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Warum hatte man früher eigentlich

Sparstrümpfe zum Sparen?

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Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass am Ende der Ansparphase weniger Vermögen zur Verfügung steht, als insgesamt eingezahlt wurde.
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Stand: 1. Dezember 2016.
Das deutsche Nachrichten-Magazin Mein Unternehmen: vernetzt.

Meine Steuerberaterin:
Hausmitteilung
mit mir verbunden.
Betr.: Titel, AfD, DEIN SPIEGEL
Mit der sicheren DATEV-Cloud.
B
ald können rund 1,4 Millionen Türken
in Deutschland über ein Referendum
abstimmen, das die Macht im türkischen
Staat noch stärker in den Händen von Prä-
sident Recep Tayyip Erdoğan bündeln soll.
Der Wahlkampf für die Verfassungsände-
rungen läuft auf Hochtouren, nicht nur
MARIUS ROEER / DER SPIEGEL

in der Türkei, auch in Deutschland. Die


politische Auseinandersetzung ist harsch,
sie spaltet die türkische Gemeinde, und
auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft
fremdelt mit einer ihrer großen Migran-
Elger (l.) in Hamburg tengruppen. Ein Team um Katrin Elger
besuchte in Deutschland Demonstratio-
nen, sprach mit Erdoğan-Freunden und -Feinden, mit Wissenschaftlern und
erklärt im ersten Titelstück, warum so viele Türken, die in Deutschland leben,
einen Politiker feiern, der ganz offensichtlich nicht viel von der Demokratie
hält. Maximilian Popp analysiert in einem zweiten Teil die aktuelle Lage in der
Türkei. Unter anderem recherchierte er auf dem Taksim-Platz in Istanbul.
Innerhalb einer halben Stunde wurde er dreimal von Polizisten aufgehalten,
seine Personalien wurden notiert, ein Polizist gab ihm einen Rat: „Pass auf,
was du tust. Das hier ist die neue Türkei.“ Seite 12

M elanie Amann beobachtet die AfD schon


THOMAS HEDRICH / FOTOSTUDIO CHARLOTTENBURG

seit deren Gründung, sie erlebte deren


Wandlung und Radikalisierung mit, von der
Professorenversammlung zur Antiflüchtlings-
partei. Trotz vieler Anfeindungen, auf Partei-
tagen und in sozialen Netzwerken, gelang es
ihr, in den vergangenen vier Jahren ein funk-
tionierendes Arbeitsverhältnis zu wichtigen
Mitgliedern der Partei aufrechtzuerhalten,
kaum jemand kennt die AfD so gut wie
Amann. Ende dieses Jahres wird die Partei
wohl in 13 Landesparlamenten und im Bun- Amann
destag vertreten sein. In einem Essay, einem
Auszug aus ihrem Buch „Angst für Deutschland – Die Wahrheit über die AfD“,
bietet Amann eine Antwort auf die Frage, die politische Gegner und die Medien Gemeinsam mit Ihrem Steuerberater und den Soft-
immer noch beschäftigt: Wie soll man mit der AfD umgehen? Amanns Text ware- und Cloud-Lösungen von DATEV entlasten Sie
beginnt mit einem Satz, der manchem Gegner der Partei nicht gefallen wird: Ihr Unternehmen bei zahlreichen Geschäftsprozessen –
„Die AfD ist eine Volkspartei.“ Seite 38 etwa beim Rechnungswesen oder in der Personal-
wirtschaft. Dank des leistungsstarken DATEV-Rechen-

E ine ganze Woche ohne Handy? Schon Erwach-


senen würde das schwerfallen, aber Kinder und
Heranwachsende sind von ihrem Smartphone noch
zentrums mit Sitz in Deutschland wird die digitale
Zusammenarbeit mit Ihrem Steuerberater erleichtert.

stärker abhängig – glauben jedenfalls viele Erwach-


sene. Charlotte, 13, hat für DEIN SPIEGEL, das Nach- Sprechen Sie mit Ihrem Steuer-
berater oder informieren Sie
richten-Magazin für Kinder, den Test gemacht, ihr sich auf www.datev.de/vertrauen
Handy einschließen lassen und dann Tagebuch ge- bzw. unter 0800 1001116.
führt. DEIN SPIEGEL erklärt, wo Handysucht beginnt
und was man dagegen tun kann. Außerdem im Heft:
ein kindgerechtes Erklärstück über Politik – wie im
Herbst der Kanzler neu gewählt wird. DEIN SPIEGEL
erscheint am Dienstag.

DER SPIEGEL 11 / 2017 3


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Schwierige Mission
Außenpolitik Angela Merkel steht vor einem
der heikelsten Besuche ihrer Amtszeit. Beim
ersten Treffen mit Donald Trump muss sie
in Washington die westlichen Werte hochhalten,
ohne den US-Präsidenten zu verärgern. Vor
allem in Handelsfragen droht Streit. Seite 28

KAY NIETFELD / DPA


ERIC VAZZOLER / DER SPIEGEL

HARRY WEBER / DER SPIEGEL

CHRISTIAN MANG

Der Fall Karus Das Schnellrestaurant Die Ratlosen


Schicksale Benedikt Karus war Deutsch- Gastronomie Die Speisewagen der Deut- Terrorismus Seit dem Terroranschlag von
lands bester Crossläufer. Dann fand ein schen Bahn sind für Reisende oft ein Anis Amri kurz vor Weihnachten will
Labor in seinem Urin Spuren eines ver- Ärgernis. Die Technik ist veraltet, das Berlin im Umgang mit sogenannten Ge-
botenen Mittels. Der angehende Mediziner Personal frustriert. Mal funktioniert die fährdern Härte zeigen. Der SPIEGEL
stritt Doping vehement ab – doch gegen Kühlung nicht, mal die Kaffeemaschine. hat einige Islamisten getroffen und in der
die Mühlen der Anti-Doping-Bürokratie Ein einzelnes fehlendes Thermometer Szene recherchiert. Ob die Pläne der
hatte er keine Chance. Seite 100 kann das System lahmlegen. Seite 76 Behörden aufgehen, ist zweifelhaft. Seite 32

6 Titelbild: Montage DER SPIEGEL; Foto Roberto Conte / Getty Images


In diesem Heft

Titel Autoindustrie Warum Herbert Diess das meist-


gehasste Vorstandsmitglied von VW ist 71
Integration Der Kampf um das Referendum
in der Türkei heizt die Stimmung Manager Der ehemalige Chef der Pleitebank
unter Migranten in Deutschland auf 12 HRE, Georg Funke, sieht sich als Opfer 72
CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen Agrarwirtschaft Die Europäer dürfen über

WERNER SCHUERING / DER SPIEGEL


über seine Zweifel an der die Zukunft der Agrarindustrie abstimmen 75
doppelten Staatsbürgerschaft 19 Gastronomie Nirgends zeigt sich das
Türkei Beim Referendum Mitte April Serviceproblem der Deutschen Bahn so
entscheidet sich das Schicksal des Landes deutlich wie in den Bordrestaurants 76
und das von Präsident Erdoğan 20 Medien SPIEGEL-Gespräch mit
Bertelsmann-Chef Thomas Rabe
über Unternehmensführung in politisch
Deutschland prekären Zeiten 80
Leitartikel Facebook & Co. müssen
gezähmt werden 8 Ausland Claudia Hammond
Meinung Kolumne: Der schwarze Kanal /
So gesehen: Schwarz-Rot-Gold 10
Warum Ungarn das falsche Vorbild in Sie selbst sei zwar keine
der Flüchtlingspolitik ist / Indien verbietet Prasserin, sagt die britische
Millionenbudget für Berater im Ver- Hilfsorganisationen die Arbeit im Land 84
teidigungsministerium / Soziale Psychologin im Interview,
Frankreich Der Siegeszug des unab-
Netzwerke sollen Rechenschaft ablegen /
hängigen Präsidentschaftskandidaten
aber letztlich leide auch
Weniger Praktikumsplätze für Studenten 24 sie an einer großen mensch-
Emmanuel Macron 86
Außenpolitik Wie sich Kanzlerin lichen Schwäche: Wir
Angela Merkel auf ihren Besuch bei Essay Trumps Einreiseverbote bedrohen
die demokratische Substanz des Landes 92 können unglaublich schlecht
Donald Trump vorbereitet 28
Terrorismus Beobachten, laufen lassen, Demokratien Der Philosoph Achille Mbembe mit Geld umgehen. Seite 110
einsperren, abschieben – Politik im SPIEGEL-Gespräch über populistische
und Sicherheitsbehörden hadern mit dem Bewegungen in Europa und Afrika als Labor
Umgang mit islamistischen Gefährdern 32 für die Zukunft 94
Sicherheit Deutsche Geheimdienste Analyse Warum die nordkoreanischen
wünschen sich die gleichen Spionage- Raketentests so gefährlich werden könnten 97
instrumente, wie sie WikiLeaks gerade
bei der CIA enthüllte 37 Sport
Essay Wie die etablierten Parteien mit Die historische Aufholjagd des FC Barcelona /
der AfD umgehen sollten 38 Magische Momente: Nicola Thost über ihren
Umwelt Die Bundesregierung verharmlost ungeplanten Olympiasieg im Snowboarden 99
das Stickstoffproblem 40 Schicksale Der vergebliche Kampf

THOMAS VICTOR
Beschäftigung Arbeitsmarktexperte des Leichtathleten Benedikt Karus gegen
Joachim Möller über die Weiterbildungs- seine Dopingsperre 100
pläne von Ministerin Andrea Nahles 42
Verbrechen Wie der mutmaßliche Wissenschaft
Mörder von Herne seine Taten zum Muss die Geschichte der Varusschlacht neu Bruno
Social-Media-Ereignis machte 44
geschrieben werden? / Jetzt nicht Er kann nichts dafür, Züchter
Familie Warum einige Eltern den Auszug kratzen! / Kommentar: Eltern haften
ihrer erwachsenen Kinder fürchten 46 fürs Fett ihrer Kinder 104
haben ihm Knautschgesicht
Eine Mutter und ihre Tochter diskutieren, Haustiere Qualzucht, Inzucht, Niedlichkeit und Röchelnase verpasst –
warum sie noch zusammenwohnen und wer um jeden Preis – wie der Mensch und die Bulldogge zum Sinn-
nicht loslassen kann 47 dem Hund das Leben zur Hölle macht 106 bild grausamer Extreme auf
Missbrauch Etwa jeder siebte Deutsche Verhalten Die britische Seelenkundlerin dem Rassehundemarkt ge-
erfuhr als Minderjähriger sexuelle Gewalt – Claudia Hammond erklärt die Psychologie
die Opfer leiden auch an körperlichen macht. Brunos Herrchen will,
des Geldes 110 dass das aufhört. Seite 106
Langzeitfolgen 50
Medizin Ärzte schicken winzige
Wahlkampf Politiker werben mit der Medikamentenfähren auf die Reise
Dating-App Tinder 53 in den Körper 113
Bildung Digitale Plattformen sollen Schülern
beim Lernen helfen – Datenschützer
halten sie für potenziell gefährlich 54 Kultur
Scientologe im Münchner Haus der Kunst /
Gesellschaft Altmeister André Téchiné im Kino /
Kolumne: Zur Zeit 114
Früher war alles schlechter: Zugang zu Toiletten
Kulturpolitik Dresden als Problem
/ Wie Facebook Suizide verhindern will 58 für Künstler 116
ERIC FEFERBERG / AFP

Eine Todesanzeige und ihre Geschichte Essay Frankreich vor der Wahl –
In den USA betet eine aussterbende es bleibt in der Familie 120
Religionsgemeinschaft für Neumitglieder 59
Europa Kermanis Reise, Teil VIII: in Grosny
Populisten Die niederländische Stadt Almere und den tschetschenischen Bergen 124
wurde als sozialdemokratisches
Literaturkritik Alter Mann, junges Problem –
Ideal gebaut – warum ist Geert Wilders
dort so stark? 60
Joachim Lottmanns neuer Roman 130 Emmanuel Macron
Kolumne Leitkultur 65
Bestseller 119 Er ist der Mann, der Marine
Impressum, Leserservice 132 Le Pen als Präsidentin ver-
Wirtschaft hindern könnte. Seit Wochen
Nachrufe 133
BMW will Mercedes einholen / Neue Strom- begeistert der unabhängige
zähler messen oft falsch / Die Samstags- Personalien 134
frage: Warum geht es den Briten so gut? 66 Briefe 136 Kandidat mit einem Wahl-
Finanzpolitik Was geschieht, wenn die Hohlspiegel / Rückspiegel 138 kampf, in dem er vor allem
Niederlande, Frankreich oder Italien den eines verspricht: ein neues
Euro aufgeben – drei Szenarien 68 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ Frankreich. Seite 86

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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Zähmt Facebook!
Warum die Politik Internetplattformen stärker regulieren muss

D
as soziale Netzwerk Facebook hat auch eine Post- dauerte es etliche Tage, bis die Einträge verschwunden wa-
adresse in der analogen Welt. Mark Zuckerberg ren. Sanktionen? Keine. Facebook rechtfertigt sich damit,
und seine Kollegen residieren im kalifornischen dass es gar nicht in der Lage sei, die Verbreitung von derlei
Menlo Park am „Hacker Way“. In einem Brief an seine Verleumdungen zu verhindern. Doch Kinderpornografie
Aktionäre hat der Gründer seine Arbeitsweise auch so filtert das Netzwerk selbstverständlich zuverlässig heraus.
beschrieben: „The Hacker Way“. So sieht er sich also, so In den Botschaften an seine wachsende Gemeinde spricht
will er gesehen werden. Hacker sind Menschen, die kreativ Zuckerberg gern über seine Mission, die Welt durch Tech-
mit Technologie umgehen, Sicherungen überwinden, in nologie zu einem besseren Ort zu machen. Tatsächlich aber
geschützte Gefilde vordringen. Womöglich ist Mark handelt sein Unternehmen wie auch andere Plattformen vor
Zuckerberg der größte Hacker aller Zeiten. Sein Unter- allem im Sinne seiner Aktionäre: Es vermeidet Steuern, so
nehmen hat die ganze Gesellschaft gehackt, ihre Grund- gut es geht, und sucht für seine Niederlassungen Länder mit
regeln ausgehebelt und teilweise außer Kraft gesetzt. möglichst laxen Datenschutzbestimmungen. Die sozialen
Längst ist Facebook zum politischen Akteur geworden. Folgekosten des höchst erfolgreichen Wirtschaftens überlässt
Die Manifeste von Zuckerberg an die 1,9 Milliarden Mit- man gern anderen. Aber es gehören zwei zum Spiel: Hacker
glieder des Netzwerks haben den Charakter von Regie- und diejenigen, die sich hacken lassen. Viel zu lange haben
rungserklärungen. Und längst Politiker und Öffentlichkeit
setzt er an den demokratisch Zuckerberg-Porträt in der Facebook-Zentrale zugeschaut. Haben hingenom-
gewählten Regierungen vorbei men, dass Facebook sich mit
eigene Regeln. Die Gemein- seinen „Gemeinschaftsstan-
schaftsstandards, die er vor- dards“ über nationales Recht
gibt, sind sein Grundgesetz. hinwegsetzte. Dass zeitge-
Bislang hat das für Zucker- schichtlich bedeutende Bilder
berg bestens funktioniert. Die wie das von dem vor Napalm-
negativen Folgen seines Er- bomben flüchtenden Mädchen
folgs hat er einfach outge- in Vietnam gelöscht wurden, in
sourct. Verantwortung für die Deutschland strafbare Nazi-In-
Inhalte seiner globalen Kom- halte aber online blieben. Neu-
munikationsmaschine? Sache trale Plattform? Ernsthaft?
der Nutzer. Man sei nur eine Das digitale Laisser-faire
neutrale technische Plattform. war eine Selbstaufgabe der
Man könnte auch sagen: Politik, eine Kapitulation, ein
ROBERT GALBRAITH / REUTERS

Macht und Gewinn ja, Verant- Fehler. Es setzte Verbraucher


wortung nein, danke. der Willkür von Facebook
Der Staat sieht bisher ohn- aus, wo namenlose Teams
mächtig zu. Das wurde in nach intransparenten Vorga-
dieser Woche noch einmal ben entscheiden, ob ein Post
deutlich, als ein syrischer gegen die selbst gemachten
Flüchtling vor Gericht gegen Kriterien verstößt oder nicht.
Facebook scheiterte. Sein Selfie mit der Kanzlerin wurde Unsere Gemeinschaftsstandards muss weiterhin der
missbraucht, um Stimmung gegen Flüchtlinge zu schüren, Rechtsstaat setzen. Wir brauchen dafür endlich eine kluge,
er selbst als Mörder und Terrorist dargestellt. Der Mann vorausschauende Digitalpolitik. Sie muss Schutzlücken
sah sich verleumdet. Die Richter gaben ihm recht. Doch schließen und dafür sorgen, dass bestehendes Recht auch
seiner Forderung, dass Facebook die Verunglimpfung von durchgesetzt werden kann. Facebook muss verpflichtet
sich aus unterbinden solle, folgten sie nicht. Nach geltender werden, Ansprechpartner in Deutschland zu stellen. Es
Rechtslage könne Facebook nicht gezwungen werden, aktiv braucht klare Löschfristen und, wenn sie nicht eingehalten
nach Verleumdungen zu suchen und sie zu löschen, urteilte werden, Sanktionen, die so scharf ausfallen, dass man sie
das Gericht. Es war ein Sieg für Facebook, das Netzwerk auch im Hacker Way spürt. Was Facebook nach langem
kam mit seiner Lesart noch einmal durch. Aber es ist etwas Zögern nun selbst auf den Weg bringt, ist zu wenig. Auch
ins Rutschen geraten, auch das zeigt der Fall. Der scheinbar was das Justizministerium in Berlin dazu erarbeitet hat,
kleine Prozess zog großes internationales Interesse auf sich. kann nur ein Anfang sein. Wir brauchen eine umfassen-
Vorgeschrieben ist bislang nur, dass Facebook rechtswid- dere Regulierung der Plattformen.
rige Inhalte löschen muss, die der Plattform gemeldet wer- Es wird eine Machtprobe, so viel ist sicher. Das Silicon
den. Doch nicht einmal das setzt Facebook schnell und zu- Valley wird sich widersetzen. Doch es ist allerhöchste Zeit
verlässig um. Das zeigt der Fall von Renate Künast. Obwohl aufzuwachen. Holt euch den Rechtsstaat zurück!
die Grünenpolitikerin eine Schmähung mehrfach meldete, Marcel Rosenbach

8 DER SPIEGEL 11 / 2017


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Meinung
Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal

Geld für die Türken?


Die EU hat der Türkei hat sich so eingespielt. Seit ein paar Mona-
zwischen 2007 und ten sitzt ein paar Meter weiter ein Mann, Farbenlehre
2013 rund 4,8 Milliar- von dem ich vermute, dass er aus Rumä- So gesehen Die CDU
den Euro an „Heran- nien stammt. Bei dem rumänischen Bettler
führungshilfe“ über- grüße ich freundlich, aber Geld bekommt setzt wieder auf Schwarz-
wiesen, bis 2020 soll er keins. Sie können mich deswegen gern Rot-Gold.
noch einmal etwa das einen Rassisten nennen, aber der deutsche Seit 2004 haben die CDU
Gleiche dazukommen. Bettler hat nach meiner Einschätzung we- und Hollands Fußballnatio-
Mit der Heranführungs- niger Alternativen. Wenn er in Rumänien nalmannschaft etwas gemein-
hilfe werden Länder unterstützt, die sich um sein Glück versuchen würde, wäre er chan- sam: die Erkennungsfarbe
eine Mitgliedschaft beworben haben. cenlos, da bin ich sicher. Orange. Plakate, Briefpapier,
Dass man bereits Fördermittel bekommt, Vor sich hat der Bäckerbettler ein Homepage – überall bei der
wenn man Beitrittskandidat ist, wusste ich Schild, auf dem steht, dass er Hunger habe. CDU leuchtet ein fröhliches
auch nicht. Gäbe es einen Preis für den Viele Bettler beteuern, dass sie das Geld, Orange. Angela Merkel trägt
großzügigsten Klub der Welt, die EU hätte das man ihnen gibt, für etwas zu essen und manchmal sogar orangefar-
gute Chancen, den ersten Platz zu belegen. nicht für Schnaps oder andere Drogen aus- bene Blazer, Hollands Fuß-
Der deutsche Anteil an der Heranfüh- geben, aber ich glaube, das ist eine Schutz- baller tragen orangefarbene
rungshilfe beträgt alles in allem 2 Milliar- behauptung. Soll man jemandem Geld ge- Trikots.
den Euro. Es gibt darüber in Teilen der ben, der sich dafür vermutlich etwas kauft, Doch jetzt hat die Werbe-
Union einigen Unmut. Der Bundestagsvize- was ihm schadet? Ich habe beschlossen, agentur Jung von Matt, die
präsident Johannes Singhammer hat ge- dass mich das nichts angeht, schließlich bin für die CDU arbeitet, erste
fordert, die Hilfe sofort einzufrieren, da sie ich nur ein Nachbar und nicht sein Erzie- Plakatentwürfe für die Bun-
„nachweislich völlig wirkungslos“ sei. hungsberechtigter. destagswahl vorgestellt. Und
Was darf man von Ländern erwarten, Was den praktischen Teil angeht, lässt sich siehe: „Schwarz-Rot-Gold
denen man Geld gibt? Darf man überhaupt das Beispiel übertragen. Eigentlich soll die ist das neue Orange!“, jubelt
etwas erwarten? Das ist eine interessante Türkei mit der Heranführungshilfe die De- die „Bild am Sonntag“.
moralische Frage, sie stellt sich nicht nur mokratie ausbauen, so steht es in den „För- „Schwarz-Rot-Gold sind für
bei den Türken. Auch in Polen und Ungarn derschwerpunkten“, aber wenn das Geld wo- uns Christdemokraten keine
ist es Usus geworden, schlecht über diejeni- anders landet, kann man wenig machen. beliebigen Farben“, sagt Ge-
gen zu reden, von denen man Unterstüt- Wer bei einer Spende im Gegenzug Wohlver- neralsekretär Peter Tauber.
zung erwartet. Die Polen haben im vergan- halten erhofft, sollte es lassen. Das Einzige, Tatsächlich musste Schwarz-
genen Jahr 9,5 Milliarden Euro von der EU was man erwarten darf, ist Dankbarkeit. Rot-Gold schon für alles
überwiesen bekommen, die Ungarn Wenn mir der Bettler an meiner Ecke hinter- Mögliche herhalten: vom
4,6 Milliarden, was sie aber nicht davon herriefe, dass er mich für einen dreckigen Freiheitssymbol im Revolu-
abhält, die Geldgeber zu brüskieren. Nazi hält, wäre es das letzte Mal gewesen, tionsjahr 1848 bis zur Deko-
Ich komme jeden Morgen an einem Ob- dass ich ihm Geld gegeben habe. schminke beim Fußball-Som-
dachlosen vorbei, er hat neben dem Bä- mermärchen 2006. Als nach
cker seinen Platz bezogen. Wenn ich Klein- An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan Fleischhauer der Bundestagswahl 2013 auf
geld dabeihabe, gebe ich ihm etwas, das und Markus Feldenkirchen im Wechsel. der Bühne der CDU-Zentra-
le schwarz-rot-goldene Fähn-
chen geschwenkt wurden,
sammelte Merkel sie aller-
Kittihawk dings persönlich ein. Zuletzt
sah man auf Pegida-Demos
viel Schwarz-Rot-Gold. Jetzt
will die CDU die Farben of-
fenbar nicht mehr den
Rechtspopulisten überlassen.
Vielleicht hat das Ganze
mit nationaler Symbolik
aber auch gar nichts zu tun.
Vielleicht ist Orange – die
Gesichtsfarbe von US-Prä-
sident Donald Trump – ein-
fach nur out. Sogar die in
den vergangenen Jahren
grottenschlechten hollän-
dischen Fußballer trugen
beim letzten Länderspiel
keine orangefarbenen
Trikots, sondern blaue. Sie
gewannen. Martin Wolf

10 DER SPIEGEL 11 / 2017


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Integration Das Referendum in der Türkei verdunkelt das Leben
der Migranten hierzulande. Es schürt Aggressionen
unter ihnen und lässt sie den Deutschen fremder werden.

Türkischer Außenminister Çavuşoğlu bei seiner Rede am Dienstag in Hamburg

12 DER SPIEGEL 11 / 2017


Titel

D
er Mann mit dem langen schwar-
zen Vollbart bleibt stehen und
dreht sich abrupt um. „Was hast du
gesagt?“, brüllt er auf Türkisch über die
Köpfe der Hamburger Polizisten hinweg.
Sein Widersacher auf der anderen Seite
des Absperrgitters beugt sich weit über das
Metallgeländer und schreit noch einmal:
„Du Hund.“ Hinter ihm skandieren Mit-
streiter „Mörder Erdoğan! Mörder Er-
doğan!“ Sie halten Plakate in die Höhe,
auf denen „Hayır“ steht – „Nein“ zur Ver-
fassungsänderung in der Türkei.
Die liberale Alevitische Gemeinde und
andere Organisationen haben zum Protest
gegen den Auftritt des türkischen Außen-
ministers Mevlüt ÇavuŞoğlu an der Außen-
alster aufgerufen. Am späten Dienstag-
nachmittag haben sich Dutzende versam-
melt, die die Unterstützer des türkischen
Präsidenten ausbuhen.
Der Bärtige ist sichtlich aufgebracht
„Der Hund bist doch du!“, brüllt er in Rich-
tung der Demonstranten. Und dann: „Bist
du Christ oder was?!“ Sein wutverzerrtes
Gesicht sieht aus, als hätte er gerade einen
Kraftausdruck ausgespuckt, der tief unter
die Gürtellinie zielt.
Später wird er auf Nachfrage sagen, er
habe gar nichts gegen Christen. Aber sie
seien schwach, ohne echten Glauben. Sinn-
gemäß sagt er, sie seien lächerlich.
„Deutschland geht vor die Hunde. In so
einem Land sollen meine Kinder aufwach-
sen? Der Islamhass ist doch kaum noch zu
ertragen.“ Er ist hier geboren, redet viel,
in akzentfreiem Deutsch, und drückt sich
gut aus. „Jaaa“, sagt er. „Wir sind nicht
dumm. Wir verstehen alles, was hier läuft.
Auch die deutsche Scheinheiligkeit. Des-
halb werden wir bald in die Türkei aus-
wandern.“
Er steht neben einem weißen Metall-
zaun am Eingang zur Residenz des türki-
schen Generalkonsuls. Menschen mit roten
Flaggen strömen in den Vorgarten des ele-
ganten Gebäudes an der Alster, manche
haben sich in die Flaggen eingehüllt oder
sie um den Kopf gewickelt. Im Haus ne-
benan blickt ein Nachbar aus dem erleuch-
teten Fenster. Es ist ein befremdliches
Spektakel, das sich den Bewohnern des
Stadtteils Uhlenhorst bietet. Zu ihrer rech-
ten Seite die „Erdoğaaan! Diktatööör!“-
Rufe der Demonstranten, zu ihrer linken
300 Deutschtürken, die im Chor „Allahu
akbar“, „Gott ist groß“, skandieren.
Die Hamburger werden an diesem
Abend Zeugen, wie der türkische Wahl-
kampf um das Verfassungsreferendum sei-
nem vorläufigen Höhepunkt entgegensteu-
IBRAHIM OT / ACTION PRESS

ert. Präsident Recep Tayyip Erdoğan will


seine Machtfülle sichern und als Staatschef
auch die Regierungsgeschäfte übernehmen.
Aber sein Sieg ist keineswegs sicher. Er-
doğan wirbt mit großem Einsatz um die
Stimmen der Auslandstürken und macht
DER SPIEGEL 11 / 2017 13
Titel

so den Konflikt um die Zukunft der Türkei mittlerweile die deutschen Sicherheitsbe- ben, im Hass auf die Gegenseite allerdings
auch zu einem deutschen Konflikt. Einem hörden fürchten, die Konflikte könnten sind sie einander ähnlich.
Konflikt, der bedrohlich wird und Gräben auch in der Bundesrepublik gewalttätig Integrationsexperte Caner Aver vom
in der deutschen Gesellschaft vertieft. ausgetragen werden. „Die Bruchlinien zwi- Zentrum für Türkeistudien an der Uni-
Einerseits ist die türkische Community schen den verschiedenen Lagern in der versität Duisburg-Essen sieht noch eine
so gespalten wie selten in ihrer mehr als Türkei bilden sich spiegelbildlich in weitere Gemeinsamkeit, die alle Konflikt-
50 Jahre alten Gastarbeitergeschichte, viel- Deutschland ab“, sagt Verfassungsschutz- parteien eint: „Es gibt ein kollektives Un-
leicht wie noch nie. Andererseits fremdelt chef Hans-Georg Maaßen. Es gibt ein wohlsein. Alle sehen, dass gerade etwas
die deutsche Mehrheitsgesellschaft mit Deutschland, das stark von Erdoğan ge- grundsätzlich falsch läuft.“ Wenn auch aus
ihrer zweitgrößten Migrantengruppe. Wie prägt ist. ganz unterschiedlichen Gründen.
kann es sein, dass so viele junge Menschen, Yahya Kılıçaslan, 32, ist mit einem wei- Der Konflikt um das Referendum legt
die hier aufgewachsen sind, einen Mann ßen Porsche-Geländewagen zum Interview offen, wie sehr manche Türken in Deutsch-
verehren, der die demokratischen Werte in ein Café in der Esslinger Altstadt ge- land in ihrem Stolz verletzt sind. Wie sehr
aushöhlen will, auf welche die Deutschen kommen. „Erdoğan bleibt in meinen Au- einige unter dem Gefühl leiden, sie würden
stolz sind? Und umgekehrt fragen sich vie- gen ein erfolgreicher Politiker“, sagt der nicht anerkannt. Und dass sie glauben, als
le Menschen mit türkischen Wurzeln, wa- Unternehmer. „Er hat nicht nur geredet, Muslim immer in Verteidigungshaltung sein
rum die Deutschen sie noch immer als mus- sondern auch geliefert.“ Die Türkei brau- zu müssen. Wenn Außenminister Çavu-
limische Fremdkörper sehen, selbst wenn che politische Stabilität, um zu florieren. Şoğlu in Hamburg vor die Menge tritt und
sie weltoffen, erfolgreich und perfekt inte- Daher befürworte er das Referendum. ruft: „Keiner kann die Verbindung zu euch
griert sind. Warum wird so selten hervor- Kılıçaslan ist ein Beispiel dafür, dass der durchtrennen. Wir sind immer für euch
gehoben, was diese Gruppe leistet? türkische Präsident nicht nur unter anato- da“, appelliert er an tief sitzende Emotio-
Der Konflikt fordert auch die Kanzlerin lischen Hinterwäldlern seine Fans hat. Der nen und trifft einen Nerv seiner Zuhörer.
heraus. Viele Deutsche sind empört über junge Mann, Einwanderer der dritten Ge- Welcher deutsche Politiker hat sich ihnen
Erdoğans Provokationen und wollen, dass neration, hat in Esslingen sein Abitur ge- je mit solcher Hingabe zugewandt?
Angela Merkel sich ihm entschiedener ent- macht und eine Banklehre absolviert, mitt- Einer Erhebung im Auftrag der Uni
gegenstellt. Die Bürger sind unzufrieden, lerweile handelt er mit Immobilien. „Ich Münster zufolge fühlen sich zwar immer-
weil sie das Gefühl haben, die Kanzlerin sehe meine Zukunft in Deutschland und hin 87 Prozent der türkischstämmigen Bür-
sei wegen des Flüchtlingsdeals erpressbar fühle mich den Menschen hier verbun- ger mit Deutschland eng verbunden. Mehr
und müsse deshalb Erdoğans Zumutungen den“, sagt der Esslinger, der sich selbst als als die Hälfte der 1200 vor einem Jahr Be-
ertragen. liberal-konservativ bezeichnet. Im deut- fragten gab allerdings auch an, dass sie
Für das innerdeutsche Klima ist das alles schen Parteiensystem würde er sich bei sich wegen ihrer Herkunft als Bürger zwei-
Gift. Rund drei Millionen türkischstämmi- der CDU oder FDP sehen. ter Klasse fühlen. 83 Prozent würden dem
ge Menschen gehören zu diesem Land. Ha- Von Erdoğans Vergleichen der Bundes- Satz zustimmen, dass es sie wütend mache,
ben sie Probleme, hat zwangsläufig auch republik mit dem Dritten Reich distanziere wenn nach einem Terroranschlag als Erstes
Deutschland Probleme. Jedes politische er sich. „Das geht gar nicht.“ Wichtiger die Muslime in Verdacht stünden.
Erdbeben am Bosporus schickt seine Wel- als Rhetorik sei jedoch, dass sich die Türkei Aber es geht nicht nur um Gefühle der
len nach Berlin, Köln oder Stuttgart. Ver- an internationale Absprachen halte, zum Kränkung, zumal die Erfolge türkischstäm-
sucht das türkische Militär gegen die Re- Beispiel in der Flüchtlingspolitik. miger Migranten in dieser Gesellschaft
gierung zu putschen, sitzen auch in Und die Menschenrechte? Die verhafte- durchaus Anlass für mehr Selbstbewusst-
Deutschland nachts Zehntausende vor ten Beamten und Journalisten? Der Fall sein wären.
dem Fernseher, starren auf die Panzer und des deutschen Journalisten Deniz Yücel? Viele der AKP-Anhänger, auch der jun-
bangen um die Zukunft der Türkei. „Ich wünsche ihm ein faires Verfahren“, gen, haben trotz aller Integration, trotz
Wenn Erdoğan Autoren, Juristen, Leh- sagt Kılıçaslan. „Aber ich habe keinerlei Unterricht in Politik und Sozialkunde wäh-
rer und Wissenschaftler verhaften lässt, Sympathien für ihn, er ist für mich ein rend der Schulzeit, ein anderes Verständ-
sorgen sich deren Verwandte in Deutsch- Volksverhetzer.“ nis von Demokratie.
land. Und wenn der deutsche Journalist Solche Statements kommen bei Deut- Wenn ein Volk mehrheitlich entscheide,
Deniz Yücel, der auch einen türkischen schen und türkischen AKP-Gegnern nicht einer einzigen Partei und einem Staats-
Pass besitzt, als vermeintlicher Terrorun- gut an. Kılıçaslan weiß das. Er ist einer der oberhaupt sein Vertrauen zu schenken,
terstützer im Gefängnis sitzt, fahren seine wenigen, die in deutschen Medien wagen, dann müssten andere Nationen das akzep-
deutschen und türkischen Unterstützer im offen Position für den türkischen Staats- tieren, schlussfolgern viele. Die Lehren der
Autokorso durch die Städte. chef zu beziehen. In der deutschen Geschichte, der Impuls, bei ei-
Was ist deutsch, was tür- Talkshow von Maybrit Ill- ner solchen Argumentation an 1933 zu
kisch? Beides ist untrenn- ner war er schon zu Gast denken, ist nicht bei allen Türkischstäm-
bar miteinander verbunden. und im Deutschlandradio. migen gleichermaßen ausgeprägt.
Als sich ein Journalist der Er sagt, er tue es, weil er Eine Gewaltenteilung erscheint ihnen
„Zeit“ bei der Wahlkampf- die Gedankenwelt vieler überflüssig, weil sie daran glauben, dass
veranstaltung ÇavuŞoğlus Deutschtürken erklären Erdoğan mit seinem Nationalstolz das Bes-
mit einem „Free Deniz“- wolle. te für die Türkei will. Dazu kommt, dass
Schild unter die Türken Danach wird er oft ange- diejenigen, die hierzulande regierungs-
MARC KRAUSE / DER SPIEGEL

mischt, hauen Erdoğan-An- feindet. Auf seiner Face- treue türkische Sender sehen, die Propa-
hänger mit Fahnen auf ihn book-Seite bat er deshalb: ganda kaum mit der Wirklichkeit ab-
ein und schlagen ihm die „Ja – zum Austausch und gleichen können. Die Schatten der Er-
Brille aus dem Gesicht. Kritik! Nein – zu Hetzkam- doğan-Herrschaft für die Bevölkerung er-
Die Töne, vor allem an pagnen und Gewalt!“ Es leben sie nicht direkt mit, sie sind ja in
den radikalen Rändern gibt nicht viel, was extreme Deutschland.
der Gruppierungen, werden Unternehmer Kılıçaslan Erdoğan-Gegner und Er- An den Krisen der jüngsten Vergangen-
schriller. So aggressiv, dass „Er hat geliefert“ doğan-Fans gemeinsam ha- heit, den Terroranschlägen, der schwächeln-

14 DER SPIEGEL 11 / 2017


nalistischer Türken an und warfen anschlie-
ßend Steine auf Polizisten. „Die Situation
in der Türkei ist so explosiv – es braucht
nicht viel, bis uns das hier um die Ohren
fliegt“, sagt ein hochrangiger Nachrichten-
dienstler. „Dass da Auftritte von AKP-Leu-
ten oder Erdoğan selber hier eher Öl ins
Feuer gießen, dürfte auf der Hand liegen.“
In einer Büroetage in Neu-Isenburg bei
Frankfurt am Main klickt sich die kurdisch-
stämmige Journalistin Dilan Karacadag am
Computer durch das Layout für die Zei-
tungsseiten von morgen. Es sind viele
schlechte Nachrichten, die in der Tages-
zeitung „Yeni Özgür Politika“ in türkischer
und kurdischer Sprache zu lesen sein wer-
den. Sie handeln von Unterdrückung und
Gewalt gegen Oppositionelle in der Türkei.

KAY NIETFELD / DPA


Auch über den Konflikt zwischen Er-
doğan-Anhängern und Kurden in Deutsch-
land berichtet die einzige kurdische Zei-
tung hierzulande, der seit je eine Nähe zur
Amtskollegen Gabriel, Çavuşoğlu in Berlin: Versuch, den Auftritt zu retten PKK nachgesagt wird. „So schlimm wie
jetzt habe ich das noch nie wahrgenom-
den Wirtschaft und den bürgerkriegsähnli- Fragen wollte er nur schriftlich beantworten. men“, sagt die Journalistin.
chen Zuständen im Südosten geben sie Er- Er meint damit positive Meldungen über Karacadag ist 27 Jahre alt, ein Einwan-
doğan keine Schuld. Die sehen sie bei den die Türkei und Erdoğan. „Türkischer Präsi- dererkind der dritten Generation. Seit
Zionisten, den USA, den Kurden und bei dent ruft zur Hilfsaktion gegen Hungersnot etwa zwei Jahren nutze der ins Präsiden-
Europa. Den Vorwurf, die AKP schaffe die in Afrika auf“, lautet etwa eine Headline. tenamt aufgestiegene Erdoğan den Kon-
Pressefreiheit ab, halten sie für einen Witz. Viele Türken feiern NEX24 in den sozialen flikt, um mit harten Angriffen und Kam-
Vielmehr gilt für sie die Tatsache, dass es Netzwerken deshalb als einziges Medium, pagnen gegen Kurden seine Anhänger hin-
kein deutsches Medium gibt, das positiv das „wirklich objektiv“ berichte. ter sich zu scharen: „Seitdem ist richtiger
über Erdoğans Referendum berichtet, als Kurden und liberalere Türken sind we- Hass entstanden“, sagt Karacadag (siehe
Beleg dafür, dass es in Deutschland ein Pro- niger begeistert. NEX24 produziere nur auch die Statements von Deutschtürken
blem mit der Meinungsfreiheit gibt. Fake News und sei von Ankara aus ge- auf den Seiten 16 und 17).
„Viele haben das Gefühl, es wird mit steuert, schrieben sie in E-Mails und auf Es ist ein zerstörerisches Gefühl, das die
zweierlei Maß gemessen“, sagt Integra- Facebook. „Und das nur, weil wir auch türkische Community derzeit fest im Griff
tionsexperte Aver. Warum konnte etwa der PKK-kritische Berichte veröffentlichten“, zu haben scheint: die Kurden und die Tür-
niederländische Rechtspopulist Geert Wil- schreibt Karaburan. ken, die Modernen und die Konservativen,
ders in Dresden auftreten? Aber für türki- Zuletzt habe ihm ein Absender, der sich die extremen Rechten und die Linken.
sche Minister, die für eine Abstimmung selbst als Kurde bezeichnete, gedroht, er Seit Mürvet Öztürk in Deutschland eine
werben wollen, ist keine Halle aufzutrei- wolle eine Handgranate in Karaburans Galle Kampagne gegen das Referendum organi-
ben? Es falle vielen Türken schwer, an die platzieren. „Und das Feuer auf ihrem bren- siert, hat sie gelernt, wie dieser Hass aus-
deutsche Demokratie zu glauben, wenn sie nenden Körper würde ich dann mit meinem sieht. Aufgebrachte türkische Taxifahrer
das Gefühl hätten, die Grundrechte für Ver- Urin löschen.“ Karaburan hat nun Angst. bezeichneten sie als „Feindin der Türkei“,
sammlungsfreiheit würden nicht für alle Den deutschen Sicherheitsbehörden be- vor einer Moschee beschimpfte man sie
gleichermaßen gelten, sagt Aver. reitet die PKK-Jugendorganisation Sorgen, als Kriminelle. Trotzdem klappert sie am
Warum werden islamistische Terrorver- genauso wie die ultrarechten „grauen Wöl- Donnerstag um die Mittagszeit türkische
dächtige mit aller Härte verfolgt? Und die fe“. Die PKK-Jugend hat im Internet zu Gemüseläden, Friseure, Restaurants und
Anhänger des muslimischen Geistlichen gewalttätigem Widerstand aufgerufen. Ne- Telefonshops in der Wiesbadener Innen-
Fethullah Gülen, der angeblich den Putsch- ben den bekannten Vertretern der türki- stadt ab.
versuch in der Türkei verantwortet, genie- schen Politik von ganz rechts bis ganz links In ihrer Handtasche hat sie zwei Stapel
ßen Schutz? Und was ist mit der kurdi- stehen auch türkische Clans und türkische mit Faltblättern dabei, „Hayır“ steht auf
schen Arbeiterpartei PKK, die als Terror- Rockerbanden hierzulande gegeneinander den einen, die deutsche Übersetzung
organisation in Deutschland eigentlich ver- – ein Milieu mit besonders hoher Gewalt- „Nein“ auf den anderen. Sie wolle die
boten ist? Warum geht der deutsche bereitschaft. Straßen und Säle in Deutschland nicht tür-
Staatsschutz nicht konsequenter gegen ex- Verfassungsschutzchef Maaßen warnt kischen Regierungspolitikern und Er-
tremistische Kurden vor? vor einem „hohen, schlagkräftigen Gefähr- doğan-Fans überlassen, sagt sie. Sie wolle
Diese Fragen stellt auch der Journalist dungspotenzial“, sowohl bei Anhängern mit den vielen Unentschlossenen ins Ge-
Polat Karaburan. Vor zwei Jahren hat er als auch bei Gegnern Erdoğans. In den Si- spräch kommen, die es immer noch gebe,
die Nachrichtenseite NEX24 gegründet. Er cherheitsbehörden denkt man an Straßen- und sie wolle alle Gegner der Verfassungs-
und sein Team berichten über die Türkei – schlachten und Ausschreitungen – wie sie änderung dazu animieren, ab dem 27.
auf Deutsch. Man verstehe sich als „unab- schon zwischen PKK-Anhängern und Sa- März in die Konsulate zu fahren und ihre
hängiges, überparteiliches Medium“, so Kar- lafisten anlässlich der Schlacht um Kobane Stimme abzugeben.
aburan. „Wir berichten lediglich das, was in Syrien im Jahr 2014 stattfanden. In manchen Geschäften hat Öztürk
man woanders nicht zu lesen bekommt“, Im März 2016 griffen PKK-Anhänger in leichtes Spiel. In einem Friseurladen geben
schreibt er in einer E-Mail an den SPIEGEL, Aschaffenburg eine Demonstration natio- sich drei frisch frisierte junge Männer so-

DER SPIEGEL 11 / 2017 15


JAN WINDSZUS / DER SPIEGEL
UFUK UCTA / DER SPIEGEL

DUDU YÜZER, 47, Modedesignerin LUKA SIMAY, 29, Studentin


„Es ist falsch, die Politik der Türkei „Hier für Erdoğan zu kämpfen ist so,
hierherzubringen und uns zu instrumentalisieren. als würden Freilandhühner für Käfighaltung
Deutschland sollte sich wehren.“ stimmen.“
MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL

FALK HELLER / ARGUM

ANONYMUS, 39, Angestellter GÖNÜL KURT, 45, Anwältin


„Mein Vater will nichts mehr mit mir zu tun „Wer dem NSU angeblich zwölf Jahre lang
haben, weil ich gegen Erdoğan bin. Viele Türken nicht auf die Schliche kam, sollte nicht mit
sind vernarrt, es ist Massenhypnose.“ dem Finger auf andere zeigen.“

16 DER SPIEGEL 11 / 2017


Titel

fort als Gegner des Erdoğan-Kurses zu er-


kennen und posieren mit den „Hayır“-
Broschüren in der Hand für ein Erinne-
rungsfoto mit ihr. In einem türkischen Res-
taurant will der Besitzer einen Stapel Falt-
blätter auf den Tresen legen und seinen
türkischstämmigen Gästen ans Herz legen.
Die meisten sind vorsichtiger. Er habe
auch viele Erdoğan-Anhänger unter seinen
Kunden, sagt der Besitzer eines Reisebüros,
deshalb halte er sich aus der Diskussion
raus. „Das Geschäft geht vor“, meint auch
der Mann hinterm Tresen eines türkischen
Schmuckladens. Persönlich sei er ohnehin
anderer Meinung: Er werde mit Ja stim-
men, weil er sicher sei, dass Erdoğan seine
Macht nicht missbrauchen werde.
Öztürk, 44, ist fraktionslose Abgeord-
nete im hessischen Landtag mit Grünen-
Parteibuch, sie hat sich vor einigen Wo-
chen mit dem ebenfalls türkischstämmigen

JAN WINDSZUS / DER SPIEGEL


hessischen SPD-Landtagsabgeordneten
Turgut Yüksel zusammengeschlossen, um
eine überparteiliche Nein-Kampagne zu
starten. Mehr als 300 aktive Unterstützer
haben sie seitdem gefunden, Spenden ge-
sammelt und 80 000 Faltblätter drucken
lassen. Etwa 60 bis 70 Prozent der
SERKANO, 31, Künstler
Deutschtürken seien gegen Erdoğans Griff
„Die türkischen Wahlen sollten nicht nach zur unkontrollierten Macht, glaubt sie.
Deutschland schwappen. Kunst und Musik sind in „Das Problem wird nur sein, dass wir die
alle dazu kriegen müssen, an dem Refe-
Berlin interessanter als Politik.“ rendum auch teilzunehmen.“
Die Gegenseite hat schon reagiert. Die
Erdoğan-nahe Zeitung Sabah veröffent-
lichte einen Aufruf, man solle den beiden
„Verrätern“ gar nicht erst die Türen öffnen.
Der Effekt solcher Propaganda ist mitt-
lerweile in den deutschtürkischen Alltag
gekrochen, auch in das Leben der Berli-
nerin Filiz Ilhan. Kürzlich war die 41-jäh-
rige Anwältin im türkischen Supermarkt
und registrierte, dass die Gespräche ver-
stummten, als sie das Geschäft als Frau
ohne Kopftuch betrat. Das Personal an der
Theke habe sich demonstrativ freundlich
der Kundin hinter ihr zugewandt, die ein
Kopftuch trug.
Ilhan ist eine selbstbewusste, reflektierte
Frau. Man könnte sagen: linksliberales
deutsches Bürgertum mit Altbauwohnung
in Wilmersdorf und zufällig türkischen
Wurzeln. Sie arbeitet in der auf Strafrecht
spezialisierten Kanzlei ihres Partners, hat
JAN WINDSZUS / DER SPIEGEL

zwei Söhne und mischt sich ein in das öf-


fentliche und politische Leben. Aber mitt-
lerweile ist das nicht mehr so einfach, so
selbstverständlich für sie.
Sie sagt, sie lebe jetzt in „einem stillen
Land“. Still, weil inzwischen jeder sehr
genau seine Worte wägen muss, weil man
SEVGI GÜREZ, Inhaberin einer Patisserie
direkt kategorisiert, bewertet und auch an-
„Wer Deutschland als Naziland bezeichnet, gefeindet wird. Weil der Druck der AKP-
beleidigt mich mit. Die Türken hier sollten mehr Anhänger so groß werde, ziehen sich An-
dersdenkende immer weiter zurück und
Gesicht zeigen für Demokratie.“ werden still. „Wir sind kaum noch zu
hören.“ Jeder wäge ab – mit wem spreche
DER SPIEGEL 11 / 2017 17
Titel

ich noch über was? Es ist ein Unbehagen,


das an einen Überwachungsstaat erinnert.
Ilhan vermisst Solidarität aus der deut-
schen Zivilgesellschaft, etwa dass mehr
Menschen mitdemonstrieren, wenn sie am
Autokorso für den inhaftierten Journalis-
ten Deniz Yücel teilnimmt. „Es ist ein Feh-
ler zu glauben, Erdoğan sei ein türkisches
Problem. Es geht inzwischen alle an.“ Von
einem Auftrittsverbot für türkische Politi-
ker hält sie trotzdem nichts.
Damit ist die Berlinerin ganz auf der Li-
nie der Bundeskanzlerin. Angela Merkel
versucht sich gegenüber der türkischen Re-
gierung bisher in einer Disziplin, die sie
besonders gut beherrscht: kühlen Kopf be-

MARC KRAUSE / DER SPIEGEL


wahren. Nicht einmal ignorieren, so könn-
te man Merkels Reaktion auf die rhetori-
schen Rüpeleien aus Ankara zusammen-
fassen. „Solche deplatzierten Äußerungen
kann man ernsthaft eigentlich gar nicht
kommentieren“, sagte sie zu Erdoğans
Nazi-Beschimpfung. Hessische Abgeordnete Öztürk: Mit den Unentschlossenen ins Gespräch kommen
Im vergangenen Jahr litten die deutsch-
türkischen Beziehungen, weil der Bundes- und Köln-Porz versuchte das Auswärtige Wähler die AKP. Umfragen dazu, ob Er-
tag eine Resolution zum Völkermord an Amt sogar, den Auftritt des türkischen Au- doğan seitdem in Deutschland beliebter
den Armeniern verabschiedete, die Türken ßenministers ÇavuŞoğlu in Hamburg zu oder unbeliebter geworden ist, gibt es
beschwerten sich zudem über mangelnde retten. Als das Bezirksamt den ursprüng- nicht.
Anteilnahme nach dem Putschversuch lich gebuchten Saal im Stadtteil Wilhelms- Gleichzeitig müssen die Deutschen mit
vom vergangenen Sommer. Seitdem tut burg wegen mangelnden Brandschutzes einem weiteren diplomatisch heiklen The-
die Bundesregierung alles, um Erdoğan sperrte, riefen Gabriels Beamte im Ham- ma hantieren: der steigenden Zahl der
keinerlei Vorwand mehr zu liefern, sich burger Rathaus an, um sich zu erkundigen, Asylanträge von Türken. Das Bundesamt
gegen Deutschland profilieren zu können. ob man für den türkischen Außenminister für Migration und Flüchtlinge (Bamf) lässt
Konflikte versucht Merkel hinter ver- nicht einen anderen Veranstaltungsort fin- sich für diese Fälle zwar lange Zeit, 16 Mo-
schlossenen Türen zu lösen. den könne – ohne Erfolg. nate im Moment, aber irgendwann wird
Erdoğan kann das nicht recht sein. Er Wie stark das Vertrauen gelitten hat, die Behörde über jene Schutzbegehren ent-
weiß, dass ihm jede scharfe Kritik Merkels zeigte sich beim Frühstück der beiden Au- scheiden müssen, die nach dem Putschver-
mehr deutschtürkische Anhänger in die ßenminister am Mittwochmorgen im Ber- such vom Juli 2016 gestellt wurden. Sollten
Arme treibt. Deshalb auch sein Eifer, sol- liner Hotel Adlon. ÇavuŞoğlu gab sich die Gesuche anerkannt werden, würde die
che Reaktionen zu provozieren. überzeugt, dass die Bundesregierung in Erdoğan-Regierung wohl toben, sie hat von
Yücel, der Korrespondent der „Welt“, Absprache mit Geheimdiensten und Kom- Deutschland die Auslieferung angeblicher
sitzt noch immer in Haft, obwohl Präsi- munalverwaltungen die Auftritte verhin- Gülenisten verlangt, die sie für den Putsch-
dent Erdoğan bei einem persönlichen dert habe. Gabriel vermochte es in dem versuch verantwortlich macht.
Treffen mit der Kanzlerin Anfang Februar eineinviertel Stunden dauernden Gespräch Zahlreiche Anträge dürften indes gute
den Eindruck vermittelt hatte, dass sich nicht, seinen Amtskollegen vom Gegenteil Chancen haben. In einem vertraulichen
der Fall auf dem Verhandlungswege lösen zu überzeugen. Bericht über die „asyl- und abschiebungs-
lasse. Am vorletzten Freitag allerdings be- Immerhin, eine Liste weiterer geplanter relevante Lage in der Republik Türkei“
zeichnete der Präsident den Journalisten Auftritte reichte die türkische Regierung von Ende Februar zeichnet das Auswärtige
als „deutschen Agenten“ und „Vertreter mittlerweile in Berlin ein. Ob Erdoğan per- Amt ein düsteres Bild. „Aktuell gibt es
der PKK“. sönlich nach Deutschland kommt, ist noch deutliche Anhaltspunkte für eine systema-
Auch für die gescheiter- unklar. Auf der Liste steht er tische Verfolgung vermeintlicher Anhän-
ten Wahlkampfauftritte tür- nicht, aber im Auswärtigen ger der Gülen-Bewegung, ohne dass es Kri-
kischer Minister in Deutsch- Amt geht man fest davon terien dafür gäbe, was einen ‚Anhänger‘
land macht Ankara die aus, dass der türkische Staats- kennzeichnet“, heißt es in dem Bericht.
Bundesregierung verant- präsident anreisen wird. Dieser bildet eine wichtige Grundlage für
wortlich. Dabei hatten sich In Deutschland dürfen die Entscheidungen des Bamf.
gerade Merkel und Außen- rund 1,4 Millionen Türken Seit dem Putsch stellen Monat für Mo-
minister Sigmar Gabriel ihre Stimme abgeben. Zwi- nat mehr als 500 Türken einen Antrag auf
(SPD) dafür ausgesprochen, schen dem 27. März und Asyl in Deutschland, darunter auch Diplo-
JAN WINDSZUS / DER SPIEGEL

dass solche Veranstaltungen 9. April werden die Wahl- maten und Soldaten, erst in dieser Woche
stattfinden. lokale an 13 verschiedenen berichtete das Bundesinnenministerium
Die Kanzlerin und ihr Orten in Deutschland geöff- von vier weiteren ranghohen türkischen
Vize hätten es gern gesehen, net sein. Eine Briefwahl Militärs mit Diplomatenstatus.
wenn zumindest einer der sieht das türkische Recht Außenminister Gabriel weist darauf hin,
geplanten Auftritte geneh- nicht vor. Bei den Parla- dass Ankara selbst zu Zeiten der Militär-
migt worden wäre. Nach Berlinerin Ilhan mentswahlen 2015 unter- diktatur in den Achtzigerjahren Mitglied
den Absagen von Gaggenau Deutsches Bürgertum stützten fast 60 Prozent der der Nato bleiben durfte. Türkische Wirt-
18 DER SPIEGEL 11 / 2017
schaftsinteressen und europäische Sicher-
„Klare Sprache“
heitsinteressen sprächen dagegen, das Ver- Integration CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen, 51, fordert
hältnis aufs Spiel zu setzen.
Bleibt die Frage, ob vor allem zwischen eine deutliche Antwort an Erdoğan.
Merkel und Erdoğan bereits zu viel Ver-
trauen verloren gegangen ist. Die beiden SPIEGEL: Herr Röttgen, türkische ten klar sagen: Dafür steht Deutsch-
mochten sich von Anfang an nicht. Er- Regierungsmitglieder machen in land nicht zur Verfügung.
doğan, erzählt ein türkischer Regierungs- Deutschland Werbung für das Ver- SPIEGEL: Dann müssten Sie doch kon-
politiker, habe bis heute nicht vergessen, fassungsreferendum, das Präsident sequenterweise dafür plädieren,
dass Merkel, noch bevor sie Kanzlerin Recep Tayyip Erdoğan im April einen Auftritt Erdoğans in Deutsch-
wurde, Stimmung gegen den EU-Beitritt nahezu uneingeschränkte Macht si- land zu verbieten.
gemacht hat. Der gescheiterte Beitritt wird chern soll. Wie sollte die deutsche Röttgen: Wenn die Bundesregierung
von vielen Türken als Zurückweisung Politik auf diese Auftritte reagieren? die Einreise türkischer Regierungs-
empfunden, als kollektive Kränkung eines Röttgen: Wir sollten der Türkei klar mitglieder verbieten würde, würde
ganzen Volkes. Emotionen, die Erdoğan sagen, dass wir nicht wollen, dass das die Beziehungen zur Türkei auf
nun in die Hände spielen. der türkische Wahlkampf bei uns den Nullpunkt bringen. Das wäre
Viele Integrationsexperten halten Mer- stattfindet. Es ist inakzeptabel, dass nicht in unserem Interesse. Wir müs-
kels Kurs für grundsätzlich richtig. Er- die Türkei ihre innenpolitischen sen also eine klare Sprache mit klu-
doğan stilisiere sich gern als Opfer, sagt Konflikte in einem anderen Land gem Verhalten verbinden. Ich räume
Ahmet Toprak, Dekan an der Fachhoch- austrägt. Das widerspricht auch der aber ein, dass da eine gewisse Span-
schule Dortmund, darin müsse man ihn üblichen Praxis zwischen Staaten. nung besteht.
nicht auch noch bestärken. Aber für das SPIEGEL: Die türkischen Politiker, die
innerdeutsche Klima sei es nun wichtig, hier waren, haben sich jedenfalls
auch mithilfe der Kanzlerin, das „Wir-ihr- ebenso wenig wie Erdoğan selbst von
Denken“ zu überwinden. Provokationen abhalten lassen.
Detlef Pollack von der Universität Röttgen: Die Provokationen sind Teil
Münster sieht das ähnlich. „Die große Leis- einer Kampagne, um Wähler zu mobi-
tung der Zivilgesellschaft ist es, dass man lisieren. Darauf sollten wir schon des-
miteinander klarkommt, auch wenn man halb nicht eingehen, weil es Erdoğan
teils unvereinbare Positionen hat“, sagt in die Hände spielen würde.
der Religionssoziologe. Das falle manchen HERMANN BREDEHORST / POLARIS / LAIF SPIEGEL: Was sagt es über den Erfolg
Türken nicht leicht, weil sie den Umgang der Integration in Deutschland aus,
mit Selbstkritik und Vielfalt nie gelernt wenn es so leicht ist, die innertürki-
hätten. Pollack sieht die Mehrheitsgesell- schen Konflikte hier zu schüren?
schaft dennoch in der Pflicht, einen Schritt Röttgen: Das ist eine berechtigte
auf die türkische Gemeinschaft zuzuge- Frage. Die Kampagne der türkischen
hen, sie sei in der Rolle des Stärkeren. Regierung trägt jedenfalls zur Ent-
„Selbstverständlich muss man die Men- fremdung zwischen den in Deutsch-
schen kritisieren dürfen, aber man sollte Unionspolitiker Röttgen land lebenden Türken und anderen
ihnen auch ein gewisses Maß an Verständ- „Das Optionsmodell ist sinnvoller“ Bürgern bei. Der Stand der Inte-
nis und Empathie zeigen, wenn es um ihre gration ist offenbar deutlich schwä-
starke Bindung zur Türkei geht.“ SPIEGEL: Die Bundesregierung will cher, als viele bisher angenommen
In Hamburg steigt der türkische Außen- die Auftritte aber gestatten und beruft haben. Das gehört zu einer ehrlichen
minister Mevlüt ÇavuŞoğlu am Dienstag- sich darauf, dass Deutschland ein libe- Bestandsaufnahme dieses Konflikts
abend vergangener Woche in seine Limou- rales Land mit Rede- und Versamm- leider dazu.
sine und lässt seine jubelnden Anhänger lungsfreiheit ist. SPIEGEL: Gibt diese Entwicklung nicht
zurück. Drei junge Männer stehen in der Röttgen: Ich sehe das anders. Auslän- den Kritikern einer doppelten Staats-
Kälte vor der Residenz des Generalkonsuls dische Hoheitsträger werden nicht bürgerschaft recht? Die warnen ja
und diskutieren noch. „Es ist nicht fair, zu Privatbürgern, wenn sie die Gren- davor, dass es Loyalitätskonflikte ge-
wie die Deutschen uns behandeln“, sagt ze überschreiten. Im Klartext heißt ben könnte.
einer von ihnen. „Wenn man für Erdoğan das, dass ein türkischer Politiker Röttgen: Die Argumente gegen die
ist, hat man keine Chance mehr, akzeptiert in Deutschland nicht einfach so tun doppelte Staatsbürgerschaft sind
zu werden.“ Sein Freund pflichtet ihm bei. kann, als würde er sein verfassungs- noch einmal deutlicher und sichtbarer
Früher habe er sich mit seinen deutschen mäßig verbrieftes Recht auf freie geworden.
Arbeitskollegen gut verstanden. Das sei Meinungsäußerung ausüben. SPIEGEL: Und welche Konsequenz
jetzt vorbei: „Mit einem Türken, der Er- SPIEGEL: Die Meinungsfreiheit gilt also ziehen Sie daraus?
doğan wählt, will keiner mehr Mittag nur eingeschränkt? Röttgen: Die doppelte Staatsbürger-
essen gehen.“ Röttgen: Nein, wir haben in Deutsch- schaft hat sich nicht bewährt. Ich
Laura Backes, Matthias Bartsch, Anna Clauß, land kein Problem mit der Meinungs- halte das Optionsmodell für sinnvol-
Markus Deggerich, Jörg Diehl, Katrin Elger, freiheit. Es gibt neben der rechtlichen ler, wonach in Deutschland geborene
Jan Friedmann, Hubert Gude, Martin Knobbe, auch eine politische Dimension: Bei Kinder von Migranten sich zunächst
Martin Pfaffenzeller, Fidelius Schmid, Nico Schmidt,
Christoph Schult, Wolf Wiedmann-Schmidt der Wahlkampagne der türkischen nicht für eine Nationalität entschei-
Regierung geht es um ein machtpoliti- den müssen. Mit 21 Jahren müssen sie
Video: sches Projekt, mit dem Demokratie dann allerdings sagen, welche Staats-
Wut und Wahlkampf und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei angehörigkeit sie haben wollen.
spiegel.de/sp112017tuerkei ausgehebelt werden sollen. Wir soll- Interview: Ralf Neukirch
oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 11 / 2017 19


Das Endspiel
Türkei Präsident Erdoğan greift nach der Alleinherrschaft und scheint auf dem
Höhepunkt seiner Macht. Doch der Staat, den er regiert,
ist im Zerfall begriffen. Das Referendum am 16. April könnte eine Wende einleiten.

M
üjdat Gezens Job ist es, die Men- Gezen, 73 Jahre alt, ein kräftiger Mann fängnis. „Ich weiß, wie sich eine Diktatur
schen zum Lachen zu bringen. Er mit schulterlangen, grauen Haaren und anfühlt“, sagt er. „Ich will das nicht noch
tritt als Satiriker im türkischen grauem Bart, führt durch seine Akademie. einmal erleben.“
Fernsehen auf, schreibt Theaterstücke und Die Decken sind noch schwarz vom Ruß, Die Türkei befindet sich seit Monaten
Drehbücher. aber ansonsten ist das Gebäude wieder- im Ausnahmezustand. Präsident Erdoğan
Seit einigen Wochen aber, sagt Gezen, hergestellt. Junge Männer und Frauen sit- hat den gescheiterten Militärputsch vom
sei ihm eher zum Heulen zumute. Fanati- zen auf Plastikstühlen im Foyer, spielen 15. Juli 2016 zum Anlass genommen, den
ker haben die Theaterakademie, die er in Gitarre, scherzen. Staat umzubauen und Oppositionelle aus-
Istanbul betreibt, in Brand gesetzt. Gezen Gezen erzählt, ihm sei nicht bang um zuschalten. Fast 130 000 Beamte wurden
hatte sich über Präsident Recep Tayyip Er- sein Haus. Seine Studenten seien voller vom Dienst suspendiert, etwa 46 000 Men-
doğan lustig gemacht. „Die Türkei hat ih- Elan. Er sorge sich um sein Land. Gezen schen als vermeintliche Verschwörer ver-
ren Humor verloren“, klagt er. saß nach dem Militärputsch 1980 im Ge- haftet. Und nun warnen viele Kritiker da-
20 DER SPIEGEL 11 / 2017
Titel
Präsident Erdoğan bei einem Wahlkampfauftritt in Istanbul
„Nun entwickeln wir uns zu einer nahöstlichen Autokratie“

der sämtliche Institutionen kontrolliert, Ceyhuns Vater war ein bekannter so-
Verwaltung, Polizei, Justiz. Auf der ande- zialistischer Schriftsteller in der Türkei.
ren Seite steht eine zersplitterte Opposi- Ceyhun selbst ist in den Achtzigerjahren
tion, deren Repräsentanten zum Teil im vor dem türkischen Militärregime nach
Gefängnis sitzen und die von den Massen- Deutschland geflohen. Er hat als Referats-
medien totgeschwiegen werden. Trotzdem leiter im Hessischen Sozialministerium ge-
muss Erdoğan um den Sieg beim Referen- arbeitet und saß vier Jahre lang als Abge-
dum zittern. Die Umfragen schwanken; ordneter für die SPD im Europaparlament.
etliche Meinungsforscher sehen das Nein- Nun berät Ceyhun die türkische Regierung
Lager vorn – um bis zu zehn Prozent. in Europafragen.
Am vergangenen Samstag haben Frei- „Tayyip Erdoğan ist der einzige echte
willige der „Nein-Plattform“ einen Stand Sozialdemokrat in der Türkei“, sagt Cey-
an einem Fähranleger in Istanbul aufgebaut. hun. Er habe die Türkei gegen alle Wider-
Sie verteilen Flugblätter mit Argumenten stände reformiert, mit der Macht der
gegen die Verfassungsänderungen. Die Ab- Generäle gebrochen, die Wirtschaft in
schaffung der parlamentarischen Demokra- Schwung gebracht, eine Krankenversiche-
tie käme der Abschaffung der Demokratie rung für alle eingeführt.
gleich, ist darauf zu lesen. Die Türkei wäre Erdoğan klingt in seinen Reden oft wie
dann, heißt es, den Launen und der Willkür Donald Trump oder Rechtspopulisten aus
eines einzigen Mannes ausgeliefert. EU-Staaten. Hier die rechtschaffene Mehr-
Das Nein-Lager setzt auf eine dezentra- heit, fromme, hart arbeitende Muslime.
le Kampagne. Die Aktivisten gehen von Dort die abgehobenen Eliten, die ihn und
Haus zu Haus. Sie sprechen in Teestuben das Volk klein halten wollen. Freund,
vor, in Sportvereinen und Kulturzentren. Feind. Wir gegen sie. Das Problem ist, dass
Sie stellen Videoclips ins Internet, posten dem Präsidenten nach 14 Jahren an der
ihre Slogans auf Facebook, Twitter, Insta- Macht immer weniger Wähler die Rolle
gram. „Hayır“, nein, hat sich innerhalb des Außenseiters abnehmen.
weniger Wochen zu einem weitverbreite- Wahlkampf in Istanbul. Tausende Men-
ten Hashtag entwickelt. schen haben sich am vergangenen Sonntag
Der Film „No!“, der die siegreiche in einer Halle versammelt, um Erdoğan
Nein-Kampagne im Referendum über die zuzujubeln. Sie tragen türkische Flaggen
Diktatur von Augusto Pinochet in Chile und Banner mit dem Wort „Evet“, Tür-
beschreibt, dient etlichen Aktivisten als kisch für Ja. Erdoğan spricht in seiner Rede
Vorbild. Der größte Pay-TV-Anbieter des kurz die Wirtschaft und das Präsidialsys-
Landes, Digiturk, hat den Film nun aus tem an, um rasch zu seinem neuen Lieb-
dem Angebot nehmen lassen. lingsthema zu kommen: Deutschland.
Die Regierung ist nervös. Erdoğan be- „Wenn ich nach Deutschland reisen will,
schimpft die Gegner als „Terroristen“ und dann tue ich das“, ruft er. „Und wenn man
„Putschisten“. Die Behörden haben Kund- mich nicht ins Land lässt, werde ich die
gebungen in mehreren Städten verboten. ganze Welt aufmischen.“
In Istanbul trieb die Polizei Nein-Aktivis- Die Auftrittsverbote für türkische Poli-
ten mit Tränengas von der Straße. tiker in Deutschland kommen Erdoğan ge-
REUTERS

Für den Präsidenten geht es am 16. April legen. Er kann sich wenige Wochen vor
um vieles. Sollte das immer noch kaum dem Referendum so darstellen, wie er sich
Vorstellbare eintreten und die Verfassungs- am liebsten sieht: als Beschützer der Tür-
änderung scheitern, könnte er mittelfristig ken, der sich mit den Mächtigen dieser
vor, dass Erdoğan das Land endgültig in von seinen Gegnern aus dem Amt ge- Welt anlegt. Der Streit mit den Deutschen
eine Diktatur verwandeln könnte. drängt werden. Dann würde er nicht nur lenkt von den Problemen in der Türkei ab.
Am 16. April stimmen die Türken über seine Macht verlieren. Oppositionelle wer- Zwar scheint Erdoğan auf dem Höhe-
die Einführung eines Präsidialsystems ab, fen dem Präsidenten Korruption vor, das punkt seiner Macht, doch das Land, das
das fast die gesamte Macht im Staat auch Militär soll bei den Kämpfen in den Kur- er regiert, ist im Zerfall begriffen. Der
formal bei Erdoğan bündeln würde. Die dengebieten Kriegsverbrechen begangen Staatsapparat ist durch die Massenentlas-
Regierung behauptet, die Reform sei nötig, haben. Erdoğan müsste mit einem Ge- sungen lahmgelegt, das Militär ist in Syrien
um Sicherheit und Wohlstand zu wahren. richtsverfahren rechnen. Das Referendum in einen komplizierten Kriegseinsatz ver-
Erdoğan selbst spricht von der „Neugrün- ist für beide Seiten ein Endspiel. strickt, die Wirtschaft schrumpft. Selbst
dung der Türkei“. Erdoğans Anhänger verehren ihn abgöt- durch die Regierungspartei geht ein Riss.
Die neue Verfassung würde Erdoğan mit tisch. Das liegt auch daran, dass er anders Zwar trauen sich die wenigsten, das offen
Befugnissen ausstatten, wie sie wohl nicht als viele hochrangige Politiker nicht in zu sagen, aber längst nicht alle AKP-Ab-
einmal Staatsgründer Mustafa Kemal Ata- wohlhabenden Verhältnissen aufgewach- geordneten unterstützen das Machtstreben
türk hatte. Er könnte das Parlament nach sen ist. Sein Vater war Seemann, er selbst des Präsidenten.
Belieben auflösen, wäre von dem Gebot verkaufte als Kind Sesamkringel auf den Ertuğrul Yalçınbayır seufzt laut auf.
der parteipolitischen Neutralität entbun- Straßen von Istanbul. „Die Türkei stand kurz davor, Mitglied der
den und dürfte 12 von 15 Verfassungsrich- Ozan Ceyhun, 56, sitzt in einem Café EU zu werden“, klagt er. „Nun entwickeln
tern selbst bestimmen. Das Amt des Pre- am Bosporus in Istanbul. Er ist gerade aus wir uns zu einer nahöstlichen Autokratie.“
miers würde abgeschafft. Brüssel zurück, am nächsten Tag reist er Yalçınbayır, Rechtsanwalt aus Bursa, ist ei-
Der Wahlkampf ist ein ungleiches Duell. mit dem türkischen Außenminister weiter ner der wenigen AKP-Gründer, der die Re-
Auf der einen Seite steht ein Präsident, nach Deutschland. gierung öffentlich kritisiert. Er ist 70 Jahre

DER SPIEGEL 11 / 2017 21


Titel

alt, war Vizepremier und hat die Partei festgenommen worden war: „Damals gab riyet“ leiten sollte, nun selbst als mutmaß-
aus Protest gegen Erdoğan verlassen. Er sich die Regierung zumindest noch die licher Putschist verantworten. Die Säube-
hat nichts mehr zu verlieren. Mühe, den Anschein von Rechtsstaatlich- rungsaktionen ziehen immer weitere Krei-
Yalçınbayır sagt, Erdoğan fühle sich von keit zu wahren. Heute kann Erdoğan tun se. Gerade reichte der türkische Vizebot-
Gott berufen, die Türkei zu führen. Er be- und lassen, was er will.“ schafter in der Schweiz, der eben noch
schreibt den Präsidenten als einen einsa- Die Repressionen treffen auch Reporter wortreich den Regimekurs verteidigt hatte,
men Herrscher, reizbar, misstrauisch. „Er aus dem Ausland. Der Türkeikorrespon- einen Asylantrag ein, weil er zu Hause of-
weiß nicht, wem er noch trauen kann“, dent der „Welt“, Deniz Yücel, befindet sich fenbar angeklagt werden soll.
sagt Yalçınbayır. „Er sieht überall Feinde.“ seit Ende Februar in Untersuchungshaft. Auch der Konflikt mit den Kurden, der
Die Auseinandersetzung mit der Bewe- Die Türkei hat sich unter Erdoğan zu ei- größten Minderheit, trägt zur Destabilisie-
gung des Islamistenpredigers Fethullah Gü- nem Denunziantenstaat entwickelt. In den rung des Landes bei. Nach Jahren der An-
len habe Erdoğans Paranoia verstärkt. Gü- Firmen bespitzeln Chefs ihre Angestellten. näherung ist er im Sommer 2015 neu ent-
len war einst ein Verbündeter der Regie- In der Stadt Germencik verleumdete ein flammt. Laut Berichten von Menschen-
rung, Gülen-Kader besetzten Schlüssel- Mann seine Freundin bei den Behörden rechtsorganisationen sind seitdem mehrere
positionen im Staat. 2011 haben sich Gülen als Gülen-Anhängerin, nachdem sie sich Tausend Menschen bei Gefechten zwi-
und Erdoğan überworfen. Die Regierung geweigert hatte, ihn zu heiraten. Erdoğan schen dem türkischen Militär und Kämp-
vermutet den Prediger nun hinter dem hat Dorfvorsteher dazu aufgefordert, Si- fern der PKK ums Leben gekommen. Man-
Putschversuch und geht mit aller Härte ge- cherheitskräfte über „subversive Aktivitä- che zerstörte Dörfer im Südosten des Lan-
gen dessen Anhänger vor. ten“ von Mitbürgern zu informieren. des erinnern schon an das benachbarte
In einer internen Analyse der US-Bot- Der Präsident gibt sich nicht damit zu- Bürgerkriegsland Syrien.
schaft in Ankara hieß es schon vor Jahren, frieden, die Türkei zu beherrschen. Er will Die Unruhe hat sich auf die Märkte über-
Erdoğan habe sich mit einem „eisernen die ganze Gesellschaft umbauen. An den tragen. Erdoğan hat den Aufschwung der
Ring unterwürfiger Berater“ umgeben. Er Schulen wächst eine „neue, fromme Ge- vergangenen Jahre vor allem durch Infra-
lese ausschließlich islamistische Zeitungen. neration“ heran. Unter der AKP ist die strukturprojekte befeuert. Er hat Straßen
Informationen aus den Ministerien drän- Anzahl der Schüler in religiösen Imam-Ha- gebaut, Flughäfen, Krankenhäuser. Das
gen kaum zu ihm durch. tip-Einrichtungen von 65 000 auf fast eine Geld kam vorwiegend aus dem Ausland.
AKP-Spitzenpolitiker wie der frühere Million gestiegen. Die Bildungsgewerk- Internationale Anleger haben zwischen
Präsident Abdullah Gül, der in London schaft Eğitim Sen kritisiert, Lehrer würden 2003 und 2012 400 Milliarden Dollar in die
studiert hat und einst mäßigend auf Er- türkische Wirtschaft gepumpt. In den 20
doğan einwirkte, haben sich frustriert aus
der Regierung zurückgezogen. Die politi-
Sollte Erdoğan verlieren, Jahren zuvor waren es lediglich 35 Milliar-
den. Doch nun ziehen sich die Investoren
sche Agenda in der Türkei wird nun von ließe sich der Frust in wegen der Unsicherheit im Land zurück.
Männern wie Yiğit Bulut mitbestimmt, Er- Im ersten Halbjahr 2016 haben Ausländer
doğans Chefberater, der 2013 behauptete,
den Reihen der AKP nicht nur noch rund 5 Milliarden Euro in die tür-
ausländische Mächte wollten den Präsiden- mehr kontrollieren. kische Wirtschaft gesteckt, halb so viel wie
ten durch Telepathie ermorden. Für Wi- im Vorjahreszeitraum. Die Ratingagentur
derspruch oder Kritik ist im Staat Erdoğan in Einstellungsgesprächen nach ihrer Hal- Moody’s hat die Kreditwürdigkeit der Tür-
kein Platz mehr. tung gegenüber dem Islam befragt. Die kei auf Ramschniveau heruntergestuft.
Der Präsident hat die Institutionen aus- Evolutionstheorie soll aus den türkischen Die türkische Wirtschaft ist im dritten
gehöhlt. Er entscheidet, ob Strafverfahren Lehrplänen gestrichen werden. Quartal 2016 um 1,8 Prozent geschrumpft.
eröffnet oder eingestellt werden. Der Auch die Universitäten verlieren ihre Die Einnahmen aus dem Tourismus sind
Rechtsstaat existiert nur noch auf dem Pa- Autonomie. Künftig entscheidet Erdoğan im vergangenen Jahr um ein Drittel einge-
pier. Unliebsame Bürgermeister werden ab- allein darüber, wer an einer Hochschule, brochen. Die Lira ist im Vergleich zum
gesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt. egal ob staatlich oder privat, zum Rektor Dollar so schwach wie seit 1981 nicht mehr.
Universitätsrektoren, Unternehmer, Imame berufen wird. Hunderte Wissenschaftler Erdoğan ist verzweifelt darum bemüht,
gehorchen seinem Befehl. Erdoğan hat Dut- wurden seit dem Putschversuch entlassen, Geld aufzutreiben. Sein Finanzminister
zende Parlamentarier und Mandatsträger darunter vor allem jene, die sich Anfang Mehmet Şimşek sprach deshalb gerade erst
der prokurdischen Partei HDP wegsperren 2016 in einer Petition für eine friedliche bei seinem deutschen Amtskollegen Wolf-
lassen, darunter die Vorsitzenden Selahattin Lösung des Kurdenkonflikts eingesetzt hat- gang Schäuble vor.
Demirtaş und Figen Yüksekdağ. ten. „Ihr, die sogenannten Intellektuellen“, Das System Erdoğan gerät an seine
Am deutlichsten zeigt sich der Verfall hetzte Erdoğan, „ihr seid die Dunkelheit Grenzen. Selbst ehemalige Weggefährten
der türkischen Demokratie am Umgang selbst.“ gehen auf Abstand zum Präsidenten.
mit den Medien. Über 190 Journalisten ste- Doch Erdoğans feindseliger Politikstil Tuna Bekleviç, 40, Ökonom, empfängt
cken derzeit in der Türkei im Gefängnis – treibt die Türkei an den Rand des Zusam- in seinem Büro, einem Neubau im Istan-
mehr als in China, Russland und Iran zu- menbruchs. Der Präsident, so scheint es, buler Geschäftsviertel Levent. Er trägt An-
sammen. kann die Fliehkräfte im Land nur noch zug, Krawatte, wechselt beim Sprechen
Aydın Engin, 76, wurde am frühen Mor- mühsam kontrollieren. Beamte berichten zwischen Türkisch und Englisch. Bekleviç
gen des 31. Oktober 2016 wie zwölf weitere von Chaos in der Verwaltung. Die Suspen- hat vier Jahre lang als Berater für Erdoğan
Mitarbeiter der regierungskritischen Ta- dierung von fast 130 000 Staatsbediensteten gearbeitet. Er hat in dieser Zeit mehr als
geszeitung „Cumhuriyet“ festgenommen. hat dazu geführt, dass Erdoğan nun das Per- 4000 Dörfer bereist, um für die AKP Un-
Er kam nach wenigen Tagen in Untersu- sonal fehlt, das seine Dekrete umsetzen terstützer anzuwerben. „Erdoğan hat die
chungshaft aus Altersgründen frei. Elf soll. Religiöse Bruderschaften in der Büro- effektivste Wahlkampfmaschine in der Ge-
„Cumhuriyet“-Kollegen warten dagegen kratie belauern einander gegenseitig. Infor- schichte der Türkei geschaffen“, sagt er.
nach wie vor im Gefängnis auf den Pro- mationen werden nicht weitergegeben. Die AKP zählt über neun Millionen Mit-
zess. In seinem Büro im Verlagshaus der Die Justiz zerlegt sich selbst. So muss glieder. Das Netzwerk der Partei reicht in
Zeitung sagt Engin, der bereits in den Sieb- sich etwa der Staatsanwalt, der das Ver- Städte, Dörfer und Straßenzüge. Funktio-
zigerjahren mehrmals vom Militärregime fahren gegen die Mitarbeiter der „Cumhu- näre hätten ihre Gefolgschaft oft durch

