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Hausmitteilung
7. Januar 2008 Betr.: Titel, Merkel, SPIEGEL-Gespräch
D as Tatgeschehen auf dem SPIEGEL-Titel hält, folgt man der Bibel, den ersten
Mord der Menschheitsgeschichte fest – und zeigt in einem Ausschnitt aus Barto-
lomeo Manfredis Gemälde „Kain tötet Abel“ (um 1610) ein Phänomen, das jüngst in
München neue Aktualität gewann: die Gewalt junger Männer gegen Unschuldige. Als
ein Grieche, 17, und ein Türke, 20, dort einen Rentner fast zu Tode geprügelt hatten,
attackierte Hessens Ministerpräsident Roland Koch, 49, flugs das Jugendstrafrecht:
alles viel zu lasch für die „zu vielen kriminellen jungen Ausländer“, schneller wegsper-
ren, möglichst abschieben. War das der pure Populismus eines Wahlkämpfers? Oder
gebieten schon solche Einzelfälle Gesetzesänderungen? Bundesweit sah sich ein Team
von 17 SPIEGEL-Redakteuren in sozialen Brennpunkten um, sprach mit Experten und
besuchte Betreuungseinrichtungen, um herauszufinden, was getan wird oder getan
werden könnte, um das Abgleiten junger Migranten in die Kriminalität zu verhindern.
Titelautor Thomas Darnstädt, 58, hält die von Konservativen geforderte schnelle Ein-
weisung in Erziehungscamps oder ins Gefängnis für einen Irrweg. Gerade ausländi-
sche Kinder und Jugendliche müssten, so der promovierte Jurist, durch nachhaltige
Bildungspolitik integriert werden, „sie wegzusperren führt zu hohen Rückfallquoten
und zerstört gezielt junge Menschen“ (Seite 20).
R
echt unterschiedlich sind die Prinzipien und
Methoden, nach denen Regierungschefs ihre
Macht organisieren. Zu Helmut Kohls Zeiten fielen
Entscheidungen oft im legendären Küchenkabinett,
Gerhard Schröders innerer Zirkel durfte sich in
kakophonem Stimmengewirr ausleben, bevor ein
„Basta!“ ertönte. Kanzlerin Angela Merkel, 53, sagt
SPIEGEL-Redakteur Ralf Neukirch, 42, setze auf
WERNER SCHUERING
U nbeirrt verfolgt die russisch-orthodoxe Kirche ihren erzkonservativen Kurs, und als
Metropolit Kyrill, 61, religiöser Berater von Präsident Wladimir Putin, im Moskauer
Danilow-Kloster die SPIEGEL-Redakteure Martin Doerry, 52, Christian Neef, 55, und
Matthias Schepp, 43, empfing, hielt er sich nicht zurück. Ausländische Missionare,
klagte der Geistliche, zersetzten unter dem Banner der Liberalität die Moral und
versuchten, „die russischen Menschen
zu ihrem Glauben hinüberzuziehen“.
Kyrill, eine Art Außenminister des
Moskauer Patriarchats und womöglich
nächstes Oberhaupt seiner Kirche, er-
zählte beim Abschied, dass er sich
mehrmals zum Meinungsaustausch mit
der protestantischen Pfarrerstochter
YURI FEKLISTOV
Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 3
In diesem Heft
Titel
Harsche Töne
Aufbau Ost: Berliner Wissenschaftsprojekt
als Jobmotor ..................................................... 54
Städte: Ein mutiger Plan soll das
Seite 52
bitterarme Bremerhaven retten ........................ 56 Seitdem Außenminister Frank-Walter
Gastronomie: Wie rebellische Wirte sich Steinmeier (SPD) Vizekanzler ist, ent-
gegen das Rauchverbot wehren ........................ 60
Suche nach einem Kompromiss in Kenia Seite 98 über Stürze und Comebacks ........................... 120
Fußball: Rechtsstreit um DFB-Jugendtrainer ... 123
Nach den blutigen Protesten gegen die gefälschte Präsidentenwahl ruhen alle Hoff- Wissenschaft · Technik
nungen auf dem Ausland: Internationale Vermittler versuchen, Staatschef Mwai Kibaki
Prisma: Tricksereien bei Ökostrom-Anbietern /
zu einer Neuwahl oder zur Bildung einer Koalitionsregierung zu bewegen.
Schulverweigerer verlassen Deutschland ........ 124
Bildung: Die Welt-Uni – aus der
Hochschule der Vereinten Nationen soll
eine globale Lehranstalt werden ..................... 126
Der Saurierfriedhof
Literatur: Peter Handkes neue
S. 128 Großerzählung „Die morawische Nacht“ ........ 140
Unveröffentlichte Intimitäten aus
Die Steilküste Südenglands ist eine Halde voll Handkes Tagebüchern ..................................... 143
JOHN CANCALOSI / ULLSTEIN BILD
7
Briefe
SHAKIL ADIL / AP
ebneten ihr den Weg, doch ihre Gier und Es mag vielfältige Gründe geben, warum
Bestechlichkeit brachten sie zu Fall. Allen Arbeitgeber so gern 400-Euro-Kräfte be-
Warnungen zum Trotz hielt sie weiterhin schäftigen, das Sparen von Sozialabga-
Massenversammlungen ab. Die Folge war Trauerzug mit Bhuttos Sarg (bei Larkana) ben kann jedoch keiner sein, da diese bei
neben ihrem eigenen Tod der Tod Un- Übrig geblieben ist Chaos einem sogenannten Minijob 30 Prozent
schuldiger. Übrig geblieben ist Chaos in betragen, die der Arbeitgeber vollständig
den Straßen Pakistans – und ihr Sohn, der toren nun diese Tendenz bestätigen oder trägt – während bei einer normalen sozial-
nun zum Spielball der Macht wird. nicht. Natürlich ist bei diesen Themen ei- versicherungspflichtigen Beschäftigung je
Frankfurt am Main Sabiha Khanam niges mit Sorge zu sehen, aber Sie sollten nach Krankenkassenzugehörigkeit des Ar-
eine neutralere Darstellung bevorzugen. beitnehmers die Arbeitgeberbelastung bei
Mit großer Begeisterung habe ich Ihren Borrisokane (Irland) Wolfgang Roedder nur rund 20 Prozent liegt.
Artikel gelesen, der viel Hintergrundwis- Berlin Marion Schulz
sen zu Bhuttos Leben beinhaltet. Auch die
Titelseite hat mir gefallen. Jedoch erscheint Erfolge der Agenda 2010 verspielt? Die Manchester-Kapitalisten vom Schlage
mir etwas merkwürdig: Was in Gottes Na- Nr. 52/2007, Mindestlöhne: Pin speisen tüchtige Mitarbeiter mit Löh-
men ist eine „islamische Bombe“? Die Union freundet sich trotz Pin-Post-Desaster mit nen unter Hartz IV ab. Wer hätte wohl ein
Neu-Isenburg (Hessen) Zohaib Burney einer flächendeckenden Lösung an gutes Gefühl dabei, privaten Postzustellern
wertvolle Sendungen anzuvertrauen, wenn
Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer hervor- Wir stehen vor der Frage: Wollen wir einen diese armen Schlucker vor der Frage ste-
ragenden Pakistan-Geschichte. Ich kenne hohen Mindestlohn und damit mehr Ar- hen, entweder Mundraub zu begehen oder
Bhutto als pakistanischer Staatsbürger und beitslose, die vollständig vom Staat finan- zu verhungern?
aus ihren Jahren im Londoner Exil – keine ziert werden? Oder wollen wir keinen be- Idar-Oberstein (Rhld.-Pf.) Alfred Pfeiffer
internationale Publikation hat ihr Wirken ziehungsweise einen sehr niedrigen Min-
so richtig eingeschätzt wie der SPIEGEL. destlohn? Dies würde bedeuten, diese Wenn sich die Sozialdemokraten jetzt so
Ja, sie war der Spross einer feudalen Herr- Menschen haben Arbeit im Niedriglohn- vehement für flächendeckende Mindest-
scherfamilie; ja, sie war korrupt; ja, sie hat sektor, sind aber den ganzen Tag beschäf- löhne einsetzen und so tun, als hätten sie
als Premier versagt und konnte arrogant
bis zur Unerträglichkeit sein. Aber sie war
zuletzt die beste Hoffnung für uns Paki-
staner – was zeigt, wie wenig Hoffnung wir
Vor 50 Jahren der spiegel vom 8. Januar 1958
Verfassungsklage gegen Bundespräsidenten? Bundesrat verlangt
schon vor ihrer Ermordung hatten. Gehör bei Stiftungsgesetz. Pannen bei der Bundeswehr Lappen in Flug-
London Nawaz Hillal zeugtanks. Stuttgarter Neckarhafen Kostspielige Einweihungsfeier.
US-Konjunkturflaute Rüstungsaufträge für den Aufschwung. Bank-Affäre
in England Verdacht des Geheimnisverrats durch Direktoren. Medizin
Warum hinterlegen Sie Ihre Titelbilder in Hoher Blutdruck am Steuer. Ost-West-Wettlauf beim Film Defa-Astronau-
Schwarz, sobald es um Islam, Koran, Paki- tenprojekt contra Hamburger Dokumentation über Wernher von Braun.
stan oder Ähnliches geht? Ist Ihnen be- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de
wusst, dass Sie damit ohne Not bei vielen oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben.
Lesern eine pauschale Drohkulisse auftun? Titel: General-Intendant Gustaf Gründgens
Der erste Eindruck ist wichtig, ob Ihre Au-
8 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Briefe
das soziale Gewissen der Nation für sich Düsternis und weinerlich-defätistische Mie-
allein gepachtet, dann muss man sie daran sepetrigkeit verbinden, entdecken Ameri-
erinnern, dass es die SPD selbst war, die kas Christen heiter und entspannt in Gott
diese Misere erst herbeigeführt, um nicht das, was er schon immer war: ein weltweit
zu sagen „herbeigehartzt“ hat. Statt das vertriebener metaphysischer Markenarti-
Wohl des eigenen Volkes zu mehren, wur- kel, der mit medienwirksamem Tamtam
den so viele zwangsweise in das soziale unter die Leute gebracht werden muss.
Abseits gedrängt, denen es vorher viel bes- Berlin Wolfgang Gerhards
ser ging. Jeder Arbeiter in Deutschland
muss selbstverständlich von seinem Lohn An diesem Artikel kritisiere ich, dass er
leben, seine Familie ernähren und am nicht zu differenzieren vermag. Mit Si-
sozialen Geschehen teilnehmen können. cherheit wird es schwarze Schafe unter den
Wenn das nicht mehr gewährleistet ist, Predigern geben, die auf das Geld ihrer
stimmt etwas nicht! Herde aus sind. Aus eigener Erfahrung
Bonn Christian Luckner weiß ich aber auch um das soziale Engage-
ment vieler amerikanischer Kirchen.
Die einfachste Lösung wäre es, wie Pro- Eisenach (Thüringen) Johannes Richter
fessor Rürup ausführt, wenn in allen Bran-
chen beispielsweise 4,50 Euro gelten wür- Wie so oft beim SPIEGEL ist das Thema
den. Wichtiger ist aber, wie viel die Ar- Religion einseitig beleuchtet: Was der Au-
beitnehmer netto ausgezahlt bekommen. tor selbst nicht kennt, das ist nur Fiktion
Das lässt sich nur über vereinfachte und von nicht selbst denkenden Herdentieren
niedrigere Steuersätze regeln. Dann ließe und – natürlich – skrupellosen Geschäfte-
sich auch ein steuerfreies Mindesteinkom- machern. Wie kommt es, dass auch Intel-
men definieren. Steuerfreies Mindestein- lektuelle, Wissenschaftler, erfolgreiche Ge-
kommen ja, Mindestlohn: klares Nein. schäftsleute und Fußballstars wie Kaká,
Hamburg Sven Jösting Politiker wie Horst Köhler und Journalis-
ten wie Peter Hahne, die sicher allesamt
keine verführten Opfer sind, diese Werte
nicht nur gutheißen, sondern leben?
Offenbach Michael Knörr
Demonstration von Briefzustellern (in Berlin) Zu Ihrem Artikel fielen mir spontan zwei
Andere Branchen wollen nachziehen zentrale Sätze aus der Bibel ein: Zum ei-
nen das 2. Gebot Gottes an sein Volk: „Du
Ein Aspekt wird bei der Diskussion über sollst meinen Namen nicht missbrauchen.“
Mindestlöhne leider auch in Ihrem Arti- Zum anderen der Ausspruch Jesu, als er
kel übersehen – die Altersarmut. Bei einem die Händler aus dem Tempel vertrieb:
zu geringen Mindestlohn können die Ar- „Mein Haus soll ein Ort des Gebetes sein,
beitnehmer entweder nur geringe oder gar ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle ge-
keine Beiträge zur Sozialversicherung leis- macht.“ Weiter braucht man diese Art der
ten. Auch für eine zusätzliche private Al- Kommerzialisierung des Glaubens und der
terssicherung reichen die Dumpinglöhne Ausnutzung der gutwilligen Anhänger zum
nicht aus. Mit dem Ausscheiden aus dem Wohle der Brieftasche diverser „Prediger“
Berufsleben haben die Menschen entweder nicht zu kommentieren.
gar keinen oder nur einen sehr geringen Rodenberg (Nieders.) Hartmut Wedemann
Rentenanspruch erworben. Altersarmut ist
programmiert. Wieder müssen die öffent-
lichen Kassen mit Sozialleistungen ein- Hohle Ausfälle
springen. Nr. 52/2007, Architekten: SPIEGEL-Gespräch
Harburg Klaus Ofterdinger mit dem Londoner Stararchitekten David
Chipperfield über sein umstrittenes Wirken in Berlin
Zeit. Da wäre es besser gewesen, den Pa- die gebratenen Tauben nicht ins Maul,
last der Republik stehen zu lassen und als doch mag ihn die Not dazu verleitet haben,
Zeitzeugnis zu renovieren. das angesengte Fleisch der Tiere zu pro-
Bad Kissingen (Bayern) Wolfgang Russ bieren, die vom Feuer eingeschlossen wor-
Architekt den waren. Hatte er erst einmal festgestellt,
dass dieses Fleisch sich besser kauen ließ
Chipperfield hat nur gesagt, was weltweit und schmackhafter war, dann war die Er-
Architekten über den Bau denken. Die kenntnis nicht mehr weit, dass mitgenom-
Forderung des Bundestages nach Rekon- mene Vorräte zudem viel länger haltbar
struktion der Fassade ist eine rückwärts-
gewandte Auffassung, man sollte sich nicht
an eine solche Form klammern. Die Ar-
chitektur lässt viele Varianten zu. Berlin
muss zeigen, dass es eine moderne Stadt
des 21. Jahrhunderts ist.
Berlin Ursula Misersky
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 15
Panorama Deutschland
AU S S E N P OL I T I K
Zweifel am
Kosovo-Einsatz
A ußenminister Frank-Walter Stein-
meier (SPD) richtet sich auf innen-
politische Kontroversen um den Ver-
bleib der rund 2800 deutschen Soldaten
im Kosovo ein – bis hin zu einem Ver-
fahren beim Bundesverfassungsgericht.
