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Ebm

und Waldstätten
Ein Publikumslob

Szenen eines Schwanks (Comédie de verve). Austriakisches
Sprech- und Spiel- oder doch mehr Lese- und Lehrstück



Für Martina Ebm, Denis Diderot, das Publikum und Nora
Waldstätten (in alphabetischer Folge)

Aber auch ein Meister-, Steh- und Tango-Geiger (M) begleitet das
ganze Stück, wie improvisierend, aber nur zum Schein improvisie-
rend. Denn die Musik ist streng durchgearbeitet, gründet auf kur-
zen Motiven - zum Beispiel - von Caccini, Gesualdo und Monteverdi,
die aber bis zur schieren Unerkennbarkeit dem Text und der Atmo-
sphäre des Stücks frei angepasst wurden. Bei der Ausführung muss
dem Auditorium diese strenge Parallelität von Text, Bühnenge-
schehen und Musik immer deutlich und präsent sein, als kommen-
tierten diese drei Elemente sich gegenseitig (wie ein Dreiklang,
eben einem corps sonore, freilich in einem metaphorischen Sinn).
Der Meistergeiger kann sich während der ganzen Dauer des Stücks
auf der Bühne und im Auditorium frei bewegen, aber auch nach
Belieben stehend rasten oder auf der Bühnenrampe sitzen, der
Bühne oder dem Publikum zugewandt. Aber immer mit größter
Aufmerksamkeit dem Text- und Bühnengeschehen folgend oder,
wie ein Dirigent, Ihm immer eine kleine Zeitidee voraus sein, um
Tempo und die Präzision des geteilten Rhythmus, so gut es geht, zu
kontrollieren. Ein großes Problem ist wahrscheinlich, dass bei der
Komposition die mutmaßlichen Sprechpausen zwischen den von E,
W, D und den Regieanweisern gesprochenen Passagen einberech-
net und in dem Sinne musikalisch gefüllt werden müssen, dass das

I
Geigenspiel die einzige durchgängige und bruchlose Zeitlinie des
Stücks sein wird.


Dramatis Personae:

E, Martina Ebm, gespielt von Nora Waldstätten


W, Nora Waldstätten, gespielt von Martina Ebm


Diderot, ganz so, wie er ist, bleibt sich aber, zumindest wäh-
rend der Dauer des Stücks, treu. Leider hört man ihn nur.

M, der Meistergeiger



Das Publikum muss sich mit teilnehmender Beobachtung begnü-
gen.

W (die Heitere, gespielt von E, trägt Sokos), E (die Ernste, gespielt
von W, trägt Kothurn). Den Ort könnte man auch eine Art Zirkus
oder ein Amphibientheater nennen.

II

Die Regieanweisungen werden von zwei Schauspielern (Österrei-
chern) gesprochen resp. gelesen, die irgendwo, aber nicht neben-
einander, im Publikum sitzen. Sie müssen sich vor der Aufführung
miteinander einigen, wer welche Passagen liest. (Die Anweisungen in
Klammern werden. nicht verlesen, sondern auf der Bühne nur exakt
ausgeführt.)



Auftritt E&W. Beide sind so geschminkt und gekleidet, als spielten sie
die jeweils andere. Beide zeigen aufeinander, also auf ihr Spiegelbild
auf dem zwei Meter hohem beidseitig spiegelnden Spiegel, der die
Drehbühne (Durchmesser 400cm) in der Mitte teilt, schauen sich,
also ihren Spiegelbildern, gezielt in die Augen und sagen gleichzeitig:



III


Ich bin ich und wir sind du.
Warum sollte das so schwer
zu verstehen sein? Das Eine
schließt das Andere doch in sich ein.



Das ist nie anders. Wird aber
das eine oder andere Mal leicht
übersehen oder unterschätzt.



Aber du tust es nicht. Wir sind
Miminnen. Du bist meine Mimesis,
ich bin die deine. Wir wissen nicht,
wohin das führt. Wir imitieren, voraus-



eilend, jede Aktion. Aber wir sprechen
ähnlich. Wir
E: tei
W: len
E: die
W: Ak

IV
E: zen
W: te
E&W: unter uns auf. Das
ist ausgesprochen charmant und in
unserem Falle sogar
W: noch
E: mehr,



W: viel, viel
E: mehr.
W&E Das wissen aber nur
wir. Und behalten es bei uns.
Das macht Effekt.



Die Drehbühne bleibt mit einer der wie Messerschneiden schmalen
Seiten des Spiegels zum Publikum gerichtet stehen. Beide, E und W,
drehen sich, eine nach links, die andere nach rechts, nun plötzlich
zum Publikum hin und blicken so, mit ernstem Gesicht, als würden sie
allen in die Augen schauen, allen zugleich und auf einmal. Nach ge-
fühlten sieben Sekunden sagen sie:



W&E (sehr verständlich flüsternd):

Die merken ja wirklich nichts.
Unsensibles Pack, kultuurbeflissssssenessss!

V
(„zickenhaft“:) Brecht hätte sich wahrlich nicht so
abmühen brauchen.



Sie verlassen die Drehbühne. Schauen sich - jetzt gleichsam wirklich
- gegenseitig in die Augen:

E&W:

Wir sollen eben doch unter uns bleiben.

E:

Können es aber ohne die da unten nicht.



W:

Comme c’est ennuyeux! Wer hat das so gewollt und
eingerichtet? Dass wir es nur mit denen da können?
Dasein. Erinnere dich daran, wie schwierig es war, dieses
Stück ohne die da unten zu proben, auch
nur zu proben, wie schwer das war! Erinnerst du dich?



E:

Es muss eben zum Schreien komisch sein.

VI
Sie meinen, es hätte sonst keinen Sinn.



W:

Und für den muss ja immer gesorgt sein.

E (kichernd und komplizenhaft):

Den haben wir in unsren Damentaschen
deshalb ja auch immer dabei. Wie einen Zauberring
in einer Torte.



W:

Dass wir den Sinn also nur auszupacken brauchen,

E:

nur herauszuholen brauchen. Aber (Pause, beide runzeln die
Stirn)

W:

auch das ist gar nicht so einfach.

VII
E:

Das rechtzeitige Auspacken muss gekonnt sein.

W:

Denn die Kunst liegt immer im timing,



E:

liegt immer im timing.

W:

Und wen, wen könnte das kalt lassen!



E&W (drehen sich demonstrativ misstrauisch um, ziemlich leise):

Gerade in unserem Metier! Diesem
so männlich geprägten. Wer legt uns
denn die Worte (sie zögern) für den richtigen
(sie zögern) Augenblick in den Mund!

W:

Denken wir doch nur an die so göttlich getäuschte und
so rührend verwirrte Alkmene bei Kleist,

VIII
E:

bei dem ja fast alle nicht so recht wissen,

W:

wer sie sind,

E:

oder es nicht merken!



W&E:

„Ach!“

(quasi pastoral:)



Sie setzen sich, freilich jede für sich,
auf zwei der fünf wie zufällig verteilten
Sessel im Raum:

IX
Sie sitzen so lange schweigend auf den
Sesseln, bis das Publikum zu befürchten beginnt, dass
E und W ihren Text vergessen haben.

Der übergroße Souffleur-Kasten, der wie
ein vergessenes Requisit hinten, mit seiner offenen
Seite dem Publikum zugerichtet, auf der Bühne steht,
ist nämlich demonstrativ leer. Ich hoffe, der Bühnenbildner
weiß das zu meistern.

Wenn das Publikum die beiden Schauspielerinnen zu
bedauern beginnt, sagen beide, ohne sich anzuschauen,
leise, aber prägnant verärgert:

E&W: (accelerando)



Es heißt: „Wer Schweigen bricht oder stiehlt,...“ -
Du weißt: Es ist dir nicht erlaubt, mir so
in aller Öffentlichkeit mein Schweigen
zu stehlen. Dafür werden auch wir
nicht bezahlt. Ich werde es zu-
rückfordern. Ich fordere es
zurück. Gib es mir sofort
zurück! Sofort!
Her damit!


X

(reißen sich gegenseitig die formgleichen schwarzen Perücken vom
Kopf und setzen sie sich - vertauscht - wieder auf.)

Wir kommentieren: Sie geben sich im Innern unbewegt ihr
Schweigen zurück. Man hört das Ticken eines Metronoms, Es
tickt einundzwanzig Mal. Ich zähle im Stillen mit.
Damit Sie alle, auch die auf der Bühne, nicht hören können,
wie ich die Zeit mit Silben zu füllen versuche.



(Ebm und Waldstätten schauen, als die je Andere, die sie spielen,
wieder ins Publikum und sagen:)

W:

Wir nennen die Bühne eine Guckkastenbühne,

E:

weil sie drei Wände aus irgendwelchem Material

W:

und eine vierte Wand, wie Diderot sie nennt, die aus nichts als
eurem Hergucken, aus eurem regard total, besteht, Und

E:

das promiscue Material eures Guckens (schauen sich gegenseitig
an) sind wir. Man

XI

W:

sollte an der Komplizenschaft, die das Schicksal fordert,

E:

verzweifeln. Verzweifeln sollte man an der complicitée der
Zusammenhänge, doch das, wie alle Falten, schminken wir

W:

uns vor jedem Auftritt ab. Und vertrauen einfach

E:

auf die Halsstarrigkeit der Wiederholungen, bis einmal

W:

einmal keinmal gewesen sein wird und zweimal ein-

E:

mal einmal zu viel. Aber noch kann keiner ermessen,
weder mit Elle

W:

noch Fuß, wann das gewesen sein wird, und wir,

E:

XII
wir lassen der Zeit mit Vergnügen

W&E:

Zeit, mit größtem Vergnügen viel Zeit.

(Ein Triangel imitiert: tám! tatám-tatta-támtamtam-tám!)

W:

Nee, wir werden auch nicht warten.

E:

Wir proben lieber und üben bis dahin das Lernen.

W:

Und wir sollten uns echt auch wieder

E:

mehr unseres Mutter-Akzents erinnern.

