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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung
7. Januar 2008 Betr.: Titel, Merkel, SPIEGEL-Gespräch

D as Tatgeschehen auf dem SPIEGEL-Titel hält, folgt man der Bibel, den ersten
Mord der Menschheitsgeschichte fest – und zeigt in einem Ausschnitt aus Barto-
lomeo Manfredis Gemälde „Kain tötet Abel“ (um 1610) ein Phänomen, das jüngst in
München neue Aktualität gewann: die Gewalt junger Männer gegen Unschuldige. Als
ein Grieche, 17, und ein Türke, 20, dort einen Rentner fast zu Tode geprügelt hatten,
attackierte Hessens Ministerpräsident Roland Koch, 49, flugs das Jugendstrafrecht:
alles viel zu lasch für die „zu vielen kriminellen jungen Ausländer“, schneller wegsper-
ren, möglichst abschieben. War das der pure Populismus eines Wahlkämpfers? Oder
gebieten schon solche Einzelfälle Gesetzesänderungen? Bundesweit sah sich ein Team
von 17 SPIEGEL-Redakteuren in sozialen Brennpunkten um, sprach mit Experten und
besuchte Betreuungseinrichtungen, um herauszufinden, was getan wird oder getan
werden könnte, um das Abgleiten junger Migranten in die Kriminalität zu verhindern.
Titelautor Thomas Darnstädt, 58, hält die von Konservativen geforderte schnelle Ein-
weisung in Erziehungscamps oder ins Gefängnis für einen Irrweg. Gerade ausländi-
sche Kinder und Jugendliche müssten, so der promovierte Jurist, durch nachhaltige
Bildungspolitik integriert werden, „sie wegzusperren führt zu hohen Rückfallquoten
und zerstört gezielt junge Menschen“ (Seite 20).

R
echt unterschiedlich sind die Prinzipien und
Methoden, nach denen Regierungschefs ihre
Macht organisieren. Zu Helmut Kohls Zeiten fielen
Entscheidungen oft im legendären Küchenkabinett,
Gerhard Schröders innerer Zirkel durfte sich in
kakophonem Stimmengewirr ausleben, bevor ein
„Basta!“ ertönte. Kanzlerin Angela Merkel, 53, sagt
SPIEGEL-Redakteur Ralf Neukirch, 42, setze auf
WERNER SCHUERING

Gespräche, habe die Zahl ihrer Berater vergrößert,


treffe aber „wichtige Entscheidungen nach wie vor im
kleinen Kreis“. Monatelang recherchierte Neukirch
im Kanzleramt, begleitete Merkel auf Reisen und
Neukirch, Merkel (in Berlin) kam mit ihrer Entourage ins Gespräch. Sein Fazit:
„Früher wurde ihre nächste Umgebung wegen
der vielen Frauen als Girlscamp verspottet, jetzt ist mehr eine Boygroup daraus ge-
worden“ (Seite 40).

U nbeirrt verfolgt die russisch-orthodoxe Kirche ihren erzkonservativen Kurs, und als
Metropolit Kyrill, 61, religiöser Berater von Präsident Wladimir Putin, im Moskauer
Danilow-Kloster die SPIEGEL-Redakteure Martin Doerry, 52, Christian Neef, 55, und
Matthias Schepp, 43, empfing, hielt er sich nicht zurück. Ausländische Missionare,
klagte der Geistliche, zersetzten unter dem Banner der Liberalität die Moral und
versuchten, „die russischen Menschen
zu ihrem Glauben hinüberzuziehen“.
Kyrill, eine Art Außenminister des
Moskauer Patriarchats und womöglich
nächstes Oberhaupt seiner Kirche, er-
zählte beim Abschied, dass er sich
mehrmals zum Meinungsaustausch mit
der protestantischen Pfarrerstochter
YURI FEKLISTOV

Angela Merkel getroffen habe. In Er-


innerung geblieben sei ihm das „hohe
weltanschauliche und philosophische
Niveau“ der Begegnungen (Seite 104). Neef, Schepp, Doerry, Kyrill (in Moskau)

Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 3
In diesem Heft
Titel

Arbeitsmarkt: Schröders später Erfolg


Jung, männlich, chancenlos – die Wurzeln
der importierten Gewalt ................................... 20
Interview mit SPD-Justizministerin
Seite 85
Brigitte Zypries über das Wahlkampfgetöse Die Arbeitslosigkeit
von Christdemokraten ..................................... 24 sinkt – und wird im
Interview mit Unions-Innenminister neuen Jahr noch weiter
Wolfgang Schäuble über kriminelle Ausländer sinken, obwohl sich die
und nachsichtige Jugendrichter ........................ 32
Konjunkturaussichten
Deutschland eingetrübt haben. Denn
Panorama: SPD-Chef Beck wirft Union „Verrat“ die deutsche Wirtschaft
ist nach Ansicht füh-

KAISER / CARO / ULLSTEIN BILD


vor / Rentenexperte Rürup warnt vor
Altersarmut / Bundeswehrsoldaten fahren render Ökonomen fle-
„Dingo“-Fahrzeuge in Afghanistan zu Schrott ... 17 xibler und widerstands-
Regierung: Wie Angela Merkel im Kanzleramt fähiger geworden – vor
ihre Macht organisiert ...................................... 40 allem dank der Refor-
Zeitgeschichte: Hobby-Historiker spüren men, die unter Kanzler
einst geheime Kriegsanlagen auf ...................... 44
Gerhard Schröder ein-
Außenpolitik: SPIEGEL-Gespräch mit
dem polnischen Ex-Botschafter Janusz Reiter Autoproduktion (in Sindelfingen) geleitet wurden.
über die schwierige Nachbarschaft ................... 48
Koalition: Vizekanzler Frank-Walter
Steinmeier schaltet auf Angriff ......................... 52

Harsche Töne
Aufbau Ost: Berliner Wissenschaftsprojekt
als Jobmotor ..................................................... 54
Städte: Ein mutiger Plan soll das
Seite 52
bitterarme Bremerhaven retten ........................ 56 Seitdem Außenminister Frank-Walter
Gastronomie: Wie rebellische Wirte sich Steinmeier (SPD) Vizekanzler ist, ent-
gegen das Rauchverbot wehren ........................ 60

JENS NEUMANN FUER STERN / VISUM


wickelt er sich zum parteipolitischen
Gesellschaft Haudrauf. Er poltert gegen Kanzlerin
Szene: Menschenähnliche Roboter in Japan / Angela Merkel (CDU), mischt im Land-
Bildband über Pracht und Verfall in Kalkutta ... 62 tagswahlkampf mit und spaltet die Ko-
Eine Meldung und ihre Geschichte – der lange alition. Das irritiert nicht nur die Union,
Heimweg eines Litauers aus Deutschland ......... 63 sondern auch seine eigene Partei.
Kirchen: Das Wirken des Teufelsaustreibers
Gabriele Amorth .............................................. 64 Steinmeier
Ortstermin: Ex-Parteichef Gerhardt attackiert
seinen Nachfolger Westerwelle ......................... 70
Wirtschaft

Havemann gegen Havemann


Trends: Windhorst verheimlichte Konten /
China lenkt im Währungsstreit ein / Trotz
Preisrekord geringere Kosten für Ölimporte ..... 72
Seite 150
Welthandel: In den USA wächst die Angst 25 Jahre nach dem Tod des
vor den Folgen der Globalisierung .................... 74 DDR-Regimekritikers Robert
Gewerkschaften: SPIEGEL-Gespräch mit DGB- Havemann hat dessen Sohn
Chef Michael Sommer über Höchstgehälter für Florian grimmig mit dem Vater
Manager und Mindestlöhne für Arbeitnehmer ... 78 abgerechnet. Das umstrittene
HANS SCHERHAUFER

Arbeitsmarkt: Immer mehr Jobs –


Buch, Titel: „Havemann“, wird
dank der Agenda 2010 ...................................... 85
Unternehmen: Die verunglückte nun von Florians Schwester
Expansionsstrategie des Porzellanherstellers Sibylle in einem Beitrag für
KNOP

Villeroy & Boch ................................................ 86 den SPIEGEL als „gezielt un-


Robert Havemann (1964) Sibylle Havemann aufrichtig“ gegeißelt.
Medien
Trends: Millionen für Geldeintreiber
der GEZ / Casting für TV-Pfarrer ..................... 88
Fernsehen: Vorschau / Rückblick ..................... 89
Musikindustrie: Die Scorpions aus
Hannover begeistern die Massen –
in Kasachstan und Indien ................................. 90
Wer ist witziger? Seite 134
Männer, sagt ein britischer Forscher, haben mehr
Ausland Humor als Frauen. Andere Gelehrte behaupten
Panorama: Paris verweigert Herausgabe das genaue Gegenteil. Fest steht nur, dass die
von Saddam-Reichtümern / Madrid geht gegen Geschlechter über unterschiedliche Witze lachen:
baskische Separatisten vor / Männer mögen derbe Kalauer auf Kosten ande-
Die schlimmsten Flughäfen der Welt ................ 95
PA / INTER-TOPICS

rer, Frauen pflegen eher die Selbstironie und


Kenia: Kibakis Putsch ...................................... 98 amüsieren sich über komische Geschichten.
Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai
über den Ausbruch der Gewalt ....................... 100
USA: Obama und Huckabee verkörpern Komiker Mario Barth
die Sehnsucht nach dem besseren Amerika .... 102
6 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Pakistan: Wer tötete Benazir Bhutto? ........... 103
Russland: SPIEGEL-Gespräch mit dem
Außenminister der Russischen Orthodoxen
Kirche, Metropolit Kyrill, über christliche
Werte, Homosexualität und den Papst ............ 104
Kambodscha: In Phnom Penh müssen
sich die Führer der Roten Khmer für
ihre Schreckensherrschaft verantworten ......... 108
Global Village: Das Leiden der Fußgänger
am New Yorker Times Square ......................... 118
Sport
Szene: Der Rennfahrer Dirk von Zitzewitz
über die Absage der Rallye Dakar /
Riesengeschäft beim anstehenden Transfer des
BONIFACE MWANGI/DPA
Ausschreitungen in Nairobi bulgarischen Stürmers Dimitar Berbatow ........ 119
Skirennen: SPIEGEL-Gespräch mit der
österreichischen Ski-Legende Hermann Maier

Suche nach einem Kompromiss in Kenia Seite 98 über Stürze und Comebacks ........................... 120
Fußball: Rechtsstreit um DFB-Jugendtrainer ... 123
Nach den blutigen Protesten gegen die gefälschte Präsidentenwahl ruhen alle Hoff- Wissenschaft · Technik
nungen auf dem Ausland: Internationale Vermittler versuchen, Staatschef Mwai Kibaki
Prisma: Tricksereien bei Ökostrom-Anbietern /
zu einer Neuwahl oder zur Bildung einer Koalitionsregierung zu bewegen.
Schulverweigerer verlassen Deutschland ........ 124
Bildung: Die Welt-Uni – aus der
Hochschule der Vereinten Nationen soll
eine globale Lehranstalt werden ..................... 126

Sühne für Kambodschas Paläontologie: Ein Saurierfriedhof in


Südengland als Touristenmagnet .................... 128

Völkermord Seite 108 CHOR SOKOUNTHEA / AFP


Katastrophen: Die wahre Geschichte
vom Untergang der „Estonia“ ......................... 132
Verhaltensforschung: Haben Männer
Bis vor kurzem lebten die Täter unbehelligt –
doch jetzt, 29 Jahre nach dem Sturz der Roten mehr Humor als Frauen? ................................ 134
Khmer, soll den Verantwortlichen des Geno- Umwelt: Das Flüstern der Flüsse –
zids der Prozess gemacht werden. Angeklagt: was das Plätschern über den ökologischen
Pol-Pot-Vize „Bruder Nr. 2“ und Duch, der Zustand von Gewässern verrät ....................... 135
Chef des ehemaligen Foltergefängnisses. Duch vor dem Tribunal Kultur
Szene: Regisseur Anton Corbijn über
seinen neuen Film „Control“ / Verwirrung um
Barack Obamas Wahlkampf-Song ................... 137

Der Saurierfriedhof
Literatur: Peter Handkes neue
S. 128 Großerzählung „Die morawische Nacht“ ........ 140
Unveröffentlichte Intimitäten aus
Die Steilküste Südenglands ist eine Halde voll Handkes Tagebüchern ..................................... 143
JOHN CANCALOSI / ULLSTEIN BILD

von Saurierknochen. Kinder, Sammler und Feminismus: Zu ihrem 100. Geburtstag


Forscher wühlen darin nach den Resten der wird Simone de Beauvoir neu bewertet .......... 145
Vorzeit. Ein Mädchen fand hier vor fast 200 Bestseller ...................................................... 146
Jahren Fossilien, die die christliche Lehre von Kino: Interview mit der Schauspielerin
der Schöpfung ins Wanken brachten. Ludivine Sagnier über reife Männer
als Liebhaber .................................................. 147
Ammoniten-Sucher in Südengland Architektur: Das Bauhaus in Dessau sucht
die Wohnung für Hartz-IV-Empfänger ............ 148
Zeitgeschichte: Sibylle Havemann
über den umstrittenen „Tatsachenroman“

Chabrols Muse Seite 147


ihres Bruders Florian ...................................... 150
Nahaufnahme: Wie der
Bildhauer Florian Slotawa seinen Umzug
In Claude Chabrols neuem Film „Die
zum Kunstwerk macht .................................... 154
zweigeteilte Frau“ spielt Ludivine Sagnier
CHRIS JACKSON / GETTY IMAGES

(„Swimmingpool“) eine Wetterfee, die einem


egomanen Alt-Schriftsteller verfällt. Opfer Briefe ................................................................ 8
sei die Frau jedoch „höchstens zur Hälfte“, Impressum, Leserservice ............................ 156
sagt Sagnier im Interview. Bei Chabrol sei Chronik .......................................................... 157
das Opfer eben immer auch Täter. Register ........................................................ 158
Personalien ................................................... 160
Sagnier Hohlspiegel /Rückspiegel ........................... 162
Titelbild: Foto AKG

7
Briefe

tigt und müssen nur zu einem geringen


Teil vom Staat unterstützt werden. Ich
„Die Bush-Regierung mit ihrer gehe davon aus, dass die meisten die Lö-
unbedingten Nähe zu Präsident sung ohne Mindestlohn bevorzugen. Bei
den Briefzustellern mag ein Mindestlohn
Musharraf hat sich in eine aussichtslose keine verheerenden Auswirkungen haben,
Lage manövriert. Wann werden außer einer verfestigten Monopolstellung
der Post. Aber andere Branchen werden
die Amerikaner lernen, dass man nicht nachziehen wollen. Wird überall so ein
gleichzeitig Demokratie predigen und hoher Mindestlohn eingeführt, müsste die
deutsche Volkswirtschaft mit erheblichen
Militärdiktatoren unterstützen kann?“ Schäden rechnen, und alle Erfolge von
Rainer Schmitz aus München zum Titel
Schröders Agenda 2010 wären verspielt.
„Kampf um Pakistan – Alarmstufe Grün. Das Attentat auf Benazir Bhutto – Überlingen (Bad.-Württ.) Tobias Baur
SPIEGEL-Titel 1/2008 Al-Qaida und die islamische Bombe“
Wer Mindestlöhne mit dem Argument
ablehnt, hierdurch würden Arbeitsplätze
vernichtet, müsste konsequenterweise for-
Die beste Hoffnung dern, dass Lohnzahlungen künftig freiwil-
Nr. 1/2008, Titel: Kampf um Pakistan – lige Leistungen der Arbeitgeber darstellen,
Alarmstufe Grün. Das Attentat auf Benazir Bhutto – die auf Wunsch von der Allgemeinheit zu
Al-Qaida und die islamische Bombe übernehmen sind. Wenn neben Subven-
tionen, Steuergeschenken und sonstigen
Wahrlich, Benazir Bhutto war eine charis- Vergünstigungen dem Unternehmen auch
matische Persönlichkeit. Ihr Tod ist ein tra- noch die Bezahlung der Arbeitnehmer ab-
gisches Unglück. Doch sie war nicht die genommen wird, dürfte doch eigentlich der
Zukunft Pakistans, sondern die Vergan- Vollbeschäftigung und einer gesunden
genheit. Zweimal wurde sie wegen Kor- Wirtschaft nichts mehr im Wege stehen!
ruption ihres Amtes enthoben. Ihr Name, Hamburg Michael Jürgens
ihre Elite-Ausbildung, ihr Status als Frau

SHAKIL ADIL / AP
ebneten ihr den Weg, doch ihre Gier und Es mag vielfältige Gründe geben, warum
Bestechlichkeit brachten sie zu Fall. Allen Arbeitgeber so gern 400-Euro-Kräfte be-
Warnungen zum Trotz hielt sie weiterhin schäftigen, das Sparen von Sozialabga-
Massenversammlungen ab. Die Folge war Trauerzug mit Bhuttos Sarg (bei Larkana) ben kann jedoch keiner sein, da diese bei
neben ihrem eigenen Tod der Tod Un- Übrig geblieben ist Chaos einem sogenannten Minijob 30 Prozent
schuldiger. Übrig geblieben ist Chaos in betragen, die der Arbeitgeber vollständig
den Straßen Pakistans – und ihr Sohn, der toren nun diese Tendenz bestätigen oder trägt – während bei einer normalen sozial-
nun zum Spielball der Macht wird. nicht. Natürlich ist bei diesen Themen ei- versicherungspflichtigen Beschäftigung je
Frankfurt am Main Sabiha Khanam niges mit Sorge zu sehen, aber Sie sollten nach Krankenkassenzugehörigkeit des Ar-
eine neutralere Darstellung bevorzugen. beitnehmers die Arbeitgeberbelastung bei
Mit großer Begeisterung habe ich Ihren Borrisokane (Irland) Wolfgang Roedder nur rund 20 Prozent liegt.
Artikel gelesen, der viel Hintergrundwis- Berlin Marion Schulz
sen zu Bhuttos Leben beinhaltet. Auch die
Titelseite hat mir gefallen. Jedoch erscheint Erfolge der Agenda 2010 verspielt? Die Manchester-Kapitalisten vom Schlage
mir etwas merkwürdig: Was in Gottes Na- Nr. 52/2007, Mindestlöhne: Pin speisen tüchtige Mitarbeiter mit Löh-
men ist eine „islamische Bombe“? Die Union freundet sich trotz Pin-Post-Desaster mit nen unter Hartz IV ab. Wer hätte wohl ein
Neu-Isenburg (Hessen) Zohaib Burney einer flächendeckenden Lösung an gutes Gefühl dabei, privaten Postzustellern
wertvolle Sendungen anzuvertrauen, wenn
Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer hervor- Wir stehen vor der Frage: Wollen wir einen diese armen Schlucker vor der Frage ste-
ragenden Pakistan-Geschichte. Ich kenne hohen Mindestlohn und damit mehr Ar- hen, entweder Mundraub zu begehen oder
Bhutto als pakistanischer Staatsbürger und beitslose, die vollständig vom Staat finan- zu verhungern?
aus ihren Jahren im Londoner Exil – keine ziert werden? Oder wollen wir keinen be- Idar-Oberstein (Rhld.-Pf.) Alfred Pfeiffer
internationale Publikation hat ihr Wirken ziehungsweise einen sehr niedrigen Min-
so richtig eingeschätzt wie der SPIEGEL. destlohn? Dies würde bedeuten, diese Wenn sich die Sozialdemokraten jetzt so
Ja, sie war der Spross einer feudalen Herr- Menschen haben Arbeit im Niedriglohn- vehement für flächendeckende Mindest-
scherfamilie; ja, sie war korrupt; ja, sie hat sektor, sind aber den ganzen Tag beschäf- löhne einsetzen und so tun, als hätten sie
als Premier versagt und konnte arrogant
bis zur Unerträglichkeit sein. Aber sie war
zuletzt die beste Hoffnung für uns Paki-
staner – was zeigt, wie wenig Hoffnung wir
Vor 50 Jahren der spiegel vom 8. Januar 1958
Verfassungsklage gegen Bundespräsidenten? Bundesrat verlangt
schon vor ihrer Ermordung hatten. Gehör bei Stiftungsgesetz. Pannen bei der Bundeswehr Lappen in Flug-
London Nawaz Hillal zeugtanks. Stuttgarter Neckarhafen Kostspielige Einweihungsfeier.
US-Konjunkturflaute Rüstungsaufträge für den Aufschwung. Bank-Affäre
in England Verdacht des Geheimnisverrats durch Direktoren. Medizin
Warum hinterlegen Sie Ihre Titelbilder in Hoher Blutdruck am Steuer. Ost-West-Wettlauf beim Film Defa-Astronau-
Schwarz, sobald es um Islam, Koran, Paki- tenprojekt contra Hamburger Dokumentation über Wernher von Braun.
stan oder Ähnliches geht? Ist Ihnen be- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de
wusst, dass Sie damit ohne Not bei vielen oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben.
Lesern eine pauschale Drohkulisse auftun? Titel: General-Intendant Gustaf Gründgens
Der erste Eindruck ist wichtig, ob Ihre Au-
8 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Briefe

das soziale Gewissen der Nation für sich Düsternis und weinerlich-defätistische Mie-
allein gepachtet, dann muss man sie daran sepetrigkeit verbinden, entdecken Ameri-
erinnern, dass es die SPD selbst war, die kas Christen heiter und entspannt in Gott
diese Misere erst herbeigeführt, um nicht das, was er schon immer war: ein weltweit
zu sagen „herbeigehartzt“ hat. Statt das vertriebener metaphysischer Markenarti-
Wohl des eigenen Volkes zu mehren, wur- kel, der mit medienwirksamem Tamtam
den so viele zwangsweise in das soziale unter die Leute gebracht werden muss.
Abseits gedrängt, denen es vorher viel bes- Berlin Wolfgang Gerhards
ser ging. Jeder Arbeiter in Deutschland
muss selbstverständlich von seinem Lohn An diesem Artikel kritisiere ich, dass er
leben, seine Familie ernähren und am nicht zu differenzieren vermag. Mit Si-
sozialen Geschehen teilnehmen können. cherheit wird es schwarze Schafe unter den
Wenn das nicht mehr gewährleistet ist, Predigern geben, die auf das Geld ihrer
stimmt etwas nicht! Herde aus sind. Aus eigener Erfahrung
Bonn Christian Luckner weiß ich aber auch um das soziale Engage-
ment vieler amerikanischer Kirchen.
Die einfachste Lösung wäre es, wie Pro- Eisenach (Thüringen) Johannes Richter
fessor Rürup ausführt, wenn in allen Bran-
chen beispielsweise 4,50 Euro gelten wür- Wie so oft beim SPIEGEL ist das Thema
den. Wichtiger ist aber, wie viel die Ar- Religion einseitig beleuchtet: Was der Au-
beitnehmer netto ausgezahlt bekommen. tor selbst nicht kennt, das ist nur Fiktion
Das lässt sich nur über vereinfachte und von nicht selbst denkenden Herdentieren
niedrigere Steuersätze regeln. Dann ließe und – natürlich – skrupellosen Geschäfte-
sich auch ein steuerfreies Mindesteinkom- machern. Wie kommt es, dass auch Intel-
men definieren. Steuerfreies Mindestein- lektuelle, Wissenschaftler, erfolgreiche Ge-
kommen ja, Mindestlohn: klares Nein. schäftsleute und Fußballstars wie Kaká,
Hamburg Sven Jösting Politiker wie Horst Köhler und Journalis-
ten wie Peter Hahne, die sicher allesamt
keine verführten Opfer sind, diese Werte
nicht nur gutheißen, sondern leben?
Offenbach Michael Knörr

Die vollständige Übernahme des Christen-


tums durch das Kapital ist nicht mehr weit
entfernt. Doch dies ist kein Wunder, sind
doch die Kirchen und ihre Vertreter oft
weit vom Neuen Testament entfernt. So
wird der Kapitalismus zur heilsbringenden
GETTY IMAGES

Religion für christliche Heuchler.


