzulegen, hält ein einfa- nächsten zehn Jahren die koronare By-
ches mechanisches Gerät den kleinen Bereich fest, an
günstigeren Opera- pass-Chirurgie um vieles risikoärmer und
dem der Chirurg die Gefäßbrücke vernäht. Der Einsatz

tionsverfahren. teils kostengünstiger werden.


der Herz-Lungen-Maschine entfällt, und die Patienten
erleiden weniger Komplikationen.
50 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001
OWEN FRANKEN, CORBIS Einige medizinische Zentren erproben

1999 © HUBERT RAQUET / EURELIOS


eine robotergestützte Schlüsselloch-
Chirurgie am schlagenden Herz als eine
risikoärmere Alternative zum konventio-
nellen Verfahren. Bei einer herkömmli-
chen Bypass-Operation (links) wird meist
der Brustkorb aufgesägt, das Herz
stillgelegt und der Patient vorübergehend
an eine Herz-Lungen-Maschine ange-
schlossen. Das Foto rechts zeigt die
Instrumente an den gelenkigen Armen des
Robotersystems „da Vinci“ beim Einsatz.
Sterile Plastikfolie umhüllt die Außenteile
(großes Foto).

1999 © HUBERT RAQUET / EURELIOS

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 51


MEDIZINTECHNIK Bei einer Operation werden oft
drei bis fünf Bypässe gleichzeitig
gelegt, um verengte Herzkranzge-
Die typischen Brustschmerzen vor fäße zu überbrücken. Gewöhnlich
der Operation rühren von einer Arterio- umge- verpflanzt der Chirurg dazu
sklerose der größeren Herzkranzgefäße Aorten- lenkte Venenstücke aus dem Bein oder
bogen Arterie versetzt Arterien aus der unmit-
her – besser als Arterienverkalkung be- telbaren Herzumgebung, sodass
kannt. In den Arterienwänden lagern sich als By-
pass sie hinter der Engstelle münden.
mit der Zeit häufig Substanzen wie Cho-
lesterin ab. Die entstehenden Verdickun-
gen behindern den Blutfluss. Das Übel die Hauptschlagader ab, die von der linken
kann schon früh – zunächst unbemerkt – Herzkammer abgeht, und leitet eine spe-
beginnen und dann langsam fortschrei- zielle Lösung in die Kranzgefäße, die das
ten. Bei jedem fünften Mann im Alter Organ erschlaffen lässt. Bei diesen Mani-
zwischen 30 und 35 Jahren ist in den pulationen lösen sich unter Umständen
Vereinigten Staaten bereits die wichtigs- Teile so genannter arteriosklerotischer
te Koronararterie verengt, und zwar um Plaques von der Aortenwand. Gelangen
mindestens 40 Prozent. Später, im mitt- Verengungen sie ins Gehirn, droht ein Schlaganfall. Die
leren Alter, verspüren die Betroffenen Herz-Lungen-Maschine führt zudem zu
bei körperlicher Anstrengung vielleicht allgemeinen Entzündungsreaktionen, die

CAROL DONNER
einen leichten Schmerz in der Brust, weil das körpereigene Abwehrsystem und die
der Blutstrom durch die Herzkranzgefä- verpflanzte Blutgerinnung beeinträchtigen. Fieber,
ße nicht mehr der starken Belastung ent- Vene als Bypass Organschäden und Blutverluste sind eine
sprechend gesteigert werden kann. häufige Folge. Kurz nach der Operation
Durch die arteriosklerotisch beding- kann die Atmung beeinträchtigt sein, so-
ten Brustschmerzen sind schließlich scheiden sich auch für eine so genannte dass die Patienten eine Zeit lang auf künst-
nicht wenige Menschen zu fast keiner Angioplastie. Ein Kardiologe schiebt da- liche Beatmung angewiesen sind. Schließ-
körperlichen Aktivität mehr im Stande: bei über einen Katheder einen kleinen lich leidet das Herz selbst oft unter der
Weltweit leiden Millionen an dieser ka- wurstförmigen Ballon in die verschlosse- Prozedur, was sich zeigt, wenn es erneut
tastrophalen Erkrankung. Gefördert wird ne Arterie und bläst ihn auf, um die Eng- zu schlagen beginnt: Unter Umständen ist
sie durch mehrere Faktoren. Neben einer stelle zu weiten. Zusätzlich besteht die der Blutdruck zu niedrig, der Körper wird
genetischen Veranlagung spielen falsche Möglichkeit, ein kleine metallene Gefäß- schlecht durchblutet, und die Nieren pro-
Ernährung und ungesunder Lebensstil stütze in der Arterie zu verankern; dieser duzieren nicht ausreichend Harn. In selte-
eine wichtige Rolle. So dringlich Verbes- so genannte Stent soll sie innen offen nen Fällen lässt sich der Operierte nicht
serungen in der Therapie der koronaren halten. Wenn jedoch aller Voraussicht von der Herz-Lungen-Maschine abnabeln,
Herzkrankheit auch sind – der Schwer- nach ein baldiger Wiederverschluss des ohne den Blutdruck weiterhin mit einer
punkt muss deshalb auf der Vorbeugung Blutgefäßes droht, dann stellt am ehesten mechanischen Pumpe zu stützen.
liegen. Und dazu gilt es, die Menschen ein Bypass eine ausreichende Blutversor-
zu motivieren. Wer sich angemessen er- gung zum Herz sicher. Bei einer solchen Anstoß vom Militär
nährt, Sport treibt und nicht raucht, tut Operation transplantiert der Chirurg
viel für sich – und das nicht nur im Hin- meist drei bis fünf Gefäßbrücken auf die Verschiedene Studien erlauben es, die
blick auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Herzarterien; um eine einzige „Umlei- Risiken zu quantifizieren, zum Beispiel
Wenn infolge einer Arteriosklerose tung“ mit einem Dutzend oder mehr jenes, kurz nach einer Bypass-Operation
Brustschmerzen auftreten, kann der Arzt sorgfältig gesetzter Stiche auf eine zu sterben. In den Vereinigten Staaten
zunächst unterschiedliche Medikamente Kranzarterie zu nähen, braucht er bereits etwa steigt es von 1,1 Prozent für die Al-
verschreiben. Manche Patienten ent- etwa zwanzig Minuten. tersgruppe zwischen 20 und 50 Jahren auf
Komplikationen wäh- 7,2 Prozent für Senioren zwischen 81 und
rend einer Herzoperation 90. Während des Eingriffs kommt es bei
CHRIS TIMMERS, UTRECHT UNIVERSITY MEDICAL CENTER

gehen oftmals auf den jedem dritten Patienten zu mindestens ei-


Einsatz der Herz-Lungen- ner Komplikation. Dass Bypass-Operatio-
Maschine zurück. Beim nen für Personen über 65 nicht ungefähr-
Anschluss an den Patien- lich sind, zeigt eine 1997 veröffentlichte
ten werden Schläuche in Auswertung von mehr als über 100 000
die großen zu- und abfüh- bei US-Krankenversicherungen registrier-
renden Gefäße des Her- ten Fällen: Vier Prozent der Patienten ver-
zes geschoben. Anschlie- starben im Krankenhaus; weitere vier
ßend klemmt der Chirurg Prozent wurden in ein Pflegeheim über-
führt; und zehn Prozent konnten das
Krankenhaus erst nach zwei Wochen oder
Die Herz-Lungen- mehr wieder verlassen. Nicht selten ver-
Maschine ist bei her- hindern Gedächtnisverlust, Konzentra-
kömmlichen Bypass- tionsschwierigkeiten, Depressionen oder
Operationen nötig, weil körperliche Schwäche über mindestens
das Herz stillgelegt zwei bis drei Monate hinweg eine rasche
werden muss. Ihr Ein-
satz erhöht das Risiko Rückkehr zu gewohnten Tätigkeiten.
für Schlaganfälle, Fieber, Um eine bessere Behandlung der ko-
Infektionen oder Blut- ronaren Herzkrankheit geht es mir nun
verluste und kann relativ schon seit 15 Jahren bei meinen Forschun-
lange Beatmungszeiten
noch nach der Operation
52 erfordern. SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001
Brustwandspreizer Mechanische Herz-Stabilisa-
gen. Ein konkretes Ergebnis hiervon: eine toren – wie hier der vom
mechanische Vorrichtung, die nur den Be- Autor und seinen Kollegen
reich mit den verengten Arterien ruhig entwickelte „Octopus“ –
stellt und nicht gleich das ganze Herz, machen inzwischen in
etlichen Fällen den Einsatz
was eine Herz-Lungen-Maschine einer Herz-Lungen-Maschine
entbehrlich macht. entbehrlich. Sie halten den
Den Anstoß zu der Idee erhielt interessierenden Bereich auf
ich auf Umwegen. Im März 1993 einem schlagenden Herz
war ich auf einem Workshop für starr fixiert, sodass der
Ärzte und Forscher in Palm Coast Chirurg dort einen Bypass
präzise genug annähen kann.
(Florida), bei dem es um Laser-An- „Octopus“ verankert sich
wendungen in Biologie und Medizin durch Ansaugen an der
ging. Mich faszinierte ein Vortrag von Ri- Herzoberfläche. Über den
chard Satava, damals Arzt bei der US-Ar- blauen Drehknopf wird das
mee. Es ging um eine Initiative des Mili- Gerät an dem Metallrahmen
tärs, spezielle Roboter zu entwickeln, mit fixiert, der den Brustkorb
offen hält (links). Das Herz
deren Hilfe Ärzte einmal ferngesteuert „Octopus“ schlägt bei der ganzen
Notoperationen auf dem Schlachtfeld vor- Prozedur fast normal weiter.
nehmen könnten. Satava zeigte uns bereits
das Foto eines Prototyps. Sollte es dann nem Schwein die Klemme ruhig aufge-
nicht auch möglich sein, fragte ich mich, presst halten sollte, gelang es uns nicht,
in einem Operationssaal mit Roboter- den interessierenden Bereich vollständig Unter-
Hilfe an einem schlagenden Herz im stillzulegen. Der Misserfolg aber beflü- druck
geschlossenen Brustkorb zu operieren? gelte meine Gedanken: Die zu „wei-
Während ich noch diesen Ansatz weiter- chen“ Gewebsnähte und die menschliche Nahtmaterial
verfolgte, begann ich zu überlegen, wie Hand könnte man ersetzen durch einen
man Eingriffe am schlagenden Herz ohne starren mechanischen Apparat, der das Fließrichtung
derart teure und komplexe Geräte durch- Herz stabilisieren würde. Unser Techni- des Blutes
führen könnte. ker Rik Mansvelt Beck fertigte Prototy-
Damals existierte bereits ein in Süd- pen eines Herz-Stabilisators an. Wochen
amerika entwickeltes Verfahren für Ope- voller Überschwang folgten, in denen
rationen am schlagenden Herz. Entwickelt Jansen damit ohne weiteres einen perfek- Bypass
hatten es in den achtziger Jahren Frederico ten Bypass nach dem anderen an schla-
J. Benetti am Zentrum für Kardiovaskulä- genden Schweineherzen anbrachte. Saugnapf
re Chirurgie in Buenos Aires und, unab- Kurz danach stieß mein Institutskol-
hängig davon, Enio Buffolo an der Medi- lege Paul Gründeman zu unserem Team, blockierte
zinischen Fakultät Paulista der Bundes- und wir erfanden den Octopus-Herz- Arterie
universität von São Paulo. Beide hatten Stabilisator: ein Instrument, das jeden
bereits Erfahrungen mit Patienten gesam- gewünschten Fleck auf einem schlagen-

CAROL DONNER
melt. Zusammen mit dem Herzchirurgen den Herz bewegungsfrei zu halten ver-
Erik W. L. Jansen, einem meiner Kollegen mag (siehe Bild oben). Der Name spielt Herzmuskel
am Herz-Lungen-Institut in Utrecht, woll- auf die kleinen Saugglocken an, die das
te ich im Frühjahr 1994 das Verfahren zu- Instrument am Herz befestigen, und auf
nächst an Schweinen erproben. eines unserer Versuchsschweine namens
„Octopussy“ (wir tauften alle unsere Tie- sich aufs Herz presst. Inzwischen stehen
Das Herz in der Klemme re nach Figuren aus James-Bond-Fil- den Operateuren mehr als ein Dutzend
men). Die erste Bypass-Operation mit unterschiedliche Typen mechanischer
Die beiden südamerikanischen Ärzte dem Octopus-System an einem Patienten Herz-Stabilisatoren zur Verfügung.
hatten um den interessierenden Bereich unternahmen wir im September 1995. Im Jahr 1994 wurden weltweit erst
der Herzoberfläche mehrere stabilisie- Bis Mitte 2000 folgten 50 000 weitere 0,1 Prozent der koronarchirurgischen
rende Nähte angelegt; zusätzlich drückte Operationen mit „Octopus“ weltweit – Eingriffe ohne Herz-Lungen-Maschine
ein Assistent mit ruhiger Hand eine gro- mehr als 400 davon hier in Utrecht; in durchgeführt. 1999 lag der Anteil bei
ße chirurgische Klemme auf das Gebiet, dieser ausgewählten Gruppe starb kein etwa zehn Prozent; für 2000 erwarten
in dessen Zentrum der Bypass angenäht einziger Patient innerhalb von dreißig wir einen von rund 15 und für das Jahr
werden sollte. Nur wenige Quadratzenti- Tagen nach dem Eingriff. 2005 dann von mehr als 50 Prozent. Wo
meter des schlagenden Herzes an der Be- Wie so oft in der Geschichte medizi- hochtechnische Einrichtungen mit Herz-
wegung zu hindern beeinträchtigt die nischer Entdeckungen und Erfindungen Lungen-Maschinen fehlen, wie etwa in
Pumpleistung insgesamt kaum. Jedoch kam es auch in unserem Fall zu Parallel- vielen Entwicklungsländern, wird das
fiel es den meisten Chirurgen schwer, entwicklungen: Andere Forscher entwar- Verfahren zur Operation am schlagenden
diese elegante, kostengünstige Methode fen unabhängig von unserer Gruppe etwa Herz erstmals Patienten die Möglichkeit
zu meistern, und so fanden Benetti und zur gleichen Zeit mechanische Stabilisa- eröffnen, einen Herz-Bypass zu erhalten.
Buffolo anfangs wenige Nachahmer. toren. Die meisten dieser Geräte nutzen In Industrieländern muss allerdings wäh-
Mit diesen Schwierigkeiten hatten keine Saugkräfte zum Haften, sondern rend einer Operation am schlagenden
auch wir zu kämpfen. Als ich einmal bei Druck und Reibungskräfte; sie ähneln Herz eine solche Maschine für Notfälle

einer experimentellen Operation an ei- einer großen chirurgischen Klemme, die bereit stehen.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 53


MEDIZINTECHNIK

Von Benetti, dem argentinischen Eingriffe am schlagenden Herz nun welt- riert worden. Nach der ersten Runde von
Herzchirurg, ging aber noch ein weiterer weit die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Langzeitstudien an vielen Zentren lässt
Schub aus: Er leistete Pionierarbeit für Zu Beginn des ersten Workshops für mi- sich folgende Bilanz ziehen:
eine Operationstechnik, bei der nur ein nimal-invasive Koronar-Chirurgie in Ut- ➤ Diese Patienten erlitten weniger
rund acht Zentimeter langer Schnitt zwi- recht im September 1995 waren schon ei- Komplikationen während der Operation,
schen den Rippen auf der linken Brust- nige tausend Patienten auf diese Weise ➤ benötigten weniger Bluttransfusionen,
seite als Zugang dient. Voraussetzung behandelt worden. ➤ kamen schneller ohne künstliche Be-
war, dass der Patient nur ein einfaches atmung oder Intensivpflege aus,
Bypass-Transplantat an der wichtigsten Preiswerte Schonung ➤ konnten das Krankenhaus früher ver-
Koronararterie braucht, die auf der Vor- lassen und schneller ihre gewohnten Ak-
derseite des Herzes liegt. Zwar muss der Die neuen Methoden können allerdings tivitäten wieder aufnehmen als Patienten,
Chirurg dabei benachbarte Rippen aus- die konventionelle Bypass-Chirurgie ge- die sich einer herkömmlichen Herzope-
einander spreizen, sie jedoch nicht genwärtig nicht völlig ersetzen. Für viele ration unterzogen hatten.
durchtrennen. Insgesamt ist das für den Patienten bleibt sie die bessere Wahl. Wir Darüber hinaus verringern sich nach
Patienten deutlich weniger belastend, als entwickeln unseren Ansatz jedoch konti- vorläufigen Berichten die Gesamtkosten
ihm den ganzen Brustkorb aufzusägen. nuierlich fort, erweitern so sein Anwen- für Einfach-Bypass-Eingriffe um etwa
Welche Vorteile dieses Vorgehen für dungsspektrum. Beispielsweise gestaltet ein Drittel. So gut wie all diese Studien
Operationen am schlagenden Herz bietet, sich eine Operation am schlagenden Her- basieren allerdings auf sorgfältig ausge-
erkannten einige andere Chirurgen sehr z oft schwierig, wenn der Bypass an der wählten Patientengruppen. Daher sind
schnell, darunter Valavanur Subramanian Rückwand des Herzes gelegt werden die Ergebnisse möglicherweise nicht re-
am Lenox-Hill-Hospital in New York City soll, ein häufiger Fall. Dazu muss der präsentativ für die Patientenkonstellation
und Michael Mack am texanischen Co- Chirurg das Organ teilweise aus der im „Alltagsbetrieb“. Endgültige Ergeb-
lumbia-Hospital in Dallas. Bei einem Brusthöhle herausheben, was es verformt nisse zu Risiken und Nutzen von Opera-
Workshop in Rom im November 1994 und so beim Pumpen behindert. Das tionen am schlagenden Herz erwarten
präsentierte Subramanian eine vielbeach- Herz fördert dann weniger Blut, und im meine Kollegen und ich nach Abschluss
tetes Video seiner Arbeit. Daraufhin ver- typischen Fall sackt der Blutdruck be- randomisierter klinischer Studien, im
breitete sich die „Operationstechnik mit drohlich ab. Falle von „Octopus“ in den Niederlan-
begrenztem Hautschnitt am schlagenden Mit einigen einfachen Maßnahmen den voraussichtlich Ende 2001.
Herz“ – englisch: limited incision, beating lässt sich dieser Gefahr begegnen, wie
heart surgery – rasch über ganz Europa. Forschungsarbeiten der letzten Jahre ge- Schlüsselloch zum Herz
Anschließend veröffentlichte Antonio M. zeigt haben. In meinem Labor wies
Calafiore vom Krankenhaus San Camillo Gründeman nach, dass ein Kippen des Ein wesentlicher Vorteil von Operationen
de Lellis in Chieti (Italien) solch gute Er- OP-Tisches um 15 bis 20 Grad, was den am schlagenden Herz ist, dass normaler-
gebnisse bei zahlreichen Patienten, dass Kopf unter Brustniveau bringt, einen dra- weise keine Herz-Lungen-Maschine ein-
matischen Blutdruckabfall beim gesetzt werden muss, es sei denn im Not-
Anheben des Herzes verhindern fall. Als wirkliches Problem bleibt das oft
PETER MENZEL

hilft. Im Real Hospital Português nötige weite Öffnen der Brust-höhle, wie
in Recife (Brasilien) kam Ricar- schon bei herkömmlichen Bypass-Opera-
do Lima auf eine andere elegante tionen. Das könnte sich jedoch gleich-
Methode, die Rückseite des Her- falls ändern. Bauchchirurgen beispiels-
zes zu exponieren, ohne dabei weise sind dank so genannter endosko-
den Blutdruck zu sehr zu beein- pischer Techniken in der Lage, durch
trächtigen. Die meisten Chirur- kleinste Hautschnitte in Knopflochgröße
gen bedienen sich mittlerweile unter anderem eine Gallenblase zu ent-
seiner Strategie: Man hebt das fernen. Durch die eine Hautöffnung
Herz am Herzbeutel etwas aus der schieben sie ein Endoskop – im Prinzip
INTUITIVE SURGICAL

Brusthöhle heraus. ein starres Rohr mit einer Miniatur-


Mitte 2000 waren bereits fast Videokamera –, durch die anderen die
200 000 Patienten mit Hilfe ir- benötigten chirurgischen Instrumente.
gendeines mechanischen Stabili- Die Videoübertragung aus dem Endoskop
sators am schlagenden Herz ope- leitet den Chirurgen bei seinen Bewegun-
gen. Warum sollte man also nicht auch
am Herz mit minimal-invasiven Techni-
ken operieren können, für die nur zenti-
Das Arbeitsfeld des Operateurs
während einer Bypass-
metergroße Hautschnitte zwischen den
Operation mit einem Roboter- Rippen nötig wären?
system für minimal-invasive Forscher an der Stanford-Universität
Chirurgie (unten); darüber eine in Kalifornien machten 1991 einen ers-
Auswahl der verwendeten ten großen Schritt in diese Richtung.
winzigen Instrumente. Kamera- Ihre Initiative führte zur Gründung der
augen, die durch kleine
Hautschnitte zwischen den
Firma Heartport, heute in Redwood,
Rippen eingeführt werden, gleichfalls Kalifornien, angesiedelt. Spe-
verschaffen Einblick in den zialisiert hat sich das Unternehmen auf
Brustkorb. Der Operateur endoskopische Herzchirurgie im ge-
dirigiert über eine Computer- schlossenen Brustkorb, aber bei stillste-
konsole die chirurgischen
Instrumente. Händezittern
54 filtert der Rechner. SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001
hendem Organ unter Einsatz der Herz-
Lungen-Maschine.
Für den Anschluss an die Maschine
und zum Stoppen des Herzschlags müs-
sen verschiedene Schläuche und Kathe-
ter von der Leiste her bis zum Herz vor- Bei roboter-
geschoben werden. Nicht alle Patienten gestützen Bypass-
vertrugen das anfangs problemlos. Dazu Operationen sitzt
stellte sich heraus, dass die Operateure der Operateur
ihr ganzes Geschick aufbieten mussten, (links) an einer
Fernsteuerungsein-
um den Bypass wirklich anzunähen. Die heit seitlich vom
herkömmlichen endoskopischen Instru- Patienten. Ein
mente stießen an ihre Grenzen; der Platz- Bildschirm (links
mangel im geschlossenen Brustkorb oben) erlaubt den
macht ohnehin jedes Manöver schwierig, anderen Mitgliedern
sodass die ersten Versuche, einen endo- des Operations-
teams, jeden Schritt
skopischen Eingriff am Herz vorzuneh- zu verfolgen.
men, schon nach dem dritten Patienten PETER MENZEL

aufgegeben wurden. Erst bei späteren


Versuchen mit größeren Hautschnitten – der Computer jegliches Zittern der Hände Stunden verkürzt, und zwar nach etwa
zwischen sechs und neun Zentimetern – heraus, was die Bewegungen sogar ge- zwei Dutzend erfolgreich verlaufenen
nauer als in Wirklichkeit macht. Einfach-Bypass-Operationen dieser Art.
Die Vorteile solcher Robotersysteme Robotersysteme wie diese werden si-
Literaturhinweise für Operationen im geschlossenen Brust- cherlich eines Tages zur Standardausrüs-
Minimalinvasive Techniken in der korb – allerdings noch unter Einsatz ei- tung eines Operationssaals gehören. Mit
Gefäß- und Herzchirurgie. Von ner Herz-Lungen-Maschine – nutzten dem weiteren technologischen Fort-
Ralf Kolvenbach (Hg.) Steinkopf erstmals 1998 Friedrich Mohr, Volkmar schritt dürften irgendwann auch geeigne-
Verlag, Darmstadt 1999. Falk und Anno Diegler vom Herzzen- te Simulatoren zur Verfügung stehen;
Die Bypass-Operation – neue Ent- trum der Universität Leipzig sowie Alain chirurgische Assistenzärzte könnten da-
wicklungen. Von Friedrich W. Mohr Carpentier und Didier Loulmet am ran endoskopische Operationen der
und Volkmar Falk in: Zeitschrift L’hôpital Broussais in Paris. Um doch Herzkranzgefäße üben, ähnlich wie Pilo-
der Deutschen Herzstiftung, 17. noch den ursprünglichen Heartport-An- ten heute schon das Fliegen, und gestan-
Jg., Heft 32, S. 12 (1997). satz mit stillgelegtem Herz umzusetzen, dene Operateure könnten anstehende
Minimally Invasive Coronary Artery kombinierten sie ihn nämlich mit dem Eingriffe „auf dem Trockenen“ erproben.
Bypass Grafting: An Experimental Robotersystem „da Vinci“ für Schlüssel- Weitere Neuerungen werden die chirur-
Perspective. Von Cornelius Borst loch-Chirurgie (Foto Seite 51). Entwi- gische Behandlung der koronaren Herz-
und Paul F. Gründeman in: Cir- ckelt hat es die Firma Intuitive Surgical krankheit vereinfachen, etwa ein gerade
culation, Bd. 99, Nr. 11, S. 1400 , in Mountain View (Kalifornien). in Entwicklung befindlicher „Schnapp-
23. März 1999. Ein anderes chirurgisches Roboter- verschluss“: Er soll ein transplantiertes
Hinweise unter www.spektrum.de/ system, „Zeus“ genannt, entwickelte das Gefäß schnell – und ohne zu nähen – mit
aktuellesheft.html Unternehmen Computer Motion in Goleta dem vorhandenen verbinden.
(Kalifornien). Damit operierte im Septem- Denkbar ist, dass schließlich ein-
ber 1999 Douglas Boyd am Gesundheits- mal andere Maßnahmen koronare By-
konnten die Chirurgen das Transplantat zentrum der Universität von Western On- pass-Operationen überflüssig machen.
verlässlich auf ein Herzkranzgefäß nä- tario im amerikanischen London erstmals Bis dahin aber gilt es weiterhin, die
hen. Bis Mitte 2000 waren dann über computergestützt am schlagenden Herz Koronar-Chirurgie zu verbessern und sie
6000 Patienten auf diese Weise operiert im geschlossenen Brustkorb. Dieser mini- möglichst kostengünstig zu gestalten.
worden. mal-invasive Eingriff beanspruchte fast Denn solche Fortschritte eröffnen einem
Der Idealfall für die Experten ist aber den ganzen Tag – statt nur rund zwei Stun- weltweiten Patientenkreis – insbeson-
eine wirklich minimal-invasive Bypass- den wie eine ver- dere auch in är-
Operation: eine Koronar-Chirurgie im ge- gleichbare Einfach- meren Ländern –
Cornelius Borst ist Professor für
schlossenen Brustkorb am schlagenden Bypass-Operation dringend benötigte
experimentelle Kardiologie am
Herz. Da herkömmliche endoskopische über einen begrenz- Therapiemöglich-
Medizinischen Zentrum der
Instrumente hierfür nur begrenzt taugten, ten, etwa handbrei- keiten für die
Universität Utrecht in den Nieder-
setzten einige Wissenschaftler auf endo- ten Hautschnitt am Erkrankungen der
landen. Er absolvierte seine
skopische Chirurgie-Robotersysteme. Die schlagenden Herz. Herzkranzgefäße.
medizinische Ausbildung an der
chirurgischen Instrumente werden nicht Zur Jahresmitte An erster Stelle
Universität Amsterdam, wo er auch
mehr direkt von der Hand des Operateurs 2000 allerdings hat- muss jedoch auch
seinen Doktortitel erwarb. 1981
geführt, sondern von einem durch ihn ten Chirurgen an in Zukunft stets –
wurde er Vorsitzender des Labora-
ferngesteuerten Roboter. Der Operateur fünf Zentren – in ungeachtet medizi-
toriums für experimentelle Kardio-
hat dabei eine dreidimensionale Sicht in München, Leipzig, nisch-technischer
logie in Utrecht. Seine weiteren
der Brusthöhle, und seine Handbewegun- Dresden, London Fortschritte – die
Forschungsinteressen erstrecken
gen an der Computerkonsole werden prä- (Ontario), London Vermeidung der
sich unter anderem auf die Mecha-
zise auf die chirurgischen Instrumente im (England) – die Zeit koronaren Herz-
nismen arteriosklerotischer
Brustkorb übertragen. Zusätzlich filtert auf drei bis fünf krankheit stehen. ■
Gefäßverengung und den Wieder-
verschluss nach Ballon-Dilatation.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 55
SCHIFFSARCHÄOLOGIE

Auf
Wracksuche im Bodensee
Jahrhundertelang diente Deutschlands größter Binnensee als Drehscheibe für den
überregionalen Handel, doch die Geschichte seiner Schifffahrt ist kaum bekannt.
VON KLAUS-DIETER LINSMEIER

L ang streckt sich der Bodensee in eine


eiszeitliche Mulde des Alpenvor-
lands. 571,5 Quadratkilometer
Wasserfläche, im Obersee bis
254 Meter tief, nach Nordwesten in den
flacheren Untersee bei Konstanz und den
hinunter auf die schimmernde Wasser-
oberfläche und beobachte Segelboote. In
der Ferne kreuzen Autofähren zwischen
Konstanz und Meersburg. Welcher An-
blick hätte sich mir wohl in der Vergan-
genheit geboten?
Schaffhausen hält ein anderes Schiff auf
den Ort zu, der seit 1180 das Marktrecht
hat. Der hölzerne Rumpf könnte Produk-
te aus Schweizer Anbaugebieten bergen.
Der Wind steht heute aber nicht günstig
für dieses Schiff, die Besatzung hat be-
Überlinger See auslaufend – kein Wun- Der Bodensee im Mittelalter: Segel reits zu den Rudern gegriffen.
der, dass der Volksmund Deutschlands über Segel, nicht so elegant wie bei heu- Nicht Verkehrshindernis ist der See,
größten Binnensee auch das „schwäbi- tigen Freizeitbooten, sondern rechteckig. sondern Drehscheibe für den lokalen
sche Meer“ nennt. Wer hier Ferien macht, Gut geeignet, um vor dem Wind zu se- Gütertransport wie auch für den Fern-
genießt landschaftliche Schönheit und geln, ungeeignet jedoch für das Kreuzen handel. Wer es eilig hat, der vertraut sei-
Wassersportmöglichkeiten. Wer hingegen dagegen. Flachbodige Holzschiffe beför- ne Waren Schiffern an, statt den müh-
ein Ziel jenseits des Sees ansteuert, dem dern eine Vielzahl von Waren. Legt dort sameren Wegen und schlechten Land-
ist das Gewässer ein Verkehrshindernis, unten nicht gerade ein kleiner Segler ab? straßen zu folgen. Auf dem Wasser
das meist zeitaufwendig auf Bundes- Vielleicht transportiert er Korn von den kommt man allemal schneller voran, zu-
straßen umrundet werden muss. umliegenden Ländereien nach Ror- dem vermögen Boote mehr Ladung zu
Das war nicht immer so. Von einer schach und weiter rheinaufwärts bis nach tragen als Menschen oder Ochsenkarren.
Anhöhe des Überlinger Sees blicke ich Chur in Graubünden? Aus Richtung An diesem Zustand wird sich für die

56 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


J. GLEICH NACH J. ALOYS DÜRR UM 1790,
MUSEUM ÜBERLINGEN, STICH VON FRANZ

© S. LAUTERWASSER
Um 1740 war Überlingen gut befestigt.
Der große Hafen zeugt von der Bedeutung
des Handels. Rechts ein Boot mit der boden-
seetypischen „Schiffstür“ als Ruderblatt.

nächsten Jahrhunderte nichts ändern. gegen die keltischen Vindeliker zu nen. Ausgrabungen von Pfahlfundamen-
Überdies bietet der Fischfang eine wich- schlagen hatte. Archäologen halten diese ten einer antiken Kaimauer in Bregenz
tige Ernährungsgrundlage. Das wussten Schilderung einer Seeschlacht zwar für und die Datierung ihrer Hölzer mittels
schon die Menschen der Jungsteinzeit, übertrieben, eine militärische Aktion zu Dendrochronologie bestätigten diese An-
die seit dem 4. Jahrtausend v. Chr. vor Wasser aber für wahrscheinlich. gabe des antiken Dokuments.
allem an Untersee und Überlinger See Auch für spätere Zeiten erwiesen sich Gab es schon damals einen regen
ihre Pfahlbauten errichtet haben; mit die Römer als auskunftsfreudige Zeugen Schiffsverkehr auf dem See? Ein Besu-
Einbäumen, vielleicht auch Fellbooten, ihrer Zeit. So verzeichnet die militärische cher im Hafen von Brigantium hätte ver-
befuhren sie den sumpfigen Uferbereich. Verwaltungsschrift Notitia dignitatum für mutlich neben flachbodigen Lastbooten
Um die Zeitenwende kannten die die Zeit um 400 n. Chr. eine römische auch schnelle Patrouillenboote vor Anker
heute gern als Kelten bezeichneten Völ- Flottille in Brigantium, dem heutigen Bre- liegen sehen. Entsprechende Wracks
ker in diesem Raum Plankenboote, Ein- genz. Das Kastell dort bildete mit Tasgae- fand man jedenfalls in Oberstimm an der
bäume und Flöße. Der antike Historiker tium (Eschenz), Confluentes (vielleicht Donau und antike Lastkähne am Neuen-
Strabon (etwa 64 v. Chr. – 20 n. Chr.) er- das heutige Konstanz?) und Arbor felix burger See.
wähnte sogar eine Schlacht auf dem (Arbon) einen Teil des spätantiken Limes Im frühen Mittelalter waren die Rui-
Bodensee, die der Feldherr und spätere am Südufer des Sees; die Befestigungen nen der römischen Anlagen noch gut
römische Kaiser Tiberius (42 v. Chr. schützten die seinerzeit von Tiberius er- sichtbar gewesen; sie zeugten von einsti-

– 37 n. Chr.) bei seinem Alpenfeldzug oberte Provinz Raetia vor den Aleman- ger Größe und Macht – und dienten als

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 57


SCHIFFSARCHÄOLOGIE

Steinbrüche. Dichte Wälder und Sumpf- 1981 in der Flachwasserzone des Kip- wird so weit trocken gelegt, dass die
landschaften beherbergten Wild und penhorns bei Immenstaad nach Resten Archäologen in Gummistiefeln weiter-
Wasservögel. Ein weiterer Puzzlestein von Pfahlbauten gesucht. Diese Land- arbeiten können. Das dendrochronologi-
der Schiffsarchäologie: Um 610 setzten zunge liegt etwa dreißig Kilometer süd- sche Labor in Hemmenhofen datiert später
die irischen Wandermönche Columban östlich von meinem Beobachtungsposten eine Holzprobe auf das 14. Jahrhundert.
und Gallus, die das Christentum an den auf der Anhöhe bei Überlingen entfernt. In diesem Jahr erhält das geborgene
See gebracht hatten, von Arbon nach Hakelberg fand das erste Wrack ei- und konservierte Wrack – das eigentlich
Bregenz über, um dort ein Kloster zu nes mittelalterlichen Holzschiffs am Bo- nur noch aus dem flachen Boden und ei-
gründen. Ihre Überfahrt hat der Reiche- densee. Gemeinsam mit dem Archäolo- nem Teil der Seitenwände des Schiffes
nauer Abt Walahfried Strabo 833 in sei- gen Michael Kinsky hat er es im Auftrag besteht – samt einem von Hakelberg re-
ner Vita Sancti Galli beschrieben. Der St. des Landesdenkmalamtes Baden-Würt- konstruierten Modell (Bild rechts unten)
Gallener Mönch Konrad Sailer malte temberg 1991 ausgegraben und so vor einen eigenen Anbau am Archäologi-
diese Fahrt 1451 und überlieferte damit der Zerstörung durch Renaturierungs- schen Landesmuseum in Konstanz. Der
Merkmale der Schiffstechnik des Mittel- arbeiten in der Flachwasserzone gerettet. Wissenschaftler resümiert: „Das Immen-
alters – einen flachen Rumpf, an beiden staad-Wrack war ein Glücksfall, weil es
Enden hochgezogen, der über Fahr- und Archäologen in Gummistiefeln so leicht zugänglich war. Der Nachbau
Ziehruder gesteuert beziehungsweise im Modell half uns, technologische Ein-
fortbewegt wird (Bild unten). „Beim Landesdenkmalamt Baden-Würt- zelheiten besser zu verstehen und zu re-
Das Schiff auf dieser Darstellung temberg gab es keine Experten für die konstruieren. Natürlich tauchten auch
stimmt mit dem bislang einzigen archäo- Schiffsarchäologie“, sagt Hakelberg. „Mit neue Fragenstellungen zur Schiffsbau-
logisch gut untersuchten Schiffswrack dem Schiffswrack von Immenstaad be- weise auf, die wir bei zukünftigen Fun-
am Bodensee weitgehend überein. Der traten wir Neuland. Unsere Methoden hat- den auch in größeren Wassertiefen ge-
See hat es jahrhundertelang bewahrt. ten wir in der Pfahlbauarchäologie entwi- zielter angehen können.“
Vom Sediment begraben und damit unter ckelt.“ Insbesondere Helmut Schlichtherle Anfang der neunziger Jahre äußerte
Abschluss von Sauerstoff bleibt organi- von der Außenstelle Hemmenhofen des der Schweizer Archäologe Béat Arnold
sches Material wie Holz von Zersetzung Landesdenkmalamtes und seine Mitarbei- vom Musée Cantonal d’archéologie in
weitgehend verschont; von Wasser be- ter arbeiten seit 1971 an der Erfassung und Neuchâtel die Vermutung, mittelalterliche
deckt, wird sie immerhin verlangsamt. Ausgrabung von „Pfahlbauten“, den Ufer- und neuzeitliche Schiffe nördlich der Al-
Eigentlich hatte der Entdecker dieses und Moorsiedlungen der Jungsteinzeit und pen gingen auf römischen Lastsegler des
Schiffs, der Archäologe Dietrich Hakel- Bronzezeit. Und so gehen die Wissen- Neuenburger Sees zurück. Offenbar hatten
berg, heute am Institut für Ur- und Früh- schaftler vor: Ein Sandsackdamm schirmt die Handwerker für diese flachbodigen,
geschichte der Universität Freiburg, das Wrack gegen den See ab, eine Hälfte kiellosen Schiffe seinerzeit eine Technik
erfunden, die Arnold als Grundplattenkon-
struktion bezeichnete. Schiffe mit Kiel
Die Miniatur von entstehen nämlich in Schalen- oder Ske-
Konrad Sailer aus lettbauweise: Entweder werden vom Kiel
St. Gallen aus dem ausgehend zuerst die Bordwände aus
Jahre 1451 illus- Planken aufgebaut und dann die stabilisie-
triert die Fahrt der renden Querhölzer – die Spanten – einge-
irischen Mönche
Columban und
setzt, oder der Schiffsbauer errichtet um-
Gallus von Arbon gekehrt aus Kiel und Spanten ein Gerüst,
nach Bregenz. Der an das er dann die Planken anschlägt. Bei
dargestellte Schiffs- der Grundplattenkonstruktion hingegen
typ dürfte recht begannen die Handwerker mit dem fla-
typisch für das chen Boden, den sie dann vorn und hinten
Mittelalter sein.
hochzogen (Bild rechts oben); sie montier-
ten die Seitenwände und zogen schließlich
Querhölzer ein. Diese Bauweise hatte ei-
nen guten Grund: Der Boden durfte und
musste flach sein, denn einen Hafen mit
Landungsmole fanden die Schiffer bis in
das 19. Jahrhundert keineswegs überall
vor, wohl aber Flachwasserzonen, darin
einfache Stege zum Be- und Entladen.
Weil der Kiel auch Biegesteifigkeit
verleiht, mussten andere Elemente diese
Funktion bei der kiellosen Grundplatten-
konstruktion übernehmen. Beim Immen-
staader-Schiff – wie wohl bei vielen mit-
telalterlichen Schiffen – sorgten dafür so
STIFTSBIBLIOTHEK ST. GALLEN, CODEX 602, 33

genannte Übergangsplanken: Aus zwei


Eichenstämmen arbeiteten die Handwer-
ker L-förmige Profile heraus, die über
die volle Schiffslänge von etwa zwanzig
Metern die Kante zwischen dem Boden