(Lächeln sich gegenseitig ein wenig überheblich (quasi kakanisch)
und spöttisch an.)

W:

Ich habe mir immer gewünscht, dass unsere Zuschauer
und Zuschauerinnen in der Pause gezwungen würden,
an Einzeltischen einem großen Spiegel gegenüber Platz zu
nehmen, sich herzlich zuzuprosten und beim Essen zuzusehen,
XIII
- „immerimmer, zuzu“.

E:

Und nur gegen einen beträchtlichen Aufpreis dürften sie
sich den Spiegel mit einem grauen, quasi neutralen Tuch
verhängen lassen. Soviel Menschlichkeit muss doch immer
noch sein.

Couplet I: (in einem Revue-Modus)

E:

Wir sprechen uns herum, wir zischeln aus allen Kanälen.

W:

Wer uns fürchtet, der begehrt weder Dienst noch Lohn.

E:

Wer uns will, der muss auf Sirenen setzen und zählen.

W:

Wer uns nicht will, hoppla, hatte der uns denn schon?

(pavanenartig:)



E&W:

XIV

Wer es so angeht, hat auf einen Schlag den Kosmos
in seiner Damentasche und braucht all das absurde Kleingeld der
Kopien nicht mehr. Komm, rächen wir uns für den Raub
an unserem Schweigen! Vielleicht sitzen wir Diebe ja noch
in unseren Sesseln. Freilich, das muss uns klar sein, es ist,
wie wenn du deinem Hund, von dem du behauptest, ihn
zu lieben, und den du auch oft streichelst, und der es offensichtlich
mag, von dir gestreichelt zu werden, wenigstens bist du dir
dessen sicher, glaubst es jedenfalls zu sein, - und du entziehst
ihm trotzdem, gleichsam ohne Ankündigung, dein Vertrauen.
Du entziehst ihm all dein Vertrauen. Und dein Hund steht
plötzlich erwartungsfroh aber ungestreichelt da.

W (ins Publikum zeigend, die Musik setzt kurz aus):

Da!

E:

Aber ungestreichelt.

(Die Musik setzt wieder ein, sehr fließend, wie die Begleitung zu
„Mein Wandel auf der Welt ist einer Schifffahrt gleich...“)



Diderot (parlando, aus dem Off):

Es freut mich, dass Ihr das Paradox, das Ihr seid, durchschaut und
annehmt und auslebt, obwohl Ihr es auch nicht lösen könnt, ja es
nicht einmal zu lösen versucht. Und stattdessen ganz klassisch da-

XV
mit umgeht, indem Ihr euch der Mimesis zum Opfer bringt. Sie frisst
das Opfer gern und gierig und schenkt euch im Gegenzug die im-
merhin symbolische Unsterblichkeit eines Immergrüns, aus der Fa-
milie, ja, Ihr hört richtig, der Hundsgiftgewächse. N'est-ce pas origi-
nal? Comme c'est original et drôle!

E: Aber wir sind so empfangsbereit, wie
W: gehorsame Ohren es eben sein müssen. Wir sind
E: gute Ohren. Und reinlich. Und gespitzt.
W: Unserem souveränen Lauschmodus entgeht
nichts. Dem sind wir leider ausgesetzt.
E: Zu unserem Schaden und eurem Glück. Denn
was die Dinge sinnlos macht, ist, wie ihr
darüber redet, nicht wie sie sind. Ihr hört in uns
euer Echo, schamlos wie Ihr seid. Wir sind
W: euer Intermezzo aus Spiegelsubstanz. Die
Austauschfunktion. Das Dolmetschersyndrom. Ihr
Seht in uns euer Ebenbild, niederträchtig wie Ihr
E: seid. Wir aber sind die Luft, die uns atmet. Das
Unverbesserliche. Das Ideal im Alarmzustand. Ihr braucht
W: uns nur aufzugeben und werdet, schwupp!, nicht
mehr sein. Oder, wenn wir wollen, nur noch
E: haarscharf. Denn wir sind mit allen Wassern
von Babylon gewaschen und, gleichsam,
W: unentwegt sündengewiegt. Wir sind die Schaukeln, die
euch in Schwung bringen, ein für allemal. Und gute
E: Messer sind gute Spiegel. Und gute Spiegel sind die
besten Messer. Nur Spiegel können die Wolken in Scheiben
schneiden. Sie sind wie wir. Aber euch bekommt

W&E:

unser Schaukeln ja nicht.
XVI
Weil Ihr’s

(wie schwingend)

W: Kon
E: su
W&E: miert! - Es gilt:
Wer uns genießt, der bald zerbricht.

Diderot (con brio, aus dem Off):

Bravo! Wisst Ihr das von mir? Ich hab’s in der Werkstatt meines
Vaters, Ihr wisst: der Messerschmiede, gelernt. Den Geruch von
Langres habe ich nie vergessen.

E: Wir sind die zwei Hälften von Faust und
passen eigentlich gar nicht zueinander. Und
müssen auch noch ausbaden, dass Goethe nicht ein-
hundertfünfzig Jahre alt geworden ist. Wir
W: sind uns nicht bequem. Wir sind uns nicht
zupass und gehen doch im Gleichschritt, ent-
E: zwei bei vier. Und wir trocknen auch mal am
selben Bein einer Wäschespinne. Wenn auch
nicht ganz exakt parallel. Da sind Gott und
W: Leibniz dazwischen. Und das hilft unseren
restlichen Autismen doch sehr. So kurz vor der Verklärung
E: verteilen wir freundliche Denk-Bonbons und -Zettel, die nicht
so schroff abgewiesen werden sollten. Wir sind ja nicht

W&E:

Thomas Bernhard. Deshalb, freilich, auch nicht so gut.
Und wären es doch so gern, so gern. Aber wie kommen
XVII
Denn wir dazu, uns zu kommentieren? -

E‘s Kurzmonolog:

Unser armer Autor. Entweder er unterläuft uns
oder er überfliegt uns. Beides ist nicht gut. Aber
verzeihlich, weil nicht vermeidbar. Und vielleicht bringt
er uns uns ja näher, wenn er uns doppelt verfehlt. Als
Adler unter uns und als Maulwurf weit über uns. Ein
Maulwurf, der sich, total desorientiert, als Adler durch
die Wolken frisst, ist der nicht sexy? Vor allem, wenn
er denkt: Ich tu es für euch!

Diderot (aus dem Off, kräftig donnernd wie Zeus):

Ha! Ha! Ha!

E:

Hab doch Geduld! - Die Welt geht eh unter. Wie viele Wienerinnen
haben das schon gesagt? Auch wir bestätigen das gerne aus
Solidarität und zu unserer Entlastung. In
seinen späten Jahren, ich tu mal so, als spräche da ein Mann,
bekommt man die Zähne, die man so lang an anderen
verabscheut hat. Sie spiegeln die Abscheulichkeit unserer

W:

Unterwerfung. Wie lustvoll wir doch Schönheit verwechseln.

E: Womit auch immer!

XVIII
W: Um sie zu retten, und als gäbe es sie. Michael Jackson, das ist
zärtlich und tröstlich gemeint, starb gerade noch rechtzeitig
genug.

E:

Jemand brüllt:

W&E:

Selbstoptimierung!

W:

Und alle Paläste der Welt stürzen ein und zusammen. An sich ist
das ja nicht so schlimm. Aber, stellt euch vor, es gibt keine
Trümmerfrauen mehr! Aber es ist stets eine gute Übung, aus dem
Stehgreif eine Ohnmacht zu spielen. Auch die Tram fährt nur
dank

E:

einer kleinen elektrischen Berührung. Nicht
anders als wir. Stell dir vor, du müsstest hier jetzt Flugzeugbauer
aus einer anderen Welt vorstellen! Die selbst ein neues
Düsentriebwerk vorstellen sollen. Und du hast noch keinen
Vorschuss erhalten. Wir sitzen unter Wasser, jenseits von
Maulwurf und Adler, hier und jetzt und um uns ist Aquarium. Und
wenn du keinen grellen Nagellack auf der Seele hast, kommst du
hier nicht heraus! Geschweige denn hinein. No way! Das ist dir ja
vertraut, so

W:
XIX

macht man Asche zu Embryonen. Ein megajunges Team. Da kann
nur das Nichts schiefgehen. Aber das tut es ja nie, nie! Das käme
sonst in die Anormalientüte. Weil es, beiläufig, nicht hierher
gehört.

E:

Da habe ich keinen Vergleich. Eines aber weiß ich: der Ablauf des
Normalen, das ist das Widerwärtige. Glückauf! Wir sind zwei
Kinderspiele,

W:

mindestens, im Rückstand. Aber dieser Unterschied, gerade, ist
nicht von Belang. Man weiß nicht, ob etwas vollkommen ist, es sei
denn, es stellt sich heraus. Wittgenstein sei unser Zeuge. Wenn
jemand, wie gerade jetzt, einer Blinden die Welt erklärt, geschieht
es mit Gesten, die sie nicht sieht.

W:

Wie heißt das in der Fingersprache: Ohne Unterlass?

(Sie versuchen denkbare, ein wenig groteske Hand- und
Fingerstellngen)

E:

Genauso wie: Es geht nicht gut.

Diderot (wie immer aus dem Off):

XX
Well done!

W’s Monolog:

Wuchern tut immer nur die Einsamkeit. Sie ist die Ur- und
Endpflanze. Selbst das Bedeutende entgeht nicht der Langeweile.
Aber wer ist denn nun, hier und jetzt, die
Tautologie von wem? Ich denke mir, das ist klar: wir
doch von uns, oder? Hier wäre jetzt allerdings auch der
Ort, unseren Autor zu fragen, warum er uns keine
normalen Dialoge vorschreibt? Von der Art, wie
man sie landläufig, landauf, landab, hören kann.
Erbauliche. Bildsame. Liebe- und verständnisvolle Dialoge.
Humane Dialoge. Eben normale, so wie Mann (zögert) und Frau
sie kennen und schätzen.

