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Seminararbeit
vorgelegt von
Michael Röder
Wintersemester 2002/2003
2
Inhaltsverzeichnis
II. Der Fundevogel von Grimm und Härtling: Beispiel einer Didaktisierung
für die Mittelstufe/Oberstufe
III. Literaturverzeichnis 32
3
Anlagen
Dem hier vorgestellten Vorgehen liegt die Auffassung zugrunde, dass literari-
sche Texte auch im Fremdsprachenunterricht ihre Bedeutung dadurch gewin-
nen, dass sie Bedürfnisse, Ängste, Hoffnungen und Wertvorstellungen dar-
stellen und den Leser zu differenzierten Stellungnahmen herausfordern, so
dass er sich in diesem Prozess selbst verstehen lernen kann.1
In den 70er und 80er Jahren geriet die audiolinguale Methode, deren Anliegen in erster Linie
darin besteht, bei den Fremdsprachenlernern mündliche Fertigkeiten auszubilden, in die Kri-
tik. Als Folge fand – unter anderen Vorzeichen als bei der Grammatik-Übersetzungsmethode
– eine erneute Hinwendung zum Lesen in der Fremdsprache statt.2 Damit gewannen auch
literarische Texte wieder eine größere Bedeutung, weil man in dieser Textsorte Möglichkei-
ten erkannte, neu ins Blickfeld geratene Ziele beim Fremdsprachenlernen besser umsetzen
zu können.3 Die audiolinguale Methode hatte mit ihrer Betonung des Sprachkönnens (pattern
drills) und der primären Fähigkeiten Hören und Sprechen literarische Texte größtenteils ver-
nachlässigt.4 Autoren wie Piepho, Kast und Löschmann haben Kritik an diesem Konzept
kommunikativer Kompetenz geübt, das die Fähigkeit des Sprechens in der Fremdsprache
zum obersten Lernziel erklärt. Vielmehr fördere Literatur im Unterricht die Entwicklung der
allgemeinen Lesefähigkeit, spreche die Lerner in persönlicherer Form an als dies Sachtexte
tun und wirke motivierend auf das Erlernen einer Fremdsprache, da das Lesen von Literatur
Vergnügen bereite. Der kommunikative Ansatz könne dadurch sogar besser realisiert wer-
den.5
Der literarische Text dient seit den 70er Jahren im DaF-Unterricht als Diskussionsgrundlage
für eine sprachliche Beschäftigung mit den Problemen der Zielsprache. Vor diesem Hinter-
grund wurden literarische Texte ausgewählt, die "Perspektiven des modernen Lebens auf-
zeigen und Kunde von den Erscheinungen und Hintergründen der Kultur und den wirtschaft-
lichen, technischen und sozialen Befindlichkeiten geben".6 Der zu dieser Zeit dominierende
kommunikative Ansatz mit seinem übergeordneten Lernziel der 'kommunikativen Kompetenz'
1
Bredella 1990, 582.
2
Ehlers 1998, 110.
3
Ehlers 2001, 1334.
4
Neuner/Hunfeld 1993, 45-61.
5
Ehlers 2001, 1334.
6
Beuers 1989, 125.
5
stand ganz unter dem Zeichen des Pragmatismus, weshalb Literatur im Fremdsprachenun-
terricht nicht in ihrem ästhetischen Wert gewürdigt, sondern überwiegend zu Sprachlernzwe-
cken herangezogen wurde.7
In den 80er Jahren bestand schließlich wieder Einigkeit darüber, Literatur im Fremdspra-
chenunterricht einzusetzen.8 Mit den Forschungszweigen der interkulturellen Germanistik
und der damit einhergehenden Hermeneutik der Fremde erlangen literarische Texte unter
dem Aspekt der Bedingungen fremdkultureller Rezeption einen neuen Stellenwert.9 Der in-
terkulturelle Ansatz konnte aufzeigen, dass das pragmatisch-funktionale Konzept den Anfor-
derungen eines DaF-Unterrichts in zielsprachenfernen Ländern und kulturell unterschiedlich
geprägten Regionen nicht genügt. Es gilt als besonders gewinnbringend, den Schülern fikti-
onale Texte nahezubringen, da diese in ihrem Bezug zur Welt 'offener' seien und subjektiv
gedeutet werden könnten. Es findet beim Rezeptionsprozess eine Vermischung von eige-
nem Weltverständnis und der fremdkulturellen Welt des Textes statt. Dies ermöglicht dem
Lerner einen direkteren emotionalen Bezug zum Gelesenen.10
Seit den 70er Jahren haben Überlegungen aus der Rezeptionsästhetik – die wiederum Be-
züge zur Hermeneutik aufweist – eine nachhaltige Wirkung auf die Fremdsprachendidaktik
ausgeübt. Der Grundgedanke der Rezeptionsästhetik besteht darin, dass der Text seine Be-
deutung erst durch den Lesevorgang – die Interaktion zwischen Leser und Text – erhält. Un-
ter dieser Voraussetzung nimmt der Leser den literarischen Text aus seiner persönlichen
Perspektive wahr und konkretisiert dessen Sinnpotential auf dem Hintergrund seiner Erfah-
rungen und kulturellen Prägungen. Der Text dient als Anlass für die persönlichen Reaktionen
des Lesers während des Leseprozesses.11 Die Rezeptionsästhetik richtet das Hauptaugen-
merk nicht länger auf das Produkt – den Text – sondern auf den Leser.
Dem Leser erschließt sich die ästhetische Erfahrung beim Lesen (aesthetic reading) erst,
nachdem er das informationsentnehmende Lesen (efferent reading) hinter sich gelassen
hat.12 Nach der Aufnahme der grundlegenden faktenbezogenen Aussagen des Textes kann
er zu einem ästhetischen Lesen fortschreiten, bei dem die Beziehung zwischen Objekt und
Rezipient ins Blickfeld gerät. Bredella spricht von der ästhetischen Distanz, die der Leser
einnehmen muss, um die Wirkung des Gegenstandes zu erfahren und diesen nicht mehr als
Mittel einzusetzen, ein unmittelbares Interesse zu befriedigen. Der Gegenstand wird nun um
seiner selbst willen wahrgenommen.13
Ästhetische Erfahrung lässt sich am besten im Umgang mit literarischen Texten üben. Beim
informationsentnehmenden Lesen ist die Sprache das Medium, ihr selbst wird nur soviel
7
Ehlers 2001, 1334; Neuner/Hunfeld 1993, 84, 99.
8
Ehlers 2001, 1335, Huneke/Steinig 2002, 83 f.
9
Heyd 1997, 119.
10
Neuner/Hunfeld 1993, 117, 120.
11
Heyd 1997, 121 f.
12
Bredella 1996, 129.
13
Bredella 1996, 130.
6
14
Bredella 1996, 132.
15
Šklovskij 1984, 13.
16
Bredella 1996, 132.
17
Heyd 1997, 122.
18
Bredella 1990, 570.
19
Bredellas Ansatz rekurriert auf die Schema-Theorie aus der kognitiven Psychologie und Psycholin-
guistik, um die Besonderheiten der Rezeption literarischer Texte zu erläutern. Mit 'Schema' wird unser
Vorwissen bezeichnet, in das wir das Wahrgenommene einordnen, um es zu verstehen. Unsere ver-
innerlichten Schemata versetzen uns erst in die Lage, dem Gelesenen einen Sinn abzugewinnen
(Bredella 1990, 563).
20
Bredella 1990, 571. Bottom-up Prozesse können auch als 'datengeleitet' bezeichnet werden.
21
Ehlers 1998,129.
22
Bredella 1990, 575. Top-down Prozesse sind 'konzeptgeleitet'.