Karlsruhe Jochen Richter

Demonstration von Briefzustellern (in Berlin) Zu Ihrem Artikel fielen mir spontan zwei
Andere Branchen wollen nachziehen zentrale Sätze aus der Bibel ein: Zum ei-
nen das 2. Gebot Gottes an sein Volk: „Du
Ein Aspekt wird bei der Diskussion über sollst meinen Namen nicht missbrauchen.“
Mindestlöhne leider auch in Ihrem Arti- Zum anderen der Ausspruch Jesu, als er
kel übersehen – die Altersarmut. Bei einem die Händler aus dem Tempel vertrieb:
zu geringen Mindestlohn können die Ar- „Mein Haus soll ein Ort des Gebetes sein,
beitnehmer entweder nur geringe oder gar ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle ge-
keine Beiträge zur Sozialversicherung leis- macht.“ Weiter braucht man diese Art der
ten. Auch für eine zusätzliche private Al- Kommerzialisierung des Glaubens und der
terssicherung reichen die Dumpinglöhne Ausnutzung der gutwilligen Anhänger zum
nicht aus. Mit dem Ausscheiden aus dem Wohle der Brieftasche diverser „Prediger“
Berufsleben haben die Menschen entweder nicht zu kommentieren.
gar keinen oder nur einen sehr geringen Rodenberg (Nieders.) Hartmut Wedemann
Rentenanspruch erworben. Altersarmut ist
programmiert. Wieder müssen die öffent-
lichen Kassen mit Sozialleistungen ein- Hohle Ausfälle
springen. Nr. 52/2007, Architekten: SPIEGEL-Gespräch
Harburg Klaus Ofterdinger mit dem Londoner Stararchitekten David
Chipperfield über sein umstrittenes Wirken in Berlin

Metaphysischer Markenartikel Herr Chipperfield argumentiert ideologisch


Nr. 52/2007, Religion: Wie amerikanische Kirchen zu überhöht, wenn er jede Rekonstruktion
einer Multi-Millionen-Dollar-Industrie wurden mit den Worten „bloße Kopien“ verächt-
lich macht. Der Zweite Weltkrieg zerstör-
Der Kampf um Marktanteile am Weltmarkt te weite Teile der historisch gewachsenen
der Konfessionen ist eröffnet. Während wir Stadt Berlin. Nach 1945 wurde insbeson-
Europäer mit dem Glauben immer noch dere in Ost-Berlin aus ideologischen Grün-
12 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
den eine radikale Kahlschlagsanierung rea-
lisiert. Bis heute leidet Berlin unter den
städtebaulichen Verheerungen der sechzi-
ger und siebziger Jahre. Die Rekonstruk-
tion einzelner Schlüsselbauwerke ermög-
licht einen wechselseitigen Bezug zwischen
historischer und moderner Stadt. Herr
Chipperfield lebt mit seiner Familie in ei-
nem Haus, das gegen Ende des 19. Jahr-
hunderts erbaut wurde. Vielleicht sollte er
auch den Berlinern ermöglichen, die aus
dem Gedächtnis gelöschten historischen
Orte – durch einzelne Rekonstruktionen –
wieder neu zu entdecken.
Hamburg Markus Erich-Delattre

Geschichte kann man nicht vortäuschen,


wohl aber Architektur wiederherstellen.
Der Plan eines Baumeisters ist der Partitur
eines Komponisten vergleichbar. Dabei
sind strengste Genauigkeit und die Absage
an ideologisch motivierte Fremdkörper
oberste Gebote. Dann, nur dann, kehrt der
„Genius loci“ zurück – für Chipperfield
offenbar ein Greuel. Gut, dass er beim
Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche
nicht mitmischen durfte, begierig nach Zu-
gaben einer falsch verstandenen „Konti-
nuität“!
München Achim von Hirschheydt

Solch ein Mensch soll an der Gestaltung


eines unserer bedeutendsten Kulturgüter
mitarbeiten? Das ist eine Sachlage, die
schnellstens überprüft werden sollte. Wir
haben genügend großartige Architekten –
auch im Ausland –, die eine so wichtige
Aufgabe wahrnehmen können, ohne in
hohle Ausfälle gegen die deutsche Kultur zu
verfallen. Er hat sich selbst disqualifiziert.
Berlin Detlef Gogalla

Welch ein Glück, dass David Chipperfield


in die Jury berufen wurde. Wenigstens ei-
ner, der der geplanten Rekonstruktion kri-
tisch gegenübersteht. Ist unsere Zeit so arm
an Geist und Ideen, dass ein nicht mehr
vorhandenes Schloss nachgebaut werden
soll? Das hat weder etwas mit Denkmal-
pflege noch mit Geschichtsbewusstsein zu
tun. In meinen Augen ist es nichts anderes
als Verherrlichen einer längst vergangenen
ELDACO

Berliner Stadtschloss (Computersimulation)


Verherrlichen einer vergangenen Zeit
14 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Briefe

Zeit. Da wäre es besser gewesen, den Pa- die gebratenen Tauben nicht ins Maul,
last der Republik stehen zu lassen und als doch mag ihn die Not dazu verleitet haben,
Zeitzeugnis zu renovieren. das angesengte Fleisch der Tiere zu pro-
Bad Kissingen (Bayern) Wolfgang Russ bieren, die vom Feuer eingeschlossen wor-
Architekt den waren. Hatte er erst einmal festgestellt,
dass dieses Fleisch sich besser kauen ließ
Chipperfield hat nur gesagt, was weltweit und schmackhafter war, dann war die Er-
Architekten über den Bau denken. Die kenntnis nicht mehr weit, dass mitgenom-
Forderung des Bundestages nach Rekon- mene Vorräte zudem viel länger haltbar
struktion der Fassade ist eine rückwärts-
gewandte Auffassung, man sollte sich nicht
an eine solche Form klammern. Die Ar-
chitektur lässt viele Varianten zu. Berlin
muss zeigen, dass es eine moderne Stadt
des 21. Jahrhunderts ist.
Berlin Ursula Misersky

OLIVER MARK / AGENTUR FOCUS


Ich bin der Herr, dein Gott; du sollst nicht
andere Architekten haben neben mir, und
andere Vorstellungen schon gar nicht. Erst
recht nicht, wenn du mein Auftraggeber
bist, ob mit deinem Gelde direkt oder über
die öffentliche Hand. Gib mir deinen Auf-
trag, und du wirst schon sehen, was ich Sterne-Koch Juan Amador
daraus mache, denn ich weiß besser als du, Prozess der Degeneration?
was du bekommen musst.
Berlin Friedrich F. Zuther blieben, kurzum ein Steppenbrand für ihn
keine Katastrophe, sondern gar ein Glücks-
fall war.
Rentierkeule aus dem Feuer Berlin Ulrich Stulle
Nr. 52/2007, Evolution:
Hat das Kochen den Menschen zum Menschen gemacht? Der Forscher Wrangham hat recht: Schaut
man in die Küchen dieser Welt, so hat der
Dem Biologen Richard Wrangham sollte Mensch intuitiv die Getreidespeise als Ba-
einmal vor Augen geführt werden, wie der sis seiner Ernährung gewählt. In Breiform,
Homo erectus oder praesapiens vor 250000 gebacken als Fladen oder in den Hochkul-
Jahren (etwa die Zeit des Steinheimers) turen als gelockerten Brotlaib. Warum?
im Paläolithikum seine Nahrung zu sich Getreide sammelt am effektivsten über
nahm. Grunzend und schmatzend zog er 60 Prozent Sonnenlicht ein, messbar im
immer wieder die Rentierkeule aus dem Nahrungskohlenhydrat! So wird uns über
Feuer, sich vor Gier am halbgaren Fleisch das Bauchgehirn Wissen aus dem Licht
fast den Mund verbrennend, wobei ihm vermittelt!
Speichel und Fett vom Kinn tropften. Das Düsseldorf Georg Kretzschmar
Garen des Fleisches erleichtert dem Men- Bäckermeister
schen das Kauen und Verdauen. Die Nah-
rungsaufnahme ist profan betrachtet nur Neben Autos und Computern gehört Ko-
die Versorgung des Motors Körper mit chen zu den geistig wenig anspruchsvol-
Brennstoff, und die moderne Verfeinerung len Themen männlicher Gesprächsgrup-
der Essgewohnheiten kann man in Hin- pen. So musste ja auch die Anthropologie
sicht auf Gänsestopfleber und Ähnliches das Kochen einmal als Faktor der Mensch-
auch als Prozess der Degeneration be- werdung entdecken. Dennoch hat weniger
trachten. Bei der Entwicklung der Kultur das Kochen, sondern eher ein reichliches
und der Evolution ist die Perfektionierung Essen, wenn es zur Verfügung stand, die
der Kochkunst nicht das Zentrum allen menschliche Entwicklung geprägt. Das
Seins, sondern nur ein Detail am Rande. zeigen die vielen Übergewichtigen unter
Köln Elk Würtz uns, welche an diesem evolutionären Erbe
leiden.
Leider haben Sie die entscheidende Frage Lörrach (Bad.-Württ.) Dr. Bernd Warkentin
nicht angesprochen: wie nämlich die Men-
schen auf die Idee gekommen sind, dass Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit
Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffent-
gegarte Nahrung ihnen besser bekommt lichen. Die E-Mail-Anschrift lautet: leserbriefe@spiegel.de
als Rohkost. Dabei liegt es in Anbetracht
des Ursprungs des Menschen in den Sa- In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet
sich in der Heftmitte ein vierseitiger Beihefter der Firma
vannen Ostafrikas doch nahe, dass es Lexus, Köln. Die Gesamtauflage enthält einen Postkarten-
sich zunächst um nichts weiter als Zufall beikleber der Firma KarstadtQuelle Versicherung, Nürn-
gehandelt haben könnte. Es ereignen sich berg. In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befin-
hier von jeher regelmäßig Flächenbrände, den sich Beilagen der Firmen SPIEGEL-Verlag / Studiosus
Lesereisen, Hamburg, SPIEGEL-Verlag / Abo, Hamburg,
denen auch kleine und große Tiere zum sowie SPIEGEL-Verlag, SPIEGEL-Gespräch – live in der
Opfer fallen. So flogen Homo erectus zwar Uni, Hamburg.

d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 15
Panorama Deutschland
AU S S E N P OL I T I K

Zweifel am
Kosovo-Einsatz
A ußenminister Frank-Walter Stein-
meier (SPD) richtet sich auf innen-
politische Kontroversen um den Ver-
bleib der rund 2800 deutschen Soldaten
im Kosovo ein – bis hin zu einem Ver-
fahren beim Bundesverfassungsgericht.
Berlin plant, das Kosovo anzuerkennen,
selbst wenn es seine Unabhängigkeit
von Serbien einseitig erklären und der
Uno-Sicherheitsrat seine Zustimmung
verweigern sollte. Umstritten ist, ob die

WOLFGANG KUMM / DPA


Bundeswehr dann im Kosovo bleiben
dürfte. Das Auswärtige Amt hat bereits
ein Gutachten verfasst, das aber aus
Rücksicht auf ein Verfahren in Karls-
ruhe unter Verschluss gehalten wird;
DGB-Kampagne für Mindestlohn (in Berlin) eine zweiseitige Kurzfassung folgert, es
gebe keine völkerrechtlichen Probleme.
MINDESTLÖHNE Das sehen viele im Bundestag anders.

Beck geht auf Union los


In Sitzungen des Auswärtigen Aus-
schusses und der Fraktionen hatten
zahlreiche Abgeordnete vor Weihnach-
ten große Zweifel geäußert. Linkspartei

S chärfere Töne als bisher


schlägt Kurt Beck in der Min-
destlohndebatte an. „Beim Min-
sich die Union da verschätzt. Es
gibt ein ausgeprägtes Gefühl für
Gerechtigkeit in diesem Land.
und FDP kündigten an, sie wollten die
Frage juristisch prüfen lassen. FDP-
Fraktionsvize Werner Hoyer verlangte
destlohn hat die Union ord- Eine große Mehrheit der Men- eine „glasklare rechtliche Grundlage“
nungspolitisch versagt. Im Prin- schen will Mindestlöhne, weil für einen weiteren Bundeswehreinsatz.
KROHNFOTO.DE

zip ist die Weigerung der Union, sie wissen, dass Lohndumping Auch mehrere Sozialdemokraten be-
Mindestlöhne durchzusetzen, allen schadet.“ Leistung müsse drängten Steinmeier. Für einen Militär-
doch Verrat an den ehrlich ar- angemessen honoriert werden. einsatz ohne neues Uno-Mandat gebe
beitenden Menschen und den Beck „Wer vollschichtig arbeitet, für es „keine ausreichende Grundlage“,
ehrlich wirtschaftenden Unter- den sollte sich diese Leistung monierte der SPD-Außenpolitiker Jo-
nehmern in diesem Land“, sagte der mindestens so sehr lohnen, dass er ohne hannes Jung: „Deshalb wird es dafür
SPD-Vorsitzende dem SPIEGEL. Zu- staatliche Zuschüsse leben kann. Die neue Abkommen geben müssen.“
gleich attackierte Beck die Ministerprä- SPD bezieht sich da im besten Sinne auf
sidenten von Hessen und Niedersach- Ludwig Erhard. Dumpinglöhne sind ein
sen, Roland Koch und Christian Wulff. Verrat an der sozialen Marktwirtschaft
„Koch weiß nicht, was er will. Er und im Erhardschen Sinne. Die Union hat
Christian Wulff sind die Erfüllungsge- sich davon verabschiedet.“ An diesem
hilfen der Lohndrücker.“ Laut Beck will Montag will der SPD-Vorstand unter
die SPD den „politischen Druck hoch- Becks Leitung bei einer Klausurtagung
MICHAEL KAPPELER / DDP
halten“, damit sich die Union beim Min- in Hannover einen Zehn-Punkte-Plan
destlohn bewege. „Die SPD wird die unter dem Titel „Gute Arbeit“ verab-
Mindestlöhne durchsetzen, Branche für schieden. Dabei soll die Forderung nach
Branche und am Ende auch flächen- einer flächendeckenden Einführung von
deckend“, so Beck. „Ich glaube, dass Mindestlöhnen im Mittelpunkt stehen.
Deutsche Kfor-Soldaten in Prizren

RENTEN Vorsitzende des Sachverständigenrats unterbrochenen Erwerbsbiografien

Altersarmut droht
zur Begutachtung der gesamtwirtschaft- lohnt sich der Abschluss eines Riester-
lichen Entwicklung. Altersarmut Vertrags nicht“, urteilt der Wirtschafts-
werde „in spätestens 15 Jahren relevant weise. „Die Politik sollte deshalb

R entenexperte Bert Rürup rechnet


damit, dass es künftig vielen
Älteren deutlich schlechter gehen wird
werden“. Der Bundesregierung wirft
Rürup vor, dass die staatlich subven-
tionierte Riester-Rente ausgerechnet
rasch reagieren, um dieses Problem
zu entschärfen.“ Rürup selbst hatte
in der vergangenen Woche vorgeschla-
als heute. „Unter den gegenwärtigen an den Geringverdienern vorbeiziele. gen, die Altersbezüge speziell für
Bedingungen werden die Armuts- „Für viele Bezieher niedrigerer Ar- schlechtbezahlte Arbeitnehmer zu
risiken im Alter zunehmen“, sagt der beitseinkommen oder Personen mit erhöhen.
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 17
Panorama
FINANZEN

„In guten Zeiten müsste gespart werden“


Ingolf Deubel (SPD), 57, Finanz- wie dem Saarland einen ausgeglichenen
minister von Rheinland-Pfalz, Haushalt ohne Neuverschuldung zu er-
über die Föderalismusreform II, die möglichen. Den Ländern einschließlich
die Finanzbeziehungen zwischen den Gemeinden stünden insgesamt gut
Bund und Ländern neu ordnen soll 25 Milliarden Euro zur Verfügung, dem

MARTIN LANGHORST / OSTKREUZ


Bund knapp 25 Milliarden.
SPIEGEL: Mit dem zweiten Teil der Fö- SPIEGEL: Was hätten die Länder davon,
deralismusreform werden große Erwar- die bisher sparsam wirtschaften?
tungen verbunden. Sie soll einen Weg Deubel: Klar ist, dass alle Länder von
aus der hohen Verschuldung der öffent- einem höheren Einkommensniveau pro-
lichen Haushalte aufzeigen. Was ist vom fitieren würden. Reiche Länder würden
Verschuldungsverbot und dem nationa- mit dem Geld wohl zusätzliche Leistun-
len Schuldenpakt übriggeblieben? Deubel gen etwa für Schulen und Hochschulen
Deubel: Wenig. Die Verhandlungen finanzieren. Die armen Länder tilgen
stecken in der Sackgasse. Die reichen nen im Bundestag sind es auch nicht. damit Schulden.
Bundesländer wie Bayern und Baden- Die Schnittmenge aus den Verweigerern SPIEGEL: Wie wollen Sie das finan-
Württemberg wollen sich an der Konso- im Bund und bei den reichen Ländern zieren?
lidierung verschuldeter Länder wie ergibt im Moment nur noch eine leere Deubel: Wir müssten in der Hochkon-
Saarland oder Bremen nicht beteiligen. Menge. junktur auf Steuersenkungen verzich-
Die wiederum wollen einer Verschul- SPIEGEL: Wie kann es weitergehen? ten. Diese sollten erst erlaubt sein,
dungsbegrenzung – vom Verbot redet Deubel: Zurzeit ist es so, dass alle öf- wenn die Haushaltsüberschüsse zwei
ohnehin keiner mehr – nur zustimmen, fentlichen Haushalte zusammen mit Prozent übersteigen. Diese Zweipro-
wenn sie von ihren Altschulden zumin- einer schwarzen Null abschließen. zentregelung müsste zudem in der Ver-
dest teilweise befreit werden. Ein sol- Könnten wir eine Situation mit einem fassung verankert sein, um Begehrlich-
cher Altschuldenfonds wäre nur mit Überschuss von zwei Prozent erreichen, keiten etwa in Wahlkampfzeiten von
Beteiligung des Bundes möglich. Doch bedeutete dies ein Plus von 50 Milliar- vornherein abzuwehren. Generell gilt:
dazu ist Finanzminister Peer Steinbrück den Euro. Ein solcher Überschuss Gerade in wirtschaftlich guten Zeiten
nicht bereit, und die Regierungsfraktio- würde ausreichen, um auch Ländern müsste verstärkt gespart werden.

