Sie sind auf Seite 1von 132

BeNeLux € 5,50 Finnland € 7,80 Griechenland € 6,80 Norwegen NOK 72,– Polen (ISSN00387452) ZL 31,– Slowakei € 6,50 Spanien

i € 6,50 Spanien € 6,30 Ungarn Ft 2250,-


Dänemark dkr 51,– Frankreich € 6,30 Italien € 6,30 Österreich € 5,50 Portugal (cont) € 6,30,– Slowenien € 6,20 Spanien/Kanaren € 6,50 Printed in Germany

m
tu det

Deutschland €4,90
ten in

Nr. 52 / 23.12.2017
ris erb
Ch v nt
d n
as am en

S, H N
un u
W Isl d tr

E
SU SO
TT
JE S
GO
DE R
S
as
S
JE MU
,

un u
r

d n
U S

W Isla d tr
L
n

e
I

ist erbi
m
e n
Ch m v nnt
tu det
M
Nr. 52 / 23.12.2017
Deutschland €4,90
Tanken Sie
Der Audi
CO₂-Emissionen mit

* Kraftstoff verbrauch kombiniert: Benzin 6,3–5,6 l/100 km; CNG 4,2–3,8 kg/100 km; CO₂-Emissionen kombiniert: Benzin
143–126 g/km; CNG 114–102 g/km. Angaben zu Kraftstoff verbrauch und CO₂-Emissionen bei Spannbreiten in Abhängigkeit
vom verwendeten Reifen-/Rädersatz.
** Im reinen Gasbetrieb (CNG) in einer Well-to-Wheel-Betrachtung (Umweltbilanz, die die Kraftstoffproduktion und den Fahr-
betrieb des Fahrzeugs mit einschließt) im Vergleich zum Audi A5 Sportback 2.0 TFSI mit 140 kW (Kraftstoff verbrauch Benzin
kombiniert: 5,9–5,5 l/100 km; CO₂-Emissionen kombiniert: 133–124 g/km). Als g-tron Kunde tanken Sie wie gewohnt an

Audi Vorsprung durch Technik


Rückenwind.
A5 Sportback g-tron*. 80 % weniger
Audi e-gas auch aus Windenergie.**
audi.de/neu-angetrieben

einer beliebigen CNG-Tankstelle. Die AUDI AG stellt sicher, dass die auf Basis der gesetzlichen Normen zur Verbrauchs- und
Emissionsmessung nach NEFZ/WLTP sowie regelmäßig von Audi erhobener statistischer Daten zur jährlichen Fahrleistung der
im Zeitraum 7. März 2017–31. Mai 2018 bestellten Audi g-tron Fahrzeuge errechneten Gasmengen durch Audi e-gas ersetzt
werden – für 3 Jahre ab der Erstzulassung als Neufahrzeug. Das Audi e-gas wird in das europäische Erdgasnetz eingespeist und
verdrängt somit fossiles Erdgas. Der ebenfalls auf dieser Grundlage ermittelte Umfang der CO₂-Einsparung kann im tatsäch-
lichen Fahrbetrieb geringer ausfallen. Mehr unter audi.de/g-tron
DasErste.de

Mit Günther Jauch, Barbara Schöneberger,


Elyas M’Barek und Sven Plöger

28. DEZEMBER 20∶15 Uhr


ANZEIGE

Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Betr.: Politischer Jahresrückblick, Familien, Scorpions, Ehrungen
Früher im alten
China wurden
D as zurückliegende Jahr war ein Jahr der poli- Dokumente sicher

MELANIE AMANN / DER SPIEGEL


tischen Überraschungen. Die Kanzlerin erlitt
eine Niederlage, bleibt aber vorerst im Amt. Der im Kürbis verschickt.
Kanzlerkandidat der SPD war im Höhenrausch,
bevor er abstürzte. Und eine rechtspopulistische Ofengemüse, Süppchen und sicher
Partei zog in den Bundestag ein. Was bleibt von Dokumente versenden – in den Kürbissen
2017? Was bringt 2018? Um diese Fragen zu beant- von Thommys Gemüsestand steckt mehr,
worten, begleiteten Redakteure sechs Abgeordnete Amann, Gottschalk als mancher Kunde denkt.
auf Reisen. Melanie Amann fuhr im ICE mit Kay
Lecker macht lustig.
Gottschalk von der AfD nach Düsseldorf, zur Weihnachtsfeier in seinem Wahl-
Mit gewohnten Handgriffen sortiert der
kreis in Viersen, und sprach mit ihm über sein Handgelenk: Linksradikale hatten wettergegerbte Marktverkäufer Thommy das
es ihm Anfang des Monats gebrochen. „Gottschalk will nicht im Rampenlicht Geld in die Kasse, denn wie beim elektronischen
stehen“, sagt Amann, „er wundert sich aber, dass sich niemand über Gewalt ge- Postfach landet bei ihm alles sicher im passenden
gen einen AfD-Mann empört.“ Seite 34 Fach. „Danke, der Nächste, bitte!“ Mit seinen 30
Jahren Erfahrung behält die rheinische Frohnatur
bei jedem Ansturm die gute Laune und hat über
CHRISTOPH SCHEUERMANN / DER SPIEGEL

Z
wölf Stunden dauerte die Fahrt im Gelän-
dewagen von Caracas in den Westen Vene-
zuelas nach Mérida. Dort leben drei frühere
die Zeit einige witzige Geschichten gesammelt.
Zum Beispiel die vom Kürbis, der im alten China
ausgehöhlt wurde, um darin wichtige Dokumente
Linksradikale aus Berlin, die seit mehr als sicher zu verschicken. Ob die Dokumente jemals
20 Jahren vom Bundeskriminalamt wegen eines dort ankamen, wo sie hinsollten – das weiß nur
versuchten Sprengstoffanschlags zur Fahndung Thommy. „So, liebe Leute! Das war der letzte
ausgeschrieben sind. Mit einem der Männer, Kürbis für heute!“ Und auch wenn Thommy
mal die Ware ausgeht, lassen sich die wichtigen
Thomas Walter, ist Korrespondent Christoph
Dokumente zum Glück mit dem elektronischen
Scheuermann, Walter Scheuermann verwandt. Scheuermann besuchte Postfach der Volksbanken
ihn und die beiden anderen Flüchtigen und traf Raiffeisenbanken
auf alte Radikale, die zurück nach Hause wollen, jedoch nicht wissen, wie sie es sicher verschicken und
anstellen sollen. Mehrfach haben sie erwogen, sich zu stellen, allerdings drohen austauschen – und
ihnen in Deutschland ein Prozess und mehrjährige Haftstrafen. Die Flucht hat kommen dabei so gut an
tiefe Wunden bei ihren Familien hinterlassen, zum Teil haben die Männer jahre- wie seine Geschichten, für
die sich der Marktbesuch
lang nicht mit ihren Eltern und Geschwistern kommuniziert. Seite 54
immer doppelt lohnt.

A ls die Scorpions 1989 den Song


„Wind of Change“ schrieben,
war die Welt eine andere: Die Ber-
Der Kürbis ist nicht so
leicht zu knacken.
Genauso wie auf Thommy und seine Geschichten
ARMIN SMAILOVIC / DER SPIEGEL

liner Mauer fiel, Völker rückten zu- Verlass ist, sichert das elektronische Postfach im
Online-Banking und in der VR-BankingApp der
sammen. Heute spaltet die Krimkrise
Volksbanken Raiffeisenbanken alles Wichtige
Europa, und der US-Präsident will rund um Ihre Finanzen. Dort können Sie zu
neue Mauern bauen. Reporter Marc jeder Tageszeit Ihre Kontoauszüge von gestern
Hujer und Fotograf Armin Smailovic oder heute einsehen: von Kontokorrent,
haben die Scorpions auf ihrer „Crazy Sparbuch, Darlehen und Girokonto bis hin zu
World“-Tour begleitet; in die USA, Scorpions mit Hujer (3. v. l.), Smailovic (2. v. r.) Ihrer Riesterrente und Ihrem Bausparvertrag.
nach Russland und in die Ukraine. Gleichzeitig behalten Sie alle Ihre Unterlagen im
Blick und können sie bei Bedarf sicher und direkt
Sie haben ihre Konzerte besucht, in ihren Hotels gewohnt und an den täglichen
mit Ihrem Bankberater austauschen.
Abendessen teilgenommen, zu denen sie sich wie eine brave deutsche Familie
trafen. Sie haben eine Band erlebt, die nicht aufhören kann, obwohl deren Was bringt der beste Service, wenn man ihn
Sänger und Gitarristen im Rentenalter sind. „In ,Wind of Change‘ haben die nicht nutzt?
Scorpions Veränderung besungen“, sagt Hujer, die Musiker seien sich nur nicht Alle Informationen zu den Funktionen und
im Klaren darüber, was das für sie selbst heißt. Seite 106 Services, die das Leben noch einfacher machen,
erhalten Sie auf vr.de/kannwas oder direkt
vor Ort in einer von über 11.500 Filialen der

E ine Fachjury der Branchenzeitschrift „medium magazin“ hat Autor Markus


Feldenkirchen zum „Journalisten des Jahres“ 2017 gewählt. Sie lobte sein
Porträt des SPD-Vorsitzenden Martin Schulz. In der Kategorie „Chefredaktion“
Volksbanken Raiffeisenbanken.

zeichnete die Jury Barbara Hans von SPIEGEL ONLINE aus. Nils Minkmar
wurde für seine Leistungen im Bereich „Kultur“ geehrt.
VR-BankingApp

DER SPIEGEL 52 / 2017 5


Jahr der Extreme
Bilanz Aufstieg und Fall eines Kandidaten, körper-
liche und seelische Verletzungen, ein neuer, hässlicher

HC PLAMBECK / DER SPIEGEL


Ton in der Politik. 2017 hat den Abgeordneten
aller Parteien viel abverlangt. Sechs von ihnen blicken
zurück auf Siege und Enttäuschungen, sie erzählen
von ihren Hoffnungen und Ängsten. Seite 34
THOMAS TRUTSCHEL / PHOTOTHEK.NET

WONGE BERGMANN FÜR NILS HENKEL


IMAGO

Kollege kommt gleich Liebe zur Lunte Tröstliches auf dem Tisch
Gewerbe Wer heute einen Handwerker Brauchtum Die Luft in vielen Städten Essen Sternekoch Nils Henkel rät zu
bestellt, muss meist wochenlang warten – leidet unter der Böllerei der Deutschen zum Familienrezepten an Weihnachten: „Wenn
und teuer wird es obendrein. Selbst Groß- Jahreswechsel. Silvester schießen die ein Gericht zu besonderen Anlässen
unternehmer finden kaum noch Betriebe, Feinstaubwerte in die Höhe, doch kaum immer wieder gekocht wird, schafft das
die Aufträge übernehmen. Neue Fach- ein Politiker wagt, ein Feuerwerksverbot Verbundenheit.“ Am besten „samtig,
kräfte gibt es zu wenige. Der Boom wird zu fordern – manche Kommunen richten weich und warm“. Würstchen mit Kartoffel-
allmählich zum Problem. Seite 62 aber böllerfreie Zonen ein. Seite 40 salat? Fehlt die „Schlotzigkeit“! Seite 46

6 Titelbild: Illustration: Tim O’Brien für den SPIEGEL


In diesem Heft

Titel Tourismus Hotels werden digitaler und


unpersönlicher – aber es gibt auch
Religionen Der doppelte Jesus – was Islam den Gegentrend zu neuer Heimeligkeit 72
und Christentum verbindet 12

DANIELE BADOLATO / VIA GETTY IMAGES


Ausland
Deutschland
Die hungernden Kinder von Venezuela /
Leitartikel Warum Männer ihren Umgang Der Brexit-Streit vergiftet die Stimmung in
mit Frauen überdenken müssen 8 Großbritannien 74
Meinung Der schwarze Kanal / So gesehen:
Syrien Das Assad-Regime hat den
Leben mit Außerirdischen 10
Krieg gewonnen – bis zum Frieden ist es
Innenministerium mauschelte zugunsten noch weit 76
von Motorola / Bundeswehrpiloten
trainieren beim ADAC / Nato täuschte Russland Ist die Präsidentschaftskandidatin
Sowjetunion bei Osterweiterung 22 Xenija Sobtschak eine Marionette
Sicherheit Auf einen Karlsruher
des Kreml? 82 Gianluigi Buffon
Weihnachtsmarkt war offenbar ein Anschlag Österreich Wie Kanzler Sebastian Kurz seine
Partner von der rechten FPÖ bändigen will 84 Er ist eine Torwartlegende
geplant – das zeigt, wie gefährlich und wäre zum sechsten Mal
IS-Rückkehrer in Deutschland sind 26
Europa Brüssel findet keinen Weg gegen Sport zur WM gefahren, wenn
Staaten, die sich aus dem die Italiener nicht in der Qua-
Einkaufsrausch der Bundesliga im Winter / lifikation gescheitert wären.
demokratischen Konsens verabschieden 29 Magische Momente: Der Handballer
SPD Fraktionschefin Andrea Nahles Tim Wendt über seinen unverhofften Einsatz Er sagt: „Für mich ist dieses
fordert höhere Steuern für Reiche und beim Rekordmeister THW Kiel 87 Ausscheiden eine Wunde, die
lehnt eine Leitkulturdebatte ab 30 Fußball SPIEGEL-Gespräch mit Gianluigi nie verheilen wird.“ Seite 88
Politiker Die ewigen Widersprüche Buffon über die großen Kämpfe mit den
des Sigmar Gabriel 32 Deutschen und tränenreiche Niederlagen 88
Bilanz Sechs Abgeordnete blicken zurück
auf ihr Wahljahr 2017 34
Brauchtum Böller verpesten die Luft
Wissenschaft
mit Feinstaub – warum Politiker Was tun, wenn Eltern gebrechlich
sich trotzdem scheuen, sie zu verbieten 40 werden? / Die heimlichen Talente der
G-20-Krawalle Die umstrittene öffentliche Blutplättchen / Glosse: Geschenkt! 92
Massenfahndung nach mutmaßlichen Anthropologie Mordopfer? Hungerleider?

JOHANN ROUSSELOT / LAIF


Randalierern ist bisher mäßig erfolgreich 43 Basler Forscher entlocken einem
Telefonbetrüger Ein internationaler 200 Jahre alten Gerippe seine Geheimnisse 94
Clan zockte mit dem „Enkeltrick“ zahllose Statistik Kataster der Katastrophen –
Rentner ab 44 ein US-Mediziner wertet Alltagsunfälle
Essen Der Sternekoch Nils Henkel im von Kindern aus 97
SPIEGEL-Gespräch über sein Comeback Raumfahrt Wer gewinnt das Wettrennen
und Familienrezepte, die verbinden 46 der Milliardäre um die tollste Xenija Sobtschak
Hochschulen Studienplätze müssen anders Rakete und den ersten Flug ins All? 98
vergeben werden als bisher 50 Medizin Ein neuartiges Medikament Sie moderierte eine erfolgrei-
Bildung CDU-Kultusminister Marco Tullner macht Huntington-Patienten Hoffnung – che Fernsehshow und galt
erklärt den bisherigen Weg der Inklusion jetzt werden solche Mittel auch gegen als die Paris Hilton Russlands.
für gescheitert 51 Alzheimer getestet 100 Auf Instagram hat die 36-
Jährige Millionen Follower. Bei
Gesellschaft Kultur der Präsidentschaftswahl
Früher war alles schlechter: Die Menschen Kommentar: Terrorgedenken am Berliner tritt sie als liberale Kandidatin
werden satter / Wie tröstet Breitscheidplatz / Colin Farrell in
man alte, einsame Menschen? 52
gegen Putin an. Seite 82
„The Killing of a Sacred Deer“ / Kolumne:
Eine Meldung und ihre Geschichte Ein Schieds- Besser weiß ich es nicht 104
richter beendet ein Fußballspiel vorzeitig, Deutsche Helden In ihrer Heimat als
weil keine Bälle mehr vorhanden sind 53 Provinzrocker verhöhnt, feiern die Musiker
Verwandte Christoph Scheuermann besucht der Scorpions auch mit fast 70 Jahren
seinen Großcousin in Venezuela, der von noch Triumphe in Russland und den USA 106
deutschen Behörden seit über 20 Jahren als Weihnachten Wie umgehen mit dem Fest MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL
Terrorverdächtiger verfolgt wird 54 der hochgesteckten familiären
Homestory Ein Franke erklärt einen anderen Erwartungen? Ein SPIEGEL-Gespräch
Franken: Markus Söder 59 mit dem Jesuiten Michael Bordt 114
Europa Kermanis Reise, Teil X: in den
Wirtschaft Außenbezirken des Kontinents 118
Muss Lufthansa für Air-Berlin-Staatskredit Medienkritik Thomas Gottschalk feiert
haften? / Fragwürdige Standards sein Comeback – bei Twitter 123
in der Textilindustrie / Mehr Urlaub im
60
Bauer-Verlag
Gewerbe Der Boom des Handwerks und
Michael Bordt
Bestseller 113
seine Schattenseiten 62 Er ist Philosoph und Jesuit,
Analyse ETF werden als Geldanlage Impressum, Leserservice 124
und er sagt, es sei eine Kunst,
empfohlen – dabei sind sie ethisch meist Nachrufe 125 die eigenen Eltern zu
fragwürdig 67 Personalien 126 enttäuschen. „Man kann das
Onlinehandel Birkenstock-Chef Briefe 128
Oliver Reichert über gefälschte Sandalen systematisch lernen.“ Wer
bei Amazon 68 Hohlspiegel / Rückspiegel 130 die Fähigkeit beherrsche, ge-
Manager Warum Peter Terium bei RWE winne an Selbsterkenntnis
und Innogy scheiterte 70 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ und Charakterstärke. Seite 114

DER SPIEGEL 52 / 2017 7


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Der deutsche Mann ist nicht in Gefahr


Statt über #MeToo zu jammern, sollten alle mehr reden und weniger schießen.

K
lar, das geht natürlich alles enorm schnell für uns noch dieses Sexvertragsgesetz zu uns komme, dann sei
Männer. Gerade erst haben wir mühsam und mit- es endgültig aus mit dem deutschen Mann. Ein Nachruf.
hilfe eines frischen Gesetzes das „Nein heißt Nein“ Schade.
gelernt, schon ist die Welt wieder einen Schritt weiter. „Ja Dabei ist alles ganz anders. Die letzten #MeToo-Monate
heißt Ja“, heißt es jetzt aus Schweden. Ein Gesetzentwurf waren ein notwendiger Aufschrei, ermöglichten Opfern
fordert dort vor dem Sex ein gegenseitiges Einverständnis ein befreiendes, plötzliches Reden über Dinge, die bislang
beider Partner. Ansonsten macht man sich strafbar. im Verborgenen geschahen. Es war der Beginn einer not-
Ha, ha, ha! Da lacht das Internet, und die Männer fallen wendigen Aufklärung echter, justiziabler Verbrechen. Viel-
um vor Spott und Heiterkeit. Jedes Mal ein Sexvertrag! leicht auch der Beginn von Veränderung scheinbar ewig
So viel Papier hab ich gar nicht! Baumverschwendung! gültiger patriarchaler Machtstrukturen, die Missbrauch
Wann kommt der Videobeweis? Brauch ich für jede neue und Belästigung möglich gemacht haben. Und vielleicht
Stellung einen neuen Vertrag? Und. So. Weiter. auch – und da hängen Heilmanns Lächeln und das absurd
Das schwedische Gesetz ist also zunächst mal ein erscheinende Schwedengesetz zusammen – ein neues,
Weihnachtsgeschenk für Satiriker und Freunde plumper respektvolles, hierarchiefreies Miteinandersprechen.
Witze. Eine perfekte Loriot- Das Reden über all das hat-
Szene zum Beispiel ginge so: te, zumindest in Deutschland,
dicker Mann mit dünnem oft den Charakter eines ag-
Haar, nackt und verzweifelt gressiven Selbstgesprächs mit
auf der Suche nach einer fri- der eigenen Gruppe. Bei
schen Patrone für seinen Fül- kaum einem anderen Thema
ler. Frau trommelt wartend ei- wird in Kommentaren so re-
nen Fingerspitzenmarsch aufs flexartig scharf geschossen.
Kissen. Ist der Vertrag bald Hass. Selbstgewissheit. Wut.
fertig? Adieu, Leidenschaft! Gereiztheit. Alle dunklen,
Der arme Mann! unterdrückten Aggressionen
Dabei ist das alles gar nicht verwandeln sich blitzartig in
so lustig. Deutschland er- Wörter und Sätze, die man
reichte die Nachricht von gegen den Gegner in Stellung
NILSSON / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK

dem Schwedengesetz in einer bringt. Als Waffen. Die Men-


Woche, in der Thomas Heil- schen, so scheint es, schlie-
mann, CDU-Bundestagsab- ßen bei diesem Thema am
geordneter, in einem WDR- liebsten Verträge mit sich
Video (ausgerechnet zum selbst.
Thema Sexismus!) zu einer Und da tritt der Premier-
Maskenbildnerin, die ihm minister von Schweden, Ste-
den Kragen richtete, sagte: Demonstranten gegen Männergewalt in Malmö fan Löfven, auf und sagt:
„Sie dürfen alles anfassen.“ „Sex muss freiwillig sein. Ist
Gefolgt von diesem Herren- er nicht freiwillig, ist er
lächeln, das man anzüglich nennen kann. Ein „Fass halt nicht legal.“ Klar. Eine Selbstverständlichkeit. Ein Jour-
mal an“-Lächeln. Keine große Sache vielleicht. Alltag nalist fragte ihn daraufhin, ob das Männer nicht längst
eben. Eine Sache, nach der man Heilmann vielleicht ein- wüssten. „Offenbar nicht“, sagte Löfven. Es habe in
fach kurz beiseitenehmen und ihm sagen sollte: Das ist diesem Herbst zu viele Geschichten von Frauen gegeben,
nicht okay. Ihr Gegenüber möchte Ihr Angebot sehr wahr- die sexuell belästigt wurden. „Zu viele Geschichten.“
scheinlich nicht einmal ablehnen müssen. Und: Nein, das Stefan Löfven hatte den Eindruck, dass eine scheinbare
bedeutet nicht, dass man Frauen keine Komplimente Selbstverständlichkeit keine wirkliche Selbstverständlich-
mehr machen darf. Es heißt nur, dass man vorher ein keit sein könnte.
bisschen nachdenken darf. Deshalb die neue Formel: „Ja heißt Ja“.
Die Tatsache, dass das Ja-heißt-Ja-Gesetz und Heil- In Deutschland ist die Debatte von Anfang an von ei-
manns dummer Spruch etwa zeitgleich publik wurden, nem riesengroßen Nein bestimmt gewesen: Nein, das
führte gleich zu Kommentaren, in denen grundsätzlich darfst du nicht sagen. Nein, deine Meinung ist falsch. Oft
um den deutschen Mann gebangt wurde. Der sei wollte man sie nicht mal hören. All die lange verborgenen
doch ohnehin schon so ein verklemmter, unsicherer #MeToo-Fälle folgten eingeübten, gesellschaftlichen
Hase. Er wisse bald wirklich nicht mehr, was er dürfe Schweigeritualen, die endlich aufbrechen müssen. Durch
und was nicht. Hört doch auf, Frauen dieser Welt, ihn offenes Reden statt Schießen aus dem Hinterhalt. Ja heißt
immer kleiner und kleiner zu schrumpfen. Wenn jetzt Ja. Es könnte ein Neubeginn sein. Volker Weidermann

8 DER SPIEGEL 52 / 2017


Jetzt Jetzt c1h.0pr0ä0m€ie
Umtahuzusunseren attraktiven
4,5

umsteigen. zusätzlic
Angeboten sich
ern.

‡ Die smart Umtauschprämie. Unser Leasingbeispiel für Privatkunden:5

smart forfour smart fortwo


Kaufen Sie eines unserer smart Modelle und sichern Sie sich dabei finanzielle 52 kW¹ coupé 52 kW¹
Vorteile.³ Geben Sie Ihren gebrauchten Diesel mit Euro-4-Norm, ganz gleich
Kaufpreis² 11.765,00 € 11.105,00 €
welcher Marke, bei einem teilnehmenden smart Vertriebspartner in Zahlung und
Leasing-Sonderzahlung 0,00 € 0,00 €
erhalten Sie zusätzlich zum Ankaufspreis eine Umtauschprämie von 1.000 Euro.5
Besitzer eines gebrauchten Diesels mit Euro-1- bis Euro-3-Norm erhalten vom Gesamtkreditbetrag 11.765,00 € 11.105,00 €
teilnehmenden smart Vertriebspartner, markenunabhängig, zusätzlich zur Gesamtbetrag 5.232,00 € 5.232,00 €
Umtauschprämie einen Wertausgleich für ihr Altfahrzeug, sofern dessen Ent- Laufzeit in Monaten 48 48
sorgung nachgewiesen wird.5 Mehr Infos unter www.smart.de Gesamtlaufleistung 40.000 km 40.000 km
Sollzins gebunden p. a. – 4,85 % – 4,69 %
Effektiver Jahreszins – 4,74 % – 4,59 %
48 mtl. Leasingraten à³ 109,00 € 109,00 €

smart – eine Marke der Daimler AG

¹ Kraftstoffverbrauch: 4,9-4,8 l/100 km (innerorts), 3,8-3,7 l/100 km (außerorts), 4,2-4,1 l/100 km (kombiniert), CO2-Emissionen (kombiniert): 97-93 g/km. Energieeffizienzklasse B.
Die angegebenen Werte wurden nach dem jeweils vorgeschriebenen Messverfahren (§ 2 Nrn. 5, 6, 6 a Pkw-EnVKV in der jeweils geltenden Fassung) ermittelt. ² Unverbindliche
Preisempfehlung des Herstellers, zzgl. lokaler Überführungskosten. Andere Motorisierungs- und Ausstattungsvarianten gegen Aufpreis möglich. ³ Ein Leasingbeispiel
der Mercedes-Benz Leasing GmbH, Siemensstraße 7, 70469 Stuttgart. Stand 01.09.2017. Ist der Darlehens-/Leasingnehmer Verbraucher, besteht nach Vertragsschluss
ein gesetzliches Widerrufsrecht nach § 495 BGB. 4 Erwerben Sie eines unserer smart Modelle und sichern Sie sich dabei finanzielle Vorteile. Geben Sie Ihren gebrauch-
ten Diesel mit Euro-4-Norm, ganz gleich welcher Marke, bei einem teilnehmenden smart Vertriebspartner in Zahlung und erhalten Sie zusätzlich zum Ankaufspreis
eine Umtauschprämie von 1.000 Euro. Besitzer eines gebrauchten Diesels mit Euro-1- bis Euro-3-Norm erhalten von dem teilnehmenden smart Vertriebspartner, mar-
kenunabhängig, zusätzlich zur Umtauschprämie einen Wertausgleich für ihr Altfahrzeug, sofern dessen Entsorgung nachgewiesen wird. Altfahrzeug mind. 6 Monate auf
Käufer zugelassen und weitere Voraussetzungen. Das Angebot gilt vom 02.08. bis zum 31.12.2017 (Auftragseingang), sofern die berechnete Lieferung bis zum 31.03.2018
erfolgt. Nur solange der Vorrat reicht und nur bei teilnehmenden smart Händlern. 5 Ein Leasing ist bei Inanspruchnahme des Wertausgleichs nicht immer möglich.
Ob für Ihr Wunschfahrzeug ein Leasingangebot möglich ist, erfahren Sie bei Ihrem smart center. Leasingrechnung ohne Berücksichtigung der Umtauschprämie.
Abbildung zeigt Sonderausstattung.

Anbieter: Daimler AG, Mercedesstraße 137, 70327 Stuttgart


Meinung
Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal

Erlöse uns von dem Bösen!


Der Papst hat den Chris-
ten in der Welt vor-
bevor Gott mit seinem Schöpfungswerk
begann, kann man dann sagen, dass Gott
Obacht, Ufo
geschlagen, das Vater- der Allmächtige ist? Es gibt in der Bibel So gesehen Hat die Lan-
unser nicht mehr in zahllose Stellen, in denen Gott den Men- dung der Außerirdischen
seiner alten Form zu schen die schlimmsten Prüfungen auferlegt. längst stattgefunden?
beten. Es gibt einen Gleich am Anfang pflanzt er einen Baum,
Satz, der ihn stört. an dem die ersten Menschen jeden Tag vor- Am 14. November 2004 ab-
Gegen Ende heißt es: beigehen müssen, ohne dass sie davon es- solvierten Marinepilot David
„Und führe uns nicht in sen dürfen. Als sie es doch tun, werden sie Fravor und seine Kameraden
Versuchung, sondern erlöse uns von dem mit großen Schmerzen und dann mit dem mit Kampfjets einen Übungs-
Bösen.“ Der Papst findet es unangemessen, Tode gestraft. Später verlangt Gott von flug entlang der Pazifikküste
Gott zu unterstellen, dass er die Menschen Abraham, dass er seinen eigenen Sohn op- bei San Diego. Fravor war da
in Versuchung führe. So wie Franziskus es fere. Erst in letzter Sekunde lässt er von schon 16 Jahre lang Pilot und
sieht, ist das nicht vereinbar mit dem Bild dem Ansinnen ab. Ich weiß nicht, welche ist weder davor noch danach
von Gott als einer liebenden Vaterfigur. pädagogischen Bücher der Papst so liest, durch Drogen, Wahnsinn
„Ein Vater tut so etwas nicht: Ein Vater aber für mich klingt das nicht nach einem oder Spökenkiekerei auf-
hilft, sofort wieder aufzustehen“, hat er in Vater, der seinen Kindern bei jedem Fehl- gefallen. An jenem Tag aber
einem Interview gesagt. Die Gläubigen sol- tritt sofort wieder aufhilft. sah er über dem Meer ein
len künftig lieber darum bitten, dass sie Was die Geringschätzung von Traditio- ziemlich schnelles Ding von
nicht in Versuchung geraten, ohne direkten nen angeht, gleicht Franziskus seinem Zeit- der Größe eines Flugzeugs
Bezug auf Gott. genossen Donald Trump. Es gibt zwischen und der Form eines Pfeffer-
Jesus selbst hat das Vaterunser seine beiden überhaupt einige Parallelen. Da minzbonbons der Marke „tic
Jünger gelehrt – so steht es im Matthäus- ist die Neigung zu unbedachten Sätzen; die tac“. Keine Flügel, kein
evangelium und bei Lukas. Die Bitte des demonstrative Verachtung für das Deko- Rotor. Es war schneller als
Papstes hat deshalb einige Irritation ausge- rum der Institution, der sie vorstehen; die sein Düsenjet. Fravor gab das
löst. Jesusworte zu korrigieren ist ja nicht Selbstinszenierung als Outsider, der gegen alles auf dem Dienstweg zu
nichts. Sogar die Evangelische Kirche in das verhasste Establishment ankämpft; Protokoll, aber die Ereignis-
Deutschland, die ansonsten jede Neuerung die Anbiederung an die Massen. Schwer zu se wurden nun erst bekannt.
mitmacht, zeigt sich reserviert, was die sagen, wer von beiden auf lange Sicht den Pünktlich zur Weihnachts-
Redaktion des Vaterunsers angeht. Wer größeren Schaden anrichtet. Die amerika- zeit stellt sich uns in frischer
hätte gedacht, dass der Papst einmal die nische Demokratie ist 250 Jahre alt, die Form ein altes Rätsel, jenes
protestantische Kirche in Sachen Reform- Kirche 2000 Jahre. Altersmäßig liegt Fran- nämlich, ob es außer den
drang links überholen würde? ziskus schon mal vorn. Außerdem: Ohne Menschen auf der Erde noch
Seit Jahrhunderten plagen sich Theolo- den Schutz der US-Atomwaffen kommen eine andere – mal mehr, mal
gen mit der Frage nach dem Bösen. Es ist wir zur Not aus. Aber ohne verlässliches weniger – intelligente Le-
eine verzwickte Debatte. Hat der Satan sei- Geleit auf dem letzten Gang? bensform im Universum gibt.
nen Platz in der Welt, weil Gott das so Immer wieder hat man deren
wollte, oder ist er eine von Gott unabhän- An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Ankunft auf der Erde als
gige Instanz? Wenn er aber schon da war, Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. ein dramatisches, lebens-
änderndes Ereignis dargestellt.
Könnte es aber sein, dass
umfassende Berichte über
Kittihawk Tun und Treiben der Außer-
irdischen, ihre Verkehrs-
sünden und kleinen Dieb-
stähle längst in diversen
Bürokratien abgelegt sind,
wie das Protokoll von David
Fravor? Womöglich parkt
so ein „tic tac“ längst irgend-
wo in Berlin, aber wegen
des ortsspezifischen Behör-
denversagens versackt die
Meldung darüber beim Grün-
flächenamt? Warten sie nur
auf eine Einladung, um mal
in Talkshows von sich zu er-
zählen? Das Jahr endet, die
Fragen beginnen. Fravors
Fazit: „Keine Ahnung, was es
war, aber ich möchte einmal
damit fliegen!“ Nils Minkmar

10 DER SPIEGEL 52 / 2017


Titel

Fremde Brüder
Religionen Die Geschichte von Islam und Christentum ist von Streit und Kampf
geprägt. Doch die Religionen sind sich sehr nah. Muslime verehren nicht nur Abraham,
sondern auch Jesus und Maria. Wie passt das zusammen? Von Dietmar Pieper

D
er Imam hält sich ein Stück abseits, Auch darüber soll an diesem Tag in der Unter der Kuppel der Marjam-Moschee
seine Haltung, sein Lächeln wirken Marjam-Moschee geredet werden. Wie nah in Abu Dhabi sagt Mohammed Jahja al-
unsicher. Gerade betritt ein Gast sind sich Bibel und Koran, Christentum Jadali, der Imam: „Wer als Muslim Jesus
seine Moschee, den er noch nie hier be- und Islam? Verhalten sich die Religionen und Maria nicht verehrt, dessen Glaube
grüßt hat, obwohl er sein Nachbar ist: An- zueinander wie fremde Brüder? Ein großes ist null und nichtig. Man muss an sie glau-
drew Thompson, Leiter der Anglikani- Thema, ein Menschheitsthema, über das ben und sie lieben, wie man den Prophe-
schen Gemeinde in Abu Dhabi. die meisten Christen weniger wissen als ten Mohammed liebt, Gott segne ihn und
Begleitet wird Thompson von dem mus- die Mehrzahl der Muslime. Christen ken- schenke ihm Heil.“
limischen Gelehrten Thani Almuhairi. Er nen den Koran selten. Aber den Muslimen Thani Almuhairi, der Religionsgelehrte,
arbeitet für die Tabah-Stiftung, die sich ist ziemlich klar, dass viele koranische Ver- sagt: „Jesus, Friede sei mit ihm, war Muslim.
für den Dialog der Religionen einsetzt. Als se etwas mit der Bibel zu tun haben. Sie Alle wahren Propheten waren Muslime.
Erstes legt Almuhairi seinen traditionellen kennen Orte wie das libanesische Harissa. Das bedeutet, sich Gott zu unterwerfen.“
Gehstock beiseite und kniet auf dem grü- Dort, in den Bergen hoch über Beirut, be- Andrew Thompson, der Anglikaner,
nen Teppich nieder, um zu beten. treiben christliche Mönche ein Marienhei- nickt. Er stimmt zu, aber nicht ganz: „Mus-
Der Anlass für die Begegnung liegt eine ligtum, zu dem auch Muslime pilgern, um lim ist jemand, der versucht, Frieden mit
Weile zurück: Im Juni hat die Moschee zu beten. Gott zu finden, indem er Gott gehorsam
einen neuen Namen bekommen. Bis dahin Juden, Christen und Muslime führen ist. In diesem Sinne könnte man sagen,
hieß sie Scheich-Mohammad-Bin-Zayed- ihre Religionen auf denselben Mann zu- Jesus war Muslim, genau wie die älteren
Al-Nahyan-Moschee, nach dem Kronprin- rück, Abraham, arabisch Ibrahim. Er ist Propheten. Aber er war kein Muslim im
zen von Abu Dhabi. Jetzt heißt sie „Mar- Monotheist und unterwirft sich dem Wil- Sinne der Weltreligion Islam, indem er etwa
jam Umm Issa“, „Maria, die Mutter von len des einen Gottes, sogar seinen Sohn ihren speziellen Ritualen gefolgt wäre.“
Jesus“. Der Kronprinz wollte es so, als Zei- würde er opfern (Isaak, in der islamischen Das Wort Muslim bekommt in dieser
chen der religiösen Annäherung. Überlieferung Ismail). Die Geschichten Runde etwas Schwebendes, es dehnt sich
Hier soll zum ersten Mal ein Gespräch über ihn gehören für die Juden zur Tora, aus, wird größer als die bloße Zuordnung
mit einem christlichen Geistlichen über für die Christen zum Alten Testament – zu einer konkreten Religion. Thompson
Glaubensfragen stattfinden. In der großen und für die Muslime zum Koran. Sie beten erzählt: „Manchmal werde ich gefragt, ob
Gebetshalle ist es am Donnerstag vergan- fünfmal am Tag zu Gott: „Segne Moham- ich Muslim bin, und dann sage ich: ja, halb
gener Woche menschenleer, vom Lärm der med und seine Nachfolger, wie du Ibrahim und halb. Ich unterwerfe mich dem Willen
Millionenstadt ist nichts zu hören. Mit ei- und seine Nachfolger gesegnet hast.“ Gottes. Ich folge dem Beispiel des Prophe-
nem Wink sorgt der Imam dafür, dass je- Jesus und Mohammed, sie beide gelten ten Jesus. Muslime folgen dem Beispiel
mand die Teppichreinigungsmaschine den Gläubigen als Nachfahren Abrahams. des Propheten Mohammed.“
ausschaltet. Klappstühle werden herange- Christen und Juden sind für Muslime „Leu- Was ist es, das die Muslime vom Pro-
schafft, man verständigt sich über die te des Buches“, die sie respektieren. Wenn pheten Jesus lernen? „Ein Diener Gottes
Gesprächsthemen. sie keine Fanatiker sind. zu sein“, antwortet Almuhairi. Jadali er-
Die Frau, nach der die Moschee benannt Das Gespräch in Abu Dhabi soll das Ge- gänzt: „Für die Muslime bedeutet die Be-
ist, soll im Mittelpunkt stehen. Und natür- meinsame betonen in einer Zeit, in der Fa- schäftigung mit Jesus und Maria, dass sie
lich ihr Sohn. natiker durch Hass und Gewalt die Auf- den Ruf des Glaubens hören.“
Marjam im Islam, das ist dieselbe Person merksamkeit auf sich ziehen, in einer Welt, Die Geschichte von Maria wird im Ko-
wie Maria im Christentum. Und auch Issa, in der Trennendes im Vordergrund steht. ran ausführlicher berichtet als in der Bibel.
der koranische Jesus, ist der biblische Jesus. Im Westen verbinden viele den Islam mit Die 19. Sure ist nach ihr benannt, dort wird
Das ist gerade in der Weihnachtszeit ein Anschlägen, die in seinem Namen began- erzählt, wie vor der jungen Frau ein Engel
schöner Gedanke, der zu den derzeit be- gen werden. Terroristen schnallen sich Bom- erscheint und ihr verkündet, dass sie einen
sonders oft geäußerten Friedenshoffnun- ben um und machen aus Autos Waffen, sie Sohn bekommen wird. „Wie soll ich einen
gen passt: Wenn die beiden größten Reli- wollen einen Religionskrieg entfachen. Knaben bekommen, da mich noch kein
gionen der Welt mit ihren Milliarden Gläu- Es vergeht kaum eine Woche, in der Mann berührt hat?“, fragt Maria. Und der
bigen einen gemeinsamen Kern haben, kein islamistisches Attentat geschieht oder Engel in Menschengestalt sagt: „So spricht
dann könnte der Streit doch aufhören. Viel- knapp verhindert wird, auf U-Bahnen in dein Herr: ‚Das ist für mich ein Leichtes.‘“
leicht ist die lange Geschichte der Konflikte, westlichen Großstädten, auf koptische Kir- Das Lukasevangelium erzählt die Ge-
die schon kurz nach dem Tod des Prophe- chen in Ägypten. Die Muslime sehen sich schichte ganz ähnlich.
ten Mohammed begonnen hat, nur das Vor- in einer Art Mithaftung, ihre Religion ist Aber anschließend weicht der Koran von
spiel zu einer möglichen Versöhnung. bei vielen in Verruf geraten. Dabei wird der Bibel ab. Josef, den Mann an Marias
Eine Hoffnung, sicher. Doch es gibt auch der Terror nur von einer kleinen Minder- Seite, gibt es dort nicht. Die Geburt findet
Fragen. Sind Marjam und Maria, Issa und heit unterstützt. Die meisten Anschläge in einsamer Ödnis unter einer Palme statt,
Jesus bloß auf den ersten Blick gleich, aber richten sich auch nicht gegen Christen oder nicht im Stall zu Betlehem. Als die Wehen
in Wahrheit ganz verschieden? Juden, sondern gegen andere Muslime. einsetzen, ist Maria am Ende ihrer Kräfte
12 DER SPIEGEL 52 / 2017
ILLUSTRATION: TIM O'BRIEN FÜR DER SPIEGEL

Maria bringt ihren Sohn in einsamer Ödnis unter einer


Palme zur Welt, so erzählt es der Koran.

DER SPIEGEL 52 / 2017 13


CHRISTOPHE VISEUX / DER SPIEGEL
BILDAGENTUR-ONLINE / UIG

AKG-IMAGES

Gesprächspartner Almuhairi, Thompson, Jadali in Abu Dhabi, Abraham in islamischer und in christlicher Darstellung: Der göttliche Wille

14 DER SPIEGEL 52 / 2017


Titel

und ruft: „Wär ich doch vorher schon ge- das genau gleiche Aussehen Religions- als Gottes eigenen Sohn
storben und ganz und gar vergessen!“ wie Jesus geben will, sodass zugehörigkeit offenbart worden war. Eine
Dann geschieht ein Wunder. Gott lässt er sich opfern kann an der weltweit 2017, in Mrd. neue, höhere Wahrheit konn-
Wasser fließen und Datteln von der Palme Stelle von Jesus.“ Und so sei m e C hr te es danach nicht mehr
li iste
herabfallen. Alles wird gut. es geschehen. us geben.

n
Der Imam sagt über die 19. Sure: „Sie Die Kreuzigung war dem- Doch dann kommt da die-
ist auch deshalb so wichtig für uns, weil nach so etwas wie ein Fake, 1,8 2,5 ser Araber und behauptet
sie sehr schön ist, sie geht uns ans Herz. auf den die Römer und die das Unmögliche, er verkün-
Muslime, die den Koran auswendig lernen, Juden hereingefallen sind. det, dass Gott noch einmal
beginnen oft mit der Sure über Maria.“ Und nach ihnen die Christen. Sonstige ganz grundsätzlich und aus-
Ist Maria besonders wichtig für die mus- Andrew Thompson schaut inkl. Nichtgläubige führlich gesprochen hat, und
limischen Frauen? hoch ins geheimnisvolle zwar durch ihn selbst. Er sagt,
Das scheint keine einfache Frage zu sein. Licht der Kuppel. Was ihm Quelle: World
dass die Christen, bei allem
Jadali und Almuhairi beraten sich eine durch den Kopf geht, behält Christian Database Respekt, Jesus nicht richtig
Weile in halb geflüstertem Arabisch, dann er für sich. verstanden hätten. So je-
antwortet der Religionsgelehrte: „In unse- Weit entfernt von Abu Dhabi, an der mand kann aus damaliger christlicher Sicht
rem Glauben an Maria gibt es keinen Un- Universität in Hamburg, forscht und lehrt nur ein Betrüger sein, ein falscher Prophet.
terschied zwischen Männern und Frauen. die Islamwissenschaftlerin Katajun Amir- Mohammed gelingt es sogar, seine Anhän-
Maria ist die erste Frau, die den Zustand pur. Schon mehrfach hat sie Dialogrunden ger auf Furcht einflößende Weise zu mo-
der Perfektion erlangt hat, das Höchste, beobachtet, in denen Christen und Mus- bilisieren, er vereinigt die zerstrittenen
was ein Mensch erreichen kann.“ Deshalb lime über das Gemeinsame reden. Sie fin- Stämme der Arabischen Halbinsel und
sei sie ein Vorbild. In fast jeder Familie det solche Runden wichtig, auch wenn sie wird zum mächtigen Kriegsherrn. Seine
gebe es eine Marjam. So heiße auch die manchmal einen unerwarteten Verlauf Nachfolger kämpfen noch siegreicher.
zweijährige Tochter des Imams. nehmen. Amirpur sagt: „Erst freuen sich Die Wortführer der Christenheit fahren
Jadali lächelt und fügt hinzu: „Wenn sich alle, dass Maria und Jesus in Koran und sogleich ihre größten rhetorischen Geschüt-
Frauen dem Korankapitel über Maria zu- Bibel ganz ähnlich erscheinen. Aber ir- ze auf. Denn sie haben etwas zu verteidi-
wenden, dann steht für sie häufig der gendwann kommt der Punkt, an dem es gen. Am Ende der Antike hat sich der
Bericht über ihre Leiden und Nöte im Mit- nicht mehr weitergeht.“ Glaube an die Menschwerdung des einen
telpunkt. Den Frauen laufen Tränen über Dieser Punkt, sagt Amirpur, berühre das Gottes, an seinen Tod und seine Auferste-
die Wangen, wenn sie sich das vor Augen Innerste des Glaubens: „Dass Jesus für die hung in einem riesigen Gebiet ausgebreitet.
führen. Christen gleichzeitig Mensch und Gott ist, Geweihte Kruzifixe trotzen dem irischen
An einer Auseinandersetzung, die das können Muslime nicht verstehen, es wi- Regen genauso wie dem trockenen Wind
Fremde zwischen den Bruderreligionen derspricht ihrer Auffassung fundamental.“ von Sanaa im heutigen Jemen.
Christentum und Islam herausarbeitet, ist Die empfundene Nähe schlage dann Die Christen sind von einer verfolgten
an diesem Tag keiner der drei Gesprächs- manchmal in ihr Gegenteil um. Die Islam- Sekte zur römischen Staatsreligion auf-
partner interessiert. Es geht um Gemein- wissenschaftlerin hat es so erlebt: „Dann gestiegen. Das oströmische Reich ist die
samkeiten. Almuhairi sagt: „Wir haben vor sitzt man zusammen und spürt, wie groß stärkste Macht am Mittelmeer; die Priester
Kurzem den Geburtstag des Propheten ge- plötzlich die Distanz ist, die kurz zuvor von Konstantinopel tragen schwere Ge-
feiert. Wenn wir dieses Fest begehen und kaum noch vorhanden schien.“ wänder, in ihren Kirchen glänzt das Gold.
uns mit dem Leben Mohammeds beschäf- Es sind nicht nur die theologischen Fra- Und nun kommt aus der Wüste, aus der
tigen, dann lesen wir vorher üblicherweise gen, die eine freundliche Begegnung auf bisher vor allem Handelskarawanen und
die Geschichte, wie Jesus geboren wurde, schwieriges Terrain führen können. In jede Räuberbanden den Weg nach Norden fan-
so wie sie im Koran steht.“ ernsthafte Auseinandersetzung zwischen den, ein Angriff auf die etablierte Welt-
Die großen Unterschiede werden trotz- Islam und Christentum drängt sich die ge- ordnung. Die vordringenden Araber wer-
dem deutlich. Für Muslime ist Jesus nicht meinsame Geschichte. Mehr als 1300 Jahre den häufig pauschal als Sarazenen bezeich-
der Sohn Gottes, sondern ein besonderer haben sich die beiden Religionen aneinan- net, nach einem der Nomadenstämme.
Mensch, der Wunder wirkt, weil Gott es der abgearbeitet, sie haben einander be- Mohammed ist erst seit zwei Jahren tot,
will. Er kann als Säugling sprechen und äugt und bekämpft, sich aber auch respek- da beklagt sich Sophronius, der chalkedo-
seine Mutter Maria von dem Vorwurf ent- tiert und bereichert. Zu sehen ist ein eher nische Patriarch von Jerusalem, 634 in sei-
lasten, sie habe heimlich mit einem Mann dunkles Bild mit einigen hellen Szenen. ner Weihnachtspredigt, er habe wegen der
geschlafen. Als Junge formt er kleine Vögel vorrückenden Sarazenen diesmal nicht
aus Ton und haucht ihnen Leben ein, so- Mohammeds Angriff auf die nach Betlehem reisen können. Er wünscht
dass sie davonfliegen. Weltordnung „den Untergang dieser blutdürstigen Geg-
Und dann die Sache mit der Kreuzigung, Für Muslime gibt es keinen verehrungswür- ner“ herbei und verunglimpft die Gefolgs-
eine Schlüsselerzählung des Christentums. digeren Menschen als Mohammed. In der leute Mohammeds in späteren Predigten
Sie habe so nicht stattgefunden, sagt Jadali, christlichen Tradition gab es mehr als tausend als Anhänger des Teufels.
der Imam: „Der heilige Koran lehrt, dass Jahre lang kaum einen hassenswerteren. Aber es gab auch andere Stimmen. Sie
Jesus in Jerusalem nicht getötet und nicht Die Christen hatten mit dem Propheten sind selten und gingen beinahe unter im
gekreuzigt wurde. Er wurde in den Him- aus Mekka von Anfang an ein großes Pro- Geschrei christlicher Selbstbehauptung.
mel erhoben. Der allmächtige Gott hat blem: Sie sahen sich im Besitz der Wahr- Dass eine intellektuelle Auseinanderset-
einem der Jünger Jesu gesagt, dass er ihm heit, die ihnen durch keinen Geringeren zung möglich war, zeigt eine Begegnung

„Dass Jesus für die Christen gleichzeitig Mensch und Gott ist,
können Muslime nicht verstehen.“

DER SPIEGEL 52 / 2017 15


MANUEL COHEN / AKG-IMAGES
Moschee-Kathedrale in Córdoba: Der Islam gehört seit langer Zeit zu Europa

zwischen Timotheos I., dem Patriarchen Mensch und Gott, was den Nachfolger Mo- ken auf einem Misthaufen eingeschlafen
der christlichen Nestorianer, und dem Ka- hammeds natürlich nicht überzeugt. Aber und von Schweinen gefressen worden sei.
lifen Mahdi, der von 775 bis 785 in Bagdad darum geht es nicht. Mehr als ein respekt- Die Papstkirche heizte den Konflikt
herrscht. Zwischen den beiden Religions- volles Miteinander können die Christen theologisch an. Auf dem Konzil von Flo-
führern kommt es zu einem offenen Mei- im Reich des Kalifen kaum verlangen. renz 1442 gab sie die Muslime dem „ewi-
nungsstreit. Sicherlich hilft es dabei, dass Das hielt ihre Glaubensbrüder im latei- gen Feuer“ anheim. Der erbitterte Papst-
ihr Denken durch die vernunftbetonte Phi- nisch geprägten Westen Europas nicht da- kritiker Martin Luther stimmte in diesem
losophie des Aristoteles beeinflusst ist. von ab, Mohammed in den Schmutz zu Punkt gern mit Rom überein. In Moham-
Der Kalif will erkannt haben, dass schon zerren. Besonders übel wurde es, wenn med sah Luther „einen Teufel und das erst-
in der jüdisch-christlichen Bibel das Kom- sich Religion, Politik und Heldenverehrung geborene Kind des Satans“.
men des Propheten Mohammed vorausge- miteinander mischten wie im Rolandslied. Die katholische Kirche brauchte nach
sagt worden sei. Damit wäre bewiesen, Das nach 1075 in Frankreich entstande- ihrem Dekret von Florenz fast 500 Jahre,
dass der Islam die abschließende und da- ne und bald ins Deutsche übersetzte Vers- bis sie wieder zur Vernunft kam. Das Zwei-
mit überlegene Version des monotheis- epos ist eine der berühmtesten mittelalter- te Vatikanische Konzil rang sich 1965 zu
tischen Glaubens darstellt. Der Patriarch lichen Dichtungen, es rankt sich um legen- der Erklärung durch, dass auch Muslime
hält allerdings so lange dagegen, bis sein däre Begebenheiten aus dem achten das „ewige Heil“ erlangen könnten. Um
Gegenüber diese Argumentation aufgibt. Jahrhundert. Damals führte der fränkische den Propheten Mohammed machte die Er-
Doch der Muslim setzt dem Christen König und spätere Kaiser Karl der Große klärung allerdings einen Bogen, als wäre
jetzt auf andere Weise zu. Er führt eine einen Feldzug gegen die Sarazenen in sein Name unaussprechlich.
Stelle aus dem Johannesevangelium an, in Nordspanien, um sein Grenzgebiet zu Weitere Jahrzehnte vergingen, bis zum
dem Jesus vor seinem leeren Grab er- sichern. ersten Mal ein katholisches Kirchenober-
scheint und zu Maria Magdalena sagt: „Ich Vom Islam zeichnet das Rolandslied ein haupt den Fuß in eine Moschee setzte. Im
gehe hinauf zu meinem Vater und eurem groteskes Zerrbild, die Gläubigen verehren Mai 2001 besuchte Papst Johannes Paul II.
Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.“ dort Mohammed als Gott, außerdem beten die Omajjaden-Moschee in Damaskus,
Wie viele Muslime nach ihm leitet Mahdi sie zu Idolen und einer Obergottheit na- eine der glanzvollsten Stätten des Islam.
aus dieser Aussage ab, dass auch der Jesus mens Tervagant. Das Heldenepos greift Einst hatten Christen dort eine Basilika
der Bibel ein Diener Gottes, aber nicht auch eine despektierliche Mär des christli- errichtet, die sie Johannes dem Täufer
mehr sei. Timotheos wehrt ab mit dem chen Mittelalters über den Tod des Pro- weihten, und als 636 die Araber Damaskus
Hinweis auf die Doppelnatur Jesu als pheten auf, wonach Mohammed betrun- eroberten, beteten die Gläubigen beider

Als Johannes Paul II. im Jahr 2001 Damaskus besuchte, setzte er


als erster Papst seinen Fuß in eine Moschee.

16 DER SPIEGEL 52 / 2017


Titel

DIEGO IBARRA SANCHEZ / DER SPIEGEL


Marienheiligtum im Libanon: Muslimische Pilger kommen, um zu beten

Religionen jahrzehntelang nebeneinander: Stadt unter seinen persönlichen Schutz. Die Geschwindigkeit, mit der sich die
Während sich die Muslime im Ostteil des Ihm ist es zu verdanken, dass Besucher neue Religion im Nahen Osten und an der
Gebäudes Richtung Mekka verneigten, noch heute durch die Säulengänge mit ih- Südküste des Mittelmeers durchsetzte, ist
versammelten sich die Christen im West- ren rot-weißen Doppelbögen spazieren heute noch erstaunlich. „Wenige Ereignisse
teil. Als der Omajjaden-Kalif im achten und dabei das raffinierte Spiel von Licht der Weltgeschichte sind von einer solchen
Jahrhundert einen neuen Prachtbau in Auf- und Schatten erleben können. Das mauri- Dramatik wie die frühe Ausbreitung des
trag gab, verdrängte er zwar die Christen, sche Gebäude blieb praktisch unangetastet, Islam“, sagt jemand, der einen Sinn für
entschädigte sie aber mit neuen Kirchen. wurde allerdings zur Kirche umgewidmet. strategische Entwicklungen hat: der frühe-
Wie viele religiöse Monumente kann Fast 300 Jahre später schlug dann doch re US-Außenminister Henry Kissinger.
auch die Omajjaden-Moschee mit einer au- ein Kirchenmann zu. Gegen den Protest Nach seiner Analyse war der Islam
ratischen Geschichte aufwarten. Bei den des Stadtrats setzte sich der Bischof 1523 „gleichzeitig eine Religion, ein multiethni-
Grabungsarbeiten vor 1300 Jahren sollen mit dem Ansinnen durch, mitten in die scher Superstaat und eine neue Weltord-
die Gebeine des Täufers entdeckt worden einstige Moschee einen Kathedralbau zu nung“, getragen von der „Überzeugung,
sein. Die Reliquien des von Christen und pflanzen. Karl V., damals König von Spa- dass seine Ausbreitung die Welt vereinigen
Muslimen verehrten Jesus-Vorläufers lie- nien und Kaiser des Heiligen Römischen und der Menschheit Frieden bringen wür-
gen bis heute im Gebetsraum der Moschee. Reiches, soll nach einem Besuch gesagt de“. Kissinger spricht, analog zur Pax Ro-
haben: „Ihr habt etwas zerstört, was ein- mana, dem Frieden im römischen Kaiser-
Der Islam in Europa malig in der Welt war, um etwas an seiner reich, vom Idealbild einer „Pax Islamica“.
Schönheit kann ein starkes Argument sein, Stelle zu errichten, was man überall sehen Weil unter der Herrschaft der iberischen
besonders, wenn sie unvergänglich scheint. kann.“ Emire und Kalifen weiterhin auch Christen
Ein architektonisches Meisterwerk wie die Was nicht ganz stimmt: Denn einmalig und Juden lebten, haben spätere Zeiten
Alhambra im spanischen Granada erzählt ist auch das islamisch-christliche Hybrid- al-Andalus gern als Reich des religiösen
auf eigene Weise von der Größe der isla- gebäude. Immerhin sind in der Moschee- Ausgleichs gesehen; „convivencia“ heißt
mischen Kultur. Oder, ebenfalls in Andalu- Kathedrale von den ursprünglich 1013 Säu- der spanische Begriff für das friedvolle Mit-
sien, die Moschee-Kathedrale von Córdoba: len 856 stehen geblieben. einander. Allerdings waren die Zeiten
Sie trägt ihre Geschichte schon im Namen. Orte wie Córdoba und Granada führen wechselhaft, und im Hauptstrom der Tole-
Nach einem halben Jahrtausend islami- Millionen Besuchern Jahr für Jahr eine ranz bildeten sich immer wieder Strudel
scher Herrschaft in Córdoba war es 1236 schlichte Wahrheit vor Augen: Der Islam des Fanatismus.
der König von Kastilien und Léon, der die gehört seit langer Zeit zu Europa. Manchmal traf es bloß Bücher. Kalif Ha-
Stadt am Guadalquivir für die Christenheit Im Jahr 711, gut ein Menschenalter nach kam II. hat Ende des ersten Jahrtausends
eroberte. Als vorbildlicher Katholik wurde Mohammeds Tod, stießen die Truppen des eine fabelhafte Bibliothek zusammenge-
Ferdinand III. später heiliggesprochen. Kalifen Walid I. über die Meerenge von kauft, Werke in arabischer, persischer, grie-
Aber in Córdoba siegte sein Schönheits- Gibraltar auf die Iberische Halbinsel vor. chischer und lateinischer Sprache. Damit
sinn über seinen Glaubenseifer. König Fer- Sie schlugen die Westgoten und errichteten steht er für einen wichtigen Strang der ara-
dinand stellte die prächtige Moschee der ein islamisches Reich. bisch-persisch-europäischen Liaison: den
DER SPIEGEL 52 / 2017 17
EMILE SIGNOL / THE BRIDGEMAN ART LIBRARY / GETTY IMAGES
KHALED DESOUKI / AFP

Kreuzritter in Jerusalem 1099 (Gemälde, 19. Jh.), koptische Kirche nach einem Bombenanschlag in Kairo 2016
Eine Zeit, in der Fanatiker durch Hass und Gewalt die Aufmerksamkeit auf sich ziehen

18 DER SPIEGEL 52 / 2017


Titel

Wissenstransfer. Gelehrte wie Ibn Sina (la- Darüber musste Papst Urban II. nach- Die Missionsreise des
tinisiert Avicenna), Ibn Ruschd (Averroes) denken, als er seine Bischöfe im Spätherbst Christoph Kolumbus
und viele andere trugen entscheidend dazu des Jahres 1095 in die französische Stadt Die Rivalität zwischen Islam und Christen-
bei, dass die Werke antiker Naturforscher, Clermont bestellte, um ein „consilium ge- tum spitzte sich an der Wende vom Mittel-
Ärzte und Philosophen in die westliche nerale“ abzuhalten. Am 27. November, alter zur Neuzeit zu, als die europäischen
Überlieferung Eingang fanden. dem letzten Tag des Konzils, kündigte er Seefahrer und Entdecker in die Welt hi-
Hakams Nachfolger Mansur glaubte, eine wichtige Rede in öffentlicher Sitzung naus aufbrachen. Männer wie Christoph
sich als religiöser Eiferer beim Volk beliebt an. So viele strömten herbei, dass man Kolumbus wollten nicht nur Gold und
machen zu müssen. Hunderte, wenn nicht sich vor den Toren der Stadt versammelte. Ruhm, sie waren auch fromme Christen.
Tausende der kostbaren Bücher ließ Kalif Urban sprach über die Lage der Christen Sie sollten den wahren Glauben verbreiten.
Mansur verbrennen oder in Brunnen wer- im Orient. Eindringlich schilderte er die Vor den Eroberern mit dem Kruzifix
fen. Angeblich beleidigten sie den Islam. angeblich grausame Verfolgung der Brüder war keine Weltgegend sicher, und als Kli-
Der Fanatismus richtete sich nicht nur und Schwestern durch die Muslime. Ent- scheebild sind sie bis heute unterwegs. Da-
gegen Bücher: 1011 in Córdoba und 1066 schlossene Hilfe sei geboten. vid Thomas, Professor für Christentum
in Granada kam es zu den ersten Pogro- Also Krieg. und Islam an der Universität Birmingham,
men der europäischen Geschichte, mehr Nur: Mit welcher Begründung? Ein blo- beschreibt das muslimische Vorurteil als
als 3000 Juden wurden ermordet. Für das ßer Angriff wäre theologisch verwerflich „die Neigung, alle Christen als missionari-
Zusammenleben galten damals eigentlich und für einen Papst unmöglich. Also pro- sche Kolonialisten zu betrachten“. So wie
klare Regeln. Christen und Juden erhielten pagierte Urban den „gerechten Krieg“, umgekehrt oft „alle Muslime als militante
den Status als „Dhimmis“, Schutzbefohle- den Krieg im Auftrag Gottes. Was könnte Kämpfer“ betrachtet werden.
ne. Das bedeutete im Kern, dass sie gegen dem näherkommen als ein Feldzug zur Kolumbus eröffnete sein Bordbuch 1492
Zahlung einer besonderen Steuer ihre Re- Rückeroberung des Heiligen Landes? mit einem Bericht über die Eroberung Gra-
ligion frei ausüben durften. „Deus lo vult!“, schrie der Überlieferung nadas zu Beginn des Jahres. „Mit eigenen
Bereits der zweite Kalif Umar ließ die zufolge die Masse vor den Toren von Cler- Augen“ habe er gesehen, „wie die königli-
Christen im eroberten Syrien einen Ver- mont, „Gott will es!“ chen Standarten Eurer Hoheiten auf den
trag mit 14 Punkten unterschreiben. Darin In der islamischen Welt haben sich die Türmen der Alhambra hochgezogen wur-
mussten sich die Andersgläubigen zum Bei- Gräuel und die ungeheure Anmaßung der den und wie der maurische König seinen
spiel verpflichten, keine neuen Kirchen „bewaffneten Wallfahrten“ – je nach Zähl- Palast verließ, um die Hände Eurer Hohei-
und Klöster zu errichten, ihre Häuser nicht weise sieben oder mehr – tief in die Erin- ten zu küssen“.
höher als die Häuser der Muslime zu bau- nerung gegraben. Wenn überwiegend west- Seinen Auftrag beschrieb Kolumbus als
en, die Glocken in den Kirchen nur „sehr liche Truppen gegen Muslime vorgehen, Missionswerk. Die spanischen Herrscher –
leise“ zu läuten und ihre „Kreuze und sei es im Irakkrieg, in Afghanistan oder in „als Feinde der Sekte Mahomeds und jedes
Schriften nicht auf den Straßen und Märk- Libyen, dann ist früher oder später von anderen Götzendienstes“ – hätten ihn losge-
ten der Muslime zu zeigen“. einem neuen „Kreuzzug“ die Rede. Wohl schickt, um in Indien kaum bekannte „Fürs-
Das Regime der Katholiken war dann kein anderes historisches Ereignis steht so ten, Völker und Orte aufzusuchen und die
erheblich härter, es war gnadenlos. 1492 symbolbeladen für das Trennende der bei- Möglichkeiten zu erwägen, wie man sie zu
marschierte die „Reconquista“ (Rück- den verwandten Religionen wie der Kampf unserm heiligen Glauben bekehren könne“.
eroberung) in Granada ein, der letzten um das Heilige Land. Die Zeitgenossen Das Zeitalter der europäischen Expan-
muslimischen Bastion in Westeuropa. Un- hätten sich darüber gewundert. sion begann mit enormer Hybris. Schon
ter spanischer Herrschaft galt die Doktrin Für die Muslime des Mittelalters waren 1493 teilte Papst Alexander VI. in einer
von der „Reinheit des Blutes“, die eine die Kreuzzüge nur eine Episode. Ihr Reich Bulle die größer gewordene Welt auf. Ent-
christliche Abstammung bis zurück zu den erstreckte sich zu der Zeit, als die „farang“ lang einer Nord-Süd-Linie durch den At-
Westgoten von allen verlangte, die in Mi- (Franken) in Palästina zu wüten begannen, lantik sprach er alle westlich davon gele-
litär oder Verwaltung auf höhere Posten von Zentralasien und Nordindien bis an genen Gebiete den Spaniern zu, die östlich
gelangen wollten. Juden, die nicht konver- den Atlantik. Kairo, Bagdad und Córdoba gelegenen den Portugiesen – gegeben zu
tierten, mussten das Land verlassen. waren ihre wichtigsten Metropolen. Rom „aus der Fülle Unserer apostolischen
Mit der Religionsfreiheit war es vorbei. Schwer erschüttert wurde das Reich der Machtbefugnis“. Das war der Geist, in dem
1501 wurden Tausende Korane und Hand- Kalifen nicht durch die christlichen Erobe- die Europäer es für richtig hielten, über
schriften verbrannt. 1526 rief in ganz Spa- rer, sondern durch die Mongolen. Unter den Globus zu herrschen.
nien kein Muezzin mehr zum Gebet. ihrem Ansturm ging 1258 die Abbasiden- Aber was hatte sie überhaupt aufs Meer
Hauptstadt Bagdad unter; es war das Ende hinausgetrieben?
„Deus lo vult!“ einer großen Dynastie. Die Antwort liegt in der Türkei. Im Lauf
Die Christen haben sich Jesus immer als Die Verwüstung Bagdads hatte ungeheu- des Mittelalters wurden die Osmanen zur
friedlichen Menschen vorgestellt, vorstel- re Ausmaße, Häuser, Moscheen, Paläste, muslimischen Vormacht, das Kalifat ging
len müssen. Ihre Heilige Schrift lässt ihnen alles wurde zerstört, auch die berühmten auf sie über. Mehr und mehr kontrollierten
keine Wahl. Nur einmal wird der Gottes- Bibliotheken. Durch die Tinte der in den sie die alten Handelsrouten von Asien nach
sohn handgreiflich, als er im Tempel die Tigris geworfenen Manuskripte soll sich Europa, die sogenannten Seidenstraßen.
Tische der Geldwechsler umwirft. Aber der Fluss blau gefärbt haben. Jerusalem Dann gelang den Osmanen ihr bis dahin
sonst: Friede, Friede. Halte die andere war da bereits wieder fest in muslimischer größter Triumph: 1453 eroberten sie Kon-
Wange hin. Liebe deine Feinde. Hand und sollte es bis 1917 bleiben, bis die stantinopel und machten die alte Metro-
Wie kann ein Christ Krieg führen? Briten die Stadt den Osmanen abnahmen. pole der orthodoxen Christen zu ihrer

In Vorurteilen erscheinen „alle Christen als missionarische


Kolonialisten, alle Muslime als militante Kämpfer“.

DER SPIEGEL 52 / 2017 19


Titel

Hauptstadt. Aus der Hagia Sophia wurde Bei seiner Propaganda half es Napoleon Zur Eröffnung im November hat der
eine Moschee. Das oströmische Reich, By- sehr, dass er rund 150 Wissenschaftler, Kar- französische Staatspräsident Emmanuel
zanz, es war einmal. tografen und Künstler mit nach Ägypten Macron eine Rede gehalten. Macron
Wie eine Wand hatte sich das Osmani- genommen hatte. Sie feierten Frankreich, kommt darin auf das Verhältnis von Islam,
sche Reich jetzt zwischen Zentraleuropa weil es als vorbildliche Kulturnation die Christentum und Judentum zu sprechen:
und den Fernen Osten geschoben. Portu- Schätze einer fernen Epoche gerettet habe, „Auf unzertrennliche Weise sind unsere
giesen, Spanier und andere christliche See- und füllten den Louvre mit den Werken Religionen miteinander verbunden. Jene,
fahrernationen sahen sich endgültig dazu der Pharaonenzeit. Auf ihren Gemälden die glauben machen wollen, dass der Islam
gezwungen, nach neuen Handelswegen zu zeigten sie Napoleon als charismatischen auf der Zerstörung der anderen Monotheis-
suchen. Überall errichteten die Europäer Anführer vor exotischer Kulisse. men aufgebaut ist, sind Lügner.“
ihre Kirchen. Christentum und Kolonialis- Das französisch-britische Machtspiel in Das ist genau, was der Kronprinz von
mus gingen Hand in Hand. einem Kernland des Islam übermittelte den Abu Dhabi hören will. Seit sein älterer
Muslimen eine brutale Botschaft: Sie sind Bruder Scheich Khalifa Bin Zayed Al
Napoleon kleidet sich in nicht mehr wichtig, und technologisch ha- Nahyan vor drei Jahren einen Schlaganfall
eine Dschalabija ben sie den Anschluss verloren. Das christ- erlitten hat, ist Mohammad Bin Zayed der
Bei Mondlicht um drei Uhr nachts betrat liche Europa hat sie überrollt. Diese eigentliche Herrscher in den Vereinigten
der französische Feldherr am 1. Juli 1798 Schmach sitzt so tief, dass noch 2015 ein Arabischen Emiraten.
in der Nähe von Alexandria ägyptischen Mitglied der islamistischen Terrorzelle von Der Kronprinz hat sich offiziell der To-
Boden. Es dauerte nicht lange, bis Napo- Paris auf Napoleon zeigt, um seinen Hass leranz verschrieben. Es gibt ein Ministe-
leon in Kairo wie ein Sultan Hof halten auf den Westen zu erklären. rium für Toleranz, und bei seinen öffentli-
konnte. Er bewunderte Mohammed, der Für den Mann, der sich 1804 zum Kaiser chen Auftritten ruft er auch gern zu Tole-
„ein Eroberer, ein Herrscher“ gewesen sei der Franzosen krönte, blieb Ägypten ein ranz auf. Politische Freiheit und gute
und „die Gestalt der Welt“ verändert habe. Land grandioser Fantasien. Einmal notier- Bedingungen für Haushaltshilfen und Bau-
Jesus dagegen: „ein Prediger“, mehr nicht. te er: „Ich sah mich selbst auf dem Weg arbeiter gehören aber nicht unbedingt
Napoleon sollte mit seinem Expeditions- nach Asien, einen Turban auf meinem dazu. Die Menschenrechtsorganisation Hu-
heer die Dominanz der Briten im Mittel- Kopf und in meiner Hand einen neuen Ko- man Rights Watch übt deutliche Kritik an
meer beenden, Ägypten zur französischen ran, den ich so verfasst hätte, dass er mir den Verhältnissen in Abu Dhabi. In dem
Provinz machen und neue Handelswege passt.“ Noch im letzten Exil auf St. Helena Land herrscht eine sehr konservative Aus-
erschließen. Er war noch keine dreißig Jah- träumte er davon, wie es gewesen wäre, legung des Islam vor, Scharia-Gerichtshöfe
re alt, ein exzellenter Krieger. ein neues Kalifat zu errichten. können für Gotteslästerung die Todesstrafe
Um die Herzen der Ägypter zu gewin- verhängen, und Peitschenhiebe und Am-
nen, wollte Napoleon keinesfalls als später Das Museum der Toleranz putation sind anerkannte Strafmittel.
Kreuzfahrer gesehen werden. Er kleidete Da sind sie wieder, gleich im ersten Raum: Christen dürfen allerdings ihren Glauben
sich in die Dschalabija, das traditionelle Maria und Jesus. Es ist nur eine kleine Sta- frei praktizieren, es gibt zahlreiche Kirchen.
arabische Gewand, feierte ein pompöses tue, aber im vor Kurzem eröffneten Lou- Das ist ein deutliches Signal in einer Zeit,
Fest am Geburtstag des Propheten und be- vre Abu Dhabi setzt sie ein Zeichen. in der es die Christen in vielen islamischen
hauptete abenteuerliche Dinge: „Die Fran- Neben der Elfenbeinskulptur stehen Ländern schwer haben, in Syrien, im Irak
zosen sind echte Muslime“, ließ er verkün- zwei weitere Mutter-Kind-Figuren in der oder in Ägypten. Besonders dramatisch hat
den. Und: „Ich verehre den Koran.“ Vitrine: eine altägyptische Isis, die ihrem es die uralten christlichen Gemeinden im
Es war der Betrug und Selbstbetrug ei- Sohn Horus die Brust gibt, und eine Dar- Irak getroffen. Als die von den USA geführ-
nes großen Egomanen. stellung aus dem Kongo. Das Arrangement ten Truppen 2003 dort einmarschierten und
Natürlich wurde er von vielen durch- soll den Besuchern die Augen öffnen: Men- den Diktator Saddam Hussein verjagten,
schaut. Als er die muslimischen Autoritä- schen verschiedener Kulturen und Epo- lebten rund 1,5 Millionen Christen im Land.
ten der Kairoer Azhar-Universität ersuch- chen sind einander ganz nah. Heute sind es weniger als 300 000.
te, die ägyptischen Imame sollten bitte die Für diesen Louvre haben die Herrscher Die neueste Trophäe der Toleranz in den
Freitagspredigt in seinem Namen halten, von Abu Dhabi den Namen des wohl be- Emiraten ist 66 mal 46 Zentimeter groß,
fand Scheich Abdullah al-Scharkawi eine rühmtesten Museums der Welt gekauft. Sie mehr als 500 Jahre alt und hat 450 Millio-
geschickte Antwort: „Sie wollen sich unter haben daraus ein Museum mit einer Bot- nen Dollar gekostet.
den Schutz des Propheten stellen. Er liebt schaft gemacht. Gezeigt wird die Geschich- Es handelt sich um das Gemälde „Sal-
Sie. Sie wollen, dass die arabischen Musli- te der gesamten Menschheit. vator Mundi“, Erlöser der Welt, von Leo-
me unter Ihren Bannern marschieren. Wer- Wer durch das von Jean Nouvel gestal- nardo da Vinci. Das teuerste Kunstwerk
den Sie Muslim!“ Napoleons Erwiderung, tete Gebäude läuft und die mit viel Geld der Welt zeigt Jesus Christus und soll sei-
wie er sie in seinen Notizen festhielt, wirkt und Verstand ausgewählten Exponate nen Platz im Louvre Abu Dhabi finden:
ehrlich: „Es gibt zwei große Schwierigkei- betrachtet, kommt ins Staunen. Der Rund- ein Werk des christlichen Abendlands als
ten, die meine Armee und mich davon ab- gang wird zu einer Entdeckungsreise Prunkstück in einer arabischen Monarchie,
halten, Muslime zu werden. Die erste ist durch das Reich der Menschheit und die den Islam als Staatsreligion hat.
die Beschneidung, die zweite der Wein.“ der Kreativität, die Ähnlichkeiten zwi- In der Hauptstadt und noch mehr in der
Weil die Briten und die Osmanen den schen den Kulturen sind verblüffend. rund hundert Kilometer entfernten Metro-
Franzosen immer mehr zusetzten, merkte Aber das Bild ist unvollständig und ge- pole Dubai ist man seit vielen Jahren da-
Napoleon, dass er trotz seines schnellen schönt: Krieg, Elend, Ausbeutung kom- bei, möglichst krisenfeste Einnahmequel-
Sieges auf verlorenem Posten stand. Heim- men fast nicht vor. len für die Zeit nach dem teuren Öl zu fin-
lich setzte er sich im August 1799 nach den. Das geht nur, wenn Menschen aus
Frankreich ab, wo er sein orientalisches der ganzen Welt in den Emiraten nach ih-
Abenteuer in einen glänzenden Erfolg um- Video: rer Fasson glücklich werden können. Des-
deutete und die Macht an sich riss. Das „Jesus war Muslim“ halb predigen die Herrscher Toleranz. In
Kommando am Nil übertrug er seinem ver- spiegel.de/sp522017jesus einer von viel Hass geprägten Welt ist das
blüfften General Jean-Baptiste Kléber. oder in der App DER SPIEGEL trotz allem ein gutes Signal.
20 DER SPIEGEL 52 / 2017
ABACA / DDP / ABACA PRESS
Leonardo-Gemälde „Salvator Mundi“: Prunkstück einer arabischen Monarchie

Aus dieser Haltung heraus hat der Kron- ein Wesen mit einer Mutter, aber ohne Vater koll, auf formalen Wegen. Sie beten, sie
prinz auch die Moschee, die ursprünglich geschaffen, das war Jesus. Aus der Perspek- fasten, sie pilgern, wie es Vorschrift ist.
seinen Namen trug, nach Maria benannt. tive des allmächtigen Gottes ist Jesus wie Das entlastet sie oft stärker als im Chris-
Er wolle damit, sagte er zur Feier der Na- Adam. Er schuf ihn aus Staub und sagte zu tentum von persönlichen Entscheidungen,
mensänderung, „die Bande der Mensch- ihm: Sei! Und so begann er zu existieren.“ erfordert aber permanente Mühen.
lichkeit zwischen den Anhängern verschie- Und was sagt Andrew Thompson dazu? Der islamische Gott ist also streng. Aber
dener Religionen festigen“. Hat er schon einmal versucht, Muslimen das bedeutet nicht, dass er ein anderer Gott
Das Gespräch zwischen dem Imam, dem die Dreifaltigkeit zu erklären? Er winkt ab ist als der christliche Gott. Thompson
Religionsgelehrten und dem christlichen und sagt: „Selbst für viele Christen ist die kommt auf sein Gleichnis zurück: „Jesus
Gemeindeführer neigt sich jetzt dem Ende Trinität ein Mysterium.“ hat seinen Anhängern gesagt, dass Gott für
zu. Eine der schwierigsten Fragen ist noch Aber er hat eine kleine Geschichte parat, uns auf andere Weise zugänglich sei, durch
unbeantwortet: Ist es möglich, Muslimen ein Gleichnis. ihn selbst, als liebender Vater.“
die Dreifaltigkeit nahezubringen, also die Das Gleichnis geht so: „Alle kennen und Nach fast drei Jahrzehnten als Kirchen-
Lehre, dass es Gott in dreifacher Gestalt ehren den Präsidenten der Vereinigten mann in muslimischen Ländern habe er
gebe, als Vater, Sohn und Heiligen Geist? Arabischen Emirate, Scheich Khalifa. Ehe gelernt, „dass hier ein großer Unterschied
Almuhairi und Jadali schauen interes- wir dem Präsidenten persönlich begegnen liegt: derselbe Gott, aber verschiedene Ein-
siert und freundlich. Aber sie sagen nichts. können, gehen wir durch seinen Palast, zu- gangstüren.“
Was sollen sie auch sagen? Der Koran, erst durch den Haupteingang, und wir müs- Für Christen führt an Jesus kein Weg
die unbedingte Richtschnur ihres Glau- sen viele protokollarische Regeln und Ri- vorbei. In ihm sehen sie, wie es der Angli-
bens, ist in diesem Punkt eindeutig. In der tuale befolgen. Aber wenn ich mit Scheich kaner sagt, „die ganze Fülle von Gottes
Maria-Sure heißt es: „Es steht Gott nicht Khalifas Sohn Freundschaft schließen wür- Offenbarung“. Den Muslimen hat sich
an, einen Sohn anzunehmen.“ de, dann würde er mich durch den Neben- Gott auf andere Weise offenbart: in einem
Issa, der muslimische Jesus, ist Marjams eingang in die Räume der Familie führen, Buch, dem heiligen Koran.
Sohn, aber nicht Gottes Sohn. Er hat über- und ich würde den Präsidenten dort als
haupt keinen Vater. Das ist ein fundamen- den Vater seines Sohnes treffen. Dieselbe
taler Unterschied zum Christentum. Person, aber eine ganz unterschiedliche Lesen Sie zum Thema auch
Der Imam beginnt nun doch zu erzählen: Begegnung, eine ganz andere Erfahrung.“ das aktuelle Heft
„Der allmächtige Gott hat zuallererst ein Fast beiläufig erklärt Thompson in SPIEGEL GESCHICHTE
Wesen ohne Vater und ohne Mutter geschaf- seiner Geschichte einen weiteren grundle- Das Christentum. Die erfolg-
fen, das war Adam. Als Nächstes hat Gott genden Unterschied zwischen Islam und reichste Religion der Welt 
ein Wesen mit einem Vater, aber ohne Mut- Christentum. Im Islam ist Gott entrückt Erhältlich am Kiosk, im Buch-
ter erschaffen, das war Eva, geformt aus ei- und unendlich machtvoll, die Gläubigen handel oder im SPIEGEL SHOP
ner der Rippen Adams. Schließlich hat Gott begegnen ihm sozusagen durch ein Proto- unter www.spiegel.de/shop

DER SPIEGEL 52 / 2017 21


OLE SPATA / PICTURE ALLIANCE / DPA
Bodycam

Bundesinnenministerium

Mauscheln für Motorola


Bundespolizeipräsident stoppt Einsatz der neuen Körperkameras.