7
se im gleichen Maße aktiviert werden sollten wie die gegenläufigen bottom-up Prozesse, um
einen dialektischen Verstehensprozess zu ermöglichen, in dem die eigenkulturellen Konzep-
te durchaus fragwürdig werden können.23
Ehlers bezieht sich auf Publikationen von Hunefeld und Weinrich aus den 80er Jahren, die
beide davon ausgehen, dass die besondere Lesestrategie des fremdsprachigen Lernenden –
der Texte im Allgemeinen langsamer und mit größerem Aufwand als der Muttersprachler liest
und entziffert – den Anforderungen entgegenkomme, die Literatur mit ihren Irritationen und
Verfremdungen an den Rezipienten stelle.24 In den erschwerten Rezeptionsbedingungen
liegt auch eine Chance für das Verstehen, da der fremdkulturelle Leser gerade damit rech-
net, auf Verstehenshemmnisse zu stoßen, die er als Teil des eigenen Lernprozesses zu
überwinden trachtet. Es gelten bei dieser Begegnung mit Ungewohntem nicht länger diesel-
ben Erwartungen, die er literarischen Texten in der Muttersprache gegenüber hat.25 Auch für
die Unterrichtspraxis beinhaltet die fremdkulturelle Leseposition positive Aspekte: das Ein-
bringen der eigenen Sehweise kann vielfältige Kommunikationsanlässe bieten, z. B. durch
das Vergleichen der eigenen mit alternativen Verstehenszugängen.26
Das interkulturelle Konzept geht davon aus, dass der fremdsprachige Lernende bei der Be-
schäftigung mit literarischen Texten auch die damit verknüpften kulturellen Konzepte und
Wissensinhalte aufnimmt. In einem wechselseitigen Prozess reflektiert er über die unbe-
wusst erworbenen eigenkulturellen Vorstellungen und vergleicht sie mit fremdkulturellen
Konzepten. Dadurch wird er in die Lage versetzt, das Eigene und das Fremde mit anderen
Augen wahrzunehmen. Lehrwerke wie Sichtwechsel, die dem interkulturellen Ansatz folgen,
haben zum Ziel, einen Dialog zwischen dem kulturellen Selbstverständnis des Lernenden
und dem sich in den schriftlichen Inhalten und Übungsformen ausdrückenden Kulturver-
ständnis in Gang zu setzen.27 Bredella hebt hervor, dass fremdsprachliche Texte der frem-
den Kultur- wenn sie diese auch nicht objektiv abbilden können – in zweierlei Hinsicht zu
interkulturellem Verstehen beitragen: zum einen nimmt der literarische Text zu den Aspekten
der Wirklichkeit Stellung, auf die er sich bezieht, zum anderen verweist er auf die Welt des
Lesers. Somit kommt literarischen Texten auch eine Bedeutung für das Verhältnis des
fremdsprachigen Lesers zu seiner eigenen Kultur zu.28 Die Interaktion zwischen Text und
außerliterarischer Wirklichkeit sollte im Unterricht genutzt werden.29
Ehlers thematisiert die besondere Rolle des kulturellen Umfeldes sowohl des Lernenden als
auch der Lehrperson, das sich nachhaltig auf den Deutungs- und Verstehensprozess literari-
scher Texte im DaF-Unterricht auswirkt:
Der Lehr- und Lernzusammenhang, in dem ein literarischer Text steht, ist nicht homogen, sondern
durch kulturelle Diversifikation gekennzeichnet. Mit den Kontexten ändert sich die didaktische Ana-
lyse ein und desselben literarischen Textes, da ein Text ja nach kulturellen Voraussetzungen und
individueller Interessenslage der Zielgruppe verschiedene Anknüpfungsmöglichkeiten an Erfahrun-
gen und Alltagswissen von Lernern bietet und andere Inhaltsaspekte eine Relevanz gewinnen, um
23
Bredella 1990, 571 f.
24
Ehlers 2001, 1335.
25
Heyd 1997, 119.
26
Heyd 1997, 123.
27
Heyd 1997, 119 f.
28
Bredella 1990, 569.
29
Bredella 1990, 582.
8
30
Ehlers 2001, 1337.
31
Heyd 1997, 122.
32
Heyd 1997, 146; Ehlers 1992, 39. Vgl. hierzu auch das Zwei-Phasen-Modell von M. Wilde-
Stockmeyer. Es geht von der gegenläufigen Richtung aus: einer Phase der subjektiven Aneignung im
Leseprozess schließt sich eine zweite Phase der Relativierung der stark subjektiven Interpretationen
an. Diese Korrektur fremdkultureller Konzepte geschieht u. a. durch Kontextwissen, Informationen
über den Autor, Gattungswissen, gesellschaftspolitische und geschichtliche Zusammenhänge (Wilde-
Stockmeyer, unveröffentlichte Präsentation im Seminar "Interkulturelle Kommunikation",
Wintersemester 2003, Universität Gesamthochschule Kassel, Fachbereich Germanistik DaF).
33
Mandler und Johnson sprechen von story grammars, in die der Leser das Erzählte einordnet und
die ihm die Orientierung im Text erleichtern (Bredella 1990, 563).
34
Bredella 1990, 564.
35
Bredella 1990, 583.
9
nur dann, sich die Welt des literarischen Textes zu erschließen, wenn er vertraute Schemata
korrigiert und umstrukturiert.36 Die fiktionale Welt ist somit etwas Drittes, das sich in der In-
teraktion zwischen den bekannten Schemata des eigenkulturellen oder den erworbenen
fremdkulturellen Schemata des fremdsprachlichen Lesers und den deformierten Schemata
des literarischen Textes herausbildet.37
Im Gegensatz zur subjektivistischen Ästhetik "vermittelt das ästhetische Lesen zwischen
dem Objektivismus, der unsere Erfahrungen entwertet, und dem Subjektivismus, der unsere
Erfahrungen verabsolutiert".38
Abschließend kann die rezeptionstheoretische Begründung für den Einsatz kreativer Verfah-
ren im fremdsprachlichen Literaturunterricht nicht genug betont werden. Denn erst in einem
verzögerten Leseprozess, in dem der Leser seine eigenen Hypothesen ständig überprüft und
verändert, konstituiert sich der Sinn literarischer Texte. Der Leser kann erst verstehen, wenn
er sich um das Verstehen des Unbekannten bemüht.39 Die Fremdsprachendidaktik schlägt
deshalb vor, den Lesevorgang durch Phasen der Reflexion zu unterbrechen, die unter ande-
rem der Bildung von neuen Hypothesen und Vermutungen über den Fortgang der Handlung
dienen sollen. Es wird als vorteilhaft angesehen, dem Lerner auf diese Weise den Lesepro-
zess bewusst zu machen.40 Die Unterbrechungen des Leseflusses sollen die Motivation und
die kommunikativen Fertigkeiten fördern. Darüber hinaus kann der Leser seine Verstehens-
und Wahrnehmungsfähigkeit durch kontinuierlichen Perspektivenwechsel während des Le-
sevorgangs und Rückbezug auf sein eigenes Vorverständnis ausbilden. Er wird durch das
Bewusstmachen des Leseprozesses dazu befähigt, die eigene Perspektive zeitweilig auf-
zugeben und sich die Sichtweise des fremdsprachigen Textes zu eigen zu machen.41 Des
Weiteren erhält der Lerner durch den transparenten Leseprozess Einblick in die stilistischen
Mittel, die der Autor verwendet und mit denen er die Leseerwartungen steuert, was ihm den
selbständigen Umgang mit literarischen Texten erleichtert. Das verzögerte Lesen befördert
einen kreativen Umgang mit Literatur und Sprache ganz im Sinne des entdeckenden literari-
schen Lesens.42
36
Bredella 1990, 565 f.
37
Bredella (1996) über die Rolle der Subjektivität beim ästhetischen Lesen:
"Das ästhetische Lesen, wie ich es hier beschrieben habe, erkennt zwar die Subjektivität des Rezi-
pienten als konstitutives Moment an, aber es läuft nicht auf eine Bestätigung der jeweiligen Subjektivi-
tät des Lesers hinaus und redet nicht einem unverbindlichen Relativismus das Wort. Im Gegenteil, es
zeigt die Welt in einem neuen Licht und regt zur Reflexion auf die eigenen Sichtweisen an, so dass
Erleben und Kritik aufeinander bezogen sind. Damit wird auch verhindert, dass man sich auf das ei-
gene Subjekt zurückzieht." (136 f.)
38
Bredella 1996, 137.
39
Heyd 1997, 139.
40
Heyd 1997, 139.
41
Heyd 1997, 139; Ehlers 1992, 61 f.
42
Heyd 1997, 140, 121.
10
Unter didaktischen Gesichtspunkten eignen sich besonders literarische Texte für den Unter-
richt, die den Lernenden herausfordern, ohne ihn zu überfordern. Um den fremdsprachigen
Lernenden zum ästhetischen Lesen von Literatur anzuleiten, muss dieser im Unterricht die
Möglichkeit haben, Inhalt und Form als Einheit zu betrachten und zu erfahren. Nur auf diese
Weise wird dem Schüler noch Raum für eigene interpretatorische Leistungen zugestanden
und die schwache Kommunikation nach der Relevanztheorie gefördert.43 Die Schüler sollten
über produktive Verfahren wie das Um- und Weiterschreiben von literarischen Texten an der
Sinnbildung beteiligt werden. Bredella erkennt einen inhärenten Zusammenhang zwischen
Rezeption und sprachlicher Produktion. Häufig führe der Text eine Bedeutung nicht explizit
aus, sondern stelle nur Kontexte zur Verfügung. Über die eigene Sprachproduktion erschlie-
ße sich dann dem Leser der Sinn von textlichen Äußerungen.44
Die handlungs- und produktionsorientierte Richtung schlägt ein kreatives und produktives
Umgehen mit dem fremdsprachigen Text vor.45 Der Lerner soll zum 'Mitautor' werden und
dem Text auf dem Hintergrund seines Vorwissens und seiner Erfahrungen Sinn verleihen.
Der Lehrer ermöglicht diesen Prozess durch gelegentliche Hilfestellungen, er hat jedoch kei-
ne leitende Rolle und hält sich mit Vorgaben und Interpretationen zurück, um eine Asymmet-
rie zwischen Lehrperson und Lerner soweit wie möglich zu unterbinden.46 Ästhetische As-
pekte des literarischen Textes werden dem fremdsprachigen Lerner in handlungsorientierten
Übungen nahe gebracht.47
Mummert schlägt nach einer Phase der selbständigen Interessensuche – gegebenenfalls
kann der Lehrer Gedichte oder Kurzprosa zur Auswahl anbieten – eine Phase der Rezeption,
eine Reflexionsphase und eine Erweiterungsphase vor.48
In der Rezeptionsphase hören oder lesen die Lernenden den ersten Abschnitt des fremd-
sprachigen Textes und halten dabei ihre Eindrücke und Verständnisfragen schriftlich fest. In
einer ersten Rezeption äußern sich die Schüler spontan und stellen vorläufige Hypothesen in
der Gruppe auf. Weitere Lesephasen dienen dazu, den Sinn des Textes zur erschließen und
die eigenen Hypothesen zu überprüfen. Zugleich werden neue Erwartungen an den Text
formuliert.
