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Nr. 52 / 23.12.2017
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Nr. 52 / 23.12.2017
Deutschland €4,90
Tanken Sie
Der Audi
CO₂-Emissionen mit
* Kraftstoff verbrauch kombiniert: Benzin 6,3–5,6 l/100 km; CNG 4,2–3,8 kg/100 km; CO₂-Emissionen kombiniert: Benzin
143–126 g/km; CNG 114–102 g/km. Angaben zu Kraftstoff verbrauch und CO₂-Emissionen bei Spannbreiten in Abhängigkeit
vom verwendeten Reifen-/Rädersatz.
** Im reinen Gasbetrieb (CNG) in einer Well-to-Wheel-Betrachtung (Umweltbilanz, die die Kraftstoffproduktion und den Fahr-
betrieb des Fahrzeugs mit einschließt) im Vergleich zum Audi A5 Sportback 2.0 TFSI mit 140 kW (Kraftstoff verbrauch Benzin
kombiniert: 5,9–5,5 l/100 km; CO₂-Emissionen kombiniert: 133–124 g/km). Als g-tron Kunde tanken Sie wie gewohnt an
einer beliebigen CNG-Tankstelle. Die AUDI AG stellt sicher, dass die auf Basis der gesetzlichen Normen zur Verbrauchs- und
Emissionsmessung nach NEFZ/WLTP sowie regelmäßig von Audi erhobener statistischer Daten zur jährlichen Fahrleistung der
im Zeitraum 7. März 2017–31. Mai 2018 bestellten Audi g-tron Fahrzeuge errechneten Gasmengen durch Audi e-gas ersetzt
werden – für 3 Jahre ab der Erstzulassung als Neufahrzeug. Das Audi e-gas wird in das europäische Erdgasnetz eingespeist und
verdrängt somit fossiles Erdgas. Der ebenfalls auf dieser Grundlage ermittelte Umfang der CO₂-Einsparung kann im tatsäch-
lichen Fahrbetrieb geringer ausfallen. Mehr unter audi.de/g-tron
DasErste.de
Hausmitteilung
Betr.: Politischer Jahresrückblick, Familien, Scorpions, Ehrungen
Früher im alten
China wurden
D as zurückliegende Jahr war ein Jahr der poli- Dokumente sicher
Z
wölf Stunden dauerte die Fahrt im Gelän-
dewagen von Caracas in den Westen Vene-
zuelas nach Mérida. Dort leben drei frühere
die Zeit einige witzige Geschichten gesammelt.
Zum Beispiel die vom Kürbis, der im alten China
ausgehöhlt wurde, um darin wichtige Dokumente
Linksradikale aus Berlin, die seit mehr als sicher zu verschicken. Ob die Dokumente jemals
20 Jahren vom Bundeskriminalamt wegen eines dort ankamen, wo sie hinsollten – das weiß nur
versuchten Sprengstoffanschlags zur Fahndung Thommy. „So, liebe Leute! Das war der letzte
ausgeschrieben sind. Mit einem der Männer, Kürbis für heute!“ Und auch wenn Thommy
mal die Ware ausgeht, lassen sich die wichtigen
Thomas Walter, ist Korrespondent Christoph
Dokumente zum Glück mit dem elektronischen
Scheuermann, Walter Scheuermann verwandt. Scheuermann besuchte Postfach der Volksbanken
ihn und die beiden anderen Flüchtigen und traf Raiffeisenbanken
auf alte Radikale, die zurück nach Hause wollen, jedoch nicht wissen, wie sie es sicher verschicken und
anstellen sollen. Mehrfach haben sie erwogen, sich zu stellen, allerdings drohen austauschen – und
ihnen in Deutschland ein Prozess und mehrjährige Haftstrafen. Die Flucht hat kommen dabei so gut an
tiefe Wunden bei ihren Familien hinterlassen, zum Teil haben die Männer jahre- wie seine Geschichten, für
die sich der Marktbesuch
lang nicht mit ihren Eltern und Geschwistern kommuniziert. Seite 54
immer doppelt lohnt.
liner Mauer fiel, Völker rückten zu- Verlass ist, sichert das elektronische Postfach im
Online-Banking und in der VR-BankingApp der
sammen. Heute spaltet die Krimkrise
Volksbanken Raiffeisenbanken alles Wichtige
Europa, und der US-Präsident will rund um Ihre Finanzen. Dort können Sie zu
neue Mauern bauen. Reporter Marc jeder Tageszeit Ihre Kontoauszüge von gestern
Hujer und Fotograf Armin Smailovic oder heute einsehen: von Kontokorrent,
haben die Scorpions auf ihrer „Crazy Sparbuch, Darlehen und Girokonto bis hin zu
World“-Tour begleitet; in die USA, Scorpions mit Hujer (3. v. l.), Smailovic (2. v. r.) Ihrer Riesterrente und Ihrem Bausparvertrag.
nach Russland und in die Ukraine. Gleichzeitig behalten Sie alle Ihre Unterlagen im
Blick und können sie bei Bedarf sicher und direkt
Sie haben ihre Konzerte besucht, in ihren Hotels gewohnt und an den täglichen
mit Ihrem Bankberater austauschen.
Abendessen teilgenommen, zu denen sie sich wie eine brave deutsche Familie
trafen. Sie haben eine Band erlebt, die nicht aufhören kann, obwohl deren Was bringt der beste Service, wenn man ihn
Sänger und Gitarristen im Rentenalter sind. „In ,Wind of Change‘ haben die nicht nutzt?
Scorpions Veränderung besungen“, sagt Hujer, die Musiker seien sich nur nicht Alle Informationen zu den Funktionen und
im Klaren darüber, was das für sie selbst heißt. Seite 106 Services, die das Leben noch einfacher machen,
erhalten Sie auf vr.de/kannwas oder direkt
vor Ort in einer von über 11.500 Filialen der
zeichnete die Jury Barbara Hans von SPIEGEL ONLINE aus. Nils Minkmar
wurde für seine Leistungen im Bereich „Kultur“ geehrt.
VR-BankingApp
Kollege kommt gleich Liebe zur Lunte Tröstliches auf dem Tisch
Gewerbe Wer heute einen Handwerker Brauchtum Die Luft in vielen Städten Essen Sternekoch Nils Henkel rät zu
bestellt, muss meist wochenlang warten – leidet unter der Böllerei der Deutschen zum Familienrezepten an Weihnachten: „Wenn
und teuer wird es obendrein. Selbst Groß- Jahreswechsel. Silvester schießen die ein Gericht zu besonderen Anlässen
unternehmer finden kaum noch Betriebe, Feinstaubwerte in die Höhe, doch kaum immer wieder gekocht wird, schafft das
die Aufträge übernehmen. Neue Fach- ein Politiker wagt, ein Feuerwerksverbot Verbundenheit.“ Am besten „samtig,
kräfte gibt es zu wenige. Der Boom wird zu fordern – manche Kommunen richten weich und warm“. Würstchen mit Kartoffel-
allmählich zum Problem. Seite 62 aber böllerfreie Zonen ein. Seite 40 salat? Fehlt die „Schlotzigkeit“! Seite 46
Leitartikel
K
lar, das geht natürlich alles enorm schnell für uns noch dieses Sexvertragsgesetz zu uns komme, dann sei
Männer. Gerade erst haben wir mühsam und mit- es endgültig aus mit dem deutschen Mann. Ein Nachruf.
hilfe eines frischen Gesetzes das „Nein heißt Nein“ Schade.
gelernt, schon ist die Welt wieder einen Schritt weiter. „Ja Dabei ist alles ganz anders. Die letzten #MeToo-Monate
heißt Ja“, heißt es jetzt aus Schweden. Ein Gesetzentwurf waren ein notwendiger Aufschrei, ermöglichten Opfern
fordert dort vor dem Sex ein gegenseitiges Einverständnis ein befreiendes, plötzliches Reden über Dinge, die bislang
beider Partner. Ansonsten macht man sich strafbar. im Verborgenen geschahen. Es war der Beginn einer not-
Ha, ha, ha! Da lacht das Internet, und die Männer fallen wendigen Aufklärung echter, justiziabler Verbrechen. Viel-
um vor Spott und Heiterkeit. Jedes Mal ein Sexvertrag! leicht auch der Beginn von Veränderung scheinbar ewig
So viel Papier hab ich gar nicht! Baumverschwendung! gültiger patriarchaler Machtstrukturen, die Missbrauch
Wann kommt der Videobeweis? Brauch ich für jede neue und Belästigung möglich gemacht haben. Und vielleicht
Stellung einen neuen Vertrag? Und. So. Weiter. auch – und da hängen Heilmanns Lächeln und das absurd
Das schwedische Gesetz ist also zunächst mal ein erscheinende Schwedengesetz zusammen – ein neues,
Weihnachtsgeschenk für Satiriker und Freunde plumper respektvolles, hierarchiefreies Miteinandersprechen.
Witze. Eine perfekte Loriot- Das Reden über all das hat-
Szene zum Beispiel ginge so: te, zumindest in Deutschland,
dicker Mann mit dünnem oft den Charakter eines ag-
Haar, nackt und verzweifelt gressiven Selbstgesprächs mit
auf der Suche nach einer fri- der eigenen Gruppe. Bei
schen Patrone für seinen Fül- kaum einem anderen Thema
ler. Frau trommelt wartend ei- wird in Kommentaren so re-
nen Fingerspitzenmarsch aufs flexartig scharf geschossen.
Kissen. Ist der Vertrag bald Hass. Selbstgewissheit. Wut.
fertig? Adieu, Leidenschaft! Gereiztheit. Alle dunklen,
Der arme Mann! unterdrückten Aggressionen
Dabei ist das alles gar nicht verwandeln sich blitzartig in
so lustig. Deutschland er- Wörter und Sätze, die man
reichte die Nachricht von gegen den Gegner in Stellung
NILSSON / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK
umsteigen. zusätzlic
Angeboten sich
ern.
¹ Kraftstoffverbrauch: 4,9-4,8 l/100 km (innerorts), 3,8-3,7 l/100 km (außerorts), 4,2-4,1 l/100 km (kombiniert), CO2-Emissionen (kombiniert): 97-93 g/km. Energieeffizienzklasse B.
Die angegebenen Werte wurden nach dem jeweils vorgeschriebenen Messverfahren (§ 2 Nrn. 5, 6, 6 a Pkw-EnVKV in der jeweils geltenden Fassung) ermittelt. ² Unverbindliche
Preisempfehlung des Herstellers, zzgl. lokaler Überführungskosten. Andere Motorisierungs- und Ausstattungsvarianten gegen Aufpreis möglich. ³ Ein Leasingbeispiel
der Mercedes-Benz Leasing GmbH, Siemensstraße 7, 70469 Stuttgart. Stand 01.09.2017. Ist der Darlehens-/Leasingnehmer Verbraucher, besteht nach Vertragsschluss
ein gesetzliches Widerrufsrecht nach § 495 BGB. 4 Erwerben Sie eines unserer smart Modelle und sichern Sie sich dabei finanzielle Vorteile. Geben Sie Ihren gebrauch-
ten Diesel mit Euro-4-Norm, ganz gleich welcher Marke, bei einem teilnehmenden smart Vertriebspartner in Zahlung und erhalten Sie zusätzlich zum Ankaufspreis
eine Umtauschprämie von 1.000 Euro. Besitzer eines gebrauchten Diesels mit Euro-1- bis Euro-3-Norm erhalten von dem teilnehmenden smart Vertriebspartner, mar-
kenunabhängig, zusätzlich zur Umtauschprämie einen Wertausgleich für ihr Altfahrzeug, sofern dessen Entsorgung nachgewiesen wird. Altfahrzeug mind. 6 Monate auf
Käufer zugelassen und weitere Voraussetzungen. Das Angebot gilt vom 02.08. bis zum 31.12.2017 (Auftragseingang), sofern die berechnete Lieferung bis zum 31.03.2018
erfolgt. Nur solange der Vorrat reicht und nur bei teilnehmenden smart Händlern. 5 Ein Leasing ist bei Inanspruchnahme des Wertausgleichs nicht immer möglich.
Ob für Ihr Wunschfahrzeug ein Leasingangebot möglich ist, erfahren Sie bei Ihrem smart center. Leasingrechnung ohne Berücksichtigung der Umtauschprämie.
Abbildung zeigt Sonderausstattung.
Fremde Brüder
Religionen Die Geschichte von Islam und Christentum ist von Streit und Kampf
geprägt. Doch die Religionen sind sich sehr nah. Muslime verehren nicht nur Abraham,
sondern auch Jesus und Maria. Wie passt das zusammen? Von Dietmar Pieper
D
er Imam hält sich ein Stück abseits, Auch darüber soll an diesem Tag in der Unter der Kuppel der Marjam-Moschee
seine Haltung, sein Lächeln wirken Marjam-Moschee geredet werden. Wie nah in Abu Dhabi sagt Mohammed Jahja al-
unsicher. Gerade betritt ein Gast sind sich Bibel und Koran, Christentum Jadali, der Imam: „Wer als Muslim Jesus
seine Moschee, den er noch nie hier be- und Islam? Verhalten sich die Religionen und Maria nicht verehrt, dessen Glaube
grüßt hat, obwohl er sein Nachbar ist: An- zueinander wie fremde Brüder? Ein großes ist null und nichtig. Man muss an sie glau-
drew Thompson, Leiter der Anglikani- Thema, ein Menschheitsthema, über das ben und sie lieben, wie man den Prophe-
schen Gemeinde in Abu Dhabi. die meisten Christen weniger wissen als ten Mohammed liebt, Gott segne ihn und
Begleitet wird Thompson von dem mus- die Mehrzahl der Muslime. Christen ken- schenke ihm Heil.“
limischen Gelehrten Thani Almuhairi. Er nen den Koran selten. Aber den Muslimen Thani Almuhairi, der Religionsgelehrte,
arbeitet für die Tabah-Stiftung, die sich ist ziemlich klar, dass viele koranische Ver- sagt: „Jesus, Friede sei mit ihm, war Muslim.
für den Dialog der Religionen einsetzt. Als se etwas mit der Bibel zu tun haben. Sie Alle wahren Propheten waren Muslime.
Erstes legt Almuhairi seinen traditionellen kennen Orte wie das libanesische Harissa. Das bedeutet, sich Gott zu unterwerfen.“
Gehstock beiseite und kniet auf dem grü- Dort, in den Bergen hoch über Beirut, be- Andrew Thompson, der Anglikaner,
nen Teppich nieder, um zu beten. treiben christliche Mönche ein Marienhei- nickt. Er stimmt zu, aber nicht ganz: „Mus-
Der Anlass für die Begegnung liegt eine ligtum, zu dem auch Muslime pilgern, um lim ist jemand, der versucht, Frieden mit
Weile zurück: Im Juni hat die Moschee zu beten. Gott zu finden, indem er Gott gehorsam
einen neuen Namen bekommen. Bis dahin Juden, Christen und Muslime führen ist. In diesem Sinne könnte man sagen,
hieß sie Scheich-Mohammad-Bin-Zayed- ihre Religionen auf denselben Mann zu- Jesus war Muslim, genau wie die älteren
Al-Nahyan-Moschee, nach dem Kronprin- rück, Abraham, arabisch Ibrahim. Er ist Propheten. Aber er war kein Muslim im
zen von Abu Dhabi. Jetzt heißt sie „Mar- Monotheist und unterwirft sich dem Wil- Sinne der Weltreligion Islam, indem er etwa
jam Umm Issa“, „Maria, die Mutter von len des einen Gottes, sogar seinen Sohn ihren speziellen Ritualen gefolgt wäre.“
Jesus“. Der Kronprinz wollte es so, als Zei- würde er opfern (Isaak, in der islamischen Das Wort Muslim bekommt in dieser
chen der religiösen Annäherung. Überlieferung Ismail). Die Geschichten Runde etwas Schwebendes, es dehnt sich
Hier soll zum ersten Mal ein Gespräch über ihn gehören für die Juden zur Tora, aus, wird größer als die bloße Zuordnung
mit einem christlichen Geistlichen über für die Christen zum Alten Testament – zu einer konkreten Religion. Thompson
Glaubensfragen stattfinden. In der großen und für die Muslime zum Koran. Sie beten erzählt: „Manchmal werde ich gefragt, ob
Gebetshalle ist es am Donnerstag vergan- fünfmal am Tag zu Gott: „Segne Moham- ich Muslim bin, und dann sage ich: ja, halb
gener Woche menschenleer, vom Lärm der med und seine Nachfolger, wie du Ibrahim und halb. Ich unterwerfe mich dem Willen
Millionenstadt ist nichts zu hören. Mit ei- und seine Nachfolger gesegnet hast.“ Gottes. Ich folge dem Beispiel des Prophe-
nem Wink sorgt der Imam dafür, dass je- Jesus und Mohammed, sie beide gelten ten Jesus. Muslime folgen dem Beispiel
mand die Teppichreinigungsmaschine den Gläubigen als Nachfahren Abrahams. des Propheten Mohammed.“
ausschaltet. Klappstühle werden herange- Christen und Juden sind für Muslime „Leu- Was ist es, das die Muslime vom Pro-
schafft, man verständigt sich über die te des Buches“, die sie respektieren. Wenn pheten Jesus lernen? „Ein Diener Gottes
Gesprächsthemen. sie keine Fanatiker sind. zu sein“, antwortet Almuhairi. Jadali er-
Die Frau, nach der die Moschee benannt Das Gespräch in Abu Dhabi soll das Ge- gänzt: „Für die Muslime bedeutet die Be-
ist, soll im Mittelpunkt stehen. Und natür- meinsame betonen in einer Zeit, in der Fa- schäftigung mit Jesus und Maria, dass sie
lich ihr Sohn. natiker durch Hass und Gewalt die Auf- den Ruf des Glaubens hören.“
Marjam im Islam, das ist dieselbe Person merksamkeit auf sich ziehen, in einer Welt, Die Geschichte von Maria wird im Ko-
wie Maria im Christentum. Und auch Issa, in der Trennendes im Vordergrund steht. ran ausführlicher berichtet als in der Bibel.
der koranische Jesus, ist der biblische Jesus. Im Westen verbinden viele den Islam mit Die 19. Sure ist nach ihr benannt, dort wird
Das ist gerade in der Weihnachtszeit ein Anschlägen, die in seinem Namen began- erzählt, wie vor der jungen Frau ein Engel
schöner Gedanke, der zu den derzeit be- gen werden. Terroristen schnallen sich Bom- erscheint und ihr verkündet, dass sie einen
sonders oft geäußerten Friedenshoffnun- ben um und machen aus Autos Waffen, sie Sohn bekommen wird. „Wie soll ich einen
gen passt: Wenn die beiden größten Reli- wollen einen Religionskrieg entfachen. Knaben bekommen, da mich noch kein
gionen der Welt mit ihren Milliarden Gläu- Es vergeht kaum eine Woche, in der Mann berührt hat?“, fragt Maria. Und der
bigen einen gemeinsamen Kern haben, kein islamistisches Attentat geschieht oder Engel in Menschengestalt sagt: „So spricht
dann könnte der Streit doch aufhören. Viel- knapp verhindert wird, auf U-Bahnen in dein Herr: ‚Das ist für mich ein Leichtes.‘“
leicht ist die lange Geschichte der Konflikte, westlichen Großstädten, auf koptische Kir- Das Lukasevangelium erzählt die Ge-
die schon kurz nach dem Tod des Prophe- chen in Ägypten. Die Muslime sehen sich schichte ganz ähnlich.
ten Mohammed begonnen hat, nur das Vor- in einer Art Mithaftung, ihre Religion ist Aber anschließend weicht der Koran von
spiel zu einer möglichen Versöhnung. bei vielen in Verruf geraten. Dabei wird der Bibel ab. Josef, den Mann an Marias
Eine Hoffnung, sicher. Doch es gibt auch der Terror nur von einer kleinen Minder- Seite, gibt es dort nicht. Die Geburt findet
Fragen. Sind Marjam und Maria, Issa und heit unterstützt. Die meisten Anschläge in einsamer Ödnis unter einer Palme statt,
Jesus bloß auf den ersten Blick gleich, aber richten sich auch nicht gegen Christen oder nicht im Stall zu Betlehem. Als die Wehen
in Wahrheit ganz verschieden? Juden, sondern gegen andere Muslime. einsetzen, ist Maria am Ende ihrer Kräfte
12 DER SPIEGEL 52 / 2017
ILLUSTRATION: TIM O'BRIEN FÜR DER SPIEGEL
AKG-IMAGES
Gesprächspartner Almuhairi, Thompson, Jadali in Abu Dhabi, Abraham in islamischer und in christlicher Darstellung: Der göttliche Wille
und ruft: „Wär ich doch vorher schon ge- das genau gleiche Aussehen Religions- als Gottes eigenen Sohn
storben und ganz und gar vergessen!“ wie Jesus geben will, sodass zugehörigkeit offenbart worden war. Eine
Dann geschieht ein Wunder. Gott lässt er sich opfern kann an der weltweit 2017, in Mrd. neue, höhere Wahrheit konn-
Wasser fließen und Datteln von der Palme Stelle von Jesus.“ Und so sei m e C hr te es danach nicht mehr
li iste
herabfallen. Alles wird gut. es geschehen. us geben.
n
Der Imam sagt über die 19. Sure: „Sie Die Kreuzigung war dem- Doch dann kommt da die-
ist auch deshalb so wichtig für uns, weil nach so etwas wie ein Fake, 1,8 2,5 ser Araber und behauptet
sie sehr schön ist, sie geht uns ans Herz. auf den die Römer und die das Unmögliche, er verkün-
Muslime, die den Koran auswendig lernen, Juden hereingefallen sind. det, dass Gott noch einmal
beginnen oft mit der Sure über Maria.“ Und nach ihnen die Christen. Sonstige ganz grundsätzlich und aus-
Ist Maria besonders wichtig für die mus- Andrew Thompson schaut inkl. Nichtgläubige führlich gesprochen hat, und
limischen Frauen? hoch ins geheimnisvolle zwar durch ihn selbst. Er sagt,
Das scheint keine einfache Frage zu sein. Licht der Kuppel. Was ihm Quelle: World
dass die Christen, bei allem
Jadali und Almuhairi beraten sich eine durch den Kopf geht, behält Christian Database Respekt, Jesus nicht richtig
Weile in halb geflüstertem Arabisch, dann er für sich. verstanden hätten. So je-
antwortet der Religionsgelehrte: „In unse- Weit entfernt von Abu Dhabi, an der mand kann aus damaliger christlicher Sicht
rem Glauben an Maria gibt es keinen Un- Universität in Hamburg, forscht und lehrt nur ein Betrüger sein, ein falscher Prophet.
terschied zwischen Männern und Frauen. die Islamwissenschaftlerin Katajun Amir- Mohammed gelingt es sogar, seine Anhän-
Maria ist die erste Frau, die den Zustand pur. Schon mehrfach hat sie Dialogrunden ger auf Furcht einflößende Weise zu mo-
der Perfektion erlangt hat, das Höchste, beobachtet, in denen Christen und Mus- bilisieren, er vereinigt die zerstrittenen
was ein Mensch erreichen kann.“ Deshalb lime über das Gemeinsame reden. Sie fin- Stämme der Arabischen Halbinsel und
sei sie ein Vorbild. In fast jeder Familie det solche Runden wichtig, auch wenn sie wird zum mächtigen Kriegsherrn. Seine
gebe es eine Marjam. So heiße auch die manchmal einen unerwarteten Verlauf Nachfolger kämpfen noch siegreicher.
zweijährige Tochter des Imams. nehmen. Amirpur sagt: „Erst freuen sich Die Wortführer der Christenheit fahren
Jadali lächelt und fügt hinzu: „Wenn sich alle, dass Maria und Jesus in Koran und sogleich ihre größten rhetorischen Geschüt-
Frauen dem Korankapitel über Maria zu- Bibel ganz ähnlich erscheinen. Aber ir- ze auf. Denn sie haben etwas zu verteidi-
wenden, dann steht für sie häufig der gendwann kommt der Punkt, an dem es gen. Am Ende der Antike hat sich der
Bericht über ihre Leiden und Nöte im Mit- nicht mehr weitergeht.“ Glaube an die Menschwerdung des einen
telpunkt. Den Frauen laufen Tränen über Dieser Punkt, sagt Amirpur, berühre das Gottes, an seinen Tod und seine Auferste-
die Wangen, wenn sie sich das vor Augen Innerste des Glaubens: „Dass Jesus für die hung in einem riesigen Gebiet ausgebreitet.
führen. Christen gleichzeitig Mensch und Gott ist, Geweihte Kruzifixe trotzen dem irischen
An einer Auseinandersetzung, die das können Muslime nicht verstehen, es wi- Regen genauso wie dem trockenen Wind
Fremde zwischen den Bruderreligionen derspricht ihrer Auffassung fundamental.“ von Sanaa im heutigen Jemen.
Christentum und Islam herausarbeitet, ist Die empfundene Nähe schlage dann Die Christen sind von einer verfolgten
an diesem Tag keiner der drei Gesprächs- manchmal in ihr Gegenteil um. Die Islam- Sekte zur römischen Staatsreligion auf-
partner interessiert. Es geht um Gemein- wissenschaftlerin hat es so erlebt: „Dann gestiegen. Das oströmische Reich ist die
samkeiten. Almuhairi sagt: „Wir haben vor sitzt man zusammen und spürt, wie groß stärkste Macht am Mittelmeer; die Priester
Kurzem den Geburtstag des Propheten ge- plötzlich die Distanz ist, die kurz zuvor von Konstantinopel tragen schwere Ge-
feiert. Wenn wir dieses Fest begehen und kaum noch vorhanden schien.“ wänder, in ihren Kirchen glänzt das Gold.
uns mit dem Leben Mohammeds beschäf- Es sind nicht nur die theologischen Fra- Und nun kommt aus der Wüste, aus der
tigen, dann lesen wir vorher üblicherweise gen, die eine freundliche Begegnung auf bisher vor allem Handelskarawanen und
die Geschichte, wie Jesus geboren wurde, schwieriges Terrain führen können. In jede Räuberbanden den Weg nach Norden fan-
so wie sie im Koran steht.“ ernsthafte Auseinandersetzung zwischen den, ein Angriff auf die etablierte Welt-
Die großen Unterschiede werden trotz- Islam und Christentum drängt sich die ge- ordnung. Die vordringenden Araber wer-
dem deutlich. Für Muslime ist Jesus nicht meinsame Geschichte. Mehr als 1300 Jahre den häufig pauschal als Sarazenen bezeich-
der Sohn Gottes, sondern ein besonderer haben sich die beiden Religionen aneinan- net, nach einem der Nomadenstämme.
Mensch, der Wunder wirkt, weil Gott es der abgearbeitet, sie haben einander be- Mohammed ist erst seit zwei Jahren tot,
will. Er kann als Säugling sprechen und äugt und bekämpft, sich aber auch respek- da beklagt sich Sophronius, der chalkedo-
seine Mutter Maria von dem Vorwurf ent- tiert und bereichert. Zu sehen ist ein eher nische Patriarch von Jerusalem, 634 in sei-
lasten, sie habe heimlich mit einem Mann dunkles Bild mit einigen hellen Szenen. ner Weihnachtspredigt, er habe wegen der
geschlafen. Als Junge formt er kleine Vögel vorrückenden Sarazenen diesmal nicht
aus Ton und haucht ihnen Leben ein, so- Mohammeds Angriff auf die nach Betlehem reisen können. Er wünscht
dass sie davonfliegen. Weltordnung „den Untergang dieser blutdürstigen Geg-
Und dann die Sache mit der Kreuzigung, Für Muslime gibt es keinen verehrungswür- ner“ herbei und verunglimpft die Gefolgs-
eine Schlüsselerzählung des Christentums. digeren Menschen als Mohammed. In der leute Mohammeds in späteren Predigten
Sie habe so nicht stattgefunden, sagt Jadali, christlichen Tradition gab es mehr als tausend als Anhänger des Teufels.
der Imam: „Der heilige Koran lehrt, dass Jahre lang kaum einen hassenswerteren. Aber es gab auch andere Stimmen. Sie
Jesus in Jerusalem nicht getötet und nicht Die Christen hatten mit dem Propheten sind selten und gingen beinahe unter im
gekreuzigt wurde. Er wurde in den Him- aus Mekka von Anfang an ein großes Pro- Geschrei christlicher Selbstbehauptung.
mel erhoben. Der allmächtige Gott hat blem: Sie sahen sich im Besitz der Wahr- Dass eine intellektuelle Auseinanderset-
einem der Jünger Jesu gesagt, dass er ihm heit, die ihnen durch keinen Geringeren zung möglich war, zeigt eine Begegnung
„Dass Jesus für die Christen gleichzeitig Mensch und Gott ist,
können Muslime nicht verstehen.“
zwischen Timotheos I., dem Patriarchen Mensch und Gott, was den Nachfolger Mo- ken auf einem Misthaufen eingeschlafen
der christlichen Nestorianer, und dem Ka- hammeds natürlich nicht überzeugt. Aber und von Schweinen gefressen worden sei.
lifen Mahdi, der von 775 bis 785 in Bagdad darum geht es nicht. Mehr als ein respekt- Die Papstkirche heizte den Konflikt
herrscht. Zwischen den beiden Religions- volles Miteinander können die Christen theologisch an. Auf dem Konzil von Flo-
führern kommt es zu einem offenen Mei- im Reich des Kalifen kaum verlangen. renz 1442 gab sie die Muslime dem „ewi-
nungsstreit. Sicherlich hilft es dabei, dass Das hielt ihre Glaubensbrüder im latei- gen Feuer“ anheim. Der erbitterte Papst-
ihr Denken durch die vernunftbetonte Phi- nisch geprägten Westen Europas nicht da- kritiker Martin Luther stimmte in diesem
losophie des Aristoteles beeinflusst ist. von ab, Mohammed in den Schmutz zu Punkt gern mit Rom überein. In Moham-
Der Kalif will erkannt haben, dass schon zerren. Besonders übel wurde es, wenn med sah Luther „einen Teufel und das erst-
in der jüdisch-christlichen Bibel das Kom- sich Religion, Politik und Heldenverehrung geborene Kind des Satans“.
men des Propheten Mohammed vorausge- miteinander mischten wie im Rolandslied. Die katholische Kirche brauchte nach
sagt worden sei. Damit wäre bewiesen, Das nach 1075 in Frankreich entstande- ihrem Dekret von Florenz fast 500 Jahre,
dass der Islam die abschließende und da- ne und bald ins Deutsche übersetzte Vers- bis sie wieder zur Vernunft kam. Das Zwei-
mit überlegene Version des monotheis- epos ist eine der berühmtesten mittelalter- te Vatikanische Konzil rang sich 1965 zu
tischen Glaubens darstellt. Der Patriarch lichen Dichtungen, es rankt sich um legen- der Erklärung durch, dass auch Muslime
hält allerdings so lange dagegen, bis sein däre Begebenheiten aus dem achten das „ewige Heil“ erlangen könnten. Um
Gegenüber diese Argumentation aufgibt. Jahrhundert. Damals führte der fränkische den Propheten Mohammed machte die Er-
Doch der Muslim setzt dem Christen König und spätere Kaiser Karl der Große klärung allerdings einen Bogen, als wäre
jetzt auf andere Weise zu. Er führt eine einen Feldzug gegen die Sarazenen in sein Name unaussprechlich.
Stelle aus dem Johannesevangelium an, in Nordspanien, um sein Grenzgebiet zu Weitere Jahrzehnte vergingen, bis zum
dem Jesus vor seinem leeren Grab er- sichern. ersten Mal ein katholisches Kirchenober-
scheint und zu Maria Magdalena sagt: „Ich Vom Islam zeichnet das Rolandslied ein haupt den Fuß in eine Moschee setzte. Im
gehe hinauf zu meinem Vater und eurem groteskes Zerrbild, die Gläubigen verehren Mai 2001 besuchte Papst Johannes Paul II.
Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.“ dort Mohammed als Gott, außerdem beten die Omajjaden-Moschee in Damaskus,
Wie viele Muslime nach ihm leitet Mahdi sie zu Idolen und einer Obergottheit na- eine der glanzvollsten Stätten des Islam.
aus dieser Aussage ab, dass auch der Jesus mens Tervagant. Das Heldenepos greift Einst hatten Christen dort eine Basilika
der Bibel ein Diener Gottes, aber nicht auch eine despektierliche Mär des christli- errichtet, die sie Johannes dem Täufer
mehr sei. Timotheos wehrt ab mit dem chen Mittelalters über den Tod des Pro- weihten, und als 636 die Araber Damaskus
Hinweis auf die Doppelnatur Jesu als pheten auf, wonach Mohammed betrun- eroberten, beteten die Gläubigen beider
Religionen jahrzehntelang nebeneinander: Stadt unter seinen persönlichen Schutz. Die Geschwindigkeit, mit der sich die
Während sich die Muslime im Ostteil des Ihm ist es zu verdanken, dass Besucher neue Religion im Nahen Osten und an der
Gebäudes Richtung Mekka verneigten, noch heute durch die Säulengänge mit ih- Südküste des Mittelmeers durchsetzte, ist
versammelten sich die Christen im West- ren rot-weißen Doppelbögen spazieren heute noch erstaunlich. „Wenige Ereignisse
teil. Als der Omajjaden-Kalif im achten und dabei das raffinierte Spiel von Licht der Weltgeschichte sind von einer solchen
Jahrhundert einen neuen Prachtbau in Auf- und Schatten erleben können. Das mauri- Dramatik wie die frühe Ausbreitung des
trag gab, verdrängte er zwar die Christen, sche Gebäude blieb praktisch unangetastet, Islam“, sagt jemand, der einen Sinn für
entschädigte sie aber mit neuen Kirchen. wurde allerdings zur Kirche umgewidmet. strategische Entwicklungen hat: der frühe-
Wie viele religiöse Monumente kann Fast 300 Jahre später schlug dann doch re US-Außenminister Henry Kissinger.
auch die Omajjaden-Moschee mit einer au- ein Kirchenmann zu. Gegen den Protest Nach seiner Analyse war der Islam
ratischen Geschichte aufwarten. Bei den des Stadtrats setzte sich der Bischof 1523 „gleichzeitig eine Religion, ein multiethni-
Grabungsarbeiten vor 1300 Jahren sollen mit dem Ansinnen durch, mitten in die scher Superstaat und eine neue Weltord-
die Gebeine des Täufers entdeckt worden einstige Moschee einen Kathedralbau zu nung“, getragen von der „Überzeugung,
sein. Die Reliquien des von Christen und pflanzen. Karl V., damals König von Spa- dass seine Ausbreitung die Welt vereinigen
Muslimen verehrten Jesus-Vorläufers lie- nien und Kaiser des Heiligen Römischen und der Menschheit Frieden bringen wür-
gen bis heute im Gebetsraum der Moschee. Reiches, soll nach einem Besuch gesagt de“. Kissinger spricht, analog zur Pax Ro-
haben: „Ihr habt etwas zerstört, was ein- mana, dem Frieden im römischen Kaiser-
Der Islam in Europa malig in der Welt war, um etwas an seiner reich, vom Idealbild einer „Pax Islamica“.
Schönheit kann ein starkes Argument sein, Stelle zu errichten, was man überall sehen Weil unter der Herrschaft der iberischen
besonders, wenn sie unvergänglich scheint. kann.“ Emire und Kalifen weiterhin auch Christen
Ein architektonisches Meisterwerk wie die Was nicht ganz stimmt: Denn einmalig und Juden lebten, haben spätere Zeiten
Alhambra im spanischen Granada erzählt ist auch das islamisch-christliche Hybrid- al-Andalus gern als Reich des religiösen
auf eigene Weise von der Größe der isla- gebäude. Immerhin sind in der Moschee- Ausgleichs gesehen; „convivencia“ heißt
mischen Kultur. Oder, ebenfalls in Andalu- Kathedrale von den ursprünglich 1013 Säu- der spanische Begriff für das friedvolle Mit-
sien, die Moschee-Kathedrale von Córdoba: len 856 stehen geblieben. einander. Allerdings waren die Zeiten
Sie trägt ihre Geschichte schon im Namen. Orte wie Córdoba und Granada führen wechselhaft, und im Hauptstrom der Tole-
Nach einem halben Jahrtausend islami- Millionen Besuchern Jahr für Jahr eine ranz bildeten sich immer wieder Strudel
scher Herrschaft in Córdoba war es 1236 schlichte Wahrheit vor Augen: Der Islam des Fanatismus.
der König von Kastilien und Léon, der die gehört seit langer Zeit zu Europa. Manchmal traf es bloß Bücher. Kalif Ha-
Stadt am Guadalquivir für die Christenheit Im Jahr 711, gut ein Menschenalter nach kam II. hat Ende des ersten Jahrtausends
eroberte. Als vorbildlicher Katholik wurde Mohammeds Tod, stießen die Truppen des eine fabelhafte Bibliothek zusammenge-
Ferdinand III. später heiliggesprochen. Kalifen Walid I. über die Meerenge von kauft, Werke in arabischer, persischer, grie-
Aber in Córdoba siegte sein Schönheits- Gibraltar auf die Iberische Halbinsel vor. chischer und lateinischer Sprache. Damit
sinn über seinen Glaubenseifer. König Fer- Sie schlugen die Westgoten und errichteten steht er für einen wichtigen Strang der ara-
dinand stellte die prächtige Moschee der ein islamisches Reich. bisch-persisch-europäischen Liaison: den
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KHALED DESOUKI / AFP
Kreuzritter in Jerusalem 1099 (Gemälde, 19. Jh.), koptische Kirche nach einem Bombenanschlag in Kairo 2016
Eine Zeit, in der Fanatiker durch Hass und Gewalt die Aufmerksamkeit auf sich ziehen
Wissenstransfer. Gelehrte wie Ibn Sina (la- Darüber musste Papst Urban II. nach- Die Missionsreise des
tinisiert Avicenna), Ibn Ruschd (Averroes) denken, als er seine Bischöfe im Spätherbst Christoph Kolumbus
und viele andere trugen entscheidend dazu des Jahres 1095 in die französische Stadt Die Rivalität zwischen Islam und Christen-
bei, dass die Werke antiker Naturforscher, Clermont bestellte, um ein „consilium ge- tum spitzte sich an der Wende vom Mittel-
Ärzte und Philosophen in die westliche nerale“ abzuhalten. Am 27. November, alter zur Neuzeit zu, als die europäischen
Überlieferung Eingang fanden. dem letzten Tag des Konzils, kündigte er Seefahrer und Entdecker in die Welt hi-
Hakams Nachfolger Mansur glaubte, eine wichtige Rede in öffentlicher Sitzung naus aufbrachen. Männer wie Christoph
sich als religiöser Eiferer beim Volk beliebt an. So viele strömten herbei, dass man Kolumbus wollten nicht nur Gold und
machen zu müssen. Hunderte, wenn nicht sich vor den Toren der Stadt versammelte. Ruhm, sie waren auch fromme Christen.
Tausende der kostbaren Bücher ließ Kalif Urban sprach über die Lage der Christen Sie sollten den wahren Glauben verbreiten.
Mansur verbrennen oder in Brunnen wer- im Orient. Eindringlich schilderte er die Vor den Eroberern mit dem Kruzifix
fen. Angeblich beleidigten sie den Islam. angeblich grausame Verfolgung der Brüder war keine Weltgegend sicher, und als Kli-
Der Fanatismus richtete sich nicht nur und Schwestern durch die Muslime. Ent- scheebild sind sie bis heute unterwegs. Da-
gegen Bücher: 1011 in Córdoba und 1066 schlossene Hilfe sei geboten. vid Thomas, Professor für Christentum
in Granada kam es zu den ersten Pogro- Also Krieg. und Islam an der Universität Birmingham,
men der europäischen Geschichte, mehr Nur: Mit welcher Begründung? Ein blo- beschreibt das muslimische Vorurteil als
als 3000 Juden wurden ermordet. Für das ßer Angriff wäre theologisch verwerflich „die Neigung, alle Christen als missionari-
Zusammenleben galten damals eigentlich und für einen Papst unmöglich. Also pro- sche Kolonialisten zu betrachten“. So wie
klare Regeln. Christen und Juden erhielten pagierte Urban den „gerechten Krieg“, umgekehrt oft „alle Muslime als militante
den Status als „Dhimmis“, Schutzbefohle- den Krieg im Auftrag Gottes. Was könnte Kämpfer“ betrachtet werden.
ne. Das bedeutete im Kern, dass sie gegen dem näherkommen als ein Feldzug zur Kolumbus eröffnete sein Bordbuch 1492
Zahlung einer besonderen Steuer ihre Re- Rückeroberung des Heiligen Landes? mit einem Bericht über die Eroberung Gra-
ligion frei ausüben durften. „Deus lo vult!“, schrie der Überlieferung nadas zu Beginn des Jahres. „Mit eigenen
Bereits der zweite Kalif Umar ließ die zufolge die Masse vor den Toren von Cler- Augen“ habe er gesehen, „wie die königli-
Christen im eroberten Syrien einen Ver- mont, „Gott will es!“ chen Standarten Eurer Hoheiten auf den
trag mit 14 Punkten unterschreiben. Darin In der islamischen Welt haben sich die Türmen der Alhambra hochgezogen wur-
mussten sich die Andersgläubigen zum Bei- Gräuel und die ungeheure Anmaßung der den und wie der maurische König seinen
spiel verpflichten, keine neuen Kirchen „bewaffneten Wallfahrten“ – je nach Zähl- Palast verließ, um die Hände Eurer Hohei-
und Klöster zu errichten, ihre Häuser nicht weise sieben oder mehr – tief in die Erin- ten zu küssen“.
höher als die Häuser der Muslime zu bau- nerung gegraben. Wenn überwiegend west- Seinen Auftrag beschrieb Kolumbus als
en, die Glocken in den Kirchen nur „sehr liche Truppen gegen Muslime vorgehen, Missionswerk. Die spanischen Herrscher –
leise“ zu läuten und ihre „Kreuze und sei es im Irakkrieg, in Afghanistan oder in „als Feinde der Sekte Mahomeds und jedes
Schriften nicht auf den Straßen und Märk- Libyen, dann ist früher oder später von anderen Götzendienstes“ – hätten ihn losge-
ten der Muslime zu zeigen“. einem neuen „Kreuzzug“ die Rede. Wohl schickt, um in Indien kaum bekannte „Fürs-
Das Regime der Katholiken war dann kein anderes historisches Ereignis steht so ten, Völker und Orte aufzusuchen und die
erheblich härter, es war gnadenlos. 1492 symbolbeladen für das Trennende der bei- Möglichkeiten zu erwägen, wie man sie zu
marschierte die „Reconquista“ (Rück- den verwandten Religionen wie der Kampf unserm heiligen Glauben bekehren könne“.
eroberung) in Granada ein, der letzten um das Heilige Land. Die Zeitgenossen Das Zeitalter der europäischen Expan-
muslimischen Bastion in Westeuropa. Un- hätten sich darüber gewundert. sion begann mit enormer Hybris. Schon
ter spanischer Herrschaft galt die Doktrin Für die Muslime des Mittelalters waren 1493 teilte Papst Alexander VI. in einer
von der „Reinheit des Blutes“, die eine die Kreuzzüge nur eine Episode. Ihr Reich Bulle die größer gewordene Welt auf. Ent-
christliche Abstammung bis zurück zu den erstreckte sich zu der Zeit, als die „farang“ lang einer Nord-Süd-Linie durch den At-
Westgoten von allen verlangte, die in Mi- (Franken) in Palästina zu wüten begannen, lantik sprach er alle westlich davon gele-
litär oder Verwaltung auf höhere Posten von Zentralasien und Nordindien bis an genen Gebiete den Spaniern zu, die östlich
gelangen wollten. Juden, die nicht konver- den Atlantik. Kairo, Bagdad und Córdoba gelegenen den Portugiesen – gegeben zu
tierten, mussten das Land verlassen. waren ihre wichtigsten Metropolen. Rom „aus der Fülle Unserer apostolischen
Mit der Religionsfreiheit war es vorbei. Schwer erschüttert wurde das Reich der Machtbefugnis“. Das war der Geist, in dem
1501 wurden Tausende Korane und Hand- Kalifen nicht durch die christlichen Erobe- die Europäer es für richtig hielten, über
schriften verbrannt. 1526 rief in ganz Spa- rer, sondern durch die Mongolen. Unter den Globus zu herrschen.
nien kein Muezzin mehr zum Gebet. ihrem Ansturm ging 1258 die Abbasiden- Aber was hatte sie überhaupt aufs Meer
Hauptstadt Bagdad unter; es war das Ende hinausgetrieben?
„Deus lo vult!“ einer großen Dynastie. Die Antwort liegt in der Türkei. Im Lauf
Die Christen haben sich Jesus immer als Die Verwüstung Bagdads hatte ungeheu- des Mittelalters wurden die Osmanen zur
friedlichen Menschen vorgestellt, vorstel- re Ausmaße, Häuser, Moscheen, Paläste, muslimischen Vormacht, das Kalifat ging
len müssen. Ihre Heilige Schrift lässt ihnen alles wurde zerstört, auch die berühmten auf sie über. Mehr und mehr kontrollierten
keine Wahl. Nur einmal wird der Gottes- Bibliotheken. Durch die Tinte der in den sie die alten Handelsrouten von Asien nach
sohn handgreiflich, als er im Tempel die Tigris geworfenen Manuskripte soll sich Europa, die sogenannten Seidenstraßen.
Tische der Geldwechsler umwirft. Aber der Fluss blau gefärbt haben. Jerusalem Dann gelang den Osmanen ihr bis dahin
sonst: Friede, Friede. Halte die andere war da bereits wieder fest in muslimischer größter Triumph: 1453 eroberten sie Kon-
Wange hin. Liebe deine Feinde. Hand und sollte es bis 1917 bleiben, bis die stantinopel und machten die alte Metro-
Wie kann ein Christ Krieg führen? Briten die Stadt den Osmanen abnahmen. pole der orthodoxen Christen zu ihrer
Hauptstadt. Aus der Hagia Sophia wurde Bei seiner Propaganda half es Napoleon Zur Eröffnung im November hat der
eine Moschee. Das oströmische Reich, By- sehr, dass er rund 150 Wissenschaftler, Kar- französische Staatspräsident Emmanuel
zanz, es war einmal. tografen und Künstler mit nach Ägypten Macron eine Rede gehalten. Macron
Wie eine Wand hatte sich das Osmani- genommen hatte. Sie feierten Frankreich, kommt darin auf das Verhältnis von Islam,
sche Reich jetzt zwischen Zentraleuropa weil es als vorbildliche Kulturnation die Christentum und Judentum zu sprechen:
und den Fernen Osten geschoben. Portu- Schätze einer fernen Epoche gerettet habe, „Auf unzertrennliche Weise sind unsere
giesen, Spanier und andere christliche See- und füllten den Louvre mit den Werken Religionen miteinander verbunden. Jene,
fahrernationen sahen sich endgültig dazu der Pharaonenzeit. Auf ihren Gemälden die glauben machen wollen, dass der Islam
gezwungen, nach neuen Handelswegen zu zeigten sie Napoleon als charismatischen auf der Zerstörung der anderen Monotheis-
suchen. Überall errichteten die Europäer Anführer vor exotischer Kulisse. men aufgebaut ist, sind Lügner.“
ihre Kirchen. Christentum und Kolonialis- Das französisch-britische Machtspiel in Das ist genau, was der Kronprinz von
mus gingen Hand in Hand. einem Kernland des Islam übermittelte den Abu Dhabi hören will. Seit sein älterer
Muslimen eine brutale Botschaft: Sie sind Bruder Scheich Khalifa Bin Zayed Al
Napoleon kleidet sich in nicht mehr wichtig, und technologisch ha- Nahyan vor drei Jahren einen Schlaganfall
eine Dschalabija ben sie den Anschluss verloren. Das christ- erlitten hat, ist Mohammad Bin Zayed der
Bei Mondlicht um drei Uhr nachts betrat liche Europa hat sie überrollt. Diese eigentliche Herrscher in den Vereinigten
der französische Feldherr am 1. Juli 1798 Schmach sitzt so tief, dass noch 2015 ein Arabischen Emiraten.
in der Nähe von Alexandria ägyptischen Mitglied der islamistischen Terrorzelle von Der Kronprinz hat sich offiziell der To-
Boden. Es dauerte nicht lange, bis Napo- Paris auf Napoleon zeigt, um seinen Hass leranz verschrieben. Es gibt ein Ministe-
leon in Kairo wie ein Sultan Hof halten auf den Westen zu erklären. rium für Toleranz, und bei seinen öffentli-
konnte. Er bewunderte Mohammed, der Für den Mann, der sich 1804 zum Kaiser chen Auftritten ruft er auch gern zu Tole-
„ein Eroberer, ein Herrscher“ gewesen sei der Franzosen krönte, blieb Ägypten ein ranz auf. Politische Freiheit und gute
und „die Gestalt der Welt“ verändert habe. Land grandioser Fantasien. Einmal notier- Bedingungen für Haushaltshilfen und Bau-
Jesus dagegen: „ein Prediger“, mehr nicht. te er: „Ich sah mich selbst auf dem Weg arbeiter gehören aber nicht unbedingt
Napoleon sollte mit seinem Expeditions- nach Asien, einen Turban auf meinem dazu. Die Menschenrechtsorganisation Hu-
heer die Dominanz der Briten im Mittel- Kopf und in meiner Hand einen neuen Ko- man Rights Watch übt deutliche Kritik an
meer beenden, Ägypten zur französischen ran, den ich so verfasst hätte, dass er mir den Verhältnissen in Abu Dhabi. In dem
Provinz machen und neue Handelswege passt.“ Noch im letzten Exil auf St. Helena Land herrscht eine sehr konservative Aus-
erschließen. Er war noch keine dreißig Jah- träumte er davon, wie es gewesen wäre, legung des Islam vor, Scharia-Gerichtshöfe
re alt, ein exzellenter Krieger. ein neues Kalifat zu errichten. können für Gotteslästerung die Todesstrafe
Um die Herzen der Ägypter zu gewin- verhängen, und Peitschenhiebe und Am-
nen, wollte Napoleon keinesfalls als später Das Museum der Toleranz putation sind anerkannte Strafmittel.
Kreuzfahrer gesehen werden. Er kleidete Da sind sie wieder, gleich im ersten Raum: Christen dürfen allerdings ihren Glauben
sich in die Dschalabija, das traditionelle Maria und Jesus. Es ist nur eine kleine Sta- frei praktizieren, es gibt zahlreiche Kirchen.
arabische Gewand, feierte ein pompöses tue, aber im vor Kurzem eröffneten Lou- Das ist ein deutliches Signal in einer Zeit,
Fest am Geburtstag des Propheten und be- vre Abu Dhabi setzt sie ein Zeichen. in der es die Christen in vielen islamischen
hauptete abenteuerliche Dinge: „Die Fran- Neben der Elfenbeinskulptur stehen Ländern schwer haben, in Syrien, im Irak
zosen sind echte Muslime“, ließ er verkün- zwei weitere Mutter-Kind-Figuren in der oder in Ägypten. Besonders dramatisch hat
den. Und: „Ich verehre den Koran.“ Vitrine: eine altägyptische Isis, die ihrem es die uralten christlichen Gemeinden im
Es war der Betrug und Selbstbetrug ei- Sohn Horus die Brust gibt, und eine Dar- Irak getroffen. Als die von den USA geführ-
nes großen Egomanen. stellung aus dem Kongo. Das Arrangement ten Truppen 2003 dort einmarschierten und
Natürlich wurde er von vielen durch- soll den Besuchern die Augen öffnen: Men- den Diktator Saddam Hussein verjagten,
schaut. Als er die muslimischen Autoritä- schen verschiedener Kulturen und Epo- lebten rund 1,5 Millionen Christen im Land.
ten der Kairoer Azhar-Universität ersuch- chen sind einander ganz nah. Heute sind es weniger als 300 000.
te, die ägyptischen Imame sollten bitte die Für diesen Louvre haben die Herrscher Die neueste Trophäe der Toleranz in den
Freitagspredigt in seinem Namen halten, von Abu Dhabi den Namen des wohl be- Emiraten ist 66 mal 46 Zentimeter groß,
fand Scheich Abdullah al-Scharkawi eine rühmtesten Museums der Welt gekauft. Sie mehr als 500 Jahre alt und hat 450 Millio-
geschickte Antwort: „Sie wollen sich unter haben daraus ein Museum mit einer Bot- nen Dollar gekostet.
den Schutz des Propheten stellen. Er liebt schaft gemacht. Gezeigt wird die Geschich- Es handelt sich um das Gemälde „Sal-
Sie. Sie wollen, dass die arabischen Musli- te der gesamten Menschheit. vator Mundi“, Erlöser der Welt, von Leo-
me unter Ihren Bannern marschieren. Wer- Wer durch das von Jean Nouvel gestal- nardo da Vinci. Das teuerste Kunstwerk
den Sie Muslim!“ Napoleons Erwiderung, tete Gebäude läuft und die mit viel Geld der Welt zeigt Jesus Christus und soll sei-
wie er sie in seinen Notizen festhielt, wirkt und Verstand ausgewählten Exponate nen Platz im Louvre Abu Dhabi finden:
ehrlich: „Es gibt zwei große Schwierigkei- betrachtet, kommt ins Staunen. Der Rund- ein Werk des christlichen Abendlands als
ten, die meine Armee und mich davon ab- gang wird zu einer Entdeckungsreise Prunkstück in einer arabischen Monarchie,
halten, Muslime zu werden. Die erste ist durch das Reich der Menschheit und die den Islam als Staatsreligion hat.
die Beschneidung, die zweite der Wein.“ der Kreativität, die Ähnlichkeiten zwi- In der Hauptstadt und noch mehr in der
Weil die Briten und die Osmanen den schen den Kulturen sind verblüffend. rund hundert Kilometer entfernten Metro-
Franzosen immer mehr zusetzten, merkte Aber das Bild ist unvollständig und ge- pole Dubai ist man seit vielen Jahren da-
Napoleon, dass er trotz seines schnellen schönt: Krieg, Elend, Ausbeutung kom- bei, möglichst krisenfeste Einnahmequel-
Sieges auf verlorenem Posten stand. Heim- men fast nicht vor. len für die Zeit nach dem teuren Öl zu fin-
lich setzte er sich im August 1799 nach den. Das geht nur, wenn Menschen aus
Frankreich ab, wo er sein orientalisches der ganzen Welt in den Emiraten nach ih-
Abenteuer in einen glänzenden Erfolg um- Video: rer Fasson glücklich werden können. Des-
deutete und die Macht an sich riss. Das „Jesus war Muslim“ halb predigen die Herrscher Toleranz. In
Kommando am Nil übertrug er seinem ver- spiegel.de/sp522017jesus einer von viel Hass geprägten Welt ist das
blüfften General Jean-Baptiste Kléber. oder in der App DER SPIEGEL trotz allem ein gutes Signal.