22 DER SPIEGEL 11 / 2017


Geldgeschenke oder Staatsaufträge bei
Laune gehalten, schildert Bekleviç. Seit-
dem es der Wirtschaft schlecht geht, gebe
es weniger zu verteilen. „Der Klientelis-
mus der AKP ist gescheitert.“
Bekleviç hat Anfang des Jahres eine ei-
gene Partei gegründet, die Nein-Partei.
Er fährt nun wieder durch Anatolien, so
wie einst für Erdoğan, und versucht, die
Menschen dazu zu bewegen, gegen das
Präsidialsystem zu stimmen. „Die Türkei
braucht nicht weniger Gewaltenteilung,

EMIN OZMEN / DER SPIEGEL


sondern mehr“, fordert er. „Nicht weniger
Bürgermitsprache, sondern mehr.“
Er erzählt, er erfahre bei seinen Auf-
tritten viel Zuspruch. Selbst in Regionen,
in denen die AKP bei Wahlen mehr als
zwei Drittel der Stimmen holt, lehnten
Satiriker Gezen: „Die Türkei hat ihren Humor verloren“ viele Menschen die Verfassungsänderung
ab. Nein-Aktivisten aus der Zivilgesell-
schaft und in den Oppositionsparteien
berichten von ähnlichen Erfahrungen.
„Die Nein-Bewegung ist im Aufwind“,
sagt Bekleviç.
Die Regierung ringt unterdessen um die
richtige Strategie. Die Fachleute in der
AKP-Wahlkampfzentrale in Ankara raten
dazu, die Errungenschaften Erdoğans her-
vorzukehren. Etliche Parteimitglieder fal-
len aber vor allem durch Angriffe auf die
Gegenseite auf. „In der Partei herrscht die
blanke Panik“, sagt ein Wahlkämpfer.
Sollte Erdoğan am 16. April gewinnen,
dürften die parteiinternen Kritiker erst
einmal verstummen. Die Probleme aber
werden nicht verschwinden. Die Gesell-
schaft ist gespalten. Der Terror kurdischer
BRADLEY SECKER / LAIF

und islamistischer Extremisten wird nicht


plötzlich enden. Sollte Erdoğan verlieren,
wird sich die Türkei nicht über Nacht in
ein freies Land verwandeln. Doch eine
Mehrheit für das Nein-Lager könnte, da-
Nein!-Plakate in Istanbul: Die Aktivisten gehen von Haus zu Haus von sind Oppositionelle überzeugt, eine
Trendwende einleiten. Der Frust, der sich
längst auch in den Reihen der AKP ange-
staut hat, ließe sich in diesem Fall nicht
länger kontrollieren, glaubt Gareth Jen-
kins, Türkeiexperte am Central Asia-Cau-
casus Institute.
Die Frage ist, ob Erdoğan den Verlust
seiner Macht so einfach hinnehmen würde.
Beobachter fürchten, dass die AKP die Ab-
stimmung manipulieren könnte. Schon bei
früheren Wahlen gab es Unregelmäßigkei-
ten. Erdoğan hat zudem gerade erst meh-
rere Mitglieder der Wahlkommission ent-
lassen. Der Oberstaatsanwalt in Antalya
drohte damit, Neinsager würden wie
„PKK-Terroristen“ behandelt.
Ein Regionalpolitiker der AKP, der in-
EMIN OZMEN / DER SPIEGEL

zwischen zurücktreten musste, schwor die


Parteijugend bereits auf die Zeit nach dem
Referendum ein: „Sollten wir weniger als
50 Prozent holen“, sagte er, „dann bereitet
euch auf einen Bürgerkrieg vor.“
Maximilian Popp, Eren Caylan
Früherer Erdoğan-Berater Bekleviç: „Die Nein-Bewegung ist im Aufwind“ Twitter: @maximilian_popp

DER SPIEGEL 11 / 2017 23


Deutschland

HANS-JUERGEN BURKARD / LAIF


Engels (l.), Schulz im Mai 2014

Wahlkampf

Dienstreise auch am Wochenende


SPD-Mitarbeiter erhielt die Zulagen der EU nicht nur für Werktage.
Markus Engels, der Wahlkampfmanager des SPD-Kanzler- Das Arrangement war, anders als von der SPD behauptet,
kandidaten Martin Schulz, bekam in seiner Zeit bei der Eu- keine weitverbreitete EU-Praxis. Nach Auskunft des Par-
ropäischen Union die umstrittenen Zulagen nicht nur für laments waren im Jahr 2016 von rund 7600 Mitarbeitern
Werktage: Auf seiner sogenannten Dauerdienstreise wurde insgesamt sechs auf sogenannter Langzeitmission in den
ihm Tagegeld auch für Wochenenden gewährt. Wie die Par- Informationsbüros des Parlaments in verschiedenen euro-
lamentsverwaltung bestätigte, sähen die „internen Regeln“ päischen Städten. Diese Mitarbeiter hätten vor ihrer Ent-
vor, „dass die Wochenenden bei einer Langzeitdienstreise sendung jedoch – anders als Engels – an den Parlaments-
mit eingerechnet werden“. standorten Brüssel oder Luxemburg gearbeitet, so die Par-
Engels arbeitete 2012 für Schulz im Informationsbüro lamentsverwaltung.
des Europaparlaments in Berlin und wohnte in Potsdam. In einer Antwort an den Haushaltskontrollausschuss des
Trotzdem war sein offizieller Dienstsitz Brüssel. Das trug Parlaments bestätigte die Verwaltung vorige Woche,
ihm einen Auslandszuschlag in Höhe von 16 Prozent des was der SPIEGEL im Februar berichtet hatte (8/2017): Es
Bruttogehalts ein, dazu rund 16 000 Euro Tagegeld für Ver- habe Unregelmäßigkeiten bei Schulz’ Versuchen gegeben,
pflegung während der angeblichen Dienstreise in Berlin. seinem Personal lukrative Posten zu verschaffen. mp, rei

Facebook werke mit mehr als zwei Mil- mit welchen konkreten Vor-
Rapport im lionen Mitgliedern anstößige würfen die Anbieter errei-
Inhalte, die von Nutzern ge- chen und wie viele Inhalte in
Bundesanzeiger meldet werden, schneller welchem Zeitraum gelöscht
Justizminister Heiko Maas und konsequenter sperren werden. Zudem müssen
(SPD) will weder eine neue oder löschen sollen. Nach Netzwerke wie Facebook
Aufsichtsbehörde noch ein dem Stand der Planungen in künftig die Zahl der Mitar-
Abwehrzentrum schaffen, dieser Woche will das Minis- beiter in den zuständigen
WERNER SCHUERING / IMAGETRUST

um Hassbotschaften und terium Facebook & Co. zu- Abteilungen sowie deren
Fake News im Internet einzu- dem zwingen, künftig einen Fach- und Sprachkenntnisse
dämmen. Sein lang erwarte- vierteljährlichen, deutsch- transparent machen. Auch
ter Gesetzentwurf bleibt da- sprachigen Rechenschaftsbe- über Schulung und psycholo-
mit hinter Überlegungen aus richt im Bundesanzeiger und gische Betreuung der oft be-
dem Bundesinnenministe- auf ihren Seiten zu veröffent- lastenden Inhalten ausgesetz-
rium zurück. Der Entwurf lichen. Daraus soll hervorge- ten Mitarbeiter müssten sie
sieht vor, dass soziale Netz- hen, wie viele Beschwerden informieren. ama, rom Maas

24 DER SPIEGEL 11 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
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und jederzeit im Netz.
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Deutschland

Verteidigungsministerium men noch Reisekosten. Ein


Die Berater-Armee hauseigener Rüstungsfach-
mann kostet das Ministerium
Verteidigungsministerin Ur- im Vergleich maximal nur
sula von der Leyen (CDU) rund 110 000 Euro. Von der
lässt sich das Fachwissen ex- Leyen verteidigt das Vor-
terner Unternehmensberater haben stets damit, dass im
einiges kosten. Am Mittwoch Haus und in dem zustän-
gab der Haushaltsausschuss digen Bundesamt für Aus-
den ersten Teil eines 100- rüstung, Informationstech-
Millionen-Euro-Budgets für nik und Nutzung der Bun-
eine regelrechte Berater- deswehr rund 1400 Stellen

MAJA HITIJ / PICTURE ALLIANCE / DPA


Armee frei, die den Rüs- gar nicht besetzt seien.
tungseinkauf des Ministeri- Der grüne Haushaltsfach-
ums effizienter machen soll. mann Tobias Lindner for-
Mit dem bisher größten Etat dert hingegen, die Ministe-
eines Bundesministeriums rin solle die vielen Mil-
für Experten von außen wol- lionen lieber für einen nach-
len von der Leyen und haltigen Kompetenzaufbau
Staatssekretärin Katrin Suder, Von der Leyen im eigenen Ressort ein-
früher selbst Partnerin beim setzen. „Bei den enormen
Beratungsriesen McKinsey, internen Vorlage für die lein 185 402 Euro. Für einen Kosten könnte man glatt
Großvorhaben wie den Kauf Hausleitung belaufen sich da- Mitarbeiter von KPMG auf die Idee kommen, gleich
von Kriegsschiffen oder bei die Jahreskosten für nur kalkuliert das Ministerium die Spitze des Verteidigungs-
Kampfjets von Externen statt einen der Experten des für „200 Arbeitstage mit je ministeriums durch Unterneh-
den eigenen Beamten ab- ausgewählten Unternehmens 8,2 Stunden“ pro Jahr sogar mensberater zu ersetzen“,
wickeln lassen. Laut einer Ernst & Young dabei auf al- 239 071 Euro ein, dazu kom- spottet er. mgb

Terrorismus hat sich die Zahl der Verfah- verlängern oder die Mehrar- Mindestlohn
Bundeskriminalamt ren mehr als verdoppelt, auf beit zu bezahlen. 2016 wur- Betriebe streichen
780 mit insgesamt mehr als den dem BKA neue Stellen
überlastet 1000 Verdächtigen. Wegen bewilligt, doch dauert es Praktikumsplätze
Die vielen Ermittlungsver- der „besonderen Sicherheits- Jahre, bis die neuen Ermitt- Mehr Geld im Praktikum,
fahren wegen Terrorverdacht lage“ könne er anders als ler eingestellt und ausgebil- aber weniger Auswahl: Für
und die Einsätze zum Perso- vorgeschrieben den Beamten det sind. Auch die Bundes- Studierende hatte der gesetz-
nenschutz überfordern das Überstunden nicht durch anwaltschaft schiebt aus Per- liche Mindestlohn spürbare
Bundeskriminalamt (BKA). Freizeit ausgleichen, klagt sonalmangel zunehmend Auswirkungen, zeigt eine
„Wir können Fälle, die wir BKA-Präsident Holger Fälle nach unten ab. Im Ja- Studie, die der Stifterver-
früher bearbeitet hätten, zu- Münch. In zwei Briefen an nuar hatte Generalbundes- band für die Deutsche Wis-
nehmend nicht mehr von das Bundesinnenministerium anwalt Peter Frank in einem senschaft gemeinsam mit
den Ländern übernehmen“, hat er darum gebeten, die Brandbrief an die Länder dem arbeitgebernahen Insti-
sagt ein Beamter. Seit 2013 Fristen für den Ausgleich zu um Hilfe gebeten. aul, bas, fis tut der Deutschen Wirtschaft
herausgibt. Nachdem die
Lohnuntergrenze im Jahr
2015 eingeführt wurde, ha-
Landwirtschaft Fachjournal. Hochgerechnet ben die Unternehmen in
Kälbchen im auf die Zahl von 1,85 Millio- Deutschland demnach von
nen Kühen, die 2016 ge- rund 301 000 Praktikumsplät-
Todeskampf schlachtet wurden, bedeutet zen bis zu 53 000 gestrichen.
Zehntausende ungeborener das: Rund 40 000 Föten ster- Jedes sechste Unternehmen
Kälber verenden jämmerlich ben im Mutterleib nach mi- gab an, Praktikumsplätze ab-
auf den Schlachthöfen in den nutenlangem Todeskampf. gebaut zu haben. Das betrifft
Leibern ihrer getöteten Müt- „Die Kälber ersticken qual- vor allem längere Aufenthal-
ter. Das ergab der Zwischen- voll, wenn das Muttertier te; der Mindestlohn gilt in
bericht eines Forschungs- durch Entbluten stirbt“, sagt der Regel nur für freiwillige
projekts, das Bundesland- der Grünen-Bundestagsabge- Praktika ab drei Monaten.
wirtschaftsminister Christian ordnete Friedrich Ostendorff. Die Unternehmen gaben für
Schmidt (CSU) in Auftrag ge- Er kritisiert die Massenpro- studentische Praktika 2015
geben hat. Demnach waren duktion: „Minister Schmidt knapp eine Milliarde Euro
im Zeitraum von 19 Monaten muss sich von der Export- aus – fast doppelt so viel wie
2,2 Prozent von 205 421 un- orientierung abkehren, denn noch 2012. Positiver Effekt
WEISFLOG.NET

tersuchten geschlachteten Billigproduktion zu Welt- für Studierende: „eine deut-


Kühen trächtig, berichten die marktpreisen ist mit Tier- lich höhere Vergütungssum-
Wissenschaftler in einem schutz nicht vereinbar.“ msc me für Praktikanten“. cos

26 DER SPIEGEL 11 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
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Deutschland

Operation Proseminar
Außenpolitik Angela Merkel setzt bei ihrem ersten Treffen mit Donald Trump auf eine
Doppelstrategie: Sie will einen persönlichen Draht zum neuen US-Präsidenten
aufbauen. Gleichzeitig will sie deutlich machen, dass Berlin für einen Handelskrieg gerüstet ist.

W
as Angela Merkel von Silvio Ber- sind unausgegoren. Wird er die Sanktio- tigt. Das realpolitische Lager um Verteidi-
lusconi hält, ist bekannt. Der frü- nen des Westens, für die Merkel gekämpft gungsminister James Mattis und Außen-
here italienische Regierungschef hat, mittragen? Themen für das Gespräch minister Rex Tillerson scheint nach
soll sich mit minderjährigen Prostituierten gibt es genug. Berliner Einschätzung stärker zu sein als
vergnügt haben, er nahm es mit den Re- Die Vertrauten der Kanzlerin sind sich zunächst befürchtet.
geln des Rechtsstaates nicht so genau und ihrer Sache sicher: Es gilt, einen guten Hinzu kommt, dass Trumps neuer
versuchte, die Probleme seines Landes Draht zum künftigen Präsidenten zu knüp- Sicherheitsberater Herbert Raymond Mc-
durch Grinsen zu lösen. Außerdem, so fen. Trump verlässt sich weniger als seine Master als berechenbar und gut informiert
berichteten es italienische Zeitungen vor Vorgänger auf die etablierten Mechanis- gilt, anders als sein irrlichternder Vor-
einigen Jahren, äußerte er sich in einem men der Politik. Er trifft Entscheidungen gänger Michael Flynn. Der musste zurück-
Telefonat höchst unschön über das Gesäß oft impulsiv, ohne Rücksicht auf eingespiel- treten, weil er Kontakte zum russischen
der Kanzlerin. Berlusconi war genau der te Verfahren. Botschafter in den USA verschwiegen
Typ Politiker, den Merkel verabscheut. „Trumps Handeln ist mehr durch seinen hatte.
Trotzdem bekam sie von ihm meist, was Instinkt und die Erfahrungen im Geschäfte- Bei einem Videotelefonat mit McMaster
sie wollte. Bei einem EU-Gipfel im De- machen geprägt als von politischer Ratio- gewann Merkels außenpolitischer Berater
zember 2008 rang sie ihm mit Charme und nalität“, sagt der CDU-Außenpolitiker Christoph Heusgen den Eindruck, dass er
Härte die Zustimmung zu ihrer Klima- Norbert Röttgen, der vor einigen Wochen es mit einem Vertreter der traditionellen
politik ab. Diplomaten erzählen noch heu- Gespräche in Washington führte. „Das Linie republikanischer Außenpolitik zu
te davon, wie sie den eitlen Premierminis- macht den Umgang nicht einfach.“ tun hat, mit dem sich vernünftig zusam-
ter um den Finger gewickelt habe. Merkel will sich nicht allein auf ihren menarbeiten lässt.
Ähnlich, hoffen ihre Leute, soll es bei Charme verlassen. Vor allem in der Han- Merkel hat Trump aus der Ferne stu-
einer noch heikleren Begegnung laufen, delspolitik ist sie darauf vorbereitet, diert. Sie hat sich Reden vom ihm an-
die der Kanzlerin bevorsteht: Am kom- Trump Paroli zu bieten. Die Kanzlerin geschaut und ist sich sicher, dass er seine
menden Dienstag will sie in Washington Ankündigungen umsetzen will. Ihre Über-
mit US-Präsident Donald Trump zusam-
mentreffen. Es ist die erste persönliche
Merkels Besuch wäre zeugung, dass im Umgang mit Trump vor
allem der direkte Kontakt wichtig sei, sah
Begegnung der beiden nach der US-Wahl schon ein Erfolg, wenn sie bereits bei einem ausführlichen Tele-
im vergangenen November. Es könnte
das schwierigste Treffen werden, das Mer-
sie mit Trump eine fonat am 28. Januar bestätigt. Damals er-
läuterte sie dem neuen Mann im Weißen
kel als Regierungschefin je absolvieren Gesprächsebene fände. Haus den Ukrainekonflikt.
musste. Der Präsident telefonierte an jenem
Auf der einen Seite steht ein ahnungs- lässt sich von Siemens-Chef Jo Kaeser und Samstagnachmittag zuerst mit der deut-
loser, aber von sich selbst berauschter Poli- BMW-Boss Harald Krüger begleiten. Das schen Kanzlerin und danach mit Kreml-
tikneuling, der rücksichtslos amerikanische hat sie mit US-Vizepräsident Mike Pence chef Wladimir Putin. Die Abfolge, so ver-
Interessen durchsetzen will. Auf der ande- auf der Münchner Sicherheitskonferenz stand man es im Kanzleramt, hatten die
ren Seite steht eine der erfahrensten Re- vereinbart. Amerikaner bewusst so arrangiert: Putin-
gierungschefinnen der Welt, die viele als Kaeser und Krüger sollen Trump darle- Bewunderer Trump, der sich im Wahl-
letzte Verteidigerin von Demokratie und gen, wie viele Arbeits- und Ausbildungs- kampf für einen neuen Deal mit dem
westlichen Werten sehen. Eine Vorstellung, plätze ihre Unternehmen in den USA Kreml ausgesprochen hatte, sollte zunächst
die Merkel angesichts der deutschen Mög- schaffen. Der Präsident vertraut Geschäfts- von Merkel eine Einführung in Russland-
lichkeiten allerdings für eine gefährliche leuten mehr als Politikern. Merkel hofft, politik erhalten. Offenbar hegten die we-
Fehleinschätzung hält, für geradezu „ab- dass die deutschen Bosse bei ihm Gehör niger moskaufreundlichen Akteure in
surd“, wie sie sagt. finden. Washington die Hoffnung, dass dies Trump
Die Aufgabe könnte größer kaum sein. In der Außenpolitik sieht Merkel die von einer Verbrüderung mit Putin abhal-
Trump ist nicht nur der mächtigste Mann Dinge nicht mehr ganz so schwarz wie un- ten würde.
der Welt. Er hat auch gezeigt, dass ihm mittelbar nach Trumps Amtsantritt. Seine Der Plan ging auf. Seither wächst in Ber-
die Spielregeln westlicher Politik herzlich radikalsten Forderungen hat der Präsident lin die Hoffnung, dass Washington auch
egal sind. Seine Pläne könnten die Euro- bislang nicht umgesetzt. Das Atomabkom- unter Trump den Minsker Friedensprozess
päische Union zerreißen und Deutschland men mit Iran ist weiterhin in Kraft, der unterstützen und die Sanktionen nicht
wirtschaftlich schwer schaden. Umzug der amerikanischen Botschaft in einseitig aufheben wird. Dass Anfang der
Trump hat angekündigt, er werde Israel von Tel Aviv nach Jerusalem erst Woche Fiona Hill, eine anerkannte Ken-
Deutschlands Exportüberschuss bekämp- einmal verschoben. nerin Russlands und scharfe Kritikerin
fen. Seine Aussagen zur Nato sind wider- Auch die Eindeutigkeit, mit der sich die Putins, in den Nationalen Sicherheitsrat
sprüchlich, aber klar ist, dass die Partner US-Vertreter auf der Münchner Sicher-
mehr für ihre Verteidigung zahlen sollen. heitskonferenz zur Nato bekannt haben, * Unten: anlässlich eines Besuchs von Angela Merkel in
Auch seine Pläne in der Russlandpolitik hat die schlimmsten Befürchtungen besänf- Washington 2011.

28 DER SPIEGEL 11 / 2017


UPI / LAIF
DOUG MILLS / NYT / REDUX / LAIF

US-Präsident Trump, roter Teppich vor dem Weißen Haus*


Belehren, ohne belehrend zu wirken

DER SPIEGEL 11 / 2017 29


Deutschland

nem Mittagessen in Brüssel auf eine ge-


meinsame Linie eingeschworen. Zwar dür-
fe die EU den Konflikt nicht anheizen.
Doch man werde sich auf einen Handels-
krieg mit den USA vorbereiten.
Das Ziel wäre dann, die Amerikaner zu
isolieren. EU-Handelskommissarin Cecilia
Malmström bekam den Auftrag, weitere
Abkommen mit anderen Ländern und
Weltregionen auszuhandeln. Um die be-
reits laufenden Gespräche mit Japan, In-
dien und Australien zu beschleunigen,
tourte sie dieser Tage durch den Fernen
Osten. Zugleich wollen die EU-Länder
ihren Plan für öffentliche Gerichte voran-
treiben, die Konflikte um strittige Inves-
titionsprojekte schlichten sollen. Ein Vor-
haben, das Trumps Regierung unbedingt
verhindern will.

FABRIZIO BENSCH / REUTERS


Vor allem Trumps handelspolitischer Be-
rater Peter Navarro hat die Deutschen als
Hauptfeinde ausgemacht. Dass Deutsch-
land viel mehr Waren nach Amerika ver-
kauft als von dort bezieht, gilt dem
Harvard-Absolventen als „ernsthaftes Pro-
Regierungschefs Berlusconi, Merkel 2011: Um den kleinen Finger gewickelt blem“, das er entschlossen bekämpfen will.
Er unterstellt den europäischen Politikern,
berufen wurde, sieht Merkel ebenfalls als Waren für 57 Milliarden Euro von den den Kurs des Euro gezielt zu drücken, um
gutes Zeichen. USA nach Deutschland gingen. Die Bun- den eigenen Exportunternehmen einen
Wie im Verhältnis zu Russland soll die desrepublik würde gravierend darunter lei- Preisvorteil gegenüber den US-Konkurren-
Regierungschefin den Präsidenten in an- den, sollten die USA unter Trump einen ten zu verschaffen.
dere Problemfelder der internationalen Handelskrieg mit Europa oder China an- Schon bevor Trump an die Macht kam,
Politik einführen: das Iran-Abkommen, die zetteln. galt Navarro mit seinen Thesen als Außen-
Situation in Libyen, den Klimawandel. Um Trump zu bändigen, setzt Merkel seiter. Jetzt ist er sein Chefideologe. Um
Die Europäische Union soll dem Präsi- auf eine Doppelstrategie: Ihre Charme- die Warenströme aus dem Ausland zu stop-
denten in Grundzügen erklärt werden. offensive will sie mit dem Hinweis flankie- pen, setzen viele Trump-Mitstreiter auf
Wer nach der Wahl überrascht feststellt, ren, man könne im Ernstfall auch anders. eine steuerpolitische Radikalmaßnahme,
dass die eigenen Versprechen zur US-Ge- Einerseits will Merkel in ihren Gesprä- die in Finanzkreisen unter dem Fachwort
sundheitspolitik nur schwer umzusetzen chen herausstellen, wie sehr auch die Ame- „Grenzausgleichsteuer“ firmiert.
sind, habe möglicherweise bei anderen rikaner von den guten transatlantischen Sie läuft darauf hinaus, dass Exporte
Themen ebenfalls Nachhilfebedarf, heißt Beziehungen profitieren. Das dazu pas- von Steuern weitgehend befreit, Importe
es in Berlin. sende Datenmaterial hat ihr Bundeswirt- hingegen belastet werden. „Wir nehmen
Die Kunst wird sein, bei dieser Opera- schaftsministerin Brigitte Zypries vergan- das sehr ernst“, sagt ein hochrangiger Mit-
tion Proseminar den richtigen Ton zu tref- gene Woche nach einem Treffen mit Wirt- arbeiter des Kanzleramts.
fen. Zu belehren, ohne belehrend zu wir- schaftsverbänden zusammengestellt: Ein Merkel will Trump bei ihrem Antritts-
ken. „Wir müssen um die transatlantische Drittel der deutschen Auslandsinvestitio- besuch deutlich sagen, was sie von den
Partnerschaft kämpfen, indem wir gemein- nen fließen demnach in die USA. Außer- Steuerplänen hält. Die geplante Belastung
same Erfolgsprojekte vorschlagen“, sagt dem stellen die deutschen Autokonzerne von Importen will sie, so steht es in ihren
Röttgen. So sieht es auch Merkel. Sie wird in Amerika inzwischen mehr Fahrzeuge Vorbereitungspapieren, als „Schutzzoll“
unter anderem darauf hinweisen, dass her, als sie aus Deutschland nach Amerika brandmarken, die Steuerbefreiung für
Deutschland bereits begonnen hat, wie exportieren. amerikanische Ausfuhren als „Exportsub-
von Trump gefordert die Verteidigungsaus- Doch was passiert für den wahrschein- vention“. Beides stellt in ihren Augen ei-
gaben zu erhöhen. lichen Fall, dass Trump an seinen „Ameri- nen feindlichen Akt dar, der einen Han-
Während das Kanzleramt verhalten op- ca First“-Plänen festhält? Hier setzt Merkel delskrieg auslösen könnte.
timistisch ist, was die Außenpolitik angeht, auf eine Blockadefront der Europäischen Merkel will Trump darauf hinweisen,
stellt man sich in der Handelspolitik auf Union. Die EU habe sich „noch einmal dass eine solche Abgabe gegen Steuer-
das Schlimmste ein. Die Pläne der Trump- zum freien Handel bekannt“, erklärte Mer- abkommen zwischen beiden Ländern ver-
Regierung, so vage sie noch sein mögen, kel auf dem Brüsseler EU-Gipfel an diesem stoßen würde. Sie wäre zudem nicht mit
könnten sich zur größten Gefahr für die Donnerstag. den Statuten der Welthandelsorganisation
Weltkonjunktur seit der Finanzkrise ent- Wenige Tage zuvor hatten sich bereits WTO kompatibel. Zur Not, so die implizite
wickeln, mit Deutschland als einem der die europäischen Handelsminister bei ei- Drohung, werde Deutschland nicht davor
Hauptbetroffenen. zurückschrecken, die Amerikaner vor der
Fast jeder zweite Arbeitsplatz in der WTO zu verklagen.
Bundesrepublik hängt vom Exportgeschäft Video: Falls das alles nichts fruchtet, haben sich
ab. Allein die Amerikaner kauften letztes Trump über Merkel die Fachleute im Kanzleramt bereits Ge-
Jahr für 107 Milliarden Euro Waren in spiegel.de/sp112017trump danken darüber gemacht, wie man gegen
Deutschland ein, während umgekehrt nur oder in der App DER SPIEGEL die Amerikaner zurückschlagen könnte.

30 DER SPIEGEL 11 / 2017


Denkbar wäre, dass die EU die Zölle für
amerikanische Einfuhren schrittweise er-
höht. Die Abkommen im Rahmen der
Welthandelsorganisation böten dafür noch
Spielraum. Möglich wäre auch, dass deut-
sche Unternehmen die neue Importsteuer
der USA in Deutschland bei den Finanz-
behörden geltend machen dürfen. Das wür-
de ihren Wettbewerbsnachteil ausgleichen.
Schließlich könnte die Bundesregierung
mit einem großen Wurf antworten: Die
Unternehmensteuern könnten auf breiter
Front sinken, desgleichen die Belastung
der Unternehmen mit Sozialabgaben. Bei-
des würde die Attraktivität des Standorts
Deutschland erhöhen, allerdings den Steu-
erzahler zunächst Milliarden kosten.
Im Abwehrkampf gegen Trump setzt
Merkel auch auf die EU-Kommission, die
ihr Arsenal für mögliche Handelskriege
jüngst kräftig aufstocken will. Im vergan-
genen November hat die Kommission bes-
NEU
sere Verteidigungsinstrumente auf den Jetzt im
Weg gebracht, die ursprünglich vor allem Handel
gegen China eingesetzt werden sollten.
Doch sie könnten auch Trump zur Rä-
son bringen, wenn sie von den Brüsseler
Institutionen abgesegnet werden. Zudem
hat die EU seit längerer Zeit ein Wett-
bewerbsverfahren gegen den US-Internet-
giganten Google sowie weitere Verfahren
wegen der europäischen Steuersparmodel-
le von Konzernen wie McDonald’s oder
Starbucks laufen. Bei Bedarf könnten die
Brüsseler Behörden ihre Untersuchungen
jederzeit ausweiten.
Merkel hofft, dass es nicht zu diesem
Worst-Case-Szenario kommt. Ihr Besuch
wäre schon ein Erfolg, wenn sie mit Trump
eine vernünftige Gesprächsebene fände.
Zugleich muss sie den Wahlkampf in
Deutschland im Blick haben. Einerseits
darf Merkel den neuen Präsidenten nicht
verprellen. Andererseits würde es in der
Heimat nicht gut ankommen, wenn sie sich www.spiegel-biografie.de
wie die britische Premierministerin There-
sa May als Bittstellerin behandeln ließe.
Dass man vor der Reise nach Washing-
ton im Kanzleramt überlegen muss, wie
deutlich Kritik an der Verletzung west-
licher Werte und Prinzipien ausfallen darf,
zeigt, wie sehr sich die Dinge geändert ha-
ben. Bisher machten sich Merkels Unter-
stützer solche Gedanken vor Reisen nach
Weitere Themen:
Russland oder China. Jetzt gelten die Be-
denken der Regierung in Washington, dem
einstmals engsten Partner. „In der inter-
Vietnamkrieg
nationalen Politik“, sagt Merkel-Berater Ein Dichter ergreift Partei
Röttgen, seien die USA inzwischen ein
„Unsicherheitsfaktor struktureller Art“.
Christiane Hoffmann, Alexander Neubacher,
Kraftproben
Ralf Neukirch, Christoph Pauly,
Christian Reiermann, Gerald Traufetter
Walser und Reich-Ranicki
Lesen Sie auch auf Seite 92
Der US-Publizist Michael Werz über Trumps
Begegnungen
Attacke auf die multikulturelle Gesellschaft Dialoge mit Tiefgang
DER SPIEGEL 11 / 2017 31
Deutschland

Staatsfeind Nr. 1 bis 602


Terrorismus 602 islamistische Gefährder zählt die deutsche Polizei. Die Politik will härter gegen
sie vorgehen. Doch viele Maßnahmen sind wirkungslos – oder rechtlich bedenklich.

D
er Mann, der einst den bekanntes- meisten sich bislang nicht strafbar gemacht. Gefährder grundsätzlich abzuschieben und
ten Terroristen der Welt beschützt Trotzdem trauen ihnen die Behörden zu, „alle Migranten biometrisch zu erfassen“.
haben soll, ist klein und untersetzt. „politisch motivierte Straftaten von erheb- Eine ähnlich radikale Lösung hat ge-
Nur 1,65 Meter groß sei er, so erzählte es licher Bedeutung“ zu begehen. So definie- rade die Bayerische Staatsregierung prä-
Sami A. im vergangenen Jahr in einem In- ren seit 2004 BKA und die 16 Landeskri- sentiert. Sie hat ein Gesetz entworfen, das
terview und fragte den Journalisten: „Ge- minalämter den Begriff des Gefährders. es Richtern ermöglicht, einen Gefährder
fährlich soll ich sein?“ Übersetzt heißt das: Rund 200 namentlich für unbegrenzte Zeit in Vorbeugehaft zu
Genau das glauben die Sicherheitsbe- bekannte Personen könnten demnach in nehmen.
hörden in Nordrhein-Westfalen. Sie zeich- Deutschland jederzeit Terroranschläge ver- Gefängnis als Präventivmaßnahme,
nen ein düsteres Bild des 40-Jährigen. üben. möglicherweise jahrelang? Juristen halten
Demnach hat er sich in Afghanistan zum „Gefährder“ ist ein schwammiger Ar- den Vorstoß für bedenklich. Das sei Sym-
Terroristen ausbilden lassen und danach beitsbegriff. Wer ein Gefährder ist, weiß bolpolitik, sagt Thomas Feltes, Krimino-
als Leibwächter Osama bin Ladens gedient. es häufig selbst nicht. Die Landeskriminal- logieprofessor an der Ruhr-Universität
Er gilt als Mitglied der radikalen Missions- ämter bestimmen es, das BKA führt sie Bochum. „Wollen wir alle Gefährder un-
bewegung Tablighi Jamaat und als funda- auf einer Liste zusammen. Laut Definition begrenzt einsperren? Dann begeben wir
mentalistischer Prediger. Und er soll junge ist man Gefährder „aufgrund bestimmter uns auf eine Stufe mit der Türkei und schaf-
Männer davon überzeugt haben, sich dem Tatsachen“, die aber keine Straftaten sind. fen viele kleine Guantanamos.“
Dschihad anzuschließen. Zwei von ihnen Deshalb kann der Staat einen Gefährder Vorschläge wie der aus Bayern zeigen,
wurden in Deutschland deshalb verurteilt. nicht bestrafen. Er kann ihn nur so gut wie wie unsicher der Staat im Umgang mit sei-
Sami A. sei eine „erhebliche Gefahr für möglich im Auge behalten. nen mutmaßlichen Feinden ist. Schärfere
die öffentliche Sicherheit“, schrieben die Bei Anis Amri, dem Attentäter vom Ber- Gesetze sollen die Anschlagsgefahr min-
Richter des Oberverwaltungsgerichts in liner Breitscheidplatz, ist das nicht gelun- dern; gleichzeitig haben es die Behörden
Münster 2015 in ihrem Urteil, mit dem sie gen. Auch er war ein Gefährder, auch ihm von Bund und Ländern immer noch nicht
seinen Antrag auf Asyl ablehnten. konnten die Behörden keine Terrortaten geschafft, sich auf ein einheitliches Vorge-
Trotzdem lebt der Tunesier weiterhin nachweisen, auch er konnte nicht nach Tu- hen gegen Gefährder zu verständigen.
in Deutschland. nesien abgeschoben werden. Ein freier Wie schwer es die Ermittler bisweilen
Der Generalbundesanwalt stellte ein Mann, der seine Freiheit dazu missbrauch- mit ihrer Klientel haben, zeigt das Beispiel
Verfahren gegen ihn wegen der mutmaß- te, einen Lkw-Fahrer zu erschießen und von Emre A. aus Hildesheim. Der Mann,
lichen Mitgliedschaft bei al-Qaida ein. Der mit dem Sattelschlepper elf Menschen tot- der nach Ansicht der Polizei die Sicherheit
Verdacht ließ sich nicht erhärten. Auch die zufahren. in Deutschland bedroht, sitzt, als der
Ausländerbehörde war machtlos. Sie wies In den vergangenen Wochen hat die SPIEGEL ihn besucht, in einem weiß geka-
Sami A. schon 2006 aus, aber er kann nicht Bundesregierung Maßnahmen beschlossen, chelten Raum, 150 Kilometer südlich von
abgeschoben werden. Das Verwaltungs- Gefährder besser unter Kontrolle zu hal- Budapest. Drei ungarische Aufseher bewa-
gericht Düsseldorf erwirkte 2009 ein Ab- ten. Mit einer elektronischen Fußfessel chen das Gespräch. Sie tragen blaue Uni-
schiebeverbot, das im Juni 2016 erneuert zum Beispiel, die günstiger ist als ein Über- form, Schlagstock und Handschellen.
wurde. Der Grund: In seiner Heimat wachungsteam der Polizei. Ausländer, die Emre A. hat ein schmales graues Gesicht
Tunesien drohe Sami A. als Terrorverdäch- sich strafbar gemacht haben, können au- mit einem Vollbart. Er trägt schwarze, zu
tigem die Folter. In einem solchen Fall ßerdem einfacher und schneller ausgewie- einem Zopf zusammengebundene Haare.
dürfen auch Islamisten bleiben. sen werden. Und speziell für ausländische „Ich leide an Depressionen“, sagt der in
Jeden Tag muss sich Sami A. zwischen Gefährder ist ein eigener Grund für Ab- Deutschland geborene Türke, „und an
10 und 12 Uhr bei der Polizei melden. Ein- schiebehaft vorgesehen. Panikattacken.“ 20 Kilo habe er abgenom-
mal wurde er verurteilt, weil er gegen die Die verschärften Regeln sollen den Bür- men, seit er vor einem Jahr mit gefälschten
Meldeauflagen verstoßen hatte. 1997 kam gern signalisieren: Der Staat erkämpft sich belgischen Papieren an der ungarisch-rumä-
er als Student ins Land, inzwischen wohnt seine Souveränität zurück. In Wahrheit nischen Grenze festgenommen wurde.
er mit seiner deutschen Frau und vier Kin- aber sind viele dieser Regeln unzurei- Wolltest du in den Krieg? Wolltest du
dern in einer Bochumer Arbeitersiedlung. chend. Ein Anschlag wie der vom Breit- zum Terrorregime des „Islamischen Staats“
Sami A. ist ein gutes Beispiel dafür, wie scheidplatz ist damit immer noch möglich. nach Syrien? Immer wieder stellten ihm
schwer sich der deutsche Staat mit Men- Und ein amtsbekannter Gefährder wie die ungarischen Sicherheitsbehörden diese
schen tut, die er als Bedrohung wahrnimmt, Sami A. ist trotz dieser Verschärfungen Fragen. „Polizei, Nachrichtendienste, alle
denen er aber vor Gericht Straftaten nicht weiter vor einer Abschiebung geschützt. haben mich befragt“, sagt Emre A. Die
nachweisen kann. 602 sogenannte islamis- Die Bundesregierung steht deshalb vor längste Vernehmung habe 72 Stunden ge-
tische Gefährder hat das Bundeskriminal- einem Dilemma: Würde sie versuchen, sich dauert. Schließlich landete er für neunein-
amt (BKA) bis heute identifiziert. all der Menschen zu entledigen, die den halb Monate im Gefängnis, „wegen der ge-
Rund 300 von ihnen leben im Ausland, Staat mutmaßlich bedrohen, müsste sie fälschten Papiere“. Im Dezember kam der
in Syrien zum Beispiel oder im Irak, oft Grundsätze des deutschen Rechtsstaats in- 25-Jährige schließlich in die Abschiebehaft-
als Kämpfer für Terrorgruppen wie den frage stellen. Schnell wäre sie bei denen, anstalt von Kiskunhalas.
„Islamischen Staat“ (IS). Etwa hundert sind die für Gefahren eine einfache Lösung zu Bevor Emre A. aus der Hildesheimer Sa-
in Deutschland inhaftiert. Von den übrigen haben glauben: bei den Populisten von lafistenszene verschwand, besuchte er täg-
200 mutmaßlichen Staatsfeinden haben die rechts. AfD-Politiker fordern, ausländische lich die berüchtigte Moschee des „Deutsch-

32 DER SPIEGEL 11 / 2017


sprachigen Islamkreises“ in der Nordstadt.
Dort predigte der selbst ernannte Scheich
Abu Walaa, der im vergangenen Novem-
ber verhaftet wurde. Als IS-Statthalter soll
Abu Walaa junge Muslime radikalisiert
und als Kämpfer nach Syrien und in den
Irak geschleust haben. Auch Anis Amri,
der Attentäter von Berlin, hatte die Mo-
schee in Hildesheim besucht.
Im Dezember 2015 erhielt Emre A. eine
„Ausreiseuntersagung“ aus Deutschland.
Dem Landeskriminalamt Niedersachsen
lagen Informationen vor, wonach er „mit
an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich-
keit“ nach Syrien ausreisen wolle. Seine
Teilnahme an Kampfhandlungen würde
die auswärtigen Beziehungen der Bundes-
republik „in erheblichem Maße gefähr-
den“, hieß es. Er musste seinen Reisepass
abgeben und sich jeden Tag bei der Polizei
melden. „Außerdem wurde ich ständig
von Zivilbeamten verfolgt“, sagt er, „ihre
Autos kannte ich schon.“
Rund fünf Wochen später machte sich
Emre A. trotzdem auf den Weg. Nachmit-
tags ging er noch einmal zur Polizei, um
sich zu melden. Um 16 Uhr war sein
Handy an diesem 6. Februar 2016 zuletzt
online. Dann war er weg.
Die Besuchszeit in der Abschiebehaft
von Kiskunhalas beträgt 45 Minuten. Emre
MATTHIAS GRABEN / WAZ FOTOPOOL

A. senkt die Stimme. Er will wieder nach


Deutschland. „Warum lassen sie mich nicht
zurück?“, fragt er. Emre A. ist zwar in der
Bundesrepublik geboren, hat aber keine
deutsche Staatsangehörigkeit, sondern nur
die türkische. Ein türkischer Botschafts-
mitarbeiter aus Budapest besuchte ihn und
Tunesier Sami A. vor einer Polizeiwache in Bochum: Abschiebeverbot erwirkt bot Hilfe an. „Was soll ich in der Türkei?“,
fragt Emre A. „Ich habe zwei Kinder in
Hildesheim. Ich möchte nach Hause.“ Sei-
ne jüngste Tochter habe er noch gar nicht
gesehen. Sie ist erst ein paar Monate alt.
Aber warum ist er denn ausgereist? Wo-
hin wollte er? „Ich habe die Überwachung
nicht mehr ausgehalten. Ich wollte in die
Türkei zu Verwandten und nicht zum IS.“
Über die Details seiner Flucht, die gefälsch-
ten Pässe und die beiden Reisegefährten,
die mit ihm unterwegs waren, möchte er
nicht reden. Nur so viel: „Ich habe nichts
verbrochen und mir nichts vorzuwerfen.“
Die Ermittler haben nicht viel gegen
Emre A. in der Hand. Ein anonymer Hin-
weisgeber hatte ihnen sechs Namen von
jungen Männern aus der Hildesheimer Mo-
schee gesteckt, die nach Syrien ausreisen
wollten. Emre A. war dabei, die Behörden
stuften ihn fortan als Gefährder ein. Hin-
weise auf einen bevorstehenden Anschlag
in Deutschland fand die Polizei bei der
Gruppe allerdings nicht.
Insofern hat Emre A. recht: Er hat wohl
CHRISTIAN MANG

nichts verbrochen. Trotzdem müssen die


Ermittlungsbehörden im Rahmen der Ge-
fahrenabwehr eine Aussage darüber tref-
Razzia in einem Berliner Moscheeverein: „Gefährder auf dem Schirm behalten“ fen, wer eine Tat begehen könnte. Auf-
DER SPIEGEL 11 / 2017 33
Deutschland

grund solcher Annahmen werden überall Die Polizei hat zumindest ihren Aus- L. aus Northeim bei Göttingen. Der 26-
Observationsteams losgeschickt. tausch von Informationen klarer struktu- Jährige war vorvergangene Woche festge-
„Wir können uns nur bemühen, die ein- riert. Sobald eine Person als Gefährder nommen worden, weil er einen Anschlag
zelnen Gefährder auf dem Schirm zu be- identifiziert wurde, wird die Entscheidung auf Soldaten und Polizisten geplant haben
halten“, sagt André Schulz, Vorsitzender allen Landeskriminalämtern und dem soll. Bei der Durchsuchung seiner Woh-
des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. BKA mitgeteilt. Die zentrale Übersichts- nung wurden Chemikalien und elektroni-
Eine Garantie gebe es nicht. Die Einstu- liste führt das BKA, etwa alle vier Wochen sche Bauteile zur Herstellung eines Spreng-
fung der Islamisten in mehr oder wenig wird sie aktualisiert. Zuständig bleiben je- satzes gefunden. Vor drei Jahren noch
gefährlich ist allein Sache der Landeskri- doch die Länder, in denen sich die Gefähr- schwärmte Sascha L. für andere Extremis-
minalämter. „Es fehlt allerdings ein Krite- der aufhalten. ten. Auf YouTube veröffentlichte er rechts-
rienkatalog, nach dem Gefährder als sol- Über jeden von ihnen legen die Landes- extremistische Videos. Ein Verwirrter auf
che einzuordnen sind“, sagt Schulz. kriminalämter ein sogenanntes Persona- der Suche nach der eigenen Identität?
In den Datenbanken der Polizei gibt es gramm an. Darin tragen sie neben Licht- Oder tatsächlich ein Feind des Staates?
zwei Kategorien: die der Gefährder und bildern alle Erkenntnisse in Tabellen ein: „Es gibt keine Blaupause für den Um-
die der „relevanten Personen“. Letztere unter anderem über die Staatsangehörig- gang mit gefährlichen Islamisten“, sagt Nie-
sind etwa Kontaktleute und Unterstützer, keit, den Familienstand, Kontaktpersonen, dersachsens Innenminister Boris Pistorius
die selbst nicht als akut gefährlich gelten. Kampfsport-, Sprachen- oder Computer- (SPD), „wir müssen uns jeden Einzelfall
Ganz anders wiederum arbeitet der Ver- kenntnisse. Reichen die Informationen ir- genau ansehen.“
fassungsschutz in Bund und Ländern. Er gendwann für ein Strafverfahren, wird die Deshalb müssen die Terrorexperten je-
führt in seinen Akten 10 000 Personen, die Staatsanwaltschaft informiert. den Gefährder immer wieder aufs Neue
bestrebt seien, ihre auf der islamistischen Einer der jüngsten Zugänge auf der Ge- analysieren. Welche Risiken gehen von
Ideologie basierende Vorstellung des ge- fährderliste ist Kevin T. aus Neuss. Unter ihm aus? Sollen die Überwachungsmaß-
sellschaftlichen Lebens auf legalem Weg dem Pseudonym „Sayfullah“ gab er im In- nahmen verstärkt oder reduziert werden?
durchzusetzen. Legalisten heißen sie beim ternet seine Kommentare zu Berichten Darüber diskutieren sie jeden Tag in einer
Verfassungsschutz. Eine weitere Kategorie über den IS zum Besten. Die Meldung, ein ehemaligen Kaserne in Berlin-Treptow.
ist die der zurzeit 9700 Salafisten, die eine 15-Jähriger sei geköpft worden, weil er Die Vertreter von mehr als 40 Polizei-
wörtliche Auslegung des Koran verfolgen westliche Musik hörte, hielt er für falsch. und Verfassungsschutzbehörden sitzen im
und häufig gewaltbereit sind. Die wichtigs- „Peitschenhiebe wären wennschon richtig Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum
te Gruppe für die Arbeit des Inlandsge- gewesen“, kommentierte ein Mahmud. (GTAZ) zusammen. Ein Projektor wirft
heimdienstes ist das sogenannte extremis- „Denke ich auch“, schrieb Kevin T. Präsentationen und Bilder auf eine Lein-
tisch-terroristische Personenpotenzial mit wand. An den Wänden hängen vergilbte
derzeit rund 1600 Menschen. Sie hält der
Verfassungsschutz am ehesten für fähig, in
Den heutigen vom IS Landkarten und eine Uhr, die verschiede-
ne Weltzeiten anzeigt.
Deutschland terroristische Strukturen auf- aufgestachelten Attentätern Im GTAZ wird jeder Islamist diskutiert,
zubauen und auch Anschläge zu verüben.
Als wäre das Chaos an Begriffen nicht
reicht ein Führer- der erstmals als Gefährder eingestuft wird.
Auch wenn ein Verdächtiger wieder von
schon groß genug, entscheidet beim Ver- schein oder eine Axt. der Liste verschwinden soll, beraten die
fassungsschutz jedes Landesamt individu- Beamten. Zuständig ist die Arbeitsgemein-
ell, wen es in welche Kategorie einordnet. Der deutsche Konvertit kam auf die Lis- schaft Operativer Informationsaustausch,
Es gibt seit 2011 zwar immerhin eine bun- te, weil er in Kontakt mit einem 17-Jähri- die das BKA federführend organisiert. Sie
desweite Vereinbarung, wer zur salafisti- gen aus Wien stand, der einen Anschlag kam 2015 rund 250-mal zusammen, im
schen Szene zu zählen ist. Die Kriterien geplant haben soll. Vor wenigen Wochen Jahr zuvor waren es nur 140 Treffen. Die
dafür sind jedoch sehr vage und erfassen durchsuchte die Polizei seine Wohnung Arbeitsbelastung der Beamten steigt von
nur einen Teil der gefährlichen Personen. und nahm ihn vorübergehend fest. Tag zu Tag. „Mit weniger als zwölf Stun-
So lauten die Fragen zum Beispiel: Er soll in Neuss sehr provokant als Sala- den Arbeit am Tag geht hier kaum einer
Nimmt die Person an salafistischen Veran- fist aufgetreten sein. Unter anderem sei er raus“, sagt ein führender Ermittler.
staltungen teil? Spendet sie für entspre- mit einer IS-Fahne auf der Straße auf- Allein die neu angekommenen Flücht-
chende Organisationen? Dass sich Atten- gefallen, heißt es im Düsseldorfer Innen- linge sorgen für mehr Arbeit: Beim BKA
täter nicht religiös verhalten und zum Bei- ministerium. Kevin T. sei allerdings keine wurden im vergangenen Jahr rund 400 Ver-
spiel mit Drogen dealen wie Anis Amri, wirkliche Größe in der Salafistenszene. Er dachtsfälle gemeldet, dass Flüchtlinge von
darauf seien die Kriterien gar nicht ausge- selbst bestritt bei seiner Vernehmung, ein Islamisten angeworben werden. Die meis-
richtet, gibt ein Verfassungsschützer zu. IS-Sympathisant zu sein. Ist einer wie Ke- ten dieser Warnungen allerdings stellten
„Eigentlich müssten wir künftig jedes un- vin T. also gefährlich? Bedroht er den sich als harmlos heraus, oft waren es nur
verdächtige Verhalten bewusst als verdäch- Staat, in dem er lebt? Oder ist er nur ein Denunziationen anderer Flüchtlinge. Der-
tig betrachten.“ Wo aber verläuft dann die spätpubertierender Maulheld? zeit haben die Geheimdienste in Deutsch-
Grenze zwischen rechtsstaatlichem Han- Die Gefährder von heute, so scheint es, land nach Auskunft eines hochrangigen
deln und Willkür? sind meist keine akademisch gebildeten Beamten rund zwei Dutzend Menschen
Gerade weil die Grundlage ihrer Ent- Attentäter wie die 9/11-Terroristen um Mo- im Blick, bei denen es deutliche Anhalts-
scheidung oft schwer zu fassen ist, fordern hammed Atta. In einer jahrelang geplanten punkte gab, dass sie möglicherweise terro-
die Beamten bei Polizei und Verfassungs- Terroroperation hatten sie sich auf den An- ristische Absichten hegen.
schutz klare Vorgaben, wer als Gefährder schlag vom 11. September vorbereitet. Den Auch haben die Meldungen auslän-
oder als extremistisch-terroristisch einzu- heutigen vom IS aufgestachelten Attentä- discher Nachrichtendienste rasant zuge-
stufen ist und welche Maßnahmen der Be- tern reicht ein Führerschein, ein Messer nommen. Seit Sommer 2015 laufen beim
hörden daraus folgen. „Wir brauchen hier oder eine Axt. Bundesnachrichtendienst jeden Tag zwei
dringend ein bundeseinheitliches Vorge- In der jüngsten Islamistengeneration fal- bis drei Meldungen zu angeblichen ter-
hen“, sagt ein Verfassungsschützer. „Sonst len immer wieder unberechenbare, psy- roristischen Aktivitäten in Deutschland
blickt keiner mehr durch.“ chisch labile Charaktere auf. So wie Sascha auf. Häufig sind die Informationen nur

34 DER SPIEGEL 11 / 2017


oberflächlich. Das Überprüfen macht viel
Arbeit.
Bei den Treffen im GTAZ gibt es mit-
unter unterschiedliche Meinungen zur Be-
wertung einzelner Akteure. Als Daniel S.,
einst Mitglied der 2007 aufgeflogenen Sau-
erland-Gruppe, aus der Haft entlassen wur-
de, empfahl das BKA, ihn herabzustufen.
Er habe sich glaubhaft vom Islamismus dis-
tanziert. Doch das Landeskriminalamt im
Saarland entschied anders und setzte ihn
auf die Liste der Gefährder. Nun wird er
regelmäßig überwacht, fast zehn Jahre
nach seiner Festnahme.
Heikel ist auch der Umgang mit Adnan
V. Das Oberlandesgericht Frankfurt am
Main verurteilte den ehemaligen Chemie-
studenten 2011 wegen Unterstützung einer

TOBIAS SCHWARZ / AFP


terroristischen Vereinigung zu zwei Jahren
auf Bewährung. Über das Internet hatte
der Mann Werbung für al-Qaida gemacht
und Anleitungen zum Bombenbau weiter-
gegeben. Allerdings hatte er sich später
Anschlags-Lkw des Terroristen Amri in Berlin: Attentat „eher unwahrscheinlich“ mehrfach öffentlich vom Islamismus dis-
tanziert und war vor Gericht geständig.
„Wir wollen Ihnen daher eine Chance ge-
ben“, sagte der Vorsitzende Richter zu V.
am Tag des Urteils.
Doch allen Beteuerungen zum Trotz
wandte sich V. offenbar nie ganz von der
Szene ab. Als hessische Ermittler im Früh-
jahr 2015 die Wohnung des Islamisten Halil
D. in Oberursel durchsuchten, fanden sie
Korrespondenz mit Adnan V. Damals stand
Halil D. im Verdacht, einen Bombenanschlag
auf ein Radrennen geplant zu haben, was
sich aber vor Gericht nicht beweisen ließ.
Mit dem Verdacht gegen seinen Gesin-
HUBERT GUDE / DER SPIEGEL

nungsgenossen rückte V. wieder in den Fo-


kus der Staatsorgane. Beamte vom Staats-
schutz besuchten ihn daraufhin regelmäßig
und warnten ihn davor, rückfällig zu wer-
den. V. beklagte sich bitterlich bei den Be-
amten, dass sie ihn wieder überwachten.
„Gefährder zu sein ist ein Stigma“, sagt
der Berliner Rechtsanwalt Tarig Elobied.
Einige seiner Mandanten erzählten von
Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche, seit-
dem sie auf der Überwachungsliste der
Behörden stehen. Andere behaupten, un-
schuldig zu sein, und fühlen sich von ihren
Bewachern bedrängt. Rechtlich können sie
dagegen wenig tun.
Selbst Islamisten, deren Tod in Syrien
gemeldet wurde, bleiben häufig auf dem
Radar der Fahnder. „Die Sorge ist groß,
dass einer von ihnen doch wieder auf-
taucht und wir uns von einer falschen To-
desmeldung haben täuschen lassen“, sagt
ein Hauptkommissar. Ausstufungen seien
selten, im Zweifel gingen alle Kollegen lie-
ber auf Nummer sicher. „Niemand möchte
CHRIS GOSSMANN

am Ende derjenige sein, der einen Gefähr-


der unterschätzt hat.“ So wie Anis Amri,
den Attentäter von Berlin.
Amri beschäftigte die Runde im GTAZ
Gefährder Emre A., SEK-Einsatz in Hildesheim 2015: Regelmäßig überwachen siebenmal. Die Wahrscheinlichkeit, dass
DER SPIEGEL 11 / 2017 35
er einen Anschlag verüben könnte, bewer- Am Ende signalisiert die Analyse eine Fußballländerspiel Deutschland gegen die
teten die Teilnehmer als relativ gering. Auf von drei Ampelfarben: Grün, wenn das Niederlande in Hannover wegen einer Ter-
einer Skala von eins („Mit einem gefähr- Risiko „moderat“, Gelb, wenn es „auffäl- rorwarnung abgesagt wurde.
denden Ereignis ist zu rechnen“) bis acht lig“, Rot, wenn es „hoch“ ist. Als die Er- Fast bis zum Anpfiff hielten die Polizei-
(keine Gefahr) ordneten sie ihm eine Fünf mittler Anis Amri im Nachhinein testweise experten im GTAZ es für vertretbar, das
(Anschlag „eher unwahrscheinlich“) zu. mit dem neuen Instrument bewerteten, fiel Spiel trotz der Warnung eines ausländi-
Unter anderem prüften die Beamten die er in die Kategorie Rot. Künftig ist das ein schen Nachrichtendienstes stattfinden zu
Behauptung eines V-Mannes aus Nord- Hinweis, dass dieser Gefährder am ehesten lassen. Als nach und nach weitere Hinwei-
rhein-Westfalen, Amri wolle sich Maschi- einen Anschlag begehen könnte und des- se dazukamen, musste das Flugzeug mit
nenpistolen und Sprengstoff besorgen, um halb intensiv überwacht werden muss. Bundeskanzlerin Angela Merkel an Bord
„was zu machen“. Dafür aber fanden sie Das neue Programm wird nun nach und wieder zurückfliegen. Die Fußballfans wur-
keine Bestätigung, weshalb sie das Szena- nach in den Ländern eingeführt. Zuerst den nach Hause geschickt. Später stellte
rio als eher unwahrscheinlich bewerteten. dort, wo die meisten Islamisten leben: sich heraus, dass an den Hinweisen offen-
Die Einschätzung war nicht ganz falsch: Berlin, Baden-Württemberg, Bayern, al- bar nichts dran war.
Eine Maschinenpistole hatte sich Amri len voran aber Nordrhein-Westfalen. Hier Am Nachmittag jenes 17. November
nicht besorgt. Dass er trotzdem gefährlich hat sich in den vergangenen Jahren die 2015 überprüften die Ermittler etliche Ge-
war, vermochten die Ermittler nicht zu Zahl der Gefährder vervielfacht. Lag sie fährder in Deutschland, denen sie eine Ver-
erkennen. 2007 noch bei 10 Personen, waren es 2016 bindung zum befürchteten Hannover-
BKA und die Landeskriminalämter wol- bereits 211, hinzu kamen 105 „relevante Attentat zutrauten. Auch in Hildesheim
len nun die Persönlichkeit des Gefährders Personen“. wurde ein Auto gestoppt.
in den Mittelpunkt ihrer Bewertung rücken „Wir waren gerade einkaufen“, berichtet
und nicht mehr nur mögliche Szenarien.
Die Ermittler hoffen, so ihre Ressourcen
„Ein Zivilbeamter Emre A. in seiner ungarischen Haftan-
stalt. „Softdrinks und etwas zum Essen.“
besser einsetzen zu können: Hochgefähr- hielt mir die Als die jungen Moscheegänger wieder in
liche Personen müssen intensiv überwacht
werden, bei weniger gefährlichen geht das
Maschinenpistole direkt ihr Auto eingestiegen waren und losfuhren,
„waren plötzlich von allen Seiten Maschi-
nur sporadisch. an den Kopf.“ nenpistolen auf uns gerichtet. Ich hatte
Dafür hat das BKA gemeinsam mit der mehrere rote Punkte auf meinem Körper“.
Arbeitsgruppe Forensische Psychologie der In einem nächsten Schritt sollen die Län- Vier Männer wurden aus dem Auto
Universität Konstanz ein neues Instrument der versuchen, ihr Vorgehen gegen gefähr- gezerrt, mussten sich flach auf die Straße
entwickelt. Radar-iTE ist eine Methode, liche Islamisten abzustimmen und zu ver- legen. „Ein Zivilbeamter hielt mir die
mit der ein Sachbearbeiter bei der Polizei einheitlichen. Maschinenpistole direkt an den Kopf“,
anhand aller verfügbaren Informationen Ein schwieriges Unterfangen, regelt je- sagt Emre A.
zu einer Person analysieren kann, welches des Land doch selbst, welche Methoden An diesem Abend kam Emre A. wieder
Risiko von ihr ausgeht. in der Gefahrenabwehr erlaubt sind. Wäh- frei. Ob er trotzdem gefährlich ist, wissen
Grundlage ist ein standardisierter Fra- rend ein Gefährder in Bayern abgehört die Behörden bis heute nicht. Sie vermuten
gebogen: Wie ist die Person aufgewachsen, werden darf, geht das in Nordrhein-West- es nur. Im vergangenen Dezember teilte
wie sehr ist sie in ein soziales Umfeld falen oder in Berlin nicht. Die Online- die Hildesheimer Stadtverwaltung seinem
außerhalb der islamistischen Szene einge- durchsuchung ist in nur zwei Ländern er- Anwalt schriftlich mit, dass die Aufent-
bunden? Wurde sie schon straffällig, mit laubt. Es sei ein Flickenteppich an Metho- haltserlaubnis in Deutschland erloschen
welchen Delikten? Welche Einstellung zu den, sagt ein Ermittler aus dem GTAZ. sei. Der Anwalt klagte gegen die Einbe-
Gewalt hat sie? Hat sie militärische Erfah- Trotz all dieser Verbesserungen ist es haltung des türkischen Passes.
rung? Hat sie Zugang zu Waffen? Wie war eine Illusion zu glauben, der Staat könne Vor Kurzem schoben die ungarischen
ihr Umgang mit Behörden? Für die Aus- alle, die ihm schaden wollen, unter Kon- Behörden Emre A. ab – nicht zu seiner
wertung der Daten legten die Wissen- trolle haben. Er wird potenzielle Atten- Familie nach Deutschland, sondern in
schaftler die Erkenntnisse über 30 Atten- täter übersehen oder falsch einschätzen, die Türkei.
täter sowie 30 Gefährder und „relevante er wird manchmal über das Ziel hinaus- Maik Baumgärtner, Jörg Diehl, Hubert Gude,
Personen“ zusammen. schießen. Wie im November 2015, als das Martin Knobbe, Jörg Schindler, Fidelius Schmid

602 352 EU-Bürger und 250 Angehörige von Drittstaaten.


Islamisten werden von Davon sind
den deutschen Sicherheits-
behörden als Gefährder Rund 300 halten sich derzeit nicht in Deutschland auf. Etwa 100
eingestuft.
Quellen: BKA, BMI; Stand: 8. März 2017
befinden sich in deutscher Haft. 96 sind Konvertiten.

36 DER SPIEGEL 11 / 2017


Deutschland

EUROLUFTBILD.DE / AKG-IMAGES
US-Konsulat in Frankfurt am Main: Mehr Steuergelder für Cyberabwehr und Angriffsmethoden

„Die USA sind


Europa ist. Weder die Proteste über die von Messenger-Nachrichten zwar nicht
Drohnensteuerung via Ramstein noch die knacken – aber umgehen.
Snowden-Veröffentlichungen haben daran Die Verbreitung dieses Wissens ist indes

die Guten“
etwas geändert. Ließ das Bundesamt für alles andere als beruhigend, denn es macht
Verfassungsschutz (BfV) damals noch He- das Internet für alle Nutzer unsicherer. Es
likopter über die US-Einrichtungen fliegen, ist paradox: Während immer mehr Steuer-
herrscht bei deutschen Sicherheitsbehör- gelder für die Cyberabwehr ausgegeben
Sicherheit Deutsche Geheim- den nun demonstrative Gelassenheit. werden, fließen gleichzeitig immense Mit-
Auch die Empörung der Bundesregie- tel in neue Angriffsmethoden, auch hier-
dienstler reagieren gelassen auf rung halte sich diesmal offenbar in noch zulande.
die jüngsten CIA-Leaks – und engeren Grenzen, sagt ein hoher Sicher- In München wird dafür noch in diesem
heitsbeamter. „Es gibt die Bösen, die bei Jahr sogar eine neue Behörde aufgebaut:
blicken neidvoll auf das Cyber- uns spionieren, und es gibt die Guten“, er- Die „Zentrale Stelle für Informations-
waffen-Arsenal der Amerikaner. klärt er lakonisch. „Die USA sind die Gu- technik im Sicherheitsbereich“ soll vor al-
ten. Ihr Aufklärungsinteresse deckt sich lem verschlüsselte Onlinekommunikation

I
m Frankfurter US-Generalkonsulat ar- derzeit mit unserem zu 90 Prozent.“ knacken.
beiten rund 900 Menschen für die Re- Größere Neugier zeigen Gesprächspart- Auch die deutschen Geheimdienste ken-
gierung der Vereinigten Staaten – und ner aus deutschen Diensten, wenn es um nen sich inzwischen mit „Exploits“ aus –
nicht alle haben mit Visafragen und Pass- den nun veröffentlichten Werkzeugkasten jenen Schwachstellen in Programmen, die
angelegenheiten zu tun. Der ausgedehnte der CIA-Cyberkrieger geht. Wie auch die Eindringlingen den Zugang erleichtern. So
Gebäudekomplex im Stadtteil Eckenheim, NSA hat er für jedes Betriebssystem und will sich der Bundesnachrichtendienst
ein ehemaliges Militärkrankenhaus, um- jedes Endgerät eigene Einbruchslösungen (BND) im Rahmen seiner „Strategischen
fasst auch eine „Sensitive Compartmented parat. Über seine Wege in die mobilen Be- Initiative Technik“, eines 300-Millionen-
Information Facility“, einen besonders ge- triebssysteme von Apple (iOS) und Google Euro-Programms, bis 2020 auf den neues-
sicherten Bereich, zu dem nur Mitarbeiter (Android) kann er offenbar auch Nachrich- ten Stand bringen. Dabei plant er laut in-
der US-Geheimdienste Zugang haben. ten vermeintlich sicherer Messenger-Diens- ternen Unterlagen auch, derlei „Exploits“
Auch der Auslandsgeheimdienst CIA ist te wie Telegram mitlesen. von Dritten einzukaufen.
in dem Riesenkomplex mit seinen Agenten Viele der Fähigkeiten aus der CIA-Gift- Da die rechtliche Grundlage hierfür aber
vertreten; unter anderem organisierte der küche sind in Varianten sogar schon öffent- noch weitgehend unklar ist, müssen die
Dienst von hier aus einst ein Netz von Ge- lich vorgestellt worden. Dass „smarte“ Fern- entsprechenden Gesetze für den BND oder
heimgefängnissen in Osteuropa und Marok- seher sich, ähnlich wie viele andere vernetz- das BfV möglicherweise erweitert werden.
ko, in denen US-Häftlinge von besonderer te Geräte, in Wanzen verwandeln lassen, ist „Das ist ein sehr sensibler Bereich, an
Bedeutung („High-Value Detainees“) außer seit Jahren Thema auf Hackerkonferenzen. den sich so richtig niemand traut“, sagt
Landes gefoltert wurden. Und 2015 führten IT-Experten vor, wie sie einer, der an den ersten Diskussionen mit
Nun hat die Enthüllungsplattform Wi- einen Jeep Cherokee von ihrem Rechner Behörden und Ministerien beteiligt war.
kiLeaks unter dem Namen „Vault 7“ aus unter ihre Kontrolle brachten. „Aber der Bedarf bei den Diensten, zum
knapp 9000 Dateien aus der CIA-Abtei- Die CIA hätte ihre Hausaufgaben nicht Beispiel endlich das Problem der verschlüs-
lung „Center for Cyber Intelligence“ ver- gemacht, würde sie über diese Fähigkeiten selten Chats zu lösen, ist riesig.“
öffentlicht, in denen Frankfurt erneut pro- nicht längst verfügen. Gleiches gilt wohl In deutschen Behörden wurden die
minent vorkommt: Demnach starten die für die anderen Staaten mit offensiv agie- neuesten Enthüllungen deshalb intensiv
Agenten der Agency von Frankfurt aus renden Cybertruppen wie Russland und studiert – immerhin lesen sie sich teils
auch Attacken an der neuesten Front: dem China. Vertreter einer großen israelischen wie eine Gebrauchsanweisung für die
Cyberkrieg. Rüstungsfirma, die eng mit den Geheim- Hightechspionage. „Als Erstes“, sagt ein
Die neuen Enthüllungen zeigen, dass diensten des Landes verbunden ist, erklär- Sicherheitsbeamter, „habe ich mir am
Deutschland weiter eine zentrale Basis für ten gegenüber dem SPIEGEL schon vor Montag alle Dokumente gesichert.“
heikle verdeckte US-Operationen in Monaten, sie könnten die Verschlüsselung Martin Knobbe, Marcel Rosenbach

DER SPIEGEL 11 / 2017 37


Die Abstauber
Essay Politische Gegner und Medien rätseln: Wie umgehen mit der AfD? Alles beginnt
mit der Erkenntnis, dass sie eine Volkspartei ist. Von Melanie Amann

D
ie AfD hat das politische Spielfeld in Deutschland heimer Morgen“ Frauke Petry ihre Worte über Schüsse auf
verändert. Seit bald vier Jahren fordert sie politi- Flüchtlinge an der Grenze. Petry sagte später, man habe ihr
sche Gegner und Medien heraus und wirft in un- eine Falle gestellt. Dabei war sie nur gezwungen, ihre For-
gewohnter Schärfe die Frage auf: Wie soll man diese Partei derungen bis zum Ernstfall durchzudeklinieren.
behandeln? Kann man Politiker, die gegen „das System“ Für Parteien steht im Umgang mit der AfD mehr auf
agitieren, die Kanzlerin als „Diktatorin“ verteufeln und dem Spiel als für die Medien, nämlich der Verlust von
missliebige Journalisten gezielt ausschließen, wie normale Stimmen und von Macht. Das Ziel der Politiker muss da-
demokratische Akteure behandeln? Politiker, die ihre Geg- her sein, AfD-Wähler zurückzuholen – aber sie sollten
ner als „Wucherungen am Volkskörper“ bezeichnen (Sach- sich keine Illusionen machen: Ein Teil der Klientel will
sen-Anhalts AfD-Chef André Poggenburg)
oder die Entnazifizierung nach 1945 als Ver-
such, „unsere Wurzeln zu roden“ (Thüringens
AfD-Chef Björn Höcke)?
Die Frage nach dem Umgang mit der AfD
wirkt wie ein „Catch 22“, ein unlösbares Pro-
blem: Wer die Partei kritisiert, gibt ihr eine
Bühne. Wer sie ignoriert, lässt sie ungestört
gewähren. Noch dazu scheint der Erfolg der
AfD recht zu geben wie schon Donald Trump
und Marine Le Pen: Bis Ende 2017 dürfte die
Partei in 13 Landesparlamenten und im Bun-
destag sitzen. Bisher droht ihr weder ein Par-
teiverbot, noch sehen Verfassungsschützer
Anlass, sie zu beobachten. Das macht die
AfD rechtlich gesehen harmloser als manchen
Landesverband der Linken.
Entscheidend ist aber: Die AfD hat das poli-
tische Spielfeld vergrößert, indem sie Wähler
erreichte, die andere Parteien ignoriert hatten.
Dagegen ist nichts zu sagen, in der Demokra-
tie gilt: One man, one vote. Mit der AfD um-
zugehen bedeutet deshalb, die Strategien

GREGOR FISCHER / DPA


des neuen Akteurs zu verstehen und zu kon-
tern – ohne selbst Regeln zu brechen.
Das heißt zuerst, gelassen zu bleiben. Die
AfD steht nicht davor, das Kanzleramt zu er-
obern wie Donald Trump das Weiße Haus, son-
dern sie vertritt eine Minderheit. Die Organisa- AfD-Chefin Petry: Ihre Anhänger wissen selten, wofür die Partei steht
tion der Partei ist chaotisch, ihre Machtstruktu-
ren sind fragil, ihre Positionen widersprüchlich.
Die AfD-Bundesgeschäftsstelle füllt eine Büroetage, die keine Argumente hören, sondern das System bestrafen.
Partei hat kaum 30 000 Mitglieder. In erster Linie ist sie eine Diese Wähler freuen sich am Wahlabend diebisch über
Abstauber-Partei, die von Fehlern ihrer Gegner profitiert. lange Gesichter bei den „Altparteien“. Diese „Lust an
Gerade Journalisten sollten einen kühlen Kopf bewahren. der Bestrafung“, wie es der FDP-Politiker Marco Busch-
Man kann der Partei nicht vorwerfen, ihre Gegner zu ver- mann nannte, dürfte bereits zum Sieg Donald Trumps
teufeln, und sie zugleich als Feind bekämpfen oder als „Nazi- beigetragen haben. In der AfD-Anhängerschaft sind diese
partei“ schmähen. Journalismus und Aktivismus sind zwei Wähler zwar eine Minderheit, dafür aber unerreichbar.
getrennte Metiers. Die AfD will diese Grenze verwischen,

W
indem sie die „Mainstream-Presse“ attackiert und aus Jour- er den zugänglichen Teil des Milieus ansprechen
nalisten Kombattanten machen will. Anstatt diese Kriegs- will, muss zuerst einsehen, dass die AfD ein ge-
erklärung zu erwidern, gilt es, die angeblichen „Konzepte“ samtgesellschaftliches Phänomen ist – deshalb
der AfD zu hinterfragen: Wie genau würden Parteifunktio- lässt sie sich weder ignorieren noch totschweigen, noch
näre wohl eine „negative Obergrenze“ von minus 200 000 ausgrenzen. Diese Methoden wirkten gegen die NPD,
Migranten im Jahr forcieren? Wie würden sie die Kandidaten aber nicht gegen eine AfD, in der sich gemäßigte Konser-
für diese Zwangs-„Remigration“ auswählen? Was, wenn die- vative, frustrierte Linke und frisch mobilisierte Exnicht-
se sich wehren? Mit ähnlichen Fragen entlockte der „Mann- wähler ebenso tummeln wie Rechtsradikale. AfD-Wähler

38 DER SPIEGEL 11 / 2017


Deutschland

sind Männer und Frauen, Ossis und Wessis, „Establish- nanzraum für Gefühle und eine Projektionsfläche für Hoff-
ment“ und „Pack“, Russlanddeutsche und sogar Muslime. nungen. Deshalb reicht es nicht, ihr nur mit Fakten Paroli
Wer die Partei zum Feind erklärt, erklärt Vertreter aller zu bieten. Ängste lassen sich nicht dementieren, Wut lässt
Schichten zum Feind. sich nicht wegargumentieren. Etablierten Parteien muss
Deshalb darf man die Partei auch nicht aus Diskus- es vielmehr gelingen, mit seriösen Mitteln selbst einen
sionsrunden fernhalten. Die AfD verschwindet nicht, nur Resonanzraum für die Gefühle der AfD-Wähler zu schaf-
weil man ihr „keine Bühne gibt“. Notfalls findet sie ihr fen. Niemand soll hoffen, die AfD sei erledigt, sobald die
Publikum im Internet und auf der Straße. Flüchtlingskrise „gelöst“ ist. Die Kritik der Parteiklientel
Für den Streit mit der AfD ist die Konkurrenz oft zu geht längst weiter. Für diese Wähler ist die Frage zentral,
schlecht vorbereitet. Nicht jedes AfD-Argument ist unbe- ob politische Entscheidungen im deutschen Interesse sind.
gründet, faktenfrei oder dumm. Oft werden der AfD For- Politiker, die dafür im Fall der Eurorettung oder Einwan-
derungen unterstellt, die sie nicht erhoben hat, oder heillos derungspolitik keine Argumente finden, müssen zumin-
übertriebene Vorwürfe gemacht, etwa dass die AfD „nach- dest erklären können, warum deutsche Interessen viel-
weislich nichts lieber will, als unsere bestehende staatliche leicht (vorerst) zurückstehen müssen.
Ordnung zu zerstören“ (SPD-Vize Ralf Stegner). Viele Gerade Unionspolitiker werden wegen der AfD mehr
AfD-Anhänger denken dagegen, dass es ihre Partei ist, als früher erklären müssen, was sie unter Patriotismus
die als einzige für den Erhalt der staatlichen Ordnung und deutscher Identität verstehen, was „uns Deutsche aus-
kämpft. Lieber sollte man auf die größte Schwäche der macht“, wie Innenminister Thomas de Maizière sagte:
AfD hinweisen: ihre Zerstrittenheit. Wie wollen Menschen, „Wir wissen nicht mehr genau, wer wir sind und wer wir
sein wollen.“ Bei den Antworten wird de Mai-
zière freilich diffus, spricht von „Bach und
Goethe“ oder der Fußball-WM. Aber das
Gute ist: Bei der Identitätsfrage geht es oft
um Banalitäten – warum sie also nicht aus-
sprechen? Gefährlich wird es nur, wenn Poli-
tiker den falschen Ton setzen. Das AfD-Mi-
lieu reagiert allergisch, wenn Angela Merkel
sagt, zum deutschen Volk gehöre „jeder, der
in diesem Lande lebt“– wenn doch streng ge-
nommen nur deutsche Staatsbürger das Volk
bilden. Wer hier sensibler vorgeht als die
Kanzlerin, kann die Angriffsfläche der AfD
verringern.

D
iese aber inhaltlich übertrumpfen zu
wollen ist für etablierte Parteien na-
hezu aussichtslos. Dafür müsste man
sich in den Augen der Wähler als überzeu-
HANS-CHRISTIAN PLAMBECK / DER SPIEGEL

gendere AfD erweisen, als Alternative zur


Alternative. Die CSU versucht dies seit Be-
ginn der Flüchtlingskrise und kündigte mehr-
mals an, ihre Ziele notfalls per Verfassungs-
klage durchzusetzen. Damit verstieß sie ge-
gen ein wichtiges Prinzip im Umgang mit der
AfD: Wer Forderungen stellt, muss sie durch-
setzen können. Wer Versprechen macht, muss
sie einlösen können. Wer jammert, in der Kü-
AfD-Politiker Höcke: Versuch, „unsere Wurzeln zu roden“ che sei es zu heiß, muss bereit sein, die Küche
zu verlassen. Solange CSU-Minister am Ber-
liner Kabinettstisch sitzen, ohne gegen die
die sich noch nicht einmal mit ihren Parteifreunden zu- „Herrschaft des Unrechts“ (Horst Seehofer) Widerstand
sammenraufen können, das Land regieren? Oder wie passt zu leisten, gewinnt ihre Partei keinen AfD-Wähler zurück.
es zum basisdemokratischen Credo der AfD, dass in Frau- Wie die AfD kämpft auch die CSU nun gegen „Multi-
ke Petrys Verband ein missliebiger Kandidat einfach von kulti-Sonderformate in der öffentlichen Daseinsvorsorge“
der Landesliste gestrichen wurde? Und will die AfD nun wie gesonderte Badezeiten für Musliminnen. Der einzige
eine aggressive Fundamentalopposition sein oder eine se- Erfolg, den die CSU so erzielt, ist, dass sich die „Frames“
riöse, koalitionsfähige Kraft? der Rechtspopulisten durchsetzen. Frames nennt man in
In inhaltlicher Hinsicht zeigen sich noch tiefere Risse. der Kommunikationswissenschaft die Umsetzung politi-
Keine zwei AfD-Bundesvorstände sind sich über die Zu- scher Botschaften in Sprachbilder. Wer wie die CSU die
kunft der Rentenversicherung, das Verhältnis zum Front Bilder der AfD verwendet, wirkt indirekt als ihr Multipli-
National oder zu Russland einig. kator und wird in gewisser Weise selbst zur AfD. Nur
Auch die AfD-Anhänger wissen selten, wofür ihre Partei dass die Wähler eben immer noch wissen, wer das Original
steht. Sie funktioniert wie der biblische brennende Dorn- ist und wer das Plagiat.
busch, aus dem es ruft: „Ich bin, der ich bin!“ Die AfD
wird gewählt, weil sie die AfD ist. Was die AfD ist, ent- Auszug aus Melanie Amanns Buch: „Angst für Deutschland – Die Wahrheit
scheidet jeder Wähler für sich. Die Partei ist ein Reso- über die AfD“. Droemer; 320 Seiten; 16,99 Euro.

DER SPIEGEL 11 / 2017 39


Deutschland

In der Todeszone
Umwelt Zu viel Dünger, gefährlicher Feinstaub: Umweltministerin Barbara Hendricks hält Stickstoff für
ein erhebliches Gesundheitsrisiko. Trotzdem wird sie von ihren Kabinettskollegen ausgebremst.

Die Bundesregierung steht unter Druck.