58 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


EIDGENÖSSISCHE CHRONIK VON WERNER SCHODOLER, 1514. GEMEINDEARCHIV BREMGARTEN, AARGAU, SCHWEIZ
und den Seitenwänden des Schiffs bil-
deten. Vermutlich hatten die Erbauer
dann nur jeweils eine Seitenplanke ange-
schlagen, und zwar „klinker“, das heißt,
die Übergangsplanke überlappend. Aus
Ästen und Wurzeln geeigneter Form
schlugen sie mit dem Beil L-förmige
Spanten heraus, und setzten sie mit gera-
den Bodenhölzern abwechselnd ein (am
Bodensee spricht man in diesem Zusam-
menhang von „Rangen“ und „Nadeln“).
Zur Befestigung verwendeten die Hand-
werker ausschließlich konische Holznä-
gel, die sie von außen durch Bohrungen
schlugen; der Überstand wurde dann ge- Wie hier am
spalten, ein Keil eingetrieben und dieser Zürichsee
dürften auch
anschließend bündig mit der Oberfläche am schwä-
abgehauen, wie Hiebspuren in den Plan- bischen Meer
ken noch heute zeigen. die flachbo-
Auch der Alltag der Schiffer hat Spu- digen Boote
ren hinterlassen. Zwar dichteten Leinen- gebaut wor-
werg und vermutlich auch Pech den den sein.
Rumpf ab, dünne Buchenbrettchen
schützten die Fugen von außen. Doch
Mulden im Holz an der tiefsten Stelle Boote rechteckige Rahsegel, ebenso ähn- die Ladefähigkeit des rekonstruierten
des Rumpfes zeugen von der täglichen lich gebaute Segelschiffe der Loire und Immenstaad-Schiffes, wobei er die Sta-
Schöpfarbeit. Übrigens verwendeten die der französischen Kanäle des 19. Jahr- bilität der Konstruktion bei Sturm mitbe-
Zimmerleute für die Fugenbretter aus- hunderts. Der Mast war vermutlich etwa rücksichtigt hat. Er kam dabei auf eine
nahmsweise Eisennägel. Das Leinen- zehn Meter hoch, bei den Rheinbrücken Tragfähigkeit von 17 bis 21 Tonnen.
werg ist eine Besonderheit der Boden- von Konstanz oder Bregenz mussten ihn Das Verhältnis von Länge zu Breite
seeregion: Gewöhnlich hatte man zur die Schiffer umlegen können. Wurde er des Flachbodens betrug 1 : 8, und das
Dichtung Moos oder geteerte Tierhaare mittels Spannseilen und Taljen genann- entspricht den kleineren Segelschiffen
benutzt; doch der Anbau von Hanf und ten Flaschenzügen hochgehievt und ge- jüngerer Zeit – den „Segnern“. Ihre grö-
Flachs und die Tuchproduktion waren im spannt? Mit einer ähnlichen Vorrichtung ßeren Verwandten waren die „Lädinen“,
Mittelalter ein florierender Wirtschafts- hätten die Bootsleute auch das Segel his- die ein Vielfaches an Ladung transportie-
zweig, der beispielsweise den Bürgern sen können. Bei Flaute oder in Ufernähe ren konnten. In jedem Fall aber muss
von Konstanz einigen Reichtum brachte. ruderten sie offenbar: Bohrungen in den ihre Zahl immer stärker zugenommen
Zum Antrieb des Immenstad-Schiffes Seitenplanken dürften einst Ruderringe haben. Denn während zu Anfang die
lassen sich natürlich nur Vermutungen aus Weidenruten, Hanf oder Ochsen- Schifffahrt auf dem See noch weitgehend
den Klöstern unterstanden hatte, bildeten
sich eine Unmenge verschiedener Ab-
fuhr- und Fährrechte. Seit dem Hochmit-
telalter organisierten sich die Schiffsleu-
te in städtischen Zünften, um ihre Rechte
zu wahren. Zeitgenössische Schätzungen
So könnte ein
Segler des über die Zahl kennen wir leider nicht.
Mittelalters
ARCHÄOLOGISCHES LANDESMUSEUM KONSTANZ

ausgesehen Gutes Holz wird Mangelware


haben. Der
Freiburger Immerhin erlauben Schriftquellen, die
Archäologe Gebrauchsdauer der Fahrzeuge zumin-
Dietrich Hakel-
berg rekonstruier- dest grob zu bestimmen: Etwa 15 Jahre
te das 1 : 10- lang waren sie demnach in Betrieb, dann
Modell anhand benötigte der Schiffer ein neues Boot.
des Wracks von Und auch während dieser Zeit gab es viel
Immenstaad. zu reparieren. Das hatte schon im 10.
Jahrhundert Folgen: Altes Eichenholz,
das beste Baumaterial für Schiffe, wurde
anstellen. In ein Spantpaar im vorderen schwanz als Führung getragen haben. Zu in der Region Mangelware. Genauere
Drittel des Rumpfes wurde eine „Mast- diesen Fahrrudern kam – wie auf der St. Daten gibt es für Bauholz aus dem Kon-
spur“ eingestemmt, also eine Vertiefung Gallener Abbildung zu sehen – noch ein stanz des 13. und 14. Jahrhundert: 80
zur Aufnahme des Mastfußes. Eine Bese- Steuerruder am Heck. Prozent stammt von Eichen, die jünger
gelung des Schiffes beweist das nicht, Die Seitenhöhe maß mittschiffs ver- als 70 Jahre waren; davon war die Hälfte
macht sie aber sehr wahrscheinlich. Auf mutlich 1,10 Meter. Der Schiffsbauinge- Stangenholz, aus den Stockausschlägen

Bildern ab dem 16. Jahrhundert tragen nieur Johannes Leidenfrost berechnete älterer Baumstümpfe. Zum Vergleich:

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 59


SCHIFFSARCHÄOLOGIE

Jahrhundert, da sich Handelssperren


zwischen den Großmächten durch den
Transport über die neutrale Schweiz um-
gehen lassen.
Auch von jener Zeit legt ein Wrack
Zeugnis ab. Es ist allerdings noch weit-
gehend von Sediment bedeckt und noch
nicht eingehend untersucht: das „Salz-
schiff“ von Unteruhldingen. Nur den we-
nigsten Fahrgästen der Weißen Flotte
dürfte bekannt sein, dass sie beim Ein-
laufen in den dortigen Hafen ein Denk-
mal kreuzen. Einen von Tauchern gebor-
genen Spant datierte das dendrochrono-
logische Labor von Hemmenhofen auf
das Jahr 1557.
So einfach zu untersuchen wie das
FOTOS: KLAUS-DIETER LINSMEIER

Das Forschungsschiff „August Thienemann“ ist voll- Schiff von Immenstaad ist das Unteruhl-
gepackt mit Sensorik. Am Heck erkennt man das
Sidescan-Sonar (gelb). Forschungstaucher Adalbert dinger nicht, denn selbst im Winter liegt
Müller bereitet seinen Einsatz vor (oben rechts). Auch es noch etwa 2,50 Meter unter dem Was-
mit dem ferngesteuerten Unterwasserfahrzeug (ROV) serspiegel. Das ist eigentlich keine Tiefe
wird das Wrack angetaucht, um Videoaufnahmen zu für Forschungstaucher – die Pfahlbau-
machen (links beim Wassern). Unterwasserarchäologie spielt sich eben-
falls dort ab. Wieder ein Griff in die Kis-
te des Bewährten: Taucher setzen eine
die Übergangsplanken des Immenstaad- nen. Im Jahre 1764 listet ein Schaffhau- Rohrkonstruktion am Wrack zusammen
Schiffes hatte man aus zwei mehr als ser „Schiffsrödel“ Kaffee, Zucker und und nutzen sie als Messrahmen. Fotos
hundert Jahre alten Eichenstämmen ge- Gewürze auf, die aus den niederländi- werden aufgenommen, Zeichnungen un-
arbeitet. Wie gingen die Menschen mit schen Kolonien stammen. Vom Boden- ter Wasser auf Plexiglasscheiben ange-
dieser Situation um? Haben sie die Lage see aus führen jetzt auch Handelsstraßen fertigt und später auf Papier übertragen.
erkannt und eine so genannte Mittel- über die Wasserscheide zur Donau und Demnach beträgt die Bootsbreite ma-
waldwirtschaft betrieben, bei der einzel- damit Richtung Osten. ximal sechs, die Länge rund 30 Meter,
ne Eichen etwa für den Schiffbau ge- Noch etwas fällt mir auf: Die Segler vergleichbar einer Lädinenvermessung
schont wurden, während sie für einfa- haben sich verändert, scheinen bauchiger von 1723. Wieder entdecken die Wissen-
chere Zwecke Stangenholz schlugen? In zu sein und größer. Könnte ich einer schaftler einen flachen Schiffsboden, je-
jedem Fall kannten sie das Recycling, Möwe gleich den See aus großer Höhe doch ohne Übergangsplanken. Vielmehr
wie die Ausgrabung einer mittelalterli- betrachten, würde mir wohl auch auffal- stoßen jeweils die unterste Planke einer
chen Sickergrube in Überlingen zeigte: len, dass sich die Handelsrouten verla- Seite stumpf auf die äußerste des Bo-

WÜRTTEMBERGISCHE LANDESBIBLIOTHEK STUTTGART


Sie förderte Plankenfragmente eines gert haben. Eine aggressive Zollpolitik dens. Die seitlichen Plankengänge erwei-
Schiffes zu Tage. Auch das Boot von Im- Österreichs, das in dieser Zeit am Nord- sen sich als „kraweel“ verzimmert, also

LITHOGRAPHIE VON EBERHARD EMMINGER,


menstaad dürfte nach Ansicht der ufer des Sees viele Territorien besitzt, ebenfalls stumpf aufeinanderstoßend.
Archäologen nicht gekentert sein. Ver- fördert zwar den Transitverkehr über Die Forscher finden etwa 40 Zentimeter
mutlich hat man es als Wrack an Ort und Wasser. Doch die alten Reichsstätte Kon- lange geschmiedete Eisennägel.
Stelle geschleppt und dann alles Brauch- stanz und Lindau haben dabei an Bedeu- Als Steuerruder trug das Unteruhldin-
bare abgebrochen. Die flache Bodenkon- tung verloren. Je nach der momentanen ger Schiff wahrscheinlich eine „Schiffs-
struktion blieb zurück. Lage ist es nun günstiger, Waren nach tür“: ein großes, seitliches Ruderblatt.
An meinem Beobachtungsposten Österreich über die Schweizer Eidgenos- Diese Eigentümlichkeit des Bodensees
oberhalb von Überlingen setze ich nun senschaft zu befördern. Das gilt vor al- kam Abbildungen zufolge im 16. Jahr-
meine Zeitreise fort in das 16. Jahrhun- lem während der Kriege im 16. und 17. hundert auf und war auch noch Anfang
dert. Das Bild hat sich nicht sehr geän-
dert. Das Überlinger Münster nimmt
mehr und mehr die heute bekannte, auf
dem See weithin sichtbare Gestalt an.
Doch es verkehren noch mehr Schiffe, Das
und manche kommen von weit her. Denn Dampf-
schiff
der Bodensee ist inzwischen Teil eines „Wilhelm“,
Netzes von Verkehrswegen, das Rhein hier beim
und Donau ebenso einschließt wie den Einlaufen
Zürich- und den Walensee am nördli- in Fried-
chen, den Lago di Como und den Lago richshafen,
Maggiore am südlichen Alpenrand. Für markierte
den Anfang
das späte 16. Jahrhundert belegen Wa- vom Ende
renverzeichnisse den Transport italieni- für die
scher Produkte auf dem Alpenrhein, mit Bodensee-
Reis, Olivenöl, Pomeranzen und Limo- Segler.

60 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


„Heidenhöhlen“
nannte man im 19.
Jahrhundert diese
aus dem Mittelalter
des 20. Jahrhunderts in Gebrauch. Aus stammenden Un-
mehreren Bohlen zusammengesetzt hat terkünfte. Heute ist
davon nicht mehr
man dieses Ruder in eisernen Scharnie- viel übrig, denn zum
ren befestigt und mittels einer langen Bau der Bodensee-
Pinne geschwenkt (Bild Seite 56 / 57). Eisenbahnlinie wurde
Warum die neue Konstruktionsweise? ein großer Teil des
War der Übergang zur Kraweeltechnik Molasse-Felsens ab-
ein Zeichen technologischen Fortschritts, gesprengt. Im Hinter-
grund der Ort Sipp-
oder fehlten schlicht die alten Eichen für lingen und eine
Übergangsplanken? Weitere Schiffsfunde Lädine, ein großer
und eingehendere Untersuchungen sind Segler, der in vielen
vonnöten, um diese Fragen zu klären. Details mittelalter-
Vielleicht liefert ein Wrack neue Indi- lichen Schiffen
zien, das im Sommer 2000 sozusagen neu ähneln dürfte.
entdeckt wurde. Ein Sporttaucher hatte es MUSEUM ÜBERLINGEN, STICH VON C. M. KURZ NACH K. CORRADI, 1850, © S. LAUTERWASSER
schon Anfang der Achtziger im Überlin-
ger See gefunden, fotografiert, einen
Spant geborgen und das Landesdenkmal- legen, bei denen das gelöste Gas abgeat- den nächsten Tauchgang mitnehmen bis
amt informiert. Artefakt und Bilder ließen met wird. Forschungstauchern sind aber zum Wrack. Dann Aufsteigen am Bojen-
vermuten, dass das fragliche Schiff mit solche Deko-Tauchgänge seitens der Be- seil. Das soll vor allem die Orientierung
„Übergangsplanken“ gebaut worden sein rufsgenossenschaft verboten. Deshalb ste- im dunklen, trüben Wasser erleichtern –
könnte. Stammt es aus dem Mittelalter hen Martin Mainberger, der als Erster hi- Oben und Unten sind in der lichtlosen Tie-
oder wurde diese Technik auch später nunter gehen soll, nur zehn Minuten auf fe für den Taucher kaum unterscheidbar.
noch verwendet? Eine Datierung mittels der Maximaltiefe zur Verfügung. Doch es kommt anders: Die Boje wa-
Dendrochronologie scheiterte. Mehrere Warum soll ein Mensch überhaupt ckelt zwar ein wenig, bleibt aber an Posi-
Anläufe, das Schiff zu lokalisieren, verlie- die Risiken eingehen, die mit so tiefen tion, während Mainberger – erkennbar
fen ebenfalls erfolglos. Tauchgängen in unseren Seen verbunden an den Luftblasen, die zur Oberfläche
Mein Blick schweift nach Norden, sind (und die vielen Sporttaucher nicht aufsteigen – offensichtlich den Steilhang
Richtung Sipplingen. Dort lag im Som- bewusst sind)? Die Antwort gibt mir entlang taucht. Spannung an Bord. Dann
mer die „August Thienemann“ vor An- Mainberger selbst: „Wir konnten den das Signal: Wrack gefunden! Der Ein-
ker, ein Forschungsschiff des Instituts für Tauchroboter der „Thienemann“ nicht satzleiter befiehlt „Austauchen“, denn
Seenforschung in Langenargen. Linker mit der Videokamera hinunterschicken, die zehn Minuten sind verstrichen. Doch
Hand ragt eine beeindruckende Wand da es Probleme mit der Motorsteuerung irgendetwas scheint nicht zu stimmen: Er
aus Molasse auf, dem weichen Gestein, gab. Außerdem haben wir die Steilhalde gibt immer mehr Leine ins Wasser. Ver-
das vor Millionen Jahren aus Sediment- auch schon gründlich mit dem Sidescan- mutlich habe sich diese am Grund ver-
ablagerungen entstand und aus dem die Sonar abgesucht, leider ohne deutliche heddert, erläutert er und schickt den Re-
letzte Eiszeit das Seebecken formte. Da- Ergebnisse. Vielleicht besteht das Wrack servetaucher los. Der taucht kurz darauf
vor schimmert grünlich der Flachwasser- nur noch aus Einzelteilen, die sich im wieder auf und ruft: „Leine straffen!“ Et-
bereich, der abrupt in einen Steilhang ab- Schallbild nicht gegen den Untergrund was später erreicht Martin Mainberger
bricht, der hier etwa 80 Meter tief abfällt. abzeichnen. Deshalb gehen jetzt wir Tau- schwer atmend die Oberfläche.
Kein einfaches Terrain für die For- cher runter.“ Das erste Problem: Die Boje liegt nur
schungstaucher, wie mir die freiberuflich neun Meter tief auf Grund, der Steilhang
tätigen Unterwasserarchäologen Martin Wrack gefunden! verläuft also anders als angenommen.
Mainberger und Adalbert Müller an Bord Das zweite: Ihre Leine hatte sich so ver-
erläutern. Mehr als 30 Meter tief soll das Ich lerne eine Grundregel des For- hakt, dass der Taucher sie nicht entwir-
Wrack in der Steilwand liegen. Dort un- schungstauchens: Gearbeitet wird im ren konnte und das Gewicht liegen lassen
ten herrschen Dunkelheit, vermutlich Team aus Einsatzleiter, Arbeitstaucher musste. Als er dann das Wrack gefunden
eine Sicht von bestenfalls ein bis zwei und Reservetaucher für den Notfall. Kom- hatte – „Es sind nur Trümmer, aber ich
Metern und Temperaturen von vier Grad. muniziert wird über eine einfache Signal- habe ganz sicher eine Übergangsplanke
Dazu kommt ein vierfach höherer leine: Ein Ruck von oben fragt nach, ob gesehen.“ – wollte er statt am Bojenseil
Druck im Vergleich zur Oberfläche. Mo- alles in Ordnung ist, viermal Rucken gibt an der Sicherungs- und Kommunika-
derne Atemgeräte regeln den Druck der das Signal zum Austauchen. Jedes Signal tionsleine Hand über Hand aufsteigen.
Atemluft automatisch hoch, sodass die muss in gleicher Weise vom Taucher be- Der Einsatzleiter interpretierte den resul-
Lunge nicht kollabiert. Infolgedessen löst antwortet werden. Dreimal Zug von unten tierenden Zug aber falsch und gab Leine
sich aber mehr Stickstoff im Blut. Lässt bedeutet: Wrack gefunden. nach. So hatte Mainberger einige Mühe
der Druck dann zu schnell wieder nach, Und dann wird es spannend. Der pro- mit dem Aufstieg im Freiwasser. „Es
etwa bei zu raschem Auftauchen, kann movierte Archäologe lässt sich ins Wasser war alles im grünen Bereich“, erklärt er
das Gas wie Kohlendioxid in einer geöff- fallen und paddelt mit den Flossen zu ei- später. „Doch solche Tauchgänge bestäti-
neten Mineralwasserflasche ausperlen. ner Boje, etwa 50 Meter vom Schiff ent- gen, dass in unseren kalten und dunklen
Verschluss von Blutgefäßen durch Luft- fernt. Sie markiert das linke Ende des Gewässern Tauchen in solchen Tiefen
bläschen wäre die Folge. Wer länger in Untersuchungsgebiets. Das an ihr hängen- gefährlich sein kann.“
solchen Tiefen bleibt und dementspre- de Gewicht sollte in der Zieltiefe auf Trotz aller Aufregung: Das Wrack ist
chend höhere Stickstoff-Konzentrationen Grund liegen. Der Plan lautet: Abtauchen endlich gefunden und über einen Schall-
in Blut und Geweben erreicht, muss beim am Bojenseil, dann den Steilhang auf der geber am Anzug des Tauchers sowie das

Auftauchen „Dekompressions“-Stops ein- Zieltiefe queren und dabei die Boje für GPS-System des Schiffes genau lokali-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 61


SCHIFFSARCHÄOLOGIE

© S. LAUTERWASSER
Zeit vorzustellen: Das 19. Jahrhundert,
landauf, landab zeugen Dampfwolken
vom Anbrechen des Industriezeitalters.
Und auch auf dem See stoßen Dampf-
schiffe Rauch aus. Das Jahr 1824 bringt
die Zeitenwende für die Segelschifffahrt
auf dem Bodensee: Das erste Dampf-
schiff, die „Wilhelm“, nimmt den Ver-
kehr von Friedrichshafen nach Ror-
schach auf (siehe Seite 60 unten). Bald
folgen weitere, zunächst noch ganz aus
Holz, die Maschinen sind aus Liverpool
importiert. Obwohl Segner mittlerweile
mindestens 44 und Lädinen bis zu 150
Tonnen tragen, sind ihnen diese Kraftpa-
Das Fass als
Container der
kete überlegen, denn die fahren auch bei
Lastensegler – Flaute und starkem Wind. Anfangs weh-
hier im Überlinger ren sich die Segelschiffleute. Die Zünfte
Mantelhafen – in Lindau versuchen, die dampfbetriebe-
war auch 1903 ne Konkurrenz mit ihren mittelalterli-
noch gefragt. chen Abfuhrrechten auszubremsen – sie
fordern einfach hohe Hafengelder. Doch
1841 kauft der bayerische Staat diese
Rechte und bereitet dem Industriezeital-
siert worden. „Vermutlich hat Wind das lässt die Forscher jubeln: Sie bergen ein ter den Weg. Als dann die Eisenbahn den
Schiff bei Niedrigwasser auf den Rand Stück Holz, sehr wahrscheinlich ein Teil Bodensee erschließt, können die Dampf-
des Steilhangs gedrückt. Es ist gesunken, der Ladung: Die Enden zeigen Sägespu- schiffe eher mit dem neuen Transportme-
dann abgerutscht und dabei zerbrochen. ren, die anderen Flächen sind durch Spal- dium kooperieren. Fotos zufolge sind
Die Trümmer verfingen sich im Hang. ten eines dickeren Stücks entstanden. Die zwar sogar am Anfang des 20. Jahrhun-
Vielleicht liegen sogar weiter oberhalb Länge von etwa 1,80 Meter Länge ent- derts noch kleinere Segner in Gebrauch.
noch Teile, möglicherweise sogar La- spricht dem bis vor etwa 100 Jahren ge- Sie befördern aber nur noch Massengüter
dung.“ bräuchlichen Klafter, einem Maß für wie Baumaterial oder Brennstoff. Ihre
Der Ort inspiriert zu solchen Vor- Brennholz. Nun sind die Dendrochrono- hohe Zeit ist vorbei. Die der Schiffs-
stellungen, erklärt Dietrich Hakelberg am logen gefordert, das Alter herauszufinden.
nächsten Tag, während die Bootscrew Theoretisch müssten entlang der
den reparierten Tauchroboter fertig macht. Handelsrouten unzählige Wracks auf Klaus-Dieter Linsmeier ist Redakteur
Er deutet auf die Molassewand (Bild Sei- Grund liegen. In Kooperation mit dem bei Spektrum der Wissenschaft.
te 61). „Dort gab es im Mittelalter Wohn- Institut für Seenforschung in Langenar-
höhlen, die erst 1846 beim Bau einer gen versuchen die freiberuflichen Mit-
Uferstraße großteils weggesprengt wur- arbeiter des Landesdenkmalamtes sie mit archäologie am Bodensee bricht aber si-
den. Und dort drüben steht eine Kapelle, dem Sidescan-Sonar zu orten und zu kar- cher erst noch an.
deren Wände Fresken aus dem 9. bis 10. tieren. Viele davon werden jüngeren Von meiner Warte auf der Anhöhe
Jahrhundert zieren. Das ergibt mit dem Datums sein, doch bietet auch das 18. beobachte ich noch eine Weile das bunte
Wrack ein ganz interessantes Denkmalen- und 19. Jahrhundert Arbeitsfelder für Treiben im modernen Überlingen. In
semble. Vielleicht steht ja das Wrack mit Archäologen. Wieder sind es die glei- dem alten Handelshaus am Hafen, der
Siedlung und Kirche in einer Beziehung.“ chen Fragen: Welche Technik wandten „Greet“, werden heute schnelle Speisen
Hatten die Schiffsleute den Höhlen- die Schiffbauer an, in welchem wirt- gehandelt. In den Gräben um die alte
bewohnern Waren bringen wollen? schaftlichen Kontext stand die Schiff- Stadtmauer lustwandeln Kurgäste. Wo
Leider erweist sich das Gelände wie- fahrt? Quellen des 18. Jahrhunderts zu- einst Frachtschiffe anliefen, entlassen
der als zu schwierig. Zwar gelingt es, an folge befuhren rund 1000 Segelschiffe Fähren nun Touristen. Könnten sich Ta-
der Position des Wracks eine Boje zu plat- den Bodensee; davon waren 150 große gesgäste wohl für die Verkehrsgeschichte
zieren und an deren Halteseil den Roboter Schiffe, Lädinen und Segner, der Rest des Sees begeistern? Zu wünschen wäre,
mit der Videokamera waren meist kleinere dass zumindest Sporttaucher ein solches
abzulassen. Doch am Literaturhinweise Fischerboote. Leider Interesse aufbrächten. Zwar verdanken
Steilhang lässt er sich Einbaum, Lastensegler, Dampf- hinterließen auch die Archäologen ihnen Hinweise, doch nicht
nur schlecht manövrie- schiff. Frühe Schifffahrt in Handwerker der spä- jeder geht mit dem angetauchten Wrack
ren und wühlt zu viel Südwestdeutschland. Heraus- ten Neuzeit keine Auf- sorgsam um, manche versuchten gar, ein
Sediment für gute Auf- gegegeben vom Archäologi- zeichnungen, sondern „Souvenir“ mitzunehmen. Das Landes-
nahmen auf. Auch ein schen Landesmuseum Baden- arbeiteten nach über- denkmalamt hofft, solchem Vandalismus
weiterer Tauchgang Württemberg. Konrad Theiss lieferten Traditionen durch Aufklärung vorbeugen zu können.
bringt nur eine Bestäti- Verlag, Stuttgart 2000. wie ihre Kollegen aus Und durch ein bisschen Geheimniskrä-
gung des Befundes Überlingen – Schlüssel zum Bo- dem Mittelalter. merei. Es wäre schade, wenn noch mehr
vom Vortag. Erst ein densee. Edition Braus, Hei- Noch einmal ver- Zeugen einer großen Zeit der Schifffahrt
erneuter Versuch im delberg 1989. suche ich mir den See am „schwäbischen Meer“ durch Unacht-
vergangenen Oktober Siedlungen der Steinzeit. Spek- in einer vergangenen samkeit verloren gingen. ■
trum der Wissenschaft: Ver-
62 ständliche Forschung, 1989. SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001
GENTECHNIK

Essbare Impfstoffe
Jedes Jahr sterben Millionen Menschen, weil sie keinen Zugang
zu traditionellen Impfstoffen haben. Vor allem viele Kinder könnten vor oft tödlichen
Krankheiten bewahrt werden, wenn es gelingt, sie allein durch Essen von genetisch
veränderten Bananen und anderen Früchten zu impfen.
VON WILLIAM H. R. LANGRIDGE

I m Kampf gegen Infektionskrankhei-


ten haben Impfstoffe bisher wahre
Wunder vollbracht. Dank ihrer Hilfe
gehören Pocken-Epidemien der Vergan-
genheit an, und dasselbe könnte bald auch
die meisten davon in den entlegensten
und ärmsten Regionen der Erde. Zusätz-
lich gefährden politische Unruhen man-
cherorts die bisherigen Fortschritte. Au-
ßerdem sterben auch heute Millionen
der A&M-Universität in College Station
(Texas) – über einen Weg nach, möglichst
viele Kinder mit Impfstoffen zu versorgen.
Er hatte von der Forderung der Welt-
gesundheitsbehörde nach preisgünstigen
für Kinderlähmung gelten. Eine interna- Menschen weltweit an Infektionskrank- Schluckimpfungen gehört, die keine Küh-
tionale Impfkampagne gegen die sechs heiten, gegen die es bisher keine Impf- lung benötigen. Kurz darauf, bei einem
wichtigsten Infektionskrankheiten – Diph- stoffe gibt – oder nur zu teure oder unzu- Besuch in Bangkok, sah er eine Mutter,
therie, Keuchhusten, Kinderlähmung, Ma- verlässige. die ihr weinendes Kind durch ein Stück
sern, Tetanus und Tuberkulose – hat in den Diese Situation ist nicht nur für Re- Banane beruhigte. Das brachte ihn auf die
späten neunziger Jahren vermutlich im- gionen mit unzureichender Gesundheits- Idee, Nutzpflanzen genetisch so zu verän-
merhin 80 Prozent der Kleinkinder in aller versorgung Besorgnis erregend, sondern dern, dass sie in ihren genießbaren Teilen
Welt erreicht, im Vergleich zu fünf Pro- für die gesamte Weltbevölkerung. Denn Impfstoffe produzierten. Diese könnten
zent in den siebziger Jahren. Ohne sie fiele Herde für Infektionskrankheiten, die wo- dann, wann immer nötig, einfach gegessen
die jährliche Todesbilanz hierfür höher anders praktisch nicht mehr vorkommen, werden.
aus: um etwa drei Millionen Menschen gleichen Zeitbomben: Je näher die Konti-
Doch sollten diese Erfolge nicht da- nente durch internationalen Handel und Impfstoffe
rüber hinwegtäuschen, dass eben noch Verkehr zusammenrücken, desto schneller vor Ort wachsen lassen
immer 20 Prozent der Kinder von den wandern auch lokal ausbrechende Epide-
Impfprogrammen gar nicht erreicht wer- mien um die Welt. Zu diesem Zeitpunkt existierten bereits
den – und dies bedeutet mehr als zwei Bereits Anfang der neunziger Jahre Verfahren, um ausgewählte Gene ins
Millionen unnötige Todesfälle jedes Jahr, dachte Charles J. Arntzen – damals an Erbgut einer Pflanze einzuschleusen.
Wenn alles gut ging, produzierte diese
gemäß der genetischen Bauanleitung die
zugehörigen fremden Proteine. Warum
Diese Bananenstauden und sollte das nicht auch für Eiweißstoffe
Tomatenpflanzen in Gewächs- von Erregern gelingen, gegen die man
häusern des Boyce-Thompson- den Körper immun machen möchte?
Instituts für Pflanzenforschung
an der Cornell-Universität sind Die Vorteile wären enorm. Einhei-
genetisch aufgerüstet, damit mische könnten die „transgenen“ Pflan-
sie in ihren Früchten Impfstoffe zen vor Ort anbauen und mit den ihnen
produzieren. Bananen erschei- vertrauten Methoden günstig kultivieren.
nen hierfür besonders attraktiv. Da sich viele Nutzpflanzen leicht ver-
Sie gedeihen in vielen Erdtei- mehren lassen, müssten die Farmer nicht
len, lassen sich roh verzehren
und schmecken den meisten für jede weitere Anbauperiode neue
Kindern. Pflanzen oder Samen kaufen. Auch wür-
de der lokale Anbau logistische und öko-
nomische Probleme lösen, wie sie beim
FOTOS: FOREST MCMULLIN

Kühltransport über große Distanzen und


bei der Lagerung konventioneller Vak-
zine auftreten. Auch Injektionsnadeln
könnten entfallen, die – abgesehen von
den Kosten – bei mehrfacher Verwen-
dung selbst wieder Infektionsgefahren
bergen.
Allerdings stecken die Bemühungen,
Arntzens Zukunftsvision zu verwirkli-
chen, noch in den Anfängen. Die in den
letzten zehn Jahren durchgeführten Tier-

64 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


Künftiger Ersatz für die
Spritze: Bananen, Kartoffeln
und Tomaten, aber auch
experimente und klei- Salat, Reis, Weizen, Sojaboh-
nen Pilotstudien am nen und Mais kommen als
Menschen lassen je- Produzenten für essbare
Impfstoffe in Frage.
doch immerhin hoffen,
dass essbare Impfstoffe
wie gewünscht schüt-
zen. Auf Grund dieser der nur gekühlt aufbe-
Forschung spekulieren wahrt sowie transpor-
Experten auch über die tiert werden.
Möglichkeit, mit sol- Essbare Impfstoffe
chen Impfstoffen Auto- sind dem Prinzip der
immun-Erkrankungen Subunit-Vakzine nach-
zu unterdrücken. Hier empfunden. Auch sie ent-
greift das Immunsystem halten nur ausgewählte
irrtümlich körpereigene Antigene. Eine unkon-
Strukturen an, was zu trollierte Vermehrung –
schweren Gewebeschä- und somit ein Ausbruch
den führt. Zu den der Krankheit infolge des
„selbstzerstörerischen“ Impfstoffes – kann aus
Erkrankungen, die sich diesem Grund ausge-
vielleicht verhüten oder schlossen werden.
mildern ließen, gehören Bereits vor zehn Jah-
der gewöhnlich früh ren war Arntzen und an-
auftretende Typ-I-Dia- deren Forschern klar,
betes, die multiple dass essbare Impfstoffe
Sklerose und die rheu- deshalb genauso sicher
matoide Arthritis. wie Subunit-Vakzine wä-
Gleichgültig wie ren, aber wesentlich kos-
Impfstoffe gegen Infek- tengünstiger und robus-
tionskrankheiten verab- ter. Doch vor einem Ein-
reicht werden, sie ver- satz am Menschen muss-
folgen alle das gleiche ten erst einmal etliche
Ziel: Sie bereiten das Fragen geklärt werden.
Immunsystem auf be- Würden die gentech-
stimmte Krankheitserre- nisch veränderten Pflan-
ger vor, sodass es sie bei zen überhaupt funktions-
späterem Kontakt rasch tüchtige Antigen-Protei-
JOHNSON & FANCHER

gezielt angreifen kann. ne produzieren? Würden


Klassische Impfstoffe die Magensäfte von Ver-
arbeiten entweder mit suchstieren diese Ei-
abgeschwächten leben- weißstoffe vorzeitig zer-
den Viren oder Bakte- stören? (Subunit-Vakzine
rien, die sich nicht mehr müssen normalerweise
richtig vermehren können und somit kei- die gegen Cholera und Tetanus, müssen injiziert werden, weil Verdauungsenzyme
ne Gefahr für den zu impfenden Organis- regelmäßig aufgefrischt werden. sie sonst abbauen.) Selbst wenn „über-
mus darstellen, oder – alternativ – mit ab- Klassische Impfstoffe bergen immer lebende“ Antigene das Immunsystem
getöteten Keimen. ein kleines, aber beunruhigendes Rest- wirklich alarmieren – würde die ausge-
Der erstmalige Kontakt mit dem ver- risiko, dass die verwendeten Mikroorga- löste Immunreaktion auch stark genug
mutlich eingedrungenen Erreger alarmiert nismen wieder aktiv werden und somit sein, um die Tiere vor einer Infektion zu
das Immunsystem. Es verhält sich so, als die Krankheit auslösen, die sie eigentlich schützen?
ob der Organismus wirklich attackiert verhindern sollten. Aus diesem Grund Außerdem wollten die Forscher wis-
würde und mobilisiert seine verschiede- greifen Wissenschaftler bei der Entwick- sen, ob essbare Impfstoffe eine Immunität
nen Abwehreinheiten gegen den Ein- lung neuer Impfstoffe heutzutage lieber der Schleimhaut hervorrufen können. Da
dringling. Dabei nimmt es bestimmte als auf einzelne Untereinheiten der Krank- viele Krankheitskeime über Nase, Mund
fremd erkannte Proteinstrukturen ins Vi- heitserreger zurück. Die so genannten oder andere Körperöffnungen eindringen,
sier. Die erkannten Moleküle bezeichnet Subunit-Vakzine enthalten bestimmte liegen die vordersten Verteidigungslinien
man als Antigene. Die erste schnelle Ab- Proteine der Erreger, aber keine Erb- in den Schleimhäuten, welche die Atem-
wehrreaktion klingt zwar bald ab, doch es substanz. Ihr Vorteil liegt auf der Hand: wege, Verdauungs- und Harnwege sowie
bleiben Wachpatrouillen zurück: die so Sie können selbst keine Infektion her- den Genitaltrakt auskleiden. Ist die Im-
genannten Gedächtniszellen. Bei Angriff vorrufen. Allerdings sind diese Impf- munantwort dieser ersten Barriere effek-
des echten Erregers mobilisieren sie so- stoffe teuer, unter anderem deshalb, weil tiv, werden dort so genannte sekretorische
fort eine Heerschar von Verteidigern, die ihre biotechnische Herstellung in Kul- Antikörper freigesetzt, die den Eindring-
prompt gezielte Abwehrmaßnahmen ein- turen von Bakterien oder tierischen Zel- ling umhüllen und dadurch unschädlich
leiten. Manche Impfungen verleihen prak- len einen aufwendigen Reinigungsschritt machen können. Eine wirkungsvolle Lo-

tisch lebenslange Immunität; andere, wie beinhaltet. Außerdem können sie wie- kalreaktion aktiviert außerdem Abwehr-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 65


GENTECHNIK

zellen, die das Blut- und Lymphsystem Mitte der neunziger Jahre war wenigs-
durchwandern. So kommt eine den gan-
zen Körper umfassende „systemische“
Immunantwort zustande, auch fern des ur-
Infos tens eine der vielen offenen Fragen bei
der Entwicklung essbarer Impfstoffe be-
antwortet: Pflanzen konnten tatsächlich
sprünglichen Geschehens. Lebend-Impfstoffe fremde Protein-Antigene in der korrekten
Injizierte Impfstoffe umgehen primär enthalten lebende, aber abgeschwächte räumlichen Gestalt produzieren. Arntzen
die Schleimhäute und verstehen sich des- Viren oder Bakterien, die ihre krankma- und seine Kollegen hatten dazu das Gen
halb gewöhnlich nicht besonders gut auf chende Eigenschaft verloren haben. für ein Protein des Hepatitis-B-Virus in
die Stimulation der dortigen Immunreak- Tot-Impfstoffe Tabakpflanzen eingeführt (der Erreger
tion. Essbare Impfstoffe hingegen kom- enthalten abgetötete Bakterien, inakti- verursacht Leberentzündungen und för-
men zwangsläufig mit der Schleimhaut vierte Viren, bestimmte Bestandteile der dert Leberkrebs). Injizierten sie Mäusen
des Verdauungssystems in Berührung. Sie Erreger oder ein entschärftes, ursprüng- das hergestellte Protein-Antigen, löste es
sollten deshalb – zumindest theoretisch – lich krankmachendes Produkt von Bakte- die gleichen Immunreaktionen aus wie
rien (Beispiel: Tetanus-Toxin).
beide Formen der Immunität hervorrufen. das Virus selbst.
Dieser doppelte Effekt wiederum ver- DNA-Impfstoffe Aber nicht Injektionen, sondern Imp-
spricht besseren Schutz vor vielen gefähr- enthalten Teile der Erbsubstanz eines Er- fungen durch Nahrungsaufnahme sind
lichen Mikroorganismen – einschließlich regers. Wenn menschliche Zellen davon das Ziel. Auf den Etappen dorthin waren
dem Erreger für schweren Durchfall. etwas aufnehmen, produzieren sie vo- in den letzten fünf Jahren zahlreiche Fort-
rübergehend fremde Proteine, die das
Bei der Entwicklung essbarer Impf- Immunsystem alarmieren.
schritte zu verzeichnen, so von meinem
stoffe steht gerade der Schutz vor Durch- Team an der Universität Loma Linda (Ka-
fallerkrankungen an vorderer Stelle. De- Essbare Impfstoffe lifornien) und dem von Arntzen, mittler-
ren wichtigste Verursacher sind das Rota- bestehen aus Früchten oder anderen ge- weile am Boyce-Thomson-Institut für
virus, das Norwalk-Virus, der Cholera- nießbaren Teilen einer Pflanze, die gen- Pflanzenforschung an der Cornell-Univer-
Erreger (das Bakterium Vibrio cholerae) technisch zu einem Produzenten von Er- sität in Ithaca (US-Bundesstaat New
reger-Proteinen umfunktioniert wurde.
und bestimmte Stämme des Darmbakte- York). Beide Gruppen wiesen mit unter-
riums Escherichia coli. Insgesamt kosten schiedlichen genmanipulierten Kartoffel-
sie jedes Jahr mehr als drei Millionen oder Tomatenpflanzen nach, dass die ver-
Kindern das Leben, vor allem in der Drit- Trinklösungen begegnen. Stehen solche fütterten Knollen oder Früchte sowohl
ten Welt. Sie alle schädigen die Schleim- Möglichkeiten zur Rehydrierung jedoch eine „mukosale“ – in den Schleimhäuten
haut des Dünndarms, sodass Wasser aus nicht zur Verfügung, verlaufen die Durch- – als auch eine systemische Immunant-
dem Blut und den Geweben in den Hohl- fallerkrankungen oft tödlich. Und bis jetzt wort auslösen können. Sie schützten voll-
raum des Darms übertritt. Den rapiden gibt es keine Impfstoffe dagegen, deren ständig oder zumindest teilweise vor dem
Wasser- und Salzverlust kann man zwar breiter Einsatz in Ländern mit schlechter Hepatitis-B-Virus, dem Norwalk-Virus
mit elektrolythaltigen Infusionen oder Infrastruktur praktikabel wäre. sowie den bakteriellen Giftstoffen von E.

Wie Kartoffeln zum Impfstoff werden


G entechniker schleusen oft mit Hilfe des Bak-
teriums Agrobacterium tumefaciens fremde
Gene in Pflanzenzellen ein. Im Falle essbarer
der Körper Krankheitserreger erkennt. Solche
Eiweißstoffe können eine zielgerichtete Immun-
reaktion auslösen und werden als Antigene be-
Impfstoffe sind das Gene für Proteine, an denen zeichnet.

Bakterienzelle Pflanzenzelle

Antigen-Gen
DNA
Plasmid

Antibiotika- Bakterien- Gentransfer


Resistenzgen suspension
abgestorbene Kallus
Zelle Impf-
kartoffeln

Antibiotika enthaltendes Medium

1. Zerschneide 2. Tränke es in einer Lösung 3. Antibiotika-Lösung tötet 4. Der Kallus bildet


das Blatt. mit Bakterien, die sowohl alle Pflanzenzellen ab, die Spross und Wurzel aus.
JARED SCHNEIDMAN DESIGN

zusätzliche Gene für das An- keine Resistenz-Gene und


tigen als auch für eine Anti- somit auch wohl keine Impf- 5. Drei Monate nach
biotika-Resistenz tragen. stoff-Gene aufgenommen ha- dem Einpflanzen tragen
Lasse den Mikroben Zeit, die ben. Lasse die überlebenden die ausgewachsenen
Gene auf einige Pflanzenzel- Zellen zu einem Zellhaufen Pflanzen antigen-haltige
len zu übertragen. (Kallus) heranwachsen. Knollen.

66 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


Impf-
kartoffel
Wie essbare Impfstoffe schützen
S o genannte M-Zellen der Dünndarmwand
nehmen das Antigen-Protein aus einem ess-
baren Impfstoff auf (unten links) und reichen es
als ob das Antigen der echte Erreger wäre und
nicht nur ein harmloser Teil von ihm. Es bleiben
langlebige Gedächtniszellen zurück, die den
an verschiedene andere Immunzellen weiter. Krankheitserreger rasch neutralisieren, sobald er
Diese starten daraufhin Abwehrreaktionen – so versucht, in den Körper einzudringen (rechts).

ankommendes
Antigen aus Virus
Impfkartoffel
3. Antikörper
Antikörper fangen den
M-Zelle befallene Eindringling
Zelle rasch ab.