Berlin plant, das Kosovo anzuerkennen,
selbst wenn es seine Unabhängigkeit
von Serbien einseitig erklären und der
Uno-Sicherheitsrat seine Zustimmung
verweigern sollte. Umstritten ist, ob die
zip ist die Weigerung der Union, sie wissen, dass Lohndumping Auch mehrere Sozialdemokraten be-
Mindestlöhne durchzusetzen, allen schadet.“ Leistung müsse drängten Steinmeier. Für einen Militär-
doch Verrat an den ehrlich ar- angemessen honoriert werden. einsatz ohne neues Uno-Mandat gebe
beitenden Menschen und den Beck „Wer vollschichtig arbeitet, für es „keine ausreichende Grundlage“,
ehrlich wirtschaftenden Unter- den sollte sich diese Leistung monierte der SPD-Außenpolitiker Jo-
nehmern in diesem Land“, sagte der mindestens so sehr lohnen, dass er ohne hannes Jung: „Deshalb wird es dafür
SPD-Vorsitzende dem SPIEGEL. Zu- staatliche Zuschüsse leben kann. Die neue Abkommen geben müssen.“
gleich attackierte Beck die Ministerprä- SPD bezieht sich da im besten Sinne auf
sidenten von Hessen und Niedersach- Ludwig Erhard. Dumpinglöhne sind ein
sen, Roland Koch und Christian Wulff. Verrat an der sozialen Marktwirtschaft
„Koch weiß nicht, was er will. Er und im Erhardschen Sinne. Die Union hat
Christian Wulff sind die Erfüllungsge- sich davon verabschiedet.“ An diesem
hilfen der Lohndrücker.“ Laut Beck will Montag will der SPD-Vorstand unter
die SPD den „politischen Druck hoch- Becks Leitung bei einer Klausurtagung
MICHAEL KAPPELER / DDP
halten“, damit sich die Union beim Min- in Hannover einen Zehn-Punkte-Plan
destlohn bewege. „Die SPD wird die unter dem Titel „Gute Arbeit“ verab-
Mindestlöhne durchsetzen, Branche für schieden. Dabei soll die Forderung nach
Branche und am Ende auch flächen- einer flächendeckenden Einführung von
deckend“, so Beck. „Ich glaube, dass Mindestlöhnen im Mittelpunkt stehen.
Deutsche Kfor-Soldaten in Prizren
Altersarmut droht
zur Begutachtung der gesamtwirtschaft- lohnt sich der Abschluss eines Riester-
lichen Entwicklung. Altersarmut Vertrags nicht“, urteilt der Wirtschafts-
werde „in spätestens 15 Jahren relevant weise. „Die Politik sollte deshalb
POLITISCHE BILDUNG
H amburg will per Mobilfunk junge Wähler für den Urnengang begeistern: Via
SMS können Interessierte ab Anfang Januar ein politisches Quiz herunterladen
– mit Fragen zum neuen Wahlrecht, das erstmals bei der Bürgerschafts- und der Be-
zirkswahl am 24. Februar gilt, sowie zu Landeskunde und Geschichte der Hansestadt.
Die Landeszentrale für politische Bildung fördert das Projekt mit 39 000 Euro. Es soll
über Schulen, Infobusse und im Internet bekanntgemacht werden. „Junge Leute be-
nutzen ihr Handy nicht nur zum Telefonieren“, sagt die Leiterin der Landeszentrale,
Sabine Bamberger-Stemmann. „Ein Handygame mit Gewinnanreizen ist für sie
attraktiver als das Studium trockener Wahlbroschüren.“ Entwickelt hat das Quiz der
Hamburger Mobilfunk-Software-Entwickler Phi Mobile mit dem Institut für Politik
und Wirtschaft Haus Rissen.
EINBÜRGERUNG Wahlkämpfe tragen. „Den von der SPD unter bestimmten Voraussetzungen ei-
Wirbel um den
gewollten Weg in die doppelte Staats- nen deutschen Pass, müssen sich aber
bürgerschaft auf Dauer geht die Union nach ihrem 18. Geburtstag für eine Na-
Doppelpass
mit Sicherheit nicht mit“, sagt CSU- tionalität entscheiden. SPD-Innenpoliti-
Landesgruppenchef Peter Ramsauer. ker halten das Optionsmodell für un-
Ähnlich äußert sich auch Unionsfrak- praktikabel und wollen es abschaffen –
JOSE GIRIBAS
den Verwaltungsgerichten.
„Dingo“-Fahrzeug der Bundeswehr (in Afghanistan)
Hannover Berlin
BUNDESWEHR wehr „zusätzlich verschlechtert“. We-
Forsche Fahrer
gen der „Unfallhäufigkeit auf hohem Ni- Einrichtung von
veau“ sei es „dringend erforderlich“, Umweltzonen
mahnte kürzlich ein Kommandeur, den Dortmund 1. Jan. 2008
Fahrzeuglenkern vor der Kommandie-
Duisburg 1. März 2008
M angelhafte Ausbildung der Kraft-
fahrer und geringe Praxis haben
beim Bundeswehreinsatz in Afghani-
rung zum Hindukusch eine „auf den Be-
darf im Einsatzland ausgerichtete Aus-
bildung“ angedeihen zu lassen. Tatsäch- Köln
1. Jan. 2010
in Planung
stan zu zahlreichen Unfällen geführt. lich haben viele Soldaten erst in Afgha- Heidelberg
Wie aus internen Berichten des Vertei- nistan gelernt, Einsatzfahrzeuge wie den Quelle: BMU
digungsministeriums hervorgeht, kom- leicht gepanzerten „Dingo“ zu steuern, Mühlacker
Mannheim
pensieren viele Soldaten die fehlende da in der Heimat kein Schulungsgerät Ilsfeld
Routine durch besonders forsche Fahr- verfügbar war. Das werde sich in die- Karlsruhe Pleidelsheim**
weise: Das „Fahrverhalten“ sei biswei- sem Jahr bessern, hoffen Militärs: Der Pforzheim Ludwigsburg
len „erschreckend“. Oft versuchten Fah- „Dingo“-Hersteller Krauss-Maffei Weg- Schwäbisch Gmünd
rer, „der latenten Gefahr von Anschlä- mann konnte im vergangenen Jahr rund Leonberg
gen“ durch „besonders rasantes Fahren 100 statt zunächst geplanter 30 Exem- Stuttgart Augsburg
zu entgehen“. So steige das Unfallrisiko plare liefern. Einige will die Bundeswehr Tübingen Reutlingen Neu-Ulm
„massiv“; zudem werde die Stimmung nun für das Fahrtraining auf heimischen Freiburg München*
der Afghanen gegenüber der Bundes- Übungsplätzen reservieren.
* spätestens zum 1. Okt. 2008 ** oder bereits zum 1. Juli 2008
POLITISCHE FLÜCHTLINGE
W
ie man mit dem Problem fertig ihm den Rucksack, einer prügelt auf ihn
werden soll, hat der CDU-domi- ein, einer tritt ihn.
nierte Landtag von Baden-Würt- Immer wieder kann man es abspielen:
temberg schon im Juni vergangenen Jahres Das blaue Bündel am Boden windet sich,
beschlossen: „In der Ehrfurcht vor Gott“ zuckt. Ein Täter nimmt Anlauf, streckt ein
und „in der Liebe zu Volk und Heimat“. Bein vor, springt auf das Opfer zu, kickt
Dies, so steht es im brandneuen Ländle- mit Schwung gegen dessen Kopf.
Gesetz über den Jugendstrafvollzug, seien Das blaue Bündel zuckt am Boden. Die
die „Grundsätze“, nach denen verurteilte beiden Schläger rennen weg.
junge Gewalttäter zu erziehen seien, wenn Der pensionierte Schuldirektor überleb-
sie hinter Schloss und Riegel sind. te den Angriff mit dreifachem Schädel-
So schnell veralten Gesetze. Ein 30-Se- bruch. Das Video hat in Deutschland einen
kunden-Video, aufgenommen von einer Schock ausgelöst. Nie zuvor war Gewalt so
Überwachungskamera kurz vor Weihnach- sichtbar
ten im Zwischengeschoss des Münchner U- Und selten zuvor war das Problem so
Bahnhofs Arabellapark, verbreitet von der virulent: die massive, zerstörerische Ju-
Münchner Polizei, hat jedem im Land sicht- gendgewalt, die in Deutschland in den
bar gemacht, dass es etwas komplizierter neunziger Jahren aufflammte und seitdem
wird mit den bösen jungen Männern. auf beängstigendem Niveau zur Dauer-
30 Sekunden, immer wieder ausgestrahlt erscheinung geworden ist. Die offensicht-
in jeder Fernsehnachrichtensendung, mas- liche Hilflosigkeit der Opfer, der Gesell-
senhaft angesehen auf den aktuellen In- schaft, der Polizei, der Strafrechtler, der
ternet-Sites: die unwirtliche Atmosphäre Politik gegenüber den gefährlichen, ge-
des schattenlos ausgeleuchteten nächtli- waltbereiten jungen Männern, die sich zwi-
chen U-Bahnhofs, der hagere Mann mit schen Konsumrausch und Weihnachtsfrie-
dem Rucksack über der Schulter, am Fahr- den drängen und plötzlich, ohne nachvoll-
kartenautomaten vorbei dem Ausgang zu- ziehbaren Grund, zuschlagen.
eilend – und dann die beiden dunklen Ge- Wie dramatisch die Lage wirklich ist,
stalten, die hinter dem Pensionär in sei- wird klar, seit sich Deutschland mit Serkan
nem blauen Anorak herrennen. A., 20, befasst. Der junge Türke ist einer
Da: Einer schlägt ihm auf den Kopf, der beiden Schläger auf dem Video, ein
der Blaue strauchelt, fällt zu Boden. Beide 17-jähriger Grieche der andere. Jung,
Verfolger fallen über ihn her, entreißen männlich, Ausländer, gewaltbereit: Die
AP (O.); CORBIS SYGMA (L.); AWAD AWAD / DPA (M. L.); FLORIAN EISELE (M. R.); ANDRE BRUTMANN / JAD WASHEM (R.)
lass, die bessere Integration von jungen
Ausländern, eine ordentliche Schulbildung
und vernünftige Betreuung zu fordern –
warum hat die Jugendhilfe jahrelang dem
Verfall der Familie Serkans in Armut und
Gewalt zugesehen?
Die Jugendgewalt – ein Ausländerpro-
blem? Der Zorn der jungen Männer – ein
Unterschichtenproblem? Die Gewaltgeil-
heit – eine Folge falschen Medienkonsums?
Der brutale Machismo betrunkener Män-
ner – ein Kulturkampf gegen etablierte
christliche Werte?
Lauter mögliche Antworten. Alles ist
wahr. Aber vielleicht ist alles doch anders.
Ein neuer Erklärungsversuch führt her-
aus aus dem Untergeschoss der Münchner
U-Bahn, hinauf in die Höhen einer histo-
rischen Weltsicht: wo die Einsicht gilt,
dass an dem blutigen Jahresende 2007 in
Deutschland nichts so Besonderes ist. Jun-
ge Männer, besonders wenn sie nichts
Gescheites zu tun haben, haben sich schon
Polizei-Pressekonferenz mit Überwachungsvideos aus der Münchner U-Bahn*: Ängste, mit denen man spielen kann
immer als die gefährlichste Gruppe der überschuss“ an „zornigen Männern“ ber- handeln, weil die Konflikte längst vor ihrer
Spezies Mensch erwiesen. ge einen gewaltigen Sprengsatz in sich, der Haustür sind: 300 Millionen von insgesamt
Wo immer in der Geschichte es einen ganze Regionen oder Länder aus den 900 Millionen jungen Männern aus der
Überschuss unterbeschäftigter junger Män- Fugen geraten lassen kann. Etwa in Afrika Dritten Welt werden in den kommenden 15
ner gegeben hat, so erklären Wissenschaft- oder im Nahen Osten würden die Bal- Jahren entschlossen außerhalb ihrer Hei-
ler, sei die Gesellschaft in Eroberungskrie- lungszentren bersten vor Männern, die mat um Positionen kämpfen müssen.“ Und
ge, Terror und Verbrechen verwickelt wor- voller Testosteron sind, aber ohne Aussicht „Speerspitze dieser Jugendarmee“ seien
den. So ist das britische Weltreich entstan- auf einen sozialen Aufstieg leben. die Männer aus den islamischen Ländern –
den – und die Weltmacht al-Qaida. Junge Die Jungmännerhorden, sagt der Pro- dem größten Hort des Jugendüberschus-
Männer randalieren als Hooligans in deut- fessor, machten Gesellschaften gewaltbe- ses, dessen Bevölkerung innerhalb von
schen Fußballstadien, als Neonazis auf den reiter und führten sogar in kriegerische fünf Generationen von 150 auf 1200 Mil-
Straßen. Junge Männer verbreiten Terror in Auseinandersetzungen – nach innen wie lionen Menschen angewachsen ist.
den Städten Afrikas, etwa in Liberia, sie nach außen. Schon Feldzüge der Spanier, Das rasche Anwachsen einer zuneh-
werfen Steine und Molotow-Cocktails, etwa Schweden oder Holländer seien von ag- mend perspektivlosen Jugend bringt nicht
in Palästina. Junge Männer erwiesen sich gressiven Viert- oder Fünftgeborenen ge- nur Menschen hervor, die hungern und
oft als besonders sadistische Schergen des tragen gewesen, die zu Hause keine Zu- sich in kleine Boote setzen, um an die Küs-
Nazi-Regimes. kunft mehr für sich gesehen hätten. ten Europas zu gelangen. Die zornigen
Und geht man zurück vom Fall Serkan Die Thesen des Bremer Soziologen sind Männer können auch Verzweifelte sein,
A. im Dezember 2007, zurück bis ins nicht unumstritten, aber Heinsohn nennt prä- die unbedingt an die Spitze kommen wol-
19. Jahrhundert, dann trifft man auf Kri- gende aktuelle Beispiele für seine These wie len, aber nicht können. Und für die sei der
minalstatistiken, die für Deutschland nicht Sri Lanka oder die Elfenbeinküste. Er macht bewaffnete Kampf als Terrorist durchaus
weniger Gewalttaten als heute verzeich- den „Jungmänner-Hass“ auch für den Nah- eine ernstzunehmende Option.
nen – das Alter der Täter war etwa im Jahr ost-Konflikt verantwortlich, wo die zornigen Die These von der Gewaltbereitschaft
1885 vergleichbar dem des Jahres 2001. Die Palästinenser ihre Energie gegen Juden und junger überschüssiger Männer gilt nach
Gefährlichkeit der jungen Männer, dafür Israel richten. Und wenn über Generationen Ansicht des Bremer Experten nicht nur für
sprechen die Zahlen, könnte so etwas wie Väter drei oder mehr Söhne in die Welt set- islamistische Glaubenskrieger. In einigen
ein Naturgesetz sein. zen, würde daraus eine Dauer-Youth-Bulge Gegenden Deutschlands wie in Berlin-
Nicht nur in Deutschland, sondern welt- entstehen, was automatisch in einen Dauer- Neukölln würden sich viele perspektivlose
weit wurden zahllose Experimente unter- konflikt führe. Dagegen, so Heinsohn, helfe Migrantenkinder zusammenballen – die
nommen, mit dem Phänomen fertig zu nur die „demografische Abrüstung“. Und zu „hausgemachte Youth Bulge“, wie es der
werden, das umso virulenter wird, je zise- der könne auch der Westen beitragen, indem Soziologe nennt. „Die sind ambitioniert,
lierter und zivilisierter die Gesellschaften er aufhöre, die „Kinderproduktion“ in Ent- sehen die schönen und guten Dinge in
werden, an denen sich die bösen Jungs wicklungs- und Krisenländern durch Hilfs- Deutschland und wollen die auch haben“,
reiben. Es geht nicht nur um den bösen maßnahmen zu fördern. sagt Heinsohn, „doch sie bekommen sie
Serkan und seine Freunde. Es geht um die Ist das purer Zynismus? Und drückt nicht, weil sie wegen ihrer Bildung keine
ganze gefährliche Spezies der wütenden Hunger wirklich die Geburtenrate und hilft Chance haben, nach oben zu kommen.“
jungen Männer somit, Krieg und Terror zu verhindern? Ursache für diese Entwicklung sei unter
Der Bremer Konfliktforscher Gunnar Nach Heinsohn bleibt den Industriena- anderem die fatale deutsche Einwande-
Heinsohn hat zur Erklärung des Phäno- tionen gar keine andere Alternative, als zu rungspolitik gewesen. Anders als Länder
mens den Begriff der „Youth Bulge“ in wie Kanada oder Australien habe Deutsch-
Deutschland eingeführt. Dieser „Jugend- * Am 3. Januar in München. land nie auf die Qualifikation der Migran-
22 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
OLIVER LANG / DDP (L.); ANDREAS MARKUS (R.)