Couplet II

E (allein):

Genau das wird der Grund sein! (wie ein Abzählvers:)

Er kénnt sich eínfach nicht áus im Háuse.
Das wíll der Hérr aber nícht bekénnen.
Drum schréibt er, óhne Átempáuse,
nur Sätze, die wéder Pférd noch Réiter nénnen.

W:

Der Feigling! Und verrät uns nicht, wer denn
die Tautologie von wem ist! Was machen wir daraus?

Diderot (noch tiefer aus dem Off, untypisch heiser):
XXI

Was Ihr seid, das braucht Ihr nicht (muss sich kräftig räuspern),
was Ihr seid, das braucht ihr nicht zu machen, wollte ich sagen.

W und E halten sich gegenseitig die Hand vor den Mund und lachen,
sehr amüsiert. Sie schrecken dann plötzlich auf und schauen sich ver-
wundert um, ganz so, als wären sie bereits im zweiten Akt des Tristan
angelangt, hätten aber noch nicht erkannt, an welcher Stelle. Dieses
hier könnte von beiden Regieanweisern im Publikum gemeinsam und
leicht gregorianisch (wie ein plain-chant) gesprochen werden:



Wenn sie es so machen, wie der Autor es sich denkt, kann dies eine
der schönsten Stellen im Stück werden und Szenenapplaus provozie-
ren. Wenn dies geschieht, sagen E und W:

E&W (wie Hexen bei Shakespeare):

Was ist denn das? Was ist denn das?
Da haben wir’s! Da haben wir’s!
Da regnet’s Brot, da regnet‘s Brot,
da regnet‘s (jetzt wieder ganz normal gesprochen)
das tägliche Manna der Künstlerinnen!

W&E:

Wir strecken die Arme aus, wir laufen wie Kinder herum, die
Schneeflocken in ihren Händen aufzufangen versuchen. Es braucht
in dieser Szene aber kein Konfetti. Der akustische Manna-Regen
aus den feuchten Händen des Publikums genügt uns. Denn in dem
Regen steht es sich so gut. Mhmmm...

XXII
Sie bleiben stehen und umarmen sich, wie Schwestern. Fünf gefühlte
Sekunden lang.

E&W:

mmm..., so gut, so gut! (Suchen mit ihren Blicken die Regieanweiser
im Parkett:) Wie war das? Müssen wir uns jetzt nicht auch noch
küssen? Das nicht auch noch?

(Die Regieanweiser sehen sich ratlos an. Zucken mit den Schultern,
machen eine Geste wie: naja, es kann ja nichts schaden. Man hört in
mittlere Lautstärke, aber gut verständlich, Brangäne: Habet acht,
schon...)

Auch W und E schauen sich wieder, jetzt aber deutlich entsetzt, in die
Augen und küssen sich, bis zum Horror angeekelt. (Den letzten Satz
bitte füstern! - Entschuldigung, hätte ich früher anmerken müssen!)

E:

Arbeitet der Autor sich und uns jetzt doch noch an die Realität
heran? Wo wir uns doch gerade daran gewöhnen, immer in einer
Nussschale wahrgenommen zu werden.

W:

Auf der Bühne sind wir doch alles. Aber eben nur in nuce. Es ist die
Schale, die uns ins Licht setzt. Das Licht ist der Effekt der Schale.

W&E:

Karl Kraus hat uns gelehrt: Leben, das bedeutet: Raumkünstler zu
sein in der Nussschale des Daseins. Wir sind deswegen auch
XXIII
immer wieder einmal Sita, die Ackerfurche. Eine Frau ist nicht
geschaffen für die monotone Selbständigkeit. Wieviel weniger
aber zwei! Und Gattendienst ist Gottesdienst. Sagten schon die
alten Inder. Und wir sehen es auch so. Askese schürt unser inneres
Feuer, schürt es gewaltig. Habet also acht und hütet euch!

E:

Und vergesst nicht, auch bei uns verhält es sich wie bei allen Welt-
Erinnerungstheatern, also quasi überall: Wir zwei einsame
Zuschauerinnen des Schauspiels stehen als einzige auf der Bühne
und starren, ja, wir starren auf euch, Ihr Bilder, denn Bilder seid
Ihr alle, im Auditorium, das, es ist ja auch nur imaginär, in unseren
Augen, das Aussehen eines halben Amphitheaters hat. Auf die
wichtigsten Gäste, also die, die am meisten bezahlt haben, und die
in den ersten und untersten Reihen sitzen müssen, schauen wir
herb, derb und mit Verachtung herab, die wir nicht zu spielen
brauchen, so echt ist sie. So fordern wir unseren Teil der Häresie,
die das ganze Spektakel ja bedeutet, gnadenlos für uns ein, eben
den Göttlichen, den menschlichen Teil könnt Ihr behalten. Jedes
Theater ist Theorie nur von beiden Seiten des Spiegels, ipso ictu,
betrachtet. Wie alle gültige Praxis. Wie alles, das aus

W:

dem Leben greift. Leider scheint das Ideal unseres Autors darin zu
bestehen, seinem Satzbau den Charme des Unaussprechlichen zu-
zumuten. Deswegen lacht er auch beim Schreiben dauernd vor
sich hin, wenn es sich dabei nicht auch noch die Hände reibt, so
gut das beim Schreiben geht.



XXIV
Szene Il



Imitat einer unverkennbar absoluten Situation und Versuch eines
Idylls

(Musik also auch absolut und idyllisch:)



Beide, W und E, liegen auf einem mit weißem Tuch bespannten
überdimensionalen Liegestuhl. Nahe neben einander, aber jede wie
verloren. Es ist den Schauspielerinnen überlassen, wie sie den Text
auf ihre Stimmen verteilen. Sie müssen ihn also vorher gelesen und
deutliche Markierungen (zum Beispiel: E oder W) in den Text
eingetragen haben. Sie müssen den Text und ihre Einsätze auch so
gut memoriert haben, dass keine peinlichen Pausen oder Aussetzer

XXV
drohen. Der hypertrophe Souffleur-Kasten im Hintergrund der Bühne
ist ja noch immer unbesetzt. Und bleibt es wahrscheinlich auch.



W und E, auf ihre beliebige Weise abwechselnd (auch mitten in den
Zeilen, wenn sie wollen). Sie sprechen dabei so, als würden sie sich
diesen Text gerade selbst ausdenken. Zögernd und mit Denkpausen.
Nur Denkpausen sind erlaubt. Die dürfen aber nicht zu lang sein,
damit das qualitative Missverhältnis zum Ergebnis (dem Text) nicht
zu auffällig wird. Es sollte zumindest vom Publikum nicht bemerkt
werden. Aber das können E und W, denke ich, leisten.



Wir sollten hatten sie gesagt
Uns aufs Schweben vorbereiten
Das sei solange es noch nicht tagt
Wie aufzusatteln mit dem Ziel zu reiten

Es dürfe auch im Schlaf geschehen
Im Schlaf auf dieser leinenen Liege
Im Schlafe kannst du heimlich erspähen
Ob überhaupt und wie die Zukunft lüge und trüge



Das Tuch muss aber sein wie Schnee
Ein Falltuch für die Sterne
Nahe der Kerze und still im Séparée

XXVI
Der himmlischen Taverne

Wir haben einen Punkt erreicht
Der will uns nicht mehr tragen
Nur der der Archimeden gleicht
Hat das Recht sich einzuklagen



Vom Auditorium, genauer: den Stufen des halben Camillo‘schen Am-
phitheaters her, betrachtet, sieht dieser doch recht gigantische Lie-
gestuhl mit seinem weißen Tuch wie ein Abschnitt der Milchstraße
aus, in dem sich Zweie zu räkeln versuchen, als wollten sie das Un-
bequeme ihrer Lage ein wenig abmildern.

W:

Es stimmt, es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, ist

E:

aber auch nicht gut, dass er sich permanent arrangieren muss.

W:

Und es ist auch gar nicht gut zu wissen, dass da jemand
ist, der von uns etwas erwartet, wenigstens Dankbarkeit,

E:

dafür, dass wir uns so anstrengen dürfen,

XXVII
W:

dass wir Gelegenheit erhalten haben,

E:

uns die Gelegenheit zu erhalten, und sei es ewiglich, sich so

W:

die Unbequemlichkeiten wegzuräkeln, Seit‘ an

E:

Seit‘, oder Rücken an Rücken. Aber, das muss gesagt werden,
leider verstand der Schöpfer damals noch

W:

nicht genug von der conditio humana, um uns Test-Humanoiden
angemessen

E:

und nachhaltig briefen zu können. Und mittlerweile, - wir sagen
nur:

W&E:

Endzeit! und Finitude! - mittlerweile sind wir
uns aus dem Ruder gelaufen.
Für die Menschen,
Ihr wisst es selbst, ist die
XXVIII
Milchstraße gerade noch
groß genug, um sich in diesem
ausgemachten Kellerloch des
Universums rettungslos zu
verlaufen, in diesem
schnurgeraden Labyrinth,
verstopft und zugestellt
mit ungeeigneten und überforderten
Reiseleiterinnen. So genannter
living guides.

W:

Aber trotzdem! Der, der gesagt hat, dass wir aus demselben Zeug
sind wie die Träume,

E:

hatte Recht. Wenn man ergänzt, dass wir selbst das Zeug dieser
Träume sind.

E&W:

Eine somniogene Selbsterzeugung, also, von respektabelstem
Format. Ihr, der Selbsterzeugung, formidabelstes Modell. Wir
wissen, was wir uns wert sind. Und was wir repräsentieren. Und
es ist auch gar nicht so einfach, liebe Leute, eure Wahrnehmungs-
schwelle zu überspringen. Das gelingt nur unserer courage de
mourir, die Ihr uns
verdammt vernunfts-
hinterlistig einflößt.

E :

XXIX
Wobei es uns freilich äußerst wundert, dass ihr so viel
Hegel in petto habt. Wir vermuten,

W :

das ist nur ein wenig Restinstinkt. Ihr besteht ja geleichsam netto
aus der

E :

Rücknahme unserer Verklärtheit.