Während der Reflexionsphase sind Aktivitäten wie Textanalyse, Einbeziehen des landes-
kundlichen Kontextes, ein Vergleich der ersten Aussagen mit dem aktuellen Textverständnis
und eine abschließende Deutung vorgesehen.
43
Bredella 1996, 135. Bredella merkt zur Unterrichtspraxis – beim Einsatz literarischer Texte – kritisch
an, dass die Lehrenden ästhetisches Lesen in der Regel auf informationsentnehmendes Lesen redu-
zieren und somit das befördern, was Blakemore starke Kommunikation nennt – d. h. eine Form von
Kommunikation, in der der Sprecher durch seine Äußerung dem Zuhörer bereits signalisiert, dass ihm
nur geringer eigener Anteil an der Interpretation verbleibt (Bredella 1996, 133).
44
Bredella 1996, 144, 149.
45
Heyd 1997, 140.
46
Heyd 1997, 140.
47
Heyd 1997, 141.
48
Heyd 1997, 141-143.
11
49
Heyd 1997, 143.
50
Heyd 1997, 142.
51
Caspari 1995, 241, 245.
52
Caspari 1995, 242.
53
Caspari 1995, 242.
54
Caspari 1994, 162, 176.
55
Caspari 1995, 243.
12
Der prozessorientierte Ansatz einer kreativen Um- und Neugestaltung literarischer Texte
setzt Verfahren ein, die den spielerisch-experimentellen Umgang mit Sprache und litera-
rischen Formen fördern sollen. Die Lernenden sollen möglichst originelle – und auch lus-
tige – Texte verfassen und sich im Prozess der Um- und Neugestaltung an formale Vor-
gaben halten. Die sprachlichen und literarischen Möglichkeiten der Textgrundlage wer-
den unter Anleitung ausgelotet. Für die Beurteilung ist die Originalität, nicht die perfekte
Ausarbeitung entscheidend.56 Zur Nachgestaltung eignen sich besonders Gedichte, de-
ren Reimschema oder sprachliche Struktur die Grundlage eigener kreativer Produktionen
bilden kann.57
Beim prozessorientierten Ansatz für den Ausbau der kreativen Rezipientenrolle richtet
sich das didaktische Interesse nicht so sehr auf die kreativen Produkte, sondern auf die
intensivierten Lese- und Verstehensprozesse.58 Er hat zum Ziel, die individuellen Sinnbil-
dungsprozesse der fremdsprachigen Leser anzuleiten und anzuregen.59 Beim prozess-
orientierten Ansatz lassen sich vier Konzepte unterscheiden, die alle das Ziel verfolgen,
kreative Sinnbildungsprozesse zu ermöglichen, jedoch jeweils eigene Schwerpunkte set-
zen:60
- den individuellen, persönlichen Charakter von Textverstehen
- den analytischen Charakter von Textverstehen
- Motivation und sprachlichen Gewinn
- die Funktion des kritischen Lesens
Die im folgenden beschriebenen Verfahren für den Ausbau einer kreativen Rezipienten-
rolle werden nach ihrem Einsatzort im Unterricht kategorisiert:
Zu den pre-reading activities zählen Übungsformen, die nicht nur Vorwissen aktivieren
oder vorentlasten, sondern zugleich Neugierde wecken und den aktiveren Umgang mit
dem Text fördern sollen. Dies kann dadurch erreicht werden, dass die Lernenden in Vor-
bereitung auf den Text ihre eigenen Erfahrungen, Meinungen und Gefühle zu einem be-
stimmten Bereich als auch ihre Erwartungen an den Text aktivieren.61
Bei den reading activities wird besonderer Wert darauf gelegt, die persönlichen Reaktio-
nen auf den Text zu thematisieren und kreativ zu verarbeiten. Die individuellen Sinnent-
würfe und das persönliche Verständnis sollen bewusst gemacht und mit denen anderer
Teilnehmer verglichen werden.62 Um dies zu erreichen ist es sinnvoll, Verfahren zu kom-
binieren, die auch schon in den vorangehenden Ansätzen verwendet wurden. Hierzu
zählen unter anderem:
- die Vorgabe des Textanfangs oder Textunterbrechung mit Aufforderung zur Hypothe-
senbildung und die Umsetzung mit verschiedenen kreativen Mitteln
- zeilen- oder abschnittsweises Lesen mit Hypothesenbildung
- Puzzletechnik; Füllen von Textlücken
56
Caspari 1994, 162, 188.
57
Caspari 1995, 243.
58
Caspari 1995, 246.
59
Caspari 1995, 244; 1994, 200.
60
Caspari 1994, 201-213.
61
Caspari 1995, 244.
62
Caspari 1995, 244.
13
In diesem Unterkapitel wurden einige der wichtigsten Arbeitsformen im Umgang mit fremd-
sprachigen literarischen Texten genannt und begründet, die auch in die Unterrichtseinheit
über Märchen in der zweiten Hälfte dieser Arbeit Eingang finden. Die Unterteilung der
Unterrichtseinheit geschieht ebenfalls nach dem Einsatzort im Unterricht.
63
Caspari 1994, 219 f.; Caspari 1995, 244.
64
Caspari 1994, 221 f.; Caspari 1995, 245.
14
Wie die anderen Kurzprosaformen Fabel und Sage eignet sich das Märchen besonders gut
für die Verwendung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Im Unterschied zum Roman
oder auch zum Drama kann das Märchen wegen seines geringen Umfangs unabhängig von
häuslicher Lektüre direkt im Unterricht gelesen und besprochen werden. Seine Sprache und
Struktur lässt sich für den fremdsprachigen Leser problemloser erschließen als bei anderen
literarischen Formen, solange es sich um Versionen handelt, die nicht in zu hohem Maße
durch anachronistischen Sprachgebrauch, regionale Varianten oder Dialekte vom heutigen
Deutsch abweichen. Das hängt auch damit zusammen, dass Volksmärchen lange Zeit über-
wiegend mündlich überliefert wurden und deshalb den Konventionen oraler Tradition ver-
pflichtet sind. Allerdings kann man nicht von einer strengen oralen Weitergabe der Märchen
ausgehen, vielmehr hat über Jahrhunderte ein Austausch von mündlicher und schriftlicher
Tradierung stattgefunden. Der Begriff der 'Oralität' trifft deshalb wohl eher auf die Erzählsitu-
ation als auf die Überlieferung zu. Besonders Wilhelm Grimm hat ab der zweiten Auflage der
KHM65 von 1819 die Märchentexte überarbeitet und ergänzt, unterschiedliche Varianten zu-
sammengefasst und altertümliche Worte oder Redewendungen eingeführt.66 Lüthi spricht
vom besonderen Stil des deutschen Buchmärchens, den die Brüder Grimm geschaffen hät-
ten und geht genauer auf die Umgestaltungen des Märchenstoffs durch Wilhelm Grimm ein:
Jacob neigt in seinen Aufzeichnungen und auch in der Wiedergabe zur Klarheit, Wilhelm, der vom
zweiten Bande an die Hauptverantwortung für das gemeinsame Werk übernimmt, malt recht gerne
aus. Er strebt nach reicher und präziserer Motivierung, nach anschaulicher und bewegter
Situationsdarstellung, ersetzt gerne das Präsens durch das erzählende Imperfekt, die indirekte
durch die direkte Rede, merzt Fremdwörter aus (sogar Prinz und Prinzessin müssen in den
späteren Auflagen dem Königssohn und der Königstochter weichen), liebt Sprichwörter und
Redensarten sowie volkstümliche Doppelausdrücke ("Speise und Trank"), archaisierende
Wendungen, ferner Verkleinerungsformen und auch Gefühlswörter. Sein Stil ist der Romantik und
dem Biedermeier verpflichtet, die Freude an der Kleinmalerei führt da und dort zu breiter
Schilderung. Im ganzen aber kennzeichnet eine schöne Einfachheit auch seine Erzählweise; auch
er hat dem Volk aufs Maul geschaut, und die vollere Form, die er von der zweiten Auflage an vielen
67
Erzählungen gibt, hat dem Buch manche Freunde gewonnen.
Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass Märchen überall auf der Welt verbreitet sind. Beim
Großteil der fremdkulturellen Leser kann also eine gewisse Kenntnis dieser Textsorte vor-
ausgesetzt werden. Schüler können im Unterricht auf eigene Leseerlebnisse und Erfahrun-
gen aus der Kindheit – oder Jugend – rekurrieren, als Märchen eine besondere Rolle in ih-
rem Leben spielten.68 Da wir Märchen nicht nur durch Vorlesen oder Erzählen, sondern ge-
65
Übliche Abkürzung für die Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm.
66
Woeller 1994, 216, 218.
67
Lüthi 1990, 53 f., s. a. 51 zum Einfluss des gedruckten Hausbuchs der Brüder Grimm auf die münd-
liche Erzählkultur.
68
Die Märchenerfahrung einzelner DaF-Studentinnen kann jedoch je nach Herkunftsland und Soziali-
sation beträchtlich variieren: im unten beschriebenen Unterrichtsversuch fiel mir auf, dass die Lernen-
den aus China und Japan über einen reichen Fundus solcher Märchen verfügen, die über lange Zeit
tradiert worden sind, wobei nicht immer klar zwischen Mythen, Sagen, Fabeln und Märchen im enge-
ren Sinne unterschieden wird. Als Gegenbeispiel möchte ich die Äußerung eines iranischen Studenten
der Universität Kassel anführen, der in einem Kompaktseminar im Sommersemester 2003 hervorhob,
dass Der kleine schwarze Fisch von Samad Behrangi ihn als Kind besonders beeinflusst hätte. Dieses
moderne Märchen – das eine Kritik am Schahregime beinhaltet – war im Iran der 60er Jahre im
Umlauf und wurde durch Übersetzungen von Exiliranern in den 70er Jahren in Europa bekannt.