1. M-Zellen B-Zelle 4. Aktivierte B- Gedächtnis-


reichen das
Zellen geben B-Zelle
Antigen aus stimulie-
Antikörper ab,
dem Darm an rende
Makrophagen Boten-
die das Antigen 2. Gedächtnis-T-
neutralisieren Helferzellen regen die
und B-Zellen stoffe
können. sofortige Antikörper-
weiter. Makrophage cytotoxische Produktion an.
3. T-Zellen stimulieren T-Zelle
2. Makrophagen prä- T-Helfer- Gedächtnis-
B-Zellen und spüren
sentieren den T-Helfer-

JARED SCHNEIDMAN DESIGN


zelle Antigen-Moleküle an 1. Gedächtnis-T-Helfer- T-Zelle
zellen Fragmente des zellen veranlassen cyto-
anderen Stellen im
Antigens. toxische T-Zellen, infi-
Körper auf.
zierte Zellen anzugreifen.

initiale Immunantwort Reaktion auf den echten Krankheitserreger

coli und Vibrio cholerae. Auch gegen das Aktivierung der Abwehr. Eine spätere Die bisher abgeschlossenen Studien
Tollwutvirus beispielsweise und gegen Studie des Teams mit einem Rohkartoffel- zeigen zwar, dass essbare Impfstoffe im
das Bakterium Heliobacter pylori (es ver- Vakzin gegen das Norwalk-Virus löste Prinzip machbar sind. Doch bleiben noch
ursacht Magen-Schleimhaut-Entzündun- bei 19 von 20 Probanden Immunreak- viele Probleme zu lösen. Zum Beispiel
gen und fördert Magenkrebs) haben For- tionen aus. Auch Salat eignet sich als produzieren Pflanzen nur geringe Mengen
scher essbare Impfstoffe entwickelt, die „Transportmittel“ für Impfstoffe, wie ein fremder Antigene. Allerdings lässt sich
Labortieren einen gewissen Schutz bieten. erster Test von Hillary Koprowski an der die Ausbeute steigern, etwa indem man
Pflanzenzellen bringen einen großen Thomas-Jefferson-Universität in Phil- das Antigen-Gen mit einem genetischen
Vorteil mit: Durch eine zusätzliche stabile adelphia zeigte. Hierbei entwickelten Steuerelement der Pflanze verknüpft, das
Zellwand um ihre Außenmembran sind zwei der drei Freiwilligen nach Verzehr die Produktion ankurbelt. Als Nächstes ist
sie sehr viel widerstandsfähiger als tieri- eine gut ausgeprägte systemische Abwehr sicherzustellen, dass jede Pflanze auch
sche Zellen. So haben die Antigene besse- gegen das Hepatitis-B-Virus. Doch ob ungefähr dieselbe Konzentration des
re Chancen, die zersetzende Magenpassa- essbare Impfstoffe den Menschen im Impfstoffes enthält. Große Schwankun-
ge zu überstehen. „Bröckelt“ die Zell- Ernstfall ausreichend schützen, muss gen dürfen nicht auftreten.
wand schließlich im Darm, setzen die noch erforscht werden. Ferner lohnt ein Versuch, die geringen
Pflanzenzellen langsam ihre Antigen- Konzentrationen an Antigen im
Fracht frei. Körper besser auszunutzen. Allge-
Doch was in Tiermodellen funktio- mein immunstimulierende Hilfs-
Literaturhinweise
niert, muss für den Menschen nicht gel- stoffe (Adjuvantien) sowie ein
Pflanzenbiotechnologie – Neuartige Le-
ten. Die klinische Erprobung steht hier „zielsicheres“ Design der Antigene
bensmittel (Novel Food) und Pharma-
erst am Anfang. An der ersten veröffent- könnten einen unzureichenden Ge-
zeutika. Von E. Schell-Frederick und J. S.
lichten Studie vor vier Jahren beteiligten halt der Pflanzen teilweise kompen-
Schell in: Deutsches Ärzteblatt 97: Heft
sich rund ein Dutzend Probanden. Sie sieren. Eine mögliche Strategie, um
28/29, S. 1666 , 2000.
bekamen von Arnztens Team rohe, ge- die Antigene an die richtige Stelle
Plant-Based Vaccines for Protection
schälte Kartoffeln zu essen – ausgestattet zu lenken: Man koppele sie an spe-
against Infectious and Autoimmune
mit einem ungefährlichen Abschnitt des zifische Moleküle, die sich gut an
Diseases. Von J. E. Carter und W. H. R.
Toxins von E. coli. Das Ergebnis: sowohl spezialisierte Immunzellen der
Langridge in: Critical Reviews in Plant
eine spezifische Immunreaktion der Darmschleimhaut heften. Diese als
Sciences (im Druck).

Schleimhäute wie auch eine systemische M-Zellen bezeichneten Komponen-


Weitere Hinweise finden Sie unter www.
spektrum.de/aktuelles heft.html
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 67
GENTECHNIK

ten der Abwehr fungieren als Kontrolleu- molekularem Präsentierteller anderen Ab- gegen den entdeckten Eindringling in
re. Stichprobenartig nehmen sie Material wehrzellen dar. Erkennen nun so genannte Gang zu bringen.
aus dem Darminhalt auf – auch eventuell T-Helferzellen aus der Gruppe der Lym- Als künstlicher Lenkkopf bietet sich
vorkommende Krankheitskeime – und ge- phocyten die Bruchstücke als fremd, nun ein für den Menschen ungefährliches
ben es an spezielle andere Zellen des Im- unterstützen sie andere Truppen, wie die Teilstück des Cholera-Toxins an: Diese B-
munsystems weiter. Zu den Empfängern B-Lymphocyten. Diese wiederum produ- Untereinheit heftet sich besonders gut an
gehören Makrophagen (große Fresszel- zieren und entlassen passende Antikörper, ein bestimmtes Oberflächenmolekül der
len) und dendritische Zellen. Diese zerle- die mit den Antigenen einen Komplex Kontrolleurszellen. Indem man ihr Anti-
gen die aufgenommenen Proteine und eingehen und sie neutralisieren. T-Zellen gene anderer Krankheitserreger ankop-
bieten einzelne Fragmente auf einer Art helfen zudem, breiter angelegte Attacken pelt, sollte sich die Aufnahme in die M-
Zellen und somit die Reaktion des Im-
munsystems steigern lassen. Die B-Unter-
einheiten vereinigen sich gewöhnlich zu
fünft zu einem Ring. Diese Eigenart wäre
Gentechnik gegen Mangelernährung bei der Entwicklung eines Kombi-Impf-
stoffes nützlich, um gleichzeitig verschie-

P arallel zur Forschung an essbaren Juni 2000 etwa berichtete eine Gruppe
Impfstoffen laufen auch Bemühun- japanischer und britischer Wissenschaft-
gen, Grundnahrungsmittel mit Nährstof- ler über die Kreation einer transgenen
dene Antigene an die M-Zellen heranzu-
führen. Der Traum von einem einzigen
Impfstoff, der gleichzeitig gegen die
fen und Vitaminen anzureichern. Ein viel Tomate, deren Gehalt an Beta-Carotin wichtigsten Infektionskrankheiten immun
zitiertes Beispiel ist der „Goldene Reis“, die üblichen Werte um das Dreifache macht, könnte somit wahr werden.
der die Bevölkerung in großen Teilen übersteigt. Daneben werden konventio- Eine weitere noch zu überwindende
Asiens, Afrikas und Lateinamerikas vor nelle Zuchtmethoden angewandt, wie Hürde hat mit der Überlastung der gen-
Vitamin-A-Mangel schützen soll. Die bei einem internationalen Projekt zur Er- manipulierten Pflanzen zu tun: Wenn sie
Unterversorgung mit diesem Vitamin höhung des Vitamin- und Mineralstoffge- generell große Mengen eines fremden
kann zu Erblindung und einem ge- haltes von Reis und vier anderen Grund- Proteins produzieren, wachsen sie oftmals
schwächten Immunsystem führen – To- nahrungsmitteln: Weizen, Mais, Bohnen nur dürftig. Ein Ausweg: Man stattet das
desursache für über eine Million Kinder und Maniok.
Gen mit „automatischen“ Steuerelemen-
jedes Jahr.
ten aus, die beispielsweise nur in essbaren
Da Reis für mehr als ein Drittel der
Weltbevölkerung die Ernährungsgrund- D och nicht jedermann ist von den Er-
folgen der Pflanzengenetik begeis-
lage darstellt, eignet er sich besonders gut tert. Genetisch veränderte Lebensmittel
Teilen der Pflanze die Produktion freige-
ben oder erst ab einem bestimmten
als „Vitaminspritze“. Aber natürlich vor- sind weiterhin umstritten. Einige Gegner Wachstumsstadium. Denkbar ist auch ein
kommende Reissor- argumentieren, dass „bedienbarer“ Schalter, über den man die
ten enthalten kein man auch heute Synthese durch eine von außen zugeführ-
Vitamin A. „Golde- schon die Mangel- te Aktivatorsubstanz zu jedem beliebigen
ner Reis“ hingegen ernährung mit an- Zeitpunkt anwerfen kann. Auch hier kom-
ist gentechnisch so deren Maßnahmen men die Forscher voran.
manipuliert, dass er bekämpfen könne –
Beta-Carotin produ- etwa durch den Impfstoffe gegen Diabetes?
PETER BEYER, UNIVERSITÄT FREIBURG

ziert – einen natür- Bau neuer Straßen


lichen Farbstoff, den zum Gütertransport. Doch jede Pflanzenart fordert den Ein-
der Körper in Vit- Und sie befürchten, fallsreichtum der Genetiker auf eigene
amin A umwandelt. die Herstellerfirmen Weise. Kartoffeln sind zum Beispiel in
Bis jetzt ist die- würden die Vorteile vieler Hinsicht ideal: Sie lassen sich ein-
ser „Goldene Reis“ ihrer Neuentwick- fach vermehren und außerdem über län-
noch nicht im Han- lungen nutzen, um gere Zeit ungekühlt lagern, ohne dass ihre
del. Zuvor muss die Aufmerksamkeit Qualität groß darunter leidet. Das Pro-
noch vieles geklärt von anderen gene-
blem der Erdäpfel liegt allerdings in ihrer
werden, unter an- Beta-Carotin verleiht dem „Goldenen tisch veränderten
Zubereitung. Ihr roher Genuss ist nicht
derem die Frage, Reis“ seine Farbe und macht ihn Pflanzenarten abzu-
ob der menschliche wertvoller für die Ernährung. lenken, bei denen unbedingt ein Gaumenschmaus und meist
Körper das Beta-Ca- der Nutzen für den nicht sonderlich bekömmlich. Beim Ko-
rotin aus dem Reis überhaupt effizient Konsumenten weniger deutlich auf der chen jedoch verlieren Protein-Moleküle
genug aufnimmt. Die Testphase wird Hand liegt (wie zum Beispiel bei künst- meist ihre natürliche, dreidimensional ge-
mindestens bis 2003 dauern. lich pestizid-resistenten Pflanzen). Ganz faltete Gestalt – sie denaturieren und tau-
Inzwischen versuchen die Forscher, oben unter den Bedenken rangieren Um- gen dann nicht mehr als Antigen.
den Beta-Carotin-Gehalt im Reis weiter weltrisiken und mögliche Gefahren für Kartoffeln waren eigentlich nie als
zu erhöhen und ihn mit zusätzlichen Vit- den Verbraucher. Die Befürworter von künftige Produktionsstätte der Impfstoffe
aminen und Mineralstoffen anzureichern. optimierten Nahrungsmitteln hoffen je- gedacht, eigneten sich aber – wie Tabak-
1999 ist es bereits gelungen, den Eisen- doch, dass der Reis nicht mit dem Koch- pflanzen – wegen ihrer einfachen Mani-
Gehalt von Reiskörnern zu steigern. Welt- wasser ausgeschüttet wird. pulierbarkeit gut für Vorversuche. Wie
weit leiden mehr als zwei Milliarden Men- Ricki Rusting sich aber zeigte, teilen nicht alle Men-
schen an Eisenmangel. Die Autorin ist Redaktionsmitglied schen die Abneigung gegen rohe Kartof-
Verbesserungen werden auch bei an- bei Scientific American. feln; in Südamerika kommen einige Sor-
deren Nahrungsmitteln angestrebt. Im ten durchaus ungekocht auf den Tisch.
Auch zerfallen, entgegen der Erwartung,

68 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


nicht alle Antigene beim Erhitzen. Angriffe auf das Selbst abwenden Darm-
Daher sind Kartoffeln als Vakzin- höhle
Vehikel vielleicht doch brauchba-
rer als die meisten Forscher zu- T yp-I-Diabetes entsteht, wenn das Immunsystem
bestimmte Proteine der Insulin produzierenden Beta-Zel-
len in der Bauchspeicheldrüse für fremde Antigene hält. Die
fälschlich Autoanti-
gen aus
essbarem
nächst gedacht hatten. M-Zelle Impfstoff
nachfolgende Autoimmunreaktion gegen die vermeintlich
Bananen wiederum stellen die schädlichen „Selbst-Antigene“ zerstört die Beta-Zellen (links
Pflanzengenetiker vor andere Pro- unten). Dieser Prozess wird bei diabetischen Mäusen ge- T-Suppres-
bleme. Zwar muss man sie nicht bremst, wenn sie geringe Mengen der auslösenden Proteine sorzelle
kochen, und die Pflanzen gedei- mit dem Futter zu sich nehmen. Warum, ist aber unklar. Die
hen verbreitet in der Dritten Welt, zugeführten Autoantigene könnten Suppressorzellen des Im-
aber sie brauchen einige Jahre, bis munsystems stimulieren (Ausschnitt oben), die dann die An- aktivierte
sie herangewachsen sind. Außer- griffe anderer Abwehrzellen bremsen (rechts unten). Suppressorzellen
dem verderben ihre Früchte rasch erreichen die
nach der Ernte. Das gilt auch für Bauchspeicheldrüse
die weit verbreiteten Tomaten; sie stimulierende
Botenstoffe T-Helfer-
wachsen dafür aber schneller. Ab- zelle
hilfe könnten preiswerte Konser- cytotoxische
vierungsmethoden wie das Trock- T-Zelle
nen der Früchte schaffen.
Als weitere essbare Impfstoff- Autoantigen
Produzenten erwägen Forscher B-Zelle
auch Salat, Karotten, Erdnüsse, natür-
Reis, Weizen, Mais und Sojaboh- liche
Killer- hemmende
nen. Sicherzustellen ist allerdings, Stoffe
zelle
dass der Schuss nicht nach hinten
losgeht. Bei dem Phänomen der Antikörper
geschädigtes verschonte

JARED SCHNEIDMAN DESIGN


„oralen Toleranz“ etwa mindert Zellareal Makrophage Beta-Zelle
gerade die Aufnahme bestimmter
Proteine mit der Nahrung letztlich angegriffene Beta-Zelle
der Bauchspeicheldrüse aggressive Stoffe
eine Reaktion gegen diese Anti-
gene. Damit dies nicht bei einem vor der Behandlung nach der Behandlung
essbaren Impfstoff passiert, be-
darf es erst noch genauerer
Kenntnis, wie sich die Reaktion
in die gewünschte Richtung lenken lässt. und andere Teams Diabetes-Impfstoffe dene Erfolg versprechende Lösungswege,
Dosierung und Einnahmeschema müssen auf Pflanzenbasis entwickelt: etwa Kar- für diese und weitere Probleme.
jedenfalls eine sichere, wirksame Anwen- toffeln, die Insulin oder Glutamat-Decar- Die Entwicklung essbarer Impfstoffe
dung gewährleisten. boxylase enthalten – wiederum gekoppelt hat freilich nicht nur wissenschaftliche
Das Risiko der oralen Toleranz inspi- an die ungefährliche Untereinheit des Hemmnisse zu überwinden. Nur wenige
rierte mich und andere Forscher, diese Cholera-Toxins. Im Tiermodell zeigten Pharmaunternehmen wollen in Produkte
eigentlich unerwünschte Wirkung essbarer sich erste Erfolge. Verfüttert man nämlich investieren, die primär für Märkte außer-
Impfstoffe in eine nützliche umzumünzen: die Kartoffeln an einen Mäusestamm mit halb der lukrativen Industrieländer ge-
zum Eindämmen von Auto-Immunerkran- einer Veranlagung zu Diabetes, so wurde dacht sind. Internationale Hilfsorganisa-
kungen. Beim Diabetes vom Typ I bei- die selbstzerstörerische Immunreaktion tionen, private Spender und die Regierun-
spielsweise zerstört der Körper die Beta- unterdrückt; erhöhte Blutzuckerspiegel gen einiger Länder versuchen die Finan-
Zellen der Bauchspeicheldrüse, die eigent- traten gar nicht oder erst verzögert auf. zierungslücke zu schließen, doch alles in
lich Insulin produzieren sollen. Fehlt das Noch produzieren Pflanzen zu wenig allem wird die Entwicklung essbarer
Hormon, bleibt Zucker im Blut, statt solcher „Selbst-Antigene“, als dass sie bei Impfstoffe unzureichend gefördert. Leider
„hungrige“ Zellen zu speisen. Diabetiker Menschen ausreichenden Schutz vor Dia- färbt auch noch der Makel, der gentech-
sind zeitlebens auf Insulin angewiesen und betes oder anderen Auto-Immunerkran- nisch veränderten Lebensmitteln anhaftet,
durch eine Reihe schwerwiegender Folge- kungen gewährleisten könnten. Doch ge- auf diesen medizinischen Bereich ab.
schäden gefährdet. nauso wie im Falle von Infektionskrank- Ich persönlich hoffe jedoch, dass ess-
In den letzten 15 Jahren haben Wis- heiten prüft man auch hier jetzt verschie- bare Impfstoffe nicht zum Gegenstand
senschaftler in den Beta-Zellen mehrere ernster Kontroversen werden, da
Proteine identifiziert, die bei entspre- sie der Rettung von Menschenle-
chend veranlagten Personen Autoimmun- ben dienen und wohl auf viel we-
Attacken auslösen können. Hierzu gehört William H. R. Langridge ist einer der führenden niger Fläche als andere gentech-
vor allem das Insulin selbst und das En- Köpfe in der Entwicklung von essbaren nisch veränderte Pflanzen ange-
zym Glutamat-Decarboxylase. Auch bei Vakzinen gegen Infektions- und Autoimmun- baut würden – wenn man sie
der Früherkennung eines sich „zusam- erkrankungen. Er lehrt als Professor am überhaupt außerhalb von Ge-
menbrauenden“ Diabetes haben die For- Center for Molecular Biology and Gene wächshäusern kultiviert. Als
scher Fortschritte gemacht. Nun gilt es Therapy an der Universität Loma Linda Pharmazeutika wären sie zudem
herauszufinden, wie sich der schleichende (Kalifornien). Nach seiner Promotion in viel strengeren Kontrollen unter-
Prozess aufhalten lässt, bevor Symptome Biochemie 1973 an der Universität von worfen als genetisch manipulier-
entstehen. Daher haben meine Kollegen Massachusetts in Amherst forschte er an te Pflanzen. ■
verschiedenen Institutionen, ehe er 1993 an
seine heutige Wirkstätte wechselte.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 69
EXPEDITION

Killer-Seen
Zwei Seen in Kamerun setzten in den achtziger Jahren tödliche Gaswolken frei,
denen mehr als 1700 Menschen und ungezählte Tiere zum Opfer fielen. Da sie jederzeit
wieder ausbrechen könnten, versuchen Wissenschaftler nun im Wettlauf mit der Zeit
eine weitere Tragödie zu verhindern.
VON MARGUERITE HOLLOWAY

ls Mohammed Musa Abdulahi am Beunruhigt eilte Abdulahi aus dem „Es ist furchtbar, ohne Familie zu

A Samstagmorgen aufwachte, konnte


er seinen rechten Arm weder spüren
noch bewegen. Er hatte sich nicht wohl
Schulgebäude. Draußen umfing ihn eine
unheimliche Stille. Noch schrecklicher
war der Anblick, der sich ihm nach weni-
sein“, sagt er heute. „Was du auch tust,
du fühlst dich nicht ganz richtig.“ Abdu-
lahi erzählt mir seine Geschichte, wäh-
gefühlt, erinnerte er sich, und war ins gen Schritten bot: Die Straßen und Plätze rend wir am Südufer des Nyos-Sees sit-
Schulgebäude gegangen, um sich hinzu- seines Heimatdorfes Subum im Nord- zen. Es ist derselbe See, der am Donners-
legen, anstatt sich um die jüngeren Schü- westen Kameruns waren mit Leichen tag, dem 21. August 1986, gegen Abend
ler zu kümmern, wie er das sonst manch- übersät. Menschen lagen reglos auf dem eine erstickende Gaswolke ausspie, die
mal tat. Wie lange das her war, wusste er Boden, als ob sie beim Spaziergang oder alle elf Mitglieder von Abdulahis Fami-
nicht. Mit seinem schlaff herabhängenden mitten im Gespräch urplötzlich umge- lie sowie mindestens 1700 weitere Men-
Arm erhob er sich mühsam und stieß mit kippt wären. Die Hunde waren tot. Das schen tötete. Und er könnte jederzeit
der Fußspitze einen Freund an, der eben- Vieh war tot. Vögel und Insekten waren wieder explodieren. Abdulahi ist zum
falls hereingekommen war, um sich etwas von den Bäumen gefallen. ersten Mal nach dem schrecklichen Ge-
auszuruhen. Dieser fuhr hoch, schrie aus Abdulahi hastete zu seinem Eltern- schehen zurückgekehrt, bei dem er zwei
nicht erkennba- haus – nur um festzustellen, dass seine Tage im Koma gelegen hatte, was ihn aus
rem Grund gesamte Familie ausgelöscht war: Seine irgendeinem Grund rettete. Heute ist er
auf und Brüder und Schwestern, sein Vater und ein hoch gewachsener junger Mann von
rannte da- dessen zwei Frauen waren allesamt tot. 29 Jahren. „Es ist nicht so, dass ich be-
von. Für einen kurzen Moment schöpfte er schlossen hatte, nicht zurückzukehren“,
ein wenig Hoffnung. Als er einen der sagt er in seiner ruhigen Art. „Doch jetzt
Afrika Säuglinge berührte, begann der zu wei- ist es einfach Schicksal.“
nen. Abdulahi versuchte das Kind hoch- In der Tat sind es seltsame Umstände,
zunehmen, doch wegen seines leblo- die Abdulahi mit jenem internationalen
Kamerun
sen Armes gelang ihm das nicht. So Forscherteam zusammengebracht haben,
drehte er sich eine Schlinge aus das nach Kamerun gekommen ist, um die
Stoff. Aber als er das Baby wie- tickende Zeitbombe zu entschärfen, die
der berührte, lebte es ebenfalls der See noch immer darstellt. An diesem
SUSAN ARLSON

nicht mehr. Nachmittag ist Abdulahi zu Fuß von


ia
ger Nyos Subum
i
N Cha Nyos-See Der Nyos-See in Kamerun

KLAUS TIETZE, CELLE / THOMAS BRAUN


10°15'O 10°20'
Wum Eseh setzte im August 1986
Bafumen Fundong na-Fluss
explosionsartig Kohlen- tsi
Ka
dioxid frei. Die Gaswol-
luss
m-Fluss

Bamenda ke wälzte sich durch


Kumb i-F

Koski
benachbarte Flusstä- 6°35'N
ler und erstickte im
Mb u

Monoun-See Umkreis bis 20


Kilometer etwa Bu Fang
Bafoussam 1700 Menschen
und ihr Vieh.
Subum

6°30'
Tsoka
Kamerun
N
Nyos

Njupi-See
Golf Nyos-See Gasstrom
von 6°25'
Todesfälle
Guinea
70 Yaoundé
2km
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001
FOTO: KLAUS TIETZE, CELLE, GRAFIK: THOMAS BRAUN / KLAUS TIETZE, CELLE

Der Nyos-See – oben wenige Wochen nach


dem Ausbruch 1986 – liegt im Krater über
dem Schlot eines erloschenen Vulkans, aus
dem immer noch Kohlendioxid austritt. Das
Gas sammelt sich in den Tiefen des Sees und
wird plötzlich freigesetzt, wenn ein äußeres
Ereignis die Schichtung des Wassers stört.

der Stadt Eseh zum See hinunter der einstigen Katastrophe nur eine
gegangen. Mit seinem gelbbraunen Woche, nachdem er einen Fernseh-
Mantel, der schwarzen Hose und dem schaftler sowie eine ungepflegte Journa- bericht über die Ankunft des Teams in der
schwarz-weiß karierten Hemd ist er eine listin – umringt von einigen Dutzend Hauptstadt Yaoundé gesehen und sich ge-
adrette Erscheinung in dem Chaos, das Neugierigen aus der Umgebung. Einen fragt hatte, wie er dazustoßen könnte, als
am Ufer herrscht: Messgeräte, Zubehör Tag zuvor hatte ein Fahrer, der unterwegs Projektteilnehmer zeltend am Ufer des
für den Bau von Flößen, Schlauchboote, war, um das Team am Nyos-See zu tref- Nyos-Sees wieder.
Zelte, Kühlgeräte, räudige Hunde, Hüh- fen, in der Stadt Bamenda nach dem Weg Für die Mitglieder des Teams mar-
ner, die bald im Kochtopf landen werden, gefragt und Abdulahi als Führer aufgega- kierte die Ankunft in Yaoundé im Okto-
und hektische, ungewaschene Wissen- belt. Und so fand sich der Überlebende ber 1999 einen neuen Anlauf in dem seit
1986 andauernden Bemühen, den Nyos-
See von dem gefährlichen Gas zu be-
freien, das sich an seinem Grund ansam-
PETER TURNLEY, CORBIS

Fulani-Hirte mit verendeten Schafen melt, bevor er vielleicht wieder explo-


diert und weitere zigtausend Menschen
tötet. An sich ist eine solche Entgasung
technisch unkompliziert und als vorbeu-
gende Maßnahme gegen eine Naturkata-
strophe relativ simpel und preiswert.
Doch sie tatsächlich durchzuführen hat
sich als erstaunlich schwierig erwiesen.
Trotz der offensichtlichen Dringlichkeit
des Problems und der einzigartigen Ge-
legenheit, eine Naturkatastrophe zu ver-
hindern, wurde in all den Jahren so gut
wie nichts getan, um die Menschen am
Nyos-See zu schützen.
Schuld daran trugen unter anderem die
Politik, mangelnde finanzielle Unterstüt-
zung (wegen der eher reaktiven als prä-

ventiven Ausrichtung einiger Hilfsorgani-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 71


EXPEDITION

sationen) sowie Kommu-


nikationsprobleme. Ob-
wohl einige dieser
Schwierigkeiten immer
noch nicht ausgeräumt
waren und beunruhigend
im Hintergrund dräuten,
schien es in Yaoundé doch
so, als wenn endlich et-
was passieren würde.
Der Nyos-See liegt
idyllisch inmitten von
Ackerland, grünen Hü-
geln und steil aufragen-
den Felsformationen. An
MARGUERITE HOLLOWAY

dem Nachmittag, als Ab-


dulahi eintrifft, wirkt er
grau und ist spiegelglatt,
als könne er kein Wäs- Maisfelder am Rande des Nyos-Sees
serchen trüben; doch in
der Tiefe herrscht geis-
terhafte Aktivität. Vor etwa 500 Jahren haltene Gas in die Atmosphäre entwei- gasungsplan – 1987 auf der Unesco-Kon-
schuf ein Vulkanausbruch hier einen chen, ohne Schaden anzurichten. Doch ferenz vor, die nach der Nyos-Katastro-
Krater, an dessen Boden ein Magmapf- der Nyos- und der Monoun-See wälzen phe in Yaoundé stattfand, und nannte es
ropfen zurückblieb. Der Pfropfen kühlte sich nicht um. Die Grenze zwischen mi- „Limnisches Fontänen-Eruptionsmodell“.
ab, und die Senke darüber füllte sich 210 neralreichem Tiefenwasser hoher Dichte Tietze bestimmte auch als Erster die Gas-
Meter hoch mit Wasser. Weltweit sind in und frischem Oberflächenwasser gerin- sättigung des Nyos-Sees in Abhängigkeit
Vulkangebieten zahlreiche Kraterseen zu ger Dichte, Chemokline genannt, ist be- von der Tiefe. Wie er herausfand, verläuft
finden – doch gibt es anscheinend nur denklich stabil. die Sättigungskurve nicht gleichmäßig,
zwei, die jemals explodiert sind und sondern weist im Bereich der Chemokli-
Menschenleben gefordert haben. Bei Eine tickende Zeitbombe ne deutliche Spitzen auf. Wenn nun die
dem anderen handelt es sich um den Gassättigung im Bereich der Spitzen
nur 95 Kilometer südöstlich gelegenen In den beiden Seen in Kamerun bleibt das schon nahe an 100 Prozent heranreicht,
Monoun-See. Kohlendioxid also in der Tiefe gefangen. genügt bereits eine interne Welle oder
Kohlendioxid (CO2), das vulkani- Es reichert sich dort so lange an, bis ir- eine andere geringe Störung, um die Spit-
scher Aktivität in großen Tiefen ent- gendein Faktor – kräftige Winde oder zen so weit anzuheben, dass das Wasser
stammt, steigt hoch, bis es auf Grund- Sturmböen, die interne Wellen in der in diesem Bereich kurzzeitig übersättigt
wasser unter dem Krater trifft. Es löst Schichtung anregen, kühlere Witterung, wird. Das erklärt, wie es in einem größ-
sich darin und gelangt mit ihm und den die Teile des Oberflächenwassers absin- tenteils untersättigten See dennoch zu ei-
enthaltenen Mineralen in den Nyos-See, ken lässt, oder ein Erdrutsch oder Erdbe- nem Gasausbruch kommen kann.
wo es sich in den bodennahen Wasser- ben – einen Teil des Tiefenwassers dazu Bei der Explosion des Monoun-Sees
schichten anreichert. Die meisten Krater- bringt aufzusteigen. Das Kohlendioxid, am 15. August 1984 wurden 37 Men-
seen werden von Zeit zu Zeit umgewälzt, das nun nicht mehr durch den hydrostati- schen getötet. Der Ausbruch des größe-
wobei die tieferen Schichten an die schen Druck in Lösung gehalten wird, ren und tieferen Nyos-Sees hatte noch
Oberfläche gelangen. Dort kann das ent- perlt wie beim Öffnen einer Mineralwas- verheerendere Folgen. Die Gaswolke
serflasche aus; es steigt in Blasen auf und wälzte sich mit geschätzten 72 Kilome-
reißt dabei noch mehr Tiefenwasser mit. tern pro Stunde die Hügel hinab und
MARGUERITE HOLLOWAY

Man nimmt an, dass dieser Prozess sich überrollte Täler und Dörfer bis in 20 Ki-
durch resonanzartige Schwingungen auf- lometer Entfernung. Nach Ansicht des
schaukelt. Aus einigen Gasbläschen Biologen George W. Kling von der Uni-
entsteht ein gewaltiges Schäumen und versität von Michigan in Ann Arbor, der
Brausen. Schließlich explodiert das stark beide Seen eingehend untersucht hat und
gashaltige Wasser wie Sekt, der nach das Team leitet, zu dem Abdulahi gesto-
kräftigem Schütteln entkorkt wird. Eine ßen ist, war das letzte Opfer ein Mäd-
gewaltige Wasserfontäne erhebt sich, die chen, das am Morgen nach der Explosion
am Nyos-See 80 Meter Höhe erreichte. in eine Schlucht hinabstieg, in der sich
Das Kohlendioxid entweicht als unsicht- das schwere Gas in Bodennähe gesam-
bare Gaswolke. Da es anderthalbmal so melt hatte. Abdulahi glaubt, er und sein
viel wiegt wie Luft, sammelt es sich am Freund seien verschont geblieben, weil
Boden, „fließt“ zu tiefer gelegenen Stel- sie in dem Raum trotz der offenen Tür
len und erstickt alles Leben unter sich. vor der vollen Wirkung des Gases ge-
Dieses hier vereinfacht dargestellte schützt waren. Während der zwei Tage
Modell des Gasausbruchs stammt von im Koma lag er die ganze Zeit auf sei-
dem Physiker Klaus Tietze aus Celle. Er nem rechten Arm. Der wurde dadurch
Expeditionsleiter George W. Kling
stellte es – ebenso wie einen ersten Ent- so lange mangelhaft durchblutet, dass er

72 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


mehrere Monate nicht benutzbar war. Zum Glück dürften die enormen
Abdulahi glaubt, das Gas hätte den Ver- Schwierigkeiten, diese reizvolle Gegend
stand seines Freundes getrübt; das passt zu erreichen, zumindest Außenstehende
zu Berichten über Orientierungsschwie- von der Gefahrenzone fern halten. Ande-
rigkeiten bei vielen Überlebenden. rerseits erschwert die abgeschiedene La-
Der Nyos-See ist offensichtlich eine ge auch alle Bemühungen, das Gewässer
Zeitbombe. Nach neuesten Berechnun- zu untersuchen und zu entgasen. Fünf
gen von Kling und dem Chemiker Wil- Tage nach unserer Ankunft in Yaoundé
liam C. Evans vom Geologischen Dienst setzen wir uns mit vier Fahrzeugen Rich-
der USA enthält er mit 0,4 Kubikkilome- tung Nyos-See in Bewegung. Zehn von
tern Kohlendioxid bereits wieder mehr uns nehmen in zwei mit Fahrern gemie-
als doppelt so viel von dem gefährlichen teten Geländewagen Platz: Evans; Kling
Gas wie die 0,17 Kubikkilometer, die und seine Assistentin Karen J. Riseng;
während der Explosion 1986 freigesetzt Minoru Kusakabe von der Universität
wurden. Bei einem erneuten Ausbruch Okayama und vier seiner Kollegen von

MARGUERITE HOLLOWAY
könnte auch der brüchige Damm oder verschiedenen Institutionen in Japan;
die Überlaufrinne am Nordrand des Sees Gregory Tanyileke vom Institut für geo-
zerstört werden. Die Flutwelle würde logische und Bergbauforschung (IRGM)
sich vermutlich bis nach Nigeria ergie- in Kamerun und ich. Die anderen Team- Überlebte die Nyos-Katastrophe: Mohammed Abdulahi
ßen und 10 000 Menschen ertränken oder Mitglieder – Tanyilekes IRGM-Kollegen
obdachlos machen. Hubert Mvogo, Jacob Nwalal, Paul Nia
Obwohl nach der Katastrophe etwa und Justin Nlozoa – steuern zwei mit dafür, dass die Gegend um den Nyos-See
3500 Bewohner aus der Umgebung des Ausrüstung beladene Lastwagen. weitgehend unzugänglich bleibt. Genau
Sees an relativ sichere Stellen umgesie- betrachtet, handelt es sich um eine An-
delt wurden, hat die Fruchtbarkeit der Unterwegs zum einanderreihung von breiten Schlamm-
evakuierten Region inzwischen wieder Ende der Welt löchern, die an trockenen Tagen eine
viele Menschen angezogen. Maisfelder holprige, staubige Fahrspur miteinander
grenzen im Süden an das Ufer. In den Auf der Fahrt nach Bamenda passieren verbindet. Auf 13 Kilometern Strecke
Hügeln rund um den See weidet Vieh, be- wir Laster, auf deren Ladeflächen Hölzer holpern, schlittern und schlingern wir
aufsichtigt von Hirten des Fulani-Volkes. aus den letzten verbliebenen Urwäldern und bleiben immer wieder stecken. Bei
Und Anfang der neunziger Jahre setzte Kameruns gestapelt sind. Wir kommen einem Geländewagen bricht eine der
das Institut für Zoologische und Tierme- vorbei an dem faserigen, weißen Fleisch Achsschwingen, die für die Bodenhaf-
dizinische Forschung Kameruns in einem der Maniokwurzeln und an roten, wie tung der Räder beim Durchqueren von
unkontrollierten Experiment Süßwasser- Essig riechenden Kakaobohnen, die am Schlaglöchern sorgt.
barsche der Gattung Tilapia in dem bis Straßenrand zum Trocknen ausgebreitet Am späten Nachmittag wird klar, dass
dahin fischlosen See aus. Die Barsche ge- liegen. Die erste Nacht verbringen wir wir es – zu Klings maßloser Enttäuschung
diehen – mit unbekannten Folgen für das in einem Hotel und bunkern Vorräte – – nur bis zum Dorf Bafumen schaffen.
Ökosystem – und boten den Menschen einschließlich 36 Rollen rosa Toiletten- Die Mitglieder des japanischen Teams
einen weiteren Anreiz, an das Gewässer papier für 14 Personen –, bevor wir am sind geistesgegenwärtig genug, ein Haus
zu ziehen. Angesichts von Landnot und nächsten Tag auf das Ende der geteerten aufzutreiben, in dem sie für die Nacht
spärlichen Erwerbsmöglichkeiten haben Piste in Fundong zusteuern. (Später ging unterkommen. Alle anderen schlagen ihre
die verarmten Bewohner des Gebiets uns das Mineralwasser aus, Toilettenpa- Zelte auf dem Friedhof auf, gleich unter-
kaum eine andere Wahl, als sich den trü- pier haben wir immer noch ...) halb des Denkmals für die Opfer der
gerisch harmlos wirkenden Fluten des Die einzige Straße, die von dort nach Nyos-Katastrophe. Der Nyos-See ist nur
Nyos-Sees wieder zu nähern. Norden führt, ist grässlich und sorgt so noch etwa 17 Kilometer entfernt, doch er
scheint genauso unerreich-
bar wie Yaoundé. Und im
MARGUERITE HOLLOWAY

Denkmal für die Opfer des Nyos-Sees Brücke zwischen Bafumen und Eseh Dorf kursiert das Gerücht,
dass die Brücke auf der
Straße nach Eseh wegge-
spült wurde.
Am nächsten Morgen
brechen wir mit frischer
Zuversicht auf. Die Achs-
schwinge ist wieder zu-
sammengeschweißt, und
die abendliche Kühle hat-
ten wir durch warmes Bier
aus dem Ort gemildert.
Nachdem wir den ersten
Platten des Tages repariert
haben, erreichen wir die
Brücke. Sie wurde nicht
weggespült – jedenfalls

nicht ganz: Die linke Seite

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 73


EXPEDITION

MARGUERITE HOLLOWAY
schiedene Tiefen herabhängen sollen, um
den Temperaturverlauf zu überwachen –
Temperaturänderungen spiegeln Strömun-
gen und Mischungsvorgänge im See wi-
der. Außerdem gilt es, Sonden hinunterzu-
lassen, die den Druck des Kohlendioxids
messen. Erst wenn sich diese Instrumente
an Ort und Stelle befinden, wird man ge-
fahrlos über eine größere Entgasung nach-
denken können. Jeder Schritt dieses Unter-
nehmens ist zu überwachen, um festzustel-
len, ob er die Bedingungen im See in ge-
fährlicher Weise verändert.
Das zu bauende Floß muss stabil ge-
nug sein, um die neue Klimastation zu
tragen und als Verankerung für die ver-
schiedenen Sonden zu dienen. Außerdem
soll es, wenn möglich, genügend Platz
bieten, dass die Wissenschaftler von ihm
aus Probenehmer hinablassen können,
um Wasser für die Messung von Koh-
lendioxidkonzentrationen heraufzuholen.
Die Japaner unter Leitung des Ingenieurs
Yutaka Yoshida vom Yoshida-Ingenieur-
Errichtung der Klimastation auf dem Floß beratungsbüro in Iwate nehmen sich der
Aufgabe an.
Als Abdulahi zwei Tage später im
steht noch, nur die rechte Fahrspur ist Die erste Aufgabe am nächsten Tag Camp eintrifft, ist das Floß fertig. Auch
abgebrochen und in den Fluss gestürzt. besteht darin, ein Floß zu bauen. Kling und die Klimastation haben wir schon zu-
Alle steigen aus den Fahrzeugen, und seine Kollegen hatten nach der Explosion sammengebaut und darauf befestigt. Wir
bald entbrennt eine hochtechnische Dis- von 1986 mitten im See eine Klimastation bringen Abdulahi in einem der Zelte un-
kussion, in der Worte wie Statik, Masse, auf einer schwimmenden Plattform instal- ter und leihen ihm ein paar Kleidungs-
Geschwindigkeit, Belastung und Ge- liert, um Daten über Temperatur, Wind, stücke für die Dauer seines Aufenthalts.
wichtsverteilung hin und her schwirren. Sonnenscheindauer und Regenmenge zu Am nächsten Tag hilft er Evans und Ri-
Mittendrin springt Mvogo plötzlich in sammeln. Diese Station ist ein Opfer der seng bei ihrer Arbeit. Die Thermistoren
den Versorgungs-Laster namens „Groß- Witterungseinflüsse geworden und funk- müssen abgewickelt, für bestimmte Tie-
mutter“, über den er gebietet, und braust tioniert nicht mehr. Auch das alte Floß fen markiert und mit einem Klebeband
einfach über die Brücke hinweg. muss ersetzt werden. Zusätzlich will das fest zusammengebunden werden. Zu die-
Später verbringen wir noch etliche Team Thermistoren (elektrische Thermo- sem Zweck schickt Riseng ihre Assisten-
Stunden damit, das Ende eines Wolken- Widerstände) installieren, die in neun ver- ten mit den langen Kabeln, die fast zum
bruchs abzuwarten. Doch am Abend ha-
ben wir Eseh erreicht und unser Camp
MARGUERITE HOLLOWAY

errichtet. Dazu mussten wir allerdings die


gesamte Bevölkerung des Städtchens an-
heuern, um unsere Sachen auf dem Kopf
über einen steilen und bei Nässe rutschi-
gen Weg sechs Kilometer hinab zum See
zu tragen – darunter auch die harten,
schweren Koffer, die einige Mitglieder
des Teams unpassenderweise gepackt hat-
ten, weil sie dachten, wir würden bis di-
rekt ans Ufer fahren.
In der Mitte des Zeltlagers deponieren
wir eine blaue, mit Sauerstoffkanistern
gefüllte Kiste: zehn Minuten rettendes
Atmungsgas pro Person für nur zehn von
uns. Einige versuchen zunächst, ihre Zelte
auf einem Hügel aufzuschlagen, damit sie
sicherer sind, falls sich der See gerade
jetzt zu seiner nächsten Explosion ent-
schließt. Doch das erweist sich als zu
schwierig, und mit einer leichten, aber
nagenden Beklommenheit in der Magen-
gegend errichten wir unser Lager unten
im Hauptcamp.