W&E:

Sonst aber auch aus nichts. Wir können sagen, Ihr seid das,
was wir euch von unserer
Transfiguration, wenn auch wider-
strebend zurückgeben, re-
tournieren. À contre coeur.
Wenn Ihr versteht.

Diderot (wie erholt (comme s’il avait rècupéré), aus dem Off)

Genau! Transfiguration retournée! Rien d’autre! Rien de rien!

Es folgt die erste obligatorische Traumerzählung. E richtet sich auf,
bleibt aber auf der Stelle sitzen und sagt, natürlich verträumt:

E:

Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.
Ich weiß nur noch, was ich nicht mehr denken
will. Ich will die Gedanken nicht mehr denken,
die mir das, was ich sehe, nahezulegen scheinen.
Und mir es selbstverständlich erscheinen lassen wollen.
Kann man die Zeit nutzen, um sie rückgängig zu
machen? Spürst du, wie zwanghaft wir uns
in die Zange nehmen?
XXX

W:

Zwischen unsere Zungen nehmen.

E:

Lass das! - Wir gehen durchs Gebirge
im Schutz von Zikaden, die nicht wissen,
was sie tun. Die Fackelträger rufen
sich etwas zu. Ich verstehe sie nicht. Und
antworte ganz ungerührt: Lasst euch nicht
stören bei der Arbeit. Ihr wisst nicht, wie
wichtig ihr seid. Sind nicht die Sterne
Lichtspreu eurer Fackeln? Hätten wir
ohne euch nicht noch weniger Welt zu
überstehen? Noch weniger Ungreifbares
im Takt zu wiegen? Die Milch unserer Straße
droht uns und den anderen zu versauern. Nimmst
du das ernst? Mach dich nicht lächerlich. Sprin-
ge! (saltat) So einfach machen sie es dir. Es geht doch.
Solange es so früh bleibt. So zwanghaft früh.
Warum, Gott sei es gefragt, machst du es nicht
anders? Gott sagt: Es lässt dich nicht. Wenn du
Glück hast, wird sich die Faust, die deine Stirn
traktiert, in einen Hammer verwandeln. Alles
Optimieren muss geplant und ziellos sein. Zu
weinen beginnt man noch vor der Schwelle. -

W:

Aber ich bitt dich, das ist doch, das ist doch -

E:

Ja, was ist denn ein typisches Lachen?

W:
XXXI

Jetzt komm auch du mir noch mit deinen Zeichen
und ihren Theorien!

E:

Wir beginnen halt stets hyperaktiv, mit Absicht und Lust; um
in die Gänge zu kommen oder vor uns die Gänge
erst aufzubauen, in die wir kommen wollen. Dann,
im initialzündenden Glücksfall, dessen Differential-
Analyse wir hier überspringen, kann das Gehen be-
ginnen. Als schwankende Erscheinung, um es ähnlich
wie Goethe zu sagen. Als sichtbarer Nervenschmerz, als
würde das alles von Giacomettis Händen geformt, also,
kann das schwankende Gehen beginnen. Das Gehen ist
die Bewegung, das Schwanken ist seine Form. Und sie
sind, muss das schon wieder gesagt werden?, sie sind
nicht ohne einander. Ich bin ich. Und wir sind du. Encore,
et pour toujours. Nichts ohne einander.

W:

Ja, aber wenn du gehen möchtest, musst du, wie
Musil sie nennt, die Scheu vor dem Dich-in-
die-Zukunft-Fallenlassen, ja, die musst du
wohl fallenlassen, wie eine Maske, oder wie
grundsätzlich überhaupt etwas. Aber dass du das weißt,
das beweist nichts anderes als: du musst dich
schon fallengelassen haben, sonst wärst du
nicht hier angelangt, vor der Schwelle einer
Entscheidung, die du folglich gar nicht mehr
zu fällen brauchst. Sie hat dich ja schon längst
gefällt. Wie auch alle anderen Rosen am Wegesrand.

E:

Schön! - Manchmal tut dem Geist, denkst du nicht auch,
ein wenig Inkontinenz ganz gut.
XXXII

W: (leise, aber klar und deutlich)

Psst! - Ein Traum ist eine Unterhaltung vollkommenster Art, oder
eben kein Traum. Nur im Traum teilen wir die ganze Welt.

E:

Es ist nur die fraternisierende Liebe, die die Idiotie eines jeden
Nationalismus bloßstellt. Und an den Pranger.

W:

Gibt es denn nicht die Geschichte einer fraternisierenden
Französin, die unentdeckt blieb, und mitten auf dem Markt ihrer
Stadt, vor der Kirche, sich ihre eigenen prächtigen Haare
abrasierte? -

E:

Nein, es gibt sie nicht. -

W:

Wer sagt denn das? -

E:

Naja, ich weiß nicht, Coco Shanel, wenn sie es nötig gehabt hätte,
hätte es vielleicht getan.

W:

Unser Stück entwickelt sich
zu einem Essay mit sehr ungleich
verteilten Rollen. Sollen wir
das hinnehmen?

XXXIII
E:

Ich dachte immer, esssssss-

W: - sie meint damit unser Stück -

E:

sssssss sei mit der Unendlichkeit
kurzgeschlossen. Erfolgte
denn, muss ich nun fragen, ein
Abschied? Ohne dass ich es
bemerkt habe?

W:

So ist sie halt, die Träne der Zeit, in sich selbst gespiegelt
und gefedert. Auf den Lippen das gelassene Lächeln
einer lauen Sommernacht.

E:

Was für ein furchtbares Bild, bizarr und
sentimental. Und wenn du dich darauf einlässt,
kennst du dich nicht mehr aus.

W:

Und bist verloren.

E: (aufschreckend)

- Wo sind wir, übrigens?

W:

Wir sind, (korrigiert die Betonung:) wir sind jedenfalls nicht von
der Stelle gekommen.
XXXIV

E&W:

Wo hätte die auch sein können!
(Sie zitieren Yeats, wohl ohne es zu merken, und ohne zu merken,
wie passend es hier ist:)

„We must lie down where all the ladders start
In the foul rag and bone shop oft the heart“




Scene III

In Szene III fungieren E und W wie Bauchrednerinnen. Sie sprechen
mit sehr verschiedenen Stimmen, meistens männlichen oder män-
nerstimmenartigen Stimmen, ohne sich dabei aber anzustrengen.
Es klingt eher so, dass diese Stimmen sie weniger anstrengen als
ihr eigenen. Das ist ein Glück. Welchem Timbre sie jeweils den Vor-
zug geben, das bleibt ihnen ganz überlassen, solange sie mit ihrer
Wahl das Publikum nicht irritieren oder überfordern. Das sollte
auch nicht in ihrem Interesse liegen.

E:

Das Geheimnis aller
Bewegung ist ihr Zweck,
sagt uns Hegel, warum
sollten wir uns also bewegen?
Haben wir denn ein Geheimnis?

W:

Oder will uns Hegel sagen: besser
nicht! In jedem Fall wird das
Geheimnis ja in der Bewegung stecken
bleiben. Das ist ja ihr ganzer Zweck.
XXXV

E:

Der Kalvarienberg ist der nur sehr nach-
lässig geheim gehaltene Zweck der
Denkbewegung. Der unersteigbare
Eisberg der All-Erinnerung.

W: (kokett)

Auch die Erinnerung ist eine Frau, die
nicht als Frau geboren, sondern erst zur
Frau gemacht wird.

E:

In einem hartnäckigen
Überzeugungsprozess.

W:

Aber bis wir ankommen, ist er -

E:

Er?

W: - na wer schon! - der Eisberg
hoffentlich weggeschmolzen. Aber
ja, das können wir nur hoffen. Oder
der Zeit als regulative Idee vorsetzen
oder -halten. Wie dem störrischen Esel
eine Rübe.

E: (ein wenig pathetisch)

Würde Hegel die dann auch den geheimen
Zweck der Bewegung nennen? O, dass wir
XXXVI
doch diese alles überflügelnde und überflutende
Tendenz nicht hätten, unser Denken gegen uns
selbst aufzuwiegeln und einzusetzen! Und nicht
Honig schlecken würden von den Schneiden der
Rasierklingen!

W: (sehr nachdenklich, aber jovial)

Nun, ich bin da zu keiner eindeutigen Deutung,
nicht einmal zu einer Meinung
imstande. Das hat sich zwar alles
so entwickelt, war aber auch schon
von Anfang an so. Es muss
wohl eine Anlage dazu
gegeben haben.

E:

Auch ich weiß freilich nicht zu sagen,
seit wann das so ist. Aber immer wenn
ich denke, höre ich von allen Seiten her sehr
verschiedene Stimmen, die mir etwas zurufen: He,
vergiss mich nicht! Nimm mich mit! Lass mich nicht
allein! Wie kannst du gerade mich hier zurücklassen! Das
macht mir das Denken zu einer regelrechten Tortur.

W:

Ja, sie wollen alle mitkommen. Nur: wohin? Und soviel Platz
ist auf unseren Gedankenrücken nicht. Die sind auch viel zu glatt,
sie bieten keinen ernstzunehmenden Halt. Und ich möchte so viele
Abstürze nicht verantworten müssen.

E:

Je reduzierter auf das Nicht-Einzelne, desto
mehr wird das alles Welttheater sein, diese eure
selbstgemachte Nervenkunst.
XXXVII

W:

Und eines Tages kriegen alle, alle bei ihrer Geburt ein eigenes
Trapez. Und eine Anleitung dazu, die hilft, die zu
erkennen hilft,

E:

welcher Zirkus- und Weltenfröhlichkeit
man gerade jubelnd ausgeliefert ist.

W:

So mit einem Fuß wieder daheim
in Eden, - kitzelt einem der andere umso
ungeduldiger.

E&W: (sehr rasch, ein wenig zischelnd)

Wir sezieren gerne den Fetisch, der wir
sind. Das ist ja der Sinn des Theaters, die
Bühne zum Seziertisch zu erheben. Aber
wir tun es leider noch nicht richtig.