15
nauso gut über Medien wie Tonträger, Theateraufführungen, Puppenspiele und den Film
kennen lernen können, ergeben sich im Unterricht zahlreiche Anknüpfungspunkte für ein
Gespräch. Wenn Lernende aus unterschiedlichen Kulturen und Ländern ihr Verständnis von
Märchen in den Unterricht einbringen, belebt dies die Atmosphäre in der Lerngruppe und
erzeugt ein Gefühl der Verbundenheit. Zum einen ähneln sich die Motive von Märchen aus
der ganzen Welt, zum anderen verstehen die Menschen je nach kultureller Herkunft unter
Märchen etwas anderes. Die internationale Beliebtheit des europäischen Volksmärchens
zeigt sich z. B. daran, dass einige der Grimmschen Märchen in den meisten Ländern des
Globus nicht nur bekannt sind, sondern auch geschätzt werden.69
Durch ihre überschaubare Handlung eignen sich Märchen hervorragend zum Nach- und
'Umerzählen' und für andere kreative Verfahren der sprachlichen Produktion wie Dramatisie-
rung, Interview und Erzählen aus der Perspektive einer Nebenfigur. Wie bei Fabeln können
auch bei der Arbeit mit Märchen im Unterricht die traditionelle und die moderne Fassung
gegenübergestellt und in unterschiedlichen Aspekten verglichen werden. Bei aller Beschäfti-
gung mit dieser Textsorte sollte jedoch eines nicht vergessen werden: Märchen sind in erster
Linie Erzählungen und müssen als solche auch im Unterricht zu ihrem Recht kommen! Eine
zweite Funktion des Märchens steht in Zusammenhang mit seiner historischen Entwicklung:
obwohl die äußere Schicht des Märchens in der Überlieferung den gesellschaftlichen Bedin-
gungen angepasst wurde, hat sich die in ihm enthaltene Form der Wahrnehmung von Welt
und Wirklichkeit kaum verändert. Es hat sich das erhalten, was wir heute gerne als 'phantas-
tisch' beschreiben, "Reste eines umfassenden magisch-mythischen Bilddenkens".70 Diese
sich in den komplexen Bildangeboten des Märchens ausdrückende 'Wahrheit' stellt eine Al-
ternativform des Erkennens dar, auf die das rationale Denken angewiesen ist. Claude Lévi-
Strauss hat diese Form geistiger Tätigkeit "wildes Denken" genannt.71 Die literarische Form
des Märchens kann dazu beitragen, nicht nur eine Brücke zwischen den Kulturen, sondern
auch zwischen wissenschaftlichem und mystischem Denken zu schlagen und somit die
abendländische Dichotomie von Mythos und Logos aufzuheben.72
69
Die chinesische Teilnehmerin des Unterrichtsversuchs betonte, besonders die Grimmschen Mär-
chen Rotkäppchen, Aschenputtel und Schneewittchen seien in China allgemein bekannt. Die Kinder
lernen diese bereits im Vorschulalter kennen, zuerst mit Hilfe von Bilderbüchern und später durch
Video-CDs.
70
Haas 1986, 21.
71
Haas 1986, 22; Heindrichs 1986, 151 f.
72
Heindrichs 1986, 156.
16
II. Der Fundevogel von Grimm und Härtling: Beispiel einer Didaktisierung
für die Mittelstufe/Oberstufe
Fünf DaF-Lernerinnen haben für den 1. April 2003 zugesagt, am ersten Teil der Unterrichts-
einheit "Märchen traditionell und modern" im Umfang von etwa 140 min teilzunehmen. Als
ich das Thema erwähnte und darauf hinwies, 'kreative' Methoden im Unterricht zu verwen-
den, rief das bei allen großes Interesse hervor. Drei der Teilnehmerinnen lernte ich über ei-
nen Sprachaustausch (Tandem) kennen – sie haben Spanisch als Muttersprache. Mit der
jüngeren Spanierin I. (28 Jahre) treffe ich mich seit August 2002 fast wöchentlich zum Inter-
cambio. Sie ist Übersetzerin für Spanisch – Englisch und Französisch und lebt und arbeitet
seit etwa anderthalb Jahren in Deutschland. I. hat im Laufe ihres Sprachenstudiums zwei
Semester an einer deutschen Universität (Mainz-Germersheim) verbracht. Ihre Kenntnisse
der deutschen Sprache bewegen sich dem Niveau der Oberstufe, wobei ihr das Sprechen
etwas schwerer fällt als den beiden anderen spanischsprechenden Teilnehmerinnen der
Gruppe, für die Deutsch nach mehrjährigem Aufenthalt zur Zweitsprache geworden ist.
Die zweite Spanierin E. (30 Jahre) kam 1998 nach Deutschland und ist seit zwei Jahren mit
einem Deutschen verheiratet. In Dortmund hat sie Deutschkurse bei der Auslandsgesell-
schaft bis zum Niveau der Mittelstufe besucht – im Unterricht wurden das Lehrwerk Deutsch
für Studenten (Verlag für Deutsch) und ergänzende Materialien verwendet. E. hat ein Studi-
um der Wirtschaftswissenschaften abgeschlossen und arbeitet seit etwa zwei Jahren für ein
großes internationales Unternehmen in der Nähe von Frankfurt/M. Daneben absolviert sie an
der Fernuniversität ihres Herkunftslandes einen Kurs für Übersetzer Spanisch-Englisch. Ich
treffe sie seit September 2002 alle zwei Monate zum Sprachaustausch.
M. (34 Jahre) kommt aus Ecuador, wo sie Touristikmanagement studiert hat. Sie lebt seit
vier Jahren in Deutschland und ist seit anderthalb Jahren mit einem Deutschen verheiratet.
Nach ihrer Ankunft in Berlin besuchte sie dort an einer privaten Sprachschule Deutschkurse
bis zum Niveau der Mittelstufe und legte die ZMP des Goethe-Instituts ab. Anschließend
nahm sie an Deutschkursen der Frauenorganisation Frida teil – viele der Lernenden waren
Aussiedlerinnen aus Russland. In dieser Gruppe von Deutschlernerinnen hat sich M. beson-
ders wohl gefühlt, da die ältere Lehrerin sich im Unterricht Zeit für die sprachlichen Bedürf-
nisse der einzelnen Frauen nahm. Vor zwei Jahren zog sie nach Rüsselsheim und besuchte
an der VHS einzelne Kurse, um ihre Deutschkenntnisse aufzufrischen. M. arbeitet auf
73
Da die Gruppe sich aus vier Frauen und einem Mann zusammensetzt, werde ich im Folgenden
immer die weibliche Form "Teilnehmerinnen", "Schülerinnen" oder "Lernerinnen" verwenden, wenn
keine geschlechtlich neutrale Bezeichnung gewählt wurde und von mehreren Personen die Rede ist.
Die Vornamen der Teilnehmerinnen sind durch den Anfangsbuchstaben bezeichnet.
17
Teilzeitbasis am Konsulat ihres Landes in Frankfurt/M. Sie ist mir seit März 2003 durch einen
zweiwöchentlichen Sprachaustausch bekannt.
Die beiden anderen Teilnehmerinnen kommen aus China und Japan. Die Chinesin J.
(34 Jahre) ist im Juli 2001 nach Deutschland gekommen, um ein betriebswirtschaftliches
Zusatzstudium zu absolvieren. In China hat sie Chemietechnik studiert und dort zuletzt in
einer verantwortlichen Position der Hoechst-AG Nanning gearbeitet. Seit ihrer Ankunft in
Deutschland besucht sie Deutschkurse – zuerst am Zentrum für deutsche Sprache und Kul-
tur e. V. in Frankfurt/M. bis zum Niveau Mittelstufe 1, dann an der Lehrerkooperative bis zum
Niveau Mittelstufe 2 (ZMP im Mai 2002) und seit dem letzten Semester an der Universität
Frankfurt/M. zur Vorbereitung auf die DSH-Prüfung. Im März hat sie sich in einem Vorberei-
tungskurs für die ZOP am Goethe-Institut Frankfurt eingeschrieben, um ein Semester früher
die für das Studium erforderlichen Sprachkenntnisse nachweisen zu können. Ich kenne J.
seit Oktober 2002 und helfe ihr auf privater Basis regelmäßig beim Erlernen der deutschen
Sprache.
O. (30 Jahre) hat bereits in seinem Herkunftsland Japan Philosophie studiert und möchte in
diesem Fach an einer deutschen Universität promovieren. Er hält sich seit August 2001 in
Deutschland auf. Durch sein Interesse an Philosophie hat er bereits in Japan deutschspra-
chige philosophische Texte gelesen. O. nahm am Zentrum für deutsche Sprache und Kultur
e. V. in Frankfurt/M. an Deutschkursen bis zum Oberstufenniveau teil und hat nach einem
Semester DSH-Vorbereitungskurs an der Universität Düsseldorf im Februar 2003 die DSH-
Prüfung abgeschlossen. Ich kenne ihn flüchtig als Kommilitone der Teilnehmerin aus China.