Zeltlager des Forscherteams am Südufer des Nyos-Sees


74 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001
MARGUERITE HOLLOWAY
Grund des Sees reichen werden, auf
gegenüberliegende Seiten der Maisfel-
der. Siebzehn Männer verteilen sich zwi-
schen den hellgrünen Pflanzen mit Ka-
beln über ihren Schultern – der letzte ist
am Rand eines Feldes in über 200 Meter
Entfernung kaum noch auszumachen.
Abdulahi hilft Riseng beim Abwi-
ckeln der Thermistoren. Danach ent-
schließt er sich, eine Fahrt auf den See
hinaus zu wagen, wo er zusammen mit
Evans und Tanyileke die Anker für das
neue Floß überprüft. Die Sonne brennt
und blendet. Einige von uns sitzen be-
nommen im Lager herum. Ein Fulani-
Mann bringt Avocados als Geschenk.
Der Tag zieht sich in die Länge.
Abdulahi kehrt vom See zurück. Er
hat jetzt einen der Walkie-Talkies und ist
zum Feldkoordinator avanciert, der je-
dem zu finden hilft, was oder wen er ge-
rade benötigt. Wir sitzen auf einer Aus-
rüstungskiste und sprechen – zwischen
atmosphärisch gestörten Anfragen über
den Sender – über seinen Wunsch nach Das Floß mit Messgeräten wird zu Wasser gelassen
einer Familie. Er hat eine Frau getroffen,
die er heiraten möchte und die ihn heira-
ten will, erzählt er, doch ihre Familie er- Zeit eine sich selbst erhaltende Fontaine kabe seinen mit den zwölf Leitungen.
laubt das nicht. Sie hoffen auf einen rei- gasreichen Wassers in beiden Leitungen Die Minister waren irritiert von diesem
chen Freier statt eines Elektroingenieurs. auf, und Kohlendioxid entwich. Durch Streit, und für eine kurze Zeit, die sich
(Das ist der Beruf, für den sich Abdulahi Schließen von Ventilen in den Rohren qualvoll in die Länge zu ziehen schien,
vor Jahren entschieden hat.) gelang es, den Vorgang nach Belieben zu sah es so aus, als ob das gesamte Projekt
Mit der Installation des Floßes, dem unterbrechen. scheitern würde.
Herunterlassen der Instrumente und der Nach dem Erfolg des Monoun-Ver- Doch schließlich erklärte Henri Hog-
Entnahme von Wasserproben haben suchs gab es 1995 einen ähnlichen Test be Nlend, Minister für wissenschaftliche
Kling und seine Kollegen den Anfang für am Nyos-See. Mit finanziellen Mitteln Forschung und Technologie sowie Leiter
die Entgasungsaktion gemacht, die mit von Gaz de France ließen Halbwachs des Komitees, die Meinungsverschieden-
etwas Glück im Januar oder Februar und Kollegen ein 14 Zentimeter breites heiten für unbedeutend. „Jede Zahl, die
2001 beginnen wird. In den vergangenen und 205 Meter langes Rohr hinab. Dies- jetzt genannt wird, ist falsch, es handelt
Jahren haben Kusakabe und Yoshida ei- mal lief jedoch nicht alles so glatt wie sich lediglich um Schätzungen“, sagte er
nen Plan zur Entgasung der Seen entwi- am Monoun-See. Als die Fontaine anfing mit Nachdruck. „Die Technologie, die
ckelt, den die Regierung Kameruns der emporzuschießen, hob sich zum Entset- uns hier erklärt wurde, wird sich weiter-
japanischen Behörde für internationale zen der Wissenschaftler die Rohrleitung entwickeln.“ Niemand, fügte er hinzu,
Zusammenarbeit vorgelegt hat. Danach vom Grund. Zum Glück wurde keine Ex- könne von den Architekten einer Kathe-
sollen im Nyos-See zwölf Rohrleitungen plosion ausgelöst. drale verlangen, im Vorfeld eines derar-
in drei verschiedene Tiefen führen; durch tig großen Unternehmens schon Aus-
sie kann das stark CO2-haltige Wasser Streit um Entgasungspläne kunft über letzte Details zu geben.
aufsteigen – anfangs vielleicht mit der Immerhin war es eine gewaltige
enormen Geschwindigkeit von 320 Kilo- Halbwachs entwickelte einen anderen Leistung gewesen, die verschiedenen an
metern pro Stunde –, um sein Gas freizu- Entgasungsplan als Yoshida und Kusa- dem Projekt beteiligten Ministerien unter
setzen. Für den Monoun-See sind drei kabe. Danach waren lediglich fünf Rohr- einen Hut zu bringen. Ohne ihre gemein-
Rohrleitungen vorgesehen. leitungen für den Nyos-See sowie ein same Unterstützung würden die Straßen
Die Machbarkeit des Verfahrens wur- ferngesteuerter Ein-Aus-Schalter vorge- zu den Seen nicht ausgebaut und die
de an beiden Seen bereits getestet. Mi- sehen, der via Satellit von Frankreich aus angrenzenden Gebiete nicht evakuiert;
chel Halbwachs von der Universität von bedient werden konnte. Im Oktober 1999 auch das Militär von Kamerun stünde bei
Savoyen beschaffte 1992 von der franzö- trafen sich die beiden Wissenschaftler- den Entgasungsaktionen nicht mit Sauer-
sischen Regierung und der Europäischen Gruppen in Yaoundé, um sich auf ein stofftanks für den Fall einer Explosion
Union die Mittel für einen ersten Entga- gemeinsames Vorgehen zu einigen. Dies bereit. Da wollte Minister Nlend das Vor-
sungstest am Monoun-See. Zusammen schien gelungen zu sein, doch am darauf haben nicht in letzter Minute an einem
mit einigen Kollegen, darunter Tanyile- folgenden Tag brach der Konflikt bei ei- kleinlichen Expertenstreit scheitern las-
ke, ließ er zwei Rohre, eines mit 5 und nem öffentlichen Treffen mit Mitgliedern sen. Inzwischen ziehen alle Wissen-
eines mit 14 Zentimetern Durchmesser, eines neu gegründeten interministeriel- schaftler wieder an einem Strang.
hinunter und saugte per Motorpumpe len Entgasungskomitees von Kamerun Diese Auseinandersetzung war unge-
Wasser vom Grund des Sees an. Wegen wieder auf. Halbwachs stellte seinen wöhnlich für eine Gemeinschaft von For-

des Druckunterschieds stieg nach kurzer Plan mit den fünf Rohren vor und Kusa- schern, die mehr als ein Jahrzehnt lang

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 75


EXPEDITION

im Wesentlichen gut zusammengearbei- hielten zwar Beihilfen von ihren Regie- halten, sich nicht darauf einigen konnte,
tet hatten. Anscheinend standen hinter rungen oder Institutionen für die Untersu- weil ein Minister stattdessen einen Brun-
dem Streit nicht so sehr wissenschaft- chung der Seen; doch für die Entgasung nen in seinem Dorf favorisiert habe.
liche Differenzen; denn letztlich sind die war kein Geld zu bekommen. So wurde Die Politik mag eine Rolle gespielt
Unterschiede zwischen den beiden Ent- 1992 mit Unterstützung der Unesco und haben, aber das größere Problem besteht
würfen vernachlässigbar. Die Hauptursa- des Entwicklungsprogramms der Verein- darin, dass viele Hilfsorganisationen dazu
che war offenbar mangelnde Kommuni- ten Nationen ein Treffen zum Thema Ent- tendieren, eher auf Katastrophen zu rea-
kation zwischen den Forschern bei ihren gasung organisiert. Doch keine der beiden gieren als ihnen vorzubeugen. Viele Ken-
Bemühungen, Geldmittel aufzutreiben. Institutionen bewilligte Geld für das der- ner der Szene haben immer wieder auf die
Halbwachs fühlte sich von einem Werk zeitige Projekt, sagt Kling. Kurzsichtigkeit dieser Einstellung hinge-
wiesen. Doch sie wurden nicht gehört.
Erst kürzlich hätte, sagt Neal, ein Umden-

MARGUERITE HOLLOWAY
ken bei den zuständigen Stellen einge-
setzt. Sie verweist auf jüngste Bemühun-
gen um Vorbeugung bei AID und der US-
Bundesbehörde für Notfallmanagement.
Neals Interesse für Kamerun und sei-
ne Seen sowie ihrer Präferenz für Präven-
tion war es großenteils zu verdanken,
dass im Herbst 1999 schließlich 433 000
Dollar für Kling und das Team bewilligt
wurden. Direkter Anlass war der Aus-
bruch des Kamerunberges im Frühjahr
1999. Nach diesem Zeichen verstärkter
vulkanischer Aktivität in der Region
schickte das Büro für Katastrophenhilfe
im Ausland John P. Lockwood, der früher
beim Geologischen Dienst der USA war
und den Nyos-See untersucht hatte, nach
Kamerun. Er sollte feststellen, welche
Gefahr von dem Gewässer ausging. Unter
anderem traf er sich mit Vertretern der
Dorfbewohner aus Nyos trinken aus ihrem See US-Botschaft in Yaoundé sowie mit Wis-
senschaftlern und Ministern aus Kame-
run. Als Ergebnis seiner Visite äußerte er
ausgeschlossen, für das er die Funda- Die Wissenschaftler probierten es mit die Überzeugung, dass das Büro, wenn es
mente gelegt hatte. Die anderen sagen, wenig Erfolg auch über andere Kanäle. Kamerun wirklich helfen wolle, Geld für
sie hätten alle Finanzierungsmöglichkei- Kling und ein Kollege versuchten bei- die Entgasung der Seen geben sollte.
ten ausschöpfen wollen, dabei aber die spielsweise Ölgesellschaften zu interes- Obwohl das Projekt jetzt endlich vo-
ganze Zeit geglaubt, Halbwachs würde sieren – die in Kamerun einflussreich ranzukommen scheint, fühlen sich viele
mit ihnen gemeinsame Sache machen. sind und lukrative Geschäfte machen. Sie Forscher irgendwie schuldig – als ob sie
„Wir haben immer gedacht, dass alle, die hatten kein Glück. Und noch im Jahr der mehr hätten tun sollen, um die zuständi-
sich um diese Seen Sorgen machen, zu- Uno-Konferenz appellierte Kling an die gen Stellen zum Handeln zu bewegen.
sammenarbeiten“, sagt Kling. US-Behörde für internationale Entwick- „Wir Wissenschaftler fragen uns immer
Die Finanzierung des Projekts zu lung (AID). Er erhielt jedoch eine Ab- noch, ob es ausgereicht hat, einfach Be-
sichern war in der Tat ein verzweifeltes fuhr, weil man dort damals nicht geneigt richte an Gott und die Welt zu schicken“,
Unternehmen. Zwei Seen könnten explo- war, Projekte in Kamerun zu unterstüt-
dieren, Tausende von Menschen sind in zen. Nach der Hilfe für die Opfer gleich
MARGUERITE HOLLOWAY

Gefahr, und es gibt eine einfache Lösung, nach den Katastrophen „hat AID sich et-
die nur etwa eine Million Dollar kostet. was zurückgezogen“, erklärt Christina
Und dennoch. Verschiedene Forscher er- Neal, Geologin der Behörde im Büro für
Katastrophenhilfe im Ausland. „Kamerun
hat Probleme mit der Demokratie und
Literaturhinweise einer ordentlichen Regierung.“
Rollover in Volcanic Crater Lakes; a Kusakabes Bemühungen, Geld von
Possible Cause for Lake Nyos Type der japanischen Behörde für internationa-
Desasters. Von A. Rice in: Journal le Zusammenarbeit zu bekommen, verlie-
of Volcanology and Geothermal fen gleichfalls im Sande. Einige glauben,
Research, Bd. 97, S. 233, 4/2000. die japanische Regierung sei an der Ent-
The Deadly Cloud Hanging over Ca- gasung nicht so interessiert gewesen wie
meroon. Von Sam Freeth in: New an anderen Projekten in Kamerun. Es gibt
Scientist, 15. 8. 92, S. 23. allerdings auch die Meinung, dass die Re-
Weblinks unter: www.spektrum.de/ gierung Kameruns, die das Projekt als
aktuellesheft.html Hilfsmaßnahme mit höchster Priorität
hätte einstufen müssen, um Mittel zu er-

76 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


MARGUERITE HOLLOWAY

Trügerische Idylle: Auch der Monoun-See könnte ausbrechen

sagt Tanyileke eines späten Nachmittags was gegen Eure Tradition verstößt, müsst mitwirken. Doch Shanklin findet es ver-
am Nyos-See. Wir sitzen auf einem Ihr uns das sagen.“ blüffend, wie da ein moderner Mythos
Kühlgerät in der Sonne, und die brütende Eine solche Kommunikation ist aus aufgekommen ist. In gewisser Weise
Hitze lastet selbst spät am Tag noch blei- vielen Gründen sehr wichtig – nicht nur gleicht er den alten Legenden aus der
ern und betäubend auf uns. „Sie waren für gute Beziehungen. Sie erinnert die Region. Eine davon legt den Schluss na-
nicht alarmierend genug, die Empfänger Menschen daran, wachsam gegenüber he, dass es schon früher Katastrophen
hochschrecken zu lassen.“ dem scheinbar sicheren See zu sein. Zu- wie die vom Nyos- und Monoun-See in
Während wir uns unterhalten, trifft gleich fördert sie eine positive Einstellung den achtziger Jahren gegeben hat: Ein
eine neunköpfige Delegation aus dem gegenüber der Wissenschaft, von der sich Mythos des Kom-Volkes spricht von ei-
Dorf Nyos ein. Die Männer sind fein he- Tanyileke auch eine günstige Wirkung auf nem See, der plötzlich explodierte und
rausgeputzt – Hüte, Sonnenschirme, hel- seine Pläne erhofft, aus Nyos ein For- einen Stamm auslöschte.
le Gewänder – und überbringen einen schungszentrum zu machen, wenn der Die Delegation aus Nyos scheint für
Brief von ihrem Häuptling Fon Tang- See entgast ist. ihren Teil nicht misstrauisch gegenüber
Nembong: „Unsere liebe Besucher wir der Arbeit des Teams zu sein. „Wir sind
sind sehr sehr glücklich Euch Leute hier Ein fatales Gerücht sehr glücklich, dass Sie hergekommen
in unserem See zu sehen. Wir hier zu sind“, sagt Tamaki Cheteh. „Jeder in Ny-
sagen willkommen zu Euch allen.“ Ta- Und schließlich hilft das Gespräch, ein os ist krank wegen dem Gas.“ Und dann
nyileke beschreibt, was das Team macht fatales Gerücht zu bekämpfen. Nach äußert ein Mitglied der Delegation einen
und warum. „Jeden Tag kann sich die Aussage der Anthropologin Eugenia Wunsch, der so bemerkenswert ist wie
nächste Eruption ereignen“, warnt er und Shanklin vom College von New Jersey Abdulahis Ausflug auf den See: Der
fügt hinzu: „Falls wir irgendetwas tun, kam es auf, als ein Geistlicher beim Be- Mann bittet darum, das Wasser probieren
such der verwüsteten Orte äußerte, sie zu dürfen, das viele seiner Verwandten
sähen aus wie nach der Detonation einer getötet hat. Tanyileke bietet ihm etwas
Team-Mitglied Hubert Mvogo hilft Neutronenbombe. Damit war die Ge- von der kohlendioxidhaltigen Probe an,
beim Abwickeln der Thermistoren schichte von der Bombe geboren. die dicht über dem Grund des Sees ent-
Eine Version besagt, Amerikaner und nommen wurde. Abdulahi sieht aus der
Israelis hätten sie gezündet, um an Dia- Nähe zu. Schließlich kommen alle heran
manten unter dem See zu gelangen. und kosten der Reihe nach von dem Nass
Nach einer anderen Version legte dage- aus den Tiefen ihres Sees. ■
gen ein blonder Friedenskorps-Arbeiter Wer das Entgasungsprojekt unterstützen möchte,
die Bombe, damit anschließend Ameri- kann Spenden an das Cameroon Degassing
kaner in der Region leben könnten. Project, Department of Biology, University of
Die Gerüchte schaden dem Team – Michigan, 830 N. University, Ann Arbor,
sowie dem Friedenskorps, der US-Bot- MI 48109-1048 schicken.
schaft in Yaoundé und vielleicht auch
den israelischen Ärzten, die 1986 Kata-
strophenhilfe leisteten. Außerdem könn- Marguerite Holloway ist
ten sie die geplante Evakuierung für die freie Redakteurin bei
Dauer der Entgasungsaktion erschweren, Scientific American.
falls einige der genannten Gruppen daran

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 77


WISSENSCHAFTSGESCHICHTE

Fermi, Szilard und der


erste Atomreaktor
Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs trafen in den USA zwei aus Europa
emigrierte Physiker zusammen, die nur in ihrer Begeisterung für die Wissenschaft
übereinstimmten. Dennoch glückte dem ungleichen Paar der Bau
des ersten Kernreaktors.
VON WILLIAM LANOUETTE
BILDMONATGE VON JENNIFER JOHANSEN; AIP EMILIO SEGRÈ VISUAL ARCHIVES (SZILARD UND FERMI);
CORBIS (ATOMPILZ); ARGONNE NATIONAL LABORATORY (BRIEF VON EINSTEIN AN ROOSEVELT)

78 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


I
m Januar 1939 zogen zwei europäi- des Jahres 1938 für Physik entgegen- Als Hitler 1933 die Macht übernahm,
sche Physiker in das King’s Crown zunehmen. Die Auszeichnung wurde floh Szilard sofort nach London. Im sel-
Hotel nahe der Columbia University ihm für Elementumwandlungen durch ben Jahr konzipierte er die Idee einer nu-
in New York. Zwar hatten Enrico Fermi Neutronenbeschuss verliehen; dabei war klearen „Kettenreaktion“, die gemäß sei-
und Leo Szilard schon zuvor Briefe aus- es ihm anscheinend gelungen, so ge- nem Patentantrag von 1934 „elektrische
getauscht, doch ihre Begegnung im Ho- nannte Transurane – künstliche insta- Energie“ und möglicherweise „eine Ex-
tel war reiner Zufall. Aus dem Treffen bile Elemente, die schwerer sind als das plosion“ liefern sollte. Solche Kettenre-
ging eine der lebhaftesten – und streit- schwerste natürliche Element Uran – aktionen fanden bald darauf tatsächlich
barsten – Partnerschaften in der Wissen- durch den Beschuss von Uran mit Neu- in Kernreaktoren und Nuklearwaffen
schaftsgeschichte hervor. tronen zu erzeugen. Aus Furcht vor neu- statt; doch zunächst galt es, ein dafür
Beide waren Flüchtlinge vor dem in en Rassengesetzen beschlossen Fermi passendes Element zu entdecken. Nach
Europa grassierenden Rassenwahn, und und seine jüdische Frau, nicht mehr ins vier Jahren vergeblicher Versuche an der
jeder der beiden besaß wichtige Teile des faschistische Italien heimzukehren. Statt- Universität Oxford sowie an den Univer-
Puzzles, das schließlich den Weg zur dessen nahm er eines von vier amerika- sitäten von Rochester und Illinois in den
Kernenergie weisen sollte. Aber wie sich nischen Angeboten an und ging an die USA ging auch Szilard an die Columbia
bald herausstellte, hatten sie höchst un- Columbia University. University.
terschiedliche Ansichten, Arbeitsmetho- Fermi war ein strikter Akademiker,
den und Eigenheiten. Wäre es Fermi und Eine Begegnung der sein Leben ganz und gar einer bril-
Szilard nicht gelungen, trotz aller Dif- auf verschlungenen Wegen lanten Physik-Karriere widmete; Politik
ferenzen zusammenzuarbeiten, so hätte interessierte ihn kaum. Als häuslicher
nicht 1942 die erste kontrollierte nuklea- Leo Szilard, ein ungarischer Jude von Mensch zog er mit seiner Familie bald
re Kettenreaktion stattgefunden, und das 40 Jahren, kam auf verschlungeneren aus dem New Yorker Hotel in ein Rei-
amerikanische Manhattan-Projekt hätte Wegen nach New York. Er war in Buda- henhaus in New Jersey um. Er stand je-
nicht 1945 zum Bau der ersten Atom- pest aufgewachsen und 1919 nach Ber- den Tag um halb sechs auf und verbrach-
bomben geführt. Szilard meinte später: lin übersiedelt, um bei Albert Einstein te die zwei Stunden vor dem Frühstück
„Falls die Nation uns Dank schuldet – zu studieren und mit ihm zu arbeiten. damit, an seinen Theorien zu feilen und
und vielleicht tut sie das nicht –, dann Unter anderem entwickelten sie damals die Experimente des kommenden Tages
dafür, dass wir es so lange wie nötig mit- gemeinsam eine elektromagnetische zu planen. Ungewöhnlich für einen For-
einander ausgehalten haben.“ Kühlpumpe bis zur Patentreife (Spek- scher des 20. Jahrhunderts ist, dass Fer-
Der 38-jährige Enrico Fermi war ge- trum der Wissenschaft 6/1997, S. 94); mi nicht nur ein begabter Theoretiker
rade aus Rom in New York angekom- doch zwei Jahrzehnte später sollte ihr war, sondern auch gern manuell arbeite-
men. Unterwegs hatte er in Stockholm Verhältnis historische Bedeutung ge- te. Wenn er nicht Vorlesungen hielt, ba-


Station gemacht, um den Nobel-Preis winnen. stelte er mit seinen Assistenten im Labor.

Die konfliktreiche Zusammenarbeit zwischen Leo


Szilard (links) und Enrico Fermi (rechts) führte
nicht nur zum Bau des ersten Kernreaktors,
sondern auch – auf dem Weg über Albert Ein-
steins legendären Brief an Präsident Roosevelt –
letztlich zur Entwicklung der Atombombe.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 79


WISSENSCHAFTSGESCHICHTE

Als Gastforscher ohne feste Anstel- Die Physikerin Lise Meitner – eine Jü-
lung, ohne eigene Vorlesungsreihe oder din, die von Berlin nach Stockholm
eigenes Labor hielt der Junggeselle geflohen war – hatte eine Erklärung ge-
Szilard kaum Lehrveranstaltungen ab, funden, warum die Berliner Chemiker
publizierte wenig und dilettierte in Wirt- Otto Hahn und Fritz Strassmann beim
schaftswissenschaft und Biologie. Er Beschuss von Uran mit Neutronen nicht
lebte in Hotels und Universitätswohnhei- Transurane erzeugt hatten, sondern
men, wo er sich mit Vorliebe stundenlang leichtere Kernfragmente: Sie hatten den
in der Badewanne räkelte, um neue Ideen Atomkern gespalten. Erst im Jahre 1966
auszuhecken. Eine solche Eingebung be- wurden alle drei für die Entdeckung der
sagte etwa, die National Science Founda- Kernspaltung mit dem Enrico-Fermi-
tion – das amerikanische Gegenstück zur Preis geehrt, nachdem zunächst nur
Deutschen Forschungsgemeinschaft – Hahn und Strassmann dafür den Nobel-
solle zweitklassigen Wissenschaftlern preis des Jahres 1944 erhalten hatten
keinerlei Forschungsmittel gewähren. (siehe dazu Spektrum der Wissenschaft
Szilard las begierig Zeitung, grübelte un- 5/1998, S. 80).
ablässig über finanzielle, politische und Durchs Bohrs Bericht gelangte Fermi
militärische Probleme nach und hatte zu einem besseren Verständnis seiner ei-
stets zwei gepackte Koffer parat, um je- genen Uran-Experimente von 1934: Er
der neuen Eruption des Faschismus so- hatte nicht Transurane erzeugt, sondern
fort entfliehen zu können. unwissentlich Atomkerne gespalten.
Als notorischer Spätaufsteher tauchte Szilard fand die Neuigkeit bedrohli-
er in der Universität oft erst zum Mittag- cher. Er erkannte, dass Uran das Element
essen auf, um sich anschließend auf Kol- war, das sich für die in seinem Patentan-
legen zu stürzen und ihnen tiefgründige trag von 1934 beschriebene Kettenreak-
Fragen zu stellen oder Experimente vor- tion eignete. Auf Grund seines politi-
zuschlagen, die sie ausführen sollten. schen Gespürs hatte er dieses Patent der
„Du hast zu viele Ideen“, sagte ihm britischen Admiralität als Geheimpapier
schließlich der künftige Nobelpreisträger übergeben, um deutsche Wissenschaft-
Isidor Isaac Rabi, „bitte geh weg“. ler nicht auf die Möglichkeit atomarer Während Szilard 1934 sein Patent
Der Physiker Bernard Feld – zuletzt Explosivstoffe hinzuweisen. Die Ent- einreichte, wurde Fermi in Rom zum
am Massachusetts Institute of Technology deckung der Kernspaltung bestätigte weltweit anerkannten Experten für den
tätig – arbeitete seinerzeit mit Fermi und Szilards Befürchtung, eine Atombombe Neutronenbeschuss von Atomen. Wie er
Szilard als Forschungsassistent des Letz- könnte in naher Zukunft Realität werden. herausfand, konnte er die Neutronen ab-
teren an der Columbia University. Er cha- bremsen, indem er sie eine Paraffin-
rakterisierte die beiden so: „Fermi ging Transurane oder Kernfragmente? schicht passieren ließ, und erhöhte da-
erst von Punkt A nach Punkt B, wenn er durch die Wahrscheinlichkeit, dass sie
alles nur irgend Mögliche über A wusste Die Idee der nuklearen Kettenreaktion vom Zielkern absorbiert wurden. Seine
und vernünftige Sicherheiten über B be- war Szilard gekommen, als er 1933 in Resultate mit Uran waren verwirrend.
saß. Szilard sprang von A nach B und London an einer Straßenecke stand. Erst Manchmal absorbierte der Kern Neutro-
wunderte sich dann, warum man Zeit mit ein Jahr zuvor war das Neutron entdeckt nen und verwandelte sich in ein schwere-
B und C vergeudete.“ worden, und die Physiker stellten sich das res Uran-Isotop. Doch manchmal er-
Wenige Tage nach dem zufälligen Atom nun als eine Art winziges Sonnen- zeugte der Neutronenbeschuss völlig
Treffen zwischen Fermi und Szilard im system vor, in dem die negativ geladenen neue Elemente. Als die deutsche Chemi-
King’s Crown Hotel landete der dänische Elektronen einen Kern aus positiv gelade- kerin Ida Noddack von Fermis Experi-
Physiker Niels Bohr in New York mit nen Protonen und neutralen Neutronen menten erfuhr, schlug sie vor, die neuen
einer wichtigen Nachricht aus Europa: umkreisen. Da das Neutron keine Ladung Produkte chemisch zu analysieren, um
trägt, vermag es in den Kern einzudrin- festzustellen, ob es sich um Fragmente
gen, ohne von ihm abgestoßen zu werden. gespaltener Atome handle. Doch da Fer-
Literaturhinweise Szilard erkannte nun, dass bei der durch mi sich nur auf die Physik von Beschuss
Enrico Fermi, Physicist. Von Emilio Segrè. Neutronenbeschuss ausgelösten Kern- und Absorption konzentrierte, verfolgte
University of Chicago Press, 1995. spaltung die den Atomkern zusammenhal- er diesen Gedanken nicht weiter. Hätte er
Genius in the Shadow: A Biography of Leo tende Bindungsenergie frei wird. Außer- es getan, wäre er vielleicht Jahre vor Lise
Szilard, the Man behind the Bomb. Von Wil- dem kann der gespaltene Kern einige Meitner auf die Kernspaltung gestoßen.
liam Lanouette (mit Bela Silard). University Neutronen abgeben, die nun ihrerseits Im Frühjahr 1939 unternahmen so-
of Chicago Press, 1994. weitere Atome spalten. Wenn jedes ge- wohl Fermi als auch Szilard an der Co-
Kettenreaktion. Das Drama der Atomphysiker. spaltene Atom mehr als ein Neutron ent- lumbia University Experimente zum bes-
Von Jost Herbig. Hanser, München 1976. lässt, wächst der Prozess exponentiell an, seren Verständnis der Kernspaltung.
Collected Works of Leo Szilard. Bd. 1, 2 und und in Sekundenbruchteilen können Mil- Szilard verschaffte dem kanadischen Phy-
3. MIT Press, 1972, 1978 und 1987. lionen Atome gespalten und riesige Ener- siker Walter Zinn eine Radium-Berylli-
Enrico Fermi: Collected Papers. Bd. 1 und 2. giemengen freigesetzt werden. Wie um-Neutronenquelle aus England. Damit
University of Chicago Press, 1962 und 1965. Szilard später erfuhr, kam auch Fermi wiesen Zinn und Szilard nach, dass pro
Weitere Hinweise unter www.spektrum.de/ durch Bohrs Nachricht auf die Möglich- Spaltung mehr als zwei Neutronen frei
aktuellesheft.html keit einer Kettenreaktion, doch hielt Fer- wurden. Fermi und sein Assistent Herbert
mi sie für extrem unwahrscheinlich. Anderson verwendeten für ein ähnliches

80 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


JENNIFER JOHANSEN

Szilards englisches
Patent für die Idee der
Kettenreaktion wurde
der britischen Admirali-
tät übergeben und blieb
bis nach dem Krieg
geheim (oben). Ein
amerikanisches Patent
für den eigentlichen
Reaktor wurde Fermi
und Szilard gemeinsam
zuerkannt (unten).

Experiment eine stärkere Radon-Berylli-


um-Quelle – mit uneindeutigen Ergebnis-
sen. Szilard vermutete, die Quelle sei so
stark, dass einige Neutronen den Kern
glatt durchstießen und sich im Detektor
unter die durch Kernspaltung erzeugten
Neutronen mischten. Szilard lieh Fermi
seine englische Neutronenquelle, die viel
klarere Resultate lieferte.
Danach versuchten die beiden For-
scher zusammenzuarbeiten – und der
Krach war unvermeidlich. Szilard scheute
manuelle Arbeit und heckte lieber immer
neue Ideen aus, während Fermi von allen
Mitarbeitern erwartete, dass sie bei Expe-
rimenten selbst Hand anlegten. Zwar re- Wasserstoffatomen und einem Atom zu beschaffen, erkannte, dass käuflicher
spektierte jeder die Fähigkeiten des ande- Sauerstoff; in schwerem Wasser tritt an Graphit kleine Beimengungen von Bor
ren, aber sie gingen einander auf die Ner- die Stelle des Wasserstoffs dessen Isotop enthielt, das gierig Neutronen absorbierte.
ven. Doch da sie erkannten, dass sie auf Deuterium. Auch in heutigen Kernreak- Er bestellte darum speziell fabrizierten
einander angewiesen waren, wandten sie toren dient schweres Wasser als Modera- reinen Graphit – was einen besonders hef-
sich an George Pegram, den Leiter der tor für natürliches Uran, während für an- tigen Streit mit Fermi auslöste.
physikalischen Fakultät, damit er ihre se- gereichertes Uran normales Wasser ver- Anderson maß die Neutronenabsorp-
parate Arbeit koordinierte. Pegrams Pen- wendet wird. tion in dem reinen Graphit und fand, dass
deldiplomatie gelang es, Fermis Präzision Doch schweres Wasser war rar und er in der Tat einen guten Moderator ab-
mit Szilards Ideenreichtum zu versöhnen. teuer. Die groß angelegten Experimente, geben würde. Szilard empfahl, die Test-
Zusammen mit Anderson erkannten die die Szilard vorhatte, erforderten einen ergebnisse geheim zu halten. Fermi, ganz
ungleichen Partner, dass mit langsamen leichter zugänglichen und billigeren Mo- der reine Wissenschaftler, widersetzte
Neutronen „eine nukleare Kettenreaktion derator, und er entdeckte einen, den die sich diesem Bruch mit der guten akademi-
aufrechterhalten werden kann“. deutschen Physiker übersehen hatten. schen Tradition, ein Resultat nach Prü-
Wie Szilard befürchtet hatte, war die fung durch Fachkollegen in wissenschaft-
Der Atommeiler deutsche Erforschung der Atomenergie lichen Zeitschriften zu publizieren. „Fer-
im Frühjahr 1939 schon im Gange. So- mi verlor echt die Beherrschung“, erin-
So häufig es zu Zusammenstößen zwi- wohl deutsche wie amerikanische Physi- nerte Szilard sich später. „Er fand das
schen Fermi und Szilard kam, so selten ker erkannten, dass Graphit – die amorphe wirklich absurd.“ Doch wieder einmal
waren anfangs Kollisionen zwischen Form des Kohlenstoffs, die in Bleistiften schlichtete Pegram, und Fermi willigte
Neutronen und Kernen. Erst wenn die verwendet wird – sich als Moderator eig- unter den gegebenen Umständen wider-
Neutronen durch so genannte Moderato- net. Doch die Deutschen kamen wieder strebend ein, Selbstzensur zu üben.
ren – etwa Fermis Paraffin – abgebremst davon ab, weil Graphit zu viele Neutro- Mit dem Graphit-Moderator sah Fer-
wurden, erhöhte sich die Spaltungsrate. nen absorbierte; stattdessen konzentrier- mi nun wenigstens einen Hoffnungs-
Im Jahre 1939 wussten die Physiker auch ten sie sich auf schweres Wasser, das schimmer für eine echte Kettenreaktion.
schon, dass so genanntes schweres Was- schwer zu beschaffen war. Szilard, der oft Bezüglich der Frage, wie realistisch diese
ser ein wirksamer Moderator ist. Ge- mit der Bahn nach Boston oder Buffalo Hoffnung sei, waren Fermi und Szilard

wöhnliches Wasser besteht aus zwei fuhr, um Rohmaterial für Fermis Versuche wiederum höchst unterschiedlicher Mei-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 81


WISSENSCHAFTSGESCHICHTE

Einstein und
„MARCH OF TIME“/TIME PIX

Szilard beraten
über den Brief, der
die amerikanische
Regierung von der
Notwendigkeit
überzeugen soll,
Kernwaffen zu
entwickeln. Die
Szene ist nachge-
stellt; sie stammt
aus dem 1946
gedrehten Film
„Atomic Power“.

nung. Szilard sah die Deutschen schon wieder einmal skeptisch. Szilard schlug manns für Öffentlichkeitsarbeit wandte er
fast als Sieger in einem nuklearen Rü- vor, abwechselnde Schichten von Uran sich an seinen Freund und Mentor Ein-
stungswettlauf, aber Fermi tat dies grob und Graphit in einem Gitter anzuordnen, stein, der sich rund hundert Kilometer öst-
als Spinnerei ab. Er meinte, so etwas wie dessen Geometrie die Neutronenstreu- lich von New York in einem Sommerhaus
Atombomben werde es frühestens in 25 ung und die anschließenden Spaltungs- auf Long Island aufhielt. Szilard infor-
oder 50 Jahren geben; das Erzeugen einer vorgänge festlegen würde. Fermi konter- mierte den weltberühmten Physiker über
echten Kettenreaktion sei „eine entfernte te mit einem homogenen Aufbau, bei die Kettenreaktion. „Daran habe ich über-
Möglichkeit“ mit vielleicht zehnprozenti- dem Uran und Graphit wie Kies ge- haupt nicht gedacht“, antwortete Einstein;
ger Wahrscheinlichkeit. mischt würden. Dieser Vorschlag ärgerte endlich sah er einen Mechanismus vor
„Zehn Prozent ist keineswegs eine Szilard; er unterstellte Fermi, dieser wol- sich, der die Verwandlung von Masse in
entfernte Möglichkeit, wenn es bedeutet, le nur eine Konfiguration, die sich einfa- Energie gemäß seiner berühmten Äquiva-
dass wir vielleicht daran sterben“, erwi- cher berechnen lasse. Fermi antwortete, lenzgleichung verwirklichen konnte.
derte Isidor Rabi. Szilard bemerkte, wie nach gründlicher Überlegung habe Szilard besuchte Einstein zwei Mal
unterschiedlich er und Fermi dieselbe In- Szilards Gitter-Idee ihn nun doch über- und schlug ihm schließlich einen Brief-
formation auslegten. „Wir beide wollten zeugt. Nachdem er einmal überredet war, text zur Unterzeichnung vor. „Szilard
vorsichtig sein“, erinnerte Szilard sich setzte Fermi all seine beträchtlichen Fä- konnte alles außer Auto fahren“, erinnert
später, „aber Fermi hielt es für vorsich- higkeiten ein, um die physikalischen Ei- sich ein mit Szilard befreundeter Wissen-
tig, die Möglichkeit dieses Ereignisses genschaften des Gitters zu bestimmen schaftler, der ebenfalls aus Ungarn
herunterzuspielen; ich hingegen hielt die und das für den Bau eines Reaktors er- stammte, vor Hitler geflohen war und
Annahme für vorsichtig, es werde eintre- forderliche Personal zu organisieren. nun beim zweiten Besuch am Steuer saß.
ten, und meinte, man müsse die nötigen „Und ich konnte Auto fahren. Also fuhr
Vorkehrungen treffen.“ Unterstützung von höchster Ebene ich Szilard zum Sommerhaus... Einstein
Zu diesen Vorkehrungen gehörte, war ein Demokrat: Er lud nicht nur
dass Szilard 2000 Dollar lieh, um Fermis Szilard erkannte, dass er und Fermi trotz Szilard zu einer Tasse Kaffee ein, son-
Forschung zu unterstützen. Dennoch all ihrer intellektuellen Fähigkeiten die dern auch den Fahrer.“ Darum war Ed-
zeigte Fermi, wie wenig ihn die denkba- Unterstützung wichtiger Verbündeter ward Teller – der spätere Vater der Was-
ren Folgen der Nuklearforschung küm- brauchten, wenn ihr Projekt gelingen serstoffbombe – dabei, als Einstein in ei-
merten, indem er an die Universität von sollte. Die Helfer bildeten ein seltsames nem alten Schlafrock und Hausschuhen
Michigan ging, um kosmische Strahlen Trio: der amerikanische Präsident Frank- den unterdessen berühmten Brief an Prä-
zu untersuchen. Die erste erfolgreiche lin D. Roosevelt, FBI-Chef J. Edgar sident Roosevelt unterschrieb.
Konstruktion eines Kernreaktors ent- Hoover und Albert Einstein. Das Schreiben ist auf den 2. August
stand darum weder in einem Labor noch Im Laufe des Sommers erfuhr Szilard, 1939 datiert und beginnt: „Kürzliche Ar-
in einer Bibliothek, sondern in Briefen. dass Deutschland Uran hortete. Er nahm beiten von E. Fermi und L. Szilard ...“
Wie es Szilards Art war, drängte er an, dies bedeute Kernspaltungsforschung, Im Folgenden warnt es vor deutscher
darauf, „groß angelegte Experimente“ zu und wollte die amerikanische Regierung Atomwaffenforschung und drängt die
beginnen, und zwar „sofort“. Fermi blieb warnen. Mit dem Instinkt eines Fach- USA, selbst solche Forschung zu treiben.