Diderot (sehr fern aus dem hinteren Off, aber noch gut
verständlich):

Comme je l'aime! - La scène comme plateforme élévatrice et
comme table de dissection!

E&W (rasch und zischelnd beginnend, ab „Wie wenn..“ dann immer
langsamer, gleichsam smorendo: die Stimmen sacken ab, wie früher,
wenn ein Tonband aus technischen Gründen langsamer wurde und
stehen blieb, wie eine Dampflok an einem Bahnhof):

Denn es bleibt dabei, dass der Fetisch den Fetisch
beobachtet. Von der Seite und selbstbesessen. Also
XXXVIII
blind. Wie wenn Spiegel auf Spiegel aufliegt. Nur ein
wenig Staub dazwischen, wie bei einem Kussssss.

(Kurze Pause, dann fordern sie sich selbst auf:)

Also noch einmal! Und wie eben!

Denn es bleibt dabei, dass der Fetisch den Fetisch
beobachtet. Von der Seite und selbstbesessen. Also
blind. Wie wenn Spiegel auf Spiegel aufliegt. Nur ein
wenig Staub dazwischen, wie bei einem Kussssss. -


Szene IV

Das Interview. In der Form eines selbstgesprächigen Dialogs.

W und E sitzen schwarz gekleidet, wie vorher, auf zwei schwarzen
Sesseln, die auf der sonst - bis auf eine barocke, ziemlich übergroße
und ebenfalls leere Kanzel - leeren Bühne stehen, wo, das ist egal, egal
ist auch, in welcher Richtung, wenn sie nur genau 150cm voneinan-
der entfernt sind, damit Ihr euch später einmal ausrechnen könnt,
wann dieser Text hier überhaupt geschrieben wird. E(W) und W(E)
tragen individuell und originell gestaltete Schutzmasken, die ihnen
beiden dennoch ein prägnant entenhaftes Aussehen geben. Wer der
Interviewer ist, und wo er herkommt, das weiß ich nicht. Er war nicht
vorgesehen. Vielleicht kann einer der beiden Regieanweiser, die im
Publikum sitzen, die Rolle übernehmen. Oder auch beide.

Der Interviewer:

Was machen Sie da eigentlich?

W&E (artikulieren auf enervierende Weise gelassen):

Zurzeit sitzen wir einfach nur hier. Und denken, dass wir offen-
sichtlich etwas falsch gemacht haben. Was wir bisher gemacht ha-
ben, das haben wir nämlich aus der Heidenangst heraus gemacht,
XXXIX
dass uns eine solche Frage gestellt werden könnte, wie Sie uns
gerade eine gestellt haben. Alles war nur ein Versuch, Vermeidung
zu inszenieren. Nichts als Vermeidung. Größtmögliche Vermeidung.
Ohne Erfolg. Jetzt sitzen wir sehr verlegen da, wie Sie sehen. Wie
sie doch wohl sehen. Oder? Das ist es, was wir gerade machen. Aber
wir vermuten, dass Sie sich mit dieser Antwort nicht zufrieden ge-
ben werden. Daher wiederholen wir, mit verteilten Rollen, das, was
wir vergeblich zur Vermeidung Ihrer Frage alles aufgeführt haben,
noch einmal, in einem pädagogischen Jargon, sozusagen, den Sie
folglich, wie wir auch vermuten, nicht verstehen werden, auch
nicht verstehen werden.

E:

Wir müssen zunächst feststellen, dass dies kein Experiment ist, vor
allem anderen aber kein Theaterexperiment. Sie werden also nicht
von einem misslungenen Experiment reden oder schreiben können,
weil es schlichtweg kein Experiment gewesen sein wird. Es sei
denn, dass Sie wie wir glauben, dass die Welt, das Wort schließt
hier die Bedeutung von Kosmos, Universum, das All etc. ein, tutti
quanti ein Experiment ist. Dann können wir uns denknotwendig
nicht davon ausschließen. Aber das ist ja ein ganz anderer Ge-
brauch des Worts Experiment. Wir glauben, dass das geklärt wer-
den musste und hiermit geklärt ist. Aber wir sind ja nicht hier, um
Präambeln zu verlesen. Die kämen ja auch zu spät. Und würden
ihren Namen lügen heißen. Das eignete sich nicht für ein Lehrstück,
in dem wenigstens eine von uns einen Kothurn tragen soll.

W:

Was wir versuchen, das ist ganz einfach zu beschreiben, aber nicht
so einfach zu realisieren, also ins Dinglich-Sichtbare zu übertragen.
Das Wasser ist viel zu tief. Und auch zu kalt. (steht auf und geht
bedächtig dozierend, mit sparsamen und eindrücklichen Hand-
bewegungen auf der Bühne umher) Es musste ihm ein langer Denk-
prozess vorausgehen. Aber auch das darf man dem Produkt nicht
anmerken, denn dann wäre alles umsonst. Denn dann wäre das
Produkt nicht das, was es sein soll. Es wäre das Gegenteil davon.
XL
Und das ist es nur solange nicht, solange es die ganze Wucht seines
Gegenteils, dessen ganze Fülle, selbst ist. Fangt Ihr an, uns folgen zu
können? Wir gehen nämlich davon aus, dass alles, was ist, das
Resultat einer Selbstschöpfung ist, einer, verzeiht das bleischwere
Wort, eine Autogenese aus dem Nichts, das, unbedacht gesagt, vor-
her war, also nicht einmal nichts war, das können wir ja nur so
nennen, weil wir es jetzt erst von seinem Gegenteil unterscheiden
können, nachdem Nichts und Sein, gleichsam Hand in Hand, ja
Mund an Mund, aus jenem ominösen Vorher, das freilich auch vor-
her, schon logischerweise, nicht gewesen sein kann, geradezu fest-
lich hervorgetreten sind. Das ist für uns die wahrste Wahrheit aller
Dinge, daher auch eines jeden Einzelnen. Wenn wir ein einziges
Ding in seiner Selbstschöpfung sichtbar machen könnten, ach, das
dachten wir, hätten wir die Wahrheit aller möglichen Dinge, ja,
auch aller möglichen Gedanken in ihrer wunderbaren Selbstgeburt
ohne Makel ins Sichtbare katapultiert. Aber das Einzelne, Ihr habt
es zweifellos bemerkt, bleibt, obwohl es sich im Grunde und im
Verfahren seiner Herkunft von allen möglichen Einzelnen, seien es
Dinge, Gedanken und was Ihr sonst noch wollt, nicht unterscheidet,
versteckt das Einzelne, als würde es sich dafür schämen, seine
Herkunft, die es mit allem anderen teilt, und wie es alle anderen
auch machen. Aber lasst uns darüber, bitte, nicht den Stab brechen,
es würde uns alle treffen. Wir haben uns entschieden, in einem
Welttheater, nicht einmal so groß wie eine Nuss, in tausend Bildern,
ungefähr, zu erzählen, wie etwas zustande kommt, immer auf
dieselbe Weise, und deshalb so rätselvoll ist. Alles, was ist, zieht
sich an einer eingebildeten Zopffunktion aus dem Sumpf heraus,
den es herstellt, indem es sich ihm entzieht; was könnte es auch
sonst tun! In einem Sumpf, den man schafft, nur wenn man sich ihm
entzieht, kann man ja tragikomischer Weise, um im Jargon zu
bleiben, nicht untergehen. Alles Aufgehen, von Sonnen, von Blumen
oder Gedanken, ist nichts als notwendig und durchaus willig, um
nicht zu sagen eigenwillig verpasster Untergang. Alles, was ist,
deutet von sich weg, weil es nicht einmal selbst erfahren und
wissen möchte, worauf es hindeutet. Dasein ist die Verbergekunst
des Herkommens, hat also strukturell etwas Betrügerisches und
Verbergerisches, oder wie wir es uns gegenseitig so gerne vorwer-
fen, etwas Hochstaplerisches. Aber das dürft Ihr, Gott bewahre
XLI
euch davor, nicht moralisch bewerten, weil es ganz und gar etwas
Ontologisches ist. Es geht der Frage nach Sein oder Nichtsein um so
manche Schöpfung voraus. Und der big bang, wie wir ihn nennen,
ist bleibt nur sein kümmerlicher Abklatsch. Aber damit dürfen wir
uns getrost nicht abfinden. Wir fordern daher mehr und mehr zür-
nende einzigartige Charlatane auf der Bühne und im Auditorium.
Bescheidener können wir nicht sein. Aber zielführende Erzie-
hungsmaßnahmen müssen zeitnah in Angriff genommen und ge-
troffen werden.

W und E, die zwei Restparzen, sitzen jetzt unerwartet auf dem Boden
und stricken an etwas, das wie zwei Wollschals aussieht, die an-
scheinend schon endlos sind, weil sie sich über den ganzen Bühnen-
boden schlängelnd verbreitet und im dunklen Hintergrund der Büh-
ne der Sichtbarkeit entzogen haben. (Der Meistergeiger setzt sich auf
einen der jetzt ledigen schwarzem Sessel.) Es ist also nicht zu ent-
scheiden, ob sie (die Wollschals) die Ewigkeit schon erreicht haben.
Auffällig ist aber, dass E und W beim Stricken diese Schals hervor-
bringen, ohne einen Faden zu verarbeiten. Die Wolle, die sie ver-
arbeiten, scheint daher das Nichts zu sein. Das Publikum wundert
sich aber mehr darüber, dass die Parzen so prosaisch miteinander
reden, lohnt es ihnen aber, dass sie ihre Gedanken bis an die Grenzen
der Verständlichkeit herunterzubrechen versuchen. Die Parzen wis-
sen, dass wir sie uns mit menschlichen Zügen auszustatten versuchen.
Vielleicht wollen sie uns dafür bisweilen danken?

E:

Es zeichnet sich alles, um es auf den Punkt zu bringen,
immer selbst und von selbst ab. Das ist nicht zu verhindern.

