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Das deutsche Nachrichten-Magazin
Hausmitteilung
Handeln
Betr.: Titel, Chat-Roboter, Russland, SPIEGEL GESCHICHTE zum
D
ie SPD war als Juniorpartner der
Großen Koalition lange Zeit ver-
zagt: In Umfragen kommt sie auf kaum
Festpreis
mehr als 20 Prozent, für die Partei als
Kanzlerkandidat anzutreten war eher
MAURICE WEISS / OSTKREUZ
5,00
Parlaments, ist seit Gerhard Schröder der
erste Sozialdemokrat, der den Kanzler-
job wirklich will. Im Sommer 2016 mach-
EUR
Schulz, Feldenkirchen in Brüssel te er gegenüber SPIEGEL-Autor Markus
Feldenkirchen zum ersten Mal vorsichtige
Andeutungen, dass Sigmar Gabriel schwanke; anfangs war Schulz geschmeichelt,
dass man ihm die Kandidatur zutraute, sehr schnell wurden Ehrgeiz und Macht-
wille sichtbar. In der Titelgeschichte beschreibt Feldenkirchen gemeinsam mit
den Redakteuren Sven Böll und Horand Knaup einen Mann, der aus Europa Orderprovision*
nach Hause zurückkehrt, um die Sozialdemokratie zu retten. Seite 12
pro Trade
ls SPIEGEL-Redakteur Jonathan Stock anfing, sich mit der Geschichte der
A Trauer zu beschäftigen, stieß er auf den längst ausgestorbenen Beruf des
Leichenbitters, der früher im Dorf von Hof zu Hof ging, um im Namen der Hin-
terbliebenen zum Begräbnis einzuladen. Zeitung und Traueranzeige machten
ihn irgendwann überflüssig, Trauerrituale unterliegen dem Wandel der Zeiten.
[H2UGHUSURYLVLRQ*
Wird also das Smartphone die Trauer verändern? Stock traf in New York die für alle Wertpapiere
Programmiererin Eugenia Kuyda, die ihren toten Freund als App auf ihrem Tele-
fon hat, in Form eines Chat-Roboters. So kann sie sich mit ihm unterhalten. Die 9.000 Fonds ohne
App, sagt Stock, „erfüllt die Erwartungen unserer Generation: ständige Erreich-
barkeit“. Und nährt nebenbei den Traum vom ewigen Leben. Seite 56 Ausgabeaufschlag
kostenlose Depot-/
S ankt Petersburg ist die einzige russische Großstadt,
in der es noch eine nennenswerte Opposition gegen
VICTOR YULIEV / DER SPIEGEL
In diesem Heft
Deutschland
12
Zeitgeist Distanzloses Duzen von Kollegen
und Kunden gehört bei vielen Unternehmen
Lesen Sie
inzwischen zum Geschäftsmodell 81
Leitartikel Martin Schulz kann nur als
Mann der Mitte Erfolg haben 8 Ausland
den SPIEGEL
Meinung Kolumne: Der schwarze Kanal /
So gesehen: Brigitte Zypries macht Mut auf
eine zweite Chance 10
Neue Hoffnung nach dem Machtwechsel
in Gambia / Theresa Mays Kampf mit dem
britischen Parlament 82
doch mal
Von der Leyen plant US-Rüstungsdeal /
Terrorist Amri laut Innenministerium kein
V-Mann / Harsche Kritik an sächsischen
USA Wie die Opposition Donald Trump
blockieren will 84 hier:
Behörden im Fall Albakr 20 Mexiko Drohungen aus Washington
zwingen das Land in die Knie 87
Außenpolitik Wie Angela Merkel die
Frankreich Warum sich der konservative
Chance vergab, die Türkei an Europa
Präsidentschaftskandidat François Fillon mit
heranzuführen 24
den Vorwürfen gegen ihn schwertut 89
Türkische Nato-Offiziere begehren Asyl Italien Marineoffiziere entscheiden über
in Deutschland 28
Leben und Tod von Migranten im Mittelmeer 90
Sicherheit SPIEGEL-Gespräch mit Russland Sankt Petersburg – die Metropole
Innenminister Thomas de Maizière über der Rebellen 92
die Pannen im Fall Anis Amri 32
Karrieren Der Armutsforscher Christoph
Butterwegge betreibt seine Sport
Präsidentschaftskandidatur auch als Wie Bayern München den Weg ins Tor sucht /
Kampf gegen die SPD 36 Magische Momente: Footballer Sebastian
Affären Neuer Ärger um das alte Haus Vollmer über seinen Triumph im Superbowl 97
des ehemaligen Kanzleramtsministers Tourismus Kann der Kunstschnee
Bodo Hombach 38 die Auswirkungen des Klimawandels auf
Demokratie Wie der sächsische Landtag das Skifahren stoppen? 98
aus Eigennutz die Ski alpin Slalomstar Felix Neureuther über
Wahltricksereien der AfD deckt 42 die ungewisse Zukunft seiner Sportart 100
Ideologie Eine Bibliothek in
Berlin trägt rechtes Gedankengut Wissenschaft
in die Gesellschaft 44 Salmonellen machen Appetit / Weniger
Extremismus Das gefährliche Treiben ärztliche Behandlungsfehler / Kommentar:
des „Druiden“ und Was gegen gefälschte Lebensmittel hilft 102
seiner Gesinnungsgenossen 47 Biotechnik Forscher erschaffen Schimären –
kommen bald Menschenherzen aus Mein Schiff ®
70 SPIEGEL-Jahre dem Schweinestall? 104 Himmel & Meer Lounge
Über Journalismus und Demokratie Landwirtschaft Erbgutsprays sollen
in digitalen Zeiten – eine das Bienensterben stoppen 107
Festrede von Verteidigungsministerin Geschichte Wie eine Schlacht im
Ursula von der Leyen 50 schottischen Moor fast die Französische
Revolution und die Gründung
Gesellschaft der USA verhindert hätte 108
Naturkatastrophen Die letzten Tage
Früher war alles schlechter: Ebola / Wie der Dinosaurier 110
kommen Obdachlose durch den Winter? 54
Eine Meldung und ihre Geschichte Ein Kultur
tschechischer Schlosser fliegt täglich mit
einem selbst gebauten Flugzeug zur Arbeit 55 Daniel Kehlmann über sein neues Theater- Entdecken Sie den Unterschied:
Künstliche Intelligenz App, um mit den Toten stück / Asghar Farhadis Krimi Nur Mein Schiff ® hat
zu sprechen: wie eine russische Programmie- „The Salesman“ / Kolumne: Zur Zeit 112
Film In „Elle“ spielt Isabelle Huppert
Premium Alles Inklusive an Bord.
rerin ihren verstorbenen Freund
als Chat-Roboter zum Leben erweckte 56 eine vergewaltigte Frau – ein SPIEGEL- Erfahren Sie mehr in Ihrem Reise-
Kolumne Leitkultur 61 Gespräch über Sexualität und Macht 114 büro, auf www.tuicruises.com oder
In „Hidden Figures“ werden die schwarzen
Mathematikerinnen der Nasa gewürdigt 120
unter +49 40 600 01-5111.
Wirtschaft Autoren Paul Auster legt „4321“ vor,
Deutsche Bank wehrt sich gegen Aufspaltung / einen Epochenroman als Gegenentwurf
BMW-Betriebsrat fordert Digitalisierung- zum Amerika Donald Trumps 122
steuer / Weniger Geld für Start-ups 62 Theaterkritik Der Islam als Stoff für
Welthandel Die Trumponomics des neuen eine Boulevardkomödie: „The Who and
US-Präsidenten werden die globale the What“ 125
Wirtschaft grundlegend verändern –
zulasten der deutschen Exportwirtschaft 64
Bestseller 118
Finanzen Die Regierung hat Geld
Impressum, Leserservice 126
im Überfluss, weil sie es nicht schafft,
die Mittel wie geplant auszugeben 72 Nachrufe 127
Immobilien Der Streit um eine Personalien 128
halb fertige griechische Schule in München Briefe 130
wird zum Politikum 74 Hohlspiegel / Rückspiegel 132
Zukunft Das Start-up NavVis hat ein
Navigationssystem für drinnen entwickelt 76 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ
Leitartikel
G
roßbritannien war stets eine Art Zukunftslabor Wer in einem der exportstarken Betriebe der Automo-
für Europas Linke. Im 19. Jahrhundert gründeten bil-, Chemie- oder Maschinenbaubranchen sein Geld ver-
englische Arbeiter die ersten Gewerkschaften des dient, ist kein Abgehängter wie sein arbeitsloser Kollege
Industriezeitalters. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute aus den Fabrikruinen Nordenglands, er ist ein Gewinner
die Labour Party den modernen Wohlfahrtsstaat aus. Fünf- der Globalisierung. Sein Job wird nicht durch Abschottung
zig Jahre später wurden Tony Blair und seine Politik des sicherer, sondern durch Freihandel. Und wenn er auf
„Dritten Wegs“ zum Vorbild einer marktwirtschaftlich er- seinen Gehaltszettel blickt, auf dem zwischen Brutto und
neuerten Sozialdemokratie. Netto vielfach eine vierstellige Eurosumme ausgewiesen
An diesem Sonntag wollen die Spitzen der SPD den ist, hat er nicht unbedingt das Gefühl, dass höhere Steuern
bisherigen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz zum die soziale Gerechtigkeit steigern. Bei der jüngsten Land-
Nachfolger des glücklosen Sigmar Gabriel ausrufen; und tagswahl in Baden-Württemberg haben fast doppelt so
auch diesmal legen ihm viele Genossen das britische viele Arbeiter CDU gewählt wie die SPD.
Beispiel ans Herz. Wie Labour-Führer Jeremy Corbyn Nach Lage der Dinge könnte Schulz allenfalls mit einem
solle auch Schulz seine Partei nach links rücken, so emp- rot-rot-grünen Bündnis Kanzler werden. Es wäre aber ein
fehlen sie: sich von den unge- schwerer Fehler, würde er sich
liebten Agendareformen der seinen potenziellen Regie-
Schröder-Jahre distanzieren, rungspartnern nun anbiedern.
sich gegen die Globalisierung Im Gegenteil: Wenn er die
stemmen und jenen Politik- Bürger für eine Linksallianz
mix aus höheren Steuern und auf Bundesebene gewinnen
mehr Sozialstaat wiederbele- will, muss er klarstellen, dass
ben, mit dem die Sozialdemo- ein derartiges Experiment nur
kratie in den Siebzigerjahren zu den Bedingungen der SPD
des vorigen Jahrhunderts so zu haben ist. Am wichtigsten
erfolgreich war. dabei: die Sicherung der in-
Es sei „der Schwenk der dustriellen Wohlstandsbasis
traditionellen Arbeiterpartei- der Republik.
en zum Neoliberalismus“ ge- Schulz darf deshalb keines-
wesen, der ihren Niedergang falls nur Angebote aus dem
hervorgerufen habe, so be- Sortiment der Sozialpolitik
hauptet etwa der frühere ins Schaufenster stellen; er
ZUMA PRESS / IMAGO
¹ Kraftstoffverbrauch: 4,9 l/100 km (innerorts), 3,7 l/100 km (außerorts), 4,1 l/100 km (kombiniert), CO2-Emissionen (kombiniert): 93 g/km.
Energieeffizienzklasse B. Die angegebenen Werte wurden nach dem jeweils vorgeschriebenen Messverfahren (§ 2 Nrn. 5, 6, 6 a Pkw-
EnVKV in der jeweils geltenden Fassung) ermittelt. ² Unverbindliche Preisempfehlung des Herstellers, zzgl. lokaler Überführungs-
kosten. Andere Motorisierungs- und Ausstattungsvarianten gegen Aufpreis möglich. ³ Ein Leasingbeispiel der Mercedes-Benz
Leasing GmbH, Siemensstraße 7, 70469 Stuttgart. Stand 01.01.2017. Ist der Darlehens-/Leasingnehmer Verbraucher, besteht
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Wechselkurs von 0,95 zum 2017 auf 1,1 Prozent begrenzen.
Jahresende möglich.
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deutsche-bank.de/jahresausblick2017
ULLSTEIN BILD
A
ls vor vier Jahren ein Porträt über sich auf dem Sitz des Präsidenten nieder scheidung mitzuteilen. Schulz reiste in
Martin Schulz im SPIEGEL er- und sagte: „Hier sitze ich eines Tages.“ Als dem Glauben an, Außenminister zu wer-
schien, nahm ihn die Kanzlerin am er schließlich dort saß, kämpfte er mit allen den, und fuhr kurz darauf als designierter
Rande eines EU-Gipfels zur Seite. Sie habe Mitteln um größere Macht und Aufmerk- Parteichef und Kanzlerkandidat zurück.
das sehr interessant gefunden, sagte An- samkeit für sein Parlament. „Wir vertreten Mit dem Parteivorsitz hat er nun eine bes-
gela Merkel. Schulz glühte vor Stolz. Dass 500 Millionen Menschen, aber wir haben sere Machtbasis für seine Kampagne als
sich die Bundeskanzlerin persönlich mit eine Wahrnehmung wie der Kreistag von Frank-Walter Steinmeier oder Peer Stein-
ihm befasst hatte, freute ihn. Dann erlaub- Pinneberg“, klagte er zum Amtsantritt. brück, die als Kandidaten einen Parteichef
te er sich noch einen kleinen Hinweis in Das wollte er ändern. „Die Mächtigen müs- über sich hatten.
eigener Sache, das konnte er sich nicht ver- sen Angst haben vor dem Parlament“, sag- Es gibt nur wenige Tage, an denen die
kneifen. Er bezog sich auf die Länge der te er mit Blick auf die Staats- und Regie- Tektonik der Berliner Republik ordentlich
Geschichte. „Ich habe gehört, dass sieben rungschefs der EU – allen voran Angela durchgerüttelt wird. Am Dienstag, als die
Seiten lange Porträts sonst nur über Bun- Merkel. „Ich schwitze den Machtanspruch Nachricht von Gabriels Rückzug nachmit-
deskanzler geschrieben werden.“ ja aus jeder Pore.“ tags durchsickerte, war ein solcher Tag.
Nun will Schulz selbst Kanzler werden Seit Gerhard Schröder, der angeblich Nicht nur weil die Nachricht überraschend
und Angela Merkel aus dem Amt drängen. schon in jungen Jahren am Zaun des Kanz- kam, das auch. Vor allem aber, weil sie die
Über seinen Ehrgeiz sollte sich niemand leramtes rüttelte, ist jedenfalls kein Kanz- Ausgangslage für das Wahljahr 2017 grund-
Illusionen machen. Den hat er nie unter- lerkandidat der SPD mit größerem Selbst- legend verändert.
drückt, nicht in der Vergangenheit, erst bewusstsein und Machtwillen in einen Lange schien es, als würde die SPD als
recht nicht in den vergangenen Tagen. Wer Wahlkampf gezogen. „In der SPD herrscht verzagter Verein ohne Glauben an sich
ihn da erlebte, sah einen glücklichen Mann, ja bisweilen ein skeptisches Verhältnis zur selbst ins Rennen gehen, chancenlos,
der so selbstbewusst durch die Flure der Macht“, sagte Schröder im Oktober bei gelähmt von einem Kandidaten, dessen
Berliner Politik stolzierte, als wäre er be- einer Laudatio auf den Europapolitiker Image unwiederbringlich beschädigt und
reits Kanzler. Körpersprache und Worte Schulz. Schulz aber sei ehrgeizig und dessen Vertrauen in den eigenen Reihen
ließen jedenfalls keinen Zweifel daran, machtbewusst. „Ist mir sehr sympathisch.“ aufgebraucht war. Wer solle für Gabriel
dass er in den nächsten acht Monaten alles Dabei hatte Schulz zuletzt selbst nicht denn, bitte schön, Plakate kleben und sich
daransetzen wird, demnächst Deutschland mehr damit gerechnet, dass er diese Chan- in die Fußgängerzone stellen, fragten sich
zu regieren. „Ich will Bundeskanzler wer- ce bekommen würde. Bereits im vergan- viele Genossen.
den“, sagt er, ganz ohne Ironie. genen Sommer hatten Gabriel und er ver- Zumindest diese Sorgen scheint die SPD
Auf dem Vizekanzlerfriedhof von An- einbart, dass einer von ihnen Kanzlerkan- mit Schulz los zu sein. Wie befreit reagier-
gela Merkel stünden bereits genügend didat würde. Wer, das ließ Gabriel offen. te die Partei auf die Nachricht von Gabriels
Kreuze, scherzte er jüngst in kleiner Run- So vergingen Monate der Ungewissheit, in Rückzug. 81 Prozent der SPD-Anhänger
de. Er selbst werde dort niemals liegen. denen Schulz zwischen Hoffen und Frus- finden laut ARD-Deutschlandtrend, dass
Das mag etwas größenwahnsinnig klingen, tration schwankte. Zuletzt machten seine Schulz ein guter Kandidat sei, und immer-
wenn man die triste Lage der SPD be- Berater schon Pläne für die Interviews, in hin 64 Prozent der Bundesbürger.
trachtet. Aber dieser Wahn ist vielleicht denen der künftige Außenminister Schulz Dass selbst Spitzenpolitiker der Partei
auch nötig, um die Partei zu motivieren. seine Agenda vorstellen sollte. zuerst durch die Medien vom Wechsel er-
Im aktuellen ARD-Deutschlandtrend liegt Der Schlussakt des Dramas folgte vori- fuhren, werteten viele als letzte Bestäti-
Schulz bei der Frage nach der Direktwahl gen Samstag. Gabriel hatte Schulz nach gung, dass auf den eigenwilligen Gabriel
des Kanzlers inzwischen gleichauf mit Montabaur gebeten, um ihm seine Ent- kein Verlass gewesen sei. Dabei hatte
Merkel. 41 Prozent würden sich demnach kaum ein Genosse den Mut besessen, dem
für Schulz entscheiden, ebenso viele Vorsitzenden ehrlich zu sagen, dass die
für die Amtsinhaberin, und bei der Sonn- SPD mit ihm keine Chance haben würde.
tagsfrage steigt die SPD um drei Prozent- Dass Gabriel selbst entschied, seiner Partei
punkte. nach mehr als sieben Jahren an der Spitze
Anders als Sigmar Gabriel, dem die gan- mit dem Rückzug einen letzten großen
ze Republik dabei zusehen konnte, wie er Dienst zu erweisen, wiegt im Rückblick
mit sich rang, wie er haderte und zauderte, weit schwerer als die Stilkritik an der Art
strahlt Schulz jene Zuversicht und Lust zur dieses Abgangs.
Macht aus, nach der zumindest seine Partei Auch im Kanzleramt fürchtet man nun,
sich lange gesehnt hatte. So ist er schon Lange wirkte die SPD dass Kontrahent Schulz seine Leute aus
lange unterwegs. wie ein verzagter ihrer Depression reißen wird. Das könnte
Als er sich 1994 erstmals um ein Mandat
im EU-Parlament bewarb, besichtigte er
Verein ohne Glauben den Charakter des Wahlkampfs verändern.
Bislang war es Merkels Stärke, die Anhän-
mit einem Freund vorab den leeren Ple- an sich selbst. ger des Gegners zu demobilisieren. Jetzt
narsaal in Straßburg. Irgendwann ließ er muss sie die eigenen Leute begeistern. Das
wird nicht einfach. Viele glauben, dass Die Skizze für seinen Wahlkampf
CSU-Chef Horst Seehofer nicht ganz hat Schulz ebenfalls schon entwor-
Unrecht haben dürfte mit seiner Pro- fen. Das Wort Respekt wird eine
gnose, dass die Erfolgschancen der Uni- große Rolle spielen: Respekt vor har-
on mit Schulz’ Nominierung nicht ge- ter Arbeit, vor engagierter Weiter-
rade gestiegen seien. „Eigentore dürfen bildung, Respekt aber auch vor En-
keine passieren, jetzt noch weniger.“ gagement, Zivilcourage und Solida-
Schulz gegen Merkel heißt nun das rität.
Duell der nächsten acht Monate. Es Schulz wird die Programmatik sei-
ist das Duell zweier Menschen, die ner Partei kaum nach links verrü-
sich lange kennen. Als EU-Parlaments- cken. Dafür war er zu lange Mitglied
präsident fluchte er bisweilen wie ein des konservativen Seeheimer Krei-
Rohrspatz über sie. 26 von 27 Länder ses, zu lange auch Chef einer Art
seien für zusätzliche Hilfen für Grie- Großer Koalition im EU-Parlament.
chenland, befand er im Jahr 2013, Er weiß, dass Wahlen in der Mitte
dem Höhepunkt der Griechenland- gewonnen werden. Sollte es am
krise. Nur eine sei dagegen. Er meinte Wahlabend aber eine Mehrheit für
Merkel. ein Bündnis mit Grünen und Linken
Als er von den Verhandlungen über geben, wofür vor allem die SPD
den Fiskalpakt der EU ausgeschlossen noch kräftig zulegen müsste, wird
werden sollte, drohte er: „Ich bleibe Schulz diese Option kaum ausschla-
sitzen, ich bin das Parlament. Und gen. Intern hatte Schulz schon bei
wenn die mich rausschmeißen, setz ich der Suche nach einem neuen Bun-
mich vor die Tür mit einem Schild: despräsidenten für einen rot-rot-grü-
,Das ist das Demokratieverständnis nen Kandidaten geworben.
von Angela Merkel.‘“ Die Kampagnenplaner von KNSK,
Andererseits telefonierte er fast täg- der Hamburger Wahlkampfagentur
lich mit ihr. Er war stolz, ihre Handy- der SPD, hatten kürzlich bei einer
nummer zu besitzen. Allein die Tatsa- Klausur der Parteiführung in Düssel-
che, dass die anderen wüssten, dass er dorf klargemacht, wo die Partei
einen direkten Draht zur deutschen nachlegen muss: „Die Leute glauben
IMAGO
Kanzlerin habe, sei hilfreich, sagte er. der SPD nicht mehr“, war eine der
In der ewigen Kompromisswerkstatt Kanzlerin Merkel bitteren, zentralen Botschaften. Das
Brüssel benötigte er Merkel für zahl- So tun, als hätte sich nichts verändert sture Abarbeiten des Koalitionsver-
reiche Deals. Er schätzte ihre Solidität, trags erzeuge keinen Glanz, keine
ihre Verlässlichkeit, ihr Detailwissen. Im wecken wird als dies mit Gabriel der Fall Hoffnung. Entscheidend für die Glaub-
Wahlkampf wird er sie kaum frontal oder gewesen wäre. Noch immer kennen die würdigkeit, so die Hamburger Strategen,
aggressiv attackieren. Das Publikum, ahnt meisten Bürger Schulz bestenfalls flüchtig, seien ganz andere Fragen: „Die Leute in-
er, würde dies nicht gutheißen. sie haben sich noch kein abschließendes teressiert: Legt ihr euch mit den Konzernen
„Ich arbeite mit Angela Merkel so lange Urteil gebildet. In der jüngsten SPIEGEL- an? Was macht ihr gegen die Steuerflücht-
zusammen, wie kaum einer sonst außer- Umfrage gaben 30 Prozent der Befragten linge?“
halb ihrer Partei“, sagt Schulz. „Ich habe an, ihn nicht zu kennen. Mangelnde Glaubwürdigkeit sei ein zen-
sie studieren können, ich habe sie kennen- Schulz hat fast sein ganzes politisches trales Defizit im Erscheinungsbild der Par-
gelernt.“ Er glaubt dabei hinter ihrem aus- Leben in Brüssel verbracht, noch nie hatte tei, attestierten die Experten der Agentur.
geprägten Charme eine ebenso ausgeprägte er ein Regierungsamt inne. Das könnte ein Im Hinterkopf hatte die versammelte Run-
Kühlheit erkannt zu haben. Er glaubt auch, Nachteil sein, ebenso wie die Tatsache, de auch gleich den Schuldigen ausgemacht:
die Fehler zu kennen, die ihre bisherigen dass er ohne Sitz und Stimme im Bundes- Sigmar Gabriel. Sein Themenhopping, sei-
Herausforderer Frank-Walter Steinmeier tag in den Wahlkampf ziehen muss. An- ne unsteten Vorgaben, die stets wandeln-
und Peer Steinbrück gemacht haben. Und dererseits ist er ein mitreißender Redner. den Strategien, Eigenschaften, die auch
er glaubt, die richtigen Schlüsse aus beidem Er kann die alte sozialdemokratische Er- Schulz intern immer wieder beklagt hatte:
gezogen zu haben. Schulz will vor allem zählung vom Aufstieg aus kleinen Verhält- Die SPD muss die Probleme konkret an-
auf die eigenen Stärken setzen, um Angela nissen mit seinem Leben verbinden. packen und lösen, mahnten die Experten.
Merkel aus dem Kanzleramt zu drängen. Schulz war der Einzige aus der SPD- Und nicht zu viel versprechen. Jedenfalls
„Ich werbe für mich.“ Und dennoch will er Spitze, der wirklich Lust auf die Kandida- nicht mehr, als sich umsetzen lässt.
sich auch auf ihre Probleme konzentrieren: tur hatte. Anders als der grübelnde Ga- Schulz will all das beherzigen. „Der Be-
Auf die Differenzen zwischen CDU und briel, anders als Olaf Scholz oder Andrea griff „Soziale Gerechtigkeit“ ist abgenutzt,
CSU. Und auf ihre bereits elf Jahre andau- Nahles, die eher auf eine Kandidatur im das kann kein Mensch mehr hören“, sagte
ernde Amtszeit. Schulz setzt auf eine Mer- Jahr 2021 spekulieren. Als habe er geahnt, er kürzlich. „Viele Leute haben den Ein-
kel-müdigkeit im Lande. dass es am Ende doch auf ihn zulaufen druck, dass es ganz grundsätzlich nicht
Merkel tut so, als interessiere sie es nicht würde, hat er sich seit über einem Jahr auf mehr gerecht zugeht.“
sonderlich, ob ihr Herausforderer nun Ga- diesen Moment vorbereitet, geistig wie Schulz mag die Formel von Bill Clinton
briel oder Schulz heiße. Sie will den Ein- körperlich. Er nahm zehn Kilo ab. Im Kern aus den frühen Neunzigern. Es müsse wie-
druck erwecken, als hätte sich nichts ver- mache er einfach FdH (Friss die Hälfte), der „um die Mehrheit der Leute, die hart
ändert an der Ausgangslage für diesen verriet er neulich, wobei man gelegentlich arbeiten und sich an die Regeln halten“
Wahlkampf. richtig schlemmen sollte, damit der Körper gehen. Die schuften, ihre Steuern zahlen,
Dabei weiß Merkel, dass die SPD mit nicht auf Krisenmodus umschalte. Hat ihm sich engagieren, möglicherweise noch ihre
Schulz allemal mehr Interesse und Neugier sein Personal Trainer eingetrichtert. Eltern pflegen und sich an die Gesetze hiel-
Ehemaliger Bürgermeister Schulz: „Der Alltag ist das Rathaus, und damit kenne ich mich besser aus als viele Kollegen in Berlin“
ten. Denen will Schulz jene gegenüberstel- und vor allem Silvio Berlusconi. Der Ita- gierungschef ist, dann ist das in einer De-
len, die sich nicht an die Regeln halten, liener machte den Europaparlamentarier mokratie gefährlich“, hatte er seinerzeit
die Grapscher auf dem Kölner Bahnhofs- im Jahr 2003 berühmt, als er sagte, Schulz in Brüssel oft gesagt. In der Wahl Trumps
vorplatz ebenso wie Manager, die ihre Mil- könne in einem Nazifilm gut den Kapo sieht Schulz nun ein ähnliches Problem.
lionen Euro ins Ausland bringen. spielen, den Aufseher. „Dieser Tag hat Die entscheidenden Etappen für den
Es wird um den Kampf gegen Konzerne mein Leben über Nacht verändert“, er- Wahlkampf sind bereits definiert. Schulz
wie Amazon gehen, die in Deutschland zählt Schulz. „Das hat alles auf den Kopf wird sich in die Kampagne vor der Wahl
mehrere Milliarden Euro Umsatz machen, gestellt.“ In Wahrheit ist er, der immer da- im Saarland am 26. März einmischen.
aber kaum Steuern bezahlen. Es wird um runter litt, als EU-Politiker in Deutschland „Zwei, drei Prozent mehr für die SPD –
die Frage der Solidarität gehen. Konkret nicht die erhoffte Aufmerksamkeit und und wir haben die Chance auf eine rot-
hört sich das so an: „Herr Winterkorn Anerkennung zu bekommen, Berlusconi rot-grüne Regierung.“ Die wäre zwar bei
bringt in der VW-Affäre einen ganzen Kon- dankbar für den Eklat. knappem Vorsprung höchst labil. Aber
zern ins Wanken und bekommt noch einen Schulz hatte Berlusconis Medienpolitik zum Linken-Fraktionschef Oskar Lafon-
Bonus. Wenn ein Arbeiter am Fließband angeprangert und von einem „Virus der taine hat Schulz schon vor Jahren einen
einen solchen Fehler macht, wird er ent- Interessenkonflikte“ gesprochen. „Wenn verlässlichen Kontakt hergestellt – was sich
lassen.“ Schulz ist einer zuspitzenden Spra- der reichste Mann des Landes, der größte nach der Wahl auszahlen könnte.
che, die an der Grenze zum Populismus Medienunternehmer, obendrein noch Re- Ein Erfolg im Saarland wäre aus Sicht
tänzelt, nicht abgeneigt. der Genossen der Schub für die Mai-Wah-
In den vergangenen Wochen hat er die len in Schleswig-Holstein und Nordrhein-
Kritik mancher Publizisten an ihm genau Westfalen. Das alles Entscheidende aber
registriert: dass er ohne Abitur und Stu- seien die letzten Wochen des Wahlkampfs.
dium für das Amt nicht geeignet sei. Schulz’ Berater zitieren Erkenntnisse der
Schulz glaubt, dass er diese vermeintlichen Demoskopen, wonach 40 Prozent der
Nachteile in einen Vorteil verwandeln Wähler ihre Entscheidung erst in den letz-
kann. Er will gegen die Arroganz und Ab- ten zwei Wochen träfen. Das sei eine ge-
gehobenheit jener wettern, die so denken. waltige Chance für die SPD.
Schulz’ Kampagne wird das Thema Frie- Dass Schulz nun Vorsitzender und
den aufgreifen, den Kampf gegen rechts Schulz war der Einzi- Kanzlerkandidat der ältesten demokrati-
und den Schutz der offenen, pluralen Ge- ge aus der SPD-Spitze, schen Partei Europas wird, ist auch ein
sellschaft. Er wird darauf verweisen, dass
Donald Trump schon vor Jahren seine Vor-
der wirklich Lust auf Triumph über den eigenen Lebensweg, zu-
mindest dessen verkorksten Anfang.
gänger und Brüder im Geiste in Europa die Kandidatur hatte. Schulz wuchs als Sohn eines Polizisten
hatte – in Jörg Haider, Jean-Marie Le Pen im Dorf Hehlrath auf, die Dienstwohnung
Fußballer, Familienvater Schulz 1994: Kann ich das? Hab ich überhaupt die Nerven dazu? Muss ich mir das noch mal antun?
lag über der Wache. Gleich daneben be- der realistische Blick auf sich selbst, das Mangel ausgelegt werden. Dabei war er
gann der Braunkohletagebau, wenige Ki- Wissen um die eigenen Grenzen. Er, der bei aller Begeisterung immer auch Realist.
lometer weiter ist die Grenze zu den Nie- zur Selbstüberschätzung neigte, habe da- Oft zitierte er den Satz seines Freundes,
derlanden und Belgien. mals gelernt, sich kritisch zu hinterfragen, des Regisseurs Wim Wenders: „Aus der
Als junger Mann träumte er davon, Fuß- sagte er im Rückblick. europäischen Idee ist die Verwaltung ge-
ballprofi zu werden. Nach der elften Klasse Das Wissen um diese alte Neigung spiel- worden, und jetzt denken die Menschen,
musste er die Schule verlassen, weil er te auch im vergangenen Jahr eine Rolle, dass die Verwaltung die Idee ist.“ Wer das
zweimal sitzengeblieben war. Er verbrach- als er sich die Frage stellen musste, ob die Projekt retten wolle, der müsse die EU
te die Zeit lieber auf dem Fußballplatz. Aufgabe als SPD-Chef und Kanzlerkandi- verändern, mahnte Schulz. Die Gemein-
Dann zerbrach auf dem Rasen von Rhe- dat ihn vielleicht überfordern könnte. Und schaft müsse sich wieder aufs Wesentliche
nania 05 Würselen sein Kniegelenk und ob er sich, im Erfolgsfall, gar das Amt des konzentrieren, auf das, was sie besser kön-
mit ihm das große Ziel. Schulz ließ sich Bundeskanzlers zutraue. Kann ich das? ne als die Nationalstaaten: Klimapolitik,
zum Buchhändler ausbilden, verfiel aber Bin ich dazu geeignet? Hab ich überhaupt Handelsbeziehungen, Migrationsfragen,
dem Alkohol. die Nerven dazu? Muss ich mir das noch Währungsfragen und Spekulationsbe-
Er hing rum, verschuldete sich, weil er mal antun? Diese Fragen diskutierte er mit kämpfung. „Ich will ja auch keinen euro-
mehr trank, als er sich leisten konnte. Am seiner Frau Inge und mit sich selbst. Vier- päischen Superstaat“, sagt Schulz.
Abend schämte er sich, weil er es wieder mal Ja, lautete am Ende die Antwort. Schulz’ Brüsseler Vergangenheit wird
nicht geschafft hatte, die Finger vom Al- Nachdem er die Therapie erfolgreich be- nun noch einmal kritisch beleuchtet wer-
kohol zu lassen. Und trank dann aus endet hatte, eröffnete Schulz eine Buch- den. Sein vehementes Eintreten für Euro-
Scham. Die örtlichen Jusos, die er lange handlung in Würselen. Was andere in der bonds etwa, jene Anleihen, für die alle
Zeit aufgemischt hatte, erklärten ihm, dass Schule und an der Universität lernen, Staaten gemeinsam haften. Er wisse nicht
er nicht mehr ihr Anführer sei. brachte Schulz sich selbst bei, mit der Lek- viel über Schulz, sagte CDU-Präsidiums-
Die Nacht zum 26. Juni 1980 wurde zum türe ganzer Bücherwände. Er lernte seine mitglied Jens Spahn. „Das Einzige, was ich
Wendepunkt seines Lebens. Wäre sie an- Frau Inge kennen, eine studierte Land- weiß, ist, er will Schulden vergemeinschaf-
ders verlaufen, wäre Schulz jetzt nicht schaftsarchitektin, mit der er zwei Kinder ten in Europa.“ Auch Schulz’ enges Ver-
Kanzlerkandidat, sondern tot. In jener bekam, einen Sohn und eine Tochter. hältnis zu Kommissionschef Jean-Claude
Nacht stand er kurz davor, sich das Leben 1987 wurde Schulz im Alter von 31 Jah- Juncker könnte noch mal zum Problem
zu nehmen. Es war sein älterer Bruder ren zum Bürgermeister von Würselen ge- werden. Juncker zuliebe hatte Schulz einen
Erwin, der ihn schließlich davon abhielt. wählt. Sieben Jahre später machte er sich Untersuchungsausschuss des EU-Parla-
Kurz darauf ließ er sich auf Drängen auf nach Europa ins EU-Parlament, wo er ments verhindert.
des Bruders in eine psychosomatische Kli- 22 Jahre lang bleiben sollte, erst als Abge- Schon am Dienstag wurden in der
nik einweisen und begann eine viermo- ordneter, dann als Vorsitzender der sozi- Unionsführung die Umrisse einer Strate-
natige Therapie. Dort erkannte er, warum aldemokratischen Fraktion, später als Prä- gie diskutiert, wie man mit dem Neuen
er in den Alkohol abgeglitten war: weil sident. umgehen solle. Vor allem die Tatsache,
eine Lücke zwischen dem Anspruch an Natürlich werden seine Gegner nun ver- dass Schulz noch nie ein Regierungsamt
sich selbst und seiner tatsächlichen Leis- suchen, ihn als Inbegriff des zunehmend hatte und auch derzeit im Bundestag nicht
tungsfähigkeit klaffte. Er wollte Fußball- verhassten EU-Funktionärs zu charakteri- reden kann, will die Union ausnutzen. „Er
star sein, spielte aber nur auf Verbandsli- sieren. Die Leidenschaft, mit der er für ist in der Bundespolitik gänzlich unerfah-
ganiveau. Er wollte ein guter Schüler sein, Europa, für das Zusammenwachsen des ren und kennt sich mit den Themen nicht
war aber zu faul zum Lernen. Es fehlte Kontinents kämpfte, könnte ihm nun als aus“, sagt ein Mitglied der Fraktionsspitze.
Seeheimern in München, er bekommt Vorschlag Gabriels, die Ausrufung des einer Sache nichts geändert hat: Es gibt
überschwänglichen Applaus, selbst bei den Kanzlerkandidaten auf Ende Januar zu massive Vorbehalte gegen seine Kandida-
eher spröden Ostwestfalen in Minden. In verschieben. Wenige Tage später ist klar, tur. „Die Leute glauben der SPD nicht
Berlin stellt er eine Biografie über sich vor. dass Schulz’ Karriere in Brüssel zu Ende mehr“, urteilen die Planer der Agentur
Der Parteichef reagiert gereizt. Es ärgert ist. Schulz will nun Klarheit von Gabriel, KNSK. Auch die Hamburger Wahlkampf-
ihn, dass Schulz eine stille Kampagne in Ende November fliegen sie gemeinsam manager haben Fokusgruppen befragt.
eigener Sache betreibt. Wenn Gabriel auf nach Wien. Doch in der Maschine tragen Und sie bestätigen jene katastrophalen Er-
die Kanzlerkandidatur verzichtet, dann sie nur ihre Differenzen aus. Was er wirk- gebnisse, die Gabriel schon im September
soll es so wirken, als tue er es aus freien lich vorhat, lässt Gabriel im Ungefähren. präsentiert wurden.
Stücken. Zumal es zwischendurch gar Immerhin garantiert er Schulz einen Job: Mittlerweile ist es Mitte Januar, und alle
nicht schlecht läuft für den SPD-Chef. Am wenn nicht den des Kanzlerkandidaten, wissen, dass die Entscheidung in wenigen
16. November wird Außenminister Stein- dann den des Außenministers. Tagen fallen muss. Thorsten Schäfer-Güm-
meier zum gemeinsamen Aus Gabriels Sicht sollen bel, der hessische Landesvorsitzende, te-
Kandidaten von Union und im Dezember ohnehin kei- lefoniert mit Gabriel. Sein Kieler Kollege
SPD für die Nachfolge von Vier gegen Merkel ne Entscheidungen fallen. Ralf Stegner berichtet Gabriel von der tris-
Bundespräsident Joachim SPD-Kanzlerkandidaten In der Vorweihnachtszeit ten Stimmung an der Basis. Auch Achim
Gauck ausgerufen. Es ist und ihre Ergebnisse würden sich die Leute lieber Post, Chef der SPD-NRW-Landesgruppe
eine Niederlage für Merkel mit dem Weihnachtsmann im Bundestag, hat längst bei seinem Par-
– und ein großer Triumph als dem Kanzlerkandidaten teichef hinterlegt: In seinem Wahlkreis
für Gabriel. der SPD beschäftigen, so gebe es große Zweifel an Gabriel.
Nun weiß er: Der Posten sein Argument. Außerdem In diesen Tagen machen Gabriel und
des Außenministers wird will Gabriel die Feiertags- Schulz mehrmals den Versuch, sich zu
RE UTE RS
frei. Es ist die Phase, in der pause für einen Kranken- treffen, aber immer wieder kommt etwas
sein Plan reift, auf die Kanz- hausaufenthalt nutzen. dazwischen. Am vorigen Samstag ist es
lerkandidatur zu verzichten Gerhard Schröder Kurz vor Weihnachten schließlich so weit, die beiden setzen sich in
und stattdessen ins Außen- 1998 Kohl-Bezwinger mit fährt Gabriel in eine Spe- Montabaur zusammen. Gabriel hat an einer
40,9 %, scheitert 2005 mit
amt zu wechseln. Nüchtern zialklinik in Hessen. Es gibt Anti-Rechten-Demo teilgenommen, Schulz
34,2 % knapp an Angela Merkels
betrachtet ist es die einzige Union. Die SPD geht als Junior- einen Eingriff, der dazu kommt aus seiner Heimat Würselen bei
realistische Option für Ga- partner in die Große Koalition. beiträgt, dass Gabriel binnen Aachen. Schulz geht davon aus, dass Gabriel
briel, die Bundestagswahl wenigen Wochen 13 Kilo- ihm den Job des Außenministers anbietet.
2017 politisch zu überleben. gramm abnimmt. Publik „Ich mache es nicht“, eröffnet Gabriel
Knapp zwei Wochen da- wird der Aufenthalt nur, weil das Gespräch. „Du bist der Kandidat.“
nach fliegt Schulz eigens für auffällt, dass Gabriel nach Zwei Stunden beraten beide das weitere
eine Aussprache mit Gabriel dem Anschlag auf einen Ber- Vorgehen. Sie besprechen Gabriels Wech-
I M AG O
nach Berlin. Der SPD-Chef liner Weihnachtsmarkt am sel ins Außenamt und wer ihm ins Wirt-
drängt ihn, sich endlich zu Frank-Walter Steinmeier 19. Dezember nicht in der schaftsministerium folgen soll. Sie verein-
entscheiden. Er könne ja holt 2009 mit 23 % das Öffentlichkeit auftritt. baren das, was ihnen mit am schwersten
nicht EU-Parlamentspräsi- schlechteste SPD-Ergebnis In der SPD sehen viele fällt: absolutes Stillschweigen. Gabriel will
dent, deutscher Außenmi- der Nachkriegszeit. Die die OP als Vorbereitung auf Zeit haben, um seine beiden wichtigsten
nister und Kanzlerkandidat Union koaliert mit der FDP. die bevorstehende Kandida- Stellvertreter, Hannelore Kraft und Olaf
der SPD gleichzeitig sein. tur. Zuvor hat Gabriel schon Scholz, einzuweihen und auch Fraktions-
Schulz ahnt, dass seine die Werbeagentur für den chef Thomas Oppermann zu informieren.
Chancen in Brüssel schwin- Wahlkampf ausgetauscht Am folgenden Vormittag glühen die
JENS SCHICKE
den, aber er sagt Gabriel, und in ein langes Porträt mit Drähte. Schulz sagt ein für abends verab-
dass er am liebsten Präsi- der ARD eingewilligt. Nach redetes Treffen mit Außenminister Frank-
dent des Europaparlaments dem Anschlag vom Breit- Walter Steinmeier ab. Eigentlich wollten
bleiben würde. Für den Fall, Peer Steinbrück scheidplatz verfasst er ein sie Details der Amtsübergabe besprechen.
dass dies nicht gelingen soll- tritt 2013 statt SPD-Chef siebenseitiges Papier zur in- Gabriel telefoniert mit Kraft, Scholz und
te, macht Gabriel in dem Sigmar Gabriel und Fraktions- neren Sicherheit. Oppermann. Nur Scholz meldet noch vor-
Gespräch keine Zusage. Er chef Steinmeier gegen Merkel Am 3. Januar trifft Ga- sichtige Bedenken an. Die redet Gabriel
lässt Schulz zappeln – es ist an und kann das Ergebnis leicht briel den SPIEGEL zum Ge- klein. Am Sonntag bittet er den „Stern“
seine Art, Rache zu neh- verbessern (25,7 %). Die SPD spräch in Goslar. Der SPD- ins eigene Haus, um die Begründung für
men. Die Freundschaft der landet erneut in der GroKo. Chef kommt in gelöster seinen Abschied als Parteivorsitzender zu
beiden Politiker, wenn es sie Stimmung, ist in Plauder- Protokoll zu geben. Nicht mal Schulz hat
je gegeben haben sollte, ist laune und hat viel Zeit. Man er am Vortag von dem Interview erzählt,
A A / DD P IMAG ES
nun vorbei. „An diesem sieht ihm an, dass er mit sich er wird, wie alle anderen, erst zum Zeit-
Abend ist etwas zerbrochen absolut im Reinen ist. Auf punkt des Erscheinens von diesem Allein-
zwischen Sigmar und Mar- die Frage, ob er wisse, wer gang erfahren. Selbst Gabriels Pressespre-
tin“, sagt ein Präsidiumsmit- Kanzlerkandidat werde, cher Tobias Dünow weiß von nichts.
glied der SPD. Martin Schulz sagt er: „Na klar.“ Nachfra- Es ist Montag, die Sitzungswoche be-
Es sind die Wochen, in soll nach erneutem Verzicht gen, das lässt er durchbli- ginnt – und damit das Getuschel. Die
denen Gabriel auch seinem Gabriels SPD-Chef und Kanzler- cken, bringen nichts. Abgeordneten spüren, dass eine Über-
Vize Olaf Scholz mindestens kandidat werden. Könnte man Am 10. Januar trifft sich raschung möglich ist. Schulz sagt seine
einmal zuruft: „Du musst es den Bundeskanzler direkt die SPD-Führung in einem Teilnahme an einem Treffen von Abge-
machen.“ wählen, wären aktuell 41% Hotel am Düsseldorfer Flug- ordneten aus SPD, Linken und Grünen ab.
für Merkel, 41% für Schulz.
Am 21. November be- Quelle: Infratest-dimap-Umfrage hafen. Gabriel spürt, dass Am Dienstag, kurz vor der Fraktions-
schließt die SPD-Spitze auf vom 25. Januar auch der Jahreswechsel an sitzung, informiert Gabriel Außenminister
18 DER SPIEGEL 5 / 2017
JOCHEN ZICK / ACTION PRESS
Genossen Schulz, Gabriel, Abgeordnete: Hoffnung ist die Medizin, die die SPD jetzt braucht
Steinmeier. Dann überschlagen sich die wahl nun veraltet sein könnte. Dass ckelt überall“, sagt die Genossin Walburga
Ereignisse. Oppermann gibt vor der Frak- nun ein anderer Film gedreht werden Stortz mit Blick auf Europa und Trump.
tionssitzung am Nachmittag ein routinier- könnte. Da brauche die SPD einen starken Mann
tes Statement ab. Zur K-Frage will er sich In der SPD jedenfalls glauben sie nun an der Spitze. „Mit Martin Schulz haben
nicht äußern: „Lassen Sie sich überra- wieder an ein erfolgreiches Abschneiden. wir endlich diesen Mann.“
schen.“ Der Wechsel an der Spitze hat die chroni- Sigmar Gabriel sei „wie ein Korken auf
Dann zieht er sich in sein Büro zurück. sche Verzagtheit, dieses leidenschaftliche der Flasche gewesen“, sagt Michael Keller,
Nahezu zeitgleich vermeldet ein Bran- Leiden an sich selbst zumindest vorüber- SPD-Bürgermeister im hessischen Fried-
chendienst mit Verweis auf die Titelseite gehend beendet. „Mit seiner Kämpfer- berg. Am Mittwochabend empfangen Kel-
des „Stern“ Gabriels Rücktritt. Gabriel er- natur und Leidenschaft wird Schulz unsere ler und sein Ortsverein Generalsekretärin
fährt davon, stürzt in Oppermanns Büro Mitglieder und Wähler mobilisieren, weil Katarina Barley. Allein in den ersten 24
und ruft: „So eine Scheiße!“ Oppermann sie ihm glauben, dass er ihnen nichts vor- Stunden nach der Nachricht von Gabriels
bleibt kühl und sagt nur: „Dann halte ich macht“, sagt Sören Bartol, SPD-Fraktions- Verzicht habe es 250 Neueintritte gegeben,
mich nach der Begrüßung ganz kurz, und vize im Bundestag. „Ich wusste gar nicht, berichtet Barley. Und das seien nur die
du erklärst ausführlich dein Interview und dass es so viele Emojis fürs Handy gibt“, Onlineanmeldungen, die in der Zentrale
deine Gründe.“ sagt der Abgeordnete Johannes Fechner. eingegangen seien. „Ich glaube, dass wir
So kommt es. Die Fraktion verabschie- „Alle mit Mundwinkel nach oben.“ jetzt einen Lauf kriegen“, sagt Barley.
det Gabriel mit stehenden Ovationen. Spä- Kollegen, die noch vor wenigen Tagen Bei der Klausur vor zweieinhalb Wo-
ter im Willy-Brandt-Haus, wo die engere den Verlust ihres Mandats befürchteten, chen in Düsseldorf hatte die Kampagnen-
Parteispitze um 17 Uhr zusammentritt, ist träumen nun von einem Ergebnis von über agentur der SPD-Führung eine unmissver-
der Beifall spärlicher. Oppermann wird 30 Prozent. Das mag unrealistisch sein, ständliche Botschaft hinterlassen: „Ent-
deutlich wie selten: „Das Ganze ist un- aber Hoffnung ist die Medizin, die die SPD scheidend ist die Anmutung. Die Leute
möglich“, ruft er Gabriel zu. „So kann im Moment braucht. wollen euch kämpfen sehen.“
man mit den Gremien nicht umgehen.“ Am Mittwochabend sind 40 Genossen Martin Schulz wird kämpfen, das ist ge-
Andere nicken zustimmend. zum Treffen des Ortsvereins Sterkrade- wiss. Und wie es aussieht, wird er nicht
Die Kanzlerin erfährt ebenfalls nach- Nord in Oberhausen gekommen, darunter allein sein.
mittags per SMS vom Rücktritt. Weil sich Karl Kaminski, 66 Jahre, mehr als die Hälf- Matthias Bartsch, Sven Böll, Markus Feldenkirchen,
in der Unionsfraktion gerade Außenminis- te davon in der SPD. Kaminski hat Plakate Valerie Höhne, Horand Knaup, Ralf Neukirch
ter Steinmeier als Bundespräsidentenkan- geklebt, Flugblätter verteilt, gekämpft und
didat vorstellt, hält sie dem SPD-Politiker gelitten. Mit Schulz ist auch zu ihm die Video:
ihr Handy mit der Nachricht hin. Zuversicht zurückgekehrt. „Endlich einer, Martin Schulz im Profil
Sie ahnt in diesem Moment, dass ihr der den Arsch in der Hose hat“, sagt er, spiegel.de/sp052017schulz
Drehbuch für die kommende Bundestags- „Einer, der das Maul aufmacht.“ „Es brö- oder in der App DER SPIEGEL
20 DER SPIEGEL 5 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Frauenlöhne Faktoren wie eine andere Be- Verteidigungsministerium vergangenes Jahr entschie-
„Mickriges Gesetz“ rufswahl und Teilzeit heraus- McKinsey den, zur besseren Kontrolle
Fall Amri auch ein bezahlter Zuträger tionsberichte. Auch über die keit hat es keine konkreten
Kein V-Mann gewesen sein könnte. Besuche Amris in der Berli- Aktivitäten des Bundesamts
Zugleich macht die Ant- ner Fussilet-Moschee wusste für Verfassungsschutz gege-
Anis Amri, der Attentäter wort der Bundesregierung das Amt Bescheid. Das Bun- ben, um ihn zu überwachen“,
vom Berliner Breitscheid- deutlich, dass der Verfas- desamt für Migration und sagt die innenpolitische Spre-
platz, war weder als V-Mann sungsschutz in dem Fall eine Flüchtlinge übermittelte dem cherin der Grünen-Bundes-
für das Bundeskriminalamt größere Rolle spielte als bis- Verfassungsschutz Amris tagsfraktion, Irene Mihalic.
noch für das Bundesamt für lang bekannt. Die Kölner Be- Asylakte und seine zahlrei- „Die Rolle der Nachrichten-
Verfassungsschutz (BfV) oder hörde wurde nicht nur über chen Alias-Namen. Warum dienste – auch des BND –
den Bundesnachrichtendienst die Sitzungen im Gemeinsa- Amri trotzdem nicht mit bleibt obskur.“ Mihalics Frak-
(BND) tätig. Dies erklärt das men Terrorabwehrzentrum in nachrichtendienstlichen Mit- tionskollege Konstantin von
Bundesinnenministerium in Berlin über den Fall infor- teln überwacht wurde, wol- Notz sagt, es werde immer
einer schriftlichen Antwort miert, sondern seit dem 20. len die Grünen am 13. Fe- klarer, „dass die Bundesbe-
auf eine Kleine Anfrage der Januar 2016 immer wieder ge- bruar in einer Sondersitzung hörden zwingend die Feder-
Grünen im Bundestag. Im- zielt von einzelnen Behörden. des Innenausschusses von führung an sich hätten ziehen
mer wieder war spekuliert So erhielt das BfV von den Verfassungsschutzpräsident müssen, um den größten
worden, ob Amri, der früh Polizeibehörden „Lichtbild- Hans-Georg Maaßen wissen. dschihadistischen Anschlag in
ins Visier der Sicherheitsbe- material“, Auswertungen von „Trotz der dichten Informatio- der Geschichte der Bundesre-
hörden geraten war, für diese Telefondaten und Observa- nen und Amris Gefährlich- publik zu verhindern“. jös, kno
IMAGEBROKER / INTERFOTO
Pannen bei der missglückten stufte den Einsatz lediglich
Festnahme des mutmaßli- als „Festnahme eines mit
chen IS-Terroristen Jaber Sprengstoff bewaffneten Tat-
Albakr im Oktober 2016 in verdächtigen“ ein.