Die Affäre um den Kauf von Körperkameras bei der Bundes- Angebot ab. Das Motorola-Gerät bekam also den Zuschlag,
polizei weitet sich aus. Es gibt neue Anzeichen, dass das Ge- obwohl es deutlich teurer ist als andere Geräte. Gekauft wur-
schäft gezielt der Firma Motorola zugeschanzt wurde, für die den die Bodycams als angebliches Zubehör zum Motorola-
der frühere Innenstaatssekretär und heutige Lobbyist August Funkgerät, mit dem die Bundespolizisten bereits ausgerüstet
Hanning in seinem alten Ministerium geworben hatte. Das sind. Auf SPIEGEL-Anfrage räumte das Ministerium ein, dass
Innenministerium gab Motorola bereits den Zuschlag für den es keine Bildverbindung zwischen den neuen Kameras und
Millionenauftrag (SPIEGEL 51/2017), doch Bundespolizeiprä- den Funkgeräten gibt. Eine Erklärung, warum die Ausschrei-
sident Dieter Romann hat vergangene Woche den Einsatz bung trotzdem auf den für Motorola so günstigen Begriff
der Kameras in einem Schreiben an alle Direktionen bis zum „Funkzubehör“ zugeschnitten wurde, blieb das Ministerium
14. Januar 2018 gestoppt. Der Personalrat hatte seine Zu- schuldig. Martin Gerster, zuständiger SPD-Mann im Haus-
stimmung verweigert, auch wegen der dubiosen Umstände haltsausschuss des Bundestags, hat angekündigt, der Sache
der Auftragsvergabe. In der Ausschreibung war nur für Ein- nachzugehen. „Es scheint sich um einen sehr merkwürdigen
geweihte erkennbar, dass es überhaupt um Bodycams ging. Vorgang zu handeln“, so Gerster. „Ich habe das Bundes-
Wie sich nun herausstellt, gab tatsächlich allein Motorola ein innenministerium um Aufklärung gebeten.“ amp, gla, js, rab

Weihnachtsgrüße „friedvolle Tage“ von oben immer dazu müsse „um jede neue Com-
Unfriedvolle Post wünscht. „Vielleicht
trägt unsere gemeinsa-
angehalten, bloß kei-
ne Ausdrucke zu ma-
putermaus kämpfen“, heißt
es. Das Weihnachtsgeld wur-
Der nordrhein-westfälische me Arbeit dazu bei, chen und nur E-Mails de in den vergangenen Jah-
PICTURE ALLIANCE

Finanzminister Lutz Lienen- dass es unserem Land zu verschicken“, är- ren mehrfach gekürzt. Laut
kämper (CDU) hat Verwal- in einem Jahr ein biss- gert sich ein Beamter Ministerium habe man Lie-
tungsmitarbeiter mit Weih- chen besser geht“, über die Verschwen- nenkämpers Brief meist „kos-
nachtspost vor den Kopf schrieb der seit Juni dung. Die Sparzwän- tenneutral“ regelmäßigen
gestoßen. Lienenkämper amtierende Politiker Lienenkämper ge in Nordrhein-West- Sendungen beigelegt. Sein
schickte den rund 28 000 Be- dazu. Seine Vorgän- falens Finanzämtern Schreiben, so der Minister,
amten und Angestellten ger hatten ihre Weihnachts- sind enorm; Mitarbeiter solle als „Zeichen der Wert-
einen mit Christbaumkugeln grüße elektronisch versendet warten mitunter jahrelang schätzung für die gute Ar-
verzierten Brief, in dem er statt auf Papier. „Wir werden auf neue Büroschränke. Man beit“ verstanden werden. le

22 DER SPIEGEL 52 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Nato-Osterweiterung bereits im Oktober
Gorbatschow 1990 dafür, die Tür
getäuscht zu einer Nato-Erwei-
terung „angelehnt zu
Seit Jahren streiten Russland lassen“ – also nicht
und der Westen, ob die Nato zu schließen. Als
mit ihrer Osterweiterung Gorbatschow eine
gegen Versprechen verstieß, Garantie forderte,
die das Atlantische Bündnis dass Prag nicht der
nach dem Mauerfall 1989 Nato beitritt, be-
geleistet hatte (SPIEGEL stärkte Cheneys
48/2014). Nun sind ameri- Staatssekretär Paul
kanische, britische und rus- Wolfowitz die Tsche-
sische Dokumente aufge- chen darin, Gorba-
taucht, die zeigen, dass west- tschows Ansinnen
liche Politiker 1990/91 der abzulehnen. Derweil
von Michail Gorbatschow versicherte Nato-Ge- Gorbatschow, Bush 1990 in Helsinki

SYGMA
geführten Sowjetunion zu- neralsekretär Man-
sagten, die Allianz nicht zu fred Wörner einer
erweitern – während ameri- Delegation aus Moskau, Als der sowjetische Verteidi- dergleichen wird passieren.“
kanische Neokonservative der Nato-Rat und er seien gungsminister Dmitri Jasow Die private US-amerika-
intern einer Erweiterung „gegen eine Ausdehnung“. zu ihm sagte, er sorge sich, nische Vereinigung National
Vorschub leisteten. So plä- Großbritanniens Premier- dass Polen oder Ungarn der Security Archive hat die
dierte George Bushs Verteidi- minister John Major ging so- Allianz beiträten, antwortete Dokumente jetzt veröffent-
gungsminister Dick Cheney gar noch einen Schritt weiter. Major apodiktisch: „Nichts licht. klw

Einwanderung I Staatsräson ist“, so der Einwanderung II zialer Anknüpfungspunkt“


Staatsräson Israel Unionsmann. Hierzu müss- Linken-Zoff wie ein Engagement in ei-

Bundestagsvizepräsident
ten sich Migranten aktiv
bekennen, fordert Friedrich: um Migration nem gemeinnützigen Verein
oder familiäre Bindungen
Hans-Peter Friedrich (CSU) „Wer Deutscher werden oder In der Bundestagsfraktion der in Deutschland. „Das Kon-
fordert ein entschiedeneres dauerhaft hier leben will, Linken gibt es Verdruss über zept ist weltfremd“, kritisiert
Vorgehen gegen einen unter muss diese spezifisch deut- ein Einwanderungs- Sevim Dagdelen, stell-
muslimischen Einwanderern sche Befindlichkeit akzeptie- konzept, das die Frak- vertretende Linken-

MILOS DJURIC / DER SPIEGEL


verbreiteten Antisemitismus. ren.“ Der CSU-Politiker ist tionen in den sechs Fraktionschefin. „Die
„Ein wesentlicher Teil der jedoch skeptisch, ob sich die- Ostbundesländern ent- gesellschaftlichen und
Integrationsbemühungen ses Ziel noch erreichen lässt: wickelt haben. Danach ökonomischen Folgen
muss sein, diesen Menschen „Möglicherweise haben wir sollen Migranten zu- werden nicht bedacht.“
verständlich zu machen, dass bei vielen den ‚Point of no nächst ein Jahr lang Die Parteifreunde
die Existenz Israels deutsche return‘ schon verpasst.“ ama in Deutschland bleiben hätten versäumt ab-
dürfen. Um im An- Dagdelen zuschätzen, wie viele
schluss eine unbefriste- Menschen in welchem
te Aufenthaltserlaubnis zu er- Zeitraum einwandern könn-
halten, muss nicht unbedingt ten, „ob 20 000, 200 000, zwei
ein Arbeitsverhältnis vorlie- Millionen oder 20 Millionen
gen, es genüge auch ein „so- jährlich“, so Dagdelen. abe

Große Koalition der diskreten Zusammenkunft


Vertrauliches Treffen sollen Bundeskanzlerin An-
gela Merkel, CSU-Chef Horst
Union und SPD haben für An- Seehofer, der SPD-Vorsitzen-
fang des Jahres ein vertrauli- de Martin Schulz, die Frak-
ches Spitzentreffen vereinbart, tionsvorsitzenden von Union
um über eine mögliche Koali- und SPD, Volker Kauder und
tion zu reden. Die Begegnung Andrea Nahles, sowie CSU-
zwischen den Partei- und Landesgruppenchef Alexan-
Fraktionschefs soll am 3. Ja- der Dobrindt teilnehmen. Die
nuar stattfinden. Öffentlich SPD will zuvor ihre Linie für
hatten beide Seiten erklärt, die Gespräche verabreden;
man werde erstmals am 7. Ja- die CSU-Landesgruppe trifft
DPA

nuar die Chancen für eine Zu- sich im Anschluss am Chiem-


Demonstranten beim Verbrennen einer Davidstern-Flagge in Berlin sammenarbeit ausloten. An see. ran

DER SPIEGEL 52 / 2017 23


Deutschland

Missbrauch
Sportbund bremst
Prävention
Der Unabhängige Beauftrag-
te für Fragen des sexuellen
Kindesmissbrauchs der Bun-
desregierung, Johannes-Wil-
helm Rörig, ärgert sich über
den Deutschen Olympischen
Sportbund (DOSB). Seit
Monaten arbeite man gemein-
sam an einem Projekt zur
Prävention sexualisierter
Gewalt im Sport; doch nun
bremsten die Olympia-Funk-
tionäre. „Ich hoffe, dass mir
der Geduldsfaden nicht
reißt“, sagt Rörig und droht
an, die Planung für „Kein
Raum für Missbrauch im

NIGEL TREBLIN / DDP IMAGES


Sport“ zu beenden und sich
„andere Wege“ zu suchen.
Geplant sei eine Kampagne
mit prominenten Sportlern,
um das Thema „aus der Tabu-
zone zu holen und Betroffene
und Mitwissende zu ermuti- Piloten im EC-135-Helikopter
gen, ihr Schweigen zu bre-
chen“. Dazu soll eine Web-
site mit Informationen und Bundeswehr Vertrag beim Automobilclub schrauber vom Typ „Tiger“
Ansprechpartnern geschaltet Soldaten trainieren eingekauft. Von März 2018 als auch der NH90 leiden
werden. Obwohl das Projekt
laut Rörig schon startklar war, mit ADAC-Helis an sollen Bundeswehrpiloten
am Truppenstandort im nie-
unter technischen Ausfällen
und stehen nicht oft genug
fragte der DOSB plötzlich Die Bundeswehr lässt ihre dersächsischen Bückeburg für Ausbildungsflüge zur
beim Missbrauchsbeauftrag- Piloten wegen des schlechten auf zivilen Hubschraubern Verfügung. Auf den ADAC-
ten und beim Bundesinnen- Zustands ihrer Helikopter- vom Typ EC 135 für ihre Hubschraubern solle vor
ministerium an, ob diese flotte künftig auch in ADAC- Basisausbildung oder zum allem der Instrumentenflug
nicht die Finanzierung über- Hubschraubern trainieren. Erhalt von Fluglizenzen geübt werden, so das Wehr-
nehmen könnten. Das ge- Für rund 21 Millionen Euro Stunden abfliegen. Grund ressort. Militärisch werden
plante Angebot würde einen hat das Verteidigungsministe- der Notmaßnahme: Sowohl die Piloten weiterhin auf
niedrigen fünfstelligen Betrag rium am vergangenen Diens- die erst vor einigen Jahren Helikoptern der Bundeswehr
kosten. le, akm tag 6500 Flugstunden per eingeführten Militärhub- ausgebildet. mgb

Stiftungen Menschen über seinen Tod desto mehr verblasst das Per- SPIEGEL: Fällt nicht ins Ge-
„Postmortales hinaus schützenswert ist. Die sönlichkeitsrecht. Bismarcks wicht, dass Stresemanns
Persönlichkeitsrecht“ Nachkommen können dieses Nachkommen können sich
Recht ihres verstorbenen nicht dagegen wehren, wenn
Positionen schwer vereinbar
sind mit der AfD-Ideologie?
Ansgar Ohly, 51, Münchner Jura- Verwandten für ihn geltend ihr Ahne vereinnahmt wird. Ohly: Wenn sich ein Richter
professor, zu der Frage, ob das machen. SPIEGEL: Stresemann starb 1929. findet, für den Stresemann
Vorhaben der AfD, ihre Stiftung SPIEGEL: Wie lange ist denn Ohly: Da stehen die Chancen noch schutzberechtigt ist,
nach dem nationalliberalen ein Toter geschützt? eher schlecht. Ich kenne kein hätte eine Klage gute Chan-
Politiker Gustav Stresemann Ohly: Dazu gibt es Urteil, das Per- cen: Denn das Gericht würde
zu benennen, anfechtbar ist keine klaren Geset- sönlichkeitsrechte zwischen der Meinungsfrei-
ze, die Materie wird nach so langer heit der AfD-Stiftungsgrün-
SPIEGEL: Gustav Stresemanns durch Urteile ge- Zeit noch aner- der und Stresemanns post-
Nachkommen wollen verhin- prägt. Je nach Pro- kennt. Das Urteil mortalem Persönlichkeits-
dern, dass die AfD-Stiftung minenz und histo- mit der wohl recht abwägen. Dabei würde
ihren Großvater kapert. Wie rischer Bedeutung längsten postmor- sich zeigen, dass Stresemanns
stehen ihre Chancen? der Person ist der talen Schutzdau- politische Positionen nicht
ULLSTEIN BILD

Ohly: Das ist eine Frage des Schutz sehr unter- er betraf den zur AfD passen. Dass die
sogenannten postmortalen schiedlich. Klar ist: Maler Emil Nolde, Partei Namen und Image ka-
Persönlichkeitsschutzes, also Je mehr Zeit nach der damals etwa pert, könnten die Angehö-
wie lange das Ansehen eines dem Tod vergeht, Stresemann um 1920 33 Jahre tot war. rigen dann unterbinden. ama

24 DER SPIEGEL 52 / 2017


Renault ZOE
Weiter: bis zu 400 km Reichweite. 1

21.100,– €
2

Ab

Zzgl. ab 69,– € mtl. Batteriemiete 3

Der 100 % elektrische Renault ZOE. Deutschlands meistgekauftes Elektroauto.4


1
Nach NEFZ homologierte Reichweite mit der Z.E. 40 Batterie (41 kWh). Faktoren wie Fahrweise, Geschwindigkeit, Topografie, Zuladung,
Außentemperatur und Nutzungsgrad elektrischer Verbraucher haben Einfluss auf die tatsächliche Reichweite. Die meisten Faktoren können vom Fahrer
beeinflusst werden und sollten zugunsten maximaler Reichweite stets berücksichtigt werden. 2 Angebotspreis für einen Renault ZOE Life mit Z.E. 40
Batterie inklusive 5.000,– € Elektrobonus, ohne Antriebsbatterie. Der Elektrobonus enthält 2.000,– € staatlichen Umweltbonus sowie 3.000,– € Renault
Elektrobonus gemäß den Förderrichtlinien des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie zum Absatz von elektrisch betriebenen Fahrzeugen.
Nicht kombinierbar mit anderen Aktionsangeboten von Renault. Bei allen teilnehmenden Renault Partnern. Gültig für Privatkunden mit
Kaufvertragsdatum ab dem 18.05.2016 bis zum 31.12.2017. 3 Zzgl. eines monatlichen Mietzinses von 69,– € bei einer Jahresfahrleistung von 7.500 km
mit der Z.E. 40 Batterie (41 kWh). Fahrzeug wird nur verkauft bei gleichzeitigem Abschluss eines Mietvertrags für die Antriebsbatterie mit der Renault
Bank, Geschäft sbereich der RCI Banque S. A. Niederlassung Deutschland, Jagenbergstraße 1, 41468 Neuss. Der monatliche Mietzins deckt die
Bereitstellungskosten für die Batterie sowie die Renault Z.E. Assistance ab. 4 Quelle: KBA Dezember 2016. Abbildung zeigt Renault ZOE Intens mit
Sonderausstattung. Renault Deutschland AG, Postfach, 50319 Brühl.
Deutschland
ULI DECK / DPA

Spähziel Weihnachtsmarkt
Sicherheit In Karlsruhe ist womöglich ein islamistisches Attentat verhindert worden.
Die Terrorgefahr in Deutschland ist nicht gebannt, IS-Rückkehrer verschärfen das Risiko.

D
as Ende der monatelangen Über- Sicherheitsbehörden beinahe Realität ge- zielle Attentäter. „Wir hatten es mit einer
wachung kam abrupt. Mit einem worden. sehr ernsten Bedrohung zu tun“, sagte Ba-
Faustschlag streckte ein Beamter Denn Dasbar W. ist kein Flüchtling wie den-Württembergs Innenminister Thomas
des Spezialeinsatzkommandos Baden- Amri oder die Attentäter von Ansbach und Strobl nach der Festnahme von Dasbar W.
Württemberg am Mittwoch den 29-jähri- Würzburg. Er ist ein deutscher Staatsbür- Mehr als 960 Männer und Frauen sind
gen Dasbar W. in Karlsruhe auf offener ger, geboren in Freiburg im Breisgau, der seit 2011 aus Deutschland in die Kriegs-
Straße nieder. Dann wurde der Verdächti- mehrfach in den Nordirak reiste und dort gebiete des Nahen Ostens gereist. Etwa
ge festgenommen. womöglich von der Terrormiliz „Islami- 150 von ihnen sind inzwischen tot. Ein Drit-
Ein Jahr nach dem Berliner Lkw-An- scher Staat“ (IS) angeworben wurde. Sein tel ist bereits zurückgekehrt, der Rest lebt
schlag von Anis Amri hatten die Beamten mutmaßlicher Kampfname: „Abdullah“. noch im bisherigen Konfliktgebiet und
ein ähnliches Verbrechen befürchtet, dies- Intensiv hat sich Deutschland in den ver- könnte bald nach Hause kommen.
mal am Karlsruher Weihnachtsmarkt. gangenen Wochen mit der Trauerarbeit Geheimdienste und Polizei haben schon
Dort seien vor den Feiertagen Hunderte, zum Jahrestag des Berliner Attentats be- länger vor den Rückkehrern gewarnt. Sie
vielleicht auch Tausende Menschen ver- schäftigt. Die Leiden der Überlebenden könnten als Killerkommandos vom IS ge-
sammelt, hat Dasbar W. offenbar gegen- und Hinterbliebenen rückten endlich in schickt worden sein. Oder als verrohte, in-
über einem V-Mann der Polizei ge- den Vordergrund (SPIEGEL 49/2017). doktrinierte und traumatisierte Ex-Kämp-
schwärmt. Am dritten Advent soll er sich Kurz vor Weihnachten ruft die Festnah- fer in Deutschland aus eigenem Antrieb
auf YouTube eine MDR-Reportage ange- me von Karlsruhe nun in Erinnerung: Die ihren Krieg fortführen wollen.
schaut haben: „Wie sicher sind Antiterror- Anschlagsgefahr ist nicht gebannt. Ausge- Der Chef des britischen Inlandsgeheim-
Betonsperren?“ rechnet die IS-Niederlagen in Syrien und dienstes MI5 prophezeite vor einigen Wo-
Sollte sich der Verdacht bestätigen, wäre dem Irak verschärfen hierzulande das Risi- chen, mit dem physischen Ende des IS
in Deutschland ein Schreckensszenario der ko – viele IS-Rückkehrer gelten als poten- stehe man vor einer „Zeitenwende“. In
26 DER SPIEGEL 52 / 2017
Möglicher Anschlagsort
vor dem Karlsruher Schloss,
Wohnhaus des Beschul-
digten, Festgenommener
Dasbar W. auf dem Weg
zum Haftrichter
Rund um die Uhr von
Ermittlern überwacht

ULI DECK / DPA


CHRISTOPH SCHMIDT / DPA
Großbritannien sei die Terrorgefahr „so W. rund um die Uhr und hörten ihn ab. bislang eher zurückhielten, ist für viele ein
hoch wie nie“. Seine deutschen Kollegen Sogar seine Wohnung verwanzten sie. Nun Rätsel. Der Islamwissenschaftler Guido
sehen die Situation nur wenig entspannter. konnten die Fahnder mithören, wie er an- Steinberg verweist darauf, dass in Frank-
Es sei „verstärkt mit Anschlägen in scheinend Lieder über die „Soldaten des reich eher Marokkaner und Tunesier die
Europa“ zu rechnen, heißt es intern. Kalifats“ hörte und davon sprach, als Mär- islamistische Szene bestimmten; beide Na-
Wie die Ermittler rekonstruierten, war tyrer sterben zu wollen. Einmal hätten sie tionen hätten auch die größten Kontingen-
Dasbar W. bereits seit Frühjahr 2015 in sogar gehört, wie er bekundete, er sei te ausländischer Kämpfer beim IS gestellt.
einem islamistischen Chatroom im Inter- „nicht mehr gegen Menschenmengen“. Er In Deutschland dagegen gebe es viele Ex-
net aktiv. Dort soll er IS-Kämpfer als Hel- lachte offenbar dabei. Wollte er damit Kämpfer mit türkischen Wurzeln, und die-
den bejubelt haben. Monatelang habe er sagen, er könne sich auch einen Anschlag se folgten der Ideologie der arabisch ge-
mit rund 30 gleichgesinnten Chatpartnern auf eine Menschenmenge vorstellen? führten Terrororganisationen weniger lei-
geplaudert. Dazu kam es nicht. Aber seinen Willen denschaftlich.
Im Sommer desselben Jahres reiste W. zum Losschlagen haben die Behörden aus Die Erfahrungen in Großbritannien und
in den Irak, besuchte offenbar Verwandte – ihrer Sicht gut dokumentiert. Sollten sie Frankreich zeigten aber, so Steinberg, dass
und suchte nach Erkenntnissen der Behör- recht behalten, hat W. Gesprächspartner die Rückkehrer die „mit Abstand größte
den Kontakt zu IS-Mitgliedern. Im März zu Waffen befragt, mit ihnen über Spreng- Gefahr für die innere Sicherheit Europas
2016 kam er zwar zurück nach Deutsch- stoff und Bomben gesprochen – und den sind“.
land, doch wenig später war Dasbar W. Platz vor dem Karlsruher Schloss ausge- Bislang sind etwa 500 im IS-Gebiet ver-
schon wieder im Irak. Dort soll er sich späht, wo während des Weihnachtsmarkts bliebene Islamisten zwar nicht nach
nach Auffassung der Bundesanwaltschaft Stände und eine Eisbahn aufgebaut sind. Deutschland zurückgekehrt. Sie dürften
dem IS angeschlossen und das Schießen Er habe geeignete Zufahrten gesucht und es schwer haben, die Heimreise anzutreten,
gelernt haben. Auf seinem iPhone entdeck- die Örtlichkeiten gefilmt. selbst wenn sie dies wollten. Dennoch, so
ten die Ermittler später ein Video, das ihn Viele Vorwürfe der Fahnder beruhen sagt ein ranghoher Sicherheitsbeamter,
an einem Schießstand in den Bergen zeigt, auf den Aussagen eines V-Manns des LKA. müsse man „jederzeit mit einer größeren
wo er mit einem Gewehr einen Übungs- Manches davon hat sich bei Durchsuchun- Rückkehreranzahl rechnen“.
schuss abfeuert. Im Hintergrund wird of- gen und beim Abhören offenbar bestätigt. In Deutschland sind nun auch deswegen
fenbar Kurdisch gesprochen. Der Strafverteidiger von Dasbar W., Aussteiger- und Deradikalisierungspro-
Im Sommer 2017 landete er wieder in Marc Jüdt, erklärt jedoch: „Mein Mandant gramme für Islamisten besonders gefragt.
Deutschland. Das Landeskriminalamt bestreitet vehement, jedwede Anschlags- Die Herausforderungen sind groß: „Je län-
(LKA) Baden-Württemberg und der Gene- pläne gehabt zu haben.“ ger Personen im IS-Gebiet waren, desto
ralbundesanwalt ermittelten nun mit gro- Warum sich europäische IS-Mitglieder größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie
ßem Aufwand gegen ihn. Sie überwachten in Deutschland – anders als in Frankreich – tief in das verbrecherische System ver-

DER SPIEGEL 52 / 2017 27


strickt waren“, sagt Thomas Mü- len. „Bist du fertig? Dann geh
cke, der Geschäftsführer der De- spielen“, habe seine dreieinhalb-
radikalisierungsorganisation Vio- jährige Schwester daraufhin zu
lence Prevention Network. ihm gesagt: „Geh Kuffar töten!
Frühere Rückkehrer hatten oft Töte Kuffar!“
nur wenige Monate beim IS ge- „Gott segne meine Kinder!“,
lebt, bis sie teils desillusioniert schrieb die stolze Mutter unter die
der Terrorgruppe den Rücken Episode.
kehrten. Die Männer und Frauen, Auch deswegen will der Ge-
die jetzt aus dem Kriegsgebiet zu- neralbundesanwalt jetzt härter
rückkämen, hätten dagegen teils gegen die Dschihad-Frauen vor-
Jahre beim „Islamischen Staat“ gehen und sie wegen der Mit-
verbracht. Sie bilden den harten gliedschaft in einer ausländi-

MICHAEL KAPPELER / DPA


Kern. schen terroristischen Vereinigung
Deradikalisierung ist aufwen- vor Gericht bringen. Ein Präze-
dig und braucht viel Zeit und denzfall dafür ist derzeit in Karls-
gutes Personal. Mindestens ein, ruhe beim Bundesgerichtshof an-
eher zwei Jahre nach der Entlas- hängig.
sung aus dem Gefängnis müssten Verfassungsschutzpräsident Maaßen Es geht um die Islamistin Sibel
die ehemaligen IS-Leute intensiv „Eine neue Generation von Dschihadisten“ H. aus Offenbach. Vor Jahren
betreut werden, sagt Mücke. Und suchte sie im Internet einen „Lö-
selbst dann sei der Erfolg nie sicher: „Die sagte, man müsse dem Weihnachtsmann wen“ zum Heiraten. Sie fand ihn in Ali S.,
Gefahr eines Rückfalls ist immer da.“ den Kopf abschneiden. Der Junge war ge- einem Kampfsportler aus Frankfurt, der
Aktuell befinden sich nur rund 40 Pro- rade vom IS aus Syrien zurückgekehrt, wo- in Syrien in den Reihen des IS gekämpft
zent der Rückkehrer in Haft, so eine interne hin ihn seine Mutter mit den Geschwistern hatte.
Schätzung aus den Sicherheitsbehörden. zehn Monate zuvor verschleppt hatte. Die beiden heirateten im Herbst 2013,
Und auch sie werden irgendwann wieder Zwar hatten die Kinder beim IS kein doch ihr Glück im Dschihad währte nur
in Freiheit sein. Dabei ist die Szene, in die Ausbildungscamp absolviert. Dennoch sei- kurz. Schon wenige Monate später starb
ehemalige IS-Leute zurückkehren könnten, en sie traumatisiert und „wie gehirngewa- Ali S. bei einem Gefecht. Sibel H. reiste
in Deutschland so groß wie nie. schen“ aus Syrien zurückgekehrt, berichtet daraufhin zurück nach Deutschland und
Das Bundesamt für Verfassungsschutz ihr Onkel. Der Ältere habe nachts wieder traf in ihrer Heimat Deniz B. – einen
bezeichnet rund 10 800 Männer und Frauen eingenässt. Mann, den die Polizei als Sexualstraftäter
als Salafisten. Etwa 1870 von ihnen hält Sobald ein Polizeiauto vorbeifuhr, habe führt, weil er sich in der Vergangenheit an
das Amt für islamistisch-terroristisch. er von den „Kuffar“ geredet, den Ungläu- Kindern vergriffen haben soll. Zum Ent-
„Wenn die Leute in diese Strukturen zu- bigen. Er habe dann mit seiner Hand eine setzen von B.s Familie, die ihren Sohn von
rückkehren, sind sie für Aussteigerpro- Waffe geformt und spielerisch auf das Auto einer „schwarzen Witwe“ umgarnt sah, zo-
gramme praktisch nicht mehr erreichbar“, geschossen. Die Oma wollte er zunächst gen die beiden wieder ins Kriegsgebiet.
sagt ein langjähriger Staatsschützer. nicht umarmen, weil auch sie eine „Kuffar“ Sie blieben beim IS, bis die irakische Ar-
Und es sind nicht nur die kämpfenden sei, so wie fast alle anderen in der Nach- mee sie gefangen nahm. Nun sitzen sie im
Männer, die nach Deutschland zurückkom- barschaft. Zur Sicherheit hätten sie zu Hau- irakischen Erbil im Gefängnis, mit einem
men. Es gibt auch die Frauen und Kinder. se erst mal alle Messer weggeräumt. gemeinsamen Kind.
„Wir sehen die Gefahr, dass Kinder von Nur weil die Kinder den Onkel als Au- Der Generalbundesanwalt hat für Sibel
Dschihadisten islamistisch sozialisiert und torität anerkannten, sei es ihm gelungen, H. inzwischen einen Haftbefehl beantragt.
entsprechend indoktriniert aus den Kampf- ihre Denkweisen und ihr Verhalten Schritt Der Bundesgerichtshof hat den Haftbefehl
gebieten nach Deutschland zurückkehren“, für Schritt zu verändern, erzählt der Taxi- abgelehnt, die Bundesanwaltschaft hat da-
sagte Verfassungsschutzchef Hans-Georg unternehmer. Heute seien sie wieder nor- gegen Beschwerde eingelegt. Es ist unklar,
Maaßen kürzlich. „Damit könnte auch hier mal – auch, weil sie dem Einfluss ihrer wie der Fall ausgehen wird.
eine neue Dschihadisten-Generation he- radikalen Mutter entzogen wurden. Sollte der Generalbundesanwalt sich mit
rangezogen werden.“ Rund 50 Frauen sind bislang aus dem IS- seiner härteren Linie durchsetzen, hätte es
Dass der IS systematisch Kinder seiner Gebiet nach Deutschland zurückgekom- einen nützlichen Nebeneffekt für Sibel H.
Mitglieder indoktriniert hat, steht außer men. Die allerwenigsten wurden in Haft und andere Frauen in irakischer Haft. Sie
Zweifel: Man findet Videos im Internet, genommen. Strafrechtlich verfolgt wurden könnten auf eine Haftstrafe in Deutschland
auf denen kleine Kinder ermutigt werden, diese mitreisenden Ehefrauen bislang nur, hoffen. Die dürfte angenehmer sein als ein
Gefangene des IS mit einer Pistole in den wenn sie Terrororganisationen vor Ort kon- Aufenthalt in einem irakischen Gefängnis.
Kopf zu schießen. Es gibt Bilder, die Kin- kret unterstützt oder gar gekämpft hatten. Und Dasbar W.? Wie radikal er dachte,
dersoldaten auf Häuserdächern zeigen, in Aber die Behörden fürchten sie als Müt- wie ernsthaft er den Karlsruher Weihnachts-
der Pose eines eiskalten Scharfschützen. ter und als Personen mit gesellschaftlichem markt ins Visier nahm, müssen nun die Er-
Mathematikbücher des IS stellen Rechen- Einfluss. „Sie gehen in ihre alten Struktu- mittlungen des Generalbundesanwalts zei-
aufgaben, in denen statt Äpfeln und Bir- ren zurück“, sagt ein hochrangiger Beam- gen. Die Tat von Anis Amri jedenfalls habe
nen Kalaschnikows addiert werden müs- ter, „dort sind sie nicht greifbar.“ Sie seien W. genau verfolgt, erzählte der V-Mann des
sen. Es sei noch schwer abzusehen, sagt oftmals viel tiefgreifender ideologisiert als LKA Baden-Württemberg.
eine Verfassungsschützerin, wie sich dieser ihre Männer. Die Erinnerung an den Anschlag vom
Verlust an Empathie auf die spätere Per- Wie das aussehen kann, schrieb eine is- Berliner Breitscheidplatz, so behauptete
sönlichkeitsentwicklung auswirken werde. lamistische Mutter kürzlich auf Facebook. der Polizeiinformant, habe Dasbar W. im-
Eine Ahnung davon bekam Ende 2015 Unter der Überschrift „Heute am Esstisch“ mer wieder in Euphorie versetzt.
der Berliner Taxiunternehmer Khodor R., berichtete sie, ihr anderthalbjähriger Sohn Jörg Diehl, Martin Knobbe, Sven Röbel,
als sein sechsjähriger Neffe unvermittelt habe angefangen, mit dem Essen zu spie- Fidelius Schmid, Wolf Wiedmann-Schmidt

28 DER SPIEGEL 52 / 2017


Deutschland

Politische
rungschef ernannte populistische Milliar- Die Folge: Europa wäre mal wieder tief
där Andrej Babiš womöglich von Kommu- gespalten.
nisten und Rechtsradikalen stützen lassen. „Das Problem des Artikel-7-Verfahrens

Quarantäne
Die EU ist auf diese Gefahr von innen ist, dass es nur Gewinner und Verlierer
nicht vorbereitet, wie die Fachleute im Eu- kennt“, sagt der Fraktionschef der Euro-
ropaparlament feststellten. „Das gegenwär- päischen Volkspartei, Manfred Weber, der
tige Verfahren erweist sich als ineffektiv, die Kommission in Sachen Polen ansons-
Europa Da die Drohungen Bedrohungen des Rechtsstaats in der EU ten unterstützt. Im Kanzleramt ist man
zu begegnen“, heißt es in der Expertise ebenfalls zurückhaltend, das Verfahren
gegen Polen wirkungslos des Justiz- und Innenausschusses. weiter zu eskalieren. Grundsätzlich steht
verpuffen, erwägt Brüssel Wer der EU beitreten will, muss ihre ge- Angela Merkel hinter der Kommission. Die
meinschaftlichen Gesetze übernehmen, Kanzlerin sieht aber auch, wie skrupellos
neue Sanktionen im also die Kopenhagener Kriterien erfüllen. Parteichef Jarosław Kaczyński und seine
Umgang mit Rechtsbrechern. Aber sobald ein Land Mitglied im Klub ist, PiS Kritik aus Brüssel in Attacken gegen
fällt die Überwachung dieser Regeln die EU ummünzt. Polens staatlicher Fern-

E
ines muss man Jean-Claude Juncker schwer. Ein Rausschmiss ist gar nicht vor- sehsender TVP etwa, den viele nach dem
lassen: Der Mann versteht es, auch gesehen, ein Konstruktionsfehler, wie der Rauswurf kritischer Journalisten nur noch
in düsteren Situationen noch einen Konstanzer Europarechtler Daniel Thym „TVPiS“ nennen, ließ wenig Zweifel, welch
Lichtblick zu schaffen. Just an dem Tag, kritisiert. „Artikel 7 ist zu schwerfällig“, sinistre Mächte hinter der Brüsseler Ent-
an dem Junckers Kommission beschloss, sagt er, „die Sanktion funktioniert nicht, scheidung zu vermuten sind. „Die souve-
ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen ein- wenn mehrere Länder gegen rechtsstaat- räne Politik Polens stört Berlin, Brüssel
zuleiten, versandte der Behördenchef eine liche Prinzipien verstoßen.“ und die Politiker der totalen Opposition“,
Einladung an den neuen polni- flimmerte am Mittwoch auf ei-
schen Ministerpräsidenten. nem Laufband durch eine Nach-
Er würde sich freuen, wenn richtensendung.
Mateusz Morawiecki am 9. Ja- Die Bundesregierung drängt
nuar Zeit für „ein Arbeitsessen“ auf Sanktionen, die wirklich
habe, schrieb Juncker. „Ein ech- wirksam sind. Deshalb brachte
ter Dialog ist der einzige Weg, Deutschland in einem Minister-
die Schwierigkeiten zu überwin- rat Mitte November ins Ge-
den, die wir derzeit haben.“ spräch, Regionalbeihilfen künf-
Es dürfte ein frostiges Mahl tig nur noch in Ländern auszu-
werden. Mit dem Start des soge- zahlen, in denen rechtsstaatliche
nannten Rechtsstaatsverfahrens Grundprinzipien eingehalten
nach Artikel 7 des EU-Vertrags werden. Die Kommission möge
hat der schon zwei Jahre andau- die Idee „ernsthaft prüfen“, for-
ernde Konflikt zwischen der derte der deutsche Vertreter.
Kommission und der rechtskon- Haushaltskommissar Günther
servativen Warschauer Regierung Oettinger, der derzeit den Ent-
DAMIAN BURZYKOWSKI / NEWSPIX / IMAGO

der Partei Recht und Gerechtig- wurf für das nächste EU-Budget
keit (PiS) einen neuen Höhepunkt erarbeitet, denkt ähnlich. Es
erreicht. Zum ersten Mal in der gebe „eine klare Beziehung zwi-
Geschichte der Gemeinschaft schen der Rechtsstaatlichkeit
stellte die Kommission am Mitt- und einer effizienten Umsetzung
woch fest, dass ein Mitglied der privaten und öffentlichen In-
rechtsstaatliche Werte „eindeutig“ vestitionen, die vom EU-Haus-
und „schwerwiegend“ gefährde. halt unterstützt werden“, heißt
Doch die Brüsseler Eskalation es in einem Strategiepapier sei-
könnte verpuffen, die polnische PiS-Parteichef Kaczyński ner Behörde. Ende Februar wer-
Regierung denkt gar nicht daran, Sinistre Mächte den sich die Staats- und Regie-
die umstrittene Justizreform zu- rungschefs bei einem Sondertref-
rückzunehmen, im Gegenteil: Präsident Der Fall Polens belegt das. Kaum je- fen mit dem künftigen Haushalt befassen.
Andrzej Duda unterzeichnete postwen- mand kann sich derzeit vorstellen, dass Gut möglich, dass das Thema dann auf
dend die noch ausstehenden Gesetze. Die die EU den nächsten Schritt wagt und ver- höchster Ebene zur Sprache kommt.
Folge der Machtdemonstration der EU ist sucht, Polens Stimmrechte auszusetzen. Anders als die Ermahnungen im schwer-
daher erst mal nicht die Rettung des polni- Dieser von Diplomaten martialisch als fälligen Rechtsstaatsverfahren wäre eine
schen Rechtsstaats, sondern eine neue De- „Nuklearoption“ bezeichnete Schritt käme Kürzung beim Geld für Polen äußert
batte darüber, wie die EU mit Mitgliedern einer Suspendierung der EU-Mitglied- schmerzhaft. Kein Land in der EU erhält
umgehen soll, die sich nicht an das gemein- schaft gleich, entsprechend hoch sind mehr Regionalbeihilfen, von 2014 bis 2020
same Regelwerk halten. die Hürden. Um Polen unter politische überweist Brüssel 86 Milliarden Euro.
Denn neben Polen drohen gleich meh- Quarantäne zu stellen, müssten alle EU- Ohne Probleme ist freilich auch diese
rere EU-Mitglieder, das Fundament aus Länder (außer Polen) zustimmen. Ungarns Idee nicht. So würde der Geldentzug in
Recht und Gesetz zu untergraben. Viktor Regierungschef Orbán aber hat schon be- Polen auch Projekte treffen, die die libera-
Orbán in Ungarn inszeniert seine Regie- kundet, dass er treu auf der Seite seiner le Zivilgesellschaft stärken. In Danzig bei-
rung als Bollwerk gegen „Übergriffe“ des Warschauer Verbündeten zu stehen ge- spielsweise fließt europäisches Geld in die
liberalen Brüsseler Beamtenapparats. In denkt. Gut möglich, dass sich Länder wie Ausbildung syrischer Flüchtlinge.
Tschechien muss sich der eben zum Regie- Tschechien dieser Haltung anschließen. Peter Müller, Jan Puhl

DER SPIEGEL 52 / 2017 29


Deutschland

„Ich halte nichts von reiner Lehre“


SPD Fraktionschefin Andrea Nahles, 47, über die Fehler ihrer Partei in der Globalisierungsdebatte,
die Große Koalition und ihre Pläne für ein lebhafteres Parlament

SPIEGEL: Frau Nahles, was sagen Ihnen die jüngsten Wahlen auch eingebrochen. Innovation und Gerechtigkeit, zwischen
Zahlen 34, 23, 20,5? Wenn wir als SPD angesichts dieser Ent- Kapital und Arbeit, zwischen Modernität
Nahles: Das klingt nach Wahlergebnissen wicklungen den Eindruck erwecken, an al- und Tradition. Es hilft nicht, nur Maximal-
der SPD. lem sei die Kanzlerin schuld, reden wir positionen zu besetzen.
SPIEGEL: Es sind die SPD-Stimmanteile bei uns heraus. Nach dieser Logik brauchten SPIEGEL: Wollen Sie nun in eine Große Ko-
der Bundestagswahl 2005 sowie nach den wir ja nur abzuwarten, bis Merkel weg ist alition oder nicht? Die SPD kann doch
beiden Großen Koalitionen 2009 und 2017. – und schon ginge es uns automatisch bes- nicht ewig ergebnisoffen sprechen. Wann
Da nun erneut eine schwarz-rote Zusam- ser. Das wäre naiv. entscheiden Sie?
menarbeit in Rede steht, fragen wir uns: SPIEGEL: Im Wahlkampf hat die SPD der Nahles: Mit dem Parteitag am 21. Januar
Wie weit soll es mit der Sozialdemokratie Kanzlerin noch heftige Vorwürfe gemacht, wird die Zeit der Ergebnisoffenheit vorbei
noch bergab gehen? weil sie nur selten Position beziehe und sein. Da werden wir eine Linie festlegen.
Nahles: Ich will, dass es wieder aufwärts- den Wettstreit verweigere. Von einem „An- Wenn wir die Chance haben, unsere Vor-
geht. Dafür müssen wir uns anstrengen. schlag auf die Demokratie“ sprach Ihr Par- stellungen von einer modernen und ge-
Die richtige Aufarbeitung unserer Nieder- teichef. Das ist jetzt also alles vergessen? rechten Gesellschaft in praktische Politik
lage steht uns noch bevor. Nahles: Nein. Aber wir müssen auch aner- zu übertragen, dürfen wir uns davor nicht
SPIEGEL: Und das soll nun ausgerechnet in kennen, dass wir unsere Probleme selbst drücken. Aber ob wir mit der Union so
einer Großen Koalition geschehen, mit der zu verantworten haben. Auch die Lösung weit kommen, und in welcher Form wir
Ihre Partei wiederholt schlechte Erfahrun- haben wir übrigens selbst in der Hand. Wir dann zusammenarbeiten? Das ist offen.
gen gemacht hat. Warum wollen Sie, wie wollen etwa eine überzeugende Antwort Man muss wirklich etwas bewegen können
es der Vorsitzende Ihrer Jugendorganisa- auf den digitalen Kapitalismus finden. Die und das Leben der Menschen besser ma-
tion ausgedrückt hat, immer wieder gegen Menschen erwarten konkrete Antworten chen. Sonst sollte man es lassen.
dieselbe Wand laufen? auf die großen Herausforderungen unserer SPIEGEL: Viele in Ihrer Partei fürchten, dass
Nahles: Ich bestreite, dass die Schwäche Zeit. Und wir wollen ihnen wieder das Ge- der SPD bei einer Neuauflage von
der deutschen und europäischen Sozialde- fühl geben, dass sie in einer unsicher wer- Schwarz-Rot zu wenig Raum zur Profilie-
mokratie mit der Form der Regierung zu denden Welt Anschluss halten können. rung bleibt. Ist diese Sorge auch falsch?
tun hat. Der SPD ist es in den vergangenen SPIEGEL: Nach der Wahlniederlage schien Nahles: Eine Polarisierung zwischen den
Jahren nicht gut gelungen, eine glaubwür- der Gang in die Opposition für viele in Volksparteien ist wichtig, gerade für uns.
dige Konzeption für eine moderne und ge- der SPD wie eine Befreiung. Lieber die Was das bewirken kann, haben die Land-
rechte Gesellschaft zu entwerfen und zu reine Lehre vertreten als hässliche Kom- tagswahlen in Rheinland-Pfalz und Nie-
vermitteln. Wir haben viel von Zusammen- promisse eingehen, das war die Losung. dersachsen gezeigt. Aber in diesen Regio-
halt und Solidarität gesprochen, aber die Nahles: Nein, die Losung war: Politik nen ist die SPD auch besser verankert als
SPD hat es in den letzten Jahren vernach- braucht Alternativen. Eine andere Regie- auf Bundesebene. Von Berlin fühlen sich
lässigt, ihre Rolle als Bindeglied zwischen rungsmehrheit wäre möglich gewesen, die Menschen vor Ort manchmal verges-
Verlierern und Gewinnern der Verände- aber die Jamaikaparteien haben verant- sen. Das muss sich ändern. Uns ist nie-
rungen unserer Zeit wahrzunehmen. Da- wortungslos gehandelt, jetzt haben wir mand egal. Ich will, dass sich durch unsere
für trägt nicht die Union die Schuld. eine neue Lage. Ich halte übrigens nichts Politik alle in ihrem Quartier, ihrem Dorf
SPIEGEL: Das reicht als Erklärung nicht aus. von reiner Lehre. Manche folgen dieser oder ihrer Stadt wohl- und sicher fühlen.
Die SPD hat in der Großen Koalition eine Sehnsucht nach einer bequemen Nische, Damit meine ich nicht nur soziale, sondern
Menge durchgesetzt; trotzdem hat am in der die SPD machen kann, was sie will. durchaus auch innere Sicherheit.
Ende die Kanzlerin die Erfolge einge- Diese Sehnsucht habe ich auch mal geteilt, SPIEGEL: Da scheinen Sie uns nah an der
heimst. Warum soll das anders werden? bis ich gemerkt habe, dass es so nicht funk- Analyse Ihres Ex-Vorsitzenden Sigmar Ga-
Nahles: Das muss anders werden. Wir kön- tioniert. Wir sollten es uns nicht zu einfach briel zu sein. Der hat in einem Essay im
nen das nicht nur aus deutscher Sicht be- machen. Ich habe auf unserem letzten Par- SPIEGEL die These aufgestellt, dass die
trachten. Die beschriebene Herausforde- teitag gesessen und gedacht: Die SPD muss SPD den Kontakt zu ihrer Stammwähler-
rung haben alle sozialdemokratischen Par- schwer aufpassen, dass sie ihre eigene Iden- schaft verloren habe – auch kulturell. Die
teien in den westlichen Demokratien. Da, tität noch durchbuchstabieren kann. Sozialdemokratie, kritisiert Gabriel, habe
wo sie es schaffen, die Gesellschaft zusam- SPIEGEL: Wie meinen Sie das? zuletzt zu viel grüne und zu wenig rote
menzuhalten, können sie sich behaupten. Nahles: Die SPD versteht sich als linke Politik gemacht und den Rechten die Be-
Da, wo ihnen das nicht zugetraut wird, ver- Volkspartei. Beide Wörter sind wichtig. griffe Heimat und Leitkultur überlassen.
lieren sie. Das erklärt etwa den Absturz Klare fortschrittliche Ziele und Werte. Nahles: Mit dem Begriff Heimat kann ich
der französischen Sozialisten, die unter Aber auch die Bereitschaft, die unter- viel anfangen. Ich lebe das. In der Eifel,
François Hollande allein regierten. schiedlichen Interessen und Meinungen wo ich zu Hause bin, kann man keine Poli-
SPIEGEL: Vielleicht war das einfach eine links der Mitte zu verbinden. Zu den Ge- tik ohne Bodenständigkeit machen. Beim
schlechte Regierung. nen unserer Partei gehört neben der Soli- Begriff der Leitkultur steige ich aus. Wir
Nahles: Mag sein. Aber dann schauen Sie darität auch, dass wir uns an Arbeit und haben uns als Sozialdemokraten immer
nach Tschechien: Da stellten die Sozialde- Leistung orientieren und nicht nur an staat- dagegen gewehrt, eine zentrale Idee davon
mokraten den Ministerpräsidenten, jetzt licher Umverteilung wie die Linkspartei. vorzugeben, wie jemand zu leben hat. An
liegen sie bei sieben Prozent. Unsere nie- Wir waren immer dann stark, wenn wir das Grundgesetz müssen sich alle halten,
derländischen Parteifreunde sind bei den eine Klammer gefunden haben zwischen das ist klar. Allerdings wäre es falsch zu
30 DER SPIEGEL 52 / 2017
strukturell verbessern. Entweder können
wir uns in den Gesprächen mit der Union
auf solche Vorhaben verständigen, oder
wir müssen über andere Formen der Zu-
sammenarbeit nachdenken: eine Minder-
heitsregierung zum Beispiel oder ein Tole-
rierungsmodell.
SPIEGEL: Die Kanzlerin hat aber schon deut-
lich gemacht, dass für sie nur eine Große
Koalition infrage kommt.
Nahles: Die Kanzlerin kann nichts aus-
schließen, was wir als Bestandteil der Ver-
handlungen sehen. Sie sitzt nicht allein am
Drücker. Mich wundert, dass die Union
derzeit unentwegt sagt, was alles nicht geht
und wo ihre roten Linien liegen. Besser
wäre es, sie würde uns mal inhaltliche An-
gebote machen, die uns voranbringen.
SPIEGEL: Die Kanzlerin lehnt es zum Bei-
spiel ab, eine Bürgerversicherung einzu-
führen, wie sie die SPD seit Langem for-
dert. Wie wichtig ist das Thema für Sie?
Nahles: Die Zweiklassenmedizin ist eines
der großen strukturellen Probleme im
deutschen Gesundheitswesen. Deshalb
sind hier substanzielle Fortschritte erfor-
derlich: Arbeitgeber und Arbeitnehmer
müssen wieder den gleichen Beitrag zur
gesetzlichen Krankenversicherung zahlen,
die unterschiedlichen ärztlichen Honorare
für Privat- und Kassenpatienten müssen
auf den Prüfstand.
SPIEGEL: Ein weiterer Streitpunkt ist die
Steuerpolitik. Die Union hat angekündigt,
die Belastungen von Familien zu senken.
Was will die SPD?
Nahles: Auch wir wollen Familien entlasten
und den Solidaritätszuschlag abbauen. Wir
haben gleichzeitig einen enormen Investi-
tionsbedarf in der Bildung, der Kinderbe-
HANNES JUNG / DER SPIEGEL

treuung, beim Wohnen, bei der Pflege


oder auch beim Glasfaserausbau. Wir müs-
sen überlegen, wie wir die Spitzenverdie-
ner stärker an der Finanzierung staatlicher
Aufgaben beteiligen können: durch einen
höheren Spitzensteuersatz und eine Rei-
Sozialdemokratin Nahles: „Mit dem Begriff Heimat kann ich viel anfangen“ chensteuer. Und wir wollen die Abgeltung-
steuer abschaffen, Kapital und Arbeit end-
glauben, dem Arbeiter gehe es nur um einer echten Debatte stellen? Auch Minis- lich wieder gleich besteuern, das hat auch
Lohn und Heimat. Wir sollten soziale The- ter sollten künftig regelmäßig erscheinen eine symbolische Bedeutung.
men nicht gegen andere ausspielen. müssen. Je mehr wir Politiker öffentlich SPIEGEL: In der Union gibt es gegen die
SPIEGEL: Gabriel verweist vor allem auf die erklären, wie wir zu Entscheidungen kom- SPD-Pläne in der Steuer-, Sozial- und
vielen Widersprüche in der Partei. Ein men, desto schwerer haben es Populisten, Europapolitik große Bedenken. Wie wollen
Weiter-so dürfe es nicht geben, hieß es gegen uns Stimmung zu machen. Außer- Sie da zu einem Kompromiss kommen?
etwa am Wahlabend. Da erscheint es vie- dem sollte das Parlament sich schneller Nahles: Von der Union unterscheidet uns,
len wie Hohn, dass die SPD nun ausge- Themen zuwenden, die die Bürger aktuell dass sie zwar regieren will, aber wenig ei-
rechnet die Große Koalition fortsetzen will. bewegen. gene Ideen hat. Das war schon in der letz-
Nahles: Es wird kein Weiter-so geben, egal SPIEGEL: In Ihrer Partei ist die Skepsis ge- ten Koalition das Problem. Wenn die
wie Deutschland künftig regiert wird. Wir genüber der Union riesig. Wie wollen Sie Union alles ablehnt, frage ich mich, mit
brauchen weniger Hinterzimmer, mehr Ihre Genossen umstimmen? wem sie eine stabile Regierung bilden will,
Parlament. Wir sind dafür, dass sich die Nahles: Das Entscheidende sind die Inhalte. von der sie ebenfalls redet. Mit uns jeden-
Kanzlerin regelmäßig den Fragen der Ab- Es geht jetzt nicht um 200 Seiten Koali- falls nicht. Wir werden Frau Merkel nicht
geordneten im Bundestag stellen muss – tionsvertrag mit Dutzenden Spiegelstri- wegen ein paar Überschriften erneut zur
wir wollen das durchsetzen, egal ob wir chen. Es geht darum, ob wir uns auf einige Kanzlerin wählen. Nein, es sind struktu-
Teil der Regierung sind oder nicht. Frau grundsätzliche Maßnahmen einigen kön- relle Veränderungen für eine moderne und
Merkel tritt in Talkshows auf, warum nen, die den Zusammenhalt in Deutsch- gerechte Gesellschaft erforderlich.
sollte sie sich nicht auch im Parlament land und Europa stärken und unser Land Interview: Veit Medick, Michael Sauga

DER SPIEGEL 52 / 2017 31


Deutschland

Goslarer Dialektik
Politiker Warum Sigmar Gabriel am Ende selbst sein größter
Kritiker ist. Eine Charakterstudie. Von Nils Minkmar

E
r hat es wieder getan: Mitten in der keinen Spaß, er ist zu ihnen nicht fähig.
Adventszeit und nach einem kompli- Auch dann nicht, wenn ein sympathisches
zierten politischen Jahr hat Sigmar Publikum gekommen ist, um ihn zu feiern.
Gabriel Bürger und Politprofis gleicherma- Zum Beispiel Mitte August, als er in sei-
ßen verblüfft. Sein Essay, der in der vori- nem Wahlkreis für ein erneutes Mandat
gen Woche im SPIEGEL erschien, sorgte warb. Ich besuchte ihn an jenem Tag und
für Debatten, wie man sie im Wahlkampf setzte mich im Bürgerhaus in Seesen in
vermisst hatte – allerdings zu einem Zeit- eine der hinteren Reihen. Die Herren tru-
punkt, an dem sich alle schon in vorweih- gen Hemden im Karomuster mit kurzen
nachtlicher Behaglichkeit auf die Regie- Ärmeln, die Damen geblümte Sommer-
rungsbildung, auf vier Jahre Weiter-so mit kleider. Alle waren ihm gewogen. Es war
einer immer kleiner werdenden, einst Gro- eine kleine Veranstaltung, Gabriel hätte
ßen Koalition einstimmten. Das hat auch nur von den Erfolgen seiner Partei zu re-
etwas von Resignation, aber mit Gabriel den brauchen, ein wenig auf die politi-
ist so etwas nicht zu machen. Nicht in der schen Gegner eindreschen und fertig. Eine
großen Politik und nicht im Kleinen. politische Standardsituation. Doch so et-
Mein früherer Chef, der verstorbene was gibt es mit Sigmar Gabriel nicht.
„FAZ“-Mitherausgeber Frank Schirrmacher, Gleich zu Beginn schon äußerte er sein
stellte mir Sigmar Gabriel schon vor vielen Credo: „Ich gehe nicht in den Wahlkampf
Jahren vor. Beide waren sich ähnlich – un- und sage den Leuten Dinge, die sie hören
ter anderem in ihrem Spleen, Termine stets wollen.“ Im Politikunterricht lernt man es
neu zu gestalten, abzusagen oder an andere anders: Wähler geben ihre Stimme demje-
Orte zu verlegen. Aus einem Spaziergang nigen, der ihre Meinung vertritt. Aber wel-
wird eine Zugfahrt, aus einem Kaffee ein che ist das bei Sigmar Gabriel? Er erarbei-
Abendessen. Sie pflegten auch das gleiche tet sie doch gerade erst – und womöglich
Hobby, das Denken. Ihr Motto: keine Gna- fällt ihm beim Formulieren schon ein ex-
de. Wähnte man sie sicher auf einer Posi- zellenter Einwand dagegen ein.
tion geparkt, grüßten sie schon von einer Eine Frage an jenem Abend in Seesen
völlig anderen Seite. Hatte man ein Pro- zielte auf die Rüstungsexporte. Wie ist das
blem identifiziert, fingen sie an, genau da- mit all den Waffen, die Deutschland in die
rin auch die guten Aspekte zu sehen. Und Welt verkauft? Die Frage gefiel Gabriel. In
wenn ein frischer Gedanke da war, dann einer üblichen Wahlveranstaltung würde droht? Und was, wenn die Bedrohten dann
gehörte er – unbedingt, unbedingt – geäu- der sozialdemokratische Kandidat seinen selbst zu Mördern werden? Gabriel erhöh-
ßert und an die Luft, sonst brennt die Welt. Horror vor Waffen beschwören, über real- te an diesem friedlichen, warmen Abend
Journalisten sollen immer wieder etwas politische Kompromisse klagen, die SPD permanent die Komplexität. Die beiden
Neues schreiben, das ist unser Beruf. Politi- als Friedenspartei loben und ein Zitat von Grundprinzipien der bundesdeutschen Au-
ker jedoch vertrauen üblicherweise auf ein Willy Brandt anfügen. Gabriel aber ent- ßenpolitik, „Nie wieder Krieg!“ und „Nie
Mantra, das durch stete Wiederholung die warf Szenarien: solche, in denen man wieder Auschwitz“, wurden dialektisch be-
Realität formt: Freiheit statt Sozialismus, wegt, bis sie rotierten.
Mehr Demokratie wagen, Wir schaffen das. Kaum hatte er den Saal von einer Posi-
Gabriel hält solche Kommunikation nicht Gabriel will nicht tion überzeugt, plädierte er mit ebensol-
aus, denn sie suggeriert eine Welt, wie sie
nicht ist. Eine beständige Welt, in der weise nur gewinnen, er will alle cher Verve für die gegenteilige und über-
zeugte ihn abermals. Eine Dame meldete
Männer und Frauen mit ruhiger Hand ge- anderen anspornen sich mit einem persönlichen Anliegen. Es
stalten können – für Gabriel eine Illusion.
Die Leute sollen niemandem „ihr Ver-
und wahnsinnig machen. ging um ein Visum für die Schwiegertoch-
ter. Wie jeder Politiker der Welt versprach
trauen schenken“ – sie sollen mitdenken Gabriel, sich darum zu kümmern. Anders
und stets skeptisch bleiben. Das ist ein Schuld auf sich lädt, indem man Befrei- als jeder Politiker erklärte er der Dame al-
Punkt, an dem sein alter Beruf, der des ungsbewegungen nicht hilft, und solche, in lerdings auch, dass ihre Bevorzugung ge-
Lehrers, in ihm durchkommt. So neulich denen man schuldig wird, wenn man hilft. genüber all den anderen, die den Dienst-
in der Talkshow „3 nach 9“: Da belehrte er Was, wenn die Waffen, die man an die gute weg einhalten, unfair sei. Er lächelte dabei,
den Moderator Giovanni di Lorenzo, denn Seite geliefert hat, um ein Massaker zu ver- er möchte nicht unfreundlich sein, aber er
der wollte eine „einfache Antwort auf eine hindern, von der anderen Seite erbeutet schonte das Publikum nicht.
komplexe Frage“. Die könne er nicht ge- werden? Dann richten sich die guten deut- Sigmar Gabriel setzte auf konsequente,
ben. Wer Gabriel nicht kennt, mochte das schen Waffen unter Umständen gegen Ver- gnadenlose Überforderung, als wäre die
als floskelhafte Bekräftigung intellektueller bündete oder gar gegen Bundeswehrsolda- Annahme, das Publikum wolle irgendwo
Redlichkeit verstehen. Wahr ist aber auch: ten im Auslandseinsatz. Soll man anderer- „abgeholt“ werden oder „auf Augenhöhe“
Einfache Antworten machen ihm nicht nur seits zuschauen, wenn ein neues Srebrenica angesprochen werden, eine Unterschät-
32 DER SPIEGEL 52 / 2017
Außenminister Gabriel
Die ganze Herde soll in Bewegung kommen

überlegte schon, welche interessante Posi-


tion er gegen sich selbst beziehen könnte.
Auch da fällt ihm immer viel ein. In frühe-
ren Jahren konnte niemand besser als Sig-
mar Gabriel analysieren, weshalb Sigmar
Gabriel nicht als Bundeskanzler kandidie-
ren solle.
Ich glaube nicht, dass er auswendig weiß,
was er gerade anhat. Geld und Kleidung
sind ihm egal. Von Menschen, die nicht im
schönen Goslar leben, mag er gehört ha-
ben, aber sie tun ihm ein wenig leid. Wenn
er einen Saal betritt, merkt man es nicht.
Er plaudert erst mal mit denjenigen, die
am Eingang herumstehen. Wenn es dann
ans Reden geht, entfaltet sich etwas. Seine
Eitelkeit bezieht sich nämlich auf diesen
einzigen Punkt, auf das Publikum, den
Austausch von Argumenten, die Rede-
schlacht. Da will er nicht nur gewinnen,
er will auch alle anderen anspornen und
wahnsinnig machen. Die ganze Herde soll
auf die Beine kommen und in Bewegung
bleiben.
Einmal hatte ich in Luxemburg eine Ver-
anstaltung über Europa zu moderieren.
Auf dem Podium saßen der damalige fran-
zösische Außenminister Jean-Marc Ay-
rault, der luxemburgische Außenminister
PHOTOTHEK / IMAGO STOCK /

Jean Asselborn und Gabriel. Der war elek-


trisiert, denn im Publikum waren einige
Schulklassen. Er ertrug schon kaum die
Begrüßung und die einleitenden Worte,
sondern zischte mir immer zu, nun sollten
die Schüler endlich was sagen. Die hatten
viele Fragen vorbereitet, und weil sich Ga-
briel so mühte, geriet selbst der sonst eher
zung der Leute. Am Ende der Veranstal- zu seiner Mutter kam. Jahre, an die Ga- bedächtige Franzose Ayrault in ein Feuer
tung wirkte das Publikum verwirrt, er- briel sich nur bruchstückhaft erinnert. Sei- der politischen Rhetorik. Gabriel, der
schöpft, doch nicht enttäuscht. Es war ein ne Mutter, in deren Nähe er heute noch Freund und Feind überfordert, der, nach
Abend der Aufklärung, denn Gabriel kon- lebt, verdiente als Krankenschwester sehr all den Jahren an der Seite von Gerhard
frontierte seine Wähler mit deren eigener wenig Geld. So früh es ging, wählte er die Schröder, in besagtem Essay implizit fragt,
Naivität. Immer noch gibt es die Sehnsucht politische Öffentlichkeit zur Heimat. Ju- ob der seinerzeit von Oskar Lafontaine
nach dem Politiker als Vaterfigur. Der die gendverbände, Partei, Gemeindepolitik – empfohlene Weg nach links nicht der bes-
Bösen auf Distanz hält und die Guten alles, was helfen kann, in Bewegung zu sere gewesen wäre, Gabriel also, die per-
schützt und fördert, der eine behagliche bleiben, wenig zu Hause zu sein und das sonifizierte politische Unschärferelation,
Stimmung der Geborgenheit schafft. Die- Leben selbst zu gestalten. ist derzeit nach dem Bundespräsidenten
sem Wunsch nach einem Happy End mag Er ist, auch das gehört zur Wahrheit, in der beliebteste deutsche Politiker, noch
er nicht entsprechen – wo auf Erden doch seinem Job ziemlich gut. Einmal saßen wir vor Angela Merkel, der Protagonistin einer
allein das Chaos die Regel ist, jenes „per- bei einem leichten Abendessen in Goslar, auf dem Mantra der Beruhigung basieren-
manente Schaukeln der Dinge“, von dem als zwei Männer zu uns kamen. Es waren den Politik. Nach all den Mühen hat er es
der französische Philosoph Michel de Mon- Vater und Sohn, beide Unternehmer. Sie geschafft: Sigmar Gabriel steht weit oben
taigne zu Beginn unserer Epoche, der Neu- stellen Farbpigmente in großem Stil her. auf der Beliebtheitsskala – in der SPD aber
zeit, schrieb. Sich nicht schlicht machen in Sie erzählten mir, wie Gabriel vor einigen sind seine Aktien ganz unten, und damit
einer komplexen Welt, das ist sein Prinzip. Jahren ihre Firma gerettet hat. Ich hatte könnte seine politische Laufbahn vor dem
Es entspringt seinem Instinkt: nur nicht kalt weder von dem recht großen Unterneh- Ende stehen. Er hat sich mit dem Essay in
erwischt werden. men noch von dem Vorgang je gehört. Es eine Lage von dramatischer Komplexität
Gabriel hatte eine Horrorkindheit. Der ging um Hunderte Arbeitsplätze. Heute manövriert – und genau dort darf man sich
Vater war ein sturer Nazi, der die Familie expandiert die Firma, derzeit sucht sie neu- ihn als glücklichen Menschen vorstellen.
plagte. Die Eltern trennten sich. Der Vater es Personal. Gabriel schaute während des
obsiegte im Sorgerechtsstreit, weil er dem Vortrags der beiden Männer höflich inte- Video:
Sohn stabile Verhältnisse bieten konnte. ressiert, aber leicht abwesend, als wäre „Immer unterwegs“
Die aber empfand das Kind als bedrü- von einem anderen Politiker die Rede. Wo- spiegel.de/sp522017gabriel
ckend, doch Jahre vergingen, bis es wieder möglich waren sich alle zu einig, und er oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 52 / 2017 33


Deutschland

GORDON WELTERS / DER SPIEGEL


Neuparlamentarierin Domscheit-Berg im Berliner Hauptbahnhof: Besonders viel Hass von rechts

Driving Home for Christmas


Bilanz Auch Politiker dürfen an Weihnachten nach Hause. Wie blicken sie auf ein
bewegtes Jahr zurück?

Anke Domscheit-Berg, 49,


D
as Jahr 2017 war voller Wendungen Regeln. Ich wurde von Saaldienern ange-
und Extreme, es war ein Jahr, in nimmt den Regionalzug von Berlin ins bran- sprochen, weil ein Bonbonpapier vor mir
dem die Kanzlerin erst als unbe- denburgische Fürstenberg. Dort, direkt am lag, meine Jacke über der Stuhllehne hing
siegbar galt und dann eine Niederlage er- Bahnhof, wohnt sie in einer Villa, gemeinsam oder ich Wasser trinken wollte – das ist
litt, auch wenn sie ihr Amt vorerst noch mit ihrem Mann, ihrem Sohn und den Katern alles verboten im Plenum. Herr Schäuble
behalten darf. Es war das Jahr, in dem Gustav und Herr Schmitt. Domscheit-Berg schrieb sogar an die Abgeordneten, dass
ein SPD-Kanzlerkandidat aufstieg und war in der IT-Branche und bei den Piraten. Twittern unerwünscht sei. Das fand ich
verglühte, das Jahr, in dem eine rechts- Ihre Weihnachtssterne sind nicht aus Stroh, bizarr.
populistische Partei den Einzug in den sie kommen aus dem 3-D-Drucker. Seit Okto- SPIEGEL: Als Sie Ihre Kandidatur für die
Bundestag schaffte und Deutschland unter ber sitzt sie im Bundestag, als parteilose Ab- Linke bekannt gaben, schlug Ihnen eine
dem Hashtag #MeToo über Sexismus stritt. geordnete in der Fraktion der Linken. Welle des Hasses entgegen. Wird man als
Der SPIEGEL hat kurz vor Weihnachten Frau in der Politik auf besondere Weise
mit sechs Abgeordneten gesprochen, sie SPIEGEL: Frau Domscheit-Berg, wie gefällt angegriffen?
auf Reisen begleitet oder auf dem Weg Ihnen das neue Leben als Abgeordnete? Domscheit-Berg: Ich habe als Politikerin im-
nach Hause. Domscheit-Berg: Es ist sehr anstrengend, mit mer wieder sexistische Beschimpfungen
Was bleibt von 2017? Was bringt 2018? viel Chaos, viel Arbeit, auch vielen neuen erlebt. Bei den Piraten bezeichnete man
34 DER SPIEGEL 52 / 2017
mich als „minderbemittelte, unterfickte Kay Gottschalk, 52, dürfte einer der wenigen AfD-Politiker
Hässlette“. Diese Leute verfolgen mich steigt mit einem schwarzen Rollkoffer in den sein, die sich mit dem Bundestagsmandat
zum Teil bis heute – ohne dass es für sie ICE nach Düsseldorf, aber er kann den Koffer finanziell verschlechtern. Gottschalk lebt
Konsequenzen hätte. Besonders viel Hass nicht ohne Hilfe in der Ablage verstauen: Leute allein, Weihnachten feiert er mit den El-
gab es von rechts, wenn ich mich zu von der Antifa haben dem AfD-Bundestagsab- tern, bei Würstchen und Kartoffelsalat.
Flüchtlingsthemen öffentlich äußerte. Ich geordneten das Handgelenk gebrochen. Sein Seine Parteifreunde kannten ihn als be-
erhielt zig Seiten Hassnachrichten. „Nig- rechter Arm steckt noch bis Silvester in einer scheidenen Organisator im Hintergrund,
ger“ sollten mich „totficken“, hieß es in Schiene. Gottschalk, Diplom-Kaufmann und er galt als Gemäßigter im gemäßigten AfD-
einer Nachricht. früher Manager bei einer Versicherung, fährt Flügel. Aber in Hannover, nach dem An-
SPIEGEL: Ist Sexismus bei jungen Compu- in den Wahlkreis zu einer Weihnachtsfeier. griff, trat ein neuer Gottschalk auf. Einer,
ternerds besonders schlimm, oder erleben der auf die „verschissene EU“ schimpfte
Sie so etwas jetzt auch im Bundestag? Dass es eine Frau war, die ihm das Hand- und sagte, die „arbeitende Bevölkerung“
Domscheit-Berg: Ich kenne sexistisches gelenk gebrochen hatte, merkte Kay Gott- in Deutschland müsse „die Drecksarbeit“
Verhalten auch von etablierten Politi- schalk erst später. „Ich dachte, so kann machen, „während die linksliberalen Me-
kern, zum Beispiel aus Talkshows. Da nur ein Kerl zuschlagen.“ Der AfD-Politi- dien und die Kartellparteien auf dem Son-
wird man dann etwa „Mädchen“ genannt. ker war Anfang Dezember mit Parteifreun- nendeck“ säßen. Er sprach wie ein Radi-
Das ist natürlich viel subtiler. Im Plenum den zu Fuß unterwegs zum Bundespartei- kaler.
sitze ich so, dass ich direkt auf die tag in Hannover, als sich ihnen plötzlich Hat ihn der Angriff verändert?
AfD und die FDP blicken muss, also auf ein Trupp schwarz gekleideter junger Men- „Nein“, winkt Gottschalk ab, das habe
Fraktionen mit sehr geringem Frauen- schen in den Weg stellte. „Wie eine schwar- nichts damit zu tun. „Man darf in der Poli-
anteil. Das ist ein Männermeer in schwar- ze Gardine standen die vor uns“, erinnert tik nicht jedes Wort auf die Goldwaage le-
zen Anzügen. Diese Optik macht mich sich Gottschalk. gen.“ Natürlich meine er das alles nicht
fertig. Ein Wort („Fuck AfD!“) gab das andere wörtlich. „Sie kennen das Geschäft doch.“
SPIEGEL: Eines der großen Themen des Jah- („Haut ab!“), es begann ein Handgemenge. Gottschalks letzter politischer Termin
res war die #MeToo-Debatte. Ein Mann packte Gottschalk am Arm. Ein vor Weihnachten fand in Erfurt stand, ein
Domscheit-Berg: Für mich ist das sehr anderer, der sich später als Frau entpuppte, Bürgerdialog mit Björn Höcke, dem
emotional. Bei #Aufschrei war ich selbst wollte Gottschalk die Aktenmappe entrei- Rechtsaußen der AfD. Ein zentrales The-
noch aktiv, da ging es ja eher um Alltags- ßen. Die Angreiferin bog seinen Daumen ma: Gewalt von links.
sexismus. Diesmal habe ich nur einen ein- um, drosch mit aller Kraft auf sein rechtes Eigentlich soll Höcke aus der Partei
zigen Tweet abgesetzt. Mehr konnte ich Handgelenk ein. „Abrissfraktur und Dis- geworfen werden, ein entsprechendes Ver-
nicht. Es wurden zu viele negative Erin- lokation des Processus styloideus radii“, fahren läuft gerade. Warum zeigt sich Gott-
nerungen an meine eigenen Erfahrungen lautete später der Befund des Arztes. schalk mit einem Mann, der die Flücht-
sexueller Gewalt getriggert. Zugleich Das Wahljahr 2017 hat Gottschalks Le- lingspolitik Merkels mit Völkermord ver-
schöpfte ich die Hoffnung, dass mit dieser ben umgekrempelt: Bislang war er Hinter- gleicht? Gottschalk wiegt den Kopf.
Debatte der Durchbruch kommen würde. bänkler in der Bezirksversammlung Ham- „Auf die Dauer wird die AfD nur stark
Dass es nach einem tiefgehenden und burg-Mitte, seit dem 24. September ist er sein, wenn wir alle unsere Strömungen
schmerzhaften Prozess, einem Fegefeuer, Berufspolitiker in Berlin. Der Angriff von vereinen.“
in dem auch Köpfe rollen, tatsächlich Hannover bedeutete einen Bruch.
einen kulturellen Wandel geben und die Man kann sagen, dass Gottschalk
Gesellschaft zu einem neuen Frieden fin- sich radikalisiert hat.
den könnte. Zwar überschütten ihn Partei-
SPIEGEL: Sehen Sie diesen Durchbruch? freunde mit Anteilnahme. Doch
Domscheit-Berg: In Deutschland sieht es für Gottschalks Geschmack fühlen
so aus, als würde alles verebben. Aber so- die Medien und die „Altparteien“
lange der Umbruch anderswo fortlebt, ist viel zu wenig mit ihm. „Ich war
es nicht vorbei. Ich wünsche mir, dass schon ein bisschen enttäuscht über
Frauen aller demokratischen Parteien sich das Desinteresse“, sagt er. Der Bür-
zusammentun und gleichzeitig auch Na- germeister von Altena, ein CDU-
men veröffentlichen. So lässt sich der Politiker, der sich für Flüchtlinge
Vorwurf der „Nestbeschmutzerin“ abweh- eingesetzt hatte und daraufhin mit
ren, und der Fokus verschiebt sich von einem Messer angegriffen worden
der einzelnen Partei auf ein strukturelles ist, war eine Topmeldung in der
Problem. „Tagesschau“, Gottschalks Hand-
SPIEGEL: Warum ist denn bisher in Deutsch- gelenk nur eine Fußnote in der Par-
land so wenig passiert? teitagsberichterstattung.
Domscheit-Berg: Das Victim-Blaming ist in „Mir geht es nicht darum, im
Deutschland extrem ausgeprägt. Die Frau, Rampenlicht zu stehen. Aber wa-
die etwas sagt, bezahlt am Ende. Die Angst rum regt sich niemand über Ge-
steckt in allen. Auch ich habe geschwiegen, walt gegen uns auf?“ Nur ein ein-
MELANIE AMANN / DER SPIEGEL

als ich noch in der Wirtschaft tätig war ziger CDU-Politiker habe ihm im
und mich ein hochrangiger Kunde durch Plenum gute Genesung gewünscht.
den Hotelflur verfolgte und gegen meine Gottschalk trägt Hornbrille und
Zimmertür hämmernd Einlass begehrte. Seitenscheitel. Er wirkt wie einer,
Wenn alle schweigen, funktioniert gesell- dem man eine Versicherung abkau-
schaftlicher Wandel nicht. Wir brauchen fen würde. Tatsächlich saß er lange
Namen, und wir brauchen Konsequenzen im Management eines Versiche- AfD-Politiker Gottschalk
für die Täter wie in den USA. rungskonzerns in Hamburg und „Nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen“

DER SPIEGEL 52 / 2017 35


Deutschland

GORDON WELTERS / DER SPIEGEL


Staatsministerin Özoğuz in Hamburg: „Manche Reaktionen waren wunderbar“

Aydan Özoğuz, 50, SPIEGEL: Wie meinen Sie das? die Sache mit dem „Entsorgen“ bei der
Staatsministerin für Integration, nimmt Platz Özoğuz: Ich habe damals gleich gemerkt: Bundestagswahl schon nicht funktioniert
im ICE 1512 von Berlin nach Hamburg. Es ist Jetzt ist irgendwas anders. Am Tag nach hat – im Gegenteil.
Donnerstagmittag, 13.42 Uhr. Die Strecke ist Gaulands Hetze bin ich aus dem Haus ge- SPIEGEL: Können Sie die Pöbeleien einfach
für sie zu einem zweiten Zuhause geworden, gangen. Gleich an der ersten Ampel dreh- so wegstecken?
häufig fährt sie morgens hin und abends zu- ten sich zwei Männer um und grüßten sehr Özoğuz: Wenn es sehr heftig wird, mache
rück. In Hamburg hat sie eine Tochter, die sie freundlich: „Ah, hallo, Frau Özoğuz.“ Ich ich einen Screenshot und leite das an die
nur im Notfall über Nacht allein lässt. Im erlebe das häufig seitdem. Menschen, die Polizei zur Anzeige weiter. Es gab mal je-
Wahlkampf sagte der AfD-Politiker Alexander ich gar nicht kenne, bezeugen mir ihre manden, der schrieb, man müsste mich mit
Gauland, man solle Özoğuz, die in Deutsch- Solidarität auf der Straße. Ich denke nicht, heißem Öl übergießen und mir die Haut
land geboren wurde, in Anatolien „entsorgen“. dass das von Herrn Gauland beabsichtigt abziehen. Die Polizei meinte, man könne
war. gegen den Nutzer nichts machen, weil er
SPIEGEL: Frau Özoğuz, seit Oktober sitzen SPIEGEL: Freuen Sie sich über die Promi- im Konjunktiv geschrieben hatte.
Sie der AfD im Bundestag gegenüber. Wie nenz? SPIEGEL: Gauland hatte Sie im Sommer we-
fühlt sich das an? Özoğuz: Auf die Hetze hätte ich verzichten gen Ihres Satzes angegriffen, es gebe keine
Özoğuz: Total bedrückend. Ich habe mich können. Aber manche Reaktionen waren „spezifisch deutsche Kultur“ jenseits der
immer gern mit Kolleginnen und Kollegen wunderbar, machen Mut. Aus fast allen Sprache. Würden Sie diese steile These
im Bundestag gestritten, vor allem mit de- Parteien habe ich Solidarität erfahren. Die heute wiederholen?
nen von der CSU. Da sind auch Leute da- Kanzlerin wies damals gleich auf ihrer Özoğuz: Der Satz ist aus einem Gastbeitrag,
bei, die ich mittlerweile persönlich sehr Sommerpressekonferenz diese Angriffe zu- der in sich stimmig ist. Das Problem ist,
mag. Das ist bei der AfD unmöglich. De- rück, wofür ich mich per SMS bei ihr be- dass kaum einer den ganzen Text kennt.
ren Haltung ist: Du bist keine richtige dankte. Sie schrieb mir dann sehr nett zu- Ich wollte ja eine Diskussion über die Leit-
Deutsche und deshalb ein Mensch zweiter rück. Ich bekam auch von der Jungen kultur auslösen. Aber nun weiß ich, dass
Klasse. Union aus dem Eichsfeld einen bemerkens- jeder einzelne Satz im Zweifel aus dem Zu-
SPIEGEL: Haben Sie Gauland auf seinen werten Brief. Das hat mir gezeigt: Ich bin sammenhang gerissen wird. Daher hätte
Satz, man solle Sie in Anatolien entsorgen, nicht allein. Herr Gauland und die AfD ich auch an dieser Stelle im Text „spezifisch
jemals angesprochen? pusten sich sehr auf, sind aber eine klare deutsche Leitkultur“ schreiben müssen.
Özoğuz: Nein. Der sitzt im Plenum jetzt im- Minderheit in diesem Land. Das hätte man nicht so leicht verdrehen
mer vor mir, aber reden muss ich mit dem SPIEGEL: Schauen Sie sich auch an, was auf können. Kurz nach dem Erscheinen meines
nicht. Es ist ja nicht so, dass man über so Facebook und Twitter über Sie geschrie- Textes sprach mich eine Frau im Kaufhaus
einen Satz eine sachliche Debatte führen ben wird? an. Sie war sehr nett und sagte, sie habe
kann. Das war schlicht und einfach Hetze. Özoğuz: Klar. Mein Facebook-Profil quillt mich schon gewählt, frage sich aber, warum
Solche Angriffe von der AfD gab es vorher immer noch über. Da schreiben dann die ich glaubte, die Deutschen hätten keine
schon, und sie gehen immer weiter, auch einen: „Wann bist Du denn endlich weg!“ Kultur. Das beschäftigt mich natürlich. Ich
wenn es nur wenige mitbekommen. Aber und die anderen: „Du bist ja immer noch hätte nie für möglich gehalten, dass man
ich stelle fest: Schaden konnte er mir nicht. da“. Mich freut es, wenn die merken, dass mir ernsthaft unterstellen würde, ich wollte
36 DER SPIEGEL 52 / 2017
die deutsche Kultur verleugnen. Ich bin Beispiel den Verein Heimattreue
doch selbst mit ihr aufgewachsen. Niederdorf, gute Wahlkämpfer
der AfD, dessen Vorsitzender
vom Verfassungsschutz beobach-
Marco Wanderwitz, 42, tet wird. Die haben in Miniatur
ist CDU-Abgeordneter aus dem Erzgebirge. Die den „Pegida-Galgen“ für die
AfD wurde bei der Bundestagswahl in Sachsen Kanzlerin und Sigmar Gabriel ver-
zur stärksten Partei. kauft. So etwas macht mich fas-
sungslos. Eine größere Zahl von
Das Jahr 2017 war das anstrengendste und Mitmenschen findet das aber lei-
intensivste, seitdem ich mich politisch en- der offenbar normal – oder sogar
gagiere. Ich habe noch nie einen so hass- gut. Oder sie duckt sich weg.
erfüllten Wahlkampf, eine derartige Spal- Trotz alledem habe ich nicht
tung der Gesellschaft erlebt. Auf den damit gerechnet, dass die Bundes-
Marktplätzen haben uns AfD-Anhänger tagswahl in Sachsen so ausgeht,
angeschrien und als „Volksverräter“ be- wie sie ausgegangen ist. Ich habe
schimpft. An manchen Haustüren hat man mich am Wahlabend natürlich zu-
mir Prügel angedroht. Man konnte greifen, nächst gefreut, dass ich meinen
dass der Firnis der Zivilisation dünn ist, Wahlkreis wieder deutlich gewin-
im Osten dünner als im Westen. nen konnte. Dann habe ich die
Dabei hatte das Jahr politisch erfreulich Ergebnisse mancher Kollegen mit-

GORDON WELTERS / DER SPIEGEL


begonnen. Mit einem so klaren Sieg der bekommen: Ein erfahrener und
CDU bei der Landtagswahl im Saarland beliebter Politiker wie Michael
hatte ich nicht gerechnet. Ich konnte mir Kretschmer hat seinen Wahlkreis
den „Schulz-Effekt“ zwar nicht erklären, Görlitz an die AfD verloren? Ich
habe aber den Umfragen durchaus ge- konnte das nicht glauben. Nach
glaubt, die Union und SPD im Bund sei- und nach trudelten die Ergebnisse
nerzeit gleichauf sahen. Nach den Erfolgen ein, bis dann feststand, dass die
im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und CDU-Abgeordneter Wanderwitz in Zwickau AfD in Sachsen, wenn auch
Schleswig-Holstein war klar, dass dieser Als „Volksverräter“ beschimpft hauchdünn, gar stärkste Partei ge-
Effekt verpufft war – wenn es ihn denn je- worden ist. Puh!
mals tatsächlich gegeben hat. chenplakat mussten wir in vier Wochen Klar, während des Wahlkampfs habe
Nachdem das Rennen um die vorderen zehnmal erneuern. In meinen früheren ich manchmal gedacht: Was für ein be-
Plätze entschieden war, konzentrierte sich Wahlkämpfen gab es auch hin und wieder scheidener Tag! Du hörst morgens als Ers-
die Aufmerksamkeit auf die Frage, wer von Beschädigungen. Aber das Ausmaß der tes, wie viele Plakate über Nacht wieder
den Kleinen nun Dritter wird. Es war eine Zerstörungswut, die Aggression, war neu. zerstört worden sind. Dann beschimpft
verbissene Auseinandersetzung. In meinem Das gibt es so erst, seitdem die AfD aufge- dich einer am Wahlstand als „Schädling“.
Wahlkreis zwischen Chemnitz und Zwickau taucht ist. Bei manchen sind wirklich alle Und der AfD-Gegenkandidat hängt Pla-
ist die AfD nicht so stark wie in Ostsachsen. Hemmungen gefallen. kate mit dem Spruch „Alles für Deutsch-
Aber auch bei uns ging es heftig zu. Die AfD in Sachsen ist dabei keine kon- land“ auf – und wusste dann hinterher
Ich hatte noch nie so viele zerstörte Pla- servative, sondern eine hart rechtsradikale natürlich wieder nicht, dass das ein alter
kate in meinem Wahlkreis. Ein Großflä- Partei. In meinem Wahlkreis gibt es zum SA-Spruch ist. Aber man weiß in solchen

WO DIE NATUR
GROSS RAUSKOMMT
GRÖNLAND IST DIE GRÖSSTE INSEL der Welt –
eine überwältigende Wildnis, die immer wieder
spektakuläre Begegnungen bereithält. Erleben Sie
im Sommer 2019 die Natur so nah wie möglich, an
Bord von Hurtigruten, auf Schiffen, die speziell für
— Manchmal Polarregionen gebaut sind. Willkommen an Bord!
über 18 Meter. 16 Tage Expeditionsreise inkl. Flug ab 8.084 € p. P.