82 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


Szilard übergab den Brief an den In- Hätte die Army sich durchgesetzt,
vestmentbanker Alexander Sachs, einen wären natürlich keinerlei Fördermittel
wirtschaftspolitischen Berater des Präsi- mehr geflossen, und die Kernforschung
denten. Am 1. September brach der im Regierungsauftrag, mit der Fermi und
Zweite Weltkrieg aus, und als Roosevelt Szilard gerade erst anfingen, hätte ein
im Oktober endlich den Brief bekam, frühes Ende gefunden. Um diese Fehl-
stimmte er zu, dass etwas geschehen entscheidung abzuwenden, wurde das
müsse, „damit die Nazis uns nicht in die FBI auf Druck des Weißen Hauses ange-
Luft sprengen“. Zu diesem Zweck schuf wiesen, „ihre Loyalität gegenüber den
er das Uranium Committee, ein beraten- Vereinigten Staaten zu verifizieren“.
des Gremium, dem neben Szilard weite- FBI-Chef J. Edgar Hoover schickte
re emigrierte Wissenschaftler als Mit- Agenten los, um Einstein zu befragen,
glieder angehörten. Binnen Wochen wur- dessen Pazifismus übrigens später ihn
den ihnen 6000 Dollar für Forschungen selbst den Behörden verdächtig machen
an der Columbia University überwiesen. sollte. Einsteins Wort galt so viel, dass
im November 1940 Regierungsgelder
Verdächtige Gestalten zur Columbia University flossen; den-
noch hörte die Verdächtigung Fermis
Nach dem Krieg sagte Einstein, er habe und Szilards erst Jahre, nachdem sie US-
eigentlich nur als Briefkasten für Szilard Bürger geworden waren, allmählich auf.
gedient. Doch im Jahre 1940 war Ein- Nachdem die Förderung gesichert
stein noch einmal gezwungen, eine ent- war, konstruierte Fermis Team nun syste- AIP EMILIO SEGRÈ VISUAL ARCHIVES

scheidende Rolle zu spielen, als die ame- matisch so genannte „Piles“ – geschich-
rikanische Armee Fermi und Szilard um tete „Haufen“ von Uran und Graphit ge- Nobelpreisträger Fermi war nicht nur ein
ein Haar die politische Unbedenklichkeit mäß Szilards Gitteridee –, um das für brillanter Theoretiker, sondern auch ein
abgesprochen und den Zugang zu gehei- eine Kettenreaktion geeignete Mi- begabter Experimentator – eine unter den
Physikern des 20. Jahrhunderts seltene
men Forschungen verweigert hätte. Auf schungsverhältnis und die optimale Kon- Doppelbegabung.
Grund „höchst verlässlicher Quellen“ figuration herauszufinden. Einen Tag vor
kamen die Army-Überprüfer zu dem pa- dem japanischen Angriff auf Pearl Har-
radoxen Schluss, Fermi – der vor dem bor bewilligte Präsident Roosevelt ein tungskraft solle nur demonstriert wer-
Faschismus geflohen war – sei „zweifel- umfassendes Regierungsprogramm zur den, um zur Kapitulation aufzufordern.
los ein Faschist“, und Szilard, in Wahr- Entwicklung der Atombombe. Im Früh- Fermi – unterdessen wissenschaftlicher
heit von unablässiger Furcht vor den Na- jahr 1942 übersiedelten Fermi, Szilard Berater des Regierungskomitees, das den
zis erfüllt, sei „sehr pro-deutsch“. Viel- und das übrige Columbia-Team zur Uni- Einsatz der Bombe diskutierte – hielt
leicht hatten Szilards laute Warnrufe, versität Chicago, um dort unter höchster eine Demonstration für ungeeignet. Die
Deutschland könne den Krieg gewinnen, Geheimhaltung ein „metallurgisches La- Regierung war derselben Meinung, und
zu solchen Fehldeutungen geführt. Der boratorium“ für die Erforschung der Ket- im August wurden die Städte Hiroshima
Bericht buchstabierte außerdem Szilards tenreaktion einzurichten. Schon im Juni und Nagasaki dem Erdboden gleich-
Namen auf zwei unterschiedliche Arten, wurde das Labor dem Manhattan-Projekt gemacht.
beide Mal falsch. Die Army befand be- der Armee angegliedert. Nach dem Krieg war Fermi dafür,
züglich beider Männer: „Beschäftigung Im Herbst wurde ein Pile aus Uran- dass die Armee weiterhin die Kernfor-
dieser Person mit geheimen Arbeiten Kugeln, eingebettet in Graphitblöcke, schung kontrolliere, während Szilard den
wird nicht empfohlen“ – trotz der Tatsa- konstruiert. Am 2. Dezember 1942 leite- Kongress überzeugte, eine neue zivile
che, dass die einzigen geheimen Arbei- te Fermi in einem Squash-Keller unter Atomenergiebehörde einzurichten. Einig
ten, die zu jener Zeit in den USA in Fra- dem Football-Stadium der Universität waren sich die beiden 1950 gegen
ge kamen, in den Köpfen von Fermi und das Experiment, bei dem die erste kon- Szilards alten Freund Teller, als sie ein-
Szilard stattfanden. trollierte Kettenreaktion ausgelöst wur- mütig die Entwicklung der Wasser-
de. Nach dem historischen Versuch stan- stoffbombe kritisierten. Fermi nannte die
den Fermi und Szilard noch eine Weile H-Bombe „eine Waffe, deren Wirkung
allein vor ihrem Reaktor. Sie schüttelten praktisch Völkermord gleichkommt“.
William Lanouette promovierte 1973 in
einander die Hand, erinnerte sich Ein gemeinsames Patent für den
Politologie an der London School of
Szilard, „und ich sagte, mir schiene, die- Fermi-Szilardschen „Neutronenreaktor“
Economics. Seine Doktorarbeit, in
ser Tag würde als schwarzer Tag in die wurde erstmals 1955 publiziert, ein Jahr
der er Gebrauch und Missbrauch
Geschichte der Menschheit eingehen“. nach Fermis Tod. Szilard beschäftigte
wissenschaftlicher Informationen
sich mit Molekularbiologie und den Pro-
durch amerikanische und britische
Konflikt und Konsens blemen der Rüstungskontrolle im Atom-
Regierungsstellen verglich, qualifi-
zeitalter bis zu seinem Tod im Jahre
zierte ihn für seine gegenwärtige
Im Jahre 1945, gegen Ende des Krieges, 1964. Fermi charakterisierte Szilard als
Tätigkeit als Fachmann für Energie-
waren Fermi und Szilard erneut unter- „extrem brillant“, aber als jemanden, der
und Wissenschaftspolitik beim
schiedlicher Meinung. Szilard hatte die „es anscheinend genießt, Leute zu ver-
General Accounting Office der USA
Entwicklung der Atombombe als Vertei- wirren“. Szilard schrieb über Fermi: „Ich
(das etwa unserem Bundesrechnungs-
digungswaffe gegen Deutschland voran- mochte ihn am liebsten bei den seltenen
hof entspricht). Er hat unter anderem
getrieben. Nach dem Sieg über Hitler Gelegenheiten, in denen er wütend wur-
eine Biografie über Leo Szilard
war Szilard dagegen, die Bombe offensiv de (außer natürlich, wenn er wütend auf
verfasst sowie zahlreiche Vorträge
gegen Japan einzusetzen; ihre Vernich- mich wurde)“. ■
über das Manhattan-Projekt und
dessen Protagonisten gehalten.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 83
TECHNOSKOP

Spektrum-Report:

Zahntechnik
Frühere Erkennung von Krankheiten sowie schonendere Präparations- und
Therapiemethoden sollen den Verlust von Zahnsubstanz, den herkömmliche
Techniken mit sich bringen, deutlich veringern. Die Zahnarztpraxis mausert
sich von der Reparaturwerkstatt zum Dienstleistungsbetrieb.

DIAGNOSTIK wie gute Mundhygiene, Fluoridversor-


gung und zuckerarme Ernährung können
dann eine Ausbreitung der Karies verhin-
Karies unter Strom dern; Wiedereinlagern von Salzen in die
entkalkte Zahnoberfläche, die „Remine-
ralisation“, vermag geschädigten Zahn-
Fluoreszenz- und Widerstandsmessung helfen, Zahnfäule schmelz quasi zu reparieren. Regelmä-
schon im Frühstadium zu erkennen. Damit steigen die ßige Kontrollen des Krankheitsverlaufs
zeigen dann, ob eine Füllung auch wei-
Chancen für eine schonende Behandlung. terhin verzichtbar bleibt.
Karies, zu Deutsch „Zahnfäule“, ist
ein bakteriell-chemischer Prozess, bei
Von Adrian Lussi dem saure Stoffwechselprodukte der Bak-
terien im Zahnbelag die Zahnhartsubstanz

S
ucht man unter Medizinern nach erkranktes Gewebe entfernen. Das ist auflösen. Sie beginnt mit einer nur unter
einer Gruppe, die von der Tätig- recht unbefriedigend; deshalb entwi- dem Mikroskop sichtbaren Entkalkung
keit her dem Zahnarzt am ehesten ckeln Experten neue Verfahren, um bei- der betroffenen Schmelz-, Dentin- oder
entspricht, fällt die Wahl vermutlich auf spielsweise Karies schon so frühzeitig zu Zementoberflächen. Bei weiterem Fort-
die Chirurgen. Denn um die Zähne ge- erkennen, dass sich eine Füllung noch schreiten verfärbt sich der Schmelz lokal
sund zu halten, muss der Dentist meist vermeiden lässt. Vorsorgemaßnahmen kreidig, oft auch braun. An diesen Stellen
wird er weich, bis schließlich die Oberflä-
EYE OF SCIENCE / MECKES

che einbricht – das bekannte „Loch im


Zahn“ ist entstanden. In diesem Stadium
lässt sich Karies zwar leicht diagnostizie-
ren, doch ist bereits eine größere Füllung
erforderlich.
Schwierig zu diagnostizieren sind
hingegen Defekte im Anfangsstadium
oder solche, die – obwohl schon bis ins
Dentin vorgedrungen – eine äußerlich
noch intakte Oberfläche zeigen. Gerade
die bewährten klassischen Hilfsmittel
Spiegel und Sonde reichen bei beginnen-
dem Karies in den „Tälern“ der Kau-
fläche oder im Zahnzwischenraum nicht
aus, wie viele Untersuchungen gezeigt
haben.
Dort lässt sich die Erkrankung der-
zeit nur durch Röntgen entdecken. Ne-
ben dem herkömmlichen Belichten, Ent-
wickeln und Fixieren spezieller Filme
kommt seit einigen Jahren das digitale
Röntgen in Gebrauch. Die Strahlung

Millionen von Bakterien leben in


einem Milliliter Speichel. Die
meisten davon sind harmlos oder
sogar nützlich, einige aber (hier grün
und stark vergrößert) produzieren
Säuren, die den Zahnschmelz
84 angreifen und DER
SPEKTRUM so Karies auslösen.
WISSENSCHAFT · JANUAR 2001

0,2 Millimeter
ZAHNTECHNIK

wird dabei je nach System von Halblei- Ein kranker Zahn,


ter-Detektoren oder fluoreszierenden Fo- bei ultraviolettem
lien aufgenommen. Damit entfällt nicht Licht aufgenom-
men. Was hier
nur ein insgesamt erheblicher Material- gelborange
und Chemikalieneinsatz, die digitale erscheint, sieht
Methode ist auch empfindlicher, kommt „von außen“ völlig
also mit geringerer Strahlenintensität intakt aus. Der
und Bestrahlungsdauer aus und belastet Karies darunter
den Patienten entsprechend weniger. Fer- (rot) ist mit
bloßem Auge nicht
ner ist es möglich, die Bilder auf dem zu erkennen.
Computer zu bearbeiten, um kleinere
Belichtungsfehler auszugleichen und so

ADRIAN LUSSI
die Diagnostik zu erleichtern.
Für die Früherkennung von Karies
unter der Kaufläche gibt es mittlerweile
zwei neuartige Techniken: Die Fluores-
zenz- und die Widerstandsmessung, erste- das Fluoreszenzlicht). Die Messspitze der Zahnoberfläche und einer Elektrode
re ist in Europa seit zwei Jahren, letztere des ersten Gerätes dieser Art, das die Fir- wird dann kleiner. Auch bei scheinbar
seit etwa zehn Jahren auf dem Markt. ma KaVo aus Biberach (Baden-Würt- intakten Oberflächen liefert diese Me-
Bestrahlt Laserlicht mit einer Wel- temberg) auf den Markt gebracht hat, be- thode frühzeitig verlässliche Ergebnisse.
lenlänge von 655 Nanometer und einer steht aus einer zentralen Lichtzuführung Die durch direkte Säureeinwirkung
Laserpointern vergleichbaren Leistung und konzentrisch darum angeordneten verursachte Erosion sieht anders aus als
von einem Nanowatt die durch Karies Lichtleitfasern für die Erfassung des die bei Karies. Der erodierte Schmelz
veränderte Zahnhartsubstanz, beginnt vom Zahn fluoreszierten Lichts. Ein sich wird zwar in der Anfangsphase flächen-
diese Stelle zu fluoreszieren, und zwar ändernder Ton ermöglicht dem Arzt haft entkalkt, erweicht dabei aber nicht.
umso stärker, je weiter fortgeschritten durch Drehen der Spitze das stärkste Änderungen des elektrischen Widerstands
sind zu gering für eine verlässliche Mes-
sung, und ohne Bakterien entstehen auch
keine Fluorophore. Die Diagnostik erfor-
dert hier in erster Linie ein geschultes
Auge, neuere Techniken gibt es nicht.
Erst in späteren Stadien wird das Dentin
ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen, und
die Zahnoberfläche glänzt nur noch matt.
Sie lässt sich dann eindeutig von keilför-
migen Defekten unterscheiden, wie sie
vor allem Putzen der Zähne mit harten
0,5 Millimeter
Bürsten und in horizontaler Richtung ver-
ursachen. Aufgeweichte Zahnoberflächen
werden durch mechanischen Abrieb weit
mehr beschädigt oder abgetragen als ge-
sunde. Eine frühe Diagnostik von Karies
oder Erosionen ist deshalb für eine erfolg-
reiche Prophylaxe unabdingbar.
Prinzipiell gilt: Ohne sorgfältige Pro-
phylaxe lassen sich langfristig Zahnschä-
ADRIAN LUSSI

den nicht verhindern. Vorbeugung steht


auf Platz eins der Wunschliste der Ärzte,
verbesserte diagnostische Methoden
Zu viel des Guten kann gefährlich sein: Dieser Zahn ist am Hals durch
hartes Putzen in horizontaler Richtung schon teilweise abgetragen. Die können ihm helfen, den Ruf des Chirur-
Aufnahme des Rasterelektronenmikroskops zeigt deutlich die hinter- gen loszuwerden. ■
lassenen Riefen im Schmelz.

die Entkalkung schon ist. Ursache sind Messsignal, also die Stelle mit der größ- Der gelernte Chemie-
Fluorophore genannte Moleküle, die ten Kariesausdehnung, zu ermitteln, Ingenieur Adrian Lussi
durch den Bakterienstoffwechsel entste- ohne irgendeine Anzeige am Gerät beob- 0,5 Millimeter
studierte Zahnmedizin an
hen. Das Fluoreszenzlicht hat dabei Wel- achten zu müssen. Dieser Maximalwert der Universität Bern. Dort
lenlängen von mehr als 680 Nanometer, dient dann im Rahmen der Behandlung habilitierte er 1993 zum
lässt sich also einfach bei der Beobach- auch zur Verlaufskontrolle. Thema „Zahnerhaltung und
tung herausfiltern und messen (die ein- Karies auf der Kaufläche verändert Präventivzahnmedizin“. Seit
wirkende Lichtenergie überführt die Mo- zudem auch den elektrischen Wider- 1995 leitet er die Abteilung
leküle in einen angeregten Zustand; beim stands des Zahne: Gesunder Schmelz für Kinderzahnmedizin und Struktur-
Übergang in den Grundzustand geht ein wie auch gesundes Dentin isolieren, be- biologie an der Berner Universitäts-
kleiner Teil der Energie als Wärme ver- ginnen aber Strom zu leiten, wenn sie klinik für Zahnerhaltung.
loren, dementsprechend langwelliger ist kariös werden. Der Widerstand zwischen

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 85


TECHNOSKOP

ZAHNERSATZ
sehen, obwohl die Prothesen deutlich
weniger davon abgeben als etwa ein
Stahlkochtopf.
Eine Krone ist eine Krone Aus ästhetischen Gründen wird das
Metall hinter zahnfarbener Keramik ver-
borgen. Überdies verschleißt diese Werk-
Der meist metallkeramische Zahnersatz ist ein stoff-Klasse kaum und gilt als gut ver-
hochwertiges technisches Produkt, das sich mit neuen träglich für den Organismus. So entste-
hen die Metallkeramik genannten Ver-
Werkstoffen stetig weiterentwickelt. bundwerkstoffe, deren Fertigung eine
genaue Prozessführung erfordert. Meist
Von Heiner Weber 500 Newton aufnehmen. Demgemäß trägt der Techniker die Keramik in drei
wählt der Zahnarzt den Werkstoff bezie- bis vier Schichten auf ein filigranes, nur
hungsweise den Materialverbund aus. 0,2 bis 0,4 Millimeter dickes Metallge-

S
ollten Sie, verehrter Leser, noch Klassisch zu nennen sind Metalllegie- rüst auf. Die erste deckt farblich ab und
alle Zähne Ihr eigen nennen, dann rungen mit einem Goldgehalt von min- sorgt für die Haftung auf der Oxid-
gehören Sie hier zu Lande einer destens 75 bis 90 Prozent. Solche Edel- schicht. Jede weitere verändert die Form
seltenen Spezies an. Nicht weniger als metalllegierungen halten der Korrosion der Prothese und ihre Erscheinung im
zehn Millionen Kronen werden in durch im Mund gebildete und von außen Licht, also ihre Farbe, Transparenz, Re-
Deutschland alljährlich allein im Rah- zugeführte Säuren stand, zudem lassen flexion und dergleichen.
men der gesetzlichen Krankenversiche- sie sich gut verarbeiten. Zusätze erhöhen Die Temperaturführung beim Bren-
rung eingesetzt. Und stets wiederholt die mechanische Festigkeit und den nen wählt man so, dass keine Risse oder
sich dabei dieselbe etablierte Prozedur: Schmelzpunkt, sodass der Keramikbrand Abplatzungen aufgrund der unterschied-
Unter örtlicher Betäubung trägt der Arzt bei 900 bis 950 Grad Celsius die Form lichen Wärmeausdehung der Werkstof-
etwa 1,5 Millimeter Zahn ab, nimmt vor- intakt lässt. fe auftreten können; die verschiedenen
her und nachher Abdrücke des Gebisses, Schichten werden zur Sicherheit meist
fertigt ein Provisorium und passt nach Komplexer Schichtaufbau nacheinander gebrannt.
etwa einer Woche den vom Zahntechni- Spezielle Keramiken eignen sich so-
ker gefertigten Ersatz ein. So unange- So bildet Eisen mit Platin einen Kom- gar für Prothesen ohne Metallanteil,
nehm der Prozess ist, lässt er sich doch plex, der die Legierung härtet; Iridium nämlich die aus dem Haushalt von Koch-
oft nicht vermeiden, wenn Karies oder verfeinert die Kornstruktur und verbes- feldern her bekannten Glaskeramiken
Unfälle Zähne stark zerstört haben, Brü- sert so die Homogenität des Materials. und Keramiken aus Aluminium-Zirkon-
cken oder herausnehmbare Prothesen zu Dazu kommen unedle Bestandteile wie oxid. Beide System bestehen jeweils aus
befestigen sind. Auch das Schienen gelo- Zink, Zinn und Indium, die über Oxid- zwei Phasen: Der kristalline Anteil in
ckerter Zähne, die Wiederherstellung ei- brücken an die keramischen Massen bin- Glaskeramiken verleiht ebenso wie das
ner Idealform und die Korrektur kleine- den und so deren Haftung auf dem Me- Aluminiumoxid im zweiten System Fes-
rer Fehlstellungen leisten Kronen. tall vermitteln. tigkeit, die amorphe Glasphase und Zir-
Dem Patienten bleiben die hohen An- Metalllegierungen ohne Goldanteil, konoxid vermögen sehr gut Druck aufzu-
forderungen an Werkstoffe und Herstel- etwa auf Nickel/Chrom- oder Kobalt/ nehmen und somit die Keramiken eigene
lung leider meist verborgen, sonst würde Chrom/Molybdän-Basis kosten deutlich Sprödigkeit auszugleichen. Auch hier
er eventuelle Zuzahlungen vielleicht eher weniger, mitunter nur ein Zehntel der fertigt man zunächst ein Gerüst, das
verschmerzen. Kronen sind hochwertige edelmetallhaltigen Werkstoffe. Sie sind dann noch mit weiteren Schichten verse-
technische Produkte und stehen an vor- überdies fester und erlauben deshalb gra- hen wird.
derster Front der Werkstoffentwicklung! zilere Formen zu fertigen. Bei bekannter Fast hundert Jahre nach seiner Ein-
Je nach Position im Mund muss ein Allergie des Patienten gegen Nickel oder führung in die Zahnheilkunde ist auch
Zahn und dann entsprechend auch sein Kobalt sollte der Arzt von solchen Werk- heute noch das Gussverfahren mit verlo-
Ersatz erhebliche Kaukräfte von 300 bis stoffen aber aus rechtlichen Gründen ab- rener Wachsform der meistgenutzte Weg

Der lange Weg zum Inlay


Ein Loch ist im Backenzahn

Krankes Gewebe wurde Der Zahnarzt hat einen Nach einem Zwischen- Anhand des Gipsmodell
entfernt, eine „Kavität“ Vorabdruck mit elas- schritt entstand dieses wurde diese Silikonform
aufgebohrt. tischem Material ge- Gipsmodell. erstellt.
nommen.

86 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


ZAHNTECHNIK

für Metallteile: Der Zahntechniker gießt Schlickerverfahren: Eine Suspension aus fe an, wie sie mittlerweile für Füllungen
den in der Arztpraxis genommenen Ab- einer wässrigen Lösung und Keramik- verwendet werden. Nach Vorbehand-
druck – meist aus Silikon bestehend – pulver wird auf eine Gipsform gegeben, lung von Zahnhartsubstanz und Kera-
mit einem besonderen Hartgips aus. Die deren Poren langsam die Feuchtigkeit mik wird die Krone damit eingeklebt.
resultierende Gipsform dient entweder entziehen. So wächst der so genannte Das erhöht zudem die physikalische Be-
selbst als Präzisionsmodell oder wird in Scherben, der dann gebrannt wird. Das lastbarkeit der sonst eher weniger festen
ein festeres Material kopiert. Die auf die- resultierende Gerüst wird zur Verstär- transparenten Werkstoffe. Kleben statt
sem Modell sichtbaren beschliffenen und kung noch zusätzlich mit Glas infiltriert. Zementieren ist ganz sicher ein interes-
zu überkronenden Zähne bezeichnet man Entspricht die fertige Krone am santes Entwicklungsfeld – nicht nur für
als Modellstümpfe. Für das Fertigen der Rand und auf der Kaufläche den Quali- Kronen. ■
Metallteile der Krone gibt es nun zwei tätsanforderungen und erklärt sich auch
Wege: Der Zahntechniker modelliert sie der Patient mit ihr einverstanden, befes-
Heiner Weber habilitierte 1980
auf diesen Stümpfen in Wachs nach und tigt der Arzt sie meist mit Zementen aus
an der Universität Düssel-
bettet diese Wachsteile in eine feuerfeste Phosphat-, Karboxylat oder Glasiono-
dorf. Seit 1982 ist er Ärztli-
Masse. (Während des anschließenden, merverbindungen. Weil diese praktisch
cher Direktor der Poliklinik
mehrstündigen Aufheizens härtet letztere lichtundurchlässig sind und somit die
für Zahnärztliche Prothetik
aus, während das Wachs verdampft. So Farbe der Krone beeinflussen, wurde
am Zentrum für Zahn-,
entsteht schließlich eine Hohlform für für die sehr transparenten vollkerami-
Mund- und Kieferheilkunde
den Metallguss oder das Verpressen ke- schen Systeme nach anderen Möglich-
der Universität Tübingen.
ramischer Pulver. Alternativ dazu wer- keiten gesucht. Es boten sich Kunststof-
den die Stümpfe mit einem Silberlack
bestrichen und so elektrisch leitend ge-
macht, dann in einem Goldbad galva- PROTHESEN
nisch mit dem Metall beschichtet, bis ein
dünnes Feingoldgerüst mit Wandstärken
von 0,1 bis 0,2 Millimeter resultiert. Da-
rauf werden dann keramische Massen Implantate & Co.
aufgebrannt.
Neben diesen gängigen gibt es auch Künstliche Wurzeln im Kiefer, so genannte Implantate,
neuere Verfahren zur Herstellung von Me- kommen den natürlichen Verhältnissen näher als
tallgerüsten, die ihre klinische Probe be-
standen haben. So wird die Modellierung andere Prothesen.
in Gips beim computergesteuerten Fräsen
aus einem Rohling durch eine Rechner- Die schon den Etruskern bekannte
Von Peter A. Ehrl
modellierung mittels CAD-Programmen Form solcher Prothesen ist herausnehm-
ersetzt (Computer Aided Design). Das bar. Die Kunst dabei: Sie muss einerseits

D
Hauptproblem sind die unregelmäßigen ie Zahnfee braucht in Deutsch- leicht zu entnehmen und andererseits
Geometrien etwa der Kroneninnenwand land ein gutes finanzielles Pols- sehr belastbar sein. Dafür gibt es heute
oder der Kauflächen, die sehr präzise ar- ter: Nicht weniger als etwa 15 technisch ausgereifte Halteelemente:
beitende, aber auch sehr teure Mehrach- Millionen Zähne werden in hiesigen Pra- Klammern genannte gebogene Metallar-
sen-Fräsmaschinen erfordern. xen alljährlich gezogen. Damit der Mund me klemmen durch Eigenspannung an
Glaskeramische Kronen werden als gesund bleibt und auch künftig zu kauen gesunden Zähnen, als Geschiebe be-
Pulver in Formen verpresst, die über den vermag, fertigen Zahntechniker und Ärz- zeichnete Fräsungen an Kronen und Pro-
Zwischenschritt eines Wachsmodells te Ersatz an. Mittlerweile lassen sich drei thesen passen exakt ineinander, Tele-
entstehen. Für den Zahnersatz aus Alu- Verfahren unterscheiden, von denen die skopkronen sind hauchdünne Kronen,
minium-Zirkonoxid eignet sich das in Implantate etliche Vorteile haben, aller- auf die als ein Gegenstück die Prothese ▲
der Porzellanherstellung gebräuchliche dings deutlich teurer kommen können. aufgesetzt wird.

ALLE FOTOS: KARL E. DECKART / MIRKOMAKRO

Ein „Arbeitszahn“ aus Aus Keramik wird das Das gebrannte Separation des
einer feuerfesten Inlay in der Kaufläche Inlay, hier noch Inlays nach dem Fertig: Das Inlay füllt die
Masse ist das Abbild des Arbeitszahnes im Arbeitszahn. Brand. Kavität im Backenzahn.
des Originals. modelliert.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 87


TECHNOSKOP

Um ihre Oberfläche zu
vergrößern, haben viele
Implantate ein Schraubge-
winde und zusätzlich eine
Beschichtung mit Hydro-
xylapatit (links). Durch
Aufrauen entsteht eine noch
größere Oberfläche und
damit ein innigerer Kontakt
von Knochen und Implantat.
Die sehr präzise, zinnenför-
mige Struktur dient der
sicheren, formschlüssigen
Verbindung mit der aufge-
setzten Krone (rechts).
SULZERCALCITEK

DEGUSSA
Die letzten beiden Möglichkeiten der lung, die bis in die zweite Hälfte des ver- Heute nutzt man als Grundwerkstoff
Verankerung erfordern Überkronung ge- gangenen Jahrhunderts hineinreicht, hatte der Wurzel fast ausschließlich Titan, nur
sunder Zähne, kosten also intakte Sub- man sie nur für Notfälle in Betracht gezo- hinsichtlich der optimalen Oberflächen-
stanz, die erste kommt nur scheinbar gen. Seit ihrer wissenschaftlichen Aner- gestaltung gibt es unterschiedliche Auf-
ohne aus, denn die Klammern reiben kennung im Jahre 1982 hat sich die Im- fassungen. Je größer die Kontaktfläche
Hartsubstanz ab. Darüber hinaus haben plantologie aber so weiterentwickelt, dass mit dem Kiefer, desto inniger und fester
herausnehmbare Prothesen mitunter man diese Technik heute vielfach als die wird die Verbindung. Die einfachste Ver-
deutliche Nachteile: Zum einen empfin- überlegene Methode bezeichnen kann. größerungs-Methode ist das Schrauben-
det sie der Patient anfangs meist als Der Grund: Implantate helfen fast immer, gewinde. Manche Implantate sind auch
Fremdkörper, zum anderen werden die die Begleit- und Folgeschäden herkömm- mit Hydroxylapatit beschichtet. Dieses
zur Befestigung genutzten Zähne über licher Prothesen zu vermeiden. In einer Material, das beispielsweise bei hochwer-
die Maßen belastet. Klammern als Halte- Studie von 1996 erwiesen sich 80 Prozent tigen Hüftgelenksimplantaten verwendet
elemente führen langfristig zum Abrieb der untersuchten Implantate nach zwan- wird, entspricht in der chemischen Zu-
von Schmelz, manchmal muss ein ge- zig Jahren als noch voll funktionstüchtig. sammensetzung etwa dem Knochen und
sunder Zahn überkront, das heißt be- Kein anderes Gebiet der Zahnmedizin hat kann deshalb eine enge, chemische Ver-
schliffen werden, und mitunter verstärkt im vergangenen Jahrzehnt auch nur annä- bindung mit ihm eingehen. Das Hydro-
Hebelwirkung die auf die Zähne wirken- hernd so viele wissenschaftliche Unter- xylapatit wird im Laufe der Zeit teilweise
de Kraft. Am Ende droht dann die Total- suchungen hervorgebraucht wie die Im- abgebaut und durch Knochen ersetzt.
prothese. Dass sie heute immer seltener plantologie. Neuere Wurzel-Typen vergrößern die Mi-
vorkommt, ist ein Erfolg von Prävention krooberfläche durch chemisches oder me-
und moderner Therapie. chanisches Aufrauen des Titans selbst;
Eindeutig komfortabler ist fest sit- man spricht dann von einer 3D-Struktur.
zender Zahnersatz; auch verursacht er Jeder Verlust an Zähnen und Kno-
weniger Folgeschäden. Problematisch chensubstanz erschwert aber auch eine
sind aber insbesondere die bekannten Behandlung mit Implantaten. Die aktuelle
„Brücken“: Intakte Zähne rechts und Forschung konzentriert sich deshalb nicht
links einer Lücke werden beschliffen mehr auf Fragen der Technik, sondern der
und überkront, daran wird der überbrü- Biologie: Wie kann man verloren gegan-
ckende Zahnersatz dauerhaft befestigt. gene Knochenmasse so weit wieder her-
20 Meter
Der Nachteil ist zunächst der Verlust ge- stellen, dass ein Implantat Halt findet?
sunder Substanz. Bei sehr großen Pro- Die wichtigsten, schon genutzten Lö-
thesen droht zudem wieder Überlastung, sungen sind: Die Transplantation körper-
denn die „Brückenpfeiler“ müssen ja nun eigenen Knochens aus anderen Kieferbe-
die gesamte Kaukraft aufnehmen. reichen, dem Hüftknochen oder Unter-
Hinzu kommt ein generelles Pro- schenkelknochen; der Einsatz tierischen
blem: Bei Zahnverlust geht meist auch Materials; seit 1999 die Stimulierung der
Kieferknochen verloren – gerade im äs- Knochenneubildung durch Wachstums-
thetisch wichtigen Frontbereich lassen faktoren, die von Rindern gewonnen
sich solche Defekte durch konventionel- wurden; das allmähliche Aufdehnen des
le Brücken und Prothesen nicht immer verbliebenen Knochens, um dessen Volu-
DEGUSSA

kaschieren. men zu erhöhen. Neuerdings gelingt es


Eine medizinisch und ästhetisch opti- auch, Wachstumsfaktoren durch Zentri-
male Lösung bieten Implantate. Das sind Implantate sind künstliche Zahnwurzeln. fugieren aus Patientenblut anzureichern.
Ihr Grundgerüst – meist Schrauben oder
fest im Kiefer eingepflanzte Verankerun- Stifte – wächst in das umgebende
Mit den meisten der erwähnten Ver-
gen, die mit einer einzelnen Krone verse- Knochengewebe des Kiefers ein. Auf fahren lassen sich zwar geradezu spekta-
hen oder als Träger von Prothesen ge- dem oberen Ende werden Kronen oder kuläre Erfolge erzielen, doch nur bei ent-
nutzt werden. Zu Beginn der Entwick- Brücken verankert. sprechend großer Erfahrung. Enorme

88 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


ZAHNTECHNIK
Interview mit Dr. Fritz-Josef Willmes, Präsident der Bundeszahnärztekammer

„Die Zahnarztpraxis als reine Reparaturwerkstatt ist ein Auslaufmodell.“


Spektrum: Ist eine Praxis mit fünf Jahre zehn Jahren hier zu Lande von durch-
Kann es Zahnge- alter technischer Ausstattung überhaupt schnittlich 3,9 auf 1,6 zurückgegangen.
sundheit für noch in der Lage, moderne Zahnheilkun- Dahinter steht zum einen die verbesserte
jedermann geben? de zu bieten? Mundhygiene als Ergebnis unserer Auf-
Der Präsident der
Bundeszahnärzte-
Willmes: Im Prinzip schon. Bei den klärungsarbeit etwa in Kindergärten und
kammer scheint meisten Maßnahmen zur Behandlung ka- Schulen. Dahinter stehen aber auch neue
INFO-Z

skeptisch. riöser Defekte, in der zahnärztlichen Produkte der Industrie als Ergebnis der
Chirurgie und auch beim Zahnersatz Forschung. So gibt es seit einiger Zeit
Spektrum der Wissenschaft: Es gibt spielt es in der Regel keine entscheiden- einen speziellen Kunststoff zum Ver-
viel Neues an zahnmedizinischer Technik de Rolle, ob man mit den Möglichkeiten schließen feiner Rillen auf den Backen-
für Diagnose und Therapie. Was hat Otto von vor fünf Jahren arbeiten muss. Neue zähnen. Das reduziert Bakterienherde.
Normalverbraucher davon? Methoden sind aber oft schonender. Die Dritte Deutsche Mundgesundheits-
Dr. Willmes: Er profitiert vom Zuwachs Wenn zum Beispiel eine Ecke angebro- studie, die 1999 veröffentlicht wurde,
an Wissen, aber nicht immer von neuer chen ist, muss man eben nicht mehr den weist nach, dass Kinder ohne solche Fis-
Technik. Nicht jeder Zahnarzt kann de- verbliebenen gesunden Zahn abschleifen surenversiegelung durchschnittlich 2,2
ren ganzes Spektrum anbieten, denn die von Karies betroffene Zähne hatten, be-
Anschaffung neuer Geräte geht ins Geld handelte Kinder hingegen nur 1,3. Auf
und muss sich rechnen. Doch 90 Prozent diese Ergebnisse sind wir sehr stolz.
der Bundesbürger sind in der Gesetzli- Spektrum: Können nicht auch Erwach-
chen Krankenkasse versichert, und die sene Sorgenkinder sein? Wie steht es
kann für ihre Versicherten nur einen be- denn mit deren Zahngesundheit?
stimmten Leistungskatalog anbieten – Willmes: Natürlich gibt es auch da Fort-
bei zusätzlicher Einschränkung durch die schritte. Jedes gut sitzende Implantat
Budgetpolitik der Regierung. Zu diesem schützt den Kieferknochen vor mögli-
Katalog gehören weder das gesündere cher Fehlbelastung. Von den gentechni-
digitale Röntgen noch zahnfarbene Fül- schen Entwicklungen, die ja noch gar
lungen, noch Implantate. Das sind des- nicht in aller Tragweite abzusehen sind,
halb Privatleistungen. Das bedeutet: gar nicht zu reden. So wird beispielswei-
Grundversorgung für alle und weiterge- se erforscht, wie man Kariesbakterien
hende Leistungen als Wahlangebote bei soweit verändern kann, dass sie keine
privater Zuzahlung. Ein entsprechender Säuren mehr produzieren.
Katalog ist in Arbeit. Spektrum: Immer bessere Prophylaxe,
Spektrum: Angenommen, ich wäre be- und eine Krone draufsetzen, sondern medizinischer Fortschritt – wie sehen Sie
reit, für eine neue Technik selbst Geld kann das fehlende Stück mit Komposit die Zukunft Ihres Berufsstandes?
hinzulegen, wie finde ich denn den Zahn- Schicht für Schicht wieder aufbauen. Willmes: Die Zahnarztpraxis als reine
arzt, der sie einsetzt? Spektrum: Wie steht es mit der Prophy- Reparaturwerkstatt ist ein Auslaufmo-
Willmes: Fast alle Zahnärztekammern laxe? Können die neuen Entwicklungen dell. Wir werden noch mehr als heute
haben Patientenberatungsstellen einge- Zahn- und Munderkrankungen zurück- schon Ansprechpartner „rund um den
richtet, viele führen Listen der auf be- drängen? Mund“ sein, die Patienten begleiten und
stimmte Behandlungen spezialisierten Willmes: Es sieht so aus. Die Statistik beraten. Allerdings wird der Umfang sol-
Ärzte. Angaben zu fachlicher Qualifizie- zeigt uns, dass die Zahngesundheit bei cher Leistungen stark davon abhängen,
rung, Zertifizierungen und dergleichen Kindern und Jugendlichen ganz deutlich dass Zahngesundheit für jedermann von
erlauben Rückschlüsse auf die gesuchte besser geworden ist. Bei 12-Jährigen – der Politik auch wirklich gewollt wird.
Therapiemethode. Allerdings beruhen eine international gebräuchliche Ver-
diese Einträge auf Selbstangaben der gleichsgruppe – ist die Zahl der durch Die Fragen stellte die Berliner
Zahnärzte. Karies geschädigten Zähne in den letzten Medizinjournalistin Birgit Dohlus.

Forschungsanstrengungen sind noch 150 000 Mark. Zahnlosigkeit lässt sich Dennoch glaube ich, dass die Implan-
vonnöten, um die Verfahren zu standardi- unter den Vorgaben einer Sozialversiche- tologie im Verein mit einer Wiederherstel-
sieren und als Regelangebot in den Pra- rung damit wohl nicht beheben. Mit der lung des Kieferknochens immer mehr in
xen einzuführen. größeren Verbreitung – 1998 wurden in den Industrieländern zur Standardlösung
Bleibt die Frage nach den Kosten. Deutschland immerhin etwa 190000 bei Zahnverlust werden wird – sie ent-
Ein Implantat mit Krone beläuft sich je Zahnimplantate eingesetzt – dürfte sich spricht einfach am ehesten den natürli-
nach Aufwand auf 3000 bis 6000 Mark. der hohe Preis etwas reduzieren. chen Verhältnissen gesunder Zähne. Aus
Bei kleineren Behandlungen ist das da- finanziellen, manchmal auch aus prakti-
mit kaum teurer als konventionelle Kro- schen Gründen werden aber konventio-
nen. Anders aber bei umfangreichen Re- Peter A. Ehrl studierte Medizin und nelle Brücken und Kronen weiter existie-
konstruktionen. Der Extremfall – eine Zahnmedizin. Er arbei- ren. Zu wünschen wäre, dass durch eine
herausnehmbare Totalprothese – kostet tet als niedergelassener Verbesserung der Prävention Zahnverlust
1000 bis 8 000 Mark, eine Totalimplanta- Arzt und Zahnarzt für immer seltener vorkommt oder zumindest
tion – bei der fast immer auch ein Kiefer- Oralchirurgie. Ehrl ist nur noch einzelne Zähne ersetzt werden
aufbau notwendig ist – etwa 30 000 bis Gutachter für Implan- müssen statt ganzer Zahngruppen. ■
tologie und forschender
Implantologe.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 89
TECHNOSKOP

PARODONTITIS schwereren Fällen muss er das Zahn-


fleisch von der Wurzel ablösen, zurück-
klappen und nach der Reinigung wieder
Das schleichende Übel festnähen. Etwa 95 Prozent der Fälle las-
sen sich so erfolgreich behandeln. Die
restlichen fünf Prozent benötigen noch
Patienten im mittleren Alter verlieren Zähne eher durch aufwendigere Techniken.
Parodontitis als infolge von Karies. Denn oft wird die Den sehr fest haftenden Zahnstein
mit der Kürette zu entfernen, kostet eini-
Krankheit zu spät erkannt. ges an Kraft. Deshalb kamen 1955 Ultra-
schallscaler auf den Markt. Sie sollten
den Belag durch Vibrationen zertrüm-
Von Peter Purucker
mern. Elektrisch angetrieben schwingt
eine schlanke konische Spitze 25 000-

E
s beginnt ganz harmlos mit ein des Halteapparates. Wie sinnvoll dieses bis 40000-mal pro Sekunde. Diese Gerä-
wenig Zahnfleischbluten beim Vorgehen ist, zeigen medizinische Stu- te wurden in den letzten Jahren weiter-
Zähneputzen. Ohne gute Mund- dien der letzten zehn Jahre. Die relativ entwickelt, jedoch ist auch mit neueren
hygiene bilden sich im Laufe von etwa große Wundfläche der Infektionsherde nur im oberen Taschenbereich die voll-
zwanzig Jahren Zahnfleischtaschen, wirkt nämlich auf den gesamten Organis- ständige Zahnsteinentfernung möglich.
ohne dass der Patient dies wahrnimmt. mus und fördert beispielsweise Herz- Nachteil dieser Geräte ist, dass die
Häufig schwindet dann auch das Zahn- Kreislauferkrankungen; Schwangere mit hohen Frequenz von den Patienten als
fleisch und die empfindlichen Zahnhälse unbehandelter Parodontitis gebären häufi- eher unangenehm empfunden werden
liegen mehr und mehr frei. Im fortge- ger untergewichtige Kinder als gesunde. und dass sich die Spitze stark erwärmt.
schrittenen Stadium beginnen schließlich Behandlung tut also Not, zumal auch Dem wirkt eine Wasserspraykühlung
die Zähne zu wackeln, und manchmal der Kieferknochen durch wiederholte entgegen, doch der Spraynebel (fachlich
wandern sie sogar einige Millimeter zur Entzündungen Substanz verlieren kann – Aerosol) kann Bakterien in der Raumluft
Seite oder nach vorne. Am Schluss fallen daher das Wandern von Zähnen. Die De- verteilen, sodass eine gute Luftabsau-
sie aus oder müssen gezogen werden. vise lautet schlicht: Entfernen von Bio- gung durch die Zahnarzthelferin erfor-
Dieser Prozess der Parodontitis, film und Zahnstein, damit der Halte- derlich ist. Als weiteres Gerät zu mecha-
fälschlicherweise meist „Parodontose“ apparat, unterstützt durch sorgfältige nischen Zahnsteinentfernung durch Vi-
genannt, kostet Menschen im mittleren Mundhygiene und Nachsorge, ausheilt. brationen sind Airscaler im Gebrauch,
Alter mehr Zähne als die eher beachtete Wer im frühen Stadium der Erkran- die mit niedrigeren Frequenzen um 3000
Karies. Dabei ist diese Entzündung des kung den Arzt aufsucht, kommt mit ei- bis 6000 Schwingungen pro Sekunde
Zahnhalteapparates (fachlich „Parodont“) nem „minimal-invasiven“ Eingriff da- (Hertz) arbeiten. Diese werden pneuma-
im frühen Stadium sehr leicht zu behan- von: Unter örtlicher Betäubung nutzt der tisch, ähnlich wie eine Zahnarztturbine
deln, in späteren allerdings nur mit er- Therapeut die Zahntasche als Eingang, angetrieben. Die Vor- und Nachteile sind
heblichem Aufwand. um den Biofilm und Zahnstein mit so mit den Ultraschallgeräten vergleichbar.
Ursache ist ein bakterieller Belag, genannten Küretten zu entfernen. Das Bei fortgeschrittener Erkrankung
der sich auf der Oberfläche der Zahn- sind schmale scharfe Löffel, mit denen muss bei beiden Systemen das Zahn-
wurzel, also unterhalb des Zahnfleisch- der Zahnstein „weggekratzt“ und die fleisch weggeklappt werden, um den
randes bei schlechter Mundhygiene aus- Wurzel schabend gereinigt wird. In Zahnstein erreichen zu können. Proble-
bildet. Insbesondere regelmäßiges matisch erweisen sich insbesondere die
Reinigen der Zahnzwischenräume schwer zugänglichen Mehrfachwurzeln
kann dem entgegensteuern. von Backenzähnen. Dafür werden seit
Diese Mikroorganismen produ- 1988 Airscaler mit Arbeitsspitzen ver-
zieren Enzyme und Giftstoffe, die wendet, die mehrfach abgewinkelt sind
wiederum die bindegewebeartige und eine diamantierte verdickte Spitze
Wurzelhaut angreifen, die ein elasti- zur gezielten Wurzelbearbeitung besit-
sches Kissen um die Wurzel bildet zen. Ein neuartiger Ultraschallscaler mit
und mit Kollagenfasern den Zahn im linear schwingender Arbeitsspitze und
Kieferknochen verankert. Zudem geringerer Wärmeentwicklung wurde an
PROF. MEYLE / DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR PARODONTOLOGIE

„verkalkt“ der Biofilm auf der Seite der Universität Tübingen entwickelt.
der Zahnwurzel zu Zahnstein, des- Der Wunschtraum wäre natürlich ein
sen raue, zerklüftete Oberfläche Scaler, der den Zahnstein geräuschlos
weiteren Bakterien das Anheften ohne jeden mechanischen Druck und
und Bewachsen erleichtert.
Auch das Zahnfleisch ist durch
Bindegewebsfasern mit dem Zahn-
hals verbunden. Die Lockerung die- Gesundes Zahnfleisch ist blass-rosa
ser Struktur bringt eine Tasche her- und füllt die Zwischenräume zwischen
vor, in der sich nun die weitere Ent- den Zähnen (oben), bei einer Parodonti-
zündung abspielt. Das Immunsystem tis wirkt es hingegen gerötet und leicht
geschwollen, die Zwischenräume liegen
versucht, die Infektion in den Griff frei (unten). Bei diesem Patienten sind
zu bekommen, und sei es durch Op- die Zähne bereits gelockert und der
fern des Zahns, also weiteren Abbau knöcherne Unterbau teilweise verloren.