20 DER SPIEGEL 52 / 2017
ABACA / DDP / ABACA PRESS
Leonardo-Gemälde „Salvator Mundi“: Prunkstück einer arabischen Monarchie
Aus dieser Haltung heraus hat der Kron- ein Wesen mit einer Mutter, aber ohne Vater koll, auf formalen Wegen. Sie beten, sie
prinz auch die Moschee, die ursprünglich geschaffen, das war Jesus. Aus der Perspek- fasten, sie pilgern, wie es Vorschrift ist.
seinen Namen trug, nach Maria benannt. tive des allmächtigen Gottes ist Jesus wie Das entlastet sie oft stärker als im Chris-
Er wolle damit, sagte er zur Feier der Na- Adam. Er schuf ihn aus Staub und sagte zu tentum von persönlichen Entscheidungen,
mensänderung, „die Bande der Mensch- ihm: Sei! Und so begann er zu existieren.“ erfordert aber permanente Mühen.
lichkeit zwischen den Anhängern verschie- Und was sagt Andrew Thompson dazu? Der islamische Gott ist also streng. Aber
dener Religionen festigen“. Hat er schon einmal versucht, Muslimen das bedeutet nicht, dass er ein anderer Gott
Das Gespräch zwischen dem Imam, dem die Dreifaltigkeit zu erklären? Er winkt ab ist als der christliche Gott. Thompson
Religionsgelehrten und dem christlichen und sagt: „Selbst für viele Christen ist die kommt auf sein Gleichnis zurück: „Jesus
Gemeindeführer neigt sich jetzt dem Ende Trinität ein Mysterium.“ hat seinen Anhängern gesagt, dass Gott für
zu. Eine der schwierigsten Fragen ist noch Aber er hat eine kleine Geschichte parat, uns auf andere Weise zugänglich sei, durch
unbeantwortet: Ist es möglich, Muslimen ein Gleichnis. ihn selbst, als liebender Vater.“
die Dreifaltigkeit nahezubringen, also die Das Gleichnis geht so: „Alle kennen und Nach fast drei Jahrzehnten als Kirchen-
Lehre, dass es Gott in dreifacher Gestalt ehren den Präsidenten der Vereinigten mann in muslimischen Ländern habe er
gebe, als Vater, Sohn und Heiligen Geist? Arabischen Emirate, Scheich Khalifa. Ehe gelernt, „dass hier ein großer Unterschied
Almuhairi und Jadali schauen interes- wir dem Präsidenten persönlich begegnen liegt: derselbe Gott, aber verschiedene Ein-
siert und freundlich. Aber sie sagen nichts. können, gehen wir durch seinen Palast, zu- gangstüren.“
Was sollen sie auch sagen? Der Koran, erst durch den Haupteingang, und wir müs- Für Christen führt an Jesus kein Weg
die unbedingte Richtschnur ihres Glau- sen viele protokollarische Regeln und Ri- vorbei. In ihm sehen sie, wie es der Angli-
bens, ist in diesem Punkt eindeutig. In der tuale befolgen. Aber wenn ich mit Scheich kaner sagt, „die ganze Fülle von Gottes
Maria-Sure heißt es: „Es steht Gott nicht Khalifas Sohn Freundschaft schließen wür- Offenbarung“. Den Muslimen hat sich
an, einen Sohn anzunehmen.“ de, dann würde er mich durch den Neben- Gott auf andere Weise offenbart: in einem
Issa, der muslimische Jesus, ist Marjams eingang in die Räume der Familie führen, Buch, dem heiligen Koran.
Sohn, aber nicht Gottes Sohn. Er hat über- und ich würde den Präsidenten dort als
haupt keinen Vater. Das ist ein fundamen- den Vater seines Sohnes treffen. Dieselbe
taler Unterschied zum Christentum. Person, aber eine ganz unterschiedliche Lesen Sie zum Thema auch
Der Imam beginnt nun doch zu erzählen: Begegnung, eine ganz andere Erfahrung.“ das aktuelle Heft
„Der allmächtige Gott hat zuallererst ein Fast beiläufig erklärt Thompson in SPIEGEL GESCHICHTE
Wesen ohne Vater und ohne Mutter geschaf- seiner Geschichte einen weiteren grundle- Das Christentum. Die erfolg-
fen, das war Adam. Als Nächstes hat Gott genden Unterschied zwischen Islam und reichste Religion der Welt
ein Wesen mit einem Vater, aber ohne Mut- Christentum. Im Islam ist Gott entrückt Erhältlich am Kiosk, im Buch-
ter erschaffen, das war Eva, geformt aus ei- und unendlich machtvoll, die Gläubigen handel oder im SPIEGEL SHOP
ner der Rippen Adams. Schließlich hat Gott begegnen ihm sozusagen durch ein Proto- unter www.spiegel.de/shop
Bundesinnenministerium
Die Affäre um den Kauf von Körperkameras bei der Bundes- Angebot ab. Das Motorola-Gerät bekam also den Zuschlag,
polizei weitet sich aus. Es gibt neue Anzeichen, dass das Ge- obwohl es deutlich teurer ist als andere Geräte. Gekauft wur-
schäft gezielt der Firma Motorola zugeschanzt wurde, für die den die Bodycams als angebliches Zubehör zum Motorola-
der frühere Innenstaatssekretär und heutige Lobbyist August Funkgerät, mit dem die Bundespolizisten bereits ausgerüstet
Hanning in seinem alten Ministerium geworben hatte. Das sind. Auf SPIEGEL-Anfrage räumte das Ministerium ein, dass
Innenministerium gab Motorola bereits den Zuschlag für den es keine Bildverbindung zwischen den neuen Kameras und
Millionenauftrag (SPIEGEL 51/2017), doch Bundespolizeiprä- den Funkgeräten gibt. Eine Erklärung, warum die Ausschrei-
sident Dieter Romann hat vergangene Woche den Einsatz bung trotzdem auf den für Motorola so günstigen Begriff
der Kameras in einem Schreiben an alle Direktionen bis zum „Funkzubehör“ zugeschnitten wurde, blieb das Ministerium
14. Januar 2018 gestoppt. Der Personalrat hatte seine Zu- schuldig. Martin Gerster, zuständiger SPD-Mann im Haus-
stimmung verweigert, auch wegen der dubiosen Umstände haltsausschuss des Bundestags, hat angekündigt, der Sache
der Auftragsvergabe. In der Ausschreibung war nur für Ein- nachzugehen. „Es scheint sich um einen sehr merkwürdigen
geweihte erkennbar, dass es überhaupt um Bodycams ging. Vorgang zu handeln“, so Gerster. „Ich habe das Bundes-
Wie sich nun herausstellt, gab tatsächlich allein Motorola ein innenministerium um Aufklärung gebeten.“ amp, gla, js, rab
Weihnachtsgrüße „friedvolle Tage“ von oben immer dazu müsse „um jede neue Com-
Unfriedvolle Post wünscht. „Vielleicht
trägt unsere gemeinsa-
angehalten, bloß kei-
ne Ausdrucke zu ma-
putermaus kämpfen“, heißt
es. Das Weihnachtsgeld wur-
Der nordrhein-westfälische me Arbeit dazu bei, chen und nur E-Mails de in den vergangenen Jah-
PICTURE ALLIANCE
Finanzminister Lutz Lienen- dass es unserem Land zu verschicken“, är- ren mehrfach gekürzt. Laut
kämper (CDU) hat Verwal- in einem Jahr ein biss- gert sich ein Beamter Ministerium habe man Lie-
tungsmitarbeiter mit Weih- chen besser geht“, über die Verschwen- nenkämpers Brief meist „kos-
nachtspost vor den Kopf schrieb der seit Juni dung. Die Sparzwän- tenneutral“ regelmäßigen
gestoßen. Lienenkämper amtierende Politiker Lienenkämper ge in Nordrhein-West- Sendungen beigelegt. Sein
schickte den rund 28 000 Be- dazu. Seine Vorgän- falens Finanzämtern Schreiben, so der Minister,
amten und Angestellten ger hatten ihre Weihnachts- sind enorm; Mitarbeiter solle als „Zeichen der Wert-
einen mit Christbaumkugeln grüße elektronisch versendet warten mitunter jahrelang schätzung für die gute Ar-
verzierten Brief, in dem er statt auf Papier. „Wir werden auf neue Büroschränke. Man beit“ verstanden werden. le
22 DER SPIEGEL 52 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Nato-Osterweiterung bereits im Oktober
Gorbatschow 1990 dafür, die Tür
getäuscht zu einer Nato-Erwei-
terung „angelehnt zu
Seit Jahren streiten Russland lassen“ – also nicht
und der Westen, ob die Nato zu schließen. Als
mit ihrer Osterweiterung Gorbatschow eine
gegen Versprechen verstieß, Garantie forderte,
die das Atlantische Bündnis dass Prag nicht der
nach dem Mauerfall 1989 Nato beitritt, be-
geleistet hatte (SPIEGEL stärkte Cheneys
48/2014). Nun sind ameri- Staatssekretär Paul
kanische, britische und rus- Wolfowitz die Tsche-
sische Dokumente aufge- chen darin, Gorba-
taucht, die zeigen, dass west- tschows Ansinnen
liche Politiker 1990/91 der abzulehnen. Derweil
von Michail Gorbatschow versicherte Nato-Ge- Gorbatschow, Bush 1990 in Helsinki
SYGMA
geführten Sowjetunion zu- neralsekretär Man-
sagten, die Allianz nicht zu fred Wörner einer
erweitern – während ameri- Delegation aus Moskau, Als der sowjetische Verteidi- dergleichen wird passieren.“
kanische Neokonservative der Nato-Rat und er seien gungsminister Dmitri Jasow Die private US-amerika-
intern einer Erweiterung „gegen eine Ausdehnung“. zu ihm sagte, er sorge sich, nische Vereinigung National
Vorschub leisteten. So plä- Großbritanniens Premier- dass Polen oder Ungarn der Security Archive hat die
dierte George Bushs Verteidi- minister John Major ging so- Allianz beiträten, antwortete Dokumente jetzt veröffent-
gungsminister Dick Cheney gar noch einen Schritt weiter. Major apodiktisch: „Nichts licht. klw
Bundestagsvizepräsident
ten sich Migranten aktiv
bekennen, fordert Friedrich: um Migration nem gemeinnützigen Verein
oder familiäre Bindungen
Hans-Peter Friedrich (CSU) „Wer Deutscher werden oder In der Bundestagsfraktion der in Deutschland. „Das Kon-
fordert ein entschiedeneres dauerhaft hier leben will, Linken gibt es Verdruss über zept ist weltfremd“, kritisiert
Vorgehen gegen einen unter muss diese spezifisch deut- ein Einwanderungs- Sevim Dagdelen, stell-
muslimischen Einwanderern sche Befindlichkeit akzeptie- konzept, das die Frak- vertretende Linken-
Missbrauch
Sportbund bremst
Prävention
Der Unabhängige Beauftrag-
te für Fragen des sexuellen
Kindesmissbrauchs der Bun-
desregierung, Johannes-Wil-
helm Rörig, ärgert sich über
den Deutschen Olympischen
Sportbund (DOSB). Seit
Monaten arbeite man gemein-
sam an einem Projekt zur
Prävention sexualisierter
Gewalt im Sport; doch nun
bremsten die Olympia-Funk-
tionäre. „Ich hoffe, dass mir
der Geduldsfaden nicht
reißt“, sagt Rörig und droht
an, die Planung für „Kein
Raum für Missbrauch im
Stiftungen Menschen über seinen Tod desto mehr verblasst das Per- SPIEGEL: Fällt nicht ins Ge-
„Postmortales hinaus schützenswert ist. Die sönlichkeitsrecht. Bismarcks wicht, dass Stresemanns
Persönlichkeitsrecht“ Nachkommen können dieses Nachkommen können sich
Recht ihres verstorbenen nicht dagegen wehren, wenn
Positionen schwer vereinbar
sind mit der AfD-Ideologie?
Ansgar Ohly, 51, Münchner Jura- Verwandten für ihn geltend ihr Ahne vereinnahmt wird. Ohly: Wenn sich ein Richter
professor, zu der Frage, ob das machen. SPIEGEL: Stresemann starb 1929. findet, für den Stresemann
Vorhaben der AfD, ihre Stiftung SPIEGEL: Wie lange ist denn Ohly: Da stehen die Chancen noch schutzberechtigt ist,
nach dem nationalliberalen ein Toter geschützt? eher schlecht. Ich kenne kein hätte eine Klage gute Chan-
Politiker Gustav Stresemann Ohly: Dazu gibt es Urteil, das Per- cen: Denn das Gericht würde
zu benennen, anfechtbar ist keine klaren Geset- sönlichkeitsrechte zwischen der Meinungsfrei-
ze, die Materie wird nach so langer heit der AfD-Stiftungsgrün-
SPIEGEL: Gustav Stresemanns durch Urteile ge- Zeit noch aner- der und Stresemanns post-
Nachkommen wollen verhin- prägt. Je nach Pro- kennt. Das Urteil mortalem Persönlichkeits-
dern, dass die AfD-Stiftung minenz und histo- mit der wohl recht abwägen. Dabei würde
ihren Großvater kapert. Wie rischer Bedeutung längsten postmor- sich zeigen, dass Stresemanns
stehen ihre Chancen? der Person ist der talen Schutzdau- politische Positionen nicht
ULLSTEIN BILD
Ohly: Das ist eine Frage des Schutz sehr unter- er betraf den zur AfD passen. Dass die
sogenannten postmortalen schiedlich. Klar ist: Maler Emil Nolde, Partei Namen und Image ka-
Persönlichkeitsschutzes, also Je mehr Zeit nach der damals etwa pert, könnten die Angehö-
wie lange das Ansehen eines dem Tod vergeht, Stresemann um 1920 33 Jahre tot war. rigen dann unterbinden. ama
21.100,– €
2
Ab
Spähziel Weihnachtsmarkt
Sicherheit In Karlsruhe ist womöglich ein islamistisches Attentat verhindert worden.
Die Terrorgefahr in Deutschland ist nicht gebannt, IS-Rückkehrer verschärfen das Risiko.
D
as Ende der monatelangen Über- Sicherheitsbehörden beinahe Realität ge- zielle Attentäter. „Wir hatten es mit einer
wachung kam abrupt. Mit einem worden. sehr ernsten Bedrohung zu tun“, sagte Ba-
Faustschlag streckte ein Beamter Denn Dasbar W. ist kein Flüchtling wie den-Württembergs Innenminister Thomas
des Spezialeinsatzkommandos Baden- Amri oder die Attentäter von Ansbach und Strobl nach der Festnahme von Dasbar W.
Württemberg am Mittwoch den 29-jähri- Würzburg. Er ist ein deutscher Staatsbür- Mehr als 960 Männer und Frauen sind
gen Dasbar W. in Karlsruhe auf offener ger, geboren in Freiburg im Breisgau, der seit 2011 aus Deutschland in die Kriegs-
Straße nieder. Dann wurde der Verdächti- mehrfach in den Nordirak reiste und dort gebiete des Nahen Ostens gereist. Etwa
ge festgenommen. womöglich von der Terrormiliz „Islami- 150 von ihnen sind inzwischen tot. Ein Drit-
Ein Jahr nach dem Berliner Lkw-An- scher Staat“ (IS) angeworben wurde. Sein tel ist bereits zurückgekehrt, der Rest lebt
schlag von Anis Amri hatten die Beamten mutmaßlicher Kampfname: „Abdullah“. noch im bisherigen Konfliktgebiet und
ein ähnliches Verbrechen befürchtet, dies- Intensiv hat sich Deutschland in den ver- könnte bald nach Hause kommen.
mal am Karlsruher Weihnachtsmarkt. gangenen Wochen mit der Trauerarbeit Geheimdienste und Polizei haben schon
Dort seien vor den Feiertagen Hunderte, zum Jahrestag des Berliner Attentats be- länger vor den Rückkehrern gewarnt. Sie
vielleicht auch Tausende Menschen ver- schäftigt. Die Leiden der Überlebenden könnten als Killerkommandos vom IS ge-
sammelt, hat Dasbar W. offenbar gegen- und Hinterbliebenen rückten endlich in schickt worden sein. Oder als verrohte, in-
über einem V-Mann der Polizei ge- den Vordergrund (SPIEGEL 49/2017). doktrinierte und traumatisierte Ex-Kämp-
schwärmt. Am dritten Advent soll er sich Kurz vor Weihnachten ruft die Festnah- fer in Deutschland aus eigenem Antrieb
auf YouTube eine MDR-Reportage ange- me von Karlsruhe nun in Erinnerung: Die ihren Krieg fortführen wollen.
schaut haben: „Wie sicher sind Antiterror- Anschlagsgefahr ist nicht gebannt. Ausge- Der Chef des britischen Inlandsgeheim-
Betonsperren?“ rechnet die IS-Niederlagen in Syrien und dienstes MI5 prophezeite vor einigen Wo-
Sollte sich der Verdacht bestätigen, wäre dem Irak verschärfen hierzulande das Risi- chen, mit dem physischen Ende des IS
in Deutschland ein Schreckensszenario der ko – viele IS-Rückkehrer gelten als poten- stehe man vor einer „Zeitenwende“. In
26 DER SPIEGEL 52 / 2017
Möglicher Anschlagsort
vor dem Karlsruher Schloss,
Wohnhaus des Beschul-
digten, Festgenommener
Dasbar W. auf dem Weg
zum Haftrichter
Rund um die Uhr von
Ermittlern überwacht
Politische
rungschef ernannte populistische Milliar- Die Folge: Europa wäre mal wieder tief
där Andrej Babiš womöglich von Kommu- gespalten.
nisten und Rechtsradikalen stützen lassen. „Das Problem des Artikel-7-Verfahrens
Quarantäne
Die EU ist auf diese Gefahr von innen ist, dass es nur Gewinner und Verlierer
nicht vorbereitet, wie die Fachleute im Eu- kennt“, sagt der Fraktionschef der Euro-
ropaparlament feststellten. „Das gegenwär- päischen Volkspartei, Manfred Weber, der
tige Verfahren erweist sich als ineffektiv, die Kommission in Sachen Polen ansons-
Europa Da die Drohungen Bedrohungen des Rechtsstaats in der EU ten unterstützt. Im Kanzleramt ist man
zu begegnen“, heißt es in der Expertise ebenfalls zurückhaltend, das Verfahren
gegen Polen wirkungslos des Justiz- und Innenausschusses. weiter zu eskalieren. Grundsätzlich steht
verpuffen, erwägt Brüssel Wer der EU beitreten will, muss ihre ge- Angela Merkel hinter der Kommission. Die
meinschaftlichen Gesetze übernehmen, Kanzlerin sieht aber auch, wie skrupellos
neue Sanktionen im also die Kopenhagener Kriterien erfüllen. Parteichef Jarosław Kaczyński und seine
Umgang mit Rechtsbrechern. Aber sobald ein Land Mitglied im Klub ist, PiS Kritik aus Brüssel in Attacken gegen
fällt die Überwachung dieser Regeln die EU ummünzt. Polens staatlicher Fern-
E
ines muss man Jean-Claude Juncker schwer. Ein Rausschmiss ist gar nicht vor- sehsender TVP etwa, den viele nach dem
lassen: Der Mann versteht es, auch gesehen, ein Konstruktionsfehler, wie der Rauswurf kritischer Journalisten nur noch
in düsteren Situationen noch einen Konstanzer Europarechtler Daniel Thym „TVPiS“ nennen, ließ wenig Zweifel, welch
Lichtblick zu schaffen. Just an dem Tag, kritisiert. „Artikel 7 ist zu schwerfällig“, sinistre Mächte hinter der Brüsseler Ent-
an dem Junckers Kommission beschloss, sagt er, „die Sanktion funktioniert nicht, scheidung zu vermuten sind. „Die souve-
ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen ein- wenn mehrere Länder gegen rechtsstaat- räne Politik Polens stört Berlin, Brüssel
zuleiten, versandte der Behördenchef eine liche Prinzipien verstoßen.“ und die Politiker der totalen Opposition“,
Einladung an den neuen polni- flimmerte am Mittwoch auf ei-
schen Ministerpräsidenten. nem Laufband durch eine Nach-
Er würde sich freuen, wenn richtensendung.
Mateusz Morawiecki am 9. Ja- Die Bundesregierung drängt
nuar Zeit für „ein Arbeitsessen“ auf Sanktionen, die wirklich
habe, schrieb Juncker. „Ein ech- wirksam sind. Deshalb brachte
ter Dialog ist der einzige Weg, Deutschland in einem Minister-
die Schwierigkeiten zu überwin- rat Mitte November ins Ge-
den, die wir derzeit haben.“ spräch, Regionalbeihilfen künf-
Es dürfte ein frostiges Mahl tig nur noch in Ländern auszu-
werden. Mit dem Start des soge- zahlen, in denen rechtsstaatliche
nannten Rechtsstaatsverfahrens Grundprinzipien eingehalten
nach Artikel 7 des EU-Vertrags werden. Die Kommission möge
hat der schon zwei Jahre andau- die Idee „ernsthaft prüfen“, for-
ernde Konflikt zwischen der derte der deutsche Vertreter.
Kommission und der rechtskon- Haushaltskommissar Günther
servativen Warschauer Regierung Oettinger, der derzeit den Ent-
DAMIAN BURZYKOWSKI / NEWSPIX / IMAGO
der Partei Recht und Gerechtig- wurf für das nächste EU-Budget
keit (PiS) einen neuen Höhepunkt erarbeitet, denkt ähnlich. Es
erreicht. Zum ersten Mal in der gebe „eine klare Beziehung zwi-
Geschichte der Gemeinschaft schen der Rechtsstaatlichkeit
stellte die Kommission am Mitt- und einer effizienten Umsetzung
woch fest, dass ein Mitglied der privaten und öffentlichen In-
rechtsstaatliche Werte „eindeutig“ vestitionen, die vom EU-Haus-
und „schwerwiegend“ gefährde. halt unterstützt werden“, heißt
Doch die Brüsseler Eskalation es in einem Strategiepapier sei-
könnte verpuffen, die polnische PiS-Parteichef Kaczyński ner Behörde. Ende Februar wer-
Regierung denkt gar nicht daran, Sinistre Mächte den sich die Staats- und Regie-
die umstrittene Justizreform zu- rungschefs bei einem Sondertref-
rückzunehmen, im Gegenteil: Präsident Der Fall Polens belegt das. Kaum je- fen mit dem künftigen Haushalt befassen.
Andrzej Duda unterzeichnete postwen- mand kann sich derzeit vorstellen, dass Gut möglich, dass das Thema dann auf
dend die noch ausstehenden Gesetze. Die die EU den nächsten Schritt wagt und ver- höchster Ebene zur Sprache kommt.
Folge der Machtdemonstration der EU ist sucht, Polens Stimmrechte auszusetzen. Anders als die Ermahnungen im schwer-
daher erst mal nicht die Rettung des polni- Dieser von Diplomaten martialisch als fälligen Rechtsstaatsverfahren wäre eine
schen Rechtsstaats, sondern eine neue De- „Nuklearoption“ bezeichnete Schritt käme Kürzung beim Geld für Polen äußert
batte darüber, wie die EU mit Mitgliedern einer Suspendierung der EU-Mitglied- schmerzhaft. Kein Land in der EU erhält
umgehen soll, die sich nicht an das gemein- schaft gleich, entsprechend hoch sind mehr Regionalbeihilfen, von 2014 bis 2020
same Regelwerk halten. die Hürden. Um Polen unter politische überweist Brüssel 86 Milliarden Euro.
Denn neben Polen drohen gleich meh- Quarantäne zu stellen, müssten alle EU- Ohne Probleme ist freilich auch diese
rere EU-Mitglieder, das Fundament aus Länder (außer Polen) zustimmen. Ungarns Idee nicht. So würde der Geldentzug in
Recht und Gesetz zu untergraben. Viktor Regierungschef Orbán aber hat schon be- Polen auch Projekte treffen, die die libera-
Orbán in Ungarn inszeniert seine Regie- kundet, dass er treu auf der Seite seiner le Zivilgesellschaft stärken. In Danzig bei-
rung als Bollwerk gegen „Übergriffe“ des Warschauer Verbündeten zu stehen ge- spielsweise fließt europäisches Geld in die
liberalen Brüsseler Beamtenapparats. In denkt. Gut möglich, dass sich Länder wie Ausbildung syrischer Flüchtlinge.
Tschechien muss sich der eben zum Regie- Tschechien dieser Haltung anschließen. Peter Müller, Jan Puhl
SPIEGEL: Frau Nahles, was sagen Ihnen die jüngsten Wahlen auch eingebrochen. Innovation und Gerechtigkeit, zwischen
Zahlen 34, 23, 20,5? Wenn wir als SPD angesichts dieser Ent- Kapital und Arbeit, zwischen Modernität
Nahles: Das klingt nach Wahlergebnissen wicklungen den Eindruck erwecken, an al- und Tradition. Es hilft nicht, nur Maximal-
der SPD. lem sei die Kanzlerin schuld, reden wir positionen zu besetzen.
SPIEGEL: Es sind die SPD-Stimmanteile bei uns heraus. Nach dieser Logik brauchten SPIEGEL: Wollen Sie nun in eine Große Ko-
der Bundestagswahl 2005 sowie nach den wir ja nur abzuwarten, bis Merkel weg ist alition oder nicht? Die SPD kann doch
beiden Großen Koalitionen 2009 und 2017. – und schon ginge es uns automatisch bes- nicht ewig ergebnisoffen sprechen. Wann
Da nun erneut eine schwarz-rote Zusam- ser. Das wäre naiv. entscheiden Sie?
menarbeit in Rede steht, fragen wir uns: SPIEGEL: Im Wahlkampf hat die SPD der Nahles: Mit dem Parteitag am 21. Januar
Wie weit soll es mit der Sozialdemokratie Kanzlerin noch heftige Vorwürfe gemacht, wird die Zeit der Ergebnisoffenheit vorbei
noch bergab gehen? weil sie nur selten Position beziehe und sein. Da werden wir eine Linie festlegen.
Nahles: Ich will, dass es wieder aufwärts- den Wettstreit verweigere. Von einem „An- Wenn wir die Chance haben, unsere Vor-
geht. Dafür müssen wir uns anstrengen. schlag auf die Demokratie“ sprach Ihr Par- stellungen von einer modernen und ge-
Die richtige Aufarbeitung unserer Nieder- teichef. Das ist jetzt also alles vergessen? rechten Gesellschaft in praktische Politik
lage steht uns noch bevor. Nahles: Nein. Aber wir müssen auch aner- zu übertragen, dürfen wir uns davor nicht
SPIEGEL: Und das soll nun ausgerechnet in kennen, dass wir unsere Probleme selbst drücken. Aber ob wir mit der Union so
einer Großen Koalition geschehen, mit der zu verantworten haben. Auch die Lösung weit kommen, und in welcher Form wir
Ihre Partei wiederholt schlechte Erfahrun- haben wir übrigens selbst in der Hand. Wir dann zusammenarbeiten? Das ist offen.
gen gemacht hat. Warum wollen Sie, wie wollen etwa eine überzeugende Antwort Man muss wirklich etwas bewegen können
es der Vorsitzende Ihrer Jugendorganisa- auf den digitalen Kapitalismus finden. Die und das Leben der Menschen besser ma-
tion ausgedrückt hat, immer wieder gegen Menschen erwarten konkrete Antworten chen. Sonst sollte man es lassen.
dieselbe Wand laufen? auf die großen Herausforderungen unserer SPIEGEL: Viele in Ihrer Partei fürchten, dass
Nahles: Ich bestreite, dass die Schwäche Zeit. Und wir wollen ihnen wieder das Ge- der SPD bei einer Neuauflage von
der deutschen und europäischen Sozialde- fühl geben, dass sie in einer unsicher wer- Schwarz-Rot zu wenig Raum zur Profilie-
mokratie mit der Form der Regierung zu denden Welt Anschluss halten können. rung bleibt. Ist diese Sorge auch falsch?
tun hat. Der SPD ist es in den vergangenen SPIEGEL: Nach der Wahlniederlage schien Nahles: Eine Polarisierung zwischen den
Jahren nicht gut gelungen, eine glaubwür- der Gang in die Opposition für viele in Volksparteien ist wichtig, gerade für uns.
dige Konzeption für eine moderne und ge- der SPD wie eine Befreiung. Lieber die Was das bewirken kann, haben die Land-
rechte Gesellschaft zu entwerfen und zu reine Lehre vertreten als hässliche Kom- tagswahlen in Rheinland-Pfalz und Nie-
vermitteln. Wir haben viel von Zusammen- promisse eingehen, das war die Losung. dersachsen gezeigt. Aber in diesen Regio-
halt und Solidarität gesprochen, aber die Nahles: Nein, die Losung war: Politik nen ist die SPD auch besser verankert als
SPD hat es in den letzten Jahren vernach- braucht Alternativen. Eine andere Regie- auf Bundesebene. Von Berlin fühlen sich
lässigt, ihre Rolle als Bindeglied zwischen rungsmehrheit wäre möglich gewesen, die Menschen vor Ort manchmal verges-
Verlierern und Gewinnern der Verände- aber die Jamaikaparteien haben verant- sen. Das muss sich ändern. Uns ist nie-
rungen unserer Zeit wahrzunehmen. Da- wortungslos gehandelt, jetzt haben wir mand egal. Ich will, dass sich durch unsere
für trägt nicht die Union die Schuld. eine neue Lage. Ich halte übrigens nichts Politik alle in ihrem Quartier, ihrem Dorf
SPIEGEL: Das reicht als Erklärung nicht aus. von reiner Lehre. Manche folgen dieser oder ihrer Stadt wohl- und sicher fühlen.
Die SPD hat in der Großen Koalition eine Sehnsucht nach einer bequemen Nische, Damit meine ich nicht nur soziale, sondern
Menge durchgesetzt; trotzdem hat am in der die SPD machen kann, was sie will. durchaus auch innere Sicherheit.
Ende die Kanzlerin die Erfolge einge- Diese Sehnsucht habe ich auch mal geteilt, SPIEGEL: Da scheinen Sie uns nah an der
heimst. Warum soll das anders werden? bis ich gemerkt habe, dass es so nicht funk- Analyse Ihres Ex-Vorsitzenden Sigmar Ga-
Nahles: Das muss anders werden. Wir kön- tioniert. Wir sollten es uns nicht zu einfach briel zu sein. Der hat in einem Essay im
nen das nicht nur aus deutscher Sicht be- machen. Ich habe auf unserem letzten Par- SPIEGEL die These aufgestellt, dass die
trachten. Die beschriebene Herausforde- teitag gesessen und gedacht: Die SPD muss SPD den Kontakt zu ihrer Stammwähler-
rung haben alle sozialdemokratischen Par- schwer aufpassen, dass sie ihre eigene Iden- schaft verloren habe – auch kulturell. Die
teien in den westlichen Demokratien. Da, tität noch durchbuchstabieren kann. Sozialdemokratie, kritisiert Gabriel, habe
wo sie es schaffen, die Gesellschaft zusam- SPIEGEL: Wie meinen Sie das? zuletzt zu viel grüne und zu wenig rote
menzuhalten, können sie sich behaupten. Nahles: Die SPD versteht sich als linke Politik gemacht und den Rechten die Be-
Da, wo ihnen das nicht zugetraut wird, ver- Volkspartei. Beide Wörter sind wichtig. griffe Heimat und Leitkultur überlassen.
lieren sie. Das erklärt etwa den Absturz Klare fortschrittliche Ziele und Werte. Nahles: Mit dem Begriff Heimat kann ich
der französischen Sozialisten, die unter Aber auch die Bereitschaft, die unter- viel anfangen. Ich lebe das. In der Eifel,
François Hollande allein regierten. schiedlichen Interessen und Meinungen wo ich zu Hause bin, kann man keine Poli-
SPIEGEL: Vielleicht war das einfach eine links der Mitte zu verbinden. Zu den Ge- tik ohne Bodenständigkeit machen. Beim
schlechte Regierung. nen unserer Partei gehört neben der Soli- Begriff der Leitkultur steige ich aus. Wir
Nahles: Mag sein. Aber dann schauen Sie darität auch, dass wir uns an Arbeit und haben uns als Sozialdemokraten immer
nach Tschechien: Da stellten die Sozialde- Leistung orientieren und nicht nur an staat- dagegen gewehrt, eine zentrale Idee davon
mokraten den Ministerpräsidenten, jetzt licher Umverteilung wie die Linkspartei. vorzugeben, wie jemand zu leben hat. An
liegen sie bei sieben Prozent. Unsere nie- Wir waren immer dann stark, wenn wir das Grundgesetz müssen sich alle halten,
derländischen Parteifreunde sind bei den eine Klammer gefunden haben zwischen das ist klar. Allerdings wäre es falsch zu
30 DER SPIEGEL 52 / 2017
strukturell verbessern. Entweder können
wir uns in den Gesprächen mit der Union
auf solche Vorhaben verständigen, oder
wir müssen über andere Formen der Zu-
sammenarbeit nachdenken: eine Minder-
heitsregierung zum Beispiel oder ein Tole-
rierungsmodell.
SPIEGEL: Die Kanzlerin hat aber schon deut-
lich gemacht, dass für sie nur eine Große
Koalition infrage kommt.
Nahles: Die Kanzlerin kann nichts aus-
schließen, was wir als Bestandteil der Ver-
handlungen sehen. Sie sitzt nicht allein am
Drücker. Mich wundert, dass die Union
derzeit unentwegt sagt, was alles nicht geht
und wo ihre roten Linien liegen. Besser
wäre es, sie würde uns mal inhaltliche An-
gebote machen, die uns voranbringen.
SPIEGEL: Die Kanzlerin lehnt es zum Bei-
spiel ab, eine Bürgerversicherung einzu-
führen, wie sie die SPD seit Langem for-
dert. Wie wichtig ist das Thema für Sie?
Nahles: Die Zweiklassenmedizin ist eines
der großen strukturellen Probleme im
deutschen Gesundheitswesen. Deshalb
sind hier substanzielle Fortschritte erfor-
derlich: Arbeitgeber und Arbeitnehmer
müssen wieder den gleichen Beitrag zur
gesetzlichen Krankenversicherung zahlen,
die unterschiedlichen ärztlichen Honorare
für Privat- und Kassenpatienten müssen
auf den Prüfstand.
SPIEGEL: Ein weiterer Streitpunkt ist die
Steuerpolitik. Die Union hat angekündigt,
die Belastungen von Familien zu senken.
Was will die SPD?
Nahles: Auch wir wollen Familien entlasten
und den Solidaritätszuschlag abbauen. Wir
haben gleichzeitig einen enormen Investi-
tionsbedarf in der Bildung, der Kinderbe-
HANNES JUNG / DER SPIEGEL
Goslarer Dialektik
Politiker Warum Sigmar Gabriel am Ende selbst sein größter
Kritiker ist. Eine Charakterstudie. Von Nils Minkmar
E
r hat es wieder getan: Mitten in der keinen Spaß, er ist zu ihnen nicht fähig.
Adventszeit und nach einem kompli- Auch dann nicht, wenn ein sympathisches
zierten politischen Jahr hat Sigmar Publikum gekommen ist, um ihn zu feiern.
Gabriel Bürger und Politprofis gleicherma- Zum Beispiel Mitte August, als er in sei-
ßen verblüfft. Sein Essay, der in der vori- nem Wahlkreis für ein erneutes Mandat
gen Woche im SPIEGEL erschien, sorgte warb. Ich besuchte ihn an jenem Tag und
für Debatten, wie man sie im Wahlkampf setzte mich im Bürgerhaus in Seesen in
vermisst hatte – allerdings zu einem Zeit- eine der hinteren Reihen. Die Herren tru-
punkt, an dem sich alle schon in vorweih- gen Hemden im Karomuster mit kurzen
nachtlicher Behaglichkeit auf die Regie- Ärmeln, die Damen geblümte Sommer-
rungsbildung, auf vier Jahre Weiter-so mit kleider. Alle waren ihm gewogen. Es war
einer immer kleiner werdenden, einst Gro- eine kleine Veranstaltung, Gabriel hätte
ßen Koalition einstimmten. Das hat auch nur von den Erfolgen seiner Partei zu re-
etwas von Resignation, aber mit Gabriel den brauchen, ein wenig auf die politi-
ist so etwas nicht zu machen. Nicht in der schen Gegner eindreschen und fertig. Eine
großen Politik und nicht im Kleinen. politische Standardsituation. Doch so et-
Mein früherer Chef, der verstorbene was gibt es mit Sigmar Gabriel nicht.
„FAZ“-Mitherausgeber Frank Schirrmacher, Gleich zu Beginn schon äußerte er sein
stellte mir Sigmar Gabriel schon vor vielen Credo: „Ich gehe nicht in den Wahlkampf
Jahren vor. Beide waren sich ähnlich – un- und sage den Leuten Dinge, die sie hören
ter anderem in ihrem Spleen, Termine stets wollen.“ Im Politikunterricht lernt man es
neu zu gestalten, abzusagen oder an andere anders: Wähler geben ihre Stimme demje-
Orte zu verlegen. Aus einem Spaziergang nigen, der ihre Meinung vertritt. Aber wel-
wird eine Zugfahrt, aus einem Kaffee ein che ist das bei Sigmar Gabriel? Er erarbei-
Abendessen. Sie pflegten auch das gleiche tet sie doch gerade erst – und womöglich
Hobby, das Denken. Ihr Motto: keine Gna- fällt ihm beim Formulieren schon ein ex-
de. Wähnte man sie sicher auf einer Posi- zellenter Einwand dagegen ein.
tion geparkt, grüßten sie schon von einer Eine Frage an jenem Abend in Seesen
völlig anderen Seite. Hatte man ein Pro- zielte auf die Rüstungsexporte. Wie ist das
blem identifiziert, fingen sie an, genau da- mit all den Waffen, die Deutschland in die
rin auch die guten Aspekte zu sehen. Und Welt verkauft? Die Frage gefiel Gabriel. In
wenn ein frischer Gedanke da war, dann einer üblichen Wahlveranstaltung würde droht? Und was, wenn die Bedrohten dann
gehörte er – unbedingt, unbedingt – geäu- der sozialdemokratische Kandidat seinen selbst zu Mördern werden? Gabriel erhöh-
ßert und an die Luft, sonst brennt die Welt. Horror vor Waffen beschwören, über real- te an diesem friedlichen, warmen Abend
Journalisten sollen immer wieder etwas politische Kompromisse klagen, die SPD permanent die Komplexität. Die beiden
Neues schreiben, das ist unser Beruf. Politi- als Friedenspartei loben und ein Zitat von Grundprinzipien der bundesdeutschen Au-
ker jedoch vertrauen üblicherweise auf ein Willy Brandt anfügen. Gabriel aber ent- ßenpolitik, „Nie wieder Krieg!“ und „Nie
Mantra, das durch stete Wiederholung die warf Szenarien: solche, in denen man wieder Auschwitz“, wurden dialektisch be-
Realität formt: Freiheit statt Sozialismus, wegt, bis sie rotierten.
Mehr Demokratie wagen, Wir schaffen das. Kaum hatte er den Saal von einer Posi-
Gabriel hält solche Kommunikation nicht Gabriel will nicht tion überzeugt, plädierte er mit ebensol-
aus, denn sie suggeriert eine Welt, wie sie
nicht ist. Eine beständige Welt, in der weise nur gewinnen, er will alle cher Verve für die gegenteilige und über-
zeugte ihn abermals. Eine Dame meldete
Männer und Frauen mit ruhiger Hand ge- anderen anspornen sich mit einem persönlichen Anliegen. Es
stalten können – für Gabriel eine Illusion.
Die Leute sollen niemandem „ihr Ver-
und wahnsinnig machen. ging um ein Visum für die Schwiegertoch-
ter. Wie jeder Politiker der Welt versprach
trauen schenken“ – sie sollen mitdenken Gabriel, sich darum zu kümmern. Anders
und stets skeptisch bleiben. Das ist ein Schuld auf sich lädt, indem man Befrei- als jeder Politiker erklärte er der Dame al-
Punkt, an dem sein alter Beruf, der des ungsbewegungen nicht hilft, und solche, in lerdings auch, dass ihre Bevorzugung ge-
Lehrers, in ihm durchkommt. So neulich denen man schuldig wird, wenn man hilft. genüber all den anderen, die den Dienst-
in der Talkshow „3 nach 9“: Da belehrte er Was, wenn die Waffen, die man an die gute weg einhalten, unfair sei. Er lächelte dabei,
den Moderator Giovanni di Lorenzo, denn Seite geliefert hat, um ein Massaker zu ver- er möchte nicht unfreundlich sein, aber er
der wollte eine „einfache Antwort auf eine hindern, von der anderen Seite erbeutet schonte das Publikum nicht.
komplexe Frage“. Die könne er nicht ge- werden? Dann richten sich die guten deut- Sigmar Gabriel setzte auf konsequente,
ben. Wer Gabriel nicht kennt, mochte das schen Waffen unter Umständen gegen Ver- gnadenlose Überforderung, als wäre die
als floskelhafte Bekräftigung intellektueller bündete oder gar gegen Bundeswehrsolda- Annahme, das Publikum wolle irgendwo
Redlichkeit verstehen. Wahr ist aber auch: ten im Auslandseinsatz. Soll man anderer- „abgeholt“ werden oder „auf Augenhöhe“
Einfache Antworten machen ihm nicht nur seits zuschauen, wenn ein neues Srebrenica angesprochen werden, eine Unterschät-
32 DER SPIEGEL 52 / 2017
Außenminister Gabriel
Die ganze Herde soll in Bewegung kommen
als ich noch in der Wirtschaft tätig war ziger CDU-Politiker habe ihm im
und mich ein hochrangiger Kunde durch Plenum gute Genesung gewünscht.
den Hotelflur verfolgte und gegen meine Gottschalk trägt Hornbrille und
Zimmertür hämmernd Einlass begehrte. Seitenscheitel. Er wirkt wie einer,
Wenn alle schweigen, funktioniert gesell- dem man eine Versicherung abkau-
schaftlicher Wandel nicht. Wir brauchen fen würde. Tatsächlich saß er lange
Namen, und wir brauchen Konsequenzen im Management eines Versiche- AfD-Politiker Gottschalk
für die Täter wie in den USA. rungskonzerns in Hamburg und „Nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen“
Aydan Özoğuz, 50, SPIEGEL: Wie meinen Sie das? die Sache mit dem „Entsorgen“ bei der
Staatsministerin für Integration, nimmt Platz Özoğuz: Ich habe damals gleich gemerkt: Bundestagswahl schon nicht funktioniert
im ICE 1512 von Berlin nach Hamburg. Es ist Jetzt ist irgendwas anders. Am Tag nach hat – im Gegenteil.
Donnerstagmittag, 13.42 Uhr. Die Strecke ist Gaulands Hetze bin ich aus dem Haus ge- SPIEGEL: Können Sie die Pöbeleien einfach
für sie zu einem zweiten Zuhause geworden, gangen. Gleich an der ersten Ampel dreh- so wegstecken?
häufig fährt sie morgens hin und abends zu- ten sich zwei Männer um und grüßten sehr Özoğuz: Wenn es sehr heftig wird, mache
rück. In Hamburg hat sie eine Tochter, die sie freundlich: „Ah, hallo, Frau Özoğuz.“ Ich ich einen Screenshot und leite das an die
nur im Notfall über Nacht allein lässt. Im erlebe das häufig seitdem. Menschen, die Polizei zur Anzeige weiter. Es gab mal je-
Wahlkampf sagte der AfD-Politiker Alexander ich gar nicht kenne, bezeugen mir ihre manden, der schrieb, man müsste mich mit
Gauland, man solle Özoğuz, die in Deutsch- Solidarität auf der Straße. Ich denke nicht, heißem Öl übergießen und mir die Haut
land geboren wurde, in Anatolien „entsorgen“. dass das von Herrn Gauland beabsichtigt abziehen. Die Polizei meinte, man könne
war. gegen den Nutzer nichts machen, weil er
SPIEGEL: Frau Özoğuz, seit Oktober sitzen SPIEGEL: Freuen Sie sich über die Promi- im Konjunktiv geschrieben hatte.
Sie der AfD im Bundestag gegenüber. Wie nenz? SPIEGEL: Gauland hatte Sie im Sommer we-
fühlt sich das an? Özoğuz: Auf die Hetze hätte ich verzichten gen Ihres Satzes angegriffen, es gebe keine
Özoğuz: Total bedrückend. Ich habe mich können. Aber manche Reaktionen waren „spezifisch deutsche Kultur“ jenseits der
immer gern mit Kolleginnen und Kollegen wunderbar, machen Mut. Aus fast allen Sprache. Würden Sie diese steile These
im Bundestag gestritten, vor allem mit de- Parteien habe ich Solidarität erfahren. Die heute wiederholen?
nen von der CSU. Da sind auch Leute da- Kanzlerin wies damals gleich auf ihrer Özoğuz: Der Satz ist aus einem Gastbeitrag,
bei, die ich mittlerweile persönlich sehr Sommerpressekonferenz diese Angriffe zu- der in sich stimmig ist. Das Problem ist,
mag. Das ist bei der AfD unmöglich. De- rück, wofür ich mich per SMS bei ihr be- dass kaum einer den ganzen Text kennt.
ren Haltung ist: Du bist keine richtige dankte. Sie schrieb mir dann sehr nett zu- Ich wollte ja eine Diskussion über die Leit-
Deutsche und deshalb ein Mensch zweiter rück. Ich bekam auch von der Jungen kultur auslösen. Aber nun weiß ich, dass
Klasse. Union aus dem Eichsfeld einen bemerkens- jeder einzelne Satz im Zweifel aus dem Zu-
SPIEGEL: Haben Sie Gauland auf seinen werten Brief. Das hat mir gezeigt: Ich bin sammenhang gerissen wird. Daher hätte
Satz, man solle Sie in Anatolien entsorgen, nicht allein. Herr Gauland und die AfD ich auch an dieser Stelle im Text „spezifisch
jemals angesprochen? pusten sich sehr auf, sind aber eine klare deutsche Leitkultur“ schreiben müssen.
Özoğuz: Nein. Der sitzt im Plenum jetzt im- Minderheit in diesem Land. Das hätte man nicht so leicht verdrehen
mer vor mir, aber reden muss ich mit dem SPIEGEL: Schauen Sie sich auch an, was auf können. Kurz nach dem Erscheinen meines
nicht. Es ist ja nicht so, dass man über so Facebook und Twitter über Sie geschrie- Textes sprach mich eine Frau im Kaufhaus
einen Satz eine sachliche Debatte führen ben wird? an. Sie war sehr nett und sagte, sie habe
kann. Das war schlicht und einfach Hetze. Özoğuz: Klar. Mein Facebook-Profil quillt mich schon gewählt, frage sich aber, warum
Solche Angriffe von der AfD gab es vorher immer noch über. Da schreiben dann die ich glaubte, die Deutschen hätten keine
schon, und sie gehen immer weiter, auch einen: „Wann bist Du denn endlich weg!“ Kultur. Das beschäftigt mich natürlich. Ich
wenn es nur wenige mitbekommen. Aber und die anderen: „Du bist ja immer noch hätte nie für möglich gehalten, dass man
ich stelle fest: Schaden konnte er mir nicht. da“. Mich freut es, wenn die merken, dass mir ernsthaft unterstellen würde, ich wollte
36 DER SPIEGEL 52 / 2017
die deutsche Kultur verleugnen. Ich bin Beispiel den Verein Heimattreue
doch selbst mit ihr aufgewachsen. Niederdorf, gute Wahlkämpfer
der AfD, dessen Vorsitzender
vom Verfassungsschutz beobach-
Marco Wanderwitz, 42, tet wird. Die haben in Miniatur
ist CDU-Abgeordneter aus dem Erzgebirge. Die den „Pegida-Galgen“ für die
AfD wurde bei der Bundestagswahl in Sachsen Kanzlerin und Sigmar Gabriel ver-
zur stärksten Partei. kauft. So etwas macht mich fas-
sungslos. Eine größere Zahl von
Das Jahr 2017 war das anstrengendste und Mitmenschen findet das aber lei-
intensivste, seitdem ich mich politisch en- der offenbar normal – oder sogar
gagiere. Ich habe noch nie einen so hass- gut. Oder sie duckt sich weg.
erfüllten Wahlkampf, eine derartige Spal- Trotz alledem habe ich nicht
tung der Gesellschaft erlebt. Auf den damit gerechnet, dass die Bundes-
Marktplätzen haben uns AfD-Anhänger tagswahl in Sachsen so ausgeht,
angeschrien und als „Volksverräter“ be- wie sie ausgegangen ist. Ich habe
schimpft. An manchen Haustüren hat man mich am Wahlabend natürlich zu-
mir Prügel angedroht. Man konnte greifen, nächst gefreut, dass ich meinen
dass der Firnis der Zivilisation dünn ist, Wahlkreis wieder deutlich gewin-
im Osten dünner als im Westen. nen konnte. Dann habe ich die
Dabei hatte das Jahr politisch erfreulich Ergebnisse mancher Kollegen mit-
WO DIE NATUR
GROSS RAUSKOMMT
GRÖNLAND IST DIE GRÖSSTE INSEL der Welt –
eine überwältigende Wildnis, die immer wieder
spektakuläre Begegnungen bereithält. Erleben Sie
im Sommer 2019 die Natur so nah wie möglich, an
Bord von Hurtigruten, auf Schiffen, die speziell für
— Manchmal Polarregionen gebaut sind. Willkommen an Bord!
über 18 Meter. 16 Tage Expeditionsreise inkl. Flug ab 8.084 € p. P.
Momenten eben auch, dass es sich lohnt, sich die beiden Vorsitzenden neben all Es könnte alles so schön sein für Kubicki,
für unsere Demokratie zu kämpfen. dem Stress, den es ohnehin schon gibt, bes- der neue Ruhm, die Talkshows, der Sitz
ser absprechen. Dann wäre es auch mög- im Bundestag, wäre da nicht jener niese-
lich, zu Hause zu bleiben, wenn mal ein lige 20. November, als Christian Lindner
Annalena Baerbock, 37, Kind krank ist. nicht nur Jamaika platzen ließ, sondern
saß im Sondierungsteam der Grünen für Baerbock weiß, dass sie ihrem Mann auch Kubickis Traum vom Ministeramt.
Jamaika. 2018 will sie Grünenchefin werden. mehr zumuten muss. Sie selbst wird noch Während Lindner in jener unseligen Nacht
weniger schlafen. Schließlich will sie auch sein Nein begründete, stand Kubicki rechts
Kurz vor der Abfahrt meldet sich Baer- nächstes Jahr wieder den Adventskalender hinter dem Chef und starrte ins Nichts.
bocks Mitarbeiter. Baerbock stecke noch basteln. Und wenn es, wie dieses Jahr, wie- Es ist kein Geheimnis, dass Kubicki gern
in einer Sitzung, sagt er. Ob man einen der mitten in der Nacht ist. regiert hätte. Am Donnerstag vergangener
Zug später nehmen könne? Baerbock Woche verabschiedete er sich mit einer
wohnt in Potsdam und pendelt mit dem emotionalen Rede aus dem Kieler Landtag.
Regionalzug. Wolfgang Kubicki, 65, Er sprach davon, wie gut das Bündnis mit
Sie schaffe nie den Zug, den sie eigent- war 22 Jahre lang Fraktionschef der FDP im CDU und Grünen in Schleswig-Holstein
lich nehmen wolle, erzählt Baerbock, als Landtag von Schleswig-Holstein, seit Oktober funktioniere, und versprach, in Berlin
sie am Bahnsteig eintrifft. Ihren Töchtern ist er Vizepräsident des Bundestages. Kubicki „trotz aller Widrigkeiten nachzuholen, was
sage sie deswegen schon gar nicht mehr, sagt gern, was er denkt. Kürzlich ließ er durch- bisher nicht gelungen ist“. Sein Freund Ro-
wann sie genau nach Hause komme. Ja- blicken, dass er sich durchaus vorstellen kön- bert Habeck von den Grünen wolle schließ-
maika sei „schuld“, auch heute, die 14-köp- ne, mit Union und Grünen noch mal über lich auch nach Berlin wechseln. Da könne
fige Truppe der Grünen hat die Sondie- Jamaika zu verhandeln. Daraufhin ließ FDP- aus Jamaika „ja doch noch was werden“.
rungen zum Ende des Jahres Revue pas- Chef Christian Lindner das Parteipräsidium Das kann man als Scherz auffassen.
sieren lassen. einen Beschluss fassen, der das für diese Muss es aber nicht.
Baerbock ist gerade 37 geworden, ver- Legislaturperiode kategorisch ausschließt. Sind Sie enttäuscht, Herr Kubicki?
heiratet, ihre Töchter sind erst zwei und Aber ausgeschlossen – was heißt das derzeit „Die Enttäuschung hält sich in Grenzen,
sechs Jahre alt. Sie hat deshalb lange schon? Am Donnerstag machte eine Meldung aber während der Verhandlungen wächst
überlegt, ob sie auf dem Parteitag im Ja- die Runde, Lindner könne sich Jamaika durch- die Lust.“
nuar für die Wahl der Parteichefin antre- aus vorstellen – sollte es Neuwahlen geben. Kubicki gefiel sich immer in der Rolle
ten soll. als bekannter Anwalt. Jetzt ist er Vizeprä-
I
Sie wisse, wie schwer es sein werde, bei- CE 801, Fahrt von Kiel nach Berlin, sident des Bundestages. Auf die ganz gro-
dem gerecht zu werden, sagt Baerbock. Wolfgang Kubicki hat im Speisewagen ßen Mandate muss er nun aus Zeitgründen
„Es geht hier nicht nur um mich, sondern Platz genommen, er bestellt eine kleine verzichten. Lohnt sich das für einen Job,
auch um meine Kinder, meinen Mann.“ Flasche Grauburgunder, da nähert sich ein der im Wesentlichen darin besteht, ande-
Der Wahlkampf sei schon sehr stressig ge- junger Mann seinem Tisch. ren Abgeordneten das Wort zu erteilen?
wesen, vor allem, weil ihre Tochter gerade „Herr Kubicki, ich bin ein ganz großer „Ich verstehe, dass du enttäuscht bist“,
eingeschult worden war. Und in den Wo- Fan der FDP, kann ich ein Selfie mit Ihnen hat seine Frau gesagt, „aber für unsere
chen der Sondierung habe sie es nicht im- machen?“ Urlaubsplanung ist es besser.“
mer nach Hause geschafft. Da habe ihre Kubicki (gönnerhaft): „Aber sicher.“ Neulich traf er Sigmar Gabriel, die bei-
Ältere oft gefragt, ob es denn nun mal Ein paar Minuten später: „Hallo, Herr den kennen sich seit Jahren. Warum die
endlich eine Regierung gebe oder ob sie Kubicki, mein Großvater war als Student FDP denn ausgestiegen sei, wollte Gabriel
schon wieder zur „Chefin von Deutsch- in derselben Studentenverbindung wie Sie, wissen. „Wir haben Jamaika scheitern las-
land“ müsse. kann ich ein Foto mit Ihnen machen?“ sen, damit du Außenminister bleiben
Warum sie nun dennoch kandidiert? Kubicki (überrascht): „Klar.“ kannst“, scherzte Kubicki.