IN JEDEM STECKT EIN ENTDECKER


©   shutterstock

Im Reisebüro oder www.hurtigruten.de | Tel.   040  87 4  0 96 60


Mo.–Fr.  8:30–20:00 Uhr · Sa.  9:00–18:30 · So. 10:00–18:30 Uhr
Jetzt gratis Katalog bestellen: www.hurtigruten.de/kataloge
Hurtigruten GmbH · Große Bleichen 23 · 20354 Hamburg
Deutschland

ANN-KATRIN MÜLLER / DER SPIEGEL

CHRISTOPH SCHULT / DER SPIEGEL


Grünenabgeordnete Baerbock, FDP-Kollege Kubicki: Enttäuschung über das Ende von Jamaika

Momenten eben auch, dass es sich lohnt, sich die beiden Vorsitzenden neben all Es könnte alles so schön sein für Kubicki,
für unsere Demokratie zu kämpfen. dem Stress, den es ohnehin schon gibt, bes- der neue Ruhm, die Talkshows, der Sitz
ser absprechen. Dann wäre es auch mög- im Bundestag, wäre da nicht jener niese-
lich, zu Hause zu bleiben, wenn mal ein lige 20. November, als Christian Lindner
Annalena Baerbock, 37, Kind krank ist. nicht nur Jamaika platzen ließ, sondern
saß im Sondierungsteam der Grünen für Baerbock weiß, dass sie ihrem Mann auch Kubickis Traum vom Ministeramt.
Jamaika. 2018 will sie Grünenchefin werden. mehr zumuten muss. Sie selbst wird noch Während Lindner in jener unseligen Nacht
weniger schlafen. Schließlich will sie auch sein Nein begründete, stand Kubicki rechts
Kurz vor der Abfahrt meldet sich Baer- nächstes Jahr wieder den Adventskalender hinter dem Chef und starrte ins Nichts.
bocks Mitarbeiter. Baerbock stecke noch basteln. Und wenn es, wie dieses Jahr, wie- Es ist kein Geheimnis, dass Kubicki gern
in einer Sitzung, sagt er. Ob man einen der mitten in der Nacht ist. regiert hätte. Am Donnerstag vergangener
Zug später nehmen könne? Baerbock Woche verabschiedete er sich mit einer
wohnt in Potsdam und pendelt mit dem emotionalen Rede aus dem Kieler Landtag.
Regionalzug. Wolfgang Kubicki, 65, Er sprach davon, wie gut das Bündnis mit
Sie schaffe nie den Zug, den sie eigent- war 22 Jahre lang Fraktionschef der FDP im CDU und Grünen in Schleswig-Holstein
lich nehmen wolle, erzählt Baerbock, als Landtag von Schleswig-Holstein, seit Oktober funktioniere, und versprach, in Berlin
sie am Bahnsteig eintrifft. Ihren Töchtern ist er Vizepräsident des Bundestages. Kubicki „trotz aller Widrigkeiten nachzuholen, was
sage sie deswegen schon gar nicht mehr, sagt gern, was er denkt. Kürzlich ließ er durch- bisher nicht gelungen ist“. Sein Freund Ro-
wann sie genau nach Hause komme. Ja- blicken, dass er sich durchaus vorstellen kön- bert Habeck von den Grünen wolle schließ-
maika sei „schuld“, auch heute, die 14-köp- ne, mit Union und Grünen noch mal über lich auch nach Berlin wechseln. Da könne
fige Truppe der Grünen hat die Sondie- Jamaika zu verhandeln. Daraufhin ließ FDP- aus Jamaika „ja doch noch was werden“.
rungen zum Ende des Jahres Revue pas- Chef Christian Lindner das Parteipräsidium Das kann man als Scherz auffassen.
sieren lassen. einen Beschluss fassen, der das für diese Muss es aber nicht.
Baerbock ist gerade 37 geworden, ver- Legislaturperiode kategorisch ausschließt. Sind Sie enttäuscht, Herr Kubicki?
heiratet, ihre Töchter sind erst zwei und Aber ausgeschlossen – was heißt das derzeit „Die Enttäuschung hält sich in Grenzen,
sechs Jahre alt. Sie hat deshalb lange schon? Am Donnerstag machte eine Meldung aber während der Verhandlungen wächst
überlegt, ob sie auf dem Parteitag im Ja- die Runde, Lindner könne sich Jamaika durch- die Lust.“
nuar für die Wahl der Parteichefin antre- aus vorstellen – sollte es Neuwahlen geben. Kubicki gefiel sich immer in der Rolle
ten soll. als bekannter Anwalt. Jetzt ist er Vizeprä-

I
Sie wisse, wie schwer es sein werde, bei- CE 801, Fahrt von Kiel nach Berlin, sident des Bundestages. Auf die ganz gro-
dem gerecht zu werden, sagt Baerbock. Wolfgang Kubicki hat im Speisewagen ßen Mandate muss er nun aus Zeitgründen
„Es geht hier nicht nur um mich, sondern Platz genommen, er bestellt eine kleine verzichten. Lohnt sich das für einen Job,
auch um meine Kinder, meinen Mann.“ Flasche Grauburgunder, da nähert sich ein der im Wesentlichen darin besteht, ande-
Der Wahlkampf sei schon sehr stressig ge- junger Mann seinem Tisch. ren Abgeordneten das Wort zu erteilen?
wesen, vor allem, weil ihre Tochter gerade „Herr Kubicki, ich bin ein ganz großer „Ich verstehe, dass du enttäuscht bist“,
eingeschult worden war. Und in den Wo- Fan der FDP, kann ich ein Selfie mit Ihnen hat seine Frau gesagt, „aber für unsere
chen der Sondierung habe sie es nicht im- machen?“ Urlaubsplanung ist es besser.“
mer nach Hause geschafft. Da habe ihre Kubicki (gönnerhaft): „Aber sicher.“ Neulich traf er Sigmar Gabriel, die bei-
Ältere oft gefragt, ob es denn nun mal Ein paar Minuten später: „Hallo, Herr den kennen sich seit Jahren. Warum die
endlich eine Regierung gebe oder ob sie Kubicki, mein Großvater war als Student FDP denn ausgestiegen sei, wollte Gabriel
schon wieder zur „Chefin von Deutsch- in derselben Studentenverbindung wie Sie, wissen. „Wir haben Jamaika scheitern las-
land“ müsse. kann ich ein Foto mit Ihnen machen?“ sen, damit du Außenminister bleiben
Warum sie nun dennoch kandidiert? Kubicki (überrascht): „Klar.“ kannst“, scherzte Kubicki.
„Ich wollte mich einfach nicht damit ab- „Ist schon interessant, was sich die Leute „Du wärst auch ein guter Außenminister
finden, dass man sagt, mit kleinen Kindern ausdenken, um mit mir ein Foto zu bekom- geworden“, entgegnete Gabriel.
geht es nicht.“ men“, sagt Kubicki, als der junge Mann Kubicki widersprach nicht.
Sie hofft, dass sich Dinge ändern, wenn sich getrollt hat. „Ich war nie in einer Ver- Nicola Abé, Melanie Amann, Veit Medick,
sie Parteichefin wird. Zum Beispiel, dass bindung.“ Ann-Katrin Müller, Ralf Neukirch, Christoph Schult

38 DER SPIEGEL 52 / 2017


Der Himmel hat jetzt
fünf Sterne mehr.

Ausgezeichnet:
Wir sind Europas
erste 5-Star Airline

LH.com/5-star
Großer Bums
Brauchtum Das Silvesterfeuerwerk bläst riesige Mengen Feinstaub in die Luft. Doch die Politik
will den Deutschen ihre Raketen nicht verbieten – allen Gefahren zum Trotz.

I
mmer wenn das neue Jahr anbricht, sind, geht es nicht mehr darum, fröhlich führt rund 60 000 Todesfälle pro Jahr in
folgt Karl Lauterbach einem Ritual: und laut zu sein. Sie sehen die negativen Deutschland auf Feinstaub zurück.
Kurz nach Mitternacht verzieht sich Seiten wie Feinstaub oder Straßenver- „Wir rufen dazu auf, das private Feuer-
der SPD-Politiker nach drinnen und ver- schmutzung.“ Das rufe aber Widerspruch werk einzuschränken“, sagt Ute Dauert,
schließt die Fenster der Wohnung. „Fein- hervor: „Andere Teile der Bevölkerung im Umweltbundesamt in Dessau zuständig
staub aus Böllern und Feuerwerkskörpern sind nicht empfänglich für moralische Bot- für den Fachbereich Luftqualität. Zum Jah-
ist ein echtes Gesundheitsrisiko“, sagt der schaften“, sagt Trummer. „Die wollen einen reswechsel könnten in den Städten „ex-
Gesundheitsexperte. „Was man an Silves- draufmachen.“ trem hohe Werte“ beim Feinstaub entste-
ter einatmet, bleibt für den Rest des Jahres Im Kulturkampf zum Jahreswechsel ha- hen. „Darunter leiden vor allem vorgeschä-
im Körper.“ ben die Böllergegner Zahlen und Argu- digte Menschen, etwa mit Asthma.“
Seit Jahren hat sich der Mediziner dem mente auf ihrer Seite. Jedes Jahr, so hat Zum Schrecken der Fachleute boten viele
Kampf gegen den Feinstaub verschrieben. das Umweltbundesamt errechnet, werden deutsche Städte am 1. Januar 2017 ein Bild
In seinem Wahlkreis Leverkusen wirbt er 5000 Tonnen Feinstaub durch Feuerwerks- wie London in der Zeit Charles Dickens’
für einen Rheintunnel, der die Autos unter körper freigesetzt. Das entspricht 17 Pro- und der Kohleöfen. Die Messungen des
die Erde bringen soll. Über schlechte Luft zent der Menge, die der gesamte Straßen- Umweltbundesamts zeigen für diesen Tag
hat Lauterbach viele Reden gehalten, stan- verkehr während eines Jahres in die Luft große Ausschläge (siehe Grafik Seite 42).
dardmäßig enden sie derzeit mit einem bläst. Die Europäische Umweltagentur In München maß das Bayerische Landes-
Hinweis: Lauterbach warnt vor den „Son-
derbelastungen“ zum Jahreswechsel.
Für den Sozialdemokraten ist die Bölle-
rei eine „unterschätzte Gefahr“. Kleinste
Feinstaubpartikel aus Feuerwerkskörpern
könnten sich im Gehirn ablagern und dort
zu chronischen Entzündungen führen, am
Ende sogar Demenz auslösen. Vor allem
ältere Menschen seien gefährdet. Auch das
Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, stei-
ge durch die schlechte Luft.
Lauterbach hat einen Ruf als notorischer
Gesundheitsapostel zu verteidigen. Er hat
den Deutschen schon das Grillen zu ver-
leiden versucht und warnt vor Salz im Es-
sen. Doch der gefahrenbewusste Politiker
ist kein Außenseiter: Das Abschießen von
Krachern und Raketen, für die deutsche
Seele so wichtig wie die Wurst oder der
Personenkraftwagen, ist in Verruf geraten.
Einzelne Kommunen haben bereits ihre
Innenstädte oder bestimmte Plätze für die
Freunde des Schwarzpulvers gesperrt. An-
dere prüfen ein generelles Verbot. Und die
Politiker appellieren an die Vernunft der
Bürger. Die Böllerdebatte hat einen neuen
Ton: Nicht, dass Geld in die Luft geblasen
wird, ist verwerflich, sondern die schlechte
Luft. Die Rakete ist zu einem Gesundheits-
risiko geworden, wie die Zigarette oder
der Dieselmotor.
Für den Kulturwissenschaftler Manuel
Trummer von der Universität Regensburg
reiht sich die Knallerkritik in eine Morali-
sierung ein, die er seit den Achtzigerjahren
beobachtet. 1981 trat das evangelische
Hilfswerk „Brot für die Welt“ erstmals mit
der Kampagne „Brot statt Böller“ an. Da-
mals ging es um Konsumverzicht, erklärt
Trummer, nun seien die Vorzeichen ande-
re: „Bestimmten gesellschaftlichen Grup-
pen, die ökologisch und global orientiert
40 DER SPIEGEL 52 / 2017
Deutschland

amt für Umwelt einen Tagesmittelwert von Akutmediziner sorgen sich weniger um meist nicht klar, sagt Martin Lacher, Chef
564 Mikrogramm pro Kubikmeter an der Lungenkranke als um Hörschäden, abgeris- der Kinderchirurgie am Uni-Klinikum in
Landshuter Allee, am Stachus in der Innen- sene Finger und Verbrennungen – nie kom- Leipzig. Kürzlich veranstaltete er einen
stadt waren es 504 Mikrogramm. men so viele Menschen mit solchen Verlet- Knallkörper-Aktionstag für Schüler. Ein
Das ist zehnmal so viel wie der Wert, zungen in die Notaufnahmen wie an Silves- Pyrotechniker demonstrierte die Zerstö-
von dem an etwa in Stuttgart Feinstaub- ter. Dementsprechend finden sich jedes rungskraft an Schweinepfoten, die in Schu-
alarm ausgerufen wird. Am Neckartor, das Jahr in den Jahresendausgaben der Zei- hen steckten. „Sogenannte Polenböller ma-
als dreckigste Kreuzung Deutschlands gilt, tungen gleichlautende Tipps („abgerissene chen eine Druckwelle, da bleibt von der
ist die kritische Schwelle erreicht, wenn Finger in ein möglichst keimfreies Stück Pfote nichts mehr übrig“, sagt Lacher. Die
der durchschnittliche Wert 50 Mikrogramm Stoff wickeln“), und, am Tag danach, die Hauptrisikogruppe seien Jungen zwischen
Staub überschreitet. Die Europäische Union Verletztenstatistiken. Auf 8000 Schädigun- 10 und 14 Jahren.
erlaubt, dass dies an höchstens 35 Tagen gen des Innenohrs pro Silvester kam schon Der Absatz der Knallkörper steigt den-
der Fall ist, bis Ende 2017 wird es aber 2013 das „Deutsche Ärzteblatt“. noch stetig. In Deutschland wurde im Jahr
wohl rund 50 solcher Tage geben. „Wir rechnen mit rund 30 Verletzten und 2016 Feuerwerk für 137 Millionen Euro ver-
Dann drohen Fahrverbote und Strafzah- noch einmal so vielen an Neujahr“, be- kauft, das ergibt statistisch rund 1,65 Euro
lungen an die EU. Die Politik verrenkt sich, richtet Till Orla Klatte, Unfallchirurg am pro Einwohner – deutlich mehr als vor
um den Staub aus der Luft zu bekommen. Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf: einem Jahrzehnt.
Am Neckartor kehren nachts spezielle Rei- „Abgerissene Nasen, zerrissene Wangen, Die Kulturtechnik des Böllerns stammt
nigungsfahrzeuge, eine eigens aufgestellte Augenverletzungen. Es gibt nicht mehr Ver- ursprünglich aus China. In der Provinz Hu-
Mooswand soll die Partikel binden. Besit- letzte als früher, aber mehr schwere Verlet- nan soll der Mönch Li Tian im 7. Jahrhun-
zer sogenannter Komfortkamine dürfen zungen.“ Verursacht werden diese oft durch dert mit Schießpulver experimentiert ha-
an Feinstaubtagen kein heimeliges Feuer illegale Böller aus China, Italien oder Ost- ben, um Dämonen und böse Geister zu
entfachen. Nur die Knallerfans blieben un- europa. vertreiben. Die Feuerwerksbranche welt-
behelligt – dabei verursachen sie ganz al- Wer solche Sachen auf dem Schwarz- weit verehrt den Chinesen noch immer.
lein ein bis zwei Tage Feinstaubalarm. markt kaufe, mache sich deren Sprengkraft In Europa war Pyrotechnik zunächst ein
aristokratisches Vergnügen für Adelshoch-
zeiten oder Geburten. Ab dem 18. Jahr-
hundert richteten auch Stadtverwaltungen
oder reiche Bürger die Spektakel aus. Seit
den Fünfzigerjahren sanken die Preise für
Feuerwerksartikel, seitdem würden die
Deutschen für ihr vermeintliches Grund-
recht aufs private Böllern wohl vors Bun-
desverfassungsgericht ziehen. Eine Einstel-
lung, die Schweizer und Franzosen befrem-
det, die sich in ihren Heimatländern lieber
an staatlich organisierten Höhenfeuerwer-
ken erfreuen.
Woher also die deutsche Liebe zur Lun-
te? Alfred Gebert, emeritierter Professor
für Psychologie aus Münster, sieht im Böl-
lern eine „Regression in vorpubertäre Ver-
haltensweisen“. Gebert hat mit seinen Stu-
denten in einer empirischen Studie das
Böllerverhalten von Männern und Frauen
untersucht. Ergebnis: „Männer wollen
einen möglichst großen Bums, Frauen mö-
gen Sachen, die schön aussehen: bunte
Fontänen, Goldregen, Tischfeuerwerk.“
Frauen hielten auch gern Wunderkerzen
in der Hand. „Da käme kein Mann drauf,
die wollen den Reiz des Risikos.“ Ein Drit-
tel der Befragten habe zugegeben, schon
einmal Böller unter Autos, in Briefkästen
oder Mülltonnen zum Explodieren ge-
bracht oder, oft unter Alkoholeinfluss, Feu-
erwerkskörper auf Menschen geworfen zu
haben.
Viele Kommunen wollen solches Geba-
PETER KNEFFEL / PICTURE ALLIANCE / DPA

ren einschränken, finden aber nur schwer


eine Handhabe. Der Feinstaub taugt dazu
nicht, weil das Immissionsschutzrecht die
Bürger über das ganze Jahr gesehen vor
zu hohen Belastungen schützen soll. Wer

Leuchtraketen über München


„Die wollen einen draufmachen“

DER SPIEGEL 52 / 2017 41


Deutschland

sich, anders als Karl Lauterbach, zu Jahres- geht, das Böllern zu untersagen. Denn len. Auch Lüneburg wird von diesem Jah-
beginn die volle Dosis Feinstaub geben will, beim Wähler ist das Thema ungefähr so reswechsel an seine historischen Gebäude
dem steht dies generell frei. populär wie Fahr- oder Grillverbote. Nie- schützen. Gab es keinen Protest? Nein,
Die Stadt Stuttgart, die aufgrund ihrer mand möchte als Spaßbremser dastehen, sagt Suzanne Moenck von der Stadtver-
Lage in einem Talkessel oft besonders der den Menschen ihre Raketen nimmt. waltung. „Es gab sogar erstaunlich viele
hohe Schadstoffwerte hat, setzte auf Ge- Grüne Verantwortungsträger befürchten Fürsprecher. Die Leute rufen uns an und
heiß des grünen Oberbürgermeisters Fritz einen Trotzeffekt wie seinerzeit beim sagen: Es wurde Zeit!“
Kuhn Verwaltung und Polizei darauf an, Veggie-Day. Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte
ein Verbot der Böllerei zu eruieren. In der Um das Feuerwerk zu begrenzen, bleibt wünschen sich, dass die Kommunen die
Stadt fordern so unterschiedliche Akteure den Städten einstweilen nur die schärfste Verbotszonen ausweiten. Diese könnten
wie der BUND und die AfD, die Böllerei Waffe des deutschen Verwaltungsrechts: auch dort ausgesprochen werden, wo sich
zu verbieten. Ergebnis laut Kuhn: „Ich der Brandschutz. Mögen Asthmatiker um sehr große Menschenmengen ansammeln,
habe prüfen lassen, ob ein Verbot des Feu- Luft ringen, Teenager ihre Finger verlieren, zum Beispiel am Brandenburger Tor.
erwerks an Silvester angesichts hoher Fein- Kriegsflüchtlinge retraumatisiert oder Tie- In der Hauptstadt sorgt die Knallwut
staubwerte möglich ist. Dafür gibt es aber re panisch werden – rechtlich bedeutsam seit Jahren für Ausnahmezustände. In der
keine rechtliche Grundlage.“ Der Grüne ist vor allem der Schutz vor dem Feuer. letzten Silvesternacht musste die Ber-
belässt es deshalb bei einem Appell: „Wer Der Brandschutz in Deutschland verhin- liner Feuerwehr 433 Brände löschen. Die
der Luft in Stuttgart etwas Gutes tun will, dert, dass Bahnhöfe oder Flughäfen fertig Polizei registrierte bis zum Neujahrs-
der verzichtet unten im Talkessel auf Sil- gebaut werden. Und der Hinweis auf den morgen 3123 Notrufe und 1669 Polizei-
vesterfeuerwerk.“ Brandschutz kann auch Innenstädte böl- einsätze – oft wegen Sachbeschädigung
Die Hamburger Verwaltung kam nach lerfrei machen. und „unsachgemäßen Umgangs mit Pyro-
der Beschwerde einer Bürgerin zu dem Er- Etliche Kommunen mit historischen Alt- technik“.
gebnis: Das Feuerwerk erhöhe die Zahl städten haben beschränkte Verbote erlas- Das ist eine vornehme Umschreibung
der Tage mit überschrittenen Grenzwerten sen, in Baden-Württemberg sind es etwa für das, was sich in manchen Bezirken Ber-
nur geringfügig. „Vor diesem Hintergrund Tübingen, Rottweil und Esslingen. Zu groß lins in der Silvesternacht abspielt. Im Stadt-
wird ein Verbot des Silvesterfeuerwerks ist das Risiko, dass eine Rakete einen his- teil Neukölln etwa demolierte ein Mob
aus Gründen der Luftreinhaltung als nicht torischen Dachstuhl in Brand setzt. Erlaubt junger Männer einen Kleinwagen, zwei
verhältnismäßig erachtet“, sagt ein Spre- sind in Tübingen Tischfeuerwerk, Scherz- warfen Feuerwerkskörper in die einge-
cher der Umweltbehörde. artikel und Knaller für Kinder. schlagenen Scheiben. Der Chevrolet
In München beschäftigten sich Bezirks- Seit Raketen in Goslar im Jahr 2006 brannte vollständig aus.
ausschüsse mit dem Feiersmog zum Jah- mehrere Fachwerkgebäude in Brand ge- Vor drei Jahren lieferten sich bis zu hun-
reswechsel. Die Böllerer benutzen die setzt haben, wappnen sich niedersächsi- dert Mann starke Gruppen im Stadtteil
Schotterbänke der Isar gern als Abschuss- sche Fachwerkstädte mit einem Verbot. Schöneberg mithilfe illegaler Böller regel-
plätze. Die Rauchschwaden ziehen dann Auf dem Land sind Silvesterböller in Ge- rechte Artilleriegefechte, „sodass sich die
in die Wohnviertel, der Lärm macht die meinden mit vielen Reetdächern tabu, Kräfte zeitweise aufgrund der Eigensiche-
Tiere im Zoo Hellabrunn verrückt. ebenso in den Nationalparks Harz und rung zurückziehen mussten“, hieß es spä-
Doch Politiker in Bund und Ländern Wattenmeer. In Göttingen will die Polizei ter im Lagebericht der Polizei. Der Berli-
halten sich lieber zurück, wenn es darum Handzettel in mehreren Sprachen vertei- ner Innensenator ruft deshalb zur Mäßi-
gung auf. „Menschen, die uns helfen, greift
man nicht an“, sagt Andreas Geisel. „Ich
Feinstaubkonzentration in Mikrogramm pro Kubikmeter Luft* appelliere an die Menschen, in jeder Situa-
29. Dezember 2016 1. Januar 2017 tion verantwortungsbewusst mit Feuer-
werkskörpern umzugehen.“
Da der Appell bei vielen Böllerfreun-
den verhallen wird, richten sich die Städte
wieder auf einen turbulenten Jahreswech-
Hamburg Hamburg sel ein. Die Umweltbehörden haben ihre
Messgeräte eingeschaltet, im Januar 2018
werden die Deutschen im Internet die
Berlin Berlin neuen Feinstaubkarten betrachten kön-
nen.
Dortmund Dortmund Von Verboten hält auch der Mahner
Karl Lauterbach nichts. „Das würden die
Bürger nicht akzeptieren.“ Die Bundes-
Köln Köln zentrale für gesundheitliche Aufklärung
solle aktiv werden und über die Feinstaub-
Frankfurt Frankfurt gefahr in der Silvesternacht aufklären.
Lauterbach sieht vor allem die Herstel-
ler in der Pflicht, alternative Knall- und
Stuttgart Stuttgart Leuchtmethoden mit geringerer Belastung
zu entwickeln. Raketen könnten auch me-
chanisch abgeschossen werden, sagt der
Gesundheitspolitiker. „Es ist Zeit für neue
Technologien für ein Feuerwerk ohne Fein-
0 10 20 30 40 > 50 staub.“ Jan Friedmann, Beate Lakotta,
Sven Röbel, Cornelia Schmergal
Quelle: Umweltbundesamt; *Tagesmittelwerte Mail: jan.friedmann@spiegel.de

42 DER SPIEGEL 52 / 2017


Brille, Bart,
Glatze
G-20-Krawalle Die öffentliche
Fahndung nach mehr als hundert
mutmaßlichen Randalierern
sorgt für Kritik: Ab wann werden
Verdächtige bloßgestellt?

GEORG WENDT / DPA


D
ie Pressekonferenz der „Soko
Schwarzer Block“ lief noch, da mel-
dete sich schon der erste Gesuchte:
Ein Mann aus Nordrhein-Westfalen, er hat-
te sich auf einem Fahndungsfoto wieder- Galerie von G-20-Fahndungsfotos bei der Polizei: „Stigmatisierende Wirkung“
erkannt, als mutmaßlicher Plünderer im
Schanzenviertel. Ein schneller Erfolg der „Bild“-Zeitung unter der Zeile „So jung, tenschutzbeauftragte Johannes Caspar
Polizei, so schien es. so voller Hass: Polizei sucht diese Krawall- nennt die massenhafte Öffentlichkeitsfahn-
Die Hamburger Ermittler hatten am Barbie“ groß auf ihrer Titelseite zeigte. dung „durchaus fragwürdig“, auch wenn
Montag eine der größten deutschen Öf- Die junge Frau ist erst 17 Jahre alt, wie die Legalität jedes Falles durch die richter-
fentlichkeitsfahndungen eingeleitet. Sie nun herauskam. Sie wurde wie acht weite- liche Anordnung verbürgt sei. Die Personen
stellten die Fotos von 104 unbekannten re Verdächtige inzwischen identifiziert. würden vor der Allgemeinheit bloßgestellt,
Verdächtigen ins Internet, die sich an den Eine 24-jährige Hamburgerin stellte sich insbesondere für Jugendliche habe das eine
schweren Krawallen beim G-20-Gipfel An- selbst. Am 6. Juli, dem Vorabend des Gip- „erhebliche stigmatisierende Wirkung“.
fang Juli in Hamburg beteiligt haben sol- fels, war es bei der Demo „Welcome to Der Deutsche Anwaltverein (DAV) kri-
len. Ihnen wirft die Polizei vor, Flaschen Hell“ zu schweren Zusammenstößen zwi- tisiert, die Öffentlichkeitsfahndung greife
oder Steine auf Beamte geworfen oder Ge- schen Polizei und Gipfelgegnern gekom- „schwer und nachhaltig in das Persönlich-
schäfte geplündert zu haben. Es geht um men. Die 17-Jährige soll eine Flasche auf keitsrecht ein“. Mit zunehmender Video-
Brandstiftung, gefährliche Körperverlet- Polizisten geworfen haben. Davon gebe es überwachung „wird der Druck größer, Bild-
zung oder schweren Landfriedensbruch. Bilder, bestätigt die Staatsanwaltschaft, ein material immer häufiger und immer
Den Anrufer aus NRW führt die Polizei Treffer sei darauf nicht zu sehen. Der Vor- umfassender einzusetzen“, sagt DAV-Prä-
als unbekannten Tatverdächtigen „UT wurf: Versuchte schwere Körperverletzung sident Ulrich Schellenberg. Die öffentliche
187“. „Männlich, kräftige Figur, Brille, und tätlicher Angriff auf Vollstreckungs- Meinung schere sich nicht um die Un-
Bart, Glatze, graues T-Shirt, karierte kurze beamte. Die Polizei sagt, sie habe sich zeit- schuldsvermutung. Der Gesetzgeber müs-
Hose“, steht im Fahndungsaufruf. Nach- weise auch vermummt. se eindeutiger als bisher definieren, was
dem er sich gemeldet hatte, berichtete die Gegen die „Bild“-Zeitung gingen wegen eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“
Deutsche Presseagentur unter Verweis auf der „Krawall-Barbie“ und den veröffent- sei, die für Öffentlichkeitsfahndung Vo-
die Polizei, er habe zugegeben, an den lichten Fahndungsfotos („G20-Chaoten: raussetzung ist.
Plünderungen beteiligt gewesen zu sein. Ihr kommt nicht davon!“) mehrere Be- 25 der Gesuchten sollen am Morgen des
Doch der 29-Jährige, der sich selbst als schwerden beim Presserat ein. Bereits im 7. Juli am Rondenbarg dabei gewesen sein,
„YouTuber“ bezeichnet und einen rechten Juli hatte „Bild“ Fotos von mutmaßlichen wo die Polizei Gipfelgegner stoppte. Aus
Videoblog namens „Orwellzeit“ betreibt, Randalierern veröffentlicht und dazu ge- der Menge wurden Steine und Pyrotech-
erklärt, so sei es nicht gewesen. Er habe fragt: „Wer kennt diese G20-Verbrecher?“ nik auf Beamte geworfen. Vor zwei Wo-
nicht geplündert, sagt er dem SPIEGEL. Er Der Presserat missbilligte die Darstellung, chen durchsuchten Behörden bundesweit
habe am Freitagabend in der Schanze die die Betroffenen würden an einen „öffent- die Wohnungen von Beschuldigten, die
Krawalle gefilmt. Dabei sei er auch in den lichen Medienpranger“ gestellt. Nun prüft an der Demo teilgenommen hatten. Bis
Rewe-Supermarkt gegangen, der gerade der Presserat die neuen Beschwerden. Ta- heute sagten ihnen die Ermittler nicht, ob
von Randalierern verwüstet wurde. Auf nit Koch, „Bild“-Chefredakteurin, äußerte der Ertrag der Hausdurchsuchungen aus-
den Bildern der Überwachungskamera sei sich wenig auskunftsfreudig: „Die Inten- gewertet sei, mit denen man ja die Ereig-
zwar zu sehen, wie er etwas in die Hosen- tion unserer Berichterstattung ist, dem gro- nisse am Rondenbarg aufklären wollte,
tasche stecke, doch das sei bloß sein Handy ßen öffentlichen Interesse an der Aufklä- kritisiert die Rechtsanwältin Kristin
gewesen. Das habe er bei seiner Verneh- rung der G20-Straftaten journalistisch ge- Pietrzyk. Das hätte geschehen müssen, be-
mung nun auch der Polizei erklärt. Er glau- recht zu werden.“ vor man zum letzten Mittel der Öffent-
be deshalb, dass die Ermittlungen gegen Unter Druck, rasch Erfolge vorweisen lichkeitsfahndung greife. Sie sieht „die
ihn eingestellt würden. „Das Verfahren zu können, steht die Polizei. Jeder einzel- Grenzen des Rechtsstaats überdehnt“.
läuft“, sagt dagegen Polizeisprecher Timo ne Fahndungsaufruf wurde von einem Bis Donnerstagabend gab es rund 200
Zill, „alles Weitere werden die Ermittlun- Richter genehmigt. Die Fahndung sei um- Hinweise aus der Bevölkerung zu den
gen zeigen.“ fänglich „rechtsstaatlich abgesichert“, be- Fahndungsfotos, von einem Erfolg wollte
Das Foto des Mannes in Shorts ist aus tonen Beamte, sie sei ein „Meilenstein“ Polizeisprecher Zill nicht reden: „Wir tun
der Fahndungsgalerie nun ebenso ver- der Soko Schwarzer Block. unsere Arbeit.“
schwunden wie das spektakuläre Bild jener Doch die Suche per digitalem Steckbrief Maik Baumgärtner,
jungen Frau mit bauchfreiem Top, das die ist hoch umstritten. Der Hamburger Da- Annette Großbongardt, Alexander Kühn

DER SPIEGEL 52 / 2017 43


SPIEGEL TV
Mutmaßlicher Hintermann „Lolli“ K. um 2014, Lamborghini der Familie: „Machtlosigkeit der Staaten gegen das organisierte Verbrechen“

Die Nummer mit der Nummer


Telefonbetrüger Viele Senioren fielen auf den „Enkeltrick“ herein und gaben Fremden ihre
Ersparnisse. Ein Prozess zeigt nun: Hinter der Masche steckt ein europaweit agierender Clan.

W
altraud und Heinz Rosche* hat- dem Fotostudio an. Der war überrascht der akzentfrei Deutsch spricht und nicht
ten länger nichts mehr von ihrem und versicherte, sie nie um Geld gebeten vorbestraft ist.
alten Bekannten Erik Höfer* aus zu haben. Die Tochter des Paares verstän- Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hat
Castrop-Rauxel gehört. Früher hatten sie digte daraufhin die Polizei. die Bande in 16 Fällen ihre Gesprächspart-
in Höfers Fotostudio gearbeitet, aber als Die Masche ist immer dieselbe: Im Tele- ner am Telefon zu einer Geldübergabe
Rentner trafen sie ihn nur noch gelegent- fonbuch suchen die Täter nach altmodisch überredet und insgesamt 290 000 Euro er-
lich auf Geburtstagen. klingenden Vornamen. Dann rufen sie ihre beutet. In den restlichen 27 Fällen blitzten
Trotzdem zögerte Waltraud Rosche meist betagten Opfer an, verwickeln sie sie ab: Die Angerufenen waren rechtzeitig
nicht, als Höfer eines Tages anrief und von in ein Gespräch und täuschen vor, ein na- misstrauisch geworden und informierten
seinen Geldsorgen erzählte. Er brauche her Verwandter oder Bekannter zu sein. zum Teil die Polizei.
dringend 30 000 Euro. Für den Kauf einer Der Rest ist dann oft Routine, wie bei den Der Enkeltrick ist seit fast 20 Jahren eine
Immobilie, es müsse schnell gehen, am Rosches. der erfolgreichsten Betrugsmaschen, ein
nächsten Montag überweise er ihr das ge- Enkeltrick heißt die Betrugsnummer un- skrupelloses Geschäft mit der Gutgläubig-
liehene Geld zurück. Es war Freitag, der ter Ermittlern. Meistens ist sie den Lokal- keit und Unsicherheit älterer, argloser Men-
29. November 2013, gegen 11 Uhr. zeitungen nur einen kleinen Bericht wert. schen. Mit erfunden hat ihn Ende der
Heinz Rosche machte sich sofort auf den Über Hintermänner, Strukturen und das Neunzigerjahre der Teppichhändler Ar-
Weg, um dem alten Bekannten zu helfen. Ausmaß des Schadens wird normalerweise kadiusz L., genannt „Hoss“. Er gilt als der
Um 12.45 Uhr kehrte er mit allem Bargeld wenig bekannt. Pate der Enkeltrick-Mafia, Anführer eines
zurück, das er auf der Stadtsparkasse lo- Ein Verfahren vor dem Landgericht Clans aus mehreren Roma-Familien – und
ckermachen konnte, immerhin 20 000 Euro. Hamburg erlaubt nun überraschende Ein- er ist Lollis Vater.
Er selbst könne leider nicht vorbeikom- blicke in die Szene. Es zeigt, dass der En- Hoss kam 1976 nach Deutschland, 1996
men, hatte Höfer am Telefon gesagt. Aber keltrick nicht nur das Geschäft kleiner zog er nach Hamburg und baute ein weit-
sein Architekt, Herr Schmidt, könne das Gauner ist – sondern ein lukratives Feld verzweigtes, europaweit agierendes Netz-
Geld abholen. Und so geschah es. Wenig der organisierten Kriminalität. werk von Trickbetrügern auf, die Rentner
später stand ein Mann in brauner Kunstle- Angeklagt ist Marcin K., genannt auszunehmen versuchten. Die Täter, so-
derjacke mit grauem Kragen vor ihrer Tür. „Lolli“, 30, ein redegewandter, adretter genannte Keiler, sitzen meist in Polen und
Herr Schmidt habe „mit leichtem Akzent“ Mann, lichtes dunkles Haar, Bart, polni- rufen von dort aus potenzielle Opfer in
gesprochen und „wie ein Osteuropäer“ scher Staatsbürger. Die Staatsanwaltschaft Deutschland an. Fallen die Angerufenen
ausgesehen, erinnerte sich Waltraud Ro- wirft ihm gewerbs- und bandenmäßigen darauf herein, taucht ein unbekannter
sche im Nachhinein. Betrug in 43 Fällen vor. Anfang Januar soll Geldabholer bei ihnen auf. Die telefoni-
Herr Schmidt fragte noch, ob sie denn das Urteil fallen. sche Koordination der Abholerteams über-
auch Schmuck oder Wertgegenstände zu Lolli soll der Hintermann einer Bande nehmen sogenannte Logistiker. An man-
Hause hätten. Zu ihrem Glück verneinten sein, die zwischen November 2011 und Mai chen Tagen ergaunerten Hoss und seine
die Rentner das. Dann übergaben sie dem 2014 von Polen aus in Deutschland und Leute 80 000 Euro.
ihnen wildfremden Mann 20 000 Euro ihres Luxemburg ältere Herrschaften betrogen Das streng hierarchische System er-
Vermögens. Wenig später schöpften sie hat – darunter auch Waltraud und Heinz schwert die Fahndung: Die Beute wird
Verdacht und riefen ihren Bekannten aus Rosche. „Alles spricht dafür, dass ich der kurz nach der Übergabe über Mittelsleute
Anrufer war, aber ich kann mich nicht hun- schnellstmöglich nach Polen transportiert.
* Namen von der Redaktion geändert. dertprozentig erinnern“, sagt Marcin K., Dadurch wird es kompliziert, die Taten bis

44 DER SPIEGEL 52 / 2017


Deutschland

angenehm“ geklungen, sagt die 74-Jährige.


„Einschmeichelnd, mit dunklem Timbre.“
„Wir kennen uns doch! Rate mal!“, habe
der Unbekannte gesagt.
„Ich rate nicht. Dazu habe ich keine
Lust“, habe sie geantwortet.
„Jetzt rate doch mal, dein Mann kennt
mich!“
„Ich wollte aber nicht raten“, sagt Gisela
Harsefeld, sie habe ihrem Mann unwirsch
den Apparat gegeben, da habe der Anrufer

CHRISTIAN CHARISIUS / DPA


aufgelegt.
Auch bei einem anderen Ehepaar schei-
terte Lolli am Telefon. Der Mann ließ sich
zunächst auf das Ratespiel ein, vermutete
seinen Freund Volker aus Frankreich in
der Leitung. Dieser behauptete, er sei bei
Angeklagter K. (M.), Verteidiger Gruhnwald, Lange: Den Betrügern leicht gemacht? einem Notar in Hamburg und benötige
40 000 Euro für den Kauf eines Grund-
stücks. Doch die Frau hatte Zweifel. „Ich
zu den Keilern zurückzuverfolgen und Neun Monate lang unterhielt er sich in rief Volker an, aber der saß friedlich in
nach einer Festnahme die erbeuteten Wert- Saal 337 im Gericht angeregt mit seinen Frankreich“, sagt sie vor Gericht.
gegenstände sicherzustellen. Anwälten Svenja Gruhnwald und Christian Warum fallen Rentner überhaupt auf
Für L. alias Hoss wurde es zwischen- Lange, zeigte sich den anderen Prozess- die Masche rein?
zeitlich trotzdem eng. 2001 floh er nach beteiligten gegenüber höflich, fast zuge- Christian Lange, Lollis Verteidiger, stellt
Polen, wurde mehrfach festgenommen. wandt. Zu den Vorwürfen aber schwieg jedem Zeugen am Ende der Befragung vor
Eine Auslieferung auf der Grundlage eines er eisern. Gericht die gleichen Fragen: Haben Sie je-
internationalen Haftbefehls scheiterte. Kein Wort von ihm, wie flink er von mals derart große Summe verliehen? Wür-
Mithilfe von Attesten oder auf Kaution seinem Vater und der restlichen Truppe den Sie sich als großzügig beschreiben?
kam er immer wieder frei und tauchte un- gelernt, wie er sein kriminelles Hand- Als leichtgläubig? Alle beantworten die
ter, bis er im März 2017 von polnischen werk perfektioniert hat. Keiler wie er Fragen mit Nein.
Spezialkräften in Warschau festgenom- müssen nicht nur fließend und akzentfrei Seine Co-Verteidigerin Svenja Gruhn-
men wurde. Deutsch sprechen; sie benötigen psycho- wald zielt ebenfalls auf die Gutgläubigkeit
Da lief bereits der Prozess gegen seinen logische Fähigkeiten, Überzeugungskunst der Senioren ab. Diese hätten es den Be-
Sohn. Lolli soll Straftaten in ganz Europa und Charme. trügern oft leicht gemacht. Gruhnwald er-
begangen haben. Er jonglierte mit zwei Und die Opfer? Nach Ansicht der Staats- innert an „teilweise deutlich aufkommen-
weiteren Identitäten: Er nannte sich Jeff anwaltschaft verschweigen viele Geschä- de Verdachtsmomente wie Warnungen
Orlowski, geboren in Hamburg, oder Ma- digte die Tat vor ihren Angehörigen, aus durch Bankmitarbeiter“ und das „offen-
rek Novak, geboren in Chicago. Angst, für nicht mehr zurechnungsfähig sichtlich osteuropäische Erscheinungsbild
In der Szene feierte man ihn als Star. des Abholers bei angeblich ‚urdeutschem‘
Eine Rolle, die er auskostete und zur Schau Familiennamen“.
trug: Lolli im Smoking, mit Sonnenbrille, Er ist zermürbt, gibt alle Über die Lautsprecher ertönt im Ver-
die dunklen Haare zurückgekämmt, eine
Kippe im Mundwinkel. Andere Ganoven Vorwürfe zu, identifiziert handlungssaal der Mitschnitt einer Tele-
fonüberwachung. Lollis Stimme ist zu hö-
himmelten ihn an. „Jeder wollte so sein sämtliche Mittäter – ren, er spricht Polnisch mit einer Frau, die
wie er“, sagt einer von ihnen. „Sein Stil
war legendär.“
ohne Absprachen. bei einem Berliner Ehepaar fast 20 000
Euro abholen sollte. Doch das Ehepaar
In kürzester Zeit avancierte Lolli zu ei- war misstrauisch geworden und drohte, die
nem der meistgesuchten Trickbetrüger gehalten zu werden, und aus Scham. Eine Polizei zu rufen. Der Beutezug war ge-
Europas, Ermittler fahndeten mit drei 74-Jährige aus Berlin fiel auf den angebli- scheitert. „Ärgere dich nicht“, sagte Lolli
Europäischen Haftbefehlen nach ihm. chen Nachbarssohn herein, den sie von in der Aufzeichnung zu seiner Komplizin,
Mehr als zwei Jahre lang war der junge klein auf kannte. Obwohl ihr auffiel, dass „waren ja nur 20 000 Euro. Wir finden viel-
Pole auf der Flucht, entkam mehrmals der er sie auf einmal duzte, berappte sie 9000 leicht etwas anderes.“ Der Vorsitzende
Polizei. Während sein Vater im Mai 2014 Euro. Richter beugt sich zum Angeklagten. „Hat-
in Warschau festgenommen wurde, ent- Eine 86-Jährige gab den Betrügern te Ihre Großmutter Zofia in diesem Fall
wischte Lolli nach Angaben der Ermittler 100 000 Euro in der Annahme, das Geld etwas damit zu tun?“ Zofia K., 65, wurde
zeitgleich in Posen im letzten Moment sei für ihren Neffen. Eine 75-Jährige in Hamburg bereits wegen Betrug zu mehr
einem Spezialkommando: Er kletterte schöpfte ihren Dispokredit aus, um ihrem als drei Jahren Haft verurteilt.
über den Balkon seines Apartments im angeblichen Großcousin 10 000 Euro zu lei- Lolli ziert sich. Er weiß, dass Verrat an
7. Stock auf den darüberliegenden Balkon hen. In manchen Fällen seien die Opfer in der Sippe gefährlich sein kann. Aber nach
im 8. Stock und verschwand über die existenzielle Geldnot geraten, sagen die 16 Monaten in Untersuchungshaft ist er
Hochhausdächer. Ermittler. Die Täter würden dies „bewusst zermürbt. Am 9. November sprudelt es
Am 18. Juli 2016 nahmen ihn ungarische in Kauf“ nehmen. plötzlich aus ihm heraus. Er gibt alle Vor-
Zielfahnder in Budapest fest. Im Januar Landgericht Hamburg, Saal 337. Gisela würfe zu, identifiziert sämtliche Mittäter.
2017 begann die Hauptverhandlung gegen Harsefeld* erinnert sich an einen Anruf Ohne Absprache mit seinen Anwälten.
Lolli, 69 Termine waren anberaumt, 6 wei- im August 2012, vermutlich von Lolli. Sei- Die Kammer fragt nun noch einmal je-
tere wurden inzwischen nachterminiert. ne Stimme habe „sehr sympathisch, sehr den einzelnen Betrugsfall ab. Lolli über-

DER SPIEGEL 52 / 2017 45


Deutschland

Weihnachten: lecker,
setzt aus der Telefonüberwachung, gibt
Namen preis, sagt: „Ja, das war ich.“ Im
Zuschauerraum in Saal 337 sitzt seine Frau,

aber einfach
er wirft ihr Luftküsse zu.
Wie seine Familie insgesamt auf seine
Beichte reagiert hat, wollen seine Vertei-
diger nicht kommentieren. SPIEGEL TV
kam in den vergangenen Jahren des Öfte-
ren in Berührung mit Lollis Angehörigen. SPIEGEL-Gespräch Der Spitzenkoch Nils Henkel über Familienrezepte,
Die wenigsten von ihnen waren friedlich. Kalbsbäckchen und die traurige Seite der Gourmetkritik
Die Reporter wurden bepöbelt, bespuckt,
angegriffen.
Der Clan nutzt den Enkeltrick als Haupt- Henkel gehört zu den meistbeachteten deut- Aber da rate ich zu Entspanntheit! Ich
einnahmequelle für ein Luxusleben, er schen Köchen: Nachdem er zwei Jahre lang würde mir zu Weihnachten nie die Mühe
soll damit ein Millionenvermögen ergau- pausiert hatte, bewerteten die Tester des bereiten, die ein Gänsebraten bedeutet:
nert haben. Lolli kennt nichts anderes. Er Gourmetführers „Guide Michelin“ seine Küche Vogel kaufen, Vogel füllen, Rotkohl ko-
wuchs in Deutschland auf, war in Essen im November sofort wieder mit zwei Sternen. chen, Kartoffeln reiben, Klöße formen.
und Hamburg gemeldet. Seit 2005 haben Der Erfolg des 48-Jährigen gilt als spektaku- Eine tolle Mahlzeit ist natürlich ein Ge-
ihn die Fahnder wegen der Betrugsserie läres Comeback. 2011 hatte der ehemalige schenk – gerade weil man sich in den hek-
im Visier. Er finanzierte sich damit sei- Dreisternekoch einen Stern verloren, 2014 tischen Tagen die Zeit nimmt, für andere
nen teuren Lebensstil. Lolli fuhr Porsche wurde er arbeitslos. Derzeit arbeitet Henkel zu kochen. Aber es findet sich immer eine
und Ferrari, residierte im Hilton oder im als Küchenchef für das Restaurant Schwar- unaufgeregtere Variante. Bei uns zu Hause
Sheraton. zenstein im hessischen Geisenheim. heißt Weihnachten: lecker, aber einfach.
Ermittler sprechen von einem „Total- Ein gebratener Saibling. Eine confierte
versagen der Justiz und Politik“. Die En- SPIEGEL: Herr Henkel, die Kritiker attestie- Entenkeule.
keltrick-Betrüger seien das beste Beispiel ren Ihnen Höhenflüge, das Restaurant ist SPIEGEL: Sie haben zwei Töchter, die jüngs-
für „die Machtlosigkeit der Staaten in jeden Abend voll, und die Gäste blicken auf te ist drei Jahre alt. Sie isst Saibling und
Europa gegen das organisierte Verbre- den opulent geschmückten Tannenbaum. Entenkeule, die gepökelt und im eigenen
chen“. Lolli muss fest geglaubt haben, Wie ist die Stimmung in Ihrer Küche? Fett gegart wurde?
glimpflich davonzukommen. Bis der Vor- Henkel: Zufrieden, aber natürlich auch an- Henkel: Sogar mit Freude. Meine Frau und
sitzende Bernd Steinmetz ankündigte, gespannt. Weihnachten ist ja ohnehin eine ich haben immer versucht, es durchzuhal-
dass er mit nahezu 15 Jahren Haft rechnen Zeit, in der einem der Kopf überzulaufen ten, dass die Kinder alles probieren. Aber
müsse, sollte er kein umfassendes Ge- droht. Obwohl das jeder weiß, scheint es wenn Tränen rollen, muss der Koch ein-
ständnis ablegen und sich um eine Scha- einen aber immer wieder zu überraschen. packen: Bei Rosenkohl geht bei unseren
denswiedergutmachung bemühen. Selbst Heute haben wir für das
in diesem Fall würde er nicht weniger als Adventstreffen eines inter-
12 Jahre Haft bekommen. nationalen Konzerns 120
Dies sei „ein deutlich zu hohes Straf- Mittagessen aus der Küche
maß“, sagt sein Verteidiger Lange. „Es gibt geschickt, da werde ich in-
kein Sonderstrafrecht für Enkeltrick-Be- nerlich schon mal unruhig.
trüger. Selbst bei einem Vielfachen dieses Manchmal muss ich mich
Schadens muss ein Anlagebetrüger mit an solchen Tagen draußen
nicht mehr als der Hälfte rechnen.“ kurz aufs Mäuerchen setzen,
Gegen Lolli laufen auch Verfahren in in die Rheinebene schauen
Österreich, Luxemburg und der Schweiz. und durchatmen. Es muss
Eine sogenannte Gesamtlösung aller Straf- ja trotz der Hektik alles
taten europaweit sei nicht möglich, sagte rundlaufen.
der Richter zu Beginn des Prozesses. Wenn SPIEGEL: Welche Fehler könn-
Lolli seine Strafe in Deutschland verbüßt ten sonst passieren?
hat, wird er in eines der anderen Länder Henkel: Der schlimmste Feh-
ausgeliefert und dort vor Gericht gestellt. ler wäre es, wenn einem
Vielleicht war die Angst vor einer lan- Gast ein Essen serviert wür-
gen Haft der Auslöser für Lollis Kurz- de, das nicht perfekt ist.
schlussreaktion. Vielleicht war es aber Wenn ein Gericht nicht rich-
auch die Einzelhaft, die einem Lebemann tig abgeschmeckt oder nicht
wie ihm zu schaffen macht. Außer einer warm genug ist, bedeutet
Stunde Hofgang sitzt er 23 Stunden lang das für einen professionel-
in seiner Zelle. Für einen geselligen Men- len Koch ein Fiasko.
schen wie Lolli, sagt ein Freund, sei das SPIEGEL: Jede Menge Hobby-
TIM WEGNER / DER SPIEGEL

schwer zu ertragen. köche finden das auch nicht


Julia Jüttner, Roman Lehberger lustig. Erst recht nicht, wenn
Mail: julia.juettner@spiegel.de in den Weihnachtstagen die
ganze anspruchsvolle Fami-
Sehen Sie zu diesem Thema auch den lie am Tisch sitzt.
SPIEGEL-TV-Film unter www.spiegel.de/ Henkel: Oder wenn Freunde
video/enkeltrickmafia-mit-neuer-masche- kommen, bei denen es im- Küchenchef Henkel
video-1703996.html mer großartig schmeckt. „Als Sternekoch zu arbeiten hat Suchtcharakter“

46 DER SPIEGEL 52 / 2017


Hauptgang mit
Gewürzente,
Bergpfefferjus,
Entenzungen,
Miso und Rübchen

WONGE BERGMANN FÜR NILS HENKEL


Töchtern nichts mehr. Ich habe als Kind ter. Und ich merke, ich muss mich korrigie- rüber unterhalten, ob das Fleisch genauso
aus dem Gemüseeintopf meiner Mutter im- ren: Wenn ich am ersten und zweiten Feier- zart ist wie im vergangenen Jahr.
mer alles herausgepickt, bis zum Schluss tag nicht arbeiten müsste, würde ich solch Henkel: Natürlich gehört zu jedem Gericht,
nur noch die Selleriestückchen in dem tie- einen Entenbraten wahrscheinlich auch zu- das auf einem Teller liegt, eine Geschichte:
fen Teller lagen. Sie waren mein größtes bereiten. Vielleicht kommt die Keule bei uns Wie ist es zubereitet, wo kommen die Pro-
Problem. Mein Vater saß dann eines Tages in Wahrheit nur auf den Tisch, weil sie in ei- dukte her? Und zumindest für den Koch
neben mir, bis ich den Teller vollständig ner weniger aufwendigen Variante meine in der Runde sind solche Fragen sicherlich
geleert hatte. So etwas muss nicht sein. Es Kindheitserinnerungen wachhält. keine Verlegenheitsthemen. Vielleicht hat
war für beide kein Spaß. SPIEGEL: Der französische Soziologe Jean- er gerade einen richtig komplizierten Ein-
SPIEGEL: Das klingt nicht so, als wären Sie Claude Kaufmann hat in einem SPIEGEL- kauf hinter sich oder ein paar wunderbare
mit Gourmetküche aufgewachsen. Gespräch (Heft 32/2006) einmal von seiner Momente beim Kochen. Ich bin an der Ost-
Henkel: Meine Mutter hat sehr gut gekocht, Mutter erzählt, dass sie bei Familienaus- see aufgewachsen, und jedes Mal, wenn
ihre Soßen waren großartig. Aber mein flügen immer eine besondere Pastete mit- ich in der Küche den Buchenholzrauch von
Vater war Landarzt, sie hat in der Praxis genommen hatte. „Sobald ich davon esse“, Aalen aus Hohwacht rieche, fühle ich mich,
mitgearbeitet, und Zeit war immer knapp. sagte er, „zieht die Erinnerung auf: eine als säße ich mit alten Freunden auf einer
Also gab es Gerichte, die sich gut vorbe- Familie, die etwas Schönes erlebt. Meine Terrasse an der schleswig-holsteinischen
reiten ließen. Auch Fischstäbchen waren Lust auf Osterpastete entspringt dem Küste. Das ist großartig.
damals ein Klassiker, den ich gern geges- Wunsch nach Geborgenheit.“ SPIEGEL: Wie gut eignen sich Würstchen
sen habe. Und wenn wir für die Nudelsoße Henkel: Der tiefere Sinn von Familienrezep- mit Kartoffelsalat, um solche Hochgefühle
Hackklößchen brauchten, holten wir fri- ten liegt darin, alle Anwesenden zusam- auszulösen? Sie liegen an Heiligabend im-
sche Bratwürste vom Metzger, aus denen menzuhalten. Wenn ein Gericht zu beson- merhin bei jedem dritten Deutschen auf
wir dann Kügelchen herausdrückten. Aber deren Anlässen immer wieder gekocht wird, dem Teller.
vor den Feiertagen legte meine Mutter rich- schafft das bei denen, die es essen, Verbun- Henkel: Das ist bei Teilen meiner Verwandt-
tig los. Zu Weihnachten aßen wir oft Ente, denheit. Sie spüren denselben Geschmack schaft auch der Fall. Das Gericht lässt ein-
wir bekamen jedes Jahr ein Tier von einem auf der Zunge, sie riechen die gleichen Aro- fach mehr Zeit für alles andere, was an
Patienten meines Vaters. Die Füllung, die men, sie haben dasselbe im Mund. Und die- dem Abend wichtig ist. Ich finde es für
meine Mutter zubereitete, habe ich geliebt. se gemeinsame Erfahrung verfestigt sich, den Anlass ein bisschen zu kalt. Essen
SPIEGEL: Was war das Besondere daran? weil sie sich zuverlässig wiederholt. Es ist kann ja sehr wohlig warm von innen wir-
Henkel: Die Füllung bestand aus Mandeln, ein ähnliches Ritual wie die Bescherung. ken, und da können Würstchen mit Kar-
Äpfeln, Weißbrot und Kardamom. Sie SPIEGEL: Außerdem liefert es ein Gesprächs- toffelsalat nicht so mithalten.
schmeckte einfach nach Weihnachten. Das thema. Wenn man sich sonst nicht viel zu SPIEGEL: Welche Gerichte wären kusche-
Rezept stammte noch von meiner Großmut- sagen hat, kann man sich wenigstens da- liger?
DER SPIEGEL 52 / 2017 47
Deutschland

Henkel: Meine Frau und ich haben immer mich besser fühle, wenn ich wenigstens
geschmorte Kalbsbäckchen im Gefrierfach, meine körperlichen Grenzen verschieben
die holen wir raus, wenn wir ein seelen- kann. Zum Glück hatte ich meine Familie.
volles Gericht brauchen. Bäckchen mit Das klingt so lapidar, aber ich meine es
Kartoffelstampf haben eine wunderbare genau so: Meine Familie ist eine Insel, ein

TIM WEGNER / DER SPIEGEL


Schlotzigkeit, ähnlich wie ein gutes Curry. echter privater Zufluchtsort. Damals war
Sie sind samtig, warm und weich, da ist unsere zweite Tochter drei Monate alt, und
kein Widerstand, nichts, was man groß ich konnte zum ersten Mal viel Zeit mit
kauen müsste. Das Essen breitet sich ein- den Kindern verbringen.
fach behutsam und tröstlich im Körper aus. SPIEGEL: Mussten Sie nicht Geld verdienen?
SPIEGEL: Sie haben den Verlust Ihres dritten Henkel: Ich habe freiberuflich als Kochbe-
Sterns im „Guide Michelin“ vor sechs Jah- Henkel, SPIEGEL-Redakteurin* rater gearbeitet und Kochkurse gegeben.
ren einmal als tiefe Verletzung bezeichnet. „Wunderbare Momente beim Kochen“ Da kamen dann Manager, die in der Kü-
Damals waren Sie noch Küchenchef im che Teambuilding lernen sollten. Mir war
Schlosshotel Lerbach im rheinischen Ber- Henkel: Das Gespräch, in dem die Redak- relativ schnell klar, dass dieser Job für
gisch-Gladbach. Womit haben Sie sich da- tion des „Guide Michelin“ dem Koch ihr mich nur eine Übergangslösung war. Aber
mals getröstet? Urteil erklärt, gilt als vertraulich. Dazu ein eigenes Gourmetrestaurant konnte und
Henkel: Da ist mir in den ersten Tagen nicht möchte ich nichts sagen. Aber grundsätz- wollte ich nicht finanzieren. Es kamen in
viel eingefallen. Die Welt erschien mir zwi- lich können sich in einer Sterneküche auf der Folge einige Angebote, letztlich passte
schenzeitlich so düster, dass ich das Gefühl vielen Ebenen Fehler einschleichen. Sie dann auf der Burg Schwarzenstein alles
hatte, an einem Abgrund zu stehen. funktioniert wie ein kleines Unternehmen. am besten zusammen. Das Restaurant
SPIEGEL: Das klingt dramatisch. Ihnen wa- Der Chef gibt vor, wie das Produkt am gehört zu einem Hotel, das in einer Burg-
ren doch immerhin zwei Sterne geblieben. Ende aussehen soll, und die Spezialisten anlage aus dem 19. Jahrhundert unterge-
Henkel: Heute sehe ich das entspannter. für die jeweiligen Arbeitsschritte wissen bracht ist, und der Besitzer wollte das Haus
Aber trotzdem bin ich das Gefühl nie genau, was sie dann tun müssen. Weil aber mit meiner Gourmetküche bereichern. Für
ganz losgeworden, dass der Stachel noch jeden Tag alles so schmecken muss, als das Restaurant und die Grill & Wine Bar
schmerzt. Die Dreisterneküche ist eine hätte der Chef es durchgängig selbst ge- arbeiten im Moment in der Küche zwölf
kleine elitäre Liga, in Deutschland hatten kocht, muss er stichprobenartig immer Leute. Allein solche Personalkosten muss
damals nur acht weitere Köche diese Aus- wieder kosten und an der Qualität feilen. man erst einmal erwirtschaften.
zeichnung. Und dann gehört man von ei- In diesem Punkt das richtige Maß zu tref- SPIEGEL: Andere Köche geben ihre Sterne
ner Nacht auf die andere nicht mehr dazu, fen, finde ich nicht einfach. Ich möchte zurück. Im Ruhrgebiet brät einer Ihrer
sondern ist plötzlich die Zielscheibe gna- nicht als Kontrollfreak auftreten; der Des- ehemaligen Kollegen jetzt Currywürste.
denloser Kommentare. Erst wird man ho- sertkoch, der Soßenkoch und der Bei- Hätten Sie nicht ebenfalls bescheidener
fiert, dann links liegen gelassen. Aber der lagenkoch sind ja Meister ihres Fachs. Man werden können?
Imageschaden wirkte sich auch auf meine muss also auf Augenhöhe kontrollieren. Henkel: Ich würde es nicht aushalten, ein-
Mannschaft und ihren Marktwert aus. Und Das kann kompliziert sein. fach nur Currywürste auf dem Rost zu
er bedeutete einen Verlust für unseren Ar- drehen oder Pommes frites in die Fritteuse
beitgeber, den damaligen Hotelbetreiber zu schmeißen.
Thomas Althoff. Es gibt eine ganz eigene „Ich würde es nicht SPIEGEL: Was sprach gegen ein kleines, gu-
Szene von Gästen, die gern in Dreisterne-
restaurants essen. Bleiben sie aus, fehlen aushalten, einfach nur tes Restaurant für jeden Tag?
Henkel: Als Sternekoch zu arbeiten hat
Einnahmen. Ich erlebte also die traurige Currywürste auf durchaus Suchtcharakter; die Lust, nach
Seite der Gourmetkritik und war nicht
wirklich darauf vorbereitet.
dem Rost zu drehen.“ Höchstleistung zu streben, hat sich bei
mir längst verselbstständigt. Als ich hier
SPIEGEL: Wie haben Sie von Ihrer Nieder- im Rheingau anfing, wollte ich gern da
lage erfahren? SPIEGEL: 2014 wurden Sie arbeitslos … anknüpfen, wo ich aufgehört hatte. Ein
Henkel: Die Nachricht kam an einem Sams- Henkel: … mitten in der Weihnachtszeit. Teil meiner alten Mannschaft ist mit-
tagabend. Das Restaurant war ausgebucht, Anfang Dezember kam die Nachricht, dass gekommen, wir kochen nach wie vor ei-
mein Team durfte noch nichts wissen, und wir das Restaurant schließen mussten, am nes der beiden Menüs nur auf der Basis
auch am nächsten Tag galt die Sperrfrist 31. Dezember war der letzte Arbeitstag. von Gemüse, und in den ersten Wochen
noch. Ich musste an dem Wochenende an Der Pächter und der Besitzer hatten sich standen nur Gänge auf der Karte, die wir
einem Gourmetfestival auf Sylt teilneh- nicht auf einen neuen Vertrag einigen kön- früher schon gekocht hatten. Auch der
men und wurde natürlich als Dreisterne- nen, das Haus hätte grundlegend renoviert Arbeitsplatz war perfekt vorbereitet: Alle
koch vorgestellt. Ich wäre am liebsten in werden müssen. Wir hatten zu Silvester Umbauten waren erledigt, das neue zwei-
die Knie gegangen. noch eine Gala. Draußen funkelte das Feu- te Kühlhaus war betriebsbereit. Wir woll-
SPIEGEL: Konnten Sie das Urteil der Tester erwerk, drinnen unsere Kerzen. Zu Neu- ten direkt auf hohem Niveau starten.
nachvollziehen? jahr fühlte ich mich, als ob ich aus einem Mein Beruf ist nicht immer angenehm,
Henkel: Jeder Restauranttest ist immer das Rennen gezogen worden wäre, obwohl aber ich kann nicht anders: Ich brauche
Resultat aus der Tagesform der Küche und ich mein Ziel noch nicht erreicht hatte. Ich genau die Art von Gastronomie, die ich
der Tagesform des Testers. Wenn er eine wollte ja unbedingt weiterkochen. mache.
blöde Anfahrt hatte oder das Jackett kneift, SPIEGEL: Wie ging es dann weiter? SPIEGEL: Herr Henkel, wir danken Ihnen
sitzt er nicht so entspannt im Restaurant Henkel: Ich habe befreundete Küchenchefs für dieses Gespräch.
wie sonst. Aber es waren ja mehrere Tester angerufen, um meine Mitarbeiter unterzu-
mehrmals da. Also muss ich davon ausge- bringen. Und ich bin viel gelaufen; ich war Videorezept:
hen, dass irgendetwas grundsätzlich schlech- früher Marathonläufer und wusste, dass ich Schnell, modern und festlich
ter war, als es hätte sein dürfen. spiegel.de/sp522017henkel
SPIEGEL: Und woran haperte es? * Katja Thimm in der Küche von Burg Schwarzenstein. oder in der App DER SPIEGEL

48 DER SPIEGEL 52 / 2017


Deutscher ReporterPREIS 2017
Der Preis von Journalisten für Journalisten

R E P O RTA G E : Markus Feldenkirchen „MANNOMANNOMANN“


I N V E STI GATI O N : Holger Stark und Team „EIN ANSCHLAG IST ZU ERWARTEN“

Konzept: www.ankerplatz-hamburg.de | Foto: photocase.com © complize | m.martins


DATE NJOU R NALISMUS: Sascha Venohr und Team „STADT, LAND, VORURTEIL“
WISSENSC HAFTSR EPORTAGE: Björn Stephan „ARMER HUND“
LOKALR EPORTAGE: Peter Schwarz „DER VERLORENE“
H AU PTSTA DT- P R E I S ( 2 x ) : Britta Stuff „WO IST HINTZE?“
Ullrich Fichtner und Team „MADE IN GERMANY“
E S SAY: Philipp Oehmke „DAS PC-MONSTER“
KU LTU R KR ITI K: Hanno Rauterberg „TANZ DER TUGENDWÄCHTER“
I NTE RV I EW: Steffen Dobbert „SIE WERDEN MICH FÜR IMMER HASSEN“
FR EI ER R EPORTER: Emilia Smechowski „DER ANPASSER“
MU LTI ME D I A : Dominik Osswald und Team „IN EISIGEN TIEFEN“
WEB-VI DEO: Michael Ginsburg, Martin Heller und Christiane Wittenbecher
„WAS WOLLTEN SIE IN BERLIN?!“
S O N D E R P R E I S : Daphne Caruana Galizia

Die Jury: die Journalisten Nikolaus Brender, Astrid Csuraji, Matthias Eberl, Michael Ebert, Sylke Gruhnwald,
Richard Gutjahr, Rainer Hank, Tina Hildebrandt, Claus Kleber, Caren Miosga, Anja Reschke, Evelyn Roll, Vera
Schroeder, Jessica Schober, Cornelia Stolze, Regine Sylvester, Pauline Tillmann, Dominik Wichmann, Armin Wolf
und Diana Zinkler; die Autoren Axel Hacke, Ildikó von Kürthy, Sascha Lobo und Christine Westermann; die
Verleger Michael Krüger und Helge Malchow; die Schauspielerin Gesine Cukrowski und der Schauspieler Ulrich
Matthes; der TV-Produzent Friedrich Küppersbusch und die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling.
Verliehen am 11. Dezember im Tipi am Kanzleramt.

www.reporter-forum.de
Deutschland

„Die Verteilung knapper Studienplätze“ Einser-Abitur*

Erosion der habe sich prinzipiell am „Kriterium der


Eignung“ zu orientieren, urteilten die Rich- Anteil in den Bundesländern,
ter, die Kriterien müssten „die Vielfalt der in Prozent

Abinote möglichen Anknüpfungspunkte zur Erfas-


sung der Eignung abbilden.“ Klingt wie
eine Selbstverständlichkeit, doch so ein-
Thüringen
Brandenburg 30,1
38,7

Hochschulen Studienplätze fach ist das alles nicht: Die Vergabe der
Medizinstudienplätze ist schon fast eine Sachsen 29,4
in Medizin müssen anders als Wissenschaft für sich – mit bislang teilwei-
bisher vergeben werden. se verfassungswidrigen Prozeduren. Bayern 29,1
Gegenwärtig kommt es bei der Zulas-
Das dürfte Auswirkungen auf sung zum Medizinstudium häufig nur auf
Mecklenburg-Vorp. 28,8
weitere begehrte Fächer haben. die Abiturnote an. Das darf so nicht blei- Sachsen-Anhalt 26,5
ben, sagen die Richter. Wenn es weitere
Berlin 26,0

L
ukas Jäger konnte eigentlich egal gute Indikatoren dafür gebe, wer geeignet
sein, was die Verfassungsrichter über sei für ein Studium und den darauf typi- Saarland 25,7
seinen Fall sagen würden. Er hatte scherweise folgenden Beruf, dürfe nicht
den erwünschten Studienplatz in Medizin die Abiturnote allein zählen. Hamburg 24,8
inzwischen erhalten, viele Jahre nach sei- Für gut 40 Prozent der Studiengänge in Hessen 24,7
nem Abitur; der junge Mann ist mittler- Deutschland gelten Zulassungsbeschrän-
weile 26 Jahre alt. kungen, meist vonseiten der einzelnen Bremen 24,1
Doch den Triumph, der zumindest vie- Hochschulen. „Die Bundesländer sind nun
len anderen zugutekommen wird, wollte auch aufgerufen, die Vorschriften über die Baden-Württemberg 23,3
sich Jäger nicht nehmen lassen. Als das örtlichen Zulassungsverfahren auf den Nordrhein-Westfalen 23,0
Bundesverfassungsgericht im Oktober ver- Prüfstand zu stellen“, sagt der Hochschul-
handelte, wollte er noch anonym bleiben rechtler Josef Franz Lindner, Professor an Rheinland-Pfalz 20,4
und war nicht in Karlsruhe erschienen. Am der Universität Augsburg. Insbesondere Schleswig-Holstein 19,3 * Notendurchschnitt
Dienstag aber, nachdem die Richter ihr Ur- die Forderung, dass die Abiturnote nicht 1,0 bis 1,9;
teil verkündet hatten, stellte er sich den einziges Kriterium sein dürfe, „ließe sich Niedersachsen 17,0 Quelle: KMK;
Abitur 2015
TV-Teams und schritt für die laufenden Ka- wohl auch auf die örtlichen Zulassungsver-
meras die Treppe vom Sitzungssaal herab. fahren übertragen“.
Sein Fall wird dazu führen, dass die Me- Michael Hartmer, Geschäftsführer des vielleicht noch mehr als für Mediziner, im
dizinstudienplätze ab Anfang 2019 anders, Deutschen Hochschulverbandes, bezeich- späteren Berufsleben auf Einfühlungsver-
gerechter verteilt werden müssen als bis- net es als „politisch absolut wünschens- mögen und kommunikative Fähigkeiten an?
her. Und die Auswirkungen dürften noch wert“, die Kernforderungen des Urteils auf Die Verfassungsrichter störten sich an
größer sein. andere Studiengänge zu übertragen. „Man den Abiturnoten in einer weiteren Hin-
Formal betrifft das Urteil nur ein Fach, sollte jetzt Fach für Fach überlegen, welche sicht. Die Länder haben ungleiche Anfor-
die Humanmedizin. Faktisch sind mindes- Fähigkeiten dafür jeweils notwendig oder derungen an Abiturienten, auch die Noten
tens drei weitere Fächer betroffen, in de- zumindest erstrebenswert sind.“ differieren. Die thüringischen Abiturienten
nen die Zulassung nach gleichem Muster Der Vorstand der Deutschen Gesell- 2015 schlossen im Schnitt mit der Note 2,16
abläuft: Tiermedizin, Zahnmedizin, Phar- schaft für Psychologie vermeldete noch ab, die im benachbarten Niedersachsen
mazie. Vermutlich jedoch werden die am selben Tag, an dem die Richter ihr Ur- mit 2,59. Ebenso unterscheidet sich die
Hochschulen und die Gesetzgeber auch in teil verkündeten, dass eine Kommission Quote der Spitzenabis (siehe Grafik).
anderen Fächern knappe Studienplätze die „Studierendenauswahl und Zulassung Zumindest für einen kleinen Teil der
nicht mehr wie bisher vergeben können. zum Studium“ untersuchen solle. Es sei da- Medizinstudienplätze gibt es einen Aus-
von auszugehen, „dass gleich: Abiturienten werden nur mit Be-
das Urteil des Bundes- werbern aus demselben Bundesland ver-
verfassungsgerichtes zu- glichen. Diese Methode nickten die Ver-
künftig auch für die fassungsrichter ausdrücklich ab. Zugleich
Zulassungsverfahren in mahnten sie: Auch soweit die Hochschulen
Psychologie Auswir- die Plätze selbst vergeben, dürften die No-
kungen haben könnte“. ten der Abiturienten nicht einfach über
Die Kommission solle Landesgrenzen hinweg verglichen werden.
daher prüfen, wie es Der Hamburger Rechtsanwalt Michael
künftig „valide, gerecht Schacht, der Lukas Jäger in Karlsruhe ver-
und effizient“ zugehen trat, sieht nun viele mögliche Angriffspunk-
könnte. te für abgelehnte Studienplatzbewerber
In Psychologie liegt auch in anderen Fächern. „Viele Anwalts-
der Numerus clausus kollegen dürften das zum Anlass nehmen,
sehr hoch, an den meis- die vom Verfassungsgericht geöffnete Tür
SINA SCHULDT / DPA

ten Unis braucht man weiter aufzustoßen“, so Schacht. „Die Ge-


eine Eins vor dem Kom- richte und die Hochschulen werden ihre
ma, an etlichen sogar Schwierigkeiten damit haben, diese Argu-
Bestnoten wie in Me- mente für andere Studienfächer unberück-
Anwalt Schacht, Student Jäger im Bundesverfassungsgericht dizin. Aber kommt es sichtigt zu lassen.“
Angriffspunkte für abgelehnte Bewerber nicht für Psychologen, Susmita Arp, Dietmar Hipp, Miriam Olbrisch

50 DER SPIEGEL 52 / 2017


„Idee aus dem Elfenbeinturm“
Bildung Kultusminister Marco Tullner erklärt den bisherigen Weg der Inklusion für gescheitert.
Der CDU-Mann will in Sachsen-Anhalt für die Förderschulen kämpfen.

Seit gut eineinhalb Jahren ist Tullner, 49, Kul-


tusminister in Magdeburg. Vor wenigen Tagen
überraschte der CDU-Politiker mit einem Kon-
zept zur „Weiterentwicklung der Förderschu-
len“ – und widerspricht damit dem vorherr-
schenden Leitbild, dass Kinder mit und ohne
sonderpädagogischen Förderbedarf immer zu-
sammen lernen sollen.

SPIEGEL: Herr Tullner, seit in Deutschland


2009 die Uno-Behindertenrechtskonven-
tion in Kraft trat, gilt die Förderschule als
Auslaufmodell. Sie wollen die Schulform
wieder stärken. Warum?
Tullner: Förderschulen in Deutschland sind
ein hohes Gut, das wir in der Inklusions-
debatte leichtfertig aufs Spiel gesetzt ha-

HENDRIK SCHMIDT / PICTURE ALLIANCE / ZB / DPA


ben. Wir werden auch in Zukunft Förder-
schulen dringend brauchen. Leider werden
sie in vielen Landstrichen still geschlossen,
weil die Schülerzahlen sinken.
SPIEGEL: Sie müssten sich doch eigentlich
freuen, dass mehr Förderkinder zusammen
mit ihren Altersgenossen lernen.
Tullner: Ich glaube, wir tun einem Teil
unserer Schüler damit keinen Gefallen. Minister Tullner
Sowohl die Kinder als auch die Lehrer
sind überfordert, das beobachte ich an
Grund-, aber auch an weiterführenden SPIEGEL: Das heißt doch nicht, dass die Idee fühlen, habe ich damit kein Problem. Ich
Schulen. Die Schülerschaft ist extrem he- vom gemeinsamen Lernen falsch ist. möchte aber, dass Eltern die Wahl haben,
terogen, durch die Inklusionsschüler, aber Tullner: Nein. Die Inklusion ist eine richtige das zu tun, was sie für ihre Kinder richtig
auch durch die Zuwanderung, die wir im Idee, aber auch eine wissenschaftliche Dis- finden. Und dafür brauchen wir ein stabi-
Osten so nicht gewohnt sind. Viele Lehrer kussion im Elfenbeinturm. Eine Elitendis- les Netz an gut ausgestatteten Förderschu-
wurden darauf nicht vorbereitet. kussion. Das, was die Menschen in der Pra- len. Ich bin davon überzeugt, dass es Kin-
SPIEGEL: Manche Länder bieten dazu mitt- xis in ihrem Alltag erleben, ist davon ganz der mit Förderbedarf gibt, die dort besser
lerweile Fortbildungen an. Helfen die nicht? weit entfernt. Wenn die Rahmenbedingun- betreut werden können als in einer hete-
Tullner: Natürlich. Aber dafür braucht es gen nicht stimmen, verfolge ich ein politi- rogenen Regelklasse.
Zeit. Fast überall in Deutschland herrscht sches Ziel, das nicht erreichbar sein kann. SPIEGEL: Wer wie viel lernt, ist die eine Sa-
dramatischer Lehrermangel. Es fehlt teil- SPIEGEL: Hätte die Politik mehr tun müssen, che. Aber bei der Inklusion sollen Kinder
weise an Ressourcen, um den Unterricht damit die Inklusion gelingt? auch verstehen, dass eine Gesellschaft viel-
abzudecken. Zwar haben wir Sonderpäda- Tullner: Bestimmt. Man kann immer mehr fältig ist, und sich gegenseitig akzeptieren.
gogen, die als zweite Lehrkraft stunden- tun. Allerdings ist die Bildungspolitik in Tullner: Ich glaube, die Uno-Behinderten-
weise in Inklusionsklassen unterstützen, den letzten Jahren unter dem Sparzwang rechtskonvention wird in Deutschland ein-
aber allen Kindern können Sie nicht ge- der Länder vor allem von Kostendiskus- seitig interpretiert.
recht werden. sionen dominiert worden, nicht nur in SPIEGEL: Inwiefern?
SPIEGEL: Ist es dann nicht Unsinn, zwei Sys- Sachsen-Anhalt. Es wurde lange davon ge- Tullner: In dem Dokument ist von „Zugang
teme aufrechtzuerhalten und die Förder- träumt, in Qualität investieren zu können, zu Bildung“ und „Teilhabe an der Gesell-
schulen sogar noch stärken zu wollen? weil die Schülerzahlen sanken. In der Ver- schaft“ die Rede. In Deutschland hat man
Tullner: Wir haben den gemeinsamen Un- gangenheit wurde aber vor allem Personal daraus die Inklusion gemacht, bei der alle
terricht eingeführt, obwohl absehbar war, abgebaut. Meine Priorität besteht jetzt Kinder dieselbe Schule besuchen sollen.
dass uns Lehrkräfte fehlen werden. Wir nicht darin, theoretischen Konzepten nach- Das ist eine Überinterpretation.
haben nun Sonderpädagogen an Grund- zueifern, von denen wir nicht mal wissen, SPIEGEL: Was lesen Sie darin?
schulen, die eigentlich für die Förderschü- ob jedes Kind davon wirklich profitieren Tullner: Ich verstehe Teilhabe so, dass wir
ler eingeplant waren. Es ist eine Illusion, kann. Dafür haben wir in der Praxis zu alle Kinder befähigen, gleichberechtigt am
mit den Sonderpädagogen an Regelschulen viele Baustellen. Leben teilzunehmen. Wir müssen vom
jeden Förderbedarf abdecken zu können. SPIEGEL: Wollen Sie den gemeinsamen Un- Kind her denken und schauen, ob es die
Dafür sind die Aufgaben zu vielschichtig. terricht abschaffen? Kenntnisse dafür nun im Regelunterricht
Individuelle Förderung braucht gute Rah- Tullner: Nein. Wenn Förderschüler an der oder auf der Förderschule bekommt.
menbedingungen. Regelschule erfolgreich sind und sich wohl- Interview: Miriam Olbrisch

DER SPIEGEL 52 / 2017 51


Q UELLE: MA X RO SER , O UR WO R LDI N DATA .O RG
Früher war alles schlechter
Nº 104: Kalorien pro Kopf und Tag

.
es 2884 Kilokalorien
2013 waren

1961 bekam
2196 Kiloka jeder Mensch weltweit
lorien pro Ta im Durchsc
g zu essen. hnitt

Ein Kilogramm Kartoffeln mehr pro Kopf. Die kulinarische Provoka- Asien hat sich die Ernährungslage in den letzten 50 Jahren
tion, die sich Weihnachtszeit nennt, mit ihrer Parade aus hoh- enorm verbessert. Das Einkommen ist gestiegen, die Men-
len Schokoweihnachtsmännern und glasierten, natürlich selbst schen geben mehr Geld für ihr Essen aus. 2000 bis 3000 Kilo-
gebackenen Keksen, erinnert jedes Jahr wieder an den Film kalorien brauchen erwachsene Menschen pro Tag, abhängig
„Das große Fressen“. Am Ende haben nicht alle überlebt, von Alter, Geschlecht und Bewegung. 1961 waren in Asien nur
trotzdem wird noch eine Ladung Schweinehälften auf den Hof 1800 Kilokalorien pro Kopf und Tag verfügbar, 2013 waren
gekarrt. War früher alles besser, als kleine Jungen in Leder- es fast 2800 Kilokalorien, ein Unterschied von mehr als einem
hosen ein Leuchten in den Augen bekamen, wenn man ihnen Kilo Kartoffeln. Eine große Ungerechtigkeit aber bleibt: Wir
feierlich eine Mandarine überreichte, aber nur eine? Natürlich produzieren mehr Essen auf der Welt, als wir brauchten, und
nicht. Die Kalorienversorgung steigt, der Mensch wird satter, trotzdem hungern noch immer 815 Millionen Menschen. Das
und weltweit betrachtet ist das, trotz des Übergewichtspro- hat nicht nur mit der Landwirtschaft zu tun; vor allem in Län-
blems in manchen Ländern, eine sehr gute Nachricht. Die Un- dern mit politischen Unruhen leiden Menschen am Hunger, im
gleichheit zwischen den Kontinenten nimmt ab. Vor allem in Jemen, Südsudan, in Somalia und Nigeria. jonathan.stock@spiegel.de

Nächstenliebe Teil völlig verlernt, ein Ge- bezogen hieße das: mehr als
Wie tröstet man alte, einsame Menschen, spräch zu führen. Man muss eine viertel Million potenziel-
Frau Schilling? behutsam sein, geduldig.
SPIEGEL: Mit wie vielen An-
ler Anrufer. Natürlich rufen
die nicht alle an. Wir planen
rufen rechnen Sie? jetzt erst mal mit 20 Minuten
Elke Schilling, 73, Leiterin des allem ältere Menschen. De- Schilling: Es gibt Studien, wo- pro Gespräch und hoffen, dass
Projektes „Silbernetz“, über ein nen wollen wir ein Angebot nach jeder dritte Mensch über es keine Wartezeiten gibt.
Berliner Feiertagstelefon machen. Unsere Hotline wird sechzig gelegentlich Einsam- SPIEGEL: Wie kamen Sie zu
rund um die Uhr erreichbar keitsgefühle hat. Auf Berlin diesem Projekt? Durch ein
SPIEGEL: Frau Schilling, unter sein. 20 ehrenamtliche Helfer persönliches Erlebnis?
der kostenfreien Rufnummer nehmen die Anrufe entgegen, Schilling: Es gab einen Schlüs-
0800 4708090 bieten Sie von wir arbeiten alle in Vier-Stun- selmoment, ja. Vor vier Jah-
Weihnachten bis Neujahr den-Schichten. ren verschwand mein Nach-
eine Hotline für Senioren an. SPIEGEL: Wie hilft man verein- bar, ein stiller älterer Herr.
THE IMAGE BANK / GETTY IMAGES

Warum braucht es so ein samten Senioren am Telefon? Ich sah ihn irgendwann nicht
Angebot? Schilling: Es geht erst mal ums mehr, und an seiner Tür hing
Schilling: Weihnachten ist die Zuhören. Empathie zeigen. wochenlang ein Pizza-Flyer.
Zeit der verschärften Einsam- Da sein. Manche Senioren hö- Da wurde ich unruhig und
keitsgefühle – für diejenigen, ren kaum noch eine andere verständigte die Polizei. Lei-
die niemanden mehr haben. Stimme als jene aus dem der viel zu spät: Er war seit
Und das betrifft natürlich vor Fernseher. Sie haben zum drei Monaten tot. jmg

52 DER SPIEGEL 52 / 2017


Gesellschaft
hoch wie weit am Tor vorbei, er fiel auf den Rasen, sprang
Den Fluss runter weiter auf den Kies, dann platschte er in den Fluss, Minute
46. Weil es öfter vorkommt, dass ein Ball in der Bistriţa
landet, beschäftigt der Klub zwei Männer, die ihn wieder
Eine Meldung und ihre Geschichte Der aus dem Fluss fischen sollen. Für gewöhnlich strandet der
Ball an einer Flussbiegung einen Kilometer stromabwärts.
Schiedsrichter beendet ein Fußballspiel Der erste Helfer setzte sich ins Auto und fuhr los. Er
nach 58 Minuten, weil kein Ball mehr da ist. war gerade auf die Straße gebogen, als der nächste Ball
im Wasser trieb, Minute 48. Der zweite Helfer stieg in sei-

Z
wei Monate nachdem sein Verein Hohn und Spott nen Wagen und drückte aufs Gas.
im Netz hatte ertragen müssen, von den USA bis Angeblich schwammen noch nie mehr als zwei Bälle
Indien, leitet Daniel Citea das Training auf dem gleichzeitig in der Bistriţa, und normalerweise kehrt der
Fußballplatz in Broșteni, einer Kleinstadt in den rumäni- Suchtrupp nach wenigen Minuten zurück. Dieses Mal je-
schen Ostkarpaten. Der Platz, gebaut Anfang der Fünfzi- doch war die Strömung wegen des Hochwassers besonders
gerjahre, liegt zwischen der Nationalstraße 17B und dem stark. Hinzu kam, dass Trainer Citea sein Team weiter er-
linken Ufer der Bistriţa, das ist jener Fluss, der dem Verein munterte, aus allen Lagen zu schießen.
seinen Namen verleiht: Bistriţa Broșteni. Von jeher trennt In der 58. Minute trug der Fluss den fünften Ball davon.
eine übermannshohe Mauer das Spielfeld von der Straße, Es war der letzte, den der Verein besaß. Fünf Bälle in
damit keine Bälle auf die Fahrbahn rollen. Auf der ande- zwölf Minuten. Der Schiedsrichter wandte sich an Citea
ren Seite, wo etwa zehn Meter von der Außenlinie entfernt und sagte, ihm blieben exakt drei Minuten Zeit, um einen
das Wasser rauscht, steht neu- Ball zu organisieren, damit
erdings ein Zaun. „Den muss- man die Begegnung fortsetzen
ten wir bauen“, sagt Citea, ein könne. Also war Citea der
gedrungener Mann in Kunst- dritte Mann an diesem Tag, der
lederjacke. „Der Verband hat zu seinem Auto rannte. „Du
ihn zur Bedingung gemacht findest sie beim Staudamm!“,
nach dem, was passiert ist. riefen ihm die Zuschauer nach.
Sonst hätten wir hier nicht län- Citea war etwa fünf Kilome-
ger spielen dürfen.“ ter gefahren, als er den ersten
Citea arbeitet als Schlosser der beiden Helfer erblickte.
im Bergbau, er ist 46 Jahre alt Der stand bis zur Hüfte im