Weil das Problem in Deutschland lange
verdrängt wurde, hat die EU-Kommission
vor knapp einem Jahr ein Vertragsverlet-
zungsverfahren eingeleitet. Auch die
OECD konstatiert in einem aktuellen Be-
richt, der Stickstoffkreislauf habe sich seit
Beginn der Industrialisierung gravierend
verändert – zum Nachteil der Menschen.
Hendricks’ Beamte sind derselben Auf-
fassung. Doch in ihrem Bericht ist von kon-
kreten Gegenstrategien oder gar einem
Aktionsprogramm, wie es ursprünglich an-
gekündigt war, nicht mehr die Rede. Der
Grund: Die Häuser ihrer Kabinettskolle-
gen Alexander Dobrindt (Verkehr), Chris-
tian Schmidt (Landwirtschaft) und Brigitte
Zypries (Wirtschaft) wehren sich, befeuert
von Agrar- und Industrielobby, gegen Ziel-
vereinbarungen und Auflagen.
Wie sehr die Stickstoffverbindungen die
Gesundheit der Bürger gefährden, weiß
MARTIN WAGNER / IMAGO kaum einer besser als David Groneberg,
43, Professor für Arbeits- und Umweltme-
dizin an der Universität Frankfurt. „Stick-
stoffdioxid ist ein Giftgas“, erklärt er und
verweist auf eine Studie aus dem Jahr 2003.
Sie habe gezeigt, dass Ratten bei hoher
Miststreuer in Sachsen-Anhalt: „Keine Rebhühner, keine Fasane, keine Kiebitze mehr“ Konzentration die chronische Lungen-
erkrankung COPD entwickeln – bekannt

D
as Taunusstädtchen Bad Homburg Wenn es nach Umweltministerin Barba- als Raucherlunge.
gilt als einer der wohlhabendsten ra Hendricks (SPD) geht, soll die Debatte Aufschlussreich findet Groneberg auch
und gesündesten Flecken der Repu- möglichst rasch in Gang kommen. Ein in- eine Studie aus Kalifornien: Dort haben
blik. Die Einkommen liegen weit über dem terner Bericht ihrer Behörde zählt auf, wie Forscher acht Jahre lang 747 Kinder regel-
Bundesschnitt. Und die zahlreichen Kuran- gefährlich der viele Stickstoff ist, der aus mäßig untersucht. Das Ergebnis: Das Lun-
gebote, lobt die Stadtverwaltung, böten vie- den Auspuffrohren von Autos oder den genvolumen der Kinder aus Regionen mit
le Möglichkeiten, auf das „Wohlbefinden Düngemaschinen der Bauern in die Luft, hohen Schadstoffbelastungen war geringer
zu achten“ und „frische Kräfte zu tanken“. den Boden und das Trinkwasser dringt. als bei gleichaltrigen Kindern aus anderen
In Wahrheit hat sich der Gesundheits- Dabei ist Stickstoff wie Kohlenstoff und Regionen. Die Mischung aus Stickstoff-
zustand gerade der jüngsten Einwohner Wasser ein natürlicher Baustoff des Le- dioxid und Feinstaub hemmte die Lungen-
des Villenvororts in mancher Hinsicht be- bens. Zum Problem wird er aber, wenn entwicklung signifikant.
sorgniserregend verschlechtert, wie Barba- seine Verbindungen überdosiert auftreten. Doch obwohl die Studie aus dem Jahr
ra Mühlfeld feststellt, eine der erfahrensten Und genau das ist an vielen Orten der Fall, 2004 stammt, hat die deutsche Auto-
Kinderärztinnen der Stadt. „Die Zahl der wie Hendricks’ Beamte aufgelistet haben. industrie jede Grenzwertverschärfung in
Kinder, die unter Asthma leiden, ist in den So wird an Hunderten Grundwasser- Brüssel nach Kräften hintertrieben. Die
letzten 20 Jahren stark gestiegen“, sagt sie. messstellen in der Republik der Grenzwert heutigen Vorgaben seien deshalb viel zu
Bei älteren Kindern werde Pseudokrupp von 50 Milligramm Nitrat pro Liter über- milde, findet Groneberg. Er will mehr –
zunehmend zum Problem. Vor 20 Jahren schritten. Die Stickstoffverbindung Am- und fordert ein Innenstadtverbot für alte
hätten in der Regel nur kleine Kinder den moniak trägt zur Bildung von Feinstaub Dieselfahrzeuge, wie es jüngst in Stuttgart
beklemmenden Husten bekommen, heute bei, dieser kann nach Angaben des Hen- verhängt wurde.
erkrankten oft auch Sieben- und Achtjäh- dricks-Berichts zu 41 000 vorzeitigen Ster- Neben dem Verkehr ist vor allem die
rige daran. befällen im Jahr führen. Das Stickstoffoxid Landwirtschaft schuld an der Problematik.
Auslöser, glaubt Mühlfeld, könnten Lachgas trägt 265-mal so viel zum Kli- Zum Beispiel in Klüden, einem kleinen
nicht zuletzt Feinstaub und Stickstoffdi- mawandel bei wie CO . Und schließlich Dorf im Norden Sachsen-Anhalts. Leicht
²
oxid sein. „Wir hatten diese Problematik entstünden durch den Stickstoffüberschuss gewelltes Land, so weit das Auge reicht.
lange nicht auf dem Schirm“, sagt sie. Nun in Flüssen und Seen „sauerstofffreie To- Aber es stinkt. Nach Mist, nach Gülle,
müsse die Debatte „mit ähnlicher Leiden- deszonen“, wie es in dem Report heißt. nach den Folgen moderner Massentierhal-
schaft geführt werden wie die Diskussion Die Artenvielfalt sei dort „auf lange Zeit tung. Tankwagen durchkreuzen die Re-
über das Rauchen“. erheblich beeinträchtigt“. gion, sie kommen aus Niedersachsen, aus
40 DER SPIEGEL 11 / 2017
Passt perfekt zu
Nordrhein-Westfalen und nicht selten so- werte einzuhalten. Bislang werde belaste-
mir, in Design und
gar aus den Niederlanden. Denn dort ist tes Wasser mit sauberem Wasser vermischt,
der Platz knapp, das Jaucheaufkommen sodass die Vorgaben eingehalten würden, Qualität. Mein
groß und das Gesetz streng. „Wirtschafts- sagt Michael Dickgreber, 58, Geschäftsfüh-
dünger“ nennt sich die Fracht in nüchter- rer eines Unternehmens für Wassertechnik.
nem Amtsdeutsch. Doch dieses Verfahren werde auf Dauer
Architektenhaus.
Tatsächlich ist die Region zu einer Art nicht ausreichen. „Aufbereitungsanlagen
Gülleklo verkommen, wie die Rentner wären eine große Investition für die Was-
Heinrich Aderholz, 75, und Erwin Schoof, serwerke“, sagt Dickgreber und mahnt
76, nachweisen können. Aderholz war Bau- schon mal „politischen Rückhalt“ an.
ingenieur, Schoof Lehrer, nun sind sie im Der könnte auf sich warten lassen. Mi-
Ruhestand. Schon vor Jahren waren ihnen nisterin Hendricks musste ihre Pläne für
Güllefrachter auf dem Mittellandkanal auf- eine „nationale Stickstoffstrategie“ bereits
gefallen. Die beiden scharten Gesinnungs- abspecken. Vor einem Jahr hatte sie vor-
genossen um sich und begannen, sich ge- geschlagen, nach dem Vorbild der CO -
²
gen die giftigen Fluten zu wehren. Einsparziele eine „nationale Zielgröße“
Sie wateten mit Messröhrchen durch die für den Stickstoffausstoß zu vereinbaren.
Jauche, sie sammelten Unterschriften und Der Plan scheiterte am Widerstand von
reisten zum Landwirtschaftsminister nach Wirtschafts-, Agrar- und Verkehrsministe-
Magdeburg. An der Messstelle im nahen rium. Einschlägige Interessenverbände hat-
Mein Haus. Meine Welt.
Uthmöden fanden sich im Jahr 2013 ten mobil gemacht: Der Bundesverband
536 Milligramm Nitrat pro Liter im Grund- der Deutschen Industrie warnte vor Wett-
wasser, mehr als das Zehnfache des zu- bewerbsnachteilen, der Bauernverband
lässigen Grenzwerts. „Früher haben wir wehrte sich gegen Hendricks’ Forderung,
hier die Wachteleier aus den Nestern ge- den Ökolandbau stärker zu fördern.
holt“, sagt Schoof, „heute gibt es auf den Nun verzichtet Hendricks vorerst auf
Feldern keine Rebhühner, keine Fasane, konkrete Vorgaben. Aber selbst den vor-
keine Kiebitze mehr.“ Statt Roggen, der liegenden, weichgespülten Plan wollen
verdirbt, wenn er zu viel Stickstoff be- ihre Widersacher blockieren – und sind
kommt, werden heute Raps und Mais aus- bei der Wahl der Mittel nicht zimperlich.
gesät, stickstoffunempfindliche Energie- „Das Umweltministerium hat das Vorha-
pflanzen. ben Stickstoffstrategie aufgegeben“, lässt
Auch die Gewinnung von Trinkwasser Verkehrsminister Alexander Dobrindt mit-
wird zunehmend zum Problem, wie der teilen. Das ist falsch. Diplomatischer heißt
Bericht des Umweltministeriums ausweist. es deshalb im Agrarressort, das Hauptpro- Werte schaŎen. Wohn- und
Immer schwieriger werde es, die Grenz- blem, die Nitratbelastung durch Gülle, wer-
de bereits durch die neue Düngerverord- Lebenskonzepte verwirklichen.
nung abgemildert. An der Abstimmung
über „verbliebene offene Punkte“ werde Mit hohen Qualitätsstandards
Kiel 65 sich das Ministerium „weiterhin kon-
struktiv beteiligen“. und dem umfassenden Service
Nun setzt Hendricks darauf, dass eines Baupartners, der weiß,
Hamburg 62 sich ihre Gegner von einem Argu-
ment überzeugen lassen, dem sie von was Sie wollen. weberhaus.de
jeher besonderes Gewicht beimes-
sen: der Wirtschaftlichkeit. Die Kos-
ten des Stickstoffeinsatzes würden
Berlin 52 EU-weit auf 70 bis 320 Milliarden
Euro pro Jahr beziffert, heißt es
in dem Hendricks-Report. Wenn
es so weitergehe, würden die
Folgekosten irgendwann den
Köln 63 Der Grenzwert ökonomischen Nutzen über-
im Jahresmittel für wiegen. Valerie Höhne,
Stickstoffdioxid Horand Knaup, Christoph Schult
beträgt 40 Mikro-
Darmstadt 55 gramm pro Alle Häuser – ein Prädikat.
Kubikmeter.
Weber-Häuser werden
Dicke Luft
Stickstoffdioxid-Belastung im wohnmedizinisch empfohlen.
Stuttgart 82 Jahresdurchschnitt 2016 und lokale
Höchstwerte in ausgewählten Städten;
in Mikrogramm pro Kubikmeter
bis >5 > 10 > 15
München 80 zu 5

Quelle: Umweltbundesamt
> 20 > 25 > 30 > 35

DER SPIEGEL 11 / 2017 41


Deutschland

„Das Lernen lernen“


Beschäftigung Was Joachim Möller, 64, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung,
von den SPD-Vorschlägen für ein neues Arbeitslosengeld hält
SPIEGEL: Herr Möller, SPD-Kanzlerkandi- verdoppeln. Droht da nicht SPIEGEL: Unstrittig ist, dass der
dat Martin Schulz schlägt vor, den Bezug eine neue Brücke in die Früh- digitale Wandel Berufe verän-

DANIEL KARMANN / PICTURE ALLIANCE / DPA


von Arbeitslosengeld für Arbeitslose zu verrentung? dert oder überflüssig macht.
verlängern, wenn sie an einer Qualifizie- Möller: Wenn die Pläne in diese Kann man das überhaupt mit
rung teilnehmen. Ist das ein Wahlkampf- Richtung gehen sollten, wäre Weiterbildung auffangen?
geschenk? das keine gute Idee. Das muss Möller: Fortbildung und Um-
Möller: Als ich zunächst von dem Vorschlag bei der Ausgestaltung berück- schulung werden wichtiger
gehört hatte, die Bezugsdauer des Arbeits- sichtigt werden. Einem über denn je. Wir müssen das aber
losengeldes zu verlängern, war ich sehr 60-Jährigen eine zweijährige auch schon in der Schule und
skeptisch. Umschulung anzubieten hat Forscher Möller bei der Ausbildung berücksich-
SPIEGEL: Warum? wenig Sinn. Anders ist das bei tigen. Wer nicht am Beginn sei-
Möller: Unsere wissenschaftlichen Unter- einem 50-Jährigen, der hat nes Arbeitslebens das Lernen
suchungen belegen, dass sich die Arbeitslo- schließlich noch 17 oder mehr Berufsjahre gelernt hat, wird später große Schwierig-
sigkeit tendenziell verlängert, wenn wir die vor sich. Da kann eine Umschulung durch- keiten haben, sich in neue Tätigkeitsfelder
Bezugsdauer erhöhen. Seitdem aber klar ist, aus Sinn haben, weil sie Effekte hat. einzuarbeiten. Und diese Fähigkeit wird
dass die Leistung nur dann länger gewährt SPIEGEL: Die Arbeitsmarktlage für ältere man künftig noch dringender benötigen.
werden soll, wenn der Betroffene eine Qua- Menschen hat sich verbessert, doch wenn Schon heute arbeiten etwa 50 Prozent der
lifizierung macht, sehe ich das sehr viel posi- sie arbeitslos werden, sind ältere doppelt Ausbildungsabsolventen nach zehn Jahren
tiver. Das Thema Qualifizierung hat gesell- so lange ohne Job wie jüngere. Was folgt nicht mehr in dem Beruf, den sie ursprüng-
schaftlich noch immer zu wenig Bedeutung. daraus? lich gelernt haben.
SPIEGEL: Warum dieser Sinneswandel? Möller: Nehmen Sie das Beispiel eines knapp SPIEGEL: Arbeitsministerin Andrea Nahles
Möller: Wir wissen, dass Qualifizierung Wir- 50-Jährigen, der eine zweijährige Umschu- will die Arbeitsverwaltung perspektivisch
kung zeigt. Gerade bei längeren Maßnah- lung macht. Der hat heute Anspruch auf zu einer Bundesagentur für Arbeit und
men, die bis zu zwei Jahren dauern, lässt zwölf Monate Arbeitslosengeld, und durch Qualifizierung ausbauen. Ist das Beitrags-
sich das deutlich belegen. Bei Menschen, die Qualifizierung verlängert sich dieser um geld damit gut angelegt?
die an solchen Maßnahmen teilgenommen weitere zwölf Monate. Mit dem Ende der Möller: Es ist ein Vorschlag, über den eine
haben, steigt die Vermittlungschance in ei- Umschulung ist sein Arbeitslosengeldan- Diskussion lohnt. Viele Menschen wollen
nen Job um bis zu 20 Prozent gegenüber spruch dennoch nahezu aufgebraucht, für wissen, wie sie im Berufsleben weiter-
vergleichbaren Arbeitslosen ohne Qualifi- ihn gibt es noch einen Monat Arbeitslosen- kommen können. Damit kein Irrtum ent-
zierungskurs. Frauen profitieren davon so- geld vor dem Übergang in Hartz IV. Oft steht: Weiterbildung sollte vor allem in
gar deutlich mehr als Männer. reicht ein Monat aber nicht aus, um eine den Betrieben stattfinden. Das ist die ef-
SPIEGEL: Bei älteren Arbeitslosen würde Arbeit in dem neuen Job zu finden. Da wür- fektivste Art. Man darf den Betrieben
sich die Bezugsdauer auf bis zu vier Jahre de eine Verlängerung nützen. nicht wegnehmen, was sie besser können.
Das wäre eine Fehlentwicklung. Aber da-
Schwer vermittelbar rüber hinaus gibt es Menschen, die sich
verändern wollen und müssen. Weiter-
Langzeitarbeitslose (länger als 12 Monate arbeitslos) in Deutschland bildung allein der Weiterbildung wegen
2,0 Mio. hat natürlich keinen Sinn. Die Qualifizie-
Anteil der Langzeitarbeitslosen rung muss ja nicht nur auf den Menschen
unter den Arbeitslosen der und seine Kompetenzen, sondern auch
Altersgruppe 55 Jahre und älter
1758 920 auf den Arbeitsmarkt und die Region zu-
2016 48,9% geschnitten sein. Da kann die Bundesagen-
1,5 Mio. tur helfen.
Anteil der Langzeitarbeitslosen SPIEGEL: Wie muss Qualifizierung und
an allen Arbeitslosen Weiterbildung künftig in einer digitalen
2016 36,9% Arbeitswelt aussehen?
Möller: Sie wird vielfältiger und differen-
1,0 Mio. zierter. In manchen Fällen werden viel-
993 073 leicht schon kleine Module, wie der Um-
gang mit bestimmten neuen IT-Technolo-
gien, ausreichen, um Erfolg zu haben. In
anderen Bereichen, in denen ganze Berufe
0,5 Mio.
durch Digitalisierung ersetzt werden, wird
man mit Umschulungen arbeiten müssen.
Eines ist sicher: In Zukunft werden sich
auch hoch qualifizierte Arbeitnehmer in
Industrie und Dienstleistung mit dem The-
Quelle: Bundesagentur für Arbeit
ma auseinandersetzen müssen.
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Interview: Markus Dettmer

42 DER SPIEGEL 11 / 2017


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Mord auf WhatsApp
Verbrechen Wie ein 19-Jähriger aus Herne über seine mutmaßlichen Bluttaten im Live-Chat
berichtete – und von Internetnutzern später bejubelt wurde.

J
adens älterer Bruder dachte sich nichts ... film it please“), andere verlangten nach Internet, dann ruft er die Polizei. Als die
dabei, als Marcel Heße am Montag mehr Perversion, in Worten, die nicht zi- eintrifft, hat Jadens Familie ihren toten
auftauchte. Er, Jaden und ein weiterer tierfähig sind. Gleichzeitig stieg die Zahl Jungen schon gefunden. Die Polizisten rei-
Nachbarjunge hatten schon oft mit Marcel vermeintlicher Beiträge von Heße – Fake- ßen seinen Stiefvater, der noch versucht,
gespielt, im Garten Stockkampf geübt. Nachrichten und falsche Fotos, die den di- ihn wiederzubeleben, von der Leiche
Was war also besonders daran, dass Marcel gitalen Voyeurismus bedienten. weg – sie halten ihn offenbar für den Täter.
fragte, ob ihm Jaden helfen könne, eine In Herne erweisen sich die Chatproto- So erzählt es Jadens Mutter.
Leiter aufzustellen? kolle von Heße nicht als Horrorfantasie. Sie ist eine Frau mit kurzen, dunklen
Der Bruder ließ den kleinen Jaden, ge- Die Unterhaltung mit seinem WhatsApp- Haaren, Tattoos auf der Haut, einem Na-
rade einmal neun Jahre alt, ziehen. Er soll- Freund beginnt am Vorabend der Tat. senring. Auf ihrem Facebook-Profil gibt
te ihn nie wieder lebend sehen. „Welche suizid methode findes du besser“, sie sich als Kämpferin im Leben, die schon
Lange blieb Jaden im Nachbarhaus. Als fragt Heße und schildert dann zwei so manchen Rückschlag verkraftet hat, die
die Mutter Jeanette F. und ihr Lebensge- Varianten. Sein Chatpartner glaubt an sich mit unterschiedlichen Jobs durch-
fährte nach Hause kamen und ihren Sohn einen Scherz. „Beides“, schreibt er, schlug.
nicht antrafen, klingelten sie bei den Nach- „doppelt hält besser.“ Er wünscht „viel Am Tag nach der Tat erzählt sie von ih-
barn. Als niemand die Tür öffnete, riefen Spaß“. rem Jungen, dem aufgeschlossenen, fröh-
sie Heßes Mutter an. „Es muss etwas Marcel Heße schickt ihm ein Foto von lichen Kind, das alle mochten. Das viele
Schlimmes passiert sein“, soll die Frau ge- scheinbar suizidtauglichen Gegenständen. Freunde hatte. Und sie spricht von Marcel
sagt haben. Jeanette F. und ihr Lebensge- „Ausrüstung“ nennt er das. Er wolle „nich Heße, dem dürren jungen Mann von ne-
fährte drangen von hinten in das Neben- heute du fisch“ zur Tat schreiten, sondern benan mit der Brille und den kurz gescho-
haus ein. Jaden fanden sie blutüberströmt renen Haaren. Dass er neidisch auf Jadens
im Keller.
Es ist ein besonders grausames Verbre-
Um 18.55 Uhr schießt er Beliebtheit gewesen sein könnte. Und dass
sie ihn schon lange für komisch gehalten
chen, das sich vergangene Woche in Herne ein Selfie. Er grinst habe.
im Ruhrgebiet abgespielt hat. Marcel Heße
soll sein Opfer, einen aufgeweckten Jungen
darauf. In seiner Hand Selbst Heßes Eltern, sekundiert ihre
Nachbarin, hielten ihren Sohn für psy-
mit blondem, etwas längerem Haar, so zu- hält er ein Messer. chisch krank. Er habe nervöse Zuckungen
gerichtet haben, dass selbst erfahrene Er- gehabt. Und sie habe gehört, dass er seine
mittler schockiert waren. am Folgetag. Nicht in der neuen Wohnung, Eltern oft angebrüllt und bisweilen regel-
Ungewöhnlich, verstörend ist aber auch, sondern in der alten. recht tyrannisiert habe.
wie ein Kindsmord zum Social-Media- Tatsächlich waren Heßes Mutter und Zu diesem Zeitpunkt fahndet die Polizei
Ereignis wurde. Marcel Heße berichtete ei- sein Stiefvater kürzlich umgezogen, nach bundesweit mit einem Großaufgebot nach
nem Bekannten nicht nur gleich nach der Gelsenkirchen. Marcel hatte dort schon ge- Heße. Am Dienstagnachmittag dann mel-
Tat über WhatsApp von dem mutmaß- schlafen. Aber er bewohnte auch noch das det sich jemand im gleichen Forum, in dem
lichen Mord. Er schickte auch Fotos als weitgehend ausgeräumte Reihenendhaus auch die ursprünglichen Bilder und Chats
Beleg mit. Der Bekannte informierte die in Herne, gleich neben Jadens Familie. veröffentlich wurden. Der Anonymus be-
Polizei. Und er stellte Screenshots der Von dort meldet sich der 19-Jährige am hauptet, er sei Marcel Heße und habe ein
Chats und die Bilder ins Internet, auf ein nächsten Abend wieder. „Kann kaum weiteres Opfer umgebracht. Eine Frau, es
anonymes Forum. grade laufen wegen den Rotwein“, schreibt sei sehr viel schwieriger gewesen, sie zu
Die Seite, auf der all das geschieht, dient er um 18 Uhr. Offenbar hat er die Lust töten als den Jungen. Er könne nicht sagen,
dem Austausch von Bildern. Nutzer ver- am Selbstmord verloren. „Wenn ich das wer es sei, weil er ihr unter Folter ihre Te-
öffentlichen ein Foto, eine Bildmontage heut nich hinkriege mach ich was knast- lefon- und Bankdaten abgepresst habe.
oder Grafik, andere kommentieren und würdiges“ Er schickt ein Bild, auf dem ein blutver-
diskutieren. 48 Minuten später schickt Heße dann schmierter Rücken zu sehen ist. Jemand
So schnell Beiträge entstehen, so schnell ein Bild, auf dem jemand einen Hammer hat einen Kugelschreiber in die Haut ge-
verschwinden sie unwiederbringlich. Por- in der Hand hält. Um 18.55 Uhr schießt er rammt. Ein handgeschriebener Zettel liegt
nografie, Sexismus und Rassismus ziehen ein Selfie: Er grinst darauf. In seiner blut- darauf, mit Datumsangabe und japani-
sich durch die Mehrheit der Kommentare. verschmierten Hand hält er ein Messer. schen Schriftzeichen. „Marcel“ steht dort,
Oft handelt es sich um Fälschungen und „Renn jetzt weg“, schreibt er. grob transkribiert.
Lügen. Mal sind sie plump, mal raffiniert, Dann folgen Bilder eines Kinderkörpers, Solche Zettel legen Nutzer Fotos bei,
manchmal auch in gutem Glauben ver- die zu schockierend sind, um sie zu be- wenn sie in einschlägigen Internetforen
schickt. Eine Moderation findet kaum statt, schreiben. In einem Papier schreibt die oder im Darknet zeigen wollen, dass es
nur selten werden Kommentare aktiv Polizei später, er habe mehr als 50-mal auf sich um ein echtes, aktuelles Bild handelt
durch die Betreiber gelöscht. sein arg- und wehrloses Opfer eingesto- und nicht um eine alte Aufnahme aus dem
Tausende Beiträge drehten sich um Mar- chen. „War total einfach“, schreibt Heße Netz. Schon im ersten Chat hatte Heße
cel Heße. Bisweilen im Sekundentakt frag- auf WhatsApp. Er postet ein Bild, auf dem eine neue Bluttat in Aussicht gestellt.
ten Nutzer sensationslüstern nach neuen jemand ein Messer abwäscht. „See you Mehr als 1000 Hinweise waren bei den
Fotos, Videos und verlangten Updates von space cowboy“, schreibt er. Ermittlern eingegangen. Die Polizei star-
„Marcel“. Manche jubelten ihm zu („cool Sein Gesprächspartner lädt all dies ins tete unter anderem Großeinsätze in Herne,

44 DER SPIEGEL 11 / 2017


Deutschland

im Raum Siegen, in Südwestfalen und an


einer Schule in Wetter an der Ruhr. Am
Donnerstagmorgen rückte ein Großaufge-
bot in Mönchengladbach in einem Kran-
kenhaus ein. Zeugen wollten ihn dort ge-
sehen haben, und in einem Kaufhaus und
an der Trabrennbahn. Mönchengladbach
passte zu den Webeinträgen zu der zwei-
ten, mutmaßlichen Leiche; er sei 80 Kilo-
meter von Herne entfernt, hatte Heße –
oder jemand, der sich für ihn ausgab – dort
geschrieben. Doch die Spur erwies sich
als falsch.
Nachbarn, Bekannte und ehemalige Mit-
schüler auf der Realschule und dem Be-
rufskolleg in Herne rätseln unterdessen
über die Motive des Verdächtigen.
Einhellig berichten sie von einem zu-
rückgezogenen Menschen. Heße sei einer,
der „in seiner eigenen Welt lebt“. Er habe
keine Freunde gehabt und auch keine ge-

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sucht. Von klein auf sei er von den anderen
gemobbt worden, erzählen manche. Wenn
man ihn angesprochen habe, dann habe
er zurückweisend reagiert.
In den Pausen, so ein ehemaliger Mit-
schüler auf der Realschule, habe Heße auf
dem Schulhof gesessen und gelesen: „Sei-
ne Nase hat immer in Büchern gesteckt.“
Ab und zu habe er einen Zauberwürfel in
der Hand gehabt und damit gespielt. Seine
Noten waren angeblich mittelmäßig, in
Tatort in Herne, Chatprotokoll: Nachbarn und ehemalige Mitschüler rätseln über die Motive Physik war er offenbar eher schlecht, in
Englisch eher sehr gut. Ohnehin soll er
sich für Sprachen interessiert haben: Spa-
nisch und Japanisch soll er gelernt haben,
heißt es. Ein dünner, zierlicher und ruhiger
Typ sei er gewesen.
Er zog sich Camouflagehemden und
-hosen an. „Der hatte einen richtigen Ar-
meefimmel“, sagen zwei weitere Mit-
schüler. Dazu passt, dass er offenbar
das Berufskolleg in Herne nach der Real-
schule freiwillig ohne Abschluss verließ –
um angeblich Zeitsoldat bei der Bundes-
wehr zu werden. Diese Angaben soll er
bei der Bundesagentur für Arbeit gemacht
haben. Nach SPIEGEL-Informationen
wurde er allerdings nicht bei der Truppe
genommen.
Doch es gibt auch Mitschüler und Nach-
barn, die von einer anderen Seite des 19-
Jährigen berichten: Er sei ein sehr sanfter
Mensch, „ein Engel auf Erden“. Heße habe
sich gern um die Kinder in der Straße ge-
kümmert, sagt ein Nachbarssohn. Er habe
immer darauf geachtet, dass Jaden sich
beim Stockfechten nicht verletze.
Am Donnerstagabend betrat Heße ei-
nen griechischen Imbiss in Herne und bat
darum, die Polizei zu rufen. Er sei der Ge-
suchte. Bei seiner Festnahme wies er die
Beamten auf eine brennende Wohnung in
der Nebenstraße hin. Dort entdeckte die
Polizei wenig später eine weitere Leiche.
Maik Baumgärtner, Jörg Diehl, Matthias Gebauer,
Marie Groß, Fidelius Schmid, Nico Schmidt

DER SPIEGEL 11 / 2017 45


Deutschland

Mama allein zu Haus


Psychologie Wenn erwachsene Kinder nicht ausziehen wollen, liegt das nicht nur
an unselbstständigen Nesthockern: Manche Eltern fürchten die Trennung.

E
in Traum, ein Albtraum von Familie: suchten sie, die Söhne und Töchter an den Wenn auch oft unbewusst fürchten sie
Mama, Papa und das Wunschkind – gemeinsamen Haushalt zu binden, um wei- einen elementaren Abschiedsschmerz.
so süß, dass die Eltern ihm bald terhin umfassend Einfluss auf deren Bio- „Empty-Nest-Syndrom“ heißt das Phäno-
nach der Geburt ins Ohr raunen, es könne grafie nehmen zu können, sagen die For- men; die aktuelle ICD-10, die „Internatio-
ewig bei ihnen bleiben. Und dann droht scher. Zudem erlaube das Zusammenleben nale Klassifikation der Krankheiten der
genau das: Der Sohn, inzwischen Dokto- mit erwachsenen Kindern, sich jünger zu Weltgesundheitsorganisation“ führt es als
rand der Sinologie, wohnt mit 28 Jahren wähnen, als man tatsächlich ist – was dem Umstand auf, der die Gesundheit beein-
immer noch zu Hause. Als er schließlich verbreiteten Jugendlichkeitskult entgegen- flussen kann.
widerstrebend auszieht, kehrt er wenig komme. Insbesondere alleinerziehende Mütter
später zurück – ein Nervenbündel, ge- Erwachsene Kinder stabilisieren Ehen, zeigen sich von diesem „Syndrom des lee-
scheitert am wahren Leben ohne Mama und sie sind, vor allem für Alleinerzie- ren Nestes“ betroffen. Sie empfinden sich,
und Papa. hende, erprobte Teamspieler im Alltag. wie einige es ausdrücken, plötzlich als alt
„Der Nesthocker“ heißt die Ki- und nutzlos. Manchmal verstärkt
nokomödie, die vor 16 Jahren mit der Auszug der Kinder vorhande-
den Mitteln der Komik jene Frage ne depressive Neigungen. In Ber-
stellte, die längst auch Therapeuten, lin hat sich eine Selbsthilfegruppe
Entwicklungspsychologen und Er- namens „Empty Nest Moms“ ge-
ziehungswissenschaftler ernsthaft gründet. In den USA treffen sich
beschäftigt. Was bloß hält so viele schon länger zahlreiche vergleich-
junge Erwachsene im elterlichen bare Runden.
Haushalt – obwohl sie doch schon Dass die Eltern dabei tatsächlich
lange eigenständig leben könnten? um seelische Gesundheit ringen,
Das Thema sei ein Dauerbrenner legt das Ergebnis einer Studie der
ihrer Generation, meint auch die London School of Economics mit
21-jährige Marie Unverzagt, die am mehr als 50 000 Personen über 50
Ende einer fast zwei Jahre andau- Jahren nahe. Väter und Mütter, de-
ernden Weltreise wieder bei ihrer ren erwachsene Kinder aus unter-
Mutter eingezogen ist (siehe Ge- schiedlichen Gründen wieder im
spräch rechts). „Vielen meiner Elternhaus einziehen, leiden sel-
Freundinnen fällt es ebenfalls ex- tener unter depressiven Stim-
trem schwer zu gehen.“ mungsschwankungen – auch des-
2,73 Millionen der 20- bis 39-Jäh- wegen, weil Mütter und Väter auf
rigen in Deutschland sind Statisti- die vertraute elterliche Identität
ken zufolge Nesthocker, auch jede zurückfallen und der oft mühevol-
fünfte Studentin und jeder vierte len Entwicklungsaufgabe, das Le-
Student. Die jungen Männer sind ben neu zu gestalten, erst einmal
ohnehin sesshafter; sogar unter entkommen.
den 40-Jährigen finden sich, so die Alles verständlich und dennoch
Zahlen des Statistischen Bundes- merkwürdig: Abnabelung ist ein
amtes, vier Prozent, die noch bei evolutionäres Programm, seit Ur-
den Eltern leben – im Vergleich zu zeiten. Eltern jedoch neigen heute
einem Prozent Frauen. Steigende oft dazu, Schuldgefühle bei ihren
IMAGO

Mieten, lange Ausbildungszeiten Töchtern und Söhnen auszulösen,


und unsichere Berufseinstiege er- Szene aus „Der Nesthocker“: Den Stuhl vor die Tür stellen sobald sich die Kinder von zu Hau-
schweren die eigene Haushalts- se entfernen. Häufig ist ihr Verhal-
gründung; der Übergang ins Erwachsenen- Auch die meist gute Stimmung wollen ten unbewusst. Aber stelle man erwachse-
dasein dauert länger als in früheren Gene- viele Eltern nicht missen: Einschlägige nen Kinder nicht irgendwann den Stuhl
rationen. Seit 1980 hat sich die Zahl der Untersuchungen wie die Shell-Jugendstu- vor die Tür, wie es der Erziehungswissen-
zu Hause lebenden volljährigen Kinder un- die belegen, dass sich die Generationen, schaftler Volker Ladenthin von der Uni-
ter 25 verdoppelt. Doch das Stereotyp des zumindest in den Milieus der Ober- und versität Bonn formuliert, hätten sie keine
komfortverliebten Dauergastes im Hotel Mittelschicht, ausnehmend gut verstehen. Chance, Selbstbehauptung und Unabhän-
Mama wankt. Es sind genauso die Eltern, Die Atmosphäre dort beherrscht jener gigkeit zu lernen.
die schlecht allein leben können – so lassen partnerschaftliche Erziehungsstil, der sich „Eltern reden einem 20 Jahre lang ein,
sich die Einschätzungen vieler Experten nach 1968 ausbreitete: Familienregeln wie wichtig Selbstständigkeit ist“, so sagt
zugespitzt zusammenfassen. Zahlreiche werden eher ausgehandelt als autoritär es die 21-jährige Marie: „Sie bereiten einen
Mütter und Väter wollen ihre Kinder so verfügt. die ganze Zeit auf den Sprung vom Zehn-
lange wie möglich bei sich wissen. Und so hindern grundlegende Verlust- meterbrett vor – und am Ende lassen viele
Weil Eltern ihr Selbstbild häufig vom ängste viele Mütter und Väter daran, ihre ihr Kind nicht einmal gern auf das Einme-
Erfolg der Kinder ableiten würden, ver- Kinder beherzt in die Welt zu schicken. terbrett.“ Katja Thimm

46 DER SPIEGEL 11 / 2017


WERNER SCHUERING / DER SPIEGEL
Mutter, Tochter Unverzagt am Schloss Sanssouci

„Das ist Loriot pur!“


Familie Marie und Gerlinde Unverzagt, Tochter und Mutter, diskutieren, warum sie noch
zusammenwohnen und wer schlechter loslassen kann: Kinder oder Eltern?

Marie Unverzagt, 21 Jahre alt, möchte Medi- sonst spaziere ich zum Beispiel so gern Tochter: Denk mal an neulich! Ich wollte
zin studieren und absolviert zurzeit ein Pfle- durch Schlösser. Und sosehr ich solche Mo- von morgens bis abends einfach auf dem
gepraktikum, sie ist eines von vier Kindern mente genieße: Trotzdem befremdet mich Bett liegen bleiben und Serien gucken.
der Sachbuchautorin Gerlinde Unverzagt, 56. die Gemeinsamkeit. Um zehn Uhr geht zum ersten Mal die
In deren neuem Buch geht die alleinerzie- Tochter: Wieso denn das? Tür auf: „Marie, möchtest du einen Kaf-
hende Mutter der Frage nach, warum junge Mutter: Meine Freunde und ich waren viel fee?“ Klingt nett, ist aber natürlich als Sig-
Erwachsene wie Marie ihr Elternhaus nur zö- mehr auf Distanz bedacht – zu unseren El- nal zum Aufstehen gemeint. Um elf dann:
gerlich verlassen – und welche Rolle Mütter tern, zu deren Lebensstil. Ich wollte so „Marie, willst du ein Frühstück?“ Um
und Väter dabei spielen*. schnell wie möglich zu Hause ausziehen. zwölf: „Hast du heute eigentlich noch et-
Ob das Leben dadurch unbequemer wer- was vor?“ Und am nächsten Tag dann der
SPIEGEL: Marie, Sie sind 20 Monate lang al- den würde, stand nicht einmal als Frage Satz: „Ich kann mich ja nicht den ganzen
lein um die Welt gereist – und dann zu Ih- im Raum. Und nun sehe ich dein Zimmer Tag ins Bett legen und Serien gucken!“
rer Mutter in die gemeinsame Berliner hier: ein bürgerlicher Mädchentraum mit Dabei sagst du immer, man soll auf sein
Wohnung zurückgekehrt. Fühlen Sie sich Blumengirlande und verspieltem Eisenbett. Bauchgefühl hören, genau das habe ich
gar nicht erwachsen? Bei mir stapelten sich Apfelsinenkisten, die getan.
Marie Unverzagt: Gemeine Frage. Und die Matratze lag auf dem Boden, wir hatten Mutter: Mein Ratschlag bezog sich auf
Antwort darauf ist nicht eindeutig. Ich mer- das Haus besetzt, und dass es ein einziger wichtige Entscheidungen.
ke jeden Tag mindestens einmal, dass es Saustall war, störte mich nicht. Ich mochte Tochter: Es war wichtig. Ich hatte eine an-
Zeit wäre zu gehen. Gleichzeitig möchte ich meine Eltern letztlich gern, aber ich wollte strengende Woche. Ich weiß, es klingt

19 %
aber unbedingt noch bleiben: Die Welt da ihrem Einfluss und ihren weinerlich und bestätigt die
draußen ist natürlich weniger geborgen! Kommentaren entkommen. gängigen Vorurteile, aber ich
Hier ist die Wäsche gewaschen und gebügelt, Tochter: Das Gefühl kenne finde Jungsein anstrengend.
der Kühlschrank gefüllt, ich zahle nichts, all ich – und es überfällt mich Ich arbeite im Praktikum 40
das ist verführerisch bequem. Und das Le- regelmäßig. Genau dann der 25- bis 34-Jährigen Stunden in der Woche ohne
ben ist gemeinsam oft viel schöner, mein merke ich, dass es doch nicht in Deutschland leben noch bei Lohn und weiß nicht einmal,
18-jähriger Bruder lebt ja auch noch hier. ewig so weitergehen kann ihren Eltern. ob ich im Herbst zum Studi-
Gerlinde Unverzagt: Zwiegespalten bin ich mit uns. Du behandelst mich um zugelassen werde. Über-
auch. Wir hatten ja nie so ernsthafte Kon- manchmal, als wäre ich 13 all Konkurrenz, überall Leis-
flikte, dass mir der Gedanke an deinen Jahre alt, als stünde ich selbst tungsdruck, selbst in den
Auszug wie eine Erleichterung vorkom- als Erwachsene noch unter sozialen Netzwerken erwar-
men müsste. Und wir haben das Glück, deiner Fuchtel. Unerträglich. tet jeder, dass ich prompt
viele Interessen zu teilen, mit niemandem Mutter: Es wird dir schwer- reagiere.
fallen zu glauben, aber ich 2015,
Mutter: Weißt du, was ich
* Gerlinde Unverzagt: „Generation ziemlich beste halte mich meist schon ex- Quelle: neulich gedacht habe, als du
Freunde“. Beltz Verlag; 256 Seiten; 16,95 Euro. trem zurück. Eurostat abends über Müdigkeit ge-
DER SPIEGEL 11 / 2017 47
Deutschland

klagt und die verbleibenden Stunden mit Tochter: Aber wenn dich das dermaßen är- die Lücke füllen willst, die wir hinterlas-
schlechter Laune bestritten hast? gert – warum sagst du nichts? sen. Während bei uns so viel Neues be-
Tochter: Sag’s einfach. Mutter: Gute Frage. Einerseits ist da mein ginnt, läuft es bei dir ja eher in die andere
Mutter: „Dann trink halt einen Kaffee Unverständnis über euer Verhalten. Aber Richtung.
und geh putzen! Dann weißt du, was Ar- andererseits – und vor allem – nagt an mir Mutter: Richtung Grab, meinst du. Deine
beit ist.“ jetzt schon der Trennungsschmerz. Ich Fürsorge rührt mich. Ich empfinde sie al-
Tochter: Ernsthaft jetzt? möchte es euch zu Hause so gemütlich ma- lerdings auch als ein schillerndes Argu-
Mutter: Das ist ein bisschen ungerecht, zu- chen, dass ihr noch ein bisschen bleibt. Ich ment, die eigene Bequemlichkeit rechtfer-
gegeben, du leistest ja viel. Aber mein Pen- ertappe mich dabei, dass ich euer Verhal- tigen zu können. Das Leben ohne euch
sum kommt mir nicht kleiner vor, zumal ten hinnehme oder mir sogar einrede, es wird ja auch Vorteile bringen. Ich werde
die ganze Hausarbeit für mich liegen sei amüsant, obwohl ich es in Wahrheit Klavier spielen können, wann ich will. Ich
bleibt. Auf Augenhöhe – und dort wollt höchst kritikwürdig finde. Ihr tragt mich werde nackt vom Bett ins Bad laufen, ohne
ihr erwachsenen Kinder ja sein – wäre un- vom Klavier weg, weil ihr die Klimperei dass jemand wie angeekelt aufschreit.
ser Alltag, wenn wir die Aufgaben wie in nicht mehr hören mögt – ich lache. Ihr Tochter: Ich hoffe, ich irre mich, aber ich
einer WG teilen würden. Aber wenn der lasst mich alle Einkaufstüten vier Stock- halte das für Anfangseuphorie. Ich kenne
Kühlschrank leer ist, wartet ihr wie Grund- werke allein hochtragen – und ich lege so viele Geschichten von Eltern, die kaum
schüler weiterhin darauf, dass ich einkaufe. euch, oben angekommen, ein Überra- damit klarkommen, wenn die Kinder sich
Tochter: Sei ehrlich, Mama! Du hast dich schungsei hin. Wenn ich darüber nachden- entfernen. In Neuseeland habe ich ein
doch so an die Rolle der Hausherrin ge- ke, finde ich mich leicht irre. Ich befördere, Mädchen aus Estland getroffen, das jeden
wöhnt, dass du Putzpläne und wechselnde dass ihr euch benehmt, wie ihr wollt. Abend mit seiner Mutter skypen musste,
Küchendienste gar nicht aus- weil die es sonst nicht ausge-
halten würdest. Du müsstet ja halten hätte. Überhaupt sa-
akzeptieren, dass nicht alles ßen in den Backpackerhotels
haargenau nach deinen Vor- lauter Leute abends vor ihren
stellungen erledigt wird. iPads, die ausschließlich mit
Mutter: Meine erwachsenen ihrer Familie zu Hause be-
Kinder sollen von allein mer- schäftigt waren. Und hinter-
ken, dass die Milch alle ist her hatten sie Heimweh, weil
und für Nachschub sorgen. sie bei Opas oder Omas Ge-
Das war ein Erziehungsziel: burtstagsfeier fehlten.
Ihr sollt die Bedürfnisse an- Mutter: Diese digitale Dauer-

WERNER SCHUERING / DER SPIEGEL


derer – auch meine – erken- präsenz erinnert einen ständig
nen, respektieren und Verant- daran, dass man sich gegen-
wortung übernehmen. Ich seitig vermisst, das stimmt.
möchte nicht mehr die Rolle Meine Eltern und ich hatten
der Gouvernante spielen und es da einfacher: An der Stra-
erwachsene Menschen darauf ßenecke stand eine Telefon-
hinweisen, dass Tassen mit zelle, da marschierte ich alle
angetrockneten Kaffeeresten Studienanwärterin Unverzagt: Bürgerlicher Mädchentraum zwei Wochen mit einer Hand
besser nicht zuhauf im Zim- voller Münzen hin.
mer herumstehen. Ich schweige viel öfter, Tochter: Ich gebe zu, dass ich deine Ab- Tochter: Am Ende hattest du es vielleicht
als du annimmst. schiedsangst manchmal ausnutze: Wenn wirklich leichter. Klarere Grenzen zwi-
Tochter: Was meinst du jetzt damit? ich Aufmerksamkeit möchte, brauche ich schen den Generationen, klarere Ver-
Mutter: Na ja. Kürzlich war so ein Moment, nur diese Karte zu ziehen. Aber es ist ja hältnisse – das fehlt mir durchaus. Wir
da habt ihr, du und dein Bruder, verkün- nicht so, dass mir dein Trennungsschmerz Jungen wären dann immerhin den Druck
det, in dieser Wohnung solle niemand Sex das Leben nur angenehmer macht. Ich los, uns ständig für euer Seelenleben
haben, mich eingeschlossen. Ich hätte dich komme oft abends zum Essen nach Hause, mitverantwortlich zu fühlen. Im Moment
am liebsten vor die Tür gesetzt. Das muss obwohl ich gar nicht möchte – damit du werden wir doch überall mit den Befind-
ich nun wirklich nicht mit meiner Tochter nicht allein am Tisch sitzt und dich schlecht lichkeiten eurer Generation konfrontiert.
absprechen – so habe ich gedacht. Gesagt fühlst. Ich fühle mich auf eine verwirrende Ihr wollt ewig fit und jung sein, euch
habe ich nichts. Art verantwortlich für dich, selbst an Ta- neu erfinden, iPhones benutzen, obwohl
Tochter: Ja hallo! Wer hätte gedacht, dass gen wie Silvester, an denen man eher mit ihr die Tastatur eigentlich zu klein findet,
dich diese Regel so stören könnte? Wir be- Gleichaltrigen feiert. Weißt du eigentlich, und am liebsten dieselbe Kleidung tragen
kommen in diesen Altbauzimmern sonst wie es dazu kam, dass wir letztes Mal mit wie wir. Ihr rennt mit uns in die Hörsäle,
schon alles voneinander mit, das muss nun dir in der Runde gefeiert haben? Ich habe bis dort kein Platz mehr ist, beschwert
nicht auch noch sein. die Gastgeber darum gebeten. euch aber, wenn wir keinen Studienplatz
Mutter: Aber deshalb dürft ihr mir doch Mutter: Das ist Loriot pur! Ich hatte alle in eurer Nähe zugewiesen bekommen.
keine Vorschriften für mein Liebesleben Einladungen vorher ausgeschlagen, weil Und gleichzeitig traut ihr uns ein eigen-
machen – in einer Wohnung, aus der ihr ich Silvesterfeiern ja gar nicht mag. Dann ständiges Leben offenbar nicht zu. Lasst
schon ausgezogen sein könntet. Ich kom- wolltest du mich mitschleppen und ich dich uns doch mal unsere eigene Welt. Dann
me mir vor wie in einer verkehrten Welt: nicht enttäuschen. ziehen wir bestimmt auch schneller aus.
Ich habe früher meine Freunde am Schlaf- Tochter: So weit der Beweis, Mama: Reden Interview: Katja Thimm
zimmer meiner Eltern vorbeigemogelt und hilft doch! Das nächste Mal feiere ich allein
vorher instruiert, welche Treppenstufe mit Freunden. Aber im Ernst: Jedes Mal, Video: Was Kinder zu
knarrt, weil Jungenbesuch superverboten wenn ich an eine eigene Wohnung denke, Nesthockern macht
war. Und jetzt verhält sich meine Tochter komme ich mir vor, als nähme ich dir den spiegel.de/sp112017nesthocker
so spießig wie damals meine Eltern. Lebensinhalt weg. Ich frage mich, wie du oder in der App DER SPIEGEL

48 DER SPIEGEL 11 / 2017


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Missbrauch Etwa jeder siebte Deutsche erfuhr in seiner Kindheit und Jugend sexuelle Gewalt,
zeigt eine neue Studie. Die Opfer leiden oft auch unter längerfristigen körperlichen Folgen.

M
arkus Diegmann kann in weißer
Bettwäsche nicht einschlafen. Er
findet darin keine Ruhe, erzählt
er. Also schleppte er in jeden Urlaub, auf
jede Dienstreise einen Schlafsack mit,
ohne so recht zu verstehen, warum.
Bis die Erinnerungen detaillierter zu-
rückkamen. Da sah Diegmann wieder die-
sen nackten Mann vor sich, auf dem Bett
mit weißer Bettwäsche. Davor steht ein
kleiner blonder Junge, fünf Jahre alt, das
ist Diegmann selbst.
Er sagt, dass er als Minderjähriger miss-
braucht wurde und bis heute an den Folgen
leidet. Er ist jetzt 51 Jahre alt, ein hagerer
Mann, Halbglatze, die restlichen Haare
kurz rasiert. Er sitzt in seinem Wohnmobil,
sein Hund rutscht immer dann näher an
ihn heran, wenn sich in seinen Augen Trä-
nen sammeln.
Vor fast 30 Jahren ging Diegmann das
erste Mal zur Polizei, doch seine Angaben
waren nicht präzise genug und die Taten
verjährt. Seit knapp vier Jahren kann Dieg-
mann sich sehr detailliert erinnern. Auch
an das, was der Sohn der Untermieterin,
gerade volljährig, mit ihm gemacht habe,
sagt Diegmann. Über sieben Jahre hinweg
habe der ihn vergewaltigt, immer wieder.
Einer seiner Brüder bestätigt die Taten
und sagte mit ihm bei einer Anhörung aus.
Eine Psychotherapeutin bescheinigt Dieg-
mann eine posttraumatische Belastungs-
störung mit depressiven Episoden sowie
eine Borderlinestörung. Sie beschreibt
auch die Ursache: „Herr D. wurde in sei-
ner Kindheit über Jahre sexuell von mehr
als einem Täter missbraucht.“ Er kannte
die Menschen, die ihm Gewalt antaten. Ex-
perten sprechen von sexueller Gewalt im
familiären Umfeld.
Mit den Folgen des Missbrauchs haben
die Betroffenen nicht selten ein Leben lang
zu kämpfen. Diegmann ist mittlerweile ar-
beitsunfähig. Seinen Job als selbstständiger
IT-Experte kann er nicht mehr ausüben,
nun muss er sich Therapien erkämpfen
und von 800 Euro netto leben.
Zwar haben die Missbrauchsskandale in
der katholischen Kirche und in der reform-
pädagogischen Odenwaldschule, die 2010
die Republik erschütterten, zu Verände-
„Ich will nicht rumsitzen, allein, mit den Erinnerungen. rungen geführt. Die Politik hat Verjäh-
MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL

Ich will, dass die Verjährungsfristen abgeschafft werden.“ rungsfristen verlängert, Gesetze verschärft,
Geld für Studien und Entschädigungen be-
reitgestellt, mehr Prävention angemahnt.
Missbrauchsopfer Diegmann Aber solche Ansätze greifen vor allem
langfristig. Und noch nimmt die Zahl der
minderjährigen Missbrauchsopfer offenbar
50 DER SPIEGEL 11 / 2017
Deutschland

weiter zu. Zu diesem Ergebnis kommt eine schaftlichen Beirat des Familienministe- brauch erlebten, leiden doppelt so oft an
Studie des Universitätsklinikums Ulm, die riums vor und leitet das Ulmer Zentrum starkem Übergewicht, haben fast dreimal
nächste Woche vorgestellt wird. In einer für Traumaforschung. Er drängt auf mehr so häufig Diabetes und annähernd doppelt
repräsentativen Umfrage unter Einwoh- Prävention: „Die Fragen des Kinderschut- so oft Bluthochdruck. Auch wird bei ihnen
nern ab 14 Jahren gaben 13,9 Prozent an, zes bleiben eine Daueraufgabe.“ sechsmal häufiger Krebs und viermal häu-
als Kind oder Jugendlicher missbraucht Als Grundlage seiner Studie dient das figer ein Herzinfarkt diagnostiziert. Sie be-
worden zu sein. 2010 hatte eine Studie mit „Childhood Trauma Questionnaire“, ein richten mehr als dreimal so oft von chro-
derselben Methodik noch einen Wert von Fragebogen, mit dem emotionale und kör- nischen Schmerzen. Missbrauchsopfer ver-
12,6 Prozent ergeben. Zugenommen hat perliche Vernachlässigung sowie Misshand- letzen sich außerdem weitaus öfter selbst
insbesondere die Zahl der Menschen, die lungen erfasst werden. Das Sozialfor- und unternehmen häufiger Suizidversuche.
ihren Antworten zufolge schwer miss- schungsinstitut Usuma ging mit dem For- Andrea Hein hat viele Symptome bei
braucht wurden, von 6,2 auf 7,6 Prozent. mular Ende vergangenen Jahres in ganz sich beobachtet: Kopfschmerzen, Schwin-
Etwa jeder Siebte in Deutschland hat Deutschland klingeln, rund 2500 Menschen del, Panikattacken. Bei bestimmten Gerü-
demnach in seiner Kindheit oder Jugend antworteten, Alters- und Geschlechtsver- chen werde ihr übel, Naturjoghurt etwa.
sexuelle Gewalt erlebt. Besonders häufig teilung decken sich weitgehend mit der in „Die Konsistenz“, sagt sie und schüttelt an-
stammt der Täter aus der eigenen Familie der Gesamtbevölkerung. gewidert den Kopf. Manchmal könne sie
oder dem Umfeld. Wegen der schwierigen Die Befragten mussten 28 Aussagen be- den Mund kaum öffnen, die Muskeln im
Beweislage kommen solche Täter oftmals werten, fünf davon zu Missbrauch. Gefragt Gesicht schliefen einfach so ein. Dazu die
ohne Strafe davon. Außerdem schweigen wird etwa, ob während Kindheit und Ju- Träume, in denen jemand vom unteren
viele Betroffene, weil sie die Familie nicht gend jemand drohte, „mir wehzutun oder Bettende auf sie draufsteigt.
auseinanderreißen wollen. Hein heißt eigentlich an-
Die psychischen Folgen kön- ders, sie möchte ihren Na-
nen besonders schwer sein, men nicht nennen. Sie sagt,
weil der Missbrauch durch na- der Missbrauch durch einen
hestehende Personen die Fä- Freund ihres Vaters habe jahr-
higkeit der Kinder beschädigt, zehntelang nicht ihr Leben
anderen zu vertrauen. Betrof- bestimmt, so schien es je-
fene leiden auch körperlich: denfalls. Als Unternehmens-
Sie erkranken häufiger an beraterin war sie erfolgreich,
chronischen Krankheiten und bis die körperlichen Sympto-
an Krebs. Außerdem geraten me immer stärker wurden.
sie eher in soziale Schieflagen, Dann wollte sie sich selbst-
weil sie für längere Zeit er- ständig machen, um in etwas
werbsunfähig sind. ruhigerem Tempo weiterzu-
Die neue Studie ist auch arbeiten. Die Arbeitsagen-
DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL

deshalb wichtig, weil sie Aus- tur verweigerte ihr jedoch


sagen des bekannten Krimi- die Fortbildung, sie sei dafür
nologen Christian Pfeiffer in- viel zu krank, habe man ihr
frage stellt. Der hatte vor mitgeteilt. Sie wandte sich
sechs Jahren verkündet, die an die Rentenversicherung,
Zahl der Betroffenen sei ge- wollte Erwerbsminderungs-
sunken, auf 6,2 Prozent. Fast rente. Doch die Rentenversi-
alle Medien griffen die Studie Missbrauchsopfer Hein: Kopfschmerzen, Schwindel, Panikattacken cherung teilte ihr mit, sie sei
auf, das „Deutsche Ärzte- fit genug, um zu arbeiten.
blatt“ meldete: „Sexueller Missbrauch an Lügen über mich zu erzählen, wenn ich Hein klagte, ohne Erfolg. Seit sieben Jah-
Kindern zurückgegangen“ – und zitierte keine sexuellen Handlungen mit ihm aus- ren geht es hin und her.
Pfeiffer: „Entgegen aller Erwartungen ist führe“. Oder ob jemand „mich drängte, Betroffene berichten oft, es sei fast un-
der sexuelle Missbrauch an Kindern und bei sexuellen Handlungen mitzumachen möglich, Hilfe und Entschädigungen zu be-
Jugendlichen drastisch zurückgegangen.“ oder bei sexuellen Handlungen zuzuse- kommen. Die Krankenkassen limitierten
Präventionsexperten erlebten danach, hen“. Ob dies zutreffe, wurde gefragt, und die Zahl und die Dauer von Therapien.
dass Schulleiter ihre Angebote mit dem Hin- wenn ja, wie häufig das vorgekommen sei. Und eine entsprechende Reform des Op-
weis ablehnten, das Problem werde ja ge- Fegert hält es für möglich, dass der An- ferentschädigungsgesetzes steht aus.
ringer. Dabei kritisierten Experten Pfeiffers stieg damit zusammenhängt, dass Men- Die Unabhängige Kommission zur Auf-
Studie heftig, methodisch sei sie nicht sau- schen heute eher über Missbrauch spre- arbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat
ber. Pfeiffer widerspricht: „Die Studie ist chen als früher. Andererseits sei das The- es sich zur Aufgabe gemacht, diese Pro-
valide.“ Und: „Sie sollte freilich niemanden ma in der Vergleichsstudie 2010 wegen der bleme zu benennen und zu beseitigen. Die
dazu veranlassen, die Hände in den Schoß Skandale weitaus präsenter in der öffent- Bundesregierung hatte die Gruppe nach
zu legen.“ Sexueller Missbrauch müsse wei- lichen Debatte gewesen. Die polizeiliche dem Vorbild ähnlicher Kommissionen im
terhin entschieden bekämpft werden. Kriminalstatistik, die Anzeigen erfasst, Ausland ins Leben gerufen, um Miss-
„Von Entwarnung konnte und kann zählt seit 2010 eine nahezu gleichbleibende brauchsstrukturen besser zu verstehen und
keine Rede sein“, sagt Professor Jörg Fe- Zahl von Fällen. 2015 wurden deutschland- eventuelle Reformen anzugehen. Seit Sep-
gert von der Uniklinik Ulm, der die aktuel- weit 13 327 mutmaßliche Fälle wegen Miss- tember führen dort psychologisch geschul-
le Studie verantwortet, „sexueller Miss- brauch von Minderjährigen registriert. te Mitarbeiter zweistündige Gespräche mit
brauch nimmt in Deutschland nicht ab.“ Die Ulmer Studie zeigt zudem, wie sich Betroffenen, die sich gemeldet haben. Sie
Stattdessen „muss man leider von einem sexuelle Gewalt auch körperlich auswirken lassen sich vom Missbrauch und den Fol-
zunehmenden Trend sprechen“, so Fegert. kann (siehe Grafik Seite 52). Menschen, gen erzählen, anschließend schreiben sie
Der Kinderpsychiater sitzt dem wissen- die in Kindheit oder Jugend schweren Miss- einen Bericht. Knapp 860 Menschen haben
DER SPIEGEL 11 / 2017 51
IN DER SPIEGEL-APP

sich angemeldet, 111 Gespräche wurden

DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL


geführt. 148 Betroffene haben schriftliche
Berichte eingeschickt.
Anders als Opfer aus kirchlichen Ein-
richtungen, Internaten oder Heimen schlie-
ßen sich Menschen, die im familiären
Umfeld missbraucht wurden, weniger zu-
sammen, weil sie keinen Kontakt zueinan-
der haben. Deswegen veranstaltete die Missbrauchsopfer Stein
Kommission Ende Januar zum ersten Mal „Stahlplatte zwischen Kopf und Körper“
eine öffentliche Anhörung, bei der Betrof-
fene ihre Geschichten auf einer Bühne er- engagierte sich jahrzehntelang ehrenamt-
zählten. lich beim Kinderschutzbund. Er ist ein zu-
Bundesfamilienministerin Manuela vorkommender Mann mit freundlichen Au-
Schwesig (SPD), die in der ersten Reihe gen, der sich gut ausdrücken kann. Fragt
saß, war von den Schilderungen so berührt, man ihn nach den Dingen, die sein Vater
dass sie versprach, sich für Missbrauchs- ihm angetan hat, definiert er erst einmal
opfer stärker einzusetzen. Vergangene Wo- das Wort Missbrauch, bevor er konkreter
che hat das Familienministerium zugesagt, wird. Irgendwann sagt er: „Letztendlich
die Gelder der Aufarbeitungskommission bin ich dazu gekommen, meinem Vater zu
so aufzustocken, dass insgesamt 550 An- vergeben.“
hörungen finanziert werden können. Es dauerte Jahrzehnte, bis Stein das
Jürgen Wolfgang Stein wurde bereits an- konnte. Lange fühlte er sich wie taub: „Es
gehört. Auch er wollte seine Geschichte zu war, als hätte ich zwischen Kopf und Kör-
Papier bringen, erzählen, was der Vater per eine Stahlplatte, die Gefühle blieben
ihm und seiner Schwester angetan hat. unten und mein Kopf wusste nichts von
Stein war noch im Kindergartenalter, als ihnen.“ Stein studierte Psychologie, ab-
es anfing. Der Vater, ein ehemaliger Kriegs- solvierte eine Ausbildung als Kinderpsy-
marinesoldat, war Trinker, oft arbeitslos, chotherapeut und setzte sich lange mit
er schlug. Und er verlangte von seinen Kin- sich selbst und dem Missbrauch auseinan-
dern, ihn zu befriedigen, verging sich an der, auch in 240 Stunden Psychoanalyse.
ihnen. Zwölf Jahre dauerte die Tortur, die Am Ende traf er den Vater, sah einen
Mutter wusste vom Missbrauch, stoppte ihn „schmächtigen Mann in schlecht sitzendem
aber nicht. Irgendwann zeigte er den Vater Anzug, dem ich vieles voraushatte“. Nach
an. Fünf Jahre saß der daraufhin im Ge- zwei Stunden verabschiedete er sich – und
fängnis, für damalige Verhältnisse eine lan- sah den Vater nie wieder.
Der Wahr-Sager ge Strafe. Damit auch andere sich vom Missbrauch
Stein, heute 63 Jahre alt, arbeitet beim und den Folgen lösen können, müsse der
Künstler sein in Gaza – das bedeutet Familienministerium in Sachsen-Anhalt, Staat dauerhaft Hilfe bereitstellen, sagt der
vor allem Kampf gegen die Zensur. Missbrauchsbeauftragte der Bundesregie-
Wer sich nicht den religiösen Regeln rung Johannes-Wilhelm Rörig. Es dürfe
beugt, wird von der Hamas bestraft.
Auffälligkeiten bei Opfern von nicht sein, dass die Kommission, der Be-
Doch Mohammed Elsusi lässt sich nicht sexuellem Missbrauch troffenenrat, er selbst und sein Stab, aber
laut einer Umfrage*, Angaben in Prozent auch der Hilfsfonds für Opfer immer wie-
einschüchtern: Mit seinem Bruder der um ihre Finanzierung bangen müssten.
schwerer Missbrauch
rappt er über und gegen die Regierung – zum Vergleich: kein Missbrauch Rörig hofft, dass sich die Befristung mit
und will mit seinen offenen Worten Bluthochdruck der nächsten Legislaturperiode ändert, er
der bekannteste Hip-Hop-Produzent der 40,7 hat den Parteivorsitzenden von CDU, SPD,
arabischen Welt werden. 22,8 Grünen und Linken geschrieben.
Fettleibigkeit Markus Diegmann, dem Mann mit dem
Sehen Sie die Visual Story im digitalen 31,5 Schlafsack, dauert das zu lange. „Ich will
15,4 nicht rumsitzen, allein, mit den Erinnerun-
SPIEGEL oder scannen Sie den QR-Code. gen“, sagt er. Seit Januar reist er mit sei-
Krebs
23,1 nem Wohnmobil durch Deutschland, steht
3,9 jedes Wochenende auf einem anderen
Diabetes mellitus Marktplatz. Er will aufmerksam machen.
16,7 Und er sammelt Unterschriften: „Ich will,
6,1 dass die Verjährungsfristen abgeschafft
Herzinfarkt werden.“ Lange Zeit begann die Frist
9,4 mit der Volljährigkeit zu laufen, seit 2015
2,2 beginnt sie erst ab dem 30. Lebensjahr
Selbstverletzung der Betroffenen. Diegmann möchte, dass
25,5 Missbrauch genauso wenig verjährt wie
2,0 Mord. „Etwa 5000 Unterschriften habe ich
Suizidversuch schon“, sagt er. Zum ersten Mal lächelt er.
14,3 Ann-Katrin Müller
J E TZ T DI G I TAL L E S E N 1,2 * Studie des Universitätsklinikums Ulm 2017
Mail: ann-katrin.mueller@spiegel.de

52 DER SPIEGEL 11 / 2017


Deutschland

Flirt mit
Dann ließ sie sich Männer und Frauen Die großen deutschen Parteien planen
aus dem Kanton Bern, ihrem Wahlkreis, nicht, Tinder im Bundestagswahlkampf
anzeigen und wischte alle nach rechts – einzusetzen. „Wir konzentrieren uns der-

dem Wähler
bei Tinder das Zeichen, dass man an einem zeit auf Facebook, Twitter, Instagram und
Kontakt interessiert ist. Wenn die anderen Snapchat“, heißt es aus der CDU-Zentrale.
ebenfalls nach rechts wischen, gibt es ein Die SPD schreibt: „Wir planen derzeit kei-
Match, und man kann kommunizieren. nen Einsatz von Tinder im Wahlkampf“,
Wahlkampf Jungpolitiker wollen Tredes Plan: mit jedem Match chatten und für einzelne Kandidaten könne dies aber
ihn oder sie zum „Bier mit mir“ einladen, „durchaus ein lohnender Wahlkampf-Gag“
Menschen, die sich nicht für Politik ihrer Wahlkampfveranstaltung. sein. Tatsächlich ist der Einsatz von Tinder
interessieren, mit der Dating- Politik inmitten potenzieller Partner, für solche Kandidaten besonders geeignet,
das gefällt nicht allen: Tredes Tinder- die Lust auf Dialog mit der jüngeren Ziel-
App Tinder erreichen – ein Modell Account wurde schnell vom Unternehmen gruppe haben.
für die Bundestagswahl? blockiert, andere Nutzer hatten sie ge- Denn wer mit potenziellen Wählern
meldet. Bei Freier-Winterwerb beschwerte kommunizieren will, braucht Zeit. Erstens

A
lexander, 29, Dreitagebart, dazu sich eine Frau persönlich: Sie finde die muss er möglichst viele Profile nach rechts
Sakko, Hemd, verträumtes Lächeln. Tinder-Aktion blöd und wolle deswegen wischen. Zweitens muss er mit den Men-
Eigentlich ein ganz normales Pro- doch nicht wie geplant SPD wählen. Auch schen hinter den Profilen dann auch per-
filbild auf der Dating-App Tinder, nur der Nöll berichtet von vereinzelter Kritik: Tin- sönlich chatten. Außerdem bewegen sich
Schriftzug stört: „Wahlkreiskandidat für der sei ihr privater Bereich, da hätten auf Tinder vor allem junge Menschen; rund
den Treptower Norden“ steht da – und auf sie keine Lust auf Politik, schrieben ihm 80 Prozent der aktiven Nutzer sind unter
einem zweiten Foto: „Am 18. September einige Leute. 35 Jahre alt. Das macht es für die meisten
SPD wählen“. In den Nutzungsbedingungen von Tin- Politiker schwierig: „Angela Merkel oder
Alexander Freier-Winterwerb hatte sein der steht, der Service sei „nur für den Martin Schulz brauchen da nicht aufzu-
Tinder-Profil für die Wahl zum Berliner persönlichen Gebrauch“ bestimmt. Auf tauchen“, sagt Freier-Winterwerb.
Abgeordnetenhaus angelegt. Der Sozial- Nachfrage teilt das Unternehmen mit, man Er selbst bezeichnet seinen Ausflug auf
demokrat, der inzwischen 30 geworden ist, unterstütze, wenn Menschen ihre politi- Tinder mit rund 700 Matches als Erfolg,
nutzte die Dating-App, um vor der Wahl schen Ansichten auf Tinder teilen, erlaube auch wenn er es nicht ins Abgeordneten-
„mit Menschen in Kontakt zu kommen, die aber kein „Spamming“. Nutzer sollen also haus schaffte. Ähnlich ging es CDU-Poli-
man sonst nicht erreicht“. Statt eines Man- nicht mit Inhalten belästigt werden, die tiker Nöll, der sagt, er sei via Tinder mit
nes für eine Nacht fanden die Interessen- mit Partnersuche nichts zu tun haben. einigen Hundert Menschen in Kontakt
ten in Freier-Winterwerb jemanden, der Dabei hat auch Tinder schon politische gekommen: „Ich würde fast sagen, die
mit ihnen über Politik reden wollte und Inhalte verbreitet: Für die US-Wahlen ent- Gespräche waren seriöser als im Straßen-
Fragen zur Vergabe von Kitaplätzen be- wickelte das Unternehmen das Feature wahlkampf.“ Er diskutierte mit Pazifisten
antwortete. „Swipe the Vote“. Nutzer wischten sich über die Notwendigkeit von Rüstungs-
Florian Nöll, 33, ebenfalls Kandidat für durch politische Statements: Rechts bedeu- exporten, Menschen, die von sich aus wohl
das Berliner Abgeordnetenhaus, wenn tete Zustimmung, links Ablehnung. Am nie an einen CDU-Stand gekommen wären.
auch für die CDU, versuchte es auf dem- Ende wurde der Kandidat angezeigt, der Die beiden Jungpolitiker würden Tinder
selben Weg: „Ich kam mit Bürgern ins am besten zu den eigenen politischen Ein- wieder im Wahlkampf einsetzen. Aller-
Gespräch, die mich an einem CDU-Stand stellungen passte. Die Firma überlegt noch, dings nur noch maximal zweimal, sagt
nicht angesprochen hätten.“ ob sie ein solches Feature auch für die Bun- Freier-Winterwerb, „dann bin ich zu alt“.
Politik statt Sex, Wahlsieg statt große destagswahl anbieten wird. Sophia Schirmer
Liebe: Zusätzlich zu Facebook und Twitter
bieten Dating-Apps neue Möglichkeiten,
Wähler zu erreichen. Sie erlauben es, Men-
schen in einer bestimmten Region anzu-
sprechen, also in einem Wahlkreis, was
vor allem für Direktkandidaten interessant
ist. „Politiker müssen sich heute die Frage
stellen: Wo erreicht man diejenigen, die
sich null für Politik interessieren?“, sagt
Martin Fuchs, Politikberater und Social-
Media-Experte aus Hamburg. „Eine Ant-
wort ist, dass man dorthin geht, wo die
Menschen ihre Freizeit verbringen, und
dazu gehört Tinder.“
MAURIZIO GAMBARINI / PICTURE ALLIANCE / DPA

Die Schweizer Grünen-Politikerin Aline


Trede, 33, entdeckte als eine der Ersten
das Potenzial von Tinder für die Politik.
Sie nutzte die App für den Nationalrats-
wahlkampf 2015. „Ich hatte damals gele-
sen, dass Tinder in der Schweiz total ab-
geht. Also dachte ich: warum nicht auch
das probieren?“, sagt Trede. Sie legte
einen privaten Account an und lud ein
Foto hoch, inklusive Slogan und Hinweis
auf die Nationalratswahl. Sozialdemokrat Freier-Winterwerb: 700 Matches auf Tinder

DER SPIEGEL 11 / 2017 53


TIM WEGNER / DER SPIEGEL
Mathematiklehrer Kurz: Bis zu 100 Nachrichten am Tag

In der Schulwolke
Bildung Digitale Plattformen sollen Kindern und Pädagogen beim Lernen helfen. Was im
Alltag praktisch erscheint, halten Datenschützer für gefährlich.

W
ie war das noch mal mit der Wer darauf nicht warten möchte, behilft ten rund um die Uhr verschickt werden“,
p-q-Formel? In wenigen Tagen sich derzeit mit Programmen, die Lehrer formulierte die Geschäftsführung der pri-
wird die 10 d der Frankfurter wie Schüler privat nutzen: soziale Netz- vaten Hamburger Brecht-Schule in einem
Georg-Büchner-Schule eine Mathearbeit werke wie Facebook und WhatsApp. Rundschreiben an die Eltern.
schreiben. Dann muss die p-q-Formel sit- Mathelehrer Kurz hat für jede seiner vier Zudem dürften viele Schüler WhatsApp
zen. Während die Schüler die Übungsauf- Klassen eine WhatsApp-Gruppe eingerich- offiziell gar nicht verwenden – die Nutzer
gaben diskutieren, vibriert es am Hand- tet. Nach Schulschluss verwandeln sie sich müssen mindestens 13 Jahre alt sein. Mar-
gelenk von Lehrer Martin Kurz. Auf sei- in virtuelle Klassenzimmer. Die Jugend- tin Kurz weiß, dass er mit seinen digitalen
ner Smartwatch blinkt eine Nachricht auf. lichen teilen Tafelbilder und Notizen. Experimenten mehr wagt als andere Pä-
Es ist einer seiner Schüler, er verspäte sich, Wenn sie nicht weiterwissen, fragen sie dagogen. Deshalb hält er sich penibel an
schreibt er über WhatsApp. Kurz nickt nach Hilfe. Oft beantworten Mitschüler die „Handreichung für Lehrkräfte zum
unmerklich, dann widmet er sich wieder die Frage, manchmal hilft auch Kurz per- Umgang mit Sozialen Netzwerken“ des
seiner Klasse. sönlich. Wer zu spät kommt, schreibt eine hessischen Kultusministeriums. Noten oder
Lernen soll digitaler werden, das fordern Nachricht. „Das ist besser, als wenn der persönliche Informationen versendet er
Politiker und Bildungsforscher seit Jahren. Schüler in den Unterricht platzt und sich nicht per Smartphone. Privat legt er Wert
Nur ist die Digitalisierung in vielen Schu- wortreich erklärt“, sagt Kurz. An manchen auf Datenschutz, seine USB-Sticks mit den
len noch nicht angekommen. Die Kultus- Tagen versenden Schüler und Lehrer Zensuren verschlüsselt er. Als er seinen
minister der Länder haben im Herbst ein 100 Nachrichten – pro Gruppe. Schülern anstelle von WhatsApp den si-
Konzept vorgelegt, wie Computer und In- Szenarien wie diese machen Daten- chereren Messenger Telegram vorschlug,
ternet im Unterricht verwendet werden schützer unruhig. Viele Schulen raten von lehnten die aber ab. Zu umständlich.
sollen. Bundesbildungsministerin Johanna der Nutzung sozialer Netzwerke für den Dabei gibt es längst sichere, staatliche
Wanka kündigte an, Schulen in den kom- Unterricht ab. „Teilweise nimmt die Kom- Alternativen: digitale Schulplattformen –
menden fünf Jahren für rund fünf Milliar- munikation Ausmaße an, die im normalen landesweite virtuelle Räume, in denen
den Euro mit WLAN, Breitbandanschlüs- Alltag nicht mehr zu bewältigen sind, Schüler und Lehrer miteinander kommu-
sen und Geräten ausstatten zu wollen. wenn in Klassenchats Hunderte Nachrich- nizieren können, wo sie Hausaufgaben,
54 DER SPIEGEL 11 / 2017
Deutschland

Arbeitsblätter und Lernvideos hinterlegen pflichteten sich Schulen, über die Erfah-
und abrufen können. In einem separaten rungen mit dem Computer zu berichten.
Verwaltungsbereich führen Lehrer Klas- Apple bildet Lehrkräfte zu sogenannten
senlisten, tragen Noten ein oder legen Ver- Apple Distinguished Educators aus, „die
tretungspläne an. Die Daten lagern in ei- den Lehr- und Lernprozess mit Apple-
ner Cloud, die von jedem Rechner aus zu- Technologien revolutionieren“, wie das
gänglich ist – also auch von zu Hause. Unternehmen formuliert. Microsoft bietet
Als erstes Bundesland führte Bremen Programmierkurse für Schulen an und lädt
2014 die Plattform „itslearning“ ein, die Jugendliche in die Konzernzentrale ein.
nach Angaben der Bildungsbehörde inten- Die Idee: Die Schüler sollen sich an die
siv genutzt werde. „So können sich Lehr- Technik gewöhnen und sie später kaufen.
kräfte und Schüler in einer geschützten Um- Der Charme von Plattformen wie Logi-
gebung austauschen – eine Voraussetzung neo liege gerade darin, dass jeder das ei-
für das Lernen in der digitalen Welt“, sagt gene Gerät verwenden könne, sagt Saskia
Schulsenatorin Claudia Bogedan (SPD). Esken, Softwareentwicklerin und Expertin
Nun hat der Stadtstaat Bremen es ver- für digitale Bildung in der SPD-Bundes-
gleichsweise leicht: eine kleine Fläche, eine tagsfraktion. Dass dieses Prinzip, „Bring
überschaubare Anzahl von Schulen, das your own device“ genannt, soziale Un-
Gebiet fast flächendeckend mit Breitband- gleichheit verschärfe, wie die Lehrerge-
internet ausgestattet. werkschaft GEW kritisiert, hält Esken
Im Flächenland Nordrhein-Westfalen ist für bewältigbar. „Ganz überwiegend sind
die Einführung einer solchen Plattform ein Kinder aus einkommensschwachen Fami-
Mammutprojekt. Knapp 200 000 Lehrer lien technisch nicht schlechter ausgestattet.
und 2,5 Millionen Schüler müssen lernen, Wo das dennoch der Fall ist, muss der
mit der Software umzugehen. Jetzt hat der Staat Nachteile ausgleichen.“ Mittelfristig,
glaubt die Abgeordnete, komme kein Bun-

TIM WEGNER / DER SPIEGEL


Landtag in Düsseldorf zugestimmt: „Logi-
neo NRW“ wird kommen, an einigen Schu- desland um eine Lernplattform herum.
len wohl schon nach den Sommerferien. „Das ist ein sinnvoller und sicherer Weg,
Lehrer wie Schüler sollen sich über ihre den Schulalltag digital zu organisieren.“
privaten Smartphones und Computer ein- Mathelehrer Martin Kurz würde gern
loggen können. Klingt nach Fortschritt. eine solche Onlineplattform nutzen. „Das
Doch längst nicht alle sind glücklich darü- Zehntklässlerin RuŽica wäre ideal“, sagt der 51-Jährige. Hessen
ber: Datenschützer wie der Informatikleh- Lernchat nach Schulschluss bietet zwar ein Programm an, aber seine
rer Klaus Keßler aus Detmold haben bis Schüler und er finden es unpraktisch.
zuletzt dagegen gekämpft, dass sensible Gelangen in Zukunft sensible Schüler- Vielleicht fiele Kurz mit einer offiziellen
Schülerdaten in der Logineo-Cloud gespei- daten wie Noten oder Beschreibungen des Lösung auch das Abgrenzen leichter. Die
chert werden dürfen. Denn um die Platt- Arbeits- und Sozialverhaltens von einem WhatsApp-Nachrichten seiner Schüler lau-
form einführen zu können, hat die Lan- der Lehrer-Smartphones in falsche Hände, fen derzeit auf Kurz’ privatem Telefon auf.
desregierung zwei Datenschutzrichtlinien kann der Schulleiter zur Verantwortung Ein Diensthandy, das er abends abschalten
geändert. Nun sollen Schüler- und Lehrer- gezogen werden. Denn dieser muss vorab könnte, hat er nicht. Die Schüler sind stets
daten auch von schulfremden Geräten aus sicherstellen, dass jedes Gerät den Daten- nur eine Nachricht entfernt. Knapp eine
zugänglich sein. Keßler und seine Mitstrei- schutzrichtlinien des Landes genügt. „Das halbe Stunde pro Tag kosteten Kurz seine
ter kritisieren zudem, dass Elternverbände ist kaum zu leisten“, sagt Andreas Stom- digitalen Experimente, sagt er. Nach dem
vor der Entscheidung nicht gefragt worden mel, Mitglied des Landesvorstands des Abendessen schreibe er aber meist nicht
seien. „Dabei geht es doch um die Daten Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) mehr zurück.
von Minderjährigen“, sagt Keßler. in Nordrhein-Westfalen. „Ein Schulleiter Die Schüler schätzen seinen Einsatz:
Zweifel äußert auch der Jurist der Lan- kann kein IT-Fachmann sein.“ Die Rekto- „Das Verhältnis zu ihm ist vertrauensvoller
desdatenschutzbeauftragten: In einer in- ren müssten detailliert geschult werden, als zu anderen Lehrern“, sagt Ružica aus
ternen Stellungnahme schreibt er, gegen um die Genehmigung rechtssicher erteilen der 10 d. „Ich merke, dass er uns immer
den Einsatz privater Geräte zu dienst- zu können. Das koste viel Zeit – „Zeit, die helfen will, auch außerhalb des Unter-
lichen Zwecken gebe es „aus heutiger Sicht ein Schulleiter nicht hat“. richts.“
durchgreifende datenschutzrechtliche Be- Grundsätzlich halte er Logineo aber für Kurz ist aufgefallen, dass es manchen
denken. Dies gilt auch für den Einsatz neu- sinnvoll. „Es kann nicht sein, dass Lehrer Jugendlichen über das Handy leichterfällt,
er ADV-Anlagen wie Smartphones und heute noch Notenlisten privat per E-Mail mit ihm zu kommunizieren. Einer seiner
Tablets. Nach hiesiger Kenntnis existiert verschicken“, sagt Stommel. Er schlägt vor, Schützlinge kämpft derzeit um den Haupt-
bislang keine fundierte Risikoanalyse sol- mobile Schulcomputer anzuschaffen, die schulabschluss, im Unterricht benimmt er
cher Geräte“. Der Landtag erlaubte Logi- den Sicherheitsstandards entsprechen. Das sich oft daneben. Mehrmals hat Kurz ver-
neo trotzdem. spart Zeit, ist aber teuer. Wie sollen die sucht, den Jungen in der Schule zu einer
Was Datenschützer Keßler besonders är- Kommunen Laptops finanzieren, wenn es Entschuldigung zu drängen. Ohne Erfolg.
gert: „Lernmaterialien und sensible Schü- gleichzeitig in die Turnhalle regnet? Dann, eines Abends, kurz vor Mitternacht,
lerdaten auf einer Plattform wie Logineo Die Geldnot der Schulträger und der kommt sie doch noch – per WhatsApp.
zu verwalten ist Unsinn“, so sein Argu- schleppende digitale Fortschritt bieten ein „Hallo, Herr Kurz, es tut mir Leid wie ich
ment. „Diese beiden Komponenten ver- Einfallstor für Softwarekonzerne, die mit mich heute im Unterricht verhalten habe.
langen völlig unterschiedliche Sicherheits- kostenlosen Geräten und Programmen um Es kommt nicht mehr vor. Ich versuche
standards.“ In anderen Bundesländern die Gunst der Schulleiter werben. Sam- mich zu bessern.“
trenne man diese Bereiche, um Missbrauch sung hat in der Schweiz ganze Klassen mit Steffen Lüdke, Miriam Olbrisch
zu vermeiden. Tablet-PCs ausgestattet. Im Gegenzug ver- Mail: olbrisch@spiegel.de, Twitter: @stluedke, @olbi

DER SPIEGEL 11 / 2017 55


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wie sich hochwertige Rieslingtrauben ent-
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krankungen steigen. Mit viel Geduld und winzern, die die nötige Ausdauer und
unermüdlicher, akribischer Arbeit mussten Fingerspitzengefühl bewiesen, gelang so -39%
GLH:LQ]HUGHQ:HLQEHUJSpHJHQXPGDV 2016 wieder ein Riesling-Jahrgang, der
beste Lesegut zu erhalten. Doch wer sich höchsten Genuss bietet und die frisch
richtig ins Zeug legte, wurde belohnt. gefüllten Flaschen lösen in der Fachwelt
Denn als Rettung erwies sich der warme bereits Begeisterung aus!
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zum Schluss optimale Reifebedingungen aus den ersten 100 Proben der trockenen
brachte. Wer die verbleibenden Trauben 2016er-Rieslinge ihre Favoriten ausgewählt:
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jüngsten Mitglieder im VDP und
gehört mit drei roten Trauben
bei Gault&Millau bereits zur
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mit saftig-frischer Frucht,
feiner Mineralität und genia-
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PREI

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Dafür lieben wir Rheingauer


Riesling: wunderbar frisch und
animierend, saftig und vollfruch-
tig. Aufsteiger-Winzer Klaus
Molitor bringt das berühmte
Terroir seiner Hattenheimer
Spitzenlagen ins Glas und
beweist, dass 2016 im Gebiet
zu Recht als Top-Jahrgang gilt!