Chemnitz geführt. Zu dem Dem Bericht zufolge hätte
Schluss kommt eine Exper- das LKA „nachdrücklicher
Verkehr gebnisse gebe, so Markl, tenkommission unter Lei- um Unterstützung“ durch
ADAC gegen zeichne sich bereits ab, dass tung des einstigen Bundes- Polizeikräfte aus Bund und
Dobrindts Maut die Einführung „keine rele-
vanten Zusatzeinnahmen er-
verfassungsrichters Herbert
Landau. So sei das Landes-
Ländern bitten können.
„Dies hätte allerdings voraus-
Bundesverkehrsminister warten lässt oder möglicher- kriminalamt (LKA) Sachsen gesetzt, dass man bei den
Alexander Dobrindt (CSU) weise sogar mit einem Minus- weder „strukturell noch per- sächsischen Sicherheitsbehör-
ist mit dem Versuch geschei- geschäft gerechnet werden sonell für einen derartigen den die Lage zutreffend be-
tert, den größten Automobil- muss“. Dobrindt geht offi- Einsatz gerüstet“ gewesen, urteilt hätte, was erkennbar
klub des Landes von seinem ziell davon aus, dass seine heißt es in dem vertraulichen nicht der Fall war.“ Das LKA
Projekt einer Ausländermaut Ausländermaut unter dem Abschlussbericht für die Berlin hatte den sächsischen
zu überzeugen. ADAC-Prä- Strich Einnahmen von 524 sächsische Staatsregierung. Kollegen am Abend vor
sident August Markl schreibt Millionen Euro im Jahr ein- Obwohl laut Bundeskriminal- dem Einsatz „zwei mobile
in einem Brief an Dobrindt bringt. In seiner Prognose hat amt von Albakr eine „kon- Einheiten zur Unterstüt-
und Bundesfinanzminister der Verkehrsminister bereits krete Gefahr für Leib und zung“ angeboten. Die Sach-
Wolfgang Schäuble (CDU), berücksichtigt, dass er sich Leben von Zivilpersonen“ sen lehnten ab. kno, mba
die Einführung einer Pkw- gegenüber der EU-Kommis-
Maut bleibe „eine unnötige sion verpflichten musste, mo-
Entscheidung“. Das Projekt derne Fahrzeuge der Schad-
lasse „viele kritische Fragen stoffklasse Euro 6 bei der Bundestagswahl sekretär Andreas Scheuer zu
offen“ und werde „fachlich Kfz-Steuer stärker zu entlas- CSU will mit einem zweistündigen Ge-
sehr kontrovers und öffent-
lich mit großer Unsicherheit“
ten als ursprünglich geplant.
Für den Fall, dass dieser Guttenberg werben spräch in einem Münchner
Restaurant getroffen und die
debattiert. Es unterliege mit Euro-6-Effekt stärker ist als Karl-Theodor zu Guttenberg Details seines Engagements
Blick auf die Einnahme- veranschlagt, muss Dobrindt wird für die CSU im Bundes- für die Partei besprochen. Um
prognosen „erheblichen Un- Mindereinnahmen bei der tagswahlkampf auftreten. Er ein Bundestagsmandat will
sicherheiten“. Kfz-Steuer aus seinem Haus- habe zusagt, für mehrere gro- sich Guttenberg aber nicht be-
Der ADAC hat den Ver- halt „vollständig kompensie- ße Kundgebungen nach Bay- werben. Er wolle niemandem
kehrswissenschaftler Ralf ren“. Das hatte Finanzminis- ern zu kommen, hieß es aus den Platz wegnehmen, sagte
Ratzenberger erneut beauf- ter Schäuble bei der soge- München. Der Exverteidi- er Scheuer. Guttenberg war
tragt, die Nettoeinnahmen zu nannten Ressortabstimmung gungsminister, der in den 2011 zurückgetreten, weil sei-
kalkulieren. Auch wenn es des Gesetzentwurfs in dieser USA lebt, hatte sich Anfang ne Doktorarbeit als Plagiat
noch keine endgültigen Er- Woche durchgesetzt. böl der Woche mit CSU-General- entlarvt worden war. ran
Suizid eines Polizisten Fall des „Reichsbürgers“ zeieinsatz die Waffe gegen Nähe seiner Dienststelle in
Soko „Reichsbürger“ Wolfgang P. hatten ergeben, Kollegen richten würde, und Nürnberg in seinem Auto.
ermittelt dass dieser Chatkontakte zu
einem 50-jährigen Kommis-
hätte davor warnen müssen,
so der Vorwurf.
Die Polizei geht nun offen-
bar Hinweisen nach, der Sui-
Der Selbstmord eines Beam- sar hatte. Der Beamte war Offenbar kurz nachdem zid könnte mit dem Einsatz
ten des Spezialeinsatzkom- deswegen suspendiert wor- die Ermittlungen intern be- in Georgensgmünd zusam-
mandos (SEK) Nordbayern den, gegen ihn wird ermit- kannt geworden waren, er- menhängen. Der suspendier-
war möglicherweise eine Re- telt. Er habe damit rechnen schoss sich der SEK-Beamte te Kommissar soll enge priva-
aktion auf den Tod eines Kol- können, dass P. bei dem Poli- vergangenen Freitag in der te Kontakte zu einigen SEK-
legen, der im Oktober bei Kollegen gepflegt haben.
einem Einsatz in Georgens- Wohnung von Nachdem das Handy des to-
gmünd von einem „Reichs- Wolfgang P. ten SEK-Beamten gefunden
bürger“ erschossen worden wurde, seien die Ermittlun-
war. Der 45-jährige SEK-Be- gen zu dem Selbstmord an
DANIEL KARMANN / DPA
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ecep Tayyip Erdoğans Staatsfeind empfangen, aber die Kanzlerin selbst hat Dündar an, so erzählt er es später, sich
ist ein kleiner, freundlicher Herr mit ein Treffen mit ihm bisher vermieden – beim türkischen Präsidenten für ihn ein-
grauen Haaren und traurigen Augen. so wie sie alles vermeidet, was Erdoğan zusetzen. „Wenn jemand bei Erdoğan et-
Am vergangenen Dienstagabend feiert provozieren könnte, seit die Türkei den was erreichen kann, dann sind Sie es“, sagt
Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur Strom der Flüchtlinge nach Europa regu- Dündar dankbar.
der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“, im liert. Schon in der kommenden Woche wird
Berliner Hauptstadtbüro des SPIEGEL den Doch nun steht Dündar plötzlich vor ihr. Merkel Gelegenheit haben, ihr Angebot
70. Geburtstag des Magazins. Gegen halb neun ist Merkel gekommen, in die Tat umzusetzen. Am Donnerstag
Dündar ist zur Symbolfigur für Erdo- jetzt bahnt man ihr einen Weg durch die reist die Kanzlerin in die Türkei. Es ist ihre
ğans brutales Vorgehen gegen Opposition dicht gedrängt stehenden Gäste, sie schüt- fünfte Reise seit Beginn der Flüchtlings-
und Meinungsfreiheit geworden. Doch telt Hände, wechselt mit diesem und jenem krise vor anderthalb Jahren. Gerade hat
von der deutschen Regierung fühlte er sich ein paar Worte. Als sie Dündar sieht, geht Erdoğan angekündigt, sich per Referen-
bisher nur halbherzig unterstützt. Er wur- sie auf ihn zu und gibt ihm die Hand, sie dum zum Alleinherrscher ermächtigen zu
de im Kanzleramt von Merkels Beratern wechselt sofort ins Englische. Sie bietet lassen. Doch trotz seiner autoritären Wen-
24 DER SPIEGEL 5 / 2017
Deutschland
Kanzlerin Merkel, Präsident Erdoğan 2015
„Die EU braucht die Türkei mehr als die Türkei die EU“
Merkels Fürsprache für Dündar zeigt, Trotzdem ist der türkische Ministerpräsi-
wie weit sich die Türkei von Europa, von dent Mesut Yılmaz nicht zufrieden. Er hat
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- erwartet, dass sein Land offiziell in den
freiheit und Minderheitenschutz entfernt Kreis der Beitrittskandidaten aufgenommen
hat. Inzwischen muss sich die deutsche wird. Das gewähren die EU-Staats- und Re-
Kanzlerin beim Nato-Partner und EU-Bei- gierungschefs jedoch zehn anderen Ländern
trittskandidaten für verfolgte Oppositionel- des ehemaligen Ostblocks sowie der Repu-
le einsetzen wie bei den Machthabern in blik Zypern. Die Türkei versteht den Schritt
Peking oder irgendeinem afrikanischen als das, was er ist: eine Zurücksetzung.
Potentaten. Sogar ranghohe türkische Of- Yılmaz wähnt den deutschen Bundes-
fiziere ersuchen mittlerweile in Deutsch- kanzler Helmut Kohl als Bremser. Stutzig
land um politisches Asyl (siehe Seite 28). machen ihn Berichte über ein Treffen der
Europa ist dabei, seinen Einfluss auf die in der Europäischen Volkspartei orga-
Türkei zu verlieren. Das Schlüsselland zwi- nisierten konservativen Parteichefs im
schen Europa und den scheiternden Staa- März 1997. „Die Türkei ist nicht akzeptabel
ten Syrien, dem Irak und Libanon wendet als Mitglied“, erklärt der belgische EVP-
sich enttäuscht von der EU ab. Der Bei- Vorsitzende Wilfried Martens. Auch in der
trittsprozess ist de facto gescheitert. CDU berufen sich später die Gegner eines
Es ist auch Merkels Scheitern. Türkeibeitritts auf den Satz.
In den elf Jahren ihrer Kanzlerschaft ha- Doch Kohl lässt nach dem Luxemburger
ben sich die Türkei und Europa immer wei- Gipfel keinen Zweifel daran, dass er die
ter voneinander entfernt. Als Merkel das Türkei langfristig in der EU sieht: „Ich
Kanzleramt übernahm, wollten drei von habe in der Debatte darauf hingewiesen“,
vier Türken den Beitritt des Landes zur sagt er tags darauf in Bonn, „dass wir, die
EU, Erdoğan war damals ein Mann demo- Bundesrepublik Deutschland, sehr damit
kratischer Reformen. Heute ist die Türkei einverstanden sind, dass die Türkei in der
ein autokratischer Staat, drei von vier Tür- Perspektive der Zukunft eine Chance hat,
ken sind gegen den Beitritt. Und umge- der Europäischen Union beizutreten.“
kehrt: Nur 15 Prozent der Deutschen wün-
schen sich die Türkei in der EU. Mehr als 2. Schröders Schritt
die Hälfte ist inzwischen dafür, die Ver- Die entscheidenden Schritte in der Türkei-
handlungen abzubrechen. politik macht jedoch Kohls Nachfolger Ger-
Die Türkei und die EU – das ist eine Ge- hard Schröder. Noch im Wahlkampf 1998
schichte von enttäuschten Erwartungen, reist der SPD-Kanzlerkandidat nach Wa-
GUIDO BERGMANN / BPA / POLARIS /STUDIO X
DPA
stützung der Bevölkerung scheitern“. ten für mehr Freiheit, einen besseren
Zwei Jahre später leitet Merkel Kanzler Kohl, Premier Turgut Özal 1985 Schutz der Menschenrechte und we-
den offenen Bruch mit Kohls Türkei- Türkische Schwiegertochter niger staatliche Bevormundung ist für
politik ein. Merkel führt inzwischen Sie, Herr Ministerpräsident, kein
Partei und Fraktion, sie hat den Patriar- sprechen, ist Volker Rühe. Der ehemalige Zugeständnis an Europa“, sagt Schröder,
chen entmachtet, ihre Autorität muss sie Bundesverteidigungsminister leitet mittler- „sondern es ist Konsequenz Ihrer politi-
sich aber erst noch erarbeiten. Sie weiß, weile den Auswärtigen Ausschuss im Bun- schen Überzeugung. Auf die Unterstützung
dass eine große Mehrheit der Christdemo- destag. Er warnt: „Wer der Türkei jetzt Bei- Deutschlands können Sie sich verlassen.“
kraten den Türkeibeitritt ablehnt. trittsverhandlungen verweigern will, stoppt
Merkel macht sich Schäubles Argumen- den Reformprozess in diesem Land.“ Auch 5. Erdoğan unterschätzt Merkel
tation zu eigen. Anders als für viele in der sein Nachfolger Ruprecht Polenz wird einer Im Februar 2004 reist Merkel zum ersten
Union ist die Ablehnung des Beitritts für der Kritiker des neuen Türkeikurses. Mal als Oppositionsführerin in die Türkei.
sie keine Frage von Religion und Kultur. Unterstützt wird der Besuch vom Büro
Ihr geht es nicht um den Islam, sondern 4. Reformer Erdoğan der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ankara.
um die Aufnahmefähigkeit der EU. Ihr Ar- 2003 zieht Recep Tayyip Erdoğan als Au- Deren Leiter Wulf Schönbohm, Bruder
gument ist nicht: Die Türkei passt nicht zu ßenseiter in den Regierungspalast von An- des Brandenburger Innenministers Jörg
Europa. Sondern: Die Türkei passt nicht kara ein. Er gilt vielen Türken als Islamist, Schönbohm, kann mit dem Konzept
mehr rein. doch in den ersten Jahren seiner Amtszeit der „privilegierten Partnerschaft“ nichts
In einem internen Positionspapier erteilt überrascht er selbst seine Gegner durch anfangen. Aber Merkel lässt sich nicht
Schäuble, der jetzt stellvertretender Frak- ein demokratisches Reformprogramm. beirren.
tionsvorsitzender für Außenpolitik ist, Erdoğan befreit große Teile der konser- Sie ist unter Druck, die CSU warnt vor
Ende November 2002 einer Vollmitglied- vativ-religiösen Mehrheit aus der Armut einer „Völkerwanderung von Anatolien
schaft der Türkei eine Absage und spricht und gibt ihr eine Stimme. Er liberalisiert nach Westeuropa“. Merkel begründet die
sich stattdessen für eine „privilegierte Part- das Strafrecht, führt eine flächendeckende „privilegierte Partnerschaft“ mit der Sorge
nerschaft“ mit der EU aus. Den Begriff Krankenversicherung ein. Als erster türki- vor einem Rechtsruck in Deutschland. „Ich
klaut er bei Heinrich August Winkler. Der scher Regierungschef entschuldigt er sich muss die Leute mitnehmen, wenn wir eine
renommierte Historiker („Geschichte des für Verbrechen des türkischen Staats an Radikalisierung verhindern wollen“, sagt
Westens“) hat kurz zuvor in der „Zeit“ ei- den Kurden, geht auf Griechen und Arme- sie im kleinen Kreis vor ihrer Abreise.
nen Aufsatz mit dem Titel „Wir erweitern nier zu. Die Türkei durchlebt einen Wan- „Eine EU, die in 10 bis 15 Jahren die Türkei
uns zu Tode“ veröffentlicht. del vom Krisenland zur Regionalmacht. aufnimmt, wäre nicht die EU, die ich mir
Im März 2004 beschließen die Präsidien Das beeindruckt auch Brüssel. „Er wirk- vorstelle.“ Auf dem Flug sagt sie, es solle
von CDU und CSU das Konzept zur „pri- te sehr glaubwürdig“, erinnert sich der „bloß kein Bild mit Döner geben“, sonst
vilegierten Partnerschaft“. Einer der we- ehemalige EU-Kommissar Verheugen. Ein- würden sich einige in der CSU wieder auf-
nigen in der CDU, die öffentlich wider- mal, als Erdoğan zu Besuch kommt, führt regen.
A
n den Tag, an dem er zum ers- Grund. Türkische Fernsehsender hetzen dachte Karasu, eine Bombe. Doch als er
ten Mal einen Befehl verwei- gegen sie als „Terroristen“ und „Vater- den Fernseher anschaltete, sah er, wie
gerte, kann sich Murat Karasu landsverräter“. türkische Panzer auf Menschen zuroll-
noch gut erinnern. Der Offizier der tür- Entsprechend heikel ist der Fall für ten. „Ich habe so etwas nicht für mög-
kischen Armee hat in den USA studiert die deutsche Diplomatie. Nato-Militärs, lich gehalten“, sagt er. „Ich hatte Angst.“
und Kampfjets geflogen, bereits mehr- die in einem anderen Nato-Land Asyl Karasu versucht, Informationen aus der
mals schickten ihn seine Vorgesetzten beantragen: Die Angelegenheit geht Türkei zu bekommen, zappt durch türki-
auf begehrte Posten bei der Nato, zu- deutlich über die Alltagsfälle von Aus- sche Sender, bis vier Uhr früh hält er
letzt nach Deutschland. Befehl und Ge- länderämtern und Asylbehörden hinaus. mit seinen Vorgesetzten am Nato-Stütz-
horsam gehören zu Karasus Leben wie Zwar gibt es kaum Zweifel, dass die tür- punkt Kontakt. Dann legt er sich kurz
die Liebe zu seinem Land. kischen Militärs in ihrer Heimat kein fai- hin. „Wer auch immer diesen Coup zu
Nachdem Teile des Militärs im Juli res Gerichtsverfahren erwartet, zwei verantworten hat, sollte bestraft wer-
gegen Staatspräsident Recep Tayyip Er- Soldaten wurden kürzlich als vermeint- den“, sagt Karasu. Er selbst will seine
doğan geputscht hatten, ging Karasu liche Putschisten zu lebenslangen Frei- Unschuld beweisen, hat bei einem türki-
weiter seinem Dienst nach, bis ihm An- heitsstrafen verurteilt. Doch das Letzte, schen Militärgericht Eingaben gemacht.
fang September plötzlich sein Vor- was Angela Merkel brauchen kann, ist „Ich werde das bis zum Ende durch-
gesetzter ein Schreiben in die Hand neuer Ärger mit der Türkei. Die Kanzle- fechten, notfalls vor dem Europäischen
drückte: Karasu müsse das Militär ver- rin will, dass der Flüchtlingsdeal funk- Gerichtshof für Menschenrechte.“
lassen, lautete der Befehl, er solle in tioniert. Schon der Streit um die Resolu- Karasus Handy klingelt, die Tochter
die Türkei zurückkehren. tion des Bundestags zum Genozid an fühlt sich nicht wohl, der Vater organi-
„Der Rauswurf kam aus heiterem den Armeniern hat gezeigt, wie aller- siert, dass sie von der Schule abgeholt
Himmel“, sagt Karasu, ein zupackender gisch Erdoğan auf Kritik reagiert. Innen- wird. Schule, Freunde, Karasu will sei-
Mittvierziger, vier Monate später, „zur minister Thomas de Maizière (CDU) nen Kindern das gewohnte Umfeld er-
Begründung gab es kein Wort.“ Karasu kennt das Asylbegehren der türkischen halten, für ihn selbst kann davon aller-
sitzt in einer Konditorei in einer west- Offiziere, hat aber entschieden, sich aus dings keine Rede sein. Karasu hat die
deutschen Kleinstadt. Er sagt: „Ich will der Sache herauszuhalten. Kommende Uniform gegen einen schwarzen Anzug
in Deutschland bleiben.“ Der Mann, Woche will Merkel erneut in die Türkei getauscht, auch sonst ist seit dem
der noch vor Kurzem für Überwachung reisen, gut möglich, dass sie auf die ab- Putschversuch kaum noch etwas wie
und Verteidigung des Nato-Luftraums trünnigen Soldaten angesprochen wird. früher. „Ich konnte erwarten, dass ich
an der Grenze zu Russland zuständig Karasu ist zu Hause bei seiner Familie, in den nächsten Jahren zum General
war, hat in der Bundesrepublik Asyl als ihn am Abend des 15. Juli eine SMS aufsteige“, sagt er. „Jetzt stellen sie
beantragt. aus der Heimat erreicht. „Hast du gese- mich als Verräter hin.“
Karasu, seine Frau und die Kinder hen, was los ist?“ Wieder ein Anschlag, Karasu rätselt, wieso ausgerechnet
sind Opfer von Erdoğans Säuberungen, er und seine Kollegen in das Räderwerk
wie weitere etwa 40 zumeist hochrangi- der Säuberungsaktionen geraten sind.
ge türkische Nato-Soldaten in Deutsch- Inzwischen ist er sicher, dass ihn seine
land. Seit Monaten leben sie mehr oder Karriere im Westen zum Ziel gemacht
weniger unauffällig in der Nähe von hat. „Die Soldaten, die von den Säu-
Nato-Einrichtungen, etwa im nordrhein- berungen betroffen sind, haben eines
westfälischen Geilenkirchen, in Uedem gemeinsam“, sagt er, „wir sind erfolg-
oder in der Gegend um Ramstein in reich, westlich ausgerichtet und stehen
Rheinland-Pfalz. Im Gespräch mit dem für einen säkularen Staat.“
SPIEGEL und dem ARD-Magazin „Re- In der Türkei schüren Politiker und
port Mainz“ suchen sie jetzt erstmals Medien offen Stimmung gegen die Nato
die Öffentlichkeit*. Sie wollen klarstel- und die türkischen Offiziere, Karasu
len, dass sie mit dem Putsch nichts zu glaubt, dass Erdoğan und seine Anhän-
tun haben und dennoch nicht zurück in ger die Bürger auf einen Abschied ihres
ihre Heimat können. „Es geht um unse- Landes aus dem Militärbündnis vorbe-
re Reputation“, sagt Karasu. Er will sei- reiten wollen. In einem Bericht, der in-
ne Ehre verteidigen. zwischen auch das Landeskriminalamt
Die Bedingungen für die Gespräche in Rheinland-Pfalz beschäftigt, be-
sind Gegenstand langer Verhandlungen: schreibt ein türkischer Reporter des
Karasu und sein Kollege wollen ihre Fernsehmagazins „Yaz Boz“ den Nato-
echten Namen nicht nennen und ihr Ge- Stützpunkt in Ramstein als sicheren Ha-
sicht bei den Film- und Fotoaufnahmen fen für „Terroristen“ und sagt, ohne je-
nicht zeigen. Die Verabredungen finden den Beleg: „In jener Nacht haben sie
in Cafés statt und im Funkhaus. Die hier den Putschversuch gesteuert.“ Die
Soldaten fürchten sich vor Attacken der Kamera zieht an faden Doppelhaushälf-
Anhänger Erdoğans – nicht ohne ten im benachbarten Weiler Macken-
Geschasste Nato-Soldaten bach vorbei, im türkischen Fernsehen
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Deutschland
SPIEGEL: Herr Minister, der Attentäter von umfassend und würde das auch im Fall mehr als 500 Gefährder in Deutschland
Berlin war mit mindestens neun Identitäten eines Untersuchungsausschusses tun. Aber liegt nach unserem Recht bei den Ländern,
in Deutschland unterwegs und dealte mit meinem Verständnis von Verantwortung nicht beim Bundeskriminalamt. Ich bin der
Drogen. Er hatte Kontakte zu Islamisten, als Bundesinnenminister entspricht es Auffassung, dass wir hier in Zukunft ins-
er prahlte damit, einen Anschlag verüben nicht, dass wir uns nun gegenseitig den gesamt mehr Verbindlichkeit brauchen.
zu wollen. All das geschah unter den Augen Schwarzen Peter zuschieben. Wir haben SPIEGEL: Es gibt im GTAZ ein Strukturpro-
der Sicherheitsbehörden. Können Sie ver- es hier mit einer gemeinsam geteilten blem: Verfassungsschutz und Polizei haben
stehen, dass ein normaler Bürger sagt: Wenn Verantwortung zu tun. Und da sollte jeder unterschiedliche Herangehensweisen im
einer wie Anis Amri durchs Netz schlüpft, seine Hausaufgaben erledigen. Umgang mit Gefährdern. Die einen wollen
dann kann jeder durchs Netz schlüpfen? SPIEGEL: Nach der Silvesternacht 2015, als diese beobachten, die anderen wollen sie
De Maizière: Selbstverständlich kann ich in Köln Nordafrikaner massenhaft Frauen schnell aus dem Verkehr ziehen.
diese absolut berechtigten Fragen der begrapschten, dauerte es nur eine Woche, De Maizière: Das ist kein Problem, sondern
Bürger sehr gut verstehen. Aber man muss bis der Polizeipräsident seinen Job los war. absolut sinnvoll. Natürlich haben Verfas-
dazu Folgendes wissen: Die wesentlichen Die Begründung: Das Vertrauen der Öf- sungsschutzbehörden die Tendenz, eher
Hinweise auf Anis Amri kamen von einer fentlichkeit müsse wiederhergestellt wer- länger zu beobachten, während die Polizei
Vertrauensperson der nordrhein-westfäli- den. Haben Sie seit dem Anschlag in Ber- möglichst früh zugreifen will. Beides aus
schen Polizei aus der Islamistenszene. Die lin schon mal über Rücktritt nachgedacht, guten Gründen. Je länger ich beobachten
Sicherheitsbehörden fanden für diese In- um das Vertrauen wiederherzustellen? kann, umso mehr kann ich Netzwerke auf-
formationen, obwohl sie erheblichen Auf- De Maizière: Wann ich über politische Ver- klären. Je früher ich zugreife, umso eher
wand betrieben, keine Beweise. Das heißt, antwortung nachdenke, das überlassen Sie verhindere ich eine Tat. Aber ein zu früher
für die Prognose der Gefährlichkeit gab es mal mir. Es gibt in den Medien immer ein Zugriff kann es auch erschweren, Straf-
zwar Hinweise, aber eben keine belastba- Bedürfnis, einen Schuldigen zu präsentieren. taten zu beweisen. Es ist ein ungeheurer
ren Fakten. Das machte es schwer, ihn we- Aber das ist mir zu bequem, und es dient Vorteil, dass diese beiden Blickpunkte im
gen Terrorgefahr festzunehmen. Aber es GTAZ aufeinandertreffen und man dann
lagen zu einem späteren Zeitpunkt durch-
aus genügend sonstige Anhaltspunkte da-
„Die Fußfessel für zu einer gemeinsamen Gefahreneinschät-
zung kommt. Die allerdings ist – und das
für vor, ihn in Abschiebehaft zu nehmen. Gefährder ist kein All- ist das Problem – nicht verbindlich. Das
SPIEGEL: Wer hätte das tun müssen?
De Maizière: Das für den Vollzug des Aus-
heilmittel, klar. Aber zuständige Bundesland kann daraus ma-
chen, was es für richtig hält.
länderrechts zuständige Land. sie kann eine Hilfe sein.“ SPIEGEL: Deswegen wollen Sie die Länder
SPIEGEL: Also Nordrhein-Westfalen. Der nun entmachten?
dortige SPD-Innenminister Ralf Jäger hat auch nicht der Sicherheit Deutschlands. Die De Maizière: Nein. Es geht bei meinen Vor-
gesagt, die Behörden seien im Fall Amri Bevölkerung erwartet, dass wir alles Men- schlägen überhaupt nicht darum, irgend-
an die Grenzen des Rechtsstaats gegangen. schenmögliche tun, um zu verhindern, dass jemanden zu entmachten. Aber wir brau-
Diese Auffassung teilen Sie nicht? sich solch ein Anschlag wiederholt. Und da chen verbindliche und möglichst einheit-
De Maizière: Im Oktober 2016 hat Tunesien stehen wir alle gemeinsam in der Verant- liche Regeln darüber, wie intensiv jemand
einem Verbindungsbeamten des BKA mit- wortung. Und das schafft Vertrauen. überwacht wird, den die Behörden als Ge-
geteilt, dass Amri sein Staatsbürger ist. SPIEGEL: Im Gemeinsamen Terrorabwehr- fährder erkannt haben. Es kann nicht sein,
Spätestens da hätte auf Basis des geltenden zentrum GTAZ in Berlin sitzen alle wich- dass das eine Bundesland einen bestimm-
Rechts ein Antrag auf Abschiebehaft gute tigen Sicherheitsbehörden an einem Tisch. ten Gefährder rund um die Uhr observiert
Erfolgsaussichten gehabt. Aber es geht mir Der Fall Amri war dort rund ein Dutzend und ein anderes bei derselben oder einer
nicht um einen Blick in die Vergangenheit Mal Thema. Warum hat niemand entschie- vergleichbar gefährlichen Person nur das
und um Schuldzuweisungen. Es geht mir den, ihn aus dem Verkehr zu ziehen? Telefon überwacht. Es darf hier keine Zo-
als Erstes darum, den Sachverhalt um- De Maizière: Das Gemeinsame Terrorab- nen unterschiedlicher Sicherheit geben.
fassend aufzuklären. Dazu haben der Jus- wehrzentrum ist eine sehr wichtige Ein- SPIEGEL: Lag der Fall Amri vor dem An-
tizminister und ich eine Chronologie des richtung. Dort wurde etwas geschaffen, schlag mal bei Ihnen auf dem Schreibtisch?
Behördenhandelns unter Beteiligung der was es vorher nicht gab: Die Informatio- De Maizière: Nein. Das ist auch richtig so.
betroffenen Länder veröffentlicht. Mehr nen von 40 Behörden werden ausgetauscht, Der Innenminister ist nicht der beste Poli-
Transparenz geht wohl kaum. Und dann auch zwischen Polizei und Nachrichten- zist des Landes.
geht es darum, die richtigen Konsequenzen diensten. Aber bei der Gründung 2004 ist SPIEGEL: Es gibt aber doch den Paragrafen
für die Zukunft zu ziehen. peinlich darauf geachtet worden, dass es 58a im Aufenthaltsgesetz: Der gibt dem
SPIEGEL: Zur Demokratie gehört es auch, bei den bisherigen Zuständigkeiten bleibt. Innenminister in besonderen Fällen die
dass nach Pannen die Frage gestellt wird, Die Vorstellung, dass da einer zur Gefah- Möglichkeit, direkt eine Abschiebung an-
wer die politische Verantwortung trägt. renabwehr durchgreifen und eine Entschei- zuordnen. Dazu müssten Sie von diesen
De Maizière: Es gehört zur Aufgabe der Me- dung mit Wirkung für alle treffen kann, Fällen aber auch erfahren.
dien, diese Frage zu stellen. Ich sehe auch entspricht nicht der gegenwärtigen föde- De Maizière: Dieser Paragraf ist bisher so
mit Respekt, dass der Deutsche Bundestag ralen Sicherheitsarchitektur unseres Lan- gut wie nie angewendet worden. Deswe-
die Aufarbeitung vorantreibt, und selbst- des und daher auch nicht der Konstruktion gen senken der Justizminister und ich mit
verständlich unterstütze ich diese Arbeit des GTAZ. Die Verantwortung für die unserem Vorschlag nun die Hürden für die
32 DER SPIEGEL 5 / 2017
Abschiebehaft, auch wenn keine terroris-
tische Gefahr vorliegt.
SPIEGEL: Wieso hat man es denn im Fall
von Amri nicht einfach mal probiert, den
Paragrafen 58a anzuwenden?
De Maizière: Weil die nachweisbaren Tatsa-
chen dafür nicht ausgereicht haben. Wenn
Sie jemanden ein halbes Jahr überwachen,
aber nicht nachweisen können, dass er sich
wirklich Waffen besorgt und einen An-
schlag vorbereitet, dann ist das kein Fall
für den Paragrafen 58a. Aber nochmals: Es
hätte wohl andere Möglichkeiten gegeben.
SPIEGEL: Überwachung ist in diesem Fall
ein großes Wort. Tatsächlich haben ihn die
Behörden nur lückenhaft observiert.
De Maizière: Deswegen müssen wir die
Überwachungsmaßnahmen anders regeln
als bislang. Und zwar für alle verbindlich
im Bund und in den Ländern.
SPIEGEL: Wo wollen Sie das ganze Personal
hernehmen?
De Maizière: Zunächst mal haben wir in
dieser Legislaturperiode die Sicherheitsbe-
hörden im Bund in einem Maße personell
verstärkt wie nie zuvor. Mein Kabinetts-
kollege Heiko Maas und ich haben außer-
dem vorgeschlagen, dass Gefährdern leich-
ter eine Fußfessel angelegt werden kann.
Die Fußfessel ist kein Allheilmittel, klar.
Aber wenn einer dadurch, dass er ständig
den Wohnort wechselt, von der Bildfläche
zu verschwinden droht, dann ist die Fuß-
fessel eine Hilfe. Dann lassen sich auch
schneller Fahndungsmaßnahmen gegen
solche gefährlichen Menschen einleiten.
SPIEGEL: Im Terrorabwehrzentrum sind die
Beamten zu dem Ergebnis gekommen,
dass Amri wahrscheinlich keinen Anschlag
plane. War das der entscheidende Fehler?
De Maizière: Pathologen sind immer die
besten Ärzte, weil sie hinterher genau wis-
sen, was geschehen ist. Versetzen Sie sich
doch mal in die Lage derer, die Gefahren
prognostizieren sollen. Hier hatten sie ei-
nerseits belastende Aussagen von einem
Hinweisgeber und andererseits Ergebnisse
der Überwachung, die keinen Beleg für
diese Aussagen erbracht haben.
SPIEGEL: Aber Amri hatte ja offenkundig
Kontakte zu einschlägigen Salafisten.
De Maizière: Was meinen Sie, wie viele Leu-
te Kontakt zu Salafisten haben? Wir haben
rund 9000 Salafisten in Deutschland.
SPIEGEL: Sind die alle gefährlich?
De Maizière: Fast alle radikalen Islamisten
in Deutschland kommen aus dem Kreis
der Salafisten. Aber niemand kann ernst-
HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL
nis gekommen sind. Sie müssen in jedem SPIEGEL: In einem Forderungskatalog für
Einzelfall rechtsstaatlich sauber und behut- einen „starken Staat in schwierigen Zei-
sam vorgehen: Verhaften Sie jemanden, der ten“ verlangen Sie eine Zentralisierung
gar nichts Böses im Schilde führt, radika- der Sicherheitsbehörden. Wie wollen
lisiert er sich dann womöglich wegen der Sie die Länder überzeugen, auf ihre ei-
Verhaftung? Oder Sie setzen jemanden fest, genen Verfassungsschutzämter zu ver-
der dann alle Kontakte zu seinem Netzwerk zichten?
abbricht, sodass Sie ihn nicht mehr beob- De Maizière: Ich glaube, dass wir aus
achten können. Vorsicht bitte bei leichtfer- Fehlern lernen sollten. Und der Fall Amri
tigen Bewertungen im Nachhinein. hat gezeigt, dass wir den Aufbau unserer
SPIEGEL: Sie waren immer der Ansicht, Sicherheitsbehörden ändern müssen. Auch
Angela Merkels Flüchtlingspolitik im Jahr der jetzt vorliegende Untersuchungsbe-
2015 habe die Terrorgefahr nicht erhöht. richt im Fall Jaber Albakr enthält genug
Bleiben Sie dabei? Material, um diese These zu stützen.
De Maizière: Ja. Wir hatten vorher eine Ter- SPIEGEL: Es war immer auch Aufgabe des
rorgefahr, wir haben jetzt eine Terrorge- Innenministers, den rechten demokrati-
fahr und werden sie in Zukunft haben. Wir schen Rand an die Union zu binden. Ma-
haben zwar auch unter den Flüchtlingen chen Sie es sich zum Vorwurf, dass die
terroristische Gefährder, die eingeschleust AfD so stark geworden ist?
worden sind, aber Anis Amri gehörte nicht
dazu. Er ist vor dem Herbst 2015 eingereist.
Zu glauben, dass die terroristische Gefahr
beseitigt wäre, wenn wir keine Flüchtlinge
hätten, ist naiv. Nur ein Beispiel: Von den
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THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL
Politikwissenschaftler Butterwegge: Als wäre er nicht mehr er selbst
83 Tage
Karrieren Der Armutsforscher Christoph Butterwegge ist der Kandidat der Linken für das Amt
des Bundespräsidenten. Die Kandidatur ist sein letztes Aufbäumen gegen die SPD.
B
eim Jahresauftakt der Europäischen Bundestag, dass er morgens auf dem Klo fand er die Kopie eines Briefs, den er 1999
Linken sitzt Christoph Butterwegge gern Kreuzworträtsel löse, da habe er dann an „Bundeskanzler Gerhard Schröder –
ratlos in der zweiten Reihe. Eine spa- gleich „zwei Erfolgserlebnisse“. Aus So- persönlich –“ geschickt hatte. Da steht:
nische Kommunistin zitiert auf der Bühne dann, dem etwas exzentrischen „Tatort“- „Du hast mir im Juli – wie allen SPD-Mit-
im Berliner „Kosmos“ Che Guevara, ein Kommissar, wurde eine verspottete Figur. gliedern – einen Brief mit der Bitte ge-
kurdischer Liedermacher singt Protestlie- Mit Christoph Butterwegge will die Partei schrieben, die Regierungspolitik zu unter-
der, ein Kabarettist tritt als Joachim Gauck auf Nummer sicher gehen. Er ist emeritier- stützen. Leider sehe ich mich dazu derzeit
auf, der sich in Adolf Hitler verwandelt. ter Professor und der bekannteste Armuts- außerstande.“ Butterwegge war 1987 in
Als Butterwegge die Bühne betritt, be- forscher Deutschlands. Die 83 Tage bis zur die SPD eingetreten und trat wegen
grüßt ihn der Moderator als den „nächsten Präsidentenwahl will er nutzen, um für sei- Schröder, der der „Genosse der Bosse“
Bundespräsidenten“. Der Saal lacht, als ne Themen zu werben. Er wisse schon, dass wurde, 2005 wieder aus.
sei das der größte Gag des Nachmittags. danach seine Zeit als seriöser Armutsfor- Aber das ist nur ein Teil der Geschichte.
Butterwegge sagt dann ein paar Worte, die scher vorbei sei, sagt Butterwegge. Dass er Butterwegge war schon einmal SPD-Mit-
seltsam ernst klingen, er spricht von der für immer der Kandidat der Linken bleiben glied. In den Siebzigern wurde er aus der
Spaltung der Gesellschaft. Später wird er werde, eine etwas merkwürdige Gestalt. Partei geworfen, weil er zu links war. Er
sagen, er habe sich dort schon ein bisschen Warum macht er es dann? hat danach ein Buch geschrieben: „Partei-
fremd gefühlt, aber was soll’s. Das gehe Der Buchhändlerkeller in Berlin. But- ordnungsverfahren in der SPD“. Auf dem
ihm gerade häufiger so. terwegge soll gleich das Buch „Kein Wohl- Cover war eine Pistole abgebildet, die auf
Christoph Butterwegge ist der Bundes- stand für alle!?“ vorstellen. Drei Viertel einen Kopf zielt. Ein Mord.
präsidentenkandidat der Linken. Er ist der der 83 Tage sind vorbei, in drei Wochen In einem schwäbischen Restaurant in
Gegner Frank-Walter Steinmeiers, des wird gewählt. Der Raum ist voll mit Men- Köln erzählt Christoph Butterwegge vom
Kandidaten, den fast alle anderen unter- schen, die mit kleiner Schrift beinah jedes Leben nach dem politischen Tod mit 24
stützen wollen: CDU, CSU, SPD, die Mehr- Wort mitschreiben. Sie nicken, wenn But- Jahren. Er wirkt nicht wie ein Mann, der
heit der Grünen und die FDP. Butterwegge terwegge sagt: „Die Reichen werden im- gern übertreibt, er benutzt oft das Wort
ist der Mann, der für die Linke zeigen soll: mer reicher, und die Armen immer zahl- vielleicht. Wenn er gar nichts sagen will,
Wir machen eure Einheitssoße nicht mit. reicher.“ Butterwegge präsentiert ihnen sagt er: „Das weiß ich nicht.“
Den Kandidaten der vergangenen Jahre auch einen Schuldigen: „Die SPD hat mit Eines weiß Butterwegge aber ganz ge-
hat es wenig Glück gebracht, für die Linke ihrer Agenda massiv den Umbau und Ab- nau: Das Jahr 1975 hat über sein Leben
anzutreten. Die Journalistin Beate Klars- bau des Sozialstaates vorangetrieben.“ entschieden. Alles wäre anders gekommen,
feld wurde zur „Stasikandidatin“. Der Vor zwei Jahren starb Butterwegges wenn ihn die SPD damals nicht ausge-
Schauspieler Peter Sodann scherzte im Mutter. Als er ihren Keller aufräumte, schlossen hätte. Butterwegge sagt, andere
36 DER SPIEGEL 5 / 2017
Deutschland
hätten ihm gesagt, er sei damals eines der Manches von dem, was er jetzt über sich Antwort. Wie viele Politiker gehört er
größten Talente der SPD gewesen. Er wäre lesen müsse, sei auch ein bisschen ernüch- nicht mehr nur sich selbst.
mit Ende zwanzig wohl in den Bundestag ternd, sagt Butterwegge. Neulich stellte er Die Linke hat Autogrammkarten für ihn
gekommen. Er hätte eine Karriere als sich bei den Grünen vor. Danach stand in drucken lassen. Man sieht ihn, wie er sich
Politiker gemacht. „Mein Leben wäre viel- der Zeitung, dass Butterwegge wenig Über- lachend an einen Baum lehnt. Er gefällt
leicht analog zu dem von Schröder und raschendes gesagt habe. sich auf dem Bild, aber es kommt ihm be-
anderen SPD-Funktionären verlaufen“, Überraschendes? Was soll er denn Über- arbeitet vor. Als wäre er darauf nicht mehr
sagt Butterwegge. raschendes sagen? Warum soll er über- er selbst.
Sein Leben verlief dann so: Er wurde Po- haupt etwas anderes sagen als das, was er Butterwegge sagt, vielleicht habe Schrö-
litikwissenschaftler, sein Spezialgebiet die schon immer geglaubt und gesagt hat? Soll der es auch schwer gehabt. Er sagt: „Wenn
Armut. Er wurde zu jemandem, der bei je- er sich jetzt widersprechen? Sich neu er- man immer in der Öffentlichkeit steht,
der Gelegenheit sagt, was Hartz IV Deutsch- finden? Reicht es nicht zu sein, wer er ist? wenn alle was von einem wollen, wenn
land angetan hat. Zu jemandem, der Politik Man muss sich oft ein bisschen vorbeu- man irgendwann mit Dirk Rossmann per-
kommentiert, statt sie zu machen. gen, wenn man sich mit Christoph Butter- sönlich Tennis und mit anderen Groß-
„Wollen Sie sich mit der Kandidatur ge- wegge unterhält. Er spricht sehr leise. unternehmern Golf spielt, ändern sich
gen einen SPD-Kandidaten auch ein biss- leicht auch die Grundüberzeugungen.“
chen rächen?“
„Das liegt mir fern.“
Butterwegge musste Ihm dämmert, dass sein Leben ohne die
Macht auch einen Vorteil hatte. Er musste
Butterwegge hat nun eine Gegen-Agen- sich nie mit Industrie- sich nie mit Industriebossen treffen und ei-
da angekündigt, eine „Agenda der Solida-
rität“. Er spricht im Bundestag und vor
bossen treffen. Er durfte nem Koalitionspartner gefallen. Er durfte
seine Ideale behalten.
Gewerkschaftern, er reist durch ganz seine Ideale behalten. „Meine achtjährige Tochter hat mich ge-
Deutschland. Er habe jetzt einen Termin- fragt, ob sie bald Prinzessin im Schloss
kalender wie ein Spitzenpolitiker, sagt But- „Sind Sie froh, wenn die 83 Tage vorbei Bellevue wird.“
terwegge. Er testet ein bisschen aus, wie sind?“ „Und?“
dieses andere Leben gewesen wäre, das „Ein wenig schon.“ „Ich sagte, dass im Gegenteil bald wahr-
im Rampenlicht. Seinen Terminplan be- Er ist jetzt 66 Jahre alt. Er schreibt keine scheinlich alles wieder beim Alten sein
stimmt die Partei, die diesmal alles richtig SMS und benutzt keine EC-Karte, Geld wird.“
machen will und zu fast jedem noch so hebt er nur am Schalter ab, damit die NSA Er wird am Ende seiner 83 Tage nach
kleinen Anlass sicherheitshalber einen nicht seine Daten bekommt. Er sagt, das Berlin fahren, noch ein paar Veranstal-
Pressesprecher mitschickt. Butterwegge alles sei sehr anstrengend. Er renne von tungen besuchen, sich vorbereiten. Alles
hat einen „Google-Alert“, der ihn immer Termin zu Termin und wisse vorher meist Formelle, sagt er, finde er grauenvoll, das
benachrichtigt, wenn irgendwo sein Name gar nicht, worum es geht. Soll er einen Steife, das Förmliche. Das würde er gleich
auftaucht. Vortrag halten? Hände schütteln? Wer soll ändern, wenn er Bundespräsident wäre.
„Christoph Butterwegge sprach über er sein? Immer ein anderer? Er sagt, er be- Man fühle sich einfach nicht wie man
Reichtum und Armut“, „Westfälische komme Briefe, manche bitten ihn, ihr An- selbst, in so einem Aufzug.
Rundschau“. liegen doch bei Frau Merkel vorzutragen. Er wird am 12. Februar im Deutschen
„Ich will die Armut skandalisieren“, Mit Frau Merkel habe er allerdings noch Bundestag dennoch einen dunkelblauen
„Weser-Kurier“. nie gesprochen. Auch nicht mit Steinmeier. Anzug tragen, einfach, weil es sich so ge-
„Butterwegge: ,Reiche werden reicher, Er würde den Leuten gern antworten. hört. Eine Rede hat er nicht vorbereitet.
Arme zahlreicher‘“, „Hamburger Abend- Nur was? Wie viele Politiker hat auch Warum auch?
blatt“. Christoph Butterwegge nicht auf alles eine Britta Stuff, Wolf Wiedmann-Schmidt
UNERKANNTE HELDINNEN
W
enn dies ein amerikanischer ter rückte er an die Spitze des WAZ-Zei- ein Gutachter, dass der Bauherren-Exzess
Spielfilm wäre, würde die Kame- tungsverlags, wurde Berater der Familie mehr als 1,6 Millionen Mark verschlungen
ra jetzt langsam durch eine viel Brost, und dann: Vorstandsmitglied ihrer hatte.
zu stille Straße auf das Haus zufahren. Stiftung. Hat Hombach, 64, also sein altes „Ich war blank“, gestand Hombach.