GEORGE POPESCU/ESTOST.NET
und Coach, Manager und Mit- Wasser und versuchte, einen
telfeldspieler des Teams, fünfte Ball mithilfe eines Astes an
Liga. „Wir sind ein Klub mit Land zu holen. Citea hielt an,
wenigen Möglichkeiten“, sagt half ihm, sie erwischten den
er und schaut aus traurigen Ball, dann machten sie sich auf
Augen. Das Geld ist knapp, es den Rückweg. Unterwegs fiel
gibt kaum Jobs in der Gegend. Fußballplatz in Broșteni Citea ein Viehhirte am Stra-
Vergangenes Jahr verlor Citea ßenrand auf, der einen Ball un-
seinen Kapitän, der in einem ter seinem Hemd versteckte.
Reifendepot in Thüringen an- Dann sah er den zweiten Hel-
geheuert hatte. Die Mann- Von der Website Hindustantimes.com fer, der auf der anderen Seite
schaft steht nach der Hinrunde des Flusses einen Ball gebor-
auf dem drittletzten Platz der Tabelle, dabei hatte die Sai- gen hatte. Den vierten Ball fand ein Wanderer drei Tage
son gut begonnen. Nach einem 7:1 zum Auftakt traf Broșteni später, der fünfte blieb verschollen bis heute.
am zweiten Spieltag auf Vânătorul Dorna Candrenilor, einen Die drei Minuten waren längst vergangen, als Citea
Gegner, gegen den man zu Hause noch nie verloren hatte. beim Platz eintraf. Der Schiedsrichter wertete das Spiel
Es war ein bewölkter Sonntag Ende September, Anpfiff mit 3:0 für Vânătorul, so schreibt es das Regelwerk des ru-
um 14 Uhr. Broșteni spielte in den blau-roten Trikots mit mänischen Fußballverbands vor, Artikel 83, Absatz 1.
der goldenen Rückennummer, dazu blaue Hosen und blau- Daniel Citea steht am Mittelkreis, Ende November, und
rote Stutzen, es sind die Farben des FC Barcelona. Gut beendet nach einer Stunde die Übungseinheit. Es ist dun-
200 Zuschauer waren gekommen, freier Eintritt, die meis- kel geworden, und Flutlicht gibt es nicht. 300 Lei Strafe
ten Fans standen auf dem Parkplatz hinter einem der Tore. musste er an den Verband zahlen, umgerechnet 64 Euro.
Daniel Citea hatte seine Mannschaft offensiv aufgestellt, Doch das ist es nicht, was ihn aufregt. „Wir hätten mit
mit drei Stürmern. Er sagt, er gewinne lieber 6:5 als 1:0. einem Ball unseres Gegners weiterspielen können, aber
Der Rasen war tief an diesem Nachmittag, es hatte die der wollte das nicht“, sagt Citea. „Ich kann es nicht be-
vergangenen drei Tage pausenlos geregnet. Der Pegel der weisen, aber ich vermute, die andere Mannschaft hat den
Bistriţa stand hoch, ein paar Zentimeter noch, und der letzten Ball absichtlich in den Fluss geschossen.“
Fluss wäre über das Ufer getreten. Nach dem Spiel gegen Vânătorul schickte der Verband
Zur Halbzeit führten die Gäste mit 2:0. In der Kabine elf neue Bälle nach Broșteni. „Die Qualität ist nicht so gut“,
sprach Citea seinen Mitspielern Mut zu. Sagte, sie müssten sagt Citea. Einen Ball schenkte er dem Fahrer des Mann-
jetzt alles nach vorn werfen, ein schnelles Anschlusstor, schaftsbullis, vier Bälle überließ er Schulen, die übrigen
dann hätten sie noch eine Chance, das Spiel zu gewinnen. sechs behielt er. Das Geld für den Zaun spendete die Ge-
Die zweite Hälfte begann mit einem Angriff der Rot- meinde. Er ist zwar passend zur Rückrunde fertig, allerdings
Blauen, Flanke in den Strafraum, abgewehrt, aus dem nur anderthalb Meter hoch. Sicherheitshalber will Citea
Hintergrund ein gewaltiger Schuss: Der Ball flog ebenso am Ufer noch ein paar Bäume pflanzen. Maik Großekathöfer

DER SPIEGEL 52 / 2017 53


Gesellschaft

Z
weiundzwanzig Jahre nachdem er hang bei Mérida, einer Stadt in den vene- richtet einen Sachschaden in Höhe von
versuchte, in Berlin ein Gefängnis zolanischen Anden. Vier Schritte breit, 214 519,90 Mark an, keine Verletzten.
in die Luft zu sprengen, stolpert zehn Schritte lang, das Dach aus Blech. In ihrem sechs Seiten langen Bekenner-
Thomas Walter über einen Trampelpfad Drinnen gibt es einen schmalen Esstisch, schreiben kritisiert die Gruppe die Liefe-
in den Bergen von Venezuela. Es ist Nacht, auf den eine Lampe fiebriges Licht wirft, rung deutscher Waffen an die Türkei, die
die Luft ist warm und vibriert vom Singen zwei Plastikstühle, einen Gasherd, ein mit dem Kriegsmaterial Kurden töten ließe.
der Zikaden. Vor ihm tastet sich der Kegel Spülbecken, ein Gewürzregal. Hinter einer Die Polizei hat keine Ahnung, wer dahin-
seiner Taschenlampe den Pfad hinauf, ich Wand stehen ein Bett, ein Schreibtisch, ein tersteckt. Es bleibt der einzige Anschlag,
stolpere hinterher. Nach einer Viertelstun- Fernsehgerät und ein Computer. Die bei- der dem K.O.M.I.T.E.E. gelingt.
de schälen sich die Umrisse einer Bauern- den Fenster sind vergittert. Am nächsten Morgen sitzen wir auf
hütte aus dem Dunkel, die sich an einen Der Unterschied zu einer Gefängniszelle Palmströms Terrasse. Es gibt gebackene
Hang duckt. Er deutet auf ein Licht. „Da ist, dass Thomas einen Schlüssel hat. Im Maniokwurzeln, Eier von den Hühnern
wohne ich.“ Es ist sein letztes Versteck. Garten baut er Salat an, Zwiebeln, Aloe hinten im Stall, Tomaten, Käse und Mais-
Thomas Robert Walter, geboren in Ba- vera und Litschis, und beim Wäscheauf- mehlfladen. Ab und zu flirrt ein Kolibri
den-Baden, zuletzt wohnhaft in 15320 Neu- hängen kann er zum Küchenfenster von heran und bleibt ratlos in der Luft stehen.
trebbin nahe der deutsch-polnischen Gren- Palmström schauen, seiner Freundin. Die Flucht hat Thomas vorsichtig werden
ze, gehörte zur militanten Linken in Berlin, Einen großen Teil der Zeit werden wir lassen. Palmström ist nicht der echte Name
aber das ist lange her. Seit 1995 ist er auf der am Esstisch unter dem gelben Licht ver- seiner Freundin, sondern der einer Ge-
Flucht vor den deutschen Behörden. Bei bringen, redend, Kaffee trinkend. Meistens dichtfigur von Christian Morgenstern. Er
der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe läuft antwortet er auf meine Fragen. Wie taucht möchte verhindern, dass seine Freundin
ein Ermittlungsverfahren gegen Probleme bekommt, als Flucht-
ihn, wegen der „Verabredung zur helferin. Er bittet mich, nur zu
Herbeiführung einer Sprengstoff- schreiben, dass sie aus Europa

Thomas,
explosion.“ Das Bundeskriminal- stamme. Sie redet gern und viel,
amt fahndet nach ihm und zwei eine blonde, zupackende Polito-
weiteren Verdächtigen. Im Haft- login, Anfang fünfzig, halb Intel-
befehl steht, er sei Mitglied der lektuelle, halb Landwirtin.

der Terrorist
terroristischen Vereinigung „Das Thomas wuchs in einer sozial-
K.O.M.I.T.E.E.“ gewesen und der demokratisch-bildungsbürgerli-
linksradikalen Szene zuzuordnen. chen Familie in Sinzheim bei Ba-
Er war 32 Jahre alt, als er ab- den-Baden auf. Er war das dritte
tauchte, nun ist er 55. Sein halbes von fünf Kindern, vier Jungs, ein
Erwachsenenleben rannte er weg. Mädchen. Die Wände des Eltern-
„Viele Fluchten scheitern ja am
Emotionalen“, erzählt er später.
Verwandte Nach einem missglückten An- hauses sind voll mit Bücherrega-
len, ich erinnere mich, in den Tie-
„Escobar wurde gefasst, weil er schlag in Berlin tauchen drei Linksradikale fen des Gebäudes die Romane
mit seiner Frau telefoniert hatte. von Haruki Murakami entdeckt
Die Familie ist der schwache
in Venezuela unter. Seit über 20 Jahren zu haben, als ich einmal drei Mo-
Punkt auf der Flucht, das weiß werden sie von deutschen Behörden nate lang im Gästezimmer wohn-
die Polizei. Über meine Familie
sind sie richtig hergefallen.“
gejagt. Einer von ihnen ist der Großcousin te. Thomas’ Vater Heribert lernte
damals Japanisch, als wäre es so
Die Reise zu ihm ist auch ein des Autors Christoph Scheuermann. selbstverständlich wie Rasenmä-
Verwandtenbesuch. Thomas Wal- hen. Heribert war Lehrer und ar-
ter ist mein Cousin zweiten Gra- beitete bis zur Pensionierung in
des, unsere Großmütter waren Ge- der Lehrerausbildung. Thomas’
schwister, aber in dieser Nacht in Mutter Jacqueline, eine Franzö-
Venezuela sehen wir uns zum ersten Mal. man zwei Jahrzehnte lang unter? Wie wird sin, unterrichtete Mathematik am Gymna-
Es ist eine Begegnung mit einem Geist. Für jemand aus der Verwandtschaft zum Ter- sium für die französischen Streitkräfte.
die Verwandtschaft war er zwei Jahrzehnte rorverdächtigen? Was, glaubt er, macht Die Walters sind eine faszinierende Fa-
lang ein Tabu. Der Junge, dessen Namen das aus denjenigen, die zurückbleiben? milie, chaotisch, überquellend vor Leben,
man vermied, der aufhörte zu altern. Es Die Vorwürfe gegen ihn sind gut doku- weltgewandt. Im Mittelpunkt stand Heri-
gab nur Fotos, die verblassten. Er war der mentiert, auf der Internetseite des Bundes- bert, ein Reaktor von einem Mann, der
blinde Fleck, die Wunde, das Rätsel, die kriminalamts unter der Rubrik „Fahndun- Bücher verschlang, der ein riesiges Hän-
Peinlichkeit, die Ungewissheit, der Schmerz. gen“. Und doch wuchs in der Familie eine geregister mit Ideen und Zeitungsartikeln
Das Gesicht vom Fahndungsplakat. Skepsis gegen die Ermittler, gegen den fütterte, der Brieffreundschaften bis nach
Jetzt tritt er in einer grauen Trekking- Staat selbst. Thomas sei doch kein Terro- Japan pflegte und zum Ausgleich Schafe
hose, Wanderstiefeln und T-Shirt in seine rist! Es könne doch nicht sein, was im In- und Gänse hielt, Wein anbaute, Äpfel und
Küche. Die Haare trägt er kurz, sie sind ternet steht. Da müsse ein Irrtum vorlie- Birnen erntete und Brennholz schichtete.
grau an den Schläfen. Sein Gesicht ist von gen, anders lasse sich das nicht erklären. Die Kinder nannten ihn den Papst.
Furchen durchzogen, wenn er lacht, kom- Das K.O.M.I.T.E.E. tritt am 27. Oktober Thomas war sein Lieblingskind. Sein
men schiefe Zähne zum Vorschein. Er 1994 mit einem lauten Knall erstmals in Helfer, seine rechte Hand. „Papa war mein
spricht in mildem badischem Singsang, er Erscheinung. Das Ziel der Gruppe ist das Gott und ich sein Stellvertreter.“ In der
fragt: „Hasch Hunger?“ Manchmal webt Kreiswehrersatzkommando 852 in Bad Pubertät riss sich Thomas von seinem Va-
er spanische Wörter in seine Sätze. Auf Freienwalde, nordöstlich von Berlin, ein ter los, wollte tanzen gehen, wie jeder Jun-
dem Tisch steht eine Dose mit Keksen, da- Verwaltungsgebäude der Bundeswehr. Die ge, wollte mit Mädchen zusammen sein
neben Bananen und frische Maracuja. Die Täter setzen das Gebäude mit einem Ben- und nicht Zaunpfosten setzen. Seine Ju-
Hütte, in der er wohnt, liegt an einem Berg- zin-Diesel-Gemisch in Brand. Das Feuer gend war ein Krieg gegen den Papst. Die
54 DER SPIEGEL 52 / 2017
ILLUSTRATION: MICHAEL MEISSNER FÜR DEN SPIEGEL

Ort des versuchten Anschlags 1995 in Berlin, mutmaßlicher Täter Thomas Walter

DER SPIEGEL 52 / 2017 55


ILLUSTRATION: MICHAEL MEISSNER FÜR DEN SPIEGEL
Flüchtiger Thomas Walter, Wohnhaus in Venezuela 2017

Eltern hielt er für verlogen, die Provinz letzung und Widerstands gegen Polizeibe- In Kreuzberg lernt Thomas zwei Män-
für zu eng. Er schmiss die Schule, machte amte drei Monate lang in Haft. Die 50 000 ner kennen, Peter Krauth und Bernhard
eine Schreinerlehre und zog nach Berlin. Mark Kaution hinterlegen seine Eltern. Heidbreder, sie werden zu Freunden.
Thomas stemmt sich aus dem Küchen- Wir machen Rast auf einem Felsen, den Heidbreder stammt aus Ostwestfalen und
stuhl. Morgen, sagt er, nehmen wir den Thomas den Frühstücksstein nennt. Sein hatte früher als Streifenpolizist in Köln ge-
Bus ins Valle, ins große Tal. Das Valle mit Blick schweift über Bauernhöfe, Wiesen, arbeitet. Wegen eines Magenleidens wurde
seinen Hügeln, Nebentälern und Berg- Felder. „Du kommst zu dem Punkt, wo du er aus dem Dienst entlassen und war in
satteln wurde seine zweite Heimat, als die sagst, Gewalt muss man anwenden, weil Berlin gelandet, um Psychologie zu studie-
Polizei ihm nahe kam. Das Valle schützte sonst die anderen Gewalt gegen uns aus- ren. Einer von vielen, die aus der Provinz
ihn, als er fast am Ende war. üben.“ Er spricht von Neonazis, aber es in die Stadt flohen. Peter Krauth wuchs
Der Wecker klingelt um halb sieben, wir klingt, als ließe sich das auf jeden anwen- wie Thomas in Sinzheim bei Baden-Baden
packen Wasser und Kuchen ein. Palm- den, den er als Gefahr ansieht. auf, auch er lernte das Schreinerhandwerk.
ström begleitet uns, die Fahrt im Bus dau- Polizeiakten erzählen keine Geschichte, Thomas sagt, dass sie die radikalen
ert drei Stunden. Während wir den Berg sie vermelden Regelverstöße. Beim Durch- Ideen umsetzen wollten, über die die 68er
hochmarschieren, fällt mir auf, wie ähnlich blättern sehe ich keinen Verwandten, son- nur geredet hätten. Mit Freunden betreibt
Thomas seinem Vater ist. Die Energie, der dern einen Straftäter. Der Berliner Rechts- er „Volxküchen“, sammelt Spenden für
Vorwärtsdrang, das Jonglieren mit Worten, anwalt Christoph Kliesing verteidigte Gefangene, teilt Hab und Gut, selbst Kin-
der schnell entflammbare Geist. Jungs, die Thomas bei seinen Verfahren in den Acht- der erziehen sie gemeinsam. Sie wollen
erwachsen werden, sind anfällig für Extre- zigerjahren, er sagt, er habe damals einen die Keimzelle einer besseren Gesellschaft
me. Thomas ist süchtig nach Extremen. Er Draufgänger kennengelernt, einen nicht werden, autonom, ehrlich, radikal. Heid-
zieht in eine Kreuzberger Wohngemein- sehr ideologischen Aktivisten. „Thomas breder, er und zwei Mitbewohner teilen
schaft, demonstriert gegen Rechte und ver- war eher der Chaot“, sagt Kliesing. sich das Sorgerecht für den Sohn einer Mit-
teidigt besetzte Häuser. Er klebt Plakate. Später, im Bus auf der Rückfahrt, liest bewohnerin. Liebesbeziehungen sind of-
Er wirft den ersten Stein. Palmström aus der Lokalzeitung vor. fen, sie sind gegen Zwang und Hierarchie.
Die Einträge in seiner Polizeiakte lesen „Rentner verwüsten Bank, nachdem sie ta- Thomas stellt zwei Bierflaschen auf den
sich wie eine Eskalation. Juni 1984: Fest- gelang auf ihre Pension warteten.“ „Senio- Küchentisch. Er sagt: „Du kannst nicht
nahme wegen eines Eierwurfs auf ein ren hungern im Altersheim.“ „Vier Tage nur um etwas bitten. Manchmal musst du
Polizeifahrzeug. Juni 1985: Steinwurf auf Wartezeit auf Benzin.“ Es sind Nachrich- es dir nehmen. Ich kann mir vorstellen,
Polizisten bei einer Demonstration gegen ten aus einem Land, das stirbt. Palmström dass man einen politischen Kampf führt,
den Besuch des US-Außenministers. Er faltet die Zeitung zusammen. Sie sagt, sie an dessen Ende es Tote gibt.“ Draußen
klaut Benzin und wird beim Autodiebstahl habe sich sofort in Thomas verliebt, als sie bellt ein Hund. Ich fühle mich plötzlich
erwischt. 1987 kommt er wegen Körperver- sich zum ersten Mal trafen. wie beim Verhör mit einem Verdächtigen.

56 DER SPIEGEL 52 / 2017


Gesellschaft

Tote? Na ja, sagt er, wenn man sich an- Die Täter waren vor den Polizisten ge- ströms Haus, er trägt ein T-Shirt mit der
schaue, wie Georg Elser 1939 versucht hat, flohen. Ihr Ziel war die nahe gelegene Jus- Aufschrift „Allez!“, vorwärts. Über seinen
Hitler mit einem selbst gebauten Spreng- tizvollzugsanstalt Berlin-Grünau, die leer Bauch spannen Hosenträger. Er überlegte
satz umzubringen, ein gelernter Schreiner, steht und in ein Abschiebegefängnis um- lange, ob er Maniok anbauen soll, weil die
der gegen das Naziregime war – sei das gebaut wird. Darin sollen auch Kurden vor Pflanze acht Monate braucht, bis ihre Knol-
nicht legitim gewesen? 1993 verübte die ihrer Abschiebung inhaftiert werden. Eine len erntereif sind. Er weiß nicht, wohin
Rote Armee Fraktion (RAF) einen An- Überprüfung ergibt, dass der Passat auf ihn das Leben spülen wird. Vorwärts, aber
schlag auf die Justizvollzugsanstalt Wei- Beate Krauth zugelassen ist, Peter Krauths wohin? Er hängt in der Luft wie ein Kolibri.
terstadt in Hessen aus Protest gegen harte Schwester. Im Handschuhfach finden die Er sagt nicht viel über die Flucht, weil
Haftbedingungen, auch das fand Thomas Ermittler Führerschein und Ausweis von er keine Hinweise auf Helfer geben will.
vernünftig und gut. Peter Krauth und Bernhard Heidbreder, Ab Ende der Neunzigerjahre schwimmt er
Was hielt er von der RAF? auf der Sitzbank einen Fahrzeugschein von wie Treibholz durch Lateinamerika. Ko-
Er seufzt. Das alte Thema. „Ich hatte Thomas Walter. Zudem Fingerabdrücke lumbien, Bolivien, Ecuador, El Salvador,
immer Respekt für die Gründer, Meinhof, von Krauth und Heidbreder. Venezuela, kurz Nicaragua. An Silvester
Baader. Aber die sind mit ihrem Versuch, Als Feuerwerker der Polizei später die zur Jahrtausendwende will er nach Berlin,
eine Art Zündfunke zu sein, auf die Fresse Propangasflaschen sprengen, ein Gemisch aber der Plan misslingt. Zunächst finan-
gefallen. Mit den Jahren wurden sie immer aus 120 Kilogramm Natriumchlorat und ziert er sich von Spenden linker Unterstüt-
isolierter und verloren den Bezug zu den Zucker, zerfetzen die Flaschen. Die Splitter zer aus Deutschland. Seinen Eltern
Kämpfen in Deutschland, die die Gesell- fliegen bis zu 300 Meter weit, die Krater schreibt er fünf Briefe, was er bald einstellt,
schaft bewegt haben.“ Für die Vordenker haben einen Durchmesser von 2,20 Meter. da ihr Postverkehr überwacht wird.
der RAF seien die Autonomen ein Haufen Die Justizvollzugsanstalt wäre „vollständig Immer wieder werden auch die Festnetz-
politischer Anfänger gewesen, die Auto- zerstört“ worden, schreiben die Ermittler. anschlüsse seiner Eltern und seiner Ge-
nomen wiederum hätten die RAF zu hier- Thomas spricht bis heute nicht über die schwister abgehört, meist drei Monate lang,
archisch, arrogant und elitär gefunden. Tat. Er gibt auch nicht zu, Mitglied des später auch Mobiltelefone und E-Mails.
Thomas hat keine eigenen Kinder, mit K.O.M.I.T.E.E. gewesen zu sein. Gegen ihn, Thomas’ jüngsten Bruder Frank verdäch-
20 ließ er sich sterilisieren. Seine linken Heidbreder und Krauth sprechen aber die tigen die Ermittler, Mitglied in einer terro-
Freunde nennt er „meine Familie“. Nach- Papiere im Auto, die Fingerabdrücke von ristischen Vereinigung zu sein, und leiten
dem die Mauer gefallen war, steckte die Krauth und Heidbreder und die Kenn- ein separates Verfahren gegen ihn ein.
Familie in der Krise. Asylbewerberheime zeichen am Transit, die Thomas gehören. Die Ermittlungsakten lesen sich, als wäre
brannten, aber die Autonomen lagen un- Überhaupt: Wer taucht 22 Jahre lang ab, der Staat vom Jagdfieber befallen. Geführt
tereinander im Streit. „Wir waren immer wenn er unschuldig ist? wird das Verfahren von der Bundesanwalt-
zu spät und immer zu wenige.“ Heidbreder, Krauth und Thomas verste- schaft in Karlsruhe. Beamte des Berliner
Seine Eltern halfen ihm, ein Gehöft in cken sich auf einem Bauernhof „irgendwo Staatsschutzes bearbeiten den Fall, unter-
Neutrebbin zu kaufen, östlich von Berlin, in Europa“, wo sie überlegen, wie es wei- stützt von Zielfahndern des Bundeskrimi-
wo er mit Peter Krauth eine Holzwerkstatt nalamts in Wiesbaden. Zeitweise hören die
einrichtete. Heribert und Jacqueline hoff- Ermittler über 50 Telefonanschlüsse ab,
ten, ihren Sohn damit aus der Autonomen- Er lebt in einer Bruchbude überwachen eine Journalistin der „taz“
szene zu lösen. Es war stets der üble Ein-
fluss, dem Thomas erlegen war, das ist die mit Wanderarbeitern, und schneiden Gespräche von Rechtsan-
wälten mit. Eine angebliche Ex-Freundin
Erzählung in der Verwandtschaft. Die An- erkrankt an Tuberkulose, von Thomas wird ein Jahr lang als Ver-
wendung von Gewalt war nie seine Ent-
scheidung, er sei dazu gedrängt worden.
schluckt Antibiotika. dächtige geführt, bis sich herausstellt, dass
er mit ihr nie etwas zu tun hatte – „Able-
„Er war immer ein Idealist“, sagt seine sefehler des Sachbearbeiters“.
Mutter Jacqueline. tergeht. Sollen sie sich der Polizei stellen? Thomas arbeitet auf einer Kakaoplan-
Es ist das Bild des netten Jungen, das Auf Mitgliedschaft in einer terroristischen tage. Dann wieder lebt er zur Miete in
Bestand hat. Aber Thomas verändert sich Vereinigung stehen bis zu zehn Jahre Haft. einer Bruchbude unter Wanderarbeitern.
in Berlin, er entzündet sich und entwickelt Auf der anderen Seite lockt die Freiheit. Er erkrankt an Tuberkulose, schluckt An-
eine Abscheu gegen die Provinz. Anfang Thomas sagt sich: „Du musch weg.“ tibiotika und feiert seinen 40. Geburtstag.
der Neunzigerjahre steckt er in der Krise Europa ist zu gefährlich. Sie könnten Er taucht bei einem linken Kollektiv unter,
wie die gesamte radikale Linke. Die RAF sich bei den Kurden im Nahen Osten ver- baut ein Holzhaus, richtet eine Druckerei
ist inaktiv, die Revolutionären Zellen zer- stecken, für deren Sache sich das ein und verlässt alles wieder. Er macht
fasern. Warum verschwindet die Linke ge- K.O.M.I.T.E.E. so spektakulär hatte einset- eine Computerschulung und gibt Unter-
nau dann, fragt sich Thomas, wenn es ernst zen wollen. Russland wäre interessant, richt. „Ich bin Profi in gar nix“, sagt er.
wird? „Wir müssen Aktionen machen, die aber da kennen sie niemanden. Die Kur- Über lange Strecken wissen seine Eltern
die Leute erreichen“, sagt er sich. den-Idee wird verworfen. „Die rennen je- nicht, ob er überhaupt noch lebt. Öffent-
In der Nacht zum 11. April 1995, gegen den Tag über Steine und leben in Höhlen“, lich reden sie kaum über ihn. Was hätten
0.50 Uhr, entdecken Streifenpolizisten auf sagt Thomas. Er experimentiert mit Perü- sie auch sagen sollen? Außerdem ahnen
dem Waldparkplatz Hanff’s Ruh in Berlin- cken und falschen Bärten. Heidbreder und sie, dass sie abgehört werden. Wenn sie
Grünau einen Ford Transit, der als gestoh- er haben keine festen Freundinnen, anders über ihn sprechen, gehen sie hinüber zum
len gemeldet ist, sowie einen VW-Passat. als Peter Krauth. Thomas sagt, es sei nicht Gänsestall. Sein Vater, bis dahin ein stolzer
Es ist ein Zufallsfund. Im Laderaum des jedem leichtgefallen, alles hinter sich zu Beamter, beginnt am Staat zu zweifeln, an
Transit stehen vier Propangasflaschen, die lassen. Krauths Haare färben sich schnee- der Verhältnismäßigkeit der Ermittlungen.
mit selbst gemischtem Sprengstoff gefüllt weiß. 1997 reisen sie mit falschen Papieren Für Thomas sind die Fluchtjahre nicht
und mit Zeitzündern versehen sind. Auf getrennt voneinander nach Südamerika. unglücklich, aber der Duft des Abenteuers
dem Beifahrersitz liegen Warnzettel: „Ach- Thomas hackt mit einer Machete auf verfliegt. Fünfmal verliebt er sich, fünfmal
tung Lebensgefahr. Sprengung des Knast- den Stamm einer Maniokpflanze ein. Wir endet die Beziehung. Wenn er eine Woh-
gebäudes! Das K.O.M.I.T.E.E.“ stehen auf einem Grundstück neben Palm- nung verlässt, in der er länger gelebt hat,

DER SPIEGEL 52 / 2017 57


Aktionen des K.O.M.I.T.E.E. Die Flucht ist
das, was bleibt. Thomas war mir erst un-
heimlich, dann rätselhaft, jetzt bewundere
ich seine radikale Selbstgenügsamkeit. Die
Geschichte der drei, denke ich, ist eine
Geschichte des Widerstands gegen das Mit-
telmaß, gegen die Gesellschaft, gegen die
Familie, eine Unterwerfung der eigenen
Wünsche unter ein Kollektiv. Ein Anschlag
gegen sich selbst. Radikaler geht es nicht.
Krauth schüttelt ärgerlich den Kopf. „Es

ILLUSTRATION: MICHAEL MEISSNER FÜR DEN SPIEGEL


gibt hier gar keine Geschichte.“
Thomas war wie die beiden anderen bis
Anfang der Nullerjahre davon überzeugt,
dass die Vorwürfe gegen sie nach 20 Jah-
ren verjähren, der Verdacht auf Bildung
einer terroristischen Vereinigung, der
versuchte Anschlag auf die JVA. Sie dach-
ten, dass sie 2015 zurück nach Deutsch-
land könnten. Es war eine Fehlannahme.
Die Bundesanwaltschaft argumentiert,
dass die Verjährungszeit für die Verabre-
Sohn Thomas Walter, Vater Heribert Walter dung zu dem Sprengstoffanschlag aufgrund
diverser Unterbrechungen erst nach längs-
zündet er ein Feuer an und wirft Fotos und „Ich könnte mir vorstellen, dass es den tens 40 Jahren endet. Das wäre im Jahr
persönliche Gegenstände hinein, um Spu- Bauernhof noch gibt“, sagt Heidbreder. 2035. Es ist ein absurder juristischer Win-
ren zu verwischen. Sein Leben geht un- Vor einigen Wochen haben Freunde in kelzug der Ermittlungsbehörden, die Ver-
zählige Male in Flammen auf. Berlin einen Kiezspaziergang für ihn or- abredung zu einem Anschlag länger zu ver-
2003 zieht er in den Westen von Venezue- ganisiert, er war per Skype zugeschaltet. folgen als dessen Ausführung. Andererseits
la. Peter Krauth wohnt schon hier. Heidbre- Heidbreder ging virtuell durch die Stadt. hätten sich die Flüchtigen auf einen Deal
der hat in Kolumbien geheiratet und über- „Ein bisschen wie früher war das.“ mit den Behörden einlassen können, zwei-
setzt unter dem Pseudonym „John Jairo Lon- Deutschland ist ein Land, das vor ihren mal, aber sie entschieden sich dagegen.
doño Smith“ den „Prozess“ von Kafka ins Augen längst verschwommen ist, wie ein 2001 übermittelte Thomas’ Rechtsanwalt,
Spanische. Bald zieht auch er mit seiner Frau Themenpark, der vor Jahrzehnten dicht- der sich mit Vertretern der Bundesanwalt-
nach Mérida. Die drei sind wieder vereint, machte. Sie flohen, als Bonn Regierungs- schaft getroffen hatte, den Flüchtigen den
fast zehn Jahre nach der missglückten Tat. sitz war. Sie haben viel verpasst, Rot-Grün, Vorschlag, sich freiwillig zu stellen. Im Ge-
Es ist Sonntag, Heidbreder und Krauth die Fußballweltmeisterschaft, Merkel. genzug bekämen sie einen schnellen Pro-
schlurfen in Palmströms Küche. Thomas Thomas fragt: „Gibt es noch Telefon- zess und viereinhalb Jahre Haft. 2010 habe
zieht eine Quiche aus dem Ofen, die wir zellen?“ Heidbreder sagt: „Ich habe mir jah- das Angebot sogar bei nur noch dreieinhalb
gemeinsam gebacken hatten, mit einem relang eingeredet, Deutschland sei scheiße. Jahren gelegen. Die Bedingung: Die drei
Rest Hasenfleisch vom Tag zuvor. Es hatte Vielleicht habe ich mich selbst angelogen.“ kehren gemeinsam zurück. Thomas sagt, er
länger gedauert, Krauth und Heidbreder Krauth lebt auf einem Bauernhof mit hätte sich darauf eingelassen, aber das Kol-
zu einem Treffen zu bewegen. Krauth hegt Rindern, Schafen, zwei Hunden und einer lektiv entschied anders. Ihre Flucht war
eine Abneigung gegen die Presse, insbe- Kuh. Er sagt dann doch etwas: „Ich lebe nicht nur die Entscheidung, fortzugehen,
sondere den SPIEGEL. Er wird bald 58, hier in einem goldenen Käfig.“ Thomas sondern fortzubleiben. Die drei haben in
sieht aber mit den weißen Haaren und der verteilt das letzte Stück der Hasen-Quiche. Venezuela einen Asylantrag gestellt, der
Halbglatze aus wie Anfang siebzig. Krauths Eltern und Heidbreders Vater derzeit bearbeitet wird. Thomas sagt, ihm
Seine Bedingung für das Gespräch ist: sind mittlerweile tot. Thomas’ Vater Heri- sei inzwischen egal, ob die deutschen Be-
Ich sag nix. bert, der Reaktor, leidet an Demenz und hörden wissen, wo er wohnt.
Heidbreder schaut in seine Kaffeetasse, erinnert sich nicht an seinen Sohn. Krauths Trotzdem wollen sie zurück. Sie wollen
ein sehniger, stiller Kerl, fast ausgemergelt. Schwester saß 1995 vier Wochen schwan- Frieden mit ihren Familien schließen, mit
Seit 14 Jahren leben sie hier, drei alte ger in Haft, weil die Polizei sie der Kom- der Schwester, der Mutter, dem Bruder.
Radikale. Eine Keimzelle im Exil. Heidb- plizenschaft verdächtigte. Mit ihrem Bru- Thomas hatte mir erzählt, er wolle seinen
reder wohnt mit seiner Frau im Zentrum der hat sie seither kein Wort gewechselt. Vater pflegen. Den Papst, der seinen Sohn
von Mérida, Krauth in den Bergen nörd- Sie finden keine Ruhe. 2014 wird Bern- nicht mehr erkennt. Er wolle ihn umarmen.
lich, Thomas im Süden. hard Heidbreder in Mérida von Interpol- Er hatte dabei geweint.
Wieso hat sich Krauth ausgerechnet Ve- Beamten festgenommen, nach einem Tipp Palmström stellt Kaffee und Zucker auf
nezuela ausgesucht? „Sag ich nicht.“ deutscher Behörden. Thomas zündet wie- den Tisch. Sie hat still zugehört, aber es
Heidbreder erzählt, er sei hergezogen, der ein Feuer an, verlässt seine Hütte am schien die ganze Zeit so, als würde etwas
„weil die beiden anderen hier waren“. Berg und versteckt sich im Valle. Die in ihr arbeiten. Sie findet die drei Freunde
Sie sehen sich alle vier bis sechs Wochen, Flucht endet nie. Heidbreder sitzt im Ge- kompliziert, aber gutmütig, sie hat sich
trinken Kaffee und reden über damals. fängnis, zwei Jahre lang, bis ein Gericht mit den Flüchtlingen arrangiert. Sie schätzt
„Unsere erste gemeinsame Aktion war der in Caracas entscheidet, dass er nicht nach die Nähe zu Thomas. Im Bus zurück von
Kinderbauernhof in Kreuzberg“, erzählt Deutschland ausgeliefert wird. Thomas unserer Wanderung hatte sie erzählt, dass
Thomas. „Der sollte abgerissen werden, und Peter Krauth bleiben unentdeckt. sie in Mérida bleiben wolle. Sie wolle hier
wir haben ihn verteidigt.“ Vielleicht war Eigentlich, denke ich beim Essen, ist die alt werden. Sie fände es schlimm, hatte sie
das der Anfang. Ein Kinderbauernhof. Flucht ihr Lebenswerk, nicht die beiden gesagt, wenn Thomas für immer ginge.
58 DER SPIEGEL 52 / 2017
Gesellschaft

aus, „Konfirmationskuchen“ und den Nürnberger Christ-


kindlesmarkt. Das war unser Leben im Großen und Gan-
zen. Eine größere Welt brach erst mit dem Musikkanal
MTV über uns herein, und wir fränkischen Buben schau-
ten mit roten Ohren den fantastischen Mädchengestalten
zu, deren Körper durch äußerst unfränkische Videoclips
Unter Franken wirbelten. Söder und ich, wir kamen in die Pubertät.
Und irgendwann damals entschied sich, was im
Leben so aus einem werden sollte. Damals trennten sich
Homestory Warum ich Markus Söder Söders und meine Wege für immer. Meiner führte ein
paarmal schüchtern an den Bauzaun von Wackersdorf
sehr gut kenne, obwohl wir und zu Ostermärschen durch Hof, die so erbärmlich
uns im Leben noch nie begegnet sind klein waren, dass man sie als Demonstrationen kaum
wahrnahm. Söders Weg führte direkt in die Junge Union

W
enn es so etwas gibt wie den Höhepunkt des und in die CSU. Und während in meinem Zimmer ein
fränkischen Fernsehjahres, dann ist es vielleicht bemühtes Kunstposter hing, hängte sich Söder ein Porträt
die Prunksitzung des Fastnachtsverbands in von Franz Josef Strauß übers Bett. So repräsentierten
Veitshöchheim. „Ganz Franken“ schaut zu, wenn die Nar- wir beide, ohne es zu ahnen, die bayerischen Verhält-
ren mit dem rollenden „R“ ihren Dialekt pflegen, in dem nisse. Söder war die Zweidrittelmehrheit. Ich war der
die Konsonanten butterweich werden und aus Politikern lumpige Rest.
also „Bollidigger“. Der derzeit größte des Frankenlands An Strauß entschied sich unser Leben. Der legendäre
heißt bekanntlich Dr. Markus Söder, und für ihn ist Veits- Ministerpräsident verkörperte für Franken und Bayern
höchheim Jahr für Jahr ein Heimspiel. Er stammt aus der meiner Generation eine Wahl für den Rest des Lebens,
Gegend, der Minister für Finanzen und Heimat in Bayern, das Entweder-oder der eigenen Gesinnung. Wer den Alten
er ist ein Mittelfranke aus Nürn- hörte und sah, alle paar Jahre in
berg-Schweinau. der größten Halle am Ort, muss-
Anfang 2017, im bislang größ- te sich danach entscheiden zwi-
ten Jahr seiner Karriere, ging Sö- schen „Stoppt Strauß“-Sticker
der mit einer gelben Ganzkopf- und Fanposter. Ich war 15 oder
maske aus anliegendem Gummi 16, als ich den Gott der CSU ein-
zum Veitshöchheimer Fasching. mal leibhaftig in der Hofer
Er stellte Homer Simpson dar, „Freiheitshalle“ erlebte. Ich
den Comic-Helden, der als Inbe- kann mich an die Rede nicht
griff des dummen Faulenzers gilt, mehr erinnern, aber an das Ge-
dem aber ständig aus lauter Zu- johle im Publikum sehr wohl.
fall die lustigsten Geniestreiche Die Zweidrittelmehrheit feierte,
gelingen. Wäre Söder gern so Väter und Söhne im Trachten-
einer? Natürlich nicht. Aber er janker, und die Mütter kamen
lacht eben gern über andere frisch vom Friseur.
Deppen. Ich weiß das. Ich kenne Ich fühlte mich zum ersten Mal
ihn gut. irgendwie „links“, was einem im
Zugegeben, Söder und ich, damaligen Bayern vorkam wie
wir sind uns noch nie begegnet, heute vermutlich ein Coming-
THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL

aber das tut hier nichts zur out. Söder hatte es da, denke ich,
Sache. Wenn ich sage: Ich kenne viel leichter. Ich hatte Schul-
ihn gut, dann meine ich das grö- freunde wie ihn, die schon in der
ßer, tiefer. Ich kenne ihn von neunten Klasse politisch rechts
Franke zu Franke, und ich kenne standen, ganz ohne Anführungs-
die Mentalität dieses evangeli- zeichen, Söhne in Trachtenjan-
schen Kleinunternehmersohns, kern, die sich anschickten, Väter
weil ich selbst einer bin. Ich weiß in Trachtenjankern zu werden.
so gut wie alles über Söders politische Sozialisation in CSU, das fühlte sich damals noch an wie eine Art erblicher
den späten Siebziger-, den frühen Achtzigerjahren, weil Veranlagung.
ich damals auch in der Gegend war, ein Oberfranke aus Aber nur wenige zogen es so durch wie Söder, die ganze
Hof „in Bayern ganz oben“, nur zwei Jahre älter als der weiß-blaue Ochsentour. Und je höher er stieg, desto wilder
1967 geborene Markus aus Nürnberg. wurden seine Verkleidungen im Veitshöchheimer Fasching.
Hier wie dort wohnte man nie weit entfernt von dunk- Er kam als Punk, als Shrek, als Frau, als Ludwig II., als
len Wäldern, die Winter waren hart und die Skianzüge Dr. Edmund Stoiber, und in der Perfektion seiner Masken
bunt, mit Braun, Grün und Lila. Wir waren, Söder und leuchtete grell sein Ehrgeiz auf. Wer aber Augen hatte,
ich, Provinzler, und wir waren es noch ganz unverdünnt. konnte sehen, dass dieser fränkische Clown sich die ganze
Es gab keine Handys, kein YouTube, kein H&M, und Fast Zeit nach einem ganz anderen Kostüm sehnte: dem des
Food kam, wenn überhaupt, aus dem „Wienerwald“. bayerischen Ministerpräsidenten, der zur Fastnacht tradi-
Die Welt war klein, aber scheinbar in Ordnung. Wir tionell unverkleidet und im Smoking kommt. 2019 ist es
schauten Urlaubsdias im Familienkreis und lachten mit für Söder so weit. Vielleicht gehe ich dann auch einmal
den Eltern über Wum und Wim Thoelke. Es gab Bayern 3, nach Veitshöchheim. Als der Zombie von Franz Josef
die „Schlager der Woche“, es gab Bratwürste jahrein, jahr- Strauß. Ullrich Fichtner

DER SPIEGEL 52 / 2017 59


ULRICH ZILLMANN
Air-Berlin-Pleite

„Die Lufthansa haftet“


Ein Fachanwalt sieht gute Chancen, den Notkredit bei der Fluglinie einzutreiben.

Stefan Hertwig, 61, Experte für Beihilfe- und Vergaberecht Hertwig: Das schreiben die EU-Bestimmungen so vor. Der
bei der Anwaltskanzlei CBH in Köln, über die Rückzahlung des Kaufpreis muss marktüblich sein, das heißt, er muss auf
Staatskredits für die Fluglinie jeden Fall den Wert abdecken, der mit dem Darlehen des
Bundes geschaffen wurde. Tatsächlich wurde damit ja ver-
SPIEGEL: Herr Hertwig, weil die Lufthansa auf den Erwerb hindert, dass die Start- und Landezeitfenster von Air Berlin
der Air-Berlin-Tochter Niki verzichtet, fließt auch nicht der wertlos wurden und überhaupt weiterverkauft werden
volle Kaufpreis von rund 200 Millionen Euro. Nur so aber konnten. Die Lufthansa muss als Nutznießer nun anteilig
hätte der Bundeskredit über 150 Millionen Euro komplett die auf sie entfallenen Folgekosten tragen.
getilgt werden können. Ist ein Teil des Geldes futsch? SPIEGEL: Was passiert, wenn der Konzern sich weigert und
Hertwig: Keineswegs. Nach den Richtlinien für derartige am Ende nicht genug Geld zusammenkommt?
rückzahlbare Darlehen, die von Brüssel zu genehmigen Hertwig: Dann wird aus dem genehmigten rückzahlbaren
sind, haften die Erwerber. Also zum Beispiel die Lufthansa. Darlehen ein verlorener Zuschuss, der von Brüssel als
SPIEGEL: Die entrichtet doch bereits für Ableger wie LGW, rechtswidrige Beihilfe eingestuft würde. Der Bund müsste
die sie übernehmen darf, einen Kaufpreis. Außerdem hat auf Druck der Kommission das Geld von den Käufern ein-
sie Niki in den vergangenen Wochen mit über 50 Millionen treiben. Macht er das nicht, können Wettbewerber der
Euro unterstützt. Soll sie nun ein drittes Mal zahlen? Lufthansa die Regierung per Klage dazu zwingen. did

Verlage vor Weihnachten mit einer tern heißt es, man müsse für cherin sagt, Bauer seien zu-
Bauer wird unerwarteten Wohltat. Ab neue Mitarbeiter attraktiver friedene Mitarbeiter wichtig.
barmherzig 2018 erhöht sich deren Ur-
laubsanspruch von 25 auf 30
werden, die angesichts der
teils miesen Arbeitsbedingun-
Dazu gehöre auch genügend
Freiraum für Erholung. Das
Der Bauer-Verlag („Bravo“, Tage im Jahr, zudem sollen gen vor Bauer zurückschreck- im Familienbesitz befindliche
„Neue Post“) – bisher nicht der 24. und der 31. Dezember ten. In der Vergangenheit wur- Unternehmen zählt zu den
gerade für allzu große Arbeit- freie Tage sein. Fast alle Be- de der Verlag immer wieder größten Medienkonzernen
nehmerfürsorge bekannt – schäftigten sollen profitieren. für bescheidene Bezahlung der Republik, der letzte ge-
überrascht seine Mitarbeiter Offenbar steckt hinter der bei vergleichsweise hoher Ar- meldete Umsatz 2015 betrug
der Zeitschriftensparte kurz Charmeoffensive Kalkül: In- beitslast kritisiert. Eine Spre- 2,3 Milliarden Euro. mum

60 DER SPIEGEL 52 / 2017


Wirtschaft
ARD davon 6300 zu Führungen. Im
Weg vom Zuschauer Lauf der Jahre habe sich das
Info-Center jedoch „zuneh-
Die ARD will sparen – und mend zum Merchandising-
entzieht sich dafür ein Stück Shop entwickelt“, so ein
weit ihren Zuschauern. Ende Sprecher des federführenden
Januar soll das Info-Center Senders RBB. Durch die
im Hauptstadtstudio schlie- Schließung werde eine niedri-
ßen, das bislang als begehba- ge sechsstellige Summe einge-
res „Schaufenster der ARD“ spart, die das chronisch klam-
beworben wurde. Es war der me Hauptstadtstudio ins Pro-

TEUTOPRESS / IMAGO
einzige Ort, an dem sich der gramm stecken soll. RBB und
Senderverbund als Ganzes Hauptstadtstudioleiterin Tina
präsentierte. 2016 besuchten Hassel wollen ein neues
25 000 Menschen das Kunden- Konzept für eine „ARD zum
zentrum im Herzen Berlins, Anfassen“ erarbeiten. akm, akü Hauptstadtstudio in Berlin

Textilindustrie „Das heißt nicht, dass dort wirkt das deutsche Textil- Hauck & Aufhäuser
Fairer Lohn ein fairer Lohn bezahlt bündnis, eine 2014 etablierte Chinesen räumen
in weiter Ferne wird“, sagt eine Unterneh-
menssprecherin – nur gere-
Partnerschaft von 150 Unter-
nehmen, Verbänden, NGOs bei Privatbank auf
Das kommende Jahr 2018 det wird darüber. Und selbst und der Bundesregierung. Bei der Frankfurter Privat-
sollte für die Textilarbeiter solche Gespräche konnten Das Bündnis soll für bessere bank Hauck & Aufhäuser, die
des Modehändlers H & M bis Ende 2016 erst in 291 der Arbeitsbedingungen in der seit 2016 von dem chinesi-
eigentlich ein gutes werden: rund 750 Zulieferbetriebe Branche sorgen. Gerechte schen Investor Fosun kontrol-
Bis dahin, versprach der Kon- verankert werden. Vom Löhne sollten 2018 eigentlich liert wird, lichten sich die
zern vor vier Jahrern, wolle Zwei-Milliarden-Dollar-Ge- ein Schwerpunktthema des Reihen der Manager. So geht
man allen 850 000 Beschäftig- winn brauche H & M nur 1,9 Bündnisses sein, zu dem Un- zum Jahreswechsel Privatkun-
ten in der Lieferkette einen Prozent zu nehmen, um den ternehmen wie Aldi, Kik und denvorstand Stephan Rupp-
fairen, existenzsichernden Lohn der Mitarbeiter in Kam- Hugo Boss zählen. Die la- recht, ein weiteres Mitglied
Lohn zahlen. Das Projekt ist bodscha um 78 Dollar auf ein schen Regeln sehen lediglich der früheren Führungstroika.
gescheitert. Bei H & M spricht existenzsicherndes Niveau vor, dass die Firmen an einer Im Herbst war bereits der IT-
man inzwischen nur noch anzuheben, kritisiert die Maßnahme mitarbeiten müs- Verantwortliche Jochen Lucht
von „Lohn-Management-Sys- Kampagne für Saubere Klei- sen, die auf existenzsichern- ausgeschieden. Übrig geblie-
temen“, die man in den Zu- dung. Noch träger als der de Löhne abzielt. Dafür ha- ben ist Vorstandschef Michael
lieferfabriken verankern will. schwedische Modegigant ben sie bis 2019 Zeit. nkl Bentlage, der mit Luchts
Nachfolger Wolfgang Strobel
die Geschäfte führt. Auch in
der zweiten Führungsebene
hat es Abgänge gegeben –
offenbar kann sich nicht jeder
Mitarbeiter mit dem neuen Ei-
gentümer aus China anfreun-
den. Fosun trimmt die Bank
auf aggressives Wachstum,
Zukäufe sind ausdrücklich
erwünscht. Kritiker glauben,
Fosun habe Hauck vor allem
erworben, um mit den Kun-
dengeldern seine Einkaufs-
tour quer durch alle Branchen
zu finanzieren. Die Band-
breite der Investments reicht
von Versicherungen über das
Pharmazie- und Stahlgeschäft
bis hin zum Club Méditerra-
née. Die Betreuung reicher
HASNAIN KAZIM / DER SPIEGEL

Chinesen durch Hauck


scheint dagegen noch nicht
richtig zu funktionieren: Für
2018 jedenfalls plant die Bank
eine Initiative, um neue Kun-
den in der Volksrepublik zu
Textilarbeiter in Pakistan gewinnen. baz

DER SPIEGEL 52 / 2017 61


NORBERT ENKER / LAIF

62 DER SPIEGEL 52 / 2017


Wirtschaft

Stein und Sein


Gewerbe Dem Handwerk geht es so gut wie seit Jahren nicht – doch der Boom hat
seine Schattenseiten. Bauherren müssen lange auf Klempner, Maurer,
Dachdecker und Co. warten. Die Preise steigen sprunghaft. Wird diese Arbeit zu teuer?

E
r ist hundertfacher Millionär, hat Bauboom allmählich seine Schattenseiten wenig von Bauabnahme verstünden und
Zigtausende Wohnungen gebaut, selbst für ihn zeigt. Die Preise steigen von auch sonst kaum über ihre Rechte Bescheid
Tausende Handwerker beschäftigt, Monat zu Monat. Oft ist er froh, überhaupt wüssten, würden nicht selten über den
selbst Maurer gelernt. Er kennt alle Tricks Handwerker zu bekommen, und wenn de- Tisch gezogen. „Da muss einer nur den Ein-
und sieht jeden Pfusch – aber an diesem ren Termine zu seiner Planung passen, druck erwecken, ein netter Kerl zu sein,
Sonntagnachmittag kam selbst der Bau- kann er sein Glück kaum fassen. und oberflächlich alles ordentlich machen,
löwe Dieter Becken an seine Grenze, was „Das Verhältnis hat sich komplett ge- und schon winkt der Normalkunde alles
den Umgang mit Handwerkern angeht. dreht“, sagt er. Früher standen die Hand- durch.“ Die Mängel zeigten sich erst später,
Becken, 68, stand im fast fertigen Kon- werksbetriebe Schlange und kämpften um und wenn die Rechnung bezahlt sei, sei es
ferenzraum seiner neuen Unternehmens- jeden Auftrag. Heute diktieren sie die Be- für die meisten Privatleute zu spät. „Wenn
zentrale mitten in Hamburg und versuchte, dingungen. „Und bei mir geht es um große der Preis auffallend niedrig ausfällt, ist im-
einem Handwerker verständlich zu ma- Auftragsvolumina. Ich mag mir gar nicht mer Vorsicht geboten“, sagt von der Heydt,
chen, dass der gerade dabei war, Mist zu vorstellen, wie es einem kleinen Bauherrn der sich auf Bau- und Architektenrecht spe-
fabrizieren. Die Decke solle nicht so weit geht, der heute auf der Suche nach Hand- zialisiert hat. „Denn für manche dieser An-
abgehängt werden. Das sei falsch. Irgend- werkern ist.“ bieter liegt die Marge vor allem im Pfusch.“
jemand habe die Pläne nicht richtig gelesen. Überhitzung nennen es die Ökonomen, Doch was heißt schon niedrig angesichts
Der angesprochene Mann war mit Elan was sich gerade in der Bauwirtschaft ab- der aktuellen Marktlage? Über die Sum-
bei der Sache, verstand aber leider kein spielt. Und Nachfrageüberhang, was im ge- men, die aktuell für Handwerkerleistungen
Deutsch. Und niemand war in der Nähe, samten Handwerk geschieht. Nirgends verlangt werden, staunen nicht nur die
der hätte übersetzen können. Dutzende sonst in der deutschen Wirtschaft zeigt sich Stadt Oberhausen und so mancher private
schufteten übers Wochenende für den Mul- plastischer, was Boom bedeutet. Überall Bauherr, der einen Klempner beauftragt.
timillionär, aber niemand wusste, wer Be- sieht man Baugerüste, Baustellen, Bau- Auch Großinvestor Becken hat Mühe, sei-
cken war, niemand sprach seine Sprache. wagen. Städte lassen Straßen aufreißen, ne Kalkulationen aufrechtzuerhalten.
Er tigerte durch das Haus, er fuchtelte mit der Staat zieht Autobahnbrücken hoch, In- „Wir haben im Bauhandwerk eine ge-
den Armen, er übte sich in Zeichensprache. vestoren stampfen Neubau um Neubau aus waltige, nie da gewesene Kostenexplo-
Umsonst. Becken war so hilflos wie irgend- dem Boden, Privatleute lassen Fassaden sion“, sagt er. Noch vor fünf Jahren habe
ein x-beliebiger Bauherr. sanieren, Dächer decken, Wände streichen. er seine Bauaufträge an Generalunterneh-
Erst am nächsten Tag, als Becken in sein Die Wartezeiten bei Handwerkern haben mer vergeben. „Da traf man sich bei der
neues Büro kam, ein paar Meter von je- sich im Jahr 2017 vor allem in den Metro- Grundsteinlegung, beim Richtfest und bei
nem Konferenzraum entfernt, konnte sich polen enorm verlängert – auf durchschnitt- der Abnahme – das war’s.“ Allein in den
der Unternehmer Luft verschaffen und lich mehr als zehn Wochen. Zugleich steigen vergangenen zwei Jahren seien die Preise
einem seiner Manager die Anweisung ge- die Preise. Vor allem in den Großstädten um 50 Prozent angehoben worden, „ein-
ben, das Deckendesaster zu beheben. Wie- können besonders nachgefragte Gewerke, fach, weil der Markt es hergibt“. Als Bau-
der rückten Handwerker an. Sie rissen wie etwa Dachdecker oder Heizungs- und herrn „bleibt mir da nichts anderes übrig,
heraus, was ihr Kollege am Wochenende Sanitärinstallateure, ihre Preise fast nach als selbst Generalunternehmer zu spielen“.
hineingebaut hatte. „Ein Irrsinn“, sagt Belieben kalkulieren. Jedes einzelne Gewerk wird bei Becken
Becken. „Babylon auf der Baustelle.“ Und Die Stadt Oberhausen hat wegen der ge- nun in Einzelverträgen vergeben. Ein Ver-
dann legt er los. stiegenen Kosten mehrere Projekte ge- trag für die Türen, einer für die Elektriker,
Das komme dabei heraus, wenn kaum stoppt. Für ein geplantes Kinderland im einer für den Maler, einer für den Tep-
noch ein Deutscher auf dem Bau arbeiten Schwimmbad standen rund zwei Millionen pich – insgesamt 24 Gewerke. „Eigentlich“,
wolle, wenn kaum noch ein junger Mensch Euro zur Verfügung. Auf die Ausschrei- so Becken, sei das „der Albtraum jedes
Handwerker werden wolle in diesem Land, bung reagierte ein einziges Unternehmen Bauherrn“. Hunderte Menschen gilt es zu
jedenfalls nicht Maurer, Betonbauer oder und forderte mehr als den doppelten Preis. koordinieren. Wenn es irgendwo hakt, löst
Stahlbieger. Die Deutschen, ruft Becken, Für den Ersatz zweier Brücken fand sich das andernorts Dutzende Nachwirkungen
seien einmal die Baumeister der Welt ge- überhaupt keine Firma. aus. Und jede Katastrophe fängt simpel
wesen. Und jetzt? Kein Bauunternehmen Mancherorts ist die Marktposition der an. Wenn eine Firma sagt, ihre Leute kä-
von Weltrang mehr. Philipp Holzmann – Handwerker so gut, dass sie Angebote für men leider erst 14 Tage später, kommt der
lange untergegangen. Bilfinger Berger – geplante Arbeiten nur gegen eine Bearbei- ganze Terminplan durcheinander. „Und
verlegt sich auf andere Geschäftsfelder. tungsgebühr herausrücken. Und mancher das ist noch nicht einmal Bösartigkeit oder
HochTief – ein Witz. Kunde, der mit der erledigten Arbeit nicht gar Faulheit“, sagt Becken. „Die Firmen
Becken geht es, abgesehen von jenem zufrieden ist, rennt den Betrieben monate- sind bis zum Überborden mit Aufträgen
Sonntagnachmittag, keineswegs darum, lang hinterher, bis der Mangel behoben voll, die arbeiten mehr, als sie eigentlich
dass auf seinen Baustellen besonders viel wird. „Leider“, sagt der Hamburger Rechts- können, und da braucht es nur eine Win-
Deutsch gesprochen werden soll. Er be- anwalt Klaus von der Heydt, „zieht der zigkeit – und alles bricht zusammen.“
kommt auch sonst den Handwerkermangel Boom auch schwarze Schafe an.“ Vor allem Das Problem am Boom ist: Niemand
jeden Tag zu spüren, bemerkt, wie der private Bauherren und Auftraggeber, die weiß, wie weit man ihm trauen kann. Vor
DER SPIEGEL 52 / 2017 63
Wirtschaft

A
allem dem Bauhandwerk stecken die Kri- uf dem aktuellen Arbeitsmarkt er- ein altes Schwarz-Weiß-Foto. Darauf sind
senjahre nach der Jahrtausendwende noch geht es Handwerkern sogar besser hölzerne Karren und Bollerwagen zu se-
in den Knochen, als nach dem Wiederver- als Akademikern. Laut Berechnun- hen. Im Hintergrund erkennt man die
einigungsboom die Nachfrage eingebro- gen des Nürnberger Instituts für Arbeits- Werkstatt, die Abels Großvater 1920 im
chen war und die Handwerksbetriebe zu markt- und Berufsforschung sind Personen thüringischen Geisa gegründet hatte. Dort,
Tausenden pleitegegangen waren. Jetzt mit Meister- und Technikerausbildung am in der Grenzregion zu Hessen und Bayern,
einfach Leute einzustellen und zu hoffen, wenigsten gefährdet, arbeitslos zu werden. hat die Firma bis heute ihren Sitz.
dass die Auftragslage immer so gut bleibe, Ihre Erwerbslosenquote lag 2016 bei 1,7 Pro- Mit industrieller Holzbearbeitung fing
mag kaum ein Betrieb. Da lässt mancher zent, bei Hochschulabsolventen betrug sie es damals an. Später wechselte Abels Vater
Meister lieber den einen oder anderen Auf- hingegen 2,4 Prozent. zu Metallwaren: Schrauben, Muttern, klei-
trag ziehen. Auch die Karriereaussichten für poten- ne Unterlegscheiben. Nach der Wende war
Und selbst wenn er einstellen will – wo- zielle Absolventen sind gut: Rund 200 000 damit Schluss, zu groß die Billigkonkur-
her nehmen, wenn nicht stehlen? Hand- Betriebe, schätzt der ZDH, brauchen in renz aus Asien. „China hat gedrückt ohne
werker in besonders gefragten Bereichen den nächsten zehn Jahren einen neuen Ende“, sagt Abel.
werden bereits mit Prämien von ihren al- Chef, weil der alte in Rente geht. Deutsch- Andererseits kamen mit der Wiederver-
ten Betrieben weggelockt. Und Nachwuchs land könne es sich nicht leisten, dass diese einigung auch Chancen. Zu DDR-Zeiten
gibt es kaum. 15 000 Lehrstellen blieben Firmen verschwänden, sagt ZDH-Präsi- hatte die Firma nie mehr als vier Mitarbei-
dieses Jahr nach Angaben des Zentralver- dent Wollseifer. „Dann bricht das soziale ter. Sie wäre sonst womöglich in einer
bands des deutschen Handwerks (ZDH) Gefüge besonders im ländlichen Raum zu- Produktionsgenossenschaft aufgegangen.
unbesetzt. „Wir kämpfen um jeden Jugend- sammen.“ Im wiedervereinigten Deutschland aber
lichen, und das auf allen Ebenen und über Nun ist Handwerk nicht gleich Hand- konnte die Familie investieren: in größere
alle Kanäle“, sagt ZDH-Präsident Hans Pe- werk. Gut fünf Millionen Menschen arbei- Werkstätten und mehr Personal. Und vor
ter Wollseifer. „Die fehlenden Fachkräfte ten in Deutschland in etwa einer Million allem in neue Produkte.
drohen das Wachstum auszubremsen – Handwerksbetrieben. Mehr als 130 Berufe 1995 übernimmt Abel die Firma von sei-
nicht nur im Handwerk, sondern in der zählen zu diesem Bereich. Das Nahrungs- nem Vater und steht wenige Jahre später
Wirtschaft insgesamt.“ mittelgewerbe macht gerade einmal 3,5 Pro- nicht mehr selbst an der Drehmaschine.
Es hat lange gebraucht, bis der Verband zent der Betriebe aus, vom Bäcker bis zum Er ist jetzt vor allem Erfinder, plant und
mit seinen Forderungen bei der Politik Fleischer. Mehr als die Hälfte ist mit dem zeichnet Prototypen. 15 Patente hat er in
überhaupt auf Gehör stieß. Jahrzehntelang Bau oder Ausbau von Häusern beschäftigt. den vergangenen zehn Jahren angemeldet.
galt die Aufmerksamkeit dort vor allem Eine starke Gruppe sind auch Firmen, die Sein Erfolgsprodukt ist eine Absturzsiche-
den Hochschulen und deren internationa- für den gewerblichen Bedarf arbeiten, also rung, die verhindern soll, dass Menschen
ler Konkurrenzfähigkeit. etwa Elektromaschinenbauer, Kälteanla- in Hochhäusern aus dem Fenster fallen.
Wollseifer spricht nun von einer „Über- genbauer oder Modellbauer. Sie stellen Dafür wird vor dem Fenster eine weitere
akademisierung“ und will Studium und 13,5 Prozent aller Unternehmen im Hand- Glasscheibe auf eine Schiene gesetzt. Für
Ausbildung „wieder in ein vernünftiges werk. die Verankerung sorgt ein spezieller Dübel.
Verhältnis bringen“. Abiturienten müssten Der Betrieb von Klaus Peter Abel ist ein Abels Strategie geht auf: Zuletzt wuchs
wissen, dass auch im Handwerk erfolgrei- gutes Beispiel dafür, welche Karrieren im der Umsatz der Firma um bis zu 30 Pro-
che Karrieren möglich seien. Handwerk möglich sind. Aus der kleinen zent jährlich.
Der Handwerkspräsident wünscht sich Metallfirma seines Vaters hat er ein mit- Wer mit dem Chef durch die Produk-
„nach dem erfolgreichen Hochschulpakt“ telständisches Unternehmen mit 80 Mit- tionshalle seiner Firma geht, spürt, dass er
jetzt einen „Berufsbildungspakt“. Berufs- arbeitern gemacht. „Hätte mir das vor sich trotz allem immer noch als Handwer-
schullehrer müssten besser ausgebildet, 20 Jahren jemand gesagt, ich hätte ihm ker und nicht als Manager sieht. „Das
die technische Ausstattung müsse moder- den Vogel gezeigt“, sagt Abel, 47, und tippt Handwerk ist die Grundlage für alles“, sagt
nisiert werden. „Die Lehrlinge müssen sich an die Stirn. er und steuert auf eine Drehmaschine zu,
dort lernen können, wie ein Roboter ar- Sie seien immer ein klassischer Familien- die in einer Ecke steht: „Damit hat schon
beitet.“ betrieb gewesen, sagt Abel und zeigt auf mein Großvater gearbeitet.“

Das Handwerk Nachwuchs Beschäftigte Neubau


Verteilung der Betriebe auf Schulabschlüsse der Neuanfänger Q im Bauhauptgewerbe, Q Fertiggestellte
die Handwerksgruppen, 2016 im Handwerk, 2016 in Tausend Wohngebäude,
in Tausend 300

Bau- 41% Hauptschul-


haupt- abschluss
Ausbaugewerbe 38,7 % gewerbe 200
z. B. Elektriker, Tischler 11,7 % 833
z. B. Maurer, 789
Dachdecker
100
41% Realschul-
Gewerblicher Bedarf oder gleich-
Persönliche 12,8 % wertiger
Dienst- z. B. Gebäudereiniger Abschluss
leistungen 2003 Quellen: ZDH, Destatis 2016
0
23,6%
z. B. Frisör, Kraftfahrt- Nahrungsmittel 3,4 %
Schuhmacher zeug Hochschul- oder
13% Fachhochschulreife
7,2 % Gesundheit 2,6% 5% Ohne/Sonstige

64 DER SPIEGEL 52 / 2017


JOHANNES ARLT / DER SPIEGEL

NORBERT ENKER / LAIF


Unternehmer Becken, Lüftungsrohre in Rohbau: „Es braucht nur eine Winzigkeit – und alles bricht zusammen“

Abel, der seine Erfolge zuvor eher sach- Fachhochschule ein duales Studium an, das markt. Derzeit würden die Wartezeiten
lich referiert hat, kommt jetzt in Fahrt, er- technisches Wissen mit kaufmännischem enorm steigen, am Ende immerhin bekom-
klärt die einzelnen Teile der Maschine, Verständnis verknüpfen soll. me so gut wie jeder Auftraggeber zumin-
„Futter“, „Antrieb“, „Spindel“, „Reitstock“. dest ein Angebot. „Der Markt ist eng, aber

D
Dann zeigt er auf die computergesteuerten ie Internetbörse MyHammer ver- im Internet funktioniert er“, sagt sie.
Geräte am Ende der Halle. „Die funktionie- mittelt Auftraggeber und Handwer- Sie beobachte jedoch, dass sich die Fir-
ren nicht viel anders, nur mit Bildschirm.“ ker. Die Idee ist simpel. Der Kunde men in diesem Boom auf ihr angestamm-
Julian Pfaff lernt im zweiten Lehrjahr stellt eine Auftragsbeschreibung ein, die tes Geschäft verlassen würden. „Aufträge,
bei Abel. Er wohnt zwei Dörfer weiter, er Handwerker bewerben sich. Der Kunde die über das Übliche hinausreichen, sind
hat es nicht weit bis zur Arbeit. Aber wenn wählt aus. Doch in den 18 Jahren, in denen nur sehr schwer zu vergeben“, sagt sie.
er eine Woche im Monat zur Berufsschule das Portal besteht, hat sich die Welt drum Einen Betrieb zu finden, der sich etwa mit
muss, ist er morgens fast zwei Stunden un- herum komplett geändert. Die Ursprungs- Smarthome-Installationen auskenne, sei
terwegs. Pfaff ist erst 17 Jahre alt, daher idee war eine Preisbörse und funktionierte „vielleicht nicht aussichtslos, aber doch
auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. wie ein umgekehrte Versteigerung. Jeder eine ziemliche Herausforderung“.
Er nimmt die erste Busverbindung nach Handwerker versuchte, den anderen zu Macht der Boom manche Betriebe also
Eisenach und kommt trotzdem zu spät. Er unterbieten. träge, weil auch mit dem vor Jahren Er-
habe sich daran gewöhnt, sagt er. Heute nutzten Auftraggeber den Online- lernten gerade gut zu verdienen ist?
Acht Auszubildende hat Abel momen- dienst nicht mehr, weil sie den Preis drü- Der Immobilienentwickler Christoph
tan. Gern würde er mehr einstellen. Es ist cken könnten, sondern weil sie so noch an Gröner, Gründer und Vorstandschef der
jedoch schwer, in der Region gute Bewer- Handwerker kämen, die den Auftrag aus- Berliner CG-Gruppe, kritisiert seine Kol-
ber zu finden. Viele Jugendliche verlassen führen können, sagt MyHammer-Chefin legen schon lange wegen deren Innova-
die ländliche Region, ziehen in nahe gele- Claudia Frese. „Wir gleichen ein bisschen tionslahmheit. Er glaubt, dass Trägheit der
gene Städte wie Fulda oder Bad Hersfeld. den Mangel aus.“ Über die Börse erfahre tiefer liegende Grund des Fachkräfteman-
Abel hat viel versucht: Lehrlingsbörsen, etwa ein Tischler in Thüringen, dass je- gels der Branche sei. „Das Problem ist
Speeddating an Schulen. Vor zwei Jahren mand in Hamburg eine Küche aufgebaut doch nicht, dass wir zu viel bauen, sondern
war trotzdem niemand da, den er einstel- haben will. „Der Radius, in dem Auftrag- dass wir es versäumt haben, Innovationen
len konnte. Was auch daran lag, dass man- geber aus der Großstadt einen Handwer- einzuführen, die Produktivität zu erhöhen
cher den beschwerlichen Weg zur Berufs- ker suchen und beauftragen, wächst immer und den Übergang zu einer gut organisier-
schule nicht auf sich nehmen wollte. weiter.“ Und natürlich machten sich die ten Industrie zu bewerkstelligen. Es ist so,
Manchmal scheitert die Zukunft des Hand- Betriebe aus der Provinz die Not in den als ob in der Automobilindustrie die Türen
werks auch an banalen Dingen. Städten zunutze. „Die Preise, die in den noch von Hand geschweißt und zusam-
Abel will jedenfalls nicht warten, bis Großstädten für dieselben Leistungen auf- mengesetzt würden.“
sich mehr Abiturienten gegen die Univer- gerufen werden, sind oft doppelt so hoch.“ Der Fachkräftemangel zumindest des
sität und für das Handwerk entscheiden. Frese hat einen guten Überblick über Bauhandwerks hänge auch damit zu-
Ab 2018 bietet er in Kooperation mit einer Nachfrage und Angebot im Handwerker- sammen, dass die Jobs unattraktiv und
DER SPIEGEL 52 / 2017 65
NORA KLEIN / DER SPIEGEL

NORBERT ENKER / LAIF


Handwerker Kynast, Bohrhammer: „Deutsche Wertarbeit wird überall geschätzt“

schlecht bezahlt seien, meint Christoph 20 Jahren. Er kauere auf den Knien, schnei- gibt, muss kein Mitarbeiter seines Unter-
Gröner. „Tatsächlich ist es für einen de Fliese um Fliese, mache jede Menge nehmens mehr ins Flugzeug steigen. Er
Handwerksbetrieb überhaupt erst seit Dreck mit der Flex und brauche für ein kann den Fehler am Computer erkennen
rund fünf Jahren möglich, auskömmlich Bad, das 20 Quadratmeter Kacheln habe, und notfalls einen Elektriker vor Ort in-
zu kalkulieren.“ zwei Tage. struieren, welches Bauteil ausgetauscht
Fast zwei Jahrzehnte lang habe es über- „Absurd“, sagt Gröner. Und noch ein- werden muss.
all Not leidende Betriebe gegeben, die mal: „Absurd.“ Wenn der Fliesenleger den Aus seinem Büro blickt Kynast auf die
durch die schlechte Auftragslage mit nied- Raum digital vermessen und einen Robo- grüne Hügellandschaft der Rhön. Er fühle
rig kalkulierten Preisen ihre Existenz be- ter den Zuschnitt vorab erledigen lassen sich verwurzelt in der Region, sagt er, hier,
streiten mussten. „Jetzt kann der Maurer würde, brauchte er „nicht ein Viertel der „wo die Leute handwerklich geprägt sind“.
endlich mal Preise verlangen, die ihn in Zeit“. Er hockte nicht so viel auf den Seine Geschäfte jedoch haben sich von
die Lage versetzen, nicht jeden Tag von Knien und atmete weniger Staub ein. der Heimat entkoppelt. Teile seines Um-
morgens um fünf bis abends um zehn zu „Oder ein Parkettverleger“, sagt Gröner. satzes macht er längst im Ausland. In Ita-
schuften. Er kann jetzt auch am Freitag Wenn das Parkett fertig geschnitten und lien oder Rumänien, vor allem in Großbri-
um 14 Uhr die Kelle hinwerfen, so wie es nummeriert auf die Baustelle käme, würde tannien, wo eine Tochterfirma für einen
andere Arbeitnehmer schon lange tun.“ der Handwerker nur noch 30 Prozent der deutschen Discounter Elektroanlagen plant
Was jedoch würde geschehen, wenn der Zeit benötigen. und installiert.
Boom vorbei wäre, die Nachfrage sänke Doch das sei die Schattenseite des „Deutsche Wertarbeit wird überall ge-
und die Produktivität eines Handwerkers Booms: Den Unternehmen gehe es durch schätzt“, sagt Christoph Kynast. Die duale
immer noch dieselbe wäre wie vor Jahren? die außergewöhnliche Auftragslage gerade Ausbildung im Handwerk sei einzigartig.
Dann kehrte das alte Elend zurück. gut, und da werde das Nachdenken über Was er anbiete, sei vor allem im Ausland
Jetzt verdient der Handwerker nur Innovationen eben meist in die Zukunft gefragt. „Bei uns wird alles individuell an-
mehr, weil es gerade mehr Nachfrage als verschoben. gefertigt, nichts kommt von der Stange.“
Angebot gebe. Das Bauhandwerk müsse Allerdings gibt es – oft auch außerhalb Kynast hat seine Anlagen in prestige-
jedoch die Digitalisierung nutzen, weil sie des Bauhandwerks – viele Betriebe, die reichen Bauobjekten installiert, in Sport-
der Produktivität einen deutlichen Schub deshalb erfolgreich sind, weil sie Neues stadien und Luxushotels, deren Namen er
geben könne. Und dann, sagt Gröner, wagen. Elektroinstallateur Christoph Ky- nicht in der Presse lesen will. „Das Hand-
„könnten die Löhne weiter steigen, weil nast etwa hat sein Unternehmen im thü- werk kann nicht nur klein“, sagt er. „Wir
jeder einzelne Handwerker an jedem ein- ringischen Dermbach an die Entwicklun- können auch groß.“
zelnen Tag mehr leistet, ohne mehr arbei- gen der Digitalisierung angepasst. Das Benedikt Becker, Markus Brauck
ten zu müssen. Dann werden Jobs im Bau- heißt beispielsweise: Er verkauft nicht bloß
handwerk eines Tages so attraktiv wie Ar- Produkte und baut sie ein. Seine Elektro- Video:
beit in der Automobilindustrie“. anlagen können alle von einem Büro in Renaissance des Handwerks
Ein Fliesenleger, sagt Gröner, arbeite seiner Firma aus überwacht und gewartet spiegel.de/sp522017handwerk
heute im Grunde noch genauso wie vor werden. Wenn es in England ein Problem oder in der App DER SPIEGEL

66 DER SPIEGEL 52 / 2017


Wirtschaft

Ethik für Anfänger


Analyse Indexfonds (ETF) werden selbst von Verbraucherschützern als Altersvorsorge
empfohlen. Diese Geldanlage hat viele Vorteile – nachhaltig ist sie meist nicht.

D
rei Buchstaben begeistern eine wachsende Anzahl tigt. Betreiber von Atomkraftwerken, Rüstungskonzerne,
von Sparern, sie lauten: ETF. In die Fonds, die Glücksspielunternehmen und Firmen, die mit Gentechnik
hinter der Abkürzung stecken, haben Anleger welt- zu tun haben, sind beispielsweise tabu.
weit mittlerweile 4,2 Billionen Dollar investiert, das ist In dieser vermeintlich nachhaltigen Variante des MSCI
mehr als doppelt so viel wie noch vor fünf Jahren. Selbst World sind jedoch auch Konzerne wie der Ölriese Total
die Stiftung Warentest empfiehlt ETF in der aktuellen oder Unilever vertreten. Letzterer stand im September in
Niedrigzinsphase als ideale Möglichkeit für Normalbürger, der Kritik, weil er immer noch in großem Stil Plastikver-
ohne große Vorbildung in Aktien zu investieren. packungen verwendet, obwohl diese nachweislich die
Denn Exchange Traded Funds – wie die volle Bezeich- Weltmeere verschmutzen.
nung lautet – bilden nüchtern und mechanisch einen Wert- Nicht weniger fragwürdig sieht es bei einem anderen
papierindex nach. Mit einem ETF etwa auf den Dax er- zentralen Nachhaltigkeitsindex aus, den etwa ein ETF der
wirbt ein Anleger also Aktien der Dax-30-Unternehmen – Blackrock-Tochter iShares nachbildet: dem Dow Jones
sodass sich der Wert seiner Anlage genauso entwickelt Sustainability World. Er wird vom gleichen Finanzdienst-
wie der Börsenindex. leister erstellt wie der berühmte Dow Jones Industrial
Weil trotz allen Auf und Abs der Märkte die großen Index und verfolgt – wie es oft beim Thema ethische
Börsen der Welt auf lange Sicht wachsen, gilt diese Stra- Investments der Fall ist – den sogenannten Best-in-
tegie als relativ sicher – und als kostenarm. Schließlich Class-Ansatz. Das heißt, dass aus fast jeder Branche die
braucht ein ETF anders als herkömmliche Fonds keinen nachhaltigsten Vertreter in den Index aufgenommen wer-
Manager, der sich um die Aktienauswahl kümmert. Der den. So finden sich in dem Portfolio auch der Atomkraft-
Nachteil ist: Über viele ETF investieren werksbetreiber Iberdrola oder der
Anleger in Waffenunternehmen, Kli- Chemiekonzern Bayer, der gerade den
masünder oder in Firmen, die mit ihren Indexfonds Gentechnik- und Pestizidgiganten Mon-
Mitarbeitern wenig zimperlich umge- weltweit investiertes Kapital santo übernehmen will. In ihren um-
hen oder im Verdacht stehen, von Kin- strittenen Geschäftsfeldern gelten sie
derarbeit zu profitieren. offenbar als die Besten.
Selbst Verbraucherschützer nennen 2012: So geht es immer weiter: Nimmt
als Standardempfehlung oft den Index man die vermeintlich nachhaltigen ETF
rund
MSCI World als Basis für einen ETF, 2017: der großen Anbieter unter die Lupe,
auch im SPIEGEL. Der MSCI World 1,8 rund
bleiben nur wenige, die einer strengen
bildet die Wertentwicklung der 1653 Billionen Prüfung standhalten – und die sind
größten Unternehmen aus 23 Industrie-
ländern ab – und scheint ideal für
Dollar
4,2
Billionen
meist auf ein begrenztes Thema wie
etwa alternative Energien fokussiert
Laien. Dollar und damit riskant für ein größeres In-
Schließlich lautet eine Börsenweis- vestment. Es scheint, als müsse sich der
heit, dass man über viele Regionen und Quelle: Deutsche Bank Sparer entscheiden zwischen der Angst
Branchen hinweg investieren soll, um vor Verlusten und einem schlechten
das Risiko zu minimieren. Gewissen.
Allerdings gehören zu den 1653 größten Unternehmen Das gilt nicht nur beim Thema ETF: Auch bei anderen
der Welt auch große Klimasünder, etwa der Ölkonzern Anlageformen schmücken sich viele zweifelhafte Anbieter
Exxon Mobil; Unternehmen, die Atomwaffen oder ent- mit dem Label der Nachhaltigkeit, schließlich ist der Begriff
sprechende Trägersysteme herstellen, darunter Boeing, nicht gesetzlich geschützt. Es gibt zig ökologische Fonds,
Lockheed Martin und Honeywell International; Bergbau- die den Namen nicht verdienen oder bei denen man zumin-
unternehmen wie Glencore oder BHP Billiton, die wegen dest über die Ausrichtung streiten kann. Doch wer in diesem
fragwürdiger Arbeitsbedingungen oder Umweltzerstörung Bereich ein bisschen sucht, findet Alternativen, die den
in der Kritik stehen; Tabakkonzerne wie British American strengen Ansprüchen von Umweltschützern oder Nichtre-
Tobacco oder Philip Morris, deren Produkte Millionen gierungsorganisationen wie Facing Finance gerecht werden.
Menschen töten. Die Zulieferer der Zigarettenindustrie Im Bereich der ETF dagegen ist das Angebot karg. Von
beschäftigen außerdem oft Kinder auf ihren Plantagen, den rund 1200 ETF, die es in Deutschland zu kaufen gibt,
wie etwa eine Studie der Nichtregierungsorganisation verfolgen der Ratingagentur Morningstar zufolge lediglich
Facing Finance kürzlich warnte. 30 einen nachhaltigen Ansatz. Das überrascht, denn in
Nicht jeder will auf dieser Basis seine Altersvorsorge der Theorie ist die Nachfrage da: Bei Umfragen geben
aufbauen. die Deutschen regelmäßig an, dass ihnen Nachhaltigkeit
Das Problem haben auch die Finanzdienstleister er- bei der Geldanlage wichtig sei. Entweder nehmen sie es
kannt, die Aktienindizes zusammenstellen. So bietet die in der Praxis nicht so genau. Oder die Finanzindustrie hat
in New York ansässige Firma MSCI einen Schwester-Index noch einiges aufzuholen, wenn sie ETF zum Standardpro-
für den MSCI World an, der soziale Aspekte berücksich- dukt für Kleinsparer machen will. Anne Seith

DER SPIEGEL 52 / 2017 67


„Amazon ist ein Mittäter“
Onlinehandel Der Chef des Schuhherstellers Birkenstock, Oliver Reichert, 46, über seinen
Kampf gegen gefälschte Sandalen und das Internetkaufhaus Amazon

SPIEGEL: Herr Reichert, Sie stellen zum Ja- SPIEGEL: Sie meinen damit, dass Sie deshalb SPIEGEL: Diese Standhaftigkeit kann sich
nuar 2018 die Belieferung von Amazon ein. seit Anfang 2017 den amerikanischen momentan nicht jeder Händler leisten.
Wieso wurde aus der Partnerschaft eine Marktplatz von Amazon boykottieren. Reichert: In unserem Fall ist kein einziger
Feindschaft? Reichert: Boykott ist ein großes Wort, das ist auf diesen Deal eingegangen. Ich glaube,
Reichert: Ich sage es mal so: Bevor die Burg nicht unser Ziel. Wir haben einfach fristge- auf lange Sicht haben solche Aktionen ge-
angegriffen wird, werden die umliegenden recht unseren Vertrag gekündigt. Amazon nau den gegenteiligen Effekt. Denn auch
Dörfer geplündert. Wir haben schon länger hat darauf offiziell nicht einmal reagiert. bei gut informierten Amerikanern kippt
beobachtet, wie lasch Amazon mit Betrü- Aber wir sind sehr beliebt – bei Google sind nach unserem Eindruck inzwischen die
gern umgeht, die sich mit Produktfälschun- wir die meistgesuchte Schuhmarke. Das weiß Meinung über diesen Konzern. Die An-
gen eine goldene Nase verdienen. auch Amazon. Also waren dessen Logistiker fangseuphorie ist verflogen.
SPIEGEL: Sie meinen, Amazon nutzt seine alarmiert und haben unsere amerikanischen SPIEGEL: Haben Sie nie den direkten Aus-
Macht als größte Onlineplattform der Welt Händler abtelefoniert, die ja weiter über tausch mit Amazon gesucht?
aus? Das ist nicht wirklich neu. ihre Shops bei Amazon unsere Produkte Reichert: Wir waren immer gesprächsbereit.
Reichert: Das stimmt – und die Ambitionen verkauft haben. Sie haben ihnen angeboten, Aber das Problem fängt genau da an: Mit
von Amazon waren auch nie ein Geheim- alle Birkenstock-Bestände zum vollen Ver- wem kann ich denn bei Amazon über-
nis. Jeff Bezos hat immer klargemacht, kaufspreis aufzukaufen, nur damit sie wei- haupt über solche Themen sprechen, die
dass er sich als Gamechanger versteht. Er terhin lieferfähig bleiben. Bei Amazon hät- ja die Firmenkultur betreffen? Ein Einkäu-
hat stets gesagt, dass Amazon die Kondi- ten sie definitiv öfter „Dallas“ gucken sollen. fer für Schuhe in München hilft mir da
tionen zu seinen Gunsten ändert, sobald SPIEGEL: Wieso das? nicht weiter. Und mit einem Briefkasten
es einen entsprechenden Marktanteil er- Reichert: Dann hätten sie gewusst, dass ein in Luxemburg lässt es sich schlecht disku-
reicht hat. Wer es hören wollte, wusste Familienunternehmen wie unseres so et- tieren. Vielleicht hätten wir mal Alexa fra-
also Bescheid. Wir haben das relativ früh was nicht auf sich sitzen lässt. Birkenstock gen sollen … Aber im Ernst: Man kennt
in unsere Strategie eingepreist – und daher wurde 1774 gegründet – wir sind älter als diese Masche doch aus anderen Milieus,
können wir es uns jetzt leisten, Amazon die Vereinigten Staaten von Amerika! Wir da heißt es auch gern, der Chef ist gerade
nicht mehr direkt zu beliefern. Wir haben haben unseren Händlern klargemacht: Na- nicht da. Das scheint Teil der Geschäfts-
uns nie von denen abhängig gemacht. türlich ist es jedem freigestellt, auf dieses strategie zu sein. Mit solchen Leuten wol-
Aber das war kein Glück, das war eine be- Angebot einzugehen. Wir wünschen euch len wir nichts zu tun haben.
wusste Entscheidung. viel Spaß mit dem Geld, aber wir werden SPIEGEL: Amazon hat also auf Ihre Hinwei-
SPIEGEL: Wie lange hat Birkenstock mit dann nicht mehr mit euch zusammenar- se nicht reagiert?
Amazon zusammengearbeitet? beiten. Das wäre vermutlich nicht einmal Reichert: Im Gegenteil: Die haben das Pro-
Reichert: Mehr als sieben Jahre insgesamt. nötig gewesen, denn wer Birkenstock ver- blem schön an uns zurückgespielt. Wir soll-
Amazon war für uns ein Marktteilnehmer treibt, ist nicht irgendein Schuhverkäufer. ten uns kümmern. Da beschwere ich mich
wie jeder andere auch. Wir sind da völlig In den USA sind wir seit 40 Jahren aktiv, zigmal über die offensive Listung von
offen und vorurteilsfrei gestartet. Aber da gibt es Familien, die sind Birkenstock- Fake-Produkten, wenn ich das Stichwort
mit dem Erfolg hat sich Amazon verän- Händler in zweiter oder dritter Generation. „Birkenstock“ in die Amazon-Suchmaske
dert – und das aktuelle Geschäftsgebaren Das sind Überzeugungstäter. Die haben eingebe – aber irgendwann denke ich als
passt nicht zu unserer Tradition als Fami- unsere Schuhe auch schon unters Volk ge- Unternehmer doch: Moment mal, die fünf
lienunternehmen. Da stoßen Welten auf- bracht, als andere noch darüber gelacht Leute, die sich bei mir um diesen Mist
einander. und sich noch keine Hollywoodstars auf kümmern, die müsste eigentlich Amazon
SPIEGEL: Worüber haben Sie sich konkret Instagram damit gezeigt haben. bezahlen. Am Ende ist es ganz einfach:
geärgert? Wer auf seinem Marktplatz heiße Ware
Reichert: Das waren viele Dinge, aber ein verkauft, der muss dafür geradestehen.
Tiefpunkt war erreicht, als wir feststellen SPIEGEL: Haben Sie ein konkretes Beispiel?
mussten, dass Amazon-Kunden reihenwei- Reichert: Vor wenigen Tagen erst haben
se gefälschte Birkenstock bei unserem Kun- wir eine einstweilige Verfügung vor dem
dendienst einreichten. Landgericht Hamburg erwirkt. Es geht um
SPIEGEL: Wieso das denn? Uhrenarmbänder, die über Amazon ver-
Reichert: Weil die Leute natürlich glaubten, Umsatz trieben und mit unserem Markenlogo be-
2015/16, in Mio. €
sie hätten Originalprodukte gekauft – da- worben wurden. Ein Betrüger hat direkt
bei waren es Billigkopien. Das ist ein rie-
siges Problem. Erklären Sie so einem Kun-
411 auf unsere Amazon-Seite verlinkt und so
den Anschein erweckt, er verkaufe Origi-
den mal, warum wir seinen Schuh, den er nal-Birkenstock-Produkte. Aber: Wir stel-
bei einem angeblich seriösen Amazon- Verkaufte Paar Schuhe
len keine Uhrenarmbänder her, schon gar
Shop erstanden hat, nicht reparieren kön- 2015/16: nicht so einen Billigschrott wie in diesem
nen. Spätestens da war für uns klar: Jetzt Gewinn Fall. Wir haben Amazon mehrfach aufge-
ist Schluss mit lustig. Wir haben den be- 19,1 Mio. fordert, den deutschen Versender dieser
in Mio. €
trogenen Kunden dann neue, echte Bir- Fake-Ware zu sperren. Passiert ist, wie fast
kenstock geschickt – und Amazon eine kla- 64 immer: nichts. Jetzt hat eben das Gericht
re Ansage gemacht. entschieden.
68 DER SPIEGEL 52 / 2017
Wirtschaft

SPIEGEL: Was glauben Sie: Warum nimmt


Amazon Produktpiraten nicht stärker ins
Visier? Das schadet doch dem Image.
Reichert: Die Wahrheit ist, dass Amazon
an den Fälschungen mitverdient. Die strei-
chen schließlich auch von den Plagiate-
verkäufern eine Provision ein. Schätzun-
gen zufolge kursieren weltweit Markenko-
pien im dreistelligen Milliardenbereich.
Wenn man den globalen Marktanteil von
Amazon nimmt und entsprechend anrech-
net, dann weiß man, um wie viel Geld es
für die geht. Für uns ist Amazon ein Mit-
täter.
SPIEGEL: Sie beschäftigen Wirtschaftsdetek-
tive, die für Birkenstock Fälscherfabriken
etwa in der Türkei, in China oder Südost-
asien aufspüren und mit der lokalen Poli-
zei kooperieren. Lohnt sich das?
Reichert: Es ist die einzige Möglichkeit, un-
ser geistiges Eigentum zu schützen. Wir ge-
hen da entschlossen vor. Auch unsere
Konkurrenten profitieren davon. Wenn
wir eine Fabrik hochgehen lassen, liegen
da ja meist noch andere Markenprodukte
rum. Das teilen wir den Firmen dann mit.
Da sind wir Teamplayer.
SPIEGEL: Sollten sich die Hersteller beim
Kampf gegen Plagiate – aber auch viel-
leicht gegen Amazon – stärker zusammen-
schließen? Firmen wie der Schulranzen-
hersteller Scout oder die Outdoormarke
Deuter klagen ja ebenfalls gegen Amazon.
Reichert: Das wäre klug, allerdings sind die
Probleme, die Amazon bei den Herstellern
auslöst, auch sehr unterschiedlich. Letzt-
lich haben wir aber alle ein Ziel: dass wie-
der Chancengleichheit herrscht. Da sind
vor allem die deutschen und die europäi-
schen Kartellbehörden gefragt.
SPIEGEL: Der Europäische Gerichtshof hat
gerade in einem Grundsatzurteil entschie-
den, dass Luxushersteller ihren Vertrags-
händlern den Verkauf von Markenproduk-
te an Drittanbieter wie Amazon verbieten
dürfen. Geklagt hatte der Beautykonzern
Coty, der vor allem Parfum verkauft. Was
bedeutet das für Sie?
Reichert: Das Urteil ist wegweisend, auch
wenn es sich vordergründig auf Luxusarti-
kel bezieht. Wichtig wäre es, dass die Politik
dem Onlinehandel schnellstens einen kla-
ren gesetzlichen Rahmen verordnete. Vor
allem Verstöße gegen Urheberrechte auf
den E-Commerce-Plattformen müssten
dringend stärker geahndet werden. Das ge-
fährdet Zehntausende Arbeitsplätze. Hier
hart durchzugreifen ist die Aufgabe der EU
und nicht des deutschen Mittelstandes.
SPIEGEL: Wie kann man Amazon schlagen?
Reichert: Als einzelner Händler oder Her-
CHRISTOPH PAPSCH / LAIF

steller kann man die gar nicht schlagen.