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ANBIETER: Vicampo.de GmbH, Taunusstraße 59–61, 55118 Mainz • Nur solange der Vorrat reicht. • ABFÜLLER: SP-17616 Bodegas Garcia de Aranda, Carretera Soria s/n (N-122),
09400 Aranda de Duero, BURGOS • SP-35863 Weingut Müller-Catoir, Mandelring 25, 67433 Haardt an der Weinstraße • SP-35868 Weingut Kruger-Rumpf, Rheinstraße 47, 55424
Münster-Sarmsheim • SP-35869 Weingut Winter, Hauptstraße 17, 67596 Dittelsheim-Hessloch • SP-35870 Weingut K.&K.Dautermann, Unterer Schenkgarten 6, 55218 Ingelheim am
Rhein • SP-35871 Weingut Studier, Fließstraße 34, 67158 Ellerstadt • SP-35790 Weingut Karl-Johann Molitor, Weiderweg 1, 65347 Hattenheim
Q U E L L E N : U N I C E F, W H O
Früher war alles schlechter
Nº 63: Zugang zu Toiletten

1990 stehen erst 2,9 Milliarden Menschen sanitäre Einrichtungen zur Verfügung 2015: 5 Milliarden

Stinkt zum Himmel. In seinem bekannten Gedicht „Die Scheiße“ der unter fünf Jahren sterben. Die Uno geht davon aus, dass
hat Hans Magnus Enzensberger gegen den schlechten Ruf 2015 noch immer fast eine Milliarde Menschen keine andere
der menschlichen Exkremente angeschrieben. „Hat sie uns Möglichkeit haben, als sich im Freien zu entleeren. Allerdings
nicht erleichtert? / Von weicher Beschaffenheit / und eigen- steigt die globale Zahl derer, die Zugang zu einem gesund-
tümlich gewaltlos / ist sie von allen Werken des Menschen / heitlich ungefährlichen Lokus haben, weiter an. Sie ist seit
vermutlich das friedlichste.“ Das stimmt aber nur dort, wo 1990 um zwei Milliarden Menschen gewachsen, das sind über
eine Toilette zur Verfügung steht. Mangelnde sanitäre Hygie- 200 000 jeden Tag. Wenn man für die Lektüre dieses Textes
ne hingegen fordert Millionen Menschenleben. Denn nicht eine Minute braucht, sind in dieser Zeit wieder 150 Menschen
nur dass und was der Mensch isst, ist für ihn überlebenswich- dazugekommen, die, mit Enzensberger, sagen könnten: „Seht
tig, sondern auch, wie und wo er es wieder loswird, was er nur, wie sanft und bescheiden / sie unter uns Platz nimmt! /
gegessen hat. Wo akzeptable Aborte fehlen, breiten sich Diar- Warum besudeln wir denn / ihren guten Namen / und leihen
rhö-Krankheiten aus, an denen bis heute laut Schätzungen ihn / dem Präsidenten der USA, / den Bullen, dem Krieg /
der Weltgesundheitsorganisation jedes Jahr rund 340 000 Kin- und dem Kapitalismus?“ guido.mingels@spiegel.de

Internet der Plattform übertragen bei dir?“ oder „Ich mache weiterleben wie bisher. Doch
Kann Facebook haben. Den Benutzern soll mir Sorgen um dich“. das Programm kann kein
SPIEGEL: Was halten Sie davon?
Suizide verhindern, rechtzeitig in einer Nachricht
Hilfe angeboten werden: Henschel: Ich halte das für
echtes Interesse unter Men-
schen ersetzen. Es sollte
Herr Henschel? Gespräche mit Freunden eine richtige Maßnahme. nicht das Gefühl entstehen,
oder mit Profis. Wie Suizide sind nach dass nun Facebook darauf
Jakob Henschel, 32, ist im Vor- funktioniert das? Verkehrsunfällen achtet, wie es meinen Mit-
stand der Deutschen Gesell- Henschel: Der Algo- die zweithäufigste menschen geht.
schaft für Suizidprävention und rithmus basiert auf Todesursache unter SPIEGEL: Ist es nicht fragwür-
leitet das Internet-Beratungs- bisherigen Nachrich- Jugendlichen. In dig, dass Facebook alle Nach-
angebot [U25] für suizid- ten von Menschen den meisten Fällen richten nach Suizidbotschaf-
gefährdete Jugendliche. mit Suizidabsichten, sind sie länger ge- ten durchsucht und somit die
die bereits an Face- plant, angekündigt Privatsphäre verletzt?
SPIEGEL: Herr Henschel, Face- book gemeldet und deshalb ver- Henschel: Natürlich. Ins-
book hat einen neuen Algo- wurden, beispiels- hinderbar, auch gesamt sehe ich das sehr kri-
rithmus entwickelt, der früh- weise Erzählungen in sozialen Netz- tisch. Aber Facebook benutzt
zeitig erkennen soll, wenn von Trauer und werken – wenn das unsere Informationen schon
User sich selbst töten wollen. Schmerz. Er rea- Umfeld reagiert. seit geraumer Zeit für Werbe-
Facebook reagiert damit auf giert auch auf Bei- Viele wollen nicht zwecke. Im Fall der Suizid-
mehrere Selbstmorde in den träge von Freunden sterben, sondern prävention gibt es wenigstens
AP

USA, die Jugendliche live auf wie „Ist alles okay einfach nicht so einen sozialen Nutzen. jst

58 DER SPIEGEL 11 / 2017


Gesellschaft
Shaker haben keinen Sex, aber sie tanzen gern. Ihren
Schade um die Shaker Namen erhielten sie wegen eines seltsam anmutenden
Schütteltanzes, der ihnen als Gebetsform gilt. Und wenn
sie nicht tanzen, arbeiten sie. Hartes Tagwerk, Fleiß und
Eine Todesanzeige und ihre Geschichte höchste handwerkliche Qualität betrachten sie als Dienst
an Gott. Weil sie auch an die Gleichberechtigung von
In den USA betet eine aussterbende Mann und Frau, an den Pazifismus und das Gemeinschafts-
Religionsgemeinschaft für neue Mitglieder. eigentum glauben, waren sie lange vor der Emanzipation
und dem Frauenstimmrecht eine Art calvinistische Hippies.

D
ie Todesanzeige, welche die Shaker-Gemeinde am Jedenfalls eine radikal moderne Truppe.
Sabbathday Lake im US-Bundesstaat Maine am Bis heute leben sie in schnörkelloser Schlichtheit, und
2. Januar 2017 online veröffentlichte, verhieß zu- so sehen auch die Möbel aus, die sie selbst anfertigen und
nächst nichts Ungewöhnliches. mit denen sie sich umgeben. Für die Designgeschichte
sind die Shaker so etwas wie die spirituelle Variante des
„Es ist unsere traurige Pflicht mitzuteilen, Bauhauses.
dass unsere liebe Schwester Frances heute um 13.35 Uhr Es wäre jammerschade um die Shaker, die, mehr noch
nach einem kurzen Kampf gegen den Krebs als für Schwester Frances, für neue Mitglieder beten.
verstorben ist. Das Ende kam schnell und würdevoll, Nicht dass sich niemand für sie interessieren würde. Da
sie war umgeben von der Gemeinde und ihren sind die Freiwilligen, die in den Sommermonaten im pesti-
Nichten. Wir bitten um Eure Gebete für ihre Seele. zidfreien Kräutergarten der Shaker in der Erde graben
In Frieden, die Sabbathday Lake Shakers“ und Biomelisse ernten oder Biokerbel pflegen. Da ist der
Förderkreis, der sich gründete, um das Andenken der
Dass Frances Ann Carr nicht irgendeine Ordensschwester Shaker zu bewahren und ihre wichtigsten Zeugnisse im
irgendeiner Religionsgemeinschaft war, erfuhr man Archiv zu konservieren. Und während der Möbelmesse
erst aus Presseberichten. „Eine der letzten Shaker in Stockholm fand eine Ausstellung über den Einfluss der
stirbt“, stand bei npr.org, „Nur noch zwei Shaker auf Shaker auf das Design statt. Die Kuratorin sagt, dass die
der Welt“, titelte Smithsonian.com und der „Economist“ Shaker für sie „die ersten Minimalisten“ seien.
würdigte Schwester Frances auf sei-
ner Website als „letzte lebenslange
Shakerin“. Denn die zwei verblie-
benen Shaker, Bruder Arnold, 60,
und Schwester June, 78, stießen
offenbar erst als Erwachsene zur

STEVE O'CONNOR, COURTESY OF UNITED SOCIETY OF SHAKERS


Gemeinde.
Die Nachwuchsprobleme der Sha-
ker, einer im 18. Jahrhundert gegrün-
deten christlichen Freikirche, sind
systemimmanent: Sie praktizieren
Enthaltsamkeit und kriegen folglich
keine Kinder. Die letzte der sieben
Anforderungen, welche die Shaker
an mögliche Neumitglieder stellen,
besiegelt ihr Schicksal:
„7. Alle Shaker leben in jungfräu-
licher Reinheit und im Zölibat.“
Mitte des 19. Jahrhunderts soll es
etwa 6000 von ihnen gegeben ha- Von der Website Nytimes.com Carr
ben, neue Mitglieder fanden sich
vor allem in Waisenhäusern. Als aber der Staat begann, Die Shaker, eigentlich aus der Zeit gefallen, vereinen
sich um elternlose Kinder zu kümmern, verloren die in ihrer Kultur zwei Dinge, nach denen der moderne
Shaker ihre wichtigste Personalquelle. Von den rund Mensch sonst in Hipster-Antiquitätenläden und Meditati-
20 Gemeinden, die es einmal gab, starb eine um die an- onskursen sucht: Designklassiker, Achtsamkeit.
dere aus. Bis nur noch Sabbathday Lake Shaker Village Dann kamen 600 Menschen zur Beerdigung von Schwes-
übrig war. ter Frances, angelockt vermutlich von den vielen Berichten
Bruder Arnold und Schwester June sind leider für Jour- über den Tod dieser Drittletzten ihrer Art. Bruder Arnold
nalisten nicht zu sprechen, auch nicht telefonisch. Sie und Schwester June begrüßten jeden persönlich. Nur die
haben sich zurückgezogen. Möglich, dass sie im Kräuter- Hälfte der Trauergäste fand Platz in der kleinen Dorf-
garten nach Ruhe suchen. Möglich, dass sie spazieren kapelle mit dem Holzfußboden. Und dann war in ganz
gehen zwischen dem guten Dutzend Holzhäusern ihrer Sabbathday Lake das Fußstampfen des Schütteltanzes zu
Heimat ganz im Norden der USA, auf den Pfaden, auf hören und das Händeklatschen, und dann der Refrain aus
denen Schwester Frances in ihrem lilafarbenen Kleid bis Hunderten Mündern: „I am glad I am a shaker.“
vor Kurzem umherwandelte. Möglich auch, dass sie es Nur von Neueintritten in die Gemeinde ist bisher leider
noch nicht verwunden haben, dass der damals viertletzte nichts bekannt, wahrscheinlich wirkt die Keuschheits-
Shaker vor rund zehn Jahren das Dorf verließ, weil er pflicht allzu abschreckend. Schwester June und Bruder
sich in eine Journalistin verliebt hatte, die zu Besuch Arnold sollten ihr siebtes Gebot überdenken.
gekommen war. Maren Keller

DER SPIEGEL 11 / 2017 59


Straße im niederländischen Almere: Als hätte ein Modelleisenbahner einen Schöpfungsauftrag erhalten

Neun Meter unter null


Populisten Nächste Woche wählen die Niederlande ein neues Parlament. Die Stadt
Almere ist das holländische Utopia – dem Meer abgerungen und perfekt
durchorganisiert. Warum ist Geert Wilders hier so stark? Von Alexander Smoltczyk

A
m 28. Mai 1932, mittags kurz nach erhalten. Von Autos befreite Stadtteile, die Was wollt ihr denn noch?
eins, schloss sich im Deich die letz- nach Blumen, Fischsorten oder Kinogöt- Vom Norden her betrachtet ist Almere
te Lücke, und aus Nordsee konnte tern benannt sind. In denen es eigene We- auf den ersten Blick ein Spielplatz expe-
nun urbares Land werden, rund 1500 Qua- genetze gibt für Fahrräder und Busse und rimenteller Architektur, grellbunt und
dratkilometer von Pumpwerken, Schleu- an jeder Ecke Nachbarschaftsheime für schräg und anarchisch, die Häuser kugelig
sen, Abflusskanälen und Dämmen trocken „Gezelligheid“, Billard, Bingo, Volkstanz oder quadratisch, komplett übergrünt oder
gehaltenes Neuland. Eine ganze Provinz. oder Halbmarathon, je nachdem. Wo jedes auf Stelzen gesetzt, aus Spiegelglas, rosti-
Die Trockenlegung in der Zuiderzee ist Viertel seine Bibliothek, seine Kirche und gem Eisen und viel Holz, bestückt mit vie-
eine der großen Ingenieurleistungen des Mall hat, sein Gesundheitszentrum und wo len Kameras und Alarmanlagen.
vergangenen Jahrhunderts. Für das Natio- die Senioren lautlos auf Elektrorollern Marieke van Horick führt ihren Hund
nalgefühl der Niederlande das Pendant zu durch Forellenweg, Pasolini- oder Heinz- aus, bevor sie gleich zur Physiotherapie
Eiffelturm oder „Apollo“-Programm. Nur Rühmann-Straat sirren. Die Busse sind um- muss. Sie ist jetzt 54 Jahre alt und Ma-
besser: nutzbare Fläche statt phallischer sonst, und sie fahren pünktlich. Alles ist gut. nagerin in einem Pflegedienst. Sie sagt:
Größe. Die Holländer schippten weiter, Weshalb nur diese Wut? Wieso sind so „Das Rentenalter wird immer mehr hi-
und 1971 wurde der Neubau einer ganzen viele Bürger dieser Idealstadt sauer auf al- nausgeschoben. Ich habe Angst, bis zu mei-
Stadt beschlossen: Almere. Ein niederlän- les? So sauer, dass sie vor Jahren schon nem 70. Lebensjahr arbeiten zu müssen.
disches Utopia, mit heute knapp 200 000 die „Freiheitspartei“ PVV des Geert Wil- Meine Tochter wartet seit zehn Jahren auf
Einwohnern. „Het kán in Almere“ war das ders in den Gemeinderat gewählt haben, eine Sozialwohnung in Almere. Die Aus-
Motto, „Alles geht in Almere“. Und so ist als stärkste Fraktion? Wie sie es wohl auch länder bekommen sofort eine. Das ist nicht
es auch gekommen. am 15. März machen werden, kommenden fair. Ich habe meine Sorgen und Ansichten
Die Stadt ist angelegt, als hätte ein Mo- Mittwoch, bei der holländischen Parla- in eine Wahl-App eingegeben, StemWijzer
delleisenbahner einen Schöpfungsauftrag mentswahl, vor der Europa sich fürchtet. heißt sie. Da kam heraus, dass ich Geert
60 DER SPIEGEL 11 / 2017
Gesellschaft

Fraktionszimmer der Wilders-Partei PVV in Almeres Rathaus: Was wollt ihr denn noch?

Wilders wählen müsste oder die Senioren- trennt worden, sie ins Heim und er ins Herrema erzählt, wie Amsterdam sich
partei. Wilders hat gute Positionen, aber Krankenhaus. Weil sie sich nach der Re- in den Siebzigern veränderte. Türken und
er ist mir zu extrem.“ form die Pflege nicht mehr leisten konnten. Marokkaner zogen in die ärmeren Viertel,
Der ältere Teil der Stadt liegt etwas wei- Sie waren pleite, mit 85 Jahren. Ein ganzes gleichzeitig explodierte das Heroinpro-
ter im Süden, hinter Lager- und Verwal- Arbeitsleben auf den Schultern – und blem. „Die weißen Arbeiter sahen in den
tungsbauten, so flach und monoton wie dann das. Das kommt von Europa, von neuen Kulturen nicht unbedingt eine Be-
die Steuersätze – weswegen auch „Beate diesen ganzen Regeln. Man lebt nicht reicherung. So zogen sie fort, nach Almere.
Uhse“ den Kontinent von Almere aus be- mehr im eigenen Land.“ Heute kommt es vielen vor, als würden
liefert. Der deutsche Sinologe Karl August Witt- sie das alles noch einmal erleben.“
In Almere Haven haben die Planer den fogel hat den Begriff der „hydraulischen Und das, obwohl die Niederlande eine
allerersten Bewohnern zur Eingewöhnung Gesellschaft“ geprägt. Damit sind meist sehr strenge Aufnahmepolitik fährt; es sind,
noch flämische Giebel und Grachten hin- despotische Herrschaftssysteme gemeint, anders als in Deutschland, nur wenige sy-
gebaut. Es gab auch Mietnachlässe wegen in China oder Ägypten, in denen die rische Flüchtlinge angekommen. Aber Al-
des Sandes, der sich in den ersten Polder- Macht hat, wer die Flutabwehr- und Be- meres Pionierbevölkerung ist jetzt 40 Jahre
jahren in alle Ritzen setzte und zwischen wässerungsanlagen kontrolliert. Die Pol- älter. Mit all den Ängsten, die so ein Leben
den Zähnen knirschte. Martin Timmers ist derprovinz ist die gelungene Version einer mit sich bringt. Da haben sie jahrzehnte-
einer der Pioniere gewesen, damals jung, hydraulischen Gesellschaft. Wasserbau lang in die Rentenkassen eingezahlt und
heute ein 72-Jähriger mit den nikotingel- und Wohlfahrt sind zur Perfektion ge- sollen jetzt den Kuchen mit Neuankömm-
ben Fingern des Selbstdrehers. Früher hat bracht. Die Pumpwerke sind so ausgeklü- lingen teilen? „Es ist auch eine Art Heim-
er Tankanlagen montiert. Jetzt, im Ruhe- gelt und verlässlich wie der Busverkehr weh“, Herrema benutzt das deutsche Wort.
stand, züchtet Timmers Schafe. Er zeigt und die Umsetzung von Sparmaßnahmen. „Diese neue Stadt hat Amsterdam und die
auf seinem Mobiltelefon eine schwarz- Sozialarbeiter sind allgegenwärtig und alten Bindungen nicht ersetzen können.
weiß gefleckte Herde: „Schoonebeeker ebenso rasch zur Stelle wie anderswo die Sie fühlen sich nicht daheim.“
ALLE FOTOS: PETER ARNO BROER / DER SPIEGEL

Heideschaf“. Deichwarte. So gesehen ist Almere auch die Meta-


„Mein Vater hat die Partei von der Ar- „Ja, alles ist bestens organisiert. Aber“, pher eines Verlustes, genauso allgegenwär-
beit mitbegründet, die Sozialdemokratie. sagt der Baubürgermeister, „man kann die tig wie das ferne Rauschen der A 6. Und
Das war in Brabant, wo alle katholisch Menschen nicht kaufen.“ genauso wenig zu beheben. Das Beige-
sind, nicht gut angesehen. Aber wer küm- Tjeerd Herrema ist Sozialdemokrat, ha- räusch der Globalisierung.
mert sich heute noch um die Arbeiter? ger und kahl, sein Anzug schimmert nacht- Den berechenbaren und verlässlichen
Nur die PVV von Geert Wilders. Was die blau, passend zur Brille, und nichts deutet Wähler gebe es nicht mehr, sagt Herrema.
alten Menschen jetzt alles bezahlen müs- darauf hin, dass man es mit einem ehema- Alles löse sich auf. Die Gewerkschaftler
sen! Ich komme noch klar. Aber meine ligen Gewerkschaftsfunktionär zu tun hat. gehen zur Linken, viele Arbeiter leider zu
Nachbarn, ein altes Ehepaar, sind ge- Aber so ist Holland. Wilders, auch die jungen Marokkaner wür-

DER SPIEGEL 11 / 2017 61


Marieke van Horick Riny van Boxtel und Jan Hoefakker

den nicht mehr so wählen wie ihre Eltern, Die Wilders-Partei hat kein Bürgerbüro len nur Fragen stellen. Am liebsten auf
also sozialdemokratisch. Ein erstaunlich in der Stadt, nur ein Fraktionszimmer im Twitter.“
großer Teil von Surinamern und Zuwande- Rathaus gibt es, wo die Abgeordneten Einmal im Monat ist „politischer Markt“
rern der zweiten Generation äußert statt- unter sich bleiben. „Die PVV ist überall im Stadthuis. Die Ausschüsse tagen dann
dessen Sympathien für Wilders’ Parolen. und nirgends“, sagt die Dame am Emp- öffentlich. Es ist Politik zum Anfassen,
Die Heimatlosigkeit ist auch eine politische. fang des Rathauses und fügt hinzu: „Wenn wenn auch kaum jemand mehr kommt.
Riny van Boxtel, 69 Jahre alt, ist Entbei- die Kontakt wollten, dann hätten wir eine Die Abgeordneten der PVV reagieren auf
ner im Schlachthaus von Amsterdam ge- Telefonnummer, oder? Haben wir aber Ansprache, als hätte man ihnen Nervengas
wesen. Sein Schlaf sei dennoch gut. Vor 37 nicht.“ ins Gesicht gesprüht: „Niet, niet! Fragen
Jahren ist er der Kinder wegen nach Al- Die PVV ist eine Partei eher nordkorea- Sie in Den Haag nach.“
mere gezogen. Van Boxtel steht wie jeden nischen Typs. Ihr Gründer Geert Wilders In der Straße, wo Kjell van der Lee mit
Morgen auf dem Marktplatz von Almere ist zugleich Parteivorsitzender, Kassenwart, seiner Familie wohnt, stehen die Ziegel-
Haven, zusammen mit seinem Freund Jan Schiedsgericht und Programmkommission. steinhäuser in Reihe, jedes schmal und mit
Hoefakker, 72 Jahre, einem ehemaligen Er ist das Gesicht und das Hirn der Partei einem Streifen Grün nach hinten raus, ge-
Feuerwehrmann. Beide einmal klassische und der Mund, vor allem der Mund. Zumal rade breit genug für einen ausgemusterten
Wähler der linken Partei der Arbeit. die PVV aus einem einzigen Mitglied be- Kühlschrank und ein paar Bierkästen. Van
„Wenn ich heute zu Besuch nach Ost- steht: Geert Wilders hält weitere Partei- der Lee ist ein 32-jähriger Bauarbeiter, Sha-
Amsterdam zurückgehe, dann sagen mir angehörige neben sich für störend. dow ist sein Hund.
die Leute: Oh, ein Holländer, so was haben Das Wahlprogramm der Wilders-Partei „Hier kann ich mir die Miete leisten. Viele
wir ja schon lange nicht mehr gesehen. So passt auf eine DIN-A4-Seite. Es sieht vor: wählen Wilders. Ich auch. Wenn er nur zehn
viele Türken und Marokkaner gibt es dort. die Schließung aller Moscheen, den Aus- Prozent von dem verwirklicht, was er sagt,
Ich rede doch mit jedem hier. Da ist so ein tritt aus der EU, ein Verbot des Korans, bin ich zufrieden. Soll er doch eine Chance
Unbehagen. Der normale Bürger traut sich die Rückkehr zur Rente mit 65, die Schlie- haben. Wir zahlen immer mehr Steuern,
nicht, manche Sachen zu sagen. Aber Wil- ßung aller Asylzentren sowie einen För- und die Rente wird immer mehr rausgescho-
ders sagt es. Ich schätze, dass hier 80 Pro- derungsstopp von Windparks, Kunst und ben. Ich kann mich totarbeiten, damit die
zent der Leute so denken wie er. Es muss Entwicklungshilfe. denen das Geld geben. Diese Kriminellen
sich etwas ändern. Ich bin bereit, ihm eine Tjeerd Herrema, der Baubürgermeister, mit zwei Nationalitäten. Denen sollte man
Chance zu geben, für vier Jahre.“ hat in den vergangenen Jahren Erfahrun- eine wegnehmen. Shadow! Keine Angst, der
„Unbehagen“ ist dasselbe Wort im Nie- gen mit dieser Gruppierung sammeln kön- schnappt nur, wenn er etwas nicht kennt.“
derländischen, es wird nur anders gespro- nen. Zum Beispiel wenn es um Flüchtlinge Die Stadtmitte von Almere hat Rem
chen: Unbehachen. ging. „Bei unseren Infoveranstaltungen für Koolhaas entworfen, der einflussreichste
Das „Stadthuis“ von Almere, Sitz der die Bürger kommen die Wilders-Leute und Architekt der Niederlande. Er hat die Le-
Verwaltung, ist mehr Agora als Amt, eine sagen, wir wollten Terroristen in die Nach- bensbereiche Wohnen, Herumlaufen, Fah-
helle Ikea-Wohnzimmerlandschaft mit So- barschaft bringen. Und dass Asylanten ihre ren und Einkaufen schichtweise getrennt.
fas, Florteppichen und Espressobar, in der Frauen vergewaltigen. Es ist schrecklich. Über den Läden gibt es eine Ebene von
die Bürger ihre Angelegenheiten in saube- Aber im Gemeinderat diskutieren sie nicht Sozialwohnungen, verbunden durch Stege
re Terminals eintippen. mit. Die wollen keine Antworten, die wol- und Passagen.

62 DER SPIEGEL 11 / 2017


Gesellschaft

Elfriede Brown Stevie Verduijn und Gideon Haberland

Möwenschreie sind hier zu hören und tuts“ in Amsterdam. „Pim Fortuyn, ein was bei den Arbeitern los ist. Jede Partei
Loungemusik, vom Dach des Einkaufszen- Vorgänger von Wilders, hat immer gesagt, hat gute und schlechte Dinge, und sie müs-
trums herunter. „Utopolis“ leuchtet es am er verteidige unsere Freiheit gegen die In- sen zusammenarbeiten. Immer ein Kom-
Kinopalast. Aus der Höhe, von der Neuen toleranz und das vormoderne Denken vie- promiss. Und so ändert sich nichts. Das
Bibliothek aus gesehen, wirken die Men- ler Zuwanderer. Wenn es heute gefährlich ist das Problem in Holland. Die sitzen in
schen hier wie die belebenden Elemente sein kann, sich in manchen Vierteln als Den Haag, und wenn gewählt wird, kom-
einer Architekturzeichnung. Ein jüngeres Homosexueller oder Jude zu zeigen, dann men sie heraus mit ihren Flyern. Danach
Kollegenpaar kommt plaudernd aus Rich- liegt das nicht selten an jugendlichen sind sie verschwunden. Kriminalität ist
tung Food Court, es sind Stevie Verduijn, Marokkanern.“ ein großes Problem in Almere. Es sieht
20 Jahre, und der zwei Jahre ältere Gi- Nijhuis sieht einen toten Winkel in der hier sauber aus, aber es ist nicht sauber.
deon Haberland, beide Hairstylisten, sie politischen Landschaft der vergangenen Letzte Woche gab es fünf Einbruchsversu-
ursprünglich aus Amsterdam, er aus Hil- Jahre. Die meisten Wähler seien wertkon- che in Häusern unserer Straße. Ich lebe
versum. servativer als die etablierten Parteien: seit 24 Jahren in Almere. Damals bin ich
„Hier sieht alles sauber aus. Aber stän- „Gleichzeitig sind sie eher für Umvertei- vor der Kriminalität in Amsterdam geflo-
dig wirst du angemacht, wenn du irgend- lung als für Globalisierung. Sie sehnen sich hen. Damals war es gut hier. Es sind nicht
wie schräg aussiehst.“ – „Wir sollen den nach der imaginierten guten alten Zeit zu- nur die Marokkaner, die Probleme ma-
Afrikanern gegenüber tolerant sein. Gut. rück, als es noch Benehmen gab und Ver- chen. Auch die Niederländer, die ihre Kin-
Aber sie versuchen nicht, uns zu ver- trauen zum Nachbarn. Auf dieser politi- der abends auf der Straße herumhängen
stehen.“ – „Das sind negative Schwingun- schen Brache gedeiht Wilders.“ lassen, weil sie zu sehr mit ihrem Job zu
gen hier. Neulich haben sie die Busse mit Wobei in Deutschland zu oft gedacht tun haben.“
Steinen beworfen.“ – „Wir sind einmal werde, nur Geert Wilders sei das Problem: Die Stadt Almere, sozial und gerecht
überfallen worden, an der Bushaltestelle. „Übersehen wird dabei, dass etwa die Eu- maßgeschneidert für den mündigen Bür-
Die haben Gideons iPhone genommen, ropabegeisterung auch bei den etablierten ger, ist auch ein Monument der nieder-
eine Freundin ist überall angegrabscht Parteien nicht sehr ausgeprägt ist. Für uns ländischen Sozialdemokratie. Umso bitte-
worden. Wir waren nicht allein dort, aber Niederländer ist Europa vor allem ein frei- rer für sie, dass die Partei der Arbeit nur
keiner hat etwas gesagt.“ – „Das war das er Markt, keine Herzenssache.“ noch als Minderheit mitregiert, in einer
Schlimmste. Was ich wähle? PVV.“ – „Ich Die Stadt Almere liegt bis zu neun Me- Koalition mit Linksliberalen und Bürger-
auch. Wilders sagt, was alle denken, aber ter unter dem Meeresspiegel. Das ent- lichen.
keiner zu sagen wagt. Das gefällt mir.“ – spricht in etwa der politischen Stimmung Aber die Arbeiterpartei ist seit den
„Er sagt extreme Dinge, um die anderen von John de Vaal. Zusammen mit seinem Neunzigern auf Agenda-2010-Kurs. Ihr
zu provozieren, damit man die Extremis- Sohn Nick putzt der 52-Jährige die Schau- Gesicht sind Politiker wie Jeroen Dijssel-
ten erkennt und fortschicken kann. Sein fenster in der Fußgängerzone, gleich ge- bloem, der smarte Finanzminister und Ver-
Haarschnitt? Das ist totes Haar, wenn Sie genüber vom Stadthuis. Zumindest bei der handler der EU-Finanzgruppe. „Das sind
mich fragen. Zu oft gebleicht.“ Arbeit ist er sein eigener Herr. Managertypen mit perfekten Reden und
„Die Niederlande sind nicht plötzlich „Ich gehe nicht zur Wahl. Es spielt so- in perfekten Anzügen. Die würden nie-
weniger liberal geworden“, sagt Ton wieso keine Rolle. Auch Wilders hat nur mals einen Kaffeefleck auf dem Hemd ha-
Nijhuis, Direktor des „Deutschland Insti- eine große Klappe. Die wissen alle nicht, ben. Wie sollen die Leute denen vertrau-

DER SPIEGEL 11 / 2017 63


Gesellschaft

Kjell van der Lee Ria Faaij

en?“ So sagt es ein führendes Mitglied der Markt an. Zurzeit sind in der Zweiten Haarfarben. Meine Nachbarn sind Musli-
Partei, anonym. Kammer, dem Parlament, 11 Parteien ver- me, aber sie sagen, der Koran sei eine Bot-
Es ist vorgekommen, berichtet er, dass treten. 80 haben sich zur Wahl beworben, schaft der Liebe. Mag sein. Ich bin Christin,
Gemeinderäte der Arbeiterpartei ihren von denen 28 zugelassen wurden, darunter und ich wähle die Partei Vereinigte Chris-
Wählern empfohlen haben, lieber wegzu- 2 Seniorenparteien, die Tierschutzpartei ten. Es ist nicht gut, wie Wilders gegen die
ziehen, wenn es Probleme mit strenggläu- (sie liegt nach Umfragen bei vier Prozent) Muslime Hass predigt. Möglich, dass ihn
bigen Nachbarn gab. Und die Sozialarbei- und 2 für die Christen. in meinem Bekanntenkreis viele wählen.
ter sagten, es sei an den Guten, Geduld Es gibt eine „Partei der Nichtwähler“, Aber sie sagen es nicht. Ikke, ikke en de
mit den Neuen zu haben. Sie luden die die um Wähler wirbt und verspricht zu rest kan stikken – Ich, ich, der Rest ist egal.
Verantwortung auf diejenigen ab, die sich halten, was sie verspricht. Es gibt Europas Das ist die Haltung. Die Ausländer werden
korrekt verhielten. erste Migrantenpartei, die „Bewegung bei der Wohnungsvergabe nicht bevorzugt.
Das habe die Leute wütend gemacht. DENK“. Sie fordert eine Migrantenquote Ich habe 35 Jahre lang in einer Wohnungs-
Wer 15 000 Euro im Jahr verdient, der kann bei Vorständen, eine Rassismuspolizei und baufirma gearbeitet, ich weiß das. Es
nicht einfach umziehen. Der hat ein Recht die Gleichstellung von Koranschulen. Kei- macht mich wütend, wenn die Leute hier
darauf, beschützt zu werden. „Also sind ne Partei führt den Multikulti-Ansatz so die Unwahrheit glauben.“
sie enttäuscht, fühlen sich alleingelassen konsequent weiter. Zumindest sie hat noch Überzeugungen.
und merken: Keiner hört ihnen zu. Die Elfriede Brown wird diese Partei jeden- In den letzten Umfragen liegt Geert Wil-
Stimmen für Wilders sind ein Hilferuf.“ falls nicht wählen. Dazu ist sie zu sehr ders mehr oder weniger gleichauf mit den
So der Sozialdemokrat. Seine Partei „eine altmodische Holländerin“, wie sie Bürgerlichen von Ministerpräsident Mark
liegt bei unter zehn Prozent der Stimmen. sagt. Sie hat gerade die Einkäufe erledigt, Rutte, zuletzt mit sinkender Tendenz. Weil
Ria Faaij ist die 58-jährige Besitzerin ei- aus ihrem Korb schaut eine Packung Zimt- alle anderen Parteien eine Koalition mit
nes Lotto- und Tabakgeschäfts im Zentrum tee hervor. Ihr Haar ist zu allerlei Zöpfen der PVV ausgeschlossen haben, wird die
von Almere Haven. gewebt und mit einem weißen Tuch zu- kommende Regierung wohl wieder eine
„In meinen Laden kommen alle und rückgebunden. Koalition der Mitte sein. Genau wie in Al-
reden. Ich höre hier alles, Klagen über In den Siebzigern wurde auch Surinam mere. Genau, wie es viele nicht mehr wol-
Schuldnerhilfe, Sozialhilfe, Arbeitslosig- unabhängig, Hollands Kolonie an der len. Nicht nur in Almere.
keit. Es ist ein Drama in den Niederlanden. Grenze zu Brasilien. Viele dort behielten Die Stadt Almere war ein Traum, den
Meine Mutter ist jetzt 90 Jahre alt. Sie hat ihren Pass und zogen ins Mutterland, etwa die Niederlande von sich selbst hatten.
42 Jahre lang einbezahlt. Jetzt bekommt in die Sozialwohnungen im Südosten von Dem Meer abgerungen, sorgsam geplant
sie eine Putzhilfe für drei Stunden alle Amsterdam. Dorthinein stürzte 1992 eine und zum allgemeinen Wohl pragmatisch
zwei Wochen. Nach so viel harter Arbeit. israelische Boeing 747. Elfriede Brown, verwaltet. Und jetzt ist das Polderland wie-
Die Parteien reden viel, und nichts kommt heute 61 Jahre alt, verlor bei dem Un- der zur Brache geworden, diesmal zur poli-
heraus. Was ich wähle? Die Partei der Tie- glück ihre Wohnung. So kam sie nach tischen. Die Bindungen an die Parteien,
re. Tiere sind die ehrlichsten Wesen.“ Almere. an die Kirchen haben sich gelockert, alles
In den Niederlanden gibt es keine Fünf- „Ich bin als holländisches Mädchen in ist liquider geworden und ins Rutschen ge-
prozentklausel. Das Parteiensystem nähert Surinam geboren. Holländisch ist meine raten. Bleibt nur die alte Hoffnung, dass
sich zunehmend einem Special-Interest- Sprache. Ich denke nicht in Haut- oder die Deiche halten.

64 DER SPIEGEL 11 / 2017


Nur ein paar Beispiele, die belegen, dass es weder an
der Gesellschaftsordnung noch am Kontinent liegt.
In den späten Siebzigerjahren haben ostdeutsche Zoll-
beamte das Fußballsammelalbum, das ich mir so sehn-
süchtig gewünscht hatte, aus dem Westpaket gestohlen.
Man sah noch die Abdrücke des Albums.
Gefährder Nach dem 11. September schickte mir meine Redaktion
aus Hamburg ein Antibiotikum nach New York, das ich
im Falle einer Milzbrandattacke einnehmen sollte. Damals
Leitkultur Alexander Osang fragt sich, hatten wir in Amerika alle große Angst vor Milzbrand-
attacken. Das Antibiotikum war in New York ausverkauft.
ob man sich die wilde Wochen später rief irgendein US-Detective bei mir in
Welt vom Leib halten kann. Brooklyn an und stellte Fragen zu der Arznei, die auf
seinem Schreibtisch gelandet war. Ich beantwortete die

G
erade kam ein letztes Weihnachtspaket. Ich freue Fragen, ich füllte Formulare aus. Es half nichts, die le-
mich, wenn ein Paket kommt. Ich mag die Post. Sie bensrettende Medizin kehrte nach Deutschland zurück.
ist menschenverbindend. Ich schreibe aus jeder Vor zwei Monaten hat mir eine deutsche Flughafen-
Stadt der Welt, in die ich reise, fünf Postkarten an immer beamtin eine Flasche zwölf Jahre alten kubanischen Rum
dieselben Leute. Auf Kuba habe ich neulich eine Briefmarke abgenommen, den ich im Duty-free-Shop in Havanna ge-
mit Lenin-Motiv auf eine Che-Karte geklebt und die Karte kauft hatte. Die Flasche war vorschriftsmäßig in einer
an einen Freund geschickt, mit dem ich einst aus dem Kom- Duty-free-Tüte eingeschweißt. Half nix. Der Kassenzettel
munismus aufgebrochen bin in Richtung Kapitalismus. Es fehlte. Ich war mit dem Rum von Havanna nach Düssel-
ist nicht immer leicht, noch Postkarten und Briefmarken zu dorf geflogen, ein paar Flughafengänge entlanggelaufen
finden, an manchen Orten sind sie in Vergessenheit geraten. und wollte jetzt weiter nach Berlin. Ich war die ganze
Jedenfalls stand der Postbote vor der Tür mit einem Pa- Nacht geflogen und ein bisschen dünnhäutig. Sie holte
ket, das interessant aussah. Die meisten Pakete sehen ja den Vorgesetzten. Das ist nie ein gutes Zeichen. Man
langweilig aus. Man weiß, was drin ist. Ich öffne viel Post könnte annehmen, dass mit der Ranghöhe die Vernunft
nicht, weil sie mich langweilt. zunimmt, aber das Gegenteil ist der Fall.
Das Paket aber sah gut aus. Das lag daran, dass wir es
selbst gepackt hatten.
Es war das Weihnachtspaket, das wir unserer Tochter
vor zwei Monaten nach Bolivien geschickt hatten. Meine
Tochter arbeitet in einem Heim für traumatisierte junge
Frauen in Santa Cruz. Es ist ein kirchliches Heim, geleitet
von einer alten österreichischen Nonne. Die Mädchen, die
im Heim betreut werden, haben schlimme Dinge erlebt.

ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL


Wenn wir skypen, klammern sie sich an meine Tochter
wie Äffchen und rufen irgendwas in das kleine Telefon,
aus dem unsere blassen Berliner Wintergesichter leuchten.
Im Hintergrund sieht man Avocado- und Mangobäume,
Hunde und Katzen, meist kräht ein Hahn. Manchmal flieht
eines der Mädchen aus dem Heim und kehrt zur Familie
zurück, zum Vater oder Onkel, der es missbraucht hat.
Die jungen Frauen sind zwischen 13 und 19 Jahre alt, Terrorziele
meine Tochter ist 18. Ich bin stolz auf sie.
Im Paket waren Dominosteine, Plätzchen, die meine „Kassenzettel fehlt?“, fragte der Vorgesetzte. „Das ist
Frau gebacken hatte, ein Dresdner Stollen und das alte immer das Problem mit den Kubanern.“
iPad meiner Tochter. Sie schreibt viel. Ihr Computer ist Sie kannten das Problem. Ich brüllte ein bisschen rum.
kaputt, und es gibt keinen Apple Store in Santa Cruz. Auf Ein weiterer Vorgesetzter erschien. Inzwischen ging es
dem Karton klebten verschiedene Zettel, auf einem stand, nicht mehr um den Rum oder Kuba. Es ging um mein Ver-
dass es wegen Gefahr zurückgeschickt worden sei. Ich halten. Drei Zollbeamte sahen mich an. Sie sahen alle aus
dachte, womöglich liegt es an den Plätzchen, die meine wie Trump.
Frau in Form der Freiheitsstatue und des Fernsehturms Man kann alles unterbinden, jeglichen Austausch ein-
gebacken hatte, Referenzen an New York und Berlin, wo stellen, Handelsabkommen verbieten, Mauern bauen. Man
meine Tochter ihre Kindheit verbracht hat. Aber auch kann vom Flughafen Kabul ins Stadtzentrum fahren, um
Terrorziele. Man denkt ja sofort, man ist schuld. Das ma- zu sehen, wo das endet. Wenn man das drei Düsseldorfer
chen sie mit einem. Plätzchen! Zollbeamten an einem Dezembermorgen ins Gesicht
Die Gefahr aber bestand in den Batterien des iPad. schreit, wirkt man natürlich wie ein Gefährder. Und der
Was ist los mit Evo Morales? Wieso enden eigentlich Rum ist sowieso weg.
so viele Politiker, die mit guten Absichten starten, als pa- Vielleicht bin ich zurzeit etwas angeschlagen, seelisch.
ranoide Arschgeigen? Am Anfang verstaatlichte Morales Aber das Paket war das Traurigste, was ich seit Langem ent-
die Öl- und Gasquellen, am Ende durchwühlt er Pakete, gegennehmen musste. Als ich die Dominosteine sah, die ein-
die für junge Frauen gedacht sind. Erst bekämpft er Leute mal um die halbe Welt geflogen waren und wieder zurück,
wie Trump, dann wird er selbst so einer. In schwachen Dominosteine, die in der Hitze eines bolivianischen Zoll-
Stunden glaube ich, die ganze Welt ist bevölkert von Ver- amts geschwitzt hatten und dann wieder zurück ins kalte
antwortungsträgern, die herzlose Dinge tun. Berlin mussten, dachte ich: Die Terroristen haben gewonnen.

DER SPIEGEL 11 / 2017 65


FEDERICO GAMBARINI / DPA
Energiekosten

Digitale Stromzähler messen falsch


Wissenschaftler finden Abweichungen von teilweise mehr als 500 Prozent.
Eigentlich sollen die neuen digitalen Stromzähler beim Spa- nahme nicht mehr der bislang üblichen Wellenbewegung,
ren helfen. Von den Herstellern werden sie deshalb sogar sondern einem „abrupteren Muster“. Darauf seien die bean-
als „intelligente“ Geräte angepriesen. Doch das Gegenteil standeten Zähler jedoch nur unzureichend vorbereitet und
könnte der Fall sein. Stromkunden, deren Haus oder Woh- lieferten somit fehlerhafte Werte, so das Ergebnis der Ver-
nung bereits mit einem der neuen Apparate ausgestattet ist, suchsreihen. In den Niederlanden haben Verbraucherschüt-
zahlen möglicherweise zu hohe Rechnungsbeträge an ihre zer und Netzbetreiber bereits reagiert. Sie fordern, dass die
Versorger. Diesen Verdacht legt eine Studie der Universität Geräte flächendeckend überprüft und gegebenenfalls ausge-
Twente in den Niederlanden nahe. Der Wissenschaftler tauscht werden. Leferink rät auch deutschen Kunden, ihren
Frank Leferink hatte dort die Genauigkeit von neun han- Verbrauch zu kontrollieren und sich bei Verdacht mit ihrem
delsüblichen und teilweise auch in Deutschland installierten Versorger in Verbindung zu setzen. Bei der Bundesnetz-
Digitalzählern überprüft – mit erschreckenden Ergebnissen. agentur in Bonn ist die Studie bislang nur in Grundzügen
Mehr als die Hälfte der Stromzähler wiesen Werte aus, die bekannt. Man werde sich die Ergebnisse ansehen und gege-
weit über dem tatsächlichen Verbrauch lagen, teilweise um benenfalls reagieren, heißt es dort. Hierzulande sind bis-
bis zu 582 Prozent. Grund für die hohen Abweichungen sei lang rund sechs Millionen der digitalen Stromzähler ver-
die zunehmende Anzahl von Stromspargeräten in den baut worden. In den nächsten Jahren sollen sie Zug um Zug
Haushalten, so die Studie. Sie folgten bei der Stromauf- alle herkömmlichen Zähler ersetzen. fdo

Dänisches Bettenlager zur Zahlung einer Vertrags- suchung jedoch chinesische nicht nur hinters Licht
Wo Kiefer draufsteht, strafe von 20 000 Euro Spießtanne enthielt. Inner- geführt“, sagt ein WWF-
verurteilt. Hintergrund der halb der vergangenen zwei Sprecher, „das Verhalten
ist nicht Kiefer drin Klage gegen den Wohn- und Jahre war dies bereits der zeigt auch eine ausgeprägte
Das Dänische Bettenlager Bettenmarkt war eine dritte Fall dieser Art. Zuvor Ignoranz gegenüber den
hat erneut falsche Angaben Holzanalyse des WWF. Die hatte der Möbelhändler etwa Dokumentationspflichten der
zur Herkunft von Holz- Umweltschützer waren auf Produkte mit Fichte be- EU-Holzhandelsverordnung.“
produkten gemacht. Das Un- einen Tisch gestoßen, der als worben, obwohl sich darin Das Dänische Bettenlager
ternehmen wurde deshalb massive Kiefer beworben Tropenholz nachweisen ließ. wollte sich auf Fragen dazu
vom Landgericht Flensburg wurde, laut der Unter- „Hier werden Konsumenten nicht äußern. nkl

66 DER SPIEGEL 11 / 2017


Wirtschaft
Lebensmittel „rot“ signalisiert dem Ver-
„Wer isst nur eine braucher: Bitte davon nur
Handvoll Chips?“ wenig essen!
SPIEGEL: Warum kritisieren
Regina Sie die Ampelidee der Indus-
VERBRAUCHERZENTRALE HB

Aschmann, 61, trie als „Werbemasche“?


Ernährungs- Aschmann: Weil die Hersteller
beraterin bei die Ampel nur auf bestimmte
der Bremer Portionsgrößen anwenden –
Verbraucherzen- und deren Größe legen sie
trale, über ge- selbst fest. Das ist clever,

ALEXANDRE MARCHI / PICTURE ALLIANCE / DPA


sunde Portionsgrößen und eine kann aber Verbraucher in
Nährwertampel für verarbeitete die Irre führen.
Lebensmittel SPIEGEL: Weil die Portionen
so klein sind, dass die Ampel
SPIEGEL: Die Lebensmittelkon- fast immer auf Grün steht?
zerne Unilever, Mars, Nestlé, Aschmann: Ja, die Portions-
Coca-Cola, PepsiCo und angaben sind völlig unrealis-
Mondelez wollen ihre Pro- tisch. Wir haben die Emp-
dukte mit einer Nährwert- fehlungen bei Müsli und BMW-Modell 5er Touring
ampel kennzeichnen. Wie Chips nachgewogen. Von
muss man sich das vorstellen? 40 Gramm Müsli beim Früh-
Aschmann: Eine solche Ampel stück wird kaum jemand satt. BMW Krüger. Von einem „neuen
fordern wir seit Jahren. Sie Und wer isst nur 30 Gramm „Neuer Angriffsplan“ war die Rede.
soll anschaulich machen, wie
hoch der Gehalt an Zucker,
Chips? Das ist gerade mal
eine gute Handvoll. Solche Angriffsplan“ Vergangenes Jahr war die
Marke BMW in der weltwei-
Fett, Salz und ungesättigten Angaben führen die Ampel Der Autohersteller BMW will ten Absatzstatistik hinter den
Fettsäuren in einem Lebens- ad absurdum. bis Jahresende den Spitzen- Rivalen Mercedes zurück-
mittel ist. „Grün“ steht bei- SPIEGEL: Was schlagen Sie platz unter den meistverkauf- gefallen. Das hatte intern für
spielsweise für wenig Zucker, vor? ten Premiummarken zurück- Unmut gesorgt. Beim Neu-
„gelb“ für etwas mehr. Und Aschmann: Die Ampel sollte erobern – zumindest auf dem jahrstreffen der Führungskräf-
dem Verbraucher eine wirk- Heimatmarkt Europa. Dieses te im Januar hatte Aufsichts-
liche Hilfe beim Einkauf sein. Ziel hat BMW-Chef Harald ratschef Norbert Reithofer
Dazu müsste sie sich aber Krüger am Dienstagabend eine Brandrede gehalten, in
bei allen verarbeiteten Le- in Genf vor führenden Ver- der er eine „Siegermentali-
FOODCOLLECTION / MAURITIUS IMAGES

bensmitteln auf eine ein- triebsmitarbeitern ausgege- tät“ forderte. BMW sei dabei,
heitliche Mengenan- ben. Die neuen Modelle der „die Deutungshoheit in unse-
gabe von 100 Gramm 5er-Reihe, die dieses Jahr auf rer Industrie an Mercedes zu
oder 100 Milliliter be- den Markt kommen, sollen verlieren“. Er sei mit Platz
ziehen. Nur so ist eine Ver- den Absatz ankurbeln. „Es zwei „nicht zufrieden“, so
gleichbarkeit möglich – und gibt in Europa jetzt keine Reithofer: „Setzen Sie alles
so ist es etwa in Großbritan- Ausrede mehr, nicht die daran, BMW wieder an die
nien längst Vorschrift. one Nummer eins zu sein“, sagte Spitze zu bringen.“ sh

Die Samstagsfrage Warum geht es den Briten so gut?


Seit die Briten im vergangenen Juni für den Austritt Um den Brexit-Schock abzumildern, hatte die briti-
aus der Europäischen Union votiert haben, warnen Britisches BIP sche Notenbank vergangenen Sommer die Zinsen
Ökonomen vor den schlimmen wirtschaftlichen Veränderung im Vergleich auf ein Rekordtief gesenkt, die Verbraucher grei-
Folgen der Trennung. Die jüngsten Zahlen schei- zum Vorjahr, in Prozent fen zu und finanzieren Käufe zunehmend auf
nen die Skeptiker Lügen zu strafen: Um 1,8 Pro- * Prognose Pump. Teilweise ziehen sie Anschaffungen vor,
zent wuchs die Wirtschaft im vergangenen Jahr, 2,0 weil sie einen Anstieg der Preise fürchten. Und
1,8 2017* 1,7
und gerade hat Schatzkanzler Philip Hammond
2016 1,6 *
genau der zeichnet sich bereits ab. Das schwache
die Prognose für 2017 auf zwei Prozent angeho- 2018* 2019 Pfund verteuert die Einfuhren, der Effekt schlägt
ben. Wie kann das sein? Erstens sind die Bedingun- zunehmend auf die Verbraucherpreise durch.
gen des Brexit noch nicht verhandelt, und zweitens Zieht die Inflation weiter an, schwächt dies nicht nur
wird er frühestens in zwei Jahren vollzogen. Vorläufig die Kaufkraft der Bürger, sondern womöglich muss die
laufen also die Handelsgeschäfte zwischen den Briten und der Bank of England auch mit höheren Zinsen gegensteuern.
EU normal weiter. Die Briten exportieren sogar mehr, weil Dann dürften sich die Unternehmen mit Investitionen noch
das Pfund nach dem Referendum deutlich gefallen ist und stärker zurückhalten, als sie es angesichts der Unsicherheit
Ausfuhren günstiger sind. Vor allem aber hat der Konsum über den Brexit ohnehin tun. All das spricht dafür, dass das
zuletzt das Wachstum getrieben. Ist den Briten einfach nicht Wachstumshoch nicht anhält. Hammond hat denn auch für
bange vor dem Brexit? Plausibler sind andere Erklärungen: die kommenden Jahre die Prognosen gesenkt. mhs

DER SPIEGEL 11 / 2017 67


Wirtschaft

LAURENT CERINO / REA / LAIF


Wahlplakate mit der Präsidentschaftskandidatin des Front National Le Pen

Vom Exit zum Exitus


Finanzpolitik Was geschieht mit der Währungsunion, wenn demnächst
in Frankreich, den Niederlanden oder in Italien die
EU-Gegner Wahlen gewinnen? Drei Szenarien zur Zukunft des Euro.

E
s ist ein Paradoxon. Wirtschaftlich in fast allen Ländern. 2013 lag sie noch bei ten mussten, entgegen weitverbreiteter
präsentiert sich die Eurozone so so- zwölf Prozent und sinkt seitdem stetig auf Kritik doch nicht nutzlos oder kontrapro-
lide wie seit Ausbruch der Krise vor nunmehr zehn Prozent. duktiv waren.
sieben Jahren nicht mehr. Und trotzdem Der gemeinsame Währungsraum wächst Wäre da nicht der geplante Brexit. Und
könnte 2017 das Jahr werden, in dem der seit 16 Quartalen ununterbrochen. Die wäre da nicht die Angst, dass weitere Län-
Euro auseinanderbricht. Die Risiken sind wirtschaftliche Belebung hat jedes einzel- der dem Beispiel der Briten folgen und der
diesmal allerdings nicht ökonomisch, son- ne der 19 Mitgliedsländer erfasst, selbst Union den Rücken kehren könnten. Und
dern vor allem politisch. das chronisch angeschlagene Griechenland in diesem Fall auch Mitglieder der Wäh-
Eigentlich scheint alles gut, oder zumin- verzeichnet Zuwachsraten. rungsunion. In der nächsten Woche wäh-
dest auf dem Weg der Besserung. Die Wirt- Die guten Zahlen haben mehrere Ur- len die Niederländer, beste Aussichten hat
schaft der Eurozone wuchs im vergange- sachen. Zum einen belegen sie, dass die der Europafeind Geert Wilders, der sein
nen Jahr mit 1,7 Prozent stärker als die lockere Geldpolitik der Europäischen Zen- Land aus Euro und EU führen will. In
der USA, die auf 1,6 Prozent kam. Die tralbank (EZB) endlich wirkt, zum ande- Frankreich kämpft Marine Le Pen für die
Stimmungsindikatoren zeigen eurozonen- ren, dass die Reformen, zu denen sich die Rückkehr zum Franc. In Italien könnte es
weit nach oben, die Arbeitslosigkeit sinkt Länder im Gegenzug für Hilfen verpflich- ebenfalls bald Neuwahlen geben – auch
68 DER SPIEGEL 11 / 2017
dort haben die Gegner der gemeinsamen Gute Zeichen,... funktionierende Arbeitsteilung mit Deutsch-
Währung gute Chancen. + 2,7 land eingeübt haben. Schon vor der Ein-
Grund genug also, einmal durchzuspie- Spanien führung des Euro hatten die Niederländer
len, was folgt, wenn immer mehr Europäer ihren alten Gulden nahezu sklavisch an die
Euroraum +2,3
den Euro abwählen sollten. Was würde +1,6 D-Mark gekoppelt. Das Land und seine
zum Beispiel passieren, wenn die Nieder- + 1,5 Wirtschaft wurden so faktisch Teil des deut-
+1,6
lande, immerhin ein Gründungsmitglied +0,9 schen Währungsraums, eine Entwicklung,
der EU, den Klub verlassen würden? + 0,6 Italien die sich nach Einführung des Euro vertiefte.
Die traditionellen Geschäftsbeziehun-
gen würden durch Wechselkursschwankun-
Der Nexit 2011 2017 gen gestört, durch die Erhebung von Zöl-
Die ökonomischen Erschütterungen für die PROGNOSE len womöglich zerrüttet. „Der Nexit wäre
– 1,0
Eurozone würden sich in Grenzen halten. ein Anschlag auf das niederländische Ge-
Die Niederlande machen gerade einmal schäftsmodell“, prophezeit Bankenvolks-
sieben Prozent der Wirtschaftskraft im ge- –1,8 wirt Brzeski. Die Folgen wären weniger
Wirtschaftswachstum
meinsamen Währungsraum aus. Wachstum, weniger Wohlstand, weniger
Veränderung des Brutto-
Das Ausscheiden des Landes wäre für inlandsprodukts gegen- Jobs.
die restlichen Mitgliedsländer verkraftbar, über dem Vorjahr,
wenn auch bedauerlich, vor allem für in Prozent
Deutschland. Mit den Niederlanden würde
Der Frexit
die Bundesregierung einen Verbündeten Portugal Quelle: Ameco, Eurostat
Marine Le Pen, die im Mai zur Präsidentin
verlieren, der von der Solidität der Staats- Frankreichs gewählt werden will, betrach-
finanzen bis hin zur Stabilitätsorientierung tet den Euro als Zumutung: „Der Euro
der Geldpolitik dieselben Ansichten pflegt. wurde nicht als Währung, sondern als Waf-
Im EZB-Rat geriete Bundesbankpräsi- Arbeitslosigkeit fe genutzt.“ Die Vorsitzende des Front Na-
dent Jens Weidmann noch mehr in die De- Quoten in ausgewählten tional will Frankreich nach ihrer Wahl mit-
fensive. Schmerzlicher aber würde sich der Ländern hilfe eines Referendums in die nationale
Alleingang auf die Niederlande selbst aus- 2013 2016 Souveränität führen.
wirken. Dabei könnten sich Wilders und Griechenland 27,5 23,4 Die Finanzmärkte jedenfalls scheinen
seine Gesinnungsgenossen, die das Aus- Griechen- einen Sieg Le Pens zumindest für denkbar
scheiden aus der EU und die Einführung Spanien 26,1 19,6 zu halten. „Der jüngste Anstieg der Ren-
land
einer eigenen Währung betreiben, direkt Portugal 16,4 11,2 diten – den ich für vorübergehend halte –
nach dem Schritt durchaus bestätigt fühlen. Irland 13,1 7,9 reflektiert gewisse Sorgen vor einem Ver-
Denn anders als beim Austritt von Defi- Italien 12,1 11,7 lassen der Währungsunion“, warnte Mitte
zitländern und Pleitekandidaten, etwa Februar sogar François Villeroy de Galhau,
Griechenland, würde die neue Währung Euroraum 12,0 10,0 der Präsident der Banque de France. Der
des Landes, der neue Gulden, nicht abwer- – 9,1 Zinsabstand zu deutschen Staatsanleihen
ten, sondern zum Höhenflug ansetzen, zu- liegt dreimal so hoch wie im vergangenen
mindest kurzfristig. August.
Die Niederländer exportieren mehr als 3,9 Über Nacht könnte Le Pen den Franc
sie einführen, deshalb würde der neue Gul- ...schlechte Zeichen wieder zur nationalen Währung und zum
den von den Handelspartnern verstärkt offiziellen Zahlungsmittel machen. Nur für
nachgefragt. Weil die Niederlande mit ih- Risikoaufschläge 20 Prozent der Staatsanleihen würde in-
rer robusten Konjunktur und ihren ver- Renditedifferenz* gegenüber ternationales Recht gelten, hat der Wahl-
deutschen Staatsanleihen,
gleichsweise gesunden Staatsfinanzen als 3,0 in Prozentpunkten kampfleiter des Front National schon mal
Hort der Stabilität gelten würden, wären recherchiert. Beim weit überwiegenden
sie ein attraktives Ziel für global agierende Sinkendes Vertrauen der Anleger Teil der Staatsanleihen sei nationales Recht
in die wirtschaftliche Zukunft eines
Anleger. Landes führt zu steigenden anwendbar, Frankreich könne diese Schul-
Beide Entwicklungen ließen den neuen Renditen der Staatsanleihen. den fortan in Francs zurückzahlen. Ziel
Gulden unter Aufwertungsdruck geraten, der Aktion sei „eine kompetitive Abwer-
was die Exportwirtschaft treffen würde. August Anfang März tung“, so der Front-National-Mann, Exper-
Dennoch wäre der Effekt nicht von Dauer, 2016 2017 ten rechnen mit einem Kursverlust von 20
wie Carsten Brzeski voraussagt, Chefvolks- bis 25 Prozent gegenüber dem Euro.
wirt der ING-DiBa, einer Tochter der nie- 1,8 Guntram Wolff, der Chef des Brüsseler
derländischen Großbank ING. Er rechnet Forschungsinstituts Bruegel, hat dafür we-
damit, dass der Nexit auf lange Sicht kata- niger schöne Worte: „Das wäre ein Staats-
*bei 10-jährigen
strophale Folgen für das Land hätte. bankrott.“ Denn Frankreichs Schulden wä-
Staatsanleihen;
„Die Niederlande sind ein Durchgangs- 1,2 Quelle: Thomson ren aus Sicht internationaler Investoren
land für viele Produkte aus der Eurozone Reuters Datastream auf einen Schlag deutlich weniger wert.
und der EU, die über den Hafen Rotterdam Da Frankreich und seine Banken vernetzt
verschifft werden“, sagt er. Wäre das Land seien, würde das „einen Herzinfarkt für
nicht mehr Teil des Binnenmarktes, würde das gesamte Finanzsystem darstellen“. Die
0,6
viel Warenverkehr auf andere Häfen aus- Pleite der US-Bank Lehman Brothers, die
weichen, allen voran Hamburg und Ant- die globale Finanzkrise einst ausgelöst hat-
werpen. 0,2 te, sei da vergleichsweise harmlos.
Hinzu kommt, dass das Land und seine Zu einer abrupten Krise muss es aller-
Unternehmen über Jahrzehnte eine gut Portugal Italien Frankreich dings nicht kommen. Denn die Luft könn-
DER SPIEGEL 11 / 2017 69
Wirtschaft

mindest diejenigen Anleger, die Schuld-


scheine nach nationalem italienischen
Recht halten, müssten Rückzahlungen in
Lire akzeptieren, die dann je nach Abwer-
tung bis zu 50 Prozent weniger wert wären.
Auch italienische Banken, die immer noch
viele Staatsanleihen in ihren Bilanzen ha-
ben, drohte die Schieflage.
Trotzdem sagt Ifo-Präsident Fuest: „Das
ist für Italien kein Weltuntergang.“ Mit ei-
gener Währung, die gegenüber dem Euro
abwertet, könnten die Italiener zumindest
einen Teil ihrer Sanierungskosten an die
übrigen Europäer weiterreichen. „Insbe-
sondere wir Deutschen sind erpressbar“,
sagt der Münchner Professor nüchtern.
Denn schon längst findet, weitgehend
unbemerkt von der Öffentlichkeit, ein gro-
ßer Exodus statt. Das sogenannte Target-
System der Europäischen Zentralbank
(EZB) registriert genau die Zahlungsströme

PETER DEJONG / DPA


zwischen den Notenbanken. Im Februar
stiegen die Verbindlichkeiten Italiens auf
einen Rekord von 386 Milliarden Euro ge-
genüber dem Eurosystem. Experten sehen
Politiker Wilders auf falscher Banknote: Attentat auf das niederländische Geschäftsmodell darin Anzeichen einer sich beschleunigen-
den Kapitalflucht.
te auch langsam entweichen. Allerdings Rund um Deutschland könnte wieder Solange die Währungsunion Bestand
kaum mit geringeren Folgen. Sollte Le Pen eine D-Mark-Zone entstehen mit Ländern hat, ist das alles kein Problem, der italie-
gewählt werden, würde schon vor dem wie Österreich, den Benelux- oder den nische Euro unterscheidet sich nur im
entscheidenden Referendum über einen baltischen Staaten, die ihre Währung Design vom deutschen. Doch was ist mit
Euroaustritt eine massive Kapitalflucht in mehr oder weniger fest an die Mark bin- den Außenständen, wenn die Italiener aus-
Richtung Deutschland und in den US- den. Doch die Verwerfungen wären auch steigen?
Dollar einsetzen. Nicht nur aus Frank- hier enorm. Unternehmen der D-Mark- EZB-Präsident Mario Draghi war das
reich, sondern vor allem aus den südlichen Zone kämen unter massiven Druck, weil Thema so wichtig, dass er einen Brief an
Euroländern Italien, Spanien und Por- ihre Produkte durch die Wiedereinfüh- zwei Europaabgeordnete schickte, die mit
tugal. rung der Mark und deren Aufwertung im dem Euroaustritt liebäugeln: „Wenn ein
Die amerikanische Ratingagentur Moo- Ausland um 10, 20 oder 30 Prozent teurer Land das Eurosystem verlassen sollte,
dy’s geht davon aus, dass es beim Austritt würden. müssten Forderungen oder Verbindlichkei-
eines Landes „zu einem unvermeidlichen ten seiner nationalen Zentralbank gegen-
Schock“ käme nach der Faustregel: „Je
größer das Land, desto größer der Schock.“
Der Italexit über der EZB vollständig ausgeglichen wer-
den“, stellte er scheinbar unmissverständ-
Insbesondere die Krisenländer aus der Wahrscheinlicher noch als das Ausschei- lich klar.
Peripherie Europas müssten mit höheren den Frankreichs erscheint ein Exodus Ita- Doch könnten oder wollten die Italiener
Finanzierungskosten für Staatsschulden liens. Rund die Hälfte der Italiener kann wirklich diese vielen Hundert Milliarden
und Unternehmenskredite rechnen, selbst sich einen Abschied vom Euro vorstellen. Euro, nicht Lire, bei einem Austritt zurück-
wenn sie erst einmal nicht austreten Das Thema von der angeblichen Aus- zahlen? Die Frage wird in den nächsten
wollten. beutung durch die arroganten Deutschen Monaten immer brisanter werden, weil die
„Wir müssten dann ganz schnell Kapi- ist der Wahlkampfschlager zweier mög- Kapitalflucht aus dem Süden weiter stei-
talverkehrskontrollen in Europa einfüh- licher künftiger Regierungsparteien: Fünf gen wird, falls tatsächlich ein Wahlsieg der
ren“, meint Clemens Fuest, Chef des Sterne und Lega Nord. Spätestens nächstes Eurofeinde in Italien droht.
Münchner Ifo-Instituts. Denn die Anleger Jahr, vielleicht auch schon im Sommer, Fuest fordert, dass die Europolitiker sich
würden ihr Geld aus französischen oder wird gewählt. schon jetzt Gedanken über Kapitalver-
italienischen Banken abziehen und diese Kurzfristig betrachtet könnte Italien erst kehrskontrollen machen. Sonst könnte es
damit in Existenznöte bringen. einmal besser dastehen, wenn eine italie- sein, dass bei einem Italexit die Deutschen
Einen Austritt Frankreichs, davon gehen nische Regierung die Lira wieder einführt. auf einem ziemlich großen Sack Lire sitzen
alle Experten aus, würde der Euro kaum Weil die Löhne in der Währungsunion bei bleiben.
überleben. Es käme vom Exit zum Exitus. geringerer Produktivität jahrelang stärker Es ist so gut wie nicht zu berechnen, wie
Auch die südlichen Euroländer, Hauptkon- anstiegen als in Deutschland, ist Italien zu groß die Wahrscheinlichkeiten für die Sze-
kurrenten Frankreichs in Europa, würden teuer geworden. Bei einer massiven Ab- narien sind. Aber eine Erkenntnis scheint
aussteigen, um auf den Abwertungszug wertung wäre nicht mehr nur die italie- sicher: Sie sind, so unwahrscheinlich sie
aufzuspringen. „Dann geht es nur noch nische Luxusindustrie wieder wettbewerbs- wirken mögen, keineswegs unmöglich. Die
um die Frage, wie man den Euro mit dem fähig, sondern plötzlich auch andere Bran- politische Klasse in Brüssel und Berlin täte
geringsten Schaden abwickelt“, sagt der chen. gut daran, sich darauf vorzubereiten.
Bruegel-Ökonom Wolff. Und wie man we- Natürlich würden internationale Inves- Denn: Der Pessimist ist ein Optimist mit
nigstens die Europäische Union trotz der toren die Wiedereinführung der Lira eben- mehr Erfahrung.
Währungskatastrophe erhält. falls als einen Staatsbankrott werten. Zu- Christoph Pauly, Christian Reiermann

70 DER SPIEGEL 11 / 2017


Wirtschaft

Die letzte
terpretieren die Diess-Frage exakt anders- ein Sparprogramm notwendig ist, damit VW
rum: Eine Mitgliedschaft bei der Gewerk- die Investitionen in neue Technik finanzie-
schaft könnte unter seiner Führung künftig ren kann. Doch nachdem Diess die Gangart

Runde
eine Karrierebremse sein. weiter verschärfte, schaltete Osterloh auf
Hinzu kommen viele Streitpunkte bei Fundamentalopposition um. Die Arbeitneh-
der Umsetzung des Zukunftspaktes. So mer boykottierten die Aufsichtsratssitzung.
wollte Diess nicht wie vereinbart 980 Leih- Die Kapitalvertreter mussten allein über die
Autoindustrie Bei der Sitzung des arbeitsverträge in Wolfsburg auslaufen las- Zukunft von VW-Chef Diess beraten.
sen, sondern 1700. Warum sollte das Un- Für die Familien Porsche und Piëch, die
Aufsichtsrats von VW blieb ternehmen die Mitarbeiter weiterbeschäf- zusammen 52 Prozent der Stimmrechte
die Hälfte der Stühle leer. Ein tigen, anschließend vielleicht sogar in eine halten, machte Wolfgang Porsche klar:
offener Affront der Arbeitnehmer Festanstellung übernehmen, wenn man die
Stellen später wieder abbauen muss?
Diess solle bleiben, aber er müsse auf die
Arbeitnehmer zugehen. Der Milliardär
gegen Topmanager Diess. Für Diess wäre das völliger Unsinn. Wa- zeigte viel Verständnis für Betriebsratschef
rum sollte er darüber lange mit den Ar- Osterloh. Das sei „kein Unrechter“. Der

E
s gibt vieles in Wolfsburg, was an- beitnehmervertretern diskutieren? komme „bei seinen eigenen Leuten unter
derswo unvorstellbar wäre. Eine Ab- Kollegen bescheinigen dem Maschinen- Druck“. Da könne man nicht ohne Ab-
findung von mehr als zwölf Millio- bauer, er sei hochintelligent, ein Experte, sprachen etwas ändern. Zugleich aber for-
nen Euro nach 13 Monaten Arbeit. Eine wenn es um Fabriken und Modelle geht. dert Porsche von den Betriebsräten, es mit
Heizung für die Koi-Karpfen des Vor- Das ist seine Welt. Diess bewundert Vi- Diess noch einmal zu versuchen: „Man
standsvorsitzenden. Aber das, was auf der sionäre wie Tesla-Gründer Elon Musk, mit muss miteinander reden.“
Aufsichtsratssitzung am 3. Februar ge- dem er gut bekannt ist. Menschen, die ihre Die Kontrahenten haben miteinander
schah, ist einmalig – für den VW-Konzern Vorstellungen ungebremst von Konzern- gesprochen. Osterloh und Diess haben sich
und für alle Dax-Konzerne des Landes. bürokratien verwirklichen können. verständigt, wie sie Streitpunkte künftig
10 der 20 Mitglieder des Kontrollgremi- In Wolfsburg aber fällt vor allem ein klären wollen.
ums kamen aus Protest nicht zur Sitzung. Mangel auf: Diess verfüge über keinerlei Dass dieser Friede lange hält, ist nicht
Die Arbeitnehmervertreter hatten zuvor Führungskompetenz, sagen Vorstandskol- zu erwarten. Es wirkt eher so, als sei in
gefordert, dass der Chef der Marke Volks- legen. Der ehemalige BMW-Manager sei diesem Kampf die letzte Runde eingeläu-
wagen, Herbert Diess, nicht an dem Tref- nicht in der Lage, sich in die Position seines tet. Angeblich prüfen Juristen bereits, ob
fen teilnehmen solle. Vorstandschef Mat- Gegenübers hineinzuversetzen. Diess mit seiner Frage nach der IG-Metall-
thias Müller lehnte das ab. Er sagte, der Betriebsrat Osterloh beispielsweise musste Mitgliedschaft gegen geltendes Recht ver-
Vorstand werde komplett erscheinen. Da- sich gegenüber Mitarbeitern häufig dafür stoßen hat. Im Falle eines Falles könnte
raufhin blieben Betriebsratschef Bernd rechtfertigen, dass er dem Abbau von der Konzern sich von seinem Vorstand
Osterloh und seine Kollegen der Sitzung 30 000 Arbeitsplätzen zugestimmt hat. Viele trennen, ohne eine Abfindung zu zahlen.
fern. Die Hälfte der Stühle blieb unbesetzt. Gewerkschafter sehen das nicht ein. Oster- Das wäre mal was Neues in Wolfsburg.
Die Auseinandersetzung zwischen den loh setzte sich durch. Er ist überzeugt, dass Simon Hage, Dietmar Hawranek
Arbeitnehmervertretern und dem Chef der
Marke Volkswagen hat damit eine Eskala-
tionsstufe erreicht, die nur noch durch ei-
nen öffentlichen Boxkampf zwischen Be-
triebsrat Osterloh und Vorstand Diess vor
dem VW-Hochhaus zu toppen wäre.
Anlass für den jüngsten Krach sind Ver-
suche von Diess, Korrekturen am „Zu-
kunftspakt“ vorzunehmen, mit dem VW
und die Arbeitnehmer sich auf den Abbau
von 30 000 Arbeitsplätzen verständigt ha-
ben. Diess wollte Leiharbeiterstellen
schneller streichen als vereinbart. Aufreger
waren zudem drei Worte, die der Manager
handschriftlich auf eine ausgedruckte Mail
notiert hatte.
Es ging darin um die Beförderung von
sechs Mitarbeitern. Gewerkschaftszugehö-
rigkeit darf in deutschen Unternehmen
schon bei der Einstellung keine Rolle spie-
PHILIPP VON DITFURTH / PICTURE ALLIANCE / DPA

len. Diess aber versah die Namensliste mit


der Frage: „IG-Metall-Mitgliedschaft?“
Der Volkswagen-Chef versuchte später,
sich zu rechtfertigen. Er habe Hinweise be-
kommen, dass „Einstellungen und Aufstieg
in der Hierarchie von einer Mitgliedschaft
in der IG Metall abhängen“, sagte er. Das
wäre ein Verstoß gegen die Compliance-
Regeln des Unternehmens. Betriebsräte in-

* Auf einer Pressekonferenz im November 2016. VW-Manager Diess, Müller, Betriebsratschef Osterloh*: Nur durch einen Boxkampf zu toppen

DER SPIEGEL 11 / 2017 71


Die Rache des Banksters
Manager Der einstige Chef der Hypo Real Estate, Georg Funke, gilt als Gesicht der Finanzkrise.
Jetzt beginnt der Prozess gegen ihn. Er selbst sieht sich als Opfer – und könnte damit durchkommen.