Dazu dramatische Musik, dunkle Wolken Haus für die Stiftung zurückgeholt? Gab Umso prekärer wurde seine Lage, als Zeu-
und hinter einem der Fenster eine uner- es kein anderes, das sie hätte kaufen kön- gen behaupteten, er habe sich von der
klärliche Bewegung, damit auch dem Letz- nen, etwa in Essen, wo die Stiftung sitzt? Veba-Immobilien AG, einem der großen
ten klar wird: Auf diesem Haus liegt ein Und was hat das noch mit den „ausschließ- Wohnungsbauunternehmen in Nordrhein-
Fluch. lich und unmittelbar mildtätigen und ge- Westfalen, in der Not unerlaubt helfen las-
Das ist natürlich ziemlicher Unsinn. Bei meinnützigen Zwecken“ zu tun, zu denen sen. Die Veba hatte die Bauleitung über-
der Hermann-Lickfeld-Straße handelt es sich die Brost-Stiftung in der Satzung ver- nommen, Veba-Manager behaupteten,
sich um eine Spielstraße, deshalb ist es da pflichtet hat? dass es dabei nicht geblieben sei: Kosten
immer recht still. Es gibt keine dramatische Die Hermann-Lickfeld-Straße liegt im auf der Baustelle des SPD-Promis Hom-
Musik, gerade auch keine dunklen Wolken, Stadtteil Broich, einem begehrten Wohn- bach habe der Konzern in anderen Projek-
und die Bewegung hinter dem Fenster viertel von Mülheim. Doppelhäuser aus ten versteckt und abgerechnet.
kommt von Handwerkern, die hier reno- den Achtzigerjahren reihen sich aneinan- Hombach hat das immer bestritten; recht-
vieren. der. Auch das Haus mit den Nummern 6 lich wäre die Sache auch verjährt gewesen,
Das Einzige, was stimmt, ist also die Sa- und 8 ist ein Doppelhaus. Aber was für ei- als die Vorwürfe mehr als zehn Jahre nach
che mit dem Fluch. nes. Links ein zweistöckiger Schuhkarton dem Einzug aufkamen. Politisch aber wa-
Der Mann, der die Doppelhaushälfte mit Satteldach, so wie die meisten Häuser ren sie verhängnisvoll. Hombach, erfolgrei-
einst gebaut hat, kam deshalb ins Strau- hier. Und rechts ein Gebirge aus rotem cher Wahlkampfmanager von Gerhard
cheln und gab kurz danach als Kanzler- Backstein, mehr als 80 Fenstern, einem Schröder und auch ein „Frog“, ein „Friend
amtsminister auf. Der Unternehmer, der voll verkupferten Spitzturm, drei Wohnun- of Gerd“, hatte sich nach dem Wahlsieg
sie kaufte, ging mit seiner Firma pleite und gen mit insgesamt 296 Quadratmetern. von Rot-Grün gerade erst im Kanzleramt
kassierte mehr als fünf Jahre Haft. Und Mehr Ambition lässt sich auf gut 400 Qua- eingerichtet. Nun wurde der Druck auf ihn
jetzt gehört das Haus einer Stiftung, ge- dratmeter Bauland kaum unterbringen. zu groß: weil der linke Parteiflügel ihn nicht
nauer gesagt, deren Immobilientochter, Das war der Wohntraum des Bodo Hom- ausstehen konnte, aber auch wegen der
und schon wieder geht der Ärger los. Denn bach, der zum Albtraum wurde. Als der Hausaffäre.
die Frage drängt sich auf: Warum hat die gelernte Fernmeldehandwerker und Sozial- 1999 wechselte er nach Brüssel, als EU-
Stiftung der Familie Brost – Ex-Miteigen- arbeiter das Haus 1986 hochzog, waren sei- Koordinator für den Balkan. Vorher wollte
tümerin der WAZ-Gruppe – ausgerechnet ne Ambitionen deutlich größer als sein er noch seinen Problembau und damit sei-
das alte Haus von Bodo Hombach in Mül- Einkommen als Landesgeschäftsführer der ne Schulden loswerden. Er suchte einen
heim an der Ruhr gekauft? SPD. Mit jeder neuen Idee wurde das Haus Käufer, dem das Haus wenigstens so viel
1999 hatten Zeugen behauptet, Hom- teurer. Eine maßgeschneiderte Bibliothek, wert war, wie Hombach bei Banken dafür
bach habe den Bau teilweise illegal finan- Marmor in der Wohnhalle, das kostete. aufgenommen hatte. Und er fand ihn auch,
ziert. Die Affäre beschleunigte den Ab- Mit 1,2 Millionen Mark verschuldete sich einen Mann aus Niedersachsen, dem
gang des einstigen SPD-Überfliegers. Spä- das Ehepaar Hombach; später ermittelte Stammland der Frogs.
Dorthin hatte Hombach selbst von 1991 Anfang 2014 war die Firma tatsächlich
bis 1998 sein Netzwerk geknüpft: als Ge- pleite. Der Insolvenzverwalter Dirk Ham-
schäftsführer der Preussag Handel. Die hat- mes aus Duisburg stellte nicht einfach nur
te eine Tochterfirma in Düsseldorf und an die Zahlungsunfähigkeit fest, verbunden
deren Spitze einen Geschäftsführer, der mit einem Schaden, den er für die Gläubi-
gericht Duisburg den Prozess. D. geriet da- walter Torsten Gutmann, der die Privat- noch 475 000 Euro? Zwar ist die Architek-
rin mehr und mehr in die Bredouille; auch pleite von D. auf den Tisch bekommen hat- tur gewöhnungsbedürftig, aber Broich ge-
seine Kontakte ins Rockermilieu und zu te. Ein Anwalt aus? Hannover. hört zu den besseren Vierteln in Mülheim
Hanebuth, dem früheren Hells-Angels- Einen Monat später gründete die Stif- an der Ruhr.
Chef von Hannover, standen in der Ermitt- tung eine Immobilientochter, die Brost Im- Hatte Hombach 1986 noch 250 Mark für
lungsakte. mobilien Verwaltungs GmbH II. Die wie- den Quadratmeter Grund bezahlt, beträgt
Demnach gab es einen „Beratervertrag“, derum rief – zusammen mit der Mutter – der Bodenrichtwert für das Flurstück heute
abgeschlossen zwischen Hanebuth und ei- im November die Brost-Immobiliengesell- 340 Euro, fast dreimal so hoch. Doppel-
ner Firma der Familie D. Der Rocker soll schaft Ruhr mbH & Co. KG II ins Leben. haushälften kalkulieren Makler hier mit
selbst dann noch Geld kassiert haben, als Die Firma sitzt bei der Stiftung an der Es- 400 000 bis 500 000 Euro, allerdings die nor-
er in Spanien in Haft saß. In Hemmingen sener Huyssenallee. Und diese Brost-Im- malen, nicht eine mit 296 Quadratmeter
bei Hannover sollen die Namen D. und mobiliengesellschaft Ruhr II kaufte dem Wohnfläche. Dass die Preise in den ver-
Hanebuth auf Klingelschildern desselben gangenen Jahren in dieser Straße gefallen
Mehrfamilienhauses gestanden haben.
Im August 2016 hatte sich das Gericht
Weder kam das Haus auf wären, noch dazu so drastisch, kann etwa
Stefan D’heur vom Maklerbüro von Poll
ein Urteil gebildet: Hans-Joachim D. kas- den Markt, noch gab auf Anfrage nicht bestätigen.
sierte wegen Betrugs eine Haftstrafe von
fünf Jahren und zwei Monaten. Die Ent-
es ein Gutachten eines Auch undurchsichtig: Die Rolle des In-
solvenzverwalters aus Hannover. Der An-
scheidung ist noch nicht rechtskräftig; D. Sachverständigen. walt hatte die hastig an die Frau übertra-
bestreitet alle Vorwürfe. gene Immobilie in Mülheim zurückgeholt,
Bevor es aber zu diesem Prozess kam, Insolvenzverwalter aus Hannover am 22. um sie zu verwerten; so weit, so gut. Doch
hatte sich im Juni 2015 bei der Brost-Stif- Februar 2016 das Haus in Mühlheim ab. er machte sich kaum Mühe, beim Verkauf
tung Bemerkenswertes getan: Der Vor- Beurkundet bei Notar Fromberg, Hanno- einen möglichst hohen Preis für die Gläu-
stand mit Hombach beschloss, das Haus ver. Wo sonst? biger herauszuschlagen, wie es seine
von D. in Mülheim zu kaufen. Wie man Das gibt nun einige Rätsel auf: Der Preis Pflicht gewesen wäre. Weder kam das
darauf kam? betrug nur 475 000 Euro, ein Schnäppchen. Haus auf den Markt, um mehr Angebote
Der Insolvenzverwalter habe es der Stif- Hombach hatte nach eigenen Angaben hereinzuholen, noch gab es ein Wertgut-
tung eben angeboten. Zum Festpreis. Das mehr als 850 000 Euro in das Haus gesteckt. achten eines Sachverständigen. Mit Hans-
aber war nicht jener Hammes, der die Fir- Als er 1999 verkaufte, kassierte er immer- Joachim D. sprach er auch nicht – der saß
ma abwickelte, sondern der Insolvenzver- hin mehr als 700 000. Warum jetzt nur in Untersuchungshaft. Mit einem soge-
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s gibt diesen einen Moment, in dem staatswidrig“ gewesen, steht in den Voten,
die Politiker im sächsischen Wahl- die er dem Ausschuss übermittelt hat.
prüfungsausschuss zum ersten Mal Dabei ging es im Landesverband von
begreifen, dass die Fehler der AfD auch AfD-Chefin Frauke Petry alles andere als
ihre Zukunft bedrohen. Dass ihre Mandate holprig zu, sondern äußerst geschmeidig:
auf dem Spiel stehen. Es ist der 20. April Ohne große Diskussion beschloss der AfD-
2015, die Abgeordneten treffen sich in Vorstand in einer nächtlichen Sitzung im
Raum A300 des Sächsischen Landtags. Ihre Juni 2014, dass Samtleben kein Landtags-
Aufgabe ist es, Bürgerbeschwerden gegen kandidat mehr sein sollte, obwohl ihn ein
die Wahl vom August 2014 zu untersuchen. AfD-Parteitag gewählt hatte (SPIEGEL
Viele Fragen lassen sich leicht klären. 42/2016). Der Mann war Petry und ihren
Etwa die, ob zulässig ist, auf Wahlzetteln Mitstreitern zu oft durch Alleingänge und
als Beruf der Kandidaten „Landtagsabge- Widerworte auf die Nerven gefallen. Au-
ordneter“ anzugeben. Oder ob in jedem ßerdem hatte Samtleben sich geweigert,
Wahllokal Schablonen für blinde Wähler der AfD einen Kredit zu geben, den alle
ausliegen müssen. Aber dann meldet sich Kandidaten leisten sollten.
der CDU-Mann Christian Piwarz unter Ta- Die gesetzlich vorgeschriebenen Ver-
gesordnungspunkt drei zum Fall der AfD trauensleute der Partei, zuständig für das
zu Wort. Deren Führung ließ vor der Wahl Einreichen der Wahlliste, tilgten Samtle-
einen missliebigen Kandidaten von ihrer bens Namen umgehend. Die Landeswahl-
Liste streichen. Jetzt wehrt sich der Mann. leiterin erklärte dies für zulässig, sodass
Wäre die AfD-Liste ungültig, könnte die die AfD-Liste – gegen den Protest Samtle-
ganze Wahl ungültig sein. bens – reibungslos zugelassen wurde.
Laut Protokoll warnt Berichterstatter Pi- Als den Abgeordneten im Wahlprü-
warz seine Kollegen vor einem langen Ver- fungsausschuss im April 2015 dämmert, AfD-Chefin Petry: Der Mandatsträger als Marionette
fahren. Der Ausschuss werde wohl „nicht dass hier ein Problem auf sie zurollt, ma-
die letzte Instanz sein“. Und es gehe um chen sie erst mal Pause: Fast zwei Monate das Laub, es wird Herbst. Berichterstatter
viel mehr als nur diesen AfD-Mann: So vergehen bis zur nächsten Sitzung Anfang Piwarz hält einen langen Vortrag: Eigent-
wie Piwarz den Antrag liest, „müsste jeder Juni. Dann diskutiert man erstmals die Fra- lich sei „seine bisherige Rechtsauffassung“
Abgeordnete des Sächsischen Landtags be- ge, ob die AfD-Vertreterin in der Runde, voll bestätigt – das Verhalten der AfD sei
troffen sein“. Denn Arvid Samtleben, den Kirsten Muster, befangen sein könnte. Die wohl rechtmäßig und die Wahlbeschwer-
die Rechtspartei gestrichen hat, pocht nicht Abgeordnete ist Gattin von Michael Mus- den müssten abgewiesen werden.
etwa nur auf einen Sitz im Landtag – er ter, einem jener AfD-Vertrauensmänner, Andererseits gebe es da ja noch die Sa-
will Neuwahlen in Sachsen. Sogleich wie- die Samtleben von der Liste strichen. che mit dem Kredit. Sollte Samtlebens
gelt die Kollegin der Grünen ab: Eine Deshalb liegt ein Befangenheitsantrag ge- Name getilgt worden sein, weil er nicht
„Neuwahl“ sei doch wohl nur nötig, wenn gen Muster vor, die aber zu Protokoll gibt, zahlen wollte, wäre das „ein erheblicher
der Fehler der AfD „nicht heilbar“ wäre. „dass sie nicht befangen ist“. Die große Punkt“. Und wenn die AfD-Parteifreunde
Sogar im kühlen Juristendeutsch der Mehrheit ihrer Kollegen findet ebenfalls, ohne diesen Grund gehandelt hätten, so
Protokolle klingt die Nervosität der Abge- dass solche Bedenken für Richter gelten, Piwarz, sei es noch schlimmer: Dann wäre
ordneten durch. Sie wissen, dass von ihrer aber nicht für Abgeordnete. Der Antrag fällt die Streichung wohl „willkürlich erfolgt“.
Entscheidung der Bestand des Landtags durch. So ist gut möglich, dass Michael Mus- Die Lage ist also verworren.
abhängt, die Karriere vieler Parteifreunde. ter, zentrale Figur in diesem Fall, über die Die Abgeordneten ärgern sich, dass die
Und so spielen die Abgeordneten auf Zeit. Ausschussarbeit stets bestens informiert ist. AfD so wenig kooperativ ist. „Noch keine
13 Sitzungen hat der Ausschuss seit der An diesem Junitag hält das Gremium im Landtag vertretene Partei“ sei bisher
Wahl abgehalten, die erste am 1. Dezem- eine erste mündliche Anhörung ab, Arvid so mit dem Wahlprüfungsausschuss um-
ber 2014, die bisher letzte am 27. Januar Samtleben darf sich erklären. Jetzt kennen gegangen wie der AfD-Generalsekretär,
2017. Die Sitzungsprotokolle dieser zwei die Prüfer die Geschichte mit dem Kredit, klagt Linkspolitiker Klaus Bartl. Weil die
Jahre, die dem SPIEGEL vorliegen, erzäh- den alle AfD-Kandidaten geben sollten. AfD angekündigt hat, dem Ausschuss kei-
len die Geschichte einer großen Koalition Sie beschließen, von der AfD „aus Grün- ne weiteren Unterlagen mehr zu geben,
der Verschleppung. Im Ausschuss sind Zer- den der Fairness“ eine Stellungnahme zu wird eine zweite Anhörung anberaumt.
redungskünstler am Werk, die mit immer erbitten, ob Samtlebens Name aus diesem Sie findet am 12. November statt, dieses
neuen Formalien eine unbequeme Ent- Grund gestrichen wurde. Berichterstatter Mal sagt Petry aus, und der Ausschuss ist
scheidung hinauszögern. Piwarz findet, dass der AfD-Fall eindeutig empört über ihr Verhalten. Sie sei offenbar
Am Ende siegt der Eigennutz über de- „noch keine Entscheidungsreife“ habe. Erst „nicht willens, wahrheitsgemäße Angaben“
mokratische Prinzipien: Berichterstatter will man Stellungnahmen von Innenminis- zu machen, klagt Linkspolitiker André
Piwarz empfiehlt, die Beschwerden zum terium und Landeswahlleiter erbitten. Schollbach. Piwarz rügt, das „Sich-erin-
Thema AfD zurückzuweisen. Deren Han- Erst drei Monate später trifft sich der nern-Wollen“ von Petry sei „rudimentär“.
deln sei „zwar holprig, aber nicht rechts- Ausschuss wieder, inzwischen färbt sich Sie spekuliere wohl darauf, „dass es im
42 DER SPIEGEL 5 / 2017
weshalb die Landtagsjuristen gebeten wer-
den, noch mal ans Werk zu gehen.
Bald verzeichnet das Ausschussproto-
koll gute Wünsche des Vorsitzenden für
einen „gesegneten Advent“.
Zwei Jahre dauert es, bis Piwarz endlich
seine Empfehlungen vorlegt. Wieso wohl?
Es ist schwer, Ausschussmitglieder zu Ant-
worten zu bewegen. Piwarz verweist auf
den Vorsitzenden Schiemann. Der beteuer-
te schon im Oktober: „Ich habe ein Interesse
an einem zügigen Ergebnis.“ Alles müsse je-
doch rechtsstaatlich zugehen. Die AfD teilt
auf Anfrage mit, man habe entschieden, dass
sich Frau Muster nicht äußern sollte. Schließ-
lich tage der Ausschuss auch nicht öffentlich,
und sie laufe Gefahr, im Gespräch mit Jour-
nalisten die Geheimhaltung zu brechen.
Nur der Grünen-Abgeordneten Katja
Meier ist die zähe Prozedur unangenehm.
„Wir müssen uns an die eigene Nase fas-
sen.“ Weil der Ausschuss nicht regelmäßig
tage, verzögere sich alles. Die Grüne, die
erst 2015 als Nachrückerin in den Landtag
gelangte, hat das Gefühl, dass der Aus-
schuss vieles einfach gehandhabt habe wie
immer. Aber früher hätte es keine so bri-
A
n einem kühlen Donnerstagabend keln und hängenden Schultern. Oder wenn sich, dass ein Hamburger Reeder, der auch
betreten 140 Menschen ein Haus in sie über „den dicken Gabriel“ lästert. Der hohe Summen an die AfD spendete, das
der Berliner Fasanenstraße, nicht SPD-Vorsitzende habe doch „nie gearbei- millionenschwere Haus in Berlin-Charlot-
weit von Ku’damm und Bahnhof Zoo ent- tet, nie etwas gelernt“, sagt Weidel, Mit- tenburg gekauft und den Betreibern der
fernt. Es sind mehr Männer als Frauen, glied im Bundesvorstand der AfD. Dann Bibliothek vermacht hat.
deutlich mehr Rentner als junge Leute. lachen die Zuhörer. In seinem Büro im zweiten Stock emp-
Ihr Ziel liegt im ersten Stock. Dort ste- Die Bibliothek des Konservatismus ist fängt Wolfgang Fenske zum Gespräch, der
hen in den Regalen Tausende Bände über- einer der wichtigsten Treffpunkte der Neu- Leiter der Bibliothek. Fenske, 47, hat evan-
wiegend rechter Autoren. Für jeden Kon- en Rechten in Berlin. Regelmäßig treten hier gelische Theologie studiert und eine Zeit
servativen ist etwas dabei: Werke von Carl AfD-Politiker, Eurofeinde, Abtreibungsgeg- lang für die „Junge Freiheit“ gearbeitet.
Schmitt oder Ernst Jünger, über Richard ner und Islamkritiker auf und entwerfen das Er sei durch seine „linken Lehrer am Gym-
Wagner oder das deutsche Militär. Auch Bild eines anderen Deutschlands, das na- nasium“ zum Konservativen geworden,
ein „Sonderbestand Lebensrecht“ gehört tionaler, homogener, autoritärer ist als die sagt er. „Ich erinnere mich an meinen Alt-
dazu, gefördert von den Abtreibungsgeg- Republik von heute. „Die Bibliothek ist 68er Studienrat im Leistungskurs Politische
nern der „Stiftung Ja zum Leben“. zugleich Denkfabrik und Ideenschmiede, Weltkunde. Gewisse Dinge durfte man bei
Die Besucher nehmen Platz vor Pracht- Ort für Wissenschaft und Forschung sowie dem schon damals nicht sagen. Das hat
einbänden aus dem 19. Jahrhundert, darun- Raum für Veranstaltungen und Begegnun- mich befremdet.“ Daraufhin habe er an-
ter eine Erstausgabe von Johann Gottlieb gen“, heißt es auf der Website. Sie biete gefangen, sich für konservative Autoren
Fichtes „Reden an die deutsche Nation“. Es Lesungen, Seminare, Diskussionsrunden, aus der Vorkriegszeit zu begeistern.
folgt: Alice Weidels Rede an deutsche Na- Vorträge, Tagungen. Aber was bedeutet eigentlich konserva-
tionalisten. Rund 30 000 Titel sind in der Bibliothek tiv? Im Bibliotheksjournal zitiert Fenske
Die AfD-Politikerin hält an diesem Ok- katalogisiert. Sie seien jedem Interessenten den Publizisten Arthur Moeller van den
tobertag einen Vortrag über den Euro. Viel zugänglich, wenn er sich anmelde, so steht Bruck: „Konservativ ist, Dinge zu schaffen,
amüsanter finden es die Besucher aller- es in fetter Schrift auf der Website. Das die zu erhalten sich lohnt.“ Dahinter stehe
dings, wenn die Volkswirtin das „trockene klingt offen, transparent. Wer aber heraus- die Ansicht, schreibt Fenske, dass das, was
Thema“, wie sie es selbst bezeichnet, ver- finden will, wie sich die Bibliothek finan- Konservative für bewahrenswert halten,
lässt. Wenn sie Kanzlerin Angela Merkel ziert, muss lange suchen, in Grundbüchern gar nicht vorhanden sei. „Es muss erst wie-
imitiert, mit heruntergezogenen Mundwin- und Handelsregisterauszügen. Dann zeigt der neu geschaffen werden.“
44 DER SPIEGEL 5 / 2017
Deutschland
Arthur Moeller van den Bruck war ein Männer zurückzuführen: Dieter Stein von in der Satzung unter anderem fest: „Auf-
Vertreter der Konservativen Revolution, der Wochenzeitung „Junge Freiheit“ und und Ausbau sowie die Unterhaltung von
einer antidemokratischen Strömung, die den mittlerweile verstorbenen Publizisten Bibliotheksbeständen“.
zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkam. Caspar Freiherr von Schrenck-Notzing. 2007 wurde Dieter Stein Vorsitzender
Ihre Anhänger lehnten die Weimarer Re- Dieter Stein gründete die „Junge Frei- des Stiftungsrats. Gemeinsam entwickelten
publik ab. Den Reichstag diffamierten sie heit“ 1986 im Umfeld einer rechten Split- Stein und Schrenck-Notzing die Idee für
als „Schwatzbude“, an die Stelle der „Herr- terpartei und verteilte sie zunächst vor al- die Bibliothek des Konservatismus. 20 000
schaft der Massen“ sollte ein antiliberaler lem an Universitäten. Auch Bibliotheks- Bücher aus Schrenck-Notzings Privatbesitz
Ständestaat rücken. In der Bibliothek wird leiter Fenske arbeitete schon als Student sollten den Grundstock bilden. Allerdings
den konservativen Revolutionären ein für die rechte Zeitung. Jahrelang litt die verzögerten sich die Pläne. Als Schrenck-
Schwerpunkt gewidmet. „Junge Freiheit“ unter Auflagenschwäche Notzing 2009 im Alter von 81 Jahren starb,
Welches Land aber wollen die Rechten und finanziellen Problemen. Die radikalen war eine Bibliothek noch nicht in Sicht.
von heute? Ein Land ohne Flüchtlinge? Ideen verfingen nicht in der Gesellschaft, Es fehlte vor allem an Spendern, die das
Ohne Schwule? Ohne Abtreibung? Ohne jedenfalls nicht dauerhaft. Hoffnungsträger Projekt finanzierten.
den Euro? wie die Republikaner oder die Schill-Partei Wenige Jahre später waren sie offenbar
Fenske fällt es schwer, eine konkrete verschwanden nach kurzen Erfolgen wie- gefunden: Die Bibliothek öffnete 2012
Antwort zu geben. Über seine persön- der in der Bedeutungslosigkeit. in dem Haus in der Fasanenstraße. Nach
lichen Ansichten möchte er und nach übernahm die Stif-
nicht reden. Die Bibliothek tung drei Stockwerke. Sie
wolle auch nicht vorgeben, startete ihre Vortragsabende
was konservativ ist und was und veranstaltet heute Film-
nicht. Es gebe so etwas wie abende und Seminare. Eines
einen konservativen Main- Tages will man vielleicht ei-
stream, der sich gegen „Politi- nen Studiengang anbieten.
cal Correctness“ oder die „un- Doch woher kommt das
kontrollierte Zuwanderung“ Geld?
wende. Doch ansonsten gin- Beim Besuch in der Biblio-
gen die Ansichten oft weit aus- thek möchte Leiter Fenske
einander. dazu keine genaueren Aus-
„Zu uns kommen Libertäre, künfte geben, man solle Die-
die den Minimalstaat fordern, ter Stein fragen. Der blockt
beinharte Etatisten, die das mündliche Nachfragen ab,
Gegenteil wollen, und sicher- man möge doch bitte eine
lich kommen auch sehr natio- E-Mail schicken. Recherchen
nal denkende Menschen“, sagt im Handelsregister und in
er. „Vielleicht ist das Gemein- Grundbuchakten zeigen: Der
same, dass sich alle von der Hamburger Reeder Folkard
gesellschaftspolitischen Lage Edler kaufte das Bürohaus
FOTOS: HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL
SPIEGEL TV WISSEN
SONNTAG, 29. 1., 19.25 – 20.15 UHR | PAY-TV
BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN sondern über eine Firma, die heute Vebefa so überzeugt von Kunkel, dass sie ihn im
heißt. Im Grundbuch war als Eigentümer Jahr darauf als Berater für den Wahlkampf
Wunderstoffe dadurch nicht Edler, sondern die Firma um das Abgeordnetenhaus anheuerten.
In der Stadt Essen versorgt ein ein- eingetragen, die allein ihm gehörte. Mit Kunkels Hilfe fiel die Partei vor allem
ziges supraleitendes Kabel einen In den Jahren nach dem Kauf übertrug durch Provokationen auf. Auf einem Pla-
ganzen Stadtteil mit Strom. Wasch- Edler seine Firmenanteile auf die Biblio- kat war eine blonde Frau zu sehen, dane-
maschinen, Küchengeräte oder theksstiftung. Ob dafür Geld floss, ist in ben der Spruch: „Damit es auf dem nächs-
elektrische Rasenmäher sollen, um den Geschäftsunterlagen nicht vermerkt. ten Karneval der Kulturen nicht wieder zu
Energie zu sparen, künftig mit leich- Die Stiftung wurde auf diese Weise jedoch Übergriffen auf Frauen kommt, wähle ich
ten Bauteilen aus dem 3-D-Drucker Eigentümerin des Hauses in der Fasanen- diesmal die AfD. Das mit der Armlänge
bestückt werden. straße, auch wenn sie selbst bis zuletzt Abstand haut einfach nicht hin!“
nicht im Grundbuch stand. Ein Donnerstag im Januar, in der Biblio-
Das Haus dürfte der Stiftung stattliche thek tritt der Publizist Bruno Bandulet auf.
SPIEGEL TV MAGAZIN Mieteinnahmen bescheren. Aus einer Auf- Er stellt sein neues Buch vor: „Beuteland
SONNTAG, 29. 1., 0.30 – 1.15 UHR | RTL stellung aus dem Jahr 2013 geht hervor, – Die systematische Plünderung Deutsch-
dass der Vorbesitzer von den übrigen Mie- lands seit 1945“. Wieder ist der Lesesaal
Das Netz der Reichs-Terroristen – Exklu- tern etwa 10 000 Euro pro Monat erhielt. mit 120 Leuten voll besetzt. Bandulet er-
sive Hintergründe; Drogen, Rocker, Kassiert die Stiftung heute Mieten in klärt, wie die angeblich naiven, schuldbe-
Schießereien – Die Einbahnstraße in ähnlicher Höhe? Musste sie für den Erwerb wussten Deutschen nach dem Zweiten
Leipzig; Die Kinderbräute – Einblicke der Immobilie bezahlen, oder übertrug Ed- Weltkrieg ausgebeutet wurden: zuerst von
in eine Parallelgesellschaft. ler ihr das Grundstück kostenlos? den Alliierten, dann von der EU.
Folkard Edler nahm auf Anfrage dazu Am Ende seines Vortrags spricht er über
keine Stellung. Dieter Stein bestätigte, dass die Flüchtlingspolitik. Die Bundesregierung
SPIEGEL GESCHICHTE die Bibliotheksstiftung „Gesellschafterin lege die „Axt an die Staatlichkeit“. Angela
MONTAG, 30. 1., 20.15 – 21.45 UHR | SKY der Firma Vebefa ist“. Über „Einzelheiten Merkel verfolge womöglich eine „Agenda“,
der Übertragung der Geschäftsanteile“ die sie nicht selbst geschrieben habe. Die
The Eighties – wolle er keine Auskunft geben. Die Biblio- Drahtzieher säßen bei den Vereinten Na-
Generation Fernsehen thek finanziere sich mithilfe eines „großen tionen und der EU. Sie würden daran ar-
Mit dem Aufkommen des Kabelfern- Kreises von privaten Förderern“, denen er beiten, den Nationalstaat „auszuhöhlen“.
sehens in den Achtzigern erfand zur Diskretion verpflichtet sei. Sein Fazit: Wir müssten als „selbstbewusste
sich das Fernsehen in den USA neu. Der Politikprofessor Wolfgang Gessen- Nation“ das „Prinzip Souveränität“ und
Die Sehgewohnheiten änderten harter beobachtet die Szene der Neuen auch den „Wert von Grenzen wiederent-
sich, auch dank Fernbedienung und Rechten seit vielen Jahrzehnten. Schon decken“ und eine neue Balance finden zwi-
Videorekorder. 1994 schrieb er das Buch „Kippt die Repu- schen der „Nation als Kraftquelle“ und ei-
blik?“ über die Umtriebe der Neuen Rech- ner „europäischen Zusammenarbeit“.
ten und ihre Unterstützer in Politik und Danach bleibt noch etwas Zeit für Fra-
SPIEGEL TV REPORTAGE Medien. Schrenck-Notzing und Stein, die gen aus dem Publikum. Ein Mann steht
DIENSTAG, 31. 1., 23.10 – 0.10 UHR | SAT.1 Wegbereiter der Bibliothek, sind ihm bes- auf und stellt sich vor: „Mein Name ist
tens vertraut. Heinrich, ich komme aus Dunkeldeutsch-
Abgewürgt! Fahranfänger „Die Rechten haben von den Linken ge- land.“ Den Ausführungen des Redners
geben Gas lernt, die wissen genau: Es geht um die kul- könne er nur zustimmen, die meisten hier
Quietschende Reifen, knirschende turelle Hegemonie in Deutschland“, sagt sähen das wohl genauso. Doch was bringe
Getriebe, schweißgebadete Fahran- Gessenharter, der bis zu seiner Emeritie- das? Berlin habe gerade eine rot-rot-grüne
fänger: der ganz normale Wahnsinn rung an der Hamburger Helmut-Schmidt- Koalition gewählt, mit der Mehrheit der
Universität der Bundeswehr lehrte. „Dafür Berliner Bevölkerung. Und Frau Merkel
muss man zuerst die Realitätsbilder in den werde die nächste Bundestagswahl wohl
Köpfen der Menschen verändern, bevor wieder gewinnen.
man die Realität verändert.“ Die Biblio- Der Mann redet sich in Rage, seine Stim-
thek des Konservatismus sei ein probates me wird lauter. Er sehe die Flüchtlinge,
Mittel, sich Zugang zu breiten Gesell- das Land verändere sich dramatisch zum
schaftsschichten zu verschaffen. „Es gibt Negativen, während sie hier säßen und
nichts Seriöseres als eine Bibliothek. Wo sich gegenseitig auf die Schulter klopften.
könnte man den Nationalismus besser sa- „Was hat sich geändert? Ich muss leider sa-
lonfähig machen als hier?“ gen: goa nix. Deswegen frage ich: Was ist
Insbesondere die AfD profitiert von zu tun? Die Waffe in die Hand nehmen,
dem neuen Treffpunkt. Vor Alice Weidel Richtung Regierungsviertel gehen und
war schon Alexander Gauland da. Im Som- dann den Bürgerkrieg ausrufen oder was?
mer 2015 hielt der Werber und Autor Thor Denn so kann es nicht weitergehen. Irgend-
SPIEGEL TV
Neptun
befehl der Staatsanwaltschaft Mannheim
wegen antisemitischer Hetze vor, das
Amtsgericht Schwetzingen hatte B. im Juni
2016 zu 200 Tagessätzen verurteilt.
Terrorismus Eine Gruppe rechts- Auch seine Mitstreiter sind offenbar
mehr als nur harmlose Esoteriker. In der
extremer Esoteriker um einen Garage des Reihenhauses von Thiemo B.,
selbst ernannten Druiden hortete 51, bei Heidelberg fand die Polizei eine
Selbstladepistole, drei Magazine, eine grö-
Waffen und Sprengstoff – und ßere Menge Schwarzpulver, eine Schuss-
soll Anschläge geplant haben. falle und einen Karton mit vorbereiteten
Molotowcocktails. Der Mann arbeitete bei
A
ls die Polizisten des Spezialeinsatz- einer Firma, die Chemikalien kontrolliert,
QUELLE: FACEBOOK
kommandos der Brandenburger und posierte privat auch gern in Kelten-
Polizei um Punkt sechs Uhr das An- Montur. Er kam ebenfalls in Untersu-
wesen in der Beeskower Straße in Rietz- chungshaft.
Neuendorf stürmten, entdeckten sie zu- Sprengstoff fanden die Polizisten auch
nächst nichts Verdächtiges. bei einem weiteren Mann, der nahe Hei-
Erst draußen wurden sie fündig: In ei- delberg lebt. Ein Vierter aus der Druiden-
nem Erddepot lagerten 1200 Schuss Muni- Gruppe trat bei Veranstaltungen der Partei
tion des Kalibers 9 Millimeter, eine Reichs- Die Rechte auf. Die Ermittler entdeckten
kriegsflagge und ein Ausweis des – nicht unter anderem eine Sturmhaube und einen
existierenden – Kaiserreichs Preußen. Die aus Grillanzündern gefertigten Brandsatz.
Polizisten hoben außerdem mehrere selbst Und ein Fünfter, Karsten R. aus Berlin, hat-
gebaute Schussgeräte aus dem Boden, da- te vor zweieinhalb Jahren einen Strafbe-
runter zwei umgebaute Maulwurfsfallen fehl des Amtsgerichts Leipzig erhalten, da
mit abfeuerbaren Bolzen. er gegen das Waffengesetz verstoßen hatte.
Der Einsatz am Mittwoch in dem klei- Dieser Mann und Druide „Burgos“
nen Ort zwischen Berlin und Frankfurt tauschten sich Ende 2016 via VK über „na-
(Oder) war Teil einer Razzia, die Beamte tionalen Widerstand“ und „Todesschwa-
zeitgleich in sechs Bundesländern durch- drone“ als „Modell für Deutschland“ aus.
führten. Ihr Ziel: eine Gruppe von Rechts- „Burgos, versorgt uns mit Waffen und
extremisten zu zerschlagen, die Angriffe ausreichend Munition“, forderte der Mit-
gegen Polizisten, Flüchtlinge und Men- streiter am 25. Dezember, anders sei „der
schen jüdischen Glaubens geplant haben zionistischen Bestie“ nicht mehr beizu-
soll. Die Bundesanwaltschaft geht davon kommen. „Waffen laufen genug draußen
aus, dass sechs Männer eine terroristische herum“, antwortete „Burgos“. „Aus einer
Vereinigung bildeten. Eine Frau aus Berlin Waffe werden 2, aus 2 werden 4. Daraus
soll ihnen dabei geholfen haben. dann 8. Wenn nur MÄNNER es beginnen.“
Neben den sogenannten Reichsbürgern Bei den Ermittlungen spielt auch ein
gerät damit ein weiteres obskures Milieu Gutshof in Querfurt in Sachsen-Anhalt
VK.COM
in den Blickpunkt: gefährliche Rechtseso- eine Rolle, den die Polizei ebenfalls durch-
teriker und Neugermanen. Schon 2001 di- Beschuldigte Burghard B., Thiemo B. suchte. In der Nähe wollte Burghard B. ein
agnostizierte die Evangelische Zentralstel- „Aus einer Waffe werden 2“ „Wehrdorf“ errichten, eine befestigte Sied-
le für Weltanschauungsfragen in Berlin, lung. Die Gruppe traf sich zudem in Berlin,
solche Esoteriker bedienten sich eines My- klärt. Er verkaufte auf Mittelaltermärkten Hamburg, Wien und Essen.
thenfundus, „der schon im Nationalsozia- Heilmittel, lief im Umhang durch die Städ- Die Machenschaften von Burghard B.
lismus eine Rolle spielte“. Es gebe „perso- te und lud zu Räucherzeremonien. und seinen Mitstreitern haben nicht nur
nelle Verflechtungen bis in das politisch- Doch B., ein ehemaliger Versicherungs- den Staat, sondern auch die seriösen Kel-
rechtsextremistische Lager“. vertreter, zeigte sich auch offen antisemi- ten-Fans aufgeschreckt. „Aus dem kelti-
Die Behörden nehmen die Angriffspläne tisch und hetzte auf Facebook sowie in schen Erbe eine Legitimation für Rechts-
so ernst, dass der Generalbundesanwalt dem gern von Neonazis und Verschwö- extremismus abzuleiten ist ein Unding“,
die Ermittlungen leitete. Sie liefen unter rungstheoretikern genutzten sozialen Netz- sagt Erwin Schottler vom Verein Donners-
dem Codenamen Neptun. Im Mittelpunkt: werk VK.com. „Neben der Presse und der berger Kelten.
Karl Burghard B., 66, aus Schwetzingen, Politik wird die Justiz, die Banken, Indus- Schottler, ein Mann mit weißem Bart,
den das Einsatzkommando in dem Haus trie und der Handel, also alle, die gegen zeigt Schulklassen die ehemalige keltische
in Rietz-Neuendorf bei seiner Lebens- unser Volk arbeiten, zu Opfern der Kul- Stadt auf dem Donnersberg in der Pfalz,
gefährtin festnahm. Der Senior mit dem turrevolution werden“, schrieb B. im Ok- daneben gibt er Workshops für Berufstäti-
weißen Rauschebart bezeichnet sich als tober 2015. Die „Moscheen, die Brutstätten ge, die mehr Zeit in der Natur verbringen
„keltischen Druiden“, er wollte sich diese des Hasses“, seien „zu sprengen“, heißt wollen. Dafür schlüpfte Schottler gelegent-
Bezeichnung sogar als Markennamen ein- es in einem anderen Kommentar lich in die Rolle des Druiden Donarix.
tragen lassen. Im Internet finden sich Fotos Verfassungsschutz und Polizei hatten die „Doch für mich“, sagt er, „war das keine
und Videos, in denen B. als „Burgos von Machenschaften schon seit Längerem be- Weltanschauung, sondern ein Werbegag.“
Buchonia“ sein schräges Brauchtum er- obachtet. In der Polizeidatenbank Inpol Maik Baumgärtner, Jan Friedmann, Sven Röbel
Auch Cyberangriffe sind Angriffe, und Fake News sind ein wirksames Gift.
Eine Rede der Bundesverteidigungsministerin zum 70. SPIEGEL-Jubiläum. Über Journalismus
und Demokratie in digitalen Zeiten – und den Schutz, den sie braucht, die
OFFENE GESELLSCHAFT
Von Ursula von der Leyen
A
ls der SPIEGEL 1947 aus der Taufe rung, und zum Teufel mit ihr! Natürlich getraut, sich wieder eine freie Meinung
gehoben wurde, war es für die bedeutet sie Fortschritt, aber wie jede ge- zu bilden. Weil es zur Demokratie zwin-
Alliierten alles andere als eine waltige Umwälzung bringt sie erst einmal gend dazugehört und weil die Meinung
Selbstverständlichkeit, Medien wieder in Unsicherheit. eben nicht von einem allmächtigen Zen-
deutsche Hände zu geben – nach mehr als In ihrer Wucht ist sie revolutionär, ver- tralorgan vorgegeben wird.
einem Jahrzehnt der Nazipropaganda und gleichbar nur mit kulturgeschichtlichen Demokratie braucht die breite und viel-
gleichgeschalteter Medien, die als Macht- Meilensteinen wie Luthers Übersetzung fältige Debatte um den gemeinsamen Weg.
instrument geradezu diabolisch genutzt der Bibel vom Lateinischen ins Deutsche, Demokratie heißt, aus dem Wettbewerb
wurden. Aber die Alliierten – in diesem potenziert durch die Erfindung des Buch- von Meinungen Mehrheiten zu schaffen.
Fall die Briten – waren überzeugt, dass es drucks. Vor Gutenberg und Luther war die Und Mehrheiten entstehen durch Mei-
richtig sei, die Deutschen wieder in die Arbeitsteilung laut Volksmund klar. Sprach nungsbildungsprozesse.
Lage zu versetzen, dass sie erfahren, was der König zum Bischof: Halt du sie dumm, Was einst das Innovationsschwungrad
Pressefreiheit bedeutet und was demokra- ich halt sie arm. Gemeint waren das Mo- um die Erfindung des Buchdrucks und vor
tisches Denken nährt. nopol des Herrschers auf Rechtsprechung 70 Jahren die Wiederzulassung der freien
Die gewünschten demokratischen Struk- und Steuern und das Monopol der Kirche Presse war, ist heute die Entdeckung von
turen für Nachkriegsdeutschland waren auf Wahrheit und Bildung. Mit der Über- Social Media als politischem Massenme-
überhaupt nur denkbar mit einer freien setzung der Bibel und ihrer Vervielfälti- dium. Es braucht nicht mehr zwingend
und vielfältigen Presse. Und so erhielt gung waren es nicht mehr allein die weltli- Nachrichten in der „Tagesschau“, die Zei-
Rudolf Augstein wie viele andere Heraus- che und die geistliche Obrigkeit, die Gottes tung oder Zeitschrift, den Deutschland-
geber von Zeitschriften und Zeitungen sei- Wort auslegten und das letzte Wort hatten; funk oder die Pressekonferenz.
ne Verlegerlizenz. Das hat den Aufstieg sondern jeder konnte es lesen, deuten und Und der Umbruch geht rasend schnell.
der Demokratie in Westdeutschland nicht sich seine persönliche Meinung bilden. Vor acht Jahren wurde Barack Obama da-
allein bewirkt, aber entscheidend dazu bei- Das ist auch nach den Untiefen der Nazi- für bewundert, dass er Zehntausende Un-
getragen. diktatur der richtige Weg gewesen. Man terstützer über das Internet in seine Kam-
Grundlegend waren daneben vor allem hat den Deutschen – die meisten hatten pagne einband. Heute erleben wir, wie ein
die Verabschiedung der Landesverfassun- sich mit Hitler zumindest arrangiert – zu- Mann mit seinem Smartphone via Twitter
gen und des Grundgesetzes sowie die Grö- Abermillionen von Menschen direkt er-
ße der Alliierten, den wirtschaftlichen Wie- reicht. Und Trumps schneller Daumen ge-
deraufbau zu forcieren; mit einer Ordnung, hört zur Meinungsbildung und damit zur
die stärker als irgendwo sonst auf der Welt Demokratiegeschichte dazu. Die Men-
die Balance sucht zwischen freier Wirt- schen lesen 140 Zeichen und bilden sich
schaft und sozialem Ausgleich. Das sind ihre Meinung.
die Fundamente, die der jungen Republik So weit – so gut. Solange man unter Mei-
von Anfang an gesellschaftlichen Zusam- nungsbildung versteht, dass sich Menschen
menhalt, moralische Glaubwürdigkeit und in offenen Debatten mit anderen Men-
politische Stabilität verliehen haben. schen über Medien, Organisationen oder
Wir feiern 70 Jahre SPIEGEL. Nur wenig Parteien ihre Meinung bilden. Genau die-
älter ist unsere Demokratie. Und wir sind ser demokratische Meinungsbildungspro-
mit der Erfahrung aufgewachsen, dass sie zess wird aber angegriffen.
im Großen und Ganzen stabil, gerecht und Sie alle kennen den Fall des russland-
erfolgreich ist. Dennoch kommt uns die deutschen Mädchens „Lisa“, das seine Ent-
Welt heute vor, als sei diese Gewissheit führung erfand; der Fall erregte Aufsehen
ins Rutschen geraten. Joschka Fischer wegen des manipulativen Zusammenspiels
spricht sogar vom Ende des Westens. Hätte von Social-Media-Hetze und staatlichen
er das vor vier oder fünf Jahren getan – Äußerungen. Sie haben erlebt, wie ein in-
wir hätten darüber gelacht. ternationales Ermittlerteam seine Ergeb-
Es sind heute dieselben Kräfte, die uns nisse zum Absturz von Flug MH17 vorge-
Wohlstand und Fortschritt bringen – Glo- stellt hat; es war ein Abschuss, die Rakete
balisierung und Digitalisierung –, die uns Ausgabe 1/2017 mit Politikerzitaten stammte aus Russland. Und zeitgleich wur-
auch verunsichern und unsere Gesellschaf- „Der SPIEGEL schont nicht, de die Welt geschwemmt mit einer Gegen-
ten spalten. Es lebe die globale Digitalisie- und er wird nicht geschont“ geschichte ohne Belege. Kurz vor Weih-
Der Illustrator, der die Serie zum SPIEGEL-Jubiläum mit seinen assoziativen Collagen begleitet hat, ist der Berliner Künstler Frank Höhne.
Bei dieser Zeichnung zur Rede Ursula von der Leyens über die Gefahren für das freie Wort im digitalen Zeitalter bringt er die
Arbeit von Trollen und Bots im Internet auf seine Weise auf den Punkt: Die Ministerin spricht von Äpfeln, und heraus kommen Birnen.
DER SPIEGEL
strategisch platzierten Fake News bei den
Menschen noch nicht „eingepreist“ ist, ist
es so leicht, Meinungsbildungsprozesse zu Teilnehmer der SPIEGEL-Lizenzfeier am 11. Juli 1947*: „Alles andere als eine Selbstverständlichkeit“
manipulieren – ohne dass der Absender
sofort ersichtlich und die Absicht erkenn- gantische Veränderungen für unser aller zesse der Meinungsbildung und das freie
bar ist. Das ist der strategische Vorteil, den Leben und Arbeiten gebracht. Viele Men- Wort.
diejenigen nutzen, die der offenen Gesell- schen machen sich Sorgen, nicht nur im Denn die Destabilisierungspropaganda
schaft den Kampf angesagt haben. deindustrialisierten Rust Belt der USA, in träufelt das Gift unauffällig, stetig und gut
Ein nachgewiesener russischer Hacker- abgehängten Gegenden Großbritanniens verpackt in vermeintlich objektive Infor-
angriff auf die Demokratische Partei vor oder auch in Landstrichen bei uns, die de- mationen in unsere Gesellschaften. Nicht
der US-Wahl hätte den Wahlkampf ins finitiv nicht zu den Gewinnern der Globa- umsonst kombiniert der gefakte Fall „Lisa“
Wanken gebracht. Heute haben die Berich- lisierung zählen. Flüchtlinge, ein russischstämmiges Mäd-
te kaum mehr Relevanz. Die Wahl ist ge- Dabei hat Deutschland vergleichsweise chen und Vergewaltigungen. In Richtung
laufen. gute Voraussetzungen. Die Risse in unserer der deutschen Regierung sagte der russi-
Es geht um die Wehrhaftigkeit offener Gesellschaft sind vor allem dank einer klug sche Außenminister Sergej Lawrow, er hof-
Demokratien. Nicht ohne Grund genießen ausbalancierten sozialen Marktwirtschaft fe, dass „diese Migrationsprobleme nicht
Meinungsfreiheit und Pressefreiheit einen längst nicht so tief wie in anderen Ländern. zu dem Versuch führen, die Wirklichkeit
besonderen Schutz der Verfassung. Aber Aber die stete Modernisierung des Arbeits- wegen innenpolitischer Ziele politisch kor-
die Mütter und Väter des Grundgesetzes marktes, die Stabilisierung unserer gemein- rekt zu übermalen“. Moskau rufe Berlin
ahnten wohl nicht, dass sie die Pressefrei- samen Währung, der Zusammenhalt der dazu auf, den Fall nicht unter den Teppich
heit nicht nur vor dem Zugriff des Staates, europäischen Familie, der Umgang mit Ge- zu kehren.
sondern auch vor der konzertierten Dis- flüchteten – all das verlangt Kraft und be- „Migrationsprobleme“, „Versuch“, „Wirk-
kreditierung durch Bots in Schutz nehmen wirkt Veränderung. lichkeit“, „politisch korrekt übermalen“,
müssen. Nicht ohne Grund attackieren die „unter den Teppich kehren“ – allein die
russischen Trolle und ihre Vasallen dieje- Wortwahl deutet auf Manipulation hin.
nigen, die die Pressefreiheit repräsentieren. Das Handicap für Das Gift der Zersetzung wirkt grenz-
„Lügenpresse“, diesen Kampfbegriff prä- verantwortliche Politik überschreitend und wird von vielen ein-
gen ausgerechnet Strippenzieher, die selbst gesetzt. Auf einer Sicherheitskonferenz in
nichts mehr fürchten als Transparenz; als
und verantwortlichen Bahrain machte mir im Dezember eine
die vierte Gewalt, die überprüft und wi- Journalismus ist Zeit. muslimische Konferenzteilnehmerin bitte-
derspiegelt, was tatsächlich ist. re Vorwürfe: Wie ich dazu komme, die
Diese Gemengelage wird verschärft Und es hilft alles nichts: Unser Land ver- arabische Welt zu mehr Toleranz und
durch ein nie gekanntes Tempo: Die Tech- ändert sich, so wie es sich immer schon Religionsfreiheit zu ermahnen? Die deut-
nik gibt den Takt vor. Sie spuckt so schnell verändert hat. Allein schon, weil jede Ge- sche Regierung dulde doch, dass Neo-
neue Spins aus, dass gar keine Zeit bleibt neration ihre eigenen Wege geht. Wir müs- nazis muslimische Frauen mit Schuhen die
zur sorgfältigen Recherche des dahinter- sen immer wieder lernen, mit den Verän- Treppe hinunterträten. Mir blieb erst mal
liegenden Interesses. Die Kontrollfrage, derungen umzugehen. Entscheidend dabei die Spucke weg. Auslöser war das Video
die jeder auf der Journalistenschule lernt ist, dass wir die selbstbewusste und offene einer Überwachungskamera in Berlin-
und die er oder sie vor Veröffentlichung Gesellschaft bleiben, die wir sind, und das Neukölln. In den sozialen Netzwerken
geprüft haben sollte, lautet: Cui bono? für die nächsten Generationen erhalten. der arabisch-muslimischen Welt kursiert
Wem nützt es? Unsere vielfältige, offene und tolerante Le- eine Variante des Videos, nach der nicht
Propaganda als solche zu enttarnen, bensweise ist der Trumpf, den wir uns von Bulgaren, sondern Neonazis die Täter
Ross und Reiter zu nennen, die Muster da- niemandem aus der Hand schlagen lassen. seien; die deutsche Regierung vertusche
hinter offenzulegen – diese Zeit muss sein. Und das gilt ganz besonders für die Pro- dies. Das Video schürt nicht nur erfolg-
Daraus lernen wir, und erst das schafft reich den Hass von Muslimen auf Anders-
Schritt für Schritt Resilienz. * Staff Sergeant Henry Ormond, Lizenzträger Roman gläubige. Es diskreditiert auch gleich-
Stempka, Staff Sergeant Harry Bohrer, Lizenzträger und
Globalisierung und Digitalisierung mit Herausgeber Rudolf Augstein, Lizenzträger Gerhard R. zeitig die staatlichen Institutionen hier-
ihren Modernisierungsschüben haben gi- Barsch im Anzeiger-Hochhaus Hannover. zulande.
