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Dreh mal leise.

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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Meine Branche: speziell.


Hausmitteilung Meine kaufmännischen Prozesse:
Betr.: Charité, Start-ups, SPIEGEL CLASSIC
individuell.

N
otfallambulanz in der Charité, Berlin, ein
ganz normaler Vormittag: Ein junger Mann
kreischt, wütet, verlangt augenblicklich einen
ANNE SCHÖNHARTING / DER SPIEGEL Mit Software von DATEV.

neuen Armgips, und dann spuckt er der Kran-


kenschwester, die ihn zu beruhigen sucht, vor
die Füße. Währenddessen landet ein Hub-
schrauber, ein alter Mann wird in den Schock-
raum geschoben, in der nächsten Stunde wer-
den sich 17 Ärztinnen, Pfleger, Schwestern nur
um diesen einen Patienten kümmern, und sie
Thimm (l.) in der Charité werden sein Leben retten. Währenddessen tref-
fen zwei Dutzend anderer Notfälle ein – so
verläuft der Alltag in Deutschlands größtem Uniklinikum. Die Charité ist ein-
malig, sie ist ein Mythos und eine weltweit anerkannte Marke in Sachen Medizin.
Gleichzeitig muss das Haus sich im Spannungsfeld zwischen Wirtschaftlichkeit
und Heilkunst behaupten. Damit ist die Charité auch typisch für die anderen
32 Unikliniken in Deutschland. Über einen Zeitraum von drei Jahren hat
SPIEGEL-Redakteurin Katja Thimm in Berlin Ärzte und Putzfrauen, Pfleger
und Professorinnen für ihre Reportage begleitet und beobachtet. Sie war beein-
druckt. „Der Druck“, sagt Thimm, „ist immens.“ Seite 46

A m Anfang war die Idee, und


sie war simpel: Es gibt ein
Internet, also verkaufen wir dort
Schuhe. Daraus entstand innerhalb
weniger Jahre ein Unternehmen
mit 3,6 Milliarden Euro Jahres-
GORDON WELTERS / DER SPIEGEL

umsatz, daraus erwuchs eine Fir-


ma, die immer noch boomt wie
kaum ein anderes junges Unter-
nehmen hierzulande und beispiels-
weise in Berlin ein neues Haupt-
quartier baut, für 5000 Mitarbeiter:
Zalando. Eine Firma, die zwar Mahler, Zalando-Chef Robert Gentz, Nezik
Branchenführer ist, dennoch aber
typisch für die Start-up-Szene in Deutschland bleibt. Nach welchen Regeln funk-
tionieren diese Firmen? Was machen sie anders, besser, woher rührt ihr Erfolg?
Die Redakteure Martin Hesse, Armin Mahler und Ann-Kathrin Nezik haben
Unternehmer und Geldgeber besucht, Angestellte und Chefs interviewt. Es gebe Wenn es um Ihre Branche geht, dann sind Sie Experte.
auf jeden Fall einen signifikanten Unterschied zu früher, sagt Mahler. „Viele Auch für Ihre Lohn- und Gehaltsabrechnung oder für die
dieser Leute wagen es, groß zu denken.“ Seite 58
Finanzbuchführung gibt es ausgewiesene Spezialisten:
Ihr Steuerberater und die kaufmännische Software von
PIEGEL CLASSIC ist das neue Gesellschafts-
S magazin des SPIEGEL-Verlags, ein Heft für die
Generation 50+, für Menschen mit Erfahrung und
DATEV gestalten individuelle Unternehmensprozesse
einfach und zuverlässig.

Entdeckergeist. Titelthema der ersten Ausgabe:


Zukunft und das gestiegene Bedürfnis nach Sicher-
Mehr Infos unter 0800 1001116
heit – woher kommen die Sorgen und Befürchtun-
gen, etwa die berüchtigte „German Angst“? Weitere oder auf www.datev.de/meinebranche
Themen: Wie schafft es ein Dreisternekoch, immer
neue Gerichte zu kreieren? Was liebte Schauspieler
Mario Adorf an Brigitte Bardot? SPIEGEL CLASSIC
erscheint erstmals am Dienstag, dem 21. März, zum
Preis von 4,90 Euro.

DER SPIEGEL 12 / 2017 3


Stille Macht
Karrieren Seit fast zwölf Jahren regiert Angela
Merkel das Land. Kein Politiker wird mehr
begleitet, mehr fotografiert, mehr ausgeleuchtet.
Doch wie die Kanzlerin wirklich ist, weiß kaum
jemand. Wenn man nach einer Merkel jenseits des
Amts sucht, wird man in der Nacht fündig. Seite 16

HANS CHRISTIAN PLAMBECK / LAIF


OLIVIER DOULIERY / DER SPIEGEL

MICHA WILL / GETTY IMAGES


IMAGEBROKER / INTERFOTO

Trump gegen Presse „Selbstkritik schwächt“ Lüge vom sauberen Spiel


USA Der Präsident nennt Medien „Fake Klassenkampf Jean Ziegler ist 82 Jahre Fußball Eine interne Liste von Doping-
News“ und erklärt Journalisten zu alt, Marxist und Globalisierungsgegner. Wie ermittlern beweist, dass der Fußball kein
„Volksfeinden“. Zugleich will er neu defi- geht er damit um, dass nun ausgerechnet manipulationsfreier Sport ist. Auch dort wird
nieren, was Wahrheit und was Lüge die Rechten Erfolge mit Kapitalismuskritik gespritzt und geschluckt, was der Pharma-
ist. Die Journalisten im Weißen Haus sind feiern? „Die Faschisten haben immer markt hergibt. Trotz laxer Kontrollen
in Aufruhr. Über den Abwehrkampf versucht, sozialistische Ideen zu kopieren“, wurden 2015 fast 150 Spieler mit unerlaub-
einer verunsicherten Branche. Seite 76 sagt er. Seite 64 ten Substanzen im Urin erwischt. Seite 92

4 Titelbild: Montage: DER SPIEGEL; Fotos: Getty Images


In diesem Heft

Titel Ausland
Gesundheit Wie wir uns einfach gesund Redeverbot für Burmas buddhistischen
ernähren können – und warum uns Hetzer / Schottlands Regierungschefin
die Lebensmittelindustrie daran hindert 96 Nicola Sturgeon torpediert die britischen
Brexit-Pläne

ANTONIO OLMOS / PICTURE PRESS


70
Deutschland Frankreich SPIEGEL-Gespräch mit dem
Leitartikel Der Siegeszug der Rechts- Präsidentschaftskandidaten
populisten kann gestoppt werden 6 Emmanuel Macron über seinen Höhenflug
in den Umfragen 72
Meinung Kolumne: Der gesunde Menschen-
verstand / So gesehen: Ganz große Kunst 8 USA Im Pressesaal des Weißen Hauses
Türkei ignoriert diplomatische Bemühungen wird um Wahrheit und Lüge im Zeitalter des
um Deniz Yücel / Steinmeier verliert Präsidenten Donald Trump gerungen 76
Wunschmitarbeiter für Bellevue / Pkw- Niederlande Premier Mark Rutte Yuval Noah Harari
Maut wird teurer 12 gewinnt dank des türkischen Präsidenten
Erdoğan die Wahl 82 Er ist Historiker, blickt aber
Karrieren Wie Angela Merkel hinter ihrem
Amt verschwindet 16 auch in die Zukunft. Kühnste
Hongkong Warum Peking einen
Außenpolitik Minister Sigmar Gabriel Abgeordneten aus dem Parlament
Idee: Eines Tages wird der
plädiert für eine privilegierte werfen lassen will 84 Mensch vom Übermenschen
Partnerschaft mit der Türkei 24 verdrängt werden. Dank
Parteien Kann SPD-Kanzlerkandidat Hightech, so der Wissen-
Sport schaftler, könnten gottgleiche
Martin Schulz die Abwanderung zur AfD
bremsen? 26 Goldener Wintersport / Wesen entstehen. Seite 104
Wettbewerb Die Bundesregierung Magische Momente: Die Freestylerin Lisa
will die Dominanz der Internetgiganten Zimmermann über
brechen 30 ihren einzigartigen Skisprung 87
Wahlkämpfe Die AfD unterhält mysteriöse Formel 1 Wie ein Modemilliardär aus Kanada
Beziehungen zu einem seinen Sohn in den Rennsport lotst 88
finanzstarken Unterstützerverein 33 Fußball Die Lüge vom dopingfreien Spiel 92
Justiz Der Prozess gegen die rechts-
extreme Oldschool Society zeigt,
wo die Untergrenze des Terrorismus liegt 34 Wissenschaft

ALINARI / INTERFOTO
Linke Oskar Lafontaine sucht den Frieden Das Sterben des Great Barrier Reef geht
mit der SPD 37 weiter / Gynäkologen als willige Helfer
Geheimdienste SPIEGEL-Gespräch der NS-Rassenpolitik / Einwurf: Machen
mit BND-Präsident Bruno Kahl kranke Politiker kranke Politik? 94
über Bedrohungen durch Islamisten und Zukunft SPIEGEL-Gespräch mit dem
Russland 38 israelischen Historiker Yuval Noah Harari Maria Theresia
über den gottgleichen Übermenschen
Gesellschaft Homo Deus 104 Sie war eine Legende zu
Luftfahrt Gefährliche Wirbel – wie der Lebzeiten, Kaiserin der Habs-
Früher war alles schlechter: Morde an
Kindern / Wie gefährlich ist „Pu der Bär“? 44 Riesenflieger A 380 andere Flugzeuge zum burger, Herrscherin über
Ein Tweet und seine Geschichte Eine Kopftuch- Absturz bringen kann 108 eine Großmacht. Doch eine
trägerin wird als Bombenlegerin besorgte Landesmutter, so
beschimpft und erhält Rückendeckung 45 Kultur die neuesten Biografien, war
Mythen Die Berliner Charité: sie nicht – dafür clever und
zwischen Barmherzigkeit und Kalkül – aus Die Perücke als Vorbote von Revolutionen / rücksichtslos. Seite 120
dem Alltag der größten Hollywood muss China fürchten /
Medizinfabrik Deutschlands 46 Kolumne: Besser weiß ich es nicht 110
Warum der ARD-Mehrteiler Literatur Selbstbewusst europäisch
„Charité“ sehenswert ist 52 präsentiert sich Litauen auf der Leipziger
Homestory Weshalb man Briefe des
Buchmesse 112
Vaters aufbewahren sollte 55 Autoren Eva Menasse über das WERNER SCHUERING / DER SPIEGEL
Leben in den besetzten palästinensischen
Wirtschaft Gebieten – eine Erzählung 116
Geschichte Neue Erkenntnisse über Öster-
Piëch will seine VW-Anteile verkaufen /
Pofalla kämpfte um Bahn-Chefposten / reichs Kaiserin Maria Theresia 120
Ungerechte Netzentgelte 56 Serienkritik Die zweite Staffel von „Love“
Digitalisierung Die deutschen Start-ups entlarvt den modernen Beziehungswahn 123
sind besser als ihr Ruf, aber
es reicht zu selten für die Weltspitze 58
Klassenkampf Der Globalisierungskritiker Bestseller 119 Bruno Kahl
Jean Ziegler über sein Scheitern Impressum, Leserservice 124 Er ist der Chef des Bundes-
und seinen trotzigen Glauben an den
Kommunismus 64 Nachrufe 125 nachrichtendienstes, Deutsch-
Personalien 126 lands geheimster Behörde.
Konzerne Siemens gab ein Buch über
die Korruptionsaffäre in Auftrag – doch nun Neben dem „Islamischen
Briefe 128
soll es niemand lesen 66 Staat“, sagt Kahl, sei Russland
Hohlspiegel / Rückspiegel 130 die größte Bedrohung –
Lebensmittel Eine ungewöhnliche
Allianz kämpft dafür, dass vegane Wurst und zwar propagandistisch
auch so heißen darf 69 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ wie auch militärisch. Seite 38

DER SPIEGEL 12 / 2017 5


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Volkes Stimme
Der niederländische Wahlausgang weckt Hoffnungen auf ein Ende des populistischen Zeitalters.

P
opulisten behaupten gern von sich, dass sie allein Wähler weder die Islamisierung des Abendlandes noch
den Mut zur Wahrheit haben. Dass nur sie sich zu ein von dunklen Mächten heimlich geplanter „Bevölke-
sagen trauen, was die abgehobene Elite und der rungsaustausch“ sind, nein: Es geht ganz normal, ganz
politisch korrekte Mainstream vorsätzlich verschweigen. langweilig, ganz klassisch um Arbeit, um Wohlstand, um
Heraus kommen dabei Wahrheiten wie diese: dass Mexi- Gesundheit. Es geht um gute Schulen, um eine auskömm-
kaner Vergewaltiger und Nordafrikaner Grapscher sind. liche Rente, um soziale Gerechtigkeit. Es geht, auch das,
Dass kein anständiger Deutscher einen Farbigen als Nach- um ein Unbehagen manchmal, ob Deutschland so viele
barn haben will. Und dergleichen Unfug mehr. Flüchtlinge „schafft“, und es geht, immer öfter, um große
Der verurteilte Rassist Geert Wilders hat es im nieder- Wut, wenn der Eindruck entsteht, die Politik kungele mit
ländischen Wahlkampf mit der Wahrheit versucht, dass der Wirtschaft gegen das Gemeinwohl oder betreibe, wäh-
Marokkaner „Abschaum“ seien – und nun sind alle An- rend in Schulen der Putz bröckelt, ein eitles Spiel mit
dersdenkenden seit Mittwochabend schwer erleichtert, schwarzen Nullen.
weil nur 13 Prozent der Wähler das auch so sehen. Wer also Populisten bekämpfen und in Wahlen klein-
Wilders’ Niederlage mag erfreulich sein, für eine Ent- halten will, muss sich zuerst ihrem falschen Agenda-
warnung ist es jedoch noch zu früh. Auch diese Wahl Setting verweigern. Es gilt zu verstehen und aufzuzeigen,
lieferte reichlich Anschau- dass die Höckes und Wil-
ungsmaterial dafür, dass ders nicht den Finger in
die Rechtspopulisten heut- die Wunde legen, sondern
zutage die öffentlichen De- nach Kräften versuchen,
batten beherrschen. neue Wunden zu reißen.
So wie die Dinge liegen, Es ist dringend notwendig,
entwirft der multimediale dass die Demokraten, die
Zirkus regelmäßig absurde zivilen, auf Ausgleich ge-
Zerrbilder der politischen richteten Bürgerinnen und
Wirklichkeit, gerade in Eu- Bürger, den nationalisti-
ropa. In den Wochen vor schen Quertreibern und ras-
der niederländischen Wahl sistischen Stänkerern wie-
fanden in Print, Funk, Fern- der voller Selbstbewusst-
sehen und Internet gerade- sein entgegentreten. Man
PASCAL PAVANI / AFP

zu Geert-Wilders-Festspiele wird doch schließlich noch


statt, so als hätte es die 27 sagen dürfen, dass es zu
anderen Parteien gar nicht unserer freiheitlich demo-
gegeben. Ähnliches ist ge- kratischen Grundordnung,
rade für Frankreich zu kon- Wahlkampflokal des Front National in Frankreich dass es auch zur Euro-
statieren, wo sich die kom- päischen Union überhaupt
menden Präsidentschaftswahlen, nach dem Pressespiegel keine vernünftigen Alternativen gibt, auch wenn nicht
zu urteilen, vor allem um Marine Le Pens Ideen zu drehen alles perfekt und manche zugehörige Prozedur etwas
scheinen. Derweil kommt kaum ein Beitrag über italieni- nervig ist.
sche Innenpolitik ohne Bilder des geifernden Beppe Grillo Auf den Holzweg führen jedenfalls alle Versuche, den
aus. Und wie hierzulande die AfD hysterisch hoch- und Populisten mit Populismus begegnen zu wollen – es kom-
niedergeschrieben wird, damit ließen sich ganze Medien- men doch nur Rohrkrepierer Marke Ausländermaut dabei
seminare bestreiten. heraus. Symbolische Nonsenspolitik bringt allein den
Nun hat der doppelte Schock über den Brexit und die Rechtspopulisten Zulauf, fast nach dem Prinzip kommu-
Wahl Donald Trumps die Tendenz zur Übertreibung des nizierender Röhren: Je schlechter die Arbeit der etablier-
Hässlichen womöglich noch verschärft. In beiden Fällen ten Politik, desto besser geht es den Rechtspopulisten. Sie
nicht gesehen zu haben, was da auf die Welt zurollt, hat und ihre Parteien sind vor allem deshalb attraktiv, weil
die Selbstzweifel der Medien verstärkt, den politischen sie Gelegenheit bieten, Wahlscheine in Brandbriefe zu
Betrieb erschüttert und ganze Gesellschaften verunsichert. verwandeln.
Es wäre jedoch ein fataler Irrtum, aus Brexit und Trump In den Niederlanden haben das weniger Leute getan
den Schluss zu ziehen, die Thesen und Tiraden rechter als befürchtet. In Frankreich könnten es Ende April wieder
Zündler seien automatisch mit „Volkes Stimme“ gleichzu- mehr sein als erhofft. Trotzdem mehren sich die Anzei-
setzen und also stets der Ausdruck berechtigter Sorgen. chen dafür, dass der Brexit und die Trump-Wahl nicht
Man mag von Umfragen mittlerweile halten, was man den Beginn einer populistischen Siegesserie markieren,
will, aber sie belegen doch regelmäßig und übereinstim- sondern als mahnende Exzesse recht einsam in der Land-
mend, dass die größten Sorgen der Wählerinnen und schaft herumstehen. Ullrich Fichtner

6 DER SPIEGEL 12 / 2017


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Meinung
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand

Erdoğans Rindviecher
Auf dem Weg in die Erklärung des Regimes, dass türkische
Infantilisierung der Viehproduzenten – genau wie die tür- Ganz große
internationalen
Beziehungen ist die
kischen Gerichte – unabhängig seien, steht
übrigens noch aus.
Kunst
Welt vergangene Ob Erdoğan wirklich glaubt, mit derlei So gesehen Die Kandi-
Woche einen großen Kindereien auch nur einen Bürger von sich datur des François Fillon
Schritt vorangekom- überzeugen zu können, der bislang noch wird zum Happening.
men. Zu verdanken nicht von ihm überzeugt war? Und wenn
haben wir dies dem tür- er das tut: Welch trauriges Bild muss Der feine Herrenschneider
kischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan er dann von der politischen Reife seiner Arnys kleidet seit vielen
und einer gewissen Annegret Kramp-Kar- Landsleute haben? Jahrzehnten jene französi-
renbauer, wohnhaft im Saarland. Womit wir im Saarland und bei Anne- schen Künstler und Literaten
Wahlkampfzeiten sind selten Sternstun- gret Kramp-Karrenbauer wären, die eben- ein, die zu Geld gekommen
den des politischen Diskurses. Was jedoch falls vor einer wichtigen Abstimmung sind. Zu den Kunden zählte
der türkische Präsident dieser Tage ablie- steht. Weil Auftrittsverbote für türkische auch Jean-Paul Sartre, der
fert, um ein Verfassungsreferendum zu ge- Minister beim Volk gerade hoch im Kurs seine Philosophie aus der Be-
winnen und seine Erdokratie auch offiziell zu stehen scheinen, hat auch sie knapp obachtung entwickelte, dass
in eine Diktatur zu verwandeln, setzt neue zwei Wochen vor der Landtagswahl ein Männer vergebens darauf
Maßstäbe. So zielsicher wie Erdoğan hat solches Verbot verhängt. Und zwar für das hoffen, ein guter Anzug wür-
sich bislang kaum jemand zum Horst ge- gesamte Saarland. Es sollte eine Geste der de ihre Existenz rechtferti-
macht. Gemeint sind keineswegs seine tou- Stärke und der Entschlossenheit sein. Das gen. Dass der konservative
rettehaften Nazirufe in Richtung Deutsch- einzige Problem daran ist: Für Auftritte im Präsidentschaftskandidat
land und die Niederlande. Die zählen Saarland hatten sich in etwa so viele türki- François Fillon unlängst An-
längst zu den Gassenhauern des politi- sche Minister angekündigt wie für Auftritte züge bei Arnys schneidern
schen Streits und haben einen ähnlichen in meinem Wohnzimmer. ließ, ohne sie selbst zu be-
Originalitätsfaktor wie Döner-Wortspiele, Warum lassen sich Wahlkämpfer zuver- zahlen, offenbart den tiefe-
wenn es um die Türkei geht. lässig auf derlei Unsinn ein? Offenbar ver- ren Sinn seiner Kandidatur:
Erdoğan kann es noch alberner. Dass er fügen sie über Erfahrungswerte, wonach Es muss sich um ein Kunst-
das Referendum eigentlich nicht brauchte, selbst durchsichtiger Aktionismus belohnt projekt handeln, um eine
weil er schon jetzt vollen Zugriff auf die wird. Wenn das stimmt, sollten die Bürger Hommage an eine Aktion
wichtigsten Institutionen des Landes hat, schleunigst für neue Erfahrungswerte sor- des großen René Magritte.
bewies am Mittwoch der Türkische Ver- gen. Sie sollten eine klare Botschaft senden: Der hatte mal einem bürger-
band der Viehproduzenten, der allen Erns- dass das Volk nicht ganz so schlicht ist, wie lichen Besucher, den er zum
tes die Abschiebung holländischer Kühe manche Politiker annehmen. Die Türken Tee in sein Wohnzimmer
verkündete, die gerade erst eingereist wa- und die Saarländer haben bald eine prima bat, völlig unvermittelt einen
ren. „Die erste Gruppe Holsteiner ist ver- Gelegenheit dazu. Fußtritt verpasst – einfach
laden und wird zurückgeschickt“, erklärte um zu schauen, was dann
Verbandschef Bülent Tunç – und das, ganz An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, passiert. Nichts.
ohne lachen zu müssen. Die obligatorische Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. Fillons Wahlkampf ist in
dieser subversiven Tradition
zu verstehen. Der Wahlsieg
galt seinem Lager als sicher –
Kittihawk aber Fillon zerstörte seine
Chancen wirkungsvoller, als
jeder Gegner es vermocht
hätte. Und das ist ja die Auf-
gabe jeder Kunst: die Schön-
heit des Scheiterns zu zele-
brieren. Auch Fillons Familie
ist kreativ: Die Tochter hat
ihrem Vater die Kosten ihrer
Hochzeitsfeier erstattet, und
zwar von dem Geld, das sie
während ihrer Beschäftigung
als seine Assistentin im Se-
nat verdient hatte. Darauf
muss man erst mal kommen!
Ja, wer Anzüge von Arnys
trägt, dem schlägt unter dem
bunten Seidenfutter das wil-
de Herz eines Anarchisten.
Nils Minkmar

8 DER SPIEGEL 12 / 2017


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Fall Yücel

Ankara hält Versprechen nicht ein


Türkei verwehrt weiter Zugang zu deutschem Journalisten in Haft.
Trotz persönlicher Zusagen verhindert die türkische Regie- des türkischen Ministerpräsidenten nicht mehr verlassen
rung noch immer den Kontakt deutscher Diplomaten zum können“, sagt Außenminister Sigmar Gabriel dem SPIEGEL.
inhaftierten deutschen Journalisten Deniz Yücel. Die Bun- Obwohl sein Ministerium eine weitere Verbalnote sandte
desregierung bemüht sich seit Wochen darum, dass ihre und der deutsche Botschafter mehrmals bei der türkischen
Vertreter Yücel im Gefängnis besuchen können. Bereits am Regierung vorsprach, reagierte Ankara nicht. Mitte der
27. Februar schickte die deutsche Botschaft in Ankara eine Woche hat Gabriel selbst mit dem Außenminister Mevlüt
Verbalnote an das türkische Außenministerium. Die Bitte Çavuşoğlu gesprochen, dieser habe ihm „zugesichert, sich
wurde mit der Begründung abgelehnt, dass Yücel auch die weiter für einen konsularischen Zugang einzusetzen“. Bis-
türkische Staatsbürgerschaft besitze und daher keinen lang habe man auf ein gegebenes Wort vertrauen können,
Rechtsanspruch auf konsularische Betreuung habe. In ei- so Gabriel: „Ich setze darauf, dass das so bleibt.“ Ange-
nem Telefonat mit Bundeskanzlerin Angela Merkel am sichts der Zustände in der türkischen Justiz brauche es
4. März versprach Ministerpräsident Binali Yıldırım den- „unbedingt eine Möglichkeit, die Haftbedingungen von
noch, dass deutsche Diplomaten Yücel besuchen könnten. Deniz Yücel zu überprüfen“, sagt der Grünen-Bundestags-
Doch bis Redaktionsschluss am Donnerstagabend passierte abgeordnete Özcan Mutlu, dessen Antrag, Yücel zu besu-
nichts. „Es wäre enttäuschend, wenn wir uns auf ein Wort chen, ebenfalls ignoriert wurde. akm, csc

AfD ner Parteikorrespondenz normale Polizist bleibt uns ein. Ihr sei seit dem 15. März
Parteimails im über seinen Schreibtisch bei gewogen, soviel ist sicher.“ bekannt, dass Suhren mögli-
der Polizei Osnabrück ab. In Die Mails reichen von No- cherweise private Angelegen-
Polizeidienst den Mails, die dem SPIEGEL vember 2013 bis zum 14. heiten „teilweise im Dienst
Ein führendes AfD-Mitglied vorliegen, regelt Suhren nicht März dieses Jahres. Ulf Küch bzw. über dienstliche Compu-
nutzt offenbar seit Jahren sei- nur organisatorische Fragen. vom Bund Deutscher Krimi- ter“ getätigt haben soll, so
ne dienstliche Mailadresse Er erteilt auch politische Rat- nalbeamter warnt, es sei „für ein Polizeisprecher.
bei der Polizei, um partei- schläge „aus polizeilicher Polizeidiensttätige ein eindeu- Suhren bestätigt die Echt-
intern zu kommunizieren: Sicht“ und äußert „Wünsche tiger Verstoß gegen die Neu- heit der Mails gegenüber dem
Bodo Suhren, stellvertreten- für die nächste TelKo“ des tralitätspflicht, über ihre Bü- SPIEGEL und erklärt: „Sollte
der AfD-Bundesschatzmeis- AfD-Landesvorstands. Im roadressen für Parteien tätig mir die ein oder andere Mail
ter und Kassenwart des Lan- März 2016 beruhigte er die zu werden“. Die Polizeidirek- über den Dienstaccount raus-
desverbands Niedersachsen, Parteifreunde nach einem kri- tion Osnabrück leitete jetzt gerutscht sein, tut mir das
wickelte einen guten Teil sei- tischen Pressebericht: „Der disziplinarische Ermittlungen sehr leid.“ ama

12 DER SPIEGEL 12 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Verteidigung Die Agentur soll „Studien, Jahre begrenzt. 12,6 Millionen
Bundeswehr wirbt Pilotprojekte, Ideenwettbe- Euro soll der Unterhalt des
werbe etc. zur Validierung Innovationsteams kosten, wei-
um Cyber-Start-ups

CHRISTIAN SCHROEDTER / IMAGO


von Technologien durchfüh- tere 15 Millionen stehen für
Das Verteidigungsministerium ren“, wie es in einem internen Projekte zur Verfügung.
gründet in Berlin eine Innova- Ministeriumspapier heißt, und Treibende Kraft hinter dem
tionsagentur, die dafür sorgen selbst als „Initiator oder Auf- Projekt ist Marcel Yon, der als
soll, dass die Bundeswehr traggeber für die (Weiter-)Ent- Fregattenkapitän der Reserve
beim Cyberwettrüsten mithal- wicklung disruptiver Technolo- inzwischen eine Truppe von
ten kann. Der „Cyber Innova- gien wirken“. Dabei geht es Cyberspezialisten und Start-
tion Hub“ soll den Kontakt nicht darum, Cyber-Offensiv- up-Unternehmern um sich Haseloff
zur Start-up-Szene suchen, waffen zu entwickeln, sondern versammelt hat, darunter Jan
um nach Innovationen zu zivile Erfindungen für das Mili- Andresen, der 2014 seine Fir- Ministerpräsidenten
fahnden, die für die Streitkräf- tär nutzbar zu machen. Das ma an den Bertelsmann-Kon-
te interessant sein könnten. Projekt ist zunächst auf drei zern verkauft hat. ham
Haseloff in
der Fankurve
Sachsen-Anhalts Ministerprä-
sident Reiner Haseloff (CDU)
Asylverfahren gemeldet. Die Behörde bestä- genommen, offenbar doch ge- gerät wegen seiner Leiden-
Agenten hören mit tigte auf Anfrage, man werde zielt als Flüchtlinge getarnte schaft für den FC Bayern
für eine engere Zusammen- Dschihadisten nach Europa München in Bedrängnis. Der
Der Verfassungsschutz wird arbeit mit dem Bamf „zusätz- schickt. Zudem waren die Ter- Regierungschef hatte 2013
künftig sehr viel intensiver liche Mitarbeiter einsetzen“, roranschläge von Würzburg, zwei Eintrittskarten für das
neu ankommende Flüchtlinge wollte aber keine konkrete Ansbach und Berlin von Asyl- Champions-League-Spiel der
überprüfen. Dafür werden Zahl nennen. Bislang hatten bewerbern begangen worden, Bayern gegen Arsenal Lon-
zahlreiche Mitarbeiter des In- Geheimdienstmitarbeiter die offenbar direkten Anwei- don von den Stadtwerken
landsgeheimdienstes in den Asylsuchende oft erst dann sungen von IS-Kontaktleuten Zeitz angenommen und war
Außenstellen des Bundesamts befragt, wenn Bamf-Beamte folgten. In der Großen Koali- mit seiner Frau sowie Perso-
für Migration und Flüchtlinge bei der Anhörung Verdacht tion war die verstärkte Ein- nenschützern nach München
(Bamf) eingesetzt. Sie sollen geschöpft hatten. Mit der neu- bindung des Verfassungsschut- gereist. Haseloff überwies
dort häufiger als bislang an en Regelung reagiert die Bun- zes umstritten. Während den Zeitzern dafür 150 Euro
der Anhörung von Asylsu- desregierung darauf, dass der einige Politiker vor einem und erklärte, damit sei die
chenden teilnehmen – etwa IS, anders als ursprünglich an- Generalverdacht gegen private Reise auch privat be-
dann, wenn die Flüchtlinge Flüchtlinge warnten, schlugen glichen. Der inzwischen ent-
aus Hochburgen der Terror- Unionsvertreter sogar vor, lassene Geschäftsführer des
miliz „Islamischer Staat“ (IS) Geheimdienste oder Bundes- Unternehmens bestreitet das.
MICHAEL REICHEL / DPA

wie Rakka oder Mossul stam- polizei sollten künftig gene- Die Plätze in der Allianz-Are-
men. Das Bundesamt für Ver- rell bei jeder Asylanhörung na lagen auf der Südtribüne,
fassungsschutz hat für die dabei sein. Das wurde verwor- Reihe 25, direkt vor einer ex-
„Flüchtlingsaufklärung“ einen fen, auch weil es die Sicher- klusiven Lounge mit VIP-Ser-
personellen Mehrbedarf von heitsbehörden personell über- vice. Die Karten, so erinnert
rund 250 Stellen bis 2019 an- Flüchtling in Suhl fordern würde. jös, kno sich der frühere Stadtwerke-
Chef Andreas Huke, hätten
rund 500 Euro gekostet – pro
Stück. Er versichert an Eides
Autobahnen aus der jetzigen Lkw-Maut den, um den Betrieb des Au- statt, der Ministerpräsident
Pkw-Maut wird teuer bei Weitem nicht aus, um die tobahnnetzes zu finanzieren. habe auch die Lounge ge-
bundeseigene Infrastruktur- „In der Praxis wird eine Ad- nutzt. Haseloff sagt dagegen,
Für die geplante Privatisie- gesellschaft zu finanzieren, justierung zwischen Lkw- er habe auf seinem Sitz geses-
rung des deutschen Auto- die die Autobahnen künftig Maut und Infrastrukturabga- sen. Ihm könnten nun Ermitt-
bahnnetzes durch die Hinter- verwalten soll. be erforderlich sein“, schrei- lungen wegen des Verdachts
tür werden die Autofahrer Drei Szenarien haben die ben die Gutachter. „Dobrindt der Vorteilsannahme drohen.
kräftig zahlen müssen – und Gutachter entworfen, doch täuscht die Öffentlichkeit“, Nach der Rechtsprechung
zwar jeder und deutlich allen ist gemeinsam, dass be- sagt Sven-Christian Kindler, können solche Einladungen
mehr, als die Ausländer- reits 2020 zusätzlich über haushaltspolitischer Spre- dann kritisch sein, wenn etwa
mautpläne von Verkehrsmi- zwei Milliarden Euro in die cher der Grünen im Bundes- eine „vergangene Dienstaus-
nister Alexander Dobrindt Gesellschaft fließen müs- tag, „jeder Autofahrer wird übung“ honoriert wurde. Ha-
(CSU) vorsehen. Zu diesem sen – entweder direkt aus für die Rendite der Banken seloff war als früherer Wirt-
Ergebnis kommt ein bisher dem Bundeshaushalt oder und Versicherungen künftig schaftsminister in Sachsen-
unveröffentlichtes Gutachten über eine „Infrastrukturabga- blechen müssen.“ Die Ge- Anhalt unter anderem für die
im Auftrag seines Ministe- be“, das wäre die Pkw-Maut. sellschaft könnte private Genehmigung der Stadtwer-
riums. Nach dem Gutachten Im Jahr 2028 müsste danach Investoren beteiligen – über ke-Preise zuständig. stw
der Anwaltskanzlei Graf von das Sechsfache der jährlich Tochterfirmen oder öffent-
Westphalen und der Wirt- veranschlagten 500 Millionen lich-private Partnerschaften Mehr zu dem Thema am Sonn-
schaftsprüfungsgesellschaft Euro Einnahmen aus der Au- für Autobahnteilnetze tag, 19. März, 22.20 Uhr, im
PwC reichen die Einnahmen tobahnvignette erzielt wer- (SPIEGEL 49/2016). was SPIEGEL TV Magazin auf RTL

DER SPIEGEL 12 / 2017 13


Deutschland

Anti-Terror-Einsatz Große Koalition


Chat mit dem Teilzeitreform vor

VOLKER HARTMANN / FUNKE FOTO S. / ACTION PRESS


Verfassungsschutz dem Aus
Der Terroralarm mit Groß- Das von Bundesarbeitsminis-
einsatz in einem Essener Ein- terin Andrea Nahles, SPD,
kaufszentrum am vergange- geplante gesetzliche Rück-
nen Samstag wurde aufgrund kehrrecht von einer Teilzeit-
eines Chats zwischen dem auf eine Vollzeitstelle steht
Dschihadisten Imran-Rene auf der Kippe. In der Füh-
Q., 24, und einer Quelle des rung der CDU/CSU-Bundes-
Bundesamts für Verfassungs- tagsfraktion räumt man der
schutz ausgelöst. Wie aus Gesetzesreform nur noch ge-
Sicherheitskreisen verlautete, Abgeriegeltes Einkaufszentrum in Essen ringe Chancen ein. Nach
schrieb der aus Oberhausen dem Entwurf von Nahles sol-
stammende Q., der in Syrien Facebook-Kontakt bereits Geheimdienstmitarbeiters len Beschäftigte, die befristet
für den „Islamischen Staat“ vor Monaten eine Anleitung keine Details wie Namen in Teilzeit arbeiten wollen,
(IS) kämpft, am vorletzten zum Bombenbau geschickt oder Nummern der „libanesi- danach zu ihrer vollen Stun-
Donnerstagabend über Face- und versucht, ihn zu An- schen Brüder“ mitgeteilt denzahl zurückkehren dür-
book seinem Kontakt: schlägen zu überreden. Des- habe. Womöglich, so mut- fen. Die Unionsabgeordne-
„Wenn es klappt, Inschallah, halb nahm der Verfassungs- maßt der Verfassungsschutz, ten sperren sich dagegen,
dann in zwei Tagen Essen schutz die aktuelle Ankündi- handelte es sich um einen dass die Neuregelung schon
Zentrum, die große Einkaufs- gung sehr ernst. Einen Tag Test, mit dem Q. seinen Ge- für Betriebe ab 15 Mitarbei-
halle.“ Dort würden „zwei später informierte der Dienst sprächspartner überprüfen tern gelten soll und damit
libanesische Brüder“ zuschla- die Polizei, die das Einkaufs- wollte, mit dem er bereits viele Handwerksbetriebe
gen, der Kontaktmann solle zentrum abriegelte. Aller- seit Monaten chattet. Den- treffen könnte. Allerdings
sie finden. „Codewort ist Ba- dings halten sich bei den Be- noch sei der Großeinsatz in steht der Auftrag für das Ge-
qiya.“ Mehr könne er derzeit hörden Zweifel, ob es das Essen alternativlos gewesen. setz im Koalitionsvertrag.
nicht sagen. Nach Angaben von Q. erwähnte Anschlags- Das Risiko, dass Q. noch Das Thema soll nun am
aus Sicherheitskreisen hat team tatsächlich gibt. Dage- andere Kontaktleute in- 29. März beim nächsten Tref-
der im Frühjahr 2015 nach gen spreche, dass Q. auch struiert haben könnte, wollte fen des Koalitionsausschus-
Syrien ausgereiste Q. seinem auf Nachfrage des getarnten niemand eingehen. jdl ses besprochen werden. Der
Termin wurde bewusst hinter
die saarländische Landtags-
wahl gelegt. Er gilt als letzte
Bundespräsident Abteilung übernehmen. Doch des Sozialdemokraten Einigungschance für Gesetze,
Korb für Steinmeier Görgen zieht es nun vor, im Gustav Heinemann als Bür- die noch in dieser Legislatur-
Auswärtigen Amt zu bleiben. gerpräsident zu profilieren. periode verabschiedet wer-
Kurz vor seinem Wechsel ins Damit verliert Steinmeier, Der bisherige Außenminister den sollen. Diskutiert wer-
Schloss Bellevue muss Frank- der am Mittwoch in das solle als Präsident weniger den sollen mehrere strittige
Walter Steinmeier die Ab- höchste Staatsamt eingeführt offizielle Reden halten und Vorhaben, denen das Aus
sage eines wichtigen politi- wird, einen Beamten, der zu stattdessen mehr direkten droht. Dazu gehören eine
schen Weggefährten hin- einer zentralen Figur seiner Kontakt zur Bevölkerung su- Mindestabsicherung für Ge-
nehmen. Eigentlich sollte An- Präsidentschaft werden sollte. chen. Anstatt Görgen soll ringverdiener im Alter („So-
dreas Görgen, 49, Leiter der Der Jurist und frühere Sie- jetzt Oliver Schmolke, bisher lidarrente“), die Regelungen
Kulturabteilung im Auswärti- mens-Manager Görgen hatte Planungsstabschef im Wirt- zum Familiennachzug für
gen Amt, mit Steinmeier ins bereits für Steinmeier den schaftsministerium, die in- Asylbewerber oder eine Ver-
Bundespräsidialamt wechseln Plan entwickelt, sich im neu- nenpolitische Abteilung des schärfung der Mietpreis-
und dort die innenpolitische en Amt nach dem Vorbild Präsidenten leiten. csc bremse. An der Runde soll
erstmals Martin Schulz
als neuer SPD-Parteivorsit-
zender teilnehmen.
Klimaschutz den Euro pro Jahr subventio- Tonnen in etwa den Emis- Aus taktischen Gründen
Umweltamt gegen nieren, wird sich an dieser sionsmengen von 2009. Das will die Union jetzt versu-
Entwicklung nichts ändern“, Ziel der Bundesregierung, chen, vor der Sommerpause
Dieselprivileg mahnt die UBA-Chefin. „Das bis 2020 40 Prozent weniger weitere Koalitionsausschüsse
Weil Deutschland nach wie Dieselsteuerprivileg wie Treibhausgase im Vergleich anzusetzen. So soll der SPD-
vor seine Klimaziele verfehlt, auch andere Privilegierungen zu 1990 zu emittieren, scheint Kanzlerkandidat gezwungen
fordert die Präsidentin des sollten nach und nach abge- mittlerweile unerreichbar. werden, sich zur Politik der
Umweltbundesamtes (UBA), schafft werden.“ Krautzber- Der Verkehrssektor, mit preis- Großen Koalition zu beken-
Maria Krautzberger, ein Ende ger zeigte sich alarmiert von wertem Erdgas betriebene nen. „Es kann nicht sein,
der steuerlichen Begüns- den jüngsten Erhebungen Gaskraftwerke sowie die pri- dass Herr Schulz so tut, als
tigung von Dieselkraftstoff. ihres Hauses: Danach ist der vaten Haushalte mit ihrem habe er mit der Politik der
„Solange wir den Verkehrs- Ausstoß von Treibhausgasen Heizbedarf machen die CO - SPD in Berlin nichts zu tun“,
²
sektor in Deutschland um- 2016 wieder gestiegen und Einsparungen bei den Kohle- sagt ein Mitglied der CDU-
weltschädlich mit 28,6 Milliar- entspricht mit 906 Millionen kraftwerken mehr als wett. kn Führung. cos, kn, ran, rp

14 DER SPIEGEL 12 / 2017


Regierungschefin Merkel im Kanzleramt in Berlin: „Könnten Sie uns den Rotwein bringen?“

16 DER SPIEGEL 12 / 2017


Deutschland

Im Kartenhaus
Karrieren Im zwölften Jahr ihrer Kanzlerschaft ist
Angela Merkel fast ganz hinter ihrem Amt
verschwunden. Im Wahlkampf gegen ihren Kontrahenten
Martin Schulz könnte dies ihr größtes Problem werden.
Von René Pfister und Britta Stuff

I
rgendwann im Herbst vor zwölf Jahren „Angela, du bist so bescheiden, um dei-
bekam Angela Merkel Besuch von nen Job nicht zu beneiden.“
Handwerkern. Sie tauschten die Fens- Sie verzieht keine Miene. Sie setzt sich
terscheiben in ihrer Wohnung aus, mit de- an ihren Platz, holt ihr Redemanuskript
nen eigentlich alles in Ordnung war. Aber raus und kritzelt darin herum. Manchmal,
weil sie gerade Kanzlerin geworden war, wenn die Leute im Saal über Kuhn lachen,
brauchte sie neue, aus Panzerglas. Sie tarn- nickt sie mit dem Kopf und klatscht.
ten sie als normale Altbaufenster. Alles Um kurz nach sechs tritt sie ans Pult
sollte aussehen wie immer. und hält eine Rede, die ohne jeden Scherz
Es ist seither etwas dunkler in ihrer auskommt. Sie spricht über die Türkei,
Wohnung, sagen Fachleute, das ist der die Konjunktur und die Breitbandverka-
Preis für den höheren Sicherheitsstandard. belung auf dem Land. Nach 22 Minuten
Aber es könnte nun jemand mit einer Waf- ist sie fertig, niemand hat gelacht, es gab
fe auf dem Dach des nahe gelegenen Per- auch nichts zu lachen. Kuhn sagt noch,
gamonmuseums stehen, die Kanzlerin dass sich Merkel natürlich ein bisschen
wäre sicher. Zeit nehmen werde für die Parteifreunde,
Man muss sich als Kanzler daran gewöh- aber da ist sie schon auf dem Weg zum
nen, hinter dickem Glas zu leben, nicht Ausgang. Sie winkt noch einmal, dann
nur in der Wohnung. verschwindet sie hinter der dunklen Wand
„Ich denke an dichte Fenster“, sagte ihrer Sicherheitsleute, und als sie weg ist,
Merkel vor ein paar Jahren, als sie gefragt hat man das Gefühl, dass sie nicht wirklich
wurde, was sie mit Deutschland verbinde. da war.
„Kein anderes Land kann so dichte und Als hätte jemand aus der CDU einen
so schöne Fenster bauen.“ dieser lebensgroßen Pappaufsteller ge-
Vielleicht, sagt einer, der sie kennt, habe schickt, neben denen man sich im Wahl-
das alles mal mit Fenstern angefangen. kampf fotografieren lassen kann, und ge-
Aber zwischen ihr und der Welt sei längst dacht: merkt keiner.
mehr. Mindestens eine Wand. Im Laufe jeder Kanzlerschaft spürt man
irgendwann eine Fremdheit zwischen Volk
Kontrolle und Amtsinhaber. Es ist, als würden die
Stärken des Kanzlers plötzlich zu Schwä-
An einem Mittwoch Anfang März kommt chen werden. Niemand regierte die Bun-
sie gerade so rechtzeitig, dass es nicht un- desrepublik länger als Helmut Kohl, aber
höflich wirkt. Der Europaabgeordnete am Ende seiner 16-jährigen Amtszeit wirk-
Werner Kuhn hat mit seiner Rede schon te er mit seiner Strickjacke wie aus der
begonnen. Sie weiß, was sie erwartet, sie Zeit gefallen. Gerhard Schröder verstörte
ist inzwischen zum 19. Mal in Demmin seine Wähler, weil er als Sozialdemokrat
beim politischen Aschermittwoch, und das Land reformierte wie kein Kanzler zu-
Werner Kuhn hat bisher immer die Rede vor. Noch heute ist diese Distanz zu spü-
vor ihr gehalten. ren, wenn die Rede auf die Agenda 2010
Er sagt: kommt.
„Der Tag erwacht, die Sonne lacht, das Angela Merkels wichtigstes politisches
hat die CDU gemacht.“ Instrument war immer Kontrolle, sagt
Kuhn trägt einen Zylinder, eine Fliege jemand aus ihrem Kreis. Wie man im
CHRISTIAN THIEL

und einen etwas zu kurzen Frack. Ach- Labor die Raumtemperatur konstant hal-
tung, lustig, soll das heißen. Als die ten und die exakte Dosierung beachten
Hauptperson endlich den Saal betritt, muss, so kontrolliert Merkel ihre Worte,
sagt er: ihre Emotionen, ihr Umfeld. Ihre Konstanz
DER SPIEGEL 12 / 2017 17
Merkel mag Sicherheit. Vielleicht hat sie auch deshalb
ihren Alltag so lange unter Kontrolle gehabt.
hatte immer etwas Klinisches, aber zu- de über die Jahre so selbstverständlich wie knapp vier Meter lang, leicht geschwungen
gleich Beruhigendes. die Wohnung, in der man lebt, und das und mit blaugrauem Lack überzogen.
Wenn man mit Merkel heute unterwegs Auto, mit dem man morgens zur Arbeit Schröder empfing seine Besucher gern so,
ist, merkt man, dass sie es mit der Kon- fährt. Als sie sich im Jahr 2013 zum dritten dass der Schreibtisch zwischen ihnen
trolle womöglich übertrieben hat. Dass es Mal um das Kanzleramt bewarb, bestand stand. Manchmal lehnte er sich zurück und
fast unmöglich geworden ist, hinter der ihre Kampagne im Grunde aus einem Satz: zündete sich eine Zigarre an.
Kanzlerfassade noch den echten Menschen „Sie kennen mich.“ Merkel hat den Besprechungstisch als
zu erkennen. Im Sommer 2015, als mehr und mehr ihren Arbeitsplatz gewählt. Im ersten Ka-
Flüchtlinge kamen, überraschte Merkel die binett spotteten manche SPD-Minister:

E
s hat anders begonnen. Als sie 1990 Deutschen zum ersten Mal seit Langem, „Merkel sitzt am Katzentisch.“ Es kam ih-
nach Bonn kam, sah man Angela manche im Guten, manche im Schlechten. nen vor, als traute sie sich nicht, Schröders
Merkel an, dass sie neu in der Politik Danach sah man genauer hin, und man Schreibtisch zu übernehmen. Als wollte
war. Sie wollte sich nicht in diese Stadt fü- fragte sich, ob hinter den tausend Bildern sie sich sicherheitshalber lieber nicht so
gen, in der die Damen betonierte Frisuren und Statements vielleicht jemand ist, den breitmachen, oben im Kartenhaus.
trugen und die Herren karierte Sakkos. man gar nicht kennt. Merkel mag Sicherheit. Vielleicht hat sie
Einmal, so erzählt jemand, da war sie Anfang September 2016 fliegt sie nach auch deshalb ihren Alltag so lange unter
noch Frauen- und Jugendministerin, sollte China zum G-20-Gipfel. Merkel wäre lie- Kontrolle gehabt. Der Tag eines Kanzlers
sie mit Helmut Kohl nach New York flie- ber zu Hause geblieben, weil an diesem ist ein Korsett, das so lange weiter zuge-
gen. Sie kam in einem weiten Rock, Strick- Wochenende Wahl in Mecklenburg-Vor- schnürt wird, bis man Stopp sagt. Zu den
strümpfen und Sandalen. Kohl soll gesagt pommern ist und die Umfragen in den Gremiensitzungen der Partei und den Be-
haben: „So geht das nicht.“ Keller gerutscht sind. Aber der Gastgeber suchen bei den Ortsverbänden kommen die
Merkels heutiges Aussehen entstand des Gipfels ist der chinesische Präsident Rücksprachen mit den Ministern, die Tref-
nach und nach, im Ausschlussprinzip. Al- Xi Jinping, und der hat vermutlich noch fen mit dem Kabinett und die unzähligen
les, was Aufsehen erregte, ließ sie bleiben. nie was von Mecklenburg-Vorpommern Anfragen für Reden und Grußworte, die
Man muss sich diese Entwicklung als gehört. man nur dosiert absagen kann. Von Sigmar
Kampf vorstellen: Will ich mir treu bleiben Am Abend, nach Terminen mit Recep Gabriel weiß man, dass er auch mal Termi-
oder Erfolg haben? Tayyip Erdoğan und Wladimir Putin, ne sausen lässt, wenn ihm alles zu viel wird.
Noch als Umweltministerin ließ sie sich wählt sie eine Nummer in Deutschland. Merkel führt ihren Kalender wie ihre Poli-
vor Fernsehauftritten nicht abpudern, zum Dort ist es kurz nach fünf Uhr nachmittags, tik: Sie zögert lange, bevor sie etwas zusagt.
Leid ihrer Berater, die ihr sagten, sie sehe und alle Umfragen für Mecklenburg-Vor- Aber die Zusage steht.
dann halt leider aus wie eine Leiche. pommern sagen, dass die CDU und die Als Merkel noch neu im Amt war, klin-
Als Merkel prominenter wurde, stapel- AfD nahezu gleichauf liegen. Sie telefo- gelte an einem Sonntag das Handy von
ten sich in der Parteizentrale Briefe von niert mit Horst Seehofer, der sie wegen ih- Ulrich Wilhelm, dem damaligen Regie-
Imageberatern, die sich an ihr ausprobie- rer Flüchtlingspolitik angegriffen hat wie rungssprecher. „Sie sind jetzt mein 35. Te-
ren wollten. Sie hat keinem geantwortet, sonst nur die Leute von der AfD. lefonat an diesem Wochenende“, sagte
aber dass sie sich verändern muss, wenn Seehofers Laune schwankt zwischen Merkel. Es war keine Klage, eher eine ver-
sie nicht immer wieder Thema von Stil- Genugtuung und Entsetzen. „Du, ich kann wunderte Feststellung.
kolumnen sein will, hat sie verstanden. jetzt erst einmal gar nichts sagen. Ich bin Freude, sagt ein ehemaliger Minister,
Männer tragen ihren Anzug wie eine geplättet“, sagt er. bereite die Macht erst am Abend, wenn
Uniform. Es gibt Manager, die sich von Wenn es einen Moment gab, in dem al- der Druck des Tages weiche.
dem gleichen Modell gleich zehn Stück les ins Rutschen kam, dann dieser. Alles Am Abend, wenn die mit Akten bewaff-
kaufen, damit die Kleiderfrage ein für alle so lange unter Kontrolle – und nun das. nete Armee aus fast 600 Mitarbeitern nach
Mal erledigt ist. Merkel hält das inzwi- Hause gegangen ist, zeigt sich die wahre
schen ähnlich. Sie trägt meistens eine Größe des Kanzleramts. Der Wind rüttelt
schwarze Hose und Blazer, die nur in der Der Abend wie einst Schröder am Haus, als wollte er
Farbe variieren. Ihr erster Weg am Morgen Von außen sieht das Kanzleramt aus rein. Man geht allein durch lange Flure,
im Kanzleramt führt zu ihrer persönlichen wie eine Burg und von innen wie ein und es würde einen nicht wundern, wenn
Visagistin. „Sie legt ihre Maske auf“, heißt Kartenhaus, sagt einer, der viele Jahre die alten Kanzler aus ihren Bildern im
das bei ihren Leuten. dort gearbeitet hat. Die Büros sind über- ersten Stock sprängen, um kettenrasselnd
Danach fühle sie sich für den Tag ge- einandergeschachtelt, in jedem kleinen durch die Gänge zu ziehen.
rüstet. Schächtelchen sitzt jemand. Es ist meist Gegen so ein Gefühl hilft Gesellschaft.
Merkel ist die meistfotografierte Frau still, nur manchmal weht der Wind „Toch- Im Frühjahr 2006 bittet Merkel Jürgen
Deutschlands und hat in den vergangenen ter Zion“ in die Schächtelchen, gespielt Klinsmann, Oliver Bierhoff und Franz Be-
zwölf Jahren etwas geschafft, was sonst von einer Blaskapelle. Dann weiß man, ckenbauer ins Kanzleramt. Es sind Freun-
nur der Queen gelang: Sie sieht auf allen bald ist Weihnachten und wieder ein de von Schröder und Fremde für Merkel.
Bildern gleich aus. Nichts löst mehr Irrita- Jahr vorbei. Bald steht die Weltmeisterschaft an.
tion aus. Nicht ihr Aussehen, nicht ihre Oben, im siebten Stock, ist Merkels Ob ein Essen im Kanzleramt gelingt, er-
Grußworte, nicht ihre Neujahrsanspra- Büro. Als sie dort einzog, hat sie ein Bild kennt man nach dem Dessert. An diesem
chen, die man sich am Stück ansehen von Konrad Adenauer aufhängen lassen, Abend, so erzählt einer, der dabei war,
kann, ohne eine Ahnung davon zu bekom- Schröders Schreibtisch durfte bleiben. Ge- beginnen die Männer nach dem Nachtisch,
men, welches Jahr gerade ist. Merkel wur- wöhnen konnte sie sich an ihn nie. Er ist unruhig zu werden.
18 DER SPIEGEL 12 / 2017
Deutschland

Merkel sagt: „Herr Beckenbauer, was


würden Sie jetzt machen, wenn Schröder
noch hier wäre?“
Beckenbauer: „Dann würden wir jetzt
eine Zigarre kommen lassen.“
Merkel: „Könnten wir Herrn Becken-
bauer eine Zigarre kommen lassen? Was
würden Sie noch machen?“
Beckenbauer: „Wir würden eine schöne
Flasche Rotwein vom Chirac öffnen.“
Merkel: „Könnten Sie uns den Rotwein
bringen?“
Als die Zigarre angesteckt und die Fla-
sche geöffnet war, entspannte sich die Run-
de. Es wurde ein Abend, an dem Merkel
Schröders Freunde für sich einnehmen
konnte.
Anfangs füllten sich die Abende von
selbst mit Leben. Als Schröder abgewählt
war, besetzte die Union den Regierungssitz
wie einst verlorenes Land. Jeder CDU-Ab-
geordnete wollte einer Delegation aus dem

MAURICE WEISS / OSTKREUZ / DER SPIEGEL


Wahlkreis endlich das eroberte Gebäude
präsentieren. Als Kanzler kann man ein-
laden, wen man will, er wird kommen.
Merkel richtete Abendessen für Schau-
spieler und Künstler aus, für Kardinal
Walter Kasper, für „Focus“-Chefredakteur
Helmut Markwort.
Schriebe ein Soziologe eine Arbeit mit
dem Titel „Was für Menschen waren
Deutschlands Kanzler?“, würde er in der
Nacht fündig werden.
Willy Brandt versuchte, seine Depres-
sion zu verscheuchen. Einmal sagte er ei-
nem Parteifreund über eine besonders
schwere Nacht: „Wenn ich einen Revolver
gehabt hätte, hätte ich mich erschossen!“
Kurt Georg Kiesinger stieg um vier Uhr
nachts aus seinem Bett, um die Beschwer-
nisse des Tages in Gedichte zu gießen.
Helmut Kohl verachtete den Bonner
Kanzlerbungalow. Die 3600 Mark Miete
im Monat seien „sehr teuer“, die Räume
zu klein. Er ließ eine bombastische Licht-
anlage installieren, in deren Schein er
abends seine Berater versammelte, damit
sie ihm Stichworte geben konnten für
Geschichten, die alle schon auswendig
kannten.
Gerhard Schröder, der erste Kanzler im
neuen Berliner Kanzlerbau, mietete die
Kanzlerwohnung im achten Stock für etwa
500 Euro. Die Wohnung hat einen großen
Repräsentationsbereich und ein kleines
Schlafzimmer. Vier bis fünf Nächte pro
Woche verbrachte Schröder dort.
Schröder hatte morgens schlechte Laune
und lief abends zur Höchstform auf. Er
MAURICE WEISS / OSTKREUZ

lud gern Leute ein, um die Einsamkeit zu


verscheuchen. Die Rothschilds kamen zum
Essen, und manchmal hörte man aus dem
obersten Stockwerk Männer laut fluchen:
Schröder, der Maler Markus Lüpertz, der
Manager Jürgen Großmann und Innen-
CDU-Vorsitzende Merkel*, Kabinettstisch mit Kanzlerglocke
Tag wie ein Korsett * Beim politischen Aschermittwoch in Demmin.

DER SPIEGEL 12 / 2017 19


Deutschland

minister Otto Schily saßen im Dämmer- ein Wendepunkt war. Ackermanns Plau- diskutiert, ob sie weitermachen solle. Er
licht mit gelockerter Krawatte und klopp- derei hat die Unschuld aus den Abenden gibt einem das Gefühl, dass jede Frage die
ten Skat. vertrieben. Merkel musste beginnen, die Aufforderung zum Verrat sei. Am Ende,
In Merkels Amtszeit wurden die Aben- Abende zu kontrollieren wie die Tage. Sie als er sich schon zum Gehen wendet, sagt
de zum ersten Mal für einen Kanzler ein wurden stiller. er, einen Satz über Merkel dürfe man doch
öffentliches Problem. zitieren: „Angela Merkel ist eine Frau mit
Am 22. April 2008 feiert Josef Acker-
mann, der Chef der Deutschen Bank, im Das Misstrauen einem großen Pflichtbewusstsein.“
Wenn man zehn Menschen fragt, die
Kanzleramt seinen 60. Geburtstag nach. Das Vier Jahreszeiten in Hamburg ist ein Angela Merkel kennen, ob sie über sie re-
Merkel lässt ihn Teile der Gästeliste be- Ort, der zu Klaus von Dohnanyi passt. Der den möchten, sagen sieben sofort Nein,
stimmen. Das macht sie manchmal, um Holzboden ist schwarz-weiß gemustert, die ohne überhaupt die Fragen zu kennen. Sie
mit Menschen in Kontakt zu kommen, die Wände sind vertäfelt, man sitzt an Tischen sagen, dass sie in den nächsten Monaten
sie sonst nicht treffen würde. Ackermann mit gestärkten Decken und blickt auf die keinen einzigen freien Termin hätten.
lässt den Bankier Friedrich von Metzler, Alster. Manche behaupten, sie nie persönlich ge-
„Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann und Dohnanyi war Staatssekretär, Bundes- troffen zu haben. Andere sagen, dass sie
den Moderator Frank Elstner auf die Liste minister, Erster Bürgermeister von Ham- Angst vor ihr hätten.
setzen. Ackermann ist zu dieser Zeit einer burg. Er ist einer der engsten Freunde Angst?
der wichtigsten Manager des Landes und Merkels, sie feiern zusammen Silvester. Er Ist Angst nicht ein etwas großes Wort?
ein Freund der Kanzlerin. und seine Frau, die Schriftstellerin Ulla Im Gegenteil, sagt einer der zahlreichen
Es war ein ruhiger Abend im Kanzler- Hahn, sind wie Merkel und ihr Mann Joa- Namenlosen. Bei Merkel sei es wie von
amt. Kein Vergleich zu Ackermanns eige- chim Sauer Opernliebhaber. Dohnanyi ist Hugo von Hofmannsthal beschrieben: „Sie
ner Party, bei der Udo Jürgens sang und 88 Jahre alt und immer noch scharfsinnig. kann töten, ohne zu berühren.“
bis zum Morgen gefeiert wurde. Bei dem Er spricht gern über Politik, man kann mit Merkel kaufte ihre Blazer lange bei der
Essen gab es nur einen kleinen Aufreger: ihm über Trump reden, über den Zustand Berliner Designerin Anna von Griesheim.
Ein Gast hatte kurz zuvor geheiratet und der SPD, über Putin. Er kann sehr un- Nachdem sie Kanzlerin wurde, tauchten
soll Merkel leicht beleidigt gefragt haben, gnädig werden, wenn man nicht bereit ist, immer mehr Artikel auf, für die Griesheim
warum seine Frau nicht eingeladen worden seinen Argumenten zu folgen. harmlose Zitate geliefert hatte. Merkel
sei. „Mein Mann ist ja auch nicht da“, habe Es ist nicht ganz leicht, einen Mann, der ärgerte sich darüber. „Griesheim flog,
Merkel erwidert, erinnert sich ein Teilneh- so hanseatisch auftritt wie Dohnanyi, nach weil sie zu viel gequatscht hat“, heißt es
mer der Runde. seiner Freundschaft mit der Kanzlerin zu in Merkels Umfeld. Heute kauft sie lieber
Gut ein Jahr später, am 11. August 2009, fragen. Er rede mit Merkel selten über bei der Hamburger Designerin Bettina
lief im ZDF die Dokumentation „Kanzle- Politik, er habe mit ihr auch nicht darüber Schoenbach.
rin Merkel“. Sie sprach dort über sich, was
sie sonst nur dosiert tut, aber es war gerade
Wahlkampf. In dem Beitrag tauchte auch
Ackermann auf.
Er sagte, stolz lächelnd: „Sie hat mir da-
mals gesagt, sie würde gern etwas für mich
tun. Ich solle doch einmal etwa 30 Freunde
und Freundinnen einladen, aus Deutsch-
land und der Welt, mit denen ich gerne
einen Abend zusammen sein würde, im
Kanzleramt. Und ich muss Ihnen sagen,
es war ein wunderschöner Abend.“
Es waren nur drei Sätze, aber sie be-
stimmten die folgenden Wochen. Merkel
habe Ackermann eine „Geburtstagsfeier
auf Staatskosten“ spendiert, titelte eine Zei-
tung. Wochenlang schrieben Medien über
den Steuerzahler, der Ackermann und seine
Freunde durchfüttern müsse. Die Finanz-
krise war gerade erst durchgestanden und
der Ruf der Banker angeschlagen. Merkel
verteidigte sich. Es habe sich nicht um eine
Geburtstagsparty gehandelt, sondern um
ein „Abendessen im Umfeld des Geburts-
tags“. Es half ihr nichts. Der Foodwatch-
Gründer Thilo Bode und eine Rechtsanwäl-
tin klagten erfolgreich, das Kanzleramt
musste später die Gästeliste und die Tisch-
MAURICE WEISS / OSTKREUZ

ordnung des Abends herausgeben, darüber


hinaus die Rede der Kanzlerin und die
Rechnung über den Kauf der Zutaten:
Kalbsrücken für 138,27 Euro, Spargel für
303,20 Euro, Erdbeeren für 20,96 Euro.
Wenn man mit Vertrauten Merkels
spricht, wird einem klar, dass dieses Essen Treppenaufgang im Kanzleramt: Außen eine Burg, innen ein Kartenhaus

20 DER SPIEGEL 12 / 2017


Wer aus vertraulicher Runde spricht, wird es bereuen.
Sie wird sich einfach zurückziehen.
Josef Ackermann war nicht mehr zu Klaus von Dohnanyi, der Sänger Wolf „Das ist immer das Dilemma“, sagt er
Gast bei Merkel, nachdem er mit seiner Biermann. noch. „Wie hört man auf?“
Nähe zur Kanzlerin geprahlt hatte. Wenn Wolfgang Schäuble über Merkel
Als der Journalist Mainhardt Graf von
Nayhauß 2006 zum ersten Mal über Mer-
redet, zuckt er mit den Schultern und sagt:
Sie ist halt so. Er hat sich immer eine kri-
Die Nacht
kels Visagistin berichtete, war bei der tische Distanz zu ihr bewahrt, auch wenn Es gibt Menschen, die sie nicht loswird,
nächsten Auslandsreise kein Platz mehr er die Dinge nie auf die Spitze getrieben mit denen sie sich arrangieren muss. Horst
für ihn im Kanzlerjet frei. hat. Bevor sie erklärte, dass sie noch ein- Seehofer sitzt an einem Tisch mit Blick
Manche versuchen, sich die Erlaubnis mal antreten werde, besprach sie sich auch auf das Regierungsviertel. Er sagt: „Sie
zu holen, mehr zu sagen. Wenn sie im mit ihm. „Ich habe ihr gesagt, Sie müssen will natürlich nicht, dass ich über Dinge
Kanzleramt nachfragen, ob sie eine private das machen.“ Aber er hatte nicht den Ein- spreche, die wir untereinander besprochen
Anekdote preisgeben dürfen, bekommen druck, dass das noch wichtig war. Sie war haben.“ Einmal habe sie ihm gesagt: „Muss
sie eine Mail: „Das schätzt sie nicht.“ ohnehin schon entschieden. das sein, immer mit den Medien reden?“
Wer doch plaudert, kommt nicht wieder „Ich bin kein enger Vertrauter“, sagt Angela Merkel und Horst Seehofer
an Merkel ran. Man darf sie in der Flücht- Schäuble. Sie kennen sich jetzt seit über brauchen einander, der eine würde ohne
lingskrise kritisieren, man darf ihre Euro- 25 Jahren und siezen sich noch immer. den anderen untergehen. Seehofer ist nach
politik angreifen, das sieht sie zwar nicht Schäuble sagt, er duze sich nur noch mit langen Verhandlungsnächten im Kanzler-
gern, aber es rechtfertigt noch keinen Aus- Leuten aus seiner Generation, und Merkel amt oft der letzte Gast. Er fährt dann mit
schluss aus ihrem Kreis. Wer aber aus ver- sei eben über zehn Jahre jünger als er. Merkel im Fahrstuhl nach unten, manch-
traulicher Runde spricht, wird es bereuen. Schäuble hat schon dem späten Kohl die mal lästern sie noch ein bisschen, dann
Sie wird sich einfach zurückziehen. Meinung gesagt. Er ist jetzt 74 Jahre alt verabschieden sie sich, per Handschlag.
Geblieben sind ein paar wenige, die sich und will sich nicht mehr ändern. „Ich bin Nur einmal habe sie ihn umarmt, nach der
an die Regeln halten. Fraktionschef Volker eher kritisch, und im engeren Umfeld er- gewonnenen Wahl 2013. Ob sie Freunde
Kauder, Kanzleramtsminister Peter Alt- fährt sie ja wenig Widerstand“, sagt er. sind? Seehofer überlegt.
maier, die Medienberaterin Eva Christian- Wie es eben oft so ist, wenn man schon Es gibt eine Geschichte, die ihr Verhält-
sen, ihre Büroleiterin Beate Baumann, lange an der Macht ist. nis besser beschreibt als das Wort Freunde.
Vor anderthalb Jahren, die Flüchtlingskrise
fand gerade ihren Höhepunkt, schickte er
ihr nachts um drei eine SMS. Da stand,
dass er nicht schlafen könne angesichts
dieser Krise, dass er sich große Sorgen ma-
che. Die Kanzlerin antwortete morgens
um sechs. Sie mache sich auch große Sor-
gen. Im Übrigen habe sie seine SMS schon
um drei gesehen, aber erst am Morgen ant-
worten wollen.
Bei Shakespeare können die Könige
nicht schlafen, aus Sorge, dass das Reich
zerfällt oder die Feinde sie stürzen. Stalin
ließ sein Büro nicht dunkel werden. „Im
Kreml brennt noch Licht“ bedeutete:
Stalin arbeitet immer, er braucht keinen
Schlaf, er ist nicht von dieser Welt. Die
Konkurrenz der Mächtigen darum, wer
weniger Schlaf braucht, gibt es seit Ewig-
keiten.
Tony Blair sagte Merkel einmal, Politi-
ker stürzten manchmal, weil ihnen in der
Krise die entscheidenden zwei Stunden
Schlaf fehlten.
Viele Politiker geben in Interviews
MAURICE WEISS / OSTKREUZ / DER SPIEGEL

damit an, dass sie mit wenig Schlaf aus-


kämen. In Amerika hat der Präsident so
gut wie keine Abendtermine, dennoch sag-
te Obama immer, dass er nur fünf Stunden
schlafe. Es scheint, als wäre Schlaflosigkeit
ein anderes Wort für Disziplin.
Merkel sei ein „Nachttier“, sagt jemand,
der oft bei langen Verhandlungsnächten
im Kanzleramt dabei ist. Er sagt: „Sie gibt
Uckermark-Landschaft: Wo Frau Merkel mal Frau Merkel sein darf nie als Erste auf.“ Bei Koalitionsverhand-
DER SPIEGEL 12 / 2017 21
lungen wolle Gabriel meist früh zurück
nach Goslar. Ein wenig später sage Volker
Kauder manchmal: „Das war ein harter
Tag, wollen wir Schluss machen?“ Von
Merkel ist so etwas nicht überliefert.
Kein anderer Kanzler hat so viele Näch-
te durchverhandelt. Es gibt Fotos aus der
Nacht der Opel-Rettung im Mai 2009:
Fiat-Chef Sergio Marchionne, der müde
abwinkt, der rauchende Außenminister
Frank-Walter Steinmeier, Merkel mit ei-
nem Glas Rotwein.
In Minsk suchten die Verhandler 2015
einen Ausweg aus der Ukrainekrise. Es
dauerte 17 Stunden, bis Merkel, Putin,
Poroschenko und Hollande eine Waffen-
ruhe vereinbaren konnten. Nächte sind
Wettkämpfe. Wer zu Bett geht, kann sich
auch gleich mitten auf einem Schlachtfeld
hinlegen.
Merkel hat in den vergangenen Jahren
nur einmal den Fehler gemacht, zu früh
ins Bett zu gehen. Am 28. Juni 2012 treffen
sich im Brüsseler Ratsgebäude die Staats-
und Regierungschefs Europas. An diesem
Abend wird der Zugang zum Euro-

STEFAN BONESS / IPON


rettungsfonds verhandelt. Italiens und Spa-
niens Ministerpräsidenten Mario Monti
und Mariano Rajoy wollen leichter an das
Geld kommen, Merkel möchte das verhin-
dern. Nach 15 Stunden Verhandlung geht
Merkel mit der Überzeugung aus dem
Raum, sie habe einen guten Kompromiss
gefunden. Sie fährt in ihr Hotel in der
Brüsseler Altstadt und legt sich hin.
Monti dagegen stellt sich vor die Presse.
Er habe Großes für Italien erreicht.
Als Merkel am nächsten Morgen auf-
wacht, hat sich bereits die Deutung durch-
gesetzt, dass Deutschland über den Tisch
gezogen worden sei.
Danach ist Merkel in Brüssel nie mehr
zu Bett gegangen, ohne vorher noch ein-
mal vor die Presse getreten zu sein.

Die Fluchten
Wo immer Merkel war, bleibt ein Teil
von ihr zurück, wie ein Fingerabdruck.
Jedes Restaurant, in dem sie mal war,
hat eine neue Zeitrechnung: T. n. M., Tage
nach Merkel.
Der Wirt des Cassambalis nahe dem
Ku’damm sagt, sie sei vor zehn Tagen da
gewesen. Er glaubt, mit Kauder. Im Bor-
chardt sah man sie vor ein paar Wochen
MAURICE WEISS / OSTKREUZ / DER SPIEGEL

mit dem kanadischen Premierminister


Justin Trudeau.
„Sie verlässt das Kanzleramt gern, sie
will auch mal ein normales Leben“, sagt
eine Mitarbeiterin.
Was heißt das, normal?
An einem Tag im Frühsommer 2013 will
Angela Merkel nur im Publikum sitzen.
Im Deutschen Theater in Berlin liest der
Gesprächspartner Gabriel, Merkel, Merkels Lieblingsplatz im Restaurant Cassambalis Schauspieler Ulrich Matthes am Abend
Sie geht nie als Erste Schiller-Balladen. An diesem Abend ist
22 DER SPIEGEL 12 / 2017
Deutschland

der Saal beinahe voll besetzt, als in letzter Joachim Sauer ein Bügelbrett in seinem planen, dass sie am Abend zu Hause sein
Minute die Kanzlerin mit Joachim Sauer alten Auto, was sofort als Hinweis dafür kann. Merkel schläft gern in ihrem eige-
reinschlüpft. Menschen, die dabei waren, galt, er ziehe aus. Merkel könne darüber nem Bett, wie die meisten Mächtigen, und
erzählen später, wie nach und nach die lachen, was das wohl für ein Mann sein weil das Flugzeug immer wartet, seit sie
Nachricht durch die Reihen geht, wie im- muss, der mit seinem Bügelbrett von zu Kanzlerin ist, lässt sich das meist ein-
mer, wenn ein Star den Raum betritt. Hause ausziehe. richten.
Ist sie das? Das ist sie doch. Ist das ihr Sie erzählen von Merkels Verlust der Angela Merkel war darüber erstaunt,
Mann? Privatsphäre. Ihr Terminkalender habe nur dass Martin Schulz plötzlich einen solchen
Matthes bittet bei solchen Abenden gern einen halben Tag Trauer für ihren Vater Erfolg hat. Wenn man sie nach seinem
Leute nach vorn, um ein paar Zeilen vor- zugelassen. Talent fragt, die Menschen anzusprechen,
zutragen: Ihre Wohnung sei neben ihrer Datsche antwortet sie nicht direkt.
in der Uckermark der „einzige Ort, an dem Sie habe in ihrer Jugend viel darüber
Und nimmt aus einem schwarzen Frau Merkel Frau Merkel sein kann“, sagt nachgedacht, wer sie eigentlich sein wolle.
Becken / Noch blutig, zu der eine Freundin. Es gibt nur wenige Men- Sie habe davon geträumt, Balletttänzerin
Beiden Schrecken / Ein wohl- schen, die mal bei ihr zu Hause eingeladen zu werden oder Turnerin. Aber irgend-
bekanntes Haupt empor. waren. Wolfgang Schäuble war nie da, wann habe sie erkannt, wo ihre Talente
auch nicht ihr ehemaliger Generalsekretär lägen und wo nicht.
An diesem Abend findet er nur mit Not Hermann Gröhe, nicht mal ihr Sprecher Ich bin, wie ich bin, soll das wohl hei-
jemanden, der auf die Bühne will. Die An- Steffen Seibert. ßen.
wesenheit Merkels lässt das Publikum ver- Wer da war, sagt, sie und ihr Mann Ihre Leute warnen, sie möge es nicht,
zagen. lebten ganz und gar unprätentiös, wie wenn allzu viel in sie reininterpretiert
Sie mag es nicht, wenn Menschen in ih- Studenten. werde.
rer Gegenwart befangen sind. Das ist nur Die Geschichten, die die Freunde von „Sie will sich einfach schützen“, sagt
einer der vielen Ansprüche an ihre Ver- Merkel erzählen, sind Geschichten, die eine Bekannte. Wenn man mit Menschen
trauten. nicht nach der Kanzlerin klingen. Wenn über Merkel spricht, hat man irgendwann
Die wenigen, die sie noch um sich hat, die Person ganz hinter dem Politiker ver- das Bild eines Ritters im Kopf, der immer
die nichts falsch gemacht haben, die nicht schwindet, hat er es vielleicht mit der Kon- mehr Rüstung angelegt hat und dem Brust-
unbedacht plaudern, die ihr nicht die trolle übertrieben? panzer, Beinschutz, Armschutz, Helm und
Macht streitig machen wollen und von ihr Von Martin Schulz weiß man, dass er Visier am Leib festgerostet sind. Er kann
nicht verlangen, dass sie ihnen einen Ge- zweimal sitzengeblieben ist, Alkoholiker sich kaum mehr bewegen. Man kann ihn
fallen tut, diese Ausnahmeerscheinungen war und sich mal das Leben nehmen nicht mehr erkennen. Er wirkt nicht bereit
kennen eine andere Merkel. wollte. für einen Krieg. Oder einen Wahlkampf.
Eine Merkel, die über Politik lachen Merkel wird schon ungehalten, wenn Aber vielleicht ist das auch zu viel rein-
kann. Die mit russischem Akzent Putin man sie fragt, ob sie das Gefühl habe, dass interpretiert.
nachmacht: „Angela, ich werfe meine Ra- die Kanzlerjahre im Vergleich zu ihrer Zeit Neulich, im NSA-Untersuchungsaus-
keten auf dich!“ Oder Sarkozy: „Angela, als Wissenschaftlerin in der DDR an ihr schuss, setzte sich Merkel in einem orange-
I love you, but I love my beautiful wife vorbeigerast sind. farbenen Blazer hinter das Schild „Dr. An-
more.“ Am 3. März sitzt Merkel im Flieger zu- gela Merkel – Zeugin“. Als sie nach ihrem
Sie erzählen, wie sie sich darüber amü- rück nach Berlin. Sie war in Ägypten und Namen gefragt wurde, rutschte ihr aus
siert, dass ihr Dekolleté in Oslo so ein Tunesien, um über Lösungen in der Flücht- Versehen ihr Mädchenname raus, Angela
Thema war – und auch über die Gerüchte, lingsfrage zu sprechen. Im Flugzeug ist es Dorothea Kasner. Als sei auch ihr kurz
die es über sie gibt. Einmal verstaute dunkel geworden. Sie lässt Dienstreisen so entfallen, wer sie ist. I

Was dich bewegt. Reportagen aus Europa.


Montag bis Freitag 19:45 auf ARTE und jederzeit im Netz.
@arteRe /REbyARTE arte.tv/re
Deutschland

„Wir pöbeln nicht zurück“


Außenpolitik Minister Sigmar Gabriel, 57, will im Streit mit der Türkei klare Grenzen ziehen.
Langfristig plädiert er für eine privilegierte Partnerschaft des Landes mit der EU.