90 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


ZAHNTECHNIK

Der Zahn – harte Schale, weicher Kern

Der Zahnschmelz umgibt


das Zahnbein im Kronen-
bereich Acht Schneide- und
vier Eckzähne schnei-
den, durchstoßen und
zerreißen unsere Nah-
rung, 16 Backenzähne
Das Zahnbein (Dentin) zermahlen sie zu Brei.

Zahnkrone
bildet die Hauptmasse Im Laufe des Lebens
bewältigen die natürli-
chen Zähne beziehungs-
weise ihr Ersatz nicht
Im Zahnmark (Pulpa) weniger als 20 Tonnen
verlaufen Nerven und an Speisen. Dazu sind
Blutgefäße sie wie ein Verbund-
werkstoff aus harten
Materialien aufgebaut
und fest, doch gleichzei-
Das Zahnfleisch (Gingiva) tig elastisch im Kiefer-

Zahnhals
schützt den Halteapparat knochen verankert.
Das Zahnbein (Den-
tin) bildet den Löwen-
anteil des Zahns und
Der Zahnhalteapparat
wird von speziellen Zel-
besteht aus zwei Anteilen: len in dem so genann-
Knochenartiger Zement ten Zahnmark (Pulpa) in
umgibt das Dentin im gewissem Maße immer
Wurzelbereich, Wurzelhaut wieder erneuert.
verbindet den Zahn In feinen Kanälchen
elastisch mit dem Kiefer. durchziehen Nervenfa-
sern vom Mark ausge-
hend das Zahnbein.
Zahnwurzel
Werden sie gereizt, etwa
Der Kieferknochen
wenn Karies das Dentin
bildet das Zahnfach
(Alveole), in dem die angreift oder an frei lie-
Zahnwurzel genden Zahnhälsen,
verankert ist senden sie Schmerzsi-
gnale. Dann sollte der
Gang zum Zahnarzt
INFOGRAFIK: MEDICAL ART SERVICE

nicht weiter aufgescho-


Durch den Wurzel- ben werden.
kanal ziehen Nerven
und Blutgefäße zur
Pulpa QUELLE: GESUNDHEIT, WORT & BILD
VERLAG, APRIL 2000.

möglichst selektiv abträgt. Seit etwa Rauigkeiten erzeugt, die für die Heilung den Praxen tätig (in Deutschland weni-
1990 sind entsprechende Lasersysteme nicht von Nachteil sind. Langzeitstudien ger als hundert). Das Wichtigste für den
in der Erprobung. Durch eine Heranfüh- stehen aber noch aus. Langzeiterfolg der Behandlung ist je-
rung des Laserlichtes über keilförmige Alle technischen Raffinessen können doch die tägliche Reinigung der Zahn-
Lichtleiter an die Wurzeloberfläche lässt aber nur eines: Den akuten Prozess stop- zwischenräume durch den Patienten und
sich auch tief liegender Zahnstein errei- pen. Ein erneutes Aufflammen muss die hier zählen Deutschland und Österreich
chen. Nur die innersten Wurzelbereiche regelmäßige Nachsorge und die tägliche noch zu den Entwicklungsländern. ■
großer Backenzähne bereiten auch hier Mundhygiene des Patienten verhindern.
noch Probleme. Lichtpulse aus einem Er- Die Nachsorge wird in der Schweiz seit
bium-YAG-Laser, die im Wasser des fast dreißig Jahren durch speziell ausge-
Zahnsteins stark absorbiert werden, brin- bildete zahnärztliche Fachhelferinnen, so Peter Purucker ist Oberarzt
gen den Zahnstein sozusagen zur Explo- genannte Dentalhygienikerinnen, durch- der Abteilung Parodontolo-
sion, und zwar bei richtiger Anwendung geführt. In Deutschland oder Österreich gie und synoptische Zahn-
ohne die darunter liegende Wurzel stark sind diese für die Behandlung unersetzli- medizin am Universitäts-
zu beschädigen. Es werden nur geringe chen Fachkräfte leider nur vereinzelt in klinikum Charité der
Humboldt-Universität zu
Berlin.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 91
TECHNOSKOP

RESTAURATIONSTECHNIK

앶앸
Der Zahnarzt als Restaurator:
Modellieren mit Kompositen
Direkte Kunststoffaufbauten eignen sich oft als Alter-
native zu laborgefertigten Überkronungen und Inlays.
Ihre Vorteile: weniger Materialabtrag, geringere Kosten.

앶앸
Von Hans Jörg Staehle

Z
um Weltmeister im Verbrauch Substanz chemisch auflösen, sowie spe-
von Zahngold geriet die Bundes- zielle Lasersysteme. Die hohen Erwar-
republik Deutschland, als vor tungen an die letzten beiden Verfahren
etwa dreißig Jahren der „Prothetik- haben sich aber bislang nicht erfüllt.
Boom“ einsetzte. Kronen waren gefragt, Deutlicher reduzieren neue Instrumen-
Schäden vorbeugen und Substanz erhal- tenformen und präzise rotierende bezie-
ten zweitrangig. Doch inzwischen findet hungsweise oszillierende Geräte zum ge- Ein Zahnhöcker ist von einem mit einem Metall-
ein Umdenken statt. Dazu wurden Prä- zielten Materialabtrag die Belastungen Inlay versorgten kleinen Backenzahn abgebro-
parationstechniken für sehr gezielte Ein- beim „Bohren“. Außerdem gibt es heute chen (oben). Der entstandene Defekt wurde mit
griffe in den letzten Jahren immer mehr bessere, plastisch verarbeitbare Materia- einem zahnfarbenen Komposit direkt im Mund
verfeinert. Zahnhartsubstanzen werden lien, die sozusagen das Anfertigen von des Patienten repariert (unten).
meist entweder mit Hilfe schleifender Zahnersatz direkt im Mund des Patienten
oder schneidender Instrumente auf Dia- erlauben; der Schritt ins Labor entfällt. ➤ Reparaturen an bereits vorhandenen,
mant- oder Hartmetallbasis mechanisch Meist sind die Materialien Verbund- mittlerweile schadhaft gewordenen Res-
abgetragen. Hinzu kommen für be- werkstoffe, auch Komposite genannt, taurationen;
stimmte Einsatzgebiete Partikelstrahler, aus einer organischen Grundsubstanz ➤ das Schienen verletzter Zähne,
deren Anwendung im Grunde dem Sand- und anorganischen Füllstoffen. Erstere ➤ ja sogar Ecken-, Höcker- und Kro-
strahlen von Gebäuden vergleichbar ist. macht etwa ein Fünftel der Masse aus nenaufbauten von Einzelzähnen.
Es gibt auch Gele, die karies-befallene und besteht meist aus Acrylatkunststof- Der Zahnarzt hat somit heute mehr
fen oder so genannten Siloxanen. Den Behandlungsmöglichkeiten bei Zahn-
überwiegenden anorganischen Anteil bil- schäden als noch vor wenigen Jahren. Er
den beispielsweise winzige Glaspartikel kann bei ein- und demselben Defekt di-
von weniger als einem tausendstel Milli- rekt versorgen wie auch eine indirekte,
meter Durchmesser; eine dünne Be- laborgefertigte Restauration vornehmen.
schichtung sorgt für ihren innigen Ver- Beide Methoden haben ihre Vor- und
bund zum Kunststoff. Nachteile, Patient und Arzt müssen ge-
Bis vor wenigen Jahren eigneten sich meinsam den Einzelfall abwägen.
solche Komposite hauptsächlich zur Ver- Die herkömmliche, indirekte Restau-
sorgung kleinerer und mittlerer Zahn- ration kann schwierige Arbeitsgänge ins
schäden, insbesondere um Defekte in Labor verlagern und auf sehr bewährte
mechanisch wenig belasteten Zahnberei- Techniken zurückgreifen. Dafür ist sie
chen zu schließen. Mittlerweile sind sie aber oft mit einem erheblichen Verlust an
sehr viel verschleißfester geworden. natürlicher Zahnsubstanz und hohem
Auch gibt es bessere Techniken, die Ver- Aufwand verbunden. In diesen beiden
bindung mit den Zahnhartsubstanzen sta- Punkten siegt die direkte Restauration
ALLE FOTOS: HANS JÖRG STAEHLE

bil zu machen. So hat sich ihr Anwen- mit Kompositen. Viele Zwischenschritte
dungsbereich rasch vergrößert und um- der Herstellung entfallen, angefangen
fasst beispielsweise von der Abformung präparierter Zähne
➤ die langfristige Versiegelung von über die Herstellung von Modellen und
gefährdeten Einkerbungen im Zahn- Provisorien bis hin zur Anfertigung der
schmelz (so genannten Fissuren und Werkstücke im Labor. Direkt einge-
Grübchen) im Rahmen der Kariesvor- brachte zahnfarbene Restaurationen sind
beugung; zwar deutlich teurer als zum Beispiel
Fehlende Schneidezähne hinterließen bei ➤ die dauerhafte Versorgung von Schä- Amalgamfüllungen, aber immer noch
diesem Patienten (oben) unschöne
Lücken. Deshalb wurden die vorhandenen den (zum Beispiel infolge Karies) im kostengünstiger als etwa Inlays oder
Zähne mit direkt aufgetragenem, zahnfar- Front- und Seitenzahnbereich; Überkronungen.
benem Komposit-Material etwas verbrei- ➤ Korrekturen von Farbe oder Form von Von Nachteil ist allerdings die hohe
tert und verlängert (unten). Zähnen, etwa um Lücken zu schließen; Empfindlichkeit gegenüber Verarbei-

92 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


ZAHNTECHNIK

tungsfehlern. Schwierige Arbeitsgänge, schen einzusetzen. Dies gilt auch für die rung und ausreichende Fluoridzufuhr tra-
die früher in das Techniklabor verlegt in den letzten Jahren oft zu Unrecht atta- gen das ihre dazu bei, die im Lauf des
wurden, erfolgen direkt im Mund des Pa- ckierten Amalgame. Unverträglichkeits- Lebens eingebrachten zahnärztlichen
tienten. Das Arbeitsfeld muss vor allem erscheinungen wie etwa Allergien sind Restaurationen bis ins hohe Alter ästhe-
übersichtlich und trocken sein, besonders insgesamt sehr selten und können durch tisch ansprechend und funktionsfähig zu
bei schwer zugänglichen Bereichen oder nahezu alle zahnärztlichen Restauratio- erhalten. ■
gar unter das Zahnfleisch reichenden De- nen hervorgerufen werden.
fekten keine leicht zu erfüllende Forde- Ob eine Versorgung von
rung. Die bisherigen Erfahrungen zeigen Dauer ist oder nicht, entscheidet
aber, dass Kompositrestaurationen unter auch der Patient durch seine Hans Jörg Staehle studierte Zahn- und
günstigen Voraussetzungen ihre Funktion Hygiene. Insbesondere solche Humanmedizin. Er wurde
jahrelang erfüllen können, Langzeiterfah- Areale bedürfen besonderer 1990 Ordinarius und Ärzt-
rungen liegen aber kaum vor. Sauberkeit, die als Nischen für licher Direktor der Polikli-
Hinsichtlich der gesundheitlichen bakterienhaltige Beläge in Fra- nik für Zahnerhaltungskun-
Verträglichkeit ist es nach aktuellem ge kommen. Dazu zählen zum de an der Universität
Wissensstand medizinisch vertretbar, Beispiel die Zahnzwischenräu- Heidelberg. Staehle ist seit
sämtliche der heute gebräuchlichen Res- me, die mit Zahnseiden oder 1997 Sprecher der Deut-
taurationsmaterialien wie Komposite, speziellen Bürsten erreicht wer- schen Hochschullehrer für
Keramiken und Gussmetalle am Men- den. Eine ausgewogene Ernäh- Zahnerhaltung.

Ästhetik der Frontzähne

Hollywood-Lächeln für jedermann?


S chöne Menschen haben schöne
Zähne, glaubt man Fernsehen und
Printmedien. Die Wirklichkeit sieht meist
modellieren. Der Vorteil: Die Oberfläche
des gesunden Zahns muss lediglich auf-
geraut, nicht beschliffen werden. Schließ-
Längen-Verhältnis der Zähne oder ihre
Größenbeziehungen untereinander wer-
den als angenehm empfunden, wenn sie
anders aus: 20 bis 40 Prozent der Nie- lich gibt es natürlich auch die Möglich- dem „Goldenen Schnitt“ nahe kommen.
derländer beklagen, einer Studie zufolge, keit, im Rahmen von Sanierungsmaßnah- Doch Achtung: eine natürliche „Front-
das Erscheinungsbild ihrer Frontzähne; men Überkronungen oder Implantate zu zahn-Komposition“ erfordert subtile Va-
etwa ein Drittel der täglichen Zahnbe- erwerben, die dem Mund ein angenehme- riationen, um nicht künstlich zu wirken.
handlungen in amerikanischen Praxen res Aussehen vermitteln. Deshalb dürfen und sollen beispielsweise
betreffen ästhetische Korrekturen. die mittleren Schneidezähne durch Grö-
Deren Bedeutung diskutieren Zahn-
mediziner seit den 30er Jahren. Damals
kam das berühmte Hollywood-Lächeln
D enn Zähne, Lippen und angrenzende
Gesichtsregion müssen ein „ge-
schlossenes Ganzes“ bilden, um schön
ße, Form oder Farbe im Frontzahnbogen
dominieren.

auf, das dem Publikum Schönheit und zu wirken. Disharmonien im Linienver- Burkhard Hugo
Jugend vortäuschte. In Wirklichkeit be- lauf hingegen stören den Eindruck, den Der Autor arbeitet als Oberarzt an der
stand es aus dünnen Keramikschalen, ein Lächeln hinterlassen sollte. Be- Klinik für Zahnerhaltung und Parodonto-
die während der Dreharbeiten mit Pro- stimmte Proportionen wie das Breite- logie der Universität Würzburg.
thesenhaftpulver vorübergehend befes-
tigt wurden. Heute lässt sich derglei- INTERTOPICS
chen dauerhaft anbringen: Die Innen-
seite der meist weniger als einen
Millimeter starken Verblendungen wird
ebenso wie die Zahnoberfläche vorbe-
handelt und beides dann mit Komposit-
kunststoffen dauerhaft verbunden. Ein
ausgefeilter Schichtaufbau und spezi-
elle Farben geben ein natürliches Aus-
sehen.
Alternativ dazu kann der Arzt
Kunststoffverblendungen auch direkt im
Mund fertigen – oder ,besser gesagt,

Die natürliche Zahnlinie der Sängerin Cher


entsprach nicht den Kriterien der Ästhetik.
Heute zeigt sie ein Hollywood-Lächeln dank
der Errungenschaften moderner Zahnmedizin.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 93


FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT

STEINZEITLICHE FELSKUNST Wissenschaftler darauf schließen, wie


sich die Weltanschauung der dort leben-
den Völker gewandelt hat.
Jäger, Schamanen, Künstler Die ältesten bekannten Felsmalereien
entstanden vor ungefähr 30 000 Jahren,
in einer Zeit, als der moderne Mensch
Über den Ursprung der menschlichen Kunst in der Steinzeit den Neandertaler in Europa verdrängte.
informiert eine Wanderausstellung. Sie zeigt unter anderem die Die künstlerische Tätigkeit kam also re-
ältesten „Bilder“ der Menschheitsgeschichte. lativ spät in der Entwicklung des Men-
schen auf. Der Neandertaler und andere
Frühmenschen haben sicherlich ebenfalls
ders als Steinwerkzeuge oder Reste von über hoch entwickelte geistige, soziale
Von Uwe Reichert
Wohnstätten, die den Archäologen Rück- und handwerkliche Fähigkeiten verfügt.
schlüsse auf die handwerklichen Fertig- Das symbolische und kreative Denken,

S
ie sind in Höhlen, auf Felswänden, keiten und das Umfeld früherer Kulturen wie es für die darstellende und abstrakte
auf Findlingen und auf flachen Fels- erlauben, liefern die Felsmalereien näm- Kunst erforderlich ist, scheint aber ein
oberflächen zu finden: Darstellungen lich auch Einblicke in die Vorstellungs- Merkmal des modernen Menschen, des
von Menschen und Tieren, ausgeführt welt unserer Vorfahren. Während manche Homo sapiens sapiens, zu sein.
von unbekannten steinzeitlichen Künst- Bilder Szenen aus dem Alltag oder von Irgendwann vor einigen zehntausend
lern. Die angewandten Herstellungstech- der Jagd darstellen, zeigen viele offenbar Jahren muss das menschliche Gehirn ei-
niken sind so vielfältig wie die gezeigten religiöse Riten und Zeremonien. nen gewaltigen Evolutionssprung vollzo-
Motive und die Kulturkreise, in denen sie Zahlreiche Malereien und Ritzungen gen haben, der eine neue Fähigkeit mit
entstanden. Mal wurden die Bilder mit sind gewiss auch während der Durchfüh- sich brachte, die man als gedankliche Be-
den Fingern oder mit Pinseln aus den rung von Ritualen entstanden – dies er- weglichkeit bezeichnen kann. Der mo-
Schwanzhaaren kleiner Tiere gemalt, mal gibt sich allein schon aus der Besonder- derne Mensch vermochte damit die
wurde die Farbe durch ein Röhrchen ge- heit mancher Fundorte und aus der gro- Denkweisen und Wissensbereiche, die
blasen oder einfach aufgespuckt. Ande- ßen Anzahl der Bilder. Die Felsritzungen bei seinen Vorläufern noch klar getrennt
re prähistorische Künstler nutzten Stein- in Alta (Nordnorwegen) zum Beispiel be- waren, frei zu integrieren und zu kombi-
hämmer oder -messer, um die Symbole in decken ein Areal von mehreren tausend nieren. Dies gab ihm die Möglichkeit,
glatte Felsoberflächen zu meißeln oder Quadratmetern. Die ältesten Gravuren sich in Metaphern und Analogien auszu-
zu ritzen. dort entstanden vor mehr als 6000 Jah- drücken, was die Grundlage für Religion,
Was dem modernen Betrachter wie ren; die jüngsten sind etwa 2500 Jahre Kunst und schließlich auch Wissenschaft
eine primitive Kritzelei erscheinen mag, alt. Etwa 200 Generationen haben also an bildete. Diese bemerkenswerte kulturelle
wurde vor Jahrtausenden mit hoher Prä- dieser Stelle Figuren und Szenen in den Weiterentwicklung ist eng mit der Aus-
zision gefertigt. Vor allem der einzigarti- Fels geritzt. Aus den Veränderungen, die breitung des modernen Menschen über
ge Symbolgehalt der Bilder ist für die im Laufe der Zeit an den Motiven und alle Teile der Welt und mit dem Ausster-
Forschung von großer Bedeutung. An- deren Komposition auftraten, können ben anderer Menschentypen verbunden.
UNITED EXHIBITS GROUP

Die Ausstellung „Mensch“ ist im Niederösterreichischen


Landesmuseum in St. Pölten bis zum 11. Februar zu
sehen (täglich von 10 bis 18 Uhr). Anschließend wird
sie in zahlreichen europäischen Städten gezeigt.

Zwei Beispiele für steinzeitliche Kunst:


UNITED EXHIBITS GROUP

Die „Great Gallery“ im Osten von Utah besteht aus roten


Malereien an den Felswänden des Hufeisen-Canyons
(oben); die menschenähnlichen, ohne Arme und Beine
dargestellten Figuren erinnern an Geister. Die Felsritzun-
gen im nordnorwegischen Alta enthalten die ältesten
94 Darstellungen von Gattern zur Rentierjagd (rechts). SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001
Über die geistigen Entwicklungs- schen Felsbilder sind in großen Diora- wird die kulturhistorische Ausstellung
schritte des Menschen, wie sie sich in men nachgebildet: Chauvet und Lascaux durch Originalexponate wie Kultfiguren,
den jahrtausendealten Felsmalereien wi- (Frankreich), Alta (Norwegen), Huashan Trommeln, Jagdwerkzeuge und Klei-
derspiegeln, informiert die Ausstellung (China), Kakadu (Australien), Great Gal- dungsstücke von Schamanen. ■
„Mensch: Jäger, Schamane, Künstler“, lery (USA) und Drakensberg (Südafrika).
die zur Zeit in St. Pölten (Niederöster- Interaktive Spiele und Medienstationen
reich) und anschließend auch in ande- ermöglichen es den Besuchern, die Ent- Uwe Reichert ist Redakteur bei
ren Städten Europas zu sehen ist. Einige wicklungslinie vom Steinzeit- zum heuti- Spektrum der Wissenschaft.
der weltweit zu findenden prähistori- gen Menschen nachzuzeichnen. Ergänzt

KULTURELLER AUSTAUSCH lebenden 15 Millionen Maghrebiner.


„Wir wollen den jungen entwurzelten
beurres in den Pariser Vorort-Wohnsilos
Zwischen Orient und Okzident zeigen, dass die arabische Welt nicht ir-
gendeine unterentwickelte Dritte Welt
ist, sondern eine große Zivilisation.“
Das „Institut du Monde Arabe“ in Paris trägt mit seiner Mit spezifischen Kinder- und Jugend-
Konzeption zum interkulturellen Dialog zwischen den programmen möchte IMA alle Jugendli-
europäischen und den arabischen Ländern bei. chen ansprechen. So genannte „Ateliers“
führen ganze Schulklassen in das Reich
des Orients. „Und dort werden genau die

IMA
Kinder zur geistigen Quelle, die sonst auf
Von Anat-Katharina Kálmán Grund ihrer maghrebinischen oder suda-
nesischen Herkunft scheinbar die Be-
nachteiligten sind“, erklärt Anita Dolfus,

A
ls die westliche Welt 1974 in die ers-
te Ölkrise schlitterte, schlug der da- die Leiterin der pädagogischen Abtei-
malige französische Staatspräsident lung. „Denn hier erklären sie ihren
Valéry Giscard d’Estaing vor, eine Insti- Schulkameraden die Buchstaben ihres
tution zur Verbesserung der Beziehungen Alphabets, die Bedeutung ihrer Symbole
zwischen Europa und den arabischen oder etwa die Qualität ihrer Stoffe. Und
Ländern einzurichten. Er dachte dabei an die anderen verstehen mit einem Mal,
einen Ort des intellektuellen Austau- dass auch dieses Kind Träger einer Kul-
sches, an eine Art euro-arabischer Akade- tur ist. Das ändert dann oft vieles in der
mie der Wissenschaften. Dass daraus Beziehung der Kinder untereinander.“
dann das „Institut du Monde Arabe“ –
kurz IMA genannt – wurde, ist jedoch Knotenpunkt des
seinem Nachfolger François Mitterrand wissenschaftlichen Austauschs
zu verdanken, der diese Idee Mitte der
achtziger Jahre wieder aufgriff. Eröffnet Eine permanente Ausstellung bietet eine
wurde dieses Kulturinstitut mit Sitz in allgemeine Einführung in die Geschichte
Paris schließlich im Jahre 1987. der arabischen Länder. Ansonsten arbei-
Zu jenem Zeitpunkt stand freilich tet das IMA vor allem thematisch. Je-
noch nicht fest, wie die einzelnen, zu- weils mehrere Monate lang sind alle Ver-
nächst disparat erscheinenden wissen- Die Wurzeln der andalusischen Kul- anstaltungen einem bestimmten Land
schaftlichen und künstlerischen Bereiche tur werden durch eine Ausstellung im oder einer bestimmten Epoche gewidmet.
zusammenwirken sollten. „Das alles hat Institut du Monde Arabe in ein Mehrere große Ausstellungen – wie zum
sich erst im Laufe der Zeit aus der prakti- neues Licht gerückt. Beispiel über den Jemen und den Sudan –
schen Erfahrung heraus entwickelt“, er- wurden anschließend auch in anderen
läutert Brahim Alaoui, der Direktor des Weltstädten innerhalb und außerhalb Eu-
IMA. Heute ist das Institut einzigartig in losophischen und wissenschaftlichen ropas gezeigt. Für Alaoui ist es jedes Mal
der ganzen Welt. Es möchte die kulturelle Verbindungen zwischen dem christlichen „ein Abenteuer, die Ausstellungsobjekte
Vielfalt der gesamtarabischen Geschichte Europa des Mittelalters und der arabi- aus solchen Ländern wie etwa dem Je-
in die breite Öffentlichkeit tragen und be- schen Welt Nordafrikas. „Allein die Re- men nach Europa zu holen, denn das
dient sich dazu einer vielfältigen Palette naissance hätte es nicht gegeben, ohne heißt, mit den lokalen Behörden der
an Mitteln: Forschung, Bibliothek, Me- den intensiven islamisch-jüdisch-christli- kleinen Museen zu verhandeln, ihre
diathek, Ausstellungen, Jugendateliers chen Austausch im maurischen Andalu- Sprache zu sprechen und ihre Mentali-
und Musikveranstaltungen. sien“, hebt Alaoui hervor. Aber auch in täten zu kennen.“
Das IMA will unter anderem bewusst der Gegenwart möchte der Institutsleiter Die jeweiligen Ausstellungen werden
machen, dass die arabische Welt nicht die Verbindungen zwischen der abend- thematisch von wissenschaftlichen Vor-
ausschließlich eine islamische ist, son- ländischen und der orientalischen Welt trägen und Diskussionsabenden zu Fra-
dern eine Fülle an Religionen und Kultu- fördern. Sein Programm richtet sich des- gen der jeweiligen Politik, der Kultur, der
ren beherbergt. Zudem beleuchtet es im- halb nicht nur an ein allgemeines Publi- Geographie und der Geschichte begleitet.

mer wieder die engen literarischen, phi- kum, sondern auch an die in Frankreich Ein Teil der Referenten und Künstler

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 95


FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT

kommt aus den jeweils vor- Arabische Gelehrte des Mittelalters


gestellten Ländern. Um das – hier der Mathematiker Abu
wissenschaftliche Niveau zu l-Wafa al-Busdjani – haben die
kulturelle Entwicklung Europas
gewährleisten, hat das IMA maßgeblich geprägt.
einen eigenen Lehrstuhl für
themenspezifische Gastpro-
fessuren eingerichtet, „der
zum Knotenpunkt zwischen
arabischen und französi-
schen Wissenschaftlern
wird“, so Philippe Cardinal,
der Direktor für Kommuni- das IMA alle zwei Jahre eine
kation. Deshalb ist das IMA „euro-arabische Buchmes-
heute der einzige Ort in ganz se“, auf der 1999 Marokko
Europa, an dem die namhaf- das Gastland gewesen war.
testen arabischen Wissen- Das Institut zählt mittler-
schaftler und Intellektuellen weile 300 000 Besucher pro
aufeinander treffen – so Jahr. Vierzig Prozent seines
etwa der Ägypter Ahmed Budgets muss es selbst er-
Zewail, Chemie-Nobelpreis- wirtschaften – hauptsächlich
träger des Jahres 1999, und durch die Einnahmen der

UWE REICHERT
Khair El Dine Hassab vom Ausstellungen und der haus-
Studienzentrum für die ara- eigenen Buchhandlung.
bische Einheit in Beirut. Unterstützt wird das IMA
In der umfangreichen vom französischen Staat und
Bibliothek des IMA mit mehr als 65 000 seltene arabische Werke, die sich mit der von der arabischen Liga. Die steigenden
Bänden sind drei wertvolle ehemalige Problematik der arabischen Nationa- Einnahmen und die ansehnlichen Besu-
Privatsammlungen enthalten, die so ge- lismen befassen. Der ägyptische Fonds cherzahlen sind für Alaoui aber vor allem
nannten „Fonds“. Der Fonds des franzö- Sayyid schließlich birgt 1800 Titel der ein Zeichen dafür, dass ihm und seinen
sischen Arztes Bernard Ninard umfasst arabischen Klassiker aus Literatur, Philo- Kollegen etwas ganz Wichtiges gelungen
2500 Werke in arabischer und französi- sophie und Ge- ist: die Öffnung hin
scher Sprache, seltene Lithographien, schichte. Auf Grund zu einem interkultu-
Zeichnungen und Skripte, die sich aus- des großen Interes- Anat-Katharina Kálmán lebt als freie rellen Dialog zwi-
schließlich auf Marokko beziehen. Der ses für arabische Li- Publizistin in Paris und Budapest. schen Orient und
syrische Fonds Qualagi enthält über 1000 teratur organisiert Okzident. ■

WISSENSCHAFTSORGANISATIONEN oft deutlich sehen – bei den eigensüchti-


gen Instituten können sie sich aber nur
schwer durchsetzen.
Revolution in der Mit dem Segen des Wissenschafts-
rats machen sich nun die HGF und

Forschungslandschaft die Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried


Wilhelm Leibniz (WGL) daran, ihre
Forschungsarbeit neu zu strukturieren. In
Der Wissenschaftsrat will, dass die Leibniz- und die seinen „Thesen zur künftigen Ent-
wicklung des Wissenschaftssystems in
Helmholtz-Gemeinschaft effektiver arbeiten. Inhalte gewinnen Deutschland“ hatte das zentrale deutsche
an Bedeutung, Einzelinteressen von Geldgebern und Wissenschaftsgremium im Juni 2000 die
Egoismen der Institute werden zurückgedrängt. Basis für die jetzt fälligen Systemevalua-
tionen dieser beiden Forschungsorgani-
sationen gelegt.
Verhandlungen mit dem politischen Die zusammenfassende Bewertung zu
Von G. Hartmut Altenmüller Geldgeber wollen sie eher ihren Bestand den Einrichtungen der „Blauen Liste“ er-
als ihre wissenschaftliche Qualität si- läuterte der Vorsitzende des Wissen-

B
und und Länder werden künftig chern. Es fällt ihnen schwer, Teile von schaftsrates, Winfried Schulze, im No-
weniger in die inhaltlichen Details „erworbenen“ Aufgaben an andere Ein- vember in Bonn. Vor drei Jahren hatten
der wissenschaftlichen Einrichtun- richtungen abzugeben oder einzelne Ab- sich 78 der 84 Institute zur WGL zusam-
gen hineinregieren können. Deren Steue- teilungen ganz zu schließen, um durch mengeschlossen (Spektrum der Wissen-
rung wird der Selbstverwaltung der For- Konzentration und Kooperation effizien- schaft, 11/97, S. 124). Sie sind jetzt „zu
schungsorganisationen anvertraut. ter zu forschen. Die Leitungen der Orga- einem unverzichtbaren Bestandteil der
Freilich sind die einzelnen Institute nisationen, insbesondere der Hermann deutschen Forschungslandschaft gewor-
der Forschungsorganisationen noch im- von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher den“, so Schulze. Neben ihrer wissen-

mer zu sehr in sich selbst versponnen. In Forschungszentren (HGF), mögen das schaftlichen Arbeit erbringen sie wichtige

96 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT

Serviceleistungen für die Forschung und men orientierte Förderung. Wie Schwer- früher evaluiert (Spektrum der Wissen-
sind in der Politikberatung und der Ausbil- punkte im Forschungsprozess begründet schaft, 4/99, S. 104, und 9/99, S. 96).
dung tätig. Weil dies von überregionaler werden, erläuterte Schulze während der Außer dem Wegfall der staatlichen
Bedeutung und gesamtstaatlichem Inter- HGF-Jahrestagung Ende November. Die Detailsteuerung werden gefordert:
esse ist, werden sie von Bund und Ländern Zentren wollen sich von der bloßen Res- ➤ ein deutlicherer Bezug zu Anwendun-
gemeinschaftlich – in der Regel zu je 50 sourcenverwaltung abkehren und die gen und zur Praxis,
Prozent – gefördert. Budgets inhaltlich über Forschungspro- ➤ der Ausbau der institutionenüber-
Auch die fünfzehn früheren Großfor- gramme steuern. In diese Richtung wird greifenden anwendungsorientierten Pro-
schungseinrichtungen in der HGF – die auch die Systemevaluation der HGF wei- grammförderung von Bund und Ländern,
sechzehnte, das GMD-Forschungszen- sen, die der Wissenschaftsrat noch im Ja- ➤ die intensivere Nutzung von Informa-
trum Informationstechnik, ist inzwischen nuar verabschieden will. tions- und Kommunikationstechniken,
zur Fraunhofer-Gesellschaft gewechselt Mit diesen beiden übergreifenden ➤ die stärkere Internationalisierung des
– haben ihr Selbstverständnis und ihre Bewertungen werden dann Stellungnah- deutschen Wissenschaftssystems sowie
Struktur geändert. An ihrer Finanzierung men des Wissenschaftsrates zu allen gro- ➤ eine unabhängige Struktur für die
mit öffentlichen Mitteln beteiligt sich der ßen Forschungsorganisationen vorliegen. Förderung der Grundlagenforschung auf
Bund zu 90, das jeweilige „Sitzland“ zu Die Fraunhofer-Gemeinschaft, die Max- europäischer Ebene.
10 Prozent. Ziel ist eine stärker an wis- Planck-Gesellschaft und die Deutsche Künftig müssen die Wissenschafts-
senschaftlichen Inhalten und Program- Forschungsgemeinschaft wurden bereits einrichtungen ihr jeweiliges Profil stärker

AM RANDE

Ins Hirn geguckt ten zwanzig Durchgänge schaffe ich


noch mit einiger Konzentration, aber

S eit ich hauptberuflich Wissen-


schaftsjournalist und damit prak-
tisch immer auf Themensuche bin,
ich wie Schrödingers Katze im Zu-
stand der Unentschiedenheit verhar-
ren, bis mir das Anforderungssymbol
danach beherrscht nur noch ein Ge-
danke das Objekt dieses Experi-
ments: Wann hört dieser Lärm auf?
studiere ich die Aushänge in meinem verrät, ob ich links oder rechts drü- Der Versuch soll etwa eine Stunde
ehemaligen Institut besonders gründ- cken soll. dauern, aber das Zeitgefühl ist unter
lich. Abgesagte Vorträge, alte Autos, Soweit ist alles klar. Das neurolo- diesen Bedingungen völlig abgeschal-
Studentenzimmer … halt, da ist was gische Korrelat der Genialität werden tet (zumal die Zeitintervalle in den
Interessantes. Es werden Versuchs- die beiden mit diesem Test wohl nicht Schritten des Experiments zufällig va-
personen für neuropsychologische Ex- entdecken, denke ich, aber vielleicht riiert werden).
perimente im Kernspin-Tomographen gibt’s ja wirklich einen Unterschied
gesucht. Ich wollte schon immer mal
wissen, wie so ein Ungetüm von innen
aussieht – dito in Bezug auf mein
zwischen den Malen, wo ich zehn Se-
kunden lang „links, links, links“ den-
ke, und jenen, wo ich in freudiger Er-
Z u einem gewissen Zeitpunkt ent-
schließe ich mich (immer in
dem Bewusstsein, dass jeder Gedanke
Hirn. Praktischerweise gibt’s einen regung auf das alles entscheidende irgendwo auf einem Bildschirm ein
Schnipsel zum Abreißen und Mitneh- Symbol warte. verdächtiges Flackern auslösen kann),
men, mit einer E-Mail-Adresse drauf. Dann geht’s los: Plastikbrille statt noch hundert Durchgänge dieses Idio-
Der Projektleiter ruft auch gleich meiner metallischen, zusätzlich Pris- tentests mitzumachen und dann den
zurück, innerhalb weniger Mi- Blasebalg zu drücken. Das Zäh-
nuten ist alles geklärt – ich len der Durchgänge hilft mir,
habe weder Klaustrophobie bei halbwegs klarem Verstand
noch Metallteile im Körper, und zu bleiben, und nach etwa fünf-
das Experiment ist völlig nicht- zig Runden ist das Experiment
invasiv. Magnetfelder sollte ich dann tatsächlich zu Ende (ab-
gerade noch aushalten, laut gesehen von weiteren fünf Mi-
„New Scientist“ machen sie so- nuten für ein Strukturbild, aber
gar glücklich. Wenn das mal die sind schon fast Erholung).
stimmt... Im Anschluss bleibt nicht
Knapp eine Woche später viel Zeit für wissenschaftliche
sitze ich dann in einem halb- Diskussionen, da der nächste
dunklen Labor am Computer, Kandidat schon im Vorberei-
um den Test schon mal im Tro- tungsraum ist. Ich bekomme
ckenen zu üben, während die immerhin noch einen dringend
zwei Hirnforscher ihren Magneten mengläser, damit ich um die Ecke benötigten Kaffee im Großraumbüro
starten. Wenn ein Kreis kommt, muss und aus der Röhre hinausgucken mit Tageslicht und ohne Lärm. Ich ver-
ich mir merken, dass ich ein paar Se- kann. Knöpfe zum Drücken in der suche, zu Hause anzurufen, kann mich
kunden später den linken Knopf drü- rechten Hand, ein Blasebalg als Not- aber zum ersten Mal in meinem Leben
cken muss, aber erst, wenn mich ein bremse in der linken. Ohrstöpsel und nicht an die eigene Telefonnummer er-
weiteres Symbol mit einem Fragezei- Kopfhörer, denn die Maschine ist innern. Liegt das jetzt an dem Idioten-
chen dazu auffordert. Es soll zwischen ziemlich laut. Warum, weiß keiner test, am Lärm oder am Magnetfeld? Es
der Planung und der Ausführung einer der Experten, ist eben so. Dann wer- gibt noch viel zu erforschen.
Handlung unterschieden werden. de ich in die Röhre geschoben, mein Michael Groß
Kommt ein Quadrat, dann muss ich dicker Kopf mit Kopfhörern passt erst
nach Anforderung den rechten Knopf im fünften Anlauf, und schließlich Der Autor ist Biochemiker
drücken, und bei einem Dreieck muss wird das Gerät angeworfen. Die ers- in Oxford.
98 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001
herausarbeiten. Grundsätzlich sollen sie
nur noch mit begrenztem Auftrag und zu-
nächst befristet eingerichtet werden.
Während die Deutsche Forschungsge-
meinschaft (DFG) das wichtigste Instru-
ment zur Finanzierung der Grundlagen-
forschung bleibt, wird die Förderung der
anwendungsbezogenen Forschung um- Neu in der
strukturiert und ausgebaut werden. Zwei Wissen-
Punkte sind hierbei besonders wichtig: schaftsge-
meinschaft
einerseits die Stärkung des institutionel- Gottfried
len Wettbewerbs sowie andererseits in- Wilhelm
tensivere Kooperationen zwischen unter- Leibniz: das