POLITISCHE BILDUNG

Per Handy zur Wahl


STEFFEN BEUTHAN / CHROMORANGE / PICTURE-ALLIANCE / DPA

H amburg will per Mobilfunk junge Wähler für den Urnengang begeistern: Via
SMS können Interessierte ab Anfang Januar ein politisches Quiz herunterladen
– mit Fragen zum neuen Wahlrecht, das erstmals bei der Bürgerschafts- und der Be-
zirkswahl am 24. Februar gilt, sowie zu Landeskunde und Geschichte der Hansestadt.
Die Landeszentrale für politische Bildung fördert das Projekt mit 39 000 Euro. Es soll
über Schulen, Infobusse und im Internet bekanntgemacht werden. „Junge Leute be-
nutzen ihr Handy nicht nur zum Telefonieren“, sagt die Leiterin der Landeszentrale,
Sabine Bamberger-Stemmann. „Ein Handygame mit Gewinnanreizen ist für sie
attraktiver als das Studium trockener Wahlbroschüren.“ Entwickelt hat das Quiz der
Hamburger Mobilfunk-Software-Entwickler Phi Mobile mit dem Institut für Politik
und Wirtschaft Haus Rissen.

EINBÜRGERUNG Wahlkämpfe tragen. „Den von der SPD unter bestimmten Voraussetzungen ei-

Wirbel um den
gewollten Weg in die doppelte Staats- nen deutschen Pass, müssen sich aber
bürgerschaft auf Dauer geht die Union nach ihrem 18. Geburtstag für eine Na-

Doppelpass
mit Sicherheit nicht mit“, sagt CSU- tionalität entscheiden. SPD-Innenpoliti-
Landesgruppenchef Peter Ramsauer. ker halten das Optionsmodell für un-
Ähnlich äußert sich auch Unionsfrak- praktikabel und wollen es abschaffen –

I n der Koalition wird die Auseinander-


setzung über das Einbürgerungsrecht
schärfer. Führende Unionspolitiker leh-
tionschef Volker Kauder. Eine Auswei-
tung der Regeln zum Doppelpass sei
„mit der Union nicht zu machen“. Kern
mit der Folge, dass die jungen Männer
und Frauen auf Dauer Doppelstaatler
blieben. Laut einer internen Aufstellung
nen die von der SPD verlangte Locke- des Streits ist das sogenannte Options- des Bundesinnenministeriums werden
rung der Regeln zur doppelten Staats- modell. Mit dem von Rot-Grün be- sich in den kommenden Jahren rund
bürgerschaft ab und wollen das Thema schlossenen Staatsbürgerschaftsrecht 330 000 junge Menschen für eine Natio-
gegebenenfalls auch in die anstehenden erhalten Kinder ausländischer Eltern nalität entscheiden müssen.
18 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Deutschland
U M W E LT

Wie viele Feinstaub-Tote


gibt es?
D er Allgemeine Deutsche Automo-
bil-Club (ADAC) zweifelt an den
EU-Zahlen zu den jährlichen Toten
durch die Feinstaub-Belastung in
Deutschland. Unter Berufung auf ein
Gutachten der TU Cottbus und des
Umweltbundesamts errechnet der
ADAC Berlin-Brandenburg jährlich
rund 4800 tödliche Erkrankungen
durch kleinste Staubpartikel, die Lun-
genkrebs, Asthma oder Herz-Kreis-
lauf-Schwächen auslösen können.
EU-Umweltkommissar Stavros Dimas
verweist dagegen auf 310 000 Fein-
staub-Tote laut „Studien der Weltge-
sundheitsorganisation, die nicht strit-
tig sind“. In Deutschland gingen da-
nach etwa 70 000 Todesfälle auf die
Luftbelastung durch Feinstaub zurück.
Zur Überprüfung der „Verhältnismäßig-
keit“ der neuen Umweltzonen, für
die Autofahrer Plaketten erwerben
müssen, erwägt der ADAC Klagen vor

JOSE GIRIBAS
den Verwaltungsgerichten.
„Dingo“-Fahrzeug der Bundeswehr (in Afghanistan)

Hannover Berlin
BUNDESWEHR wehr „zusätzlich verschlechtert“. We-

Forsche Fahrer
gen der „Unfallhäufigkeit auf hohem Ni- Einrichtung von
veau“ sei es „dringend erforderlich“, Umweltzonen
mahnte kürzlich ein Kommandeur, den Dortmund 1. Jan. 2008
Fahrzeuglenkern vor der Kommandie-
Duisburg 1. März 2008
M angelhafte Ausbildung der Kraft-
fahrer und geringe Praxis haben
beim Bundeswehreinsatz in Afghani-
rung zum Hindukusch eine „auf den Be-
darf im Einsatzland ausgerichtete Aus-
bildung“ angedeihen zu lassen. Tatsäch- Köln
1. Jan. 2010
in Planung
stan zu zahlreichen Unfällen geführt. lich haben viele Soldaten erst in Afgha- Heidelberg
Wie aus internen Berichten des Vertei- nistan gelernt, Einsatzfahrzeuge wie den Quelle: BMU
digungsministeriums hervorgeht, kom- leicht gepanzerten „Dingo“ zu steuern, Mühlacker
Mannheim
pensieren viele Soldaten die fehlende da in der Heimat kein Schulungsgerät Ilsfeld
Routine durch besonders forsche Fahr- verfügbar war. Das werde sich in die- Karlsruhe Pleidelsheim**
weise: Das „Fahrverhalten“ sei biswei- sem Jahr bessern, hoffen Militärs: Der Pforzheim Ludwigsburg
len „erschreckend“. Oft versuchten Fah- „Dingo“-Hersteller Krauss-Maffei Weg- Schwäbisch Gmünd
rer, „der latenten Gefahr von Anschlä- mann konnte im vergangenen Jahr rund Leonberg
gen“ durch „besonders rasantes Fahren 100 statt zunächst geplanter 30 Exem- Stuttgart Augsburg
zu entgehen“. So steige das Unfallrisiko plare liefern. Einige will die Bundeswehr Tübingen Reutlingen Neu-Ulm
„massiv“; zudem werde die Stimmung nun für das Fahrtraining auf heimischen Freiburg München*
der Afghanen gegenüber der Bundes- Übungsplätzen reservieren.
* spätestens zum 1. Okt. 2008 ** oder bereits zum 1. Juli 2008

Okruaschwili, 34, voraussichtlich hinter Gittern blei-


ZURAB KURTSIKIDZE / DPA

POLITISCHE FLÜCHTLINGE

Kein Asyl für Okruaschwili


ben, weil das Berliner Kammergericht den Haftbefehl
gegen ihn am vergangenen Freitag nicht aufhob. Zwar
ließ es vier Vorwürfe fallen, die georgische Ermittler

I rakli Okruaschwili, in Berlin in Auslieferungshaft sit-


zender georgischer Oppositionspolitiker, soll kein Asyl
gegen den Oppositionspolitiker erhoben hatten. Den
fünften, Machtmissbrauch, bestätigte das Gericht aber.
bekommen. Das zuständige Bundesamt verwies den Fall Okruaschwili Okruaschwilis Anwältin Margarete von Galen hält alle
des früheren Verteidigungsministers Georgiens an Frank- Vorwürfe für konstruiert und will gegen die Entschei-
reich weiter, weil sich in seinem Pass ein französisches Schen- dung Verfassungsbeschwerde einreichen – Deutschland dürfe
gen-Visum befinde. Bis zu seiner möglichen Abschiebung wird sich nicht zum Gehilfen einer Unrechtsjustiz machen.
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 19
Titel

Exempel des Bösen


Sie sind jung, männlich, chancenlos – und gefährlich:
Der brutale Übergriff zweier Ausländer auf einen Pensionär hat
eine hitzige Polit-Debatte über den Umgang mit
kriminellen Migranten ausgelöst. Doch ist die Gewaltbereitschaft
junger Männer auch angeboren?

W
ie man mit dem Problem fertig ihm den Rucksack, einer prügelt auf ihn
werden soll, hat der CDU-domi- ein, einer tritt ihn.
nierte Landtag von Baden-Würt- Immer wieder kann man es abspielen:
temberg schon im Juni vergangenen Jahres Das blaue Bündel am Boden windet sich,
beschlossen: „In der Ehrfurcht vor Gott“ zuckt. Ein Täter nimmt Anlauf, streckt ein
und „in der Liebe zu Volk und Heimat“. Bein vor, springt auf das Opfer zu, kickt
Dies, so steht es im brandneuen Ländle- mit Schwung gegen dessen Kopf.
Gesetz über den Jugendstrafvollzug, seien Das blaue Bündel zuckt am Boden. Die
die „Grundsätze“, nach denen verurteilte beiden Schläger rennen weg.
junge Gewalttäter zu erziehen seien, wenn Der pensionierte Schuldirektor überleb-
sie hinter Schloss und Riegel sind. te den Angriff mit dreifachem Schädel-
So schnell veralten Gesetze. Ein 30-Se- bruch. Das Video hat in Deutschland einen
kunden-Video, aufgenommen von einer Schock ausgelöst. Nie zuvor war Gewalt so
Überwachungskamera kurz vor Weihnach- sichtbar
ten im Zwischengeschoss des Münchner U- Und selten zuvor war das Problem so
Bahnhofs Arabellapark, verbreitet von der virulent: die massive, zerstörerische Ju-
Münchner Polizei, hat jedem im Land sicht- gendgewalt, die in Deutschland in den
bar gemacht, dass es etwas komplizierter neunziger Jahren aufflammte und seitdem
wird mit den bösen jungen Männern. auf beängstigendem Niveau zur Dauer-
30 Sekunden, immer wieder ausgestrahlt erscheinung geworden ist. Die offensicht-
in jeder Fernsehnachrichtensendung, mas- liche Hilflosigkeit der Opfer, der Gesell-
senhaft angesehen auf den aktuellen In- schaft, der Polizei, der Strafrechtler, der
ternet-Sites: die unwirtliche Atmosphäre Politik gegenüber den gefährlichen, ge-
des schattenlos ausgeleuchteten nächtli- waltbereiten jungen Männern, die sich zwi-
chen U-Bahnhofs, der hagere Mann mit schen Konsumrausch und Weihnachtsfrie-
dem Rucksack über der Schulter, am Fahr- den drängen und plötzlich, ohne nachvoll-
kartenautomaten vorbei dem Ausgang zu- ziehbaren Grund, zuschlagen.
eilend – und dann die beiden dunklen Ge- Wie dramatisch die Lage wirklich ist,
stalten, die hinter dem Pensionär in sei- wird klar, seit sich Deutschland mit Serkan
nem blauen Anorak herrennen. A., 20, befasst. Der junge Türke ist einer
Da: Einer schlägt ihm auf den Kopf, der beiden Schläger auf dem Video, ein
der Blaue strauchelt, fällt zu Boden. Beide 17-jähriger Grieche der andere. Jung,
Verfolger fallen über ihn her, entreißen männlich, Ausländer, gewaltbereit: Die

Junge Militante (1996 in Liberia) Gewalttätige Palästinenser (2001 in Hebron)


Schläger in der Münchner U-Bahn*
Schockvideo für Deutschland

kleinen Gangster werden zum Exempel des


Bösen.
Für den populistischen CDU-Wahl-
kämpfer Roland Koch aus Hessen ist
Serkan A. ein Beispiel dafür, dass „wir zu
viele junge kriminelle Ausländer haben“,
seine Kanzlerin polterte am Freitagabend
vergangener Woche: „Es kann doch nicht
sein, dass eine Minderheit von Menschen
in unserem Land einer Mehrheit von Men-
schen Angst macht.“ Jetzt müsse man
über Erziehungscamps, „Warnschussar-
rest“ oder Fahrverbot als Strafe reden.
Für die Polizei – nicht nur in München –
ist der Fall Anlass, mehr Härte der Jugend-
richter zu verlangen: Warum war der jun-
ge Intensivtäter trotz einer fast tausend
Seiten dicken Akte und trotz zahlreicher
Jugendgerichtsverfahren noch immer auf
freiem Fuß?
Für Kriminologen und Jugendexperten
gibt die Geschichte des bösen Serkan An-

AP (O.); CORBIS SYGMA (L.); AWAD AWAD / DPA (M. L.); FLORIAN EISELE (M. R.); ANDRE BRUTMANN / JAD WASHEM (R.)
lass, die bessere Integration von jungen
Ausländern, eine ordentliche Schulbildung
und vernünftige Betreuung zu fordern –
warum hat die Jugendhilfe jahrelang dem
Verfall der Familie Serkans in Armut und
Gewalt zugesehen?
Die Jugendgewalt – ein Ausländerpro-
blem? Der Zorn der jungen Männer – ein
Unterschichtenproblem? Die Gewaltgeil-
heit – eine Folge falschen Medienkonsums?
Der brutale Machismo betrunkener Män-
ner – ein Kulturkampf gegen etablierte
christliche Werte?
Lauter mögliche Antworten. Alles ist
wahr. Aber vielleicht ist alles doch anders.
Ein neuer Erklärungsversuch führt her-
aus aus dem Untergeschoss der Münchner
U-Bahn, hinauf in die Höhen einer histo-
rischen Weltsicht: wo die Einsicht gilt,
dass an dem blutigen Jahresende 2007 in
Deutschland nichts so Besonderes ist. Jun-
ge Männer, besonders wenn sie nichts
Gescheites zu tun haben, haben sich schon

* Am 20. Dezember 2007.

Deutsche Hooligans (2005 in Leipzig) Junge Nazi-Schergen (an der Ostfront)


Titel

Polizei-Pressekonferenz mit Überwachungsvideos aus der Münchner U-Bahn*: Ängste, mit denen man spielen kann

immer als die gefährlichste Gruppe der überschuss“ an „zornigen Männern“ ber- handeln, weil die Konflikte längst vor ihrer
Spezies Mensch erwiesen. ge einen gewaltigen Sprengsatz in sich, der Haustür sind: 300 Millionen von insgesamt
Wo immer in der Geschichte es einen ganze Regionen oder Länder aus den 900 Millionen jungen Männern aus der
Überschuss unterbeschäftigter junger Män- Fugen geraten lassen kann. Etwa in Afrika Dritten Welt werden in den kommenden 15
ner gegeben hat, so erklären Wissenschaft- oder im Nahen Osten würden die Bal- Jahren entschlossen außerhalb ihrer Hei-
ler, sei die Gesellschaft in Eroberungskrie- lungszentren bersten vor Männern, die mat um Positionen kämpfen müssen.“ Und
ge, Terror und Verbrechen verwickelt wor- voller Testosteron sind, aber ohne Aussicht „Speerspitze dieser Jugendarmee“ seien
den. So ist das britische Weltreich entstan- auf einen sozialen Aufstieg leben. die Männer aus den islamischen Ländern –
den – und die Weltmacht al-Qaida. Junge Die Jungmännerhorden, sagt der Pro- dem größten Hort des Jugendüberschus-
Männer randalieren als Hooligans in deut- fessor, machten Gesellschaften gewaltbe- ses, dessen Bevölkerung innerhalb von
schen Fußballstadien, als Neonazis auf den reiter und führten sogar in kriegerische fünf Generationen von 150 auf 1200 Mil-
Straßen. Junge Männer verbreiten Terror in Auseinandersetzungen – nach innen wie lionen Menschen angewachsen ist.
den Städten Afrikas, etwa in Liberia, sie nach außen. Schon Feldzüge der Spanier, Das rasche Anwachsen einer zuneh-
werfen Steine und Molotow-Cocktails, etwa Schweden oder Holländer seien von ag- mend perspektivlosen Jugend bringt nicht
in Palästina. Junge Männer erwiesen sich gressiven Viert- oder Fünftgeborenen ge- nur Menschen hervor, die hungern und
oft als besonders sadistische Schergen des tragen gewesen, die zu Hause keine Zu- sich in kleine Boote setzen, um an die Küs-
Nazi-Regimes. kunft mehr für sich gesehen hätten. ten Europas zu gelangen. Die zornigen
Und geht man zurück vom Fall Serkan Die Thesen des Bremer Soziologen sind Männer können auch Verzweifelte sein,
A. im Dezember 2007, zurück bis ins nicht unumstritten, aber Heinsohn nennt prä- die unbedingt an die Spitze kommen wol-
19. Jahrhundert, dann trifft man auf Kri- gende aktuelle Beispiele für seine These wie len, aber nicht können. Und für die sei der
minalstatistiken, die für Deutschland nicht Sri Lanka oder die Elfenbeinküste. Er macht bewaffnete Kampf als Terrorist durchaus
weniger Gewalttaten als heute verzeich- den „Jungmänner-Hass“ auch für den Nah- eine ernstzunehmende Option.
nen – das Alter der Täter war etwa im Jahr ost-Konflikt verantwortlich, wo die zornigen Die These von der Gewaltbereitschaft
1885 vergleichbar dem des Jahres 2001. Die Palästinenser ihre Energie gegen Juden und junger überschüssiger Männer gilt nach
Gefährlichkeit der jungen Männer, dafür Israel richten. Und wenn über Generationen Ansicht des Bremer Experten nicht nur für
sprechen die Zahlen, könnte so etwas wie Väter drei oder mehr Söhne in die Welt set- islamistische Glaubenskrieger. In einigen
ein Naturgesetz sein. zen, würde daraus eine Dauer-Youth-Bulge Gegenden Deutschlands wie in Berlin-
Nicht nur in Deutschland, sondern welt- entstehen, was automatisch in einen Dauer- Neukölln würden sich viele perspektivlose
weit wurden zahllose Experimente unter- konflikt führe. Dagegen, so Heinsohn, helfe Migrantenkinder zusammenballen – die
nommen, mit dem Phänomen fertig zu nur die „demografische Abrüstung“. Und zu „hausgemachte Youth Bulge“, wie es der
werden, das umso virulenter wird, je zise- der könne auch der Westen beitragen, indem Soziologe nennt. „Die sind ambitioniert,
lierter und zivilisierter die Gesellschaften er aufhöre, die „Kinderproduktion“ in Ent- sehen die schönen und guten Dinge in
werden, an denen sich die bösen Jungs wicklungs- und Krisenländern durch Hilfs- Deutschland und wollen die auch haben“,
reiben. Es geht nicht nur um den bösen maßnahmen zu fördern. sagt Heinsohn, „doch sie bekommen sie
Serkan und seine Freunde. Es geht um die Ist das purer Zynismus? Und drückt nicht, weil sie wegen ihrer Bildung keine
ganze gefährliche Spezies der wütenden Hunger wirklich die Geburtenrate und hilft Chance haben, nach oben zu kommen.“
jungen Männer somit, Krieg und Terror zu verhindern? Ursache für diese Entwicklung sei unter
Der Bremer Konfliktforscher Gunnar Nach Heinsohn bleibt den Industriena- anderem die fatale deutsche Einwande-
Heinsohn hat zur Erklärung des Phäno- tionen gar keine andere Alternative, als zu rungspolitik gewesen. Anders als Länder
mens den Begriff der „Youth Bulge“ in wie Kanada oder Australien habe Deutsch-
Deutschland eingeführt. Dieser „Jugend- * Am 3. Januar in München. land nie auf die Qualifikation der Migran-
22 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
OLIVER LANG / DDP (L.); ANDREAS MARKUS (R.)