SPIEGEL: Herr Gabriel, wie lange will sich SPIEGEL: Die deutsche Zurückhaltung hat Gabriel: So respektlos und ungehörig das ist:
die Bundesregierung noch vom türkischen nicht viel gebracht, Erdoğan hat der Bun- Ich rate zur Gelassenheit – auch wenn das
Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan be- desregierung Nazimethoden vorgeworfen. schwerfällt. Wir pöbeln nicht zurück, aber
schimpfen lassen? Gabriel: Leider ist es so, dass autoritäre Per- wir ziehen klare Grenzen. Wir haben der
Gabriel: Salopp gesagt: Wer mich beleidi- sonen dazu neigen, eine solche Haltung Türkei erlaubt, dass türkische Staatsange-
gen kann, den suche ich mir immer noch als Schwäche auszulegen, vielleicht fühlen hörige auf unserem Hoheitsgebiet über das
selbst aus. Ich gebe nicht jedem die Ehre, sie sich sogar dadurch bestätigt. Ich kann Verfassungsreferendum abstimmen dürfen,
das zu tun. Was da in den letzten Wochen jeden verstehen, der sagt: Warum haut ihr aber wir haben sehr klar zum Ausdruck ge-
gesagt wurde, ist so abenteuerlich und ab- da nicht mal auf den Tisch? Aber im Grun- bracht, dass wir jederzeit alle notwendigen
surd, dass es schwerfällt, überhaupt noch de sind solche Vorwürfe zu abwegig, um Maßnahmen ergreifen können und ergrei-
hinzuhören. Ich gebe zu: So leicht ist es sie wirklich ernst nehmen zu müssen. Eine fen werden, wenn sich Ankara nicht an die
leider nicht. Aber ich bin schon der Mei- Reaktion mit gleicher Münze nutzt Er- deutsche Rechtsordnung hält.
nung, dass wir nicht auf jede Provokation doğan doch nur im Wahlkampf. SPIEGEL: Was heißt das konkret?
mit einer Gegenprovokation antworten SPIEGEL: Inzwischen hat Erdoğan nachge- Gabriel: Es geht vor allem um die Wahl-
müssen. legt: Die Bundeskanzlerin greife die Türkei kampfauftritte türkischer Politiker. Para-
SPIEGEL: Aber nicht darauf zu reagieren so an wie die niederländische Polizei, die graf 90a unseres Strafgesetzbuches stellt
stärkt Erdoğan erst recht. mit Hunden und Pferden gegen türkische die Verunglimpfung der verfassungsmäßi-
Gabriel: Im Gegenteil. Wenn wir auf die Demonstranten vorgegangen sei. gen Ordnung Deutschlands unter Strafe.
Provokationen immer mit voller Härte rea-
gieren, hilft das nur dem türkischen Präsi-
denten, der für seinen Wahlkampf ein
Feindbild braucht: hier die gedemütigte
Türkei und dort der hochmütige Westen.
Genau dieses Freund-Feind-Schema soll-
ten wir nicht bedienen.
SPIEGEL: Also ist das Einreiseverbot der nie-
derländischen Regierung ein Fehler?
Gabriel: Im Endspurt eines engen und heiß
umkämpften Wahlkampfs waren unsere
niederländischen Partner in keiner einfa-
chen Lage. Und leider hat auch die türki-
sche Seite überhaupt nichts für eine De-
eskalation getan. Ausgerechnet die Nie-
derlande in die Nähe eines faschistischen
Staates zu rücken ist ein absolutes Unding.
Denn dieses liberale Land hat unter den
Mordbrennern der Nazis besonders gelit-
ten. Und nun auch noch die Sozialdemo-
kraten der Niederlande damit gleichzuset-
zen, zeigt leider nur, dass man jeden Tief-
punkt in der politischen Kultur immer
noch unterbieten kann.
SPIEGEL: Finden Sie es auch richtig, dass
Österreich Auftritte ablehnt?
Gabriel: Vielleicht möchte mein österrei-
chischer Kollege mit der Türkei nichts an-
deres machen als der türkische Präsident
mit Europa: nämlich das schwierige Thema
der Beziehungen Europas mit der Türkei
MAURICE WEISS / OSTKREUZ / DER SPIEGEL

instrumentalisieren, um daraus innenpoli-


tisch Kapital zu schlagen. Das ist eine sehr
kurzsichtige Politik. So etwas dürfen Ge-
neralsekretäre von Parteien vielleicht ge-
rade noch tun, Staatsmänner nicht. Ob es
uns gefällt, was Herr Erdoğan macht, oder
nicht: Die Türkei ist ein Nachbar Europas.
Wir werden auch am Tag nach dem Refe-
rendum noch mit der Türkei umgehen müs-
sen und die Türkei mit uns. Außenminister Gabriel: „Wer mich beleidigen kann, den suche ich mir immer noch selbst aus“

24 DER SPIEGEL 12 / 2017


SPIEGEL: Erdoğan hat bereits dagegen ver- weiß, wie sehr sie gerade uns Deutschen
stoßen. zugetan sind. Wir haben Millionen türkei-
Gabriel: Ich habe meinen türkischen Ge- stämmiger Menschen hier bei uns in
sprächspartnern gesagt: Wenn das so wei- Deutschland. Tolle Menschen. Sie sind
tergeht, kann eine neue Lage entstehen. längst nicht mehr Gastarbeiter, sondern
Man darf Deutschland und allemal auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes.
deutsche Politik kritisieren, auch hart. Aber Wir dürfen nicht zulassen, dass der türki-
es gibt Grenzen, die uns unsere eigenen Ge- sche Wahlkampf uns entfremdet. Gerade
setze setzen. Auch das Strafgesetzbuch. Die- jetzt brauchen wir eher eine Umarmung
ser Paragraf 90a ist eine solche Grenze. Wer der Türkinnen und Türken in Deutschland.
diese Grenzen überschreitet, darf nicht da- Wir müssen ihnen sagen: Wir sind euch

ABACA PRESS / DDP IMAGES


von ausgehen, dass er bei uns seine politi- dankbar dafür, dass ihr unser Land mit
schen Vorstellungen propagieren darf. Nicht aufgebaut habt.
nur die Türkei, sondern auch Deutschland SPIEGEL: Hatten Sie je das Gefühl, die Tür-
hat Anspruch auf Respekt. kei gehört in die EU?
SPIEGEL: Warum lassen Sie zu, dass Erdoğans Gabriel: Ich habe immer Zweifel gehabt,
Abgesandte hierzulande für die Abschaf- war aber in der SPD eher in der Minder-
fung der türkischen Demokratie werben? Präsident Erdoğan heit. Ich habe das mit Erdoğan – damals
Gabriel: Dass die Türkei mit dem Referen- „Nicht das Freund-Feind-Schema bedienen“ war er noch Ministerpräsident – ein paar-
dum ihre Demokratie beerdigt, sagt bei al- mal diskutiert. Ich habe ihm gesagt, dass
ler leider allzu berechtigten Kritik nicht und für unsere Kinder und Enkel sicher fol- sich die EU nach meinem Eindruck in ei-
mal die Venedig-Kommission des Europa- genreicher als die derzeitigen Beleidigungen. nem Zustand befinde, in dem jede Erwei-
rats. Präsidialsysteme, in denen das Staats- SPIEGEL: Erdoğan geht ziemlich rigoros vor, terung extrem schwierig wäre. Selbst dann,
oberhaupt Minister feuern oder per Dekret wenn es darum geht, den türkischen Ein- wenn die Türkei alle Anforderungen dafür
Gesetze durchboxen kann, gibt es auch an- fluss in Deutschland zu nutzen. erfüllen würde. Die EU selbst brauchte
derswo, zum Beispiel in Frankreich. Das Gabriel: Präsident Erdoğan hat es sich zu- erst mal eine grundlegende Reform.
heißt nicht, dass ich die Verfassungsände- nutze gemacht, dass sich viele Türkeistäm- SPIEGEL: Was hat Erdoğan geantwortet?
rungen für ungefährlich halte. mige bei uns letztlich nicht angenommen Gabriel: Er sagte, er wolle gar nicht zwin-
SPIEGEL: Was ist Ihre größte Sorge? und aufgenommen fühlen. Ein Beispiel aus gend aufgenommen werden, er wolle sich
Gabriel: Es ist die Zusammenschau der Maß- meiner Heimatstadt Goslar: Vor ein paar nur an den europäischen Standards orien-
nahmen in der angestrebten Verfassung, die Jahren stellte ich fest, dass in einem alten tieren, um sein Land zu modernisieren.
uns umtreibt. Unsere Sorge gilt vor allem Arbeiterstadtteil Wohnungen aufgekauft Die EU hat damals einen großen Fehler
der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhän- wurden, von Türken, die vorher größten- gemacht. Erdoğan hat es geschafft, auch
gigkeit der Justiz. Wenn die Türkei wirklich teils in Einfamilienhäusern in einem Neu- mithilfe der EU-Perspektive, das Militär
ein Rechtsstaat ist, wie Herr Erdoğan be- bauviertel wohnten. Da habe ich gefragt: aus der türkischen Politik zu drängen. In
hauptet, dann frage ich mich, wie er schon Wieso zieht ihr aus dem Einfamilienhaus dieser Situation hätte die EU das Verhand-
vor Beginn eines Gerichtsverfahrens wissen in eine Wohnung? Antwort: „Wissen Sie, lungskapitel Justiz und Grundrechte eröff-
kann und sagen darf, dass der in der Türkei wir haben alles versucht, aber wir haben nen müssen. Frau Merkel, die mit der FDP
inhaftierte „Welt“-Korrespondent Deniz keine Nachbarschaft gefunden. Hier haben regierte, sowie die Konservativen in Öster-
Yücel ein Terrorist und Spion sei. wir wieder Nachbarschaft.“ reich und in Frankreich haben das damals
SPIEGEL: In der CSU gibt es Forderungen, SPIEGEL: Wenn Sie also türkische Fahnen verhindert.
die deutschen Soldaten aus Incirlik abzu- auf Wahlkundgebungen in Deutschland SPIEGEL: Der ehemalige EU-Erweiterungs-
ziehen. sehen, denken Sie zuerst daran, dass wir kommissar Günter Verheugen wirft Angela
Gabriel: Und andere fordern gleich den Ab- Deutsche Fehler gemacht haben? Merkel vor, für die Entfremdung zwischen
zug unseres Botschafters. Was für ein Un- Gabriel: Es hat ja Gründe, warum es für Er- Europa und der Türkei mitverantwortlich
sinn! Wir brauchen die Türkei in der Anti- doğan so einfach ist, in Deutschland für zu sein, weil sie die Beitrittsverhandlungen
IS-Koalition, wir brauchen die Türkei in sich Wahlkampf zu machen. Wir haben es nicht ehrlich führte.
Syrien, wir müssen verhindern, dass sie zu nicht hinbekommen, denen, die hier seit Gabriel: Ich hielt Merkels Vorstellung einer
einem Störfaktor bei dem Versuch der Sta- 30, 40 Jahren arbeiten, die doppelte Staats- privilegierten Partnerschaft damals für
bilisierung Libyens wird. Ich darf daran er- bürgerschaft anzubieten. Ich habe mal ei- falsch, weil sich die Türken so nur als Eu-
innern, dass die Türkei nicht einmal aus der nen 63-jährigen Vater getroffen, der zeigte ropäer zweiter Klasse fühlen konnten.
Nato ausgeschlossen wurde, als sie in den auf seinen Sohn und sagte: Dem Jungen Heute ist die Situation durch den Brexit
Achtzigerjahren eine Militärdiktatur war. hier, der noch nichts geleistet hat, dem gibst eine völlig andere: Wir sind gut beraten,
SPIEGEL: So viel zur angeblichen Werte- du die deutsche Staatsbürgerschaft. Aber mit Großbritannien nach dem Austritt aus
gemeinschaft der Nato. ich, der ich hier seit 40 Jahren Steuern und der EU eine „special relationship“ hin-
Gabriel: Werte und Interessen stehen immer Sozialabgaben zahle, kriege sie nicht. Ich zubekommen. Das wird für die EU ein
wieder in einem schwierigen Spannungsver- darf nicht mal die Bürgermeister der Stadt wichtiger Lernprozess. Vielleicht kann ja
hältnis. In die Wertegemeinschaft hätte die mitwählen, in der ich seit Jahrzehnten lebe. langfristig manches davon als Blaupause
Türkei damals nicht reingehört. Aber auch SPIEGEL: Sie waren in erster Ehe mit einer dienen für andere Länder. Von einer EU-
damals wollten wir die Türkei nicht in Rich- Türkin verheiratet, wie stark ist Ihr Ver- Mitgliedschaft ist die Türkei heute jeden-
tung der alten Sowjetunion verlieren. Wir hältnis zur Türkei dadurch geprägt? falls weiter entfernt als je zuvor.
haben darauf gesetzt, dass die Militärdikta- Gabriel: Ja, das stimmt. Ich bin ein großer Interview: Christiane Hoffmann, Christoph Schult
tur wieder verschwinden wird. So ist es ge- Freund der Türkei. Die Türken sind zu gro-
kommen. Und auch heute kann es nicht un- ßen Gefühlen fähig, in beide Richtungen: Video: Die Karriere
ser Ziel sein, die Türkei aus der Nato und in zu großer Freundschaft und zu genauso von Sigmar Gabriel
Richtung Russland zu drängen. Die daraus großer Ablehnung. Ich mag dieses so lie- spiegel.de/sp122017gabriel
erwachsenen Probleme wären weit größer benswerte wie schwierige Land. Und ich oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 12 / 2017 25


Deutschland

PHILIPP REISS / DER SPIEGEL


AfD-Mitglied Buck: „Kein Geld für Schulen, aber ganz viel für Flüchtlinge“

Stachel im Fleisch
Parteien Die Sozialdemokraten haben Hunderttausende Wähler an die rechtspopulistische AfD
verloren. Kann Martin Schulz die Abgewanderten zurückholen?

E
r fühlt sich in die Enge getrieben. try und Alexander Gauland angeschlossen jedenfalls alarmiert. Denn es war vor allem
Verstoßen. Ausgemustert. Robert haben. die sozialdemokratische Traditionsklientel,
Buck greift zu seiner Tasse. Café Martin Schulz, der umjubelte Anwalt die sich davongemacht hat. In den abseits
noir, ohne Milch, ohne Zucker. Buck ist der kleinen Leute, will sie wieder zurück- gelegenen Vierteln deutscher Großstädte,
nervös. Er hat die Wohnung gewechselt, holen. Der Mann, der Angela Merkel im in Berlin-Marzahn, Duisburg-Marxloh, im
sich eine neue Mailadresse zugelegt, einen Herbst aus dem Kanzleramt vertreiben Mannheimer Stadtteil Neckarstadt-West
neuen Facebook-Account. Manchmal fühlt will, kämpft für alle, „die hart arbeiten und Köln-Chorweiler, wo die SPD noch
er sich verfolgt. Er ist Mitglied der AfD, und sich an die Regeln halten“, er wettert vor wenigen Jahren stark vertreten war,
und bei der linken Internetplattform Indy- gegen den „neoliberalen Zeitgeist“ und räumt heute die AfD ab.
media haben sie seine Adresse. tritt als selbst ernannter Vorkämpfer der Abgewandert sind die Abgehängten und
Bucks berufliche Welt ist der Check-in- „sozialen Gerechtigkeit“ auf. Die AfD hat Frustrierten, es sind aber auch „sich ausge-
Bereich des Hamburger Flughafens. Er ist das binnen Wochen in den Umfragen rund liefert fühlende Durchschnittsverdiener“,
Luftsicherheitsassistent, schiebt Handge- ein Viertel ihrer Wähler gekostet. Kann er wie das Kölner Institut der deutschen Wirt-
päck aufs Förderband, späht in Taschen, die Sozialdemokratie wieder mit ihrer schaft (IW) die AfD-Klientel in einer noch
tastet Hosenbeine ab. Kernklientel versöhnen? unveröffentlichten Analyse beschreibt. In
Buck, Pferdeschwanz, gestutzter Voll- Im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Zentra- jedem Fall solche, die nicht mehr an Politik,
bart, war mal ein Linker. Er reiste mit der le in Berlin, sind sie nicht so sicher. Zu tief Staat und Medien glauben. Schon bei der
Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend sitzt der Frust vieler Genossen. Zwar hat Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im
in die DDR, demonstrierte für Frieden und die SPD in den vergangenen vier Jahren Mai könnten diese früheren Traditionswäh-
gegen Waffenexporte, war in der SPD und weniger Wähler an die AfD verloren als ler Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und
der Gewerkschaft. Doch nun gehört er zu Union, Linkspartei und sogar die FDP. ihrer SPD entscheidende Prozente kosten.
jenen enttäuschten Sozialdemokraten, die Aber es sind Hunderttausende, das weisen Und auch die Gewerkschaften blicken
sich den Rechtspopulisten von Frauke Pe- interne Statistiken aus. Die Genossen sind besorgt auf die Sammlungsbewegung am
26 DER SPIEGEL 12 / 2017
rechten Rand. Beim DGB und bei den Ein- Grimm, 59, eckige Brille, Krawatte mit
zelgewerkschaften, insbesondere bei Ver.di Blumenmuster, empfängt in seinem holz-
und in der IG Metall, hat man erkannt, getäfelten Landtagsbüro im Schweriner
wie attraktiv viele Arbeitnehmer die Schloss. In der SPD reichte es nur für den
Rechts-Partei finden. „Ein nicht unerheb- Aufstieg bis zum Schatzmeister des Orts-
licher Teil“ der AfD-Wähler, heißt es sor- vereins. Die AfD aber eröffnete ihm, was
genvoll in einem DGB-Papier, seien „si- sie vielen möglich machte, die fit im Kopf
cherlich Gewerkschaftsmitglieder“. Und und flink mit der Zunge sind: eine Blitz-
auch die IG-Metall ist in Sorge. „Wird die karriere.
AfD gar eine Partei der ,kleinen Leute‘, Seit der Wahl in Mecklenburg-Vorpom-
eine bürgernahe Kümmererpartei?“, fragt mern im vergangenen Herbst, als die AfD
eine interne Analyse. aus dem Stand zweitstärkste Partei wurde,
Gut möglich, denn es gibt viele Robert sitzt er im Parlament. Er gehört zu jenen
Bucks in der AfD. Ehemalige Sozialdemo- AfD-Politikern, denen sich plötzlich eine
kraten, die das Gefühl haben, nicht mehr politische Laufbahn öffnete, die ihnen in
dazuzugehören. Die sich als Angehörige deutschen Traditionsparteien verschlossen
der „Abstiegsgesellschaft“ fühlen, wie der geblieben wäre. Es ist kein Zufall, dass die
Frankfurter Soziologe Oliver Nachtwey Zahl der Rechtsanwälte und Professoren

MAX BRUNNERT / DER SPIEGEL


das neue Proletariat genannt hat. unter den AfD-Mitgliedern und -Mandats-
Wenn man Buck beim Kaffee im Flug- trägern auffallend hoch ist.
hafen zuhört, kann man die Wut verstehen, Jahrzehntelang war Grimm treues SPD-
die Enttäuschung, die Entfremdung zwi- Mitglied. 2005, zum 25-jährigen Jubiläum,
schen denen da oben und den vielen bekam er eine Urkunde, unterzeichnet
Bucks, die sich unten fühlen in Deutsch- vom damaligen Parteichef Franz Müntefe-
land. Bei denen nichts ankommt vom stei- ring. „Für die vielen Jahre treuer Mitarbeit
genden Bruttoinlandsprodukt, von den bei der Verwirklichung unserer gesell-
sprudelnden Steuereinnahmen, die nichts schaftlichen Ziele danken wir.“ Grimm
haben von den Rekordbeschäftigungszah- schaut so regungslos auf das Papier, als
len, die die Statistiken ausspucken. wäre es ein Zahlungsbefehl vom Finanz-
Im Sicherheitsgewerbe, im Pflegebe- amt.
reich, in der Reinigungsbranche: „Überall Politisch ordnet sich Grimm noch immer
werden neue Hilfsberufe eingeführt“, sagt links ein, genauso wie die AfD. Er sagt:
Buck. Jobs, für die angelernte Kräfte „Die SPD kommt mir vor wie ein Seefah-
scheinbar ausreichen, die schlecht bezahlt rer, der seinen Kompass verloren hat.“ Er
und vielfach nur in Teilzeit vergeben wer- dagegen ist sich treu geblieben, hat Kurs
den. Und die Arbeitgeber? Die zahlen gehalten. „Mein Herz schlägt auch heute
zwar den Mindestlohn, wollen aber hohe noch links“, sagt er.
Flexibilität, wenig Mindeststandards und Leih- und Zeitarbeit? Will er lieber heu-
keine Ausbildungsberufe. Denn das hätte te als morgen abschaffen. Energiewende?
zwangsläufig höhere Löhne zur Folge. „Völlig vermurkst“, sagt Grimm. Er berich-
1700 Euro netto verdient Buck in seinem tet, wie sich ein Apotheker aus seinem Be-
Job. Damit kommt er über die Runden, kanntenkreis eine Solaranlage aufs Dach
PHILIPP REISS / DER SPIEGEL

aber für eine Wohnung in Hamburgs bes- gesetzt habe und damit bereits nach kurzer
seren Wohnvierteln reicht das nicht. Umso Zeit Gewinne erziele. „Und wer muss da-
mehr ärgert ihn, wie die Große Koalition für zahlen? Der kleine Mann“, sagt Grimm.
während der Flüchtlingskrise bereitwillig Nur, wie kann ein Linker in einer Partei
Milliarden für die Neuankömmlinge aus sein, in der viele mit nationalistischen und
dem Nahen Osten und Nordafrika bereit- völkischen Tönen auf Stimmenfang gehen?
gestellt hat. AfD-Mitglieder Reil, Grimm Die Leute wie Björn Höcke duldet, der
Es ist derselbe Ton, den vor einem Jahr „Ansammlung von Rebellen“ mit islamfeindlichen und antisemitischen
erst die AfD und dann SPD-Chef Sig- Parolen zündelt?
mar Gabriel angestimmt hatten. „Erst ist Grimm gibt sich alle Mühe, die radikale
kein Geld da für Schulen oder den Woh- Seite der AfD kleinzureden. Für ihn sind
nungsbau“, sagt Buck, „und dann haben das vernachlässigbare Flecken auf einem
wir plötzlich ganz viel übrig für die Flücht- ansonsten strahlend weißen Hemd. Zu den
linge.“ schrillen Tönen von Höcke sagt er: „Das
ist eine Sprache, die nicht meine ist.“
NACH 33 JAHREN WAR ES GENUG. 33 Jahre Wäre dann nicht Martin Schulz einer,
lang war Christoph Grimm Mitglied der der ihn überzeugen könnte? Ein Mann
SPD, ehe er Anfang 2013 zur AfD wech- ohne Allüren, mit einer anderen Sprache,
selte. „Die Sozialdemokraten haben sich einer anderen Glaubwürdigkeit? Der mit
immer weiter vom Volk entfernt“, sagt er. „Die SPD kommt einem seiner Kritik an befristeten Jobs und nied-
Da, wo SPD draufstehe, sei schon lange vor wie ein Seefahrer, rigen Löhnen die SPD wieder zur Arbei-
keine sozialdemokratische Politik mehr
drin. Er sagt es mit einer Selbstverständ-
der seinen Kompass terpartei machen will?
Grimm lacht bitter auf. Schulz stehe
lichkeit, als wäre es in jedem Schulbuch verloren hat.“ doch für genau das, weswegen er die SPD
nachzulesen. verlassen habe. Die verkrustete Politik der

DER SPIEGEL 12 / 2017 27


Deutschland

Altparteien. Die Unglaubwürdigkeit. Das


zeitweilige Eintreten für die Eurobonds.
Grimm hat nichts vergessen. Nicht einmal
der Schulz-Ansage, die Agenda-Politik kor-
rigieren zu wollen, traut er über den Weg:
„Ich halte das für sehr unglaubwürdig.“
Grimm redet jetzt wie ein Berufspoliti-
ker. Einer, der weiß, wie Auftritte insze-
niert werden und wie nah Euphorie und
Verdruss oft beieinanderliegen.
Der Aufschwung der SPD, sagt er, werde
wohl nur von kurzer Dauer sein.

ES WAR WILLY BRANDT, der Giselher Suhr


in die SPD führte. 1965 ist er als Student
in die Partei eingetreten, 20 Jahre alt war
er und Brandt sein Held. „Die Ostpolitik
war Teil meines Lebens“, sagt er.
Man kennt Giselher Suhr. 30 Jahre lang

HANNES JUNG / DER SPIEGEL


war der Journalist fürs ZDF eines der mar-
kanten Gesichter aus dem Osten Deutsch-
lands. Es war Kalter Krieg, es gab beim
ZDF den Rechtsnationalen Gerhard Lö-
wenthal, Suhr arbeitete im Studio Berlin,
dem „Roten Bunker“, wie es damals hieß.
Suhr berichtete aus Westberlin, aus Ost- AfD-Mitglied Suhr: Zu viele Leute, „die von der Politik leben, nicht für die Politik“
berlin, später aus Brandenburg, aus Sach-
sen-Anhalt. abweichler im ZDF, jetzt will er der Stachel verlassen hat. Bis heute fährt er als Steiger
Suhr wohnt in einem gediegenen Viertel im Fleisch der etablierten Politik sein. Die unter Tage, er ist Betriebsrat und seit Jah-
im Berliner Südwesten, großzügig geschnit- AfD habe „als themenbezogene Partei ren Mitglied des Stadtrats in Essen.
tene Wohnung mit umfangreicher Biblio- angefangen“, sagt Suhr. Doch ihre Themen Umso schmerzhafter war es für die SPD-
thek. 71 Jahre alt ist Suhr, scharf konturiert seien abgewehrt und ihre Protagonisten Führung in NRW, dass ausgerechnet einer
das Gesicht, er ist schlank geblieben, ausgegrenzt worden. Heute, sagt er, spiele wie er sein Parteibuch zurückgab. Einer,
raucht Kette. die Partei „die Rolle als Gesamtopposition“. der sich gewehrt hat, dem die Leute zu-
Die Enttäuschung über die SPD begann hörten. Dass er der Sozialdemokratie den
für ihn schon früh. Immer wenn er versetzt GUIDO REIL ist nicht nur das bekannteste Rücken kehrte, war auch ein Symptom:
wurde, streifte er an seinem neuen Stand- Gesicht all jener Sozialdemokraten, die So wie es für die SPD nahezu keine Ar-
ort durch die Ortsverbände. „Höchst frus- ihre Partei in Richtung AfD verlassen ha- beiter mehr im Bundestag gibt, schrumpft
trierend“ sei das gewesen, zu viele Leute ben. Er verkörpert zugleich den Bilder- ihre Zahl auch in der politischen Etappe.
habe er getroffen, „die von der Politik le- buchsozi. Reil, 47, leicht ergrautes Haar, Reil war gefragt in den vergangenen Mo-
ben, aber nicht für Politik“. hat als einer der letzten Bergmänner des naten. Er gab Interviews in großen Zeitun-
Die Abkehr von der SPD war auch bei Ruhrgebiets eine klassische sozialdemo- gen, er war im Fernsehen. Ein gestandener
ihm ein langer, quälender Prozess, eine kratische Karriere durchlaufen. Sozi, der sich erst gegen die Parteielite auf-
zähe, schleichende Entfremdung. Gerhard Mit 16 hat er auf der Zeche eine Schlos- lehnt, dann frustriert in die AfD übertritt
Schröder konnte er noch etwas abgewin- serlehre begonnen. Er trat der Gewerk- und demnächst in den Landtag einziehen
nen, auch seiner Agenda 2010. „Schröder schaft bei und landete schnell in der SPD. will, ist ein begehrter Mann für die Medien.
war ein guter Sozialdemokrat, er war gut „Das ist damals so gelaufen“, sagt er mit Und so hat er sich beim Gang durch sei-
für das Land“, sagt er. größter Selbstverständlichkeit. 26 Jahre nen Stadtteil Essen-Karnap eine gewisse
Die SPD verlor die Wahl 2005 – und lang war er Genosse, bevor er die Partei Routine angeeignet. Er liebt sein Viertel,
Suhr den Glauben an die Partei. Wie für vor einem knappen Jahr im Streit um eine und er leidet daran. Reil bleibt vor einer
viele war es die Eurokrise um Griechen- Flüchtlingsunterkunft im Essener Norden verwitterten Hausfassade stehen, die mal
land, die ihn in die AfD führte. „Das war eine Kneipe beherbergte, und poltert los:
eine Geschichte von gebrochenen Geset- „Hier ist keine Infrastruktur, nix!“
zen und Versprechen“, sagt Suhr. Und für Ein paar Schritte weiter liegt der men-
ihn Anlass zu einem Neustart. schenleere Karnaper Markt. Ganz in der
Er spricht vom Volkszorn, von den Nähe standen die inzwischen abgebauten
Mainstreammedien und davon, „was alles Flüchtlingszelte, deretwegen er mit seiner
nicht in der Zeitung steht“. Für die AfD alten Partei gebrochen hat. Noch immer
ist er mit seiner Biografie ein Hauptge- kann er sich darüber erregen, dass damals
winn. Aber auch er fühlt sich als Gewinner: Hunderte Flüchtlinge in dem Viertel unter-
„Als älterer Herr in einer jungen Partei – gebracht wurden: „Ich habe gesagt, so geht
das macht schon Spaß.“ „Das war eine Geschich- das nicht!“ Er blickt sich um und sagt: „Ich
Die Rolle des Außenseiters, des Stören- te von gebrochenen will nicht, dass es hier so wird wie in
frieds im gepflegten Politikbetrieb: das ist
es, was ihn an der AfD reizt – und was ihm
Gesetzen und Verspre- Marxloh.“
Duisburg-Marxloh, das frühere Arbei-
eine staatstragende Partei wie die SPD chen“, sagt Suhr. terviertel aus der Nachbarstadt, ist heute
nicht bieten kann. Früher war er der Links- der Inbegriff für hohe Arbeitslosigkeit und
28 DER SPIEGEL 12 / 2017
gescheiterte Integration. So könnte es in
Karnap auch bald aussehen, befürchtete
Reil, wenn in dem Viertel mit seinem ho-
hen Ausländeranteil weitere 700 Migran-
ten angesiedelt würden. Zumal dem gedie-
genen Essener Süden deutlich weniger
Flüchtlinge zugemutet werden sollten.
Reil verlor den Streit – und die SPD ei-
nes ihrer glühendsten Mitglieder. „Die Ge-
nossen im Rat haben gesagt: Du hast ja
recht. Aber abgestimmt haben sie trotz-
dem dafür.“ Es gebe da diese Grundein-
stellung, schimpft er: „Bloß nichts sagen!“
Die Parteielite interessiere sich nicht
mehr „für die einfachen Mitglieder“, sagt
er beim Gang durch gesichtslose Wohnstra-
ßen. Durch die dicken Brillengläser wirken
seine Augen, als würden sie tränen. Auch
wenn er den Abschied von der SPD als
„Befreiung“ bezeichnet, verschweigt er
nicht, dass es ihn bis heute schmerzt. Im
Rat sitzt er noch immer, als Fraktionsloser.
Dann rechnet er ab. Mit Sigmar Gabriel,
dem scheidenden, wankelmütigen Partei-
chef, mit der Führungselite, die nur noch
Akademiker akzeptiere. Um in der SPD
Das Nachrichten-Magazin
etwas zu werden, zähle heutzutage einzig
ein Hochschulabschluss. Kontakt zu nor-
malen Menschen, zum praktischen Leben?
Total unwichtig geworden, meint Reil. Er
sagt Sätze wie „Die ekeln sich vor der Ba-
für Kinder.
sis“ und wirft den Politikern in Berlin Mut-
losigkeit vor.
Genossen haben ihn einen Rassisten ge-
nannt. Zu Recht? Er selbst sieht sich als
„national denkenden, sozialen Demo- Jetzt testen:
kraten“. Einen, der dagegenhält und auf „Dein SPIEGEL“ digital
Distanz zum Establishment bleibt. „Hier
sagen alle: Wir haben die Schnauze voll!“ Mehr Infos unter
www.deinspiegel.de/info
Für ihn ist die AfD schlicht eine „Ansamm-
lung von Rebellen“. Er erzählt, wie ihm
die älteren Genossen gesagt hätten: So wie
du, so war die SPD früher.
Für Gerhard Schröder hat er immer
noch eine Menge übrig: „Der hat sich was
getraut.“ Und Martin Schulz? Den kennt
er aus dem Europawahlkampf 2014, „der
war mir sympathisch.“ Aber im Grunde
sei der neue SPD-Hoffnungsmann auch
nicht groß anders als Gabriel: viel reden,
nichts tun.
Schulz hat in den vergangenen Wochen
viel erreicht. Mit seinem Gerechtigkeits-
Wahlkampf hat er Tausende Deutsche
motiviert, in die SPD einzutreten. Der
Höhenflug der AfD ist gestoppt. Doch
noch immer sind da viele Genossen, die
ihre Enttäuschung nicht überwunden ha-
ben. Manche haben endgültig mit der SPD
gebrochen, andere setzen auf eine Karriere
in der AfD.
Für den einstigen Vorzeigegenossen Reil
jedenfalls ist eine Rückkehr ausgeschlos-
sen. Zu viel sei in der Essener Partei pas-
siert. „Guido Reil und die SPD“, sagt er,
„das wird in diesem Leben nichts mehr.“
Daniel Godeck, Horand Knaup

DER SPIEGEL 12 / 2017 29


LLUIS GENE / AFP
Google-Stand auf Mobilfunkmesse in Barcelona

Der dritte Weg


Wettbewerb Das Wirtschaftsministerium will die Dominanz von Internetgiganten wie Google
brechen. Eine neue Digitalbehörde und mehr Verbraucherrechte sollen Europas Industrie stärken.

W
enn Brigitte Zypries beobachten nehmen und auch andere Onlineanbieter see den Alltag zuerst durchdrang und dann
will, wie große Internetkonzerne stärker regulieren, deren Geschäftsmodelle umkrempelte – oder „disrupierte“, wie die
das Zusammenleben der Men- längst Alltag und Wirtschaft radikal ver- Gründer das selbst gern nennen.
schen verändern, braucht sie nur ein paar ändern. Richtig in Gang kam die Debatte erst,
Schritte aus ihrem Büro durch Berlin-Mitte Zypries hat dabei nicht nur die vier US- als Zypries’ Amtsvorgänger Sigmar Ga-
zu gehen. Häuser mit zehn Mietparteien Giganten Google, Amazon, Apple und briel forderte, Google zu entflechten und
gebe es da, fünf davon Ferienwohnungen, Facebook im Visier, die Milliarden Nutzer „die soziale Marktwirtschaft auf die Höhe
die man mit ein paar Klicks über das Über- zählen und sich zu dominanten Marktplät- des digitalen Zeitalters zu bringen“. Das
nachtungsportal Airbnb buchen kann. zen für eine ständig wachsende Zahl von war im Frühjahr 2014.
Das könne die Hauskultur stören. „Die Anbietern und Verbrauchern entwickelt In der kommenden Woche legt seine
einen machen Urlaub und Halligalli bis haben. Sie denkt auch an Unternehmen Nachfolgerin nun das „Weißbuch Digitale
spät in die Nacht, während die angestamm- wie Uber, über dessen App sich per Plattformen“ vor. Es ist in Deutschland
ten Mieter morgens früh raus und zur Ar- Smartphone private Fahrer oder Taxis be- der erste umfassende Versuch, eine mög-
beit gehen müssen“, sagt die Bundeswirt- stellen lassen, oder Jobportale, wo „Solo- liche Ordnungspolitik für das Internetzeit-
schaftsministerin. Die soziale Struktur selbstständige sich für niedrige Löhne als alter zu entwerfen. Von einer „Digitalisie-
eines ganzen Viertels passe oft nicht mehr Arbeitskraft anbieten“, wie Zypries es be- rung ,made in Europe‘“ ist die Rede, die
zusammen. „Da ist dann niemand mehr, schreibt. „Diese Plattformen fordern viele nicht nur als Kampfansage an die über-
mit dem man auf dem Flur einen Plausch der Errungenschaften und Werte heraus, mächtige US-Konkurrenz zu verstehen ist,
halten kann oder der ein Päckchen für den die wir in unserer sozialen Marktwirtschaft sondern auch als Beitrag zum Bundestags-
anderen annimmt.“ seit über hundert Jahren hochhalten“, sagt wahlkampf. Nicht die Kanzlerin bestimmt
Dass Berlin versuche, das einzuschrän- die 63-Jährige. die Richtlinien für den wichtigsten Zu-
ken, sei verständlich, so Zypries. Geht es Lange, sehr lange haben die Regieren- kunftsmarkt der deutschen Industrie, so
nach der SPD-Ministerin, sollte sich die den hierzulande zugesehen, wie der Sie- lautet der Subtext des Papiers, sondern
Bundesregierung an Berlin ein Beispiel geszug der komfortablen Dienste aus Über- das SPD-geführte Wirtschaftsministerium.
30 DER SPIEGEL 12 / 2017
Deutschland

Eineinhalb Jahre hat sich das Ressort formen verfügen längst über exklusive Zu- zusätzliches Wertschöpfungspotenzial von
Zeit gelassen, um sich über Workshops gänge zu deutschen und europäischen Kun- 425 Milliarden bis ins Jahr 2025.
mit Experten, Stellungnahmen von Unter- den. Wer als Start-up eine App auf den Die Ausgangsposition ist alles andere
nehmen und Verbänden sowie Eingaben Markt bringen will, kommt an den App als günstig; es beginnt schon bei der Infra-
von Bürgern eine Meinung über ihre künf- Stores von Apple und Google nicht vorbei. struktur: Bei den durchschnittlichen Ver-
tige Digitalpolitik zu bilden. Am Ende Google und Facebook dominieren den bindungsgeschwindigkeiten liegt Deutsch-
haben die Beamten ein Weißbuch vorge- Werbemarkt. Und wer als Unternehmen land im Wettbewerb der Industriestaaten
legt, das – pünktlich zur Computermesse auf den Suchanzeigeseiten von Google zu unter ferner liefen auf Platz 26.
Cebit kommende Woche in Hannover – weit nach hinten rutscht, hat kaum Chan- Noch schlimmer sieht es beim Ranking
einen harten Bruch mit dem bisherigen cen, sich zur Wehr zu setzen. der Plattformen selbst aus. In den „welt-
Kurs beschreibt. Jenem Laisser-faire näm- Zypries sieht den Zeitpunkt für den re- weiten Top Ten“ der großen Internetdiens-
lich, das den ungehinderten Aufstieg vor gulierenden Eingriff im großen historischen te seien europäische Anbieter „nicht exis-
allem US-amerikanischer Plattformen er- Kontext. „Neue Technologien entfalten sich tent“. Und auch in allen zentralen wirt-
möglichte. zunächst ein Stück weit ohne enge eigene schaftlichen Kennziffern lägen „originär
Dem Papier zufolge, das maßgeblich aus Regeln“, sagt sie. Beim Fahrrad sei es so digitale Unternehmen“ vorn: Sie wüchsen
der Feder von Staatssekretär Matthias gewesen, beim Auto später ebenso. „Erst rasanter und machten mehr Umsatz als
Machnig stammt, will das Ministerium die wenn Technologien eine kritische Masse er- deutsche Industrieunternehmen – die füh-
Kartellbehörden neu aufstellen. Sie sollen reichen, werden Rahmen gesetzt“, sagt Zy- renden Plattformen haben beim Umsatz
unfaire Geschäftspraktiken dominanter pries. An diesem Punkt sei man bei den auch Dax-Schwergewichte abgehängt:
Dienstanbieter frühzeitig unterbinden und Anbietern nun angelangt, sagt die Ministe- Apple erwirtschaftete voriges Jahr 194,2
gegen wettbewerbsfeindliche Fusionen in rin: „Wir müssen sehen, dass die Plattform- Milliarden Euro, Daimler 153,3.
der Branche deutlich leichter vorgehen Ökonomie mit unseren Standards und Vor- Das macht sich längst auch auf volks-
können. Für alle sollten künftig die glei- stellungen von Gesellschaft zusammen- wirtschaftlicher Ebene bemerkbar: „Platt-
chen Gesetze und Verordnungen gelten – passt“, sagt sie, „eine soziale Marktwirt- form-Staaten“ lägen wegen ihrer agilen
auch Plattformen aus Übersee müssten schaft 4.0, wenn Sie so wollen.“ Digitalakteure vorn, resümiert das Weiß-
dann dieselben europäischen Auflagen be- Das Wettrennen um zentrale Angebote buch. Deren Konzerne strebten „durch
folgen wie hiesige Start-ups. Es wäre das wie Suchmaschinen sei wohl verloren, sagt Turbowachstum“ zu einer „absoluten
„Level Playing Field“, das europäische IT- Zypries offen. Doch nun gehe es um die Marktbeherrschung“. Deutschland weise
Unternehmen seit vielen Jahren fordern. Industrie 4.0, die Vernetzung von Fabriken hingegen eine „digitale Lücke“ auf.
Das Weißbuch will auch den Schutz der und Produkten zum sogenannten Internet Doch dabei müsse es nicht bleiben, fol-
Kunden verbessern, mit deren Informatio- der Dinge – und damit um das Herz des gern die Beamten. Das Ergebnis der nun
nen die Onlinekonzerne Milliarden verdie- deutschen Wirtschaftsstandorts: „Amerika angelaufenen zweiten Digitalisierungs-
nen. Die Verbraucher sollen künftig wie- hat das Internet, wir haben die Dinge“, welle der Industrie sei „noch offen“. Für
der mehr Kontrolle über ihre Daten erhal- heißt es im Weißbuch plakativ. Deutschland und seine Unternehmen bö-
ten; die Unternehmen sollen in Zukunft Das Wettrennen um die Digitalisierung ten sich „enorme Chancen“ – sogar die,
auf einer Seite verständlich erklären, wie strategischer Branchen wie der Autoindus- „sich an die Spitze der Digitalisierung“ zu
ihr Geschäft funktioniert und was genau trie dürfe Deutschland auf keinen Fall setzen.
sie mit den Erkenntnissen über Nutzer und auch noch verlieren. Allein der Markt Siemens, die Software AG oder SAP
Mitglieder anstellen. rund um die Vernetzung von Geräten wird nennt die Ministerin als hoffnungsvolle
Der Ministerin geht es nämlich genauso, EU-weit für das Jahr 2020 auf 1,9 Billionen Beispiele globaler Player aus Deutschland.
wie den meisten Internetnutzern – sie liest Euro geschätzt. Die Digitalisierung der In- Um heimische Unternehmen vor der
die meist ellenlangen „Allgemeinen Ge- dustrie berge allein für Deutschland ein Marktmacht ihrer US-Konkurrenten zu
schäftsbedingungen“ gar nicht erst, son-
dern klickt schnell auf „akzeptieren“. „Wir
haben hier in Deutschland traditionell ei-
nen anderen Maßstab an Verbraucher- und
Datenschutz als in den USA“, sagt Zypries,
und man müsse nun sehen, inwieweit der
in der digitalen Welt ohne Abstriche be-
stehen bleiben könne.
Im Silicon Valley wird man das Berliner
Papier als Provokation werten – zumal
Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) in
dieser Woche seinen Gesetzesentwurf zum
Umgang mit Hassbotschaften vorgelegt
hat – samt Bußgeldandrohung von bis zu
50 Millionen Euro, sollten Firmen wie
Facebook strafbare Inhalte weiter unzu-
verlässig und spät löschen. Parteikollegin
Zypries überlegt, sozialen Netzwerken auf-
zuerlegen, die Mitglieder zur Preisgabe
ihrer Klarnamen zu verpflichten.
ODD ANDERSEN / AFP

Die Ministeriumsvorschläge für eine „di-


gitale Ordnungspolitik“ kommen spät –
und Monate vor der Bundestagswahl zu
spät, um auch nur einige der Vorhaben
noch zu verabschieden. Die großen Platt- Wirtschaftsministerin Zypries: „Die Menschen sollen ihre Daten mitnehmen können“

DER SPIEGEL 12 / 2017 31


Deutschland

schützen, will das Zypries-Ressort eine vestiert und damit viel Geld verdient. Un- Mit dem Weißbuch hat sich das Wirt-
neue, agilere Wettbewerbspolitik speziell ternehmer wie er sind in aller Regel froh, schaftsministerium für einen Ansatz ent-
für digitale Plattformen schaffen. Das Bun- wenn der Staat sich wenig in ihre Geschäf- schieden, der zunächst paradox erscheint:
deskartellamt darf bislang erst bei sehr ho- te mischt. Hommels sieht das anders. Die Regierung will die Branche fördern,
hen Umsätzen tätig werden und eine Über- Neben Büros in Zürich, London und indem sie ihr schärfere Vorgaben macht.
nahme verbieten. Hongkong unterhält er eine Niederlassung Nur, so lautet die Frage, kann das wirk-
Doch in der Digitalwelt definiert sich in einem typischen Berlin-Mitte-Hinterhof: lich funktionieren? Konnten sich die US-
Marktmacht nicht mehr nur mit Geld, son- edles Mobiliar, Lotusblüten – der Emp- Anbieter nicht gerade deshalb so dyna-
dern vor allem über Daten. Als Facebook fangsraum erinnert eher an ein Designhotel. misch entwickeln, weil sie kaum reguliert
vor einigen Jahren den Nachrichtendienst Hommels beobachtet die Entwicklung mit wurden? Erstickt die öffentliche Hand wo-
WhatsApp für 19 Milliarden Dollar ge- Sorge. Er ist sich sicher: „Ohne Politik wird möglich aufkeimende hiesige Start-ups
schluckt hatte, ging es Firmengründer es nichts“, sagt er. Deshalb hat er mit Tech- nicht eher, wenn sie sich nun einmischt?
Mark Zuckerberg nicht um den mickrigen Unternehmern wie Ralph Dommermuth Andererseits: Staaten wie China und
Umsatz der Firma und ihren damals gerade (United Internet, 1&1), Robert Gentz (Za- Russland, in denen sich Wettbewerber zu
mal rund 50 Mitarbeitern. Er wollte an die lando) und Oliver Samwer (Rocket Inter- den US-Plattformen entwickeln konnten,
bereits Hunderte Millionen Personen zäh- net) die Internet Economy Foundation ge- haben das auch durch Abschottung und
lende Nutzergemeinde und ihren digitalen gründet, eine Denkfabrik für die Belange Protektionismus erreicht: China etwa mit
Datenschatz herankommen – und einen der europäischen IT-Wirtschaft. Alibaba, WeChat und Baidu; Russland
potenziellen Konkurrenten schlucken. Wenn man Hommels bittet, das Problem etwa mit der Suchmaschine Yandex und
Um Monopole zu verhindern, plant das zu beschreiben, antwortet er mit Beispie- dem sozialen Netzwerk V-Kontakte.
Ministerium nun ein „Frühwarnsystem“. len: „Nehmen Sie ein Smartphone der Deutschland müsse nun einen „dritten
Will ein Internetriese ein kleineres Digi- Telekom. Der Provider unterliegt der Weg“ zwischen dem bisherigen Laisser-
talunternehmen mit einem Umsatz von deutschen und europäischen Regulierung, faire und einem „etatistisch organisierten
weniger als 5 Millionen Euro für einen etwa in Sachen Datenschutz. Auf dem Modernisierungsprogramm“ finden, heißt
Kaufpreis von mehr als 400 Millionen Euro Handy haben Sie die Facebook-App und es im Weißbuch. Damit stellt sich aber auch
übernehmen, sollen die Kartellbehörden WhatsApp. Anders als die Telekom kann eine andere Frage: ob die Politik zu einer
nicht nur die Folgen für die Marktposition Facebook die anfallenden Daten nutzen modernen Digitalpolitik überhaupt in der
des Unternehmens prüfen, sondern auch und weiterverkaufen. Es subventioniert da- Lage ist. Die Frage ist berechtigt: Zentrale,
den „Zugang zu wettbewerbsrelevanten mit seine Tochter WhatsApp, die wieder- von Berlin verantwortete Digitalprojekte
Daten und das Verhalten der Nutzergrup- um mit ihren Diensten das Kerngeschäfts- sind grandios gefloppt oder akut notleidend.
pen“ besser berücksichtigen können. modell der Telekom angreift.“ Als Fehlschlag entpuppt sich beispiels-
Zugleich will die Politik frühzeitiger ein- Auch damit soll nach dem Willen des weise der Versuch, mit De-Mail einen
schreiten, wenn Plattformen Kunden be- Ministeriums bald Schluss sein: Nachrich- sicheren Mitteilungsdienst zu schaffen. Das
nachteiligen. Dabei sollen Mitarbeiter ei- tendienste wie Snapchat oder eben Whats- System findet weder bei den Behörden
ner neuen Digitalagentur helfen, die den App sollen den gleichen rechtlichen Status noch bei den Kunden Anklang. Warum
Markt beobachten und „ein rasches Ein- bekommen wie klassische Telemedien- sollten die Bürger auch in Vorleistung ge-
greifen insbesondere bei Wettbewerbs- dienste, etwa die Telekom, O2 oder Voda- hen, wenn der Staat selbst ihnen in Äm-
und Regulierungsverstößen“ ermöglichen. fone. WhatsApp könnte seine Nutzer also tern oft noch mit Formularen begegnet?
Seit Jahren läuft ein Kartellverfahren nicht mehr wie bisher kalifornischem Auch beim E-Government, einem Kern
bei der Europäischen Kommission gegen Recht unterwerfen und müsste sich an eu- der Digitalen Agenda, mit der die Bundes-
Google. Konkurrenten werfen dem US- ropäische Datenschutzvorgaben halten. regierung dieses Politikfeld eigentlich an-
Konzern vor, eigene Angebote bevorzugt packen wollte, hinkt Deutschland im euro-
auf den Suchergebnisseiten zu präsentieren. päischen Vergleich weit hinterher.
Künftig sollen entsprechende Praktiken Abgehängtes Europa Immerhin, das Weißbuch räumt auch
auch dann schon unterbunden werden dür- Die größten Unternehmen* mit Plattform- hier die Defizite offen ein, spricht sogar
fen, wenn das Verfahren noch nicht abge- Geschäftsmodellen nach Regionen von einer „Kompetenzlücke“ in Politik
schlossen ist. Damit soll verhindert werden, 3 und Verwaltung, die unter anderem durch
dass die Anbieter vollendete Tatsachen Europa die neue Digitalagentur geschlossen wer-
schaffen, indem sie auf Zeit spielen. den soll. Auch in Sachen E-Government
Im Datenkapitalismus können Unterneh- Afrika
Lateinamerika, 27 Nord- verbreiten die Autoren Zuversicht: Für so-
men in kurzer Zeit Märkte dominieren. amerika genannte Vertrauensdienste soll ein neues
„Wenn die Freunde erst einmal alle etwa 64 Gesetz entstehen, das endlich auch in
Anzahl
bei WhatsApp sind, dann nimmt man diesen Asien Deutschland elektronische Behördengänge
Dienst vielleicht eher und bleibt auch daran 82 und Onlinegeschäftsabschlüsse „einfacher
gebunden“, beschreibt Zypries, was auch und sicherer“ macht.
als „Lock-in-Effekt“ bezeichnet wird. „Wir Das klingt gut – wird aber, wie so vieles
müssen auch sicherstellen, dass die Men-
69 in dieser späten Absichtserklärung, wohl
schen ihre Daten zu anderen Anbietern mit- 181 zur Aufgabe einer neuen Bundesregierung
nehmen können“, sagt die Ministerin. werden. Trotzdem wird im Ministerium
Die heimischen Vertreter aus IT und
930 Markt- 3123 derzeit alles versucht, damit die Adressa-
Telekommunikation beklagen seit Langem kapitalisierung ten im Silicon Valley die Botschaft des Pa-
eine Wettbewerbsverzerrung zu ihren Un- in Milliarden *mit einer Markt- piers auch verstehen: Es wird gerade mit
gunsten. Einer von ihnen ist Klaus Hom- Dollar kapitalisierung von Hochdruck ins Englische übersetzt.
über 1 Mrd. Dollar
mels, der mit seiner Firma Lakestar einen Quelle: Global
Marcel Rosenbach, Gerald Traufetter
Wagniskapitalfonds von 350 Millionen Platform Survey/
The Center for
Euro steuert. Er hat früh bei Firmen wie Global Enterprise Lesen Sie auch auf Seite 58
Facebook, Airbnb, Spotify oder Skype in- 2015 Report über Start-ups in Deutschland

32 DER SPIEGEL 12 / 2017


Geheime
Spender
Wahlkämpfe Ein mysteriöser
Verein unterstützt die AfD mit
kostspieligen Werbekampagnen –

GOTTFRIED STOPPEL / DER SPIEGEL


doch die will von den PR-
Aktionen offiziell nichts wissen.

A
ls AfD-Anhänger in Sindelfingen
ihren politischen Aschermittwoch
feierten, ging es zu wie in einer ge-
wöhnlichen Partei. Zur Begrüßung gab’s AfD-Funktionärin Weidel, Vereinschef Bendels in Sindelfingen: „Kartellparteien“ attackieren
erst mal ein Bier, dann trat ein Mann in
Lodenjacke ans Pult und schimpfte. men zu verhindern. „Noch nie waren Kam- von Partei und Verein selbstgewiss mit-
Horst Seehofer sei doch nur der „Bettvor- pagnen so finanzstark und offen partei- einander auf. Den politischen Aschermitt-
leger“ von Angela Merkel, rief David Ben- werbend wie die Maßnahmen dieses Ver- woch der AfD in Sindelfingen bestritt Ben-
dels ins Mikrofon. Gemeinsam hätten beide eins“, sagt Sophie Schönberger, Juraprofes- dels gemeinsam mit Alice Weidel, die im
Politiker das Land in eine „bunte, irra- sorin an der Universität Konstanz. Sie geht AfD-Bundesvorstand sitzt, sowie dem Vor-
tionale, linksgrüne Kommune“ verwandelt. davon aus, dass die PR-Aktionen mehrere sitzenden der AfD-Nachwuchsorganisation
So weit, so erwartbar. Ungewöhnlich Millionen Euro gekostet haben dürften. Junge Alternative, Markus Frohnmaier.
war nur, dass Bendels mit der AfD nichts Seit Monaten muss sich die AfD gegen Beim Neujahrsempfang der Partei im
zu tun hat. Zumindest offiziell. Der 31-Jäh- den Verdacht der illegalen Parteienfinan- nordhessischen Vellmar trat Bendels am
rige ist Vorsitzender des „Vereins zur Er- zierung wehren. Dabei gilt es, jeden An- 19. Februar sogar als „Hauptredner“ auf,
haltung der Rechtsstaatlichkeit und der schein personeller Verflechtungen oder di- neben der hessischen Spitzenkandidatin
bürgerlichen Freiheiten“. Die Organisation rekter Absprachen zwischen Partei und Mariana Harder-Kühnel. Auf einem Tisch
sei „parteipolitisch ungebunden“ und wol- Verein zu vermeiden. lagen neben AfD-Broschüren Überwei-
le die „Debattenkultur“ fördern, heißt es AfD-Chef Jörg Meuthen sprach im vo- sungsformulare des Vereins. Die Besucher
auf der Website des Vereins. rigen Jahr noch von „unabgestimmten Ak- konnten sich aussuchen, ob sie direkt an
Doch im baden-württembergischen Sin- tionen … durch unbekannte externe Un- die Partei spenden oder den Umweg über
delfingen und anderswo erleben Zuschau- terstützer“. Sein Berliner Landesvorsitzen- den Verein nehmen.
er eine eher einseitige „Debattenkultur“: der Georg Pazderski erklärte: „Da steckt In einem Bericht der rechten Wochen-
In großer Vertrautheit teilt Bendels dort dieser ominöse Verein dahinter. Ich weiß zeitung „Junge Freiheit“ erklärte Bendels
mit AfD-Leuten die Bühne, um gemein- nicht, wer sich dahinter verbirgt.“ jüngst die Vorteile des Systems. In Einzel-
sam die „Kartellparteien“ zu attackieren. Bislang hat diese Front gehalten. Bun- fällen sei der Verein sicherlich auch Adres-
Die Bundestagsverwaltung beobachtet destagspräsident Norbert Lammert (CDU) sat für Finanziers, die die AfD indirekt för-
den Verein mit Argwohn. Bereits in vier hat den Verein zwar im Visier. Seine Be- dern, aber aus geschäftlichen Gründen
Wahlkämpfen hat dieser die AfD unter- hörde habe „wiederholt“ geprüft, ob die nicht namentlich mit ihr in Verbindung ge-
stützt. Auch im Saarland, wo am 26. März Kampagnen als „Spende an die Partei“ bracht werden wollen.
gewählt wird, soll es neue Plakate („Besser einzuordnen seien, schrieb Lammert kürz- Parteien müssen die Namen ihrer Geld-
AfD wählen“) geben. 500 000 „Extrablät- lich in einem Bericht. Solange aber nie- geber in jährlichen Rechenschaftsberichten
ter“ will der Verein zudem gratis verteilen. mand das Gegenteil beweisen könne, wer- veröffentlichen, sobald eine Spende den
Auf zehn Seiten wird darin gegen die te er sie als „Parallelaktion“, die nicht un- Wert von 10 000 Euro übersteigt. Die Bun-
„politische Klasse“ und Flüchtlinge geätzt. ter das Parteienrecht falle. destagsverwaltung überwacht die Geldflüs-
Weitere Aktionen sollen im Bundestags- Zunächst verhielten sie sich wie Fremde, se. Diese Transparenzpflicht kann Bendels’
wahlkampf folgen. seit einigen Wochen jedoch treten Akteure Verein bislang umgehen.
Bis heute agieren die Geldgeber im Ge- Die Werbeaktionen seien mit ihr nicht
heimen. Wie hoch ist das Vermögen des abgestimmt, teilte die Partei stets mit. Auch
Vereins, wer sind seine größten Spender, Bendels bestreitet, bei seinen Auftritten mit
wie viel kosten die Werbemaßnahmen für AfD-Leuten über die Aktivitäten des Ver-
die AfD? Nichts davon soll die Öffentlich- eins gesprochen zu haben. Seine Organisa-
keit erfahren. Bekannt ist bislang nur, dass tion sei von „besorgten Bürgern“ gegründet
eine diskrete, von einem Deutschen ge- worden, die der politischen Entwicklung
führte Schweizer Werbeagentur namens „nicht länger tatenlos zusehen wollten“.
Goal AG an den Kampagnen des Vereins Doch die nächste gemeinsame Veran-
beteiligt war (SPIEGEL 37/2016). staltung ist schon geplant. Am 25. März
Die Finanzierung von Wahlkämpfen ge- soll Bendels wieder mit AfD-Vorstandsfrau
hört zu den sensibelsten Themen der deut- Alice Weidel auftreten, diesmal auf einer
schen Politik. Nach den Spendenaffären Frühjahrstagung des rechten Studienzen-
der Neunzigerjahre wurde das Parteienge- Rechte Wahlkampfzeitung trums Weikersheim mit Thilo Sarrazin.
setz verschärft, um verdeckte Einflussnah- „Politisch ungebunden“? Sven Becker, Sven Röbel, Nico Schmidt

DER SPIEGEL 12 / 2017 33


Logos der Oldschool Society: „Herr Staatsanwalt, das war doch alles nur Gequatsche“

Bürgerkrieg und Nudelsalat


Justiz Wie weit ist der Weg vom Hassbürger zum Terroristen? Im Prozess
gegen die rechtsextreme Oldschool Society hat das Münchner Oberlandesgericht
die Untergrenze des Strafbaren ausgelotet. Von Beate Lakotta

E
in Verhandlungstag im August, An- gegründet haben soll und Anschläge gegen Seine Mitangeklagten lernte Andreas H.
dreas H., 57 Jahre alt, selbst ernannter Ausländer geplant.“ Wo er doch prima mit im Internet kennen: „Vizepräsident“ Mar-
Präsident der Oldschool Society, sitzt ihrem Mann auskomme, einem Italiener. kus W., 41, Chatname „Thera Peut“, Se-
im Karohemd auf der Anklagebank des Sogar von einem Patenkind in Afrika habe curity-Service-Betreiber im sächsischen
Münchner Oberlandesgerichts, kurze Strub- er mal erzählt. Borna. Ein Glatzenmann, tätowiert, Ohr-
belhaare, wasserblaue Augen, Stecker im Da weint Andreas H. Sein bürgerliches tunnel, Nasenring. W. war Aktivist der
Ohr. Er schaut über den Rand seiner Brille. Leben, hart erarbeitet als Handwerker – 2012 verbotenen „Kameradschaft Aache-
Seine Stieftochter, eine Hauswirtschafterin, futsch. Die Maisonettewohnung im Bes- ner Land“. 26 Vorstrafen, Betrug, Dieb-
zeichnet dem Gericht ein Bild des Vaters. sere-Leute-Viertel, Ferienreisen nach Ke- stahl und Ähnliches.
Ein Familienmensch, immer am Arbeiten nia und in die Türkei, gutes Essen, seine „Schriftführerin“ Denise G., 24 Jahre
mit seiner Augsburger Malerfirma: „Ich Whiskysammlung – alles verloren, seit am alt, zweifache Mutter, ebenfalls mehrfach
kann nichts Negatives über ihn sagen.“ 6. Mai 2015 morgens um vier die Eliteein- gepierct. Bei ihrer Festnahme stand die
Dass er in der NPD war? „Das war ein heit GSG 9 in seinem Schlafzimmer stand Hartz-IV-Empfängerin, Chatname: „Eva
Fimmel“, wie das Hitlerbild im Büro. Auf und ihn mitnahm, im Hubschrauber. von Sachsen“, noch unter Bewährung, we-
seinen Mercedes E-Klasse, mit Krokoleder Glaubt man dem Präsidenten, so ging gen einer Messerattacke auf ihren vorhe-
verkleidet, hatte er sich „vorn so einen es ihm vor allem um Pullover. Die habe rigen Lebensgefährten.
Adler draufmachen lassen“, dazu die Ini- man mit OSS-Logo bedrucken und einen „Pressesprecher“ Olaf O., 48, Chatname
tialen A. H. – „für Andreas H.“ Handel aufziehen wollen. Glaubt man der „Olli Ruhrpott“, aus Bochum. Ehemals
„Er ist halt kreativ“, sagt die Tochter. Bundesanwaltschaft, war das primäre Ziel Schichtführer bei Opel, dann arbeitslos,
Als sie von der Anklage hörte, habe sie es der Organisation, Anschläge zu begehen. Krebs, Scheidung, Hartz IV. Keine Vor-
nicht glauben können. „Weil ich ihm das Terror oder Pullis? Fast ein Jahr lang strafen, eine Randfigur der rechten Szene.
nicht zutrau, dass er seiner Familie was hat ein Staatsschutz-Senat des Münchner So einsam war O., dass er eine Freundin
vorspielt und eine terroristische Gruppe Oberlandesgerichts darüber verhandelt. erfand, der er sogar ein Handy kaufte.
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Deutschland

Die vier bildeten den sogenannten „Ge- lafisten besprochen. H. winkt ab, über Pri- schen Grundordnung vor ihren Feinden:
heimrat“, das Führungsgremium der Grup- vates habe man geredet. Dann ging das In Dresden läuft seit zwei Wochen in ei-
pe, die rund 40 Mitglieder hatte. Treff- Treffen im kollektiven Besäufnis unter, bis nem nagelneuen Hochsicherheitsbau für
punkt: WhatsApp. Die Satzung: abge- der Notarzt kommen musste. 5,5 Millionen Euro das Staatsschutzverfah-
schrieben von einem Rockerklub. Das Laut BKA 177 gewaltsame Attacken auf ren gegen die rechtsextreme Gruppe Frei-
Logo, Totenkopf mit Hackmessern: abge- Asylunterkünfte im Jahr 2015, in dem die tal. Sie soll Anschläge auf linke Einrich-
pinnt aus dem Internet. Im Chat ergingen OSS aufflog, davon 47 Brandstiftungen – sie tungen und zwei Asylbewerberunterkünfte
die Mitglieder sich in Gewaltfantasien. Slo- bilden den Hintergrund für dieses Verfah- verübt haben, ein Syrer wurde verletzt,
gan: „OSS – eine Kugel reicht nicht.“ ren. Dazu der Vorwurf gegen die Justiz, sie nur durch Glück geschah nichts Schlimme-
Laut Bundesanwaltschaft planten sie sei blind gewesen auf dem rechten Auge – res. Im NSU-Prozess geht es um eine per-
Sprengstoffanschläge auf Asylheime. Bei siehe NSU-Terror; ein Stockwerk tiefer sitzt fide Serie von rassistischen Verbrechen, be-
einer Shoppingtour nach Tschechien hat- im selben Gerichtsgebäude seit fast vier Jah- gangen aus dem Untergrund, zehn Tote.
ten sich Markus W. und Denise G. mit Böl- ren Beate Zschäpe auf der Anklagebank. Und bei der OSS? Martialische Logos
lern der Sorte „La Bomba“, „Cobra 11“ Im Februar 2016 kündigte Generalbun- und Nazisprüche, menschenverachtende
und „Viper 12“ eingedeckt, die in Deutsch- desanwalt Peter Frank einen konsequen- Parolen. Aber passiert ist: nichts.
land verboten sind. Deren Sprengkraft teren Umgang mit rechter Gewalt an; we- „Wahrscheinlich gibt es Dutzende sol-
reicht, um eine Waschmaschine in die Luft nig später begann der Prozess gegen die cher Gruppierungen“, sagt Denise G.s Ver-
zu jagen – zu besichtigen auf YouTube. OSS. Von einem politischen Verfahren teidiger Alexander Hübner. „Schlimm ge-
Anschlagsvorbereitungen seien bereits sprechen die Verteidiger, ein Exempel solle nug, aber wenn man die alle als Terroristen
gelaufen, als 250 Polizisten Wohnungen von statuiert werden an diesen Angeklagten. anklagen will, hat man viel zu tun.“
OSS-Mitgliedern in fünf Bundesländern Das Problem ist aus Sicht vieler Kritiker Was also war das Besondere an der
durchsuchten, heißt es in der Anklage. §129a, der Terrorparagraf. Normalerweise OSS? Aus Sicht der Verteidiger: dass der
Am 1. Mai hatte das Bundeskriminalamt gilt für Delikte des Strafgesetzbuchs: Man Verfassungsschutz im Chat mitlas, als dort
(BKA) ein Telefonat mitgeschnitten, zwi- muss etwas getan haben, um sich strafbar von Anschlägen noch keine Rede war. Auf
schen H. und seinem Vize, es ging um das zu machen. Facebook faselte die OSS von Ehre, Bru-
geplante zweite Gruppentreffen. Die Rede derschaft, der „Regeneration des Deutsch-
war vom Grillen, Nudelsalat, Nachtwan- tums“ und vom Kampf gegen den IS.
derung. Und von den Böllern, die Markus „Besonders fanden wir die Dynamik“,
W. und Denise G. gerade gekauft hatten. sagt ein leitender Verfassungsschützer: H.s
Markus W.: „So ein Cobra 11, hier, weißt Anweisung, Posts zu löschen, die vom
du, hier Dachpappenstifte draufmachen Bombenbasteln handelten; der Wechsel des
mit Sekundenkleber ringsrum, draufkle- Geheimrats-Chats von WhatsApp zum ver-
ben und dann so ein Ding im Asyl… so schlüsselten Dienst Telegram; der „Schritt
ein Ding im Asylcenter, im Asylheim so, aus der virtuellen hinaus in die Realwelt“,
weißt du, Fenster eingeschmissen und mit dem Treffen in Borna. Immer militan-
dann das Ding hinterhergejagt.“ ter sei der Chat geworden. „Am besten
Andreas H.: „Tät mir schon gefallen, wär’ heute noch ’n Bürgerkrieg“, schreibt
wär schon so nach meinem Geschmack.“ Andreas H., „Waffen besorgen, moschee
Ziel der Gruppe sei es gewesen, den reinrennen, bambam, fertig.“
Staat zu erschüttern. Tote und Verletzte „Eine Handvoll Tote reicht nicht“,
hätten sie in Kauf genommen. Als Ober- schwafelt Olaf O. „Es muss etwas Aufse-
staatsanwalt Jörn Hauschild diese Anklage henerregendes in die Luft fliegen“ – eine
vorträgt, schüttelt H. ungläubig den Kopf: OSS-Chats Einkaufsmeile, eine Schule, ein Kinder-
Gründung und Rädelsführerschaft einer garten – etwas, das man „den Musels in
terroristischen Vereinigung nach §129a, Beim §129a – „Bildung einer terroristi- die Schuhe schieben“ könne.
dazu die Vorbereitung einer Sprengstoff- schen Vereinigung“ – besteht die Straftat Denise G. sagt am Telefon: „In unserer
explosion. Mögliche Strafe: ein bis zehn schon im Denken: Drei Personen, die zu- Gruppe sind, wenn es hochkommt, vier
Jahre für einfache Mitglieder, drei bis fünf- sammen über längere Dauer staatsgefähr- Leute, die es draufhaben, jemanden um-
zehn für Rädelsführer. dende Pläne schmieden, können rechtlich zubringen.“
Glaubt man den Angeklagten, war alles schon eine Terrorzelle sein. Nur sagt der Vor Gericht schweigt sie zum Tatvor-
nur „Gequatsche“. Gesetzgeber nicht, was als „längere Dau- wurf. Bei der Polizei hat sie geredet, der
Lässt sich das widerlegen? er“ gilt und wie konkret die Pläne sein Richter zitiert aus dem Protokoll.
Eine Art „politische Meckerecke“ sei müssen oder wie realistisch. Das kann den Denise G.: „Wir hatten mal Ideen ge-
die OSS gewesen, sagt der Präsident. „Die Weg vom Hassbürger zum Terroristen habt, man könnte ein Asylheim anzünden
anderen hab ich ja nur ein einziges Mal ziemlich kurz machen. oder die Frau von einem schnappen und
im echten Leben gesehen“, beim ersten Der Paragraf stammt aus dem Jahr 1976, ordentlich Angst machen. Aber das kann
Treffen der Gruppe am 15. November als die Masterminds der RAF aus dem Un- man alles nicht umsetzen, außer es wird
2014, mit einem guten Dutzend Leuten, in tergrund operierten, strategisch, militant. mal legal, aber davon gehe ich nicht aus.“
Markus W.s Kleingartenlaube in Borna. Heute radikalisieren sich potenzielle Ter- Beamtin: „Sind es nur die deutschen
„Was waren denn Ihre Ziele“, fragt der roristen oft vom Sofa aus im Internet. Gesetze, die Sie davon abhalten?“
Vorsitzende Richter Reinhold Baier. „Ide- 238 neue Terrorverfahren sind bei der „Ehrliche Meinung? Ja. Ich glaube, wenn
en hatten wir ja viele“, sagt H., „Kriegs- Bundesanwaltschaft allein im vergangenen es erlaubt wäre, wäre ich nicht der einzige
gräberpflege, Spielplätze aufräumen. Jahr dazugekommen. Gegen Rechtsextre- Mensch, der so was machen würde.“
Der Herr W. und ich wollten Arbeit an misten wird derzeit in drei Verfahren ver- Denise G. hört zu, wickelt sich Haar-
Deutsche vergeben, eine Art Kollektiv.“ handelt. Es sind aufwendige Prozesse, in strähnen um die Finger und grinst.
Laut Bundesanwaltschaft wurde beim denen es um nichts Geringeres geht als Im Laufe des Verfahrens kommt zur Spra-
Treffen der bewaffnete Kampf gegen Sa- den Schutz der freiheitlich-demokrati- che, dass Andreas H. schon mal inhaftiert
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Deutschland

war, fünf Jahre, wegen zwölf Brandstiftun- Ein Ermittler des BKA berichtet von den Die Angeklagten hätten die Radikalisie-
gen in den Kellern seiner Hochhaussiedlung. Durchsuchungen. „Im Schlafzimmer vom rung der Truppe vorangetrieben, sie hätten
Motiv: Fremdenfeindlichkeit. Das war 1990. Herrn W. lagen die Böller, daneben eine eingeräumt, Anschlagspläne geschmiedet
„Ist über Asylantenheime gesprochen Schachtel Dachpappenstifte.“ Im Chat war zu haben, wenn auch angeblich nicht ernst
worden?“, fragt ihn der Richter. „Ja.“ – viel von der Beschaffung von Waffen die gemeint. Und sie hätten Sprengstoff be-
„Was sollte da gemacht werden?“ – „Lau- Rede, H. hatte sich als Sportschütze einen schafft.
ter schreckliche Sachen“, entfährt es H. kleinen Waffenschein besorgt. „Das hat Natürlich könne man die OSS nicht mit
mit Tränen in den Augen. „Da hatte sich uns beunruhigt“, sagt der Ermittler. Eben- der RAF oder dem NSU auf eine Stufe
ein Ton aufgebaut … ganz schrecklich. so die Fotos seines Waffenarsenals, die An- stellen. Eine terroristische Vereinigung sei
Aber tun, machen? Nie! Nie! Da würde dreas H. postete. sie gleichwohl, eben in „anderer Intensi-
halb Deutschland schon flachliegen, wenn Beim Zugriff stellte sich heraus: Bis auf tät“. Er beantragt Gefängnisstrafen von
man alles glaubt, was in den Chats steht.“ eine Gaspistole waren alles Dekowaffen. viereinhalb bis sieben Jahren.
Dann ist der Oberstaatsanwalt dran mit Ein Kritikpunkt der Verteidigung: Die Verteidiger fordern Freispruch. Die
Fragen. „Hat Herr W. Ihnen in dem Ge- Die Ermittler hätten zu spät zugegriffen. Oldschool Society sei keine terroristische
spräch am 1. Mai vorgeschlagen, Anschläge Die Gruppe habe sich „unter den Augen Organisation gewesen, eigentlich gar keine
auf Asylunterkünfte zu begehen?“ des Verfassungsschutzes radikalisiert“, Organisation, ein „Sprengmeister“, der
„Jo, das Kopfkino ist durchgegangen.“ sagt Markus W.s Verteidiger Jan Pinkes. nichts sprengte, ein Pressewart, der keine
„Was meinen Sie mit Kopfkino? Ist da- Mindestens ein Mitarbeiter des Verfas- Presseerklärungen verfasste, ein Kassen-
rüber gesprochen worden?“ sungsschutzes war im Einsatz, Deckname: wart, der keine Beiträge eintrieb. „Jeder
„Kann man so sagen.“ Rudi. Gab es weitere? Welche Rolle spiel- machte, was er wollte“, fasst Markus W.s
„Haben Sie mal gesagt, dass Sie damit ten sie? Verteidiger Reinhard Baehr zusammen.
nicht einverstanden waren?“ Der Terrorparagraf werde ausgedehnt, die
„Im Gegenteil. Ich hab gesagt, das wäre Strafbarkeit „immer weiter vorverlegt in
nicht schlecht. Aber ich war tausendpro- die Gedankenwelt“.
zentig sicher, dass da nichts kommt.“ Verteidiger Hübner nennt die OSS „eine
„Haben Sie über die Beschaffung von Ansammlung von unsympathischen, radi-
Schusswaffen gesprochen? Haben Sie nach kalisierten, vereinsamten Menschen“ auf
einer Anleitung zum Bau von Rohrbom- der Suche nach einer Bühne und Aner-
ben im Internet recherchiert? Haben Sie kennung. Aber ein Tötungsvorsatz sei ih-
die Anleitung in den Chat gestellt?“ nen nicht nachzuweisen.
„Ich?“ Andreas H. läuft knallrot an: Ein Anschlag? „Lag in der Luft“, räumt
„Herr Staatsanwalt, ich schwöre, das ist Andreas H.s Verteidiger Michael Rosenthal
eine dumme Rederei, das war doch alles ein. „Aber hätte nicht vorher mal jemand
nur Gequatsche!“ hingehen können und sagen: Wir lesen bei
Am Ende kann Hauschild sich zurück- euch mit, hört auf mit dem Scheiß?“ Es
lehnen. sei gut, dass die Justiz Rechtsextremismus
Der Bundesgerichtshof hat in seinen Ur- bekämpfe, das Gericht dürfe sich aber bei
teilen Merkmale terroristischer Vereini- der Würdigung der Beweise nicht davon
gungen herausgearbeitet: ein Ziel, das alle leiten lassen, „das Richtige tun zu wollen“.
mittragen, gehört dazu und die Unterord- Auf der Saal-Leinwand erscheint per Am vergangenen Mittwoch hat das Ge-
nung aller unter den Gruppenwillen. Beamer eine Silhouette, Mütze, Weih- richt nach 43 Verhandlungstagen folgendes
Dafür sieht die Bundesanwaltschaft bei nachtsmannbart, die Stimme verzerrt: Urteil gefällt: Aus einer „strafrechtlich
der OSS Belege: Die Führung habe An- Rudi. Das Gericht spielt einen Chat zwi- nicht relevanten Vereinigung national den-
weisung gegeben, zum zweiten Treffen schen Rudi und Markus W. ab: kender Menschen“ habe sich die OSS zu
nüchtern und in schwarzer Kleidung zu Rudi: „Bringste was Schönes mit aus einer terroristischen Organisation entwi-
erscheinen. Teilnahme am Gruppenchat Tschechien?“ – W.: „Sprengstoff.“ – Rudi: ckelt. Die Angeklagten hätten „Menschen
sei Pflicht gewesen. Für Regelverstöße hät- „Dann könn’ wer’s ja knallen lassen!“ ausländischen Hintergrunds, insbesondere
ten „Abstrafaktionen“ gedroht. Der andere Kritikpunkt: Die Ermittler Muslime“ mit Anschlägen aus Deutschland
Das Gericht hat andere OSS-Mitglieder hätten zu früh eingegriffen. „Hätte man vertreiben und ein „Klima der Angst“ er-
als Zeugen geladen, Auftritt Marco K., ra- nicht abwarten können, was beim Treffen zeugen wollen. „Selbst wenn jeder Einzel-
sierter Schädel, schwarzes Sweatshirt, ein passiert?“, fragt Markus W.s anderer Ver- ne keinen Menschen hätte töten wollen“,
Nachbar von Markus W. und Denise G. teidiger den Leiter der Ermittlungen beim sagt Baier, war die Gruppendynamik so
„Ich war am Anfang auch in der Führung“, BKA. „Vielleicht hätte man nicht verhin- stark, dass es nach Überzeugung des Ge-
gibt K. etwas überraschend an. „Ich hatte dern können, dass doch ein Böller ins richts zu einem Anschlag gekommen wäre.
auch was zu tun mit Papieren und so.“ Asylheim fliegt,“ sagt der Beamte. Im Strafmaß bleibt das Urteil unter den
Was? – „Weiß ich nicht mehr.“ – „Es Kurz vor Ende des Verfahrens lässt Anträgen der Bundesanwaltschaft: Als Rä-
sollen Mitgliedsbeiträge erhoben worden Oberstaatsanwalt Hauschild einen Teil der delsführer bekommt Andreas H. vierein-
sein“, sagt der Vorsitzende. K. schüttelt Anklage fallen: die Vorbereitung der halb, sein Vize Markus W. fünf Jahre. Mit-
den Kopf: „Von mir nicht.“– „Sie haben Sprengstoffexplosion. Welches Heim, wer glied Denise G. wird zu drei Jahren und
nicht gezahlt, ohne Konsequenzen?“– sollte es machen und womit? Das lasse sich zehn Monaten verurteilt, Mitglied Olaf O.
„Ja.“ – „Es war Pflicht, am Gruppenchat nicht belegen. Einen Teilfreispruch will die zu drei Jahren. Die Verteidiger von Mar-
teilzunehmen. Sind Sie dem nachgekom- Bundesanwaltschaft nicht riskieren. kus W. haben Revision angekündigt.
men?“ – „Wie denn?“, sagt K. „Ich hatte In seinem Plädoyer schickt Hauschild
ja zuletzt kein Handy mehr.“ Die Abstraf- vorweg, es solle keineswegs ein Exempel Video: Gerichtssaal
aktionen? Ja, einer aus der Gruppe sei von statuiert werden. Es gehe um den Schutz voller Polizisten
Markus W. „abgeklatscht“ worden, „aber der öffentlichen Sicherheit – und darum, spiegel.de/sp122017oss
das war privat. Der hatte den beleidigt“. mögliche Nachahmer abzuschrecken. oder in der App DER SPIEGEL

36 DER SPIEGEL 12 / 2017


Ein bisschen
der Saar keinen Ministerpräsidenten mehr Sollte es tatsächlich zu einem Links-
stellen. „Lafo der Zerstörer“, wie ihn die bündnis im Saarland kommen: Es wäre
„Bild“-Zeitung mal nannte. Dieser Mann weit mehr als nur ein Regierungswechsel

Frieden
sucht nun die Annäherung an seine alte in einem Bundesland, das weniger Einwoh-
Partei und will deren Spitzenkandidatin ner zählt als Köln. Es wäre ein Signal. Und
zum Amt verhelfen. würde auf Bundesebene Rot-Rot-Grün
Jahrelang wuchs bei Lafontaine die Wut. wahrscheinlicher machen.
Linke Oskar Lafontaine führt sei- Nun wächst offenbar die Sehnsucht nach Seit SPD-Kanzlerkandidat Schulz Fehler
ein bisschen Frieden – und die Lust auf ei- bei der Agenda 2010 eingeräumt hat, keimt
nen wohl letzten Wahlkampf – nen letzten Coup zum Abgang. „Eemol auch in der Linken Hoffnung auf einen
und plant noch mal einen Coup: geht noch“, rief Lafontaine seinen Genos- Wechsel. Zwar wird die Partei im Wahl-
sen im September auf dem Parteitag im kampf betonen, dass die einzige verlässlich
das erste Bündnis zwischen Saar-Dialekt zu. soziale Partei immer noch die Linke sei.
SPD und Linkspartei im Westen. In den letzten Tagen vor der Wahl stürzt Aber sie will sich nicht an Schulz abarbei-
er sich nun mit Elan in den Straßenwahl- ten. Noch nie war in der Linken so viel

S
howdown im Saarbrücker Landtag. kampf. Auf den Plakaten der Linken ist er Regierungswillen zu spüren. „Die Bestre-
Es geht um die Pleite einer Meeres- meistens allein zu sehen, die Sprüche: ganz bungen für Rot-Rot-Grün sind so groß wie
fischzuchtanlage, die im kleinen Saar- der alte Populist. „Genug gezahlt: Jetzt nie“, sagt ein einflussreicher Genosse. „Ich
land eine große Affäre ist, Millionen an sind die Reichen dran!“, „Löhne und Ren- kenne in der Bundestagsfraktion keinen
Steuergeldern wurden versenkt. Alle sind ten rauf“, „Ein Oskar für das Saarland“. mehr, der eine Regierung ausschließt.“
sie da, die Ministerpräsidentin, der Innen- Auch gegen illegale Einwanderer und Oskar Lafontaine sieht die Rot-Rot-
minister. Nur Oskar Lafontaine fehlt an Windkrafträder macht Lafontaine mobil, Grün-Träume auf Bundesebene skepti-
diesem Mittwochnachmittag im Plenum. was noch für Reibereien mit den Grünen scher. „Mit ein bisschen mehr Mindestlohn
Der Fraktionschef der Linken ist ange- sorgen könnte, falls diese für eine Koali- und ein bisschen längerem Arbeitslosen-
schlagen. Er musste nach Hause fahren, tion benötigt werden. Doch nach den letz- geld ist es nicht getan“, sagt er. „Es geht
nach Merzig an der französischen Grenze, ten Umfragen reicht es womöglich auch um den Abschied von 20 Jahren neolibe-
um sich ein bisschen auf dem Sofa auszu- ohne die Ökopartei zu einer eigenen Mehr- ralem Irrglauben.“
ruhen – für den Endspurt des letzten gro- heit für SPD und Linke (siehe Grafik). Das klingt so apodiktisch wie immer.
ßen Wahlkampfs seiner langen Politikkar- Doch es lohnt sich, genau hinzuhören.
riere. Am nächsten Tag ist die Elefanten- Denn neuerdings redet Lafontaine immer
runde im saarländischen Fernsehen. öfter auch von „Kompromissen“, zu denen
Doch obwohl er kränkelt, ist Lafontaine die Linke „selbstverständlich“ bereit sei,
gut drauf. Seine Mitarbeiter haben ihm wenn die Richtung stimmt.
eine Meldung geschickt: „Schulz lobt La- Auch seine wüsten Attacken auf SPD-
fontaine“. Als saarländischer Ministerprä- Politiker hat Lafontaine eingestellt. Früher
sident, von 1985 bis 1998, habe der einen schimpfte er über das „Großmaul“ Franz
guten Job gemacht. Eine neue Landes- Müntefering oder die „Heuschrecke“ Ger-
regierung könnte von seinen Erfahrungen hard Schröder. Über Schulz verliert er kein
profitieren. Sagt Martin Schulz, der SPD- böses Wort, von kleinen Frotzeleien über
ZUMA PRESS / IMAGO STOCK

Kanzlerkandidat. den „heiligen Martin“ abgesehen. Die bei-


Das gefällt Lafontaine. Er hat nie einen den haben bereits vor Schulz’ Nominie-
Hehl daraus gemacht, dass er sich für den rung einen Draht zueinander aufgebaut.
größten Ministerpräsidenten hält, der das Politiker Schulz, Lafontaine in der Kürzlich plauschten sie am Rande der Bun-
Saarland je regiert hat. Und den besten Bundesversammlung desversammlung in Berlin angeregt mit-
Kanzler, den Deutschland nie hatte. einander. Lafontaine versuchte, Schulz da-
Lafontaines letzte Mission ist ein paar von zu überzeugen, dass die SPD noch vor
Nummern kleiner. Er will die Linke im Sonntagsfrage der Wahl die bestehende rot-rot-grüne
Saarland in die erste rot-rote Koalition in „Welche Partei würden Sie wählen, Mehrheit im Bundestag nutzen könnte,
Westdeutschland führen. Mit der SPD-Spit- wenn am kommenden Sonntag um ein paar soziale Wohltaten durchzu-
zenkandidatin Anke Rehlinger, einer ehe- Landtagswahl wäre?“ setzen.
maligen Kugelstoßerin, ist er sich weit- In der SPD hält man das für abwegig:
gehend einig. Sie saßen im Parlament mal Saarland Warum sollten die Sozialdemokraten sich
direkt nebeneinander, seitdem schätzen Landtagswahl am 26. März auf eine solche Harakiri-Aktion einlassen?
sie sich. Ihr Verhältnis zu Lafontaine sei 35 Doch der Vorgang zeigt, dass Lafontaine
„unvorbelastet und unverkrampft“, sagt 34 eine Zusammenarbeit seiner alten und sei-
die 40-Jährige. Lafontaine lobt ihre „zu- ner neuen Partei auch auf Bundesebene
packende Art“. nicht mehr ausschließt.
Angaben in Prozent;
Die beiden verbindet ein gemeinsames Infratest dimap für die Ob das gelingen kann, wird nicht zuletzt
Ziel: Sie wollen am 26. März die CDU-Mi- ARD-Tagesthemen
am 16. März 2017
an Lafontaines Frau liegen, Sahra Wagen-
nisterpräsidentin Annegret Kramp-Karren- knecht, Spitzenkandidatin der Linken bei
bauer stürzen – und damit zu Beginn des der Bundestagswahl. Im Saarland sind die
Bundestagswahljahrs das Ende der Mer- 13 Veränderung zur letzten Landtagswahl beiden gerade gemeinsam auf einem Pla-
am 25. März 2012, in Prozentpunkten
kel-Ära beschwören. kat zu sehen, milde lächelnd auf einer grü-
Ausgerechnet Lafontaine, der durch sei- – 0,5 nen Wiese im Sonnenschein. „Glaubwür-
nen Furor gegen die Schröder-SPD und 6,5 +1,8
dig und zuverlässig“, steht darauf. „Klare
4,5 4
die Agenda 2010 mit dafür sorgte, dass die – 0,2 + 3,4 – 3,1 3 Ansagen an der Saar und in Berlin“.
Sozialdemokraten seit fast 18 Jahren an CDU SPD Linke Grüne AfD FDP Sonstige Matthias Bartsch, Wolf Wiedmann-Schmidt

DER SPIEGEL 12 / 2017 37


Deutschland

„Der Putsch war nur ein Vorwand“


SPIEGEL-Gespräch Bruno Kahl, 54, Präsident des Bundesnachrichtendienstes, über das Machtstreben
Erdoğans, die militärische Bedrohung durch Russland und Edward Snowdens Erbe

SPIEGEL: Herr Kahl, wie intensiv nutzen


Sie den Kurznachrichtendienst Twitter?
Kahl: Gar nicht.
SPIEGEL: Können Sie als Chef des deutschen
Auslandsgeheimdienstes darauf verzich-
ten? US-Präsident Donald Trump scheint
ja in der Lage, per Tweet eine Weltkrise
auszulösen.
Kahl: Was der amerikanische Präsident
twittert, liest man früh genug auch anders-
wo. Davon abgesehen, gehören die USA
nicht zu unseren Aufklärungszielen.
SPIEGEL: Im Wahlkampf hat Trump mehr-
fach gesagt, Foltermethoden wie Water-
boarding seien in Ordnung. Der BND
tauscht sich mit den US-Geheimdiensten
eng aus. Beunruhigt Sie Trumps Position?
Kahl: Viele Überlegungen des Kandidaten
Trump sind nach der Wahl von seinen Be-
ratern sehr schnell gekontert worden. Und
Trump hat in Sachen Folter gesagt: Wenn
mein Verteidigungsminister, mein Außen-
minister, mein Sicherheitsberater abraten,
dann lassen wir es so, wie es ist. Wir haben
derzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass
sich die Rechtslage der Vereinigten Staaten
ändern wird.
SPIEGEL: „America First“ ist Trumps Pro-
gramm. Steht zu befürchten, dass die Be-
reitschaft der US-Dienste, die deutschen
Behörden ständig mit Informationen und
Terrorwarnungen zu versorgen, nachlässt?
Kahl: Wenn sich „America First“ zum Dog-
ma in der nachrichtendienstlichen Zusam-
menarbeit entwickeln würde, wäre das
nicht so lustig. Aber bisher gibt es keinerlei
Anzeichen dafür, dass da irgendwas zu-
rückgefahren wird. Ich habe großes Ver-
trauen in die amerikanischen Institutionen
und bin zuversichtlich, dass in den Berei-
chen, die für unsere Arbeit relevant sind,
auch unter der neuen Administration hin-
reichend Vernunft und Sachverstand zur
Geltung kommen.
SPIEGEL: Die Enthüllungsplattform Wiki-
Leaks hat jüngst brisantes Material aus
dem Innenleben der CIA veröffentlicht.
Müssen wir befürchten, dass auch der
BND über alle möglichen umprogram-
mierten Geräte zur Überwachung in das
Privatleben der Bürger hineinkriecht:
WERNER SCHUERING / DER SPIEGEL

Handy, Fernsehgerät, Auto, Rauchmelder?