G
eorg Funke will reden. Endlich re- jenem legendären Wochenende im Herbst den, um von Problemen anderer Banken
den. Jahrelang war der frühere 2008. abzulenken und Tatkraft zu demonstrie-
Chef der Hypo Real Estate (HRE) Funke sieht das völlig anders. „Die HRE ren. Vor Gericht will er Zahlen und Fakten
abgetaucht. Der Banker, für viele Deut- war keinesfalls in einer akuten Notlage“, präsentieren, die das belegen sollen.
sche eine Hauptfigur der Finanzkrise von behauptet er in seiner Ausarbeitung. Das Ist das bloß die Rache des „Gier-Mana-
2008, hatte sich zurückgezogen auf die Son- Institut sei vielmehr „ohne rechtliche gers“ und „Banksters“, wie manche Funke
neninsel Mallorca. Dort brütete er über Grundlage an den Gremien vorbei“ von beschimpften, weil er bis heute auf der
seiner eigenen Version der Ereignisse jenes der Deutschen Bank mit ihrem früheren Auszahlung seines ausstehenden Gehalts
heißen Herbstes, in dem die ehemals dritt- Chef Josef Ackermann und der Finanzauf- von dreieinhalb Millionen Euro und einer
größte Bank Deutschlands ins Wanken ge- sicht „praktisch übernommen … und Rente in Höhe von monatlich 47 000 Euro
raten war und mit Milliarden vom Steuer- schwer geschädigt worden“. Den Rest habe besteht? Oder überzeugt er die Richter
zahler gerettet werden musste. der damalige Finanzminister Peer Stein- von seiner Theorie einer Verschwörung ge-
Den seltenen Besuchern erzählte Funke, brück (SPD) besorgt, indem er von einer gen sein Institut?
61, von dem Unrecht, das ihm widerfahren „geordneten Abwicklung“ der HRE gespro- Eines ist jedenfalls klar: Mit dem zu-
sei, weil nicht er, sondern andere schuld chen habe, die nie geplant gewesen sei. nächst auf 18 Verhandlungstage angelegten
gewesen seien an dem Desaster. Dicke Fehler habe der Verfasser der An- Prozess beginnt in Deutschland eines der
Die Münchner Staatsanwaltschaft hat klageschrift eingebaut, „Fakten aus dem spektakulärsten Kapitel zur juristischen
eine andere These. Sie wirft Funke und Zusammenhang gerissen“ und Entlasten- Aufarbeitung der weltweiten Finanzkrise.
dem ehemaligen Finanzvorstand Markus des übersehen, behauptet Funke. Er glaubt, Eine Krise, in der Deutschland in den Ab-
Fell vor, die Lage der HRE geschönt zu an der HRE sei ein Exempel statuiert wor- grund blickte.
haben. Fell soll obendrein auch Die Sparer waren angesichts
noch die Aktionäre hinters der HRE-Schieflage so verun-
Licht geführt haben – fataler- sichert, dass Bundeskanzlerin
weise kurz vor dem Zusam- Angela Merkel und Finanz-
menbruch der US-Investment- minister Steinbrück vor die
bank Lehman Brothers im Sep- Kameras treten und beschwö-
tember 2008. ren mussten, die Spareinlagen
Der Prozess beginnt am seien sicher. Von Staats wegen
Montag übernächster Woche sicher.
vor dem Landgericht München. Funke und seine Vorstands-
Funke und Fell drohen mehre- kollegen mussten gehen. Der
re Jahre Haft, beide bestreiten Bund stieg bei der HRE ein,
die Vorwürfe und wollen sich verstaatlichte sie, spaltete sie
ausführlich zu ihnen äußern. auf und privatisierte später
Allein die Verlesung der An- einen kleinen Teil. Für die
klageschrift dürfte bis zum Mit- Steuerzahler sind bislang rund
tag dauern. Und dann will Fun- zwölf Milliarden Euro verloren.
ke reden, endlich auf großer Komplett abgerechnet wird al-
Bühne. Er hat seinen über fast lerdings erst in vielen Jahren,
zehn Jahre angestauten Frust wenn die letzten, in eine Bad
in eine 192 Seiten starke Streit- Bank entsorgten Altlasten der
schrift gepackt. Die Buchsta- HRE abgewickelt sein werden.
ben sind extra fett gedruckt, Doch so groß der Schaden
damit er flüssiger vorlesen auch ist, die Hoffnung auf eine
kann. Parallel dazu will Funke schonungslose Aufarbeitung
neun Folien an die Wand pro- der Finanzkrise in diesem Pro-
jizieren, damit die Zuhörer sei- zess dürfte enttäuscht werden.
nen komplizierten Ausführun- Gegen sechs weitere Vorstän-
gen besser folgen können. de, die ebenfalls angeklagt wa-
Und Funke wird kräftig aus- ren, wurde das Verfahren nach
teilen. Zahlung einer Geldauflage be-
HENNING SCHACHT / ACTION PRESS

Laut Anklageschrift der Staats- reits eingestellt.


anwaltschaft mussten Politiker „Unser Ziel ist Freispruch“,
und Bankenvertreter mit Bürg- verkündet Funkes Anwalt
schaften und Krediten in bis Wolfgang Kreuzer angriffslus-
zu dreistelliger Milliardenhöhe tig. Wo sein Mandant sich
verhindern, dass erst die HRE zurzeit aufhält, möchte der
und danach das deutsche Fi- freundliche, stets picobello
nanzsystem kollabierten – an Ehemaliger HRE-Chef Funke: Über fast zehn Jahre angestauter Frust gekleidete weißhaarige Herr

72 DER SPIEGEL 11 / 2017


Wirtschaft

nicht verraten. Zuletzt betrieb Funke zu- Unterstützung mit einem Kreditpaket von te er später dramatisch. Die Staatsanwälte
sammen mit seiner Frau und seinem Sohn über 15 Milliarden Euro. Ackermann, anders hatten schon damals die HRE und ihre Top-
eine Immobilienvermittlung auf Mallorca, als der eigenbrötlerische Funke bestens ver- manager im Visier. Es ging unter anderem
doch die Firma ist aufgelöst. In Justizkrei- netzt in der Finanzwelt, witterte Gefahr. um Untreue, Insiderhandel, verspätete
sen wird gemunkelt, Funke habe sich nach Das Geschäft kam nicht zustande. Es sei Börsenmitteilungen, den Kauf der Depfa
Österreich oder Großbritannien abgesetzt. ein „Fehler“ gewesen, sich an die Deutsche oder Schlamperei bei der Refinanzierung.
Bestätigen will das niemand. Bank zu wenden, schreibt der Ex-HRE- Im Dezember 2008 fand eine groß ange-
Die HRE war entstanden, als die Hypo- Chef in seinem Vortrag für das Gericht, ver- legte Razzia statt, Dutzende Zeugen und
Vereinsbank ihr gewerbliches Immobilien- mutlich wäre es „besser gewesen, stillzu- Beschuldigte wurden vernommen, doch
geschäft mit anderen Randbereichen ab- halten“. Auch seien die Sicherheiten der dann passierte etwas Erstaunliches.
spaltete und im Jahr 2003 an die Börse HRE viel zu niedrig bewertet worden. Statt die Untersuchungen auszuweiten,
brachte. Funke – ein bis dahin unauffälli- Statt einer Zusage von der Deutschen stellten die Ermittler die meisten Komple-
ger Immobilienbanker aus Gelsenkirchen – Bank gab es Bürgschaften vom Staat und xe im Zuge der Anklageerhebung ein. Am
war plötzlich Chef, und er wollte es allen Kreditlinien eines größeren Bankenkon- Schluss blieben nur noch zwei mutmaßlich
zeigen: den HVB-Leuten in München, dass sortiums. Vertreter der Bundesregierung, strafwürdige Taten übrig, die nun vor Ge-
er aus ihrer Resterampe etwas Großes ma- der Bundesbank, der Finanzaufsicht BaFin richt geklärt werden: So sollen Funke &
chen konnte; den Schnöselbankern in sowie Ackermann und andere hochrangige Co. die Liquiditätslage des Unternehmens
Frankfurt, dass man auch dann Erfolg Banker handelten an zwei dramatischen im Jahresabschluss 2007 sowie im Bericht
haben kann, wenn man nicht den Golf- Wochenenden dieses Rettungspaket für die zum ersten Halbjahr 2008 viel zu positiv
Cliquen der Taunuselite angehört. HRE aus – an Funke vorbei. Der betont, dargestellt haben.
Vielleicht gelang ihm das etwas zu gut. die Situation der HRE sei damals nicht Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft
Vielleicht hatte er zum falschen Zeitpunkt „existenzbedrohend“ gewesen. hat die arge Schrumpfung der Anklage mit
Erfolg. Im Jahr 2005 stieg Funkes HRE in Funke, das Opfer? der mangelnden Beweisbarkeit vieler Vor-
den Dax auf. Dann griff er nach der iri- Der damalige BaFin-Chef Jochen Sanio würfe zu tun. Das klingt einleuchtend.
schen Depfa Bank. Das war der Anfang sah das anders. „Ohne die Rettung hätte Vielleicht erlahmte der Ermittlungseifer
vom Ende. sich ein Abgrund klaftertief aufgetan, in irgendwann aber auch, weil der Staat in
Am 23. Juli 2007 kündigte Funke den dem … das Weltfinanzsystem möglicher- dem Doku-Drama gleich in mehreren Rol-
Kauf der Depfa an. Eine Woche später ge- weise zur Hölle gefahren wäre“, formulier- len auftritt: einmal als Alleineigentümer
riet mit der IKB die erste deut- der HRE-Nachfolgegesellschaf-
sche Bank in den Strudel der ten, dann als Ankläger und als
Krise am amerikanischen Im- Exarbeitgeber. Würden Funke
mobilienmarkt. Funke aber be- und seinen Vorstandskollegen
hauptete noch bis Ende 2007, im Strafprozess schwere Ver-
die Verwerfungen in Amerika säumnisse nachgewiesen, müss-
belasteten sein Institut nicht. te der Bund als Rechtsnachfol-
Im Januar 2008 gab die HRE ger der HRE die Altaktionäre
dann doch eine Gewinnwar- in einem Schadensersatzpro-
nung heraus, infolge der US-Im- zess womöglich mit einer Mil-
mobilienkrise müsse sie 390 Mil- liardensumme entschädigen.
lionen Euro abschreiben. Da- Kommt Funke dagegen
nach ging es Schlag auf Schlag. glimpflich davon, müsste der
Immer neue Schockwellen er- Bund als HRE-Eigentümer ihm
schütterten die Märkte, bis am eventuell nur sein ausstehen-
15. September 2008 die Invest- des Gehalt und seine Pensions-
mentbank Lehman Brothers In- ansprüche auszahlen – im Ver-
solvenz anmeldete. gleich ein geringfügiger Betrag.
Daraufhin herrschte zwi- Um die eigene Position ab-
schen den Banken pures Miss- zusichern, haben sich alle Be-
trauen. Sie liehen einander teiligten mit Gutachten muni-
kein Geld mehr. Für Funkes tioniert. Und das Gericht will
HRE war das ein spezielles parallel zum Prozess eine wei-
Problem. Denn kein anderes tere Expertise erstellen lassen –
Kreditinstitut hatte so darauf von einem Augsburger Wirt-
gebaut, sich jederzeit kurzfris- schaftsprofessor. Wer die bis-
tig Geld leihen zu können. lang veröffentlichten Analysen
Und dann begann die Phase liest, wundert sich über den
der fatalen Rettung der HRE. moderaten Ton, in dem sie zu-
Die Phase, über die Funke heu- meist abgefasst sind. Fast alle
te sagt, er sei über den Tisch Autoren schlagen sich auf die
gezogen worden. Eine Woche Seite des Ex-HRE-Chefs: Aus-
A3750 ANDREAS GEBERT / DPA

nach der Lehman-Pleite. schlaggebend für die Schief-


Funke suchte da den Kon- lage in der Finanzkrise, so der
takt zu Deutsche-Bank-Chef überwiegende Kon-sens, sei
Ackermann und bat ihn um nicht das Fehlverhalten der
Vorstände gewesen, sondern
* Mit Lichtprojektion des Künstlers Oliver der Zusammenbruch von Leh-
Bienkowski. HRE-Zentrale in München 2009*: „Übernommen und geschädigt“ man Brothers. Und den hätte

DER SPIEGEL 11 / 2017 73


Fragen Sie Ihren Buchhändler
niemand voraussehen können. Ausgespro-
chen pfleglich geht auch ein Gutachter mit

nach der neuen Frühjah


rsaus gabe! Funke um, der heute im Aufsichtsrat der
Deutschen Bank sitzt: der Rechtsanwalt
Stefan Simon, 47. Seine Positionierung ist
interessant. Im Aufsichtsrat der Deutschen
Bank kämpft Simon gerade darum, dass
Exchef Ackermann auf Boni in Millionen-
höhe verzichtet. Er soll damit für die teuren
Folgen der Finanzkrise büßen. In Sachen
Funke urteilt Simon, dass der Banker die
heraufziehende Finanzkrise nicht hatte vo-
raussehen können.
Frontal angegriffen wird Funke laut An-
klage von einem Angestellten der Wirt-
schaftsprüfungsgesellschaft KPMG. Der
Mann kontrollierte im Auftrag der HRE
die Bücher, wurde zwischenzeitlich selbst
als Beschuldigter geführt und soll im Pro-
zess als Zeuge aussagen.
Er behauptet, dass er und seine Kollegen
die HRE-Führung frühzeitig auf eine dro-
hende Liquiditätsklemme aufmerksam ge-
macht hätten. Doch die habe im Zwischen-
bericht zum Sommer 2008 erklärt, die HRE
sei auch unter einem Worst-Case-Szenario
jederzeit uneingeschränkt zahlungsfähig,
was erwiesenermaßen nicht der Fall war.
Diese Aussage, behauptet der KPMG-
Mann, sei nicht autorisiert gewesen und den
Wirtschaftsprüfern von den HRE-Oberen
„untergeschoben“ worden. Funkes Anwalt
Kreuzer dementiert das. Ein KPMG-An-
gestellter selbst habe angeregt, eine solche
Äußerung in den Lagebericht einzubauen,
sagt er. Zwei Mitarbeiter der HRE-Buch-
haltung hätten den Satz daraufhin formu-
liert, und die Wirtschaftsprüfer hätten ihn
so akzeptiert. Das könne er anhand von
E-Mails und Zeugenaussagen nachweisen.
Am Ende wird das Verfahren vermutlich
zeigen, dass Funke und seine Vorstands-
kollegen zu zögerlich umsteuerten, als es
noch möglich war. Aber waren diese Feh-
ler tatsächlich ursächlich für den Zusam-
menbruch der HRE?
Richterin Petra Wittmann könnte an
Funke ein Exempel statuieren und ihn ins
Gefängnis schicken. Doch es ist unwahr-
Auf unserer Internetseite scheinlich, dass sie das tut. Zu gut ist wohl
Die Auswahl an neuen Büchern, Hörbüchern dokumentiert, wie ahnungslos auch andere
finden Sie aktuelle
Nachrichten aus der und DVDs scheint grenzenlos. Egal ob Belletristik, mächtige Männer an den Schaltstellen der
Welt der Bücher, alle Krimi, Thriller, Historischer Roman, Fantasy oder Finanzwelt wie Ackermann, Sanio oder
SPIEGEL- Bestsellerlisten Sachbuch: buch aktuell präsentiert Ihnen im Bundesbank-Chef Axel Weber bis zur Leh-
sowie ein monatliches man-Pleite agiert haben.
Online-Gewinnspiel! Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter die Und so könnten am Schluss auch bei
www.buchaktuell.de Highlights der jeweiligen Saison. Funke und Fell die Verfahren gegen Zah-
lung einer Geldauflage eingestellt werden –
oder am Ende sogar Freisprüche stehen.
buch aktuell erhalten Sie wie immer Schlechte Unternehmensführung ist nach
kostenlos bei Ihrem Buchhändler. dem Gesetz nicht strafbar.
Juristisch mag das haltbar sein. Mora-
lisch bleibt eine Lücke. Das Versagen der
Banker und Politiker in der Finanzkrise
war groß, der Schaden riesig. Abgerechnet
www.buchaktuell.de
wird jetzt wohl nur in kleiner Münze.
Dinah Deckstein, Martin Hesse

74 DER SPIEGEL 11 / 2017


Wirtschaft

Macht der
die Bürger abstimmen. Laut einer 2016 ver- industrie wenig wahrscheinlich. Aber auch
öffentlichten Umfrage von Eurobarometer ein Weiter-so scheint ausgeschlossen – der
befürworten 87 Prozent, dass die EU Geld öffentliche Druck ist zu hoch.

Masse
für die Ökologisierung der Landwirtschaft Umweltbundesministerin Barbara Hen-
ausgibt. dricks legte im Januar einen Vorschlag für
Doch die EU hat jahrzehntelang eher eine zukunftsfähige Agrarpolitik vor, einen
das Gegenteil gefördert: die Intensivland- „neuen Gesellschaftsvertrag zwischen Bür-
Agrarwirtschaft Welche Land- wirtschaft. Und sie tut es zu großen Teilen gern und der Landwirtschaft“. Die Idee:
immer noch. Eine besondere Rolle spielt Fördergelder werden nur noch an solche
wirtschaft wollen die Bürger? dabei das System der zwei Säulen, auf die Bauern ausgezahlt, die qualitativ hochwer-
Eine Umfrage der EU setzt die die EU ihre Fördermittel verteilt. tige Lebensmittel herstellen und zugleich
Die erste Säule enthält 42 Milliarden Gemeinwohlleistungen erbringen. Gemeint
Agrarindustrie unter Druck. Euro, davon werden Direktzahlungen an sind Natur-, Umwelt- und Klimaschutz, der
die Bauern geleistet. Hauptkriterium für Erhalt vielfältiger Landschaften und deut-

D
er Mann, der in Brüssel den größ- die Verteilung ist die Fläche, nicht die lich mehr Tierwohl.
ten Geldtopf verwaltet, ist ein ge- Produktion. Schiere Größe wird belohnt. Durch ein Prämiensystem für solche
waltiger Kerl: Phil Hogan, groß ge- Kleinbauern müssen um ihre Existenz Leistungen könnten Landwirte nachhaltig
wachsen, kahlköpfig, ein bulliger Ire, seit bangen. wirtschaften, ein angemessenes Einkom-
2014 EU-Agrarkommissar. Der ehemalige Die zweite Säule ist mit knapp 19 Mil- men erzielen und trotzdem im internatio-
Auktionator verwaltet jene gut 60 Milliar- liarden Euro deutlich geringer ausgestattet. nalen Wettbewerb bestehen, prognostizie-
den Euro, die jedes Jahr für Europas Bau- Hier sind die Gelder für Umweltschutzmaß- ren die Wissenschaftler von vier Universi-
ern und den ländlichen Raum ausgegeben nahmen, für Nachhaltigkeit, lokale Ent- täten, die die Studie erstellt haben.
werden. wicklung und Tierschutz gebündelt – all Viel radikaler denkt die NGO German-
Für die Aufgabe, vor der er nun steht, das, was sich viele Bürger offenbar politisch watch: Sie will die Fördermittel für Land-
kann Standfestigkeit nicht schaden. Im wünschen. wirte komplett an die Herstellungsbedin-
nächsten Jahr soll Hogan einen Entwurf Für die nächste Förderperiode hat die gungen der Lebensmittel binden und zu-
für die gemeinsame EU-Agrarpolitik ab Kommission gleich mehrere Szenarien pa- gleich eine entsprechende Kennzeichnung
2021 vorlegen – mit deutlich schmalerem rat. Sie reichen von Alles-bleibt-beim-Al- einführen. Funktionieren soll das wie bei
Etat. Die EU muss wegen des geplanten ten bis hin zur radikalen Überarbeitung den Frischeiern. Seit der Kennzeichnung
Austritts der Briten mit Mindereinnahmen mit Förderschwerpunkt auf Kleinbauern, sind Eier aus Käfighaltung nahezu unver-
rechnen. Allein in das Agrarbudget würde umweltfreundlichen Betrieben und lokaler käuflich, und 99 Prozent der verkauften
das ein Loch von rund drei Milliarden Euro Produktion. Dass die scharfe Ökoversion Produkte sind besser als der gesetzliche
reißen. eintritt, ist angesichts der Lobby der Agrar- Mindeststandard.
Hogan hat dies zum Anlass für Nach diesem Vorbild sollen alle
eine ungewöhnliche Umfrage ge- Lebensmittel in die Kategorien null
nommen. Er will von den Steuer- bis drei eingeteilt werden. Null wäre
zahlern der EU wissen, welche Leis- der EU-Ökostandard, Ziffern eins
tungen der Bauern sie unterstützen und zwei gingen an Betriebe, die
wollen. Jeder Bürger zahlt durch- zum Beispiel mit wenig Pestiziden
schnittlich 120 Euro pro Jahr für die oder Stickstoffdünger arbeiten oder
Landwirtschaft. Gleichzeitig wächst Tiere auf der Weide halten. Produk-
die Zahl derer, die der Agrar- te der Ziffer drei hielten nur den ge-
industrie kritisch gegenüberstehen setzlichen Mindeststandard ein. Auf
und ihre Auswüchse ablehnen. jedem Produkt würde vermerkt, wo-
Hogans Befragung läuft online. her es stammt. Der Vorschlag bedeu-
Schon in den ersten Tagen füllten tet deutlich mehr Transparenz für
9000 Menschen das Formular aus, den Kunden – und er wäre der Alb-
das sei im Vergleich zu anderen EU- traum der Lebensmittelindustrie.
Umfragen eine überraschend rege Deren Widerstand gegen eine
Beteiligung, so die Kommission. Al- Ökologisierung der Landwirtschaft
len voran geben die Landwirte ihre hat schon einmal einem EU-Agrar-
Stimme ab, auch die Umweltverbän- kommissar zu schaffen gemacht. Da-
de haben ihre Klientel mobilisiert, cian Cioloş, bis 2014 im Amt, wollte
um auf diese Weise einen Paradig- Förderung an Umweltleistungen bin-
menwechsel einzufordern. den. Kleine Verbesserungen sind
Prinzipiell kann jedoch jeder EU- ihm geglückt, doch der große Wurf
Bürger an der Onlinebefragung teil- scheiterte – vor allem an der dama-
nehmen*. Sie läuft noch bis zum ligen Bundeslandwirtschaftsministe-
2. Mai, und die Kommission hat an- rin Ilse Aigner, die die Subventionen
gekündigt, die eingehenden Beiträge für die Großbetriebe im struktur-
tatsächlich zu nutzen, um die Priori- schwachen Osten erhalten wollte.
täten der Agrarpolitik festzulegen. Auch deshalb trommeln Umwelt-
HENNER ROSENKRANZ

Das Ergebnis dürfte interessant verbände wie der Nabu für die Teil-
werden. Vor allem wenn wirklich nahme an Hogans Volksbefragung.
Sie sei eine „einmalige Chance, die
* http://ec.europa.eu/eusurvey/runner/Future Fehler der derzeitigen Politik zu
CAP?surveylanguage=DE Sauen in Gruppenhaltung: Weiter so ist praktisch ausgeschlossen korrigieren“. Michaela Schießl

DER SPIEGEL 11 / 2017 75


Schiene con Carne
Gastronomie Bahnfahren ist schlimm. Die Bordrestaurants sind schlimmer. Liebloses Essen,
frustrierte Kellner, veraltete Technik verärgern die Gäste – und die Bahn zahlt auch noch drauf.

F
rankfurt Hauptbahnhof, ICE 70. Das Was die verhinderten Gäste nicht erfah- den Bordrestaurants Tag für Tag zwischen
Bordrestaurant ist voll. Von den 24 Sitz- ren: Die Bierzapfanlage funktioniert nicht; roten Ledersitzen abspielt, illustriert vor
plätzen sind nur 3 nicht besetzt. Der Rindfleischeintopf, Königsberger Klopse, allem die Misere der Deutschen Bahn: das
Zug kriecht aus dem Bahnhof, aus den Laut- Salate und Ofenkartoffel sind aus. Statt fast täglich gebrochene Versprechen, ein
sprechern knarzt die Stimme des Zugchefs. zwei Besatzungsmitgliedern muss heute zuverlässiger Dienstleister zu sein.
„Meine Damen und Herren, besuchen Sie einer den Laden schmeißen. Das Problem hat nur vordergründig mit
doch unser gastronomisches Angebot“, lockt Willkommen in der Gastronomiewelt defekten Bierzapfanlagen oder fehlenden
er. „Es sind noch fast alle Plätze frei.“ der Deutschen Bahn, eine der größten Ver- Nudeln zu tun. Es geht um Rückstand bei
Die Gäste im Speisewagen grinsen sich köstigungsketten Deutschlands. 260 ICE- der Digitalisierung oder bei Investitionen in
an. Der Steward schüttelt genervt den Bordrestaurants gehören dazu, 390 Bord- den Wagenpark – und vor allem darum, dass
Kopf über die Durchsage seines Chefs. bistro genannte Imbisstheken, neun Logis- der Kampf, aus dem behördlichen Beförde-
Augenblicke später kommt eine Män- tikzentren, 3000 Mitarbeiter. rungsfall einen Kunden zu machen, 23 Jahre
nergruppe, graue Geschäftsanzüge, schwar- Satte 1,2 Millionen Euro setzt die Bahn und fünf Bahnchefs nach der Bundesbahn-
ze Laptoptaschen, herein. Sie sehen die jährlich allein mit Chili con Carne um, 21,9 Privatisierung noch lange nicht zu Ende ist.
besetzten Tische und ziehen wieder ab. Millionen mit Kaffee in allen Variationen. Der Alltag in den Speisewagen erzählt
Auch ein Pärchen macht verärgert kehrt. Doch trotz aller Superlative: Was sich in auch davon, wie der bahnfahrende Bun-
76 DER SPIEGEL 11 / 2017
Wirtschaft

DB-Mitarbeiter Ruft (o. l.), ICE-Service Ruft ist 57 Jahre alt und arbeitet eigent-
Meister des Zusatzverkaufs lich schon immer im Speisewagen, min-
destens drei Jahrzehnte, anfangs als Koch.
Es fallen die Tiefkühlschränke an Bord Er hat noch die Zeiten erlebt, in denen
aus, die Kaffeemaschinen versagen, Ware man an Bord wirklich am Herd stand, da
wird nicht geliefert. Es geschehen aber- habe er auch schon mal „zwei Braten pa-
witzige Dinge: Ein Zug aus Hamburg ver- rallel geschoben“, wie er sagt. Einmal hat
ließ mit allen Speisen und Getränken be- ihm ein Mann ein Messer an den Hals ge-
laden das Werk, das Personal war vollstän- halten, um kostenlos Bier zu bekommen.
dig angetreten, doch das Restaurant blieb Einmal musste er sich in der Bordküche
geschlossen. Ein Thermometer fehlte, mit vor randalierenden Fußballfans verste-
dem dokumentiert werden kann, dass je- cken. Ruft bediente im ehemaligen Regie-
derzeit die richtige Kühltemperatur einge- rungszug der DDR Gesellschaften und ser-
halten wird. Also fuhr der ICE ohne Wa- vierte im Expo-Sonderzug zwischen Berlin
renverkauf bis nach München. und Hannover für Helmut Kohl. Heute ist
Frank Boenke hasst solche Sachen. Er er Koch, Kellner und Kassierer in einer
leitet die Warenlogistik in Berlin-Rum- Person.
melsburg. 100 Mitarbeiter arbeiten hier, Ruft ist mit einer Strategie der voraus-
vornehmlich nachts, wenn die Züge in die eilenden Deeskalation gut durch die Jahr-
Wartung gehen. 40 Minuten dauert es, ein zehnte gekommen. Man müsse sich selbst
Restaurant aufzufüllen. 1,2 Tonnen Ware immer so verteidigen, dass der Kunde kei-
werden dann mit 80 000 Euro teuren Spe- ne Möglichkeit zur Beschwerde habe, sagt
zialfahrzeugen an Bord gehievt. Boenke er. „Ich kann es nicht ändern, auch wenn
ist seit 1992 dabei. Früher arbeitete er für einen die Fahrgäste für Defekte oder feh-
die ehemalige DDR-Abfüllstation Mitropa, lende Ware verantwortlich machen.“ Ruft
die Mitarbeiter wurden 2002 in die Deut- ist nicht kleinlich, er lässt sich auf man-
sche Bahn integriert. Sein Büro verkörpert chen Spaß ein. Aber einige Kunden, sagt
die Bodenständigkeit des öffentlichen er, seien wirklich eigen. Eine Frau im Pelz
Dienstes, der Kaffee kommt aus großen habe mal nach einem Fußbad verlangt,
Pumpkannen, die auch im Bordverkauf und weil er gut drauf war, habe er ihr tat-
verwendet werden. Boenke begrüßt alle sächlich eine Salatschüssel mit Wasser ge-
Mitarbeiter mit Handschlag. „Natürlich bracht. Aber als er die Taschentücherber-
versuchen wir, dass jeder Zug voll beladen ge eines erkälteten Schauspielers wegräu-
und funktionierend seine Fahrt antritt“, men musste, die der auf dem Tisch vor
sagt er. sich aufhäufte, stieß selbst Rufts Geduld
Doch das klappt eben nicht immer. Sei- an Grenzen.
ne „Highlights“, wie Boenke die häufigs- In der Tat benehmen sich manche Kun-
ten Pannen nennt: Kaffeemaschine im Ei- den im Speisewagen anders, als man es
mer, Kühlung defekt. Kommt der Zug etwa von Gästen in nichtrollenden Restau-
dann verspätet ins Werk, ist eine Reparatur rants erwarten würde. Dass manche als
kaum zu schaffen. Und die Waggons müs- Erstes ihre Schuhe ausziehen, sich quer
sen wieder auf die Strecke, Ersatz gibt es über die rote Bank fläzen und ihre Füße
nicht. So bleibt die Kaffeemaschine kalt, in den Gang strecken, ist Alltag. Oder dass
desbürger tickt: Er trinkt gern Bier, liebt und es gibt einen Tag lang keinen Espres- andere laut telefonieren, während ihr Ge-
Eintöpfe und zahlt am liebsten bar statt mit so. Auch vom Lieblingsgericht Chili con genüber gerade eine Kohlroulade isst.
Kreditkarte. Er tut sich schwer mit engli- Carne kann die Kundschaft manchmal nur Doch Ruft und seine Kollegen können
schen Begriffen wie Smoothie oder Muffin, träumen. Dabei verkaufen sich die Best- noch ganz andere Geschichten erzählen.
bevorzugt begrifflich Fruchtmixgetränk und seller an Bord rund 15 000-mal im Monat. Ein Mann rupfte sich zunächst ein Nasen-
Kuchen. Am allerliebsten bringt er sich sein Dass die Klimaanlage im ICE versagt, haar heraus, um es dann in den Pfeffer-
Essen und Trinken allerdings selbst mit. ist ein oft beklagter Missstand. Warum streuer zu zwängen, der auf dem Tisch
Auch deshalb ist die Bordverpflegung aber fällt auch die Küchenkühlung so oft stand. Eine junge Mutter wickelte ihr Kind
für die Bahn eine höchst defizitäre Ange- aus? Boenke sieht eine Schwäche in der auf der weißen Tischdecke und bat dann
legenheit. Rund 80 Millionen Euro Verlust grundsätzlichen Konzeption der teils be- auch noch die Kellnerin, die gebrauchte
macht die Sparte im Jahr, das Minus lag tagten Wagen. Vor allem die Bordküche Windel zu entsorgen.
auch schon mal bei 150 Millionen. „Wir se- ist ein chronisches Sensibelchen: Der Eis- Ruft nimmt vieles hin. „Ich will die Men-
hen das als einen Kundenservice und nicht schrank ist für so häufiges Öffnen nicht schen nicht belehren, ich will ihnen was
als Bereich, aus dem man dicke Gewinne gemacht. Der Steamer, ein Gerät zum Er- verkaufen.“ Er legt sich nicht an, wenn
rausträgt“, sagt Alexander Thies, Leiter wärmen von Speisen, befindet sich in man- Koffer im Gang stehen („Da kommt man
Bordservice bei der Bahn. Bei gerade mal chen ICE-Baureihen direkt über der Kühl- schon irgendwie vorbei“) oder Laptops be-
ALLE FOTOS: HARRY WEBER / DER SPIEGEL

5,30 Euro lag der Durchschnittsumsatz pro tür. Kondenswasser tropft herunter, und nutzt werden („solange die was kaufen, ist
Gastrokunde 2016 über Restaurant, Bistro der Schrank vereist. Oder die Kaffeema- mir das egal“).
und Am-Platz-Verkauf hinweg. schinen. „Manchmal kommen die Kolle- Ruft sitzt an einem Vierertisch, der Zug
Letztlich also ist der gastronomische Ser- gen an Bord nicht dazu, das Gerät recht- rauscht irgendwo bei Kassel durch die
vice bloß eine teure Kundenbindungsmaß- zeitig zu reinigen. Dann kann die Maschi- Landschaft. Gerade ist er aus der 2. Klasse
nahme, vielleicht die teuerste Deutsch- ne verstopfen und ausfallen.“ zurückgekommen. Dort hat er 70 Euro
lands. Die Frage ist nur, warum dabei so Ausbaden müssen das dann Leute wie Umsatz gemacht. Ruft ist ein Meister des
viel schiefgeht. Karl-Heinz Ruft. Zusatzverkaufs. „Ich biete auch immer Ku-

DER SPIEGEL 11 / 2017 77


Bordküche in ICE
Charme einer Landratsamtskantine

gab es Steaks von Block House und frische


Bratkartoffeln. Heute gibt es Mikrowellen-
mampf, weshalb der Chefkoch intern nur
Beutelaufschneider heißt. Fast alles kommt
vorgegart und verpackt, nur die grünen
Gurken werden offen angeliefert.
Alle Gerichte durchlaufen die Versuchs-
küche. Heute Morgen sind drei Blogger
eingeladen, Hauptgänge aus kleinen Plastik-
schälchen zu verkosten.
Thorsten Kramer ist gelernter Koch, er
trägt einen Anzug und eine Anstecknadel
mit DB-Logo. Mehrmals ermahnt der Pro-
duktmanager die Angereisten, die Veran-
staltung hier sei kein Spaß. Er spricht
davon, dass der Termin „offiziell“ sei. Ver-
kostet wird streng nach „Karlsruher
chen an, wenn ich Kaffee auf dem Tablett kolliert jede seiner Bahnfahrten in einem Schema“: Geschmack, Aussehen, Geruch,
rumtrage.“ Kauft jemand Bier, sagt er Blog. „Ich habe nicht immer das Gefühl, Konsistenz. Verboten sind Genussbekun-
gleich, dass es auch Chips gebe. dass der Wille, etwas zu verkaufen, be- dungen wie „hmm“, um die anderen Tes-
Ruft schuftete ganz früher in der „echten sonders hoch ist“, sagt er. Doch er hat ter nicht zu beeinflussen. Es geht ernst zu
Gastronomie“, wie er es nennt, im thürin- auch Verständnis. „Kein Restaurant hat im 11. Stock an diesem Morgen.
gischen Oberhof. „Man verdient bei der so lange Laufwege wie den von der Küche Dienstleister wie die Cateringfirma Mül-
Bahn mehr und hat geregeltere Arbeitszei- bis in den letzten Wagen der 1. Klasse.“ ler Menü bewerben sich um die Aufträge
ten“, sagt er. Tatsächlich sind nahezu alle Eine langjährige Bahnmitarbeiterin sagt: der Bahn. Und nur, was hier schmeckt,
Mitarbeiter bei der Bahn fest angestellt, „Ein Arbeitsleben lang auf wackligem kommt auf den Zug. Damit das Essen
eine Servicekraft kommt auf rund 2000 Grund zu bedienen und immer den Fahr- möglichst immer gleich serviert wird,
Euro im Monat, es gibt Umsatzbeteiligun- gasthass abzubekommen, schlaucht ein- erarbeiten Kramer und seine Kollegen das
gen und Sonderzahlungen, wenn regel- fach. Viele Kollegen sind ausgebrannt.“ HSZ, ein „Handbuch für Speisenzube-
mäßig bestimmte Verkaufszahlen erzielt Bahnpolitiker Gastel hat einen Vorschlag reitung“.
werden. Auf der Strecke Berlin–Frankfurt zur Arbeitserleichterung. „Die Bestellun- Auch der frühere Bahnchef Rüdiger Gru-
erwartet die Bahn bei guter Auslastung un- gen könnten doch digital vom Sitzplatz be saß gern im Bordrestaurant. Er sagt,
gefähr Verkäufe im Gegenwert von tausend in die Küche gehen.“ Tatsächlich gab es man wäre „bescheuert“, wenn man so ein
Euro. Machbar, findet Ruft. das schon mal – vor fast einem Viertel- Markenzeichen abschaffen würde. Seine
Es sind Details, die dafür sorgen, dass jahrhundert. McDonald’s bewirtschaftete Frau, die Fernsehköchin Cornelia Poletto,
die Tischkultur bei der Bahn immer noch damals einen Speisewagen der Bahn und rügte auch öffentlich das Essen an Bord.
den Charme einer Landratsamtskantine setzte Minicomputer für die Bestellannah- Grube saß dann bei solchen Gelegenheiten
hat. Die Decken werden mit Papiersets ge- me ein. Nach einem Jahr wollte der Bur- im Publikum, hörte zu, nickte, lachte.
schont. Selbst triviale Angebote werden ger-Konzern aber aus dem Vertrag mit der Manche Sachen verstand auch Grube
als „Kaffeespezialitäten“, „Salatvariatio- Bahn wieder raus. nicht. Warum beispielsweise das Bircher-
nen“ und „Tafelwasser“ sprachlich geadelt. Immerhin sollen bald alle Kassen auto- müesli abgeschafft wurde. Oder die Cur-
Fällt die Kühlung aus, gibt es eigens eine matisch Ware nachbestellen können. Nicht rywurst nur im Bistrobereich angeboten
Notkarte, ihr Angebot heißt im Bahn- nur, dass man hofft, dadurch weniger Aus- wird. Eine der letzten Entscheidungen un-
deutsch „Ersatzbewirtschaftung“. Wahl- verkäufe zu haben. Auch die Rückläufe sol- ter Grube: Ab April soll es alles überall
weise heißt es dann: „Wir bitten um Ihr len reduziert werden: Rund sechs Prozent im Zug geben – auch die Currywurst wird
Verständnis!“ Oder: „Wir danken für Ihr des Angebots muss die Bahn wegschmei- dann im Restaurant serviert werden.
Verständnis!“ Der Brezelverkäufer heißt ßen, weil es innerhalb der Haltbarkeit nicht Grubes Nachfolger, wer immer es wird,
intern Impulsverkäufer. Das Tütchen Gum- verkauft werden konnte. Daneben arbeitet könnte am meisten für den Bordgenuss
mibärchen oder Hustenbonbons in der man an einem stärkeren digitalen Kunden- tun, wenn er ein anderes Problem in den
1. Klasse „Goodie“ – es darf nicht ange- service. „Es kann nicht sein, dass hinten Griff bekäme. Es hat nichts mit Currywürs-
fasst, sondern muss dem Fahrgast hinge- Filme gestreamt werden und vorn einer ten, Kühlschränken oder der Warenlogistik
halten werden. mit dem Block Bestellungen aufnimmt“, zu tun: die Pünktlichkeit.
Im Bahnmanagement rätselt mancher, sagt Gastronomiechef Thies. „Der Geschmack hängt auch stets vom
warum Gastronomiemitarbeiter gelegent- Bleibt noch das Essen selbst. Grad der Verspätung ab“, sagt Bahnma-
lich motiviert starten, nach einem Jahr Frankfurt, Ende Januar. Im elften Stock nager Thies. Er hat Umfragen gemacht,
aber ziemlich frustriert sind. Oder dreist. des Bahnbürobaus unweit des Messegelän- die das belegen. Je später ein Zug an-
Eine Mitarbeiterin nahm Bestellungen des ist eine Küche eingebaut, das kulinari- kommt, desto schlechter bewerteten Kun-
grundsätzlich nur sitzend entgegen, wer sche Versuchslabor der Bahn. Sogar Wer- den die Speisen. Martin U. Müller
etwas wollte, musste zu ihr kommen. Zwi- beschilder wie im Zug kleben an den wei- Mail: martin.mueller@spiegel.de, Twitter: @MartinUMueller
schendrin las sie Zeitung und stärkte sich ßen Fliesen. Man kann nicht sagen, die
mit dem, was sie zu Hause eingetuppert Bahn würde keinen Aufwand betreiben, Video: Der Fluch des
hatte. um ihr Sortiment auszuwählen. Speisewagens
Matthias Gastel, Bundestagsabgeordne- Schon seit fast zwei Jahrzehnten wird spiegel.de/sp112017bahn
ter für die Grünen aus Filderstadt, proto- in den Zügen nicht mehr gekocht. Einst oder in der App DER SPIEGEL

78 DER SPIEGEL 11 / 2017


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CHRISTIAN O. BRUCH / LAIF / DER SPIEGEL
„Ich bin besorgt“
SPIEGEL-Gespräch Bertelsmann-Chef Thomas Rabe, 51, über den Millionenvorschuss für die
Obamas, einen milden Brexit und die Frage, wie politisch Unternehmensführer heute sein müssen

SPIEGEL: Herr Rabe, Ihr Buchverlag Pen- und der sollte möglichst breit angelegt den in Deutschland und Europa darüber,
guin Random House hat sich gerade die sein. Random House hat in den Achtzi- wie sich Geschäftsmodelle der Medien ver-
Rechte an den Biografien von Expräsident gerjahren Trumps Buch „The Art of the ändern.
Barack Obama und seiner Frau Michelle Deal“ veröffentlicht, und wir werden in SPIEGEL: Man nennt es Lobbyismus.
gesichert – für über 60 Millionen Dollar. einigen Wochen das Buch von Ivanka Rabe: Das ist kein Lobbyismus, das ist Auf-
Ist das ein gutes Geschäft oder ein politi- Trump publizieren, „Women Who Work“. klärungsarbeit. Es ist eine Frage des Stils
sches Statement? Wir haben Bücher der Bushs veröffentlicht und der Effizienz, ob man das laut oder
Rabe: Wir waren in der Vergangenheit schon und Clintons Bücher. leise macht. Der Stil unseres Hauses ist
der Verlag der Obamas, und wir sind es SPIEGEL: Und wenn Trumps ultrarechter eher leise, aber wir sind dabei durchaus
jetzt wieder. Dass sie bei uns sind, hat viele Berater Steve Bannon käme? wirksam. Denken Sie an die Werbesteuer
gute Gründe. Penguin Random House ist der Rabe: Das wäre eine Entscheidung, die der in Ungarn, die das Geschäft von RTL in
einzige wirklich globale Buchverlag. Und Verlag vor Ort treffen müsste. Ich würde dem Land praktisch zugrunde gerichtet
natürlich gehen wir davon aus, dass beide es nicht per se ablehnen, würde man mich hätte. Ich habe Herrn Orbán persönlich
Bücher weltweit große Erfolge werden. fragen. getroffen, wir standen mit der EU-Kom-
SPIEGEL: Das müssen Sie wohl auch bei dem SPIEGEL: Gibt es keine rote Linie? mission und deutschen Politikern in Kon-
Preis. Ist das der höchste Vorschuss, den Rabe: Jedes Buch muss schon gewissen takt. Am Ende kam eine Steuer heraus,
Sie je gezahlt haben? verlegerischen Ansprüchen genügen. Wir mit der alle leben können.
Rabe: Mag sein. Aber er ist ökonomisch würden kein Buch veröffentlichen, das auf SPIEGEL: Engagieren Sie sich politisch erst,
begründet. Wir haben unsere Erfahrungs- Fake beruht oder nicht sauber recherchiert wenn Ihr Geschäft leidet?
werte mit politischen Memoiren und mit ist. Es gab auch schon rote Linien, in Rabe: Ich sehe ein politisches Engagement
den anderen Büchern, die Barack Obama Deutschland zum Beispiel: Als sich Akif ehrlich gesagt nicht als primäre Aufgabe
bei uns veröffentlicht hat. Pirinçci, damals unser Autor, politisch in eines Unternehmens.
SPIEGEL: Sie sind auch der Verlag von Do- einer Weise engagiert hat, die den Staats- SPIEGEL: Auch in diesen Zeiten nicht, in
nald Trump. anwalt auf den Plan rief, hat sich Random denen die Pressefreiheit in den USA, aber
Rabe: Bertelsmann ist pluralistisch. Wir sind House von ihm getrennt. auch in Teilen Europas ernsthaft in Ge-
ja keine Partei, sondern als Medienunter- SPIEGEL: Sie selbst halten sich politisch sehr fahr ist, in Wahrheit sogar die liberale
nehmen Teil des öffentlichen Diskurses, zurück. Demokratie? Ist das nicht der Moment,
Rabe: Ich bin kein Politiker. Aber natürlich wo der Chef des größten europäischen
Bertelsmann ist über seinen Verlag Gruner + Jahr zu reden wir mit der Politik. Wir diskutieren Medienkonzerns seine Stimme erheben
25,5 Prozent am SPIEGEL beteiligt. zum Beispiel mit den Regulierungsbehör- sollte?
80 DER SPIEGEL 11 / 2017
Wirtschaft

Rabe: Dass wir für Pressefreiheit stehen, war schon bei der Montanunion, Sie sind lokales Kreativunternehmen. Aber die
ist doch klar und ergibt sich schlicht aus in Brüssel aufgewachsen, haben bei der EU- mittelbaren, volkswirtschaftlichen Auswir-
unseren Geschäften. In Ländern, in denen Kommission gearbeitet, dann in Luxem- kungen treffen uns natürlich. Protektio-
es keine Pressefreiheit gibt und wir nicht burg. Was haben Sie persönlich Europa zu nismus schadet jeder Volkswirtschaft.
nach unseren Grundsätzen arbeiten kön- verdanken? SPIEGEL: Wenn Sie in dem Beratergremium
nen, sind wir nicht tätig und wollen es Rabe: Ehrlich gesagt: fast alles. Oder zumin- von Donald Trump wären, in welchem
auch nicht. In Russland hat sich RTL von dest sehr viel. Ich bin in Brüssel zur Euro- derzeit 16 Topmanager sitzen, was würden
der TV-Beteiligung getrennt, als wir merk- päischen Schule gegangen, habe dort vier Sie ihm raten?
ten, dass wir dort kompromittiert werden. Sprachen gelernt. Für mich war es natürlich, Rabe: Ich würde ihm unter anderem raten,
Sehr viel mehr kann man nicht machen. mit Mitschülern aus unterschiedlichen Län- dass er seine politische Agenda klarer ar-
SPIEGEL: Aber wo ist Ihre Stimme, wo ste- dern in einer Klasse zu sitzen und mich mit tikulieren soll.
hen Sie persönlich ein? ihnen auseinanderzusetzen. Das hat mich SPIEGEL: Noch klarer?
Rabe: Ich bin bereit, mich dazu zu äußern, geprägt. Umso entsetzter bin ich über die Rabe: Die wirtschaftspolitische Agenda je-
und ich tue das auch, vielleicht nicht so Entwicklungen in Europa, etwa den Brexit. denfalls ist diffus. Ich würde ihm definitiv
öffentlich, wie Sie sich das wünschen. Für mich persönlich war das ein Schock. von einer Abschottung der USA abraten
SPIEGEL: Jetzt haben Sie die Gelegenheit. SPIEGEL: Können Sie ihn verstehen oder – und sicher auch davon, demokratische
Rabe: Wir erheben doch die Stimme, über erklären? Institutionen und die Pressefreiheit zu
unsere Medien, bei denen das Chefredak- Rabe: Wenn man das Buch „Höllensturz“ untergraben. Und ich glaube auch, dass
teursprinzip gilt. Schauen Sie doch, was von Ian Kershaw liest … man ihm Europa und die europäischen In-
Sie beim SPIEGEL geschrieben haben, was SPIEGEL: … in dem er das Europa der zwei stitutionen erklären sollte. Wir hätten viel
der „Stern“ macht oder RTL. Wir nehmen Weltkriege beschreibt … Gesprächsstoff.
am politischen Diskurs teil wie kaum ein Rabe: … kommt man nicht mehr auf den SPIEGEL: Hätten Sie so ein Angebot über-
anderer. Das ist aus meiner Sicht ein viel Gedanken, dass Europa ein Konzept der haupt angenommen?
stärkeres Eintreten für Pressefreiheit als ein Vergangenheit sein könnte. Wer sich auch Rabe: Selbstverständlich, die USA sind der
allgemeines öffentliches Bekenntnis. Ich nur ein bisschen mit der jüngeren euro- zweitgrößte Markt für uns.
sehe da bei uns kein Defizit. päischen Geschichte beschäftigt, dem wird SPIEGEL: Welche Auswirkungen haben die
SPIEGEL: Wie schätzen Sie die Situation in doch bewusst, welches Glück wir haben, aktuellen politischen Umwälzungen auf
den USA denn ein: Wie gefährdet ist die in einem vereinten und letztlich friedli- Ihre Planung? Auf die Frage, wo Sie in-
Meinungsfreiheit? chen Europa zu leben. Es ist bedauerlich, vestieren, auf die Abwägung von Risiken?
Rabe: Ich bin besorgt über den Umgang dass in einer Kampagne in Großbritannien Rabe: Bertelsmann ist in mehr als 50 Län-
der neuen Administration mit den Medien. eine Stimmung entsteht, die gegen die dern tätig. Es ist unglaublich schwierig ge-
Einzelne Medien als Fake News zu titulie- Europäische Union ist. Und Europa war worden, auch für Unternehmen, politische
ren ist absolut inakzeptabel, weil es in der für die Briten nie wirklich eine Herzens- Entwicklungen einzuschätzen. Ich habe
Tat die Glaubwürdigkeit der Presse unter- angelegenheit. vor einigen Monaten mit europäischen
gräbt. Das ist höchst problematisch, und SPIEGEL: Was raten Sie? Konzernchefs über die Wahl in Frankreich
das kann man nicht deutlich genug sagen. Rabe: Den Brexit kann man nicht mehr ab- gesprochen. Nicht einer von uns hatte
Ich habe allerdings den Eindruck, dass die wenden. Aber jetzt geht es darum, eine Re- Macron auf dem Zettel oder Fillon. Über
Medien in den USA ausgesprochen stark gelung zu finden, wie Großbritannien mit Trump hat auch keiner gesprochen, schon
sind und sich nicht einschüchtern lassen. der Europäischen Union assoziiert bleiben als Phänomen, aber niemand hat gedacht,
Im Gegenteil: Die Relevanz der Medien kann, wie die Märkte möglichst offen blei- dass er die Wahlen gewinnen könnte.
steigt in diesen Zeiten der politischen Aus- ben können und die Zusammenarbeit in SPIEGEL: Auch das Tempo der Digitalisie-
einandersetzung. Das kann man an den Sicherheitsfragen fortgesetzt werden kann. rung nimmt zu. Was sind langfristige Stra-
Reichweiten ablesen, egal ob bei der „New SPIEGEL: Sie möchten den Brexit so milde tegien heute überhaupt noch wert?
York Times“ oder anderen. Diese Entwick- wie möglich haben? Rabe: Man braucht sie. Wir bei Bertels-
lung ist positiv. Ich würde mir wünschen, Rabe: So milde wie möglich im Interesse mann setzen unsere Strategie seit fünf Jah-
dass das in Deutschland ähnlich wäre. aller Beteiligten. Dabei sind wir von Han- ren konsequent um. Aber man muss sie
SPIEGEL: Auch in Deutschland beschimpfen delsbarrieren direkt gar nicht so sehr be- häufiger überprüfen. Man glaubt am An-
Rechtspopulisten Journalisten und Zeitun- troffen. Bertelsmann ist ja kein Import-/ fang, wenn man als Chef ein Unterneh-
gen als „Lügenpresse“. Exportunternehmen, sondern ein multi- men übernimmt, dass man genau weiß,
Rabe: Ja, aber es ist sicherlich ein was zu tun ist. Da vertut man
Unterschied, ob der amerikani- sich, weil Veränderungen heute
sche Präsident Medien als Fake rasant sind.
News bezeichnet oder ob das in SPIEGEL: Vertun Sie sich auch?
Deutschland etwa die AfD tut. Rabe: Vor fünf Jahren habe ich in
SPIEGEL: In Frankreich schmäht die einem SPIEGEL-Gespräch gesagt,
Präsidentschaftskandidatin Mari- dass Facebook bald eine Markt-
ne Le Pen Medien als Teil des bewertung von 100 Milliarden
„elitären Systems“; in den Nie- Dollar haben könnte. Gestern lag
derlanden hat Geert Wilders erst der Wert bei knapp 400 Milliar-
PETE SOUZA / THE WHITE HOUSE

vor wenigen Wochen Journalisten den. Wenn unsere Wettbewerbs-


Ihres Senders RTL als Abschaum landschaft immer noch dieselbe
beschimpft. wäre wie vor zehn Jahren – RTL
Rabe: Beides ist problematisch, gegen ProSiebenSat.1, Gruner +
und beidem muss entschieden Jahr gegen Burda –, dann wäre
entgegengetreten werden. mir überhaupt nicht bange.
SPIEGEL: Sie haben eine europäi- SPIEGEL: Haben wir da eben das
sche Vita par excellence: Ihr Vater Präsidentenpaar Obama 2013: „Ökonomisch begründet“ Wort bange gehört?
DER SPIEGEL 11 / 2017 81
Wirtschaft

SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 12. 3., 22.30 – 23.30 UHR | RTL
Rabe: Das Wort verwende ich eigentlich
Dunkel, dunkler, Darknet – Die Wahn- gar nicht. Bange bin ich auch nicht, son-
sinnstat von Herne; Schlagen ohne dern im Gegenteil optimistisch. Bertels- Geschäftsbereiche nach operativem Ergebnis
Strafe – Wie Russland Frauenrechte mann ist in einer sehr guten Verfassung, (EBITDA) in Millionen Euro, 1. Halbjahr 2016
abbaut; Ausgegrabene Sensationen – profitabel wie nie, und wir haben in den (in Klammern: Veränderung gegenüber 1. Halbjahr 2015)
Wenn Sondengänger wahre Schätze letzten Jahren große Fortschritte gemacht. RTL Group TV und Radio
finden. RTL gehört zu den erfolgreichsten Online- 676 (+ 51)
videoanbietern der Welt, Penguin Random
House veröffentlicht so viele E-Books wie Penguin Random House Buchgeschäft
SPIEGEL TV REPORTAGE kein anderer, unsere Musik- und Bildungs- 185 (– 22)
DIENSTAG, 14. 3., 23.10 – 0.10 UHR | SAT.1 angebote sind maßgeschneidert für das di- Arvato Dienstleistungen
gitale Zeitalter. Aber man muss nüchtern 180 (+ 38)
Auf Verfolgungsjagd – Unterwegs bleiben. Die Erfolge der Vergangenheit
mit der Kölner Fahrradpolizei sollten nicht den Blick verstellen auf die Gruner + Jahr Zeitschriften, Zeitungen
Wenn die Fahrrad-Cops um die Ecke Zukunft. Netflix zum Beispiel hat inzwi- 52 (– 4)
biegen, legt so mancher Verkehrs- schen fast 100 Millionen Abonnenten. Das Bertelsmann Printing Group
sünder noch mal einen Gang zu: rote hat auch niemand vorausgesehen. 47 (+ 7)
Ampeln, kein Licht, rüpelhaftes SPIEGEL: Warum fällt einem Konzern wie
Verhalten – die Liste der alltäglichen Bertelsmann so etwas wie Netflix nicht BMG Musikrechte
Vergehen auf zwei Rädern ist lang. ein? Sie haben als Buchklub angefangen, 32 (+ 2)
Netflix ist ein Fernsehklub. Es hätte in der Bertelsmann Investments
DNA von Bertelsmann liegen können, 1 (– 1)
ARTE Re: Netflix zu erfinden.
FREITAG, 17. 3., 19.45 – 22.15 UHR | ARTE Rabe: Gute Frage. Aber selbst Google und
Bertelsmann Education Group
Facebook haben eine Menge guter Ideen –13 (– 10)
Supermutter & Karrierefrau – gekauft. Facebook hat weder Instagram
Frankreichs Erfolgsmodell in der noch WhatsApp gegründet. Es scheint so, Rabe: Das Interesse ist groß, aber wir wol-
Krise? als könnte man nicht mehrfach im Leben len keinen Partner, der gleich wieder auf
Frankreich gilt als Vorbild für die in der Lotterie gewinnen. Etablierten Un- der Matte steht und rausmöchte. Es gibt
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. ternehmen gelingt es offenbar nicht aus- viele institutionelle Investoren wie Pen-
Mit durchschnittlich zwei Kindern reichend, selbst neue Geschäftsmodelle zu sionsfonds oder Familien-Trusts, die lang-
pro Frau führt das Land die Geburten- entwickeln. Bertelsmann hat sich deshalb fristig denken.
statistik der EU an, die Betreuungs- für Gründer und neue Geschäftsmodelle SPIEGEL: Sie verbringen seit Jahren mehr
geöffnet. Da könnte ich Ihnen jetzt min- Zeit im Flugzeug als im Büro, pendeln zwi-
destens zehn erfolgreiche Beispiele aus schen Indien, Brasilien und Europa hin
dem letzten Jahr nennen. und her. Wie halten Sie das aus?
SPIEGEL: Das Dilemma von Bertelsmann Rabe: Ich glaube nicht, dass ich so arbeiten
liegt doch auch darin, dass Ihnen für solche könnte, wenn ich keinen Ausgleich hätte.
Übernahmen das Geld fehlen würde – Ich mache meinen Job ausgesprochen
oder: die Bereitschaft, es auszugeben. Von gern, nehme mir aber ganz bewusst auch
einem Börsengang ist nicht mehr die Rede, Auszeiten. Ich gehöre nicht zu den Men-
auch nicht von Investoren auf Konzern- schen, die es als Leistungsnachweis be-
ebene, die frisches Geld mitbringen. trachten, ihren Urlaub nicht zu nehmen.
Rabe: Wir haben in den letzten vier Jahren Das habe ich vielleicht vor 20 Jahren ge-
mehr als drei Milliarden Euro in neue und macht. Und ich treibe seit acht Jahren in-
digitale Geschäfte investiert. Wir sind tensiv Ausdauersport.
BABAK ASGARI

handlungsfähig. SPIEGEL: Wie sieht es aus, wenn Thomas


SPIEGEL: Sie wollen bei Penguin Random Rabe mal undiszipliniert ist?
House Ihren bisherigen Anteil von gut 50 Rabe: Ich bin nicht übermäßig diszipli-
Berufstätige Mutter Estelle Guillerm Prozent erhöhen. Auf wie viel? niert, da entsteht gerade ein falscher
Rabe: Das hängt von der Bewertung ab, Eindruck. Ich neige höchstens zur Struk-
möglichkeiten sind einzigartig. und daran arbeiten wir mit unserem Mit- turfreude.
Doch die Doppelbelastung gesellschafter Pearson. Wir haben keinen SPIEGEL: Herr Rabe, wir danken Ihnen für
als berufstätige Mutter hat offenbar Handlungsdruck. Pearson möchte verkau- dieses Gespräch.
ihren Preis: Immer mehr Frauen fen – und wenn Pearson aussteigen möchte,
melden sich zu Wort, die unter ist das zunächst einmal die Sache von Pear-
der frühen Fremdbetreuung ihrer son. Aber Bücher sind seit 182 Jahren unser
CHRISTIAN O. BRUCH / LAIF / DER SPIEGEL

Kinder leiden. Kerngeschäft. Ich gehe davon aus, dass wir


aufstocken auf 70 oder 75 Prozent, sofern
die Konditionen angemessen sind, und im
SPIEGEL GESCHICHTE Zweifel für die übrigen Anteile einen lang-
FREITAG, 17. 3., 20.15 – 21.05 UHR | SKY fristigen Partner dazuholen.
SPIEGEL: Das spricht gegen einen Finanz-
Der Historiker Michael Scott er- investor.
kundet die verborgenen Seiten Nea-
pels – auf den Spuren griechischer * Markus Brauck, Klaus Brinkbäumer und Isabell Hülsen Rabe, SPIEGEL-Redakteure*
Ursprünge erforscht er die Stadt. in der SPIEGEL-Redaktion in Hamburg. „Ich bin nicht übermäßig diszipliniert“

82 DER SPIEGEL 11 / 2017


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Ausland
Indien pen als unwillkommene Ein-
Hilfe unerwünscht mischung. Um ihre Arbeit
einzuschränken und Kritik zu
Eine der größten Wohltätig- unterbinden, wird zuneh-
keitsorganisationen in Indien mend ein Gesetz angewandt,
muss das Land verlassen. Die nach dem Hilfsgruppen eine
Regierung wirft Compassion staatliche Erlaubnis brauchen,
International vor, unter dem um ausländische Spenden an-
Trumps Woche Deckmantel von Hilfsprojek-
ten zu missionieren. Die ame-
zunehmen. Im Gegenzug
müssen sie versichern, mit ih-
Der Präsident war verdammt rikanisch-christliche Organi- ren Aktionen nicht gegen na-
sauer, als er am Wochenende sation beschuldigt die Regie- tionale Interessen zu versto-
nach Florida flog, in sein rung indes, gezielt Nichtregie- ßen. Was das bedeutet, zeigt
„Winter White House“ Mar-a- rungsorganisationen aus dem ein Geheimdienstdokument,
Lago. Die Affäre um die Land zu drängen. Mehr als das 2014 an die Öffentlichkeit
Russlandverstrickungen sei- 11 000 Organisationen haben gelangte. Darin heißt es: Das
ner engsten Mitarbeiter nagte seit dem Amtsantritt von Wirtschaftswachstum könnte
an ihm. Besonders wütend Premier Narendra Modi ihre um bis zu drei Prozent höher
war er darüber, dass Justizmi- Lizenz verloren; auch Green- ausfallen, würden Umwelt-
nister Jeff Sessions sich in der peace musste um seine Zulas- und Menschenrechtsgruppen
Affäre offiziell für befangen sung kämpfen. Die Regierung nicht gegen Kohleabbau und
erklärt hatte – gegen Trumps sieht die Tätigkeit der Grup- Atomkraft lobbyieren. lh
Willen. Vor seinem Abflug
stauchte er seine wichtigsten
Berater zusammen, was dum-
merweise ein Kamerateam Philippinen es auf den Philippinen kaum,
filmte. Als der Präsident am Aufkleber gegen viele vermeintlich Süchtige
Samstag in Florida aufwachte, liegen kurz nach einem Kon-
war er immer noch schlecht Mord takt mit der Polizei tot auf
gelaunt. Per Twitter machte Die philippinische Regierung der Straße. Seit Amtsantritt
er die explosivste Anschuldi- hat sich eine neue absurde von Präsident Rodrigo Duter-
gung, die je ein Präsident sei- Maßnahme im „Drogenkrieg“ te sind über 7500 Menschen
nem Vorgänger gegenüber ausgedacht: Drogenfreie getötet worden, angeblich
erhoben hat: Obama habe ihn Haushalte sollen mit Aufkle- vor allem Drogensüchtige
im Wahlkampf abhören las- bern gekennzeichnet werden. und Dealer. Die meisten Op-
sen. „Das ist Nixon/Water- Häuser ohne den Sticker fer wurden von Todesschwa-
gate“, schrieb er. Die Sache signalisierten dann, dass sie dronen exekutiert, die direkte
war offenbar eine Erfindung noch drogenfrei gemacht wer- Verbindungen zur Polizei
der rechten Website Breitbart, den müssten – und nein, eine haben sollen. Die laut Innen-
die Trump ohne jeden Beleg in diesen Zeiten lebensgefähr- ministerium „gewaltfreie und
übernahm. Obama demen- liche Stigmatisierung sei das Mut machende“ Stickeraktion
tierte, sogar der FBI-Chef keinesfalls. Vielmehr sollten ist lupenreine Symbolpolitik,
dementierte, kaum ein Re- sich Drogensüchtige durch um die zaghaft protestie-
publikaner wollte sich hinter die Aufkleber an den Häu- rende Kirche sowie die Zivil-
Fußnote

120
die Behauptung stellen. Am sern der Nachbarn ermutigt gesellschaft zu beschwich-
Sonntag spielte Trump zwei fühlen, eine Therapie zu be- tigen. Der Präsident aber hat
Stunden lang Golf, er wütete ginnen. Dass es dazu kommt, gerade erneut bekräftigt, sei-
immer noch. Am nächsten ist aber unwahrscheinlich. nen „Drogenkrieg“ mit voller
Morgen unterschrieb er ein Therapiemöglichkeiten gibt Härte weiterzuführen. kku
neues Einreiseverbot für die Menschenrechtler und
Bürger von sechs mehrheit- NGO-Mitarbeiter wurden
lich muslimischen Ländern, in den vergangenen
ein bisschen weniger restrik- 14 Monaten in Kolumbien
tiv als das erste, damit es vor ermordet, vorwiegend
den Gerichten besteht. Am in Gebieten, aus denen
Dienstag stellten die Republi- sich die Farc-Guerilla
kaner dann ihre „wunder- nach ihrem Friedens-
bare“ Gesundheitsreform vor, schluss mit der Regie-
die „Obamacare“ abschaffen rung zurückgezogen hat-
soll, aber vor allem Trumps te. Verantwortlich seien
MARK R. CRISTINO / DPA

Wähler hart treffen würde. die dort nun expandie-


EDEL RODRIGUEZ FÜR DEN SPIEGEL

Auch viele Republikaner stel- renden Drogenbanden,


len sich dagegen. Zum Welt- die Jagd auf ihre Kritiker
frauentag twitterte Trump machten, so der staat-
dann wieder: Er habe „gewal- liche Ombudsmann für
tigen Respekt vor Frauen“. Polizeieinsatz gegen Drogenhändler in Manila Menschenrechte.

84 DER SPIEGEL 11 / 2017


Auf Friedensfahrt
Nachdem ihre Stadt bei den Kämpfen zwischen Rebellen und
Regime fast völlig zerstört wurde, hegen die Bewohner von
Beit Najim in der Nähe von Damaskus seit Montag wieder ein
wenig Hoffnung auf friedlichere Zeiten. Ein vorläufiger Waffen-
stillstand erlaubt zumindest erste Ausfahrten durch die
Ruinen – und sei es auch nur mit einem selbst gebauten Auto.

AMER ALMOHIBANY / AFP


Kommentar

Falsches Vorbild
Viktor Orbán ist nicht der Mann, von dem Europa sich beschützen lassen sollte.
Ungarns Premier klingt, als befinde er sich im Krieg. Sein nicht lange her, da galt Orbán als Paria, inzwischen wird er von
Land sei „unter Belagerung“, man müsse „Verteidigungslinien der CSU gefeiert, Europas Rechte bewundern ihn sowieso.
festigen“. Deshalb also jetzt Transitzonen für Migranten, die Ja, Ungarn hat dazu beigetragen, die Balkanroute zu schlie-
man auch Internierungslager nennen könnte, denn wer sie ßen, das hat auch Deutschland genutzt. Aber Orbáns Ziel ist
verlässt, besser: flieht, macht sich strafbar und verwirkt sein es nicht, europäisches Recht durchzusetzen, wie er so gern be-
Asylrecht. Als gäbe es nicht schon einen Zaun, als würde hauptet. Schließlich war er es, der eine gemeinsame EU-Flücht-
nicht schon abgeschreckt und abgeschoben, was das Zeug hält, lingspolitik stets torpediert hat. Sein Ziel ist „null Einwande-
alles ein Verstoß gegen das, was gerade noch als Grundwert rung“, seine Motivation fremdenfeindlich, seine Strategie die
Europas galt: die Humanität. Ach ja, und demnächst soll noch Eskalation. Orbán ist nicht der Mann, von dem Europa sich
ein weiterer Zaun kommen, unter Strom gesetzt. beschützen lassen sollte. Denn in Ungarn ist das Asylrecht de
Da ist es eigentlich egal, dass es nur 536 registrierte Asylsu- facto abgeschafft, der Umgang mit Migranten brutalisiert;
chende in Ungarn gibt. Es lauern ja noch Millionen in der Tür- eine gefährliche Erosion europäischer Werte ist im Gange.
kei und auf dem Balkan, so stellt der Premier es dar. Nicht nur Die EU darf daher nicht insgeheim erleichtert sein über
viele Ungarn glauben das, die Angst reicht bis weit in die libe- Orbáns Alleingang, sie muss ihm entgegentreten, mit der
ralen Gesellschaften Westeuropas. Und so ist Ungarn, leider, schärfsten Waffe, die sie hat: einem Stopp künftiger EU-Hilfen.
zum Vorbild in Sachen Flüchtlingspolitik geworden. Es ist noch Denn sonst sind wir alle Orbán. Juliane von Mittelstaedt

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Ausland

Revolution!
Frankreich Emmanuel Macron ist der ungewöhnlichste Präsidentschaftskandidat seit
Langem. Er könnte Marine Le Pen verhindern, wenn sein Erfolg anhält. Den Wählern macht
er ein bemerkenswertes Versprechen: ein neues Land. Von Julia Amalia Heyer

E
r blickt in die Kamera, ernst, aber meinem Kabinett, unter meiner Aufsicht. Stichwahl am 7. Mai schlicht nicht vorher-
nicht zu ernst, manchmal hebt er die Er weiß, was er mir schuldet.“ Dabei blin- sagen.
Brauen, manchmal umspielt der An- zelte er freundlich. Als wäre Macron sein Natürlich gibt es Prognosen. Die tref-
flug eines Lächelns seine Mundwinkel. Sei- Geschöpf. fendste lautet bisher: Alles ist offen.
ne Stimme klingt ruhig, aber nicht mono- François Hollande wird gerade recht ge- Fest steht, würde am 7. Mai der Kandi-
ton. Emmanuel Macron, Präsidentschafts- räuschlos von der Geschichte geschluckt, dat Macron gegen die Kandidatin Le Pen
kandidat, erzählt, wie er die vergangene von Manuel Valls hört man nichts mehr, antreten, wäre das ungeschriebene Gesetz
Woche erlebt hat; er spricht zu seinen An- seit er bei der Bewerbung um die Präsi- hinfällig, nach dem sich in der Fünften
hängern via YouTube, das will er sonntags dentschaftskandidatur seiner Partei schei- Republik Linke und Rechte an der Macht
jetzt immer tun. Im Hintergrund, leicht un- terte. Emmanuel Macron aber belächelt abwechseln. Es wäre der Beleg dafür,
scharf, ein Schreibtisch, eine Leselampe, mittlerweile niemand mehr. Für ihn, der dass der entscheidende Konflikt nicht
ein Drehstuhl. sich im November zum Erstaunen aller als mehr zwischen diesen beiden klassischen
Ein seltsamer Wahlkampf sei das. Viel Kandidat selbst aus dem Hut zauberte, Lagern verläuft, sondern zwischen pro-
Lärm, Krach, „viel schlechtes Theater“, könnte es besser kaum laufen. Innerhalb europäischen Liberalen und protektionis-
sagt er, schmale Krawatte, dunkler Anzug. weniger Wochen wurde er, dem zuvor nie- tischen Nationalisten. Anzeichen dafür,
Er rekapituliert: ein Kandidat, der dazu mand große Chancen eingeräumt hatte, dass sich Gesellschaften heute anders sor-
aufruft, gegen die Justiz zu demonstrieren. zum Überraschungsfavoriten. tieren als noch vor ein paar Jahren, gibt
Eine Kandidatin, die laut Umfragen von Prozentpunkt um Prozentpunkt holt er es genügend.
den Affären anderer profitiert, obwohl gegenüber Marine Le Pen auf, am Don- Und wer hätte vor einem Jahr schon
auch ihr welche anhängen. nerstag lag er zum ersten Mal in diesem gedacht, dass Emmanuel Macron antreten
„Ein bisschen traurig ist das“, resümiert Wahlkampf in einer Umfrage auch in der würde beim Rennen um das höchste Amt?
Macron. Die Namen seiner Widersacher, ersten Runde vor ihr, mit 26 zu 25 Prozent. Geraune über seine Ambitionen gab es
François Fillon und Marine Le Pen, nennt Seinen Vorsprung auf den Konservativen auch da schon; aber dass er es tatsäch-
er nicht. Stattdessen sagt er: „Ich glaube, François Fillon baut er stetig aus. Fillon ist lich wagen würde, daran glaubten die we-
wir müssen uns jetzt auf das Wesentliche gleichermaßen angeschlagen durch den nigsten.
konzentrieren.“ Auf den Alltag, den jeder Skandal um eine Scheinbeschäftigung sei- Anderthalb Monate vor dem ersten
selbst beeinflussen könne, und auf die Per- ner Frau wie durch seine vermessene Ver- Wahlgang am 23. April ist nun die Frage,
spektiven, die Zukunft. teidigungsstrategie. ob Macron das Tempo, das er vorgelegt
Das Wesentliche für Emmanuel Macron, Es ist ein Wahlkampf, wie ihn Frank- hat, auch durchhalten kann. Es geht jetzt
39 Jahre alt, ist seine Vision. Es geht dabei reich noch nicht erlebt hat. So brutal, so nicht mehr nur um seinen Erfolg. Um die
nicht um ein Programm, das er als Kandi- spannend. Zum ersten Mal könnten beide kuriose Geschichte eines jungen Überflie-
dat vorstellt. Sein Ziel ist ein „neues Frank- etablierten Parteien, der Parti socialiste gers, dem alles zu gelingen scheint. Der
reich“. Dafür soll das, was immer da war, und die konservativen Républicains, schon das alte Lagerdenken mal kurz außer Kraft
weichen. Das Frankreich der höfischen Eli- beim ersten Wahlgang eliminiert werden. gesetzt hat. Der sich zum richtigen Zeit-
ten. Macron, und das meint er durchaus Zum ersten Mal lässt sich das Duell der punkt das Richtige ausgedacht hat.
ernst, will die Politik neu erfinden. Er will Für die Franzosen geht es bei dieser
sein Land aufrütteln, will es umbauen, es Umfrage zu den Präsidentschaftswahlen Wahl darum, in was für einem Land sie
endlich zukunftstauglich machen. in Frankreich am 23. April und 7. Mai nach dem 7. Mai leben wollen.
Schon früher, als er noch nicht Kandidat Die Konzepte der Kandidaten könnten
war, sondern Wirtschaftsminister der so- unterschiedlicher kaum sein: Im Frank-
zialistischen Regierung, wollte er das. Angaben in Prozent reich François Fillons stehen einige wenige
Schon da hat er solche Sätze gesagt: „Mich Emmanuel Macron über dem Recht; der Rest soll Opfer brin-
A F P ; G E T T Y I M AG E S ; G E T T Y I M AG E S ; PA N O RA M I C / I M AG O STO C K & P EO P L E

motiviert, die Zukunft meines Landes zu En Marche!


26 gen. Fillon verspricht einschneidende Re-
gestalten.“ Oder: „Ich glaube, wir müssen formen in fast allen Bereichen des öffent-
viele Dinge ganz anders machen.“ 65 lichen Lebens.
Stichwahl
Die anderen haben ihn damals nicht 35 Im Frankreich Marine Le Pens herrscht
ernst genommen. Er drang nicht durch. Zu Chaos. Das Land hat sich abgeschottet von
jung, zu grün hinter den Ohren. Sein Chef, Marine Le Pen 25 seinen Nachbarn, ein Referendum jagt
der damalige Premierminister Manuel Front National das nächste. Le Pen will die Europäische
Valls, sagte über ihn: „Emmanuel muss ler- Union verlassen und den Franc wieder ein-
nen, im Team zu spielen, sich anzupassen.“ führen, weiß aber noch nicht so recht, wie.
Es klang, als schurigelte er einen Schul- Dann gibt es da auch noch Benoît
buben. François Hollande, der Präsident, François Fillon Hamon, den Kandidaten der bisher regie-
der ihn erst zu seinem Berater, dann zum Les Républicains
20 renden Sozialisten. Er verspricht ein staat-
Minister machte, antwortete auf die Frage Harris-Interactive-Umfrage vom 9. März lich garantiertes Grundeinkommen und
nach Macrons Ambitionen: „Er sitzt in für France Télévisions schreibt, gemeinsam mit dem früheren

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ERIC GARAULT / PASCO

DER SPIEGEL 11 / 2017 87


GUILLAUME BINET / MYOP / LAIF
Hoffnungsträger Macron mit Anhängern bei einer Wahlkampfveranstaltung in Lyon: Die Leute interessieren sich für ihn

griechischen Finanzminister Yanis Varou- amt antrat. Während die Regierung, der Was ihn so anziehend macht, ist, dass
fakis, Briefe an Mario Draghi. Wenn sich er angehörte, wöchentlich neue Negativ- er für etwas vollkommen Neues steht, für
nicht alle fürchterlich täuschen, spielt Ha- rekorde in Umfragen aufstellte, wurde er eine „demokratische Revolution“, wie er
mon schon jetzt keine Rolle mehr bei die- immer beliebter. Dabei hat sich Macron es selbst nennt. Die Frage ist nur, ob die
ser Wahl. vor seiner Präsidentschaftskandidatur nie Franzosen für eine solche Revolution, jen-
Deshalb ruhen nun auf den eher schma- einer Wahl gestellt. Dabei sagt er immer seits der Neugier auf den Kandidaten,
len Schultern Emmanuel Macrons die Hoff- wieder Dinge, die, freundlich formuliert, wirklich bereit sind. In den Wochen bis
nungen all jener, die nicht grundsätzlich irritieren: Macron schwärmt offen für zur Wahl kann noch viel geschehen, Wiki-
gegen Europa sind, die Frankreich als Europa, und er verteidigt Angela Merkels Leaks-Gründer Julian Assange kündigte
Rechtsstaat schätzen und die glauben, dass Flüchtlingspolitik. an, er habe kompromittierendes Material
sich etwas ändern muss, damit ihr Land Obwohl bei ihm alles eher wohltempe- über ihn. Und Macron kann noch viele
nicht mehr so erstarrt, blockiert und de- riert erscheint – er mag Bach und spielt so Fehler machen. Deshalb zählt nun jedes
primiert erscheint. gut Klavier, dass er auch Pianist hätte wer- Wort, das er sagt. Deshalb muss er vor-
Immer mehr Politiker aus anderen La- den können –, scheint bei Macron auch sichtig sein, alles wird registriert. Man
gern schließen sich Macron an. So sicherte immer wieder ein leichter Hang zum Que- kann ihm beim Lernen zusehen.
ihm der Zentrist François Bayrou seine Un- rulantentum durch. Als ob er seine Gren- Vor Kurzem zum Beispiel, auf dem
terstützung zu. Bayrou hatte bereits 2012 zen ausloten müsste. Marktplatz von Carpentras, wo, gerahmt
die Rolle des Königmachers inne, als er Er bezeichnete, als junger Minister unter von knorrigen Platanen und steinernen
zur Wahl von François Hollande aufrief. einem sozialistischen Präsidenten, den Li- Bänkchen, 30 wütende Menschen stehen
Auch der Grüne Daniel Cohn-Bendit will beralismus als „Wert der Linken“. Jugend- und ihren Ärger in die Frühlingsluft brül-
Macron wählen, er hält ihn „im Augen- liche forderte er dazu auf, „Lust zu haben, len. „Macron“, schreien sie. „Verräter!“ Es
blick für die beste Lösung“. Milliardär zu werden“. Einem aufgebrach- ist ein Empfang, wie ihn der Umfragelieb-
Genau wie die beiden prominenten So- ten Gewerkschafter, der ihn für seine Re- ling nicht unbedingt gewöhnt ist.
zialisten Bertrand Delanoë, lange Pariser formpläne anging, sagte er kühl ins Ge- „Wir wollen eine Entschuldigung“, rufen
Bürgermeister, sowie Gérard Collomb, sicht, dass es für ihn nur eine Möglichkeit sie, eine Trikolore schwenkend, in deren
Bürgermeister von Lyon. Collomb gerät gebe, sich auch so einen Anzug zu leisten, Mitte zwei schwarze Fußabdrücke prangen.
ins Schwärmen, wenn er über Macron wie er ihn trage: Arbeit. Vor Carpentras war Macron nach Algerien
spricht. Er sei anders als andere Politiker. Doch Macron ist kein junger Minister gereist, wo er einen Kranz auf das Grab
Als er vor zwei Jahren in Lyon einen Emp- mehr, er muss nun die Mehrheit der Fran- des französischen Schauspielers Roger Ha-
fang für den damals noch recht neuen Mi- zosen hinter sich versammeln. Marine Le nin legte. Und wo er, en passant, die fran-
nister gab, rechnete er mit 200 Gästen. Es Pen und François Fillon können auf ein zösische Kolonialzeit als „Verbrechen ge-
kamen über tausend. festes Reservoir an Stammwählern zurück- gen die Menschlichkeit“ bezeichnete.
Das Interesse, die Anteilnahme an dem, greifen, das sieht bei Macron anders aus. Es waren Worte, die in Algier zwar mit
was Macron macht, was er sagt, begleitet Die Leute interessieren sich für ihn, ob sie Applaus bedacht wurden, die bei seinen
ihn, seit er im August 2014 sein Minister- ihn wählen werden, ist nicht sicher. Landsleuten zu Hause, besonders bei den

88 DER SPIEGEL 11 / 2017


Ausland

Pieds-noirs, den Algerienfranzosen, aller- er François Hollande sein Rücktrittsgesuch gramm seiner Präsidentschaft aufgebaut,
dings nicht so gut ankamen. Seine Zustim- übergab. Damals, im Mai 2016, als die Pro- er nennt es „Mein Vertrag mit der Nation“.
mungswerte sanken, und zwar ziemlich teste gegen das von ihm federführend er- Fast drei Stunden nimmt er sich Zeit, als
rasant. dachte Arbeitsmarktgesetz ihren Höhe- er es in Paris vorstellt. Er will die französi-
Am folgenden Tag trat Macron in einer punkt erreicht hatten und Massenstreiks sche Sozialversicherung umbauen, die Un-
Halle in Toulon auf, viele Ränge blieben dem öffentlichen Leben die Luft abschnür- terschiede zwischen privilegierten Beamten
leer. „Es tut mir leid, wenn ich mit meiner ten, saß er in einem Hochgeschwindigkeits- und Angestellten der Privatwirtschaft ver-
Äußerung jemanden verletzt habe“, sagte zug nach Brüssel und band sich seine Kra- kleinern. Im öffentlichen Dienst sollen
er. Aber Frankreich müsse sich auch den watte, während er unablässig redete: Man 120 000 Stellen gestrichen werden, ein un-
unangenehmen Seiten seiner Geschichte müsse die politische Entscheidungsfindung erhörtes Vorhaben für den ehemaligen Mi-
stellen. Seine Werte in den Umfragen san- überdenken, sagte er, sie korrespondiere nister einer sozialistischen Regierung. Die
ken weiter. nicht mehr mit dem, was die Menschen Chancengleichheit will er stärken, indem
Am Tag darauf stellte er sich in Paris von den Regierenden erwarteten. er die Gettoisierung vor allem in den Städ-
vor seinen Schreibtisch und ließ sich dabei „Selbst wenn man ein Gesetz im Eilver- ten aufbricht. So sollen Unternehmen drei
filmen, wie er erklärte, was genau er wie fahren verabschieden möchte, dauert es Jahre lang keine Sozialabgaben für Berufs-
gemeint habe. Dass er niemanden beleidi- sechs, sieben Monate. Das ist sehr, sehr einsteiger aus den Vorstädten zahlen.
gen wollte. Es müsse doch möglich bleiben, langsam“, sagte er. Sein Rücktritt war die Plötzlich sei da wieder Energie gewesen,
offen zu sprechen. Sein Appell klang wie logische Konsequenz dieser Worte. erzählt Axelle Tessandier, 35. Die Unter-
ein Flehen.
Er kämpft mit sich, versucht, seine di-
rekte Art in etwas Positives umzumünzen.
Manchmal gelingt ihm das. Bei einem Be-
such in der Banlieue am Dienstag fragt ein
junger Unternehmer, was Macron den Be-
wohnern der Vorstädte denn verspreche.
„Ich verspreche Ihnen gar nichts“, ant-
wortet Macron und sieht seinem Gegen-
über direkt in die Augen. „Wir haben
schon viel zu viel für die Banlieue verspro-
chen und es dann nicht gehalten.“
Am Tag darauf, dem Internationalen
Frauentag, steht er auf der Bühne eines
kleinen Theaters in Paris, eine Frau im
Publikum greift zum Mikrofon, sie fragt:
„Monsieur Macron, werden wir unter Ih-
nen als Präsident endlich wieder eine Pre-

PATRICK ALLARD / REA / LAIF


mierministerin haben?“
„Das würde ich mir wünschen“, sagt Ma-
cron und hebt die Stimme. Allerdings wer-
de er seinen Regierungschef nicht nach
Genderkriterien aussuchen, sondern allein
nach Kompetenz.
Er hat geschafft, was vor ihm nieman- Kandidat Macron, Ehefrau Brigitte Trogneux: Ein Beweis, dass ihm an Konventionen nichts liegt
dem gelang: Noch nie seit Gründung der
Fünften Republik 1958 hatte ein unabhän- Als Politiker müsse man auch Pädagoge nehmerin, sehnige Yogafigur, dunkle Lo-
giger Kandidat so große Chancen, Präsi- sein, sagte Macron noch. Man müsse den cken, sitzt auf einem Tisch im Hauptquar-
dent zu werden, wie er. Vielleicht waren Menschen erklären, was man vorhabe. Es tier von En Marche! Drei Stockwerke hat
auch die Vorzeichen für einen Kandidaten war ein unverhohlener Seitenhieb auf den Macron in einem ziemlich hässlichen Bü-
wie ihn noch nie so günstig. 89 Prozent Regierungsstil seines Präsidenten. Auch rogebäude im 15. Arrondissement gemie-
der Franzosen glauben, ihr Land entwickle deshalb soll seine Bewegung – nie nennt tet, viel „open space“, auch ein paar Stock-
sich gerade in die falsche Richtung. Trotz- er sie Partei – anders sein. Flache Hierar- betten, falls es mal länger dauert. 100 Frei-
dem lässt sich Macrons Erfolg nicht auf die chien, jeder, der an einer „transparenten willige helfen beim Beantworten der Mails
Schwäche seiner Gegner reduzieren. Debatte“ interessiert sei, könne mitma- und Anrufe; rund 50 Mitarbeiter sind fest
Im April 2016 gründete er seine Bewe- chen, erklärte Macron. angestellt. Die Bewegung finanziert sich
gung En Marche!, in Amiens, seiner nord- Kurz nach der Gründung hatten sich allein über Spenden.
französischen Heimatstadt. Heute, kein schon 25 000 Franzosen auf der Internet- Tessandier hat eine Weile in den USA
Jahr später, zählt sie über 200000 Mitglieder, seite von En Marche! eingetragen. Im gan- gelebt, bevor sie Ende 2015 nach Frank-
es werden täglich immer noch mehr. „Ich zen Land bildeten sich Ortsgruppen, deren reich zurückkehrte. Sie habe, sagt sie, nicht
weiß nicht, wie dieses Experiment enden Mitglieder zogen von Tür zu Tür, mit ei- weiter aus der Ferne zuschauen können,
wird“, sagte er damals in der Messehalle in nem Fragebogen: wie Frankreich, ihre Heimat, vor die Hun-
Amiens. Aber er wollte es versuchen. „Was mögen Sie nicht an Frankreich?“ de gehe. Zwei schwere Attentate, der im-
Das Dasein als Minister hat ihn ent- „Was missfällt Ihnen am politischen mer stärker werdende Front National. Ka-
täuscht. Zu viel Abwägen, schwerfällige System?“ terstimmung.
Prozeduren, zu viele Kompromisse. Am „Was ist Ihre größte Hoffnung?“ „Ich kam in Paris an und wusste nicht,
Ende könne es vorkommen, dass man sich Um etwas verändern zu können, müsse was tun“, sagt sie. Weder wollte sie sich
im Ergebnis kaum mehr wiedererkenne, man zuerst zuhören, sagt Macron. Auf Ba- für die Sozialisten engagieren, noch teilte
sagte er bei einem Gespräch, kurz bevor sis dieser Antwortprotokolle hat er das Pro- sie das, wofür die bürgerliche Rechte
DER SPIEGEL 11 / 2017 89
MATT STUART / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS
Freiwillige Helfer der En-Marche!-Bewegung: Ortsgruppen zogen von Tür zu Tür

stand. Und plötzlich war da Emmanuel breitet die Arme aus, und es wirkt wirklich Dass er sie zu brechen vermag. Entgegen
Macron. Weder rechts noch links, sondern ein wenig, als wolle er sein Publikum seg- allen Widerständen.
vorwärts. „Progressisme“, nennt Macron nen: ein schlanker, fast schmächtiger Mann „Ich kenne das, wenn man seltsam an-
das, Tessandier gefiel es. mit blauen Augen und ebenmäßigen Ge- geschaut wird, weil man etwas lebt, was
Stellen Sie sich vor, sagt sie, jemand sichtszügen. nicht der Norm entspricht“, sagte er vor
schlafe 50 Jahre lang und wache dann „Je vous aime farouchement“, ruft er in Kurzem in einem Fernsehinterview. „Das
plötzlich auf. Er komme nicht mehr zu- Lyon seinem Publikum zu, „Ich liebe euch ist keine bloße Theorie für mich, ich habe
recht in der Welt, so sehr habe die sich in unbändig“. Gemeinsam, verspricht er und das erlebt.“ Auf die seit Längerem kursie-
der Zwischenzeit verändert. Außer, sagt hebt die Stimme, „werden wir die Hoff- renden Gerüchte, er sei schwul, konterte
sie, man setze diesen Jemand in die Natio- nung zum Triumph führen!“ er Anfang Februar in Paris, wie man ele-
nalversammlung: „Da wird er sich wohl- Es sind bombastische Sätze, die seltsam ganter nicht kontern könnte: mit Ironie.
fühlen, denn da hat sich überhaupt nichts klingen und die er in einem Gespräch nicht „Falls Sie hören sollten, dass ich ein Dop-
verändert.“ Ein stimmiges Bild, wenn man benutzen würde. Macron ist ein gewinnen- pelleben führe, dann ist das mein Holo-
beschreiben will, wie notwendig ein Wan- der Mensch; zugewandt, freundlich. Er gramm, das mir entwischt ist. Das kann
del der französischen Politik ist. kann zuhören. Nach einem Treffen mit ihm ich gar nicht sein.“ Die Gerüchte seien vor
Macron ist der einzige Kandidat, der fragt man sich jedes Mal aufs Neue etwas allem schwierig für seine Frau Brigitte, die
nicht versucht, durch das Schüren von verblüfft, wie er es schafft, so sympathisch sich nun frage, wie er das physisch über-
Ängsten zu punkten. Er will Hoffnung ma- zu wirken. Wie er es hinbekommt, dass sein haupt bewältigen könne. „Wir sind ja im-
chen, Optimismus verbreiten, beides Din- Selbstvertrauen nicht ins Arrogante kippt. mer zusammen, tagsüber und nachts“, sag-
ge, die Frankreich in den vergangenen Jah- Bei seiner Biografie läge das nah. So- te Macron. Dabei bezahle er sie nicht ein-
ren abhandengekommen sind. Er glaube sehr er auch für Erneuerung kämpfen mag, mal dafür.
an „das Wohlwollen, auch in der Politik“, er selbst entstammt dem klassischen Sys- Es war eine sehr frontale, ungewöhnlich
sagt Macron. tem der französischen Elitenerziehung. Er klare Reaktion auf die Versuche, ihn über
Bei seinen Auftritten verbittet er sich hat die besten Schulen des Landes besucht; sein Privatleben zu diskreditieren. Er nann-
Pfiffe und Buhrufe, auch wenn sie sich ge- bevor er Hollandes Berater im Élysée wur- te sogar den Namen seines vermeintlichen
gen Konkurrenten richten. Den Essayisten de, verdiente er viel Geld als Bankier bei Liebhabers. Der Auftritt wird ihm einige
Pascal Bruckner hat er damit erbost. Wohl- Rothschild. neue Anhänger eingebracht haben.
wollen, schreibt Bruckner, sei in der Politik In seinem politisch-biografischen Mani- Er könne sich selbst den eigenen Wer-
fehl am Platz. Das sei etwas für Geistliche. fest „Revolution“, das pünktlich zu Wahl- degang nicht recht erklären, schreibt er in
Dass Macron sich selbst für eine Art Er- kampfbeginn erschien, bemüht er sich seinem Buch „Revolution“. Er staunt im-
löser halte, sei unerträglich. über viele Seiten, nicht als der Wunder- mer noch über seinen Erfolg.
Tatsächlich gleichen seine Wahlkampf- knabe zu erscheinen, dem alles gelingt.
veranstaltungen Happenings, auf denen Seine Ehe mit einer 24 Jahre älteren Frau Lesen Sie auch auf Seite 120
sich eine ausgeklügelte Ton- und Lichtregie führt er immer wieder als Beweis dafür an, Warum die französische Politik an eine böse
allein auf ihn ausrichtet. Da steht er dann, dass ihm an Konventionen nichts liegt. Fernsehserie erinnert

90 DER SPIEGEL 11 / 2017


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SP17-775 / SD17-610
Trumps fiktives Amerika
Essay Die neuen Einreiseverbote bedrohen die demokratische Substanz des Landes.
Von Michael Werz

Werz, 52, ist Senior Fellow in der liberalen Denkfabrik Center 620 000 Menschen – eine enorme Zahl; das Land hatte da-
for American Progress, in deren Vorstand auch John Podesta, mals weniger als ein Zehntel der heutigen Bevölkerung.
Exwahlkampfmanager Hillary Clintons, sitzt. Unter der demo- Die Nachwirkungen des Civil War dauerten über Jahr-
kratischen Regierung arbeitete Werz eng mit dem Weißen zehnte an, Konflikte zwischen Amerikanern verschiede-
Haus und dem State Department zusammen. ner Hautfarben prägten den Alltag bis in die Sechziger-
jahre und darüber hinaus.