„Ich wollte mich einfach nicht damit ab- „Ist schon interessant, was sich die Leute „Du wärst auch ein guter Außenminister
finden, dass man sagt, mit kleinen Kindern ausdenken, um mit mir ein Foto zu bekom- geworden“, entgegnete Gabriel.
geht es nicht.“ men“, sagt Kubicki, als der junge Mann Kubicki widersprach nicht.
Sie hofft, dass sich Dinge ändern, wenn sich getrollt hat. „Ich war nie in einer Ver- Nicola Abé, Melanie Amann, Veit Medick,
sie Parteichefin wird. Zum Beispiel, dass bindung.“ Ann-Katrin Müller, Ralf Neukirch, Christoph Schult
Ausgezeichnet:
Wir sind Europas
erste 5-Star Airline
LH.com/5-star
Großer Bums
Brauchtum Das Silvesterfeuerwerk bläst riesige Mengen Feinstaub in die Luft. Doch die Politik
will den Deutschen ihre Raketen nicht verbieten – allen Gefahren zum Trotz.
I
mmer wenn das neue Jahr anbricht, sind, geht es nicht mehr darum, fröhlich führt rund 60 000 Todesfälle pro Jahr in
folgt Karl Lauterbach einem Ritual: und laut zu sein. Sie sehen die negativen Deutschland auf Feinstaub zurück.
Kurz nach Mitternacht verzieht sich Seiten wie Feinstaub oder Straßenver- „Wir rufen dazu auf, das private Feuer-
der SPD-Politiker nach drinnen und ver- schmutzung.“ Das rufe aber Widerspruch werk einzuschränken“, sagt Ute Dauert,
schließt die Fenster der Wohnung. „Fein- hervor: „Andere Teile der Bevölkerung im Umweltbundesamt in Dessau zuständig
staub aus Böllern und Feuerwerkskörpern sind nicht empfänglich für moralische Bot- für den Fachbereich Luftqualität. Zum Jah-
ist ein echtes Gesundheitsrisiko“, sagt der schaften“, sagt Trummer. „Die wollen einen reswechsel könnten in den Städten „ex-
Gesundheitsexperte. „Was man an Silves- draufmachen.“ trem hohe Werte“ beim Feinstaub entste-
ter einatmet, bleibt für den Rest des Jahres Im Kulturkampf zum Jahreswechsel ha- hen. „Darunter leiden vor allem vorgeschä-
im Körper.“ ben die Böllergegner Zahlen und Argu- digte Menschen, etwa mit Asthma.“
Seit Jahren hat sich der Mediziner dem mente auf ihrer Seite. Jedes Jahr, so hat Zum Schrecken der Fachleute boten viele
Kampf gegen den Feinstaub verschrieben. das Umweltbundesamt errechnet, werden deutsche Städte am 1. Januar 2017 ein Bild
In seinem Wahlkreis Leverkusen wirbt er 5000 Tonnen Feinstaub durch Feuerwerks- wie London in der Zeit Charles Dickens’
für einen Rheintunnel, der die Autos unter körper freigesetzt. Das entspricht 17 Pro- und der Kohleöfen. Die Messungen des
die Erde bringen soll. Über schlechte Luft zent der Menge, die der gesamte Straßen- Umweltbundesamts zeigen für diesen Tag
hat Lauterbach viele Reden gehalten, stan- verkehr während eines Jahres in die Luft große Ausschläge (siehe Grafik Seite 42).
dardmäßig enden sie derzeit mit einem bläst. Die Europäische Umweltagentur In München maß das Bayerische Landes-
Hinweis: Lauterbach warnt vor den „Son-
derbelastungen“ zum Jahreswechsel.
Für den Sozialdemokraten ist die Bölle-
rei eine „unterschätzte Gefahr“. Kleinste
Feinstaubpartikel aus Feuerwerkskörpern
könnten sich im Gehirn ablagern und dort
zu chronischen Entzündungen führen, am
Ende sogar Demenz auslösen. Vor allem
ältere Menschen seien gefährdet. Auch das
Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, stei-
ge durch die schlechte Luft.
Lauterbach hat einen Ruf als notorischer
Gesundheitsapostel zu verteidigen. Er hat
den Deutschen schon das Grillen zu ver-
leiden versucht und warnt vor Salz im Es-
sen. Doch der gefahrenbewusste Politiker
ist kein Außenseiter: Das Abschießen von
Krachern und Raketen, für die deutsche
Seele so wichtig wie die Wurst oder der
Personenkraftwagen, ist in Verruf geraten.
Einzelne Kommunen haben bereits ihre
Innenstädte oder bestimmte Plätze für die
Freunde des Schwarzpulvers gesperrt. An-
dere prüfen ein generelles Verbot. Und die
Politiker appellieren an die Vernunft der
Bürger. Die Böllerdebatte hat einen neuen
Ton: Nicht, dass Geld in die Luft geblasen
wird, ist verwerflich, sondern die schlechte
Luft. Die Rakete ist zu einem Gesundheits-
risiko geworden, wie die Zigarette oder
der Dieselmotor.
Für den Kulturwissenschaftler Manuel
Trummer von der Universität Regensburg
reiht sich die Knallerkritik in eine Morali-
sierung ein, die er seit den Achtzigerjahren
beobachtet. 1981 trat das evangelische
Hilfswerk „Brot für die Welt“ erstmals mit
der Kampagne „Brot statt Böller“ an. Da-
mals ging es um Konsumverzicht, erklärt
Trummer, nun seien die Vorzeichen ande-
re: „Bestimmten gesellschaftlichen Grup-
pen, die ökologisch und global orientiert
40 DER SPIEGEL 52 / 2017
Deutschland
amt für Umwelt einen Tagesmittelwert von Akutmediziner sorgen sich weniger um meist nicht klar, sagt Martin Lacher, Chef
564 Mikrogramm pro Kubikmeter an der Lungenkranke als um Hörschäden, abgeris- der Kinderchirurgie am Uni-Klinikum in
Landshuter Allee, am Stachus in der Innen- sene Finger und Verbrennungen – nie kom- Leipzig. Kürzlich veranstaltete er einen
stadt waren es 504 Mikrogramm. men so viele Menschen mit solchen Verlet- Knallkörper-Aktionstag für Schüler. Ein
Das ist zehnmal so viel wie der Wert, zungen in die Notaufnahmen wie an Silves- Pyrotechniker demonstrierte die Zerstö-
von dem an etwa in Stuttgart Feinstaub- ter. Dementsprechend finden sich jedes rungskraft an Schweinepfoten, die in Schu-
alarm ausgerufen wird. Am Neckartor, das Jahr in den Jahresendausgaben der Zei- hen steckten. „Sogenannte Polenböller ma-
als dreckigste Kreuzung Deutschlands gilt, tungen gleichlautende Tipps („abgerissene chen eine Druckwelle, da bleibt von der
ist die kritische Schwelle erreicht, wenn Finger in ein möglichst keimfreies Stück Pfote nichts mehr übrig“, sagt Lacher. Die
der durchschnittliche Wert 50 Mikrogramm Stoff wickeln“), und, am Tag danach, die Hauptrisikogruppe seien Jungen zwischen
Staub überschreitet. Die Europäische Union Verletztenstatistiken. Auf 8000 Schädigun- 10 und 14 Jahren.
erlaubt, dass dies an höchstens 35 Tagen gen des Innenohrs pro Silvester kam schon Der Absatz der Knallkörper steigt den-
der Fall ist, bis Ende 2017 wird es aber 2013 das „Deutsche Ärzteblatt“. noch stetig. In Deutschland wurde im Jahr
wohl rund 50 solcher Tage geben. „Wir rechnen mit rund 30 Verletzten und 2016 Feuerwerk für 137 Millionen Euro ver-
Dann drohen Fahrverbote und Strafzah- noch einmal so vielen an Neujahr“, be- kauft, das ergibt statistisch rund 1,65 Euro
lungen an die EU. Die Politik verrenkt sich, richtet Till Orla Klatte, Unfallchirurg am pro Einwohner – deutlich mehr als vor
um den Staub aus der Luft zu bekommen. Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf: einem Jahrzehnt.
Am Neckartor kehren nachts spezielle Rei- „Abgerissene Nasen, zerrissene Wangen, Die Kulturtechnik des Böllerns stammt
nigungsfahrzeuge, eine eigens aufgestellte Augenverletzungen. Es gibt nicht mehr Ver- ursprünglich aus China. In der Provinz Hu-
Mooswand soll die Partikel binden. Besit- letzte als früher, aber mehr schwere Verlet- nan soll der Mönch Li Tian im 7. Jahrhun-
zer sogenannter Komfortkamine dürfen zungen.“ Verursacht werden diese oft durch dert mit Schießpulver experimentiert ha-
an Feinstaubtagen kein heimeliges Feuer illegale Böller aus China, Italien oder Ost- ben, um Dämonen und böse Geister zu
entfachen. Nur die Knallerfans blieben un- europa. vertreiben. Die Feuerwerksbranche welt-
behelligt – dabei verursachen sie ganz al- Wer solche Sachen auf dem Schwarz- weit verehrt den Chinesen noch immer.
lein ein bis zwei Tage Feinstaubalarm. markt kaufe, mache sich deren Sprengkraft In Europa war Pyrotechnik zunächst ein
aristokratisches Vergnügen für Adelshoch-
zeiten oder Geburten. Ab dem 18. Jahr-
hundert richteten auch Stadtverwaltungen
oder reiche Bürger die Spektakel aus. Seit
den Fünfzigerjahren sanken die Preise für
Feuerwerksartikel, seitdem würden die
Deutschen für ihr vermeintliches Grund-
recht aufs private Böllern wohl vors Bun-
desverfassungsgericht ziehen. Eine Einstel-
lung, die Schweizer und Franzosen befrem-
det, die sich in ihren Heimatländern lieber
an staatlich organisierten Höhenfeuerwer-
ken erfreuen.
Woher also die deutsche Liebe zur Lun-
te? Alfred Gebert, emeritierter Professor
für Psychologie aus Münster, sieht im Böl-
lern eine „Regression in vorpubertäre Ver-
haltensweisen“. Gebert hat mit seinen Stu-
denten in einer empirischen Studie das
Böllerverhalten von Männern und Frauen
untersucht. Ergebnis: „Männer wollen
einen möglichst großen Bums, Frauen mö-
gen Sachen, die schön aussehen: bunte
Fontänen, Goldregen, Tischfeuerwerk.“
Frauen hielten auch gern Wunderkerzen
in der Hand. „Da käme kein Mann drauf,
die wollen den Reiz des Risikos.“ Ein Drit-
tel der Befragten habe zugegeben, schon
einmal Böller unter Autos, in Briefkästen
oder Mülltonnen zum Explodieren ge-
bracht oder, oft unter Alkoholeinfluss, Feu-
erwerkskörper auf Menschen geworfen zu
haben.
Viele Kommunen wollen solches Geba-
PETER KNEFFEL / PICTURE ALLIANCE / DPA
sich, anders als Karl Lauterbach, zu Jahres- geht, das Böllern zu untersagen. Denn len. Auch Lüneburg wird von diesem Jah-
beginn die volle Dosis Feinstaub geben will, beim Wähler ist das Thema ungefähr so reswechsel an seine historischen Gebäude
dem steht dies generell frei. populär wie Fahr- oder Grillverbote. Nie- schützen. Gab es keinen Protest? Nein,
Die Stadt Stuttgart, die aufgrund ihrer mand möchte als Spaßbremser dastehen, sagt Suzanne Moenck von der Stadtver-
Lage in einem Talkessel oft besonders der den Menschen ihre Raketen nimmt. waltung. „Es gab sogar erstaunlich viele
hohe Schadstoffwerte hat, setzte auf Ge- Grüne Verantwortungsträger befürchten Fürsprecher. Die Leute rufen uns an und
heiß des grünen Oberbürgermeisters Fritz einen Trotzeffekt wie seinerzeit beim sagen: Es wurde Zeit!“
Kuhn Verwaltung und Polizei darauf an, Veggie-Day. Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte
ein Verbot der Böllerei zu eruieren. In der Um das Feuerwerk zu begrenzen, bleibt wünschen sich, dass die Kommunen die
Stadt fordern so unterschiedliche Akteure den Städten einstweilen nur die schärfste Verbotszonen ausweiten. Diese könnten
wie der BUND und die AfD, die Böllerei Waffe des deutschen Verwaltungsrechts: auch dort ausgesprochen werden, wo sich
zu verbieten. Ergebnis laut Kuhn: „Ich der Brandschutz. Mögen Asthmatiker um sehr große Menschenmengen ansammeln,
habe prüfen lassen, ob ein Verbot des Feu- Luft ringen, Teenager ihre Finger verlieren, zum Beispiel am Brandenburger Tor.
erwerks an Silvester angesichts hoher Fein- Kriegsflüchtlinge retraumatisiert oder Tie- In der Hauptstadt sorgt die Knallwut
staubwerte möglich ist. Dafür gibt es aber re panisch werden – rechtlich bedeutsam seit Jahren für Ausnahmezustände. In der
keine rechtliche Grundlage.“ Der Grüne ist vor allem der Schutz vor dem Feuer. letzten Silvesternacht musste die Ber-
belässt es deshalb bei einem Appell: „Wer Der Brandschutz in Deutschland verhin- liner Feuerwehr 433 Brände löschen. Die
der Luft in Stuttgart etwas Gutes tun will, dert, dass Bahnhöfe oder Flughäfen fertig Polizei registrierte bis zum Neujahrs-
der verzichtet unten im Talkessel auf Sil- gebaut werden. Und der Hinweis auf den morgen 3123 Notrufe und 1669 Polizei-
vesterfeuerwerk.“ Brandschutz kann auch Innenstädte böl- einsätze – oft wegen Sachbeschädigung
Die Hamburger Verwaltung kam nach lerfrei machen. und „unsachgemäßen Umgangs mit Pyro-
der Beschwerde einer Bürgerin zu dem Er- Etliche Kommunen mit historischen Alt- technik“.
gebnis: Das Feuerwerk erhöhe die Zahl städten haben beschränkte Verbote erlas- Das ist eine vornehme Umschreibung
der Tage mit überschrittenen Grenzwerten sen, in Baden-Württemberg sind es etwa für das, was sich in manchen Bezirken Ber-
nur geringfügig. „Vor diesem Hintergrund Tübingen, Rottweil und Esslingen. Zu groß lins in der Silvesternacht abspielt. Im Stadt-
wird ein Verbot des Silvesterfeuerwerks ist das Risiko, dass eine Rakete einen his- teil Neukölln etwa demolierte ein Mob
aus Gründen der Luftreinhaltung als nicht torischen Dachstuhl in Brand setzt. Erlaubt junger Männer einen Kleinwagen, zwei
verhältnismäßig erachtet“, sagt ein Spre- sind in Tübingen Tischfeuerwerk, Scherz- warfen Feuerwerkskörper in die einge-
cher der Umweltbehörde. artikel und Knaller für Kinder. schlagenen Scheiben. Der Chevrolet
In München beschäftigten sich Bezirks- Seit Raketen in Goslar im Jahr 2006 brannte vollständig aus.
ausschüsse mit dem Feiersmog zum Jah- mehrere Fachwerkgebäude in Brand ge- Vor drei Jahren lieferten sich bis zu hun-
reswechsel. Die Böllerer benutzen die setzt haben, wappnen sich niedersächsi- dert Mann starke Gruppen im Stadtteil
Schotterbänke der Isar gern als Abschuss- sche Fachwerkstädte mit einem Verbot. Schöneberg mithilfe illegaler Böller regel-
plätze. Die Rauchschwaden ziehen dann Auf dem Land sind Silvesterböller in Ge- rechte Artilleriegefechte, „sodass sich die
in die Wohnviertel, der Lärm macht die meinden mit vielen Reetdächern tabu, Kräfte zeitweise aufgrund der Eigensiche-
Tiere im Zoo Hellabrunn verrückt. ebenso in den Nationalparks Harz und rung zurückziehen mussten“, hieß es spä-
Doch Politiker in Bund und Ländern Wattenmeer. In Göttingen will die Polizei ter im Lagebericht der Polizei. Der Berli-
halten sich lieber zurück, wenn es darum Handzettel in mehreren Sprachen vertei- ner Innensenator ruft deshalb zur Mäßi-
gung auf. „Menschen, die uns helfen, greift
man nicht an“, sagt Andreas Geisel. „Ich
Feinstaubkonzentration in Mikrogramm pro Kubikmeter Luft* appelliere an die Menschen, in jeder Situa-
29. Dezember 2016 1. Januar 2017 tion verantwortungsbewusst mit Feuer-
werkskörpern umzugehen.“
Da der Appell bei vielen Böllerfreun-
den verhallen wird, richten sich die Städte
wieder auf einen turbulenten Jahreswech-
Hamburg Hamburg sel ein. Die Umweltbehörden haben ihre
Messgeräte eingeschaltet, im Januar 2018
werden die Deutschen im Internet die
Berlin Berlin neuen Feinstaubkarten betrachten kön-
nen.
Dortmund Dortmund Von Verboten hält auch der Mahner
Karl Lauterbach nichts. „Das würden die
Bürger nicht akzeptieren.“ Die Bundes-
Köln Köln zentrale für gesundheitliche Aufklärung
solle aktiv werden und über die Feinstaub-
Frankfurt Frankfurt gefahr in der Silvesternacht aufklären.
Lauterbach sieht vor allem die Herstel-
ler in der Pflicht, alternative Knall- und
Stuttgart Stuttgart Leuchtmethoden mit geringerer Belastung
zu entwickeln. Raketen könnten auch me-
chanisch abgeschossen werden, sagt der
Gesundheitspolitiker. „Es ist Zeit für neue
Technologien für ein Feuerwerk ohne Fein-
0 10 20 30 40 > 50 staub.“ Jan Friedmann, Beate Lakotta,
Sven Röbel, Cornelia Schmergal
Quelle: Umweltbundesamt; *Tagesmittelwerte Mail: jan.friedmann@spiegel.de
W
altraud und Heinz Rosche* hat- dem Fotostudio an. Der war überrascht der akzentfrei Deutsch spricht und nicht
ten länger nichts mehr von ihrem und versicherte, sie nie um Geld gebeten vorbestraft ist.
alten Bekannten Erik Höfer* aus zu haben. Die Tochter des Paares verstän- Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hat
Castrop-Rauxel gehört. Früher hatten sie digte daraufhin die Polizei. die Bande in 16 Fällen ihre Gesprächspart-
in Höfers Fotostudio gearbeitet, aber als Die Masche ist immer dieselbe: Im Tele- ner am Telefon zu einer Geldübergabe
Rentner trafen sie ihn nur noch gelegent- fonbuch suchen die Täter nach altmodisch überredet und insgesamt 290 000 Euro er-
lich auf Geburtstagen. klingenden Vornamen. Dann rufen sie ihre beutet. In den restlichen 27 Fällen blitzten
Trotzdem zögerte Waltraud Rosche meist betagten Opfer an, verwickeln sie sie ab: Die Angerufenen waren rechtzeitig
nicht, als Höfer eines Tages anrief und von in ein Gespräch und täuschen vor, ein na- misstrauisch geworden und informierten
seinen Geldsorgen erzählte. Er brauche her Verwandter oder Bekannter zu sein. zum Teil die Polizei.
dringend 30 000 Euro. Für den Kauf einer Der Rest ist dann oft Routine, wie bei den Der Enkeltrick ist seit fast 20 Jahren eine
Immobilie, es müsse schnell gehen, am Rosches. der erfolgreichsten Betrugsmaschen, ein
nächsten Montag überweise er ihr das ge- Enkeltrick heißt die Betrugsnummer un- skrupelloses Geschäft mit der Gutgläubig-
liehene Geld zurück. Es war Freitag, der ter Ermittlern. Meistens ist sie den Lokal- keit und Unsicherheit älterer, argloser Men-
29. November 2013, gegen 11 Uhr. zeitungen nur einen kleinen Bericht wert. schen. Mit erfunden hat ihn Ende der
Heinz Rosche machte sich sofort auf den Über Hintermänner, Strukturen und das Neunzigerjahre der Teppichhändler Ar-
Weg, um dem alten Bekannten zu helfen. Ausmaß des Schadens wird normalerweise kadiusz L., genannt „Hoss“. Er gilt als der
Um 12.45 Uhr kehrte er mit allem Bargeld wenig bekannt. Pate der Enkeltrick-Mafia, Anführer eines
zurück, das er auf der Stadtsparkasse lo- Ein Verfahren vor dem Landgericht Clans aus mehreren Roma-Familien – und
ckermachen konnte, immerhin 20 000 Euro. Hamburg erlaubt nun überraschende Ein- er ist Lollis Vater.
Er selbst könne leider nicht vorbeikom- blicke in die Szene. Es zeigt, dass der En- Hoss kam 1976 nach Deutschland, 1996
men, hatte Höfer am Telefon gesagt. Aber keltrick nicht nur das Geschäft kleiner zog er nach Hamburg und baute ein weit-
sein Architekt, Herr Schmidt, könne das Gauner ist – sondern ein lukratives Feld verzweigtes, europaweit agierendes Netz-
Geld abholen. Und so geschah es. Wenig der organisierten Kriminalität. werk von Trickbetrügern auf, die Rentner
später stand ein Mann in brauner Kunstle- Angeklagt ist Marcin K., genannt auszunehmen versuchten. Die Täter, so-
derjacke mit grauem Kragen vor ihrer Tür. „Lolli“, 30, ein redegewandter, adretter genannte Keiler, sitzen meist in Polen und
Herr Schmidt habe „mit leichtem Akzent“ Mann, lichtes dunkles Haar, Bart, polni- rufen von dort aus potenzielle Opfer in
gesprochen und „wie ein Osteuropäer“ scher Staatsbürger. Die Staatsanwaltschaft Deutschland an. Fallen die Angerufenen
ausgesehen, erinnerte sich Waltraud Ro- wirft ihm gewerbs- und bandenmäßigen darauf herein, taucht ein unbekannter
sche im Nachhinein. Betrug in 43 Fällen vor. Anfang Januar soll Geldabholer bei ihnen auf. Die telefoni-
Herr Schmidt fragte noch, ob sie denn das Urteil fallen. sche Koordination der Abholerteams über-
auch Schmuck oder Wertgegenstände zu Lolli soll der Hintermann einer Bande nehmen sogenannte Logistiker. An man-
Hause hätten. Zu ihrem Glück verneinten sein, die zwischen November 2011 und Mai chen Tagen ergaunerten Hoss und seine
die Rentner das. Dann übergaben sie dem 2014 von Polen aus in Deutschland und Leute 80 000 Euro.
ihnen wildfremden Mann 20 000 Euro ihres Luxemburg ältere Herrschaften betrogen Das streng hierarchische System er-
Vermögens. Wenig später schöpften sie hat – darunter auch Waltraud und Heinz schwert die Fahndung: Die Beute wird
Verdacht und riefen ihren Bekannten aus Rosche. „Alles spricht dafür, dass ich der kurz nach der Übergabe über Mittelsleute
Anrufer war, aber ich kann mich nicht hun- schnellstmöglich nach Polen transportiert.
* Namen von der Redaktion geändert. dertprozentig erinnern“, sagt Marcin K., Dadurch wird es kompliziert, die Taten bis
Weihnachten: lecker,
setzt aus der Telefonüberwachung, gibt
Namen preis, sagt: „Ja, das war ich.“ Im
Zuschauerraum in Saal 337 sitzt seine Frau,
aber einfach
er wirft ihr Luftküsse zu.
Wie seine Familie insgesamt auf seine
Beichte reagiert hat, wollen seine Vertei-
diger nicht kommentieren. SPIEGEL TV
kam in den vergangenen Jahren des Öfte-
ren in Berührung mit Lollis Angehörigen. SPIEGEL-Gespräch Der Spitzenkoch Nils Henkel über Familienrezepte,
Die wenigsten von ihnen waren friedlich. Kalbsbäckchen und die traurige Seite der Gourmetkritik
Die Reporter wurden bepöbelt, bespuckt,
angegriffen.
Der Clan nutzt den Enkeltrick als Haupt- Henkel gehört zu den meistbeachteten deut- Aber da rate ich zu Entspanntheit! Ich
einnahmequelle für ein Luxusleben, er schen Köchen: Nachdem er zwei Jahre lang würde mir zu Weihnachten nie die Mühe
soll damit ein Millionenvermögen ergau- pausiert hatte, bewerteten die Tester des bereiten, die ein Gänsebraten bedeutet:
nert haben. Lolli kennt nichts anderes. Er Gourmetführers „Guide Michelin“ seine Küche Vogel kaufen, Vogel füllen, Rotkohl ko-
wuchs in Deutschland auf, war in Essen im November sofort wieder mit zwei Sternen. chen, Kartoffeln reiben, Klöße formen.
und Hamburg gemeldet. Seit 2005 haben Der Erfolg des 48-Jährigen gilt als spektaku- Eine tolle Mahlzeit ist natürlich ein Ge-
ihn die Fahnder wegen der Betrugsserie läres Comeback. 2011 hatte der ehemalige schenk – gerade weil man sich in den hek-
im Visier. Er finanzierte sich damit sei- Dreisternekoch einen Stern verloren, 2014 tischen Tagen die Zeit nimmt, für andere
nen teuren Lebensstil. Lolli fuhr Porsche wurde er arbeitslos. Derzeit arbeitet Henkel zu kochen. Aber es findet sich immer eine
und Ferrari, residierte im Hilton oder im als Küchenchef für das Restaurant Schwar- unaufgeregtere Variante. Bei uns zu Hause
Sheraton. zenstein im hessischen Geisenheim. heißt Weihnachten: lecker, aber einfach.
Ermittler sprechen von einem „Total- Ein gebratener Saibling. Eine confierte
versagen der Justiz und Politik“. Die En- SPIEGEL: Herr Henkel, die Kritiker attestie- Entenkeule.
keltrick-Betrüger seien das beste Beispiel ren Ihnen Höhenflüge, das Restaurant ist SPIEGEL: Sie haben zwei Töchter, die jüngs-
für „die Machtlosigkeit der Staaten in jeden Abend voll, und die Gäste blicken auf te ist drei Jahre alt. Sie isst Saibling und
Europa gegen das organisierte Verbre- den opulent geschmückten Tannenbaum. Entenkeule, die gepökelt und im eigenen
chen“. Lolli muss fest geglaubt haben, Wie ist die Stimmung in Ihrer Küche? Fett gegart wurde?
glimpflich davonzukommen. Bis der Vor- Henkel: Zufrieden, aber natürlich auch an- Henkel: Sogar mit Freude. Meine Frau und
sitzende Bernd Steinmetz ankündigte, gespannt. Weihnachten ist ja ohnehin eine ich haben immer versucht, es durchzuhal-
dass er mit nahezu 15 Jahren Haft rechnen Zeit, in der einem der Kopf überzulaufen ten, dass die Kinder alles probieren. Aber
müsse, sollte er kein umfassendes Ge- droht. Obwohl das jeder weiß, scheint es wenn Tränen rollen, muss der Koch ein-
ständnis ablegen und sich um eine Scha- einen aber immer wieder zu überraschen. packen: Bei Rosenkohl geht bei unseren
denswiedergutmachung bemühen. Selbst Heute haben wir für das
in diesem Fall würde er nicht weniger als Adventstreffen eines inter-
12 Jahre Haft bekommen. nationalen Konzerns 120
Dies sei „ein deutlich zu hohes Straf- Mittagessen aus der Küche
maß“, sagt sein Verteidiger Lange. „Es gibt geschickt, da werde ich in-
kein Sonderstrafrecht für Enkeltrick-Be- nerlich schon mal unruhig.
trüger. Selbst bei einem Vielfachen dieses Manchmal muss ich mich
Schadens muss ein Anlagebetrüger mit an solchen Tagen draußen
nicht mehr als der Hälfte rechnen.“ kurz aufs Mäuerchen setzen,
Gegen Lolli laufen auch Verfahren in in die Rheinebene schauen
Österreich, Luxemburg und der Schweiz. und durchatmen. Es muss
Eine sogenannte Gesamtlösung aller Straf- ja trotz der Hektik alles
taten europaweit sei nicht möglich, sagte rundlaufen.
der Richter zu Beginn des Prozesses. Wenn SPIEGEL: Welche Fehler könn-
Lolli seine Strafe in Deutschland verbüßt ten sonst passieren?
hat, wird er in eines der anderen Länder Henkel: Der schlimmste Feh-
ausgeliefert und dort vor Gericht gestellt. ler wäre es, wenn einem
Vielleicht war die Angst vor einer lan- Gast ein Essen serviert wür-
gen Haft der Auslöser für Lollis Kurz- de, das nicht perfekt ist.
schlussreaktion. Vielleicht war es aber Wenn ein Gericht nicht rich-
auch die Einzelhaft, die einem Lebemann tig abgeschmeckt oder nicht
wie ihm zu schaffen macht. Außer einer warm genug ist, bedeutet
Stunde Hofgang sitzt er 23 Stunden lang das für einen professionel-
in seiner Zelle. Für einen geselligen Men- len Koch ein Fiasko.
schen wie Lolli, sagt ein Freund, sei das SPIEGEL: Jede Menge Hobby-
TIM WEGNER / DER SPIEGEL
Henkel: Meine Frau und ich haben immer mich besser fühle, wenn ich wenigstens
geschmorte Kalbsbäckchen im Gefrierfach, meine körperlichen Grenzen verschieben
die holen wir raus, wenn wir ein seelen- kann. Zum Glück hatte ich meine Familie.
volles Gericht brauchen. Bäckchen mit Das klingt so lapidar, aber ich meine es
Kartoffelstampf haben eine wunderbare genau so: Meine Familie ist eine Insel, ein
Die Jury: die Journalisten Nikolaus Brender, Astrid Csuraji, Matthias Eberl, Michael Ebert, Sylke Gruhnwald,
Richard Gutjahr, Rainer Hank, Tina Hildebrandt, Claus Kleber, Caren Miosga, Anja Reschke, Evelyn Roll, Vera
Schroeder, Jessica Schober, Cornelia Stolze, Regine Sylvester, Pauline Tillmann, Dominik Wichmann, Armin Wolf
und Diana Zinkler; die Autoren Axel Hacke, Ildikó von Kürthy, Sascha Lobo und Christine Westermann; die
Verleger Michael Krüger und Helge Malchow; die Schauspielerin Gesine Cukrowski und der Schauspieler Ulrich
Matthes; der TV-Produzent Friedrich Küppersbusch und die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling.
Verliehen am 11. Dezember im Tipi am Kanzleramt.
www.reporter-forum.de
Deutschland
Hochschulen Studienplätze fach ist das alles nicht: Die Vergabe der
Medizinstudienplätze ist schon fast eine Sachsen 29,4
in Medizin müssen anders als Wissenschaft für sich – mit bislang teilwei-
bisher vergeben werden. se verfassungswidrigen Prozeduren. Bayern 29,1
Gegenwärtig kommt es bei der Zulas-
Das dürfte Auswirkungen auf sung zum Medizinstudium häufig nur auf
Mecklenburg-Vorp. 28,8
weitere begehrte Fächer haben. die Abiturnote an. Das darf so nicht blei- Sachsen-Anhalt 26,5
ben, sagen die Richter. Wenn es weitere
Berlin 26,0
L
ukas Jäger konnte eigentlich egal gute Indikatoren dafür gebe, wer geeignet
sein, was die Verfassungsrichter über sei für ein Studium und den darauf typi- Saarland 25,7
seinen Fall sagen würden. Er hatte scherweise folgenden Beruf, dürfe nicht
den erwünschten Studienplatz in Medizin die Abiturnote allein zählen. Hamburg 24,8
inzwischen erhalten, viele Jahre nach sei- Für gut 40 Prozent der Studiengänge in Hessen 24,7
nem Abitur; der junge Mann ist mittler- Deutschland gelten Zulassungsbeschrän-
weile 26 Jahre alt. kungen, meist vonseiten der einzelnen Bremen 24,1
Doch den Triumph, der zumindest vie- Hochschulen. „Die Bundesländer sind nun
len anderen zugutekommen wird, wollte auch aufgerufen, die Vorschriften über die Baden-Württemberg 23,3
sich Jäger nicht nehmen lassen. Als das örtlichen Zulassungsverfahren auf den Nordrhein-Westfalen 23,0
Bundesverfassungsgericht im Oktober ver- Prüfstand zu stellen“, sagt der Hochschul-
handelte, wollte er noch anonym bleiben rechtler Josef Franz Lindner, Professor an Rheinland-Pfalz 20,4
und war nicht in Karlsruhe erschienen. Am der Universität Augsburg. Insbesondere Schleswig-Holstein 19,3 * Notendurchschnitt
Dienstag aber, nachdem die Richter ihr Ur- die Forderung, dass die Abiturnote nicht 1,0 bis 1,9;
teil verkündet hatten, stellte er sich den einziges Kriterium sein dürfe, „ließe sich Niedersachsen 17,0 Quelle: KMK;
Abitur 2015
TV-Teams und schritt für die laufenden Ka- wohl auch auf die örtlichen Zulassungsver-
meras die Treppe vom Sitzungssaal herab. fahren übertragen“.
Sein Fall wird dazu führen, dass die Me- Michael Hartmer, Geschäftsführer des vielleicht noch mehr als für Mediziner, im
dizinstudienplätze ab Anfang 2019 anders, Deutschen Hochschulverbandes, bezeich- späteren Berufsleben auf Einfühlungsver-
gerechter verteilt werden müssen als bis- net es als „politisch absolut wünschens- mögen und kommunikative Fähigkeiten an?
her. Und die Auswirkungen dürften noch wert“, die Kernforderungen des Urteils auf Die Verfassungsrichter störten sich an
größer sein. andere Studiengänge zu übertragen. „Man den Abiturnoten in einer weiteren Hin-
Formal betrifft das Urteil nur ein Fach, sollte jetzt Fach für Fach überlegen, welche sicht. Die Länder haben ungleiche Anfor-
die Humanmedizin. Faktisch sind mindes- Fähigkeiten dafür jeweils notwendig oder derungen an Abiturienten, auch die Noten
tens drei weitere Fächer betroffen, in de- zumindest erstrebenswert sind.“ differieren. Die thüringischen Abiturienten
nen die Zulassung nach gleichem Muster Der Vorstand der Deutschen Gesell- 2015 schlossen im Schnitt mit der Note 2,16
abläuft: Tiermedizin, Zahnmedizin, Phar- schaft für Psychologie vermeldete noch ab, die im benachbarten Niedersachsen
mazie. Vermutlich jedoch werden die am selben Tag, an dem die Richter ihr Ur- mit 2,59. Ebenso unterscheidet sich die
Hochschulen und die Gesetzgeber auch in teil verkündeten, dass eine Kommission Quote der Spitzenabis (siehe Grafik).
anderen Fächern knappe Studienplätze die „Studierendenauswahl und Zulassung Zumindest für einen kleinen Teil der
nicht mehr wie bisher vergeben können. zum Studium“ untersuchen solle. Es sei da- Medizinstudienplätze gibt es einen Aus-
von auszugehen, „dass gleich: Abiturienten werden nur mit Be-
das Urteil des Bundes- werbern aus demselben Bundesland ver-
verfassungsgerichtes zu- glichen. Diese Methode nickten die Ver-
künftig auch für die fassungsrichter ausdrücklich ab. Zugleich
Zulassungsverfahren in mahnten sie: Auch soweit die Hochschulen
Psychologie Auswir- die Plätze selbst vergeben, dürften die No-
kungen haben könnte“. ten der Abiturienten nicht einfach über
Die Kommission solle Landesgrenzen hinweg verglichen werden.
daher prüfen, wie es Der Hamburger Rechtsanwalt Michael
künftig „valide, gerecht Schacht, der Lukas Jäger in Karlsruhe ver-
und effizient“ zugehen trat, sieht nun viele mögliche Angriffspunk-
könnte. te für abgelehnte Studienplatzbewerber
In Psychologie liegt auch in anderen Fächern. „Viele Anwalts-
der Numerus clausus kollegen dürften das zum Anlass nehmen,
sehr hoch, an den meis- die vom Verfassungsgericht geöffnete Tür
SINA SCHULDT / DPA
.
es 2884 Kilokalorien
2013 waren
1961 bekam
2196 Kiloka jeder Mensch weltweit
lorien pro Ta im Durchsc
g zu essen. hnitt
Ein Kilogramm Kartoffeln mehr pro Kopf. Die kulinarische Provoka- Asien hat sich die Ernährungslage in den letzten 50 Jahren
tion, die sich Weihnachtszeit nennt, mit ihrer Parade aus hoh- enorm verbessert. Das Einkommen ist gestiegen, die Men-
len Schokoweihnachtsmännern und glasierten, natürlich selbst schen geben mehr Geld für ihr Essen aus. 2000 bis 3000 Kilo-
gebackenen Keksen, erinnert jedes Jahr wieder an den Film kalorien brauchen erwachsene Menschen pro Tag, abhängig
„Das große Fressen“. Am Ende haben nicht alle überlebt, von Alter, Geschlecht und Bewegung. 1961 waren in Asien nur
trotzdem wird noch eine Ladung Schweinehälften auf den Hof 1800 Kilokalorien pro Kopf und Tag verfügbar, 2013 waren
gekarrt. War früher alles besser, als kleine Jungen in Leder- es fast 2800 Kilokalorien, ein Unterschied von mehr als einem
hosen ein Leuchten in den Augen bekamen, wenn man ihnen Kilo Kartoffeln. Eine große Ungerechtigkeit aber bleibt: Wir
feierlich eine Mandarine überreichte, aber nur eine? Natürlich produzieren mehr Essen auf der Welt, als wir brauchten, und
nicht. Die Kalorienversorgung steigt, der Mensch wird satter, trotzdem hungern noch immer 815 Millionen Menschen. Das
und weltweit betrachtet ist das, trotz des Übergewichtspro- hat nicht nur mit der Landwirtschaft zu tun; vor allem in Län-
blems in manchen Ländern, eine sehr gute Nachricht. Die Un- dern mit politischen Unruhen leiden Menschen am Hunger, im
gleichheit zwischen den Kontinenten nimmt ab. Vor allem in Jemen, Südsudan, in Somalia und Nigeria. jonathan.stock@spiegel.de
Nächstenliebe Teil völlig verlernt, ein Ge- bezogen hieße das: mehr als
Wie tröstet man alte, einsame Menschen, spräch zu führen. Man muss eine viertel Million potenziel-
Frau Schilling? behutsam sein, geduldig.
SPIEGEL: Mit wie vielen An-
ler Anrufer. Natürlich rufen
die nicht alle an. Wir planen
rufen rechnen Sie? jetzt erst mal mit 20 Minuten
Elke Schilling, 73, Leiterin des allem ältere Menschen. De- Schilling: Es gibt Studien, wo- pro Gespräch und hoffen, dass
Projektes „Silbernetz“, über ein nen wollen wir ein Angebot nach jeder dritte Mensch über es keine Wartezeiten gibt.
Berliner Feiertagstelefon machen. Unsere Hotline wird sechzig gelegentlich Einsam- SPIEGEL: Wie kamen Sie zu
rund um die Uhr erreichbar keitsgefühle hat. Auf Berlin diesem Projekt? Durch ein
SPIEGEL: Frau Schilling, unter sein. 20 ehrenamtliche Helfer persönliches Erlebnis?
der kostenfreien Rufnummer nehmen die Anrufe entgegen, Schilling: Es gab einen Schlüs-
0800 4708090 bieten Sie von wir arbeiten alle in Vier-Stun- selmoment, ja. Vor vier Jah-
Weihnachten bis Neujahr den-Schichten. ren verschwand mein Nach-
eine Hotline für Senioren an. SPIEGEL: Wie hilft man verein- bar, ein stiller älterer Herr.
THE IMAGE BANK / GETTY IMAGES
Warum braucht es so ein samten Senioren am Telefon? Ich sah ihn irgendwann nicht
Angebot? Schilling: Es geht erst mal ums mehr, und an seiner Tür hing
Schilling: Weihnachten ist die Zuhören. Empathie zeigen. wochenlang ein Pizza-Flyer.
Zeit der verschärften Einsam- Da sein. Manche Senioren hö- Da wurde ich unruhig und
keitsgefühle – für diejenigen, ren kaum noch eine andere verständigte die Polizei. Lei-
die niemanden mehr haben. Stimme als jene aus dem der viel zu spät: Er war seit
Und das betrifft natürlich vor Fernseher. Sie haben zum drei Monaten tot. jmg
Z
wei Monate nachdem sein Verein Hohn und Spott nen Wagen und drückte aufs Gas.
im Netz hatte ertragen müssen, von den USA bis Angeblich schwammen noch nie mehr als zwei Bälle
Indien, leitet Daniel Citea das Training auf dem gleichzeitig in der Bistriţa, und normalerweise kehrt der
Fußballplatz in Broșteni, einer Kleinstadt in den rumäni- Suchtrupp nach wenigen Minuten zurück. Dieses Mal je-
schen Ostkarpaten. Der Platz, gebaut Anfang der Fünfzi- doch war die Strömung wegen des Hochwassers besonders
gerjahre, liegt zwischen der Nationalstraße 17B und dem stark. Hinzu kam, dass Trainer Citea sein Team weiter er-
linken Ufer der Bistriţa, das ist jener Fluss, der dem Verein munterte, aus allen Lagen zu schießen.
seinen Namen verleiht: Bistriţa Broșteni. Von jeher trennt In der 58. Minute trug der Fluss den fünften Ball davon.
eine übermannshohe Mauer das Spielfeld von der Straße, Es war der letzte, den der Verein besaß. Fünf Bälle in
damit keine Bälle auf die Fahrbahn rollen. Auf der ande- zwölf Minuten. Der Schiedsrichter wandte sich an Citea
ren Seite, wo etwa zehn Meter von der Außenlinie entfernt und sagte, ihm blieben exakt drei Minuten Zeit, um einen
das Wasser rauscht, steht neu- Ball zu organisieren, damit
erdings ein Zaun. „Den muss- man die Begegnung fortsetzen
ten wir bauen“, sagt Citea, ein könne. Also war Citea der
gedrungener Mann in Kunst- dritte Mann an diesem Tag, der
lederjacke. „Der Verband hat zu seinem Auto rannte. „Du
ihn zur Bedingung gemacht findest sie beim Staudamm!“,
nach dem, was passiert ist. riefen ihm die Zuschauer nach.
Sonst hätten wir hier nicht län- Citea war etwa fünf Kilome-
ger spielen dürfen.“ ter gefahren, als er den ersten
Citea arbeitet als Schlosser der beiden Helfer erblickte.
im Bergbau, er ist 46 Jahre alt Der stand bis zur Hüfte im
GEORGE POPESCU/ESTOST.NET
und Coach, Manager und Mit- Wasser und versuchte, einen
telfeldspieler des Teams, fünfte Ball mithilfe eines Astes an
Liga. „Wir sind ein Klub mit Land zu holen. Citea hielt an,
wenigen Möglichkeiten“, sagt half ihm, sie erwischten den
er und schaut aus traurigen Ball, dann machten sie sich auf
Augen. Das Geld ist knapp, es den Rückweg. Unterwegs fiel
gibt kaum Jobs in der Gegend. Fußballplatz in Broșteni Citea ein Viehhirte am Stra-
Vergangenes Jahr verlor Citea ßenrand auf, der einen Ball un-
seinen Kapitän, der in einem ter seinem Hemd versteckte.
Reifendepot in Thüringen an- Dann sah er den zweiten Hel-
geheuert hatte. Die Mann- Von der Website Hindustantimes.com fer, der auf der anderen Seite
schaft steht nach der Hinrunde des Flusses einen Ball gebor-
auf dem drittletzten Platz der Tabelle, dabei hatte die Sai- gen hatte. Den vierten Ball fand ein Wanderer drei Tage
son gut begonnen. Nach einem 7:1 zum Auftakt traf Broșteni später, der fünfte blieb verschollen bis heute.
am zweiten Spieltag auf Vânătorul Dorna Candrenilor, einen Die drei Minuten waren längst vergangen, als Citea
Gegner, gegen den man zu Hause noch nie verloren hatte. beim Platz eintraf. Der Schiedsrichter wertete das Spiel
Es war ein bewölkter Sonntag Ende September, Anpfiff mit 3:0 für Vânătorul, so schreibt es das Regelwerk des ru-
um 14 Uhr. Broșteni spielte in den blau-roten Trikots mit mänischen Fußballverbands vor, Artikel 83, Absatz 1.
der goldenen Rückennummer, dazu blaue Hosen und blau- Daniel Citea steht am Mittelkreis, Ende November, und
rote Stutzen, es sind die Farben des FC Barcelona. Gut beendet nach einer Stunde die Übungseinheit. Es ist dun-
200 Zuschauer waren gekommen, freier Eintritt, die meis- kel geworden, und Flutlicht gibt es nicht. 300 Lei Strafe
ten Fans standen auf dem Parkplatz hinter einem der Tore. musste er an den Verband zahlen, umgerechnet 64 Euro.
Daniel Citea hatte seine Mannschaft offensiv aufgestellt, Doch das ist es nicht, was ihn aufregt. „Wir hätten mit
mit drei Stürmern. Er sagt, er gewinne lieber 6:5 als 1:0. einem Ball unseres Gegners weiterspielen können, aber
Der Rasen war tief an diesem Nachmittag, es hatte die der wollte das nicht“, sagt Citea. „Ich kann es nicht be-
vergangenen drei Tage pausenlos geregnet. Der Pegel der weisen, aber ich vermute, die andere Mannschaft hat den
Bistriţa stand hoch, ein paar Zentimeter noch, und der letzten Ball absichtlich in den Fluss geschossen.“
Fluss wäre über das Ufer getreten. Nach dem Spiel gegen Vânătorul schickte der Verband
Zur Halbzeit führten die Gäste mit 2:0. In der Kabine elf neue Bälle nach Broșteni. „Die Qualität ist nicht so gut“,
sprach Citea seinen Mitspielern Mut zu. Sagte, sie müssten sagt Citea. Einen Ball schenkte er dem Fahrer des Mann-
jetzt alles nach vorn werfen, ein schnelles Anschlusstor, schaftsbullis, vier Bälle überließ er Schulen, die übrigen
dann hätten sie noch eine Chance, das Spiel zu gewinnen. sechs behielt er. Das Geld für den Zaun spendete die Ge-
Die zweite Hälfte begann mit einem Angriff der Rot- meinde. Er ist zwar passend zur Rückrunde fertig, allerdings
Blauen, Flanke in den Strafraum, abgewehrt, aus dem nur anderthalb Meter hoch. Sicherheitshalber will Citea
Hintergrund ein gewaltiger Schuss: Der Ball flog ebenso am Ufer noch ein paar Bäume pflanzen. Maik Großekathöfer
Z
weiundzwanzig Jahre nachdem er hang bei Mérida, einer Stadt in den vene- richtet einen Sachschaden in Höhe von
versuchte, in Berlin ein Gefängnis zolanischen Anden. Vier Schritte breit, 214 519,90 Mark an, keine Verletzten.
in die Luft zu sprengen, stolpert zehn Schritte lang, das Dach aus Blech. In ihrem sechs Seiten langen Bekenner-
Thomas Walter über einen Trampelpfad Drinnen gibt es einen schmalen Esstisch, schreiben kritisiert die Gruppe die Liefe-
in den Bergen von Venezuela. Es ist Nacht, auf den eine Lampe fiebriges Licht wirft, rung deutscher Waffen an die Türkei, die
die Luft ist warm und vibriert vom Singen zwei Plastikstühle, einen Gasherd, ein mit dem Kriegsmaterial Kurden töten ließe.
der Zikaden. Vor ihm tastet sich der Kegel Spülbecken, ein Gewürzregal. Hinter einer Die Polizei hat keine Ahnung, wer dahin-
seiner Taschenlampe den Pfad hinauf, ich Wand stehen ein Bett, ein Schreibtisch, ein tersteckt. Es bleibt der einzige Anschlag,
stolpere hinterher. Nach einer Viertelstun- Fernsehgerät und ein Computer. Die bei- der dem K.O.M.I.T.E.E. gelingt.
de schälen sich die Umrisse einer Bauern- den Fenster sind vergittert. Am nächsten Morgen sitzen wir auf
hütte aus dem Dunkel, die sich an einen Der Unterschied zu einer Gefängniszelle Palmströms Terrasse. Es gibt gebackene
Hang duckt. Er deutet auf ein Licht. „Da ist, dass Thomas einen Schlüssel hat. Im Maniokwurzeln, Eier von den Hühnern
wohne ich.“ Es ist sein letztes Versteck. Garten baut er Salat an, Zwiebeln, Aloe hinten im Stall, Tomaten, Käse und Mais-
Thomas Robert Walter, geboren in Ba- vera und Litschis, und beim Wäscheauf- mehlfladen. Ab und zu flirrt ein Kolibri
den-Baden, zuletzt wohnhaft in 15320 Neu- hängen kann er zum Küchenfenster von heran und bleibt ratlos in der Luft stehen.
trebbin nahe der deutsch-polnischen Gren- Palmström schauen, seiner Freundin. Die Flucht hat Thomas vorsichtig werden
ze, gehörte zur militanten Linken in Berlin, Einen großen Teil der Zeit werden wir lassen. Palmström ist nicht der echte Name
aber das ist lange her. Seit 1995 ist er auf der am Esstisch unter dem gelben Licht ver- seiner Freundin, sondern der einer Ge-
Flucht vor den deutschen Behörden. Bei bringen, redend, Kaffee trinkend. Meistens dichtfigur von Christian Morgenstern. Er
der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe läuft antwortet er auf meine Fragen. Wie taucht möchte verhindern, dass seine Freundin
ein Ermittlungsverfahren gegen Probleme bekommt, als Flucht-
ihn, wegen der „Verabredung zur helferin. Er bittet mich, nur zu
Herbeiführung einer Sprengstoff- schreiben, dass sie aus Europa
Thomas,
explosion.“ Das Bundeskriminal- stamme. Sie redet gern und viel,
amt fahndet nach ihm und zwei eine blonde, zupackende Polito-
weiteren Verdächtigen. Im Haft- login, Anfang fünfzig, halb Intel-
befehl steht, er sei Mitglied der lektuelle, halb Landwirtin.
der Terrorist
terroristischen Vereinigung „Das Thomas wuchs in einer sozial-
K.O.M.I.T.E.E.“ gewesen und der demokratisch-bildungsbürgerli-
linksradikalen Szene zuzuordnen. chen Familie in Sinzheim bei Ba-
Er war 32 Jahre alt, als er ab- den-Baden auf. Er war das dritte
tauchte, nun ist er 55. Sein halbes von fünf Kindern, vier Jungs, ein
Erwachsenenleben rannte er weg. Mädchen. Die Wände des Eltern-
„Viele Fluchten scheitern ja am
Emotionalen“, erzählt er später.
Verwandte Nach einem missglückten An- hauses sind voll mit Bücherrega-
len, ich erinnere mich, in den Tie-
„Escobar wurde gefasst, weil er schlag in Berlin tauchen drei Linksradikale fen des Gebäudes die Romane
mit seiner Frau telefoniert hatte. von Haruki Murakami entdeckt
Die Familie ist der schwache
in Venezuela unter. Seit über 20 Jahren zu haben, als ich einmal drei Mo-
Punkt auf der Flucht, das weiß werden sie von deutschen Behörden nate lang im Gästezimmer wohn-
die Polizei. Über meine Familie
sind sie richtig hergefallen.“
gejagt. Einer von ihnen ist der Großcousin te. Thomas’ Vater Heribert lernte
damals Japanisch, als wäre es so
Die Reise zu ihm ist auch ein des Autors Christoph Scheuermann. selbstverständlich wie Rasenmä-
Verwandtenbesuch. Thomas Wal- hen. Heribert war Lehrer und ar-
ter ist mein Cousin zweiten Gra- beitete bis zur Pensionierung in
des, unsere Großmütter waren Ge- der Lehrerausbildung. Thomas’
schwister, aber in dieser Nacht in Mutter Jacqueline, eine Franzö-
Venezuela sehen wir uns zum ersten Mal. man zwei Jahrzehnte lang unter? Wie wird sin, unterrichtete Mathematik am Gymna-
Es ist eine Begegnung mit einem Geist. Für jemand aus der Verwandtschaft zum Ter- sium für die französischen Streitkräfte.
die Verwandtschaft war er zwei Jahrzehnte rorverdächtigen? Was, glaubt er, macht Die Walters sind eine faszinierende Fa-
lang ein Tabu. Der Junge, dessen Namen das aus denjenigen, die zurückbleiben? milie, chaotisch, überquellend vor Leben,
man vermied, der aufhörte zu altern. Es Die Vorwürfe gegen ihn sind gut doku- weltgewandt. Im Mittelpunkt stand Heri-
gab nur Fotos, die verblassten. Er war der mentiert, auf der Internetseite des Bundes- bert, ein Reaktor von einem Mann, der
blinde Fleck, die Wunde, das Rätsel, die kriminalamts unter der Rubrik „Fahndun- Bücher verschlang, der ein riesiges Hän-
Peinlichkeit, die Ungewissheit, der Schmerz. gen“. Und doch wuchs in der Familie eine geregister mit Ideen und Zeitungsartikeln
Das Gesicht vom Fahndungsplakat. Skepsis gegen die Ermittler, gegen den fütterte, der Brieffreundschaften bis nach
Jetzt tritt er in einer grauen Trekking- Staat selbst. Thomas sei doch kein Terro- Japan pflegte und zum Ausgleich Schafe
hose, Wanderstiefeln und T-Shirt in seine rist! Es könne doch nicht sein, was im In- und Gänse hielt, Wein anbaute, Äpfel und
Küche. Die Haare trägt er kurz, sie sind ternet steht. Da müsse ein Irrtum vorlie- Birnen erntete und Brennholz schichtete.
grau an den Schläfen. Sein Gesicht ist von gen, anders lasse sich das nicht erklären. Die Kinder nannten ihn den Papst.