Kahl: Diese Sorge kann ich den Deutschen
nehmen. Wir haben kein Interesse, ins Pri-
vatleben der Leute einzudringen. Wir als
BND haben einen klaren gesetzlichen Auf-
trag: Wir müssen Informationen über das
Ausland beschaffen, die für die Sicherheit
BND-Präsident Kahl: „Kein Interesse, ins Privatleben der Leute einzudringen“ des Landes notwendig sind. Da ist das Pri-
38 DER SPIEGEL 12 / 2017
vatleben der eigenen Bürger absolut irre- SPIEGEL: Verlagert sich der IS in andere fisten ist in den letzten Jahren unheimlich
levant. Länder, etwa nach Libyen? gestiegen, auf 9700 – mithin ein großes
SPIEGEL: Nicht unbedingt. Der BND hat Kahl: Wir sehen IS-Aktivitäten in Libyen. Reservoir von Leuten, die irgendwann
Hansjörg Haber, von 2008 bis 2011 Leiter Und wir beobachten Aktivisten in der Sub- auch gewalttätig werden könnten …
der EU-Beobachtermission in Georgien, sahara-Zone, die früher Boko Haram hie- SPIEGEL: … etwa weil sie in Moscheen und
abgehört. Einen deutschen Staatsbürger ßen und jetzt auch dem IS zugeordnet wer- Schulungszentren indoktriniert werden.
also – und Ehemann der gleichnamigen den müssen. Wir sehen den IS in Afgha- Diese werden aus Golfstaaten, die mit der
Staatssekretärin im Bundesinnenministe- nistan, wir sehen den IS auf dem Sinai. Bundesrepublik enge Beziehungen pfle-
rium. SPIEGEL: Sind das einzelne Zellen oder gibt gen, finanziell unterstützt.
Kahl: Das widerspricht meiner Aussage von es ein großes Netzwerk? Kahl: In dieser Hinsicht registrieren wir Ver-
eben nicht. Kahl: Es gibt immer wieder Bestrebungen, besserungen. Es hat ja auch keinen Sinn,
SPIEGEL: Stimmt, erst wenn jemand Politi- im Namen des IS tätig zu werden, die dann den Terrorismus im Nahen Osten zu be-
ker war, Botschafter, Mitarbeiter einer eine Zeit lang brauchen, bis sie von der kämpfen, während er in Deutschland durch
NGO oder einer europäischen Institution, IS-Zentrale anerkannt werden. Das heißt Missionare befördert wird. Deshalb sind
konnte er auf die sogenannte Selektoren- aber nicht, dass alles zentral gesteuert etliche Regierungsmitglieder in den Golf-
liste geraten. Solche Personen haben Sie wird. Auch einiges, was in Deutschland staaten vorstellig geworden. Das hat auch
zuhauf abgehört … passiert ist, bedurfte keiner Anleitung aus hierzulande sichtbare Ergebnisse gebracht.
Kahl: … und aus solchen Vorfällen haben Rakka oder sonstigen Zentren. Das Perfide SPIEGEL: Spätestens seit Edward Snowden
wir Konsequenzen gezogen. Inzwischen dieses terroristischen Wesens ist, dass es reden wir fast nur noch über technische
haben wir auch ein neues BND-Gesetz, sich weitgehend allein entzünden kann. Möglichkeiten der Aufklärung. Gibt es den
das genauer definiert, unter welchen Be- SPIEGEL: Es gibt die These: Je stärker der klassischen Spion wie aus den John-le-Car-
dingungen man die Lauscher aufsperren IS unter territorialen Druck gerät, desto ré-Romanen noch?
darf und unter welchen nicht. Kahl: Den gibt’s auch noch. Wir
Diese Fälle unterliegen nun können Human Intelligence, die
nicht nur einer verschärften klassische Aufklärungsarbeit
Genehmigungspraxis, sondern mit menschlichen Quellen, nicht
auch einer nach wie vor sehr ad acta legen. Wir wollen sie so-
ambitionierten Kontrolle. gar ausdehnen. Aber darüber
SPIEGEL: Werden Sie weiterhin rede ich naturgemäß nicht so
Journalisten abhören? gern.
Kahl: Wir werden uns an die SPIEGEL: Das sollten wir aber. In
Bestimmungen halten, die jetzt München steht derzeit eine ih-
Gesetz sind. Da gibt es Abstu- rer Quelle vor Gericht. Ali R.
fungen zwischen Deutschen, Eu- hat den BND und andere deut-
ropäern und jenen, die in Dritt- sche Behörden monatelang aus
ländern arbeiten und sich bewe- Syrien über den IS informiert.
gen. Wenn sich in Rakka ein Jetzt droht ihm eine lange Frei-
LARRY DOWNING / REUTERS

Ausländer das Schild umhängt, heitsstrafe wegen der Mitglied-


er sei Journalist, dann werden schaft in einer terroristischen
wir ihn trotzdem abhören, wenn Vereinigung. Wie finden Sie das,
er mit dem „Islamischen Staat“ wenn Ihre Quellen verurteilt
unter einer Decke steckt. werden?
SPIEGEL: Aber Sie haben zwi- Kahl: Warten Sie erst mal die
schen diesem Mann und ange- CIA-Zentrale in Langley Ergebnisse des laufenden Ge-
stellten Redakteuren der briti- „Großes Vertrauen in amerikanische Institutionen“ richtsverfahrens ab! Grundsätz-
schen BBC oder der „New York lich müssen wir dafür Sorge tra-
Times“ offenbar keinen Unterschied ge- höher wird das Anschlagsrisiko in Europa. gen, dass Personen, die uns Erkenntnisse
sehen. Wo ist die Grenze? Stimmt das? verschaffen, nicht dafür bestraft werden.
Kahl: Das lässt sich schwer am grünen Tisch Kahl: Ich würde das nicht in dieser Aus- SPIEGEL: Wie soll das gehen? Eine mensch-
sagen. Wir haben jedenfalls kein Interesse schließlichkeit formulieren. Natürlich wird liche Quelle im IS hat automatisch eine
daran, Journalisten als Berufsgruppe aus- der IS darauf achten, dass er sichtbar bleibt Straftat begangen, eben weil sie Mitglied
zuforschen. Weder im In- noch im Aus- und für seine Anhänger Erfolge generiert. des IS ist.
land. Wir sind auf der Suche nach sicher- SPIEGEL: Was ist gefährlicher? Dass IS- Kahl: Hier muss unterschieden werden, ob
heitsrelevanten Informationen. Nach Men- Kämpfer von einem zum anderen Gebiet eine Mitgliedschaft echt ist oder nur eine
schen, die Übles im Schilde führen. Da wandern oder dass sich Leute, wie Sie es Art Tarnung. Aber das ist rein faktisch
lässt es sich nicht vermeiden, dass diese nennen, selbst entzünden? schwierig zu trennen, weil ein Mitglied
Leute auch mit anderen kommunizieren, Kahl: Die Gefahren bestehen nebenein- auch zu Mutproben und Beweistaten ge-
die weniger im Verdacht stehen. ander. Da sind zum einen die Rückkehrer, zwungen wird, die ihrerseits wieder eigene
SPIEGEL: Wie schätzen Sie aktuell die Si- die ausgebildeten Dschihadisten. Gefähr- Strafbarkeiten auslösen. Das ist ein sehr,
tuation des IS in Syrien und im Irak ein? lich sind sie dann, wenn sie ihren Lebens- sehr schwieriges Feld.
Kahl: Im Gegensatz zu anderen Terror- mittelpunkt im Westen hatten und sich SPIEGEL: Dem IS geht angeblich das Geld
organisationen strebte der IS eine Art Ge- auskennen. Das Zweite sind die, die aus. Können Sie das bestätigen?
bietsherrschaft an. Die wird ihm gerade mit den Migrationsströmen kommen, viel- Kahl: Er wird nicht in absehbarer Zeit
genommen, er verliert an Territorien. Das leicht noch keinen Auftrag haben, aber bankrott und handlungsunfähig sein. Aber
heißt aber nicht, dass er verschwindet. Der sich hier radikalisieren. Und das Dritte Einnahmequellen aus der Ölproduktion
IS wird sich weiterhin inszenieren und be- sind diejenigen, die hier schon lange leben gehen zurück, das können wir sehen.
merkbar machen. und sich radikalisieren. Die Zahl an Sala- Auch die Steuern und Abgaben nehmen
DER SPIEGEL 12 / 2017 39
ab, weil mit jedem Gebietsverlust Bevöl-
kerung wegbricht, die man auspressen
kann.
SPIEGEL: Was hat das für Folgen?
Kahl: Die Kämpfer sind nicht mehr in der
Lage, sich so wie in der Vergangenheit zu
bewaffnen und auszurüsten. Irgendwann
ist der Fundus leer.
SPIEGEL: Im Kampf gegen den IS gehört die
Türkei zu den wichtigsten Verbündeten.
Wie betrachten Sie in diesem Zusammen-
hang die jüngsten Friktionen zwischen der
Bundesregierung und dem Regime Er-
doğan?
Kahl: Ich habe das Verhältnis zwischen der
Bundesregierung und ausländischen Re-
gierungen nicht zu kommentieren. Unter
rechtsstaatlichen Gesichtspunkten sind in
der Türkei Entwicklungen zu beobachten,
die alles andere als beruhigend sind. Die
Frage ist: Bleibt das Land als Partner in
der Sicherheitsallianz bestehen?
SPIEGEL: Im Moment legt es Erdoğan gera-
dezu darauf an, sein Verhältnis zum Wes-
ten zu verschlechtern.
Kahl: Es gibt immer mal bessere und
schlechtere Phasen. Nachrichtendienste
müssen auch mit Staaten zusammenarbei-

CHRIS GOSSMANN
ten, die nicht unseren rechtsstaatlichen
Prinzipien genügen. Schon allein wegen
der geografischen Lage der Türkei ist es
klar, dass wir die Kanäle nicht zuschütten
Razzia bei Islamisten in Hildesheim am Dienstag: „Zahl an Salafisten unheimlich gestiegen“ wollen.
SPIEGEL: Erdoğan hat den Putschversuch
gegen sich eindeutig der Bewegung des
Predigers Fetullah Gülen zugeschrieben.
Über hunderttausend Beamte wurden da-
raufhin entlassen, Tausende kamen ins Ge-
fängnis. Steckte Gülen tatsächlich hinter
dem Putsch?
Kahl: Die Türkei hat auf den verschiedens-
ten Ebenen versucht, uns davon zu über-
zeugen. Das ist ihr aber bislang nicht ge-
lungen.
SPIEGEL: Welche Erklärung haben Sie für
den Putschversuch gegen Erdoğan? War
er gar von der Regierung inszeniert?
Kahl: Der Putschversuch war nicht staat-
lich initiiert. Bereits vor dem 15. Juli hatte
eine große Säuberungswelle der Regie-
rung begonnen. Deshalb dachten Teile des
Militärs, sie sollten schnell putschen,
bevor es auch sie erwischt. Aber es war
zu spät, und sie sind mit weggesäubert
worden.
SPIEGEL: Das hört sich nicht nach einer gro-
ßen Verschwörung an, wie sie Präsident
Erdoğan immer wieder behauptet.
Kahl: Was wir als Folge des Putsches gese-
hen haben, hätte sich – vielleicht nicht in
der gleichen Tiefe und Radikalität – auch
ALEXANDER UTKIN / AFP

so ereignet. Der Putsch war wohl nur ein


willkommener Vorwand.
SPIEGEL: Ist die Gülen-Bewegung islamis-
tisch-extremistisch oder gar terroristisch?
Kahl: Die Gülen-Bewegung ist eine zivile
Russische Militärparade in Moskau: „Kampfkraft an der Westgrenze verdoppelt“ Vereinigung zur religiösen und säkularen
40 DER SPIEGEL 12 / 2017
Deutschland

Weiterbildung. Das waren Nachhilfeschu- SPIEGEL: Was Sie beschreiben, sind nur müssen wir als Dienst Ergebnisse liefern.
len, Ausbildungseinrichtungen, die mit den Propagandaaktivitäten. Dabei haben die Die russische Bedrohung hat sich ver-
Erdoğan-Kräften jahrzehntelang zusam- Russen schon vor Jahren gezeigt, dass sie schärft. Deshalb nehmen wir sie auch sehr
mengearbeitet haben. einen ganzen Staat lahmlegen können: ernst. Es ist nicht nur die propagandistische
SPIEGEL: Bezeichnen Sie die Bewegung als Estland. Bedrohung, es kommt auch wieder das
Sekte? Kahl: Es gibt Anlass zur Vermutung, dass ganz konventionelle Thema auf die Tages-
Kahl: Das fällt mir schwer. Es ist eher ein die Angriffe, die gegen den Server des ordnung.
in westlichen Gesellschaften gebräuchli- Deutschen Bundestags gefahren wurden, SPIEGEL: Was meinen Sie?
ches Erklärungsmuster. Jedenfalls war die russischen Einfluss haben. Es sind die glei- Kahl: Das, was sich im militärischen Be-
Gülen-Bewegung keine unbedeutende chen Strukturen, die auch bei Aktionen in reich und in der Rüstung tut. Russland hat
Minderheit. Nachbarländern beobachtet worden sind. die Kampfkraft an der Westgrenze ver-
SPIEGEL: Erdoğan hat sinngemäß angekün- SPIEGEL: Dann muss es Sie doch ärgern, doppelt. Das sind nicht nur „Iskander“-
digt, die Welt wachzurütteln. wenn die Bundesregierung sagt, es gebe Raketen. Es gibt auch viele Flugkörper
Kahl: Ja, das war eine rhetorisch interes- für eine russische Beteiligung keinen end- in der Krimregion. Und konventionelle
sante Formulierung. Ich würde diese vor gültigen Beweis. Der entsprechende Be- Streitkräfte. Das kann man nicht alles als
allem nach innen gerichteten Worte nicht richt von BND und Verfassungsschutz wird Defensive gegen den Westen beurteilen.
auf die Goldwaage legen. entgegen ersten Ankündigungen doch Man muss es auch als potenzielle Bedro-
SPIEGEL: Man könnte sie auch so interpre- nicht veröffentlicht. hung betrachten.
tieren, dass die Türkei zum Beispiel ein In- SPIEGEL: Insbesondere, wenn man die so-
teresse daran hat, die Bundestagswahl zu
beeinflussen.
„Es gibt viele Möglich- genannten Zapad-Manöver der Russen be-
trachtet. Werden wir bald einen russischen
Kahl: Nein. Die Türkei will die türkischen keiten, was man in Einmarsch ins Baltikum erleben?
Bürger, die hier leben, in Bezug auf die
türkische Wahl und das Referendum über
den deutschen Wahlkampf Kahl: Es gibt eine Panzerarmee im Westen
Russlands. Wenn die im Zuge dieses Ma-
die Verfassungsänderung beeinflussen. einspeisen könnte.“ növers in Weißrussland einrückt, bin ich
Wir haben bisher keine Anhaltspunkte da- mal gespannt, ob das dann noch einer mit
für, dass die Türkei sich in den deutschen Kahl: Das ärgert mich nicht. Zum einen defensiven Überlegungen rechtfertigen
Wahlkampf einmischt. Das machen an- gibt es halt diese kleine Lücke zwischen will.
dere. Evidenz und gerichtsfestem Beweis. Zum SPIEGEL: In Russland sitzt ein Mann, der
SPIEGEL: Sie meinen Russland. Die Ameri- anderen besteht unser Auftrag weiter, das das Vorgehen der Geheimdienste so trans-
kaner werfen den Russen eine massive aufzuklären. parent gemacht hat wie nie jemand zuvor.
Einmischung in den Präsidentschaftswahl- SPIEGEL: Womit könnte Russland die Bun- Wenn Sie zurückblicken: Waren die Ent-
kampf vor. Droht uns das auch hier? destagswahl beeinflussen – abgesehen von hüllungen von Edward Snowden für die
Kahl: Wir müssen zumindest damit rech- der üblichen Propaganda? Dienste nur lästig – oder hatten sie auch
nen, dass es passieren kann. Wir haben Kahl: Denken Sie zum Beispiel an den Ha- etwas Gutes?
das in der Vergangenheit ja nicht nur in ckerangriff auf den Bundestag. Da gibt es Kahl: Bei meinem Amtsantritt war das The-
Deutschland erlebt, sondern auch in an- viele denkbare Möglichkeiten, was man ma Snowden praktisch schon durch. Aber
deren Regionen Europas, in denen dem- in den deutschen Wahlkampf einspeisen meines Erachtens kann es niemand begrü-
nächst gewählt wird. Das Ziel Putins ist könnte. ßen, wenn neue Sicherheitsrisiken entste-
unverändert: Die Bundesregierung hält SPIEGEL: Manche behaupten, auch Wiki- hen, weil Geheimes durchgestochen wird.
nach dem Wechsel in den USA und nach Leaks sei von den Russen mitgesteuert. Ich halte den Schaden für größer als den
dem Brexit die Sanktionspolitik gegenüber Haben Sie dafür Indizien? Nutzen.
Russland hoch. Diesen Zustand würde Pu- Kahl: Es fällt zumindest auf, dass die eben SPIEGEL: Ohne Snowden hätten wir keine
tin gern beseitigen. Insofern wäre es plau- schon beschriebene Propaganda drei Debatte über die Rolle der Geheimdienste
sibel, einiges dafür zu investieren, dass die Sprachrohre hat: den Fernsehsender Russia in der Gesellschaft geführt. Und Sie wären
Bundestagswahl zu Veränderungen führt. Today, die Website Sputnik und die Ent- heute nicht BND-Präsident.
Das wäre ein Motiv. hüllungsplattform WikiLeaks. Kahl: Meinen persönlichen Werdegang mal
SPIEGEL: Ein Motiv bedeutet noch keine SPIEGEL: Von wem geht die größere Bedro- außen vor gelassen: Die Kosten-Nutzen-
Tat. hung aus, von Russland oder dem IS? Rechnung der Snowden-Diskussion sollte
Kahl: Wir müssen uns auf Phänomene wie Kahl: Ich sehe den Terrorismus ganz oben man mit einem etwas größeren zeitlichen
in Litauen gefasst machen … auf der Gefahrenliste. Das ist die Sorge, Abstand aufstellen. Die Transparenz in
SPIEGEL: … wo es falsche Vergewaltigungs- die in der Bevölkerung am größten ist. Da Staatsschutzbelangen über die Arbeitsbe-
vorwürfe gegen Bundeswehrsoldaten ge- dingungen eines Geheimdienstes zu stel-
geben hat … len, die wir für die Sicherheit des Landes
Kahl: … so kleine Schnipsel von Fake brauchen, das halte ich für einen Pyrrhus-
News, die dann auf Umwegen durch rus- sieg. Einmal abgesehen davon, dass der
sische Medien in den sozialen Netzwerken Eindruck erweckt wurde, unser Gewerbe
hierzulande die Welle machen. Das Muster sei degoutant. Mit etwas Abstand wird das
WERNER SCHUERING / DER SPIEGEL

haben wir schon oft genug beobachtet. anders gesehen werden.


Indem wir es transparent machen, hof- SPIEGEL: In zehn Jahren blicken wir skep-
fen wir natürlich, dass wir den Russen tischer auf Snowden?
Anlass zur Vorsicht geben. Auch Putin hat Kahl: Ich hoffe das sehr. Wir haben eine
kein Interesse, auf frischer Tat erwischt Unwucht in der Debatte, die sich nicht
zu werden. mehr traut, einen Verrat auch Verrat zu
nennen. Und Straftaten glorifiziert.
* Alfred Weinzierl, Martin Knobbe und Fidelius Schmid Kahl, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Kahl, wir danken Ihnen für
in der BND-Dependance in Berlin-Lichterfelde. „Fake News transparent machen“ dieses Gespräch.
DER SPIEGEL 12 / 2017 41
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* SEPA-Lastschriftmandat: 0ĔığšŋČĔıŭĴĬğĚğōvğšŅćĬćıŅųōĬğōžœōŋğĴōğŋ<œōŭœŋĴŭŭğŅť>ćťŭťĔıšĴĨŭğĴōųĴğığōųĬŅğĴĔıſğĴťğĴĔıŋğĴō<šğĚĴŭĴōťŭĴŭųŭćōĚĴğžœŋvğšŅćĬćųĨŋğĴō<œōŭœĬğœĬğōğō>ćťŭťĔıšĴĨŭğōğĴōųŅŘťğō-ĴōſğĴť0ĔıłćōōĴōōğšıćŅĒ
von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Q U E L L E : K R I M I N O LO G I S C H E S F O R S C H U N G S I N ST I T U T N I E D E R SAC H S E N
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013 Früher war alles schlechter
2014
2015
Nº 64: Morde an Kindern

Ungeheuer unwahrscheinlich. Nachrichten wie jene vom Mord an gruppe 48 Morde, 2015 waren es 16. Die Wahrscheinlichkeit,
einem neunjährigen Jungen in Herne vorige Woche müssen je- dass in Deutschland ein Kind ermordet wird, beträgt pro Tag
den empfindungsfähigen Menschen erschüttern. Nicht wenige rund 1 zu 200 Millionen. Der englische Risikoforscher David
Eltern haben sich dieser Tage vermutlich gegen einen schreck- Spiegelhalter drückt solche Zahlenverhältnisse in Münzwürfen
lichen Gedanken wehren müssen: Es hätte auch meinen Sohn, aus: 27-mal nacheinander muss eine Münze auf derselben Seite
meine Tochter treffen können. Jedes ermordete Kind ist eine landen, dann ist eine Wahrscheinlichkeit von 1 zu 200 Millio-
Katastrophe, ist eine zerstörte Welt. Es mag herzlos erschei- nen erreicht. Von ihm stammt auch der Hinweis, dass der
nen, dem tragischen Einzelfall eine kalte Statistik gegenüber- Mensch niemals sicherer lebt als mit etwa sieben Jahren. In
zustellen, doch genau das bleibt unerlässlich, um eine Fehl- keinem Alter sterben Menschen seltener als mit sieben.
einschätzung der Wirklichkeit zu vermeiden. Kindsmord ist ein Spiegelhalter geht noch weiter: „In der gesamten Geschichte
extrem seltenes Ereignis. Es gibt rund zehn Millionen Kinder der Menschheit war niemals jemand sicherer als ein siebenjäh-
unter 14 Jahren in Deutschland, 1995 gab es in dieser Alters- riges Kind in der heutigen westlichen Welt.“ guido.mingels@spiegel.de

Zensur Nehmen Sie „Charlie und die gen nach sofortiger Befriedi- Staatsideologie unterstützt.
Wie gefährlich ist Schokoladenfabrik“. gung. Diese Gier bringt Pu Übrigens wurden auch in
SPIEGEL: Eine Geschichte über immer wieder in Schwierig- westlichen Ländern Kinder-
„Pu der Bär“, Schokolade? keiten. Das könnte man auch bücher auf den Index gesetzt.
Frau Mickenberg? Mickenberg: Eigentlich geht es als Warnung vor dem Kapita- SPIEGEL: Welche?
um eine riesige Schokoladen- lismus verstehen. Mickenberg: Die Südstaaten
Julia Mickenberg, 48, ist Pro- fabrik voller Versuchungen, SPIEGEL: Warum will China der USA haben in den Fünfzi-
fessorin an der Universität von für die ein geeigneter Erbe diese Bücher nicht? gerjahren viele Bücher ver-
Texas und forscht zu Kinder- gesucht wird. Nur einer, Mickenberg: Kinder sind boten, unter anderem das Bil-
büchern und Kommunismus. mit dem richtige Charakter, beeinflussbar. Davor haben derbuch „Die Kaninchen-
gewinnt. Das Machthaber hochzeit“, in dem ein weißes
SPIEGEL: Frau Mickenberg, ist natürlich Angst, und Kaninchen ein schwarzes
die chinesische Regierung ein kapitalistisches gleichzeitig wol- heiratet. In den Neunzigern
will den Verkauf west- Thema. len sie es sich verbannten zahlreiche US-
licher Kinderbücher ein- SPIEGEL: Bei „Pu zunutze machen. Bibliotheken das Kinderbuch
schränken, aus Sorge um der Bär“ geht es Die Sowjetunion „Heather has two mommies“,
einen untragbaren „Zustrom viel um Honig. hat große An- in dem zwei Lesben ein
von Ideologie“. Ist unsere Mickenberg: Um strengungen un- Kind großziehen. Und aktuell
Kinderliteratur kapitalistische Appetit auf Honig, ternommen, gehen christliche Gemeinden
Propaganda? der nie wirklich eigene Kinder- in den USA massiv gegen
DDP IMAGES

Mickenberg: Das kommt da- gestillt werden literatur zu produ- „Harry Potter“-Bände vor, weil
rauf an, wie man sie liest. kann, um Verlan- zieren, die ihre darin Hexerei vorkommt. jst

44 DER SPIEGEL 12 / 2017


Gesellschaft
wählt, „weil Zitronen frisch sind und exotisch, und trotz-
Primamuslima dem gehören sie hierher“.
Merve Kayikci, die mutige Muslimin, war also spät dran
an jenem Montagmorgen, es hatte eine Streckensperrung
Ein Tweet und seine Geschichte Eine Frau gegeben, sie wartete auf ihren Anschlusszug, ihre Vor-
lesung sollte in wenigen Minuten beginnen. Plötzlich hörte
mit Kopftuch wird als Bombenlegerin sie das Wort „Bombenlegerin“ hinter sich.
beschimpft und erhält Rückendeckung. Sie ist Pöbeleien gewohnt, meist reagiert sie nicht. Das,
sagt sie, habe sie von deutschen Passanten in der S-Bahn

E
in atemloser Montagmorgen Mitte Januar, um 6.30 gelernt. „Die glotzen aus dem Fenster, wenn was ist.“
Uhr klingelte ihr Wecker, um 7.30 Uhr saß sie in der Wegglotzen, weghören, bloß nicht einmischen. So kennt
S-Bahn Richtung Universität, ihre erste Vorlesung es Merve, wenn wieder mal einer ihr Kopftuch als Kriegs-
begann um 8.15 Uhr. Um 8.19 Uhr jedoch saß die Deutsch- erklärung versteht und sie beschimpft.
türkin Merve Kayikci, 22 Jahre alt, immer noch in der Doch diesmal drehte sie sich um. Vor ihr stand eine
Bahn über ihrem Handy und setzte den ersten Tweet des Frau mittleren Alters, lilafarbene Strickmütze, gepflegt.
Tages ab. Er hatte 137 Zeichen, sie tippte ihn mit zittriger „Sprechen Sie mit mir?“, fragte Merve und bereute es
Hand, nachdem sie sich etwas beruhigt und tief Luft geholt sofort.
hatte. Er lief unter ihrem Twitter- Natürlich sprach die Frau mit ihr,
namen @primamuslima, nie zuvor der Redeschwall war laut und wüst.
bekam sie so viele Reaktionen. Sie sagte zu Merve, dass es „ihre
Zur Vorlesung über Web Develop- Leute“ seien, die Deutschland zer-
ment an der Hochschule der Medien störten. Dass das ihre Leute gewe-
kam Merve viel zu spät, was un- sen seien bei dem Anschlag in Ber-
günstig war. Andererseits erlebte sie lin. Dass 90 Prozent aller Muslime
eine Lehrstunde über Zivilcourage von Hartz IV lebten, also von Deut-
und Fake News. Mehr als ihr die schen durchgefüttert würden, nicht
Professoren hätten beibringen kön- von Allah. Wo er denn sei, ihr Gott?
nen, eigentlich war sie recht zufrie- Merve verlor kein Wort über ih-
den mit diesem Tag. ren Glauben, der ihr Halt gibt und
Merve Kayikci ist eine aufgeweck- Zuversicht, über Oma, die Putze,
te junge Frau, sie lebt mit Eltern Opa, den Fabrikarbeiter, die
und vier jüngeren Geschwistern in Deutschland mitaufgebaut und nie
Korntal-Münchingen bei Stuttgart, einen Cent Arbeitslosenhilfe bean-
Heimat der evangelischen Brüder- sprucht hatten, wie angewurzelt
gemeinde, einst „Rom des Pietis- stand sie da.
mus“ genannt. Merve wird oft ge- Diesmal aber war sie nicht allein,
FIONA EHLERS / DER SPIEGEL

fragt, wie sie es mit der Religion hal- diesmal gab es Menschen, die sie
te. Kummer mit dem Glauben ist verteidigten. Ob sie das ernst mein-
sie gewohnt. te, fragte eine Frau mit Koffer. Und
Merve steht im Stuttgarter S-Bahn- ein junger Mann zog die Kopfhörer
hof Schwabstraße und erzählt, was aus den Ohren und fragte die Frau,
hier passierte an jenem Montag im was dieses Mädchen für den An-
Januar, als sie sich mal wieder in ihre Kayikci schlag könne? „Menschen, die so
Heimat und die Deutschen verliebte. etwas tun, sind genauso wie Sie,
Sie ist Muslimin, seit der fünften voller Hass!“
Klasse trägt sie den Hidschab. Mer- „Völlig Fremde standen auf für
ves Mutter stammt aus der Türkei, mich“, sagt Merve und kann es bis
ihr Vater ist Anwalt, dessen Eltern heute nicht fassen. „Wo sind die nur
wiederum als Gastarbeiter aus Ana- all die Jahre gewesen?“
tolien kamen. Merve hat die doppel- Dann kam ihre Bahn, sie sprang
te Staatsbürgerschaft, sie findet, „der hinein und versäumte, sich bei ihren
Islam gehört zu Deutschland, ebenso Twitter-Post Fürsprechern zu bedanken, was sie
wie ich“. bis heute bedauert. Stattdessen twit-
Sie hat einen Blog, der heißt auch primamuslima, in terte sie, 137 Zeichen: „S-Bahn ist ausgefallen, da kommt
dem schreibt sie klug und humorvoll über den Unterschied noch ’ne Frau und beschimpft mich als Bombenlegerin.
zwischen Islam und Islamismus, über Vorurteile und wie Sieben fremde Leute stehen auf und verteidigen mich!“
man sich gegen sie wehrt. Dass sie verbohrt sei in ihrem Zur Uni kam sie viel zu spät, den ganzen Tag vibrierte
Glauben, kann man ihr nicht vorwerfen. Sie sagt: „Meine ihr Handy. Über 2000-mal wird ihr Tweet geliked und 400-
Oma entsprach dem Klischee einer Türkin, die war Putz- mal geteilt. Die meisten sind stolz auf diese stolze Mus-
frau und wischte Böden. Ich hingegen will in den Köpfen limin, aber es gibt auch Menschen, die glauben ihr die
der Menschen aufräumen.“ Geschichte nicht. Die schrieben, dass Merve wohl keine
Merve ist oft rebellisch, eine moderne, feministische Bombenlegerin sei, aber Bombenleger unterstütze und
Muslimin, so sagt sie es selbst. Ihre konservativen Eltern lüge, um sich wichtigzumachen. Merve machte das, was
haben es nicht immer leicht mit ihr, sie sagt, nach dem sie immer macht in solchen Fällen, sie blockierte die gröbs-
Studium wolle sie vielleicht was mit Öffentlichkeitsarbeit ten Spinner. Das kann man bei Twitter. Im Leben kann
machen. Als Leitmotiv ihres Blog hat sie die Zitrone ge- man das nicht. Fiona Ehlers

DER SPIEGEL 12 / 2017 45


Gesellschaft

T
ief unten, im Kellerflur, lenkt ein über 2000 Jahre nach dem Eid des Hippo- werden. Ihnen fehle oft ausreichend Zeit
Mann im roten Overall ein Lasten- krates berufen. Doch nun, stattdessen, Out- für die Kranken, sagen auch Ärzte, genau-
fahrrad über groß gemusterten Fuß- sourcing und Lohnsklaverei? so wie für die Forschung. Und nicht nur
boden. Vor einer geöffneten Tür hält er Die Charité ist ein Mythos, eine welt- Mitarbeiter der ausgelagerten Tochterfir-
an. „Nachschub!“, ruft er und schiebt ein weit anerkannte Marke aus Berlin, eine ma, auch Krankenschwestern und Pfleger
längliches Paket in den Raum. Zehn Men- Gesundheitsfabrik, im vergangenen Jahr haben gestreikt.
schen hantieren an den vollgestellten Ti- sind dort 1,4 Millionen ambulante Termine Es steckt mehr hinter den Beschwerden
schen, überall Werkzeug, ein paar defekte vergeben und 150 000 Patienten auf den als der übliche Unmut über das deutsche
Lampen, ein Beatmungsgerät. Wie vor- Stationen behandelt worden. 16 800 Mitar- Gesundheitssystem, mehr als routinierte
geschrieben überprüfen sie regelmäßig die beiter und ein riesiger Anspruch. Behan- Kritik am Arbeitgeber – auch mehr als
Geräte des Unternehmens, 71 500 sind es deln, lehren, forschen lautet der Auftrag der oft maßlose Anspruch von Menschen
insgesamt und die Vorgaben straff, heißt aller 33 Universitätsklinika in Deutschland. an ihr Wohlbefinden. Es ist die Ökonomi-
es im Keller: Das Management erwarte, Das Einmaleins der Medizin gehört dazu sierung in den Kliniken, die zu solchen
dass der Apparatepark zwei Jahre länger genauso wie Grundlagenforschung oder Klagen führt, überall im Land. Der Kos-
hält als üblich. Wenn nicht, stehe ein Ge- Hilfe bei seltenen Krankheiten und die tendruck lastet in der Charité auf allen
spräch mit dem Controlling an. Ausbildung von Studenten und Fachärzten. Beteiligten, auf Ärzten wie der Unfall-
Tür an Tür, wie ein unterirdisches Dorf Die Charité aber ist mehr. chirurgin Almut Tempka, auf Patienten
erstrecken sich die Werkstätten. Kaum et- Weltraummedizin. Spezialsprechstun- wie dem vierjährigen Casimir, auf Medi-
was erinnert an die Welt der weißen Kittel den für Menschen mit pädophiler Neigung. zinmanagern wie Karl Max Einhäupl,
auf den oberen Stockwerken – hier, in dem Ordinationen für Blasmusiker mit überan- Wissenschaftlern wie Frank Heppner
Klinikkeller der Charité, herrscht die Lie- strengtem Kehlkopf. Sonderisolierstatio- und der Kinderkrankenschwester Gudrun
genschaftsverwaltung. 2900 Mitarbeiter er- nen für Patienten mit hochansteckenden Peschel.
ledigen all das, was Ärzte und Pfle- Seit Jahren nimmt die Zahl der
ger nicht leisten. Sie transportieren Patienten zu, sie werden älter, sie
vorgekochte Speisen durch die leiden an mehreren Krankheiten

Die Klinik
Stadt und Tierkadaver aus Versuchs- gleichzeitig, das kostet Geld. Ein
laboren, sie desinfizieren Matratzen neues Arbeitszeitgesetz zog zahl-
und sterilisieren Betten, sie pressen reiche neue Arztstellen nach sich;
Glas, Papier und entsorgen anderen die Gehälter, vor allem die der Me-
Müll, fast 26 Tonnen am Tag. diziner mit ihren verhandlungs-
16 210 sicherheitstechnische Kon- starken Vertretern im Marburger
trollen im Jahr. 99 075 Wartungen Mythen Die Berliner Charité ist Bund, steigen. Seit 2006 wuchsen
und Inspektionen. 1,5 Millionen allein die jährlichen Ausgaben der
Postsendungen. Und 114 Millionen Deutschlands größter Medizinbetrieb. Krankenkassen für die Behandlun-
Quadratmeter geputzte Fläche. In 16 800 Mitarbeiter und gen in Kliniken um beinahe die
der Einsatzzentrale der Reinigungs- Hälfte auf 73,3 Milliarden Euro an.
frauen hängt der Dienstplan mit mehr als 800 000 Patienten im Jahr Und mit ihren immer ausgefeilte-
Steckkarten, jede Menge türkische, unterliegen dem Druck der ren Möglichkeiten wird sich die
serbische und kroatische Namen. Medizin weiterhin verteuern.
Ein mehrsprachiges E-Learning- Ökonomisierung. Was bedeutet „Mehr Wirtschaftlichkeit!“, for-
Programm soll das Personal effi- das für den Alltag? dern Gesundheitspolitiker, mehr
zienter arbeiten lehren. Lappen, Effizienz, Kontrolle und Kalkül.
Schmierseife, Desinfektionsspray, Von Katja Thimm Doch wie kein anderer Betrieb
jeder Putzwagen identisch, bloß hängt ein Krankenhaus an kaum
nicht suchen, nur kein Zeitverlust, berechenbaren Mächten. Schicksal,
sonst sind 200 Quadratmeter Flä- Verzweiflung, Hoffnung, Angst –
che pro Stunde nicht zu schaffen. lauter Größen, die in Modellrech-
51 Prozent des Unternehmens gehören Krankheiten wie Ebola-Fieber. Politiker, nungen wenig Platz finden. Die zunehmen-
zum Krankenhaus, den Rest teilen sich drei Diplomaten und Prominente suchen hier de Ökonomisierung gefährde das Wohl der
Dienstleistungsfirmen. So fallen für die Hilfe; in der Ahnengalerie finden sich al- Patienten, warnen die Mitglieder des Deut-
Charité weniger Mehrwertsteuern an. Und lein acht Nobelpreisträger. Robert Koch, schen Ethikrats, vor allem das der beson-
es ist möglich, Gehälter tariflos und niedrig Paul Ehrlich, Emil von Behring: Seit dem ders schwachen.
zu halten. Wie der Lastenfahrer verdienen 19. Jahrhundert umgibt die Klinik, die Charité. Wo endet der Anspruch, wo be-
viele Mitarbeiter nicht viel mehr als den Friedrich I. von Preußen 1710 als Pesthaus ginnt die Wirklichkeit?
erhöhten Mindestlohn von 8,84 Euro. Sie gründete, flirrender Ruhm. Sie war eines Um Antworten auf diese Fragen geben
haben gestreikt, sie fühlen sich ausgebeu- der ersten Zentren moderner, laborgestütz- zu können, hat der SPIEGEL Zutritt be-
tet: Auch auf ihre Kosten hat das Kranken- ter und experimentell begründeter Medi- kommen zum Alltag dieses größten deut-
haus in nur zehn Jahren 342 Millionen zin. Der Ruf trägt bis heute. In der kom- schen Medizinbetriebs, er hat Ärzte, Pfle-
Euro eingespart. menden Woche beginnt in der ARD ein ger, Krankenschwestern, Putzkräfte, Apo-
Doch ohne sie würde es vielleicht schon historisch-fiktionaler Mehrteiler mit dem theker, Lastenfahrer, Bettenreiniger und
nicht mehr existieren. Titel „Charité“ (siehe Seite 52). Patienten über einen längeren Zeitraum
Charité. Der Name, französisch und aus Und doch steht auch dieses Kranken- hinweg begleiten dürfen.
vergangener Zeit, bedeutet Barmherzig- haus immer wieder in negativen Schlag-
keit. Er sei noch immer Verpflichtung, so zeilen. Patienten klagen über chaotische Es ist der Tag vor Christi Himmelfahrt, wie
steht es im Leitbild. Nach Nächstenliebe Abläufe, Behandlungsfehler, mangelnde an jedem Morgen treffen sich die dienst-
klingt die Broschüre, nach allen unveräu- Hygiene oder geschmackloses Essen – vor habenden Ärzte der „Klinik für Unfall-
ßerlichen Werten, auf die sich Ärzte auch allem aber über das Gefühl, abgefertigt zu und Wiederherstellungschirurgie“ zur
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STEFAN BONESS / DER SPIEGEL

Universitätsklinikum Charité: Klagen über chaotische Abläufe, Behandlungsfehler, mangelnde Hygiene

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Gesellschaft

Frühbesprechung. Die aufsteigenden Bän-


ke im Hörsaal bieten freie Sicht auf einen
Lichtkasten: Große Röntgenbilder zeigen
die Knochen der nächtlichen Patienten.
Eine altersdemente Frau ist auf einen
Tisch gestiegen, um das Fenster zu öffnen,
und dabei heruntergerutscht; ein Mann ge-
stürzt, als die Fahrradkette riss. Ein Suizid.
Ein Suizidversuch, der Patient ist zum drit-
ten Mal hier. Eine Messerstecherei, meh-
rere Autounfälle.
Seit über 20 Jahren arbeitet die Ober-
ärztin Almut Tempka am Virchow-Klini-
kum im Wedding, einem der vier Stand-
orte der Charité. Ein Reif hält das blonde
Haar aus der Stirn, ihr Ton ist zugewandt,
aber burschikos. Wenn Almut Tempka

ANNE SCHÖNHARTING / DER SPIEGEL


über die Bilanz der Nacht redet, sagt sie:
„Wir leben zu 40 Prozent von der Straße.“
Die Kollegen im Saal rechnen mit zahl-
reichen Motorradunfällen am bevorstehen-
den Vatertag. „Die Bettenlage ist kritisch“,
sagt einer, „wir sollten die für morgen ge-
planten Entlassungen so weit wie möglich
auf heute Abend verlegen.“ Dann verliest Mitarbeiterinnen bei der Reinigung von Klinikutensilien: Nur kein Zeitverlust
eine Krankenschwester Namen von Patien-
ten mit schweren Knochenentzündungen.
Sie werden bleiben, obwohl sie bereits jetzt
länger auf der Station liegen, als es das Ge-
sundheitssystem vorsieht. Ihr Körper rea-
giert nicht wie gewünscht auf die Therapie
mit Antibiotika. Weil die Krankheitserreger
allgemein widerstandsfähiger werden, wird
es zunehmend schwierig, Medikamente zu
entwickeln, die gegen Infektionen helfen.
Mehrere Tausend Euro pro Tag und Pa-
tient könne die Therapie kosten, sagt
Tempka. Und gerade in Unikliniken und
anderen Häusern der Maximalversorgung
mit ihren ohnehin hohen Vorhaltekosten
und Spezialisten für alle schwierigen Fälle
mehrten sich solche Extremkosten. „Nur
berücksichtigen Fallpauschalen diesen Um-
stand kaum“, sagt Tempka. Ein folgen-
schwerer Systemfehler, findet sie, es sei ei-

ANNE SCHÖNHARTING / DER SPIEGEL


ner von vielen.
Seit 13 Jahren regelt das DRG-System,
der „Diagnosis Related Groups“ (Fallpau-
schale), wie viel Geld eine Krankenkasse
einer Klinik für einen Patienten zahlt. Die
Summe berechnet sich aus den durch-
schnittlichen Kosten deutscher Kliniken
für die jeweilige Behandlung. Die DRGs Sterilisierte Operationswerkzeuge: Lukrative Eingriffe eher vorn auf der Warteliste
sollten die Ausgaben begrenzen.
Und tatsächlich haben die Fallpauscha-
len die Mediziner gezwungen, stärker wahl hoffen, wenn sie deren Schließung um Leben und Tod am Ende des Tages aus-
hauszuhalten. Seitdem nicht mehr nach verhindern. bleibt. Etwa 30 Euro zahlen die Kassen einer
Tagessätzen abgerechnet wird, werden Nach der Frühbesprechung nimmt Almut Rettungsstelle für einen gesetzlich versicher-
Patienten im Durchschnitt zwei Tage eher Tempka den Fahrstuhl hinunter zur Ret- ten Patienten. Für die Charité bedeutet das
entlassen. Gesundheitspolitiker hatten tungsstelle, einer der vier Notaufnahmen im Jahr 18 Millionen Euro Verlust.
ebenfalls erwartet, dass vor allem kleine der Charité. „Alles Verlustbringer“, sagt Aus einem Warteraum dringt Gebrüll.
Krankenhäuser dem Kostendruck nicht Tempka, so wie in den meisten Kranken- Ein Jugendlicher hat sich den Gips vom
standhalten könnten und am Ende mehr häusern. 24 Stunden Rundumbetrieb, ein Arm geschabt und schreit, er wolle sofort
Geld für die großen übrig bleibe. Doch Reanimationsraum, ein Gipsraum, ein Zim- einen neuen.
gerade die kleinen bestehen häufig, oft mer mit Geräten für die Augen, eines für Pflegekräfte teilen die Kranken in dring-
unabhängig von ihrer Qualität, fort – Mund, Kiefer, Gesicht. Ärzte. Pfleger. Alles liche und weniger dringliche Fälle ein;
auch weil Lokalpolitiker auf eine Wieder- muss parat stehen, selbst wenn der Kampf auch diese Regel ist eine Frage von Bud-
48 DER SPIEGEL 12 / 2017
Die Internistin greift nach dem Ultra-
schallgerät, das EKG zeichnet die Herz-
aktivität auf, der Neurologe testet Reflexe,
der Anästhesist legt einen Zugang für die
Infusion, schließlich schiebt eine Ärztin
den Patienten zur Computertomografie.
Als ihm die röhrenartige Apparatur über
den Körper gleitet, wischt der alte Mann
mit den Händen um sich und weint. Erst
beim vierten Versuch gelingt die Aufnah-
me. 17 Menschen werden im Einsatz ge-
wesen sein, bis der Patient wegen schwerer
Lungenentzündung auf eine Intensivsta-
tion verlegt wird.
Kurz darauf beginnt Tempka im Ober-
geschoss die Visite. An zahlreichen Betten
steht sie kaum länger als zwei Minuten.

ANNE SCHÖNHARTING / DER SPIEGEL


„Ärzte müssen in Krankenhäusern im-
mer mehr Fälle gegen die Uhr durchzie-
hen“, sagt Tempka. Auch den Zeitdruck
lastet sie den Fallpauschalen an: Um wirt-
schaftlich erfolgreich zu sein, muss ein
Arzt möglichst viele Patienten möglichst
schnell behandeln. Grundsätzlich gelingt
Materialtransport im Keller: Straffe Vorgaben des Managements das vor allem bei Routineeingriffen, die
eher Technik als Gespräche verlangen –
und oft mit hohen Fallpauschalen verse-
hen sind. Künstliche Beatmungen zählen
dazu oder Herzkatheteruntersuchungen,
die in Deutschland häufiger vorgenom-
men werden als in jedem anderen Land.
Das DRG-System beeinflusst, wie umfang-
reich Kranke behandelt werden, so lässt
sich eine Studie am Rheinisch-Westfäli-
schen Institut für Wirtschaftsforschung zu-
sammenfassen. In vielen Fällen erhalten
Patienten eine Therapie auch deshalb,
weil es sich für eine Klinik lohnt.
Wie alle leitenden Ärzte erhält Tempka
jeden Monat eine Nachricht von den Be-
triebswirten der Charité. Sie listen darin
die Ergebnisse aller Kliniken und Institute
auf, die zu dem Krankenhaus gehören:
Fallzahlen, DRGs, Deckungsbeitrag, durch-
schnittlicher Schweregrad der Fälle – ver-
ANNE SCHÖNHARTING / DER SPIEGEL

glichen mit dem Vorjahr und den verein-


barten Zielen. Kostet eine Abteilung mehr,
als sie einnimmt, entfallen Stellen – Mit-
arbeiter. „Also versuchen wir, Verluste aus-
zugleichen“, sagt Tempka. Die kranken
Wirbelsäulen, Hüften oder Schultern von
Privatpatienten aus Russland, Ägypten
Leitende Unfallchirurgin Tempka: „Immer mehr Fälle gegen die Uhr durchziehen“ oder dem Jemen seien da durchaus hilf-
reich. Wie die meisten großen Kliniken un-
terhält die Charité eine Servicestelle für
gets. Regelmäßig kritisieren Patienten, das lation trainiert, es ist ein Angebot der be- zahlungskräftige Interessenten aus dem
müsse doch ein Arzt entscheiden. Manch- trieblichen Weiterbildung. Ausland.
mal haben sie recht, aber dieser junge Ein Warnton erklingt. „Christoph 21“ Und noch eine Folge habe der Wettbe-
Mann hat am Vortag einen Gipstermin ver- fliegt den Landeplatz der Charité an. Ein werb, meint Tempka: Lukrative Eingriffe
streichen lassen. Die meisten Rettungsstel- Sanitäter schiebt einen alten Mann aus landeten in vielen Krankenhäusern eher
len sind überfüllt, auch weil viele Patienten dem Rettungshubschrauber in den Schock- vorn auf der Warteliste planbarer Opera-
sie wegen einer „Malaise“ aufsuchen, wie raum, dort erwarten ihn Ärzte, Pfleger tionen. Andere rutschten mit einem Mal
Tempka sagt. Je geringfügiger das Anlie- und Krankenschwestern, insgesamt sind es auf die hinteren Plätze. Oft geschehe das
gen, desto aggressiver verhalten sie sich zehn Personen. „Jahrgang 1931“, sagt die nicht einmal bewusst.
oft. In manchen Ambulanzen steht neuer- Notärztin aus dem Helikopter, „kein Un- An diesem Tag kommt eine Frau wegen
dings Sicherheitspersonal. In der Charité fall, er zittert die ganze Zeit. Aber ich weiß eines Eingriffs am Knie in die Charité, die
haben Mitarbeiter Methoden der Deeska- nicht, was er hat.“ schon viermal vergebens gewartet hat. Im-
DER SPIEGEL 12 / 2017 49
Gesellschaft

mer wieder erfahren Patienten erst nachts, Anders als die meisten Universitätskli- als ausbildungsstärkste medizinische Fa-
dass sie am kommenden Tag doch nicht ope- niken verbucht die Charité, deren Einnah- kultät. Und sie stellt die Sprecher von
riert werden. Andere entkleiden sich auf men bei 1,7 Milliarden Euro im Jahr liegen, sechs Sonderforschungsbereichen und drei
dem Flur hinter einem Vorhang, weil das seit 2011 durchgängig leichte Überschüsse. bundesweiten Exzellenzprojekten.
für sie vorgesehene Zimmer noch belegt ist. Einhäupl hat einen eisernen Kurs verord- Ausgesorgt hat sie trotzdem nicht – im
Almut Tempka hängt an einem alten net, er ist kein Feind harter Zahlen. Aber Gegenteil. Der Leiter des Controllings tritt
Bild: Ein Patient lebt sich einen Tag lang nun, findet er, reiche es. ein, es folgt ein Mitarbeiter der Unterneh-
in einem Zimmer ein. Die Stationsschwes- „Auf ein Neues“, sagt der Chef und menssteuerung; mehr als zehn Referenten
ter kommt mit einem Medizinstudenten grüßt in die Runde, dann vibriert sein werden ihre Diagnosen vorstellen: Spar-
zur ersten Blutabnahme. Anschließend Handy. „Die Kollegen aus Süddeutsch- zwänge und eine als zäh empfundene Bü-
folgt ein Arzt und bringt den Studenten land“, sagt er, als er den Raum verlässt, rokratie erschweren vielen Kollegen die
erneut mit. Der Nachwuchs lernt, und alle um doch erst zu telefonieren; er plant Arbeit. Auflagen des Denkmalschutzes
lernen den Patienten besser kennen. Kooperationen großen Stils. Einhäupl will verzögern notwendige Modernisierungen;
„Früher war das so“, sagt Tempka, die an den Mythos anknüpfen – und er gibt manche Gebäude, Aufzugnotrufanlagen
in der Fachgesellschaft für Unfallchirurgie nicht auf. Bislang überstand er jede nega- oder Stromleitungen sind so abgenutzt,
den Ausschuss für Bildung dass sie sich absehbar zu Ge-
und Nachwuchs leitet. Heute fahren entwickeln können.
dagegen fehle in Kliniken häu- Und jeder größere Umbau
fig die Zeit, um die Eigenhei- wirft die Frage auf, wo die Pa-
ten eines Kranken gründlich tienten, die doch die Einnah-
zu erfragen. Und dieser Man- men bringen, dann bleiben
gel, der aus dem Kostendruck sollen.
erwachse, führe in Deutsch- Einhäupl nickt, als der
land zu zahlreichen Behand- Chef des Controllings auf
lungsfehlern, sagt Tempka. vertiefende Gespräche mit
Immer dienstags berät sich dem Finanzsenator drängt.
die Führungsriege. Beinahe Einhäupl führt diese Gesprä-
fünf Stunden lang wird der che regelmäßig. Die Landes-
Klinikvorstand auf dem denk- regierung ist für die Infra-
malgeschützten Campus im struktur verantwortlich, doch
Stadtteil Mitte zusammensit- jahrelang investierte sie viel
zen. Aus dem Ensemble roter zu wenig.
Backsteingotik ragt ein Hoch- Erst seitdem die Bilanzen
haus: der weithin sichtbare der Charité stabil sind, be-
Bettenturm, Erbe der DDR- denkt der Senat sie zuneh-
Zeit. Im Konferenzraum des mend: 200 Millionen Euro für
Vorstands reihen sich die Öl- den Bettenturm, fast drei Jah-
porträts ernst blickender Pio- re lang dauerte die Sanierung;
niere der Medizin an der 210 Millionen für 16 weitere
Wand. Zahlen beherrschen Baustellen. Universitätsklini-
das Gespräch, Kennziffern ken leiden an den Schwächen
ANNE SCHÖNHARTING / DER SPIEGEL

des Wettbewerbs. des föderalen, selbstverwalte-


Karl Max Einhäupl ist Me- ten Gesundheitssystems: Die
dizinmanager und Neurologe, Landesminister für Bildung,
70 Jahre alt, ein grauhaari- für Finanzen oder für Gesund-
ger Mann von eher kleinem heit, die Bundesministerin für
Wuchs. Er ist der Vorstands- Forschung – jeder fühlt sich
vorsitzende der Charité; frü- zuständig und wieder nicht.
her war er Vorsitzender des Kind in der Onkologie: Sie fiebern, erbrechen Oft führen nur aufwendige
Wissenschaftsrats und gehör- Umwege zu Lösungen. Um
te zu den Chefärzten des Kli- der Charité, die dem Land ge-
nikums, einer, der jene zugewandten Um- tive Schlagzeile, selbst 2014, als Staatsan- hört, Millionenzuschüsse des Bundes zu-
gangsformen beherrscht, die Kritiker ent- wälte die Klinikbilanzen wegen Unregel- kommen zu lassen, musste zum Beispiel
waffnen können. Seit 2008 führt er den mäßigkeiten in Höhe von 34,7 Millionen eigens ein „Berliner Institut für Gesund-
Klinikvorstand an. Euro untersuchten und die damalige De- heitsforschung“ entstehen, an dem beide
Er hätte scheitern können, damals wies kanin zurücktrat. Ein anderes Mal starb beteiligt sind.
die Jahresbilanz noch ein Minus von 56 während eines Ausbruchs von Serratien- Die Referenten im Sitzungssaal verab-
Millionen Euro aus. Szenen wie aus einer keimen auf einer Station für Frühgeborene schieden sich. „Kosten-Erlös-Schere“ heißt
Fernsehserie hatten die Öffentlichkeit auf- ein Säugling. Die Obduktion ergab als To- das Wort, das in die Mittagspause überlei-
geschreckt; eine Krankenschwester hatte desursache einen schweren angeborenen tet: Trotz positiver Zahlen werden die Ein-
auf der kardiologischen Intensivstation Pa- Fehler des Herzens. Doch in den Zeitun- nahmen die Ausgaben künftig kaum de-
tienten getötet, und an den vier Standor- gen stand viel über Nachlässigkeit und cken können. Einen Moment noch bleibt
ten im Osten und Westen der Stadt kämpf- Hygienemängel. Einhäupl sitzen. Er blickt skeptisch.
ten Mitarbeiter erbittert um Hoheitsrechte. Fünfmal belegte die Charité in Ein- Die zurückliegenden Monate hätten Ver-
Und manche Politiker fanden, solch ein häupls Amtszeit den ersten Platz in einem änderungen bringen können. Auch um die
konfliktträchtiges, defizitäres Haus gehöre Ranking der 100 besten deutschen Klini- Nachteile von Universitätskliniken auszu-
abgeschafft. ken. Mit rund 7000 Studenten gilt sie gleichen, hatte die Bundesregierung den

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ANNE SCHÖNHARTING / DER SPIEGEL
Klinikvorstandsvorsitzender Einhäupl (M.) bei der wöchentlichen Sitzung der Charité-Führungsriege: Kein Feind harter Zahlen

Gemeinsamen Bundesausschuss beauf- Fast plakativ bildet ein Fach wie Kin- Fühlt Casimir sich gut, turnt er in seinem
tragt, Details des neuen Krankenhausstruk- deronkologie ab, was Universitätskliniken Bett mit Blick auf die Bäume oder schaut
turgesetzes auszugestalten. Da das Gre- erreichen können, wenn Forschung, Lehre ein Buch an, das einzige, das er seit Wo-
mium aber verschiedenste Unterhändler und Behandlung sich ineinander verzah- chen ansehen mag. Eine Katze fürchtet
versammelt, findet es manchmal jahrelang nen. Nahezu alle krebskranken Jungen sich darin vor der Welt. An manchen Ta-
kein Ergebnis. und Mädchen in Deutschland sind in Stu- gen kommt eine Frau, die mit ihm Bilder
Doch die Selbstheilungskräfte der Cha- dien erfasst, über die sich Spezialisten an- malt, eine andere lässt die Kinder Musik-
rité erschöpfen sich, das weiß Einhäupl. dauernd austauschen. Und alle erhalten instrumente erkunden, ein Mann probiert
Wachstum und Effizienz lassen sich nicht jene Therapie, die sich anhand der Stu- mit ihnen Klangschalen aus.
unentwegt steigern. Schon gar nicht im dienlage als „Goldstandard“ erweist. Eltern bezahlen die Arbeit dieser The-
Namen der Barmherzigkeit. Noch in den Sechzigerjahren starben rapeuten – genauso wie das Gehalt für
Casimir darf das Zimmer nicht verlas- die meisten, heute überleben fast 1800 der zwei Psychologinnen, zwei Sekretärinnen,
sen, das Fenster nicht öffnen. Der Junge 2200 Kinder, die jedes Jahr erkranken. Der eine halbe Arztstelle und zwei Stations-
erhält Sauerstoff über eine Sonde und Mor- Erfolg kostet Zeit, Ausdauer und Gehälter helferinnen, die das Essen austeilen und
phin gegen Schmerzen. Seine Mutter ist – mit jedem zusätzlichen Spezialisten mehr. die Betten richten. Deutsche Elterninitia-
bei ihm, Tag und Nacht, mit Mundschutz Zur wöchentlichen Tumorkonferenz in der tiven bringen im Jahr 17 Millionen Euro
und sterilem Kittel. Zu Hause, beim Vater, Kinderkrebsklinik der Charité kommen für krebskranke Kinder auf, so erzählt es
warten die Geschwister. Casimir trägt di- Strahlentherapeuten, Pathologen, Neuro- die Chefärztin der Klinik.
cke Socken an diesem warmen Tag, ge- chirurgen und Kinderchirurgen. Der Erfolg Angelika Eggert ist eine zupackende
mustert, Monster kämpfen gegeneinander. verschlingt auch die Arbeitsstunden der Frau mit springenden Locken, die auch ein
„So wie in mir“, sagt der Junge. Krankenschwestern. Alles dauert länger, Studium der Gesundheitsökonomie abge-
Der Vierjährige hat während der ver- wenn ein Kind der Patient ist. schlossen hat und Vorstandsvorsitzende
gangenen sieben Monate Chemotherapien Wenn Casimir etwas braucht, ruft er sei- der Fachgesellschaft für Kinderonkologie
erhalten, dann wurden Stammzellen trans- ne Mutter. Sie füttert und wäscht den Sohn, ist. Doch ohne Elternvereine, ohne Stif-
plantiert. Noch ist unklar, ob sich dauer- sie spielt mit ihm, tröstet, sie tupft ihm tungen und Spendengalas käme sie, eben-
haft gesunde Blutzellen aus ihnen entwi- den blutigen Schleim ab. Die Mithilfe der so wie ihre Kollegen, schlecht zurecht. Die
ckeln. Die Zeit ungewissen Wartens setzt Eltern sei letztlich einkalkuliert, sagt sie. Behandlung eines krebskranken Kindes
Kindern wie ihm zu. Sie fiebern, erbre- „Die meisten Schwestern sind ja prima. bringe einer Klinik ein Defizit von 8000
chen, selbst harmlose Infekte können töd- Aber wie sie das alles allein schaffen soll- Euro, sagt sie. Allein ihre Patienten in
lich ausgehen. ten, kann ich mir nicht vorstellen.“ der Charité benötigen eine Million Euro

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Jenseits der Sachsenklinik mehr im Jahr, als sie aus Fallpauschalen
und Zuschüssen des Landes erhalten.
TV-Serien Der ARD-Mehrteiler „Charité“ hebt sich wohltuend Manchmal sitzt Frank Heppner, 48, mit
acht Kollegen gleichzeitig am Mikroskop,
ab vom üblichen Ärztefilmkitsch. Metallarme erstrecken sich daraus, in je-
dem steckt ein Okular. Unten, auf dem

O
hne Liebe wäre all das Elend Moment schon den Tuberkulose- Objekttisch, liegt Gewebe aus den Gehir-
schwer zu ertragen, als Pflege- Stempel. Ähnlich wie in Vampirfilmen, nen Kranker. Der Apparat bedeutet Hepp-
kraft wie auch als Zuschauer: wo Menschen durch einen Biss zu Un- ner viel. Der Leiter des Instituts für Neu-
dieses Röcheln und Keuchen in den toten werden und damit zur Gefahr. ropathologie ist eine Autorität seines hoch
Krankensälen der Charité, das Ster- Die Ufa-Produktion zeigt den Eifer, spezialisierten Faches. Und Heppner ver-
ben einer Mutter bei der Geburt ihres aber auch die Verzweiflung, mit denen steht sich auch als Dienstleister. Als er vor
Kindes, überhaupt der Tod als täg- Ende des 19. Jahrhunderts an der Berli- zehn Jahren zu den Berufungsverhandlun-
licher Besucher. Dazu das strenge Re- ner Universitätsklinik nach Heilmitteln gen nach Berlin reiste, hatte er den Markt
giment der Oberschwester. gegen Diphtherie und Tuberkulose ge- genau analysiert. Und weil er kaum neu-
Umso mehr folgt Aushilfswärterin sucht wurde – Krankheiten, die große ropathologische Praxen fand, legte er der
Ida (Alicia von Rittberg) ihrem Her- Teile der Bevölkerung dahinrafften. Kommission einen Businessplan vor.
zen, wobei sie nicht immer weiß, wo- Damals begründete die Charité den Seither bietet Heppners Institut deutsch-
hin. Sie liebt einen erfolgreichen Arzt, Weltruf, von dem sie noch heute zehrt. landweit Dienste an und erwirtschaftet
mag zugleich aber vom beflissenen Wie Detektive jagen die Forscher Überschüsse – ähnlich wie die Apotheke
Medizinstudenten nicht lassen. Und – den tödlichen Erreger, darunter Hel- der Charité, deren Chefin seit einigen Jah-
das ist dann vielleicht eins zu viel – den der Medizingeschichte und späte- ren auch andere Berliner Kliniken und die
sie wehrt sich auch nicht dagegen, re Nobelpreisträger. Ihnen voran Ro- Hochschulambulanzen beliefert und den
von einer Krankenschwester geküsst bert Koch (Justus von Dohnányi, mit Umsatz von jährlich 44 auf 151 Millionen
zu werden. Zutaten, aus denen sich Vollbart und ungewohnt kantig). Er Euro steigerte. In Heppners Institut treffen
wird gezeichnet als ein mittlerweile jedes Jahr 12 500 Gewebe- und
Professor Unrat der Liquorproben ein, sechsmal so viel wie un-
Medizin, der einer jun- ter seinem Vorgänger.
gen Schauspielerin ver- „Und dann bereiten wir sie so auf“, sagt
fällt – keine kecke Er- Heppner und greift nach durchsichtigen
findung, sondern histo- Objektträgern, die dünne, eingefärbte Ge-
risch verbürgt. webescheiben in Paraffin umschließen.
Eine Epoche in sechs Er hält ein Plättchen vor die Augen, eine
Folgen zu zwängen ist Sekunde nur, dann legt er es zurück. „Der
ambitioniert. Trotzdem bösartigste unter den Hirntumoren“, sagt
verheddert sich die er. „Man hat vielleicht noch vier Monate.“
Serie nicht. Von der So zynisch es in Fällen wie diesen an-
Klinik aus blickt sie auf mutet: Schnell zu treffende Diagnosen die-
die soziale Ungleich- nen der Bilanz. Heppner hat die Abläufe
NIK KONIETZNY / ARD

heit, auf der das Kaiser- in seinem Institut neu geordnet. Für alle
reich aufgebaut war. Proben, die bis 16.30 Uhr in seinem Institut
Der kranke Gossen- eintreffen, erhalten die behandelnden Kol-
junge muss sterben, legen bis zum frühen Abend des nächsten
Schauspieler Dohnányi, Christoph Bach: Besuch vom Tod während alles getan Tages einen Befund. Je später sein Team
wird, damit die Nichte eine Diagnose stellt, desto länger liegt ein
ein ziemlicher Schmalz zusammen- des Direktors überlebt. Das todge- Patient auf dem Stationszimmer – und die
rühren ließe. weihte Kind eines Juden soll notge- Zeit drängt nicht nur, weil der Kranke auf
Doch „Charité“ ist kein verfilmter tauft werden – irgendwie gut gemeint, ein Ergebnis wartet. Zeit, die ohne eine
Groschenroman. Die Mediziner im und doch purer Antijudaismus. An Therapie verstreicht, kostet eine Klinik
historischen ARD-Sechsteiler haben Hilfswärterin Ida wird die Frauenfra- Geld. Doch wenn das Gewebe nicht gleich
wenig gemein mit den öffentlich- ge exerziert. Dass Frauen nicht Medi- einen zweifelsfreien Befund erkennen
rechtlichen Bergdoktoren, Landärzten zin studieren dürfen, will sie nicht lässt, müssen die Pathologen manchmal
und sonstigen Heile-Welt-Heilern. hinnehmen – Diversity 1888. zwei oder drei Tage suchen. Immer wieder
Und für die Patienten geht es selten Als der Immunologe Emil Behring färben sie die Probe neu ein, um einen
so glimpflich aus wie in der ARD- einmal besonders beglückt ist über Verdacht nach dem anderen auszuschlie-
Sachsenklinik („In aller Freund- den Fortgang seiner Forschung, holt er ßen. Es sind solche Momente, in denen
schaft“), wo am Ende immer alle in gegenüber der angebeteten Ida zu ei- Mediziner genervte Worte über Klinikma-
die Kamera lächeln. nem Brachialkompliment aus: Das ers- nager verlieren. Krankheit sei nun einmal
„Charité“ erzählt auf packende Wei- te Versuchskaninchen, das durch sein kein planbarer Prozess. Und Krankenhäu-
se vom Leben und Sterben. Jeder Serum von Diphtherie geheilt werde, ser keine Industrieunternehmen.
Huster eines Patienten kann ein Vor- so gelobt er, werde nach ihr benannt. Mittagszeit. Frank Heppner quert das
bote seines Todes sein. Wer gerade „Charité“ zeigt nicht nur mensch- Kopfsteinpflaster auf dem alten Campus
noch gesund war, trägt im nächsten liche Dramen, sondern auch ein im Stadtteil Mitte. Bäume säumen die
Menschheitsdrama: was für ein Kampf Wege, und an den Denkmälern verstorbe-
Sendetermin: dienstags 20.15 Uhr, Das Erste, sechs der Fortschritt mitunter ist. ner Mediziner eilen Ärzte in weißem Kittel
Folgen ab 21. März. Alexander Kühn vorbei. „Ich bin“, sagt der Pathologe und
lächelt, „natürlich nicht nach Berlin ge-
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Gesellschaft

guten Arzt in gesellschaftlicher Verantwor-


tung. Das Selbstverständnis ist ihm min-
destens so wichtig wie die Kür der Zahlen
in den Bilanzen.
Dann steht die Runde im Foyer. Ein Tan-
nenbaum glitzert ihr im Rücken, es ist De-
zember, in drei Wochen feiert die Welt
den Heiligen Abend. Kamera ab, ein Gruß-
wort den Mitarbeitern und Dank für ihren
Einsatz. Die Pflegedirektorin aber, die Ver-
treterin der mehr als 4300 Krankenschwes-
tern und Pfleger in der Charité, nutzt ihre
Redezeit für einen hauspolitischen Auftritt.
Sie freue sich sehr, dass endlich zusätzli-
ches Personal angeworben werden könne,
sagt sie. 200 weitere Pflegekräfte sollen im

ANNE SCHÖNHARTING / DER SPIEGEL


Jahr 2017 beginnen. Es wird sich bald he-
rausstellen, dass so viele neue Stellen nur
schwer zu besetzen sind. Vorerst aber ist
es ein Sieg der Gewerkschaft Ver.di – und
eine Niederlage für den Vorstandsvorsit-
zenden.
Immer wieder hatte Einhäupl die Strei-
Krankenschwester Peschel: „Mehr Personal wäre auf dieser Station schon angebracht“ kenden an die Bundesregierung und an
die Krankenkassen verwiesen: Der Pflege-
mangel sei ein allgemeines Problem und
kommen, weil mein oberstes Ziel ordent- „Es setzt eine Leistungssteigerung von nur mit dem Geld aller zu lösen. Nun muss
liche Finanzen sind. Ich bediene den Kos- 20 Millionen Euro voraus.“ Auch Einhäupl sein Vorstand in Vorleistung treten. Erst-
tendruck auch, um an anderer Stelle Frei- klingt skeptisch. „Ist das realistisch?“, mals in Deutschland gilt in der Charité ein
räume zu erwirtschaften.“ fragt er. Tarifvertrag, der die Anzahl von Schwes-
Heppner möchte sein Institut und sein Der Verhandlungsführer für die Beru- tern und Pflegern auf „Stationen mit be-
Fach stärken; er möchte forschen, mit klu- fung ergreift nun das Wort: Der Kandidat sonderem Aufwand“ vorschreibt. Die neue
gen Kollegen und so interdisziplinär wie wolle ohnehin, dass sein Lehrstuhl unab- Regel ist auch vielen Patienten eine Be-
möglich, er ist ein mehrfach ausgezeich- hängig von seinem finanziellen Erfolg aus- ruhigung. Aber sie bringt jedes Jahr zu-
neter Wissenschaftler. Bleibe die For- gestattet werde. Und er wolle sich auch sätzliche Kosten von mindestens zwölf Mil-
schung wegen des Geldmangels auf der nicht im üblichen Umfang an den allge- lionen Euro.
Strecke, komme auch die Medizin nicht meinen Abgaben beteiligen. Gudrun Peschel ist leitende Stations-
weiter, sagt er. „Das ist die Gefahr, das Der Ärztliche Direktor schüttelt erneut schwester und Gewerkschaftsmitglied, aus
darf nicht sein.“ den Kopf. Die allgemeinen Kosten der Überzeugung, wie sie sagt, dann klingelt
Im Saal des Vorstands sind mittlerweile Charité liegen acht Prozent über denen ihr Telefon. Peschel hastet mit einem In-
die Fenster verdunkelt. Eine Leinwand anderer Universitätskliniken, da könne nie- kubator zum Aufzug. Sie arbeitet auf der
schiebt sich von der Decke herab, dann mand ausscheren, findet er. Einhäupl Überwachungsstation 40 der Klinik für
leuchtet eine Excel-Tabelle auf. Die zeichnet eine Kurve auf das Flipchart. Üb- Frühgeborene. Der Anruf kam aus dem
Neuberufung eines Chefarztes steht an. licherweise, daran soll diese Skizze erin- Kreißsaal: Ein Mädchen, es atmet schlecht.
Der Spitzenmediziner hat kostspielige nern, gelten sieben Millionen Euro Mehr- Noch im Fahrstuhl übernimmt eine Kol-
Vorstellungen. Personal, Umbauten, Ge- kosten bei einer Berufung bereits als teuer. legin den rollenden Kasten. Eine halbe
räte – liefe alles nach seinen Wünschen, Stille. Der Leiter des Qualitätsmanage- Stunde später steht er wieder auf der Sta-
kämen in den kommenden fünf Jahren ments blickt auf die Uhr. „Ich will nicht tion. Leer. Das Mädchen hat sich schnell
Mehrausgaben von 20 Millionen Euro auf drängeln“, flüstert er Einhäupl zu, „aber erholt, es liegt nun bei der Mutter.
die Charité zu. die Aufzeichnung beginnt in 14 Minuten.“ Gudrun Peschel ist unter Stress, an die-
„Ich bin skeptisch, ob das nicht oberhalb Der Chef nickt und sagt: „Unser Kan- sem Tag fehlen auch noch zwei Kollegin-
unserer Möglichkeiten ist“, sagt der Ärztli- didat bekommt eine Anschubfinanzie- nen. Sie hat ein sechs Wochen altes Kind
che Direktor. Der Vertreter der leitenden rung und wird dann in unser übliches verlegt, um Platz für das Mädchen zu
Ärzte klingt dabei, als halte er es für ausge- System eingebettet. Hilft das?“ Die Frage schaffen, alles vorbereitet, aber vergebens.
schlossen. Summen dieser Größenordnung klingt abschließend. Drei weitere Tages- Es erschrecke sie selbst, wie einem das
passen nicht zum Sparprogramm. Es war ordnungspunkte, dann beendet Einhäupl Hamsterrad der Effizienz manchmal die
schließlich diese Runde, die entschied, dass die Sitzung. Gedanken diktiere, wird sie später sagen.
zur Charité trotz steigender Patientenzahl Am kommenden Morgen wird er Sönke Seit über 20 Jahren arbeitet Gudrun
heute weniger Betten gehören als noch vor Wortmann nach Prag begleiten, wo der Peschel in ihrem Beruf. Sie ist ein mütter-
zehn Jahren. Und dass sich Ärzte und Pfle- Regisseur einen Film über die Charité licher Typ, rechteckige Brille, ein prakti-
ger auf einheitliche Kanülen, Nahtmaterial dreht; zuvor, am Abend, trifft er noch ei- scher Haarschnitt und mit ihren Kollegin-
oder Gefäßstützen einigen müssen. nen Kulturschaffenden in Berlin: Die bei- nen in diesen Tagen für 21 Säuglinge zu-
„Wenn wir wissenschaftlich Weltspitze den suchen nach Ideen, um an die Gräuel- ständig – gedacht ist die Station für 18.
sein wollen, ist es billiger nicht zu haben“, taten der Mörder und Mitläufer in der Cha- Ein Mädchen liegt hier, 1070 Gramm
sagt ein Fakultätsvertreter. Ein renommier- rité im Nationalsozialismus zu gemahnen. wog es am ersten Tag, nun, nach einem
ter Chefarzt ziehe Nachwuchs und Dritt- Einhäupl hat oft derartige Termine. Sie un- Monat, sind es 2154. Daneben ein Junge,
mittel an. Es sei eine Imagefrage. termauern den Mythos, das alte Bild vom 955 Gramm bei der Geburt, der Schnuller