Wie aus der Beschreibung der Deutschlernenden hervorgeht, handelt es sich um eine hete-
rogene Gruppe, die außerhalb eines institutionellen Rahmens von mir unterrichtet wird. Von
allen besucht nur die Teilnehmerin aus China zurzeit noch Deutschkurse zur Prüfungsvorbe-
reitung. Trotz dieser Unterschiede haben die Chinesin und der Japaner gemeinsame Erfah-
rungen mit Kursen am Zentrum für deutsche Sprache und Kultur in Frankfurt/M. und auch mit
dem gleichen Lehrwerk, auf Grundstufenniveau mit Band 2 und 3 Themen neu, danach mit
dem em Brückenkurs und ab Mittelstufeniveau mit dem em Hauptkurs und Abschlusskurs
Deutsch als Fremdsprache für die Mittelstufe (Hueber-Verlag), gearbeitet. An der Universität
Frankfurt/M. und Düsseldorf wurde das Text- und Übungsbuch DSH & Studienvorbereitung:
Vorbereitung auf das Studium an einer deutschen Universität (Fabouda-Verlag) verwendet.
Die Teilnehmerinnen weisen trotz unterschiedlicher Herkunftskultur einen vergleichbaren
Bildungshintergrund auf, da sie in der Schule alle Englisch als erste Fremdsprache gelernt
und anschließend eine Universität besucht haben. Neben dem Problem, die sprachlichen
Fertigkeiten der Lernerinnengruppe nur ansatzweise einschätzen zu können, stellte sich die
Aufgabe, die Teilnehmerinnen miteinander bekannt zu machen und so eine gemeinsame
Grundlage für die Arbeit in Kleingruppen zu schaffen. Letzteres erfolgte in einer 40-minütigen
'Aufwärmphase' vor dem eigentlichen Unterricht.
Wegen des zeitlich beschränkten Rahmens und der unterschiedlichen Tagesabläufe der
Teilnehmerinnen konnte nicht die gesamte Unterrichtseinheit von etwa 365 min durchgeführt
werden – dazu hätte es mehrerer Termine oder einer Lehreinheit am Wochenende bedurft.
18
1.2 Lernziele
Übergreifendes Ziel der Unterrichtseinheit ist es, zu einem autonomen und kreativen Um-
gang mit Märchen hinzuführen. Zwei Gründe waren ausschlaggebend, sowohl das Grimm-
sche Märchen als auch die moderne Version von Härtling in den Unterricht einzubringen: Die
Lernerinnen können so zu einem weitgefassten Verständnis der Textsorte 'Märchen' gelan-
gen, die nicht nur das sogenannte Volksmärchen des 19. Jahrhunderts umfasst, sondern
darüber hinaus dessen kreative Umgestaltung durch einen zeitgenössischen deutschen
Schriftsteller. An Härtlings Fundevogel wird besonders deutlich, dass es sich um eine
eigenständige, ins Realistische gewendete 'Märchenerzählung' von literarischem Rang und
nicht nur eine von vielen Märchenparodien mit bestimmter Zielsetzung handelt, wie dies z. B.
beim Rotkäppchen der Fall ist.74
Des Weiteren tun sich zahlreiche Möglichkeiten des Vergleichs der beiden Versionen auf. Im
zweiten Teil der Unterrichtseinheit wird der Schwerpunkt auf der Gegenüberstellung inhaltli-
cher und formaler Aspekte liegen. Da die Rezeption beider Texte von den Lernenden reflek-
tiert wird, können sie daraus etwas über die Vorgänge beim Aneignen unterschiedlicher lite-
rarischer Texte lernen.
Die Teilnehmerinnen sollen sich bereits im ersten Teil der Unterrichtseinheit (Grimm) des
eigenen Leseprozesses bewusst werden und etwas Neues über Märchen erfahren, das spä-
ter für den allgemeinen Umgang mit dieser Textsorte von Bedeutung sein kann. Die eigenen
Einschätzungen und Hypothesen werden mit denen der anderen Schülerinnen verglichen.
Weitere Ziele sind, die Lernenden mit zentralen Märchenmotiven bekannt zu machen, ein
Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Märchen keineswegs nur für Kinder gedacht sind und
Bezüge zur eigenen Lebenserfahrung zu ermöglichen. Falls von den Teilnehmerinnen er-
wünscht, können Märchen aus dem eigenen Land vorgestellt werden (interkultureller As-
pekt).
Da die meisten Teilnehmerinnen bereits sehr fortgeschrittene Grammatikkenntnisse erwor-
ben haben, liegt die Betonung neben dem kreativen Schreiben auf mündlichen und argu-
mentativen Fertigkeiten und dem textnahen Lesen. Meiner Meinung nach sollten grammati-
kalische Phänomene nicht in erster Linie über literarische Texte eingeübt werden. Auf
sprachliche Besonderheiten der Grimmschen Version wird nur in einer optionalen Übung
eingegangen (Unterschiede zum heutigen Deutsch).
Die Lehrperson kann bei diesem außerschulischen Unterrichtsversuch die Lernerinnen nur
dazu ermutigen, einige der eingesetzten Verfahren in post-listening /post-reading Aktivitäten
an anderen Märchen zu erproben und mit ihr zu besprechen. Besonders die oben erwähnten
ersten Ansätze eines reflektierten Leseprozesses sind über den Unterricht hinaus weiterzu-
verfolgen (u. a. zeichnerische Umsetzung einer Märchenvariante, Lesen weiterer Märchen
und Protokollieren der subjektiven Reaktionen).
74
Vgl. hierzu Ritz, Hans (1992), besonders die spielerische Umformung von Janoschs "Das elektri-
sche Rotkäppchen" (73; vollständige Version in Frank 1985, 15 f.) und seine Unterteilung der Rot-
käppchenversionen u. a. nach philosophisch, chemisch, theologisch, mathematisch, Amtsdeutsch,
linguistisch, Werbung etc.
19
75
Bei den Zeitangaben handelt es sich um geplante Werte vor der Durchführung. Näheres siehe die
Tabelle am Ende meiner Arbeit.
76
Die vorgegebenen Symbole und Figuren wurden der nicht mehr aktuellen Version des Programms
Mindmanager 3.5 (Mindjet GmbH 1999) entnommen [meine Ergänzung 17.02.2009].
77
Vgl. zu den unterschiedlichen Informationstypen und Domänen der beiden Gehirnhälften Kussler
1986, 2 f.
20
(Kleingruppen) 30 min
Märchen zu Ende schreiben oder erzählen:
Wie geht es wohl weiter? Denken Sie sich eine Fortsetzung der Geschichte aus. Es
bleibt Ihnen freigestellt, ob das Märchen eher 'traditionell' oder in unkonventioneller
Form weitergeht.
Die eigene Fortsetzung wird in der Gesamtgruppe vorgelesen und jeweils eine Grup-
pe dazu ermutigt, der anderen Verständnisfragen zu stellen (Bestätigung). Ich stelle
der jeweiligen Gruppe die Frage nach dem Titel bzw. der 'Moral' des Märchens, um
die Lernerinnen zu veranlassen, die Intention ihres selbst verfassten Textes prägnant
zu formulieren. In dieser Übung sollen die Teilnehmerinnen sich auf eine größtenteils
rezeptive Haltung beschränken, damit keine Bewertung des verfassten Textes statt-
findet. Es geht darum, die Fortsetzung der anderen Gruppe kennenzulernen und in
der vorgegebenen Form anzunehmen. Ein Vergleich erfolgt nur implizit im Kopf der
Lernenden.
21
(Einzelarbeit) 20 min
Entdeckendes Lesen
Ich teile das gesamte Märchen ohne Überschrift – die später noch zu erraten sein
wird – aus. Die Teilnehmerinnen lesen mit der Motivation, den zweiten Teil der Ge-
schichte zu 'entdecken' und herauszufinden, inwieweit ihre eigene Fortsetzung mit
dem Original übereinstimmt.
(Gesamtgruppe/Einzelarbeit) 30 min
Märchenmotive erschließen
Die folgende Übung soll die Lernerinnen auf strukturierende Elemente in Märchen
aufmerksam machen. Ich frage zunächst in der Gesamtgruppe, was unter einem Mo-
tiv verstanden wird (z. B. "stofflich-thematisches, situationsgebundenes Element, des-
sen inhaltliche Grundform schematisiert beschrieben werden kann."78) und bitte die
Teilnehmerinnen, mir Motive ihnen bekannter Märchen zu nennen.
Anschließend verteile ich die Arbeitsblätter mit den aufgelisteten Märchenmotiven – in
etwas veränderter Form aus Märchen: Aufgaben und Übungen des Goethe-Instituts.79
Ich erkläre die Unterscheidung nach konkreten und abstrakten Motiven und frage die
Gesamtgruppe, welche der genannten Motive ihrer Meinung nach im Grimmschen
Märchen vorkommen. Die entdeckten Motive können mit Textstellen belegt werden.
In einem zweiten Schritt sollen die einzelnen Teilnehmerinnen die Motive eines weite-
ren bekannten Märchens in der Tabelle ankreuzen. Sie werden dadurch in die Lage
versetzt, später auch an andere Märchen das Motivraster anzulegen und Märchen mit
ähnlichen oder identischen Motiven zu vergleichen. Des Weiteren können sie erken-
nen, dass viele Märchen eine relativ festgelegte Motivabfolge aufweisen.
(Anlage 3)
(Gesamtgruppe) 20 min
'Lehre'/Moral ausdrücken und begründen
Vorschläge zum nicht genannten Titel; eine 'Lehre' bzw. 'Moral' aus dem Märchen
formulieren, worüber dann in der Gesamtgruppe diskutiert wird. In diesem Zusam-
menhang können unterschiedliche 'Lehren' aus dem Fundevogel hergeleitet und mit
Bezug auf den Text begründet werden (argumentative Fähigkeiten). Die Lehrperson
kann die Teilnehmerinnen durch Hinweise auf bestimmte Textstellen unterstützen.