Festnahme junger Gewalttäter in Berlin: Testosteron für den ultimativen Kick

ten geachtet. Deshalb seien vornehmlich junge Frauen? Der Gedanke drängt sich Kämpfer im Wettbewerb unter Männern
Männer ins Land gekommen, die schon in auf, dass der Wille zur eskalierenden Ag- erringen den höchsten sozialen Status und
ihren Heimatländern wegen ihrer mangel- gression etwas mit der Biologie des Man- sichern sich dadurch die meisten Frauen
haften Ausbildung Schwierigkeiten gehabt nes zu tun hat. und Nachkommen.“
hätten, einen Job zu finden. Und diese Ein- Schon lange gilt das Männerhormon Im Gegensatz zur Testosterontheorie
wanderer würden Söhne in die Welt set- Testosteron als Lieblingskandidat der For- steht die Auffassung, Aggression sei ein
zen, die im neuen Heimatland ebenso bil- scher für den ultimativen Kick zum Kamp- erlerntes und über Generationen tradiertes
dungsfern aufwachsen. Das produziere fesmut der Kerle, Testosteron – der Stoff, Muster von Männlichkeit. Ein soziales
wiederum Schulversager und führe „in völ- der Kriegsherren, Top-Manager oder Killer Konstrukt.
lig aussichtslose Lebenswege“ – eine Ab- macht. Die Forscher sind sich nicht einig, wel-
wärtsspirale, die sich immer weiter drehen Psychologen wie Simon Baron-Cohen cher der beiden Ansätze – oder eine Mi-
würde und den Nährboden für zornige von der britischen Cambridge University schung davon – der Wahrheit besser Rech-
Männer bilde, die sich zu gewalttätigen Ju- sind überzeugt davon, dass auch der Ag- nung trägt.
gendbanden zusammenschließen würden. gressor der Moderne eine alte Bürde der Das Gehirn des männlichen Homo sa-
Nur: Wie kann es sein, dass ein Ge- Evolution mit sich schleppt. Der Kampf piens wird früh mit Testosteron überschüt-
schlecht die Gewalt so nachhaltig gepach- ums Weib errichtet ihm zufolge die Ur- tet, so viel ist klar. Schon im Mutterleib, in
tet hat? Dass es junge Männer sind, die bühne noch für heutige männliche Misse- der achten Schwangerschaftswoche, hat
morden und schlagen, sehr viel seltener taten: „Die tapfersten und geschicktesten eine Kaskade molekularer Signale die Wei-
chen unumkehrbar Richtung Mann gestellt,
das Bad der kleinen Gehirnanlage im Män-
60 und älter nerhormon ist die Folge. Das Testosteron
50 bis 59 lasse dann im Denkorgan, glaubt etwa
Louann Brizendine, Neuropsychiaterin aus
40 bis 49 Gewaltkriminalität nach Alter San Francisco, „in den Regionen, die für
Männliche Tatverdächtige Sexualität und Aggression zuständig sind,
30 bis 39 pro 100000 Einwohner mehr Zellen heranwachsen“.
der jeweiligen Altersgruppe Anscheinend bestimmt die Hormonbio-
logie das Kinderleben noch bis ins Vor-
25 bis 29
schulalter. Dass Jungs rangeln und toben
und jeden Astknüppel in ein Laserschwert
21 bis 24
verwandeln, könnte theoretisch noch Grup-
penzwängen, der Sozialisation geschuldet
18 bis 20
sein. Aber auch Mädchen mit dem soge-
nannten Adrenogenitalen Syndrom (AGS)
16 bis 17 sind oft wahre Wildfänge – sie waren, wie
die kleinen Jungs, im Mutterleib dem Testo-
14 bis 15 Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2006
steron ausgesetzt. Demnach wäre die aus-
ufernde Wut im Leib doch angeboren.
8 bis 13 Wenn das stimmte, müssten die AGS-
Mädchen sich allerdings auch als Teenies
0 200 400 600 800 1000 1200 1400 1600 1800 2000
oder Erwachsene noch so gewaltbereit zei-
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 23
Titel

„Koch vertuscht seine Versäumnisse“


Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) über die Vorschläge des hessischen Ministerpräsidenten
zur Bekämpfung der Jugendgewalt und die Defizite bei der Ausländerintegration

SPIEGEL: Die Bundeskanzlerin will ein Zypries: Auch bei einem Ersttäter kön- Ziele verfolgen. Im Übrigen ist das ein
breiteres Strafinstrumentarium für Ju- nen die Jugendgerichte nach geltendem ganz plastisches Beispiel für die hessi-
gendliche, die CDU legt ein ganzes Maß- Recht eine Jugendstrafe ohne Bewährung sche Wahlkampflinie: Schon heute be-
nahmenpaket vor. Sie sind die zuständi- verhängen. Es ist doch bezeichnend für steht die Möglichkeit, Erziehungscamps
ge Fachministerin. Arbeiten Sie schon an die Debatte, dass die Fachleute wie Poli- einzurichten. Außerdem ist der Vollzug
einem eigenen Vorschlagskatalog? zisten, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und der Jugendstrafe seit der Föderalismus-
Zypries: Angela Merkel hat aber auch dar- Richter nicht nach dem Gesetzgeber reform Sache der Länder. Es hilft dem
auf hingewiesen, dass schnelle Antworten rufen. Ich plädiere sehr dafür, Staatsan- hessischen Ministerpräsidenten hier also
nicht möglich sind, und sich vor allem wälte und Richter ihre Arbeit machen zu ebenfalls nichts, auf den Bundesgesetz-
für eine besonnene Debatte ausgespro- lassen. Das notwendige gesetzliche In- geber zu zeigen.
chen. Das begrüße ich, und das ist etwas strumentarium haben sie. Wer in einem SPIEGEL: Sie meinen also, er sollte erst
anderes als das Wahlkampfgetöse, das Bundesland Verantwortung für Justiz mal die eigenen Hausaufgaben machen?
zuletzt zu vernehmen war. Zypries: Wenn es zutrifft,
Die Position der SPD ist dass Koch bereits 1999 mit
klar: Wir müssen hart der FDP die Einrichtung
gegen Kriminalität vorge- geschlossener Erziehungs-
hen, aber vor allem ihre camps für junge Straftäter
Ursachen konsequent be- vereinbart, bis heute aber
kämpfen. kein einziges eingerichtet
SPIEGEL: Was spricht gegen hat, steckt hinter seiner
einen frühzeitigen „Warn- Kampagne nichts anderes
schuss-Arrest“, wie ihn jetzt als das Vertuschen eigener
auch die Kanzlerin fordert? Versäumnisse. Wenn es ihm
Zypries: Den Jugendarrest ernst ist mit dem Kampf
als Warnschuss haben wir gegen Jugenddelinquenz,
längst. Der wurde offenbar muss er sich zudem fragen
auch gegen den 20-Jährigen lassen, weshalb Hessen im
im Münchner U-Bahn-Fall Jahr 2004 freiwillige Leis-
schon mehrmals verhängt. tungen im Bereich der
Insgesamt war dieser Be- Justiz um rund ein Drittel
CHRISTIAN THIEL

schuldigte sogar sechs Mo- gekürzt hat. Betroffen wa-


nate in Haft, also deutlich ren Projekte zur Untersu-
länger, als es für den „Warn- chungshaftvermeidung, Be-
schuss-Arrest“ diskutiert Ministerin Zypries: „Jeder junge Kriminelle ist einer zu viel“ währungshilfe und ambu-
wird. Genützt hat diese Er- lante Hilfen. Zuwendungen
fahrung aber offenbar nichts, und das trägt, kann ihnen dabei übrigens sehr gut für ein Anti-Aggressions-Training in
deckt sich mit den Erkenntnissen, die wir helfen, indem er die Justiz personell und Rockenberg wurden völlig gestrichen.
über den Jugendarrest haben. Danach materiell so ausstattet, dass die Verfahren Wenn es um konkrete Taten geht, scheint
werden jugendliche Straftäter mit Arrest schnell abgeschlossen werden können. Es Herr Koch sich wegzuducken.
häufiger rückfällig als ohne. nützt nämlich gerade bei Jugendlichen SPIEGEL: Koch spricht gezielt über „zu
SPIEGEL: Wollen Sie ihn konsequenter- wenig, wenn Strafen, egal wie streng, lan- viele kriminelle junge Ausländer“. Sehen
weise abschaffen? ge auf sich warten lassen. Deshalb wäre Sie für diese Zielgruppe ebenfalls spezi-
Zypries: Natürlich nicht, aber zu einer se- es schön, wenn Herr Koch da handeln fischen Handlungsbedarf?
riösen Bestandsaufnahme gehört nun ein- würde, wo er die Kompetenz hat. Zypries: Jeder junge Kriminelle ist einer
mal auch die Erkenntnis, dass er kein SPIEGEL: Sie haben sich auch gegen so- zu viel, egal ob Deutscher oder Auslän-
Wundermittel ist. Das Motto „Lieber drei genannte Boot-Camps ausgesprochen, der. Es ist aber richtig, dass wir vor allem
Tage Gefängnis als lebenslang kriminell“ weil sie die Menschenwürde verletzten. in den Ballungszentren erhebliche Pro-
ist völlige Illusion. Wenn es so einfach Stattdessen gehe es um die „positive bleme mit Jugendgewalt auch durch jun-
wäre, dann hätten wir keine Jugendkri- Veränderung des Verhaltens“ der Ju- ge Migranten haben, da gibt es nichts
minalität. Das ist eben einer der Unter- gendlichen. Wie wollen Sie dieses Ziel wegzudiskutieren. Die Diskussion um Er-
schiede zwischen seriöser Arbeit und erreichen? ziehung und Integration muss geführt
Wahlkampfgeklingel. Zypries: Nicht jedes Erziehungscamp ver- werden.
SPIEGEL: Sehen Sie nicht das Problem, stößt gegen die Menschenwürde. Das gilt SPIEGEL: Genau diese Debatte stößt Koch
dass jugendliche Ersttäter, die mit Be- nur für diejenigen, die Menschen be- nun an.
währungsstrafen davonkommen, die Jus- wusst zu Objekten degradieren, auch Zypries: Dass Herr Koch dieses Problem
tiz danach nicht mehr ernst nehmen? wenn sie dabei vielleicht achtenswerte im Wahlkampf entdeckt, ist durchsichtig.

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HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS
Inhaftierte Jugendliche (in Bremen): „Nicht jedes Erziehungscamp verstößt gegen die Menschenwürde“

Seine Union war es doch, die jahrzehn- gen wie die Knaben. Aber das tun sie Die Jungs, zwischen fünf und acht Jahre
telang negiert hat, dass Deutschland nun nicht; zumindest können bisherige Studien alt, werden ihren Müttern entrissen und, so
einmal faktisch ein Einwanderungsland dies nicht zweifelsfrei belegen. zitiert Otten die Ethnologen, „tage-, oft
ist. Es war SPD-Innenminister Otto Schi- Die Ergebnisse machen es eher un- wochenlang gefoltert, gedemütigt, bedroht,
ly, der erstmals ein Zuwanderungsgesetz wahrscheinlich, dass die Natur den Jungs brutal misshandelt und gequält“.
durchgesetzt hat, das einen Schwerpunkt das Aggressionspotential schon in die Initiationsriten finden sich bis in die Mo-
auf Integrationsmaßnahmen legt. Das Wiege gelegt hat. „Die für so viele Männer derne, in Jungenschulen etwa, in der mi-
heißt für mich, vor allem bei den Sprach- des modernen Menschentyps charakteris- litärischen Ausbildung oder in Gruppie-
kenntnissen im Kleinkindalter anzuset- tische Aggressivität ist das Ergebnis ei- rungen wie den Hooligans, wo Novizen
zen und damit die Voraussetzung für eine nes scharfen Trainings“, sie werde erst die rücksichtslose Brutalität ebenfalls erst
solide Bildung und eine echte Chance am „durch ein oft über Jahre, wenn nicht so- mühsam erlernen müssen.
Arbeitsmarkt zu schaffen. Da gibt es noch gar Jahrzehnte währendes Initiationsritual Wenn es aber stimmt, dass die brutale-
viel zu tun, auch in Hessen. erworben“, meint Dieter Otten, Soziologe ren Varianten eines Männerbilds im Grun-
SPIEGEL: Koch bezeichnet Sie in der Dis- und Männerforscher an der Uni Osna- de gesellschaftlich konstruiert werden,
kussion als das „personifizierte Hinder- brück. lassen sie sich auch von der Gesellschaft
nis“, Unionsfraktionsvize Wolfgang Bos- Aus Ostneuguinea zum Beispiel ist das ändern.
bach wirft Ihnen Ahnungslosigkeit vor. sogenannte Waldhüttenritual überliefert – Die Zahlen, in denen sich Brutalität ma-
Können Sie diese Debatte noch politisch eine aus Sicht westlicher Industriegesell- nifestiert, werden von deutschen Sicher-
für sich entscheiden? schaften unfassbar brutale Gehirnwäsche. heitsexperten auf der Suche nach Gegen-
Zypries: Nun ja, manchem gehen im mitteln deshalb registriert wie die Angaben
Wahlkampf offenbar die Sachargumente UMFRAGE: GESCHLOSSENER VOLLZUG über die Ausbreitung einer Seuche. Die
aus, und dann bleibt ihm halt nur, per- Kurve mit den Zahlen der Befallenen steigt
sönlich zu werden. Wir haben einen Ko- „In Hessen wird ab 2008 für langsam, aber unaufhaltsam. Im November
alitionsvertrag, der gilt. Darin haben wir 2007, wenige Wochen vor dem Überfall
die Einführung der nachträglichen Siche-
jugendliche Gewalttäter der von München, haben die Innenminister
rungsverwahrung für Jugendliche ver- geschlossene Jugendstrafvollzug der Länder wieder zusammengesessen und
einbart, und das Kabinett hat meinen angeordnet. Halten Sie das ratlos ihre Daten verglichen: Alle sechs Mi-
Gesetzesentwurf dazu im Juli 2007 für sinnvoll?“ nuten langt irgendwo in Deutschland ein
beschlossen. Im Übrigen haben sich die Jugendlicher oder Heranwachsender kräf-
Koalitionspartner darauf verständigt, kei- JA 53 % tig zu.
ne weiteren Änderungen im Jugendstraf- Während die polizeilich registrierte Ge-
recht vorzusehen – übrigens unter Betei- samtkriminalität von 1997 bis 2006 um
ligung des hessischen Justizministers.
NEIN 40 % 4,3 Prozent zurückging, stieg die erfasste
Interview: Marcel Rosenbach TNS Forschung für den SPIEGEL vom 2. und 3. Januar; Gewaltkriminalität um 15,6 Prozent. Dabei
1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“ / handelt es sich im Wesentlichen um Kör-
keine Angabe
perverletzung.
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EASTCOTT-MOMATIUK / THE IMAGE WORKS
Jugendlicher Straftäter, Betreuer in einem US-Bootcamp: „Menschen zu Objekten degradiert“?

Fast die Hälfte (43,4 Prozent) aller regi- tionshintergrund mit 56 Prozent an, Städ- größte Industrienation Europas prophe-
strierten Gewaltdelikte wurde 2006 von te wie Nürnberg meldeten 60 Prozent. zeien die Experten den Innenchefs der
unter 21-Jährigen verübt, ihr Anteil an den Die Erkenntnisse über den wachsenden Länder: Ab 2010 sei für viele Großstädte
Tatverdächtigen steigerte sich allein von Anteil der Migrantensprösslinge an der Ge- ein Anteil von unter 40-jährigen Zuwan-
2002 bis 2006 um 11,5 Prozent, im Zehn- waltszene haben bei den Innenministern derern an der Wohnbevölkerung von rund
jahresvergleich sogar um 25,8 Prozent, ab- Unruhe ausgelöst. Wenn nicht schnell Re- 50 Prozent zu erwarten.
solut von rund 70 000 auf rund 90 000 Tat- zepte gefunden werden, die Infektion der Dort spitzt sich die Situation schon jetzt
verdächtige (von insgesamt 207000) bei der Zuwanderer und ihrer Familien mit der zu. Wie schwierig die Lage vieler Zuwan-
Gewaltkriminalität. Gewaltseuche zu stoppen, droht eine Ex- derer ist, macht der Jahresbericht der Aus-
Allerdings relativieren Wissenschaftler plosion. Eine neue Youth Bulge und den länderbeauftragten Maria Böhmer deut-
diesen Befund: Erhöhte Anzeigebereit- Ansturm zorniger junger Männer auf die lich: 40 Prozent der Jugendlichen aus Aus-
schaft und größere Sensibilität für brutales länderfamilien gehen weder zur Schule,
Verhalten hätten die Zahlen nach oben ge- UMFRAGE: STRAFRECHT noch absolvieren sie eine Berufsausbil-
trieben. Doch in einem kritischen Punkt dung. 72 Prozent der in Deutschland le-
sind sich alle Experten einig: Der Anteil „Halten Sie das deutsche benden Türken, selbst wenn sie hier gebo-
der Ausländer an der Gesamtkriminalität ren sind, haben keine berufliche Qualifi-
ist weiter deutlich überproportional. Selbst
Strafrecht für geeignet, wirksam kation.
wenn man Touristen, Stationierungsstreit- gegen jugendliche Straftäter Niemand ist da erstaunt, wenn die Ber-
kräfte sowie Tatverdächtige bei Delikten, vorzugehen?“ liner Landeskommission gegen Gewalt zu
die nur Ausländer begehen können – wie dem Ergebnis kommt, dass sich die Le-
Verstöße gegen Aufenthaltsbestimmungen ist geeignet 27 % benswelt junger Migranten hauptsächlich
– aus der Statistik herausrechnet, ist ein auf ihren Kiez beschränkt. Sie lernen
Anteil von 17,4 Prozent an den Tatver- also andere Lebenswelten und -formen
dächtigen bei einem Bevölkerungsanteil sollte verschärft werden 65 % außerhalb ihrer von Ausgrenzung und
von aktuell 8,8 Prozent immer noch sehr Migration geprägten Umwelt gar nicht
hoch. erst kennen. Innerhalb solcher Milieus
Hinzu kommt die Beteiligung von Ju- „Wird bei den Ermittlungen zu bilden sich dann eigene Werte und Nor-
gendlichen mit deutschem Pass, die aus einer Straftat hart genug mit men, mithin das Gesetz der Straße.
Migrantenfamilien stammen. jugendlichen Verdächtigen Werden Teile Deutschlands also über
In Berlin betrug 2006 der Anteil von Mi- kurz oder lang unter dieses Gesetz der
grantenkindern bei der Jugendgruppenge- umgegangen?“ Straße fallen, können Macho-Kultur und
walt 44,7 Prozent, eine Auswertung von Schlägerbanden das Land verändern?
138 Intensivtätern zwischen Mai und Sep- hart genug 34 % Ängste, mit denen man spielen kann.
tember 2004 ergab dort einen Anteil von Serkan A. entwickelt sich zum Wahl-
fast 80 Prozent. Baden-Württemberg mel- kampfschlager.
dete einen Anteil von 45,9 Prozent Mi- bin für mehr Härte 52 % Hessens Ministerpräsident Roland Koch
grantenkindern an den Intensivtätern – zu- (CDU) war der Erste. Eilig nutzte er die
züglich 17 Prozent Aussiedlern unter den TNS Forschung für den SPIEGEL vom 2. und 3. Januar; Chance, an seinen Kampagnenerfolg von
1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“ /
deutschen Tatverdächtigen. Bremen gibt keine Angabe 1999 anzuknüpfen. Damals hatte Koch
den Anteil der Intensivtäter mit Migra- Stimmung gegen die doppelte Staatsbür-
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Titel

gerschaft gemacht – und wider alle Vor- Zugleich gibt er sich gegenüber der Dabei sind es nicht die großspurigen Kon-
hersagen gegen die SPD gewonnen. Union gesprächsbereit: „Die SPD ist zepte, es ist die geduldige Kleinarbeit der
In der vergangenen Woche forderte er selbstverständlich bereit, zwischen Bund Polizei, die oft hilft, die Gewalt in den Griff
in einem „Sechs-Punkte-Plan“ mehr Här- und Ländern gemeinsam zu beraten, wie zu bekommen. Polizisten, die bösen Bullen
te gegen jugendliche Straftäter. Ein „Warn- wir für eine bessere Umsetzung der be- von gestern, fungieren immer häufiger als
schussarrest“ solle eingeführt werden, stehenden Gesetze sorgen können, wenn Sozialarbeiter, Jugendhelfer und Richter in
für 18- bis 20-Jährige im Regelfall das die Landesregierungen in Hessen, Nie- einer Person. Sie machen mancherorts sogar
Erwachsenenstrafrecht herangezogen wer- dersachsen oder Hamburg damit Proble- Hausbesuche bei Eltern und drohen wie
den. Die Höchstgrenze für Jugend- me haben. Das ist sinnvoller, als jetzt einst die Dorfpolizisten mit dem Finger.
haftstrafen müsse von 10 auf 15 Jahre Schnellschüsse aus Motiven zu produzie- Kaum einer von den wilden Kerlen lacht
erhöht und überdies eine anschließende ren, die allein dem Wahlkampf geschul- darüber. Inzwischen hat es sich herumge-
„Sicherungsverwahrung“ möglich werden. det sind.“ sprochen: In der Hand der Polizei liegt es
Ein Abschnitt seines Plans richtet sich Auf keinen Fall wollen die Sozis sich oft, ob es gelingt, einen jungen Mann wie
explizit gegen ausländische Straftäter. Sie nachsagen lassen, das Thema vernachläs- Serkan A. durchzubringen, oder ob er auf-
sollen künftig bei Gefängnisstrafen von sigt zu haben. Andererseits lehnen Genos- gegeben wird, zu den verlorenen Kindern
einem Jahr ohne Bewährung ausgewiesen sen Vorschläge wie die Einführung von gehört, die im Knast landen.
werden können. rabiaten Bootcamps nach US-Vorbild ab. In Polizisten, nicht nur Lehrer sind es, von
Koch sieht sich als „akzeptierten Spre- manchen würden „Menschen zu Objekten deren Engagement es manchmal abhängt,
cher einer schweigenden Mehrheit in degradiert“, sagt Justizministerin Brigitte ob an den deutschen Schulen die Gewalt
Deutschland“. Er habe schon „Hunderte“ Zypries im SPIEGEL-Interview: „Wir müs- den Unterricht lahmlegt.
von Mails und Briefen zu-
stimmenden Inhalts bekom-
men, tönt er.
Die Kanzlerin hat sich
nach kurzem Nachdenken
Ende vergangener Woche
entschieden, ihren lang-
jährigen Rivalen zu unter-
stützen. Dabei ist über-
schießender Wahlkampf-Po-
pulismus Angela Merkel
eher fremd. 1999 war sie ge-
gen Kochs Unterschriften-
kampagne zur doppelten
Staatsbürgerschaft. Aber
nun will die CDU-Vorsit-
zende nicht dafür verant-
wortlich sein, wenn die
CDU-Regierung in Hessen
am 27. Januar kippt. Für die
Vorstandsklausur am ver-
gangenen Wochenende ließ
Merkel ein Papier ausarbei-

ULLSTEIN BILD
ten, mit dem sich die Partei-
spitze hinter die Forderun-
AKG

gen Kochs stellt.