E
in halbes Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs, Präsident Trump und große Teile seines Kabinetts wie-
im Februar 1915, schrieb Horace Kallen, der mit fünf derholen nun ständig den Refrain über kriminelle Ein-
Jahren aus Schlesien in die Vereinigten Staaten ge- wanderer und terroristische Bedrohungen, die angeblich
kommen war, eine kurze, aber erstaunliche Studie über von ihnen ausgehen. Diese Angriffe dokumentieren ein
amerikanische Nationalität. Er schilderte Amerika als tiefes Unbehagen über die Veränderungen in der ameri-
Symphonie, in der „jedes Instrument seine besondere kanischen Gesellschaft. Es ist, als sei Donald Trump ein
Klangfarbe und Tonalität hat“ – als „harmonisches Zu- Fremder im eigenen Land. Ein weißer Mann im Renten-
sammenspiel der europäischen Zivilisation“. Kallens Be- alter, der als Mitglied der Elite in New York aufwuchs
obachtungen fielen in eine Umbruchzeit, in der sich die und mit dem zunehmend multikulturellen, heterogenen
USA endgültig in eine Nation ohne dominierende Natio- Amerika nichts anzufangen weiß. Dieses Ressentiment
nalkultur verwandelten. gegen das moderne Amerika mag zu den wenigen Dingen
Der Westen des Landes war erobert und besiedelt, die gehören, die ihn mit den weißen Mittelschichten verbin-
Wirtschaft die größte der Welt. „In der Gesellschaft ist den, ohne deren massive Unterstützung sein Wahlsieg
jede ethnische Gruppe ein natürliches Instrument“, nicht möglich gewesen wäre.
schwärmte der Einwanderer Kallen, „ihr Geist und ihre Vergebens sucht man nach Widerstand gegen Trumps
Kultur sind ihr Thema und ihre Melodie, und die Harmo- fremden- und einwandererfeindliche Dekrete innerhalb
nie und die Dissonanzen und Missklänge bilden die Sym- des Kabinetts und der Partei. Heimatschutzminister John
phonie der Zivilisation.“ Kelly treibt die Spaltung der Gesellschaft besonders voran.
Dieses Motiv einer multikulturellen und gleichberech- In dieser Woche erwog er, die Kinder illegaler Einwande-
tigten Gesellschaft blieb prägend für das Land, auch wenn rer künftig zur Abschreckung von ihren Eltern zu trennen.
es stets etwas Idealisierendes hatte und die Spannungen In einer Richtlinie schrieb er vor Kurzem, dass „der An-
ausblendete. Aber es war das Bild, das Amerika von sich stieg der Einwanderung an der Südgrenze erhebliche na-
entwarf. tionale Sicherheitsrisiken“ geschaffen habe. Für den ehe-
Im Wahlkampfjahr 2008 hielt Barack Obama eine maligen Kommandeur der US-Streitkräfte in Zentralame-
bemerkenswerte Rede zu Rassenbeziehungen. Auch er rika scheint die Grenze zu Mexiko vor allem eines zu
wiederholte die zeitgenössische Version dieser ameri- sein – ein Gefechtsfeld.
kanischen Idee, dass erst aus vielen ein Ganzes entsteht. Donald Trump und seine Mitarbeiter im Weißen Haus
E pluribus unum, so steht es zur Erinnerung auf jeder haben ein klares Ziel: Amerika soll wieder weißer, reak-
Vierteldollarmünze. Obama beschrieb damals die für ihn tionärer und provinzieller werden. Damit ist aber ein un-
so schmerzlichen Vorurteile, die seine geliebte weiße Groß- lösbarer Konflikt vorprogrammiert, denn die USA können
mutter gegen Schwarze hegte. Er warnte davor, jedes Res- ohne kulturelles und ethnisches Einvernehmen nicht exis-
sentiment von Weißen gegen Minderheiten als Rassismus tieren. Das Land ist so vielfältig geworden, dass die auto-
zu brandmarken. Er erinnerte daran, dass der Einklang ritäre Gleichschaltung, für die der Präsident und seine Be-
von Amerikanern verschiedener Herkunft die Vorausset- rater in ihrer Rede von Recht und Ordnung werben, ohne
zung für gesellschaftlichen Fortschritt ist. massive Verwerfungen undenkbar ist.
Donald Trumps Dekrete sind der feindselige Gegen-

S
entwurf zu dieser lange währenden amerikanischen Tra- chon wenige Wochen nach Amtsantritt des Präsi-
dition. Die neuen und umfangreichen Einreiseverbote, denten kam die neue Regierung mit der Verfassung
die er diese Woche erließ und die sich hauptsächlich gegen in Konflikt: Eingespielte Verfahren im Weißen Haus
Muslime richten, kommen einem Epochenbruch gleich: und im Nationalen Sicherheitsrat wurden kurzerhand au-
Seit im Jahr 1882 chinesischen Arbeitern die Einreise ver- ßer Kraft gesetzt. Trumps Tochter Ivanka und sein Schwie-
sagt wurde, gab es in den USA kaum Abwehrgesetze, die gersohn Jared Kushner sind demokratisch nicht legiti-
Bürger gesamter Nationen unterschiedslos diskriminieren. mierte Mitglieder seines Küchenkabinetts. Trumps Söhne
Die Regelungen hatten auf Dauer keinen Bestand, das schlagen Vorteile aus dem Amt des Vaters.
Land befand sich bereits inmitten einer Modernisierungs- Das Land bewegt sich in eine gefährliche Richtung.
phase. Zwar gehören die langen Rechtstraditionen zu den wich-
Die sogenannte Rassenfrage ist in den USA nicht aka- tigsten Errungenschaften der amerikanischen Gesellschaft.
demisch, sondern zentral in allen wichtigen politischen Es gibt keinen Tag, an dem die fast 230 Jahre alte Verfas-
Debatten. Im Bürgerkrieg, mit dem im späten 19. Jahr- sung nicht öffentlich diskutiert wird. Aber ihr Alter birgt
hundert die Sklaverei beendet wurde, starben mindestens zugleich ein Problem: Viele politische Regeln beruhen auf

92 DER SPIEGEL 11 / 2017


Ausland

AP
Mexikanische Gastarbeiter bei der Registrierung in den USA um 1950: Zeichen der Zeit nicht verstanden

nicht einklagbaren Gewohnheiten. Das macht es schwie- zesses und keine spontane Meinungsäußerung. Darüber
rig, Verstöße gegen die Verfassung zu ahnden. hinaus fehlt den Generälen die Erfahrung in einem politi-
Die Verfassungsgrenzen werden bereits jetzt in vielen schen Amt, erst recht in einem Regierungsamt. Bestes
Fragen gedehnt – doch sind Meinungsfreiheit und Gewal- Beispiel war der nach nur 24 Tagen aus dem Amt gestol-
tenteilung in dem Dokument vom September 1787 nur perte Nationale Sicherheitsberater Michael Flynn. Inhalt-
vage und in wenigen Zeilen definiert. Das gilt etwa für lich stehen viele den politischen Ideen Trumps und seiner
die Klausel, die geldwerte Vorteile im Amt des Präsidenten Berater sehr nah. So teilt Verteidigungsminister James
untersagt. Sie hindert den Präsidenten bekanntlich nicht Mattis mit dem rechten Trump-Einflüsterer Stephen Ban-
daran, weiterhin ein Firmenimperium in der Familie zu non eine irrationale Aversion gegen Iran. Außerdem ist
halten. Trumps verbale Angriffe auf Moscheen stehen im er bekannt für Äußerungen wie die, dass es in der Welt
Widerspruch zu dem religiösen Freiheitsgebot des ersten „Arschlöcher gibt, die erschossen gehören“.
Verfassungszusatzes. Dies sind die Kabinettsmitglieder, mit denen sich ein
Präsident umgibt, dessen Unterstützungswerte sich bereits

D
ie vielleicht wichtigste Klausel findet sich im im zweiten Amtsmonat auf Tiefststände eingependelt ha-
14. Verfassungszusatz: Sie garantiert die Gleich- ben. Schon jetzt wirkt er wie in die Enge getrieben, seine
behandlung aller amerikanischen Bürger vor dem einzige Reaktion besteht in der Flucht nach vorn in immer
Gesetz. Latinos und Muslime erleben im Land schon län- tiefere Radikalisierung. Die negativen Reaktionen auf die
ger das Gegenteil. Seit Trumps Amtsantritt gibt es im gan- Gesundheitsreform, die die Republikaner in dieser Woche
zen Land Berichte über eine Zunahme willkürlicher Kon- vorgestellt haben, die aber sogar im eigenen Lager auf
trollen und diskriminierender Behandlung – viele Poli- Ablehnung stößt, könnten für den Präsidenten zum De-
zisten und Grenzer gefallen sich, ohne dass sich die Ge- bakel werden.
setze geändert hätten, als ausführende Kräfte von Donald Mit seinen morgendlichen Tweets sucht der Präsident
Trumps Fantasien. nun täglich nach Bestätigung, doch er richtet sich an ein
Wer sich der Illusion hingibt, dieser Präsident sei in sei- fiktives Volk anstelle des realen. Sein Amerikabild ist von
nen Plänen, seinen Angriffen gegen Richter, Geheimdiens- Fabrikarbeitern im Mittleren Westen geprägt, von einer
te, Presse und Minderheiten einzuhegen oder zu kontrol- weißen, ländlichen Bevölkerung – von einer Minderheit
lieren, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Auch der Gesellschaft also. Dieses fiktive Amerika war auch
die vielen Exmilitärs in seinem Kabinett – ein Novum in der Adressat von Trumps zentralem Satz in seiner An-
der neueren amerikanischen Geschichte – sind keine Ga- trittsrede: „Dieses amerikanische Gemetzel endet sofort.
ranten der Vernunft. Von diesem Tag an wird es nur heißen: Amerika zuerst.“
Es sind vielfach Exgeneräle (drei der Kabinettsmitglie- 102 Jahre nach Horace Kallens fortschrittlicher Fantasie
der haben im Irak gekämpft), die es nicht gewohnt sind, von der Symphonie der Zivilisation ist an ihre Stelle das
im richtigen Moment Nein zu sagen. Im amerikanischen ungehemmte Schüren von Ängsten und ein politisches
Militär ist der Widerspruch Teil eines formalisierten Pro- Programm von vorgestern getreten. I

DER SPIEGEL 11 / 2017 93


Ausland

„Die Welt wird schwarz“


SPIEGEL-Gespräch Der Philosoph Achille Mbembe glaubt, dass Europa unter einem Bedeutungsverlust
leidet, und wirft afrikanischen Eliten vor, die Potenziale ihres Kontinents nicht zu nutzen.

Der Philosoph und Historiker Mbembe, 1957 SPIEGEL: Aber können die Errungenschaf- dert hat Europa nach außen geschaut, es
in Kamerun geboren, lehrte in Yale, Berkeley ten der Demokratie so leicht zunichtege- hatte ein imperialistisches Projekt mit dem
und an anderen amerikanischen Eliteuniver- macht werden? Sie halten sogar das Ende Ziel, die Welt zu erobern und zu dominie-
sitäten. Zurzeit forscht er am Institute for des Humanismus für möglich. ren. Nun mauert Europa sich ein.
Social and Economic Research in Johannes- Mbembe: Ich kann mich nur wiederholen: SPIEGEL: Sie erklären diesen Prozess mit
burg. Mbembe zählt zu den einflussreichs- Die liberale Demokratie und der neolibe- dem freudschen Begriff der narzisstischen
ten Denkern Afrikas. 2015 erhielt er für sein rale Kapitalismus erweisen sich immer Kränkung.
Buch „Kritik der schwarzen Vernunft“ den mehr als unvereinbar. Es ist der Gegensatz Mbembe: Ja, Europa ist gekränkt, weil es
Geschwister-Scholl-Preis*. Seine jüngsten zwischen der Herrschaft des Volkes und nicht mehr das Gravitationszentrum der
Werke zeichnen ein düsteres Bild der Welt- der Herrschaft des Geldes, zwischen Hu- Welt ist. Es ist ein ambivalenter Prozess:
lage. Der Wissenschaftler empfängt zum manismus und Nihilismus. Gleichzeitig Europa zieht sich auf sich selbst zurück
Gespräch im Haus seiner Familie in Kom- zeigt sich die Verachtung moralischer und bedauert zugleich den Verlust seiner
metjie, einem südafrikanischen Ort am At- Grundwerte in den Terrorattacken von Pa- Hegemonie. Ausgerechnet in einer Zeit,
lantischen Ozean. In Freizeitkleidung und Flip- ris oder Berlin. Oder in Aleppo. in der wir global mehr verbunden sind als
flops sitzt er im Schatten eines Milkwood- SPIEGEL: Deutschland hat immerhin Hun- je zuvor, legt es die Verantwortung für die
Baums, gleich dahinter rauscht die Brandung derttausende syrische Flüchtlinge aufge- Zukunft unseres Planeten ab.
des Meeres. nommen. SPIEGEL: Trotzdem wollen Millionen Men-
Mbembe: Deutschland ist die rühmliche schen ins Paradies namens Europa.
SPIEGEL: Herr Mbembe, Sie prophezeien Ausnahme in einem Europa, das sich ab- Mbembe: Natürlich bleiben Europa und
für die kommenden Jahrzehnte lange schottet. Der Kontinent hat sich in eine sein Wohlstand attraktiv. Ich behaupte
und tödliche Auseinandersetzungen. Was Festung verwandelt, sein geopolitischer auch nicht, dass Europa allen Einfluss ver-
kommt da auf uns zu? Einfluss schwindet. Seit dem 15. Jahrhun- liert. Aber es erscheint mir wie ein wun-
Mbembe: Schon heute nehmen Ul- derschönes Museum, das die Vergan-
tranationalismus, Religionswahn, genheit ausstellt und versucht, das
Fremdenfeindlichkeit, Rassismus Chaos der Gegenwart von sich fern-
und andere tödliche Leidenschaften zuhalten. Und seine Demokratien
weltweit zu. Wenn die Weltgesell- verwandeln sich in Zeiten terroristi-
schaft nicht gegensteuert, werden scher Gewalt allmählich in Sicher-
Gewaltkonflikte aller Art noch häu- heitsstaaten, die sich nahezu perma-
figer und noch brutaler werden. Das nent im Krieg mit schwer greifbaren
heißt: mehr asymmetrische Kriege, Feinden befinden. Der Kontinent
höhere Mauern, dichtere Grenzen, gleicht immer mehr einer Militär-
wachsende Ungleichheit, innerlich garnison. Aber irgendwann könnte
zerrissene Staaten. diese Festung innerhalb der eigenen
SPIEGEL: Was führt Sie zu dieser pes- Mauern explodieren.
simistischen Sicht, die Sie ja auch in SPIEGEL: Der Untergang des Abend-
Ihrem neuesten Buch vertreten? landes wurde schon oft vorhergesagt.
Mbembe: Die Anzeichen mehren Mbembe: Wenn der nationalistische
sich, dass das Modell der liberalen Populismus weiter zunimmt, sind die
Demokratie, das sich in den entwi- Grundfesten Europas bedroht, das
ckelten Regionen der Welt seit dem universelle Ideal der liberalen De-
Ende des Zweiten Weltkriegs be- mokratie. Es gab immer rechtsradi-
währt hat, an seine Grenzen stößt. kale Bewegungen, aber die Frage ist,
Heute dominiert die Rationalität des warum sie in Ländern wie Frank-
Finanzkapitalismus, und die ist im- reich so stark geworden sind. Dort
mer weniger verträglich mit den streben sie sogar an die Macht, wie
Prinzipien einer demokratischen der Aufstieg des Front National un-
Ordnung. Nachdem sich das politi- ter Marine Le Pen zeigt.
sche Gleichgewicht des Kalten Krie- SPIEGEL: Wie erklären Sie deren Er-
ges aufgelöst hat, breiten sich zer- folg?
MATTHIAS BALK / PICTURE ALLIANCE / DPA

störerische Kräfte aus und zersetzen Mbembe: Es ist eine Reaktion auf die
etablierte Demokratien. Und die Globalisierung. Viele Menschen ha-
Gegenkräfte wirken so schwach, ben das Gefühl, infolge der wirt-
dass wir wenig Grund zur Hoffnung schaftlichen Verwerfungen immer
haben. mehr zu verlieren. Sie glauben, dass
ihnen ihre eigenen Länder nicht
* Achille Mbembe: „Kritik der schwarzen Ver- mehr gehören. Dass sie von reali-
nunft“. Suhrkamp; 332 Seiten; 17 Euro.
Das Gespräch führte der Redakteur Bartho- tätsfernen bürokratischen Appara-
lomäus Grill. Intellektueller Mbembe: „Europa ist gekränkt“ ten beherrscht werden. Dass ihre
94 DER SPIEGEL 11 / 2017
SANTI PALACIOS / AP
Afrikanische Flüchtlinge vor dem süditalienischen Reggio Calabria: „Grenzzäune werden sie nicht aufhalten“

Identität durch Einwanderer aus aller Welt Mbembe: Lumpenproletarier konnten noch Mbembe: Dieser Niedergang droht, wenn
bedroht wird, durch Fremde. die Hoffnung haben, im System der Aus- es uns nicht gelingt, eine öffentliche Sphä-
SPIEGEL: Angst und Fremdenhass gibt es beutung aufzusteigen. Hier sprechen wir re wiederherzustellen, in der rationale Ar-
auch außerhalb Europas, zum Beispiel in von Menschen, die zu Müll erklärt werden. gumente die Basis des demokratischen
Südafrika. Der Kapitalismus braucht sie nicht mehr, Diskurses bilden. In der die Menschen auf
Mbembe: In dieser Angst spiegelt sich ein nicht mal als Konsumenten. Die Figur des der Grundlage von Tatsachen handeln und
weltweites Unbehagen. Wir stehen erst am Negers wird gleichsam auf die gesamte nicht von ihren Vorstellungen oder Ver-
Anfang einer gewaltigen Neuverteilung subalterne Menschheit ausgeweitet. Es gibt schwörungstheorien geleitet werden.
der Weltbevölkerung. Millionen sind in immer einen Neger, und überall herrscht SPIEGEL: Sie warnen davor, dass unsere Ge-
Bewegung, Grenzzäune werden sie nicht die Furcht, ein Neger zu werden. Auch sellschaften in einen sozialdarwinistischen
aufhalten. Das Thema Migration wird das Flüchtlinge und Migranten fallen unter die- Naturzustand zurückfallen könnten, in
21. Jahrhundert bestimmen, und am Ende se Kategorie. dem sich nur die Stärkeren durchsetzen.
wird die Weltkarte ganz anders aussehen. SPIEGEL: Der Wahlsieg Donald Trumps be- Mbembe: Der Neoliberalismus baut auf den
SPIEGEL: Ein zentraler Topos Ihrer Philo- stätigt Ihre These, dass die erfolgreichsten Wettbewerb zwischen isolierten Individu-
sophie ist die „conditio nigra“. Was genau Politiker jene sind, die überzeugend zu en, die sich unter ungleichen Bedingungen
ist darunter zu verstehen? den Verlierern der Globalisierung spre- irgendwie durchschlagen sollen. Nichts
Mbembe: Ich beschreibe damit die Bedin- chen. Es ist ein Diskurs, in dem Fakten entkommt dieser ökonomischen Logik, al-
gungen, die heutzutage die Existenz von nicht mehr zählen. les wird zur Ware. Die Verdinglichung der
Millionen Menschen bestimmen. Es ist das Mbembe: Die Trennlinien zwischen wahr menschlichen Existenz ist aber unverein-
wachsende Heer der Armen, Abgehängten, und falsch verschwimmen gerade. Wir fallen bar mit der Idee der Demokratie, die auf
Ausgegrenzten, die gegenwärtig erleiden, in eine Ära des Affekts zurück. Es scheinen kollektiven Werten beruht – gesellschaft-
was die Afrikaner während der Zeit des statt der vernunftgeleiteten Rede nur noch licher Mitverantwortung zum Beispiel.
Sklavenhandels erlitten haben. Die Uni- Wut, Empörung und alle Arten von Ge- SPIEGEL: Auch das Schicksal Afrikas sollte
versalisierung der „conditio nigra“ ist ein fühlsausbrüchen zu zählen. Wir sind in eine uns nicht gleichgültig sein. Das sagt auch
konstitutives Moment der Moderne. Man neue Phase der menschlichen Geschichte Bundeskanzlerin Angela Merkel und je-
könnte auch sagen: Die Welt wird schwarz. eingetreten, in der wir die meiste Zeit hinter der Politiker, der Flucht- und Migrations-
SPIEGEL: Sie verwenden den Begriff „Ne- Bildschirmen, Smartphones und Computern ursachen bekämpfen will.
ger“ in Ihren Werken, eine zutiefst rassis- verbringen. Wir definieren uns über eine Mbembe: Dabei würde auch eine geregelte
tische Bezeichnung. Warum? Oberfläche, die durch Algorithmen gesteu- europäische Einwanderungspolitik helfen.
Mbembe: Das Wort Neger bezeichnet ur- ert wird. Auf diese Weise werden wir alle Afrika darf nicht zu einem Gefängnis für
sprünglich ein Objekt, das verkauft werden verdinglicht. Es ist eine digitale Diktatur Afrikaner werden. Entscheidend wird sein,
kann. Neger ist also ein anderes Wort für ohne Diktator; der Mensch ist nicht mehr dass unser Kontinent sich nach innen öff-
Ware. Ich verwende es als analytische Ka- das autonome Subjekt der liberalen Demo- net. Denn es ist eine gigantische Landmas-
tegorie. Neger ist ein Synonym für die Un- kratie, sondern ein Subjekt, das anfällig se mit enormen Ressourcen. Wir müssen
terdrückten dieser Erde. wird für den Sirenengesang des Faschismus. wegkommen von der Vorstellung, dass
SPIEGEL: Marx würde vermutlich vom glo- SPIEGEL: Das klingt, als würde das Ende man ein gutes Leben nur woanders leben
balisierten Lumpenproletariat sprechen. der Aufklärung heraufdämmern. kann. Anstatt wegzulaufen, sollten wir in
DER SPIEGEL 11 / 2017 95
PHILIPPE WOJAZER / REUTERS
Französische Militärpatrouille vor dem Eiffelturm: „Der europäische Kontinent gleicht immer mehr einer Garnison“

unseren eigenen Kontinent investieren, in Mbembe: Der Hauptgrund ist, dass die neue rungsmodells ist. Afrika ist wie ein Labor,
die Infrastruktur, in innovative Technolo- schwarze Führungselite Südafrikas nie eine ein Experimentierraum der Zukunft. Viele
gien, in unsere Jugend. klare politische Strategie hatte. Sie ist zu Entwicklungen, von denen wir annahmen,
SPIEGEL: Bislang sind die meisten Entwick- einer räuberischen Herrschaftsklasse de- sie würden nur auf unserem Kontinent
lungsbemühungen am Unvermögen afri- generiert, die sich selbst bereichert. geschehen, beobachten wir nun in aller
kanischer Regierungen gescheitert. SPIEGEL: Was ist dagegen zu tun? Welt.
Mbembe: Afrikanische Machteliten sind seit Mbembe: Wir müssen endlich das Projekt SPIEGEL: Aber was muss geschehen, damit
präkolonialen Zeiten unfähig, die Poten- der Entkolonialisierung vollenden und die das afrikanische Experiment gelingt?
ziale des Kontinents freizusetzen und den von europäischen Mächten gezogenen Mbembe: Alles wird so weitergehen, wenn
Menschen Arbeit zu geben. Für sie war es Grenzen überwinden, um eine panafrika- wir den Kapitalismus nicht regulieren. Die
immer einfacher, ihre Leute loszuwerden. nische Identität zu stiften. Wenn wir un- großen Fragen sind: Wie können wir neue
So lässt sich der Anteil der Afrikaner am seren Kontinent nicht öffnen, werden wir globale Netzwerke der Solidarität knüp-
Sklavenhandel erklären: Du ziehst Gewinn bestraft. Denn niemand auf der Welt will fen? Wie können wir die Ressourcen ge-
aus dem Geschäft mit Menschenware und die Afrikaner, und manchmal sieht es so rechter verteilen? Die linke Politik hat kei-
wirst gleichzeitig ein Problem los. aus, als wollten wir uns selbst nicht. Ich ne Antwort auf dieses Dilemma. Und das
SPIEGEL: Und es stört diese Machthaber sage jetzt etwas sehr Kontroverses: Afrika in einer historischen Umbruchphase, in
nicht, wenn Hunderttausende abwandern? ist mit seinem ungenutzten Potenzial ver- der die Menschen zunehmend fixiert sind
Mbembe: Afrika ist ein junger Kontinent, mutlich die einzige Weltregion, die sich in auf Ab- und Ausgrenzung. Seit der Wende
der in vielen Nationalstaaten von alten den nächsten Jahrzehnten große Einwan- zum 21. Jahrhundert erleben wir eine
Männern regiert wird. Es ist eine patriar- derungswellen leisten könnte. Rückkehr zur biopolitischen Unterschei-
chalische Kultur, die angesichts der unzu- SPIEGEL: Eine gewagte These. In Europa dung von menschlichen Gruppen, die an
friedenen Jugend nicht zu halten sein wird. hält man Afrika für überbevölkert. die Rassentypologie des 19. Jahrhunderts
SPIEGEL: In Südafrika begehrt die Jugend Mbembe: Wir Afrikaner müssen Eigenver- erinnert. Im Begriff der Rasse drückt sich
auf. Sie hält die Versöhnungspolitik Nelson antwortung übernehmen und die „Politik die Abwehr von Vielfalt aus.
Mandelas für gescheitert und wirft der Re- der Mobilität“ selbst gestalten. Denn in SPIEGEL: Sie verwenden die Metapher der
gierung Verrat an den eigenen Idealen vor. absehbarer Zukunft wird einer von vier „langen Nacht“, um die derzeitige globale
Mbembe: Diese Jungen glauben nicht mehr Erdbewohnern Afrikaner sein, und die Misere zu beschreiben.
an den Traum von der multiethnischen meisten werden jung sein. Bevölkerungs- Mbembe: Ja, und um diese Nacht zu über-
Regenbogennation. Dabei hätte Südafrika planung wird ein politisches Kernthema winden, müssen wir stärken, was uns ver-
als erstes Land der Welt das Potenzial, die werden, nicht nur in Afrika. Wer geht wo- bindet: die universelle Idee der Humanität.
Rassenfrage zu lösen. Doch die Demokra- hin? Wer darf wo leben? Wie steuert man Ich weiß nicht, wer du bist. Wir kommen
tie hat nicht geliefert, was sie versprochen große Migrationsströme? nicht aus demselben Land. Wir sprechen
hat. Zwei Jahrzehnte nach der Wende ist SPIEGEL: Halten Sie es für möglich, dass nicht dieselbe Sprache. Wir beten nicht
die Mehrheit der schwarzen Südafrikaner Afrika auf diesem Weg vorangeht? zum selben Gott. Aber wenn ich in dein
immer noch arm, besitzlos und benach- Mbembe: Durchaus, wir sollten beweisen, Gesicht schaue, sehe ich mich selbst.
teiligt. dass unser Kontinent keine gescheiterte SPIEGEL: Herr Mbembe, wir danken Ihnen
SPIEGEL: Und warum ist das so? Version des europäischen Modernisie- für dieses Gespräch.
96 DER SPIEGEL 11 / 2017
Ausland

Raketen aus Pjöngjang


Analyse Warum Donald Trump und Chinas Staatschef Xi Jinping miteinander reden
müssen – und zwar so bald wie möglich. Von Bernhard Zand

A
ls Donald Trump und Barack Obama am 20. Januar und Amerika seine Einflusszone auf die gesamte korea-
vom Weißen Haus zu Trumps Amtseinführung am nische Halbinsel ausdehnt. Stattdessen will China seinen
Kapitol aufbrachen, fragte der neue den scheiden- eigenen Machtbereich erweitern. Japan, das wissen die
den Präsidenten, was er für das größte Problem der natio- Führer in Peking, wird sich ihrem wachsenden Einfluss
nalen Sicherheit halte. Obamas Antwort lautete nicht „Ter- nicht unterwerfen, dafür ist es zu stark. Doch Südkorea
rorismus“, „Islamischer Staat“, „Iran“ oder „Ukraine“, ist wirtschaftlich auf China angewiesen und steckt seit der
sondern: „Nordkorea“. Er sei „ein bisschen überrascht“ Suspendierung von Präsidentin Park Geun-Hye in einer
gewesen, gab Trump später zu, doch er habe die Antwort politischen Krise. Deshalb setzt Peking das Land nun unter
„völlig verstanden“. Auf wenigen Feldern haben Obamas Druck: Südkorea solle das Raketenabwehrsystem THAAD
und Trumps Stäbe so eng zusammengearbeitet wie in der demontieren, seine Militärmanöver mit den USA aus-
Koreafrage, auf wenigen Feldern sind sie sich so einig. setzen und direkte Gespräche mit Pjöngjang aufnehmen.
Nun hat Trump ein erstes politisches Zeichen gesetzt: Am Nur so sei das Nordkorea-Problem zu lösen.
Montag begann Washington mit der Stationierung des Bislang hat Chinas Taktik funktioniert. Amerika wurde
Raketenabwehrsystems THAAD in Südkorea. auf Abstand gehalten, der Status quo auf der koreanischen
Dieser Schritt entspricht den Wünschen des Pentagon Halbinsel blieb unverändert, und die Zeit spielte für Pe-
und der Regierungen in Seoul und Tokio, doch er empört king. Doch dieses Kalkül geht nun nicht mehr auf: Nord-
die Führungen in Pjöngjang korea ist zu nahe dran, eine
und Peking. Und er führt Atomrakete zu bauen. Und
vor Augen, wie dringend in Washington regiert mit
und gefährlich das Nord- Donald Trump ein Präsi-
korea-Problem geworden ist. dent, der sich verpflichtet
Seit drei Generationen ar- hat, das zu verhindern.
beitet die Dynastie der Trumps Optionen sind
Kims daran, Nordkorea zu folgende: Er könnte die
einer Atommacht aufzurüs- Sechs-Parteien-Gespräche
ten. Seit dem Machtantritt wiederbeleben – die 2009
von Kim Jong Un Ende 2011 von Nordkorea abgebro-
haben sich die Entwicklun- chen wurden. Er könnte die
gen beschleunigt, sowohl Cyberangriffe verschärfen,
in der Nuklear- als auch in mit denen Obama Nord-
KCNA / REUTERS

der Raketentechnik. Allein koreas Atomprogramm (so


2016 führte Nordkorea zwei eine Recherche der „New
Atom- und 26 Raketentests York Times“) bremsen, aber
durch. Experten rechnen da- Testgelände in Nordkorea: Akuter Handlungsdruck nicht stoppen konnte. Er
mit, dass Nordkorea in zwei könnte Pjöngjang direkte
Jahren in der Lage sein könnte, die beiden Technologien Verhandlungen anbieten – was nach dem Mordanschlag
zusammenzuführen und Atomraketen herzustellen. auf Kim Jong Uns Halbbruder in Malaysia aber kaum
Der nächste Schritt, kündigte Kim in seiner Neujahrs- zu erwarten ist.
ansprache an, sei der Test einer ballistischen Interkonti- Bleiben zwei militärische Optionen: ein Präventivschlag
nentalrakete, die nicht nur Südkorea und Japan, sondern gegen Pjöngjangs Militäranlagen oder eine nukleare Auf-
auch das amerikanische Festland erreichen könnte. Das rüstung Japans oder Südkoreas. Ob ein Präventivschlag
erklärt Obamas Unruhe am 20. Januar – und den akuten Nordkoreas Raketen- und Atomprogramm wirklich been-
Handlungsdruck, unter dem inzwischen alle am Konflikt den würde, kann niemand garantieren. Eine nukleare Auf-
Beteiligten stehen. Welche Optionen haben sie? rüstung der beiden US-Verbündeten dagegen käme einer
Die Uno setzt auf eine Verschärfung der Wirtschafts- massiven Eskalation gleich.
sanktionen. Doch ein Anfang der Woche von ihren Nord- Wenn Peking und Washington eine solche Eskalation
korea-Experten vorgelegter Bericht weist nach, wie Pjöng- verhindern wollen, bleibt den zwei Weltmächten nur die
jang mittels Tarnfirmen in China, Russland und anderen Rückkehr an den Verhandlungstisch. China und die USA
Staaten Beschränkungen umgeht. Nordkorea, heißt es müssen sich darauf einigen, welches Angebot sie dem Dik-
dort, baue seine militärischen Fähigkeiten stetig aus. tator in Pjöngjang machen und welche Druckmittel sie
China, ein Bündnispartner Nordkoreas, unterstützt die einsetzen wollen. Kommende Woche reist US-Außen-
Maßnahmen der Uno, unterläuft aber jeden Versuch, sie minister Rex Tillerson nach Peking. Er soll ein erstes Tref-
wirklich durchzusetzen. Diese Strategie spiegelt Chinas fen zwischen Trump und Xi vorbereiten, das bereits im
Ängste und seinen Ehrgeiz wider: Peking will um jeden April stattfinden könnte. Was immer China und die USA
Preis verhindern, dass das Regime der Kims zusammen- sonst noch zu besprechen haben, wird warten müssen.
bricht, immer mehr Flüchtlinge über die Grenze kommen Nordkorea ist wichtiger, und es eilt. Twitter: @bzand

DER SPIEGEL 11 / 2017 97


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Sport
Spielerpositionen im Champions-League-Achtelfinale
beim 6:1-Sieg des FC Barcelona gegen Paris Saint-Germain
Fußball
Lücken in der Abwehr

OPTA
Wie holt man einen 0:4-Rückstand aus
dem Hinspiel auf, zumal gegen nahezu
ebenbürtige und taktisch geschulte
Kontrahenten? Der FC Barcelona schaff-
te mit dem 6:1 im Rückspiel gegen
Paris Saint-Germain im Achtelfinale der
Champions League eine solche histori-
sche Wende. Die Grafik zeigt, wie Barce-
lona sich vor dem Tor des Gegners fest-
setzte, das Spiel in die Hälfte von Paris
verlagerte. Auf der sogenannten Heat-
map ist zu erkennen, wo sich die Spieler
überwiegend aufhielten (rote Flächen;
jeweils unten steht das eigene Tor). Den-
noch glaubten die Katalanen nur zwölf-
mal, eine Lücke zu erspähen, und schos-
sen aufs Tor. Barcelona schaffte die
„remontada“, die Aufholjagd, dank sei-
ner unerreichten Qualität, einen verlore-
nen Ball gleich wieder zurückzuerobern.
In dem Moment, in dem der Gegner plant,
selbst einen Angriff aufzubauen, ist sei-
ne Abwehr ungeordnet. So nah vor dem
FC Barcelona Spielrichtung Paris Saint-Germain eigenen Tor ist er dann verwundbar.

Magische Momente
„Mein Bruder redete mir ins Gewissen“
Snowboard-WM: Nicola Thost, 39, aus Pforzheim über ihren Olympiasieg in einer neuen Disziplin

SPIEGEL: Bei den Spielen 1998 mich aber gar nicht gut, denn rer durch die Halfpipe als Bedeutung dieses Erfolgs an-
in Nagano gehörte Snow- ich hatte fast vier Wochen alle anderen. zufreunden. Ich war damals
boarden erstmals zum Pro- lang nicht vernünftig trainie- Thost: Ich habe mich auf das 20 und ich hatte nicht, wie
gramm. Wie groß war Ihre ren können. Ich wollte absa- konzentriert, was ich konnte. viele andere, von einem
Vorfreude? gen, doch mein kleiner Bru- Ich hatte Spaß an hohen Olympiasieg geträumt. Plötz-
Thost: Sie hielt sich in Gren- der redete mir ins Gewissen. Sprüngen und profitierte lich war er einfach da. Ich
zen. Viele Snowboarder Florian sagte: „Du musst un- vom Kunstturnen, das ich als wurde mit Sekt und Lob und
waren damals nicht begeistert bedingt hinfliegen. Mami Kind intensiv betrieben hat- Anfragen überschüttet, aber
von etablierten Wettkämp- und Papi sind sonst sehr sau- te. Dass an diesem Tag alles ich stellte mir die Frage: Wie-
fen. Manche sagten, wer bei er.“ Damit hatte er recht, perfekt zusammenpasste, so hat sich vorher niemand
Olympia starte, der verrate und dann habe ich die Reise war Glück. für meine Siege interessiert?
den eigentlichen Gedanken auf eigene Faust gebucht. SPIEGEL: Sie schildern diesen SPIEGEL: Konnten Sie die Sie-
unserer Funsportart. SPIEGEL: Sie kamen erst einen Moment wie einen Zufall. gerehrung genießen?
SPIEGEL: Sie reisten trotzdem Tag vor dem Wettkampf an Thost: Ich habe etwa ein Jahr Thost: Als die Hymne ge-
nach Japan. und flogen dann spektakulä- gebraucht, um mich mit der spielt wurde, war mir klar,
Thost: Ich dachte, wenn ich dass etwas Besonderes pas-
nominiert bin, dann mache Thost 1998 in Nagano siert ist. Mein Vater hatte
ich auch mit. Wegen einer sich an den Securityleuten
Brustkorbprellung wäre ich vorbei zu mir vorgekämpft.
aber beinahe doch zu Hause Er hatte Tränen in den Au-
geblieben. Die Mannschaft gen, nahm mich in den Arm.
war ohne mich abgeflogen, SPIEGEL: In Spanien findet
ich verfolgte die Eröffnungs- jetzt die Snowboard-WM
feier auf dem Sofa. statt. Werden Sie dort sein?
SPIEGEL: Irgendwann packten Thost: Nein, ich starte bei der
Sie doch den Koffer. Freeride World Tour, habe
IMAGO SPORT

Thost: Meine Eltern, ein Bru- meine eigene Eventserie


der und meine Oma waren „Sprungbrett“ für den Nach-
schon vorgefahren. Ich fühlte wuchs. Ich bin verplant. pk

DER SPIEGEL 11 / 2017 99


Sport

Ausgelöscht
Schicksale Der Hindernisläufer Benedikt Karus wurde wegen Doping gesperrt.
Einer der renommiertesten Anti-Doping-Kämpfer Deutschlands hält das für ein Fehlurteil.
Die Geschichte eines Sportlers, der erleben musste, wie man ihn zum Gauner machte.

F
ür einen krankhaften Betrüger, für Lance Armstrong. „Er wollte über dem Sys- Fünf Tage nach dem Rennen bekommt
einen Kerl, der seinen Trainer und tem stehen.“ Ein Narzisst. Ein Gauner. er einen Anruf von der Polizei. Ein Kripo-
seine Sportkameraden hintergangen Auf Mortsiefers Leselampe steht ein beamter erklärt ihm, wenn er nicht gleich
haben soll, ist Benedikt Karus, 27, eigent- Schlumpf, der ein Buch unter dem Arm zu Hause sei, werde man seine Tür aufbre-
lich ganz nett. Der Medizinstudent aus Tü- hält. Man fragt sich, ob der blaue Zwerg chen. Karus, der bei seiner Mutter im
bingen steht in der zellengroßen Küche der Einzige ist, der dem Chefankläger der Schwarzwald zu Besuch ist, fährt los. Auf
seiner Wohnung, schmiert Stullen und Nada bei der Arbeit auf die Finger guckt. dem Weg überlegt er fieberhaft, was pas-
kocht Tee. Ein schmaler Mann mit dunklen Der Fall Karus spielt in der Peripherie siert sein könnte. Ein Verkehrsdelikt? Hat
Haaren in Hauspantoffeln. „Stört es Sie, des Weltsports. Aber er betrifft alle Athle- er unwissentlich etwas Illegales auf seinen
wenn ich kurz das Fenster aufmache?“ ten, die sich der Sportgerichtsbarkeit unter- Computer heruntergeladen?
Der ehemalige deutsche Meister im Hin- werfen. Es geht um einen Ausdauerläufer, Drei Beamte stehen vor seiner Woh-
dernislauf soll ein übler Doper sein. Nach der in die Mühlen des Anti-Doping-Kampfs nung. Sie haben einen Durchsuchungsbe-
einer Wettkampfkontrolle im Februar 2015 gerät und verschwindet. Es geht um ein Sys- schluss der Staatsanwaltschaft Freiburg da-
stellte ein Labor in seinem Urin Spuren von tem, das keine Zweifel zulässt. bei. Es gebe da einen positiven Dopingtest.
Darbepoetin fest. Synthetisches Epo. Das Die schmutzige Historie des Dopings ist Man ermittle wegen des Verdachts auf Ver-
Präparat, das bei der Behandlung von Pa- reich an Lügengeschichten und Ausflüchten. stoß gegen das Arzneimittelgesetz. Die
tienten mit kranken Nieren eingesetzt wird, Auch bei Benedikt Karus aus Tübingen, der Polizisten gucken in den Kühlschrank,
kann nicht durch Unachtsamkeit in den Kör- seine Unschuld beteuert, gilt es, skeptisch wühlen in Schubladen. Einer findet im
per gelangen. Es muss gespritzt werden. zu sein. Es gibt einen positiven Test. Er wur- Schlafzimmer Akupunkturnadeln. Der
Die Nationale Anti Doping Agentur de verurteilt. Damit ist die Sache – eigent- Einsatzleiter lacht. Die seien nicht hohl,
(Nada) in Bonn geht davon aus, dass sich lich – erledigt. Wenn man aber die ganze mit denen könne man nichts injizieren.
Karus das Mittel illegal besorgt und injiziert Geschichte betrachtet, dann ist der Fall Weitersuchen. Am Ende beschlagnahmen
hat. „Man rennt ja nicht aus Zufall in eine nicht mehr ganz so klar. sie eine Festplatte und ein Schreiben vom
Nadel rein“, sagt Lars Mortsiefer, 37, Chef- Als Kind spielt Benedikt Karus Fußball. Rennen in Diekirch.
ankläger der Nada. Ein Schiedsgericht ver- Dann entdeckt jemand seine Fähigkeiten Karus steht unter Schock. Doping! Er
urteilte Karus, sperrte ihn für vier Jahre. als Ausdauerläufer. Er schließt sich der LG nimmt sich einen Anwalt, den Tübinger
Die Höchststrafe. farbtex Nordschwarzwald an, 2012 wird er Strafrechtler Dieter Rössner, der schon den
Im Wohn- und Arbeitszimmer von Be- deutscher Meister über 3000 Meter Hin- mysteriösen Dopingfall des Olympiasiegers
nedikt Karus steht in einer Ecke ein elek- dernis. Er schafft es in den Förderkader Dieter Baumann betreut hat. Am 27. April
tronisches Klavier, an der Wand hängt das des Deutschen Leichtathletik-Verbands 2015 wird im Institut für Biochemie der
Poster eines Sonnenuntergangs. Er trinkt (DLV), fliegt 2014 aber wieder raus, weil Sporthochschule in Köln die B-Probe geöff-
einen Schluck Kräutertee und sagt: „Ich die Leistungen nicht genügen. net. Auch die ist positiv. Darbepoetin.
habe nicht gedopt.“ Sein Ansatz als Athlet Nach der Rückstufung konzentriert sich Karus ist verzweifelt. Er schläft kaum
sei immer gewesen: „Was schaffe ich aus Karus auf sein Studium. Er trainiert regel- noch. Manchmal bricht er unvermittelt in
eigener Kraft?“ Seine Laufkollegen haben mäßig, aber nicht mehr so hart wie früher. Tränen aus. Er will, dass sein Urin noch
sich geschlossen hinter ihn gestellt. Der Langsam kommt er wieder in Form. Er mal getestet wird. In Köln arbeiten die Ex-
Bene sei ein fairer Sportler, es sei ausge- träumt von den Olympischen Spielen 2016 perten mit dem SAR-PAGE-Verfahren. Da-
schlossen, dass er gedopt habe. in Rio. Im Februar 2015 gewinnt er den bei werden Antikörper eingesetzt. Anhand
Lars Mortsiefer, der Nada-Anwalt, lä- Eurocross-Lauf im luxemburgischen Die- deren Reaktion können die Laboranten
chelt. Er sitzt in seinem Büro in Bonn, an kirch. Nach der Siegerehrung geht er zur Substanzen aus der Urinprobe bestimmen.
der Tür hängt das Emblem von Borussia Dopingkontrolle. Karus uriniert unter den Ein Biochemiker aus Tübingen empfiehlt
Dortmund. Um einen Doper zu erkennen, Augen eines Kontrolleurs in einen Becher Karus das Massenspektrometrieverfahren
benötige man viel Erfahrung und Fein- und verteilt die Flüssigkeit auf zwei Glas- (MS). Im Gegensatz zum SAR-PAGE-Ver-
gefühl, sagt Mortsiefer. Karus zeige „ein behälter, die spätere A- und B-Probe. Die fahren werden bei dieser Methode auffäl-
typisches Verhalten“, das die Nada bereits Deckel der Gefäße werden zugeschraubt. lige Substanzen entdeckt, ohne Antikörper
„in anderen Fällen erlebt“ habe. Wenn die Verschlüsse einrasten, gibt es ein einzusetzen.
Der Jurist hat ein Interview gesehen, in kurzes Geräusch. Knack. Knack. Vom Anti-Doping-Labor in Köln be-
dem Karus beschreibt, wie er bei einem Karus ahnt es nicht, aber in diesem Mo- kommt Karus den Rat, den MS-Test, den
Rennen seine Konkurrenten abhängt. Be- ment ist seine Karriere als Läufer beendet. er selbst bezahlen muss, beim internatio-
langloser Sportlertalk. Mortsiefer aber Für den Sieg in Diekirch stehen ihm nal anerkannten Anti-Doping-Labor in To-
meint, was Karus da von sich gegeben habe, 800 Euro zu, das erste Preisgeld seiner kio durchführen zu lassen. Die Nada hat
lasse tief blicken. Er lebe in einer „Welt, in Laufbahn. Anfang März wird Karus in keine Einwände. Ende Oktober 2015 geht
der nur Erfolge und Siege“ zählten. Ein Markt Indersdorf deutscher Meister im die noch vorhandene Restmenge seines
Einzelkämpfer. Eine Mischung aus „Athle- Crosslauf. Auch diesmal muss er zur Do- Urins auf die Reise.
tik, Geist und Endorphinen“. Mortsiefer pingkontrolle. Das Ergebnis ist, wie sich Was macht einen Sportler zum Doper?
vergleicht Karus mit dem Jahrhundertdoper später herausstellen wird, negativ. Die Sehnsucht nach Ruhm, nach Reich-

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ERIC VAZZOLER / DER SPIEGEL

Medizinstudent Karus im Stadion in Tübingen: „Um das zu erreichen, was er als Läufer draufhatte, muss man nicht dopen“

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Sport

tum? Ein übersteigertes Selbstbild? Krank- 0,000 000 000 001 Gramm pro Milliliter nach- Simon hat sich die Fakten angeschaut,
hafter Ehrgeiz? gewiesen werden. Mit dem SAR-PAGE-Ver- endlose Datenreihen, Blutwerte und La-
Jörg Müller, der Laufcoach der LG farb- fahren in Köln hingegen sei eine Konzen- boranalysen. Er glaubt, bei dem positiven
tex Nordschwarzwald, sitzt an einem gro- tration von 0,000 000 000 000 3 Gramm pro Kölner Test handle es sich „mit an Sicher-
ßen Tisch, ein Kerl wie eine Eiche. Müller Milliliter zu detektieren. heit grenzender Wahrscheinlichkeit“ um
ist von Beruf Polizist. Elf Nullen hinter dem Komma gegen ein falsch positives Ergebnis. Schänzer
Hat Karus gedopt? zwölf Nullen hinter dem Komma. Sieg für habe die Messempfindlichkeit derart hoch
„Quatsch“, sagt Müller. Köln, für die Nada. Für die Gerechtigkeit? getrieben, dass es zu Kreuzreaktionen ge-
Die Bestzeit von Karus über 3000 Meter Der Sportmediziner Perikles Simon steht kommen sei. Für Simon ist der negative
Hindernis liegt bei 8:37,84 Minuten. Der in einer Kaffeepause im Hof des Bundes- Test aus Japan ein klarer Beweis dafür,
Olympiasieger in Rio de Janeiro lief über justizministeriums in Berlin. Die Behörde dass in Karus’ Urin kein Epo gewesen sei.
34 Sekunden schneller. „Um das zu errei- hat ihn zu einem Symposium über das deut- Die Massenspektrometrie sei verlässlicher
chen, was Bene als Läufer draufhatte, muss sche Anti-Doping-Gesetz eingeladen. Der als die Kölner Methode.
man nicht dopen“, sagt Müller. Wissenschaftler ist einer der renommier- Beim SAR-PAGE-Verfahren entsteht am
Er erzählt die Geschichte, wie sich sein testen und bissigsten Dopingbekämpfer Ende der Analyseprozedur ein Messbild.
Schützling im Herbst 2012 dazu entschloss, Deutschlands. Er lässt in der Regel kein Dieses sogenannte Bandenmuster nimmt der
Knochenmarkspender für ein an Leukämie gutes Haar am Spitzensport. Im Fall Karus Laborant in Augenschein. Anhand des Grau-
erkranktes Kind zu werden. Karus verpass- aber hat er die Seiten gewechselt. anteils der Banden legt er fest, wie hoch die
te wegen des Eingriffs die Junioren-Cross-
lauf-EM. „Für den Bene stand der Sport
nie an erster Stelle“, sagt Müller. Er ist wü-
tend auf die Nada. Der Dopingvorwurf sei
konstruiert. „Da wurde bewusst der gesun-
de Menschenverstand ausgeschaltet.“
Im Juni 2015 stellt die Staatsanwaltschaft
das Verfahren ein. Die Nada hingegen
treibt das Dopingverfahren voran, ohne
selbst zu ermitteln. Sie befragt keine Trai-
ner oder Sportkollegen. Auch den Beschul-
digten selbst vernimmt sie nicht. Die Do-
pingjäger zimmern sich eine Theorie, wie
Karus an Epo gekommen sein könnte. Sei-
ne Freundin Kerstin Marxen, eine ehema-
lige deutsche Vizemeisterin über 800 Me-
ter, sei doch Apothekerin. Na bitte.
Zurzeit macht Karus in der Universitäts-
klinik in Tübingen sein praktisches Jahr.
Aus ihm könnte ein guter Arzt werden, er
kann Menschen zuhören.
Die Nada wirft ihm vor, er habe sein
Wissen als angehender Mediziner einge-
setzt, um sich mit Darbepoetin zu dopen.
Ergibt das Sinn? Das Mittel ist sehr lange
im Urin nachweisbar. Als Arzt wisse man
das, sagt Karus. Mediziner würden niemals
mit Darbepoetin dopen.
Ende März 2016 bekommt Karus das Er-
gebnis der Untersuchung aus dem Labor
in Tokio. Dort hat man nichts gefunden.
Anwalt Rössner schreibt an das Schieds-
gericht. Das Resultat lege nahe, dass bei
der Analyse in Köln etwas schiefgegangen
sein müsse. Das Verfahren gegen Karus
sei einzustellen.
Drei Wochen später schlägt das Impe-
rium zurück. Die Analyse der Japaner sei
nicht relevant, kontert Mortsiefer. Die In-
ternationale Anti-Doping-Agentur Wada
gebe das SAR-PAGE-Verfahren als eine
Testmethode für Epo vor. Punkt. Dann zi-
tiert er noch aus einer Stellungnahme des
Kölner Laborleiters. Wilhelm Schänzer
analysierte bereits Urin von Sportlern, als
die deutsche Hauptstadt noch Bonn hieß.
Der Professor für Biochemie schreibt: Mit
der Massenspektrometrie in Tokio könne
Epo nur bis zu einer Konzentration von Crossläufer Karus 2014: „Keine Lust mehr zu rennen“

102 DER SPIEGEL 11 / 2017


Konzentration der vermeintlich Weil er dopte? „Neiiin. Weil er
nachgewiesenen Substanz sein wieder Spaß am Laufen hatte.“
müsste. Bei Karus’ Probe tippte Ihr Sohn sei mit Biokost vom
Schänzer auf 0,000 000 000 000 5 Demeterhof groß geworden. Er
Gramm Darbepoetin pro Milliliter. besuchte den Waldorfkindergar-
Grenzwerte zu schätzen sei ten. Wenn er krank war, gab es
großer Mist, meint Simon: „Das Globuli. Seine lädierte Achilles-
ist Auge mal Pi.“ Bei Karus’ Pro- sehne behandelten sie mit Quark-
be sei das Signal auf Darbepoetin wickeln. Epo? „Das passt nicht.
derart schwach gewesen, dass es Dieser Vorwurf ist boshaft“, sagt
auf dem Original-Bandenmuster Frau Karus.
kaum zu sehen gewesen sei. Des- Sie war bei der Schiedsgerichts-
halb sei der Kontrast durch digi- verhandlung im Juni 2016 in Mün-
tale Bildbearbeitung verstärkt chen dabei. Schänzer erschien im
worden, bis ein Grauschleier zu dunklen Anzug, Mortsiefer auch.
erkennen gewesen sei, behauptet Irgendwann meinte der Nada-An-
der Sportmediziner. Beweisfüh- kläger zu ihrem Sohn, nur wenn
rung durch Photoshop? Bandenmuster der Karus-Probe: Beweisführung durch Photoshop? er gestehe, sei am Strafmaß was
Schänzer erklärt, man habe zu machen. „Was sollte er denn
sich bei der Analyse der Probe an gestehen?“, fragt Sigrid Karus,
alle Standards gehalten. Simon „er hat nicht gedopt.“ Sie sagt, sie
hingegen spricht von „optischem hätte sich auch gern mit Mortsie-
Tuning“. Das bearbeitete Bildma- fer unterhalten, aber der sei ja
terial landete später auch in den nach der Verhandlung in Mün-
Unterlagen des für das Schiedsge- chen gleich weggelaufen.
richtsverfahren eingesetzten Rich- Es gibt Indizien, die dafür spre-
ters. Die Originalbilder blieben – chen, dass Benedikt Karus kein

SCHWÖRER PRESSEFOTO / IMAGO SPORT


in Köln. Simon sagt: „Auf die Art Doper ist. Seine Blutwerte waren
und Weise kann man jeden Sport- nie auffällig. In seiner Karriere
ler überführen.“ kam es nie zu einer unerklär-
Simon erhält inzwischen Un- lichen Leistungsexplosion. Er ist
terstützung von Werner Franke. offen wie ein Buch. Er hat den
Der Professor für Zellbiologie Schriftverkehr zu seinem Fall ins
aus Heidelberg ist auch ein schar- Internet gestellt. Es gibt den ne-
fer Dopingkritiker. Aber noch gativen Test aus Japan, den nega-
mehr als Doper ärgern ihn Ana- Nada-Jurist Mortsiefer: Das Imperium schlägt zurück tiven Test aus Markt Indersdorf.
lytiker, die schlampen. Es gibt das Gutachten von Simon.
2003 wies der Professor nach, dass ein Mortsiefer hatte noch nie einen prominen- Aber es gibt auch einen Grauschleier
Epo-Test in Köln falsch ausgewertet wor- ten Fall auf dem Tisch. Etwas Großes. Die auf einem Analysebild. Und das zählt.
den war. Opfer war Bernard Lagat, ein Jäger aus Bonn finanzieren sich mit öffent- Die Nada muss das Ergebnis aus dem
Weltklasseläufer aus Kenia. Danach be- lichen Geldern. Sie müssen Erfolge vor- Kölner Labor verteidigen. Ließe sie Zwei-
schrieb Franke in wissenschaftlichen Auf- weisen. Abschlüsse. Abschüsse. fel zu, würde sich bald der nächste Sportler
sätzen und Vorträgen massive Schwächen Karus war für Nada-Verhältnisse ein di- auf den Fall Karus berufen. Lars Mortsiefer
des Dopingkontrollsystems. „Es gibt seit cker Fisch. Ein ehemaliger deutscher Meis- ist nicht der Weihnachtsmann. Er ist der
vielen Jahren sichere biochemische Nach- ter in der Leichtathletik. Ein positiver Test. Chefankläger der Nada. Der Richter, der
weismethoden“, sagt Franke, „es ist ein Epo! Mortsiefer packte zu. Der Läufer aus das Urteil sprach, möchte sich zu dem Ver-
Skandal, dass sie in Köln nicht voll ausge- dem Schwarzwald habe sich „wohl ver- fahren nicht äußern.
schöpft werden.“ zockt“, und genau in solchen Momenten Sigrid Karus sagt: „Mein Sohn ist ein
Sein Kollege Simon hat ein Gutachten müsse ein „intelligentes Kontrollsystem guter Mensch.“ Doch die Persönlichkeit
im Fall Karus geschrieben, das bei der greifen“, sagt er. eines Sportlers spielt in einem Doping-
Schiedsgerichtsverhandlung jedoch vom Das Gespräch über den Fall Karus in verfahren keine Rolle. Laut Anti-Doping-
Tisch gewischt wurde. Darüber ist Simon Mortsiefers Büro dauert fast eine Stunde, Code der Nada müssen nach einem posi-
empört. Er wirft Schänzer und der Nada und die meiste Zeit guckt der Jurist auf tiven Test keine weiteren Beweise ge-
vor, „jeglichen Anstand“ verloren zu ha- den Boden, als hätte er etwas verloren. sammelt werden. Karus hatte nie eine
ben. Die Nada-Chefin Andrea Gotzmann, Am Ende meint er noch, dass er so gern echte Chance, das Verfahren zu gewinnen.
die vor ihrer Berufung nach Bonn Schän- mal mit der Mutter des Sportlers geredet Er musste am Ende die Kosten über-
zers Mitarbeiterin in Köln war, attackiert hätte, es habe sich leider nicht ergeben. nehmen. Über 10 000 Euro. Er hätte vor
Simon. Er lasse sich als Verteidiger eines Sigrid Karus ist eine quirlige Frau mit den Internationalen Sportgerichtshof zie-
verurteilten Dopers einspannen. Es geht halblangen dunkelbraunen Haaren. Sie hen können, doch dazu fehlten ihm die
wild hin und her. arbeitet als Gemeindereferentin der ka- Mittel.
Die Nada gibt es seit bald 15 Jahren. tholischen Kirche in Freudenstadt. Sie Karus ist nicht mehr im Leichtathletik-
Man kann nicht von einer Erfolgsgeschich- unterstützte ihren Sohn beim Sport, feu- verband. Seine letzten Titel wurden ihm
te sprechen. Die Fahnder ziehen Skater erte ihn bei Rennen an. Sie erlebte mit, aberkannt. Aus Siegerlisten wurde sein
aus dem Verkehr, die gekifft haben, oder wie er während seiner Zeit im DLV- Name gelöscht.
Seniorensportler, die noch mal einen U-70- Bundeskader in „ein Loch“ fiel, wie er Im Februar 2019 endet seine Sperre. Er
Wettkampf gewinnen wollten und deshalb sich nach der Rückstufung fing und gute sagt, er habe keine Lust mehr zu rennen.
mit Anabolika experimentiert haben. Zeiten erzielte. Gerhard Pfeil

DER SPIEGEL 11 / 2017 103


Gut
durchblutet
Nein, dieses dekorative Gehäkel ist
keine moderne Kunst, sondern
das Innenleben einer Taube. Um die
Blutgefäße in Kopf und geöffnetem
Schnabel sichtbar zu machen, nutzte
der Wissenschaftler ein Kontrastmit-
tel und einen Computertomografen.
So lassen sich auch die Adern im
Hals erkennen, die direkt unter der
Haut liegen und der Regulierung der
Körpertemperatur dienen.

SCOTT ECHOLS, SCARLET IMAGING AND THE GREY PARROT ANATOMY PROJECT

Tiere Fußnote

4234
Nachbarn ebenfalls began- ausschließen, dass die Anste-
Wen es juckt nen, sich häufiger zu kratzen. ckung über Geräusche oder
Der Effekt stellte sich sogar Gerüche vermittelt wird. Die
Menschen und Mäuse haben ein, wenn den Tieren nur Forscher identifizierten meh-
die gleiche Marotte: Sie Videos von geplagten Mäusen rere Hirnregionen, die beim
lassen sich anstecken – mit gezeigt wurden. So ließ sich Nachahmen eine erhöhte Ak- Tonnen Froschschenkel
Kratzreiz. Das fanden Wis- tivität zeigten – importierte die EU 2015;
senschaftler der Washington Ähnliches beobach- das sind Gliedmaßen von
University in St. Louis im teten britische For- mindestens 84 Millionen
US-Bundesstaat Missouri he- scher vor einigen Tieren. Die größte Charge
raus. Sie platzierten wieder- Jahren auch bei wurde nach Frankreich
holt eine Plastikbox mit einer Menschen. Sie fan- geliefert und stammt von
gesunden Maus neben einer, den zudem heraus, indonesischen Krabben-
in der ein Artgenosse mit dass emotional la- fröschen statt wie früher
MARC PERKINS

chronischem Juckreiz herum- bile Menschen be- vom Zahnfrosch – Tier-


lief. Dabei zeigte sich, dass sonders zur Kratz- schützer sorgen sich nun
die Nager beim Anblick ihrer kopie neigen. gk um dessen Verbleib.

104 DER SPIEGEL 11 / 2017 Mail: wissenschaft@spiegel.de · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen
Wissenschaft+Technik
Archäologie wegen müssen wir uns auch und seinen Truppen stammen mit anderen Funden verglei-
„Das könnte einige die anderen Funde genauer könnten, die sechs Jahre chen und eventuell herausfin-
anschauen. Bei einigen haben nach der Niederlage Varus’ den, welche Legionen hier in
enttäuschen“ wir keine Ahnung, um was es auf Rachefeldzug waren – Kalkriese in Kämpfe verwi-
sich handelt. eine Vermutung, die ja nicht ckelt wurden – die des Varus
SPIEGEL: Um welche Stücke neu ist. oder die des Germanicus.
geht es? SPIEGEL: Wie wollen Sie die SPIEGEL: Sollten sich die Fun-
Derks: Es gibt da zum Beispiel Überreste zweier römischer de als Überbleibsel von
einige Glasobjekte, die an Truppen aus derselben Zeit Germanicus’ Mannen ent-
Puppenaugen erinnern und auseinanderhalten? puppen, hieße das ..?
FRISO GENTSCH / DPA

erst einmal so gar nicht zum Derks: Neue Forschungen Derks: … ganz genau: dass die
Equipment einer Kampftrup- lassen vermuten, dass jede Varusschlacht gar nicht in
pe passen wollen. Oder die Legion einen individuellen Kalkriese stattgefunden hat.
faustgroßen Metallpäckchen, metallurgischen Fingerabdruck Deswegen haben uns einige
die ein bisschen aussehen wie hatte. Diese Signatur lässt Leute – mit Blick auf unser
Heidrun Derks, 53, Leiterin des alte Coladosen, die man mit sich im Idealfall an den Blei- Museum – sogar von den For-
Museums Kalkriese, über rätsel- dem Fuß zusammengepresst isotopen und den Spuren- schungen abgeraten. Aber
hafte Glasobjekte, bizarr ge- hat. Wir können sie nicht elementen der Metalllegierung das ist ja nun keine Haltung,
formte Metallpäckchen und an- auseinanderfalten; sie wür- feststellen. Wenn wir ein Er- die man als Forscher akzep-
dere Überbleibsel römischer den kaputtgehen. Aber wir gebnis haben, können wir es tieren kann. gk
Legionen, deren Analyse endlich verfügen nun über Compu-
eine erbittert diskutierte Frage terprogramme, mit denen
beantworten soll: Stammen die man die Bleche vielleicht vir-
Funde von Kalkriese tatsäch- tuell entfalten kann. Schon
lich aus der Varusschlacht im jetzt können wir auf hochauf-

VARUSSCHLACHT IM OSNABRÜCKER LAND; HERMANN PENTERMANN


Jahr 9 nach Christus? gelösten Scans Verzierungen
im Innern der Objekte erken-
SPIEGEL: Wie wollen Sie das nen.
Geheimnis um das antike SPIEGEL: Was, glauben Sie,
Schlachtfeld vor Ihrer Muse- kommt da noch zum Vor-
umstür aufklären? schein?
Derks: Wir haben uns bisher Derks: Sagen wir mal so: Klar
sehr stark auf die etwa 1700 ist, dass wir am Ende mög-
in Kalkriese ausgegrabenen licherweise zu einem Schluss
Münzen und die Hauptbefun- kommen, der einige enttäu-
de gestützt, also die Wallanla- schen wird – nämlich dass die
ge und die Knochengruben. Fundstücke gar nicht von den
Aber das bringt uns jetzt lei- Varus-Legionen, sondern Blechfund aus Kalkriese
der nicht mehr weiter. Des- vom Feldherrn Germanicus

Kommentar

Wenig Moppel in Meerbusch


Kinder mit Gewichtsproblemen sind vor allem Opfer ihrer Eltern.
Kaum eine Bevölkerungsgruppe scheint Wissenschaftler und Kartoffelchips, Pudding oder Limo? Apfelschnitze, Mager-
Journalisten so zu faszinieren wie die der dicken Kinder. Fast quark und Mineralwasser vielleicht?
keine Woche vergeht ohne neue Forschungsergebnisse und Weil das Thema zu ernst ist, sollte man aber nicht spaßen,
die dazugehörige Berichterstattung, meist angereichert mit sondern Tacheles reden: Nicht Armut an sich macht anfällig
Fotos von Moppeln, die sich an Turngeräten plagen. Die für kindliche Adipositas, sondern eher das Fehlverhalten der
jüngsten Pressemeldungen hatten wieder Schreckliches zu Eltern. Deswegen sollten wir auch nicht zuvörderst über Le-
verkünden: Laut den Teilergebnissen einer europäischen bensmittelpreise und höhere Sozialleistungen reden, sondern
Langzeitstudie plagen sich 16,5 Prozent aller in Deutschland über mehr Sportunterricht für die Kinder und Aufklärung für
untersuchten Kinder zwischen zwei und zehn Jahren mit Mütter und Väter. Letztere müsste man aber nicht nur in Pro-
Übergewicht. Die Forscher förderten wieder einige olle Ka- blemvierteln, sondern unbedingt auch in Städten wie Meer-
mellen der Epidemiologie zutage, zum Beispiel, dass Süß- busch bei Düsseldorf anbieten, wo proportional betrachtet be-
kram-Reklame zum Naschen verführt und Kinder aus sozial sonders viele Millionäre wohnen. Dortige Schuleingangsunter-
schwächeren Familien besonders zu Speckröllchen neigen. suchungen offenbarten nämlich wiederholt ein Problem: Vor
Und wie immer zogen einige Kommentatoren den Schluss, zwei Jahren zum Beispiel wogen über 17 Prozent der i-Dötz-
dass gesunde und kalorienarme Biokost einfach viel zu teuer chen zu wenig. Nach der altbekannten Logik, nach der Armut
sei und Eltern mit wenig Geld daher allenfalls eine Teilschuld Adipositas befördert, könnte man jetzt umgekehrt folgenden
daran trügen, wenn ihre Kinder zu dick sind. Was sollen sie Schluss wagen: Reichtum begünstigt Untergewicht. Aber das
ihrem Nachwuchs aus lauter Not auch anderes servieren als wäre nun wirklich ziemlicher Unsinn. Guido Kleinhubbert

DER SPIEGEL 11 / 2017 105


Wissenschaft

Angeblich beste Freunde


Haustiere Wir lieben ihn mehr als jedes andere Geschöpf, doch wir lieben ihn zu Tode:
den Hund. Vom Beschützer und Jagdkameraden zum röchelnden, kränkelnden
Mode-Fiffi mit glupschigen Augen – der Mensch hat das Tier kaputt gezüchtet.