REINALD SCHORCHT
schiedlichen Wissenschaftseinrichtun- Hans-Knöll-
gen, die zum Teil komplexe Verbünde Institut für
bilden sollen. Naturstoff-
forschung
Die Leibniz-Institute sind aus den in Jena
fachlichen Bewertungen, die der Wissen-
schaftsrat in den letzten fünf Jahren vorge-
nommen hat, eindeutig gestärkt hervorge- Ebenen aufgebaut werden – sei es lokal, dam, das Diabetes-Forschungsinstitut in
gangen. Der WGL-Vorsitzende Frank Po- regional, überregional oder europäisch. Düsseldorf, das Deutsche Primatenzen-
bell sieht ihre Reputation und ihr Selbst- Ein aktuelles Beispiel dafür, wie örtli- trum in Göttingen, das Forschungsinsti-
bewusstsein gefestigt. Ihre mitunter als che Synergien entstehen können, ist das tut für Molekulare Pharmakologie in Ber-
„Gemischtwarenladen“ hämisch abgetane Institutsgelände Beutenberg in Jena. Dort lin und das Institut für Neurobiologie in
fachliche „Heterogenität“ – von der Palä- soll jetzt nach dem – durch seine Teilhabe Magdeburg angeschlossen.
ontologie bis zur Mikroelektronik, vom am Human-Genom-Projekt bekannt ge-
Institut für Deutsche Sprache, den Sozial- wordenen – Leibniz-Institut für Moleku- Forschungs-Netzwerke
und Wirtschaftsforschungsinstituten bis lare Biotechnologie auch das bisher lan-
zur Tropenmedizin und der Molekularen deseigene Hans-Knöll-Institut für Natur- Weiter gespannt als die entsprechende
Pharmakologie – wandelt sich zur födera- stoffforschung in die WGL aufgenommen WGL-Sektion ist das Netz des Material-
listischen Vielfalt als der eigentlichen werden. Im November empfahl der Wis- forschungsverbundes Dresden. In ihm ar-
„Mission“ der WGL, so der Wissen- senschaftsrat, eine Strukturkommission beiten drei Leibniz-Institute, elf Institute
schaftsrat. Dem Bundesrechnungshof, für den Campus Beutenberg Jena zu bil- der Technischen Universität, vier Fraun-
der jüngst den Aufwand der gemeinschaft- den, wo auch einige andere wissenschaft- hofer-Institute und eine Forschungsge-
lichen Bund-Länder-Förderung als ineffi- liche Institute ansässig sind. Dieses Gre- sellschaft zusammen. Ebenfalls in Dres-
zient kritisierte, hält der Wissenschaftsrat mium soll ein Konzept erarbeiten, wie die den wird ein Labor für gepulste, sehr
entgegen, die erwiesene Qualität der wis- beiden Institute intensiver zusammen- hohe Magnetfelder geplant, in dem Ein-
senschaftlichen Leistungen der Leibniz- arbeiten können. Mittelfristig dürfte da- richtungen der WGL, der Max-Planck-
Institute und ihre gute Synergie rechtfer- raus ein Zentrum für biomedizinische For- Gesellschaft und der Technischen Uni-
tigten den Koordinierungsaufwand. schung entstehen. versität kooperieren. In Berlin hebt der
Allerdings will und soll die WGL Schon in den vergangenen Jahren hat Wissenschaftsrat die Selbstorganisation
nicht eine „Trägerorganisation“ von Insti- die WGL die Zusammenarbeit zwischen interdisziplinärer Forschungsverbünde in
tuten werden wie etwa die Max-Planck- den eigenen Instituten und auch mit an- den Grenzbereichen zwischen Material-
Gesellschaft. Sie bleibt ein Verband deren verstärkt. In der Sektion Lebens- und Werkstoff- sowie Lebenswissen-
selbstständiger Institute. Doch die Wege wissenschaften zum Beispiel haben das schaften hervor. An ihnen sind neben
zu einer inhaltlichen wissenschaftlichen Forschungszentrum Borstel für Medizin Leibniz- und Helmholtz-Instituten auch
Steuerung wer- und Biowissen- die Universitäten und industrieeigene
den ausgebaut. So schaften, das Einrichtungen beteiligt. Sie trügen, so
wird ein Teil ihrer Bernhard-Nocht- lobt der Wissenschaftsrat, „als Koordi-
regulären Mittel
Eigenes Profil stärken, Institut für Tro- nierungs- und Programmverbünde … zur
bei der DFG de- Zusammenarbeit intensivieren penmedizin und Schwerpunktbildung und Profilierung
poniert und von das Heinrich-Pet- der Berliner Forschung bei“.
dieser auf Antrag te-Institut für Ex- Sechs Leibniz-Einrichtungen berei-
sowie nach wissenschaftlicher Begutach- perimentelle Virologie eine so genannte ten eine bundesweite Kooperation auf
tung vergeben. Ähnlich funktioniert der biomedizinische Allianz vereinbart, die dem Forschungsfeld der Biodiversität
zentrale Strategiefonds der HGF. auch Einrichtungen der Medizinischen vor. Auch in den Raum-, Wirtschafts- und
Der Wissenschaftsrat drängt darauf, Universität Lübeck und der Universität Umweltwissenschaften sind in der WGL
dass die WGL- und HGF-Institute die Ko- Hamburg einschließt. Daraus soll ein ge- Ansätze zur Zusammenarbeit zu erken-
operationsmöglichkeiten nicht nur mit meinsamer Sonderforschungsbereich nen, die dem Wissenschaftsrat zufolge al-
Einrichtungen innerhalb ihrer eigenen entstehen. Der biomedizinischen Allianz lerdings verstärkt werden müssten.
„Säule“, sondern auch mit anderen öffent- haben sich über die Region Hamburg- Wesentlich weiter reichen Selbstor-
lich oder privat finanzierten Partnern nut- Lübeck hinaus auch das Leibniz-Institut ganisationspläne zur Neuordnung der ge-
zen, insbesondere mit Universitäten und für Molekulare Biotechnologie in Jena, samten medizinischen Forschung in
Fachhochschulen. Netzwerke und kom- das Deutsche Institut für Ernährungsfor- Deutschland, die aus den Reihen der

plexe Verbundstrukturen können auf allen schung in Bergholz-Rehbrücke bei Pots- HGF dem Wissenschaftsrat vorgelegt

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 (Seiten 100, 101 und 102: Anzeige und Beihefter) 99
wurden. Dieser Bereich ist der erste, in
dem sie, wie ihr Vorsitzender Detlev
Ganten sagte, die programmorientierte
Förderung realisieren will. An die Stelle
eines bisher schon in Teilen bestehenden
Klinisch-Biomedizinischen Forschungs-
verbundes, an dem die HGF festhalten
➣ Axel Andersson Akademie ➣ Hüthig Fachverlage
will, soll nach dem amerikanischen Vor- http://www.schule-des-schreibens.de Juristische, Technische und
bild der National Institutes of Health eine Astronomische Literatur
Organisation „Deutsche Zentren für Ge- http://www.huethig.de
sundheitsforschung“ (DZG) treten. Der ➣ Aus der Forschung in die Praxis
Intitiator Harald zur Hausen, Leiter des Technologische Innovationen ➣ Spektrum
Deutschen Krebsforschungszentrums http://www.ruhr-uni-bochum.de/rubitec
Akademischer Verlag
(DKFZ) in Heidelberg, will die wissen- http://www.spektrum-verlag.com
schaftlichen Aufgaben in klarer Arbeits-
teilung den Helmholtz-Instituten DKFZ ➣ Bayer AG
http://www.bayer.com ➣ Sterne und Weltraum Verlag
(Krebs), Max-Delbrück-Zentrum für http://www.mpia-hd.mpg.de/suw/suw
Molekulare Medizin in Berlin-Buch
(Herz und Kreislauf), GSF-Forschungs- ➣ The Boston Consulting Group
zentrum für Umwelt und Gesundheit in ➣ TFG VENTURE CAPITAL
Unternehmensberatung THE HIGH-TECH INVESTORS
München-Neuherberg (Allergien) sowie http://www.bcg.de http://www.tfg.de
Gesellschaft für Biotechnologische For-
schung in Braunschweig (Infektionen)
zuteilen. Leibniz-Institute sollen in die- ➣ Corporate Quality Akademie ➣ TU München, Prof. Dr. B. Wolf
Schulungen im Qualitätsmanagement Heinz-Nixdorf-Lehrstuhl
sem Rahmen die drei Komplexe Ernäh- für Medizinische Elektronik
http://www.cqa.de
rung, Gehirn und Tropenmedizin über- Ime@ei.tum.de

➣ Deutsches Atomforum e.V. ➣ X-PRESS Multimedia


G. Hartmut Altenmüller ist Informationskreis Kernenergie Foto • Video •· digital imaging
Bonner Korrespondent von http://www.kernenergie.de
www.xpressmultimedia.de
Spektrum der Wissenschaft.
➣ Forum MedizinTechnik und ➣ Zuse – Multimedia-
nehmen. An der Spitze der Deutschen Pharma in Bayern e.V. Anwendungen
Zentren für Gesundheitsforschung sollen Innovationen für die Medizin Konrad Zuse Multimedia Show
http://www.forum-medtech-pharma.de http://home.t-online.de/home/horst.zuse
ein Präsident und ein Senat stehen.
Sowohl dieser Plan als auch die Ak-
tivitäten in der Leibniz-Gemeinschaft
zeigen, dass das deutsche Wissenschafts-
system gründlicher als je zuvor umge-
staltet werden wird. In den politischen
Entscheidungen wird der Einfluss des
Staates erhalten oder sogar noch gestärkt. Hier können Sie den Leserinnen und Lesern von Spektrum der
„Der durch Koordinationsmechanismen Wissenschaft Ihre WWW-Adresse mitteilen. Für 8 80,00 (DM
kontrollierte Wettbewerb von Bund und 156,47) pro Monat (zzgl. MwSt.) erhalten Sie einen dreizeiligen Ein-
Ländern um die optimale Förderung der trag bestehend aus einer Branchenzeile, Firmenname und WWW-
Wissenschaft stellt sicher, dass in den Adresse. Zusätzlich erscheint Ihre Anzeige als Link-Eintrag auf der
Prozess der Formulierung und Aushand- Internetseite von Spektrum der Wissenschaft.
lung der Wissenschaftspolitik eine Viel-
zahl unterschiedlicher Impulse eingehen Informationen erhalten Sie direkt von
können“, stellt der Wissenschaftsrat fest. GWP media-marketing
Für den eigentlichen Wissenschaftsbe- Anzeigenverkauf Spektrum der Wissenschaft • Sabine Ebert
reich jedoch sollen die „Mechanismen Telefon (0 62 21) 504 749 • Telefax (0 62 21) 504 758
der Selbstregulation“ wirksam und ver- E-Mail: s.ebert@vhb.de
stärkt werden. Er sollte auch frei gehalten
werden von den „traditionellen Stereo- Mit der Veröffentlichung Ihrer WWW-Adresse im Heft und im
typen der Argumentation und Praxis in Internetangebot von Spektrum der Wissenschaft erreichen Sie
Wissenschaftspolitik und -administra- eine gehobene Zielgruppe und erzielen für Ihre Online-Kommu-
tion“. Die „vermeintlichen Gegensätze“ nikation hohe Aufmerksamkeitswerte.
Grundlagenforschung/anwendungsorien-
tierte Forschung sowie wissenschafts-
orientierte Bildung und praxisorientierte
Ausbildung, von denen das heutige Sys-
tem noch immer bestimmt ist, sollten der
Vergangenheit angehören. ■

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 103


REZENSIONEN

UR- UND FRÜHGESCHICHTE noch unter den „primitiven“ zeitgenössi-


schen Andamanen. Gleichwohl war da-
Ralf W. Schmitz und Jürgen Thissen mit etwas Unerhörtes geschehen: Die
Neandertal Gattung Mensch war erstmals in zwei Ar-
ten geteilt, den tumben Ureuropäer und
Die Geschichte geht weiter seinen – bei großer kultureller Variations-
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2000. breite – intelligenteren Nachfolger, den
327 Seiten, DM 49,80 modernen Menschen.
Damit begann eine bis heute hitzig
ach Untersuchung dieses Gerippes, gewannen das wilde Tal und seine Grotten geführte Diskussion: Wie sind die ver-

N namentlich des Schädels, gehörte


das menschliche Wesen zu dem Ge-
schlecht der Flachköpfe, deren noch heu-
einen Ruf als Festort der Düsseldorfer
Maler. Freilich mussten diese bald der In-
dustrialisierung weichen, weil die Talkal-
wandtschaftlichen Beziehungen zwi-
schen den beiden Menschengruppen? Es
nahm der Auseinandersetzung kaum an
te im amerikanischen Westen wohnen ... ke nicht nur als Baumaterial, sondern in Schärfe, dass inzwischen ältere, atavisti-
Vielleicht trägt dieser Fund zur Erörte- gewaltigen Mengen für die Hochofenver- scher wirkende Menschenarten, vom Ho-
rung der Frage bei, ob diese Gerippe ei- hüttung der nahen Eisenerze benötigt wur- mo erectus bis zum Homo ergaster, ge-
nem mitteleuropäischen Urvolke, oder den. Nur weil der die Nutzung störende funden wurden, die bis auf 1,8 Millionen
bloss einer (mit Attila ?) streifenden Hor- Lehm der Höhlen ausgeräumt wurde, ka- Jahre datiert werden können.
de angehört haben.“ So schrieben lokale men die in ihm eingebetteten Fossilien Derweil blieb weitgehend unbeachtet,
Zeitungen im September 1856, einen und damit auch der Neandertaler zu Tage. was wir unterdessen durch zahlreiche
Monat, nachdem bei der Ausräumung ei- Fuhlrott fand mancherlei Unterstüt- neue Funde vom Leben und von den Leis-
ner Grotte im Neandertal nahe Düssel- zung für seine frühe Datierung. Der Bon- tungen der Neandertaler wissen: Sie leb-
dorf Überreste eines merkwürdigen Ske- ner Anatom Hermann Schaaffhausen pu- ten erfolgreich über einen Zeitraum von
letts geborgen und von dem Amateurpa- blizierte den Fund 1858 und wies ihn mindestens 150 000, vielleicht 250 000
läontologen Johann Carl Fuhlrott aus dem Ausgang des Diluviums zu, dessen Jahren im westlichen Eurasien. Sie sam-
dem nahen Elberfeld für menschlich und Datierung damals noch unsicher war. Zu- melten und jagten Nieder- und Hochwild
sehr alt erklärt worden waren. Damit be- gleich erklärte er ihn für atavistischer als in den warmzeitlichen Auen und Steppen.
gannen die vielen – mehr oder weniger die „roheste“ der heutigen Rassen; er sei Aber sie drangen auch in die eiszeitliche
wissenschaftlichen – Versuche, die Fund- zu jenen „Autochthonen“ zu stellen, die Strauchtundra vor, als diese sich vor
stücke mit Leben zu erfüllen. von den neu einwandernden „Indogerma- 70 000 bis 60 000 Jahren bis in den Raum
Die Archäologen und Urgeschichtler nen“ vorgefunden und verdrängt wurden. von Braunschweig ausbreitete. Selbst mit
Ralf W. Schmitz und Jürgen Thissen be- Andere sahen in dem Fund einen gefalle- Stein- und Knochenspitzen bewehrte
richten nicht nur über den Fund, sondern nen Kosaken oder erklärten, wie der be- Jagdwaffen nutzten sie schon und legten
vor allem über den Fundort, ursprünglich rühmte Pathologe Rudolf Virchow, die bereits Gräber an. In der Ukraine kennen
ein wildromantisches Durchbruchstal der Form der Knochen mit einer rachitischen wir große von ihnen gebaute Hütten.
Düssel, an dem sie selbst intensive Feld- Erkrankung.
und Laborforschungen betreiben. Trotz großer Bedenken wegen der of- Vermischung oder Verdrängung?
Das Tal erhielt seinen Namen nach fensichtlichen Nähe zu den Schimpansen
dem barocken Kirchenliederdichter, der wies 1864 der irische Forscher William Im westlichen Vorderasien tauchten be-
seinen Namen Neumann zu Neander grä- King den Fund der neuen Spezies Homo reits vor 80 000 bis 60 000 Jahren Men-
zisierte. Ob er wirklich jemals dort war, neanderthalensis zu. Allerdings klassifi- schenformen auf, die keine „typischen“
bleibt ungewiss. Zur Zeit der Romantik zierte er sie auch als „sittlich umnachtet“, Neandertaler sind. Sie werden wechselnd
als Übergangsformen zum oder als
Mischlinge mit dem modernen Men-
Die Lithographie von 1826 zeigt ein Künstlerfest in der Neanderhöhle. schen angesehen, von denen freilich dort
kein einziger gefunden wurde. Das Pro-
blem wird in das fundarme Afrika ver-
schoben, wo es zwar atavistische Zeitge-
nossen der Neandertaler, aber sie selbst
tatsächlich nicht gibt. Dafür haben an-
scheinend besonders „typische“ Nean-
dertaler in den für sie günstigen relativ
warmen Waldsteppenräumen des südli-
cheren Europas bis vor 35 000 Jahren,
vielleicht sogar noch länger überdauert
und eigenständige materielle Ausstattun-
gen hinterlassen. Ein Szenario, das sehr
gut zu einer allmählichen Veränderung
der beiden Arten passen würde. Aber
selbst dort wird jene Schwelle erreicht,
an der nach gerade einmal einem Jahr-
hundert kein Urenkel mehr das typische
Neandertalergesicht des Urgroßvaters
hat, sondern die dominant vererbten
Züge der „modernen“ Menschen. Und

104 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


auch seine schweren Wurfspeere bauen Auch dies ist nicht überraschend, Höhlensedimente aus der Steinbruchzeit
sie nicht mehr. Ein Szenario, das Über- wenn man sich vergegenwärtigt, dass alle des Neandertals wieder, sondern neben
schneidungen, Vermischungen und auch menschlichen Populationen über die Zei- Steingeräten aus Neandertalers Zeiten
Wanderungsbewegungen über weit offe- ten hinweg in einheitlicher Entwick- sogar ein Knochenfragment, das sich
ne Grenzen hinweg nicht ausschließt. lungstendenz ihre frontalen Hirnpartien nach 143 Jahren zweifelsfrei an einen
Demnach wären auch in uns selbst ausgebaut und damit auch den Stirnbe- Oberschenkel des „Urfundes“ von 1856
Teile des körperlichen und geistigen Er- reich ständig aufgewölbt haben. Je nach anpassen ließ.
bes der Neandertaler erhalten geblieben. den ökologischen Vorgaben, zu denen Die Grabungen vor Ort sind noch im
Dem widersprechen auch nicht die neu- auch die Dichte der jeweiligen Populatio- Gange und werden unser Wissen über
esten genetischen Ähnlichkeitsanalysen nen gehört, sind dabei unterschiedliche den Neandertaler und seine Zeit noch
an Zellkernresten. Denn wie die Autoren Beschleunigungen zu erwarten. weiter mehren.
detailreich und spannend berichten, lie- Ganz andere Aspekte berühren die Hansjürgen Müller-Beck
gen die Werte bei Knochenproben vom letzten Kapitel, in denen die Autoren
Originalfund immer noch im Streube- ihre beharrlichen und beispielhaften feld- Der Rezensent ist emeritierter Professor
reich moderner, mehr als 40 000 bis archäologischen Arbeiten darstellen. Da- für Ur- und Frühgeschichte an der
50 000 Jahre jüngerer Vergleichsserien. bei fanden sie tatsächlich nicht nur alte Universität Tübingen.

WISSENSCHAFTSSOZIOLOGIE Bettina Heintz hat dazu in Interviews


am Bonner Max-Planck-Institut für Ma-
Bettina Heintz thematik herauszufinden versucht, wie
Die Innenwelt der Mathematik Mathematiker arbeiten und welches
Selbstverständnis sie dabei haben. So er-
Springer, Wien 2000. 318 Seiten, DM 69,– fährt man, woran ein Mathematiker noch
lange vor dem Beweis zu erkennen

M
athematisches Wissen gilt als erfah- diesen „Quasi-Empirismus“ setzt Saun- glaubt, ob eine Behauptung wahr ist
rungsunabhängig – a priori in Kants ders MacLane, ein führender Mathemati- („Schönheit“), was es mit dem „Auf-
Ausdrucksweise – und damit sicher. ker unserer Tage, die Behauptung „Mathe- schreiben“ – allgemein mit der symbo-
Es wird begründet durch Beweise und ist matics rests on proof and proof is eternal” lischen Dimension von Mathematik – auf
dadurch in aller Regel nicht kontrovers. und gibt damit wohl die Mehrheitsansicht sich hat und wie Mathematiker über die
Das Gebäude der Mathematik wird Stein der mathematischen Gemeinschaft wie- Möglichkeiten denken, die der Computer
um Stein kumulativ aufgeführt, unbehel- der. Die Soziologie sieht die Mathematik bietet. Interessante Fragen, zu denen bis-


ligt von Revolutionen, wie sie andere doch deutlich anders als diese sich selbst. lang wenig Material vorlag.
Wissenschaften heimsuchen. Und ihre
Gegenstände existieren außerhalb von
Zeit und Raum – soweit die gängige
WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
Vorstellung. „Die moderne Mathematik
zeichnet sich durch Merkmale aus, die für Hal Hellman
eine soziologische Analyse tatsächlich
kaum Raum mehr lassen“, konzediert Zoff im Elfenbeinturm
Bettina Heintz gegen Ende ihres Buches. Aus dem Englischen von Anna Schleitzer
Dennoch gelingt es ihr, 275 oft hochinter- VCH-Wiley, Weinheim 2000. 245 Seiten, DM 48,–
essante Seiten mit einer solchen zu füllen.
it der Wissenschaft ist es wie mit pute? Wo bleibt dann der zwischen Ein-
Auf die Frage „Was ist Mathematik?“
gibt Heintz eine informative Übersicht
zu den verschiedensten Positionen in
M dem Leben. Was macht sie interes-
sant? Das Neue, das gesucht und gefun-
stein, Schrödinger, Bohr und Heisen-
berg ausgetragene Streit um die Kopen-
der Mathematikphilosophie. Den Anfang den wird. Was macht sie schmackhaft? hagener Deutung der Quantenmecha-
machen die altbekannten „ismen“: Pla- Der deftige Disput. Der amerikanische nik? Oder geht es um eine möglichst
tonismus, Intuitionismus und Formalis- Wissenschaftsjournalist Hal Hellman breite Themenstreuung – warum aber
mus. Eine markante Schwierigkeit ist das hat zehn der größten neuzeitlichen Wis- bleiben dann ganze Fachbereiche aus-
Truth/proof-Problem: Wie lässt es sich senschaftsdispute episodenhaft in ei- gespart? Gab es in der Chemie etwa nie
erklären, dass Beweisbarkeit und Wahr- nem Buch versammelt, und es ist ihm nennenswerte Kontroversen?
heit in der Mathematik zusammenfallen? gelungen, auf dem schmalen Grat zwi- In jedem Fall ist der Anekdoten-
Oder ist das gar nicht so? schen wissenschaftlicher Authentizität zyklus lesenswert, vor allem weil Hell-
Im Anschluss an Karl Popper hat Imre und Vermittlung von Lesespaß zu be- man am Ende eines jeden Kapitels – ob
Lakatos 1963 in „Beweise und Widerle- stehen. Seine Aufbereitung bedeuten- es sich nun um Infinitesimalrechnung,
gungen“ die geschichtliche Bedingtheit der Streitfälle ist brav („Urban VIII. ge- Fossilien oder Gene dreht – den histori-
mathematischen Wissens herausgestellt. gen Galilei“) bis brillant („Wegener ge- schen Streitfall noch einmal mit dem
Dieses entwickle sich in einem Wechsel- gen alle: Die Kontinentaldrift“); allein heutigen Stand der Dinge in Beziehung
spiel von Beweisversuchen, Widerlegun- die Auswahl seiner Top Ten erscheint setzt. Und so vermittelt er nicht nur
gen, Präzisierungen und erneuten Beweis- nicht ganz einsichtig. Geht es hier historisches, sondern auch aktuelles
versuchen und habe damit die Qualität wirklich um die „lebendigsten“ jemals Wissen.
von Erfahrungswissen: „Ein Beweis ist im ausgetragenen wissenschaftlichen Dis- Carsten Könneker
Prinzip immer nur wahr auf Zeit.“ Gegen

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 105


REZENSIONEN

ZOOLOGIE weitgehend anonymen Wissenschaftler-


gemeinschaft gegenüber. Die Überzeu-
Preben Bang (Text) und Preben Dahlström (Zeichnungen) gungsarbeit ist heute medienvermittelt;
Tierspuren sie bedient sich verallgemeinerter sym-
bolisch vermittelter Kommunikation. Da-
Fährten, Fraßspuren, Losungen, Gewölle und andere mit ist man mitten in der modernen So-
Aus dem Dänischen von Walther Thiede ziologie gelandet mit bedeutenden Na-
BLV, München 2000. 264 Seiten, DM 39,90 men wie Mead, Habermas und Luhmann
– die man im Zusammenhang mit Mathe-

Dbuch:erBandhandliche, dennoch umfangreiche


wähnt, wie der aus Nordamerika stam-
ist mehr als ein Bestimmungs-
mende Waschbär oder der asiatische
eine spannende kleine Einfüh-
Muntjak, ein kleiner nach England und
matik nicht zu hören gewohnt ist.
Die Herausbildung dieser neuartigen
konsensbildenden Kommunikationsmit-
rung in „Naturkunde“, die durchaus Frankreich eingeführter Hirsch. tel geht auf Veränderungen des 19. Jahr-
als unterhaltsame Wohnzimmerlektüre Naturliebhaber werden in dieser hunderts zurück: die Professionalisierung
herhalten kann. nach dreißig Jahren des Mathematikerberufes, insbesondere
Anhand zahlrei- stark überarbeiteten, des Mathematiklehrers an höheren Schu-
cher Fotos und Skiz- erweiterten Neuauf- len und Universitäten, die starke zahlen-
zen zeigen die däni- lage manche Anre- mäßige Zunahme von Berufsmathemati-
schen Autoren, wel- gung zu neuen Ent- kern (erst recht in der zweiten Hälfte des
che Spuren nord- deckungen finden 20. Jahrhunderts), die Abgrenzung der
und mitteleuropäi- sowie Antworten auf Mathematik gegen Nachbargebiete wie
sche Säugetiere und eigene Beobachtun- theoretische Physik und die fortschreiten-
vor allem größere gen. Wer endlich de Verzahnung von Forschung und Lehre.
Vögel bei ihren ver- wissen möchte, wie Diese machten strenge, möglichst kon-
schiedenen Aktionen die „Schmiede“ ei- textunabhängige Beweise notwendig und
hinterlassen. Sie er- nes Buntspechts aus- führten zu jenem grundlegenden Wandel,
klären, wie spezifi- sieht oder ein von den man gerne mit Felix Kleins eingängi-
sche Fährten und Staren bearbeiteter gem Terminus „Arithmetisierung“ nennt.
Fraßspuren entste- Kuhfladen, dem sei Herausgekommen ist die Mathematik, die
hen, wie Bauten und dieses sachkundig wir kennen, ohne „Spuren menschlicher
Markierungen aus- und liebevoll ge- Herkunft“.
sehen, woran die Ex- Der Große Buntspecht keilt Na- schriebene wie auch Gerade diese Sichtweise ist diskussi-
kremente zu unter- delbaumzapfen mit der Spitze
nach oben in irgendwelchen Spal-
gestaltete Bestim- onswürdig; so halte ich die These vom
scheiden sind und ten fest und hackt mit seinem mungsbuch warm Einfluss der Lehre noch für nicht ausrei-
mehr. Auch „Neu- meißelförmigen Schnabel die Sa- empfohlen. chend belegt. Zu prüfen wäre auch, wie
bürger“ werden er- men heraus. Adelheid Stahnke groß der Unterschied zwischen moder-
nen und traditionellen Beweisen – etwa
bei Euklid – wirklich ist. Hier wäre noch
viel mathematikhistorische Feinarbeit zu
Einen Ansatzpunkt für die soziolo- telt zwischen der subjektiven Evidenz, leisten.
gische Analyse liefert eine Funktion des die ein Mathematiker empfindet, und Für einen Mathematiker, der das Sche-
Beweises: Ein Beweis soll die mathema- dem Kritikbedürfnis anderer Experten. ma Definition–Satz–Beweis–Beispiel ver-
tische Gemeinschaft überzeugen, er ist Damit stellt sich aber das Problem innerlicht hat, ist vieles an diesem Buch
Mittel der Kommunikation. Die Produk- der Interpretation, denn Beweise spre- gewöhnungsbedürftig – darunter vieles,
tion mathematischen Wissens (unter Ein- chen nicht für sich selbst. Real existie- das hier nicht erwähnt werden kann; aber
schluss von dessen Kommunikation) ist rende Beweise sind niemals vollständig die Mühe wird belohnt durch zahlreiche
damit sozial konditioniert. Die traditio- formalisiert. Folglich muss der Interpret neue Aspekte und Einsichten. Eine umfas-
nellen wissenschaftstheoretischen Kon- Vorwissen mitbringen, von dem wiede- sendere Sicht der Mathematik ist immer
texte Entdeckungs- und Begründungs- rum seine Interpretation beeinflusst wird. ein Gewinn, gerade für ein Fach, das noch
zusammenhang (context of discovery, Es zeigt sich so der in den Geisteswissen- mehr als andere im Elfenbeinturm steckt,
context of justification) sind zu ergänzen schaften gut bekannte hemeneutische und gerade im „Jahr der Mathematik“
durch einen Überzeugungszusammen- Zirkel – wohl unerwartet, geht man von 2000. Und Bettina Heintz setzt keines-
hang (context of persuasion). der üblichen Sicht der Mathematik aus. wegs der einen Borniertheit eine andere
Zentrale These der Autorin ist: „Der gegenüber: Sie entsagt jedem Alleinver-
Beweis ist ... ein hochgradig normiertes Mathematiker-Soziologie tretungsanspruch der soziologischen
Kommunikationsverfahren, das die spe- Sichtweise, betont in wohltuender Weise
zifischen Verständigungsprobleme der Überhaupt ist es ein großes Verdienst die- immer wieder die Wichtigkeit anderer Zu-
Mathematik zu lösen hilft.“ Er ist unter ses Buches, zu zeigen, dass viele Fragen, gänge und relativiert die eigene Analyse.
anderem ein Reflex darauf, dass die Ge- die in anderen Kontexten geläufig sind, Klaus Volkert
genstände der Mathematik nicht sinnlich auch für das Verständnis der Mathematik
gegeben sind, folglich die konsensbilden- relevant sind. Der Rezensent ist Akademischer Rat im
den Verfahren der Naturwissenschaften Während bis weit ins 18. Jahrhundert Fach Mathematik an der Pädagogischen
nicht angewandt werden können. Der Be- der meist über Briefe vermittelte persön- Hochschule Heidelberg und Privatdozent
weis dient dazu, Intersubjektivität und liche Kontakt eine Schlüsselrolle spielte, für Geschichte der Mathematik an der
Nachprüfbarkeit herzustellen; er vermit- sieht sich der heutige Mathematiker einer Universität Heidelberg.

106 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


REZENSIONEN

BIOLOGIE Extrem; er bleibt auf dem Boden des Ma-


terialismus, akzeptiert den Darwinismus
Steven Rose als zentrale Theorie und zitiert zustim-
Darwins gefährliche Erben mend den Populationsgenetiker Theodo-
sius Dobzhansky: „Nichts in der Biologie
Biologie jenseits der egoistischen Gene ergibt Sinn, außer im Lichte der Evolu-
Aus dem Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg tion.“ Im vorliegenden Buch konzentriert
C. H. Beck, München 2000. 363 Seiten, DM 49,90 er sich auf die naturwissenschaftliche,
biologie-interne Diskussion.

J
e mehr menschliche Gene und ihre Diese extreme und einseitige Ausprä- Die Wissenschaft kann das Verhältnis
Funktionen entschlüsselt werden, des- gung von Ultra-Darwinismus und Re- von Ursache und Wirkung auf verschiede-
to mehr Nahrung erhält die Diskus- duktionismus bleibt naturgemäß nicht nen Ebenen untersuchen. Warum springt
sion darüber, inwieweit der Mensch von ohne Widerspruch, und Steven Rose ist ein Frosch? Je nach Arbeitsgebiet und er-
seinen Erbfaktoren dirigiert wird. Eine seit Jahren einer ihrer erklärten Gegner. kenntnistheoretischem Standpunkt ant-
extreme Position vertritt der Soziobiolo- Der Londoner Neurobiologe weiß um die wortet ein Biologe: „Weil sich die Mus-
ge Richard Dawkins mit seiner These, politischen Implikationen des Themas keln zusammenziehen“, „weil der Frosch
wir seien von Natur aus nur „Überlebens- und will, da ihm die Inhalte und der „so- einer Gefahr entfliehen will“ oder „weil
maschinen“ und dienten der Weitergabe ziale Rahmen seiner Wissenschaft am sich sein Verhalten so entwickelt hat“.
der „egoistischen Gene“ an unsere Nach- Herzen“ liegen, die öffentliche Mei- Auf einer dieser Ebenen, so Rose,
kommen. Hinter jedem menschlichen nungsbildung nicht allein Autoren wie hat der Reduktionismus seinen legitimen
Verhalten sieht Dawkins das bedingungs- Dawkins überlassen; er warnt vor dem Platz. Aber seine Erhöhung zur Weltsicht
lose Wirken einzelner Gene. Sie streben ideologischen Gehalt von dessen Thesen. beruhe sowohl auf ungenügenden Vor-
auf diesem Wege danach, sich reprodu- Mit seinem neuen Buch legt Rose aussetzungen als auch auf Überinter-
zieren zu lassen, und sind folglich die eine gründliche Auseinandersetzung vor. pretation wenig überzeugender Versuchs-
alleinigen Angriffspunkte der Selektion. Dabei verfällt er keineswegs ins andere ergebnisse. Rose löst sich vom Gen als
alleinigem Untersuchungsgegenstand
und ordnet die Zusammenhänge auf den
einzelnen Stufen biologischer Komple-
MATHEMATIK xität: vom Gen über die Zelle zum Orga-
nismus.
Pierre Basieux „Das Gen für“ einen bestimmten We-
Die Architektur der Mathematik senszug kann es in Roses Augen gar nicht
geben, denn in einem Lebewesen mit
Denken in Strukturen eigener Geschichte, das ständig mit der
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2000. 187 Seiten, DM 16,90 Umwelt im Wechselspiel steht, antworten
jeweils mehrere Gene auf die sich än-

Pseinierre Basieux, Unternehmensberater


und gelernter Mathematiker, möchte
Buch als krönende Zusammen-
wand. Basieux erspart uns zwar die
„masochistische Tortur“ eines kompro-
misslosen Formalismus, wie die fran-
dernde Umgebung. Die Genomforschung
wird diese Einschätzung eher erhärten als
entkräften, zumal Wissenschaftler ver-
fassung seiner drei Essays „Die Welt zösische Gruppe Bourbaki ihn betrieb. stärkt nicht mehr nur einzelne Gene be-
als Roulette“ (1995), „Abenteuer Ma- Aber es gibt eine Fülle von Begriffen schreiben, sondern deren Interaktionen
thematik“ (1999; siehe Spektrum der zu lernen, deren Sinn und Zweck sich und ihr Zusammenwirken beim Entstehen
Wissenschaft 4/1999, S. 122) und „Die erst aus ihrer späteren Verwendung der Phänomene untersuchen.
Top Ten der schönsten mathematischen erschließt. Der Überbau bestimmt eben Die Sprechweise des Ultra-Darwinis-
Sätze“ (2000) verstanden wissen. doch weitgehend die Basis. mus vermag zwar mit eingängigen Meta-
Erst kommt das Gebäude und dann Auf dem Fundament des Mengen- phern wie der vom „egoistischen Gen“ zu
das Fundament – das ist nicht gerade, begriffs stehen drei Säulen, die ihrer- faszinieren, läuft dabei aber Gefahr, die
was ein Architekt unter „Architektur seits die Mathematik tragen. Es sind Dinge vereinfacht darzustellen: mit dem
der Mathematik“ verstehen würde, ent- drei Typen von Beziehungen unter den Ergebnis, dass Resultate außerhalb der
spricht aber der historischen Entwick- Elementen einer Menge: algebraische, wissenschaftlichen Gemeinschaft ver-
lung. Die Mathematik war gleichsam topologische und Ordnungsrelationen. zerrt wahrgenommen werden und sich
auf Sand gebaut, bis Georg Cantor In der Tat kann man von diesem radikal unerfüllbare Hoffnungen an sie knüpfen.
(1845 –1918) und seine Nachfolger sie abstrakten Standpunkt Gemeinsamkei- Auf eine sachliche Sprache gestützt und
mit der axiomatischen Mengenlehre ten zwischen weit entfernten Teilge- mit Rückgriffen auf Wissenschaftsphilo-
auf eine solidere Grundlage stellten. bieten sehen, die anderenfalls in der sophen wie Karl R. Popper und Thomas
Nun gibt es nichts mehr, was wegrut- Detailfülle untergehen würden. Kuhn, verleiht Rose der Diskussion
schen könnte, denn das ganze Gebäude Das Buch vertritt eine sehr spezi- erkennbar mehr kritische Substanz und
der Mathematik mit seinen „mehr als elle Sichtweise auf die Mathematik, das nötige Profil – und zieht ein für uns
dreitausend unterschiedlich speziali- die vom Leser erhebliche Denkarbeit attraktives Fazit: „Die Biologie macht
sierten Einzeldisziplinen“ ruht auf – verlangt. Basieux ist es gelungen, die- uns frei.“
der leeren Menge! ses spröde Thema in dem begrenzten Olaf Schmidt
Aus diesem Nichts den ganzen Rahmen eines Taschenbuchs schmack-
Reichtum mathematischer Strukturen haft aufzubereiten. Der Rezensent ist promovierter
zu konstruieren erfordert einigen Auf- Christoph Pöppe Molekularbiologe und Wissenschafts-
journalist in München.

108 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


REZENSIONEN

GESCHICHTE der kleinasiatischen Antike stützt sich vor


allem auf Fotografien von Ausgrabungs-
Dietrich Herrmann und Manfred Kühr stätten und Artefakten, Grundrisse und ei-
Rittertum & Mittelalter nige Rekonstruktionen. Zur Navigation
dient primär der „Stadtplan“, der Infor-
Streifzug durch eine faszinierende Welt mationen zu den jeweiligen Epochen, An-
CD-Rom. Theiss, Stuttgart 2000. Für PCs mit Windows und Pentium-Prozessor gaben zu den wichtigsten Gebäuden und
oder Macintosh PPC und höher. DM 69,– fiktive Vorträge bedeutender historischer
Personen bietet. Eine Menüleiste am
Jürgen Süß et al. unteren Rand ermöglicht auch einen di-
rekten Zugang über die „Zeittafel“ oder
Pergamon. Geschichte und Monumente der antiken Stadt den „Index“. Wie häufig bei CD-Roms ist
CD-Rom. Theiss, Stuttgart 2000. Für PCs mit Windows es etwas umständlich, von einem Link
und Pentium-Prozessor. DM 69,– wieder auf eine Seite zurückzukommen,
denn die Software merkt sich nur die je-

D
er Theiss-Verlag, Spezialist in Sa- vermitteln wichtige Informationen zur weils vorhergehende Seite.
chen Geschichte, nutzt mit seiner Zeit. Sie werden beim Aufrufen einer Obwohl dieses Werk viel von einem
CD-Rom-Reihe „Geschichtsmo- Seite vorgelesen, lassen sich aber auch Lehrbuch an sich hat, besticht seine klare
mente“ die Möglichkeiten des Mediums, einblenden. Die Menüführung ist einfach und verständliche Zusammenstellung der
um Fakten und Daten zur Historie an- nachvollziehbar, die erforderlichen But- Fakten. Der Benutzer erfährt vom Auf-
sprechend zu vermitteln. tons immer erreichbar. Erfreulich: Beide stieg und Fall Pergamons als Hauptstadt
Womit kämpften Ritter? Wer gewann eines kleinasiatischen Rei-
die Schlacht von Tannenberg? Warum ches unter der Dynastie der
musste Heinrich IV. den Gang nach Ca- Attaliden von 281 bis 133 vor
nossa antreten? Fragen, die „Rittertum & Christus, von seinen finan-
Mittelalter“ von der Projektgruppe „ro- ziellen Problemen und dem
sula“ unterhaltsam beantwortet. Von der späteren Wiedererblühen als
Eroberung des Frankenreiches durch Teil der römischen Provinz
Chlodwig (um 466 –511) bis zur Entde- Asia, dem letztlichen Nie-
ckung Amerikas 1492 erstreckt sich der dergang nach der Teilung
thematische Umfang dieses multimedia- des Imperiums im 4. nach-
len „Lesebuches“. Die Hauptkapitel christlichen Jahrhundert. Die
„Welt der Ritter“ und „Leben im Mittelal- jüngste Geschichte – die
ter“ führen in jeweils ein gutes Dutzend Ausgrabung der Stadt durch
Unterthemen weiter. Eine „Chronik“ er- deutsche Archäologen im 19.
möglicht zudem, die Jahrhunderte nach Jahrhundert – klingt leider
interessanten Einzelthemen zu durch- nur vereinzelt an.
streifen. Bilder, einfache Animationen Maustasten lassen sich nutzen. Alles in Insgesamt aber ist diese CD-Rom sehr
und Videos – „Freizeit-Ritter“ demons- allem eine runde Sache für Menschen, die empfehlenswert für angehende Besucher
trieren beispielsweise die Handhabung der Kindheitswunsch, ein Ritter werden der Ruinen und zur Nachbereitung eines
der Waffen – sowie mittelalterliche Mu- zu wollen, nie ganz losgelassen hat. Aufenthalts.
sikstücke schaffen den multimedialen Etwas spröder kommt „Pergamon – Klaus-Dieter Linsmeier
Rahmen (überraschenderweise fehlt aber Geschichte und Monumente der antiken
gerade im Kapitel „Musik und Tanz“ die Stadt“ daher. Die Vermittlung geschicht- Der Rezensent ist Redakteur bei
akustische Untermalung). Kurze Texte lichen Wissens rund um diese Metropole Spektrum der Wissenschaft.