DER SPIEGEL 12 / 2017 53


IN DER SPIEGEL-APP
Gesellschaft

verdeckt noch immer fast die Hälfte des gefamilie!“, sagt die Krankenschwester.
Gesichts. Ein weiterer Junge, normales Ge- Dass ihre Fürsorge am Ende vergebens ge-
burtsgewicht, doch Darm und Leber be- wesen sein könnte, ertragen die meisten
fanden sich außerhalb der Bauchwand; an schlecht. „Halten wir die Mutter denn für
seinem dritten Lebenstag operierten ihn unfähig?“, fragt eine Ärztin.
Chirurgen. Alle Kinder dieser Station sind Ein Wortwechsel, minutenlang, der Ton
zu früh, krank oder mit Fehlbildungen auf wird grundsätzlich. „Wir brauchen eine ge-
die Welt gekommen. „Mehr Personal“, meinsame Empfehlung für das Jugend-
sagt Gudrun Peschel, „wäre auf einer Sta- amt“, sagt der Chefarzt, „denkt bis mor-
tion wie dieser schon angebracht.“ gen noch einmal nach!“
Dabei wirkt der Personalschlüssel auf Solche Momente, sagt Gudrun Peschel,
den ersten Blick eher üppig. 144 Schwes- gehörten zu den schwersten ihres Berufs.
tern kümmern sich in der Neonatologie Nicht genug Personal, kaum Zeit für gute
der Charité um etwa 70 Patienten, zusätz- Gedanken, wenig Ruhe für wichtige Ent-
liche Kolleginnen sind für Elternarbeit scheidungen.
freigestellt. Fast 40 Ärzte, Entwicklungs-
psychologen, Physiotherapeuten. In der Barmherzigkeit? Ja, jeden Tag, immer wie-
Regel betreut eine Krankenschwester zwei der. Als zwei Krankenschwestern alles da-
bis vier Kinder, wenn sie nicht mehr be- ransetzen, um ein wenige Tage altes Mäd-
atmet werden. chen zu seiner sterbenden Mutter zu brin-
Die Pflege Frühgeborener verlangt win- gen. Als die Kinderonkologin den hilflosen
zige, zeitaufwendige Handgriffe. Wer ein Eltern fest die Hand drückt. Als Hunderte
Kind im Inkubator versorgt, muss durch Freiwillige der Charité sich melden, um
zwei Löcher greifen und kann nur im klei- Tausende Flüchtlinge zu versorgen.
nen Radius die Hände bewegen. Er schiebt Barmherzigkeit? Ja, sogar als Teil des
Mullbinden als Lagerungskissen unter Systems: Ärzte einer Universitätsklinik se-
durchscheinende Körper und befüllt finger- hen viele Krankheiten, sie wissen in
große Spritzenpumpen mit Medikamenten schwierigen Fällen oft besser zu helfen als
gegen Pilze und Bakterien. Und auch die andere. Ihre Erfahrung kann Leben retten
Eltern, die vor so viel Zerbrechlichkeit zu- – genauso wie ihre Routine und die große
rückschrecken, benötigen einen andauern- Zahl ihrer Patienten. Ob ein Chirurg 50
den Beistand. Manchmal stirbt ihr Kind oder 500 Lungen im Jahr operiert, bedeu-
auf dieser Station. Und wenn es vor der tet einen Unterschied. Und zumindest
24. Schwangerschaftswoche zur Welt kommt, noch unterscheiden Krankenhausärzte bei
müssen sie entscheiden, ob die Ärzte sich der Wahl ihrer Therapie selten zwischen
für sein Leben einsetzen sollen oder nicht. gesetzlich Versicherten und Privatpatien-
Das Geschäft mit Alles läuft anders als normal. ten. Selbst den Lastenfahrern, Putzkräften
Aber selbst wenn Gudrun Peschel, die und anderen Angestellten der Liegen-
dem Baby Gewerkschaftsfrau, sofort lauter neue Stel- schaftsverwaltung in der Charité geht es
len besetzen dürfte, fiele es ihr nicht leicht. wahrscheinlich bald besser. Es sieht so aus,
3000 Euro geben Eltern für die Erstausstat- Dabei zählen Stationen wie die Neonato- als plane der Berliner Senat die ausgela-
logie zu den beliebten Arbeitsplätzen im gerte Dienstleistungsfirma bis 2019 zurück-
tung ihres Kindes aus: Kinderwagen, Baby-
Krankenhaus. 10 000 Pfleger und Kranken- zukaufen – und die Gehälter an den Tarif-
bett, Windeleimer. Hinzu kommen noch schwestern fehlen dem Gesundheitssystem, lohn anzupassen.
2000 Windeln und 200 Babygläschen in konservativ geschätzt. Häufig antwortet Unbarmherzig aber sind die Sackgassen,
den ersten zwölf Monaten. Kinder kosten – monatelang kein geeigneter Bewerber auf die paradoxen Mechanismen: Wenn Ärzte,
doch es sind nicht nur die Preise für Pro- eine Anzeige. Problemlos finden lassen Pfleger und Krankenschwestern ihren Pa-
dukte und Betreuung, die steigen, sondern sich nur Leasing-Kräfte, die leihweise zu tienten wegen betriebswirtschaftlicher Vor-
auch die Ansprüche der Eltern: wärme- Wunschzeiten arbeiten und im Monat gaben nicht die Zeit widmen, die sie selbst
regulierende Babyschlafsäcke aus der trotzdem oft mehr verdienen als das durch- für nötig halten. Wenn Kostendruck zu
Weltraumforschung und der Stadtbuggy schnittliche Gehalt von 2400 Euro. Die Pro- neuen Kosten führt, weil am Anfang eines
minenz der Charité lockt Ärzte, aber sel- Jahres festgelegt wird, wie ausgelastet eine
mit Smartphone-Ladegerät. Wer braucht ten Krankenschwestern. Klinik im Dezember sein soll. Wenn Ärzte
das alles? Fallbesprechung, die Sozialarbeiterin beginnen, an ruhigen Tagen auch Men-
hat Kekse mitgebracht. Station 40 erinnert schen aufzunehmen, die eigentlich nicht
Sehen Sie die Visual Story im digitalen nun an einen Reparaturbetrieb der Gesell- aufgenommen werden müssten.
SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. schaft. Eine Schwester hält ein wimmern- Menschen, die in Krankenhäusern be-
des Mädchen im Arm. „Waren sie endlich handelt werden, ohne wirklich krank zu
da?“, fragt sie. Die Eltern des Kindes ha- sein. Menschen, die nur ein Gefühl von
ben eine Auflage vom Familiengericht er- Krankheit haben; ein Gefühl, das aber stark
halten. Sie sollen das Mädchen täglich se- genug ist, um damit Geld einzunehmen,
hen. Sie melden sich nicht. weil am Ende Bilanzen stimmen müssen.
Jedes fünfte Kind auf diesem Flur be-
kommt keinen Besuch. Die Schwestern ha- 360°-Fotos:
ben diese Zahl ausgerechnet. Oft sind die Im OP
Mütter drogenabhängig, die Väter nicht spiegel.de/sp122017charite
J E TZ T DI G I TAL L E S E N verfügbar. „Also brauchen wir eine Pfle- oder in der App DER SPIEGEL

54 DER SPIEGEL 12 / 2017


Natürlich sind das, von heute aus betrachtet, Kleinig-
keiten. Aber als er noch lebte, war ich gekränkt. Mein
Gott, so wenig kennt er mich, dachte ich. So wenig weiß
er von mir! Und ich von ihm.
Und eigentlich wartete ich all die Jahre auf den einen
Brief, der all die falschen Briefe auslöschen würde. Den
Der Brief Brief, der unser Verhältnis, Vater und Sohn, neu begründen
würde.
Aber das war, so seh ich’s heute, eine Hollywood-Er-
Homestory Warum ich die Ausrufezeichen wartung: Mein Sohn, was ich dir immer schon sagen wollte
... Der Brief kam nicht; so wenig wie das große Gespräch,
meines Vaters vermisse die Aussprache. Nicht etwa, dass es an Gelegenheiten ge-
fehlt hätte. Mein Vater besuchte uns oft, Feiertage, Ge-

A
ls mein Vater starb, ich sein Erbe antrat und in burtstage, er spielte mit seinen Enkeln Monopoly und ließ
dem plötzlich stillen und staubigen Haus alles sich- sich gutmütig beschummeln, und abends hielt er Vorträge
ten und sortieren musste, da fiel mir eine Papp- über Autos und die CDU. Er hielt Helmut Kohl für eine
schachtel in die Hände. Sie war gefüllt mit Briefmarken, historische Persönlichkeit. Wir schwiegen dazu höflich,
sortiert in Fächern, nach Werten und Motiven. Noch heute, alles andere wäre zu anstrengend gewesen. Aber so vieles
eineinhalb Jahre später, zehre ich von diesem Bestand. blieb ungesagt. So viele Fragen, die zu stellen ich nie Ge-
Unter anderem besitze ich einen größeren Vorrat von legenheit fand. Fürchtete er den Tod? Wie waren die ers-
Zwei- und Drei-Cent-Marken, von meinem Vater damals ten Jahre mit meiner Mutter? Wie waren die letzten Jahre
gekauft, um den Portoerhöhungen zu begegnen, die die mit meiner Mutter gewesen? Was für ein Mensch war er?
Deutsche Post eine Zeit lang in
möglichst unauffälligen Schrittchen
beschlossen hat.
Mein Vater wurde 91 Jahre alt.
Seinem Portovorrat zufolge hatte
er aber noch einiges vor, brieflich.
Goethe, habe ich mal gelesen,
kaufte noch im Greisenalter 90 000
Flaschen für seinen Weinkeller.
Wenn das stimmt, wenn man drei
Flaschen am Tag verlötet, reichte
der Vorrat für 82 Jahre. Optimis-
tisch. Bewundernswert! Die Brief-

THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL


markenstory ist nicht ganz so spek-
takulär; aber mein Vater war ja
auch nicht Goethe.
Allerdings war er ein eifriger
Briefeschreiber. Während er Tele-
fonate, besonders Ferngespräche,
vor allem, wenn er sie selbst
bezahlen musste, sein Leben lang
für Geldverschwendung hielt, schickte er zuverlässig und Ich erwartete so viel von ihm, klar, dass er mich nur ent-
ein-, zweimal pro Woche einen Umschlag, oft prall gefüllt täuschen konnte.
mit Zeitungsausschnitten, Fotokopien, Hinweisen, die er Heute denke ich, dass das ziemlich ungerecht war. Dass
für bedeutsam hielt. Ich hätte mich mehr darüber freuen ich etwas erwartete, was er nicht geben konnte.
sollen. Aber das konnte ich nicht. Er war die Generation Krieg, 1923 geboren, und die
Ich fand die Sendungen, nun ja, enttäuschend. Sie waren Nazis hatten ihn, fast noch ein Kind, in eine soldatische
gespickt mit Ermahnungen, die mich ärgerten, zum Bei- Ausbildung gesteckt, und er hätte kurz vor dem Ende
spiel, mir endlich ein anderes Auto mit günstigerem Ben- noch in eine Schlacht ziehen sollen, als Kanonenfutter.
zinverbrauch zuzulegen, am besten genau jenes Modell, Er desertierte, haute ab, er wurde Kriegsgefangener, kehr-
das mein Vater selbst fuhr. Außerdem versorgte er mich te zurück in ein zertrümmertes Deutschland, ging ins Aus-
mit unsinnigen Hinweisen, meine Arbeit betreffend. Ich land – und erst mit Anfang vierzig konnte er daran den-
hatte in meiner Heimatstadt, bei den „Wolfsburger Nach- ken, eine Familie zu gründen, ein eigenes Leben zu leben.
richten“, angefangen, als Journalist zu arbeiten, von da Normalität war für ihn ein kostbares, erkämpftes Gut.
an war es, befand mein Vater offenbar, bergab gegangen. Alle schlimmen Erfahrungen waren versiegelt, un-
Jedenfalls schickte er mir hartnäckig Lokalzeitungsartikel antastbar. Mein Vater, bei aller Leutseligkeit, sprach nie
über Parkplätze, Ampelanlagen und Podiumsdiskussionen oder fast nie über Gefühle, Erinnerungen. Ich glaube, er
mit dem Stadtkämmerer, mit roten Unterstreichungen, hatte gelernt, daran nicht zu rühren, um zu funktionieren,
und er ließ es auch nicht an Ausrufezeichen fehlen: Warum zu einem Vater und Ehemann zu werden, der etwas
schreibst du nicht mal über so etwas?!!! taugte.
Zu jener Zeit arbeitete ich bereits für überregionale Me- Darum gab es auch nie den Brief der Briefe. Es gab nur
dien, auch fürs Fernsehen, und ich weiß, wenn er daheim die vielen Briefe voller unerbetener Ratschläge und Er-
auf irgendwas von mir angesprochen wurde, dann freute mahnungen, die mich nervten. Heute wünschte ich mir,
ihn das. Aber mir gegenüber konnte er das nicht zugeben. ich hätte sie aufgehoben. Ralf Hoppe

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JOCHEN LÜBKE / PICTURE ALLIANCE / DPA
Volkswagen

Ferdinand Piëch will aussteigen


Die Eigentümerfamilien planen den Kauf seiner Anteile.

Im VW-Konzern bahnt sich eine Überraschung an: Firmen- Dieselskandal aufgedeckt wurde. In den Familien wurde
patriarch Ferdinand Piëch, 79, verhandelt über den Ver- diskutiert, ob Ferdinand Piëch seinen Aufsichtsratsposten
kauf seiner Anteile. Er hält 14,7 Prozent der Stammaktien bei der Porsche SE behalten soll. Derzeit verhandeln die
an der Porsche SE, die wiederum über 52 Prozent der Familien, die über ein Vorkaufsrecht verfügen, mit Piëch
Stimmrechte am Volkswagen-Konzern verfügt. Mitglieder über die Übernahme seiner Aktien, die gut eine Milliarde
der Eigentümerfamilien Porsche und Piëch waren auf Dis- Euro wert sind. Die Familien Porsche und Piëch haben gro-
tanz zu Ferdinand Piëch gegangen. Der ehemalige VW- ßes Interesse an der Übernahme. Sie wollen verhindern,
Aufsichtsratsvorsitzende hatte zuvor bei der Staatsanwalt- dass ein familienfremder Investor über Stammaktien und
schaft ausgesagt, er habe das Präsidium des VW-Aufsichts- damit über Stimmrechte verfügt. Von Ferdinand Piëch war
rats auf Probleme in den USA hingewiesen, bevor der dazu keine Stellungnahme zu erhalten. fdo, haw

Lufthansa namen „Cityline 2“, einen Deutsche Bahn ring die Unterstützung für
Richterlicher Druck weiteren Billigableger für Pofalla kämpfte seine Beförderung zum jetzi-
Langstreckenflüge nach dem gen Zeitpunkt war. Sowohl
Dass die Lufthansa und die Vorbild von Eurowings zu eta- um Chefposten Bundesverkehrsminister Ale-
Pilotengewerkschaft Vereini- blieren – ohne die bislang üp- Der frühere Kanzleramtschef xander Dobrindt (CSU) als
gung Cockpit (VC) sich am pigen Tarifbedingungen. Der Ronald Pofalla wollte nach auch die Gewerkschaft EVG
Mittwoch im Tarifstreit ge- Ableger wäre wahrscheinlich dem Rücktritt von Rüdiger und der Koalitionspartner
einigt haben, dürfte auch das geworden, wenn die Piloten Grube offenbar unbedingt SPD sollen sich gegen die Per-
Ergebnis eines Gerichtsurteils keine Zugeständnisse bei Pen- Vorstandsvorsitzender der sonalie ausgesprochen haben.
sein. Das Landesarbeits- sionsregelungen und Arbeits- Deutschen Bahn werden. „Er Kanzlerin Angela Merkel
gericht Köln hatte im Oktober zeit gemacht hätten. Somit hat mächtig gekämpft“, heißt (CDU) fiel ebenfalls als Unter-
2016 ausgeführt, dass für haben Gerichte zum zweiten es im Umfeld des Konzerns. stützerin aus. „Sie hat Pofalla
„hinzutretende“ Gesellschaf- Mal binnen kurzer Zeit zum Erst als Pofalla im Laufe des klargemacht, dass sie derzeit
ten der Lufthansa nicht auto- Tariffrieden beigetragen. Erst Februar klar geworden sei, keinen zusätzlichen Ärger ge-
matisch der Konzerntarifver- 2015 stoppten Arbeitsrichter dass er nur über geringe brauchen kann“, sagt ein In-
trag gelte. Geklagt hatte die in Frankfurt einen anberaum- Chancen verfügt, habe er für sider. Merkel habe befürchtet,
VC. Auch dieses Urteil ver- ten Streik der Piloten. Da- den kommissarischen Chef im Wahlkampf mit dem Vor-
stärkte den Einigungsdruck mals wollten diese auch ge- Richard Lutz als dauerhaften wurf konfrontiert zu werden,
auf die Piloten: Lufthansa- gen die Auslagerung des Flug- Grube-Nachfolger geworben. einen Vertrauten auf einen
Chef Carsten Spohr hatte ge- betriebs von Lufthansa zu Der gut vernetzte Pofalla hat- gut dotierten Posten gehievt
plant, unter dem Projekt- Eurowings streiken. did, mum te wohl unterschätzt, wie ge- zu haben. böl

56 DER SPIEGEL 12 / 2017


Wirtschaft
Elektromobilität laden, sondern auch bei der
„E-Station wird Arbeit, beim Sport oder eben
beim Einkaufen.
Standard sein“ SPIEGEL: Woher kommt der
Verkehrsforscher Andreas Knie, Strom?
56, vom Innovationszentrum für Knie: Wenn die Einzelhändler
Mobilität und gesellschaftlichen glaubwürdig Nachhaltigkeit
Wandel der TU Berlin, über die vorleben wollen, dann produ-

PAUL ZINKEN / PICTURE ALLIANCE / DPA


Elektroauto-Offensive des Ein- zieren sie den am besten
zelhandels selbst: durch eigene Solar-
und Windkraftanlagen. Die
SPIEGEL: Ikea will bis 2019 bei Supermarktdächer sind ideal
all seinen Möbelhäusern in für Photovoltaik. Oder sie
Deutschland Aufladestatio- kooperieren mit Energie-
nen für Elektroautos anbie- anbietern, die ihre Expertise
ten, auch Aldi-Süd und Rewe einbringen.
investieren in diesen Service. SPIEGEL: Für die Händler ist Elektroautos an Ladesäulen vor Einkaufspassage
Tanken wir künftig auf dem die Technik teuer, eine Zapf-
Supermarktparkplatz? säule kostet gut 30 000 Euro. jedem empfehlen, die Aus- verpasst, wird langfristig eine
Knie: Ja, dahin geht der Welche Bezahlmodelle gibt es? gaben einfach unter Kunden- wichtige, kaufkräftige Kun-
Trend. Wenn es mehr Elek- Knie: Auf lange Sicht wird der bindung zu verbuchen. dengruppe verlieren. Sie
tromobile geben wird, muss Strom nichts kosten, die Ein- SPIEGEL: Was hat der Einzel- können heute auch kein Café
man jede Minute im Alltag zelabrechnung wäre viel zu handel davon? mehr ohne WLAN betreiben.
nutzen, in der das Auto steht. kompliziert. Man könnte Knie: Der Markt ist hart um- In einigen Jahren wird die
Also wird der Wagen nicht jedoch eine Gebühr für die kämpft, alle Lebensmittelket- E-Station im Einkaufszen-
nur nachts vor der Haustür Nutzung der Parkplätze ten tüfteln an solchen Model- trum flächendeckend Stan-
oder in der Garage aufge- verlangen. Aber ich würde len. Wer diese Entwicklung dard sein. one

Strompreise und Westen. Die Bundes- seine Parteigenossin, Nord- vergangene Woche eine
Ungerecht regierung spielt jedoch auf rhein-Westfalens Minister- Initiative zur Vereinheitli-
Zeit und blockiert ein Ge- präsidentin Hannelore Kraft. chung. Darauf antwortet das
aus Kalkül setz zur Vereinheitlichung In ihrem Bundesland, wo im Wirtschaftsministerium nun,
Auf der Stromrechnung sind dieser Gebühren. Anfang Mai gewählt wird, wären die man wolle dies „prüfen“.
sie schwer zu finden, aber des Jahres strich der damali- Gebühren dadurch gestiegen. Der schleswig-holsteinische
sie gehen ins Geld – und ge Bundeswirtschaftsminis- Ein Stromkunde in Düssel- Umweltminister Robert Ha-
sind zudem ungerecht ver- ter Sigmar Gabriel (SPD) dorf etwa zahlt pro Kilowatt- beck (Grüne) sagt: „Die
teilt: die Netzentgelte. Im einen entsprechenden Passus stunde rund fünf Cent Netz- Bundesregierung duckt sich
Norden und Osten Deutsch- in letzter Minute aus einem entgelte, einer in Branden- weg. Sie traut sich vor der
lands zahlen Elektrizitäts- Gesetzentwurf, offensicht- burg hingegen zwölf Cent. NRW-Wahl nicht, klar Stel-
kunden mehr als im Süden lich aus Rücksichtnahme auf Der Bundesrat unternahm lung zu beziehen.“ gt

Die Samstagsfrage Wie lange bleibt China noch die Werkbank der Welt?
Die ganze Welt kauft T-Shirts, Schuhe, Computer – tor auf 4,50 Dollar gesunken. Welche Folgen hat die
und die Chinesen nähen, schustern und schrauben Stundenlöhne Lohn-Explosion? Zum einen versiegt Pekings Reser-
sie zusammen. Dass dieses Modell so lange funk- in US-Dollar* voir an billigen Arbeitskräften: Unternehmen aus
6,3
tionierte, hatte zwei Gründe: Kein Land verfügte Niedriglohnsektoren ziehen sich zurück. Das
über ein vergleichbares Heer an Arbeitern, kein 4,5 Land muss teurere Produkte herstellen, sonst sin-
Industriestaat konnte mit Chinas Löhnen konkur- PORTUGAL ken die Exporte. Zum anderen steigt mit den
3,6
rieren. Das Reich der Mitte wurde zur „Werkbank Löhnen Chinas Spar- und Konsumquote: Allein
der Welt“. Doch die Löhne in Chinas verarbeiten- 1,2 CHINA in den vergangenen sechs Jahren hat sich das frei
der Industrie steigen – und zwar schneller als voraus- 2005 2016 verfügbare Einkommen eines Chinesen im Schnitt
gesagt. Nach einer Studie der Forschungsgruppe Eu- * inflationsbereinigt fast verdoppelt. China wird künftig also weniger für
romonitor haben sich die Stundenlöhne chinesischer Ar- die Welt herstellen und mehr für den Binnenmarkt. Die-
beiter zwischen 2005 und 2016 inflationsbereinigt verdreifacht ser Umbau der Wirtschaft könnte positive Folgen haben – auch
– von 1,20 auf 3,60 Dollar. Damit hat China klassische Schwel- für westliche Industriestaaten, wenn sie den Zugang zum chi-
lenländer wie Mexiko (2,10 Dollar), Thailand (2,20) und Brasi- nesischen Markt behalten. Auf dem Nationalen Volkskongress
lien (2,70) überholt; in Indien verharren die Stundenlöhne seit hatte Staatschef Xi Jinping vorige Woche angekündigt: „Chi-
2007 auf 0,70 Dollar. Chinas Lohnniveau schließt bereits zu nas offene Tür wird sich nicht wieder schließen.“ Wenn Xi sein
dem einzelner europäischer Länder auf: In Portugal sind die Wort hält – aber nur dann –, könnten vom Umbau auch
Stundenlöhne in den vergangenen zehn Jahren laut Euromoni- Exportstaaten wie Deutschland und die USA profitieren. bza

DER SPIEGEL 12 / 2017 57


Wirtschaft

Unternehmen Weltspitze
Digitalisierung In Berlin sind Start-ups bereits ein Wirtschaftsfaktor, auch im Rest der
Republik tut sich was. Das ist dringend nötig: Um nicht den Anschluss zu verlieren,
braucht Deutschland mehr Gründer – und mehr Mut, mehr Geld, mehr Lust am Risiko.

N
ikolai Ennslen und Andrija Feher wie Max Grundig oder den Computerpio- Konzerne, die schon vor dem Zweiten
halten nichts von falscher Beschei- nier Heinz Nixdorf hervor. Danach kam oder gar Ersten Weltkrieg gegründet wor-
denheit. Als die beiden Studenten nicht mehr so viel. den sind: Bayer und Siemens, Daimler und
beschlossen, ein Unternehmen zu grün- Noch ist die deutsche Wirtschaft stark, Allianz. Der Softwarehersteller SAP ist
den, war klar: Es sollte groß werden, rich- aber sie lebt von der Substanz. Ihre Stärke das einzige deutsche Unternehmen aus der
tig groß. „The sky is the limit“, sagt Enns- liegt in der stetigen Verbesserung von Pro- industriellen Neuzeit, das im globalen
len heute, sieben Jahre später. dukten und Technologien, sie baut die bes- Wettbewerb eine führende Rolle spielt.
Da ist noch Luft nach oben. Vor Kurzem ten Autos und die besten Maschinen. So Für die Zukunft der deutschen Wirt-
zogen sie mit ihrem Unternehmen Synap- konnte sie lange Zeit verbergen, dass ihr schaft sind das schlechte Aussichten. Da-
ticon und 45 Mitarbeitern in eine neue Fir- etwas Grundlegendes fehlt: Innovations- tengetriebene Internetkonzerne bedrohen
menzentrale in Schönaich bei Stuttgart. In kraft. Die Fähigkeit, ganz Neues zu schaf- ihre traditionellen Geschäftsmodelle,
einem nüchternen Zweckbau entwickeln fen: neue Technologien, neue Produkte gleichzeitig ist sie in den zukunftsträchti-
sie hier intelligente Steuerungssysteme für und neue Geschäftsmodelle. gen Hightech-Branchen kaum vertreten.
Roboter. Ihr Ziel, so sagen es Ennslen und Innovationen kommen selten aus großen „Wir haben in den letzten Jahrzehnten
Feher: „Synapticon inside“ soll für die Konzernen mit hierarchischen Strukturen, einfach alle großen Technologietrends ver-
Robotik so selbstverständlich werden wie wo jeder sich absichert. Innovationen brau- schlafen“, sagt der Investor Frank Thelen.
„Intel inside“ für Computer. chen Freiräume – und Mut. Deshalb ge- „Suchmaschinen, mobiles Internet, Online-
Ist das Größenwahn? Oder video, soziale Medien – alles ist
genau der Gründergeist, den in amerikanischer Hand. Wir
das Land dringend braucht? müssen in Deutschland endlich
Schönaich liegt in einer Re- wieder einmal etwas erschaffen,
gion, in der einst Robert Bosch was weltweite Relevanz hat.“
und Gottlieb Daimler Unter- Thelen, Fernsehzuschauern
nehmen gründeten, die noch bekannt als Juror der TV-Sen-
immer das Land und seine Be- dung „Die Höhle der Löwen“,
wohner prägen: Wer in Stuttgart einer Art Castingshow für
studiert, strebt meist einen si- Gründer, ist ein Pionier der
cheren Job „beim“ Daimler oder deutschen Start-up-Szene, er
MARTIN STORZ / GRAFFITI / DER SPIEGEL

Bosch an, wie man hier sagt. hat eine spektakuläre Pleite
Oder bei einem der vielen „Hid- und erfolgreiche Gründungen
den Champions“, den mittel- hinter sich. Derzeit setzt er die
ständischen Maschinenbauern, größten Hoffnungen auf ein
die in ihrer jeweiligen Nische junges bayerisches Unterneh-
den Weltmarkt beherrschen. men: Lilium Aviation entwi-
Neue Weltmarktführer aber ckelt ein elektrisches Lufttaxi,
sucht man hier vergebens. Da- das senkrecht starten kann.
bei würden sie dringend ge- Synapticon-Initiatoren Ennslen, Feher: „Softwaremäßig unterentwickelt“ „Wir haben am Anfang ge-
braucht. dacht, die haben einen Knall“,
„Wir Deutschen waren mal sehr gut im deihen sie am besten in jungen Unterneh- sagt Thelen, 41. „Aber das Gründerteam
Gründen, aber das ist 150 Jahre her“, sagt men, die wenig zu verlieren, aber alles zu ist unfassbar stark, und mein Technik-
Ennslen, 33. Das Land sei „softwaremäßig gewinnen haben, und in Regionen, die experte hat mir gesagt: Es wird fliegen.“
unterentwickelt“, ergänzt sein Partner Fe- ihnen für ihr Wachstum das geeignete Öko- Keiner weiß, ob es Synapticon gelingen
her, es sei zur falschen Zeit erfolgreich ge- system bieten – viel Kapital inklusive. wird, den Markt der Robotik zu erobern,
wesen. Erfolg mache satt. So sind in den USA in den Siebziger- oder Lilium Aviation, die Luftfahrt grund-
Die Diagnose deckt sich mit dem Be- jahren Giganten wie Apple und Microsoft legend zu verändern. Aber wichtig ist, dass
fund von Dietmar Harhoff, der den Verlust entstanden und um die Jahrtausendwende sie es versuchen. Und dass es noch viel
des Gründer-Gens allerdings nicht ganz so Google, Facebook und Amazon, Konzer- mehr junge Unternehmer gibt, die Großes
weit in der Vergangenheit ansiedelt. „Die ne, die inzwischen die Liste der größten wagen: Deutschland braucht eine neue
Bereitschaft und die Fähigkeit zum Selbst- und wertvollsten Unternehmen der Welt Gründerzeit – sonst wird es seine Rolle als
ständigsein haben wir irgendwann nach anführen. Zusammen sind sie unglaubliche wichtige Industrienation verlieren.
der Grundig-Nixdorf-Generation ver- 2,5 Billionen Euro wert, weit mehr, als alle In den vergangenen Jahren hat sich
lernt“, sagt Harhoff, Direktor am Max- börsennotierten Unternehmen in Deutsch- schon einiges getan. Rund 6000 Start-ups
Planck-Institut für Innovation und Wett- land zusammen. sind entstanden, junge Unternehmen, die
bewerb in München. Schaut man auf den Dax, den Aktien- ein innovatives Geschäftsmodell verfolgen
Das Wirtschaftswunder der Nachkriegs- index der 30 wichtigsten deutschen Un- und schnell wachsen. So schätzt es der
zeit brachte Unternehmerpersönlichkeiten ternehmen, so finden sich dort vor allem Deutsche Start-up-Verband, den es auch
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GORDON WELTERS / DER SPIEGEL

Factory-Chef Schloemer: „Wir sind kein Zoo“

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GORDON WELTERS / DER SPIEGEL
Zalando-Vorstand Gentz, Hightech-Werkstatt Makerspace in Garching bei München: „Man muss ein Unternehmen lieben, in guten wie in schlechten

schon gibt und der seinen Sitz, natürlich, Working-Space, Arbeitsplatz und Treff- mehrere Ideen gleichzeitig aus: eine App,
in Berlin hat. Nicht nur wegen der Nähe punkt für Freiberufler, Gründer und alle die Versicherungsmakler überflüssig ma-
zur Politik: In der Hauptstadt sind die jun- anderen Mitglieder. chen will, oder eine digitale Vermögens-
gen Gründer zu einem wichtigen Wirt- Immer mehr Unternehmen der Old Eco- verwaltung.
schafts- und Imagefaktor geworden; aber nomy suchen Kontakt zu Start-ups. Die Weil die Geschäftsmodelle so komplex
auch im Rest der Republik, in München Factory bedient diese Nachfrage. Wie in seien, suche FinLeap für die Chefposten
vor allem, hat sich eine interessante Grün- einem Klub können etablierte Firmen Mit- bewusst nach erfahrenen Managern, sagt
derszene entwickelt. Eine Szene, die fest glied werden. Dafür erhalten sie Zugang Beckers. Kürzlich warb er einen ehemali-
in Männerhand ist: Nur 14 Prozent der zum Campus, zu den Veranstaltungen, gen Vorstand der Bertelsmann-Tochter Ar-
Neuunternehmer sind Frauen. dem Netzwerk. Die Deutsche Bank zählt vato ab. „Du kannst mit einem WHUler
Die Frage wird sein, ob das alles reicht – zu den Mitgliedern, ebenso der Automo- frisch von der Uni keine Bank bauen“, fin-
und was noch getan werden muss, damit bilzulieferer Schaeffler. Anfragen anderer det Beckers.
sich die deutsche Wirtschaft tat- Art lehne er ab, sagt Factory- Die Absolventen der WHU, einer pri-
sächlich von unten erneuert. Umfrage in Geschäftsführer Udo Schloe- vaten Wirtschaftshochschule, tummeln
Wie kaum ein anderer Ort ist deutschen Start-ups mer: „Manchmal rufen Manager sich in großer Zahl in Berlin, was auch
die Factory in Berlin ein Symbol hier an und fragen: Kann ich am Einfluss Oliver Samwers liegt, der
für die Start-up-Szene der mal gucken kommen? Das gibt’s systematisch Nachwuchskräfte von sei-
Hauptstadt geworden, für das nicht. Wir sind kein Zoo.“ Es ner ehemaligen Hochschule rekrutiert.
Geflecht von jungen Internetfir- gehe darum, dass die Konzerne Samwers börsennotiertes Unternehmen
men und Investoren also, das in den Start-ups auf Augenhöhe Rocket Internet gilt als Start-up-Fabrik.
den vergangenen Jahren ent-
standen ist. 95% begegneten.
„Jeder sucht heute sein Heil
Es stößt massenweise Neugründungen aus,
die aber meist Geschäftsmodelle anderer
Klar gibt es in der Factory in Berlin“, sagt Jan Beckers, 34. kopieren.
eine Tischtennisplatte. Selbst- Er kam 2008 nach dem BWL- Die Gründerszene hat der Berliner Wirt-
verständlich fehlen auch die erlauben Sweater Studium aus Münster nach Ber- schaft, die kaum von industrieller Substanz
offene Kaffeeküche und der oder Kapuzenpulli lin, mit einem klaren Ziel: „Ich zehren kann, einen Schub verschafft. Nach
„Nap Room“ nicht, der Rück- im Büro wollte Internetunternehmer wer- Berechnungen der Investitionsbank Berlin
zugsort für den Mittagsschlaf den.“ Damals habe die Szene trug die Digitalwirtschaft 2016 knapp acht
zwischendurch. Die Wände sind aus un- „aus gefühlt hundert Leuten“ bestanden, Prozent zum Bruttoinlandsprodukt der
verputztem Backstein, die Stühle stammen die es auch deshalb nach Berlin verschlug, Hauptstadt bei – mehr als die Bauwirt-
vom Designer Charles Eames, und natür- weil sie mitten in der Finanzkrise in Un- schaft und fast so viel wie die Industrie.
lich sitzen darauf junge Menschen mit ternehmensberatungen oder Investment- Rund 77 000 Menschen sind im Berliner
Kopfhörer und MacBook. Optisch ist die banken keinen Job fanden. Das soziale Digitalsektor regulär beschäftigt.
Factory ein Klischee. Netzwerk StudiVZ war der Star dieser jun- Ein guter Teil davon, rund 5000 Men-
Das Gebäude am ehemaligen Mauer- gen Szene – und scheiterte wenig später an schen, arbeiten in einem der Berliner
streifen war früher eine Brauerei. Ab 2011 der Übermacht von Facebook. Es waren Standorte des Onlinehändlers Zalando.
bauten es eine Handvoll Immobilienent- die Anfänge des Berliner Ökosystems. Vorstand Robert Gentz, 33, sitzt im vierten
wickler zum Campus für Digitalunterneh- Seitdem hat Beckers rund zwei Dut- Stock der Firmenzentrale unweit der Gren-
men um. In den oberen Etagen haben sich zend Start-ups aufgebaut. Er ist das, was ze zwischen Friedrichshain und Kreuz-
Firmen wie Soundcloud oder Twitter ein- man einen Serienunternehmer nennt. Fin- berg. Mit seinen beiden Kovorständen ar-
gemietet. Im Erdgeschoss liegt der Co- Leap, Beckers aktuelles Projekt, brütet beitet er noch immer an einem Schreib-

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Wirtschaft

Umso wichtiger ist es, dass sich auch an-


derswo in Deutschland eine Start-up-Sze-
ne entwickelt. Interessante Ansätze finden
sich vor allem dort, wo Universitäten,
Hightech-Gründer und Industriekonzerne
kooperieren.
Was für ein Unterschied zur schicken Ber-
liner Factory: Die Münchner U6 endet an
der Haltestelle „Garching Forschungs-
zentrum“, dann führt der Weg an zahlrei-
chen Gebäuden der Technischen Universität
München (TUM) vorbei zu einem moder-
nen Gebäude, dem Sitz von Unternehmer-
TUM: Das der Hochschule angegliederte In-
stitut soll junge Unternehmer von der Grün-
dung bis zum Börsengang begleiten.

FLORIAN GENEROTZKY / DER SPIEGEL


UnternehmerTUM, mitfinanziert von
der BMW-Großaktionärin Susanne Klat-
ten, sieht sich selbst als eine Art Start-up:
schnell wachsend und innovativ. In den
nächsten Jahren soll sich alles verdrei-
fachen: die Zahl der geförderten Start-ups,
das investierte Geld, die Belegschaft. Das
Zeiten“ ehrgeizigste Projekt ist ein Innovations-
zentrum mitten in der Stadt, doppelt so
groß wie das heutige in Garching. Ab 2020
tisch im Großraumbüro. Das Gebäude ist menanteile Kasse zu machen und aus dem sollen dort Start-ups gemeinsam mit eta-
umgeben von Baustellen. In den kommen- Unternehmen auszusteigen. Diese Einstel- blierten Unternehmen an Lösungen für die
den Monaten soll hier ein Campus für 5000 lung kritisiert er bei vielen Jungunterneh- Smart City, die vernetzte Stadt von mor-
Zalando-Mitarbeiter entstehen. mern, die ihr Glück in Berlin versuchen: gen, arbeiten.
2008 von Gentz und seinem Studienkol- „Man hört hier immer noch zu häufig: Ich Aktuell kümmern sich 170 Mitarbeiter
legen David Schneider gegründet, hat Za- möchte vor allem deshalb ein Start-up nicht nur um die unternehmerische Qua-
lando einen steilen Aufstieg hingelegt. Aus gründen, um es zu verkaufen. Ein Unter- lifikation von Studierenden, sie beraten
der einfachen Idee, Schuhe im Internet zu nehmen ist kein kurzfristiges Projekt. Man auch traditionelle Unternehmen, die in der
verkaufen, ist ein Unternehmen mit 3,6 muss es lieben, in guten wie in schlechten Start-up-Szene „Corporates“ genannt wer-
Milliarden Euro Jahresumsatz und soliden Zeiten.“ den. Eine dritte Geschäftseinheit beteiligt
Gewinnen geworden. Nicht nur deshalb betrachtet Yaron Val- sich mit Wagniskapital an den jungen Un-
Seit Mitte 2015 ist Zalando im MDax ler das Berliner Ökosystem mit Sorge. Es ternehmen, und schließlich gibt es noch
gelistet, der zweiten Liga der sei aus dem Gleichgewicht gera- den „Makerspace“.
deutschen Börsenlandschaft, ten und werde „fast ausschließ- Für Gründer und solche, die es werden
und dort aktuell mehr wert als lich von Business-Leuten domi- wollen, ist diese laut Eigenwerbung „größ-
die Lufthansa. Womöglich niert“, sagt der Israeli, der von te öffentlich zugängliche Hightech-Proto-
könnte Zalando in absehbarer einem Büro in der Friedrichstra- typenwerkstatt Deutschlands“ ideal: In
Zeit in den Deutschen Aktien-
index aufsteigen, es wäre damit
24 % ße den mehr als 300 Millionen
Dollar schweren Wagniskapital-
München arbeiten die meisten, anders als
viele ihrer Berliner Kollegen, an Produk-
der erste Dax-Konzern mit fonds Target Global managt. ten, die Hard- und Software verknüpfen.
Hauptsitz in Berlin – und der „Eine gesunde Gründerszene UnternehmerTUM hat schon einige be-
erste der Internetära. braucht beides“, sagt Valler, deutende Start-ups hervorgebracht, Tado
Um weiter zu wachsen und „Businessideen, die durch exzel- etwa, das intelligente Thermostate baut,
gegen globale Konkurrenten lente Umsetzung glänzen, und die mit dem Smartphone verbunden sind.
wie Amazon zu bestehen, will technologische Innovationen.“ Oder Konux: Die intelligenten Sensoren
Gentz Zalando vom Online- haben einen Noch immer betreiben viele des Start-ups überwachen inzwischen die
händler zur Technologieplatt- Kickertisch im Büro Start-ups der Hauptstadt On- Weichen der Deutschen Bahn.
form umbauen, an die sich ver- lineshops oder Marktplätze, Mit seiner Gründungsberatung hat Un-
schiedene Geschäftsmodelle andocken las- vergleichsweise einfache Geschäftsmodel- ternehmerTUM auch Celonis geholfen.
sen. Schon jetzt verkauft das Unterneh- le, die sich andererseits nur mit viel Ka- Der Wirtschaftsinformatiker Bastian No-
men nicht mehr nur Artikel aus seinen ei- pital bewähren können. minacher, 32, hatte seine Mitgründer Ale-
genen Warenlagern, sondern lässt sie von 2017 könnte für viele ein entscheiden- xander Rinke, 27, und Martin Klenk, 30,
Modemarken selbst oder aus Läden lie- des Jahr werden – und es fing nicht gut in der Münchner TU kennengelernt. Zu-
fern. Vor wenigen Wochen übernahm Za- an. Im Januar meldete das Onlineauktions- fällig stießen sie in einem Seminar darauf,
lando eine Sportschuhkette aus München. haus Auctionata Insolvenz an. Ende Fe- dass jeder Unternehmensprozess Spuren
„Auf dem europäischen Modemarkt wer- bruar brach der Aktienkurs von Samwers in der IT hinterlässt, anhand derer sich der
den pro Jahr 400 Milliarden Euro umge- Rocket Internet ein, nachdem sich der Prozessverlauf rekonstruieren und auf
setzt“, sagt Gentz, „davon haben wir noch schwedische Investor Kinnevik von der Schwachstellen überprüfen lässt. Heute ar-
nicht mal ein Prozent.“ Hälfte seiner Aktien getrennt hatte. „Es beiten 120 Leute bei Celonis, Mitte ver-
Er sei nie daran interessiert gewesen, wird schwierig für Berlin“, prognostiziert gangenen Jahres waren es erst 60, im Jahr
sagt Gentz, mit dem Verkauf seiner Fir- Yaron Valler. 2020 sollen es 1000 sein. Dann will Celonis,

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Wirtschaft

Deutschlands am schnellsten wachsendes Gisbert Rühl, 58, hat deshalb sogar ein momentan die spannendsten Jungunter-
Start-up, in den USA an die Börse. Das eigenes Start-up gegründet. Er führt den nehmen, findet er: „Die Geschwindigkeit
Ziel: ein Einhorn zu werden. Unicorn nen- 110 Jahre alten Stahlhändler Klöckner & ist beeindruckend. Dort können Sie sich
nen die Amerikaner Start-ups, die eine Co. seit 2009. Seither musste er mehr als innerhalb von 24 Stunden einen Prototyp
Bewertung von einer Milliarde Dollar ge- 3000 Leute entlassen, ein Viertel der Be- bauen lassen.“
schafft haben. legschaft. So konnte es nicht weitergehen. Noch erfolgreicher ist die Start-up-Sze-
„Gründerkultur kommt nicht von allein, Doch der Versuch, das Unternehmen von ne in Israel, wie der spektakuläre Kauf
man muss sie pflegen“, sagt Unternehmer- innen heraus zu verändern, scheiterte. von Mobileye durch Intel einmal mehr
TUM-Geschäftsführer Helmut Schönen- „Wir haben gemerkt, dass wir als Corpo- zeigt. Der US-Konzern bietet für den is-
berger und fragt: „Warum gibt es eigentlich rate zu langsam sind“, sagt Rühl. Er ging raelischen Spezialisten für Kamera- und
nicht zehn UnternehmerTUMs?“ nach Berlin, mietete für zwei Leute einen Sensortechnologie 15 Milliarden Dollar.
Vielleicht, weil es nicht überall eine Mil- Tisch im Beta-Haus, einer weiteren Co- Mobileye arbeitet bereits heute mit vielen
liardärin gibt, die ein solches Projekt för- Working-Gemeinschaft. Das waren die großen Autokonzernen zusammen, auch
dert. Vor allem aber, weil nicht an allen Anfänge von klöckner.i. Heute arbeiten mit BMW. Deren Geschäftsmodell wird
Universitäten der Unternehmergeist der hier 40 Leute, die meisten kommen aus sich durch die Digitalisierung grundlegend
Studenten so gefördert wird wie in Mün- der Start-up-Szene, an einer digitalen Han- verändern. In den Industriestaaten wollen
chen – oder in Karlsruhe, wo 1972 die erste delsplattform für Stahl. immer weniger Menschen ein eigenes
deutsche Informatikfakultät entstand. Rühl wirkt unter seinen jungen Berliner Fahrzeug besitzen, der Verbrennungsmo-
Matthias Hornberger, 56, kam 1999, Mitarbeitern wie ein Fremdkörper: streng tor gilt als Auslaufmodell.
während des New-Economy-Booms, nach gescheitelte graue Haare, Anzug, Krawat- BMW will sich deshalb vom reinen Au-
Karlsruhe. Der gelernte Banker managte te, weißes Einstecktuch. Er mag sich nicht tobauer zum Mobilitätsdienstleister wan-
den Börsengang des ortsansässigen E-Mail- verkleiden wie andere Vorstandsvorsitzen- deln. Dabei setzt der Konzern auch auf
Anbieters Web.de. Der Verkauf des Un- de, die im legeren Outfit die Berliner Sze- die Unterstützung von Start-ups. BMW
ternehmens an United Internet einige Jah- ne erkunden oder sogar öffentlich in Jeans hat einen Fonds aufgelegt, der innerhalb
re später machte ihn vermögend. Heute und Turnschuhen auftreten. Und doch von zehn Jahren 500 Millionen Euro in
investiert Hornberger selbst in Internetfir- weiß kaum ein anderer Manager in junge Tech-Unternehmen investieren soll.
men und fördert die lokale Start-up-Szene. Deutschland die Start-up-Kultur so gut für Bislang hat sich der Autohersteller unter
Natürlich sei Karlsruhe kein „cooler sein Unternehmen zu nutzen. Rühl gibt anderem an einer App beteiligt, über die
Hotspot wie Berlin“, sagt Hornberger, sich siegessicher: „Wir sind in der Branche man Parkplätze im Voraus buchen kann.
dafür hätten die hiesigen Start-ups „im führend, kein Amerikaner ist weiter.“ Es sei nicht so, dass niemand bei BMW
Schnitt mehr technische Tiefe“. Die Karls- Fast alle großen Unternehmen koope- auf die Idee gekommen wäre, die Park-
ruher Gründerszene profitiere von der rieren inzwischen mit Start-ups, viele ha- platzsuche zu digitalisieren, erzählt Schwar-
Nähe zur mittelständischen Industrie, ben sich an Neugründungen beteiligt. Aber zenbauer. Technologisch seien Start-ups
glaubt Hornberger. In der Stadt seien des- nicht immer werden sie in Deutschland der Autobranche selten meilenweit voraus.
halb besonders viele sogenannte Business- fündig. BMW-Vorstand Peter Schwarzen- Entscheidend sei deren Denkweise. „Die
to-Business-Firmen entstanden – Start-ups, bauer, 57, reist mehrmals im Jahr von Szene lebt vom Glauben, dass alles möglich
deren Geschäftsmodell nicht auf private München ins Silicon Valley und nach Chi- ist. Ich bin überzeugt davon, dass dieser
Konsumenten, sondern auf Kunden aus na. In Peking, Shanghai und der südchi- grenzenlose Optimismus wahnsinnig viele
der Wirtschaft abzielt. nesischen Metropole Shenzhen gebe es Energien freisetzt“, sagt Schwarzenbauer.
Noch sei die Zahl solcher „wissensba- Ein Konzern wie BMW, der seit Jahrzehn-
sierter Unternehmensgründungen“ jedoch ten darauf gepolt ist, fehlerfreie Autos zu
zu klein, heißt es im jüngsten von der Bun- Hotspots bauen, könne von dieser Mentalität durch-
desregierung in Auftrag gegebenen Gut- Wo die deutschen Start-ups sitzen, aus etwas lernen. Zum Beispiel, dass Fehler
achten der „Expertenkommission For- in Prozent bei bahnbrechenden Neuerungen dazuge-
schung und Innovation“ unter Leitung des hören. „Die Start-ups wirken wie ein Be-
Schleswig-Holstein
Max-Planck-Direktors Harhoff. Es konsta- 1,9
Mecklenburg- schleuniger“, sagt Schwarzenbauer, „sie
tiert ein „brach liegendes Gründungs- Vorpommern zeigen selbst uns als Innovationsführer, wie
potenzial, das besser genutzt werden soll- 1,0 man als Großunternehmen wendiger wer-
Hamburg
te“. Neben den fachlichen Kompetenzen Bremen 6,4 Brandenburg den und Dinge schneller umsetzen kann.“
müsse an den Universitäten „disziplin- 1,7 1,5 Inzwischen sehen das auch viele Stu-
übergreifend ein Gründungsbewusstsein Nieder- denten so. Die besten „wollen nicht mehr
geschaffen werden, damit Selbstständig- sachsen Berlin zu McKinsey. Die wollen gründen“, hat
10,7 Sachsen- 17,0
keit als eine realistische Option wahrge- Nordrhein- Anhalt Harhoff beobachtet. „Da tut sich was.“
nommen wird“. Westfalen 1,2 Celonis-Gründer Nominacher war vor
Welches Potenzial in den Start-ups 19,1 fünfeinhalb Jahren der Einzige seines Jahr-
steckt, für den Wirtschaftsstandort Thüringen
Sachsen gangs an der Münchner TU, der sich nicht
Deutschland, möglicherweise aber auch 5,1 bei einem etablierten Unternehmen be-
Rheinland- Hessen 1,2
für das eigene Überleben, haben inzwi- Pfalz 5,4 warb. Heute, sagt er, sei jeder Zweite selbst
schen auch viele Corporates erkannt. Die 2,7 Gründer oder arbeite in einem Start-up.
erste Halbzeit der Digitalisierung, so sagen Saarland Es braucht Vorbilder wie Celonis, damit
0,5 eine Gründermentalität entsteht. Es
viele, hat die deutsche Wirtschaft verloren,
Bayern braucht ein Umfeld wie Berlin oder Mün-
da liegen die US-Konzerne aus dem Silicon Baden- 12,1
Valley unaufhaltsam vorn. Nun gelte es, Württemberg chen, in dem Start-ups gedeihen können.
die Chancen der zweiten Halbzeit zu nut- 12,4 Damit daraus aber große Unternehmen
zen. Und dabei, meint der Innovations- werden, dafür braucht es vor allem: Geld.
experte Harhoff, „können wir auf Start- „Das unternehmerische Potenzial in
ups nicht verzichten“. Quelle: KPMG Deutschland ist da und die technologische

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verschiedensten Branchen fließen, etwa
Fintech, Industrie 4.0 oder Cybersicher-
heit, die schon bewiesen haben, dass ihr
Geschäftsmodell funktioniert, und die nun
schnell wachsen wollen. So erhielten Kon-
zerne als Fondsinvestoren Einblick und
Kontakt zur Welt der digitalen Start-ups.
Die VC-Firma bekäme Kapital, das in
Deutschland und Europa für Wachstums-
unternehmen besonders knapp sei, erklärt
Brandis.
Der nächste Schritt für die Einhörner
von morgen wäre der Gang an die Börse –
GORDON WELTERS / DER SPIEGEL

sonst dürften viele deutsche Start-ups auch


weiterhin von amerikanischen Konkurren-
ten aufgekauft werden. Hier macht die
Deutsche Börse knapp anderthalb Jahr-
zehnte nach dem Ende des Neuen Marktes
einen neuen Versuch, das Börsensegment
„Scale“ soll junge Firmen an den globalen
Manager Rühl bei klöckner.i in Berlin: „Kein Amerikaner ist weiter“ Kapitalmarkt heranführen.
Es geht also voran, nicht nur beim Wag-
niskapital. Berlin hat, trotz seiner Schwä-
Basis sowieso“, sagt Hendrik Brandis, chen, um eine ausreichende Größe zu er- chen, die Chance, die Start-up-Metropole
Gründer und Partner der Venturecapital- reichen und Marktanteile zu gewinnen. Europas zu werden. Überall im Land be-
Gesellschaft Earlybird. „Knapp ist etwas Einzelne Kapitalgeber müssten dort fünf geistern sich die Absolventen von Hoch-
anderes: Geldgeber, die bereit sind, bis zehn Millionen Euro einbringen. schulen wieder fürs Gründen, und viele
Risiken einzugehen und Start-ups mit Warum gibt es diese Lücke? In den USA trauen sich, groß zu denken.
großen Wachstumschancen zu finan- kommen zwei Drittel des Risikokapitals Was sich noch ändern muss, ist die
zieren.“ von Stiftungen und Pensionsfonds – in Angst vor dem Scheitern. Die Hälfte aller
Earlybird startete in der „New Econo- Deutschland spielen diese beiden Kapital- Start-ups überlebt nach einer Schätzung
my“ der späten Neunzigerjahre. Damals quellen kaum eine Rolle, auch weil das ihres Verbands die ersten fünf Jahre nicht.
rissen sich Geldgeber darum, das nächste Rentensystem staatlich dominiert ist. Hin- In Deutschland gilt eine Pleite als Makel,
EM.TV oder Intershop zu finanzieren. Die- zu kommen gesetzliche Einschränkungen, die Amerikaner haben daraus geradezu ei-
se Unternehmen waren zur Jahrtausend- Versicherungen müssen riskante Investi- nen Kult gemacht: Wer fällt, wird nicht
wende am sogenannten Neuen Markt, der tionen in ihrer eigenen Bilanz mit viel Ei- stigmatisiert. Er steht auf – und fängt noch
Börse für junge Hightech-Unternehmen, genkapital absichern, das macht Venture- einmal von vorn an.
fantastische Milliarden wert. Doch ebenso capital unattraktiv. Carlos Borges musste im Januar Insol-
schnell waren viele dieser Fir- „Die bestehende Lücke kön- venz anmelden. Der gebürtige Brasilianer
men wieder verschwunden und nen entweder der Staat oder hatte 2013 in Hamburg Triprebel ge-
mit ihnen der Neue Markt sowie Unternehmen schließen“, fol- gründet. Das Start-up entwickelte einen
die meisten Risikokapitalfonds. gert Earlybird-Partner Brandis. digitalen Reiseassistenten, der für seine
Das Trauma wirkt bis heute Bei beiden potenziellen Geld- Kunden das günstigste Angebot suchte.
nach. gebern tut sich etwas. Die Tauchte vor Reisebeginn irgendwo im
„Gemessen an der Stärke der schwarz-rote Koalition will die Netz ein besseres auf, wurde die alte Bu-
deutschen Wirtschaft sollte jedes Start-up-Förderung der KfW, die chung storniert und durch eine neue er-
vierte Google aus Deutschland schon beim High-Tech Gründer- setzt.
kommen. Aber das ist nicht so“,
sagt Brandis. „In Amerika steht
11% fonds maßgeblich beteiligt ist,
deutlich ausbauen. Ein neuer
Die Idee kam gut an, zumindest in den
Medien und in Fachkreisen. Doch Kunden
gemessen an der Wirtschaftsleis- haben eine Fonds für Wachstumsfinanzie- blieben rar, neue zu gewinnen erwies sich
tung zehnmal so viel Risiko- Feel-Good-/ rung ist in Planung, der Tech als viel zu teuer. Die Insolvenz war un-
kapital zur Verfügung wie in Start-up-Oma* Growth Fund. Gestritten wird ausweichlich.
Deutschland.“ 1,7 Milliarden *Wohlfühl-Beauftragte noch über eine sinnvolle Ausge- Gründer Borges gibt sich „relativ ent-
Euro flossen 2016 in deutsche staltung. spannt“. Gemeinsam mit dem Insolvenz-
Start-ups. In den USA waren es mehr als Auch der Markt für private Start-up- verwalter versucht er, einen Käufer für
60 Milliarden Euro. Investments kommt in Bewegung. Brandis das Produkt zu finden. „Wir sind nicht
In der Gründungsphase fällt es den Start- glaubt, dass Konzerne wie Daimler ver- gescheitert“, sagt er. „Es gibt neue Mög-
ups noch vergleichsweise leicht, Geldgeber stärkt in unabhängige Venturecapital- lichkeiten, auch für die Mitarbeiter.“
zu finden, es gibt Business Angels, kleine Fonds investieren werden, um dabei zu Er habe viel gelernt, über die digitale
Risikokapitalfonds, Förderbanken und nicht sein, wenn das nächste Einhorn in ihrem Transformation und wie man mit wenig
zuletzt den High-Tech Gründerfonds. Seit Geschäftsbereich heranwächst. Ressourcen auskommt – „Erfahrungen,
gut einem Jahrzehnt fördert der Bund über Gemeinsam mit einigen großen deut- die unbezahlbar sind“. Die will er nun,
diesen Fonds gemeinsam mit privaten In- schen Konzernen denkt die VC-Firma ge- als Angestellter, in ein neues Projekt ein-
vestoren Firmen, er hat bereits 576 Millio- rade über einen neuen Fonds nach, der in bringen.
nen Euro in 468 Start-ups investiert. reifere Technologieunternehmen fließen Und danach wieder ein Start-up gründen.
Schwieriger wird es in der Wachstums- soll. Der angepeilte dreistellige Millionen- Martin Hesse, Armin Mahler, Ann-Kathrin Nezik
phase, in der Start-ups viel Kapital brau- betrag würde in Unternehmen aus den Mail: armin.mahler@spiegel.de

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Wirtschaft

„Wir sind gescheitert“


Klassenkampf Europas bekanntester Globalisierungskritiker Jean Ziegler, 82, über antikapitalistische
Parolen von rechts und links, fehlende Selbstkritik und die Bilanz seines Lebens

SPIEGEL: Herr Ziegler, Sie haben immer da- trennt, ist nur der Zufall der Geburt. Ich Ziegler: Das sind schlimme Fragen.
für gekämpft, die Globalisierung auszu- habe das Gefühl, kämpfen zu müssen, so- SPIEGEL: Wie weh tut der Zwiespalt, als
bremsen und große Teile der Arbeiterklasse lange ich das kann. Wanderheiliger gegen den Hunger gefeiert
zu gewinnen. Nun scheint Donald Trump SPIEGEL: Haben Sie Angst, dass mit Ihrem zu werden, aber als Elite des weltweiten
genau das zu gelingen, was Sie nicht ge- Tod Ihre Ideen verschwinden? Krisenestablishments doch nichts ausrich-
schafft haben. Wie konnte das passieren? Ziegler: Glaube ich nicht. Denn es sind die ten zu können?
Ziegler: Ihm gelingt das nur, weil es den Ar- kollektiven Ideen von 1789, von der Kom- Ziegler: Das ist unerträglich. Wenn ich mit
beitern hundsmiserabel geht. Und weil ihnen mune von Paris, von der Universellen Er- den weißen Toyotas, den Dolmetschern und
von Trump Sündenböcke präsentiert wer- klärung der Menschenrechte. den Sicherheitsbeamten etwa im Hochland
den, die angeblich schuld an ihrer Krise sei- SPIEGEL: Haben Sie genug getan, damit sie von Guatemala unterwegs bin und mit halb
en: die Mexikaner, die Muslime. Mit Trump weiterleben? verhungerten Indianern rede, die das erste
demaskiert sich die weiße Herrschaftsklasse Ziegler: Noch lange nicht. Mal Hoffnung haben, weil ein Weißer mal
Amerikas nur offen als das, was sie immer SPIEGEL: Sie sind jetzt 82 Jahre alt, schreiben ohne Pistole kommt – dann fühle ich mich
war: rassistisch. Er sagt „America First“, fast alle zwei Jahre ein Buch, sprechen auf hundeelend nach dem Besuch.
lässt seine Devotionalien wie Mützen und Demos, reisen für die Uno durch die Welt. SPIEGEL: Warum?
Shirts aber von Billigsklaven in Asien pro- Ab und zu bricht Ihre Malaria aus. Sie könn- Ziegler: Weil ich weiß, dass ich sie belüge.
duzieren. Heuchlerischer geht es kaum. ten es ruhiger haben, wie wär’s mit Rente? Wenn ich ihnen sage, die Uno ist da und
SPIEGEL: Sie warnen seit Jahrzehnten vor Ziegler: Eine totale Demission? Das wäre wird euch helfen, stimmt das nicht. Meine
einer Weltherrschaft des Finanzkapitals. unverantwortlich. Empfehlungen, in diesem von Großgrund-
Ist der politische Rechtsruck in den USA SPIEGEL: Ein Revolutionär geht nicht in besitzern dominierten Staat endlich eine
und Europa womöglich die größere Gefahr Rente? Landreform zu machen, werden im Men-
für die westliche Welt? Ziegler: Revolutionär ist ein zu großes schenrechtsrat nicht durchkommen.
Ziegler: Nein. Die 500 größten Privatkon- Wort. Che Guevara ist gestorben für seine SPIEGEL: Ist die Hilfe also nur simuliert?
zerne kontrollieren nach Weltbankzahlen Ideen. Ich bin ein privilegierter Kleinbür- Ziegler: Schlimmer, hier geht es um Lüge.
52,8 Prozent des Weltbruttosozialpro- ger aus der Schweiz, ein Bolschewik, der Und trotzdem tut sich was: Wir haben die-
dukts. Diese Macht ist unvergleichlich. auch noch an Gott glaubt. se Menschen sichtbar gemacht. Und die
SPIEGEL: Solche und andere antikapitalis- SPIEGEL: Ihr Rückblick im Buch wirkt bitter: Weltbank hat dort nun mit digitaler Land-
tische Parolen werden nun ziemlich ähn- Die Arbeit der Uno, sagen Sie, habe wenig vermessung begonnen und ein Grundbuch
lich von Politikern wie Marine Le Pen ko- gebracht, die Millenniumsziele im Kampf auf den Weg gebracht, das verhindern soll,
piert. Macht Sie das nachdenklich? gegen den Hunger seien vollkommen ver- dass die riesigen Latifundien wie bisher
Ziegler: Die Faschisten haben immer ver- fehlt worden. Sie waren als Sonderbericht- einfach durch Waffengewalt vergrößert
sucht, sozialistische Ideen zu kopieren. Sie erstatter Teil dieses Projekts. Haben Sie werden.
pervertieren das dann mit ihrer Sünden- sich Illusionen gemacht? SPIEGEL: Die Weltbank? Die galt Ihnen frü-
bockmethode, so wie Erdoğan in der Tür- Ziegler: Ja und nein. Sicher, der Hunger ist her als Feind der Menschheit. Kommt hier
kei oder Orbán in Ungarn. schlimmer denn je. Ein einziges Beispiel: Altersmilde durch?
SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch, das Sie noch Auf einem Planeten, der vor Reichtum Ziegler: Das ist das schlimmste Wort, das
vor dem Wahlsieg von Donald Trump ab- überquillt, sind aktuell 1,4 Millionen Kin- Sie gegen mich verwenden können! Al-
geschlossen haben, heißt es, Armageddon, der in Afrika unmittelbar vom Hungertod tersmilde heißt doch: Der gibt auf und ver-
die letzte große Schlacht zwischen Gut bedroht. Aber das Bewusstsein für diesen zeiht. Nein, aber auch Institutionen wie
und Böse, stehe kurz bevor*. Ist das Ihr menschengemachten Skandal steigt. Und die Weltbank sind begrenzt lernfähig: Aus-
Ernst? wie absurd diese schlimme alte Theorie landsschulden etwa benutzen die nicht
Ziegler: Wir sind in der Endphase des Klas- ist, wonach der Hunger naturgegeben und mehr so sehr als Zwangsschraube wie noch
senkampfes. Die Diktatur des globalisier- ein Regulativ für die Überbevölkerung vor 20 Jahren.
ten Finanzkapitals hat unglaubliches Elend sei – das zeigen Zahlen: Nach Uno-Be- SPIEGEL: Sie haben in den vergangenen drei
geschaffen … rechnungen könnten wir problemlos zwölf Jahren als Vizepräsident eines Uno-Aus-
SPIEGEL: … von dem die Linke eher nicht Milliarden Menschen ernähren. schusses versucht, sogenannte Geierfonds
profitiert. SPIEGEL: Ist bei Ihnen Raum für Selbstkritik? zu verbieten – Investmentfirmen, die da-
Ziegler: Sie urteilen zu schnell. Durch das Ziegler: So wenig wie möglich, das schwächt rauf setzen, mit alten Schuldtiteln armer
Internet wird ein neues revolutionäres Kol- einen. Staaten noch Gewinne zu machen. Wie ist
lektivbewusstsein entstehen. SPIEGEL: Trösten Sie sich mit Utopien über Ihre Bilanz?
SPIEGEL: Macht Sie diese Klassenkampf- das Elend hinweg? Ziegler: Wir sind gescheitert, total geschei-
rhetorik nicht manchmal selbst müde? Ziegler: Um mein Gefühlsleben geht es tert. Das Ergebnis war null, was eigentlich
Ziegler: Nein, nie. Es geht nicht um Rheto- nicht, und unsere Utopien sind kein ver- nicht verwundern kann, da die Bankenlob-
rik, sondern um Analyse. Ich habe verhun- schüttetes Geheimfach in unserer Seele. by gut organisiert ist. Immerhin haben wir
gerte Kinder gesehen und kann dazu nicht Es geht darum, den kollektiven Willen zur die Geierfonds, die etwa Malawi zum Ver-
schweigen. Was mich von diesen Opfern Gerechtigkeit zu mobilisieren. kauf seiner Maisvorräte zwangen und dem
SPIEGEL: Sie haben sich sinngemäß mal mit Hunger auslieferten, weil sie durch ein bri-
* Jean Ziegler: „Der schmale Grat der Hoffnung“. einem Vampir verglichen. Ist das Elend tisches Gericht mehrere Zehnmillionen
C. Bertelsmann Verlag; 320 Seiten; 19,99 Euro. Ihre Geschäftsgrundlage? Dollar erstritten hatten, ans Licht gezogen.
64 DER SPIEGEL 12 / 2017
LIONEL FLUSIN / GAMMA-RAPHO / LAIF
Soziologe Ziegler in seinem Haus bei Genf: „Hoffnung auf den Aufstand der Zivilgesellschaft“

SPIEGEL: Sie waren 1964 für zwölf Tage der SPIEGEL: In dem Film haben Sie auch das SPIEGEL: Meint Ihr Sohn womöglich solche
Chauffeur von Che Guevara in Genf. Da- Verbot einer freien Presse auf Kuba ver- Besuche, wenn er Sie „primitiv“ nennt?
nach wollten Sie ihm bei kommenden Re- teidigt. Ziegler: Er meint, dass ich gegen Zweifel
volutionen assistieren. Er verbot Ihnen den Ziegler: Brecht sagt, ein Wahlzettel macht immun bin.
bewaffneten Kampf und empfahl Ihnen, einen Hungrigen nicht satt. Auf Kuba SPIEGEL: Es wirkt mitunter leicht verstockt,
sich zu Hause beim Feind einzuschleichen. kommt dazu, dass die Insel seit über 50 wie Sie Ihre Botschaften anbringen.
Ziegler: Che hat mich für einen unnützen Jahren unter der US-Blockade leidet und Ziegler: Karl Kraus hat gesagt: Er schießt oft
Kleinbürger gehalten. Seine Zurückwei- dass die CIA und die radikalen Exilkuba- über das Ziel hinaus, aber selten daneben.
sung hat mich verletzt, aber sie hat mir ner in Miami versuchen, das Land zu sa- SPIEGEL: Auf wen hoffen Sie?
das Leben gerettet. Seitdem probiere ich botieren. Ziegler: Ich hoffe auf die radikale Reform
es mit einer Art subversiver Integration ... SPIEGEL: Fühlen Sie sich wohl in der Rolle der Uno. Bei Hunger und Elend, hervor-
SPIEGEL: ... in die verhassten Institutionen, des politischen Lehrers, der anderen vor- gerufen durch Bürgerkrieg, müsste sie be-
die Ihnen den Skiurlaub finanzieren? schreibt, was er nie erleiden musste? waffnet intervenieren können.
Ziegler: Ich versuche es mit positiver Sa- Ziegler: Sicher, ich profitiere vom unerhör- SPIEGEL: Tröstet Sie Ihr Glaube an Aufer-
botage. Meine Waffen sind das Uno-Man- ten Privileg, in der Schweiz geboren zu stehung?
dat, die Reden, Berichte, Vorlesungen und sein. Eine Revolution wie auf Kuba ist aber Ziegler: Wir haben die Unendlichkeit in
Bücher. Es geht darum, die Institutionen ein Prozess. Der erste Kampf gilt immer uns, denn das Bewusstsein stirbt nicht.
zu infiltrieren und deren Macht für die ei- der Nahrung, der Versorgung, der Alpha- SPIEGEL: Wie hält es Gott mit der revolu-
genen Ziele zu nutzen. betisierung. Die wünschenswerte Presse- tionären Veränderung?
SPIEGEL: Was heißt Kommunismus heute freiheit kommt später. Ziegler: Der würde der Sache mit großer
noch? SPIEGEL: Ihre Nähe zu Diktaturen hat selbst Sympathie begegnen. Die Bergpredigt ist
Ziegler: Er ist die Zukunft der Menschheit. viele Linke verstört. Was hat Sie an Gad- noch 1000-mal revolutionärer als das Kom-
SPIEGEL: In einem aktuellen Dokumentar- dafi so fasziniert, dass Sie ihn achtmal tref- munistische Manifest.
film über Sie ist zu sehen, wie Sie Bauern fen mussten? SPIEGEL: Betet der Revolutionär Jean Zieg-
auf Kuba besuchen und das Lenin-Zitat Ziegler: Neugier. Gaddafi war ja für viele ler abends zu Gott?
„Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser“ Linke lange ein Held der Veränderung. Ziegler: Dazu sage ich nichts.
loben. Mit dieser Losung sind auch Schau- Aber es stimmt. Ich habe viel zu spät mit SPIEGEL: Also ja.
prozesse gerechtfertigt worden. Gaddafi gebrochen. Das war unentschuld- Ziegler: Sie riskieren Fake News.
Ziegler: Ja, die waren eine Perversion. bar. Interview: Nils Klawitter

DER SPIEGEL 12 / 2017 65


Wirtschaft

Das Buch, das keiner lesen soll


Konzerne Siemens bat zwei Historiker, eine Geschichte des Schmiergeldskandals zu schreiben.
Das Versprechen: maximale Transparenz. Das Werk ist fertig – darf aber nicht erscheinen.