In der Union gibt es ein Wikinger-Krieger, britische Kolonialtruppen (im Sudan): Überschuss zorniger junger Männer
großes Bedürfnis, endlich
wieder mit Law-and-Order-Themen vor die sen hart gegen Kriminalität vorgehen, aber So war es an einer Realschule in Trois-
Wähler zu treten. Vor allem Unions-Frak- vor allem ihre Ursachen bekämpfen.“ dorf. Türkische und russische Gangs be-
tionschef Volker Kauder will sich als Mann Tatsächlich sieht Kochs Einsatz im herrschten den Schulhof. Ständige Schlä-
des konservativen Parteiflügels profilieren. Kampf gegen die Jugendkriminalität in gereien, Diebstähle und Mobbing prägten
Zusammen mit Merkel will er die Sozial- seinem Land eher traurig aus. 1999 trat das Schulklima.
demokraten zu Gesprächen über eine Ver- seine Mannschaft mit der Ankündigung Die Kriminalpolizei empfahl der Schul-
schärfung des Jugendstrafrechts zwingen. an, den „härtesten Strafvollzug Deutsch- leitung, die eigenen Schüler anzuzeigen.
Das Thema soll auch bei der nächsten Sit- lands“ einführen und das Land sicherer Nach einem Diebstahl führten die Polizei-
zung des Koalitionsausschusses angespro- machen zu wollen. Heute sind ausgerech- beamten einen Schüler demonstrativ aus
chen werden. net im Koch-Land die Jugendarrestplätze dem Unterricht ab. Das half.
Nervös beobachten die Sozialdemokra- komplett überfüllt. Es dauere bis zu drei „Wir brauchen Hilfsangebote von Schul-
ten, wie das Thema Jugendkriminalität die Monaten, bis ein Arrestplatz frei werde, psychologen und Sozialarbeitern“, sagt der
Schlagzeilen beherrscht. Nur vorsichtig berichtet der Frankfurter Jugendrichter Vorsitzende der Bundesschülerkonferenz,
setzt sich der Vorsitzende Kurt Beck von Jürgen Fröhlich. Christopher Schuldes. Immer nach aufse-
den Scharfmacherparolen Kochs ab: „Die In einer spektakulären Sparaktion ließ henerregenden Amokläufen wie zuletzt in
SPD steht auf der Seite all jener Menschen, Koch zahlreichen Hilfsprojekten für straf- Emsdetten vor gut einem Jahr wird nach
die hart arbeiten und sich an die Regeln fällig gewordene Jugendliche die Landes- frühzeitiger Vorsorge in den Schulen ge-
halten. Wer gegen Recht und Gesetz ver- zuschüsse streichen. Zudem fielen auf sein rufen.
stößt, muss die Konsequenzen spüren. Da Geheiß in den vergangenen Jahren nach Doch die Wirklichkeit ist ernüchternd:
reichen die jetzigen Mittel aber voll aus“, Gewerkschaftsangaben fast tausend Poli- Während in den USA, in Skandinavien,
sagt der Parteivorsitzende. zeistellen dem Spardiktat zum Opfer. England oder Frankreich fast jede Schule
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Titel

WOLFGANG HÖRNLEIN / PDH


Wahlkämpfer Koch*: „Akzeptierter Sprecher einer schweigenden Mehrheit in Deutschland“

einen eigens geschulten Psychologen be- oder Deutsche mit Migrationshintergrund. über die städtische Justiz gewundert. Vie-
schäftigt, kommen in Deutschland auf jede Und fast alle haben in der eigenen Familie le ihrer „Kunden“ sind nämlich Mitglie-
Fachkraft 15 000 und in den Großstädten Gewalt erlebt. „Die Biografien gleichen der von Kölner Jugendgangs wie den
6000 Schüler. sich“, sagt Schütz, dessen Team sich aus- „Bickendorf Gangsters“ oder „The new
In Nordrhein-Westfalen hat nur jede schließlich um Intensivtäter kümmert und Generation of Gernsheimer“ – Banden,
zwanzigste der 7000 Schulen eine ausge- gegen einen bedrohlichen Trend anarbei- die sich gegenseitig bis aufs Blut bekriegen
bildete Kraft. Auch am Kölner Georg- tet: Die Zahl der minderjährigen Straftäter und nebenbei so ziemlich alles beklauen
Büchner-Gymnasium, an dem zwei Schü- in Köln ging in den vergangenen Jahren und verprügeln, was sich ihnen in den Weg
ler im vergangenen November Waffen kontinuierlich nach oben – von 2005 auf stellt.
für einen Amoklauf bereitlegten und einer 2006 gab es den größten Sprung. In den Als acht der Bickendorf-Gangster im
der Täter dann Selbstmord beging, gab Jahren wurden bei Fällen von Raub, Be- Dezember 2006 wegen mehr als 100
es keinen Expertenrat mehr. Die Stel- drohung und Nötigung Steigerunsraten Straftaten, unter anderem wegen schwe-
le des Schulpsychologen war nach des- von zum Teil mehr als 20 Prozent ver- ren Raubes, Körperverletzung, Einbrüchen
sen Pensionierung nicht neu besetzt zeichnet. und Brandstiftung, vor Gericht standen,
worden. Der 17-jährige Erdinc H. war schon lan- erhielten sie Bewährungsstrafen und Ver-
Am Ende jedes Monats wird im Kölner ge auf der „Top 100“-Liste, als er während warnungen: ein Richterspruch, der Anfang
Kriminalkommissariat 57 immer die neue des Kölner Karnevals im Februar 2007 Dezember 2007 vom Bundesgerichtshof
„Top 100“ erstellt. Leiter Walter Schütz grundlos einen Familienvater mit Fäusten kassiert wurde. Wegen der „Schwere der
und seine Kollegen schauen sich dafür an, und Tritten traktierte – vor den Augen von Schuld“ sei schärfere Bestrafung erforder-
was ihre zornigen jungen Männer in den dessen vier Kindern. Der Mann erlitt ei- lich, argumentierte der BGH.
vergangenen vier Wochen denn so ver- nen schweren Hirnschaden. Die Prügel- „Rundumsorglospaket“ nennen ein biss-
brochen haben: Für Raub gibt es fünf, für orgie löste in Köln eine wochenlange Dis- chen zynisch die Berliner Fahnder ihr Spe-
Körperverletzung drei, für Ladendiebstahl kussion über den Umgang mit gewaltbe- zialprogramm zur Verfolgung jugendlicher
einen Punkt. Wenn alles addiert und mit reiten Ausländern aus – auch weil Erdinc Intensivtäter. Die zielgerichtete Einzelfall-
Daten über die Entwicklung verrechnet ist, nach kurzer Zeit vom zuständigen Gericht Behandlung des Berliner Intensivtäter-
gibt es die neue Hitliste der jungen Kölner wieder aus der Untersuchungshaft entlas- Programms verlangt den Beamten der
Intensivstraftäter. sen wurde. „Kommissariate für täterorientierte Er-
Wer auf der „Top 100“ gelandet ist, wird Die Milde sorgte bei den Mitarbeitern mittlungen“ viel Zeit und Mühe ab – zeigt
nun besonders genau beobachtet und re- des KK 57 und dem Kölner Polizeipräsi- aber auch erhebliche Erfolge. Kriminal-
gelmäßig unangekündigt besucht. Meist denten Klaus Steffenhagen für Verärge- hauptkommissar Andreas Wolter, Lei-
hat er im vergangenen Jahr etwa 50 ak- rung. „Die Jungs müssen in solchen Fällen ter der Intensivtäterabteilung für die Ber-
tenkundige Straftaten begangen und ter- die ganze Härte des Gesetzes spüren“, liner Brennpunkt-Kieze Kreuzberg und
rorisiert irgendeinen Kölner Schul- oder sagte Steffenhagen damals, „viel früher Neukölln, weiß, dass seine „Patienten“
Hinterhof. und schneller.“ Bewährungsstrafe, das ganz anders auf einen Beamten reagieren,
Kaum einer, dessen Name auf der Liste habe die Arbeit gezeigt, würde von den den sie schon seit Jahren kennen. „Wir ma-
steht, ist älter als 16. Mehr als 60 Prozent Intensivtätern als „etwas Abstraktes“ chen denen von Anfang an klar: Wann
der „Top 100“-Täter sind Türken, Araber empfunden, sie nötigten den meisten „nur immer du mit der Polizei zu tun hast, du
ein Lachen“ ab. wirst immer dasselbe Gesicht vor dir ha-
* Mit Hessens Innenminister Volker Bouffier am 2. Janu- Das Team vom KK 57 hat sich gerade in ben. Und was du auch anstellst, wir werden
ar in Wiesbaden. den vergangenen Monaten immer wieder schon da sein.“
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noch Vorbildfunktion für ihre Söhne ge-
habt hätten, verlören sie in den Augen
der Kinder heute zusehends an Ansehen
und damit an Respekt. Die Folge sei tie-
fe Perspektivlosigkeit, oft verbunden mit
der Suche nach Halt in kruden Ehrbe-
griffen.
500 Personen umfasste am vorigen Mitt-
woch die sogenannte Intensivtäter-Datei
der Berliner Staatsanwaltschaft, die seit
2003 von der eigens gegründeten Abtei-
lung 47 geführt wird.
Die Ermittlungsgruppe ist inzwischen
eine der größten Spezialabteilung der
Berliner Anklagebehörde – insgesamt
zehn Staatsanwälte verwalten in den
Räumen der ehemaligen Jugendarrestan-
stalt in Alt-Moabit die kriminellen Karrie-
ren der vorwiegend männlichen Täter, die

MALTE WITTMERSHAUS / INSIDE-PICTURE


in ihrem jungen Leben mindestens zehn-
mal einschlägig justizbekannt geworden
sind.
STEFAN KROEGER / VISUM

Um kriminelle Intensivkarrieren zu be-


enden, bevor sie überhaupt begonnen ha-
ben, greift in der Hauptstadt seit Jahres-
beginn ein neues Konzept von Polizei und
Staatsanwaltschaft: Sobald ein Jugendli-
Kriminalexperten Pfeiffer, Nagel: Reservierte Kindergartenplätze für Ausländer? cher oder Heranwachsender fünfmal mit
Gewaltdelikten in Erscheinung tritt, wird
Wolter hat aktuell 177 Fälle in seiner Fahnder zu berichten, sind die Motive
Kartei, alles Männer, fast alle unter 21 Jah- mehr und mehr im sozialen Umfeld der 35 484
ren, zum überwiegenden Teil junge Deut- Delinquenten zu suchen. „Die gesell-
sche mit Migrationshintergrund. Viele da- schaftliche Schere geht spürbar auseinan-
von stammen aus „geschredderten“ Fami- der“, sagt der Ermittler, „viele Eltern ha- 34 735
lien, wie der Kommissar sagt, und finden in ben ihre Arbeit verloren – und damit auch
ihrem Sondersachbearbeiter oftmals zum die Autorität über ihre Kinder.“
ersten Mal eine Respektsperson, die Besonders deutlich sei das bei Jugend- Veränderung
manchmal sogar zu einer Art Leitfigur für lichen der zweiten und dritten Einwande- bezogen auf 1994:
sie wird. „Für viele Täter gehört Gewalt zu rergeneration zu beobachten: Während
ihrem Alltag – weil sie es nie anders gelernt die hart arbeitenden Väter vor Jahren + 84 %*
haben.“

Heranwachsende Gewalt
Das Kriminalitätsphänomen jugendli-
cher Intensivtäter ist nicht neu: Es be-
weibliche
schäftigt die Staatsgewalt schon seit knapp Polizeilich erfasste Gewaltkriminalität Tatverdächtige
30 780
20 Jahren. Bereits Anfang der neunziger Tatverdächtige in der Alters-
Jahre registrierten Ermittler in den deut- gruppe der 18- bis
12,8 %
schen Großstädten einen sprunghaften An- 20-Jährigen
stieg einschlägiger Gewaltdelikte, began- 29 109
gen von immer jünger werdenden Tätern.
Der verharmlosende Begriff „Abziehen“ männliche
kam in Mode, wenn es um brutale Raub- 27 428
Tatverdächtige
delikte junger Krimineller ging, die
ihren meist gleichaltrigen Op- 87,2 %
fern teure Markenjacken
oder – inzwischen be-
sonders häufig – Mo-
25 417
biltelefone entwen-
deten.
Mittlerweile,
so weiß ein
hochrangi- Quellen: Polizeiliche Kriminalstatistik; Destatis
ger Ber- *Anstieg in allen Altersklassen: 57%
liner 21 545

19 297
1994 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 2006

d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 29
Titel

frühzeitig zu helfen. Ich sehe das als

„Richtiges zur richtigen Zeit“


Akt der Fürsorge gegenüber Heran-
wachsenden, die man davor bewahren
will, in eine kriminelle Karriere ab-
zugleiten. Ich kann mir im Übrigen
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) gar nicht vorstellen, dass die Kolle-
über nachsichtige Richter, den Nutzen von Erziehungscamps gin Zypries derartige Einrichtungen
und die Grenzen der Großen Koalition wirklich menschenunwürdig findet,
immerhin sind sie ja rechtlich längst
SPIEGEL: Herr Innenminister, sind Ju- Tätergruppen hinweg. Wir hatten dazu möglich.
gendliche heutzutage gewalttätiger als schon in den Koalitionsgesprächen Vor- SPIEGEL: Der Richterverband hat an die
früher? schläge gemacht, aber die SPD hat fast Adresse der Union gerichtet allerdings
Schäuble: Es fällt schon auf, dass alles blockiert. Ich habe das Gefühl, erklärt, dass es zur Bekämpfung der
wir bei Gewaltdelikten nun schon seit daran werden auch die aktuellen Vor- Jugendgewalt keiner neuen Gesetze
Jahren einen starken Anstieg jugend- fälle nichts ändern. Das sind eben die bedürfe.
licher Tatverdächtiger feststellen, wäh- Grenzen von Koalitionen. Aber viel- Schäuble: Wenn man sich die Ge-
rend die Gesamtkriminalität zurück- leicht bewegt sich die SPD nach dem schichte der beiden mutmaßlichen
geht. Fast jeder zweite Verdächtige ist Votum der Wähler in Hessen. Straftäter von München anschaut, die
hier mittlerweile unter 21, das ist dra- SPIEGEL: Ihre Parteifreunde überbieten Berge von Justizakten, die sie schon
matisch. sich dafür jetzt mit Vorschlägen von ei- verursacht haben, dann hätte man auf
SPIEGEL: Ihr Parteikollege Roland Koch ner erleichterten Abschiebung bis zur der Basis der geltenden Gesetze mit
hat den Befund zu Wahlkampfzwecken Verschärfung des Jugendstrafrechts. den beiden jungen Herren schon viel
grob vereinfacht. Er spricht früher auch ganz anders
von „zu vielen kriminellen umgehen können. Ich hal-
jungen Ausländern“. te es für zwingend, dass
Schäuble: Ich kann mich wir frühzeitiger härter
über all die Populismus- zugreifen. Mit einem zu
unterstellungen nur wun- großen Maß an Nachsicht
dern, die sind grober Un- verhindern wir derartige
sinn. Roland Koch hat et- Karrieren eben nicht. Es
was Richtiges gesagt, zur gilt, bestehende Gesetze
richtigen Zeit. Wir müs- konsequent anzuwenden,
sen die Themen anspre- auch durch die Gerichte.
chen, die den Menschen SPIEGEL: Andererseits zeigt
unter den Nägeln brennen, das Münchner Beispiel
die Ängste und Sorgen auch, dass ein harter Kurs
der schweigenden Mehrheit nicht fruchtet. In der Fa-
ernst nehmen, gerade im milie von Serkan A. hat-
Wahlkampf. Alles andere ten auch härteste Sank-
würde die Demokratie tionen offenbar keine ab-
schwächen, nicht stärken. schreckende Wirkung, sein
Für mich ist die Debatte Bruder wurde sogar abge-
PAULUS PONIZAK / CARO

sinnvoll und notwendig – schoben.


die letzten Vorfälle waren Schäuble: Es gibt eben
ja wohl erschreckend genug. keine Patentrezepte. Wir
SPIEGEL: Aber die Zahlen haben aber erkannt, dass
jugendlicher und heran- wir in unserer Gesellschaft
wachsender nichtdeutscher Minister Schäuble: „Frühzeitiger härter zugreifen“ Integrationsdefizite haben.
Tatverdächtiger sind so- Die Bundeskanzlerin hat
wohl bei der Gesamtkriminalität als Schäuble: Wir müssen den jungen Leu- das Thema schon vor zwei Jahren zu
auch bei Gewaltdelikten prozentual ten früher mit Entschiedenheit entge- einem Schwerpunkt gemacht, aber
rückläufig – diese Statistik liegt auch gentreten, sie müssen spüren, dass es natürlich sind längst nicht alle Proble-
Ihrem Haus vor. Grenzen gibt und sie nicht mit allem me gelöst. Wir dürfen auch nicht den
Schäuble: Der Anteil nichtdeutscher durchkommen. Dafür braucht es einen Eindruck erwecken, die Politik könne
Verdächtiger liegt in manchen Bal- gewissen pädagogischen Druck. Des- sie allein lösen.
lungsräumen bei fast fünfzig Prozent, wegen verstehe ich nicht, warum die SPIEGEL: Wer sonst?
er ist gemessen am Anteil an der SPD auf den Vorschlag, verstärkt auf Schäuble: Wir müssen als Gesellschaft
Gesamtbevölkerung überproportional Erziehungscamps zu setzen, gleich so weiter daran arbeiten, Migranten und
hoch, das kann niemand bestreiten. reflexartig ablehnend reagiert. ihre Kinder dafür zu gewinnen, inte-
Natürlich haben wir auch Probleme mit SPIEGEL: Justizministerin Zypries warnt griert werden zu wollen. Richter müs-
deutschen Jugendlichen, die Herkunft davor, die Jugendlichen zu erniedrigen, sen bestehende Gesetze ausschöpfen,
macht niemanden gesetzestreuer. Das ihren Willen zu brechen. Dies sei nicht Jugendbehörden müssen aufmerksam
Problem der Jugendgewalt ist virulent mit der Menschenwürde vereinbar. sein, und die Gesellschaft muss genau-
und vielschichtig und muss entschie- Schäuble: Der Grundgedanke von er hinschauen.
den angegangen werden, über alle Camps ist doch, jungen Menschen Interview: Marcel Rosenbach

32 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
YAVUZ ARSLAN / DAS FOTOARCHIV
Jugendgang in Berlin-Kreuzberg: „Wir hatten keinen Zugang mehr zu ihnen, jetzt wissen wir, wo wir ansetzen können“

er als sogenannter Schwellentäter erfasst Die Kiezengel sollen die Gegend wie- gesehene Jugendkriminologen wie der Tü-
und kriminalistisch regelrecht durch- der begehbarer machen. Die Polizei kam binger Rechtsprofessor Hans-Jürgen Ker-
leuchtet: Freunde, Bekannte, bevorzugte hier nicht weiter. ner sprechen von der „Gleichwirkung“ al-
Aufenthaltsorte, Handynummern und ak- Die Kiezläufer mussten in Crash-Kur- ler jugendrechtlichen Sanktionen: Es ist ei-
tuelle Fotos werden genauso elektronisch sen nebenbei Basiswissen über Sucht- gentlich egal, ob ein junger Mann einge-
gespeichert wie die Kontaktdaten von El- prävention und Deeskalation pauken, und locht oder nur in Arrest genommen, ver-
tern, Verwandten, Lehrern, Ausbildern nach den ersten Monaten spricht die Se- warnt oder auf Bewährung verurteilt wird:
oder Jugendarbeitern, die im Falle neuer natsverwaltung vorsichtig von kleinen Er- Sein Verhalten wird das alles kaum ändern.
Straftaten vernetzt werden sollen, um mit folgen: „Wir hatten ja gar keinen Zugang Stammtischweisheiten sind gemessen an
vereinten Kräften auf den Delinquenten mehr zu den Jugendlichen. Jetzt wissen solchen Erfahrungen die tönenden Worte
einzuwirken. wir, wo wir ansetzen können.“ über Warnschussarrest und über die „heil-
Wie bei den Intensivtätern wird je- Das Berliner Konzept hat jedenfalls same Erfahrung“, wie sich Knast von innen
dem Schwellentäter ein eigener Kriminal- mehr Chancen als die Versuche, auffällige anfühlt.
beamter zugeordnet, der ihn deutlich Jugendliche ihren Familien wegzunehmen Wie sich Knast von innen anfühlt, be-
spüren lassen soll, „dass der Staat ihn im und sie in Heime zu stecken. Ganze 280 kamen die von außen zuletzt in Berlin mit.
Visier hat“, wie ein Fahnder sagt, und Heimplätze gibt es laut einer Erhebung des Im vergangenen Sommer wurde bekannt,
dass es „anhand der erfassten Daten ein Deutschen Jugendinstituts (DJI) im Ge- dass die 500 Jungs in der Haftanstalt Plöt-
Leichtes wäre, ihn in Windeseile zu er- walttäterland Deutschland. Das reicht nicht zensee statt sich zu bessern kiffen, Pillen
mitteln“. einmal für den Bedarf einer einzigen Groß- einwerfen, prügeln. Allein in den ersten
Seit Herbst 2007 sind in Kreuzberg auch stadt. vier Monaten des vergangenen Jahres gab
sechs „Kiezläufer“ im Einsatz, Männer Die Idee, die gefährlichen jungen Män- es 99 Anzeigen wegen Körperverletzung.
und Frauen in besonderer Mission: Engel ner einfach wegsperren zu können, prägt Jugendrichter haben bereits gedroht, Ju-
für Kreuzberg, aber keine Unschuldsen- nicht nur die Wahlkampfparolen Roland gendliche nicht mehr in die Strafanstalt
gel. Die Männer wie Ali S. und Mahmoud Kochs. Ob Verschärfung der Regeln über einzuweisen, wenn es dort nicht sicherer
H. haben selbst eine dunkle Vergangen- die Jugendstrafe, eine Verlängerung der werde.
heit. Haftzeiten, vereinfachte Verhängung von „Die Hoffnung, dass vom Strafrecht ir-
Untersuchungshaft oder den schnellen gendetwas repariert werden könne, was
UMFRAGE: ANGST VOR AUSLÄNDERN Warnschussarrest, den etwa auch Ham- schon lange vorher kaputtging, ist absurd“,
burgs parteiloser Innensenator Udo Nagel sagt der Tübinger Strafrechtsprofessor Jörg
„Ausländische Jugendliche sind favorisiert – viele wünschen sich, die Jungs Kinzig. Auch dafür ist der Fall A. ein tra-
bei Straftaten überrepräsentiert. mit den archaischen Gewaltphantasien gischer Beleg. Zwölf Jahre alt war Serkan,
wegsperren zu können: nur weg, weg von als er zu kiffen anfing. Das zumindest er-
Haben Sie deshalb Angst vor der Straße – egal, ob es etwas nutzt. zählt seine Schwester. Damals war Serkan
Begegnungen mit ausländischen Es nutzt nichts. Ein Jugendrichter, der gerade zurück aus einem Kinderheim in
Jugendlichen?“ einen jungen Mann ins Gefängnis schickt, Augsburg.
TNS Forschung für den SPIEGEL
vom 2. und 3. Januar; 1000 gibt ihn damit auf. Wer einmal im Jugend- Ein Jahr hatte ihn das Jugendamt dort
JA 20 % Befragte; an 100 fehlende
Prozent: keine Angabe
knast saß, hat keine Chance – lebenslang. untergebracht, um ihn vor seinem betrun-
Um die 80 Prozent liegt die kenen, prügelnden Vater zu schützen.
Rückfallquote bei den zu Ju- Doch mit zwölf ging das Martyrium des
NEIN 79 % gendstrafe verurteilten jun- jungen Türken in der kleinen Mietwoh-
gen Männern. Weltweit an- nung in München-Harthof – einem soge-
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 33
Titel