Furchen durchzogen, wenn er lacht, kom- Das K.O.M.I.T.E.E. tritt am 27. Oktober Thomas war sein Lieblingskind. Sein
men schiefe Zähne zum Vorschein. Er 1994 mit einem lauten Knall erstmals in Helfer, seine rechte Hand. „Papa war mein
spricht in mildem badischem Singsang, er Erscheinung. Das Ziel der Gruppe ist das Gott und ich sein Stellvertreter.“ In der
fragt: „Hasch Hunger?“ Manchmal webt Kreiswehrersatzkommando 852 in Bad Pubertät riss sich Thomas von seinem Va-
er spanische Wörter in seine Sätze. Auf Freienwalde, nordöstlich von Berlin, ein ter los, wollte tanzen gehen, wie jeder Jun-
dem Tisch steht eine Dose mit Keksen, da- Verwaltungsgebäude der Bundeswehr. Die ge, wollte mit Mädchen zusammen sein
neben Bananen und frische Maracuja. Die Täter setzen das Gebäude mit einem Ben- und nicht Zaunpfosten setzen. Seine Ju-
Hütte, in der er wohnt, liegt an einem Berg- zin-Diesel-Gemisch in Brand. Das Feuer gend war ein Krieg gegen den Papst. Die
54 DER SPIEGEL 52 / 2017
ILLUSTRATION: MICHAEL MEISSNER FÜR DEN SPIEGEL
Ort des versuchten Anschlags 1995 in Berlin, mutmaßlicher Täter Thomas Walter
Eltern hielt er für verlogen, die Provinz letzung und Widerstands gegen Polizeibe- In Kreuzberg lernt Thomas zwei Män-
für zu eng. Er schmiss die Schule, machte amte drei Monate lang in Haft. Die 50 000 ner kennen, Peter Krauth und Bernhard
eine Schreinerlehre und zog nach Berlin. Mark Kaution hinterlegen seine Eltern. Heidbreder, sie werden zu Freunden.
Thomas stemmt sich aus dem Küchen- Wir machen Rast auf einem Felsen, den Heidbreder stammt aus Ostwestfalen und
stuhl. Morgen, sagt er, nehmen wir den Thomas den Frühstücksstein nennt. Sein hatte früher als Streifenpolizist in Köln ge-
Bus ins Valle, ins große Tal. Das Valle mit Blick schweift über Bauernhöfe, Wiesen, arbeitet. Wegen eines Magenleidens wurde
seinen Hügeln, Nebentälern und Berg- Felder. „Du kommst zu dem Punkt, wo du er aus dem Dienst entlassen und war in
satteln wurde seine zweite Heimat, als die sagst, Gewalt muss man anwenden, weil Berlin gelandet, um Psychologie zu studie-
Polizei ihm nahe kam. Das Valle schützte sonst die anderen Gewalt gegen uns aus- ren. Einer von vielen, die aus der Provinz
ihn, als er fast am Ende war. üben.“ Er spricht von Neonazis, aber es in die Stadt flohen. Peter Krauth wuchs
Der Wecker klingelt um halb sieben, wir klingt, als ließe sich das auf jeden anwen- wie Thomas in Sinzheim bei Baden-Baden
packen Wasser und Kuchen ein. Palm- den, den er als Gefahr ansieht. auf, auch er lernte das Schreinerhandwerk.
ström begleitet uns, die Fahrt im Bus dau- Polizeiakten erzählen keine Geschichte, Thomas sagt, dass sie die radikalen
ert drei Stunden. Während wir den Berg sie vermelden Regelverstöße. Beim Durch- Ideen umsetzen wollten, über die die 68er
hochmarschieren, fällt mir auf, wie ähnlich blättern sehe ich keinen Verwandten, son- nur geredet hätten. Mit Freunden betreibt
Thomas seinem Vater ist. Die Energie, der dern einen Straftäter. Der Berliner Rechts- er „Volxküchen“, sammelt Spenden für
Vorwärtsdrang, das Jonglieren mit Worten, anwalt Christoph Kliesing verteidigte Gefangene, teilt Hab und Gut, selbst Kin-
der schnell entflammbare Geist. Jungs, die Thomas bei seinen Verfahren in den Acht- der erziehen sie gemeinsam. Sie wollen
erwachsen werden, sind anfällig für Extre- zigerjahren, er sagt, er habe damals einen die Keimzelle einer besseren Gesellschaft
me. Thomas ist süchtig nach Extremen. Er Draufgänger kennengelernt, einen nicht werden, autonom, ehrlich, radikal. Heid-
zieht in eine Kreuzberger Wohngemein- sehr ideologischen Aktivisten. „Thomas breder, er und zwei Mitbewohner teilen
schaft, demonstriert gegen Rechte und ver- war eher der Chaot“, sagt Kliesing. sich das Sorgerecht für den Sohn einer Mit-
teidigt besetzte Häuser. Er klebt Plakate. Später, im Bus auf der Rückfahrt, liest bewohnerin. Liebesbeziehungen sind of-
Er wirft den ersten Stein. Palmström aus der Lokalzeitung vor. fen, sie sind gegen Zwang und Hierarchie.
Die Einträge in seiner Polizeiakte lesen „Rentner verwüsten Bank, nachdem sie ta- Thomas stellt zwei Bierflaschen auf den
sich wie eine Eskalation. Juni 1984: Fest- gelang auf ihre Pension warteten.“ „Senio- Küchentisch. Er sagt: „Du kannst nicht
nahme wegen eines Eierwurfs auf ein ren hungern im Altersheim.“ „Vier Tage nur um etwas bitten. Manchmal musst du
Polizeifahrzeug. Juni 1985: Steinwurf auf Wartezeit auf Benzin.“ Es sind Nachrich- es dir nehmen. Ich kann mir vorstellen,
Polizisten bei einer Demonstration gegen ten aus einem Land, das stirbt. Palmström dass man einen politischen Kampf führt,
den Besuch des US-Außenministers. Er faltet die Zeitung zusammen. Sie sagt, sie an dessen Ende es Tote gibt.“ Draußen
klaut Benzin und wird beim Autodiebstahl habe sich sofort in Thomas verliebt, als sie bellt ein Hund. Ich fühle mich plötzlich
erwischt. 1987 kommt er wegen Körperver- sich zum ersten Mal trafen. wie beim Verhör mit einem Verdächtigen.
Tote? Na ja, sagt er, wenn man sich an- Die Täter waren vor den Polizisten ge- ströms Haus, er trägt ein T-Shirt mit der
schaue, wie Georg Elser 1939 versucht hat, flohen. Ihr Ziel war die nahe gelegene Jus- Aufschrift „Allez!“, vorwärts. Über seinen
Hitler mit einem selbst gebauten Spreng- tizvollzugsanstalt Berlin-Grünau, die leer Bauch spannen Hosenträger. Er überlegte
satz umzubringen, ein gelernter Schreiner, steht und in ein Abschiebegefängnis um- lange, ob er Maniok anbauen soll, weil die
der gegen das Naziregime war – sei das gebaut wird. Darin sollen auch Kurden vor Pflanze acht Monate braucht, bis ihre Knol-
nicht legitim gewesen? 1993 verübte die ihrer Abschiebung inhaftiert werden. Eine len erntereif sind. Er weiß nicht, wohin
Rote Armee Fraktion (RAF) einen An- Überprüfung ergibt, dass der Passat auf ihn das Leben spülen wird. Vorwärts, aber
schlag auf die Justizvollzugsanstalt Wei- Beate Krauth zugelassen ist, Peter Krauths wohin? Er hängt in der Luft wie ein Kolibri.
terstadt in Hessen aus Protest gegen harte Schwester. Im Handschuhfach finden die Er sagt nicht viel über die Flucht, weil
Haftbedingungen, auch das fand Thomas Ermittler Führerschein und Ausweis von er keine Hinweise auf Helfer geben will.
vernünftig und gut. Peter Krauth und Bernhard Heidbreder, Ab Ende der Neunzigerjahre schwimmt er
Was hielt er von der RAF? auf der Sitzbank einen Fahrzeugschein von wie Treibholz durch Lateinamerika. Ko-
Er seufzt. Das alte Thema. „Ich hatte Thomas Walter. Zudem Fingerabdrücke lumbien, Bolivien, Ecuador, El Salvador,
immer Respekt für die Gründer, Meinhof, von Krauth und Heidbreder. Venezuela, kurz Nicaragua. An Silvester
Baader. Aber die sind mit ihrem Versuch, Als Feuerwerker der Polizei später die zur Jahrtausendwende will er nach Berlin,
eine Art Zündfunke zu sein, auf die Fresse Propangasflaschen sprengen, ein Gemisch aber der Plan misslingt. Zunächst finan-
gefallen. Mit den Jahren wurden sie immer aus 120 Kilogramm Natriumchlorat und ziert er sich von Spenden linker Unterstüt-
isolierter und verloren den Bezug zu den Zucker, zerfetzen die Flaschen. Die Splitter zer aus Deutschland. Seinen Eltern
Kämpfen in Deutschland, die die Gesell- fliegen bis zu 300 Meter weit, die Krater schreibt er fünf Briefe, was er bald einstellt,
schaft bewegt haben.“ Für die Vordenker haben einen Durchmesser von 2,20 Meter. da ihr Postverkehr überwacht wird.
der RAF seien die Autonomen ein Haufen Die Justizvollzugsanstalt wäre „vollständig Immer wieder werden auch die Festnetz-
politischer Anfänger gewesen, die Auto- zerstört“ worden, schreiben die Ermittler. anschlüsse seiner Eltern und seiner Ge-
nomen wiederum hätten die RAF zu hier- Thomas spricht bis heute nicht über die schwister abgehört, meist drei Monate lang,
archisch, arrogant und elitär gefunden. Tat. Er gibt auch nicht zu, Mitglied des später auch Mobiltelefone und E-Mails.
Thomas hat keine eigenen Kinder, mit K.O.M.I.T.E.E. gewesen zu sein. Gegen ihn, Thomas’ jüngsten Bruder Frank verdäch-
20 ließ er sich sterilisieren. Seine linken Heidbreder und Krauth sprechen aber die tigen die Ermittler, Mitglied in einer terro-
Freunde nennt er „meine Familie“. Nach- Papiere im Auto, die Fingerabdrücke von ristischen Vereinigung zu sein, und leiten
dem die Mauer gefallen war, steckte die Krauth und Heidbreder und die Kenn- ein separates Verfahren gegen ihn ein.
Familie in der Krise. Asylbewerberheime zeichen am Transit, die Thomas gehören. Die Ermittlungsakten lesen sich, als wäre
brannten, aber die Autonomen lagen un- Überhaupt: Wer taucht 22 Jahre lang ab, der Staat vom Jagdfieber befallen. Geführt
tereinander im Streit. „Wir waren immer wenn er unschuldig ist? wird das Verfahren von der Bundesanwalt-
zu spät und immer zu wenige.“ Heidbreder, Krauth und Thomas verste- schaft in Karlsruhe. Beamte des Berliner
Seine Eltern halfen ihm, ein Gehöft in cken sich auf einem Bauernhof „irgendwo Staatsschutzes bearbeiten den Fall, unter-
Neutrebbin zu kaufen, östlich von Berlin, in Europa“, wo sie überlegen, wie es wei- stützt von Zielfahndern des Bundeskrimi-
wo er mit Peter Krauth eine Holzwerkstatt nalamts in Wiesbaden. Zeitweise hören die
einrichtete. Heribert und Jacqueline hoff- Ermittler über 50 Telefonanschlüsse ab,
ten, ihren Sohn damit aus der Autonomen- Er lebt in einer Bruchbude überwachen eine Journalistin der „taz“
szene zu lösen. Es war stets der üble Ein-
fluss, dem Thomas erlegen war, das ist die mit Wanderarbeitern, und schneiden Gespräche von Rechtsan-
wälten mit. Eine angebliche Ex-Freundin
Erzählung in der Verwandtschaft. Die An- erkrankt an Tuberkulose, von Thomas wird ein Jahr lang als Ver-
wendung von Gewalt war nie seine Ent-
scheidung, er sei dazu gedrängt worden.
schluckt Antibiotika. dächtige geführt, bis sich herausstellt, dass
er mit ihr nie etwas zu tun hatte – „Able-
„Er war immer ein Idealist“, sagt seine sefehler des Sachbearbeiters“.
Mutter Jacqueline. tergeht. Sollen sie sich der Polizei stellen? Thomas arbeitet auf einer Kakaoplan-
Es ist das Bild des netten Jungen, das Auf Mitgliedschaft in einer terroristischen tage. Dann wieder lebt er zur Miete in
Bestand hat. Aber Thomas verändert sich Vereinigung stehen bis zu zehn Jahre Haft. einer Bruchbude unter Wanderarbeitern.
in Berlin, er entzündet sich und entwickelt Auf der anderen Seite lockt die Freiheit. Er erkrankt an Tuberkulose, schluckt An-
eine Abscheu gegen die Provinz. Anfang Thomas sagt sich: „Du musch weg.“ tibiotika und feiert seinen 40. Geburtstag.
der Neunzigerjahre steckt er in der Krise Europa ist zu gefährlich. Sie könnten Er taucht bei einem linken Kollektiv unter,
wie die gesamte radikale Linke. Die RAF sich bei den Kurden im Nahen Osten ver- baut ein Holzhaus, richtet eine Druckerei
ist inaktiv, die Revolutionären Zellen zer- stecken, für deren Sache sich das ein und verlässt alles wieder. Er macht
fasern. Warum verschwindet die Linke ge- K.O.M.I.T.E.E. so spektakulär hatte einset- eine Computerschulung und gibt Unter-
nau dann, fragt sich Thomas, wenn es ernst zen wollen. Russland wäre interessant, richt. „Ich bin Profi in gar nix“, sagt er.
wird? „Wir müssen Aktionen machen, die aber da kennen sie niemanden. Die Kur- Über lange Strecken wissen seine Eltern
die Leute erreichen“, sagt er sich. den-Idee wird verworfen. „Die rennen je- nicht, ob er überhaupt noch lebt. Öffent-
In der Nacht zum 11. April 1995, gegen den Tag über Steine und leben in Höhlen“, lich reden sie kaum über ihn. Was hätten
0.50 Uhr, entdecken Streifenpolizisten auf sagt Thomas. Er experimentiert mit Perü- sie auch sagen sollen? Außerdem ahnen
dem Waldparkplatz Hanff’s Ruh in Berlin- cken und falschen Bärten. Heidbreder und sie, dass sie abgehört werden. Wenn sie
Grünau einen Ford Transit, der als gestoh- er haben keine festen Freundinnen, anders über ihn sprechen, gehen sie hinüber zum
len gemeldet ist, sowie einen VW-Passat. als Peter Krauth. Thomas sagt, es sei nicht Gänsestall. Sein Vater, bis dahin ein stolzer
Es ist ein Zufallsfund. Im Laderaum des jedem leichtgefallen, alles hinter sich zu Beamter, beginnt am Staat zu zweifeln, an
Transit stehen vier Propangasflaschen, die lassen. Krauths Haare färben sich schnee- der Verhältnismäßigkeit der Ermittlungen.
mit selbst gemischtem Sprengstoff gefüllt weiß. 1997 reisen sie mit falschen Papieren Für Thomas sind die Fluchtjahre nicht
und mit Zeitzündern versehen sind. Auf getrennt voneinander nach Südamerika. unglücklich, aber der Duft des Abenteuers
dem Beifahrersitz liegen Warnzettel: „Ach- Thomas hackt mit einer Machete auf verfliegt. Fünfmal verliebt er sich, fünfmal
tung Lebensgefahr. Sprengung des Knast- den Stamm einer Maniokpflanze ein. Wir endet die Beziehung. Wenn er eine Woh-
gebäudes! Das K.O.M.I.T.E.E.“ stehen auf einem Grundstück neben Palm- nung verlässt, in der er länger gelebt hat,
W
enn es so etwas gibt wie den Höhepunkt des und in die CSU. Und während in meinem Zimmer ein
fränkischen Fernsehjahres, dann ist es vielleicht bemühtes Kunstposter hing, hängte sich Söder ein Porträt
die Prunksitzung des Fastnachtsverbands in von Franz Josef Strauß übers Bett. So repräsentierten
Veitshöchheim. „Ganz Franken“ schaut zu, wenn die Nar- wir beide, ohne es zu ahnen, die bayerischen Verhält-
ren mit dem rollenden „R“ ihren Dialekt pflegen, in dem nisse. Söder war die Zweidrittelmehrheit. Ich war der
die Konsonanten butterweich werden und aus Politikern lumpige Rest.
also „Bollidigger“. Der derzeit größte des Frankenlands An Strauß entschied sich unser Leben. Der legendäre
heißt bekanntlich Dr. Markus Söder, und für ihn ist Veits- Ministerpräsident verkörperte für Franken und Bayern
höchheim Jahr für Jahr ein Heimspiel. Er stammt aus der meiner Generation eine Wahl für den Rest des Lebens,
Gegend, der Minister für Finanzen und Heimat in Bayern, das Entweder-oder der eigenen Gesinnung. Wer den Alten
er ist ein Mittelfranke aus Nürn- hörte und sah, alle paar Jahre in
berg-Schweinau. der größten Halle am Ort, muss-
Anfang 2017, im bislang größ- te sich danach entscheiden zwi-
ten Jahr seiner Karriere, ging Sö- schen „Stoppt Strauß“-Sticker
der mit einer gelben Ganzkopf- und Fanposter. Ich war 15 oder
maske aus anliegendem Gummi 16, als ich den Gott der CSU ein-
zum Veitshöchheimer Fasching. mal leibhaftig in der Hofer
Er stellte Homer Simpson dar, „Freiheitshalle“ erlebte. Ich
den Comic-Helden, der als Inbe- kann mich an die Rede nicht
griff des dummen Faulenzers gilt, mehr erinnern, aber an das Ge-
dem aber ständig aus lauter Zu- johle im Publikum sehr wohl.
fall die lustigsten Geniestreiche Die Zweidrittelmehrheit feierte,
gelingen. Wäre Söder gern so Väter und Söhne im Trachten-
einer? Natürlich nicht. Aber er janker, und die Mütter kamen
lacht eben gern über andere frisch vom Friseur.
Deppen. Ich weiß das. Ich kenne Ich fühlte mich zum ersten Mal
ihn gut. irgendwie „links“, was einem im
Zugegeben, Söder und ich, damaligen Bayern vorkam wie
wir sind uns noch nie begegnet, heute vermutlich ein Coming-
THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL
aber das tut hier nichts zur out. Söder hatte es da, denke ich,
Sache. Wenn ich sage: Ich kenne viel leichter. Ich hatte Schul-
ihn gut, dann meine ich das grö- freunde wie ihn, die schon in der
ßer, tiefer. Ich kenne ihn von neunten Klasse politisch rechts
Franke zu Franke, und ich kenne standen, ganz ohne Anführungs-
die Mentalität dieses evangeli- zeichen, Söhne in Trachtenjan-
schen Kleinunternehmersohns, kern, die sich anschickten, Väter
weil ich selbst einer bin. Ich weiß in Trachtenjankern zu werden.
so gut wie alles über Söders politische Sozialisation in CSU, das fühlte sich damals noch an wie eine Art erblicher
den späten Siebziger-, den frühen Achtzigerjahren, weil Veranlagung.
ich damals auch in der Gegend war, ein Oberfranke aus Aber nur wenige zogen es so durch wie Söder, die ganze
Hof „in Bayern ganz oben“, nur zwei Jahre älter als der weiß-blaue Ochsentour. Und je höher er stieg, desto wilder
1967 geborene Markus aus Nürnberg. wurden seine Verkleidungen im Veitshöchheimer Fasching.
Hier wie dort wohnte man nie weit entfernt von dunk- Er kam als Punk, als Shrek, als Frau, als Ludwig II., als
len Wäldern, die Winter waren hart und die Skianzüge Dr. Edmund Stoiber, und in der Perfektion seiner Masken
bunt, mit Braun, Grün und Lila. Wir waren, Söder und leuchtete grell sein Ehrgeiz auf. Wer aber Augen hatte,
ich, Provinzler, und wir waren es noch ganz unverdünnt. konnte sehen, dass dieser fränkische Clown sich die ganze
Es gab keine Handys, kein YouTube, kein H&M, und Fast Zeit nach einem ganz anderen Kostüm sehnte: dem des
Food kam, wenn überhaupt, aus dem „Wienerwald“. bayerischen Ministerpräsidenten, der zur Fastnacht tradi-
Die Welt war klein, aber scheinbar in Ordnung. Wir tionell unverkleidet und im Smoking kommt. 2019 ist es
schauten Urlaubsdias im Familienkreis und lachten mit für Söder so weit. Vielleicht gehe ich dann auch einmal
den Eltern über Wum und Wim Thoelke. Es gab Bayern 3, nach Veitshöchheim. Als der Zombie von Franz Josef
die „Schlager der Woche“, es gab Bratwürste jahrein, jahr- Strauß. Ullrich Fichtner
Stefan Hertwig, 61, Experte für Beihilfe- und Vergaberecht Hertwig: Das schreiben die EU-Bestimmungen so vor. Der
bei der Anwaltskanzlei CBH in Köln, über die Rückzahlung des Kaufpreis muss marktüblich sein, das heißt, er muss auf
Staatskredits für die Fluglinie jeden Fall den Wert abdecken, der mit dem Darlehen des
Bundes geschaffen wurde. Tatsächlich wurde damit ja ver-
SPIEGEL: Herr Hertwig, weil die Lufthansa auf den Erwerb hindert, dass die Start- und Landezeitfenster von Air Berlin
der Air-Berlin-Tochter Niki verzichtet, fließt auch nicht der wertlos wurden und überhaupt weiterverkauft werden
volle Kaufpreis von rund 200 Millionen Euro. Nur so aber konnten. Die Lufthansa muss als Nutznießer nun anteilig
hätte der Bundeskredit über 150 Millionen Euro komplett die auf sie entfallenen Folgekosten tragen.
getilgt werden können. Ist ein Teil des Geldes futsch? SPIEGEL: Was passiert, wenn der Konzern sich weigert und
Hertwig: Keineswegs. Nach den Richtlinien für derartige am Ende nicht genug Geld zusammenkommt?
rückzahlbare Darlehen, die von Brüssel zu genehmigen Hertwig: Dann wird aus dem genehmigten rückzahlbaren
sind, haften die Erwerber. Also zum Beispiel die Lufthansa. Darlehen ein verlorener Zuschuss, der von Brüssel als
SPIEGEL: Die entrichtet doch bereits für Ableger wie LGW, rechtswidrige Beihilfe eingestuft würde. Der Bund müsste
die sie übernehmen darf, einen Kaufpreis. Außerdem hat auf Druck der Kommission das Geld von den Käufern ein-
sie Niki in den vergangenen Wochen mit über 50 Millionen treiben. Macht er das nicht, können Wettbewerber der
Euro unterstützt. Soll sie nun ein drittes Mal zahlen? Lufthansa die Regierung per Klage dazu zwingen. did
Verlage vor Weihnachten mit einer tern heißt es, man müsse für cherin sagt, Bauer seien zu-
Bauer wird unerwarteten Wohltat. Ab neue Mitarbeiter attraktiver friedene Mitarbeiter wichtig.
barmherzig 2018 erhöht sich deren Ur-
laubsanspruch von 25 auf 30
werden, die angesichts der
teils miesen Arbeitsbedingun-
Dazu gehöre auch genügend
Freiraum für Erholung. Das
Der Bauer-Verlag („Bravo“, Tage im Jahr, zudem sollen gen vor Bauer zurückschreck- im Familienbesitz befindliche
„Neue Post“) – bisher nicht der 24. und der 31. Dezember ten. In der Vergangenheit wur- Unternehmen zählt zu den
gerade für allzu große Arbeit- freie Tage sein. Fast alle Be- de der Verlag immer wieder größten Medienkonzernen
nehmerfürsorge bekannt – schäftigten sollen profitieren. für bescheidene Bezahlung der Republik, der letzte ge-
überrascht seine Mitarbeiter Offenbar steckt hinter der bei vergleichsweise hoher Ar- meldete Umsatz 2015 betrug
der Zeitschriftensparte kurz Charmeoffensive Kalkül: In- beitslast kritisiert. Eine Spre- 2,3 Milliarden Euro. mum
TEUTOPRESS / IMAGO
einzige Ort, an dem sich der gramm stecken soll. RBB und
Senderverbund als Ganzes Hauptstadtstudioleiterin Tina
präsentierte. 2016 besuchten Hassel wollen ein neues
25 000 Menschen das Kunden- Konzept für eine „ARD zum
zentrum im Herzen Berlins, Anfassen“ erarbeiten. akm, akü Hauptstadtstudio in Berlin
Textilindustrie „Das heißt nicht, dass dort wirkt das deutsche Textil- Hauck & Aufhäuser
Fairer Lohn ein fairer Lohn bezahlt bündnis, eine 2014 etablierte Chinesen räumen
in weiter Ferne wird“, sagt eine Unterneh-
menssprecherin – nur gere-
Partnerschaft von 150 Unter-
nehmen, Verbänden, NGOs bei Privatbank auf
Das kommende Jahr 2018 det wird darüber. Und selbst und der Bundesregierung. Bei der Frankfurter Privat-
sollte für die Textilarbeiter solche Gespräche konnten Das Bündnis soll für bessere bank Hauck & Aufhäuser, die
des Modehändlers H & M bis Ende 2016 erst in 291 der Arbeitsbedingungen in der seit 2016 von dem chinesi-
eigentlich ein gutes werden: rund 750 Zulieferbetriebe Branche sorgen. Gerechte schen Investor Fosun kontrol-
Bis dahin, versprach der Kon- verankert werden. Vom Löhne sollten 2018 eigentlich liert wird, lichten sich die
zern vor vier Jahrern, wolle Zwei-Milliarden-Dollar-Ge- ein Schwerpunktthema des Reihen der Manager. So geht
man allen 850 000 Beschäftig- winn brauche H & M nur 1,9 Bündnisses sein, zu dem Un- zum Jahreswechsel Privatkun-
ten in der Lieferkette einen Prozent zu nehmen, um den ternehmen wie Aldi, Kik und denvorstand Stephan Rupp-
fairen, existenzsichernden Lohn der Mitarbeiter in Kam- Hugo Boss zählen. Die la- recht, ein weiteres Mitglied
Lohn zahlen. Das Projekt ist bodscha um 78 Dollar auf ein schen Regeln sehen lediglich der früheren Führungstroika.
gescheitert. Bei H & M spricht existenzsicherndes Niveau vor, dass die Firmen an einer Im Herbst war bereits der IT-
man inzwischen nur noch anzuheben, kritisiert die Maßnahme mitarbeiten müs- Verantwortliche Jochen Lucht
von „Lohn-Management-Sys- Kampagne für Saubere Klei- sen, die auf existenzsichern- ausgeschieden. Übrig geblie-
temen“, die man in den Zu- dung. Noch träger als der de Löhne abzielt. Dafür ha- ben ist Vorstandschef Michael
lieferfabriken verankern will. schwedische Modegigant ben sie bis 2019 Zeit. nkl Bentlage, der mit Luchts
Nachfolger Wolfgang Strobel
die Geschäfte führt. Auch in
der zweiten Führungsebene
hat es Abgänge gegeben –
offenbar kann sich nicht jeder
Mitarbeiter mit dem neuen Ei-
gentümer aus China anfreun-
den. Fosun trimmt die Bank
auf aggressives Wachstum,
Zukäufe sind ausdrücklich
erwünscht. Kritiker glauben,
Fosun habe Hauck vor allem
erworben, um mit den Kun-
dengeldern seine Einkaufs-
tour quer durch alle Branchen
zu finanzieren. Die Band-
breite der Investments reicht
von Versicherungen über das
Pharmazie- und Stahlgeschäft
bis hin zum Club Méditerra-
née. Die Betreuung reicher
HASNAIN KAZIM / DER SPIEGEL
E
r ist hundertfacher Millionär, hat Bauboom allmählich seine Schattenseiten wenig von Bauabnahme verstünden und
Zigtausende Wohnungen gebaut, selbst für ihn zeigt. Die Preise steigen von auch sonst kaum über ihre Rechte Bescheid
Tausende Handwerker beschäftigt, Monat zu Monat. Oft ist er froh, überhaupt wüssten, würden nicht selten über den
selbst Maurer gelernt. Er kennt alle Tricks Handwerker zu bekommen, und wenn de- Tisch gezogen. „Da muss einer nur den Ein-
und sieht jeden Pfusch – aber an diesem ren Termine zu seiner Planung passen, druck erwecken, ein netter Kerl zu sein,
Sonntagnachmittag kam selbst der Bau- kann er sein Glück kaum fassen. und oberflächlich alles ordentlich machen,
löwe Dieter Becken an seine Grenze, was „Das Verhältnis hat sich komplett ge- und schon winkt der Normalkunde alles
den Umgang mit Handwerkern angeht. dreht“, sagt er. Früher standen die Hand- durch.“ Die Mängel zeigten sich erst später,
Becken, 68, stand im fast fertigen Kon- werksbetriebe Schlange und kämpften um und wenn die Rechnung bezahlt sei, sei es
ferenzraum seiner neuen Unternehmens- jeden Auftrag. Heute diktieren sie die Be- für die meisten Privatleute zu spät. „Wenn
zentrale mitten in Hamburg und versuchte, dingungen. „Und bei mir geht es um große der Preis auffallend niedrig ausfällt, ist im-
einem Handwerker verständlich zu ma- Auftragsvolumina. Ich mag mir gar nicht mer Vorsicht geboten“, sagt von der Heydt,
chen, dass der gerade dabei war, Mist zu vorstellen, wie es einem kleinen Bauherrn der sich auf Bau- und Architektenrecht spe-
fabrizieren. Die Decke solle nicht so weit geht, der heute auf der Suche nach Hand- zialisiert hat. „Denn für manche dieser An-
abgehängt werden. Das sei falsch. Irgend- werkern ist.“ bieter liegt die Marge vor allem im Pfusch.“
jemand habe die Pläne nicht richtig gelesen. Überhitzung nennen es die Ökonomen, Doch was heißt schon niedrig angesichts
Der angesprochene Mann war mit Elan was sich gerade in der Bauwirtschaft ab- der aktuellen Marktlage? Über die Sum-
bei der Sache, verstand aber leider kein spielt. Und Nachfrageüberhang, was im ge- men, die aktuell für Handwerkerleistungen
Deutsch. Und niemand war in der Nähe, samten Handwerk geschieht. Nirgends verlangt werden, staunen nicht nur die
der hätte übersetzen können. Dutzende sonst in der deutschen Wirtschaft zeigt sich Stadt Oberhausen und so mancher private
schufteten übers Wochenende für den Mul- plastischer, was Boom bedeutet. Überall Bauherr, der einen Klempner beauftragt.
timillionär, aber niemand wusste, wer Be- sieht man Baugerüste, Baustellen, Bau- Auch Großinvestor Becken hat Mühe, sei-
cken war, niemand sprach seine Sprache. wagen. Städte lassen Straßen aufreißen, ne Kalkulationen aufrechtzuerhalten.
Er tigerte durch das Haus, er fuchtelte mit der Staat zieht Autobahnbrücken hoch, In- „Wir haben im Bauhandwerk eine ge-
den Armen, er übte sich in Zeichensprache. vestoren stampfen Neubau um Neubau aus waltige, nie da gewesene Kostenexplo-
Umsonst. Becken war so hilflos wie irgend- dem Boden, Privatleute lassen Fassaden sion“, sagt er. Noch vor fünf Jahren habe
ein x-beliebiger Bauherr. sanieren, Dächer decken, Wände streichen. er seine Bauaufträge an Generalunterneh-
Erst am nächsten Tag, als Becken in sein Die Wartezeiten bei Handwerkern haben mer vergeben. „Da traf man sich bei der
neues Büro kam, ein paar Meter von je- sich im Jahr 2017 vor allem in den Metro- Grundsteinlegung, beim Richtfest und bei
nem Konferenzraum entfernt, konnte sich polen enorm verlängert – auf durchschnitt- der Abnahme – das war’s.“ Allein in den
der Unternehmer Luft verschaffen und lich mehr als zehn Wochen. Zugleich steigen vergangenen zwei Jahren seien die Preise
einem seiner Manager die Anweisung ge- die Preise. Vor allem in den Großstädten um 50 Prozent angehoben worden, „ein-
ben, das Deckendesaster zu beheben. Wie- können besonders nachgefragte Gewerke, fach, weil der Markt es hergibt“. Als Bau-
der rückten Handwerker an. Sie rissen wie etwa Dachdecker oder Heizungs- und herrn „bleibt mir da nichts anderes übrig,
heraus, was ihr Kollege am Wochenende Sanitärinstallateure, ihre Preise fast nach als selbst Generalunternehmer zu spielen“.
hineingebaut hatte. „Ein Irrsinn“, sagt Belieben kalkulieren. Jedes einzelne Gewerk wird bei Becken
Becken. „Babylon auf der Baustelle.“ Und Die Stadt Oberhausen hat wegen der ge- nun in Einzelverträgen vergeben. Ein Ver-
dann legt er los. stiegenen Kosten mehrere Projekte ge- trag für die Türen, einer für die Elektriker,
Das komme dabei heraus, wenn kaum stoppt. Für ein geplantes Kinderland im einer für den Maler, einer für den Tep-
noch ein Deutscher auf dem Bau arbeiten Schwimmbad standen rund zwei Millionen pich – insgesamt 24 Gewerke. „Eigentlich“,
wolle, wenn kaum noch ein junger Mensch Euro zur Verfügung. Auf die Ausschrei- so Becken, sei das „der Albtraum jedes
Handwerker werden wolle in diesem Land, bung reagierte ein einziges Unternehmen Bauherrn“. Hunderte Menschen gilt es zu
jedenfalls nicht Maurer, Betonbauer oder und forderte mehr als den doppelten Preis. koordinieren. Wenn es irgendwo hakt, löst
Stahlbieger. Die Deutschen, ruft Becken, Für den Ersatz zweier Brücken fand sich das andernorts Dutzende Nachwirkungen
seien einmal die Baumeister der Welt ge- überhaupt keine Firma. aus. Und jede Katastrophe fängt simpel
wesen. Und jetzt? Kein Bauunternehmen Mancherorts ist die Marktposition der an. Wenn eine Firma sagt, ihre Leute kä-
von Weltrang mehr. Philipp Holzmann – Handwerker so gut, dass sie Angebote für men leider erst 14 Tage später, kommt der
lange untergegangen. Bilfinger Berger – geplante Arbeiten nur gegen eine Bearbei- ganze Terminplan durcheinander. „Und
verlegt sich auf andere Geschäftsfelder. tungsgebühr herausrücken. Und mancher das ist noch nicht einmal Bösartigkeit oder
HochTief – ein Witz. Kunde, der mit der erledigten Arbeit nicht gar Faulheit“, sagt Becken. „Die Firmen
Becken geht es, abgesehen von jenem zufrieden ist, rennt den Betrieben monate- sind bis zum Überborden mit Aufträgen
Sonntagnachmittag, keineswegs darum, lang hinterher, bis der Mangel behoben voll, die arbeiten mehr, als sie eigentlich
dass auf seinen Baustellen besonders viel wird. „Leider“, sagt der Hamburger Rechts- können, und da braucht es nur eine Win-
Deutsch gesprochen werden soll. Er be- anwalt Klaus von der Heydt, „zieht der zigkeit – und alles bricht zusammen.“
kommt auch sonst den Handwerkermangel Boom auch schwarze Schafe an.“ Vor allem Das Problem am Boom ist: Niemand
jeden Tag zu spüren, bemerkt, wie der private Bauherren und Auftraggeber, die weiß, wie weit man ihm trauen kann. Vor
DER SPIEGEL 52 / 2017 63
Wirtschaft
A
allem dem Bauhandwerk stecken die Kri- uf dem aktuellen Arbeitsmarkt er- ein altes Schwarz-Weiß-Foto. Darauf sind
senjahre nach der Jahrtausendwende noch geht es Handwerkern sogar besser hölzerne Karren und Bollerwagen zu se-
in den Knochen, als nach dem Wiederver- als Akademikern. Laut Berechnun- hen. Im Hintergrund erkennt man die
einigungsboom die Nachfrage eingebro- gen des Nürnberger Instituts für Arbeits- Werkstatt, die Abels Großvater 1920 im
chen war und die Handwerksbetriebe zu markt- und Berufsforschung sind Personen thüringischen Geisa gegründet hatte. Dort,
Tausenden pleitegegangen waren. Jetzt mit Meister- und Technikerausbildung am in der Grenzregion zu Hessen und Bayern,
einfach Leute einzustellen und zu hoffen, wenigsten gefährdet, arbeitslos zu werden. hat die Firma bis heute ihren Sitz.
dass die Auftragslage immer so gut bleibe, Ihre Erwerbslosenquote lag 2016 bei 1,7 Pro- Mit industrieller Holzbearbeitung fing
mag kaum ein Betrieb. Da lässt mancher zent, bei Hochschulabsolventen betrug sie es damals an. Später wechselte Abels Vater
Meister lieber den einen oder anderen Auf- hingegen 2,4 Prozent. zu Metallwaren: Schrauben, Muttern, klei-
trag ziehen. Auch die Karriereaussichten für poten- ne Unterlegscheiben. Nach der Wende war
Und selbst wenn er einstellen will – wo- zielle Absolventen sind gut: Rund 200 000 damit Schluss, zu groß die Billigkonkur-
her nehmen, wenn nicht stehlen? Hand- Betriebe, schätzt der ZDH, brauchen in renz aus Asien. „China hat gedrückt ohne
werker in besonders gefragten Bereichen den nächsten zehn Jahren einen neuen Ende“, sagt Abel.
werden bereits mit Prämien von ihren al- Chef, weil der alte in Rente geht. Deutsch- Andererseits kamen mit der Wiederver-
ten Betrieben weggelockt. Und Nachwuchs land könne es sich nicht leisten, dass diese einigung auch Chancen. Zu DDR-Zeiten
gibt es kaum. 15 000 Lehrstellen blieben Firmen verschwänden, sagt ZDH-Präsi- hatte die Firma nie mehr als vier Mitarbei-
dieses Jahr nach Angaben des Zentralver- dent Wollseifer. „Dann bricht das soziale ter. Sie wäre sonst womöglich in einer
bands des deutschen Handwerks (ZDH) Gefüge besonders im ländlichen Raum zu- Produktionsgenossenschaft aufgegangen.
unbesetzt. „Wir kämpfen um jeden Jugend- sammen.“ Im wiedervereinigten Deutschland aber
lichen, und das auf allen Ebenen und über Nun ist Handwerk nicht gleich Hand- konnte die Familie investieren: in größere
alle Kanäle“, sagt ZDH-Präsident Hans Pe- werk. Gut fünf Millionen Menschen arbei- Werkstätten und mehr Personal. Und vor
ter Wollseifer. „Die fehlenden Fachkräfte ten in Deutschland in etwa einer Million allem in neue Produkte.
drohen das Wachstum auszubremsen – Handwerksbetrieben. Mehr als 130 Berufe 1995 übernimmt Abel die Firma von sei-
nicht nur im Handwerk, sondern in der zählen zu diesem Bereich. Das Nahrungs- nem Vater und steht wenige Jahre später
Wirtschaft insgesamt.“ mittelgewerbe macht gerade einmal 3,5 Pro- nicht mehr selbst an der Drehmaschine.
Es hat lange gebraucht, bis der Verband zent der Betriebe aus, vom Bäcker bis zum Er ist jetzt vor allem Erfinder, plant und
mit seinen Forderungen bei der Politik Fleischer. Mehr als die Hälfte ist mit dem zeichnet Prototypen. 15 Patente hat er in
überhaupt auf Gehör stieß. Jahrzehntelang Bau oder Ausbau von Häusern beschäftigt. den vergangenen zehn Jahren angemeldet.
galt die Aufmerksamkeit dort vor allem Eine starke Gruppe sind auch Firmen, die Sein Erfolgsprodukt ist eine Absturzsiche-
den Hochschulen und deren internationa- für den gewerblichen Bedarf arbeiten, also rung, die verhindern soll, dass Menschen
ler Konkurrenzfähigkeit. etwa Elektromaschinenbauer, Kälteanla- in Hochhäusern aus dem Fenster fallen.
Wollseifer spricht nun von einer „Über- genbauer oder Modellbauer. Sie stellen Dafür wird vor dem Fenster eine weitere
akademisierung“ und will Studium und 13,5 Prozent aller Unternehmen im Hand- Glasscheibe auf eine Schiene gesetzt. Für
Ausbildung „wieder in ein vernünftiges werk. die Verankerung sorgt ein spezieller Dübel.
Verhältnis bringen“. Abiturienten müssten Der Betrieb von Klaus Peter Abel ist ein Abels Strategie geht auf: Zuletzt wuchs
wissen, dass auch im Handwerk erfolgrei- gutes Beispiel dafür, welche Karrieren im der Umsatz der Firma um bis zu 30 Pro-
che Karrieren möglich seien. Handwerk möglich sind. Aus der kleinen zent jährlich.
Der Handwerkspräsident wünscht sich Metallfirma seines Vaters hat er ein mit- Wer mit dem Chef durch die Produk-
„nach dem erfolgreichen Hochschulpakt“ telständisches Unternehmen mit 80 Mit- tionshalle seiner Firma geht, spürt, dass er
jetzt einen „Berufsbildungspakt“. Berufs- arbeitern gemacht. „Hätte mir das vor sich trotz allem immer noch als Handwer-
schullehrer müssten besser ausgebildet, 20 Jahren jemand gesagt, ich hätte ihm ker und nicht als Manager sieht. „Das
die technische Ausstattung müsse moder- den Vogel gezeigt“, sagt Abel, 47, und tippt Handwerk ist die Grundlage für alles“, sagt
nisiert werden. „Die Lehrlinge müssen sich an die Stirn. er und steuert auf eine Drehmaschine zu,
dort lernen können, wie ein Roboter ar- Sie seien immer ein klassischer Familien- die in einer Ecke steht: „Damit hat schon
beitet.“ betrieb gewesen, sagt Abel und zeigt auf mein Großvater gearbeitet.“
Abel, der seine Erfolge zuvor eher sach- Fachhochschule ein duales Studium an, das markt. Derzeit würden die Wartezeiten
lich referiert hat, kommt jetzt in Fahrt, er- technisches Wissen mit kaufmännischem enorm steigen, am Ende immerhin bekom-
klärt die einzelnen Teile der Maschine, Verständnis verknüpfen soll. me so gut wie jeder Auftraggeber zumin-
„Futter“, „Antrieb“, „Spindel“, „Reitstock“. dest ein Angebot. „Der Markt ist eng, aber
D
Dann zeigt er auf die computergesteuerten ie Internetbörse MyHammer ver- im Internet funktioniert er“, sagt sie.
Geräte am Ende der Halle. „Die funktionie- mittelt Auftraggeber und Handwer- Sie beobachte jedoch, dass sich die Fir-
ren nicht viel anders, nur mit Bildschirm.“ ker. Die Idee ist simpel. Der Kunde men in diesem Boom auf ihr angestamm-
Julian Pfaff lernt im zweiten Lehrjahr stellt eine Auftragsbeschreibung ein, die tes Geschäft verlassen würden. „Aufträge,
bei Abel. Er wohnt zwei Dörfer weiter, er Handwerker bewerben sich. Der Kunde die über das Übliche hinausreichen, sind
hat es nicht weit bis zur Arbeit. Aber wenn wählt aus. Doch in den 18 Jahren, in denen nur sehr schwer zu vergeben“, sagt sie.
er eine Woche im Monat zur Berufsschule das Portal besteht, hat sich die Welt drum Einen Betrieb zu finden, der sich etwa mit
muss, ist er morgens fast zwei Stunden un- herum komplett geändert. Die Ursprungs- Smarthome-Installationen auskenne, sei
terwegs. Pfaff ist erst 17 Jahre alt, daher idee war eine Preisbörse und funktionierte „vielleicht nicht aussichtslos, aber doch
auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. wie ein umgekehrte Versteigerung. Jeder eine ziemliche Herausforderung“.
Er nimmt die erste Busverbindung nach Handwerker versuchte, den anderen zu Macht der Boom manche Betriebe also
Eisenach und kommt trotzdem zu spät. Er unterbieten. träge, weil auch mit dem vor Jahren Er-
habe sich daran gewöhnt, sagt er. Heute nutzten Auftraggeber den Online- lernten gerade gut zu verdienen ist?
Acht Auszubildende hat Abel momen- dienst nicht mehr, weil sie den Preis drü- Der Immobilienentwickler Christoph
tan. Gern würde er mehr einstellen. Es ist cken könnten, sondern weil sie so noch an Gröner, Gründer und Vorstandschef der
jedoch schwer, in der Region gute Bewer- Handwerker kämen, die den Auftrag aus- Berliner CG-Gruppe, kritisiert seine Kol-
ber zu finden. Viele Jugendliche verlassen führen können, sagt MyHammer-Chefin legen schon lange wegen deren Innova-
die ländliche Region, ziehen in nahe gele- Claudia Frese. „Wir gleichen ein bisschen tionslahmheit. Er glaubt, dass Trägheit der
gene Städte wie Fulda oder Bad Hersfeld. den Mangel aus.“ Über die Börse erfahre tiefer liegende Grund des Fachkräfteman-
Abel hat viel versucht: Lehrlingsbörsen, etwa ein Tischler in Thüringen, dass je- gels der Branche sei. „Das Problem ist
Speeddating an Schulen. Vor zwei Jahren mand in Hamburg eine Küche aufgebaut doch nicht, dass wir zu viel bauen, sondern
war trotzdem niemand da, den er einstel- haben will. „Der Radius, in dem Auftrag- dass wir es versäumt haben, Innovationen
len konnte. Was auch daran lag, dass man- geber aus der Großstadt einen Handwer- einzuführen, die Produktivität zu erhöhen
cher den beschwerlichen Weg zur Berufs- ker suchen und beauftragen, wächst immer und den Übergang zu einer gut organisier-
schule nicht auf sich nehmen wollte. weiter.“ Und natürlich machten sich die ten Industrie zu bewerkstelligen. Es ist so,
Manchmal scheitert die Zukunft des Hand- Betriebe aus der Provinz die Not in den als ob in der Automobilindustrie die Türen
werks auch an banalen Dingen. Städten zunutze. „Die Preise, die in den noch von Hand geschweißt und zusam-
Abel will jedenfalls nicht warten, bis Großstädten für dieselben Leistungen auf- mengesetzt würden.“
sich mehr Abiturienten gegen die Univer- gerufen werden, sind oft doppelt so hoch.“ Der Fachkräftemangel zumindest des
sität und für das Handwerk entscheiden. Frese hat einen guten Überblick über Bauhandwerks hänge auch damit zu-
Ab 2018 bietet er in Kooperation mit einer Nachfrage und Angebot im Handwerker- sammen, dass die Jobs unattraktiv und
DER SPIEGEL 52 / 2017 65
NORA KLEIN / DER SPIEGEL
schlecht bezahlt seien, meint Christoph 20 Jahren. Er kauere auf den Knien, schnei- gibt, muss kein Mitarbeiter seines Unter-
Gröner. „Tatsächlich ist es für einen de Fliese um Fliese, mache jede Menge nehmens mehr ins Flugzeug steigen. Er
Handwerksbetrieb überhaupt erst seit Dreck mit der Flex und brauche für ein kann den Fehler am Computer erkennen
rund fünf Jahren möglich, auskömmlich Bad, das 20 Quadratmeter Kacheln habe, und notfalls einen Elektriker vor Ort in-
zu kalkulieren.“ zwei Tage. struieren, welches Bauteil ausgetauscht
Fast zwei Jahrzehnte lang habe es über- „Absurd“, sagt Gröner. Und noch ein- werden muss.
all Not leidende Betriebe gegeben, die mal: „Absurd.“ Wenn der Fliesenleger den Aus seinem Büro blickt Kynast auf die
durch die schlechte Auftragslage mit nied- Raum digital vermessen und einen Robo- grüne Hügellandschaft der Rhön. Er fühle
rig kalkulierten Preisen ihre Existenz be- ter den Zuschnitt vorab erledigen lassen sich verwurzelt in der Region, sagt er, hier,
streiten mussten. „Jetzt kann der Maurer würde, brauchte er „nicht ein Viertel der „wo die Leute handwerklich geprägt sind“.
endlich mal Preise verlangen, die ihn in Zeit“. Er hockte nicht so viel auf den Seine Geschäfte jedoch haben sich von
die Lage versetzen, nicht jeden Tag von Knien und atmete weniger Staub ein. der Heimat entkoppelt. Teile seines Um-
morgens um fünf bis abends um zehn zu „Oder ein Parkettverleger“, sagt Gröner. satzes macht er längst im Ausland. In Ita-
schuften. Er kann jetzt auch am Freitag Wenn das Parkett fertig geschnitten und lien oder Rumänien, vor allem in Großbri-
um 14 Uhr die Kelle hinwerfen, so wie es nummeriert auf die Baustelle käme, würde tannien, wo eine Tochterfirma für einen
andere Arbeitnehmer schon lange tun.“ der Handwerker nur noch 30 Prozent der deutschen Discounter Elektroanlagen plant
Was jedoch würde geschehen, wenn der Zeit benötigen. und installiert.
Boom vorbei wäre, die Nachfrage sänke Doch das sei die Schattenseite des „Deutsche Wertarbeit wird überall ge-
und die Produktivität eines Handwerkers Booms: Den Unternehmen gehe es durch schätzt“, sagt Christoph Kynast. Die duale
immer noch dieselbe wäre wie vor Jahren? die außergewöhnliche Auftragslage gerade Ausbildung im Handwerk sei einzigartig.
Dann kehrte das alte Elend zurück. gut, und da werde das Nachdenken über Was er anbiete, sei vor allem im Ausland
Jetzt verdient der Handwerker nur Innovationen eben meist in die Zukunft gefragt. „Bei uns wird alles individuell an-
mehr, weil es gerade mehr Nachfrage als verschoben. gefertigt, nichts kommt von der Stange.“
Angebot gebe. Das Bauhandwerk müsse Allerdings gibt es – oft auch außerhalb Kynast hat seine Anlagen in prestige-
jedoch die Digitalisierung nutzen, weil sie des Bauhandwerks – viele Betriebe, die reichen Bauobjekten installiert, in Sport-
der Produktivität einen deutlichen Schub deshalb erfolgreich sind, weil sie Neues stadien und Luxushotels, deren Namen er
geben könne. Und dann, sagt Gröner, wagen. Elektroinstallateur Christoph Ky- nicht in der Presse lesen will. „Das Hand-
„könnten die Löhne weiter steigen, weil nast etwa hat sein Unternehmen im thü- werk kann nicht nur klein“, sagt er. „Wir
jeder einzelne Handwerker an jedem ein- ringischen Dermbach an die Entwicklun- können auch groß.“
zelnen Tag mehr leistet, ohne mehr arbei- gen der Digitalisierung angepasst. Das Benedikt Becker, Markus Brauck
ten zu müssen. Dann werden Jobs im Bau- heißt beispielsweise: Er verkauft nicht bloß
handwerk eines Tages so attraktiv wie Ar- Produkte und baut sie ein. Seine Elektro- Video:
beit in der Automobilindustrie“. anlagen können alle von einem Büro in Renaissance des Handwerks
Ein Fliesenleger, sagt Gröner, arbeite seiner Firma aus überwacht und gewartet spiegel.de/sp522017handwerk
heute im Grunde noch genauso wie vor werden. Wenn es in England ein Problem oder in der App DER SPIEGEL
D
rei Buchstaben begeistern eine wachsende Anzahl tigt. Betreiber von Atomkraftwerken, Rüstungskonzerne,
von Sparern, sie lauten: ETF. In die Fonds, die Glücksspielunternehmen und Firmen, die mit Gentechnik
hinter der Abkürzung stecken, haben Anleger welt- zu tun haben, sind beispielsweise tabu.
weit mittlerweile 4,2 Billionen Dollar investiert, das ist In dieser vermeintlich nachhaltigen Variante des MSCI
mehr als doppelt so viel wie noch vor fünf Jahren. Selbst World sind jedoch auch Konzerne wie der Ölriese Total
die Stiftung Warentest empfiehlt ETF in der aktuellen oder Unilever vertreten. Letzterer stand im September in
Niedrigzinsphase als ideale Möglichkeit für Normalbürger, der Kritik, weil er immer noch in großem Stil Plastikver-
ohne große Vorbildung in Aktien zu investieren. packungen verwendet, obwohl diese nachweislich die
Denn Exchange Traded Funds – wie die volle Bezeich- Weltmeere verschmutzen.
nung lautet – bilden nüchtern und mechanisch einen Wert- Nicht weniger fragwürdig sieht es bei einem anderen
papierindex nach. Mit einem ETF etwa auf den Dax er- zentralen Nachhaltigkeitsindex aus, den etwa ein ETF der
wirbt ein Anleger also Aktien der Dax-30-Unternehmen – Blackrock-Tochter iShares nachbildet: dem Dow Jones
sodass sich der Wert seiner Anlage genauso entwickelt Sustainability World. Er wird vom gleichen Finanzdienst-
wie der Börsenindex. leister erstellt wie der berühmte Dow Jones Industrial
Weil trotz allen Auf und Abs der Märkte die großen Index und verfolgt – wie es oft beim Thema ethische
Börsen der Welt auf lange Sicht wachsen, gilt diese Stra- Investments der Fall ist – den sogenannten Best-in-
tegie als relativ sicher – und als kostenarm. Schließlich Class-Ansatz. Das heißt, dass aus fast jeder Branche die
braucht ein ETF anders als herkömmliche Fonds keinen nachhaltigsten Vertreter in den Index aufgenommen wer-
Manager, der sich um die Aktienauswahl kümmert. Der den. So finden sich in dem Portfolio auch der Atomkraft-
Nachteil ist: Über viele ETF investieren werksbetreiber Iberdrola oder der
Anleger in Waffenunternehmen, Kli- Chemiekonzern Bayer, der gerade den
masünder oder in Firmen, die mit ihren Indexfonds Gentechnik- und Pestizidgiganten Mon-
Mitarbeitern wenig zimperlich umge- weltweit investiertes Kapital santo übernehmen will. In ihren um-
hen oder im Verdacht stehen, von Kin- strittenen Geschäftsfeldern gelten sie
derarbeit zu profitieren. offenbar als die Besten.