Man kann nur aus einer gewissen Distanz
heraus boxen. Wenn Amazon dich wirk-
lich erwischt, fliegst du sowieso um.
Interview: Simone Salden
Manager Reichert in seinem Büro: „Wer heiße Ware verkauft, muss dafür geradestehen“ Mail: simone.salden@spiegel.de

DER SPIEGEL 52 / 2017 69


Wirtschaft

Abgang eines
Nicht nur der Aktienkurs des Energie- große Beraterstäbe und ausufernde Semi-
konzerns reagierte mit kurzzeitigen Kurs- nare beschäftigten mehr als einmal die zu-
sprüngen auf den Rauswurf. Auch im Kon- ständigen Abteilungen.

Träumers
zern war die Erleichterung spürbar. Auf Auch im Aufsichtsrat stieg der Unmut
mancher RWE-Weihnachtsfeier wurde in über Teriums Gebaren, besonders bei den
den Tagen danach der Glühwein gegen kommunalen Anteilseignern. Ihnen hat Te-
Sekt und Champagner getauscht. Terium rium in den vergangenen Jahren gleich
Manager Peter Terium sollte und RWE, das war vom ersten Tage an ein mehrfach die Dividende gekürzt und so
einziges Missverständnis. manchen Kämmerer im Ruhrgebiet wegen
RWE aus der Krise führen. Im Jahr 2012 hatte ihn der Aufsichtsrat der ausbleibenden Millionenzahlung in
Er scheiterte an der Energiewende, zum Chef des damals noch mächtigen eine schwierige Finanzlage gebracht. Und
Energiekonzerns gekürt. Das Kalkül: Te- so wundert es kaum, dass einige Kontrol-
den komplizierten Konzern- rium sollte eine Art Gegenpol zu seinem leure und Manager nur auf eine Chance
strukturen und an sich selbst. Vorgänger Jürgen Großmann werden. Der warteten, den ungeliebten Niederländer
hatte mit seiner polternden Art und seinen loszuwerden. Vergangene Woche ergab

A
n den Keksen, die es bei RWE unkalkulierbaren Aktionen Politik, Kunden sich die Chance.
früher bei den Teamsitzungen gab und Mitarbeiter vergrätzt. Der unschein- Seit anderthalb Jahren leitet Terium die
und die Peter Terium wegen besse- bare Niederländer Terium sollte verlorenes von ihm selbst gegründete RWE-Tochter
rer Bekömmlichkeit durch Nüsse ersetzte, Vertrauen mit Ruhe, Verlässlichkeit und Innogy. Sie, so hatte er versprochen, soll
wird es nicht gelegen haben. Wohl auch überzeugenden Geschäftskonzepten zu- RWE mit erneuerbaren Energien, Elektro-
nicht an der Kunst des „schweigenden rückgewinnen. mobilität und vielen intelligenten Lösun-
Frühstücks“, die Teriums Manager in ab- Dieser Aufgabe war er jedoch nicht ge- gen rund um Wärme und Strom in eine
gelegenen Eifeldörfern lernen mussten, wachsen. Lange Zeit konnten der Manager neue Energiezukunft katapultieren.
oder an anderen Formen der Meditation, und sein Beraterteam das kaschieren. Nach Doch Terium riss die selbst gesteckten
die er der Führungsriege verordnete. dem von Bundeskanzlerin Angela Merkel Ziele. Die Auslandstöchter, vor allem in
Vielleicht aber daran, dass sich Terium (CDU) angeordneten Atomausstieg und England, werfen nicht die erhofften Er-
persönlich um derlei Trallala kümmerte, der politisch gewollten Energiewende ging träge ab. Beim Aufbau neuer Geschäfts-
dass er ausgerechnet auf dem Höhepunkt es vielen Energieversorgern schlecht. Mil- felder gibt es kaum Fortschritte. Terium
der Konzernkrise anfing, seinen persönli- liardenabschreibungen, Kraftwerksschlie- sah sich als Visionär, blieb aber ein
chen Selbsterkundungstrip auf den gesam- ßungen, Entlassungen und Sparprogram- Träumer.
ten Konzern auszudehnen, statt seine Kraft me gab es nicht nur bei RWE, sondern Die Erlöse aus dem traditionellen Ge-
darauf zu konzentrieren, ein neues Ge- auch bei der Konkurrenz. schäft mit den Stromnetzen reichen für
schäftsmodell zu ersinnen. Schon damals Aber anders als etwa sein Kollege Frank die Dividende und die von Terium geplan-
setzten sich Führungskräfte reihenweise Mastiaux beim Karlsruher Konkurrenten ten Milliardeninvestitionen in Elektro-
von ihm ab. EnBW schaffte es Terium nie, ein für RWE mobilität oder Breitbandnetze nicht aus.
Am Dienstag teilte die RWE-Ökostrom- passendes Geschäftsmodell zu entwickeln Außerdem gibt es im Konzern weitere Be-
tochter Innogy in einer knappen Erklärung und die Mitarbeiter dafür zu begeistern. gehrlichkeiten.
mit, dass Terium sein Amt mit sofortiger Zumal Führungskräfte und Vorstandskol- Auch Rolf Martin Schmitz, Chef der In-
Wirkung niederlegt. Von 2012 bis zur Auf- legen beobachteten, dass Terium im Kon- nogy-Mutter RWE, will im nächsten Jahr
spaltung des Konzerns 2016 war er Chef des zern milliardenschwere Sparprogramme investieren. Der Manager hatte bei der
Energieriesen RWE. Danach leitete er Inno- veranlasste, für sich selbst hingegen andere Aufspaltung des Unternehmens die Altlas-
gy. Terium scheiterte an der Energiewende, Maßstäbe anlegte. Üppige Dienstreisen ten der RWE übernommen. Es ist ein Kraft-
an den Umständen und auch an sich selbst. mit fragwürdigen Zusatzkosten, Kosten für werkspark mit Dutzenden Gas,- Stein- und
Braunkohlemeilern.
Trotz Krise will Schmitz dieses Geschäft
ausbauen und Kohlekraftwerke von Kon-
kurrenten wie EnBW oder Steag zukaufen.
Sein Kalkül: Die Anlagen würden über
Jahre hinweg noch als Reservekraftwerke
gebraucht und über die Strompreise von
der Allgemeinheit bezahlt.
Zur Finanzierung wollte Schmitz auch
Innogy-Aktien verkaufen. RWE hält an
seiner Tochter 77 Prozent. Mit Teriums Ge-
winnwarnung jedoch brach der Kurs um
bis zu 18 Prozent ein. Die Aktionäre trau-
SIMON DAWSON / BLOOMBERG / GETTY IMAGES

ten dem Niederländer nicht mehr zu, die


Probleme des Unternehmens zu lösen.
Bei RWE reagierte man entsetzt und
schickte eine Ermahnung. Der ohnehin
skeptische Aufsichtsrat zögerte nicht lange
und setzte Terium nach einer Sonder-
sitzung vor die Tür. Zwei Jahresgehälter
oder rund acht Millionen Euro wird das
die Aktionäre kosten. Doch das scheint es
den Anteilseignern wert zu sein.
Innogy-Vorstandsvorsitzender Terium im September: Kein passendes Geschäftsmodell entwickelt Frank Dohmen

70 DER SPIEGEL 52 / 2017


Digital lesen, Prämie für Sie!
JETZT 1 JAHR DEN SPIEGEL DIGITAL LESEN UND WAHLPRÄMIE SICHERN.

€ 100,– Geldprämie Polar M200 GPS-Laufuhr


Erfüllen Sie sich oder Ihren Lieben einen besonderen Speziell für Läufer entwickelt. Mit Laufprogrammen
Wunsch, oder legen Sie die € 100,– für eine größere und GPS. Misst Tempo, Höhe, Herzfrequenz,
Anschaffung zurück! Strecke u. v. m. Wasserdicht. Zuzahlung: € 1,–.

Ja, ich möchte den SPIEGEL digital lesen und wähle


eine Prämie!

52 x den SPIEGEL digital lesen


Ich lese 52 Ausgaben des
Bereits ab freitags, 18 Uhr
SPIEGEL digital inklusive
SPIEGEL DAILY für nur € 4,10 Auch offline lesbar
pro Ausgabe und erhalte Auf bis zu 5 Geräten
eine Prämie meiner Wahl. Inklusive SPIEGEL-E-Books
Wunschprämie dazu

Jetzt neu: Inklusive SPIEGEL DAILY


Die neue digitale Tageszeitung
SD17-005

Jetzt bestellen: www.spiegel.de/digital17


Zimmer mit iPad
Tourismus Die Hotelbranche sucht nach neuen Ideen. Die einen setzen auf Smartphone als
Zimmerschlüssel und Roboter als Köche. Andere auf Individualität – und manchmal auch Kitsch.

D
as also soll die Zukunft sein? Von Die einen sind überzeugt, dass es nicht Und ganz allmählich verändert sich so
außen: ein uninspirierter Zweck- mehr reicht, Fernsehapparate mit indivi- eine Branche, deren größte technische He-
bau, beigefarben getüncht, mit ei- duellem Begrüßungstext, Selbstwähltele- rausforderungen bislang die Klimaanlage
ner eigenartigen Gitterhaut an der Seite. fone und einen Kellerraum mit digitalen in den Zimmern und das Pay-TV waren.
Und innen: das angeblich modernste Hotel Trimm-dich-Geräten vorzuhalten, um tech- Vielerorts gibt es Bücher und Zeitschriften
Europas. Mitten in Wien steht das Schani – nisch als First Class zu gelten. „Wer sein auf dem Tablet, über das Gerät kann eine
so wurden im 19. Jahrhundert in der Stadt Geschäft nicht digitalisiert, wird ums Pizza aufs Zimmer bestellt oder ein Golf-
die jüngsten Kellner genannt. Überleben kämpfen müssen“, sagt Björn platztermin gebucht werden.
Eine Art Schani des 21. Jahrhunderts ist Radde, Hotelexperte und ehemaliger Lei- Die in Hongkong ansässige Firma Tink
der einzige Mitarbeiter hinter dem Tresen. ter E-Commerce bei Steigenberger. Labs hat ein besonderes Smartphonesystem
Er zeigt gelangweilt auf einen Bildschirm, Die anderen wollen sich gerade mit dem für Hotels entwickelt. Die Gäste bekom-
dorthin, wo der Gast seinen Namen eintip- Gegenteil profilieren. „Es geht bei der men ein Handy überlassen, sie können es
pen soll. Der Check-in geht dann automatisch. Digitalfrage nicht um Gut gegen Böse“, mitnehmen, damit telefonieren, durch die
Die Zimmerkarten springen mit einem sagt Christoph Hoffmann, Gründer und Stadt navigieren oder auch Spaghetti Car-
Schwung aus dem Ausgabeschacht und lan- CEO der Hotelkette 25hours. Aber je di- bonara aus dem Hotelrestaurant oder eine
den auf dem Fußboden. Doch eigentlich gitaler der Alltag werde, desto mehr sehn- Nackenmassage ordern. Sind Küchenbriga-
braucht die niemand, weil sich die Zimmer- ten sich viele Menschen nach echten Er- de oder Spa-Masseure schlecht ausgelastet,
tür per Smartphone-App öffnen lässt, was lebnissen. „Analoge Dinge werden als Lu- wird ein Rabattgutschein verschickt.
von der Hälfte der Gäste genutzt wird.
Das Zimmer konnte bereits zuvor über
das Internet ausgewählt werden. In der Be-
schreibung ist auch aufgeführt, ob es Mor-
gensonne gibt, ob es laut oder leise ist.
In der Lobby steht – Gipfel der Hippness –
ein Bitcoin-Geldautomat. Der Rest des Plat-
zes besteht aus einem Co-Working-Space
und dem Hotelbistro. Morgens gibt es Bröt-
chen und Kaffee, abends Gulaschsuppe.
Das Zimmer sieht so aus, wie Hotelzim-
mer für 89,25 Euro pro Nacht eben ausse-
hen: verhalten gemütlich. Immerhin kann
der Gast per WhatsApp mit dem Hotel-
personal chatten. Eigens auschecken muss

KURT HOERBST / HOTELSCHANI.COM


er nicht mehr; die Rechnung kommt auto-
matisch per Mail.
Mitentwickelt wurde dieser Prototyp di-
gitaler Gastlichkeit von Experten der deut-
schen Fraunhofer-Gesellschaft. Und er ist
vermutlich nur ein Zwischenschritt auf
dem Weg zum vollends smarten Hotel, in
dem der Kunde irgendwann nächtigen Lobby des Wiener Hotels Schani: Gipfel der Hippness
kann, ohne überhaupt noch einem Ange-
stellten zu begegnen. xus wahrgenommen, vor allem auch von Doch beim Kampf zwischen Hotelketten,
Doch will das der Gast überhaupt? Oder jüngeren Gästen“, sagt er. Sicher werde Familienhotels und der Grandhotellerie
nervt ihn zu viel Technik? Stört ihn das es schon in ein paar Jahren volldigitale geht es um mehr als das Kundenerlebnis.
ständige Herumtippen auf dem iPad? Oder Hotels geben, er aber wolle die Gegen- Die Buchungshoheit haben die Hoteliers be-
ist er froh, die routiniert-freundlichen Li- bewegung bilden. Nach dem Motto: Ein reits verloren, die meisten Zimmer werden
vree-Träger am Hotelempfang nicht mehr echter Freund ist besser als 800 Freunde heute über Portale wie Booking.com, Ex-
ertragen zu müssen, diese müden Service- bei Facebook. pedia oder HRS gebucht. Immer wenn ein
kräfte mit dem eingefrorenen Lächeln und Die großen Marken setzen voll auf smar- Gast einen Onlinevermittler nutzt, wird eine
den leeren Fragen: Wie war Ihre Reise? te Herbergen. Accor (Novotel, Ibis, Mer- Provision fällig, die im Schnitt bei 15 Pro-
Sie bleiben für eine Nacht? Darf ich Ihnen cure) investierte Hunderte Millionen Euro zent des Übernachtungspreises liegt. Die
das Restaurant empfehlen? in Digitales. Starwood (Sheraton, Westin, Auslastung vieler Hotels in Deutschland ist
Die Hotelbranche gibt gerade eine Men- St. Regis) führte ein System ein, mit dem bereits heute gut, doch Umsatzsteigerungen
ge Geld aus, um zu erforschen, was der der Gast per Smartphone seine Zimmertür lassen sich nur noch über höhere Raten, die
Gast wirklich will. Sie experimentiert wie öffnen kann. Am Steigenberger Airport am Markt schwer durchzusetzen sind, oder
lange nicht – und sie tut das erstaunlicher- Hotel in Frankfurt werden die Servicekräf- durch Zusatzverdienste am Gast erzielen.
weise in zwei Richtungen, man kann fast te per Smartwatch durch das 550-Zimmer- Den soll digitale Technik verführen, mehr
sagen: in zwei Lagern. Etablissement dirigiert. Geld auszugeben, als er es geplant hat.
72 DER SPIEGEL 52 / 2017
Wirtschaft

Doch digital heißt oft auch überra- berge. Er wolle Gästen ein „ehrliches Zu- Noch seien Hotels wie 25hours mit ei-
schungsfrei, und was für den einen passt, hause“ bieten. In aufwendigen Sitzungen nem Erlebnischarakter und einer Geschich-
der auf einer Geschäftsreise ist und einfach erfinden seine Leute eine Geschichte für te dahinter ein Nischenprodukt, doch bald
nur will, dass alles funktioniert, kann für jedes einzelne Haus, eine Art Drehbuch, würden solche Konzepte die Masse er-
einen anderen, der es gern etwas indivi- nach dem Innenarchitekten und Marketing- obern, sagt Borkmann. Moderne Technik
dueller mag, die Hölle als Hotel sein. leute das Hotel entwickeln. Hoffmann hat sei dabei kein Gegensatz, sondern selbst-
Mancher Gast will vielleicht, wenn er eigens einen Fachmann aus Österreich be- verständlich. „Niemand will unter sein
etwa in München nächtigt, auch etwas von auftragt, besondere Zimmerfluchten zu ge- Bett kriechen, um sein Handy zu laden.
der Stadt spüren, in der er schläft. Und für stalten. Die Leute erwarten bald überall, dass ihr
ihn ist ein Haus voller bayerisch-royalem In ausgewählten Räumen gibt es nicht Netflix-Zugang auf dem TV-Bildschirm
Kitsch womöglich genau das Richtige. nur einen VHS-Videorekorder mit Film- funktioniert und alles reibungslos geht, wie
Christoph Hoffmann, der Chef von klassikern auf Kassette, sondern auch Pola- zu Hause auch.“
25hours, glaubt das jedenfalls, und dem- roidkamera, Schreibmaschine und einen Doch zu viel dürfe man sich von digita-
entsprechend hat er sein neues Haus in Schallplattenspieler. Das Briefpapier wird ler Technik im Hotelzimmer nicht erwar-
der bayerischen Landeshauptstadt einrich- mithilfe einer mehr als hundert Jahre alten ten. „Ein Gast bucht nicht, weil es einen
ten lassen. Und er hat es mit einer Party Druckmaschine hergestellt. automatischen Check-in gibt.“ Technische
eröffnet, die man durchaus barock nennen Obwohl 25hours gerade einmal zehn Lösungen sind für die Hotelkonzerne dann
kann. Mit Frauen in glitzerndem Kleid, Hotels eröffnet hat, kommt das Konzept interessant, wenn es gelingt, Kosten zu sen-
Männern im Samtsakko und manchen Gäs- in der Branche an. Accor stieg vor ken. Und der größte Etatposten jedes Ho-
ten mit Puderperücke auf dem Kopf. Teil 13 Monaten ein und hat nun die Option, tels ist immer noch: Personal.
der genussvollen Lebensartinszenierung das Unternehmen komplett zu überneh- Doch daran wird gearbeitet. Service-
am Rande der Parodie: eine Kutsche mit men. roboter sollen das Hotel der Zukunft prä-
Schneekufen, in der die Gäste bayerisches Dass sich die Hotelindustrie neu sortie- gen. Und jeder Konzern hat seinen eige-
Bier trinken und Selfies machen. ren muss, hat nicht nur mit der Digitalisie- nen. Sie heißen „Mario“ (Marriott),
Das Brimborium illustriert Hoffmanns rung zu tun. „Die Menschen reisen mehr „Connie“ (Hilton) oder „Dash“ (Intercon-
erklärtes Ziel als Hotelier: ein bisschen als jemals zuvor“, sagt Vanessa Borkmann. tinental). Roboter könnten einmal die Mi-
nibar bestücken, Stühle im Konferenzraum
anordnen oder Gäste wiedererkennen und
mit Namen begrüßen.
Im Yotel in New York wird die Gepäck-
aufbewahrung von einem Roboter verwal-
tet – Trinkgeld will der „Yobot“ keines ha-
ben. Die Firma Moley Robotics bastelt an
einem Küchenroboter, mittels 20 Motoren
können die so automatisierten Hände 2000
Gerichte nach Rezept kochen – Schließzei-
ten der Hotelküche gäbe es dann nicht mehr.
Die Servietten würden perfekt gefaltet
daherkommen, selbstverständlich von ei-
MARKUS KEHL / 25HOURS HOTEL COMPANY

nem Roboter. Ein durchschnittlicher Ho-


telbetrieb, rechnet Experte Radde vor, be-
nötigt im Jahr 400 000 Servietten. Geht
man von einer halben Minute Faltdauer
pro Serviette aus, verschlingt diese mono-
tone Tätigkeit 417 Arbeitstage. „Die dafür
eingesetzten Mitarbeiter sollten sich lieber
den Gästen zuwenden, davon hat das Ho-
tel mehr“, sagt Radde.
25hours-Hotel-Eröffnungsfeier in München: Lebensartinszenierung am Rande der Parodie Nicht nur Roboter werden für die Ho-
tellerie entwickelt, auch Virtual Reality
Extravaganz in ein Segment bringen, das Sie ist Forscherin am Fraunhofer-IAO-In- (VR), also computergenerierte dreidimen-
sonst aus austauschbaren Bettenburgen stitut, hat das Wiener Hotel Schani mit- sionale Bilder und Filme, sollte bald Stan-
mit Wandföhn und eingeschweißten Ba- entwickelt und beschäftigt sich mit der Ho- dard werden. Es müsste kein Personal
deslippern besteht. tellerie der Zukunft. „Früher war eine mehr abgestellt werden, um ein Hotelzim-
Im Münchner Ableger sind die Kloschüs- Hotelübernachtung Luxus, man setzte sich mer zu zeigen; der Gast kann das Zimmer
seln schon mal schwarz. Statt einer Bibel intensiv damit auseinander. Heute sind vorab durch eine VR-Brille ansehen.
liegt auf dem Nachttisch ein Büchlein von schon siebenjährige Kinder völlig selbst- Auch beim Geldverdienen können die
Gerhard Polt. Als Klolektüre klemmt ne- verständlich im Ausland gewesen. Man Datenbrillen helfen. In Las Vegas sollen
ben dem WC ein Reportagen-Magazin. kann solche Gäste heute nur noch über Er- angeblich bereits Hotels mit VR-Pornos
Stehen in anderen Hotels Plastikbecher lebnisse begeistern.“ experimentieren, 20 Dollar soll die Nut-
am Waschbecken, ist es hier ein Krug – Herkömmliche Designhotels haben die zung kosten. Der erotische Konsum führt
mit einem aufgedruckten Spruch aus Goe- besten Zeiten hinter sich, viele ihrer Gäste nicht mehr zu peinlichen Situationen beim
thes „Faust“. Und wer nicht einschlafen leben heute so zu Hause oder haben die Check-out: Die Rechnung wird per Mail
kann, nimmt den bereitgestellten „Schlaf- Art der Einrichtung zumindest schon häu- geschickt, und kein Gast muss sich mehr
schwan“ in die Arme. figer gesehen. Einfach ungewöhnliche Mö- rausreden, er sei aus Versehen auf den Pay-
Für Gründer Hoffmann sind namenlose bel in eine Lobby zu stellen reicht nicht TV-Knopf gekommen. Martin U. Müller
Kettenhotels die Horrorvision einer Her- mehr, um sich abzuheben. Mail: martin.mueller@spiegel.de, Twitter: @MartinUMueller

DER SPIEGEL 52 / 2017 73


Bescherung
Geschätzt 50 000 Christen leben in
Palästina, doch die Weihnachts-
stimmung ist verdorben, seit Donald
Trump verkündet hat, Jerusalem als
Israels Hauptstadt anzuerkennen.
Seither gibt es fast täglich Proteste
im Heiligen Land, manchmal ist ein
Weihnachtsmann dabei, wie hier im
Gazastreifen. Am Donnerstag stimm-
te die Uno-Vollversammlung mit gro-
ßer Mehrheit gegen die US-Position.
Ändern wird das nichts, es zeigt aber
erneut, wie isoliert die USA sind.

Nordkorea auf einen Überläufer. Auch wirtschaftlich. „Er hat Fami- habe er die Entwicklung sei-
Kaltgestellt der Umstand, dass das Testge-
lände Punggye-ri angeblich
lienmitglieder auf alle wichti-
gen militärischen Posten
nes Atomprogramms weit-
gehend abgeschlossen.
Es gehört zu den Herrschafts- schwer beschädigt wurde, geschoben.“ Vor allem aber Ein Nutznießer der Säube-
praktiken von Kim Jong Un, könnte ihm angelastet wor- rung könnte Vizemarschall
dass sich keiner seiner Unter- den sein. Beide Männer sind Choe Ryong Hae, 67, sein. Er
gebenen auf Dauer sicher aus der Öffentlichkeit ver- gilt als Rivale des in Ungnade
fühlen kann. Nun hat der schwunden, und Beobachter gefallenen Hwang; kürzlich
Diktator offenbar General rätseln: Wurden sie ins Ar- empfing er einen chinesischen
Hwang Pyong So, 72, kaltge- beitslager gesteckt oder gar Sondergesandten. Hinweise
stellt, den zweiten Mann im hingerichtet? auf das neue Machtgefüge in
Staate. Auch der für die Yang Moo Jin, ein Experte Pjöngjang hatten Experten
Atomtests mitverantwortliche von der Universität für Nord- sich vom 17. Dezember
Pak In Yong soll einer Säube- koreastudien in Seoul, hält es erhofft – dann pilgert Kim
rung zum Opfer gefallen sein. indes für denkbar, dass die normalerweise mit engsten
Ihm werde unter anderem Gestürzten nur einer „revolu- Vertrauten zum Mausoleum
vorgeworfen, dass der für das tionären Umerziehung“ un- seines Vaters Kim Jong Il.
KYODO / DDP IMAGES

Frühjahr 2017 geplante sechs- terworfen würden. „Nach Doch dieses Jahr kam er al-
te Nukleartest erst im Sep- einer gewissen Zeit könnten lein und ließ die Welt weiter
tember stattfinden konnte, sie wieder auftauchen.“ Kim im Unklaren. Auch das
berichtet die japanische Zei- sitze jedenfalls sicher im gehört zu seinen Herrschafts-
tung „Asahi“ unter Berufung Sattel – politisch, militärisch, Hwang, Kim methoden. ww

74 DER SPIEGEL 52 / 2017


Ausland
Großbritannien ten, ihre Köpfe aufspießen prangert, weil diese dem Par-
Das Gift des Brexit oder sie in die Luft sprengen
zu wollen. Einer fragte, ob es
lament mehr Mitsprache
beim Brexit eingeräumt hat-
„Abschaum“, „Verräter“, „genügend Seile“ gebe, um ten. Vor der Wahl im Juni for-
„Hängt sie!“, so klingt derzeit die EU-Freunde im Parlament derte die Zeitung von Pre-
in Großbritannien der Streit aufzuhängen. In dieser Wo- mierministerin Theresa May:
über die Scheidung von der che sah sich der Parlaments- „Zerquetsch die Saboteure.“
EU. Seit sich das Parlament sprecher gar genötigt, die Be- Der Brexit, sagt der Abge-
in der vergangenen Woche troffenen öffentlich in Schutz ordnete Grieve, setze immer
ein faktisches Vetorecht beim zu nehmen: Todesdrohungen, mehr Gift frei, „das zu krimi-
Brexit erstritten hat, sind bei so der Konservative, seien nellem Verhalten führen
zahllosen EU-Feinden im eine „Form von Faschismus“. könnte“.
Land die Sicherungen durch- Angefacht wird der Hass Die angeblich zu nachgiebi-
gebrannt. Vor allem die elf von den hemmungslos EU- ge Linie der britischen Regie-
konservativen Abgeordneten, feindlichen Zeitungen „Daily rung gegenüber Brüssel hat
die sich gegen eine allzu har- Telegraph“ und „Daily Mail“. noch weitere Konsequenzen:
te Linie ihrer eigenen Regie- Letztere hatte nach der Ab- Bis Donnerstagabend hatten
rung gestemmt haben, sind stimmung die elf rebellischen bereits fast 130 000 Menschen
seither Anfeindungen ausge- Tories auf der Titelseite abge- eine Petition unterzeichnet,
setzt. bildet und in fingerhohen Let- in der May aufgefordert wird,
Der ehemalige General- tern gefragt: „Seid ihr stolz die Brexit-Verhandlungen un-
staatsanwalt Dominic Grieve auf euch?“ Die „Daily Mail“ verzüglich abzubrechen. Von
berichtet von zwei Todesdro- ist in dieser Hinsicht Wieder- der EU, so die Initiatoren, sei
hungen. Andere Parlamenta- holungstäterin: Im vergange- ohnehin nichts anderes zu er-
rier erhielten Mails und Anru- nen Jahr hatte sie Richter als warten als eine „Bestrafungs-
fe, in denen Wähler ankündig- „Feinde des Volkes“ ange- aktion“. jös

Venezuela
„Der Staat verletzt
das Lebensrecht
unserer Kinder“
MOHAMMED SALEM / REUTERS

Die Kinderärztin Yalú Rodríguez


leitet die Notaufnahme eines
Kinderkrankenhauses in Barce-
lona, einer Großstadt östlich
von Caracas. Dort starb zuletzt

EDUARDO LEAL / LAIF


im Oktober ein Mädchen an
den Folgen von Unterernährung.
In dem Bundesstaat sind inner- Vater mit Kleinkind in der Klinik von Barcelona, Venezuela
halb von zehn Monaten 264 Neu-
Fußnote geborene gestorben. Laut

15 000 000
Caritas sind im ganzen Land meist nur Muttermilch, mehr gibt nicht einmal Seife. In den
15 Prozent der Kinder stark unter- gibt es nicht. Unsere Arbeits- vergangenen Monaten hatten
ernährt, rund ein Drittel bedingungen sind katastro- wir zudem viele Fälle von
Dollar im Jahr könnte Do- weist Wachstumsprobleme auf. phal. Drei Kinder müssen sich Krätze und anderen Haut-
nald Trump durch die ein Bett teilen, sie werden krankheiten. Für die Patienten,
gerade verabschiedete „Wir haben nur zehn Betten lediglich mit Flüssigkeit ver- die unter Durchfall leiden,
Steuerreform sparen. in der Notaufnahme, aber sorgt, die Diagnosen schrei- gibt es keine Elektrolytlösung;
Das ergab eine Studie der allein heute mussten wir be- ben wir auf einen Fetzen Pa- Kanülen fehlen, ebenso Korti-
US-Denkfabrik Center reits 30 Kinder behandeln, pier. Am Wochenende ist das sonpräparate und Antibiotika.
for American Progress. 20 von ihnen sind unter- Labor nicht besetzt, wir müs- Die Familien der Kinder
Der Präsident hatte dage- ernährt. Die meisten sind sen die Diagnosen unter sehr müssen wahre Wunder voll-
gen behauptet, das zwischen zwei Monate und schwierigen Bedingungen er- bringen, um diese Medika-
Gesetz werde ihn „ein drei Jahre alt, sie leiden an stellen. Dass wir so viele Fälle mente zu kaufen, sie sind ex-
Vermögen“ kosten. Durch Durchfall, Blutarmut oder von Durchfall und Erbrechen trem teuer. Auch Betäubungs-
niedrigere Ertrag- und Ein- Lungenentzündung, einige sehen, liegt wahrscheinlich da- mittel und Labormaterialien
kommensteuern könnten haben Malaria. Früher kam ran, dass der Impfstoff gegen für Blutanalysen fehlen.
dem Staat binnen zehn es nur hin und wieder vor, das Rotavirus fehlt, das hier Der Staat ist verpflichtet,
Jahren geschätzte 1,5 Bil- dass unterernährte Kinder sehr verbreitet ist. Oder dass die Gesundheit der Venezola-
lionen Dollar entgehen. vom Land eingeliefert wur- das Trinkwasser verseucht ist. ner zu garantieren. Doch er
Die Profiteure sind vor al- den; heute geschieht das häu- Auch die hygienischen Be- verletzt das Lebensrecht un-
lem: die Reichen. fig, die Kinder bekommen dingungen sind furchtbar, es serer Kinder.“ jgl

DER SPIEGEL 52 / 2017 75


AMER ALMOHIBANY / AFP
Luftangriff auf Rebellengebiet vor Damaskus: Assad als beste aller schlechten Möglichkeiten

XINHUA / NEWS PICTURES

Syrischer Präsident Assad (r.) mit russischem Amtskollegen Putin in Latakia: Einen eigenen Friedensprozess starten

76 DER SPIEGEL 52 / 2017


Ausland

Assads Sieg
Syrien Das Regime hat den Krieg gegen die Aufständischen weitgehend gewonnen.
Die Menschen in Damaskus denken über die Zukunft nach. Doch bis zu einem
Frieden, der das ganze Land einschließt, ist es ein sehr weiter Weg. Von Susanne Koelbl

A
n diesem klaren Tag im November, wegen, um dem Land wieder auf die Beine der Stadt, im Norden des Landes, in Alep-
um 11.47 Uhr, riecht die Luft in Bab zu helfen. Kurz nach Putins Besuch wurde po, oder im Südwesten, in Daraa, wo sie
Scharki nicht nach Sieg, sondern bekannt, dass Russland seine Luftwaffen- immer ihre eigenen Spielregeln hatten.
nach Staub und Rauch, als die Mörsergra- basis im Land weiter ausbauen will. Assad mag ein Diktator sein, sagen hier
nate hinter Jenney Loutfis Büro einschlägt. Die Bomben fallen in der Zwischenzeit viele, aber die Alternative wäre ein Re-
„Die Terroristen stehen in Dschubar“, sagt weiter auf Ost-Ghuta, den Vorstadtgürtel gime der Halsabschneider. „Ich würde die
Loutfi, gerade mal gut einen Kilometer im Südosten von Damaskus, eine der letz- Koffer packen, wenn Assad ginge, wenn
entfernt von ihrem Arbeitsplatz in der So- ten Rebellenhochburgen. In Jarmuk, einer die Rebellen an die Macht kämen, die Mus-
zialstation der syrisch-katholischen Kirche, Palästinenserenklave inmitten der Haupt- limbrüder“, sagt ein Architekt. Er ist 52,
„Luftlinie“, sagt die 27-Jährige, auf die stadt, wird ebenfalls geschossen. In Idlib, so alt wie der Präsident. Sein Büro liegt in
kommt es an bei Mörsergranaten. im Norden, an der türkischen Grenze, sam- einer gut geschützten Straße der Innen-
Das Geschoss kracht ins Dach der Mo- meln sich Kämpfer der extremistischen stadt, elegante Einrichtung, ein Ölbild vom
schee hinter dem „Tor des Ostens“, Bab Nusra-Front und andere Rebellen zur letz- Tempel von Palmyra an der Wand. Der
Scharki, einem der sieben Eingänge zur ten Schlacht mit Assads Unterstützern. Architekt glaubt, dass Assad die beste aller
Altstadt. „Warum schießen die auf uns, Auch die Amerikaner sind inzwischen schlechten Möglichkeiten ist.
hier sind doch nur Zivilisten?“, fragt Loutfi. offiziell mit größeren Truppenverbänden Natürlich sei sie da, die Sehnsucht nach
Was sie nicht weiß, ist, dass die Regierung im Land, im Norden. Bestätigt ist die Prä- Gerechtigkeit, sagt er, nach dem Ende der
die Aufständischen dort im Südosten ge- senz von 2000 Soldaten. Und die Russen, Korruption, der Vetternwirtschaft der Cli-
rade heftig bombardiert und der Beschuss die Iraner und die Hisbollah-Miliz sind que um die Assad-Familie. Aber dass ih-
der Altstadt so etwas ist wie ein letztes, noch immer hier. Die Israelis bombardie- nen die bewaffnete Opposition ein besse-
verzweifeltes Aufbäumen der Eingeschlos- ren mutmaßliche Hisbollah-Stellungen bei res Leben brächte, mehr Freiheit, gar eine
senen vor ihrer Niederlage. Damaskus. Wie ist das also zu verstehen, stabile Demokratie, das glaubt er nicht.
Denn militärisch ist der Krieg eigentlich dass Assad den Krieg gewonnen hat, mili- Vielmehr geht es hier jetzt um die Frage,
entschieden, für Assad, für das syrische tärisch, und der Kampf trotzdem weiter- ob es einen Frieden geben kann mit Assad,
Regime. Vom Frieden ist das Land den- geht? Und um was genau geht es hier noch, trotz allem. Ob es eine Verhandlungslö-
noch weit entfernt. wer hat welche Interessen und Ziele? sung gibt, an deren Ende er vielleicht doch
Jenney Loutfi ist Christin. Sie gehört da- Die Menschen in Damaskus sind des noch abtritt. Oder ob das Land ein „failed
mit zu einer Minderheit in Syrien, die noch Krieges vor allem müde, erschöpft nach state“ bleibt, in von unterschiedlichen
am ehesten Schutz findet in den von der über sechs Jahren. Und sie fragen, wie Fraktionen beherrschte Einzelteile zerfal-
Regierung kontrollierten Gebieten. Doch Jenney Loutfi, wann dieser Kampf endlich len, zerstört und isoliert, ein Paria-Staat.
in diesen Tagen reißt es auch in den engen aufhört, und vor allem, wie der Frieden Der syrische Vize-Außenminister Faisal
Gassen des Christenviertels Menschen in aussehen könnte. Miqdad gehört zu Assads entschlossensten
den Tod. Loutfis Vater verletzte ein Schrap- Verteidigern. Er hat all die Jahre Kurs ge-
nell an der Brust, ein Splitter traf ihre Mut- halten, selbst in den dunkelsten Stunden,
ter am Arm, als sie gerade auf dem Weg Die syrische Tragödie Anfang des Jahres 2013, als der Fall Assads
zum Geldautomaten war. 105 Einschläge
waren es allein in den vergangenen fünf besteht darin, dass jede im Westen als gesichert galt.
Miqdad empfängt im Außenministerium,
Tagen. Seite nur ihre eigene weißes Hemd, Silberbrille, grauer Anzug.
Es wird so heftig gekämpft in Damaskus
wie lange nicht. Als sei der stete Klang
Wahrheit akzeptiert. Über die Zeit ist der Spitzendiplomat selbst
grau geworden. Miqdad zeigt sich zufrie-
der Explosionen das Trommelfeuer zu den den darüber, dass Syrien die entscheiden-
immer neu angekündigten Friedensver- Wer jetzt noch hier ist, in Damaskus, ge- den Schlachten dieses Krieges gewonnen
handlungen zwischen der syrischen Regie- hört ganz sicher nicht zu denjenigen, die hat. Assad hat mithilfe von Iran und Russ-
rung und der Opposition, die dann doch damals gegen Präsident Assad aufgestan- land die Städte Deir al-Sor und Palmyra
immer wieder scheitern, wie kürzlich das den sind. Die sind längst geflohen, im Ge- zurückerobert vom „Islamischen Staat“,
Treffen in Genf unter Führung des Sonder- fängnis oder tot. Die meisten der Damas- und Miqdad will, dass diese Tatsache ge-
gesandten der Vereinten Nationen, Staffan zener würden, wenn morgen Wahlen wä- bührend Anerkennung findet. Dass es der
de Mistura. ren, wohl auch für Assad stimmen, der Westen war, der den IS vor allem bombar-
Anfang Dezember war der russische Prä- hier allgegenwärtig ist, als Poster in jedem dierte und mit Unterstützung der Kurden
sident Wladimir Putin zu Besuch bei Sy- Friseurladen oder an der großen Straßen- aus Rakka vertrieb, verschweigt er.
riens Diktator Baschar al-Assad. Die Bot- kreuzung, als grimmiger Offizier in Uni- Miqdad fragt, ob der Westen, ob die Eu-
schaft war: Der militärische Kampf ist bald form und mit Sonnenbrille, und vor dem ropäer endlich bereit seien, „zuzugeben,
vorüber, russische Truppen sollen in Teilen Supermarkt, als Staatsmann im Anzug. dass sie gescheitert sind“ mit ihrem Plan,
abgezogen werden. Russland will nun im Die Stadt Damaskus ist schon immer die syrische Regierung zu stürzen und As-
neuen Jahr einen eigenen Friedensprozess mehrheitlich loyal gewesen zu den Assads, sad auszutauschen gegen eine „Marionette
starten und den Westen zu Aufbauhilfe be- anders als die Menschen in den Vororten des Westens“. Es spricht Verletztheit aus

DER SPIEGEL 52 / 2017 77


diesen Worten. Auch hier wurde gelitten,
sagt Miqdad, auch hier wurden Menschen
vertrieben und getötet.
Die Rebellen verfügten über keine Luft-
waffe, sie konnten nicht die gleiche Zer-
störung anrichten wie das Regime, das für
die mit Abstand größte Zahl an Toten un-
ter Zivilisten verantwortlich ist. Doch die
Rebellen entführten etwa Miqdads zwölf-
jährigen Neffen und seinen eigenen, alten
Vater. Es ging den Kidnappern darum,
Gefangene freizupressen. Miqdads Vater

YOUSEF BADWI / DER SPIEGEL


starb, kurz nachdem er ausgetauscht wur-
de. Der Drahtzieher der Entführung sei
heute in Deutschland, sagt Miqdad. Dort
habe er Asyl erhalten. Miqdad sieht in vie-
len der in die Bundesrepublik geflohenen
Syrer Drückeberger, Verräter, Kriminelle.
Er spricht, als wäre der Krieg schon vor- Christin Loutfi in Damaskus: Eine Hauptstadt fast ohne männliche Jugend
bei, als wären die Kämpfe in Ost-Ghuta
nur noch ein letztes Aufglimmen. Man
beginne bereits mit dem „Wiederaufbau“,
sagt Miqdad. Doch mit welchen Mitteln?
Das Syrien, das der Vize-Minister wie-
der aufbauen will, ist heute ein ganz an-
deres Land als vor dem Krieg. Gespalten
in Assad-Unterstützer und Assad-Hasser,
eine Nation, die nur noch aus kleinen funk-
tionierenden Inseln besteht, in einem Meer
der Zerstörung und der Auflösung.
In Damaskus sind die Universitäten
zwar offen, die Schulen und die Kranken-
häuser. Aber um diese Inseln herum wurde
die öffentliche Ordnung vielerorts ersetzt
durch Milizen, die ihre Dörfer, ihre Städte

ANADOLU AGENCY / GETTY IMAGES


und Bezirke selbst verteidigten gegen die
Rebellen und den IS, aus Mangel an regu-
lärem Sicherheitspersonal.
Aus lokalen Milizchefs sind Warlords
geworden, die am Ende die Häuser ihrer
eigenen Landsleute plünderten, nachdem
sie sie zurückerobert hatten. Die Beute
verkauften sie auf Flohmärkten und be- Bewohner der Region Ost-Ghuta neben einem toten Kind: „Folter gibt es nicht“
trachteten den Erlös als ihren Lohn. Nun
feiern sich die neuen Warlords als Befreier
des Landes, ihre neu gewonnene Macht
werden sie kaum mehr aufgeben.
Anstatt von solchen Problemen spricht
Diplomat Miqdad heute jedoch lieber vom
„Sieg“ über das, was er die „internationale
Verschwörung“ nennt. „Für jeden Tropfen
Blut, der hier vergossen wurde, tragen
die USA, die Türkei, die Golfländer und
Europa die Verantwortung“, sagt er. Sie
hätten die Brut des Terrors eingeschleppt,
genährt, dem Land ein Heer von Extre-
misten auf den Hals gejagt und die Syrer
gegen Assad aufgehetzt, mit ihrem Geld.
Auf der anderen Seite der Frontlinie ist
die Wahrheit eine andere. Und die syrische
Tragödie besteht auch darin, dass jede Sei-
OMAR SANADIKI / REUTERS

te nur eine Wahrheit akzeptieren kann,


die eigene.
„Haben Sie auch Mitleid mit den Opfern
auf der anderen Seite, den Tausenden in
staatlichen Geheimdienstverliesen gefol-
terten und getöteten Oppositionellen?“ Versöhnungsminister Haidar in Damaskus: „Die Seelen wieder aufrichten“

78 DER SPIEGEL 52 / 2017


Ausland

„Die existieren doch nur in den Köpfen seitig belauern und doch zusammenar- rum, „Syrien zu retten“, und zwar „ge-
derer, die diese Lügen erfunden haben.“ beiten und von denen am Ende alle ab- meinsam“. Haidar ist eigentlich Arzt, groß,
„Glauben Sie das ernsthaft?“ hängen. Der Sohn, Baschar al-Assad, erbte schlaksig, breites Gesicht, Brille, er lächelt
„Systematische Folter gibt es bei uns ihn vom Vater, und der heutige Präsident viel. Er legt Wert darauf, dass er eigentlich
nicht, wir sorgen für unsere Bürger.“ ist eben beides, Täter und Gefangener der „Opposition“ angehöre, das ist natür-
Die westlichen Regierungen sind mehr- dieses undurchsichtigen Patronagesystems, lich sehr relativ. Vielleicht war er mal an-
heitlich der Ansicht, dass es legitim war, das er selbst erhält, aber auch nicht auf- derer Meinung als der Präsident, aber na-
die Opposition zu bewaffnen. Aus ihrer lösen kann, ohne die Macht zu verlieren. türlich weit davon entfernt, das System in-
Sicht war der Aufstand eine Folge davon, Damaskus ist heute eine Hauptstadt fast frage zu stellen oder mit einer Waffe in
dass die friedlichen Demonstrationen ge- ohne männliche Jugend, junge Frauen fin- der Hand gegen Assad zu kämpfen.
gen Assad Anfang 2011 blutig niederge- den keine Männer, um eine Familie zu Auf die Frage, was er den Rebellen an-
schlagen wurden. Die Regierung und die gründen. Wie viele Soldaten starben in biete, damit sie zurückkehren, spricht der
Menschen in Damaskus dagegen sagen, diesem Krieg, wie viele Männer verwun- 55-Jährige von einer „magischen Formel“.
dass die Golfstaaten, die USA, der türki- det wurden, hält die Armee geheim. „Wir haben kein Geld, aber geben den
sche Präsident Recep Tayyip Erdoğan und In ärmeren Stadtteilen wie Dwilaa oder Kämpfern ihr Leben zurück, ihre Familie.“
ein paar Europäer von Anfang an das Ziel Maliha haben Tausende Damaszener ihre Es gehe darum, die „Seelen“ wieder auf-
gehabt hätten, Assad loszuwerden. Häuser verloren, gleich, ob sie für oder ge- zurichten, sagt Haidar.
Damaskus ist in all diesen Zeiten eine gen Assad waren. Jetzt drängen sie sich in Wer in Haidars Büro sitzt, in Damaskus,
sichere Festung geblieben. Diese uralte Notunterkünften im Stadtteil Dscharama- in einer dieser üblichen orientalischen
Stadt, ein Kleinod verschiedenster Kultu- na, in dem noch Zehntausende Flüchtlinge Amtsstuben, voluminöse Sessel, Kristall-
ren, ist verwundet, und die Schmerzen sind aus anderen Teilen des Landes unterkom- glasschalen mit Süßigkeiten, großer Holz-
sichtbar, überall. Der Ausnahmezustand, men, aus Idlib, Aleppo, Deir al-Sor und schreibtisch, kann jetzt täglich Unterhänd-
in dem sich diese vielleicht schönste Me- Abu Kamal. Es gibt keine Arbeit. Die Fa- ler sehen, die dort ein- und ausgehen, um
tropole des Orients befindet, ist an jeder briken sind zerstört. Die meisten Aus- Bedingungen für die Rückkehr von Kom-
Straßenecke zu sehen – auch wenn die Zer- gebombten leben von Spenden der Wohl- mandeuren auszuhandeln.
störung sich nicht annähernd vergleichen tätigkeitsorganisationen. Viele betteln. Wie aber sieht es mit den politischen
lässt mit dem, was Aleppo oder Homs wi- Wenn die Damaszener morgens am Oppositionellen aus, die sich im Ausland
derfuhr. Die Menschen in Damaskus leben Frühstücktisch sitzen und das staatsgelenk- befinden? Minister Haidar weicht der Fra-
mit unzähligen Checkpoints, Sandsackmau- te Fernsehen einschalten, glauben die meis- ge aus, er will gar nicht über die Flüchtlin-
ern, die Gassen versperren, und mit Män- ten deshalb, dass es gut ist, was sie jetzt ge in Europa sprechen, in Deutschland,
nern in Uniform und mit Kalaschnikows. dort sehen. Dass die siegreiche syrische sondern vor allem über die in den Nach-
Doch das Herz dieser Hauptstadt schlägt. Armee am Euphrat die Terroristenhoch- barländern, in Jordanien, in der Türkei, im
Die Nachschublinie aus dem Libanon ist burg Abu Kamal befreit hat, gemeinsam Libanon. Er sagt, dass über 530 000 syri-
zu allen Zeiten offen geblieben, auch die mit der iranischen Quds-Brigade. Dort keh- sche Kinder dort auf der Liste des Uno-
Häfen am Mittelmeer, in Tartus und Lata- ren Flüchtlinge gerade zurück in ihre Dör- Flüchtlingshilfswerks stünden und für ihre
kia. Im alten Markt, dem Souk al-Hamidija, fer, auch der alte Basar in Aleppo wird Schulbildung Millionen von Dollar bezahlt
bieten die Händler ihre Waren an, wie im- notdürftig wieder aufgebaut und eine würden. Dies ließe sich natürlich in Syrien
mer, es gibt alles, vom neuen iPhone X bis Schule im zerstörten Homs neu errichtet. viel günstiger organisieren.
zu Designerklamotten. Im luxuriösen Hotel Als Assad vor einigen Wochen im russi- Wenn es um die Rückkehr von Geflüch-
Four Seasons sieht es aus wie überall in schen Sotschi Putin traf, sagte er den Satz: teten geht, wird es hier also vor allem im-
der Welt, wo die Schönen und Reichen sich „Wir wollen nicht mehr zurückblicken.“ mer auch um Geld gehen, um Kopfzahlen,
treffen. Feine Restaurants und noble Ge- Bedarfszahlen. Es wird darum gehen, wer
schäfte reihen sich aneinander, auch wenn was bezahlt bei einem möglichen Wieder-
die Übernachtungsgäste inzwischen fast Wer wird für den Wieder- aufbau Syriens. Es ist jetzt schon klar, dass
nur noch internationalen Hilfsorganisatio-
nen angehören. aufbau Syriens bezahlen? dieser Wiederaufbau ungeheuer kostspie-
lig sein und Jahrzehnte dauern wird, wenn
In Bab Tuma, im Christenviertel, wird Mit Iran und Russland er überhaupt stattfindet.
noch immer Wein getrunken und gut ge-
gessen, zumindest, wenn man es sich leis-
rechnet das Regime nicht. Hier könnte auch eines der wenigen
Druckmittel für den Westen liegen. Er
ten kann. Das syrische Pfund ist kaum ein kann Bedingungen stellen dafür, welches
Zehntel so viel wert wie vor dem Krieg. Wer zurückblickt, der sieht Hunderttau- Syrien es künftig geben könnte. Wie viel
Viele, die noch in Damaskus leben, weil sende Tote, geopfert in einem Kampf, von internationale Unterstützung für wie viel
sie nicht wegkonnten oder nicht wegwoll- dem jede Seite behauptet, er sei gerecht ge- Öffnung, für die künftige Rolle Assads. Mit
ten, tragen die Nostalgie in sich, dass viel- wesen und habe zum Wohl des syrischen seinen Verbündeten Russland und Iran als
leicht einmal alles wieder so werden könn- Volkes stattgefunden. Wer zurückblickt, der Geldgeber, das wird hier klar, rechnet das
te, wie es war, trotz allem. Dabei verblasst sieht auch über zehn Millionen Vertriebene, Regime jedenfalls nicht.
offenbar auch die Erinnerung, wie Assads das ist fast jeder zweite Syrer, von denen Um überhaupt über ein neues Syrien
berüchtigter Sicherheitsapparat hier immer über fünf Millionen das Land verlassen muss- nachzudenken, müssten erst einmal die
schon jedermanns Leben durchleuchtete ten. Und der sieht schwere Kriegsverbrechen. Kämpfe aufhören. Einer, der sich dazu ent-
und seine Gegner in berüchtigten Folter- Im Staatsfernsehen werden jetzt sorgfäl- schlossen hat, die Waffen niederzulegen,
gefängnissen verschwinden ließ. Aber das tig inszenierte Interviews gezeigt mit Re- ist Abdul Aziz Shodab aus Kuswa, zwei
betrachten viele hier, verglichen mit der bellenkommandeuren, die vor der Kamera Stunden von Damaskus entfernt. Der
Bedrohung durch Islamisten, offenbar als reumütig bekennen: „Ich habe einen Feh- Mann ist 41 Jahre alt, fast zwei Meter groß,
vergleichsweise geringes Übel. ler gemacht und bin dankbar, dass das Re- Jeans, schwarzes T-Shirt, Glatze, langer
Schon vor dem Krieg gab es diesen Si- gime mich wieder aufnimmt.“ Bart. Zum Gespräch kommt er im Hum-
cherheitsapparat, der aus vier mächtigen Der syrische Minister für Nationale Ver- mer mit getönten Scheiben, er scheint
Geheimdiensten besteht, die sich gegen- söhnung, Ali Haidar, sagt, es gehe jetzt da- Geld zu haben. Seit einem Jahr ist er im
DER SPIEGEL 52 / 2017 79
IN DER SPIEGEL-APP
Ausland

100 km TÜRKEI

Ti
ri

g
s

Aleppo Rakka
Idlib
Latakia IRAK
Deir al-Sor
SYRIEN
Tartus
Homs Eup
Palmyra Abu Karmal hr
at

LIBANON
unter Kontrolle von
Damaskus Kurden
Regierungstruppen und Verbündeten
Rebellen (u.a. der Freien Syrischen Armee)
IS-Milizen und Verbündeten
Daraa
JORDANIEN Quelle: isis.liveuamap.com, Stand 20. Dezember
FOTOS: IVO SAGLIETTI / ZEITENSPIEGEL

sogenannten Versöhnungsprogramm der triert und kehren zurück in ihre Stadt, ihr
Regierung. Dorf, falls es noch existiert.
Der ehemalige Milizchef kommandierte „Der Krieg neigt sich allmählich seinem
zuletzt angeblich 7000 Mann des salafis- Ende entgegen, Assad hat gewonnen, und
tischen Kampfverbands Ahrar al-Scham er wird bleiben“, fasste der letzte US-Bot-
im Raum Kuswa. Jetzt sitzt Shodab in schafter in Damaskus, Robert Ford, die
einem Hotel im Zentrum von Damaskus Lage zusammen. Er arbeitet nun beim
und trinkt Orangensaft. Die Details von Middle East Institute in Washington.
Shodabs Geschichte sind kaum zu über- Assad verdankt den Iranern und den Rus-
prüfen, manchmal wirkt seine Darstellung sen sein politisches Überleben, die entschei-
schablonenartig, als sei er gebrieft worden dende Wende brachte die russische Luft-
für das Treffen. Tatsache ist, dass der Mann waffe. Beide Nationen dürften in nächster
Nächstenliebe dafür eine Genehmigung der Militärischen
Sicherheit benötigte, einer Abteilung des
Zukunft dauerhaft in Syrien mit ihrem Mi-
litär präsent sein, und Präsident Putin ist
an der Front syrischen Geheimdiensts.
Tatsache ist aber auch, dass Shodab in
wohl derjenige, der in Damaskus am meis-
ten Einfluss ausüben kann. Darüber, wie es
Spätestens seit der Friedenspreisre- Propagandafilmen der Ahrar al-Scham im weitergehen soll, gibt es jedoch Unstimmig-
Internet zu sehen ist, wie er gegen das Re- keiten zwischen Assads Verbündeten. Putin
de Navid Kermanis kennt man in
gime wettert und zum Kampf gegen Assad wünscht sich eine vom Westen unterstützte
Deutschland das Werk von Padre aufruft. Sie hätten Checkpoints überfallen, Friedenslösung, die womöglich eine Be-
Paolo. Im syrischen Mar Musa sagt er, Armeekräfte angegriffen. Genauer teiligung der Opposition an der Regierung
betrieb er mit seinen Mitbrüdern und will der Bekehrte über seine Zeit bei Ahrar einschließt. Teheran hat dagegen kein Inte-
-schwestern jahrelang den Dialog al-Scham nicht sprechen. Heute arbeitet resse an einer Lösung, die Assads Macht
zwischen Christen und Muslimen. Shodab für die syrische Regierung und ver- schwächt. Auch über die künftige Rolle der
Seitdem ihn Dschihadisten 2013 sucht, ehemalige Kampfgefährten zum Sei- Kurden im Land sind sie sich uneinig – Russ-
entführt haben, fehlt von ihm jede tenwechsel zu überreden. Das Aussteiger- land hält ihren Anspruch auf Selbstverwal-
Spur, und es stellt sich die Frage: programm, sagt ein syrischer Insider, wer- tung für gerechtfertigt, Iran nicht.
de offiziell zwar von Versöhnungsminister Bis dieser Krieg wirklich zu Ende ist,
Kann die Idee des Klosters auch ohne Haidar geleitet, tatsächlich aber von Ge- wird es also noch lange dauern, noch viele
seinen Gründer überleben? heimdienstchef Ali Mamlouk gesteuert. grüne Busse werden mit Rebellen aus
Viele Möglichkeiten haben die Aufstän- Kampfzonen fahren und womöglich noch
Sehen Sie die Visual Story im dischen heute nicht mehr. Zahlreiche Hard- ein paar Tausend Mörsergranaten in die
digitalen SPIEGEL, oder scannen liner sind nach Idlib gegangen, wo sich Altstadt nach Bab Scharki fliegen.
Sie den QR-Code. laut Shodab bereits über 100 000 Kämpfer Und wie immer, wenn ein Geschoss ein-
versammelt haben. Andernorts haben die geschlagen hat und der Aufprall durch die
Rebellen kapituliert, manchmal nach mo- Altstadt hallt, wird Jenney Loutfis Mutter
natelanger Belagerung. Dann werden sie ihre Tochter auf dem Handy anrufen und
an Orte gefahren, die die Unterhändler fragen: „Jenney, alles in Ordnung?“
beider Seiten vereinbart haben, fast immer
in den grünen Bussen, die sonst für den Video:
öffentlichen Nahverkehr genutzt werden. „An den Krieg gewöhnt“
Die übrigen Kämpfer wiederum geben ihre spiegel.de/sp522017syrien
JE TZ T DI G I TAL L E S E N Waffen ab, sie werden vom Regime regis- oder in der App DER SPIEGEL

80 DER SPIEGEL 52 / 2017


„Willkommen in
meiner Welt“

„Kommen Sie mit auf eine Reise in meine Welt des guten Geschmacks.
Von köstlichen weihnachtlichen Klassikern bis zu leckeren exotischen Rezepten,
die ich auf vielen Reisen für Sie entdeckt habe. Ich freue mich auf Sie!“

Jetzt im Handel oder direkt bestellen: 040 / 21 03 13 71 oder über shop.jalag.de


KOMMERSANT / GETTY IMAGES
Politikerin Sobtschak bei einer Pressekonferenz in Moskau: „Hat die Staatsmacht so viel Angst vor freiem Wettbewerb?“

Gegen alle, für Kaviar


Russland Die Moskauer Prominente Xenija Sobtschak tritt als liberale Kandidatin gegen Präsident
Wladimir Putin an, den sie seit ihrer Kindheit kennt. Ist sie nur eine Marionette des Kreml?

W
ie aufregend und bunt ist das war eine Anspielung auf ihren skandalösen Mal in den Kreml einzog, hat es keine Prä-
Leben der Xenija Sobtschak! Da- Lebensstil. Aber vielleicht wäre Donald sidentschaftswahl mehr gegeben, deren
von erzählen die Bilder, die Trump der bessere Vergleich. Xenija Sob- Sieger nicht von vornherein feststand. So-
die Moskauer Prominente jeden Tag auf tschak ist nämlich gerade dabei, ihren Wert gar die Gegenkandidaten sind vom Kreml
Instagram postet. Ständig begegnet sie an- als Fernsehfigur und Luxusmarke umzu- ausgesucht. Putins Herrschaft ist auch im
deren Prominenten, ständig ist sie umge- tauschen in politisches Kapital, so wie Jahr 2018 alternativlos.
ben von Dingen, auf die man ungern ver- Trump das einst getan hat. Sie ist Russ- „Warum gibt es keine Konkurrenz bei
zichtet. Da ist der schwarze Kaviar Marke lands neuester Politikstar, seit sie angekün- den Wahlen?“, fragte Xenija Sobtschak
„Kaspisches Gold“ (es gibt nichts Besseres digt hat, bei der Präsidentschaftswahl im den Präsidenten auf der Pressekonferenz.
für einen Mittwochabend, schreibt sie), die März gegen Wladimir Putin anzutreten. Sie hatte sich als Journalistin des liberalen
Massagematte Pranamat-Eco (ideales Ge- Gewinnen kann sie nicht, aber dafür hat Fernsehkanals Doschd unter die mehr als
schenk, rechtzeitig ordern) und die Haut- sie aus dem Wahlkampf schon jetzt eine tausend Teilnehmer gemischt, und Putin
creme Mixit Botox Active. unterhaltsame Show gemacht. Ob zum hatte ihr das Wort erteilt. Sobtschak er-
Und da ist seit Kurzem ein neues Pro- Vorteil oder zum Nachteil des Kreml, da- innerte ihn an den Oppositionspolitiker
dukt, das sie ebenfalls bewirbt und das rüber wird noch gestritten. Alexej Nawalny, der mit fiktiven Straf-
man gar nicht kaufen kann, nur wählen: Neulich trafen die künftigen Kandidaten verfahren an der Kandidatur gehindert
Xenija Sobtschak selbst, Politikerin und Xenija Sobtschak und Wladimir Putin auf- werde. Auch sie selbst werde bei ihrer
Präsidentschaftskandidatin. einander. Es war auf der Jahrespressekon- Kampagne behindert. „Hat die Staats-
Sobtschak, 36 Jahre alt, groß und blond ferenz, die der Präsident jeden Dezember macht“, so schloss sie, „wirklich so viel
und schlagfertig, ist in Russland so bekannt abhält und die ihrerseits eher eine Show Angst vor ehrlichem Wettbewerb?“
wie Putin. Allein ihr Instagram-Account ist als eine Pressekonferenz. Man muss Es war eine geschickt formulierte, pro-
hat 5,4 Millionen Follower. Sie hat acht dazu wissen, dass Politik in Russland nach vokative Frage. Vor laufender Kamera Na-
Jahre lang die beliebteste Reality-Fernseh- zwei Jahrzehnten Putinismus nur noch ent- walnys Namen auszusprechen, das ist in
show Russlands moderiert. Man hat sie frü- fernte Ähnlichkeiten mit Politik im Westen Russland tabu. Den Fernsehzuschauern er-
her Russlands Paris Hilton genannt, das hat. Seit Wladimir Putin 2000 zum ersten laubte es, einen ratlos-müden Putin zu se-

82 DER SPIEGEL 52 / 2017


Ausland

hen. Er sagte sinngemäß: Konkurrenz gibt Volk denken. Nawalny nennt Sobtschak erbitterten Gegners. Der Schnittpunkt
es doch auch im Westen nicht. „die Karikatur einer liberalen Kandidatin“. heißt Sobtschak.
Man kann sich fragen, warum Putin die Sobtschak streitet jede Absprache mit Auch in Rostow am Don ist das nicht an-
Fragerin überhaupt aufgerufen hat. Viel- dem Kreml ab. Sie habe zwar mit Putin ders. Es ist ein kalter Novembertag, als
leicht lag es an ihrem auffälligen roten über ihre Kandidatur gesprochen, als sie Sobtschak hier, in der größten Stadt Süd-
Kleid. Vielleicht lag es aber auch daran, ihn für einen Dokumentarfilm über ihren russlands, ihren ersten Stab überhaupt
dass er Xenija seit ihrer Kindheit kennt. Vater interviewt habe. Aber um Erlaubnis eröffnet. Vor dem Büro in der Sozialis-
Er ist zwar nicht ihr Pate, wie oft behaup- gefragt habe sie ihn nicht, sagt sie. titscheskaja-Straße steht die Büroleiterin
tet wird. Aber Xenijas Vater, der Peres- „Natürlich haben sie im Kreml ein Inte- Anastassia Schewtschenko in einem T-Shirt
trojka-Politiker und Petersburger Bürger- resse daran, dass Sobtschak an den Wahlen mit der Aufschrift „Sobtschak gegen alle“
meister Anatolij Sobtschak, war Putins po- teilnimmt. Aber das heißt nicht, dass sie und friert. Auch Schewtschenko kommt
litischer Mentor. Es gibt Fotos, da spielt von dort gesteuert wird“, sagt die Polito- von „Offenes Russland“. Es gibt in Russ-
die kleine Xenija mit Putins Tochter. Als login Marina Litwinowitsch, eine von Sob- lands Provinz nicht viele Oppositionelle,
Anatolij Sobtschak 2000 starb, sah man tschaks Beraterinnen. Über Sobtschaks Be- da hängen alle mit allen zusammen.
Putin mit Xenija und ihrer Mutter am Grab, liebtheit macht sie sich keine Illusionen. Sobtschak fährt verspätet im schwarzen
vereint wie drei Angehörige. In Umfragen erhält sie nur ein Prozent der Mercedes vor. Nawalny würde jetzt jedem
Seither ist viel passiert. Putin wurde Stimmen, so wenig wie Nawalny. Aber da Helfer die Hand schütteln, aber für so et-
zum ewigen Präsidenten, unter dem sich man in Russland ohnehin nicht von echten was hat sie keine Zeit. Dafür hört sie sich
Russland vom Westen und von der Demo- Wahlen sprechen könne, gehe es nicht da- die Klagen örtlicher Bewohner an, deren
kratie entfernte. Und die damals 18 Jahre rum zu gewinnen, sondern „den Sumpf auf- Häuser auf mysteriöse Weise abgebrannt
alte Xenija wurde an der Seite wechselnder zurühren“, wie Litwinowitsch das nennt. sind, offensichtlich um Platz für Luxus-
reicher Männer zum Partygirl, das die Ein prominenter Kandidat, der ausspricht, Wohntürme zu machen. Rostow hat den
verrufene TV-Show „Dom-2“ moderierte, was andere nur denken, wäre für Russland Ruf einer mafiösen Stadt. Abends spricht
Russlands Pendant zu „Big Brother“. ein Gewinn. Sobtschak im Konferenzsaal eines Hotels.
Als Zehntausende Moskauer gegen Sobtschaks Kampagne kommt bisher Sie kritisiert „das System“ und „die Staats-
Wahlfälschung und gegen Putin auf die ohne Programm aus, sie beschränkt sich macht“, ohne je Putin zu erwähnen. Aber
Straße gingen, nahm auch Sobtschak teil. darauf, die Wahl als Nichtwahl zu kritisie- die Zuhörerinnen sind zufrieden. Es sind
Auf der größten Demonstration, am 24. De- ren. „Gegen alle“ heißt ihre Losung, so Frauen zwischen 30 und 40, nicht junge
zember 2011, trat sie sogar ans Mikrofon. hieß früher auf Russlands Wahlzetteln eine Männer wie bei Nawalny. Sobtschak ist
Viele pfiffen sie damals aus. Sie wurde gar Extraoption für jene Wähler, die keinen für sie nicht die privilegierte Politikertoch-
nicht ernst genommen. Kandidaten wählen mochten. Es gibt ohne- ter, sondern die Selfmadefrau, die sich in
Putin muss ihr diesen Auftritt übel ge- hin keinen echten Kandidaten, ist Sob- einer Männerwelt Erfolg erkämpft hat.
nommen haben. Als die Protestbewegung tschaks Botschaft. Also benutzt mich, um Und Respekt hat sich Sobtschak zuletzt
niedergeschlagen wurde, gab es auch bei auch bei Skeptikern verschafft, mit ihren
ihr und ihrem damaligen Freund, dem Op- Auftritten im Fernsehen. Dass sie dort ge-
positionspolitiker Ilja Jaschin, eine Haus- Für die Realityshow zeigt wird, ist ein Privileg, das Nawalny
durchsuchung. Bei den großen Fernseh-
kanälen fand sie keine Arbeit mehr. Sie der russischen nicht genießt. Sobtschak darf öffentlich sa-
gen, wofür andere in Russland ins Gefäng-
wechselte zu Doschd und zu einer Mode- Politik ist Sobtschak nis kommen – zum Beispiel, dass die Krim
zeitschrift, verdiente ihr Geld mit Wer-
bung. Sie wurde Ehefrau und Mutter.
bestens qualifiziert. völkerrechtlich nach wie vor zur Ukraine
gehöre. Aber wie sie bei ihren TV-Auftrit-
Jetzt also ist Sobtschak zurück in der ten behandelt wird, ist eine andere Frage.
Politik, und diesmal, so vermuten viele, eure Unzufriedenheit auszudrücken – Un- Neulich war sie in der Sendung „Die Zeit
handelt sie im Interesse des Kreml. Der su- zufriedenheit über Korruption und Büro- wird’s zeigen“ auf dem Ersten Kanal. Zwei
che einen weiblichen Sparringpartner für kratie, Polizeigewalt und Zensur, hohe Moderatoren machten sich über sie lustig
Putin, und Sobtschak sei seine Wunschkan- Preise und niedrige Renten. und unterbrachen sie nach Kräften. Es wa-
didatin, schrieb die Zeitung „Wedomosti“ „Mit dem Kopf kann man Sobtschak ren 60 Minuten pure männliche Aggression,
im September, als Sobtschak ihre Kandi- nicht wählen, dafür ist sie zu unerfahren“, zum Einsatz kamen gefälschte Zitate, Kar-
datur noch gar nicht angekündigt hatte. sagt Litwinowitsch. „Aber mit dem Her- nevalsartikel, Psychotricks. Doch für die
Tatsächlich braucht der Kreml dringend zen kann man sie wählen.“ brutale Realityshow, in die sich Russlands
Farbe und Exotik für den Wahlkampf, weil Trotzdem muss sie erst einmal offiziell Politik unter Putin verwandelt hat, ist Sob-
er sich um die Wahlbeteiligung sorgt. Und als Kandidatin registriert werden, und da tschak mit ihrer Big-Brother-Erfahrung bes-
er braucht einen liberalen Kandidaten, den wird es nun besonders verwirrend und be- tens qualifiziert. Sie war nicht aus der Ruhe
die unzufriedenen Großstädter wählen sonders russisch. Sobtschak muss in weni- zu bringen, die Angriffe der Moderatoren
können. Der unabhängige Nawalny darf gen Wochen 100 000 Unterschriften sam- hatten den gegenteiligen Effekt. Sie ging
das nicht sein, ihn will Putin nicht stärken. meln und dafür schleunigst im ganzen als Siegerin vom Feld.
Sobtschak wäre da ein guter Ersatz: Ers- Land Wahlkampfstäbe eröffnen. Der bekannte Journalist Oleg Kaschin
tens ist sie weniger radikal als Nawalny. Sie Das geht nur deshalb so schnell, weil sie war so begeistert von ihrem Auftritt, dass
ruft nicht zu ungenehmigten Kundgebun- sich mit Michail Chodorkowski abgespro- er gar nicht mehr wissen will, ob sie ein
gen auf, und von Putin redet sie zwar chen hat, dem einstigen Ölmilliardär, der Kreml-Projekt ist. Sobtschak zu entlarven,
kritisch, aber respektvoll. Zweitens ist sie unter Putin zehn Jahre in Haft verbrachte schrieb Kaschin, sei so absurd, wie dem
politisch unerfahren. Und drittens ent- und jetzt im Exil lebt. Seine Organisation Weihnachtsmann vorzuhalten, dass sein
spricht sie dem Zerrbild, das sich viele Rus- „Offenes Russland“, gedacht als Netzwerk Bart aus Watte sei. „Na klar ist der Bart
sen seit den Neunzigerjahren von den pro- für unbekannte Nachwuchspolitiker, hilft aus Watte! Aber der Weihnachtsmann
westlichen Liberalen gemacht haben: Herz- jetzt Sobtschak bei der Einrichtung von bringt uns das Fest, und wer ihm den
lose Privilegierte, die alles privatisieren und Stäben. Dieses eine Mal überschneiden Bart abreißt, verdirbt bloß alles.“
beim Kaviarlöffeln wenig an das einfache sich die Interessen des Kreml und seines Christian Esch

DER SPIEGEL 52 / 2017 83


Ausland

Einhegen durch Umarmen


Österreich Der neue Kanzler Sebastian Kurz ist auf die Unterstützung der rechten FPÖ angewiesen.
Er verspricht einen proeuropäischen Kurs, aber kann er die Scharfmacher bändigen?

D
ie Standuhr im Maria-Theresien- gegen illegale Migration entgegenkommen, zent abgesunken war, ist zu einem großen
Zimmer der Wiener Hofburg zeigt nicht aber bei ihrem Anti-EU-Kurs. Teil das Verdienst Straches. Als junger Mann
exakt 14 Minuten nach elf, als Se- Die Zuständigkeit für die Europapolitik war er einst fest in der Neonazi-Szene ver-
bastian Kurz am Montag vor Heiligabend hat Kurz deshalb vom Außenministerium ankert. Verstörende Aufnahmen aus jener
durch Bundespräsident Alexander Van der mit ins Kanzleramt genommen. Um ein- Zeit zeigen ihn bei Wehrsportübungen im
Bellen zum Kanzler ernannt wird – im Al- zelne Passagen wurde während der Koali- Wald. Nachdem Strache 2005 den Parteivor-
ter von 31 Jahren. tionsverhandlungen noch nachts erbittert sitz übernommen hatte, machte er mit radi-
Äußerlich unbewegt legt der jüngste gerungen, sagt einer, der es wissen muss: kalen Sprüchen auf sich aufmerksam. Nach
Regierungschef des Kontinents seinen „zuletzt ging es um Kommas“. Die von der der Abspaltung des Haider-Flügels formte
Schwur auf die Verfassung ab. Ihm zur Sei- FPÖ einst ins Spiel gebrachte Volksabstim- Strache die traditionell deutschnationale
te stehen 13 Minister. Knapp die Hälfte da- mung über den EU-Austritt ist nun schrift- FPÖ schließlich zu einer politischen Kraft,
von stellt ab sofort die rechtspopulistische lich ausgeschlossen worden. Was das Ver- die europaweit mit rechten Parteien ver-
Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ). hältnis zu Russland angeht, heißt es im netzt ist. Heute, mit 48, gibt sich Strache im
Während draußen auf dem Heldenplatz Text, die wegen der Krim-Annexion ver- Vergleich zu früher gemäßigt. In Trachten-
ein paar Tausend meist jugendliche De- hängten Sanktionen könnten nur „im euro- weste brachte er es bis auf die Titelseite der
monstranten „Tod dem Faschismus“ brül- päischen Einklang“ abgebaut werden. Europaausgabe des US-Magazins „Time“.
len und Vermummte sich mit der Polizei Einer aus der Kurz-Truppe beziffert die Einige seiner treuesten Mitstreiter hat
prügeln, geht es drinnen in der Hofburg Wahrscheinlichkeit, dass es Kurz gelinge, er mit ins Kabinett schleusen können. Vor
erstaunlich gelöst zu. Die FPÖ-Minister er- die Scharfmacher innerhalb der FPÖ im allem vom Verhalten eines Mannes wird
halten die Belohnung für ihren Wahlerfolg Zaum zu halten, auf „fünfzig Prozent“. das Schicksal dieser Regierung wohl we-
mit 26 Prozent Stimmenanteil: Vizekanz- Die Basis der Freiheitlichen Partei werde sentlich abhängen: Herbert Kickl, der neue
ler ist jetzt Parteichef Heinz-Christian Stra- nur so lange stillhalten, wie das ungleiche Innenminister. Der asketische Intellektu-
che; Außenministerin Karin Kneissl; Res- elle, Absolvent der freiheitlichen Akade-
sortchef für Verteidigung Mario Kunasek mie und langjähriger FPÖ-Generalsekretär,
und für Inneres Herbert Kickl. Der FPÖ-Innenminister ist das strategische Gehirn hinter dem Er-
Sämtliche sicherheitsrelevanten Ressorts,
alle Geheimdienste und der Verfassungs- Herbert Kickl hat Slogans folg der Partei. Kickls Dissertation mit dem
Titel „Transzendentale Deduktion der Ka-
schutz unterstehen nun Ministern der FPÖ, wie „Daham statt Islam“ tegorien und Bewusstkapitel in Hegels Phä-
einer Partei, die vor einem Jahr ein Arbeits-
übereinkommen mit Wladimir Putins „Ei-
zu verantworten. nomenologie“ klingt beeindruckend, blieb
aber unvollendet. Als früherer Reden-
niges Russland“ unterzeichnete. Noch wäh- schreiber Jörg Haiders hat Kickl auch Slo-
rend in Wien über eine Koalition verhan- Paar an der Spitze der Koalition Erfolge gans wie „Daham statt Islam“ zu verant-
delt wurde, reisten FPÖ-Politiker nach Jalta, liefere: „Die ÖVP muss Strache leben las- worten. Sein neuer Kommunikationschef
um auf der völkerrechtswidrig von Russ- sen, er muss Ergebnisse vorzeigen kön- verantwortete bisher ein News-Portal, das
land annektierten Krim an einer Tagung nen.“ Der FPÖ-Chef soll Verbesserungen vom Verfassungsschutz wegen fremden-
teilzunehmen. In den Jahren zuvor hatten für sozial Schwache und für Familien als feindlicher und antisemitischer Tendenzen
vor allem Strache und der Russisch spre- eigene Erfolge darstellen dürfen. beobachtet wird.
chende Johann Gudenus das Putin-Regime Die Strategie von Kurz laute „Einhegen Die ÖVP-Leute blicken misstrauisch auf
öffentlich unterstützt – der eine ist nun Vi- durch Umarmen“, heißt es im Umfeld des diesen neuen Innenminister. Einer sagt,
zekanzler, der andere FPÖ-Fraktionschef. Kanzlers. Kurz habe in Sachen Loyalität die Schlüsselfrage sei, „ob Kurz es schafft,
Sebastian Kurz ist ein politisches Talent, bei Strache ein besseres Gefühl als bei an- zu verhindern, dass Kickl ein Eigenleben
aber wird er seine Koalitionspartner bän- deren Freiheitlichen – der FPÖ-Chef sei entwickelt“ und aus der Kabinettsdisziplin
digen können? Kann der neue Kanzler wie mit den Jahren zahmer geworden. ausschert. Ähnliche Bedenken haben Kon-
versprochen einen proeuropäischen Kurs Wann immer die FPÖ seit dem Zweiten servative bei FPÖ-Fraktionschef Johann
halten? Und was bedeutet es für Öster- Weltkrieg mit in der Regierung war, erst- Gudenus, dem Sohn eines wegen Verharm-
reichs EU-Partner, dass die Regierungs- mals ab 1983, dann noch einmal ab dem losung nationalsozialistischer Verbrechen
partei FPÖ in Brüssel gemeinsame Sache Jahr 2000, spaltete oder zerstritt sie sich – verurteilten Politikers. Der Junior wurde
macht mit den Fraktionen der Französin jedes Mal unter dem Einfluss Jörg Haiders. 2013 auffällig mit dem Satz: „Knüppel aus
Marine Le Pen, des Niederländers Geert Wie Strache verhindern will, dass sich das dem Sack für alle Asylbetrüger, Verbre-
Wilders und des Italieners Matteo Salvini? wiederholt, muss sich noch erweisen. Der cher, illegalen Ausländer, kriminellen Isla-
Denn sie alle sind bekennende Gegner der FPÖ-Chef tritt neuerdings betont staats- misten und linken Schreier“. Nun schlägt
EU in ihrer jetzigen Form. männisch auf und drückt sich gewählt aus. er vor, Sammelquartiere für Asylbewerber
Wer den jungen österreichischen Regie- Noch vor gar nicht langer Zeit nannte er am Wiener Stadtrand einzurichten: „Mas-
rungschef in diesen Tagen sieht und engste zur Freude seiner Anhänger den heutigen senmigration sollte man insofern ein-
Berater trifft, tagsüber im Kanzleramt oder Kanzler Kurz einen Mann, der „politisch schränken, als man diesen Migranten zeigt,
abends auf ein Achtel Weißwein, der ge- über Leichen“ gehe, außerdem sei er „eine in Österreich ist es doch nicht so gemütlich,
winnt den Eindruck, dass Kurz sich der Ri- skrupellose und unehrliche Person“. wie alle glauben.“
siken, die er eingeht, durchaus bewusst ist. Die Wiedergeburt der FPÖ, die in Um- Männer wie Kickl und Gudenus könn-
Dass er weiß: Er kann der FPÖ beim Kampf fragewerten zwischenzeitlich auf fünf Pro- ten für Kanzler Kurz zum Problem werden.
84 DER SPIEGEL 52 / 2017
liche Entwicklung im politischen Leben
Europas“ nannte; und bei der Entschei-
dung von Israels Premier Benjamin Netan-
yahu, der seinen Regierungsmitgliedern
direkte Kontakte zu Ministern in Wien un-
tersagte, die von der FPÖ nominiert wur-
den. Ärgerlich ist das vor allem für die
parteilose Außenministerin Kneissl – sie
spricht, unter anderem, Hebräisch.
Die Ex-Diplomatin findet am Wiener Mi-
noritenplatz außerdem ein in Teilen ent-
kerntes Amt vor. Denn es gilt als sicher, dass
sich der bisherige Außenminister Kurz auch
weiterhin um Österreichs Außendarstellung
kümmern wird, vor allem in der EU.
Kneissl ist teilweise in Jordanien aufge-
wachsen, wo ihr Vater vom damaligen Kö-
nig Hussein als Pilot engagiert worden war.
Sie gilt als widerspruchsfreudig und ist als
Expertin für den Nahen Osten bekannt.
Sie hat auch schon mit Stellungnahmen
über die Zuwanderung „testosterongesteu-
erter“ junger Männer auf sich aufmerksam
gemacht. Den Zionismus hat Kneissl als
eine „an den deutschen Nationalismus
angelehnte Blut-und-Boden-Ideologie“ be-
zeichnet, was ihr viel Kritik eintrug.
Im Juli übernimmt Österreich für ein
halbes Jahr die EU-Präsidentschaft. Kurz
will sie nutzen, um sein Land als unverän-
dert zuverlässigen Partner zu präsentieren.
Den Regierenden in Wien kommt ent-
gegen, dass beim EU-Gipfel im September
2018 auf Vorschlag von Ratspräsident Do-
nald Tusk ausgerechnet innere Sicherheit
und Migration als Schwerpunkte vorgese-
hen sind – mit diesen Themen haben ÖVP
und FPÖ bei den Wählern schon bisher
gepunktet.
Was in der Aufregung über das neue
Personal an der Spitze des Staates fast un-
terging: Laut Koalitionsvertrag sollen viele
der im Wahlkampf versprochenen innen-
GEORGES SCHNEIDER / PICTUREDESK. / ACTION PRESS

politischen Reformen nun halbherzig aus-


fallen, auch viele der einst angekündigten
Sparmaßnahmen sind nur vage umrissen.
In den kommenden Monaten stehen vier
wegweisende Landtagswahlen bevor – und
weder Kurz noch Strache wollen es sich
wohl mit wichtigen Wählergruppen ver-
scherzen.
Im Regierungslager gehen beide Seiten
von einer langfristigen Zusammenarbeit
aus. Dazu passt, dass sich FPÖ- und ÖVP-
Kanzler Kurz, Präsident Van der Bellen*: Der Risiken bewusst Leute Mitte der Woche ganz im Sinne eines
neuen freundschaftlichen Umgangs Witz-
Sie verkörpern das Kardinalproblem der päischen und internationalen Reaktionen bilder von Smartphone zu Smartphone
FPÖ – einerseits muss sich die Partei nun verhalten. Wohl auch, weil die damaligen schickten: Eines zeigt auf der linken Seite
als gemäßigte, verantwortungsbewusste Sanktionen sich als überzogen und kon- unter dem Titel „kurz Kanzler“ das Porträt
Kraft an der Regierung beweisen und trotz- traproduktiv erwiesen. Die Österreicher des nach nicht einmal zwei Jahren im Amt
dem die von Überfremdungsängsten ge- rückten damals aus Trotz zusammen. abgelösten Regierungschefs Christian Kern
plagte Basis zufriedenstellen. Diesmal bleibt es bei den Warnungen von den Sozialdemokraten.
Auf die erste schwarz-blaue Koalition des Uno-Hochkommissars für Menschen- Auf der rechten Seite hingegen ist das
unter Wolfgang Schüssel und Jörg Haider rechte, der die neue Koalition eine „gefähr- Porträt des strahlenden neuen Amtsinha-
im Jahr 2000 reagierten 14 EU-Staaten mit bers zu sehen. Die Überschrift: „Kanzler
dem vorübergehenden Einfrieren bilatera- * Bei der Vereidigung der Regierung in der Wiener Hof- Kurz“. Walter Mayr
ler Beziehungen. Diesmal sind die euro- burg am 18. Dezember. Mail: walter.mayr@spiegel.de

DER SPIEGEL 52 / 2017 85


Für SPIEGEL-Abonnenten:
Digital-Upgrade nur € 0,50.