nannten Problemviertel – weiter. Er flüch- Für Serkans Verteidiger Oliver Schmidt Wochen sehen. Neulinge dürfen noch nicht
tete in den Drogenrausch. Schon damals ist das eher Routine: „Bei diesen jungen mal ohne Begleitung zur Toilette. Täglich
beging Serkan Straftaten, sie sind nicht auf- Straftätern ist die Laufbahn immer sehr benoten die „Haus-Eltern“, Lehrer und
gelistet, denn der Teenager war noch nicht ähnlich, man kann eigentlich schon im Mitarbeiter die Jugendlichen in Sachen
strafmündig. Ladendiebstähle hauptsäch- Voraus sagen, was als Nächstes passiert.“ Sauberkeit, Sozialverhalten, Arbeitstempo
lich. Abschreckung, sagt der Strafrechtler, in der Werkstatt und so fort. Wer sich be-
Im Dezember 2001 wurde eine Akte gebe es für solche Leute nicht. „Die sa- währt, steigt auf. Wer sich danebenbe-
über Serkan A. angelegt, die inzwischen gen: Dann sitz ich halt, na und?“ Junge nimmt, wird degradiert.
1000 Seiten dick ist, 41 Straftaten sind dar- Männer wie Serkan hätten nichts zu ver- Im schlimmsten Fall geht’s zurück in den
in geschildert: Ladendiebstahl, Schwarz- passen. Knast. Manche gehen auch freiwillig
fahren, Einbrüche, Sachbeschädigung, Er- Eine Vita wie die des kleinen Serkan zurück, denn der Tagesplan in Leonberg ist
pressung, Autodiebstahl, Waffenbesitz, macht immun. Und Josef Wilfling, Chef- härter als dort: Zweimal die Woche be-
Hausfriedensbruch, Drogenhandel, Kör- ermittler bei der Münchner Kripo, weiß: ginnt der Tag mit Frühsport um 5.45 Uhr,
perverletzung. „Leute mit dieser Vita laufen zu Hunder- Unpünktlichkeit gibt Punktabzug. Danach
Die Delikte blieben jahrelang die glei- ten in München rum.“ „Zeit der Stille“, Frühstück, Putzen, ab
chen, doch die Qualität änderte sich. Ser- Was also soll mit ihnen geschehen? „Ju- 8.15 Uhr geht es „auf den Bau“: Die Jungs
kan wurde immer brutaler, er beschaffte gendkriminalität ist ubiquitär und tem- renovieren das alte Haus nebenan, als Teil
sich das, was er wollte, mit immer mehr porär“, sagen die Kriminologen wie der der hauseigenen Berufsschule. Was sie hier
Gewalt. Weihnachten 2004 fing er an, sei- Tübinger Kerner, sie kommt überall vor, lernen, liegt sogar über dem Niveau gleich-
ne Opfer zu bedrohen und zu nötigen, und sie wächst sich von selbst aus, wenn altriger Berufsschüler – denn nur mit be-
auch mal kräftig zuzulangen, wenn einer die zornigen jungen Männer erwachsen sonderer Qualifikation können sie den

VOLKMAR SCHULZ / KEYSTONE (L.); NIEHUES / ADVANTAGE (R.)

Gewaltspiel „Counterstrike“, Schulattentäter von Emsdetten: „Ehrfurcht vor Gott“

Geld, Handy oder Autoschlüssel nicht werden. Doch seit das Video von Serkan Fleck im Lebenslauf wettmachen. Um 22
rausrücken wollte. A. und seinem Freund in der Welt ist, mag Uhr ist meist Bettruhe.
So richtig geprügelt hatte Serkan – zu- solche Beschwichtigungen kaum noch je- Der strikte Plan ist ein Training für die
mindest nach Aktenlage – offenbar zum mand hören. Jugendlichen, die sonst niemals einen
ersten Mal im Oktober 2007, wenige Wo- Kaum durchsetzbar in Deutschland sind Acht-Stunden-Arbeitstag durchhalten wür-
chen vor dem brutalen Überfall in der Versuche, nach dem US-Vorbild der Glenn den, weil sie es gewohnt sind, jederzeit zu
Münchner U-Bahn. Die Verhandlung mit Mills Schools, eines US-Colleges für junge tun, wonach ihnen gerade der Sinn steht.
dem Vorwurf der schweren Körperverlet- Gewalttäter bei Philadelphia, offene Straf- Die Jungs in Leonberg werden mit stren-
zung steht noch bevor. anstalten mit Erziehungskonzepten einzu- gen Riten geschliffen. Im täglichen Steh-
Das alles konnte mit dem Jungen ge- richten. Das Leonberger Seehaus, zehn Mi- kreis muss jeder einzeln vortreten und sich
schehen, während Polizei und Sozial- nuten von Stuttgart, ist eines der seltenen von den anderen Jungs vorwerfen lassen,
behörden die Familie ständig begleiteten. Experimente. gegen welche Hausregel er verstoßen habe.
Die vom Vater geschlagene Ehefrau und Andreas wohnt hier, verurteilt wegen Irgendwann, sagen die Jungs, hätten sie es
die Kinder bekamen sogar eine eigene Be- gefährlicher Körperverletzung. Er könnte satt, sich jeden Tag denselben Sabbel an-
treuerin vom Jugendamt. Serkan erhielt jederzeit abhauen. Er tut es aber nicht. hören zu müssen – noch dazu von Gleich-
Erziehungshilfen, bekam Therapieangebo- Noch niemand ist hier abgehauen. altrigen, die ihnen ja eigentlich gar nix zu
te, die er aber nicht nutzte. Die Erziehungsidee ist so einfach wie sagen haben. Also halten sie sich lieber an
Einmal wurde er auch zu einer Haft- überraschend: Wenn man ohnehin nicht die Regeln.
strafe verurteilt – ein Jahr sollte er sitzen, verhindern kann, dass Häftlinge eine Hier- Zumindest bislang hat das Projekt eine
doch im letzten Moment wurde auch archie untereinander aufbauen, dann soll- Rückfallquote, von der andere Anstaltslei-
diese Haft zur Bewährung ausgesetzt, weil te man die wenigstens positiv nutzen. An- ter nur träumen können: 15 Jungen haben
er versprochen hatte, eine Therapie zu dreas etwa hat sich inzwischen zum ihre Haft in Leonberg in den letzten drei
machen. Er zog in eine betreute Wohn- „Löwe-Anwärter“ hochgearbeitet, der Jahren beendet, 2 wurden bislang rückfäl-
gruppe, musste die Therapie aber wegen zweithöchsten Stufe in Leonberg. lig. Doch populär sind derzeit wesentlich
Drogen- und Alkoholproblemen abbre- Damit darf er seine Freundin und seine härtere Alternativen. Ein Aufenthalt beim
chen. Familie jede Woche anrufen und alle zwei Ex-Boxer Lothar Kannenberg, 50, etwa.
34 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Titel

THOMAS LOHNES / DDP


Jugendcamp Kannenberg: „Die sind am Boden, wenn sie hier ankommen“

Der Schnee in Kannenbergs Camp im überall durchgereicht worden, manche nach dem alten Prinzip „Zuckerbrot und
nordhessischen Diemelstadt-Roden ist fast kennen mehr als 30 Heime. Und wer es Peitsche“. Mit einem Schwerpunkt auf
schon Matsch, ein rauer Winterwind hier nicht packt, landet nur noch auf der Peitsche, in seinem Fall heißt das Boxen,
peitscht kalten Graupelregen in den Ja- Straße oder im Knast.“ Brüllen, Bäumeschleppen. Zuckerbrot
ckenkragen und ins Gesicht des Ausbilders. Kannenberg ist ein ehemaliger Ama- heißt Vier-Augen-Gespräch, Männer-Um-
Die Wangen der 20 Jungs in den dünnen teurboxer, Ex-Türsteher im Frankfurter armung, Schulterklopfen, auch mal heu-
Trainingshosen glühen nach wenigen Mi- Rotlichtmilieu, Ex-Alkoholiker, Ex-Dro- len lassen, wenn „alles aus einem raus-
nuten, die Haare kleben nass am Kopf. Ein genabhängiger. Er spricht, wie er gern be- bricht“. „Die Jungs hier sind am Boden,
Pfiff aus der Trillerpfeife. „Los jetzt!“, Trai- tont, „die Sprache der Jugendlichen“. Kan- wenn sie bei uns ankommen“, so Kannen-
ner Patrick, 34, kennt keine Gnade. nenberg ist stolz auf seine Vita, weil er es berg, „mein Job ist es, sie wieder aufzu-
„Schneller!“, Pfiff, „raus aus den Schuh- geschafft hat, „da wieder rauszukommen“. stellen.“
en!“ Die letzte Runde Tauziehen wird heu- Er hat ein Buch über sich geschrieben, der Das dauert in der Regel sechs Monate,
te barfuß absolviert. „Lothars Idee“, er- Titel heißt „Durchboxen“, das ist Kannen- manchmal auch acht oder neun, und kostet
klärt einer, grinst, die Jungs zittern. bergs Lebensmotto und das Motto im für Rundumbetreuungsangebote läppische
An Bäume gelehnt, von einem Fuß auf Camp. 137,12 Euro am Tag. Aus Sicht des Steuer-
den anderen hüpfend, streifen sich die Ju- Im Boxring kam Kannenberg in Kon- zahlers und Politikers ein Schwererziehba-
gendlichen die ausgetretenen Turnschuhe takt mit straffälligen Jugendlichen, „die ren-Schnäppchen. Die 20 Plätze in der
und Sportsocken ab. Die meisten bleiben keiner mehr will“, weil sie, obwohl noch „Großfamilie“, wie Kannenberg sich, seine
trippelnd und bibbernd auf ihren nassen nicht volljährig, schon am Ende ihres Le- Frau und das Team nennt, sind ganzjährig
Socken stehen, beim Ersten kullern die bens stehen. Eine Weile hat er in Kassel als ausgebucht. Jugendämter aus der ganzen
Tränen. Andere fluchen. Die, die schon Streetworker gearbeitet, dann hat er sich Republik kämpfen darum, ihre schwersten
auf der Wiese stehen, das Tau in der Hand, selbständig gemacht, weil er „mit dieser Fälle hier unterzubringen.
die nackten Füße im Graupelschnee, brül- Sorte Jungs“ klarkam. Kannenberg spricht selbstbewusst von
len die Zögerer an. Die Erziehung der ausschließlich männ- einer Erfolgsquote von „80 Prozent“, die
Es ist das Kollektiv, das zählt, im Box- lichen Jugendlichen bei Kannenberg läuft so auch ungefiltert in Pressemitteilungen
camp von Lothar Kannenberg , „der Ein- des hessischen Sozialministeriums auftau-
zelne hat hier nix zu melden“, stellt Kan- UMFRAGE: ERZIEHUNGSLAGER chen. Kannenbergs Traumzahlen sind wohl
nenberg klar. Die meisten hier müssen das eher gefühlter Natur, denn trotz intensi-
erst mühsam lernen: Wenn einer Mist baut, „Halten Sie Erziehungslager ver Förderung durch die Politik steht eine
bekommen es alle zu spüren. Dann kom- Evaluation seiner Arbeit noch aus.
nach dem Vorbild US-amerika-
men zu den täglich mindestens 500 schnell Die Ergebnisse werden genau so wider-
noch einmal 100 Liegestütze dazu oder nischer paramilitärischer Camps sprüchlich sein wie Expertisen über die
eine zweite Runde Barfuß-Tauziehen im für geeignet, um jugendliche umstrittenen „Boot-Camps“ in den USA:
Schnee. Der Tagesplan ist straff: „Wer Straftäter zu resozialisieren?“ „Menschenrechtsverletzung“ ist es für Kri-
schlägt, der geht“, heißt die wohl wichtigs- tiker, was Kannenberg da macht, mit dem
te Regel. „Abhauen tut fast jeder einmal“, JA 20 % Menschenbild des Grundgesetzes ebenso
erklärt Kannenberg, „das gehört dazu, wenig vereinbar wie mit den herkömmli-
aber die kommen alle wieder.“ chen Ideen der Pädagogik. Und
Für die meisten ist das Trainingscamp NEIN 70 % wenn es trotzdem funktioniert?
von Kannenberg die letzte Chance. „Es Christian Pfeiffer, der allgegen-
geht hier nicht um die Normalen, die man TNS Forschung für den SPIEGEL vom 2. und 3. Januar; wärtige Leiter des Kriminologischen For-
auch in ein Heim stecken könnte“, erklärt 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“ / schungsinstitutes in Hannover und Berater
keine Angabe
Kannenberg, „wer hier landet, ist schon vieler Experten-Runden zum Thema Ju-
36 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
WOLFRAM SCHEIBLE
Jugendliche Straftäter im Projekt Seehaus Leonberg bei Stuttgart: Mit strengen Riten geschliffen

gendgewalt, sieht, dass es harte Maßnah- dann per Bus in Stadtteile gefahren wer- auf Terror-Computer. Diese Einsicht ver-
men braucht – nicht in Boot-Camps, son- den, wo kaum Migranten leben. Deutsche breitet sich gerade dort, wo wütende jun-
dern in ihren Immigranten-Familien müss- Kinder aus diesen Stadtteilen müssten da- ge Dschihadisten bisher den größten Scha-
ten die jungen Männer aber erzogen wer- gegen die Kindergärten von Problembe- den angerichtet haben: in Amerika. Kon-
den. Dafür müsse der Staat in den Familien zirken besuchen – Konflikte sind vorher- servative Leitartikler wie Mark Steyn
eingreifen. sehbar. Wer verzichtet schon freiwillig auf blicken schon voll klammheimlicher Scha-
Er müsse, so Pfeiffer, Vorsorge tragen, Privilegien? denfreude ins alte Europa, wo die liberalen
dass die Kinder fremder Eltern gleiche Bil- Um Ausländerkindern gleiche Bildungs- Demokratien der Einwanderung der ge-
dungschancen haben wie die Kinder deut- chancen zu eröffnen, plädiert Pfeiffer auch fährlichsten Spezies der Welt noch immer
scher Eltern. Dazu gehört der zwangswei- für flächendeckende Ganztagsschulen, und mit dem naiven Schnack vom „Multikul-
se Besuch von Ganztagsschulen, denn zwar von der Grundschule bis zum Gym- turalismus“ begegnen. Multikulti endet, so
Pfeiffers Statistiken belegen, dass Auslän- nasium. Denn es ist ein offenes Geheimnis, kann man es sehen, oft in Segregation und
derkinder daheim wenig lernen, sondern dass ausländische Eltern, die häufig selbst dann in Gewalt.
überproportional häufig vor der Playsta- kaum Deutsch sprechen, mit der Erzie- Einiges von den amerikanischen Freun-
tion oder dem Fernseher sitzen. hung der Kinder oft heillos überfordert den ist auch im Einwanderungsland
Schon im Kinderhort sei die integrie- sind. Deutschland angekommen. Dass man die
rende Hand des Staates unverzichtbar. Ergebnis: Gut 20 Prozent der männli- eigenen Werte – hier nennt man sie die
Ausländerkinder, hat Kriminologe Pfeif- chen Migrantenkinder verlassen die Schu- Prinzipien des Grundgesetzes – bei aller
fer festgestellt, haben durchweg schlech- le ohne ein Abschlusszeugnis und ohne Toleranz den Ideen der Zugereisten ent-
tere Startbedingungen als ihre deutschen Perspektive auf einen Ausbildungsplatz – gegenzuhalten habe, ist mittlerweile die
Altersgenossen. Das beginnt bereits im eine Zeitbombe. herrschende Lehre auch unter liberalen
Kindergarten. In Stadtteilen, in denen vie- Hinzu kommt vor allem bei Jugendli- Staatsrechtlern. Der Respekt vor dem Le-
le Migranten leben, kommen kaum noch chen aus dem islamischen Raum die prä- ben, der Schutz der Familie, die Erziehung
deutsche Kinder in die Krippe, oft sind gende Gewalterfahrung in der Familie. Um der Kinder, die Behandlung von Frauen,
Türken, Jugoslawen, Albaner und Af- kinderreiche Ausländerfamilien besser als die Ausbildung – nur eine Gesellschaft, die
ghanen unter sich – mit weitreichenden bisher zu schützen, fordert Kriminologe sich ihrer eigenen Ziele sicher ist, hat auch
Folgen. Pfeiffer drastische Sanktionen gegen prü- die Kraft, die Migration der Gewalt aufzu-
In vielen Fällen herrscht babylonisches gelnde Familienoberhäupter. So soll bei halten.
Sprachengewirr, die Kinder schnappen nachgewiesenen Misshandlungen schnel- „Ehrfurcht vor Gott“ und „Liebe zu
alle möglichen Fetzen und Dialekte auf, ler als bisher ein Rausschmiss aus der ge- Volk und Heimat“ sollen, so haben die
beherrschen später aber keine Sprache meinsamen Wohnung möglich sein. Im Stuttgarter Abgeordneten in ihr Gesetz ge-
richtig. „Wenn der Mehmet mit Max und Wiederholungsfall plädiert Pfeiffer sogar schrieben, den bösen jungen Männern aus
Moritz im Sandkasten spielt, lernt er spie- dafür, das Familienoberhaupt in sein Her- aller Welt als Erziehungsgrundsätze ent-
lend Deutsch“, versichert Pfeiffer, „spielt kunftsland abzuschieben: „Der muss dann gegengehalten werden. Es ist ja wahr – nur
er nur mit Mustafa und Igor, dann leider ganz schnell raus.“ viel komplizierter.
nicht.“ Wenn die Theorien richtig sind, dass es Matthias Bartsch, Rafaela von Bredow,
Thomas Darnstädt, Markus Deggerich,
Zwecks Sprachförderung propagiert sich bei der Welle der Jugendgewalt um Per Hinrichs, Simone Kaiser,
Pfeiffer deshalb einen revolutionären Plan: die Auswirkungen einer Blase wütender Guido Kleinhubbert, Sebastian Knauer,
In Großstädten sollen 25 Prozent der Kin- junger Männer handelt, dann sind solche Udo Ludwig, Roland Nelles, Conny Neumann,
dergartenplätze grundsätzlich für Auslän- Integrationsbemühungen wichtiger für die Rene Pfister, Oliver Rezec, Sven Röbel,
Bruno Schrep, Andreas Ulrich
derkinder reserviert werden. Die müssten innere Sicherheit als jeder Lauschangriff
38 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Deutschland

REGIERUNG

Merkels Milieu
Früher gab es das Girlscamp – jetzt hat die Bundeskanzlerin vor allem Männer um sich geschart.
Es ist eine merkwürdige Truppe aus strebsamen Neulingen und alten Hasen, die das
Kanzleramt beherrschen. Eines aber ist wie früher: Der Boss ist eine Frau. Von Ralf Neukirch