52 DER SPIEGEL 5 / 2017
kenntnis, dass derjenige, der „Lügenpres-
se“ ruft, dies aus Angst vor der freien, auf-
rechten Presse tut. Und es wächst hoffent-
lich wieder die Erkenntnis, dass die offene,
liberale Gesellschaft ihre Macken und
Schwächen hat – dass sie aber bei Weitem
die besten Voraussetzungen bietet für die
eigene gelingende Zukunft in Wohlstand
und Freiheit.
Diktaturen und Autokraten stecken
langfristig in der Falle: Sie müssen ständig
Ängste schüren, Ideen und Diskussionen
unterdrücken, Trugbilder aufbauen, um an
der Macht zu bleiben.
Dagegen schaffen unsere offenen, de-
mokratischen Gesellschaften den Rahmen,
1000
800
600
GUINEA
400
200
2014 2015
März April Mai Juni Juli Aug. Sept. Okt. Nov. Dez. Jan. Febr. März April Mai Juni Juli Aug. Sept.
Es gibt jetzt eine Impfung gegen Ebola. Eine der besten Nachrich- Gründen großartig. Erstens ist die WHO jetzt für den nächsten
ten des vergangenen Jahres, das allgemein und nicht zu Un- Ausbruch gewappnet. Zweitens ging das unglaublich schnell.
recht als Annus horribilis gilt für die Welt, als schreckliches Drittens zeigt sich, dass die Entwicklung eines Impfstoffs für
Jahr, betraf das tödliche Ebola-Virus. Zum einen hat die Welt- eine seltene Krankheit in armen Ländern auch für die Pharma-
gesundheitsorganisation (WHO) die Epidemie in Westafrika industrie attraktiv sein kann. Eine führende Rolle im Kampf ge-
im Juni offiziell für beendet erklärt. Dem Ausbruch fielen gen das Virus hatte der in London tätige belgische Mediziner
2014 und 2015 rund 11 300 Menschen zum Opfer, fast alle in Peter Piot, der den Erreger in den Siebzigerjahren mitentdeck-
Liberia, Sierra Leone und Guinea. Zum anderen wurde im te. Anfang Januar ist Piot von der Queen für seine Verdienste
Dezember bekannt, dass sich ein Impfstoff mit dem poeti- zum Ritter geschlagen worden, er darf sich jetzt „Honorary
schen Namen rVSV-ZEBOV in einer klinischen Studie als Knight Commander of the Most Distinguished Order of St Mi-
„100 Prozent effektiv“ gegen den Erreger erwiesen hat und chael and St George“ nennen, was er vermutlich nicht oft tun
nun kurz vor der Zulassung steht. Das ist aus verschiedenen wird. Selten war ein Ehrentitel so verdient. guido.mingels@spiegel.de
Nächstenliebe SPIEGEL: Ach? Wohlwend: Dürfen sie. Wenn Art überzeugte, ihre Scham
Wie kommen Wohlwend: Im Winter haben wir die Tiere verbieten wür- zu überwinden und endlich
Obdachlose durch wir drei Notunterkünfte mit
rund 300 Betten, medizini-
den, kämen auch die Besitzer
nicht mit. Hunde sind oft ihre
in den Bus zu steigen.
SPIEGEL: Was ist die größte
den Winter, sche Hilfe, ein Nachtcafé, einzigen Vertrauten; jemand, Gefahr für Obdachlose im
Frau Wohlwend? einen Kältebus. All das gibt der sie bedingungslos liebt. Winter?
es im Sommer nicht. Ab dem Im Kältebus fuhr auch jahre- Wohlwend: Die Auskühlung,
Ortrud Wohlwend, 63, von der ersten April sind die Obdach- lang eine Hündin mit, die vie- aber dafür braucht es keine
Berliner Stadtmission über losen wieder auf sich gestellt. le Leben gerettet hat, indem Minusgrade. Wenn der Kör-
ihren Kampf gegen die Kälte SPIEGEL: Wie funktioniert die- sie mit ihrer Schnauze an per ausgekühlt ist, beginnen
und für Menschen ohne Dach ser Kältebus? Schlafsäcken schnüffelte, die die Muskeln zu zittern, um
über dem Kopf Wohlwend: Damit fahren wir Menschen rührte und auf ihre die Körpertemperatur zu
die Betroffenen in unsere halten. Und der Obdachlose
SPIEGEL: Nicht nur Berlin hat Notunterkünfte, dort versor- denkt: Mann, ist mir warm –
MARKUS C. HUREK / PICTURE ALLIANCE
seit Wochen Minusgrade in gen wir im Schnitt 165 Men- und zieht sich aus. Dann
der Nacht. Um die 8000 Ob- schen jede Nacht, das sind schlummert er weg, hat
dachlose sind allein in der vier Busladungen voll. An keinerlei Schmerzen, und
Hauptstadt von der Kälte be- Bord gibt es immer warmen irgendwann hört sein Herz
droht. Hassen Sie den Winter? Tee, festes Schuhwerk und auf zu schlagen. Das passiert
Wohlwend: Nein. Der Winter Schlafsäcke, die bei bis zu auch bei relativ jungen
ist für die Obdachlosen und minus 15 Grad warm halten. Menschen. Wir kämpfen um
für unsere Kältehilfe viel SPIEGEL: Dürfen die Leute jeden Einzelnen – und
komfortabler als der Sommer. ihre Hunde mitnehmen? Obdachloser (l.) in U-Bahn-Station manchmal auch vergebens. fio
V
or 15 Jahren stand der Schlosser František Hadrava entdeckt, einen Hängegleiter, der Menschen durch die
in seiner Werkstatt, einer kleinen Holzhütte, und Lüfte trägt. Hadrava hing am Drachen und sah seine Hei-
traf eine Entscheidung, die ihn ein bisschen be- mat von oben, die sanfte Landschaft des Böhmerwalds,
rühmt machen würde. Er hielt eine Skizze in den Händen. die Hügel, die Bäume und Häuser. Er fühlte sich frei.
Auf der Skizze war ein Flugzeug zu sehen. Als er 30 wurde, verschwand er nach der Arbeit immer
Seine Werkstatt liegt in Zdíkov, einem stillen Dorf im häufiger in seiner Werkstatt. Er hatte sich den Bauplan ei-
Böhmerwald, südwestliches Tschechien. Eine einzige Stra- ner Mini-Max-Maschine bestellt. Er schaute auf die Skizze
ße führt hin, vorbei an gelb und grau verputzten Häusern, und sah es deutlich vor sich: Bald würde in diesem Schup-
und nach wenigen Hundert Metern wieder hinaus. Man pen ein echtes, funktionsfähiges Flugzeug stehen.
würde diesen Ort hinter sich lassen und schnell vergessen, Seine Nachbarn belächelten ihn. Seine Schwester er-
wenn hier nicht František Hadrava lebte: der Mann, der klärte ihn für verrückt. Aber er ließ sich nicht beirren,
mit seinem selbst gebauten Flugzeug zur Arbeit fliegt. und immer nachmittags, wenn er von der Arbeit aus der
Um sechs Uhr morgens muss er bei der Fabrik sein, Fabrik kam, zog er die Tür zu seiner Werkstatt hinter sich
dann beginnt seine Schicht. Kurz davor läuft Hadrava zu. An die Wand hängte er ein Bild des „Roten Barons“.
also auf die hügelige Wiese, die Nach und nach bestellte er sich
er als Start- und Landebahn ge- die Einzelteile für sein Flugzeug.
pachtet hat. Nebenan grasen Scha- Den Motor bekam er von einem
fe. Er setzt sich die Fliegerbrille tschechischen Hersteller, den
auf und startet den Motor. Die Fahrtmesser aus Russland, dazu
Maschine rattert über das hohe einen polnischen Drehzahlmesser.
Gras, hebt ab und verschwindet. Hadrava lackierte den Rumpf in
Mit dem Auto braucht er von Zdí- silbergrauer Farbe. Er baute das
DAVID W CERNY / REUTERS
kov bis zu seinem Arbeitsplatz offene Cockpit zusammen und
eine Viertelstunde, rund 15 Kilo- schraubte die Flügel an, die ab-
meter sind es über die Landstraße. nehmbar sein mussten, sonst wür-
Mit dem Flieger dauert es knapp de die Maschine nicht in seinen
zehn Minuten. Aber um gesparte Schuppen passen.
Zeit geht es Hadrava nicht, es Hadrava Am Ende stand vor seiner
geht ihm ums Fliegen. Werkstatt ein funktionsfähiges
František Hadrava ist heute Flugzeug, so, wie er es sich er-
45 Jahre alt, ein Typ mit langen träumt hatte, mehrheitlich aus
schwarzen Haaren, Ziegenbart Holz gebaut, mit einem Gewicht
und einer tätowierten Träne unter von rund 175 Kilogramm – ein
dem rechten Auge. Er sieht aus Fliegengewicht. 100 000 tsche-
wie ein Rockstar, und ein bisschen Von der Website Travelbook.de chische Kronen, rund 3700 Euro,
ist er das auch für die Menschen hatte ihn das Material dafür ge-
in seinem Dorf. Medien weltweit schrieben seinen Namen. kostet. Zwei Jahre dauerte es, bis das Flugzeug fertig war.
Er steht in der kleinen Holzhütte im Garten seiner Schwes- Hadrava taufte es auf den Namen „Vampira“. Jetzt musste
ter, in die er sich oft zum Schrauben zurückzieht, und er- es nur noch fliegen.
zählt, wie erst Journalisten lokaler Zeitungen zu ihm ka- In Tschechien beurteilt die Assoziation der Amateurflie-
men und später Nachrichtensender von Großbritannien ger die Flugtauglichkeit von Ultraleichtflugzeugen und ver-
bis nach Pakistan über ihn berichteten. gibt die Zulassungen. „Vampira“ wurde zweimal begutachtet.
Hadrava ist ein Einzelgänger, der besser mit Werkzeu- Hadrava hatte bei seinem ersten Flug noch keinen Flug-
gen als mit Worten umgehen kann. Sein Arbeitgeber im schein, aber er wusste, was zu tun war, sagt er – immerhin
Nachbardorf stellt Maschinen für die Holz- und Forst- hatte er das Flugzeug selbst gebaut. „Vampira“ klang beim
industrie her. 650 Euro verdient Hadrava dort im Monat, Start wie ein Presslufthammer und qualmte wie ein alter
kaum genug für ein anständiges Leben. Lastwagen. Aber sie flog.
Hadrava erzählt, dass er anders war als die anderen Irgendwann fingen seine Arbeitskollegen an, Späße zu
Kinder im Dorf. Während die Jungs Fußball spielten, steck- machen: Er solle doch mit dem Flugzeug zur Arbeit kom-
te er Modellflugzeuge zusammen. Er war fasziniert von men. Warum eigentlich nicht, dachte er sich.
deutschen Jagdflugzeugen und amerikanischen Ultraleicht- Die „Vampira“ hatte einen neuen Motor bekommen
fliegern. Er hatte sie in Serien und Filmen gesehen und und brauchte nur noch 40 statt 70 Meter, um abzuheben.
verehrte seither einen Mann mit einem langen deutschen Damit konnte er auf der Wiese gegenüber seiner Fabrik
Namen: Freiherr Manfred Albrecht von Richthofen, be- landen. Von dort aus zieht František Hadrava das Flugzeug
kannt als der „Rote Baron“. Hadrava lernte, dass dieser an der Schnauze hinter sich her, wie ein Cowboy sein
Baron der erfolgreichste Jagdflieger des Ersten Weltkriegs Pferd, und stellt es dann auf den Mitarbeiterparkplatz.
gewesen war. Ein Held, dachte er, nahezu unbesiegbar. Jana Sepehr
Künstliche Intelligenz Als ihr bester Freund Roman stirbt, erweckt ihn die russische
Programmiererin Eugenia Kuyda als Chat-Roboter zum Leben.
Ihr nächstes Ziel: digitale Unsterblichkeit für alle. Von Jonathan Stock
A
n einem Tag im November, vor et- Eugenia erlebte ein ihr unbekanntes Ge-
was mehr als einem Jahr, wurde fühl, das älter ist als die Menschheit. Schim-
Roman Mazurenko, ein junger Rus- pansen halten Wache am Leichnam eines
se, am Moskauer Sophienufer gegenüber Vertrauten, und Affenmütter tragen ihre
dem Kreml von einem Auto überfahren verstorbenen Kinder weiter auf dem Rü-
und war bald darauf tot. Mazurenkos cken umher. Die erste Reaktion auf den
Freunde wunderte nicht, wie er gestorben Tod ist es, ihn zu leugnen. Deshalb haben
war, Verkehrsunfälle sind häufig in Mos- Menschen gelernt, ihre Trauer zu rituali-
kau, sie konnten bloß schwer begreifen, sieren, sie zu zähmen, damit sie nicht ge-
dass es gerade ihn getroffen hatte, Roman, fährlich wird. Mose wurde 30 Tage lang
dem der Tod nicht stand. beweint. Die Parsen, eine religiöse Ge-
Als Roman acht Jahre alt war, schrieb meinschaft in Pakistan und Indien, bauen
er einen Brief an seine Nachkommen, in Türme des Schweigens, auf denen die Lei-
dem er ihnen seine Werte erklärte: Weis- chen ihrer Gemeinschaft von Geiern ver-
heit und Gerechtigkeit. Später lernte er in zehrt werden. Beim Tod Steve Jobs’ legten
Dublin, Computer zu programmieren, or- Menschen angebissene Äpfel vor Apple-
ganisierte Partys in Moskau und gründete Stores. Das Volk der Yanomami verbrennt
Start-ups im Silicon Valley, die alle schei- die Knochen seiner Toten, dann mischt es
terten. Alles an der Zukunft interessierte die Asche in einen Bananenbrei und ver-
ihn, das Weltall und künstliche Intelligenz, speist diesen. In Deutschland schaltet man
das Zerschlagen alter Ordnungen, der Au- eine Anzeige in der Zeitung und lädt zum
genblick, Mode und Schönheit. Seine beste Kaffee ins Gasthaus.
Freundin Eugenia Kuyda verglich ihn mit Alle diese Rituale, so seltsam sie auch
einem Flamingo, der in einer Etagenwoh- anmuten mögen, haben einen Sinn: ein
nung lebt, ein rares Lebewesen an einem Ende zu finden, ins Leben zurückzukeh-
fremden Ort, schön, aber sensibel. Jetzt ren, die Gemeinschaft nicht zu gefährden,
war der Flamingo tot. die weiterexistieren soll. Wie gefährlich ist
Eugenia war 29 Jahre alt, und Roman es, die alten Rituale zu ignorieren und ein
war der erste Tod in ihrem Leben. Sie wa- neues Ritual zu erfinden? Was ist, wenn
ren kein Liebespaar gewesen; vielleicht das Ritual der Zukunft wäre, kein Ende
waren sie mehr als das, sie waren Gefähr- zu finden?
ten, die sich alles anvertrauten, all die Ba- Einen Tag vor der Beerdigung holte Eu-
nalitäten, all die Gedanken, die Pläne, die genia Romans Sachen aus seinem Zimmer.
Abstürze, die Depressionen. Sie hatten Ein paar Polaroids mit Partybildern. Eine
sich gegenseitig immer wieder aufgerichtet. Geburtsurkunde. Schlüssel einer ihr unbe-
Romans Freunde weinten neben ihr, sie Chat-Verlauf mit Mazurenko-Simulation kannten Tür. Eine alte Kamera. Ein paar
nahmen Abschied. Einen Untoten erschaffen Klamotten. Wie wenig doch blieb, dachte
Eugenia weinte nicht. Sie nahm keinen sie, wie wenig Wichtiges ein Mensch am
Abschied. Ende hinterlässt. Nur eines blieb von Ro-
Roman nicht mehr sprechen zu können man, das ihr etwas bedeutete, und das war
erschien ihr absurd. Im Gegensatz zu ih- auf merkwürdige Art mehr Roman als Ro-
rem Freund war Eugenia im Leben alles man selbst.
gelungen, alles war erreichbar gewesen, Eugenia und er hatten sich geschrieben,
die London Business School, das Moskauer jeden Tag, jede Stunde, gierig, auf Face-
Institut für Internationale Beziehungen, book, auf Instagram, auf WhatsApp. Zehn-
die Universität von Mailand. Sie war CEO tausende Zeilen Text, acht Jahre lang.
in San Francisco mit einem Etat von 4,3 Manchmal saßen sie nebeneinander und
Millionen Dollar, sie wurde vom Magazin schrieben sich, weil das leichter war, als
„Forbes“ zu den wichtigsten jungen Tech- schwere Gedanken auszusprechen. Sie wa-
nologieunternehmern gezählt. Jetzt war ren sich Therapeuten gewesen. Deshalb
ihr das erste Mal etwas passiert, was außer hatte das, was auf ihren Bildschirmen auf-
ihrer Macht stand. Ein Mensch war gestor- blinkte, mehr Leben als die Realität. Oder
ben. Immer und immer wieder las sie Ro- vielmehr: Der Text war die Realität.
mans letzte Nachrichten. Eugenia überlegte, was wäre, wenn sie
weiterschriebe und Roman weiter antwor-
Roman, was machst du? tete. Wenn sie seinen Rat einholte, wenn
Ich genieße den blauen Himmel. Wird bald er selbst sie tröstete, über seinen eigenen
Zeit, mir einen Kaffee zu machen. Lebenskünstler Mazurenko um 2014 Tod. Wenn Roman also weiterlebte wie
Roman, wie geht es dir? „Ich vermisse dich auch“ bisher, fast wie bisher, mit dem einzigen
Ganz okay. Unterschied, dass sie ihn nicht sehen, nicht
Roman, welchen Film soll ich mir an- hören, nicht anfassen könnte. So könnte
schauen? sie es aushalten, dachte Eugenia.
Hier ist ein Film über den Sohn eines
Quantenphysikers. Parallele Welten, pa- Roman, bist du da?
rallele Leben. Absolut wow! Nein, ich habe schon das Haus verlassen.
Roman, wo bist du? Roman, ich brauche deinen Rat.
Bin gerade im Studio. Komm her! Denk nicht an die schlechten Sachen. Ich
V
orige Woche war ich mit zwei amerikanischen Einen Abend vor der Inauguration spielten sie mir Tom
Freunden in Österreich zum Skilaufen. Das ist ein Lehrers Lied „Wernher von Braun“ vor. Lehrer war in
Satz, den ich als Junge geliebt hätte. Aber so ein- den Sechzigerjahren populär, wirkt aber immer noch sehr
fach ist es nicht. lustig und sehr verstörend. „Once the rockets are up, who
Unsere New Yorker Freunde sind Langläufer, wir Ab- cares where they come down? ,That’s not my department‘,
fahrer. Ich komme aus einem Land ohne nennenswerte says Wernher von Braun“, singt Lehrer mit gespieltem
Abfahrtshänge. Es gab Hügel in Ostdeutschland und so- deutschen Akzent. Wem meine Raketen am Ende die Hüt-
genannte Kombiski, mit einer Bindung, die man je nach te weghau’n? Ist mir egal, sagt Wernher von Braun.
Gefälle umstellen konnte. Wie die meisten Kombiproduk- Er sang mir direkt ins Ohr. Braun half erst den Nazis
te waren sie zu gar nichts zu gebrauchen. Im Winter nach beim Raketenbauen, später den Amerikanern, vor
der Wiedervereinigung kaufte ich mir Abfahrtsski und allem aber war er Deutscher.
fuhr in die Berge. Das mache Ich beschloss – als diplo-
ich seitdem jeden Winter. matische Geste – einen Tag
Nicht weil ich es so mag, eher auf den Abfahrtslauf zu ver-
weil ich es kann. zichten und mit meinen Freun-
Glücklicherweise kommen den auf die Loipe zu gehen.
unsere Freude aus New York Sie wählten eine schwierige
und können mit Andersartig- Strecke. Es ging auf und ab,
keit gut umgehen. Sie beka- ich war ziemlich ausgepumpt,
men keine schlechte Laune, als wir schließlich durchs Leu-
als wir unsere Abfahrtsski ne- taschtal liefen. Meine Freun-
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL
MARC-STEFFEN UNGER
Deutsche Bank
Aufteilung unerwünscht
Das Kreditinstitut kämpft in Berlin dafür, das Trennbankengesetz aufzuweichen.
Die Deutsche Bank wehrt sich gegen eine drohende Auf- schränkt, unter Präsident Donald Trump gelockert werden.
spaltung. Bis Ende Juni müssen deutsche Kreditinstitute In Deutschland könnte der Umbau der Bank zu einer
das Trennbankengesetz umgesetzt haben, das den Wert- Holding das Problem lösen. Auch Aufsichtsbehörden sähen
papierhandel auf eigene Rechnung verbietet und riskante das gern, weil eine solche Struktur im Krisenfall die Ab-
Geschäfte mit Hedgefonds einschränkt. Diese Bereiche wicklung einer Bank erleichtern würde. Doch die Deutsche
müssen eingestellt oder abgetrennt werden. Außerdem Bank hält ein Holdingmodell wegen des hiesigen Aktien-
müssen Banken ihre Überwachungssysteme so ausbauen, und Steuerrechts für nicht praktikabel.
dass sie das Zocken unter dem Deckmantel von Kundenge- So wird das Management bei der Bilanzvorlage kommen-
schäften unterbinden. Eine Aufspaltung wird die Deutsche de Woche nicht den großen strategischen Wurf präsentieren,
Bank wohl abwenden, sie fährt die betroffenen Geschäfte auf den viele Investoren warten. Ein Paket von Maßnahmen
herunter. Aufsichtsratschef Paul Achleitner hat bis zuletzt wird intern diskutiert: Der Börsengang einer Minderheit
bei der Bundesregierung auf eine Aufweichung des Geset- der Vermögensverwaltung ist wahrscheinlich. Ein Team von
zes gedrängt, um ein Jahr war die Frist für die Umsetzung 20 Mitarbeitern bereitet zudem die Wiedereingliederung der
schon verlängert worden. Sein Argument: Deutschen Ban- Postbank vor. Aber dies würde viel Geld kosten und ist des-
ken drohten Wettbewerbsnachteile, da ein für die EU halb noch nicht beschlossen. Eine Kapitalerhöhung zögert
geplantes Trennbankengesetz auf Eis liege. In den USA soll die Bank hinaus, sie will das Ende der Verhandlungen über
die „Volcker Rule“, die ebenfalls das Handelsgeschäft ein- höhere Kapitalanforderungen der Regulatoren abwarten. mhs
Öffentlicher Verkehr tag hervor. „Deutschland genannten MobilPass einfüh- Auch die Bezahlung soll
Per App-Buchung muss ran an die historischen ren. Mit nur einer App ließe automatisch erfolgen. „Mit
von Tür zu Tür Strukturen und endlich die
nicht aufeinander abgestimm-
sich dann die gesamte Reise
von Tür zu Tür über alle Ver-
einem übersichtlichen Ange-
bot, nachvollziehbaren Prei-
Die Grünen wollen die mehr te Mobilität zwischen Bahn, kehrsmittel hinweg buchen, sen und einer unkomplizier-
als 130 Verkehrsverbünde in Rad und Auto erneuern“, da in den MobilPass nicht nur ten Nutzung wird die Mobili-
Deutschland durch einen bun- heißt es darin. „Die Nutzung öffentliche Verkehrsmittel tät der Zukunft so einfach
desweit einheitlichen Stan- öffentlicher Verkehrsangebo- wie Bahnen und Busse inte- wie die Onlinebestellung von
dard überflüssig machen. Das te muss kinderleicht werden.“ griert werden sollen, sondern Pizza“, so Oliver Krischer,
geht aus einem Papier der Um das Ziel zu erreichen, auch Car- und Bikesharing- stellvertretender Vorsitzender
Verkehrspolitiker im Bundes- wollen die Grünen einen so- Angebote, Taxis und Fähren. der Grünen im Bundestag. böl
Monsanto-Übernahme hoch“ wie „der Jahresumsatz BMW Grundeinkommen für all jene
Risikoanalyse der vereinten Geschäftsberei- Betriebsrat fordert Arbeitnehmer finanzieren,
für Merkel che von Bayer Crop Science
und Monsanto“. Die Finan- Digitalsteuer die wegen des digitalen Wan-
dels ihren Job verloren
Das Kanzleramt hält die ge- zierungskosten für den Bayer- Unternehmen sollen künftig haben. Jeder Betroffene, so
plante Übernahme des um- Konzern dürften deshalb für die Verlierer des digitalen Schoch, solle mindestens
strittenen US-Konzerns Mon- „trotz des Niedrigzinsumfel- Wandels aufkommen. Das 1538 Euro pro Monat erhal-
santo durch die deutsche Bay- des signifikant sein“, so das fordert BMW-Betriebsrats- ten – den Mindestlohn für
er AG „industriepolitisch für Dokument. Bayer und Mon- chefs Manfred Schoch. „Viele 174 Arbeitsstunden. sh
sinnvoll“, sieht in dem Pro- santo hätten im Falle einer Menschen verlieren durch die
jekt aber „durchaus Risiken“. Fusion auf dem US-Markt Digitalisierung ihren Arbeits-
So steht es in einer Vorlage zusammen einen Marktanteil platz“, sagt Schoch, „dafür
für Bundeskanzlerin Angela von 70 Prozent bei Baum- sollten die Arbeitgeber Ver-
Merkel. Die Fusion gebe Bay- wollsaatgut. Es sei damit zu antwortung übernehmen, die
er die Chance, „sich im wich- rechnen, „dass Teile dieses diese Probleme verursacht
Befehls-Wirtschaft
Welthandel US-Präsident Donald Trump will die ameri-
kanische Konjunktur ankurbeln. Internationale Abkommen
und die Grundregeln der Ökonomie interessieren ihn nicht.
Das ist brandgefährlich für die deutsche Exportindustrie.
Was für ein Auflauf in diesen haben keinen Platz mehr im neuen ameri-
Wochen vor dem Trump kanischen Populismus.
Tower auf der 5th Avenue, Das pazifische Freihandelsabkommen
mit einer nicht enden wollen- TPP kündigte Trump auf, andere will er
den Parade von Stretchlimousinen und ge- neu verhandeln, diese „lächerlichen Deals“,
panzerten S-Klassen: Die Chefs von Ford, die er als die Quelle des amerikanischen
Tesla, Boeing und Dutzende andere, sie Niedergangs ausgemacht hat, „sie haben
alle kamen zur Audienz. „Großartige Un- den Wohlstand aus unserem Mittelstand
terhaltungen, fantastisch, fantastisch“, ver- herausgerissen und über die Welt verteilt“.
kündet der Präsident, aber auf der anderen Noch am selben Montag bestellte er ein
Seite herrscht weitgehend Schweigen. Dutzend der wichtigsten amerikanischen
So viel aber ist zu hören, hinter den Manager ein, stellvertretend für die füh-
Kulissen: Sie kommen nicht, um sich zu renden Branchen des Landes, Trump nann-
besprechen oder gar Donald Trump, den te es eine „listening session“, eine Zuhör-
neuen Präsidenten, zu beraten, sondern runde. Aber zuhören wollte nicht der
um sich abzusichern. Defensivtaktik, denn Präsident, zuhören sollte die Wirtschaft,
vielleicht schießt der neue Präsident we- Befehlsempfänger, denen die Regeln der
niger scharf auf die, die er kennt. neuen Zeit mitgeteilt werden. „America
Die Topmanager in den deutschen First“, das ist nun die einzig relevante Phi-
Konzernzentralen verfolgen den Strom losophie, und wer mitzieht, wird belohnt:
von Audienzen genau, irritiert, nervös, be- durch massive Steuersenkungen und In-
sorgt. Trump ist Tabuthema in der Öffent- vestitionsspritzen.
lichkeit – und Dauerthema in internen Wer dagegenhält, wird bestraft: mit
Zirkeln. Zöllen, Spezialsteuern, staatlichen Repres-
Die Angst ist groß, zur Zielscheibe zu salien und vor allem mit dem Zorn des
werden, denn niemand weiß, welche Re- Präsidenten. Verkündet per Twitter, ge-
geln noch gelten in diesen Zeiten, in denen folgt von Kursstürzen an der Börse.
Milliardenwerte per Tweet vernichtet wer- Die erste Woche des Präsidenten war
den können. Zeiten, in denen nicht klar eine Machtdemonstration, voller Ein-
ist, wer noch Freund ist, wer Feind. schüchterungsversuche und Drohungen,
Zeiten, in denen sich der neue amerika- eine Woche, in der sich neue, ganz grund-
nische Präsident am ersten Arbeitstag sei- sätzliche Fragen stellten: Kann Trump
ner ersten Woche radikal abkehrt vom seit wirklich die ökonomischen Grundregeln
Jahrzehnten wichtigsten Motor der Welt- außer Kraft setzen, die multinationalen
wirtschaft: Freihandel und Globalisierung Konzerne dazu zwingen, Profite zu maxi-
Exportweltmeister Importweltmeister
Leistungsbilanzüberschuss* 2015 pro Kopf, in $ Leistungsbilanzdefizit* 2015 pro Kopf, in $
* der sechs Staaten mit dem jeweils größten Leistungsbilanzüberschuss
bzw. -defizit insgesamt; Güter und Dienstleistungen; Quellen: IWF, Weltbank
Schweiz
9089
mieren und Kosten zu minimieren? Kann macht, aber schon an nächster Stelle wird diesem Angriff zu begegnen ist: gelassen,
die Globalisierung per Tweet zurückge- Deutschland stehen, die Exportnation. Kei- auf die Stärke jahrzehntelanger Beziehun-
dreht werden? Und vor allem: Riskiert der ne große Volkswirtschaft lebt mehr vom gen, auf die Regeln der Weltwirtschaft und
US-Präsident einen globalen Handelskrieg, freien Austausch von Waren und Dienst- ihrer Institutionen, auf Rationalität ver-
um seine innenpolitische Agenda durch- leistungen, vom grenzenlosen Handel und trauend? Aber lässt sich so mit einem erra-
zusetzen? Die Antwort auf alle diese Fra- barrierefreien Export, als die deutsche. tischen Populisten umgehen? Oder gilt es
gen lautet: ja, für den Moment zumindest. Ein seit dem Zweiten Weltkrieg einma- nicht vielmehr, Gegenmaßnahmen vorzu-
Die Folgen dieser radikalen Politikwen- liger Einschnitt in den transatlantischen bereiten, Verbündete zu suchen, in Asien
de bleiben nicht auf die USA beschränkt. Beziehungen zeichnet sich ab, ein radika- etwa, vielleicht sogar Vorteile zu schlagen
Wenn sich die größte und einflussreichste ler Bruch. Vielleicht sogar der Wandel von aus einem entstehenden Vakuum?
Volkswirtschaft bewegt, sind die Erschüt- Freund zu Feind, so muss man fürchten, In jedem Fall steht vieles auf dem Spiel,
terungen überall zu spüren: Eine neue wenn der US-Präsident einem deutschen so verwundbar, wie die Welt bereits ist in
Weltwirtschaftsordnung entsteht. Und sie Autokonzern öffentlich Strafzölle von 35 diesen Tagen, so verunsichert und wacke-
ist ein Angriff auf das deutsche Modell. Prozent androht, wenn er warnt: „Ihr wart lig: Die Folgen einer Wirtschaftskrise, gar
In seinen Wahlkampfreden und Tiraden sehr unfair den USA gegenüber.“ Damit eines globalen Handelskriegs, wären wohl
gegen die Globalisierung hat Trump vor soll nun Schluss sein. In Konzernzentralen katastrophal, für Deutschland, für die Wah-
allem China und Mexiko als Feinde ausge- und Kanzleramt wird jetzt gerätselt, wie len im Herbst, mit am rechten Rand lau-
DER SPIEGEL 5 / 2017 65
Wirtschaft
ernden Populisten, die nur zu gern einen setzt stattdessen fast ausschließlich auf cil ist Gary Cohn, bis vor Kurzem Chief
deutschen Trumpismus hätten und sich auf- „Business Men“: Männer, die Milliarden Operating Officer bei Goldman Sachs.
spielen würden als Anwalt vermeintlicher oder wenigstens Millionen in der freien Chefstratege Stephen Bannon war Mana-
Globalisierungsopfer. Wirtschaft gemacht haben. Sie folgen ger bei Goldman Sachs.
Viel wird davon abhängen, welche wirt- keiner einheitlichen ideologischen Linie, Im Wahlkampf noch hatte Trump immer
schaftlichen Rezepte Trump tatsächlich im Gegenteil. Die einen wollen Protek- wieder Hillary Clinton für ihre engen Be-
zusammenrühren wird und wie sie an- tionismus, andere gelten als Freunde der ziehungen zur Finanzindustrie attackiert.
schlagen werden, ob Amerika zu taumeln Globalisierung. Die einen wollen riesige Viele seiner Anhänger sehen die Wall
beginnt oder tatsächlich stärker wird, we- staatliche Infrastrukturprogramme, andere Street als Kern der Verschwörung gegen
nigstens vorübergehend. den Haushalt radikal zusammenkürzen. die Bürger, als treibende Kraft des zu be-
Steuerkürzungen und zusätzliche Staats- Die einen stehen für entfesselte Märkte, kämpfenden Establishments.
ausgaben werden mehr Wachstum und andere fordern die staatliche Regulierung In solchen krassen Widersprüchen spie-
einen langen Aufschwung bringen, so von Schlüsselindustrien. Manche sind erz- gelt sich, wie zutiefst unzufrieden die Ame-
verspricht es der neue Präsident, und die konservativ, andere liberal. rikaner mit dem langsamen Wirtschafts-
Aktienmärkte wollen es glauben. Es sei Wer sich durchsetzen wird, ist unklar, wachstum der Obama-Jahre wirklich sind.
an der Zeit, sich zu freuen, sagen die mit Absicht. Der Präsident hat den Einfluss Sie sehnen sich so sehr nach der Boom-
Optimisten. Wenn es den Amerikanern seiner Berater auf mehrere Machtzentren stimmung und den Wachstumsraten ver-
gut geht, werden die Drohungen Trumps verteilt. Am Ende soll nur einer entschei- gangener Jahrzehnte, dass alle Mittel recht
schnell verblassen. den, im Zweifelsfall auch ad hoc, je nach scheinen.
Die globalisierungsfeindliche Wirtschafts- Stimmungslage. Unberechenbarkeit gehört Aktienmärkte und Verbraucher stören
politik kann nur in einem weltweiten Han- im Trumpismus zum System. Widersprü- sich nicht weiter daran, dass viele der
delskrieg enden, tödlich für die Innova- che und Konflikte werden gezielt gefördert. Schlagwörter aus Trumps Wirtschaftsplan
tionskraft der Unternehmen, die gesamte Grundsätzlich spaltet sich Trumps Team, nicht zusammenpassen, sich sogar gegen-
Weltwirtschaft wird in einer Rezession ver- unabhängig von ideologischen Linien, in seitig ausschließen. Der Dow-Jones-Index
sinken. Damit rechnen die meisten Öko- zwei Lager. kletterte vergangene Mittwoch auf einen
nomen. Es sei an der Zeit, sich zu fürchten, Da ist einerseits eine zusammengewür- historischen Höchststand. Die Zuversicht
sagen die Pessimisten. Je schlechter es felte Ansammlung von Spekulanten und der Verbraucher ist so groß wie zuletzt vor
der amerikanischen Wirtschaft gehe, desto Krisenprofiteuren, Provokateuren und Ex- den Anschlägen vom 11. September 2001.
radikaler würden die Maßnahmen des Prä- tremisten. Vorsitzender des Council of Eco- Der Enthusiasmus wird getrieben von
sidenten ausfallen. nomic Advisers wird wohl ein TV-Modera- der Aussicht auf Steuersenkungen in Billio-
In diesen Tagen hat Trump begonnen, tor werden. In Zentralbankfragen hört er nenhöhe, vor allem für Unternehmen. Das
das Team zu formen, es soll seine bislang auf eine erzkonservative Lobbyistin, die den soll Wirtschaft und Verbraucher zum Inves-
nur groben Wahlkampfschlagworte zu kla- Goldstandard wieder einführen will. In der tieren und Konsumieren antreiben, das ent-
ren Plänen für die Finanz- und Steuerpoli- Energiepolitik auf einen Ölmilliardär. stehende Wirtschaftswachstum wiederum
tik, für Notenbank, Industrie und Handel Auf der anderen Seite feiert die Wall genügend Geld in die Staatskassen spülen,
ausarbeiten. Street ihre politische Auferstehung. Finanz- um die Kürzungen wieder auszugleichen.
Er hat dazu nicht die besten Ökonomen minister soll Steven Mnuchin werden, lan- Durch die Steuersenkungen werde die
des Landes versammelt wie seine Vorgän- ge Partner und Vorstand bei Goldman Wirtschaft „wie ein Rakete abgehen“ mit
ger, auch das ist ein klares Zeichen. Trump Sachs. Leiter des National Economic Coun- Wachstumsraten von bis zu fünf Prozent,
Absatzmarkt USA Pkw-Verkäufe der deutschen Autohersteller in den Vereinigten Staaten 2016, Angaben gerundet
MERCEDES BMW
Autoproduktion Autoabsatz in
in den USA den USA
so verspricht es Larry Kudlow, designierter rede, dann treibe das – neben dem er- abkommen einzuschränken, um so das
Chef des Council of Economic Advisors. wünschten Wachstum – Schulden und In- amerikanische Handelsdefizit von über
Wachstum löse am Ende alle Probleme, flation. „Die Enttäuschung wird groß sein“, 500 Milliarden Dollar zu eliminieren.
auch das Haushaltsdefizit. sagt Edmund Phelps, Wirtschaftsnobel- Die meisten Wirtschaftsexperten halten
Solche Ideen sind nicht neu. Ronald preisträger und Direktor des Zentrums solche Antifreihandelspläne für mindes-
Reagan machte „supply side economics“, für Kapitalismus und Gesellschaft an der tens naiv, eher sogar gefährlich. „Staat-
angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, zu Columbia University. Er warnt vor „einer liche Handelsbarrieren würden der Volks-
Beginn der Achtzigerjahre populär. Sie tiefen, langen Rezession“. wirtschaft schweren Schaden zufügen“,
funktionierte nie wie erwünscht. Je schlechter die US-Wirtschaft läuft, sagt Phelps. Die unmittelbaren Folgen hät-
Zwar trieben die massiven Steuerkürzun- desto mehr wird sich Trump wohl auf ver- ten vor allem jene zu tragen, denen Trump
gen tatsächlich das Wachstum auf über drei meintliche Feinde von außen einschießen. Hilfe versprochen hat: die Abgehängten,
Prozent. Gleichzeitig wurden die USA aber Desto aggressiver werde seine Politik wer- die Globalisierungsverlierer. Sie sind be-
unter Reagan zur größten Schuldnernation den, mit Strafmaßnahmen gegen „auslän- sonders auf niedrige Preise angewiesen.
der Welt mit einem enormen Haushalts- dische Dumping-Anbieter“ und Attacken Wenn Zölle aber die Preise importierter
defizit. Reagans ehemaliger Finanzdirektor auf jeden, der neue Fabriken nicht in Mil- Waren in die Höhe treiben, sinkt ihr Le-
nannte den Ansatz im Nachhinein „kom- waukee baut, sondern in Mexiko. bensstandard unmittelbar.
plett falsch“. Sein Nachfolger George H. W. Im Detail ausarbeiten soll diese Politik Expertenmeinungen haben Trump bis-
Bush sprach von „Voodoo Economics“, ei- Peter Navarro, Professor an der University lang jedoch nicht gestört. Er hat ver-
ner von magischem Wunschdenken ge- of California in Irvine, Leiter des neu ge- sprochen, den Wohlstand zurück in die
trieben Wirtschaftspolitik. Bush sah sich zu schaffenen National Trade Council. rostigen amerikanischen Industriestädte
deutlichen Steuererhöhungen gezwungen. Navarro ist ein Außenseiter, in mehr- zu bringen, und in den vergangenen Wo-
Unter Ökonomen ist deswegen, unab- facher Hinsicht. Er ist der einzige Ökonom chen sah es so aus, als sei er bereit, im
hängig von ihrer politischen Ausrichtung, im Team des Präsidenten. Und er ist nahe- Zweifelsfall jedes Unternehmen einzeln
die Angst groß, dass die Trumponomics zu der einzige Ökonom in den USA, der unter Druck zu setzen, das Jobs ins Aus-
auf lange Sicht ähnlich desaströs enden den Freihandel grundsätzlich für eine land verlagern will.
werden wie die Reagonomics: mit enor- schlechte Idee hält und hohe Strafzölle be- Sein erstes Opfer war United Technolo-
men Haushaltsdefiziten, einer noch stärker fürwortet. China sei eine Gefahr, ein Land, gies, ein Mischkonzern, der einige Hundert
ausgehöhlten Mittelschicht und einer das sich nicht an die Regeln halte, sagt Na- Jobs von Indiana nach Mexiko verlagern
schwer angeschlagenen Volkswirtschaft. varro. Er produzierte einen Dokumentar- wollte. Trump stellte das Unternehmen an
Vielleicht auch mit einem Börsencrash. film, „Death by China“, Tod durch China. den Twitter-Pranger. Der Konzern will die
Nikolaus von Bomhard, Vorstandsvor- Unterstützt wird Navarro von Wilbur Jobs nun teilweise in den USA belassen.
sitzender des Rückversicherers Munich Re, Ross, dem neuen Handelsminister. Der ver- Inzwischen haben auch Ford, General
hält den jüngsten Aufschwung am Aktien- diente Milliarden mit Wertpapieren und Motors und ein halbes Dutzend weiterer
markt für überzogen. Insbesondere sei verglich Freihandelsabkommen mit Leib- Unternehmen Pläne geändert, Teile ihrer
bedauerlich, dass „ein Teil der Kursbewe- eigenschaft. Vergangenen Herbst schrieben Produktion nach Mexiko zu verlagern,
gungen teuer erkauft ist, etwa zulasten des die beiden gemeinsam einen Aufsatz, in nachdem sie von Trump öffentlich ange-
Engagements gegen den Klimawandel und dem sie die Welthandelsorganisation als gangen worden waren und ihre Börsenkur-
seine Folgen“. Wenn Trump die Infrastruk- wesentlichen Grund für den Niedergang se unter Druck gerieten.
tur ausbaue und die Steuern senke sowie der amerikanischen Industrie ausmachten. All das fühle sich an „wie Wirtschafts-
gleichzeitig dem Protektionismus das Wort Sie fordern, die wesentlichen Freihandels- politik in Zeiten des Faschismus“, sagt No-
belpreisträger Phelps. „Der Anführer kon- weitere Produktion auf. Die Fertigung Bei der Grundsteinlegung hatte Audi-
trolliert die Volkswirtschaft und sagt den des Sprinters für den US-Markt wird von Chef Rupert Stadler noch gerufen: „Viva
Unternehmen, wo es langgeht.“ Düsseldorf nach South Carolina verlagert. México, viva Audi.“ Jetzt mag sich Stadler
Das droht vor allem für die Innovations- Doch mehr als ein Drittel aller Lastwagen, nicht zum Angriff des US-Präsidenten auf
kraft ein Problem zu werden, Grundlage die Daimler in den USA verkauft, stam- ihr Geschäftsmodell äußern, ebenso wenig
jeder dynamischen Wirtschaft. „Unterneh- men aus mexikanischer Fertigung. Ein Zoll wie die Bosse von Daimler und BMW. Al-
men und Gründer werden sich genau über- von 35 Prozent würde dieses Geschäft lenfalls Ausweichendes ist zu hören.
legen, ob sie in ein neues Produkt oder über Nacht unrentabel machen. „Tatsache ist und bleibt, dass die welt-
eine neue Firma investieren, wenn sie sich Ähnlich drastisch wären die Folgen für weite Automobilindustrie weiter auf freien
darum sorgen müssen, von der Regierung VW. Eines der wichtigsten Werke der Handel angewiesen ist“, sagt BMW-Chef
bedroht oder erpresst zu werden“, sagt Wolfsburger steht in Mexiko, in Puebla. Krüger. „Ich glaube, dass die Integration
Phelps. Dort werden der Golf, der Jetta, der Beetle in den Welthandel insgesamt für alle
Zuletzt nahm der Präsident unter an- und demnächst der Tiguan produziert. Aus Beteiligten große Vorteile hat“, sagt Daim-
derem die Pharmaindustrie ins Visier. Er diesem Werk stammen über 60 Prozent ler-Boss Dieter Zetsche. Keiner will Trump
forderte niedrigere Medikamentenpreise aller Autos, die Volkswagen in den USA reizen. Wegducken ist das Motto der Stun-
und löste damit große Verunsicherung aus verkauft. Zudem errichtet der Konzern ge- de. Im Hintergrund versuchen die Konzer-
bei Pharmakonzernen und Biotech-Start- rade eine Fabrik in San José Chiapa, aus ne, Kontakte zu Vertrauten des US-Präsi-
ups: Was, wenn die Regierung künftig Prei- der die Tochter Audi den Geländewagen denten aufzunehmen und dafür zu sorgen,
se festsetzt? Ist es besser, erst einmal In- Q5 vor allem in die USA exportieren will. dass die Fakten über das Engagement der
vestitionen einzufrieren? deutschen Hersteller in den USA irgend-
Trump stoppen solche Bedenken nicht, wann beim Präsidenten ankommen.
er ist fixiert darauf, seine neue Wirtschafts- Deutschlands Außenhandel Einige deutsche Unternehmen, die in
ordnung durchzusetzen, nicht nur im ei- Die wichtigsten Partner den USA sehr präsent sind, könnten von
genen Land, sondern global. Deutsche Un- den Trumponomics mit ihren gewaltigen
ternehmen hat er dabei schnell als nächs- Ausgaben für Infrastrukturprojekte sogar
tes Ziel ausgemacht. profitieren. Und auch vom verminderten
BMW drohte er mit einem Strafzoll von EU Umweltschutz.
35 Prozent, sollte der deutsche Autobauer 56% „Wir erwarten von unseren Unterneh-
eine neue Fabrik in Mexiko errichten. Er men, dass sie sich nicht politisch weg-
sagt: „Autokonzerne und andere Unter- ducken oder gar vermeintlichen Vorteilen
nehmen, die in unserem Land Geschäfte Umsatz 2015 einer autoritären Wirtschaftspolitik das
machen wollen, müssen wieder anfangen, gesamt* Wort reden“, sagt Michael Vassiliadis, Vor-
hier zu produzieren.“ 2603 Mrd. € sitzender der IG Bergbau, Chemie, Ener-
Bei seiner Attacke auf die deutsche restliche gie. „Wer in Deutschland seit Jahren mehr
Autoindustrie hat der US-Präsident sich Welt USA Weltoffenheit, Flexibilität und Globalisie-
ausgerechnet ein Unternehmen vorgenom- 23% 9% rung einfordert, kann sich nicht mit ame-
men, das als Musterbeispiel für den per- China rikanischem Protektionismus stillschwei-
Schweiz
fekten Investor in den USA gelten kann. 7% gend arrangieren.“
5%
BMW produziert seit mehr als 20 Jahren Ihre Zurückhaltung werden die deut-
in Spartanburg in South Carolina. 2016 wur- schen Wirtschaftsführer ohnehin aufgeben
davon:
den dort über 411 000 Geländewagen mon- deutsche Exporte in die USA, in Mrd. Euro
müssen, denn Trumps Politik ist ein Fron-
tiert – und damit deutlich mehr Fahrzeuge, talangriff auf das deutsche Exportmodell.
als BMW insgesamt in den USA verkauft. gesamt 143 Die Volkswirtschaft hängt in besonderer
Zusammen mit seinen Lieferanten beschäf- wichtigste Güter Weise vom Außenhandel ab, etwa jeder
tigt BMW rund 70 000 Menschen in den Automobil 34 vierte Arbeitsplatz hat mit dem Auslands-
USA. Und es sollen mehr werden. Chemie und Pharma 20 geschäft zu tun. Die globale Orientierung
BMW trägt auch dazu bei, die US-Han- Maschinen 18 vieler Unternehmen bestimmt Wohl und
delsbilanz zu verbessern. 70 Prozent der Wehe des Standorts, nicht erst seit Jahren
Fahrzeuge, die BMW in den USA baut, wer- wichtigste Dienstleistungen – seit über einem Jahrhundert.
den exportiert. Die Bayern sind mit Aus- F &E** 8 *Summe der Für die deutsche Wirtschaft lief es im-
Im- und Exporte von
fuhren im Wert von knapp zehn Milliarden Transport 6 Gütern und mer dann am besten, wenn der Weltmarkt
Dollar der größte Autexporteur der USA. IT-Dienstleistungen 5 Dienstleistungen offen war und die Warenströme ungehin-
** Forschung und
„Wir nennen die USA auch unser ‚second Entwicklung dert fließen konnten. Von der Öffnung der
home‘“, sagt BMW-Chef Harald Krüger. östlichen Hemisphäre, insbesondere Chi-
Bislang hat die Drohung des US-Prä- deutsche Importe aus den USA, in Mrd. Euro nas, hat Deutschland wie kaum eine ande-
sidenten in München keine nachhaltige 87 gesamt re etablierte Volkswirtschaft profitiert. Die
Wirkung entfaltet. BMW lässt die Fabrik wichtigste Güter Präsidentschaft von Donald Trump könnte
in Mexiko weiterbauen. Der Hersteller 14 Chemie und Pharma nun das Ende dieser Konstellation markie-
könnte die Limousinen der 3er-Reihe, die ren, vorläufig zumindest.