Selbst Verbraucherschützer nennen 2012: So geht es immer weiter: Nimmt
als Standardempfehlung oft den Index man die vermeintlich nachhaltigen ETF
rund
MSCI World als Basis für einen ETF, 2017: der großen Anbieter unter die Lupe,
auch im SPIEGEL. Der MSCI World 1,8 rund
bleiben nur wenige, die einer strengen
bildet die Wertentwicklung der 1653 Billionen Prüfung standhalten – und die sind
größten Unternehmen aus 23 Industrie-
ländern ab – und scheint ideal für
Dollar
4,2
Billionen
meist auf ein begrenztes Thema wie
etwa alternative Energien fokussiert
Laien. Dollar und damit riskant für ein größeres In-
Schließlich lautet eine Börsenweis- vestment. Es scheint, als müsse sich der
heit, dass man über viele Regionen und Quelle: Deutsche Bank Sparer entscheiden zwischen der Angst
Branchen hinweg investieren soll, um vor Verlusten und einem schlechten
das Risiko zu minimieren. Gewissen.
Allerdings gehören zu den 1653 größten Unternehmen Das gilt nicht nur beim Thema ETF: Auch bei anderen
der Welt auch große Klimasünder, etwa der Ölkonzern Anlageformen schmücken sich viele zweifelhafte Anbieter
Exxon Mobil; Unternehmen, die Atomwaffen oder ent- mit dem Label der Nachhaltigkeit, schließlich ist der Begriff
sprechende Trägersysteme herstellen, darunter Boeing, nicht gesetzlich geschützt. Es gibt zig ökologische Fonds,
Lockheed Martin und Honeywell International; Bergbau- die den Namen nicht verdienen oder bei denen man zumin-
unternehmen wie Glencore oder BHP Billiton, die wegen dest über die Ausrichtung streiten kann. Doch wer in diesem
fragwürdiger Arbeitsbedingungen oder Umweltzerstörung Bereich ein bisschen sucht, findet Alternativen, die den
in der Kritik stehen; Tabakkonzerne wie British American strengen Ansprüchen von Umweltschützern oder Nichtre-
Tobacco oder Philip Morris, deren Produkte Millionen gierungsorganisationen wie Facing Finance gerecht werden.
Menschen töten. Die Zulieferer der Zigarettenindustrie Im Bereich der ETF dagegen ist das Angebot karg. Von
beschäftigen außerdem oft Kinder auf ihren Plantagen, den rund 1200 ETF, die es in Deutschland zu kaufen gibt,
wie etwa eine Studie der Nichtregierungsorganisation verfolgen der Ratingagentur Morningstar zufolge lediglich
Facing Finance kürzlich warnte. 30 einen nachhaltigen Ansatz. Das überrascht, denn in
Nicht jeder will auf dieser Basis seine Altersvorsorge der Theorie ist die Nachfrage da: Bei Umfragen geben
aufbauen. die Deutschen regelmäßig an, dass ihnen Nachhaltigkeit
Das Problem haben auch die Finanzdienstleister er- bei der Geldanlage wichtig sei. Entweder nehmen sie es
kannt, die Aktienindizes zusammenstellen. So bietet die in der Praxis nicht so genau. Oder die Finanzindustrie hat
in New York ansässige Firma MSCI einen Schwester-Index noch einiges aufzuholen, wenn sie ETF zum Standardpro-
für den MSCI World an, der soziale Aspekte berücksich- dukt für Kleinsparer machen will. Anne Seith
SPIEGEL: Herr Reichert, Sie stellen zum Ja- SPIEGEL: Sie meinen damit, dass Sie deshalb SPIEGEL: Diese Standhaftigkeit kann sich
nuar 2018 die Belieferung von Amazon ein. seit Anfang 2017 den amerikanischen momentan nicht jeder Händler leisten.
Wieso wurde aus der Partnerschaft eine Marktplatz von Amazon boykottieren. Reichert: In unserem Fall ist kein einziger
Feindschaft? Reichert: Boykott ist ein großes Wort, das ist auf diesen Deal eingegangen. Ich glaube,
Reichert: Ich sage es mal so: Bevor die Burg nicht unser Ziel. Wir haben einfach fristge- auf lange Sicht haben solche Aktionen ge-
angegriffen wird, werden die umliegenden recht unseren Vertrag gekündigt. Amazon nau den gegenteiligen Effekt. Denn auch
Dörfer geplündert. Wir haben schon länger hat darauf offiziell nicht einmal reagiert. bei gut informierten Amerikanern kippt
beobachtet, wie lasch Amazon mit Betrü- Aber wir sind sehr beliebt – bei Google sind nach unserem Eindruck inzwischen die
gern umgeht, die sich mit Produktfälschun- wir die meistgesuchte Schuhmarke. Das weiß Meinung über diesen Konzern. Die An-
gen eine goldene Nase verdienen. auch Amazon. Also waren dessen Logistiker fangseuphorie ist verflogen.
SPIEGEL: Sie meinen, Amazon nutzt seine alarmiert und haben unsere amerikanischen SPIEGEL: Haben Sie nie den direkten Aus-
Macht als größte Onlineplattform der Welt Händler abtelefoniert, die ja weiter über tausch mit Amazon gesucht?
aus? Das ist nicht wirklich neu. ihre Shops bei Amazon unsere Produkte Reichert: Wir waren immer gesprächsbereit.
Reichert: Das stimmt – und die Ambitionen verkauft haben. Sie haben ihnen angeboten, Aber das Problem fängt genau da an: Mit
von Amazon waren auch nie ein Geheim- alle Birkenstock-Bestände zum vollen Ver- wem kann ich denn bei Amazon über-
nis. Jeff Bezos hat immer klargemacht, kaufspreis aufzukaufen, nur damit sie wei- haupt über solche Themen sprechen, die
dass er sich als Gamechanger versteht. Er terhin lieferfähig bleiben. Bei Amazon hät- ja die Firmenkultur betreffen? Ein Einkäu-
hat stets gesagt, dass Amazon die Kondi- ten sie definitiv öfter „Dallas“ gucken sollen. fer für Schuhe in München hilft mir da
tionen zu seinen Gunsten ändert, sobald SPIEGEL: Wieso das? nicht weiter. Und mit einem Briefkasten
es einen entsprechenden Marktanteil er- Reichert: Dann hätten sie gewusst, dass ein in Luxemburg lässt es sich schlecht disku-
reicht hat. Wer es hören wollte, wusste Familienunternehmen wie unseres so et- tieren. Vielleicht hätten wir mal Alexa fra-
also Bescheid. Wir haben das relativ früh was nicht auf sich sitzen lässt. Birkenstock gen sollen … Aber im Ernst: Man kennt
in unsere Strategie eingepreist – und daher wurde 1774 gegründet – wir sind älter als diese Masche doch aus anderen Milieus,
können wir es uns jetzt leisten, Amazon die Vereinigten Staaten von Amerika! Wir da heißt es auch gern, der Chef ist gerade
nicht mehr direkt zu beliefern. Wir haben haben unseren Händlern klargemacht: Na- nicht da. Das scheint Teil der Geschäfts-
uns nie von denen abhängig gemacht. türlich ist es jedem freigestellt, auf dieses strategie zu sein. Mit solchen Leuten wol-
Aber das war kein Glück, das war eine be- Angebot einzugehen. Wir wünschen euch len wir nichts zu tun haben.
wusste Entscheidung. viel Spaß mit dem Geld, aber wir werden SPIEGEL: Amazon hat also auf Ihre Hinwei-
SPIEGEL: Wie lange hat Birkenstock mit dann nicht mehr mit euch zusammenar- se nicht reagiert?
Amazon zusammengearbeitet? beiten. Das wäre vermutlich nicht einmal Reichert: Im Gegenteil: Die haben das Pro-
Reichert: Mehr als sieben Jahre insgesamt. nötig gewesen, denn wer Birkenstock ver- blem schön an uns zurückgespielt. Wir soll-
Amazon war für uns ein Marktteilnehmer treibt, ist nicht irgendein Schuhverkäufer. ten uns kümmern. Da beschwere ich mich
wie jeder andere auch. Wir sind da völlig In den USA sind wir seit 40 Jahren aktiv, zigmal über die offensive Listung von
offen und vorurteilsfrei gestartet. Aber da gibt es Familien, die sind Birkenstock- Fake-Produkten, wenn ich das Stichwort
mit dem Erfolg hat sich Amazon verän- Händler in zweiter oder dritter Generation. „Birkenstock“ in die Amazon-Suchmaske
dert – und das aktuelle Geschäftsgebaren Das sind Überzeugungstäter. Die haben eingebe – aber irgendwann denke ich als
passt nicht zu unserer Tradition als Fami- unsere Schuhe auch schon unters Volk ge- Unternehmer doch: Moment mal, die fünf
lienunternehmen. Da stoßen Welten auf- bracht, als andere noch darüber gelacht Leute, die sich bei mir um diesen Mist
einander. und sich noch keine Hollywoodstars auf kümmern, die müsste eigentlich Amazon
SPIEGEL: Worüber haben Sie sich konkret Instagram damit gezeigt haben. bezahlen. Am Ende ist es ganz einfach:
geärgert? Wer auf seinem Marktplatz heiße Ware
Reichert: Das waren viele Dinge, aber ein verkauft, der muss dafür geradestehen.
Tiefpunkt war erreicht, als wir feststellen SPIEGEL: Haben Sie ein konkretes Beispiel?
mussten, dass Amazon-Kunden reihenwei- Reichert: Vor wenigen Tagen erst haben
se gefälschte Birkenstock bei unserem Kun- wir eine einstweilige Verfügung vor dem
dendienst einreichten. Landgericht Hamburg erwirkt. Es geht um
SPIEGEL: Wieso das denn? Uhrenarmbänder, die über Amazon ver-
Reichert: Weil die Leute natürlich glaubten, Umsatz trieben und mit unserem Markenlogo be-
2015/16, in Mio. €
sie hätten Originalprodukte gekauft – da- worben wurden. Ein Betrüger hat direkt
bei waren es Billigkopien. Das ist ein rie-
siges Problem. Erklären Sie so einem Kun-
411 auf unsere Amazon-Seite verlinkt und so
den Anschein erweckt, er verkaufe Origi-
den mal, warum wir seinen Schuh, den er nal-Birkenstock-Produkte. Aber: Wir stel-
bei einem angeblich seriösen Amazon- Verkaufte Paar Schuhe
len keine Uhrenarmbänder her, schon gar
Shop erstanden hat, nicht reparieren kön- 2015/16: nicht so einen Billigschrott wie in diesem
nen. Spätestens da war für uns klar: Jetzt Gewinn Fall. Wir haben Amazon mehrfach aufge-
ist Schluss mit lustig. Wir haben den be- 19,1 Mio. fordert, den deutschen Versender dieser
in Mio. €
trogenen Kunden dann neue, echte Bir- Fake-Ware zu sperren. Passiert ist, wie fast
kenstock geschickt – und Amazon eine kla- 64 immer: nichts. Jetzt hat eben das Gericht
re Ansage gemacht. entschieden.
68 DER SPIEGEL 52 / 2017
Wirtschaft
Abgang eines
Nicht nur der Aktienkurs des Energie- große Beraterstäbe und ausufernde Semi-
konzerns reagierte mit kurzzeitigen Kurs- nare beschäftigten mehr als einmal die zu-
sprüngen auf den Rauswurf. Auch im Kon- ständigen Abteilungen.
Träumers
zern war die Erleichterung spürbar. Auf Auch im Aufsichtsrat stieg der Unmut
mancher RWE-Weihnachtsfeier wurde in über Teriums Gebaren, besonders bei den
den Tagen danach der Glühwein gegen kommunalen Anteilseignern. Ihnen hat Te-
Sekt und Champagner getauscht. Terium rium in den vergangenen Jahren gleich
Manager Peter Terium sollte und RWE, das war vom ersten Tage an ein mehrfach die Dividende gekürzt und so
einziges Missverständnis. manchen Kämmerer im Ruhrgebiet wegen
RWE aus der Krise führen. Im Jahr 2012 hatte ihn der Aufsichtsrat der ausbleibenden Millionenzahlung in
Er scheiterte an der Energiewende, zum Chef des damals noch mächtigen eine schwierige Finanzlage gebracht. Und
Energiekonzerns gekürt. Das Kalkül: Te- so wundert es kaum, dass einige Kontrol-
den komplizierten Konzern- rium sollte eine Art Gegenpol zu seinem leure und Manager nur auf eine Chance
strukturen und an sich selbst. Vorgänger Jürgen Großmann werden. Der warteten, den ungeliebten Niederländer
hatte mit seiner polternden Art und seinen loszuwerden. Vergangene Woche ergab
A
n den Keksen, die es bei RWE unkalkulierbaren Aktionen Politik, Kunden sich die Chance.
früher bei den Teamsitzungen gab und Mitarbeiter vergrätzt. Der unschein- Seit anderthalb Jahren leitet Terium die
und die Peter Terium wegen besse- bare Niederländer Terium sollte verlorenes von ihm selbst gegründete RWE-Tochter
rer Bekömmlichkeit durch Nüsse ersetzte, Vertrauen mit Ruhe, Verlässlichkeit und Innogy. Sie, so hatte er versprochen, soll
wird es nicht gelegen haben. Wohl auch überzeugenden Geschäftskonzepten zu- RWE mit erneuerbaren Energien, Elektro-
nicht an der Kunst des „schweigenden rückgewinnen. mobilität und vielen intelligenten Lösun-
Frühstücks“, die Teriums Manager in ab- Dieser Aufgabe war er jedoch nicht ge- gen rund um Wärme und Strom in eine
gelegenen Eifeldörfern lernen mussten, wachsen. Lange Zeit konnten der Manager neue Energiezukunft katapultieren.
oder an anderen Formen der Meditation, und sein Beraterteam das kaschieren. Nach Doch Terium riss die selbst gesteckten
die er der Führungsriege verordnete. dem von Bundeskanzlerin Angela Merkel Ziele. Die Auslandstöchter, vor allem in
Vielleicht aber daran, dass sich Terium (CDU) angeordneten Atomausstieg und England, werfen nicht die erhofften Er-
persönlich um derlei Trallala kümmerte, der politisch gewollten Energiewende ging träge ab. Beim Aufbau neuer Geschäfts-
dass er ausgerechnet auf dem Höhepunkt es vielen Energieversorgern schlecht. Mil- felder gibt es kaum Fortschritte. Terium
der Konzernkrise anfing, seinen persönli- liardenabschreibungen, Kraftwerksschlie- sah sich als Visionär, blieb aber ein
chen Selbsterkundungstrip auf den gesam- ßungen, Entlassungen und Sparprogram- Träumer.
ten Konzern auszudehnen, statt seine Kraft me gab es nicht nur bei RWE, sondern Die Erlöse aus dem traditionellen Ge-
darauf zu konzentrieren, ein neues Ge- auch bei der Konkurrenz. schäft mit den Stromnetzen reichen für
schäftsmodell zu ersinnen. Schon damals Aber anders als etwa sein Kollege Frank die Dividende und die von Terium geplan-
setzten sich Führungskräfte reihenweise Mastiaux beim Karlsruher Konkurrenten ten Milliardeninvestitionen in Elektro-
von ihm ab. EnBW schaffte es Terium nie, ein für RWE mobilität oder Breitbandnetze nicht aus.
Am Dienstag teilte die RWE-Ökostrom- passendes Geschäftsmodell zu entwickeln Außerdem gibt es im Konzern weitere Be-
tochter Innogy in einer knappen Erklärung und die Mitarbeiter dafür zu begeistern. gehrlichkeiten.
mit, dass Terium sein Amt mit sofortiger Zumal Führungskräfte und Vorstandskol- Auch Rolf Martin Schmitz, Chef der In-
Wirkung niederlegt. Von 2012 bis zur Auf- legen beobachteten, dass Terium im Kon- nogy-Mutter RWE, will im nächsten Jahr
spaltung des Konzerns 2016 war er Chef des zern milliardenschwere Sparprogramme investieren. Der Manager hatte bei der
Energieriesen RWE. Danach leitete er Inno- veranlasste, für sich selbst hingegen andere Aufspaltung des Unternehmens die Altlas-
gy. Terium scheiterte an der Energiewende, Maßstäbe anlegte. Üppige Dienstreisen ten der RWE übernommen. Es ist ein Kraft-
an den Umständen und auch an sich selbst. mit fragwürdigen Zusatzkosten, Kosten für werkspark mit Dutzenden Gas,- Stein- und
Braunkohlemeilern.
Trotz Krise will Schmitz dieses Geschäft
ausbauen und Kohlekraftwerke von Kon-
kurrenten wie EnBW oder Steag zukaufen.
Sein Kalkül: Die Anlagen würden über
Jahre hinweg noch als Reservekraftwerke
gebraucht und über die Strompreise von
der Allgemeinheit bezahlt.
Zur Finanzierung wollte Schmitz auch
Innogy-Aktien verkaufen. RWE hält an
seiner Tochter 77 Prozent. Mit Teriums Ge-
winnwarnung jedoch brach der Kurs um
bis zu 18 Prozent ein. Die Aktionäre trau-
SIMON DAWSON / BLOOMBERG / GETTY IMAGES
D
as also soll die Zukunft sein? Von Die einen sind überzeugt, dass es nicht Und ganz allmählich verändert sich so
außen: ein uninspirierter Zweck- mehr reicht, Fernsehapparate mit indivi- eine Branche, deren größte technische He-
bau, beigefarben getüncht, mit ei- duellem Begrüßungstext, Selbstwähltele- rausforderungen bislang die Klimaanlage
ner eigenartigen Gitterhaut an der Seite. fone und einen Kellerraum mit digitalen in den Zimmern und das Pay-TV waren.
Und innen: das angeblich modernste Hotel Trimm-dich-Geräten vorzuhalten, um tech- Vielerorts gibt es Bücher und Zeitschriften
Europas. Mitten in Wien steht das Schani – nisch als First Class zu gelten. „Wer sein auf dem Tablet, über das Gerät kann eine
so wurden im 19. Jahrhundert in der Stadt Geschäft nicht digitalisiert, wird ums Pizza aufs Zimmer bestellt oder ein Golf-
die jüngsten Kellner genannt. Überleben kämpfen müssen“, sagt Björn platztermin gebucht werden.
Eine Art Schani des 21. Jahrhunderts ist Radde, Hotelexperte und ehemaliger Lei- Die in Hongkong ansässige Firma Tink
der einzige Mitarbeiter hinter dem Tresen. ter E-Commerce bei Steigenberger. Labs hat ein besonderes Smartphonesystem
Er zeigt gelangweilt auf einen Bildschirm, Die anderen wollen sich gerade mit dem für Hotels entwickelt. Die Gäste bekom-
dorthin, wo der Gast seinen Namen eintip- Gegenteil profilieren. „Es geht bei der men ein Handy überlassen, sie können es
pen soll. Der Check-in geht dann automatisch. Digitalfrage nicht um Gut gegen Böse“, mitnehmen, damit telefonieren, durch die
Die Zimmerkarten springen mit einem sagt Christoph Hoffmann, Gründer und Stadt navigieren oder auch Spaghetti Car-
Schwung aus dem Ausgabeschacht und lan- CEO der Hotelkette 25hours. Aber je di- bonara aus dem Hotelrestaurant oder eine
den auf dem Fußboden. Doch eigentlich gitaler der Alltag werde, desto mehr sehn- Nackenmassage ordern. Sind Küchenbriga-
braucht die niemand, weil sich die Zimmer- ten sich viele Menschen nach echten Er- de oder Spa-Masseure schlecht ausgelastet,
tür per Smartphone-App öffnen lässt, was lebnissen. „Analoge Dinge werden als Lu- wird ein Rabattgutschein verschickt.
von der Hälfte der Gäste genutzt wird.
Das Zimmer konnte bereits zuvor über
das Internet ausgewählt werden. In der Be-
schreibung ist auch aufgeführt, ob es Mor-
gensonne gibt, ob es laut oder leise ist.
In der Lobby steht – Gipfel der Hippness –
ein Bitcoin-Geldautomat. Der Rest des Plat-
zes besteht aus einem Co-Working-Space
und dem Hotelbistro. Morgens gibt es Bröt-
chen und Kaffee, abends Gulaschsuppe.
Das Zimmer sieht so aus, wie Hotelzim-
mer für 89,25 Euro pro Nacht eben ausse-
hen: verhalten gemütlich. Immerhin kann
der Gast per WhatsApp mit dem Hotel-
personal chatten. Eigens auschecken muss
Doch digital heißt oft auch überra- berge. Er wolle Gästen ein „ehrliches Zu- Noch seien Hotels wie 25hours mit ei-
schungsfrei, und was für den einen passt, hause“ bieten. In aufwendigen Sitzungen nem Erlebnischarakter und einer Geschich-
der auf einer Geschäftsreise ist und einfach erfinden seine Leute eine Geschichte für te dahinter ein Nischenprodukt, doch bald
nur will, dass alles funktioniert, kann für jedes einzelne Haus, eine Art Drehbuch, würden solche Konzepte die Masse er-
einen anderen, der es gern etwas indivi- nach dem Innenarchitekten und Marketing- obern, sagt Borkmann. Moderne Technik
dueller mag, die Hölle als Hotel sein. leute das Hotel entwickeln. Hoffmann hat sei dabei kein Gegensatz, sondern selbst-
Mancher Gast will vielleicht, wenn er eigens einen Fachmann aus Österreich be- verständlich. „Niemand will unter sein
etwa in München nächtigt, auch etwas von auftragt, besondere Zimmerfluchten zu ge- Bett kriechen, um sein Handy zu laden.
der Stadt spüren, in der er schläft. Und für stalten. Die Leute erwarten bald überall, dass ihr
ihn ist ein Haus voller bayerisch-royalem In ausgewählten Räumen gibt es nicht Netflix-Zugang auf dem TV-Bildschirm
Kitsch womöglich genau das Richtige. nur einen VHS-Videorekorder mit Film- funktioniert und alles reibungslos geht, wie
Christoph Hoffmann, der Chef von klassikern auf Kassette, sondern auch Pola- zu Hause auch.“
25hours, glaubt das jedenfalls, und dem- roidkamera, Schreibmaschine und einen Doch zu viel dürfe man sich von digita-
entsprechend hat er sein neues Haus in Schallplattenspieler. Das Briefpapier wird ler Technik im Hotelzimmer nicht erwar-
der bayerischen Landeshauptstadt einrich- mithilfe einer mehr als hundert Jahre alten ten. „Ein Gast bucht nicht, weil es einen
ten lassen. Und er hat es mit einer Party Druckmaschine hergestellt. automatischen Check-in gibt.“ Technische
eröffnet, die man durchaus barock nennen Obwohl 25hours gerade einmal zehn Lösungen sind für die Hotelkonzerne dann
kann. Mit Frauen in glitzerndem Kleid, Hotels eröffnet hat, kommt das Konzept interessant, wenn es gelingt, Kosten zu sen-
Männern im Samtsakko und manchen Gäs- in der Branche an. Accor stieg vor ken. Und der größte Etatposten jedes Ho-
ten mit Puderperücke auf dem Kopf. Teil 13 Monaten ein und hat nun die Option, tels ist immer noch: Personal.
der genussvollen Lebensartinszenierung das Unternehmen komplett zu überneh- Doch daran wird gearbeitet. Service-
am Rande der Parodie: eine Kutsche mit men. roboter sollen das Hotel der Zukunft prä-
Schneekufen, in der die Gäste bayerisches Dass sich die Hotelindustrie neu sortie- gen. Und jeder Konzern hat seinen eige-
Bier trinken und Selfies machen. ren muss, hat nicht nur mit der Digitalisie- nen. Sie heißen „Mario“ (Marriott),
Das Brimborium illustriert Hoffmanns rung zu tun. „Die Menschen reisen mehr „Connie“ (Hilton) oder „Dash“ (Intercon-
erklärtes Ziel als Hotelier: ein bisschen als jemals zuvor“, sagt Vanessa Borkmann. tinental). Roboter könnten einmal die Mi-
nibar bestücken, Stühle im Konferenzraum
anordnen oder Gäste wiedererkennen und
mit Namen begrüßen.
Im Yotel in New York wird die Gepäck-
aufbewahrung von einem Roboter verwal-
tet – Trinkgeld will der „Yobot“ keines ha-
ben. Die Firma Moley Robotics bastelt an
einem Küchenroboter, mittels 20 Motoren
können die so automatisierten Hände 2000
Gerichte nach Rezept kochen – Schließzei-
ten der Hotelküche gäbe es dann nicht mehr.
Die Servietten würden perfekt gefaltet
daherkommen, selbstverständlich von ei-
MARKUS KEHL / 25HOURS HOTEL COMPANY
Nordkorea auf einen Überläufer. Auch wirtschaftlich. „Er hat Fami- habe er die Entwicklung sei-
Kaltgestellt der Umstand, dass das Testge-
lände Punggye-ri angeblich
lienmitglieder auf alle wichti-
gen militärischen Posten
nes Atomprogramms weit-
gehend abgeschlossen.
Es gehört zu den Herrschafts- schwer beschädigt wurde, geschoben.“ Vor allem aber Ein Nutznießer der Säube-
praktiken von Kim Jong Un, könnte ihm angelastet wor- rung könnte Vizemarschall
dass sich keiner seiner Unter- den sein. Beide Männer sind Choe Ryong Hae, 67, sein. Er
gebenen auf Dauer sicher aus der Öffentlichkeit ver- gilt als Rivale des in Ungnade
fühlen kann. Nun hat der schwunden, und Beobachter gefallenen Hwang; kürzlich
Diktator offenbar General rätseln: Wurden sie ins Ar- empfing er einen chinesischen
Hwang Pyong So, 72, kaltge- beitslager gesteckt oder gar Sondergesandten. Hinweise
stellt, den zweiten Mann im hingerichtet? auf das neue Machtgefüge in
Staate. Auch der für die Yang Moo Jin, ein Experte Pjöngjang hatten Experten
Atomtests mitverantwortliche von der Universität für Nord- sich vom 17. Dezember
Pak In Yong soll einer Säube- koreastudien in Seoul, hält es erhofft – dann pilgert Kim
rung zum Opfer gefallen sein. indes für denkbar, dass die normalerweise mit engsten
Ihm werde unter anderem Gestürzten nur einer „revolu- Vertrauten zum Mausoleum
vorgeworfen, dass der für das tionären Umerziehung“ un- seines Vaters Kim Jong Il.
KYODO / DDP IMAGES
Frühjahr 2017 geplante sechs- terworfen würden. „Nach Doch dieses Jahr kam er al-
te Nukleartest erst im Sep- einer gewissen Zeit könnten lein und ließ die Welt weiter
tember stattfinden konnte, sie wieder auftauchen.“ Kim im Unklaren. Auch das
berichtet die japanische Zei- sitze jedenfalls sicher im gehört zu seinen Herrschafts-
tung „Asahi“ unter Berufung Sattel – politisch, militärisch, Hwang, Kim methoden. ww
Venezuela
„Der Staat verletzt
das Lebensrecht
unserer Kinder“
MOHAMMED SALEM / REUTERS
15 000 000
Caritas sind im ganzen Land meist nur Muttermilch, mehr gibt nicht einmal Seife. In den
15 Prozent der Kinder stark unter- gibt es nicht. Unsere Arbeits- vergangenen Monaten hatten
ernährt, rund ein Drittel bedingungen sind katastro- wir zudem viele Fälle von
Dollar im Jahr könnte Do- weist Wachstumsprobleme auf. phal. Drei Kinder müssen sich Krätze und anderen Haut-
nald Trump durch die ein Bett teilen, sie werden krankheiten. Für die Patienten,
gerade verabschiedete „Wir haben nur zehn Betten lediglich mit Flüssigkeit ver- die unter Durchfall leiden,
Steuerreform sparen. in der Notaufnahme, aber sorgt, die Diagnosen schrei- gibt es keine Elektrolytlösung;
Das ergab eine Studie der allein heute mussten wir be- ben wir auf einen Fetzen Pa- Kanülen fehlen, ebenso Korti-
US-Denkfabrik Center reits 30 Kinder behandeln, pier. Am Wochenende ist das sonpräparate und Antibiotika.
for American Progress. 20 von ihnen sind unter- Labor nicht besetzt, wir müs- Die Familien der Kinder
Der Präsident hatte dage- ernährt. Die meisten sind sen die Diagnosen unter sehr müssen wahre Wunder voll-
gen behauptet, das zwischen zwei Monate und schwierigen Bedingungen er- bringen, um diese Medika-
Gesetz werde ihn „ein drei Jahre alt, sie leiden an stellen. Dass wir so viele Fälle mente zu kaufen, sie sind ex-
Vermögen“ kosten. Durch Durchfall, Blutarmut oder von Durchfall und Erbrechen trem teuer. Auch Betäubungs-
niedrigere Ertrag- und Ein- Lungenentzündung, einige sehen, liegt wahrscheinlich da- mittel und Labormaterialien
kommensteuern könnten haben Malaria. Früher kam ran, dass der Impfstoff gegen für Blutanalysen fehlen.
dem Staat binnen zehn es nur hin und wieder vor, das Rotavirus fehlt, das hier Der Staat ist verpflichtet,
Jahren geschätzte 1,5 Bil- dass unterernährte Kinder sehr verbreitet ist. Oder dass die Gesundheit der Venezola-
lionen Dollar entgehen. vom Land eingeliefert wur- das Trinkwasser verseucht ist. ner zu garantieren. Doch er
Die Profiteure sind vor al- den; heute geschieht das häu- Auch die hygienischen Be- verletzt das Lebensrecht un-
lem: die Reichen. fig, die Kinder bekommen dingungen sind furchtbar, es serer Kinder.“ jgl
Syrischer Präsident Assad (r.) mit russischem Amtskollegen Putin in Latakia: Einen eigenen Friedensprozess starten
Assads Sieg
Syrien Das Regime hat den Krieg gegen die Aufständischen weitgehend gewonnen.
Die Menschen in Damaskus denken über die Zukunft nach. Doch bis zu einem
Frieden, der das ganze Land einschließt, ist es ein sehr weiter Weg. Von Susanne Koelbl
A
n diesem klaren Tag im November, wegen, um dem Land wieder auf die Beine der Stadt, im Norden des Landes, in Alep-
um 11.47 Uhr, riecht die Luft in Bab zu helfen. Kurz nach Putins Besuch wurde po, oder im Südwesten, in Daraa, wo sie
Scharki nicht nach Sieg, sondern bekannt, dass Russland seine Luftwaffen- immer ihre eigenen Spielregeln hatten.
nach Staub und Rauch, als die Mörsergra- basis im Land weiter ausbauen will. Assad mag ein Diktator sein, sagen hier
nate hinter Jenney Loutfis Büro einschlägt. Die Bomben fallen in der Zwischenzeit viele, aber die Alternative wäre ein Re-
„Die Terroristen stehen in Dschubar“, sagt weiter auf Ost-Ghuta, den Vorstadtgürtel gime der Halsabschneider. „Ich würde die
Loutfi, gerade mal gut einen Kilometer im Südosten von Damaskus, eine der letz- Koffer packen, wenn Assad ginge, wenn
entfernt von ihrem Arbeitsplatz in der So- ten Rebellenhochburgen. In Jarmuk, einer die Rebellen an die Macht kämen, die Mus-
zialstation der syrisch-katholischen Kirche, Palästinenserenklave inmitten der Haupt- limbrüder“, sagt ein Architekt. Er ist 52,
„Luftlinie“, sagt die 27-Jährige, auf die stadt, wird ebenfalls geschossen. In Idlib, so alt wie der Präsident. Sein Büro liegt in
kommt es an bei Mörsergranaten. im Norden, an der türkischen Grenze, sam- einer gut geschützten Straße der Innen-
Das Geschoss kracht ins Dach der Mo- meln sich Kämpfer der extremistischen stadt, elegante Einrichtung, ein Ölbild vom
schee hinter dem „Tor des Ostens“, Bab Nusra-Front und andere Rebellen zur letz- Tempel von Palmyra an der Wand. Der
Scharki, einem der sieben Eingänge zur ten Schlacht mit Assads Unterstützern. Architekt glaubt, dass Assad die beste aller
Altstadt. „Warum schießen die auf uns, Auch die Amerikaner sind inzwischen schlechten Möglichkeiten ist.
hier sind doch nur Zivilisten?“, fragt Loutfi. offiziell mit größeren Truppenverbänden Natürlich sei sie da, die Sehnsucht nach
Was sie nicht weiß, ist, dass die Regierung im Land, im Norden. Bestätigt ist die Prä- Gerechtigkeit, sagt er, nach dem Ende der
die Aufständischen dort im Südosten ge- senz von 2000 Soldaten. Und die Russen, Korruption, der Vetternwirtschaft der Cli-
rade heftig bombardiert und der Beschuss die Iraner und die Hisbollah-Miliz sind que um die Assad-Familie. Aber dass ih-
der Altstadt so etwas ist wie ein letztes, noch immer hier. Die Israelis bombardie- nen die bewaffnete Opposition ein besse-
verzweifeltes Aufbäumen der Eingeschlos- ren mutmaßliche Hisbollah-Stellungen bei res Leben brächte, mehr Freiheit, gar eine
senen vor ihrer Niederlage. Damaskus. Wie ist das also zu verstehen, stabile Demokratie, das glaubt er nicht.
Denn militärisch ist der Krieg eigentlich dass Assad den Krieg gewonnen hat, mili- Vielmehr geht es hier jetzt um die Frage,
entschieden, für Assad, für das syrische tärisch, und der Kampf trotzdem weiter- ob es einen Frieden geben kann mit Assad,
Regime. Vom Frieden ist das Land den- geht? Und um was genau geht es hier noch, trotz allem. Ob es eine Verhandlungslö-
noch weit entfernt. wer hat welche Interessen und Ziele? sung gibt, an deren Ende er vielleicht doch
Jenney Loutfi ist Christin. Sie gehört da- Die Menschen in Damaskus sind des noch abtritt. Oder ob das Land ein „failed
mit zu einer Minderheit in Syrien, die noch Krieges vor allem müde, erschöpft nach state“ bleibt, in von unterschiedlichen
am ehesten Schutz findet in den von der über sechs Jahren. Und sie fragen, wie Fraktionen beherrschte Einzelteile zerfal-
Regierung kontrollierten Gebieten. Doch Jenney Loutfi, wann dieser Kampf endlich len, zerstört und isoliert, ein Paria-Staat.
in diesen Tagen reißt es auch in den engen aufhört, und vor allem, wie der Frieden Der syrische Vize-Außenminister Faisal
Gassen des Christenviertels Menschen in aussehen könnte. Miqdad gehört zu Assads entschlossensten
den Tod. Loutfis Vater verletzte ein Schrap- Verteidigern. Er hat all die Jahre Kurs ge-
nell an der Brust, ein Splitter traf ihre Mut- halten, selbst in den dunkelsten Stunden,
ter am Arm, als sie gerade auf dem Weg Die syrische Tragödie Anfang des Jahres 2013, als der Fall Assads
zum Geldautomaten war. 105 Einschläge
waren es allein in den vergangenen fünf besteht darin, dass jede im Westen als gesichert galt.
Miqdad empfängt im Außenministerium,
Tagen. Seite nur ihre eigene weißes Hemd, Silberbrille, grauer Anzug.
Es wird so heftig gekämpft in Damaskus
wie lange nicht. Als sei der stete Klang
Wahrheit akzeptiert. Über die Zeit ist der Spitzendiplomat selbst
grau geworden. Miqdad zeigt sich zufrie-
der Explosionen das Trommelfeuer zu den den darüber, dass Syrien die entscheiden-
immer neu angekündigten Friedensver- Wer jetzt noch hier ist, in Damaskus, ge- den Schlachten dieses Krieges gewonnen
handlungen zwischen der syrischen Regie- hört ganz sicher nicht zu denjenigen, die hat. Assad hat mithilfe von Iran und Russ-
rung und der Opposition, die dann doch damals gegen Präsident Assad aufgestan- land die Städte Deir al-Sor und Palmyra
immer wieder scheitern, wie kürzlich das den sind. Die sind längst geflohen, im Ge- zurückerobert vom „Islamischen Staat“,
Treffen in Genf unter Führung des Sonder- fängnis oder tot. Die meisten der Damas- und Miqdad will, dass diese Tatsache ge-
gesandten der Vereinten Nationen, Staffan zener würden, wenn morgen Wahlen wä- bührend Anerkennung findet. Dass es der
de Mistura. ren, wohl auch für Assad stimmen, der Westen war, der den IS vor allem bombar-
Anfang Dezember war der russische Prä- hier allgegenwärtig ist, als Poster in jedem dierte und mit Unterstützung der Kurden
sident Wladimir Putin zu Besuch bei Sy- Friseurladen oder an der großen Straßen- aus Rakka vertrieb, verschweigt er.
riens Diktator Baschar al-Assad. Die Bot- kreuzung, als grimmiger Offizier in Uni- Miqdad fragt, ob der Westen, ob die Eu-
schaft war: Der militärische Kampf ist bald form und mit Sonnenbrille, und vor dem ropäer endlich bereit seien, „zuzugeben,
vorüber, russische Truppen sollen in Teilen Supermarkt, als Staatsmann im Anzug. dass sie gescheitert sind“ mit ihrem Plan,
abgezogen werden. Russland will nun im Die Stadt Damaskus ist schon immer die syrische Regierung zu stürzen und As-
neuen Jahr einen eigenen Friedensprozess mehrheitlich loyal gewesen zu den Assads, sad auszutauschen gegen eine „Marionette
starten und den Westen zu Aufbauhilfe be- anders als die Menschen in den Vororten des Westens“. Es spricht Verletztheit aus
„Die existieren doch nur in den Köpfen seitig belauern und doch zusammenar- rum, „Syrien zu retten“, und zwar „ge-
derer, die diese Lügen erfunden haben.“ beiten und von denen am Ende alle ab- meinsam“. Haidar ist eigentlich Arzt, groß,
„Glauben Sie das ernsthaft?“ hängen. Der Sohn, Baschar al-Assad, erbte schlaksig, breites Gesicht, Brille, er lächelt
„Systematische Folter gibt es bei uns ihn vom Vater, und der heutige Präsident viel. Er legt Wert darauf, dass er eigentlich
nicht, wir sorgen für unsere Bürger.“ ist eben beides, Täter und Gefangener der „Opposition“ angehöre, das ist natür-
Die westlichen Regierungen sind mehr- dieses undurchsichtigen Patronagesystems, lich sehr relativ. Vielleicht war er mal an-
heitlich der Ansicht, dass es legitim war, das er selbst erhält, aber auch nicht auf- derer Meinung als der Präsident, aber na-
die Opposition zu bewaffnen. Aus ihrer lösen kann, ohne die Macht zu verlieren. türlich weit davon entfernt, das System in-
Sicht war der Aufstand eine Folge davon, Damaskus ist heute eine Hauptstadt fast frage zu stellen oder mit einer Waffe in
dass die friedlichen Demonstrationen ge- ohne männliche Jugend, junge Frauen fin- der Hand gegen Assad zu kämpfen.
gen Assad Anfang 2011 blutig niederge- den keine Männer, um eine Familie zu Auf die Frage, was er den Rebellen an-
schlagen wurden. Die Regierung und die gründen. Wie viele Soldaten starben in biete, damit sie zurückkehren, spricht der
Menschen in Damaskus dagegen sagen, diesem Krieg, wie viele Männer verwun- 55-Jährige von einer „magischen Formel“.
dass die Golfstaaten, die USA, der türki- det wurden, hält die Armee geheim. „Wir haben kein Geld, aber geben den
sche Präsident Recep Tayyip Erdoğan und In ärmeren Stadtteilen wie Dwilaa oder Kämpfern ihr Leben zurück, ihre Familie.“
ein paar Europäer von Anfang an das Ziel Maliha haben Tausende Damaszener ihre Es gehe darum, die „Seelen“ wieder auf-
gehabt hätten, Assad loszuwerden. Häuser verloren, gleich, ob sie für oder ge- zurichten, sagt Haidar.
Damaskus ist in all diesen Zeiten eine gen Assad waren. Jetzt drängen sie sich in Wer in Haidars Büro sitzt, in Damaskus,
sichere Festung geblieben. Diese uralte Notunterkünften im Stadtteil Dscharama- in einer dieser üblichen orientalischen
Stadt, ein Kleinod verschiedenster Kultu- na, in dem noch Zehntausende Flüchtlinge Amtsstuben, voluminöse Sessel, Kristall-
ren, ist verwundet, und die Schmerzen sind aus anderen Teilen des Landes unterkom- glasschalen mit Süßigkeiten, großer Holz-
sichtbar, überall. Der Ausnahmezustand, men, aus Idlib, Aleppo, Deir al-Sor und schreibtisch, kann jetzt täglich Unterhänd-
in dem sich diese vielleicht schönste Me- Abu Kamal. Es gibt keine Arbeit. Die Fa- ler sehen, die dort ein- und ausgehen, um
tropole des Orients befindet, ist an jeder briken sind zerstört. Die meisten Aus- Bedingungen für die Rückkehr von Kom-
Straßenecke zu sehen – auch wenn die Zer- gebombten leben von Spenden der Wohl- mandeuren auszuhandeln.
störung sich nicht annähernd vergleichen tätigkeitsorganisationen. Viele betteln. Wie aber sieht es mit den politischen
lässt mit dem, was Aleppo oder Homs wi- Wenn die Damaszener morgens am Oppositionellen aus, die sich im Ausland
derfuhr. Die Menschen in Damaskus leben Frühstücktisch sitzen und das staatsgelenk- befinden? Minister Haidar weicht der Fra-
mit unzähligen Checkpoints, Sandsackmau- te Fernsehen einschalten, glauben die meis- ge aus, er will gar nicht über die Flüchtlin-
ern, die Gassen versperren, und mit Män- ten deshalb, dass es gut ist, was sie jetzt ge in Europa sprechen, in Deutschland,
nern in Uniform und mit Kalaschnikows. dort sehen. Dass die siegreiche syrische sondern vor allem über die in den Nach-
Doch das Herz dieser Hauptstadt schlägt. Armee am Euphrat die Terroristenhoch- barländern, in Jordanien, in der Türkei, im
Die Nachschublinie aus dem Libanon ist burg Abu Kamal befreit hat, gemeinsam Libanon. Er sagt, dass über 530 000 syri-
zu allen Zeiten offen geblieben, auch die mit der iranischen Quds-Brigade. Dort keh- sche Kinder dort auf der Liste des Uno-
Häfen am Mittelmeer, in Tartus und Lata- ren Flüchtlinge gerade zurück in ihre Dör- Flüchtlingshilfswerks stünden und für ihre
kia. Im alten Markt, dem Souk al-Hamidija, fer, auch der alte Basar in Aleppo wird Schulbildung Millionen von Dollar bezahlt
bieten die Händler ihre Waren an, wie im- notdürftig wieder aufgebaut und eine würden. Dies ließe sich natürlich in Syrien
mer, es gibt alles, vom neuen iPhone X bis Schule im zerstörten Homs neu errichtet. viel günstiger organisieren.
zu Designerklamotten. Im luxuriösen Hotel Als Assad vor einigen Wochen im russi- Wenn es um die Rückkehr von Geflüch-
Four Seasons sieht es aus wie überall in schen Sotschi Putin traf, sagte er den Satz: teten geht, wird es hier also vor allem im-
der Welt, wo die Schönen und Reichen sich „Wir wollen nicht mehr zurückblicken.“ mer auch um Geld gehen, um Kopfzahlen,
treffen. Feine Restaurants und noble Ge- Bedarfszahlen. Es wird darum gehen, wer
schäfte reihen sich aneinander, auch wenn was bezahlt bei einem möglichen Wieder-
die Übernachtungsgäste inzwischen fast Wer wird für den Wieder- aufbau Syriens. Es ist jetzt schon klar, dass
nur noch internationalen Hilfsorganisatio-
nen angehören. aufbau Syriens bezahlen? dieser Wiederaufbau ungeheuer kostspie-
lig sein und Jahrzehnte dauern wird, wenn
In Bab Tuma, im Christenviertel, wird Mit Iran und Russland er überhaupt stattfindet.
noch immer Wein getrunken und gut ge-
gessen, zumindest, wenn man es sich leis-
rechnet das Regime nicht. Hier könnte auch eines der wenigen
Druckmittel für den Westen liegen. Er
ten kann. Das syrische Pfund ist kaum ein kann Bedingungen stellen dafür, welches
Zehntel so viel wert wie vor dem Krieg. Wer zurückblickt, der sieht Hunderttau- Syrien es künftig geben könnte. Wie viel
Viele, die noch in Damaskus leben, weil sende Tote, geopfert in einem Kampf, von internationale Unterstützung für wie viel
sie nicht wegkonnten oder nicht wegwoll- dem jede Seite behauptet, er sei gerecht ge- Öffnung, für die künftige Rolle Assads. Mit
ten, tragen die Nostalgie in sich, dass viel- wesen und habe zum Wohl des syrischen seinen Verbündeten Russland und Iran als
leicht einmal alles wieder so werden könn- Volkes stattgefunden. Wer zurückblickt, der Geldgeber, das wird hier klar, rechnet das
te, wie es war, trotz allem. Dabei verblasst sieht auch über zehn Millionen Vertriebene, Regime jedenfalls nicht.
offenbar auch die Erinnerung, wie Assads das ist fast jeder zweite Syrer, von denen Um überhaupt über ein neues Syrien
berüchtigter Sicherheitsapparat hier immer über fünf Millionen das Land verlassen muss- nachzudenken, müssten erst einmal die
schon jedermanns Leben durchleuchtete ten. Und der sieht schwere Kriegsverbrechen. Kämpfe aufhören. Einer, der sich dazu ent-
und seine Gegner in berüchtigten Folter- Im Staatsfernsehen werden jetzt sorgfäl- schlossen hat, die Waffen niederzulegen,
gefängnissen verschwinden ließ. Aber das tig inszenierte Interviews gezeigt mit Re- ist Abdul Aziz Shodab aus Kuswa, zwei
betrachten viele hier, verglichen mit der bellenkommandeuren, die vor der Kamera Stunden von Damaskus entfernt. Der
Bedrohung durch Islamisten, offenbar als reumütig bekennen: „Ich habe einen Feh- Mann ist 41 Jahre alt, fast zwei Meter groß,
vergleichsweise geringes Übel. ler gemacht und bin dankbar, dass das Re- Jeans, schwarzes T-Shirt, Glatze, langer
Schon vor dem Krieg gab es diesen Si- gime mich wieder aufnimmt.“ Bart. Zum Gespräch kommt er im Hum-
cherheitsapparat, der aus vier mächtigen Der syrische Minister für Nationale Ver- mer mit getönten Scheiben, er scheint
Geheimdiensten besteht, die sich gegen- söhnung, Ali Haidar, sagt, es gehe jetzt da- Geld zu haben. Seit einem Jahr ist er im
DER SPIEGEL 52 / 2017 79
IN DER SPIEGEL-APP
Ausland
100 km TÜRKEI
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Idlib
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SYRIEN
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LIBANON
unter Kontrolle von
Damaskus Kurden
Regierungstruppen und Verbündeten
Rebellen (u.a. der Freien Syrischen Armee)
IS-Milizen und Verbündeten
Daraa
JORDANIEN Quelle: isis.liveuamap.com, Stand 20. Dezember
FOTOS: IVO SAGLIETTI / ZEITENSPIEGEL
sogenannten Versöhnungsprogramm der triert und kehren zurück in ihre Stadt, ihr
Regierung. Dorf, falls es noch existiert.
Der ehemalige Milizchef kommandierte „Der Krieg neigt sich allmählich seinem
zuletzt angeblich 7000 Mann des salafis- Ende entgegen, Assad hat gewonnen, und
tischen Kampfverbands Ahrar al-Scham er wird bleiben“, fasste der letzte US-Bot-
im Raum Kuswa. Jetzt sitzt Shodab in schafter in Damaskus, Robert Ford, die
einem Hotel im Zentrum von Damaskus Lage zusammen. Er arbeitet nun beim
und trinkt Orangensaft. Die Details von Middle East Institute in Washington.
Shodabs Geschichte sind kaum zu über- Assad verdankt den Iranern und den Rus-
prüfen, manchmal wirkt seine Darstellung sen sein politisches Überleben, die entschei-
schablonenartig, als sei er gebrieft worden dende Wende brachte die russische Luft-
für das Treffen. Tatsache ist, dass der Mann waffe. Beide Nationen dürften in nächster
Nächstenliebe dafür eine Genehmigung der Militärischen
Sicherheit benötigte, einer Abteilung des
Zukunft dauerhaft in Syrien mit ihrem Mi-
litär präsent sein, und Präsident Putin ist
an der Front syrischen Geheimdiensts.
Tatsache ist aber auch, dass Shodab in
wohl derjenige, der in Damaskus am meis-
ten Einfluss ausüben kann. Darüber, wie es
Spätestens seit der Friedenspreisre- Propagandafilmen der Ahrar al-Scham im weitergehen soll, gibt es jedoch Unstimmig-
Internet zu sehen ist, wie er gegen das Re- keiten zwischen Assads Verbündeten. Putin
de Navid Kermanis kennt man in
gime wettert und zum Kampf gegen Assad wünscht sich eine vom Westen unterstützte
Deutschland das Werk von Padre aufruft. Sie hätten Checkpoints überfallen, Friedenslösung, die womöglich eine Be-
Paolo. Im syrischen Mar Musa sagt er, Armeekräfte angegriffen. Genauer teiligung der Opposition an der Regierung
betrieb er mit seinen Mitbrüdern und will der Bekehrte über seine Zeit bei Ahrar einschließt. Teheran hat dagegen kein Inte-
-schwestern jahrelang den Dialog al-Scham nicht sprechen. Heute arbeitet resse an einer Lösung, die Assads Macht
zwischen Christen und Muslimen. Shodab für die syrische Regierung und ver- schwächt. Auch über die künftige Rolle der
Seitdem ihn Dschihadisten 2013 sucht, ehemalige Kampfgefährten zum Sei- Kurden im Land sind sie sich uneinig – Russ-
entführt haben, fehlt von ihm jede tenwechsel zu überreden. Das Aussteiger- land hält ihren Anspruch auf Selbstverwal-
Spur, und es stellt sich die Frage: programm, sagt ein syrischer Insider, wer- tung für gerechtfertigt, Iran nicht.
de offiziell zwar von Versöhnungsminister Bis dieser Krieg wirklich zu Ende ist,
Kann die Idee des Klosters auch ohne Haidar geleitet, tatsächlich aber von Ge- wird es also noch lange dauern, noch viele
seinen Gründer überleben? heimdienstchef Ali Mamlouk gesteuert. grüne Busse werden mit Rebellen aus
Viele Möglichkeiten haben die Aufstän- Kampfzonen fahren und womöglich noch
Sehen Sie die Visual Story im dischen heute nicht mehr. Zahlreiche Hard- ein paar Tausend Mörsergranaten in die
digitalen SPIEGEL, oder scannen liner sind nach Idlib gegangen, wo sich Altstadt nach Bab Scharki fliegen.
Sie den QR-Code. laut Shodab bereits über 100 000 Kämpfer Und wie immer, wenn ein Geschoss ein-
versammelt haben. Andernorts haben die geschlagen hat und der Aufprall durch die
Rebellen kapituliert, manchmal nach mo- Altstadt hallt, wird Jenney Loutfis Mutter
natelanger Belagerung. Dann werden sie ihre Tochter auf dem Handy anrufen und
an Orte gefahren, die die Unterhändler fragen: „Jenney, alles in Ordnung?“
beider Seiten vereinbart haben, fast immer
in den grünen Bussen, die sonst für den Video:
öffentlichen Nahverkehr genutzt werden. „An den Krieg gewöhnt“
Die übrigen Kämpfer wiederum geben ihre spiegel.de/sp522017syrien
JE TZ T DI G I TAL L E S E N Waffen ab, sie werden vom Regime regis- oder in der App DER SPIEGEL
„Kommen Sie mit auf eine Reise in meine Welt des guten Geschmacks.