ten geachtet. Deshalb seien vornehmlich junge Frauen? Der Gedanke drängt sich Kämpfer im Wettbewerb unter Männern
Männer ins Land gekommen, die schon in auf, dass der Wille zur eskalierenden Ag- erringen den höchsten sozialen Status und
ihren Heimatländern wegen ihrer mangel- gression etwas mit der Biologie des Man- sichern sich dadurch die meisten Frauen
haften Ausbildung Schwierigkeiten gehabt nes zu tun hat. und Nachkommen.“
hätten, einen Job zu finden. Und diese Ein- Schon lange gilt das Männerhormon Im Gegensatz zur Testosterontheorie
wanderer würden Söhne in die Welt set- Testosteron als Lieblingskandidat der For- steht die Auffassung, Aggression sei ein
zen, die im neuen Heimatland ebenso bil- scher für den ultimativen Kick zum Kamp- erlerntes und über Generationen tradiertes
dungsfern aufwachsen. Das produziere fesmut der Kerle, Testosteron – der Stoff, Muster von Männlichkeit. Ein soziales
wiederum Schulversager und führe „in völ- der Kriegsherren, Top-Manager oder Killer Konstrukt.
lig aussichtslose Lebenswege“ – eine Ab- macht. Die Forscher sind sich nicht einig, wel-
wärtsspirale, die sich immer weiter drehen Psychologen wie Simon Baron-Cohen cher der beiden Ansätze – oder eine Mi-
würde und den Nährboden für zornige von der britischen Cambridge University schung davon – der Wahrheit besser Rech-
Männer bilde, die sich zu gewalttätigen Ju- sind überzeugt davon, dass auch der Ag- nung trägt.
gendbanden zusammenschließen würden. gressor der Moderne eine alte Bürde der Das Gehirn des männlichen Homo sa-
Nur: Wie kann es sein, dass ein Ge- Evolution mit sich schleppt. Der Kampf piens wird früh mit Testosteron überschüt-
schlecht die Gewalt so nachhaltig gepach- ums Weib errichtet ihm zufolge die Ur- tet, so viel ist klar. Schon im Mutterleib, in
tet hat? Dass es junge Männer sind, die bühne noch für heutige männliche Misse- der achten Schwangerschaftswoche, hat
morden und schlagen, sehr viel seltener taten: „Die tapfersten und geschicktesten eine Kaskade molekularer Signale die Wei-
chen unumkehrbar Richtung Mann gestellt,
das Bad der kleinen Gehirnanlage im Män-
60 und älter nerhormon ist die Folge. Das Testosteron
50 bis 59 lasse dann im Denkorgan, glaubt etwa
Louann Brizendine, Neuropsychiaterin aus
40 bis 49 Gewaltkriminalität nach Alter San Francisco, „in den Regionen, die für
Männliche Tatverdächtige Sexualität und Aggression zuständig sind,
30 bis 39 pro 100000 Einwohner mehr Zellen heranwachsen“.
der jeweiligen Altersgruppe Anscheinend bestimmt die Hormonbio-
logie das Kinderleben noch bis ins Vor-
25 bis 29
schulalter. Dass Jungs rangeln und toben
und jeden Astknüppel in ein Laserschwert
21 bis 24
verwandeln, könnte theoretisch noch Grup-
penzwängen, der Sozialisation geschuldet
18 bis 20
sein. Aber auch Mädchen mit dem soge-
nannten Adrenogenitalen Syndrom (AGS)
16 bis 17 sind oft wahre Wildfänge – sie waren, wie
die kleinen Jungs, im Mutterleib dem Testo-
14 bis 15 Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006
steron ausgesetzt. Demnach wäre die aus-
ufernde Wut im Leib doch angeboren.
8 bis 13 Wenn das stimmte, müssten die AGS-
Mädchen sich allerdings auch als Teenies
0 200 400 600 800 1000 1200 1400 1600 1800 2000
oder Erwachsene noch so gewaltbereit zei-
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Titel
SPIEGEL: Die Bundeskanzlerin will ein Zypries: Auch bei einem Ersttäter kön- Ziele verfolgen. Im Übrigen ist das ein
breiteres Strafinstrumentarium für Ju- nen die Jugendgerichte nach geltendem ganz plastisches Beispiel für die hessi-
gendliche, die CDU legt ein ganzes Maß- Recht eine Jugendstrafe ohne Bewährung sche Wahlkampflinie: Schon heute be-
nahmenpaket vor. Sie sind die zuständi- verhängen. Es ist doch bezeichnend für steht die Möglichkeit, Erziehungscamps
ge Fachministerin. Arbeiten Sie schon an die Debatte, dass die Fachleute wie Poli- einzurichten. Außerdem ist der Vollzug
einem eigenen Vorschlagskatalog? zisten, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und der Jugendstrafe seit der Föderalismus-
Zypries: Angela Merkel hat aber auch dar- Richter nicht nach dem Gesetzgeber reform Sache der Länder. Es hilft dem
auf hingewiesen, dass schnelle Antworten rufen. Ich plädiere sehr dafür, Staatsan- hessischen Ministerpräsidenten hier also
nicht möglich sind, und sich vor allem wälte und Richter ihre Arbeit machen zu ebenfalls nichts, auf den Bundesgesetz-
für eine besonnene Debatte ausgespro- lassen. Das notwendige gesetzliche In- geber zu zeigen.
chen. Das begrüße ich, und das ist etwas strumentarium haben sie. Wer in einem SPIEGEL: Sie meinen also, er sollte erst
anderes als das Wahlkampfgetöse, das Bundesland Verantwortung für Justiz mal die eigenen Hausaufgaben machen?
zuletzt zu vernehmen war. Zypries: Wenn es zutrifft,
Die Position der SPD ist dass Koch bereits 1999 mit
klar: Wir müssen hart der FDP die Einrichtung
gegen Kriminalität vorge- geschlossener Erziehungs-
hen, aber vor allem ihre camps für junge Straftäter
Ursachen konsequent be- vereinbart, bis heute aber
kämpfen. kein einziges eingerichtet
SPIEGEL: Was spricht gegen hat, steckt hinter seiner
einen frühzeitigen „Warn- Kampagne nichts anderes
schuss-Arrest“, wie ihn jetzt als das Vertuschen eigener
auch die Kanzlerin fordert? Versäumnisse. Wenn es ihm
Zypries: Den Jugendarrest ernst ist mit dem Kampf
als Warnschuss haben wir gegen Jugenddelinquenz,
längst. Der wurde offenbar muss er sich zudem fragen
auch gegen den 20-Jährigen lassen, weshalb Hessen im
im Münchner U-Bahn-Fall Jahr 2004 freiwillige Leis-
schon mehrmals verhängt. tungen im Bereich der
Insgesamt war dieser Be- Justiz um rund ein Drittel
CHRISTIAN THIEL
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HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS
Inhaftierte Jugendliche (in Bremen): „Nicht jedes Erziehungscamp verstößt gegen die Menschenwürde“
Seine Union war es doch, die jahrzehn- gen wie die Knaben. Aber das tun sie Die Jungs, zwischen fünf und acht Jahre
telang negiert hat, dass Deutschland nun nicht; zumindest können bisherige Studien alt, werden ihren Müttern entrissen und, so
einmal faktisch ein Einwanderungsland dies nicht zweifelsfrei belegen. zitiert Otten die Ethnologen, „tage-, oft
ist. Es war SPD-Innenminister Otto Schi- Die Ergebnisse machen es eher un- wochenlang gefoltert, gedemütigt, bedroht,
ly, der erstmals ein Zuwanderungsgesetz wahrscheinlich, dass die Natur den Jungs brutal misshandelt und gequält“.
durchgesetzt hat, das einen Schwerpunkt das Aggressionspotential schon in die Initiationsriten finden sich bis in die Mo-
auf Integrationsmaßnahmen legt. Das Wiege gelegt hat. „Die für so viele Männer derne, in Jungenschulen etwa, in der mi-
heißt für mich, vor allem bei den Sprach- des modernen Menschentyps charakteris- litärischen Ausbildung oder in Gruppie-
kenntnissen im Kleinkindalter anzuset- tische Aggressivität ist das Ergebnis ei- rungen wie den Hooligans, wo Novizen
zen und damit die Voraussetzung für eine nes scharfen Trainings“, sie werde erst die rücksichtslose Brutalität ebenfalls erst
solide Bildung und eine echte Chance am „durch ein oft über Jahre, wenn nicht so- mühsam erlernen müssen.
Arbeitsmarkt zu schaffen. Da gibt es noch gar Jahrzehnte währendes Initiationsritual Wenn es aber stimmt, dass die brutale-
viel zu tun, auch in Hessen. erworben“, meint Dieter Otten, Soziologe ren Varianten eines Männerbilds im Grun-
SPIEGEL: Koch bezeichnet Sie in der Dis- und Männerforscher an der Uni Osna- de gesellschaftlich konstruiert werden,
kussion als das „personifizierte Hinder- brück. lassen sie sich auch von der Gesellschaft
nis“, Unionsfraktionsvize Wolfgang Bos- Aus Ostneuguinea zum Beispiel ist das ändern.
bach wirft Ihnen Ahnungslosigkeit vor. sogenannte Waldhüttenritual überliefert – Die Zahlen, in denen sich Brutalität ma-
Können Sie diese Debatte noch politisch eine aus Sicht westlicher Industriegesell- nifestiert, werden von deutschen Sicher-
für sich entscheiden? schaften unfassbar brutale Gehirnwäsche. heitsexperten auf der Suche nach Gegen-
Zypries: Nun ja, manchem gehen im mitteln deshalb registriert wie die Angaben
Wahlkampf offenbar die Sachargumente UMFRAGE: GESCHLOSSENER VOLLZUG über die Ausbreitung einer Seuche. Die
aus, und dann bleibt ihm halt nur, per- Kurve mit den Zahlen der Befallenen steigt
sönlich zu werden. Wir haben einen Ko- „In Hessen wird ab 2008 für langsam, aber unaufhaltsam. Im November
alitionsvertrag, der gilt. Darin haben wir 2007, wenige Wochen vor dem Überfall
die Einführung der nachträglichen Siche-
jugendliche Gewalttäter der von München, haben die Innenminister
rungsverwahrung für Jugendliche ver- geschlossene Jugendstrafvollzug der Länder wieder zusammengesessen und
einbart, und das Kabinett hat meinen angeordnet. Halten Sie das ratlos ihre Daten verglichen: Alle sechs Mi-
Gesetzesentwurf dazu im Juli 2007 für sinnvoll?“ nuten langt irgendwo in Deutschland ein
beschlossen. Im Übrigen haben sich die Jugendlicher oder Heranwachsender kräf-
Koalitionspartner darauf verständigt, kei- JA 53 % tig zu.
ne weiteren Änderungen im Jugendstraf- Während die polizeilich registrierte Ge-
recht vorzusehen – übrigens unter Betei- samtkriminalität von 1997 bis 2006 um
ligung des hessischen Justizministers.
NEIN 40 % 4,3 Prozent zurückging, stieg die erfasste
Interview: Marcel Rosenbach TNS Forschung für den SPIEGEL vom 2. und 3. Januar; Gewaltkriminalität um 15,6 Prozent. Dabei
1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“ / handelt es sich im Wesentlichen um Kör-
keine Angabe
perverletzung.
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EASTCOTT-MOMATIUK / THE IMAGE WORKS
Jugendlicher Straftäter, Betreuer in einem US-Bootcamp: „Menschen zu Objekten degradiert“?
Fast die Hälfte (43,4 Prozent) aller regi- tionshintergrund mit 56 Prozent an, Städ- größte Industrienation Europas prophe-
strierten Gewaltdelikte wurde 2006 von te wie Nürnberg meldeten 60 Prozent. zeien die Experten den Innenchefs der
unter 21-Jährigen verübt, ihr Anteil an den Die Erkenntnisse über den wachsenden Länder: Ab 2010 sei für viele Großstädte
Tatverdächtigen steigerte sich allein von Anteil der Migrantensprösslinge an der Ge- ein Anteil von unter 40-jährigen Zuwan-
2002 bis 2006 um 11,5 Prozent, im Zehn- waltszene haben bei den Innenministern derern an der Wohnbevölkerung von rund
jahresvergleich sogar um 25,8 Prozent, ab- Unruhe ausgelöst. Wenn nicht schnell Re- 50 Prozent zu erwarten.
solut von rund 70 000 auf rund 90 000 Tat- zepte gefunden werden, die Infektion der Dort spitzt sich die Situation schon jetzt
verdächtige (von insgesamt 207000) bei der Zuwanderer und ihrer Familien mit der zu. Wie schwierig die Lage vieler Zuwan-
Gewaltkriminalität. Gewaltseuche zu stoppen, droht eine Ex- derer ist, macht der Jahresbericht der Aus-
Allerdings relativieren Wissenschaftler plosion. Eine neue Youth Bulge und den länderbeauftragten Maria Böhmer deut-
diesen Befund: Erhöhte Anzeigebereit- Ansturm zorniger junger Männer auf die lich: 40 Prozent der Jugendlichen aus Aus-
schaft und größere Sensibilität für brutales länderfamilien gehen weder zur Schule,
Verhalten hätten die Zahlen nach oben ge- UMFRAGE: STRAFRECHT noch absolvieren sie eine Berufsausbil-
trieben. Doch in einem kritischen Punkt dung. 72 Prozent der in Deutschland le-
sind sich alle Experten einig: Der Anteil „Halten Sie das deutsche benden Türken, selbst wenn sie hier gebo-
der Ausländer an der Gesamtkriminalität ren sind, haben keine berufliche Qualifi-
ist weiter deutlich überproportional. Selbst
Strafrecht für geeignet, wirksam kation.
wenn man Touristen, Stationierungsstreit- gegen jugendliche Straftäter Niemand ist da erstaunt, wenn die Ber-
kräfte sowie Tatverdächtige bei Delikten, vorzugehen?“ liner Landeskommission gegen Gewalt zu
die nur Ausländer begehen können – wie dem Ergebnis kommt, dass sich die Le-
Verstöße gegen Aufenthaltsbestimmungen ist geeignet 27 % benswelt junger Migranten hauptsächlich
– aus der Statistik herausrechnet, ist ein auf ihren Kiez beschränkt. Sie lernen
Anteil von 17,4 Prozent an den Tatver- also andere Lebenswelten und -formen
dächtigen bei einem Bevölkerungsanteil sollte verschärft werden 65 % außerhalb ihrer von Ausgrenzung und
von aktuell 8,8 Prozent immer noch sehr Migration geprägten Umwelt gar nicht
hoch. erst kennen. Innerhalb solcher Milieus
Hinzu kommt die Beteiligung von Ju- „Wird bei den Ermittlungen zu bilden sich dann eigene Werte und Nor-
gendlichen mit deutschem Pass, die aus einer Straftat hart genug mit men, mithin das Gesetz der Straße.