S
ie müssen sich ziemlich sicher gewe- Es dürfte auf eine kühle Analyse hinaus- Beide müssen gewusst haben, dass
sen sein, damals, im Frühling 2014. gelaufen sein, was nutzt, was schadet. Kei- Crommes Mission, den Namen Siemens
So sicher, dass sie fast euphorisch ne Herzenssache, nur eine taktische Ab- wieder ehrlich erscheinen zu lassen, für
klangen, die beiden Historiker Hartmut wägung. Und auch daran gemessen bleibt ihren eigenen Ruf riskant sein könnte.
Berghoff und Cornelia Rauh, als sie end- es eine fragwürdige Entscheidung, min- Umso klarer die Botschaft, wie sie den
lich ihr Vorwort schreiben konnten. Sie destens. Auftrag angehen wollten: „Für Gefällig-
hatten es also geschafft: eine Geschichte Denn auch bei Siemens muss man sich keitsgeschichtsschreibung stehen wir nicht
des Siemens-Konzerns, satt verdichtet zu ja diese Fragen gestellt haben: Will sich zur Verfügung“, stellte Berghoff in einem
800 Seiten, und im Mittelpunkt: der Skan- der Konzern nun wirklich nachsagen las- Gespräch mit dem „Focus“ klar. Dazu
dal. Schwarze Kassen bei Siemens. Der sen, dass er in den Zeiten, in denen er um passte, was der Konzern im Dezember
größte Korruptionsfall in der Geschichte Glaubwürdigkeit kämpfte, so eine Studie 2012 öffentlich versprach: „Die Siemens
der Republik. in Auftrag gab und heute lieber nicht mehr AG ermöglicht eine unabhängige wissen-
Zweieinhalb Jahre Arbeit, Termindruck, daran erinnert werden will? Dass all die schaftliche Untersuchung.“ Die Historiker
der Kampf mit Tausenden von Akten, das Beteuerungen, radikal aufzuklären, nur bekämen „uneingeschränkten Zugang
schien nun vorbei. Und so jubelten Berghoff Teil einer PR-Strategie waren, und nun zum Unternehmensarchiv“. Und: Auch
und Rauh nicht nur über ihr Mammutwerk, gibt es eine neue: nach vorn blicken, das eine Veröffentlichung sei geplant, 2014.
sondern auch über den Konzern, der ihnen Gestern vergessen? Offenbar schon, auch Berghoff und Rauh wollen über Details
„die große Chance“ gegeben hatte. „Nur wenn das etwas peinlich ist für den größten ihrer Arbeit derzeit nicht reden, aber man
selten können Wissenschaftler eine quellen- deutschen Industriekonzern, der doch an- kann sich vorstellen, dass sie sich erst mal
gestützte, wissenschaftlich fundierte Ge- geblich ganz anders werden wollte. wie im Historikerparadies gefühlt haben
schichte eines Unternehmens bis hart an Die Geschichte einer unwillkommenen müssen. Siemens legte ihnen alle Vor-
die Grenze zur Gegenwart schreiben“, hieß Unternehmensgeschichte begann im Jahr standsprotokolle, alle Aufsichtsratsauf-
es da. Sie hätten bei Siemens „geradezu 2011. Siemens hatte das Schlimmste hinter zeichnungen vor. Papiere, für die eine jahr-
ideale Bedingungen“ angetroffen. „Das Un- sich: die Ermittlungen in Deutschland und zehntelange Geheimhaltung gilt. So war
ternehmen setzt – nicht zuletzt als Reaktion Amerika, die den Konzern gut 2,5 Milliar- es versprochen, so wurde es gehalten, wie
auf den Korruptionsskan- den Euro gekostet hatten. ein Siemens-Insider berichtet, der unge-
dal – auf Transparenz.“ An der Spitze stand ein nannt bleiben möchte.
Eigentlich kennt man so neuer Mann, Peter Löscher, Der Konzern öffnete Türen zu Altvor-
etwas nur vom Fußball, ein- über ihm wachte ein neuer deren wie dem ehemaligen Patron Heinrich
mal im Jahr vom Pokalfina- Aufsichtsratschef, Gerhard von Pierer, aber auch zu Joe Kaeser, einst
le in Berlin: Zwei Mann- Cromme. Sogar die Ge- Finanzchef, heute die Nummer eins bei Sie-
schaften treten an, beide schäftszahlen sahen exzel- mens. Klang also ganz nach den „idealen
drucken vorher schon Sie- lent aus – viel besser als in Bedingungen“, die Berghoff und Rauh spä-
PETER STEFFEN / PICTURE ALLIANCE / DPA

ger-T-Shirts, das der Verlie- den meisten Jahren vor ter im Vorwort feiern sollten. Allerdings:
rer sieht man nie. Auch das dem Skandal. Alle Rechte am Werk gehörten Siemens.
euphorische Vorwort der Nur die Marke, die litt Und damit war auch klar, wer gewinnen
beiden Historiker sollte ei- noch unter dem Geruch würde, sollte es je zum Streit kommen.
gentlich keiner mehr sehen. des alten Siemens-Sau- Etwa darüber, ob die Historiker die Auf-
Erschienen ist „Die Große stalls. Würde da eine Ge- sichtsratsprotokolle nur lesen oder auch
Transformation“, ihr Werk schichte des Korruptions- verwerten dürfen in dem geplanten Buch.
über den Korruptionsskan- falls, geschrieben von un- Über diesen Punkt, so der Siemens-In-
dal, seine Wurzeln und Fol- abhängigen Historikern, sider, sei nicht ausdrücklich gesprochen
gen, bis heute nicht. Seit nicht ein starkes Zeichen worden; möglicherweise gingen die His-
2014 hält Siemens es unter setzen? Cromme über- toriker so sicher davon aus wie die Sie-
Verschluss. Und das soll nahm das. mens-Leute vom Gegenteil. Klar ist: keine
QUELLE / DEUTSCHES HISTORISCHES INSTITUT WASHINGTON

auch so bleiben. Seine Wahl fiel auf Hart- wissenschaftliche Arbeit, ohne dass Quel-
Spürbar frustriert bestä- mut Berghoff von der Uni len genannt werden; das wissen auch
tigten die Autoren: „Sie- Göttingen, damals auch Lei- Juristen. Und mit Klaus Moosmayer, dem
mens hat ohne Angabe von ter des Deutschen Histori- Compliance-Chef des Konzerns, saß von
Gründen die geplante und schen Instituts in Washing- Anfang an ein Jurist in den Gesprächen
uns verbindlich zugesagte ton. Ein großer Name, so dabei.
Buchpublikation der Unter- wie Siemens ihn brauchte; Mitte 2014, die Wissenschaftler hatten
suchungsergebnisse auf un- selbst klein gedruckt reicht mehr Zeit gebraucht als erwartet, legten
bestimmte Zeit zurückge- seine Literaturliste über sie ihr Manuskript vor. Die Ergebnisse ent-
stellt.“ Noch klarer die Fir- fünf DIN-A4-Seiten. Berg- hielten keine Sensation – wie auch. Schon
ma: Nein, die Arbeit werde hoff nahm noch eine Kolle- Staatsanwälte und Richter hatten sich
nicht mehr veröffentlicht. gin hinzu, Cornelia Rauh, durch die Vorstands- und Aufsichtsratspro-
Dabei bleibe es; man habe Autoren Rauh, Berghoff Professorin an der Uni tokolle gewühlt. Neue Beweise, dass Top-
sich das gut überlegt. „Die große Chance“ Hannover. leute aus dem Zentralvorstand von Beste-

66 DER SPIEGEL 12 / 2017


EBERHARD FRANKE / SIEMENS

Konzernzentrale in München: Die alte Idylle der Siemens-Familie zerbrach

chungen gewusst hätten, konnten Berghoff Die Arbeit enthält schöne Trouvaillen. Zukunft seiner Abteilung war: Vor Sie-
und Rauh nicht liefern. So war der Chefsyndikus 1996 nach Singa- mens hätten sie dort mit zwei Leuten ge-
Dafür etwas anderes: eine Erklärung, pur gereist, um einen Bestechungsfall zu sessen. Keiner habe große Fälle im Aus-
wie ein so braves, so urdeutsches Unter- untersuchen. Sein Reisebericht zitierte die land anpacken wollen, weil man dafür jah-
nehmen zum Inbegriff für schmierige Ge- Warnung eines Insiders, „dass es sich nicht relang ermittelte; oft sei nicht mal etwas
schäfte werden konnte. Die Studie schil- um einen Betriebsunfall handele, sondern herausgekommen. Mit der Staatsanwalt-
dert, wie ein Konzern, der mit staatlichen um eine durchdachte Vorgehensweise, die schaft München, vor allem aber den Mil-
Aufträgen so gemästet war, dass er als „Be- aus der Organisation von Siemens kom- lionensummen des Konzerns habe man ein
hörde mit Geschäftsbetrieb“ bespöttelt me“. „Alle Gesprächspartner“ hätten ge- ganzes Heer an Fahndern einsetzen kön-
wurde, in der Globalisierung alle Sicher- sagt, dass Siemens „organisatorische Kon- nen. Das sei der Durchbruch auch für seine
heiten verlor: Post und Bahn bestellten sequenzen“ ziehen müsse. Abteilung gewesen, in der inzwischen ein
nicht mehr blind bei Siemens, sondern Die Historiker werten das als „glasklare Dutzend Ermittler arbeiteten. Siemens
schrieben Aufträge nun ernsthaft aus. Und Analyse“ und „dringenden Appell“ – zehn habe „unglaubliche Ressourcen“ in die
ein Preis war nicht mehr das Additions- Jahre vor dem großen Knall. Der Bericht Aufklärung gesteckt, so etwas habe er
ergebnis aus Kosten und garantiertem Ge- sei damals nur an einen kleinen Kreis ge- „vorher noch nie gesehen“.
winn, sondern das, was man im brutalen gangen, auch Pierer habe ihn gelesen. Dem Die Amerikaner hatten den Fall an sich
Wettbewerb gerade noch kassieren konnte. damaligen Konzernchef, so Berghoff und ziehen können, weil Siemens 2001 an die
Die Studie beschreibt, wie die alte Idylle Rauh, habe das „systemische Risiko“ doch US-Börse gegangen war. Am Ende hätten
der „Siemens-Familie“ zerbrach. Plötzlich klar werden müssen; im Interview mit ih- sich die 850 Millionen Dollar, die Siemens
drohte der Vorstand ganzen Bereichen mit nen habe Pierer aber gesagt, man habe in die Untersuchung steckte, aber gelohnt,
dem Aus. Etwa der Sparte für Telefonfest- das nur als „Einzelfall“ gesehen, den „ein resümieren die Historiker. Das Bußgeld
netze. Die Manager dort suchten verzwei- paar Verrückte“ durchgezogen hätten. sei zwar das höchste gewesen, das je ein
felt neue Geschäfte, meist im Ausland. Interessant ist, wer vom Skandal und Konzern in den USA für Korruption zah-
Und auf der Suche kamen sie in Versu- seiner Aufklärung am meisten profitierte. len musste, gemessen an den mehr als 5000
chung: Korruption brachte nun die siche- Offenherzig erzählte der damalige Chef- Verdachtsfällen aber eher klein. Man habe
ren Geschäfte, mit großen Margen, die der ermittler des US-Justizministeriums, Mark Siemens einen „Pfad der Erlösung“ ange-
entfesselte Markt nicht mehr lieferte. Mendelsohn, wie wichtig der Fall für die boten, um anderen Firmen klarzumachen,
DER SPIEGEL 12 / 2017 67
SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 19. 3., 22.20 – 23.30 UHR | RTL dass Kooperation besser sei als eine Ver-
teidigung „bis zum letzten Blutstropfen“,
„Es ist wie ein Albtraum“ – Erstmals be- sagte US-Fahnder Mendelsohn.
richten Angehörige von Opfern des Das alles liest sich schlüssig und flüssig,
Anschlags am Breitscheidplatz über aber als die Historiker 2014 fertig waren,
den Tag, der ihr Leben veränderte; landete ihr Werk in einem schon wieder
Anis Amri, Terrorist – Wie die Sicher- veränderten Unternehmen: Die Zahlen
heitsbehörden versagten und welche waren weggesackt, Mitte 2013 musste
Fehler die italienischen Ermittler Konzernchef Löscher gehen. Für ihn kam
machten; „Mein Mann ist ein Held“ – Joe Kaeser, der Finanzvorstand, der den
Exklusivinterview mit der Witwe des Skandal so hautnah mitbekommen hatte,
polnischen Lkw-Fahrers Łukasz U. dass lange unklar gewesen war, ob er seine
Haut würde retten können. Von 2001 bis

FLORIAN PELJAK / PICTURE ALLIANCE / SZ PHOTO / DPA


2004 war Kaeser Finanzchef der Mobilfunk-
SPIEGEL TV REPORTAGE sparte ICM gewesen, Schwestersparte der
DIENSTAG, 21. 3., 23.10 – 0.10 UHR | SAT.1 korruptionsverseuchten Festnetzabteilung
ICN. Noch kurz vor den ersten Razzien
Wahnsinn auf zwei Rädern – war er in den Zentralvorstand aufge-
die Fahrrad-Cops sehen rot stiegen.
Kaum eine Verwarnung ohne Als die Studie nun in die Siemens-Welt
Gezeter, kein Bußgeld ohne Diskus- des Jahres 2014 hineinfiel, so der Siemens-
sion. Fahrrad-Cops brauchen ein Insider, der nicht genannt werden möchte,
dickes Fell. Drei Männer, die nicht an- seien die rechtlichen Probleme plötzlich
geschnallt waren, werden erwischt – in den Vordergrund gerückt. Nun nahm
das kommt sie teuer zu stehen. sich ein Firmenanwalt das Werk vor und Siemens-Chef Kaeser
verlangte: keine Zitate aus den Protokol- „Ein Schleier über Tausende Vorwürfe“
len von Aufsichtsrat und Vorstand aus der
SPIEGEL TV WISSEN Zeit nach 1988. Sonst mache sich Siemens ihr „Interesse an dem Skandal und seinen
DIENSTAG, 21. 3., 19.15 – 20.15 UHR | PAY-TV angreifbar. Damit begann die Vereisung Akteuren zunehmend verloren“ gegangen.
BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN zwischen Konzern und Wissenschaftlern. Der Deal, so das harte Urteil der Histori-
Die sahen ihr Werk und ihren Ruf bedroht. ker, habe „im Ergebnis eine exakte Klä-
Keine Angst vor Wild und Von einer Veröffentlichung 2014 war da rung der überwiegenden Mehrzahl der
Waffen – Frauen auf der Jagd schon keine Rede mehr, der Verlag C. H. Vorgänge verhindert, gleichsam einen
Jagen ist nur etwas für Männer – Beck, bei dem das Werk erscheinen sollte, Schleier über Tausende Vorwürfe gelegt“.
ein Klischee, das nicht stimmt. Jeder hangelte sich von Jahr zu Jahr. 2016 verriet Auch in der Sparte ICM mit Finanzvor-
eine Fußnote unter einem Aufsatz von stand Kaeser? Dort war Bestechung jeden-
Berghoff und Rauh, dass nur noch eine falls kein Fremdwort. Ein grotesker Fall in
Notlösung angedacht war: eine Geschichte Bangladesch, wo offenbar vier Berater
der Jahre 1966 bis 1997, die angeblich be- gleichzeitig zum Schmieren angeheuert
reits „im Druck“ sei. Die hätte den gesam- worden waren, taucht in der Studie auf.
ten Korruptionsskandal weggeschnitten. Außerdem hatten zwei Beschuldigte der
Aber nicht mal diese verstümmelte Ver- Festnetzsparte Kaeser wegen anderer
sion gibt es bis heute. Weil Kaeser das Pro- angeblicher Schmiergeldkassen belastet.
jekt nicht mehr passt? Auf den ersten Blick Doch Kaeser bestritt, das Interesse der Er-
spricht nicht viel dafür: Kaeser hatte den mittler blieb matt.
Historikern sogar ein Interview gegeben. Insgesamt kann Siemens mit der Studie
Gegen ihn wurde nie ermittelt, auch die gut leben. Warum aber soll das Buch dann
Studie wirft keinen Schatten auf ihn. Der nicht erscheinen? Ein Hinweis aus dem
neue Firmenchef kommt gut weg: Zusam- Konzern lässt aufhorchen – und vermu-
SPIEGEL TV

men mit Cromme und Löscher wird er als ten, dass es doch um mehr geht als um
Aufräumer gezeichnet, er habe einen „er- juristische Fragen. Um Befindlichkeiten
Jägerinnen in der Ausbildung heblichen Anteil am Kulturwandel“. nämlich. Man müsse sich ja auch fragen,
Die Studie erwähnt allerdings auch, was heißt es da, was neu in dem Buch sei. Und
zehnte Jagdschein gehört einer Frau, bei Joe Kaeser zumindest immer dazuge- ob sich der finanzielle Aufwand dann
Tendenz steigend. dacht werden muss: Deutsche Staatsanwäl- überhaupt lohne. Schwer zu glauben. Ein
te und US-Ermittler hatten sich auf wenige paar Zehntausend Euro bei einem Jahres-
Sparten konzentriert, um Siemens mög- umsatz von 80 Milliarden sollen ein
SPIEGEL GESCHICHTE lichst schnell zum weltweiten Vorzeigefall Grund sein, das Manuskript in der Schub-
DONNERSTAG, 23. 3., 20.15 – 21.45 UHR | SKY aufzubauen – zur Abschreckung anderer lade zu lassen?
korrupter Unternehmen. In der Festnetz- Ein Siemensianer, der die Aufräum-
Die Akte Pearl Harbor sparte gab es dafür die meisten Verdachts- arbeiten nach dem Skandal mitgemacht
Nach dem japanischen Luftangriff fälle, die besten Belege, die schnellsten hat, vermutet etwas anderes: Der Skandal
auf Pearl Harbor am 7. Dezember Geständnisse. sei längst wieder aus den Köpfen, warum
1941 wurde aus dem allgemeinen Mehr, so der Eindruck von Berghoff und noch mal daran erinnern? Wenn sich die
Schock schnell Empörung. Wie Rauh, hätten die Ermittler nicht gewollt. Vergangenheit durch Vergessen bewäl-
war es möglich, dass die Marine so Nachdem sie sich mit dem Konzern auf tigen lasse, sei das dem neuen Vorstand
überrascht werden konnte? ein Milliardenbußgeld geeinigt hatten, sei nur recht. Jürgen Dahlkamp, Jörg Schmitt

68 DER SPIEGEL 12 / 2017


Wirtschaft

Bratstück
Die Rügenwalder Mühle bietet seit Jahren Vegetarierbund (Vebu) ein Positionspapier
Schinken-Spicker, Salami und Frikadellen verfasst, in dem sie eine eindeutige recht-
in der vegetarischen Variante an, bei Herta liche Klarstellung der Zulässigkeit von

auf Sojabasis
gibt es Bierschinken, Leberwurst und Lyo- „Fleischbegriffen“ für vegetarische Fleisch-
ner ohne ein Gramm Fleisch. alternativen fordern. Der Bundesverband
Bisher hat die Verbraucher nicht gestört, der Deutschen Fleischwarenindustrie hat
dass diese Produkte herkömmliche Wurst- ein ähnliches Papier verabschiedet. Und
Lebensmittel Landwirtschafts- und Fleischtitel tragen. Die Verwechslungs- selbst Foodwatch, bekanntermaßen gegen
gefahr lässt sich empirisch nicht belegen. jegliche Form der Verbrauchertäuschung,
minister Schmidt will das „Veggie- Im Gegenteil: Der Verbraucherzentrale hält das Ganze für eine Scheindebatte und
Schnitzel“ verbieten. Mit der Bundesverband legte im Februar eine sieht: kein Problem.
Untersuchung zur „Kennzeichnung und „Wir haben in den vergangenen zwei
Idee bringt er Industrie und Ver- Aufmachung vegetarischer und veganer Jahren 80 Millionen Packungen unserer
braucherschützer gegen sich auf. Ersatzprodukte“ vor, die eine geringe vegetarischen Wurst verkauft – und keine
Verwechslungsgefahr feststellt. Laut einer einzige Beschwerde bekommen“, schimpft

S
ie sind sich selten einig. Um nicht zu Forsa-Umfrage haben nur vier Prozent der Godo Röben, Marketingchef der Rügen-
sagen: so gut wie nie. Sie haben auch Befragten schon einmal statt eines tieri- walder Mühle. „Die Politik sollte ausnahms-
kaum gemeinsame Interessen – ein schen oder fleischhaltigen Lebensmittels weise mal an den Verbraucher denken. Der
Konzern wie Nestlé, die Verbraucherorga- versehentlich ein vegetarisches oder ve- will doch kein Bratstück auf Sojabasis kau-
nisation Foodwatch, der Bundesverband ganes gekauft. Irgendjemand von diesen fen, sondern eine vegetarische Frikadelle!“
der Deutschen Fleischwarenindustrie und vier Prozent muss dann wohl Christian Dass der CSU-Minister auf dem Verbot
der Verbraucherzentrale Bundesverband. Schmidt getroffen haben. besteht, könnte an zwei Verbänden liegen,
Ein Mann aber hat es geschafft, dass Die Mehrheit der Befragten gab auch an, die wenig Gefallen an den Fleischersatz-
diese Verbände und Unternehmen, die Kennzeichnungen wie „Veggie-Leberwurst produkten finden: dem Deutschen Flei-
einander sonst mit maximaler Skepsis be- aus Soja“ oder „Veggie-Aufstrich nach Art scher-Verband und dem Deutschen Bau-
gegnen, eine Allianz bilden. Der Mann Leberwurst“ zu befürworten. ernverband. Beide Lobbygruppen haben
heißt Christian Schmidt und ist Bundes- Es sind nicht nur die Verbraucherschüt- im vergangenen Jahr an die Lebensmittel-
landwirtschaftsminister. zer, die Schmidts Ansinnen deshalb ableh- buch-Kommission geschrieben und einen
Schmidt machte Ende vergangenen Jah- nen. Fleischhersteller wie Meica, die Rü- Änderungsvorschlag eingebracht. Danach
res mit einem Thema Schlagzeilen, das si- genwalder Mühle, Ponnath und Herta, soll es in den Leitsätzen zum Fleisch hei-
cher nicht zu den drängendsten Problemen aber auch Händler wie Dennree, Veganz ßen: „Fleischlose Erzeugnisse sind als Pro-
seines Ressorts gehört: Er wolle Begriffe oder Edeka haben gemeinsam mit dem dukte eigener Art anzusehen. Die in den
wie „vegetarisches Schnitzel“ oder besonderen Beurteilungsmerkmalen
„vegane Currywurst“ verbieten, aufgeführten Bezeichnungen wer-
weil diese irreführend seien und den den nicht verwendet.“
Verbraucher verunsicherten, erklär- Verwechslungen oder Täuschun-
te der CSU-Politiker via „Bild“. Nie- gen des Verbrauchers könnten nicht
mand dürfe „bei diesen Pseudo- ausgeschlossen werden, heißt es. Das
Fleischgerichten so tun, als ob es betreffe die Käufer vegetarischer
Fleisch wäre“. oder veganer Produkte wie auch jene,
Man hätte den Vorstoß als einen „die traditionelle Fleischerzeugnisse
weiteren Versuch des eher glück- bevorzugen“. Nicht auszudenken,
losen Ministers werten können, sich wenn ein Wurstliebhaber aus Ver-
zu profilieren. Allerdings ist Schmidt sehen in einen Sojabratling bisse.
Chef der Deutschen Lebensmittel- „Einzelne Interessensgruppen kon-
buch-Kommission (DLMBK) – eines struieren hier eine Problemlage, die
Gremiums, das ebenso unbekannt es einfach nicht gibt“, sagt Till Stre-
wie mächtig ist. Es bestimmt, welche cker vom Vebu. Es sei absurd, sich
Zutaten zulässig und welche Be- zwanghaft neue Bezeichnungen für
zeichnungen richtig sind. Und dieses Fleischalternativen auszudenken, da
Gremium arbeitet nun seit Dezem- es in der Praxis weder Irreführung
ber 2016 an einem Leitsatz für vega- noch Fehlkäufe gebe. Sein Verein
ne und vegetarische Lebensmittel. hat einen eigenen Antrag bei der Le-
Anfangs wurde Schmidts Ansin- bensmittelbuch-Kommission ein-
nen in der Branche allenfalls mit gereicht – in der Hoffnung, dass die
„Hat der sonst nichts zu tun?“ kom- trotz ihres Vorgesetzten Schmidt
mentiert. Doch seit sich die Kom- unabhängig urteilt.
mission mit der Sache befasst, Entscheidungen in ähnlicher Sa-
herrscht helle Aufregung. Sollte sie che machen wenig Hoffnung, etwa
Produktbezeichnungen wie „vegeta- bei veganem Käse oder Sojamilch:
BERND VON JUTRCZENKA / DPA

rische Bratwurst“ tatsächlich verbie- Der Käse ohne Milch heißt jetzt
ten, hätten so ziemlich alle Herstel- „Brotbelag mit pflanzlichem Öl“.
ler vegetarischer und veganer Pro- Seinen Kaffee muss man mit „Soja-
dukte ein Problem. Drink“ bestellen.
Denn das Geschäft mit den Er- Wahnsinnig verbrauchernah.
satzprodukten boomt, gefragt sind Susanne Amann
vor allem Fleischersatzprodukte. Minister Schmidt: Hat der sonst nichts zu tun? Mail: susanne.amann@spiegel.de

DER SPIEGEL 12 / 2017 69


Mathe-
martialisch
Zwei Pistolen plus vier
Patronen gleich wie viel?
Mit solchen Aufgaben
versucht der „Islamische
Staat“ Kindern die Grund-
rechenarten beizubringen.
Die Extremisten hatten
solche Schulbücher in
Mossul verteilt und die
Lehrer gezwungen, damit
zu unterrichten. Im Januar
hat die irakische Armee
den Ostteil der Stadt
zurückerobert, jetzt wird
um die Altstadt im
Westen Mossuls ein zäher
Häuserkampf geführt.

Analyse

Das Dilemma von Frau May


Ein Schottlandreferendum wäre gefährlich für die britische Regierung.

Nicola Sturgeon hat eine politische Sprengfalle in Westminster Referendum nicht gewinnen können. Zweitens wird May den
gelegt. Mit ihrer Ankündigung, ein zweites Unabhängigkeitsrefe- Zeitpunkt der Abstimmung möglichst weit nach hinten schie-
rendum auf den Weg zu bringen, sabotiert die schottische Minis- ben. Am Donnerstag schloss sie aus, dass diese in den nächs-
terpräsidentin mit voller Wucht die Brexit-Strategie der Regie- ten beiden Jahren stattfinden könnte. Das verschafft ihr Luft.
rung von Theresa May. Der Austritt aus der EU ist jetzt nicht In dieser Zeit muss sie, drittens, den Schotten klarmachen,
mehr nur politisch heikel und wirtschaftlich riskant, er wird zur dass eine Sezession mehr Risiken als Chancen birgt, vor allem
Gefahr für das Königreich selbst. Zwar hängt es letztlich von für ihre Wirtschaft, die unter dem niedrigen Ölpreis leidet.
May ab, ob, wann und in welcher Form sie ein neuerliches Refe- Zwar stimmten in Schottland 62 Prozent gegen den Brexit,
rendum im Norden zulässt. Die Premierministerin könnte das aber Nicola Sturgeon kann sich nicht darauf verlassen, dass
Plebiszit sogar verweigern, was aber aus politischen Gründen alle Europafreunde zugleich ein unabhängiges Schottland wol-
schwer machbar wäre. Die Nationalisten im Norden würde eine len. Schon deshalb nicht, weil ungewiss ist, ob Schottland im
Totalblockade aus Westminster nur stärken. May weiß das. Fall der Unabhängigkeit überhaupt EU-Mitglied bleibt. Die
Sie wird drei Dinge tun, um Sturgeon zu schwächen. Erstens spanische Regierung droht bereits, die Schotten müssten sich
muss sie während der Austrittsverhandlungen mit der EU die ans Ende der Schlange stellen. Sturgeons Widersacher sitzen
schottischen Empfindlichkeiten berücksichtigen. Der Deal mit nicht nur in London, sondern auch anderswo in Europa.
dem Rest Europas muss Schottland nutzen, anders wird sie ein Christoph Scheuermann

70 DER SPIEGEL 12 / 2017


Ausland
Burma muslimischen Minderheit der
Maulkorb für Rohingya endlich zu stoppen.
Zehntausende flohen allein
den Hetzer in den vergangenen Monaten
Er wird das „Gesicht des vor den Übergriffen des Mili-
buddhistischen Terrors“ ge- tärs aus dem Westen Burmas;
nannt, ein „burmesischer Bin auch die Regierungsbeteili-
Laden“ – so radikal, so men- gung der Friedensnobelpreis-
schenverachtend sind die anti- trägerin hat daran nichts ge-
muslimischen Hasstiraden ändert. Wirathu gehört der
Trumps Woche
des Mönchs Wirathu. Jetzt nationalistisch-buddhistischen Am Samstag feierte Donald
hat ihn ein von der Regie- Bewegung 969 an, die in der Trump seine ersten 50 Tage
rung ernanntes Komitee zum Vergangenheit immer wieder im Amt. Ausnahmsweise flog
Schweigen verdammt; Wira- aufs Schärfste gegen Muslime er dafür nicht nach Florida,
thu darf seine kruden Thesen hetzte. Die Bewegung gilt als sondern traf sich mit seinen
ein Jahr lang nicht bei öffent- verlängerter Arm der Mili- Ministern im „Trump Natio-
lichen Auftritten tärs, die bis zu den nal Golf Club“ bei Washing-
verbreiten. Ein Wahlen 2015 das ton. Er twitterte von dort
überfälliger Land beherrsch- kaum, vielleicht weil er so be-
Schritt – und gleich- ten, aber bis heute schäftigt war mit seiner Re-
zeitig eine hilflose mächtig sind. form für die „wunderbare
Reaktion der Regie- Wohl deshalb neue Krankenversicherung“.
rung unter Aung schweigt De-facto- Am Montag stellte sich
San Suu Kyi auf Regierungschefin heraus, dass der Gesetzent-

ADAM DEAN
den internationalen Suu Kyi zu den re- wurf allein im nächsten Jahr
Druck, die brutale ligiösen Spannun- 14 Millionen Amerikaner ihre
Verfolgung der Wirathu gen im Land. kku Versicherung kosten könnte,
unter ihnen viele Trump-Wäh-
ler. Dann fand ein Journalist
zwei Seiten von Trumps Steu-
Rumänien der sich an die Spitze einer ererklärung in seiner Post, die
Korruption Volksbewegung gegen Beste- zeigten, dass der Präsident im
chung und Vetternwirtschaft Jahr 2005 rund 38 Millionen
per Gesetz gestellt hat – und daher mit Dollar Steuern zahlte – was
Gerade erst haben Massen- der Regierung im Dauerstreit aber nicht belegt, ob er davor
OSIE GREENWAY / SIPA USA

proteste die Regierung ge- liegt. Rumänien gilt als eines oder danach je Steuern ge-
zwungen, eine Verordnung der korruptesten Länder in zahlt hat.
zurückzuziehen, die Beste- der EU. So kann etwa der Am Mittwoch stoppte ein
chung unter bestimmten Um- Chef der sozialdemokrati- Bundesrichter in Hawaii
ständen straffrei stellen sollte. schen Regierungspartei nicht erneut Trumps Einreiseverbot
Nun versucht die Regierung Premier werden, weil er we- für die Bürger von sechs
abermals, lästige Korruptions- gen Wahlfälschung verurteilt mehrheitlich muslimischen
ermittlungen zu erschweren. ist und gegen ihn ein Korrup- Ländern. Wieder wütete
Fußnote Ein neues, umstrittenes Ge- tionsverfahren läuft. Auch Trump gegen die Justiz. „Es

72000
setz soll dem Präsidenten das eine Anhörung zu dem neu- lässt uns schwach aussehen“,
Recht nehmen, wie bisher en Gesetz musste diese Wo- sagte er über das Urteil. Dann
Euro Staatsanwälte bei der Anti- che verschoben werden: Der wurde bekannt, dass das
korruptionsbehörde DNA zu Verfasser konnte wegen einer Außenministerium fast ein
verlangt das Ehepaar ernennen. Der Entwurf zielt Gerichtsvorladung nicht er- Drittel seines Budgets einspa-
Netanyahu von einem israe- auch auf das derzeitige Staats- scheinen. Er ist ebenfalls der ren soll, um die Aufrüstung
lischen Journalisten wegen oberhaupt Klaus Johannis, Korruption angeklagt. jpu des Militärs und die Mauer an
Verleumdung. Dieser hatte der Grenze zu Mexiko zu
in einem Facebook-Post finanzieren. Am Abend ant-
behauptet, Sara Netanyahu wortete er in einem TV-Inter-
habe ihren Mann nach view auf die Frage, ob er
einem Streit aus dem Auto denn eigentlich seine Tweets
geschubst. Eigentlich lä- jemandem zeige, bevor er sie
cherlich – doch der Premier abfeuere: „Ich denke, wahr-
fühlt sich durch kritische scheinlich wäre ich ohne Twit-
Journalisten anscheinend ter gar nicht hier.“
ANDREI PUNGOVSCHI / AFP

unter Druck, auch weil Am Freitag sollte dann


derzeit mehrere Ermittlun- endlich der Besuch von Bun-
gen gegen ihn laufen. So deskanzlerin Angela Merkel
soll er Champagner und stattfinden, der am Dienstag
Edelzigarren von Unterneh- wegen eines Schneesturms
mern angenommen haben. Protest gegen die Korruption vor dem Parlament in Bukarest abgesagt werden musste.

DER SPIEGEL 12 / 2017 71


„Wir brauchen Erneuerung“
SPIEGEL-Gespräch Der französische Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron über
seinen überraschenden Höhenflug, die Sehnsucht der Franzosen nach einer
neuen Politik und die Notwendigkeit tief greifender Reformen in seinem Land
TGV 8434, Bordeaux–Paris. Macron, 39, früher sichtsreichsten Kandidaten. Denn gegen den er sie wohl deutlich schlagen. Dann könnte
Wirtschaftsminister, jetzt Präsidentschafts- Konservativen François Fillon ermittelt die Macron der jüngste Präsident der Fünften Re-
kandidat, reist 2. Klasse. Es ist stickig im Ab- Staatsanwaltschaft, weil er seiner Frau und publik werden. Beim Gespräch im Zugabteil
teil, was auch an den Kamerateams liegt, die seinen Kindern vom Staat bezahlte Jobs ver- wirkt er erschöpft vom Wahlkampf, aber er
Macron auf Schritt und Tritt begleiten. Jetzt, schafft haben soll, die sie nie ausübten. Seit- bleibt stets zugewandt und konzentriert.
fünf Wochen vor dem ersten Wahlgang, ist her hat Macron ihn in den Umfragen für den
ihm die Anstrengung anzusehen. Emmanuel ersten Wahlgang am 23. April überholt. Auch SPIEGEL: Herr Macron, Sie sind in diesem
Macron ist die Sensation dieses Wahlkampfs: die Rechtspopulistin Marine Le Pen liegt nur irrwitzigen Wahlkampf quasi aus dem
Vom Außenseiter wurde er zu einem der aus- knapp vor ihm – im zweiten Wahlgang würde Nichts zum Favoriten geworden – als un-
72 DER SPIEGEL 12 / 2017
Ausland
Kandidat Macron im Zug
„Links und rechts sind Kategorien von gestern“

ich es auch als Minister kennengelernt talität, die man spürt, die aber anscheinend
habe –, am Ende ist. Etwas Neues musste nicht allzu oft wahrgenommen wird. In
her. Hätten wir im April nicht die politi- den französischen Medien kommt sie ein-
sche Bewegung „En Marche!“ gegründet, fach nicht vor. Aber natürlich gibt es auch
dann wären die Vorwahlen wahrscheinlich viel Unsicherheit, Zukunftsängste, manch-
ganz anders ausgegangen. Sowohl bei der mal auch Sehnsucht nach einer Vergan-
bürgerlichen Rechten als auch bei den genheit, die es so in Wirklichkeit vielleicht
Sozialisten. gar nicht gegeben hat. Und immer wieder
SPIEGEL: Wann war Ihnen klar, dass Sie ein Gefühl der Deklassierung.
antreten würden? SPIEGEL: Wer fühlt sich deklassiert?
Macron: Im Prinzip wusste ich das, als ich Macron: Die Metropolen sind die Gewinner
„En Marche!“ ausrief. Meine Rede in der in Frankreich. Sie haben keine Probleme.
Pariser Mutualité, unsere erste große Ver- Fahren Sie nach Lyon, Marseille oder Bor-
anstaltung, war ein ungeheurer Erfolg. Das deaux – dort sitzen diejenigen, die Erfolg
führte dazu, dass ich von meinem Minis- haben. Dort weiß man mit der Globalisie-
terposten zurücktrat und im November rung umzugehen. Aber es gibt auch das
meine Kandidatur erklärte. Frankreich des Randes, das ländliche
SPIEGEL: Warum sind Sie so überzeugt da- Frankreich, das an sich zweifelt. Diese bei-
von, dass Ihr Land gerade Sie braucht? den Teile müssen wir wieder zusammen-
Macron: Frankreich braucht natürlich nie- bringen. Der Schlüssel dazu liegt bei der
manden. Ich glaube nicht an Heilsbringer. Mittelschicht, sie bildet den Sockel unserer
Aber die Art und Weise, wie unser Land Demokratien. Wir dürfen sie nicht verlie-
regiert wird, muss sich radikal ändern. Das ren, wir müssen sie fördern.
fängt beim politischen Personal an und SPIEGEL: In diesem zweifelnden Frankreich
hört bei unserem Wahlsystem noch nicht sind Marine Le Pen und ihr Front National
auf. Was wir brauchen, ist eine tief grei- besonders erfolgreich – wie wollen Sie dort
fende Erneuerung. Und ich biete den Fran- punkten?
zosen dieses Neue an: Meine Bewegung Macron: Ich versuche, Optimismus zu ver-
hat nichts mit der fast hermetisch abge- breiten, und vertrete eine Gegenposition
schlossenen politischen Landschaft zu tun, zu all jenen, die wollen, dass wir uns ab-
die wir hier bisher kennen. kapseln. Bei meinen Wahlkampfauftritten
SPIEGEL: Auf der ganzen Welt wenden sich spreche ich nicht immer nur davon, dass
Wähler gegen das Etablierte, die Eliten – wir das Land reformieren müssen und dass
in Frankreich ist die elitäre politische Klas- das wehtun wird. So wurde ja 30 Jahre
se besonders stark ausgeprägt. lang geredet. Ich glaube, dass Frankreich
Macron: Da liegt viel im Argen, das stimmt. sich nicht reformieren lässt – in normalen
Unser politisches System begünstigt das: Zeiten. Aber glücklicherweise gleicht die
Wir haben kein Verhältniswahlrecht, des- Gegenwart eher einem Ausnahmezustand.
Der Moment, wo alles möglich wird.
UGO AMEZ/SIPA / ACTION PRESS

halb haben wir ein Problem bei der Re-


präsentation. Unsere politische Klasse er- SPIEGEL: Und Sie sehen Ihr „window of op-
neuert sich kaum, immer dieselben Ge- portunity“, Ihre Gelegenheit, gekommen?
sichter. Und an Moral fehlt es auch: eine Macron: Genau. Ich glaube, dass wir uns in
Affäre nach der anderen. Ein solches Sys- einer radikalen Transformationsphase be-
tem kann nicht erfolgreich sein. finden. Egal ob es sich um die Digitalisie-
SPIEGEL: Warum sollten wir glauben, dass rung, die Umwelt oder den Terrorismus
Sie alles anders machen? Auch Sie waren handelt. Wir können in dieser neuen Welt
Wirtschaftsminister unter François Hol- erfolgreich sein, wir haben dafür die Ver-
abhängiger Kandidat, ohne die Unterstüt- lande, auch Sie haben Eliteschulen be- anlagung. Die Franzosen sind erfindungs-
zung einer Partei. Überrascht Sie das? Und sucht. reich und innovativ. Aber wir müssen uns
lastet ein großer Druck auf Ihnen? Macron: Trotzdem bin ich kein klassischer jetzt endlich aufraffen.
Macron: Wenn ich den Druck in diesem Politiker, die gängigen Phrasen des Poli- SPIEGEL: Was wäre Ihre erste Amtshand-
Wahlkampf nicht aushalten könnte, hätte tikbetriebs beherrsche ich nicht. Ich stehe lung als Präsident?
ich als Kandidat hier nichts zu suchen. Und dazu, dass ich anders an die Dinge heran- Macron: Drei große Reformen: Der Arbeits-
nein, dass ich so weit gekommen bin, über- gehe. Ich möchte, dass die Menschen de- markt muss geöffnet werden, die Ausbil-
rascht mich nicht. Ich habe über alles gut nen, die sie gewählt haben, wieder ver- dung muss verbessert werden, und das
nachgedacht: Wenn ich nicht daran glau- trauen können. Deshalb wollen wir zeitlich Schulsystem sollte wieder die Chancen-
ben würde, gewinnen zu können, hätte ich beschränkte Mandate. Keine Interessen- gleichheit befördern.
das ganze Unterfangen auch bleiben lassen konflikte mehr! Die Einkünfte der Ge- SPIEGEL: Ganz konkret: Was würde Ihren
können. wählten müssen transparent sein. Regierungsstil von dem Ihrer Vorgänger
SPIEGEL: Sie konnten beim besten Willen SPIEGEL: Seit Wochen reisen Sie kreuz und unterscheiden?
nicht ahnen, dass gegen den Konservativen quer durchs Land. Was für ein Frankreich Macron: Sowohl Nicolas Sarkozy als auch
Fillon ein Strafverfahren eröffnet werden erleben Sie da? François Hollande haben ihr Kabinett qua-
würde. Sie konnten auch nicht ahnen, dass Macron: Mir begegnet vor allem immer si erstickt. Das würde ich anders machen.
die Sozialisten einen chancenlosen Kan- wieder eine ungeheure Energie. Die Fran- Ein Präsident sollte nicht regieren. Er soll
didaten aufstellen würden. zosen haben, obwohl man ihnen oft das unparteiisch über den Dingen stehen, die
Macron: Aber ich wusste, dass das politi- Gegenteil unterstellt, Lust, etwas aufzu- Verantwortlichkeiten delegieren und die
sche System, wie wir es kennen – und wie bauen, etwas zu schaffen. Da ist eine Vi- passenden Leute ernennen. Weder soll er
DER SPIEGEL 12 / 2017 73
VINCENT NGUYEN / RIVA PRESS / LAIF
Rechtspopulistin Le Pen bei einem Wahlkampfauftritt in Loubersan: „Sie würde Europa und die Eurozone zertrümmern“

so tun, als sei er für alles verantwortlich, versuchen, alle gemeinsam vorwärtszu- wir es schaffen, zusammen mit Deutsch-
noch als könne er alles im Alleingang re- kommen. Ein großer Fehler der vergange- land, das Wachstum wieder anzukurbeln.
geln. Ein Präsident ist vor allem Garant nen Jahre! Wir haben die Eurozone nicht Ich glaube, die kommenden fünf Jahre
der Institutionen; er gibt die große Rich- weiterentwickelt, weil wir Angst hatten, werden entscheidend sein für unsere Zu-
tung vor. die Briten oder die Polen zu verschrecken. kunft, vielleicht sind es auch nur drei.
SPIEGEL: Sie treten als ausgesprochener Und wohin hat das geführt? Die Briten ha- Jetzt, 2017, haben wir ein Wahljahr – in
Proeuropäer an. Ist das nicht riskant? Ma- ben trotzdem für den Ausstieg gestimmt, Frankreich und in Deutschland. Darauf
rine Le Pen attackiert die EU und hat viel und die Polen erklären uns nun, dass folgen drei Jahre ohne Wahlen, in denen
Erfolg damit. Europa eine grausige Sache sei. So haben müssen wir Europa gestalten.
Macron: Ich verteidige Europa zwar, aber wir viel Zeit verloren. SPIEGEL: Mit wem würden Sie lieber zu-
ich bin nicht naiv, was seine Fehler angeht. SPIEGEL: Was ist die Lösung? sammenarbeiten, mit Angela Merkel oder
Das Europa, das nicht funktioniert, gibt es Macron: Wir brauchen einen gemeinsamen mit Martin Schulz?
natürlich auch. Aber man darf die Kritik Finanzminister, einen festen Vorsitzenden Macron: Meine Devise lautet, mich nicht bei
nicht den Antieuropäern überlassen. Seit der Eurogruppe. Wir müssen jetzt ran an anderen einzumischen. Mir reicht es, in
zehn Jahren räumen wir ihnen immer die Institutionen, müssen sie justieren, sie meinem eigenen Land Politik zu machen.
mehr Platz ein. Immer die gleichen Dis- zukunftstauglich machen. Das Prinzip SPIEGEL: Wie beurteilen Sie die Präsident-
kussionen: erst Grexit, dann Brexit. Wir muss sein: Kein Mitgliedstaat darf von schaft von François Hollande, dem un-
schauen zu, wie Ungarn oder Polen euro- vornherein ausgeschlossen werden, aber beliebtesten Präsidenten der Fünften Re-
päische Werte mit Füßen treten, tun aber es darf auch kein Mitgliedstaat die anderen publik?
nichts dagegen. Diese gemeinsame Unfä- daran hindern voranzugehen. Und der Macron: Ich will eine Wahl gewinnen und
higkeit, unseren Mitbürgern etwas Ambi- Anstoß dafür muss von Deutschland und mein Land für die Zukunft fit machen. Um
tioniertes für Europa vorzuschlagen, zer- Frankreich ausgehen. die Vergangenheit zu bewerten, dafür ste-
mürbt den europäischen Traum. In Europa SPIEGEL: In den vergangenen Jahren hat he ich im Augenblick nicht zur Verfügung.
gab es immer einige Länder, eine Avant- sich das Gewicht innerhalb der EU immer SPIEGEL: Was passiert, wenn nicht Sie die
garde, die weitergehen wollte. So entstand mehr verschoben: Deutschland wurde Wahl gewinnen, sondern Marine Le Pen?
auf Initiative von Deutschland und Frank- wichtiger, Frankreich unwichtiger. Macron: Unser Land würde verarmen –
reich 1951 mit der Montanunion die Basis Macron: Wir werden Europa nicht wieder wenn Frankreich die EU verlässt, wird
für die europäische Einigung. auf Vordermann bringen, wenn Frankreich nicht nur unsere Wettbewerbsfähigkeit sin-
SPIEGEL: Sie wollen ein Kerneuropa, das seinen Job nicht macht. Das ist jetzt unsere ken, sondern auch die Kaufkraft. Wahr-
sich enger zusammenschließt? Aufgabe: endlich die Reformen durchzie- scheinlich käme es im ganzen Land zu
Macron: Wir brauchen eine viel engere In- hen. Frankreich muss seine Glaubwürdig- Ausschreitungen. Le Pen würde Europa
tegration der Eurozone. Das Europa der keit wiederherstellen, indem es den Ar- und die Eurozone zertrümmern. Ich neh-
unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist beitsmarkt reformiert, indem es seinen me sie und ihr Programm sehr ernst. Ich
längst Realität; wir sollten gar nicht erst Haushalt ernsthaft führt. Zugleich müssen kämpfe jeden Tag dagegen an, weil ich
74 DER SPIEGEL 12 / 2017
Ausland

glaube, dass es falsch für unser Land ist. Brigitte Macron: Nein, ich wusste nicht, dass Macron: Wie hat es einmal ein großer fran-
Es schadet unseren Mitbürgern und unse- er das so machen würde. Wissen Sie, er zösischer Rugbytrainer formuliert? Ich bin
ren Unternehmen. Ein Wahlsieg Marine denkt durchaus eigenständig inzwischen. ruhig, mit mir im Reinen, doch sehr ent-
Le Pens hätte schwere Konsequenzen für SPIEGEL: Die Tatsache, dass ein jüngerer schlossen. Aber natürlich kann noch viel
Frankreich. Mann mit einer Frau zusammenlebt, die passieren, es gibt viele Risiken.
SPIEGEL: Und wie sollte man mit den um einige Jahre älter ist … SPIEGEL: Welche?
Populisten Ihrer Meinung nach umgehen? Brigitte Macron: Danke für diese Formulie- Macron: Zweifel, die die Franzosen auf ein-
Macron: Wir dürfen ihnen jedenfalls nicht rung, das ist nett von Ihnen – einige Jahre … mal bekommen könnten.
das Feld überlassen! Sehen Sie, was bei SPIEGEL: … die, um genau zu sein, 24 Jahre SPIEGEL: Zum Beispiel, dass Sie zu jung für
uns passiert: Die bürgerliche Rechte ko- älter ist, scheint auch im Jahr 2017 noch ein solches Amt sein könnten?
piert den Front National. Sie vergisst ihre viele zu schockieren. Haben Sie sich daran Macron: Nicht nur das. Wir könnten Fehler
Prinzipien. Sie versucht, auf diese Weise gewöhnt, oder verletzt Sie das jedes Mal machen. Der kommende Monat wird ent-
eine Wahl zu gewinnen, um jeden Preis. aufs Neue? scheidend sein.
Nicolas Sarkozy hat das bereits 2012 ver- Macron: Wissen Sie, wenn ich mit einer SPIEGEL: Im Gegensatz zu Ihren Konkur-
sucht, und schon damals hat es nicht ge- 20 Jahre jüngeren Frau zusammen wäre, renten können Sie nicht auf eine solide,
klappt. Sie verkaufen die Leute für dumm, käme niemand auf die Idee, das irgendwie seit Jahren gefestigte Gruppe von Stamm-
es ist wirklich dramatisch. komisch zu finden. Im Gegenteil, alle fän- wählern zählen.
SPIEGEL: Apropos bürgerliche Rechte. In den das toll. Aber ich habe mein Leben Macron: Das bereitet mir keine schlaflosen
Deutschland hätte jemand wie François nie danach ausgerichtet, was andere darü- Nächte. Umso besser! Es bedeutet, dass
Fillon, gegen den ein Strafverfahren läuft, ber denken könnten. ich die Franzosen mit Inhalten und Ideen
wohl kaum weitermachen können. Warum überzeugen muss. Links und rechts, diese
ist das in Frankreich anders? Kategorien stammen aus einer Welt von
Macron: Ich glaube, das liegt an dem Un- gestern.
terschied zwischen protestantischer und SPIEGEL: Ihre Äußerung, die französische
katholischer Kultur. Bei uns Katholiken Kolonialzeit sei ein Verbrechen gegen die
sündigt man, dann wird gebeichtet – und Menschlichkeit, hat Ihnen viel Ärger ein-
es ist alles wieder vergessen, denn man gebracht. Sind Sie mittlerweile vorsichtiger
hat sich ja entschuldigt. geworden, was und wie Sie etwas sagen?
SPIEGEL: Werden die Franzosen Fillon ver- Macron: Ich sage die Dinge gern, wie sie
geben? sind. Ich habe mir auch meine Worte zu
Macron: Ich bin niemand, der in dieser Sa- Algerien genau überlegt.
che eine neutrale Sicht vertritt. Aber ich SPIEGEL: Ja? Sie haben dann aber viele um-
glaube, viele meiner Landsleute verstört fangreiche Erklärungen nachgeliefert.
Fillons Verhalten. Er glaubt, für ihn gelte Macron: Ich fand das notwendig, weil ich
nicht, was für andere gilt. Genau diese Art nicht mit solchen Reaktionen gerechnet hat-
STEPHANIE FÜSSENICH / DER SPIEGEL

von Politikern haben die Franzosen satt. te. Ich wusste nicht, dass dieses Thema noch
so schmerzhaft für die Franzosen ist. Ich
Brigitte Macron, die 63-jährige Ehefrau werde und möchte nicht auf Floskeln aus-
des Kandidaten, betritt das Zugabteil und weichen, das ist eine Politikerkrankheit.
setzt sich schweigend dazu. Jeans, hell- SPIEGEL: Wissen Sie schon, wo Sie am 7. Mai,
blauer Kaschmirpullover, blonder Pagen- dem Tag der Stichwahl, sein werden?
schnitt. Sie begleitet Macron auf fast alle Brigitte Macron: Emmanuel und ich werden
Wahlkampfveranstaltungen, ist „der Fels in Le Touquet wählen; der Bürgermeister
in seinem Leben“, wie es in einem jetzt Macron beim SPIEGEL-Gespräch* dort ist schon ziemlich nervös wegen all
erschienenen Buch über die Beziehung der „Wir könnten Fehler machen“ der Sicherheitsvorkehrungen. Es ist ja nur
beiden heißt. Brigitte Macron war Lehre- ein kleiner Badeort an der nordfranzösi-
rin an Macrons Schule in Amiens, verhei- SPIEGEL: Und Sie können sich einfach so schen Küste.
ratet, Mutter von drei Kindern. Sie verließ von allen Bösartigkeiten und Gerüchten Macron: Am Abend werden wir dann in
ihren Mann, um mit Macron zusammen- distanzieren? Paris sein, im Hauptquartier von „En Mar-
zuleben. 2007 heirateten die beiden. Macron: Natürlich gibt es verletzende Mo- che!“, mit all meinen Mitarbeitern.
mente, am schlimmsten sind die, die einen SPIEGEL: Und das nächste Mal treffen wir
SPIEGEL: Es gab in den vergangenen Wo- nicht selbst betreffen, sondern andere Sie im Élysée?
chen auch gezielte Angriffe auf Ihr Privat- Familienangehörige. Aber man muss sich
leben. Es wurde behauptet, Sie seien ho- davon distanzieren, sonst wird man un- Er antwortet nicht, schaut sich kurz um
mosexuell, führten ein Doppelleben. Sie glücklich. Wir haben irgendwann beschlos- und klopft dann mit seiner Hand auf die
haben diese Gerüchte sehr direkt demen- sen, dass die Dummheit der anderen uns eigene Stirn.
tiert, auf einer Wahlkampfveranstaltung. nicht mehr anficht.
Macron: Ich wollte seit Langem auf diese SPIEGEL: Und das klappt? SPIEGEL: Was machen Sie da?
Gerüchte reagieren. Es ist immer besser, Macron: Ja. Brigitte und ich, wir sind gegen Macron: Wenn man nicht auf Holz klopfen
die Dinge beim Namen zu nennen und sol- diese Art von Bösartigkeit immunisiert. kann, soll man auf Affen klopfen.
chen Geschichten keinen Raum zu geben. SPIEGEL: Wie würden Sie Ihren derzeitigen SPIEGEL: Herr Macron, Frau Macron, wir
Ich bin dem Ganzen eher mit Ironie be- Zustand fünf Wochen vor dem ersten danken Ihnen für dieses Gespräch.
gegnet, und damit war es auch zu Ende. Wahlgang beschreiben – eher euphorisch
SPIEGEL: Hatten Sie diese Strategie mit Ih- oder eher nervös? Video:
rer Frau abgestimmt? Macron, der Magier
Macron: Hatten wir darüber gesprochen, * Mit den Redakteurinnen Britta Sandberg und Julia spiegel.de/sp122017macron
Brigitte? Nein, ich glaube nicht. Amalia Heyer im Zug. oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 12 / 2017 75


Ausland

Fake News
USA Seit Donald Trump die Medien zu „Volksfeinden“ erklärt
hat, kämpfen die Journalisten im Presseraum des Weißen Hauses
um ihren Platz im neuen Amerika. Von Markus Feldenkirchen

E
s liegen nur wenige Meter zwischen zählt Spicer, er habe am Morgen mit sei-
den Mächtigen und denen, die sie nem Berliner Amtskollegen telefoniert,
kontrollieren sollen. 15 Schritte, viel- um den Besuch der Bundeskanzlerin vor-
leicht 20. Sie führen über einen beige ge- zubereiten. Er schaut zu seinen vier Se-
fleckten Teppich im Weißen Haus, der die kretärinnen: „Wie hieß der Typ noch?“
besten Tage hinter sich hat. Man nimmt Kurzes Nachschlagen. „Seibert, richtig.
die blaue Schiebetür an der Kopfseite des Netter Typ!“
Briefing Room, in dem Donald Trumps Über den Sekretärinnen hängt ein riesi-
Regierungssprecher Sean Spicer täglich ger Fernseher an der Wand, auf dem die
versucht, die Welt des Präsidenten mit der Programme der vier großen Nachrichten-
Realität zu synchronisieren, und steht im sender der USA laufen. Nur für Fox News
kleinen Reich von Spicers Zuarbeitern. Ein ist der Ton eingeschaltet, den konservati-
Knopfdruck, und links öffnet sich eine wei- ven Sender Rupert Murdochs, der über die
tere Schiebetür zum West Wing, dem Her- Jahre jenes aufgepeitschte gesellschaftliche
zen der amerikanischen Macht. Klima mit geschaffen hat, ohne das Donald
Links der Rose Garden, rechts ein Trump kaum Präsident geworden wäre.
schwer bewaffneter Mann vom Secret Ser- Was sagt Spicer zum Verhältnis zwi-
vice hinter einem Schreibtisch. Lässt man schen der neuen Regierung und den Me-
ihn und seinen skeptischen Blick hinter dien, die der Präsident als „Volksfeinde“
sich, liegt linker Hand die Tür zum Kabi- bezeichnet hat?
nettssaal und geradeaus das Oval Office, „Ach, es gibt doch immer Spannungen
in dem der Präsident an diesem Nachmit- zwischen der Regierung und der Presse.“
tag der vergangenen Woche gerade über Spicer lächelt. Er bemühe sich, freundlich
die Gesundheitsreform verhandelt. zu sein. Bei den Briefings versuche er, mög-
Vor Trumps Büro hängen frisch gerahm- lichst viele Reporter dranzunehmen. Er sei
te Bilder vom Tag der Amtseinführung, da- für alle Fragen offen. Mehr, sagt Sean Spi-
runter ein Foto der Menschenmenge vor cer, könne man nicht erwarten. Er wisse
dem Kapitol, über die Spicer sagte, noch schon, sagt er, dass Trumps scharfe Rheto-
nie hätten so viele Menschen einer Amts- rik bei Journalisten nicht gut ankomme.
einführung beigewohnt. Es war die erste „Aber so denkt der Präsident nun mal.“
dicke Lüge der neuen Regierung, für die Und er habe Gründe, so zu denken. Leider
Trumps Beraterin Kellyanne Conway je- gebe es viele falsche Berichte über Donald
nen Ausdruck prägte, der seither als Sy- Trump und seine Regierung. „Deshalb wer-
nonym für ein neues Zeitalter gilt: „alter- den wir auch künftig hart zurückschlagen
native Fakten“. gegen Fake News.“
Im Presseraum des Weißen Hauses, auf Da ist es, das Schlüsselwort, das Spicer
den wenigen Quadratmetern zwischen und Trump täglich fallen lassen, um das
Trumps Wohnung und Trumps Büro, wird Vertrauen in die Arbeit von Journalisten der Rückwand drängen sich meist noch
in diesen Tagen um die Machtverhältnisse weiter zu zerstören. Spicer lacht, dann einmal doppelt so viele Journalisten. Das
in den USA gerungen. Es geht um die Frei- haut er einem auf die Schultern. Hier in Pressebriefing, früher eine langweilige
heit der Presse, um die Zukunft der libe- seinem Büro, ohne Kamera, wirkt er char- Angelegenheit, wird inzwischen auch von
ralen Demokratie in der Welt. Und darum, manter und kumpeliger als jener Mann, mehreren Sendern live übertragen. Über
welchen Stellenwert die Wahrheit als Basis der fast täglich hinter das Rednerpult des vier Millionen Menschen schalten täglich
für jeden demokratischen Diskurs künftig Briefing Room tritt, um ironiefrei Trumps ein, die Quote ist besser als die der meisten
noch haben wird. Wenn man eine Woche Parolen zu verbreiten. Er tut so, als wäre Nachmittags-Soaps. Das liegt auch daran,
im Briefing Room des Weißen Hauses ver- alles nur ein großes Spiel. Als gäbe es die dass die Spannungen im Raum täglich zu
bringt, kann man miterleben, wie diese Einschüchterungsversuche gegen Zeitun- spüren sind – nicht nur zwischen der Pres-
Fragen verhandelt werden – zwischen gen, Sender und deren Reporter nicht. Als se und der Regierung. Der Briefing Room
Trumps Politikverkäufern und dem White gäbe es nicht den Versuch, den Konsens hat sich auch zu einem Schlachtfeld neuer
House Press Corps, jenen Journalisten, die darüber zu zerstören, was Wahrheit und konservativer Medien gegen den etablier-
fest aus dem Weißen Haus berichten. was Lüge ist. ten Journalismus verwandelt. Der Riss, der
Ein schmaler Gang führt rechts vor dem Der Pressesaal des Weißen Hauses, ge- durch das Land geht, ist auch im Press
Oval Office zum Büro von Sean Spicer. nannt Briefing Room, ist seit dem Amts- Corps zu beobachten.
Die Tür geht auf, Spicer steht jackettlos antritt von Donald Trump so voll wie nie. Als Sean Spicer am Donnerstag vergan-
in weißem Hemd und breiter Krawatte im Die 49 festen Sitze, an deren Fuß eine sil- gener Woche den Briefing Room betritt,
Rahmen. „Was gibt’s?“ Als er erfährt, dass berne Plakette den Namen des Mediums ist der CNN-Korrespondent Jim Acosta ge-
der Besuch aus Deutschland kommt, er- ausweist, sind belegt. An den Seiten und rade live auf Sendung. Er steht vor seinem

76 DER SPIEGEL 12 / 2017


OLIVIER DOULIERY / DER SPIEGEL
Pressesprecher Spicer auf einem TV-Monitor vor dem Weißen Haus: „Wie hieß der Typ aus Deutschland noch? Seibert, richtig“

Stammplatz, erste Reihe, erster Sitz von Leistung und Größe des Egos sonst nicht mehrere Jahre nach Frankfurt und Berlin
rechts, und spricht mit lauter Stimme in immer in einem ausgeglichenen Verhältnis zurück. Er spricht fließend Deutsch.
seine Kamera am Ende des Raumes. Nicht zueinander stehen. In diesen Tagen aber „Wir sind nicht der Feind des Volkes“,
nur die Millionen Zuschauer auf CNN, will und darf Acosta sich nicht zu seinem sagt Mason, der sich mit seinem eleganten
auch die 150 Kollegen im Raum hören ihm Verhältnis zur Regierung äußern. Viele Re- Nadelstreifenanzug in einen der engen Sit-
zu. Und Sean Spicer. porter halten es ähnlich. Die Versuche der ze gezwängt hat. „Dass der Präsident so
„Ich will nicht stören“, sagt Spicer und Einschüchterung zeigen Wirkung. etwas sagt, geht einfach nicht.“ Mason
versucht ein Lächeln. Acosta bricht die Ginge es nach Trump und Spicer, säße spricht leise, er versucht, stets ruhig und
Schalte ab. „Sie können loslegen.“ Acosta heute nicht mehr im Raum, sie woll- sachlich zu bleiben und Trumps Aggres-
„Nein, nein“, entgegnet Spicer. „Wann ten ihm den Zugang zum Weißen Haus sionen mit Unaufgeregtheit zu begegnen.
immer Sie fertig sind.“ Er grinst, dabei ist verweigern. Für Acostas Verbleib hat Jeff Die Kollegen nennen ihn den Diplomaten.
Acosta derzeit einer der Hauptfeinde der Mason gekämpft, sein Sitznachbar im Brie- „Als Journalisten haben wir eine wichtige
Trump-Regierung. Bei einer Pressekonfe- fing Room, erste Reihe, zweiter Platz von Rolle für unsere Demokratie“, sagt Mason.
renz kurz vor Amtsantritt hatte Trump ihn rechts. Mason ist Korrespondent der Nach- „Sie ist von der Verfassung geschützt.“
mit drohenden Gesten aufgefordert, den richtenagentur Reuters und Vorsitzender Mason führt einen täglichen Kampf um
Mund zu halten, und ihm das Recht, eine der White House Correspondents’ Asso- die Frage, wie viel dieser Schutz unter
Frage zu stellen, mit diesen Worten ver- ciation, der Interessenvertretung der Kor- Trump noch wert ist. Noch vor dem Amts-
weigert: „You are fake news!“ respondenten. Mason wurde als Sohn ei- antritt wurden Überlegungen aus Trumps
Acosta ist einer der jovialsten und be- nes US-Soldaten in Deutschland geboren. Team bekannt, die Presse aus ihren tradi-
scheidensten Reporter im Press Corps, wo Später kehrte er als Korrespondent für tionellen Räumen im Weißen Haus zu ent-
DER SPIEGEL 12 / 2017 77
Ausland

fernen. Mason tritt vor die Tür des Briefing jedenfalls dafür, dass es demokratisch Augenlider flackern. Wie soll er den Blöd-
Room. Dort oben, er zeigt auf das halb- bleibt.“ sinn auch erklären, den sein Boss frühmor-
runde Fenster in der Residenz des Weißen Andere sind da weniger diplomatisch: gens per Twitter raushaut? Er windet sich,
Hauses, wohne Donald Trump. Wo sich „Diese Attacken gefährden die amerikani- versucht, das Thema loszuwerden, indem
heute der Briefing Room befindet, war frü- sche Demokratie“, sagt Joel Simon, Vorsit- er Reporter aufruft, von denen er weiß,
her der Swimmingpool von Präsident zender des „Committee to protect journa- dass sie harmlose Fragen stellen.
Franklin D. Roosevelt. Dass die Medien lists“, einer amerikanischen Organisation, Alles spricht dafür, dass Trump, der ei-
schließlich Teil des Weißen Hauses wurden, die einst gegründet wurde, um die Presse- gentlich Zugriff auf alle Geheimdienst-
ist ein Symbol aus einer Zeit, in der die freiheit in der Welt zu stärken. Nun beschäf- informationen hat, seine Behauptung
USA weltweit als Vorbild für Pressefreiheit, tigt sie sich vor allem mit den Zuständen nur aufgrund von Berichten in rechten
Gewaltenteilung und Demokratie galten. im eigenen Land. In der Welt, sagt Simon, Verschwörungsmedien erhoben hat. Auf
„Dass wir überhaupt darüber reden müs- hätten die USA bislang als Leuchtturm der ähnlichem Weg war Trump vorher schon
sen, ob wir hier bleiben dürfen, hätte ich Pressefreiheit gegolten. Seit Trump und sei- zu der exklusiven Erkenntnis gelangt,
niemals gedacht“, sagt Mason. Als Nächs- nem Gerede über Fake News sei das anders. dass in Schweden furchtbare Zustände
tes musste er dafür kämpfen, dass Reporter „Wenn wir in autoritären Staaten aufkreu- herrschten.
auch künftig an Bord der Air Force One zen, um die mangelnde Pressefreiheit zu Als Spicer am Donnerstag besonders
mitreisen dürfen. Auch diese Tradition kritisieren, werden wir doch ausgelacht. lange an den Obama-Fragen rumstottert,
wollten Trump oder Leute in seinem Um- Trump ist ein Geschenk für alle Autokraten erscheint eine Mitarbeiterin aus der Kulis-
feld abschaffen. und Diktatoren dieser Welt.“ se und klebt ihm einen gelben Post-it-Zet-
tel aufs Pult. Kurz darauf äußert er sich
erneut zum Thema, diesmal klarer, ent-
schiedener. Spicer bekommt häufig Zettel
in seine Briefings gereicht, zweimal allein
in der vergangenen Woche.
Viele Journalisten gehen davon aus, dass
Trump jeden Auftritt von Spicer verfolgt
und regelmäßig per Post-it-Zettel eingreift.
Es sei jedenfalls auffällig, dass Trump fast
nie Termine habe, während das Press Brie-
fing laufe.
Vermutlich würde er Spicers Job am
liebsten gleich selbst übernehmen. Er läs-
tere oft über die Auftritte seines Sprechers,
heißt es, nicht nur über dessen schlecht sit-
zende Anzüge. Besonders schlimm fand
er angeblich, dass die Schauspielerin Me-
lissa McCarthy Sean Spicer in der Sendung
OLIVIER DOULIERY / DER SPIEGEL

„Saturday Night Live“ so vernichtend pa-


rodierte, dass sie dessen Autorität unter-
grub. Für einen Narzissten wie Trump blei-
ben die Medien der größte und wichtigste
Spiegel, auch als Präsident.
Mike McCurry hatte solche Probleme
nicht. Sein Boss Bill Clinton habe lieber
Fox-Korrespondent Decker in seinem Büro im Weißen Haus: Lautstarke Auseinandersetzung Basketball als Pressekonferenzen geguckt,
sagt er. McCurry sitzt an der Bar des Na-
Die nächsten Angriffe folgten. Den Raus- In dieser vergangenen Woche wird Sean tional Press Club in Washington und fragt
schmiss Acostas versuchte Mason im priva- Spicer an jedem Tag im Briefing Room sich, ob es wohl zu früh sei für einen Mar-
ten Gespräch mit Spicer abzuwenden. Vor nach einem Tweet des Präsidenten gefragt, tini. Es ist elf Uhr vormittags. Er trägt das
gut drei Wochen lud Trumps Sprecher statt den dieser am Samstagmorgen um 6.35 Uhr Hemd weit geöffnet und verströmt auch
zur üblichen Pressekonferenz zu einem abgeschickt hatte: „Furchtbar! Gerade raus- sonst dieselbe Coole-Sau-Ausstrahlung wie
Gespräch in sein Büro. Die derzeit kritischs- gefunden, dass Obama mich im Trump sein früherer Chef. McCurry war Clintons
ten Medien „New York Times“, CNN oder Tower hat abhören lassen, kurz vor dem Regierungssprecher während der Monica-
„Politico“ hatte er ausgeladen. Rechte Me- Wahlsieg.“ Er fügte hinzu: „Das ist wie Ni- Lewinsky-Affäre.
dien wie Breitbart News, die „Washington xon/Watergate. Übler (oder kranker) Kerl!“ Er empfinde, sagt er, durchaus Mitleid
Times“ oder One America News Network Es ist eine ungeheure Anschuldigung ei- mit seinem Nachfolger Spicer. Zum Bei-
durften hingegen teilnehmen. nes Präsidenten gegen seinen Vorgänger, spiel, als dieser über die Größe der Men-
Jeff Mason protestierte, genauso die etwas Vergleichbares hat es nie gegeben. schenmenge log, die der Amtseinführung
Chefredakteure der großen Zeitungen. Jeden Tag versuchen die Journalisten nun, beigewohnt habe. „Er hat diesen Auftritt
Seither gab es keine Privatpressekonfe- von Spicer in Erfahrung zu bringen, wel- für genau einen Zuschauer hingelegt“, sagt
renz mehr. Ist die Pressefreiheit in den che Beweise Trump dafür habe. Der Präsi- McCurry, „den Präsidenten selbst.“
USA tatsächlich in Gefahr? Ist der Präsi- dent habe doch Zugriff auf alle Informa- McCurry weiß, wie es sich für einen Pres-
dent eine Gefahr für die Demokratie? „Da tionen, die seine Vorwürfe belegen könn- sesprecher anfühlt, wenn der Boss lügt.
sag ich besser nichts“, sagt Mason, der Di- ten? Ob Spicer persönlich glaube, dass „Ich hatte keine sexuellen Beziehungen zu
plomat, und blickt zum Eingang des West Obama Trump abgehört habe? dieser Frau.“ Während er Bill Clintons be-
Wing, als wollte er sicherstellen, dass kei- Es sind für Spicer die wohl schlimmsten rühmten Satz zitiert, mimt er dessen Ge-
ner der Mächtigen zuhört. „Ich kämpfe Momente im neuen Amt. Er stottert, seine sichtsausdruck, fährt mit dem Zeigefinger

78 DER SPIEGEL 12 / 2017


OLIVIER DOULIERY / DER SPIEGEL
CBN-Reporterin Wishon im Presseraum: Trump und Spicer diskreditieren die klassischen Journalisten und fördern die neuen rechten Medien

durch die Luft, wie Clinton damals im Fern- Im Moment wählen Trump und Spicer Viele Jahre lang saß Jennifer Wishon
sehen. „Eine sehr unglückliche Erinne- einen anderen Weg. Sie diskreditieren unter Präsident Barack Obama in der letz-
rung“, sagt McCurry. „Bills Aussage stellte die klassischen Medien und behindern ihre ten Reihe des Briefing Room und durfte
sich bekanntlich als, nun ja, nicht hundert- Arbeit, während sie jene neuen rechten fast nie eine Frage stellen. Seit Trump im
prozentige Wahrheit heraus.“ Aber anders Medien gezielt fördern, die ihnen wohl- Amt ist, kommt sie fast täglich dran. Bei
als Trump, der sich noch nie für etwas ent- gesinnt sind. Sean Spicers erstem Press Briefing durfte
schuldigt habe, habe Clinton das getan – Zu den Gewinnern des neuen Zeitalters sie die zweite Frage stellen, bei Trumps
bei ihm, seinem Sprecher, und bei 275 Mil- zählt Jennifer Wishon. Sie sitzt im Keller Pressekonferenz mit Benjamin Netanyahu
lionen Amerikanern. jenes Bereichs im West Wing, in dem die bekam ihr Kollege eine von zwei Fragen.
Bei Trump sind Lügen zudem keine Aus- Korrespondenten arbeiten. Journalisten Und dann gab der Präsident dem Sender
nahme, sondern die Regel. Mal sagt er, er waren hier immer schon ähnlich komfor- noch eines von zwei exklusiven Interviews.
habe die meisten Wahlmännerstimmen tabel untergebracht wie Hühner in einer „Es gibt gerade viele erste Male“, sagt
seit Ronald Reagan bekommen, obwohl es Legebatterie. Wishon hat es vergleichswei- Wishon. „Ein Unterschied wie Tag und
seither gleich drei Präsidenten gab, die se gut erwischt. Ihr Kabuff ist 1,6 Quadrat- Nacht. Für uns ist es großartig.“
mehr erhielten. Dann behauptet er, dass Früher ging die erste Frage fast immer
mehr als drei Millionen Menschen illegal
für Hillary Clinton gestimmt hätten.
Trump verfolgt offenbar an die Nachrichtenagenturen, erst Asso-
ciated Press, dann Reuters, dann kamen
Der Präsident der Vereinigten Staaten, jeden Auftritt von die großen TV-Sender, weil die die meisten
sagt McCurry, habe durch sein Amt die
lauteste Stimme der Welt, niemand be-
Spicer und lässt ihm Zuschauer haben. Diese alte Ordnung ist
aufgehoben. Wishon sagt, wenn Trump
komme mehr Aufmerksamkeit. Wenn die- Post-it-Zettel zustecken. von den Medien als Feind des Volkes rede,
se Stimme andauernd Unwahrheiten ver- spreche er aus, was das konservative Ame-
breite, sei das ein Angriff auf die Wahr- meter groß und lässt sich per Tür vom Ge- rika seit einer Ewigkeit denke. Schließlich
heit. wusel trennen. Hinein passen ein Mini- hätten die liberalen Medien Abtreibung,
Vor Trump habe jeder Präsident akzep- schreibtisch, ein Stuhl und sie selbst. Homoehe oder Toiletten für Transsexuelle
tiert, dass die Presse eine wichtige Rolle Wishon arbeitet für den Sender Chris- befürwortet.
für die Demokratie des Landes habe. Dass tian Broadcasting Network, der vor allem Wishon ist die vielleicht redlichste unter
es ihre Aufgabe ist, die Macht zu hinter- von Evangelikalen geschaut wird – jenen den Profiteuren der neuen Zeit. Seltsamer
fragen, sie herauszufordern. Clinton habe erzkonservativen Christen, die zu Trumps sind all die jungen Männer und Frauen in
sich damals auch furchtbar über Berichte größten Unterstützern zählen. Sie ent- schneidigen Anzügen und engen Kostüm-
aufgeregt, aber niemals öffentlich, das sei schuldigt sich für ihre Kurzatmigkeit und chen, die sich neuerdings an strategisch ge-
der Unterschied. deutet auf ihren Bauch. Sie sei schwanger. schickten Orten im Briefing Room platzie-
McCurry glaubt, dass Trump die Presse- Dann zeigt sie auf den schwarzen Vorhang ren, um Sean Spicers Aufmerksamkeit zu
freiheit gern einschränken würde. „Wenn vor dem Türfenster. Ihr Büro werde auch erhaschen. Es bereitet ihm diebische Freu-
er die Vorschrift erlassen könnte, dass nur „Breast Wing“ genannt, weil sie Kolle- de, die Platzhirsche von den etablierten
positiv über ihn berichtet werden darf, ginnen anbiete, hier ungestört Milch ab- Medien zu übersehen und jene neuen Me-
würde er es ohne Zögern tun.“ zupumpen. dien aufzurufen, von denen bis vor Kur-

DER SPIEGEL 12 / 2017 79


im Press Corps vorbereiteten. „Du musst
nur sicherstellen, dass alles, was du fragst,
den Begriff Fake News enthält, Lucian“,
habe Hoft gesagt. „Für jede Frage mit dem
Begriff Fake News bekommst du zehn Dol-
lar extra.“ Die Hauptaufgabe besteht nicht
darin, über Politik zu berichten, sondern
die „verlogenen liberalen Medien“ zu är-
gern oder besser noch vorzuführen.
Nach dem Briefing gibt Wintrich seine
eigene Pressekonferenz. Er steht rau-

OLIVIER DOULIERY / DER SPIEGEL


chend und mit Sonnenbrille vor der Tür
des Briefing Room und beschuldigt den
„Fake- News-Korrespondenten“ von Fox,
ihn körperlich angegangen und beleidigt
zu haben.
„Wir haben noch gar nicht erfasst, wie
verheerend dieser zersetzende Effekt
Präsident Trump im Roosevelt Room: „Das nenn ich eine nette Frage“ langfristig sein wird“, sagt Thomas L.
Friedman, der Kolumnist der „New York
zem noch niemand gehört hat und die jene intensiven Verlage und Sender infrage Times“ in seinem Büro unweit des Weißen
Fragen stellen, die im Fußball Torvorlage zu stellen und ihnen die Legitimation ab- Hauses. „Trump versucht, uns Journalisten
heißen würden. zusprechen. verrückt zu machen, auf dass wir eines
Bei Trumps erster Pressekonferenz Das Leitmedium der neuen Rechten ist Tages wirklich verrückt werden und er zu
nahm er einen 19-jährigen Bewunderer Breitbart News, deren ehemaliger Chef seinen Anhängern sagen kann: Ich hab
dran, der erst vor Kurzem einen eigenen Stephen Bannon nun als Chefberater im euch doch gesagt, dass die verrückt sind.“
Internetkanal gegründet hatte. Seine Frage Oval Office sitzt. Bannon hat dieses neue Mit seinen immer neuen Lügen verän-
galt der First Lady Melania: „Sie leistet Zeitalter seit Langem herbeigesehnt. Er dere Trump schleichend das Land. „Wir
großartige Arbeit für dieses Land. Können setzte sich persönlich dafür ein, dass die sind der berühmte Frosch im Wasser“, sagt
Sie uns noch mehr darüber erzählen, was neuen Medien Zugang zum White House Friedman. Jede Woche drehe Trump die
Melania Trump so alles tut für dieses Press Corps bekommen. Wassertemperatur ein klein wenig höher.
Land?“ Am Freitag kommt es vor Beginn des Zunächst merke man es nicht. Aber ir-
„Also, das nenn ich mal eine nette Fra- Briefings zu einer lautstarken Auseinan- gendwann fange das Wasser an zu kochen.
ge“, sagte Trump. „Für wen berichten Sie dersetzung. Jon Decker, ein erfahrener Ra- „Und dann sind wir tot.“ Er meint die
noch mal?“ diokorrespondent des Senders Fox, der in Journalisten. Aber man könnte es auf die
„UNF News“, sagte der 19-Jährige. der neuen Ära Trump fast schon zu den Gesellschaft als Ganze übertragen.
„Gut, das werd ich jetzt gucken“, sagte etablierten Medien zählt, beschwert sich Am Ende der Woche kommt Sean Spi-
Trump, bevor er in aller Ausführlichkeit lautstark über die Anwesenheit von Lucian cer mit erfreulichen Nachrichten in den
erzählte, wie großartig seine Frau für das Wintrich, einem 28-Jährigen, der das Briefing Room. Die neuen Arbeitsmarkt-
Land sei. rechtsradikale Blog Gateway Pundit im daten sind da. Diese monatliche Statistik
Der 23-jährige Trey Yingst vom One hatte Trump während des Wahlkampfs
America News Network ist einer der em-
sigsten Streber im Briefing Room. Er nickt
„Wir haben noch nicht stets als „gefälschte Zahlen“ diskreditiert.
„Wenn ihr 4,9 oder 5 Prozent Arbeitslosig-
oft, während Spicer redet, und er ist der erfasst, wie verheerend keit hört“, so der Kandidat Trump, „sind
Erste, der die Hand hebt, wenn Spicers
Ausführungen sich dem Ende neigen. Sein
dieser zersetzende Effekt es in Wahrheit 28, 29 oder 35 Prozent. Ich
habe neulich sogar 42 Prozent gehört.“
Sender wurde vor drei Jahren als noch langfristig sein wird.“ An diesem Tag lautet die Nachricht: Die
rechtere Alternative zum rechten Sender Arbeitslosigkeit ist, wie zuvor schon unter
Fox News gegründet. Weißen Haus vertreten soll. Gateway Pun- Obama, weiter gesunken. Ob Trump denn
An diesem Mittwoch wird Yingst von dit ist berüchtigt für seine kruden Ver- den Zahlen jetzt glaube, fragt ein Journa-
den Breitbart-Kollegen dazu beglück- schwörungstheorien und Schlagzeilen wie: list. „Ich habe vorher mit dem Präsidenten
wünscht, dass er gestern gleich zwei Fra- „Zahnexperte: Hillary Clinton leidet an gesprochen“, verkündet Spicer fröhlich, er
gen stellen durfte. „Ja, großartig“, sagt er. ernster Zahnfleischentzündung und Im- braucht jetzt keinen Post-it-Zettel. „Und
„Ich habe gerade einen Lauf, ich hoffe, es munschwäche“. Das Blog wurde erst von er sagte, ich solle ihn ausdrücklich zitieren:
geht so weiter.“ Nachdem er eine harmlose Trumps Leuten akkreditiert, sein Korres- ,Die Zahlen mögen in der Vergangenheit
Frage gestellt hat, checkt er gleich die bei- pondent Wintrich hatte nie zuvor als Jour- gefälscht gewesen sein, aber jetzt sind sie
den vor ihm liegenden Smartphones, um nalist gearbeitet. sehr wahr.‘“
die Reaktionen bei Facebook und Twitter Decker ruft in den Raum, dass mit Win- Der Satz ist eine Frechheit, eine intel-
zu überprüfen. trich nun der Reporter eines Mediums vor lektuelle Beleidigung, aber niemand pro-
Neurechte Medien wie One America, Ort sei, das „Schwarze, Juden und Latinos testiert. Vielleicht wird man irgendwann
Newsmax, The Daily Caller oder LifeZette hasst“. Er ist fassungslos, dass Trumps Wei- müde, wenn man täglich Attacken ausge-
genießen die volle Unterstützung der neu- ßes Haus den Journalistendarsteller tat- setzt ist. Vielleicht gewöhnt man sich frü-
en Regierung. Sie sollen die alten Medien sächlich reingelassen hat. Viele Kollegen her oder später an jedes System, egal wie
verunsichern, ihnen Fragezeit nehmen, die klopfen ihm zum Dank auf die Schulter. absurd es ist. Als Spicer seinen Boss zitiert,
gewohnten Abläufe stören, das alte System Ein Reporter des „New Yorker“ konnte wird im Briefing Room herzhaft gelacht.
herausfordern. Es gilt, die Glaubwürdigkeit neulich beobachten, wie Wintrich und sein Mail: markus.feldenkirchen@spiegel.de
der gestandenen, unabhängigen, recherche- Boss Jim Hoft sich auf den ersten Auftritt Twitter: @MFeldenkirchen

80 DER SPIEGEL 12 / 2017


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Ausland

Populist schlägt Populist


Niederlande Der Wahlerfolg von Premier Rutte wird als Sieg der Proeuropäer gefeiert.
Aber ist damit der Triumphzug der EU-Gegner in diesem Wahljahr gestoppt?