Von köstlichen weihnachtlichen Klassikern bis zu leckeren exotischen Rezepten,
die ich auf vielen Reisen für Sie entdeckt habe. Ich freue mich auf Sie!“
W
ie aufregend und bunt ist das war eine Anspielung auf ihren skandalösen Mal in den Kreml einzog, hat es keine Prä-
Leben der Xenija Sobtschak! Da- Lebensstil. Aber vielleicht wäre Donald sidentschaftswahl mehr gegeben, deren
von erzählen die Bilder, die Trump der bessere Vergleich. Xenija Sob- Sieger nicht von vornherein feststand. So-
die Moskauer Prominente jeden Tag auf tschak ist nämlich gerade dabei, ihren Wert gar die Gegenkandidaten sind vom Kreml
Instagram postet. Ständig begegnet sie an- als Fernsehfigur und Luxusmarke umzu- ausgesucht. Putins Herrschaft ist auch im
deren Prominenten, ständig ist sie umge- tauschen in politisches Kapital, so wie Jahr 2018 alternativlos.
ben von Dingen, auf die man ungern ver- Trump das einst getan hat. Sie ist Russ- „Warum gibt es keine Konkurrenz bei
zichtet. Da ist der schwarze Kaviar Marke lands neuester Politikstar, seit sie angekün- den Wahlen?“, fragte Xenija Sobtschak
„Kaspisches Gold“ (es gibt nichts Besseres digt hat, bei der Präsidentschaftswahl im den Präsidenten auf der Pressekonferenz.
für einen Mittwochabend, schreibt sie), die März gegen Wladimir Putin anzutreten. Sie hatte sich als Journalistin des liberalen
Massagematte Pranamat-Eco (ideales Ge- Gewinnen kann sie nicht, aber dafür hat Fernsehkanals Doschd unter die mehr als
schenk, rechtzeitig ordern) und die Haut- sie aus dem Wahlkampf schon jetzt eine tausend Teilnehmer gemischt, und Putin
creme Mixit Botox Active. unterhaltsame Show gemacht. Ob zum hatte ihr das Wort erteilt. Sobtschak er-
Und da ist seit Kurzem ein neues Pro- Vorteil oder zum Nachteil des Kreml, da- innerte ihn an den Oppositionspolitiker
dukt, das sie ebenfalls bewirbt und das rüber wird noch gestritten. Alexej Nawalny, der mit fiktiven Straf-
man gar nicht kaufen kann, nur wählen: Neulich trafen die künftigen Kandidaten verfahren an der Kandidatur gehindert
Xenija Sobtschak selbst, Politikerin und Xenija Sobtschak und Wladimir Putin auf- werde. Auch sie selbst werde bei ihrer
Präsidentschaftskandidatin. einander. Es war auf der Jahrespressekon- Kampagne behindert. „Hat die Staats-
Sobtschak, 36 Jahre alt, groß und blond ferenz, die der Präsident jeden Dezember macht“, so schloss sie, „wirklich so viel
und schlagfertig, ist in Russland so bekannt abhält und die ihrerseits eher eine Show Angst vor ehrlichem Wettbewerb?“
wie Putin. Allein ihr Instagram-Account ist als eine Pressekonferenz. Man muss Es war eine geschickt formulierte, pro-
hat 5,4 Millionen Follower. Sie hat acht dazu wissen, dass Politik in Russland nach vokative Frage. Vor laufender Kamera Na-
Jahre lang die beliebteste Reality-Fernseh- zwei Jahrzehnten Putinismus nur noch ent- walnys Namen auszusprechen, das ist in
show Russlands moderiert. Man hat sie frü- fernte Ähnlichkeiten mit Politik im Westen Russland tabu. Den Fernsehzuschauern er-
her Russlands Paris Hilton genannt, das hat. Seit Wladimir Putin 2000 zum ersten laubte es, einen ratlos-müden Putin zu se-
hen. Er sagte sinngemäß: Konkurrenz gibt Volk denken. Nawalny nennt Sobtschak erbitterten Gegners. Der Schnittpunkt
es doch auch im Westen nicht. „die Karikatur einer liberalen Kandidatin“. heißt Sobtschak.
Man kann sich fragen, warum Putin die Sobtschak streitet jede Absprache mit Auch in Rostow am Don ist das nicht an-
Fragerin überhaupt aufgerufen hat. Viel- dem Kreml ab. Sie habe zwar mit Putin ders. Es ist ein kalter Novembertag, als
leicht lag es an ihrem auffälligen roten über ihre Kandidatur gesprochen, als sie Sobtschak hier, in der größten Stadt Süd-
Kleid. Vielleicht lag es aber auch daran, ihn für einen Dokumentarfilm über ihren russlands, ihren ersten Stab überhaupt
dass er Xenija seit ihrer Kindheit kennt. Vater interviewt habe. Aber um Erlaubnis eröffnet. Vor dem Büro in der Sozialis-
Er ist zwar nicht ihr Pate, wie oft behaup- gefragt habe sie ihn nicht, sagt sie. titscheskaja-Straße steht die Büroleiterin
tet wird. Aber Xenijas Vater, der Peres- „Natürlich haben sie im Kreml ein Inte- Anastassia Schewtschenko in einem T-Shirt
trojka-Politiker und Petersburger Bürger- resse daran, dass Sobtschak an den Wahlen mit der Aufschrift „Sobtschak gegen alle“
meister Anatolij Sobtschak, war Putins po- teilnimmt. Aber das heißt nicht, dass sie und friert. Auch Schewtschenko kommt
litischer Mentor. Es gibt Fotos, da spielt von dort gesteuert wird“, sagt die Polito- von „Offenes Russland“. Es gibt in Russ-
die kleine Xenija mit Putins Tochter. Als login Marina Litwinowitsch, eine von Sob- lands Provinz nicht viele Oppositionelle,
Anatolij Sobtschak 2000 starb, sah man tschaks Beraterinnen. Über Sobtschaks Be- da hängen alle mit allen zusammen.
Putin mit Xenija und ihrer Mutter am Grab, liebtheit macht sie sich keine Illusionen. Sobtschak fährt verspätet im schwarzen
vereint wie drei Angehörige. In Umfragen erhält sie nur ein Prozent der Mercedes vor. Nawalny würde jetzt jedem
Seither ist viel passiert. Putin wurde Stimmen, so wenig wie Nawalny. Aber da Helfer die Hand schütteln, aber für so et-
zum ewigen Präsidenten, unter dem sich man in Russland ohnehin nicht von echten was hat sie keine Zeit. Dafür hört sie sich
Russland vom Westen und von der Demo- Wahlen sprechen könne, gehe es nicht da- die Klagen örtlicher Bewohner an, deren
kratie entfernte. Und die damals 18 Jahre rum zu gewinnen, sondern „den Sumpf auf- Häuser auf mysteriöse Weise abgebrannt
alte Xenija wurde an der Seite wechselnder zurühren“, wie Litwinowitsch das nennt. sind, offensichtlich um Platz für Luxus-
reicher Männer zum Partygirl, das die Ein prominenter Kandidat, der ausspricht, Wohntürme zu machen. Rostow hat den
verrufene TV-Show „Dom-2“ moderierte, was andere nur denken, wäre für Russland Ruf einer mafiösen Stadt. Abends spricht
Russlands Pendant zu „Big Brother“. ein Gewinn. Sobtschak im Konferenzsaal eines Hotels.
Als Zehntausende Moskauer gegen Sobtschaks Kampagne kommt bisher Sie kritisiert „das System“ und „die Staats-
Wahlfälschung und gegen Putin auf die ohne Programm aus, sie beschränkt sich macht“, ohne je Putin zu erwähnen. Aber
Straße gingen, nahm auch Sobtschak teil. darauf, die Wahl als Nichtwahl zu kritisie- die Zuhörerinnen sind zufrieden. Es sind
Auf der größten Demonstration, am 24. De- ren. „Gegen alle“ heißt ihre Losung, so Frauen zwischen 30 und 40, nicht junge
zember 2011, trat sie sogar ans Mikrofon. hieß früher auf Russlands Wahlzetteln eine Männer wie bei Nawalny. Sobtschak ist
Viele pfiffen sie damals aus. Sie wurde gar Extraoption für jene Wähler, die keinen für sie nicht die privilegierte Politikertoch-
nicht ernst genommen. Kandidaten wählen mochten. Es gibt ohne- ter, sondern die Selfmadefrau, die sich in
Putin muss ihr diesen Auftritt übel ge- hin keinen echten Kandidaten, ist Sob- einer Männerwelt Erfolg erkämpft hat.
nommen haben. Als die Protestbewegung tschaks Botschaft. Also benutzt mich, um Und Respekt hat sich Sobtschak zuletzt
niedergeschlagen wurde, gab es auch bei auch bei Skeptikern verschafft, mit ihren
ihr und ihrem damaligen Freund, dem Op- Auftritten im Fernsehen. Dass sie dort ge-
positionspolitiker Ilja Jaschin, eine Haus- Für die Realityshow zeigt wird, ist ein Privileg, das Nawalny
durchsuchung. Bei den großen Fernseh-
kanälen fand sie keine Arbeit mehr. Sie der russischen nicht genießt. Sobtschak darf öffentlich sa-
gen, wofür andere in Russland ins Gefäng-
wechselte zu Doschd und zu einer Mode- Politik ist Sobtschak nis kommen – zum Beispiel, dass die Krim
zeitschrift, verdiente ihr Geld mit Wer-
bung. Sie wurde Ehefrau und Mutter.
bestens qualifiziert. völkerrechtlich nach wie vor zur Ukraine
gehöre. Aber wie sie bei ihren TV-Auftrit-
Jetzt also ist Sobtschak zurück in der ten behandelt wird, ist eine andere Frage.
Politik, und diesmal, so vermuten viele, eure Unzufriedenheit auszudrücken – Un- Neulich war sie in der Sendung „Die Zeit
handelt sie im Interesse des Kreml. Der su- zufriedenheit über Korruption und Büro- wird’s zeigen“ auf dem Ersten Kanal. Zwei
che einen weiblichen Sparringpartner für kratie, Polizeigewalt und Zensur, hohe Moderatoren machten sich über sie lustig
Putin, und Sobtschak sei seine Wunschkan- Preise und niedrige Renten. und unterbrachen sie nach Kräften. Es wa-
didatin, schrieb die Zeitung „Wedomosti“ „Mit dem Kopf kann man Sobtschak ren 60 Minuten pure männliche Aggression,
im September, als Sobtschak ihre Kandi- nicht wählen, dafür ist sie zu unerfahren“, zum Einsatz kamen gefälschte Zitate, Kar-
datur noch gar nicht angekündigt hatte. sagt Litwinowitsch. „Aber mit dem Her- nevalsartikel, Psychotricks. Doch für die
Tatsächlich braucht der Kreml dringend zen kann man sie wählen.“ brutale Realityshow, in die sich Russlands
Farbe und Exotik für den Wahlkampf, weil Trotzdem muss sie erst einmal offiziell Politik unter Putin verwandelt hat, ist Sob-
er sich um die Wahlbeteiligung sorgt. Und als Kandidatin registriert werden, und da tschak mit ihrer Big-Brother-Erfahrung bes-
er braucht einen liberalen Kandidaten, den wird es nun besonders verwirrend und be- tens qualifiziert. Sie war nicht aus der Ruhe
die unzufriedenen Großstädter wählen sonders russisch. Sobtschak muss in weni- zu bringen, die Angriffe der Moderatoren
können. Der unabhängige Nawalny darf gen Wochen 100 000 Unterschriften sam- hatten den gegenteiligen Effekt. Sie ging
das nicht sein, ihn will Putin nicht stärken. meln und dafür schleunigst im ganzen als Siegerin vom Feld.
Sobtschak wäre da ein guter Ersatz: Ers- Land Wahlkampfstäbe eröffnen. Der bekannte Journalist Oleg Kaschin
tens ist sie weniger radikal als Nawalny. Sie Das geht nur deshalb so schnell, weil sie war so begeistert von ihrem Auftritt, dass
ruft nicht zu ungenehmigten Kundgebun- sich mit Michail Chodorkowski abgespro- er gar nicht mehr wissen will, ob sie ein
gen auf, und von Putin redet sie zwar chen hat, dem einstigen Ölmilliardär, der Kreml-Projekt ist. Sobtschak zu entlarven,
kritisch, aber respektvoll. Zweitens ist sie unter Putin zehn Jahre in Haft verbrachte schrieb Kaschin, sei so absurd, wie dem
politisch unerfahren. Und drittens ent- und jetzt im Exil lebt. Seine Organisation Weihnachtsmann vorzuhalten, dass sein
spricht sie dem Zerrbild, das sich viele Rus- „Offenes Russland“, gedacht als Netzwerk Bart aus Watte sei. „Na klar ist der Bart
sen seit den Neunzigerjahren von den pro- für unbekannte Nachwuchspolitiker, hilft aus Watte! Aber der Weihnachtsmann
westlichen Liberalen gemacht haben: Herz- jetzt Sobtschak bei der Einrichtung von bringt uns das Fest, und wer ihm den
lose Privilegierte, die alles privatisieren und Stäben. Dieses eine Mal überschneiden Bart abreißt, verdirbt bloß alles.“
beim Kaviarlöffeln wenig an das einfache sich die Interessen des Kreml und seines Christian Esch
D
ie Standuhr im Maria-Theresien- gegen illegale Migration entgegenkommen, zent abgesunken war, ist zu einem großen
Zimmer der Wiener Hofburg zeigt nicht aber bei ihrem Anti-EU-Kurs. Teil das Verdienst Straches. Als junger Mann
exakt 14 Minuten nach elf, als Se- Die Zuständigkeit für die Europapolitik war er einst fest in der Neonazi-Szene ver-
bastian Kurz am Montag vor Heiligabend hat Kurz deshalb vom Außenministerium ankert. Verstörende Aufnahmen aus jener
durch Bundespräsident Alexander Van der mit ins Kanzleramt genommen. Um ein- Zeit zeigen ihn bei Wehrsportübungen im
Bellen zum Kanzler ernannt wird – im Al- zelne Passagen wurde während der Koali- Wald. Nachdem Strache 2005 den Parteivor-
ter von 31 Jahren. tionsverhandlungen noch nachts erbittert sitz übernommen hatte, machte er mit radi-
Äußerlich unbewegt legt der jüngste gerungen, sagt einer, der es wissen muss: kalen Sprüchen auf sich aufmerksam. Nach
Regierungschef des Kontinents seinen „zuletzt ging es um Kommas“. Die von der der Abspaltung des Haider-Flügels formte
Schwur auf die Verfassung ab. Ihm zur Sei- FPÖ einst ins Spiel gebrachte Volksabstim- Strache die traditionell deutschnationale
te stehen 13 Minister. Knapp die Hälfte da- mung über den EU-Austritt ist nun schrift- FPÖ schließlich zu einer politischen Kraft,
von stellt ab sofort die rechtspopulistische lich ausgeschlossen worden. Was das Ver- die europaweit mit rechten Parteien ver-
Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ). hältnis zu Russland angeht, heißt es im netzt ist. Heute, mit 48, gibt sich Strache im
Während draußen auf dem Heldenplatz Text, die wegen der Krim-Annexion ver- Vergleich zu früher gemäßigt. In Trachten-
ein paar Tausend meist jugendliche De- hängten Sanktionen könnten nur „im euro- weste brachte er es bis auf die Titelseite der
monstranten „Tod dem Faschismus“ brül- päischen Einklang“ abgebaut werden. Europaausgabe des US-Magazins „Time“.
len und Vermummte sich mit der Polizei Einer aus der Kurz-Truppe beziffert die Einige seiner treuesten Mitstreiter hat
prügeln, geht es drinnen in der Hofburg Wahrscheinlichkeit, dass es Kurz gelinge, er mit ins Kabinett schleusen können. Vor
erstaunlich gelöst zu. Die FPÖ-Minister er- die Scharfmacher innerhalb der FPÖ im allem vom Verhalten eines Mannes wird
halten die Belohnung für ihren Wahlerfolg Zaum zu halten, auf „fünfzig Prozent“. das Schicksal dieser Regierung wohl we-
mit 26 Prozent Stimmenanteil: Vizekanz- Die Basis der Freiheitlichen Partei werde sentlich abhängen: Herbert Kickl, der neue
ler ist jetzt Parteichef Heinz-Christian Stra- nur so lange stillhalten, wie das ungleiche Innenminister. Der asketische Intellektu-
che; Außenministerin Karin Kneissl; Res- elle, Absolvent der freiheitlichen Akade-
sortchef für Verteidigung Mario Kunasek mie und langjähriger FPÖ-Generalsekretär,
und für Inneres Herbert Kickl. Der FPÖ-Innenminister ist das strategische Gehirn hinter dem Er-
Sämtliche sicherheitsrelevanten Ressorts,
alle Geheimdienste und der Verfassungs- Herbert Kickl hat Slogans folg der Partei. Kickls Dissertation mit dem
Titel „Transzendentale Deduktion der Ka-
schutz unterstehen nun Ministern der FPÖ, wie „Daham statt Islam“ tegorien und Bewusstkapitel in Hegels Phä-
einer Partei, die vor einem Jahr ein Arbeits-
übereinkommen mit Wladimir Putins „Ei-
zu verantworten. nomenologie“ klingt beeindruckend, blieb
aber unvollendet. Als früherer Reden-
niges Russland“ unterzeichnete. Noch wäh- schreiber Jörg Haiders hat Kickl auch Slo-
rend in Wien über eine Koalition verhan- Paar an der Spitze der Koalition Erfolge gans wie „Daham statt Islam“ zu verant-
delt wurde, reisten FPÖ-Politiker nach Jalta, liefere: „Die ÖVP muss Strache leben las- worten. Sein neuer Kommunikationschef
um auf der völkerrechtswidrig von Russ- sen, er muss Ergebnisse vorzeigen kön- verantwortete bisher ein News-Portal, das
land annektierten Krim an einer Tagung nen.“ Der FPÖ-Chef soll Verbesserungen vom Verfassungsschutz wegen fremden-
teilzunehmen. In den Jahren zuvor hatten für sozial Schwache und für Familien als feindlicher und antisemitischer Tendenzen
vor allem Strache und der Russisch spre- eigene Erfolge darstellen dürfen. beobachtet wird.
chende Johann Gudenus das Putin-Regime Die Strategie von Kurz laute „Einhegen Die ÖVP-Leute blicken misstrauisch auf
öffentlich unterstützt – der eine ist nun Vi- durch Umarmen“, heißt es im Umfeld des diesen neuen Innenminister. Einer sagt,
zekanzler, der andere FPÖ-Fraktionschef. Kanzlers. Kurz habe in Sachen Loyalität die Schlüsselfrage sei, „ob Kurz es schafft,
Sebastian Kurz ist ein politisches Talent, bei Strache ein besseres Gefühl als bei an- zu verhindern, dass Kickl ein Eigenleben
aber wird er seine Koalitionspartner bän- deren Freiheitlichen – der FPÖ-Chef sei entwickelt“ und aus der Kabinettsdisziplin
digen können? Kann der neue Kanzler wie mit den Jahren zahmer geworden. ausschert. Ähnliche Bedenken haben Kon-
versprochen einen proeuropäischen Kurs Wann immer die FPÖ seit dem Zweiten servative bei FPÖ-Fraktionschef Johann
halten? Und was bedeutet es für Öster- Weltkrieg mit in der Regierung war, erst- Gudenus, dem Sohn eines wegen Verharm-
reichs EU-Partner, dass die Regierungs- mals ab 1983, dann noch einmal ab dem losung nationalsozialistischer Verbrechen
partei FPÖ in Brüssel gemeinsame Sache Jahr 2000, spaltete oder zerstritt sie sich – verurteilten Politikers. Der Junior wurde
macht mit den Fraktionen der Französin jedes Mal unter dem Einfluss Jörg Haiders. 2013 auffällig mit dem Satz: „Knüppel aus
Marine Le Pen, des Niederländers Geert Wie Strache verhindern will, dass sich das dem Sack für alle Asylbetrüger, Verbre-
Wilders und des Italieners Matteo Salvini? wiederholt, muss sich noch erweisen. Der cher, illegalen Ausländer, kriminellen Isla-
Denn sie alle sind bekennende Gegner der FPÖ-Chef tritt neuerdings betont staats- misten und linken Schreier“. Nun schlägt
EU in ihrer jetzigen Form. männisch auf und drückt sich gewählt aus. er vor, Sammelquartiere für Asylbewerber
Wer den jungen österreichischen Regie- Noch vor gar nicht langer Zeit nannte er am Wiener Stadtrand einzurichten: „Mas-
rungschef in diesen Tagen sieht und engste zur Freude seiner Anhänger den heutigen senmigration sollte man insofern ein-
Berater trifft, tagsüber im Kanzleramt oder Kanzler Kurz einen Mann, der „politisch schränken, als man diesen Migranten zeigt,
abends auf ein Achtel Weißwein, der ge- über Leichen“ gehe, außerdem sei er „eine in Österreich ist es doch nicht so gemütlich,
winnt den Eindruck, dass Kurz sich der Ri- skrupellose und unehrliche Person“. wie alle glauben.“
siken, die er eingeht, durchaus bewusst ist. Die Wiedergeburt der FPÖ, die in Um- Männer wie Kickl und Gudenus könn-
Dass er weiß: Er kann der FPÖ beim Kampf fragewerten zwischenzeitlich auf fünf Pro- ten für Kanzler Kurz zum Problem werden.
84 DER SPIEGEL 52 / 2017
liche Entwicklung im politischen Leben
Europas“ nannte; und bei der Entschei-
dung von Israels Premier Benjamin Netan-
yahu, der seinen Regierungsmitgliedern
direkte Kontakte zu Ministern in Wien un-
tersagte, die von der FPÖ nominiert wur-
den. Ärgerlich ist das vor allem für die
parteilose Außenministerin Kneissl – sie
spricht, unter anderem, Hebräisch.
Die Ex-Diplomatin findet am Wiener Mi-
noritenplatz außerdem ein in Teilen ent-
kerntes Amt vor. Denn es gilt als sicher, dass
sich der bisherige Außenminister Kurz auch
weiterhin um Österreichs Außendarstellung
kümmern wird, vor allem in der EU.
Kneissl ist teilweise in Jordanien aufge-
wachsen, wo ihr Vater vom damaligen Kö-
nig Hussein als Pilot engagiert worden war.
Sie gilt als widerspruchsfreudig und ist als
Expertin für den Nahen Osten bekannt.
Sie hat auch schon mit Stellungnahmen
über die Zuwanderung „testosterongesteu-
erter“ junger Männer auf sich aufmerksam
gemacht. Den Zionismus hat Kneissl als
eine „an den deutschen Nationalismus
angelehnte Blut-und-Boden-Ideologie“ be-
zeichnet, was ihr viel Kritik eintrug.
Im Juli übernimmt Österreich für ein
halbes Jahr die EU-Präsidentschaft. Kurz
will sie nutzen, um sein Land als unverän-
dert zuverlässigen Partner zu präsentieren.
Den Regierenden in Wien kommt ent-
gegen, dass beim EU-Gipfel im September
2018 auf Vorschlag von Ratspräsident Do-
nald Tusk ausgerechnet innere Sicherheit
und Migration als Schwerpunkte vorgese-
hen sind – mit diesen Themen haben ÖVP
und FPÖ bei den Wählern schon bisher
gepunktet.
Was in der Aufregung über das neue
Personal an der Spitze des Staates fast un-
terging: Laut Koalitionsvertrag sollen viele
der im Wahlkampf versprochenen innen-
GEORGES SCHNEIDER / PICTUREDESK. / ACTION PRESS
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Magische Momente
„Ich hatte ja nicht mal geduscht“
SASCHA KLAHN
Handballtorwart Tim Wendt, 20, über sein unverhofftes Bundesligadebüt beim Rekordmeister THW Kiel
SPIEGEL: Normalerweise spie- SPIEGEL: Gab es überhaupt ganze Partie spielen musst. einsatz, vor 10 000 Zuschau-
len Sie in der viertklassigen ein Trikot für Sie? Ich hoffte aber auf eine ern für den THW – davon
Oberliga, Anfang Dezember Wendt: Das wurde kurzfristig Chance, vielleicht bei einem träumt jeder Kieler Junge.
feierten Sie gegen Hütten- noch beflockt. Der zuständi- Siebenmeter. SPIEGEL: Sie spielten 2:14
berg Ihren ersten Bundesliga- ge Mitarbeiter wurde einbe- SPIEGEL: Kurz vor Ende führ- Minuten. Ihr schönster
einsatz. Wie kam es dazu? stellt, er hatte zuvor zu Hau- te Kiel deutlich. Trainer Gis- Moment?
Wendt: Ich war an dem Tag in se auf der Couch gesessen. lason gab Ihnen zu verste- Wendt: Meine erste Parade.
Rendsburg, half bei einem SPIEGEL: Wie verliefen die Mi- hen, Sie sollten sich bereit- Der Kreisläufer kam zum
Umzug. Um halb vier be- nuten vor dem Spiel? halten. Wurf, knickte nach links ab,
merkte meine Freundin, dass Wendt: In der Oberliga ma- Wendt: Da stieg die Anspan- zielte unter die Latte. Ich pa-
ich vier verpasste Anrufe chen wir deutlich mehr Wit- nung. Mein erster Bundesliga- rierte den Ball, sah aus den
von meinem Trainer hatte. ze in der Kabine. Bei Augenwinkeln, dass er
Ich rief zurück. Er meinte: den Profis läuft Musik, nicht ins Tor ging. Da
„Tim, wo bist du? Komm jeder ist mit sich selbst wusste ich: Das ist der
nach Kiel, du spielst heute beschäftigt. Ich zog erste Ball, den du in
für die Erste.“ Von den mich um, setzte mich der Bundesliga gehal-
THW-Torhütern war Olym- auf meinen Platz und ten hast! Ein cooles Ge-
piasieger Niklas Landin er- wartete. fühl.
krankt, die etatmäßige Num- SPIEGEL: Sie machen SPIEGEL: Sie parierten
mer drei gesperrt. eine Ausbildung zum alle drei Würfe, die auf
SPIEGEL: Ihre Reaktion? Anlagenmechaniker. Ihr Tor kamen – ein
Wendt: Ich war tierisch aufge- An diesem Tag waren perfekter Einstand.
regt, hatte ja nicht mal ge- Sie Back-up für Natio- Wendt: Ich war lange
duscht, stand ohne Sportkla- naltorwart Andreas damit beschäftigt, alle
motten in Rendsburg. Wir Wolff. Glückwünsche zu be-
UWE PAESLER
fuhren zurück nach Kiel, da- Wendt: Ich dachte: Das antworten. Am nächs-
mit ich meine Schuhe holen Schlimmste wäre, wenn ten Morgen bei der Ar-
konnte. Zweieinhalb Stunden er sich nach fünf Minu- beit wussten auch schon
später war ich in der Halle. ten verletzt und du die Wendt gegen den TV Hüttenberg alle Bescheid. tne
SPIEGEL: Und Sie lenken den Ball mit einem SPIEGEL: Sind nicht auch einige der frühe-
E
in eisiger Dezembertag in Vinovo,
einem von schneebedeckten Zwei- Reflex über die Latte. Danach schießt Ita- ren Tugenden verloren gegangen, ist nicht
und Dreitausendern überragten Vor- lien zwei Tore. Ein Schlüsselmoment auf das Sieger-Gen weg?
ort Turins. Zum Juventus-Trainingscenter dem Weg zum Weltmeistertitel? Buffon: Nein, das glaube ich nicht. Wir ha-
führt eine Allee, in der an jeden der fast Buffon: In solchen Spielen ist jeder Moment ben das immer noch in der DNA. Was wir
drei Dutzend Meistertitel des italienischen entscheidend. Dieses Match war so aus- verloren haben, ist der Spieler, der das
Vorzeigeklubs erinnert wird. In einem hel- geglichen, dass am Ende Kleinigkeiten den Zeug zum Champion hat.
len Zweckbau wartet der berühmteste Ausschlag gaben. Italien war damals, vor SPIEGEL: So wie früher Baggio, Del Piero,
Spieler in der Geschichte dieses Vereins: allem gegen Ende, sehr mutig, auch dank zuletzt Pirlo?
Gianluigi „Gigi“ Buffon, 39. Hellbrauner Na- der Wechsel, die unser Trainer Marcello Buffon: Bis vor etwa zehn Jahren hatten
delstreifenanzug, schwarzer Rolli, stahl- Lippi vornahm. Wir wollten gewinnen, wir solche Spieler noch. Das ist vorbei.
blaue Augen, Sechstagebart. Der Mann unbedingt, wir waren in Rage und fühlten Eine gewaltige Bürde, die wir da tragen.
mit 175 Länderspielen und mehr als tau- uns überlegen. Außerdem hatten wir am SPIEGEL: Hat nicht auch die Autorität der
send Pflichtpartien war fünfmal Welttor- Ende mehr Glück als die Deutschen. Trainer gelitten? Schon bei der WM 2014
hüter, am Abend zuvor wurde er von der SPIEGEL: Nach 2006 gab es weitere drama- mussten Sie und die anderen „Senatoren“,
„Gazzetta dello Sport“ zum „Mann des tische Spiele – das 2:1 für Italien bei der die Routiniers, in der Kabine eingreifen,
Jahres“ gekürt. EM 2012 durch zwei Balotelli-Tore und etwa gegenüber Balotelli. In diesem Jahr
dann der Sieg der Deutschen im Elfmeter- wurde sogar der Nationaltrainer aus der
SPIEGEL: Signor Buffon, nach dem Schei- schießen bei der EM 2016. Was macht die Kabine verscheucht.
tern Italiens in der WM-Qualifikation ge- Duelle zwischen den beiden Nationen so Buffon: Als ich 1997 begonnen habe in der
gen Schweden hatten Sie eigentlich Ihren besonders? Squadra Azzurra, war das Verhältnis zwi-
Rücktritt erklärt. Inzwischen aber haben Buffon: Die gemeinsame Geschichte, die schen Trainer und Mannschaft noch so wie
Sie auf die Frage, ob die EM 2020 noch diese Nationen mit sich herumtragen, spielt zwischen dem Fabrikbesitzer und seinen
ein Ziel sei, geantwortet: „Ich schließe eine Rolle. Auch die Geografie. Sozusagen Arbeitern. Das hat sich geändert, und ich
nichts aus.“ Was ist nun richtig? ein historisches Geflecht. Das geht dann denke, das ist gut – Auseinandersetzungen
Buffon: Ach, ich weiß einfach nicht mehr, über ein einfaches Fußballspiel hinaus. können fruchtbar sein. Im Übrigen haben
wie ich auf diese Fragen antworten soll. SPIEGEL: Der berühmte Spruch von Gary wir den Nationaltrainer nicht aus der Ka-
Höre ich auf, höre ich nicht auf? Ich Lineker über die Deutschen, die am Ende bine verjagt – er ist vor den entscheiden-
fühle mich als Soldat, im Dienst meines eines 90-minütigen Fußballspiels immer den Spielen zu mir, zu Barzagli und Chiel-
Vereins und meines Landes. Das Wohl gewinnen, hätte abgewandelt lange Zeit lini gekommen und hat vorgeschlagen, ein
des großen Ganzen war mir immer wich- auch für die Italiener gelten können – am Treffen ohne ihn einzuberufen. Ich habe
tiger als mein eigenes. So sehe ich meine Ende gewannen sie immer, zumindest ge- gesagt: „Ja, Mister, gute Idee.“
Arbeit. Sehr wahrscheinlich höre ich auf, SPIEGEL: Wir haben Sie zuletzt häufig in Trä-
stehe aber weiter zur Verfügung, für Ju- nen gesehen – nach dem Ausscheiden bei
ventus wie für die Nationalmannschaft. „Wir haben den der EM 2016, nach dem verlorenen Cham-
Selbst mit 80 Jahren, wenn plötzlich
kein Torhüter da wäre, dürfte man mich Kindern die Möglichkeit pions-League-Finale 2017 und nach dem
Ausscheiden in der WM-Qualifikation. Be-
anrufen – ich trainiere dann kurz und genommen, bei einer reuen Sie, nicht früher aufgehört zu haben?
springe ein.
SPIEGEL: Spätestens vor dem nächsten Län-
WM richtig mitzufiebern.“ Buffon: Absolut nicht. Ich bin fast 40 und
glücklich mit dem, was ich tue, bis jetzt.
derspiel der Squadra Azzurra im März wer- Wer über Buffon redet, spricht noch im
den Sie sich endgültig äußern müssen. gen die Deutschen. Warum ist es damit Präsens. Obwohl ich mir sage, bei all den
Buffon: Was ich sagen musste, habe ich ge- seit 2016 vorbei? Und, noch schlimmer – Preisen, die ich jetzt bekomme, sieht es
sagt. Ein Mann von fast 40 Jahren hat die wie kann es sein, dass die Italiener nun fast so aus, als wäre ich schon weg. Aber
Pflicht, anderen Raum zu geben. Ich weiß sogar gegen Schweden in der WM-Quali- das ist natürlich Selbstironie. Wenn Ironie,
doch selbst am besten, dass ich anderen fikation ausgeschieden sind? wie es heißt, das Anzeichen maximaler
im Weg stehen könnte, und das will ich Buffon: Na ja, bisher war es so – nach Plei- Verzweiflung ist, dann ist Selbstironie ein
nicht. Das erfordert schon der Respekt vor ten kommen wir meistens stärker zurück. Symbol für ein glückliches Leben. Und ich
anderen. Punkt. Wir haben eine grauenvolle WM 2010 für meinen Teil bin glücklich.
SPIEGEL: Ein Blick zurück, auf Buffon und gespielt, und zwei Jahre später waren SPIEGEL: Wie wichtig wäre die sechste WM-
die Deutschen – eine lange Geschichte vol- wir wieder im EM-Finale. 2014 wieder Teilnahme für Sie persönlich gewesen – et-
ler Dramen. Sie erinnern sich an das WM- eine schlechte WM, aber zwei Jahre später was, was keiner zuvor geschafft hat, nicht
Halbfinale in Dortmund 2006, neun Minu- gegen Deutschland erst im Elfmeterschie- einmal Lothar Matthäus?
ten vor Abpfiff, Spielstand 0:0, und von ßen ausgeschieden. Unsere DNA ist noch Buffon: Es wäre ein Rekord gewesen, der
links außen kommt einer allein auf Sie zu? die gleiche, der Kampfgeist auch, aber mich wahnsinnig gefreut hätte, das ist un-
Buffon: Ja, ich erinnere mich. Der zieht ab. wenn das Talent fehlt, reicht das leider strittig. Da hätte sich ein Kreis geschlossen,
Podolski. nicht. eine Karriere ihr Ende genommen. Aber
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SVEN SIMON
Weltmeister Buffon 2006 in Berlin, gescheiterter WM-Qualifikant Buffon 2017 in Mailand: „Der lebendigste Spiegel der Gesellschaft“
was mir wirklich Schmerzen bereitet: nicht schaft richtig mitzufiebern. Das Schlimms- geschrieben mit Kämpfen, mit Leid, auch
zur WM fahren zu können mit diesen Spie- te kommt noch im nächsten Juni. Ich hoffe, mit Blut. Das hat respektiert zu werden.
lern, von denen einige seit zehn, elf Jahren dass ich beim Anpfiff zum Eröffnungsspiel Hinzu kommt, dass ich finde, wir Italiener
mit mir beisammen sind … bereits mit meinem Schnorchel unter Was- respektieren uns selbst nicht ausreichend.
SPIEGEL: Mit De Rossi und Barzagli wurden ser bin, irgendwo – und anderthalb Monate Das Bewusstsein dafür, was wir sind und,
Sie bereits Weltmeister 2006 … lang nicht mehr auftauche. Den Kopf stre- vor allem, was wir sein könnten, ist gering.
Buffon: … und mit denen ich mir ein letztes cke ich erst wieder raus, wenn das Endspiel Wir sind im Kern feinfühlig, gastfreundlich
Geschenk machen wollte, eine letzte Gele- abgepfiffen ist. So zumindest schaut mein und hilfsbereit. Wenn also jemand die
genheit, noch einmal einen Monat zusam- Traum aus. Hymne der Gäste auspfeift, tut mir das
men zu verbringen und große Gefühle zu SPIEGEL: „Gigi Buffon – Stolz der Nation“ leid, auch für uns selbst. Das ist Unkultur.
teilen. Hinzu kommt der soziale Aspekt. stand vor einigen Tagen auf einem großen Auch ich habe früher übrigens in der
SPIEGEL: Was bedeutet das? Transparent im Stadion. Berührt Sie das? Kurve gestanden und so manches gesun-
Buffon: Sagen wir es ähnlich wie Churchill: Buffon: Ehrlich gesagt: ja. Weil ich das als gen, ich weiß also, wovon ich rede.
„Die Italiener ziehen in den Krieg, als gin- Lohn für den Weg sehe, den ich gegangen SPIEGEL: Albert Camus sagte, alles, was er
ge es nur um ein Fußballspiel, aber ein bin, nicht nur als Sportler, auch als Mensch. über Moral und Verpflichtung wisse, habe
Fußballspiel gehen sie an, als wäre es eine Die Leute schenken dir nichts, das Leben er beim Fußball gelernt. Sie klingen fast
Schlacht.“ Das beschreibt gut, mit welcher schenkt dir nichts. Wenn du spielst, wenn genauso.
Einstellung wir ein Match beginnen und du sprichst, wirst du gewogen und nur Buffon: Der Fußball hat mir unglaublich
welcher Zauber dann bei uns im ganzen dann für gut befunden, sofern du den viel beigebracht. Er ist der lebendigste und
Land entsteht. Ich weiß das, weil ich nicht Schlüssel findest zu dem, was die Men- verlässlichste Spiegel der Gesellschaft.
vergessen habe, wie ich es als Kind emp- schen fühlen. SPIEGEL: Ihr deutscher Lieblingsverein, kön-
fand. Juventini, Interisti und Napoletani SPIEGEL: Früher hat man Ihnen Nationalis- nen Sie den aussprechen?
rücken da plötzlich zusammen. mus vorgeworfen, in den letzten Jahren Buffon: Oh ja, seit meiner Kindheit – Bo-
SPIEGEL: Fußball sei das Einzige, was haben Sie mehrfach für Aufsehen gesorgt, russia Monschenkladbak (lacht). Die ha-
Italiener aus Nord und Süd eine, sagen indem Sie sich gegen Rassismus und Aus- ben ja, als wir vor zwei Jahren gegen-
einige. grenzung ausgesprochen haben – zuletzt einander spielten, nicht gewusst, dass ich
Buffon: Sicher, ich weiß, dass es diese Stim- in Mailand auch gegen das hemmungslose ein Borussia-Fan bin, und mich zurückge-
men gibt. Und gerade deshalb werde ich Auspfeifen der gegnerischen Nationalhym- wiesen, als ich in der Kurve einen Schal
dieses Ausscheiden gegen Schweden bis ne. Spiegelt der Fußball wider, was in der von den Fans wollte. Aber später sind sie
zum Lebensende bereuen. Wir haben den Gesellschaft passiert? zu mir in die Kabine gekommen, haben
Kindern die Möglichkeit genommen, bei Buffon: Nehmen wir das Beispiel mit der sich entschuldigt und mir einen Schal ge-
so einem Ereignis wie der Weltmeister- Hymne. Jede Nation hat ihre Geschichte, bracht. Alles gut, ich war nicht beleidigt.
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Sport
SPIEGEL: Wenn man sich die Rangliste der gen Burschen, wie sich Ältere benehmen, Sport zu sehen. Das färbt auf die Mann-
besten Torhüter ansieht, sind praktisch seit also benehmen sie sich logischerweise ge- schaft ab.
15 Jahren immer die gleichen vorn – Iker nauso. SPIEGEL: Das bedeutet, einer wie Sami Khe-
Casillas, Gigi Buffon und Manuel Neuer. SPIEGEL: Kurz vor der WM 2002 haben Sie dira kommt hier an, und nach wenigen Ta-
Was spricht für Neuer? den Ausschluss aufgrund eines gefälschten gen hat er den Juve-Geist intus?
Buffon: Manuel hat meiner Meinung nach Abiturzeugnisses riskiert; kurz vor der EM Buffon: Die ersten Monate hier sind der
eine unglaubliche Präsenz, vor allem kör- 2004 sind Sie an Depressionen erkrankt; Wahnsinn. Ich kam ja von Parma, 2001,
perlich, da ist etwas, was dich unmittelbar und kurz vor der WM 2006 waren Sie beim und die ersten Monate fühlte ich mich
anspringt. Ein beeindruckender, starker Staatsanwalt vorgeladen wegen angebli- wie in einer anderen Welt. Was ich he-
Typ. Bei Bayern ist er noch stärker gewor- chen Wettbetrugs. Trotzdem standen Sie rausfinden wollte, war, ob der Außerirdi-
den, er macht wesentlich weniger Fehler im entscheidenden Moment immer auf sche ich bin oder ob es der Verein ist. Es
als zuvor und ist zu einem höchst zuver- dem Feld – haben Sie starke Nerven? gibt eine Ernsthaftigkeit, mit der hier an
lässigen Torwart gereift. Erstklassig auch Buffon: Ja, die habe ich sicher. Aber hinzu die Arbeit gegangen wird, und eine Zä-
mit den Füßen und in der Art, wie er das kommt: Ich bin selbstkritisch und mache higkeit, Sturheit, mit der hier an Verbes-
Spiel liest, großartige Reflexe, außer- die Sachen mit mir selbst aus, das Urteil serungen gearbeitet wird. Juve hat so gut
ordentlich. anderer kann mir dann nichts mehr anha- wie nie Wahnsinnssummen für Spieler
SPIEGEL: Das klingt fast begeistert. ben. Ich schäme und geniere mich. Wer ausgegeben wie Real oder Barcelona –
Buffon: Ich sage das, na ja, fast mit Demut. Fehler macht, muss dafür bezahlen. und hat trotzdem immer ganz oben mit-
Wenn du als junger Kerl über andere reden SPIEGEL: 175 Länderspiele und mehr als gespielt.
sollst, nervt das, aber wenn du älter bist, tausend Partien insgesamt – gibt es ein SPIEGEL: Zinédine Zidane begegnet Ihnen
beginnt es, dir zu gefallen. Um selbst noch seit über 20 Jahren, als Spieler und dann
besser zu werden, muss ich mich mit den als Trainer. Unvergesslich das WM-End-
anderen und ihren Stärken beschäftigen; „Ich will besser werden, spiel in Berlin 2006, wo er erst einen
ob das nun Neuer, ter Stegen, De Gea oder
Courtois ist. da gibt es auch Elfmeter unter die Latte schnippelte, in
der Verlängerung schließlich nach einem
SPIEGEL: Wie schneidet Marc-André ter Ste- mit 40 Jahren noch Kopfstoß vom Platz flog. Sie waren es,
gen ab?
Buffon: Er macht in diesem Jahr eine un-
Spielraum.“ der den Schiedsrichter darauf aufmerksam
gemacht hat. Hat Zidane Ihnen das ver-
glaubliche Entwicklung. Er gefällt mir, weil ziehen?
er außer mit den Füßen, wo er prima ist, Geheimnis, wie man das körperlich hinbe- Buffon: Wir sind uns seit je verbunden,
nun auch entscheidende Paraden hinlegt, kommt? durch gegenseitigen Respekt und Hoch-
übrigens zuletzt auch bei uns in Turin in Buffon: Vor allem nicht dran denken. Gro- achtung. Bis zuletzt, bis zum Champions-
der 92. Minute. Nach dem Schlusspfiff bin ßes passiert ungeplant. Ernsthaft leben League-Finale 2017, das Juventus verloren
ich hin zu ihm und habe gesagt: „Wie wie ein Profi – ja, das natürlich. und das Real mit dem Trainer Zidane
kannst du dir erlauben, in meinem Wohn- SPIEGEL: Die Werbung, die Sie für Rotwein verdient gewonnen hat. Aber der Kopf-
zimmer so eine Parade hinzuzaubern?“ Ich machen, passt da nicht wirklich rein. stoß damals gegen Materazzi, das war
habe mich für ihn gefreut. Buffon: Doch, du kannst dir alles erlauben, so groß, so außerhalb jeder Vorstellungs-
SPIEGEL: In Ihrer Autobiografie schreiben nur nicht bei Sachen, von denen du weißt, kraft, dass auch ich es nicht geschafft
Sie: „Geld ist nicht alles.“ Wie sehen Sie dass sie dir schaden. Zweimal pro Woche hätte, so zu tun, als hätte ich nichts ge-
die Rekordsummen, die zuletzt bei den zwei Gläser Wein ist kein Problem. sehen. Ein Schock, auch für mich, ich habe
Transfers von Neymar, Mbappé, Pogba Schlimmstenfalls musst du am nächsten das nicht für möglich gehalten. Einem
ausgehandelt wurden? Tag eine halbe Stunde mehr trainieren. Burschen wie Zidane aber kannst du
Buffon: Sie spiegeln die Parameter wider, SPIEGEL: Was ist der Kern des Erfolgs von nichts übel nehmen, er ist ein guter Junge,
die den Fußball nun bestimmen. Frag mich Juventus? Sie sind Serienmeister, erfolg- vielleicht zu verschwiegen, der in die-
nicht, ob ich das richtig finde. Ich will hier reich in der Champions League. sem einen Moment eine Dummheit be-
nicht als alter Kommunist daherkommen, Buffon: Bei Juventus gibt es Werte, die wer- gangen hat.
der die Grundlagen des Marxismus vertritt. den weitervermittelt. Der Antrieb kommt SPIEGEL: Haben Sie Ihren Mitspieler Mate-
Das ist nicht meins. von den Besitzern, von der Familie Agnelli, razzi nie gefragt, womit er Zidane belei-
SPIEGEL: Dabei wächst sich das Ganze ja von ihrer Art, das Leben, die Arbeit, den digt hat, bevor dieser zustieß?
weiter aus. Ob Dembélé oder Ihr neuer Buffon: Nein, und zwar deshalb, weil ich
Mannschaftskamerad Bernardeschi – alle- mich für Tratsch nicht im Geringsten inte-
samt Millionäre, die zuletzt bei ihren alten ressiere. Das passt nicht zu mir.
Vereinen in Streik getreten sind, um zu lu- SPIEGEL: Welche Ziele setzen Sie sich noch?
krativeren Vereinen wechseln zu können. Buffon: Ich will besser werden, da gibt es
Finden Sie das nicht absurd? auch mit 40 Jahren noch Spielraum. Und
Buffon: Nein. Du kannst doch einem 20-jäh- mit Juventus möchte ich um den Sieg mit-
rigen Burschen nicht die Schuld geben. spielen, bis zum Ende – in der italienischen
Würden sich alle Besitzer oder Präsidenten Liga und in der Champions League.
DANIELE BADOLATO / GETTY IMAGES
der Vereine auf Verhaltensregeln einigen, SPIEGEL: Ihre Prognose für die WM 2018?
dann käme es erst gar nicht so weit. Wenn Buffon: Während ich mit dem Kopf unter
aber bei Manchester beschlossen wird, Wasser bin, gewinnt der Beste. Ob ich es
einen dieser Burschen von Juve zu klauen, wirklich schaffe, nicht zuzuschauen, weiß
oder bei Paris Saint-Germain, dass für die- ich allerdings nicht. Für mich ist dieses
sen Neymar, sagen wir, 500 Millionen Euro Ausscheiden eine Wunde, eine Narbe, die
zu zahlen sind – da sehen doch diese jun- nie verheilen wird.
Buffon, SPIEGEL-Redakteur* SPIEGEL: Signor Buffon, wir danken Ihnen
* Walter Mayr in Vinovo. „Das Urteil anderer kann mir nichts anhaben“ für dieses Gespräch.
DER SPIEGEL 52 / 2017 91
Medizin
Gut im Blut
Bei Verletzungen der Gefäße
haften sich Blutplättchen,
sogenannte Thrombozyten,
an deren Wände. Sie verbin-
den sich miteinander und
dichten die offene Stelle ab.
Dass die Blutplättchen einen
weiteren, viel aktiveren Job
in der Immunabwehr über-
nehmen, haben jetzt Forscher
der Ludwig-Maximilians-Uni-
versität in München heraus-
gefunden: Erstmals beobach-
teten sie an Mäusen, deren
Thrombozyten sie farblich
sichtbar machten, dass die
Zellen sich sogar autonom be-
wegen und aktiv dorthin
wandern, wo sie mit Fremd-
körpern in Kontakt treten
können. Bakterien kehren sie
regelrecht zu Häufchen zu-
sammen, was wiederum ein
Signal für Fresszellen ist:
Kommt her, und vernichtet
die Keime! Die neuen Er-
kenntnisse könnten wichtig
sein für die Entwicklung von
Medikamenten, die versu-
chen, überschießende Entzün-
dungsreaktionen in den Griff
zu bekommen. Indem man
die Wanderungen der Blut-
plättchen unterbinde, erklärt
Florian Gärtner, einer der
Leiter der Studie, könne man
„in die Abwehrmechanismen
des Körpers eingreifen“. kk
Fußnote
36 Milliarden
Tonnen Boden werden
weltweit jedes Jahr
vom Regen weggespült.
Besonders zugenommen
hat die Erosion in Argen-
tinien, Brasilien und
Bolivien. Das hat ein inter-
nationales Wissenschaft-
lerteam unter Leitung der
Universität Basel berech-
net. Grund ist laut den
Forschern vor allem die
Ausdehnung und inten-
sivere Bewirtschaftung
von Ackerflächen, die
sich der Witterung kaum
geschützt darbieten.
Glosse
zu 40 Schneeganseier am mindest evolutionsbiologisch eine andere Zahavi fand den Sinn schließlich in der Ver-
Tag, um ihre Welpen zu Funktion haben kann: Im Tierreich wird da- schwendung selbst: Wer es sich erlauben
verpflegen. Die Insel zwi- mit nicht zwingend Herzenswärme verbreitet, kann, bunte Federn aufzustellen oder ungebe-
schen der Tschuktschen- sondern ordentlich auf die Pauke gehauen. ten Würmer abzugeben, muss über wahrhaft
und der Ostsibirischen Schenkt ein Graudrosslingmännchen im üppige Ressourcen verfügen – das „Zuviel des
See wurde aufgrund ihres israelisch-jordanischen Arava-Tal einem rang- Guten“ wird zum Zeichen der Stärke.
Artenreichtums 2004 höheren Tier einen Wurm, kann es froh sein, Wer also Mühe hat, sich all den überflüssi-
zum Unesco-Welterbe wenn es mit dem Leben davonkommt. Selbst gen Kram unterm Weihnachtsbaum zum Her-
erklärt – es ist die nörd- der kleine Vogelchef scheint zu verstehen, zensgeschenk schönzureden, darf an Zahavi
lichste Schutzfläche. dass so ein geschenkter Wurm nicht ohne Hin- denken. Und sich kurz damit trösten, dass
tergedanken kommt. Vorsorglich geht er dem auch in der Verschwendung ein tieferer Sinn
Unterling an den Kragen. Keilerei statt Dank. stecken kann. Kerstin Kullmann
E
s kam der Tag, da war der Friedhof nahe der Kirche eine Wärmepumpe instal- alt und arbeitet als Kurator am Naturhis-
an der Kirche St. Theodor in Klein- liert werden. Dafür wurden neue Leitun- torischen Museum in Basel. An einem Tag
basel so voll mit Toten, dass der Bo- gen gebraucht, und so rückte im Winter im November betritt er dort den Aufzug
den bei Starkregen nach Verwesung stank. 1984 routinemäßig die Archäologische Bo- im Foyer, fährt hinunter in den Keller und
Leichenwasser staute sich in den Pfützen; denforschung Basel-Stadt an, um Vorar- öffnet die Tür, hinter der die Toten sind.
manchmal lief es bis in den Altarraum. Oft beiten zu leisten. Hotz läuft einen schmalen Gang entlang,
fanden die Totengräber keinen freien Platz So begann eine Geschichte, die zu den vorbei an Schubladenschränken voller ur-
mehr und stachen mit ihren Spaten unge- faszinierendsten der modernen histori- alter Schädel und Knochen, die zu For-
wollt in die Leiber derer, die kurz zuvor schen Forschung zählt. Sie zeigt, welch raf- schungs- und Ausstellungszwecken gesam-
bestattet worden waren. So entschied man, finierte forensische Methodik Archäologen melt werden. Er passiert Skelette von
den Friedhof zum 1. Mai 1833 zu schließen. und Anthropologen heutzutage zur Verfü- Kleinwüchsigen, Rachitiskranken und ei-
Die Verhungerten, Geschundenen, Ty- gung steht. Und sie erzählt von einem Rät- nem 250 Jahre alten Fetus, der in den Ar-
phuskranken und Totgeborenen des Basler sel, das nach jahrelanger Detektivarbeit men seiner Mutter bestattet wurde. Er
Stadtteils Kleinbasel hätten damit auf ewig nun kurz vor der Lösung steht. zeigt auf eine Vitrine, in der die Mumie
vergessen sein können. Dann aber, etwa Ohne Gerhard Hotz wäre es nie so weit einer alten Priestergattin lagert. Dann läuft
150 Jahre später, sollte in einem Schulhaus gekommen. Der Anthropologe ist 54 Jahre er zu einem Tisch mit dunkelgrauer Platte,
94 DER SPIEGEL 52 / 2017
Wissenschaft
auf dem die Gebeine eines Mannes liegen, waren. Zwischen 1779 und 1833, dem Nut- Eine Forscherin untersuchte, wie robust
den man in Basel als „Theo, den Pfeifen- zungszeitraum des Friedhofs, zählte man und symmetrisch Theos Armknochen wa-
raucher“ kennt. 4334 Menschen, davon 2069 männlich. Ei- ren, und verglich die Ergebnisse anschlie-
Theos Gerippe, das aufgrund der Be- ner von ihnen war Theo. ßend mit Daten, die bei der Untersuchung
ckenform als männlich identifiziert wurde, Um den Kreis der Verdächtigen zu ver- von Vertretern unterschiedlicher Berufs-
war eines, auf das die Archäologen 1984 kleinern, wollten die Forscher nun heraus- gruppen erhoben worden waren. Demzu-
stießen. Dummerweise steckten seine Füße finden, wo Theo aufgewachsen und in wel- folge war Theo Rechtshänder und übte
in einer Grubenwand fest, die während der chem Alter er gestorben war. Dafür wur- wohl keinen Beruf aus, der körperlich
Ausgrabung nicht abgetragen werden konn- den nicht nur die Knochen, sondern auch überdurchschnittlich anstrengend war. Er
te. So mussten die Forscher zur Amputa- die Zähne untersucht, die Auskunft darü- verdiente sein Geld eher als Metzger, Bä-
tion schreiten und das Skelett unvollständig ber geben, woher ein Mensch stammt. cker oder Maler. Eine Tätigkeit im Holz-
ans Museum liefern. Dort ruhte es 20 Jahre Jede Region hat eine Art eigenen geoche- oder Textilgewerbe konnte von Anfang an
lang weitgehend unangetastet in einer mischen Fingerabdruck und offenbart sich ausgeschlossen werden, weil Theo ständig
Schublade. Doch dann bekamen einige Ar- über das Verhältnis zweier Varianten des seine Pfeife im Mund gehabt haben musste
chäologiestudenten im Jahr 2004 den Auf- Elements Strontium, das überall in spezi- und Rauchen in diesen Branchen streng
trag, sich die Knochen aus Kleinbasel ein- fischen Mengen vorhanden ist und sich verboten war. So blieben aus Sicht der For-
mal genauer anzuschauen. während der Kindheit im Gebiss einlagert. scher zwölf Männer, und jetzt wurde es
Den Nachwuchsforschern fiel das Ske- Theo, so stellte sich heraus, wurde in Basel richtig kompliziert.
lett ohne Füße auf, weil der Mann unge- geboren und muss dort auch seine Kind- Anthropologe Hotz verlässt das Muse-
wöhnliche, halbkreisförmige Lücken im heit verbracht haben. um, läuft fünf Minuten durch Basels Alt-
Gebiss hatte. Sie grübelten und führten Als hilfreich entpuppte sich die Unter- stadt und erreicht dann das Staatsarchiv,
die Deformation auf Tabaksucht und das suchung der Zahnwurzeln, an denen sich in dem etwa 21,5 Kilometer laufende Ak-
tönerne Mundstück einer Pfeife zurück. im Laufe eines Lebens Schichten aus soge- ten und Bücher lagern, die zum Teil aus
So kam das Gerippe in Anspielung auf nanntem Zahnzement bilden wie Jahres- dem frühen 11. Jahrhundert stammen.