C
hristoph Heusgen öffnet vorsichtig York, in der deutschen Vertretung bei den Dann liest sie die zwei Absätze, die
die Tür und blickt im Raum umher. Vereinten Nationen. Merkel führt ein Ge- Heusgen ihr hinhält. „Das ist super“, sagt
Er sieht die Kanzlerin, den Regie- spräch mit Journalisten über die weltpoli- sie und zeigt mit dem Finger auf den ers-
rungssprecher, dann entdeckt er die Frau, tische Lage. ten Absatz. „Und das hier?“, fragt sie und
die er sucht. Heusgen geht leise zu Beate Baumann hört konzentriert zu. Ein Jour- blickt Heusgen an. Heusgen flüstert ein
Baumann, er bückt sich und zeigt ihr sei- nalist will wissen, ob der Klimaschutz paar Sätze. „Okay, sehr schön“, sagt Bau-
ne Notizen. das wichtigste außenpolitische Thema für mann. „Das machen wir so.“ Heusgen ver-
Heusgen ist Angela Merkels außenpoli- Merkel sei. Baumann schüttelt den Kopf. schwindet so leise, wie er gekommen ist.
tischer Berater. Baumann ist die Bürolei- „Nein“, sagt Merkel, „es gibt Iran, den Merkel muss am Abend ihre erste Rede
terin der Kanzlerin. Sie sitzt gerade im Nahen Osten, Nordkorea.“ Baumann ent- vor den Vereinten Nationen halten. Es ist
22. Stock des Deutschen Hauses in New spannt sich, es war die richtige Antwort. ein wichtiger Auftritt, es geht um Klima-
40 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Würze, einem Schuss Schröderscher Ver- zusammenstellte. An Roland Koch zum
spieltheit. Das alles zusammen ergibt Mer- Beispiel, der alles und jeden am liebsten
kels Milieu. brutalstmöglich erledigt. Oder an Gerhard
Schröder, den ein Hormonstoß bei seinem

D ie drei Männer gehen so behutsam


miteinander um, als wären sie Teilneh-
mer eines Seminars für ordentliche Manie-
TV-Auftritt am Wahlabend endgültig die
Kanzlerschaft kostete.
Merkel kennt diese Männer, die mit den
ren. Regierungssprecher Ulrich Wilhelm Händen in den Hosentaschen am liebsten
reicht dem Abteilungsleiter für Europa- über sich selber reden. Sie hat ihnen zahl-
politik, Uwe Corsepius, einen Teller mit lose Niederlagen zugefügt. Aber sie hat
Weihnachtsgebäck. Corsepius nimmt ein auch gelitten unter ihnen.
Plätzchen und sagt auf eine Frage lächelnd: Ihre Berater verkörpern den gegentei-
„Das kann der Christoph vielleicht noch ligen Männertyp. Sie sind zurückhaltend,
besser erläutern.“ fast weich. Sie sind klug, aber nicht ge-
„Der Christoph“ ist Christoph Heusgen. fährlich. Bei einer Dopingkontrolle müsste
Die drei Spitzenbeamten informieren im keiner von ihnen einen erhöhten Testoste-
Briefing-Raum des Bundespresseamts über ronwert fürchten.
das Gipfeltreffen zwischen der Europäi- Weidmann ist ein sympathischer 39-Jäh-
schen Union und Afrika. Sie fallen sich riger mit einem Sinn für Ironie. Er trägt
nicht ins Wort, sie kämpfen nicht um den einen grauen Anzug, maßgeschneidert,
längsten Redeanteil. Sie benehmen sich was im Kanzleramt als frivol gelten würde,
reichlich untypisch. Wilhelm, Corsepius wenn es jemand merkte. Weidmann sitzt in
und Heusgen gehören zum kleinsten Kreis seinem Büro und versucht, sich kleinerzu-
von Merkels wichtigen Beratern. Der Chef reden, als er ist.
der wirtschaftspolitischen Abteilung, Jens Während der Krise beim europäischen
Weidmann, zählt noch dazu, der Leiter Luft- und Raumfahrtkonzern EADS hat
des Planungsstabs, Matthias Graf von Kiel- Merkel sich vor allem auf seinen Rat ver-
mansegg, und Ronald Pofalla, der Gene- lassen. Weidmann ist wichtiger als der Wirt-
ralsekretär der CDU und Merkels engster schaftsminister, aber das würde er nie so sa-
Vertrauter außerhalb des Kanzleramts. Sie gen. Dabei sitzen Weidmann und seine Kol-
sind Merkels Boygroup. legen auf Positionen, auf denen sich viele
Heusgen ist ein freundlicher Schlaks ihrer Vorgänger so schnell wie möglich den
mit rahmenloser Brille und graumelierten Funktionszusatz „Neben-“ sichern wollten:
Locken. Er ist 52 Jahre alt, wirkt aber deut- Nebenaußenminister, Nebenwirtschaftsmi-
lich jünger. Fast alle Männer in Merkels nister. Das ist unter Merkel undenkbar. Die
Umgebung haben diese Jugendlichkeit, Kanzlerin soll glänzen, nicht die Berater.
dieses Bubenhafte im Gesicht. Solange sie „Wir haben alle keine eigene macht-
HANS CHRISTIAN PLAMBECK

nicht reden, wirken sie merkwürdig uner- politische Agenda“, sagt Weidmann. Er
wachsen, mehr wie Jungen als Männer. lächelt viel, vor allem wenn er über die
Heusgens Stimme ist sanft, was durch Zusammenarbeit mit Heusgen und Corse-
den Singsang seiner rheinischen Heimat pius redet. Sie gehen manchmal zusam-
Büroleiterin Baumann, Kanzlerin Merkel noch betont wird. Er ist für die kniffligen men essen, sie reden über die Arbeit und
Themen zuständig, er kümmert sich um über ihre Kinder. Die drei haben sich ver-
das Verhältnis zu China und Russland, den sprochen, Konflikte freundschaftlich bei-
schutz, die Reform des Sicherheitsrats und Konflikt mit Iran, den Nahen Osten. Er re- zulegen. Bislang funktioniert das.
Iran. Die Rede ist in großen Teilen von det viel von wertegebundener Außenpoli- Das ist bemerkenswert, weil die Kon-
Heusgen und seinen Mitarbeitern geschrie- tik und davon, dass deutsche Außenpolitik flikte zwischen den Spitzenbeamten fast
ben worden. europäisch verankert sein müsse. Heusgen schon zum Selbstverständnis des Kanzler-
Das letzte Wort aber hat Baumann. Sie spricht so, wie sich die Neokonservativen in amts gehören. Kohls Abteilungsleiter muss-
entscheidet alle wichtigen Dinge, die Mer- den USA den europäischen Wischiwaschi- ten zeitweise gezwungen werden, mitein-
kel betreffen. Sie hat die zentralen Reden Diplomaten vorstellen. ander zu sprechen. Die Zahl der Selbst-
Merkels der vergangenen zehn Jahre redi- Seine Bilanz sprach aus Merkels Sicht darsteller auf den Spitzenposten des Amts
giert. Heusgen weiß sehr genau, wer im für ihn. Er hatte als Stabschef von Javier ist traditionell hoch.
Kanzleramt das letzte Wort hat. Manch- Solana, dem Außenbeauftragten der Euro- Die Männer in Merkels Nähe sind an-
mal sogar das allerletzte Wort nach der päischen Union, die Außenpolitik der EU ders, uneitel – oder sie lassen sich ihre Ei-
Bundeskanzlerin. maßgeblich mitgeprägt: vom militärischen telkeit zumindest nicht anmerken. „Es ist
Baumann und Heusgen gehören zu Mer- Einsatz in Mazedonien bis zur erfolgrei- keine nach außen gerichtete Eitelkeit“, sagt
kels Kerntruppe. Einige Abteilungsleiter chen Vermittlung bei der orange Revolu- einer von ihnen. „Wir befriedigen unsere
zählen noch dazu, der Kanzleramtschef tion in der Ukraine. Eitelkeit aus anderen Quellen.“
und der Regierungssprecher. Es ist nicht Merkel kannte Heusgen kaum, als sie Aus der Fürsorge der Kanzlerin beispiels-
mehr das Girlscamp, die Frauengruppe, ihn zu ihrem Chefberater machte. Ähnlich weise. Einmal musste sie Heusgen kurz ab-
die einst mit Merkel berühmt wurde. Die war es bei Weidmann und Corsepius, den fertigen, als er zu ihr ins Büro kam, weil sie
Männer sind jetzt in der Mehrheit, aber anderen wichtigen Abteilungsleitern. Weid- einen dringenden Termin hatte. Am folgen-
der Boss im Kanzleramt ist eine Frau, mann war Abteilungsleiter bei der Bundes- den Morgen bekam er eine SMS von der
Beate Baumann. bank, Corsepius hatte schon unter Helmut Kanzlerin: Es sei gestern etwas kurz ge-
Schon das zeigt, dass die Bundeskanz- Kohl und Gerhard Schröder im Kanzler- wesen, sie würde sich gern ausführlicher
lerin eine ganz eigene Truppe um sich amt gearbeitet. mit ihm über das Thema unterhalten.
geschart hat, eine Mischung aus Klug- Man kann sich vorstellen, an welche Merkels Berater dürfen nur nach innen
heit, Härte, Leisetreterei und, wie zur Männer Merkel dachte, als sie ihr Team stark sein. Das ist der Preis, den sie für
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 41
ihre Nähe zur Macht zahlen müssen. Als

M . KÜNZEL
Schröder Kanzler war, musste ein Abtei- Büro der Büro des
Kanzlerin Kanzleramtschefs
lungsleiter gehen, weil er im Regierungs-
flugzeug gepöbelt und lautstark Kaviar ver-
langt hatte. Bei Merkel käme niemand auf
die Idee, nach Kaviar zu brüllen.

D er Weg zu Beate Baumann führt vor-


bei an versenkbaren Stahlgittern und
Sicherheitskontrollen in den mächtigen Be-
tonkubus des Kanzleramts. Im Mittelteil, Bundeskanzleramt
dem sogenannten Leitungstrakt, surrt ein
runder Aufzug wie aus einem Science-
Fiction-Film der siebziger Jahre in den
Stützen der Macht Vertraute der Bundeskanzlerin Angela Merkel
siebten Stock. Hier ist das Herz der Macht, BUNDESKANZLERAMT
hier residieren Merkel, Baumann und der
Thomas de Maizière Beate Baumann

J. GL AES CHER/ L AIF

K. - B. K AR WAS Z
Kanzleramtschef.
Chef des Bundes- Leiterin des
Beate Baumann begrüßt den Besucher kanzleramts Kanzlerbüros
in ihrem Vorzimmer. Es herrscht eine un-
wirkliche Ruhe im Kanzlertrakt, die Tep- Matthias Graf
piche schlucken die Schritte der Mitarbei- von Kielmansegg
ter, und von den anderen Büros dringt kein ABTEILUNGSLEITER Leiter des Stabes
Politische Planung
Laut herüber. Das Leben draußen wirkt Christoph Heusgen Die 7. Etage
P. GRIMM/D PA

ziemlich fern. Außen-, Sicherheits- im Kanzleramt


Plötzlich steht die Kanzlerin in der Tür. und Entwicklungspolitik
Sie trägt einen apricotfarbenen Blazer, eine 2
schwarze Hose und schwarze Slipper. „Ich D PA
3
dachte, Sie seien schon weg“, sagt Bau-
mann. Sie trägt ebenfalls einen apricotfar-
benen Blazer, eine schwarze Hose und Uwe Corsepius 1
1 Büro der Kanzlerin
A. VARNHO RN

schwarze Slipper. „In ein paar Minuten“, Europapolitik 2 Leiterin des Kanzlerbüros
sagt Merkel. „Ich muss noch etwas mit Ih- 3 Büro des Kanzleramtschefs
nen besprechen.“ Jens Weidmann
Merkel und Baumann sehen sich meist Wirtschafts- und
drei- bis viermal am Tag, manchmal nur für Finanzpolitik CDU BUNDESPRESSEAMT
wenige Minuten. Ihre Büros liegen an ei-

M. DARC HINGE R
M. URBAN

PLAMBE C K /LAIF
nem Gang, zwischen ihnen sitzt Baumanns Michael Wettengel
Stellvertreter Thomas Romes. Die Türen Zentralabteilung, Innen- und Rechtspolitik
zwischen den Büros sind immer offen. Ulrich Roppel
Baumanns Nähe ist wichtig für Merkel. Sozial-, Gesundheits-, Arbeitsmarkt-,
Infrastruktur- und Gesellschaftspolitik
Niemand kennt sie so gut wie sie, keiner
hat einen solchen Einfluss auf die Kanzle- Klaus-Dieter Fritsche Ronald Pofalla Ulrich Wilhelm Thomas Steg
rin. Dass die beiden Frauen an diesem Tag Bundesnachrichtendienst; Koordinierung Generalsekretär Regierungssprecher stellv. Regie-
gleich gekleidet sind, ist Zufall, aber es sagt der Nachrichtendienste des Bundes rungssprecher
etwas aus über das Verhältnis der beiden.
Vor mehr als 15 Jahren haben sie sich Baumann redet schnell und präzise, sie Mit Baumann ist Merkel weit gekom-
kennengelernt, Merkel war Familienminis- hat keine Zeit zu verschenken. Geschwafel men, aber es hat auch Nachteile, dass sie
terin und gerade zur stellvertretenden hasst sie, auch da gleicht sie ihrer Chefin. sich vor allem auf ihre Büroleiterin ver-
Parteivorsitzenden aufgestiegen. Sie frem- Baumann ist es egal, mit wem sie sich an- lässt. Die Kanzlerin ist keine begabte Red-
delte noch in der CDU und suchte einen legt, wenn sie Merkel schützen will. nerin, ein guter Redenschreiber könnte
Mitarbeiter für das Konrad-Adenauer- Im Wahlkampf hat sie einmal den ihren Auftritten vielleicht ein bisschen
Haus. Christian Wulff, der heute Minister- damaligen CDU-Generalsekretär Volker Glanz verleihen. Baumann sorgt vor allem
präsident von Niedersachsen ist, empfahl Kauder aufgefordert, eine Presseerklärung dafür, dass Merkels Reden auch den Mer-
Baumann, die Anglistik und Germanistik richtigzustellen. Kauder tobte, er sei ge- kel-Sound haben. Dabei ist dieser Sound,
studiert hatte und in der Jungen Union ak- wählter Abgeordneter und habe schließ- eine Mischung aus Politikerjargon und
tiv war. lich das Mandat eines Parteitags. Am Ende Volkshochschulrhetorik, Teil des Problems.
Die Frauen verstanden sich auf Anhieb. hat er klein beigegeben. Die Frauen sind sich so ähnlich, dass
Sie waren sich schon äußerlich ähnlich: Merkel spricht jede wichtige Entschei- Baumann Merkels Schwächen verstärkt,
praktische Kurzhaarfrisur, kein Make-up dung mit ihrer Büroleiterin ab. Als der statt sie auszugleichen. Merkel hatte sich
und ein eher spröder Charme. Sie verbin- Dalai Lama um ein Treffen mit Merkel bat, lange geweigert, an ihrem Äußeren etwas
det zudem eine gemeinsame Abneigung plädierte Baumann dafür, ihn ins Kanzler- zu ändern. Sie schminkte sich nicht für
gegen alles Aufgesetzte und Zeremonielle. amt einzuladen. Die außenpolitischen Ex- kurze Statements, sie kleidete sich in un-
Baumann hat sich einen nüchternen perten im Amt hätten einen anderen Ort vorteilhaften Farben, es waren Dinge, auf
Blick auf die Politik bewahrt. Wenn die bevorzugt. die es ihrer Meinung nach nicht ankam.
44-Jährige über gewisse Rituale spricht, die Baumann setzte sich durch, wie so oft. Baumann, ein ähnlicher Frauentyp, be-
unter den Männern in der Politik üblich Die Folge ist das, was Außenminister stärkte sie in dieser Sicht. Dafür musste
sind, bekommt ihre Stimme einen belus- Frank-Walter Steinmeier als „schwerwie- Merkel einen Preis zahlen.
tigten Ton. Das kennt man auch von der gende Turbulenzen“ im Verhältnis zu Chi- Dennoch hat Merkel ihre Macht mit
Kanzlerin. na beschreibt. Baumanns Hilfe schneller gefestigt als jeder
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Deutschland

andere Kanzler seit Konrad Adenauer. Der Wutausbruch galt nicht dem Spre- aber er muss noch ins Büro. Auf seinem
In der Union traut sich niemand mehr, cher, sondern Merkel. Beate Baumann ist Tisch liegen jede Menge Akten. Es sei für
gegen ihre Politik aufzumucken. Das er- die Frau, der selbst die Kanzlerin gehorcht. ihn kein Problem, dass er oft nicht erkannt
leichtert das Regieren, beschränkt es aber werde, sagt de Maizière. Ein Kanzleramts-
zugleich.
Das System Baumann hält nicht nur
Kritik von Merkels Machtuniversum
T homas de Maizière will zum Abflugs-
gate, aber der Sicherheitsbeamte be-
steht auf dem üblichen Verfahren. Er soll
minister mache seine Sache dann ordent-
lich, wenn er nicht auffalle.
So, wie er es sagt, klingt es nicht kokett.
fern, sondern auch Anregungen, Ideen, seine Jacke ausziehen und durch das Rönt- De Maizière ist freundlich, aber zurück-
Alternativen. Es ist ein perfektes System gengerät schicken. Für den Chef des Kanz- haltend, ja spröde. Seine rechteckige Bril-
für eine Kanzlerin, die die Tagespolitik leramts gelten die Regeln eigentlich nicht. le lässt ihn streng wirken. Er redet sehr
reibungslos abwickeln will, aber nicht De Maizière winkt ab, als seine Referentin ruhig, ein Mann für den politischen Small
mehr. die Sache klären will. „Lassen Sie, wir ma- Talk ist er nicht. De Maizière sieht sich
Vor einiger Zeit trat ein CDU-Sprecher chen das schnell so.“ gern als den Typ, der wichtige Dinge effi-
nach einer Fraktionssitzung auf Merkel zu, Der Sicherheitsbeamte merkt nicht, mit zient und geräuschlos erledigt.
um mit ihr eine Pressemitteilung abzu- wem er es zu tun hat. De Maizière ist einer Er kann die Funktion des Kanzleramts-
stimmen. „Das kann ja wohl nicht sein, der wichtigsten Minister der Regierung, chefs und seine Rolle in der Großen Ko-
dass Sie das jetzt auch noch machen“, aber ein ziemlich unbekannter. alition sehr eloquent beschreiben. Der
zischte Baumann und zog dem Mann die An der kleinen Flughafenbar bestellt er Chef BK, wie sie ihn alle nennen, muss
Pressemitteilung aus der Hand. „Das ma- sich ein alkoholfreies Bier. Es ist schon die Interessen der Ministerien ausgleichen,
chen wir jetzt nicht.“ Abend, er hätte jetzt gern ein richtiges Pils, er muss vermitteln und Entscheidungen
vorbereiten. Das ist ziemlich unglamourös,
aber wichtig.
Es lief gut, als es darum ging, möglichst
unauffällig zu regieren. Die Rede eines Um-
weltministers glätten, eine Grundsatzposi-
tion zum Mindestlohn vorbereiten, diese
Dinge. Es lief, solange beide Regierungs-
parteien nicht wussten, wohin sie eigentlich
wollten, als es für Merkel das wichtigste
Ziel war, keine Angriffsfläche zu bieten.
Seit einiger Zeit ist das anders. Die SPD
rückt nach links, und die CDU weiß noch
nicht, wie weit sie nachrücken soll.
De Maizière leert sein Glas und kommt
auf die Politik im Allgemeinen zu sprechen.
Plötzlich klingt er lebhafter, engagierter. Es
geht um Dinge wie Führung und Wahrhaf-
tigkeit. Man spürt eine Sehnsucht nach
mehr als dem täglichen Planen, Koordinie-
ren und Verwalten. De Maizière war in Sach-
sen auch Finanz-, Justiz- und Innenminister.
Er ist ein Politiker, der in Berlin die Arbeit
eines Beamten erledigt. Für einen Mann
mit seinen Ambitionen ist das zu wenig.