Migrantenfamilien stammen. jugendlichen Verdächtigen Werden Teile Deutschlands also über
In Berlin betrug 2006 der Anteil von Mi- kurz oder lang unter dieses Gesetz der
grantenkindern bei der Jugendgruppenge- umgegangen?“ Straße fallen, können Macho-Kultur und
walt 44,7 Prozent, eine Auswertung von Schlägerbanden das Land verändern?
138 Intensivtätern zwischen Mai und Sep- hart genug 34 % Ängste, mit denen man spielen kann.
tember 2004 ergab dort einen Anteil von Serkan A. entwickelt sich zum Wahl-
fast 80 Prozent. Baden-Württemberg mel- kampfschlager.
dete einen Anteil von 45,9 Prozent Mi- bin für mehr Härte 52 % Hessens Ministerpräsident Roland Koch
grantenkindern an den Intensivtätern – zu- (CDU) war der Erste. Eilig nutzte er die
züglich 17 Prozent Aussiedlern unter den TNS Forschung für den SPIEGEL vom 2. und 3. Januar; Chance, an seinen Kampagnenerfolg von
1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“ /
deutschen Tatverdächtigen. Bremen gibt keine Angabe 1999 anzuknüpfen. Damals hatte Koch
den Anteil der Intensivtäter mit Migra- Stimmung gegen die doppelte Staatsbür-
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Titel
gerschaft gemacht – und wider alle Vor- Zugleich gibt er sich gegenüber der Dabei sind es nicht die großspurigen Kon-
hersagen gegen die SPD gewonnen. Union gesprächsbereit: „Die SPD ist zepte, es ist die geduldige Kleinarbeit der
In der vergangenen Woche forderte er selbstverständlich bereit, zwischen Bund Polizei, die oft hilft, die Gewalt in den Griff
in einem „Sechs-Punkte-Plan“ mehr Här- und Ländern gemeinsam zu beraten, wie zu bekommen. Polizisten, die bösen Bullen
te gegen jugendliche Straftäter. Ein „Warn- wir für eine bessere Umsetzung der be- von gestern, fungieren immer häufiger als
schussarrest“ solle eingeführt werden, stehenden Gesetze sorgen können, wenn Sozialarbeiter, Jugendhelfer und Richter in
für 18- bis 20-Jährige im Regelfall das die Landesregierungen in Hessen, Nie- einer Person. Sie machen mancherorts sogar
Erwachsenenstrafrecht herangezogen wer- dersachsen oder Hamburg damit Proble- Hausbesuche bei Eltern und drohen wie
den. Die Höchstgrenze für Jugend- me haben. Das ist sinnvoller, als jetzt einst die Dorfpolizisten mit dem Finger.
haftstrafen müsse von 10 auf 15 Jahre Schnellschüsse aus Motiven zu produzie- Kaum einer von den wilden Kerlen lacht
erhöht und überdies eine anschließende ren, die allein dem Wahlkampf geschul- darüber. Inzwischen hat es sich herumge-
„Sicherungsverwahrung“ möglich werden. det sind.“ sprochen: In der Hand der Polizei liegt es
Ein Abschnitt seines Plans richtet sich Auf keinen Fall wollen die Sozis sich oft, ob es gelingt, einen jungen Mann wie
explizit gegen ausländische Straftäter. Sie nachsagen lassen, das Thema vernachläs- Serkan A. durchzubringen, oder ob er auf-
sollen künftig bei Gefängnisstrafen von sigt zu haben. Andererseits lehnen Genos- gegeben wird, zu den verlorenen Kindern
einem Jahr ohne Bewährung ausgewiesen sen Vorschläge wie die Einführung von gehört, die im Knast landen.
werden können. rabiaten Bootcamps nach US-Vorbild ab. In Polizisten, nicht nur Lehrer sind es, von
Koch sieht sich als „akzeptierten Spre- manchen würden „Menschen zu Objekten deren Engagement es manchmal abhängt,
cher einer schweigenden Mehrheit in degradiert“, sagt Justizministerin Brigitte ob an den deutschen Schulen die Gewalt
Deutschland“. Er habe schon „Hunderte“ Zypries im SPIEGEL-Interview: „Wir müs- den Unterricht lahmlegt.
von Mails und Briefen zu-
stimmenden Inhalts bekom-
men, tönt er.
Die Kanzlerin hat sich
nach kurzem Nachdenken
Ende vergangener Woche
entschieden, ihren lang-
jährigen Rivalen zu unter-
stützen. Dabei ist über-
schießender Wahlkampf-Po-
pulismus Angela Merkel
eher fremd. 1999 war sie ge-
gen Kochs Unterschriften-
kampagne zur doppelten
Staatsbürgerschaft. Aber
nun will die CDU-Vorsit-
zende nicht dafür verant-
wortlich sein, wenn die
CDU-Regierung in Hessen
am 27. Januar kippt. Für die
Vorstandsklausur am ver-
gangenen Wochenende ließ
Merkel ein Papier ausarbei-
ULLSTEIN BILD
ten, mit dem sich die Partei-
spitze hinter die Forderun-
AKG
einen eigens geschulten Psychologen be- oder Deutsche mit Migrationshintergrund. über die städtische Justiz gewundert. Vie-
schäftigt, kommen in Deutschland auf jede Und fast alle haben in der eigenen Familie le ihrer „Kunden“ sind nämlich Mitglie-
Fachkraft 15 000 und in den Großstädten Gewalt erlebt. „Die Biografien gleichen der von Kölner Jugendgangs wie den
6000 Schüler. sich“, sagt Schütz, dessen Team sich aus- „Bickendorf Gangsters“ oder „The new
In Nordrhein-Westfalen hat nur jede schließlich um Intensivtäter kümmert und Generation of Gernsheimer“ – Banden,
zwanzigste der 7000 Schulen eine ausge- gegen einen bedrohlichen Trend anarbei- die sich gegenseitig bis aufs Blut bekriegen
bildete Kraft. Auch am Kölner Georg- tet: Die Zahl der minderjährigen Straftäter und nebenbei so ziemlich alles beklauen
Büchner-Gymnasium, an dem zwei Schü- in Köln ging in den vergangenen Jahren und verprügeln, was sich ihnen in den Weg
ler im vergangenen November Waffen kontinuierlich nach oben – von 2005 auf stellt.
für einen Amoklauf bereitlegten und einer 2006 gab es den größten Sprung. In den Als acht der Bickendorf-Gangster im
der Täter dann Selbstmord beging, gab Jahren wurden bei Fällen von Raub, Be- Dezember 2006 wegen mehr als 100
es keinen Expertenrat mehr. Die Stel- drohung und Nötigung Steigerunsraten Straftaten, unter anderem wegen schwe-
le des Schulpsychologen war nach des- von zum Teil mehr als 20 Prozent ver- ren Raubes, Körperverletzung, Einbrüchen
sen Pensionierung nicht neu besetzt zeichnet. und Brandstiftung, vor Gericht standen,
worden. Der 17-jährige Erdinc H. war schon lan- erhielten sie Bewährungsstrafen und Ver-
Am Ende jedes Monats wird im Kölner ge auf der „Top 100“-Liste, als er während warnungen: ein Richterspruch, der Anfang
Kriminalkommissariat 57 immer die neue des Kölner Karnevals im Februar 2007 Dezember 2007 vom Bundesgerichtshof
„Top 100“ erstellt. Leiter Walter Schütz grundlos einen Familienvater mit Fäusten kassiert wurde. Wegen der „Schwere der
und seine Kollegen schauen sich dafür an, und Tritten traktierte – vor den Augen von Schuld“ sei schärfere Bestrafung erforder-
was ihre zornigen jungen Männer in den dessen vier Kindern. Der Mann erlitt ei- lich, argumentierte der BGH.
vergangenen vier Wochen denn so ver- nen schweren Hirnschaden. Die Prügel- „Rundumsorglospaket“ nennen ein biss-
brochen haben: Für Raub gibt es fünf, für orgie löste in Köln eine wochenlange Dis- chen zynisch die Berliner Fahnder ihr Spe-
Körperverletzung drei, für Ladendiebstahl kussion über den Umgang mit gewaltbe- zialprogramm zur Verfolgung jugendlicher
einen Punkt. Wenn alles addiert und mit reiten Ausländern aus – auch weil Erdinc Intensivtäter. Die zielgerichtete Einzelfall-
Daten über die Entwicklung verrechnet ist, nach kurzer Zeit vom zuständigen Gericht Behandlung des Berliner Intensivtäter-
gibt es die neue Hitliste der jungen Kölner wieder aus der Untersuchungshaft entlas- Programms verlangt den Beamten der
Intensivstraftäter. sen wurde. „Kommissariate für täterorientierte Er-
Wer auf der „Top 100“ gelandet ist, wird Die Milde sorgte bei den Mitarbeitern mittlungen“ viel Zeit und Mühe ab – zeigt
nun besonders genau beobachtet und re- des KK 57 und dem Kölner Polizeipräsi- aber auch erhebliche Erfolge. Kriminal-
gelmäßig unangekündigt besucht. Meist denten Klaus Steffenhagen für Verärge- hauptkommissar Andreas Wolter, Lei-
hat er im vergangenen Jahr etwa 50 ak- rung. „Die Jungs müssen in solchen Fällen ter der Intensivtäterabteilung für die Ber-
tenkundige Straftaten begangen und ter- die ganze Härte des Gesetzes spüren“, liner Brennpunkt-Kieze Kreuzberg und
rorisiert irgendeinen Kölner Schul- oder sagte Steffenhagen damals, „viel früher Neukölln, weiß, dass seine „Patienten“
Hinterhof. und schneller.“ Bewährungsstrafe, das ganz anders auf einen Beamten reagieren,
Kaum einer, dessen Name auf der Liste habe die Arbeit gezeigt, würde von den den sie schon seit Jahren kennen. „Wir ma-
steht, ist älter als 16. Mehr als 60 Prozent Intensivtätern als „etwas Abstraktes“ chen denen von Anfang an klar: Wann
der „Top 100“-Täter sind Türken, Araber empfunden, sie nötigten den meisten „nur immer du mit der Polizei zu tun hast, du
ein Lachen“ ab. wirst immer dasselbe Gesicht vor dir ha-
* Mit Hessens Innenminister Volker Bouffier am 2. Janu- Das Team vom KK 57 hat sich gerade in ben. Und was du auch anstellst, wir werden
ar in Wiesbaden. den vergangenen Monaten immer wieder schon da sein.“
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noch Vorbildfunktion für ihre Söhne ge-
habt hätten, verlören sie in den Augen
der Kinder heute zusehends an Ansehen
und damit an Respekt. Die Folge sei tie-
fe Perspektivlosigkeit, oft verbunden mit
der Suche nach Halt in kruden Ehrbe-
griffen.
500 Personen umfasste am vorigen Mitt-
woch die sogenannte Intensivtäter-Datei
der Berliner Staatsanwaltschaft, die seit
2003 von der eigens gegründeten Abtei-
lung 47 geführt wird.
Die Ermittlungsgruppe ist inzwischen
eine der größten Spezialabteilung der
Berliner Anklagebehörde – insgesamt
zehn Staatsanwälte verwalten in den
Räumen der ehemaligen Jugendarrestan-
stalt in Alt-Moabit die kriminellen Karrie-
ren der vorwiegend männlichen Täter, die
Heranwachsende Gewalt
Das Kriminalitätsphänomen jugendli-
cher Intensivtäter ist nicht neu: Es be-
weibliche
schäftigt die Staatsgewalt schon seit knapp Polizeilich erfasste Gewaltkriminalität Tatverdächtige
30 780
20 Jahren. Bereits Anfang der neunziger Tatverdächtige in der Alters-
Jahre registrierten Ermittler in den deut- gruppe der 18- bis
12,8 %
schen Großstädten einen sprunghaften An- 20-Jährigen
stieg einschlägiger Gewaltdelikte, began- 29 109
gen von immer jünger werdenden Tätern.
Der verharmlosende Begriff „Abziehen“ männliche
kam in Mode, wenn es um brutale Raub- 27 428
Tatverdächtige
delikte junger Krimineller ging, die
ihren meist gleichaltrigen Op- 87,2 %
fern teure Markenjacken
oder – inzwischen be-
sonders häufig – Mo-
25 417
biltelefone entwen-
deten.
Mittlerweile,
so weiß ein
hochrangi- Quellen: Polizeiliche Kriminalstatistik; Destatis
ger Ber- *Anstieg in allen Altersklassen: 57%
liner 21 545
19 297
1994 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 2006
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Titel
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YAVUZ ARSLAN / DAS FOTOARCHIV
Jugendgang in Berlin-Kreuzberg: „Wir hatten keinen Zugang mehr zu ihnen, jetzt wissen wir, wo wir ansetzen können“
er als sogenannter Schwellentäter erfasst Die Kiezengel sollen die Gegend wie- gesehene Jugendkriminologen wie der Tü-
und kriminalistisch regelrecht durch- der begehbarer machen. Die Polizei kam binger Rechtsprofessor Hans-Jürgen Ker-
leuchtet: Freunde, Bekannte, bevorzugte hier nicht weiter. ner sprechen von der „Gleichwirkung“ al-
Aufenthaltsorte, Handynummern und ak- Die Kiezläufer mussten in Crash-Kur- ler jugendrechtlichen Sanktionen: Es ist ei-
tuelle Fotos werden genauso elektronisch sen nebenbei Basiswissen über Sucht- gentlich egal, ob ein junger Mann einge-
gespeichert wie die Kontaktdaten von El- prävention und Deeskalation pauken, und locht oder nur in Arrest genommen, ver-
tern, Verwandten, Lehrern, Ausbildern nach den ersten Monaten spricht die Se- warnt oder auf Bewährung verurteilt wird:
oder Jugendarbeitern, die im Falle neuer natsverwaltung vorsichtig von kleinen Er- Sein Verhalten wird das alles kaum ändern.
Straftaten vernetzt werden sollen, um mit folgen: „Wir hatten ja gar keinen Zugang Stammtischweisheiten sind gemessen an
vereinten Kräften auf den Delinquenten mehr zu den Jugendlichen. Jetzt wissen solchen Erfahrungen die tönenden Worte
einzuwirken. wir, wo wir ansetzen können.“ über Warnschussarrest und über die „heil-
Wie bei den Intensivtätern wird je- Das Berliner Konzept hat jedenfalls same Erfahrung“, wie sich Knast von innen
dem Schwellentäter ein eigener Kriminal- mehr Chancen als die Versuche, auffällige anfühlt.
beamter zugeordnet, der ihn deutlich Jugendliche ihren Familien wegzunehmen Wie sich Knast von innen anfühlt, be-
spüren lassen soll, „dass der Staat ihn im und sie in Heime zu stecken. Ganze 280 kamen die von außen zuletzt in Berlin mit.