78
Bibliografisches Institut & F.A. Brockhaus AG, Mannheim (Hrsg.), Der Brockhaus in Text und Bild
2002, CD-ROM.
79
Kaminski 1986, 98 f. Die Tabellen wurden um weitere naheliegende Märchenmotive ergänzt.
22
(Einzelarbeit) 25 min
Hörverstehen - subjektive Reaktionen
Das Märchen von Härtling eignet sich wegen seiner symmetrischen Strukturen be-
sonders gut zum Vorlesen und wird deshalb von mir abschnittsweise vorgetragen
(Hörverstehen). Ich fordere die einzelnen Teilnehmerinnen zu Beginn auf, sich in der
kurzen Pause im Anschluss an jeden Textteil (30-60 s)80 das Gehörte nochmals durch
den Kopf gehen zu lassen und nachzuspüren, was ihnen dabei einfällt. Gedanken
und Eindrücke sind während der Pause stichwortartig festzuhalten.81
80
Die Pausenlänge steht in Relation zum Umfang des zuvor Gelesenen.
81
Aus Urheberrechtsgründen ist der Text des Märchens von Peter Härtling hier nicht als Anlage
beigefügt. Das moderne Märchen ist in Frank 1985, S. 112 f. abgedruckt.
23
(Kleingruppen) 60 min
Textnahes abschnittsweises Lesen/'Leseprotokoll' - Zusammenhängende Leseein-
drücke 'ins Reine schreiben'82
Ich gebe den Gesamttext mit der gleichen Unterteilung wie beim Vorlesen aus und
stelle den Teilnehmerinnen die Aufgabe, die moderne Version genau zu lesen und zu
den Textteilen ihre persönlichen Eindrücke in kurzen Sätzen festzuhalten ('Lesepro-
tokoll'). Die festgehaltenen Stichworte aus der vorangegangenen Aktivität sind ihnen
hierbei eine Hilfe, da sich die Teilnehmerinnen die ersten individuellen Assoziationen
wieder ins Gedächtnis rufen und diese genauer ausführen. Bei der Unterteilung habe
ich darauf geachtet, dass jede Textpassage in sich abgeschlossen ist. Sollten die
Lernerinnen sich schwer tun, zu jedem Teil etwas zu äußern, schlage ich vor, die
ersten sechs Absätze jeweils zu zweien zusammenzufassen, um größere
Sinneinheiten herzustellen und so den Assoziationsfluss zu erleichtern. Es geht
darum, einige der subjektiven Reaktionen (Gedanken, Assoziationen, Gefühle,
Erwartungen) der Leserinnen auf den Text sichtbar zu machen und sie dazu
anzuleiten, zusammenhängend aber in kurzen Sätzen zu formulieren.
Ich schreibe folgende Anweisung an das Flipchart und fordere jede Gruppe auf, sich
daran zu orientieren:
Notiere, was du beim Lesen der Abschnitte denkst und empfindest. Benenne auch,
was dir unklar und unverständlich ist. Einiges dürfte dir schon beim Vorlesen aufgefal-
len sein.
Die Lehrperson ermutigt das Niederschreiben mündlich (u. a. durch den Verweis auf
Schlüsselszenen und –wörter), wenn die Eindrücke der Teilnehmerinnen ins Stocken
geraten.
Nach der ersten Schreibphase werden in den Kleingruppen die gesammelten und
formulierten Eindrücke auf jeweils einer Seite des Flipcharts festgehalten. Die Seite
ist durch waagrechte Linien so unterteilt, dass für jeden der neun Abschnitte eine
Zeile zur Verfügung steht. Da den Anwesenden bereits das Grimmsche Märchen
bekannt ist, erfolgen einige der Assoziationen auf der Folie ihres Verständnisses des
Ausgangstextes für Härtlings Fundevogel. Direkte Bezüge auf Grimm werden mit
einem Faserstift in anderer Farbe als die übrigen Einfälle hervorgehoben. Die
Gruppenmitglieder hängen die beiden Flipchartseiten nebeneinander auf.
82
Ich hatte zuerst geplant, ein klares dreispaltiges Schema mit den folgenden Kategorien vorzugeben:
1. Gedanken an Situationen /Ereignisse - Wie war die Lage zu einer Zeit an einem Ort?, 2. Erinne-
rungen aus Biografie - Was ist mir /einer Person passiert? 3. Gefühle - Wie ging es mir dabei, was
empfinde ich beim Lesen? Dadurch sollten zu den einzelnen Textabschnitten Assoziationen hervorge-
rufen werden. Unter jeder Spalte hatte ich ein Beispiel mit eigenen Einfällen zur Illustration angeführt.
Nachdem ich diese Einteilung jedoch mit einer Fremdsprachenstudentin (Oberstufenniveau) erprobt
hatte, verwarf ich dieses Vorgehen wieder, da es in seiner Komplexität den Bedürfnissen und persön-
lichen Reaktionen von Lernerinnen kaum entsprach und es ausführlicher Erläuterungen bedurfte, um
die gewünschten subjektiven Eindrücke zu fördern. Daraufhin entschied ich mich für die freiere Form
eines Leseprotokolls.
24
(Kleingruppen/Gesamtgruppe) 60 min
Präsentation der Leseeindrücke - Diskussion
Ein Mitglied der ersten Gruppe stellt im Wechsel mit einem Mitglied der zweiten
Gruppe die Assoziationen zu den einzelnen Absätzen vor. Am Ende der Präsentation
fragt die Lehrperson in der Gesamtgruppe, welche Ähnlichkeiten und Unterschiede
den Lernerinnen aufgefallen seien – was sie an der Arbeit der anderen Gruppe über-
rascht habe. Wenn es gewünscht wird, können die Lese-Erfahrungen einzelner Teil-
nehmerinnen in die Diskussion einfließen.
Die dreigliedrige Arbeitsform Leseprotokoll – Präsentation – Diskussion (expliziter
Vergleich /Resonanz) führt zur Reflexion der Teilnehmerinnen über die eigene
Rezeption des Textes, die sowohl mit den Gruppenmitgliedern bei der Arbeit in der
Kleingruppe als auch mit der anderen Gruppe in Beziehung gesetzt und somit er-
gänzt wird. Es ist darauf zu achten, die Assoziationen jedes einzelnen Gruppenmit-
glieds so festzuhalten, dass es sich in der anschließenden Präsentation noch darin
erkennen kann. Darüber hinaus sollte die Lehrperson den Gruppenprozess behutsam
leiten, damit die subjektiven Reaktionen über Diskussionen, empathisches Nachvoll-
ziehen, aber auch konstruktives Nachfragen in der Gesamtgruppe eine Resonanz
erfahren. Der Lehrende hilft den Lernerinnen dabei, ihre persönlichen Eindrücke
sprachlich zu formulieren. Wo dies nicht gelingen möchte, können Mimik und Gestik
eine Hilfe darstellen. Da die Betonung auf der subjektiven Beziehung zum Text liegt,
erhält dieser für die Teilnehmerinnen eine persönliche Bedeutung, die durch die
Gruppe gefiltert wird.
(Gesamtgruppe) 60 min
Kognitiver Vergleich (Inhalt, Struktur) beider Versionen
Die Lehrperson teilt ein Arbeitsblatt mit folgender Aufgabenstellung und einer Über-
sichtstabelle aus:
Welche Hauptinhalte haben Grimm und Härtling gemeinsam, wodurch unterscheiden
sich die beiden Märchen? Das kann sich auf den Ort /die Handlung, aber auch auf
Motive und Personen beziehen.
Ergänze das Raster auf dem zweiten Blatt.
In dem dreispaltigen Raster werden die in der Fragestellung genannten Unterschei-
dungen festgehalten und ein Beispiel angeführt, um den Teilnehmerinnen eine erste
Vorstellung von der Arbeitsform zu vermitteln. Die Kategorien schränken die Aus-
wahlmöglichkeiten ein (Wahrnehmungslenkung), sind jedoch flexibel genug, ver-
schiedene Aspekte der Textform zu berücksichtigen. Die Lernenden halten sich an
die beiden Märchenversionen, werden jedoch ermutigt, komplexere Aussagen über
Personen oder den Handlungsverlauf in eigenen Worten zusammenzufassen. Durch
die Konzentration auf Kernaussagen treten Ähnlichkeiten und Differenzen klarer her-
vor.
Die Aufgabe wird wegen ihres Umfangs – sowohl der Textlänge als auch der zu be-
rücksichtigenden Aspekte – mit der Gesamtgruppe an dem Flipchart durchgeführt.
25
Auf diese Weise können alle Teilnehmerinnen an der Suche nach den
entsprechenden Parallelen der beiden Versionen teilhaben und ihre eigene
Sichtweise einbringen. Die Dynamik der größeren Gruppe kann das Märchenmaterial
gründlicher durchdringen und zu Vergleichsmöglichkeiten führen, die sonst der
Wahrnehmung anderer Gruppenmitglieder verschlossen blieben. Beim Vergleich
zentraler inhaltlicher und struktureller Elemente greifen die Lernerinnen auf ihre im
Unterrichtsversuch gewonnene Erfahrung mit der Märchenarbeit zurück (besonders
'Motive zuordnen', 'Leseprotokoll').