KOSMOLOGIE nicht so aufgeräumt war wie heute, hat


ungefähr alle paar hundert Millionen Jah-
Paul Davies re die Hitzewelle eines kosmischen Ge-
Das fünfte Wunder schosses unseren Planeten so wirksam ste-
rilisiert, dass von irgendwelchem Leben
Auf der Suche nach dem Ursprung des Lebens auf der Oberfläche oder im Meer – und
Aus dem Englischen von Bernd Seligmann vom Meer überhaupt – nichts mehr übrig
Scherz, Bern 2000. 320 Seiten, DM 48,90 blieb. Gleichwohl gab es – so der Fossil-
befund – relativ bald nach dem Ende des

A
llem Anschein nach hat der Planet unter zahlreichen Treffern. Dagegen war letzten kosmischen Bombardements die
Erde eine äußerst turbulente Jugend der Meteorit, der nach allgemeiner Auffas- ersten primitiven Lebensformen.
gehabt. Immerhin ist nach heutigen sung vor 65 Millionen Jahren die Dino- Wenn also die Entstehung des Lebens
Erkenntnissen der Mond ein ehemaliges saurier das Leben kostete, geradezu harm- aus der „Ursuppe“ so schnell geht: Viel-
Stück Erde; der Meteorit, der diesen Bro- los: Immerhin haben ja allerlei grüne leicht gab es ja mehrere Anläufe, die je-
cken aus der frühen Erde herausschlug, Pflanzen, Insekten und etliches mehr weils durch eine kosmische Katastrophe
muss den Planeten gründlich aufgemischt überlebt. Als aber vor mehr als 3,8 Milliar- zunichte gemacht wurden? Oder vielleicht
haben. Und das war nur der schlimmste den Jahren das Sonnensystem noch längst geht es doch nicht so schnell, bis die für

110 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


PREISRÄTSEL

einen lebenden Organismus erforderliche


Komplexität zusammenkommt; vielmehr Jannis’ Weide
ist das Oberflächenleben, wie es uns als A von Pierre Tougne
der Normalfall erscheint, gar nicht das ur-
sprüngliche, und Bakterien, Pflanzen und
Tiere stammen von den Extremophilen ab, A
jenen Einzellern, die sich in kochender,
konzentrierter Schwefelsäure am wohls-
ten fühlen oder unter einer kilometerdi- C
cken Gesteinsdecke ihre Lebensenergien
B C
aus der Reaktion von Schwefelverbindun-
gen beziehen (Spektrum der Wissenschaft Bauer Jannis aus Griechenland ist
12/1996, S. 66)? Dort unten hätten sie stolzer Besitzer eines Apfel-, eines B
auch einen größeren Meteoriteneinschlag Birn- und eines Zitronenbäumchens,
heil überstanden. Oder die zähen Wesen die nicht in einer geraden Linie stehen. oder – mit Hilfe seiner Handlanger –
stammen vom Mars oder sonstwoher, reis- Seine Rinder stammen von der Herde eine Schnur beliebiger Länge so span-
ten, durch einen hinreichend dicken Ge- des mathematikbegeisterten Sonnen- nen, dass sie zwei vorgegebene Pflöcke
steinsmantel geschützt, selbst in einem gottes ab (siehe Seite 114); daher muss berührt. Wo zwei Schnüre, zwei Fur-
Meteoriten und besiedelten von innen er ihnen eine Weide in Form eines chen oder Furche und Schnur sich kreu-
nach außen die Erde? Vielleicht schwirren gleichseitigen Dreiecks oder eines Qua- zen, darf er einen Pflock einschlagen.
ja überall primitive Lebensformen im drats abstecken. Dabei würde er die
Weltraum umher („Panspermie“)? Bäume gern als Pfosten mitverwenden. Schicken Sie Ihre Lösung in einem
Beim Quadrat sollte ein Baum in einer frankierten Brief oder auf einer Postkar-
Lebensentstehungs-Romantik Ecke stehen, während die beiden an- te an Spektrum der Wissenschaft, Leser-
dern an den gegenüberliegenden Seiten service, Postfach 104840, D – 69038
Paul Davies, Professor für mathemati- den Weidezaun halten (siehe oben). Heidelberg.
sche Physik in Adelaide (Australien) und Helfen Sie Jannis bei der Konstruk- Unter den Einsendern der richtigen
Autor zahlreicher Sachbücher, spekuliert tion der beiden regelmäßigen Polygone. Lösung verlosen wir fünf Bücher „Pla-
gern; und die Fakten sind so mager, dass Nach landesüblichem Brauch darf neten und ihre Monde“. Der Rechtsweg
sie dafür reichlich Raum lassen. Aber er nur Pflöcke und Schnüre verwenden; ist ausgeschlossen. Es werden alle Lö-
Davies ist ein ehrlicher Spekulierer. Er damit kann er um einen feststehenden sungen berücksichtigt, die bis Dienstag,
zitiert ausführlich die konkurrierenden Pflock eine kreisförmige Furche ziehen 16. Januar 2001, eingehen.
Theorien; er gibt auch offen zu, dass die
Panspermie-Theorie nicht mehr Argu-
mente für sich hat als andere und vor Lösung zu „Das Labyrinth von Kröta “ (November 2000)
allem die entscheidende Frage „Wie ent-
stand das Leben?“ nicht beantwortet, Quako braucht 28 Sprünge, um aus einer größeren Zahl oder auch gerin-
sondern nur verlagert. dem Labyrinth zu gelangen. Er springt geren Anzahl von Fröschen.
Aber sie hat seine offen bekundete den vierten, achten, zwölften sowie den Kommt einer der Frösche auf ein
Sympathie, und zwar gerade, weil sie – in neunzehnten Sprung rückwärts und alle fliegenloses Feld, so ist ihm einer seiner
seinen Augen – der klassischen darwinis- anderen vorwärts. Dies ist die einzige Zwillingsbrüder zuvorgekommen, und
tischen Ideologie, nach der das ganze irdi- Lösung mit dieser geringen Anzahl an er muss verhungern. Offensichtlich war
sche Leben Produkt des blinden Zufalls Sprüngen. sein Weg nicht der schnellste. Frösche,
ist, nicht in den Kram passt. Davies Jens Mauersberger aus Karlsbad die übermotiviert über das Ziel hinaus-
wünscht sich, dass es eine den Naturge- empfahl Quako, sich nicht durch Pro- hüpfen, scheiden ebenso aus wie dieje-
setzen innewohnende Tendenz zur Entste- bieren unkalkulierbaren Risiken auszu- nigen, die im Eingang der in freudiger
hung von Leben gibt. „Und dann gibt es setzen, sondern anstelle seiner selbst Erwartung harrenden Prinzessin ins Ge-
den anderen Standpunkt, sicher roman- virtuelle Frösche springen zu lassen. sicht springen.
tisch und vielleicht dennoch wahr: die Vi- Mit einem rekursiven Algorithmus in Der virtuelle Frosch, der als erster
sion eines sich selbst organisierenden, sich Java wird die Flucht wie folgt geplant: das Ziel erreicht, muss nun nur noch
selbst komplexifizierenden Kosmos, re- Auf jedem der Felder sitzen so viele Quako seinen Weg mitteilen (und ist
giert von Gesetzen, die Materie ermuti- Fliegen, wie die Zahl darauf angibt. Ein noch eine ganze Weile mit der Verdau-
gen, sich zu Leben und Bewusstsein zu virtueller Frosch frisst diese auf und ung sehr vieler Fliegen beschäftigt).
entwickeln. Ein Universum, in dem die klont sich einmal. Die beiden Frösche Die Gewinner der fünf Flüssig-
Entstehung denkender Wesen Teil und In- betreiben fortan Synchronspringen: Sie keitsthermometer „Galilei“ sind Peter
halt des großen Schemas ist. Ein Univer- springen zunächst so viele Felder vor Uelkes, Mönchengladbach; Eckhard
sum, in dem wir nicht allein sind.“ beziehungsweise zurück, wie sie soeben Geißel, Kiel; Lothar Kiefer, Bietig-
Bei allem Sinn für Romantik: Ich Fliegen gefressen haben. Im nächsten heim; Sezayi I˛sbilir, Erlangen; und Mi-
fürchte, diese Wunschvorstellung ver- Zeittakt wiederholt sich das Spiel mit chael Baldus, Möhnesee.
schwimmt bei genauerer Nachprüfung
bis zur Unkenntlichkeit. Auch Davies ist
nicht so naiv zu glauben, es gebe eine der Lust auf noch mehr Rätsel? Auf der Website von Spektrum der Wissenschaft
Natur innewohnende Tendenz zu luftat- (www.spektrum.de) finden Sie jeden Monat in der Rubrik „Rätsel“ eine neue
menden, zweifüßigen und zweihändigen mathematische Knobelei.

denkenden Wesen. Sehr viel von unse-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 111


REZENSIONEN

rer gegenwärtigen Erscheinungsform ist tulierten Gesetze jenseits der Physik, sich zu lebenden Organismen weiterent-
unbestritten vom Zufall bestimmt. Was welche die Entstehung von Leben be- wickeln können.
bleibt, ist allenfalls eine Tendenz zu Le- günstigen, ihrerseits durch den Zufall be- Einerlei: Das Buch ist eine äußerst
ben in einem sehr abstrakten Sinne, defi- gründet, etwa so: Ein hinreichend reich- anregende Mischung aus Wissenschaft
niert durch organisierte Komplexität, haltiges System wie zum Beispiel die und Spekulation – auch wenn ich seinen
Vermehrungs- und Anpassungsfähigkeit. frühe Erde nimmt rein durch Zufall aus zentralen philosophischen Gedanken
Damit wird der prinzipielle Unter- den unüberschaubar vielen physikalisch nicht folgen kann.
schied zu einem graduellen: Wurde möglichen Zuständen eine repräsentative Christoph Pöppe
unsere Existenz durch mehr oder weni- Auswahl tatsächlich an – darunter auch
ger Zufall bestimmt? Oder noch parado- die verschwindend wenigen Zustände, Der Rezensent ist Redakteur bei
xer: Vermutlich sind die von Davies pos- die zur Selbstvermehrung fähig sind und Spektrum der Wissenschaft.

DROGENPOLITIK ist ein Ausdruck gigantischer gesell-


schaftlicher Fehlentwicklungen, ein Re-
Bernulf Kanitscheider (Hg.) sultat falscher Analysen und Folge einer
Drogenkonsum – bekämpfen oder freigeben? Blickverengung auf jeweils nur einen be-
stimmten Aspekt des Problems. Recht hat
Hirzel, Stuttgart 2000. 254 Seiten, DM 56,– er und legt am Schluss kurz und pragma-
tisch seine Vorschläge zu Maximen einer

D
ieser Sammelband enthält in einem menten 65 eine Drogenkarriere erst im vernünftigen Drogenpolitik dar.
knappen Dutzend Beiträge geballte späteren Verlauf einer ausgeprägten De- Schade nur, dass der Herausgeber
theoretische Substanz, und am Ende linquenz-Karriere entwickelt. In der sich selbst mit einem Beitrag noch an den
sogar eine Antwort auf die im Titel gestell- Mehrzahl der Fälle ist also nicht die Kri- Schluss des Buches gesetzt hat. Teilweise
te Frage. Günter Amendt, ein Altmeister minalität Folge des Drogenkonsums, wirken seine Ausführungen (etwa über
der Drogendiskussion, schreibt: „Der sondern es besteht erst ein strafrechtli- den „vierten Trieb“) wie Wiederholungen
dauerhafte exzessive Konsum von psy- ches und dann ein Drogenproblem. Kreu- des Vorangegangenen, teilweise sind sie
cho-aktiven Substanzen ist höchst riskant, zer relativiert auch den so häufig wieder- nicht nachzuvollziehen („obwohl Tee
daran kann kein Zweifel bestehen. Wer holten Hinweis auf Nachbarländer, die und Marihuana gleichermaßen harmlos
abstürzt und in einen Suchtkreislauf gerät, wesentlich mehr Erfolg im Umgang mit sind, ist der erste erlaubt, das zweite ver-
zahlt einen hohen Preis. Doch die Bereit- den Drogenproblemen hätten. Bemer- boten“), und Aussagen wie die, dass „die
schaft der Subjekte, Risiken in Kauf zu kenswerterweise hatten die liberale Dro- Drogenpolitik nicht in erster Linie von
nehmen, ist gewachsen – und sie wird genpolitik in den Niederlanden und die der Sorge um die Volksgesundheit gelei-
weiter wachsen. Deshalb wird die Erzie- zumindest bis 1998 in der Bundesrepu- tet ist, sondern als Instrument der Diskri-
hung zur Drogenmündigkeit und die Befä- blik stärker repressiv orientierte Drogen- minierung von Randgruppen eingesetzt
higung zum Risikomanagement zu einer politik annähernd gleiche Konsequenzen. wird“, lassen auf einen kleinen Verfol-
der wichtigsten Aufgaben einer realitäts- Insbesondere war die repressiv ausge- gungswahn und geringe Kenntnis politi-
gerechten Präventionspolitik werden.“ richtete Strategie nicht erfolgreicher als scher Sachverhalte schließen. Der von
Aber bis zu dieser klaren Aussage sind eine moderate. ihm und anderen Autoren verfolgte An-
198 Seiten Text sehr unterschiedlicher satz, Drogenkonsum in die Entscheidung
Qualität abzuarbeiten. Wenig ergiebig Zunächst akzeptieren, was ist jedes Einzelnen zu stellen, verkennt, dass
sind Beiträge zum Drogenkonsum in dieser Drogenkonsum stets in kommuni-
unterschiedlichen historischen Gesell- Günter Amendts pragmatische Urteile zierenden Systemen stattfindet und damit
schaften und zum Koka- und Kokainge- über Drogen und Drogenpolitik haben in andere Menschen sozial, materiell oder
schäft in Bolivien, die zum Titelthema we- der Vergangenheit häufig Aufsehen er- psychisch beeinträchtigen kann.
nig beitragen, sowie hoch wissenschaftli- regt, wenn er sagte, was ist: Drogen wer- Neben den erwähnten inhaltlichen
che, mit Fußnoten überladene Texte zur den konsumiert, und man muss das zu- Highlights bleibt das schale Gefühl, vie-
Biologie und Psychologie des Drogenkon- nächst akzeptieren. „Die Konsumenten les schon einmal gelesen zu haben. Die
sums. Lorenz Böllinger versucht die und Konsumentinnen von Drogen wer- Hoffnung des Herausgebers, dass Lese-
Rechtfertigung des Betäubungsmittel- den als Menschen wahrgenommen, die rinnen und Leser zu einem fundierten Ur-
strafrechts nicht nur mit nachvollziehba- krank und grundsätzlich auf Hilfe von teil über eine brennende soziale und ethi-
ren Argumenten, sondern abschließend außen angewiesen sind“. Diese Wahrneh- sche Frage gelangen, wird unerfüllt blei-
mit merkwürdigen Gedanken über die an- mung ist mittlerweile glücklicherweise ben: Zu viele Aspekte fehlen, und aus
gebliche Unschädlichkeit der Drogen bis überholt. Aber von der falschen Aussage dem Potpourri darf sich jeder das heraus-
hin zur „Selbstheilung“ der Heroinabhän- kommt er zur richtigen und hoch aktuel- suchen, was seine (Vor-)Urteile stützt.
gigen in Frage zu stellen. len Schlussfolgerung: Zu fordern sind Jost Leune
Dagegen hat Artur Kreuzer, einer der eine Erziehung zur Drogenmündigkeit
bedeutendsten Drogenrechtsexperten, und ein Risikomanagement im Sinne ei- Der Rezensent ist Geschäftsführer des
eine seiner vielen hervorragenden Arbei- ner neu orientierten Präventionspolitik. Fachverbandes Drogen und Rauschmit-
ten abgeliefert. Er gibt auch Antworten Amendt spricht wichtige Wahrheiten aus: tel e.V. in Hannover. Der Fachverband
auf Fragen, die im Kontext der Drogen- Im Trend der Globalisierung werden ist ein Interessenverband von 60 Trägern
freigabe nicht so gern gestellt werden. So auch die Drogengeschäfte globalisiert von Suchthilfeeinrichtungen in Deutsch-
haben von 100 von ihm untersuchten und damit immer weniger kontrollierbar. land mit rund 200 angeschlossenen
straffällig gewordenen Drogenkonsu- Oder: Das so genannte Drogenproblem Einrichtungen.

112 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


IM RÜCKBLICK

Wellenschlag betreibt Leuchtboje


Gesundes Die Boje ist so construirt, daß schon ein geringer Wellen-
Strassenpflaster schlag genügt, um die zur Erzeugung der vorschriftsmäßigen
Auf verschiedene Pflaster Lichtstärke nöthige Elektricität zu erzielen. Durch ein Uhr-
wurde je ein Dreifuss gesetzt, werk im Inneren der Boje wird das Aufflammen und Verlö-
der in 11/2 Meter Höhe über schen des Lichtes, das jede halbe Minute wechselt, genau
dem Boden ein sterilisirtes geregelt. (Der Stein der Weisen, 26. Bd., 1901, S. 64)
Häutchen trug, das für ... 10
Minuten dem Strassenstaub
ausgesetzt wurde, neben Vorrichtung zum Atmen unter Wasser
diesem Apparate wurde noch Natriumsuperoxyd ... hat die Eigenschaft, in Wasser geworfen, Sauerstoff
ein Anemometer gesetzt, um auszuscheiden und gleichzeitig eine Lösung von Ätznatron zu bilden. Der
die Windgeschwindigkeit zu auf Grund dieser Eigenschaft konstruierte ...
messen. Der Wind nämlich Luftregenerator Luftregenerator der Franzosen Desgrez
spielt eine sehr bedeutende und Balthazard enthält eine Büchse,
Rolle in der Verbreitung der aus der durch den Stoss eines
Keime, und aus diesem Uhrwerks (links) in regelmäs-
Grunde wird ein besonders sigen Zwischenräumen
glattes Pflaster in gesundheit- kleine Mengen Natriumsu-
licher Beziehung am Ungün- peroxyd in den darunter
stigsten sein, weil es dem befindlichen Kasten mit Wasser fallen. Der
Winde am Leichtesten entwickelte Sauerstoff wird durch einen mit
gestattet, den Sand mit den Akkumulatoren (im Hintergrund) angetriebenen
darin enthaltenen Keimen in Ventilator (rechts unten) verteilt. Die ausgeat-
die Luft zu wirbeln. In dieser mete Luft muss die Ätznatronlösung passieren,
Hinsicht bietet der Schichtas- bevor sie mit frischem Sauerstoff gemischt wie-
phalt die grössten Nachtheile. der zur Atmung verwendet wird. Die ganze Appa-
(Zeitschrift für Transportwesen ratur steckt in einer hermetisch verschlossenen Alu-
und Strassenbau, Beilage, miniumbüchse, die inklusive Helm ca. 12 Kilo wiegt.
XVIII. Jg., 1901, No. 2, S. 31) (Die Umschau, V. Jg., Nr. 2, 5. Januar 1901, S. 26, 27)

Deutsche Forschungsgemeinschaft gegründet


Der Deutsche Forschungsrat und der Haupt- schaft“ zu verschmelzen. ... Ihr Ziel ist die
ausschuß der Notgemeinschaft der Deutschen ideelle und materielle Förderung der deut-
Wissenschaft kamen auf einer gemeinsamen schen Wissenschaft als einer alle ihre Zweige
Sitzung am 17. Januar in Stuttgart überein, umschließenden Einheit und die Pflege ihrer
Forschungsrat und Notgemeinschaft zu einer Zusammenarbeit mit dem Staat und allen
einheitlichen Organisation unter dem schon übrigen politischen und gesellschaftlichen
bisher für ihre Zusammenfassung gebrauchten Faktoren im In- und Ausland. (Deutsche Uni-
Narkose-Steuerung Namen der „Deutschen Forschungsgemein- versitätszeitung, 6. Jg., Heft 2, 26. Januar 1951)
durch Hirnwellen
Die während des Schlafes
oder in der Narkose ausge- apparat ausgenutzt, der von
schickten Hirnwellen Reginald E. Bickford Neues zur Meteorologie des Mars
unterscheiden sich erheblich entwickelt und kürzlich ...
von den „Wachwellen“. vorgeführt wurde. Das Gerät Eine interessante Diskussion der von unserem Nachbar-
Dieser Unterschied wird in kontrolliert mit Hilfe der planeten bekannten Daten ... vom meteorologischen
einem Narkose-Kontroll- ausgesandten Gehirnwellen Standpunkt aus liefert zahlreiche Parallelen, aber auch
nicht nur die Tiefe der Unterschiede gegenüber unserem eigenen Planeten...
Narkose, sondern die Wellen Zwei voneinander unabhängige Bestimmungen ergaben
steuern auch die Zuführung übereinstimmend einen Luftdruck am Boden von 80 mb
des Narkose-Präparates (Erde 1013 mb). ... Unter der Annahme nahezu adiabati-
in der Weise, daß mit der schen Temperaturgefälles sind Druck und Dichte der
Schwächung der Hirn- Marsatmosphäre in 26 bis 28 km Höhe gleich der
wellen, die ein Maß für die irdischen. ... Die regionale Verteilung der Mittagstempe-
Tiefe der Narkose ist, raturen ergibt zur Zeit des Winters der nördlichen
zugleich die Zuführung des Marshemisphäre einen Gürtel maximaler Bodentempera-
Narkosemittels verlangsamt tur (+20 bis +30°) in etwa 20° Südbreite, mit steilem
und bei Erreichen einer Abfall zum vereisten Nordpol, aber nur schwachem
bestimmten Wellenintensität Abfall zum sommerlich warmen Südpol. (Naturwissen-
abgestopt wird. (Orion, 6. Jg., schaftliche Rundschau, 4. Jg., Heft 1, Januar 1951, S. 26)
Hirnwellen eines Affen 1951, S. 37)

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 113


MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN

Die Rinder des Sonnengottes schwierigste unter ihnen ist D = 61, Du-
deney hat also eine gute Wahl getroffen.
Mit etwas Anstrengung sollten Sie her-
ausfinden, wie es für die beiden Nach-
Die Herde hätte auf der ganzen Erde keinen Platz gefunden: barwerte D =60 und D =62 aussieht. Die
Immerhin ist die Anzahl der göttlichen Rindviecher eine Zahl Antworten finden Sie am Ende dieses
Artikels.
mit 206 545 Stellen. Aber seien Sie froh! Dudeney hätte
sein Puzzle noch viel schwieriger ma-
VON IAN STEWART chen können. Bei D = 1597 sind die
kleinsten Lösungen für x und y ungefähr
1,3×10 46 und 5,2×10 47. Und D = 9781

D
er englische Puzzleerfinder Henry Für Dudeneys ursprüngliches Rätsel ist noch schlimmer.
Ernest Dudeney kleidet in seinem wird Probieren nicht funktionieren, es sei
Buch „Amusements in Mathema- denn vielleicht auf einem Computer; Das Problem des Archimedes…
tics“ von 1917 eine Aufgabe in eine fan- denn die kleinste mögliche Lösung ist
tasievolle Geschichte über die Schlacht x = 226 153 980, y = 1 766 319 049. Wenn Die Pellsche Gleichung ist auch der
von Hastings, jenen berühmten Kampf, man den Wert des Koeffizienten D in Schlüssel zur Lösung eines viel berühm-
in dem 1066 die Normannen unter Wil- der allgemeinen Pellschen Gleichung teren Problems. Im Jahre 1773 entdeckte
helm dem Eroberer die Sachsen unter y2 = D x 2 +1 variiert, können die jeweils der deutsche Dramatiker Gotthold Eph-
König Harald besiegten und fortan die kleinsten Lösungen wild umherspringen. raim Lessing ein Manuskript mit dem
Geschicke Englands bestimmten. Nach Die „schwierigen“ Werte von D unter Problem, das in ein Gedicht gekleidet
Dudeney schildert eine alte Chronik: 100, das heißt die, bei denen das kleinst- war: 22 Paare elegischer Verse, die an-
„Haralds Mannen standen tapfer zusam- mögliche x größer als 1000 ist, sind geblich der griechische Mathematiker
men und bildeten 61 Quadrate mit gleich D = 29, 46, 53, 58, 61, 67, 73, 76, 85, 86, Archimedes von Syrakus um 250 vor
vielen Recken in jedem Quadrat … Als 89, 93, 94 und 97. Der bei weitem Christus geschrieben und an Eratosthe-
Harald sich in die Schlacht warf, bildeten
die Sachsen mit ihm zusammen ein ein-
zig mächtiges Quadrat von Männern.“
Wie groß, so fragte Dudeney, war also
die kleinstmögliche Anzahl von Männern =( 1
– +1
–) × +
in König Haralds Armee? 2 3
W S B
Mathematisch formuliert suchen wir
also eine Quadratzahl, die mit 61 multi-
pliziert und um 1 erhöht wieder eine
Quadratzahl ergibt. Das heißt, wir su- =( 1
– +1
–) × +
chen ganzzahlige Lösungen der Glei- 4 5
S G B
chung y 2 = 61x 2 +1. Dies ist ein Beispiel
einer so genannten Pellschen Gleichung,
benannt nach dem englischen Mathema-
tiker John Pell (1610–1685), der selbst
nichts Wesentliches zu dem Gebiet bei- =( 1
– +1
–) × +
G 6 7 W B
getragen hat; aber solche Fehlbenennun-
gen sind in der Mathematik häufig. An-
stelle der 61 darf irgendeine andere posi-
tive ganze Zahl stehen, die keine Qua-
dratzahl ist. Derartige Gleichungen ha-
ben stets unendlich viele Lösungen. Man
berechnet sie mit dem so genannten Ket-
w
=( 1
– +1
3 4
–) ×
( S
+
s
)
tenbruchverfahren, das in Lehrbüchern

( )
der Zahlentheorie beschrieben ist.
Zum Aufwärmen betrachten wir die =( 1
– +1
–) × +
weniger bekannte Schlacht von Brighton, 4 5
in der unter im Übrigen gleichen Um- s G g
ständen Haralds Leute 11 Quadrate bil-
deten (Bild auf der nächsten Seite). Die
Gleichung lautet nun y 2 = 11x 2 +1, und
mit etwas Probieren findet man die
kleinste Lösung: x = 3 und y = 10. b
=( 1
– +1
6 7
–) ×
( W
+
w )
( )
Beim Rätsel des Archimedes
zur Anzahl der Rinder des Sonnengottes
müssen die Anzahlen der Stiere und =( 1
– +1
–) × +
5 6
Kühe der verschiedenen Farben diese g B b
sieben Gleichungen erfüllen.

114 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


nes von Kyrene, den Vorsteher der Bi-
bliothek von Alexandria und Namensge-
ber des Primzahlsiebs, gesandt hatte. Es
beginnt: „Bist Du, oh Fremder, fleißig
und weise, so berechne die Zahl der Rin-
der des Sonnengottes, die einst grasten
auf den Feldern des tyrrhenischen Ei-
lands Sizilien.“
Auch Homer erwähnt die Rinder des
Sonnengottes Helios in seiner „Odyssee“
und gibt ihre Zahl mit 350 an. Archime-
des dachte offenbar in größeren Dimen-
sionen. Nach seinem Rätsel besteht die
Herde aus weißen (W ), schwarzen (S),
braunen (B) und gefleckten (G) Stieren Die Armee aus 99 Soldaten (schwarze Punkte) und König Harald (roter Punkt)
lässt sich in 11 Quadrate, angeführt von Harald, aufteilen (links), oder sie kann
sowie entsprechend gefärbten Kühen (w, zusammen mit Harald ein einziges Quadrat bilden (rechts).
s, b und g). Die Anzahl der Tiere wird
durch sieben leicht zu erfüllende Bedin-
gungen und zwei schwierige festgelegt. deutsche Mathematiker A. Amthor be- wenn man den Eigner der Herde bedenkt
Die leichten Bedingungen lassen sich wies 1880, dass n die Form 4 456 749 m 2 – dauerte die Berechnung eineinhalb
durch sieben Gleichungen in den acht hat, wobei m eine Pellsche Gleichung er- Stunden. Die Größe der Herde ist die
Unbekannten ausdrücken (Bild auf der füllen muss: 410 286 423 278 424 m 2 +1 kleinste natürliche Zahl, welche die Zahl
vorigen Seite). Die erste schwierige Be- muss eine Quadratzahl sein.
dingung verlangt, dass die Gesamtzahl (p/q)(a+b √4 729 494)4658
W+S der weißen und schwarzen Stiere … ist theoretisch gelöst
eine Quadratzahl sein muss. Nach der übertrifft. Dabei ist
zweiten muss die Gesamtzahl B+G der Im Prinzip kann man das kleinste solche
braunen und der gefleckten Stiere eine m mit einem Kettenbruchverfahren fin- p=25 194 541,
Dreieckszahl sein, also eine Summe den. Die Berechnungen überstiegen die q=184 119 152,
1+2+3+…+ m für irgendeine natürliche technischen Möglichkeiten Amthors; im- a=109 931 986732 829 734 979 866 -
Zahl m oder, was dasselbe ist, eine Zahl merhin fand er heraus, dass die Größe 232 821 433 543 901 088 049,
der Form m (m+1)/2. der Herde eine Zahl mit 206 545 Stellen b=50 549 485 234 315 033 074 477 -
Die ersten sieben Bedingungen lau- ist, und konnte die ersten vier Stellen be- 819 735 540 408 986 340.
fen alle auf eine einzige hinaus: Alle acht rechnen. Zwischen 1889 und 1893 be-
Unbekannten sind in festgelegten Ver- rechnete der Mathematische Club in Man fragt sich natürlich, ob wirklich
hältnissen zueinander proportional. Mit Hillsboro (Illinois) die ersten 32 Stellen, Archimedes dieses Problem gestellt hat.
einer noch zu bestimmenden natürlichen von denen 30 sich später als richtig her- Die allgemeine Meinung ist ja, aber
Zahl n gilt: ausstellten. Mathematiker an der Univer- möglicherweise hat er das Gedicht nicht
sität von Waterloo in Ontario (Kanada) geschrieben. Mit Sicherheit konnte Ar-
W = 10 366 482 n, S = 7 460 514 n, fanden 1965 die erste vollständige Lö- chimedes das Rätsel nicht lösen; dafür ist
B = 4 149 387 n, G = 7 358 060 n, sung. Als 1981 Harry L. Nelson sämtli- die Lösung einfach zu groß. Rechnungen
w = 7 206 360 n, s = 4 893 246 n, che 206 545 Stellen veröffentlichte, war mit der Hand hätten viel zu lange gedau-
b = 5 439 213 n, g = 3 515 820 n die dafür benötigte Rechenzeit (auf einer ert. Aber wusste Archimedes, dass es
CRAY-1) bereits auf zehn Minuten ge- eine Lösung gibt? Wahrscheinlich nicht.
Jetzt geht es darum, die kleinste na- schrumpft. Er war sicher klug genug, eine Gleichung
türliche Zahl n zu finden, für die auch die Das war bis vor kurzem der Stand der aufzustellen, aber er kann kaum gewusst
beiden schwierigen Bedingungen erfüllt Dinge. Moderne ultraschnelle Computer haben, dass eine solche Gleichung im-
sind. Im Jahre 1830 löste der deutsche erledigen arithmetische Berechnungen mer eine Lösung hat.
Mathematiker J. F. Wurm das Rätsel un- mit Hunterttausenden von Stellen in ei- Die Moral von der Geschicht’: Hüte
ter Missachtung der Bedingung, dass nem Augenblick. Ilan Vardi vom Occi- dich vor den Griechen, wenn sie Rätsel
W+S eine Quadratzahl sein soll. Die ver- dental College in Los Angeles (Kalifor- stellen.
bleibende Forderung, dass B+G eine nien) stellte fest, dass das Software-Pa- Lösungen: Für D=60 ist x=4, y=31.
Dreieckszahl sein muss, führt nach eini- ket „Mathematica“ (Spektrum der Wis- Für D=62 ist x=8, y= 63. ■
gen algebraischen Umformungen auf die senschaft 2/2000, S. 100)
Bedingung, dass 92 059 576 n+1 eine die beschriebene Analyse in
Quadratzahl sein muss. Setzen wir den wenigen Sekunden komplett Ian Stewart ist Professor für Mathematik an der
kleinsten Wert von n ein, für den das der nachvollziehen konnte. Mit Universität von Warwick in Coventry (England).
Fall ist, so ergibt sich für den Sonnengott etwas mehr Aufwand produ-
eine relativ bescheidene Herde von zierte Mathematica für die Literaturhinweise
5 916 837175 686 Tieren. Größe der Herde auch eine Archimedes’ Cattle Problem. Von Ilan Vardi in:
Aber Wurms Gleichung hat Lösun- explizite Formel – deren American Mathematical Monthly, Bd. 105, S.
gen für unendlich viele n, und unter ih- Existenz man gar nicht ver- 305, April 1998.
nen gilt es nun die kleinste zu finden, die mutet hatte. Auf einer Sun- Einführung in die elementare Zahlentheorie. Von
auch die letzte noch offene Bedingung Workstation – einem an- Friedrich Schwarz. Teubner, Stuttgart 1998.
(W + S ist eine Quadratzahl) erfüllt. Der gemessenen Arbeitsgerät,

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001 115


WISSENSCHAFT IM ALLTAG

Sicherungsetiketten
L adendiebstähle fügen Sensorelemente und lassen
Amorphe Metalle
dem Einzelhandel herbe sich entsprechend kleiner
Verluste zu – allein in bauen. Beide nutzen die

VAKUUMSCHMELZE, HANAU
In herkömmlichen Metallen
Deutschland sind es pro Jahr Reaktionen von Metallen auf
sind Atome streng regelmä-
fast fünf Milliarden Mark. magnetische Felder. ßig in einem Kristallgitter an-
Als wirksamste Waffe gegen Akustomagnetische geordnet. Die Atome amor-
Diebe gelten elektronische Systeme gibt es seit etwa pher Metalle bilden hingegen
Warensicherungssysteme, die zwölf Jahren. Weil sie keine solche Ordnung aus,
je nach Technik als radiofre- seltener Fehlalarme verursa- ähnlich wie die in einer Flüs-
quent, elektromagnetisch chen, setzen sie sich immer sigkeit oder Schmelze. Sie
oder akustomagnetisch mehr durch. Das Sicherungs- lassen sich dadurch sehr viel
bezeichnet werden. Alle drei etikett besteht aus einer leichter ummagnetisieren
Techniken beruhen auf der kleinen weißen Kunststoff- und eignen sich als aktive
Komponenten von Siche-
gleichen Idee: Schleusen am box und ist etwa 40 Millime- rungsetiketten (rechts).
Ladenausgang erzeugen ter lang, je nach Ausführung
elektromagnetische Felder, 8 bis 14 Millimeter breit und
die Sicherungsetiketten an nur knapp einen Millimeter
den Waren anregen. Diese hoch. Darin befindet sich frei netisches Wechselfeld von Das erwähnte hartmagne-
senden nun ihrerseits ein beweglich gelagert ein 58 Kilohertz alle 20 Milli- tische Plättchen verändert die
Signal. Antennen im Boden dünner Streifen amorphen sekunden zwei Millisekun- Resonanzfrequenz des
oder in den Schleusen Metalls sowie ein hartmagne- den lang eingeschaltet. amorphen Streifens. Wird es
nehmen es auf, eine Elektro- tischer Metallstreifen, mit Wie eine Stimmgabel nach nach dem Bezahlen der Ware
nik löst gegebenenfalls einen dem sich das Etikett ein- und dem Anstoßen weiter- magnetisiert, vermag der
Alarm aus. Die Etiketten von ausschalten lässt. Ersterer ist schwingt, vibriert auch das Sensor nicht mehr auf das
bezahlter Ware werden an „magnetostriktiv“, das heißt, amorphe Metall in der Erregersignal der Sicherungs-
der Kasse entfernt oder er verändert unter dem Feldpause. Ohne störendes schleuse zu reagieren. Wer
deaktiviert. Einfluss eines Magnetfeldes Hintergrundrauschen kann bezahlt hat, darf anschließend
Die ältere Radiofrequenz- seine Länge. In einem die Auswerteelektronik sein unbehelligt den Laden ver-
Technik arbeitet – im Grunde Wechselfeld beginnt dieses Signal in dieser Zeit besser lassen. ■
nicht anders als ein Radio – Plättchen deshalb zu schwin- entdecken. Kristalline
mit elektrischen Schwing- gen, besonders stark bei der Metalle – etwa Eisen in einer Ulrike Zechbauer ist Wissen-
kreisen. Weil die aber relativ Resonanzfrequenz. Es Armbanduhr –, die vielleicht schaftsjournalistin und lebt
groß sind, werden RF- erzeugt nun seinerseits ein ebenfalls zum Schwingen in München. Die Redaktion
Systeme immer seltener Magnetfeld – und damit das angeregt wurden, verstum- dankt dem Fachgebiet
eingesetzt. Elektro- und Signal. men in der Feldpause und Logistik an der Universität
akustomagnetische Systeme Im Schleusenbereich der können deshalb keinen Dortmund für fachliche
verwenden Metallstreifen als AM-Systeme wird ein mag- Fehlalarm auslösen. Unterstützung.
SIEMENS

Sicherungsetikett
Kunststoffhülle
Klein und un-
Resonator
scheinbar, aber
(amorphes Metall)
hocheffektiv: aku-
sto-magnetische
Sicherungsetiket-
Resonator ten werden in der
antwortet Schleuse zur
Schwingung ange-
regt. Antennen,
Hartmagnetischer Streifen meist ebenfalls in
der Schleuse un-
tergebracht, er-
Sender Empfänger kennen das Signal
schickt Magnetfeldimpulse und geben Alarm.

116 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001


IIMM DF E ZBERMU BA ER R- H- HE EF FT T2 20 0 01 0 Ab 23. Januar am Kiosk

Kosmischer Staub Sie sind hundertmal kleiner als


gewöhnlicher Hausstaub und
haben doch die Entwicklung
unseres Milchstraßensystems
nachhaltig beeinflusst: winzige
Materieteilchen, die im schier
endlosen Raum zwischen den
Sternen driften.

Ichtyosaurier – Herrscher der Meere im Jura


Was Dinosaurier zu Land, waren Ichtyosaurier im Ozean.
Erst jetzt können Wissenschaftler ihre Vorherrschaft erklären.
Das kälteste Gas der Welt
Bis vor kurzem waren Bose-
Einstein-Kondensate pure
(Quanten-)Theorie. Jetzt werden
diese exotischen Objekte in
mehreren Labors routinemäßig
und experimentell erforscht.

Wer waren die ersten Amerikaner?


Es galt als sicher: Fellbekleidete Jäger wanderten im
Gefolge von Mammutherden über die heute versunkene
Beringlandbrücke nach Amerika ein. Neuere archäolo- Computergenerierte
gische Funde deklassieren dieses Standardmodell als Pflanzenbilder
nur eines unter mehreren. Jagden die ersten Amerikaner Datenstrukturen, die den Aufbau
Fische statt Mammuts? einer Pflanze getreu nachbilden,
und ein bisschen Zufall ergeben
täuschend echte Bilder, bis hin zu
ganzen Blumenwiesen.

Weitere Themen im Februar

Gene, Muskeln und Sport


Das beste Training verhilft nicht zum Sprung in die
Weltelite, wenn die individuellen natürlichen Voraussetzun-
gen nicht stimmen. Werden einmal gentechnisch aufgerü-
stete Superathleten in die Wettkämpfe gehen?

Ursprung der modernen Esskultur


Unsere heutigen Essgewohnheiten gehen auf Ideen der
Aufklärung über eine gesunde Ernährungsweise zurück.

118 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2001

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