Visier hat“, wie ein Fahnder sagt, und Heimplätze gibt es laut einer Erhebung des Im vergangenen Sommer wurde bekannt,
dass es „anhand der erfassten Daten ein Deutschen Jugendinstituts (DJI) im Ge- dass die 500 Jungs in der Haftanstalt Plöt-
Leichtes wäre, ihn in Windeseile zu er- walttäterland Deutschland. Das reicht nicht zensee statt sich zu bessern kiffen, Pillen
mitteln“. einmal für den Bedarf einer einzigen Groß- einwerfen, prügeln. Allein in den ersten
Seit Herbst 2007 sind in Kreuzberg auch stadt. vier Monaten des vergangenen Jahres gab
sechs „Kiezläufer“ im Einsatz, Männer Die Idee, die gefährlichen jungen Män- es 99 Anzeigen wegen Körperverletzung.
und Frauen in besonderer Mission: Engel ner einfach wegsperren zu können, prägt Jugendrichter haben bereits gedroht, Ju-
für Kreuzberg, aber keine Unschuldsen- nicht nur die Wahlkampfparolen Roland gendliche nicht mehr in die Strafanstalt
gel. Die Männer wie Ali S. und Mahmoud Kochs. Ob Verschärfung der Regeln über einzuweisen, wenn es dort nicht sicherer
H. haben selbst eine dunkle Vergangen- die Jugendstrafe, eine Verlängerung der werde.
heit. Haftzeiten, vereinfachte Verhängung von „Die Hoffnung, dass vom Strafrecht ir-
Untersuchungshaft oder den schnellen gendetwas repariert werden könne, was
UMFRAGE: ANGST VOR AUSLÄNDERN Warnschussarrest, den etwa auch Ham- schon lange vorher kaputtging, ist absurd“,
burgs parteiloser Innensenator Udo Nagel sagt der Tübinger Strafrechtsprofessor Jörg
„Ausländische Jugendliche sind favorisiert – viele wünschen sich, die Jungs Kinzig. Auch dafür ist der Fall A. ein tra-
bei Straftaten überrepräsentiert. mit den archaischen Gewaltphantasien gischer Beleg. Zwölf Jahre alt war Serkan,
wegsperren zu können: nur weg, weg von als er zu kiffen anfing. Das zumindest er-
Haben Sie deshalb Angst vor der Straße – egal, ob es etwas nutzt. zählt seine Schwester. Damals war Serkan
Begegnungen mit ausländischen Es nutzt nichts. Ein Jugendrichter, der gerade zurück aus einem Kinderheim in
Jugendlichen?“ einen jungen Mann ins Gefängnis schickt, Augsburg.
TNS Forschung für den SPIEGEL
vom 2. und 3. Januar; 1000 gibt ihn damit auf. Wer einmal im Jugend- Ein Jahr hatte ihn das Jugendamt dort
JA 20 % Befragte; an 100 fehlende
Prozent: keine Angabe
knast saß, hat keine Chance – lebenslang. untergebracht, um ihn vor seinem betrun-
Um die 80 Prozent liegt die kenen, prügelnden Vater zu schützen.
Rückfallquote bei den zu Ju- Doch mit zwölf ging das Martyrium des
NEIN 79 % gendstrafe verurteilten jun- jungen Türken in der kleinen Mietwoh-
gen Männern. Weltweit an- nung in München-Harthof – einem soge-
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Titel
nannten Problemviertel – weiter. Er flüch- Für Serkans Verteidiger Oliver Schmidt Wochen sehen. Neulinge dürfen noch nicht
tete in den Drogenrausch. Schon damals ist das eher Routine: „Bei diesen jungen mal ohne Begleitung zur Toilette. Täglich
beging Serkan Straftaten, sie sind nicht auf- Straftätern ist die Laufbahn immer sehr benoten die „Haus-Eltern“, Lehrer und
gelistet, denn der Teenager war noch nicht ähnlich, man kann eigentlich schon im Mitarbeiter die Jugendlichen in Sachen
strafmündig. Ladendiebstähle hauptsäch- Voraus sagen, was als Nächstes passiert.“ Sauberkeit, Sozialverhalten, Arbeitstempo
lich. Abschreckung, sagt der Strafrechtler, in der Werkstatt und so fort. Wer sich be-
Im Dezember 2001 wurde eine Akte gebe es für solche Leute nicht. „Die sa- währt, steigt auf. Wer sich danebenbe-
über Serkan A. angelegt, die inzwischen gen: Dann sitz ich halt, na und?“ Junge nimmt, wird degradiert.
1000 Seiten dick ist, 41 Straftaten sind dar- Männer wie Serkan hätten nichts zu ver- Im schlimmsten Fall geht’s zurück in den
in geschildert: Ladendiebstahl, Schwarz- passen. Knast. Manche gehen auch freiwillig
fahren, Einbrüche, Sachbeschädigung, Er- Eine Vita wie die des kleinen Serkan zurück, denn der Tagesplan in Leonberg ist
pressung, Autodiebstahl, Waffenbesitz, macht immun. Und Josef Wilfling, Chef- härter als dort: Zweimal die Woche be-
Hausfriedensbruch, Drogenhandel, Kör- ermittler bei der Münchner Kripo, weiß: ginnt der Tag mit Frühsport um 5.45 Uhr,
perverletzung. „Leute mit dieser Vita laufen zu Hunder- Unpünktlichkeit gibt Punktabzug. Danach
Die Delikte blieben jahrelang die glei- ten in München rum.“ „Zeit der Stille“, Frühstück, Putzen, ab
chen, doch die Qualität änderte sich. Ser- Was also soll mit ihnen geschehen? „Ju- 8.15 Uhr geht es „auf den Bau“: Die Jungs
kan wurde immer brutaler, er beschaffte gendkriminalität ist ubiquitär und tem- renovieren das alte Haus nebenan, als Teil
sich das, was er wollte, mit immer mehr porär“, sagen die Kriminologen wie der der hauseigenen Berufsschule. Was sie hier
Gewalt. Weihnachten 2004 fing er an, sei- Tübinger Kerner, sie kommt überall vor, lernen, liegt sogar über dem Niveau gleich-
ne Opfer zu bedrohen und zu nötigen, und sie wächst sich von selbst aus, wenn altriger Berufsschüler – denn nur mit be-
auch mal kräftig zuzulangen, wenn einer die zornigen jungen Männer erwachsen sonderer Qualifikation können sie den
Geld, Handy oder Autoschlüssel nicht werden. Doch seit das Video von Serkan Fleck im Lebenslauf wettmachen. Um 22
rausrücken wollte. A. und seinem Freund in der Welt ist, mag Uhr ist meist Bettruhe.
So richtig geprügelt hatte Serkan – zu- solche Beschwichtigungen kaum noch je- Der strikte Plan ist ein Training für die
mindest nach Aktenlage – offenbar zum mand hören. Jugendlichen, die sonst niemals einen
ersten Mal im Oktober 2007, wenige Wo- Kaum durchsetzbar in Deutschland sind Acht-Stunden-Arbeitstag durchhalten wür-
chen vor dem brutalen Überfall in der Versuche, nach dem US-Vorbild der Glenn den, weil sie es gewohnt sind, jederzeit zu
Münchner U-Bahn. Die Verhandlung mit Mills Schools, eines US-Colleges für junge tun, wonach ihnen gerade der Sinn steht.
dem Vorwurf der schweren Körperverlet- Gewalttäter bei Philadelphia, offene Straf- Die Jungs in Leonberg werden mit stren-
zung steht noch bevor. anstalten mit Erziehungskonzepten einzu- gen Riten geschliffen. Im täglichen Steh-
Das alles konnte mit dem Jungen ge- richten. Das Leonberger Seehaus, zehn Mi- kreis muss jeder einzeln vortreten und sich
schehen, während Polizei und Sozial- nuten von Stuttgart, ist eines der seltenen von den anderen Jungs vorwerfen lassen,
behörden die Familie ständig begleiteten. Experimente. gegen welche Hausregel er verstoßen habe.
Die vom Vater geschlagene Ehefrau und Andreas wohnt hier, verurteilt wegen Irgendwann, sagen die Jungs, hätten sie es
die Kinder bekamen sogar eine eigene Be- gefährlicher Körperverletzung. Er könnte satt, sich jeden Tag denselben Sabbel an-
treuerin vom Jugendamt. Serkan erhielt jederzeit abhauen. Er tut es aber nicht. hören zu müssen – noch dazu von Gleich-
Erziehungshilfen, bekam Therapieangebo- Noch niemand ist hier abgehauen. altrigen, die ihnen ja eigentlich gar nix zu
te, die er aber nicht nutzte. Die Erziehungsidee ist so einfach wie sagen haben. Also halten sie sich lieber an
Einmal wurde er auch zu einer Haft- überraschend: Wenn man ohnehin nicht die Regeln.
strafe verurteilt – ein Jahr sollte er sitzen, verhindern kann, dass Häftlinge eine Hier- Zumindest bislang hat das Projekt eine
doch im letzten Moment wurde auch archie untereinander aufbauen, dann soll- Rückfallquote, von der andere Anstaltslei-
diese Haft zur Bewährung ausgesetzt, weil te man die wenigstens positiv nutzen. An- ter nur träumen können: 15 Jungen haben
er versprochen hatte, eine Therapie zu dreas etwa hat sich inzwischen zum ihre Haft in Leonberg in den letzten drei
machen. Er zog in eine betreute Wohn- „Löwe-Anwärter“ hochgearbeitet, der Jahren beendet, 2 wurden bislang rückfäl-
gruppe, musste die Therapie aber wegen zweithöchsten Stufe in Leonberg. lig. Doch populär sind derzeit wesentlich
Drogen- und Alkoholproblemen abbre- Damit darf er seine Freundin und seine härtere Alternativen. Ein Aufenthalt beim
chen. Familie jede Woche anrufen und alle zwei Ex-Boxer Lothar Kannenberg, 50, etwa.
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Titel
Der Schnee in Kannenbergs Camp im überall durchgereicht worden, manche nach dem alten Prinzip „Zuckerbrot und
nordhessischen Diemelstadt-Roden ist fast kennen mehr als 30 Heime. Und wer es Peitsche“. Mit einem Schwerpunkt auf
schon Matsch, ein rauer Winterwind hier nicht packt, landet nur noch auf der Peitsche, in seinem Fall heißt das Boxen,
peitscht kalten Graupelregen in den Ja- Straße oder im Knast.“ Brüllen, Bäumeschleppen. Zuckerbrot
ckenkragen und ins Gesicht des Ausbilders. Kannenberg ist ein ehemaliger Ama- heißt Vier-Augen-Gespräch, Männer-Um-
Die Wangen der 20 Jungs in den dünnen teurboxer, Ex-Türsteher im Frankfurter armung, Schulterklopfen, auch mal heu-
Trainingshosen glühen nach wenigen Mi- Rotlichtmilieu, Ex-Alkoholiker, Ex-Dro- len lassen, wenn „alles aus einem raus-
nuten, die Haare kleben nass am Kopf. Ein genabhängiger. Er spricht, wie er gern be- bricht“. „Die Jungs hier sind am Boden,
Pfiff aus der Trillerpfeife. „Los jetzt!“, Trai- tont, „die Sprache der Jugendlichen“. Kan- wenn sie bei uns ankommen“, so Kannen-
ner Patrick, 34, kennt keine Gnade. nenberg ist stolz auf seine Vita, weil er es berg, „mein Job ist es, sie wieder aufzu-
„Schneller!“, Pfiff, „raus aus den Schuh- geschafft hat, „da wieder rauszukommen“. stellen.“
en!“ Die letzte Runde Tauziehen wird heu- Er hat ein Buch über sich geschrieben, der Das dauert in der Regel sechs Monate,
te barfuß absolviert. „Lothars Idee“, er- Titel heißt „Durchboxen“, das ist Kannen- manchmal auch acht oder neun, und kostet
klärt einer, grinst, die Jungs zittern. bergs Lebensmotto und das Motto im für Rundumbetreuungsangebote läppische
An Bäume gelehnt, von einem Fuß auf Camp. 137,12 Euro am Tag. Aus Sicht des Steuer-
den anderen hüpfend, streifen sich die Ju- Im Boxring kam Kannenberg in Kon- zahlers und Politikers ein Schwererziehba-
gendlichen die ausgetretenen Turnschuhe takt mit straffälligen Jugendlichen, „die ren-Schnäppchen. Die 20 Plätze in der
und Sportsocken ab. Die meisten bleiben keiner mehr will“, weil sie, obwohl noch „Großfamilie“, wie Kannenberg sich, seine
trippelnd und bibbernd auf ihren nassen nicht volljährig, schon am Ende ihres Le- Frau und das Team nennt, sind ganzjährig
Socken stehen, beim Ersten kullern die bens stehen. Eine Weile hat er in Kassel als ausgebucht. Jugendämter aus der ganzen
Tränen. Andere fluchen. Die, die schon Streetworker gearbeitet, dann hat er sich Republik kämpfen darum, ihre schwersten
auf der Wiese stehen, das Tau in der Hand, selbständig gemacht, weil er „mit dieser Fälle hier unterzubringen.
die nackten Füße im Graupelschnee, brül- Sorte Jungs“ klarkam. Kannenberg spricht selbstbewusst von
len die Zögerer an. Die Erziehung der ausschließlich männ- einer Erfolgsquote von „80 Prozent“, die
Es ist das Kollektiv, das zählt, im Box- lichen Jugendlichen bei Kannenberg läuft so auch ungefiltert in Pressemitteilungen
camp von Lothar Kannenberg , „der Ein- des hessischen Sozialministeriums auftau-
zelne hat hier nix zu melden“, stellt Kan- UMFRAGE: ERZIEHUNGSLAGER chen. Kannenbergs Traumzahlen sind wohl
nenberg klar. Die meisten hier müssen das eher gefühlter Natur, denn trotz intensi-
erst mühsam lernen: Wenn einer Mist baut, „Halten Sie Erziehungslager ver Förderung durch die Politik steht eine
bekommen es alle zu spüren. Dann kom- Evaluation seiner Arbeit noch aus.
nach dem Vorbild US-amerika-
men zu den täglich mindestens 500 schnell Die Ergebnisse werden genau so wider-
noch einmal 100 Liegestütze dazu oder nischer paramilitärischer Camps sprüchlich sein wie Expertisen über die
eine zweite Runde Barfuß-Tauziehen im für geeignet, um jugendliche umstrittenen „Boot-Camps“ in den USA:
Schnee. Der Tagesplan ist straff: „Wer Straftäter zu resozialisieren?“ „Menschenrechtsverletzung“ ist es für Kri-
schlägt, der geht“, heißt die wohl wichtigs- tiker, was Kannenberg da macht, mit dem
te Regel. „Abhauen tut fast jeder einmal“, JA 20 % Menschenbild des Grundgesetzes ebenso
erklärt Kannenberg, „das gehört dazu, wenig vereinbar wie mit den herkömmli-
aber die kommen alle wieder.“ chen Ideen der Pädagogik. Und
Für die meisten ist das Trainingscamp NEIN 70 % wenn es trotzdem funktioniert?
von Kannenberg die letzte Chance. „Es Christian Pfeiffer, der allgegen-
geht hier nicht um die Normalen, die man TNS Forschung für den SPIEGEL vom 2. und 3. Januar; wärtige Leiter des Kriminologischen For-
auch in ein Heim stecken könnte“, erklärt 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“ / schungsinstitutes in Hannover und Berater
keine Angabe
Kannenberg, „wer hier landet, ist schon vieler Experten-Runden zum Thema Ju-
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WOLFRAM SCHEIBLE
Jugendliche Straftäter im Projekt Seehaus Leonberg bei Stuttgart: Mit strengen Riten geschliffen
gendgewalt, sieht, dass es harte Maßnah- dann per Bus in Stadtteile gefahren wer- auf Terror-Computer. Diese Einsicht ver-
men braucht – nicht in Boot-Camps, son- den, wo kaum Migranten leben. Deutsche breitet sich gerade dort, wo wütende jun-
dern in ihren Immigranten-Familien müss- Kinder aus diesen Stadtteilen müssten da- ge Dschihadisten bisher den größten Scha-
ten die jungen Männer aber erzogen wer- gegen die Kindergärten von Problembe- den angerichtet haben: in Amerika. Kon-
den. Dafür müsse der Staat in den Familien zirken besuchen – Konflikte sind vorher- servative Leitartikler wie Mark Steyn
eingreifen. sehbar. Wer verzichtet schon freiwillig auf blicken schon voll klammheimlicher Scha-
Er müsse, so Pfeiffer, Vorsorge tragen, Privilegien? denfreude ins alte Europa, wo die liberalen
dass die Kinder fremder Eltern gleiche Bil- Um Ausländerkindern gleiche Bildungs- Demokratien der Einwanderung der ge-
dungschancen haben wie die Kinder deut- chancen zu eröffnen, plädiert Pfeiffer auch fährlichsten Spezies der Welt noch immer
scher Eltern. Dazu gehört der zwangswei- für flächendeckende Ganztagsschulen, und mit dem naiven Schnack vom „Multikul-
se Besuch von Ganztagsschulen, denn zwar von der Grundschule bis zum Gym- turalismus“ begegnen. Multikulti endet, so
Pfeiffers Statistiken belegen, dass Auslän- nasium. Denn es ist ein offenes Geheimnis, kann man es sehen, oft in Segregation und
derkinder daheim wenig lernen, sondern dass ausländische Eltern, die häufig selbst dann in Gewalt.