W:

Wir würden es aber auch nicht verhindern wollen. Schon
deshalb, weil wir uns nicht auslöschen wollen. Da wäre ja, wie
wenn wir sagen wollten:

W&E:
XLII

Sesam, bleib geschlossen und denke
nicht einmal daran, dich zu öffnen!

E:

Es gibt aber, das muss nachträglich noch offenbart werden,
mindestens einen Grund, dass wir nicht so gut sein können wie
Thomas Bernhard. Wir können nämlich nicht so subjektiv wüten
und schmähen und ignorieren wie er. Wir lieben die Welt ja,

W:

und sogar die Menschen. Was uns so aufregt, das ist der allgemeine
Selbstmissbrauch. Warum stellen sie ihre Himmelsleitern auf den
Kopf und wackeln mit den eigenen Köpfen, weil sie sich darüber
ärgern zu müssen glauben, dass die Leitern einen so unsicheren
Stand haben. Was sich da noch alles abzeichnen wird, das können
wir also nicht absehen. Soweit reicht die Phantasie auch der letzten
Parzen nicht.

E:

Es könnte nämlich sein, dass unsere Realität bereits alle
möglichen Travestien ihrer selbst übertroffen hat, an
Absurdität und schierem Sein. An Seinsstärke und
Seinsschwere. Dann wüsste auch die beste Parze keinen
Rat mehr. Parzen können doch nur das Ungewordene
stemmen. Dem Atlas können sie nicht einmal
Hilfestellung leisten. Wie denn!

E&W:

Abgesehen davon, mögen wir auch seine Haltung nicht. Prinzipiell.


Szene V

XLIII
Die Bühne ist leer, so gut eine Bühne eben leer sein kann. Nur, a-
symmetrisch verteilt, zwei Windräder oder zwei Windmühlen nach
holländischer Art sind zu sehen. Es genügen aber auch ihre (beweg-
ten) Schatten von hinter der Bühne her.

E und W sitzen sehr entspannt am Bühnenrand uns lassen ihre Beine
ins Auditorium baumeln.

E: Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn man
W: anfängt sich zu brauchen. Und einander sagt;
E: Schau mich an, ich will mich nicht verlieren.
W: Dann hat man auch die größte Angst, weil man
E: begreift, dass man sich nicht halten kann. Nicht einmal fassen.
W: Wie es dir ja auch mit
E: einer Wolke geht.
W: Wir sind uns zum
E: Zitieren nah. Wenn Existieren auch eine
W: Frage der Gelenkigkeit des Austauschs
E: Ist, sind wir der verspielte Wind zwischen
W: zwei Mühlen. Wir wären noch zerbrechlicher,
E: wenn wir mehr wären als das. Dafür ist eine
W: gewisse Dankbarkeit angezeigt.

Diderot, (aus dem Off, aber wieder sehr nah):

Gleitet nicht ab ins Verräterische!

E: Was ist, bester Diderot, das Dasein denn anderes als
W: eine kleine Ab- und Weitergabe des Verrats.
Denn mit dem Aufkommen des Verrats erst
E: beginnt die Wahrheit.

Diderot:

Ich befürchte, ihr lasst mich allmählich hinter euch.
Ich kann euch nicht mehr folgen.

W&E:
XLIV

Aleithea, klingt das, lieber Denis, denn nicht
viel schöner als: das Verratene -

Diderot: (aus dem Off, er klingt wieder ganz nah; sagt aber)

Von mir hört Ihr nichts mehr!
Teilt euren Verrat unter euch auf!

E:

Ich benutze manchmal Bilder, die
euch vertraut sind, einige davon liebt
Ihr sogar. Ich sage zum Beispiel: wir sind

W:

uns ein Film, der abläuft. Ein ganz und
gar nicht originelles Bild. Nur durch das
eingesetzte „uns“ ein wenig hergemacht.
Und ein Film ist ja nicht mehr als

E:

Trauer über so viel vergangene Bewegung.
Ein Fest aus fremder Zeit. Der Film, sagt
man, legt sich, legt sich über die

W:

Zeit. Wie ja auch wir, auch wir es
tun. Was auf der Bühne spricht und tanzt, ist
schon längst nicht mehr. Ihr liebt es, weil

E:

es einmal war, wenn auch nicht klar ist,
wo es war. In einem Kopf? Im Gleiten einer
XLV
Hand? Im Aufschrei einer Saite? - Da

W:

war es sicher. Aber jetzt? -

Sieben Sekunden Stille. Auch die Geige schweigt verwundert. Dann
hört man sehr langsam und sehr leise, aber nicht zu sehr zitternd:
c‘ - ges‘ - f‘ - ces‘ - a‘ - dis‘‘

Pause, ad. lib.

M:

Nichts ist so klar.

Wollten Sie das sagen und
haben es doch nur gedacht?




Letzte und VI. Szene: Aussicht und Kehraus

Faktisch: Sale auf dem Parzenmarkt

Zwei Hexenbesen lehnen, nicht ganz in der Mitte, eher da, wo man
den goldenen Schnitt ansetzen würde, wenn der Rahmen der Büh-
nenöffnung ein Bildrahmen wäre, gegen die unsichtbare Vierte
Wand Diderots zwischen Bühnenraum und Auditorium.

Auch die Drehbühne der ersten Szene ist wieder da. Und auch auf
ihr lehnen, sich genau gegenüber und im gleichen Winkel, zwei He-
xenbesen gegen den Spiegel, der die Drehbühne unverändert zwei-
teilt. Die Hexenbesen sind, anders gesagt, nur durch den Spiegel
voneinander getrennt. Es darf irgendwie walpurgisnachtartig zu-
gehen, ohne aber den Charakter eines Weltenendes zu verlieren.

XLVI
Das Publikum bewegt sich nah und nach ungeordnet auf die Bühne
und praktizieren eine Art Teilnahme.

Die Parzen E und W treten unverkleidet als Marktfrauen auf. Im
Hintergrund hört man leise aber deutlich diverse Cris de Paris. Die
Marktfrauen rufen (hexenmäßig schrill) marktschreierische Dinge
wie:

E:

So billig war es noch nie und nirgends. - Oder:

W:

Tränen, der ideale mineralische Mond-
Und Sonnenschutz für die Augen. - Oder:

E:

Liebestränke, die stalker auf andere
Gedanken bringen können. Liebestränke
überhaupt, mit jeder gewünschten
Nebenwirkung. - Oder:

W:

Jod für die Seele, hochprozentig und entzündungsfördernd. - Oder:

E:

(jetzt wie ein Schulmeister)

Humanität bestand schon ihre ganze
Weltgeschichte lang aus Nischen.

W:

(laut rufend)
XLVII

Meister! Mehr Amtshilfe! Ohne Musik kein Nachdruck!

E:

(plaudernd, wie am Biertisch)

Warum haben sich die Götter denn in die Löcher
zwischen den Welten zurückgezogen?

W:

Weil sie zu viel gewusst haben.

E:

Lass doch diese dumme Redeweise! Wer kann
denn je etwas zuviel wissen? Und überhaupt,
welche Dinge reichen schon aus?

W:

Dann wollten sie eben einfach nur ungestört und
privilegiert lachen. Auch das eine Folge der Ver-
teilung, kurz nach der Erfindung des Lichts,

E:

der verlorenen Möglichkeit zu jeder Art
von Solidarität.

W:

Der Anspruch einer jeden,
eines jeden auf alles
hat, trotz seiner verqueren
Logik, die man für folgenlos
hätte halten können, alles zerstört.
XLVIII

W:

Meint Ihr nicht, die Ablenkung ist längst
Viel zu groß? Ihr steht, und das mit
Überzeugung, der Realität nicht zur Seite.
An Welt teilzunehmen, bedeutet ja nicht
wirklich, sie zu leugnen, wie Ihr
es unverhohlen versucht.


E:

Sie haben sich alle unterm letzten
Hexensabbat etwas anderes vorgestellt.
Etwas Sinnlicheres. Und wir haben sie
enttäuscht und können nicht einmal sagen,
dass wir das nicht wollten.

(E und W lachen nach der vertrauten Art der Hexen)

Sie hätten sich vom Teufel halt nicht
so verwöhnen lassen. Warum haben sie
sich nur so verwöhnen lassen?

W:

Wir waren da viel klüger, umgänglicher,
sozusagen. Wir wussten ihn, den Leibhaftigen,
zu nehmen. Gaben ihm aber nichts. Wir hielten
uns zurück und haben uns behalten. Die da
unten können nicht so gut kalkulieren wie wir.
Sie kennen ja das Hexeneinmaleins nicht. Wie
lustig Goethe sie sie doch getäuscht hat!

(Sie lachen wieder nach der vertrauten Art der Hexen)

Außerdem fehlt uns alles und jegliches Blocks
XLIX
bergische, wenn das Wort erlaubt ist. Ja,
das wird es wohl sein! Das vermissen sie! Klar,
daher dieser große Brocken von Enttäuschung!

Person l:

Mir schmeckt nichts mehr. Ich esse nur noch,
weil ich weiß, dass ich es muss, solange ich
denke, leben zu wollen.

Person Il:

Meine Schleimhäute, meine Zunge, sogar
meine Zähne, scheinen mir zur Wahrnehmung
der Welt nicht mehr geeignet.

Person lll:

Das ist wirklich wahr: das Flaschenpfand wurde
in Bayern eingeführt, kurz vor dem Ersten
Weltkrieg, damit die Autoreifen der preußischen
Touristen geschont würden. Das
lässt sich doch nachvollziehen?

W:

Nur ausgebliebene Schlussakkorde hallen
lange nach. Richten wir uns aber später danach!

Bei jedem Satz werfen W und E ab jetzt eine Handvoll
Glitzer hoch in den Bühnenraum, dass die Zuschauer
meinen, einer Art Kammer-Feuerwerk beizuwohnen.
Und sie empfinden die Situation als zauberhaft.

E:

(in ihrer Rolle als Marktfrau)

L
Unfassbare Gegenwart! Nur von uns zu haben!

W: (ebenfalls)

Kauft Turbulenzen in Kristall und Bernstein!