Fundort und mutmaßliche Leidenschaft zu ringe an einem Baum. Besonders dicke Dort steht Hotz vor einem Schrank, so
seinem Namen. Schichten deuten auf Stressphasen hin, groß wie das Tor einer Doppelgarage, der
Anthropologe Hotz und einige seiner zum Beispiel auf Krankheiten, Hunger rund 120 000 Familienkarteikarten mit
Kollegen fanden interessant, was die Stu- oder Schwangerschaften. Theo musste knapp acht Millionen biografischen Daten
denten kombiniert hatten. War es möglich, es demnach als etwa 16-Jährigem sehr von Basler Bürgern enthält.
noch mehr über den Mann herauszufinden, schlecht gegangen sein, doch er fing sich Auch die Kärtchen der Theo-Kandi-
von dem man im Grunde nur ein paar Kno- wieder und starb, als er etwa 30 Jahre alt daten stecken im Schrank. Es sind Männer,
chen hatte? Könnte man ihn sogar identi- war. So strichen die Forscher alle Kandi- die in den Achtziger- und Neunziger-
fizieren? Seine Geschichte erforschen? daten von der Liste, die jünger als 26 und jahren des 18. Jahrhunderts geboren wur-
„Wir waren wie elektrisiert von der Idee älter als 34 Jahre waren. Das verkleinerte den und oft aus großen Familien mit
einer Art Lebensschicksalsrekonstruktion“, den Kreis auf 134. manchmal mehr als zehn Kindern stamm-
sagt Hotz. Archäologen konnten anhand der Grab- ten. Einige von ihnen wuchsen in ärm-
Der Wissenschaftler hatte von Anfang position nachweisen, dass Theo nach einer lichen Verhältnissen auf, in denen man
an große Pläne mit Theo: Er wollte den großen Typhusepidemie bestattet worden froh war, wenn das Geld fürs Essen reich-
Fall nutzen, um die Möglichkeiten der For- sein musste, denn die Opfer des Fleckfie- te. Das Leben war ungesund in den
schung auszuloten. Er plante ein Buch, eine bers wurden besonders tief verbuddelt; Gassen Kleinbasels. Die Kanäle und Stra-
Ausstellung und weitere Recherchen zu man hatte Angst, dass sie post mortem ßenbäche, die durchs Viertel flossen, steck-
Skeletten, die auf dem St.-Theodor-Fried- noch giftige Gase verströmten. So konnte ten voller Abfälle und Fäkalien, es herrsch-
hof und einem anderen Basler Totenacker ein Exitus nach 1814 unterstellt werden, ten ideale Bedingungen für Cholera,
beerdigt worden waren. Die Arbeit sollte und es blieben noch 25 Männer. Typhus und andere todbringende Krank-
helfen, gewöhnlichen Bürgern post mortem
eine Stimme zu geben, und erhellen, wie
sie im 18. und 19. Jahrhundert lebten und
litten – im Gegensatz zur Geschichtsschrei-
bung, die sonst dazu neigt, den Großen
und Mächtigen dieser Welt hinterherzuspü-
ren. Ihre Untersuchungen haben Hotz und
mehrere Kollegen für ein vor Kurzem er-
schienenes Buch beschrieben*.
Theo, so viel war von Anfang an klar,
könnte ein besonders schwieriger Fall wer-
den. Auf dem St.-Theodor-Friedhof gab es
kaum Grabsteine und keine Gedenkplat-
ten, nichts erinnerte an die armen Teufel,
die hier einst beerdigt worden waren. Hotz
FRIEDEL AMMANN / DER SPIEGEL
hat. Alle 45 Minuten wird ein Kind nach offeriert die passenden Vermeidungsstra-
G
ary Smith freut sich auf Weihnach- Für Smith sind solche Katastrophen läufig, sagt Smith. „Aber von den Erfolgen,
ten – trotz allem: trotz der Kerzen, kein Schicksal. Die meisten, glaubt er, die die Medizin beim Kampf gegen Infek-
an denen sich Kinder verbrennen, ließen sich vermeiden oder könnten zu- tionskrankheiten verzeichnen kann, sind
und der Batterien und Minimagnete aus mindest glimpflicher ablaufen, wenn El- wir weit entfernt.“
irgendwelchen Spielzeugen, die sie ver- tern, Betreuer und vor allem Hersteller Ist denn ein Unfall vergleichbar mit Ma-
schlucken, trotz des Alkohols, den sie aus die richtigen Vorkehrungen träfen. Sein sern, gegen die Kinder geimpft werden
den vergessenen Gläsern der Eltern trin- Kataster des Unglücks reicht von Ampu- können? Reicht es nicht, wenn Papa und
ken, trotz der nagelneuen Skateboards tationen (meist in Türen eingeklemmte Mama aufpassen? „Die besten Eltern der
und Roller, mit denen sie durchs Haus Finger, Empfehlung: Türstopper einbauen) Welt können ihre Kinder nicht rund um
sausen und stürzen – ohne Helm und Pro- bis zu Wintersportunfällen (nicht in der die Uhr überwachen“, sagt Smith. Wer Un-
tektoren. Nähe von Straßen und Bäumen rodeln), fälle auf die Eltern schiebe, mache es sich
Abgelenkte Eltern, eine ungewohnte es umfasst mehr als 100 Positionen und zu leicht – denn sehr viel sei mit politi-
Umgebung bei Oma und Opa, gefährliche schem Willen zu erreichen. „Früher sind
Geschenke: „Weihnachten“, sagt Kinder- Kinder an Durchfallerkrankungen gestor-
arzt Smith, „ist ein Risiko für Kinder.“ ben, weil sie keimbelastetes Wasser getrun-
Dabei gestaltet sich das Leben der Klei- ken haben“, sagt er. „Klar hätten die Eltern
nen schon gefährlich genug. Kaum jemand das Wasser immer abkochen können –
weiß das besser als Smith, 65. Der Pädiater aber wirklich verbessert hat sich die Situa-
ist Gründer und Chef des Center for Injury tion, als sauberes Trinkwasser aus der
Research and Policy (Cirp) am Nationwide Leitung kam.“
Children’s Hospital in Columbus im US- Kinder sind keine kleinen Erwachse-
Bundesstaat Ohio. Seit mehr als 25 Jahren nen – wenn Hersteller das berücksichtig-
müht er sich, anhand der Unfallstatistiken ten, wäre schon viel gewonnen, glaubt
von Kinderkliniken im ganzen Land die Smith. Beispiel Rauchmelder: Viele Kinder
grässlichsten Gefahren zu erkennen. Dann schlafen einfach weiter, wenn der Feuer-
gibt er Empfehlungen, wie sie auszuschal- melder piept, das haben Tests ergeben.
ten wären. Weil das heranwachsende Hirn eher auf
Kinder fallen vom Wickeltisch und aus vertraute Geräusche reagiert, wie Smith
Einkaufswagen, sie kippen um mit Stühlen vermutet, sollte aus Rauchmeldern für Kin-
und Regalen, sie stürzen aus Fenstern und der deren Name ertönen – am besten mit
in Gartenteiche, strangulieren sich mit den der Stimme von Mutter oder Vater.
Schnüren von Jalousien, sie ersticken an Smith hat selbst zwei Söhne großgezo-
Murmeln, Weintrauben und Hotdogs und gen. Seine Frau und er seien aber keine
erleiden Vergiftungen durch Kerzenöl, ängstlichen Eltern gewesen, sagt er. Töd-
Desinfektionsmittel oder – neuerdings – Unfälle bei Kindern und Jugendlichen liche Sachen wie Terpentin habe er aller-
Flüssignikotin für E-Zigaretten. Gegenstände und Produkte, die bei Verletzungen dings weggeschlossen, nicht nur wegge-
Klar, das passiert, mögen viele Eltern beteiligt sind, in Prozent* stellt. Der Mediziner träumt von einer Ge-
denken, aber doch nicht uns! Das kann sellschaft, in der Erwachsene gar nicht erst
man nur hoffen. Wer Smiths epidemiolo- auf die Idee verfallen, giftige Waschmittel
in Form kleiner Caps zu verkaufen, bunt
gische Fachartikel liest, dem offenbart sich
die Kindheit als ein Panoptikum der Todes- 22 19
Fahrzeug
und rund wie Zuckerzeug. „Solche Pro-
gefahren; erstaunlich geradezu, wie viele Sportausrüstung/
(z. B. Fahrrad) dukte sind Beispiele für Gefahren, die
Menschen sie dennoch halbwegs unbescha- Freizeitgerät
6
Haushalts-
wirklich nicht sein müssen“, sagt er.
det überstehen. gegenstand
In solch einer kindersicheren Welt müss-
Zwei Kinder unter sechs Jahren, so
Smiths jüngste Veröffentlichung im Fach- 18
Haus-/Wohnungs-
13
Babyausstattung/
ten auch vorsichtige Eltern ihren Nach-
wuchs nicht in Watte packen. „Es ist wich-
blatt „Pediatrics“, landen pro Tag in US- ausstattung Kinderprodukt tig, dass Kinder ihre Neugier ausleben und
Notaufnahmen mit Verletzungen, die sie an ihre Grenzen gehen können und dass
sich an einem Rollo zugezogen haben; sie dabei auch scheitern dürfen“, sagt der
knapp einmal im Monat stirbt ein Kind, Arzt. „Ich will dafür sorgen, dass dieses
*von 1 bis 17 Jahren; an 100 fehlende Prozent: Sonstige
meist durch Ersticken, weil es sich in den Quelle: KiGGS Welle 1, 2009 bis 2012 Scheitern nicht lebensgefährlich ist.“
Schnüren der Fensterbehänge verfangen Julia Koch
zum
„Falcon Heavy“ (SpaceX) Vergleich
70 m
1421 t
22819 kN „Crew Dragon“ (SpaceX) CST-100 „Starliner“ (Boeing)
2018 (geplant) 7 Passagiere 7 Passagiere
Space Shuttle (Nasa) Innenraum: 10 Kubikmeter Innenraum: 11 m3
56,1 m Erstflug: 2018 (geplant) Erstflug: 2018 (geplant)
2041 t
34696 kN
12. April 1981
Für Suborbitalflüge
USA
C
ape Canaveral, Florida: Von Start- jüngste Schöpfung von SpaceX und die seriöser Arbeit auch wunderliche Dinge
rampe 39A aus hoben einst die derzeit mit Abstand stärkste Trägerrakete tun: Mit „Falcon Heavy“ planen millionen-
„Apollo“-Missionen zum Mond ab. der Welt. schwere Weltraumtouristen bereits einen
Hier startete das Space Shuttle Dutzende 27 hochkomplexe Raketentriebwerke Trip rund um den Mond.
Male in einem Meer aus Feuer, Rauch und heizen dem dreirümpfigen, 70 Meter ho- „Falcon Heavy“ ist eine verbesserte Va-
Dampf; alles vorbei. hen Monstrum ein. Sie sollen so viel Schub riante eines bereits erprobten Raumfahr-
Seit 2011, als das letzte Shuttle abhob, entwickeln wie 19 Jumbojets unter Vollgas. zeugs. Im Kern besteht es aus seinem
haben die USA kein Raketensystem mehr, Mehr Wumms hatte bei den Amerikanern Vorgängermodell „Falcon 9“, dem links
das stark genug wäre, Menschen ins All nur die Mondflugrakete „Saturn V“, aller- und rechts zwei weitere Raketenerststufen
zu schießen. Die flügellahme Nasa gab das dings ist sie schon seit 1973 außer Dienst. („Booster“) verpasst wurden. „Falcon 9“
legendäre Startgelände auf – und verpach- Mit vielfacher Schallgeschwindigkeit ist seit 2010 im Einsatz und hat sich trotz
tete es an ein notorisches Großmaul, das kann „Falcon Heavy“ eine Nutzlast von zweier Totalverluste den Ruf verdient, ein
gelobt hat, die US-Raumfahrt eigenhändig bis zu 64 Tonnen in eine erdnahe Umlauf- erstaunlich kostengünstiges und zuver-
zu revolutionieren. bahn bringen. Das ist weitaus mehr, als lässiges Arbeitstier zu sein. Allein 2017 flog
Genau das scheint ihm jetzt tatsächlich eine Boeing 737 überhaupt fassen kann. es 17-mal fehlerlos.
zu gelingen. Elon Musk, 46, will, ganz im Mit weniger Fracht schafft die Rakete es „Falcon 9“ beherrscht mittlerweile ein
Sinne des US-Präsidenten, Amerika wie- auch zum Mond und sogar zum Mars und Kunststück, mit dem auch „Falcon Heavy“
der groß machen. darüber hinaus. glänzen soll. Wenn die Erststufe zwei bis
Musk, gleichzeitig Chef des Elektroauto- Musks Wundermaschine markiert den drei Minuten nach dem Start abgekoppelt
herstellers Tesla und der Raumfahrtfirma Beginn einer neuen Ära für die US-Raum- wird, versinkt sie nicht als Schrott im
SpaceX, hat vor, die historische Stätte An- fahrt. Billiger, ehrgeiziger und extravagan- Atlantik wie ehedem die der Vorgänger.
fang Januar zu neuem Glanz zu führen; ter wird sie sein. Private Firmen, manche Vielmehr kehrt die „Falcon“-Erststufe auf
das genaue Datum ist noch geheim. Von im Besitz experimentierfreudiger Milliar- elegante Weise zur Erde zurück.
ebenjener berühmten Startrampe 39A aus däre, werden neben staatlichen Stellen zu Der Apparat – Raketenmotor, Tank und
soll „Falcon Heavy“ ins All rasen, die wichtigen Akteuren, und sie wollen neben Autopilot – navigiert selbstständig und prä-
98 DER SPIEGEL 52 / 2017
Technik
zise. Seine Rechner regeln autonom, wie Denn zunächst muss SpaceX belegen, kaum 600 handverlesene Erdbewohner so
viel Schub das Triebwerk im Widerstreit dass die Firma überhaupt Passagiere heil hoch hinaufgekommen, darunter nur elf
mit der Schwerkraft zu leisten hat. Punkt- ins All und zurück befördern kann. Ihr Deutsche. Die nächsten 600, das ist sicher,
genau und aufrecht setzt die Erststufe sanft „Dragon“-Raumschiff ist auf „Falcon 9“ werden auf ihre Reise in die Schwerelosig-
am vorgesehenen Landeplatz auf. seit 2012 zwar schon zwölfmal mit keit nicht so viele Jahre warten müssen –
Im Fall von „Falcon Heavy“ sollen Nachschub zur ISS aufgestiegen, aber vielleicht sogar nicht einmal mehr fünf. 2018
gleich drei Erststufen kurz hintereinander eben noch nie mit Menschen an Bord. Das könnte das Jahr werden, in dem der Welt-
das Science-Fiction-Landemanöver ausfüh- soll sich nun ändern: Der bemannte Erst- raumtourismus endlich ins Laufen kommt.
ren. Zwei davon auf engem Raum rund flug von „Crew Dragon“ zur ISS ist für Jeff Bezos, Gründer von Amazon und
um die Startrampe 39A – und eine auf August 2018 angesetzt. Bis zu sieben reichster Mann der Welt, hat gerade von
einem Roboterschiff im Atlantik mit dem Astronauten passen in die Kapsel, die Texas aus eine Rakete erfolgreich in fast
interessanten Namen „Of Course I Still ebenfalls größtenteils wiederverwendbar hundert Kilometer Höhe geschossen. Ähn-
Love You“. Schöner geht Raumfahrt nur sein wird. lich wie bei „Falcon 9“ landete die Rakete
in Hollywood. Ende 2018 will auch der Flugzeugher- „New Shepard“ autonom und senkrecht,
Weil fast alle Bauteile wiederverwendet steller Boeing mit seinem ziemlich ähn- Minuten später gefolgt von der an großen
werden können, sinken die Preise für das lichen Raumschiff namens „CST-100 Star- Fallschirmen hängenden Kapsel, die zur
„Falcon“-Programm drastisch – auf ein Hun- liner“ erstmals ins All rauschen. Eine be- Erbauung künftiger Weltraumurlauber mit
dertstel, wie Musk erwartet. Ein Transport, mannte Mission zur ISS soll nur wenig Panoramafenstern ausgerüstet ist.
der ehedem viele Milliarden verschlungen später folgen. Beide, SpaceX und Boeing, In den nächsten Monaten sollen bemann-
hätte, ist künftig schon für ein paar Dutzend wurden von der Nasa mit Milliarden- te Tests stattfinden – und bei gutem Verlauf
Millionen zu haben. Dieser Erfolg bei budgets ausgestattet, damit sie mit privat- könnte Bezos’ Firma Blue Origin als erstes
der Kostenkontrolle dürfte die US-Raum- wirtschaftlicher Räson Ersatz schaffen für Unternehmen der Welt kommerzielle Spaß-
fahrt stärker beflügeln als jede flüge an den unteren Rand des
Direktive von Präsident Donald Weltalls anbieten.
Trump zur Frage, ob Nasa- Der Brite Richard Branson,
Astronauten nun Mond oder noch ein Milliardär im Sternen-
Mars anzusteuern haben. fieber, versucht dies mit sei-
Beim Erstflug von „Falcon nem „SpaceShipTwo“ schon
Heavy“ wagt Musk noch keine seit vielen Jahren. Bisher ist er
kommerzielle Fracht zu trans- gescheitert. Jetzt aber behaup-
portieren, denn das Risiko tet er, dass sein Raumschiff
einer Explosion beim Start ist Anfang 2018 tatsächlich ins All
gegeben. Darum hat der schrill- fliegen werde und er persön-
schrullige Milliardär und PR- lich drei Monate später. Klingt
Fachmann entschieden, seiner spannend, allerdings muss man
Rakete eine besondere Test- wissen: Fast gleichlautende
last mitzugeben: seinen Tesla Versprechungen hat Branson
Roadster, Baujahr 2008, Ge- schon oft abgegeben – für nahe-
wicht 1250 Kilogramm, Farbe zu jedes Jahr seit 2007.
Rot. Nach dem Ausklinken im Diesmal scheint an der Auf-
schneiderei etwas dran zu sein.
DPA
D
ass er den Fluch der Familie in sich Trägt Vater oder Mutter die kaputte wasser am Rückenmark gespritzt. Er hofft,
trug, ahnte Bernhard U. „Ich habe Genvariante in sich, liegt die Wahrschein- dass es das Mittel IONIS-HTT-Rx der Bio-
schon immer gedacht: Das habe ich lichkeit, selbst an Huntington zu erkran- techfirma Ionis Pharmaceuticals war. Viel-
auch“, sagt er. ken, bei 50 Prozent. Den Gentest, sagt leicht gehörte er aber auch zu den Stu-
U.s Mutter litt an einer der entsetzlichs- Bernhard U., habe er nur noch zur Bestä- dienteilnehmern, die nur ein Scheinmedi-
ten Erbkrankheiten, die Menschen befal- tigung seiner schlimmen Ahnung gemacht. kament bekamen, er und seine Ärzte
len können: Chorea Huntington. Oft blei- Hoffnung hatte er: keine. wissen es nicht. Immerhin: Die Krankheit
ben die Betroffenen jahrzehntelang ge- Als U. Mitte vierzig war, ging es los. Sein verschlimmerte sich nicht weiter.
sund, doch irgendwann, meist zwischen kleiner Finger begann zu zucken. Später IONIS-HTT-Rx ist ein Mittel zur „Gen-
dem 30. und dem 50. Lebensjahr treten die Zehen, dann die Füße, dann der ganze Stummschaltung“, ein sogenanntes Anti-
die ersten Symptome auf. Plötzlich rudern Unterschenkel. „Irgendwann“, sagt er, sense-Oligonukleotid, ein kleines Molekül,
die Arme, die Beine erfinden ihren eige- „kann man sich nicht mehr wehren.“ das vom Nervenwasser des Rückenmarks
nen, fremden Tanz, der Nacken dreht und U. ist jetzt 54 Jahre alt. Bislang geht es ins Gehirn wandern soll, um dort zu ver-
kippt den Kopf, die Gesichtszüge entglei- ihm recht gut. Er kann noch arbeiten, ob- hindern, dass aus der Information des Hun-
ten, zerren sich zu Grimassen, später fallen wohl es ihm oft schwerfällt, sich zu kon- tingtin-Gens das Huntingtin-Eiweiß her-
Schlucken und Sprechen schwer. Der Kör- zentrieren. Wenn am Stammtisch in großer gestellt wird.
per wird zum Feind, und dies alles ge- Runde diskutiert werde, sagt er, komme Auf raffinierte Weise greift das kleine
schieht bei klarem Geist. er nicht mehr so recht mit. Antisense-Molekül in diesen Prozess ein,
Dazu gesellen sich schwere Konzentra- In Deutschland gibt es rund 10 000 Men- indem es an die sogenannte Boten-RNA
tionsprobleme, auch emotionale Verän- schen mit Chorea Huntington. Die Krank- andockt, die dazu da ist, die Information
derungen wie Depressionen. In der End- heit ist unheilbar, das wusste U. von An- des Gens vom Zellkern zum Ort der Ei-
phase werden die meisten Betroffenen fang an; lediglich die Symptome lassen weißproduktion zu übertragen. Passgenau
bettlägerig und sterben dann typischer- sich lindern. Die Krankheit wird unweiger- hängt das neue Mittel nun an der Boten-
weise an einer Lungenentzündung oder lich fortschreiten. Bis zum Tod. RNA und signalisiert dem Körper, diese zu
an Auszehrung. Oder vielleicht doch nicht? zerstören. Damit ist die Informationskette
Huntington liegt der Defekt eines einzi- Seit Kurzem hat U. zumindest ein klei- unterbrochen, das Gen stumm. Die Pro-
gen Gens zugrunde. Wird dieses kaputte nes bisschen Hoffnung. Als einer von 46 duktion von Huntingtin wird durch die neu-
Gen abgelesen, entsteht eine schadhafte Huntington-Patienten weltweit hat er an artige Therapie deutlich heruntergefahren.
Form des Eiweißes Huntingtin. Wie ein einer Medikamentenstudie teilgenommen. Anfang der Neunzigerjahre weckte die
großer Haufen Proteinschrott lagert sich Viermal wurde ihm am Universitätsklini- Antisense-Technik, von der es etliche Va-
der Stoff in den Nervenzellen ab. kum Ulm eine Substanz direkt ins Nerven- rianten gibt, größte Hoffnungen bei wohl
allen Menschen, die an einer genetischen
Erkrankung litten. Ein ebensolcher Hype
Stummgeschaltet Hoffnung auf eine neue Therapie gegen Chorea Huntington umgab die Gentherapie, bei der man ver-
sucht, das defekte Erbgutstück durch ein
Bei Huntington-Patienten sterben in bestimmten Durch Injektion in einen Abschnitt
Hirnbereichen Nervenzellen ab, was unter anderem des Rückenmarkkanals gelangt ein
intaktes zu ersetzen.
zu unkontrollierten Bewegungen führt. Ursache ist sogenanntes Antisense-Medikament In Deutschland war diese Euphorie ei-
ein mutiertes Gen. Dessen über das Nervenwasser ins Hirn. ner der Gründe, warum man 1994 das Hun-
Information wird von einer tington Zentrum NRW in Bochum als Ko-
einsträngigen Boten-RNA operation der Neurologie und der Human-
abgelesen und liefert den Wirkstoff genetik der Ruhr-Universität gründete.
Bauplan für eine schad- IONIS-HTT-Rx „Dahinter stand die Idee, dass es einmal
hafte Form des Huntingtin- Defekte Form
des Huntingtin- solche Therapien geben würde“, erzählt
Proteins.
Proteins der Neurologe Carsten Saft, der den klini-
schen Teil des Zentrums heute leitet.
Boten-RNA
Doch der Optimismus war verfrüht. Die
Gentherapie erwies sich als gefährlicher
mutierter DNA- als gedacht, und Antisense funktionierte
Abschnitt nicht. Schon das Eindringen in die Zelle
gelang den Präparaten kaum; zudem baute
Passgenau dockt der der Körper sie sehr schnell wieder ab, zu
neue Wirkstoff an der Boten- schnell.
RNA an und neutralisiert Trotzdem machten viele Forscher weiter,
diese in den Nervenzellen. erzählt der Ulmer Neurologe Bernhard
Die Produktion des Landwehrmeyer, der die Huntington-Studie
Huntingtin-Proteins in Deutschland leitete. „Die Wissenschaft
wird so gedrosselt. hat die Antisense-Idee nie aufgegeben.“
Inzwischen seien viele der anfänglichen
Probleme durch hartnäckige Forschung ge-
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von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
MUHAMMAD ANSI
Zeichnung des ehemaligen Guantanamo-Häftlings Muhammad Ansi, 2015
Kunst Prozesse, die Folter kritisiert. derzeit eine Ausstellung mit Objekte verbrennen, wenn
Kampf um die Zugleich werden in Guanta-
namo – was etwas bizarr
dieser Gefängniskunst. In-
zwischen verwehrt nun das
man wolle. Die Gefangenen
hätten ihre „Träume, Ge-
Träume wirkt – seit etlichen Jahren
Kunstkurse angeboten. Wer-
US-Verteidigungsministeri-
um, das für Guantanamo zu-
fühle, Hoffnungen und Le-
ben“ in diese Kunst gelegt,
Seit 2002 werden im Arrest- ke, die den Zensoren als ständig ist, den Häftlingen schrieb Mansur al-Dayfi,
block von Guantanamo unbedenklich erschienen, das Recht an der eigenen einer der ehemaligen In-
Männer festgehalten, die die durften die Insassen sogar Kunst. Davon betroffen sind sassen, in einem Beitrag für
USA für Terroristen hält, erst ihren Anwälten übergeben: auch jene Männer, die be- die „New York Times“.
waren es Hunderte, mittler- Oft waren das Landschafts- reits entlassen wurden. Sie Ihnen diese Werke wegzu-
weile sind es noch 41. Immer ansichten, einige wirken dürfen ihre Schöpfungen nehmen, das bekundete
wieder haben Menschen- idyllisch, andere sehr düster. nicht ihr Eigen nennen und er auch, sei so, als würde
rechtsorganisationen die Be- Eine New Yorker Hochschule nicht verkaufen. Das Ministe- man ihnen ihre Kinder weg-
dingungen, die fehlenden für Kriminologie veranstaltet rium drohte, man könne die nehmen. uk
Kommentar
als computergeneriertes was schneller passieren könn- türlich und die 326, die derzeit im Gefängnis sind. Wie
Spektakel mit geradezu hys- te, als man denkt. red Deniz Yücel, seit 313 Tagen in türkischer Untersuchungs-
terischer Lust an Opulenz, haft. Hier darf Ergriffenheit in Zorn münden. Und natür-
in dem die Figuren der Seri- Robert Nippoldt, Boris Pofalla: „Es lich in Unterstützung.
wird Nacht im Berlin der Wilden Zwan-
engeschichte aber nur die ziger“. Taschen; mit beigelegter CD;
Zitatelieferer eines Verschwö- 224 Seiten; 49,99 Euro. An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und Nils Minkmar im Wechsel.
E
s gibt Tage, an denen Klaus Meine Einen Moment lang überlegt Klaus Mei-
nur in seinem Hotelzimmer sitzt und ne: Soll er rangehen oder nicht?
mit niemand anderem spricht als mit Sein iPhone macht ein ungesundes Ge-
Alex, seinem Assistenten. Wenn er etwas räusch, das wie ein Alarm in einer Che-
braucht, ruft er nicht einfach den Zimmer- miefabrik klingt. Klaus Meine zieht das
service an. Er schickt eine Textnachricht iPhone trotzdem aus seiner Jackentasche.
an Alex und bittet ihn, den Zimmerservice Auf dem Display steht „Willy“.
zu informieren. Willy, das muss man wissen, ist bei Sony
An Tagen wie diesen verlässt Klaus Mei- Senior Vice President Music Division, der
ne erst abends sein Zimmer, um die ande- Mann, der die nächste Balladenkompila-
ren Bandmitglieder zum Abendbrot im tion der Scorpions veröffentlicht, Album
Hotelrestaurant zu treffen, ein Ritual wie Nummer 30, ein Mann aus einer anderen
bei einer braven deutschen Familie. Klaus Welt. In Willys Welt hat das Leben weder
Meine verteilt dann eine Runde Gettofäus- Anfang noch Ende, es geht immer nur wei-
te, damit er nicht „Guten Abend“ sagen ter, Kompilation für Kompilation, in der
muss, macht vor seinem Mund eine Bewe- Endlosschleife der Vermarktung.
gung, als würde er einen Reißverschluss Als Klaus Meine sieht, dass Willy anruft,
schließen, und bestellt etwas Leichtes. Sup- zögert er nicht, er geht sofort ran. „Hallo!
pe, Sushi, dazu einen Tee. Willy! Hörst du mich?“, ruft er in sein
Wenn es Probleme mit der Bestellung Telefon. Klaus Meine redet jetzt Deutsch,
gibt, zum Beispiel wenn die Suppe nicht bisher hatte er Englisch gesprochen. „Willy,
kommt oder das Sushi vor der Suppe, wir sind mitten in einer Pressekonferenz
winkt er Alex herbei, der vier Sprachen und reden über unser neues Album.“
fließend spricht, Deutsch, Polnisch, Rus- Für den Moment ist er in einer anderen
sisch, Englisch, und im Ruf steht, so gut Welt. Nur Willy und er.
wie jedes Problem lösen zu können. So- „Ja. Willy. Wirklich.“
bald Klaus Meine aufgegessen hat, eilt In Deutschland wurden die Scorpions
Alex herbei und geleitet ihn aufs Zimmer. immer ein wenig belächelt, für ihre Balla- Take me to the magic of the moment
An Tagen wie diesen wirkt Klaus Meine den, für ihr Englisch mit deutschem Ak- On a glory night
unerreichbar, entrückt, wie ein alternder zent, für ihren begrenzten Wortschatz, für Where the children of tomorrow
Star, der Angst hat, irgendwann einmal ihren Wunsch, unbedingt Englisch zu sin- dream away
seine Stimme zu verlieren, für immer. gen und nicht Deutsch, ja, ihren Erfolg. In In the wind of change
Und dann gibt es Tage wie den in Jeka- den Siebziger- und Achtzigerjahren stiegen „Wind of Change“ ist der Song überhaupt
terinburg. Ein Nachmittag, Anfang Novem- sie zu Deutschlands international erfolg- zum Ende des Kommunismus, aber auch
ber. Jemand versucht, Klaus Meine auf reichster Band auf. Aber den Deutschen ein Song, mit dem sich allerlei Zeitenwen-
dem Handy anzurufen. waren die Deutschen peinlich. Sie schäm- den besingen lassen, politische wie private,
Klaus Meine sitzt in diesem Moment auf ten sich sicherheitshalber auch für ihre der Mauerfall ebenso wie die Hochzeit von
einem Podium im Hyatt Regency Hotel, Stars. Veronica Ferres und Carsten Maschmeyer,
flankiert von seiner Band Scorpions, er in Und dann sangen die Scorpions auch mit denen die Scorpions schon lange be-
der Mitte, ein Fliegengewicht, 1,68 Meter noch „Wind of Change“. freundet sind. „Wind of Change“ ist ein
groß, von knabenhafter Statur, auf den ers- Mit „Wind of Change“, geschrieben kommerzieller Alleskönner. Bis heute ihr
ten Blick ein eher unscheinbarer Star. In 1989, im Jahr des Berliner Mauerfalls, erfolgreichster Song. Mehr als zwölf Millio-
der Schule litt er unter einer Musiklehrerin, haben die Scorpions Geschichte ge- nen verkaufte Platten. In vielen europäi-
die ihn pikste, wenn er einen falschen Ton schrieben. schen Hitlisten war er Nummer eins, in
Deutschland elf Wochen lang. Inzwischen Nur Bassist und Schlagzeuger wechsel- auf Tour. Was hat sich seitdem verän-
gibt es unter anderem ein „Shred Remake“ ten über die Jahre, derzeit sind es Paweł dert?
und diverse Reggae-Remixe sowie offizielle Mąciwoda aus Polen und Mikkey Dee, der Meine: Wenn ich „Wind of Change“ ansage,
Versionen mit russischem und spanischem ehemalige Schlagzeuger von Motörhead. ist das wie ’ne Messe, die da abgeht. Es ist
Text. Aber wenn man als Künstler ernst Sie singen Songs, die schon vor 30 Jah- beeindruckend, wie alle mitsingen.
genommen werden will, ist zu viel Erfolg ren Klassiker waren: SPIEGEL: Das war nicht immer so?
selten gut. Es hilft dann auch nicht, wenn Always Somewhere (1979) Meine: Die Amerikaner mögen lieber die
ZDF-Zuschauer „Wind of Change“ zum The Zoo (1980) harten Sachen, „Rock You Like a Hurri-
„Jahrhundert-Hit“ wählen. Blackout (1982) cane“ zum Beispiel, da gehen die total ab.
27 Jahre nachdem die Scorpions mit Still Loving You (1984) „Wind of Change“ dagegen hat die Ame-
„Wind of Change“ zum ersten Mal auf Big City Nights (1984) rikaner früher bei den Konzerten nicht so
„Crazy World“-Tour gingen, sind sie nun Rock You Like a Hurricane (1984) sehr berührt wie diesmal. Ich stand mal
wieder auf „Crazy World“-Tour unterwegs. Alles wie immer, alles wie früher. Als im tiefsten Mittleren Westen im Hotel-
37 Städte allein in diesem Jahr. wären die Scorpions noch immer jung. aufzug, da sagte jemand zu mir: „You
Gesang: Klaus Meine, 69 Jahre alt. know, in your song ‚Wind of Change‘ you
Gitarre: Rudolf Schenker, 69 Jahre alt. SPIEGEL: Vor 27 Jahren waren die Scor- sing ‚I follow something …‘ What is it?“
Gitarre: Matthias Jabs, 62 Jahre alt. pions erstmals mit „Wind of Change“ Ich habe ihm gesagt: „Im Text heißt es:
DER SPIEGEL 52 / 2017 107
ARMIN SMAILOVIC / DER SPIEGEL
Gitarrist Jabs: „Tschechow, Strawinsky – Russia is a state of mind“
I follow the Moskva. It’s like I follow the Deutsche Gäste mit deutschem Bier zu rückt, aber er meint es ernst. Er nennt es
Mississippi.“ überraschen ist für ihn ein Stück Heimat die „Befruchtung der verrückten Art“.
SPIEGEL: Sie meinen, die Amerikaner konn- weit weg von zu Hause. Es gehört zu sei- Schenker ist der Mann, der die Scor-
ten mit dem Song nichts anfangen? ner Lebensphilosophie, ein bisschen von pions zusammengeführt hat, drei Männer,
Meine: Der Song war zwar auch in Ameri- allem gleichzeitig haben zu können, ein die heute die Kernmannschaft der Scor-
ka ein großer Hit, aber von der Moskva Rock-’n’-Roller-Leben und Geld, den Spaß pions bilden: Klaus Meine, den gelernten
haben viele Amerikaner wahrscheinlich mit den Freunden auf Tour und den Ernst Dekorateur. Matthias Jabs, den Abiturien-
noch nie was gehört. Die Botschaft des des Lebens zu Hause, die Leidenschaft und ten, der Fußballprofi bei Hannover 96 wer-
Songs ist Hoffnung auf eine friedlichere die Musik, den materiellen Erfolg und die den wollte. Und er, Rudolf Schenker. Als
Welt, und die ist bei den Amerikanern dies- Villen zu Hause, die Hotels und die Pri- Schenker 1965 die Scorpions gründete, die
mal stärker angekommen als noch vor ein vatjets unterwegs. Abenteuer und Sicher- er erst Nameless nannte, hatte er eine Leh-
paar Jahren. heit, Kunst und Kommerz. Bei Schenker re als Starkstromelektriker begonnen.
SPIEGEL: Weil alles so hoffnungslos ist? hängt immer alles mit allem zusammen. Wenn man Rudolf Schenker, den Grün-
Meine: Als ich „Wind of Change“ geschrie- Yin und Yang. Ferne und Heimat. Oakland der der Scorpions, fragt, wie die Band zu-
ben habe, haben wir in eine hoffnungs- und deutsches Bier. sammengefunden hat, wie Schenker, Mei-
volle Zukunft geblickt. Da war Freiheit, in Er trainiert heute noch täglich, geht ne und Jabs zu den drei wichtigsten Scor-
der alle enger zusammenrücken. Jetzt schwimmen und macht regelmäßig Yoga. pions wurden, sagt er: „Jeder von uns hat
schauen wir in eine Zukunft, in der ein Er besitzt einen Ganzkörperanzug mit Wellen ausgestrahlt, und irgendwie haben
US-Präsident Mauern bauen will und die Elektrostimulation, eine portable „Power wir dann durch Magnetismus, durch diese
Welt wieder auseinanderdriftet. Plate“, eine Vibrationsplatte, mit der auch Gedanken zusammengefunden.“ Andere
Profisportler trainieren, und legt sich auf würden sagen: Sie steckten alle gleichzeitig
Heimat & Ferne eine Magnetfeldmatte von Bemer Gefäß- in Hannover fest.
Oakland, USA therapie, um gesünder zu schlafen. Ohne Hannover, ohne die Erfahrung der
Eine Stunde bevor in der Oracle Arena Er kombiniert alles, Technik und Glau- deutschen Provinz, wäre die Geschichte
in Oakland das Konzert der Scorpions ben, Fitness und Esoterik. der Scorpions undenkbar, ihr Ruhm in der
beginnt, sitzt Rudolf Schenker in Garde- Schenker kann auch Sätze aus Wörtern Welt, aber auch die Demütigung, die sie
robe 2 auf dem Sofa, die Gitarre auf dem bilden, die eigentlich nicht zusammenge- zu Hause erfahren haben.
Schoß, und fragt sich, wo er sein Glas Rot- hören, Sätze, die immer wieder die Einheit Die Enge hat die Scorpions angespornt,
wein abgestellt hat. Er schaut Alex an, den aller Dinge beschwören, die Einheit von der Stillstand, die Spießbürgerlichkeit, das
Assistenten. Hat Alex sein Glas Rotwein Band, Musik und ihren Fans: „Zwischen durchschnittlich Deutsche. Sie wollten
gesehen? Dann wendet er sich an seine unserem Feeling und dem Feeling der nichts zu tun haben mit dem verklemmten
deutschen Gäste. „Wir haben hier alles“, Fans“, sagt er, „ist nur ein geringer Leit- deutschen Lebensgefühl, dem Nuschelrock
sagt er, „auch deutsches Bier.“ widerstand.“ Es klingt ein bisschen ver- Udo Lindenbergs, den Landsleuten, die
„Capri-Fischer“ hörten und ihnen steif wie das Rock-’n’-Roll-Gefühl delivert“, wie es ckende Normalität denken, die sie dort er-
Vogelscheuchen vorkamen: Sie störte der Klaus Meine einmal formuliert hatte? Eine wartet, die immer gleichen Bemerkungen,
Mief, die Miesepetrigkeit. Sie wollten deutsche Band, die ihre Telefonnummer dieses: „Naaaaaaa, gerade mal nicht auf
nichts wie weg aus Hannover. auf dem Cover angibt, Null-Fünf-Elf, die Tour“ aus dem Fitnessstudio. Oder die Fra-
Doch am Ende reichte es nicht einmal Vorwahl von Hannover, dann eine sechs- ge: „Wie lange wollt ihr das eigentlich noch
für einen Umzug nach Bielefeld. stellige Nummer, und glaubt, sie könne da- machen? Habt ihr noch nicht genug Geld
Meine, Schenker und Jabs leben heute mit Amerika erobern? War das ihr Ernst? gescheffelt?“
noch immer in der Nähe von Hannover, in Als Schenker die Scorpions gründete, Dann freuen sie sich wieder auf den
einem Umkreis von 20 Kilometern wie eine schien das wie Großmannssucht, wie ein 22. März 2018, den Tag, an dem sie in Saint-
Pilzkolonie, Schenker in Schwarmstedt, ei- halbstarker Traum. Damals, sagt Schenker, Herblain auftreten werden, einem Vorort
ner Gemeinde nördlich von Hannover, Mei- habe man über Deutschland so gespro- von Nantes, weit weg von zu Hause.
ne und Jabs in Wedemark. Sie kennen die chen: „Germany: Assholes.“
gleichen Bars, den gleichen Italiener, sie Es klappte trotzdem. Und nicht nur das. Gestern & Morgen
feiern Silvester zusammen, sie übernehmen Sie zogen von einem Land ins andere, von Ufa, Russland
Patenschaften für die Kinder der anderen. einem Kontinent zum nächsten. „Wir ha- Rudolf Schenker ist erst gar nicht zum
Während sie in der weiten Welt in den gro- ben es gelernt, uns weltweit zu orientie- Abendessen erschienen, weil er zu viel ge-
ßen Hallen spielten, im Madison Square ren“, sagt Schenker, „den Vibe zu erfassen. feiert hat, Klaus Meine ist schon seit mehr
Garden in New York, im Forum in Los An- Wir haben uns immer an der weltweiten als einer Stunde mit einem Tee auf seinem
geles und im Palais Omnisports in Paris, Nachfrage unserer Fans orientiert.“ Es ist Zimmer verschwunden, um die Serie
haben sie sich in ihrer eigenen kleinen Welt ein Leben der unendlichen Möglichkeiten, „Stranger Things“ auf Netflix zu schauen,
eingerichtet. In der deutschen Provinz. aber auch eines, in dem man nie wirklich als Matthias Jabs noch immer im Hotelres-
In anderen Ländern ist die Provinz der ankommen kann. taurant des Sheraton sitzt. Er hat eine letz-
Beginn jeder guten Heldengeschichte. Wenn sie an Weihnachten zu Hause in te Flasche Amarone bestellt. Aber Ama-
Black Sabbath kommt aus Birmingham, Deutschland sind, werden sie wieder zu rone gibt es nicht mehr. Leer getrunken.
Bruce Springsteen aus Freehold, New Jer- normalen Menschen, zu Fußballfans und Vor ihm stehen zwei Kellner mit vier
sey, Michael Jackson aus Gary, Indiana. Familienvätern. Jabs muss die Winterrei- Flaschen Rotwein, vier Alternativen.
Aber in Deutschland ist es ihr sicherer Tod. fen wechseln, Schenker wird mit seinem Jabs prüft die Etiketten.
Die Scorpions wollten immer eine ame- Sohn spielen, und Klaus Meine geht wie- Er ist so etwas wie der Vorkoster der
rikanische Band sein. Aber die Deutschen der in die Loge zu Hannover 96, wo er Scorpions, der Erste, der bei jedem Abend-
nervte die amerikanische Pose. Der An- Altkanzler Gerhard Schröder trifft und an- essen verkündet, was auf der Karte zu emp-
spruch der Scorpions war immer groß, dere ehemalige Größen Hannovers. fehlen ist, unabhängig davon, ob er schon
aber das passte nicht zum Selbstbild der Sie lieben ihre Heimat, aber schon bevor jemals in dem Restaurant war. Wenn er die
Deutschen. Eine Band aus Hannover, „die sie dort ankommen, müssen sie an die drü- thailändische Fischsuppe bestellt, bestellen
DER SPIEGEL 52 / 2017 109
Kultur
auch andere die thailändische Fischsuppe, Licht & Schatten auftraten, waren die Klitschkos im Publi-
wenn er zum Rumpsteak greift, wählen auch Jekaterinburg, Russland kum, ohne ihnen davor etwas zu sagen.
andere Rumpsteak, wenn er den Sea Bass Rudolf Schenker muss sich beeilen, bald Als Schenker danach davon erfuhr, nahm
ins Auge fasst, wird das zum Trend. Er ist beginnt das Konzert in der Sporthalle von er sich Wladimir Klitschko zur Brust. „Jun-
ein Mann, der gern herausstreicht, wie be- Jekaterinburg. Von seiner Garderobe aus ge, hättest du mal gesagt, dass du da bist,
lesen und parkettsicher er ist, der eine nach kann er die Begeisterung in der Halle se- hätten wir dich backstage geholt.“ Darauf
ihm benannte Gitarre spielt, die sogenann- hen, Tausende Fans, die auf die Scorpions soll Klitschko geantwortet haben: „Ich war
te Jabocaster, und der gern erzählt, dass warten, bis dicht an die Bühne gedrängt. zu schüchtern.“
er im Abitur die „beste Physikarbeit in Aber dann steht da Klaus Deiters in seiner Es geht auch bei den Scorpions manch-
ganz Niedersachsen“ geschrieben habe, Garderobe, ein langjähriger Freund, Elek- mal nur darum, wer der Größere ist.
eine Klausur über die Braunsche Röhre. tromeister, ein Mann von kräftiger Statur Schenker schaut Deiters an.
Die Kellner schauen ihn an. und nachlässiger Kleidung, der es mit sei- „Schnell noch ein Bierchen?“
Welche Flasche? nen Geschäften bis nach Russland ge-
„Okay“, sagt Jabs. Er dehnt den Mo- schafft hat. „Mensch, Klaus“, sagt Schen- Dichtung & Wahrheit
ment länger als nötig. Schließlich sagt er: ker, „warum bist du so spät?“ Los Angeles, USA
„Dann entscheide ich mich für die diplo- Knapp zwei Stunden Konzert liegen vor Von Klaus Meine gibt es ein typisches Bild:
matische Lösung: Wir nehmen alle vier.“ ihm, 16 Songs. Er wird auf 15 unterschied- das mit Kangol-Mütze. Wenn er privat
In Russland ist alles etwas anders als in lichen Gitarren spielen, ausschließlich in unterwegs ist, gibt es Klaus Meine auch
Amerika, leichter, ausgelassener, ein biss- V-Form, darunter eine Gibson Flying V, mit Baseballcap. Oder mit Schiebermütze.
chen wie früher, als die Scorpions noch die vom brasilianischen Künstler Romero Aber nie einfach ohne etwas auf dem Kopf.
jünger waren. Es gibt Wodka. In den Ho- Britto lackiert wurde, eine Sonderanferti- Auf die Frage, warum er immer Mützen
telbars sitzen abends die Groupies, Mäd- gung vom Gitarrenbauer Boris Dommen- und Hüte trage, hat Klaus Meine einmal
chen, die behaupten, genau 18 Jahre alt get sowie die „Smoker V“ mit Auspuff und gesagt, dass er sich bei einem Konzert am
zu sein. Vor allem aber sind viele Fans der „Rauchvorrichtung“, die den Eindruck er- Kopf schwer verletzt habe. Er sei von der
Scorpions in Russland noch immer jung, wecken soll, als würde sie von einem Ver- Bühne gesprungen und habe sich dabei
gemessen am Alter der Scorpions sogar brennungsmotor betrieben. eine Platzwunde zugezogen, die genäht
wahnsinnig jung. Wenn man Jabs nach Schenker muss sich noch warmspielen. werden musste. Seitdem müsse er Mützen
Russland fragt, sagt er: „Tschechow, Stra- Er müsste seinen Gast eigentlich hinaus- und Hüte tragen, um den Schmiss zu ver-
winsky – Russia is a state of mind.“ komplimentieren. bergen, eine Folge seiner Waghalsigkeit.
Ihre sieben Konzerte in Russland in die- Aber Klaus Deiters ist nicht irgendwer. Klaus Meine lächelt. Rockstar zu sein
sem Jahr sind ausverkauft, die Fans dort Klaus Deiters ist wichtig. „Der ist ein Freund kann anstrengend sein. Man braucht für
lieben die Scorpions bedingungslos, selbst von Putin“, sagt Schenker. alles eine Heldengeschichte.
die Balladen, ihre weiche Seite. „Ein Bekannter“, korrigiert Deiters. Für Klaus Meine wird immer der beste
Je länger der Abend dauert, desto mehr „Der hat von Putin schon ’ne Spielzeug- Platz im Restaurant reserviert, für ihn ist
gerät Jabs ins Schwärmen. Er erzählt von eisenbahn bekommen“, sagt Schenker. immer das Auto mit der Nummer eins in
den ersten Konzerten in Russland, zehn- „Er hat diese Pipeline gebaut.“ der Kolonne reserviert. In den Konzert-
mal hintereinander in Leningrad, er er- Klaus Deiters lächelt. hallen ist seine Garderobe immer die größ-
zählt davon, wie Michail Gorbatschow die Er hat mit seiner Firma Elcon in Russland te, und immer ist sie die Garderobe mit
Scorpions am 14. Dezember 1991 im Kreml tatsächlich an einer Pipeline mitgebaut, für der Nummer eins. Aber manchmal wirkt
empfing, die alten Heldengeschichten, die Nord Stream, eine Tochtergesellschaft des er wie ein Gefangener seiner eigenen
VIP-Behandlung, die es so heute nur noch russischen Gaskonzerns Gazprom. Und er Show. „Alles, was da draußen an Bildern
in Russland gibt. kennt nicht nur Putin, er kennt auch Ger- und Klischees herumschwirrt, der Gla-
Es gibt da auch die alte Geschichte ihres hard Schröder, den Altkanzler und Auf- mour, die Groupies, die Orgien, die zer-
ehemaligen Produzenten Conny Plank, der sichtsratsvorsitzenden von Nord Stream. legten Hotelzimmer“, hat er einmal gesagt,
Kraftwerk produziert hat und während der Aber es geht nicht nur um ihn. „dient doch nur dazu, bourgeoise Fanta-
Aufnahmen zur ersten Platte die Idee hatte, Die Scorpions schmücken sich gern mit sien zu bedienen.“ Es geht ihm da nicht
sie nicht die Scorpions zu nennen, sondern den Namen der Reichen und Mächtigen, anders als einem Schauspieler, der eine
„Stalingrad“. Sie sollten als deutsches Kli- weil dies auch ein Maß dafür ist, wie ernst Rolle spielt, in Klamotten, die er privat
schee auftreten, als Karikatur des hässlichen sie genommen werden. Sie hoffen, dass nie tragen würde.
Deutschen, mit Stahlhelm und Stacheldraht. Arnold Schwarzenegger zum Konzert Er steht vor einem Spiegel im Forgotten
Als Russenschreck. Aber sie fanden schon nach Los Angeles kommt. Oder Don John- Saints, einem Geschäft für Rockerklamot-
damals, dass dieses Bild nicht zu ihnen son, der sich ebenfalls angekündigt haben ten in Los Angeles. Er probiert einen
passt. Wie hätten sie später, als Stalingrad, soll. Oder Steven Seagal, der amerika- Cowboyhut auf, schwarzes Leder mit
„Wind of Change“ singen können? nische Actionheld, der inzwischen die rus- Nieten. Er dreht sich um sich selbst, er will
Jabs nimmt noch einen Schluck. In Russ- sische Staatsbürgerschaft besitzt. Sie er- sich ganz sicher sein, dass der Hut zu ihm
land erscheint ihm in diesem Moment alles zählen, dass der brasilianische Schrift- passt. Draußen steht ein Wagen, der auf
besser und größer als anderswo. steller Paulo Coelho, mit dem Schenker ihn wartet, mit einem Nummernschild, auf
Es ist kurz vor Mitternacht, als Alex vor- befreundet ist, gelegentlich ihre Konzerte dem „Diwa 35“ steht. Meine wendet sich
schlägt, Jabs auf sein Zimmer zu bringen. besuche. Und natürlich wollen sie wissen, um und macht das Teufelszeichen, die alte
Jabs wollte an diesem Abend eigentlich ob die Klitschkos kommen, wenn sie in Rockerpose.
auf dem E-Reader noch ein wenig „Origin“ Kiew ein Konzert geben. Vitali Klitschko, Er will noch ein Foto von sich haben.
weiterlesen, den Roman von Dan Brown, der Kiewer Bürgermeister, oder sein jün- Dann muss er wieder los.
von dem er sagt, er sei da gerade „bei 30 gerer Bruder Wladimir, der gerade seine Los Angeles ist die zwölfte Station auf
Prozent“, oder noch eine Partie Schach auf Boxkarriere beendet hat. der Tour, und was in diesem Moment nie-
dem iPad spielen. Aber vielleicht ist das in Von den Klitschkos gibt es eine Ge- mand weiß, die letzte Station in den USA.
diesem Moment keine ganz so gute Idee. schichte, die Schenker gern erzählt: Als Die Scorpions wollen danach zwar auch
Morgen ist ja auch noch ein Tag. die Scorpions vor ein paar Jahren in Kiew noch in Phoenix, Dallas und San Antonio
110 DER SPIEGEL 52 / 2017
für Alex, den Assistenten, der alle, die an
diesem Abend wichtig sind, zu Rudolf
Schenker umleiten muss.
Alex muss sich um alles kümmern, um
„Kumpel Ali“, um „die Boxerin“, um „die
kleine Schenker“, Rudolf Schenkers Nich-
te, die auf der VIP-Liste steht, aber trotz-
dem nicht an den amerikanischen Türste-
hern vorbeikommt, um die Vertreter der
Firma Rock-’n’-Roll GangStar, die Schen-
ker eine Weste aus ihrer neuen Kollektion
schenken wollen. Er muss Fotos machen
von Schenker mit anderen Menschen. Er
ruft „Achtung, Achtung, looky, looky“,
dann befördert er die Besucher wieder aus
der Garderobe hinaus, um die nächsten
zu holen.
Schließlich ist Carsten Maschmeyer da.
Er hat seinen Sohn und drei junge Ameri-
kanerinnen mitgebracht. Er ist der VIP un-
ter den VIPs an diesem Abend in L. A. Für
ihn ist der beste Platz reserviert, direkt
am Bühnenrand, exakt in der Mitte. Besser
kann man im Forum nicht sitzen.
Alex hat Maschmeyer am Nordgate ab-
geholt und führt ihn zu Schenkers Garde-
robe. Mit einem Mann, der gewohnt ist,
dass ihn niemand im Leben stoppt, muss
man vorsichtig sein.
Als Maschmeyer in Schenkers Gardero-
be tritt, ist Schenker gerade dabei, sich um-
zuziehen. Er steht mit nacktem Oberkör-
per und offener Hose vor Maschmeyer und
dessen Gästen. „Mensch, Rudolf“, ruft
Maschmeyer mit gespielter Empörung,
„ich habe drei Frauen dabei.“
Er macht eine kurze Pause, damit das
Bild bei den drei Frauen einwirken kann.
Dann wendet er sich ihnen zu.
„A rock star“, erklärt Maschmeyer auf
Englisch. Hat er zu viel versprochen?