11 Elektronik
ab 2019 dort gefertigt werden sollen, auch Zuletzt konnte Deutschland im weltwei-
in andere Länder exportieren. 7 Automobil ten Außenhandel noch einen Rekordüber-
Wenn Einfuhrzölle auf Fahrzeuge aus wichtigste Dienstleistungen schuss erzielen, die Volkswirtschaft hat
Mexiko deutsche Autohersteller treffen 7 Transport Waren im Wert von 260 Milliarden Euro
könnten, dann eher Daimler und den VW- 5 IT-Dienstleistungen mehr exportiert als importiert, das ent-
Konzern. Zwar produziert auch Daimler 4 F &E** spricht mehr als acht Prozent der gesamten
seit Langem Pkw und Lkw in den USA. Wirtschaftsleistung. Vor allem der Aus-
Die Stuttgarter bauen derzeit gerade eine Quelle: Bundesbank und Statistisches Bundesamt tausch mit Amerika lief aus deutscher
Sicht glänzend; 54 Milliarden Euro des ge- „Die Globalisierung ist nun am Ende mit ihren mexikanischen Zulieferern
samten Warenüberschusses stammen aus angelangt und wird allmählich ersetzt von pflegen. „Die Abgeordneten aus North
den Wirtschaftsbeziehungen zu den USA. einer Welt, in der sich deutliche Schwer- Carolina oder Alabama werden Trump
Dieses massive Ungleichgewicht störte die punkte bilden“, beschreiben die Ökono- drastisch vor Augen führen, welche Kon-
Amerikaner schon lange bevor Trump Prä- men der Credit Suisse die neue Weltlage. sequenzen das hätte“, heißt es im Wirt-
sident wurde. Wie aber lässt sich ein sol- Die globale Wirtschaftsordnung, wie sie schaftsministerium.
ches Missverhältnis korrigieren? bisher bestand, ist damit Geschichte, „sie Sollte Trump trotzdem Ernst machen,
Man kann der Industrie hierzulande zerbröselt gerade“, sagt der Hamburger müsste die Exportwirtschaft allerdings
schließlich ihre Exportstärke und Produkt- Ökonom Thomas Straubhaar. Die interna- drastische Einschnitte verkraften.
erfolge kaum zur Last legen – wohl aber tionale Arbeitsteilung der Welt sortiert sich Damit es nicht so weit kommt, sucht die
der deutschen Wirtschaftspolitik ankrei- neu – und Deutschland muss seine Rolle Berliner Regierung nach Alternativen zum
den, dass die Nachfrage im Inland noto- darin noch finden. Atlantikhandel. Mit Interesse haben die
risch schwach bleibt: Verbraucher und Un- Mit großer Sorge schaut deswegen das deutschen Handelspolitiker verfolgt, wel-
ternehmer geben zu wenig Geld auf dem gesamte politische Berlin nach Washing- che Reaktionen Trumps Entscheidung her-
Heimatmarkt aus. Der Bonner Ökonom ton. Im Bundeswirtschaftsministerium ste- vorgerufen hat, alle Gespräche über TPP,
Carl Christian von Weizsäcker hat eine hen die Rechensysteme seit der Wahl von eine riesige asiatische Freihandelszone mit
Idee entwickelt, wie sich der Import stär- Trump nicht mehr still. Mit sogenannten den USA, zu stoppen. Westliche Staaten
ken ließe, ohne den Export zu schwächen. stochastischen Gleichgewichtsmodellen un- wie Australien oder Neuseeland kündigten
Weizsäcker schlägt eine sogenannte tersuchen die Beamten, wie sich Trumps an, den geplanten Wirtschaftsraum nun
Leistungsbilanzbremse vor: Das Parlament wüste Ankündigungen und seine ersten ohne die USA, aber möglicherweise mit
senkt die Mehrwertsteuer, deshalb konsu- Amtshandlungen auf die deutsche Wirt- China zu gründen. So weit wie möglich
mieren die Bürger mehr, sie kaufen Im- schaft auswirken würden. soll davon auch die deutsche Wirtschaft
portgüter und beflügeln so die Konjunktur Das Ergebnis: Schottet der mächtigste profitieren, plant die Regierung in Berlin.
in den Lieferantenländern. „Die Leistungs- Mann der Welt den US-Binnenmarkt ab, Eine Kette von Handelsabkommen soll
bilanzbremse wäre“, so Weizsäcker, „eine könnte das deutsche Wachstum, je nach deutschen Konzernen den Zugang zu der
starke Waffe gegen den neu erstarkenden Ausmaß der trumpschen Handelsschran- Boomregion im Pazifik bahnen.
Protektionismus, der eine Gefahr für die ken, um bis zu einem Dreiviertelpunkt Vor knapp sechs Jahren hat die EU ei-
deutsche Prosperität darstellt.“ Vorausge- niedriger ausfallen. Als Horrorszenario ha- nen ersten Handelsvertrag mit Südkorea
setzt allerdings, dass die Bundesregierung ben die Ministeriumsexperten eine Kündi- abgeschlossen; seither sind die deutschen
sich von der Schuldenbremse verabschie- gung des Freihandelsabkommens Nafta Ausfuhren um rund 50 Prozent gestiegen.
det – was unwahrscheinlich ist. ausgemacht, das die USA, Mexiko und Den größten Effekt aber verspricht sich
Wahrscheinlicher ist, dass es der deut- Kanada vor über zwei Jahrzehnten ab- die Bundesregierung von besseren Bezie-
schen Exportwirtschaft ohnehin schwerer geschlossen haben. Würde Trump den Ver- hungen zu China. Eine neue Achse Ber-
fallen wird, ihre Dominanz zu behalten – trag kündigen, würden nach einer Über- lin–Peking könnte die alte transatlantische
und so automatisch der Überschuss in den gangsfrist von sechs Monaten Zölle gelten, Ordnung zumindest teilweise ersetzen.
kommenden Jahren abschmelzen wird. wie sie in der Welthandelsorganisation In ihrer Nachbarschaft nimmt die Sog-
Die Globalisierung verliert an Schwung, WTO im Rahmen der Uruguay-Runde aus- wirkung der chinesischen Volkswirtschaft
die Gewichte in der Weltwirtschaft ver- gehandelt worden waren. bereits seit Jahren zu. Mit der Wahl
schieben sich. Die Hegemonie des Wes- Noch hoffen die Berliner Beamten, dass Trumps erfasst sie auch Staaten, die bis-
tens – Amerikas und Europas – gegenüber es die neue Regierung nicht so weit kom- lang fest in transatlantischen Bündnissen
dem pazifisch-asiatischen Raum verliert men lässt. Sie setzen darauf, dass ein Naf- verankert waren. Europa steht China heute
an Prägekraft und Bedeutung, die globale ta-Stopp auch jene US-Konzerne treffen nicht nur in der Klimapolitik und der Hal-
Welt wird multipolarer und unübersicht- würde, deren Fabriken in den amerikani- tung zu Krisen wie im Nahen Osten oder
licher. schen Südstaaten einen engen Austausch um das iranische Atomprogramm näher
Unternehmen von Welt Auslandsanteil an den Umsätzen großer Firmen, in % Quellen: EY, S&P
Deutsche Telekom
USA DEUTSCHLAND
als Washington, sondern auch in der Han- Region in die Hand geben“ und damit nicht Trump, wir haben eine lange Liste
delspolitik. „geostrategischen Schaden“ anrichten, sagt von Ländern, die mit uns ins Geschäft
Chinas Staatspräsident positionierte sich Michael Froman, der Handelsgesandte von kommen wollen“, sagte sie am vergange-
in den vergangenen Wochen bereits als Expräsident Barack Obama. nen Dienstag in einer Grundsatzrede.
Verteidiger der freien Handelswelt. „Wir Die China-Politik ist nicht der einzige Zurzeit verhandelt die EU mit rund
müssen den Multilateralismus erhalten“, Kernbestandteil der Trumponomics, der 60 Ländern über Freihandelsabkommen.
sagte Xi – und wählte damit einen Begriff, für die Amerikaner am Ende nach hinten Am weitesten fortgeschritten ist Ceta, das
den Trump allenfalls als Schimpfwort losgehen könnte. In seinem aggressiven lange Zeit umstrittene Abkommen mit
benutzt. „Wir wollen ein globales Netz von Vorgehen ignoriert der Präsident gern die den Kanadiern. Im März kommt dann der
Freihandelsabkommen und keine Abschot- ökonomischen Zusammenhänge. japanische Premierminister Shinzo Abe
tung“, so Xi. „Wir sind eine Schicksalsge- So hat sein angekündigtes Konjunktur- nach Brüssel. Seit 2013 verhandelt die EU
meinschaft.“ programm, mit Steuererleichterungen das mit der drittgrößten Wirtschaftsmacht der
Noch in diesem Jahr soll das Frei- Wachstum anzutreiben, nicht nur die Ak- Welt über eine weitreichende beiderseitige
handelsabkommen RCEP unterzeichnet tienmärkte, sondern auch die Marktzinsen Marktöffnung. Nun könnte es schnell zu
werden, Chinas Gegenpakt, der einen und in der Folge den Dollar stark steigen einem Abschluss kommen, hofft Handels-
Wirtschaftsraum von gut drei Milliarden lassen. Das macht die USA einerseits für kommissarin Malmström.
Menschen umfasst und auch westlichen ausländische Exporteure attraktiver und Ein Abkommen mit Vietnam ist kom-
Staaten offensteht. gleichzeitig den amerikanischen Expor- plett ausgehandelt, in Südamerika dient
„Europa sollte jetzt schnell an einer neu- teuren das Leben schwer, da ihre Waren sich die EU als alternativer Handelspartner
en Asien-Strategie arbeiten“, sagte der im Ausland zu teuer werden. zu den USA an, und im Februar fährt eine
neue Außenminister Sigmar Gabriel An- Am Ende könnte die Konjunktur sogar Delegation des Handelsausschusses des
fang der Woche. „Die Räume, die Amerika überhitzen. Die US-Volkswirtschaft ist be- EU-Parlaments nach Mexiko, das Haupt-
frei macht, müssen wir jetzt nutzen.“ Noch reits fast ausgelastet, zieht das Wachstum ziel der trumpschen Aggressionspolitik.
sei China zwar „nicht bereit, ein fairer scharf an, müsste die Geldpolitik normali- Die Europäer haben den Mexikanern ein
Partner auf Augenhöhe für Investoren zu siert werden. „Wenn das nicht geschieht, neues umfassendes Handelsabkommen
sein“, kritisierte er mit Blick auf die droht ein Boom-Bust-Szenario, wie man angeboten. „Da kommt jetzt eine ganz an-
Beschränkungen, denen deutsche Unter- es von Schwellenländern kennt: Auf einen dere Dynamik in die Verhandlungen“, sagt
nehmen dort bislang unterliegen. Doch in kurzen, starken Aufschwung könnte ein Bernd Lange, Vorsitzender des Handels-
dieser Kritik ist ein Angebot versteckt: Ver- heftiger Einbruch folgen“, warnt Philipp ausschusses des EU-Parlaments.
bessert den Marktzugang, und wir können Hildebrand, Vizechef des weltweit größten Vielleicht liefert am Ende der Angriff
ins Geschäft kommen. Vermögensverwalters Blackrock. Das aus Washington genau den Schub, den das
Derzeit gibt es immer wieder Streit zwi- könnte dann passieren, wenn die amerika- angeschlagene europäische Projekt so drin-
schen Peking und Brüssel über billigen Chi- nische Notenbank Federal Reserve (Fed) gend benötigt. Gerade für die deutsche
na-Stahl und Einfuhrquoten für Elektro- nicht frühzeitig gegensteuert und später Wirtschaft liegt noch immer großes Poten-
autos. Doch nachdem Staatschef Xi Jinpin die Zinsen umso abrupter anhebt, um die zial im Austausch mit den ältesten und
auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos Inflation in Schach zu halten. naheliegendsten Handelspartnern: den Un-
eine flammende Rede für Freihandel und Die Zentralbanker befürchten, Trump ternehmen in Frankreich oder den Nieder-
Marktwirtschaft gehalten hat, wittern könnte versuchen, sie zu instrumentalisie- landen, in Italien oder in Österreich. Rund
Europas Wirtschaftsdiplomaten Chancen ren, um Zinsen und Dollar niedrig zu hal- 56 Prozent aller deutschen Exporte gehen
für eine Klimaverbesserung. „Wir werden ten. Zettelt Trump auch einen Währungs- in EU-Länder.
ihn beim Wort nehmen“, heißt es in der krieg an? Deutschland müsse sich deshalb kein
Bundesregierung. Am Mittwoch telefonier- In Notenbankkreisen traut man dem völlig neues Geschäftsmodell ausdenken,
te die Bundeskanzlerin mit Chinas Minis- US-Präsidenten jedenfalls zu, dass er ver- sagt der Hamburger Ökonom Thomas
terpräsident Li Keqiang, der Merkel auf- suchen wird, Druck auf andere Zentral- Straubhaar. Aus Trumps dunklem, sich iso-
rief, gemeinsam etwas gegen die „Un- banken auszuüben, wenn der Zinsabstand lierendem Amerika ergebe sich vor allem
sicherheitsfaktoren“ in der Weltwirtschaft zwischen Amerika und Europa oder Japan eine Konsequenz: „Wir sind noch stärker
zu tun: „China und Deutschland sollten zu groß wird und deshalb der Dollar zu als bisher auf ein prosperierendes Europa
Signale der Stabilität an die globalen Märk- stark. „Dann könnten Forderungen nach angewiesen, der Binnenmarkt ist wichtiger
te senden und gemeinsam das internatio- einer Anhebung der Zinsen durch die EZB denn je.“
nale System durch eine Liberalisierung kommen“, heißt es da. Dietmar Hawranek, Martin Hesse, Alexander Jung,
von Handel und Investitionen sichern.“ Die entscheidende Frage wird sein, wie Christoph Pauly, Michael Sauga, Thomas Schulz,
Vor genau einer solchen Entwicklung geschlossen und selbstbewusst die Europä- Gerald Traufetter, Bernhard Zand
warnen in den USA die Gegner von er auf solchen Druck aus Washington rea-
Trumps freihandelsfeindlicher Politik seit gieren. Nicht nur in der Zinspolitik. Video: Präsident Trumps erste
Monaten. Mit dem Rückzug aus dem asia- Die schwedische Handelskommissarin Amtswoche
tischen Freihandelsabkommen würde man Cecilia Malmström gibt sich schon mal spiegel.de/sp052017trump
China „quasi den Schlüssel für die ganze kampfbereit in diesen Tagen: „Trump oder oder in der App DER SPIEGEL
Geld im Überfluss
Finanzen Den Haushaltsüberschuss des Bundes wollen viele Politiker investieren. Dabei sind
das zum großen Teil Mittel für Investitionen, die der Staat nicht ausgeben konnte.
A
uf der ganzen Welt gelten die zweifache Weise segensreich. Sie sorgen 30 Millionen Euro, die Bauministerin Bar-
Deutschen als Verfechter kompro- dafür, dass Unternehmen genug zu tun ha- bara Hendricks (SPD) für „Modellvorha-
missloser Sparpolitik und Finanz- ben, wenn sie das Land im Auftrag des ben nachhaltiges Wohnen für Studenten
minister Wolfgang Schäuble als ihr er- Staates mit Straßen, Schienen und Brücken und Auszubildende“ zur Verfügung stan-
barmungsloser Exekutor. Als Beleg dienen ausstatten oder dafür sorgen, dass auch die den, flossen genau 76,70 Euro ab. Sie gin-
die Haushaltsüberschüsse, die Schäuble Provinz Anschluss ans Breitbandnetz fin- gen für Portokosten drauf.
Jahr für Jahr anhäuft. Anfang Januar ließ det. Das schafft Arbeitsplätze bei Bauun- Mit 17 Millionen Euro wollte die Baumi-
er vermelden, dass er 2016 über sechs Mil- ternehmen und Telekommunikationsfirmen. nisterin eigentlich den Uno-Standort Bonn
liarden Euro mehr eingenommen als aus- Investitionen sind also ein probates Mittel, stärken. Ausgegeben hat sie gerade einmal
gegeben habe. um kurzfristig die Konjunktur zu beleben. 1,1 Millionen Euro.
Dabei stellt die Zahl alles andere dar als Doch auch langfristig treiben staatliche Auch bei der Nationalen Klimaschutz-
einen Beweis für Genügsamkeit und akku- Investitionen Wachstum und Wohlstand. initiative entwickelte Hendricks Ladehem-
rate Haushaltsführung. Sie belegt eher, wie Eine leistungsfähige Infrastruktur für Ver- mung. Von 150 Millionen Euro konnte sie
sorglos und verschwenderisch die Bundes- kehr ist so etwas wie die Blutbahn einer nur 4,2 Millionen Euro ausgeben. Nicht viel
regierung mit Geld um sich wirft – oder bes- Volkswirtschaft, die für Telekommunika- besser sah es beim Haushaltstitel „Sanie-
ser, um sich werfen wollte. Denn Schäubles tion so etwas wie ihr Nervensystem. Je rung kommunaler Einrichtungen in den Be-
Kabinettskollegen gelang es nicht, das be- besser beide in Schuss sind, desto produk- reichen Sport, Jugend und Kultur“ aus. Von
reitgestellte Geld auszugeben. Mehr als 40 tiver funktioniert der gesamte Apparat. 40 Millionen Euro blieben 34,5 Millionen
Prozent des Überschusses besteht aus Pos- Voraussetzung dafür aber bleibt, dass Euro übrig.
ten, die Ende des Jahres übrig blieben. die Politik es schafft, ihr Geld unter die Im laufenden Jahr sollte dieser Etat-
Der größte Teil davon, nämlich 1,8 Mil- Leute zu bringen. Daran jedoch hapert es. ansatz ursprünglich auf 50 Millionen Euro
liarden Euro, war ursprünglich für Investi- Traurige Beispiele dafür liefert das Zu- steigen. Doch anstatt die Mittel zusammen-
tionen vorgesehen. Das ist verwunderlich, kunftsinvestitionsprogramm, wie eine Auf- zustreichen, sattelte der Haushaltsaus-
denn seit Jahren attestieren Experten der stellung des Bundesfinanzministeriums schuss des Bundestages noch einmal 100
Bundesrepublik eine chronische Investi- (BMF) belegt. Nur für 3 von 26 Maßnah- Millionen Euro drauf.
tionslücke. men konnten die bereitgestellten Mittel Bei vielen Projekten gelte „Wirksamkeit
Die Debatte blieb nicht ohne Folgen. komplett ausgeschöpft werden, von allen vor Schnelligkeit“, rechtfertigt das Baumi-
Jahr für Jahr genehmigt Schäuble seinen anderen blieben zum Teil erhebliche Reste nisterium sein Ausgabegebaren. Maßgeb-
Kollegen mehr Geld für neue Straßen, Brü- übrig (siehe Grafik). lich sei, „dass die Projekte gut sind, auch
cken oder den Ausbau von Kindergärten. Das Geld für eine Maßnahme überstand wenn der Abfluss länger dauert“. Die Haus-
2016 startete die Bundesregierung sogar ein das Jahr sogar nahezu unangetastet. Von haltsvorgaben sähen vor, dass 70 Prozent
auf drei Jahre angelegtes Zehn- der Fördersumme erst nach Fer-
Milliarden-Euro-Programm für Angebot und Nachfrage tigstellung und Vorlage entspre-
Investitionen. Dennoch neh- chender Evaluierungsberichte
men die Klagen nicht ab. „Wir Ausschöpfung ausgewählter Fördermittel des Bundes ausgezahlt werden dürften.
müssen Vorfahrt für Investitio- für Investitionen 2016, in Prozent Diese „nachschüssige Mittelver-
nen und Innovationen geben – Fondsvolumen, in Mio. € 100% gabe“ sei im Sinne des Steuer-
und zwar heute“, forderte der flächendeckender zahlers.
400 1,0 Bei der Nationalen Klima-
frühere Wirtschaftsminister Sig- Breitbandausbau
mar Gabriel (SPD). schutzinitiative seien 80 Pro-
Innovationsprogramm
Wie das überschüssige Geld 25 2,0 zent der Mittel ausgegeben
Wasserstoff- und Brenn-
aus 2016 zu nutzen sei, wusste stoffzellentechnologie worden, so das Bauministe-
der Vizekanzler sofort nach rium. Nur bei Geld, das im Rah-
Schäubles Jahresabschluss schon Nationale 150 2,8 men des Investitionsprogramms
ganz genau. Es sollte, welche Klimaschutzinitiative zur Verfügung stand, kam es
Überraschung, in einen Inves- kommunale Einrichtun- zu Verzögerungen. Insgesamt
titionsfonds fließen. Die Ope- gen in den Bereichen 40 13,8 seien 95 Prozent aller vorhan-
ration würde absurde Folgen Sport, Jugend und Kultur denen Mittel im vergangenen
haben: Nächstes Jahr um die- Jahr abgeflossen, heißt es aus
se Zeit wäre noch mehr Geld Bundesprogramm 34 23,9 dem Hause Hendricks.
übrig. KitaPlus Schwierigkeiten beim Geld-
Von Investitionen, so viel Investitionen in die ausgeben befielen auch Ver-
steht fest, können Politiker nie Bundesschienenwege 343 30,9 kehrsminister Alexander Dob-
genug bekommen. Es herrscht rindt (CSU). Für den Breit-
das alte Metzgermotto: „Darf’s Sonderrahmenplan bandausbau standen ihm 600
ein bisschen mehr sein?“ zum präventiven 100 38,8 Millionen Euro zur Verfügung,
Es darf, und das sogar mit gu- Hochwasserschutz davon 400 Millionen aus dem
ten Gründen, denn staatliche Förderung nationaler Zukunftsinvestitionsprogramm.
Investitionen wirken gleich auf Städtebauprojekte 22 62,6 Tatsächlich investiert hat er
fünf Millionen. Nicht viel besser sieht es deshalb zu wenige, weil der Bund zwar das geringe Mittelabfluss sei „vor allem auf die
mit dem „Nationalen Innovationspro- Geld für Autobahnen und Bundesstraßen Fristen für öffentliche Ausschreibungen zu-
gramm Wasserstoff- und Brennstoffzellen- spendiert, die Länder aber für Planung und rückzuführen“, teilt sein Ministerium auf
technologie“ aus. Von 25 Millionen Euro Bau verantwortlich sind. Da beide früher Anfrage mit. „Erst nach Zuschlagsertei-
brachte er eine halbe Million unter. gleichermaßen klamm waren, wurden Pla- lung und Baubeginn können die ersten
Das Problem: Laut Finanzministerium nungskapazitäten zusammengestrichen. Rechnungen vorgelegt werden.“
verfallen die Mittel, nur übrig gebliebenes Nun, da Geld nahezu im Überfluss vor- Mit Blick auf die Schienenwege erklärt
Geld für Verkehrsinfrastruktur darf ins handen ist, kann mancher Etat nicht ausge- das Ministerium, es habe 50 Millionen
nächste Jahr übertragen werden. Doch aus- geben werden. Ein Zustand, der noch einige Euro mehr ausgegeben als veranschlagt
gerechnet da entwickelte Dobrindt zumin- Zeit anhalten dürfte. Planungsingenieure worden seien. Allerdings wird nicht ganz
dest partiellen Eifer. Von einer halben Mil- müssen eingestellt werden. Und der öffent- klar, ob gegenüber 2015 oder den geneh-
liarde Euro, die ihm für den Ausbau der liche Dienst ist für Experten, nach denen migten Mitteln.
Bundesfernstraßen im Rahmen des Inves- auch die freie Wirtschaft händeringend Dasselbe Problem wie Dobrindt plagte
titionsprogramms zustanden, behielt er am sucht, angesichts vergleichsweise beschei- dessen CSU-Kollegen, Landwirtschafts-
Ende 63,60 Euro übrig. Für den Ausbau dener Gehälter nicht besonders attraktiv. minister Christian Schmidt. Auch er sah
der Schienenwege engagierte er sich nach Der Bund hofft, die bestehenden Pro- sich nicht in der Lage, seine Mittel aus
Berechnungen des BMF mit angezogener bleme durch die Gründung einer soge- dem Investitionsprogramm auszuschöp-
Handbremse. Von 343 Millionen Euro gab nannten Bundesautobahngesellschaft zu fen. 100 Millionen Euro standen bereit,
er nur rund 106 Millionen Euro aus. lösen: Dann wäre die staatliche Ebene, die mit denen er den Bundesanteil am Pro-
Dennoch überwiegt im Verkehrsminis- das Geld gibt, auch für Planung und Bau gramm für Hochwasserschutz finanzieren
terium Zufriedenheit. Immerhin seien von verantwortlich. Allerdings soll die Gesell- sollte. Abgeflossen sind knapp 39 Mil-
12,3 Milliarden Euro für Verkehrsinvesti- schaft erst von 2021 an arbeiten. Ob die lionen Euro.
tionen 11,9 Milliarden Euro verbaut wor- Probleme dann wirklich gelöst sind, ist „Die Teilausschöpfung resultiert daraus,
den. Ursachen für die Investitionsbremse fraglich. Schon fürchten Beteiligte auf Bun- dass viele der Baumaßnahmen lange Pla-
gibt es viele, von Bürgern, die gegen Pro- desebene, dass die Länder vor allem Mit- nungsvorläufe aufweisen und noch nicht
jekte vorgehen, bis zur komplizierten Ver- arbeiter an den Bund abschieben wollen, baureif sind“, rechtfertigt Schmidts Minis-
gabe von Aufträgen. Außerdem kann nur die sie schon immer loswerden wollten. terium die erheblichen Restmittel. Dieses
dort gebaut werden, wo es baureife Pro- Auch bei den Problemen mit dem Breit- Jahr, so die Experten des Ministers, „zeich-
jekte gibt. Und von denen existieren auch bandausbau lässt Dobrindt abwiegeln. Der net sich bereits ein deutlicher Anstieg der
Bauruine im
Ausgaben ab“. Der Nachteil: Die Mittel
des vergangenen Jahres sind verfallen.
Manchmal steht die Bürokratie dem Geld-
DER SPIEGEL live
Speckgürtel
ausgeben im Weg wie beim Familienminis-
terium. Im Rahmen des Investitionspro-
in der Uni gramms bekam es 33,5 Millionen Euro für
das Programm KitaPlus, mit denen erwei-
terte Betreuungszeiten in Kindergärten und Immobilien Die Stadt München
Horten finanziert werden sollten, um eine
„bessere Vereinbarkeit von Familie und Be- und der griechische Staat streiten
ruf“ zu ermöglichen. Knapp 8 Millionen wur- um eine halb fertige Schule.
Warum Worte den ausgegeben. Das ist erstaunlich, da sich
das Ministerium vor Interessenten kaum
Zuletzt musste sich sogar der
Außenminister einschalten.
Medizin sind retten konnte. Es gebe ein hohes Interesse
und viele Bewerbungen, das sei „sehr er-
I
freulich“, heißt es im Familienministerium. m Wohnviertel am Hachinger Bach im
Michael Zargarinejad
709 Kitas haben sich gemeldet, bewilligt Münchner Stadtteil Berg am Laim
wurden bislang nur 266 Vorhaben. Manue- scheint die Welt noch ziemlich in Ord-
la Schwesigs Leute erklären sich das mit nung – und Europas Schuldenkrise Licht-
den hohen Anforderungen des Programms. jahre entfernt. Von den Einfamilienhäu-
Kitas, die mit der Förderung ihre Öffnungs- sern mit viel Platz drinnen und drum he-
zeiten verlängern wollen, müssen ausführ- rum fällt der Blick auf eine großzügige
lich den Bedarf und das pädagogische Kon- Grünfläche, es gibt einen modernen Kin-
zept darlegen. Etliche Kindergärten hätten dergarten und gegenüber ein Gymnasium.
zurückgemeldet, dass ihnen der Aufwand Wenn da nur dieser schreckliche Klotz
zu groß sei. Überlegungen, die Hürden zu zwischen den beiden Gebäuden nicht wäre.
senken, gab es nicht, sie seien notwendig. Mit seinen rostigen Stahlstreben und dem
Die Begründung: „Bei der Umsetzung ach- leicht schmuddeligen Beton erinnert der
ten wir sehr auf die Qualität.“ Dieses Jahr Rohling an Bauruinen aus Hochzeiten der
stehen wieder 33,5 Millionen Euro zur Ver- spanischen Immobilienspekulationswelle.
fügung. Das Ministerium rechnet damit, Der hässliche Komplex am östlichen
dass deutlich mehr Mittel abgerufen wer- Münchner Stadtrand ist tatsächlich eine
den, weil die Antragsphase nun vorbei sei. Art Mahnmal, allerdings nicht für die Gier
Die neue Zeit des Überflusses stellt die von Investoren, sondern für den Nieder-
Ministerien vor ähnliche Herausforderun- gang des griechischen Staatswesens – und
gen wie früher die des Mangels. Geldaus- den Durchhaltewillen seiner Bewohner.
geben kann offenbar genau so schwierig Seit das Land vor knapp sieben Jahren
sein wie Geld einsparen. an den Rand der Pleite geriet und mit
Vor allem aber zeigt sich, wie wichtig immer neuen Milliardenhilfspaketen von
es ist, ausreichend Planungskapazitäten Europäern und dem Internationalen Wäh-
vorzuhalten. Viel wäre erreicht, wenn Mit- rungsfonds (IWF) gerettet werden musste,
Dr. Eckart von Hirschhausen, Arzt und
tel für Investitionen in den Personalhaus- stehen die Griechen als Bittsteller da und
halt umgebucht würden. Dann könnte der müssen sich harte Auflagen gefallen lassen.
Wissenschaftsjournalist, diskutiert mit Bund Ingenieure, Verwaltungsfachleute Die trafen auch das griechische Schul-
dem SPIEGEL-Redakteur Jörg Blech. und Juristen anheuern, die die Planungen projekt in München und erschwerten die
beschleunigen. pünktliche Fertigstellung. Deshalb fordert
Mit ihrem Vorhaben, auch noch die die Stadt das Grundstück nun zurück.
Überschüsse des vergangenen Jahres zu Doch Vertreter der griechischen Ge-
nutzen, um die Investitionen aufzustocken, meinde in München wollen das nicht hin-
Montag, 13. Februar 2017, 18 Uhr konnte sich die SPD bislang nicht durch- nehmen. „Eine solche Brutalität sollte sich
setzen; die Union mit ihrem Vorschlag, ein Kulturvolk wie die Deutschen nicht
Universität zu Köln Schulden zu tilgen, allerdings auch nicht. leisten dürfen“, warnt der Anwalt und Mit-
Hörsaal 1, Gebäude 35/Anatomie Das Sechs-Milliarden-Plus, so ist die Ge- initator der Schule, Georgios Vlachopou-
Joseph-Stelzmann-Straße, 50931 Köln setzeslage, wird nun wohl die Flüchtlings- los. Er und seine Mitstreiter wehren sich
rücklage stärken. Wenn sie, wie 2016, auch erbittert und haben inzwischen sogar Bun-
dieses Jahr unangetastet bleibt, verfügt sie desaußenminister Frank-Walter Steinmeier
www.spiegel.de/uni und
bald über knapp 20 Milliarden Euro. eingeschaltet.
www.facebook.com/derspiegel/events Die Rücklage entwickelt sich immer Gelingt es dem SPD-Politiker nicht, zu
Eintritt frei. Änderungen vorbehalten. mehr zur Spardose, in der sich eine Menge vermitteln, könnte sich der Streit womög-
„Spielgeld“ ansammelt für die Zeit nach lich sogar zu einer Staatsaffäre auswachsen
der Bundestagswahl, wie es ein Koalitionär und die ohnehin strapazierten Beziehun-
ausdrückt. Was sie damit anstellt, müsse gen zwischen beiden Ländern weiter be-
die nächste Bundesregierung entscheiden. lasten. Dabei sollte das Vorhaben eigent-
Sie könnte damit die Investitionen auf- lich der Völkerverständigung dienen.
stocken – oder Schulden tilgen. Die griechische Regierung hatte das
Sven Böll, Horand Knaup, Christian Reiermann, 15 000 Quadratmeter große Grundstück
Christoph Schult, Britta Stuff 2001 für rund 4,5 Millionen Mark gekauft,
74 DER SPIEGEL 5 / 2017
schaffen für einen Erweiterungsbau der
vorhandenen städtischen Oberschule. Für
ihre eigenen Erweiterungspläne kann die
Kommune das Betonmonster nicht nutzen,
weil seine Konstruktion gegen die aktuel-
len deutschen Vorschriften verstößt und
es im Innern zu stickig und dunkel ist.
Vlachopoulos, der nicht nur die Eltern,
sondern auch den griechischen Staat in
dem Konflikt vertritt, will das um jeden
Preis verhindern. „Es würde bis zu ein Jahr
dauern, den Komplex abzutragen“, wirbt
er für einen Kompromiss, „in derselben
Zeit könnte man ihn auch fertigbauen.“
Im September und Oktober 2016 unter-
nahmen er und der griechische Vize-
bildungsminister einen letzten Versuch,
die Kommunalpolitiker umzustimmen,
vergebens. „Die Griechen haben ihre
zahlreichen Chancen nicht genutzt“, rügt
Münchens Immobilienreferent Markwardt,
„außerdem schöpfen sie das vorhandene
Die Daten-Sauger
Zukunft NavVis hat ein Navigationssystem für drinnen entwickelt. Es soll eine Plattform werden
für die digitale Bewirtschaftung von Gebäuden – ein kommender Milliardenmarkt.
W
ie groß ist die Wahrscheinlich- in Kalifornien, aber das sei kein Nachteil: Die Daten landen auf einem Server, von
keit, dass ein Unternehmen drei- „Dafür haben wir kaum relevante Konkur- dort werden sie auf die verschiedenen End-
einhalb Jahre nach der Grün- renz und können uns die Besten aussu- geräte weitergeleitet, auf Desktops, Tablets,
dung da steht, wo NavVis heute ist? Dass chen.“ Und, fast noch wichtiger: Hier sit- Smartphones. Wer über einen Link oder
es mehr als hundert Menschen aus 30 Na- zen auf engem Raum so viele Dax-Kon- eine App Zugang erhält, kann sich nun
tionen beschäftigt und Kunden in 20 Län- zerne wie sonst nirgendwo in Deutschland, durch das Gebäude leiten lassen, er erhält
dern bedient, darunter Konzerne wie alles potenzielle Kunden. „Ein Riesenvor- Informationen von den Orten, die ihn in-
Daimler, BMW und Allianz? „Ein Pro- teil, den wir anfangs unterschätzt haben“, teressieren, Bilder, Videos oder Texte, und
zent“, sagt Felix Reinshagen. sagt Reinshagen. Erst der Austausch mit kann selbst Informationen übermitteln.
Der Informatiker und Volkswirt legte diesen Kunden über mögliche Anwendun- Inzwischen hat NavVis Millionen Qua-
Excel-Tabellen mit Wahrscheinlichkeits- gen ihres Produkts machte aus der ur- dratmeter digitalisiert: Fabriken und Flug-
werten an, als er darüber nachdachte, sei- sprünglichen Idee ein Geschäftsmodell, das häfen, Museen, Universitäten und Kran-
nen gut bezahlten Job bei der Beratungs- einen Champion von morgen hervorbrin- kenhäuser, öffentliche und kommerziell
firma McKinsey aufzugeben und zusam- gen könnte. genutzte Gebäude. Auf Basis dieser Infor-
men mit seinem Segelfreund Georg München biete für technikorientierte mationen sollen nun mehr und mehr An-
Schroth ein Unternehmen zu gründen. Na- Start-ups „ein Umfeld, um wirklich neue wendungen umgesetzt werden.
türlich nicht irgendeines, sondern eines, Weltmarktführer zu schaffen“, sagt Reins-
das „eine Delle ins Universum“ schlägt, hagen. Sein Freund Georg entwickelte hier
wie Schroth, der CTO von NavVis, sagt. an der Technischen Universität seine Idee Gründer Hilsenbeck, Huitl,
Reinshagen übersetzt CTO – Chief Tech- einer Indoor-Navigation weiter, in den Reinshagen, Schroth in der
nology Officer – so: „Der hat’s erfunden.“ Räumen der TU starteten sie auch ihr Un- Werkstatt mit „Trolleys“
Die Idee hinter der Gründung hatte er ternehmen, anfangs saßen alle vier Grün-
bereits, als er 2006 im kalifornischen Stan- der in einem Raum. Bis heute arbeiten sie
ford studierte, an jener Uni, die die gesam- in der Grundlagenforschung eng mit der
te Internetwirtschaft im Silicon Valley mit Uni zusammen.
Nachschub versorgt. Er wollte eine Art Mit Software kannten sich die Gründer
Google Maps für Gebäude schaffen, ein bestens aus, sie stellten aber schnell fest,
Navi, das auch da funktioniert, wo es kein dass sie eine Hardware brauchten, um die
GPS gibt: drinnen. Daten zu erfassen, auf denen eine Indoor-
Aus dieser Idee entwickelte sich das heu- Navigation basieren kann. Noch an der
tige Produkt: eine Plattform für die digitale Uni entwickelten sie einen fahrbaren 3-D-
Bewirtschaftung von Gebäuden – und eine Scanner, ausgestattet mit einem ganzen
Art Ökosystem für einen kommenden Mil- Set handelsüblicher Kameras und Laser.
liardenmarkt, von dem sich NavVis ein Der Prototyp wog mehr als hundert Kilo-
großes Stück sichern will. gramm und wurde mit zwei Lkw-Batterien
Reinshagen, 38, Schroth, 33, und ihre betrieben. Daraus ein Modell zu entwi-
zwei Mitgründer Sebastian Hilsenbeck und ckeln, das auch den Ansprüchen großer
Robert Huitl haben alle schon mal im Sili- Kunden genügt, „hat deutlich länger ge-
con Valley gelebt und gearbeitet, zum Teil dauert als erwartet“, sagt Reinshagen.
mehrere Jahre lang. Sie hatten ein Ange- Heute beherbergt die NavVis-Zentrale
bot, ihr Projekt dort zu starten, wo die Vo- im Münchner Stadtteil Maxvorstadt eine
raussetzungen für Start-ups doch so viel kleine Werkstatt, in der die Geräte produ-
besser sind, wohin es junge Tech-Talente ziert werden. Die neue Variante wurde
aus aller Welt zieht und wo es Risikokapi- von Industriedesignern gestaltet, damit sie
tal im Überfluss gibt. nicht nur gut aussieht, sondern auch kom-
„Wir haben uns das durchgerechnet“, fortabel zu bedienen ist. Für Einsätze im
sagt Reinshagen. Das Ergebnis sprach für Ausland lässt sich das Gerät bequem aus-
München: Im Silicon Valley hätten sie das einanderbauen und transportieren.
Dreifache an Kapital benötigt. Um die bes- Die Gründer vergleichen ihren Trolley,
ten Leute werben dort Google, Facebook, wie sie ihr Gerät nennen, gern mit einem
Uber und all die anderen großen Namen Staubsauger, der die Daten seiner Umge-
des Valley. Um einigermaßen mithalten zu bung aufsaugt. Wird er durch ein Gebäude 2013 gegründet
können, hätte das kleine Start-up aus geschoben, baut sich in Echtzeit eine Karte Sitz in München
Deutschland gigantische Gehälter zahlen der Umgebung auf, ein komplettes 3-D-
rund 100
müssen. Modell. Im Radius von 30 Metern wird Mitarbeiter
Gute Leute gebe es dank zweier hervor- alles erfasst: Treppen, Steckdosen, auch
ragender Universitäten auch in München, Unsichtbares wie die WLAN-Stärke. Jedes
sagt Schroth, zwar nicht so reichlich wie Detail kann herangezoomt werden.
Anfangs hatten die Gründer ausschließ- wie seine neue Fabrik in Südostasien sich beruhen. Die Grenzen zwischen stationä-
lich Navigation im Sinn, dank ihrer Soft- entwickelt, er kann die Baustelle begehen rem und Onlinehandel verschwimmen.
ware sollte zum Beispiel jemand, der und Anmerkungen hinterlassen. Versiche- NavVis will künftig, auch mithilfe von
im Münchner Hauptbahnhof ankommt, rungen können die Daten nutzen, um ihr Partnern, fertige Module für verschiedens-
schnell das richtige U-Bahn-Gleis für die Risiko zu berechnen. te Anwendungen anbieten, im vergange-
Weiterfahrt finden. „Das war naiv ge- Anders als bei Google Maps gehören nen Jahr wurde ein eigener Vertrieb auf-
dacht“, sagt Reinshagen heute. Tatsächlich die Daten aber dem Auftraggeber und la- gebaut, um die Produkte international zu
laufen 90 Prozent der gesamten Wert- gern auf dessen Server. Oft bergen sie Ge- verkaufen. Der Kreis der Anwender wird
schöpfung unserer Volkswirtschaft in schäftsgeheimnisse und dürfen nicht in immer größer, das Marktpotenzial scheint
Gebäuden ab: Sie müssen gebaut und ge- fremde Hände gelangen. unerschöpflich.
wartet werden, in ihnen wird produziert NavVis vergleicht sich deshalb nicht mit Jedes Jahr hat das Unternehmen die
und konsumiert. All diese Prozesse lassen Google, die Gründer sehen ihr Produkt Zahl seiner Mitarbeiter mehr als verdop-
sich digital steuern – so wie draußen, unter eher als Betriebssystem. Nicht alles, was pelt, in diesem Jahr soll sie von 100 auf
freiem Himmel, mittels GPS landwirt- darauf läuft, will das Start-up selbst ent- 200 steigen. Den Umsatz mögen die Grün-
schaftliche Maschinen und Containerfrach- wickeln. Ein Betreiber von Einkaufszen- der nicht nennen. „In der Phase, in der
ter gesteuert, Pakete zugestellt und Uber- tren hat zum Beispiel die Möglichkeit, auf wir jetzt sind“, sagt Reinshagen, „muss
Fahrzeuge zum nächsten Kunden geführt der Plattform von NavVis eine App für die man sich gut überlegen, wie aufmerksam
werden. Besucher seiner Malls zu entwickeln: Der man die Konkurrenz machen will.“
Dank NavVis findet der Monteur auf Kunde kann sich, auch schon zu Hause, Noch gehören ihnen zwei Drittel des
dem riesigen Fabrikgelände sogleich das orientieren, und der Betreiber bekommt Unternehmens. Den Rest halten private
leckgeschlagene Teil, das er reparieren soll, Informationen darüber, was den Kunden Investoren und Risikokapitalgesellschaften,
der Auftraggeber kann genau verfolgen, interessiert. Er kann ihn durch das Gebäu- die bisher rund zehn Millionen Euro in das
wann der Dienstleister das Gelände betre- de zu speziellen Angeboten führen oder Projekt gesteckt haben.
ten und wieder verlassen hat. Ein Vorstand ihm, ähnlich wie Amazon, Produkte emp- Wäre es nicht besser, noch mehr Geld
in Deutschland kann via 3-D-Modell sehen, fehlen, die auf seinen bisherigen Käufen einzusammeln, um das Wachstum zu be-
schleunigen, bevor große Konzerne den
lukrativen Markt für sich entdecken?
Das sei „ein zweischneidiges Schwert“,
sagt Reinshagen. Erstens wollen die Grün-
der weiter eine tragende Rolle spielen und
nicht zu viele Anteile ihres Unternehmens
an Investoren abgeben. Und zweitens nei-
ge man dazu, ineffizient mit Kapital um-
zugehen, wenn man zu viel davon habe.
Sie haben im Silicon Valley selbst erlebt,
wie Gründer Millionen einsammelten und
völlig abhoben, die Büros mit edlem Mo-
biliar ausstatteten und für die Geschäfts-
führung teure Sportwagen orderten. „Es
ist nicht schlecht, immer eine gewisse
Knappheit der Mittel zu haben“, sagt
Reinshagen.
Und wenn nun ein großer Konzern
einen dicken Scheck auf den Tisch legen
würde, um NavVis zu schlucken?
„Es wäre unrealistisch, so etwas von
vornherein abzulehnen“, sagt Reinshagen.
Etwa wenn die Gefahr droht, dass der Kon-
kurrent sonst mit Dumpingpreisen den
Markt aufrollt. „Man muss überlegen, ob
man das für eine realistische Gefahr hält.“
Im Moment wähnen sich die NavVis-
Gründer mit ihrer Kombination aus Hard-
und Software sicher, es gebe zwar Anbie-
ter für einzelne Bereiche der Gebäude-
navigation und -kartierung, aber keinen,
der wie sie die ganze Palette abdecke.
Ihr Traum ist es, aus eigener Kraft ein
großes Unternehmen aufzubauen und an
die Börse zu bringen. Die Wahrscheinlich-
FLORIAN GENEROTZKY / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Herr Kemper, ist es eine Last, An- SPIEGEL: Sie sind auch zu Pferd auf die perlich angeht, und dazu gehört es, den
dré Kemper zu sein? Weihnachtsfeier von Springer & Jacoby Frack, den man an einem solchen Abend
Kemper: Es ist anstrengend, André Kemper eingeritten. War das authentisch Kemper trägt, mit Champagner zu beschmutzen –
zu sein. Für einen selbst, aber auch für oder eine Rolle, die Sie glaubten spielen dann ist eine Grenze überschritten.
andere. zu müssen: noch irrer zu sein als der Rest SPIEGEL: Und dann muss man zuschlagen?
SPIEGEL: Warum? der Werbewelt? Kemper: Wenn man die Situation bei Kaf-
Kemper: Weil immer eine sehr, sehr hohe Kemper: Das Motto der Party damals war fee und Keksen analysieren und einen Be-
Erwartungshaltung da ist. „Studio 54“. Da gehört es eigentlich schon rater hinzuziehen würde – man würde si-
SPIEGEL: Auch jetzt bei Antoni, der Agen- zum guten Ton, dass man zu Pferd kommt. cher besonnener reagieren. Aber solche
tur, die Sie und Ihr Kompagnon Tonio Man muss die Dinge in ihrer Zeit sehen. Entscheidungen fällt man im Bruchteil ei-
Kröger eigens für Mercedes gegründet Ich war ein verdammt junger Bengel, als ner Sekunde.
haben? ich in die Werbung kam. SPIEGEL: Ein Fehler, den Sie bereuen?
Kemper: Machen wir uns nichts vor. Unsere SPIEGEL: Sind Sie heute reifer? Kemper: Es ist passiert, und ich stehe dazu.
Branchenkollegen freuen sich nicht nur Kemper: Mein Image und ich, das sind zwei Letzten Endes gehört es zu mir. Ich nehme
über unsere Erfolge – die freuen sich auch unterschiedliche Dinge. Mir ist klar, dass es an und kann gut damit leben.
gern, wenn es mal schiefgeht. der Erfolg meiner Arbeit auch daran hängt, SPIEGEL: Hat es der Werberlegende André
SPIEGEL: Sie arbeiten gerade an einem der wie ich auf Kunden und Teams wirke. Die Kemper geschadet, oder hat es das Gegen-
wichtigsten Werbespots Ihrer Karriere, wichtigste Kampagne, an der man arbeitet, teil bewirkt?
dem Auftritt von Mercedes in der Werbe- ist man selbst. Ich versuche daher schon, Kemper: Im Rückblick hat es mir nicht ge-
pause des Super Bowl. Über 110 Millionen Dinge abzustellen, von denen ich sehe, schadet. Die ganze Geschichte ist zu einem
Menschen schauen da zu. Ist das der Rit- dass sie mich nicht weiterbringen. Teil meiner eigenen Marke geworden. Sie
terschlag? SPIEGEL: Auf den Tisch hauen, mit Gegen- gehört jetzt dazu.
Kemper: Wir sind die erste deutsche Wer- ständen werfen … SPIEGEL: Haben Sie sich entschuldigt?
beagentur, die in dieser Form beim Super Kemper: Sie kommen mit Sachen, die 20 Kemper: Wir haben uns verständigt, sagen
Bowl mitmischt. Ja, das ist eine große Ehre Jahre her sind. wir mal so.
für unsere junge Firma. SPIEGEL: Beim Wiener Opernball vor drei SPIEGEL: Mit Geld?
SPIEGEL: Was bieten Sie den Zuschauern? Jahren schlugen Sie dem Geschäftsmann Kemper: Mit Vernunft.