E:

Ein Pfund Kaffeesatz! Garantiert noch ungelesen!

W:

Auch für Legastheniker geeignet, gerade für die!

E:

666 apokalyptisch Zweifel! Unbenommen!

Jetzt tritt doch ein Souffleur auf, geht langsam, längs der Rampe,
von rechts nach links und wieder zurück über die Bühne und sagt:

(während er von rechts nach links geht)

Und bei mir könnt Ihr den Versuch kaufen, euch
Immer wieder neu zusammen zu setzen. So verwandelt
Ihr die Vergeblichkeit zu einem rauschenden
Fest. Es herrscht auch Kostümzwang.

(während er von rechts nach links geht)

Ihr müsst aber in Seinskleidung gekleidet sein. Versteht
Ihr? Man muss euer Seinskostüm aber nicht notwendig
sehen können. Sagt am Eingang oder an der Garderobe
einfach, das sei eben so. Anscheinend überall, sei es eben
so. Ein Zwang, dem man schmeicheln müsse.

E:

LI
Im Sonderangebot, nur heute: diverse Raumpressen
und organischer Zeitdünger! - Und:

W:

Allzweckreißwölfe für jede Saison. - Und:

E:

Fakes, endlich in hand- und mundgerechtem Format,
auf Wunsch gluten- und laktosefrei.

W:

Was wollt ihr noch mehr?

Wenn die technischen Möglichkeiten dazu vorbereitet oder gegeben
sind, schnappen W und E sich die zwei Hexenbesen, die gegen die
unsichtbare vierte Wand der Bühne lehnen, besteigen diese behende
und fliegen - durch die unsichtbare Wand hindurch - und durch den
Zuschauerraum weg, einfach weg.

Der Meistergeiger schaut ihnen wie lächelnd zu und nach. Er ver-
beugt sich vor dem Zuschauerraum, der mittlerweile leer ist, weil sich
das Publikum jetzt ausnahmslos hinter ihm auf der Bühne befindet,
wo die letzten Lichter der gerade letzten Walpurgisnacht ausgehen.

Das Publikum darf applaudieren, muss aber im Dunklen den Weg
nach draußen finden. Der Meistergeiger hatte das Haus rechtzeitig
verlassen und sitzt bereits unter einer Laterne auf den Stufen vor dem
Theater.







LII
Kafkas Affe, wieder vor der Akademie

Ein Nachschlag

(Rotpeter sitzt alleine an der Bühnenrampe im ziemlich dunklen
Theater und rezitiert so, als würde er seine Rede noch einmal repe-
tieren, bevor es zu spät ist.)

Hohe Herren! Sie erweisen mir, warum auch immer, die Ehre, mei-
nen Bericht fortzusetzen. Ich tue es, aber nicht weniger widerwillig
als ich früher zu Ihnen gesprochen habe. Auch wenn sich meine Ton
verändert hat. In meiner Zeit als Mensch. Ja, ich bin noch immer der
von euch so genannte Rotpeter, aber nicht mehr der alte. Verhalten
verwächst sich oder wächst sich aus, bei Jugendlichen so wie bei
der Menschheit. Morgen wissen sie nicht mehr, worauf sie gestern
unerbittlich bestanden haben, und wenn sie im Grunde nur aus
dieser Unerbittlichkeit, deren Form ihnen völlig gleichgültig war,
bestanden. Schon heute, sagte mir einmal jemand, sind wir die
Ruinen von morgen. Das Morgen ist immer eine Einladung zur Re-
konstruktion. Wie jede Modulation in der Musik ein Tribut an das
ist, von dem sie spricht, weil sie es nicht sagen kann. Woher aber
könnt Ihr denn trauern? Doch nur weil wir, ich meine damit alle
Meinesgleichen, es euch lehren. Ihr seid aber, Hohe Herren, - o, ich
sehe gerade, es sind auch ein paar Damen dazugekommen -, Hohe
Damen und Herren!, Ihr seid nicht sehr bereit, mitzumachen. Ob-
wohl Ihr den Fluch kennt. Nein, nicht den, der euch erwartet. Den,
den Ihr mit euch tragt. Wie einem Speisen fad werden können,
vielleicht sogar einmal der Bordeaux, kann es auch bei der Musik
vorkommen, dass du sie nicht mehr schmeckst. Das ist dann ent-
setzlich, nur entsetzlich. Es lässt sich nämlich nicht begreifen, wo-
hin der Geschmack gegangen ist und wo er vorher war, als du ihn
noch nicht verloren hattest. An niemanden. Gebt es nur zu! Das
Antennenartige der Bedeutung verblüfft euch immer wieder. Und
auch das, dass der Sinn ein Dorn aus dem Hinterhalt ist. Ihr hättet
es lieber selbst im Griff. Ihr hättet euch lieber selbst im Griff. Aber
das ist, bei dieser Gefahrenlage, ein geradezu unfrommer Wunsch.
Oder eine Blasphemie, die gerade recht kommt, wenn Gott das
Bedürfnis hat, einmal markerschütternd oder auch herzergreifend,
LIII
wenn er überhaupt solche Unterschiede macht, zu lachen. Von der
Intention her ist das nichts Geringeres als Faust lll. Das segt euch
einer, der einmal Affe war. Die Welt wartet schon lange genug da-
rauf. Was natürlich nicht stimmt. Sie hat ihn nur verdient, weil sie
eben nicht wartet. Niemand wartet mehr auf Auslöschung, die im
Gange ist und fortschreitet. Der Zustand ist viel zu ausreichend.
Party, ja, das ist als solche, auch ungekrönt, ja, das ist endlich eine
feine Anspielung auf Corona, Tod, aber welcher Tod ist diesem ver-
gleichbar? Diesem Tod als Amüsanz. Dem enttodeten Tod. Dem Tod,
der sich genommen worden ist. Das konnte ich mir nie denken.
Dass der Tod einmal mit leeren Händen dastehen würde. Ein sich
selbst wie eine Zikadenhülle der Zikade entfremdeter Tod. Das neh-
me ich euch wirklich krumm und übel. Wie habt ihr das geschafft?
Aus Totentanz, der ging ja schon zu weit, Totenamüsanz zu machen,
auch wenn das Wort kaum zu verstehen ist. Wer sagt, freilich, dass
wir noch weiter kommen können? Ich sehe da nicht die Möglichkeit
einer Steigerung. Kann es denn eine zynischere Form der Selbst-
verkleinerung noch geben? Warum der Tod dabei mitgemacht hat,
warum er sich ins Amüsierviertel geschlichen hat, versteht man
das? Nötig hatte er es jedenfalls nicht. Dass der Tod im Kiez der
Eschatologie verenden würde, hat er das, glaubt ihr, wirklich ver-
dient? Schaut euch seine versandeten und schrecklich verweinten
Kinderaugen doch nur an! Das soll er verdient haben? Es hilft ihm
auch nichts, dass ihr eure eigene Würde, manche nannten sie ein-
mal tatsächlich Seinswürde verspielt habt. Sie haben beobachtet,
dass man etwas durchrütteln kann, und jetzt haben sie sich ent-
schlossen, alles, das All und mehr durchzutrivialisieren. Das halten
sie für einen Fortschritt. Das stimmt gewiss. Denn auf den Fort-
schritt ist immer Verlass, wenn er sich nur weit genug entfernt.
Vom akuten Hier und, wenn möglich, auch vom gängigen und läu-
figen Jetzt. Immer suchen Hänsel und Gretel die Brotkrumen der
anderen, die verloren Brotkrumen der anderen, die Brotkrumen
der anderen Verlorenen. Die Nähe anderer Verlorener zu suchen,
das ist völlig normal, deshalb sagte ich ja auch du und ihr. Genauso
normal, wie wenn ein Ungläubiger einmal aufwacht und die Wunde
Christi originalgetreu in seiner Seite trägt und spürt und vielleicht
auch noch die Lanze in seiner linken Hand. Und beide lösen sich,
zwar langsam, kurz nach dem Erwachen auf.
LIV




Moritaten, ganz klein konzipiert.



Durch Hans Wursts Fürwitznase gesprochen

(also so, wie man auf eine Pusteblume pustet)
LV


Das Tor, das der Himmel über der Erde bildet.
Kafka


I

Das esst ihr nicht gekocht. Das esst ihr roh.
Oder gar nicht. Habt ihr das verstanden? -

Hoher Herr, wir denken, dass wir das verstanden
haben. Auch wenn uns noch niemand gesagt hat,

wie man roh oder gar nicht isst. Vor allem,
wie man isst, wenn man gar nicht isst. Das

sagen wir nicht einfach so vor uns hin. Nein,
gar nicht. Wir sagen das mit Bedacht, so

wie wir auch stets mit Bedacht essen. Auch
einmal gar nichts, auch das nur mit Bedacht.

Denn wir, wir wissen, was wir tun und lassen.








LVI
II (Quatorze-lignes I)

Ich mag nicht beispielhaft sein.
Ich mag nicht vorbildhaft sein.
Ich vertrete nur jeden möglichen Fall,
oder keinen. Alles braucht ein

Modell. Tut nicht so verschämt. Ich
weiß doch, dass ihr alle nur mich
imitiert. Das werdet ihr noch bereuen.
Selbst als meine Imitate seid ihr

meiner Raffinesse unterlegen. Es
nutzt euch nichts, wenn ihr mir das
ankreidet. Es wird doch. zu Eurem Schaden
sein, auch wenn es mir nicht gefällt.

Aber es muss drum sein, sonst gäbe es
keine Welt. Überhaupt keine Welt.














LVII
III (Quatorze-lignes II)

Im Abseits des main stream glaubt
ihr dem Sturm - aber welchem? - ent-
kommen zu können, so lautet eure pathetische
Wendung. Das weiß aber nur, wer eure

unbewegten Lippen zu lesen versteht.
Ist es möglich, dass mir da niemand zur
Seite stehen mag? Aber der Sturm, dem
ihr zu entgehen glaubt, mischt nur die

Chromatik eurer Masken auf und versetzt
überhaupt allen Täuschungsversuchen die
letzten Stöße. Und setzt dafür unmögliche
Äquivalente ein. Vergiftete Wirklichkeiten.