D
er Mann, vor dem sich Europa gebnis „für Europa, gegen die Extremis- an Muslime gerichtet, sein Unwohlsein
fürchtete, ist am Ende dieses Tages ten“. Der niederländische Christdemokrat angesichts mangelhafter Integration be-
sprachlos. 39 Minuten braucht Geert Wim van de Camp ist überzeugt: „Nach schrieb und mit dem Satz endete: „Verhal-
Wilders nach den ersten Prognosen am dem Brexit und der Wahl Trumps haben te dich normal, oder geh weg.“
Mittwochabend, bevor er sich auf Twitter die Populisten eindrucksvoll gezeigt, dass Zu verdanken hat Rutte seinen Wahlsieg
meldet und bei seinen Wählern bedankt. sie zu politischen Lösungen nicht in der aber wohl vor allem einem Mann, der die
„Wir haben Sitze dazugewonnen!“, schreibt Lage sind. Das hat in den Niederlanden Demokratie in seiner Heimat gerade ab-
er. Und danach: „Wir sind die zweitgrößte geholfen, das wird in Frankreich helfen.“ schaffen will: dem türkischen Präsidenten
Partei!“ Aber natürlich hat er nicht gewon- Dabei weiß niemand, ob sich die guten Recep Tayyip Erdoğan.
nen, zumindest nicht so wie erhofft. Nachrichten aus den Niederlanden auf „Rutte müsste einen Dankesbrief an Er-
Der Gewinner ist der Verlierer, und der Frankreich übertragen lassen, wo im April doğan schicken“, sagt der Europaabgeord-
Verlierer der Gewinner, das ist die Ironie die erste Runde der Präsidentschaftswah- nete Wim van de Camp. „Am vergange-
dieser Wahl. Wilders’ Freiheitspartei hat len ansteht. Marine Le Pen hat sich ein ge- nen Samstagnachmittag um 14 Uhr wurde
die Zahl ihrer Sitze im Parlament von mäßigtes Image verpasst; Wilders hat alles seine Kampagne gerettet. Die Bilder, wie
15 auf 20 erhöht. Aber sie liegt damit trotz- dafür getan, so diabolisch wie möglich zu die türkische Familienministerin an die
dem hinter den Liberalen von Premier erscheinen. Der Front National ist eine Grenze zurückeskortiert wurde, wären mit
Mark Rutte, die von 41 auf 33 Sitze ab- schlagkräftige Wahlkampfmaschine; Wil- Geld nicht zu bezahlen gewesen.“
stürzten. Und vor allem bleibt der Islam- ders führt dagegen eine Einmannpartei. In Krisensituationen gebe es bei den
und EU-Gegner weit hinter den Erwartun- Einer von Marine Le Pens Gegnern, der Niederländern eine hohe Neigung, die Re-
gen zurück; die Umfragen sahen ihn lange konservative François Fillon, ist in eine gierung zu unterstützen, bestätigt Tom van
vorn. Damit bleibt Rutte voraussichtlich Affäre verwickelt, die geradezu die Be- der Meer, Politikwissenschaftler aus Ams-
Premier – und Wilders in der Opposition. hauptungen der Populisten zu belegen terdam. Dafür spricht auch die Wahlbetei-
Ein Aufatmen geht durch Europa. scheint, dass die alten Eliten korrupt und ligung von über 80 Prozent; eine Mobili-
Alles schien an dieser Wahl zu hängen. arrogant sind. Frankreich und die Nieder- sierung, die diesmal nicht dem Populisten
Die Zukunft der EU und des Euro, ja sogar lande sind sehr verschieden. Dennoch wer- nutzte, sondern den gemäßigten Parteien.
der Demokratie. Eine Wahl, die viel grö- den Europas Wahlkämpfer Ruttes Wahl- Rutte hat den Konflikt erst eskaliert, in-
ßer war als die kleinen Niederlande. Der erfolg nun genau studieren. dem er dem türkischen Außenminister ein
Premier, der sich im Wahlkampf gern in Dies „ist ein Abend, an dem die Nieder- Landeverbot erteilte und die türkische Fa-
der Rolle des Europaretters und Wilders- lande nach dem Brexit und den amerika- milienministerin aus dem Land befördern
Verhinderers präsentierte, sprach danach nischen Wahlen ,ho!‘ gesagt haben, gegen ließ. Danach hat er deeskaliert, indem er
vom gewonnenen Viertelfinale. Das Halb- den verkehrten Populismus“, ruft Rutte, Erdoğans fortwährende Beleidigungen an
finale, das ist: Frankreich im Mai. Das Fi- als er am Wahlabend um kurz vor Mitter- sich abtropfen ließ, von Nazivergleichen
nale: Deutschland im September. nacht vor seine Anhänger tritt. Was der bis hin zu der Behauptung, niederländische
Rutte hat nicht nur die Niederländer richtige Populismus ist, sagt er nicht, aber Soldaten hätten das Massaker von Srebre-
überzeugt, er hat auch einen Trend aufge- es ist klar, was er damit meint. Denn der nica verübt. Stattdessen lud er den türki-
halten, vor dem viele sich fürchten: den Mann mit der Nickelbrille und dem harm- schen Premier zum gemeinsamen Essen
Aufstieg der Populisten und EU-Hasser. losen Zahnpastalächeln hat im Wahlkampf ein. So bewies er einerseits Führungsstärke,
Erst Brexit, dann Donald Trump, dann den Wilders light gemacht, er ist weit nach andererseits zeigte er sich als diplomati-
Wilders, der aus EU und Euro austreten rechts gerückt – und war damit erfolgreich. scher Staatsmann und Gegenpol zum
will, so lautete die Befürchtung. Es war Im Januar hatte Rutte einen offenen schrillen Wilders. Die Strategie ging auf.
eine Art Dominotheorie des Schreckens. Brief über Zeitungsanzeigen im ganzen Dass Erdoğan nun die Städtepartner-
Als Nächstes der Wahlsieg von Marine Le Land verbreitet, in dem er, offensichtlich schaft Istanbuls mit Rotterdam aufkündi-
Pen in Frankreich, dann ein Spitzenergeb- gen lässt und der türkische Fleischverband
nis für die AfD in Deutschland, schließlich niederländische Kühe ausweisen ließ,
vielleicht noch ein von der Fünfsterne- Sitzverteilung im niederländischen Parlament zeigt, dass den Türken so recht keine Ant-
bewegung regiertes Italien. nach der Wahl vom 15. März 2017 wort auf die Rutte-Politik einfällt. Gut
Vor allem in Brüssel und Straßburg be- PVV CDA D66 SP möglich, dass sie Schule machen könnte
schwört man nun die Trendwende. „Die, Rechts- Christ- Linksliberale Sozialisten im Umgang mit der Türkei.
populisten demokraten
die Europa kaputtmachen wollen, haben GroenLinks „Wir dürfen die Populisten nicht kopie-
keinen Freifahrtschein“, das zeige diese Grüne ren, müssen die Sorgen der Menschen aber
Abstimmung, sagt Luxemburgs Außenmi- 19 PvdA ernst nehmen“, sagt Manfred Weber, Frak-
19 +7 14 Sozial-
nister Jean Asselborn dem SPIEGEL. Und +6
–1
tionschef der Europäischen Volkspartei im
mit Blick auf die Frankreichwahl fügt er 20 14
demo-
kraten EU-Parlament. „Dazu gehört, dass man der
+5 +10
an: „Das Ergebnis bringt eine Dynamik, 9 Türkei zeigt, was geht und was nicht.“ Aber
– 29
33
zumindest für die zweite Runde, wo es in dieser Strategie steckt auch eine Gefahr.
darum geht, Le Pen zu verhindern.“ Der Preis war die Eskalation, die nicht
Noch in der Nacht zu Donnerstag tele-
– 8 Sitze gegen- 22 nur Rutte als Sieger hat, sondern auch Er-
über der Wahl 150 Sonstige +10
foniert Kommissionschef Jean-Claude Jun- von 2012 doğan. Nicht nur dessen Anhänger, son-
Abgeordnete
cker mit Rutte, er spricht von einem Er- VVD Bürgerlich-Liberale (Partei von Ministerpräsident Mark Rutte) dern sogar Oppositionsparteien haben die

82 DER SPIEGEL 12 / 2017


ROBIN VAN LONKHUIJSEN / ANP PHOT / ACTION PRESS

Wahlkämpfer Wilders, Rutte bei TV-Debatte: „Verhalte dich normal, oder geh weg“

Niederlande für ihr Handeln gerügt. Auch Vor allem kann Wilders weiterhin den Volksparteien implodieren, neue Partei-
in Brüssel äußern sich einige kritisch; Rutte Niederländern das Blaue vom Himmel en, oft auf Partikularinteressen ausgerich-
habe europäische Werte für ein besseres versprechen, vom Koranverbot bis zur tet, gründen sich – das ist eine Entwick-
Wahlergebnis geopfert. Dazu kommt: Wer Senkung des Rentenalters. Sein Wahlpro- lung, die sich überall in Europa beobachten
die Populisten kopiert, wertet sie auf. gramm passt zwar nur auf eine DIN-A4- lässt. Man könnte das als notwendige Er-
Er sehe sich nicht als Verlierer, sagt Seite, aber es findet sich darin für jeden neuerung sehen, doch bisher folgen meist
Geert Wilders, der nach der Abstimmung Unzufriedenen etwas. Und die Unzufrie- Chaos oder Blockaden. In Spanien, wo die
als Letzter vor die Mikrofone tritt, um ein denheit im Land ist groß. Wahlen wiederholt werden mussten, weil
Uhr nachts. Doch die Siegerpose fällt ihm Auch wenn es im Ausland manchmal so sich keine Koalition zusammenfand; in
erkennbar schwer, er wirkt missmutig und schien, als würden die Niederländer über Belgien, wo die Regierungsbildung schon
kurz angebunden, man sieht ihm die Ent- Geert Wilders abstimmen, ging es bei die- mal anderthalb Jahre dauerte; in Italien,
täuschung an. Trotzdem poltert er, ganz ser Wahl um weit mehr: um hohe Kran- wo sich gerade die regierende Demokrati-
der alte Wilders, es werde nun ein „pa- kenversicherungsbeiträge und unbestän- sche Partei gespalten hat.
triotischer Frühling“ beginnen. „Rutte dige Arbeitsverhältnisse im Kleinen, um Die künftige Regierung in Den Haag
wird mich so schnell nicht los.“ Identität und die gefühlte Unsicherheit in- wird aus vier, vielleicht sogar aus fünf oder
Wilders hat zwar fünf Sitze dazugewon- folge der Globalisierung im Großen. sechs Partei bestehen. Darunter werden
nen, doch damit liegt er unter seinem bes- Es gibt noch eine andere Interpretation wohl die Christdemokraten sein, womög-
ten Ergebnis von 2010 (24 Sitze). Seine dieser Wahl, in der Geert Wilders nicht lich auch die liberale Partei D66 oder die
Stammwähler sind ihm noch immer treu, die Hauptrolle spielt. Sie ist nicht so griffig, Grünen, die ihre Sitze mehr als verdreifacht
aber die Wechselwähler rechts der politi- aber vielleicht genauso besorgniserregend. haben. Es wird vermutlich Monate dauern,
schen Mitte hat er offenbar nicht erreicht. Es geht dabei um die Zersplitterung der bis die zerstrittenen Parteien sich auf eine
Das ist ein Dämpfer, aber keineswegs das Parteienlandschaft. Zusammenarbeit geeinigt haben, und es
Ende von Wilders politischer Karriere. Im Parlament tummeln sich künftig wird genau die Art von Regierung werden,
Er ist nun Oppositionsführer, er kann nicht weniger als 13 Fraktionen. Darunter wie sie viele Niederländer nicht mehr wol-
die Regierung vor sich hertreiben und ihr sind Tierschützer, bibeltreue Christen, die len: eine fragile Koalition, die große ideo-
seine politische Agenda aufdrängen, wie Rentnerpartei 50 Plus und „Denk“, eine logische Gegensätze überspannen muss,
er das schon in den elf Jahren als Abge- Erdoğan-ergebene Migrantenpartei. Dafür was zu Kompromissen und Stillstand führt.
ordneter der Freiheitspartei getan hat. ist die traditionelle Sozialdemokratie qua- Und das ist am Ende die beste Werbung
Seitdem sind die Niederlande sehr viel si ausgelöscht, die Arbeitspartei hat nur für den Populisten Geert Wilders.
weiter nach rechts gerückt, vor allem, was ein paar Sitze mehr als die Tierschutz- Claus Hecking, Juliane von Mittelstaedt,
den Umgang mit Einwanderern angeht. partei. Peter Müller

DER SPIEGEL 12 / 2017 83


Ein falscher Satz
Hongkong Nathan Law war ein Gesicht der „Regenschirm-Revolution“ und ist seit Kurzem der
jüngste Abgeordnete der Stadt. Doch nun will Peking ihn aus dem Parlament werfen.

A
ls er klein war, sagt Nathan Law, Es ist ein kühler Wintertag, und Nathan gesetzt, vor allem nicht ihre wichtigste: die
habe ihm seine Mutter eingebläut, Law hockt eingemummelt in Jacke und direkte Wahl des Regierungschefs. Dieser
sich nicht mit der Kommunisti- Schal in seinem ungeheizten Parlaments- wird noch immer von einem Komitee aus
schen Partei anzulegen. Schluck deinen büro. Im September wurde er gewählt, da rund 1200 Mitgliedern bestimmt, das mehr-
Ärger runter, habe sie ihm ans Herz gelegt. war er 23, der jüngste Abgeordnete in der heitlich loyal gegenüber Peking ist.
Misch dich nicht in die Politik ein. Als Geschichte der Stadt. Doch nun muss er Nach dem Ende der Proteste gründete
ihr Sohn sechs Jahre alt war, ließ sie ihre um seinen Abgeordnetensitz fürchten; Nathan Law deshalb gemeinsam mit an-
chinesische Heimat hinter sich und zog Hongkongs Regierung führt einen Prozess deren Anführern der Studentenbewegung
mit ihm nach Hongkong, in die frühere gegen ihn, sie will ihn aus dem Parlament die Partei Demosisto. Sie wollen mit den
britische Kronkolonie, in der alles immer werfen. Mitteln der Politik für die Selbstbestim-
freier war. Offiziell, weil er seinen Amtseid nicht mung Hongkongs eintreten. Nun ist er Ab-
Aber Law hat nicht auf seine Mutter ge- „vollständig und feierlich“ abgelegt haben geordneter, aber die Frage ist, wie lange
hört. Er war einer der Anführer der „Re- soll. Inoffiziell wohl eher, glaubt Law, weil noch. Denn das System, gegen das er an-
genschirm-Revolution“ vor bald drei Jah- er sich dafür einsetzt, dass seine Stadt getreten ist, setzt alles daran, ihn mundtot
ren, dieses bunten und zugleich bittererns- bleibt, was sie immer war: weltoffen und zu machen.
ten Aufstands gegen den Einfluss Pekings liberal. Und nicht so wie der Rest Chinas. Ein paar Tage nach dem Treffen in sei-
auf die Hongkonger Politik. Seit einigen Man muss sich seine Wahl ins Parlament nem Büro trifft er sich deswegen mit drei
Monaten sitzt er als Abgeordneter im Par- als Marsch durch die Institutionen vorstel- anderen Abgeordneten vor Hongkongs
lament der Stadt. Die chinesische Staats- len, vom Studentenaktivisten zum Politi- High Court. Sie fechten hier einen Rechts-
presse nennt ihn einen „Radikalen“. ker. Es fing an mit den Protesten 2014, als streit mit der Regierung aus. Es ist ein un-
Als er im Januar von einem Seminar in Zehntausende Demonstranten große Teile gleicher Kampf. Hongkongs Regierung
Taiwan zurückkehrte, griffen ihn prochi- der Stadt fast drei Monate lang lahmlegten. fährt ein Heer von mehr als zehn Anwäl-
nesische Demonstranten auf dem Flug- Peking wollte sich nicht an das 1997 gege- ten auf, Law erscheint ohne Rechtsanwalt;
hafen von Hongkong an. Sie prügelten auf bene Versprechen freier Wahlen in Hong- Prozesskostenhilfe erhält er nicht, er ist
ihn ein und bespritzten ihn mit einer Flüs- kong halten, sondern nur handverlesene auf Spenden angewiesen.
sigkeit. Law vermutet hinter dem Angriff Kandidaten ins Rennen schicken. Neben Nathan Law steht Leung Kwok-
die Triaden, das organisierte Verbrechen. Nathan Law war einer der Anführer der hung, ein Veteran der Hongkonger Demo-
Seine Mutter hat allen Grund zur Sorge. Proteste, neben Joshua Wong das sympa- kratiebewegung, der aussieht, als wäre er
Mittlerweile habe sie zwar akzeptiert, dass thische Gesicht der Bewegung, die als „Re- gerade aus dem Bett gefallen. Er trägt
er Politiker ist, sagt Nathan Law. Aber bei genschirm-Revolution“ bekannt wurde. Schlabberlook, das lange, graue Haar ist
jedem Telefonat erinnere sie ihn daran, Eine Revolution war es allerdings nicht, struppig. Law hingegen sieht aus, als käme
dass er auf sich aufpassen solle. denn keine ihrer Forderungen wurde um- er vom Unterricht in einem englischen In-
ternat, mit Pullover und Blazer, dazu Horn-
brille. Während der Anhörung reißt Leung
Kwok-hung Witze, der Richter muss die
lachenden Zuhörer um Ruhe bitten. Law
hingegen redet ruhig und bestimmt, die
Hände zur Raute gefaltet.
Auf den ersten Blick mag es banal wir-
ken, was hier verhandelt wird: ob Nathan
Law seinen Amtseid korrekt abgelegt hat.
Für Law aber geht es um die Zukunft
Hongkongs. In dem Schwur, auf Englisch
nur 77 Wörter lang, wird Hongkong vier-
mal als „Sonderverwaltungsregion“ der
Volksrepublik China bezeichnet. Das mö-
gen nicht alle in Hongkong, zwei andere
Abgeordnete sprachen daher eine eigene
Version des Eids, in der sie China verun-
PACIFIC PRESS VIA ZUMA WIRE / ACTION PRESS

glimpften.
Gegen die beiden wurde ein Gerichts-
verfahren eingeleitet. Plötzlich schaltete
sich der Nationale Volkskongress in Peking
ein und entschied, dass Amtseide „voll-
ständig und feierlich“ abzulegen seien.
Zwar darf Peking das Basic Law, das
Grundgesetz Hongkongs, in strittigen Fra-
gen interpretieren. Bislang hatte es sich
Politiker Law im Hongkonger Regierungsviertel: Für Chinas Staatspresse ist er ein „Radikaler“ aber nur eingemischt, wenn Hongkong

84 DER SPIEGEL 12 / 2017


Ausland

TODD DARLING / POLARIS / LAIF


Demonstrant während der Proteste in Hongkong 2014: Eine gescheiterte Revolution gegen Pekings „unsichtbare Hand“

darum gebeten hatte. Doch dann diese zeptiert hat. Das Verfahren sei ein Beleg Lam wird wohl von dem Gremium gewählt
Intervention, zudem während eines lau- für genau das, wogegen er angetreten sei, werden, obwohl sie in den meisten Mei-
fenden Verfahrens. Die Hongkonger Rechts- sagt Nathan Law: dass Peking sich in die nungsumfragen zurückliegt.
anwaltskammer sprach von einem „schwe- Angelegenheiten Hongkongs einmische Lam hat angekündigt, sich überwiegend
ren Schlag gegen die Unabhängigkeit der und sich nicht an das Autonomieverspre- um Wirtschaftsfragen kümmern zu wollen.
Justiz“. Die beiden Abgeordneten ver- chen „Ein Land, zwei Systeme“ halte. Außerdem will sie die gesellschaftlichen
loren ihr Mandat. Aber dabei sollte es Das Urteil wird für April erwartet, kurz Spaltungen in der Stadt überwinden. Eine
nicht bleiben. zuvor, am 26. März, wird das Wahlkomitee Umfrage der Universität Hongkong kam
Im Dezember rief die Stadtregierung ein den neuen Regierungschef der Stadt wäh- im Dezember zu dem Ergebnis, dass fast
Gericht an, auch Nathan Law und drei wei- len, den sie hier geschäftsmäßig Chief Exe- 70 Prozent der Bürger mit der politischen
teren Abgeordneten das Mandat zu ent- cutive nennen. Der Amtsinhaber Leung Situation unzufrieden sind – unter den 18-
ziehen. Auch sie sollen ihren Eid nicht Chun-ying, gegen den die Proteste sich da- bis 29-Jährigen sind es sogar 80 Prozent.
„feierlich“ abgelegt haben. Denn bevor mals richteten, wird nicht mehr antreten. Nathan Law gehört als Parlamentarier
Law den Eid sprach, zitierte er Gandhi: Seine Nachfolgerin könnte eine Frau na- zum Wahlkomitee. Er sagt, für Carrie Lam
„Du kannst mich anketten, du kannst mich mens Carrie Lam werden, bis vor Kurzem werde er mit Sicherheit nicht stimmen.
foltern, du kannst sogar diesen Körper zer- Verwaltungschefin der Stadt und angeblich Sollte die angebliche KP-Kandidatin zum
stören, doch du wirst nie meinen Verstand die einzige Kandidatin mit dem Segen des Chief Executive gewählt und er aus dem
einsperren.“ Und er ergänzte: „Ich werde KP-Politbüros. Parlament ausgeschlossen werden, wäre
niemals einem Regime dienen, das sein Aber auch diese Wahl wird alles andere das für ihn ein Beleg dafür, dass die chine-
eigenes Volk umbringt.“ Damit waren na- als frei und demokratisch sein. Es gebe sische Führung die Freiheit in Hongkong
türlich die Regierenden in Peking gemeint. eine „unsichtbare Hand“, die sich in den noch stärker beschneiden will.
„Ich würde diesen Satz genau so wie- Wahlkampf einmische, sagte kürzlich ein Law sagt, er würde in diesem Fall so
derholen“, sagt er heute. Hongkonger Parlamentarier. Die Mitglie- weitermachen, wie er seine politische Kar-
Bizarr ist der Prozess vor allem deshalb, der des Wahlkomitees erhielten Anwei- riere einst begonnen hat: mit dem Protest
weil das Parlament selbst seinen Eid ak- sungen, wer im März zu wählen sei. Carrie auf der Straße. Maximilian Kalkhof

DER SPIEGEL 12 / 2017 85


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Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Sport
Medaillenspiegel bei den Wintersport-Weltmeisterschaften 2017*
in olympischen Disziplinen Deutschland
Deutschland 34 Olympia
Niederlande 19 Goldener Winter
Norwegen 24
GOLD Ein Jahr vor den Olympi-
Österreich 16 Biathlon (7), Rodeln, schen Spielen in Südkorea
nordische Kombination (je 3),
USA 14 Bob (2), Skispringen, scheinen die deutschen Win-
Russland 14 Skeleton (je 1) tersportler bestens präpa-
Schweiz 7 riert, um den Medaillenauf-
BRONZE SILBER trag der Funktionäre zu
Südkorea 9 Bob (2), Eisschnelllauf, Eisschnelllauf, Skispringen,
Großbritannien 4 nordische Kombination, Skeleton (je 2), Bob, Rodeln,
erfüllen. 17 Gold-, 10 Silber-
Rodeln, Skispringen, nordische Kombination, und 7 Bronzemedaillen
Kanada 16
*Stand: 16. März, ohne Curling, Eishockey, Freestyle-Skiing, Snowboard
Ski alpin (je 1) Biathlon (je 1) holten die Athleten bisher
bei Weltmeisterschaften in
den olympischen Disziplinen.
Olympische Winterspiele 2014
Bei den Winterspielen 2014
Russland 33
Deutschland in Sotschi hatte der damalige
Norwegen 26 Leistungssportdirektor des
Kanada 25 Deutschen Olympischen
GOLD
USA 28 Rennrodeln (4), Skispringen (2),
Sportbunds, Bernhard
Niederlande 24 nordische Kombination, Schwank, die Leistungen
Deutschland 19
Ski alpin (je 1) noch „enttäuschend“ gefun-
SILBER den: Rang sechs im Medail-
Schweiz 11 BRONZE Biathlon (2), Rennrodeln, lenspiegel, keine Podestplät-
Weißrussland 6 nordische Kombination, nordische Kombination, ze im Eisschnelllauf, im
Ski alpin, Snowboard, Eis- Ski alpin, Snowboard (je 1)
Österreich 17 kunstlauf, Langlauf (je 1) Skeleton oder im Bobsport,
Frankreich 15 kein Gold im Biathlon.

Magische Momente
„Ich habe mich unbesiegbar gefühlt“
GETTY IMAGES

Die Freestyle-Skifahrerin Lisa Zimmermann, 21, aus Nürnberg über ihre Weltneuheit und ihr Verletzungs-Aus für die WM

SPIEGEL: Bei den X-Games vor hat sich das keine andere Kopf vor, wieder und wie- zögert, hat ausgespielt. Ich
vor einigen Wochen in Frau getraut. der. Vor dem Wettkampf habe mir ein Best-of von
Aspen (USA) sind Sie als SPIEGEL: Wie trainiert man so brauche ich einen kleinen Britney Spears auf das
erste Frau einen „Switch einen Trick? Kick von einer Freundin, die Handy gezogen, wir hören ja
Double Cork 1080“ gesprun- Zimmermann: Gar nicht. Ich sagt: „Lisa, du wolltest doch während der Sprünge Musik.
gen. Was ist das? schaue mir das bei den Jungs immer mal …“ Dann prüfe Britney hat mich motiviert.
Zimmermann: Ich fahre ab. Dann studiere ich Videos ich, ob ich mich sicher fühle, SPIEGEL: Sie bezeichnen sich
rückwärts auf die Sprung- und stelle mir den Sprung im und mache den Trick. Wer als unbegabte Skifahrerin.
schanze zu, wir nennen Zimmermann: Um auf die
das „switch“. 1080 bedeutet, Schanze zuzufahren, brau-
dass ich drei Drehungen che ich keine Kurventechnik.
seitwärts mache. Und Dou- Das Wichtigste spielt sich in
ble Cork, dass ich mich der Luft ab. Ich war früher
dazu noch zweimal um die Eiskunstläuferin, da habe ich
horizontale Achse drehe, ein Gefühl für Sprünge und
aber nicht gerade, wie bei Drehungen entwickelt.
einem Salto, sondern SPIEGEL: Sie verpassen die
schräg in der Luft, wie ein WM, die gerade in Spanien
Korkenzieher eben. stattfindet. Warum?
SPIEGEL: Hatten Sie den Zimmermann: Ich bin im Trai-
Sprung eigens für diesen ning gestürzt, habe mir Kreuz-
Wettkampf trainert? band, Innen- und Außenband
DENVER POST / GETTY IMAGES

Zimmermann: Dass ich ihn gerissen. Am Morgen hatte ich


dort zum ersten Mal gezeigt mich gefühlt wie eine zer-
habe, stimmt nicht, da hat matschte Kartoffel. Eigentlich
das X-Games-Marketing ein springe ich dann nicht. Dabei
bisschen übertrieben. Ich bin habe ich mich nach dem
ihn vor zwei Jahren schon „Switch Double Cork 1080“
mal gesprungen. Nach wie Zimmermann bei den X-Games in Aspen unbesiegbar gefühlt. mb

DER SPIEGEL 12 / 2017 87


Geld oder Gene
Formel 1 Der Kanadier Lance Stroll, 18, ist der einzige
Neuling. Sein Vater, ein Modemilliardär, lässt sich
den Einstieg rund 80 Millionen Dollar kosten. Noch nie
hat jemand so viel Geld in eine Sportlerkarriere gesteckt.

MARK THOMPSON / GETTY IMAGES

88 DER SPIEGEL 12 / 2017


Sport

E
inen Monat vor Saisonstart rücken „Ich habe mir meinen Weg nicht er- leben begonnen, in den Neunzigerjahren
die Sattelschlepper der Formel-1- kauft“, sagt Lance Stroll missmutig, „ich investierte er in Tommy Hilfigers Mode-
Teams in Kolonnenstärke in Barce- habe mir meinen Platz verdient. Die Leute firma, stieg später bei Michael Kors ein
lona an. In den Aufliegern sind die neu erzählen immer irgendwas, ich lese das und nahm beim Börsengang der Marke
entwickelten Rennwagen verstaut. Meist nicht, das ist verschwendete Zeit.“ über eine Milliarde Dollar ein. „Lawrence
hat die Zeit gerade so gereicht, ein Exem- Niemand landet in der Formel 1, bloß Stroll ist einer der cleversten Geschäfts-
plar zusammenzumontieren, Ersatzteile weil er schnell Auto fahren kann. Der harte männer, die ich je getroffen habe“, sagt
sind rar. In den kommenden Tagen geht Weg durch die Nachwuchsklassen kostet Hilfiger, „er lehrte uns, groß zu denken.“
es auch darum, Unfälle zu vermeiden. Millionen. Weltmeister wie Sebastian Vettel Lawrence Stroll sammelt klassische
Sonst gerät der enge Zeitplan, den die In- und Lewis Hamilton hatten das Glück, dass Ferrari, als Prunkstück ersteigerte er einen
genieure abgesteckt haben, durcheinander. Teams wie Red Bull und McLaren sie früh Sportwagen aus den Sechzigern für
Alles nicht so leicht für Lance Stroll, den entdeckt und ihnen diesen Weg finanziert 27,5 Millionen Dollar. Ihm gehört die
einzigen Neuling im Fahrerfeld. Er ist mit haben. Oft helfen Ehrgeiz und Einsatz der Rennstrecke von Mont-Tremblant bei
18 Jahren der Jüngste unter ihnen. Erst Väter. Keke Rosberg und Jos Verstappen Montreal. Um seine Kollektion von mehr
seit Oktober ist der Kanadier volljährig. etwa trieben Sponsorengelder auf und scho- als 20 Fahrzeugen auf dem nahe gelegenen
An seinem ersten Arbeitstag rutscht ben die Karriere ihrer Söhne Nico und Max Anwesen unterzubringen, ließ er Platz für
Stroll nach nur zwölf Runden von der Piste als deren Manager an. Allerdings sind sie eine Tiefgarage ins Berggestein sprengen.
und beschädigt dabei den Frontflügel – selbst Formel-1-Rennfahrer gewesen. Das Das sorgte für Verdruss bei den Nachbarn,
Feierabend. Tags darauf rauscht er wieder ebenso die Starts und Landungen seines
von der Piste ab, gleich zweimal. Der erste bevorzugten Verkehrsmittels, des Helikop-
Crash ist harmlos, aber nachmittags steckt ters. Er verstehe das Bedürfnis von Leuten
sein Wagen mit verbogener Vorderradauf- nach Beschaulichkeit, entgegnete Lawren-
hängung im Reifenstapel. Auf die Schnelle ce Stroll den Nörglern, „aber in solchen
ist das nicht zu reparieren, ein ganzer Test- Fällen sollten sie besser nicht neben Renn-
tag geht verloren. Zur Sicherheit wird strecken, Flughäfen oder Skigebiete zie-
Strolls Teamkollege Felipe Massa, mit hen“. Stroll ist ein Mensch von bäriger Sta-
35 Jahren fast doppelt so alt und ausgestat- tur und felsenfestem Selbstbewusstsein.
tet mit der Erfahrung aus 250 Grand Prix, Zu den Fixpunkten in seinem Termin-
mit der Aufgabe betraut, die Probefahrten kalender gehören die Liveübertragungen
fortzusetzen. Massa schrubbt zuverlässig vom Formel-1-Grand-Prix, gern schaut er
Kilometer. Und lässt das Auto heile. auch persönlich im Fahrerlager vorbei.
Lance Stroll bleibt vorerst ein Rätsel. Lance Stroll saß von klein auf mit vor dem
Talent für den Job am Lenkrad hat er un- Fernseher und kam mit an die Strecken.
bestritten. Er hat in allen Nachwuchs- Mit fünf Jahren schenkte ihm der Vater
klassen gewonnen, in denen er mitfuhr. einen Kart, mit acht fuhr er die ersten Ren-
Voriges Jahr dominierte er die Formel-3- nen. Als er zehn war, bot ein Ferrari-Scout
Europameisterschaft, da lag der Schritt in an, ihn ins Förderprogramm des Rennstalls
die Formel 1 nahe. aufzunehmen.
Stroll schiebt den Vorhang des Hospita- Lawrence Stroll kennt wichtige Leute
lityzelts im Fahrerlager beiseite, tritt he- bei Ferrari, der Scout klopfte wohl nicht
RAFFI KIRDI / POLARIS / LAIF

rein und setzt sich auf einen Stuhl. Er hat zufällig an. Und der Vater wusste: Wer in
Pickel am Kinn. Während Massa draußen die Formel 1 strebt, muss nach Europa ge-
im Williams seine Runden dreht, hat Stroll hen und sich dort im hart umkämpften
Zeit. Statt eines Overalls trägt er Jeans und Rennsport durchsetzen. Andererseits ach-
Fleecejacke. ten die Strolls erkennbar darauf, die Kar-
Das Gespräch mit ihm wechselt, je nach riere des Sohnes nicht als Ergebnis väter-
Thema, zwischen zwei Stimmungslagen. Kartfahrer Stroll 2010 lichen Drängens darzustellen.
„Es ist aufregend, hier zu sein“, sagt er. „Ich habe mir meinen Weg nicht erkauft“ Die Familie zog von Quebec nach Genf,
„Schon als kleiner Junge habe ich davon für den Jungen begann die schwierigste
geträumt, wenn ich Formel 1 im Fernsehen Talent liegt offensichtlich in den Genen. Zeit. „Statt wie bisher in die Schule zu ge-
geschaut habe. Es wird eine lange Saison, Nico Rosberg ist Weltmeister. Max Verstap- hen, bekam ich einen Hauslehrer“, erzählt
ich muss von Rennen zu Rennen dazuler- pen, erst 19, gilt als kommender Champion. er. „Es gab für mich nur die Rennen, ich
nen, um das Maximum aus mir herauszu- Stroll senior fährt nur zum Zeitvertreib hatte kein Sozialleben. Dann kam ich auf
holen.“ Stroll lächelt breit. Rennen, und mit der Suche nach Sponso- eine internationale Schule, um mein Leben
Das ist der unbeschwerte Teil. ren hat er sich gar nicht erst aufgehalten, wieder auszubalancieren.“ Nach einem
Schwieriger gestaltet sich die Unter- sondern in die eigene Tasche gegriffen. Jahr ging er wieder ab, zurück zum Heim-
haltung, wenn es um seinen Vater geht. Noch nie hat jemand privat so viel Geld unterricht. Anders ließen sich Sport und
Um Lawrence Stroll und dessen Einfluss. so konsequent in das Fortkommen des Soh- Schule nicht kombinieren.
Den Aufstieg des Sohnes in die Formel 1 nes gesteckt. „Ob durch Sponsoren oder Nie sei ihm der Gedanke gekommen,
hat sich Lawrence Stroll etwa 80 Millionen ein Mitglied der Familie: Irgendwoher dass ihn der Ehrgeiz des Vaters antreibe,
Dollar kosten lassen, allein 35 Millionen muss das Geld ja kommen“, sagt Lance sagt Lance: „Er ließ mich tun, was ich woll-
sollen bar dafür geflossen sein, dass Lance Stroll. „Mein Vater und ich, wir teilen die te. Sonst hätte das nicht funktioniert.“
Stroll dieses Jahr für Williams startet. Leidenschaft für den Rennsport. Aber klar: 2014, vier Jahre nach dem Umzug in die
Der Vater hat geschickt in der Mode- Ohne seinen Reichtum könnte ich diese Schweiz, gewann Lance Stroll die italie-
branche investiert, sein Vermögen wird Karriere nicht machen.“ nische Formel-4-Meisterschaft, es folgte
auf rund zweieinhalb Milliarden Dollar Mit Produktionslizenzen für Kinderklei- der Triumph in der Formel 3. Er fuhr im
taxiert. dung hatte Lawrence Stroll im Geschäfts- Prema-Team, das als beste Adresse für

DER SPIEGEL 12 / 2017 89


Sport

Tiger Woods wäre vermutlich nie der


beste Golfer der Welt geworden, wenn ihm
sein Daddy nicht schon als Kleinkind einen
Schläger in die Händchen gedrückt und
ihn hätte üben, üben, üben lassen. Fabian
Hambüchens Vater ist Turntrainer, der
Sohn gewann Olympiagold und sagt, er
sei „das Lebenswerk“ seines Vaters. Profi-
fußballer werden nicht mehr auf der Stra-
ße entdeckt, sondern in Leistungszentren
herangezogen und optimiert.
Der kanadische Buchautor Malcolm
Gladwell erregte Aufsehen mit der Formel,
dass in 10 000 Stunden praktisch alles per-
fekt erlernbar sei; auch der Psychologe An-
ders Ericsson von der Universität Florida
hält die reine Begabung für maßlos über-
bewertet. Vertreter der These vom Tri-
umph des Fleißes verweisen oft auf be-
rühmte Musiker. Komponist Wolfgang
Amadeus Mozart, Geiger David Garrett,

THILL ARTHUR / ATP


Pianist Lang Lang und der King of Pop,
Michael Jackson, sie alle begannen zu sin-
gen, zu tanzen oder auf einem Instrument
zu musizieren, kaum dass sie greifen, ge-
Familie Stroll*: Für die Karriere des Sohnes von Quebec nach Genf umgezogen hen und sprechen konnten. Vorangetrie-
ben vom Vater.
junge Fahrer gilt. Lawrence Stroll hatte Sein Vater zahlte alles. Nie zuvor hat Wie ausgeprägt der Ehrgeiz von Law-
Anteile an dem Rennstall gekauft. Er ging ein Formel-1-Aspirant einen solch unge- rence Stroll wirklich ist, lässt sich schwer
wie im Modebusiness vor. Er wollte nicht hemmten Aufwand betrieben. beurteilen. Er hält sich im Hintergrund,
nur zahlen, sondern Einfluss bekommen. Die besten Rennfahrer galten lange als lehnt Interviews ab und überlässt es ande-
Als sich abzeichnete, dass Lance Stroll Naturtalente, die Mut besaßen und denen ren, sich zu äußern. Etwa seinem Sohn.
reif ist, den Schritt in die Formel 1 zu ge- das Gefühl dafür angeboren war, wie Oder auch Claire Williams.
hen, begann ein intensives Vorbereitungs- schnell man mit einem Auto durch die Kur- Anruf bei der Chefin des Williams-
programm. Weil Testfahrten kaum erlaubt ve rasen kann. James Hunt, Weltmeister Teams. Ihr Vater Frank hatte das Team
sind, mussten die Strolls sich etwas einfal- von 1976, bescheinigte sich, über „big 1977 gegründet, kurz nachdem sie geboren
len lassen. Sie nutzten eine Ausnahme: Zu- balls“ zu verfügen. Aber schon der Eng- worden war. Claire Williams ist eine un-
gelassen sind Tests mit Rennwagen, die länder musste sich eines blassen, schmäch- scheinbare, charmante Frau und steht im
mindestens zwei Jahre alt sind. tigen Österreichers erwehren, der so ziem- Ruf, hartnäckig zu verhandeln.
Wieder dachte Lawrence Stroll groß. lich als Erster begriff, dass man sich Ihr Job, so hat sie kürzlich kalkuliert,
Wieder spielte Geld keine Rolle. Vorteile verschafft, indem man sich aus- bestehe zu 80 Prozent aus Business und
Das Williams-Team machte ein Auto giebig mit der Technik beschäftigt: Niki nur noch zu 20 aus Sport. Jetzt sagt sie
aus dem Jahr 2014 flott, Mercedes baute Lauda. durch die Freisprechanlage ihres Autos:
zwei Antriebe desselben Jahrgangs nach „Jedes Jahr müssen wir zwischen 110 und
und stellte fünf Leute ab. Acht Renn-
strecken sollen im Geheimen angemietet
Berühmte Sportler und 120 Millionen Pfund Sterling erwirtschaf-
ten, um das Team zu betreiben. Ich kann
worden sein, Lance Stroll reiste mit 20 Musiker wurden früh mich nicht erinnern, dass es einmal so
Betreuern offenbar nach Silverstone,
Budapest, Spielberg, Monza, Barcelona,
von den Vätern angetrieben. schwierig gewesen wäre wie jetzt, Spon-
sorengelder aufzutreiben. Es herrscht ein
Abu Dhabi, Sotschi und Austin. Das Team Geht Drill über Talent? harter Kampf um die Marketingdollar.“
übte mit ihm die Abläufe: Starts, Boxen- Setzt sie deshalb auf Lance Stroll? „Es
stopps, Fahrzeugabstimmung, Studium In den Achtzigern und Neunzigern sieg- ist total unfair, ihn auf das Geld seines
der Daten, Umgang mit den Reifen, Be- ten Typen wie Ayrton Senna und Michael Vaters zu reduzieren. Er hat in den Nach-
sprechungen mit den Ingenieuren, die vie- Schumacher, die Laudas Methodik adap- wuchsklassen einen fantastischen Job ge-
len Knöpfe und Regler auf der Lenkrad- tierten und dazu bereits ab dem Vorschul- macht. Aber wie jeder, der in die Formel 1
konsole richtig zu bedienen, einfach alles. alter im Kart ihr Fahrgefühl geschult hat- kommt, hat er noch eine steile Lernkurve
Stroll saß 8000 Kilometer im Cockpit, ten. Heute erreicht niemand mehr die vor sich. Viele unterschätzen das. Er
um sich damit vertraut zu machen, einen Weltelite, der nicht all diese Fähigkeiten scheint das nicht zu tun. Und er scheint
Rennwagen zu steuern, der bis zu 900 PS miteinander kombiniert. Lance Stroll schnell zu sein. Ich bin sehr gespannt.“
entfesselt, dreimal so viel, wie er gewohnt treibt diese Entwicklung lediglich auf die Bewährt sich Stroll, hat Claire Williams
war. Außerdem bekam die Williams-Fa- Spitze, weil es ihm an nichts mangelt. mit seiner Verpflichtung alles richtig ge-
brik in England einen Fahrsimulator spen- Und falls er ein Champion wird: Hieße macht. Bei den Testfahrten ließ ihn das
diert, neuester Stand der digitalen Technik, das, Erfolg ist erlernbar? Kann im Prinzip Team erst einige Tage nach den Unfällen
reserviert für Lance Stroll. Kosten? Egal. jeder alles erreichen, wenn er nur früh und wieder ins Cockpit. Danach legte er noch
konsequent genug seinen Weg einschlägt? 1800 Kilometer zurück. Diesmal fehlerfrei.
* Mutter Claire-Anne, Sohn Lance, Vater Lawrence, Oder, noch weiter gedacht: Geht Drill über Detlef Hacke
Tochter Chloe am 16. Oktober 2016 in Hockenheim. Talent? Twitter: @DetlefHacke

90 DER SPIEGEL 12 / 2017


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Pasta? Koks!
Fußball Eine interne Liste von Dopingermittlern zeigt, mit welchen Substanzen Spieler erwischt
werden – es ist ein Dokument gegen die Lüge vom manipulationsfreien Fußball.

W
ie oft hat man diesen dummen hinweg Epo gespritzt haben. Im vergange- werden von Fußballern direkt vor einem
Satz schon gehört? „Doping im nen Jahr flog Frankreichs Nationalspieler Spiel genommen. Steroide machen Mus-
Fußball bringt nichts.“ Franz Be- Mamadou Sakho vom FC Liverpool mit keln dicker und kräftiger und helfen ver-
ckenbauer hat ihn gesagt, Fußballweltmeis- Norcoclaurin auf, einem Mittel, das die letzten Profis, schnell wieder in den Wett-
ter wie Guido Buchwald auch, der ehema- Schlagkraft des Herzens steigert. kampfmodus zu kommen.
lige DFB-Präsident Theo Zwanziger, Trai- Dennoch verbreitet die Branche immer In der Welt des Spitzensports kamen zu-
ner und Manager wie Ewald Lienen, Robin wieder, sie arbeite nur mit Pasta und iso- letzt Medikamente in Mode, die wie Ste-
Dutt und Jürgen Klopp. tonischen Getränken. Keine schwulen Spie- roide wirken, aber für Dopingkontrolleure
Mehmet Scholl hat noch eine Begrün- ler, keine Doper – das sind die zwei großen schwerer nachweisbar sind. Sie nennen
dung für den Satz hinterhergeliefert: Fuß- Lügen des Profifußballs. sich SARM und gelten als die neue Gene-
ball sei zu komplex. „Nehmen wir mal an, Man kann davon ausgehen, dass viele ration des Dopings. Selbst diese Kraftma-
du nimmst was zum Muskelaufbau, Spieler, die in der Wada-Tabelle aufge- cher sind inzwischen im Fußball angekom-
darunter leidet dann die Koordination. führt sind, Berufsfußballer sind. In den men. In Guatemala wurden vier Spieler
Nimmst du was für die Kondition, wirst meisten Ländern werden vorwiegend im Dezember 2015 mit SARM erwischt.
du langsamer. Im Fußball macht es nicht Sportler aus Profiligen getestet. Zudem Laut der Fifa werden jedes Jahr rund
wirklich Sinn.“ Glaubt der Mehmet. sind in der Liste die Auftraggeber der 30 000 Dopingkontrollen im Fußball durch-
Aber warum dopen dann so viele Fuß- Kontrollen angegeben. Darunter sind der geführt. Kein anderer Sport werde so gut
ballspieler? südamerikanische und der asiatische Ver- überwacht. 2015 seien gerade mal 0,24 Pro-
Allein im Jahr 2015 gab es weltweit band und die Weltfußballorganisation zent der Proben positiv gewesen, in 78 Fäl-
149 Dopingfälle. Nun liegen Details zu je- Fifa – was bedeutet, dass viele gedopte len seien bei Fußballspielern verbotene
dem einzelnen der positiven Befunde vor. Spieler bei Tests nach internationalen Par- Mittel festgestellt worden.
Sie finden sich in einem Dokument, das tien erwischt wurden. 78? Die Wada kommt auf 149, also auf
dem SPIEGEL von der Hackergruppe Fan- Am 4. September 2015 zum Beispiel fast doppelt so viele Fälle. Wer hat sich
cy Bears zugespielt wurde. Es handelt sich ging im Labor in Köln die Urinprobe eines verzählt? Die Dopingermittler der Wada
um eine Excel-Tabelle, sie ist 20 DIN-A4- Fußballers ein, der am Vortag nach einer wohl eher nicht. Es scheint vielmehr so,
Seiten lang. Ein Mitarbeiter der Wada, der Uefa-Partie getestet worden war. Das Er- dass positiv getestete Fußballer nicht
Welt-Anti-Doping-Agentur, hat sie erstellt. gebnis der Analytiker: „Adverse Analyti- zwangsläufig gesperrt werden.
Fein säuberlich sind die „Adverse Analy- cal Finding“. Positiv auf Amphetamin. Laut der Wada-Tabelle gab es 2015 fünf
tical Findings“ aufgeführt – jene Tests also, Tags zuvor hatte die Uefa neun Quali- Spieler, die in Uefa-Wettbewerben mit
bei denen in Proben von Spielern Substan- fikationsspiele für die EM 2016 veranstal- Dopingsubstanzen erwischt wurden. Bei
zen festgestellt wurden, die auf der Do- tet. Es spielten: Niederlande gegen Island, einem Profi fanden die Analytiker Dexa-
pingliste stehen. Belgien gegen Bosnien-Herzegowina, Ita- methason, ein Cortisonpräparat, das im
Die Dopingfahnder ertappten Spieler in lien gegen Malta. Die Uefa teilt nicht mit, Wettkampf verboten ist, weil es die Auf-
Brasilien, in England, in Spanien, in Italien, ob die Probe bei einem dieser Spiele ge- merksamkeit steigert und die Erholung be-
in Frankreich. Aber auch in Ländern, die nommen wurde. Nur so viel: Der betrof- schleunigt. Konsequenzen hatte der Fund
zu den Fußballzwergen zählen, wie Thai- fene Fußballer leide an ADHS und habe aber nicht.
land, Estland und Malta. eine Ausnahmegenehmigung für ein Sti- Die Uefa teilt auf Anfrage mit, dass den
Auch ein deutscher Fall taucht in der mulanzmittel vorgelegt. Deswegen: keine Fußballspieler „keine Schuld“ treffe, die
Liste auf, es geht um einen Dopingtest, Sperre. Substanz in seinem Körper sei auf eine
den ein Spieler am 3. Mai 2015 abgegeben Mit was dopen Fußballer? Antwort: Mit Spritze zurückzuführen, die er „früher in
hat. Mitarbeiter des Instituts für Biochemie allem, was der Pharmamarkt hergibt. der Saison erhalten“ habe. Fall erledigt.
an der Sporthochschule in Köln untersuch- In der Wada-Liste sind Aufputschmittel Eine ganze Serie von positiv getesteten
ten seinen Urin, die Probe ist gekennzeich- wie Amphetamine aufgeführt, Medika- Spielern gab es 2015 in Mexiko. Insgesamt
net mit „GER-FOOT“, ihr Nummerncode mente zur Asthmabehandlung, Antiöstro- 33 Fälle. Bei allen Fußballern wurde Clen-
lautet: „DFB6145466“. gene und Peptidhormone. Manche Spieler buterol nachgewiesen, ein Mittel, das vor
Die gefundene Substanz: Prednisolon. wurden mit Mitteln erwischt, die Doping- allem unter Bodybuildern beliebt ist, weil
Ein Entzündungshemmer, der kurzfristig substanzen verschleiern sollen. Andere es beim Muskelaufbau hilft.
die Leistung steigern kann und deswegen flogen mit Kokain oder Cannabis auf. Was ist los in Mexiko?
am Wettkampftag verboten ist. Der moderne Fußball sei „extrem dy- Der dortige Fußballverband lässt alle
In der Wada-Tabelle stehen keine Na- namisch“, sagt der Dopingexperte und Fragen dazu unbeantwortet. Allerdings
men von Spielern oder ihren Vereinen. Biochemiker Mario Thevis von der Sport- gab es 2011 einen ähnlichen Vorfall, damals
Welcher Fußballer hinter den Zahlenrei- hochschule in Köln. „Die Spieler brauchen wurden fünf mexikanische Fußballer posi-
hen steckt, wissen nur die jeweils zustän- unter anderem Ausdauer, Kraftausdauer tiv auf Clenbuterol getestet. Der Verband
digen Verbände. Und deren Funktionäre und die Fähigkeit, sich schnell erholen zu sperrte keinen von ihnen und erklärte,
sind damit beschäftigt, das Problem mit können. Alle diese Faktoren können auch dass Clenbuterol in Mexiko in der Kälber-
Doping kleinzureden. im Fußball mit unlauteren Mitteln beein- mast eingesetzt werde. Die Fußballspieler
Dabei gab es immer wieder Skandale. flusst werden.“ hätten wohl Fleisch gegessen, das mit dem
2004 kam der Teamarzt von Juventus Tu- Stimulanzien steigern die Aggressivität Stoff verunreinigt gewesen sei, die Sportler
rin vor Gericht. Er soll Spielern über Jahre und Einsatzbereitschaft der Sportler, sie treffe keine Schuld.

92 DER SPIEGEL 12 / 2017


Sport

In der Bundesliga gab es in den letzten


Jahren keinen Dopingfall. Allerdings wird
auch noch nicht so lange intensiv getestet.
Bis vor zwei Jahren wurden die Spieler
nach den Partien noch vom Deutschen
Fußball-Bund (DFB) kontrolliert. Erst seit
dem Saisonstart 2015 werden sämtliche
Tests nach den Spielen und im Training
von der Nationalen Anti-Doping-Agentur,
der Nada, durchgeführt.
Generell ist es nicht ganz einfach, als
Bundesligaprofi zu dopen. Der Sport steht
unter Dauerbeobachtung durch Fans und
Medien. In den Teams gibt es eine hohe
Personalfluktuation. Spitzensportler in
Deutschland müssen jederzeit für einen
möglichen Test zur Verfügung stehen und
der Nada jeden Ortswechsel, jedes Trai-
ningslager, jeden Kinobesuch melden.
Die Fahnder der Nada versuchen, Fuß-
baller so oft wie möglich auch abseits des
Stadions oder des Vereinsgeländes zu tes-
ten. Im Herbst 2014 wollten die Kontrol-
leure Thiago Alcántara für einen unange-
meldeten Dopingtest besuchen. Der Spa-
nier vom FC Bayern war damals verletzt.
Sein Klub gab an, dass er sich in einer Kli-
nik in Barcelona befinde. Die Kontrolleure
trafen den Profi jedoch nicht an, sie zogen
unverrichteter Dinge wieder ab.
Ein Bundesligaprofi sagt dem SPIEGEL,
dass er einmal bereits 48 Stunden im Vo-
raus gewusst habe, dass ein Dopingkon-
trolleur bei ihm auftauchen werde. Die
Nada will den Fall „mangels Detailkennt-
nis“ nicht kommentieren.
Man kann an manchen Indizien erken-
nen, ob es eine Sportart mit dem Kampf
gegen Doping wenigstens ernst meint –
oder eher nicht. Blutproben zum Beispiel
sind unerlässlich, da manche Mittel wie
Wachstumshormone und einige Epo-De-
rivate nur im Blut nachgewiesen werden
IMAGO SPORT

können.
Auf dem Weg zur Dopingkontrolle Die Wada empfiehlt allen Verbänden,
in zehn Prozent der Tests das Blut der Ath-
leten untersuchen zu lassen. Der DFB
macht das inzwischen. Damit ist der Ver-
Was Doping ist und was nicht, dazu hat Spieler, die 2015 positiv auf Kokain getes- band allerdings die Ausnahme, selbst die
offenbar auch der englische Fußball eine tet wurden, nicht bestraft. Er soll die Droge Fifa kam 2015 innerhalb ihrer Wettbewer-
eigenwillige Betrachtung. 2015 wurden auf nach einem Todesfall in der Familie kon- be auf gerade mal 3,8 Prozent Bluttests.
der Insel neun Spieler positiv getestet. sumiert haben, die FA sah darin offenbar Auch alle positiven Befunde in der Wada-
Zwei hatten das Asthmamittel Salbutamol mildernde Umstände. Tabelle sind auf Urinproben zurückzufüh-
genommen, einer Amphetamin, einer Die Spitzenfußballer der englischen Pre- ren, die Liste erzählt also wohl nicht die
Ecstasy, bei einem ist das Dopingmittel un- mier League sind hohen Belastungen aus- ganze Wahrheit über das Leistungstuning
bekannt, vier Spieler hatten gekokst. gesetzt. Sie spielen für ihren Verein in der im Fußball.
Laut dem englischen Fußballverband FA nationalen Liga, in zwei Pokalwettbewer- Auch der deutsche Dopingfall in der
wurden 2015 drei Fußballspieler wegen ben, in der Champions League, dazu kom- Wada-Liste endete ohne Konsequenzen.
Dopings verwarnt, Sperren gab es keine. men Einsätze in ihren Nationalmannschaf- Nach einer mündlichen Verhandlung sei
Zu den anderen sechs Fällen aus der Wada- ten. Auch die Topstars der Bundesliga das Verfahren gegen den Spieler von Rot-
Liste äußert sich die FA nicht. kommen auf 60 bis 70 Partien pro Saison. Weiß Oberhausen eingestellt worden, teilt
Fest steht: In Englands Fußball gelten Im Vergleich zu Leichtathleten oder der DFB mit. Die juristische Überprüfung
Koks und Haschisch als „Social Drugs“, Schwimmern müssen sich Fußballprofis habe ergeben, dass „keine verbotene Be-
als Gesellschaftsdrogen. Wenn sich die Pro- überdies in fast jedem Training gegen ihre handlungsmethode vorlag“.
fis damit nicht gerade am Spieltag erwi- Teamkameraden behaupten, um am Wo- Rafael Buschmann, Lukas Eberle,
schen lassen, haben sie nicht zwingend chenende aufgestellt zu werden. Geht das Christoph Henrichs, Gerhard Pfeil
etwas zu befürchten. So wurde einer der alles überhaupt ohne Hilfsmittel? Mail: lukas.eberle@spiegel.de

DER SPIEGEL 12 / 2017 93


Totenbleiches Riff
Das Great Barrier Reef vor der Nordostküste Australiens gilt schon länger
als bedroht. Die Erwärmung der Meere setzt dem größten Korallenriff
der Erde massiv zu. Nun stellt sich heraus, dass es noch weit schlimmer
um dieses Unesco-Weltnaturerbe bestellt ist als bislang angenommen.
Wie Forscher der James Cook University in Australien entdeckt haben,
sind auf Hunderten Kilometern umfassende Teile des nördlichen Riffsek-
tors bereits abgestorben. Große, ausgeblichene Bereiche im südlichen
Sektor weisen darauf hin, dass dieses Korallengebiet nur knapp dem Tod
entronnen ist – vorerst.

Einwurf

Die kranke Welt der Politik


Wie körperliches Leiden den Stil von Staatsmännern beeinflusst
Das Zeitalter der Poltergeister in der Politik verleitet zu wis- die ihn noch reizbarer und herrischer werden ließ als ohnehin.
senschaftlichem Stammtischgerede. Es ist natürlich verfüh- Seinen Nachfolger Helmut Kohl quälte in einem kritischen
rerisch, Männer von zweifelhaftem Auftreten wie den US- Moment seiner Kanzlerschaft eine Prostataerkrankung, auf
Präsidenten Donald Trump oder den türkischen Präsidenten die er mit einem ungebrochenen Killerinstinkt reagierte:
Recep Tayyip Erdoğan als Soziopathen zu bezeichnen. Sie Er stellte seine innerparteilichen Gegner kalt und blieb un-
wären demnach im klinischen Sinne persönlichkeitsgestört. angefochtener Chef der Christdemokraten. Und als 1962
Das ist starker Tobak. Und es ist zudem recht einfallslos, US-Präsident John F. Kennedy den Sowjetführer Nikita
immer gleich diese große Irrenkeule zu schwingen. Spannen- Chruschtschow in der Kubakrise in die Schranken wies, war
der und vermutlich sogar realistischer wäre es, den Stein im er faktisch ein Krüppel. Trieben bohrende Rückenschmerzen
Schuh zu suchen, der die Mächtigen drückt. Die Medizin den Führer der freien Welt zu besonderer Unnachgiebigkeit?
weiß, dass das Verhalten eines eigentlich zurechnungsfähigen Leider gewähren die Mächtigen in ihrer aktiven Zeit selten
Menschen unter körperlichen Beschwerden pathologische einen offenen Blick in ihre Krankenakte. Welcher Stein die
Züge annehmen kann. Herren Trump und Erdoğan drückt, werden wir daher wohl
Die Welt der Politik ist wohl voll von solchen Versehrten. erst nach deren Abtreten erfahren. Auf diesen Augenblick
Der als Ikone verehrte Helmut Schmidt litt in einer wichtigen dürfen sich all jene freuen, die mit neugierigem Interesse ver-
Phase seiner Karriere an einer Schilddrüsenüberfunktion, folgen, aus welchem Antrieb Politiker handeln. Frank Thadeusz

94 DER SPIEGEL 12 / 2017 Mail: wissenschaft@spiegel.de · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen


Wissenschaft+Technik
Medizingeschichte
„Traum von einer
erbgesunden Welt“
Der Medizinhistoriker Fritz Dross,
51, von der Friedrich-Alexander-
Universität Erlangen-Nürnberg,
hat untersucht, wie die Deut-
sche Gesellschaft für Gynäkolo-
gie im Dritten Reich zum willi-
gen Helfer der NS-Rassenpolitik
wurde.

ULLSTEIN BILD
SPIEGEL: Welchen Einfluss hat-
te die Machtergreifung der
Nationalsozialisten auf die
Arbeit der Gynäkologen? Hitler mit Kindern 1939
Dross: Der Staat sorgte ab
1933 dafür, dass viele Kinder lich angeordneten und gesetz- geschmeichelt und dachten:
erst gar nicht geboren wur- lich geforderten Maßnahme. Endlich kommt der Staat auf
den, die vermeintlich das Ri- Die von ihnen seit Langem uns zu und fragt die wahren
siko trugen, erbkrank auf die befürworteten, aber gefähr- Experten, wie die Welt bes-
Welt zu kommen. Sogenann- lichen Eingriffe mussten sie ser werden kann.
te Erbgesundheitsgerichte nun nicht mehr persönlich SPIEGEL: Die Aufarbeitung
ordneten beispielsweise bei gegenüber den gedemütigten kommt reichlich spät.
„angeborenem Schwachsinn“ Opfern verantworten. Dross: Vergessen Sie nicht,
Zwangssterilisationen der SPIEGEL: Politisch hatten die dass das „Gesetz zur Ver-
potenziellen Mütter und Vä- Gynäkologen nichts gegen hütung erbkranken Nach-
ter an. Geburtshelfer wurden die Rassengesetze der Nazis wuchses“ bis in die Achtziger-
so zu Geburtsverhinderern. einzuwenden? jahre hinein in der Bundes-
SPIEGEL: Das muss die Ärzte Dross: Jedenfalls nicht, was republik nicht als besonders
doch empört haben. die rassenhygienisch moti- problematisch empfunden
BRETT MONROE GARNER / GREENPEACE

Dross: Im Gegenteil. Das vierte Erbgesundheitspolitik wurde. 1994 hat sich die
„Gesetz zur Verhütung erb- angeht. Von der Mehrheit Deutsche Gesellschaft für
kranken Nachwuchses“ wur- der Ärzte wurde die national- Gynäkologie und Geburtshil-
de von ihnen geradezu ge- sozialistische Umsetzung fe öffentlich bei den Opfern
feiert. Die Gynäkologen emp- ihrer eugenischen Ideale be- entschuldigt. Erst 2007 hat
fanden das als ungeheure grüßt. Die Mediziner träum- der Bundestag dieses Gesetz
Entlastung: Sie wurden zu ten von einer Welt ohne Erb- offiziell als nationalsozialisti-
Vollstreckern einer gericht- krankheiten. Sie fühlten sich sches Unrecht geächtet. tha

Fußnote Forensik

1417
Experten rätselhafte Wunden gen Spuren mit dem Unglück
Rätselhafte Wunden an den sterblichen Überresten standen. Ein Team aus briti-
etlicher Passagiere aufgefallen. schen, französischen und bel-
Nur noch 15 Kilometer war Forensische Ermittlungen soll- gischen Forschern hat nun im
der Airbus A310 der jemeniti- ten klären, in welchem Zu- Fachmagazin „International
Tonnen dürfte jener Rie- schen Fluglinie Yemenia von sammenhang die merkwürdi- Journal of Legal Medicine“
senaffe wiegen, der in seinem Ziel, der Ko- die Ergebnisse sei-
dem aktuellen Fantasy- moren-Insel Grande ner Untersuchung
Blockbuster „Kong: Skull Comore, entfernt. veröffentlicht. Ver-
Island“ eine Hauptrolle Doch dann stürzte antwortlich für die
spielt. Das hat ein Team die Maschine wegen auffälligen Läsionen
von Infografikern errech- eines Pilotenfehlers waren demnach
net. Damit wäre das Film- in den Indischen Meeresbewohner,
monster etwa neunmal Ozean. 152 Men- die einem lebenden
so schwer wie der Blau- schen starben bei Menschen kaum ge-
WU, N. / JUNIORS@WILDLIFE

wal, das größte lebende dem Unglück am fährlich werden


Säugetier. Offen bleibt, 30. Juni 2009. Bis können: Zigarren-
wie der 30 Meter große zuletzt beschäftigte haie, nicht größer
fiktive Gigant auf seiner der Absturz Rechts- als 50 Zentimeter,
Insel genug Nahrung mediziner; bei der hatten sich über
auftreiben könnte, um zu Untersuchung der die Opfer herge-
überleben. Leichen waren den Zigarrenhai macht. tha

DER SPIEGEL 12 / 2017 95


F 1 O N L I N E; S C H Ö N I N G / I MAG O; DPA P I CTUR E A LLI A N CE / A FLO; DEP O SI TP H OTO S
Vollkornbrot

200

Paprika

19
Apfelmus

79
Salamipizza

273 Cola

42

Haferflocken
(Vollkorn)

348
Apfel Kinder Riegel

54 566

Kartoffelchips

530
Kartoffel

68
Erdbeer-
Natürlich künstlich joghurt
Energiegehalt ausgewählter Nahrungsmittel,
in Kilokalorien je 100 Gramm bzw. 100 ml Quelle: GU Nährwert-Kalorientabelle; Herstellerangaben
95
96 DER SPIEGEL 12 / 2017
Titel

So schmeckt die Zukunft


Gesundheit Das moderne Essen macht krank. Mit ultraverarbeiteten Nahrungsmitteln
verführt uns die Industrie, mehr zu verzehren, als uns guttut. Doch Abnehmen
ist möglich. Forscher kennen das Rezept, wie man sich einfach gesund ernähren kann.

D
ie Köstlichkeiten funkeln wie Tro- und Tüten von „Macaroni and Cheese“ Dritte kocht nie (30 Prozent).“ Die Leute
phäen in den Vitrinen. Eine Flasche oder „Crunchy Cheez Curls“ in grellen wollten keine Zeit am Herd verschwenden,
enthält eine Flüssigkeit, die vor lau- Farben wie bei einem Silvesterfeuerwerk. es greife „deutlich mehr als die Hälfte der
ter Chlorophyll grün leuchtet. Der aus Al- Die Branche ist süchtig nach Neuheiten. unter 30-Jährigen gern schon mal zur Tief-
gen hergestellte Trank soll sehr gesund Die Beratungsfirma Innova Market Insights kühlpizza oder zum Fertiggericht“.
sein. „Toni’s Smoothei“ wiederum ist ein mit Sitz in den Niederlanden hat eigens Industriell verarbeitete Produkte ma-
Smoothie, der die Inhaltsstoffe von Hüh- ein Netz von Trendscouts aufgebaut. In chen bei vielen Menschen schon 60 Pro-
nereiern enthält und als Brain-, Power- und mehr als 70 Ländern gehen sie an mindes- zent der täglichen Energiezufuhr aus; in
Beauty-Food wirken soll. tens zwei Tagen in der Woche in Tante- reichen Ländern konsumiert ein Bürger
Es geht noch exotischer: Präsentiert wer- Emma-Läden, Supermärkte und Discoun- im Durchschnitt 500 Kilokalorien mehr, als
den Gemüseeiscreme aus Italien, Ge- ter und suchen in den Auslagen und Rega- sein Körper benötigt – pro Tag.
schmacksrichtung Kürbis-Balsamico-Essig, len nach neu gelisteten Artikeln. Sie kaufen Zum ersten Mal in der Geschichte der
sowie bunte Yollies – Joghurts am Stiel. jedes ihnen noch nicht bekannte Produkt, Menschheit gibt es mehr fettleibige als un-
Oder wie wäre es mit einer süßen Pizza? fotografieren es und beschreiben auf einem tergewichtige Erdenbürger. Und während
Deren Boden ist mit Schokoladensoße be- Formblatt dessen Eigenschaften. Diesen 800 Millionen Menschen zu wenig zu essen
strichen und mit weißen Schokoladensplit- Steckbrief schicken sie an die Firmenzen- haben, stopfen zwei Milliarden zu viel in
tern präpariert. trale, wo er in einer Datenbank gespeichert sich hinein.
So soll die Zukunft schmecken. Der Al- wird. Jedes Jahr stoßen die Foodscouts auf Das große Fressen führen viele auf ihre
gentrunk, der Eier-Smoothie und all die mehr als 250 000 neue Produkte, auch NPL eigene persönliche Schwäche oder die fal-
anderen Delikatessen gehören zu den genannt, „new product launches“. schen Gene zurück. Doch in Wahrheit sind
„Top-Innovationen“ auf der weltweit größ- Ein solcher neuer Artikel kann uns die Dicken mehr Opfer als Täter, verführt
ten Messe der Ernährungsindustrie, der plötzlich bei Aldi oder Lidl begegnen. In von einer global agierenden Lebensmittel-
Anuga in Köln. Sie werden auf einem zen- Aktionen wird getestet, ob das Produkt industrie, die ungesundes Essen zu einer
tralen Gang präsentiert und von Messe- den Geschmack der Kundschaft trifft. Ty- neuen Form von Sucht gemacht hat. Ge-
besuchern begutachtet, die in Trauben vor pisches Muster: Eine Supermarktkette zielt suchen Nahrungsmittelhersteller nach
den Vitrinen stehen. nimmt eine halbe Million Einheiten pro- Rezepturen, die das Sättigungsgefühl aus-
Rund 160 000 Fachbesucher strömten zu- beweise in die Filialen und schaut, was pas- schalten – und geben Studien in Auftrag,
letzt auf die Veranstaltung, mehr als 7000 siert. Nur was sofort einschlägt und binnen die verschleiern sollen, dass ihre Produkte
Anbieter aus mehr als hundert Ländern wenigen Tagen ausverkauft ist, hat eine dick machen.
zeigten ihre neuesten Produkte und kämpf- Chance, dauerhaft ins Sortiment zu kom- Keine Frage, modernes Essen kann uns
ten darum, ihnen einen Platz im Super- men. 90 Prozent aller Innovationen erwei- krank machen. Die gute Nachricht: Dieses
markt zu sichern – eine große Herausfor- sen sich als Flop – man hört nie wieder et- Leiden lässt sich therapieren. Jenseits des
derung. was von ihnen. Diätenwahns ist es durchaus möglich, dau-
Aldi, Lidl, Rewe und Edeka haben schon Eine erfolgreiche Einführung dagegen erhaft sein Gewicht zu reduzieren. Und
heute ein übervolles Sortiment. Von Am- kann ein Trendsetter sein; sie beweist, dass das Rezept zum Abnehmen ist einfacher,
moniumkarbonat bis zur Ziehmargarine es auf dem übersättigten Markt noch als viele in ihrer Verzweiflung glauben.
sind Abertausende Produkte in Deutsch- Nischen gibt. In diese drängen bald kon- Längst haben Ernährungsforscher den
land in den Regalen. In einem Supermarkt kurrierende Unternehmen mit Nachahmer- scheinbar so undurchsichtigen Studien-
finden sich im Durchschnitt mehr als produkten. dschungel gelichtet. Dabei haben sie eine
8500 Nahrungsmittelprodukte, in einem Der aktuelle Trend heißt „Convenience Art Zauberformel gefunden, wie jeder sich
sehr großen Supermarkt sind es doppelt Food“. Gemeint sind vorgefertigte Gerich- einfach gesund ernähren kann.
so viele. te aus den Fabriken der Lebensmittel- Voraussetzung dafür ist zu lernen, den
Wie bringt man bei einem solchen Über- industrie. Diese haben vielleicht nicht das Verlockungen der Lebensmittelindustrie
angebot satte Verbraucher dazu, noch beste Image, aber sie finden großen Ab- zu widerstehen.
mehr zu konsumieren? Die Antwort der satz, weil die Menschen entweder keine
Lebensmittelindustrie: In ihren Laboren Zeit haben zu kochen oder mitunter gar Nahrung, die keine mehr ist –
versucht sie, das Essen immer wieder neu nicht mehr wissen, wie das geht – trotz die Neuheiten aus den Foodlaboren
zu erfinden. Der gruselige Nebeneffekt: der Popularität von Kochshows und Food- Schon vor über hundert Jahren prophe-
Auf der Anuga sind kaum noch Produkte magazinen. zeite der französische Chemiker Marcelin
zu sehen, die unsere Großeltern als Le- „Die Kochlust nimmt weiter ab!“, heißt Berthelot, die Landwirtschaft und das Ko-
bensmittel erkannt hätten. es im soeben erschienenen Ernährungs- chen würden eines Tages durch Laborpro-
Gut, bei einem Hersteller von Pommes report des Bundesministeriums für Ernäh- dukte ersetzt. In nicht allzu ferner Zukunft
frites stehen ein paar Eimer mit echten rung und Landwirtschaft. Die Zahl derer, werde das Essen nur noch aus Tabletten
Kartoffeln herum. Ansonsten aber fallen die täglich am Herd stehen, sei weiter ge- bestehen.
vor allem die Verpackungen auf. Im Pavil- sunken. „Nur jeder Fünfte der Jugend- Unheimlich, aber wahr: Der Trend geht
lon der US-Hersteller leuchten die Kartons lichen kocht täglich (19 Prozent), fast jeder tatsächlich in Richtung Astronautennah-
DER SPIEGEL 12 / 2017 97
Titel

rung. Seit Jahren arbeiten die Techniker fe und Chemikalien hinzu, die dem Pro- ist dem Robert Koch-Institut zufolge schon
der Lebensmittelindustrie daran, die klas- dukt eine attraktive äußere Erscheinung jeder vierte Erwachsene so übergewichtig,
sische Nahrung Schritt für Schritt abzu- verleihen, darunter Feuchthaltemittel, Gla- dass er um seine Gesundheit kämpft.
schaffen. Neuartige Techniken machen es surstoffe, Emulgatoren, Komplexbildner.
möglich, ein gewaltiges Angebot aus billi- Auf diese Weise wird fabriziert, was bei Warum uns modernes Essen
gen Zusatz- und Hilfsstoffen sowie Aro- immer mehr Menschen auf den Tisch nicht bekommt – und
men herzustellen. Die Versorgung der All- kommt: Tiefkühlpizzen, Fast-Food-Burger, das Märchen von der Steinzeitdiät
gemeinbevölkerung mit diesen Produkten Wurst aus der Dose, Eiscreme, Fertig- Auf die Kalorienbomben der Foodindustrie
ist zu einem globalen Geschäft geworden. gerichte aller Art, Soßen, Kartoffelchips, ist unser Körper nicht eingestellt. Die Mit-
Firmen vermarkten ihre Fertigessen- Süßwaren, Müsliriegel, abgepacktes Brot glieder der Gattung Homo sind zwar von
produkte inzwischen weltweit nach dem und abgepackter Kuchen aus Backfabriken, Natur aus Allesfresser. Sie haben sich von
gleichen Muster. So sind Konzerne ent- Margarine und ähnliche Aufstriche, Limo- dem ernährt, was es in ihrer jeweiligen
standen, deren Umsatz höher ist als die naden, Frühstücksflocken, Diätpulver, Heimat zu beißen gab. So futterten
Wirtschaftskraft vieler Staaten. Die Mar- Tütensuppen, Milchmischgetränke mit Erd- Neandertaler im heutigen Belgien haupt-
kenvielfalt im Supermarkt täuscht darüber beer-, Schoko- oder sonstiger Geschmacks- sächlich Wollnashorn und Wildschaf, ihre
hinweg, dass einige wenige Konzerne richtung, Fruchtjoghurts, Energydrinks, Artgenossen im heutigen Nordspanien zu-
wie Nestlé, Coca-Cola, PepsiCo, Unilever, Extrakte aus Fleisch, Puddingdesserts, meist Pinienkerne, Pilze und Moos, berich-
Danone, Mondelēz International und Hähnchen- und Fisch-Nuggets und andere teten Forscher Anfang des Monats im bri-
Kraft Heinz den Markt beherrschen. Diese Snackprodukte. tischen Magazin „Nature“. Die Wissen-
Firmen entscheiden darüber mit, wie Ultraverarbeitete Produkte seien übli- schaftler haben das aus fossilem Zahnstein
sich Milliarden Menschen ernähren – und cherweise „energiedicht, sie haben eine herausgelesen.
sie profitieren direkt von deren Über- große glykämische Last, sie enthalten Eines aber enthielt die Steinzeitkost – lo-
ernährung: Wer mehr isst, muss mehr wenig Ballaststoffe, Mikronährstoffe und gischerweise – nicht: energiereiche, ultra-
kaufen. sekundäre Pflanzenstoffe und viel unge- verarbeitete Nahrung. Sie war noch nicht
Nach der sogenannten Nova-Klassifika- sunde Fette, freie Zucker und Natrium“, erfunden.
tion lassen sich Nahrungsmittel in vier warnten Ernährungswissenschaftler in der Die Bewohner von Inseln im Südpazifik
Gruppen einteilen, je nach dem Grad der Medizinzeitschrift „The Lancet“. beispielsweise aßen bis vor wenigen Jahr-
Manipulation. Während zur ersten Gruppe Und das Kunstessen sei auf dem Vor- zehnten Ananas, Süßkartoffeln, Kokos-
gering oder gar nicht verarbeitete Nah- marsch, befürchtet Carlos Monteiro, ein nüsse oder Fisch; Herzinfarkt und Schlag-
rungsmittel gehören, finden sich in der Professor für Ernährung und Public anfall waren etwa auf dem Eiland Kitava
Gruppe vier ausschließlich industriell her- Health von der Universidade de São Pau- unbekannt.
gestellte Nahrungsmittelprodukte aus min- lo. Mit Kollegen hat er den Lebensmittel- Inzwischen hat ultraverarbeitete Nah-
destens fünf, oft aber sehr vielen verschie- konsum in den USA untersucht. Demnach rung auch diese ablegenen Inseln erobert –
denen Inhaltsstoffen. machen Chicken-Nuggets, eingeschweißte mit der schlimmen Folge, dass die Bevöl-
Es fällt schwer, bei diesen Erzeugnissen Donuts und andere ultraverarbeitete Nah- kerung von Samoa oder Tonga heute so
noch von Lebensmitteln zu sprechen. In rungsmittelprodukte bereits knapp 60 Pro- dick und krank ist wie nur wenige Gesell-
Wahrheit handelt es sich um Stoffkombi- zent der aufgenommenen Kalorien aus – schaften auf der Welt.
nationen, die aus chemischen Verbindun- und sie tragen zu 90 Prozent zum Zucker- „Hedonische Hyperphagie“ nennen For-
gen zusammengesetzt werden. Für solche konsum bei. scher den Effekt: Man frisst und frisst – ob-
Hervorbringungen haben Fachleute den Be- Je mehr ultraverarbeitete Nahrung die wohl man eigentlich längst satt sein müsste.
griff „ultraverarbeitete Nahrung“ geprägt. Bevölkerung konsumiert, desto höher Dieses ungesunde Essverhalten trägt ent-
Eine ultraverarbeitete Nahrungsportion scheint die Zahl der krankhaft übergewich- scheidend zum Übergewicht in der Bevöl-
enthält 100 Prozent mehr Zucker sowie tigen Bürger zu werden. In Deutschland kerung bei. Und es hat unmittelbar mit
deutlich mehr Fett und Salz als eine Mahl- ultraverarbeiteten Lebensmitteln zu tun.
zeit aus echten und gering verarbeiteten Versuchstiere, die gerade eine mächtige
Lebensmitteln. Ultraverarbeitete Nahrung Essen aus der Fabrik Mahlzeit verschlungen haben, lassen sich
ist kein echtes Essen; sie wird hergestellt, Anteil ultraverarbeiteter Produkte an nicht einmal von drohenden Stromschlä-
um echte Lebensmittel zu ersetzen. der Nahrung und Häufigkeit von Adipositas* gen davon abhalten, ihre Gier weiter zu
Zu diesem Zweck stellen Techniker in in ausgewählten europäischen Ländern befriedigen. Doch welche Lebensmittel
Foodfabriken Mixturen aus natürlichen sind es, die solche Fressattacken auslösen?
Lebensmitteln, aus gering verarbeiteten 30% Und wie führen sie die Gier herbei? Dieses
Nahrungsmitteln und aus verarbeiteten Großbritannien Rätsel haben Forscher der Universität
Inhaltsstoffen her. Zu den Inhaltsstoffen Erlangen-Nürnberg untersucht.
zählen Zucker, Öl, Fett, Antioxidations- Ungarn Deutschland Die Wissenschaftler verabreichten Rat-
Adipositas

mittel, Stabilisatoren, Konservierungsstof- 20% ten das Spurenelement Mangan, weil es


Norwegen Irland
fe, Kasein, Laktose, Molke, Gluten und Portugal Spanien sich in den aktiven Gehirnregionen anrei-
bereits vorverarbeitete Substanzen wie Belgien chert und für Aufnahmen mit dem Kern-
hydrolysierte Proteine, gehärtete Fette, Österreich spintomografen als Kontrastmittel dient.
10% Finnland
isolierte Proteine aus Pflanzen, Malto- So konnten sie gleichsam zuschauen, was
dextrin, Invertzucker oder Glukose-Fruk- Italien Frankreich sich im Gehirn abspielte, als die Versuchs-
tose-Sirup. tiere verschiedene Sorten von Futter vor-
Die verschiedenen Inhaltsstoffe werden gesetzt bekamen. Die Ratten konnten zu-
0%
miteinander verrührt, gebacken oder ge- nächst so viel Standardfutter zu sich neh-
kocht und mit Vitaminen und Mineralstof- 20% ultraverarbeitete Produkte 60% men, wie sie wollten – sie fraßen trotzdem
fen versetzt. Gegebenenfalls kommen nicht mehr, als ihnen guttat.
* krankhaftes Übergewicht
noch Farbstoffe, künstliche Aromen, Ge- Quelle: C. Monteiro, Universidade de São Paulo; Dann stellten Forscher aus Kartoffel-
schmacksverstärker, synthetische Süßstof- Daten aus unterschiedlichen Jahren von 1991 bis 2008 chips (49 Prozent Kohlenhydrate, 35 Pro-
98 DER SPIEGEL 12 / 2017
PASCAL SITTLER / REA / LAIF
RICHARD B. LEVINE / DDP IMAGES

Traditioneller Marktstand in Florenz, Kundin in US-Supermarkt: Der Trend geht in Richtung Astronautennahrung

DER SPIEGEL 12 / 2017 99


Titel

JODY HORTON / GALLERY STOCK

Freunde beim Essen: Wer sich mediterran ernährt, der erkrankt statistisch gesehen seltener an Krebs, Herzinfarkt und Demenz