Jetzt
4 Wochen
gratis
testen

Ohne Verpflichtung lesen


Bereits ab freitags 18 Uhr
Auch offline lesbar
Auf bis zu 5 Geräten
Inklusive SPIEGEL DAILY
Die neue digitale Tageszeitung

Rosenzweig & Schwarz, Hamburg

Ja, ich möchte den SPIEGEL digital testen!


Ich lese 4 Wochen den SPIEGEL digital kostenlos, danach als SPIEGEL-Abonnent für nur € 0,50 statt
€ 4,10 pro Ausgabe. Ich gehe keine Verpflichtung ein, denn ich kann jederzeit zur nächsterreichbaren
Ausgabe kündigen.

Einfach jetzt anfordern: abo.spiegel.de/upgrade


Sport
Transferausgaben in der Winterperiode in Millionen Euro 398,5 Fußball
347,9 Schlusseinkauf
271,4 Wer in der Winterpause
Chinese Super League 248,3 auf dem Transfermarkt
aktiv werden müsse, habe
158,9 160,4 bei der Zusammenstellung
147,1 des Kaders im Sommer
118,6 100,9 etwas falsch gemacht. Das
71,4 65,1 hat vor 13 Jahren Dieter
34,4 40,2 37,1 43,3
Hoeneß gesagt, damals
Manager von Hertha BSC.
Saison 2012/2013 2013/2014 2014/2015 2015/2016 2016/2017 Wenn dieser Satz stimmt,
machen die Bundesligisten
Die teuersten Einkäufe im Winter 2016/17 Quelle: immer mehr falsch. Auf
transfermarkt.de
Bundesliga international 101 Millionen sind zuletzt
Leon Yunus Malli 12,5 Mio. Julian Draxler 40,0 Mio.
die Transferausgaben im
Bailey Oscar Winter gestiegen. Im Janu-
T H O R ST E N WAG N E R / W I T T E R S ; G E T T Y I M AG E S S P O RT

von Mainz 05 vom VfL Wolfsburg


13,5 Mio. zum VfL Wolfsburg 60,0 Mio. zu Paris Saint-Germain ar 2018, der kommenden
Riechedly Bazoer 12,0 Mio. Gabriel Jesus 32,0 Mio.
Transferperiode, könnte es
von Ajax Amsterdam von Palmeiras São Paulo wieder einen neuen Re-
zum VfL Wolfsburg zu Manchester City kord geben. Auch interna-
Dayot Upamecano 10,0 Mio. Gonçalo Guedes 30,0 Mio.
tional explodierten die
vom von RB Salzburg von Benfica Lissabon winterlichen Ablösesum-
KRC Genk zu RB Leipzig vom zu Paris Saint-Germain men – besonders befeuert
(Belgien) FC Chelsea
Walace 9,2 Mio. Dimitri Payet 29,3 Mio.
durch China, wo zu Beginn
zu zu
Bayer von Grêmio Porto Alegre Shanghai von West Ham United des Jahres die meisten
Leverkusen zum Hamburger SV SIPG zu Olympique Marseille Transfers stattfinden.

Magische Momente
„Ich hatte ja nicht mal geduscht“
SASCHA KLAHN

Handballtorwart Tim Wendt, 20, über sein unverhofftes Bundesligadebüt beim Rekordmeister THW Kiel

SPIEGEL: Normalerweise spie- SPIEGEL: Gab es überhaupt ganze Partie spielen musst. einsatz, vor 10 000 Zuschau-
len Sie in der viertklassigen ein Trikot für Sie? Ich hoffte aber auf eine ern für den THW – davon
Oberliga, Anfang Dezember Wendt: Das wurde kurzfristig Chance, vielleicht bei einem träumt jeder Kieler Junge.
feierten Sie gegen Hütten- noch beflockt. Der zuständi- Siebenmeter. SPIEGEL: Sie spielten 2:14
berg Ihren ersten Bundesliga- ge Mitarbeiter wurde einbe- SPIEGEL: Kurz vor Ende führ- Minuten. Ihr schönster
einsatz. Wie kam es dazu? stellt, er hatte zuvor zu Hau- te Kiel deutlich. Trainer Gis- Moment?
Wendt: Ich war an dem Tag in se auf der Couch gesessen. lason gab Ihnen zu verste- Wendt: Meine erste Parade.
Rendsburg, half bei einem SPIEGEL: Wie verliefen die Mi- hen, Sie sollten sich bereit- Der Kreisläufer kam zum
Umzug. Um halb vier be- nuten vor dem Spiel? halten. Wurf, knickte nach links ab,
merkte meine Freundin, dass Wendt: In der Oberliga ma- Wendt: Da stieg die Anspan- zielte unter die Latte. Ich pa-
ich vier verpasste Anrufe chen wir deutlich mehr Wit- nung. Mein erster Bundesliga- rierte den Ball, sah aus den
von meinem Trainer hatte. ze in der Kabine. Bei Augenwinkeln, dass er
Ich rief zurück. Er meinte: den Profis läuft Musik, nicht ins Tor ging. Da
„Tim, wo bist du? Komm jeder ist mit sich selbst wusste ich: Das ist der
nach Kiel, du spielst heute beschäftigt. Ich zog erste Ball, den du in
für die Erste.“ Von den mich um, setzte mich der Bundesliga gehal-
THW-Torhütern war Olym- auf meinen Platz und ten hast! Ein cooles Ge-
piasieger Niklas Landin er- wartete. fühl.
krankt, die etatmäßige Num- SPIEGEL: Sie machen SPIEGEL: Sie parierten
mer drei gesperrt. eine Ausbildung zum alle drei Würfe, die auf
SPIEGEL: Ihre Reaktion? Anlagenmechaniker. Ihr Tor kamen – ein
Wendt: Ich war tierisch aufge- An diesem Tag waren perfekter Einstand.
regt, hatte ja nicht mal ge- Sie Back-up für Natio- Wendt: Ich war lange
duscht, stand ohne Sportkla- naltorwart Andreas damit beschäftigt, alle
motten in Rendsburg. Wir Wolff. Glückwünsche zu be-
UWE PAESLER

fuhren zurück nach Kiel, da- Wendt: Ich dachte: Das antworten. Am nächs-
mit ich meine Schuhe holen Schlimmste wäre, wenn ten Morgen bei der Ar-
konnte. Zweieinhalb Stunden er sich nach fünf Minu- beit wussten auch schon
später war ich in der Halle. ten verletzt und du die Wendt gegen den TV Hüttenberg alle Bescheid. tne

DER SPIEGEL 52 / 2017 87


Sport

„Ich schäme mich“


SPIEGEL-Gespräch Italiens Torwartlegende Gianluigi Buffon über die Dramen
mit den Deutschen und seinen tränenreichen Abschied

SPIEGEL: Und Sie lenken den Ball mit einem SPIEGEL: Sind nicht auch einige der frühe-

E
in eisiger Dezembertag in Vinovo,
einem von schneebedeckten Zwei- Reflex über die Latte. Danach schießt Ita- ren Tugenden verloren gegangen, ist nicht
und Dreitausendern überragten Vor- lien zwei Tore. Ein Schlüsselmoment auf das Sieger-Gen weg?
ort Turins. Zum Juventus-Trainingscenter dem Weg zum Weltmeistertitel? Buffon: Nein, das glaube ich nicht. Wir ha-
führt eine Allee, in der an jeden der fast Buffon: In solchen Spielen ist jeder Moment ben das immer noch in der DNA. Was wir
drei Dutzend Meistertitel des italienischen entscheidend. Dieses Match war so aus- verloren haben, ist der Spieler, der das
Vorzeigeklubs erinnert wird. In einem hel- geglichen, dass am Ende Kleinigkeiten den Zeug zum Champion hat.
len Zweckbau wartet der berühmteste Ausschlag gaben. Italien war damals, vor SPIEGEL: So wie früher Baggio, Del Piero,
Spieler in der Geschichte dieses Vereins: allem gegen Ende, sehr mutig, auch dank zuletzt Pirlo?
Gianluigi „Gigi“ Buffon, 39. Hellbrauner Na- der Wechsel, die unser Trainer Marcello Buffon: Bis vor etwa zehn Jahren hatten
delstreifenanzug, schwarzer Rolli, stahl- Lippi vornahm. Wir wollten gewinnen, wir solche Spieler noch. Das ist vorbei.
blaue Augen, Sechstagebart. Der Mann unbedingt, wir waren in Rage und fühlten Eine gewaltige Bürde, die wir da tragen.
mit 175 Länderspielen und mehr als tau- uns überlegen. Außerdem hatten wir am SPIEGEL: Hat nicht auch die Autorität der
send Pflichtpartien war fünfmal Welttor- Ende mehr Glück als die Deutschen. Trainer gelitten? Schon bei der WM 2014
hüter, am Abend zuvor wurde er von der SPIEGEL: Nach 2006 gab es weitere drama- mussten Sie und die anderen „Senatoren“,
„Gazzetta dello Sport“ zum „Mann des tische Spiele – das 2:1 für Italien bei der die Routiniers, in der Kabine eingreifen,
Jahres“ gekürt. EM 2012 durch zwei Balotelli-Tore und etwa gegenüber Balotelli. In diesem Jahr
dann der Sieg der Deutschen im Elfmeter- wurde sogar der Nationaltrainer aus der
SPIEGEL: Signor Buffon, nach dem Schei- schießen bei der EM 2016. Was macht die Kabine verscheucht.
tern Italiens in der WM-Qualifikation ge- Duelle zwischen den beiden Nationen so Buffon: Als ich 1997 begonnen habe in der
gen Schweden hatten Sie eigentlich Ihren besonders? Squadra Azzurra, war das Verhältnis zwi-
Rücktritt erklärt. Inzwischen aber haben Buffon: Die gemeinsame Geschichte, die schen Trainer und Mannschaft noch so wie
Sie auf die Frage, ob die EM 2020 noch diese Nationen mit sich herumtragen, spielt zwischen dem Fabrikbesitzer und seinen
ein Ziel sei, geantwortet: „Ich schließe eine Rolle. Auch die Geografie. Sozusagen Arbeitern. Das hat sich geändert, und ich
nichts aus.“ Was ist nun richtig? ein historisches Geflecht. Das geht dann denke, das ist gut – Auseinandersetzungen
Buffon: Ach, ich weiß einfach nicht mehr, über ein einfaches Fußballspiel hinaus. können fruchtbar sein. Im Übrigen haben
wie ich auf diese Fragen antworten soll. SPIEGEL: Der berühmte Spruch von Gary wir den Nationaltrainer nicht aus der Ka-
Höre ich auf, höre ich nicht auf? Ich Lineker über die Deutschen, die am Ende bine verjagt – er ist vor den entscheiden-
fühle mich als Soldat, im Dienst meines eines 90-minütigen Fußballspiels immer den Spielen zu mir, zu Barzagli und Chiel-
Vereins und meines Landes. Das Wohl gewinnen, hätte abgewandelt lange Zeit lini gekommen und hat vorgeschlagen, ein
des großen Ganzen war mir immer wich- auch für die Italiener gelten können – am Treffen ohne ihn einzuberufen. Ich habe
tiger als mein eigenes. So sehe ich meine Ende gewannen sie immer, zumindest ge- gesagt: „Ja, Mister, gute Idee.“
Arbeit. Sehr wahrscheinlich höre ich auf, SPIEGEL: Wir haben Sie zuletzt häufig in Trä-
stehe aber weiter zur Verfügung, für Ju- nen gesehen – nach dem Ausscheiden bei
ventus wie für die Nationalmannschaft. „Wir haben den der EM 2016, nach dem verlorenen Cham-
Selbst mit 80 Jahren, wenn plötzlich
kein Torhüter da wäre, dürfte man mich Kindern die Möglichkeit pions-League-Finale 2017 und nach dem
Ausscheiden in der WM-Qualifikation. Be-
anrufen – ich trainiere dann kurz und genommen, bei einer reuen Sie, nicht früher aufgehört zu haben?
springe ein.
SPIEGEL: Spätestens vor dem nächsten Län-
WM richtig mitzufiebern.“ Buffon: Absolut nicht. Ich bin fast 40 und
glücklich mit dem, was ich tue, bis jetzt.
derspiel der Squadra Azzurra im März wer- Wer über Buffon redet, spricht noch im
den Sie sich endgültig äußern müssen. gen die Deutschen. Warum ist es damit Präsens. Obwohl ich mir sage, bei all den
Buffon: Was ich sagen musste, habe ich ge- seit 2016 vorbei? Und, noch schlimmer – Preisen, die ich jetzt bekomme, sieht es
sagt. Ein Mann von fast 40 Jahren hat die wie kann es sein, dass die Italiener nun fast so aus, als wäre ich schon weg. Aber
Pflicht, anderen Raum zu geben. Ich weiß sogar gegen Schweden in der WM-Quali- das ist natürlich Selbstironie. Wenn Ironie,
doch selbst am besten, dass ich anderen fikation ausgeschieden sind? wie es heißt, das Anzeichen maximaler
im Weg stehen könnte, und das will ich Buffon: Na ja, bisher war es so – nach Plei- Verzweiflung ist, dann ist Selbstironie ein
nicht. Das erfordert schon der Respekt vor ten kommen wir meistens stärker zurück. Symbol für ein glückliches Leben. Und ich
anderen. Punkt. Wir haben eine grauenvolle WM 2010 für meinen Teil bin glücklich.
SPIEGEL: Ein Blick zurück, auf Buffon und gespielt, und zwei Jahre später waren SPIEGEL: Wie wichtig wäre die sechste WM-
die Deutschen – eine lange Geschichte vol- wir wieder im EM-Finale. 2014 wieder Teilnahme für Sie persönlich gewesen – et-
ler Dramen. Sie erinnern sich an das WM- eine schlechte WM, aber zwei Jahre später was, was keiner zuvor geschafft hat, nicht
Halbfinale in Dortmund 2006, neun Minu- gegen Deutschland erst im Elfmeterschie- einmal Lothar Matthäus?
ten vor Abpfiff, Spielstand 0:0, und von ßen ausgeschieden. Unsere DNA ist noch Buffon: Es wäre ein Rekord gewesen, der
links außen kommt einer allein auf Sie zu? die gleiche, der Kampfgeist auch, aber mich wahnsinnig gefreut hätte, das ist un-
Buffon: Ja, ich erinnere mich. Der zieht ab. wenn das Talent fehlt, reicht das leider strittig. Da hätte sich ein Kreis geschlossen,
Podolski. nicht. eine Karriere ihr Ende genommen. Aber
88 DER SPIEGEL 52 / 2017
DER SPIEGEL 52 / 2017
89
DANIELE BADOLATO / GETTY IMAGES
ALBERTO LINGRIA / IMAGO / XINHUA
SVEN SIMON

Weltmeister Buffon 2006 in Berlin, gescheiterter WM-Qualifikant Buffon 2017 in Mailand: „Der lebendigste Spiegel der Gesellschaft“

was mir wirklich Schmerzen bereitet: nicht schaft richtig mitzufiebern. Das Schlimms- geschrieben mit Kämpfen, mit Leid, auch
zur WM fahren zu können mit diesen Spie- te kommt noch im nächsten Juni. Ich hoffe, mit Blut. Das hat respektiert zu werden.
lern, von denen einige seit zehn, elf Jahren dass ich beim Anpfiff zum Eröffnungsspiel Hinzu kommt, dass ich finde, wir Italiener
mit mir beisammen sind … bereits mit meinem Schnorchel unter Was- respektieren uns selbst nicht ausreichend.
SPIEGEL: Mit De Rossi und Barzagli wurden ser bin, irgendwo – und anderthalb Monate Das Bewusstsein dafür, was wir sind und,
Sie bereits Weltmeister 2006 … lang nicht mehr auftauche. Den Kopf stre- vor allem, was wir sein könnten, ist gering.
Buffon: … und mit denen ich mir ein letztes cke ich erst wieder raus, wenn das Endspiel Wir sind im Kern feinfühlig, gastfreundlich
Geschenk machen wollte, eine letzte Gele- abgepfiffen ist. So zumindest schaut mein und hilfsbereit. Wenn also jemand die
genheit, noch einmal einen Monat zusam- Traum aus. Hymne der Gäste auspfeift, tut mir das
men zu verbringen und große Gefühle zu SPIEGEL: „Gigi Buffon – Stolz der Nation“ leid, auch für uns selbst. Das ist Unkultur.
teilen. Hinzu kommt der soziale Aspekt. stand vor einigen Tagen auf einem großen Auch ich habe früher übrigens in der
SPIEGEL: Was bedeutet das? Transparent im Stadion. Berührt Sie das? Kurve gestanden und so manches gesun-
Buffon: Sagen wir es ähnlich wie Churchill: Buffon: Ehrlich gesagt: ja. Weil ich das als gen, ich weiß also, wovon ich rede.
„Die Italiener ziehen in den Krieg, als gin- Lohn für den Weg sehe, den ich gegangen SPIEGEL: Albert Camus sagte, alles, was er
ge es nur um ein Fußballspiel, aber ein bin, nicht nur als Sportler, auch als Mensch. über Moral und Verpflichtung wisse, habe
Fußballspiel gehen sie an, als wäre es eine Die Leute schenken dir nichts, das Leben er beim Fußball gelernt. Sie klingen fast
Schlacht.“ Das beschreibt gut, mit welcher schenkt dir nichts. Wenn du spielst, wenn genauso.
Einstellung wir ein Match beginnen und du sprichst, wirst du gewogen und nur Buffon: Der Fußball hat mir unglaublich
welcher Zauber dann bei uns im ganzen dann für gut befunden, sofern du den viel beigebracht. Er ist der lebendigste und
Land entsteht. Ich weiß das, weil ich nicht Schlüssel findest zu dem, was die Men- verlässlichste Spiegel der Gesellschaft.
vergessen habe, wie ich es als Kind emp- schen fühlen. SPIEGEL: Ihr deutscher Lieblingsverein, kön-
fand. Juventini, Interisti und Napoletani SPIEGEL: Früher hat man Ihnen Nationalis- nen Sie den aussprechen?
rücken da plötzlich zusammen. mus vorgeworfen, in den letzten Jahren Buffon: Oh ja, seit meiner Kindheit – Bo-
SPIEGEL: Fußball sei das Einzige, was haben Sie mehrfach für Aufsehen gesorgt, russia Monschenkladbak (lacht). Die ha-
Italiener aus Nord und Süd eine, sagen indem Sie sich gegen Rassismus und Aus- ben ja, als wir vor zwei Jahren gegen-
einige. grenzung ausgesprochen haben – zuletzt einander spielten, nicht gewusst, dass ich
Buffon: Sicher, ich weiß, dass es diese Stim- in Mailand auch gegen das hemmungslose ein Borussia-Fan bin, und mich zurückge-
men gibt. Und gerade deshalb werde ich Auspfeifen der gegnerischen Nationalhym- wiesen, als ich in der Kurve einen Schal
dieses Ausscheiden gegen Schweden bis ne. Spiegelt der Fußball wider, was in der von den Fans wollte. Aber später sind sie
zum Lebensende bereuen. Wir haben den Gesellschaft passiert? zu mir in die Kabine gekommen, haben
Kindern die Möglichkeit genommen, bei Buffon: Nehmen wir das Beispiel mit der sich entschuldigt und mir einen Schal ge-
so einem Ereignis wie der Weltmeister- Hymne. Jede Nation hat ihre Geschichte, bracht. Alles gut, ich war nicht beleidigt.
90 DER SPIEGEL 52 / 2017
Sport

SPIEGEL: Wenn man sich die Rangliste der gen Burschen, wie sich Ältere benehmen, Sport zu sehen. Das färbt auf die Mann-
besten Torhüter ansieht, sind praktisch seit also benehmen sie sich logischerweise ge- schaft ab.
15 Jahren immer die gleichen vorn – Iker nauso. SPIEGEL: Das bedeutet, einer wie Sami Khe-
Casillas, Gigi Buffon und Manuel Neuer. SPIEGEL: Kurz vor der WM 2002 haben Sie dira kommt hier an, und nach wenigen Ta-
Was spricht für Neuer? den Ausschluss aufgrund eines gefälschten gen hat er den Juve-Geist intus?
Buffon: Manuel hat meiner Meinung nach Abiturzeugnisses riskiert; kurz vor der EM Buffon: Die ersten Monate hier sind der
eine unglaubliche Präsenz, vor allem kör- 2004 sind Sie an Depressionen erkrankt; Wahnsinn. Ich kam ja von Parma, 2001,
perlich, da ist etwas, was dich unmittelbar und kurz vor der WM 2006 waren Sie beim und die ersten Monate fühlte ich mich
anspringt. Ein beeindruckender, starker Staatsanwalt vorgeladen wegen angebli- wie in einer anderen Welt. Was ich he-
Typ. Bei Bayern ist er noch stärker gewor- chen Wettbetrugs. Trotzdem standen Sie rausfinden wollte, war, ob der Außerirdi-
den, er macht wesentlich weniger Fehler im entscheidenden Moment immer auf sche ich bin oder ob es der Verein ist. Es
als zuvor und ist zu einem höchst zuver- dem Feld – haben Sie starke Nerven? gibt eine Ernsthaftigkeit, mit der hier an
lässigen Torwart gereift. Erstklassig auch Buffon: Ja, die habe ich sicher. Aber hinzu die Arbeit gegangen wird, und eine Zä-
mit den Füßen und in der Art, wie er das kommt: Ich bin selbstkritisch und mache higkeit, Sturheit, mit der hier an Verbes-
Spiel liest, großartige Reflexe, außer- die Sachen mit mir selbst aus, das Urteil serungen gearbeitet wird. Juve hat so gut
ordentlich. anderer kann mir dann nichts mehr anha- wie nie Wahnsinnssummen für Spieler
SPIEGEL: Das klingt fast begeistert. ben. Ich schäme und geniere mich. Wer ausgegeben wie Real oder Barcelona –
Buffon: Ich sage das, na ja, fast mit Demut. Fehler macht, muss dafür bezahlen. und hat trotzdem immer ganz oben mit-
Wenn du als junger Kerl über andere reden SPIEGEL: 175 Länderspiele und mehr als gespielt.
sollst, nervt das, aber wenn du älter bist, tausend Partien insgesamt – gibt es ein SPIEGEL: Zinédine Zidane begegnet Ihnen
beginnt es, dir zu gefallen. Um selbst noch seit über 20 Jahren, als Spieler und dann
besser zu werden, muss ich mich mit den als Trainer. Unvergesslich das WM-End-
anderen und ihren Stärken beschäftigen; „Ich will besser werden, spiel in Berlin 2006, wo er erst einen
ob das nun Neuer, ter Stegen, De Gea oder
Courtois ist. da gibt es auch Elfmeter unter die Latte schnippelte, in
der Verlängerung schließlich nach einem
SPIEGEL: Wie schneidet Marc-André ter Ste- mit 40 Jahren noch Kopfstoß vom Platz flog. Sie waren es,
gen ab?
Buffon: Er macht in diesem Jahr eine un-
Spielraum.“ der den Schiedsrichter darauf aufmerksam
gemacht hat. Hat Zidane Ihnen das ver-
glaubliche Entwicklung. Er gefällt mir, weil ziehen?
er außer mit den Füßen, wo er prima ist, Geheimnis, wie man das körperlich hinbe- Buffon: Wir sind uns seit je verbunden,
nun auch entscheidende Paraden hinlegt, kommt? durch gegenseitigen Respekt und Hoch-
übrigens zuletzt auch bei uns in Turin in Buffon: Vor allem nicht dran denken. Gro- achtung. Bis zuletzt, bis zum Champions-
der 92. Minute. Nach dem Schlusspfiff bin ßes passiert ungeplant. Ernsthaft leben League-Finale 2017, das Juventus verloren
ich hin zu ihm und habe gesagt: „Wie wie ein Profi – ja, das natürlich. und das Real mit dem Trainer Zidane
kannst du dir erlauben, in meinem Wohn- SPIEGEL: Die Werbung, die Sie für Rotwein verdient gewonnen hat. Aber der Kopf-
zimmer so eine Parade hinzuzaubern?“ Ich machen, passt da nicht wirklich rein. stoß damals gegen Materazzi, das war
habe mich für ihn gefreut. Buffon: Doch, du kannst dir alles erlauben, so groß, so außerhalb jeder Vorstellungs-
SPIEGEL: In Ihrer Autobiografie schreiben nur nicht bei Sachen, von denen du weißt, kraft, dass auch ich es nicht geschafft
Sie: „Geld ist nicht alles.“ Wie sehen Sie dass sie dir schaden. Zweimal pro Woche hätte, so zu tun, als hätte ich nichts ge-
die Rekordsummen, die zuletzt bei den zwei Gläser Wein ist kein Problem. sehen. Ein Schock, auch für mich, ich habe
Transfers von Neymar, Mbappé, Pogba Schlimmstenfalls musst du am nächsten das nicht für möglich gehalten. Einem
ausgehandelt wurden? Tag eine halbe Stunde mehr trainieren. Burschen wie Zidane aber kannst du
Buffon: Sie spiegeln die Parameter wider, SPIEGEL: Was ist der Kern des Erfolgs von nichts übel nehmen, er ist ein guter Junge,
die den Fußball nun bestimmen. Frag mich Juventus? Sie sind Serienmeister, erfolg- vielleicht zu verschwiegen, der in die-
nicht, ob ich das richtig finde. Ich will hier reich in der Champions League. sem einen Moment eine Dummheit be-
nicht als alter Kommunist daherkommen, Buffon: Bei Juventus gibt es Werte, die wer- gangen hat.
der die Grundlagen des Marxismus vertritt. den weitervermittelt. Der Antrieb kommt SPIEGEL: Haben Sie Ihren Mitspieler Mate-
Das ist nicht meins. von den Besitzern, von der Familie Agnelli, razzi nie gefragt, womit er Zidane belei-
SPIEGEL: Dabei wächst sich das Ganze ja von ihrer Art, das Leben, die Arbeit, den digt hat, bevor dieser zustieß?
weiter aus. Ob Dembélé oder Ihr neuer Buffon: Nein, und zwar deshalb, weil ich
Mannschaftskamerad Bernardeschi – alle- mich für Tratsch nicht im Geringsten inte-
samt Millionäre, die zuletzt bei ihren alten ressiere. Das passt nicht zu mir.
Vereinen in Streik getreten sind, um zu lu- SPIEGEL: Welche Ziele setzen Sie sich noch?
krativeren Vereinen wechseln zu können. Buffon: Ich will besser werden, da gibt es
Finden Sie das nicht absurd? auch mit 40 Jahren noch Spielraum. Und
Buffon: Nein. Du kannst doch einem 20-jäh- mit Juventus möchte ich um den Sieg mit-
rigen Burschen nicht die Schuld geben. spielen, bis zum Ende – in der italienischen
Würden sich alle Besitzer oder Präsidenten Liga und in der Champions League.
DANIELE BADOLATO / GETTY IMAGES

der Vereine auf Verhaltensregeln einigen, SPIEGEL: Ihre Prognose für die WM 2018?
dann käme es erst gar nicht so weit. Wenn Buffon: Während ich mit dem Kopf unter
aber bei Manchester beschlossen wird, Wasser bin, gewinnt der Beste. Ob ich es
einen dieser Burschen von Juve zu klauen, wirklich schaffe, nicht zuzuschauen, weiß
oder bei Paris Saint-Germain, dass für die- ich allerdings nicht. Für mich ist dieses
sen Neymar, sagen wir, 500 Millionen Euro Ausscheiden eine Wunde, eine Narbe, die
zu zahlen sind – da sehen doch diese jun- nie verheilen wird.
Buffon, SPIEGEL-Redakteur* SPIEGEL: Signor Buffon, wir danken Ihnen
* Walter Mayr in Vinovo. „Das Urteil anderer kann mir nichts anhaben“ für dieses Gespräch.
DER SPIEGEL 52 / 2017 91
Medizin
Gut im Blut
Bei Verletzungen der Gefäße
haften sich Blutplättchen,
sogenannte Thrombozyten,
an deren Wände. Sie verbin-
den sich miteinander und
dichten die offene Stelle ab.
Dass die Blutplättchen einen
weiteren, viel aktiveren Job
in der Immunabwehr über-
nehmen, haben jetzt Forscher
der Ludwig-Maximilians-Uni-
versität in München heraus-
gefunden: Erstmals beobach-
teten sie an Mäusen, deren
Thrombozyten sie farblich
sichtbar machten, dass die
Zellen sich sogar autonom be-
wegen und aktiv dorthin
wandern, wo sie mit Fremd-
körpern in Kontakt treten
können. Bakterien kehren sie
regelrecht zu Häufchen zu-
sammen, was wiederum ein
Signal für Fresszellen ist:
Kommt her, und vernichtet
die Keime! Die neuen Er-
kenntnisse könnten wichtig
sein für die Entwicklung von
Medikamenten, die versu-
chen, überschießende Entzün-
dungsreaktionen in den Griff
zu bekommen. Indem man
die Wanderungen der Blut-
plättchen unterbinde, erklärt
Florian Gärtner, einer der
Leiter der Studie, könne man
„in die Abwehrmechanismen
des Körpers eingreifen“. kk

Fußnote

36 Milliarden
Tonnen Boden werden
weltweit jedes Jahr
vom Regen weggespült.
Besonders zugenommen
hat die Erosion in Argen-
tinien, Brasilien und
Bolivien. Das hat ein inter-
nationales Wissenschaft-
lerteam unter Leitung der
Universität Basel berech-
net. Grund ist laut den
Forschern vor allem die
Ausdehnung und inten-
sivere Bewirtschaftung
von Ackerflächen, die
sich der Witterung kaum
geschützt darbieten.

92 DER SPIEGEL 52 / 2017 Mail: wissenschaft@spiegel.de · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen


Wissenschaft+Technik
Psychologie SPIEGEL: Also nur Friede, allem niemand. Unsere El-
„Kann der Vater Freude, Eierkuchen?
Werheid: Zunächst einmal
tern und wir sind erwachsen,
da kann man Ereignisse un-
noch den Baum sind die Feiertage ein guter terschiedlich bewerten. Wich-
schmücken?“ Zeitpunkt, mal zu gucken, tig ist, dass man sich darüber
wie es den Eltern überhaupt austauscht und andere nicht
An den Feiertagen geht. Wie leicht fällt es der mit einem Urteilsspruch über-
rückt es vielen Mutter, immer noch sieben fällt. Oft eignen sich dafür
NELE MARTENSEN
ins Bewusstsein: Sorten Plätzchen zu backen? die kleinen Gespräche, beim
wie alt die eige- Dem Vater, den Baum bis De- Spazierengehen, beim Ab-
nen Eltern mittler- ckenhöhe zu schmücken? spülen. Dann kann man über
weile geworden SPIEGEL: Und dann? Wenn wir die eigenen Beobachtungen
sind. Katja Werheid, 48, Profes- sehen, dass es beschwerlicher und Sorgen sprechen. Viel-
sorin für Klinische Neuropsycho- wird? leicht kommt dann auch erst
logie an der Humboldt-Universi- Werheid: Bitte nicht an Heilig- mal ein: „Nein, das geht
tät zu Berlin, gibt Tipps, wie abend rufen: „Das muss doch schon.“
man damit umgeht, wenn die alles gar nicht sein!“ Hinter SPIEGEL: Und dann?
Superhelden von früher all- diesen Aktivitäten steckt für Werheid: Wird es noch ein
mählich selbst Hilfe brauchen. die Eltern immer auch ein nächstes und ein übernächs-
Wert. Etwa Fleiß und Fami- tes Mal geben. Das ist das
SPIEGEL: Wenn man seine liensinn. Wenn das kritisiert Wichtigste: im Gespräch zu
alten Eltern nicht so oft sieht – wird, tut es weh. Stattdessen bleiben. Das kann heißen,
sollte man die Feiertage nut- kann man auch mal einen einmal pro Woche vorbeizu-
zen, um mit ihnen endlich mal Tag früher anreisen und bei schauen oder, wenn man
ihre Zukunft zu besprechen? den Vorbereitungen helfen. weit entfernt wohnt, an
Werheid: Da sollten wir vor SPIEGEL: In Ihrem Buch be- einem festen Tag zu telefonie-
allem die gemeinsame Zeit schreiben Sie, was geschieht, ren. Man muss nicht viele
genießen – und nicht Themen wenn sich das Eltern-Kind- Stunden und Tage miteinan-
auf den Tisch bringen, die Verhältnis umkehrt. Wenn der verbringen. Aber solche
einem zwar unter den Nägeln man nun tatsächlich sieht: Es festen Verabredungen schaf-
brennen, aber heikel sind. muss etwas im Leben der fen Vertrauen, eine gute Ba-
Die Frage, ob ein Umzug in Eltern geändert werden – wie sis. Auch für einen selbst. kk
ein betreutes Wohnen sinn- spricht man das gut an?
voll ist, muss nicht an Heilig- Werheid: Müssen muss nie- Katja Werheid: „Nicht mehr wie immer“.
abend geklärt werden. mand, und müssen will vor Piper; 208 Seiten; 15 Euro.

Glosse

Protz mit Wurm


Warum das Schenken nicht immer eine Herzensangelegenheit sein muss
Das Schwierige am Schenken ist, dass es von Der israelische Evolutionsbiologe Amotz
Herzen kommen soll. Das geht leider nicht im- Zahavi fragte sich in den Siebzigerjahren,
mer. Aber wer will das schon zugeben? Wer welcher evolutionäre Grund hinter einem
Gans arm traut sich, an Heiligabend zu sagen, dass er lie-
ber flott einen Gutschein für irgendwas besorgt
scheinbar so unnützen Verhalten stecken
könnte.
Schlechte Zeiten für das hat, statt lange nach dem wahren Glücksspen- Da wäre das Schenken der Drosslinge, aber
Federvieh, nicht nur der zu suchen – oder gar etwas zu basteln? auch der unpraktische Putz und Pomp, der
an Weihnachten: Auf der Alle, die gerade mit schlechtem Gewissen sich überall in der Fauna findet. Was bringt
russischen Wrangelinsel einen hässlichen Fonduetopf verpacken, dem Pfau sein Rad, wenn er wegen der lan-
stehlen Polarfüchse bis sollten daher wissen, dass das Schenken zu- gen Federn im Notfall nicht fliehen kann?
SERGEY GORSHKOV / WILDLIFE PHOTOGRAPHER OF THE YEAR

zu 40 Schneeganseier am mindest evolutionsbiologisch eine andere Zahavi fand den Sinn schließlich in der Ver-
Tag, um ihre Welpen zu Funktion haben kann: Im Tierreich wird da- schwendung selbst: Wer es sich erlauben
verpflegen. Die Insel zwi- mit nicht zwingend Herzenswärme verbreitet, kann, bunte Federn aufzustellen oder ungebe-
schen der Tschuktschen- sondern ordentlich auf die Pauke gehauen. ten Würmer abzugeben, muss über wahrhaft
und der Ostsibirischen Schenkt ein Graudrosslingmännchen im üppige Ressourcen verfügen – das „Zuviel des
See wurde aufgrund ihres israelisch-jordanischen Arava-Tal einem rang- Guten“ wird zum Zeichen der Stärke.
Artenreichtums 2004 höheren Tier einen Wurm, kann es froh sein, Wer also Mühe hat, sich all den überflüssi-
zum Unesco-Welterbe wenn es mit dem Leben davonkommt. Selbst gen Kram unterm Weihnachtsbaum zum Her-
erklärt – es ist die nörd- der kleine Vogelchef scheint zu verstehen, zensgeschenk schönzureden, darf an Zahavi
lichste Schutzfläche. dass so ein geschenkter Wurm nicht ohne Hin- denken. Und sich kurz damit trösten, dass
tergedanken kommt. Vorsorglich geht er dem auch in der Verschwendung ein tieferer Sinn
Unterling an den Kragen. Keilerei statt Dank. stecken kann. Kerstin Kullmann

DER SPIEGEL 52 / 2017 93


FRIEDEL AMMANN / DER SPIEGEL
Kopfrekonstruktion des verstorbenen Baslers: Hatte seine Frau ihn getötet?

Der Fall „Theo“


Anthropologie Sie hatten nur ein Gerippe und eine Liste mit 4334 Namen. Doch mit
raffinierter Forensik und detektivischem Spürsinn kamen Basler Forscher dem
Schicksal eines Mannes auf die Spur, der vor über 200 Jahren lebte, litt – und rauchte.

E
s kam der Tag, da war der Friedhof nahe der Kirche eine Wärmepumpe instal- alt und arbeitet als Kurator am Naturhis-
an der Kirche St. Theodor in Klein- liert werden. Dafür wurden neue Leitun- torischen Museum in Basel. An einem Tag
basel so voll mit Toten, dass der Bo- gen gebraucht, und so rückte im Winter im November betritt er dort den Aufzug
den bei Starkregen nach Verwesung stank. 1984 routinemäßig die Archäologische Bo- im Foyer, fährt hinunter in den Keller und
Leichenwasser staute sich in den Pfützen; denforschung Basel-Stadt an, um Vorar- öffnet die Tür, hinter der die Toten sind.
manchmal lief es bis in den Altarraum. Oft beiten zu leisten. Hotz läuft einen schmalen Gang entlang,
fanden die Totengräber keinen freien Platz So begann eine Geschichte, die zu den vorbei an Schubladenschränken voller ur-
mehr und stachen mit ihren Spaten unge- faszinierendsten der modernen histori- alter Schädel und Knochen, die zu For-
wollt in die Leiber derer, die kurz zuvor schen Forschung zählt. Sie zeigt, welch raf- schungs- und Ausstellungszwecken gesam-
bestattet worden waren. So entschied man, finierte forensische Methodik Archäologen melt werden. Er passiert Skelette von
den Friedhof zum 1. Mai 1833 zu schließen. und Anthropologen heutzutage zur Verfü- Kleinwüchsigen, Rachitiskranken und ei-
Die Verhungerten, Geschundenen, Ty- gung steht. Und sie erzählt von einem Rät- nem 250 Jahre alten Fetus, der in den Ar-
phuskranken und Totgeborenen des Basler sel, das nach jahrelanger Detektivarbeit men seiner Mutter bestattet wurde. Er
Stadtteils Kleinbasel hätten damit auf ewig nun kurz vor der Lösung steht. zeigt auf eine Vitrine, in der die Mumie
vergessen sein können. Dann aber, etwa Ohne Gerhard Hotz wäre es nie so weit einer alten Priestergattin lagert. Dann läuft
150 Jahre später, sollte in einem Schulhaus gekommen. Der Anthropologe ist 54 Jahre er zu einem Tisch mit dunkelgrauer Platte,
94 DER SPIEGEL 52 / 2017
Wissenschaft

auf dem die Gebeine eines Mannes liegen, waren. Zwischen 1779 und 1833, dem Nut- Eine Forscherin untersuchte, wie robust
den man in Basel als „Theo, den Pfeifen- zungszeitraum des Friedhofs, zählte man und symmetrisch Theos Armknochen wa-
raucher“ kennt. 4334 Menschen, davon 2069 männlich. Ei- ren, und verglich die Ergebnisse anschlie-
Theos Gerippe, das aufgrund der Be- ner von ihnen war Theo. ßend mit Daten, die bei der Untersuchung
ckenform als männlich identifiziert wurde, Um den Kreis der Verdächtigen zu ver- von Vertretern unterschiedlicher Berufs-
war eines, auf das die Archäologen 1984 kleinern, wollten die Forscher nun heraus- gruppen erhoben worden waren. Demzu-
stießen. Dummerweise steckten seine Füße finden, wo Theo aufgewachsen und in wel- folge war Theo Rechtshänder und übte
in einer Grubenwand fest, die während der chem Alter er gestorben war. Dafür wur- wohl keinen Beruf aus, der körperlich
Ausgrabung nicht abgetragen werden konn- den nicht nur die Knochen, sondern auch überdurchschnittlich anstrengend war. Er
te. So mussten die Forscher zur Amputa- die Zähne untersucht, die Auskunft darü- verdiente sein Geld eher als Metzger, Bä-
tion schreiten und das Skelett unvollständig ber geben, woher ein Mensch stammt. cker oder Maler. Eine Tätigkeit im Holz-
ans Museum liefern. Dort ruhte es 20 Jahre Jede Region hat eine Art eigenen geoche- oder Textilgewerbe konnte von Anfang an
lang weitgehend unangetastet in einer mischen Fingerabdruck und offenbart sich ausgeschlossen werden, weil Theo ständig
Schublade. Doch dann bekamen einige Ar- über das Verhältnis zweier Varianten des seine Pfeife im Mund gehabt haben musste
chäologiestudenten im Jahr 2004 den Auf- Elements Strontium, das überall in spezi- und Rauchen in diesen Branchen streng
trag, sich die Knochen aus Kleinbasel ein- fischen Mengen vorhanden ist und sich verboten war. So blieben aus Sicht der For-
mal genauer anzuschauen. während der Kindheit im Gebiss einlagert. scher zwölf Männer, und jetzt wurde es
Den Nachwuchsforschern fiel das Ske- Theo, so stellte sich heraus, wurde in Basel richtig kompliziert.
lett ohne Füße auf, weil der Mann unge- geboren und muss dort auch seine Kind- Anthropologe Hotz verlässt das Muse-
wöhnliche, halbkreisförmige Lücken im heit verbracht haben. um, läuft fünf Minuten durch Basels Alt-
Gebiss hatte. Sie grübelten und führten Als hilfreich entpuppte sich die Unter- stadt und erreicht dann das Staatsarchiv,
die Deformation auf Tabaksucht und das suchung der Zahnwurzeln, an denen sich in dem etwa 21,5 Kilometer laufende Ak-
tönerne Mundstück einer Pfeife zurück. im Laufe eines Lebens Schichten aus soge- ten und Bücher lagern, die zum Teil aus
So kam das Gerippe in Anspielung auf nanntem Zahnzement bilden wie Jahres- dem frühen 11. Jahrhundert stammen.
Fundort und mutmaßliche Leidenschaft zu ringe an einem Baum. Besonders dicke Dort steht Hotz vor einem Schrank, so
seinem Namen. Schichten deuten auf Stressphasen hin, groß wie das Tor einer Doppelgarage, der
Anthropologe Hotz und einige seiner zum Beispiel auf Krankheiten, Hunger rund 120 000 Familienkarteikarten mit
Kollegen fanden interessant, was die Stu- oder Schwangerschaften. Theo musste knapp acht Millionen biografischen Daten
denten kombiniert hatten. War es möglich, es demnach als etwa 16-Jährigem sehr von Basler Bürgern enthält.
noch mehr über den Mann herauszufinden, schlecht gegangen sein, doch er fing sich Auch die Kärtchen der Theo-Kandi-
von dem man im Grunde nur ein paar Kno- wieder und starb, als er etwa 30 Jahre alt daten stecken im Schrank. Es sind Männer,
chen hatte? Könnte man ihn sogar identi- war. So strichen die Forscher alle Kandi- die in den Achtziger- und Neunziger-
fizieren? Seine Geschichte erforschen? daten von der Liste, die jünger als 26 und jahren des 18. Jahrhunderts geboren wur-
„Wir waren wie elektrisiert von der Idee älter als 34 Jahre waren. Das verkleinerte den und oft aus großen Familien mit
einer Art Lebensschicksalsrekonstruktion“, den Kreis auf 134. manchmal mehr als zehn Kindern stamm-
sagt Hotz. Archäologen konnten anhand der Grab- ten. Einige von ihnen wuchsen in ärm-
Der Wissenschaftler hatte von Anfang position nachweisen, dass Theo nach einer lichen Verhältnissen auf, in denen man
an große Pläne mit Theo: Er wollte den großen Typhusepidemie bestattet worden froh war, wenn das Geld fürs Essen reich-
Fall nutzen, um die Möglichkeiten der For- sein musste, denn die Opfer des Fleckfie- te. Das Leben war ungesund in den
schung auszuloten. Er plante ein Buch, eine bers wurden besonders tief verbuddelt; Gassen Kleinbasels. Die Kanäle und Stra-
Ausstellung und weitere Recherchen zu man hatte Angst, dass sie post mortem ßenbäche, die durchs Viertel flossen, steck-
Skeletten, die auf dem St.-Theodor-Fried- noch giftige Gase verströmten. So konnte ten voller Abfälle und Fäkalien, es herrsch-
hof und einem anderen Basler Totenacker ein Exitus nach 1814 unterstellt werden, ten ideale Bedingungen für Cholera,
beerdigt worden waren. Die Arbeit sollte und es blieben noch 25 Männer. Typhus und andere todbringende Krank-
helfen, gewöhnlichen Bürgern post mortem
eine Stimme zu geben, und erhellen, wie
sie im 18. und 19. Jahrhundert lebten und
litten – im Gegensatz zur Geschichtsschrei-
bung, die sonst dazu neigt, den Großen
und Mächtigen dieser Welt hinterherzuspü-
ren. Ihre Untersuchungen haben Hotz und
mehrere Kollegen für ein vor Kurzem er-
schienenes Buch beschrieben*.
Theo, so viel war von Anfang an klar,
könnte ein besonders schwieriger Fall wer-
den. Auf dem St.-Theodor-Friedhof gab es
kaum Grabsteine und keine Gedenkplat-
ten, nichts erinnerte an die armen Teufel,
die hier einst beerdigt worden waren. Hotz
FRIEDEL AMMANN / DER SPIEGEL

und seine Kollegen fanden auch keinen


Lageplan, sie stießen im Staatsarchiv nur
auf ein Register, in dem die Namen, Berufe,
Sterbealter und Geburtsorte aller Ver-
storbenen Kleinbasels vermeldet worden

* Wilfried Rosendahl, Burkhard Madea (Hg.): „Tatorte


der Vergangenheit“. Theiss; 144 Seiten; 39,95 Euro. Kurator Hotz, Skelettteile von „Theo“: „Wir waren wie elektrisiert“

DER SPIEGEL 52 / 2017 95


Steuern? heiten. Jedes zweite Kind starb, bevor es
fünf Jahre alt war.
Hotz und die anderen Ermittler haben
schon seit Langem einen Favoriten: Achi-
Lass ich machen. Marina Zulauf-Semmler, die im Kartei-
kartenraum vor zwei Büchern mit Leder-
les Itin, drittes von sieben Kindern eines
ehemaligen Stadtsoldaten. Die Erkenntnis-
einband sitzt, hat in den vergangenen Jah- se der Genealogen deuten darauf hin, dass
ren tiefen Einblick bekommen in die Le- die Familie immer wieder bittere Not, mög-
bensumstände der Basler zu Beginn des licherweise sogar Hunger litt. Ein Umstand,
19. Jahrhunderts. Die 63-Jährige ist Ah- der die auffällige Zahnzementschicht er-
nenforscherin und gehört zu einer Gruppe klären könnte. Womit Itin sein Geld ver-
Ehrenamtlicher, die über eine kleine Aus- diente, ist nicht ganz klar, vermutlich hielt
stellung im Naturhistorischen Museum er sich wie sein Bruder als Fuhrknecht
vom Fall Theo erfuhren. „Wir sind das über Wasser. Aus Unterlagen im Staats-
Fleisch am Knochen der Geschichtsfor- archiv geht hervor, dass er ledig blieb und
schung“, witzelt Zulauf-Semmler. am 14. November 1816 seinen letzten
Die Bürgerforschungsgruppe feiert in die- Atemzug tat.
sem Monat ihren zehnten Geburtstag und Zulauf-Semmler und ihre Leute haben
tut mittlerweile viel mehr, als sich nur um einen Nachfahren Itins ausfindig gemacht,
den Pfeifenraucher vom Armenfriedhof zu wohnhaft in den USA. In diesen Tagen
kümmern. Die Hobbygenealogen digitali- wird der Mann ein Paket aus Basel bekom-
sieren Daten aus drei Volkszählungen des men, darin eine Dokumentation zur Ar-
19. Jahrhunderts, sie werten Krankenakten beit der Wissenschaftler. Die Hoffnung ist,
aus, sammeln Polizeiberichte, oft in schwer dass der Amerikaner einer Speichelprobe
lesbarer deutscher Kurrentschrift verfasst. zustimmt und es dann später eine Über-
So helfen die Hobbywissenschaftler einstimmung mit Theos Erbgut gibt. Wenn
Hotz, die biografischen Daten zu etlichen nicht, würden sich die Forscher den Nach-
anderen Skeletten zu liefern, die im Muse- fahren von Topkandidat Nummer zwei
umskeller aufbewahrt werden. Es handelt widmen: Christian Friedrich Bender.
sich dabei um Überreste von Menschen,
die im 19. Jahrhundert auf dem Basler Spi-
talfriedhof bestattet wurden. Deren „Le- Die Typhusopfer wurden
bensschicksalsrekonstruktion“ gestaltet
sich etwas einfacher, weil dank vorliegen- sehr tief verbuddelt; man
der Unterlagen schnell geklärt werden hatte Angst, dass sie
konnte, wer wo beerdigt wurde.
Im Fall Theo kann eine endgültige
giftige Gase verströmten.
Identifizierung nur gelingen, wenn poten-
zielle Nachfahren ausfindig gemacht und Laut Behördenprotokollen, die die Ge-
zu einem Speicheltest bewegt werden kön- nealogen fanden, stand der 32-jährige Gla-
nen. Das war nun der wichtigste Job, den sermeister und Vater von acht Kindern am
das Genealogenteam um Zulauf-Semmler Samstag, dem 16. November 1816, gegen
zu erledigen hatte. Das Problem für die sechs Uhr morgens auf, nahm ein Rasier-
Ahnenforscher bestand darin, dass anfangs messer und schnitt sich damit die Kehle
nur Theos mitochondriale DNA isoliert durch. Seine Frau Sara „sey sogleich aus
werden konnte, und die wird nur von Frau- dem Bett gesprungen und wollte ihm zu

VLH. en vererbt. Daher mussten die Bürgerfor-


scher immer mit einer Schwester der zwölf
verbliebenen Theo-Kandidaten beginnen.
Wenn es die nicht gab, machten sie Tanten
Hülfe eilen“, notierte ein Beamter; doch
Bender, laut Protokollen von einer „Ge-
müths-Krankheit“ sowie „religiösen Zwei-
feln“ geplagt, habe sie zur Seite gestoßen
oder Großtanten ausfindig und ermittelten und das Messer ein zweites Mal angelegt.
von diesen aus weiter Richtung Gegenwart, Die Aussage der Frau wurde nicht ange-
Wir machen Ihre natürlich immer nur von Mutter zu Toch-
ter. „Es gab Momente, da wären wir fast
zweifelt, das Ableben Benders daher als
Selbstmord gedeutet.

Steuererklärung. verzweifelt“, sagt Zulauf-Semmler.


Die Gruppe verfolgte Spuren bis nach
Sollte sich bei einem DNA-Abgleich nach-
weisen lassen, dass Theo Christian Friedrich
Indonesien und Argentinien, schaffte es Bender war, dann hat die Polizei womöglich
aber nicht, Nachfahren aller Kandidaten einen Fehler gemacht. Laut Bericht wurden
aufzuspüren. Potenzielle Verwandte ga- beide Schnitte nämlich von rechts nach links
ben Speichelproben ab, alle Vergleiche geführt, und das würde nicht zu Theos er-
www.vlh.de mit Theos Erbgut fielen negativ aus. Das wiesener Rechtshändigkeit passen.
Team um Hotz verlor die Zuversicht, das So würde der Fall Theo eine neue Wen-
Rätsel um die Identität des Pfeifenrau- dung nehmen und darauf hindeuten, dass
chers lösen zu können, doch dann gelang vor 201 Jahren eine Frau ihren Ehemann
es zwei Berliner Rechtsmedizinern, DNA tötete und damit durchkam. Theo, der
zu isolieren, die aus dem Zellkern stammt. Pfeifenraucher, wäre dann ein Mordopfer –
Jetzt konnten die Genealogen auch die und Hotz und seine Kollegen hätten, wenn
väterliche Linie der Theo-Kandidaten auch spät, das Rätsel um sein Leben und
erforschen. Sterben gelöst. Guido Kleinhubbert

96 DER SPIEGEL 52 / 2017


Wir beraten Mitglieder im Rahmen von § 4 Nr. 11 StBerG.
Wissenschaft

hat. Alle 45 Minuten wird ein Kind nach offeriert die passenden Vermeidungsstra-

Doktor einem Sturz aus oder mit dem Buggy zum


Arzt gebracht. Ein jeweils durch Spielzeug
verletztes Kind landet gar alle drei Minu-
tegien.
Smith fordert Rollos mit unzugänglichen
Schnüren, er wünscht sich Hotdog-Würst-

Passbloßauf ten in einer Notaufnahme – die jüngeren


meist, weil sie Kleinteile verschlucken oder
einatmen, die größeren, weil sie mit etwas
chen, die nicht passgenau kindliche Luft-
röhren verstopfen können (ein Hersteller
ersann aufgrund einer Cirp-Studie bereits
Statistik Der US-Pädiater verunglücken, was Räder hat. Brühwürstchen mit Schlitzen in der Seite,
In Deutschland mussten 2015 rund die so im Mund ihre runde Form verlieren),
Gary Smith wertet seit 25 Jahren 1,7 Millionen Kinder nach einem Unfall Lollis, die statt des Stiels eine Kordel ha-
Alltagsunfälle von Kindern aus. ärztlich versorgt werden, 200 000 wurden ben (und sich Kindern beim Sturz nicht in
stationär im Krankenhaus behandelt. Von den Gaumen rammen), und Möbel mit
Wie geht einer durchs Leben, der den 182 tödlichen Unfällen ereigneten Umkippschutz.
überall tödliche Gefahren sieht? sich 109 zu Hause oder bei einer Freizeit- Die Zahl der Kinder, die durch Verlet-
aktivität. zungen ums Leben kommen, sei zwar rück-

G
ary Smith freut sich auf Weihnach- Für Smith sind solche Katastrophen läufig, sagt Smith. „Aber von den Erfolgen,
ten – trotz allem: trotz der Kerzen, kein Schicksal. Die meisten, glaubt er, die die Medizin beim Kampf gegen Infek-
an denen sich Kinder verbrennen, ließen sich vermeiden oder könnten zu- tionskrankheiten verzeichnen kann, sind
und der Batterien und Minimagnete aus mindest glimpflicher ablaufen, wenn El- wir weit entfernt.“
irgendwelchen Spielzeugen, die sie ver- tern, Betreuer und vor allem Hersteller Ist denn ein Unfall vergleichbar mit Ma-
schlucken, trotz des Alkohols, den sie aus die richtigen Vorkehrungen träfen. Sein sern, gegen die Kinder geimpft werden
den vergessenen Gläsern der Eltern trin- Kataster des Unglücks reicht von Ampu- können? Reicht es nicht, wenn Papa und
ken, trotz der nagelneuen Skateboards tationen (meist in Türen eingeklemmte Mama aufpassen? „Die besten Eltern der
und Roller, mit denen sie durchs Haus Finger, Empfehlung: Türstopper einbauen) Welt können ihre Kinder nicht rund um
sausen und stürzen – ohne Helm und Pro- bis zu Wintersportunfällen (nicht in der die Uhr überwachen“, sagt Smith. Wer Un-
tektoren. Nähe von Straßen und Bäumen rodeln), fälle auf die Eltern schiebe, mache es sich
Abgelenkte Eltern, eine ungewohnte es umfasst mehr als 100 Positionen und zu leicht – denn sehr viel sei mit politi-
Umgebung bei Oma und Opa, gefährliche schem Willen zu erreichen. „Früher sind
Geschenke: „Weihnachten“, sagt Kinder- Kinder an Durchfallerkrankungen gestor-
arzt Smith, „ist ein Risiko für Kinder.“ ben, weil sie keimbelastetes Wasser getrun-
Dabei gestaltet sich das Leben der Klei- ken haben“, sagt er. „Klar hätten die Eltern
nen schon gefährlich genug. Kaum jemand das Wasser immer abkochen können –
weiß das besser als Smith, 65. Der Pädiater aber wirklich verbessert hat sich die Situa-
ist Gründer und Chef des Center for Injury tion, als sauberes Trinkwasser aus der
Research and Policy (Cirp) am Nationwide Leitung kam.“
Children’s Hospital in Columbus im US- Kinder sind keine kleinen Erwachse-
Bundesstaat Ohio. Seit mehr als 25 Jahren nen – wenn Hersteller das berücksichtig-
müht er sich, anhand der Unfallstatistiken ten, wäre schon viel gewonnen, glaubt
von Kinderkliniken im ganzen Land die Smith. Beispiel Rauchmelder: Viele Kinder
grässlichsten Gefahren zu erkennen. Dann schlafen einfach weiter, wenn der Feuer-
gibt er Empfehlungen, wie sie auszuschal- melder piept, das haben Tests ergeben.
ten wären. Weil das heranwachsende Hirn eher auf
Kinder fallen vom Wickeltisch und aus vertraute Geräusche reagiert, wie Smith
Einkaufswagen, sie kippen um mit Stühlen vermutet, sollte aus Rauchmeldern für Kin-
und Regalen, sie stürzen aus Fenstern und der deren Name ertönen – am besten mit
in Gartenteiche, strangulieren sich mit den der Stimme von Mutter oder Vater.
Schnüren von Jalousien, sie ersticken an Smith hat selbst zwei Söhne großgezo-
Murmeln, Weintrauben und Hotdogs und gen. Seine Frau und er seien aber keine
erleiden Vergiftungen durch Kerzenöl, ängstlichen Eltern gewesen, sagt er. Töd-
Desinfektionsmittel oder – neuerdings – Unfälle bei Kindern und Jugendlichen liche Sachen wie Terpentin habe er aller-
Flüssignikotin für E-Zigaretten. Gegenstände und Produkte, die bei Verletzungen dings weggeschlossen, nicht nur wegge-
Klar, das passiert, mögen viele Eltern beteiligt sind, in Prozent* stellt. Der Mediziner träumt von einer Ge-
denken, aber doch nicht uns! Das kann sellschaft, in der Erwachsene gar nicht erst
man nur hoffen. Wer Smiths epidemiolo- auf die Idee verfallen, giftige Waschmittel
in Form kleiner Caps zu verkaufen, bunt
gische Fachartikel liest, dem offenbart sich
die Kindheit als ein Panoptikum der Todes- 22 19
Fahrzeug
und rund wie Zuckerzeug. „Solche Pro-
gefahren; erstaunlich geradezu, wie viele Sportausrüstung/
(z. B. Fahrrad) dukte sind Beispiele für Gefahren, die
Menschen sie dennoch halbwegs unbescha- Freizeitgerät
6
Haushalts-
wirklich nicht sein müssen“, sagt er.
det überstehen. gegenstand
In solch einer kindersicheren Welt müss-
Zwei Kinder unter sechs Jahren, so
Smiths jüngste Veröffentlichung im Fach- 18
Haus-/Wohnungs-
13
Babyausstattung/
ten auch vorsichtige Eltern ihren Nach-
wuchs nicht in Watte packen. „Es ist wich-
blatt „Pediatrics“, landen pro Tag in US- ausstattung Kinderprodukt tig, dass Kinder ihre Neugier ausleben und
Notaufnahmen mit Verletzungen, die sie an ihre Grenzen gehen können und dass
sich an einem Rollo zugezogen haben; sie dabei auch scheitern dürfen“, sagt der
knapp einmal im Monat stirbt ein Kind, Arzt. „Ich will dafür sorgen, dass dieses
*von 1 bis 17 Jahren; an 100 fehlende Prozent: Sonstige
meist durch Ersticken, weil es sich in den Quelle: KiGGS Welle 1, 2009 bis 2012 Scheitern nicht lebensgefährlich ist.“
Schnüren der Fensterbehänge verfangen Julia Koch

DER SPIEGEL 52 / 2017 97


„Saturn V“ (Nasa)
Höhe: 111 Meter
Startmasse: 2900 Tonnen
Schub: 34000 Kilonewton
Erstflug: 9. November 1967

zum
„Falcon Heavy“ (SpaceX) Vergleich
70 m
1421 t
22819 kN „Crew Dragon“ (SpaceX) CST-100 „Starliner“ (Boeing)
2018 (geplant) 7 Passagiere 7 Passagiere
Space Shuttle (Nasa) Innenraum: 10 Kubikmeter Innenraum: 11 m3
56,1 m Erstflug: 2018 (geplant) Erstflug: 2018 (geplant)
2041 t
34696 kN
12. April 1981

Für Suborbitalflüge

„SpaceShipTwo“ „New Shepard“


(Virgin Galactic) (Blue Origin)
Spannweite: 8,3 m ca. 18 m
Länge: 18,3 m 489 kN
9,7 t 6 Passagiere
2 Crewmitglieder, 6 Passagiere 29. April 2015
29. April 2013




USA

Grüß mir die Sterne


Raumfahrt Anfang Januar startet „Falcon Heavy“, die stärkste Trägerrakete der Welt,
bald soll sie Menschen transportieren. Dahinter steckt Tesla-Chef Elon Musk,
aber auch andere Milliardäre drängen ins All – mehr als 800 Tickets sind schon verkauft.

C
ape Canaveral, Florida: Von Start- jüngste Schöpfung von SpaceX und die seriöser Arbeit auch wunderliche Dinge
rampe 39A aus hoben einst die derzeit mit Abstand stärkste Trägerrakete tun: Mit „Falcon Heavy“ planen millionen-
„Apollo“-Missionen zum Mond ab. der Welt. schwere Weltraumtouristen bereits einen
Hier startete das Space Shuttle Dutzende 27 hochkomplexe Raketentriebwerke Trip rund um den Mond.
Male in einem Meer aus Feuer, Rauch und heizen dem dreirümpfigen, 70 Meter ho- „Falcon Heavy“ ist eine verbesserte Va-
Dampf; alles vorbei. hen Monstrum ein. Sie sollen so viel Schub riante eines bereits erprobten Raumfahr-
Seit 2011, als das letzte Shuttle abhob, entwickeln wie 19 Jumbojets unter Vollgas. zeugs. Im Kern besteht es aus seinem
haben die USA kein Raketensystem mehr, Mehr Wumms hatte bei den Amerikanern Vorgängermodell „Falcon 9“, dem links
das stark genug wäre, Menschen ins All nur die Mondflugrakete „Saturn V“, aller- und rechts zwei weitere Raketenerststufen
zu schießen. Die flügellahme Nasa gab das dings ist sie schon seit 1973 außer Dienst. („Booster“) verpasst wurden. „Falcon 9“
legendäre Startgelände auf – und verpach- Mit vielfacher Schallgeschwindigkeit ist seit 2010 im Einsatz und hat sich trotz
tete es an ein notorisches Großmaul, das kann „Falcon Heavy“ eine Nutzlast von zweier Totalverluste den Ruf verdient, ein
gelobt hat, die US-Raumfahrt eigenhändig bis zu 64 Tonnen in eine erdnahe Umlauf- erstaunlich kostengünstiges und zuver-
zu revolutionieren. bahn bringen. Das ist weitaus mehr, als lässiges Arbeitstier zu sein. Allein 2017 flog
Genau das scheint ihm jetzt tatsächlich eine Boeing 737 überhaupt fassen kann. es 17-mal fehlerlos.
zu gelingen. Elon Musk, 46, will, ganz im Mit weniger Fracht schafft die Rakete es „Falcon 9“ beherrscht mittlerweile ein
Sinne des US-Präsidenten, Amerika wie- auch zum Mond und sogar zum Mars und Kunststück, mit dem auch „Falcon Heavy“
der groß machen. darüber hinaus. glänzen soll. Wenn die Erststufe zwei bis
Musk, gleichzeitig Chef des Elektroauto- Musks Wundermaschine markiert den drei Minuten nach dem Start abgekoppelt
herstellers Tesla und der Raumfahrtfirma Beginn einer neuen Ära für die US-Raum- wird, versinkt sie nicht als Schrott im
SpaceX, hat vor, die historische Stätte An- fahrt. Billiger, ehrgeiziger und extravagan- Atlantik wie ehedem die der Vorgänger.
fang Januar zu neuem Glanz zu führen; ter wird sie sein. Private Firmen, manche Vielmehr kehrt die „Falcon“-Erststufe auf
das genaue Datum ist noch geheim. Von im Besitz experimentierfreudiger Milliar- elegante Weise zur Erde zurück.
ebenjener berühmten Startrampe 39A aus däre, werden neben staatlichen Stellen zu Der Apparat – Raketenmotor, Tank und
soll „Falcon Heavy“ ins All rasen, die wichtigen Akteuren, und sie wollen neben Autopilot – navigiert selbstständig und prä-
98 DER SPIEGEL 52 / 2017
Technik

zise. Seine Rechner regeln autonom, wie Denn zunächst muss SpaceX belegen, kaum 600 handverlesene Erdbewohner so
viel Schub das Triebwerk im Widerstreit dass die Firma überhaupt Passagiere heil hoch hinaufgekommen, darunter nur elf
mit der Schwerkraft zu leisten hat. Punkt- ins All und zurück befördern kann. Ihr Deutsche. Die nächsten 600, das ist sicher,
genau und aufrecht setzt die Erststufe sanft „Dragon“-Raumschiff ist auf „Falcon 9“ werden auf ihre Reise in die Schwerelosig-
am vorgesehenen Landeplatz auf. seit 2012 zwar schon zwölfmal mit keit nicht so viele Jahre warten müssen –
Im Fall von „Falcon Heavy“ sollen Nachschub zur ISS aufgestiegen, aber vielleicht sogar nicht einmal mehr fünf. 2018
gleich drei Erststufen kurz hintereinander eben noch nie mit Menschen an Bord. Das könnte das Jahr werden, in dem der Welt-
das Science-Fiction-Landemanöver ausfüh- soll sich nun ändern: Der bemannte Erst- raumtourismus endlich ins Laufen kommt.
ren. Zwei davon auf engem Raum rund flug von „Crew Dragon“ zur ISS ist für Jeff Bezos, Gründer von Amazon und
um die Startrampe 39A – und eine auf August 2018 angesetzt. Bis zu sieben reichster Mann der Welt, hat gerade von
einem Roboterschiff im Atlantik mit dem Astronauten passen in die Kapsel, die Texas aus eine Rakete erfolgreich in fast
interessanten Namen „Of Course I Still ebenfalls größtenteils wiederverwendbar hundert Kilometer Höhe geschossen. Ähn-
Love You“. Schöner geht Raumfahrt nur sein wird. lich wie bei „Falcon 9“ landete die Rakete
in Hollywood. Ende 2018 will auch der Flugzeugher- „New Shepard“ autonom und senkrecht,
Weil fast alle Bauteile wiederverwendet steller Boeing mit seinem ziemlich ähn- Minuten später gefolgt von der an großen
werden können, sinken die Preise für das lichen Raumschiff namens „CST-100 Star- Fallschirmen hängenden Kapsel, die zur
„Falcon“-Programm drastisch – auf ein Hun- liner“ erstmals ins All rauschen. Eine be- Erbauung künftiger Weltraumurlauber mit
dertstel, wie Musk erwartet. Ein Transport, mannte Mission zur ISS soll nur wenig Panoramafenstern ausgerüstet ist.
der ehedem viele Milliarden verschlungen später folgen. Beide, SpaceX und Boeing, In den nächsten Monaten sollen bemann-
hätte, ist künftig schon für ein paar Dutzend wurden von der Nasa mit Milliarden- te Tests stattfinden – und bei gutem Verlauf
Millionen zu haben. Dieser Erfolg bei budgets ausgestattet, damit sie mit privat- könnte Bezos’ Firma Blue Origin als erstes
der Kostenkontrolle dürfte die US-Raum- wirtschaftlicher Räson Ersatz schaffen für Unternehmen der Welt kommerzielle Spaß-
fahrt stärker beflügeln als jede flüge an den unteren Rand des
Direktive von Präsident Donald Weltalls anbieten. 
Trump zur Frage, ob Nasa- Der Brite Richard Branson,
Astronauten nun Mond oder noch ein Milliardär im Sternen-
Mars anzusteuern haben. fieber, versucht dies mit sei-
Beim Erstflug von „Falcon nem „SpaceShipTwo“ schon
Heavy“ wagt Musk noch keine seit vielen Jahren. Bisher ist er
kommerzielle Fracht zu trans- gescheitert. Jetzt aber behaup-
portieren, denn das Risiko tet er, dass sein Raumschiff
einer Explosion beim Start ist Anfang 2018 tatsächlich ins All
gegeben. Darum hat der schrill- fliegen werde und er persön-
schrullige Milliardär und PR- lich drei Monate später. Klingt
Fachmann entschieden, seiner spannend, allerdings muss man
Rakete eine besondere Test- wissen: Fast gleichlautende
last mitzugeben: seinen Tesla Versprechungen hat Branson
Roadster, Baujahr 2008, Ge- schon oft abgegeben – für nahe-
wicht 1250 Kilogramm, Farbe zu jedes Jahr seit 2007.
Rot. Nach dem Ausklinken im Diesmal scheint an der Auf-
schneiderei etwas dran zu sein.
DPA

Weltraum soll das Auto allen


Ernstes „Space Oddity“ von Rakete „Falcon Heavy“ im Hangar von Cape Canaveral 85 Angestellte von Bransons
David Bowie abdudeln und „Space Oddity“ dudeln und Kurs auf Mars nehmen Firma Virgin Galactic sollen in
Kurs nehmen auf den Mars. den nächsten Monaten mitsamt
„Falcon Heavy“ soll dem Pionier-Tesla das viel zu teure und gefährliche Space- ihren Familien dauerhaft nach New Me-
schon bald dahin folgen, nämlich 2022. Shuttle-Programm. xico umziehen. Dort, in menschenleerer
Die Rakete ist stark genug, fast 17 Tonnen Seit 2011 können US-Astronauten nur Wüste, unterhält die Firma einen futuristi-
Fracht zum roten Planeten zu transportie- an Bord russischer „Sojus“-Kapseln zur schen Weltraumbahnhof (Architekt: Nor-
ren. Und 2024 will Musk Menschen dort- ISS gelangen, was sich die Russen bestens man Foster), der seit seiner Fertigstellung
hin schicken – mit einer noch zu bauen- bezahlen lassen: Der Preis pro Flugticket 2011 ungenutzt ist. Offenbar soll „Space-
den, noch größeren Superrakete, die im steigt von Mal zu Mal und lag zuletzt bei port America“ jetzt aus seinem Dornrös-
Augenblick nur „Big Fucking Rocket“ über 80 Millionen Dollar.  chenschlaf gerissen werden.
heißt. Diese aus US-Sicht schmachvolle Ab- Trotz zahlreicher Rückschläge, bei de-
Im Laufe der nächsten Monate soll hängigkeit geht nun zu Ende. Für Flüge nen es bisher vier Tote gab, hat Branson
„Falcon Heavy“ erst einmal Routinearbeit zur ISS kann die Nasa mit Boeing und bereits mehr als 800 Tickets zum Stück-
verrichten, also kommerzielle Satelliten SpaceX künftig auf zwei konkurrierende preis von 250 000 Dollar verkauft, unter
und solche des US-Militärs aussetzen. Dienstleister zurückgreifen. Und für ihre anderem an Brad Pitt, Katy Perry, Lady
Für Ende kommenden Jahres ist allerdings eigenen Expeditionen zu Mond und Mars Gaga, Justin Bieber und Ashton Kutcher. 
die nächste bizarre Reise geplant: Genau lässt die Weltraumbehörde gerade bei Die Liste belegt: Die Art von Mensch,
ein halbes Jahrhundert nachdem Nasa- Boeing und anderen Firmen die Rakete die schon ab 2018 ins All fliegen könnte,
Astronauten erstmals den Mond um- „Space Launch System“ entwickeln, die unterscheidet sich fundamental von der, die
rundeten, wollen zwei namentlich nicht noch mal größer und leistungsfähiger sein dort bisher unterwegs war. Marco Evers
bekannte Multimillionäre diese Mission soll als alles je Dagewesene. Geplanter
nachspielen. Musk hat die Buchung ange- Erstflug: Dezember 2019. Video: PR-Profis auf
nommen, doch ob das Weltraumabenteuer Seit dem 12. April 1961, als der sowjeti- dem Weg ins All
halbwegs pünktlich beginnen kann, steht sche Kosmonaut Jurij Gagarin als erster spiegel.de/sp522017raketen
in den Sternen. Mensch in den Weltraum vordrang, sind oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 52 / 2017 99


Wissenschaft

„Das schönste Geschenk“


Medizin Ein Menschheitstraum: defekte Gene einfach ausknipsen und Leiden wie Alzheimer oder
Huntington verschwinden für immer. Aber es funktionierte nie – jetzt gibt es Hoffnung.

D
ass er den Fluch der Familie in sich Trägt Vater oder Mutter die kaputte wasser am Rückenmark gespritzt. Er hofft,
trug, ahnte Bernhard U. „Ich habe Genvariante in sich, liegt die Wahrschein- dass es das Mittel IONIS-HTT-Rx der Bio-
schon immer gedacht: Das habe ich lichkeit, selbst an Huntington zu erkran- techfirma Ionis Pharmaceuticals war. Viel-
auch“, sagt er. ken, bei 50 Prozent. Den Gentest, sagt leicht gehörte er aber auch zu den Stu-
U.s Mutter litt an einer der entsetzlichs- Bernhard U., habe er nur noch zur Bestä- dienteilnehmern, die nur ein Scheinmedi-
ten Erbkrankheiten, die Menschen befal- tigung seiner schlimmen Ahnung gemacht. kament bekamen, er und seine Ärzte
len können: Chorea Huntington. Oft blei- Hoffnung hatte er: keine. wissen es nicht. Immerhin: Die Krankheit
ben die Betroffenen jahrzehntelang ge- Als U. Mitte vierzig war, ging es los. Sein verschlimmerte sich nicht weiter.
sund, doch irgendwann, meist zwischen kleiner Finger begann zu zucken. Später IONIS-HTT-Rx ist ein Mittel zur „Gen-
dem 30. und dem 50. Lebensjahr treten die Zehen, dann die Füße, dann der ganze Stummschaltung“, ein sogenanntes Anti-
die ersten Symptome auf. Plötzlich rudern Unterschenkel. „Irgendwann“, sagt er, sense-Oligonukleotid, ein kleines Molekül,
die Arme, die Beine erfinden ihren eige- „kann man sich nicht mehr wehren.“ das vom Nervenwasser des Rückenmarks
nen, fremden Tanz, der Nacken dreht und U. ist jetzt 54 Jahre alt. Bislang geht es ins Gehirn wandern soll, um dort zu ver-
kippt den Kopf, die Gesichtszüge entglei- ihm recht gut. Er kann noch arbeiten, ob- hindern, dass aus der Information des Hun-
ten, zerren sich zu Grimassen, später fallen wohl es ihm oft schwerfällt, sich zu kon- tingtin-Gens das Huntingtin-Eiweiß her-
Schlucken und Sprechen schwer. Der Kör- zentrieren. Wenn am Stammtisch in großer gestellt wird.
per wird zum Feind, und dies alles ge- Runde diskutiert werde, sagt er, komme Auf raffinierte Weise greift das kleine
schieht bei klarem Geist. er nicht mehr so recht mit. Antisense-Molekül in diesen Prozess ein,
Dazu gesellen sich schwere Konzentra- In Deutschland gibt es rund 10 000 Men- indem es an die sogenannte Boten-RNA
tionsprobleme, auch emotionale Verän- schen mit Chorea Huntington. Die Krank- andockt, die dazu da ist, die Information
derungen wie Depressionen. In der End- heit ist unheilbar, das wusste U. von An- des Gens vom Zellkern zum Ort der Ei-
phase werden die meisten Betroffenen fang an; lediglich die Symptome lassen weißproduktion zu übertragen. Passgenau
bettlägerig und sterben dann typischer- sich lindern. Die Krankheit wird unweiger- hängt das neue Mittel nun an der Boten-
weise an einer Lungenentzündung oder lich fortschreiten. Bis zum Tod. RNA und signalisiert dem Körper, diese zu
an Auszehrung. Oder vielleicht doch nicht? zerstören. Damit ist die Informationskette
Huntington liegt der Defekt eines einzi- Seit Kurzem hat U. zumindest ein klei- unterbrochen, das Gen stumm. Die Pro-
gen Gens zugrunde. Wird dieses kaputte nes bisschen Hoffnung. Als einer von 46 duktion von Huntingtin wird durch die neu-
Gen abgelesen, entsteht eine schadhafte Huntington-Patienten weltweit hat er an artige Therapie deutlich heruntergefahren.
Form des Eiweißes Huntingtin. Wie ein einer Medikamentenstudie teilgenommen. Anfang der Neunzigerjahre weckte die
großer Haufen Proteinschrott lagert sich Viermal wurde ihm am Universitätsklini- Antisense-Technik, von der es etliche Va-
der Stoff in den Nervenzellen ab. kum Ulm eine Substanz direkt ins Nerven- rianten gibt, größte Hoffnungen bei wohl
allen Menschen, die an einer genetischen
Erkrankung litten. Ein ebensolcher Hype
Stummgeschaltet Hoffnung auf eine neue Therapie gegen Chorea Huntington umgab die Gentherapie, bei der man ver-
sucht, das defekte Erbgutstück durch ein
Bei Huntington-Patienten sterben in bestimmten Durch Injektion in einen Abschnitt
Hirnbereichen Nervenzellen ab, was unter anderem des Rückenmarkkanals gelangt ein
intaktes zu ersetzen.
zu unkontrollierten Bewegungen führt. Ursache ist sogenanntes Antisense-Medikament In Deutschland war diese Euphorie ei-
ein mutiertes Gen. Dessen über das Nervenwasser ins Hirn. ner der Gründe, warum man 1994 das Hun-
Information wird von einer tington Zentrum NRW in Bochum als Ko-
einsträngigen Boten-RNA operation der Neurologie und der Human-
abgelesen und liefert den Wirkstoff genetik der Ruhr-Universität gründete.
Bauplan für eine schad- IONIS-HTT-Rx „Dahinter stand die Idee, dass es einmal
hafte Form des Huntingtin- Defekte Form
des Huntingtin- solche Therapien geben würde“, erzählt
Proteins.
Proteins der Neurologe Carsten Saft, der den klini-
schen Teil des Zentrums heute leitet.
Boten-RNA
Doch der Optimismus war verfrüht. Die
Gentherapie erwies sich als gefährlicher
mutierter DNA- als gedacht, und Antisense funktionierte
Abschnitt nicht. Schon das Eindringen in die Zelle
gelang den Präparaten kaum; zudem baute
Passgenau dockt der der Körper sie sehr schnell wieder ab, zu
neue Wirkstoff an der Boten- schnell.
RNA an und neutralisiert Trotzdem machten viele Forscher weiter,
diese in den Nervenzellen. erzählt der Ulmer Neurologe Bernhard
Die Produktion des Landwehrmeyer, der die Huntington-Studie
Huntingtin-Proteins in Deutschland leitete. „Die Wissenschaft
wird so gedrosselt. hat die Antisense-Idee nie aufgegeben.“
Inzwischen seien viele der anfänglichen
Probleme durch hartnäckige Forschung ge-

100 DER SPIEGEL 52 / 2017


ses Jahr eine solche Behandlung gegen die
spinale Muskelatrophie (SMA). Kinder, die
an der schlimmsten Form dieser Erkran-
kung leiden, können sich kaum bewegen
und sterben meist schon im Alter von ein
bis zwei Jahren.
Jetzt sammeln sich auf YouTube jede
Menge Filme, die Kinder mit spinaler Mus-
kelatrophie nach Antisense-Behandlung
zeigen: Die Kleinen greifen nach Spiel-
zeug, halten Fähnchen, manche laufen gar,
fahren Dreirad. „Take that, SMA!“, ruft
ein Vater triumphierend. Als wäre sein
Sohn gerade dabei, einen Boxkampf gegen
die Krankheit zu gewinnen.
Wie aus dem Baukasten stellen die Bio-
tech-Firmen inzwischen je nach Krankheit
die passenden Antisense-Moleküle zusam-
men. Mediziner testen bereits an Patienten
Substanzen gegen die erbliche Form der
tödlichen Amyotrophen Lateralsklerose
(ALS), gegen Alzheimer, gegen die soge-
nannte frontotemporale Demenz und ge-
gen eine ganze Reihe seltener erblicher
Stoffwechselstörungen.
Viele Fragen auf dem Weg zu einer er-
folgreichen Therapie sind allerdings noch
zu klären, auch im Fall von Huntington.
So drosselt das neue Mittel nicht nur die
Produktion des kranken, sondern ebenso
MATTHIAS SCHMIEDEL / DER SPIEGEL
des gesunden Huntingtin-Proteins. Ob dies
auf Dauer dem Körper schadet, weiß nie-
mand. Weiterhin ist unklar, wie tief die
Antisense-Moleküle überhaupt ins Gehirn
vordringen können.
Und: Wie teuer wird solch eine The-
rapie? Die Kosten einer Antisense-Be-
handlung bei spinaler Muskelatrophie
sind horrend: 540 000 Euro allein im ers-
Huntington-Patient Bernhard U.: „Irgendwann kann man sich nicht mehr wehren“ ten Jahr.
Patrick Weydt forscht daran, welche Rol-
löst worden. Das moderne Antisense-Mo- trägt, ist das Studienergebnis deshalb, le toxische Nebenprodukte spielen, die
lekül zeige sich stabiler und zellgängiger wenn auch etwas früh für Weihnachten, durch den Gendefekt entstehen. „Vielleicht
als seine Vorläufer. „das schönste Geschenk“, das man sich wird man am Ende mit einem Antisense-
Und jetzt hat die frickelige Forscher- vorstellen könne. Gemisch behandeln müssen“, sagt er.
arbeit sich offenbar auch am Patienten be- Versehen mit den üblichen Warnungen Bernhard U. will das alles gar nicht ab-
währt – das legt die Huntington-Studie an vor zu großer Euphorie, feiern auch deut- warten. Als Teilnehmer der ersten Studie
Bernhard U. und den anderen 45 Patienten sche Mediziner die Studie; sie sei ein „sehr wurde er gefragt, ob er im nächsten Jahr
nahe. Vergangene Woche wurden die ers- ermutigender Meilenstein“, sagt Patrick das Medikament verabreicht bekommen
ten Ergebnisse veröffentlicht. Ob durch die Weydt, Leiter der Huntington Ambulanz möchte, diesmal auf jeden Fall das echte.
Therapie das Fortschreiten der Erkrankung am Universitätsklinikum Bonn. Für Ärzte „Natürlich mache ich das!“, sagt er.
verlangsamt wird, lässt sich zwar noch ist es schwer zu ertragen, Patienten so gar In den vielen Jahren seiner Krankheit
nicht sagen; dafür ist eine neue, größere nicht helfen zu können – umso größer die habe er zwar gelernt, dass man realistisch
Studie nötig, die der Pharmakonzern Freude, wenn sich endlich etwas tut nach bleiben müsse. „Aber ich hoffe trotzdem,
Roche nun durchführen will. Erst danach Jahrzehnten der Misserfolge. dass der Verlauf eingedämmt werden
kann über eine eventuelle Zulassung nach- Bei den drei hiesigen Huntington-Zen- kann.“ Und selbst wenn die Behandlung
gedacht werden. tren, die an der Studie beteiligt waren, mel- ihm noch nicht helfen könne – vielleicht,
Was sich sagen lässt: Die Therapie hatte deten sich vergangene Woche bereits sehr irgendwann in der Zukunft, seiner Toch-
nur wenige Nebenwirkungen, und es ist viele Patienten, viele Betroffene wollen ter? „Sie hätte gerne Kinder“, sagt er. Man
die erste Behandlungsmethode überhaupt, das Medikament am liebsten sofort ein- stelle sich vor, der Fluch würde von seiner
für die nachgewiesen werden konnte, dass nehmen. „Es ist sehr schwer, die Erwar- Familie genommen. „Das wäre so unvor-
sie den Huntingtin-Spiegel beim Menschen tungen zu dämpfen“, sagt der Bochumer stellbar grandios.“ Veronika Hackenbroch
senkt – je höher die Dosis des Medika- Neurologe Saft.
ments, desto stärker. Huntington ist nicht die erste bislang un- Video: Hilfe für
Für den Huntington-Forscher Jeff Car- heilbare neurologische Erkrankung, für die Huntington-Patienten
roll, 40, von der Western Washington Uni- eine Antisense-Therapie plötzlich Hoff- spiegel.de/sp522017huntington
versity, der selbst den Gendefekt in sich nung bietet. Bereits zugelassen wurde die- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 52 / 2017 101


Für Sie als Dankeschön!
JETZT LESER WERBEN – SIE MÜSSEN SELBST NICHT ABONNENT SEIN.