übrig gelassen)
Der Lehrende trägt Vorschläge aus dem Plenum auf dem Flipchart ein, fragt eventuell
genauer nach oder hört auf die Meinung der Gesamtgruppe. Falls wichtige Unter-
schiede nicht genannt werden (z. B. die Verwandlungen bei Grimm, die Tarnungen
bei Härtling), weist er auf den Handlungsverlauf hin oder liest einzelne Textpassagen
vor, damit die Teilnehmerinnen beide Versionen leichter in Beziehung setzen können.
Das Arbeitsblatt mit dem Raster dient den Anwesenden dazu, ihre Ideen oder die Er-
gebnisse des Flipchartanschriebs festzuhalten. Es kann auch außerhalb des Unter-
richts bei der selbständigen Märchenarbeit hilfreich sein.
(Anlage 4)
26
(Gesamtgruppe) 20 min
Abschließendes Gespräch oder Reflexion
Die Bedeutung der beiden Märchen für die Teilnehmerinnen steht im Mittelpunkt.
Welche Antworten fallen mir jetzt zu den Schlüsselbegriffen auf der ersten Mindmap
ein? Was hat sich für mich verändert?
Weitere Fragen: Wenn mir ein Märchen gefallen hat – welches hat mich stärker an-
gesprochen und warum?
Ich gebe den Teilnehmerinnen Ausdrucke mit biografischen Informationen zu Grimm
und Härtling und einen Lexikonartikel zu 'Märchen' mit Primär- und Sekundärquellen
und Verweisen auf Internetseiten.83
Die ungerade Zahl von 5 Teilnehmerinnen macht es notwendig, eine Zweier- und eine Drei-
ergruppe zu bilden. Alle Anwesenden sind gespannt auf die Arbeit mit Märchen.
Nach dem Austeilen der Mindmap "Märchen" mit der Arbeitsanweisung aus 1.3 entsteht bei
den Teilnehmerinnen zunächst der Eindruck, sämtliche Bilder und Symbole den Ästen zu-
ordnen zu müssen. Im Gespräch wiederhole ich meine Vorstellungen und kann so für mehr
Klarheit sorgen. Die Teilnehmerinnen nehmen die Zuordnung jetzt sehr ernst, auch da sie
ihre Mindmap anschließend der anderen Gruppe präsentieren sollen. Die weniger symbol-
haften gezeichneten Bilder werden häufiger verwendet als die abstrakteren Symbole wie
Waage, Herz, Krone, Diamant. Es lohnt sich, auf die Präsentation der Mindmaps mehr Zeit
zu verwenden, da die beiden Gruppen unterschiedliche Schwerpunkte setzen, die sich sinn-
voll ergänzen.
Gruppe 1 (Japaner, Chinesin, Spanierin E.):
Über dem Themenast Wozu? – Ist es mir wichtig? stehen die Symbole Auge, Herzen,
Sanduhr und Himmel für Weisheit, Liebe, Vergänglichkeit und Freiheit. Das Märchen-
hafte wird mit diesen Qualitäten im menschlichen Leben in Verbindung gebracht.
In Verbindung mit dem zweiten Themenast In meiner Sprache – Kultur? wird von der
Gruppe zuerst die Kristallkugel angesprochen. Sie sei europäisch, denn in Ländern
wie China und Japan gebe es eine solche Kugel nicht, um die Zukunft vorherzusa-
gen, man verwende dazu beschriebene Stäbchen, von denen eines gezogen wird. In
Japan halten die Tempel für die Besucher Papierröllchen mit Voraussagen bereit.
Auch das in China verbreitete 'Märchen' vom Hasen und der Schildkröte ist dem
83
Bibliografisches Institut & F.A. Brockhaus AG, Mannheim (Hrsg.), Der Brockhaus in Text und Bild
2002, CD-ROM.
27
zweiten Ast zugeordnet – in Deutschland ist ein ähnliches Märchen als Wettlauf zwi-
schen Hase und Igel bekannt. "Der Hase läuft schnell voraus, die Schildkröte lang-
sam. In der Mitte legt sich der Hase schlafen, da er glaubt, der Sieg sei ihm schon si-
cher, ist die Schildkröte doch weit hinter ihm. Als er erwacht, hat die Schildkröte
schon das Ziel erreicht." Wir sprechen darüber, dass es sich bei der 'chinesischen'
Geschichte eigentlich um eine Fabel von Aesop handelt. Der Übergang zum 'Mär-
chen' sei jedoch fließend, da sich die bei uns bekannte Version in den Grimmschen
Kinder- und Hausmärchen wiederfindet.
Als letztes wird auf die Zeichnung mit den drei Affen ("nichts hören, nichts sehen,
nichts sprechen") eingegangen. In japanischen Märchen hätten diese eine andere
Bedeutung: am Ende des Märchens stehe ein weises Wort. Die Affen könnten die
Lehre übermitteln, der Mensch solle nichts Böses hören, keine schlechten Dinge se-
hen und nichts Falsches sagen.
Dem dritten Ast Was ist das? sind Orte und Gebäude zugeordnet. Jede Zeichnung
steht für ein Märchen. Das Schloss für Cinderella (Aschenputtel), die Hütte für Rot-
käppchen, der Wald für Hänsel und Gretel. Weitere Figuren sind ein Märchenbuch,
ein Baum mit Apfel, der das Paradies, und zwei Masken, die böse Geister darstellten.
Um den Ast Welche Themen und Motive? sind abstrakte Symbole gruppiert, die Teil-
nehmerinnen erkennen darin Motive. Die Krone bedeute Macht, das Herz Liebe, der
Diamant Reichtum, Ring und Stab Zauber, der Schlüssel Geheimnis und das Schwert
Kämpfe.
Die den drei übrigen Themenästen zugehörigen Bilder brauchen nicht näher erläutert
zu werden. Die Märchentitel sind von den Lernenden frei erfunden.
(Anlage 5)
Zum siebten Themenast Welche Tiere? Es gibt wilde – schlechte – Tiere und
Haustiere, die gute Tiere sind. Daneben kommen im Märchen exotische Tiere wie
Drachen vor. Die Gruppe denkt beim 'Schwein' an die Geschichte von den drei
Schweinen und dem Wolf (Walt Disney).
(Anlage 6)
Die beiden Gruppen beschäftigen sich 30 min mit der ersten Mindmap. Für die Vorstellung
der Ergebnisse und den Vergleich verwenden sie weitere 25 min. Schon während des Unter-
richtsverlaufs musste ich erkennen, den Zeitbedarf unterschätzt zu haben. Neben der Erstel-
lung der Mindmap übertrafen besonders die Interaktionen zwischen den beiden Gruppen
(Präsentation und Vergleich) in ihrem Umfang meine Erwartungen.
nein, einer Fee. Die Fee hilft ihnen, Pläne zu schmieden gegen die Köchin, sie soll
bestraft werden. Die Köchin wird am Ende mit Hilfe der Fee besiegt. So sind sie vor
der bösen Frau gerettet." (15 min)
Auf meine Frage nach einem Titel erwidert der Teilnehmer aus Japan: "Die beiden
Fundevögel". Mich überrascht, dass er damit etwas vorwegnimmt, was im Märchen
von Härtling vorkommt, der beide Kinder genau so bezeichnet und charakterisiert –
als Waisen: "Die Frau aber, verdrossen über die unnützen Mitesser, die spielenden
lustigen Fundevögel …", (5. Abs.) "Von weitem sahen Fundevogel und
Fundevögelchen die Soldaten …" (7. Abs.). O. ist der Meinung, dass das Schicksal
des Fundevogels und von Lenchen sich gleichen und deshalb dieser Name auf beide
zutreffe.
Da bereits eine Teilnehmerin gegangen ist und drei von ihnen nicht mehr genug Zeit
für die folgende Übung haben, erzähle ich frei die zweite Hälfte des Märchens. Ich
gebe den Lernenden das Grimmsche Märchen zur Lektüre mit. Alle möchten die Un-
terrichtseinheit später fortsetzen (10 min).
Leider konnte das geplante Unterrichtsprojekt aus zeitlichen und organisatorischen Gründen
nicht bis zum Ende realisiert werden. Abgesehen von der lockereren Atmosphäre beim Un-
terrichten von Freunden und Bekannten in der eigenen Wohnung hing das auch damit zu-
sammen, dass zwei der Teilnehmerinnen erst eine dreiviertel Stunde später kamen und sich
der Beginn des Unterrichts dadurch verzögerte. Durch das Arbeiten mit der Mindmap "Mär-
chen" konnte nach anfänglicher Verunsicherung der Teilnehmerinnen deren Motivation ge-
fördert und eine außergewöhnlich umfangreiche Aktivierung des Vorwissens erreicht werden.
Dabei zeigten sich interessante interkulturelle Bezüge, die ich so nicht erwartet hatte. Diese
'Technik' war auch deshalb vorteilhaft, da ein Prozess der Wechselbeziehung von Visuellem
und Sprachlichem in Gang kam: die Figuren /Bilder unterstützten vor allem die schrittweise
Versprachlichung des bereits 'Gewussten', ihre Anordnung diente als Hilfe beim Vorstellen
des Märchenverständnisses in der Gesamtgruppe. Allerdings sollte man bei Verwendung
dieses Verfahrens etwa 60 Minuten Zeit einplanen. Auch das Rekonstruieren einer Textpas-
sage – besonders bei kleinen Abschnitten von ein bis zwei Sätzen – kann bei unterschiedli-
chen Gruppen je nach deren Erfahrung mit Erzähltexten zeitlich beträchtlich variieren. Das
Sprachniveau dürfte bei solchen Arbeitsformen für die Abweichungen weniger bedeutsam
sein.