100 DER SPIEGEL 12 / 2017


zent Fett) ein Futter her, das genauso aus- tionen aus Fett und Zucker. Diese werden 5. Behaupte, dass die körperliche Aktivität
sah wie das Standardfutter, aber viel ener- in der Fachliteratur auch „Cafeteria Diet“ für das Körpergewicht wichtiger ist als
giereicher war, und gaben es in den Käfig. genannt, weil die Auslagen voll damit sind: die Ernährungsweise!
Nun hatten die eigentlich schon satten Cracker, Muffins, Hotdogs. Diese Produkte 6. Sag, dass es keine guten und schlechten
Tiere zwei Sorten von Futter zur Auswahl. werden so zusammengesetzt, dass sie im Lebensmittel gibt!
Augenblicklich verschmähten sie das Stan- Gehirn die Schaltkreise für Appetit und 7. Ersticke jegliche Kritik an der Industrie
dardfutter – und stürzten sich auf das Sättigung aus der Balance bringen. im Keim!
Kartoffelchips-Futter. Vertreter der Nahrungsmittelindustrie Auch in Deutschland scheinen Lobby-
Eine Woche lang bekamen die Ratten bestreiten, dass ihre Produkte süchtig ma- gruppen dieser Strategie zu folgen. So sieht
entweder Kartoffelchips-Futter oder Stan- chen. Dicke hätten zu geringe Willenskraft, der Bund für Lebensmittelrecht und Le-
dardfutter. Das Ergebnis: Die Kartoffel- Übergewichtige seien selbst schuld und bensmittelkunde (BLL), ein Verein von
chips-Ratten nahmen doppelt so viele müssten eben lernen, Maß zu halten. Die Nahrungsmittelherstellern mit Sitz in Ber-
Kalorien zu sich wie die Standardfutter- perfide Logik geht so: Der Kunde solle lin, das „deutsche Frühstück“ in Gefahr
Ratten. Das Experiment bestätigt die All- doch, bitte schön, nur einen klitzekleinen und fordert, die Leute sollten weiterhin
tagserfahrung, die viele von uns machen: Schokoriegel pro Woche essen – zugleich süßen Brotaufstrich und zuckerhaltigen
Wenn man Knabberartikel vor sich stehen wird der Snack aber so gemischt, dass er Orangensaft verzehren dürfen (Trick Num-
hat, dann sind diese schnell aufgegessen. auf das Belohnungssystem wie ein Sucht- mer zwei). Ferner behauptet der BLL: „Es
Wirklich satt wird man davon nicht, aber mittel wirkt. gibt keinen Beleg dafür, dass allein der Kon-
dicker. sum von Zucker, zuckerhaltigen Lebens-
Dank dieser Untersuchungen haben Er- Die Nahrungsindustrie arbeitet mit ähn- mitteln oder auch anderen Nährstoffen für
nährungsforscher nun eine Vorstellung da- lichen Tricks wie die Tabakindustrie die Entstehung von Übergewicht verant-
von, was bei dem ungesunden Fressver- Als es einst darum ging, die Folgen des wortlich sind“ (Trick Nummer sechs).
halten im Kopf abläuft: Im Vergleich zu Rauchens zu verharmlosen, folgte die Ta- Auf dem jüngsten Neujahrsempfang
Normalfutter-Ratten war bei den Kartof- bakindustrie einem geheimen Drehbuch, kam BLL-Präsident Stephan Nießner auch
felchips-Fressern die Aktivität von zehn in dem vorgeschrieben war, wie sich die auf kritische Mitarbeiter der Weltgesund-
Hirnregionen, die für die Nahrungsaufnah- Mitarbeiter, Lobbyisten, PR-Leute, Haus- heitsorganisation (WHO) zu sprechen und
me eine wichtige Rolle spielen, verändert. juristen sowie industrienahe Wissenschaft- spottete, diese würden die WHO zur „Er-
Darüber hinaus waren 27 verschiedene ler und Politiker zu verhalten hatten. Ganz nährungsgouvernante der Verbraucher“
Strukturen gewandelt, die allesamt dem gleich, was auch passierte, stets ging es da- machen (Trick Nummer drei).
Belohnungssystem zugerechnet werden. rum, folgendes Mantra zu verbreiten: Es Auffällig auch: Die Antwort auf die Fra-
Der Nucleus arcuatus, der zum Sättigungs- sei nicht bewiesen, dass Rauchen Krebs ge, ob Limonade denn nun dick macht
schaltkreis gehört, war während des gro- verursache. oder nicht, hängt allein davon ab, wer die
ßen Fressens hingegen ausgeschaltet – die „Eine Strategie scheint auch die Nah- Studie in Auftrag gegeben hat (Trick vier).
Tiere merkten somit nicht mehr, wann sie rungsmittelindustrie zu haben, die von Das haben Wissenschaftler des Deutschen
satt waren. Pressesprechern der Nahrungsmittelher- Instituts für Ernährungsforschung Potsdam-
Besonders heftig ging es stattdessen im steller, der Handelsorganisationen und Rehbrücke gemeinsam mit spanischen Kol-
Nucleus accumbens zu, einer Schlüssel- ihrer politischen Verbündeten vorgetragen legen herausgefunden.
struktur des Belohnungssystems. Einige wird“, konstatierten die US-Wissenschaft- Den Experten war zunächst eine unkla-
Areale dieser Struktur waren bis zu 15-mal ler Kelly Brownell und Kenneth Warner. re Gemengelage in ihrem Fachgebiet auf-
stärker aktiv als sonst. Das bedeutet: Die Wer das Verhalten der Nahrungsmittel- gefallen: Zug um Zug hatten Forscher ei-
Kartoffelchips manipulieren auf vielfältige industrie und ihre PR-Aktivitäten in den nem Heer von Testpersonen zuckerhaltige
Weise die Regelkreise des Gehirns. vergangenen Jahren beobachtet habe, der Getränke verabreicht, um herauszufinden,
Obwohl man satt ist, rufen die Chips könne sieben Tricks erkennen: inwiefern der Konsum die Fettpolster
Gefühle der Belohnung hervor und über- 1. Erinnere an die Eigenverantwortung des wachsen und das Körpergewicht nach
spielen die Sättigungssignale. All das führe einzelnen Menschen! oben schnellen lässt. Doch die Ergebnisse
dazu, sagt die an den Experimenten 2. Schüre Ängste davor, dass Maßnahmen fielen höchst unterschiedlich aus, was in
maßgeblich beteiligte Lebensmittelchemi- von Behörden die Freiheit des Einzelnen der Öffentlichkeit zu heftigen Diskussio-
kerin Monika Pischetsrieder, dass „Snack- beschneiden! nen führte. Daraufhin beschlossen die
artikel im Gegensatz zu ,normalen‘ Le- 3. Diffamiere Kritiker als Lebensmittel- deutschen und spanischen Forscher, der
bensmitteln auch ohne Hungergefühl ver- polizisten, Ernährungsfaschisten, die Sache auf den Grund zu gehen. Sie führten
zehrt werden“. den Menschen vorschreiben wollen, wie eine sorgfältige Literaturrecherche durch,
Um Fressattacken auszulösen, kommt diese zu leben haben! um zu erkennen, ob finanzielle Verstri-
es offenbar auf eine bestimmte Mischung 4. Rede Studien, die eigenen Interessen ckungen mit Nahrungsmittelherstellern die
der Inhaltsstoffe an. Kein Mensch würde schaden, klein und gib eine Studie in jeweiligen Ergebnisse beeinflusst haben
reines Öl trinken oder reinen Haushalts- Auftrag, die das Gegenteil zeigt! könnten.
zucker essen. Deshalb unternahmen die Dazu suchten die Wissenschaftler in den
Forscher in Erlangen-Nürnberg eine Reihe wichtigsten medizinischen Datenbanken
von Fütterungsexperimenten mit Ratten. nach Übersichtsarbeiten, die zum Thema
Jörg Blech
Auf diese Weise fanden die Wissenschaft- „Zusammenhang zwischen dem Konsum
ler heraus, dass Fett und Zucker in einem Schmeckt’s noch? zuckerhaltiger Getränke und Übergewicht“
Die falschen erschienen waren. Klares Ergebnis: Mehr
ganz bestimmten Verhältnis kombiniert
Versprechen der
sein müssen, um eine hedonische Hyper- Lebensmittelindustrie als 80 Prozent der Übersichtsartikel, in de-
phagie auslösen zu können. und wie wir einfach nen die Verfasser offenbar keine finanziel-
Die Industrie kennt die dafür nötigen gesund essen können len Verbindungen zu Firmen hatten, kamen
Formeln schon länger. Nicht nur Kartof- S. Fischer; 240 Seiten; zu dem Schluss, dass ein hoher Verbrauch
felchips, sondern auch Schokoriegel sowie 18 Euro. von Limo, Cola und anderen zuckerhalti-
Snackprodukte sind raffinierte Kombina- Erscheint am 23. März. gen Getränken eindeutig mit einer Ge-
DER SPIEGEL 12 / 2017 101
Titel

Häufigkeit 24,5 % Für 36 der Zutaten ergab sich entweder Manche Befunde sprachen für eine Er-
eine erhöhte oder eine erniedrigte Wahr- nährungsweise mit wenig Kohlenhydraten
von Adipositas* 2008/11 scheinlichkeit, an Krebs zu erkranken: und viel Proteinen; im Laufe von drei bis
Kalbfleisch, Salz, Pfeffer, Ei, Brot, Schwei- sechs Monaten sei der Gewichtsverlust grö-
23,0 % nefleisch, Butter, Tomate, Zitrone, Ente, ßer gewesen als bei einer Diät mit viel
Zwiebel, Sellerie, Möhre, Petersilie, Mus- Kohlenhydraten und wenig Fett. Dumm
katblüte, Olive, Pilze, Kutteln, Milch, Käse, nur, dass andere Studien genau diese Re-
FRAUEN
Kaffee, Speck, Zucker, Hummer, Kartoffel, sultate nicht bestätigen konnten.
20,9 % Rindfleisch, Lammfleisch, Senf, Nüsse, Einige Forscher glaubten, sie würden et-
1990/ 92
Wein, Erbsen, Mais, Cayennepfeffer, Ap- was klarer sehen, wenn die Testpersonen
felsinen, Tee und Rum. die jeweilige Diät längere Zeit befolgten.
MÄNNER * 25- bis 69-Jährige „Ist alles, was wir essen, mit Krebs ver- Nach einem Jahr waren Ernährungsformen
18,1 %
Quelle:
Robert Koch-Institut
bunden?“, wunderten sich die Forscher mit wenig Kohlenhydraten und viel Pro-
und sahen sich die vielen Studien genauer teinen demnach nicht besser als eine Kost
an. Das Ergebnis: Die überwältigende mit viel Kohlenhydraten und wenig Fett.
wichtszunahme oder Übergewicht ver- Mehrheit der Behauptungen beruht Andere Forscher wiederum fanden, dass
knüpft ist. Dagegen kamen ebenfalls mehr auf Anhaltspunkten, die statistisch gese- eine vegetarische Ernährung mit sehr viel
als 80 Prozent der Übersichtsartikel, in de- hen schwach und damit kaum der Rede Kohlenhydraten und sehr wenig Fett mehr
nen die Verfasser einen finanziellen Inte- wert sind. bringe als eine Diät mit viel Kohlenhydra-
ressenkonflikt sogar zugegeben hatten, Es ist schon merkwürdig: Während Wis- ten und wenig Fett.
genau zum gegenteiligen Schluss: dass es senschaftler einzelne Ingredienzien ins In einigen Studien wurden die Testper-
keinen Zusammenhang gebe zwischen Visier nehmen, erforschen sie die Gefah- sonen länger als ein Jahr begleitet. Eine
dem ständigen Trinken von gezuckerten ren industrieller Nahrungsprodukte bisher vegetarische Diät mit ganz wenig Fett war
Getränken und erhöhtem Körpergewicht. nur wenig. „Stattdessen haben Ernährungs- nach einem Befund wirksamer zum Ab-
Aussage gegen Aussage? Nicht ganz. Die wissenschaftler hochverarbeitete Nah- nehmen als eine herkömmliche fettarme
von der Industrie geförderten Übersichts- rungsmittel vor allem auf der Grundlage Ernährungsweise. Zwei anderen Studien
artikel hatten schwerwiegende Mängel. So bewertet, welche Mengen der sogenannten zufolge war Mittelmeerkost mit moderater
wurde einfach behauptet, es gebe keinen guten und schlechten Nährstoffe sie ent- Fettzufuhr besser als eine fettarme Diät –
Zusammenhang zwischen Zuckergetränk halten, wie den Vitamingehalt oder Bal- und eine weitere Studie fand keinen Un-
und Körpergewicht – obwohl aus den Ori- laststoffmangel“, konstatiert Gyorgy Scri- terschied zwischen Ernährungsformen mit
ginalarbeiten sehr wohl ein Zusammen- nis, ein Wissenschaftshistoriker von der viel oder wenig Proteinen.
hang hervorging. Um die Limonaden University of Melbourne. Ja, was denn nun?
vom Verdacht des Dickmachens zu ent- Aber dieser Ansatz übersehe die Tat- Dieses unglaubliche Durcheinander bei
lasten, hatten die der Industrie finanziell sache, dass „Verarbeitungstechniken das den Diätstudien wollte der Mediziner
verbundenen Forscher offenbar ungenau ursprüngliche Gefüge des Essens erheblich Frank Sacks von der Harvard School of
gearbeitet. verändern und beschädigen – also den ein- Public Health nicht länger hinnehmen. Mit
Ernährungsstudien lassen sich auch des- zigartigen Zusammenhang der Bestandtei- Kollegen entschied er sich zu einer bis da-
halb so leicht manipulieren, weil es schwie- le des Essens und die Art und Weise, wie hin einzigartigen Untersuchung. Im Unter-
rig ist, die tatsächliche Ernährungsweise diese in Vollwertkost zusammengehalten schied zu den Vorgängerstudien sollte sie
von Menschen per Fragebogen oder Inter- werden“. keinerlei methodische Schwächen haben.
view zu erfassen. Die Leute erinnern sich Erstmals würden die Forscher an einer gro-
nicht richtig oder verstehen die Fragen Wie wir uns wieder einfach gesund ßen Gruppe von übergewichtigen Men-
falsch. ernähren können schen über einen Zeitraum von zwei Jah-
In einer großen Umfrage zur Kalorien- In einer großen Buchhandlung an der ren verfolgen, welche Diät am besten hilft.
aufnahme in den USA gaben zwei von drei Friedrichstraße in Berlin-Mitte füllen die Der Versuch ist geglückt, die spannen-
Teilnehmern Energiemengen an, die voll- neuesten Diätratgeber drei Regalmeter. den Ergebnisse haben die Forscher im
kommen unrealistisch waren. Zudem kom- Trotz all der guten Ratschläge werden die renommierten „New England Journal of
men viele Befunde nur deshalb zustande, Deutschen nicht dünner. Wenn man sich Medicine“ veröffentlicht.
weil Epidemiologen die Daten so lange die neuen Statistiken zum Übergewicht an- Zu Beginn des Experiments stellten die
hintrimmen, bis sie doch irgendeinen Ef- sieht, scheint es im Gegenteil fast so zu Forscher 811 dicke Frauen und Männer auf
fekt finden, den sie veröffentlichen kön- sein, dass eine Gesellschaft umso dicker die Waage und maßen ihren Taillenum-
nen. Und so kommen ständig Resultate zu- wird, je mehr über das Abnehmen ge- fang. Sodann setzten sie diese Menschen
stande, die einander widersprechen und schrieben wird. auf eine von vier möglichen Diäten:
das Publikum nur noch verwirren. Die meisten Diäten kreisen um die Fra- ‣ Diät 1: 20 Prozent Fett, 15 Prozent Pro-
Schön sichtbar wird dieser Effekt bei ge, bei welchen Inhaltsstoffen man anset- tein, 65 Prozent Kohlenhydrate.
womöglich krebserregenden Substanzen zen sollte: bei den Proteinen, beim Fett, ‣ Diät 2: 20 Prozent Fett, 25 Prozent Pro-
in der Nahrung, wie Forscher der Harvard bei den Kohlenhydraten? Tausende Studi- tein, 55 Prozent Kohlenhydrate.
Medical School und der Stanford Univer- en haben versucht, diese Frage zu klären. ‣ Diät 3: 40 Prozent Fett, 15 Prozent Pro-
sity School of Medicine gezeigt haben. Die Ornish-Diät (fettarm) gegen die At- tein, 45 Prozent Kohlenhydrate.
Nach dem Zufallsprinzip wählten die kins-Diät (fettreich), die Mittelmeerdiät ‣ Diät 4: 40 Prozent Fett, 25 Prozent Pro-
Wissenschaftler 50 Zutaten aus einem (wenig Fleisch) gegen die Steinzeitdiät (viel tein, 35 Prozent Kohlenhydrate.
Kochbuch aus und suchten in einschlägi- Fleisch). Die jeweilige Kost bestand aus ähn-
gen Datenbanken, ob diese Stoffe bereits lichen Lebensmitteln, damit die Testper-
„auffällig“ geworden waren. Und siehe da: Animation: So essen sonen nicht erraten konnten, in welche
Zu vier von fünf der Zutaten fanden sie die Deutschen Gruppe sie eingeteilt waren. Es gab zum
mindestens eine Publikation, die einen Zu- spiegel.de/sp122017essen Frühstück Eier, Bagel und Milch, zum Mit-
sammenhang mit Krebs untersuchte. oder in der App DER SPIEGEL tag Spaghetti, Pute (nicht für alle), Kürbis

102 DER SPIEGEL 12 / 2017


JOCELYN CARLIN / VISUM
Fischer auf der Pazifikinsel Nauru: Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte gibt es mehr fettleibige als untergewichtige Erdenbürger

und Bananen, zum Abendbrot Rindfleisch, men ist es unnötig, irgendeine Kalorien- Knoblauch und Wein (in moderaten Men-
Kartoffeln, Gemüse, Rosinen, Walnüsse quelle – wie Kohlenhydrate oder Fett – zu gen) sind bekanntermaßen die Bestand-
(nicht für alle) – und zwar in Kombina- verteufeln. Entscheidend ist, auf eine aus- teile der Mittelmeerkost. Aber keine dieser
tionen, die der jeweiligen Diätgruppe ent- gewogene Ernährung zu achten und sich Komponenten ist für sich genommen nur
sprachen. jeden Morgen auf die Waage zu stellen. annähernd so segensreich wie die Kost in
Und die Kost war so ausgewählt, dass Der Streit um die beste Abmagerungs- ihrer Gesamtheit.
alle Teilnehmer jeden Tag mindestens kur ist folglich überflüssig. Alle Wege füh- Eine im Januar veröffentlichte Auswer-
20 Gramm Ballaststoffe zu sich nahmen. ren zum Ziel, wenn man seine Energie- tung von Daten von mehr 12,7 Millionen
Vor allem aber waren die Mengen so be- zufuhr reduziert. Menschen hat gezeigt: Wer sich mediterran
messen, dass jeder Teilnehmer pro Tag Aber Gewichtsverlust allein ist natürlich ernährt, der erkrankt statistisch gesehen
750 Kilokalorien weniger zu sich nahm, als nicht alles. Um den Einfluss auf die Ge- seltener an Krebs, Herzinfarkt, Demenz,
er eigentlich benötigte. sundheit ging es den Forschern David Katz Diabetes Typ 2 und lebt länger als der
Die Frauen und Männer wurden gebe- und Stephanie Meller an der Yale Univer- Durchschnitt der Bevölkerung.
ten, sich jede Woche 90 Minuten lang kör- sity School of Public Health. Sie verglichen Kein Wunder, dass Sardinien von Hun-
perlich zu betätigen. Über den gesamten Low-Carb-Diät, Low-Fat-Diät, Glyx-Diät, dertjährigen bevölkert wird.
Zeitraum von zwei Jahren wurden ihnen Mittelmeerdiät, Dash-Diät, Steinzeitdiät Doch niemand braucht ans Mittelmeer
Beratungsstunden angeboten, um sie bei und Veganismus. Die Verfechter und Ver- zu ziehen, um lange gesund zu leben.
der Stange zu halten. Nach zwei Jahren markter der jeweiligen Diäten heben gern Obst, Gemüse und vollwertige Lebens-
waren noch 645 Frauen und Männer dabei. die Unterschiede hervor, aber den For- mittel lassen sich in Deutschland nicht
Ein letztes Mal wurden sie gewogen, und schern fiel auf, dass sich die wirklich sinn- nur auf Wochenmärkten und in Bioläden,
ihr Taillenumfang wurde gemessen. vollen Empfehlungen überlappen. sondern auch in Supermärkten und bei
Die Befunde nach den zwei Jahren wa- Die heilsamen Einflüsse der jeweiligen Billigdiscountern kaufen. In den Winter-
ren ebenso erstaunlich wie erhellend: Diäten gehen auf die immer gleichen Ele- monaten sind unbehandeltes Obst und
Die Frauen und Männer hatten im Durch- mente zurück: wenig raffinierte Stärke, we- Gemüse aus der Tiefkühltruhe keine
schnitt vier Kilogramm verloren – voll- nig zugesetzter Zucker, wenig ultraverar- schlechte Wahl.
kommen egal, nach welcher Diät sie gelebt beitete Nahrung, nicht zu viel Fett, viel Die Kunst besteht darin, die vielen über-
hatten. Obst und Gemüse und mageres Fleisch, flüssigen, energiedichten, gezuckerten,
Auch was den Hunger, das Sättigungs- Geflügel, Fisch und Meeresfrüchte. ultraverarbeiteten Hervorbringungen der
gefühl und die Zufriedenheit mit der Kost Alle Daten zusammen ergeben eine Art Industrie in den Auslagen liegen zu lassen.
anging, gab es zwischen den vier Gruppen Leitfaden für gesundes Essen, das ebenso Jörg Blech
keine nennenswerten Unterschiede. ausgewogen wie vielfältig ist. Das Fazit Mail: joerg.blech@spiegel.de
Das ist ein bemerkenswertes Ergebnis. der Yale-Forscher lautet: „Eine Ernäh-
Jede Diät half den Versuchspersonen also rungsweise mit gering verarbeiteten Le- Lesen Sie zum Thema auch
gleich gut beim Abnehmen, solange sie bensmitteln, nahe an der Natur und vor- das aktuelle Heft
weniger Kalorien zu sich nahmen, als sie wiegend aus Pflanzen, ist maßgeblich mit SPIEGEL Wissen
benötigten. Gesundheitsförderung und Krankheitsver- Richtig gut essen
Die einfache Wahrheit: Es sind allein hütung verbunden.“ Erhältlich am Kiosk, im Buch-
die Kalorien, auf die es ankommt, wenn Ungesättigte Fettsäuren aus Olivenöl, handel oder im SPIEGEL SHOP
man Gewicht verlieren will. Beim Abneh- Fisch, Getreide, Obst, Gemüse, Nüsse, unter www.spiegel.de/shop

DER SPIEGEL 12 / 2017 103


„Wir werden Götter sein“
SPIEGEL-Gespräch Der israelische Historiker Yuval Noah Harari, 41, glaubt, dass
der Mensch durch neue Technologien bald die nächste Evolutionsstufe erreicht. Der mit
gottgleichen Fähigkeiten ausgestattete Homo Deus verdrängt dann den Homo sapiens.

E
s gibt keinen besseren Ort, um mit Yu- kann, weil er seine drei größten Feinde in Harari: Eine Fliege kann keinen Porzellan-
val Noah Harari über sein neues Buch den Griff bekommen hat, nämlich Krieg, laden zerstören, sie bringt nicht einmal
zu sprechen, als diesen hier, im Silicon Krankheiten und Hunger. eine Tasse ins Wanken. Was tut sie also?
Valley, wo angeblich die Zukunft erfunden Harari: So sehe ich das. Sie sucht sich einen Elefanten, fliegt in des-
wird. Vor Kurzem hat Mark Zuckerberg, SPIEGEL: Aber das ist, mit Verlaub, ein recht sen Ohr, macht ihn verrückt, bis der Ele-
Facebook-Chef und Tech-Visionär, in einem grob geschnitztes Bild, wenn man sich die fant vor Wut schäumt und das Porzellan
langen Manifest sein Weltbild umrissen, und Nachrichtenlage anschaut. Was ist mit Sy- kaputt schlägt. Das haben wir in den ver-
es trug unverkennbar die Züge von Hararis rien? Jemen, Sudan? Was ist mit Malaria gangenen 20 Jahren erlebt. Niemals hätte
letztem Buch „Eine kurze Geschichte der oder Krebs? Was ist mit dem Merksatz der al-Qaida den Irak von allein destabilisieren
Menschheit“. Das Werk wurde 2014 zum Uno, dass heute noch immer einer von können, also haben sie die Amerikaner in
Weltbestseller und hat den jungen israeli- neun Menschen Hunger leidet? Rage gebracht, und die haben dann den
schen Historiker berühmt gemacht. Harari, Harari: Ich sage nicht, dass wir all diese Pro- Irak zerstört, in dessen Ruinen wiederum
der an Jerusalems Hebräischer Universität bleme komplett überwunden hätten. Ich neue Terrorgruppen erblühen konnten.
lehrt, zeichnete darin die Erfolgsgeschichte sage bloß, dass Gewalt, Krankheit und SPIEGEL: Funktioniert die Metapher auch
des Menschen seit seinen evolutionären Ur- Hunger für Jahrtausende omnipräsente für Europas Umgang mit dem Terror?
sprüngen bis in die Gegenwart nach. Zucker- Probleme der gesamten Menschheit waren. Harari: Dem europäischen Projekt und der
berg hat Hararis neues Buch vermutlich So gut wie niemand, der vor 300, vor 3000 EU ist es seit 1945 gelungen, einem Konti-
noch nicht gelesen, denn in „Homo Deus – oder vor 30 000 Jahren gelebt hat, wäre nent, der über Jahrhunderte fast pausenlos
Eine Geschichte von Morgen“ entwirft der auf die Idee gekommen zu erwarten, dass in schreckliche Kriege verwickelt war, dau-
Autor ein düsteres Bild des 21. Jahrhunderts, das nächste Jahr ohne Krieg, Epidemien erhaften Frieden zu bringen. Und jetzt,
in dem gerade die idealistischen Träume zur oder Hunger vorbeigehen könnte. Heute 2017, zweifeln plötzlich viele der 500 Mil-
technischen Optimierung der Gesellschaft, ist genau das für den größten Teil der lionen Bürger Europas an dieser so erfolg-
an denen im Silicon Valley gearbeitet wird, Menschheit selbstverständlich. Zum ersten reichen Union, und weshalb? Weil ein paar
schließlich zur Erschaffung eines neuen Mal in der Geschichte sterben mehr Men- Terroristen ein paar Hundert Menschen
„Übermenschen“ und zum möglichen Ende schen, weil sie zu viel essen, nicht, weil umgebracht haben. Das ist die Fliege im
des Homo sapiens führen. sie zu wenig essen. 2010 starben drei Mil- Ohr. Und es trampeln gerade ein paar
Harari befindet sich auf Vortragstour für lionen Menschen an den Folgen von Über- ziemlich gefährliche Elefanten durch
sein Buch in den USA. Mit seinem auffällig gewicht – das sind mehr als durch Hunger, Europas Demokratien, wie wir wissen.
großen, spärlich behaarten Kopf und der Kriege, Gewaltverbrechen und Terroris- SPIEGEL: Sie befinden sich auf Lesetour in
schmächtigen Statur sieht der Mann selbst mus zusammen. Für einen Amerikaner den USA, dem Land, in dem seit ein paar
ein wenig aus wie eine künftige Evolu- oder Europäer der Gegenwart ist Coca- Wochen der dickste Elefant umgeht.
tionsstufe des Menschen, eine mit noch grö- Cola die größere Bedrohung als al-Qaida. Harari: Donald Trump steht für mich in ers-
ßerem Gehirn. Zum Interview hat er in das SPIEGEL: Guter Satz! Sie haben ein Talent ter Linie für die Krise der großen liberalen
Privathaus eines Freundes in Palo Alto ge- für solche Catch-Phrases. An einer ande- Vision des 20. Jahrhunderts. Das ist das
laden, bei dem er Gastrecht genießt, sein ren Stelle bezeichnen Sie den Terrorismus, Modell der freien Gesellschaft, der globa-
ungeheuer charmanter Ehemann und As- dessen Gefahr Sie für überschätzt halten, len Wirtschaft und der offenen Grenzen.
sistent Itzik serviert Nüsschen und Cappuc- als „Fliege im Porzellanladen“. Das hat in den letzten Jahrzehnten des
cino, mehrere Katzen des Hausherrn streu- 20. Jahrhunderts auch sehr gut funktio-
nen im Wohnzimmer herum. niert. Aber so wie jedes politische Modell
der Geschichte muss sich auch der Libera-
SPIEGEL: Herr Harari, Ihr neues Buch,
„Homo Deus“, ist ein Monster. „Für einen lismus einer veränderten Realität anpassen,
oder er verschwindet. Ich glaube, die Wäh-
Harari: In welchem Sinne?
SPIEGEL: Erstens die Länge, 500 Seiten.
Amerikaner oder ler in den USA und anderswo spüren der-
zeit durchaus mit Recht, dass das politische
Zweitens die historische Spannweite, es
betrachtet die Menschheitsgeschichte seit
Europäer der System nicht mehr funktioniert. Die Poli-
tik ist nicht mehr in der Lage, sinngebende
der Steinzeit bis in die Zukunft. Drittens Gegenwart ist Visionen für die Gesellschaft anzubieten.
die monströsen Thesen und Begriffe. Man-
ches liest man mit Grauen. Coca-Cola SPIEGEL: Von Helmut Schmidt, einem ehe-
maligen deutschen Kanzler, ist der Satz
Harari: Das war durchaus Absicht. Wenn
Sie keinerlei Beunruhigung verspürt hät- die größere überliefert: Wer Visionen hat, sollte zum
Arzt gehen.
ten, wäre irgendetwas schiefgelaufen.
SPIEGEL: Sie sagen, dass der Mensch sich
Bedrohung als Harari: Der Mensch braucht Visionen. Er
braucht eine sinnvolle Vorstellung der
im 21. Jahrhundert neuen Zielen zuwenden al-Qaida.“ Welt, in der er lebt und leben wird, er
braucht eine große gesellschaftliche Erzäh-
Das Gespräch führte der Redakteur Guido Mingels. lung, in der er eine Rolle spielen kann. Im
104 DER SPIEGEL 12 / 2017
Wissenschaft

20. Jahrhundert war der Stahlarbeiter aus Europa, der sich fragt, wie seine Welt im unterhalt verdienen werden. Wir wissen
Pennsylvania oder aus dem Ruhrpott das Jahr 1050 aussehen wird. nicht, wie sich unsere sozialen Geschlech-
Zentrum des gesellschaftlichen Diskurses. SPIEGEL: Wenn ich ein erwachsener Bauer ter und die Familienstrukturen entwickeln
In allen Zukunftsvisionen, egal ob liberal im Jahr 1017 bin, dann bin ich im Jahr 1050 werden. Wir wissen nicht, wie hoch die
oder kommunistisch oder faschistisch, hat- wahrscheinlich tot. Lebenserwartung sein wird, vielleicht 150
te der Arbeiter eine zentrale Rolle. Heute Harari: Das ist schon mal der erste wichtige Jahre, wir wissen nicht einmal, wie der
ist er weg von der Bildfläche. Die einzigen Punkt. Der Bauer kann davon ausgehen, menschliche Körper beschaffen sein wird.
großen Entwürfe kommen aus dem Silicon dass sich seine Lebenserwartung von SPIEGEL: Lassen Sie uns über den Homo
Valley, und die sind voll grandioser Begrif- knapp 40 Jahren kaum erhöhen wird. Deus sprechen, den gottgleichen Men-
fe wie „Künstliche Intelligenz“, „Big SPIEGEL: Vielleicht kommen die Wikinger schen. Wann wird es so weit sein?
Data“, „Virtuelle Realität“ und „Algorith- vorbei und erschlagen meine Familie. Harari: Es geht eher um Jahrzehnte als um
mus“ – aber kein Wort vom Arbeiter. Das Harari: Oder die Mongolen. Oder die Pest Jahrhunderte. Es hat ja längst begonnen.
Einzige, was der Arbeiter noch hat, ist sein bricht aus. Sie wissen es nicht. Aber ein SPIEGEL: Was meinen Sie mit dem Begriff
Stimmrecht. paar grundlegende Dinge sind doch recht Homo Deus?
SPIEGEL: Woher rührt denn dieser Harari: Ganz wörtlich: einen Men-
Mangel an sinngebenden Ent- schen, der Fähigkeiten erlangt,
würfen für unsere Zukunft? die in traditionellen Vorstellun-
Geht es uns zu gut, fehlt der Wil- gen Göttern vorbehalten sind.
le zur Veränderung? Manches davon haben wir längst
Harari: Das spielt auch eine Rolle. erreicht, insofern müsste schon
Aber der Hauptgrund liegt in der der heutige Mensch seinen Vor-
zunehmenden Unübersichtlich- fahren wie ein Gott vorkommen.
keit. Die Welt verändert sich in Für den größten Teil der Ge-
einem immer höheren Tempo, schichte erwarteten die Men-
und die Menschen sehen, dass sie schen von ihren Göttern Lösun-
nicht mehr gefragt werden, wo- gen für praktische Probleme.
hin es denn gehen soll. Die größte Man war krank, man betete zu
Veränderung der letzten 20 Jahre Gott. Es fiel kein Regen, und die
war das Internet – aber niemand Ernte war bedroht, man betete
hat je darüber abgestimmt. Um zu Gott. Heute haben die Wissen-
das Internet zu etablieren, muss- schaft und der technische Fort-
ten weitreichende Entscheidun- schritt für die meisten dieser Pro-
gen gefällt werden, die die Privat- bleme Lösungen gefunden, die
sphäre betreffen, die Arbeitswelt, viel besser sind als die unzuver-
die Souveränität von Staaten. All lässigen Götter. Die Konzepte,
das wurde außerhalb der Politik die wir im 21. Jahrhundert noch
entschieden. Und das ist erst der mit Religionen verbinden – das
Anfang. Wir werden immer mehr Jenseits etwa oder die morali-
Innovationen erleben, die unser schen „Werte“ – sind nur Über-
Leben verändern, unsere Bezie- reste des Göttlichen. Durch die
hungen, unsere Jobs, sogar unse- ganze Geschichte hindurch haben
re Körper. Aber nichts davon die Religionen ihr Angebot ange-
wird vom demokratischen Souve- passt, in einer steten Fluchtbewe-
rän beschlossen. Also wählen die gung vor dem Fortschritt. Sobald
ANTONIO OLMOS / INTERTOPICS

Leute jemanden wie Trump, um sie merkten, dass ihre Hilfe am


dem System, Pardon, einen Tritt Krankenbett oder in der Land-
in den Hintern zu geben. wirtschaft nicht mehr gefragt war,
SPIEGEL: Aber diese Leute haben nahmen die Religionen neue Fan-
ja erst recht keine Rezepte. tasieleistungen in ihr Angebot
Harari: Natürlich nicht. Niemand auf, die von der Wissenschaft
hat ein Rezept, weil alles zu Autor Harari: „Evolution im Turbomodus“ noch nicht abgedeckt wurden,
schnell geht. Wir wissen heute eben das „Leben nach dem Tod“.
nicht mehr, was wir unseren Kindern in sicher für die nächsten 30 oder 40 Jahre: SPIEGEL: Die zentrale Fähigkeit des bibli-
der Schule beibringen sollen, um sie auf Sie können davon ausgehen, dass auch im schen Schöpfergottes ist aber die Erschaf-
die Herausforderungen der nächsten Jahr- Jahr 1050 die meisten Menschen von der fung von Leben.
zehnte vorzubereiten. Wir haben keine Landwirtschaft leben werden und dass es Harari: Daran arbeitet der Mensch gerade.
Ahnung, wie die Gesellschaft und die Ar- eine gute Idee ist, dass Sie Ihren Kindern Ich glaube, dass die wichtigsten Produkte
beitswelt von 2050 aussehen werden. Wir beibringen, wie man Getreide anpflanzt. der Ökonomie des 21. Jahrhunderts nicht
irren auf kurze Sicht im Weltnebel herum. Sie können sicher sein, dass die Welt im mehr Autos, Textilien und Esswaren sein
Das ist ein historisches Novum. Jahr 1050 noch immer patriarchal organi- werden, sondern Körper und Gehirn und
SPIEGEL: Warum denn das? Schon zu frü- siert sein wird. Sie können sich sicher sein, Bewusstsein, also künstliches Leben. Und
heren Zeiten konnte man sich doch nicht dass die Körper Ihrer Kinder gleich auf- es gibt drei Wege, wie sich der Mensch
sicher sein, was die Zukunft bringt. gebaut sein werden wie Ihr eigener. zum Homo Deus „upgraden“ kann: ers-
Harari: Aber sie war doch wesentlich besser SPIEGEL: Und das ist heute anders? tens Bioengineering, zweitens Cyborgs,
einzuschätzen als heute. Angenommen, Harari: Heute fehlen uns solche grund- drittens anorganisches Leben. Wenn das
wir schrieben jetzt das Jahr 1017, nicht 2017, legenden Gewissheiten. Wir wissen nicht, gelingt, werden wir Götter sein.
und Sie wären ein Bauer irgendwo in womit wir im Jahr 2050 unseren Lebens- SPIEGEL: Der Reihe nach, bitte!

DER SPIEGEL 12 / 2017 105


„Das 21.
Harari: Biotechnologie bleibt auf den Be-
reich des organischen Lebens beschränkt, Jahrhundert gut lässt sich das beim Militär beobachten.
Technische Entwicklungen im militäri-
das ist wie Evolution im Turbomodus. Seit
vier Milliarden Jahren bastelt die natür-
könnte zur schen Bereich sind denjenigen der zivilen
Wirtschaft oft ein paar Jahre oder Jahr-
liche Selektion an lebenden Körpern he- Geburt einer zehnte voraus. Im 20. Jahrhundert waren
rum, und es gibt keinen Grund zur Annah-
me, dass Homo sapiens die letzte Stufe ist. neuen sozialen die Armeen von Massen von rekrutierten
Soldaten abhängig, nahezu jeder Bürger
Doch die Bioingenieure in den USA oder
in China, die schon ziemlich gut darin sind, Klasse führen: hatte einen militärischen Wert. Schon heu-
te aber sind die allermeisten Menschen
Gencodes im Labor umzuschreiben, wer-
den nicht die Geduld haben, darauf zu war-
der Klasse militärisch zu nichts mehr zu gebrauchen.
Die höchstentwickelten Armeen verlassen
ten. Der heutige Mensch baut Raumschiffe der Nutzlosen.“ sich auf eine kleine Zahl hoch entwickelter
und Computer, während sein Vorfahr vor Superkrieger, wie die mit Hightech aus-
200 000 Jahren gerade mal ein paar Stein- gerüsteten amerikanischen Spezialeinhei-
beile zustande brachte – und doch unter- zu erschaffen. Intelligente Software ersetzt ten. Generäle setzen heute lieber Drohnen
scheiden wir uns vom Homo erectus nur neuronale Netzwerke. Manche Wissen- und Cyberkrieg-Computerwürmer ein als
durch winzige Veränderungen in der DNA. schaftler sprechen davon, dass man der- menschliches Kanonenfutter.
Wenn wir solche Mutationen willentlich einst das menschliche Bewusstsein auf ei- SPIEGEL: Was ja begrüßenswert ist.
herbeiführen können, welche grandiosen nen Computer laden kann, dass man ein Harari: Richtig, aber was, wenn sich dassel-
neuen Fähigkeiten könnten wir damit in Gehirn nachbauen kann. Ob das je mög- be innerhalb von 20 oder 30 Jahren in der
kurzer Zeit erlangen? Und welchen gewal- lich sein wird, ist eine offene Frage, ich zivilen Wirtschaft wiederholt? Die Auto-
tigen Schaden könnten wir anrichten? bezweifle es. Klar ist jedoch, dass das Le- matisierung hat bereits viele Jobs gekostet,
SPIEGEL: Zweitens … ben damit Formen annehmen könnte, die das wird weitergehen. Wozu braucht es
Harari: Der zweite Weg ist radikaler und wir uns selbst in unseren wildesten Träu- Textilarbeiter, wenn es 3-D-Drucker gibt?
kombiniert organisches Leben mit nicht men nicht vorstellen können, denn auch Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Algo-
organischen Apparaten, etwa bionischen unsere wildesten Träume sind noch das rithmen und Roboter nicht nur Industrie-
Augen, Ohren, Gliedmaßen. Klingt wie Produkt organischer Chemie. jobs übernehmen, sondern auch Dienst-
Science-Fiction, ist aber bereits Wirklich- SPIEGEL: Sie benutzen auch den Begriff des leistungsberufe. Wozu Taxi- oder Last-
keit. Schon heute können gelähmte Patien- „Übermenschen“ für die nächste Evolu- wagenfahrer, wenn es selbstfahrende
ten mittels der Kraft ihrer Gedanken bio- tionsstufe des Homo sapiens. Das sollten Autos billiger und sicherer machen? Zu
nische Gliedmaßen bewegen. Man kann Sie einem deutschen Publikum erklären. den bedrohten Arten gehören auch Reise-
heute einen Helm kaufen, der die elektri- Harari: Ich rede von „superhumans“. kaufleute, Börsenhändler und Bankange-
schen Signale im Gehirn liest und so als SPIEGEL: Die deutsche Übersetzung nennt stellte, auch Lehrer und Ärzte sind nicht
Fernbedienung im Haushalt dient. Man das „Übermensch“. sicher.
muss nur noch daran denken, das Licht Harari: Ich weiß, dass das ein belasteter Be- SPIEGEL: Bislang hat jede bahnbrechende
einzuschalten, und schon brennt es. griff ist in Deutschland, und der Vergleich Technologie der Geschichte immer auch
SPIEGEL: Das gibt es wirklich? taugt auch nur aufgrund der Kontraste. neue Jobs geschaffen.
Harari: Online erhältlich für ein paar Hun- Während Hitler und die Nazis vor 80 Jah- Harari: Ich zweifle daran, dass sich ein ar-
dert Dollar. ren den Übermenschen durch selektive beitsloser 50-jähriger Lastwagenfahrer mü-
SPIEGEL: Und drittens? Fortpflanzung und „ethnische Säuberun- helos zum Virtual-Reality-Designer um-
Harari: Der dritte Weg lässt den Bereich gen“ züchten wollten, verfolgt die Wissen-
des Organischen komplett hinter sich, um schaft der Gegenwart ein verwandtes Ziel
vollkommen nicht organische Lebewesen mit wesentlich effizienteren Mitteln, eben
mit Gen-Engineering oder Schnittstellen
zwischen Computer und Gehirn. Diese Su-
permenschen hätten physische und kogni-
tive Fähigkeiten, die unseren heutigen weit
überlegen wären. Besseres Gedächtnis,
höhere Intelligenz, stärkere, widerstands-
fähigere Körper. Vielleicht bewegen wir
uns auf eine Zukunft zu, in der ein kleiner
Teil der Menschheit gottähnliche Fähig-
keiten erlangt, während die allermeisten
Menschen zurückbleiben. Und so, wie das
19. Jahrhundert und die Industrialisierung
eine neue Klasse geschaffen haben, die ur-
bane Arbeiterklasse, könnten das 21. Jahr-
hundert und die Digitalisierung ebenfalls
zur Geburt einer neuen Klasse führen: der
Klasse der Nutzlosen. Sie haben keine poli-
FLORIAN BAYER FÜR DEN SPIEGEL
FLORIAN BAYER FÜR DEN SPIEGEL

tische Macht mehr und keinen wirtschaft-


lichen Wert. Und das halte ich für eine der
größten Gefahren der nahen Zukunft.
SPIEGEL: Jetzt kommen wir zum dunkelsten
Teil Ihres Buches.
Harari: Erneut, das ist nicht Science-Fiction,
sondern hat längst begonnen. Besonders
106 DER SPIEGEL 12 / 2017
Wissenschaft

schulen lassen wird. Das horrende Tempo eher werden wir Schritt für Schritt und in schrecklich finden, aber so ungewöhnlich
der Entwicklung ist ein Problem. Techni- einer für die meisten Menschen unmerk- ist das nicht. Vor etwa 200 000 bis 100 000
sche Innovationen früherer Zeiten wie der lichen Weise mit unseren eigenen Erfin- Jahren lebten verschiedene Menschenarten
Buchdruck oder die Dampfmaschine ver- dungen verschmelzen, mit Computern, mit gleichzeitig auf der Erde, Neandertaler,
breiteten sich nur sehr langsam, Gesell- dem Internet aller Dinge, mit weltumspan- Homo erectus, Homo denisova, Homo sa-
schaft und Politik hatten Zeit, sich den neu- nenden Datenströmen. Viele Leute emp- piens. Bis nur noch eine übrig blieb.
en Realitäten anzupassen. finden ja schon heute ihr Mobiltelefon als SPIEGEL: Vielleicht enden wir im Zoo, als
SPIEGEL: Ein Konzept gegen das Ende der Teil ihrer selbst, von dem sie sich kaum Zeitvertreib für unsere Nachfolgerspezies.
Arbeit und die drohende ökonomische noch trennen können. Viele Leute verbrin- Komm, wir gehen Menschen gucken.
Nutzlosigkeit der Massen wird bereits er- gen schon heute mehr Zeit damit, ihre Per- Harari: Das ist unwahrscheinlich und klingt
probt: das universelle Grundeinkommen. sönlichkeit auf Facebook zu gestalten als wie ein böser Scherz, aber es führt uns zur
Was halten Sie davon? in der Wirklichkeit. Irgendwann werden vielleicht dringendsten ethischen Frage für
Harari: Es ist gut, dass mit solchen Dingen diese Optimierungen uns so weit verändert die Gegenwart. Wer wissen will, wie es
jetzt experimentiert wird. Das Konzept haben, dass es nicht mehr sinnvoll ist, die- sein wird, wenn wir einmal nicht mehr die
des universellen Basiseinkommens hat al- ses Lebewesen Homo sapiens zu nennen. dominante Spezies auf dem Planeten sein
lerdings große Schwierigkeiten. Ein Pro- SPIEGEL: Und diejenigen, die nicht mit- sollten, muss nur unseren eigenen heutigen
blem ist, dass es seinen Empfängern kei- machen wollen oder können bei dieser Ent- Umgang mit anderen, minderkomplexen
nerlei Sinngehalt bietet, keinen Daseins- wicklung, werden sie neben den Super- Tieren betrachten, mit Schweinen, Rindern
zweck. Wir schuften nicht nur für Geld, menschen weiter existieren, so wie ja der oder Hühnern. Milliarden empfindungs-
sondern ziehen auch Lebenssinn aus un- Schimpanse auch weiterlebte, als der und leidensfähige Lebewesen leben und
serer Arbeit. Da gibt es allerdings vielleicht Homo sapiens die Überholspur wählte? sterben in den Fabriken unserer Agrarin-
Alternativen. Eine Idee ist, dass Menschen Harari: Möglich. Vielleicht werden Homo dustrie. In meinen Augen ist das eines der
ohne Arbeit künftig ihre Zeit vermehrt mit Deus und Homo sapiens gleichzeitig leben. größten Verbrechen in der Geschichte. Es
Computerspielen verbringen. Das wäre eine Art biologisches Kastensys- wäre schön, wenn der Gedanke, dass wir
SPIEGEL: Sie scherzen. tem, in dem die untere Kaste eine andere selbst dereinst der Willkür einer höheren
Harari: Keineswegs. Intelligente Computer- Spezies ist. Die Vorstellung mag man Lebensform unterworfen sein könnten,
spiele und virtuelle Welten werden immer dazu führen würde, unseren eigenen Um-
elaborierter, sie könnten durchaus zum be- gang mit sogenannten Nutztieren zu über-
friedigenden Lebensinhalt werden. Es gibt denken.
schon heute Menschen, die ziehen ihren SPIEGEL: Wir vermuten, Sie sind Vegetarier?
Lebenssinn zu einem beträchtlichen Teil Harari: Ich bin Veganer. Beinahe. Auf den
aus Fußballspielen, warum sollten also Kuchen meiner Mutter, der Butter enthält,
nicht auch Computerspiele zur Ersatzreli- möchte ich nicht verzichten.
gion taugen? Apropos Religion: Auch reli- SPIEGEL: Trotzdem ziemlich anstrengend.
giöse Glaubenssysteme, die den Menschen Harari: Das Leben ist anstrengend. Ich bin
während Tausenden Jahren als Quellen außerdem schwul und Israeli, auch das
von Sinn und Bedeutung dienten, funktio- kann anstrengend sein. Es hat mein Welt-
nieren sehr ähnlich wie Computerspiele. bild insofern geprägt, als ich nichts für
SPIEGEL: Ein kühner Vergleich. selbstverständlich erachte. Es ist eine Iden-
Harari: Eine Religion erlässt bestimmte tität, von der man überzeugt sein, für die
Spielregeln für die Wirklichkeit, für den man kämpfen muss.
Alltag ihrer Anhänger. Ein Christ geht mit SPIEGEL: Ein Vorwurf, der man der „Big
diesen Regeln durchs Leben und kann History“-Denkschule und Ihnen machen
dabei Punkte gewinnen. Wenn er betet, kann, ist, dass Sie mit Ihren Argumenten
kriegt er Punkte, wenn er sündigt, werden einen so enorm weiten Fokus wählen, dass
ihm Punkte abgezogen. Und wenn sein Sie die wahren Probleme und Widersprü-
Punktestand am Ende des Lebens nicht che der Gegenwart überhaupt nicht mehr
unter null liegt, dann erreicht er nach sei- erkennen. Wie verteidigen Sie sich?
nem Tod den nächsthöheren Level. Harari: Ich bekenne mich schuldig. Die Art
SPIEGEL: Wäre Homo Deus wirklich eine der Geschichtsforschung, wie ich sie be-
neue Spezies oder bloß eine verbesserte treibe, kann die Analyse aktueller Proble-
Version des Homo sapiens? me nicht ersetzen. Wer sich mit konkreten
Harari: Das ist eine Frage der Definition. heutigen Missständen wie dem Syrienkrieg
Die Supermenschen, die in den nächsten oder der Schwulenfeindlichkeit in Russ-
hundert Jahren entstehen, werden sich ver- land auseinandersetzen will, muss andere
mutlich stärker von uns heutigen Menschen Fachleute fragen. Doch wir müssen auch
unterscheiden als wir vom Neandertaler das große Bild im Blick haben, nicht nur
oder vom Schimpansen. Insofern wäre es die Details des Tages. Ich möchte aber be-
aus biologischer Perspektive korrekt, von tonen, dass die Szenarien, die ich entwerfe,
einer neuen Spezies zu sprechen. besser als Möglichkeiten denn als Progno-
FLORIAN BAYER FÜR DEN SPIEGEL

SPIEGEL: Was geschieht dann mit dem sen begriffen werden. Es ist wichtig, sich
Homo sapiens? Würden wir verschwinden, klarzumachen, dass solche Entwicklungen
aussterben? Beseitigt werden? möglich sind. Das heißt nicht, dass es so
Harari: Falsch ist diese apokalyptische Hol- weit kommen muss. Noch – noch! – liegt
lywoodvorstellung von irgendwelchen mar- die Zukunft in unseren Händen.
tialischen Robotern, die die Macht ergrei- SPIEGEL: Herr Harari, wir danken Ihnen für
fen und alle Menschen umbringen. Viel dieses Gespräch.
DER SPIEGEL 12 / 2017 107
Goliath gegen David
Luftfahrt Hat ein vorbeifliegender Airbus A380 einen deutschen Business-Jet fast zum Absturz
gebracht? Ein haarsträubender Unfall könnte den Himmel für Flugzeuge künftig kleiner machen.

F
ür die Crew des luxuriösen Charter- Zwei der Insassen hatten sich schwer ver- beinahe abgestürzt wären: Wenige Augen-
jets aus München schien dies ein Rou- letzt. Per Luftambulanz wurden sie nach blicke bevor die Maschine unkontrollier-
tineeinsatz zu werden. Zwei Piloten Berlin gebracht. Die Kabine bot ein bare Rollbewegungen ausführte, wollen
und eine Servicemitarbeiterin sollten sechs Bild, als wäre darin eine Handgranate ex- die beiden Flugzeugführer einen Airbus
Urlauber von Malé auf den Malediven plodiert: Wandpaneele waren herausgebro- A380 gesehen haben, der in entgegen-
zurück nach Berlin chauffieren, mit einem chen, Armlehnen abgerissen, scharfkantige gesetzter Richtung auf sie zuraste.
Tankstopp in Abu Dhabi. Zu Beginn Trümmer bedeckten den Boden, Sauer- In mehr als zehn Kilometer Höhe don-
verstrich die Flugzeit wie gewohnt ereig- stoffmasken baumelten von der Decke. nerte der doppelstöckige Riesenjet über
nislos. Der Jet mit der amtlichen Registrierung die Challenger hinweg; der vertikale Ab-
Dann geschah es. Hoch über dem D-AMSC steht immer noch in Maskat. Flie- stand betrug 300 Meter – genau wie vor-
Arabischen Meer und aus heiterem Him- gen wird er nie wieder. Techniker des ka- geschrieben. Ihre Flughöhen waren beiden
mel brach die Hölle los. Eben noch lag der nadischen Herstellers Bombardier stellten Maschinen von der Flugsicherung zugewie-
zweistrahlige Business-Jet vom Typ fest, dass er in der kurzen Notsituation sen worden.
Challenger 604 ruhig in der Luft – nun nicht nur die maximale, sondern sogar die Kurz nach dieser Begegnung von Go-
aber wirbelte die 20-Tonnen-Maschine ultimative Belastungsgrenze um 30 Prozent liath und David wurde der Challenger
plötzlich herum wie ein Papierflieger im überschritten hatte. Dem Betreiber, der möglicherweise eine Wirbelschleppe zum
Windkanal. Charterfluggesellschaft MHS Aviation aus Verhängnis – ein turbulenter, unsichtbarer
Die linke Tragfläche schlug nach unten Oberhaching, bleibt keine Wahl, als die Minihurrikan im Gefolge des A380.
um. Dreimal rollte der Jet um seine Längs- bald 17 Jahre alte Maschine abzuschreiben. Alle Flugzeuge ziehen solche Luftwirbel
achse, er rüttelte und schüttelte, die Passa- Ereignet hat sich dieser Vorfall bereits hinter sich her; sie sind ein physikalisch
giere schrien; alle, die nicht angeschnallt am 7. Januar – doch er dürfte Behörden, unvermeidbarer Begleiter des aerodyna-
waren, flogen in der Kabine umher und Airlines und Hersteller noch eine Weile mischen Auftriebs. Doch je größer die
versuchten verzweifelt, sich an irgend- beschäftigen. Weil es sich um eine deut- Maschine, desto heftiger die Wirbelschlep-
etwas festzuklammern. Flug MHV 640 sche Maschine handelte, hat die Bundes- pe. Und je weiter die Spannweite, desto
stürzte in die Tiefe. stelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) in tiefer kann die kompakte Turbulenzzone
Als das linke Triebwerk zu überhitzen Braunschweig Ermittlungen aufgenommen. anschließend noch absinken, ehe sie sich
drohte, schalteten die Piloten es ab. Gleich- Zwei Experten sind nach Oman gereist, auflöst.
zeitig fielen wichtige Instrumente aus, die um das Wrack zu begutachten; die Flug- Kein Passagierflugzeug ist so groß wie
Bildschirme im Cockpit wurden schwarz. datenschreiber sind gesichert. Ein erster der A380 (maximales Startgewicht: 575
In weniger als 30 Sekunden hatte die Zwischenbericht soll in Kürze vorliegen. Tonnen). Keines hat eine größere Spann-
Challenger bereits 3300 Meter an Höhe Der Fall hat beträchtliche Brisanz, denn weite (80 Meter). Darum drängt sich auch
verloren. zumindest die Piloten der Challenger glau- der Verdacht auf, dass wohl keines eine
Endlich gelang es dem Kapitän, mit ge- ben zu wissen, weshalb sie mitten im Rei- größere Bedrohung für kleinere Maschinen
schickten Steuerimpulsen die Kontrolle zu- seflug, der eigentlich sichersten Flugphase, darstellt. Die Boeing 747-8, eine moderni-
rückzugewinnen. Er nahm das abgestellte sierte Version des Jumbojets mit verlän-
Triebwerk wieder in Betrieb, funkte eine Video: Wie Wirbelschleppen gerten Tragflächen, folgt allerdings knapp
Luftnotlage („Pan-Pan“) und landete au- wirken dahinter.
ßerplanmäßig auf dem Flughafen von Mas- spiegel.de/sp122017wirbelschleppen Aus Daten des Onlinedienstes Flight-
kat, der Hauptstadt von Oman. oder in der App DER SPIEGEL radar24.com, der den zivilen Flugverkehr

108 DER SPIEGEL 12 / 2017


Technik
Riesenflieger A380
„So etwas darf nie wieder passieren“

den Wirbelschleppen ein solcher Satz ge- wiesen werden kann, dann muss das Kon-
linge, sei bisher nicht bekannt. sequenzen haben“, fordert Steffen Fries,
Bislang galt der vertikale Abstand von Geschäftsführer von MHS Aviation. Es rei-
300 Metern zwischen Flugzeugen im Reise- che nicht, das Risiko zu minimieren. „Es
flug als sicher. Als Folge des Challenger- muss eliminiert werden“, sagt Fries. „So
Totalverlusts muss die internationale Zi- etwas darf nie wieder passieren.“ Nicht
villuftfahrtsorganisation ICAO womöglich nur Privatjets seien bedroht. „Sie sind der
neu nachdenken über die Höhenstaffelung Gefahr nicht minder ausgesetzt, wenn Sie
des Flugverkehrs. Sollten die Abstände er- in einem A320 oder einer Boeing 737 sit-
höht werden müssen, wäre dies ein Desas- zen“, sagt er.
ter und ein Rückfall. Über Deutschland fliegen jeden Tag
Jahrzehntelang hatten Flugzeuge im Rei- Dutzende Riesenjets vom Typ A380 – und
seflug vertikale Abstände von 600 Meter tatsächlich haben deren Luftwirbel auch
einzuhalten. Seit 1997 wurden über immer hier schon manchen Flieger im Reiseflug
mehr Regionen die 300 Meter eingeführt, durchgerüttelt. Wie aus Bulletins der BFU
seit November 2011 gelten sie weltweit. hervorgeht, geriet ein britischer A320 im
Experten feiern die geringere Sicher- Oktober 2011 über Braunschweig in die
heitsdistanz als Erfolg, denn in Zeiten boo- Schleppe eines australischen A380. Dabei
menden Flugverkehrs wurde dadurch die erlitt er so starke Vibrationen, dass sich
Kapazität des obersten Luftraums mit ei- sein Autopilot ausschaltete. Zuvor traf es
nem Schlag verdoppelt. Sie machte den bei Frankfurt einen französischen A320,
Airlines ein effizienteres, wirtschaftliche- der den Pfad einer Emirates-Maschine
ROBERT SCHLESINGER

res und sauberes Fliegen möglich. Nun kreuzte. Das kleinere Flugzeug rollte eben-
droht vielleicht wieder die Halbierung und falls heftig um die Längsachse nach links
damit Platznot – und zwar nur deshalb, bis zu einer Neigung von 30 Grad.
weil unter den mehr als 20 000 kommer- Fries hatte seine Piloten („Die haben
ziellen Verkehrsflugzeugen und über eine unglaubliche Leistung erbracht“) nach
10 000 Privatjets bisher 208 A380 und 110 dem Unfall sechs bis acht Wochen vom
aufzeichnet, geht hervor, dass zur Unfall- 747-8 sind, die mit ihrer Gigantomanie und Flugdienst freigestellt und psychologisch
zeit am 7. Januar gleich vier der Ungetüme etwas Pech zur tödlichen Gefahr für ihre betreuen lassen. Danach fingen sie wieder
unweit der Challenger über dem Arabi- Umgebung werden können. langsam mit dem Simulatortraining an.
schen Meer unterwegs waren: drei A380 Piloten haben es in der Hand, die Risiken Die Verletzten aus der Challenger haben
der Fluggesellschaft Emirates, eine von ihrerseits ein wenig zu mindern. In vielen ihre Blessuren inzwischen auskuriert. In
Qantas. Allesamt flogen sie von Dubai nach Regionen fliegen sie nicht genau auf der Kürze wollen die Überlebenden von Flug
Australien. Eine von ihnen könnte den Ge- Mittellinie einer Luftstraße, sondern absicht- MHV 640 in Berlin zusammenkommen
schäftsflieger um genau 9.39 Uhr deutscher lich ein Stückchen links oder rechts daneben. und die Tatsache feiern, dass sie nicht im
Zeit fast ins Verderben gerissen haben. Die Gefahr einer Kollision mit einem Wirbel Arabischen Meer versunken sind.
Simon Hradecky, der österreichische wird dadurch kleiner. In Arbeit sind auch Wirklich vorbereitet waren die Piloten
Betreiber des Flugsicherheitsportals The Wirbelschleppen-Warngeräte; diese aber für diesen Notfall nicht: Wie man aus einer
Aviation Herald, geht noch weiter. Obwohl sind noch Jahre von der Marktreife entfernt. solchen Rolle heil herauskommt, lässt sich
die Datenlage nicht eindeutig ist, weil es „Wenn ein Zusammenhang mit diesen im Simulator nicht erlernen. Marco Evers
in der betreffenden Region keine Radar- Wirbelschleppen und unserem Unfall be- Mail: marco.evers@spiegel.de
abdeckung gibt, glaubt er, den Übeltäter
benennen zu können: Flug EK 412 von
Emirates, unterwegs nach Sydney, ausge-
führt von einem fabrikneuen A380. Tornados im Schlepptau
Ein Airbus-Sprecher hingegen sagt: Luftverwirbelungen als Ursache
„Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keinen von Flugunfällen
Nachweis, dass eine A380 am Vorfall
beteiligt ist.“ Die BFU hat inzwischen Jedes Flugzeug verursacht in seiner Darstellung nicht
bei den entsprechenden Airlines Unterla- Umgebung Turbulenzen. Es zieht zwei gegeneinander maßstabsgerecht
gen zu den fraglichen Flugverläufen ein- verdrehte, unsichtbare Wirbelschleppen hinter sich her,
geholt. die, von den Tragflächenspitzen ausgehend, allmählich
Frank Holzäpfel ist Strömungsspezialist absinken und an Kraft verlieren. Mit seiner riesigen Spann-
beim Deutschen Zentrum für Luft- und weite von beinahe 80 Metern hinterlässt der A380
Raumfahrt. Seit Jahren untersucht er Wir- womöglich langlebige und tief reichende Wirbelschleppen,
belschleppen, auch die des A380. Ob ein die für kleinere Flugzeuge eine Gefahr darstellen können.
solcher bei diesem Unfall eine Rolle spielt,
hält auch er nicht für erwiesen – aber auch
nicht für unwahrscheinlich.
„Unter geeigneten meteorologischen Be-
dingungen“, urteilt Holzäpfel, „können die
Wirbelschleppen eines A380 auch über So geriet am 7. Januar offenbar eine Challenger 604, die 300 Meter
eine Distanz von mehr als 300 Metern ab- unterhalb eines A380 in Gegenrichtung flog, außer Kontrolle, als sie
sinken“ – und somit in die Flugbahn der unerwartet in eine Wirbelschleppe eintauchte. Erst nach einem Sturzflug
Challenger gelangt sein. Solch ein Hergang von 3300 Metern gelang es den Piloten, die Maschine wieder abzufangen.
sei „ein denkbares Szenario“. Wie häufig
DER SPIEGEL 12 / 2017 109
Kultur
DAVID REDFERN / REDFERNS / GETTY IMAGES

WOWE / RAPHO / LAIF


Dusty Springfield um 1965 Andy Warhol 1986

Mode
Aufgeplustert
Die Perücke gilt als verzopft, aus der Zeit gefallen, ein Acces- zurück und von dort auf perroquet, den Papagei, einen bunt
soire für Karnevals- und Kostümfeste, längst nicht mehr für aufgeplusterten, zum Geplapper neigenden komischen Vogel.
den Alltag. Der mexikanische Essayist und Dichter Luigi Womit wir bei Donald Trump wären. Das Haar des US-Präsi-
Amara hingegen erkennt in ihr den Vorläufer der allgegenwär- denten soll echt sein, aber es ist so perückenartig arrangiert,
tigen Selbstoptimierung und Selbstermächtigung, den hoch- dass es seit Monaten für Spott und Spekulationen sorgt; sein
modernen Versuch, die Beschränkungen des Körpers zu über- Haarhelm ist derart zum Symbol geworden, dass Karikaturis-
winden und die Zufälligkeiten der Identität aufzuheben, auch ten nur ihn zu zeichnen brauchen, wenn sie den ganzen Mann
die der geschlechtlichen. Die Perücke als Verbündete alles meinen. Auf Hochzeiten der Perücke, schreibt der Mexikaner
Androgynen und als erster Schritt in die Cyborg-Ära: Sie kün- Amara, seien oft revolutionäre Umwälzungen gefolgt: im al-
dige, so schreibt Amara in seiner Kulturgeschichte des künst- ten Ägypten, im alten Rom, in der französischen Monarchie.
lichen Haars Die Perücke (Berenberg), jenen radikalen Wandel Daher könne eine eventuelle Perückenrenaissance den An-
unserer Körperpolitik an, „der das biologische Erbe zum simp- fang eines neuen Endes markieren. Wohlgemerkt: Bislang ist
len Entwurf degradiert“. Das Wort selbst führt Amara in sei- diese nicht in Sicht, bislang ist Trumps Haar kein Modetrend.
nem klugen Gedankengeflecht auf das französische perruque Außer kürzlich an Karneval. tob

Dokumentationen Der österreichische Filme- und Hühner, hilflos verteidigt weckt Schabus die Sinne.
Verlorene Scholle macher Robert Schabus, auf von Bauern, die großteils von Denn er zeigt auch Men-
einem Bauernhof aufgewach- Subventionen leben und schen, die sich für das begeis-
Immer wieder sieht man, sen, zeigt in seiner Doku- kaum eine Zukunft für sich tern, was sie herstellen, die
wie Kühe mit prallen Eutern mentation Bauer unser eine und ihre Zunft sehen. Man gern riechen und schmecken
im Stall stehen und sich me- durchökonomisierte, voll kann bei diesem Film ziem- und von Kopf bis Fuß ver-
tallene Arme, von Compu- indusrialisierte Landwirt- lich deprimiert werden und liebt sind in die Natur – auch
tern gesteuert, ihren Zitzen schaft – ein Albtraum mas- womöglich sogar die Lust am dann, wenn sie zum Verzehr
nähern, um sie zu melken. senproduzierter Schweine Essen verlieren. Und doch bestimmt ist. lob

110 DER SPIEGEL 12 / 2017


Kino Mädchen eintauchen möchte Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
Pubertäterinnen oder die Ratlosigkeit der El-

Sie sind bereit, nach Syrien


tern zeigen will. Mal sollen
die Zuschauer die schwärme-
Unnützes Wissen
in den Dschihad zu ziehen, rische Begeisterung von Méla- Von Jane Austen wissen wir nicht nur,
die beiden Mädchen, von de- nie verstehen, die rund um dass sie scheu mit ihrem Namen um-
nen die französische Regis- die Uhr mit einem Islamisten ging (ihre Bücher erschienen mit der
seurin Marie-Castille Mention chattet. Und im nächsten Mo- Autorschaft „by a lady“), sich nie-
Schaar in ihrem Film Der Him- ment sollen sie die Gefühle mals verlobte und im ländlichen Süd-
mel wird warten erzählt. Wie der verzweifelten Mutter tei- england zu Zeiten Georgs IV. und
es dazu kam, dass sich die 16- len. Der ständige Perspektiv- Napoleons das insgesamt nicht un-
jährige Mélanie (Naomi wechsel führt dazu, dass der komfortable, aber doch eingeschränkte
Amarger) und die 17-jährige Zuschauer keiner der Figuren Leben einer Tochter, Schwester und Tante
Sonia (Noémie Merlant) vom wirklich nahe kommt und führte. Wir wissen auch, dass sie mit all diesen Beschrän-
westlichen Lebensstil ab- ihm die Mädchen am Ende so kungen höchst produktiven Umgang pflegte: Die Anony-
wandten und radikalisierten, fremd sind wie am Anfang. mität – aus Gründen der Sittlichkeit ratsam – bereitete
erfährt der Zuschauer nur in Die spannende Geschichte ihr still lächelndes Vergnügen, Ehe- und Kinderlosigkeit
Bruchstücken. Der Film kann wird in den Mühlen eines be- bescherten ihr freie Zeit zum Schreiben, und aus ihrer
sich nicht entscheiden, ob flissenen Sozialarbeiterkinos Unverstricktheit in Pädagogik- und Beziehungsprobleme
er ins Innenleben der beiden zerrieben. lob (von mindestens einer unglücklichen Liebe, wie sie zur
Erziehung des Herzens gehört, einmal abgesehen) ent-
wickelte sich eine so kluge wie nüchterne Beobachtungs-
gabe. Vor allem aber machte sie aus der Begrenztheit
Filmwirtschaft vie“, zwei der erfolgreichsten ihrer Welterkundungsmöglichkeiten eine literarische Tu-
China zuerst! amerikanischen Produktio- gend: Sie schrieb ausnahmslos über Dinge, von denen
nen dieses Jahres, in den sie etwas verstand. So gibt es in ihren sechs Romanen kei-
Seit Jahren sagen Holly- USA und Kanada. Tatsäch- ne einzige Szene, in der Männer unter sich sind.
woods Branchenexperten vo- lich trägt China, von US-Prä- Jetzt wissen wir, dass ihr Werk auch in anderer Hin-
raus, dass der chinesische den sident Trump gern als wirt- sicht ein besonderes ist: Der Mathematiker Ben Blatt
nordamerikanischen Kino- schaftlicher Konkurrent ver- schickte große englischsprachige Literatur durch ein Ich-
markt hinter sich lassen wird. dammt, sogar zur Rettung zähl-dir-was-du-willst-Computerprogramm und fand
Möglicherweise wird dies viel kostspieliger Hollywoodflops heraus, dass Austen die einzige Autorin von Rang ist, die
eher der Fall sein als bislang bei. Der 85 Millionen Dollar das Wörtchen „she“ in jedem ihrer Romane häufiger
angenommen. Das Jahr 2017 teure Agententhriller „xXx: verwendet als das brüderliche Alternativpronomen.
könnte hierbei ein Meilen- Die Rückkehr des Xander Selbst bei feministischen Heroinen der Literaturgeschich-
stein sein. Seit Anfang des Cage“ mit Vin Diesel in der te wie Virginia Woolf, Charlotte Brontë oder Zadie
Jahres haben die Action- Hauptrolle kam in China auf Smith gibt es mindestens ein Buch, in dem das männliche
komödie „Kung Fu Yoga“ mit über 160 Millionen Dollar – Fürwort öfter auftaucht als sein Gegenüber.
Jackie Chan und das Fantasy- fast viermal so viel wie auf Die literarische Klasse Austens zeigt sich allerdings in
spektakel „Journey to the dem heimischen Markt. Da- einem Detail, dessen Entdeckung der erfahrungsgesättig-
West: The Demons Strike mit mehren sich die schon seit ten, aber eben auch kreativen Musterung Blatts zu ver-
Back“ allein in China rund längerer Zeit kursierenden danken ist: Austen ist die Einzige aller untersuchten
500 Millionen Dollar ein- Gerüchte, chinesische Inves- Autoren jedweden Geschlechts, die auf Tiermetaphern
gespielt – fast doppelt so viel toren könnten in absehbarer ganz und gar verzichtet. Kein mäuschenstilles Betragen
wie „Fifty Shades Darker“ Zeit eventuell ein Hollywood- gesitteter junger Damen, kein Wolfshunger bei jungen
und „The Lego Batman Mo- studio übernehmen. lob Männern, kein schlauer Fuchs unter den Nachbarn, kein
Unbeholfener stumm wie ein Fisch, kein Gentleman
stolz wie ein Pfau, kein Elefant im Porzellanladen weit
und breit. Vermutlich hat die modebewusste Schriftstelle-
rin, im Regelfall zart beschuht und im naturuntauglichen
Empirestil gewandet, sich ungern in der Nähe von frosch-
bekränzten Teichen oder fliegenbevölkerten Ställen
aufgehalten; ihre Erfahrung mit Viehzeug aller Art wird
sich auf sentimental glotzende King-Charles-Spaniel
beschränkt haben.
Keine Überraschung also, die Erkenntnis der zählen-
den Literaturwissenschaft, was die sittsame, scharfsinnige
und gar nicht schafsgesichtige Lady Jane betrifft, aber un-
nützes Wissen schadet ja am wenigsten. In John Ronald
Reuel Tolkiens „Hobbit“ taucht „he“ 1900-mal auf, „she“
aber buchstäblich nur einmal, als es nämlich um Bilbo
Baggins Mutter geht. Ganz sind sie nicht einmal aus der
schönsten aller Welten auszuschaffen, diese lästigen Zwei-
beiner mit Vagina und Busen.

Szene aus „Journey to the West: The Demons Strike Back“ An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und Nils Minkmar im Wechsel.

DER SPIEGEL 12 / 2017 111


Kultur

Sanfte Patrioten
Literatur Litauen hat seine Sprache als Hort des Widerstands
bewahrt. Seine Autoren, zu Gast auf der Leipziger
Buchmesse, erzählen aus der Mitte Europas. Von Elke Schmitter

W
enn man in einem kleinen Land mals Lenin-Prospekt, vormals Stalin-Pro-
im Osten Europas lebt, dann spekt, vormals Mickiewicz-Prospekt, vor-
kann man in diesen Wochen mals Sankt-Georgs-Prospekt, leuchtet die
schon mal nervös in die Zukunft und in weiße Kathedrale, vormals Gemäldegale-
den Himmel gucken. Die provozierenden rie, vormals Kfz-Reparaturwerkstatt, an
Flüge der russischen Luftwaffe am Rande seiner Spitze die riesige Kirche der Got-
des litauischen Territoriums haben zwar tesmutter mit ihren schwarz bekränzten
wieder ausgesetzt. Sie wurden von Flug- Kuppeln. Den Kaufmannsklub krönt eine
zeugen der Nato, die umgehend aufstiegen, Atlasfigur, die das Gewicht der Welt mit
so gewissenhaft wie fürsorglich bis zur überraschender Anmut trägt. Ein Jüngling
Grenze zurückeskortiert. Aber sie waren eher als ein Titan. In etwa dessen Alter
eben irregulär, unangekündigt – kleine De- war der amtierende Außenminister, als Li-
monstrationen einer großen Macht, dass tauen sich 1990, beflügelt vom Fall der
sie sich nicht an Verträge halten muss, Mauer, ermutigt von der Perestroika, als
wenn sie es nicht will. erste Republik der Sowjetunion zum sou-
Unter dem weiten litauischen Himmel veränen Staat erklärte. Und er war dabei,
kommt man auf dem Weg von der baro- als vor 26 Jahren, beim „Blutsonntag“ im
cken Altstadt von Vilnius zum Außenmi- Januar 1991, sowjetische Panzer unbewaff-
nisterium am Kaufmannsklub vorbei, ei- nete Landsleute unter sich begruben. 14
nem massiven Eckgebäude im Jugendstil. Demonstranten starben bei dem erfolglo-
Am Fuße des Gediminas-Prospekts, vor- sen Putsch; im Sommer darauf erkannte
Europa die Unabhängigkeit der baltischen
Staaten an.
Lebenszeit und Weltzeit, für Linas
Linkevičius fielen sie zusammen. Seit
dieser Zeit ist er in diversen politischen
Ämtern, als Außenminister nun in der
neuen Regierung, von der auch nach den
ersten hundert Tagen noch niemand
genau zu sagen weiß, was sie eigentlich
vorhat. Der Bund der Bauern und
Grünen, eine Protestpartei. Chef und
Finanzier der mächtigste Landwirtschafts-
unternehmer, Sohn eines Kolchosenchefs;
die zweite, vom mafiösen Schatten
fast schon befreite Generation. Einer von
denen, die gegen das Establishment antre- Es laufen ihm auch die Leute weg. Ein
ten, obwohl sie Establishment sind, aber Prozent seiner Bevölkerung verliert Litau-
eben von der sich volksnah gebenden en jährlich an das besser gestellte westliche
Sorte. Ausland. Traurige Patrioten, häufig gebil-
The times, they are a-changin’, und Li- deter als der Durchschnitt, die wie ihre
tauen ist dabei, weil es muss. Und dann Brüder und Schwestern aus den anderen
EKKO VON SCHWICHOW

ist da ja auch noch Angela Merkel, glück- krauchenden Ländern der Europäischen
licherweise, Leute wie sie braucht man in Union in London Taxi fahren, in Berlin
Europa, und sie ist der Leuchtturm zwi- Altbauten sanieren, in Rom Alte pflegen
Schriftsteller Ališanka schen den Funzeln, über die Linkevičius oder in Dublin Kreditgeschäfte tätigen. Ei-
kein böses, nicht mal ein enttäuschtes Wort nen Teil ihres Gehalts nach Hause über-
verliert: Weder zielführend noch produk- weisen und davon träumen, irgendwann
tiv wäre antieuropäischer Gossip, und dass wieder mit der Großfamilie Blynai zu spei-
dieser energische Patriot der ersten natio- sen, im See zu baden und auf der Veranda
Eugenijuš Ališanka nalen Stunde weder Tage noch Kombat- der Datscha Mücken zu töten. Woanders
Risse. Essays tanten zu verlieren hat, daran kommen mag es komfortabler sein, aber wer ver-
Aus dem Litauischen keinerlei Zweifel auf. Prinzipien zu formu- steht einen schon?
von Claudia Sinnig. lieren, Kant und die Weltgesellschaft an- Das Litauische ist eine der Sprachen
Klak; 272 Seiten; zurufen ist etwas für die Steinmeiers dieser Europas, die sich im Laufe der Jahrhun-
16,90 Euro. Welt. Er hat keine Zeit dafür. derte am wenigsten verändert haben; sehr

112 DER SPIEGEL 12 / 2017


SAULIUS ZIURA / EST&OST
Stadtansicht von Vilnius: In einem kleinen Land im Osten Europas kann man schon mal nervös in die Zukunft und auch in den Himmel gucken

kompliziert zu lernen, ohne Ähnlichkeit Territorium war – wer weiß, ob die Spra- Dunkelheit niederlässt, die aus längst ver-
mit den slawischen Nachbarn – Polnisch, che dieses kleinen Volkes überhaupt noch gangenen Jahrhunderten zu kommen
Ukrainisch, Russisch –, die sich mit gutem unter den Lebenden wäre? scheint.
Willen von selbst verstehen. Eine Vorliebe So aber sind die Litauer, heute nicht ein- Als kleines Kind kam Ališanka mit sei-
für Diminutive zeichnet diese indogerma- mal drei Millionen Leute, Sprachpatrioten nen Eltern, Verbannte in Sibirien, Anfang
nische Sprache aus; für manche Worte gibt geworden. Litauisch schreiben, das hieß der Sechzigerjahre in deren Heimat zu-
es 15 Verkleinerungen, Verzärtlichungen, im 19. Jahrhundert: Teil einer Empörungs- rück. Die Familie ergattert ein Zimmer im
Verästelungen, was naturgemäß für die bewegung sein und der Überlieferung von Deutschen und Russen gründlich rui-
klassische Lyrik prädestiniert: hier hat der treu bleiben. Es braucht nicht immer eine nierten Vilnius, in seinem nun erscheinen-
Reim unendliches Spiel. Auch entscheidet, Hermannsschlacht. Und so ist das Land den autobiografischen Essay erinnert er
wie in diversen asiatischen Sprachen, der der litauischen Sprache Gast der Leipziger sich: „Die Wasserpumpe ist im Hof. Im
Ton über die Bedeutung – derselbe Laut, Buchmesse in diesem Jahr, und der Es- Winter – überall vereiste Wasserlachen,
in verschiedenen klanglichen Höhen arti- sayist und Lyriker Eugenijuš Ališanka lädt wir holen das Wasser mit dem Schlitten.
kuliert, zeigt ganz Unterschiedliches an. in seine Schreibklause vor der Hauptstadt Die Toilette – ein schiefer Holzschuppen
Hätte Zar Alexander II. in seiner unendli- ein. Es gibt Strom, aber keine Wasser- mit drei Kabinen und geweißten, abblät-
chen Weisheit nicht angeordnet, dass das leitung. Bruder und Vater leben im selben ternden Wänden. Auf dem Boden – ein
lateinische Alphabet keine zugelassene Dorf. Ein scheußlicher großer Kasten Meer aus Scheiße und gelbem Urin, in dem
Verschriftlichung sei, sondern alles in der aus Leichtmetall und Plastik jenseits der sich Millionen weißer Würmer winden. In
kyrillischen Schrift notiert werden müsse, dürftig asphaltierten Straße. Ansonsten die Wände gebohrte Löcher, durch die die
als er der Herrscher über das litauische Wald, über dem sich in der Nacht eine von Eros geweckten Halbwüchsigen ver-
DER SPIEGEL 12 / 2017 113
Kultur

botene Früchte zu erkennen versuchen. Die Spätphase des sowjetischen Re-


Chruschtschows Tauwetterperiode.“ gimes ist Material für die Autoren, die sich
Das Baltikum zahlte seine Strafe für den an ihre semirussische Jugend erinnern. Mit
Widerstand gegen die sowjetische Anne- ironischer Eleganz feiert der Essayist Lau-
xion, der in Litauen am längsten dauerte rynas Katkus in seinen „Moskauer Pel-
und der erbittertste war. Es war ein ganz meni“ den Reiz der Sprache des Okkupa-
aussichtsloser Kampf, denn die Zahl der tors, „umso mehr, als die unschuldigen li-
Aufständischen war endlich, während der tauischen Flüche, Wendungen wie ,zum
soldatische Nachschub der Besatzer un- Teufel‘ oder ,du Kröte‘, die lahmen länd-
endlich war. Dennoch hielten sich die Par- lichen Vergleiche, himmelweit entfernt wa-
tisanen in den riesigen Wäldern über viele ren von der urbanen Wirklichkeit“. Wie
Jahre, verlorene Trupps aus republika- in allen posttotalitären Literaturen geht
nischen Nationalisten, katholischen Pries- es darum, die private Erfahrung aus der
tern, aus Kriegswaisen, Antistalinisten und verordneten sozialen Realität zu sieben,
litauischen Nazis; 1965 wurde der letzte um die Essenz der Wahrhaftigkeit zwi-
„Waldbruder“ verhaftet. Die jüdische Be- schen Sentimentalität und Anpassung
völkerung des litauischen Jerusalem, oder Verdammung. Und sich zu vergewis-
wie man Vilnius, ehemals Wilna, nannte – sern, dass man trotz allem lebendig war.
um die 30 Prozent seiner Einwohner „Die Daten von Geburt (1960) und Tod
waren Juden –, hatten nationalsozialis- (?)“, so beginnt die 56-jährige Giedra Rad-
tische Kommandos beinahe gänzlich aus- vilavičiūtė ihren gerade übersetzten per-

EKKO VON SCHWICHOW


gerottet, kolonnenweise aus dem Getto in sönlichen Essay, „sind nur ein Zufall in
der Altstadt in den nahen Wald von Ponar der Biografie eines Menschen. Manchmal
zur Erschießung gebracht. sogar ein Fehler: Es kommt vor, dass ein
Zwischen 1941 und 1944, während der Autor Katkus Mensch früher zu leben aufhört, als er
Nazi-Okkupation, starben 200 000 jüdische stirbt.“*
Litauer. Um zu verstehen, was im Getto Das litauische Leben seit 1991 ist voller
von Vilnius passiert ist, empfiehlt der Über- unerwarteter Sprünge. Bis zur internatio-
setzer und Autor Cornelius Hell, der mit nalen Finanzkrise 2008 waren die balti-
seinen Büchern die Stadt wieder in das li- schen Staaten geradezu vorbildhafte Jung-
terarische Gedächtnis Europas einzuschrei- Laurynas Katkus mitglieder Europas – weniger korrupt als
ben sucht, „eher, das grandiose Stück Moskauer Pelmeni die armen Cousinen, die Rumänen oder
,Ghetto‘ des israelischen Dramatikers Je- Aus dem Litauischen Bulgaren beispielsweise, mit einer auch
hoschua Sobol zu sehen, das hier spielt, von Claudia Sinnig. protestantisch geprägten Mittelschicht in
als die ehemaligen Straßen des jüdischen Leipziger Literatur- den alten Hansestädten Tallinn und Riga,
Viertels abzugehen“. Auf dem Platz der verlag; 120 Seiten; mit dichten und langen Adern in die west-
von den Sowjets niedergebrannten Syna- 12,95 Euro. europäische Kultur und einem gepflegten
goge steht nun ein Kindergarten, als sollte patriotischen Eigensinn. Der ehemals preu-
die Unschuld der Kleinsten beim großen ßische Teil Litauens, in dessen Küstendorf
Vergessen helfen. Die Formel des „stalinis- und Stahl mitten / durchs Herz von Europa, Nida auf der Kurischen Nehrung Thomas
tischen Genozids“, mit der sowjetische vom Baltikum ...“, so heißt es in der „Vil- Mann seinen Josephsroman begann, ist
Verfolgung, Deportation und Vernichtung nius-Ballade“ von Henrykas Nagys. Der eine alte deutsche Sehnsuchtslandschaft.
dem Mord an den Juden gleichgestellt wer- berühmteste Dichter Litauens, Tomas Johannes Bobrowski, 1956 verstorben, ist
den sollen, hat auch in Litauen ihre Wir- Venclova, von den Sowjets 1977 ausgebür- eine auch hier bekannte Größe, sein Le-
kung getan; das Museum der Opfer des gert und seit 1985 Professor in Yale, schlägt bensthema, der europäische Osten und die
Genozids ist, bis auf einen nachträglich den Begriff „Stratozid“ für diese Art der „Geschichte von Unglück und Vertreibung
eingerichteten Raum, allein den nicht jü- systematischen Gewaltausübung vor, weil seit den Tagen des Deutschen Ordens“,
dischen Opfern seit 1944 gewidmet. Das es nicht um ethnische Verfolgung ging, son- von großer Präsenz. Weil Berlin den Nach-
schönste Denkmal für Hilfe und Wider- dern um jene gesellschaftlichen Gruppen, lass dieses Autors mit gelassener Gleich-
stand blüht in jedem Sommer mehrere Wo- die Stalin für eine Bedrohung seiner Herr- gültigkeit hat ziehen lassen, gibt es nun
chen lang: Es sind die hundert japanischen schaft hielt: erst die Gebildeten, dann die ein Bobrowski-Museum in seinem Heimat-
Kirschbäume, die zur Erinnerung an den Bauern, die sich der Kollektivierung wi- ort Vilkyškiai, ehemals Willkischken, in
japanischen Konsul gepflanzt wurden, der dersetzten. Mehr als 350 000, die in Sibirien der litauischen Provinz – schwer zu errei-
bei seiner Ausweisung noch aus dem Zug verschwanden, bis jeder dachte, dass auch chen und eine trübe Beglaubigung seiner
Stempelkissen und Ausreiseformulare an sein Bleiben nicht sicher war. Zeilen über die Sprache, „abgehetzt / mit
die Zurückbleibenden verteilt haben soll. dem müden Mund / auf dem endlosen

V
Aber auch die katholische Kirche hat enclova, 80, ist gewissermaßen Weg / zum Hause des Nachbarn“.
hier eine weniger sinistre Rolle gespielt als der Alterspräsident der litauischen Wie von einer Ziehharmonika weit und
in anderen europäischen Ländern; vielfach Lyrik. Das „Haus der Schriftsteller“ wieder eng und wieder weiter gezurrt er-
half sie, jüdische Mitbürger und Wider- in Vilnius, in dem sein Vater als Funktio- scheinen Litauens Grenzen, die heute
ständler zu verstecken. Ihre Protokolle när residierte, ist noch derselbe düstere bescheiden gezogen sind, zwischen der
sind das umfassendste Dokument Ost- Palast wie ehedem: dunkle Kassettende- russischen Oblast Kaliningrad, Weißruss-
europas über den stalinistischen Terror, cken, schwere Lüster, vertäfelte Wände – land, Lettland und Polen. Es war einmal
der den alten Leuten noch in den Knochen und neben dem riesigen Schreibtisch des
sitzt, den jüngeren im Gemüt. Es gibt wohl Sekretärs ein elfenbeinfarbenes Telefon, * Giedra Radvilavičiūtė: „Der lange Spaziergang auf ei-
keine litauische Familie, die nicht Opfer wie in der Kulisse für einen Spielfilm über ner kurzen Mole“. Aus dem Litauischen von Cornelius
zu beklagen hat. „Es schleichen / Drohung den KGB. Hell. Corso; 144 Seiten; 19 Euro.