€ 100,– Geldprämie 100 € Amazon.de Gutschein


Erfüllen Sie sich oder Ihren Lieben einen besonderen Über eine Million Bücher sowie 250 000 CDs,
Wunsch, oder legen Sie die € 100,– für eine größere DVDs, Spiele, Technikartikel und vieles mehr
Anschaffung zurück! stehen zur Auswahl.

TomTom START 42 CE T Wagenfeld-Tischleuchte WG 24


Karten für 19 Länder Europas. Mit 4,3"-Touchscreen, Der Bauhaus-Klassiker! Aus vernickeltem
4-GB-Speicher. Inkl. Halterung, Autoladegerät und Metall, Klarglas und Opalglas. Nummeriert.
USB-Kabel. Ohne Zuzahlung. Höhe: ca. 36 cm. Zuzahlung: nur € 149,–.
Polar M200 GPS-Laufuhr Teasi One3 eXtend Navi
Speziell für Läufer entwickelt. Mit Laufprogrammen Für Rad, Wandern, Ski und Boot. Mit
und GPS. Misst Tempo, Höhe, Herzfrequenz, 8,8-cm-Display, Routing, Gratiskarten
Strecke u. v. m. Wasserdicht. Ohne Zuzahlung. und 3-D-Kompass. Ohne Zuzahlung.

 
Ja, ich habe geworben und wähle meine Prämie! Ich bin der neue SPIEGEL-Leser.
Anschrift des neuen Lesers:
SPIEGEL-Vorteile  Wertvolle Wunschprämie für den Werber.
Frau
ğšwğšĒğšŋųťťťğŅĒťŭłğĴō^V0(>>ğťğšťğĴō
Herr
ųŋvœšųĬťŝšğĴťťŭćŭŭǽōųšǽĿğųťĬćĒğĴōłŅ>ĴğĨğšųōĬ Name, Vorname
Auf Wunsch den SPIEGEL digital für nur € 0,50 je Ausgabe inkl.
SPIEGEL-E-Books. 19
Straße/Hausnr. Geburtsdatum

Wunschprämie 100 € Amazon.de Gutschein (5075)


Polar M200 GPS-Laufuhr (5576) PLZ Ort
Teasi One3 eXtend Navi (5369)
TomTom START 42 CE T (5496)
Gläubiger-Identifikationsnummer DE50ZZZ00000030206

Telefon (für eventuelle Rückfragen) E-Mail (für eventuelle Rückfragen)


Wagenfeld-Tischleuchte (3739) Zzlg. € 149,–
Gleich mitbestellen! Ja, ich möchte zusätzlich den SPIEGEL digital für nur € 0,50
€ 100,– Geldprämie (2160). Mein Konto für die Überweisung: pro Ausgabe beziehen statt für € 4,99 im Einzelkauf. SD17-015
DE Ja, ich wünsche unverbindliche Angebote des SPIEGEL-Verlags und der manager magazin Verlagsgesellschaft
(zu Zeitschriften, Büchern, Abonnements, Online-Produkten und Veranstaltungen) per Telefon und/oder E-Mail. Mein
IBAN Einverständnis kann ich jederzeit widerrufen.

Anschrift des Werbers: Der neue Abonnent liest den SPIEGEL für zunächst 52 Ausgaben für zurzeit € 4,60 pro Ausgabe statt € 4,90 im Einzelkauf,
den SPIEGEL digital zusätzlich für € 0,50 pro Ausgabe. Das Abonnement verlängert sich jeweils um weitere 52 Ausgaben,
Frau wenn nicht sechs Wochen vor Ende des Bezugszeitraums gekündigt wird.
Herr
Name, Vorname Ich zahle bequem per SEPA-Lastschrift* vierteljährlich € 59,80, digitale Ausgabe halbjährlich € 13,–
Die Mandatsrefe-
DE renz wird separat
mitgeteilt.
Straße/Hausnr. IBAN
SP17-106
PLZ Ort Datum Unterschrift des neuen Lesers
Coupon ausfüllen und senden an:
DER SPIEGEL, Kunden-Service, 20637 Hamburg 040 3007-2700 www.spiegel.de/p17
Der Werber erhält die Prämie ca. vier Wochen nach Zahlungseingang des Abonnementbetrags. Der Vorzugspreis von € 0,50 für den SPIEGEL digital gilt nur in Verbindung mit einem laufenden Bezug der Printausgabe, enthalten sind € 0,49 für das E-Paper.
Bei Sachprämien mit Zuzahlung zzgl. € 2,– Nachnahmegebühr. Alle Preise inklusive MwSt. und Versand. Das Angebot gilt nur in Deutschland. Hinweise zu den AGB und dem Widerrufsrecht finden Sie unter www.spiegel.de/agb. SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein
GmbH & Co. KG, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon: 040 3007-2700, E-Mail: aboservice@spiegel.de
* SEPA-Lastschriftmandat: Ich ermächtige den Verlag, Zahlungen von meinem Konto mittels Lastschrift einzuziehen. Zugleich weise ich mein Kreditinstitut an, die vom Verlag auf mein Konto gezogenen Lastschriften einzulösen. Hinweis: Ich kann innerhalb
von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
MUHAMMAD ANSI
Zeichnung des ehemaligen Guantanamo-Häftlings Muhammad Ansi, 2015

Kunst Prozesse, die Folter kritisiert. derzeit eine Ausstellung mit Objekte verbrennen, wenn
Kampf um die Zugleich werden in Guanta-
namo – was etwas bizarr
dieser Gefängniskunst. In-
zwischen verwehrt nun das
man wolle. Die Gefangenen
hätten ihre „Träume, Ge-
Träume wirkt – seit etlichen Jahren
Kunstkurse angeboten. Wer-
US-Verteidigungsministeri-
um, das für Guantanamo zu-
fühle, Hoffnungen und Le-
ben“ in diese Kunst gelegt,
Seit 2002 werden im Arrest- ke, die den Zensoren als ständig ist, den Häftlingen schrieb Mansur al-Dayfi,
block von Guantanamo unbedenklich erschienen, das Recht an der eigenen einer der ehemaligen In-
Männer festgehalten, die die durften die Insassen sogar Kunst. Davon betroffen sind sassen, in einem Beitrag für
USA für Terroristen hält, erst ihren Anwälten übergeben: auch jene Männer, die be- die „New York Times“.
waren es Hunderte, mittler- Oft waren das Landschafts- reits entlassen wurden. Sie Ihnen diese Werke wegzu-
weile sind es noch 41. Immer ansichten, einige wirken dürfen ihre Schöpfungen nehmen, das bekundete
wieder haben Menschen- idyllisch, andere sehr düster. nicht ihr Eigen nennen und er auch, sei so, als würde
rechtsorganisationen die Be- Eine New Yorker Hochschule nicht verkaufen. Das Ministe- man ihnen ihre Kinder weg-
dingungen, die fehlenden für Kriminologie veranstaltet rium drohte, man könne die nehmen. uk

Kommentar

Ein Riss, der bleibt


Das Mahnmal am Berliner Breitscheidplatz scheint zu funktionieren.
Manche Passanten spüren etwas unter dem Fuß, manche lau- Mahnmal an der Gedächtniskirche in Berlin eingeweiht; die
fen über die kleine Erhebung im Boden, ohne etwas zu mer- Entscheidung für den Entwurf des Architekturbüros Merz
ken, die meisten halten inne. Sie nehmen eine lose Gruppe Merz fiel mit Beteiligung der Hinterbliebenen. Aus sechs Län-
von Leuten wahr und stellen sich dazu und sehen: Kerzen und dern kamen die Todesopfer, die neuen Stufen wurden in einer
Blumen, wie immer seit gut einem Jahr, gerahmte Fo- Potsdamer Werkstatt gefertigt, mit Handwerkern
tos und Briefe, die einem das Herz zerreißen, wie auch aus Syrien, Kroatien und Algerien.
der von einem Enkel an seinen verstorbenen Großva- Was kann man Gutes über ein Mahnmal sagen?
ter – „auch wenn du das nicht mehr lesen kannst“ –, Dass es Menschen Versenkung ermöglicht, aber
und nun sind in die Kirchenstufen zwölf Namen gra- auch den spontanen Kontakt. Dass es erinnert,
ohne ästhetisch aufzutrumpfen oder ideologisch zu
CARSTEN KOALL / GETTY IMAGES

viert. Und dann gibt es diesen Riss im Boden, mit


einer Legierung aus Halbedelmetallen und Gold ge- bevormunden. Dass es erlaubt, in Resonanz zu ge-
füllt, der bis an die Straße führt, die jetzt mit Beton- hen – mit dem Geschehen, mit anderen, mit sich
quadern verstellt ist. Ein Mensch kommt noch gut selbst. Wenn es so bleibt, wie es in diesen Tagen ist,
durch, aber kein Lastwagen mehr. dann gibt es in diesem Wust von terroristischem
Am 19. Dezember, zum Jahrestag des islamisti- Furor und behördlichem Versagen von nun an etwas
schen Attentats auf den Weihnachtsmarkt, wurde das tröstlich Gelungenes. Elke Schmitter

104 DER SPIEGEL 52 / 2017


Kultur
Kino seiner beiden Kinder tötet, Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
Bann des Teenagers um die Schuld zu sühnen.
Lanthimos verarbeitet den Vorletzte Worte
Schwer zu sagen, ob dies ein antiken Mythos um den
Rachedrama, eine Gesell- König Agamemnon, der seine Das Wort, die Schrift, das Testament,
schaftssatire oder eine schwar- Tochter Iphigenie opfern das sind so die Vokabeln der mehr
ze Komödie ist. In seinem soll, um die Götter zu besänf- oder minder eingeschneiten Tage,
Film The Killing of a Sacred Deer tigen. Mit maliziösem Humor die jetzt beginnen und vergehen. Al-
erzählt der griechische Re- sieht der Regisseur dabei zu, lenthalben werden Gefühle stimu-
gisseur Yorgos Lanthimos wie Stevens Familie unter liert, die man liebt und fürchtet zu-
von einem amerikanischen dem Bann des Teenagers zer- gleich: Andacht, Rührung, Ergriffen-
Teenager, der eine Familie in fällt, wie Egoismus und Hart- heit. Einerseits Regungen ganz bei sich,
Angst und Schrecken ver- herzigkeit zum Vorschein wehrlos und geöffnet für kindliche Hoff-
setzt. Colin Farrell spielt den kommen. Die Künstlichkeit nungen, die niemals schlafen, sich aber leicht betäuben
Herzchirurgen Steven, dem und die Kälte des Films sind lassen durch den Erledigungsmodus, in dem die meisten
vor Jahren ein Patient auf auf Dauer schwer zu ertra- gerade die Wochen vor Weihnachten überstehen: die
dem OP-Tisch verstarb. Der gen. Der Zuschauer fühlt sich Hoffnung, dass die Nächsten offen sind und zugewandt,
Sohn des Toten verlangt nun, wie in einem Versuchslabor, friedlich – und einen einmal ausreden lassen. Anderer-
dass der Arzt seine Frau in dem ein Humanexperi- seits, natürlich, die Angst, was dann passiert, auch, wenn
(Nicole Kidman) oder eines ment durchgeführt wird. lob man sich selber zuhört: Ist man zufrieden, hat man es
gut gemacht in diesem Jahr, will man die Antwort hören,
die man sich selber gibt? Das alles löst jene Bangigkeit
aus, die man am besten mit intensiver Nahrungsaufnah-
Zeitgeist rungsthrillers sind. Der Ta- me bekämpft; da ist der Mund beschäftigt, und die Seele
Berlin wackelt schen Verlag geht einen et-
was anderen Weg: „Es wird
tritt in ein Stadium gelassener Müdigkeit, geteilt von an-
deren, die auch noch ein Dessert und einen Punsch ver-
Seltsam, wie kulturelle Ob- Nacht im Berlin der Wilden tragen. Abgründige Sache, dieses Fest.
sessionen ihre Schleifen Zwanziger“ heißt ein Illustra- Something completely different, oder auch nicht: die
ziehen. Das Berlin der Zwan- tionsband aus der Hand des Neueinrichtung „Forbidden Stories“ von Reporter ohne
zigerjahre beispielsweise münsterschen Künstlers Ro- Grenzen und dem Bündnis Freedom Voices. Dort hinter-
ist in den vergangenen Jahr- bert Nippoldt, gehalten im legen bedrohte Journalisten ihre möglicherweise letzten
zehnten, vor und nach 1989, Stil einer Graphic Novel, Worte, ihr unfreiwilliges Testament. So etwas wie das
immer mal wieder als Sehn- Schwarz, Weiß und Sepia- kurze Video von Cecilio Pineda beispielsweise, mexika-
suchtsort gefeiert worden. braun die Farben, produziert nischer Journalist, der am Steuer seines Wagens die
Berlin als Weltmetropole. Jo- mit großem Aufwand, auf Verbindungen zwischen der Drogenmafia und der Regie-
sephine Baker und kartonhaftem Papier, rung benennt. Zwei Stunden nach dieser Aufnahme
Claire Waldoff, Max inklusive CD mit Lie- fand man seine Leiche; er war erschossen worden. Pine-
Reinhardt und Kurt dern aus der Zeit und da war ein Bruder in Geist und Tat der Journalistin
Tucholsky, Sex und Texten des Berliner Daphne Caruana Galizia, die im Oktober auf Malta
Morphium und Ko- Journalisten Boris Pofal- mit einer Autobombe ermordet wurde – und da ging es
kain. Das Berlin, das la. Alles fein und an- vermutlich nur um Korruption, nicht um terrorisierte
auf dem Vulkan tanz- ständig, aber je öfter Städte, Entführungen, Killerkommandos. Wir sind ja in
te, so grell und bunt, man den Band Europa.
und plötzlich braun durchblättert Für Reporter ohne Grenzen ist nicht nur die steigende
wurde. Viele Jahrzehn- oder sich durch Gefahr für Journalisten weltweit alarmierend – 2017 wur-
te lang schien die Be- die Serie den 54 Söhne, Töchter, Väter, Mütter, Geschwister ent-
geisterung größer zu kämpft, desto führt, 39 gezielt ermordet, 26 weitere im Einsatz getötet.
sein als die Angst, dass mehr entsteht Sondern vor allem die Tatsache, dass fast die Hälfte von
sich die Geschichte der Wunsch ihnen nicht in Regionen mit bewaffneten Konflikten star-
wiederholt. Nun nach weniger ben. Also weder im Krieg noch im erklärten Bürgerkrieg,
ist die ästhetischen sondern in Staaten mit – kann man sagen: funktionieren-
Zeit Inszenierungen den (?) Institutionen. Mit Pressegesetzen und Gerichten,
reif für eine neue und mehr Wirk- mit Polizei und eben auch gut organisiertem Verbrechen.
Schleife. Die Tom-Tykwer- lichkeit, nach echten Figuren Reporter ohne Grenzen versucht, die Einsetzung eines
Serie „Babylon Berlin“, die und echtem Leben, um zu er- UN-Sonderbeauftragten für den Schutz von Journalisten
derzeit auf Sky zu sehen ist fahren, wie das ist, wenn eine durchzusetzen; das ist so ein Vorhaben, bei dem Spen-
und im nächsten Jahr bei der Demokratie anfängt zu wa- den ambivalenzfrei gut und sinnvoll sind.
ARD und fast 40 Millionen ckeln. Denn das hat sich ver- Nun haben wir also eine Website für tatsächliche und
Euro kostete, zeigt die Haupt- ändert seit der letzten Schlei- mögliche letzte Worte, ein Depot der Wahrheit, das für
stadt der Weimarer Republik fe: die Erfahrung, dass so et- alle zugänglich ist. Bis auf die entführten Journalisten na-
ROBERT NIPPOLDT © TASCHEN

als computergeneriertes was schneller passieren könn- türlich und die 326, die derzeit im Gefängnis sind. Wie
Spektakel mit geradezu hys- te, als man denkt. red Deniz Yücel, seit 313 Tagen in türkischer Untersuchungs-
terischer Lust an Opulenz, haft. Hier darf Ergriffenheit in Zorn münden. Und natür-
in dem die Figuren der Seri- Robert Nippoldt, Boris Pofalla: „Es lich in Unterstützung.
wird Nacht im Berlin der Wilden Zwan-
engeschichte aber nur die ziger“. Taschen; mit beigelegter CD;
Zitatelieferer eines Verschwö- 224 Seiten; 49,99 Euro. An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und Nils Minkmar im Wechsel.

DER SPIEGEL 52 / 2017 105


Kultur

Der lange Abschied


Deutsche Helden Mit „Wind of Change“ haben die Scorpions
Veränderung besungen. 30 Jahre später ist die Welt
eine andere geworden. Nur sie selbst haben das Gefühl,
die Gleichen geblieben zu sein. Von Marc Hujer

How can we grow old sang, zum Nichtraucher wurde er, um


When the soundtrack of our lives Geld zu sparen, und sein Debüt als Sän-
is rock and roll ger gab er bei einem Schrebergartenfest
„The Best Is Yet to Come“, Scorpions, 2010 in Hannover mit „Marina“, einer italieni-
schen Schnulze.

E
s gibt Tage, an denen Klaus Meine Einen Moment lang überlegt Klaus Mei-
nur in seinem Hotelzimmer sitzt und ne: Soll er rangehen oder nicht?
mit niemand anderem spricht als mit Sein iPhone macht ein ungesundes Ge-
Alex, seinem Assistenten. Wenn er etwas räusch, das wie ein Alarm in einer Che-
braucht, ruft er nicht einfach den Zimmer- miefabrik klingt. Klaus Meine zieht das
service an. Er schickt eine Textnachricht iPhone trotzdem aus seiner Jackentasche.
an Alex und bittet ihn, den Zimmerservice Auf dem Display steht „Willy“.
zu informieren. Willy, das muss man wissen, ist bei Sony
An Tagen wie diesen verlässt Klaus Mei- Senior Vice President Music Division, der
ne erst abends sein Zimmer, um die ande- Mann, der die nächste Balladenkompila-
ren Bandmitglieder zum Abendbrot im tion der Scorpions veröffentlicht, Album
Hotelrestaurant zu treffen, ein Ritual wie Nummer 30, ein Mann aus einer anderen
bei einer braven deutschen Familie. Klaus Welt. In Willys Welt hat das Leben weder
Meine verteilt dann eine Runde Gettofäus- Anfang noch Ende, es geht immer nur wei-
te, damit er nicht „Guten Abend“ sagen ter, Kompilation für Kompilation, in der
muss, macht vor seinem Mund eine Bewe- Endlosschleife der Vermarktung.
gung, als würde er einen Reißverschluss Als Klaus Meine sieht, dass Willy anruft,
schließen, und bestellt etwas Leichtes. Sup- zögert er nicht, er geht sofort ran. „Hallo!
pe, Sushi, dazu einen Tee. Willy! Hörst du mich?“, ruft er in sein
Wenn es Probleme mit der Bestellung Telefon. Klaus Meine redet jetzt Deutsch,
gibt, zum Beispiel wenn die Suppe nicht bisher hatte er Englisch gesprochen. „Willy,
kommt oder das Sushi vor der Suppe, wir sind mitten in einer Pressekonferenz
winkt er Alex herbei, der vier Sprachen und reden über unser neues Album.“
fließend spricht, Deutsch, Polnisch, Rus- Für den Moment ist er in einer anderen
sisch, Englisch, und im Ruf steht, so gut Welt. Nur Willy und er.
wie jedes Problem lösen zu können. So- „Ja. Willy. Wirklich.“
bald Klaus Meine aufgegessen hat, eilt In Deutschland wurden die Scorpions
Alex herbei und geleitet ihn aufs Zimmer. immer ein wenig belächelt, für ihre Balla- Take me to the magic of the moment
An Tagen wie diesen wirkt Klaus Meine den, für ihr Englisch mit deutschem Ak- On a glory night
unerreichbar, entrückt, wie ein alternder zent, für ihren begrenzten Wortschatz, für Where the children of tomorrow
Star, der Angst hat, irgendwann einmal ihren Wunsch, unbedingt Englisch zu sin- dream away
seine Stimme zu verlieren, für immer. gen und nicht Deutsch, ja, ihren Erfolg. In In the wind of change
Und dann gibt es Tage wie den in Jeka- den Siebziger- und Achtzigerjahren stiegen „Wind of Change“ ist der Song überhaupt
terinburg. Ein Nachmittag, Anfang Novem- sie zu Deutschlands international erfolg- zum Ende des Kommunismus, aber auch
ber. Jemand versucht, Klaus Meine auf reichster Band auf. Aber den Deutschen ein Song, mit dem sich allerlei Zeitenwen-
dem Handy anzurufen. waren die Deutschen peinlich. Sie schäm- den besingen lassen, politische wie private,
Klaus Meine sitzt in diesem Moment auf ten sich sicherheitshalber auch für ihre der Mauerfall ebenso wie die Hochzeit von
einem Podium im Hyatt Regency Hotel, Stars. Veronica Ferres und Carsten Maschmeyer,
flankiert von seiner Band Scorpions, er in Und dann sangen die Scorpions auch mit denen die Scorpions schon lange be-
der Mitte, ein Fliegengewicht, 1,68 Meter noch „Wind of Change“. freundet sind. „Wind of Change“ ist ein
groß, von knabenhafter Statur, auf den ers- Mit „Wind of Change“, geschrieben kommerzieller Alleskönner. Bis heute ihr
ten Blick ein eher unscheinbarer Star. In 1989, im Jahr des Berliner Mauerfalls, erfolgreichster Song. Mehr als zwölf Millio-
der Schule litt er unter einer Musiklehrerin, haben die Scorpions Geschichte ge- nen verkaufte Platten. In vielen europäi-
die ihn pikste, wenn er einen falschen Ton schrieben. schen Hitlisten war er Nummer eins, in

106 DER SPIEGEL 52 / 2017


ARMIN SMAILOVIC / DER SPIEGEL
Sänger Meine in Los Angeles: „Wie ’ne Messe, die da abgeht“

Deutschland elf Wochen lang. Inzwischen Nur Bassist und Schlagzeuger wechsel- auf Tour. Was hat sich seitdem verän-
gibt es unter anderem ein „Shred Remake“ ten über die Jahre, derzeit sind es Paweł dert?
und diverse Reggae-Remixe sowie offizielle Mąciwoda aus Polen und Mikkey Dee, der Meine: Wenn ich „Wind of Change“ ansage,
Versionen mit russischem und spanischem ehemalige Schlagzeuger von Motörhead. ist das wie ’ne Messe, die da abgeht. Es ist
Text. Aber wenn man als Künstler ernst Sie singen Songs, die schon vor 30 Jah- beeindruckend, wie alle mitsingen.
genommen werden will, ist zu viel Erfolg ren Klassiker waren: SPIEGEL: Das war nicht immer so?
selten gut. Es hilft dann auch nicht, wenn Always Somewhere (1979) Meine: Die Amerikaner mögen lieber die
ZDF-Zuschauer „Wind of Change“ zum The Zoo (1980) harten Sachen, „Rock You Like a Hurri-
„Jahrhundert-Hit“ wählen. Blackout (1982) cane“ zum Beispiel, da gehen die total ab.
27 Jahre nachdem die Scorpions mit Still Loving You (1984) „Wind of Change“ dagegen hat die Ame-
„Wind of Change“ zum ersten Mal auf Big City Nights (1984) rikaner früher bei den Konzerten nicht so
„Crazy World“-Tour gingen, sind sie nun Rock You Like a Hurricane (1984) sehr berührt wie diesmal. Ich stand mal
wieder auf „Crazy World“-Tour unterwegs. Alles wie immer, alles wie früher. Als im tiefsten Mittleren Westen im Hotel-
37 Städte allein in diesem Jahr. wären die Scorpions noch immer jung. aufzug, da sagte jemand zu mir: „You
Gesang: Klaus Meine, 69 Jahre alt. know, in your song ‚Wind of Change‘ you
Gitarre: Rudolf Schenker, 69 Jahre alt. SPIEGEL: Vor 27 Jahren waren die Scor- sing ‚I follow something …‘ What is it?“
Gitarre: Matthias Jabs, 62 Jahre alt. pions erstmals mit „Wind of Change“ Ich habe ihm gesagt: „Im Text heißt es:
DER SPIEGEL 52 / 2017 107
ARMIN SMAILOVIC / DER SPIEGEL
Gitarrist Jabs: „Tschechow, Strawinsky – Russia is a state of mind“

I follow the Moskva. It’s like I follow the Deutsche Gäste mit deutschem Bier zu rückt, aber er meint es ernst. Er nennt es
Mississippi.“ überraschen ist für ihn ein Stück Heimat die „Befruchtung der verrückten Art“.
SPIEGEL: Sie meinen, die Amerikaner konn- weit weg von zu Hause. Es gehört zu sei- Schenker ist der Mann, der die Scor-
ten mit dem Song nichts anfangen? ner Lebensphilosophie, ein bisschen von pions zusammengeführt hat, drei Männer,
Meine: Der Song war zwar auch in Ameri- allem gleichzeitig haben zu können, ein die heute die Kernmannschaft der Scor-
ka ein großer Hit, aber von der Moskva Rock-’n’-Roller-Leben und Geld, den Spaß pions bilden: Klaus Meine, den gelernten
haben viele Amerikaner wahrscheinlich mit den Freunden auf Tour und den Ernst Dekorateur. Matthias Jabs, den Abiturien-
noch nie was gehört. Die Botschaft des des Lebens zu Hause, die Leidenschaft und ten, der Fußballprofi bei Hannover 96 wer-
Songs ist Hoffnung auf eine friedlichere die Musik, den materiellen Erfolg und die den wollte. Und er, Rudolf Schenker. Als
Welt, und die ist bei den Amerikanern dies- Villen zu Hause, die Hotels und die Pri- Schenker 1965 die Scorpions gründete, die
mal stärker angekommen als noch vor ein vatjets unterwegs. Abenteuer und Sicher- er erst Nameless nannte, hatte er eine Leh-
paar Jahren. heit, Kunst und Kommerz. Bei Schenker re als Starkstromelektriker begonnen.
SPIEGEL: Weil alles so hoffnungslos ist? hängt immer alles mit allem zusammen. Wenn man Rudolf Schenker, den Grün-
Meine: Als ich „Wind of Change“ geschrie- Yin und Yang. Ferne und Heimat. Oakland der der Scorpions, fragt, wie die Band zu-
ben habe, haben wir in eine hoffnungs- und deutsches Bier. sammengefunden hat, wie Schenker, Mei-
volle Zukunft geblickt. Da war Freiheit, in Er trainiert heute noch täglich, geht ne und Jabs zu den drei wichtigsten Scor-
der alle enger zusammenrücken. Jetzt schwimmen und macht regelmäßig Yoga. pions wurden, sagt er: „Jeder von uns hat
schauen wir in eine Zukunft, in der ein Er besitzt einen Ganzkörperanzug mit Wellen ausgestrahlt, und irgendwie haben
US-Präsident Mauern bauen will und die Elektrostimulation, eine portable „Power wir dann durch Magnetismus, durch diese
Welt wieder auseinanderdriftet. Plate“, eine Vibrationsplatte, mit der auch Gedanken zusammengefunden.“ Andere
Profisportler trainieren, und legt sich auf würden sagen: Sie steckten alle gleichzeitig
Heimat & Ferne eine Magnetfeldmatte von Bemer Gefäß- in Hannover fest.
Oakland, USA therapie, um gesünder zu schlafen. Ohne Hannover, ohne die Erfahrung der
Eine Stunde bevor in der Oracle Arena Er kombiniert alles, Technik und Glau- deutschen Provinz, wäre die Geschichte
in Oakland das Konzert der Scorpions ben, Fitness und Esoterik. der Scorpions undenkbar, ihr Ruhm in der
beginnt, sitzt Rudolf Schenker in Garde- Schenker kann auch Sätze aus Wörtern Welt, aber auch die Demütigung, die sie
robe 2 auf dem Sofa, die Gitarre auf dem bilden, die eigentlich nicht zusammenge- zu Hause erfahren haben.
Schoß, und fragt sich, wo er sein Glas Rot- hören, Sätze, die immer wieder die Einheit Die Enge hat die Scorpions angespornt,
wein abgestellt hat. Er schaut Alex an, den aller Dinge beschwören, die Einheit von der Stillstand, die Spießbürgerlichkeit, das
Assistenten. Hat Alex sein Glas Rotwein Band, Musik und ihren Fans: „Zwischen durchschnittlich Deutsche. Sie wollten
gesehen? Dann wendet er sich an seine unserem Feeling und dem Feeling der nichts zu tun haben mit dem verklemmten
deutschen Gäste. „Wir haben hier alles“, Fans“, sagt er, „ist nur ein geringer Leit- deutschen Lebensgefühl, dem Nuschelrock
sagt er, „auch deutsches Bier.“ widerstand.“ Es klingt ein bisschen ver- Udo Lindenbergs, den Landsleuten, die

108 DER SPIEGEL 52 / 2017


Kultur

ARMIN SMAILOVIC / DER SPIEGEL


Gitarrist Schenker: „Geringer Leitwiderstand“

„Capri-Fischer“ hörten und ihnen steif wie das Rock-’n’-Roll-Gefühl delivert“, wie es ckende Normalität denken, die sie dort er-
Vogelscheuchen vorkamen: Sie störte der Klaus Meine einmal formuliert hatte? Eine wartet, die immer gleichen Bemerkungen,
Mief, die Miesepetrigkeit. Sie wollten deutsche Band, die ihre Telefonnummer dieses: „Naaaaaaa, gerade mal nicht auf
nichts wie weg aus Hannover. auf dem Cover angibt, Null-Fünf-Elf, die Tour“ aus dem Fitnessstudio. Oder die Fra-
Doch am Ende reichte es nicht einmal Vorwahl von Hannover, dann eine sechs- ge: „Wie lange wollt ihr das eigentlich noch
für einen Umzug nach Bielefeld. stellige Nummer, und glaubt, sie könne da- machen? Habt ihr noch nicht genug Geld
Meine, Schenker und Jabs leben heute mit Amerika erobern? War das ihr Ernst? gescheffelt?“
noch immer in der Nähe von Hannover, in Als Schenker die Scorpions gründete, Dann freuen sie sich wieder auf den
einem Umkreis von 20 Kilometern wie eine schien das wie Großmannssucht, wie ein 22. März 2018, den Tag, an dem sie in Saint-
Pilzkolonie, Schenker in Schwarmstedt, ei- halbstarker Traum. Damals, sagt Schenker, Herblain auftreten werden, einem Vorort
ner Gemeinde nördlich von Hannover, Mei- habe man über Deutschland so gespro- von Nantes, weit weg von zu Hause.
ne und Jabs in Wedemark. Sie kennen die chen: „Germany: Assholes.“
gleichen Bars, den gleichen Italiener, sie Es klappte trotzdem. Und nicht nur das. Gestern & Morgen
feiern Silvester zusammen, sie übernehmen Sie zogen von einem Land ins andere, von Ufa, Russland
Patenschaften für die Kinder der anderen. einem Kontinent zum nächsten. „Wir ha- Rudolf Schenker ist erst gar nicht zum
Während sie in der weiten Welt in den gro- ben es gelernt, uns weltweit zu orientie- Abendessen erschienen, weil er zu viel ge-
ßen Hallen spielten, im Madison Square ren“, sagt Schenker, „den Vibe zu erfassen. feiert hat, Klaus Meine ist schon seit mehr
Garden in New York, im Forum in Los An- Wir haben uns immer an der weltweiten als einer Stunde mit einem Tee auf seinem
geles und im Palais Omnisports in Paris, Nachfrage unserer Fans orientiert.“ Es ist Zimmer verschwunden, um die Serie
haben sie sich in ihrer eigenen kleinen Welt ein Leben der unendlichen Möglichkeiten, „Stranger Things“ auf Netflix zu schauen,
eingerichtet. In der deutschen Provinz. aber auch eines, in dem man nie wirklich als Matthias Jabs noch immer im Hotelres-
In anderen Ländern ist die Provinz der ankommen kann. taurant des Sheraton sitzt. Er hat eine letz-
Beginn jeder guten Heldengeschichte. Wenn sie an Weihnachten zu Hause in te Flasche Amarone bestellt. Aber Ama-
Black Sabbath kommt aus Birmingham, Deutschland sind, werden sie wieder zu rone gibt es nicht mehr. Leer getrunken.
Bruce Springsteen aus Freehold, New Jer- normalen Menschen, zu Fußballfans und Vor ihm stehen zwei Kellner mit vier
sey, Michael Jackson aus Gary, Indiana. Familienvätern. Jabs muss die Winterrei- Flaschen Rotwein, vier Alternativen.
Aber in Deutschland ist es ihr sicherer Tod. fen wechseln, Schenker wird mit seinem Jabs prüft die Etiketten.
Die Scorpions wollten immer eine ame- Sohn spielen, und Klaus Meine geht wie- Er ist so etwas wie der Vorkoster der
rikanische Band sein. Aber die Deutschen der in die Loge zu Hannover 96, wo er Scorpions, der Erste, der bei jedem Abend-
nervte die amerikanische Pose. Der An- Altkanzler Gerhard Schröder trifft und an- essen verkündet, was auf der Karte zu emp-
spruch der Scorpions war immer groß, dere ehemalige Größen Hannovers. fehlen ist, unabhängig davon, ob er schon
aber das passte nicht zum Selbstbild der Sie lieben ihre Heimat, aber schon bevor jemals in dem Restaurant war. Wenn er die
Deutschen. Eine Band aus Hannover, „die sie dort ankommen, müssen sie an die drü- thailändische Fischsuppe bestellt, bestellen
DER SPIEGEL 52 / 2017 109
Kultur

auch andere die thailändische Fischsuppe, Licht & Schatten auftraten, waren die Klitschkos im Publi-
wenn er zum Rumpsteak greift, wählen auch Jekaterinburg, Russland kum, ohne ihnen davor etwas zu sagen.
andere Rumpsteak, wenn er den Sea Bass Rudolf Schenker muss sich beeilen, bald Als Schenker danach davon erfuhr, nahm
ins Auge fasst, wird das zum Trend. Er ist beginnt das Konzert in der Sporthalle von er sich Wladimir Klitschko zur Brust. „Jun-
ein Mann, der gern herausstreicht, wie be- Jekaterinburg. Von seiner Garderobe aus ge, hättest du mal gesagt, dass du da bist,
lesen und parkettsicher er ist, der eine nach kann er die Begeisterung in der Halle se- hätten wir dich backstage geholt.“ Darauf
ihm benannte Gitarre spielt, die sogenann- hen, Tausende Fans, die auf die Scorpions soll Klitschko geantwortet haben: „Ich war
te Jabocaster, und der gern erzählt, dass warten, bis dicht an die Bühne gedrängt. zu schüchtern.“
er im Abitur die „beste Physikarbeit in Aber dann steht da Klaus Deiters in seiner Es geht auch bei den Scorpions manch-
ganz Niedersachsen“ geschrieben habe, Garderobe, ein langjähriger Freund, Elek- mal nur darum, wer der Größere ist.
eine Klausur über die Braunsche Röhre. tromeister, ein Mann von kräftiger Statur Schenker schaut Deiters an.
Die Kellner schauen ihn an. und nachlässiger Kleidung, der es mit sei- „Schnell noch ein Bierchen?“
Welche Flasche? nen Geschäften bis nach Russland ge-
„Okay“, sagt Jabs. Er dehnt den Mo- schafft hat. „Mensch, Klaus“, sagt Schen- Dichtung & Wahrheit
ment länger als nötig. Schließlich sagt er: ker, „warum bist du so spät?“ Los Angeles, USA
„Dann entscheide ich mich für die diplo- Knapp zwei Stunden Konzert liegen vor Von Klaus Meine gibt es ein typisches Bild:
matische Lösung: Wir nehmen alle vier.“ ihm, 16 Songs. Er wird auf 15 unterschied- das mit Kangol-Mütze. Wenn er privat
In Russland ist alles etwas anders als in lichen Gitarren spielen, ausschließlich in unterwegs ist, gibt es Klaus Meine auch
Amerika, leichter, ausgelassener, ein biss- V-Form, darunter eine Gibson Flying V, mit Baseballcap. Oder mit Schiebermütze.
chen wie früher, als die Scorpions noch die vom brasilianischen Künstler Romero Aber nie einfach ohne etwas auf dem Kopf.
jünger waren. Es gibt Wodka. In den Ho- Britto lackiert wurde, eine Sonderanferti- Auf die Frage, warum er immer Mützen
telbars sitzen abends die Groupies, Mäd- gung vom Gitarrenbauer Boris Dommen- und Hüte trage, hat Klaus Meine einmal
chen, die behaupten, genau 18 Jahre alt get sowie die „Smoker V“ mit Auspuff und gesagt, dass er sich bei einem Konzert am
zu sein. Vor allem aber sind viele Fans der „Rauchvorrichtung“, die den Eindruck er- Kopf schwer verletzt habe. Er sei von der
Scorpions in Russland noch immer jung, wecken soll, als würde sie von einem Ver- Bühne gesprungen und habe sich dabei
gemessen am Alter der Scorpions sogar brennungsmotor betrieben. eine Platzwunde zugezogen, die genäht
wahnsinnig jung. Wenn man Jabs nach Schenker muss sich noch warmspielen. werden musste. Seitdem müsse er Mützen
Russland fragt, sagt er: „Tschechow, Stra- Er müsste seinen Gast eigentlich hinaus- und Hüte tragen, um den Schmiss zu ver-
winsky – Russia is a state of mind.“ komplimentieren. bergen, eine Folge seiner Waghalsigkeit.
Ihre sieben Konzerte in Russland in die- Aber Klaus Deiters ist nicht irgendwer. Klaus Meine lächelt. Rockstar zu sein
sem Jahr sind ausverkauft, die Fans dort Klaus Deiters ist wichtig. „Der ist ein Freund kann anstrengend sein. Man braucht für
lieben die Scorpions bedingungslos, selbst von Putin“, sagt Schenker. alles eine Heldengeschichte.
die Balladen, ihre weiche Seite. „Ein Bekannter“, korrigiert Deiters. Für Klaus Meine wird immer der beste
Je länger der Abend dauert, desto mehr „Der hat von Putin schon ’ne Spielzeug- Platz im Restaurant reserviert, für ihn ist
gerät Jabs ins Schwärmen. Er erzählt von eisenbahn bekommen“, sagt Schenker. immer das Auto mit der Nummer eins in
den ersten Konzerten in Russland, zehn- „Er hat diese Pipeline gebaut.“ der Kolonne reserviert. In den Konzert-
mal hintereinander in Leningrad, er er- Klaus Deiters lächelt. hallen ist seine Garderobe immer die größ-
zählt davon, wie Michail Gorbatschow die Er hat mit seiner Firma Elcon in Russland te, und immer ist sie die Garderobe mit
Scorpions am 14. Dezember 1991 im Kreml tatsächlich an einer Pipeline mitgebaut, für der Nummer eins. Aber manchmal wirkt
empfing, die alten Heldengeschichten, die Nord Stream, eine Tochtergesellschaft des er wie ein Gefangener seiner eigenen
VIP-Behandlung, die es so heute nur noch russischen Gaskonzerns Gazprom. Und er Show. „Alles, was da draußen an Bildern
in Russland gibt. kennt nicht nur Putin, er kennt auch Ger- und Klischees herumschwirrt, der Gla-
Es gibt da auch die alte Geschichte ihres hard Schröder, den Altkanzler und Auf- mour, die Groupies, die Orgien, die zer-
ehemaligen Produzenten Conny Plank, der sichtsratsvorsitzenden von Nord Stream. legten Hotelzimmer“, hat er einmal gesagt,
Kraftwerk produziert hat und während der Aber es geht nicht nur um ihn. „dient doch nur dazu, bourgeoise Fanta-
Aufnahmen zur ersten Platte die Idee hatte, Die Scorpions schmücken sich gern mit sien zu bedienen.“ Es geht ihm da nicht
sie nicht die Scorpions zu nennen, sondern den Namen der Reichen und Mächtigen, anders als einem Schauspieler, der eine
„Stalingrad“. Sie sollten als deutsches Kli- weil dies auch ein Maß dafür ist, wie ernst Rolle spielt, in Klamotten, die er privat
schee auftreten, als Karikatur des hässlichen sie genommen werden. Sie hoffen, dass nie tragen würde.
Deutschen, mit Stahlhelm und Stacheldraht. Arnold Schwarzenegger zum Konzert Er steht vor einem Spiegel im Forgotten
Als Russenschreck. Aber sie fanden schon nach Los Angeles kommt. Oder Don John- Saints, einem Geschäft für Rockerklamot-
damals, dass dieses Bild nicht zu ihnen son, der sich ebenfalls angekündigt haben ten in Los Angeles. Er probiert einen
passt. Wie hätten sie später, als Stalingrad, soll. Oder Steven Seagal, der amerika- Cowboyhut auf, schwarzes Leder mit
„Wind of Change“ singen können? nische Actionheld, der inzwischen die rus- Nieten. Er dreht sich um sich selbst, er will
Jabs nimmt noch einen Schluck. In Russ- sische Staatsbürgerschaft besitzt. Sie er- sich ganz sicher sein, dass der Hut zu ihm
land erscheint ihm in diesem Moment alles zählen, dass der brasilianische Schrift- passt. Draußen steht ein Wagen, der auf
besser und größer als anderswo. steller Paulo Coelho, mit dem Schenker ihn wartet, mit einem Nummernschild, auf
Es ist kurz vor Mitternacht, als Alex vor- befreundet ist, gelegentlich ihre Konzerte dem „Diwa 35“ steht. Meine wendet sich
schlägt, Jabs auf sein Zimmer zu bringen. besuche. Und natürlich wollen sie wissen, um und macht das Teufelszeichen, die alte
Jabs wollte an diesem Abend eigentlich ob die Klitschkos kommen, wenn sie in Rockerpose.
auf dem E-Reader noch ein wenig „Origin“ Kiew ein Konzert geben. Vitali Klitschko, Er will noch ein Foto von sich haben.
weiterlesen, den Roman von Dan Brown, der Kiewer Bürgermeister, oder sein jün- Dann muss er wieder los.
von dem er sagt, er sei da gerade „bei 30 gerer Bruder Wladimir, der gerade seine Los Angeles ist die zwölfte Station auf
Prozent“, oder noch eine Partie Schach auf Boxkarriere beendet hat. der Tour, und was in diesem Moment nie-
dem iPad spielen. Aber vielleicht ist das in Von den Klitschkos gibt es eine Ge- mand weiß, die letzte Station in den USA.
diesem Moment keine ganz so gute Idee. schichte, die Schenker gern erzählt: Als Die Scorpions wollen danach zwar auch
Morgen ist ja auch noch ein Tag. die Scorpions vor ein paar Jahren in Kiew noch in Phoenix, Dallas und San Antonio
110 DER SPIEGEL 52 / 2017
für Alex, den Assistenten, der alle, die an
diesem Abend wichtig sind, zu Rudolf
Schenker umleiten muss.
Alex muss sich um alles kümmern, um
„Kumpel Ali“, um „die Boxerin“, um „die
kleine Schenker“, Rudolf Schenkers Nich-
te, die auf der VIP-Liste steht, aber trotz-
dem nicht an den amerikanischen Türste-
hern vorbeikommt, um die Vertreter der
Firma Rock-’n’-Roll GangStar, die Schen-
ker eine Weste aus ihrer neuen Kollektion
schenken wollen. Er muss Fotos machen
von Schenker mit anderen Menschen. Er
ruft „Achtung, Achtung, looky, looky“,
dann befördert er die Besucher wieder aus
der Garderobe hinaus, um die nächsten
zu holen.
Schließlich ist Carsten Maschmeyer da.
Er hat seinen Sohn und drei junge Ameri-
kanerinnen mitgebracht. Er ist der VIP un-
ter den VIPs an diesem Abend in L. A. Für
ihn ist der beste Platz reserviert, direkt
am Bühnenrand, exakt in der Mitte. Besser
kann man im Forum nicht sitzen.
Alex hat Maschmeyer am Nordgate ab-
geholt und führt ihn zu Schenkers Garde-
robe. Mit einem Mann, der gewohnt ist,
dass ihn niemand im Leben stoppt, muss
man vorsichtig sein.
Als Maschmeyer in Schenkers Gardero-
be tritt, ist Schenker gerade dabei, sich um-
zuziehen. Er steht mit nacktem Oberkör-
per und offener Hose vor Maschmeyer und
dessen Gästen. „Mensch, Rudolf“, ruft
Maschmeyer mit gespielter Empörung,
„ich habe drei Frauen dabei.“
Er macht eine kurze Pause, damit das
Bild bei den drei Frauen einwirken kann.
Dann wendet er sich ihnen zu.
„A rock star“, erklärt Maschmeyer auf
Englisch. Hat er zu viel versprochen?
Maschmeyer, so wird er später bei einem
ARMIN SMAILOVIC / DER SPIEGEL

Treffen im Berliner Waldorf Astoria erklä-


ren, hat die Scorpions kennengelernt, als
er noch Schüler in der Robert-Bosch-Ge-
samtschule in Hildesheim war und Plakate
für die Scorpions klebte, für 50 Pfennig
das Stück. Vor allem Schenker bewunderte
er. „Ich habe Rudolf damals fast angehim-
Sänger Meine, Bühnentechniker: Wie ein Verletzter zur Garderobe geführt melt“, sagt Maschmeyer, „weil er Gitarre
wie ein Limbotänzer spielen konnte, im
90-Grad-Winkel nach hinten geneigt, mit
spielen, aber die verbleibenden Konzerte der VIP-Liste der Scorpions, in Oakland, freiem Oberkörper.“
in den USA werden sie absagen, sobald zwei Tage zuvor, waren es nur 50. Schenker holt ihm ein Bier aus dem
sie in Los Angeles gespielt haben, weil Katja Rieckermann wird kommen, die Kühlschrank. „Ohne die jungen Fans da-
Klaus Meine an einer Laryngitis erkrankt ehemalige Saxofonistin von Rod Stewart, mals, wie Carsten einer war, hätte es die
ist, an einer für seine Stimme gefährlichen Eric Singer, der Schlagzeuger von Kiss. Scorpions nicht gegeben. Wenn man be-
Kehlkopfentzündung. Die vielen Konzerte Daisy „The Lady“ Lang wird da sein, die denkt, dass er schon Plakate für uns ge-
in unterschiedlichen Zeitzonen haben sei- ehemalige bulgarische Boxeuropameiste- klebt hat, als nur fünf Leute zu unseren
ne Stimme angegriffen. Die bange Frage rin, die gut mit einem der Busfahrer der Konzerten in Sarstedt gekommen sind.“
ist: Schafft er wenigstens noch L. A.? Scorpions befreundet ist und sich so Zutritt Maschmeyer nickt. 1974 war das. Masch-
Los Angeles ist ein spezieller Ort, hier verschafft hat, und Carsten Maschmeyer, meyer sagt: „Seventy-four“.
haben die Scorpions früher monatelang der Milliardär aus Hannover. Arnold 17 Songs spielen die Scorpions an die-
gewohnt, um Platten aufzunehmen, und Schwarzenegger dagegen wird nicht kom- sem Abend, 14 im regulären Programm,
in kaum einer anderen Stadt ist der Druck men, auch Don Johnson hat abgesagt. 3 Zugaben. Klaus Meine lehnt am Bühnen-
so groß, eine gute Show geben zu müssen. Die Herausforderung an diesem Abend rand wie Leonardo DiCaprio an der Reling,
175 Prominente stehen für das Konzert auf ist es, Klaus Meine zu schützen, vor allem er wirft Drumsticks ins Publikum, wenn

DER SPIEGEL 52 / 2017 111


Kultur

PLAN B
SAMSTAG, 23. 12., 17.35 – 18.05 UHR | ZDF
er „The Zoo“ singt. „It’s a crazy world out kann abzutreten. Es geht dabei auch um
Nur die Ruhe there“, ruft er den Fans zu. „Wouldn’t you die heimlichen Angst, man könnte irgend-
Volle Terminkalender, schlechtes agree?“ Und dann, ganz am Schluss, brei- etwas verpassen.
Betriebsklima, das Gefühl, über- tet Klaus Meine die Arme aus und tut so, Die Scorpions sitzen in einem Privat-
fordert zu sein: Bis zu 13 Millionen als würde er von der Bühne fliegen. Hinter flugzeug, das sie zurück nach Hannover
Arbeitnehmer in Deutschland sind der Bühne wird Meine in große, weiße bringen soll. Draußen hat es zu schneien
nach Schätzungen von Gesundheits- Handtücher gehüllt und wie ein Verletzter begonnen, ein plötzlicher Wetterum-
experten und Krankenkassen von zu seiner Garderobe geführt. schwung. Der Pilot kommt aus dem Cock-
Er lässt sich zwei Pizzen von einem Lie- pit und sagt, dass sich der Abflug verspäte,
ferservice bringen, duscht, eine halbe Stun- weil das Flugzeug noch enteist werden
de will er noch allein sein, dann geht die müsse und er die Verspätung auch kaum
Tür zu seiner Garderobe auf, und Carsten aufholen werde, es gebe starken Gegen-
Maschmeyer darf auch zu ihm. wind. „Kein ‚Wind of Change‘“, sagt der
Noch am selben Tag sagen die Scorpions Pilot. Ein gut gemeinter Witz.
alle verbleibenden US-Konzerte ab. „Hät- Niemand lacht.
te Klaus weitergemacht, hätte er eine dau- Meine holt sein iPhone aus der Jacken-
erhafte Schädigung seiner Stimme ris- tasche. Er könnte jetzt zu Hause anrufen,
kiert“, erklärt die Band. „Wir hassen es, und sagen, dass er später komme. Aber
unsere Fans zu enttäuschen, aber in diesem das will er nicht. Er stellt sein Handy ein-
Fall mussten wir so handeln.“ fach aus. Keine unnötigen Prognosen.
SPIEGEL TV

Irgendwann, als das Flugzeug irgendwo


Ein paar Tage später meldet sich Klaus über Polen fliegt, kommt Klaus Meine
Meditierendes Schulkind Meine am Telefon, aus Hannover. noch einmal auf „Wind of Change“ zu spre-
Meine: Richtig starke Tour. chen. Wo haben sie den Song nicht schon
Stresserkrankungen betroffen. Auch SPIEGEL: … bis Los Angeles. überall gesungen? Im Kreml, in Seoul und
Schulkinder und Studenten leiden Meine: Eine Tour ist wie ein Formel-1-Ren- an der nordkoreanischen Grenze, in der
zunehmend unter Leistungsdruck. nen: Du gehst ans Limit, manchmal trägt Hoffnung, der Song könnte dort Mauern
„plan b“ zeigt, wie Entschleunigung es dich aus der Kurve. zum Fallen bringen. Oder in China, wo
funktionieren kann. SPIEGEL: Mit anderen Worten: zu viel „Wind of Change“ nur deshalb nicht der
Risiko? Zensur zum Opfer gefallen sein soll, wie
Meine: Wir hatten mehrere Back-to-back- Klaus Meine erzählt, weil die Chinesen ge-
SPIEGEL GESCHICHTE Konzerte. Ein Open-Air-Konzert bei zwölf glaubt hätten, „Wind of Change“ wäre ein
SAMSTAG, 23. 12., 21.20 – 23.10 UHR | SKY Grad in Salt Lake City. Dann ein paar Tage Song über das Wetter.
später Los Angeles. Von New York bis L. A. Klaus Meine würde den Song gern
Maos China – Roter Terror geht man halt durch verschiedene Zeit- noch anderswo spielen, in Iran zum Bei-
im Reich der Mitte zonen mit ganz unterschiedlichem Klima. spiel. Er war dort vor einiger Zeit mit sei-
Als Mao Zedong 1966 China zur Das ist für jeden Sänger eine Herausfor- nem Freund, dem iranischen Neurochirur-
„Großen Proletarischen Kulturrevo- derung. gen Professor Madjid Samii aus Hannover,
lution“ aufruft, stürzt das Riesen- SPIEGEL: Wie kann man singen, wenn man um zu testen, was dort möglich sein könn-
reich in ein Jahrzehnt des Terrors. eigentlich krank ist? te. Er würde das gern noch erleben.
Im Namen der kommunistischen Meine: Du singst immer, als wenn’s kein Ob das noch klappt?
Ideologie formiert sich Chinas fana- Morgen gäbe. Es ist nun schon 35 Jahre her, dass sie
tisierte Jugend zu „Roten Garden“ das erste Mal im Madison Square Garden
und errichtet eine Willkürherrschaft, Angst & Mut in New York aufgetreten sind. Dort haben
in der Kinder ihre Eltern verhaften, Kiew, Ukraine sie 1984 drei Konzerte hintereinander ge-
Nachbarn einander an den Pranger Einmal haben die Scorpions schon ver- spielt, dreimal hintereinander war ihr Kon-
stellen, der entfesselte Mob „Klas- sucht aufzuhören, sieben Jahre ist das nun zert ausverkauft. Das, sagt Klaus Meine,
senfeinde“ zu Tode prügelt. her. Sie wollten nicht vor den Augen ihrer habe vor ihnen nur Led Zeppelin geschafft.
Fans sterben, sagten sie damals, weshalb Es war der Moment, als sie das Gefühl
sie beschlossen, auf eine dreijährige Ab- hatten, sie seien endgültig angekommen,
SPIEGEL TV MAGAZIN schiedstour zu gehen. Sie luden die Regis- sie hätten es geschafft, sich international
SONNTAG, 24. 12., RTL seurin Katja von Garnier ein, über ihren zu etablieren. Sie hatten alle ihre Eltern
langen Abschied einen Dokumentarfilm dabei, eine Woche lang waren sie in New
Die Sendung entfällt. zu drehen, aber schließlich beschlossen sie York, die Meines, die Schenkers, die Eltern
auf der Tour, einfach weiterzumachen, im- von Matthias Jabs. Alle waren begeistert,
mer weiter. „Forever and a Day“, für im- die Eltern waren stolz auf ihre Söhne, aber
SCHWEIZER HOTELGESCHICHTEN mer und einen Tag, heißt jetzt der Film. am Ende der Woche stellte der Vater von
FREITAG, 29. 12., 16.50 – 20.15 UHR | 3SAT Als könnte alles immer so weitergehen: Jabs eine Frage: „Wie lange wollt ihr das
immer noch einen Tag obendrauf. „Wenn jetzt noch machen?“
Folge 1–4 du glücklich bist“, sagt Rudolf Schenker, Eine komische Frage. Damals.
Kein anderes Land Europas kann „bist du zeitlos und alterst nicht.“ Heute lachen sie darüber. Nur eine Ant-
auf traditionsreichere Grandhotels Es gehört Mut dazu, einfach aufzuhören, wort haben sie immer noch nicht.
zurückblicken als die Schweiz. Die alles hinter sich zu lassen, das Leben der
vierteilige Reihe erzählt am Beispiel vergangenen 50 Jahre, gerade dann, wenn Video: Energietransfer
ausgewählter Nobelherbergen von man die Wahl hat wie die Scorpions, wenn zwischen Band und Fans
Zürich bis Zermatt die Tourismus- immer noch genug Fans da sind, wenn man spiegel.de/sp522017scorpions
geschichte der Schweiz. also selbst den besten Zeitpunkt wählen oder in der App DER SPIEGEL

112 DER SPIEGEL 52 / 2017


JETZT IM HANDEL:

GLÜCKLICH
IM JOB
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control);
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Belletristik Sachbuch

1 (1) Dan Brown 1 (3) Axel Hacke Über den Anstand


Origin Lübbe; 28 Euro in schwierigen Zeiten und die Frage,
wie wir miteinander umgehen
2 (2) Daniel Kehlmann Kunstmann; 18 Euro
Tyll Rowohlt; 22,95 Euro
2 (2) Peter Wohlleben Das geheime
3 (3) Sebastian Fitzek Netzwerk der Natur Ludwig; 19,99 Euro
Flugangst 7A Droemer; 22,99 Euro
3 (1) Ranga Yogeshwar Nächste Ausfahrt
4 (4) Ken Follett Zukunft Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
Das Fundament der Ewigkeit
Lübbe; 36 Euro
4 (5) Peter Wohlleben Das geheime
Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro

Geschätzte 160 Millionen


5 (4) Rolf Dobelli Die Kunst
Bücher hat der Brite des guten Lebens Piper; 20 Euro
mit seinen Thrillern und
Historienromanen ver- 6 (6) Gregor Gysi
kauft. Und es hört nicht auf Ein Leben ist zu wenig Aufbau; 24 Euro

5 (12) Mariana Leky Was man von 7 (8) Christine Westermann


hier aus sehen kann DuMont; 20 Euro Manchmal ist es federleicht
Kiepenheuer & Witsch; 19 Euro
6 (5) Joachim Meyerhoff
Die Zweisamkeit der Einzelgänger 8 (7) Yuval Noah Harari
Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro

9 (9) Roberto Saviano / Giovanni di Lorenzo


7 (8) Maja Lunde Erklär mir Italien!
Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro
Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro

8 (6) Robert Menasse 10 (11) Elli H. Radinger Weitere Themen:


Die Hauptstadt Suhrkamp; 24 Euro Die Weisheit der Wölfe Ludwig; 19,99 Euro

9 (7) Juli Zeh 11 (10) Raphael Honigstein „Ich mag, PERSONAL


Leere Herzen Luchterhand; 20 Euro wenn’s kracht“
10 (10) Marc-Uwe Kling
Ullstein; 20 Euro So verringern Sie die Fluktuation
QualityLand Ullstein; 18 Euro bei Topleuten
11 Lucinda Riley Seit fünf Wochen
MARKETING
(9)
auf der Liste: die Bio-
Die Perlenschwester Goldmann; 19,99 Euro
grafie des Fußball-
trainers Jürgen Klopp
12 (11) Kerstin Gier
Wolkenschloss Fischer; 20 Euro 12 (13) Eckart von Hirschhausen Wunder
Wie die Werbung der Zukunft
13 (14) Jo Nesbø
wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro funktioniert
Durst Ullstein; 24 Euro 13 (15) Herfried Münkler Der Dreißigjährige
14 (13) John Green
Krieg Rowohlt Berlin; 39,95 Euro
KOMMUNIKATION
Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken 14 (14) Richard David Precht
Hanser; 20 Euro Erkenne dich selbst Goldmann; 24 Euro Klug reagieren in schwierigen
15 (15) Jojo Moyes 15 (17) Volker Weidermann Träumer –
Als die Dichter die Macht übernahmen
Situationen
Kleine Fluchten Wunderlich; 12 Euro
Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
16 (16) Robert Harris
München Heyne; 22 Euro
16 (–) Cameron Bloom / Bradley Trevor Greive
Penguin Bloom Knaus; 19,99 Euro
17 (20) Sven Regener
17 (20) Edward Brooke-Hitching
Wiener Straße Galiani; 22 Euro
Atlas der erfundenen Orte dtv; 30 Euro ! Auch als digitale Ausgabe erhältlich:
18 (–) Elena Ferrante Meine geniale 18 (12) Martin Walser / Jakob Augstein
Freundin Suhrkamp; 22 Euro Das Leben wortwörtlich – Ein Gespräch
harvardbusinessmanager.de
Rowohlt; 19,95 Euro
19 (19) Walter Moers
Prinzessin Insomnia und der 19 (18) Ferdinand von Schirach /
alptraumfarbene Nachtmahr Alexander Kluge Die Herzlichkeit
Knaus; 24,99 Euro der Vernunft Luchterhand; 10 Euro

20 (18) Stephen King / Owen King 20 (–) Ildikó von Kürthy


Sleeping Beauties Heyne; 28 Euro Hilde Wunderlich; 19,95 Euro

DER SPIEGEL 52 / 2017 113


Du sollst deine Eltern enttäuschen
SPIEGEL-Gespräch Weihnachten ist das Fest der hochgesteckten Erwartungen – an uns selbst und
an unsere Verwandten. Der Philosoph und Jesuit Michael Bordt, 57, weiß, damit umzugehen.

SPIEGEL: Professor Bordt, es wird Weih-


nachten, die Familien treffen sich, und Sie
raten in Ihrem neuen Buch dazu, die Eltern
zu enttäuschen*. Sorgt das nicht nur für
Streit?
Bordt: Die Idee eines harmonischen Weih-
nachtsfests schwebt ja wie ein Damokles-
schwert über vielen Familien. Die Eltern
erwarten, dass die Kinder sich auf eine be-
stimmte Weise verhalten, dass sie bestimm-
te Dinge sagen oder nicht sagen. Die er-
wachsenen Kinder haben wiederum das
Gefühl, sie spielen nur eine Rolle in einem
Spiel, das vor 30 oder 40 Jahren noch einen
Sinn und eine Gültigkeit hatte. An diesen
Punkten kann es ein wichtiger Schritt sein,
die Eltern zu enttäuschen. Es geht mir aber
nicht darum, dass es kracht. Man kann auch
auf positive Weise von dem Bild wegrü-
cken, auf das man sich festgelegt fühlt.
SPIEGEL: Können Sie ein Beispiel nennen?
Bordt: Indem man vorschlägt: Lasst uns
doch mal einen anderen Weg finden, Weih-
nachten zu feiern, einen anderen Ort oder
andere Rituale. Darüber entsteht dann die
Freiheit, sich neu zu begegnen.
SPIEGEL: Worin besteht da die Enttäu-
schung?
Bordt: Darin zeigt sich, dass man dem
Bild, das die Eltern haben, nicht mehr
entspricht. Alte Rollenmuster werden
durchbrochen, Eltern und Kinder lassen
sich noch mal auf etwas Neues ein. Dies
ist kein pubertärer Konflikt – ich bin an-
ders –, sondern eine Auseinandersetzung
zwischen Erwachsenen.
SPIEGEL: Spielt es eine Rolle, in welcher
Verfassung die Eltern sind, wenn man sich
vornimmt, sie mit irgendetwas zu ent-
täuschen?
Bordt: Kinder können durchaus falsch ein-
schätzen, was Eltern zuzumuten ist. Man-
che Eltern sind viel stärker, als die Kinder
glauben. Manche ahnen auch viel mehr,
als ihren Kindern vielleicht bewusst ist.
SPIEGEL: Dürfen Eltern umgekehrt auch
ihre erwachsenen Kinder enttäuschen?
Bordt: Selbstverständlich. Ich plädiere da-
für, sich gegenseitig von Zuschreibungen
zu befreien und innerhalb der Familie ins
Gespräch zu kommen.
MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Was erwächst für den Einzelnen


aus der Kunst, enttäuschen zu können?
Bordt: Selbstbestimmung und Authentizi-
tät. Mit Selbstbestimmung meine ich, mehr
und mehr derjenige zu werden, der ich in

* Michael Bordt: „Die Kunst, die Eltern zu enttäuschen“.


Elisabeth Sandmann; 96 Seiten; 10 Euro. Buchautor Bordt: „Extreme Herausforderungen“

114 DER SPIEGEL 52 / 2017


Kultur

nerlich bin. Im Rahmen der Rollen, die ich übrigens nicht der Bruch, sondern die Miss- Bordt: Viele Menschen entwickeln Strate-
innehabe. Ich bin auf meine Weise Sohn, brauchserfahrung. Der Abbruch der Bezie- gien, um sich vor Enttäuschungen zu be-
ich bin auf meine Weise Mutter. Nicht so, hung ist nur eine richtige Reaktion darauf. wahren. Vor allem werden Erwartungen
wie es familiär oder gesellschaftlich erwar- SPIEGEL: Ist so ein Bruch überhaupt mög- runtergeschraubt. Wer sich nicht enttäu-
tet wird. lich, bleibt man nicht sein Leben lang Toch- schen lassen will, trainiert sich meist
SPIEGEL: Sie schreiben in Ihrem Buch, El- ter oder Sohn, Mutter oder Vater? systematisch ab, sich selbst wahrzuneh-
tern würden ihre Kinder stets aus der Er- Bordt: Man kann sagen: Ich möchte nichts men. Die Konsequenz ist eine emotionale
fahrung der in großer Nähe verbrachten mehr mit dir zu tun haben. Mit so einer Taubheit, das eigene Leben verliert an
Jahre betrachten. Das heißt, sie sehen im äußeren Trennung ist aber nicht automa- Tiefe und an Kreativität, man büßt Be-
Erwachsenen immer noch das Kind. tisch auch der innere Konflikt behoben. ziehungen ein. Ich plädiere in meinem
Bordt: Viele meinen, dass die charakterliche Das sind zwei verschiedene Dinge. Buch deshalb für eine „robuste Verletzbar-
Prägung eines Menschen mit seiner Kind- SPIEGEL: Können Sie das erklären? keit“, ein Begriff, den ich bei dem Dichter
heit beendet ist. Das stimmt aber nicht. Bordt: Um inneren Frieden zu finden, muss David Whyte gefunden habe. Es kommt
Menschen verändern sich zeit ihres Lebens, ich lernen, mit Verletzungen umzugehen. darauf an, verletzbar zu bleiben. Aber
sie können Potenziale leben, die in der Auch damit, von mir selbst ent-täuscht zu nicht wie ein scheues Rehlein, das ständig
Kindheit nicht vorhersehbar waren. Gleich- sein. Der reflexive Aspekt ist wichtig. Erst versucht wegzurennen. Stattdessen entwi-
zeitig haben Eltern uns gegenüber den Vor- wenn man zu akzeptieren beginnt, dass ckelt man eine Haltung, die heißt: Ich kom-
teil, dass sie sich an Erlebnisse mit uns man einem Idealbild nicht gerecht wird, me mit Enttäuschungen und dem, was sie
erinnern können, aus einer Zeit, in der wir kann man alles, was schieflief, als Teil der in mir auslösen, zurecht. Daraus entsteht
uns selber noch nicht bewusst wahrgenom- eigenen Verletzungsgeschichte akzeptieren. Stärke.
men haben. SPIEGEL: Sie sind Jesuit. Und Religion ar- SPIEGEL: Das klingt alles psychoanalytisch.
SPIEGEL: Liegt darin der zentrale Konflikt? beitet mit Idealen und Regeln. Ein Gebot Hat Freud bei den Jesuiten geklaut?
Haben Eltern ein Interesse, an dem Bild lautet: Du sollst Vater und Mutter ehren. Bordt: Wie sehr die Elternbeziehung das
von früher festzuhalten, während die Kin- Da steht nicht: Du sollst deine Eltern ent- eigene Leben prägt, ist uns in der Wissen-
der ihre Erfahrungen als Erwachsene stär- täuschen. schaft durch Freud klar geworden. Wer mit
ker gewichten? Bordt: Für mich geht es in der Religion Meditation zu tun hat, dem ist das eigent-
Bordt: Eltern haben in der Regel kein Inte- nicht um Ethik und Moral, sondern um lich selbstverständlich.
resse, ihre Kinder kleinzuhalten, aber es SPIEGEL: Haben Sie Ihre Eltern auch ent-
ist ganz natürlich, dass sie ihre Sicht auf täuscht?
die Kinder, die stark von den Kindheits- „Wer sich nicht selbst Bordt: Die Tatsache, dass man selber in
jahren geprägt ist, erst mal für die richtige
halten. Es gibt Studien, die zeigen, dass wahrnimmt, riskiert einen Orden eintritt, ist sicher ein ganz
extremer Ausbruch aus allen Systemen der
das ein allgemeines Phänomen ist: Wir le- emotionale Taubheit Familie. Während meines Noviziats war
gen andere Menschen auf eine einmal ge-
troffene Einschätzung fest. Sich daraus wie-
und ein Leben ohne Tiefe.“ ich erst mal kaum erreichbar für meine El-
tern, während dieser Zeit sieht man sich
der zu befreien ist nicht leicht. In engen nur einmal im Jahr, man muss ja erst mal
Beziehungen wird dies natürlich zu einem Spiritualität, um die Beziehung zu Gott. Abstand kriegen. Das ist für manche Eltern
besonderen Problem, weil es einen hier Vor Gott kann ich so sein, wie ich bin. Für nicht so lustig. Es sei denn, die Eltern sind
am meisten stört, wenn der Blick an einem mich als Jesuit ist die Erfahrung der Medi- sehr religiös, aber das war bei meinen
vorbeigeht. Jemand liebt dann nicht mich, tation entscheidend. Die Erfahrung der Eltern nicht der Fall. Sie mussten auch
sondern das Bild, das er von mir hat. Einsamkeit vor Gott. Das ist für mich das akzeptieren, dass sie von mir keine Enkel-
SPIEGEL: Und die Enttäuschung ist dann so Zentrum der religiösen Spiritualität. kinder bekommen werden.
eine Art Befreiungsschlag? SPIEGEL: Ist man als gläubiger Mensch auch SPIEGEL: Ist das beim Nachdenken über die
Bordt: Das Wort sagt es ja schon: Ent-Täu- befugt, Gott zu enttäuschen? Eltern-Kind-Beziehung ein Hindernis?
schung – eine Täuschung wird genommen. Bordt: Gott zu enttäuschen, das geht gar Bordt: Ich bin ja wie jeder Mensch Kind.
Ich befreie mich davon, dass jemand etwas nicht, glaube ich, weil man vor Gott keine Aber es prägt natürlich meine Sicht.
in mir sieht, was ich nicht bin. Es ist aber Rollen spielen kann. Aber ich kann mein SPIEGEL: Warum sind Sie in den Orden ein-
auch ein Beziehungsangebot: Ich gebe mich Bild, das ich davon habe, wie Gott mich getreten?
als der zu erkennen, der ich eigentlich bin. sieht, enttäuschen. Bordt: Was mich bei den Jesuiten von
SPIEGEL: Wenn die Eltern dazu aber nicht SPIEGEL: Ist das in weltlichen Beziehungen Anfang an fasziniert hat, war das Intel-
bereit sind? nicht das Gleiche: Enttäuscht man nicht lektuelle und auf der anderen Seite die
Bordt: Dann ist die Frage: Was macht man immer das Bild, das andere von einem Spiritualität, die Meditation. Ich lebe zum
mit diesem Konflikt? Dafür ist es notwen- haben? Beispiel mit einem Jesuiten zusammen,
dig, zwischen innerem Erleben und äuße- Bordt: Völlig richtig. Aber bei religiösen der auch ausgebildeter Zen-Meister ist,
rem Leben zu unterscheiden. Im äußeren Menschen liegt eine Gefahr darin, dass das und mit jemandem, der in der Flüchtlings-
Leben kann es durchaus richtig sein zu sa- Bild, das sie von sich haben, eine Ideali- hilfe arbeitet. So ergeben sich verschiede-
gen, der Blick, den die Eltern auf mich ha- sierung der eigenen Person ist, die sie aus ne Perspektiven. Ich finde das sehr berei-
ben, ist schädlich, ich setze mich dem nicht ihrer Religion ableiten: So will Gott mich. chernd.
länger aus. Ich ziehe einen Schlussstrich. Dann kommt die Ethik und das „Du SPIEGEL: Sie beraten heute auch Unterneh-
Bis zu diesem Punkt kann es gehen. musst“ hinzu, auf diese Weise kann sich mer und Manager. Wie kommen Sie als
SPIEGEL: Vom Bruch mit den Eltern raten eine problematische Beziehung zu Gott Philosoph und Pater zu dieser Aufgabe?
Sie nicht ab? und zu sich selbst verfestigen. Bordt: Ich war zwischen 2005 und 2011
Bordt: Nein, in einzelnen Fällen kann das SPIEGEL: Sie sagen, eine Enttäuschung muss Präsident der Hochschule für Philosophie
genau richtig sein. Denken Sie an Miss- in jeder Beziehung möglich sein. Aber sind in München, die vom jesuitischen Orden
brauch in Familien. Da ist es ganz klar, wir als Gesellschaft dafür überhaupt aus- getragen wird. Während dieser Zeit habe
dass ein Beziehungsabbruch ein wichtiger reichend tolerant? Gilt die Enttäuschung ich Norbert Reithofer kennengelernt, den
Schritt sein kann. Das Schlimme ist dann nicht vielen als negative Erfahrung? damaligen Vorstandsvorsitzenden von
DER SPIEGEL 52 / 2017 115
Kultur

BMW. Er bat mich, einen auch um Reflexion. Das


Workshop für den Vorstand Nachdenken über sich selbst
abzuhalten. Das lief gut, ist ja nicht nur ein intellek-
daraus entwickelte sich tueller Vorgang, sondern
eine längere Zusammen- stabilisiert gleichzeitig das
arbeit. Mittlerweile führen eigene Werte- und Orientie-
wir solche Beratungen für rungssystem. Wenn ich weiß,
verschiedene Familienunter- wofür ich stehe und warum
nehmen und für das Ma- das wichtig ist im Leben,
nagement von Dax-Konzer- kann ich aus der Breite mei-
nen durch. ner Persönlichkeit reagieren.

MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL


SPIEGEL: Worum geht es da- Das ist essenziell, um große
bei? Unternehmen zu führen.
Bordt: Wir greifen auf Ele- Ohne diese Fähigkeiten mag
mente zurück, die wir im man bis zu einem gewissen
Jesuitenorden entwickelt ha- Punkt kommen, aber irgend-
ben, um uns selbst auszu- wann merken Sie, dass Sie
bilden. Dabei spielen ver- an Ihre Grenzen stoßen.
schiedene Fragen eine Rolle: Bordt beim SPIEGEL-Gespräch* SPIEGEL: Das ist dann natür-
Wie können Menschen auf „Das Nachdenken über sich selbst stabilisiert das eigene Wertesystem“ lich eine ultimative Enttäu-
gesunde, gute Weise mit ex- schung.
tremen Herausforderungen umgehen? Was jeder Topmanager. Öffentlich zu zeigen, Bordt: Mit so einer Sinnkrise umzugehen
ist dabei wichtig? dass man sie nicht hat, ist schlecht. Wenn ist schon schwierig. Manchmal hängen
SPIEGEL: Damit sind Sie in einem Höchst- Leute in Spitzenpositionen tätig sein wol- auch Ehen daran, sodass leicht ein ganzes
leistungsmilieu tätig. Extrem individualis- len, sind damit Erwartungen an ihre Leis- Leben ins Schleudern geraten kann.
tisch. Wie passen Enttäuschungen dort tungen und an ihr Kommunikationsver- SPIEGEL: Wenn man Ihnen zuhört, be-
hinein? halten verbunden, die auch berechtigt sind. kommt man den Eindruck, dass solche
Bordt: Sie spielen eine Riesenrolle. Manche Jetzt bist du umgekippt, aber macht Konsequenzen Sie nicht besonders schre-
Manager denken zum Beispiel, sie seien die nichts? Nein. In diesen Positionen geht es cken: Lebensentwürfe, die ins Schleudern
Besten in ihrem Job. Und dann erleben sie, darum, seine Kräfte realistisch einzuschät- geraten, Familien, in denen Funkstille
dass ihre Karriere ein Ende hat, dass sie zen und einzusetzen. Es war sicher nicht herrscht. Viele Menschen mühen sich nach
nicht in den Vorstand kommen. Gerade für klug von Frau Clinton, diesen Termin Kräften, damit das bloß nicht passiert.
Männer, die in ihrem Leben ungebrochen wahrzunehmen. Zu solchen Szenen darf Bordt: Nein, für mich hat das keinen großen
auf Karriere gesetzt haben, ist das schwierig. es nicht kommen. Schrecken. Das kann mit meiner Ordens-
SPIEGEL: Ein Vorstandsvorsitzender hat ja SPIEGEL: Sie haben mal gesagt, je höher existenz zu tun haben. Und dass ich immer
mit verschiedenen Erwartungen zu tun. jemand in einer Hierarchie steht, desto wieder erlebe, wie unglaublich unglücklich
Mit den Erwartungen seiner Belegschaft, wichtiger wird, welchen Charakter er hat. Menschen werden, wenn sie sich aus be-
aber zum Beispiel auch mit den Erwartun- stimmten Situationen nicht lösen. Wie ich
gen eines bestimmten Jahresgewinns. Wie Einzelne auch manchmal nicht verstehe,
geht er damit um? „Der Papst ist nicht auf die um jeden Preis an Beziehungen fest-
Bordt: Er muss wahrnehmen, was sich an
Wünschen und Projektionen auf ihn rich- Zustimmung angewiesen, halten. Das gilt für kirchliche Zusammen-
hänge übrigens genauso. Manchmal denke
tet. Aber er darf sich damit nicht spontan das sollte in jedem ich: Jetzt verlass doch das Kloster, wenn
identifizieren. Er muss sich überlegen, was
für das Unternehmen der Sache nach das
Unternehmen so sein.“ es so schlimm ist für dich. Es kann schon
sein, dass ich in dieser Hinsicht viel unbe-
Beste ist. Er darf nur das tun, was er für schwerter bin als andere.
richtig hält. Für das Unternehmen. Nicht Bordt: Der Druck und der Stress in diesen SPIEGEL: Erkennen Sie das jesuitische Den-
für sich selbst. Dafür wird er bezahlt. Positionen ist so hoch, dass man mensch- ken eigentlich auch beim Papst, der ja
SPIEGEL: Was ist mit den Erwartungen an lich zunehmend in die Enge getrieben ebenfalls zu Ihrem Orden gehört? Viel-
die Leistungsfähigkeit von Führungsperso- wird. Wenn sich Konflikte zuspitzen, sollte leicht in seiner Radikalität?
nen. Darf man die enttäuschen? Erinnern man wissen, wer man selber ist, wie man Bordt: Ja, ihm ist es egal, was andere von
Sie sich an den Moment, als Hillary Clin- sich Orientierung gibt und wofür man ihm denken.
ton im US-amerikanischen Wahlkampf steht. Daraus kommt dann die Kraft, in SPIEGEL: Auch ein Papst muss enttäuschen
umkippte? Sie hatte zuvor schon damit zu Hochleistungssituationen nicht eng zu rea- können?
kämpfen, dass Trump Zweifel an ihrer Ge- gieren. Bordt: Franziskus enttäuscht ja zurzeit sehr
sundheit streute. Es ist ein warmer Tag, SPIEGEL: Was bedeutet das, eng zu rea- viele. Sowohl die Leute, die es gern hätten,
während einer Gedenkfeier am Ground gieren? dass er mal ordentlich durchgreift in der
Zero steht sie in der prallen Sonne, auf Bordt: Ganz unterschiedlich: still werden, Kurie, als auch die Konservativen. Der
dem Weg zum Auto sacken ihr die Beine vereisen oder explodieren. Papst ist wirklich ein guter Enttäuscher.
weg. Zwei Stunden später kommt sie aus SPIEGEL: Trauen Sie so ein Entwicklungs- Der kann’s. Umgekehrt bedeutet das, er
dem Apartment ihrer Tochter, auf die Fra- potenzial jedem Menschen zu? ist nicht auf Zustimmung angewiesen. In
ge der Reporter, wie es ihr gehe, antwortet Bordt: Man kann das systematisch lernen. jedem großen Unternehmen sollte das so
sie: great. Sie konnte es sich offensichtlich Topmanager müssen es lernen. Es geht um laufen: Ich tue, was ich für richtig halte,
nicht leisten zu enttäuschen. eine immer sensiblere Wahrnehmung, aber unabhängig davon, ob alle es ganz toll
Bordt: Große gesundheitliche Robustheit finden.
gehört zu den Qualitäten, die ein Präsi- * Mit den Redakteurinnen Claudia Voigt und Susanne SPIEGEL: Professor Bordt, wir danken Ihnen
dent der USA haben sollte. Und auch Beyer im Hamburger SPIEGEL-Gebäude. für dieses Gespräch.
116 DER SPIEGEL 52 / 2017
MACHEN SIE PLUS:

HANDELSBLATT
Digital
+ iPad.
Ihr profitabler Jahresabschluss: Sichern Sie sich jetzt

* Zzgl. einmaliger Zuzahlung, die Laufzeit beträgt 24 Monate. Dies ist ein Angebot der Handelsblatt GmbH, Kasernenstraße 67, 40213 Düsseldorf, gültig bis 31.12.2017.
Handelsblatt Digital + neues iPad zum Vorzugspreis.

Mtl. nur
34,99€*

Jetzt bis zu 494,99 € sparen:


angebot.handelsblatt.com/ipad
Kultur

Der große Gürtel des Glücks


Europa Der Schriftsteller Navid Kermani setzt seine Reise für den SPIEGEL fort. Nun schildert er
den Weg von Georgien nach Baku, auf dem er eine Nonne, die Formel 1 und eine Heldin trifft.