Als ich einige Tage später mit der Teilnehmerin E. aus Spanien (Gruppe 1) über den Unter-
richt sprach, erwähnte sie positiv die Gruppenarbeit mit der Mindmap – diese Methode sei
neu für sie gewesen. Sie hätte dadurch etwas über das Märchenverständnis der anderen
Lernenden und auch der anderen Gruppe erfahren, das ihr einen neuen Blick auf das Thema
eröffnete. Sie würde gerne am zweiten Teil der Arbeit mit Märchen teilnehmen, da sie inte-
ressiere, wie die anderen das moderne Märchen verstehen und damit umgehen.
Diese Äußerungen zeigen, dass trotz des reduzierten Unterrichts etwas in Gang gekommen
ist, das in der modernen Fremdsprachendidaktik 'Perspektivenwechsel' genannt wird. Dies
kann über weitere Schritte zu einem nicht nur literarischen Verstehensprozess hinführen,
30
III. Literaturverzeichnis
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schaft Rheine, 137-149.
Anlage 1-1
35
Anlage 1-284
84
Die Mindmaps wurden mit dem Programm MindManager 3.5 /ProX5 von MarketSoft erstellt (Mindjet GmbH 1999 /2004). Die einzelnen Bilder und Symbole
sind frei angeordnet.
36
Anlage 2
Brüder Grimm
Fundevogel
Es war einmal ein Förster, der ging in den Wald auf die Jagd, und wie er in den Wald
kam, hörte er schreien, als ob’s ein kleines Kind wäre.
Er ging dem Schreien nach und kam endlich zu einem hohen Baum, und oben darauf
saß ein kleines Kind.
Es war aber die Mutter mit dem Kinde unter dem Baum eingeschlafen, und ein
Raubvogel hatte das Kind in ihrem Schoße gesehen;
da war er hinzu geflogen, hatte es mit seinem Schnabel weggenommen und auf den
hohen Baum gesetzt.
Der Förster stieg hinauf, holte das Kind herunter und dachte:
Du willst das Kind mit nach Haus nehmen und mit deinem Lenchen zusammen auf-
ziehen.
Er brachte es also heim, und die zwei Kinder wuchsen miteinander auf.
Das aber, das auf dem Baum gefunden worden war, und weil es ein Vogel wegge-
tragen hatte, wurde Fundevogel geheißen.
Fundevogel und Lenchen hatten sich so lieb, nein so lieb, dass, wenn eins das ande-
re nicht sah, ward es traurig.
37
Der Förster hatte aber eine alte Köchin, die nahm eines Abends zwei Eimer und fing
an Wasser zu schleppen und ging nicht einmal, sondern vielemal hinaus an den
Brunnen.
Lenchen sah es und sprach: „Hör einmal, alte Sanne, was trägst du denn so viel
Wasser zu?"
"Wenn du's keinem Menschen wieder sagen willst, so will ich dir's wohl sagen." Da
sagte Lenchen nein, sie wollte es keinem Menschen wiedersagen;
so sprach die Köchin: „Morgen früh, wenn der Förster auf die Jagd ist, da koche ich
das Wasser, und wenn’s im Kessel siedet, werfe ich den Fundevogel hinein und will
ihn darin kochen."
Des andern Morgens in aller Frühe stand der Förster auf und ging auf die Jagd, und
als er weg war, lagen die Kinder noch im Bett. Da sprach Lenchen zum Fundevogel:
"Verlässt du mich nicht, so verlass’ ich dich auch nicht"; so sprach der Fundevogel:
"Nun und nimmermehr."
Da sprach Lenchen:
38
Denken Sie sich eine Fortsetzung der Geschichte aus. Es bleibt Ihnen freigestellt, ob
das Märchen eher 'traditionell' oder in unkonventioneller Form weitergeht.
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"Ich will es dir nur sagen, die alte Sanne schleppte gestern abend so viel Eimer Was-
ser ins Haus, da fragte ich sie, warum sie das täte, so sagte sie, wenn ich’s keinem
Menschen sagen wollte, so wollte sie es mir wohl sagen. Sprach ich, ich wollte es
gewiss keinem Menschen sagen; da sagte sie, morgen früh, wenn der Vater auf die
Jagd wäre, wollte sie den Kessel voll Wasser sieden, dich hineinwerfen und kochen.
Wir wollen aber geschwind aufstehen, uns anziehen und zusammen fortgehen."
Also standen die beiden Kinder auf, zogen sich geschwind an und gingen fort. Wie
nun das Wasser im Kessel kochte, ging die Köchin in die Schlafkammer, wollte den
Fundevogel holen und ihn hineinwerfen. Aber als sie hineinkam und zu den Betten
trat, waren die Kinder alle beide fort; da wurde ihr grausam angst, und sie sprach vor
sich: "Was will ich nun sagen, wenn der Förster heim kommt und sieht, dass die Kin-
der weg sind?" Geschwind hinten nach, dass wir sie wieder kriegen!"
Da schickte die Köchin drei Knechte nach, die sollten laufen und die Kinder einfan-
gen. Die Kinder aber saßen vor dem Wald, und als sie die drei Knechte von weitem
laufen sahen, sprach Lenchen zum Fundevogel: "Verlässt du mich nicht, so verlass’
ich dich auch nicht." So sprach Fundevogel: "Nun und nimmermehr." Da sagte Len-
chen: "Werde du zum Rosenstöckchen und ich zum Röschen darauf!"
Wie nun die drei Knechte vor den Wald kamen, so war nichts da als ein Rosen-
strauch und ein Röschen oben drauf, die Kinder aber nirgends. Da sprachen sie:
"Hier ist nichts zu machen", und gingen heim und sagten der Köchin, sie hätten
nichts in der Welt gesehen als nur ein Rosenstöckchen und ein Röschen oben dar-
auf.
Da schalt die alte Köchin: „Ihr Einfaltspinsel, ihr hättet das Rosenstöckchen sollen
entzwei schneiden und das Röschen abbrechen und mit nach Haus bringen, ge-
schwind und tut's!" Sie mussten also zum zweitenmal hinaus und suchen. Die Kinder
sahen sie aber von weitem kommen; da sprach Lenchen: "Fundevogel, verlässt du
mich nicht, so verlass’ ich dich auch nicht." Fundevogel sagte: "Nun und nimmer-
mehr." Sprach Lenchen: "So werde du eine Kirche und ich die Krone darin!"
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Wie nun die drei Knechte dahin kamen, war nichts da als eine Kirche und eine Krone
darin. Sie sprachen also zueinander: "Was sollen wir hier machen? Lasst uns nach
Hause gehen!" Wie sie nach Haus kamen, fragte die Köchin, ob sie nichts gefunden
hätten. Da sagten sie: Nein, sie hätten nichts gefunden als eine Kirche, da wäre eine
Krone darin gewesen.
"Ihr Narren", schalt die Köchin, "warum habt ihr nicht die Kirche zerbrochen und die
Krone mit heimgebracht?" Nun machte sich die alte Köchin selbst auf die Beine und
ging mit den drei Knechten den Kindern nach. Die Kinder sahen aber die drei Knech-
te von weitem kommen, und die Köchin wackelte hinten nach.
Da sprach Lenchen: "Fundevogel, verlässt du mich nicht, so verlass’ ich dich auch
nicht." Da sprach der Fundevogel: „Nun und nimmermehr." Sprach Lenchen: „Werde
zum Teich und ich die Ente drauf!" Die Köchin aber kam herzu; und als sie den Teich
sah, legte sie sich drüber hin und wollte ihn aussaufen. Aber die Ente kam schnell
geschwommen, fasste sie mit ihrem Schnabel beim Kopf und zog sie ins Wasser hin-
ein; da musste die alte Hexe ertrinken. Da gingen die Kinder zusammen nach Haus
und waren herzlich froh; und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch.
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Anlage 3-1
MOTIV (weltbezogen)
Wanderschaft
Verlogenheit der Welt /Lüge
Lebensüberdruss
Alter
Gefangenschaft
Findelkind
(Geschwister-) Liebe
Abschied oder Trennung
Undank
Treue
Untreue
Solidarität
Hass
Freiheit
Rettung (vor einem Mordversuch)
Erwerbsunfähigkeit
Neid
Verrat
Heimtücke
Vertauschung (Botschaft, Dinge)
Entführung
Verführung
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Anlage 3-2
MOTIV (weltentrückt)
Sprechende Tiere
In ein Tier verwandelter Mensch
Dem Teufel verschrieben
Die böse Hexe oder Fee
In ein Ding verwandelter Mensch
Verfluchung
Verzauberung
Übernatürliche Vertauschung
(Botschaft, Dinge)
Sprechende Dinge oder Pflanzen
Zwerge
Zauberspiegel
Der lange Schlaf
Leben nach dem Tode
Ein Prinz heiratet ein armes Mädchen
Erlösung von bösem Fluch
Plötzlicher Reichtum
Erfüllung einer Prophezeiung
Übernatürliche Bestrafung
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Anlage 4-1
Aufgabe:
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Mit freundlicher Genehmigung von Bae Jung Hyun, die zum Unterrichtsversuch mit diesen drei
Bildpaaren – einer post-reading activity – beigetragen hat. Die zeichnerische Umsetzung macht
deutlich, wie vielseitig Märchen oder literarische Texte im Fremdsprachenunterricht – je nach den
Neigungen der Teilnehmer/innen – eingesetzt werden können [meine Ergänzung 17.02.2009].