Kemper: Die Coen-Brüder haben Regie ge- Ulrich Pfaffelhuber ins Gesicht, weil er SPIEGEL: Die Marke Kemper steht dafür,
führt. Peter Fonda hat die Hauptrolle. Die Ihren Freund Johannes B. Kerner ange- impulsiv und angstfrei zu sein, gern mal
Musik kommt von Steppenwolf. Das wird pöbelt hatte. über Grenzen zu gehen.
vielleicht nicht jedem der 110 Millionen Kemper: Ja, das ist kein Geheimnis. Kemper: Mit Verlaub: Ich war nicht dafür
etwas sagen – aber ich denke, der Film ist SPIEGEL: Am Tag darauf waren Sie auf Seite bekannt, prügelnd durch die Bars zu zie-
auch ohne dieses Wissen ganz amüsant. eins der „Bild“, in den sozialen Netzwer- hen. Aber natürlich habe ich ein gewisses
SPIEGEL: Es gab legendäre Werbespots beim ken brach ein Sturm über Sie herein. Wann Image. Ich stehe nicht für Harmonie. Ich
Super Bowl. Haben Sie versucht, da mit- wussten Sie, dass Sie ein Problem haben? ziehe viel Energie aus Reibung, zum Teil
zuhalten? Kemper: Ich hatte an dem Abend erst aus Disharmonie. Auch wenn mich das
Kemper: Michael Jordan hat einmal gesagt: einmal keine Ahnung, was das für mich manchmal selbst nervt, genau wie die
100 Prozent der Würfe, die ich nicht wage, bedeuten würde. Ich ging nach dem Leute, mit denen ich arbeite.
gehen daneben. Schlag zurück in meine Loge, der Rest SPIEGEL: Was hat Sie als junger Bursche ge-
SPIEGEL: Sie gelten als einer der letzten Ir- des Abends war noch sehr amüsant. Das reizt, in die Werbung zu gehen?
ren der Werbebranche. Braucht es Leute Einzige, was mich an den Vorfall erin- Kemper: Erst mal nichts. Ich war 21, direkt
wie Sie heute noch? nerte, war, dass mir die Hand ein biss- nach der Bundeswehr habe ich in einer
Kemper: Ich nehme das als Kompliment. chen wehtat. klassischen Networkagentur angefangen.
Kreative Menschen haben alle eine Meise. SPIEGEL: Niemand hat Sie angerufen? Das war genau so, wie ich mir die Ge-
Meine Frau hat einmal gesagt, du hast ei- Kemper: Ich hatte mein Smartphone aus- schäftswelt vorgestellt habe: Es gab die
nen ganzen Meisenschwarm, und jeden gestellt. Jungs da oben, Hierarchie, Etikette, das
Tag kommt eine dazu. Aber ich wäre nicht SPIEGEL: Sie sind ein Kommunikationsprofi „Sie“, das darfst du nicht, all das. Das fühl-
in der Lage, eine professionelle Agentur – und ahnen nicht, was eine Ohrfeige auf te sich weder kreativ noch inspirierend
zu leiten, wenn ich völlig durchgeknallt dem Opernball bedeutet? an – eher wie eine Unternehmensberatung
wäre. Wobei ich ehrlich sagen muss, dass Kemper: Das habe ich erst am nächsten mit Farbkopierer.
ich mich manchmal selbst nur in homöo- Morgen realisiert. Als ich das Handy an- SPIEGEL: Was passierte dann?
pathischen Dosen aushalten kann. gestellt habe, machte es nur noch: ding, Kemper: Ich bin zu Springer & Jacoby ge-
SPIEGEL: Wenn der kreative Wahnsinn aus- ding, ding. So viele Dings hatte ich noch gangen. Das war ein vollkommener Kul-
bricht – womit schmeißen Sie dann? nie auf meinem Smartphone. turschock. Nichts hatte mich vorher so in-
Kemper: Als ich ein junger Bursche war, ist SPIEGEL: Was hat Sie an dem Abend so ge- spiriert und befreit. Springer & Jacoby war
auch mal was geflogen. Ich habe dann ge- reizt, dass Sie zugeschlagen haben? damals wirklich revolutionär. Das kann
sagt, man muss ja nicht gleich überreagie- Kemper: Ich finde, es gibt Dinge, die gehen man sich heute nicht mehr vorstellen. Die-
ren, nur weil ich mal einen Computer aus zu weit. Jemanden verbal anzugehen ist se Firma legte bei mir von einer auf die
dem Fenster schmeiße. das eine. Aber wenn man jemanden kör- andere Sekunde den Schalter um. Von da
78 DER SPIEGEL 5 / 2017
an hatte ich den besten Job der Welt, ich
wollte nichts anderes mehr machen.
SPIEGEL: Es war die Zeit, in der Werbung
plötzlich schick wurde.
Kemper: Ja, sie befreite sich aus der ver-
staubten Nische der Klementine-Reklame.
Werbung wurde populär. Sie wurde Pop
im wahrsten Sinne des Wortes. Die Chefs
der Agenturen wurden in Talkshows ein-
geladen, in den Zeitgeistblättern „Tempo“,
„Max“ und „Wiener“ interviewt. Es war
damals wirklich cool, ein Werber zu sein.
SPIEGEL: Hat Werbung heute noch dieselbe
Kraft? Ikonenhafte Spots, die sich in das
Gedächtnis einer Generation einbrennen
wie der Marlboro Man, werden seltener.
Kemper: Solche Meilensteine der Werbung
waren auch früher die Ausnahme, aber es
stimmt: Es sind schon so viele Geschichten
erzählt worden. Netflix, YouTube, Kino,
Fernsehen – man hat ein Überüberüber-
angebot an fantastischer Unterhaltung. In
dem Umfeld wird es immer schwerer, noch
Spitzen zu setzen und sich durchzusetzen.
SPIEGEL: Wird nicht heute in der Werbung
von vornherein viel kleiner gedacht: ein
Film für YouTube, ein Spot für Facebook,
was ist die eine große Idee noch wert?
Kemper: Wenn man in der digitalen Welt
jedem Rock hinterherläuft und sich in der
Kleinteiligkeit verliert, wird man nicht er-
folgreich sein. Es braucht mehr denn je
große Würfe, um Wucht und Wirkung zu
erzielen.
SPIEGEL: In der digitalen Welt ist zumindest
alles messbar und berechenbar: Haben Al-
gorithmen und Big Data die Branche ge-
zähmt, ihr den Irrsinn ausgetrieben – im
Positiven wie im Negativen?
Kemper: Kunden, die mir nur auf Excel-Ta-
bellen vorrechnen, was wann wo funktio-
niert und was nicht und welche Schlüsse
wir daraus ziehen müssen, sind in meinen
Augen schwache Kunden. Big Data ohne
Big Idea ist keine Lösung. Starke Kunden
haben den Mut und das Talent, intuitiv zu
entscheiden.
SPIEGEL: Ist Intuition nicht Oldschool? Frü-
her hieß es, die Hälfte meiner Werbung
ist verschwendet, ich weiß nur nicht, wel-
che. Heute muss ich dank Big Data doch
nichts mehr verschwenden.
Kemper: Daten sind ein hilfreiches Werk-
zeug. Mehr nicht. Könnte man damit alles
vorhersagen, wäre es auch möglich, den
todsicher erfolgreichen Hollywoodblock-
buster zu planen.
SPIEGEL: Amazon und Netflix versuchen
CHRISTIAN O. BRUCH / LAIF / DER SPIEGEL
genau das.
Kemper: Und trotzdem gibt es Serien und
Filme, die ein Phänomen werden, und an-
dere, die floppen. Natürlich bekommt man
heute ein schnelles Feedback, was funktio-
niert und was nicht – aber eben erst im
Nachhinein. Das reicht nicht, um daraus
einen garantierten Nummer-eins-Hit in Mo-
Kreativer Kemper: „Die wichtigste Kampagne, an der man arbeitet, ist man selbst“ de, Musik oder Film zu stricken. Kreativität
DER SPIEGEL 5 / 2017 79
es ja damals nicht, aber der Film verbreitete
sich trotzdem überraschend flott.
SPIEGEL: War es früher leichter, Kunden
von einer Idee zu überzeugen?
Kemper: Ja, weil viele Kunden noch weni-
ger Ahnung hatten als wir. Wir alle haben
damals mehr experimentiert – aber auch
viel Mist gebaut. Werbung war auch weit
Kann man den Erfolg erklären, ist es Genie andere als toll waren. Ich bringe also alles
oder nur Zufall? mit, um weiter unsicher zu sein. Die Unsi-
Kemper: Um der Wahrheit die Ehre zu ge- cherheit ist immer da, und damit muss man
ben: Es gab damals zwei Ideen, und meine zurechtkommen. Da hilft das Selbstbe-
Empfehlung war nicht der Ohrfeigen-Spot. wusstsein, da hilft Zuspruch – und ab und
Zum Glück hat sich der Kunde durchgesetzt zu hilft auch ein Hit. Und die Tatsache, dass
– allerdings wollte er den Film ohne die der SPIEGEL zu mir sagt: Herr Kemper, wir
Ohrfeige. Das war ihm zu tough. Er verbot danken Ihnen für dieses Gespräch.
Kemper, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Kemper, wir danken Ihnen
* Isabell Hülsen und Markus Brauck in Hamburg. „Zufriedenheit ist eine Bremse“ für dieses Gespräch.
80 DER SPIEGEL 5 / 2017
Wirtschaft
Penetrant
heißt es neuerdings unter Mails von Geh- die „Wohnst du noch, oder lebst du
rig – ein erstaunlicher Kulturwandel für schon?“-Mentalität tatsächlich verankert
einen, unter dessen Ägide Mitarbeiter frü- ist. „Ich hab die Verkäufer mit Fragen qua-
zurückgesiezt
her videoüberwacht wurden. si zugeduzt – die waren richtig pikiert und
Stirbt also das Sie in Deutschland aus? wollten das gar nicht.“
„Längst nicht“, sagt Horst Simon, „das Mehr wissenschaftlich näherte sich Su-
Sie ist hier sogar ziemlich stabil.“ Simon sanne Hensel-Börner dem Phänomen. Sie
Zeitgeist Duzen gehört bei ist Professor für Historische Sprachwissen- leitet den Fachbereich Marketing an der
schaft an der FU Berlin. Das Duzen hält Hamburg School of Business Administra-
vielen Firmen inzwischen zum er weniger für ein gesellschaftliches Phä- tion. Anlass waren „zwei ziemlich derbe
Geschäftsmodell. Doch die nomen, es sei eher „importierte Unterneh- Duzattacken“ auf die 46-Jährige – in einem
menskultur“, oft eben aus Amerika. Dass Puma-Shop und von einem übereifrigen
Masche empfinden nicht nur junge Leute heute vielfach automatisch Promotionsteam des Essensboxlieferanten
Ältere als unangenehm. duzten, hält er für eine Mär und einen HelloFresh. Hensel-Börner, die „penetrant
„großen Irrtum“ des Handels. Bei sich zu zurücksiezte“ war verwundert, „wie dog-
E
rika“, bellt der Barista durch den Hause in Berlin-Kreuzberg hört er in Ge- matisch man Mitarbeiter auf solche Vor-
Raum. Die weißhaarige, ältere schäften meist das Gegenteil raus: „Weil gaben nageln“ kann.
Dame in der Hamburger Starbucks- die Generationen vor ihnen relativ duz- Im Rahmen eines Forschungsprojekts
Filiale zuckt zusammen. Hat sie sich dane- freudig waren, setzen sich viele Jugendli- befragte sie daraufhin 30 Betriebe in Ham-
benbenommen? „Dein Caffè Latte“, sagt che bewusst davon ab.“ burg, wie die es mit der Anrede halten.
der Barmann lächelnd. „Ich danke Ihnen“, Ein Blogger aus Frankfurt etwa zeigte Während in Apotheken, Banken und im
sagt Erika erleichtert. sich sichtlich irritiert, als er in einem Hol- Lebensmittelhandel das Du weiter unüb-
Kulturschocks wie dieser sind lich ist, scheint es im Textilsek-
bei der amerikanischen Kaffee- tor Mainstream: In sieben von
kette alltäglich. Hier wird jeder neun Läden war das Duzen der
an der Kasse um seinen Vorna- Kunden möglich oder sogar
men gebeten, der dann wie bei Pflicht.
einem Kitakind auf dem Becher Hensel-Börner hält die Ent-
notiert wird. wicklung für absurd. Zwar sei
Doch selbst 15 Jahre nach der Westen des Landes ein we-
Eröffnung der ersten Starbucks- nig duzaffiner als der Osten,
Filialen in Berlin scheinen viele überall jedoch überwiege die
Deutsche die schmissigen Bedie- Ablehnung. Umfragen zeigen,
nungsriten als distanzlos und dass zwei von drei Befragten
unangenehm zu empfinden. Eri- beim Einkaufen oder im Restau-
ka zumindest, war kurz darauf rant nicht geduzt werden möch-
zu beobachten, schlich aus dem ten. Stadtstaaten wie Hamburg
Laden. Eine neue Stammkundin scheinen besonders empfind-
wird Starbucks nicht gewonnen lich, auf das Geduze vom Chef
haben. Ändern wird das Unter- können hier 92 Prozent gut ver-
nehmen seine Ansprache des- zichten.
wegen kaum: Das Dauergeduze Bestimmte Zwitterformen
ist schließlich Teil eines stan- werden im Norden jedoch seit
dardisierten Geschäftsmodells, Langem gepflegt: So hat bei
das weltweit für gleichbleiben- der Zeitschrift „Zeit“ bis heute
MI CH AE L WALTER / D ER S PI EG E L
Analyse
Es geht doch
Warum der Machtwechsel in Gambia ein wenig Hoffnung sät
Normalerweise stützen sich die Herrscher Afrikas gegenseitig. tend, militärisch schwach. Schwergewichte wie Nigeria, Gha-
Sie schauen weg, wenn einer der Ihren durch Wahlbetrug im na oder Kenia hätten das niemals mit sich machen lassen, sie
Amt bleibt. Sie dulden schwere Menschenrechtsverletzungen, verbitten sich jede Form der Einmischung.
denn sie begehen sie oft in ihren eigenen Ländern. Sie hofie- Dennoch könnte Gambia ein Präzedenzfall für den gesam-
ren selbst üble Despoten wie den Simbabwer Robert Mugabe ten Kontinent werden. Denn diesmal haben die Präsidenten
oder Pierre Nkurunziza, der gerade Burundi ruiniert. der Nachbarstaaten ein Grundprinzip der Afrikanischen Uni-
In Gambia aber war es diesmal anders: Erstmals in der post- on durchgesetzt, das es verbietet, den Ausgang freier Wahlen
kolonialen Geschichte des Kontinents zwangen afrikanische zu missachten. So konnten die Gambier einen weiteren Sieg
Präsidenten einen Diktator zum Rücktritt, einen clownesken der Demokratie in Afrika feiern. Allein in diesem Jahrzehnt
Big Man, der im Dezember eine Wahl verloren hatte und fanden in Niger, Guinea, Mali, im Senegal, in Nigeria, Guinea-
trotzdem ad infinitum weiterregieren wollte. Nun flog Yahya Bissau oder auch Benin friedliche Wahlen statt, in Burkina
Jammeh am vergangenen Samstag ins Exil nach Äquatorial- Faso jagte das Volk einen Kleptokraten aus dem Amt. Nun be-
guinea – nachdem er die Zentralbank geplündert hatte. Viel- kommt der neue Präsident Gambias, Adama Barrow, die
leicht gelang der unblutige Machtwechsel nur, weil Gambia so Chance, eines der ärmsten Länder gerechter zu regieren.
klein ist. Ein Zwergstaat, politisch wie wirtschaftlich unbedeu- Bartholomäus Grill
mit dem Parlament. Anfang stürze sich die Opposition in zum Brexit konfrontiert. Un-
der Woche hatte der Oberste einen „Nahkampf“ mit der ter anderem geht es um die
Gerichtshof in London ent- Regierung, heißt es bei La- für May existenzielle Frage,
schieden, dass Mitglieder des bour. Im Unterhaus verfügt ob die Regierung juristisch
Ober- und Unterhauses ei- May nur über eine knappe überhaupt dazu berechtigt ist,
nem formellen Austrittsge- Mehrheit von 16 Sitzen. Etli- das Land aus dem Binnen-
such der Premierministerin che Tory-Abgeordnete sehen markt zu führen. cx
Fußnote
731
Millionen
Internetnutzer zählte
China im vergangenen
Jahr – das ist gut die
Hälfte der Bevölkerung
und entspricht fast an-
KIRSTY WIGGLESWORTH / INTERTOPICS
Das Turnberry Isle Resort in zum Leben erwachen“, werben die Mana- Emanuel – ein enger Vertrauter von Ba-
Miami Beach ist eine der schi- ger des Resorts. rack Obama – tauchte auf, dazu fünf der
ckeren Adressen in Florida: Der Reklamespruch passte zu einer sechs Bewerber um den vakanten Vorsitz
Feudale Zimmer und beste Schar von Gästen, die sich am Tag des der Demokratischen Partei sowie rund
Sterneküche erwarten die Gäste, dazu Amtseids von Donald Trump hier einfand. 120 reiche Geldgeber. Sie blieben übers
zwei Golfkurse in herrlicher Lagunenlage Der demokratische Stratege David Brock Wochenende, und bei Veranstaltungen mit
und praktisch zwölf Monate Sonnenschein hatte seine Parteifreunde zu dem Treffen Titeln wie „Was zum Teufel ist hier gerade
pro Jahr. Es sei ein Ort, an dem „Visionen eingeladen. Chicagos Bürgermeister Rahm passiert?“ oder „Der Weg zum Faschis-
84 DER SPIEGEL 5 / 2017
Ausland
Demonstranten vor dem Weißen Haus*
„Sag einfach Nein“
chen zwischen der Wahl und Trumps Und schon blüht bei den Demokraten
Amtseinführung scheinen sie sich nun wie- die Fantasie, dass die Massenproteste der
der aufzurappeln. Auf allen Ebenen ver- Beginn von etwas Größerem sein könnten:
suchen sie, dem neuen Präsidenten entge- „Bei George W. Bush haben wir fünf Jahre
genzutreten und es ihm möglichst schwer gebraucht, um die Zahlen zu erreichen, die
zu machen, das politische Vermächtnis wir bei Trump in nur 24 Stunden hatten“,
Obamas zu beseitigen. sagte der Demokraten-Berater Van Jones.
Die Bedingungen scheinen günstig: Nie Es geht Leuten wie Brock und Jones um
zuvor ist ein Präsident mit derart miesen eine linke Basisbewegung, die als radikaler
Beliebtheitswerten gestartet wie Donald Gegenentwurf zu einem Präsidenten wir-
Trump. Nur 42 Prozent der Amerikaner ken soll, mit dem sich mehr als die Hälfte
unterstützen ihn, so eine Umfrage im Auf- des Volkes kaum abfinden kann. Das Vor-
trag des konservativen Senders Fox News bild für manche ist die rechte Tea-Party-
Mitte Januar – selbst der umstrittene Re- Bewegung, die vor acht Jahren ebenfalls
publikaner George W. Bush hatte zu Be- auf einem konspirativen Treffen gegründet
ginn seiner Amtszeit immerhin 57 Prozent wurde, um Barack Obama zu bekämpfen.
der Bevölkerung hinter sich. Kann den amerikanischen Linken nun das-
Für jeden anderen Präsidenten wäre die selbe gelingen?
Ausgangsposition schwierig, doch Trump Im Internet kursiert ein Handbuch für
lässt sich davon nicht bremsen. Schon in erfolgreichen politischen Protest. Verfasst
den ersten Amtstagen setzte er mehrere wurde es von ehemaligen Mitarbeitern der
seiner Wahlkampfslogans um (siehe Grafik Demokratischen Partei im Kongress. „In-
S. 86), er poltert, pöbelt und twittert wie divisible: A practical guide for resisting
zuvor und lobt die Foltermethode des Wa- the Trump Agenda“ ist eine Erfahrungs-
sammlung, die sich an den Erfolgen der
Der Bürgermeister konservativen Protestbewegung orientiert.
Auf dem Titelbild prangt das Porträt Abra-
von New York meint, man ham Lincolns. Er war ein Republikaner,
könne auch Akten wird aber von Vertretern beider Parteien
verehrt. Im Handbuch finden sich prakti-
verschwinden lassen. sche Tipps, wie sich Erfolge wie die der
Tea Party wiederholen ließen. Nur dieses
terboarding. Und vor allem macht er keine Mal von der anderen Seite her.
Anstalten, seinen Gegnern in der Bevölke- Die Tea Party habe es geschafft, „Mehr-
rung das Gefühl zu geben, er könne viel- heitsverhältnisse zu ändern und Gesetzge-
leicht doch noch auch ihr Präsident werden. bung zu verhindern“, so die Analyse. Sie
Trumps politische Gegner wollen in den habe die Umsetzung der Obama-Politik
kommenden vier Jahren an möglichst vie- „radikal verlangsamt“ und die Republika-
len Fronten zugleich angreifen – damit aus ner gezwungen, Kompromisse abzulehnen.
vier Jahren Trump nicht acht Jahre wer- Vor allem zwei Lektionen habe man aus
den. Parteinahe Geber der Demokraten den Erfolgen der Konservativen gelernt,
NATAN DVIR / POLARIS IMAGES
starten juristische Initiativen gegen Trump, schreiben die Autoren: Um die Arbeit ei-
selbst die demokratischen Bürgermeister nes Präsidenten zu sabotieren, müsse man
schließen sich zusammen. Zusätzlich mo- in den Bundesstaaten aktiv werden, den
tiviert sind sie seit dem vergangenen Wo- Städten. Man müsse überall kleine Grup-
chenende durch die größten Demonstra- pen gründen und die örtlichen Abgeord-
tionen, die je auf amerikanischem Boden neten mit politischen Forderungen nerven,
stattgefunden haben. bis sie die nach Washington tragen und
Über drei Millionen Menschen sind in dort Sperrfeuer schießen.
mus?“ debattierten sie das ernüchternde den Vereinigten Staaten am vergangenen Zum anderen dürfe sich eine derartige
Ergebnis des Wahljahres. Vor allem aber Samstag in mehreren Städten bei den so- Gegenbewegung nicht in Debatten da-
einigten sie sich auf eine grundsätzliche genannten Women’s Marches auf die Stra- rüber verlieren, was genau der politische
Strategie für die kommenden vier Jahre. ßen gegangen, um für Frauenrechte und Alternativvorschlag sein solle. Das führe
Die Demokraten wollen Trump bedin- gegen Trump zu demonstrieren. Und es nur zu Auseinandersetzungen und schließ-
gungslos bekämpfen, sie wollen nicht klein waren längst nicht nur Frauen. Die lich zur Zersplitterung der Bewegung.
beigeben, nicht kooperieren, sie wollen Schwarzenbewegung „Black Lives Matter“ „Das Motto ist: ,Sag einfach Nein‘“, so die
ihn blockieren – bis die Macht wieder in marschierte mit, auch muslimische Grup- Autoren. „Man muss vor allem das Defen-
den eigenen Händen liegt. „Lasst uns pen, die Gemeinde der Schwulen und sivspiel beherrschen.“
Trump in den Arsch treten“, hatte Brock Lesben. In der Hauptstadt demonstrierten Viele der demokratischen Geldgeber,
als Motto ausgegeben. selbst Vietnamveteranen gegen den neuen die sich in Florida versammelt hatten, set-
Brock selbst ist unter Demokraten um- „Agent Orange“ – eine doppelte Anspie- zen auf einen weiteren Plan. Um Trump
stritten, weil er großspurig auftritt, viel lung: auf ein Kampfgift aus Vietnamkriegs- das Leben im Weißen Haus schwer zu ma-
Geld im Clinton-Wahlkampf ausgab und zeiten und die Sonnenstudiobräune Do- chen, wollen sie ihn gemeinsam mit demo-
das Blatt gleichwohl nicht wenden konnte. nald Trumps. kratischen Generalstaatsanwälten auf ju-
Trotzdem gibt das von ihm organisierte ristischem Weg attackieren.
Treffen in Florida die Richtung vor: Nach * Beim „Women’s March“ am 21. Januar in Washington, Einige Verfahren laufen schon an: Der
den für Demokraten deprimierenden Wo- D. C. New Yorker Generalstaatsanwalt Eric
DER SPIEGEL 5 / 2017 85
Ausland
CH I P SO MO DEV I LL A
setts untersucht parallel dazu die Aussagen Denn es gebe einen entscheidenden Un-
von Trumps Außenminister Rex Tillerson terschied zur neuen demokratischen Op-
während seiner Zeit als Vorstandschef des position: Die Rechten hätten sich damals
Ölmultis ExxonMobil. Der Vorwurf: In nach Obamas Wahlsieg existenziell in ihrer
Trump zeigt seinen Erlass zum Mauerbau
an der Grenze zu Mexiko
dieser Zeit habe der Konzern Kunden und Kultur bedroht gefühlt. Die Anliegen der
Investoren über die wahren Folgen des Trump-Gegner hingegen seien „eher post-
Schlag auf Schlag Klimawandels im Unklaren gelassen, um materialistisch“, die Gründe für ihre Ängs-
Exxons Geschäfte nicht zu stören. Da Ex- te „nicht existenzbedrohend“. Das mache
Donald Trumps erste Woche als Präsident xon eine Aktiengesellschaft ist, könnten die Bewegung strukturell schwächer. Die
Freitag, 20. Januar nachgewiesene Lügen sehr teure Entschä- Organisatoren des Women’s March etwa
digungsklagen nach sich ziehen. dürften sich nicht auf Frauenrechte be-
Trump unterzeichnet ein Dekret, das es staat- In einer Mail drohte Healey jüngst auch schränken, sie müssten auch Themen wie
lichen Stellen erlaubt, die Gesundheitsreform damit, gerichtlich gegen den neuen Präsi- Migration und Rassenbeziehungen aufneh-
„Obamacare“ seines Vorgängers Barack Obama denten vorgehen zu wollen: „Ich hätte kei- men, sagt Parker.
nicht anzuwenden oder zu verzögern. ne Skrupel, Trump vor Gericht zu bringen, Immerhin offenbarten die Demonstra-
Samstag, 21. Januar wenn er seine verfassungsfeindlichen tionen eine Schwachstelle des Präsidenten:
Wahlversprechen umsetzt.“ Manchmal scheint er ein Glaskinn zu ha-
Bei einem Besuch in der CIA-Zentrale attackiert Ähnliche Aktionen wie die der Juristen ben, wie das unter Boxern genannt wird.
Trump die Presse wegen angeblich falscher finden sich in fast allen Bundesstaaten der Der Milliardär und seine Leute reagieren
Angaben zur Zuschauermenge bei seiner USA, in denen die Demokraten noch an empfindlich und impulsiv auf Kritik – und
Vereidigung.
der Macht sind. Landesweit hat sich in der dabei können ihnen Fehler unterlaufen. So
Montag, 23. Januar Partei die Erkenntnis breitgemacht, dass behauptete Trumps Pressesprecher Sean
trotz der Niederlage im Kampf ums Weiße Spicer in einem mittlerweile legendären
Trump verfügt den Ausstieg der USA aus dem Haus noch immer zahlreiche Ebenen blei- Statement, noch nie hätten so viele Men-
transpazifischen Handelsabkommen TPP – einem
ben, auf denen man gegen Trump antreten schen einer Amtseinführung zugeschaut
Herzstück der Wirtschaftspolitik Obamas.
kann. wie jetzt bei Trump. Die Lüge flog schnell
Treffen mit Wirtschaftsführern: Trump will die So sind sich etwa die Bürgermeister von auf, weil schon Aufnahmen von der Zere-
Wirtschaft deregulieren, Unternehmensteuern New York, Chicago, Los Angeles, Seattle monie das Gegenteil beweisen.
senken und Strafzölle auf im Ausland produzierte und Washington darin einig, die geplanten Mittlerweile muss Trump zudem mit
Waren von US-Unternehmen erheben. Abschiebungen von nicht gemeldeten Ein- einer eher subtilen Art des Widerstands
Dienstag, 24. Januar wanderern stoppen zu wollen – der New umgehen, vor wenigen Tagen etwa auf sei-
Yorker Bürgermeister Bill di Blasio sagte, ner Lieblingsplattform Twitter: Dort wur-
Wie andere republikanische Präsidenten vor ihm man könne ja einfach die entsprechenden den vom Account des Badlands-National-
verbietet Trump US-Finanzhilfen für ausländische Akten verschwinden lassen. parks in South Dakota aus plötzlich Nach-
Nichtregierungsorganisationen, die Abtreibun- Bereits kurz nach der Präsidentschafts- richten mit Fakten zum Klimawandel ver-
gen unterstützen. wahl hatte er in einer Rede klargemacht, sandt. Trump behauptet, es gebe keinen
Trump lässt zwei umstrittene Ölpipeline-Projekte dass er alles tun werde, um Massenauswei- Klimawandel, weil er weiter auf Öl und
wieder aufnehmen, die sein Vorgänger aus sungen zu verhindern. Mit seiner Rede lan- Kohle setzen will.
Umweltschutzgründen gestoppt hatte. dete de Blasio einen Internethit. So war In wenigen Stunden vervielfachten sich
Die Trump-Administration weist die Kommunika- das Video auch gedacht: Mit seinem Wi- die Followerzahlen des Nationalparks, im
tionsabteilung der Umweltschutzbehörde an, die derstand gegen Trump will sich der Demo- Netz feierten Trump-Gegner die mutigen
Webseiten mit Informationen zum Klimawandel krat die Wiederwahl im Herbst sichern. In Nachrichten, die ein ehemaliger Mitarbei-
zu schließen. Auch das Landwirtschaftsministe- New York City hatte Trump gerade mal ter des Parks verschickt hatte. Der Park
rium soll Veröffentlichungen in den sozialen 18,4 Prozent der Wählerstimmen geholt. löschte die Nachrichten kurz darauf. Doch
Medien einstellen. Für Bürgermeister und Demokraten in überall im Netz sind die Protest-Tweets
den Bundesstaaten wird der Kampf gegen nun verewigt.
Mittwoch, 25. Januar den Rechtsruck zur politischen Chance: Allerdings wird das den Umweltschüt-
Trump unterzeichnet einen Erlass zum Bau der Nie zuvor waren sie derart wichtig, waren zern wenig helfen. Per Dekret hat Trump
Mauer an der Grenze zu Mexiko. Sie war zentra- ihre Stimmen außerhalb der eigenen Gren- inzwischen verfügt, dass Umwelt- und
ler Bestandteil seines Wahlkampfs. Die Kosten zen derart von Gewicht. Landwirtschaftsministerium Informatio-
sollen zunächst die USA tragen. Bei manchen Demokraten ist inzwi- nen über den Klimawandel von ihren Web-
schen schon regelrechte Oppositions- sites entfernen müssen. Und er hat allen
Donnerstag, 26. Januar euphorie zu spüren. Doch hat die Bewe- Mitarbeitern verboten, öffentlich darüber
Nach einer Reihe von Provokationen aus gung tatsächlich genügend Potenzial, um zu reden.
Washington sagt der mexikanische Präsident auf einen Machtwechsel bei der nächsten Zuschlagen kann er nun, er hat die
Enrique Peña Nieto seinen Antrittsbesuch bei Präsidentschaftswahl 2020 hoffen zu kön- Macht. Das ist das Entscheidende. Auch
Präsident Trump ab. nen? Oder darauf, dass sie in zwei Jahren der Boxer Wladimir Klitschko hatte ein
Noch vor Amtsantritt des designierten Außen- die Republikanermehrheit im Kongress Glaskinn. Trotzdem blieb er mehr als acht
ministers Rex Tillerson verlassen laut einem kippen kann? Jahre Weltmeister – länger, als Trump Prä-
Bericht der „Washington Post“ die wichtigsten Man solle die Demonstrationen nicht sident bleiben darf. Gordon Repinski
Führungspersonen das Ministerium. überbewerten, sagt Christopher Parker, Mail: gordon.repinski@spiegel.de, Twitter: @GordonRepinski
Der Mann, der künftig Mexi- me, dann brauche Peña Nieta gar nicht Herr mit silbergrauem Haar, man könnte
kos Geschicke lenken könnte, erst zu kommen, twitterte Trump sinn- ihn für einen Universitätsprofessor halten.
steht in einem Bus auf dem gemäß. Frustriert sagte der mexikanische Doch als er einige Stunden später den
Flughafen von Mexiko-Stadt Präsident ab. Hauptplatz von Piedras Negras betritt, ei-
und telefoniert mit einer Assistentin. Sie Kaum eine Nation wird bislang von nem staubigen Ort an der Grenze zu Texas,
soll ihm jede Attacke des US-Präsidenten Trump so heftig attackiert wie Mexiko, das wirkt er wie ein Popstar. Die Zuschauer
melden. Der Mann ist der Oppositionsfüh- Nachbarland ist Opfer Nummer eins. kreischen, Straßenverkäufer preisen Bücher
rer Andrés Manuel López Obrador, er Schon ist der Peso im Sturzflug, schon kür- und Reden des Politikers an.
führt die Umfragen an, und er will infor- zen oder streichen amerikanische Unter- López Obrador beginnt seine Rede. Mit
miert sein, um Donald Trumps Angriffe nehmen ihre Investitionen; und schon ist schneidender Stimme geißelt er die „Mafia
parieren zu können. unter Mexikos wirtschaftlicher und politi- an der Macht“, und er greift Trump an.
Trump teilt immer wieder aus: Er be- scher Elite Panik ausgebrochen. Trumps Dieser stelle „eine vulgäre Bedrohung der
schimpfte die Mexikaner als Vergewaltiger Politik könne zu einem „Horrorfilm für Menschenrechte“ dar, sagt er. „Viva Méxi-
und Drogenhändler; an der südlichen Mexiko“ werden, sagte Zentralbankchef co!“, schallt es aus dem Publikum zurück.
Grenze will er eine Mauer bauen, für die Agustín Carstens. Trumps Attacken vertiefen eine lange
Mexiko zahlen soll. Millionen illegale Ein- López Obrador kontert Trumps Atta- schwelende politische Krise in Mexiko. Zur
wanderer sollen deportiert werden. Aus- cken, gibt sich dabei staatsmännisch. Die Jahreswende erhöhte die Regierung die
ländische Unternehmen, die in Mexiko nächsten Präsidentschaftswahlen finden subventionierten Benzinpreise und löste
Waren für die USA produzieren, möchte zwar erst Mitte kommenden Jahres statt, damit landesweite Proteste aus, in vielen
Trump mit hohen Zöllen bestrafen, das doch der Wahlkampf ist schon im Gang. Orten kam es zu Plünderungen.
nordamerikanische Freihandelsabkommen Dass López Obrador beliebt ist, das hat Die Regierungspartei PRI hat abgewirt-
Nafta soll neu verhandelt werden. der ehemalige Bürgermeister von Mexiko- schaftet, Präsident Enrique Peña Nieto lei-
Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto Stadt auch Trump zu verdanken. Denn mit det unter mehreren Korruptionsskandalen
wollte Trump auf diplomatischem Weg be- jedem Angriff des verhassten Milliardärs seiner Regierung. Vier Jahre nach Amts-
schwichtigen. Das misslang. laufen López Obrador neue Anhänger zu. antritt unterstützen ihn nur noch 12 Pro-
Am kommenden Dienstag wäre Peña López Obrador ist das Gegenmodell zu zent der Bevölkerung.
Nieto nach Washington gereist, doch der den smarten Yuppies, die mit der Globali- Trump hat die politische und wirtschaft-
Amerikaner erteilte ihm eine Abfuhr. sierung in Mexikos Regierung und Wirt- liche Elite mit seinen Angriffen in Schock-
Wenn Mexiko nicht für die Mauer aufkom- schaft Einzug hielten. Er ist ein bedächtiger starre versetzt. Sie war immer amerika-
DER SPIEGEL 5 / 2017 87
Ausland
freundlich, viele Politik- sen werde – mithilfe des beiten in den Hallen. Von Kleiderbügeln
und Wirtschaftsbosse ha- Nafta-Abkommens, das bis zu Teilen für Jeeps stellen sie vieles
ben in den USA studiert, Trump aber nun neu ver- her, was der US-Markt benötigt.
sie schicken ihre Kinder handeln will. Noch können sich die Unternehmer im
auf amerikanische Univer- Das Problem: In all den Grenzgebiet schwer vorstellen, dass
sitäten. Auf die neue Feind- Jahren hat Nafta die ur- Trump seine Drohungen wahr macht. „Me-
seligkeit waren sie nicht sprünglich von der Land- xiko und die USA sind wirtschaftlich eng
vorbereitet. wirtschaft geprägte Wirt- verflochten, das Ende von Nafta würde
Während des Kalten schaftsstruktur Mexikos auch Arbeitsplätze in den USA gefährden“,
Krieges galt Mexiko in den drastisch verändert. Hun- sagt Gustavo Gutiérrez, Sprecher der ört-
USA als Garant der Stabi- derttausende Kleinbauern lichen Unternehmervereinigung.
lität. Es wirkte als Boll- verloren ihre Arbeit, weil Er ist Vizedirektor einer Firma aus Con-
MARCO UGARTE / AP
werk gegen den Vormarsch sie mit den billigen US-Im- necticut, die Werbegeschenke herstellt,
der Sozialisten in Kuba porten nicht konkurrieren etwa Pappwürfel für Google. Die Vorlagen
und Mittelamerika. Dafür konnten. Viele von ihnen kommen aus den USA, in Mexiko wird
sah Washington über Kor- zogen als illegale Migran- nur gestanzt und gefaltet. Das Geschäft
ruption, Wahlbetrug und Präsident Peña Nieto ten in die USA. blüht, die Firma sucht dringend neue Ar-
Menschenrechtsverletzun- Abfuhr per Twitter Im Jahr 2015 importierte beiter. „Unser Problem sind die hohen
gen hinweg. Und über die Mexiko Agrarprodukte aus Benzinpreise“, sagt Gutiérrez.
Tatsache, dass die politische Macht immer den USA im Wert von 18 Milliarden Dollar. Nachdem die Regierung den Preis für
in den Händen derselben Clique blieb. Selbst den Mais für die Tortillas bezieht Diesel und Benzin um 20 Prozent herauf-
Rund 70 Jahre lang war Mexiko de facto es aus dem Nachbarland. Auch in der In- setzte, verteuerte sich die Produktionsket-
ein Ein-Parteien-Staat, der von der Partei dustrie ist der Entwicklungsschub ausge- te. Im Ölland Mexiko ist Benzin heute teu-
der Institutionalisierten Revolution (PRI) blieben. Tausende ausländische Unterneh- rer als in den USA. Für Firmen wie jene,
beherrscht wurde. Als das korrupte System men haben Fabriken in Mexiko. 80 Pro- die Gutiérrez leitet, ist das ein Schlag.
zu implodieren drohte, kam die Rettung zent der Waren sind für den US-Markt Wer ein Visum hat, fährt zum Tanken
aus dem Norden: Die Herrschenden feier- bestimmt, aber in Mexiko wird lediglich in die USA, die Amerikaner kommen
ten das nordamerikanische Freihandels- geschraubt und nicht entwickelt. „Nafta dafür nach Piedras Negras zum Einkau-
abkommen Nafta, das 1994 in Kraft trat, hat keinen sozialen Wandel gebracht“, sagt fen. Der kleine Grenzverkehr könnte
als Zaubermittel für die wirtschaftliche und Historiker Meyer – nur Billigjobs. jedoch bald komplizierter werden. Am
politische Modernisierung, weil Mexiko Deshalb lebt knapp die Hälfte der Me- Mittwoch entschied Trump, die Grenze
damit zur Werkbank der Nordamerikaner xikaner unter der von der Regierung defi- zu Mexiko mit einer Mauer abzuriegeln.
werden konnte. nierten Armutsgrenze. Für umgerechnet Nach einer Studie des Massachusetts In-
„Nafta hat das Überleben des Systems fünf Dollar am Tag nähen Arbeiter in Pie- stitute of Technology könnte sie bis zu
gesichert“, sagt Lorenzo Meyer, einer der dras Negras Sitzbezüge etwa für Nobelau- 40 Milliarden Dollar kosten. Die Mauer
angesehensten Historiker Mexikos. tos der US-Firma Tesla zusammen. Der soll Migranten stoppen. Im Fiskaljahr
Nach einer Wahlniederlage im Jahr 2000 Lohn reicht kaum zum Überleben. 2016 wurden 416 000 Menschen an der
mussten die „Dinosaurier“, wie die Partei- Kein anderer Bundesstaat ist so sehr Grenze festgenommen. Obwohl die Gren-
bonzen der PRI genannt werden, sich zu- vom Freihandel mit den USA abhängig ze bereits über Hunderte Kilometer abge-
rückziehen, 2012 kehrten sie mit Peña Nie- wie der Bundesstaat Coahuila, zu dem Pie- riegelt ist.
to an die Macht zurück. dras Negras gehört. Die „Maquiladoras“, Aus Protest gegen die Mauer rufen Un-
Der neue Präsident war jung und sah wie die steuerbegünstigten Fabriken ge- ternehmer zum Boykott amerikanischer
gut aus, er ist mit einer Telenovela-Schau- nannt werden, kommen für 40 Prozent des Waren auf, auch in der mexikanischen Re-
spielerin verheiratet, und er kam vor allem dortigen Bruttoinlandsprodukts auf. gierung wächst der Widerstand gegen
bei Frauen an. Er versprach, dass Mexikos In Piedras Negras reihen sich 36 Fabri- Trump.
Wirtschaft jährlich um fünf Prozent wach- ken aneinander, über 30 000 Menschen ar- Und der ehemalige Außenminister Jorge
Castañeda fordert, die Kooperation bei der
Bekämpfung des Drogenhandels einzustel-
KALI- NEW len. Zudem könne Mexiko die mittelame-
FORNIEN ARIZONA MEXICO
MISSIS- rikanischen Migranten unbehelligt an die
USA SIPPI Grenze reisen lassen – als Druckmittel. Je-
Tijuana Mexicali des Jahr stoppen mexikanische Behörden
Cd. Juárez TEXAS LOUISIANA bis zu 300 000 Migranten aus Mittelameri-
ka. Käme ein großer Teil dieser Menschen
Piedras durch, hätten die Vereinigten Staaten ein
Rí
oB
Negras Problem.
MEXIKO
ra
F
rançois Fillon ging nicht ins Fouquet’s den Élysée-Palast. Das änderte sich im Ok- Wahlkampfreden hieß es: „Es ist unge-
auf den Champs-Élysées, hatte kei- tober 2016, als auf dem Sender M6 das Ma- recht, wenn die einen für wenig Geld hart
ne Frau, die Juwelen von Bulgari gazin „Une ambition intime“ gesendet arbeiten und andere öffentliche Gelder er-
trägt, keine neureichen Allüren, keine Af- wurde. In diesem Format werden Politiker halten, ohne zu arbeiten.“ Noch vor weni-
fären. Fillon galt als bodenständig und un- in einem familiären Setting besucht, zeigen gen Wochen sagte er, man könne Frank-
bescholten, sehr katholisch und ein wenig ihre Fotos, erzählen von ihren Hobbys. Fil- reich nur führen, wenn man sich selbst
langweilig – in jedem Punkt eine skandal- lon wirkte in der Sendung besonders sym- nichts vorzuwerfen habe.
freie Alternative zum früheren Präsiden- pathisch, gelöst und gelassen. Nun werden die Leute lachen über ihn,
ten Nicolas Sarkozy. Er gab sich als selbstbewusster Konser- auch wenn andere Ähnliches taten: Ex-
Damit ist es vorbei, seit das Satireblatt vativer, der Gefallen daran findet, dass sei- präsidentschaftskandidat Bruno Le Maire
„Le Canard enchaîné“ enthüllte, dass Fil- ne Frau sich um das Heim kümmert. Die beschäftigte seine Frau, ebenso wie der
lons Frau Penelope als parlamentarische Fillons unterhalten ein kleines Schloss, ha- Sozialist Claude Bartolone. Im Europäi-
Mitarbeiterin ihres Mannes und seines ben fünf Kinder und diverse Pferde. Er er- schen Parlament hatte Front-National-Che-
Nachfolgers insgesamt 500 000 Euro an öf- zählte, dass er die ersten vier Kinder gar fin Marine Le Pen entgegen den Vorschrif-
fentlichen Geldern bezogen ten ihren Lebensgefährten
hat. Denn nun steht infrage, als Mitarbeiter angestellt.
ob sie je für dieses Geld ge- Das erschwert für sie einen
arbeitet hat. Frontalangriff auf den poli-
In der Assemblée natio- tischen Gegner.
nale kann sich auf jeden Trotzdem ist sie eine
Fall niemand an sie oder an der Nutznießerinnen dieser
eine von ihr geleistete Ar- Affäre. Fillon hat seine
beit erinnern. Auch die Bio- Kandidatur nicht nur mit
grafin Fillons gab an, „nie einem wirtschaftlichen Re-
davon gehört zu haben, formprogramm begründet,
dass Madame Fillon arbei- sondern ebenso mit einem
tet“. Anspruch auf moralische
Bisher tut François Fillon und sittliche Reformen der
die Vorwürfe als Schmutz- Gesellschaft. Dieser dop-
kampagne ab, aber durch pelte, einmal traditionell
die Enthüllungen ist er in katholische, dann wieder
eine komplizierte Lage ge- entschieden neoliberale Re-
raten. Brenzlig wurde die formimpuls, war manchem
Situation für ihn nicht, weil seiner Parteigenossen zu
CONTOUR BY GETTY IMAGES
S
ie hören das Meer rauschen, sie hö- gal – die meisten aus Regionen Schwarz- wir sie nie zuvor hatten“, sagt Sergio Liar-
ren den Sturm und die Stimmen der afrikas, in denen Elend oder Bürgerkrieg do, Kapitän zur See. Der Schichtführer an
Verzweifelten am Satellitentelefon: herrscht. diesem Tag dient seit 30 Jahren bei der
„Mayday, Mayday.“ Ihr Überleben verdanken die meisten Marine. Die Rettung von Menschenleben
„Mare 4“, sagt Admiral Nicola Carlone Schiffbrüchigen dem Nervenzentrum der auf hoher See sei gesetzliche Pflicht und
mit Blick auf seinen Kontrollschirm, das internationalen Rettungsmaschinerie, dem Teil seiner Aufgaben als Offizier, sagt er.
bedeutet Windstärke 5 und Seegang mit Maritime Rescue Coordination Center „Ich bin überzeugt, dass wir helfen müssen,
mehr als zwei Meter hohen Wellen – (MRCC) in Rom, das von Offizieren der die Alternative wäre ein noch schlimmeres
Lebensgefahr für Menschen in Schlauch- italienischen Küstenwache geführt wird. Massensterben im Meer.“ Aber: „Wir müs-
booten: „Die Flüchtlinge fordern ihr Zwischen historischen Palazzi haben sie sen auch kontrollieren und identifizieren,
Schicksal heraus.“ dort ihre Kommandozentrale. wer da zu uns kommt.“
Der Admiral und seine Mitarbeiter sit- Der „War Room“ liegt im Erdgeschoss, Liardo will das nicht als Klage verstan-
zen in der Leitstelle der Seenotrettung in wo bei Neonlicht vor wandfüllenden Kon- den wissen. Aber er erlebt täglich, wie
Rom – mehr als tausend Kilometer ent- trollschirmen der Ansturm auf Europa blendend das Geschäft der Menschenhänd-
fernt vom Überlebenskampf vor Libyens überwacht wird. Auf einem Monitor ist ler läuft. An die 300 Millionen Euro jähr-
Küste, und doch mittendrin: Ein Knopf- zu sehen, wie die Seenotretter Leichen lich werden nach EU-Erkenntnissen im li-
druck, und die Offiziere wissen, wie stark aus Schlauchbooten fischen und wie sie byschen Schleppergeschäft umgeschlagen.
die See tobt. Ein Mausklick, und sie sehen, Ertrinkende, die den Kopf schon unter Es wirkt der Fluch der guten Tat: Je besser
wo die nächstgelegenen Schiffe die Rettungsmaschinerie funktio-
kreuzen. Ein Anruf, und der Be- niert, desto stärker ist der Anreiz
treiber Thuraya in Dubai, Herstel- für Migranten, die lebensgefähr-
ler der von den Schleppern verteil- liche Überfahrt zu wagen. Die
ten Sat-Telefone, gibt die Koordi- Offiziere der Küstenwache wissen
naten des Boots durch, von dem das – aber sie sagen es nicht.
aus die Migranten in Todesangst In einem weiteren vertraulichen
angerufen haben. EU-Bericht an den Europäischen
33 Grad 12 Minuten nördlicher Auswärtigen Dienst heißt es: Seit
Breite und 12 Grad 42 Minuten öst- zusätzlich zu den EU-Einsätzen
licher Länge: Das ist an diesem Mitt- „Triton“ und „Sophia“ sowie zur
PAOLO MARCHETTI / DER SPIEGEL
len verladenen Flüchtlingen am Ende zu danach – jeder will retten, aber keiner 27 Dolmetscher für Sprachen Afrikas
Hilfe kommt, entscheidet in letzter Instanz will die Migranten anschließend zur und Asiens stehen Tag und Nacht bereit,
Admiral Carlone in Rom. „Ich fühle mich Küste bringen.“ Organisationen wie Ärzte um von Rom aus telefonisch zugeschaltet
hier wie der Dirigent vor seinem Orches- ohne Grenzen wären am liebsten nur zu werden. Allein die Bürger Gambias
ter“, sagt er, „ich muss dafür sorgen, dass an vorderster Front und würden den aber sprechen – je nach Herkunft – unter
alle harmonisch zusammenspielen.“ Weitertransport nach Lampedusa oder anderem Mandinka, Fulfulde, Wolof oder
In seinem Büro, hinter sich die italieni- Sizilien anderen überlassen, „denn der Soninke. Der Übersetzer, den die italie-
sche Trikolore, zeigt der Admiral mithilfe kostet Zeit und Geld, bringt aber nichts nische Küstenwache jetzt einschaltet, ist
von fünf Mandarinen, die er über einen ein – keine dramatischen Fotos, keine der falsche.