114 DER SPIEGEL 12 / 2017


ein Großfürstentum, das von der Ostsee Gegenwart spielenden Szenen sind im „chi-
bis zum Schwarzen Meer reichte, und ein nesischen Viertel“ situiert, einem winzigen
Hort religiöser und ethnischer Toleranz, Teil von Vilnius, das sich für seine touristi-
ein mächtiges Vielvölker- und Vielspra- schen Besucher als verwunschene Barock-
chenreich, doch es hat diese große Vergan- stadt zeigt: laute Höfe, in denen man sich
genheit nie für imperiale Retroträume ge- glücklich verlaufen kann, lauter geweißte
nutzt. In einem Jazzklub am Bahnhof fei- und stolze Kirchen, auf die ein milde schim-
ert am Abend die Jugend, man hört Eng- merndes Gaslicht fällt, lauter niedrige, sanft
lisch und Deutsch – die Universität, eine geschwungene Mauern und Häuser in höf-
der ältesten Europas, hat einen guten lichen Farben, die von Burger King und
Ruf –, und plötzlich wird einem klar, dass anderen Verbrechen der Moderne gar
es nur in wenigen Institutionen jene Si- nichts zu wissen scheinen. Restaurants, die
cherheitskontrollen gibt, die in vielen west- mit Souveränität und Stolz historische Re-
lichen Metropolen längst schon lästiger zepte servieren, und eine Universität, die
Standard sind. Der Terrorismus scheint in mit ihren Höfen in spielerischer Verschach-
diesem inzwischen ethnisch äußerst homo- telung vergangene Epochen bis zur Renais-
genen Land ein fernes Phänomen. Gleich- sance reinszeniert.
wohl wird ein Zaun gebaut. Und dann gibt es die Trabantenstädte
Mit Unterstützung der europäischen Ge- davor. Und Rentnerinnen, die wie in so
meinschaft will Litauen so die Grenze zum vielen Städten Osteuropas mit selbst ge-

AGN&#279; GINTALAIT&#279;
russischen Kaliningrad sichern – gegen pflückten Blumensträußen in der Kälte auf
Schmuggel, wie die Regierung betont. Psy- der Straße stehen, und ältere Männer, die
chologisch mag es eine Stütze sein, denn wie in den deutschen Städten die Abfall-
ein Szenario entfaltet der Litauer immer eimer nach Altglas und Pfandflaschen
wieder, wenn man auf die Sicherheitslage Literatin Radzevičiūtė absuchen. Nur Bettler und Obdachlose, die
zu sprechen kommt: Es gibt zwar nur etwa sieht man nicht. Und man weiß nicht, wem
sechs Prozent Russen in Litauen, also deut- man glauben soll: dem kanadischen Autor
lich weniger als bei den baltischen Freun- Laimonas Briedis, in Litauen geboren
den Lettland und Estland. Doch wie ein- und nun Verfasser einer klugen Stadtge-
fach könnte es sein, ein paar Übergriffe schichte, der die Morbidität einer Nation
zu inszenieren, nach denen die scheinbar beklagt, die vor allem von Hoffnungen
bedrohten und unterdrückten russischen Undiné Radzevičiūtė und europäischen Subventionen lebt?
Staatsbürger dringend des militärischen Fische und Drachen Oder dem Eindruck einer Gesellschaft, die
Beistands bedürfen, so wie in der Ukraine Aus dem Litauischen von mit enormer Zivilität, mit Duldsamkeit
und letzthin auf der Krim? Cornelius Hell. und Energie darauf setzt, dass sie die Mitte
Residenz; 400 Seiten; Europas ist?

S
o lange, heißt es, haben wir uns da- 24 Euro. Vor etwa einem halben Jahrtausend, im-
mit abgekämpft, euch Leichtgläubi- merhin, hat dieses Land darum geworben,
gen aus dem Westen unsere Erfah- dass man sich in seinen Städten niederlässt:
rung zu vermitteln, dass es mit Russland alles wird von einem einflussreichen, ge- Alle Religionen willkommen, christliche
keinen Frieden gibt, der nicht auf Wehr- heimen Personenkreis geschaffen und ge- Ritter aber nur ohne Schwert! Und drei
haftigkeit beruht, wir sind erschöpft von plant, möglicherweise von der Regierung Kalender – der jüdische, der orthodoxe
eurer komfortablen, satten und freundli- eines anderen Landes und den von ihr be- und der christliche – waren ohne Aufhe-
chen Ignoranz. Nun habt ihr selbst mit auftragen Organisationen (von der CIA!). bens gleichzeitig gültig.
Fake News zu tun, wie sie uns seit Ewig- Ohnehin verbirgt sich hinter allen Ten- Das eine Stadttor, auch Tor der Morgen-
keiten geläufig sind. Vielleicht könnt ihr denzen dieser Welt eine mächtige und röte oder Ostra Brama genannt, gibt es
euch nun ein wenig besser hineinversetzen böse Macht“. noch, durch das die Pilger, die Einwande-
in ein Volk – und hier sind die Russen ge- So sieht es aus in der Mitte Europas, zu rer, die Schutzsuchenden und Erschöpften
meint –, das so viele Male zum Narren ge- der man Vilnius wohl zählen darf: Gerade kamen: Es beherbergt eine Madonna, die
macht worden ist, dass es gar keiner Infor- mal 25 Kilometer entfernt liegt das Dorf es barhaupt zu grüßen galt, weshalb die
mation mehr glaubt, sondern nur noch zwi- Purnuškės, in dem eine helle Säule auf rot Juden und später die Atheisten der Stadt
schen Verdächten und Ahnungen treibt? gepflastertem Grund die Berechnung des auch im bitteren litauischen Winter gleich
Dort wird es schlicht für unmöglich erach- französischen geografischen Instituts doku- ohne Kopfbedeckung unterwegs waren, so-
tet, formuliert es der 45-jährige Katkus, mentiert. Vor 230 Jahren hatte der Aufklä- dass sie nicht vor der ungemütlichen Al-
„dass bedeutende Ereignisse einfach so, rer Georg Forster, der weitestgereiste Eu- ternative standen, sich zu verleugnen oder
von selbst, geschehen, dass ihre Ursachen ropäer seiner Zeit, in Vilnius eine Professur verhaftet zu werden. Aber was war es für
wirklich diejenigen sind, die auf den ersten für Naturgeschichte. Nun legt die Kunst- ein Gefühl, nach wochenlangen Märschen
Blick dafür gehalten werden, und dass ihre historikerin Undiné Radzevičiūtė einen Ro- und Ritten durch endlose Wälder auf diese
wesentlichen Folgen sich auf das Unmit- man vor, der von einem italienischen Je- Stadt in freundlicher Senke zu stoßen, von
telbare beschränken; es kann einfach nicht suiten erzählt, der in China die europäische Weitem sichtbar durch ihre Kathedrale
sein, dass eine Nachricht nur das bedeutet, Malerei etablieren soll: Vom Gegner lernen, und ihren Glockenturm, einen Hort der
was sie bedeutet – nein, in Wirklichkeit das macht wahre Größe aus. Mit diesem in Zivilisiertheit und Urbanität? „Man taucht
(oh, wie angenehm und großartig es sich viele Länder bereits verkauften Buch legt schwer“, sagt die Bulgarin Aksinija Michai-
ausspricht, dieses in Wirklichkeit) nutzt all die erzählende Literatur Litauens von ih- lowa in ihrem Gedicht „Zwischen der Grü-
das irgendein ganz anderer, irgendjemand rem Ufer ab, von ihrer Geschichte von Tei- nen und der Weißen Brücke“ über das
macht damit kräftig Profit, vermehrt damit lung und Repression, von Traumatisierung neue Vilnius, „in einen Traum ein, der
seinen Ruhm, steigert damit seine Macht; und patriotischer Erinnerung. Die in der sechs Jahrhunderte breit ist.“ I

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ABIR SULTAN / EPA / REX / SHUTTERSTOCK
Schnorchelnder israelischer Junge, Quelle im Jordantal: Was dagegen?

Hundert Kinder
Autoren Eva Menasse über die Grüne Linie zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten,
über Hebron und das Dorf Walaja – und den Krieg der kommenden Generation. Eine Erzählung.

Die österreichische Schriftstellerin Menasse, gerissen und fortgetragen, am Geruch von Augen steht am Rand und hält ihr iPhone
46, lebt in Berlin. Für diese Kurzgeschichte re- Seife und Kaffee erkennt sie die Mutter. hoch, während die Tränen laufen. Aber
cherchierte sie im vergangenen Jahr in Israel In rasendem Galopp fliegt sie durch die sie hat tapfer alles gefilmt, sie werden sich
und den palästinensischen Gebieten, inspiriert Luft, hinaus aus dem Hellen in die Nacht, die Zerstörung ihres Hauses den Rest ihres
von ihren amerikanischen Kollegen Michael in der einzelne grelle Lichter strahlen wie Lebens anschauen können.
Chabon und Ayelet Waldman. Das Autorenpaar böse, weiße Sonnen. Der Vater, der Onkel, Die Zerstörung des ersten Hauses.
hatte Menasse und andere Autoren (darunter die großen Brüder und Cousins liegen Andere haben noch mehr verloren, erste
Dave Eggers, Colm Tóibín und Mario Vargas Llo- bäuchlings auf der Erde, ein Gestrüpp von und zweite und dritte Häuser, dann die
sa) gebeten, Essays und Kurzgeschichten über Gewehrläufen auf sie gerichtet. Sie bewe- Wellblechhütten, die sie selbst irgendwie
die besetzten Gebiete zu verfassen. Vor Ort gen sich nicht, aber Aya weiß aus irgend- zusammengebaut haben, weiß Gott wo-
half den Autoren die Menschenrechtsorgani- einem Grund, dass sie leben. mit, schließlich sogar die Zelte der inter-
sation Breaking the Silence, eine Gruppe ehe- Der Mutterarm stellt sie auf den Boden, nationalen Hilfsorganisationen. Aber das
maliger israelischer Armeeangehöriger, die seit aber dann ist sie es, Aya, die die Mutter ist nicht hier, das ist im Jordantal, weit
Jahren die Besatzungspolitik der Regierung verfolgt, an ihren Kleidern zieht und sie weg von der Grünen Linie, wo überhaupt
Benjamin Netanyahu kritisiert. Die deutsche wegreißen will von dem Soldaten, an den niemand mehr zuschaut und wo sie ma-
Ausgabe der Textsammlung erscheint im sich die Mutter flehend klammert. Der Sol- chen können, was sie wollen. Aber hier
Herbst unter dem Titel „Oliven und Asche“ im dat lacht, ein anderer befreit ihn. Er schüt- wie dort kommen sie jedes Mal um drei
Verlag Kiepenheuer & Witsch. telt die Mutter ab wie Ungeziefer. Da Uhr früh.
schiebt sich das Monster wie ein riesiger Wir werden ein neues Haus bauen, wird

I
ch stelle mir Aya vor, ein Kind, acht Skorpion mit aufgerichtetem Stachel he- Ayas Vater am nächsten Morgen zu den
Jahre alt, wie es zwischen seinen Ge- ran. Es hackt von oben auf das Haus ein, fremden Menschen mit den Kameras sagen
schwistern im Bett liegt und von einem in dem Aya bis vor wenigen Minuten zwi- und die Faust recken. Ayas kleine Schwes-
malmenden Monster träumt. Es erwacht, schen ihren warmen Geschwistern geschla- ter ist in den schwarzen Wassertank ge-
als dieses Monster aus dem Traum herüber- fen hat. Es klirrt, splittert und kracht, gnä- klettert, der früher auf dem Dach stand
kommt und vor dem Fenster tobt. Frauen- diger weißer Staub steigt auf und verhüllt und jetzt zerstört auf dem Schutt liegt. Sie
geschrei dringt in die Ohren, grelles Licht die Szene. Die Mutter schreit, der Vater steht darin, trommelt mit den Fäusten ge-
zwischen die zusammengekniffenen Lider. und die Brüder liegen auf dem Boden, die gen das Plastik und kreischt vor Vergnü-
Von einem starken Arm wird Aya hoch- Tante mit den schwarz geschminkten gen. Drei von den Fremden halten mit stei-
116 DER SPIEGEL 12 / 2017
Kultur

nernen Mienen ihre Handys zwischen sich Kinder und knuffige Geländewagen. Sie dieselbe Regierung umgehend Soldaten
und Ayas Schwester. tragen keine Gebetsriemen. Sie sind jung, zum Schutz. Die Rot-Grünen dagegen le-
Aya wohnt in einem Dorf namens Wa- säkular und sparsam, verglichen mit Tel ben altmodisch in Dörfern.
laja. Alt-Walaja, das erste Dorf, hat es auch Aviv oder Jerusalem ist Har Gilo günstig. Es gibt nur eine einzige Gemeinsamkeit:
einmal gegeben, es lag auf dem Hügel ge- Die Luft ist noch besser als der Ausblick. Fast alles, was seit Beginn der Besatzung
genüber. Aber 1948, zur Zeit der Katastro- Dass sie in einer Siedlung leben, wissen gebaut wurde, ist illegal, entweder nach
phe, musste das Dorf umziehen, mit Sack diese gut ausgebildeten jungen Leute nicht internationalem oder nach blau-weißem
und Pack. Im Tal zwischen den Hügeln einmal so genau. Recht. Denn Besatzung ist normalerweise
von Alt-Walaja und Walaja verläuft seither Denn dieses Land besteht aus zwei Län- ein vorübergehender Zustand. In einem
die Grüne Linie, über die irgendwo im fer- dern. Wie inkongruente Landkarten liegen Provisorium werden per Definition keine
nen Ausland, wo andere Regeln gelten, sie übereinander, an genau derselben Stel- Baugenehmigungen vergeben. Trotzdem
seit Jahrzehnten hitzig gestritten wird. le, und die Rot-Grünen, das muss man brauchen Menschen Häuser. Also bauen
Aber deshalb wächst hier noch lange kein schon sagen, liegen seit fünf Jahrzehnten sie sie. Die einen mit staatlichen Geldern,
Halm in eine andere Richtung. Hier be- unten, mit deutlich weniger Luft. Zwei Sys- die anderen mit ihren Händen und ihren
deutet sie gar nichts, die Grüne Linie, au- teme gibt es, für alles: verschiedene Stra- Nachbarn, aus allem, was sie finden kön-
ßer einem obligatorischen Strich auf allen ßen, verschiedene Nummernschilder, ver- nen. Aber alle, allesamt sind sie illegal,
Landkarten. schiedene Farben der Personalausweise. seit 50 Jahren. Abgerissen werden vor al-
Den Umzug des Dorfes Walaja, damals, Verschiedene Rechtsprechungen. Verschie- lem die der Rot-Grünen. Phasenweise wö-
im Jahr 1948, darf man sich nicht als geord- dene Grenzübergänge für ganz verschie- chentlich, täglich, mehrere pro Nacht. Ein
nete Angelegenheit vorstellen. Es war den Privilegierte: An den einen werden abgerissenes Siedlerhaus dagegen ist so
Krieg; viele Überlebende flohen tief nach die mit den „richtigen“ Nummernschildern selten, dass es Schlagzeilen macht. Und es
Jordanien hinein. Später errichteten die, die durchgewinkt, fast so entspannt wie in regt blau-weiße Fanatiker möglicherweise
es wagten zurückzukehren, auf dem Hügel Schengen-Europa, an den anderen stehen zu einer neuen Folge ihrer Aktion „Preis-
gegenüber das neue Walaja. Von dort aus die Männer mit der falschen ID-Farbe in schild“ an. Die Aktion „Preisschild“ ist
sahen sie, wie Bulldozer kamen und das einem meterlangen Pferch aus Eisenstan- eine Drohgebärde an die eigene Regierung
verlassene Dorf zu einem Haufen Steine gen, der Pferch bekränzt von Stacheldraht, und heißt: Reißt unsere Häuser, die der
zusammenschoben, wie man ihre Oliven- damit sie nicht hinausklettern. In dieser Rechtgläubigen, die der wahren Patrioten,
und Granatapfelhaine, ihre Mandel-, Apri- erniedrigenden Lage, eingesperrt wie wil- nur ab. Ihr werdet dann schon sehen, was
kosen- und Zitronenbäume in Besitz nahm. de Tiere, warten sie geduldig und ratlos das kostet. Der Brandanschlag in Duma
Aber es war ihnen noch genügend Land ge- wie Kafkas Landvermesser, ob sie diesmal im Juli 2015 wird für eine solche Rache-
blieben, auf ihrer Seite der Hügel. zum Schloss gelangen werden. Doch selbst aktion gehalten: Im gleichen Morgengrauen,
19 Jahre später, im nächsten Krieg, über- wenn es klappt, dann bedeutet ihr Schloss in dem sonst die skorpionhaften Bulldozer
rannten die Blau-Weißen die unsichtbare nichts weiter, als dass sie nach langer War- kommen, flog ein Brandsatz in ein rot-grü-
Grüne Linie und besetzten das ganze Land. terei zu ihrer schlecht bezahlten Arbeits- nes Haus, ein Ehepaar und sein 18 Monate
Die Leute von Walaja, die Rot-Grünen, stelle gelangen, in eine Bäckerei oder eine altes Baby starben. Das vierjährige Kind
schimpften über ihre Führer, nannten sie Restaurantküche, oder dass sie als Bau- hat überlebt und wird ein Leben brauchen,
unfähig und korrupt, aber am Ende sind arbeiter mit eigenen Händen die Mauer um von den Verletzungen zu genesen.
alle Bauern froh, wenn sie sich wieder ih- oder neue Wabenhäuser auf jenem Land Doch wahrscheinlich würde nicht einmal
ren Feldern zuwenden können, ohne dabei bauen, das einst ihnen gehörte. ein zweites Leben dafür reichen.
erschossen zu werden. Und sogar von den Dächern in diesem Zurück zu den freundlichen jungen Fa-
Seit je errichten die Rot-Grünen ihre Dör- Land gibt es zwei Varianten: Auf schäbigen milien von Har Gilo. Sie halten das hier
fer, um die Hügel zu umarmen, nicht um Flachdächern klumpen schwarze Wasser- keineswegs für eine Siedlung, sondern für
auf ihnen zu reiten. Die Blau-Weißen dage- tanks wie Blattläuse, während die anderen einen Vorort von Jerusalem. Und Walaja,
gen hocken sich immer auf die Hügelkup- schmucke rote Dachziegel haben, die an das wild gewachsene kleine Dorf halb un-
pen, ihre Häuser sind wie Bienenwaben, in Europa erinnern. Wassertanks brauchen ter, halb hinter ihnen, halten sie vermutlich
denen die Reihenhäuser nach einem starren Letztere nicht, denn wie in anderen zivili- für einen Slum, falls sie es je wahrgenom-
Plan verschachtelt werden, schreibt der pa- sierten Weltgegenden reicht in ihren Häu- men haben. Überall diese Schutthaufen!
lästinensische Autor Raja Shehadeh. Da- sern der Wasserdruck aus. Schließlich sind Neben einem der frischen, der Staub noch
durch verändert sich alles, die biblische auch die Begriffe verschieden, nicht nur strahlend weiß, spielen Aya und ihre Ge-
Landschaft ist heute bekränzt mit Häub- die Sprachen: Wenn die Blau-Weißen im schwister in der Sonne.
chen aus beigem Beton, dazwischen die besetzten Gebiet bauen, nennt man es Bald soll es unten im Tal einen großen
herrischen Schneisen der Schnellstraßen. Siedlungen, und wenn es nicht einmal die Nationalpark geben. Dazu müssen nur
Eine solche Bienenwabe prangt auch eigene Regierung erlaubt hat, dann nennt noch ein paar mehr Bewohner von Walaja
direkt über Walaja. Sie heißt Har Gilo. In man es Außenposten. Trotzdem schickt enteignet werden. Seit Jahrzehnten nimmt
Har Gilo wohnen keine schlechten Men- man ihnen systematisch ihre Felder, aus
schen, sondern bloß solche, die unter vie- einem so farbenfrohen Bündel von Grün-
len anderen Privilegien jenes haben, sich den, dass man die Kreativität der blau-
keine Gedanken machen zu müssen. Sie weißen Juristen nur bestaunen kann:
sind keine von den Verrückten mit den we-
henden Bärten, die sich wie ein scharf um- Seit Jahrzehnten nimmt osmanische Gesetze aus dem 19. Jahr-
hundert, militärische Schießübungszonen,
grenzter Fremdkörper mitten in die Alt-
stadt von Hebron gesetzt haben, ihre Häu-
man ihnen systematisch Felder zu lange nicht bestellt.
Außerdem: verschwundene, unklare
ser und Schulen in Stacheldraht dick ein- ihre Felder, aus einem oder für ungültig erklärte Grundbuchein-
gesponnen wie militante Raupen. Hier in
der sauberen Siedlung mit dem glatt ra-
so farbenfrohen Bündel träge, Sicherheitsaspekte, die man aus Ge-
heimhaltungsgründen nicht genauer dar-
sierten, scharf bewaffneten Sicherheits- von Gründen. legen kann, oder eben, fast sardonisch: ein
mann am Eingang haben sie IT-Jobs und Nationalpark. Was kann man dagegen

DER SPIEGEL 12 / 2017 117


Kind Steine auf britische Soldaten gewor-
fen, „British go home“ gebrüllt hat und
sich als „geheilten Fanatiker“ bezeichnet,
schreibt: „In den Augen der Fanatiker ist
jeder ein Verräter, der sich verändert.“
Ein solcher Veränderter ist auch dieser
Aktivist, der ehemalige Soldat. Er ist dabei
kein Pazifist geworden. Dennoch konnte
er nicht mehr ertragen, was seine Armee,
was sein Land Tag für Tag als Besatzungs-
macht tut. Und das zeigt er am Beispiel
Hebron anderen interessierten Bürgern,
jede Woche.
Deshalb versperren diese Jugendlichen
dem Verräter, ihrem eigenen Soldaten, den
Weg. Er muss im Zickzack um grinsende

TOMAS MUNITA / LAIF


Kinder herumgehen. Sobald er ein Foto
oder einen Stadtplan hochhält, drängen
sie heran, halten ihre Hände davor und
machen das Anschauungsmaterial unsicht-
Siedlung im Westjordanland: Dörfer, um die Hügel zu umarmen bar, indem sie selbst zu einem werden.
Nun werden auch die aktiven Soldaten
aufmerksam, die überall in lauernden
haben? Alles, wenn man nur noch diesen Wie alle Spiele hat auch dieses klare Grüppchen stehen. Sie gleiten unauffällig
einen Olivenhain hat. Regeln: Hindert sie, wo ihr könnt, vergällt näher, wie auf Schienen. Der Reiseführer
Aber die jungen Familien aus Har Gilo ihnen ihren Stadtrundgang. Nur Berührun- erhebt die Stimme („Sehen Sie hier die
freuen sich darauf! Bald werden sie mit gen sind verboten. Also breiten diese Teen- verschweißten Haustüren, die rot-grünen
Freunden aus der Hauptstadt in der herr- ager schweigend die Arme aus und sprei- Bewohner dürfen ihre Häuser nur von hin-
lichen Natur picknicken. Während die zen die Finger, fast eine Willkommens- ten oder über das Dach verlassen“), weil
Menschen aus Walaja auf halber Höhe des geste, bloß bedeutet sie das Gegenteil. Als er merkt, dass die Aufmerksamkeit von
Hügels hinter einen meterhohen Zaun ge- menschliche Hindernisse stellen sie sich ihm wegebbt. Die Jungen grinsen einander
sperrt sein werden und von dort, aus si- vor die Reiseleiter jener kleinen Gruppen, zu. Sie heben ihre Arme mit den gespreiz-
cherer Entfernung, auf ihre ehemaligen die nicht kommen, weil sie an Abrahams ten Fingern, wie Windmühlen, ein Arm-
Felder starren. Grab beten, sondern weil sie diese brachial ballett. Die Teilnehmer der Reisegruppe
Ich stelle mir vor: In Har Gilo, Reihe geteilte Stadt zeigen wollen, diesen nach schütteln den Kopf. Ich stelle mir vor, dass
zwei, in einer Drei-Schlafzimmer-Wabe, Blut dürstenden Hexenkessel, auf den das es ein guter Tag für die Jungs wird, wenn
lebt der 14-jährige Elad. Doch sein Lieb- blau-weiße Militär mit äußerster Anstren- einer dieser fremden Voyeure irgendwann
lingsaufenthalt zurzeit ist Hebron, wo er gung den Deckel hält. ausrastet. Irgend so ein Heini aus Haifa,
Verwandtschaft hat. Ich stelle mir vor, dass Sie kommen, weil in der Altstadt von Netanja oder Brooklyn herrscht sie dann
das Elads Mutter nicht gefällt, obwohl es Hebron viele Probleme dieses doppelten an, sie sollten sich wenigstens benehmen,
sich um ihren eigenen Bruder und dessen Landes auf die Spitze getrieben sind: reli- und am Ende fasst er einen womöglich
Söhne handelt. giöser Wahn, militärische Kompromiss- noch am Arm und drängt ihn zur Seite,
Von den Heldentaten, die Elad mit sei- losigkeit und die damit einhergehende Ra- aber auf den Kleinsten, einen Zehnjähri-
nen Cousins dort besteht, erzählt er ihr dikalisierung der unterdrückten rot-grünen gen, den Kameramann der Gruppe, ist Ver-
daher lieber nichts. Mütter verstehen so Mehrheit. Doch solcher Menschenrechts- lass, er hat mit dem Handy immer alles
manches nicht, auch nicht, dass die Erfor- tourismus passt den 800 wehenden Bärten gefilmt. Und dann rufen sie die Polizei.
dernisse des Patriotismus direkt davon ab- nicht, die sich hier als religiöses Bollwerk Vielleicht hatte Elad anfangs Angst mit-
hängen, wo man lebt. Im langweiligen Har verstehen. Und ihren Kindern passt es ge- zumachen. Doch das Schlimmste, was pas-
Gilo hat man Zeit, Gameboy zu spielen, nauso wenig. sieren kann, ist, dass die Soldaten einen
in Hebron muss man kämpfen, auch wenn Die Siedlerjugendlichen bauen sich also wegziehen. Einmal rief Elads Cousin laut:
man noch ein Junge ist. vor dem massigen Reiseleiter auf, der sie „Hältst du mich fest wie einen Araber?“
Nach der Schule hängen die Jugend- in seinem früheren Leben als hier statio- Das hat Elad sich gemerkt. „Ich bin kein
lichen von Hebron in der Nähe des Heilig- nierter Soldat beschützt hat. Der israeli- dreckiger Araber“, ruft er nun jedes
tums ab, dort, wo die Touristenbusse an- sche Schriftsteller Amos Oz, der selbst als Mal, „verhafte lieber die hier, diese linken
kommen, Juden aus aller Welt, zwitschern- Verräter.“
de asiatische Christen mit Schirmmützen Wenn nichts los ist, keine Busse mit Ak-
in Pink, damit sie einander nicht verlieren tivisten, dann schmeißen die Jugendlichen
(als ob das möglich wäre), oder ängstliche aus Hebron den Markt ab. Die Häuser der
Deutsche mit grob geschnitzten Holzkreu-
zen, die ihnen über den karierten Bäuchen Wasserkanister, Planen, Altstadt sind horizontal geteilt, oben die,
unten die anderen, Zutritt von der jeweils
baumeln. Die Busse der Feinde samt Ge-
folge aus Zentral-Blau-Weiß sind kleiner
Kartons, alter Stoff. anderen Seite. Innentreppen zubetoniert.
Mit ihren Überwachungskameras haben
und unauffälliger, aber da die Protagonis- Irgendwann lebt die Blau-Weißen von oben alles im Blick.
ten einander seit Jahren kennen, dauert
es nur wenige Minuten, bis die halbwüch-
ihr da unten für immer Die Rot-Grünen haben unten in ihren en-
gen Gassen immer noch vereinzelt Läden,
sigen Jungs einen Kritikerbus identifiziert in der Nacht. und sie haben Gitter, Netze, Maschendraht
haben und das Spiel beginnt. darübergespannt, um sich vor Steinen und

118 DER SPIEGEL 12 / 2017


Müll von oben zu schützen. Das macht Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control);
aber nichts. Geeignete Geschosse durch- nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
stoßen manchmal die Netze, große Steine
bringen sie zumindest so zum Beben, dass Belletristik Sachbuch
sie sich unten ducken und die Hände über
den Kopf halten. An einigen Stellen wird 1 (–) Jussi Adler-Olsen 1 (1) Eckart von Hirschhausen Wunder
es unten langsam dunkel, dunkel für im- Selfies dtv; 23 Euro wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro
mer. Elad, der Tüftler, denkt viel darüber 2 Cameron Bloom / Bradley Trevor Greive
nach, welche Gegenstände am meisten 2 (3) Julian Barnes Der Lärm (3)
der Zeit Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro Penguin Bloom Knaus; 19,99 Euro
Licht nehmen. Wasserkanister, auseinan-
dergefaltete Kartons, Planen, alter Stoff. 3 (4) Sabine Ebert Schwert und Krone. 3 (2) Roger Willemsen
Quadratmeter um Quadratmeter. Irgend- Meister der Täuschung Knaur; 19,99 Euro Wer wir waren S. Fischer; 12 Euro
wann lebt ihr da unten für immer in der 4 (4) Peter Wohlleben Das geheime Leben
Nacht. Und dann könnt ihr nicht einmal 4 (2) Elena Ferrante Meine geniale der Bäume Ludwig; 19,99 Euro
mehr eure bunten Süßigkeiten sehen. Freundin Suhrkamp; 22 Euro
Bei den Spielen der Mädchen machen 5 (5) Andrea Wulf Alexander von Humboldt
die Jungs natürlich nicht mit, das ist inter- 5 (1) Martin Suter und die Erfindung der Natur
Elefant Diogenes; 24 Euro C. Bertelsmann; 24,99 Euro
nationaler Standard. Aber sie gehen hin
und schauen zu, am Samstag, wenn sie 6 (7) Zsuzsa Bánk Schlafen 6 (6) Yuval Noah Harari
schulfrei haben, die anderen aber nicht. werden wir später S. Fischer; 24 Euro Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro
Dann stehen die kleinen Schwestern dieser
großen Jungs vor der rot-grünen Mädchen- 7 (5) Elena Ferrante Die Geschichte 7 (8) Peter Wohlleben Das Seelenleben
schule und warten, bis die anderen Mäd- eines neuen Namens Suhrkamp; 25 Euro der Tiere Ludwig; 19,99 Euro

chen herauskommen. Und dann schubsen


8 (6) Sebastian Fitzek 8 (7) Michail Gorbatschow
sie sie und schmeißen Steine, und irgend-
Das Paket Droemer; 19,99 Euro
Kommt endlich zur Vernunft –
welche Menschenrechtsspinner aus Euro- Nie wieder Krieg! Benevento; 7 Euro
pa, große bleiche oder lachsfarbene Er- 9 Hanya Yanagihara
wachsene aus dem Norden, werfen sich
(9)
9 (14) Horst Lichter Keine Zeit für
Ein wenig Leben Hanser Berlin; 28 Euro
Arschlöcher! Gräfe und Unzer; 16,99 Euro
ungelenk dazwischen und versuchen, die
kleinen Mädchen mit den Kopftüchern 10 (8) Paul Auster 10 (–) Leonhard Horowski Das Europa
zu schützen. Und die Soldaten stehen da- 4321 Rowohlt; 29,95 Euro der Könige Rowohlt; 39,95 Euro
neben und schauen zu, denn sie haben
einen klaren Auftrag in dieser unklaren, 11 (–) Takis Würger 11 (–) Zana Ramadani Die
kranken Stadt: Sie müssen Gewalt gegen Der Club verschleierte Gefahr
Kein & Aber; 22 Euro Europa; 18,90 Euro
die 800 Blau-Weißen verhindern. Gewalt
der paar Blau-Weißen gegen die 200 000 SPIEGEL-Redakteur Würger, Die in Mazedonien geborene
Rot-Grünen geht sie nichts an. Und wenn gerade beim Literaturfestival Frauenrechtlerin
kleine Mädchen kleine Mädchen verprü- in Köln ausgezeichnet, Zana Ramadani, die mit
erzählt von den sieben Jahren nach
geln, dann schon gar nicht. Da träumen Gepflogenheiten an einer Deutschland kam, über ihre
die Soldaten von der nächsten Pausen- englischen Elite-Uni Sicht auf den Islam
zigarette und zucken die Schultern, jeden 12 Elizabeth Blackburn / Elissa Epel
einzelnen verdammten Samstagnachmit- 12 (11) Joanne K. Rowling / John Tiffany / (–)

Jack Thorne Harry Potter und das Die Entschlüsselung des Alterns
tag, wenn die Schule der kleinen rot-grü-
nen Mädchen zu Ende ist und die Jagd auf verwunschene Kind Carlsen; 19,99 Euro
Mosaik; 24 Euro

sie beginnt. 13 (9) Heinz Schilling


13 (10) T. C. Boyle 1517 C.H. Beck; 24,95 Euro
Ich frage mich, ob Kinder wie Aya, die Die Terranauten Hanser; 26 Euro
mitten in der Nacht aus ihrem Bett geholt 14 (10) Christian Nürnberger / Petra Gerster
werden, weil das Militär kommt, um ihre 14 (12) Joanne K. Rowling Der rebellische Mönch, die entlaufene
Häuser plattzumachen, diesen Moment je Phantastische Tierwesen und wo sie Nonne und der größte Bestseller aller
vergessen werden. Ob diese Kinder ein zu finden sind. Das Originaldrehbuch Zeiten – Martin Luther Gabriel; 14,99 Euro
anderes Verhältnis zu einem im Schutt lie- Carlsen; 19,99 Euro
genden, zerfetzten Sofa haben als ich, ein- 15 (13) Dalai Lama Der Appell des Dalai Lama
fach, weil sie es schon oft gesehen haben. 15 (–) Feridun Zaimoglu an die Welt Benevento; 4,99 Euro
Evangelio Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
Ob nur mir, die ich aus dem Frieden 16 (11) Philipp Blom Die Welt aus
komme, ein zerstörtes Sofa so menschlich 16 (15) Matthias Brandt Raumpatrouille den Angeln Hanser; 24 Euro
vorkommt, so peinlich intim. Doch wäh-
rend ich an die Zukunft denken möchte,
Kiepenheuer & Witsch; 18 Euro
17 (15) Thomas Frings
marschiert die soldatengrüne Gegenwart 17 (16) Nele Neuhaus Aus, Amen, Ende? Herder; 16,99 Euro

einfach weiter. Sechs Jahre lang wurden Im Wald Ullstein; 22 Euro 18 (12) Gerhard Wisnewski
in Walaja, direkt am südlichen Rand Jeru- Verheimlicht – vertuscht –
salems, keine Häuser abgerissen. Dann 18 (18) E. O. Chirovici vergessen 2017 Kopp; 14,95 Euro
plötzlich drei in einer Nacht, das von Aya Das Buch der Spiegel Goldmann; 20 Euro
19 (19) Harald Lesch / Klaus Kamphausen
und zwei andere. Und nun haben zwanzig 19 (17) Juli Zeh Die Menschheit schafft sich ab
weitere den Abrissbefehl bekommen. Unterleuten Luchterhand; 24,99 Euro Komplett Media; 29,95 Euro
Zwanzig Ayas. Die meisten Familien ha-
ben vier oder fünf Kinder. Zwanzig mal 20 (19) Simon Beckett 20 (18) Richard David Precht
fünf. I Totenfang Wunderlich; 22,95 Euro Tiere denken Goldmann; 22,99 Euro

DER SPIEGEL 12 / 2017 119


Dieser Mann ist eine Frau B
ei einem Spaziergang durch den
Schlosspark von Schönbrunn, so lau-
tet eine Legende, sei Maria Theresia
einst einer verhärmten Bettlerin begegnet,
Geschichte Vor 300 Jahren wurde die österreichische Kaiserin Maria die ein weinendes Baby trug. Die Kaiserin
habe der Frau das Kind abgenommen; sie
Theresia geboren. Neue Biografien zeigen: Die als treu habe es an die eigene Brust gelegt und ge-
sorgende Landesmutter Verklärte war eine kühle Machtpolitikerin. stillt, während sich die erschöpfte Mutter
neben ihr ausgeruht habe.
Die schöne Szene wurde im 19. Jahrhun-
dert immer wieder geschildert, in Erzäh-
lungen und Bildern – und doch ist sie wohl
frei erfunden. Nach allem, was man weiß,
hat Maria Theresia, obgleich Mutter von
immerhin 16 Kindern, nie gestillt; für diesen
Zweck gab es am Wiener Hof Ammen zu-
hauf. Und Bettlerinnen wurden schon gar
nicht in der Nähe der Monarchin geduldet.
Doch historische Tatsachen haben der
Verbreitung von Legenden noch nie ge-
schadet. Die Geschichte von der fürsorg-
lichen Kaiserin passte einfach zu gut zum
Idealbild einer Herrscherin, welche die Not
ihrer armen Untertanen lindert und dabei
ganz und gar Frau ist.
Tatsächlich war für die Zeitgenossen
schier Unbegreifliches geschehen: Vier
Jahrzehnte lang, von 1740 bis zu ihrem Tod
im Jahre 1780, hatte eine Frau, hatte Maria
Theresia das von Böhmen bis nach Nord-
italien reichende Imperium der Habsbur-
ger regiert und damit alle Geschlechter-
klischees einer harten Belastungsprobe un-
terzogen. Ein weibliches Wesen, das doch
schwach und hilfsbedürftig sein musste, be-
hauptete sich in der Männerwelt der Fürs-
ten und Könige, ja mehr noch: Maria The-
resia prägte eine ganze Epoche mit ihrer
Reformpolitik und ihrem absolutistischen
Machtanspruch. Was lag da näher, als sie
in der populären Ikonografie ein bisschen
femininer erscheinen zu lassen?
Kein Zufall also, dass sich jetzt, aus An-
lass ihres 300. Geburtstags am 13. Mai,
gleich zwei Biografinnen an eine Korrek-
tur dieses Bildes gemacht haben. Die fran-
zösische Philosophin und Feministin Élisa-
beth Badinter, 73, feiert Maria Theresia
als moderne Monarchin und „kostbaren
Meilenstein in der Geschichte der Frau-
en“*. Die deutsche Historikerin Barbara
Stollberg-Rilinger, 61, hingegen beschreibt
sie als eine uns eher fremde Frau aus einer
sehr fernen, spätbarocken Welt. Maria The-
resia, sagt Stollberg-Rilinger, habe ganz
bewusst ihr „Geschlecht von ihrer Regen-
tenrolle“ getrennt und ihre Weiblichkeit
aus ihrer „Selbstinszenierung“ verbannt.
Nicht selten habe Maria Theresia sogar
eine geradezu „schroffe Mitleidlosigkeit“
gegenüber ihren Untertanen gezeigt**.
BRIDGEMAN IMAGES

Die in Münster lehrende Professorin hat


eindeutig das bessere, weil präzisere, der
* Élisabeth Badinter: „Maria Theresia. Die Macht der
Frau“; Zsolnay; 304 Seiten; 24 Euro.
Regentin Maria Theresia (Gemälde von Martin van Mytens, um 1745) ** Barbara Stollberg-Rilinger: „Maria Theresia. Die Kai-
„Rücksichtslos und unbeirrt“ serin in ihrer Zeit“; C. H. Beck; 1084 Seiten; 34 Euro.

120 DER SPIEGEL 12 / 2017


Kultur

beiden Bücher verfasst. Stollberg-Rilinger Adel neue Gefolgsleute zu gewinnen. Die Der Gatte, Karl VI., zog daraus die ein-
zeichnet in ihrer glänzend geschriebenen junge österreichische Erzherzogin ließ sich zig mögliche Konsequenz: Mit dem Erlass
und mehr als tausend Seiten starken Bio- in Pressburg zum „Rex Hungariae“ krö- der „Pragmatischen Sanktion“ wurde das
grafie das Bild einer machtbewussten Herr- nen, also zum König von Ungarn – und Recht der ältesten Tochter verbrieft, seine
scherin, die von ihren politischen Gegnern nicht etwa zur „Regina“, zur Königin. Zur Nachfolge anzutreten. Aber Maria There-
zunächst komplett unterschätzt, dann aber vorgeschriebenen Zeremonie zählte auch sia wusste, dass sie nur von einer Ausnah-
als ebenbürtig begriffen worden sei. „Ein- ein Ritt auf den Krönungshügel. Maria The- meregelung profitierte.
mal haben die Habsburger einen Mann, resia hatte für diesen Zweck eigens das 1736 heiratete sie Franz Stephan von
und dann ist es eine Frau“, notierte der Reiten gelernt. Oben auf dem Hügel ange- Lothringen und fügte sich sofort in die ihr
Preußenkönig Friedrich II. voller Respekt. kommen, nahm sie – so wie das Ritual es auferlegte Pflicht: Drei Töchter wurden ge-
Der Berliner Rivale hatte zunächst an- verlangte – ein Schwert und hieb symbo- boren, dann aber, 1741, endlich ein Sohn,
deres erwartet. Als die 23-Jährige 1740 den lisch in alle vier Himmelsrichtungen, um der spätere Kaiser Joseph II. – ein einziger
Thron ihres ohne männliche Nachkommen ihre Bereitschaft zur Verteidigung des Lan- großer Jubel soll die Stadt erfüllt haben.
verstorbenen Vaters bestieg, galt ihr Reich des zu demonstrieren. Schließlich richtete Weitere zwölf Kinder folgten, darunter
den Nachbarn als leichte Beute. Friedrich sie einen flammenden Appell an alle Un- vier Söhne. In den ersten zwei Jahrzehn-
schlug als Erster zu und eroberte mit seinen garn, ihr im Kampf gegen die Feinde bei- ten ihrer Ehe war Maria Theresia fast un-
Truppen das wohlhabende Schlesien. Der zustehen – was dann auch geschah. unterbrochen schwanger. Jede Geburt barg
bayerische Kurfürst erklärte die weibliche Zwei Jahre später setzte sich Maria The- damals Lebensgefahr für Mutter und Kind.
Thronfolge für illegitim und marschierte resia zudem die böhmische Königskrone Ärzte und Hebammen begingen – aus
ebenfalls in die Habsburger Lande ein. auf. Bald stellten sich militärische Erfolge heutiger Sicht – Kunstfehler in Serie. Und
Maria Theresia geriet so- Maria Theresia musste die
fort in die Rolle des Opfers. Prozedur auch noch halb öf-
Von ihrem Vater, Kaiser fentlich durchstehen: Dem
Karl VI., hatte sie nur kor- höfischen Zeremoniell ent-
rupte Berater und marode sprechend war der weibliche
Staatsfinanzen geerbt, das Hofstaat nahezu vollzählig
Militär erwies sich als bei den Geburten anwesend,
schlecht ausgebildet und un- erst nach einigen Jahren ließ
fähig, dem Ansturm der die Kaiserin das nicht mehr
Feinde Paroli zu bieten. Und zu. Immerhin 10 der 16 Kin-
der überlebten die Mutter,

DENNIS HOGERS / RIJKSMUSEUM, AMSTERDAM


die Öffentlichkeit traute der
hübschen jungen Frau ohne- eine für diese Zeit unge-
hin nichts zu. wöhnlich hohe Quote.
In den ersten Jahren des Viel ist über den Sinn die-
österreichischen Erbfolge- ses Kindersegens gerätselt
kriegs musste Maria There- worden. Die Notwendigkeit,
sia bittere Niederlagen ein- einen männlichen Nachfol-
stecken und große Territo- ger in die Welt zu setzen, er-
rien preisgeben. Europas klärt ihn nicht allein. Eine –
Karikaturisten verspotteten nach heutigen Maßstäben –
sie mit Vorliebe als „ent- Maria-Theresia-Karikatur (Kupferstich von Nathaniel Parr, 1742) innige Beziehung zu ihren
blößte Königin“, als nackte Aller Kleider beraubt Kindern besaß die Kaiserin
Dame, der eine Gruppe fre- auch nicht, sie überließ die
che Herren die Kleider raubt – eine will- ein, besonders bezahlt machte sich der Ein- Erziehung dem Personal und sah ihren
kommene Metapher für die Überwältigung satz osteuropäischer Wehrbauern, der Nachwuchs fast nur bei offiziellen Anläs-
der schwachen Frau durch starke Männer; Panduren, die mit unvorstellbarer Grau- sen. Offenbar sollte ihre Fruchtbarkeit vor
die sexuelle Konnotation war natürlich er- samkeit wüteten. 1748 schließlich war der allem die neu gewonnene Stärke der Dy-
wünscht. Kampf um das Erbe der Habsburger über- nastie beweisen – eine Demonstration also,
Der wie ein putinesker Strolch auftre- standen. Maria Theresia hatte ihre Macht die sie noch mächtiger machte.
tende Preußenkönig wurde dabei zum gro- gefestigt. Was aber noch wichtiger war: Sie Als Problem erwies sich nur der Mann,
ßen Gegenspieler der in Regierungsfragen hatte auch jeden Zweifel an ihrer Legiti- mit dem sie ihre Kinder gezeugt hatte. Ihr
noch unerfahrenen Österreicherin. Gene- mität beseitigt, sie hatte einem Thronfolger Gatte genoss am Wiener Hof wenig An-
rationen von Historikern wollten in diesem das Leben geschenkt. sehen, denn Franz Stephan war ein König
Konflikt immer wieder dasselbe Muster er- Dieses Thema beschäftigte den Wiener ohne Land. Maria Theresias Vater hatte
kennen: den Gegensatz von Härte und Ge- Hof mindestens so sehr wie jeder Krieg. ihn einst im Rahmen eines intergouverne-
fühl, Zynismus und Ehrlichkeit. Doch die Der einzige Sohn ihrer Eltern war früh ge- mentalen Kuhhandels um seine lothringi-
Monarchin beherrschte durchaus sämtliche storben, ein männlicher Nachfahre wollte schen Besitzungen gebracht; zudem galt
Register männlicher Machtausübung. Die sich einfach nicht einstellen. Die junge er als schwach und faul.
beiden Antipoden seien einander sogar Maria Theresia musste miterleben, wie Allein, Maria Theresia liebte ihn.
am Ende „nicht unähnlich“ gewesen, ihre bildschöne Mutter, Kaiserin Elisabeth Jedenfalls beteuerte sie das in ungezähl-
schreibt die Historikerin Stollberg-Rilinger. Christine, zum Opfer der kuriosesten Rat- ten Briefen. „Er war das einzige Objekt
„Beide charakterisiert es, dass sie im Krieg schläge wurde. Die einen rieten ihr zu all meinen Handelns und meiner Gefühle,
rücksichtslos und unbeirrt an ihrem einmal akrobatischen Zeugungspraktiken, die an- seit ich sechs war, bis heute“, schrieb
gesetzten Ziel festhielten.“ deren zum Konsum starker Liköre und ka- sie nach seinem Tod. Und die Tatsachen
Das sollten Maria Theresias Feinde lorienreicher Nahrung. Am Ende war die sprachen auch dafür: Maria Theresia
schon bald erfahren. Im Sommer 1741 zog Mutter adipös, unansehnlich – und hatte und Franz Stephan schliefen stets zusam-
sie zunächst nach Ungarn, um dort im immer noch keinen Sohn. men im selben Bett – was damals in fürst-

DER SPIEGEL 12 / 2017 121


Kultur

lichen Kreisen eher ungewöhn- besessen hätte. Sie war viel-


lich war. mehr fest davon überzeugt, dass
Franz Stephan litt unter Min- allein Gott sie mit der Aufgabe
derwertigkeitsgefühlen. Eine betraut habe, ihr Reich zu füh-
Zeit lang verfiel er darauf, sich ren und ihren Völkern Wohl-
als Armeeführer zu beweisen – stand und Frieden zu bringen.
ein Ehrgeiz freilich, der Tausen- Und dass dieser Gott ein ka-
de junge Österreicher das Leben tholischer war, schien ihr un-
kostete. Frei von jeder militäri- zweifelhaft. Notfalls mit Gewalt
schen Erfahrung verlor der jun- ließ sie Protestanten und Juden
ge Mann Schlacht um Schlacht, aus den östlichen Landesteilen
bis Maria Theresia ihn immer vertreiben – ein düsteres Kapi-
häufiger zurück nach Wien be- tel ihrer ansonsten erfolgreichen
orderte, mit dem ehrlichen Ar- Innenpolitik. Von ihren Refor-
gument, sie fürchte um sein men des Schul- und Gerichtswe-
Leben, und mit dem sicherlich sens, der Verwaltung und der
gewünschten Nebeneffekt, dass Armee zehrte das Habsburger-
erfahrenere Generäle an seine reich lange.
Stelle treten konnten. Das Bewusstsein ihrer gött-
1745 kam dann aber seine lichen Mission verhalf ihr gera-
große Stunde: Dank der beharr- de im Krieg zu einem unerschüt-
lichen Diplomatie seiner Frau terlichen Selbstbewusstsein.
wählten die deutschen Kur- Wenn es ihren Zwecken diente,

GLOWIMAGES
fürsten Franz Stephan in Frank- schickte sie Zehntausende ohne
furt zum Kaiser des Heiligen jeden Skrupel in den Tod. Als
Römischen Reichs und verlie- Frau konnte sie ihre Armeen
hen ihm damit eine Würde, die Kaiserliche Familie von Österreich (Gemälde von van Mytens, 1756) zwar nicht in den Krieg führen,
Frauen nicht zustand. Seine Gat- Zwanzig Jahre lang fast ununterbrochen schwanger aber sie liebte militärische Pa-
tin wurde zwar seither als Kai- raden, bei denen sie zum Er-
serin tituliert, war das aber streng genom- damals auch Wien besucht hatte, beklagte staunen ihres Hofstaats im Herrensattel
men nicht. ein Klima des allgemeinen Misstrauens in voranritt. Zweimal noch versuchten ihre
Der schöne Titel, so kalkulierte die Mo- der Stadt. „Zu jeder Tageszeit“, so notierte Armeen, das geraubte Schlesien zurück-
narchin, mochte den Ehemann für all jene er in seinen Memoiren, „las man auf den zuerobern. Im Siebenjährigen Krieg wäre
Erniedrigungen entschädigen, die der All- Straßen von Wien alle Mädchen auf, die das Unterfangen beinahe gelungen, schei-
tag für ihn bereithielt. Das Herrscherpaar allein gingen“, ganz gleich ob sie Huren terte dann aber an der mangelnden Bünd-
bewohnte in der Hofburg eine Zimmer- gewesen seien oder nicht. nistreue des russischen Zaren. Zwei Jahre
flucht, die in einen weiblichen und in einen 1765 starb Kaiser Franz I. Nach seinem vor ihrem Tod versuchte ihr Sohn es er-
männlichen Teil getrennt war. Wollte Maria Tod trug Maria Theresia nur noch Schwarz, neut – und wieder erfolglos.
Theresia die Huldigungen ihrer Untertanen was zwar ihrer Witwenrolle entsprach, Ihre letzten Jahre waren von Enttäu-
entgegennehmen, geschah dies traditionell aber auch ihr Image als bescheidene Mo- schungen und Niederlagen geprägt. Der
an einem Fenster auf der Herrenseite. Der narchin beförderte. In Wahrheit gab sie den Ideen der Aufklärung nahestehende
Gatte musste das Zimmer dafür entweder noch immer etwa 30 000 Gulden pro Jahr Sohn und Nachfolger, Joseph II., bean-
räumen oder auf einem einfachen Stuhl allein für ihre Kleidung aus, eine damals spruchte einen immer größer werdenden
neben seiner Frau Platz nehmen. „Deutli- unvorstellbar hohe Summe. Teil der Macht. Sie empfand sich als un-
cher“, so schreibt Stollberg-Rilinger, „konn- Historiker haben die Kaiserin stets als zeitgemäß, litt unter Depressionen und
te einem höfischen Publikum die Verkeh- eine sehr uneitle Frau dargestellt, die sich Krankheiten. „Ich bin sehr fett“, schrieb
rung der Geschlechterrollen gar nicht vor für ihr Äußeres kaum interessiert habe. sie an eine Freundin, „mehr als meine
Augen geführt werden.“ Das habe aber nur „dem Mythos ihrer un- hochseligste Frau Mutter, auch rot, beson-
Umso größeren Wert legte Maria The- gezwungenen Natürlichkeit“ entsprochen, ders seit den Blattern, die Füße, Brust, Au-
resia darauf, dass ihr Gatte bei Hofe re- schreibt Stollberg-Rilinger. Denn ihre Zo- gen gehen zugrunde.“
spektiert und geachtet wurde. Er war ein fen berichteten von qualvollen Prozeduren Am Abend des 29. November 1780 starb
Teil ihrer Inszenierung und durfte in seiner beim Ankleiden und Frisieren der Herrin, die Kaiserin an den Folgen einer Lungen-
Autorität von niemandem beschädigt wer- fast nie sei sie zufrieden gewesen, die Vor- entzündung. Maria Theresias Leichnam
den. Selbst seine sexuellen Eskapaden wur- bereitung für jeden Schritt in die Öffent- wurde einbalsamiert, ihr Herz und ihre
den von ihr übersehen. Dem Hof waren lichkeit habe Stunden benötigt. Eingeweide waren zuvor entnommen und
seine Mätressen bekannt, seine Gattin Maria Theresia wusste einfach, was man in silbernen Gefäßen verwahrt worden.
nahm sie – öffentlich – nicht zur Kenntnis. von ihr als Herrscherin erwartete, den per- Bestattet wurde sie in jenem barocken
Schon die Zeitgenossen vermuteten, fekten Auftritt nämlich. Sie spielte eine Doppelsarkophag, den sie bereits Jahre
dass der erbitterte Kampf, den die Kaiserin Rolle, allerdings vor allem für ihren Hof- vor dem Tod ihres Mannes in Auftrag ge-
in späteren Jahren gegen jede Form sexu- staat, denn ihre Untertanen traf sie nur geben hatte und der noch heute in der Ka-
eller Freizügigkeit aufgenommen hatte, selten. Volksnähe gehörte nicht zum Kon- puzinergruft steht. Die vollplastische Dar-
eine Reaktion auf die Untreue ihres Ehe- zept absolutistischer Herrschaft, selbst zu stellung des glücklich einander gegenüber-
manns war. Geradezu fanatisch ging sie den öffentlichen Audienzen hatten allein liegenden jungen Herrscherpaars erinnerte
gegen die in aristokratischen Kreisen ausgewählte Gäste Zugang. Und die wur- allerdings schon ihre Untertanen weniger
übliche Libertinage vor, Prostituierte wur- den auch nur mit Höflichkeiten abgespeist. an einen Sarg als an ein Liebeslager – und
den in weit entfernte Grenzregionen des Das heißt aber nicht, dass die Kaiserin so war es wohl auch gemeint.
Reichs deportiert. Giacomo Casanova, der ein instrumentelles Verhältnis zur Macht Martin Doerry

122 DER SPIEGEL 12 / 2017


ßende Mickey dagegen stößt regelmäßig alle vor den Kopf.
Ihr Geld verdient sie bei einem Radiosender, der Anrufern
Lebenshilfe erteilt. Weil Mickey Angst hat, gefeuert zu
werden, geht sie vorsichtshalber mit ihrem Chef ins Bett,
um ihm gleich anschließend mitzuteilen, weshalb sie mit
Zu viel Gefühl ihm gefickt hat. Außerdem besucht Mickey Treffen der
anonymen Sex-, Liebes- und Alkoholsüchtigen.
Produziert und konzipiert wurde „Love“ unter anderem
Serienkritik In der zweiten Staffel von dem Filmemacher Judd Apatow, der schon in Kino-
filmen wie „Dating Queen“ gezeigt hat, dass er von der
von „Love“ halten sich existenzielle Fragen Absurdität des Kampfs um Liebe und Erfolg viel versteht.
und gute Witze in gekonnter Balance. In einem Interview mit der „New York Times“ sagte Apa-
tow: „Ich glaube, dass es lustig ist, die schlechten Seiten

D
ie Suche nach der großen Liebe kann eine erschöp- der Charaktere zu zeigen, um ihnen dann dabei zuzu-
fende Angelegenheit sein. Sie beginnt meist mit sehen, wie sie aufwachen.“ Dieses Aufwachen ereignet
der Pubertät, und weil niemand weiß, ob er über- sich in der zweiten Staffel von „Love“, die nun auf Netflix
haupt je erfolgreich sein wird, kann sich die Sache hinzie- zu sehen ist. Denn langsam wird auch Mickey und Gus
hen. Das Internet macht alles noch schlimmer – Heerscha- bewusst, dass sie in einer Art ewiger Pubertät feststecken.
ren von Soziologen beschäftigen sich unter Anleitung von Allen um sie herum geht es ähnlich. Die am ehesten einem
Eva Illouz mit diesem Problem –, denn womöglich lockt Erwachsenen ähnelnde Figur ist noch der Teenagerstar,
auf irgendeiner Dating-Plattform nicht nur die große, son- den Gus unterrichtet.
dern die größere Liebe. Es ist zum Irrewerden. Wie lange Als Zuschauer muss man Spaß an Umwegen haben,
soll man suchen? Wann soll man sich zufriedengeben? statt zehn Folgen umfasst die zweite Staffel gleich zwölf
Das sind Fragen. Und weil Gus,
die Hauptfigur aus der Fernseh-
serie „Love“, auch keine Antwort
hat, versucht er es mit einer Art
Zwangsernüchterung.
Seine Freundin hat sich von
ihm getrennt, zu oft hat er „Ich
liebe dich“ zu ihr gesagt. Sie fühl-
te sich unter Druck gesetzt, ihm
fiel als Antwort nur ein: „Aber
ich liebe dich.“ Schwierig. Nun
sitzt er auf dem Beifahrersitz ei-
nes alten Mercedes, in dem seine

PLANET PHOTOS / DDP IMAGES


wenigen Habseligkeiten verstaut
sind. Auf dem Schoß hält er einen
Karton mit Blu-Rays, seine Lieb-
lingsfilme. „Niemand nimmt dich
beiseite und sagt dir: Hey, nur da-
mit du es weißt, alle Beziehungen
sind total für den Arsch. Überall Darsteller Jacobs, Rust in „Love“: Lüge, Lüge und noch mal Lüge
diese Lüge, dass sich eine gute
Beziehung entwickelt und immer weiter wächst. Wieso Episoden. Es werden Seitenhiebe in alle Richtungen ver-
glaube ich an diesen Quatsch? Woher kommen diese Lü- teilt: Die Männer benehmen sich wie tapsige Riesenbabys;
gen? Von Songs, von Büchern, von Filmen.“ und alle, die beim Film arbeiten, sind miese, rücksichtslose
Und dann wirft Gus (Paul Rust) eine Blu-Ray nach der Grinsegesichter. Trotzdem haben die Figuren einen
anderen durch das geöffnete Autofenster hinaus auf die menschlichen Kern: Sie eint die Sorge, sich längst lächer-
Straßen von Los Angeles. „Pleasantville“, Lüge. „Pretty lich zu machen durch das Leben, das sie führen.
Woman“, Lüge. „Harry und Sally“, Lüge. Am Steuer sitzt Wie dieser Konflikt in „Love“ immer wieder angetippt
Mickey (Gillian Jacobs), eine umwerfend hübsche, leicht wird und einen melancholischen Unterton erzeugt, ist
durchgeknallte Frau, die er an dem Tag erst kennengelernt fortgeschrittene Komödienkunst. Aber bevor es wirklich
hat, und feuert Gus an. ernst werden könnte, wird verlässlich ein guter Scherz
Die Netflix-Serie „Love“ ist natürlich auch eine Lüge, gemacht. „Das sind die letzten guten Tage für meine Möp-
aber sie erzählt die Geschichte von Gus und Mickey, die se“, sagt Mickeys Freundin in einer Szene. „Mein zukünf-
hier beginnt, so konsequent verdreht, wie Verliebte ihre tiger Ehemann wird meine Möpse nie in ihrem besten Zu-
Romanzen eben empfinden. Mit allen Missverständnissen stand gesehen haben.“ Dieses Schicksal immerhin bleibt
und Peinlichkeiten. Und mit einiger analytischer Hellsicht Mickey und Gus erspart. Der nette Nerd und die neuro-
für die Neurosen von Großstädtern, die sich etwas zu aus- tische Schönheit werden schließlich erwachsen, sie haben
giebig mit ihren Gefühlen beschäftigen. lang genug gesucht. Claudia Voigt
Gus und Mickey sind zwei Anfang Dreißigjährige, die
ihre Pubertät deutlich überdehnt haben. Er wäre gern Video:
Drehbuchautor, arbeitet aber bisher als Privatlehrer eines Der Trailer zu „Love“
zickigen Teenagerstars. Sein größtes Problem besteht da- spiegel.de/sp122017love
rin, dass er es jedem recht machen möchte. Die hinrei- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 12 / 2017 123


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124 DER SPIEGEL 12 / 2017


Nachrufe
HEINZ KRIWET, 85 ROBERT JAMES WALLER, 77
Es war seine Idee einer Dop- In nur elf Tagen schrieb der
pelspitze, die der geplanten Hobbyautor seinen Roman
Fusion der beiden Stahlkonzer- „Die Brücken am Fluss“ – jene
ne Krupp aus Essen und Thys- romantische, von Kritikern
sen aus Düsseldorf 1999 zum auch als kitschig und ober-
Durchbruch verhalf. Monate- flächlich getadelte Liebesge-
lang hatten sich die beiden schichte zwischen einem Na-

PICTURE ALLIANCE / DPA


Kontrahenten, Thyssen-Chef tional-Geographic-Fotografen
Dieter Vogel und Krupp-Chef und einer Farmersfrau, die
Gerhard Cromme, unversöhn- Waller 1992 an die Spitze der
lich um die Führungsposition Bestsellerliste katapultierte.
beim neuen Stahlriesen gestrit- Das Buch, das der Dozent für
ten. Als Aufsichtsratschef der Wirtschaftswissenschaften an
HORST EHMKE, 90 Thyssen AG versuchte Kriwet der University of Iowa in einer
Der Jurist war einer der herausragenden Sozialdemokraten zu vermitteln und unterbreite- Auszeit schrieb, verkaufte
an der Seite Willy Brandts. 1927 in eine Danziger Arztfami- sich weltweit mehr als zwölf
lie geboren, geriet er im Zweiten Weltkrieg als Gefreiter Millionen Mal. Madison Coun-
der Wehrmacht kurz in russische Gefangenschaft. Danach ty, die Gegend in Iowa, in
trat er in die SPD ein und studierte in Deutschland und den der der Roman spielt, wurde
USA, mit 33 Jahren habilitierte er sich. Bei der SPIEGEL- durch das Buch und die Ver-

HARTMUT REEH / DPA


Affäre 1962 vertrat er das Nachrichten-Magazin als Anwalt filmung mit Clint Eastwood
vor dem Bundesverfassungsgericht. Nach dem Wahlsieg und Meryl Streep zum belieb-
der SPD im Herbst 1969 machte ihn Willy Brandt zum ten Ziel für Fans. Auch Wal-
Leiter des Bundeskanzleramtes. „Horst, unser Spezialist lers Roman „Puerto Vallarta
für alles“, pflegte Brandt ihn zu loben. Er war arbeitswütig, Squeeze“ (1995) wurde ver-
gedankenschnell, schlagfertig, witzig und scharfzüngig. Vie- te dem Krupp-Patriarchen filmt. Robert James Waller
len Genossen war er zu forsch und selbstbewusst, sie kol- Berthold Beitz den Plan einer starb am 10. März in Frede-
portierten die Anekdote, sein Fahrer habe ihn gefragt, wo- Doppelspitze. Beitz stimmte ricksburg, Texas. kle
hin es denn gehe, und er habe geantwortet: „Egal, wohin, zu. Kriwet, der in den Sechzi-
ich werde überall gebraucht.“ Brandts Nachfolger Helmut gerjahren selbst bei Krupp ge- JOHN SURTEES, 83
Schmidt sah ihn als Rivalen und sorgte dafür, dass er 1972 arbeitet und den Stahlkocher Als der Engländer 1964 in
an der Spitze des Bundesministeriums für Forschung, Tech- Thyssen von 1991 bis 1996 als der Formel 1 triumphierte, ge-
nologie und Post ruhiggestellt wurde. Nach dem Rücktritt Chef geleitet hatte, übernahm lang ihm, was bis heute nie-
Brandts als Parteivorsitzender geriet Ehmke zu einer den Aufsichtsratsvorsitz des mand sonst geschafft hat: in
Randfigur in der SPD. 1994 schied er aus dem Bundestag Konzerns. Ein typischer Stahl- den bedeutendsten Katego-
aus und unterstützte Oskar Lafontaine. Als bekannt wurde, baron war er nicht. In der rien auf zwei und vier Rädern
dass die NSDAP ihn als Mitglied geführt hatte, erklärte er, Branche war der Volkswirt für Weltmeisterschaften zu ge-
dass er von einer Aufnahme in die Nazipartei nichts seine Umsicht und Fairness be- winnen. Nach sieben Titeln,
gewusst habe. Als Pensionär schrieb er unterhaltsame kannt. Heinz Kriwet starb am die er bis 1960 mit dem Renn-
Polit-Krimis. Horst Ehmke starb am 12. März in Bonn. mbs 9. März in Düsseldorf. fdo motorrad geholt hatte, war
Surtees in die Formel 1 umge-
PETER STRELZYK, 74 stiegen. Bei Ferrari erlebte er
JONI SLEDGE, 60 In der Nacht zum 16. Septem- seine Blütezeit. Zum Ende der
Acht Jahre dauerte es, bis ber 1979 flog der Thüringer in Karriere gründete der gelernte
es die Soul- und R&B- einem selbst gebauten Heiß- Kfz-Mechaniker seinen eige-
Band, die sie mit ihren drei luftballon über den Todesstrei- nen Rennstall, mit dem er
FUTURE IMAGE / IMAGO

Schwestern 1971 gegründet fen nach Bayern. Mit an Bord


hatte, in die Erfolgsspur des Ballons, der in Oberfran-
schaffte – so lange jobbten ken landete, waren seine Frau,
Joni, Debbie, Kim und Ka- die beiden Söhne sowie eine
thy als Backgroundsänge- befreundete Familie. Die ge-
SHUTTERSTOCK / ACTION PRESS

rinnen oder gaben in Atlan- glückte Flucht lieferte den


tic City die Vorband für bekanntere Acts wie Bill Withers Stoff für den Film „Mit dem
oder die Pointer Sisters. Erst als Sister Sledge 1978 mit Ber- Wind nach Westen“, der 1982
nard Edwards und Nile Rodgers von der Gruppe Chic das weltweit in die Kinos kam.
Album „We Are Family“ aufnahmen, gelang der Durch- Nach der Wiedervereinigung
bruch: Die gleichnamige Single machte die Sledge-Schwes- kehrten Strelzyk und seine
tern weltbekannt. Sie landete in den US-Charts auf Platz Frau in ihr Haus in Pößneck
zwei, das Album verkaufte sich allein in den USA über zurück. In dem Buch „Schick- allerdings nicht an die Erfolge
eine Million Mal. Ein weiteres perfektes Disco-Stück des sal Ballonflucht“ (1999) erzäh- als Fahrer anknüpfte. Surtees
Albums war „Lost in Music“, gesungen von Joni, mit pum- len die beiden ihre Lebensge- überlebte schwere Unfälle,
pendem Bass und typischer Nile-Rodgers-Gitarre. Bis 2003 schichte, zu der auch gehört, doch 2009 verunglückte sein
nahmen sie weitere Alben auf, doch „We Are Family“ dass die Stasi sie an ihrem neu- 18-jähriger Sohn Henry bei
blieb ihr größter Erfolg. 2015 sangen sie vor dem Papst, en Wohnort im Westen ob- einem Autorennen tödlich.
ohne Kathy, die 1989 eine Solokarriere begonnen hatte. servieren ließ. Peter Strelzyk John Surtees starb am
Joni Sledge starb am 10. März in Phoenix, Arizona. lot starb am 11. März in Jena. kle 10. März in London. hac
DER SPIEGEL 12 / 2017 125
Bei Königs
Der spanische König Felipe VI., 49, und
seine Frau, Königin Letizia, 44, werden
im Juni auf Staatsbesuch nach Großbri-
tannien reisen – und damit eine lange
Abstinenz beenden: Seit 30 Jahren hat
kein spanischer Monarch britischen
Boden offiziell betreten. Die Beziehun-
gen der beiden Länder sind belastet,
der Status von Gibraltar gibt immer
wieder Anlass zu Verstimmungen. Feli-
pes Eltern boykottierten 1981 die Hoch-
zeitsfeier von Prinz Charles und Lady
Diana, weil das Paar angekündigt hatte,
einen Teil seiner Flitterwochen auf
Gibraltar zu verbringen. Felipe und Le-
tizia waren schon im vergangenen Jahr
mit der Queen verabredet, mussten je-
doch wegen der politisch heiklen Lage
in Spanien kurzfristig absagen. Der
neue Termin hat einen viel beachteten
Nebeneffekt: Der vereinbarte Staats-
besuch Donald Trumps im Vereinigten
Königreich kann nun wohl frühestens
Anfang Oktober stattfinden. Schon im

A-WAY / ALLPHOTO
Januar starteten Briten eine Online-
petition, um einen Besuch des US-Prä-
sidenten zu verhindern. Bislang gibt
es 1,8 Millionen Unterzeichner. ks

Emissionsprospekt von Shus 5000 Ehen“, sagt Shu. Das


Mätressen-Jäger Firma heißt. Seine Agentin- Ziel sei stets, der betrogenen
Jeder fünfte chinesische Ehe- nen suchen scheinbar zufälli- Ehefrau dabei zu helfen,
mann betrügt nach einer ak- gen Kontakt zu den Lieb- „ihr Gesicht, ihre Stellung, ihr
tuellen Studie seine Frau – haberinnen, bauen eine Geld und ihre Familie zu
eine Statistik, aus der Shu Xin, Freundschaft mit ihnen auf wahren“. Die Aussichten für
49, ein Geschäft gemacht hat, und überreden sie dann, sich seinen Börsengang stehen
das er nun an die Börse vom Mann ihrer Auftrag- gut: Es sind vor allem Frauen
bringt. Der Unternehmer aus geberin zu trennen. Der sen- vermögender Männer, die
Shanghai setzt psychologisch sible Service kostet im Durch- Shus Dienste suchen, und
geschulte Frauen darauf schnitt bis zu 8000 Euro, bei Chinas Scheidungsrate steigt
an, Mätressen aus dem Weg Misserfolg wird die Summe rasant. Mit jährlich 2,8 Schei-
zu räumen. Nicht physisch, zurückerstattet. Das Unter- dungen pro 1000 Einwohner
sondern mit „maßgeschnei- nehmen hat bereits mehr als liegt sie bereits über der
derten Lösungen zur Rettung 50 Niederlassungen in China vieler europäischer Staaten
der Ehe“, wie es in dem und rette „jedes Jahr etwa (Deutschland: 2,0). bza

126 DER SPIEGEL 12 / 2017


Personalien
Carolina, gerade den Besitzer.
Die Diva Der bisherige Eigentümer
Zeit ihres Lebens fühlte sie wollte zwar gern ein Museum
sich verkannt, jetzt erfährt errichten, wegen finanzieller
die Musikerin Nina Simone, Probleme musste er seinen
1933 bis 2003, postum eine Plan aber aufgeben. Er hat
besondere Ehre. Das Haus, in das Haus historisch restaurie-
dem die „Hohepriesterin ren lassen, sodass es wie in
des Soul“ und Bürgerrechts- den Dreißigerjahren aussieht,
aktivistin aufwuchs, ist von als Nina mit ihren sieben Ge-
vier Künstlern gekauft wor- schwistern und ihren Eltern
den, die den Ort wieder dort lebte. Bis heute wird Si-
zum Leben erwecken wollen. mone als große Ausnahme-

BERND HARTUNG
Für 95 000 Dollar wechselte künstlerin verehrt, sie galt als
das Gebäude in Tryon, North genial, aber auch als charak-
terlich „schwierig“, wenig an-
1992 gepasst, kurzum: divenhaft.
Den Ruf pflegte sie selbst, Der Augenzeuge
indem sie zum Beispiel in ih-
rer Autobiografie erklärte: „Ich bin doch kein Idiot“
REDFERNS / GETTY IMAGES

„Das Publikum hat mich aus-


gesucht, nicht ich das Publi- SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ist kürzlich mit einer sehr
kum. Sollte es ein Problem speziellen Taktik beim Buhlen um Zustimmung aufgefallen.
mit mir haben, braucht es gar Nach einem Auftritt vor rund tausend Genossen in Würzburg
nicht erst zu kommen.“ ks forderte er Jusos auf: „Fangt doch mal an zu rufen.“ Wenig
später wiederholte er: „,Martin‘ rufen!“ Abdu Bilican, 20 (vorn
rechts neben Schulz), Juso-Vorsitzender im Landkreis Würz-
burg, war dabei.
frieden: Er hinterließ ein
Hai mit Pasta witziges Porträt Fracassis, vor „Einer wie Martin Schulz hat es nicht nötig, um Applaus
Der britische Künstler Da- dessen Nase ein Hai herum- zu betteln. Nach seiner Rede in Würzburg riss es die Zu-
mien Hirst gilt nicht nur als schwimmt. Der Wirt sagt, ein hörer vor Begeisterung von ihren Sitzen. Schulz bekam
innovativ und provokant, japanischer Sammler habe bestimmt zehn Minuten lang Standing Ovations. Ich bin
er ist auch berühmt für seine bereits 250 000 Pfund für die mir deswegen sicher, dass seine Jubelaufforderung an
Geschäftstüchtigkeit. Seine Zeichnung geboten. In der uns Jusos ironisch gemeint war. Das verrät doch auch
Preise brachen immer wieder Vergangenheit war Hirst vor- sein breites Grinsen, das auf einem Video der Szene gut
Rekorde. Davon profitiert geworfen worden, seine Wer- zu sehen ist. Weil man ihn auf der Sachebene nicht an-
nun ein venezianischer Re- ke seien nurmehr eine kom- greifen kann, versuchen seine Kritiker jetzt, ihm damit
staurantbesitzer. Giovanni merzielle Marke, künstlerisch Eitelkeit anzuhängen.
Fracassi betreibt das Da Ivo, ohne Bedeutung. Verkaufen Als es nach seiner Rede etwas ruhiger im Saal wurde,
wo George Clooney seinen wolle er die Zeichnung aber drängten Journalisten und Schulz-Fans nach vorn. Es wur-
Junggesellenabschied feierte nicht, sagt der Restaurant- de richtig eng in der ersten Reihe. Ich schrie in Richtung
und Hirst kürzlich Pasta aß. betreiber, das gehöre sich des Kanzlerkandidaten, ob er für ein Erinnerungsfoto zu
Der Gast, der zurzeit in nicht für ein Geschenk. Und: uns kommen könne. Er rief dann zurück, dass wir uns
Venedig seine erste Ausstel- „Im Moment brauche ich das erst verdienen müssten – indem wir ,Martin! Martin!‘
lung nach zehn Jahren vor- kein Geld, ich glaube auch, rufen. Das haben wir dann spaßeshalber auch getan, aber
bereitet, war offenbar zu- dass der Wert noch steigt.“ ks in einem Videobeitrag des Bayerischen Rundfunks wir-
ken wir wie die Deppen vom Dienst. Das ärgert mich.
Wir Jusos aus der ersten Reihe hatten schon den ganzen
Auftritt über Späßchen mit Martin Schulz gemacht. Als er
ans Rednerpult ging, haben wir zum ersten Mal ,Martin!
Martin!‘ skandiert. Und zwar nicht auf Bestellung. Ich bin
doch kein Idiot, der auf Kommando klatscht. Wir sind alle
glühende Europäer und überzeugt, dass Martin Schulz die
kommende Bundestagswahl haushoch gewinnt.
QUELLE RISTORANTE DA IVO / COURTESY DAMIEN HIRST

In die Stille vor seinem ersten Satz rief mein Sitznach-