B
runo schnarcht. Die Familie sitzt bei Kein Tier, das zeigt die moderne Ver- Schönheitsideal die Englische Bulldogge
Tee und Kuchen um den Wohnzim- haltensbiologie, kann menschliche Gesten zum Pflegefall gemacht: „Ohne Rücksicht
mertisch, der Hund hat sich in eine und Gesichtsausdrücke so gut deuten wie auf ihre Gesundheit hat der Mensch ihr
Ecke der hellbraunen Ledercouch gefläzt der Hund, keines trachtet so bedingungslos einen immer skurrileren Körperbau ver-
und ist im Nu weggedöst. Herrliches Hun- danach, dem Menschen zu gefallen wie passt.“
deleben. sein ältester Gefährte, keines kann ähnlich So wurde den Tieren nach und nach die
Wenn Brunos Gegrunze purer Ausdruck viel lernen und so viele verschiedene Auf- Schnauze kürzer gezüchtet. Die Englische
von Behaglichkeit wäre, müsste man ihn gaben übernehmen. Bulldogge zählt – wie auch Mops, Pekingese
jetzt wohl beneiden. Doch das Röcheln ge- Und kein Haustier kommt auch nur an- und Französische Bulldogge – zu den soge-
hört zu ihm, ganz gleich, ob es ihm gerade nähernd so vielgestaltig daher: Kaufinte- nannten brachycephalen (kurzköpfigen)
gut geht oder nicht; es ist ein Merkmal sei- ressenten haben heute die Wahl zwischen Rassen. Das Zuchtziel: Welpenlook auf
ner Rasse. Bruno, neun Jahre alt, 23 Kilo- mehr als 350 Rassen – von Winzlingen wie Lebenszeit – großer Kopf, platte Schnauze,
gramm schwer, zählt zu den Englischen dem Chihuahua bis zu Giganten wie der Kulleraugen.
Bulldoggen; Hunden wie jenem, der in Deutschen Dogge, von Moderassen wie So viel Niedlichkeit hat ihren Preis:
einem bekannten Werbespot für Diätpul- Labrador und Golden Retriever bis zu fast „Zum Atmen“, sagt Jung, „taugen solche
ver neben einem Bikinimodel am Strand vergessenen wie dem Spitz. Dazu kommen Nasen nicht.“ Oft sind je nach Rasse au-
entlangschwabbelt. noch die bislang nicht international ßerdem Zunge und Zähne zu groß für das
„Bruno ist mein Traumhund“, sagt Besit- anerkannten Designerrassen wie Elo, verbliebene Maul, die Augenhöhlen zu
zer Christoph Jung aus Weißenfels in Sach- Schnoodle oder Labradoodle. flach, die Luftröhre ist zu eng oder der
sen-Anhalt, „ich finde ihn cool, und er hat Einst hatte jede Rasse ihre spezifische Kehlkopf zu weich. Bei Bulldoggen ist zu-
trotzdem viel Temperament, er ist nicht an- Funktion: Frühe Hunderassen dienten als dem ein möglichst knautschiges Antlitz ge-
spruchsvoll und tut alles für die Liebe seiner gehorsame Jagdgehilfen; Tiere wie Bruno, fragt. Doch zwischen den Hautfalten sam-
Menschen.“ Gleichwohl steht für Jung fest: wendig und von unerschrockenem Wesen, meln sich Feuchtigkeit und Keime – das
Bruno wird seine letzte Bulldogge sein. setzte der Mensch bei Bullenkämpfen ein, führt zu Entzündungen.
„Die Rasse ist einfach zu krank“, sagt er. Schäferhunde hielten das Vieh beisammen. Breite Schultern, übergroße Köpfe und
Jung ist Psychologe, Besitzer dreier Hun- Welche Tiere zur Zucht taugten, hing mehr zugleich ein schmales Becken wie bei Eng-
de und in seiner Freizeit Hundeforscher. von Charakter und Gelehrigkeit ab als von lischen Bulldoggen – die Biologie verbietet
Gemeinsam mit seiner Partnerin Daniela Äußerlichkeiten. derlei Extreme; solche Welpen kämen gar
Pörtl, einer Ärztin, verfasst er Fachartikel, Der Durchschnitts-Fiffi von heute hat nicht erst zur Welt, wenn nicht der Mensch
die beiden reisen regelmäßig zu Kynologie- ein ungleich bequemeres Leben. Vom un- die meisten per Kaiserschnitt entbände.
kongressen. Ihr Forscherinteresse gilt der verzichtbaren Assistenten und Beschützer Den Mops, den Martin Kramers Stief-
Beziehung zwischen Hund und Halter so- hat er sich zum zumeist zweckfreien Ka- tochter aus Mitleid von dessen Züchterin
wie der Jahrtausende währenden gemein- meraden gewandelt, zum Familienmitglied, übernahm, hat er selbst operiert. „Wir ha-
samen Evolution des Menschen und seines das Züchtern, Tierärzten, Staat und Heim- ben sein Gaumensegel gekürzt, den Na-
treuesten Gefährten. Ihre Mission: die Auf- tierindustrie allein in Deutschland pro Jahr senspiegel erweitert und ihn auf Diät ge-
klärung über die gruseligen Auswüchse rund viereinhalb Milliarden Euro Einnah- setzt“, sagt Kramer, Tiermediziner an der
der modernen Rassehundezucht. men beschert. Universität Gießen und Präsident der
Der Hund war das erste Haustier des Gesünder wurde der Hund dadurch nicht. Deutschen Veterinärmedizinischen Gesell-
Menschen – sein Siegeszug in die Herzen „Mit der Zunahme von Wohlstand und schaft. So komme der heute neunjährige
begann vor Zehntausenden Jahren, als zu- Freizeit“, schreibt der Verhaltensforscher Oscar ganz gut durchs Leben.
trauliche Wölfe die ersten, noch lockeren Paul McGreevy von der australischen Uni- Dass ein Mops zum Chirurgen müsse,
Allianzen mit Homo sapiens schmiedeten. versity of Sydney, „haben sich die Zucht- um richtig Luft zu kriegen, sei nicht unge-
Der Deal: Die Tiere halfen bei der Jagd kriterien geändert.“ Nicht mehr der wöhnlich, sagt Kramer. Auch nicht, dass
und hielten andere Raubtiere von mensch- Zweck, den ein Hund erfüllen soll, bestim- ihm die Augen aus den zu flachen Höhlen
lichen Behausungen fern. Zum Lohn me jetzt seine Erscheinung, sondern die ploppen oder dass er an einem heißen
wärmten sie sich am Feuer und bekamen jeweilige Mode. Manche Rasse ist zur Kari- Sommertag beim Toben tot umfällt. Mops
einen Teil der Beute, die Wolfswelpen katur ihrer selbst verkommen. Oscar darf im Sommer nur noch abends
spielten mit den Menschenkindern. Beispiel Bulldogge: Mit Willi, Brunos raus, sonst droht der Kreislaufkollaps.
Die Hilfe der schlauen Vierbeiner, glau- Vorgänger, war Christoph Jung Dauergast Kramer ist selbst Hundemensch. Stolz
ben manche Forscher, habe die Entwick- beim Tierarzt. Der Rüde litt an Atemnot, zeigt er Handyfotos von seinen beiden
lung des Menschen zum sesshaften Nutz- Allergien, Zysten zwischen den Zehen, Welpen: Neufundländer Benno und Lang-
tierhalter überhaupt erst möglich gemacht. entzündeten Ohren und einer Herzerkran- haardackel Oswald, beide vier Monate alt.
„Die Menschen haben den Hund domesti- kung: „Ich war froh, wenn Willi mal ein Zum Kramer-Rudel gehört außerdem Neu-
ziert“, sagt der Anthropologe Colin Groves paar Wochen lang nichts hatte“, sagt Jung. fundländer-Hündin Maxima, 11.
von der Australian National University, Mit Bruno hat er mehr Glück. Den- „Eingriffe wie bei Oscar können das Lei-
„aber der Hund auch den Menschen.“ noch, sagt Jung, habe das überzeichnete den nur lindern“, erklärt Kramer: „Die
106 DER SPIEGEL 11 / 2017
Rassehunde Chihuahua, Dogge, Schnauzer, Mops
Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Augen aus den zu flachen Höhlen ploppen

FOTOS: CARLI DAVIDSON

DER SPIEGEL 11 / 2017 107


Wissenschaft

Probleme dieser Rassen lösen sie nicht.“ Englische Bulldoggen werden vom VDH greifbar ist“. Doch müsste diese Entwick-
Gemeinsam mit dem Schleswiger Tierarzt nur zur Zucht zugelassen, wenn sie einen lung nicht ins Leere laufen, wenn künftige
Friedrich Röcken und Kollegen von ande- Belastungstest bestehen und Röntgenbil- Halter kranke Tiere einfach ablehnten?
ren tierärztlichen Verbänden hat er des- der von Hüfte und Luftröhre nicht auf Das ist die Hoffnung: Wenn niemand
wegen innerhalb der Bundestierärztekam- Krankheiten hindeuten. Im Jahr 2015 etwa einen Mops mit Atemgeräusch haben will,
mer (BTK) 2016 die Arbeitsgruppe Qual- gab es gerade mal 15 Welpen, die bei VDH- werden Züchter nur noch die gesündesten
zuchten gegründet. Am Beispiel von Mops Züchtern aufgezogen wurden. „Das Bild, Tiere vermehren. So wie viele Rassen nach
und Englischer wie Französischer Bull- das man beim Spaziergang durch unsere und nach krank gezüchtet wurden, würden
dogge wollen die Experten das Bewusst- Innenstädte gewinnt“, heißt es beim Ver- sie dann allmählich wieder fitter.
sein schärfen für „die dramatischen ge- band, werfe aber die Frage auf: „Wo kom- Mittlerweile gibt es Anbieter sogenann-
sundheitlichen Auswirkungen bestimmter men diese Bulldogs alle her?“ ter Retro-Möpse. Das Einkreuzen anderer
Zuchtziele, die von manchen Menschen Nicht nur die kurzköpfigen Modehunde Rassen sorgt bei ihnen für eine längere
als schön empfunden und forciert wer- hat der Mensch krank gezüchtet – beinahe Schnauze.
den“, so Röcken. jede Rasse hat heutzutage Probleme. Psy- Doch allzu viel Einsicht ist von Hunde-
Für den 14. März haben die Grünen zu chologe Jung hat in seinem „Schwarzbuch käufern wohl nicht zu erwarten: „Wer ei-
einem Fachgespräch zum Thema Qualzucht Hund“ beschrieben, wie Schönheitsideale nen Kühlschrank kauft, liest vorher Test-
in den Bundestag geladen. Dann will Vete- und Nachfrage bei zahllosen Rassen zur berichte“, sagt der Psychologe Hal Herzog
rinär Röcken die „Forderungen der deut- „gezielten Zerstörung eines gesunden von der Western Carolina University,
schen Tierärzteschaft zur Vermeidung von Körperbaus“ führten, zu Inzucht und „aber wenn sie sich einen Hund aussuchen,
Qualzuchten“ vorstellen. Erbkrankheiten, deren Verbreitung der werfen die meisten Menschen rationale
Dazu gehört zum Beispiel, nicht ausge- Mensch in Kauf genommen hat. Prinzipien über Bord.“
rechnet mit solchen Tieren zu werben. Die Bei Minihunden wie Chihuahuas etwa Herzog hat nachgewiesen, dass Kino-
BTK hat deswegen jene Firmen angeschrie- wachsen oft die Schädelknochen zeitle- filme mit Hundehelden die Nachfrage nach
ben, die genau das tun, darunter auch der bens nie richtig zusammen. Riesen wie der jeweiligen Rasse auf Jahre nach oben
Diätpulverhersteller mit dem Bulldoggen- Deutsche Doggen können tödliche Magen- schnellen lassen. Der Hype bleibt selbst
Spot. Ihr Appell: die Nachfrage solcher drehungen ereilen, beim Dobermann wer- dann ungebrochen, wenn Vertreter der be-
Qualzüchtungen „nicht zusätzlich durch den fast 60 Prozent im Lauf ihres Lebens gehrten Rassen ihre Besitzer beißen oder
fortgesetzte mediale Präsenz anzuheizen“. herzkrank. Schnauzer neigen zu Erkran- anderweitig unangenehm auffallen.
Auch mit den hiesigen Wächtern über kungen des Hüftgelenks und Zehenkrebs, „Hunde sind Popkultur, sie sind Fashion-
sogenannte Rassestandards, dem Verband Berner Sennenhunde zu Tumoren und Epi- Statements auf vier Beinen“, folgert Her-
für das Deutsche Hundewesen (VDH), ha- lepsie. Beim Cavalier King Charles Spaniel, zog. Dazu passt, dass Hundebesitzer ihren
ben sich Kramer und Kollegen Anfang auch eine zu lebenslanger Goldigkeit ver- Lieblingen oft Namen geben, die für
März zusammengesetzt. Würden Verbän- dammte Trendrasse, leiden viele unter ei- Kinder beliebt sind – Oscars und Brunos
de wie der VDH die Ansprüche an das ner Fehlbildung des Rückenmarks, die Fol- finden sich auch auf vielen deutschen
perfekte Äußere lockern und dafür mehr gen sind Muskelschwäche, Schmerzen und Großstadtspielplätzen. Hasso und Bello
Gesundheit einfordern, könnte das den Kratzattacken. dagegen haben eher ausgedient.
Hunden helfen, so die Überlegung. Der Veterinär Kramer weiß das, „aber wir Wen wundert es da, dass die Nachfrage
britische Kennel Club, ältester Dachver- wollten mit unserer Initiative mal irgend- nach Französischen Bulldoggen anzog, als
band für Hundezüchter und Gastgeber der wo anfangen“, sagt er. Die Wahl zum Aus- sich Prominente wie Madonna oder Lady
am Donnerstag eröffneten weltgrößten hängeschild fiel auf Mops & Co., weil die Gaga als Liebhaber der Rasse zu erkennen
Hundeausstellung „Crufts“ in Birmingham, Tiere nicht nur fast durchgehend krank sei- gaben? „Die Englische Bulldogge ist ein
hat ebenfalls eine Arbeitsgruppe zur Proble- en, sondern gegenwärtig auch besonders veterinärmedizinischer Super-GAU“, so
matik der brachycephalen Rassen ins Le- begehrt. Vor allem der Mops hat sich als der US-Anthrozoologe James Serpell von
ben gerufen. ein Lieblingshund deutscher Großstädter der University of Pennsylvania. Trotzdem
Kein Züchter muss allerdings dem VDH durchgesetzt. „Charakterlich ist er ja auch steht sie aktuell auf Platz vier der belieb-
angehören, er kann sich auch bei einem super“, sagt Kramer: „Anhänglich, freund- testen Hunderassen in den USA.
Konkurrenzverband anmelden oder seine lich, wenig Jagdtrieb.“ Es ist später Nachmittag in Weißenfels,
Hunde ganz ohne Verein züchten. Wer ein Je hipper, desto kränker, scheint die Bruno muss jetzt noch mal raus. Christoph
breites Angebot an „Bullys“ sucht, wird Faustregel zu lauten. Das liegt laut Kramer Jung und Daniela Pörtl laden die Bulldogge
etwa bei Ebay Kleinanzeigen fündig – daran, dass bei besonders beliebten Rassen und Husky Mary ins Auto und fahren zum
Preis pro Welpe: bis zu 2000 Euro. „mit allem gezüchtet wird, was irgendwie Waldrand, auf den Feldern liegt der letzte

Gebrechliche Begleiter Durch Züchtung hervorgerufene Hundekrankheiten und Schäden (Auswahl)


* brachycephale (kurzköpfige) Rassen

Mops* Englische Bulldogge* Französische Bulldogge* Cavalier King Charles* Chihuahua Deutscher Schäferhund
• extrem weiche Knorpel • Atemnot durch zu • zu große Zunge im • erbliche Herzschwäche • Wasserkopf • deformierte Hinterhand
in Kehlkopf und Luftröhre enge Luftröhre Verhältnis zur Maulhöhle • starke Schmerzen und • Verschiebung der und gestörter Gang durch
• angeborene Veränderung • Infektionen in • angeborene Veränderung Muskelschwäche in den Kniescheibe abschüssige Rückenlinie
der Wirbelsäule Gesichtsfalten der Wirbelsäule Beinen durch Rücken- • Fehlbildung von Hüft- und
• Veränderung von Gehör- • Fehlbildung von Hüft- und • Veränderung von Gehör- markerkrankung Ellenbogengelenken
gang und Mittelohr Ellenbogengelenken gang und Mittelohr • Darmerkrankungen (CED)

108 DER SPIEGEL 11 / 2017


wie Australian Shepherds gehalten – hier
mehrte den Ruhm unter anderem der
schlaue Rico, jener Hund, der bei „Wetten,
dass ..?“ auftrat und 77 Spielzeuge anhand
ihres Namens auseinanderhalten konnte.
„Nicht jeder Border muss Schafe hüten“,
sagt Veterinär Kramer, „aber alle denken,
sie müssten es.“ Potenzielle Halter müss-
ten zwar keine Schäfer sein, der Rasse aber
ausreichend Beschäftigung bieten – das
könne auch beim Hundesport sein.
„Wir neigen inzwischen dazu, Hunde als
haarige Menschen auf vier Beinen zu be-
trachten“, sagt McGreevy, „besser wäre es,
sie wieder Hunde sein zu lassen.“
Aber wie sollen sich Menschen einen in-
tuitiven Umgang mit dem Tier bewahren,
wenn sich viele Hundebesitzer deren Er-
ziehung ohne die Unterstützung eines Pro-
fis nicht mehr zutrauen? 75 Millionen Euro,

THOMAS VICTOR / DER SPIEGEL


das ergab eine Studie der Universität Göt-
tingen, setzen Deutschlands Hundeschulen
pro Jahr um.
Bulldogge Bruno hat sichtlich Spaß
beim Strolchen über die Feldwege. Ge-
fragt, welche Rasse er denn überhaupt
Forscher Jung, Pörtl, Hunde Mary, Bruno: „Kaufen Sie sich einen Pudel“ noch empfehlen würde, muss Herrchen
Jung lange überlegen. „Kaufen Sie sich
Schnee. Zander, der alte Podenco-Mix aus ßenfels. Wenn genug Schnee liegt, spannt einen Pudel“, sagt er schließlich, „oder ei-
einem spanischen Tierheim, bleibt zu Hau- Pörtl sie vor einen echten Rennschlitten, nen Mittelspitz.“ Die Rassen seien gegen-
se, ihm reicht eine Gassitour am Tag. sonst zieht Mary einen auf Rollen. wärtig so aus der Mode, dass sich das
Der Entwicklungsschritt vom Mitarbei- Mary hat Glück; sie kann jetzt so leben, Geschäft mit ihnen nur für gewissenhafte
ter zum Familienmitglied stürzte nicht alle wie es ihrer genetischen Ausstattung ent- Züchter lohne.
Hunde in Krankheit und Leid. Sehr viele spricht. Ihr Beispiel zeigt aber auch, dass Tierarzt Kramer ist optimistischer. „Es
aber machte er arbeitslos. „Die meisten hochspezialisierte Hunderassen nur etwas kann zwar sein, dass der eigentliche
Hunde sollen heutzutage keine bestimmte für Menschen sind, die sich genug Zeit für Wunschhund nicht der richtige ist“, sagt
Aufgabe mehr erfüllen“, sagt Tierarzt Kra- sie nehmen können. er – wenn das zum Beispiel eine Dogge
mer, „sie haben nur noch eine wichtige so- So habe sich der Auftritt eines Border sei, die in eine Einzimmerwohnung ziehen
ziale Funktion.“ Collies im australischen Kinofilm „Ein solle. Unter den 350 Hunderassen – und
Nur, dass es Rassen gibt, denen ein Le- Schweinchen namens Babe“ als „Desaster unzähligen Mischlingen – sollte sich den-
bensradius zwischen Sofa und Vorgärtchen für die Rasse“ erwiesen, schreibt Forscher noch für jeden Menschen ein Exemplar
nicht genügt. Es sind Hunde wie Mary, an McGreevy in seinem Buch „Rex and the finden, das er sich guten Gewissens an-
denen sich studieren lässt, was passieren City – Modernes Hundeleben im Blick der schaffen kann. „Der Hund ist dafür ge-
kann, wenn Tier und Halter nicht zusam- Verhaltensforschung“: „Wunderschöne macht, mit dem Menschen zusammen-
menpassen. Border Collies, die auf Farmen arbeiten zuleben“, sagt er, „der kommt schon mit
Mary, ein Sibirian Husky, entstammt ei- sollten“, fanden sich „in Stadtwohnungen uns klar.“ Julia Koch
ner Rennlinie. Bei ihrem ersten Besitzer wieder und taten das, was ihre Natur ist –
lebte sie in einer Wohnung ohne Garten, sie jagten“. Massen von Border Collies sei- Video:
war an der Leine kaum zu halten und muss- en so im Tierheim gelandet. Die Züchtungssünde
te schließlich abgegeben werden. Über Um- Auch in Deutschland werden gern Bor- spiegel.de/sp112017hunde
wege kam sie zu Jung und Pörtl nach Wei- der Collies und andere Hütespezialisten oder in der App DER SPIEGEL

Dobermann Labrador Retriever Australian Shepherd Rhodesian Ridgeback Labradoodle Berner Sennenhund
• Herzmuskelerkrankung (DCM) • Fehlbildung von Hüft- • Welpensterblichkeit • Der Haarkamm auf dem • erbliche Fehl- • Tumorerkrankungen
• Blue-Dobermann-Syndrom und Ellenbogengelenken • idiopathische Epilepsie Rücken kann mit Zysten, entwicklung • Epilepsie
(Hautentzündungen und • Herzfehler die bis in den Wirbelkanal der Netzhaut
• Genveränderung (Merle) • Fehlbildung von Hüft-
Haarverlust) reichen, einhergehen. • Fehlbildung von
• Epilepsie kann zu Erblindung und Ellenbogengelenken
und Taubheit führen Hüftgelenken
• Augenerkrankungen

DER SPIEGEL 11 / 2017 109


Wissenschaft

„Mehr, mehr, mehr“


Verhalten Warum Schenken beglückt, ein Frustkauf funktionieren kann und wir eines über alles
hassen: Verlust – die Psychologin Claudia Hammond über unseren seltsamen Umgang mit Geld

Die Britin Hammond, 45, hat Psychologie stu- Hammond: … das stimmt – nehmen Sie die SPIEGEL: Entsprechend dem sogenannten
diert, weil sich da „alles um den Menschen Steinscheiben von Yap, einer Insel im Pazi- Easterlin-Paradox geht es Menschen in är-
dreht“ – und um Wissenschaft, die perfekte fik: Ihr Durchmesser beträgt bis zu vier meren Ländern mit einem leicht über-
Kombination, so schien es ihr. Als sie begann, Meter, in die Mitte haben die Inselbewoh- durchschnittlichen Einkommen seelisch
sich mit der Psychologie des Geldes zu be- ner ein Loch geschlagen. besser als Leuten mit solch relativem Wohl-
fassen, fand sie Studie um Studie zum The- SPIEGEL: Diese Währung wechselt nicht so stand in reicheren Ländern. Wie viel muss
ma, eine spannender als die andere – und so leicht den Besitzer. ich verdienen, um sicher zu sein, dass ich
beschloss Hammond, die an dem Londoner Hammond: Doch, tut sie. Nur dass die Schei- jenseits dieser Grenze mit keinem Quent-
Ableger der Boston University lehrt, den Stand be einfach da liegen bleibt. Und jeder weiß, chen zusätzlichen Glücks rechnen kann?
der Forschung in einem Buch zusammenzu- dass sie nun jemand anderem gehört. Hammond: Ich weiß, es gab Umfragezahlen
fassen*. Das Geld, das sie damit verdient, SPIEGEL: Fühlt es sich denn auch genauso in den USA, die diese Grenze hundertpro-
wird jetzt wohl zum Teil in Gartencenter flie- gut an, eine riesige Steinscheibe über- zentigen Glücks bei 500 000 Dollar im Jahr
ßen: „Ich kann nicht widerstehen – da gebe eignet zu bekommen wie ein Bündel Bar- sahen – allerdings waren es ziemlich weni-
ich immer mehr aus als geplant.“ geld? ge Befragte, die so viel verdienten, inso-
Hammond: Wahrscheinlich schon. Aus Ver- fern würde ich diese Zahlen kritisch sehen.
SPIEGEL: Ms Hammond, es heißt, Londoner suchen wissen wir, dass das Belohnungs- Früher dachte man, die Grenze liege deut-
Investmentbanker spielten in der Kneipe zentrum im Gehirn anspringt, wenn wir lich niedriger, bei etwa 20 000 Dollar, aber
gern ein Spiel, es heißt „Show All“: Alle Geld bekommen. Wie wenn wir Schoko- neuere Untersuchungen legen nahe, dass
öffnen ihr Portemonnaie, und derjenige, lade essen. wir ab 75 000 Dollar relativ zufrieden sind.
der am meisten Scheine mit sich trägt, muss SPIEGEL: In den USA hat sich der Wohl- Ich vermute, es muss eine Summe sein, die
sie mit allen Anwesenden teilen – auch stand seit den Fünfzigerjahren verdrei- uns Stress und Angst nimmt, eine Grenze,
wenn es sich um Tausende Pfund handelt. facht. Aber die Menschen fühlen sich heu- die uns die Sicherheit gibt, unsere Rech-
Ist Geld in diesen Kreisen ein Äquivalent te kein Stück besser als damals. Geld nungen zahlen zu können.
für die Größe des Gemächts? macht wohl doch nicht so glücklich. SPIEGEL: Gewöhnen wir uns ab dieser Gren-
Hammond: (lacht) Ich hatte eigentlich ge- Hammond: Innerhalb einer Gesellschaft ist ze womöglich an die Dinge, die wir uns
hofft, dass wir diese Machokultur nach der es durchaus so, dass die Leute, die mehr leisten können, sodass sie uns nicht mehr
Finanzkrise hinter uns gelassen hätten! verdienen, glücklicher sind als die, die zu erfreuen vermögen?
Aber ja, es stimmt, Geld ist für solche Leu- weniger bekommen. Aber natürlich gibt Hammond: Dafür haben wir sogar einen
te kein reales Geld mehr, sondern eine es auch schwermütige Millionäre und Fachbegriff: hedonistische Anpassung. Was
Maßzahl ihres Erfolgs. Nach dem Motto: kreuzfidele Sozialhilfeempfänger. Es hat man auch beobachten kann bei Lotto-
Wenn Sie drei Jachten haben können, wie- also einen Einfluss auf unser Wohlbefin- gewinnern oder Erben, die plötzlich zu
so nur eine kaufen? den, aber einen viel kleineren, als wir großen Summen Geld kommen: Sie kaufen
SPIEGEL: Was ist Geld eigentlich? immer denken. sich fortan nur noch das Feinste vom Fei-
Hammond: Ein ausgefeiltes, seltsames und nen, auch beim Essen, und können dann
zutiefst psychologisches Konstrukt. Schau- ihre früheren Vorlieben in der Tat nicht
en Sie, wir schleppen da ein paar Fetzen mehr genießen, das leckere Thunfisch-
Papier mit uns herum und haben uns da- sandwich, eine wunderbare Tasse Tee.
rauf verständigt, dass diese Fetzen etwas SPIEGEL: Wie stellt man das fest?
bedeuten. Klingt verrückt, aber Geld ver- Hammond: Zum Beispiel haben Kollegen
dinglicht Vertrauen und verwandelt es so getestet, wie lange Probanden genüsslich
in eine Ware, mit der wir handeln können. ein Stück Schokolade lutschen; sie brauch-
SPIEGEL: Irgendwann haben Tauschgeschäf- ten etwa 45 Sekunden. Wenn sie vorher
te dem Menschen wohl nicht mehr ausge- ein Foto mit Geld darauf betrachtet hatten,
reicht – wann und wie kam das Konzept sank dieser Wert auf 32 Sekunden. Weite-
„Geld“ in die Welt? re, sehr ausgefeilte Tests legen nahe, dass
Hammond: Die ältesten Nachweise sind auch Natur, der Anblick eines Wasserfalls
etwa 5000 Jahre alt, aber es muss schon etwa, Menschen nicht mehr so beglückt,
lange davor ein System des Ich-schulde- wenn sie reich sind.
dir-Was gegeben haben, eine Lösung für SPIEGEL: Gibt, wer über Geld verfügt, au-
das Problem, das sich stellt, wenn man ei- tomatisch immer mehr aus? Irgendwann
WERNER SCHUERING / DER SPIEGEL

nem Tauschpartner die drei Eier Gegen- hat man doch jeden vorstellbaren Luxus.
gabe für sein Stück Fleisch erst zu einem Hammond: Das denken Sie! Aber Menschen
späteren Zeitpunkt überreichen kann. wollen immer noch mehr, mehr, mehr. Im-
SPIEGEL: Wobei ja nicht jede Form von Geld merhin, es gibt Forschungen dazu, wie man
in der Geschichte so praktisch war wie be- Geld so unter die Leute bringen kann, dass
drucktes Papier … es glücklich macht.
SPIEGEL: Wir sind gespannt.
* Claudia Hammond: „Erst denken, dann zahlen“. Klett- Autorin Hammond Hammond: Eine Studie dazu mag ich be-
Cotta; 432 Seiten; 18,95 Euro. „Unsummen für ein Glas Weißwein in Venedig“ sonders, von der Psychologieprofessorin
110 DER SPIEGEL 11 / 2017
DINA LITOVSKY / REDUX / LAIF
Betuchte Damen beim Diner: „Wir geben mehr Geld für ein Essen aus, wenn das Restaurant ,Studio 97‘ heißt statt ,Studio 19‘“

ROBERT HARDING / PICTURE ALLIANCE

Steinscheiben-Währung auf der Pazifikinsel Yap: „Geld verdinglicht Vertrauen und verwandelt es in eine Ware“

DER SPIEGEL 11 / 2017 111


Wissenschaft

Elizabeth Dunn in Vancouver. Die For- Hammond: Ja, das spiele ich immer mit mei- Forschungsassistent eine Traube für eine
scher gaben Passanten einen Umschlag mit nen Psychologiestudenten durch, mit den Spielmarke, manchmal legt er eine weitere
Geld darin, entweder 5 oder 20 Dollar. Die gleichen Ergebnissen. Das zeigt meiner Traube dazu. Ein weiterer menschlicher
Hälfte der Probanden bekam die Anwei- Ansicht nach vor allem, wie schwierig es Händler bietet ihnen zwei Trauben und
sung, es für sich selbst auszugeben, die ist, mit Geld umzugehen, es zu begreifen. nimmt manchmal eine weg.
zweite Hälfte sollte andere Menschen be- In dem Moment, wenn wir uns mit ande- SPIEGEL: Die Kapuzineräffchen bekommen
glücken. Sie taten jeweils brav, was von ren vergleichen, verstehen wir besser, was also bei beiden Händlern in toto gleich vie-
ihnen verlangt wurde, kauften sich Kaffee wir da haben. Und wir wollen uns auf kei- le Trauben für ihre Spielmarken?
oder Sushi, die anderen luden Freunde nen Fall weniger dieser bezaubernden Din- Hammond: Genau, und dennoch bevorzu-
zum Snack ein oder spendeten das Geld ge leisten können als unsere Freunde. gen sie den ersten Deal. Lieber gelegent-
für Wohltätiges. Danach mussten sie einen SPIEGEL: Wir leisten uns die seltsamsten lich etwas dazubekommen, als etwas zu
standardisierten Fragebogen ausfüllen, der Dinge, etwa ein Auto in der Großstadt, verlieren. So wie wir – wir haben eben
ihre Stimmung maß. Es stellte sich heraus, das wir nur zweimal im Jahr brauchen, um eine zutiefst irrationale Beziehung zum
dass es jenen Leuten am besten ging, die in Urlaub zu fahren … Geld.
andere bedacht hatten – während die Höhe Hammond: … oh, das kenne ich. Mein Mann SPIEGEL: Wer Ihnen zuhört, muss zweifeln,
des Betrags überhaupt keinen Effekt auf und ich hatten echte Probleme, uns von ob unser Steinzeithirn jemals ein so mo-
ihr Wohlbefinden hatte. unserem Auto zu trennen. Dabei wären dernes Konzept wie Geld verstehen wird.
SPIEGEL: Das heißt, Frustkäufe sind kom- wir in London definitiv besser dran, wenn Hammond: Ja, speziell, wenn wir sehen,
plett sinnlos? wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln füh- dass wir mehr Geld für ein Essen ausgeben
Hammond: Nein, nein, was durchaus zu ren und, wenn das mal nicht geht, ein Taxi mögen, wenn das Restaurant „Studio 97“
funktionieren scheint, sind kleine Luxus- nähmen oder einen Mietwagen. heißt statt „Studio 19“. Es ist einfach nur
geschenke, die man sich selbst gönnt, SPIEGEL: Was war das Problem? der Anker, die höhere Zahl, die diese Be-
wenn einem ein bisschen jämmerlich zu- Hammond: Unser Gehirn arbeitet mit men- reitschaft erzeugt. Das funktioniert auch,
mute ist. talen Konten. Es betrachtet das Geld für wenn man Probanden einfach Striche mit
SPIEGEL: Macht Geld böse? vorgegebenen Längen zeichnen lässt und
Hammond: (lacht) Zu dieser Frage gibt es sie danach nach der Temperatur im Juli in
tatsächlich eine Menge Forschung, und in Honolulu fragt.
den meisten Arbeiten schneiden die Rei- SPIEGEL: Sagen Sie bloß, die Leute schätzen
chen nicht gut ab. Bittet man zum Beispiel die Temperatur höher ein, wenn sie länge-
Probanden, sich vorzustellen, sie wären re Linien gemalt haben.
auf der sinkenden „Titanic“, finden wohl- Hammond: Na klar.
habendere Leute eher, dass sie ein Recht SPIEGEL: Sie machen uns Angst. Wie sollen
auf einen Platz im ersten Rettungsboot hät- wir unser Leben erst meistern, wenn das
ten. Ein Recht! Dieselbe Arbeitsgruppe bat Bargeld abgeschafft und Geld nur noch ein
Versuchsteilnehmer, Monopoly zu spielen. rein theoretisches Gebilde ist?
Die Forscher verhalfen einem Spieler von Hammond: Es gibt ein Experiment, bei dem
Anfang an zu mehr Geld, und immer, die Einkäufe der Versuchsteilnehmer in ei-
wenn er über Los kam, bekam er doppelt nem Supermarkt ein Jahr lang aufgezeich-
so viel wie die anderen. net wurden. Die Hälfte musste immer Ba-
SPIEGEL: Die Mitspieler hatten also keine res hinlegen, die anderen beglichen die
Chance? Rechnung mit Karte. Die Cashzahler ga-
Hammond: Genau, aber das Interessante Kapuzineraffe beim „Bezahlen“ ben viel weniger aus – und für gesündere
war, wie die reichen Spieler sich verhielten, „Was wir haben, lassen wir ungern los“ Waren, weniger Kartoffelchips und solche
während sie auf Gewinnerkurs waren und Dinge. Es war, als zählten für die Karten-
Straßen, Häuser und Hotels anhäuften. Sie ein Taxi als unnötigen Luxus, während das, nutzer weder das Geld noch die Kalorien.
nahmen sich mehr Salzbrezeln, als ihnen was ein Auto übers Jahr kostet, zwar viel SPIEGEL: Das Geldausgeben wird in Zu-
zustanden, sie hopsten triumphierend mit mehr ist als gelegentliche Taxifahrten, aber kunft noch einfacher mit Lesegeräten, die
ihrem Spielstein über das Brett, all so was, als notwendige Alltagsausgabe verbucht man nur noch kurz touchieren muss, ohne
aber am frappierendsten fand ich, was sie wird. Aus dem gleichen Grund bezahlen Pin, ohne Unterschrift. Überfordert uns
nach der Partie sagten, als die Forscher wir Unsummen für ein Glas Weißwein auf die schöne, neue Welt des Zahlens?
fragten, warum sie gewonnen hätten: Kein der Terrasse einer edlen Bar in Venedig Hammond: Es ist wie mit jeder Technik –
einziger der Probanden erwähnte den fi- und fühlen uns daheim im Supermarkt ab- sie wird wiederum Techniken hervorbrin-
nanziellen Vorteil! Sie antworteten, dass gezockt, wenn eine Flasche Wein das Glei- gen, die das Problem, das wir damit haben,
es an ihren Entscheidungen gelegen habe che kostet. lösen, sodass es nicht die desaströsen Fol-
oder an der Kombination ihres Könnens SPIEGEL: Vielleicht hingen Sie aber einfach gen hat, die wir heute befürchten. In die-
mit Glück. nur an Ihrem Auto? sem Fall kann es sein, dass wir zunächst
SPIEGEL: Erklärt das, warum auch Manager Hammond: Auch das wird eine Rolle ge- tatsächlich mehr ausgeben, es dann aber
mit gigantischem Salär überzeugt sind, spielt haben. In der Psychologie heißt das auch Wege gibt, dass das Smartphone uns
dass sie diese verdient hätten? „Verlustaversion“ – was wir einmal haben, beim Bezahlen sagt, „hey, du hast diesen
Hammond: Absolut! Sie denken, dass ihr lassen wir ungern los. Ein sehr, sehr star- Monat schon 20 Euro für Kaffee ausgege-
enormer Bonus eigentlich nur bedeuten kes Gefühl, sogar Affen scheinen es zu ben, lass mal lieber sein jetzt“.
könne, dass sie enorm gut in ihrem Job sind. haben. Interview: Rafaela von Bredow
SPIEGEL: Es gibt ein berühmtes Experiment, SPIEGEL: Woher wissen wir das?
demzufolge wir weniger Geld insgesamt Hammond: Es gibt einen Versuch an der Animation:
akzeptierten – die Hauptsache, es ist mehr, Yale University mit Kapuzineräffchen; die Was Geld mit uns macht
als unser Nebenmann oder Nachbar be- Tiere haben gelernt, Spielmarken gegen spiegel.de/sp112017geld
kommt. Ist Missgunst unser Antrieb? Essen einzutauschen. Nun bietet ihnen ein oder in der App DER SPIEGEL

112 DER SPIEGEL 11 / 2017


Fantastische Reise
Mögliche Methoden,
Medikamente oder Werkzeuge
zu Zielen im Körper zu bewegen

Roboter im
Nanotransporter ist, soll sich der Roboter wie von Geister-
Mit Medikamenten hand entfalten und bereit für den Einsatz
gefüllte Kugeln
diffundieren in der
sein. Eine der Jobideen für ihn: verschluck-

Blut
äußeren Haut- te Knopfzellen abzutransportieren. Diese
schicht zwischen Batterien können Löcher in den Magen ät-
den Zellen hin- zen und werden bisher notfalls chirurgisch
durch oder entlang entfernt. Die Forscher bauten eine künst-
der Haarfollikel. liche Speiseröhre sowie einen Magen, den
Medizin Forscher basteln
sie mit einer Art Magensaft füllten. Den
Nanomaschinen oder Minifähren, Roboter bestückten sie mit einem Magneten
um Medikamente in den Nanogele und schickten ihn auf seine Mission.
Es klappte; brav heftete sich der Mini-
Körper zu schleusen. Bei Katzen Mit einem Krebsmittel beladene
Falt-Bot an die Knopfzelle. Den Rest erle-
Knäuel gelangen im Blutstrom
funktioniert das bereits. zum Tumor, wo ein niedrigerer digten die Forscher von außen, indem sie
pH-Wert herrscht. Dieser pH- ein magnetisches Feld anlegten und damit
Wert führt zur Freisetzung des

W
er durch das menschliche Gefäß- den kleinen Helfer zum Magenausgang ma-
system reisen könnte, wäre der Krebsmittels. növrierten – im echten Patienten würde
beste Arzt der Welt. Durch das er dann samt Knopfzelle ausgeschieden.
rund 100 000 Kilometer lange Netz würde Vor einem Einsatz am Menschen müs-
er nahezu jeden Winkel des Körpers errei- sen die Wissenschaftler ausschließen, dass
chen, um kaputte Organe zu reparieren ihre Maschinchen unkontrolliert durch den
oder gefährliche Viren zu killen. Körper geistern. „Die Systeme müssen
Bisher war das Stoff für Science-Fiction. „Origami“-Roboter
genau dahin gelangen, wo man sie haben
Im Film „Die phantastische Reise“ reisen Der Patient schluckt eine
will“, sagt Rainer Haag. „Und sie müssen
auf Mikrobengröße geschrumpfte Helfer Eiskapsel, die einen Mikro- so lange aktiv sein, bis ihr Job erledigt ist.“
in einem U-Boot durch die Adern eines roboter enthält. Im Magen Mit seinem Ansatz ist Haag diesen Zielen
Patienten, um in dessen Gehirn ein Gerinn- schmilzt das Eis. Der Roboter schon recht nahegekommen. Gemeinsam
sel zu entfernen. entfaltet sich daraufhin und mit Kollegen hat er im Labor Kügelchen
Jetzt, ein halbes Jahrhundert nach der kann Fremdkörper wie Knopf- (Durchmesser ungefähr zehn Nanometer)
Filmpremiere, verwandelt sich die Utopie zellen bergen. aus einem besonderen Kunststoff herge-
in Realität; die ersten Systeme werden er- stellt. Dieser ist offenbar verträglich und
probt. „Die Nanowelt ist so greifbar wie wird mit der Zeit abgebaut. Er ist fett- und
nie zuvor“, sagt Rainer Haag, 48, der am wasserfreundlich und kann aus diesem
Institut für Chemie und Biochemie der Grund besonders gut in Gewebe dringen.
Freien Universität (FU) Berlin winzige Forscher an der FU Berlin haben diese
Transporter für Medikamente entwickelt. Nanotransporter mit einem Wirkstoff be-
Eine Vielzahl von Methoden setzt auf laden und auf menschliche Haut aufgetra-
Nanodüse, Mikropropeller, Minipeitsche
die Mini-Helfer (siehe Grafik). Forscher gen. Im Vergleich zu einer herkömmlichen
Ein Röhrchen wird durch eine chemische
vom Max-Planck-Institut für Intelligente Reaktion wie ein Düsenflugzeug angetrieben. Salbe wurde der Wirkstoff bis zu sieben-
Systeme in Stuttgart haben mit Kollegen Ein Magnet bringt von außen ein Vehikel mit mal besser aufgenommen. Für Menschen
aus Spanien und China soeben das kleinste der Form eines Korkenziehers zum Rotieren mit Schuppenflechte etwa könnten die
Düsentriebwerk der Welt in Betrieb genom- oder Geißeln zum Schlagen. Kügelchen, beladen mit dem Arzneistoff
men. Sie stellten dazu aus Siliziumdioxid Tacrolimus, eine große Hilfe sein. Bisher
Röhrchen her, die mit einem Durchmesser bleibt ein Gutteil des teuren Mittels in der
von 220 Nanometern (milliardstel Metern) äußersten Hautschicht hängen.
kleiner als Bakterien sind. Der Nanotransporter aus Berlin wird
Die Nanoröhrchen sind mit dem Enzym schon an Patienten erprobt, allerdings
Urease beschichtet, das Harnstoff in Am- nicht an Menschen: Alte Hauskatzen mit
moniak und Kohlendioxid zerlegt; dabei Schilddrüsenüberfunktion spielen hier die
wird Energie frei. Setzt man so ein Röhr- Versuchskaninchen. Die Tiere schütten ver-
chen in eine Flüssigkeit, die Harnstoff ent- mehrt die Hormone Thyroxin und Trijod-
hält, dann bewirkt dessen Spaltung einen thyronin aus, was ihnen schlecht bekommt:
Rückstoß – wie bei einem Jet. In Experi- Oft leiden sie unter Durchfall, sie magern
menten erreichte die Nanodüse eine Ge- ab, sind gereizt, es wachsen ihnen lange
schwindigkeit von zehn Mikrometern in ker Peer Fischer, 44, der am Stuttgarter Krallen, das Fell verstruppt. Zwar gibt es
der Sekunde, das sind knapp vier Zenti- Max-Planck-Institut die Gruppe Mikro-, Wirkstoffe dagegen, doch deren übliche
meter in der Stunde. Bald soll sie erstmals Nano- und Molekulare Systeme leitet. Darreichungsform – als Tablette – fressen
durch das Innere einer Zelle flitzen. Einen Mikroroboter, der im Körper ein- Katzen nicht gern.
Auch der kleinste Propeller der Welt fache Arbeiten ausführen kann, entwickeln Die Firma Dendropharm, eine Ausgrün-
kommt aus Stuttgart. Das Schräubchen, Forscher am Massachusetts Institute of Tech- dung der FU Berlin, testet derzeit eine
je nach Ausfertigung 300 Nanometer bis nology in Cambridge. Der Prototyp besteht Nanotransporter-Salbe, die einen Wirk-
3 Mikrometer lang, wird durch ein Magnet- aus Schweinedarm und anderen Materialien stoff enthält. Die ersten Erfahrungen
feld zum Rotieren gebracht und bewegt und wird, wie eine Origami-Figur, auf ganz sprächen für die neuartige Medizin, sagt
sich nach vorn. „Weil der Mikropropeller bestimmte Art und Weise zusammengefaltet Haag. „Die Katzen mögen es ganz gern,
durch die Maschenstrukturen in Geweben und in einer Kapsel aus Eis eingefroren. Die- wenn man ihnen das Ohr mit einem Pinsel
geht, könnten wir mit ihm den gerichteten se Kapsel würde der Patient dann schlucken. bestreicht.“ Jörg Blech
Transport hinbekommen“, hofft der Physi- Im Magen, nachdem das Eis geschmolzen Mail: joerg.blech@spiegel.de

DER SPIEGEL 11 / 2017 113


Ausstellung „Postwar“ im Münchner Haus der Kunst

TOBIAS HASE / DPA, VG-BILDKUNST BONN 2017


Museen
Im Dienst des Scientologen
Das Münchner Haus der 50 Aufsichtspersonen. Der wurde am 15. Dezember 2015 Rede und Antwort stehen.
Kunst gilt als renommierte frühere bayerische Wissen- informiert. Passiert ist lange Auch für den Betriebsrat sind
Ausstellungsinstitution – schaftsminister und FDP-Poli- nichts. Intern heißt es, das die Probleme nicht gelöst.
doch mehren sich Hinweise tiker Wolfgang Heubisch – Ministerium habe um die Zu- Derzeit, so heißt es dort, wür-
auf eine Nähe zur Scientolo- heute Aufsichtsratsmitglied wendungen von Sponsoren de mit auffallender Eile eine
gy-Organisation. Anfang der Stiftung Haus der Kunst gefürchtet, falls die Sciento- neue externe Beratungsgesell-
März trennte sich die halb- und Vorsitzender im gewich- logy-Verbindung des Perso- schaft installiert und auf diese
staatliche Einrichtung bereits tigen Freundeskreis – hatte nalverwalters publik würde. Weise Druck auf die Beleg-
von einem externen Personal- von der Scientology-Verbin- Andere Aufsichtsräte berich- schaft ausgeübt. Und Direk-
verwalter, der nachweislich dung des Personalverwalters ten dagegen sogar von weite- tor Okwui Enwezor? Der ge-
Scientologe ist. Der Geschass- erfahren und ließ sich diese ren Verdachtsfällen. Nun bürtige Nigerianer, der lange
te, seit 1995 für die Ausstel- Ende 2015 vom Verfassungs- hat die SPD-Fraktion im Kul- in den USA lebte, hält die
lungshalle tätig, soll für enor- schutz bestätigen. Bayerns turausschuss des Bayerischen Aufregung in München für
me Spannungen unter den Kultusminister Ludwig Spaen- Landtags einen Dringlich- übertrieben, spricht gar von
Angestellten gesorgt haben, le, der dem Aufsichtsrat des keitsantrag gestellt – mit der einer „Hetzkampagne“ gegen
vor allem unter den mehr als Hauses der Kunst vorsteht, Forderung, Spaenle solle das Haus der Kunst. cnm, uk

Glosse

Friedensarmee
Die Bundeswehr sorgt für erstklassiges Entertainment – auf der Skipiste.
Es war eine Inszenierung in freier Luft, in großer Höhe, und te, ohne über einen perfekt getarnten, lang gestreckten Schnee-
sie fing ganz unerwartet an. Auf den Skihängen von Spitzing- rekruten zu stürzen, wurde der Spott lauter. Gepaart mit leiser
see in den deutschen Alpen fand sich eine Gruppe junger Beunruhigung: Das ist unsere Armee? Hinzu kam der geradezu
Gebirgsjäger ein. Aus dem schneeweißen Bundeswehr-Bus lobestolle Ausbilder. Unten im Tal, wo die Dreijährigen das Ski-
sprudelten sie jeden Morgen heraus, dann hefteten sie sich auf fahren lernten, herrschte ein deutlich rauerer Ton.
ihre weißen Bundeswehr-Skier mit sportlich-elegantem, dunk- Ein bärtiger Herr sah das und sagte: „Ich war auch Gebirgs-
lem Designstreifen in der Mitte. Alle gekleidet in weiße Tarn- jäger. Am schönsten war es immer, wenn frische Rheinländer
anzüge mit Erdfarbenflecken drauf. Und dann ging’s auch kamen. Auf Skiern konnten die jahrelang nichts.“ Das habe
schon los. aber gar nichts gemacht. Ihr Auftrag sei ohnehin niemandem
Hinauf auf den Berg, hinab ins Tal. Sie konnten alle nichts. klar gewesen. Gegen wen sie da in den Alpen Ski laufen soll-
Der erste Bogen, der erste Sturz. Zweiter Bogen, zweiter Sturz. ten. „Und die Gewehre, die ließen sich bei Frost nicht ent-
So fing die Woche an. Und so hörte sie auf. Am Anfang war sichern.“ Auch er war damals schon Teil dieser beeindrucken-
das Publikum, also der gesamte Skifahrerhang, noch ungläubig, den Inszenierung einer Friedensarmee, von der sich auch
mitleidig, freundlich lächelnd. Aber als sich nicht der geringste der amerikanische Präsident keinen aktiveren Beitrag in der
Fortschritt zeigte und man wirklich nicht hinunterfahren konn- Welt wünschen kann. Volker Weidermann

114 DER SPIEGEL 11 / 2017


Kultur
Pop eine kurze Format. Selbst ein Nils Minkmar Zur Zeit
Zarte Elegien Genie ist damit nach zehn

Drei Minuten sind nicht lang,


Jahren durch, es ist fast un-
möglich, ein Leben lang
Helden der Dissidenz
nicht für einen Popsong und Songs zu schreiben, ohne sich Sie hatten ungepflegte Bärte, trugen
schon gar nicht als musikali- zu wiederholen. Und ent- kratzig anmutende Pullover oder dreh-
sche Form für ein ganzes sprechend schwer ist es, wenn ten dauernd Zigaretten. Sie waren
Leben. Die klassischen Kom- man als Popmusiker in die weder reich noch mächtig, nur mä-
ponisten haben Sinfonien Jahre kommt. Auch Jarvis ßig fotogen, und ihre Unternehmun-
komponiert, Klavierkonzerte, Cocker ist älter geworden, gen gingen meistens schief. Ihre Bü-
Sonaten; den Popsongschrei- seit er in den Achtzigern und cher und Stücke hatten nicht immer
bern aber bleibt nur dieses Neunzigern der schlaksige gewaltige Auflagen, aber irgendwie
Halbintellektuelle unter den kannte sie doch jeder. Sie waren Helden.
Britpop-Stars war. Gemein- Heute sind die Dissidenten des Kalten Krieges weitge-
sam mit Chilly Gonzales, den hend vergessen. Sicher, gebildete Zeitgenossen greifen
manche für den neuen noch zu Büchern von Václav Havel, Alexander Solscheni-
Erik Satie halten, präsentiert zyn, Adam Michnik, Bronislaw Geremek, Lew Kopelew
er auf dem Album Room 29 und Milan Kundera – aber mit dem Fall der Mauer ver-
ALEXANDRE ISARD / DEUTSCHE GRAMMOPHON

nun Kunstlieder, Balladen schwanden sie aus dem Fokus des öffentlichen Interesses.
mit Klavierbegleitung. Es er- Es gab viele: die ganz berühmten, aber auch jede Menge
scheint bei der Deutschen weniger bekannter Dissidenten aus der Sowjetunion, aus
Grammophon. Man könnte Polen, Ungarn und aus Ländern, die es nicht mehr gibt,
diese zarten, elegischen wie der Tschechoslowakei und Jugoslawien. Sie waren
Songs fast klassische Musik mehr als Aktivisten oder Literaten, sie bewahrten die Kul-
nennen – oder zumindest tur und die Ehre ihrer Heimatländer in Zeiten, in denen
Gonzales, Cocker eine Form, würdevoll zu die sich wenig einladend zeigten. Und sie ermöglichten
altern. sha es, die Machthaber der Länder des Warschauer Paktes
abzulehnen, sich jede Illusion über deren Brutalität und
Ruchlosigkeit zu verbieten, ohne damit gleichzeitig die
Länder und ihre Bewohner zu verdammen. Im Gegenteil:
Kino und Thomas (Corentin Fila), Man konnte sich, während man die Regime ablehnte, für
Jünglingserwachen die in einem Dorf in den Py- das Schicksal dieser Länder, ihrer Bewohner, Geschichte
renäen zusammen zur Schule und Kultur interessieren und begeistern. Die westliche
Das muss man erst mal hin- gehen und ständig miteinan- Öffentlichkeit erkannte, dass keineswegs alle Russen,
bekommen, als gut 70-jähri- der raufen, bis sie irgend- Polen oder Tschechen scharf darauf waren, in Paraden
ger Regisseur einen so kraft- wann spüren, wie gut sich vor Greisen zu marschieren. Es gab auch Dissidenten aus
strotzenden und gleichzeitig Männerkörper anfühlen kön- Ländern, in denen die CIA gewirkt hatte, aus Chile, Ar-
feinfühligen Film zu drehen, nen. Wie seine beiden Hel- gentinien und Iran. Sie alle waren, was man heute gern
der die Pubertätswirren den hat der Film jede Menge wieder Patrioten nennt, im besten Sinne: mit einem welt-
junger Männer in pulsieren- überschüssige Energie, doch offenen, kosmopolitischen, kommunikativen Gestus. Sie
de Bilder fasst. Der Franzose statt sie in einen Erzählstrom waren an den Werken von Heinrich Böll, Wolf Biermann
André Téchiné, den man zu kanalisieren, lässt sich und Jürgen Habermas interessiert. Dissidenten machten
nach über 20 Spielfilmen mit Téchiné von ihm treiben. Sei- auch den Kalten Krieg zu einer Blütezeit der Kultur. Sie
Fug und Recht einen Altmeis- ne beiden Hauptdarsteller halfen, ihn zu beenden.
ter nennen kann, schafft dies und die großartige Sandrine Diese Lebensform der kulturell aktiven, politisch infor-
mit bewundernswerter Leich- Kiberlain als Mutterfigur sor- mierten Dissidenz ist heute wieder relevant. Wir sind um-
tigkeit. Sein Liebesdrama gen dafür, dass der Film geben von schönen Ländern mit schlimmen Regierungen.
Mit Siebzehn erzählt von Da- ebenso fiebrig wie warmher- Und die ohnehin schon starke Tendenz der Medien zur
mien (Kacey Mottet Klein) zig ist. lob Personalisierung kommt den egomanischen Neigungen
der neuen Autokraten entgegen. Doch Putin ist nicht
Russland, Orbán nicht Ungarn, Erdoğan nicht die Türkei
und Trump auch nicht die USA. Wer zu diesen Herren
Distanz hält, ist kein Feind ihrer Länder und sollte sich
auch nicht abwenden. Dissidenten erinnern daran, dass
Staaten nie ein hermetischer Block sind. Man muss, im
Gegenteil, genauer hinschauen, nur eben mit der Skepsis,
Kenntnis und dem Mut der Dissidenten. So bringt uns
Can Dündar die Türkei näher, Kamel Daoud Algerien,
Navid Kermani Iran, Wladimir Sorokin Russland, Liao
Yiwu China und David Remnick die USA. Und so viele
andere. Sie repräsentieren die Ehre ihrer Länder besser
als deren Regierung und werden auch dann noch wichtig
sein, wenn die farbintensiven Porträts der derzeit Mäch-
tigen verblassen wie die Fratzen eines schlechten Traums.
KOOL FILM

Mottet Klein in „Mit Siebzehn“


An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.

DER SPIEGEL 11 / 2017 115


Kultur

Ungemütlicher Osten
Kulturpolitik Nach dem Fall der Mauer wurde die alte Residenzstadt Dresden mit Liebe
und Geld aus aller Welt überschüttet. Nun ist sie Pegida-Aufmarschgebiet, will
aber Kulturhauptstadt Europas werden. Wie Künstler und Bürger miteinander ringen.

M
anaf Halbouni wurde vor Kur- Für eine Stadt wie Dresden kann aber Die deutsche Armee aber wollte ihn
zem – tatsächlich über Nacht – entscheidend sein, selbstbewusste Künst- nicht, und die Abschätzigkeit, mit der er
zu einer deutschen Berühmtheit. ler, selbstbewusste Kunst zu stärken. In behandelt wurde, nimmt er ihr bis heute
Aber auch im Ausland spricht man über der Stadt ist die rechtsextreme Szene in übel. Er setzte sein Studium in Dresden
ihn und sein neuestes Werk: Auf dem Neu- den vergangenen zwei, drei Jahren noch fort, konnte nicht viel mit der verkopften
markt in Dresden, wo die Frauenkirche gewachsen, eine Gruppe überklebte vor Kunst dort anfangen und sehnte sich in
steht, ließ er Anfang Februar drei alte Bus- Kurzem die Stolpersteine auf den Bürger- das Land zurück, in das er sich nicht mehr
se hochkant aufrichten. Ein turmhohes steigen, auf denen die Namen von Holo- traute. Aus Schrottholz baute er ein riesi-
Werk aus Blech. Es soll, 72 Jahre nach den caust-Opfern eingraviert sind. Zumindest ges Flugzeug, so wenig bewegungsfähig
vernichtenden Bombardierungen der Stadt wurden entsprechende Bilder getwittert. wie er.
durch die Westalliierten, an eine Barrikade Warum sollte man das Feld den falschen Als ironische Reaktion auf die Islamfein-
aus Buswracks in Aleppo erinnern. An den Leuten überlassen, die das Bild der Stadt de von Pegida und auf deren Angst vor
gegenwärtigen Krieg in Syrien, wo Hal- inzwischen mehr prägen als die vielen ori- Flüchtlingen belud er 2015 das Dach und
bouni, der ebenso deutscher Staatsbürger ginalen und nachgebauten Barockgebäu- das Innere eines alten Mercedes mit
ist, geboren wurde. Und daran, dass der de? Wie also steht es um die Verfassung Koffern, einem Fahrrad, einem Kasten
Krieg immer hässlich ist und immer absurd. dieses so speziellen Ortes, der sich darum Dresdner Bier, Kühlschrank, Fernseher,
Nicht jedem in Dresden gefällt das, aber bewerben will, 2025 den Titel „Kultur- Gartenzwergen und anderem Krimskrams.
es ist auch nicht so, dass es keine Befür- hauptstadt Europas“ tragen zu dürfen und Den Wagen positionierte er auf dem Thea-
worter gäbe. Halbouni hat bewiesen, dass der sich gern emanzipieren würde von terplatz, wo er ordnungsgemäß einen Park-
Kunst die Menschen tatsächlich erreicht, dem Ruf, im Moment vor allem die Haupt- schein löste. Leute konnten sich fotogra-
dass sie Streit und echte Debatten auslösen stadt Pegidas zu sein? Besuche bei Manaf fieren lassen mit einem Schild, auf dem
kann, immer noch. Hat das aber mögli- Halbouni und Marion Ackermann, Lei- stand: „Sachse auf der Flucht“.
cherweise auch damit zu tun, dass seine terin der Staatlichen Kunstsammlungen Viele Anhänger von Pegida hätten das
Skulptur aus Bussen in einer Stadt in Ost- Dresden. Auto für eine Aktion der eigenen Leute
deutschland steht? gehalten, sagt er und lacht. Es war schon
Halbouni sagt, er denke ständig übers
Wegziehen nach, aber im Grunde bringe
Ein Turm aus Blech, von fast sein Durchbruch als Künstler; er wurde
2015 ins Begleitprogramm der Biennale von
ihn seine Hassliebe zu Dresden auch auf der Bundeswehr Venedig aufgenommen, das Victoria & Al-
die besten Ideen.
Es gibt genügend Beispiele von klugen,
gefördert, Bauarbeiter bert Museum in London lud ihn ein, ein
weiteres Fluchtauto zeigte er im Museum
bestens ausgebildeten Leuten aus der gratulieren. der bildenden Künste in Leipzig.
Kunst- und Kulturszene, die sagen, man Dann wollte ihn das Dresdner Kunst-
halte es in Ostdeutschland schwer aus, das Zu Halbounis Geschichte gehört auch, haus als Teilnehmer für ein Festival gewin-
Thema Rechtsextremismus beherrsche und dass er intensive Kindheitserinnerungen nen, er entwickelte die Idee mit den Bus-
trübe alles. Ouelgo Téné, ein dunkelhäuti- an Dresden hat. Seine Mutter stammte aus sen vor der Frauenkirche. Ein aufwendiges
ger Schauspieler und geboren in Burkina dieser Stadt, aus einer Familie von Ärzten Projekt, teuer auch, das Kunsthaus fand
Faso, verlässt das Theater in Altenburg in und Kunstliebhabern. Sein Vater war in Unterstützer, zu denen das Militärhistori-
Thüringen auch, weil er im Alltag Rassis- den Siebzigerjahren als junger Architekt sche Museum der Bundeswehr gehört. Je-
mus erlebt. Andere lehnen Jobangebote aus Damaskus nach Sachsen gekommen, ner Bundeswehr, die ihn so unfreundlich
ab, denn sie trauen sich gar nicht erst, in um zu promovieren. behandelt hatte.
gewisse Gegenden zu ziehen. Jemand, der Manaf Halbouni wurde 1984 in Damas- Halbouni ließ die Busse kurz vor dem
seit Jahren in einer Ex-DDR-Stadt lebt, bit- kus geboren. Etliche Sommer verbrachte Jahrestag der beginnenden Bombardie-
tet, nicht zu erwähnen, dass er jüdische er bei den Großeltern in Dresden, oft kam rung am 13. Februar 1945 aufstellen: Dieser
Wurzeln habe, denn „der Osten ist noch er für mehrere Monate. Sein größerer Bru- Tag mit all seinen üblichen Gedenkveran-
nicht so weit“. Viele, mit denen man der spielte gern in den Kriegsruinen, die staltungen sei für die Dresdner wichtiger
spricht, wollen ihren Namen nicht nennen, es in der Südvorstadt immer noch gab. In als der Tag der Deutschen Einheit, über
wollen nicht für immer mit diesem Thema, Damaskus pflegte man einen westlichen den er auch als möglichen Termin nachge-
mit diesem Wahnsinn in Verbindung ge- Lebensstil, in Dresden waren den Leuten dacht habe. Ihm erscheint diese Gedenk-
bracht werden. die Gurken im eigenen Garten heilig. nostalgie der Dresdner seltsam, anderer-
Ostdeutschland, so reich an historischen Sein Studium der Bildhauerei nahm seits weiß er, dass seine Vorfahren im bren-
Schätzen, muss sich angesichts solcher Vor- Halbouni in Damaskus auf. 2008 kam er nenden Dresden viel verloren haben.
behalte und Absetzbewegungen sorgen wieder nach Deutschland, aus einem ein- Seine Freiluftskulptur nannte er „Mo-
um die Zukunft seiner Kulturszene. Nicht zigen Grund: Er wollte dem syrischen Mi- nument“. Schon zur Eröffnung, bei der
jeder hat so starke Nerven wie Halbouni, litärdienst entgehen, lieber wollte er, der auch der Oberbürgermeister und der Pas-
der sagt, na klar kriege auch er Hassmails, einen deutschen Pass besitzt, sich von der tor der Frauenkirche sprachen, tauchten
in denen stehe, er solle sich verpissen. Bundeswehr einziehen lassen. Pöbler auf. Es waren wohl gar nicht so vie-
116 DER SPIEGEL 11 / 2017
SVEN DOERING / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL

Künstler Halbouni auf dem Dresdner Neumarkt


„Sachse auf der Flucht“

DER SPIEGEL 11 / 2017 117


Kultur

le wie oft berichtet, aber sie eben auf der Straße, Video-
waren sehr laut. Die rechtsex- kunst in den alten Gassen,
treme sogenannte Identitäre alles sei denkbar. Und auch
Bewegung hängte einige Tage das Internet sei ein wichtiger
später ein Banner an die Fahr- öffentlicher Raum, den es zu
zeuge. Dann aber gab es verteidigen gelte, gerade mit
Diskussionsveranstaltungen – künstlerischen Inhalten. Die
wie es sie in Dresden häufig Rechten seien ungeheuer
gibt –, und dort bekannten aktiv in den sozialen Netz-
viele auch, das Werk berühre werken.
sie. An diesem Tag, bei einem Doch Ackermann macht an
Spaziergang zu seinen Bussen, diesem Tag auch klar, dass
kommen Bauarbeiter auf ihn Dresden eine Chance sein
zu und gratulieren. kann, dass man hier enorme
Das Werk, die Ablehnung, Möglichkeiten hat. Sie, die als
der Zuspruch werden im Ge- Kind ein paar Jahre in Ankara
dächtnis bleiben, auch wenn verbrachte, gehört einer ex-
die Busse im April wieder klusiven Gruppe von hoch-
weggebracht werden. Halbou- rangigen Museumsleuten aus
ni selbst sagt, er habe nun sei- aller Welt an, in der sie einen
nen Daumenabdruck in der neuen Zusammenhalt be-
Stadt hinterlassen. Die nächs- merkt: Viele spürten längst
ten Monate wird er in Schott- eine besondere Verantwor-
land verbringen, ein Arbeits- tung. In Osteuropa, auch in
stipendium. Danach kehrt er südamerikanischen Ländern

SVEN DOERING / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL


nach Dresden zurück. Er fin- würden Kuratoren und Direk-
det allerdings, man müsse hier toren oft unter fadenschei-
sehr viel mehr tun für die jün- nigen Vorwänden hinausge-
geren Künstler, es gebe nicht schmissen, weil ihre Arbeit
einmal mehr bezahlbare Ate- den Politikern nicht passe.
liers, im Grunde existiere kei- Einen Museumsdirektor, der
ne lebendige Künstlerszene. gerade die Stelle verloren hat,
Marion Ackermann kennt holt Ackermann deshalb bald
Halbouni, sie hat sich öffent- nach Dresden. Sie will das auf
lich für sein Werk ausgespro- der nächsten Jahrespressekon-
chen. Aus Düsseldorf kam Dresdner Kunstsammlungsleiterin Ackermann ferenz verkünden, für die
Ackermann im vergangenen Die AfD beschwerte sich per Pressemitteilung Kunstsammlungen sei er ein
Jahr nach Dresden, aus dem großer Gewinn.
tiefsten, liberalen, auch selbstverliebten voller weltberühmter historischer Ausstel- In vielen Ländern wird der Handlungs-
Westen; sieben Jahre lang hat sie die Kunst- lungsstücke. Mehr als 400 Leute arbeiten spielraum für Kulturschaffende kleiner, in
sammlung Nordrhein-Westfalen geleitet, für die Institution. Allerdings gingen ab Polen etwa, in der Türkei. Alles dort kann
vorher das Kunstmuseum in Stuttgart, sie 2014 die Besucherzahlen zurück. Das hatte zum Risiko werden. Dresden dagegen hat
hat sich früh einen Namen gemacht. Für viele Gründe, so reisen, auch wegen des sich selbst zu dem gemacht, was es nun ist.
Dresden ist sie nun wirklich die große Hoff- schwächeren Rubels, weniger russische Und Dresden kann das wieder ändern.
nung. Viele wünschen sich, dass sie die Touristen an. Aber niemand will ausschlie- Letztlich geht es da auch um mehr als um
Stadt wieder glänzen lässt, als Kulturjuwel. ßen, auch nicht in den Kunstsammlungen einen Ansehensverlust. Ebenso notwendig
Andere fürchten sie wohl eher. selbst, dass ein weiterer Grund wiederum wäre es wohl, die besondere Enttäuschung
Anfang November trat Ackermann ih- der Ansehensverlust des Ortes ist. draußen in der Welt zu verstehen. Nach
ren neuen Job an, 14 Tage später beschwer- der Wende wurde gerade diese Stadt mit
te sich die AfD per Pressemitteilung über
eine ihrer Äußerungen in einem Interview.
Dresden hat sich zu Zuneigung überschüttet, Menschen aus der
halben Welt spendeten für den Wiederauf-
Ackermann, hieß es da, schwinge sich zur dem gemacht, was bau der Frauenkirche, auch für das Grüne
Verteidigerin demokratischer Grundwerte
auf. Man warf ihr Ideologisierung vor, eine
es jetzt ist. Und Dresden Gewölbe mit seinen goldenen Schätzen.
Sogar jüdische Familien aus New York wur-
Politisierung der Kunst, die sich nicht ge- kann das wieder ändern. den wieder zu Mäzenen für die Stadt.
höre. Es sind besondere Jahre, beunruhigen-
Der Osten hat sich ihr sofort in seiner Ackermanns Vorvorgänger Martin Roth de Zuspitzungen überall, und die Kultur
ganzen Gespaltenheit gezeigt, Düsseldorf sagte vor einigen Monaten in einem wusste lange nicht so recht, welche Rolle
dagegen war geprägt von einem, wie sie SPIEGEL-Interview, wäre er noch in sie einnehmen soll. In Dresden zeigt sich
es nennt, „unhinterfragten Selbstbewusst- Dresden zuständig, hätte er die Museen jetzt wieder: Die Kunst verändert, wenn
sein“, und auch das ist heute, wo es vieles nach den ersten Pegida-Demonstrationen sie gut ist, die Realität, sie bringt ihre Um-
zu hinterfragen gibt, nicht mehr zeitgemäß. geschlossen, als Protest. Ackermann hat gebung in Bewegung.
Lange war dieser Posten, den sie nun das sicher nicht vor. Aber sie ist überzeugt Sollte sich diese alte Metropole an der
übernommen hat, ein Karrieresprungbrett. davon, dass Kunst sich bemerkbarer Elbe in den nächsten Jahren wieder neu
Zu den Kunstsammlungen in Dresden ge- machen solle, auch und gerade bei denen, erfinden, dann könnten viele andere Orte
hören 14 Museen mit mehreren Millionen die typischerweise nicht ins Museum in Deutschland und auf der Welt davon
Objekten, allein das Grüne Gewölbe ist gingen; im Notfall zeige sie die Kunst lernen, in Ost wie West. Ulrike Knöfel

118 DER SPIEGEL 11 / 2017


Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control);
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Belletristik Sachbuch

1 (1) Martin Suter 1 (1) Eckart von Hirschhausen Wunder


Elefant Diogenes; 24 Euro wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro

2 (2) Elena Ferrante Meine geniale 2 (2) Roger Willemsen


Freundin Suhrkamp; 22 Euro Wer wir waren S. Fischer; 12 Euro

3 (6) Julian Barnes Der Lärm 3 (3) Cameron Bloom / Bradley Trevor Greive
der Zeit Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro Penguin Bloom Knaus; 19,99 Euro

4 (4) Peter Wohlleben Das geheime Leben


4 (–) Sabine Ebert
der Bäume Ludwig; 19,99 Euro
Schwert und Krone.
Meister der Täuschung 5 (5) Andrea Wulf Alexander von Humboldt
Knaur; 19,99 Euro und die Erfindung der Natur
Der Auftakt eines groß C. Bertelsmann; 24,99 Euro
angelegten Romanprojekts
über Kaiser Barbarossa – neun 6 (6) Yuval Noah Harari
weitere Bände will die Leipziger
Autorin Ebert folgen lassen Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro

5 (3) Elena Ferrante Die Geschichte 7 (8) Michail Gorbatschow


eines neuen Namens Suhrkamp; 25 Euro Kommt endlich zur Vernunft –
Nie wieder Krieg! Benevento; 7 Euro
6 (5) Sebastian Fitzek
8 (10) Peter Wohlleben Das Seelenleben
Das Paket Droemer; 19,99 Euro

7 (9) Zsuzsa Bánk Schlafen 9 (11)


der Tiere
Heinz Schilling
Ludwig; 19,99 Euro
Am 18.3.2017
werden wir später S. Fischer; 24 Euro 1517 C.H. Beck; 24,95 Euro
in der nächsten
8 (4) Paul Auster 10 (7) Christian Nürnberger / Petra Gerster
4321 Rowohlt; 29,95 Euro Der rebellische Mönch, SPIEGEL-
die entlaufene Nonne und der
9 (7) Hanya Yanagihara
Ein wenig Leben Hanser Berlin; 28 Euro
größte Bestseller Ausgabe 12/2017
aller Zeiten – Martin Luther
Gabriel; 14,99 Euro
10 (8) T. C. Boyle
Die Terranauten Hanser; 26 Euro 11 (15) Philipp Blom Die Welt aus
den Angeln Hanser; 24 Euro
11 (10) Joanne K. Rowling / John Tiffany /
Jack Thorne Harry Potter und das
verwunschene Kind Carlsen; 19,99 Euro
12 (16) Gerhard Wisnewski
Verheimlicht – vertuscht – Themen im April:
vergessen 2017 Kopp; 14,95 Euro
12 (12) Joanne K. Rowling Phantastische
13 (14) Dalai Lama Der Appell des Dalai Lama
Tierwesen und wo sie zu
finden sind. Das Originaldrehbuch an die Welt Benevento; 4,99 Euro Leipziger Buchmesse:
Carlsen; 19,99 Euro 14 (9) Horst Lichter Keine Zeit für Die wichtigsten
Arschlöcher! Gräfe und Unzer; 16,99 Euro
13 (13) Horst Evers Der kategorische
Imperativ ist keine Stellung beim Sex 15 (13) Thomas Frings
Neuerscheinungen
Rowohlt Berlin; 16,95 Euro Aus, Amen, Ende?
Herder; 16,99 Euro
des Frühjahrs
14 (11) Jürgen von der Lippe
Der König der Tiere Knaus; 16,99 Euro Der katholische Priester
Frings legt sein Amt nieder,
15 (14) Matthias Brandt Raumpatrouille
geht ins Kloster und Uwe Tellkamp über
entwickelt Ideen für eine
Kiepenheuer & Witsch; 18 Euro Kirche der Zukunft Ernst Jünger
16 (16) Nele Neuhaus 16 (–) Götz Aly Europa gegen
Im Wald Ullstein; 22 Euro die Juden S. Fischer; 26 Euro

17 (15) Juli Zeh


17 (–) Umberto Eco Michael Krüger über
Pape Satàn
Karl Heinz Bohrer
Hanser; 20 Euro
Unterleuten Luchterhand; 24,99 Euro
18 (–) Richard David Precht
18 (–) E. O. Chirovici Tiere denken Goldmann; 22,99 Euro
Das Buch der Spiegel Goldmann; 20 Euro
19 (18) Harald Lesch / Klaus Kamphausen
19 (18) Simon Beckett Die Menschheit schafft sich ab Außerdem:
Totenfang Wunderlich; 22,95 Euro Komplett Media; 29,95 Euro
Heinz Strunks
20 (17) Jojo Moyes Ein ganz 20 (17) Wilhelm Schmid
neues Leben Wunderlich; 19,95 Euro Gelassenheit Insel; 8 Euro Comedyroman
DER SPIEGEL 11 / 2017 119 „Jürgen“
Kultur

Alles bleibt in der Familie


Essay Das Personal ist frisch, aber die Probleme riechen schon lange streng: Warum
die französische Politik an eine böse Fernsehserie erinnert. Von Nils Minkmar

I
m Andenkenladen des französischen Parlaments, der schicksal vorstellen konnte. Meine Großtante belehrte
Assemblée Nationale, gibt es Ofenhandschuhe: einen mich wie einen, der wirklich nichts kapiert: Mamounette
für die linke Hand, in Rot, mit der Aufschrift „gauche“ wohne doch schon seit Jahrzehnten in Bordeaux, wie
und einen blauen, für die rechte, darauf steht „droite“. mein Onkel auch. Sie träfen ihn regelmäßig samstags zum
Die Aufteilung in der parlamentarischen Sitzordnung und Großeinkauf im Supermarkt. Warum all die Tränen?
dann der politischen Welt in links und rechts ist in Frank- Algerien – da geht es drunter und drüber.
reich erfunden worden. Sie strukturiert aber weit mehr Der konservative Kandidat Fillon hatte aus der kolo-
als die parlamentarische Arbeit. Die Botschaft dieses Sou- nialen Vergangenheit Frankreichs einen Eckpunkt seines
venirs: Letztlich ist auch die Organisation der Handgriffe Programms gemacht: Es müsse Schluss sein mit den dau-
in der Küche, der Arbeitsverteilung der Geschlechter und ernden Entschuldigungen, vielmehr müsse anerkannt wer-
der ganzen Familie eine politische Angelegenheit. Doch den, welche zivilisatorische und kulturelle Arbeit von den
seit Kurzem hört man aus der französischen Großküche Franzosen geleistet worden sei. Eine solche Erklärung ist
Geklirre, Geklapper und das Sausen tieffliegenden Ge- das programmatische Äquivalent zum Faustschlag auf den
schirrs. Es wird immer lauter, immer unheimlicher, man Esstisch: nun mal Schluss mit dem Gemecker über den
verfolgt es mit einer Mischung aus Faszination und Sorge. hart arbeitenden weißen Mann! Das griff der linksliberale
Die Dynamik des Geschehens ist atemberaubend. In- Hoffnungsträger Emmanuel Macron dankbar auf. In einem
nerhalb kürzester Zeit ging der ehemalige Präsident Interview mit dem algerischen Fernsehen nannte er die
Nicolas Sarkozy als Verlierer aus den Vorwahlen hervor, Kolonisierung Algeriens ein Verbrechen gegen die Mensch-
dann verzichtete der amtierende Präsident auf eine er- lichkeit. Beide Äußerungen sorgten in der jeweils anderen
neute Kandidatur. Beide Männer waren über Jahrzehnte Politfamilie für spitze Schreie der Empörung.
nahezu täglich im Fernsehen aufgetreten, sie gehörten zu Beide sind allzu schlicht: Kolonialismus bedeutet Aus-
den Veteranen der französischen Politfamilien. Aber dann beutung und Demütigung, dafür kann man keinen Dank
ging es weiter: der ehemalige Premierminister Manuel erwarten. Und die französische Kolonialherrschaft Alge-
Valls, der einstige Stardissident der Sozialisten Arnaud riens umfasste allerdings Verbrechen gegen die Mensch-
Montebourg, der Literat unter den Politikern Bruno Le lichkeit – aber ein solcher Vorwurf kann nur Konsequen-
Maire – alle ohne Applaus von der Bühne gescheucht. zen zeitigen, wenn Vorfälle präzise benannt werden,
Das ist völlig neu, denn die französische Öffentlichkeit anstatt eine gesamte Epoche darunter zu subsumieren.
war bislang über alle Maßen anhänglich. Jedem noch so Wieder einmal zeigte sich, dass Algerien vor allem als
abgerockten Politiker, Showstar, Moderator wird mindes- Projektionsfläche dient, zum Kampf um moralische Über-
tens ein Comeback ermöglicht, gern aber auch ein zweites. legenheit, ohne großes Interesse an historischen Erkennt-
Inmitten des rasanten Geschehens, das man verfolgt wie nissen oder der Sichtweise der Algerier.
ein von David Lynch inszeniertes „House of Cards“, treten

E
die tiefen und komplizierten Probleme der französischen s würde sich lohnen, sich in dieser Frage auf Albert
Gesellschaft zutage. Denn Politik ist in Frankreich weniger Camus zu besinnen, statt den Philosophen immer
eine Disziplin der Öffentlichkeit als vielmehr eine Familien- nur als kleinen Prinzen der Alltagsphilosophie zu
angelegenheit. Wenn wir im Deutschen Parteien in umfas- zitieren. Der in Algerien geborene Camus gehörte damals
sendere ideologische Gruppen einordnen, sprechen wir zu einer Gruppe, die eine politische Lösung im Algerien-
von den politischen Lagern. Franzosen benutzen den Be- konflikt anstrebte und vorsah, dass Algerier und Franzo-
griff der politischen Familie. Und weil in einer Familie ja sen zusammen das Land verwalten. Camus sprach sich
nicht abgestimmt wird, gibt es innerhalb einer solchen gegen Folter und Kolonialgewalt ebenso aus wie gegen
französischen politischen Großfamilie auch keine Fraktio- den Terror als Mittel im Befreiungskampf. Doch diese Dif-
nen, Flügel oder Strömungen, sondern „des sensibilités“ – ferenzierung hatte es damals so schwer wie heute, es ist
Empfindsamkeiten. Mit Austausch und Abwägen rationaler bei den fiebrig wiederholten gegensätzlichen Positionen
Argumente hat ein Familienkonflikt wenig zu tun. geblieben. Weil sie beide fehlerhaft sind und immer ein
Man kann ein französisches Essen im Familienkreise nicht zu schlichtender Streit ausbricht, wird das Thema
nicht wirksamer ins Chaos befördern als durch das Aus- gemieden. Kein Museum nimmt sich der Sache an, es gab
sprechen des Stichworts Algerien. Dann wird es bald sehr keine öffentliche Aufarbeitung nach dem Vorbild der
laut oder sehr still. In meiner Familie hatte dann immer Wehrmachtsausstellung oder der Stasi-Aufarbeitungs-
ein lieber angeheirateter Großonkel seinen großen Auftritt. behörde. Der Front National rekrutiert unterdessen seine
Er kam aus Algerien, war von dort, mit allen anderen Stammwähler unter den aus Algerien vertriebenen Fran-
Franzosen, vertrieben worden. Ihn packte nach einigen zosen. Schlimmer noch: Die verdrängte Geschichte beein-
Gläsern Wein die Sehnsucht nach seinem arabischen Ju- flusst die Bewertung der heutigen Konflikte zwischen den
gendfreund Mamounette. Dann weinte er und rief dessen jungen Franzosen dunklerer Hautfarbe und den älteren,
Namen. Es dauerte Jahre, bis ich einmal meinen Mut zu- wohlhabenderen Bewohnern in den gepflegteren Straßen-
sammennahm und mich bei seiner Frau diskret nach dem zügen. Darum sehen auch die neuen Probleme der fran-
Schicksal Mamounettes erkundigte. So dramatisch waren zösischen Gesellschaft aus wie die uralten und werden
diese Szenen, dass ich mir nur ein herzzerreißendes Kriegs- ebenso wenig gelöst.

120 DER SPIEGEL 11 / 2017


besondere Neigung, anderen Menschen Lektionen in
gutem Benehmen zu erteilen. Der beliebte Expräsident
Jacques Chirac etwa war nie ein Anwärter auf die Unbe-
stechlichkeitsmedaille von Transparency International –
aber er enthielt sich aller Moralpredigten.

M
acron ist auch in diesem Punkt ganz anders: Er
hat seine einstige Lehrerin geheiratet. Diese Be-
ziehung zu einer berufstätigen Mutter wurde zum
Sinnbild einer modernen Familie, in der sogar die Frauen
etwas zu sagen haben. Penelope Fillon schwieg während
langer Wochen, als sie doch schwerer finanzieller Untreue
beschuldigt wurde – weil ihr Mann und sein Team es nicht
für angebracht hielten, dass sie sprach. Als sei es ihr nicht
zuzutrauen, sich selbst zu verteidigen, beschwor ihr Gatte,
man wolle die Ehre seiner Frau beschädigen, und gefiel
sich in der Rolle des Beschützers. Aber konnte sie nicht
selbst sagen, wofür sie das ganze Geld bekommen hatte?
Das tat sie erst Wochen nach Beginn des Skandals.
Brigitte Macron hingegen ist oft in den Medien, Illus-
trierten vor allem, präsent. Ein Titelbild mit ihr sorgt für
hohe Kioskverkäufe. Manchen ist das schon zu viel: Wer
sich so ausstellt, hat doch etwas zu verbergen. So kamen
Gerüchte auf, Macron sei „in Wahrheit“ schwul – die er-
VALC / DPA

wartbare Familiengemeinheit einer sexistischen Kultur.