Mienen wie zerfressene Brote. Mit je einem,
dem Zyklopenauge. Mit dem verliebten Blick.














LVIII
IV (Quatorze-lignes III)

Ein Ziel Gottes soll es sein, sich an das
Versprechen zu erinnern, das er sich
vor der Erfindung der Zeit, wie er glaubt,
gegeben hat. Seither, zumindest, nehmen

wir alle Versprechen entgegen wie eine
Gabe. Die aufgeregte Neugierde auf unserem
Gesicht vergebens verbergend. Es scheint
also, dass wir denken, uns erinnern zu können.

Und in unserer Blasphemie ein großzügiges
Vertrauen liegt. Ohne das kein Geschenk
unsere Gesichter zum Glühen bringen könnte.
Unsere spontane Gegengabe für das Vorenthaltene

mit dem Merkmal des Vorläufigen. So feiern und
halten wir das Netz eines Indra ohne Gedächtnis.














LIX
V (Quatorze-lignes IV)

Nehmt mir meine Motive ab! Ihr würdet mir eine
große Freude machen. Und mir die beschwerlichste
Last von meiner schon lange geschwächten Seele
heben. Euch jedoch würde es nichts nützen, nicht

einmal eine Entlastung bringen. Denn die Motive
habt ja Ihr mir geliefert. Und überlassen. Für Dich!
hattet ihr gesagt und damit klar und deutlich gemacht,
dass ihr auch mit euch nichts mehr zu tun haben

wolltet. Eine kluge Entscheidung war das, gerade
noch zur rechten Zeit. Ahi, come a un vago sol cortese
giro. Doch, was ihr auch im Schilde führtet, ihr
habt meine Gedanken mit euren Gewichten viel zu

schwer gemacht für meine Arme und mein Gewissen. Euer
Gewicht sank und liegt jetzt tief in mir. Und hält mich; alert.














LX
VI (Quatorze-lignes V)

Harlekin hin, Harlekin her. Es ist immer gut, eine Rück-
fahrt gebucht und auch die Versicherung nicht vergessen
zu haben. Sicherheit gibt nur die Einbildung. Wenn es die
nicht gibt, und das kommt vor, weiß auch die Sicherheit

nichts von sich. Und könnte an keiner Stelle, auch nicht
der ersten, stehen. Das wäre für viele Unternehmungen,
womöglich die meisten, fatal. Das heißt: vielleicht ein Glück.
Ihr seht, wie entscheidend die Einbildung ist! Im Vertrauen:

Sie entscheidet alles. Haben das nicht Epiktet und einer seiner
Schüler schon gesagt? Und auch viele andere, die so dachten? Im
Grunde verhalten sich ja alle so, als ob sie es wüssten. Ihr seht,
ihr braucht gar nicht zu wissen, was ihr tut. Könnt es aber auch

nicht lassen, es nicht zu wissen. Und außerdem, hier herrscht eine
knallharte Logik: auch die Einbildung kann ja nur eingebildet sein.














LXI
VII (Quatorze-lignes VI)

Auch meine Aufmerksamkeit ist immer
überstürzt. Das kommt wohl daher, dass
Interessen in mir festsitzen, auf die ich
keinen Einfluss habe. Und die mich lenken.

Aber da Gelingen doch nur dazu da ist, stärker
zu werden, ist mir nicht so sehr daran
gelegen. Meine Delikatesse aufzugeben, das
wäre ein Verrat, der mir überzogen schiene.

Mein Daseinsgefühl, verzeiht das falsche
Wort, ist ein Pendel in mir, das schwingt,
zwischen seinen Extremen, wie das Pendel,
wie denn auch anders, der Zeit, nur ortloser.

An den Wendepunkten sagt ihm ein Interesse,
es wäre den Versuch wert, wieder umzukehren.














LXII
Ein Kurier sekundiert und spricht

I Nachtigallenschläge, zum Behagen

Herzliche Grüße vom Kraken der Nachträglichkeit!
Er sagt, er habe sich noch nie so gut verstanden gefühlt.
Endlich sei der Philosoph in ihm erkannt und gewürdigt
worden. Endlich dürfe er sich etwas auf sich einbilden.

II Die keimenden Selbstzweifel des Kuriers

Wo kommen mir plötzlich diese Bedenklichkeiten her?
Ich habe doch nur mittzuteilen. Ich darf mich gar nicht
einmischen. Dann würde ich meinen Auftrag verfehlen
und nicht erfüllen. Aber daher kommen ja meine Bedenken.

Wie könnte ich mir einbilden, es richtig gemacht zu haben?
Wie, um alles in der Welt, könnte ich das denn wissen? Einen
solchen Überblick habe ich nicht über mich. Wie könnte ich mir
garantieren, das getan zu haben, was mir aufgetragen war?

Das setzte doch voraus, dass ich mir schlussendlich Rechenschaft
darüber ablegen könnte. Rechenschaft. Mir selber. Und ich weiß
ja nicht einmal, wie ich mich ansprechen müsste. Etwa mit: Mein
sehr geehrter Herr! Das wäre doch lächerlich. Ich müsste lachen und

könnte mir nicht glauben. Und die Geschichte wäre schon mit dem
ersten Wort gescheitert. Wie schwierig ein Kurier-Dienst doch ist,
wenn du der Wahrheit die Ehre geben möchtest, und darin liegt ja
gerade die Berufsehre eines Kuriers. All seine Befugnis ist darauf

LXIII
aufgebaut. Und es steht völlig außer seiner Macht, sich Absolution
zu erteilen. Das ist kurios. Er gleitet, an einem seidenen Faden hän-
gend über dünnstes Eis. Im Dienste der Wahrheit, die ihm nicht
gehört, ja, nicht einmal wirklich verfügbar ist. Weil sie ihm nicht

zusteht, steht sie ihm auch nicht bei. Das ist mir ein seltsames Ver-
hältnis! Ein mit einem skandalösen Makel behaftetes. Der
Kurier darf die Wahrheit, die er überbringen soll, nicht kennen,
weil er sie sonst kontaminieren würde. Mit sich selbst. Daher sind


so viele Kurier-Geschichten ja auch Verrats- und Täuschungsge-
schichten oder Geschichten von diplomatischem Betrug. Bei denen
der Kurier stets die Chance hat, rein und unschuldig zu bleiben.
Was immer geschieht, für ihn war es notwendig ein Versehen.


















LXIV
III Der Kurier entwickelt eine minimalistische Selbstironie

I

Hört sich denn da das Denken auf, wo
das Handeln beginnt? Muss das denn
sein? Dass es gerade der Fuchs war, der
das fragte, erregte größte Heiterkeit.

Da man‘s indes nicht von der Hand weisen
konnte, beschloss man, zum Schutze des
Denkens, fürder vom Handeln abzusehen.
Zum Treuhänder wurde der Fuchs.




















LXV
II

Wenn du sagst, ich erfinde nichts, ich erzähle
es so, wie ich weiß, dass es war, kannst
du getrost die Schwurhand heben.
Der tiefste Sinn eines Schwurs ist, die

Garantie zu verweigern. Wer schwört,
handelt. Er delegiert. Und das Delegieren
tut immer so, als würde es Gott etwas
zurückgeben. Zur Erbauung. Auch Gott braucht

das einmal. Hat man einem Herrscher jemals
den Beinamen der Unersetzliche gegeben? Da
nennt man ihn doch lieber den Schrecklichen
und dichtet ihm eine Bibliothek an.

















LXVI
III (Quatorze-lignes VII)

Die ganze Weltgeschichte besteht aus
perversen Momenten und Situationen.
Sie kennt nur den einzigen Trost der kleinen
Unterschiede, der kleinen Risse in der

Verblendung. Aber ein Trost, der aus
Rissen bläulich aufzüngelt, um zu verwehen,
ist zu wenig. Er genügt bestenfalls dazu, noch den
letzten Trotz mit sich zu nehmen.

Das ist ein gründlicher Aderlass unserer
Erwartungen. Solcherart Blutverlust ist nicht
zu kompensieren. Wenn Trost ausbleibt und
der Trotz verfliegt, profitiert nur die Trauer und

die nistet sich dauernd als spröder Ersatz in
die endlos verwaisten Gedanken-Nischen ein.














LXVII
IV (Quatorze-lignes VIII)


Bedenkt man, wieviel es geben könnte, gibt
es doch nur recht wenig. Dagegen ist auch die
große Zahl der Menschen kein Argument. Es
ist einfach wenig, gegen die unendliche Masse

des Nichts gehalten. Vergleicht nur einmal, mit
Sinn und Verstand! Dieses Missverhältnis zu
begreifen, bedarf es logischer Meisterschaft
einer noch immer unbekannten Art, nicht wahr?

Zwischen Sein und Nichts herrscht ein
erbitterter Verteilungskampf. Nur das ist
gewiss. Aber wir kennen die Regeln nicht.

Die Chancen größerer Transparenz sind gering.
Der Regen wird heute morgen vorübergehend
weniger. Heißt es eben tröstlich in den News.













LXVIII
V (Quatorze-lignes IX)

Denken kann sein, wie man, früher mehr, eine
Postkarte liest. Du drehst und wendest sie, du
musst sie so manipulieren, um zu verstehen,
was das denn sei, und was das dir soll. Wenn

doch nur die Schrift vom Wasser der Zeit nicht
so verwaschen wäre, fast nur noch Spur ist, die
sagt, das da etwas war, womöglich etwas war.
Aber was sich da tarnt und warum, das bleibt

verstohlen im Hintergrund, aber so, dass es dich
zwingt, es offenzulegen, und zwar genau das,
was sich da gerade nicht versteckt. Der Witz

ist, wie es sich versteht, ein zynischer Paraklet und
liegt immer in der Geste des Verzichts, die am Ende
steht, wo sie so lange hat auf sich warten lassen.

LXIX

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