Fünfter Tag großen Perser zum georgischen Kanon, in geht es außerdem nicht weiter in die Tür-
Dass sich die Kirchen in Kachetien so har- ihrer Generation jedenfalls. Immerhin auf kei und ebenso wenig in die autonome
monisch in die Landschaft einfügen, als Bildung habe der Kommunismus Wert ge- Republik Naxçıvan. Links und rechts zwei
wären sie aus der Erde emporgewachsen, legt. Dann zitiert sie – man soll das Bild Meere, da bleiben gar nicht so viele Mög-
liegt nicht nur am Sandstein oder ihren ruhig vor Augen haben: eine bis übers lichkeiten, um zu verreisen. Das einzige
menschlichen Dimensionen, die Kuppeln Kinn und über die Augenbrauen verschlei- Land der Region, von dem aus man überall
kaum höher als der höchste Baum; es liegt erte Nonne in einem abgelegenen Kloster hinkommt, ist ausgerechnet ein sogenann-
auch am Zustand nach ihrer Wiederein- südlich des Kaukasus –, zitiert sie Goethe, ter Schurkenstaat, nämlich die Islamische
weihung. Den Reichtum, den die Kritiker nach dem Ost und West nicht mehr zu tren- Republik Iran.
dem georgischen Klerus vorhalten, merkt nen seien, was für alle Himmelsrichtungen Hinter der Grenze stehen mehrere Taxis,
man den Restaurierungen nicht an, die und erst recht für die Literatur gilt. Als aber nur einer der Fahrer spricht Russisch,
nicht mehr als das Nötigste instand gesetzt, der Fotograf Dmitrij Leltschuk fragt, ob er sodass sich Dmitrij mit ihm verständigen
freigelegt, geputzt, statisch gesichert ha- trotz des Verbotsschilds in der Kathedrale kann. Dass er humpelt, liege am Krieg,
ben. Aber gerade dies, das Gebrechliche, Aufnahmen machen dürfe, schließlich ver- wie der Fahrer uns vorsorglich mitteilt;
Imperfekte, nur fragmentarisch Erneuerte, 1993 sei er in Bergkarabach auf eine Mine
macht ihre Aura aus. Jedes einzelne Fres- getreten. Aber keine Sorge, die Kupplung
ko, auf dem mühsam die Figuren zu er- Kaspisches könne er auch mit der Prothese treten.
kennen sind, jeder der Steine, auf denen Kauk Meer „War denn der Krieg gegen Armenien
asu Kachetien
sich Feuchtigkeit und Rauch, aber auch die s notwendig?“, frage ich.
Schwarzes Dagestan
Hammerschläge und Nageleinwölbungen Meer GEORGIEN „Ach was“, sagt der Fahrer. „Den Krieg
von Hirten, Obdachsuchenden und Inva- Tiflis haben die Mächtigen geführt. Wir haben
Baku
soren abzeichnen, der Putz, der über den ARMENIEN nur unsere Toten dazugegeben, unsere
Ziegeln über die Jahrhunderte hinweg Tartar Häuser und unsere Gliedmaßen.“
Bergkarabach ASERBAI-
schon abblättert, jede Kachel, die auf dem DSCHAN „Aber es gab doch auch Hass, oder
Boden fehlt, erzählt vom Leben, das ver- nicht?“
gangen ist, ohne zu Ende zu sein. TÜRKEI IRAN „Der Krieg ist nicht wegen des Hasses
Nein, der Staat tue nicht viel für den Er- ausgebrochen, sondern der Hass wegen
halt der Kirchen, und auch die Gemeinden Kermani, 50, ist Schriftsteller und lebt des Krieges.“
hätten kaum Geld, meint Schwester Ma- in Köln. Bislang hat der SPIEGEL
riani, die wir vor der Alawerdi-Kathedrale neun Teile seiner Reisereportage Sechster Tag
ansprechen. Ohne private Mäzene und die veröffentlicht. Drei weitere werden in Gegen Mittag fahren wir schon wieder an
Arbeit der Freiwilligen wäre nicht einmal den nächsten Wochen folgen. Seine eine Grenze, allerdings finden wir sie nicht.
das Nötigste bewältigt worden. Die Nonne Reise endet in Iran, der Heimat seiner Wen wir auch fragen, niemand weiß, wo
erzählt von den Fremden, die über die Eltern. Ende Januar erscheint das ge- es Richtung Armenien geht. Wozu auch?
Jahrhunderte einfielen, von den Persern, samte Reisetagebuch auch im Verlag Grenzen, die geschlossen sind, schaffen
die das Kloster als Garnison nutzten und C. H. Beck („Entlang den Gräben“). einen ganz eigenen Raum: Es leben Men-
den Gläubigen nur zu Festtagen erlaubten, schen davor und vermutlich auch dahinter,
in der Kirche zu beten, von den Sowjets, aber niemand muss mehr zu ihnen hin, nie-
die in der Kathedrale Getreide lagerten wende er keinen Blitz, der die Fresken ver- mand zieht an ihnen vorbei, für niemanden
oder Schweine mästeten. Wer schlimmer brennen könnte, schüttelt sie freundlich, liegen sie noch auf dem Weg. Es gab auch
war? Die Perser hätten bloß mit Pfeil und aber bestimmt den Kopf: „Die Fresken ver- in Deutschland Flecken auf der Landkarte,
Bogen gekämpft, die Sowjets hingegen auf brennen sich nicht am Blitz; sie verbren- Zonenrandgebiete hießen sie, die fern jeder
die Gedanken und die Seelen der Men- nen sich an der Eiligkeit.“ Route und jedes Interesses waren.
schen gezielt. Außerdem hätten die Perser Gegen Mittag lässt uns die Fahrerin an Jetzt sind wir in Tartar, weil es auf der
auch etwas Schönes hinterlassen, fügt der Grenze zu Aserbaidschan aussteigen. Karte am nächsten an der Waffenstill-
Schwester Mariani hinzu und zeigt auf Uns bis zur nächsten Stadt zu bringen standslinie liegt. Zu der Linie kommen wir
einen Gartenpavillon, dessen Gitterwerk kommt ihr gar nicht erst in den Sinn. Im- nicht hin, hören wir ein ums andere Mal.
aus der goldenen Zeit der persischen Safa- merhin kommt man über die Grenze, das Gut, sagen wir, aber man muss doch bis
widendynastie stammt. ist ja schon mal was. Nach Dagestan, das zu einer Stelle fahren können, ab der es
Woher sie sich so gut in der persischen wir auf dem Weg nach Osten als nächstes nicht weitergeht, zu einem Checkpoint, ei-
Architektur auskenne, frage ich. Sie habe Reiseziel ausgemacht hatten, weil es auf nem Verbotsschild, einer Straßensperre –
in Tiflis Orientalistik studiert, antwortet der Landkarte über viele Zentimeter mit irgendwo müssen die Straßen zu Ende sein.
Schwester Mariani, und nicht zuletzt durch Georgien verbunden ist – nach Dagestan Das stimmt theoretisch, aber praktisch ist
die Begegnung mit einer fremden Kultur gibt es keinen einzigen Übergang. Süd- niemand, den wir ansprechen, schon ein-
zu ihrer eigenen Religion gefunden; das ossetien und Abchasien sind ebenfalls mal in westlicher Richtung aus der Stadt
sei zum Ende der Sowjetunion gewesen kaum zugänglich, die Grenze zwischen gefahren.
und, nein, nicht ungewöhnlich, schließlich Aserbaidschan und Armenien beziehungs- Auf Google Maps, wo auch die Feldwege
gehörten Ferdousi, Hafis und die anderen weise Bergkarabach sowieso. Von Armenien markiert sind, finden wie das Dorf Tap
118 DER SPIEGEL 52 / 2017
FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL

Klöster Alawerdi, Nekressi in Georgien, Reiterstatue vor Museum in Aserbaidschan, Promenade von Baku
„Der Krieg kam nicht wegen des Hasses, sondern der Hass kam wegen des Krieges“

DER SPIEGEL 52 / 2017 119


DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL
Dorfbewohnerinnen in Grenzort Tap Qaraqoyunlu bei Maulbeerernte: Die Mauer bietet keinen Schutz

Qaraqoyunlu, das genau an der Waffenstill- in seinen Lada, auf die Rückbank, den Bei- seln, sagt der Mann und fügt – pflichtschul-
standslinie liegt. Auf dem Bildschirm ist es fahrersitz, in den Kofferraum und aufs dig oder ehrlich? – hinzu, dass stets die
nur einen Zentimeter entfernt, doch müs- Dach. Fernab der Städte sei dem Benzin Armenier mit der Gewalt begännen. Auch
sen wir einen weiten Bogen fahren, weil Wasser beigemischt, sodass er die Kanister Scharfschützen seien drüben postiert, erst
dazwischen eine Stiefelspitze – je nach für gutes Geld loswerde, erklärt er uns. letzte Woche sei ein Bewohner verwundet
Sichtweise – armenisches oder besetztes Möge er der erste Aserbaidschaner sein, worden.
Gebiet liegt. Sieht man von Tschetschenien der nicht im Auto raucht. „Kann man die Armenier von hier aus
ab, ist der Konflikt um Bergkarabach der Es ist bereits früher Abend, als wir in Tap sehen?“, frage ich.
schwerste, den die Union der Sowjetvölker Qaraqoyunlu eintreffen. Das war wahr- „Kommt mit“, meldet sich eine Frau und
hinterließ. 50 000 Tote, Pogrome auf beiden scheinlich auch eine Schnapsidee, erst zwei führt uns in den Hof, wo ihr Mann am
Seiten, weit mehr als eine Million Vertrie- Stunden nach Süden und anschließend in Traktor beschäftigt ist. An einer Stelle ist
bene, zwei Völker, die sich voneinander einem östlichen Bogen zurück nach Westen ein Stückchen Beton aus der Mauer he-
abschotten, obwohl sie noch vor 30 Jahren zu fahren, nur um einmal die Front zu sehen. rausgebrochen, und so lugen wir durch das
miteinander verbunden, ja fast ineinander Vielleicht gibt es die Front gar nicht! Ja, viel- Loch. Vielleicht 1000, vielleicht 2000 Meter
verschlungen waren. Und anders als in leicht findet der Krieg nur noch im Fernse- entfernt meine ich einen Gefechtsstand zu
Tschetschenien dauert der Krieg zwischen hen statt, wie man es aus Hollywoodsatiren erkennen, die Soldaten selbst allerdings
Armenien und Aserbaidschan noch immer kennt. Denn selbst Tap Qaraqoyunlu wirkt nicht. Tap Qaraqoyunlu sei immer schon
an. Bald geht das Sterben ins vierte Jahr- auf den ersten Blick friedlich: Doch am aserisch gewesen, erklärt der Mann; die
zehnt. Ende des Dorfes stoßen wir auf eine zwei Armenier hätten im Nachbardorf Talisch
Bevor wir uns auf den Weg machen, bis drei Meter hohe Mauer, die sich die gewohnt, das nun im Niemandsland liege.
schauen wir uns in Tartar um. Vom Ölboom, Querstraße entlangzieht. Davor haben eini- Vor dem Krieg seien die Beziehungen nor-
der Aserbaidschan in den Neunzigerjahren ge Frauen Tücher unter einem Baum ausge- mal gewesen, fügt die Frau hinzu, eigent-
über Nacht reich gemacht haben soll, sieht breitet, und Kinder schaukeln auf den Zwei- lich sogar freundschaftlich. Ob sie Talisch
man in den Straßen nichts, die gerade wie gen, sodass die Maulbeeren herunterfallen. noch einmal besuchen würde, wenn es die
mit dem Lineal gezogen sind: wenig Ver- Noch immer wirkt die Szenerie entspannt, Mauer nicht mehr gäbe?
kehr, leere Betriebe, und auch an den Lä- doch als wir den Wagen auf der anderen „Sie meinen, wenn Frieden herrscht?“,
den scheint die schöne neue Warenwelt vor- Straßenseite parken, ruft uns ein Mann zu, fragt die Frau zurück.
beigegangen zu sein. Selbst der Fluss ist dass wir besser nicht aussteigen sollten. „Ja, wenn Talisch wieder bewohnt
ausgetrocknet – weil Armenien das Wasser „Warum?“, fragen wir. wäre.“
gekappt hat, wird uns erklärt. „Weil die Mauer dort keinen Schutz bie- „Nein, ich würde da nicht mehr hinge-
Wir fahren schon wieder aus Tartar he- tet.“ hen. Es wäre ja dann von unseren Feinden
raus, da sehe ich doch noch so etwas wie Jetzt fällt mir auf, dass sich alles Leben bewohnt.“
einen Ölboom: An der Tankstelle lädt ein nur auf der einen Seite der Straße abspielt. Bevor wir den Nachtzug nach Baku
Mann große Plastikcontainer mit Benzin Beinah täglich komme es zu Schusswech- nehmen, bleibt noch Zeit für einen
120 DER SPIEGEL 52 / 2017
Kultur

Schlenker in ein Städtchen, das von Deut- Teppiche wie Gärten, seine Kunst als Ab- Als ich die ersten Schritte durch Baku
schen im Osten mal nicht zerstört, son- bild einer tatsächlich gegenstandslosen mache, begegne ich allerdings weder dem
dern erbaut worden ist. Es waren Armuts- Welt, seine Ornamentik als Formel für den Sprachen- und Völkermischmasch von
flüchtlinge, denen der Zar 1819 diesen unendlichen Horizont, seine Gastfreund- einst noch sowjetischer Uniformität, son-
entlegenen Flecken seines Riesenreichs schaft eine Notwendigkeit, Lebensversiche- dern Angehörigen einer ganz anderen
zugewiesen hat, damit sie ihn kultivieren. rung für den Gastgeber selbst. Spezies, geradezu Lebewesen von einem
Helenendorf haben sie ihre Siedlung ge- Womöglich lassen sich sogar manche der anderen Stern: Sie tragen orange oder hell-
nannt, Weinstauden gepflanzt und Gie- Schwierigkeiten, die die Demokratie im braune Overalls aus knittrigem Kunststoff,
belhäuser errichtet, von so guter Qualität, Orient hat, mit der Wüste erklären, da sie und alle haben sie rote Schirmmützen auf
dass sie bis heute Schmuckstücke sind. den Kontrast zwischen Stadt und Land ver- dem Kopf, Stöpsel in den Ohren und eine
Die Kirche hat aus Deutschland das Gie- schärft – keine größere Oase, die je vor Plastikkordel um den Hals: Am Wochen-
beldach, die ovalen Fenster, die rötlichen Räubern, Eroberern, Vandalen sicher war. ende steigt hier die Formel 1. Nicht nur
Ziegel, den spitzen Turm und sogar die Die Entstehung einer bürgerlichen Gesell- ist die Rennstrecke seit Tagen mit hohen
Turmuhr mitgebracht. schaft beschränkte sich schon aufgrund der Zäunen, Betonklötzen und Plastikplanen
Wenn ich nicht wüsste, dass ich nahe Topografie auf wenige Zentren, deren Ge- abgedeckt, damit kein kostenloser Blick
dem Kaspischen Meer bin, würde ich mei- füge zudem permanent durch die Land- auf die Gladiatorenwagen fällt; auch viele
nen, durch eine norddeutsche Kleinstadt flucht durcheinandergeriet. So ist die Wüs- weitere Straßen sind für den Verkehr ge-
zu laufen, in der freilich der Migrations- tengesellschaft bis in die Städte hinein sperrt, sodass eine gespenstische oder
anteil 100 Prozent erreicht. Zufall oder nach Clans und Stämmen segregiert. Heu- dann doch wieder wüstenähnliche Stille
nicht, werden gerade sogar zwei Autos vor te setzt sich der mythische Gegensatz zwi- herrscht.
der Haustür gewaschen, als hätten die Neu- schen Nomaden und Siedlern in den Ich versuche, ans Kaspische Meer zu ge-
bürger die deutsche Leitkultur adaptiert. Elendskokons um die Metropolen fort. langen, das auf dem Stadtplan nur einen
Gleich der Erste, den wir ansprechen, ein Alle Städte und selbst die Gärten – nein, Straßenzug entfernt liegt. Nach einer Stun-
Herr mittleren Alters mit gemütlichem gerade sie – sind als Zuflucht und paradie- de im Zickzack finde ich endlich die Un-
Vollbart und warmen Augen, Imran Isajew sische Gegenwelt zu dem Nichts rings- terführung der U-Bahn, die unter der Ziel-
sein Name, Fahrer von Beruf, erzählt uns, herum geprägt, das man als Möglichkeit geraden hindurchführt. Auf der breiten
dass der Großvater seiner Frau in erster in Europa allenfalls in unzulänglichen Glet- Uferpromenade haben die Besatzer ihr
Ehe mit einer Deutschen verheiratet ge- scherregionen kennt. Lager aufgeschlagen: Mediacenter, VIP-
wesen sei, die nach Kasachstan deportiert Wir fahren in Baku ein. Größer als der Lounge, Kinderbetreuung, Roter Halb-
wurde, die beiden Kinder auch. Kontrast zwischen den tristen Betonsilos mond, abgetrennt die Bereiche für die Pi-
„Sprach der Großvater über seine erste am Rand und den Skyscrapers im Zentrum loten, ihre Mannschaft und die Mechani-
Frau?“ können die sozialen Unterschiede an der ker, außer Pizza und Pasta, Hotdogs und
„Nein, nicht viel. Er hat nur gesagt, dass Wende zum 20. Jahrhundert kaum gewe- Hamburger auch ein Zelt mit lokaler Gas-
er die Deutsche geliebt hat und die Tren- sen sein, als das Öl schon einmal einige tronomie. Eine ganze Armada von Golf-
nung nicht freiwillig war. Und dass er seine Magnaten steinreich machte und die Ar- wägelchen steht für den Transport bereit
beiden ersten Kinder vermisst.“ beiter abends in ihren Baracken nicht mehr oder fährt bereits hin und her, und in vie-
„Gab es denn nie wieder einen Kon- die Kraft hatten, den Dreck aus der Haut len Ecken werden die jungen Teams zwei-
takt?“ zu bürsten. Berauscht vom schwarzen sprachig von ihren Instruktoren eingewie-
„Nicht, dass ich wüsste. Aber Opa hat Gold, stürmte Baku damals in die Moder- sen, Service, Security, Fahrdienst, Statistik,
nie schlecht von seiner deutschen Frau ge- ne: Villen, Konzerthäuser, Industrieanla- Rennaufsicht, Ticketing oder Sanitäter.
sprochen, nie, und er hat sich bis zum gen, Klassenkämpfe und auf den Boule- Noch kann ich über die Promenade spa-
Schluss nach seinen beiden ersten Kindern vards die halbe Welt. zieren, später kommen nur noch zahlende
gesehnt. Meine Frau fragt sich auch manch-
mal, wie ihre Halbcousins aussehen mö-
gen, ob sie blonde Haare haben oder
schwarze wie wir. Es wäre doch für alle
bewegend, wenn sich die Nachfahren ein-
mal träfen. Nach so vielen Jahren.“
Siebter Tag
Nicht nur aus Müdigkeit reibe ich mir die
Augen, als ich aus dem Zugfenster blicke:
die Wüste. So weit nördlich? Gestern Mor-
gen, an den südlichen Ausläufern des Kau-
kasus, war noch alles grün, da gab es Wäl-
der, Quellen, Flüsse, Berge. Da ich jetzt
durch den Staub, den Sand, die Kratzer,
das Fett, die Wischspuren und die Finger-
DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL

abdrücke schaue, die sich auf dem Zug-


fenster abbilden, denke ich, dass es die
Wüste ist, nichts anderes, die den Orient
über alle Zeitläufte hinweg von Europa un-
terschieden hat. Natürlich liegen zwischen
Marokko, Jemen, Indien unterschiedliche
Klimazonen. Aber die Wüste ist nirgends
weiter als zwei, drei Tagesmärsche entfernt, Straßenarbeiter bei Formel-1-Vorbereitungen in Baku: Wie außerirdische Besatzer
und ebendas macht den Orient aus, seine
DER SPIEGEL 52 / 2017 121
Sie wurde beschuldigt, einen Geliebten so
sehr bedrängt zu haben, dass er versucht
habe, sich umzubringen, und dann tauchte
auch noch ein Video im Internet auf, das
in ihrem Schlafzimmer aufgenommen wor-
den war.
„Eine unverheiratete Frau beim Sex –
sie dachten, damit sei ich in unserer kon-
servativen Gesellschaft erledigt.“
Es kam anders: Khadija schloss aus der
Perspektive des Videos, wo in ihrem
Schlafzimmer die Kamera angebracht wor-
den sein musste. Dort brach sie die Wand
auf und fand eine Öffnung, in der ein loses

DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL


Kabel hing. Sie rief die Telefongesellschaft
an und meldete eine gewöhnliche Störung.
Als sie dem Techniker das Kabel zeigte,
sagte der sofort, das habe er selbst verlegt.
Er war schockiert, von dem Video und den
Verleumdungen zu erfahren, hatte wie je-
der Aserbaidschaner selbst jeden Tag mit
Journalistin Ismayilova: „Früher wäre ich gesteinigt worden“ der Korruption zu tun und beteuerte, kei-
ne Ahnung gehabt zu haben, dass an dem
Kabel eine Überwachungskamera ange-
Besucher in diesen Bereich hinein. 90 Euro 162 Meter hoch die aserbaidschanische bracht werden sollte.
ist das Minimum, um überhaupt mal einen Fahne weht. Eigentlich sollte er der höchs- „Wie kamst du überhaupt auf die Idee,
Ferrari oder Silberpfeil beim Rennen zu te sein, aber dann holte ihn kurz nach bei der Telefongesellschaft anzurufen?“,
Gesicht zu bekommen. Tickets sind noch seiner Errichtung der tadschikische Fah- frage ich.
in allen Kategorien zu kaufen, das Interes- nenmast ein, der wiederum vom saudi- „Ich bin nun einmal investigative Jour-
se scheint bei einem Durchschnittslohn schen eingeholt wurde. Es sei schwierig, nalistin“, antwortet Khadija: „Ich wusste,
von 280 Euro begrenzt. sagt Khadija, eine selbstbewusste Gesell- dass für jeden Bezirk dieselben drei Tech-
Durch die Unterführung kehre ich zu- schaft zu werden, wenn der Staat auf ei- niker zuständig sind. Da habe ich es ein-
rück in die Stadt, die in altem Glanz nem „faked victory“ gründe: dem Krieg fach probiert.“ Der Telefontechniker sagte
erscheint: Die Bürgerhäuser, Theater, mit Armenien, der ein Sieg gewesen sein aus, der Liebhaber ebenso, der sich weder
Akademien und Plätze sind ebenso heraus- soll, obwohl 20 Prozent des Landes verlo- von Khadija bedrängt gefühlt noch einen
geputzt wie die engen Gassen der orien- ren gingen. Selbstmord versucht hatte, und als auch
talischen Altstadt. Als ich genauer hin- Khadija ist investigative Journalistin, noch eine Reihe von Freitagspredigern und
blicke, merke ich allerdings, dass auch die Trägerin des diesjährigen Alternativen No- sogar die islamistische Partei sich auf die
Gründerzeitarchitektur oft nagelneu und belpreises und hat lange vor den Panama Seite Khadijas stellten, hatte sie erfolgreich
entsprechend luxuriös ausgestattet ist: Papers die Vermögensverhältnisse in der einen weiteren Skandal aufgedeckt. Kurz
Statt sich mit den Mühen der Renovierung Familie Alijew aufgedeckt, die in zweiter darauf war sie wegen Steuerhinterziehung
oder gar des Denkmalschutzes herumzu- Generation herrscht; sie wurde bedroht, angeklagt worden, die als Delikt in Dikta-
schlagen, hat mancher Bauherr das Alte verleumdet, verhaftet und 2015 zu sieben- turen immer geht.
durch ein Imitat ersetzt. So aseptisch einhalb Jahren Haft verurteilt. Nachdem Ich frage, warum die Freitagsprediger
wird also Berlins historische Mitte eben- sich internationale Organisationen für sie und Islamisten sie unterstützt hätten.
falls aussehen, wenn erst einmal das eingesetzt hatten, kam sie im vergangenen Das habe sie sich selbst gefragt, antwor-
Hohenzollernschloss und als Nächstes Jahr auf Bewährung frei. tet Khadija. Sie sei bekennende Atheistin
dann wohl Schinkels Bauakademie nach- In Aserbaidschan selbst hatten sich Dut- und habe die Geistlichkeit immer wieder
gebaut sind. Die Volksbühne wird gerade zende Kollegen zu einem Khadija Project kritisiert.
auch von aller Vergangenheit befreit. An- zusammengetan, um die Recherchen ihrer „Es hatte davor schon solche Verleum-
schließend könnte man mit dem Neubau Kollegin fortzusetzen. „Die Regierung hat dungen und auch eine Reihe von Sex Tapes
der Altbauten beginnen, die unglücklicher- gemerkt, dass zwei neue Kritiker auftau- gegeben, die anonym ins Internet gestellt
weise im Krieg stehen geblieben sind. chen, wenn sie einen verhaften“, meint worden waren. Ich war nur die Erste, bei
Baku geht voran. Khadija, „dazu der Imageschaden im Aus- der die Drohung nicht funktioniert hat. Ich
Einen „Gürtel des Glücks“ gebe es in land – der Preis für meine Inhaftierung habe gesagt: Stellt ins Internet, was ihr
jeder Stadt, meint Khadija Ismayilova. In wurde ihr zu hoch.“ wollt, ich weiche nicht zurück. Und das
den anderen Städten konzentriere sich die Khadija darf kein Geld verdienen, seit- führte dazu, dass die Praxis aufgehört hat.
Entwicklung auf einige Straßenzüge, Ein- dem sie aus dem Gefängnis entlassen wor- Das rechnen mir auch jene an, die es selbst
kaufscenter und Parks, gerade genug, da- den ist, sie darf nicht ausreisen, sie muss hätte treffen können, auch wenn sie sonst
mit der Präsident sein Land blühen sehe, sich regelmäßig bei der Polizei melden, sie ganz andere Ansichten haben als ich.“
wenn er zu Besuch sei. In Baku hingegen, wird überwacht, auch ihre Geschwister ver- „Ist das ein Fortschritt?“
wo sich der Reichtum, die Geschäftswelt loren ihre Arbeit. Eine Schwester ist des- „Ja, natürlich. Früher wäre eine Frau ge-
und der Tourismus konzentriere, sei der wegen nach Ankara gezogen – und doch steinigt worden für so etwas.“
„Gürtel des Glücks“ besonders lang: vom ist die 41-Jährige mehr als nur ungebeugt,
Flughafen 13 Kilometer nördlich der Stadt nämlich entschlossener denn je. Beinah
bis zum Flaggenmast im Süden, dem mitt- amüsiert berichtet sie, wie sie vor ihrer Ver- Im nächsten Heft: Nach Armenien und
lerweile dritthöchsten der Welt, an dem urteilung mundtot gemacht werden sollte. Bergkarabach

122 DER SPIEGEL 52 / 2017


Kultur

rauscht Privates, Banales, Hochpolitisches ins digitale Nir-


Katze in der Krippe vana. Wer nicht auffällt oder unterhält, wer nicht liefert,
der wird erst niedergemacht und dann entfolgt. Da schützt
auch Prominenz nicht. Erstaunlicherweise funktioniert
Medienkritik Wie Thomas Gottschalk auf Gottschalk auf Twitter bestens. Nie passte seine „Mir ist
das wurscht“-Haltung besser, selten wirkte er entspannter.
Twitter sein Comeback erlebt So, denkt man, muss Gottschalk vor vielen Jahrzehnten
im Radio gewesen sein, als er noch mit einem Plattenkoffer

S
eit Kurzem hat Thomas Gottschalk eine neue Show. im VW Käfer beim Bayerischen Rundfunk vorfuhr. Da-
Ohne Wetten und ohne Günther Jauch. Eigentlich mals bekam er einen Job, nachdem er der Landesrund-
ist es keine richtige Show. Thomas Gottschalk funkanstalt einen Bewerbungsbogen mit dem Satz zurück-
schreibt Kurzmitteilungen auf Twitter. geschickt hatte: „Man hört es eurem Programm an, dass
Begonnen hat das alles mit einem Selfie. Im April twit- ihr die, die es machen, per Fragebogen gefunden habt.“
terte Gottschalk ein Selbstporträt aus Zermatt. Dazu Ähnlich verhält es sich nun mit seinem Auftritt auf Twit-
schrieb er: „Hier seht ihr den Vatter vorn und hinter mir ter. Für eine Revolution des Mediums reicht es diesmal
das #Matterhorn“. Bis dahin hatte seinen Account mit nicht. Trotzdem muss man wohl entweder sehr jung oder
dem Namen Herbstblond vor allem die Autorin Else sehr alt sein, um mit dieser Art von Gleichmut Erfolg zu
Buschheuer betreut, die Lek- haben. Gottschalk jedenfalls
torin seiner Autobiografie. macht sehr schnell sehr viel
Nun war Gottschalk selbst am richtig.
Handy. Er stichelt gegen Frank Elst-
Abends folgte ein Grup- ner, flirtet mit Michelle Hun-
penbild mit Michael Bolton ziker, und wenn er nachts
und Anni-Frid Lyngstad von Mike Krüger an der Hotelbar
ABBA. Ein paar Tage später trifft, dann klick, „Die andere
fotografierte er heimlich Woo- Supernase! Selfie“.
dy Allen beim Essen. Gott- Wo auch immer er gerade
schalk notierte: „Hinterher ist, twittert Gottschalk: Er
sein Platzkärtchen geklaut.“ schickt Bilder aus seinem Fit-
Tausend Menschen klickten nessraum, dem Garten, von
„Gefällt mir“. Er wurde lang- Ikea. Er schreibt aus dem Flug-
sam warm mit diesem sozia- zeug, wenn ein Kind neben
len Netzwerk. ihm weint („Mutter fragt zum
Als Kritiker schließlich sei- dritten mal, ob es nervt. Hab
ne Sat.1-Sendung verrissen, drei mal gelogen“), oder von
weil sie sehr übel zusam- der Fastenkur, wo er viele
mengeschnippelt worden war, Tage vor traurigen Brottellern
konterte Gottschalk nur noch sitzt. Und natürlich hat Gott-
trocken über das Netz: „Frü- schalk Bilder von anderen
her waren meine Anzüge Prominenten. Fotos mit Ar-
schlecht geschnitten, jetzt nold Schwarzenegger, Katy
sind meine Shows schlecht ge- Perry, Helene Fischer, Sigmar
schnitten.“ Da hatte Gott- Gabriel.
schalk Twitter schon ziemlich Gottschalk genießt die Rol-
gut verstanden. le des Silver Surfers. Twitter
Für Gottschalk sind die gro- nutzt er, als wäre er wieder
ßen Tage im Fernsehen vor- live auf Sendung: der Tod von
bei. Vielleicht gilt das aber Helmut Kohl, die Pleite von
auch für das Fernsehen gene- Gottschalk-Tweet Boris Becker, der G-20-Gipfel.
rell. Man kann das als Abstieg Disput um Weihnachtsdekoration Täglich, manchmal stündlich,
interpretieren. Von einem Mil- tippt Gottschalk seine Zoten
lionenpublikum auf aktuell 80 000 Twitter-Anhänger. Das ins Handy. Als es vor wenigen Tagen in seiner Wahlhei-
ist ein sehr kleiner Scheinwerfer. mat Malibu zum Disput mit seiner Frau um die Weih-
Andererseits: Jesus hatte am Anfang sogar nur zwölf nachtsdekoration kam, ließ er alle in mehreren Tweets
Follower. Das wäre jetzt so eine rotzige Gottschalk-Replik. daran teilhaben („Mein Hase ist aus der Krippe geflogen,
Man kann seinen Auftritt auf Twitter auch als Befreiung aber die Katze meiner Frau darf alles!“).
sehen. Gottschalk ist jetzt 67 Jahre alt. Nach „Wetten, Sein Fernsehstudio hat er jetzt in der Hosentasche. Pro-
dass ..?“ versuchte er sich an einer Vorabendtalkshow grammchefs, Redakteure, Quoten – interessiert ihn alles
und in einer Castingjury. Gottschalk sah dabei aus wie nicht. Gottschalk muss keinen Massengeschmack mehr
jemand, der nicht loslassen kann. Ganz langsam war zu befriedigen, nur noch sein Ego. Auf einer Bühne, auf der
beobachten, wie das Komische dem Tragischen wich. Der niemand mit ihm gerechnet hat, feiert er ein Comeback,
Spottende wurde selbst zum Gespött. Gottschalk peinlich zu dem ihn keiner gedrängt hat. Jeder Tweet ist eine Mi-
zu finden war plötzlich so einfach wie bei Til Schweiger niatur seiner Shows. Mit einem Unterschied: Gottschalk
oder den Toten Hosen. hat immer überzogen. Jetzt kann er es in 280 Zeichen.
Nun hat bei Twitter kaum jemand auf Gottschalk ge- Jonas Leppin
wartet. Die Plattform ist wie ein Wasserfall. Jede Sekunde Twitter: @jolepp

DER SPIEGEL 52 / 2017 123


Impressum Service
Leserbriefe
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Mail spiegel@spiegel.de
SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg
www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966
Mail: leserbriefe@spiegel.de
HERAUSGEBER Rudolf Augstein CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, MOSKAU Christian Esch, Glasowskij Hinweise für Informanten
(1923–2002) Anke Jensen (stellv.) Pereulok Haus 7, Office 6, 119002 Moskau, Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und Infor-
Tel. +7 495 22849-61,
CHEFREDAKTEUR Schlussredaktion: Gesine Block; Christian
Fax 22849-62 mationen zukommen lassen wollen, stehen Ihnen folgende
Klaus Brinkbäumer (V. i. S. d. P.) Albrecht, Gartred Alfeis, Ulrike Boßerhoff, Wege zur Verfügung:
Regine Brandt, Lutz Diedrichs, Bianca NEW YORK Philipp Oehmke, 10 E 40th
Hunekuhl, Ursula Junger, Dörte Karsten,
Post: DER SPIEGEL, c/o Investigativ, Ericusspitze 1,
STELLV. CHEFREDAKTEURE Street, Suite 3400, New York, NY 10016, 20457 Hamburg
Susanne Beyer, Dirk Kurbjuweit, Sylke Kruse, Christine Kuhlmann, Tel. +1 212 2217583, Fax 3026258
Alfred Weinzierl Katharina Lüken, Stefan Moos, Reimer Telefon: 040 3007-0, Stichwort „Investigativ“
Nagel, Sandra Pietsch, Fred Schlotterbeck, PA RIS Julia Amalia Heyer, Mail (Kontakt über Website): www.spiegel.de/investigativ
HAUPTSTADTBÜRO Leitung: René Pfister, Sebastian Schulin 137 Rue Vieille du Temple, 75003 Paris, Unter dieser Adresse finden Sie auch eine Anleitung, wie
Michael Sauga, Christiane Hoffmann Produktion: Petra Thormann, Reinhard Tel. +33 1 58625120, Fax 42960822 Sie Ihre Informationen oder Dokumente durch eine
(stellv.). Redaktion Politik und Wirtschaft: Wilms; Kathrin Beyer, Michele Bruno,
Nicola Abé, Dr. Melanie Amann, Markus PEKING Bernhard Zand, P.O. Box 170, PGP-Verschlüsselung geschützt an uns richten können.
Sonja Friedmann, Linda Grimmecke, Petra Der dazugehörende Fingerprint lautet:
Dettmer, Veit Medick, Ann-Katrin Müller, Peking 100101, Tel. +86 10 65323541,
Gronau, Ursula Overbeck, Britta Romberg,
Ralf Neukirch, Cornelia Schmergal, Chris- Fax 65325453 6177 6456 98CE 38EF 21DE AAAA AD69 75A1 27FF 8ADC
Martina Treumann, Rebecca von Hoff,
toph Schult, Anne Seith, Britta Stuff, Katrin Zabel
Gerald Traufetter. Autoren, Reporter: RIO DE JANEIRO Jens Glüsing,
Markus Feldenkirchen, Konstantin von BILDREDAKTION Leitung: Michaela Caixa Postal 56071, AC Urca, Redaktioneller Leserservice
Hammerstein, Marc Hujer, Christian Herold, Claudia Jeczawitz (stellv.); Tinka 22290-970 Rio de Janeiro-RJ, Telefon: 040 3007-3540 Fax: 040 3007-2966
Reiermann, Marcel Rosenbach Dietz, Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Tel. +55 21 2275-1204 Mail: leserservice@spiegel.de
Thorsten Gerke, Andrea Huss, Elisabeth
DEUTSCHL AND Leitung: Cordula Meyer, ROM Walter Mayr, Largo Chigi 9,
Dr. Markus Verbeet. Redaktion: Laura
Kolb, Petra Konopka, Matthias Krug,
00187 Rom, Tel. +39 06 6797522,
Nachdruckrechte / Lizenzen für Texte, Fotos, Grafiken
Parvin Nazemi, Peer Peters, Anke Wellnitz Nachdruck und Speicherung in digitalen Medien nur mit
Backes, Katrin Elger, Michael Fröhlings- Fax 6797768
dorf, Hubert Gude, Charlotte Klein, Mail: bildred@spiegel.de schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Miriam Olbrisch, Andreas Ulrich, Michael SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, SA N F RA N C I S CO Thomas Schulz, Für Deutschland, Österreich, Schweiz:
Wulzinger. Meldungen: Annette Bruhns. Tel. +1 212 3075948 1 Post Street, Suite 2750, San Francisco,
CA 94104, Tel. +1 212 2217583
Mail: lizenzen@spiegel.de, Telefon: 040 3007-3540 Fax: 040
Autoren, Reporter: Jan Fleischhauer, An- GRAFIK UND MULTIMEDIA Leitung: Jens
nette Großbongardt, Julia Jüttner, Beate 3007-2966
Radü. Grafik-Team: Cornelia Baumer- TEL AVIV P.O. Box 8387, Für alle anderen Länder: The New York Times Syndicate
Lakotta, Bruno Schrep (frei), Hans-Ulrich mann, Thomas Hammer; Ludger Bollen,
Stoldt, Katja Thimm, Dr. Klaus Wiegrefe Tel Aviv-Jaffa 61083 Mail: ilaria.parogni@nytimes.com, Telefon: +1 212 556-5118
Max Heber, Anna-Lena Kornfeld, Gernot
Berliner Büro Leitung: Frank Hornig. Matzke, Cornelia Pfauter, Michael Walter. TO KIO Dr. Wieland Wagner, Asagaya
Redaktion: Maik Baumgärtner, Sven Multimedia-Team: Alexander Epp, Minami 2-31-15 B, Suginami-ku,
Nachbestellungen SPIEGEL-Ausgaben der letzten Jahre so-
Becker, Sven Röbel, Michael Sontheimer Roman Höfner, Marco Kasang, Bernhard Tokio 166-0004, Tel. +81 3 6794 7828 wie alle Ausgaben von SPIEGEL GESCHICHTE und SPIEGEL
(frei), Andreas Wassermann, Wolf Riedmann WISSEN können unter www.amazon.de/spiegel versand-
Wiedmann-Schmidt. Autoren, Reporter: WA RS C H AU P.O. Box 31, kostenfrei innerhalb Deutschlands nachbestellt werden.
Stefan Berg, Martin Knobbe L AYOUT Leitung: Jens Kuppi, Reinhilde ul. Waszyngtona 26, 03-912 Warschau,
Wurst; Michael Abke, Lynn Dohrmann,
W I RTS C H A F T Leitung: Armin Mahler, Claudia Franke, Bettina Fuhrmann, Ralf
Tel. +48 22 6179295 Historische Ausgaben Historische Magazine Bonn
Susanne Amann (stellv.), Markus Brauck Geilhufe, Kristian Heuer, Elsa Hundert- WAS H I N GTO N Christoph Scheuermann, www.spiegel-antiquariat.de Telefon: 0228 9296984
(stellv.). Redaktion: Simon Hage, Isabell mark, Louise Jessen, Nils Küppers, 1202 National Press Building, Washington,
Hülsen, Alexander Jung, Nils Klawitter, Annika Loebel, Leon Lothschütz, D.C. 20045, Tel. +1 202 3475222, Abonnement für Blinde Audio Version, Deutsche
Alexander Kühn, Martin U. Müller, Ann- Sebastian Raulf, Florian Rauschenberger, Fax 3473194 Blindenstudienanstalt e. V. Telefon: 06421 606265
Kathrin Nezik, Simone Salden. Autoren, Barbara Rödiger
Reporter: Hauke Goos, Michaela Schießl Elektronische Version, Frankfurter Stiftung für Blinde
TITELBILD Leitung: Katja Kollmann, DOKUMENTATION Leitung: Dr. Hauke
Janssen, Cordelia Freiwald (stellv.), Peter Telefon: 069 9551240
AU S L A N D Leitung: Britta Sandberg, Johannes Unselt (stellv.); Suze Barrett,
Juliane von Mittelstaedt (stellv.), Mathieu Wahle (stellv.); Zahra Akhgar, Dr.
Iris Kuhlmann
Susmita Arp, Viola Broecker, Dr. Heiko Abonnementspreise
von Rohr (stellv.). Redaktion: Fiona Ehlers,
Katrin Kuntz, Jan Puhl, Tobias Rapp, San- Buschke, Johannes Eltzschig, Klaus Inland: 52 Ausgaben € 239,20
dra Schulz, Samiha Shafy, Helene Zuber. REDAKTIONSVERTRE TUNGEN Falkenberg, Catrin Fandja, Dr. André Studenten Inland: 52 Ausgaben € 163,80
Autoren, Reporter: Marian Blasberg, D E U TS C H L A N D Geicke, Thorsten Hapke, Susanne Heitker,
BERLIN Alexanderufer 5, 10117 Berlin; Carsten Hellberg, Stephanie Hoffmann, Auslandspreise unter www.spiegel.de/ausland
Clemens Höges, Susanne Koelbl, Dietmar
Pieper, Christoph Reuter Deutsche Politik, Wirtschaft Bertolt Hunger, Kurt Jansson, Stefanie Mengenpreise auf Anfrage.
Tel. 030 886688-100, Fax 886688-111; Jockers, Michael Jürgens, Tobias Kaiser,
WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Deutschland, Wissenschaft, Kultur, Renate Kemper-Gussek, Ulrich Klötzer, Der digitale SPIEGEL: 52 Ausgaben € 213,20
Rafaela von Bredow, Olaf Stampf. Gesellschaft Tel. 030 886688-200, Ines Köster, Anna Kovac, Peter Lakemei- (der Anteil für das E-Paper beträgt € 187,20)
Redaktion: Dr. Philip Bethge, Manfred Fax 886688-222 er, Dr. Walter Lehmann-Wiesner, Rainer Befristete Abonnements werden anteilig berechnet.
Dworschak, Marco Evers, Dr. Veronika Lübbert, Sonja Maaß, Nadine Markwaldt,
Hackenbroch, Guido Kleinhubbert, Julia DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4,
Koch, Kerstin Kullmann, Hilmar Schmundt, 01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Abonnentenservice Persönlich erreichbar
Fax 26620-20 Cornelia Moormann, Tobias Mulot, Bernd Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr, Sa. 10.00 – 18.00 Uhr
Frank Thadeusz, Christian Wüst. Autor: Musa, Nicola Naber, Claudia Niesen,
Jörg Blech DÜSSELDORF Frank Dohmen, Lukas Eber- Sandra Öfner, Dr. Vasilios Papadopoulos, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg
KULT UR Leitung: Elke Schmitter, Sebastian le, Fidelius Schmid, Jägerhofstraße 19-20, Ulrike Preuß, Axel Rentsch, Thomas Riedel, Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070


Hammelehle (stellv.). Redaktion: Tobias 40479 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Mail: aboservice@spiegel.de
Becker, Lars-Olav Beier, Anke Dürr, Ulrike Fax 86679-11 Marko Scharlow, Mirjam Schlossarek,
Knöfel, Katharina Stegelmann, Claudia FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario
Voigt, Martin Wolf. Autoren, Reporter: Tim Bartz, An der Welle 5, Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla
Georg Diez, Dr. Martin Doerry, Lothar 60322 Frankfurt am Main, Tel. 069 9712680, Siegenthaler, Meike Stapf, Rainer Staud-
Gorris, Wolfgang Höbel, Dr. Nils Minkmar, Fax 97126820 hammer, Tuisko Steinhoff, Dr. Claudia Abonnementsbestellung
Volker Weidermann Stodte, Rainer Szimm, Dr. Marc Theodor, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:
KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, Andrea Tholl, Nina Ulrich, Ursula
GESELLSCHAF T Leitung: Matthias Geyer, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg –
76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737, Wamser, Peter Wetter, Holger Wilkop,
Özlem Gezer (stellv.), Guido Mingels oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo
Fax 9204449 Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller,
(stellv.). Redaktion: Maik Großekathöfer,
Malte Zeller
Barbara Hardinghaus, Maren Keller, M Ü N C H E N Anna Clauß, Dinah Deckstein, Ich bestelle den SPIEGEL
Dialika Neufeld, Claas Relotius, Jonathan Jan Friedmann, Martin Hesse, Rosental 10,
Stock, Takis Würger. Autoren, Reporter:
N AC H R I C H T E N D I E N ST E AFP, AP, dpa, ❏ für € 4,60 pro gedruckte Ausgabe
80331 München, Los Angeles Times / Washington Post,
Uwe Buse, Ullrich Fichtner, Jochen-Martin Tel. 089 4545950, Fax 45459525 New York Times, Reuters, sid
❏ für € 4,10 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das
Gutsch (frei), Alexander Osang, Cordt E-Paper beträgt € 3,60)
Schnibben, Alexander Smoltczyk, Barbara REDAKTIONSVERTRE TUNGEN AUSL AND
BA N G A LO R E Laura Höflinger, 811, SPIEGEL-VERL AG RUDOLF AUGSTEIN ❏ für € 0,50 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das E-Paper
Supp GMBH & CO. KG
10th A Main Road, Suite No. 114, 1st Floor, beträgt € 0,49) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe. Der Bezug
S P O RT Leitung: Udo Ludwig. Redaktion: Bangalore – 560 038
Thilo Neumann, Gerhard Pfeil, Antje Verantwortlich für Anzeigen: ist zur nächsterreichbaren Ausgabe kündbar. Alle Preise inkl.
Windmann, Christoph Winterbach BOSTON Johann Grolle, 25 Gray Street, André Pätzold
02138 Cambridge, Massachusetts, MwSt. und Versand. Das Angebot gilt nur in Deutschland. Bitte
INVESTIGATIVREPORTER Rafael Busch- Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 71 vom
mann, Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch,
Tel. +1 857 9197115 liefern Sie den SPIEGEL an:
1. Januar 2017
Jörg Schmitt (investigativ-reporter@ BRÜSSEL Peter Müller, Mediaunterlagen und Tarife:
spiegel.de). Koordination SPIEGEL ONLINE: rue Le Titien 28, 1000 Brüssel, www.spiegel.media
Jörg Diehl, Koordination SPIEGEL TV: Tel. +32 2 2306108, Fax 2311436
Name, Vorname des neuen Abonnenten
Roman Lehberger ISTANBUL Maximilian Popp,
Verantwortlich für Vertrieb:
SONDERTHEMEN Leitung: Dr. Susanne Tel. +90 5413971567 Stefan Buhr
Weingarten, Dr. Eva-Maria Schnurr
K A P STA DT Bartholomäus Grill, Verantwortlich für Herstellung: Straße, Hausnummer oder Postfach
(stellv.). Redaktion: Markus Deggerich,
P. O. Box 15614, Vlaeberg 8018, Kapstadt, Silke Kassuba
Uwe Klußmann, Joachim Mohr, Bettina
Musall, Dr. Johannes Saltzwedel. Autorin: Tel. +27 21 4261191
Marianne Wellershoff KIEW Luteranska wul. 3, kw. 63, Druck: PLZ, Ort
01001 Kiew, Tel. +38 050 3839135 Stark Druck,
KOORDINATION MEINUNG Markus Felden- Pforzheim
kirchen, Christiane Hoffmann LON DON Jörg Schindler, 26 Hanbury
S P I EG E L P LU S Alexander Neubacher Street, London E1 6QR, Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht)
Tel. +44 203 4180610, Fax +44 207 0929055
DEIN SPIEGEL Leitung: Detlef Hacke,
VERL AGSLEITUNG Jesper Doub
Bettina Stiebel. Redaktion: Antonia Bauer, MADRID Apartado Postal Número 100 64, Ich zahle nach Erhalt der Rechnung.
Claudia Beckschebe, Alexandra Schulz 28080 Madrid, Tel. +34 650652889 G E S C H Ä F TS F Ü H RU N G Thomas Hass
Hinweise zu den AGB und meinem Widerrufsrecht finde ich
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel unter www.spiegel.de/agb

INTERNE T www.spiegel.de DER SPIEGEL (USPS no 0154520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Known
REDAKTIONSBLOG spiegel.de/spiegelblog Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten SP17-003, SD17-006
Office of Publication: German Language Publications Inc, 153 S Dean St, Englewood NJ SD17-008 (Upgrade)
TWIT TER @derspiegel 07631, 1-855-457-6397. Periodicals postage is paid at Paramus NJ 07652. Postmaster:
FACEBOOK facebook.com/derspiegel Send address changes to: DER SPIEGEL, GLP, PO Box 9868, Englewood NJ 07631.

124 DER SPIEGEL 52 / 2017


Nachrufe
ARSENIJ ROGINSKI, 71
Sein ganzes Leben stand im
Zeichen der Diktatur. Der Va-
ter, ein Leningrader Ingenieur,
hatte unter Stalin im Lager ge-
sessen, als Arsenij Roginski
1946 auf die Welt kam. Später
verschwand der Vater für im-

LEE JIN-MAN / AP
mer im Gefängnis. Roginski
wurde Historiker und Heraus-

MOSAIK
geber der Untergrundzeit-
schrift „Pamjat’“ („Gedächt-
LONA RIETSCHEL, 84 nis“). Die sowjetischen Be- ausgebildet, dem Publikums-
Sie war die Mutter des DDR-Comics. Und ihre Kinder hörden hätten ihn gern nach geschmack angepasst. Sie sind
nannten sich die Abrafaxe. Diese drei Typen – Abrax, Israel abgeschoben, aber er ultradiszipliniert, fleißig, höf-
Brabax und Califax – hatten ihren Lesern einiges voraus. verweigerte sich der Ausreise. lich, hübsch: Als wären sie am
Sie genossen volle Reisefreiheit, und zwar gleich doppelt, Nach vier Jahren im Arbeits- Computer entworfen. Dabei
sie bewegten sich frei in Raum und Zeit. Die Abenteuer lager gründete er in den sind sie wirkliche Menschen,
dieser Helden spielten in Venedig, im Mittelalter, im alten Perestroikajahren „Memorial“, mit Eltern, Freunden und
Rom oder in Deutschland zur Zeit Martin Luthers. Nur die bedeutendste Menschen- einer Geschichte – die jedoch
nicht im Sozialismus. Insofern konnte, wer unbedingt rechtsorganisation Russlands. im Verborgenen bleibt. Die
wollte, die Comics als subversiv empfinden, Teil der Pro- Es war seine tiefe Überzeu- meisten Künstler des K-Pop
pagandamaschine waren sie jedenfalls nicht. Die im heu- gung, dass Russland sich nur sind reine Interpreten, Kim
tigen Polen geborene Rietschel studierte Modegrafik erneuern kann, wenn es sich hingegen arbeitete selbst an
und Zeichentrick, wurde Mitglied im Kollektiv des Comic- seiner stalinistischen Vergan- der Musik mit. Laut der ko-
Magazins „Mosaik“, eine DDR-Antwort auf die „Micky genheit stellt. Er hat diese reanischen Nachrichtenagen-
Maus“-Hefte. So unterschiedlich waren Lesebedürfnisse in Idee beharrlich und freund- tur Yonhap schrieb der Sänger
Ost und West nicht. Sie zeichnete erst die von Hannes an seine Schwester: „Berühmt
Hegen entwickelten Digedags, deren Erfolg enorm war. zu werden war vielleicht nicht

BERNARDO PÉREZ / EDICIONES EL PAÍS


Nach dem Ende der Digedags entwickelte sie 1975 mit Lo- mein Ding.“ Kim Jonghyan
thar Dräger die Abrafaxe. Diese tapfere Troika überstand wurde am 18. Dezember in
neben vielen Abenteuern auch die DDR, und Rietschel seiner Wohnung in Seoul tot
schrieb deren Geschichte bis 1999. So wurde sie selbst zur aufgefunden. rap
Legende, ausgezeichnet mit dem Peng!-Preis des Münch-
ner Comicfestivals 2013. Lona Rietschel starb am 19. De- CHRISTOS JOACHIMIDES, 85
zember in Berlin. stb Der gebürtige Athener studier-
te in Stuttgart und Heidelberg,
zog 1958 nach Berlin und
FRIEDHELM ADOLFS, 79 lich verfolgt, stets im Wissen, wurde eine prägende Figur in
Für die einen war er ein dass es sich um eine Aufgabe der westdeutschen Kunstland-
Held, für die anderen ein für Generationen handelte. schaft. Die von ihm organisier-
Ärgernis, und zwar eines mit Dass der Stalinismus in Russ- ten Ausstellungen kündigte er
Geruch. Friedhelm Adolfs land wieder aufgewertet wird gern als „Meilensteine“ an,
MARIUS BECKER / DPA

erhielt im Jahr 2013 nach und „Memorial“-Organisatio- und tatsächlich galten einige
40 Jahren die fristlose Kündi- nen als „ausländische Agen- bald als epochal. Gemeinsam
gung seiner Vermieterin. Der ten“ diffamiert wurden, hat mit einem Kollegen aus Lon-
von ihm produzierte Zigaret- ihn deshalb zwar betrübt, don stellte er zum Beispiel
tenqualm stelle eine unzu- aber nicht entmutigt. Arsenij 1982 die Schau „Zeitgeist“ zu-
mutbare Belästigung, ja, eine Gesundheitsgefährdung der Roginski starb am 18. Dezem- sammen. Veranstaltungsort
anderen Mieter dar. Fast 30 Jahre lang hatte er als Haus- ber in Tel Aviv. esc war der einst ausgebombte
meister in der Düsseldorfer Wohnung gelebt, zum Zeit- und damals erst teilweise sa-
punkt der Kündigung gab es außer ihm anscheinend nur KIM JONGHYUN, 27 nierte Martin-Gropius-Bau in
noch gewerbliche Mieter. Im Laufe des jahrelangen Prozes- K-Pop ist die wahrscheinlich Berlin – mit Blick auf die
ses – Amtsgericht und Landgericht gaben der Vermieterin modernste Popkultur der Mauer. Die Bilder und Skulp-
zunächst recht – erlangte der Witwer wahlweise als „reni- Welt. Von Seoul aus hat sie turen waren riesig und expres-
tenter Rentner“ oder als „berühmtester Raucher Deutsch- Asien erobert und wird auch siv, und weil es einem Zeit-
lands nach Helmut Schmidt“ Bekanntheit. Raucher starte- in Europa, den USA und geist entsprach, den niemand
ten Solidaritätsaktionen, es ging um nichts weniger als um Lateinamerika geliebt. Der infrage stellte, waren fast nur
die persönliche Freiheit. Der Bundesgerichtshof entschied Koreaner Kim Jonghyun war Männer vertreten, Leute wie
2015, dass der Fall neu aufgerollt werden müsse, zu schlam- einer der größten Stars des Joseph Beuys, Jörg Immen-
pig seien die Untersuchungen gelaufen. Im September 2016 Genres. Shinee hieß seine dorff, Anselm Kiefer. Unter
wurde die Klage der Vermieterin wegen mangelnder Be- Band, sie veröffentlichte fünf den Ausstellungen, die folg-
weise endgültig abgewiesen. Grundsätzlich darf ein Mieter Alben, das erste kam 2008 ten, war etwa die „Deutsche
daheim rauchen, solange er Rücksicht auf seine Umwelt heraus. Der Druck war für Kunst im 20. Jahrhundert“ in
nimmt. Adolfs sagte einmal, übers Aufhören habe er nie Kim enorm. Nichts wird im der Staatsgalerie Stuttgart.
nachgedacht. Friedhelm Adolfs starb am 18. Dezember in K-Pop dem Zufall überlassen, Christos Joachimides starb am
Düsseldorf nach einem Herzstillstand. ks die Stars werden jahrelang 11. Dezember in Athen. uk
DER SPIEGEL 52 / 2017 125
THOMAS RABSCH
Virtuos überzuckert Scheps profitiert, indem sie sich aus der Nische spätroman-
tischer Klaviermusik in populäre Dimensionen bewegt. Das
Die Verbindung von Moden oder Genres, die eigentlich gar Ergebnis allerdings wird die Anhänger beider Genres enttäu-
nicht zueinanderpassen, zählt zu den Erfolgsrezepten der Kul- schen. Unter den Händen von Olga Scheps verwandeln sich
turindustrie. Ein solches Geschäft auf Gegenseitigkeit ist nun manche Nummern in so virtuos überzuckerte Miniaturen,
die Klassikpianistin Olga Scheps, 31, mit der deutschen Band dass Scooter-Fans die Originalmelodien kaum noch erkennen
Scooter eingegangen. Auf ihrer neuen CD „100 % Scooter. dürften, wenn es sie denn überhaupt gibt. Klassikfreunde
Piano Only“ spielt Scheps elf Hits der Technotruppe in einer wiederum werden vergebens nach der Substanz dieser Stücke
Klavierbearbeitung des Komponisten Sven Helbig. Für Scoo- fahnden: Was hier und da ein wenig nach Schubert oder
ter springt dabei ein erheblicher Reputationsgewinn heraus: Scarlatti klingt, entpuppt sich bei genauerem Hinhören nur als
Ihre schlichte Tanzmucke wird klassisch geadelt. Aber auch leeres Gebimmel. dy

Einsame Spiele view Multimillionär. Kritik lie-


fert Ryan allerdings nicht, er
der Schule ist, das Material
bearbeitet. Im Januar 2017
Seitdem er drei Jahre alt wur- freut sich über alles. Seine El- hatte Ryan fünf Millionen
de, filmen seine Eltern ihn tern sagen, er habe sich früh Abonnenten, heute sind es
beim Auspacken von Spiel- gewünscht, gefilmt zu werden mehr als zehn Millionen. Im
zeug und wie er damit han- und seine Filme im Internet Juni hieß es, sein Kanal sei
tiert. Sie veröffentlichen hin- zu sehen, deshalb hätten sie 40 Wochen in Folge der am
terher die Videos auf You- damit begonnen. Millionen häufigsten frequentierte in
Tube. Seit diesem Jahr ist der Kinder aus aller Welt sind in- den USA gewesen. Die Fami-
heute sechsjährige Ryan, des- zwischen süchtig nach Ryans lie hat mit den Filmen elf Mil-
sen Nachname und Wohnort Spielzeugvorführungen; jeden lionen Dollar innerhalb eines
geheim gehalten werden, laut Tag gibt es neue Filme. Am Jahres verdient, schätzt „For-
„Forbes“ dank seines You- Wochenende wird gefilmt, sa- bes“. Meistens ist Ryan allein
Tube-Kanals Ryan Toys Re- gen die Eltern, wenn Ryan in in den Filmen zu sehen. ks

126 DER SPIEGEL 52 / 2017


Personalien
Schweigen und Schweigen ist das Problem!“
andere Probleme Sie schrieb außerdem: „Ich
verachte eure Heuchelei.
Die Schauspielerin Rose Vielleicht solltet ihr alle Mar-
McGowan, die als eine der chesa tragen.“ Für die Mode-
ersten Frauen den Filmpro- firma Marchesa arbeitete
duzenten Harvey Weinstein Weinsteins Frau, die ihren
der Vergewaltigung bezichtigt Mann verlassen hat. Meryl
hatte, griff vergangene Wo- Streep antwortete in einem
che auf Twitter Hollywood- sehr ausführlichen Text, den

MARIA FECK / DER SPIEGEL


star Meryl Streep, 68, und sie bei „Huffington Post“ ver-
andere Kolleginnen an. Die öffentlichte. Streep erklärt
hatten angekündigt, bei der darin zum wiederholten Male,
Golden-Globe-Ver- dass sie von den
leihung Anfang Missbrauchsfällen
Januar Schwarz zu rein gar nichts
tragen. Damit gewusst habe. Sie Die Augenzeugin
wollen sie einen habe versucht,
„stummen Protest“
gegen Ungleich-
McGowan persön-
lich zu sprechen,
Mein fremder Mann
behandlung zum um die Sache Die Syrerin Tabarak Karakouz, 22, war mehr als drei Jahre lang
Ausdruck bringen klarzustellen und getrennt von ihrem Ehemann Ammar – er war in Deutschland,
und an die Wein- ihr Mitgefühl aus- sie erhielt kein Visum (SPIEGEL 35/2017). Dann durfte sie
PAUL TREADWAY / PICTURE ALLIANCE / AP

stein-Affäre er- zudrücken. Sie nachkommen, weil er einen Job gefunden hatte. Anfang De-
innern, hieß es. sei niemand, der zember konnte sie ihn erstmals wieder in die Arme schließen.
McGowan wandte klammheimlich
sich an Streep und sexuelle Gewalt „Als sich die Türen zur Ankunftshalle im Hamburger Flug-
andere, die für toleriere. Mc- hafen öffneten, sah ich diesen Mann im dunkelroten Pullo-
„das Schweine- Gowan hat ihren ver, der mir entgegenkam. Ich habe ihn ernst angeschaut,
monster“ gearbei- Tweet inzwischen weil ich mein erstes Lächeln in Deutschland Ammar schen-
tet hatten: „Euer gelöscht. ks ken wollte und keinem anderen. Dann nahm mich dieser
Fremde plötzlich in den Arm, erst in diesem Moment wur-
de mir bewusst: Das ist er. Ammar. Mein Mann.
Er hat sich in diesen dreieinhalb Jahren verändert. Es
Verschmähte Gaben mas“). Brugger veröffentlicht
solche Gaben regelmäßig auf
ist etwas anderes, ob man jemanden über WhatsApp-Vi-
deochat sieht oder in echt. Ammar ließ mich nicht mehr
Die Verteidigungsexpertin ihrer Facebook-Seite. „Ich los und küsste mich und hob mich hoch. Ich habe alle
der Grünen erhält ungebete- mag keine Geschenke von Leute um mich herum vergessen. Im Libanon habe ich
ne Geschenke von der Rüs- Rüstungsfirmen. Den Wein mir diesen Moment immer und immer wieder vorgestellt.
tungsindustrie. Vor Weih- von Rheinmetall werde ich In der Nacht, bevor ich losgeflogen bin, konnte ich so
nachten schickte die Firma zurückschicken“, sagt Brug- gut wie nicht schlafen. Mein Flug ging um halb vier Uhr
Rheinmetall, ein großer Waf- ger. Umstimmen könnte sie morgens in Beirut, ich war aber schon fünf Stunden vor-
fenproduzent mit Hauptsitz nur eines: „Wenn Rheinmetall her da. Mein Onkel und meine Mutter haben mich be-
Düsseldorf, eine Flasche seine Pläne für den Bau einer gleitet. Sie war so glücklich, dass ich endlich dieses Vi-
Rotwein ans Bundestagsbüro Panzerfabrik in der Türkei sum hatte, aber sie konnte nicht aufhören zu weinen,
der Abgeordneten Agnieszka beerdigt, dann würde ich mir weil sie mich so vermissen wird. Wer weiß, wann wir uns
Brugger, 32, einen 2010er Châ- sogar ein Glas genehmigen.“ wiedersehen. Während des ganzen Fluges dachte ich,
teau Tour du Haut Moulin aus Dass diese Pläne überhaupt mein Herz würde gleich explodieren.
Bordeaux, versehen mit einer bestehen, dementiert Rhein- Jetzt bin ich seit einer Woche in Hamburg. Jeden Mor-
Grußkarte („Merry Christ- metall allerdings. sve gen, wenn ich neben Ammar aufwache, muss ich ihn
umarmen, um mir klarzumachen, dass wir wirklich wie-
der zusammen sind. Er hat mir schon ein paar Orte in
der Stadt gezeigt, die Alster zum Beispiel und die Hafen-
City. Aber der schönste Platz in Hamburg ist für mich
unsere Wohnung. Sie hat zwei Zimmer und eine winzige
Küche. Wir haben nicht viele Möbel, aber ich habe über-
all Kerzen aufgestellt und Blumen. Bevor Ammar nach
Deutschland gekommen ist, waren wir nur drei Monate
lang verheiratet. Wir hatten nie die Gelegenheit, unsere
Hochzeit zu feiern. Das machen wir jetzt jeden Tag.“
Aufgezeichnet von Katrin Elger und Asia Haidar

Video:
STEFAN KAMINSKI

Endlich vereint
spiegel.de/sp522017augenzeuge
oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 52 / 2017 127


„Dieser Artikel ist wie aus unserem Herzen geschrieben
und bestätigt alle Erfahrungen und Zweifel.“
Michael Hopf, Bad Mergentheim

Ein Engelsgesicht handel entgegengewirkt werden. Osteuro-


päische Waisenhäuser sind voll mit Kin-
Diese Ex-Fürsten
Nr. 51/2017 Wunsch: Kind – Wenn die Sehnsucht nach dern, einige dieser Staaten haben ein sehr Nr. 50/2017 Wer ist Doris von Sayn-Wittgenstein?
einem Baby zum Drama wird
fortschrittliches Adoptionsrecht. Die dort Einmal abgesehen davon, was mir sonst
Ich bin schockiert darüber, wie das Leid vollzogenen Auslandsadoptionen sind le- noch alles zu dieser „Dame“ einfällt: Ist
dieser Frauen oftmals zugunsten des Pro- gal und werden vom deutschen Staat pro- es nicht so, dass es seit dem 14. August
fits missbraucht und wie mit ihren Gefüh- blemlos anerkannt. 1919 (Weimarer Verfassung) in Deutsch-
len gespielt wird. Ich hatte vor 20 Jahren Mareike Boom, Königstein im Taunus (Hessen) land keinen Adel mehr gibt und dass nur
nach einem erfolglosen In-vitro-Fertilisa- die Ex-Adeligen, die als Haupt eines re-
tionsversuch genug der Strapazen und Wenn kein Kind kommt, muss es kein Dra- gierenden Hauses den Titel „Fürst“ getra-
habe mich gegen einen zweiten entschie- ma werden. Wir sind – im Unterschied zu gen hatten, diesen Titel als Bestandteil ih-
den. Wichtig wäre eine intensivere Unter- unserem Freundeskreis – ungewollt kin- res nunmehr bürgerlichen Namens bis zu
stützung der betroffenen Frauen dahinge- derlos geblieben und konnten bald nicht ihrem Tod nutzen durften – Reihenfolge:
hend, ihren Fokus auf eine alternative Le- mehr mitreden. Bei aller Wehmut haben Vorname, Titel, Nachname? Da ich davon
bensgestaltung zu richten und sich ihrer wir unser Schicksal auch als Chance be- ausgehe, dass keiner dieser Ex-Fürsten
Unabhängigkeit und Sorglosigkeit bewusst noch lebt, kann es auch niemanden geben,
zu werden, um sich so selbst die Chance die oder der eine Fürstin oder ein Fürst
zu geben, neue Seiten an sich zu ent- von Sayn-Wittgenstein ist.
decken. Neben einem späten Studium Hans Mende, Hamburg
der Kulturwissenschaften genieße ich seit
20 Jahren meine Hobbys Kulturreisen, DER SPIEGEL Sehr geehrter Herr Mende, wie

JULIAN BAUMANN / DER SPIEGEL


Theater und Katzen in vollen Zügen. Ich Sie richtig feststellen, wurde der Adel als
liebe mein Leben genau so, wie es ist. gesellschaftlich privilegierter Stand in
Henriette Stadtfelder-Dekorsy, Bremen Deutschland vor geraumer Zeit abge-
schafft, worauf im Text auch ausdrücklich
Wenn die (unerfüllte) Sehnsucht nach hingewiesen wird. Dies gilt allerdings nicht
einem Baby so dominant wird, dass sie für Adelstitel, die „als Teil des Namens“
andere Aufgaben verdrängt, sollte man Talisman einer Patientin mit Kinderwunsch bis heute weitergeführt, vererbt und durch
den Kinderwunsch aufgeben. Es gibt Heirat oder Adoption erworben werden
genug anderes zu tun, zu entdecken, zu griffen. Wir haben etwas gemacht, was El- können. Erloschen ist mit den letzten Titel-
kommunizieren und zu erforschen. Die tern nicht machen können: eine einjährige inhabern nach 1919 lediglich das Privileg
Weitergabe des Lebens ist für uns Men- Weltreise! Dass wir danach noch ein Kind von Familienoberhäuptern, einen höheren
schen ein geistiger Vorgang, der jedem in adoptieren würden, war genauso wenig ge- Titel als der Rest der Familie zu führen
jedem Augenblick möglich sein sollte. plant wie unsere „Kinderlosigkeit“. Heute, („Primogenitur-Adel“). Im deutschen Recht
Christoph Müller-Luckwald, Bingen (Rhld.-Pf.) fast 30 Jahre nach der Weltreise, haben hat der Adel also bislang überlebt, wenn
wir die Erinnerungen an ein einmaliges auch nur als Namenszusatz.
Zu welcher Belastung sich ein unerfüllter Erlebnis und sind immer noch mit unserem Mit freundlichen Grüßen
Kinderwunsch entwickeln kann, ist von Kind verbunden. Es ergibt also wirklich Rainer Staudhammer, SPIEGEL-Dokumentationsjournalist
Nichtbetroffenen kaum nachzuvollziehen. keinen Sinn, in ein Leben im „Hoffnungs-
Mit gegenseitigem Druck unter den Frau-
en hat er wenig und mit einer „Diktatur
terror“ zu versinken.
Michael Mönkemeyer, Köln
Nur die Großen und Schönen
der Babymacher in der Gegenwart“ gar Nr. 50/2017 Wie die Krawalle in Hamburg eskalierten –
eine Rekonstruktion / Polizeipräsident Ralf Martin Meyer
nichts zu tun. Vielmehr ist er Hinweis Welch seelische Grausamkeit, solch ein En-
rechtfertigt die Durchsuchungen bei G-20-Gegnern
auf die von der Evolution auch dem Men- gelsgesicht auf dem Titel Menschen zu zei-
schen auferlegte Bedeutung eigener Fort- gen, die vergebens auf Nachwuchs hoffen! Der ausführlich recherchierte Bericht hat
pflanzung. Dieter Blumtritt, Helmstedt (Nieders.) mich tief erschüttert. Geschah das eigent-
Dr. Bernd Warkentin, Lörrach (Bad.-Württ.) lich in Deutschland, was hier beschrieben
Da sage einer noch, nur wir Männer seien wurde? Wer war dafür verantwortlich, dass
In einem solchen Artikel sollte auch das hormongesteuert. Rational jedenfalls kann dieser „Krieg“ stattgefunden hat? Und wer
Thema Adoption behandelt werden. Kin- man heutzutage einen Kinderwunsch nicht übernimmt dafür die Verantwortung?
derwunsch-Paare sollten sich mit der Frage begründen – im Zeitalter der Putins, Werner Ehelechner, Traunstein (Bayern)
auseinandersetzen, ob sie auch Kinder, die Trumps, Kim Jong Uns, Erdoğans und
nicht ihre Gene haben, lieben könnten. Ob sonstiger unberechenbarer Individuen. Die entscheidende Frage ist nicht, ob die
sie ihre Zuwendung nicht Menschen schen- Von Klimawandel und Übervölkerung gar Polizei beim G-20-Gipfel Fehler begangen
ken wollen, die es bereits gibt. Ein mei- nicht erst zu reden. Oder haben die Eltern hat oder ob die Krawalle von Linksauto-
nungsmachendes Organ wie der SPIEGEL wenigstens vor, die Kinder zu befragen, nomen oder Gewalttouristen ausgingen,
hätte den Einfluss, eine Bewegung anzu- ob sie in diese schlimme Welt gesetzt wer- sondern vielmehr, warum Hamburg als
regen, die das Thema Adoption aus der den wollen? Geht nicht?! Dann lasst das Veranstaltungsort gewählt wurde. Allen
dunklen Ecke holt und für würdige Bedin- Kinderkriegen – im Interesse der Kinder. Verantwortlichen war klar, dass die Aus-
gungen sorgt. So könnte dem Menschen- Wolfgang Luckner, Bonn tragung in einer Großstadt unter Sicher-
128 DER SPIEGEL 52 / 2017
Briefe

heitsaspekten ein Albtraum werden würde, burg in Kampfausrüstung in falschen ohne Zwischenhalte schafft die Distanz in
der Unmengen an Material und Personal Wohnzimmern. Mein Erleben ist eine Poli- 2.04 Stunden! Bei drei Zwischenhalten
binden würde. Ebenso war bekannt, dass zei, die mich – frustriert von ihrer Abnut- (vergleichbar mit dem „Sprinter“ Ber-
Ausschreitungen auf G-20-Gipfeln keine zung in „Brennpunkten“, die Justiz und lin–München) liegt die Fahrzeit mit 2.52
Ausnahme sind und in Hamburg eine gro- Politik zugelassen haben – in Verkehrskon- Stunden immer noch mehr als eine Stunde
ße, aktive Protestbewegung existiert. Wa- trollen das angeknackste Gewaltmonopol unter der des ICE. Die Trassenführung ist
rum also Hamburg? des Staates spüren lässt, bei Einsätzen zu eine absolute Fehlplanung, aber selbst auf
Philipp Kiefner, Eppelheim (Bad.-Württ.) Einbrüchen erst gar nicht erscheint und dieser hätte man also eine weitaus niedri-
Notrufe abwimmelt. Als Bürger möchte gere Fahrzeit realisieren können.
ich nicht zuschauen, wie nur die Großen Dr. Stefan Bogun, Berlin
und Schönen Schutz genießen. Wie stand
es im Einsatzbefehl der Polizei zum G-20- Im Gegensatz zu dem auf Paris fokussier-
Gipfel? „Der Schutz und die Sicherheit ten Frankreich lebt im polyzentrischen
der Gäste haben höchste Priorität.“ Deutschland eine Schnellfahrstecke stärker
Dr. Christoph Oertel, Haan-Gruiten (NRW) von der Überlagerung vieler Verkehrsströ-
me: Durch die westliche Führung über Er-
Es müssen offensichtlich erst Polizisten furt profitieren auch die Verbindungen von
ROBIN HINSCH

sterben, bevor das Gewaltmonopol in An- Leipzig und Dresden nach Frankfurt am
wendung gebracht wird. Solange dieser Main, Südwestdeutschland und sogar bis
Staat überall zurückweicht, sich einreden Köln von der teuren Strecke. Bei der „Di-
Gipfelgegner am 7. Juli in Hamburg lässt, mit Güte und Verständnis könne man rettissima“ Berlin–Leipzig–Nürnberg–Mün-
Verbrecher stoppen, so lange werden wir chen wäre das nicht der Fall.
Danke für die interessante Reportage. Man mit zunehmender Gewalt rechnen müssen. Prof. Dr.-Ing Wolfgang Fengler, Professor für Gestaltung von
kann nur hoffen, dass so viele Täter wie Lothar Schulz, Berlin Bahnanlagen an der Technischen Universität Dresden
möglich dafür verurteilt werden, und auch
die Rolle derer, die durch das Herumste- Es ist nachgerade absurd, eine Situation Sie haben recht, knapp vier Stunden sind
hen und oftmals Fotografieren den Poli- zu beschreiben, in der verängstigte Bewoh- für eine 620-Kilometer-Strecke heute viel
zeieinsatz bewusst störten, muss ordentlich ner wegen eines bürgerkriegsartig agieren- zu langsam. Allerdings wurden die Planun-
untersucht werden. den Mobs um ihr Leben bangten – im sel- gen nicht erst 1990 begonnen, sondern be-
Michael Skala, Wien (Österreich) ben Artikel, in dem Sie behaupten, dass reits in den Dreißigerjahren. Damals wur-
dieselbe Lage so harmlos und frei von ei- de ein Fernschnellverkehrsnetz in Deutsch-
Die Polizei stand keineswegs, wie Ihr Ar- nem Hinterhalt war, dass ein früheres Ein- land entworfen. Im Sommer 1939 bediente
tikel suggeriert, hilflos der Gewalt gegen- schreiten der Polizei problemlos möglich die Reichsbahn bereits auf konventionellen
über. Sowohl am Donnerstag als auch am gewesen wäre. Nicht weniger Kopfschüt- Strecken ein Schnelltriebwagennetz, das
Freitag wurden alle Rückzugswege der De- teln löst aus, wenn Bewohner dieses Vier-
monstranten in Richtung der Kreuzung of- tels sich „enttäuscht“ oder alleingelassen
fen gelassen, die in Hamburg seit Jahrzehn- von derselben Polizei fühlen, die viele von
ten für Auseinandersetzungen dieser Art ihnen sonst vehement beschimpfen. Wer
genutzt wird. Die Polizei war mit ihrer er- neben der Roten Flora wohnt, sollte wis-
drückenden Übermacht jederzeit Herr der sen, worauf er sich einlässt.
Lage, sie war Statistin und Regisseurin Jan Ahlers, Hamburg
einer Situation, die zur Rechtfertigung der
immensen Kosten notwendig war – oder
nicht ganz ungelegen kam.
Absolute Fehlplanung
Ulrich Schaefer, Hamburg
Nr. 50/2017 Warum der ICE für die neue Strecke
von Berlin nach München immer noch viel zu lange
Goldbergtunnel bei Goldisthal, Thüringen
braucht
Es fehlte an Schutz und Einsatz durch die
Polizei, doch Polizeipräsident Meyer er- Die deutsche Bahnpolitik ist eine Katastro- unserem heutigen ICE-Netz verblüffend
klärt sich allen Ernstes solidarisch mit den phe. Man könnte sogar viel höhere Reise- ähnelt. Schade, dass die heutige Bahn sich
Opfern der G-20-Krawalle. Die Videospe- geschwindigkeiten erreichen, selbst wenn wohl nicht dazu aufraffen kann, einen
zialisten seiner Soko sind nach einem hal- man Zwischenhalte beibehielte. Die TGV- Sprinter ganz ohne Zwischenhalt einzuset-
ben Jahr am Anfang ihrer Ermittlungen. Strecke Paris–Bordeaux ist fast genauso zen, der nur circa drei Stunden benötigt.
Und offenbar steht das SEK auch in Ham- lang wie Berlin–München. Der Direktzug Bernd Ertl, München

Einen Vorteil immerhin hat die neue


Schnellstrecke München–Berlin: Es gibt
Korrekturen sie endlich. Zwischen dem Rheinland und
zu Heft 29/2017, Seite 22: „Lasst es krachen“ der Hauptstadt dagegen warten Legionen
Über die Mutter des beim G-8-Gipfel von Genua im Juli 2001 getöteten Demonstranten von Pendlern mehr als 26 Jahre nach dem
Carlo Giuliani, Haidi Giuliani, heißt es, sie sei bei den G-20-Demonstrationen in Ham- Bonn-Berlin-Beschluss noch immer auf
burg nicht mitmarschiert und habe die Ausschreitungen am 7. Juli nur vom Hotel aus eine zeitgemäße Verbindung.
beobachtet. Tatsächlich hat Frau Giuliani aber am 5. Juli eine Demonstration angeführt Lothar Lenz, Berlin
und war am 7. Juli nicht mehr in Hamburg.
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
zu Heft 51/2017, Seite 32: „Angst“ (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
Am jüdischen Lichterfest werden nicht die Kerzen an der Menora entzündet, sondern sowie digital zu veröffentlichen und unter
am Chanukka-Leuchter. Ein solcher war auch vor dem Brandenburger Tor aufgestellt. www.spiegel.de zu archivieren.

DER SPIEGEL 52 / 2017 129


Hohlspiegel Rückspiegel

Hinweis im Beipackzettel eines Socken- Zitate


anziehers: „Die Benutzung des Socken-
anziehers RFM Nylon ist nicht angezeigt Das „Hamburger Abendblatt“ zum
bei Verlust der unteren Gliedmaßen SPIEGEL-Bericht „Nur Uwe ist noch eine
oder Verletzungen an den Gliedmaßen.“ Bank“ über die HSV-Krise (Nr. 51/2017):

Am vergangenen Wochenende ist im


SPIEGEL ein amüsanter und zugleich er-
schütternder Artikel zur finanziellen Si-
Von SPIEGEL ONLINE tuation des HSV erschienen, gestützt
durch interne Mails und Verträge aus ei-
nem Datenleck. So erfuhr der Leser, dass
Von Bild.de: „Guirassy hat einen entzünde- im Vertrag von Sportdirektor Jens Todt
ten Zeh, der ihm gezogen werden soll.“ nicht nur eine Nichtabstiegsprämie ver-
ankert wurde, sondern auch eine Sonder-
zahlung … bei einem Wiederaufstieg.
Das ist ungefähr so, als ob jemand den
Oldtimer des Vaters an die Wand fährt,
dafür jedoch nicht bestraft wird und so-
gar eine Sonderzahlung erhält, wenn er
Anzeige eines Antiquitätenhändlers sich um die Reparatur kümmert.
im „Wiesbadener Kurier“
Die „Bild“-Zeitung zum selben Artikel:
Aus der „NZZ am Sonntag“: Ein schwerer Daten-Diebstahl schockt
„64 Prozent aller Parlamentarierinnen sind den Klub. Dutzende E-Mails aus dem
in Rwanda weiblich. Das ist Weltrekord.“ Zeitraum 2016 bis Anfang 2017 landeten
beim SPIEGEL.
Jetzt im
Die Evangelikalen-

Aus der
Handel Zeitschrift „ideaSpektrum“
zum SPIEGEL-Titel
„Münsterländischen Tageszeitung“ „Das gelieferte Fest“
(Nr. 50/2017):

Aus der „Basler Zeitung Online“: Beim Meinungsmagazin


„Bei der Textilindustrie gingen bei der SPIEGEL ist es üblich, in
Umstellung von Hand- auf manuelle der Adventszeit in einer
Arbeit 80 Prozent der Jobs verloren.“ Titelgeschichte deutlich
zu machen, dass Religion
etwas für Dumme sei … Immerhin: Josefs
Bemerkung, er habe das Kind „nicht
Lesen Sie dazu: bestellt“, spricht für die Jungfrauengeburt
Jesu. Das wiederum dürfte den Titel-
machern kaum bewusst gewesen sein.
Kleinanzeige im Dortmunder Bakterien-WG
„Stadt-Anzeiger“ Der SPIEGEL berichtete …
Wie das Mikrobiom
… in Nr. 41/2017 „Meister Proper mit
Aus der „Frankfurter Allgemeinen uns schützt Problem“ über mutmaßliche Korruption
Sonntagszeitung“: „In der simplen tradi- bei Airbus und der zweifelhaften
tionellen Lehre hatte Gott die Gläubigen
von den irischen Problemen gerettet,
Zika Rolle von Konzernchef Tom Enders:

indem er sie ins Himmelreich holte.“ Die vergessenen Nach einer Sitzung des Verwaltungsrats
verkündete Airbus am vorvergangenen
Kinder von Recife Freitag, dass der bis März 2019 laufende
Vorstandsvertrag von Thomas Enders
nicht verlängert wird. Sein mächtigster
Antibiotika interner Gegner, der für das zivile Flug-
Aus der „Main-Post“ zeuggeschäft zuständige Franzose Fa-
Wenn der brice Brégier, verlässt das Unternehmen
schon im Februar. Er war lange Zeit als
Die „Nordwestschweiz“ über den Pharmamarkt versagt potenzieller Nachfolger für Enders im
französischen Sänger Johnny Hallyday: Gespräch. Nachdem sich zuletzt auch in
„In ein künstliches Koma versetzt, stand seinem Bereich die Hinweise auf dubiose
der bald 70-jährige Schwerarbeiter schon Verkaufspraktiken gehäuft hatten, ent-
ein Jahr später wieder auf der Bühne.“ schieden sich die Kontrolleure gegen ihn.
www.spiegel-wissen.de
130 DER SPIEGEL 52 / 2017
Warum hatte man früher eigentlich
Sparstrümpfe zum Sparen?

Wir können nicht alles erklären, aber wie man


heute zeitgemäß Geld ansparen kann, schon

Mit einem Fondssparplan können Sie bereits ab 25,– Euro im Monat für große
oder kleine Wünsche ansparen. Und wenn Sie ihn jetzt abschließen, können Sie sich
bis zum 29. Dezember 2017 eine limitierte Uhr von Kapten & Son sichern!

Die Teilnahmebedingungen finden Sie im Internet unter www.sparstrumpf.de


oder fragen Sie Ihren Berater bei einer Volksbank Raiffeisenbank.

i e s i chern!
räm
Jetzt Pe Informationepnf.duen
ter
Geld anlegen klargemacht Weiter w.sparstrum
ww

Weitere Informationen, die Verkaufsprospekte und die wesentlichen Anlegerinformationen erhalten Sie kostenlos in deutscher Sprache bei allen Volks- und
Raiffeisenbanken oder direkt bei Union Investment Service Bank AG, Weißfrauenstraße 7, 60311 Frankfurt am Main, unter www.union-investment.de oder
telefonisch unter 069 58998-6060. Stand: 1. September 2017.
1&1 ALL-NET-FLAT
3 FREI-MONATE! *

FLAT TELEFONIE
FLAT INTERNET
FLAT AUSLAND

0,– 9,99
€/Monat*
Nur bis
31.12.

LG V30

Samsung Galaxy S8
Maximale Geschwindigkeit
HUAWEI Mate10 Pro
mit LTEmax!

Sofort In Ruhe Defekt?


starten: ausprobieren: Morgen neu!

Internet
made in
Germany
1NACHT 1MONAT 1TAG
OVERNIGHT-
LIEFERUNG
TESTEN AUSTAUSCH
VOR ORT

02602 / 96 96
*24 Monate Vertragslaufzeit. Mit 1&1 All-Net-Flat LTE S (bis zu 50 MBit/s) 3 Monate lang keine Grundgebühr (vom 4. bis 6. Monat), sonst 9,99 €/Monat. Ab dem 13. Monat 19,99 €/Monat.
Telefonate in dt. Fest- und Handynetze und in der gesamten EU inklusive. Kostenlose Overnight-Lieferung, einmaliger Bereitstellungspreis 29,90 €. Auf Wunsch mit Smartphone für 10,– €/Monat
mehr, ggf. zzgl. einmaligem Gerätepreis. Weitere LTE-Tarife mit bis zu 225 MBit/s (z. B. 1&1 All-Net-Flat LTE M ab 14,99 €/Monat) sowie in D-Netz-Qualität verfügbar. Preise inkl. MwSt.
1und1.de
1&1 Telecom GmbH, Elgendorfer Straße 57, 56410 Montabaur