Glastisch schiebt, wie Rettung funktioniert. Spendengelder“. Die Offiziere vom MRCC in Rom tun
Der Tisch ist das Meer, die Mandarinen Den Vorwurf, der Anreiz für Schmugg- ihr Bestes – fast 500 Männer, Frauen und
sind die Schiffe. Deren Daten – Position, ler und Fluchtwillige nehme zu, je mehr Kinder pro Tag haben sie im Jahr 2016
Ladung, Geschwindigkeit – sind dank des Rettungsschiffe vor der libyschen Küste lebend übers Meer nach Italien gelotst. So
Automatischen Identifikationssystems in kreuzten, will der Admiral weder kom- aber soll es nicht mehr weitergehen. In
Sekundenschnelle abrufbar. Und so – der mentieren noch dementieren: „Für poli- einem vertraulichen Dokument forderten
Admiral verschiebt nun zwei Mandarinen tische Erwägungen sind andere zuständig, die Malteser, zurzeit EU-Ratsvorsitzende,
– wird dann entschieden, wer sich dem wir sind Militärs“, sagt Carlone knapp, kürzlich, den „Flüchtlingsstrom einzudäm-
Flüchtlingsboot nähern soll. „wir haben keine Wahl, sondern eine men“. Die neu geschaffene Europäische
Wenn ein Schiff „nicht kooperiert“, wie Verpflichtung.“ Selbst jetzt, im Winter, Agentur für die Grenz- und Küstenwache
an diesem Morgen die „Isola Celeste“, ein kommen an manchen Tagen zwischen soll gerettete Flüchtlinge künftig mithilfe
30 000-Tonnen-Tanker, verstößt das gegen 400 und 1000 Migranten an Italiens Küs- libyscher Behörden aufs afrikanische Fest-
internationales Seerecht. Bei Notrufen ten an. land zurückbringen.
muss jeder Kapitän Hilfe leisten, sofern „Sir, please, I need your longitude“, Ein Wunsch, der den italienischen Küs-
er dadurch nicht sein eigenes Schiff in brüllt ein Offizier seinem Gesprächspart- tenwächtern nicht einmal ein Lächeln ent-
Gefahr bringt. „Schnelligkeit bedeutet Le- ner weit draußen im Mittelmeer zu – er locken wird. Sie wissen: Um die Schleuser
ben“, sagen die Männer und Frauen von versucht verzweifelt, die Position des und ihre Kundschaft abzuschrecken, muss
der Seenotrettungszentrale in Rom, die Flüchtlingsboots zu bestimmen. mehr geschehen. Solange Europa nicht
Tag für Tag an Telefonen und Monitoren Die Antwort am anderen Ende: Meeres- glaubwürdig seine Außengrenzen schützt,
Schicksal spielen. Das Überleben derer rauschen, Schweigen, dann Unverständ- wird der Zustrom kaum abnehmen.
da draußen auf dem Meer hänge oft von liches. Die Pflicht zur Rettung aus Seenot ist für
Sekunden ab. Offizier: „Sir, where are you from?“ den Ernstfall gedacht. Der hunderttausend-
„Und mit der Rettung selbst ist nicht „Gambia“, kommt es zurück. fach vorsätzlich herbeigeführte Ernstfall
alles getan“, so Admiral Carlone. „Die „Okay, hold the line, we’ll get you an in- erfordert andere Antworten. Walter Mayr
eigentlichen Probleme beginnen häufig terpreter.“ Mail: walter.mayr@spiegel.de
D
ie Adresse lautet Prospekt der grad‘ erforschen.“ Bestenfalls Wladimir dot.com und die Erkennungsmelodie für
Fünfjahrespläne Haus eins. Sie er- Putin selbst komme an die Popularität von Sankt Petersburg ist: „Wann ich hierher-
innert an die alte Sowjetzeit, als Schnurow heran. gezogen bin, hab ich vergessen, besoffen
diese Stadt Leningrad hieß, auch die Me- In der Halle hüpfen sich die Fans bereits war ich damals wohl. Ich hab keine An-
trostation gegenüber nennt sich noch Pro- warm, die Bühne mitten in der Arena meldung, keine konkrete Adresse. Meine
spekt der Bolschewiki. Aber sonst hat die ist von Schnur-Anhängern umringt. „No Adresse heißt www.leningrad.sanktpeters-
Eisarena von Sankt Petersburg nichts mit Schnur, No Party“ steht auf manchem burg.totschka.ru“.
der Vergangenheit gemein. T-Shirt.
Wie eine gläserne Schüssel ruht sie zwi- Und dann ist er endlich da, der Chef #
schen grauen Plattenbauten. Sie wurde für von „Leningrad“: weißes Shirt und abge- Sankt Petersburg, die Kopfgeburt Peters des
die Eishockey-Weltmeisterschaft 2000 ge- schnittene blaue Jeans, goldene Kette um Großen. 200 Jahre lang war es die Haupt-
baut, heute jedoch gibt es hier ein Konzert. den Hals, Dreitagebart. Er greift in die Sai- stadt Russlands, dreimal wurde es im vori-
15 000 Gäste haben Platz, alle Karten sind ten seiner Gitarre und singt das Lied, das gen Jahrhundert umbenannt. Hier regierten
ausverkauft. die Petersburger zum Einstieg hören wol- die Zaren, hier stürzte Lenin das Kerenski-
Es ist 20 Uhr, in der Schüssel kocht und len: „Totschka.ru“. Was so viel heißt wie Kabinett, hier begann er seine blutige Re-
brodelt es schon. Sergej Schnurow wird volution. 1918 aber zog die Regierung nach
spielen, Spitzname „Schnur“, der Schnür- FINNLAND Moskau um, Sankt Petersburg / Petrograd /
senkel. Mit ihm seine Gruppe „Leningrad“. SCHWEDEN Leningrad versank in Provinzialität.
Sankt Petersburg
Schnurow, 43 Jahre alt, Rocksänger, In der steckt die Stadt auch heute noch,
Schauspieler und Komponist, gilt als Russ- ESTLAND obwohl sie seit 1991 wieder Sankt Peters-
lands Star Nummer eins. „Er ist Jessenin, RUSSLAND burg heißt und ein Ort der Superlative ist:
ee
LETTLAND
ts
Wyssozki und Alla Pugatschowa in einer die nördlichste Millionenstadt der Welt,
Os
Person“, schreibt das Glamourmagazin Moskau Russlands wichtigster Ostseehafen und fast
250 km
„Snob“: „Man wird die Putin-Zeit dereinst so glitzernd wie Venedig: Die Stadt besitzt
anhand der Lieder und Clips von ,Lenin- 342 Brücken, von denen 9 jede Nacht für
92 DER SPIEGEL 5 / 2017
VICTOR YULIEV / DER SPIEGEL
Schnurow-Fans in der Eisarena von Sankt Petersburg: „Alle sind verbrannt: alle Pussies, Putin und Nawalny“
die Schiffe hochgeklappt werden, und in tischer und gebildeter. In Moskau duzt Schnurows Melodien versteckt“, schreibt
der fast unberührten historischen Innen- man sich und küsst sich zur Begrüßung, in das Magazin „Snob“. Schnurow singt in
stadt stehen 2300 Paläste, Prunkbauten Petersburg gilt das als Zeichen schlechten der „Mat“ genannten russischen Vulgär-
und Schlösser. Die Jury des World Travel Geschmacks. Die Petersburger nutzen für sprache: „Und was könnte absurder sein:
Award hat Petersburg gerade zur Welt- gebräuchliche Dinge ganz andere russische Der Mat ist unter Putin verboten worden,
Touristenhauptstadt mit den interessante- Wörter. Und sie verstehen es, eine hippe seine Nutzung wird bestraft“, so „Snob“,
sten kulturellen Zielen gewählt – 6,9 Mil- Atmosphäre in ihre Stadt zu zaubern – „aber Schnurows Lieder mit der obszönen
lionen Reisende kamen 2016 in die Stadt. etwa in der Rubinsteinstraße, die mit ihren Lexik singt das halbe Land.“
Irgendwie ist Petersburg auch immer Pubs und Bars jede Nacht zum Treff von In der Eisarena von Sankt Petersburg
noch Regierungsdomäne. Präsident und tout Petersburg wird. singen sie inzwischen längst mit. Etwa
Premierminister stammen von hier, Wla- Eine Stadt als Inkarnation eines Lebens- das Lied von den Sterbeglocken über
dimir Putin begann im Leningrad der Sieb- gefühls, das überall im Land anzutreffen Moskau: „Gestern träumte ich einen wun-
zigerjahre seine KGB-Karriere. Heute emp- ist: Petersburg strahlt Gleichgültigkeit aus derbaren Traum – Moskau war vollständig
fängt er im Konstantinpalast von Sankt Pe- gegenüber dem, was in Moskau passiert. abgebrannt. Das Feuer wütete auf dem
tersburg Staatsgäste, führt sie in die Samm- Lasst uns in Ruhe, dann lassen auch wir Roten Platz, es schwelte die ehemalige
lungen der Eremitage und zu Premieren euch in Ruhe, lautet die Maxime. Moskau Wahlkommission. Alle sind verbrannt: alle
ins Mariinskitheater. Auch viele Männer steht an der Spitze der Machtvertikale, Pe- Pussies, Putin und Nawalny. Die Polizei
aus seiner Entourage wurden hier geboren. tersburg symbolisiert die Abkopplung des und Ostankino.“
Ansonsten hat Petersburg wenig Berüh- Volkes von der Macht. In Ostankino steht Russlands TV-Zen-
rung mit dem offiziellen Russland, es lebt trale. „Wenn du unser Fernsehen guckst,
in einem eigenen Kosmos. Architektonisch # denkst du, du lebst in einem Land von
war es von Anfang an ein Gegenentwurf Rocksänger Schnurow drückt dieses Ge- Idioten“, sagt der schwitzende Schnurow
zum eher bäuerlichen Moskau, das wie ein fühl wie kein anderer aus. „Die ganze Ab- in der Pause, hinter der Bühne. „Die Poli-
großes Dorf in die russische Landschaft surdität, die Sinnlosigkeit und der gren- tik verschweigt, was bei uns passiert. Aber
wuchs. Aber Petersburg ist auch aristokra- zenlose Zynismus unserer Zeit sind in alle versuchen, uns irgendeine Moral zu
DER SPIEGEL 5 / 2017 93
Ausland
predigen. Wir dagegen machen Karneval. rausgegeben hat. Die beiden streiten sich sich im Klaren sein: Wenn es frei sein wird,
Karneval ist, wenn oben und unten ihre darüber, welchen Schaden der Geistliche hört es auf zu existieren“, sagt einer. Fast
Plätze tauschen. Wir singen, was alle ver- damals in Russland angerichtet hat. Aber schon aufrührerische Reden sind das.
stehen, was sie verbindet. Wir sagen Schei- ihr Disput ist mit aktuellen Botschaften ge- Der Geist des Widerspruchs ist tief ver-
ße zu dem, was Scheiße ist. Ich bin der spickt: dass Nikolaus’ Russland genau wie wurzelt in Sankt Petersburg. Die Stadt hat
Sänger dieser Stadt.“ das heutige in Elite und Volk gespalten zu kommunistischen Zeiten bluten müs-
war, dass es auch damals eine Staatspartei sen, Moskau empfand sie als intellektuelle
# gab, vergleichbar mit Putins „Einigem und politische Gefahr. In den Dreißiger-
Schon die Wahlbeteiligung zeigt, dass Pe- Russland“, und eine Kirche, so ultranatio- jahren ließ Stalin hier besonders viele
tersburg der Ort des Aufbegehrens gegen nal wie die von heute. Menschen hinrichten, und selbst nach dem
die Willkür der Moskauer Politik ist. Im Und erinnere der patriotische Jubel auf Krieg setzten sich die Repressionen fort.
September, bei der Abstimmung über das dem Petersburger Schlossplatz im Sommer Im Zuge der „Leningrader Affäre“ wurde
neue russische Parlament, kam nicht mal 1914, als Zar Nikolaus zum Krieg gegen 1950 fast die gesamte Führung der Stadt
jeder dritte Petersburger ins Wahlbüro. Deutschland und Österreich-Ungarn aufrief, erschossen – angeblich war sie dabei, eine
Und nur knapp 13 Prozent der Wahlbe- nicht an heute, fragt Lurje in die Runde. zweite Kommunistische Partei ins Leben
rechtigten in der Stadt stimmten für Putins „Gleicht dieser Jubel nicht jener Euphorie, zu rufen. Eigens für diesen Fall hatte Mos-
Staatspartei. In Tschetschenien wa- kau die 1947 abgeschaffte Todesstra-
ren es 91 Prozent. fe wieder eingeführt. Noch in den
Dagegen gingen nach dem Mos- Siebzigerjahren machte der Kreml
kauer Mord am Politiker Boris Nem- Jagd auf Leningrader Untergrund-
zow 15 000 Petersburger auf die Stra- gruppen, die verbotene Literatur
ße und protestierten gegen die Hatz verbreiteten.
auf Russlands Liberale. 15 000 De- „Wir waren immer anders“, sagt
monstranten – im heutigen Russland Lurje. „Wir haben ziemlich progres-
ist das eine gewaltige Zahl. sive Medien in der Stadt, bei uns
Und schließlich stehen nirgendwo sitzt sogar noch die Opposition im
Gouverneure so unter öffentlichem Parlament. Und natürlich waren hier
Druck wie in Sankt Petersburg. Der nach dem Krim-Anschluss weniger
jetzige ist bereits das fünfte Stadt- schwarz-gelbe Georgsbändchen zu
oberhaupt seit Ende der Sowjetunion, sehen als im übrigen Land – die Zei-
seine Vorgängerin musste wegen mas- chen der russischen Patrioten.“ Viel-
siver Bürgerproteste von Putin abge- leicht liege das daran, sagt Lurje,
löst und nach Moskau geholt werden. dass Petersburg im Gegensatz zu
Lew Lurje, Petersburgs bekanntes- Moskau noch so aussehe wie zur Za-
ter Historiker, Publizist und Film- renzeit und „der Kontrast zwischen
autor, weiß um das latent Subversive dem Bürgerlichen und dem Sowjeti-
dieser Stadt. „Putins Militäreinsatz schen den Menschen hier jeden Tag
in Syrien oder die Verhaftung des rus- bewusst geworden ist“.
VICTOR YULIEV / DER SPIEGEL
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Sport
Passnetzwerk von Bayern München und dem Hamburger SV am 17. Spieltag
Fußball
SC Freiburg–Bayern München 1:2 VfL Wolfsburg–Hamburger SV 1:0 Verbindungsfehler
Diagramm bis zur 70. Spielminute, Diagramm bis zur 83. Spielminute,
Pfeile für fünf oder mehr Pässe Pfeile für drei oder mehr Pässe Im Fußball gibt es verschie-
dene Wege zum gegneri-
schen Tor. Bayern München
nimmt sich Zeit. Mit vielen
Querpässen spielt die Mann-
Wood
Costa schaft von einer Seite zur
Robben
Lewandowski Müller anderen, bis sie eine Lücke
Kostić findet. Die Bayern hatten am
Müller
Sakai vergangenen Spieltag gegen
Alaba Ostrzolek Freiburg 75 Prozent Ball-
Lahm besitz, spielten 882 Pässe.
Vidal* Alonso Ekdal*
Der Hamburger SV – mit 223
Holtby Pässen gegen Wolfsburg –
Hummels Martinez
Santos Papadopoulus
hält wenig vom kontrollier-
ten Spielaufbau. Torwart
Mavraj Mathenia schlug 27 Pässe,
meist in die Spitze – mehr
als die beiden Innenverteidi-
Neuer ger zusammen. Die Daten
stammen aus der Taktiktafel
Mathenia von SPIEGEL ONLINE. Ab
jetzt werden dort die Pass-
* bis zur 54. Minute (Auswechslung) * bis zur 32. Minute (Gelb-Rote Karte)
wege ausgewählter Bundes-
ligaspiele präsentiert.
Magische Momente
„Plötzlich schrie die Masse auf“
GETTY IMAGES
Vor dem Super Bowl: Footballer Sebastian Vollmer, 32, aus Neuss über das Erlebnis, beim Sportspektakel zu gewinnen
SPIEGEL: Sie haben vor zwei SPIEGEL: Das bedeutete prak- Freundin. Nach der Sieger- ihn nicht mehr am Finger ge-
Jahren mit den New England tisch den Sieg. ehrung sagte Klubchef habt. Er liegt in einem Tresor,
Patriots den Super Bowl ge- Vollmer: Alle flippten völlig Robert Kraft zu mir, ich solle und da gehört er mit seinen
wonnen, für Amerikaner das aus. Aber es waren ja noch die Vince-Lombardi-Trophäe über 200 Diamanten auch hin.
größte Sportspektakel der etwa 20 Sekunden zu spielen. zu unseren Fans tragen. SPIEGEL: Patriots-Quarterback
Welt. Wie haben Sie die ent- Ich dachte nur: Es ist so lange Jeder wollte den Pokal be- Tom Brady, der Mann von
scheidende Situation erlebt? nicht vorbei, bis es vorbei ist. rühren. Topmodel Gisele Bündchen,
Vollmer: Ich stand mit unse- SPIEGEL: Dann war das Spiel SPIEGEL: Sie haben im April besitzt bereits vier solcher
ren Offensivspielern um aus. 2015 geheiratet. Haben Sie Ringe.
Quarterback Tom Brady Vollmer: Es kamen unbe- zu diesem Anlass Ihren NFL- Vollmer: Am übernächsten
draußen an der Seitenlinie. schreibliche Emotionen hoch. Siegerring getragen? Sonntag hat er die Chance,
Wir führten 28:24, aber es Ich lief wie im Rausch übers Vollmer: Natürlich nicht. Das einen fünften zu holen. Ich
war klar, dass die Seattle Sea- Feld und hielt Ausschau nach Ding ist riesig, und seit dem kenne Tom seit acht Jahren,
hawks gleich einen Touch- meinen Eltern und meiner Tag der Übergabe habe ich und sein Ehrgeiz wird immer
down landen. Wir rechneten größer. Ob er schläft oder
aus, wie viel Zeit uns danach Yoga macht, isst oder trai-
noch bleiben würde und niert – er überlässt nichts
welche Spielzüge uns noch dem Zufall.
den Erfolg bringen könnten. SPIEGEL: Sie dagegen verpas-
SPIEGEL: Es kam alles anders. sen das Finale wegen einer
Vollmer: Ich weiß nur noch, Verletzung.
dass die Masse im Stadion Vollmer: Ja, ich versuche,
MICHAEL ZAGARIS / GETTY IMAGES
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel DER SPIEGEL 5 / 2017 97
Sport
Aussichtsplattform Alpspix
Wintertrauma
Tourismus Der Klimawandel bedroht den Skisport. Experten glauben, dass
selbst Kunstschnee den Winterspaß nicht retten kann. In Garmisch-Partenkirchen,
W
enn der Klimaforscher Stephan vertretende Leiter des Campus Alpin hat beginnt in St. Moritz die Alpine Ski-Welt-
Thiel zur Arbeit fährt, dann eine Studie erstellt, in der die Entwicklung meisterschaft. Auch im Engadin ist die
kommt er am Skigebiet von Gar- des Klimas im Werdenfelser Land analy- Schneelage gut. Es sind TV-Bilder einer
misch-Partenkirchen vorbei. In den letzten siert wird. Titel der Arbeit: „Palmen in ungetrübten Winterpracht zu erwarten.
Tagen sah er dort Sportler tief verschneite den Alpen?“ Klimaforscher haben es in solchen Zei-
Hänge hinabfahren, er sah den vom Schnee Die Diagramme und Grafiken in dem ten schwer, mit ihren Thesen von wärmer
eingezuckerten Bergwald. Ein Wintertraum. Dossier basieren auf unzähligen Messun- werdenden Wintern durchzudringen. Sie
Aber wohl nicht mehr lange, sagt Herr gen. Kunstmann sagt, es gebe da „eindeu- müssen gegen die Macht der Bilder anre-
Thiel. tige Temperatursignale“. Bergregionen sei- den, gegen das Gefühl der Menschen, dass
Der Wissenschaftler sitzt in seinem en „klimasensitiv“. Wenn die Temperatur doch eigentlich alles in Ordnung zu sein
Büro im Campus Alpin. Das Institut für global im Mittel um zwei Grad Celsius an- scheint mit dem Wetter in den Alpen.
Meteorologie und Klimaforschung liegt stiege, dann würde sie in den Alpen um Aber es ist nicht in Ordnung.
am Fuße des Kreuzeck. Die Einrichtung, das Doppelte hochklettern. Vier Grad. Wa- „Die Winter kommen immer später“,
ein Ableger des Karlsruher Instituts für rum ist das so? „Das ist noch nicht ver- sagt Felix Neureuther, Deutschlands bester
Technologie, ist so etwas wie das schlechte standen“, sagt Kunstmann. Alpin-Skiläufer (siehe Interview Seite 100).
Gewissen Garmisch-Partenkirchens. Er guckt zum Fenster hinaus. Vom Dach Er wohnt in Garmisch, reist ständig durch
Die Marktgemeinde unweit der Zugspit- hängen Eiszapfen herab. Kunstmann, ein die Alpen und ist sich sicher, dass da „ir-
ze ist Deutschlands berühmtester Skiort. leidenschaftlicher Tourengeher, sagt, es gendwas in Bewegung geraten ist“.
Doch der Klimawandel bedroht den Win- werde auch in Zukunft immer wieder kalte Im Weltcupzirkus der Profis wird heftig
tersporttourismus in dem Alpenidyll. Und Winter geben. Aber: „Der warme Winter debattiert über die Zukunft des Skisports in
Thiel, ein freundlicher Mann mit wusche- der Vergangenheit wird der normale Win- den Alpen. Wo kann man ihn noch ausüben,
ligen Haaren, der seit drei Jahren für die ter der Zukunft sein.“ Eine Kernerkenntnis wenn es immer wärmer wird? Wo kann man
Grünen im Gemeinderat von Garmisch- seiner Forschungen lautet, dass sich bis noch verlässlich Rennen austragen, wenn
Partenkirchen sitzt, hat keine guten Nach- 2050 die Anzahl der Tage mit „Schneebe- Extremwetter immer öfter auftreten?
richten zu verkünden. deckung“ in Lagen unterhalb von 1200 Me- Vom Campus Alpin sind es nur ein paar
„Aufgrund der Erkenntnisse, die im In- tern um 20 Tage reduzieren wird. Schritte bis in den Zielraum der berühmten
stitut zusammengetragen werden“, sagt er, „Das sind keine guten Voraussetzungen Kandahar-Abfahrt. Die jährlichen Welt-
„ist absolut klar, dass wir hier in Zukunft für Skitourismus“, sagt Kunstmann. cuprennen, die dort ausgetragen werden,
mit etwas anderem Geld verdienen müs- Garmisch-Partenkirchen erlebt gerade dienen Garmisch-Partenkirchen als Werbe-
sen als mit Skisport.“ einen Idealwinter, mit Dauerfrost auf den veranstaltung. Der Gemeinderat hat die
Thiel bittet in das Untergeschoss, in Bergen und Pulverschnee und strahlend Zuschüsse für den Event gerade um vier
das Büro von Harald Kunstmann. Der stell- blauem Himmel. In gut einer Woche Jahre verlängert. Vor ein paar Jahren wur-
98 DER SPIEGEL 5 / 2017
Rennläuferin in Garmisch-
Partenkirchen*
Der Schneesucher
Dienst ist. 50 Millionen Euro soll der Neu-
bau kosten. Huber ist begeistert von dem
Projekt. Es liefert weitere Superlative für
die Werbeprospekte. 2000 Höhenmeter
schafft die neue Pendelbahn am Stück. Welt- Ski alpin Deutschlands erfolgreichster Slalomfahrer Felix
rekord! Die Stahlstütze, über die vier jeweils
145 Tonnen schwere Stahlseile laufen wer- Neureuther, 32, über die ungewisse Zukunft seiner Sportart
den, ist 127 Meter hoch. Weltrekord! und warum sie wichtig ist für die handysüchtige Jugend
Garmisch-Partenkirchen ist ein großer
Erlebnispark. Neben dem Skigebiet gibt es
ein Wellenbad, ein Eisstadion, eine Som- SPIEGEL: Herr Neureuther, wie oft checken noch mit dem normalen Skilaufen zu ver-
merrodelbahn, eine Skisprungschanze für Sie am Tag den Wetterbericht? gleichen?
das Neujahrsspringen, jedes Jahr wird ein Neureuther: Sehr oft. Und je näher ein Neureuther: Warum nicht?
City-Biathlon veranstaltet. Und ständig wer- Rennen kommt, desto häufiger. SPIEGEL: Sie fahren auf prügelharten, auf-
den neue Bespaßungen in den Fels ge- SPIEGEL: Was sagen Ihnen die letzten Win- wendig modellierten Kunstschneepisten,
schraubt. ter? auf denen ein Gelegenheitsskiläufer …
2010 eröffnete unterhalb der Alpspitze Neureuther: Dass Leute wie Donald Trump Neureuther: … besser nicht unterwegs sein
der Alpspix, eine stählerne Aussichtsplatt- Unfug reden, wenn sie behaupten, der sollte, weil sie so eisig und so steil sind, ja,
form, von der aus Besucher einen schwin- Klimawandel sei nur eine Erfindung. Wir das stimmt.
delerregenden Blick in das Höllental wer- Skisportler beobachten die Veränderung SPIEGEL: Sie benutzen Ski …
fen können. Bei der Eröffnung des Alpspix schon seit Jahren: Es gibt weniger Schnee. Neureuther: … die mit normalen Ladenski
hängten sich zwei Extremkletterer aus Pro- Der Winter beginnt eigentlich erst richtig nicht zu vergleichen sind, stimmt auch.
test unter die Konstruktion und entrollten Mitte Januar, dauert dafür aber länger. Da- Aber unsere Entwicklungen fließen auch
ein Plakat, auf dem stand: „Unsere Berge vor muss man hoch hinaus, um Schnee zu in den Verkaufski ein.
brauchen keinen Geschmacksverstärker.“ finden. Es verlagert sich alles immer weiter SPIEGEL: Wo genau liegt der Unterschied?
Kein schlechter Spruch. Huber zuckt mit nach oben. Neureuther: Ein Ladenski hat mit meinen
den Schultern. „Seit es die Plattform gibt, SPIEGEL: Ist Ihr Beruf angesichts des Wan- so viel gemeinsam wie ein Pkw aus dem
hat sich der Umsatz der Alpspitzbahn ver- dels schwieriger geworden? Autohaus mit einem Formel-1-Rennwagen.
doppelt.“ Punkt. Neureuther: Schon. Weil ich immer auf der Ein guter Alltagsski kostet 400 bis 600
Huber ist kein Klimaleugner. Er sagt: Suche bin nach Schnee, um vernünftig trai- Euro, ein Paar meiner Slalomski rund 2500
„Die Entwicklung des Skitourismus ist end- nieren zu können. Ich sitze sehr viel im bis 3000 Euro. Alle Materialien sind an-
lich.“ Aber noch reagiert er genauso wie Auto und fahre kreuz und quer durch die ders, der Holzkern ist anders aufgebaut,
die Skigebietsbetreiber in Österreich, Ita- Alpen, weil mal hier, mal dort die Bedin- der Belag, die Kanten.
lien und der Schweiz auf den Mangel an gungen stimmen. Die Phasen, in denen ich SPIEGEL: Ihr Ski hat noch einen Holzkern?
Naturschnee – mit immer moderneren eine Woche an einem Ort trainieren kann, Neureuther: Ich habe mal ein Modell mit
Schneekanonen. Mit Lagern, in denen sind selten geworden. Carbonkern ausprobiert. Es ist beim
Schnee gebunkert wird, der dann bei Be- SPIEGEL: Was macht der Klimawandel mit Schwung gebrochen. Glauben Sie mir, es
darf auf die Pisten gekippt wird. dem Skisport? gibt nichts Besseres als Holz, es ist flexibel
Dabei reisen schon heute mehr Touris- Neureuther: Für die Skiindustrie, für die und stabil zugleich.
ten im Sommer nach Garmisch-Parten- Liftbetreiber, für den gesamten Winter- SPIEGEL: Hätte ein Alltagsskifahrer mit
kirchen als im Winter. Viele kommen aus sporttourismus wird es immer schwieriger. Ihren Ski Spaß?
dem arabischen Raum. Sie lassen sich in Ohne Kunstschnee geht es heute nicht Neureuther: Sicher nicht. Mein Vater war
den Kliniken im bayerischen Oberland an mehr. Aber ich bin mir sicher, dass der neulich beim Training dabei. Da hab ich
den Bandscheiben behandeln, neue Hüf- Skisport nicht aussterben wird, wie das meinem Servicemann gesagt: Frag mal, ob
ten einbauen oder die Brüste vergrößern. manche prognostizieren. Dafür gibt es er ein Paar Ski von mir ausprobieren will.
Gesundheitstourismus ist ein Wachstums- noch zu viele Leute, die begeistert sind Mein Papa kann bekanntlich sehr, sehr gut
markt. Huber hat auf die Kundschaft von der Natur, die raus wollen in die Berge Ski laufen. Und es hat ihm auch riesigen
längst reagiert. Es gibt jetzt Hinweisschil- – und die sich für unsere Rennen interes- Spaß gemacht. Aber nach einer Weile
der in arabischer Sprache und einen Ge- sieren. meinte er, ihm sei das zu gefährlich.
betsraum auf der Zugspitze. SPIEGEL: Der Weltcupzirkus dient der Ski- SPIEGEL: Inwiefern verhält sich ein Rennski
Leider interessieren sich die Gäste aus industrie als eine Art Dauerwerbeveran- anders als ein Modell aus dem Sport-
Dubai und Doha nicht für Wintersport. Sie staltung. Aber ist der Rennsport überhaupt geschäft?
kaufen keine Liftkarten. Und die Russen,
auch eine zahlungskräftige Klientel, fahren
lieber nach Sankt Moritz oder Zermatt. Schnee- und Sommertage in Garmisch-Partenkirchen
Huber muss sich etwas einfallen lassen für Szenario bei gegenwärtiger Emissionsentwicklung; 10-Jahres-Durchschnittswerte
sein Wintergeschäft. Quelle: Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung
8 Jahre
– um diese Spanne altert
offenbar vorzeitig, wer
jeden Tag mehr als zehn
Stunden sitzt und sich
auch sonst wenig be-
wegt. Laut „American
Journal of Epidemiology“
ergibt sich das aus einer
Untersuchung an 1500
Frauen, die Bewegungs-
sensoren trugen und
Blutproben abgaben. In
Zellen träger Probanden
waren die Enden der
SALK INSTITUTE
Chromosomen verkürzt,
Salmonelle (kolorierte Mikroskopaufnahme) was auf eine beschleu-
nigte Zellalterung deutet.
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Sprung in die
dritte Dimension
Das Bild eines Kängurus, das frei im
Raum zu schweben scheint, haben
Mitarbeiter der Australian National Uni-
versity in Canberra geschaffen. Um
das Hologramm entstehen zu lassen,
manipulierten die Physiker Lichtwellen
mit einem neuartigen Material. Es
besteht aus Siliziumsäulchen, ein
500stel so dünn wie ein Menschenhaar.
S
chneeweiß sind sie, mit roten Knopf- ren zu kreieren. Sie injizierten Zellen einer wohnt. In seinem Heimatland verbieten
augen. Wenn ein Laborant sie aus Art in Embryonen einer anderen und be- die Richtlinien die Erschaffung solcher
dem Käfig nimmt, dann schnuppern obachteten, wie sie sich in der fremden Mischwesen aus Mensch und Tier. Deshalb
sie neugierig – so wie es Laborratten eben Umgebung zurechtfanden. wechselte Nakauchi an die Stanford Uni-
tun. Nur ein paar schwarze Flecken im Fell Lange zeigte sich die Natur widerspens- versity. Doch Skepsis begegnet ihm auch
scheinen die Tiere von ihren Artgenossen tig. So gliederten sich Rattenzellen nur ver- in Amerika. So verhängte die Gesundheits-
zu unterscheiden. einzelt in einen Mäuseorganismus ein. Wis- behörde NIH vor anderthalb Jahren ein
Und doch sind dies Ratten, wie sie nie senschaftlich war das interessant. Aber Förderstopp für alle Versuche, deren Ziel
zuvor geboren wurden. Sichtbar wird dies Monstren wie im Fabelreich ließen sich so die Injektion menschlicher Stammzellen
allerdings erst, wenn die Forscher den ge- nicht herstellen. in Tierembryonen ist.
öffneten Leib der Tiere ins Licht halten. Das könnte sich ändern. Zwar steht die Der größte Teil dieser Schimärenfor-
Da und dort ist dann im Gewebe ein Kunst der Tierschimärenproduktion noch schung findet nun in Kalifornien statt, wo
schwaches Grün zu erkennen. Ein Organ immer am Anfang. Doch neues Hand- die Regierung dieser Art von Wissenschaft
aber sticht hell leuchtend hervor. Es han- werkszeug erleichtert den Wissenschaft- gegenüber aufgeschlossen ist. Nakauchis
delt sich um die Bauchspeicheldrüse, und lern die Arbeit. Vor allem das sogenannte Forschungsgruppe wird vom California In-
das grüne Fluoreszenzlicht stammt von Genome Editing erlaubt es ihnen, das Erb- stitute for Regenerative Medicine mit 5,5
Markermolekülen, die zeigen: Dieses Or- gut von Zellen gezielt zu manipulieren Millionen Dollar unterstützt.
gan stammt nicht von der Ratte. Es ist her- und so ihr Schicksal besser zu steuern. Andere Wissenschaftler im Golden State
vorgegangen aus Mäusezellen, welche die Eindrucksvoll zeigen dies Nakauchis wetteifern mit ihm. Gerade wurde Nakau-
Forscher wenige Tage nach der Befruch- Rattenexperimente. Dem Mediziner ist es chi von einem Rivalen übertrumpft, der
tung in die Rattenembryonen injiziert nicht nur gelungen, in einer Art das voll- knapp 700 Kilometer weiter südöstlich am
haben. Mit anderen Worten: Die Ratten ständige Organ einer anderen zu erschaf- Salk Institute in La Jolla forscht: Am Tag
wurden mit einem Mäuseorgan geboren. fen, sondern er demonstrierte auch den nachdem Nakauchi in der Zeitschrift „Na-
Gelungen ist diese Pioniertat einer Ar- ture“ von seinen Rattenexperimenten be-
beitsgruppe um Hiromitsu Nakauchi von
der kalifornischen Stanford University. Ei-
Schnell regen sich Ängste, richtete, verkündete Juan Carlos Izpisúa
Belmonte im Konkurrenzblatt „Cell“, ihm
gentlich ist er Arzt, doch die Arbeit als In- dem Labor könnten sei die Verschmelzung von Mensch und
ternist befriedigte ihn nicht. „Es frustrierte
mich, dass ich so vielen Patienten nicht
sprechende Schweine Schwein gelungen.
Zwar beeilt sich der Forscher zu beteuern,
helfen konnte“, sagt er. Nakauchi be- entspringen. dass dies nur allererste Ergebnisse seien. In
schloss, in die Forschung zu gehen. Dort allen Fällen habe er die Trächtigkeit der
hoffte er, einen Beitrag zu einer Medizin medizinischen Nutzen des Verfahrens: Er Muttertiere nach vier Wochen abgebrochen,
der Zukunft leisten zu können, in der die entnahm seinen Versuchsratten das Mäu- als die Schimärenembryonen gerade einmal
Ärzte erfolgreicher sind. Die Maus-Ratten, se-Pankreas und gewann daraus Hunderte ein bis zwei Zentimeter groß waren. Die
die er jetzt mit seinem Team erschaffen der kleinen Insulin-produzierenden Lan- Beimischung menschlicher Zellen darin sei
hat, sollen den Weg dorthin ebnen. gerhans-Inseln. Diese transplantierte er auch nur sehr gering gewesen. Jede 100 000.
„Schimären“ lautet das Zauberwort, un- dann in zuckerkranke Mäuse und wies Zelle erwies sich als menschlichen Ur-
ter dem diese Form der Forschung läuft. nach: Ihr Diabetes war geheilt. sprungs – und selbst das klappte nur bei ei-
Es ist ein Begriff, dem Magie anhaftet. Seit Irgendwann, so hofft Nakauchi, wird es nem der vier getesteten Stammzelltypen.
je haben diese Mischwesen die Fantasie auf ähnliche Weise möglich sein, Men- Trotzdem glaubt Izpisúa Belmonte, der
beflügelt. Ein 35 000 Jahre alter Löwen- schenorgane in Schweinen, Schafen oder Verwirklichung eines großen Traums einen
mensch aus dem süddeutschen Lonetal gilt Rindern zu züchten. Herz-, Nieren- und großen Schritt näher gekommen zu sein:
als eines der ältesten Kunstwerke der Lebermangel der Transplantationsmedizin des Traums vom Menschenherzen aus dem
Menschheitsgeschichte. Später bekam er wären dann Vergangenheit. Schweinestall. Er kann sich noch gut an das
Gesellschaft von einem ganzen Bestiarium Vorsichtig hat Nakauchi deshalb begon- Gespräch erinnern, das für ihn den Aus-
aus Zentauren, Sphinxen, Greifen, Wer- nen, sich aufs Terrain des Menschlichen schlag gab. Einem Kollegen gegenüber hat-
wölfen und Meerjungfrauen. In Homers vorzutasten. In Schafembryonen, erzählt te er von der Vision geschwärmt, Menschen-
„Ilias“ taucht Chimaira höchstpersönlich er, habe er menschliche Stammzellen ein- organe im Tierkörper zu züchten. Dazu
auf. Der Dichter beschreibt sie als Feuer geschleust. Noch allerdings integrierten müsse er nur wissen, ob menschliche Zellen
speiendes Ungeheuer, „vorn ein Löw’, und sich diese schlecht. Es sei zu früh, Ergeb- auch in Schweineembryonen gedeihen kön-
hinten ein Drach’, und Geiß in der Mitte“. nisse zu verkünden. nen. Die Antwort dieses Kollegen hat Izpi-
All das waren Hirngespinste. Jahrtau- Nakauchi spricht ungern über diese Ex- súa Belmonte nicht vergessen: „Er sagte:
sendelang wurden Schimären nur in den perimente, denn er weiß: Schnell regen ,Das wirst du nur erfahren, wenn du die
Köpfen geboren – bis vor gut 40 Jahren sich Ängste, dem Labor könnten sprechen- Ärmel hochkrempelst und es ausprobierst.‘“
Biotechnologen erstmals versuchten, reale de Schweine oder zweibeinige Schafe ent- Das hat Izpisúa Belmonte nun gemacht.
Mischwesen aus verschiedenen Säugetie- springen. Widerstand ist er aus Japan ge- Verschiedene menschliche Stammzellty-
104 DER SPIEGEL 5 / 2017
Pdx1-Gen
Organe aus dem
Schweinestall 1 Die befruchtete Eizelle
Wie in Tieren gezüchtete mensch- Eizelle eines Schweins wird präpariert:
liche Organe Patienten helfen könnten; Mithilfe von Genome Editing
Beispiel Bauchspeicheldrüse wird das Pdx1-Gen inaktiviert,
das die Bildung der Schweine-
Bauchspeicheldrüse (Pankreas)
steuert.
Blastozyste
im Querschnitt
3 In die Blastozyste
werden pluripotente
DE PO S I TPH OTO S ; WIK IME DI A
menschliche Stamm-
zellen injiziert. Diese
enthalten das Pdx1-Gen.
pen hat er getestet, mal hat er sie zu einem Ob allerdings Experimente, die bei verstrichen, um Mutationen anzusammeln,
früheren, mal zu einem späteren Zeitpunkt Maus und Ratte klappen, auch bei Mensch die eine Kommunikation der Zellen er-
der Entwicklung in den Wirtsorganismus und Schwein funktionieren werden, ist schweren könnten. Es ist, um im Vergleich
injiziert. Meist nahm er dabei Schweine-, ungewiss. Die Uhr der Entwicklung tickt zu bleiben, als redete ein Schwede mit
ein paarmal auch Rinderembryonen. in beiden Arten unterschiedlich. Ein Ferkel einem Niederländer: Ein paar Wortfetzen
Die „Cell“-Veröffentlichung lässt erken- wird nach 115-tägiger Trächtigkeit geboren, schnappen sie zwar auf, der Sinnzusam-
nen, mit welcher Entschlossenheit sein ein menschlicher Organismus braucht menhang jedoch geht oft verloren.
Team ans Werk geht. Knapp 1500 schimä- neun Monate, sich auszubilden. Gehor- Einen Weg gäbe es, die evolutionäre Dis-
rische Embryonen wurden in Sauen ein- chen die Zellen einem inneren Taktgeber, tanz zu verkürzen: Statt Schweinen könn-
gepflanzt, 186 von ihnen wuchsen an. oder vermögen sie ihr Entwicklungstempo ten die Forscher einen näheren Verwand-
Solch eine Massenproduktion von Schimä- der artfremden Umgebung anzupassen? ten des Menschen wählen. Das allerdings
ren erfordert den Zugriff auf eine große Noch wissen die Forscher es nicht. ist den Wissenschaftlern allzu heikel: Pri-
Zahl von Tieren. Deshalb kooperieren die Hoffnung gibt ihnen ein Befund, den maten, da sind sie sich einig, sind bis auf
Forscher des Salk Institute neuerdings mit Nakauchi bei seinen Maus-Ratten festge- Weiteres tabu.
dem Massentierhalter Agropor in Izpisúa stellt hat: Zumindest was die Größe eines Die Bioethikdebatte über die Frage, wel-
Belmontes Heimatland Spanien. Organs betrifft, scheinen die Zellen er- che Art von Schimärenbildung zulässig
Die Forscher haben auch schon Pläne, staunlich anpassungsfähig zu sein. Das Pan- sein soll, mutet mitunter befremdlich an.
wie es weitergehen soll. Denn sie kennen kreas der Schimären bestand zwar aus Viele befällt bei der Vorstellung von Misch-
mittlerweile ein Verfahren, mit dem sie Mäusezellen, seine Größe jedoch war die wesen aus dem Labor ein diffuses Unbe-
die Ausbeute von Menschenzellen in den einer Ratte. In dem artfremden Wirtstier hagen. Doch fällt es oft schwer, genau zu
Schimären steigern und ihre Entwicklung war das Organ auf das Zehnfache seiner sagen, was daran so verwerflich sei.
lenken könnten. Nakauchis Maus-Ratten natürlichen Größe angeschwollen. Eine Sorge immerhin lässt sich benen-
beweisen, wie erfolgreich diese Strategie Die größte Herausforderung bei der nen: Die Kritiker befürchten, dass mensch-
sein kann. Schimärenbildung aber besteht darin, die liche Nervenzellen im Gehirn der Schi-
Bevor er Mausstammzellen in mären landen könnten. „Das
die Rattenembryonen injizierte, Schreckgespenst von einer intel-
schaltete er in diesen ein Gen na- ligenten Maus, die im Käfig sitzt
mens Pdx1 ab. Es dient während und schreit: ,Ich will hier raus!‘,
der Embryogenese als Schalter, finden viele Leute sehr beunru-
der die Entwicklung der Bauch- higend“, konstatierte der NIH-
speicheldrüse einleitet. Fehlt Ethiker David Resnik.
Pdx1, so entstehen Tiere, denen Den Forschern selbst scheinen
dieses Organ fehlt. solche Ängste unbegründet. „So-
Im Rattenkörper bleibt eine lange die Beimischung mensch-
Nische offen, die von den zu- licher Zellen gering bleibt, ist
geführten Mäusezellen besie- eine Veränderung kognitiver
delt werden kann. Dabei wer- Eigenschaften extrem unwahr-
den zelluläre Alleskönner ein- scheinlich“, meint Nakauchi.
gesetzt, die grundsätzlich die Doch auch er weiß: Über-
Fähigkeit besitzen, jede belie- raschungen sind möglich. Das
bige Körperzelle auszubilden. zeigt ein Experiment, das Neu-
TOMOYUKI YAMAGUCHI
Selbstmord
für die Forscher ein Traummolekül. Nor- ist noch nicht geklärt, wie sich RNA in so
malerweise setzt der Stoff die im Zellkern großer Menge billig herstellen lässt.
gespeicherte Erbinformation in Proteine Und ist eine Gefahr für Mensch und Um-
der Zellen
um. Doch RNA ist zu mehr zu gebrauchen. welt wirklich auszuschließen? Die US-Um-
Unter bestimmten Bedingungen kann das weltbehörde EPA prüft das Verfahren be-
Molekül Gene blockieren. reits. Die Tester erwarten keine Gefahren
Die Forscher machen sich dabei die na- für Menschen, fordern jedoch mehr Daten,
Landwirtschaft Konzerne wie türliche Zellabwehr zunutze: Tier- und um das ökologische Risiko einzuschätzen.
Pflanzenzellen zerstören die RNA fremder Karl-Heinz Kogel von der Universität
Monsanto entwickeln Pestizide, Organismen, beispielsweise die von ein- Gießen stimmt zu. „Gerade bei Sprüh-
die aus Erbgutschnipseln dringenden Viren. anwendungen muss man natürlich über-
Mithilfe dieses Mechanismus wollen die prüfen, ob andere Organismen geschädigt
bestehen. Könnten die Biosprays Monsanto-Forscher etwa Blattkäfer aus- werden“, sagt der Pflanzenexperte, der die
das Bienensterben stoppen? schalten, die laut Heck allein im Rapsan- Technik selbst erforscht. Allerdings seien
bau in Nordamerika jedes Jahr Schäden die RNA-Schnipsel extrem „spezifisch“.
D
ie Milbe heißt Varroa destructor, von etwa 300 Millionen Dollar verursa- Theoretisch sei es zwar möglich, zugleich
die Zerstörerische. Der Parasit chen. Zunächst identifizieren die Forscher jedoch „sehr unwahrscheinlich“, dass sie
krabbelt ins Bienennest und saugt dafür ein Käferprotein, ohne das der auch andere Organismen beeinflussen.
die Insekten aus. Selbst Tiere, die überle- Schädling nicht leben kann, zum Beispiel „Selbst nah verwandte Arten bleiben un-
ben, sterben häufig später an einem Viren- ein Protein des Immunsystems. Dann beeinträchtigt“, sagt auch Heck. RNA-Mo-
cocktail, den die Milbe mit sich schleppt. stellen sie ein RNA-Molekül her, das jener leküle würden zudem in der Natur inner-
Der Parasit ist nach Expertenmeinung Gensequenz des Käfers entspricht, die die- halb weniger Tage abgebaut. Auch würden
hauptverantwortlich für das Bienenster- ses überlebenswichtige Protein codiert. die Mittel einzelne Gene nur blockieren.
ben, das Imker in Sorge versetzt. Befallene Das synthetisch hergestellte RNA-Mole- „Es entstehen keine gentechnisch verän-
Völker haben kaum Überlebenschancen. kül wird vervielfältigt und auf die Pflanzen derten Organismen“, sagt der Forscher. Für
Doch nun kommt Rettung womöglich gesprüht. Nagen nun die Insekten am Raps, Menschen sei RNA ohnehin ungefährlich.
von unerwarteter Seite: Monsanto ent- nehmen sie die Erbgutschnipsel auf. In den Anders als bei Insekten seien die Moleküle
wickelt ein neues Mittel gegen die Milbe – Käferzellen löst die Fremd-RNA einen nicht imstande, den Verdauungstrakt von
ausgerechnet jene Pestizidfirma, die Um- Abwehrmechanismus aus. Sie wird zer- Säugetieren heil zu passieren.
weltschützer als „Monsatan“ verteufeln. schnitten. Weil sie jedoch exakt zu einer Werden sich Skeptiker überzeugen las-
Erbgutschnipsel, vermischt mit Zucker- Käfer-Gensequenz passt, richtet die Zelle sen? Für Monsanto ist es ein Wagnis, die
wasser, sollen die Parasiten zur Strecke brin- ihre Zerstörungskraft auch gegen sich neue Methode ausgerechnet gegen Bienen-
gen (siehe Grafik). Die Tinktur gehört zu selbst. Das überlebenswichtige Protein killer zu erproben. Imker sind auf Pestizide
einem neuen, vermeintlich sanften Typ von wird nicht mehr gebildet. Der Käfer stirbt. nicht gut zu sprechen. Vor allem die von
Pestiziden, der die Schädlingsbekämpfung „Die RNA lässt sich zielgenau auf einen Bayer hergestellten Neonicotinoide sind bei
revolutionieren könnte. RNA-Interferenz bestimmten Schädling zuschneiden“, sagt ihnen berüchtigt. Monsanto wird derzeit
heißt das Prinzip hinter der Methode, an Heck. Auch sei es denkbar, einzelne Pflan- von Bayer übernommen. Werden die Imker
der neben Monsanto auch Konzerne wie zeneigenschaften auf diese Weise zu ver- ein neues Mittel einsetzen, das von einem
Syngenta oder Bayer forschen. Statt Gifte ändern, etwa Tomaten zu besserem Ge- globalen Pestizidgiganten entwickelt wird?
wollen die Chemiker künftig Biomoleküle schmack zu verhelfen oder Äpfel vor dem Monsanto scheint darauf zu hoffen. Am
versprühen, die gezielt einzelne Gene von Braunwerden zu bewahren – einfach durch Hauptsitz der Firma in St. Louis laufen
Schadinsekten oder Unkräutern ausschalten. eine Spritzbehandlung. bereits die Feldversuche an. In fünf Jahren
„Die Technologie hat enormes Potenzial Die Forschung steht allerdings noch am könnten die ersten Bienen RNA-Zucker-
für den Pflanzenschutz“, sagt Greg Heck Anfang. Schwierig ist es, dafür zu sorgen, wasser gegen die Varroa-Milbe schlürfen.
von Monsanto. Zudem sei das Molekül völ- dass die RNA lange genug stabil bleibt, Philip Bethge
lig ungefährlich: „Wir essen ständig RNA.“ um den Weg aus dem Sprühgerät bis in Mail: philip.bethge@spiegel.de
Verkehrte Welt
Geschichte Eine Schlacht im schottischen Moor entschied 1746 über das Schicksal der Großmächte.
Hätte es bei einem anderen Ausgang die Französische Revolution oder die USA jemals gegeben?
