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In dem Gedicht "Sachliche Romanze" aus dem Jahre 1928 schildert Erich Kästner die
Reaktion eines Paares auf den Verlust ihrer Liebe. Schon der Titel des Gedichts wirkt
befremdlich, verbindet man mit dem Begriff "Romanze" doch eher Leidenschaft, Romantik
und Emotionen. Das Wort "sachlich" steht dazu im Gegensatz und macht aus der Liebe eine
nüchterne und rationale Angelegenheit. Zugleich verweist der Begriff auf die Epoche der
Neuen Sachlichkeit, in die sich dieses Gedicht einordnen lässt. Das Gedicht ist, wie es für
diese Epoche typisch war, durch eine sachliche und verständliche Sprache geprägt, die auf die
Verwendung von Metaphern, Symbolen und ähnlichen Stilmitteln sowie auf ausschmückende
Worte verzichtet. Die Ausdrucksweise ist ebenso wie die damit beschriebene Liebe farblos,
kühl und sachlich. Die Sätze sind von lakonischer Kürze, häufig nur angereiht mit "und"
verbunden. Das lyrische Ich steht außerhalb, ist selbst nicht betroffen und fungiert als
neutraler Betrachter. Die Personen, um die es in diesem Gedicht geht, bleiben namenlos und
anonym.
Das Gedicht setzt in der ersten von insgesamt vier Strophen mit dem Verlust der Liebe ein
und bringt den Leser damit unmittelbar in die Handlung. Die Liebe, die nach acht Jahren
plötzlich verloren geht, wird mit dem Verlust eines Alltagsgegenstandes ("Stock oder Hut")
gleichgesetzt, den man aus Unachtsamkeit verliert. Dieser Vergleich ist sinnbildlich für die
unachtsame Liebe des Paares zueinander.
Die Reaktion des Paares auf diesen Verlust wird in der zweiten Strophe geschildert. Die
betroffenen Partner versuchen, nach außen hin Haltung zu bewahren, und überspielen ihre
Trauer ("Sie waren traurig, betrugen sich heiter, versuchten Küsse, als ob nichts sei"). Der
Gegensatz von "traurig" auf der einen und "heiter" auf der anderen Seite zeigt, dass das Paar
es nicht wahrhaben will, dass ihre Liebe vorbei ist. Ihre vorgebliche Heiterkeit ist der ratlose
Versuch, das Scheitern nicht ansprechen zu müssen. Die Scheinwelt wird beibehalten, sie
spielen dem Partner noch immer Liebe vor, bis schließlich beide ratlos sind ("und sahen sich
an und wussten nicht weiter"). Selbst Tränen rühren den Partner nicht mehr. Während die
Frau als das schwache Geschlecht einen Moment ihren Gefühlen freien Lauf lässt und weint,
bleibt er regungslos stehen und ist nicht einmal im Stande, sie zu trösten. ("Da weinte sie
schließlich. Und er stand dabei"). Zusätzlich wird diese Distanz zwischen Mann und Frau und
deren Gefühlen durch die Trennung der beiden Sätze hervorgehoben.
In der dritten Strophe wird das Augenmerk auf die Umgebung gerichtet. Die eingeschobenen
Sätze "Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken" und "Nebenan übte ein Mensch
Klavier", die eine Erwähnung von Nebensächlichkeiten sind, machen deutlich, dass das Paar
diese Nichtigkeiten hervorhebt, weil es sich nichts mehr zu sagen hat. Darüber hinaus steht
der Klavierspieler ebenso wie die Schiffe vor dem Fenster für eine lebendige, bewegliche
Welt. Das Paar dagegen wirkt monoton, passiv und unbeweglich.
Es folgt eine indirekte Rede, in der der Mann vorschlägt, "irgendwo" Kaffee trinken zu
gehen. Dies kann als Versuch gedeutet zu werden, die unangenehme Stille zu füllen und aus
der bedrückenden Atmosphäre auszubrechen. Es ist die Flucht in ein Ritual der täglichen
Gewohnheit, nur um etwas zu tun.
Die vierten Strophe fällt formal aus dem Rahmen, indem sie eine Unregelmäßigkeit aufweist.
Sie umfasst mit fünf Zeilen einen Vers mehr als die drei ersten Strophen und zerstört auch den
sonst regelmäßigen Kreuzreim: Zeile vier wiederholt den Reim von Zeile drei ("dort"-
"Wort") und erst der fünfte Vers schließt das Reimpaar mit dem zweiten Vers ("Tassen" -
"fassen"). So wird für den Leser oder Hörer veranschaulicht, dass auch das Paar nicht mehr
gemeinsam auftreten wird. Die beiden gehen "ins kleinste Cafe am Ort", doch ihr Rückzug in
eine intimere Umgebung scheitert. Keiner der Beiden ergreift das Wort, stattdessen rührt das
Paar verlegen stumm in ihren Tassen und es wird klar, dass das Paar sich nichts mehr zu
sagen hat; sie sind sprach- und fassungslos. Die Gründe für das Scheitern der Beziehung sind
für das Paar unbegreiflich ("und sie konnten es einfach nicht fassen"). Von einem endgültigen
Abschied spricht das Gedicht allerdings nicht. Die Trennung wird heraus gezögert ("Am
Abend saßen sie immer noch dort"), was sich auch in der Textstruktur des Gedichts
widerspiegelt: Durch den Gebrauch eines fünften Verses wird das Gedicht in die Länge
gezogen. Die Frage, ob sich das Paar nun trennen wird oder auf diese Weise weiter zusammen
leben wird, bleibt für den Leser offen.
Die Lyrik der Neuen Sachlichkeit ist besonders unter dem Schlagwort "Gebrauchslyrik"
bekannt. Die Gedichte dieser Epoche spiegeln die Alltagswelt und Alltagssorgen
gewöhnlicher Menschen wieder und sollen für den Leser einen Gebrauchswert, einen Nutzen
haben.1 Nicht ohne Grund heißt ein späterer Gedichtband "Dr. Kästners lyrische
Hausapotheke", in der das Aussprechen des Leidens als "Medikament" verstanden wird.2 So
soll auch das Gedicht zum einen allen betroffenen Trost schenken. Darüber hinaus ist es auch
1
vgl. Sorensen, Bengt Algot (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur. Band II. Vom 19. Jahrhundert bis zur
Gegenwart. 2., aktualisierte Auflage. München: C.H. Beck 2002. S.220
2
Leiß, Ingo und Hermann Stadler: Deutsche Literaturgeschichte Bd. 9: Weimarer Republik 1918-1933.
München 2003. S. 378
als Denkanstoß an den Leser gedacht, seine Beziehung zu reflektieren und es in seiner
Beziehung nicht soweit kommen zu lassen, sondern frühzeitig, anders als es das "Liebespaar"
bei Kästner macht, über die Problem zu sprechen und aktiv zu werden.
Kästner selbst hat die im Gedicht geschilderten Erfahrungen machen müssen. Nach 8 Jahren
ging bei ihm die Beziehung mit Ilse Julius zu Ende, weil sich beide auseinandergelebt haben.
Ihre Trennung wurde zum Auslöser für das berühmte Gedicht.3
3
vgl. Doderer, Klaus: Erich Kästner. Lebensphasen- politisches Engagement- literarisches Wirken. München:
Juventa 2002