Maschmeyer, so wird er später bei einem
ARMIN SMAILOVIC / DER SPIEGEL
PLAN B
SAMSTAG, 23. 12., 17.35 – 18.05 UHR | ZDF
er „The Zoo“ singt. „It’s a crazy world out kann abzutreten. Es geht dabei auch um
Nur die Ruhe there“, ruft er den Fans zu. „Wouldn’t you die heimlichen Angst, man könnte irgend-
Volle Terminkalender, schlechtes agree?“ Und dann, ganz am Schluss, brei- etwas verpassen.
Betriebsklima, das Gefühl, über- tet Klaus Meine die Arme aus und tut so, Die Scorpions sitzen in einem Privat-
fordert zu sein: Bis zu 13 Millionen als würde er von der Bühne fliegen. Hinter flugzeug, das sie zurück nach Hannover
Arbeitnehmer in Deutschland sind der Bühne wird Meine in große, weiße bringen soll. Draußen hat es zu schneien
nach Schätzungen von Gesundheits- Handtücher gehüllt und wie ein Verletzter begonnen, ein plötzlicher Wetterum-
experten und Krankenkassen von zu seiner Garderobe geführt. schwung. Der Pilot kommt aus dem Cock-
Er lässt sich zwei Pizzen von einem Lie- pit und sagt, dass sich der Abflug verspäte,
ferservice bringen, duscht, eine halbe Stun- weil das Flugzeug noch enteist werden
de will er noch allein sein, dann geht die müsse und er die Verspätung auch kaum
Tür zu seiner Garderobe auf, und Carsten aufholen werde, es gebe starken Gegen-
Maschmeyer darf auch zu ihm. wind. „Kein ‚Wind of Change‘“, sagt der
Noch am selben Tag sagen die Scorpions Pilot. Ein gut gemeinter Witz.
alle verbleibenden US-Konzerte ab. „Hät- Niemand lacht.
te Klaus weitergemacht, hätte er eine dau- Meine holt sein iPhone aus der Jacken-
erhafte Schädigung seiner Stimme ris- tasche. Er könnte jetzt zu Hause anrufen,
kiert“, erklärt die Band. „Wir hassen es, und sagen, dass er später komme. Aber
unsere Fans zu enttäuschen, aber in diesem das will er nicht. Er stellt sein Handy ein-
Fall mussten wir so handeln.“ fach aus. Keine unnötigen Prognosen.
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Belletristik Sachbuch
nerlich bin. Im Rahmen der Rollen, die ich übrigens nicht der Bruch, sondern die Miss- Bordt: Viele Menschen entwickeln Strate-
innehabe. Ich bin auf meine Weise Sohn, brauchserfahrung. Der Abbruch der Bezie- gien, um sich vor Enttäuschungen zu be-
ich bin auf meine Weise Mutter. Nicht so, hung ist nur eine richtige Reaktion darauf. wahren. Vor allem werden Erwartungen
wie es familiär oder gesellschaftlich erwar- SPIEGEL: Ist so ein Bruch überhaupt mög- runtergeschraubt. Wer sich nicht enttäu-
tet wird. lich, bleibt man nicht sein Leben lang Toch- schen lassen will, trainiert sich meist
SPIEGEL: Sie schreiben in Ihrem Buch, El- ter oder Sohn, Mutter oder Vater? systematisch ab, sich selbst wahrzuneh-
tern würden ihre Kinder stets aus der Er- Bordt: Man kann sagen: Ich möchte nichts men. Die Konsequenz ist eine emotionale
fahrung der in großer Nähe verbrachten mehr mit dir zu tun haben. Mit so einer Taubheit, das eigene Leben verliert an
Jahre betrachten. Das heißt, sie sehen im äußeren Trennung ist aber nicht automa- Tiefe und an Kreativität, man büßt Be-
Erwachsenen immer noch das Kind. tisch auch der innere Konflikt behoben. ziehungen ein. Ich plädiere in meinem
Bordt: Viele meinen, dass die charakterliche Das sind zwei verschiedene Dinge. Buch deshalb für eine „robuste Verletzbar-
Prägung eines Menschen mit seiner Kind- SPIEGEL: Können Sie das erklären? keit“, ein Begriff, den ich bei dem Dichter
heit beendet ist. Das stimmt aber nicht. Bordt: Um inneren Frieden zu finden, muss David Whyte gefunden habe. Es kommt
Menschen verändern sich zeit ihres Lebens, ich lernen, mit Verletzungen umzugehen. darauf an, verletzbar zu bleiben. Aber
sie können Potenziale leben, die in der Auch damit, von mir selbst ent-täuscht zu nicht wie ein scheues Rehlein, das ständig
Kindheit nicht vorhersehbar waren. Gleich- sein. Der reflexive Aspekt ist wichtig. Erst versucht wegzurennen. Stattdessen entwi-
zeitig haben Eltern uns gegenüber den Vor- wenn man zu akzeptieren beginnt, dass ckelt man eine Haltung, die heißt: Ich kom-
teil, dass sie sich an Erlebnisse mit uns man einem Idealbild nicht gerecht wird, me mit Enttäuschungen und dem, was sie
erinnern können, aus einer Zeit, in der wir kann man alles, was schieflief, als Teil der in mir auslösen, zurecht. Daraus entsteht
uns selber noch nicht bewusst wahrgenom- eigenen Verletzungsgeschichte akzeptieren. Stärke.
men haben. SPIEGEL: Sie sind Jesuit. Und Religion ar- SPIEGEL: Das klingt alles psychoanalytisch.
SPIEGEL: Liegt darin der zentrale Konflikt? beitet mit Idealen und Regeln. Ein Gebot Hat Freud bei den Jesuiten geklaut?
Haben Eltern ein Interesse, an dem Bild lautet: Du sollst Vater und Mutter ehren. Bordt: Wie sehr die Elternbeziehung das
von früher festzuhalten, während die Kin- Da steht nicht: Du sollst deine Eltern ent- eigene Leben prägt, ist uns in der Wissen-
der ihre Erfahrungen als Erwachsene stär- täuschen. schaft durch Freud klar geworden. Wer mit
ker gewichten? Bordt: Für mich geht es in der Religion Meditation zu tun hat, dem ist das eigent-
Bordt: Eltern haben in der Regel kein Inte- nicht um Ethik und Moral, sondern um lich selbstverständlich.
resse, ihre Kinder kleinzuhalten, aber es SPIEGEL: Haben Sie Ihre Eltern auch ent-
ist ganz natürlich, dass sie ihre Sicht auf täuscht?
die Kinder, die stark von den Kindheits- „Wer sich nicht selbst Bordt: Die Tatsache, dass man selber in
jahren geprägt ist, erst mal für die richtige
halten. Es gibt Studien, die zeigen, dass wahrnimmt, riskiert einen Orden eintritt, ist sicher ein ganz
extremer Ausbruch aus allen Systemen der
das ein allgemeines Phänomen ist: Wir le- emotionale Taubheit Familie. Während meines Noviziats war
gen andere Menschen auf eine einmal ge-
troffene Einschätzung fest. Sich daraus wie-
und ein Leben ohne Tiefe.“ ich erst mal kaum erreichbar für meine El-
tern, während dieser Zeit sieht man sich
der zu befreien ist nicht leicht. In engen nur einmal im Jahr, man muss ja erst mal
Beziehungen wird dies natürlich zu einem Spiritualität, um die Beziehung zu Gott. Abstand kriegen. Das ist für manche Eltern
besonderen Problem, weil es einen hier Vor Gott kann ich so sein, wie ich bin. Für nicht so lustig. Es sei denn, die Eltern sind
am meisten stört, wenn der Blick an einem mich als Jesuit ist die Erfahrung der Medi- sehr religiös, aber das war bei meinen
vorbeigeht. Jemand liebt dann nicht mich, tation entscheidend. Die Erfahrung der Eltern nicht der Fall. Sie mussten auch
sondern das Bild, das er von mir hat. Einsamkeit vor Gott. Das ist für mich das akzeptieren, dass sie von mir keine Enkel-
SPIEGEL: Und die Enttäuschung ist dann so Zentrum der religiösen Spiritualität. kinder bekommen werden.
eine Art Befreiungsschlag? SPIEGEL: Ist man als gläubiger Mensch auch SPIEGEL: Ist das beim Nachdenken über die
Bordt: Das Wort sagt es ja schon: Ent-Täu- befugt, Gott zu enttäuschen? Eltern-Kind-Beziehung ein Hindernis?
schung – eine Täuschung wird genommen. Bordt: Gott zu enttäuschen, das geht gar Bordt: Ich bin ja wie jeder Mensch Kind.
Ich befreie mich davon, dass jemand etwas nicht, glaube ich, weil man vor Gott keine Aber es prägt natürlich meine Sicht.
in mir sieht, was ich nicht bin. Es ist aber Rollen spielen kann. Aber ich kann mein SPIEGEL: Warum sind Sie in den Orden ein-
auch ein Beziehungsangebot: Ich gebe mich Bild, das ich davon habe, wie Gott mich getreten?
als der zu erkennen, der ich eigentlich bin. sieht, enttäuschen. Bordt: Was mich bei den Jesuiten von
SPIEGEL: Wenn die Eltern dazu aber nicht SPIEGEL: Ist das in weltlichen Beziehungen Anfang an fasziniert hat, war das Intel-
bereit sind? nicht das Gleiche: Enttäuscht man nicht lektuelle und auf der anderen Seite die
Bordt: Dann ist die Frage: Was macht man immer das Bild, das andere von einem Spiritualität, die Meditation. Ich lebe zum
mit diesem Konflikt? Dafür ist es notwen- haben? Beispiel mit einem Jesuiten zusammen,
dig, zwischen innerem Erleben und äuße- Bordt: Völlig richtig. Aber bei religiösen der auch ausgebildeter Zen-Meister ist,
rem Leben zu unterscheiden. Im äußeren Menschen liegt eine Gefahr darin, dass das und mit jemandem, der in der Flüchtlings-
Leben kann es durchaus richtig sein zu sa- Bild, das sie von sich haben, eine Ideali- hilfe arbeitet. So ergeben sich verschiede-
gen, der Blick, den die Eltern auf mich ha- sierung der eigenen Person ist, die sie aus ne Perspektiven. Ich finde das sehr berei-
ben, ist schädlich, ich setze mich dem nicht ihrer Religion ableiten: So will Gott mich. chernd.
länger aus. Ich ziehe einen Schlussstrich. Dann kommt die Ethik und das „Du SPIEGEL: Sie beraten heute auch Unterneh-
Bis zu diesem Punkt kann es gehen. musst“ hinzu, auf diese Weise kann sich mer und Manager. Wie kommen Sie als
SPIEGEL: Vom Bruch mit den Eltern raten eine problematische Beziehung zu Gott Philosoph und Pater zu dieser Aufgabe?
Sie nicht ab? und zu sich selbst verfestigen. Bordt: Ich war zwischen 2005 und 2011
Bordt: Nein, in einzelnen Fällen kann das SPIEGEL: Sie sagen, eine Enttäuschung muss Präsident der Hochschule für Philosophie
genau richtig sein. Denken Sie an Miss- in jeder Beziehung möglich sein. Aber sind in München, die vom jesuitischen Orden
brauch in Familien. Da ist es ganz klar, wir als Gesellschaft dafür überhaupt aus- getragen wird. Während dieser Zeit habe
dass ein Beziehungsabbruch ein wichtiger reichend tolerant? Gilt die Enttäuschung ich Norbert Reithofer kennengelernt, den
Schritt sein kann. Das Schlimme ist dann nicht vielen als negative Erfahrung? damaligen Vorstandsvorsitzenden von
DER SPIEGEL 52 / 2017 115
Kultur
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Fünfter Tag großen Perser zum georgischen Kanon, in geht es außerdem nicht weiter in die Tür-
Dass sich die Kirchen in Kachetien so har- ihrer Generation jedenfalls. Immerhin auf kei und ebenso wenig in die autonome
monisch in die Landschaft einfügen, als Bildung habe der Kommunismus Wert ge- Republik Naxçıvan. Links und rechts zwei
wären sie aus der Erde emporgewachsen, legt. Dann zitiert sie – man soll das Bild Meere, da bleiben gar nicht so viele Mög-
liegt nicht nur am Sandstein oder ihren ruhig vor Augen haben: eine bis übers lichkeiten, um zu verreisen. Das einzige
menschlichen Dimensionen, die Kuppeln Kinn und über die Augenbrauen verschlei- Land der Region, von dem aus man überall
kaum höher als der höchste Baum; es liegt erte Nonne in einem abgelegenen Kloster hinkommt, ist ausgerechnet ein sogenann-
auch am Zustand nach ihrer Wiederein- südlich des Kaukasus –, zitiert sie Goethe, ter Schurkenstaat, nämlich die Islamische
weihung. Den Reichtum, den die Kritiker nach dem Ost und West nicht mehr zu tren- Republik Iran.
dem georgischen Klerus vorhalten, merkt nen seien, was für alle Himmelsrichtungen Hinter der Grenze stehen mehrere Taxis,
man den Restaurierungen nicht an, die und erst recht für die Literatur gilt. Als aber nur einer der Fahrer spricht Russisch,
nicht mehr als das Nötigste instand gesetzt, der Fotograf Dmitrij Leltschuk fragt, ob er sodass sich Dmitrij mit ihm verständigen
freigelegt, geputzt, statisch gesichert ha- trotz des Verbotsschilds in der Kathedrale kann. Dass er humpelt, liege am Krieg,
ben. Aber gerade dies, das Gebrechliche, Aufnahmen machen dürfe, schließlich ver- wie der Fahrer uns vorsorglich mitteilt;
Imperfekte, nur fragmentarisch Erneuerte, 1993 sei er in Bergkarabach auf eine Mine
macht ihre Aura aus. Jedes einzelne Fres- getreten. Aber keine Sorge, die Kupplung
ko, auf dem mühsam die Figuren zu er- Kaspisches könne er auch mit der Prothese treten.
kennen sind, jeder der Steine, auf denen Kauk Meer „War denn der Krieg gegen Armenien
asu Kachetien
sich Feuchtigkeit und Rauch, aber auch die s notwendig?“, frage ich.
Schwarzes Dagestan
Hammerschläge und Nageleinwölbungen Meer GEORGIEN „Ach was“, sagt der Fahrer. „Den Krieg
von Hirten, Obdachsuchenden und Inva- Tiflis haben die Mächtigen geführt. Wir haben
Baku
soren abzeichnen, der Putz, der über den ARMENIEN nur unsere Toten dazugegeben, unsere
Ziegeln über die Jahrhunderte hinweg Tartar Häuser und unsere Gliedmaßen.“
Bergkarabach ASERBAI-
schon abblättert, jede Kachel, die auf dem DSCHAN „Aber es gab doch auch Hass, oder
Boden fehlt, erzählt vom Leben, das ver- nicht?“
gangen ist, ohne zu Ende zu sein. TÜRKEI IRAN „Der Krieg ist nicht wegen des Hasses
Nein, der Staat tue nicht viel für den Er- ausgebrochen, sondern der Hass wegen
halt der Kirchen, und auch die Gemeinden Kermani, 50, ist Schriftsteller und lebt des Krieges.“
hätten kaum Geld, meint Schwester Ma- in Köln. Bislang hat der SPIEGEL
riani, die wir vor der Alawerdi-Kathedrale neun Teile seiner Reisereportage Sechster Tag
ansprechen. Ohne private Mäzene und die veröffentlicht. Drei weitere werden in Gegen Mittag fahren wir schon wieder an
Arbeit der Freiwilligen wäre nicht einmal den nächsten Wochen folgen. Seine eine Grenze, allerdings finden wir sie nicht.
das Nötigste bewältigt worden. Die Nonne Reise endet in Iran, der Heimat seiner Wen wir auch fragen, niemand weiß, wo
erzählt von den Fremden, die über die Eltern. Ende Januar erscheint das ge- es Richtung Armenien geht. Wozu auch?
Jahrhunderte einfielen, von den Persern, samte Reisetagebuch auch im Verlag Grenzen, die geschlossen sind, schaffen
die das Kloster als Garnison nutzten und C. H. Beck („Entlang den Gräben“). einen ganz eigenen Raum: Es leben Men-
den Gläubigen nur zu Festtagen erlaubten, schen davor und vermutlich auch dahinter,
in der Kirche zu beten, von den Sowjets, aber niemand muss mehr zu ihnen hin, nie-
die in der Kathedrale Getreide lagerten wende er keinen Blitz, der die Fresken ver- mand zieht an ihnen vorbei, für niemanden
oder Schweine mästeten. Wer schlimmer brennen könnte, schüttelt sie freundlich, liegen sie noch auf dem Weg. Es gab auch
war? Die Perser hätten bloß mit Pfeil und aber bestimmt den Kopf: „Die Fresken ver- in Deutschland Flecken auf der Landkarte,
Bogen gekämpft, die Sowjets hingegen auf brennen sich nicht am Blitz; sie verbren- Zonenrandgebiete hießen sie, die fern jeder
die Gedanken und die Seelen der Men- nen sich an der Eiligkeit.“ Route und jedes Interesses waren.
schen gezielt. Außerdem hätten die Perser Gegen Mittag lässt uns die Fahrerin an Jetzt sind wir in Tartar, weil es auf der
auch etwas Schönes hinterlassen, fügt der Grenze zu Aserbaidschan aussteigen. Karte am nächsten an der Waffenstill-
Schwester Mariani hinzu und zeigt auf Uns bis zur nächsten Stadt zu bringen standslinie liegt. Zu der Linie kommen wir
einen Gartenpavillon, dessen Gitterwerk kommt ihr gar nicht erst in den Sinn. Im- nicht hin, hören wir ein ums andere Mal.
aus der goldenen Zeit der persischen Safa- merhin kommt man über die Grenze, das Gut, sagen wir, aber man muss doch bis
widendynastie stammt. ist ja schon mal was. Nach Dagestan, das zu einer Stelle fahren können, ab der es
Woher sie sich so gut in der persischen wir auf dem Weg nach Osten als nächstes nicht weitergeht, zu einem Checkpoint, ei-
Architektur auskenne, frage ich. Sie habe Reiseziel ausgemacht hatten, weil es auf nem Verbotsschild, einer Straßensperre –
in Tiflis Orientalistik studiert, antwortet der Landkarte über viele Zentimeter mit irgendwo müssen die Straßen zu Ende sein.
Schwester Mariani, und nicht zuletzt durch Georgien verbunden ist – nach Dagestan Das stimmt theoretisch, aber praktisch ist
die Begegnung mit einer fremden Kultur gibt es keinen einzigen Übergang. Süd- niemand, den wir ansprechen, schon ein-
zu ihrer eigenen Religion gefunden; das ossetien und Abchasien sind ebenfalls mal in westlicher Richtung aus der Stadt
sei zum Ende der Sowjetunion gewesen kaum zugänglich, die Grenze zwischen gefahren.
und, nein, nicht ungewöhnlich, schließlich Aserbaidschan und Armenien beziehungs- Auf Google Maps, wo auch die Feldwege
gehörten Ferdousi, Hafis und die anderen weise Bergkarabach sowieso. Von Armenien markiert sind, finden wie das Dorf Tap
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FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL
Klöster Alawerdi, Nekressi in Georgien, Reiterstatue vor Museum in Aserbaidschan, Promenade von Baku
„Der Krieg kam nicht wegen des Hasses, sondern der Hass kam wegen des Krieges“
Qaraqoyunlu, das genau an der Waffenstill- in seinen Lada, auf die Rückbank, den Bei- seln, sagt der Mann und fügt – pflichtschul-
standslinie liegt. Auf dem Bildschirm ist es fahrersitz, in den Kofferraum und aufs dig oder ehrlich? – hinzu, dass stets die
nur einen Zentimeter entfernt, doch müs- Dach. Fernab der Städte sei dem Benzin Armenier mit der Gewalt begännen. Auch
sen wir einen weiten Bogen fahren, weil Wasser beigemischt, sodass er die Kanister Scharfschützen seien drüben postiert, erst
dazwischen eine Stiefelspitze – je nach für gutes Geld loswerde, erklärt er uns. letzte Woche sei ein Bewohner verwundet
Sichtweise – armenisches oder besetztes Möge er der erste Aserbaidschaner sein, worden.
Gebiet liegt. Sieht man von Tschetschenien der nicht im Auto raucht. „Kann man die Armenier von hier aus
ab, ist der Konflikt um Bergkarabach der Es ist bereits früher Abend, als wir in Tap sehen?“, frage ich.
schwerste, den die Union der Sowjetvölker Qaraqoyunlu eintreffen. Das war wahr- „Kommt mit“, meldet sich eine Frau und
hinterließ. 50 000 Tote, Pogrome auf beiden scheinlich auch eine Schnapsidee, erst zwei führt uns in den Hof, wo ihr Mann am
Seiten, weit mehr als eine Million Vertrie- Stunden nach Süden und anschließend in Traktor beschäftigt ist. An einer Stelle ist
bene, zwei Völker, die sich voneinander einem östlichen Bogen zurück nach Westen ein Stückchen Beton aus der Mauer he-
abschotten, obwohl sie noch vor 30 Jahren zu fahren, nur um einmal die Front zu sehen. rausgebrochen, und so lugen wir durch das
miteinander verbunden, ja fast ineinander Vielleicht gibt es die Front gar nicht! Ja, viel- Loch. Vielleicht 1000, vielleicht 2000 Meter
verschlungen waren. Und anders als in leicht findet der Krieg nur noch im Fernse- entfernt meine ich einen Gefechtsstand zu
Tschetschenien dauert der Krieg zwischen hen statt, wie man es aus Hollywoodsatiren erkennen, die Soldaten selbst allerdings
Armenien und Aserbaidschan noch immer kennt. Denn selbst Tap Qaraqoyunlu wirkt nicht. Tap Qaraqoyunlu sei immer schon
an. Bald geht das Sterben ins vierte Jahr- auf den ersten Blick friedlich: Doch am aserisch gewesen, erklärt der Mann; die
zehnt. Ende des Dorfes stoßen wir auf eine zwei Armenier hätten im Nachbardorf Talisch
Bevor wir uns auf den Weg machen, bis drei Meter hohe Mauer, die sich die gewohnt, das nun im Niemandsland liege.
schauen wir uns in Tartar um. Vom Ölboom, Querstraße entlangzieht. Davor haben eini- Vor dem Krieg seien die Beziehungen nor-
der Aserbaidschan in den Neunzigerjahren ge Frauen Tücher unter einem Baum ausge- mal gewesen, fügt die Frau hinzu, eigent-
über Nacht reich gemacht haben soll, sieht breitet, und Kinder schaukeln auf den Zwei- lich sogar freundschaftlich. Ob sie Talisch
man in den Straßen nichts, die gerade wie gen, sodass die Maulbeeren herunterfallen. noch einmal besuchen würde, wenn es die
mit dem Lineal gezogen sind: wenig Ver- Noch immer wirkt die Szenerie entspannt, Mauer nicht mehr gäbe?
kehr, leere Betriebe, und auch an den Lä- doch als wir den Wagen auf der anderen „Sie meinen, wenn Frieden herrscht?“,
den scheint die schöne neue Warenwelt vor- Straßenseite parken, ruft uns ein Mann zu, fragt die Frau zurück.
beigegangen zu sein. Selbst der Fluss ist dass wir besser nicht aussteigen sollten. „Ja, wenn Talisch wieder bewohnt
ausgetrocknet – weil Armenien das Wasser „Warum?“, fragen wir. wäre.“
gekappt hat, wird uns erklärt. „Weil die Mauer dort keinen Schutz bie- „Nein, ich würde da nicht mehr hinge-
Wir fahren schon wieder aus Tartar he- tet.“ hen. Es wäre ja dann von unseren Feinden
raus, da sehe ich doch noch so etwas wie Jetzt fällt mir auf, dass sich alles Leben bewohnt.“
einen Ölboom: An der Tankstelle lädt ein nur auf der einen Seite der Straße abspielt. Bevor wir den Nachtzug nach Baku
Mann große Plastikcontainer mit Benzin Beinah täglich komme es zu Schusswech- nehmen, bleibt noch Zeit für einen
120 DER SPIEGEL 52 / 2017
Kultur
Schlenker in ein Städtchen, das von Deut- Teppiche wie Gärten, seine Kunst als Ab- Als ich die ersten Schritte durch Baku
schen im Osten mal nicht zerstört, son- bild einer tatsächlich gegenstandslosen mache, begegne ich allerdings weder dem
dern erbaut worden ist. Es waren Armuts- Welt, seine Ornamentik als Formel für den Sprachen- und Völkermischmasch von
flüchtlinge, denen der Zar 1819 diesen unendlichen Horizont, seine Gastfreund- einst noch sowjetischer Uniformität, son-
entlegenen Flecken seines Riesenreichs schaft eine Notwendigkeit, Lebensversiche- dern Angehörigen einer ganz anderen
zugewiesen hat, damit sie ihn kultivieren. rung für den Gastgeber selbst. Spezies, geradezu Lebewesen von einem
Helenendorf haben sie ihre Siedlung ge- Womöglich lassen sich sogar manche der anderen Stern: Sie tragen orange oder hell-
nannt, Weinstauden gepflanzt und Gie- Schwierigkeiten, die die Demokratie im braune Overalls aus knittrigem Kunststoff,
belhäuser errichtet, von so guter Qualität, Orient hat, mit der Wüste erklären, da sie und alle haben sie rote Schirmmützen auf
dass sie bis heute Schmuckstücke sind. den Kontrast zwischen Stadt und Land ver- dem Kopf, Stöpsel in den Ohren und eine
Die Kirche hat aus Deutschland das Gie- schärft – keine größere Oase, die je vor Plastikkordel um den Hals: Am Wochen-
beldach, die ovalen Fenster, die rötlichen Räubern, Eroberern, Vandalen sicher war. ende steigt hier die Formel 1. Nicht nur
Ziegel, den spitzen Turm und sogar die Die Entstehung einer bürgerlichen Gesell- ist die Rennstrecke seit Tagen mit hohen
Turmuhr mitgebracht. schaft beschränkte sich schon aufgrund der Zäunen, Betonklötzen und Plastikplanen
Wenn ich nicht wüsste, dass ich nahe Topografie auf wenige Zentren, deren Ge- abgedeckt, damit kein kostenloser Blick
dem Kaspischen Meer bin, würde ich mei- füge zudem permanent durch die Land- auf die Gladiatorenwagen fällt; auch viele
nen, durch eine norddeutsche Kleinstadt flucht durcheinandergeriet. So ist die Wüs- weitere Straßen sind für den Verkehr ge-
zu laufen, in der freilich der Migrations- tengesellschaft bis in die Städte hinein sperrt, sodass eine gespenstische oder
anteil 100 Prozent erreicht. Zufall oder nach Clans und Stämmen segregiert. Heu- dann doch wieder wüstenähnliche Stille
nicht, werden gerade sogar zwei Autos vor te setzt sich der mythische Gegensatz zwi- herrscht.
der Haustür gewaschen, als hätten die Neu- schen Nomaden und Siedlern in den Ich versuche, ans Kaspische Meer zu ge-
bürger die deutsche Leitkultur adaptiert. Elendskokons um die Metropolen fort. langen, das auf dem Stadtplan nur einen
Gleich der Erste, den wir ansprechen, ein Alle Städte und selbst die Gärten – nein, Straßenzug entfernt liegt. Nach einer Stun-
Herr mittleren Alters mit gemütlichem gerade sie – sind als Zuflucht und paradie- de im Zickzack finde ich endlich die Un-
Vollbart und warmen Augen, Imran Isajew sische Gegenwelt zu dem Nichts rings- terführung der U-Bahn, die unter der Ziel-
sein Name, Fahrer von Beruf, erzählt uns, herum geprägt, das man als Möglichkeit geraden hindurchführt. Auf der breiten
dass der Großvater seiner Frau in erster in Europa allenfalls in unzulänglichen Glet- Uferpromenade haben die Besatzer ihr
Ehe mit einer Deutschen verheiratet ge- scherregionen kennt. Lager aufgeschlagen: Mediacenter, VIP-
wesen sei, die nach Kasachstan deportiert Wir fahren in Baku ein. Größer als der Lounge, Kinderbetreuung, Roter Halb-
wurde, die beiden Kinder auch. Kontrast zwischen den tristen Betonsilos mond, abgetrennt die Bereiche für die Pi-
„Sprach der Großvater über seine erste am Rand und den Skyscrapers im Zentrum loten, ihre Mannschaft und die Mechani-
Frau?“ können die sozialen Unterschiede an der ker, außer Pizza und Pasta, Hotdogs und
„Nein, nicht viel. Er hat nur gesagt, dass Wende zum 20. Jahrhundert kaum gewe- Hamburger auch ein Zelt mit lokaler Gas-
er die Deutsche geliebt hat und die Tren- sen sein, als das Öl schon einmal einige tronomie. Eine ganze Armada von Golf-
nung nicht freiwillig war. Und dass er seine Magnaten steinreich machte und die Ar- wägelchen steht für den Transport bereit
beiden ersten Kinder vermisst.“ beiter abends in ihren Baracken nicht mehr oder fährt bereits hin und her, und in vie-
„Gab es denn nie wieder einen Kon- die Kraft hatten, den Dreck aus der Haut len Ecken werden die jungen Teams zwei-
takt?“ zu bürsten. Berauscht vom schwarzen sprachig von ihren Instruktoren eingewie-
„Nicht, dass ich wüsste. Aber Opa hat Gold, stürmte Baku damals in die Moder- sen, Service, Security, Fahrdienst, Statistik,
nie schlecht von seiner deutschen Frau ge- ne: Villen, Konzerthäuser, Industrieanla- Rennaufsicht, Ticketing oder Sanitäter.
sprochen, nie, und er hat sich bis zum gen, Klassenkämpfe und auf den Boule- Noch kann ich über die Promenade spa-
Schluss nach seinen beiden ersten Kindern vards die halbe Welt. zieren, später kommen nur noch zahlende
gesehnt. Meine Frau fragt sich auch manch-
mal, wie ihre Halbcousins aussehen mö-
gen, ob sie blonde Haare haben oder
schwarze wie wir. Es wäre doch für alle
bewegend, wenn sich die Nachfahren ein-
mal träfen. Nach so vielen Jahren.“
Siebter Tag
Nicht nur aus Müdigkeit reibe ich mir die
Augen, als ich aus dem Zugfenster blicke:
die Wüste. So weit nördlich? Gestern Mor-
gen, an den südlichen Ausläufern des Kau-
kasus, war noch alles grün, da gab es Wäl-
der, Quellen, Flüsse, Berge. Da ich jetzt
durch den Staub, den Sand, die Kratzer,
das Fett, die Wischspuren und die Finger-
DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL
S
eit Kurzem hat Thomas Gottschalk eine neue Show. im VW Käfer beim Bayerischen Rundfunk vorfuhr. Da-
Ohne Wetten und ohne Günther Jauch. Eigentlich mals bekam er einen Job, nachdem er der Landesrund-
ist es keine richtige Show. Thomas Gottschalk funkanstalt einen Bewerbungsbogen mit dem Satz zurück-
schreibt Kurzmitteilungen auf Twitter. geschickt hatte: „Man hört es eurem Programm an, dass
Begonnen hat das alles mit einem Selfie. Im April twit- ihr die, die es machen, per Fragebogen gefunden habt.“
terte Gottschalk ein Selbstporträt aus Zermatt. Dazu Ähnlich verhält es sich nun mit seinem Auftritt auf Twit-
schrieb er: „Hier seht ihr den Vatter vorn und hinter mir ter. Für eine Revolution des Mediums reicht es diesmal
das #Matterhorn“. Bis dahin hatte seinen Account mit nicht. Trotzdem muss man wohl entweder sehr jung oder
dem Namen Herbstblond vor allem die Autorin Else sehr alt sein, um mit dieser Art von Gleichmut Erfolg zu
Buschheuer betreut, die Lek- haben. Gottschalk jedenfalls
torin seiner Autobiografie. macht sehr schnell sehr viel
Nun war Gottschalk selbst am richtig.
Handy. Er stichelt gegen Frank Elst-
Abends folgte ein Grup- ner, flirtet mit Michelle Hun-
penbild mit Michael Bolton ziker, und wenn er nachts
und Anni-Frid Lyngstad von Mike Krüger an der Hotelbar
ABBA. Ein paar Tage später trifft, dann klick, „Die andere
fotografierte er heimlich Woo- Supernase! Selfie“.
dy Allen beim Essen. Gott- Wo auch immer er gerade
schalk notierte: „Hinterher ist, twittert Gottschalk: Er
sein Platzkärtchen geklaut.“ schickt Bilder aus seinem Fit-
Tausend Menschen klickten nessraum, dem Garten, von
„Gefällt mir“. Er wurde lang- Ikea. Er schreibt aus dem Flug-
sam warm mit diesem sozia- zeug, wenn ein Kind neben
len Netzwerk. ihm weint („Mutter fragt zum
Als Kritiker schließlich sei- dritten mal, ob es nervt. Hab
ne Sat.1-Sendung verrissen, drei mal gelogen“), oder von
weil sie sehr übel zusam- der Fastenkur, wo er viele
mengeschnippelt worden war, Tage vor traurigen Brottellern
konterte Gottschalk nur noch sitzt. Und natürlich hat Gott-
trocken über das Netz: „Frü- schalk Bilder von anderen
her waren meine Anzüge Prominenten. Fotos mit Ar-
schlecht geschnitten, jetzt nold Schwarzenegger, Katy
sind meine Shows schlecht ge- Perry, Helene Fischer, Sigmar
schnitten.“ Da hatte Gott- Gabriel.
schalk Twitter schon ziemlich Gottschalk genießt die Rol-
gut verstanden. le des Silver Surfers. Twitter
Für Gottschalk sind die gro- nutzt er, als wäre er wieder
ßen Tage im Fernsehen vor- live auf Sendung: der Tod von
bei. Vielleicht gilt das aber Helmut Kohl, die Pleite von
auch für das Fernsehen gene- Gottschalk-Tweet Boris Becker, der G-20-Gipfel.
rell. Man kann das als Abstieg Disput um Weihnachtsdekoration Täglich, manchmal stündlich,
interpretieren. Von einem Mil- tippt Gottschalk seine Zoten
lionenpublikum auf aktuell 80 000 Twitter-Anhänger. Das ins Handy. Als es vor wenigen Tagen in seiner Wahlhei-
ist ein sehr kleiner Scheinwerfer. mat Malibu zum Disput mit seiner Frau um die Weih-
Andererseits: Jesus hatte am Anfang sogar nur zwölf nachtsdekoration kam, ließ er alle in mehreren Tweets
Follower. Das wäre jetzt so eine rotzige Gottschalk-Replik. daran teilhaben („Mein Hase ist aus der Krippe geflogen,
Man kann seinen Auftritt auf Twitter auch als Befreiung aber die Katze meiner Frau darf alles!“).
sehen. Gottschalk ist jetzt 67 Jahre alt. Nach „Wetten, Sein Fernsehstudio hat er jetzt in der Hosentasche. Pro-
dass ..?“ versuchte er sich an einer Vorabendtalkshow grammchefs, Redakteure, Quoten – interessiert ihn alles
und in einer Castingjury. Gottschalk sah dabei aus wie nicht. Gottschalk muss keinen Massengeschmack mehr
jemand, der nicht loslassen kann. Ganz langsam war zu befriedigen, nur noch sein Ego. Auf einer Bühne, auf der
beobachten, wie das Komische dem Tragischen wich. Der niemand mit ihm gerechnet hat, feiert er ein Comeback,
Spottende wurde selbst zum Gespött. Gottschalk peinlich zu dem ihn keiner gedrängt hat. Jeder Tweet ist eine Mi-
zu finden war plötzlich so einfach wie bei Til Schweiger niatur seiner Shows. Mit einem Unterschied: Gottschalk
oder den Toten Hosen. hat immer überzogen. Jetzt kann er es in 280 Zeichen.
Nun hat bei Twitter kaum jemand auf Gottschalk ge- Jonas Leppin
wartet. Die Plattform ist wie ein Wasserfall. Jede Sekunde Twitter: @jolepp
Hammelehle (stellv.). Redaktion: Tobias 40479 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Mail: aboservice@spiegel.de
Becker, Lars-Olav Beier, Anke Dürr, Ulrike Fax 86679-11 Marko Scharlow, Mirjam Schlossarek,
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Voigt, Martin Wolf. Autoren, Reporter: Tim Bartz, An der Welle 5, Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla
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1. Januar 2017
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LEE JIN-MAN / AP
mer im Gefängnis. Roginski
wurde Historiker und Heraus-
MOSAIK
geber der Untergrundzeit-
schrift „Pamjat’“ („Gedächt-
LONA RIETSCHEL, 84 nis“). Die sowjetischen Be- ausgebildet, dem Publikums-
Sie war die Mutter des DDR-Comics. Und ihre Kinder hörden hätten ihn gern nach geschmack angepasst. Sie sind
nannten sich die Abrafaxe. Diese drei Typen – Abrax, Israel abgeschoben, aber er ultradiszipliniert, fleißig, höf-
Brabax und Califax – hatten ihren Lesern einiges voraus. verweigerte sich der Ausreise. lich, hübsch: Als wären sie am
Sie genossen volle Reisefreiheit, und zwar gleich doppelt, Nach vier Jahren im Arbeits- Computer entworfen. Dabei
sie bewegten sich frei in Raum und Zeit. Die Abenteuer lager gründete er in den sind sie wirkliche Menschen,
dieser Helden spielten in Venedig, im Mittelalter, im alten Perestroikajahren „Memorial“, mit Eltern, Freunden und
Rom oder in Deutschland zur Zeit Martin Luthers. Nur die bedeutendste Menschen- einer Geschichte – die jedoch
nicht im Sozialismus. Insofern konnte, wer unbedingt rechtsorganisation Russlands. im Verborgenen bleibt. Die
wollte, die Comics als subversiv empfinden, Teil der Pro- Es war seine tiefe Überzeu- meisten Künstler des K-Pop
pagandamaschine waren sie jedenfalls nicht. Die im heu- gung, dass Russland sich nur sind reine Interpreten, Kim
tigen Polen geborene Rietschel studierte Modegrafik erneuern kann, wenn es sich hingegen arbeitete selbst an
und Zeichentrick, wurde Mitglied im Kollektiv des Comic- seiner stalinistischen Vergan- der Musik mit. Laut der ko-
Magazins „Mosaik“, eine DDR-Antwort auf die „Micky genheit stellt. Er hat diese reanischen Nachrichtenagen-
Maus“-Hefte. So unterschiedlich waren Lesebedürfnisse in Idee beharrlich und freund- tur Yonhap schrieb der Sänger
Ost und West nicht. Sie zeichnete erst die von Hannes an seine Schwester: „Berühmt
Hegen entwickelten Digedags, deren Erfolg enorm war. zu werden war vielleicht nicht
erhielt im Jahr 2013 nach und „Memorial“-Organisatio- und tatsächlich galten einige
40 Jahren die fristlose Kündi- nen als „ausländische Agen- bald als epochal. Gemeinsam
gung seiner Vermieterin. Der ten“ diffamiert wurden, hat mit einem Kollegen aus Lon-
von ihm produzierte Zigaret- ihn deshalb zwar betrübt, don stellte er zum Beispiel
tenqualm stelle eine unzu- aber nicht entmutigt. Arsenij 1982 die Schau „Zeitgeist“ zu-
mutbare Belästigung, ja, eine Gesundheitsgefährdung der Roginski starb am 18. Dezem- sammen. Veranstaltungsort
anderen Mieter dar. Fast 30 Jahre lang hatte er als Haus- ber in Tel Aviv. esc war der einst ausgebombte
meister in der Düsseldorfer Wohnung gelebt, zum Zeit- und damals erst teilweise sa-
punkt der Kündigung gab es außer ihm anscheinend nur KIM JONGHYUN, 27 nierte Martin-Gropius-Bau in
noch gewerbliche Mieter. Im Laufe des jahrelangen Prozes- K-Pop ist die wahrscheinlich Berlin – mit Blick auf die
ses – Amtsgericht und Landgericht gaben der Vermieterin modernste Popkultur der Mauer. Die Bilder und Skulp-
zunächst recht – erlangte der Witwer wahlweise als „reni- Welt. Von Seoul aus hat sie turen waren riesig und expres-
tenter Rentner“ oder als „berühmtester Raucher Deutsch- Asien erobert und wird auch siv, und weil es einem Zeit-
lands nach Helmut Schmidt“ Bekanntheit. Raucher starte- in Europa, den USA und geist entsprach, den niemand
ten Solidaritätsaktionen, es ging um nichts weniger als um Lateinamerika geliebt. Der infrage stellte, waren fast nur
die persönliche Freiheit. Der Bundesgerichtshof entschied Koreaner Kim Jonghyun war Männer vertreten, Leute wie
2015, dass der Fall neu aufgerollt werden müsse, zu schlam- einer der größten Stars des Joseph Beuys, Jörg Immen-
pig seien die Untersuchungen gelaufen. Im September 2016 Genres. Shinee hieß seine dorff, Anselm Kiefer. Unter
wurde die Klage der Vermieterin wegen mangelnder Be- Band, sie veröffentlichte fünf den Ausstellungen, die folg-
weise endgültig abgewiesen. Grundsätzlich darf ein Mieter Alben, das erste kam 2008 ten, war etwa die „Deutsche
daheim rauchen, solange er Rücksicht auf seine Umwelt heraus. Der Druck war für Kunst im 20. Jahrhundert“ in
nimmt. Adolfs sagte einmal, übers Aufhören habe er nie Kim enorm. Nichts wird im der Staatsgalerie Stuttgart.
nachgedacht. Friedhelm Adolfs starb am 18. Dezember in K-Pop dem Zufall überlassen, Christos Joachimides starb am
Düsseldorf nach einem Herzstillstand. ks die Stars werden jahrelang 11. Dezember in Athen. uk
DER SPIEGEL 52 / 2017 125
THOMAS RABSCH
Virtuos überzuckert Scheps profitiert, indem sie sich aus der Nische spätroman-
tischer Klaviermusik in populäre Dimensionen bewegt. Das
Die Verbindung von Moden oder Genres, die eigentlich gar Ergebnis allerdings wird die Anhänger beider Genres enttäu-
nicht zueinanderpassen, zählt zu den Erfolgsrezepten der Kul- schen. Unter den Händen von Olga Scheps verwandeln sich
turindustrie. Ein solches Geschäft auf Gegenseitigkeit ist nun manche Nummern in so virtuos überzuckerte Miniaturen,
die Klassikpianistin Olga Scheps, 31, mit der deutschen Band dass Scooter-Fans die Originalmelodien kaum noch erkennen
Scooter eingegangen. Auf ihrer neuen CD „100 % Scooter. dürften, wenn es sie denn überhaupt gibt. Klassikfreunde
Piano Only“ spielt Scheps elf Hits der Technotruppe in einer wiederum werden vergebens nach der Substanz dieser Stücke
Klavierbearbeitung des Komponisten Sven Helbig. Für Scoo- fahnden: Was hier und da ein wenig nach Schubert oder
ter springt dabei ein erheblicher Reputationsgewinn heraus: Scarlatti klingt, entpuppt sich bei genauerem Hinhören nur als
Ihre schlichte Tanzmucke wird klassisch geadelt. Aber auch leeres Gebimmel. dy
stein-Affäre er- zudrücken. Sie nachkommen, weil er einen Job gefunden hatte. Anfang De-
innern, hieß es. sei niemand, der zember konnte sie ihn erstmals wieder in die Arme schließen.
McGowan wandte klammheimlich
sich an Streep und sexuelle Gewalt „Als sich die Türen zur Ankunftshalle im Hamburger Flug-
andere, die für toleriere. Mc- hafen öffneten, sah ich diesen Mann im dunkelroten Pullo-
„das Schweine- Gowan hat ihren ver, der mir entgegenkam. Ich habe ihn ernst angeschaut,
monster“ gearbei- Tweet inzwischen weil ich mein erstes Lächeln in Deutschland Ammar schen-
tet hatten: „Euer gelöscht. ks ken wollte und keinem anderen. Dann nahm mich dieser
Fremde plötzlich in den Arm, erst in diesem Moment wur-
de mir bewusst: Das ist er. Ammar. Mein Mann.
Er hat sich in diesen dreieinhalb Jahren verändert. Es
Verschmähte Gaben mas“). Brugger veröffentlicht
solche Gaben regelmäßig auf
ist etwas anderes, ob man jemanden über WhatsApp-Vi-
deochat sieht oder in echt. Ammar ließ mich nicht mehr
Die Verteidigungsexpertin ihrer Facebook-Seite. „Ich los und küsste mich und hob mich hoch. Ich habe alle
der Grünen erhält ungebete- mag keine Geschenke von Leute um mich herum vergessen. Im Libanon habe ich
ne Geschenke von der Rüs- Rüstungsfirmen. Den Wein mir diesen Moment immer und immer wieder vorgestellt.
tungsindustrie. Vor Weih- von Rheinmetall werde ich In der Nacht, bevor ich losgeflogen bin, konnte ich so
nachten schickte die Firma zurückschicken“, sagt Brug- gut wie nicht schlafen. Mein Flug ging um halb vier Uhr
Rheinmetall, ein großer Waf- ger. Umstimmen könnte sie morgens in Beirut, ich war aber schon fünf Stunden vor-
fenproduzent mit Hauptsitz nur eines: „Wenn Rheinmetall her da. Mein Onkel und meine Mutter haben mich be-
Düsseldorf, eine Flasche seine Pläne für den Bau einer gleitet. Sie war so glücklich, dass ich endlich dieses Vi-
Rotwein ans Bundestagsbüro Panzerfabrik in der Türkei sum hatte, aber sie konnte nicht aufhören zu weinen,
der Abgeordneten Agnieszka beerdigt, dann würde ich mir weil sie mich so vermissen wird. Wer weiß, wann wir uns
Brugger, 32, einen 2010er Châ- sogar ein Glas genehmigen.“ wiedersehen. Während des ganzen Fluges dachte ich,
teau Tour du Haut Moulin aus Dass diese Pläne überhaupt mein Herz würde gleich explodieren.
Bordeaux, versehen mit einer bestehen, dementiert Rhein- Jetzt bin ich seit einer Woche in Hamburg. Jeden Mor-
Grußkarte („Merry Christ- metall allerdings. sve gen, wenn ich neben Ammar aufwache, muss ich ihn
umarmen, um mir klarzumachen, dass wir wirklich wie-
der zusammen sind. Er hat mir schon ein paar Orte in
der Stadt gezeigt, die Alster zum Beispiel und die Hafen-
City. Aber der schönste Platz in Hamburg ist für mich
unsere Wohnung. Sie hat zwei Zimmer und eine winzige
Küche. Wir haben nicht viele Möbel, aber ich habe über-
all Kerzen aufgestellt und Blumen. Bevor Ammar nach
Deutschland gekommen ist, waren wir nur drei Monate
lang verheiratet. Wir hatten nie die Gelegenheit, unsere
Hochzeit zu feiern. Das machen wir jetzt jeden Tag.“
Aufgezeichnet von Katrin Elger und Asia Haidar
Video:
STEFAN KAMINSKI
Endlich vereint
spiegel.de/sp522017augenzeuge
oder in der App DER SPIEGEL
heitsaspekten ein Albtraum werden würde, burg in Kampfausrüstung in falschen ohne Zwischenhalte schafft die Distanz in
der Unmengen an Material und Personal Wohnzimmern. Mein Erleben ist eine Poli- 2.04 Stunden! Bei drei Zwischenhalten
binden würde. Ebenso war bekannt, dass zei, die mich – frustriert von ihrer Abnut- (vergleichbar mit dem „Sprinter“ Ber-
Ausschreitungen auf G-20-Gipfeln keine zung in „Brennpunkten“, die Justiz und lin–München) liegt die Fahrzeit mit 2.52
Ausnahme sind und in Hamburg eine gro- Politik zugelassen haben – in Verkehrskon- Stunden immer noch mehr als eine Stunde
ße, aktive Protestbewegung existiert. Wa- trollen das angeknackste Gewaltmonopol unter der des ICE. Die Trassenführung ist
rum also Hamburg? des Staates spüren lässt, bei Einsätzen zu eine absolute Fehlplanung, aber selbst auf
Philipp Kiefner, Eppelheim (Bad.-Württ.) Einbrüchen erst gar nicht erscheint und dieser hätte man also eine weitaus niedri-
Notrufe abwimmelt. Als Bürger möchte gere Fahrzeit realisieren können.
ich nicht zuschauen, wie nur die Großen Dr. Stefan Bogun, Berlin
und Schönen Schutz genießen. Wie stand
es im Einsatzbefehl der Polizei zum G-20- Im Gegensatz zu dem auf Paris fokussier-
Gipfel? „Der Schutz und die Sicherheit ten Frankreich lebt im polyzentrischen
der Gäste haben höchste Priorität.“ Deutschland eine Schnellfahrstecke stärker
Dr. Christoph Oertel, Haan-Gruiten (NRW) von der Überlagerung vieler Verkehrsströ-
me: Durch die westliche Führung über Er-
Es müssen offensichtlich erst Polizisten furt profitieren auch die Verbindungen von
ROBIN HINSCH
sterben, bevor das Gewaltmonopol in An- Leipzig und Dresden nach Frankfurt am
wendung gebracht wird. Solange dieser Main, Südwestdeutschland und sogar bis
Staat überall zurückweicht, sich einreden Köln von der teuren Strecke. Bei der „Di-
Gipfelgegner am 7. Juli in Hamburg lässt, mit Güte und Verständnis könne man rettissima“ Berlin–Leipzig–Nürnberg–Mün-
Verbrecher stoppen, so lange werden wir chen wäre das nicht der Fall.
Danke für die interessante Reportage. Man mit zunehmender Gewalt rechnen müssen. Prof. Dr.-Ing Wolfgang Fengler, Professor für Gestaltung von
kann nur hoffen, dass so viele Täter wie Lothar Schulz, Berlin Bahnanlagen an der Technischen Universität Dresden
möglich dafür verurteilt werden, und auch
die Rolle derer, die durch das Herumste- Es ist nachgerade absurd, eine Situation Sie haben recht, knapp vier Stunden sind
hen und oftmals Fotografieren den Poli- zu beschreiben, in der verängstigte Bewoh- für eine 620-Kilometer-Strecke heute viel
zeieinsatz bewusst störten, muss ordentlich ner wegen eines bürgerkriegsartig agieren- zu langsam. Allerdings wurden die Planun-
untersucht werden. den Mobs um ihr Leben bangten – im sel- gen nicht erst 1990 begonnen, sondern be-
Michael Skala, Wien (Österreich) ben Artikel, in dem Sie behaupten, dass reits in den Dreißigerjahren. Damals wur-
dieselbe Lage so harmlos und frei von ei- de ein Fernschnellverkehrsnetz in Deutsch-
Die Polizei stand keineswegs, wie Ihr Ar- nem Hinterhalt war, dass ein früheres Ein- land entworfen. Im Sommer 1939 bediente
tikel suggeriert, hilflos der Gewalt gegen- schreiten der Polizei problemlos möglich die Reichsbahn bereits auf konventionellen
über. Sowohl am Donnerstag als auch am gewesen wäre. Nicht weniger Kopfschüt- Strecken ein Schnelltriebwagennetz, das
Freitag wurden alle Rückzugswege der De- teln löst aus, wenn Bewohner dieses Vier-
monstranten in Richtung der Kreuzung of- tels sich „enttäuscht“ oder alleingelassen
fen gelassen, die in Hamburg seit Jahrzehn- von derselben Polizei fühlen, die viele von
ten für Auseinandersetzungen dieser Art ihnen sonst vehement beschimpfen. Wer
genutzt wird. Die Polizei war mit ihrer er- neben der Roten Flora wohnt, sollte wis-
drückenden Übermacht jederzeit Herr der sen, worauf er sich einlässt.
Lage, sie war Statistin und Regisseurin Jan Ahlers, Hamburg
einer Situation, die zur Rechtfertigung der
immensen Kosten notwendig war – oder
nicht ganz ungelegen kam.
Absolute Fehlplanung
Ulrich Schaefer, Hamburg
Nr. 50/2017 Warum der ICE für die neue Strecke
von Berlin nach München immer noch viel zu lange
Goldbergtunnel bei Goldisthal, Thüringen
braucht
Es fehlte an Schutz und Einsatz durch die
Polizei, doch Polizeipräsident Meyer er- Die deutsche Bahnpolitik ist eine Katastro- unserem heutigen ICE-Netz verblüffend
klärt sich allen Ernstes solidarisch mit den phe. Man könnte sogar viel höhere Reise- ähnelt. Schade, dass die heutige Bahn sich
Opfern der G-20-Krawalle. Die Videospe- geschwindigkeiten erreichen, selbst wenn wohl nicht dazu aufraffen kann, einen
zialisten seiner Soko sind nach einem hal- man Zwischenhalte beibehielte. Die TGV- Sprinter ganz ohne Zwischenhalt einzuset-
ben Jahr am Anfang ihrer Ermittlungen. Strecke Paris–Bordeaux ist fast genauso zen, der nur circa drei Stunden benötigt.
Und offenbar steht das SEK auch in Ham- lang wie Berlin–München. Der Direktzug Bernd Ertl, München
Aus der
Handel Zeitschrift „ideaSpektrum“
zum SPIEGEL-Titel
„Münsterländischen Tageszeitung“ „Das gelieferte Fest“
(Nr. 50/2017):
indem er sie ins Himmelreich holte.“ Die vergessenen Nach einer Sitzung des Verwaltungsrats
verkündete Airbus am vorvergangenen
Kinder von Recife Freitag, dass der bis März 2019 laufende
Vorstandsvertrag von Thomas Enders
nicht verlängert wird. Sein mächtigster
Antibiotika interner Gegner, der für das zivile Flug-
Aus der „Main-Post“ zeuggeschäft zuständige Franzose Fa-
Wenn der brice Brégier, verlässt das Unternehmen
schon im Februar. Er war lange Zeit als
Die „Nordwestschweiz“ über den Pharmamarkt versagt potenzieller Nachfolger für Enders im
französischen Sänger Johnny Hallyday: Gespräch. Nachdem sich zuletzt auch in
„In ein künstliches Koma versetzt, stand seinem Bereich die Hinweise auf dubiose
der bald 70-jährige Schwerarbeiter schon Verkaufspraktiken gehäuft hatten, ent-
ein Jahr später wieder auf der Bühne.“ schieden sich die Kontrolleure gegen ihn.
www.spiegel-wissen.de
130 DER SPIEGEL 52 / 2017
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