A
n einem grauen Aprilmorgen des Die Chance für ein Comeback der Stu- In seinem jüngsten Werk hat Pittock die
Jahres 1746 steht ein 25-Jähriger, arts war real: Innerhalb weniger Monate aktuelle Forschung sowie neue archäo-
den sie den „hübschen Charlie“ hatte Charles im Jahr 1745 an der alten logische Erkenntnisse über das Blutbad
nennen, übernächtigt in einer schottischen Machtbasis der Sippe, in Schottland, ein im Moor ausgewertet*. Sein Resümee: Ein
Moorlandschaft. Der junge Mann mit den furchterregendes Heer aus Clanmitglie- Triumph der Stuarts in Culloden hätte
feinen Zügen will an diesem verlassenen dern, fanatischen Katholiken und franzö- voraussichtlich die folgenschwere Revolte
Ort Geschichte schreiben – nicht ahnend, sischen Söldnern aufgestellt. In einem ers- in den amerikanischen Kolonien verhin-
wie viel wirklich von ihm abhängt. ten Vorstoß war der junge Stuart mit dieser dert, die letztlich zur Gründung der USA
Charles Edward Stuart ist ein Spross Truppe bis nahe an London vorgerückt. führte – und auch jene verheerende Fi-
jener schottisch-englischen Königsdynastie, Am 16. April 1746 stand seine Streit- nanzkrise, die Ludwig XVI. nahezu rui-
die mit der sogenannten Glorreichen Re- macht auf einer sumpfigen Wiese nahe nierte und in die Französische Revolution
volution von 1688 vom englischen Thron dem schottischen Ort Culloden einem Heer mündete.
vertrieben wurde. Nachfolger der katholi- britischer Profisoldaten in roten Röcken Die Kettenreaktion, die dieser Show-
schen Stuarts wurden die Welfen aus dem gegenüber. Was folgte, war eines der bis down in Schottland weltweit nach sich zog,
Hause Hannover, mit denen die heutigen dahin blutigsten und brutalsten Gemetzel. wurde aus Paolettis Sicht bislang jedoch
Windsors in direkter Linie verwandt sind. „Die Schlacht bei Culloden war ein Wen- gänzlich vernachlässigt. „Woher kommt
Wenig prägte die Welt des 18. Jahrhun- depunkt in der Weltgeschichte“, schreibt die Kurzsichtigkeit der Historiker in dieser
derts so tief greifend wie die Auseinander- der italienische Militärhistoriker Ciro Pao- Sache?“, wundert sich Paoletti.
setzung der deutschstämmigen Welfen- letti in der jüngsten Ausgabe der Fachzeit- Schon im Juli 1746, nur wenige Monate
könige auf dem englischen Thron mit den schrift „The Journal of Military History“. nach einem siegreichen Auftritt von Prinz
französischen Sonnenkönigen. „Wenn die Stuarts gewonnen hätten, wäre Charles in Culloden, wäre in London der
Doch was wäre geschehen, wenn die Welt heute eine völlig andere als die, neue König aus der Stuart-Dynastie ge-
Frauenschwarm „Bonnie Prince Charlie“ die wir kennen.“ krönt worden, vermutet der Forscher aus
die Macht in Großbritannien für die Sein Kollege Murray Pittock von der Italien. Damit hätte sich die labile Macht-
Stuarts zurückerobert hätte? Zwei Wissen- University of Glasgow stimmt ihm zu: „Es balance in Europa dramatisch geändert.
schaftler haben jetzt analysiert, wie radikal ist völlig klar, dass ein Sieg der Stuarts die
dies den Lauf der Geschichte verändert globale Machtbalance massiv umdefiniert * Murray Pittock: „Culloden“. Oxford University Press;
hätte. hätte“, sagt der Schotte. 224 Seiten.
Denn der Welfe Georg II. war nicht nur Die Schlacht von Culloden nahm teilwei- niglichen Truppen bereits zweimal emp-
englischer König, sondern auch Kurfürst se bereits den Horror moderner Kriege vor- findliche Niederlagen beigebracht. Doch
von Braunschweig-Lüneburg (Haus Han- weg. Am Ende war das Schlachtfeld einge- dann verflüchtigte sich sein Kriegsglück.
nover); er lieferte sich eine Dauerfehde hüllt in den Pulverdampf von Feuerwaffen. Ein französisches Schiff, das den Aufstän-
mit Frankreich und unterstützte die Habs- Die Soldaten schossen mit Mörsern und dischen frisches Geld bringen sollte, war
burger Regentin Maria Theresia regelmä- Musketen aufeinander. Auch Schwerter ka- von der Royal Navy abgefangen worden.
ßig mit hohen Geldsummen und Soldaten. men noch zum Einsatz; Gliedmaßen wur- Ausgehungert schleppten sich die Anhän-
Die Stuarts hingegen hätten nach ihrer den ohne Skrupel abgeschlagen. Gedärme ger von Charles Edward durch das schotti-
Rückkehr an die Macht wahrscheinlich quollen aus den Körpern der Geschunde- sche Hochland. „Die Moral war am Boden“,
rasch einen Friedensvertrag mit ihren Un- nen. Metallsplitter aus abgefeuerten Mini- berichtet Pittock. Am Tag der Entscheidungs-
terstützern aus Frankreich geschlossen. bomben rissen ihren Opfern Wunden, die schlacht wendete sich auch noch das Wetter
Dem Frankreich-Feind Habsburg wäre um- damals kein Arzt versorgen konnte. gegen die Aufständischen. Wind hüllte die
gehend der Geldhahn zugedreht worden. Einer populären Fehldeutung zufolge Krieger Charles Edwards in eine Nebelwand
Mit unmittelbaren Folgen: Habsburg wäre traf in Culloden eine hochgerüstete engli- aus Pulverdampf und versperrte ihnen die
im Österreichischen Erbfolgekrieg alsbald sche Armee auf einen Haufen tollwütiger Sicht. Königliche Dragoner metzelten die
in die Knie gegangen; der Krieg hätte sich Kiltträger, der hoffnungslos unterlegen ge- chaotisch umherlaufenden Kiltkämpfer rei-
wohl nicht bis 1748 hingezogen. wesen sei. Laut Pittock ist das kaum mehr henweise mit dem Schwert. Verwundete wur-
„Österreich wäre durch das Ergebnis des als eine Legende: „Die Armee von Charles den von den Engländern totgeprügelt oder
Krieges so geschwächt gewesen, dass von Stuart war gut bewaffnet und ordentlich bei lebendigem Leib verbrannt. Wer den-
ihm in der Zukunft unmöglich irgendeine geführt von Offizieren, die mit den Höfen noch überlebte, zeigte bemerkenswerte Ge-
Initiative ausgegangen wäre“, folgert Pao- Europas vertraut waren.“ genwehr: Entwaffnete Stuart-Anhänger be-
letti. Mit dem Kollaps dieser europäischen Erst in jüngster Zeit stießen Ausgräber warfen die Truppen des Königs mit Steinen.
Großmacht und dem frisch gezimmerten auf Fundstücke, die belegen, dass auf dem Manche Schottenkrieger waren laut Pit-
Bündnis zwischen England und Frankreich Schlachtfeld in Wahrheit Waffengleichheit tock allerdings so übermüdet, dass sie den
wäre wahrscheinlich ein weiterer, welt- bestand. So fanden Archäologen den roten größten Teil der Schlacht verschliefen; sie
umspannender Konflikt erst gar nicht ent- Uniformrock eines englischen Offiziers, der erwachten erst in jenem letzten Moment,
brannt: der Siebenjährige Krieg, in dem von Kugeln durchlöchert war. Zudem ver- als sie vom Feind gemeuchelt wurden.
unter anderem Preußen und Großbritan- setzten die schottischen Krieger die wohl- Dem Schönling Prinz Charlie gelang in-
nien gegen Österreich, Russland und geordneten Verbände ihrer Gegner mit dem des die Flucht. Verkleidet als Zofe, rettete
Frankreich in die Schlacht zogen. „Highland charge“ (Highland-Angriff) in sich der geschlagene Thronanwärter der
„Ohne den Siebenjährigen Krieg wiede- Furcht und Schrecken: Erst feuerten die Stuarts auf einem Schiff nach Frankreich.
rum“, glaubt Paoletti, „wäre nicht nur Ka- Clankrieger eine Musketensalve auf die geg- Doch auch der schmähliche Abgang täuscht
nada im Besitz Frankreichs verblieben, nerische Armee ab, um einen Gegenangriff kaum darüber hinweg, dass die Weltge-
sondern sämtliche seiner Kolonien in Nord- zu provozieren. Während die feindlichen schichte 1746 nur knapp an einer funda-
amerika.“ Die folgenreiche Revolte auf- Verbände dann umständlich ihre Musketen mentalen Wendung vorbeigeschrammt ist.
gebrachter Amerikaner gegen die britische nachluden, schlugen die Hügelkämpfer zu: Ach richtig, sagt Pittock, eine Kleinig-
Krone, die 1776 zur Unabhängigkeitserklä- Mit lautem Gebrüll rannten sie auf die keit wäre da noch: Hätte Charles Edward
rung führte, hätte es dann nie gegeben. feindlichen Linien zu und hackten im Nah- Stuart gewonnen, wäre der Welt wohl
„Denn ohne den Siebenjährigen Krieg kampf mit Schwertern auf ihre Opfer ein. auch ein US-Präsident Donald Trump er-
hätten die Briten ihre immensen Militär- Im September 1745 und im Januar 1746 spart geblieben. Frank Thadeusz
ausgaben nicht durch eine immer höhere hatte das Heer des jungen Stuart den kö- Mail: frank.thadeusz@spiegel.de
Besteuerung ihrer amerikanischen Kolonie
hereinholen müssen“, analysiert Paoletti.
Ohnehin wäre seiner Argumentation fol-
Unwucht der Macht
gend Frankreich die stärkste Kolonial- Das labile Gleichgewicht der Kräfte in Europa
Culloden Mitte des 18. Jahrhunderts*
macht auf dem Kontinent geblieben. Sein Route der Aufständischen
Fazit: „Es ist anzunehmen, dass es heute um Charles Edward Edinburgh Sankt Petersburg
keine Vereinigten Staaten geben würde. Stuart in den KAISERREICH
Als Hauptsprache in Nordamerika würde Jahren 1745/46 KGR KGR RUSSLAND
Französisch gesprochen.“ GROSS- KFSM PREUSSEN
Wohl auch ein weiteres Großereignis BRITANNIEN HANNOVER
Derby
des 18. Jahrhunderts hätte es nie gegeben:
„Ohne den militärischen Wettlauf mit London Hannover Berlin
Großbritannien wäre Frankreich nicht in
eine Finanzkrise geraten und die Revolu-
tion von 1789 weit unwahrscheinlicher ge- Paris
wesen“, glaubt der Schotte Pittock – und
er folgert: „Napoleon hätte es dann natür- KGR Wien
lich ebenfalls nicht gegeben.“ FRANKREICH
HABSBURGER-
All diese plausiblen Historikerspekula- MONARCHIE
tionen setzen voraus, dass der kühne Prinz
„Bonnie Charlie“ im Regen von Culloden
die Armee von König Georg II. bezwungen KGR
hätte; bekanntlich kam es anders. Hatte SPANIEN verbündet verfeindet
Madrid
der Thronanwärter aus dem Hause Stuart KGR: Königreich; KFSM: Kurfürstentum
mit seiner zusammengewürfelten Truppe *Bündnisbeziehungen 1746, Grenzen nach Ende des österreichischen Erbfolgekrieges 1748
tatsächlich eine Chance auf den Sieg?
Dinosaurier bei Meteoritenschauer am Ende der Kreidezeit (Illustration)
Funzel am Himmel
Immerhin, nach sieben Jahren, so glaubt
die Forscherin, war der Spuk zumindest teil-
weise vorüber. Die Sonne tauchte wieder
auf und schien so hell wie zuvor. Nach rund
Naturkatastrophen Eine Potsdamer Klimaforscherin hat die 30 Jahren wurde es sogar wieder so warm
wie zuvor.
letzten Tage der Dinosaurier rekonstruiert: Nach einem Doch es scheint keinen Dino mehr ge-
Meteoriteneinschlag sind sie verbrannt, verhungert oder erfroren. geben zu haben, dem das noch etwas hätte
nützen können. Nahezu 165 Millionen Jah-
A
n manchen Tagen geht einfach Schon die ersten Stunden nach dem De- re lang hatten Tyrannosaurus Rex und Co.
alles schief – doch selten kommt saster waren für alles damalige Getier le- die Landmassen des Planeten beherrscht –
das Pech so knüppeldick wie am bensgefährlich, die folgenden Monate und und fast mit einem Schlag war ihre Regent-
Schicksalstag der Dinosaurier vor circa Jahre aber nicht weniger. Wie elend die schaft aus und vorbei.
66,04 Millionen Jahren. letzten Tage der übrig gebliebenen Dino- Auf Erden war es nun erst einmal leer
Damals öffnete sich jäh der Himmel. Ein saurier gewesen sein müssen, hat jetzt eine und leise. Farne wucherten, sonst gab es
Klumpen aus dem All – Durchmesser: junge Forscherin am Potsdam-Institut für wenig. Rund 75 Prozent aller Tier- und
rund 15 Kilometer – zischte mit fast 60-fa- Klimafolgenforschung nachgezeichnet. Pflanzenarten hatten in der Krise ihr Ende
cher Schallgeschwindigkeit einem tropi- Die Physikerin Julia Brugger, 27, hat be- gefunden, darunter die Ammoniten in
schen Flachmeer entgegen. kannte Daten zum damaligen Meteoriten- den Meeren und die Flugsaurier in den
Einschlag. einschlag in ein Klimamodell ihres Instituts Lüften.
Wäre der Meteorit etwas weiter geflo- eingearbeitet, das sie für die Zustände am Unter horrenden Verlusten und mit Ach
gen, würden die Dinosaurier vielleicht Ende der Kreidezeit adaptiert hat. Am und Krach hatten vor allem kleinere Land-
heute noch leben; so aber krachte er da, Rechner kann die Doktorandin nun sehen, tiere überlebt, die nicht so viel Nahrung
wo jetzt der Golf von Mexiko liegt, ausge- wie sich der Einschlag auf Atmosphäre und brauchten: Insekten und Amphibien etwa,
rechnet in einen Untergrund, der prallvoll Klima auswirkte – und wie atemberaubend aber auch Vögel (die anders als die Flug-
war mit Schwefelmineralen. Die Folge war schnell die Welt der Dinos zum Teufel ging. saurier allesamt direkt von den Dinosau-
nichts Geringeres als der Weltuntergang, In dem Szenario, das Julia Brugger für riern abstammen). Auch die zu dieser Zeit
ein Instant-Inferno, das sich in grausigen das wahrscheinlichste hält, lag die globale noch winzigen Säugetiere, manche davon
Kaskaden entspann. Durchschnittstemperatur am Vorabend des spitzmausartig, waren irgendwie davonge-
Eine Explosion zerriss die Luft, so ge- Einschlags bei warmen 18,9 Grad Celsius kommen. Hätten die Dinosaurier damals
waltig, als zündeten eine Milliarde Atom- (vier Grad höher als heute). Jetzt aber folg- das Feld nicht unfreiwillig geräumt, so
bomben gleichzeitig. Gigatonnen von te ein apokalyptischer Temperatursturz. Im gäbe es heute vermutlich niemanden, der
Staub schossen in die Stratosphäre. Erd- Jahr drei nach dem Einschlag, so berichtet diese Zeilen hätte lesen oder schreiben
bebenschwärme zermalmten den Grund. Brugger als Leitautorin im Fachblatt „Geo- können.
Riesentsunamis peitschten über das Was- physical Research Letters“, war die mittlere In der Forschung wird immer noch dis-
ser, Feuerstürme und mörderische Druck- Temperatur bis auf minus 8 Grad Celsius kutiert, ob der Meteoriteneinschlag der
wellen jagten über das Land. gefallen. einzige Grund für das Massensterben war.
110 DER SPIEGEL 5 / 2017
Wissenschaft
Animation:
Eiskalte Erde
spiegel.de/sp052017dinosaurier
oder in der App DER SPIEGEL
Protestkunst
Blondes Gift
Der neue amerikanische Prä-
sident mobilisiert den Kultur-
betrieb – als ernst zu nehmen-
des Feindbild. Wichtige Mu-
#HEWILLNOTDIVIDEUS
seen der USA haben bereits
angekündigt, aktuelle Protest-
schilder von den weltweiten
„Frauenmärschen“ in ihre
Sammlungen aufzunehmen.
Bei den Demonstrationen wa- Shia LaBeouf ließ vor einem hen und hören will, richten West gilt als Fan des Politi-
ren auch die jüngsten Plakate New Yorker Museum eine Ka- sich einige Künstler gleich an kers. Gleich neben dieser gif-
des bekannten Illustrators mera installieren, in die jeder, seine Tochter. „Dear Ivanka“ tigen Persiflage ist ein unver-
Shepard Fairey zu sehen, sie der will, den Satz „He will heißt die Aktion der Künstler- fälschtes Foto zu sehen, das
zeigen zu der Zeile „Wir, das not divide us“ („Er wird uns gruppe Halt, die gern neue verängstigte Kinder in Alep-
Volk“ etwa muslimische Frau- nicht spalten“) hineinspre- Fakten schafft. Über Insta- po zeigt. So sieht die welt-
en mit Sternenbanner-Kopf- chen kann. Die ganze Welt gram verbreitet sie eine Foto- politische Realität aus, die es
tüchern. Wie Donald Trump kann sich das live im Internet montage, die den dunkelhäu- zu bedenken gibt. Auch das
nutzen auch seine Gegner ansehen, vier Jahre lang. Für tigen Sänger Kanye West mit eine ernste Botschaft an die
alle Kanäle. Der Schauspieler den Fall, dass Trump nicht se- blonder Trump-Tolle zeigt; „liebe Ivanka“. uk
Theater Mitternacht zu. Ist dieser In einem Roman kann man nenautor. Im Stück stellt der
„Wer sterben will, Countdown ein Sinnbild für das nicht. Polizist die surrealistische
SPIEGEL: Im Stück heißt es
ist unaufhaltsam“ den Zustand der Welt?
Kehlmann: Ich glaube nicht über terrorbereite Islamisten:
Frage: „Gibt es uns wirklich?“
Kehlmann: Ich glaube, ich
Der Schriftstel- an den Weltuntergang, auch „Die Wahrheit ist, dass wir werde nie Realist sein. Schon
ler Daniel Kehl- jetzt nicht, obwohl der Um- vollkommen machtlos sind mein erstes Stück „Geister
mann, 42, über stand, dass Donald Trump gegen Menschen, die bereit in Princeton“ hatte viele
ULLSTEIN BILD
sein Stück „Hei- Gewalt über Atomwaffen hat, sind zu sterben.“ Entspricht surrealistische Momente. In
lig Abend“, das nicht gerade beruhigend ist. dies Ihrer Weltsicht? meinem zweiten Stück „Der
am Donnerstag Meine Uhr im Stück ist eine Kehlmann: Ja, ich glaube, dass Mentor“ hält eine Figur am
im Wiener Theater in der Josef- echte Uhr, kein Sinnbild. es eine einfache Wahrheit ist, Anfang eine Rede, von der
stadt uraufgeführt wird Ich war immer fasziniert von die man nicht gern ausspricht: später erklärt wird, dass er sie
Filmen wie „High Noon“, Ein Mensch, der bereit ist nie gehalten hat. Aber was die
SPIEGEL: Herr Kehlmann, Ihr die in Echtzeit stattfinden, zum Sterben, ist unaufhalt- Frage des Polizisten angeht,
neues Stück ist ein Verhör. wo also jede Minute auf sam. Gegenüber Menschen, da macht er sich einfach über
Ein Polizist befragt am 24. De- der Leinwand genau einer die zum letzten Opfer bereit die Frau, die er verhört, lustig.
zember eine Professorin we- Minute in Wirklichkeit sind, sind die anderen hilflos. Sie ist Philosophieprofessorin,
gen eines möglichen Terror- entspricht – und so etwas SPIEGEL: Sie gelten eigentlich und er meint, dass er sie auf
anschlags. Eine Uhr tickt auf wollte ich auch versuchen. als streng realistischer Büh- diese Art verunsichern kann.
Nichts ist dem peinlich, der selbst schon die größte Pein-
lichkeit verkörpert. Es hat keinen Sinn mehr, eine Lüge
Alidoosti, Hosseini in „The Salesman“ zu benennen, wenn sie selbst schon als solche geäußert
wird. Ist das nun traurig oder komisch? Wahr oder falsch?
Das Publikum wird in einem Zwischenreich des Halbdun-
kels gehalten, jenem Chiaroscuro, in dem, so heißt es, die
SPIEGEL: Sie haben sich 2009 in gibt es keine wirkungsmächti- historischen Monster gedeihen. Immerzu schwankt der
einer heute berühmten Salz- ge linke Politik, und das Regie- Betrachter zwischen Gelächter und Furcht und wird doch
burger Rede gegen die Moden theater ist wirklich kein guter gebannt, weil wir uns gern gruseln.
des deutschsprachigen Regie- Ersatz dafür. Abgesehen von Mit „alternative facts“ wird eine einzige, aber wesent-
theaters gewandt und dafür dieser Formulierung, die teil- liche Aussage getroffen: dass man es kann. Lügen, sich
Zustimmung, aber auch viel weise mit Absicht missverstan- grotesk benehmen – Hauptsache, jemand sieht hin. Die
Schelte bekommen. Bereuen den wurde: nein. Ich würde Verbreitung alternativer Fakten ist ein Wesensmerkmal
Sie etwas an Ihrer Polemik? nichts zurücknehmen. Aber der extremen Rechten. Sie wurden zur scheinbaren Be-
Kehlmann: Nur einen Satz wür- darauf hinweisen wollen, dass gründung von Kriegshandlungen und Verbrechen heran-
de ich heute anders formulie- diese Rede nichts mit meiner gezogen. Später auch, um sie zu leugnen. Wichtig ist die
ren. Ich hatte gesagt, das Re- Tätigkeit als Dramatiker zu dahinterliegende Verachtung für diskursive Verfahren.
gietheater sei in Deutschland tun hat. Ich könnte mit der Nur das Recht des Stärkeren gilt. Wer mit alternativen
die letzte Schrumpfform lin- Rede recht haben und schlech- Fakten anfängt, untergräbt gezielt die bürgerliche Öffent-
ker Politik. Einige haben das te Stücke schreiben, oder ich lichkeit, die Verständigung über die Sache, die Suche
so verstanden, als hätte ich könnte unrecht haben und nach der besseren Lösung mithilfe wissenschaftlicher Er-
gemeint, dass es gottlob keine gute Stücke schreiben. Ich kenntnisse und empirischer Fakten. Und damit das We-
linke Politik mehr gebe, nur glaube, die Stücke beweisen sen der offenen Gesellschaft.
noch im Regietheater. Was ich nicht die Rede, und die Rede
gemeint hatte, war: Leider widerlegt nicht die Stücke. höb An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.
Darstellerin Huppert: „Das Kino und das Theater leben von Grenzüberschreitungen“
MFA
stirbt. Der Film legt viele Spuren, er bietet
viele Erklärungsmöglichkeiten für Michèles Szene aus „Elle“: „Die männliche Überlegenheit schwindet“
Charakter. Warum scheut er vor einer Auf-
lösung zurück, die den Zuschauer aus seiner
Verstörung befreien könnte? Sie nicht, dass sie keine Sympathien weckt, zusammen im Bett. Der Film besteht eben
Huppert: Es gibt keinen Schlüssel, alle dem Zuschauer kaum eine Gelegenheit aus lauter Möglichkeiten, vielfältigen Sinn-
Hinweise sind nur Hypothesen, die nicht lässt, empathisch mitzuempfinden? optionen.
zum Ziel führen. Es gibt viele Gründe für Huppert: Man muss unter die Oberfläche SPIEGEL: Auch der einer konfliktfreien und
Michèles paradoxes, scheinbar erratisches des Geschehens tauchen, um die Hinter- besänftigten Welt, in der die Männer nichts
Verhalten, aber keiner reicht als Erklä- gründigkeit zu begreifen. Michèle schläft mehr zu sagen haben?
rung aus, alles bewegt sich zu schnell. mit dem Mann ihrer besten Freundin. Das Huppert: Es ist die Option einer weiblichen
Außer dem Vater gibt es die halb ver- ist Verrat an dieser, aber eben nur ober- Selbstermächtigung. „Female Empower-
rückte Mutter mit ihren sexuellen Ob- flächlich. Denn sie verachtet den Mann ment“ nennt man das in den USA. Die
sessionen, den Sohn, der dem Leben und auch, und in der Art, wie sie ihn behandelt, Heldin ist kein Opfer, aber sie entspricht
seiner ordinären Freundin nicht gewach- gelingt es ihr, das eigene Fehlverhalten, eben auch nicht dem Klischee der Räche-
sen ist ... die eigene Unmoral auf ihn zu verschieben. rin, das man erwarten könnte. Sie macht
SPIEGEL: Und den Exehemann, den Lieb- Als Michèle die Affäre offenlegt, macht sich nicht selbst zur Karikatur im Männer-
haber, die Arbeitskollegen und Angestell- die betrogene Freundin nicht sie, sondern kostüm. Die Verwandlung in ein James-
ten – vor allem die Männer erscheinen in ihren Mann verantwortlich. Was wie der Bond-Girl entspräche immer noch einem
„Elle“ als eine Ansammlung von Schwäch- Gipfel des Zynismus anmutet, zeigt in männlichen Fantasieprodukt. In diese Falle
lingen und Versagern. Wahrheit nur, dass das Verworfene und geht sie, gehe ich nicht.
Huppert: Gebrochene Gestalten. Ihr Ex be- Unwürdige nicht unbedingt dort zu finden SPIEGEL: Das wäre wohl eher die Auflösung
zeichnet sich selbst als gescheiterten ist, wo man es zuerst sucht. gewesen, für die Hollywood sich entschie-
Schriftsteller, zu ihrem Liebhaber, der der SPIEGEL: Am Ende brechen die beiden Frau- den hätte?
Mann ihrer besten Freundin ist, sagt sie: en gemeinsam in eine Zukunft auf, von der Huppert: Wahrscheinlich. Michèle ist keine
Was mich an dir so angezogen hat, ist dei- nicht gesagt wird, wie sie aussieht. Die Frau- triumphierende Rachegöttin. Ihre Selbst-
ne Dummheit. Amüsant, nicht? en lassen ihre Vergangenheit hinter sich auf behauptung und -bestätigung fällt anders
SPIEGEL: Bestimmt. Männer, die Waschlap- dem Friedhof zurück. Zeichnet sich da ein aus. Aber in mancher Hinsicht ist sie dann
pen sind, und eine starke, boshafte, zyni- rein weibliches Liebesverhältnis ab? auch wieder der wahre Mann im Film. Sie
sche Frau – das ist der Stoff für eine Satire, Huppert: Das ist eine weitere Hypothese. lebt allein. Sie beschafft sich Waffen. Sie
nur ist das auch nicht die ganze Wahrheit. Die beiden Frauen waren ja auch schon hat Geld. Viele Menschen sind von ihr ab-
Huppert: Michèle ist alles, nur nicht senti- hängig. In ihrer Firma ist sie die Chefin,
mental. Und sie unterwirft sich nie. Sie ist woran sie keinen Zweifel lässt, verhasst,
eine antithetische Figur. Das Klischee will gefürchtet und zielstrebig. Sie nimmt also
ja, dass Frauen emotionale Wesen sind. In eine Machtposition ein, die sehr wohl
der Literatur wie im Film sind Frauen, männlich ist, während die Männer wie er-
auch starke Frauen, immer der Versuchung
ausgesetzt, ihren Gefühlen nachzugeben, „Die Filmheldin löschende Sterne auftreten. Der Glanz der
männlichen Überlegenheit schwindet von
ins Emotionale und Schnulzige abzuglei-
ten. Ich hätte einen großen Fehler gemacht,
Michèle ist eine post- einer Szene zur anderen.
SPIEGEL: Die Frau gewinnt immer wieder
wenn ich die Rolle in diesem Sinne weich- feministische Figur. die Kontrolle. Sie behält die Fassung und
gezeichnet hätte.
SPIEGEL: Davon kann nun wirklich keine
Sie lässt sich nicht zum wahrt den Anschein, aber um den Preis
einer manchmal schockierenden Amorali-
Rede sein: Ihre Figur ist ruchlos. Stört es Opfer machen.“ tät. Funktioniert so die Emanzipation?
116 DER SPIEGEL 5 / 2017
Situationen und Leidenschaften vor Augen
zu führen. Aber diese sind im Leben nie
eindeutig, sondern immer ambivalent.
SPIEGEL: Die Frau, die Sie spielen, ist eine
ausgebuffte Kämpferin. Sie kann verschla-
gen sein. Niemals aber setzt sie weibliche
Schwäche als moralische Stärke gegenüber
den Männern ein. Ist „Elle“ noch ein fe-
ministischer Film?
Huppert: Ah, wollen Sie mich in vermintes
Gelände führen? Mir unterstellen, gegen
die Gebote des feministisch Korrekten zu
verstoßen? Ich nenne die Filmheldin eine
postfeministische Figur. Sie hat die übli-
chen feministischen Kämpfe schon bestan-
den und in ihre Persönlichkeit übernom-
men. Sie hat es nicht nötig, Stärke und
Selbstbehauptung auf dem Umweg der
Opferrolle zu suchen. Was natürlich nicht
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Farbige Computer
Hollywood Der Film „Hidden Figures“ erzählt von den afroamerikanischen Mathematikerinnen, die
für die Nasa Raumflüge berechneten. Die Emanzipationskomödie ist für den Oscar nominiert.
Der Weg zum Klo ist jedes Mal ein die deutschen Kinos kommt. Er erzählt von Polizeiwillkür gibt es auch in „Hidden
Wettlauf mit der Zeit. Wenn sich drei Afroamerikanerinnen, die bei der Nasa Figures“. Die schwarzen Heldinnen blei-
Katherine Johnson, die Anfang der arbeiteten, weil sie gut rechnen konnten. ben gleich zu Beginn auf einer Landstraße
Sechzigerjahre bei der Nasa arbei- „Hidden Figures“ kommt zur rechten in Virginia liegen. Ein weißer Sheriff hält
tet, erleichtern möchte, muss sie fast Zeit. Seit Jahren wird den Hollywoodstu- an und fordert drohend ihre Papiere. Als
einen Kilometer zurücklegen. Die dios und der Oscar-Academy vorgeworfen, er erfährt, dass sie für die Nasa arbeiten,
nächste Toilette befindet sich zwar schwarze Themen und schwarze Künstler bietet er ihnen an, sie zu eskortieren.
gleich um die Ecke. Aber die ist zu ignorieren. Gleichzeitig findet in Hol- Also rasen sie über die Straße. „Nicht
nur für weiße Frauen. lywood eine zweite Diskriminierungsde- so schnell!“, ruft eine von ihnen. „Ich jage
Also rennt Katherine so schnell, wie sie batte statt. Schauspielerinnen würden in gerade einen Sheriff über die Straße“, gibt
kann, Akten unterm Arm, hin und zurück. der Filmindustrie unterbezahlt, behauptete die Frau am Steuer zurück und drückt
Es ist der Running Gag des Films „Hidden unter anderen Jennifer Lawrence. noch mehr auf die Tube. Diese Szene, aus
Figures – Unerkannte Heldinnen“. Kathe- Nun also „Hidden Figures“, ein Film dem französischen Hit „Ziemlich beste
rine ist schwarz, sie ist schlau, und sie will über drei schwarze Frauen, die einen Freunde“ geklaut, sagt: Unser Ziel ist nicht
unbedingt, dass der nächste Mann im All Emanzipationskampf führen. Gäbe es in nur der Orbit, sondern gute Laune.
ein Amerikaner ist. Hollywood eine Quote, hätte dieser Film Katherine Johnson gibt es wirklich, sie
Es ist gerade ein globaler Wettlauf im sie übererfüllt. Aber es gibt in Hollywood ist 98 Jahre alt und bekam 2015 von Obama
Gang. Im April 1961 haben die Sowjets den keine Quote, und die Komödie „Hidden die Freiheitsmedaille des Präsidenten ver-
ersten Mann ins All geschickt, Jurij Gaga- Figures“ unterscheidet sich sehr von dem, liehen. 1953 kam sie zur Vorläuferorgani-
rin. Eine Demütigung für die USA. Die was gemeinhin als schwarzes Kino gilt. sation der Nasa, als „Computer“, wie ihre
nächste Runde im „space race“, dem Wett- Denn es ist oft ein Kino der Empörung, Berufsbezeichnung lautete, als Rechnerin.
lauf im All, muss gewonnen werden. das von Diskriminierung, Ungerechtigkeit, In der Nasa-Kantine musste sie an einem
Johnson, gespielt von Taraji P. Henson, ist Polizeigewalt, Drogen und vom Leben in Tisch essen, auf dem das Schild „Colored
eine der Hauptfiguren dieses Films, der schon der Gosse erzählt. Es ist das schlechte Ge- Computers“ stand: farbige Computer.
rund hundert Millionen Dollar eingespielt wissen Hollywoods, das sich ab und zu an Dort trifft Johnson im Film auf Mary
hat, für die Oscars nominiert ist und nun in seine Minderheiten erinnert. Jackson (Janelle Monáe), die davon
120 DER SPIEGEL 5 / 2017
Kultur
träumt, die erste schwarze Ingenieurin Waren die „Colored Computers“ beson- Posten wieder. Und zwar, Ironie der
der Nasa zu werden, und auf Dorothy ders begabt? Shetterly: „Natürlich waren Geschichte, weil die räumliche Trennung
Vaughan (Octavia Spencer), die ein Team diese Frauen ausgesprochen smart, aber nach Hautfarbe 1958 aufgehoben wurde
von schwarzen Mathematikerinnen leitet, vor allem waren sie extrem motiviert, die- und ihre Mitarbeiterinnen verschiedenen
aber vergebens auf Beförderung hofft. se einzigartige Chance zu ergreifen.“ Abteilungen zugeordnet wurden.
Auch Jackson und Vaughan, inzwischen Ihre große Chance war der Zweite Dennoch findet Barry die Zuspitzung
verstorben, waren Weltraumpionierinnen. Weltkrieg. Der erste Schwung schwarzer der Fakten zulässig. Sie korrigiere das Bild
Schwarze Frauen, die tagsüber Flug- Mathematikerinnen kam schon 1943 zur des „Mercury“-Programms, das bislang
bahnen von Raumschiffen berechneten, es NACA, der Vorläuferorganisation der vorherrsche – und in Filmen wie „The
aber nach Feierabend nicht ins Restaurant Nasa. Hier wurden Flügel und Propeller Right Stuff“ (1983) vermittelt wurde. Das
auf der anderen Straßenseite schafften, neuer Bomberflotten vermessen. Hände- Epos, das in Deutschland „Der Stoff, aus
weil das aufgrund der lokalen Rassenge- ringend wurden für die Kriegswirtschaft dem die Helden sind“ hieß, erzählt von
setze nur für Weiße zugänglich war? Wie Mitarbeiter gesucht. Präsident Franklin D. den ersten amerikanischen Astronauten.
kann es sein, dass eine derartig spannende Roosevelt hatte daher die Rassendiskrimi- Nach einer Vorlage von Tom Wolfe ent-
Story erst jetzt bekannt wird? nierung in der Rüstungsindustrie verboten. standen, verlagerte „The Right Stuff“ den
Es könnte daran liegen, dass diese Er- Viele Frauen, die bislang etwa als Mathe- Pioniergeist des amerikanischen Westens
folgsgeschichten den Betroffenen als nicht lehrerinnen gearbeitet hatten, bewarben ins All. Gleich zu Beginn sieht man einen
weiter bemerkenswert erschienen, sagt sich um die gut bezahlten Forschungsjobs, Kampfpiloten, der auf einem Pferd auf den
Margot Lee Shetterly, Autorin des Buchs so auch Vaughan. Sie arbeiteten für den Flugplatz reitet und sich eine der Testma-
„Hidden Figures“, auf dem der Film ba- „double victory“ – den Sieg der Demokra- schinen ansieht. Die Helden des Films sind
siert und das nun auf Deutsch erschienen tie und Freiheit in In- und Ausland. moderne Cowboys, männlich und mutig.
ist. „Für mich war es normal, dass Schwar- Die Aufgabe der Frauen in diesem Film
ze bei der Nasa Flugbahnen berechnen“, besteht vor allem darin, um ihre Männer
sagt Shetterly, die 1969 nahe der Nasa-For- zu bangen. Man muss sehr aufmerksam
schungsstätte Langley in Virginia zur Welt sein, um in „The Right Stuff“ Afroameri-
kam. „Mein Vater arbeitete bei der Nasa, kaner zu entdecken, bei einer Pressekon-
und fünf seiner sieben Geschwister waren ferenz etwa stehen sie in der zweiten Reihe
Ingenieure oder Techniker. Ich dachte, das und jubeln den weißen Astronauten zu.
W
ahrscheinlich müssen wir uns da- dreimal so lang wie alles andere, was Aus- dem er über seinen stets abwesenden Vater
mit abfinden, dass in diesen Ta- ter bisher geschrieben hat. spricht.
gen selbst Texte über eine so spe- Es ist seine größte Anstrengung, das 1985 folgte die „New York Trilogie“,
kulative Materie wie Literatur mit Donald eine Buch, das bleiben soll, vollendet kurz postmoderne Versionen von Detektivge-
Trump beginnen. Paul Auster steht in der vor seinem 70. Geburtstag, der im Februar schichten, die ins Nichts laufen oder im
Tür seines Hauses in Brooklyn und sieht ansteht. Drei Jahre lang hat er geschrieben, Wahnsinn enden. Durch sie wird Auster
relativ verstört aus. fast jeden Tag, immer nur tagsüber, hier zum Star, wird in den weltweiten Kanon
„Kommen Sie herein“, sagt er. „Ich habe im Haus, in seinem Büro unten im Keller. zeitgenössischer und zeitdiagnostischer
gerade einen Teil von Trumps Rede zur Abends hat er eine Flasche Wein getrun- Literatur aufgenommen, wird an Univer-
Amtseinführung im Fernsehen gesehen.“ ken, manchmal auch zwei, mit seiner Frau sitäten behandelt und gilt seither vor allem
Es ist Freitag vergangener Woche, Do- hat er Dokumentationen über die Sechzi- in Europa als Chronist der berühmten
nald Trump ist in diesem Moment seit we- gerjahre geguckt oder alte Filme. „american experience“. Wenn Deutsche
nigen Minuten Präsident der Vereinigten Der Roman ist eine letzte Beschwörung den Begriff „The Great American Novel“
Staaten, und man kann es bereits jetzt jener amerikanischen Blüte, die in den benutzen, fällt ihnen gern noch vor Philip
kaum noch aushalten. Fünfzigern begann. Es ist ein Buch des Ab- Roth Paul Auster ein, obwohl dieser ei-
Für jemanden wie den Schriftsteller Paul schieds, ein Goodbye zu Offenheit, Plura- gentlich nie etwas geschrieben hat, das sich
Auster, der nicht nur in den USA, sondern lität und Gelassenheit. Und es erscheint als solche qualifizieren würde.
vor allem in Europa wie kaum ein anderer just in dem Monat, in dem nun eine neue, Auster sagt, er hasse den Begriff „Baby-
für das liberale Amerika steht, ist die rückwärtsgewandte und autoritäre ameri- boomer“, und er wisse nicht, was die Great
Trump-Wahl die Vollkatastrophe, der Sys- kanische Epoche beginnt. American Novel sein solle. Ja, Philip Roth
temabsturz, die Erschütterung seines Glau- Auch Donald Trump ist Babyboomer. habe einmal einen seiner Romane „The
bensfundaments, Infragestellung eines gan- Er und Auster sind beinahe gleich alt, doch Great American Novel“ betitelt, ziemlich
zen Lebenskonzepts. Trump weiß nichts vom Rock ’n’ Roll und schlau. Nach über 30 Jahren Erfahrung im
Ausgerechnet jetzt. Auster hat die ver- der Bürgerrechtsbewegung, und als Auster Umgang mit Kritikern kennt Auster die
gangenen sieben, acht Jahre damit ver- in den Sechzigerjahren an der Columbia Fallen.
bracht, noch einmal intensiv auf sein Le- University demonstrierte, bekam Trump Er ahnt wohl, dass in einer längst post-
ben und damit auf die Markierungspunkte von seinem Vater seine erste Million. Bei- modernen, poststrukturalistischen und in-
des nun an die Seite gedrängten liberalen de sind kleinstädtisch aufgewachsen, Au- zwischen sogar postfaktischen Welt die
Amerika zurückzublicken. Zunächst in ßenseiter durch ihre Herkunft, Trump aus Great American Novel ein hinfälliges Kon-
zwei noch zaghaften fragmentarischen Queens (das ist zwar New York, aber eben zept ist. Die Skepsis gegenüber linearen,
Bändchen, „Winterjournal“ und „Bericht nicht Manhattan) und Auster aus Newark eindeutigen und nicht ambivalenten Nar-
aus dem Inneren“ (erschienen 2012 und in New Jersey (bekannt für seinen Flugha- rativen ist inzwischen zu groß.
2013), und nun in dem autobiografisch in- fen und die Rassenunruhen). Beide hatten In „4321“ erzählt Auster deswegen vier
spirierten Roman „4321“, der diesen Diens- Immobilienspekulanten als Väter, der eine alternative Erzählstränge. Sie handeln alle
tag erscheint und (zumindest auf Deutsch) tat es dem Vater nach und band sich noch von der gleichen Biografie, dem Heran-
mehr als 1200 Seiten hat. Er behandelt, dickere Krawatten um, der andere ging auf wachsen von Archie Ferguson, der wie
vielleicht ein letztes Mal, die Geschichte maximale Distanz, schrieb Gedichte und Paul Auster im Frühjahr 1947 in Newark
der Babyboomer, jener Generation gebo- stieg in schwarze Existenzialistenmäntel. bei New York als amerikanischer Jude
ren kurz nach Ende des Zweiten Welt- Beide haben es in den Achtzigerjahren geboren wurde.
kriegs, die in den USA das biografische nach längerem Kampf schließlich geschafft Archies Großvater war im Jahr 1900 als
Fundament des linksliberalen Mainstream und es ihren Vätern gezeigt. Trump mit junger Mann aus Minsk in New York ange-
des 20. Jahrhunderts gebildet haben. seinen ersten eigenen Millionendeals und kommen, und ein Freund hatte ihm gera-
Als Kinder in den Fünfzigerjahren be- dem Sprung über den East River nach ten, dem Einwanderungsbeamten nicht sei-
eindruckt vom Rock ’n’ Roll und der Bür- Manhattan, der dem Vater nie gelungen nen wahren russischen Namen zu nennen,
gerrechtsbewegung, erwachsen geworden war; Auster mit seinem Romandebüt „Die sondern einen, den sich die Amerikaner
mit dem emanzipatorischen Aufruhr der Erfindung der Einsamkeit“ von 1982, in gut würden merken können, er empfehle
Sechziger, begünstigt und gestählt durch Rockefeller. Doch als er an die Reihe kam,
permissive und experimentelle Lebensmo- fiel der ihm nicht mehr ein. „Ich hob far-
delle in den Siebzigern und schließlich zu gessen“, rief er auf Jiddisch aus, was der
Weinkennern gereift in den Achtzigern. Beamte als „Ichabod Ferguson“ interpre-
Wie sich Austers eigene, aber auch an- tierte. Auster erzählt im Folgenden kurz
Er ahnt, dass in einer
dere Biografien in die Zeitläufte der zwei- die Geschichte von Archies Eltern Stanley
ten Hälfte des 20. Jahrhunderts einfügen, und Rose Ferguson, der Vater, der zu Geld
davon handeln alle drei dieser Bücher.
Doch das letzte, der Roman, ist mehr als
postmodernen und nun kommt mit einem Elektroladen, die rüh-
rende Mutter, die schwierigen, halbseide-
gar postfaktischen nen Brüder des Vaters, Archies Geburt und
Paul Auster: „4321“. Aus dem Englischen von Thomas Welt die Great American seine frühen Jahre in New Jersey.
Erst 1954, mit einem der legendärsten
Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und
Nikolaus Stingl. Rowohlt; 1264 Seiten; 29,95 Euro. Novel hinfällig ist. Baseballspiele der Geschichte (1. Auster
D
er Schauspieler Ernst Stötzner hat schon viele ex- einer abstrakten Wohnlandschaft lungern. Der Darsteller
treme Rollen gespielt auf wichtigen Theaterbüh- Ernst Stötzner thront als Papa auf einem Sitzwürfel, wäh-
nen, man sah ihn zornig und kaputt als König Ri- rend er der klugen Zarina, gespielt von Lina Beckmann,
chard III., nackt und blutverschmiert als Macbeth. In Ham- vom Sexleben mit ihrer Mutter erzählt. Josefine Israel als
burg tritt er nun als frommer Spießer auf. Der alte Herr, Mahwish schlurft wie eine deutsche Fußgängerzonengöre
den Stötzner darstellt, ist Muslim. Er fahndet mit einem herbei. Paul Herwig gibt den weißen, zum Islam konver-
gefälschten Internetprofil nach tierten Amerikaner Eli, mit dem
rechtgläubigen muslimischen sich der Vater per Internetdating
Heiratskandidaten für die ältere verabredet, damit er ihn verhö-
seiner Töchter. Über die korrek- ren kann.
te Behandlung seiner Tochter Der Witz und die Schwäche
sagt er zu einem der Männer: dieses Theaterabends sind es,
„Du musst sie brechen.“ Später dass er das Drama aus zorniger
richtet er fuchtelnd die Hände Religionskritik und schwer ent-
zum Himmel und ruft, dass Al- rinnbaren familiären Bindun-
lah groß sei. Die Kunst des gro- gen zwar als abstraktes Lehr-
ßen Darstellers Ernst Stötzner, stück erzählen will, dies aller-
es ist kaum anders zu sagen, ist dings mit den Mitteln des aller-
an diesem Abend eine furcht- schlichtesten psychologischen
bare Qual. Einfühlungstheaters. So fum-
Im Hamburger Schauspiel- melt Lina Beckmann als Zarina
haus präsentieren Stötzner und nervös an ihrem Brillengestell,
drei Stadttheaterkollegen der- wenn sie über die Lehren Mo-
zeit die deutschsprachige Erst- hammeds doziert. So tigert der
aufführung des Stücks „The Vater unruhig auf und ab und
Who and the What“. Sein Autor sticht mit dem Zeigefinger Lö-
Ayad Akhtar, 46, ist ein Star. cher in die Luft, wenn er über
Der New Yorker Dramatiker mit die Gottlosigkeit der in den
pakistanischen Vorfahren, auf- USA lebenden Islamkritikerin
gewachsen in Milwaukee, ist Ayaan Hirsi Ali wütet und ihr
phänomenal erfolgreich, auch in den Tod an den Hals wünscht.
Deutschland. Man vergleicht Und so beißt der vom Vater er-
ihn mit Yasmina Reza, weil er wählte und verblüffenderweise
KLAUS LEFEBVRE
wie Reza („Der Gott des Gemet- von Zarina als Ehemann akzep-
zels“) das Einmaleins der geist- tierte Eli dekorativ in einen grü-
reichen Unterhaltung mit politi- nen Apfel, wenn er wütend ist.
schen Untertönen beherrsche. „The Who and the What“-Darsteller Stötzner, Beckmann „The Who and the What“, der
Tatsächlich ist Akhtar mit Das Harvard-Studium hilft nicht, der Familie zu entrinnen Titel ist ein Zitat von Jacques
dem Kulturclash-Stück „Geäch- Derrida, ist kein starkes Stück.
tet“, im Original „Disgraced“, ein Welthit gelungen. Es Die zentrale Provokation des Textes besteht darin, dass
wird in vielen Ländern und mehr als einem Dutzend hier kein Mann, sondern eine Frau aufbegehrt gegen die
deutschsprachigen Theatern gespielt, in Zürich und Wien sexuellen und religiösen Zwänge der muslimischen Kultur.
ebenso wie in Hamburg und Berlin. „Geächtet“ ist eine Mehr als für diesen Aufruhr interessiert sich die Hamburger
clevere Boulevardkomödie, die frech mit Stereotypen han- Aufführung, eine Achtsamkeitsfeier fürs Bildungsbürger-
tiert. Treffen sich ein Muslim, ein Jude, eine Afroameri- tum, leider für die lahmste Pointe des Stücks, die in einem
kanerin und eine weiße Protestantin, versichern sich ihrer Happy End besteht: Zwei Jahre nachdem der Vater das
Toleranz – und fallen bald mit Eifer übereinander her. blasphemische Buchmanuskript seiner Erstgeborenen ge-
„Geächtet“ variiert das seit „Wer hat Angst vor Virginia lesen und sie aus dem Haus gejagt hat, siegt doch die Fa-
Woolf?“ bestens bewährte Prinzip der Zimmerschlacht milienliebe. Man sieht die tränenschniefende Zarina ins
zwischen zwei Paaren. Akhtars zweites Stück „The Who Elternhaus stapfen und dem gleichfalls heulenden Vater
and the What“ spielt mit den Bausteinen der klassischen gestehen, dass sie schwanger ist. Große Umarmung! Der
Familiensoap: erstickende Elternliebe, aufbegehrende Kin- Rest der Familie flennt selig mit. Wolfgang Höbel
WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Schmid, Fidelius Schmid, Benrather Straße Rentsch, Thomas Riedel, Andrea Sauer-
Rafaela von Bredow, Olaf Stampf. 8, 40213 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01, bier, Maximilian Schäfer, Marko Scharlow,
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Redaktion: Dr. Philip Bethge, Manfred Fax 86679-11 Rolf G. Schierhorn, Mirjam Schlossarek,
Dworschak, Katrin Elger, Marco Evers, Dr. FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario
Veronika Hackenbroch, Laura Höflinger, Martin Hesse, An der Welle 5, 60322 Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schu-
Julia Koch, Kerstin Kullmann, Hilmar
Schmundt, Matthias Schulz, Frank Tha-
Frankfurt am Main, Tel. 069 9712680, Fax mann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Rainer Abonnementsbestellung
97126820 Staudhammer, Tuisko Steinhoff, Dr. Clau-
deusz, Christian Wüst. Autor: Jörg Blech dia Stodte, Rainer Szimm, Nina Ulrich, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:
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Martin Doerry, Wolfgang Höbel, Thomas Los Angeles Times / Washington Post,
ST U T TG A RT Jan Friedmann, Büchsen- New York Times, Reuters, sid E-Paper beträgt € 3,60)
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