Algerien, die Rolle der Frau und Politik als Familien-
Macron- und Le-Pen-Figuren beim Karneval in Nizza angelegenheit – die verdrängten Themen Frankreichs be-
Nun mal Schluss mit dem Gemecker am weißen Mann! günstigen Marine Le Pen. Sie ist nun schon lange so pro-
minent, dass sie derzeit wie die perfekte Vertreterin der
französischen politischen Kultur wirkt. Sie hat die Politik
Doch die Familien werden noch von einem anderen übernommen, wie man einen Familienbetrieb übernimmt,
Konflikt umgetrieben. Der berührt das Familienmodell hat leicht modernisiert und einfach weitergemacht. Zur
selbst, genauer gesagt, die Beziehungen zwischen den Ge- Rolle ihres Vaters in Algerien, seinen Positionen überhaupt
schlechtern. Die beiden letzten Präsidenten, Nicolas Sar- schweigt sie und behandelt diese mit persönlicher Aus-
kozy und François Hollande, verdanken ihr Scheitern und grenzung – dem klassischen Mittel des verschärften Fami-
ihre anhaltende Unbeliebtheit den symbolischen Implika- lienkrachs. Bald schon werden
tionen ihres exzessiv publizierten Privatlebens. In diesem die anderen beiden Großfami-
Fall stimmt Tolstois berühmter Satz: Jeder war da auf lien ihr Fortkommen blockieren, Algerien, das
Frauenbild und
seine eigene Art unglücklich. Hollande zog mit seiner da- wie bisher immer. Sie endet zu-
maligen Lebensgefährtin Valérie Trierweiler in den Ély- verlässig – und zum Glück – im-
sée-Palast ein. Sie erwies sich allerdings als wenig populär.
Er trennte sich, allerdings auf eine demütigende und sehr
mer wie der Troubadour im
kleinen gallischen Dorf der Politik als Familien-
feige Art. Trierweiler schrieb daraufhin ein Enthüllungs-
buch, von dem sich Hollande nicht mehr erholte. Er er-
Abenteuer des Asterix: im letz-
ten Bild abseits und durch Kne-
fehde – diese
schien darin wie ein selbstbezogener Mann, den nicht ein- bel am Singen gehindert. schwelenden
mal die Frau an seiner Seite wirklich interessierte. Die
Kritik von Trierweiler wurde zum Muster, mit dem seine
Es wäre zu wünschen, die der-
zeitige Krise würde besser ge- Probleme begüns-
gesamte weitere Amtszeit gedeutet wurde. Ebenso erging
es Nicolas Sarkozy, nur aus anderen Gründen. Er hatte
nutzt. Viele Franzosen sind es
leid, Politik als Familienangele-
tigen Le Pen.
die notorisch diskreten, ja scheuen Franzosen mit Details genheit zu betrachten. Denn die
seines Beziehungslebens genervt. So viel wollte man gar bringt es auch mit sich, dass jede Zusammenarbeit mit den
nicht wissen, wie der Präsident selbst erzählte und schrieb. anderen Clans als Verrat verurteilt wird, Loyalität über
Seine Ehe mit dem singenden Model Carla Bruni schnitt Zweckmäßigkeit steht und heikle Themen beschwiegen
ihn endgültig von seiner Stammwählerschaft ab: Eine Frau, werden. Während nach Jahren der Großen Koalition in
die jedermann nackt sehen kann, das war den konserva- Deutschland die Zeichen wieder auf eine deutlichere Anta-
tiven Landbewohnern zu heftig. gonisierung der Lager stehen, bewältigt Frankreich gerade
Gegen dieses Modell eines glamourösen und prominen- das gegenteilige Problem: eine politische Kultur, in der
ten Paars hielt sein innerparteilicher Rivale François Fillon die Öffentlichkeit in immer mehr ebenso unter- wie mitei-
das Bild seiner eigenen Familie: Seine Ehefrau kümmerte nander verfeindete Clans zerfallen ist. Diese Dysfunktio-
sich zu Hause um Kinder und Pferde – die Manufactum- nalität ist unerträglich geworden. So kommt es in diesem
Version der politischen Familie. Es wurde Fillon aber bei- Jahr zu weit mehr als einer Wahl. Was wir da an Tohuwa-
nahe zum Verhängnis, als sich herausstellte, dass dieses bohu vernehmen, ist nicht der kommende Aufstand. Wohl
Modell mit Steuergeldern finanziert wurde. Die Hausfrau aber der entnervte Versuch, nach zehn unglücklichen Jah-
und Mutter blieb zu Hause, in der Provinz, aber mit einem ren eine politische Kultur zu schaffen, die jene Eleganz,
schönen Gehalt aus Paris versehen. Sogar das wäre in der Klarheit und Freiheitsliebe aufweist, wie sie die Franzosen
Familie noch nachgesehen worden, hätte Fillon nicht die auch in ihrem Alltag suchen und pflegen. I

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Kultur

Es sieht wie Frieden aus


Europa Eine Reise an den östlichen Rand des Kontinents.
Achte Etappe: von der Hauptstadt Grosny in die tschetschenischen
Berge. Von Navid Kermani

kauft sie, um seine Loyalität zu demons-


RUSSLAND trieren.
Kertsch Vielleicht sind auch die Luxusboutiquen,
Kras- Coffeeshops oder italienischen Schuhge-
Sewa- Jalta nodar Ilaschan- schäfte, die sich am Putinprospekt an-
stopol Jurt einanderreihen, nur zur Demonstration
Kau
kas
Schwarzes u s Grosny geöffnet. Man tut so, als wäre Grosny eine
Meer Weltstadt – nur die Laufkundschaft fehlt.
Tschetschenien
Als ich die Touristeninformation betrete,
die aufgemacht ist wie in Florenz oder Ma-
drid, sind die Mitarbeiterinnen derart über-
Kermanis Reise (VIII) Der Kölner Schriftsteller rascht, dass sie keine Auskunft herausbrin-
Navid Kermani reist für den SPIEGEL durch gen, welche Sehenswürdigkeiten es in der
den Osten Europas. Sein Weg begann in Stadt gibt. Dabei würden die neuen Pracht-
Schwerin und führte ihn durch Polen, die Ukrai- gebäude jeden Themenpark schmücken,
ne und die Krim bis in den Kaukasus. ob Walt Disney oder Playmobil: Vom alten
Vorbemerkung der Redaktion: Ein Maßstab Athen über Istanbuls Blaue Moschee bis
für die politischen Verhältnisse eines Landes hin zum Weißen Haus sind alle Baustile
ist der Grad von Anonymisierung, den Ge- nachgeahmt. Zu allem Überfluss wird ge-
sprächspartner zu ihrem Schutz erfahren müs- rade auch noch ein Wolkenkratzer gebaut,
sen. In Tschetschenien ist er derzeit so hoch, der der größte Europas sein soll. „Danke,
dass der SPIEGEL bei einigen Personen, die Ramsan, für Grosny“, heißt es großflächig
freimütig genug waren, mit dem Autor zu spre- auf Plakaten, als hätte es die Stadt zuvor
chen, nicht nur auf rückführbare biografische nicht gegeben.
Beschreibungen, sondern auch auf Fotos ver- Und tatsächlich, es gab sie ja auch nicht,
zichtet. 2004, als Achmat Kadyrow, Moskaus gerade
erst bestellter Statthalter, bei einem An-
schlag starb und sein 27-jähriger Sohn als
Siebter Tag Nachfolger vorgesehen wurde. Auf den we-
Nein, sagt die junge Frau, die mich durchs nigen Bildern, die es von den Zerstörungen
neu entstandene Zentrum von Grosny des Zweiten Tschetschenienkriegs gibt, sieht
führt, nein, hier wohne tatsächlich kaum Grosny wie Dresden nach der Bombardie-
jemand. Für normale Menschen seien die rung aus. Aus den Trümmern hat Kadyrow
Wohnungen unerschwinglich, und die Rei- ein kaukasisches Metropolis erschaffen, ge- tel der Bevölkerung das Leben kosteten
chen zögen eine Villa vor, deren Bau sie gen das Berlins neue Mitte rund um den und mehr als die Hälfte vertrieben. Auch
selbst in Auftrag gegeben hätten, statt sich Potsdamer Platz geradezu organisch wirkt. die Deportation der Tschetschenen unter
mit dem Pfusch eines Bauherrn herumzu- Ein russischer Frieden, denke ich, könnte Stalin ist der offiziellen Geschichtsschrei-
schlagen, der sich alles erlauben könne, in Syrien ähnlich aussehen: ordentlich, blitz- bung keine Schautafel wert. Und die Na-
weil er zugleich der Herr im Staate sei. blank und von jeder Vergangenheit getilgt. tionalbibliothek kann schon deshalb keine
Der Wasserdruck in den Luxusapparte- Nur sollten die Planer, die etwa Aleppo neu kollektive Erinnerung bewahren, weil im
ments beispielsweise sei so schwach, dass bebauen, dann wenigstens Bäume entlang Zuge der sowjetischen Schriftreformen fast
die Wellnessduschen schon im ersten Stock der Straßen pflanzen, Spielplätze für die alle tschetschenischen Bücher und Hand-
kaum funktionierten, die Elektrik habe be- Familien nicht vergessen und Parks anlegen, schriften und damit das kollektive Ge-
reits mehrere Gebäude in Brand gesetzt, die nicht nur aus repräsentativen Rasenflä- dächtnis der Tschetschenen vernichtet wor-
und der opulente Stuck an den Gründer- chen bestehen. den sind.
zeitimitaten, die sich am Putinprospekt an- Grosny soll einmal die grünste Stadt des Und wie ist es mit der Gegenwart, kann
einanderreihen, bröckele wie Schulkreide. Kaukasus gewesen sein, aber an Schatten über sie gesprochen werden? Ja, allerdings
Nur merken solle es niemand, deshalb ver- für die heißen Sommertage, überhaupt an unter den konspirativen Umständen eines
pflichte sich jeder Eigentümer, die Fassade urbane Lebensqualität hat man bei dem Agentenfilms: Der Beamte setzt sich in
laufend zu erneuern. Und dann die Wol- Neubau nicht gedacht. Dafür gibt es riesige das verabredete Auto, das auf dem Park-
kenkratzer: Wer ziehe in einem Erdbeben- Plätze aus Beton, wo man keine weiteren platz der Behörde steht. Sein Vorgesetzter,
gebiet schon freiwillig in einen Turm, den Leerstände schaffen wollte, und an jeder den er eingeweiht hat, wollte wegen der
Tschetscheniens junger Präsident erbauen Ecke Bilder von Tschetscheniens neuer Kameras am Eingang nicht, dass wir das
ließ? Gerechnet hat sich der Wiederaufbau Dreifaltigkeit: Vater und Sohn Kadyrow Gebäude betreten. Der Cousin des Beam-
Grosnys trotz der vielen Leerstände: Man mit Putin als Heiligem Geist. Nicht einmal ten ist einer von zehntausend Tschetsche-
muss sie nicht nutzen wollen, um Ramsan im Geschichtsmuseum wird an die beiden nen, die seit dem Ende des Krieges
Kadyrow eine Immobilie abzukaufen. Man Kriege mit Russland erinnert, die ein Fünf- verschwunden sein sollen. Ob er die Zahl

124 DER SPIEGEL 11 / 2017


DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL
Heckfensterschmuck in Grosny: Kadyrow, Autokrat mit burschikosem Charme

bestätigen könne, die von Menschenrechts- Wissen Sie, er war Professor, und wenn übersät. Offiziell hatte der Cousin, der drei
organisationen genannt wird, frage ich als ich mir vorstelle, dass er im Hörsaal … das Kinder hinterließ, einen Autounfall. Eine
Erstes. Ja, sagt der Beamte, etwa zehntau- geht dann schnell, und eigentlich wusste Trauerfeier wurde der Familie dennoch
send Fälle seien realistisch; eine kritische er das auch.“ nicht erlaubt, erst recht keine Obduktion.
Bemerkung am Arbeitsplatz, ein Witz Als der Cousin des Beamten vor zwei „Und dennoch arbeiten Sie für diesen
über den Präsidenten, den der Falsche mit- Jahren verschwand, wandte sich sein Vor- Staat“, wundere ich mich.
hört, oder ein Salafistenbart genügten, um gesetzter an den Minister. Der Cousin sei „Was soll ich denn tun?“, fragt der Be-
verschleppt zu werden. Wie schon unter verhaftet worden, hieß es, keine Sorge, er amte zurück: „Sollen wir alle aufhören zu
Stalin lebten sie wieder in einem totalitä- komme bald frei. Dann jedoch wurde der arbeiten? Wir bemühen uns um die un-
ren System, nur dass die Tschetschenen Familie die Leiche übergeben, der Ober- politischen Fälle, im Arbeitsrecht, im
heute von ihren Landsleuten unterdrückt körper von blauen Flecken und Wunden Zivilrecht können wir einiges tun. Es gibt
würden. Das sei die „Tschetschenisierung“ ja alle Gesetze, das ist nicht das Problem,
des Konflikts, von der Wladimir Putin im- man wendet sie nur nicht an. Und Men-
mer gesprochen habe: dass die Repression schenrechtsfälle sind für die Justiz tabu.“
an lokale Verbündete delegiert werde. Im „Und doch haben Sie den Mut, sich in
besten Fall tauchten die Angehörigen in unser Auto zu setzen.“
einer Gefängniszelle auf, meistens nur als
Leiche am Straßenrand, wenn überhaupt.
Ruinen sieht man „Ja“, sagt der Beamte und holt tief Luft.
Die Soziologin, die ich kurz darauf in
„Was hatte Ihr Cousin denn getan?“, fra- nicht, dafür viele Frei- der Universität besuche, hat kein Problem
ge ich.
„Das wissen wir ja nicht“, antwortet der flächen, wo einmal damit, dass ihr Name genannt wird. Ich
staune, dass auf dem Campus so viele Stu-
Beamte. „Allerdings war er schon ein im-
pulsiver Mensch, und wir nehmen an, dass
Menschen gewohnt dentinnen sind. Ja, bestätigt Lida Kurbano-
wa, nicht nur die Mehrheit der Studenten,
er einfach nicht die Klappe gehalten hat. haben müssen. auch 60 Prozent der Professoren seien weib-
DER SPIEGEL 11 / 2017 125
lich. Über den Stand der Emanzipation, den
sie empirisch erforscht hat, sage das aller-
dings nicht viel aus. So verheerend seien
die Antworten in den Fragebögen ausgefal-
len – „Wie hat sich Ihre persönliche Situa-
tion in den letzten zehn Jahren verändert?“,
„Haben Sie persönlich schon Gewalterfah-
rungen in der Familie gemacht?“ und so
weiter –, dass sie die Ergebnisse nur im Aus-
land publizieren durfte.
In der Sowjetunion seien die Frauen
überall im öffentlichen Leben präsent ge-
wesen. Auch während der beiden Kriege
hätten die Männer sie gebraucht. Aber nun
gebe es nicht mehr genug Arbeit. Und ge-
gen die Bedrohung durch den Wahhabis-
mus werde ein so konservativer, trockener
Islam in Stellung gebracht, dass zwischen
beiden Auslegungen schon fast kein Un-
terschied mehr bestehe. Nicht nur das
Kopftuch, selbst die Polygamie werde wie-
der öffentlich propagiert, obwohl sie in der
Russischen Föderation eigentlich verboten
sei: 16,8 Prozent der tschetschenischen
Frauen zwischen 18 und 40 Jahren lebten
in Vielehe, hätten ihre Untersuchungen er-
geben; unter den Älteren gebe es das so
gut wie nicht.
Ich frage, wie es zu ihren Zahlen passe,
dass der Anteil der Frauen an den Lehr-
kräften höher als in Europa sei. Die Uni-
versität böte den letzten Ausweg, dem tra-
ditionellen Rollenmuster zu entkommen,
erklärt Lida Kurbanowa. Allein schon ein
Diplom zu besitzen mache eine Frau etwas
unabhängiger von ihrem Mann. Wer aller-
dings wirklich emanzipiert leben wolle,
müsse sich häufig gegen eine eigene Fami-
lie entscheiden. In ihrem Kollegium etwa
sei mindestens die Hälfte der Professorin-
nen ledig.
Als es Mittag geworden ist, frage ich
meine Begleiterin, wo man in Grosny hei-
misch essen könne. Bisher kamen wir nur

DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL


an fremder Küche vorbei, Pizzerien, Fast
Food, usbekisch und so weiter. Also fahren
wir in einen der Randbezirke von Grosny,
die nicht flächendeckend bombardiert wor-
den sind: kleine, ärmliche Häuser mit Vor-
garten entlang gerader, wenig befahrener
Straßen, die bis in die letzten, unbefestig-
ten Abzweigungen breit wie Boulevards Neu erbautes Opernhaus in Grosny: Eine kaukasische Metropolis
sind. Platz hat man in der Ebene Eurasiens
seit je genug, und in Grosny kommt hinzu,
dass es fast die Hälfte seiner Bevölkerung schädigten Häuser abzureißen, damit vom Wege, Kartoffeln als Grundnahrungsmittel.
in den beiden Kriegen mit Russland verlo- Krieg keine Spur bleibt. Folglich sehen wir Das getrocknete Fleisch, aus dem das Na-
ren hat: Die Stadt, in der bald der höchste so gut wie keine Ruinen, dafür viele Frei- tionalgericht besteht, hält den ganzen Win-
Wolkenkratzer Europas stehen soll, wirkt flächen, wo einmal Menschen gewohnt ha- ter lang und schmeckt mit der deftigen
jetzt schon wie ein zu großes Hemd. ben müssen. Soße dennoch frisch.
300 000 Rubel hat der russische Staat je- Wir betreten ein Blockhaus, das sich le- Nach dem Essen komme ich mit den
dem Eigentümer angeboten, umgerechnet diglich durch seinen herzhaften Geruch als vier Köchinnen ins Gespräch, die das Kopf-
5000 Euro, um die Kriegsschäden zu be- Restaurant ausweist. Obwohl die meisten tuch auf die alte Weise im Nacken zusam-
seitigen oder neu zu bauen. Das war nicht Tschetschenen in der Ebene leben, sind mengebunden haben. Solange ich nach
viel und wurde umso weniger, als die tsche- sie ihren Traditionen, Gesängen und ihrer den Rezepten und Ursprüngen der Gerich-
tschenischen Behörden die Hälfte einbe- Küche nach ein Bergvolk geblieben; bei te frage, geben sie fröhlich Auskunft. Auch,
hielten. Aber es war besser als nichts, zu- der Speisekarte stellt man sich die kleine dass das Restaurant gut läuft, weil es eines
mal die Behörden damit drohten, alle be- Viehzucht vor, wenig Ackerland, mühsame der wenigen ist, in dem noch tschetsche-

126 DER SPIEGEL 11 / 2017


Kultur

nisch gekocht wird, erzählen die Köchin- Immerhin besteht Schulpflicht, nur dass Musik. Ein junger Soldat, der auf dem Rü-
nen gern. Als ich jedoch wissen möchte, sich die Mütter oft nicht die Schulhefte cken eine Kalaschnikow trug, versperrte
ob sie also zufrieden mit den Verhältnissen leisten können. Ab und zu kommen gute ihnen den Weg, als sie mit ihren Instru-
sind, da ihr Geschäft brummt, spricht nur Leute vorbei und öffnen ihren Kofferraum. menten zum Unterricht gingen, und rief:
die Älteste weiter, die erkennbar Freude Ansonsten ist schön an ihrem Leben nur „Stopp!“ Die Mädchen durchfuhr ein ge-
nicht nur am Kochen, sondern auch am das Miteinander, acht Menschen auf 35 waltiger Schreck. Der Russe aber legte nur
Essen hat: Natürlich seien sie zufrieden, Quadratmetern, das könne auch lustig sein. eine Narzisse vor ihre Füße, schaute die
schließlich lebten sie endlich in Frieden „War jemand von Ihnen zuletzt mal im beiden Mädchen kurz an und rannte weg,
nach so vielen Jahren des Kriegs. Ohne Zentrum?“, frage ich in den Halbkreis, der als ob er selbst erschrocken wäre. Kein
dass ich weiterfragen muss, lobt sie mit ge- sich um uns gebildet hat. Ja, die neuen Wunder, dass Asyas Zeichnungen alle vom
radezu mütterlichem Stolz den jungen Wolkenkratzer und Shoppingmalls haben Krieg erzählen. Umso schöner, dass sie
Ramsan, der Tschetschenien so tatkräftig alle von außen gesehen; dann sicher auch sich ihr Lachen bewahrt hat.
wiederaufgebaut habe und sich um jede die teuren Geländelimousinen, die auf
Beschwerde persönlich kümmere. dem Putinprospekt auf und ab fahren.
Als wir wieder im Auto sitzen, bestätigt „Und was ging Ihnen durch den Kopf?“ Achter Tag
meine Begleiterin, dass viele Tschetsche- Niemand antwortet. Fahrt in die Berge, um das Grab der Mutter
nen dem Präsidenten dankbar seien, weil „Das ist keine so gute Frage“, bittet die von Kunta Hadschi zu besuchen, dem be-
er so etwas wie Normalität geschaffen Leiterin des Heims um Verständnis und deutendsten Mystiker Tschetscheniens. Als
habe, Sicherheit und einen geregelten All- führt mich zurück in den Korridor, in dem er 1864 verhaftet wurde, gingen Tausende
tag. Außerdem zirkuliere durch die Devi- es nach Chemikalien riecht. seiner Anhänger aus Protest auf die Straße.
sentransfers aus Moskau und den Bau- In einem Dorf außerhalb von Grosny, Obwohl sie gemäß der Lehre des Heiligen,
boom viel Geld in Tschetschenien, von das schon deshalb idyllisch wirkt, weil ent- der einen radikalen Pazifismus vertrat, wei-
dem einiges nach unten sickere, etwa in lang der Straßen alte Bäume stehen, besu- ße Fahnen schwenkten, eröffneten die rus-
die Küche der Restaurants. Und Ramsans che ich Asya Umarowa. Sie gehört zu den sischen Truppen das Feuer. 500 Sufis star-
burschikoser Charme komme gerade bei wenigen prominenten Künstlern, die noch ben. Kunta Hadschi selbst blieb bis zu sei-
älteren Frauen gut an. Die drei anderen in Tschetschenien leben. Erst 31 Jahre alt, nem Tod eingesperrt. Um für ihn zu beten,
Köchinnen haben gleichwohl in ihre Töpfe zeichnet sie dennoch dauernd den Krieg. blieb nur das Grab seiner Mutter im Dorf
oder aufs Gemüse geschaut. Dabei hat sie sich ein so helles, ja anste- Ilaschan-Jurt, in dem der Heilige aufwuchs.
Je weiter wir uns vom Zentrum entfer- ckendes Lachen bewahrt, dass ich Asya Die Berge hier wirken auf den ersten Blick
nen, desto sowjetischer wird die Stadt. kaum mit den düsteren Motiven in Verbin- gar nicht so wild, wie ich sie mir als Leser
Grosny war einmal das industrielle Herz dung zu bringen vermag. Auf einem Bild vorgestellt habe, Laubwälder, sanfte Stei-
des Kaukasus. Aber anders als die Häuser sind ein alter Mann zu sehen und ein Pferd, gungen und der Schnee, der auch das Men-
wurden die Fabriken nicht wieder aufge- das davonläuft. Ist die Zeichnung ebenfalls schengemachte lieblich bedeckt. Wenn
baut, sodass es zwar die Arbeitersiedlun- vom Krieg? Ja, sagt Asya und erzählt von man wie Tolstoi Tage und Wochen durch
gen noch gibt, die Arbeiter aber nicht ihrem Großvater: Als seine Frau im ersten die Steppe gefahren ist, kommt einem viel-
mehr. Die Fassaden sind mit Wellblech ver- Krieg starb, gab er bekannt, dass er nir- leicht schon das Mittelgebirge wild vor.
kleidet, damit man die Einschusslöcher gendwo mehr hinwolle, und ließ sein ein- Als wir abbiegen, um nach Ilaschan-Jurt
nicht sieht. Durch den Matsch, aus dem ziges Pferd frei. Asya lebte damals bei zu fahren, das auf einem der Berge liegt,
die Nebenstraßen im Winter bestehen, fah- ihren Großeltern in den Bergen, um den winkt uns eine Frau zu, 30, 35 Jahre alt
ren wir vor einen der Plattenbauten und Bomben zu entkommen. Zurück nach vielleicht. Offenbar gehört Autostopp hier
fragen in der Eingangshalle, die mit nack- Grosny holte sie der Onkel; drei Tage lief zum öffentlichen Verkehr. An den ersten
tem Beton ausgelegt ist, ob wir uns um- sie mit sieben anderen Kindern zu Fuß, Krieg hat sie keine rechte Erinnerung, der
schauen dürfen. In dem Gebäude, erfahren überall zerstörte Gebäude, brennende Au- hat sie in den Bergen nicht erreicht, der
wir, leben Flüchtlinge, die sich allerdings tos, Checkpoints, vor denen man nicht zweite umso mehr. Von oben bombardier-
nicht mehr Flüchtlinge nennen dürfen, wusste, wer hinter den Maschinengeweh- ten die Russen, in den Wäldern trieben
weil das Wort an den Krieg erinnert. Also ren stand. Im zweiten Krieg war ihr Dorf sich die Rebellen herum.
sind sie Menschen mit Wohnungsbedarf. sechs Monate von der russischen Armee „Waren das gute Leute, die Rebellen?“,
Die Leiterin des Heims nennt uns die Ein- eingekesselt; militärische Operation, hieß frage ich.
kommensverhältnisse: Arbeitslose erhal- es, nicht einmal für die nötigsten Besor- „Wie soll ich jemanden gut finden, der
ten 800 Rubel plus 130 Rubel für jedes gungen durfte jemand heraus. Zum Glück uns nicht guttat?“
Kind. Eine fünfköpfige Familie kommt so hatten sie Vorräte, genügend Wasser und „Und die Russen?“
umgerechnet auf etwa 30 Euro, falls beide einen Garten, um Gemüse anzubauen. Als „Die Russen kamen ins Dorf und be-
Eltern arbeitslos sind. Allerdings haben die Sperre aufgehoben wurde, freuten sie haupteten, wir hätten Rebellen versteckt.
hier nur wenige Väter überlebt, sonst wä- und ihre Freundin sich am meisten auf die Dabei haben wir die Rebellen nie gesehen.
ren die Familien nicht im Heim. Etwas bes- Trotzdem nahmen die Russen die Männer
ser dran ist ein ehemaliger Soldat, der mal mit und schlugen sie. Und dann sprühten
in Wittenberg stationiert war. 8400 Rubel sie auch noch Gift, um die Bäume zu ent-
beträgt seine Pension, 130 Euro, die er im lauben. Nein, die Russen waren auch nicht
Heim teilt, weil er sonst niemanden hat. gut.“
Dafür kümmern sich die Nachbarn um ihn,
als wäre er ihr Großvater.
„Die Russen haben die „Und jetzt?“
„Jetzt ist es ruhig, Gott sei Dank. Nur
Wir betreten eine der Wohnungen, die Bäume mit Gift entlaubt. dass die Kinder immer noch krank werden,
aus Zimmer, Küche, Bad besteht: drei Frau-
en, eine Jugendliche, drei Kinder, kein Wenn die Kinder in wenn sie in den Wald gehen, das ist wirk-
lich ein Problem.“
Mann, aber immerhin eine Oma, die Rente
bezieht. Trotzdem schliefen die Kinder je-
den Wald gehen, werden „Haben Sie genug zum Leben?“
„Nicht mehr, aber auch nicht viel weni-
den Abend hungrig ein, sagen die Mütter. sie krank.“ ger. Gott gibt genug.“
DER SPIEGEL 11 / 2017 127
Kultur

Vor dem Friedhof von Ilaschan-Jurt spre- und in Syrien verstanden. Ramsans Vater „Und haben sie einen realistischen Blick
chen wir die 77-jährige Malkan an, die das habe Tschetschenien befriedet, sagt Mal- auf die Gesellschaft?“
Mausoleum der Heiligenmutter pflegt. kan mit der gleichen Inbrunst, mit der sie „Nein, sie glauben, dass alle glücklich
„Ja, ich könnte zu Hause sein“, erklärt Russland einen Satz vorher nicht vergeben sind. Das glauben sie wirklich und tun
sie, warum sie noch immer arbeitet, „aber konnte. Und Ramsan selbst sei ein guter nicht nur so.“
ich habe Angst, dass ich dann sterbe.“ Junge, der Straßen gebaut und der Mutter Er sei immer gegen die Unabhängigkeit
Fünf Jahre alt war sie, als die Bewohner von Kunta Hadschi ein neues Mausoleum gewesen und deshalb lieber zum Studieren
ihres Dorfes wie Vieh auf Lastwagen ge- errichtet habe. Schon im Weggehen mur- nach Europa gegangen, als der Krieg aus-
trieben wurden. Nicht einmal Zeit, Schuhe melt Malkan meinem Fahrer zu, er wisse brach. Sein Mitschüler hingegen – der Mys-
anzuziehen, hatten sie gehabt, geschweige schon, wie sie das gemeint habe. tikerspross deutet auf den älteren Herrn,
denn, warme Kleidung mitzunehmen. „Zeig meine Bilder keinem Opa“, ruft der neben ihm auf dem Teppich sitzt –
Weil die Männer von den Familien ge- sie dem Fotografen noch hinterher und habe Anfang der Neunzigerjahre im ande-
trennt wurden, dachte Malkan, sie würde kichert wie ein junges Mädchen. „Sonst ren Lager gestanden, im Kriegslager.
ihren Vater nie mehr sehen. Zum Glück kommt einer und will mich heiraten.“ „Ihr Mitschüler?“, frage ich, weil der
schlug er sich auf dem Bahnhof in Grosny Im neu gebauten Mausoleum, einem Herr 15, 20 Jahre älter aussieht.
zu ihnen durch. Anderen Vätern gelang Kuppelbau, der im Vergleich zu dem Protz „Ja, wir kennen uns, seit wir Kinder
das nicht, bevor der Zug abfuhr. Obwohl in Grosny erstaunlich schlicht und wohl- sind.“
sie eine kleine Feuerstelle hatten, auf der geformt gelungen ist, sitzen zwei Männer, Der Mitschüler, der einen grauen Bart,
sie notdürftig kochten, was andere Fami- einer Mitte 40, schätze ich, der andere einen altmodischen Anzug mit Pullover
lien mitgebracht hatten, erfror ihr Bruder deutlich über 60. Der jüngere, der einen über dem Hemd und die grüne traditionel-
auf dem Weg, andere Kinder und Alte noch jugendlicheren Kapuzenpulli trägt, le Mütze trägt, hat im Bataillon von Dscho-
ebenso, sodass immer mehr Leichen im hat Deep Purple als Klingelton und stellt char Dudajew gekämpft, dem ersten Prä-
Waggon lagen. Als sie nach sieben Tagen sich als Spross einer noblen Mystikerdy- sidenten des freien Tschetscheniens. Er
ausstiegen, sah Malkan, die nur grüne Ber- nastie heraus. Für den offiziellen Islam hat habe zu den letzten acht Soldaten gehört,
ge kannte, nichts als Steppe. Die Nacht er nur Spott übrig. Die Verantwortlichen die 1995 den Präsidentenpalast hielten, er-
draußen war noch kälter als im Zug, so- beriefen sich nur deshalb auf Kunta Ha- wähnt er sichtlich stolz. Als er Dudajew
dass auch ihr zweiter Bruder starb. Für dschi, weil der Heilige die innere Läute- in die Berge folgte, explodierte sein Wa-
die zweite Nacht errichteten sie aus Sperr- rung gepredigt habe statt des politischen gen. Alle sechs Kameraden starben; er
holz ein kleines Barackendorf. Zum Glück Kampfs. Passivität zu predigen gelinge ih- selbst wachte 37 Tage später aus dem
war ihr Vater Ofenbauer, sodass sie es bald nen zwar, die Innerlichkeit aber noch nicht Koma auf. Weil auch die Familie seines
warm hatten, und er fand sogar Arbeit. so recht. Die Quellen des Sufismus, die Freundes half, wurde er nach Deutschland
Aber er hatte immer noch keine Schuhe, Schriften der persischen Dichter Saadi, verlegt, wo die Ärzte ihm jedoch keine
der Weg zur Fabrik war weit, und als er Rumi oder al-Halladsch, kenne man in Chancen einräumten. Drei Operationen
Fieber bekam und drei Tage nicht zur Ar- Tschetschenien kaum noch, die Schulen später hatte er wie durch ein Wunder über-
beit erschien, wurde er verhaftet und blieb lehrten nur Obskurantismus. Der Staat tue lebt. Die Narbe am Hals, wo der Atem-
vier Monate im Gefängnis. Da waren sie nur plötzlich so, als sei er religiös. Aber schlauch eingeführt war, erkennt man auf
nur noch zu dritt, die Mutter, die ältere eine neue Moschee oder ein erzwungenes den ersten Blick. Er ist langsam in den Be-
Schwester und Malkan, ohne Essen, ohne Kopftuch mache noch keine Frömmigkeit wegungen geworden und kann nur leise,
Geld. Vor den Fenstern der Häuser brei- aus. fast tonlos sprechen, aber er dankt Gott
teten sie ihre Röcke aus, damit man ihnen „Und Ramsan selbst“, frage ich, weil der und Deutschland, dass ihm die Seele ein
die Abfälle zuwarf. Die wuschen sie dann, Präsident sich auf Instagram gern in Ge- zweites Mal eingehaucht worden ist. Von
aßen sie auf und überlebten, bis die Mut- betshaltung zeigt, „tut er auch nur so, oder den Deutschen habe er nichts als Mensch-
ter ihren Cousin fand, der eine Russin ken- ist er wirklich religiös?“ lichkeit und Barmherzigkeit gesehen;
nengelernt hatte, eine Agronomin mit „Ich habe den Eindruck, dass er schon Christen zwar, seien sie bessere Muslime
Wohnung und Gehalt. Die Agronomin, gern religiös wäre“, ätzt der Mystikersproß: als die meisten Menschen hier.
die den Cousin später heiraten sollte, „Er weiß bloß nicht, wie das geht.“ Ich frage, ob er auch im zweiten Krieg
brachte sie alle durch. Andere seien ge- Er kenne viele einflussreiche Leute, gekämpft hätte, wäre er unversehrt geblie-
storben vor Hunger, sagt Malkan, die vor habe schon in diesem oder jenem Gremi- ben. Er glaube nicht, sagt der alte Herr;
dem Friedhof von Ilaschan-Jurt steht und um gesessen, wegen seiner Familie achte der zweite Krieg sei von vornherein zum
längst weint. man ihn irgendwie auch. Intern vertrete Scheitern verurteilt gewesen, wie es Du-
„Ich sehe das alles, als ob’s gestern er seine Meinung, allerdings habe er nicht dajew vor seiner Ermordung vorausgesagt
wäre.“ den Eindruck, dass jemand auf ihn höre. habe.
Ich frage Malkan, ob sie den Russen je- Die Verantwortlichen hielten Demokratie „Dudajew hat den zweiten Krieg voraus-
mals vergeben könne. für ein gefährliches Konzept. gesagt?“
„Nein“, sagt sie mit fester Stimme: „Nie- „Dudajew sagte immer, dass er sich we-
mand, der das erlebt hat, kommt darüber niger vor Russland als vor dem fanatischen,
hinweg. Die Russen sind auch Menschen, dem falschen Islam fürchte. Die Russen
da gibt es gute, da gibt es böse. Eine hat brächen mit ihren Waffen nur unsere Kno-
uns das Leben gerettet, das vergesse ich chen, sagte Dudajew; die Wahhabiten je-
genauso wenig. Aber Russland vergebe ich
nicht.“
In einem Land wie doch zersetzten unseren Geist. Und so
kam es ja dann auch.“
Ich frage, was sie vom Präsidenten halte,diesem gibt es Einmal, kurz vor seinem Tod, hätten sie
der sich öffentlich als „Fußsoldat Putins“
bezeichnet und damit gebrüstet hat, die nur zwei Möglichkeiten: Dudajew gefragt, wie lang der Krieg noch
geht. Dieser Krieg werde nicht einfach auf-
Schmutzarbeit für seinen Herrn zu erledi-
gen; allgemein wurde das als Hinweis auf
entweder Täter hören, habe Dudajew geantwortet, der
werde mit Unterbrechungen noch mindes-
tschetschenische Kämpfer in der Ukraine oder Opfer zu sein. tens 50 Jahre gehen.

128 DER SPIEGEL 11 / 2017


schlanker Mann, war Polizist und trägt
seit einem Überfall eine Metallschiene im
Arm. Mit 45 000 Rubel (730 Euro) im Mo-
nat bezieht er die höchstmögliche Pension,
die es für Invaliden gibt. Erst spricht er
von gewöhnlichen Räubern, die eine Bom-
be legten, als er Patrouille fuhr, dann von
Rebellen, die auch noch zu schießen an-
fingen.
„Rebellen?“, frage ich dazwischen,
„eben waren es noch Banditen.“
„Banditen, Rebellen, das kommt auf die
Perspektive an. Che Guevaras waren es
jedenfalls nicht.“
In einem Land wie Tschetschenien gebe
es nur zwei Möglichkeiten: entweder Täter
oder Opfer zu sein. In Europa müsse man
sich nicht entscheiden, deshalb würde er
gern dorthin ziehen.
„Und wieso nicht nach Russland?“, frage
ich. „Immerhin haben Sie Ihren Arm und
beinah Ihr Leben für Russland gegeben.“
„Ich habe nicht Russland gedient, son-
dern der Russischen Föderation, zu der
Tschetschenien gehört – das ist ein Unter-
schied.“
„Und sind Sie zufrieden, dass Tsche-
tschenien in der Föderation geblieben ist?“
„Hier gibt es Leute, die sagen, dass sie
zufrieden sind. Und es gibt andere, die
schweigen, um nicht zu lügen. Wenn man
in Russland Angst hat, seine Meinung zu
äußern, hat man in Tschetschenien
Panik.“
„Aber Sie haben sich doch für diesen
Staat entschieden.“
„Ich stand vor der Frage, ob ich vernünf-
tig oder patriotisch bin. Ich habe mir auch
vor Augen geführt, wohin dieser Patriotis-
mus führen wird. Der erste Krieg war ja
wirklich noch Selbstverteidigung, da konn-
te ich mich für die goldene Mitte entschei-
den und habe einfach nicht gekämpft.
Aber der zweite Krieg war nur ein großes
DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL

Durcheinander, da gab es keine Mitte


mehr.“
Auf dem Rückweg nach Grosny kom-
men wir an der Garnison vorbei, aus der
ein tschetschenisches Bataillon nach Sy-
rien verlegt worden ist. Der Fahrer er-
wähnt, dass er jemanden kenne, der von
Dorf in Tschetschenien: „Hier gibt es Leute, die sagen, dass sie zufrieden sind“ dort zurückgekehrt sei.
„Und was hat er erzählt?“
„Nicht viel“, antwortet der Fahrer. „Er
Die Frage, ob es aus heutiger Sicht ein der Ferne entlangfährt –, das sieht jetzt hat gesagt, dass sie die ganze Zeit herum-
Fehler war, für die Unabhängigkeit wirklich nach Frieden aus. Ausnahmslos gesessen und gewartet hätten. Dass es lang-
gekämpft zu haben, möchte der jüngere jeder, den wir nach dem Weg fragen, lädt weilig gewesen sei.“
der beiden Männer, der in Wirklichkeit uns zum Tee und gegen Mittag zum Essen „Das ist alles, was er gesagt hat?“
gleich alt ist, nicht mehr übersetzen. Die ein. Gaststätten gibt es in der Gegend „Nein, er hat auch gesagt, dass es überall
Antwort sei zu schmerzlich für seinen nicht, nur hier und dort ein kleines Le- Waffen gegeben habe und die Syrer noch
Freund. bensmittelgeschäft, und so treten wir gern mehr Angst hätten als wir. Wenn dort
Wir fahren weiter ins Gebirge, das in ein Haus, von dessen Vordach das ein- einer vom Geheimdienst auftauchte, dann
allmählich doch so wild wird wie in der gewickelte Fleisch herabhängt. Das Wohn- hätte jeder auf den Boden geschaut.“
Literatur. Die Steinhäuser mit den rau- zimmer zeugt von einigem Wohlstand: ein Vielleicht dauert der Krieg doch 50 Jahre,
chenden Schornsteinen, die Kinder, die großer Flachbildschirm, Satellitenanlage, und zwischen Tschetschenien und Syrien
Schlitten fahren, die Sonne, die die Wol- Stereo, Gasheizung, eine neue Sofagarni- liegt nur die Unterbrechung, von der
ken vertrieben hat, ein altes Auto, das in tur. Der Gastgeber, ein groß gewachsener, Dschochar Dudajew gesprochen hat. I

DER SPIEGEL 11 / 2017 129


Kultur

getäuscht hätten und sie in Wahrheit von norddeutschen


Oberstudienräten vergewaltigt worden seien.
Lustvoll beschreibt er seine Journalistenfreunde von
Berlin-Mitte, die ihm mit ihren begeisterten Geschichten
über syrische Zahnärzte in den Ohren liegen, und fügt,
Bücher lügen nicht so für sich, hinzu, dass die überwiegende Mehrzahl der
Flüchtlinge keineswegs Zahnärzte, sondern unausgebilde-
te Männer seien, mit denen sich die feinen Freunde in
Literaturkritik Den Islam grauenvoll finden, Zukunft ebenso viel abgeben würden wie mit der Unter-
schicht im eigenen Lande. Nämlich null.
der linksliberalen Superfrau trotzdem ge- Lohmer liebt das politische Gespräch, doch er notiert
fallen? Joachim Lottmann hat ein Problem. immer neue Tabus. Staunend betrachtet er besonders
islamfeindliche Kollegen, die sich von ihren Agenten zu

E
in Mann spaziert durch eine Lügenwelt und wundert islamophilen Essaybänden anstiften lassen. Und staunend
sich. Warum will in Berlin und Wien plötzlich jeder sieht er, wie sein alter Freund Matthias Matussek bei Sprin-
seinen privaten Flüchtling haben? Muss ich mich ir- ger rausfliegt, weil er nach den Anschlägen von Paris
gendwo melden, um auch noch einen zu bekommen? Will einen höhnischen Post geschrieben hat. Zufällig ist Lohmer
ich das überhaupt? Wieso ist meine Frau so komisch, wenn im Springer-Haus, als Matussek entlassen wird. Seine ein-
ich sage, dass ich den Islam für eine gefährliche Religion zige Sorge: da irgendwie mit reingezogen zu werden. „Ich
halte? Und warum fühle ich mich auf der Wahlparty der hütete mich davor, ausgerechnet jetzt mit dem weidwund
FPÖ in Wien so sonderbar wohl? angeschossenen Mann Kontakt aufzunehmen. Ich wäre
Johannes Lohmer, so nennt der Schriftsteller Joachim sonst mit Sicherheit in die Sache involviert worden.“ Mut
Lottmann seinen Doppelgänger auch in seinem neuen Ro- ist die Sache dieses Helden nicht.
man, ist innerlich in eine gewisse Unordnung geraten. Er Joachim Lottmann hat den ersten deutschen Trump-
ist nicht mehr eins mit sich und der Welt da draußen. Vor Roman geschrieben. Er ist naiv und klug zugleich, böse
allem nicht mehr mit seiner Frau Harriet, einer „körperlich und sehr lustig. Ein Roman aus dem Kopf eines alternden,
überaus attraktiven, seelisch aber kapriziösen, um nicht ängstlichen, weißen Mannes heraus, kopfschüttelnd im
zu sagen problematischen Person“. Harriet ist
eine linksliberale, supertolerante, Ausländer lie-
bende Journalistin. Wie alle anderen Journalisten
in der Welt, die Lohmer erlebt. Im Fernsehen
zum Beispiel. Alle sind immer für alle Flüchtlinge,
grundsätzlich: „Eher fiel der Mond auf die Erde,
als daß dort jemals jemand die Frage stellte, ob
man wirklich Antisemiten, Homophobe und Frau-
enhasser so sympathisch fände, daß man sie mas-
senhaft zu sich einladen wollte. Leute, die nichts
mit einem zu tun haben wollten. Die sozusagen
mürrisch einträten, ohne zu grüßen, an einem
vorbeiliefen, bis zum Kühlschrank, den sie dann
leerten. Waren das Gäste, die man wollte? Die
einen dafür verachteten, daß man frei lebte?“
Lohmer verneint diese Frage für sich entschie-
den. Gegenüber Harriet ist er da vorsichtiger.
Er will sie ja nicht verlieren. Wenn sie sich in Le-
ALEX HALADA
benssituationen entscheiden muss, zwischen ih-
rem Feminismus und ihrer Ausländerliebe, ent-
scheidet sie sich stets für die Flüchtlinge. Sie ist
Stellvertreterin der „herrschenden Schicht und Autor Lottmann, Ehefrau: Seelisch problematische Person
ihrer Medien“ in diesem Roman. Joachim Lott-
mann schreibt über sie: „Ihr Haß auf die eigene Kultur deutschen Flüchtlingsmärchen. Ein furchtloser Angsthase,
war so tief wie ihre Liebe zur fremden grenzenlos.“ ein ratloser Ironiker. Es ist ein Aufklärungsbuch über
Er, Lohmer, liebt seine Kultur. Doch er sieht sie ver- einen, den wir sonst nur als Schreckensphantom kennen.
schwinden. Sie ist „im Zeitalter der Völkerwanderung als Lottmann stellt ihn uns vor. Und er schickt ihn überallhin.
erste untergegangen. Die Kultur der Merve-Bändchen, Ins Flüchtlingsheim, zum AfD-Parteitag, nach Neukölln.
der überkandidelten ,Spex‘-Rezensionen von Diedrich Er kann über Trumps Erfolg nicht staunen: „Lieber wähl-
Diederichsen über die Band ,Oasis‘, die Kultur der berg- ten die Leute inzwischen einen extrem häßlichen, schwit-
hainaffinen Metrosexuellen … kein Mensch hat sie ver- zenden, unsympathischen Kerl mit idiotischer Frisur als
teidigt. Kein Intellektueller hat den Vorgang überhaupt Leute, die sie bis zum Jüngsten Tag anlogen.“
bemerkt“. Er selbst, Lohmer, lässt sich am Ende von seiner herr-
Lohmer sieht sich von Religion und Lügen umstellt. lichen Frau endgültig auf die andere Seite ziehen. Die
Doch hat er ein heiteres Gemüt. Nach der Silvesternacht Seite der Fremdenfreunde, der Lüge und der Liebe: „Fa-
in Köln vermutet er fröhlich, es könne natürlich sein, dass schismus ohne Harriet – nein danke!“, ruft er aus. Sie
500 vergewaltigte Frauen sich in der Herkunft der Täter werden viele kleine, enorm antifaschistische Kinder in
die Welt setzen. Das Märchen geht weiter.
Joachim Lottmann: „Alles Lüge“. KiWi; 352 Seiten; 12 Euro. Volker Weidermann

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132 DER SPIEGEL 11 / 2017


Nachrufe

OLIVER BERG / PICTURE ALLIANCE / DPA


RENÉ PRÉVAL, 74
Er war ein pragmatischer und
bedächtiger Demokrat, der das
krisengeschüttelte Haiti zwei-
mal als Präsident führte. Unter
der Diktatur von François Du-

ULF ANDERSEN / AURIMAGES


valier, genannt Papa Doc, war
er 1963 ins Exil gegangen, hat-
te in den USA unter anderem
als Kellner gearbeitet. 1975 Rainer Budde beraten lassen.
kehrte er nach Haiti zurück. Als Dank für die Dauerleih-
1988, zwei Jahre nach dem gabe wurde der Name des
Ende der Duvalier-Herrschaft, Museums erweitert, um den
PAULA FOX, 93 eröffnete er in Port-au-Prince Zusatz „Fondation Corboud“.
Am Ende ihres Lebens war sie eine erfolgreiche Schriftstel- eine Bäckerei, die Kinder in Der zugesagte Erweiterungs-
lerin, am Anfang war sie unerwünscht: Ihre Eltern, den Slums mit Brot belieferte. bau aber wurde immer wieder
leichtlebige New Yorker Bohemiens der Zwanzigerjahre, In dieser Zeit lernte er den hinausgezögert und bis heute
lieferten das Baby in einem Findelhaus ab. Die aus Priester und Befreiungstheolo- nicht begonnen. Corboud war
Kuba stammende Oma holte Paula dort heraus, sie gab gen Jean-Bertrand Aristide darüber bitter enttäuscht; er
sie zeitweise zu Pflegeeltern und zog die Enkelin jahrelang drohte 2012 damit, die Werke
selbst auf, mal auf einer kubanischen Zuckerplantage, abzuziehen, und wies im ver-
dann im düsteren New Yorker Stadtteil Queens. Ein sprung- gangenen Jahr das Ansinnen
haftes Leben: Paula ging auch in Kalifornien, in Florida, der Stadt zurück, ihm die Eh-
in Neuengland und in Kanada zur Schule. Sie studierte ein renbürgerwürde zu verleihen.
wenig und brachte mit 20 Jahren eine Tochter zur Welt, „Was die Stadt gemacht hat,

THOMAS COEX / AFP


die sie zur Adoption freigab. Später heiratete sie einen war schon ein bisschen see-
New Yorker Werbetexter, bekam zwei Söhne, erzog sie al- lische Quälerei“, sagte seine
lein und wurde Lehrerin für schwer erziehbare Kinder. Als Frau Marisol nach seinem
sie 40 wurde, hatte die ewig Rastlose, Unerwünschte, den Tod. Gérard Corboud starb
Mann gefunden, der ihr Selbstvertrauen und Halt gab, den am 5. März in der Schweiz. kle
Goethe- und Kleist-Übersetzer Martin Greenberg. An kennen. Er schloss sich dessen
seiner Seite begann sie zu schreiben, zuerst Kinder- und Bewegung Lavalas an; später RAYMOND KOPA, 85
Jugendbücher, dann eigensinnige, leidenschaftliche Roma- überwarf er sich mit dem de- Der kleine Dribbler war ein
ne über Frauen, denen das Leben nichts schenkt. Den inter- magogischen Aristide. Prévals Weltstar seines Sports und er-
nationalen Erfolg ihrer Jugendbücher krönte 1978 der erste Amtszeit als Präsident hielt als erster Fußballer den
Hans-Christian-Andersen-Preis, ihre Romane jedoch, sechs dauerte von 1996 bis 2001, die Orden der Ehrenlegion. Der
insgesamt, wurden viel gerühmt, wenig gelesen und bald zweite von 2006 bis 2011. Im Franzose polnischer Abstam-
vergessen. Für die Wiederentdeckung der alten Dame sorg- Januar 2010 fand das verhee- mung, der ursprünglich Ko-
te ein junger Kollege: Jonathan Franzen rühmte 1996 rende Erdbeben statt. Stunden- paszewski hieß, wuchs als
„Desperate Characters“ (deutscher Titel: „Was am Ende lang ließ er danach nichts von Sohn eines Bergarbeiters im
bleibt“) als besten amerikanischen Roman der letzten sich hören, später wurde be- Departement Pas-de-Calais
Jahrzehnte und gab den Anstoß zu Neuausgaben. Green- kannt, dass er die ganze Nacht auf. Als Spieler war er Strate-
berg, 99, hat nun nach 55-jähriger Ehe seine Gefährtin lang mit einem Motorrad ge und Dirigent von Stade
verloren: Paula Fox starb am 1. März in Brooklyn. uj durch die verwüstete Haupt- Reims und gehörte später zu
stadt gefahren war. Von dem
Schock habe er sich nie wieder
KURT MOLL, 78 erholt, sagen seine Mitarbeiter.
RON SCHERL / REDFERNS / GETTY IMAGES

ZUMA PRESS / KEYSTONE / IMAGO


Starallüren hatte der Bas- René Préval starb am 3. März
sist nicht nötig. Der nach einem Herzinfarkt. jgl
in Buir bei Köln geborene
Sänger, dessen volle, GÉRARD CORBOUD, 91
samtweiche Stimme Mehr als 170 Gemälde über-
schon 1967 in Bayreuth er- gab der Mäzen im Jahr 2001
klang, bewies vielmehr als ewige Leihgabe an die
handwerkliche Klugheit Stadt Köln: Werke des Impres-
durch Stilbewusstsein und sionismus von Pierre-Auguste der legendären Elf von Real
Ausdauer: Kaum jemand in seiner Generation nahm es mit Renoir, Claude Monet, Alfred Madrid, mit der er in den
der vokalen Rollengestaltung so genau wie er, und länger Sisley, Paul Cézanne, Paul Fünfzigerjahren dreimal in
als die meisten hielt Moll sein Prachtorgan fit. Als Sarastro Gauguin, Vincent van Gogh. Folge den Europapokal ge-
in Mozarts „Zauberflöte“ oder in der gewaltigen Partie des Der Schweizer war mit einer wann. Eigentlich brauche er
Gurnemanz in Wagners Gralssucher-Mysterium „Parsifal“ Kölnerin verheiratet, hatte im einen Ball nur für sich, sagte
setzte er Maßstäbe; Gastspiele in aller Welt bestätigten Rheinland jahrelang ein Un- zu ihm einst ein junges Mäd-
seinen Ruf. Hamburg, München und Wien machten ihn ternehmen für Sicherheits- chen, weil er so eigensinnig
zum Kammersänger. Erst 2006 zog sich der große Opern- schlösser betrieben und sich war und selten abspielte. Das
und Liedinterpret, väterlich-humorvolles Vorbild vieler beim Aufbau der Sammlung Mädchen wurde seine Frau.
jüngerer Kollegen, von der Bühne zurück. Kurt Moll starb vom damaligen Direktor des Raymond Kopa starb am
am 5. März in Köln. sal Wallraf-Richartz-Museums 3. März in Angers. kra
DER SPIEGEL 11 / 2017 133
Ein bisschen
Rosa
Die nigerianische Schriftstel-
lerin Chimamanda Ngozi Adichie,
39, hält sich nicht hundert-
prozentig an ihre eigenen
Prämissen. Zum Weltfrauen-
tag erschien eine Art Erzie-
hungsratgeber der Autorin,
die mit ihren Gedanken zum
Feminismus („We Should All
Be Feminists“) bereits Mil-
lionen Menschen inspiriert
hat. „Liebe IIjeawele. Wie
unsere Töchter selbstbe-
stimmte Frauen werden“ war
ursprünglich ein Brief an eine
Freundin, die sie gefragt
hatte, wie sie ihre Tochter zu
einer Feministin erziehen
könne. In dem Text spricht
sich Adichie unter anderem
gegen rollenstereotypes Spiel-
zeug und rosa Kleidung für
Mädchen aus. Bald nachdem
sie den Brief geschrieben hat-
te, stellte Adichie fest, selbst
schwanger zu sein. Ihre Toch-
ter ist inzwischen 16 Monate
alt. Jetzt gab sie zu, dass ihre
Wickelkommode keineswegs
eine rosafreie Zone sei: „Sich
zu sehr anzustrengen, Rosa
zu vermeiden, läuft aufs Glei-

J. SASSIER / OPALE / LEEMAGE / LAIF


che hinaus, wie alles rosa zu
machen“, sagte Adichie der
„Sunday Times“. In ihrer Ehe
herrsche aber absolute Gleich-
berechtigung, ihr Mann küm-
mere sich um wirklich alles –
bis aufs Stillen. ks

Cowan. Eigentlich hatte ständnis; immer wenn er den


Kunsthand Cowan, der bereits Celebre- Maler traf, der auch Mitglied
Im Privatklub Mar-a-Lago, ties wie Elvis Presley und im Mar-a-Lago ist, fragte er,
der sich seit 1985 im Besitz Lady Diana porträtierte, das wann der das Bild endlich
von Donald Trump, 70, befindet, Bild als eine klassische Öl- fertigstelle. Kunsthistorische
hängt ein Gemälde mit einer skizze angelegt, bei der die Erklärungen fruchteten nicht:
interessanten Entstehungs- Leinwand teilweise weiß „Er verstand nicht, was eine
geschichte. Sie illustriert vor- bleibt. Im Fall des Trump-Por- Ölskizze ist“, sagt Ralph
ZUMA WIRE / ACTION PRESS

trefflich Trumps Hartnäckig- träts war der Oberschenkel, Cowan. Nach 15 Jahren war
keit. Das Bild stammt aus auf dem die linke Hand des der Widerstand des Künstlers
dem Jahr 1989 und stellt den Porträtierten hätte ruhen gebrochen, für zusätzliche
Hausherrn in Heldenpose dar; sollen, absichtsvoll unvollen- 4000 Dollar malte er im Jahr
für ursprünglich 24 000 Dollar det. Dieses Stilmittel stieß 2002 eine Hand. Die wirkt
schuf es der Maler Ralph bei Trump jedoch auf Unver- nun, na ja, wie angemalt. ks

134 DER SPIEGEL 11 / 2017


Personalien
Haus auf. Bei der Pariser Mo-
Ich. Bin. Da. dewoche präsentierte sie auf
Samstag vor einer Woche dem Laufsteg einige Stücke
brach Vivienne Westwood, 75, aus der Kollektion ihres
mit einer langen Tradition: Mannes Andreas Kronthaler,
Die britische Modedesignerin dem sie im vergangenen
trat als Model für das eigene Jahr die Führung eines ihrer
Labels übergeben hat. Es

MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL


firmiert seither unter dem
Namen „Andreas Kronthaler
for Vivienne Westwood“,
eine Würdigung der langjäh-
rigen, intensiven Einfluss-
nahme des 50-Jährigen. Mit
ihrem Auftritt demonstrierte
Westwood Unterstützung für
ihren Gefährten und machte Der Augenzeuge
klar, dass sie auch weiterhin
im Rampenlicht stehen möch-
te. Vom Verschwinden der
„Endlich wieder Visionen“
Grande Dame des Punk kann Soll man für Europa auf die Straße gehen? Man muss –
CHEN YICHUAN / DPA

ohnehin keine Rede sein: finden neuerdings Menschen in Deutschland, aber auch in
Kronthalers Entwürfe zeigen Amsterdam oder Paris und demonstrieren Sonntag für
eine gute Portion Exzentrik, Sonntag. In Köln organisiert Christophe Kühl, 46, in Frankreich
ganz im Stile Westwoods. ks geboren, in Deutschland aufgewachsen, die Kundgebung.

„Meine Mutter lernte meinen Vater als französische Aus-


tauschschülerin kennen. Ihr Vater war im Zweiten Welt-
Tipps für die Pflege der krieg in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen; als
Hübsch und nasal Stimmbänder. Seit einem meine Eltern heirateten, wurden alte Feinde zu einer
Der französische Opernsän- Auftritt vor Tausenden Sym- Familie. Ich erinnere mich gut daran, wie es war, an der
ger Jean-Philippe Lafont, 66, hat pathisanten im Dezember, Grenze kontrolliert zu werden oder Mark in Franc
einen lukrativen Nebenjob: bei dem Macron in Paris zum zu tauschen. Für meine vier Kinder ist das alles selbst-
als Sprechtrainer für Frank- Schluss in lautes Brüllen und verständlich, die EU, der Euro, die Reisefreiheit.
reichs ehemaligen Wirt- unkontrollierte, schrille Töne Die Ereignisse im vorigen Jahr – der Brexit, die
schaftsminister Emmanuel verfallen war, hat der Politi- Trump-Wahl – haben mich schockiert. Mit meiner Frau
Macron. Für ein Stunden- ker seinem Lehrer zufolge saß ich am Esstisch, wir sagten: So kann es nicht weiter-
honorar von 500 Euro übt viel gelernt. Macrons Stimme gehen. Vielleicht fällt Europa auseinander. Aber wir wa-
Lafont mit dem Kandidaten sei nicht mehr zu hoch, son- ren auch lethargisch und wussten nicht, wo wir anfangen
für die bevorstehende Präsi- dern bleibe in einer „hüb- sollten. Im November mailte mein Freund Daniel Röder
dentschaftswahl seit fast drei schen mittleren Tonlage“, aus Frankfurt am Main einen Aufruf, in verschiedenen
Monaten, wie man bei öffent- lobt der Bariton, der auf zahl- Städten für Europa zu demonstrieren. Ich lehnte ab, als
lichen Auftritten die Stimme reichen großen Bühnen auf- Anwalt und Vater habe ich kaum Zeit für Sport und erst
beherrscht. Er lässt seinen getreten ist – etwa in der Mai- recht nicht für politische Aktivitäten, dachte ich. Und
Schüler Texte gut artikuliert länder Scala. Besonders gut eine Demonstration fand ich ein antiquiertes Format.
vorlesen, Pausen inklusive. gelängen Macron die für die Daniel organisierte dann in Frankfurt die erste ,Pulse of
Zum Programm gehören französische Sprache charak- Europe‘-Kundgebung, immer mehr Städte machten mit.
außerdem Atemübungen und teristischen Nasallaute. red Ich dachte an Pegida, sie haben es auch nur mit De-
monstrationen geschafft, auf sich aufmerksam zu ma-
chen. Anfang Februar beschlossen meine Frau und ich:
Wir versuchen es doch. Beim Ordnungsamt meldeten
wir eine Versammlung an, das geht recht einfach: ein
Formular, ein Anruf von der Polizei. Wir informierten
Bekannte, mobilisierten auf Facebook. Als wir zu zweit
auf dem Bahnhofsvorplatz standen, hatte ich Angst, dass
wir allein bleiben würden. Dann kamen 400 Leute. Jedes
Mal wurden es mehr, beim letzten Mal waren wir 900.
Wir sind die Mehrheit, die bisher geschwiegen hat.
Wir wollen ein Zeichen für Europa setzen. Und damit
eine Atmosphäre schaffen, in der Politiker endlich wie-
PARIS MATCH / GETTY IMAGES

der Visionen für die EU formulieren. Bis zur Stichwahl


in Frankreich im Mai machen wir jede Woche eine Kund-
gebung. Ein Freund von mir organisiert nun Demos in
Paris, meine Frau hat Kontakte nach Portugal. Ich hoffe,
dass unsere Bewegung sich in ganz Europa ausbreitet.“
Aufgezeichnet von Susan Djahangard

DER SPIEGEL 11 / 2017 135


„Der Doppelregent sieht aus wie der bis dato gesichtslose Bösewicht im neuen James-
Bond-Film. Gut frisiert und bestens verdrahtet, Schlafzimmerblick, der Wolf im
Schafspelz mit zwei Raketenkoffern. Titelvorschlag: 007 and the Fake News Connection.“
Dr. Thomas Degen, Stuttgart

Evolutionäre Kreuzung Dass Sie den zweifellos gebildeten Putin


mit dem augenscheinlich mit schweren
Risiko verringern
Nr. 10/2017 Der Doppelregent – Wie viel Putin Defiziten behafteten Trump vergleichen, Nr. 9/2017 Geldgeschäfte im Internet sind schnell,
steckt in Trump? bequem, aber leider oft nicht sicher
scheint wohl der Tatsache geschuldet zu
Für mich persönlich schon jetzt das Titel- sein, dass Sie Ihr Feindbild Russland immer Ihr Artikel beschreibt sehr gut die Gefahren,
bild des Jahres. Ich denke, das gibt Ärger. wieder aufpäppeln wollen. die im Onlinebanking lauern, aber auch, wie
Silvio Mudrack, Hamdorf (Schl.-Holst.) Elisabeth-Christine Meister, Jena man durch Einhalten bestimmter Verhal-
tensregeln das Risiko erheblich verringern
Trump und Putin zu vergleichen ist, wie Sind Trump und Putin eigentlich vernunft- kann. Doch warum wird das iTAN-Verfah-
Äpfel und Birnen in einen Topf zu werfen. gesteuert, oder werden sie von ihrem Hor- ren als veraltet und deshalb unsicher beur-
Die Parallelen sind geringfügig gegenüber monüberschuss überwältigt? teilt? Ich halte es für eines der sichersten
den dominierenden Gegensätzen zwischen Horst Winkler, Herne (NRW) Verfahren: Die TAN-Liste kommt per Post
beiden. Was hat ein Wirrkopf wie Trump und liegt in meiner Schublade. Da muss ein
mit einem überlegt reagierenden und re- So seriös der Außenpolitiker Konstantin Hacker aus Aserbaidschan schon viel Auf-
gierenden Mann wie Putin gemein? Es ist Kossatschow sich auch gibt – er kann nicht wand betreiben, um daranzukommen.
die Angst vor dem starken und behäbig überzeugend erklären, wo das russische Ge- Dieter Fritsche, Bolanden (Rhld.-Pf.)
wirkenden, auf der westlichen Hemisphäre sellschaftsmodell dem europäisch-amerika-
immer noch zu unbekannten großen russi- nischen überlegen ist. Seine Aussage über Wer bitte schön kann mir erklären, wieso
schen Bären, die immer wieder deutlich den „unsicheren und schwachen Westen“ über PhotoTAN generierte TAN-Num-
wird. Dabei sind die Menschen Russlands ist ein Witz, wenn man an Putin auf der mern, die in eine Überweisung einzutip-
und Amerikas in Emotionalität und Patrio- Sicherheitskonferenz 2007 denkt, der dort pen sind, sicherer sein können als die von
tismus vielleicht gar nicht so weit von- all die „russischen Kränkungen“ aufzählte. der Bank im Zuge der Transaktion vorbe-
einander entfernt und könnten im Grunde Andreas Mischkin, Hamburg stimmte TAN aus einer iTAN-Liste?
gut Freund miteinander sein. Helmut Bielefeldt, Uetze (Nieders.)
Waltraud Krannich, Dresden
Entsprechende Kreise DER SPIEGEL Auch PhotoTAN ist kein absolut
Nr. 9/2017 Warum der SS-Verbrecher Alois Brunner sicheres Verfahren, gegenüber iTAN-Listen
nach dem Krieg ungestört in Damaskus leben konnte
hat es aber mehrere Vorteile. So werden
Sie erwähnen Hans Germani, den mit Brun- die TANs erst im Zuge der Überweisung
ner befreundeten Journalisten, der für den generiert – idealerweise auf einem Extra-
SPIEGEL, den „Stern“ und später jahrelang gerät – und sind an einen konkreten Auftrag
für die „Welt“ tätig war. Auf der Basis von gekoppelt. Anders als bei einer iTAN-Liste
CIA-Akten möchte ich ergänzen: Der Öster- kann niemand im Voraus an Ihre Sicher-
ITAR-TASS / IMAGO

reicher Germani war Jahrgang 1927 und heitscodes kommen und sie zweckentfrem-
schon deshalb kein ehemaliger NS-Funk- den. Dass Menschen ihre TANs preisgeben,
tionär. Aber bereits während seines Studi- passiert immer wieder, etwa wenn sie auf
ums kam er mit entsprechenden Kreisen in E-Mails von Betrügern hereinfallen. Eine
Russische Aktivistin mit Plakat Verbindung – und zugleich mit dem nach- iTAN-Liste könnte auf dem Postweg abge-
richtendienstlichen Geschäft. Er heuerte um fangen oder zu Hause von jemandem abfo-
Muss sich der Westen, fragt der SPIEGEL, 1948/49 beim Abwehrdienst der US-Armee tografiert werden – wodurch der Täter sogar
jetzt darauf vorbereiten, dass Russland sich in Österreich an, der unter anderem dort gleich an viele TANs gelangen würde.
in Wahlen einmischt? Ja, ist möglich. Jene Exilungarn für den Untergrundkampf in de- Markus Böhm, SPIEGEL ONLINE, Ressort Netzwelt
Einmischung, derer man Putin ohne Be- ren Heimat ausbildete. Dass er für den SPIE-
weise verdächtigt, erscheint mir aber im
Vergleich zu Amerikas gut dokumentier-
GEL vom Ungarn-Aufstand 1956 berichtete,
entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie.
Ein Leuchtturm
ten direkten Einflussnahmen auf unzählige Ab 1951 war er „freier“ Mitarbeiter der Or- Nr. 9/2017 Die acht großen Irrtümer der
Migrationsdebatte
Wahlen in schwachen Staaten eher als ein ganisation Gehlen, der Vorläuferorganisa-
Kavaliersdelikt. Ich gedenke dankbar all tion des BND, und ab 1955 hauptamtlicher Diese drei Seiten bewahre ich auf – und
jener Whistleblower, die uns friedliche Mitarbeiter. Offiziell arbeitet er als Korres- zwar als Mahnung an mich selbst, wie
Zeitgenossen wissen lassen, was es an do- pondent des SPIEGEL. Im Vorfeld des Pro- leicht man doch halb informiert zu fal-
kumentierten Fakten zu wissen gibt. zesses in Israel gegen Brunners Chef Adolf schen Annahmen kommt.
Wolfgang Jedliczka, Sundbyberg (Schweden) Eichmann 1961 versuchte Germani, „Ent- Markus Breit, Mannheim
lastungszeugen“ für Eichmann aufzutreiben
Geniales Cover: evolutionäre Kreuzung und in den Nahen Osten zu bringen. Er hat In Anbetracht des emotionalen Erregungs-
zweier Sympathieträger. Innerhalb einer dabei mit Erich Kernmayr zusammengear- zustands der Deutschen, der einen Teil
Sekunde ist das Trump-Chamäleon ent- beitet, einem der wohl einflussreichsten von ihnen sogar in die Arme verantwor-
tarnt. Wie ein Bestsellerkrimi hält einen die rechtsextremen Publizisten in der alten tungsloser Populisten zu treiben vermag,
Titelgeschichte zum Ost-West-Geschehen Bundesrepublik. Wann Germanis BND-Tä- sehe ich den Essay von Professor de Haas
in Atem – Geschichtsdoku vom Feinsten. tigkeit endet, ist unbekannt. als Leuchtturm des guten Journalismus.
Peter Hülcker, Norderstedt (Schl.-Holst.) Uwe Schimnick, Quakenbrück Herbert Smetan, Siersburg (Saarl.)

136 DER SPIEGEL 11 / 2017


Briefe

Liberale Fassade Als ich die Aussage eines Teilnehmers


(„Eine Rente werde ich wohl nicht mehr
Charme einer Würstchenbude
Nr. 9/2017 Ein Streitgespräch mit zwei deutschen beziehen. Dann ist das eben so.“) gelesen Nr. 9/2017 Kulturstaatsministerin Monika Grütters
Familien, die der Rechtspopulismus gespalten hat kritisiert das geplante Einheitsdenkmal
habe, war ich als ein Vertreter der jüngeren
Solch eine Diskussion im SPIEGEL zu lesen Generation ziemlich verwundert: Es ist Dass das Holocaust-Denkmal an den
war sehr lehrreich: Da einem die Teilneh- doch unser aller Aufgabe, dafür zu sorgen, Holocaust erinnert, wüsste niemand, wenn
mer unbekannt sind, müsste man ja unvor- dass wir auch in Zukunft einen stabilen es nicht als Holocaust-Denkmal errichtet
eingenommen sein. Und doch ertappte ich Staat haben, und dazu gehört eine aus- worden wäre. Auch die in Berlin beabsich-
mich im Verlauf des Gesprächs, wie ich kömmliche gesetzliche Rente! Aber sonst: tigte Wippe hat aus sich heraus keine Aus-
eine „Partei“ als sympathisch empfand bitte mehr von solch einem Format! sagekraft, erinnert eher an einen unterge-
und die „Gegenseite“ als ignorant und Dr. Jens Köhler, Mutterstadt (Rhld.-Pf.) gangenen, früher an dieser Stelle ansässi-
blöd. Wie lässt sich das verhindern? Ihre gen Vergnügungspark. Eine Gedenktafel
Bereitschaft zur Teilnahme zeigt ja, dass Tatütata, ab in die Klinik dort, wo die Mauer verlief, ist sinnvoller.
alle Gesprächspartner Respekt und Beach- Dr. Eberhard Foth, Waldbronn (Bad.-Württ.)
tung verdient haben. Nr. 9/2017 Das Versandhandelsverbot von Minister
Hermann Gröhe bringt Patienten in Not
Bernd Heydecke, Neukalen (Meckl.-Vorp.) Unabhängig von den Kosten: In der Öffent-
Sie malen düstere Aussichten an die Wand lichkeit, gerade auch in Berlin, gilt das Pro-
für Patienten, die seltene Medikamente be- jekt nicht als notwendige Kulturtat. Das
nötigen, weil Gröhe ein Versandhandelsver- Brandenburger Tor steht noch immer, und
bot für Arzneimittel fordert. Kein Wort über es steht zuvorderst für die deutsche Einheit.
die Vorgeschichte, das Urteil des Europäi- Wir brauchen und wollen kein weiteres
MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL

schen Gerichtshofs: Er hat ausländischen „modernes“, kein „Zeitgeist-Einheitsdenk-


Versandapotheken, die nach Deutschland mal“, auch nicht diese Spaßwaage vor dem
liefern, erlaubt, Rabatte zu gewähren, wäh- Schloss – mit Geländer, Wachschutz und
rend deutsche Apotheken sich an die Preise weiteren Folgekosten. Es braucht auch kei-
der Arzneimittelpreisverordnung halten ne kaiserlichen Kolonnaden. Wäre die re-
müssen. Das hätten Sie anprangern sollen. lative Leere vor dem Schloss denn nicht
Familien Dinse und Schnorbus Reinhild Berger, Korntal-Münchingen (Bad.-Württ.) Gnade angesichts der zunehmenden Ver-
dichtung der Stadt? Die Fläche ließe sich
Was neben dem Hauptstrang wunderbar Das System der Arzneimittelabgabe mit gut notfalls durch eine kräftige Buchsbaum-
zu erkennen ist, sind die jeweiligen Le- kontrollierten Vertriebswegen über Groß- barriere befriedigend gliedern.
benslügen der beiden Generationen. Die handel und Apotheken macht es Fälschern Dr. Hans R. Gelderblom, Seddiner See (Brandenb.)
ältere Generation hat von klein auf gelernt, schwer, ihre Ware in Umlauf zu bringen.
Egoismen als Selbstlosigkeit zu tarnen: Dagegen ist nicht klar, wie der Bezug von Ein Denkmal, das an die Wiedervereini-
„Wir machen das doch nur für unsere Kin- Arzneimitteln über das Internet ähnlich gung erinnert, ist wichtig und von großem
der.“ Die jüngere (meine) Generation sicher gestaltet werden kann. Gröhe ist da- Wert. Es hätte für mich auch eine große
zeigt, dass sich unter der liberalen Fassade bei, diese offene Flanke zu schließen. emotionale Dimension. Die Ausgestaltung
leider oft Totalitarismus verbirgt. Dr. Susanne Schnädelbach, Bonn als Schaukelbanane hat den Charme einer
Michael Ronge, Berlin Achterbahn oder einer Würstchenbude.
Ich bin zufriedener Kunde von DocMorris.
Zwei Elternpaare, geprägt von Weltkrieg Jeder Sendung liegt ein deutlicher Hinweis
beziehungsweise Nachkriegszeit, in einem auf Gefahren bei. Erst dadurch habe ich von
Fall mit DDR-Hintergrund, in privatem der Wechselwirkung von Grapefruitsaft mit
Ambiente, diskutieren mit ihren Kindern meinem Blutdruckmittel erfahren. Jetzt
über Rechtspopulismus, Islam, Migranten habe ich das Mittel gewechselt – und prompt

MILLA & PARTNER / DPA


und dies durch Journalisten moderiert – weist DocMorris darauf hin, dass ich dazu
super. Ich habe Parallelen zu den Diskus- keine Lakritze mehr essen darf.
sionen im Freundeskreis gezogen. Und war Wolfgang Schmidt, Lage (NRW)
auch froh, in einem Rechtsstaat zu leben,
in dem freie Meinungsäußerung und freier Sonntag in der Apotheke. Kunde: Ich
Journalismus möglich sind. brauch mein Insulin. Das Rezept hab ich zu Vorschlag für das Einheitsdenkmal in Berlin
Werner Große, Hagenbach (Rhld.-Pf.) DocMorris geschickt, das Paket ist noch
nicht da. Apotheker: Was für ein Insulin? Die Beziehung zur Wiedervereinigung
Schade, dass Sie die „Jugend“ durch zwei Kunde: Weiß ich nich’. – Tja, dann fällt so wäre nicht erkennbar. Oder soll die Bana-
Mittvierziger zu Wort kommen lassen. Zu- ein Patient eben ins Koma, tatütata, ab in ne auf die Mangelwirtschaft der alten DDR
dem wird behauptet, dass wir jungen Leute die Klinik, aber er hat zweifuffzig gespart. verweisen? Das wäre eine Verkennung und
uns nicht genug einbringen und keine Tra- Transport und Klinik zahlt die Kasse. Entwürdigung des Einheitsgedankens. Die
ditionen mehr aufrechterhalten würden. Ob- Wolfgang Mühl, Buckenhof (Bayern) Gestaltung des Entwurfs entspricht einer
wohl mich die unterschwellige Sehnsucht dummen Architektenästhetik. Sie ist fan-
nach der guten alten Zeit auf dem Plüschso- Um den erwähnten Jungen zu versorgen, tasielos und zeugt von Überdruss und
fa fernab von den Problemen der Welt etwas können die in der Nähe von Schifferstadt Gleichgültigkeit.
schaudern lässt, möchte ich dem widerspre- gelegenen Apotheken alle nötigen Rezeptur- Hans-Jochim Dietz, Erkrath (NRW)
chen: Junge Leute engagieren sich vielleicht arzneimittel herstellen. Dies haben wir der
nicht in Parteien, aber für Herzensthemen. Mutter am 17. Februar mitgeteilt. Spezial- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
Meist wird über uns und nicht mit uns ge- versender braucht es dafür nicht, auch wenn (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
sprochen. Dabei haben wir einiges zu sagen. mancher das glauben machen möchte. sowie digital zu veröffentlichen und unter
Sylvia Wittmer, Berlin Dr. Andreas Kiefer, Landesapothekerkammer, Mainz www.spiegel.de zu archivieren.

DER SPIEGEL 11 / 2017 137


Hohlspiegel Rückspiegel

Zitate
Die „Süddeutsche Zeitung“ zum
SPIEGEL-Bericht „Albertos Gaspedal“
über das Sportförderprogramm
Nike Oregon Project (Nr. 10/2017):

Wann die Usada (US-Antidoping-


agentur –Red.) ihren Abschlussbericht
Aus der „Frankfurter Rundschau“ vorlegen wird, ist unklar. Offenbar
auch, weil der Mäzen des Nike Oregon
Project die Nachforschungen blockiert:
Aus der „Südwest Presse“: der Sportartikelgigant Nike. Der SPIE-
„Simon Terodde erzielte sein Tor vermut- GEL berichtete zuletzt, die Usada habe
lich mit einer gebrochenen Nase.“ Dokumente bei Nike angefordert, vor
allem über Salazars Testosteronmittel.
Sorry, antwortete Salazars Anwalt, das
Material liege auf einem Server von
Nike. Datenschutz und so. Als die Usada
dort anfragte, wurde sie mit „unver-
Aus der „Winnender Zeitung“ schämten“ Bedingungen konfrontiert.
Man habe nun zwar Dokumente erhal-
ten, steht in dem Bericht, die seien aber
Aus dem Kundenmagazin „Wohnen“ „längst nicht ausreichend“.
der BHW Bausparkasse: „Dazu gehören
Schraubenwinzlinge, die ein Uhrwerk Der Schriftsteller Jonas Lüscher in seinem
zusammenhalten, ebenso wie die über Roman „Kraft“ zum SPIEGEL-Titel
zwei Meter langen Riesen, die gi- „Ein Stück Heimkehr“ über Willy Brandts
gantische Windräder für die Solarstrom- Kniefall in Warschau (Nr. 51/1970):
erzeugung im Acker verankern.“
Richard Kraft, der ... mangels histori-
wie
an n , wo, ir scher Bildung die Geste des Kanzlers
W :W
ollen nicht richtig einzuordnen wusste, erlag
Sie w Sie da! angesichts des knienden Mannes dem
ür
sind f Irrtum, dieser entschuldige sich bei ihm
für die Abwesenheit des Vaters, aber
weil er ein ebenso wissbegieriges wie
auch einsames Kind war, wollte er es
doch genauer wissen und kaufte sich von
Aus der Oberpfälzer Zeitung seinem Ersparten den SPIEGEL, auf dem
„Der neue Tag“ Jeder Mensch hat etwas, der kniende Kanzler abgebildet war.
das ihn antreibt. Ein Reporter, der Zeuge der Szene in
Warschau geworden war, berichtete in
Aus der „Thüringischen Landeszeitung“: ergriffenen Worten: „Dann kniet er da
Wir machen den Weg frei.
„Demnach meldeten Thüringer also nicht um seinetwillen.“ Der Junge
Unternehmen im vergangenen Jahr fühlte sich irgendwie bestätigt. Das hatte
519 Patente an – 24 pro Einwohner.“ er gespürt, dass der Kanzler nicht für
sich selber kniete, nein, er kniete für
den Vater. Aber dann, als er weiterlas,
verstand er doch nicht, worum es ging.

Ehrung
Aus den Wirtschaftsnachrichten Online-Banking Die Multimedia-Reportage „Schweigen
von Faz.net Nehmen Sie Ihre Bank mit, wohin Sie ist Tod“ (SPIEGEL Nr. 11/2016) hat den
wollen: Mit unserem Online-Banking Hansel-Mieth-Preis digital 2017 der
erledigen Sie Überweisungen, Dauerauf- Agentur Zeitenspiegel gewonnen. Text,
Aus dem „Badischen Tagblatt“: träge oder Lastschriften im Blumenladen, Videos, Fotos, Grafiken und Musik ver-
schließen Finanzprodukte bequem auf
„Babys nicht mit Ölen inhalieren“ schmelzen in dieser Reportage, in der
der Couch ab oder überprüfen Ihre
Finanzen einfach vor dem Schlafengehen.
Christina Schmidt und Maria Feck er-
Mehr auf vr.de/immer-ueberall gründen, warum in Grönland die Selbst-
mordrate unter Jugendlichen so hoch ist.
Visual Story:
Schweigen ist Tod
spiegel.de/sp112017preis
Aus der „Lippischen Landes-Zeitung“ oder in der App DER SPIEGEL

138 DER SPIEGEL 11 / 2017


„ Schwarzriesling!
Hab' ich neu entdeckt! “

Erstaunlich
kräftig.

Martin W., 59, Ingenieur

Entdecken auch Sie den feinfruchtigen Roten neu!


Der Schwarzriesling ist die Urform aller Burgundersorten. Erstaunlich kräftig in Farbe und Geschmack
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Raiffeisenstraße 2 · 71696 Möglingen · Telefon 0 7141 4866-0 · www.wzg-weine.de · info@wzg-weine.de
“...and OMEGA is the watch
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