überproportional häufig vor der Playsta- kaum Deutsch sprechen, mit der Erzie- Einiges von den amerikanischen Freun-
tion oder dem Fernseher sitzen. hung der Kinder oft heillos überfordert den ist auch im Einwanderungsland
Schon im Kinderhort sei die integrie- sind. Deutschland angekommen. Dass man die
rende Hand des Staates unverzichtbar. Ergebnis: Gut 20 Prozent der männli- eigenen Werte – hier nennt man sie die
Ausländerkinder, hat Kriminologe Pfeif- chen Migrantenkinder verlassen die Schu- Prinzipien des Grundgesetzes – bei aller
fer festgestellt, haben durchweg schlech- le ohne ein Abschlusszeugnis und ohne Toleranz den Ideen der Zugereisten ent-
tere Startbedingungen als ihre deutschen Perspektive auf einen Ausbildungsplatz – gegenzuhalten habe, ist mittlerweile die
Altersgenossen. Das beginnt bereits im eine Zeitbombe. herrschende Lehre auch unter liberalen
Kindergarten. In Stadtteilen, in denen vie- Hinzu kommt vor allem bei Jugendli- Staatsrechtlern. Der Respekt vor dem Le-
le Migranten leben, kommen kaum noch chen aus dem islamischen Raum die prä- ben, der Schutz der Familie, die Erziehung
deutsche Kinder in die Krippe, oft sind gende Gewalterfahrung in der Familie. Um der Kinder, die Behandlung von Frauen,
Türken, Jugoslawen, Albaner und Af- kinderreiche Ausländerfamilien besser als die Ausbildung – nur eine Gesellschaft, die
ghanen unter sich – mit weitreichenden bisher zu schützen, fordert Kriminologe sich ihrer eigenen Ziele sicher ist, hat auch
Folgen. Pfeiffer drastische Sanktionen gegen prü- die Kraft, die Migration der Gewalt aufzu-
In vielen Fällen herrscht babylonisches gelnde Familienoberhäupter. So soll bei halten.
Sprachengewirr, die Kinder schnappen nachgewiesenen Misshandlungen schnel- „Ehrfurcht vor Gott“ und „Liebe zu
alle möglichen Fetzen und Dialekte auf, ler als bisher ein Rausschmiss aus der ge- Volk und Heimat“ sollen, so haben die
beherrschen später aber keine Sprache meinsamen Wohnung möglich sein. Im Stuttgarter Abgeordneten in ihr Gesetz ge-
richtig. „Wenn der Mehmet mit Max und Wiederholungsfall plädiert Pfeiffer sogar schrieben, den bösen jungen Männern aus
Moritz im Sandkasten spielt, lernt er spie- dafür, das Familienoberhaupt in sein Her- aller Welt als Erziehungsgrundsätze ent-
lend Deutsch“, versichert Pfeiffer, „spielt kunftsland abzuschieben: „Der muss dann gegengehalten werden. Es ist ja wahr – nur
er nur mit Mustafa und Igor, dann leider ganz schnell raus.“ viel komplizierter.
nicht.“ Wenn die Theorien richtig sind, dass es Matthias Bartsch, Rafaela von Bredow,
Thomas Darnstädt, Markus Deggerich,
Zwecks Sprachförderung propagiert sich bei der Welle der Jugendgewalt um Per Hinrichs, Simone Kaiser,
Pfeiffer deshalb einen revolutionären Plan: die Auswirkungen einer Blase wütender Guido Kleinhubbert, Sebastian Knauer,
In Großstädten sollen 25 Prozent der Kin- junger Männer handelt, dann sind solche Udo Ludwig, Roland Nelles, Conny Neumann,
dergartenplätze grundsätzlich für Auslän- Integrationsbemühungen wichtiger für die Rene Pfister, Oliver Rezec, Sven Röbel,
Bruno Schrep, Andreas Ulrich
derkinder reserviert werden. Die müssten innere Sicherheit als jeder Lauschangriff
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Deutschland
REGIERUNG
Merkels Milieu
Früher gab es das Girlscamp – jetzt hat die Bundeskanzlerin vor allem Männer um sich geschart.
Es ist eine merkwürdige Truppe aus strebsamen Neulingen und alten Hasen, die das
Kanzleramt beherrschen. Eines aber ist wie früher: Der Boss ist eine Frau. Von Ralf Neukirch
C
hristoph Heusgen öffnet vorsichtig York, in der deutschen Vertretung bei den Dann liest sie die zwei Absätze, die
die Tür und blickt im Raum umher. Vereinten Nationen. Merkel führt ein Ge- Heusgen ihr hinhält. „Das ist super“, sagt
Er sieht die Kanzlerin, den Regie- spräch mit Journalisten über die weltpoli- sie und zeigt mit dem Finger auf den ers-
rungssprecher, dann entdeckt er die Frau, tische Lage. ten Absatz. „Und das hier?“, fragt sie und
die er sucht. Heusgen geht leise zu Beate Baumann hört konzentriert zu. Ein Jour- blickt Heusgen an. Heusgen flüstert ein
Baumann, er bückt sich und zeigt ihr sei- nalist will wissen, ob der Klimaschutz paar Sätze. „Okay, sehr schön“, sagt Bau-
ne Notizen. das wichtigste außenpolitische Thema für mann. „Das machen wir so.“ Heusgen ver-
Heusgen ist Angela Merkels außenpoli- Merkel sei. Baumann schüttelt den Kopf. schwindet so leise, wie er gekommen ist.
tischer Berater. Baumann ist die Bürolei- „Nein“, sagt Merkel, „es gibt Iran, den Merkel muss am Abend ihre erste Rede
terin der Kanzlerin. Sie sitzt gerade im Nahen Osten, Nordkorea.“ Baumann ent- vor den Vereinten Nationen halten. Es ist
22. Stock des Deutschen Hauses in New spannt sich, es war die richtige Antwort. ein wichtiger Auftritt, es geht um Klima-
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Würze, einem Schuss Schröderscher Ver- zusammenstellte. An Roland Koch zum
spieltheit. Das alles zusammen ergibt Mer- Beispiel, der alles und jeden am liebsten
kels Milieu. brutalstmöglich erledigt. Oder an Gerhard
Schröder, den ein Hormonstoß bei seinem
nicht reden, wirken sie merkwürdig uner- politische Agenda“, sagt Weidmann. Er
wachsen, mehr wie Jungen als Männer. lächelt viel, vor allem wenn er über die
Heusgens Stimme ist sanft, was durch Zusammenarbeit mit Heusgen und Corse-
den Singsang seiner rheinischen Heimat pius redet. Sie gehen manchmal zusam-
Büroleiterin Baumann, Kanzlerin Merkel noch betont wird. Er ist für die kniffligen men essen, sie reden über die Arbeit und
Themen zuständig, er kümmert sich um über ihre Kinder. Die drei haben sich ver-
das Verhältnis zu China und Russland, den sprochen, Konflikte freundschaftlich bei-
schutz, die Reform des Sicherheitsrats und Konflikt mit Iran, den Nahen Osten. Er re- zulegen. Bislang funktioniert das.
Iran. Die Rede ist in großen Teilen von det viel von wertegebundener Außenpoli- Das ist bemerkenswert, weil die Kon-
Heusgen und seinen Mitarbeitern geschrie- tik und davon, dass deutsche Außenpolitik flikte zwischen den Spitzenbeamten fast
ben worden. europäisch verankert sein müsse. Heusgen schon zum Selbstverständnis des Kanzler-
Das letzte Wort aber hat Baumann. Sie spricht so, wie sich die Neokonservativen in amts gehören. Kohls Abteilungsleiter muss-
entscheidet alle wichtigen Dinge, die Mer- den USA den europäischen Wischiwaschi- ten zeitweise gezwungen werden, mitein-
kel betreffen. Sie hat die zentralen Reden Diplomaten vorstellen. ander zu sprechen. Die Zahl der Selbst-
Merkels der vergangenen zehn Jahre redi- Seine Bilanz sprach aus Merkels Sicht darsteller auf den Spitzenposten des Amts
giert. Heusgen weiß sehr genau, wer im für ihn. Er hatte als Stabschef von Javier ist traditionell hoch.
Kanzleramt das letzte Wort hat. Manch- Solana, dem Außenbeauftragten der Euro- Die Männer in Merkels Nähe sind an-
mal sogar das allerletzte Wort nach der päischen Union, die Außenpolitik der EU ders, uneitel – oder sie lassen sich ihre Ei-
Bundeskanzlerin. maßgeblich mitgeprägt: vom militärischen telkeit zumindest nicht anmerken. „Es ist
Baumann und Heusgen gehören zu Mer- Einsatz in Mazedonien bis zur erfolgrei- keine nach außen gerichtete Eitelkeit“, sagt
kels Kerntruppe. Einige Abteilungsleiter chen Vermittlung bei der orange Revolu- einer von ihnen. „Wir befriedigen unsere
zählen noch dazu, der Kanzleramtschef tion in der Ukraine. Eitelkeit aus anderen Quellen.“
und der Regierungssprecher. Es ist nicht Merkel kannte Heusgen kaum, als sie Aus der Fürsorge der Kanzlerin beispiels-
mehr das Girlscamp, die Frauengruppe, ihn zu ihrem Chefberater machte. Ähnlich weise. Einmal musste sie Heusgen kurz ab-
die einst mit Merkel berühmt wurde. Die war es bei Weidmann und Corsepius, den fertigen, als er zu ihr ins Büro kam, weil sie
Männer sind jetzt in der Mehrheit, aber anderen wichtigen Abteilungsleitern. Weid- einen dringenden Termin hatte. Am folgen-
der Boss im Kanzleramt ist eine Frau, mann war Abteilungsleiter bei der Bundes- den Morgen bekam er eine SMS von der
Beate Baumann. bank, Corsepius hatte schon unter Helmut Kanzlerin: Es sei gestern etwas kurz ge-
Schon das zeigt, dass die Bundeskanz- Kohl und Gerhard Schröder im Kanzler- wesen, sie würde sich gern ausführlicher
lerin eine ganz eigene Truppe um sich amt gearbeitet. mit ihm über das Thema unterhalten.
geschart hat, eine Mischung aus Klug- Man kann sich vorstellen, an welche Merkels Berater dürfen nur nach innen
heit, Härte, Leisetreterei und, wie zur Männer Merkel dachte, als sie ihr Team stark sein. Das ist der Preis, den sie für
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ihre Nähe zur Macht zahlen müssen. Als
M . KÜNZEL
Schröder Kanzler war, musste ein Abtei- Büro der Büro des
Kanzlerin Kanzleramtschefs
lungsleiter gehen, weil er im Regierungs-
flugzeug gepöbelt und lautstark Kaviar ver-
langt hatte. Bei Merkel käme niemand auf
die Idee, nach Kaviar zu brüllen.
K. - B. K AR WAS Z
Kanzleramtschef.
Chef des Bundes- Leiterin des
Beate Baumann begrüßt den Besucher kanzleramts Kanzlerbüros
in ihrem Vorzimmer. Es herrscht eine un-
wirkliche Ruhe im Kanzlertrakt, die Tep- Matthias Graf
piche schlucken die Schritte der Mitarbei- von Kielmansegg
ter, und von den anderen Büros dringt kein ABTEILUNGSLEITER Leiter des Stabes
Politische Planung
Laut herüber. Das Leben draußen wirkt Christoph Heusgen Die 7. Etage
P. GRIMM/D PA
schwarze Slipper. „In ein paar Minuten“, Europapolitik 2 Leiterin des Kanzlerbüros
sagt Merkel. „Ich muss noch etwas mit Ih- 3 Büro des Kanzleramtschefs
nen besprechen.“ Jens Weidmann
Merkel und Baumann sehen sich meist Wirtschafts- und
drei- bis viermal am Tag, manchmal nur für Finanzpolitik CDU BUNDESPRESSEAMT
wenige Minuten. Ihre Büros liegen an ei-
M. DARC HINGE R
M. URBAN
PLAMBE C K /LAIF
nem Gang, zwischen ihnen sitzt Baumanns Michael Wettengel
Stellvertreter Thomas Romes. Die Türen Zentralabteilung, Innen- und Rechtspolitik
zwischen den Büros sind immer offen. Ulrich Roppel
Baumanns Nähe ist wichtig für Merkel. Sozial-, Gesundheits-, Arbeitsmarkt-,
Infrastruktur- und Gesellschaftspolitik
Niemand kennt sie so gut wie sie, keiner
hat einen solchen Einfluss auf die Kanzle- Klaus-Dieter Fritsche Ronald Pofalla Ulrich Wilhelm Thomas Steg
rin. Dass die beiden Frauen an diesem Tag Bundesnachrichtendienst; Koordinierung Generalsekretär Regierungssprecher stellv. Regie-
gleich gekleidet sind, ist Zufall, aber es sagt der Nachrichtendienste des Bundes rungssprecher
etwas aus über das Verhältnis der beiden.
Vor mehr als 15 Jahren haben sie sich Baumann redet schnell und präzise, sie Mit Baumann ist Merkel weit gekom-
kennengelernt, Merkel war Familienminis- hat keine Zeit zu verschenken. Geschwafel men, aber es hat auch Nachteile, dass sie
terin und gerade zur stellvertretenden hasst sie, auch da gleicht sie ihrer Chefin. sich vor allem auf ihre Büroleiterin ver-
Parteivorsitzenden aufgestiegen. Sie frem- Baumann ist es egal, mit wem sie sich an- lässt. Die Kanzlerin ist keine begabte Red-
delte noch in der CDU und suchte einen legt, wenn sie Merkel schützen will. nerin, ein guter Redenschreiber könnte
Mitarbeiter für das Konrad-Adenauer- Im Wahlkampf hat sie einmal den ihren Auftritten vielleicht ein bisschen
Haus. Christian Wulff, der heute Minister- damaligen CDU-Generalsekretär Volker Glanz verleihen. Baumann sorgt vor allem
präsident von Niedersachsen ist, empfahl Kauder aufgefordert, eine Presseerklärung dafür, dass Merkels Reden auch den Mer-
Baumann, die Anglistik und Germanistik richtigzustellen. Kauder tobte, er sei ge- kel-Sound haben. Dabei ist dieser Sound,
studiert hatte und in der Jungen Union ak- wählter Abgeordneter und habe schließ- eine Mischung aus Politikerjargon und
tiv war. lich das Mandat eines Parteitags. Am Ende Volkshochschulrhetorik, Teil des Problems.
Die Frauen verstanden sich auf Anhieb. hat er klein beigegeben. Die Frauen sind sich so ähnlich, dass
Sie waren sich schon äußerlich ähnlich: Merkel spricht jede wichtige Entschei- Baumann Merkels Schwächen verstärkt,
praktische Kurzhaarfrisur, kein Make-up dung mit ihrer Büroleiterin ab. Als der statt sie auszugleichen. Merkel hatte sich
und ein eher spröder Charme. Sie verbin- Dalai Lama um ein Treffen mit Merkel bat, lange geweigert, an ihrem Äußeren etwas
det zudem eine gemeinsame Abneigung plädierte Baumann dafür, ihn ins Kanzler- zu ändern. Sie schminkte sich nicht für
gegen alles Aufgesetzte und Zeremonielle. amt einzuladen. Die außenpolitischen Ex- kurze Statements, sie kleidete sich in un-
Baumann hat sich einen nüchternen perten im Amt hätten einen anderen Ort vorteilhaften Farben, es waren Dinge, auf
Blick auf die Politik bewahrt. Wenn die bevorzugt. die es ihrer Meinung nach nicht ankam.
44-Jährige über gewisse Rituale spricht, die Baumann setzte sich durch, wie so oft. Baumann, ein ähnlicher Frauentyp, be-
unter den Männern in der Politik üblich Die Folge ist das, was Außenminister stärkte sie in dieser Sicht. Dafür musste
sind, bekommt ihre Stimme einen belus- Frank-Walter Steinmeier als „schwerwie- Merkel einen Preis zahlen.
tigten Ton. Das kennt man auch von der gende Turbulenzen“ im Verhältnis zu Chi- Dennoch hat Merkel ihre Macht mit
Kanzlerin. na beschreibt. Baumanns Hilfe schneller gefestigt als jeder
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Deutschland
andere Kanzler seit Konrad Adenauer. Der Wutausbruch galt nicht dem Spre- aber er muss noch ins Büro. Auf seinem
In der Union traut sich niemand mehr, cher, sondern Merkel. Beate Baumann ist Tisch liegen jede Menge Akten. Es sei für
gegen ihre Politik aufzumucken. Das er- die Frau, der selbst die Kanzlerin gehorcht. ihn kein Problem, dass er oft nicht erkannt
leichtert das Regieren, beschränkt es aber werde, sagt de Maizière. Ein Kanzleramts-
zugleich.
Das System Baumann hält nicht nur
Kritik von Merkels Machtuniversum
T homas de Maizière will zum Abflugs-
gate, aber der Sicherheitsbeamte be-
steht auf dem üblichen Verfahren. Er soll
minister mache seine Sache dann ordent-
lich, wenn er nicht auffalle.
So, wie er es sagt, klingt es nicht kokett.
fern, sondern auch Anregungen, Ideen, seine Jacke ausziehen und durch das Rönt- De Maizière ist freundlich, aber zurück-
Alternativen. Es ist ein perfektes System gengerät schicken. Für den Chef des Kanz- haltend, ja spröde. Seine rechteckige Bril-
für eine Kanzlerin, die die Tagespolitik leramts gelten die Regeln eigentlich nicht. le lässt ihn streng wirken. Er redet sehr
reibungslos abwickeln will, aber nicht De Maizière winkt ab, als seine Referentin ruhig, ein Mann für den politischen Small
mehr. die Sache klären will. „Lassen Sie, wir ma- Talk ist er nicht. De Maizière sieht sich
Vor einiger Zeit trat ein CDU-Sprecher chen das schnell so.“ gern als den Typ, der wichtige Dinge effi-
nach einer Fraktionssitzung auf Merkel zu, Der Sicherheitsbeamte merkt nicht, mit zient und geräuschlos erledigt.
um mit ihr eine Pressemitteilung abzu- wem er es zu tun hat. De Maizière ist einer Er kann die Funktion des Kanzleramts-
stimmen. „Das kann ja wohl nicht sein, der wichtigsten Minister der Regierung, chefs und seine Rolle in der Großen Ko-
dass Sie das jetzt auch noch machen“, aber ein ziemlich unbekannter. alition sehr eloquent beschreiben. Der
zischte Baumann und zog dem Mann die An der kleinen Flughafenbar bestellt er Chef BK, wie sie ihn alle nennen, muss
Pressemitteilung aus der Hand. „Das ma- sich ein alkoholfreies Bier. Es ist schon die Interessen der Ministerien ausgleichen,
chen wir jetzt nicht.“ Abend, er hätte jetzt gern ein richtiges Pils, er muss vermitteln und Entscheidungen
vorbereiten. Das ist ziemlich unglamourös,
aber wichtig.
Es lief gut, als es darum ging, möglichst
unauffällig zu regieren. Die Rede eines Um-
weltministers glätten, eine Grundsatzposi-
tion zum Mindestlohn vorbereiten, diese
Dinge. Es lief, solange beide Regierungs-
parteien nicht wussten, wohin sie eigentlich
wollten, als es für Merkel das wichtigste
Ziel war, keine Angriffsfläche zu bieten.
Seit einiger Zeit ist das anders. Die SPD
rückt nach links, und die CDU weiß noch
nicht, wie weit sie nachrücken soll.
De Maizière leert sein Glas und kommt
auf die Politik im Allgemeinen zu sprechen.
Plötzlich klingt er lebhafter, engagierter. Es
geht um Dinge wie Führung und Wahrhaf-
tigkeit. Man spürt eine Sehnsucht nach
mehr als dem täglichen Planen, Koordinie-
ren und Verwalten. De Maizière war in Sach-
sen auch Finanz-, Justiz- und Innenminister.
Er ist ein Politiker, der in Berlin die Arbeit
eines Beamten erledigt. Für einen Mann
mit seinen Ambitionen ist das zu wenig.
Atombombe im Gully
merkte man es sofort, schon an den mar-
kanten Gesichtszügen.
Steg ist stellvertretender Regierungsspre-
cher, und der wird von der SPD gestellt. Er
war in den vergangenen Jahren der eigent- Eine Gruppe von Hobby-Historikern spürt die Reste der Festung
liche Sprecher der rot-grünen Regierung.
In der Schar der netten, beflissenen Deutschland auf: geheime Kriegsanlagen,
Merkel-Leute fällt Steg auf. Er ist auch die einst den Vormarsch sowjetischer Panzer stoppen sollten.
nett, aber auf eine wölfische Art. In Steg
D
spiegelt sich Schröder, so wie sich Merkel ie normalen Autofahrer werden welchem Grad das Land militarisiert war“.
in ihren Mitarbeitern spiegelt. sich wenig dabei gedacht haben, Der Unternehmer aus Bispingen betreibt
Ulrich Wilhelm, der Regierungssprecher, wenn sie einen der unauffälligen im Internet die Seite lostplaces.de und
mag Steg nicht. Der erwidert Wilhelms VW-Bullis irgendwo am Straßenrand be- dokumentiert dort die oft überwucherten
Gefühle. Wilhelm ist ein smarter Münch- merkten. Ein paar Männer schraubten oder verschütteten Militärspuren aus der
ner, der aussieht wie ein Skilehrer. Er hat dann für gewöhnlich an Gullydeckeln her- Nachkriegszeit.
eigentlich keinen Grund, auf Steg eifer- um, inspizierten darunterliegende Schäch- Akribisch tragen er und andere Fans der
süchtig zu sein. te und verschwanden wieder. Fragte ein „vergessenen Plätze“ Dokumente, Fotos
Wilhelm hat einen besseren Zugang zur Passant nach, gaben sich die Spezialisten und Berichte zusammen: Aufgegebene
Kanzlerin. Merkel vertraut ihm und hört meist nebulös als Techniker aus. Autobahnteilstücke, verwaiste Flugplätze,
auf seinen Rat. Was ihm fehlt, ist das In Wahrheit gehörten die Männer zu ins Nichts führende Schienenstrecken und
Stückchen Verschlagenheit, das man als den sogenannten Wallmeister-Einheiten überwucherte Bunker haben es der „Inter-
Sprecher manchmal braucht. der Bundeswehr. In der Zeit des Kalten essengemeinschaft für historische Militär-,
Auch Merkel ist aufgefallen, dass die in- Krieges standen die Wallmeister bereit, um Industrie- und Verkehrsbauten“ angetan.
teressanten Formulierungen, die die Me- an strategisch wichtigen Punkten Deutsch- Mit Militaria-Freaks wollen sie nichts zu tun
dien aufgreifen, oft von Steg kommen. Er lands Infrastruktur in Trümmer zu legen, haben, es geht ihnen um den Spaß an der
kann einer Geschichte Spin geben, die Tat-
sachen so drehen, dass sie in einem etwas
anderen Licht erscheinen. Wilhelm tut sich
damit schwer.
Steg hat Unionsfraktionschef Volker
Kauder öffentlich zurückgepfiffen, als der
in einem Interview Vorschläge zur Ge-
sundheitsreform machte. Er hat die CDU-
Minister Wolfgang Schäuble und Franz
Josef Jung im Namen der Kanzlerin gerügt.
Wenn Merkel eine öffentliche Diskussion
MICHAEL GRUBE (L.); WOFLGANG SINGER (R.)
flößend. Mit Tausenden Panzern würden nach Westdeutschland überführt – für die Transportflugzeuge auf der A 29 bei Ol-
die Truppen des Warschauer Pakts den auf den regulären Basen gar kein Platz ge- denburg. „Kein Problem“, lautete das Fa-
Westen angreifen und schnell bis an den wesen wäre. Zudem gingen die Planer da- zit der Piloten in ihrem Bericht.
Rhein vorstoßen, so erdachten die Nato- von aus, dass die Sowjets militärische Flie- Auch das Bundeskabinett, damals noch
Planer den Tag X. Um Zeit für das Einflie- gerhorste als Erstes angreifen würden. in Bonn, erhielt eine eigene Geheimlan-
gen der US-Reserven zu gewinnen, sollten Bei der Suche nach einer Lösung des Pro- debahn – 1973 wurde ein Streckenabschnitt
nicht nur einfache Sprengstoffladungen ge- blems konnte die Bundeswehr auf frühere der A61 bei Gelsdorf im Rheinland als Not-
zündet werden, um Verkehrswege für den Erfahrungen zurückgreifen: Am Ende des flugplatz hergerichtet. In der Nähe lag die
Feind unpassierbar zu machen. Es gab so- Zweiten Weltkriegs nutzte die Wehrmacht „Dienststelle Marienthal“, jener Atom-
gar US-Planspiele, größere Brücken, Tun- geeignete Strecken auf den „Reichsauto- bunker in der Ahr-Eifel, von dem aus der
nel oder ganze Häfen und Güterbahnhöfe bahnen“, nachdem die regulären Flugplät- Kanzler das Schlachtfeld Deutschland wei-
mit Atomminen zu zerstören. ze bombardiert worden waren. ter regieren wollte.
Die kleinste Atomic Demolition Muni- Schon bei der Planung neuer Autobahn- Auch Eisenbahnstrecken und Wasser-
tion (ADM) hatte den Durchmesser einer strecken saßen im Kalten Krieg deshalb straßen hatten die Planungsstäbe im Blick.
Großpizza (40 Zentimeter) und wog 68 Ki- meistens Beamte des Verteidigungsminis- So durfte die Bahn jahrzehntelang nur
logramm. Sie hätte die Sprengkraft von bis teriums mit am Tisch, um ihre Wünsche Strecken stilllegen, wenn die Bundeswehr
zu 1000 Tonnen TNT entwickelt – und die durchzusetzen. Das führte dazu, dass aus zustimmte. Denn manche Bahntrasse war
Umgebung verstrahlt. militärischen Erwägungen ganze Trassen vielleicht unrentabel in Friedenszeiten –
Wo genau die Mini-Atombomben zum anders durch die Republik verlegt wurden, aber fest eingeplant für Nachschub- oder
Einsatz kommen sollten, ist ungewiss – die als sich die Verkehrsplaner das dachten. Panzertransporte im Kriegsfall. Der CSU-
Pläne unterliegen bis heute der Geheim- Denn die Generäle brauchten für ihre NLP Politiker Gerold Tandler forderte zu Be-
haltung. Mit Ende des Kalten Kriegs wur- etwa drei Kilometer lange, möglichst ebe- ginn der achtziger Jahre noch den Aus-
den die ADM aus den Depots der US-Ar- ne Geraden – natürlich ohne Brücke auf bau des hochumstrittenen Rhein-Main-
mee in Deutschland entfernt. dem gesamten Abschnitt. Donau-Kanals mit der Begründung, dieser
Mitunter ließen sich die Wallmeister- Grubes Spurensucher haben die 24 ge- habe „strategische Bedeutung“ als Pan-
Ingenieure auch weniger explosive Sperr- tarnten Pisten im Westen identifiziert, sie zersperre und zur „Heranführung von Re-
techniken einfallen. So wurden am Ein- sind aber auch nicht allzu schwer zu serven“.
gang des Hamburger Elbtunnels noch im erkennen: Die Mittelstreifen wurden dort Seit der Wende gehören die Spreng-
Dezember 1989 gewaltige Betonklötze auf nicht begrünt, sondern durchbetoniert, fallen wie auch die Autobahnflugplätze
Querträgern über der Fahrbahn ange- die Leitplanken nur im Boden eingesteckt, der Vergangenheit an. Nach und nach wer-
bracht. Wären die Russen gekommen, hät- um sie schnell demontieren zu können. den Hohlräume und Schächte an Brücken
ten Pioniere die Träger gesprengt. Mehre- An beiden Enden der einstigen Notpisten und Tunneln beseitigt. Die Bundeswehr
re jeweils 107 Tonnen schwere Betonteile liegen bis heute seltsam überdimensio- hat auch mehr Fliegerhorste, als sie
hätten sich in die sechs Meter tiefer lie- nierte Parkplätze – im Kriegsfall Abstell- benötigt.
gende Fahrbahn gebohrt und die Verbin- flächen für Flugzeuge. Bei einigen wur- Nur auf der A 7 in Schleswig-Holstein,
dung unter der Elbe blockiert. den Fernmeldekästen, Kabelschächte und in der Nähe von Jagel, scheint der Kalte
Dabei überlegte sich die Bundeswehr Stromanschlüsse installiert. Innerhalb von Krieg noch nicht beendet. Dort befindet
nicht nur, wie sie möglichst effektiv den 24 Stunden hätte die Bundeswehr mobile sich der Autobahn-Notlandeplatz „I/1“, in
Feindverkehr behindern könnte. Auf der Tower, Radargeräte und Pistenbeleuchtung unmittelbarer Nachbarschaft zum Flieger-
anderen Seite trachteten die Militärs da- montieren können. Ähnliche Plätze gab es horst Jagel. Eigentlich ein „lost place“, die
nach, Ausweichmöglichkeiten für sich zu auch in der DDR. Dort richteten Kollegen Abstellflächen für die Düsenjäger sehen
schaffen – insbesondere für die Jets der von der gegnerischen Seite ein Dutzend aus wie Autobahnparkplätze. Doch vor
Luftwaffe und ihrer Alliierten. Autobahnabschnitte ein, die sie für Mi- kurzem bemerkte Grube, dass dort die An-
Bereits in den sechziger Jahren mach- litärflugzeuge nutzen konnten. schlusskästen für das militärische Gerät im
te sich die Führung Gedanken, wie sie Das Konzept funktionierte, jedenfalls in Kriegsfall noch intakt sind. Und die Zu-
Autobahnabschnitte als „Notlandeplätze“ Friedenszeiten: Bei der letzten westdeut- wege, die andernorts längst überwuchert
(NLP) präparieren könnte. In einer Krise schen Großübung „Highway 84“ landeten sind, wurden bei Jagel noch im Herbst
hätte die Nato Hunderte Kampfflugzeuge im Frühjahr 1984 mehrere Düsenjäger und gründlich gemäht. Per Hinrichs
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Deutschland
POLEN
französischen Verhältnis. Das ist aber eben Aber nun wissen wir ja, dass auch in einem
doch nicht so einfach. Ein Teil der polni- vereinigten Europa die Nationalstaaten
schen Gesellschaft hat noch erhebliche ihre Entscheidungen eigenständig treffen,
Vorbehalte gegen alles Deutsche. Es war und die Interessen Deutschlands sind nicht
vielleicht notwendig, dass in den vergan- immer identisch mit denen Polens. Darauf
genen Jahren bei uns die ganze polnische waren wir alle nicht gut vorbereitet.
Wirklichkeit offenkundig wurde. Dazu SPIEGEL: Aber hat die kürzlich abgewählte
Reiter, 55, war von den siebziger Jahren gehört eben auch, dass diejenigen zu Wort polnische Regierung nicht diese Differen-
an Redakteur oppositioneller Zeitschrif- kamen, die Angst vor Deutschland haben. zen absichtlich hochgespielt, wie etwa im
ten. Von 1990 bis 1995 diente er als polni- SPIEGEL: In den neunziger Jahren sah es Zusammenhang mit der Ostsee-Pipeline
scher Botschafter in Deutschland. Die zunächst so aus, als würden diese Ängste zwischen Deutschland und Russland? Es
vergangenen zwei Jahre vertrat er War- allmählich abgebaut. gab doch etliche Versuche, die Bedenken
schau in Washington. Reiter: Wir haben da vielleicht in einer Art der Polen ernst zu nehmen und ihnen ent-
Täuschung gelebt. Der Ton des deutsch- gegenzukommen. Ohne Erfolg.
SPIEGEL: Herr Reiter, vor ein paar Tagen polnischen Gesprächs wurde von einer Eli- Reiter: Ja, das war sicher so. Aber es gibt
sind die Grenzkontrollen zwischen Polen te diktiert, und diese Elite hat es nicht ge- ein reales Problem dahinter: Natürlich
und Deutschland gefallen. Beide Länder schafft, die Stimmungen derjenigen, die könnten wir uns irgendwie an dem Pro-
sind in EU und Nato, mehr Integration unsicher waren, wahrzunehmen und auf- jekt beteiligen und bekämen dann das
geht kaum. So richtig gute Stimmung will zugreifen. Für viele Polen ist Deutschland Gas aus Deutschland und wären nicht von
östlich und westlich von Oder und Neiße gleich Europa. Die Probleme mit Deutsch- Russland abhängig. Aber: Politisch würde
trotzdem nicht aufkommen. Was läuft da land spiegeln die Probleme mit Europa wi- es bedeuten, dass Deutschland und Russ-
falsch? der. Die meisten Polen sind durchaus EU- land Tatsachen schaffen, und Polen darf
Reiter: Für mich ist das Reisen ohne Gren- enthusiastisch. Eine Minderheit, aber eine sich dann anschließen. Ich verstehe sogar,
zen zwischen Polen und dem Rest Europas beachtliche, tut sich allerdings noch schwer dass Deutschland Polen wirklich helfen
einer der Höhepunkte in meinem Leben. damit, in einem offenen Raum zu leben, will. Das ist aber – polemisch ausgedrückt
Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich ohne schützende Grenzen. Solche Ängste – eine Politik der Fürsorge, nicht der Part-
zu kommunistischen Zeiten um den Pass gibt es auch in anderen europäischen Län- nerschaft. Wir wollen aber nicht ein Land
kämpfte und jahrelang Absagen sammelte. dern. In Polen haben sie – aus historischen sein, für das Deutschland sorgt. Und noch
Was das Verhältnis zwischen Deutschland Gründen – besonders viel mit Deutschland eines: Je mehr bilaterale Absprachen mit
und Polen angeht, muss man indes davon zu tun. Russland es gibt, umso unwahrscheinlicher
ausgehen, dass das Vertrauen auf beiden SPIEGEL: Sie und andere haben ja schon wird eine gemeinsame europäische Ener-
Seiten fragil ist. früh vor einer Routine der Versöhnung ge- giepolitik, die wir dringend brauchen. Die-
SPIEGEL: Fragil ist untertrieben, es knirscht warnt, vor einer Fassade der Sonntags- se Kritik bedeutet aber nicht, dass wir kei-
und kracht doch immer noch vernehmlich. reden und Bürgermeistertreffen, hinter der nen Kompromiss finden können.
Reiter: Nach der Parlamentswahl im ver- alte Ängste weiter bestünden. Was hätte SPIEGEL: Es war ja nicht nur die Pipeline,
gangenen Oktober haben wir auf der Ebe- man anders machen müssen? die für schlechte Stimmung sorgte. Regel-
ne der Politik wieder ein besseres Klima, Reiter: Ich denke nicht, dass die Politik der mäßig wurde von Regierungsvertretern in
das muss sich jetzt noch in konkreten beiderseitigen Annäherung in den neunzi- Warschau auch die Gefahr eines deutschen
Entscheidungen niederschlagen. Ich habe ger Jahren falsch war. Ich glaube nur, dass Geschichtsrevisionismus beschworen. Dass
während meines Aufenthalts in den Ver- diese Politik ihre Grenzen erreicht hatte, die Deutschen sich nicht mehr als Täter,
einigten Staaten ein bisschen Abstand be- als sie ihren größten Erfolg feierte: den sondern zunehmend als Opfer des Zweiten
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schichte des 20. Jahrhunderts nicht anderen
überlassen.
SPIEGEL: Wäre denn die Zeit schon reif für
ein gemeinsames Erinnern von Deutschen
und Polen, dass also Täter und Opfer eine
Gedenkstätte hätten?
Reiter: Ich kann mir sogar sehr gut vor-
stellen, dass es in Berlin ein Museum des
Weltkriegs gibt, von Deutschen gestaltet
in enger Kooperation mit polnischen His-
torikern. Ich kann mir vorstellen, dass dort
auch die Vertreibungen dargestellt werden.
Wir waren ja schon mal so weit, dass ein
Gespräch über die Vertreibungen zwischen
Polen und Deutschen völlig normal war.
Wir sind wieder dahinter zurückgefallen.
Das war aber kein Anfall von historischer
Obsession in Polen, sondern das hatte ei-
nen realen Hintergrund.
SPIEGEL: Und der wäre?
Reiter: Eben der Versuch, die Vertreibung
als die zentrale historische Erfahrung dar-
zustellen und mit einem Berliner Zentrum
aus dem Kontext des Zweiten Weltkriegs
AMW PRESSEDIENST
zu lösen.
SPIEGEL: Nun kann man den Deutschen
nicht unterstellen, sich zu wenig mit Na-
tionalsozialismus und Kriegsschuld aus-
Deutscher Überfall auf Polen 1939*: „Erhebliche Vorbehalte gegen alles Deutsche“ einandergesetzt zu haben.
Reiter: Ja, aber man darf nicht außer Acht
Weltkriegs sähen und ihr ehemaliges Ter- immer, dass die künftigen Generationen lassen, dass sich das historische Bewusst-
ritorium im Osten zurückhaben wollten. in Deutschland die Vertreibungen ohne sein der kommenden Generationen jetzt
Reiter: Ich mag diese Rhetorik ganz gewiss den Zusammenhang der deutschen Kriegs- in einem völlig veränderten weltpolitischen
nicht. Aber man muss die Probleme und schuld betrachten und falsche Schlüsse Umfeld neu gestaltet.
Ängste dahinter wahrnehmen, auch wenn daraus ziehen. Der Vorschlag von Tusk si- SPIEGEL: Hat nicht auch Polen versäumt,
einem der Ton der Diskussion nicht gefällt. gnalisiert aber vor allem: Wir wollen und in den letzten zwei Jahren eine Alternative
SPIEGEL: Welche ernstzunehmenden As- können die Deutungshoheit über die Ge- zum „sichtbaren Zeichen“ in Berlin vor-
pekte haben die Vorwürfe denn?
Reiter: In Deutschland hat sich doch in der
Tat die Wahrnehmung der Geschichte ver-
ändert. Die Vertreibungen, der Bomben-
krieg rückten ins Blickfeld. Viele bei uns
haben das gespürt und Angst bekommen.
Ich weiß, dass Polen nicht ewig einen mo-
ralischen Bonus in der deutschen Politik
erwarten kann. Das wäre unrealistisch. Ich
muss aber gestehen: Der Gedanke, dass es
in 15 Jahren in Berlin mit dem Holocaust-
Mahnmal und dem Zentrum gegen Ver-
treibungen nur zwei historische Symbole
von überragender Bedeutung geben sollte,
beunruhigt mich. Eine gewisse Sensibilität
für die Geschichte ist auch heute noch Vor-
aussetzung für ein gutes Verhältnis zwi-
schen unseren Ländern.
SPIEGEL: Der neue polnische Premier Do-
nald Tusk hat als Alternative zum Zentrum
gegen Vertreibungen vorgeschlagen, in
Danzig ein Museum des Zweiten Welt-
kriegs zu errichten.
Reiter: Diese Idee ist nicht ganz neu. Der
WAJSZCZAK / REPORTER / EASTWAY
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Deutschland
anzutreiben, wie es von der SPIEGEL: Wie soll sich das än-
Vertriebenenpräsidentin Eri- dern?
ka Steinbach, aber auch von Reiter: Wir müssen unseren
Kanzlerin Angela Merkel ge- außenpolitischen Blick erwei-
fordert wird? Warschau hat- tern. Dafür sind die USA
te sich in der Vergangenheit wichtig. Amerika mag ge-
dafür ausgesprochen, ein ge- schwächt sein, es mag schwe-
meinsames „Netzwerk Soli- re Fehler machen. Das ist
darität und Erinnerung“ zu kein idealer Partner, aber wir
schaffen. Das aber dümpelt leben in einer realen und
vor sich hin. nicht in einer idealen Welt.
Reiter: Diese Kritik muss ich Europa braucht Amerika als
akzeptieren. Wir haben das Partner in der Weltpolitik.
versäumt. Dabei liegt eine Polen und Deutschland ha-
ehrliche Darstellung der Ver- ben eine ganz wichtige Rolle
treibungen absolut in Polens in der transatlantischen Zu-
Interesse. Aber auch die sammenarbeit zu spielen.
Deutschen haben etwas ver- Und zum Glück trennt uns
schlafen und die Debatte Frau unser Verhältnis zu den USA
Steinbach und den Vertrie- anders als noch vor fünf Jah-
benenverbänden überlassen. ren nicht mehr.
Die ganze Sache wurde bei SPIEGEL: Sie waren gerade
len müsse in der EU ein höheres Stimm- deutsche Politik aus. Wie wir künftig ge-
gewicht erhalten, weil es so viele Kriegs- meinsam mit Russland umgehen, ist die
tote zu beklagen hatte, wurde doch von zentrale Frage im deutsch-polnischen Ver-
niemandem in Europa ernst genommen. hältnis. Wenn wir hier zu einer Einigung
Reiter: Geben Sie uns noch ein biss- kommen, haben wir eine große Zukunft
chen Zeit. Das polnische Selbstvertrauen vor uns.
Reiter, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Reiter, wir danken Ihnen für
* Jan Puhl und Hans-Ulrich Stoldt in Warschau. „Wir haben manches versäumt“ dieses Gespräch.
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Deutschland
Spendenskandal, „größtmöglichen
Populismus“, als der gegen jugend-
liche Gewalttäter mit Migrations-
hintergrund zu Felde zu ziehen
begann. Überhaupt, so Steinmeier
plötzlich, werde er „sicher nicht
Sozialdemokrat Steinmeier: „Nicht nur der freundliche Herr vom Auswärtigen Amt“ nur der freundliche Herr vom Aus-
wärtigen Amt sein“.
D
ie Rolle war Frank-Walter Stein- mir“. In einem seiner ersten Interviews als Als „Kammermusiker“ der Koalition
meier zur Natur geworden. Als Vizekanzler gab er vor sechs Wochen im wurde Steinmeier zu Zeiten von Rot-Grün
Staatskanzleichef in Hannover, als SPIEGEL zu Protokoll: „Ich bin kein Kra- bezeichnet. Jetzt spielt er Punk.
Kanzleramtschef in Berlin – fast ein Jahr- wallmacher.“ Sein Wandel ist symptomatisch. Die
zehnt bestand die Aufgabe des Juristen Doch mit rasender Geschwindigkeit Große Koalition aus Union und SPD ist
darin, hinter politischen Raubeinen wie wurde aus dem netten Herrn Steinmeier in eine neue Phase eingetreten, und so
seinem langjährigen Chef Gerhard Schrö- ein parteipolitischer Haudrauf, der kei- viel steht fest: Eine gedeihliche Phase
der herzuräumen und Leute wieder an ei- ne Gelegenheit auslässt, das Motto der wird das nicht. Der Wahlkampf in Hes-
nen Tisch zu holen, die sich heillos zer- SPD-Vaterfigur Johannes Rau in ihr Ge- sen, Niedersachsen und Hamburg lädt
stritten hatten. genteil zu verkehren: Steinmeier spaltet die Atmosphäre auf. Als „gereizt“ be-
Nach dem Ende von Rot-Grün 2005 in der Großen Koalition statt zu versöh- zeichnet SPD-Fraktionschef Peter Struck
wurde aus dem Kabinettsdiplomaten nen. Schon beim SPD-Parteitag in Ham- die Stimmung.
Schröders der Außenminister und Chef- burg fiel er mit der gegen Angela Merkel Wurden bisher – mitunter bemüht – die
diplomat der Bundesrepublik Deutschland gerichteten Bemerkung auf, Menschen- Gemeinsamkeiten betont, tut nun vor
in der Großen Koalition. Das Bündnis, rechtspolitik dürfe „keine Schaufenster- allem die SPD alles, die Unterschiede zur
schrieb er damals für das Parteiblatt „Vor- politik“ sein. Das war noch eine Aus- Union deutlich zu machen. Der Streit ist
wärts“, müsse „eine Koalition der Vernunft einandersetzung auf dem Feld der Außen- nicht mehr der Ausnahme-, sondern der
und Verlässlichkeit sein: pragmatisch, pro- politik. Normalzustand. Merkels Leuten im Kanz-
blem- und sachorientiert“. Inzwischen aber poltert Steinmeier ge- leramt dämmert: In Müntefering ist mehr
Vielleicht, sagte der Nachfolger Joschka gen die Kanzlerin, wo immer es geht. In als ein Mann von Bord gegangen, der es
Fischers an anderer Stelle, „wird die poli- einem Beitrag in der „Welt am Sonntag“ vorzog, der Frau an seiner Seite in schwe-
tische Präsentation etwas nüchterner mit ließ er sich über die Fälle von Kindstötun- rer Zeit beizustehen. In Müntefering ist
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möglicherweise der Geist der Großen mots, zum Beispiel das von der „Kauf-
Koalition verlorengegangen. hausmusik“ oder das der „Kostenstellen
Wie unter diesen Umständen noch ge- mit zwei Ohren“, kommen manchen So-
meinsame Politik gemacht werden soll, fra- zialdemokraten überdies verdächtig be-
gen sich nicht nur die Bürger, sondern auch kannt vor. Sie vermuten hinter dem neuen
die Akteure. Merkels Neujahrsansprache Sound Ulrich Deupmann, früher Par-
mit Blick auf 2008 war auffallend projekt- lamentskorrespondent (auch für den SPIE-
frei. Das Gerangel um den Mindestlohn GEL), jetzt bei Steinmeier offiziell als
Branche für Branche nervt die Union. Die Redenschreiber im Brot. Viele in der SPD
Föderalismusreform II, eine Aufgabe, bei halten ihn für den Einflüsterer, der den