E r wäre für Merkel gern das, was Stein-


meier für Schröder war. Steinmeier
war der Architekt der Agenda 2010, er hat
die wichtigen strategischen Fragen mitent-
schieden. Doch Merkel braucht keinen
Strategen, weil sie vor allem taktisch agiert.
Am Anfang dachte de Maizière, er kön-
ne mehr bewegen. Beate Baumann hat ihm
dann nach und nach klargemacht, wer der
Chef ist. De Maizière musste die Rollen-
verteilung schließlich akzeptieren.
Thomas Steg presst die Lippen zusam-
men und guckt in die Ferne. Über seiner
Nase steigen zwei Falten steil nach oben.
„Die Bundeskanzlerin“, sagt er, und seine
Miene wird noch ein wenig ernster, „die
Bundeskanzlerin hat in dieser Woche –
manchmal gibt es Phasen, da ist das außer-
ordentlich segensreich – nach innen ge-
MICHAEL KAPPELER / DDP

wirkt und weniger nach außen agiert.“


Dann lächelt Steg. Er liebt sprachliche
Pirouetten, er zelebriert seine Auftritte.
Minister de Maizière, Was Merkel und ihren Männern an Ei-
Steinmeier telkeit fehlt, das macht Steg locker wieder
43
Deutschland

wett. Er ist der einzige wichtige Mitarbei-


ter, den Merkel nicht persönlich ausgesucht
ZEITGESCHICHTE
hat. Selbst wenn man es nicht wüsste,

Atombombe im Gully
merkte man es sofort, schon an den mar-
kanten Gesichtszügen.
Steg ist stellvertretender Regierungsspre-
cher, und der wird von der SPD gestellt. Er
war in den vergangenen Jahren der eigent- Eine Gruppe von Hobby-Historikern spürt die Reste der Festung
liche Sprecher der rot-grünen Regierung.
In der Schar der netten, beflissenen Deutschland auf: geheime Kriegsanlagen,
Merkel-Leute fällt Steg auf. Er ist auch die einst den Vormarsch sowjetischer Panzer stoppen sollten.
nett, aber auf eine wölfische Art. In Steg

D
spiegelt sich Schröder, so wie sich Merkel ie normalen Autofahrer werden welchem Grad das Land militarisiert war“.
in ihren Mitarbeitern spiegelt. sich wenig dabei gedacht haben, Der Unternehmer aus Bispingen betreibt
Ulrich Wilhelm, der Regierungssprecher, wenn sie einen der unauffälligen im Internet die Seite lostplaces.de und
mag Steg nicht. Der erwidert Wilhelms VW-Bullis irgendwo am Straßenrand be- dokumentiert dort die oft überwucherten
Gefühle. Wilhelm ist ein smarter Münch- merkten. Ein paar Männer schraubten oder verschütteten Militärspuren aus der
ner, der aussieht wie ein Skilehrer. Er hat dann für gewöhnlich an Gullydeckeln her- Nachkriegszeit.
eigentlich keinen Grund, auf Steg eifer- um, inspizierten darunterliegende Schäch- Akribisch tragen er und andere Fans der
süchtig zu sein. te und verschwanden wieder. Fragte ein „vergessenen Plätze“ Dokumente, Fotos
Wilhelm hat einen besseren Zugang zur Passant nach, gaben sich die Spezialisten und Berichte zusammen: Aufgegebene
Kanzlerin. Merkel vertraut ihm und hört meist nebulös als Techniker aus. Autobahnteilstücke, verwaiste Flugplätze,
auf seinen Rat. Was ihm fehlt, ist das In Wahrheit gehörten die Männer zu ins Nichts führende Schienenstrecken und
Stückchen Verschlagenheit, das man als den sogenannten Wallmeister-Einheiten überwucherte Bunker haben es der „Inter-
Sprecher manchmal braucht. der Bundeswehr. In der Zeit des Kalten essengemeinschaft für historische Militär-,
Auch Merkel ist aufgefallen, dass die in- Krieges standen die Wallmeister bereit, um Industrie- und Verkehrsbauten“ angetan.
teressanten Formulierungen, die die Me- an strategisch wichtigen Punkten Deutsch- Mit Militaria-Freaks wollen sie nichts zu tun
dien aufgreifen, oft von Steg kommen. Er lands Infrastruktur in Trümmer zu legen, haben, es geht ihnen um den Spaß an der
kann einer Geschichte Spin geben, die Tat-
sachen so drehen, dass sie in einem etwas
anderen Licht erscheinen. Wilhelm tut sich
damit schwer.
Steg hat Unionsfraktionschef Volker
Kauder öffentlich zurückgepfiffen, als der
in einem Interview Vorschläge zur Ge-
sundheitsreform machte. Er hat die CDU-
Minister Wolfgang Schäuble und Franz
Josef Jung im Namen der Kanzlerin gerügt.
Wenn Merkel eine öffentliche Diskussion
MICHAEL GRUBE (L.); WOFLGANG SINGER (R.)

beenden will, dann geschieht das in der


Regel über Steg.
Das sei Zufall, sagt Steg, und so beteu-
ert es auch Merkels Umgebung. Es han-
delt sich allerdings um eine Menge Zufäl-
le. Steg hat etwas von der spielerischen
Art, mit der Schröder Politik betrieben hat.
Als Wilhelm in der Bundespressekonfe-
renz auf den Parteienstreit um das Arbeits-
losengeld angesprochen wurde, sagte er: Sprengschacht (am Elbe-Lübeck-Kanal), „Wallmeister“-Trupp: TNT in versteckten Bunkern
„Wir sprechen hier für die Bundesregie-
rung und können deshalb nur zu Gegen- falls die Panzertruppen des Warschauer detektivischen Suche und darum, ein Stück
ständen des Regierungshandelns als sol- Pakts angreifen sollten. Dafür hatten sie jüngerer Geschichte festzuhalten. Die Mit-
chen Stellung nehmen.“ fast 6000 geheime Sprengfallen bundesweit glieder durchstöbern Archive, werten die
Das stimmt formal, aber man hätte na- präpariert, vor allem an Brücken, Straßen Literatur aus oder sichten uralte Drucksa-
türlich trotzdem eine Botschaft der Kanz- und Tunneln. Es waren versteckte Bohr- chen des Bundestags. Behilflich sind manch-
lerin transportieren können. Das Spieleri- löcher oder getarnte Gully-Schächte, die mal auch Bundeswehrstellen und ehemali-
sche geht Merkels Leuten ab. teils gewaltige Sprengladungen aufnehmen ge Angehörige der aufgelösten Einheiten.
Steg wird nie zu den ganz engen Ver- konnten. Die Munition wurde an nahege- Via Internet tauschen die Spurensamm-
trauten Merkels zählen. Am Ende bleibt legenen Standorten gelagert oder in ge- ler Koordinaten leerstehender Bunker und
er ein Mann des anderen Lagers. Aber er tarnten Bunkern, in denen bis zu fünf Ton- verwitterter Gebäude aus wie andere Leu-
fasziniert Merkel, weil er ein Überlebender nen TNT bereitlagen – jahrzehntelang. te Briefmarken. Oft gestochen scharf sind
jener Zeit ist, als das Kanzleramt ein wil- Nach dem Fall der Mauer verloren die dann über das Programm Google Earth
der, unberechenbarer Ort war. Sprengfallen ihre Bedeutung. Doch eine Überreste von Landebahnen oder Straßen-
Merkel hat das Kanzleramt zu einem Gruppe von Hobby-Historikern um den trassen zu erkennen. „Viele wissen glück-
Ort der Stille gemacht. Ihre Machtmaschi- Niedersachsen Michael Grube spürt die licherweise gar nicht, wie intensiv sich
ne schnurrt, jeder kennt seinen Platz, das „vorbereiteten Sperren“, so die bundes- Deutschland auf einen Krieg vorbereitet
oberste Ziel heißt Funktionieren. Das ist wehrinterne Bezeichnung, nun auf – eben- hat, der nie stattfand“, sagt Grube.
effektiv. Aber manchmal ist ein bisschen so wie etwa provisorische Kriegsflugplätze. Die Gedankenspiele aus der Zeit des Ei-
Wildheit spannender. Für Grube ist es schlicht „wahnsinnig, in sernen Vorhangs wirken heute furchtein-
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TECH. SGT. ROD PROUTY / CORBIS
Militärlandeplatz auf der Autobahn A 29 (1984): Durchbetonierter Mittelstreifen, seltsam überdimensionierte Parkplätze

flößend. Mit Tausenden Panzern würden nach Westdeutschland überführt – für die Transportflugzeuge auf der A 29 bei Ol-
die Truppen des Warschauer Pakts den auf den regulären Basen gar kein Platz ge- denburg. „Kein Problem“, lautete das Fa-
Westen angreifen und schnell bis an den wesen wäre. Zudem gingen die Planer da- zit der Piloten in ihrem Bericht.
Rhein vorstoßen, so erdachten die Nato- von aus, dass die Sowjets militärische Flie- Auch das Bundeskabinett, damals noch
Planer den Tag X. Um Zeit für das Einflie- gerhorste als Erstes angreifen würden. in Bonn, erhielt eine eigene Geheimlan-
gen der US-Reserven zu gewinnen, sollten Bei der Suche nach einer Lösung des Pro- debahn – 1973 wurde ein Streckenabschnitt
nicht nur einfache Sprengstoffladungen ge- blems konnte die Bundeswehr auf frühere der A61 bei Gelsdorf im Rheinland als Not-
zündet werden, um Verkehrswege für den Erfahrungen zurückgreifen: Am Ende des flugplatz hergerichtet. In der Nähe lag die
Feind unpassierbar zu machen. Es gab so- Zweiten Weltkriegs nutzte die Wehrmacht „Dienststelle Marienthal“, jener Atom-
gar US-Planspiele, größere Brücken, Tun- geeignete Strecken auf den „Reichsauto- bunker in der Ahr-Eifel, von dem aus der
nel oder ganze Häfen und Güterbahnhöfe bahnen“, nachdem die regulären Flugplät- Kanzler das Schlachtfeld Deutschland wei-
mit Atomminen zu zerstören. ze bombardiert worden waren. ter regieren wollte.
Die kleinste Atomic Demolition Muni- Schon bei der Planung neuer Autobahn- Auch Eisenbahnstrecken und Wasser-
tion (ADM) hatte den Durchmesser einer strecken saßen im Kalten Krieg deshalb straßen hatten die Planungsstäbe im Blick.
Großpizza (40 Zentimeter) und wog 68 Ki- meistens Beamte des Verteidigungsminis- So durfte die Bahn jahrzehntelang nur
logramm. Sie hätte die Sprengkraft von bis teriums mit am Tisch, um ihre Wünsche Strecken stilllegen, wenn die Bundeswehr
zu 1000 Tonnen TNT entwickelt – und die durchzusetzen. Das führte dazu, dass aus zustimmte. Denn manche Bahntrasse war
Umgebung verstrahlt. militärischen Erwägungen ganze Trassen vielleicht unrentabel in Friedenszeiten –
Wo genau die Mini-Atombomben zum anders durch die Republik verlegt wurden, aber fest eingeplant für Nachschub- oder
Einsatz kommen sollten, ist ungewiss – die als sich die Verkehrsplaner das dachten. Panzertransporte im Kriegsfall. Der CSU-
Pläne unterliegen bis heute der Geheim- Denn die Generäle brauchten für ihre NLP Politiker Gerold Tandler forderte zu Be-
haltung. Mit Ende des Kalten Kriegs wur- etwa drei Kilometer lange, möglichst ebe- ginn der achtziger Jahre noch den Aus-
den die ADM aus den Depots der US-Ar- ne Geraden – natürlich ohne Brücke auf bau des hochumstrittenen Rhein-Main-
mee in Deutschland entfernt. dem gesamten Abschnitt. Donau-Kanals mit der Begründung, dieser
Mitunter ließen sich die Wallmeister- Grubes Spurensucher haben die 24 ge- habe „strategische Bedeutung“ als Pan-
Ingenieure auch weniger explosive Sperr- tarnten Pisten im Westen identifiziert, sie zersperre und zur „Heranführung von Re-
techniken einfallen. So wurden am Ein- sind aber auch nicht allzu schwer zu serven“.
gang des Hamburger Elbtunnels noch im erkennen: Die Mittelstreifen wurden dort Seit der Wende gehören die Spreng-
Dezember 1989 gewaltige Betonklötze auf nicht begrünt, sondern durchbetoniert, fallen wie auch die Autobahnflugplätze
Querträgern über der Fahrbahn ange- die Leitplanken nur im Boden eingesteckt, der Vergangenheit an. Nach und nach wer-
bracht. Wären die Russen gekommen, hät- um sie schnell demontieren zu können. den Hohlräume und Schächte an Brücken
ten Pioniere die Träger gesprengt. Mehre- An beiden Enden der einstigen Notpisten und Tunneln beseitigt. Die Bundeswehr
re jeweils 107 Tonnen schwere Betonteile liegen bis heute seltsam überdimensio- hat auch mehr Fliegerhorste, als sie
hätten sich in die sechs Meter tiefer lie- nierte Parkplätze – im Kriegsfall Abstell- benötigt.
gende Fahrbahn gebohrt und die Verbin- flächen für Flugzeuge. Bei einigen wur- Nur auf der A 7 in Schleswig-Holstein,
dung unter der Elbe blockiert. den Fernmeldekästen, Kabelschächte und in der Nähe von Jagel, scheint der Kalte
Dabei überlegte sich die Bundeswehr Stromanschlüsse installiert. Innerhalb von Krieg noch nicht beendet. Dort befindet
nicht nur, wie sie möglichst effektiv den 24 Stunden hätte die Bundeswehr mobile sich der Autobahn-Notlandeplatz „I/1“, in
Feindverkehr behindern könnte. Auf der Tower, Radargeräte und Pistenbeleuchtung unmittelbarer Nachbarschaft zum Flieger-
anderen Seite trachteten die Militärs da- montieren können. Ähnliche Plätze gab es horst Jagel. Eigentlich ein „lost place“, die
nach, Ausweichmöglichkeiten für sich zu auch in der DDR. Dort richteten Kollegen Abstellflächen für die Düsenjäger sehen
schaffen – insbesondere für die Jets der von der gegnerischen Seite ein Dutzend aus wie Autobahnparkplätze. Doch vor
Luftwaffe und ihrer Alliierten. Autobahnabschnitte ein, die sie für Mi- kurzem bemerkte Grube, dass dort die An-
Bereits in den sechziger Jahren mach- litärflugzeuge nutzen konnten. schlusskästen für das militärische Gerät im
te sich die Führung Gedanken, wie sie Das Konzept funktionierte, jedenfalls in Kriegsfall noch intakt sind. Und die Zu-
Autobahnabschnitte als „Notlandeplätze“ Friedenszeiten: Bei der letzten westdeut- wege, die andernorts längst überwuchert
(NLP) präparieren könnte. In einer Krise schen Großübung „Highway 84“ landeten sind, wurden bei Jagel noch im Herbst
hätte die Nato Hunderte Kampfflugzeuge im Frühjahr 1984 mehrere Düsenjäger und gründlich gemäht. Per Hinrichs

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Deutschland

POLEN

„Eine doppelte Täuschung“


Der Diplomat und Publizist Janusz Reiter über die
Verstimmungen zwischen Warschau und Berlin, die deutschen Versäumnisse
in der Vertriebenendebatte und die Rolle seines Landes in Europa
kommen zum deutsch-polnischen Verhält- polnischen EU-Beitritt. Es gab die Hoff-
nis und seiner komplizierten Psychologie. nung, dass mit der Osterweiterung um
Von außen gesehen stellt man fest: Diese Polen alle Probleme gelöst wären. Das war
Länder sind aufeinander angewiesen, und aber voreilig, wie sich jetzt gezeigt hat.
sie wären wirklich schlecht beraten, wenn SPIEGEL: An dem EU-Beitritt Polens hatte
sie nicht kooperierten. die Bundesrepublik einen gehörigen An-
SPIEGEL: Liegt es an den Regierungen oder teil. Deutschland war Warschaus Anwalt
den Medien, dass ein ganz anderes Bild in der Europäischen Union.
als das einer Zusammenarbeit vorherrscht? Reiter: Ja. Es war eine doppelte Täuschung.
Reiter: Es gibt in Deutschland immer noch Ich erinnere mich an einen deutschen Poli-
starke Ressentiments gegenüber Polen. Ich tiker, der mir sagte, Deutschland unter-
habe das meinen deutschen Freunden im- stütze Polen als EU-Kandidat, denn es wol-
mer wieder gesagt. Sie aber waren über- le von lauter Freunden umgeben sein, um
zeugt, es sei nur eine Frage der Zeit, es in einer Art weltpolitischer Harmonie zu
werde schon so kommen wie im deutsch- leben. Das ist ein verständlicher Wunsch.
JACEK RENARD/EK PICTURES

französischen Verhältnis. Das ist aber eben Aber nun wissen wir ja, dass auch in einem
doch nicht so einfach. Ein Teil der polni- vereinigten Europa die Nationalstaaten
schen Gesellschaft hat noch erhebliche ihre Entscheidungen eigenständig treffen,
Vorbehalte gegen alles Deutsche. Es war und die Interessen Deutschlands sind nicht
vielleicht notwendig, dass in den vergan- immer identisch mit denen Polens. Darauf
genen Jahren bei uns die ganze polnische waren wir alle nicht gut vorbereitet.
Wirklichkeit offenkundig wurde. Dazu SPIEGEL: Aber hat die kürzlich abgewählte
Reiter, 55, war von den siebziger Jahren gehört eben auch, dass diejenigen zu Wort polnische Regierung nicht diese Differen-
an Redakteur oppositioneller Zeitschrif- kamen, die Angst vor Deutschland haben. zen absichtlich hochgespielt, wie etwa im
ten. Von 1990 bis 1995 diente er als polni- SPIEGEL: In den neunziger Jahren sah es Zusammenhang mit der Ostsee-Pipeline
scher Botschafter in Deutschland. Die zunächst so aus, als würden diese Ängste zwischen Deutschland und Russland? Es
vergangenen zwei Jahre vertrat er War- allmählich abgebaut. gab doch etliche Versuche, die Bedenken
schau in Washington. Reiter: Wir haben da vielleicht in einer Art der Polen ernst zu nehmen und ihnen ent-
Täuschung gelebt. Der Ton des deutsch- gegenzukommen. Ohne Erfolg.
SPIEGEL: Herr Reiter, vor ein paar Tagen polnischen Gesprächs wurde von einer Eli- Reiter: Ja, das war sicher so. Aber es gibt
sind die Grenzkontrollen zwischen Polen te diktiert, und diese Elite hat es nicht ge- ein reales Problem dahinter: Natürlich
und Deutschland gefallen. Beide Länder schafft, die Stimmungen derjenigen, die könnten wir uns irgendwie an dem Pro-
sind in EU und Nato, mehr Integration unsicher waren, wahrzunehmen und auf- jekt beteiligen und bekämen dann das
geht kaum. So richtig gute Stimmung will zugreifen. Für viele Polen ist Deutschland Gas aus Deutschland und wären nicht von
östlich und westlich von Oder und Neiße gleich Europa. Die Probleme mit Deutsch- Russland abhängig. Aber: Politisch würde
trotzdem nicht aufkommen. Was läuft da land spiegeln die Probleme mit Europa wi- es bedeuten, dass Deutschland und Russ-
falsch? der. Die meisten Polen sind durchaus EU- land Tatsachen schaffen, und Polen darf
Reiter: Für mich ist das Reisen ohne Gren- enthusiastisch. Eine Minderheit, aber eine sich dann anschließen. Ich verstehe sogar,
zen zwischen Polen und dem Rest Europas beachtliche, tut sich allerdings noch schwer dass Deutschland Polen wirklich helfen
einer der Höhepunkte in meinem Leben. damit, in einem offenen Raum zu leben, will. Das ist aber – polemisch ausgedrückt
Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich ohne schützende Grenzen. Solche Ängste – eine Politik der Fürsorge, nicht der Part-
zu kommunistischen Zeiten um den Pass gibt es auch in anderen europäischen Län- nerschaft. Wir wollen aber nicht ein Land
kämpfte und jahrelang Absagen sammelte. dern. In Polen haben sie – aus historischen sein, für das Deutschland sorgt. Und noch
Was das Verhältnis zwischen Deutschland Gründen – besonders viel mit Deutschland eines: Je mehr bilaterale Absprachen mit
und Polen angeht, muss man indes davon zu tun. Russland es gibt, umso unwahrscheinlicher
ausgehen, dass das Vertrauen auf beiden SPIEGEL: Sie und andere haben ja schon wird eine gemeinsame europäische Ener-
Seiten fragil ist. früh vor einer Routine der Versöhnung ge- giepolitik, die wir dringend brauchen. Die-
SPIEGEL: Fragil ist untertrieben, es knirscht warnt, vor einer Fassade der Sonntags- se Kritik bedeutet aber nicht, dass wir kei-
und kracht doch immer noch vernehmlich. reden und Bürgermeistertreffen, hinter der nen Kompromiss finden können.
Reiter: Nach der Parlamentswahl im ver- alte Ängste weiter bestünden. Was hätte SPIEGEL: Es war ja nicht nur die Pipeline,
gangenen Oktober haben wir auf der Ebe- man anders machen müssen? die für schlechte Stimmung sorgte. Regel-
ne der Politik wieder ein besseres Klima, Reiter: Ich denke nicht, dass die Politik der mäßig wurde von Regierungsvertretern in
das muss sich jetzt noch in konkreten beiderseitigen Annäherung in den neunzi- Warschau auch die Gefahr eines deutschen
Entscheidungen niederschlagen. Ich habe ger Jahren falsch war. Ich glaube nur, dass Geschichtsrevisionismus beschworen. Dass
während meines Aufenthalts in den Ver- diese Politik ihre Grenzen erreicht hatte, die Deutschen sich nicht mehr als Täter,
einigten Staaten ein bisschen Abstand be- als sie ihren größten Erfolg feierte: den sondern zunehmend als Opfer des Zweiten
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schichte des 20. Jahrhunderts nicht anderen
überlassen.
SPIEGEL: Wäre denn die Zeit schon reif für
ein gemeinsames Erinnern von Deutschen
und Polen, dass also Täter und Opfer eine
Gedenkstätte hätten?
Reiter: Ich kann mir sogar sehr gut vor-
stellen, dass es in Berlin ein Museum des
Weltkriegs gibt, von Deutschen gestaltet
in enger Kooperation mit polnischen His-
torikern. Ich kann mir vorstellen, dass dort
auch die Vertreibungen dargestellt werden.
Wir waren ja schon mal so weit, dass ein
Gespräch über die Vertreibungen zwischen
Polen und Deutschen völlig normal war.
Wir sind wieder dahinter zurückgefallen.
Das war aber kein Anfall von historischer
Obsession in Polen, sondern das hatte ei-
nen realen Hintergrund.
SPIEGEL: Und der wäre?
Reiter: Eben der Versuch, die Vertreibung
als die zentrale historische Erfahrung dar-
zustellen und mit einem Berliner Zentrum
aus dem Kontext des Zweiten Weltkriegs

AMW PRESSEDIENST
zu lösen.
SPIEGEL: Nun kann man den Deutschen
nicht unterstellen, sich zu wenig mit Na-
tionalsozialismus und Kriegsschuld aus-
Deutscher Überfall auf Polen 1939*: „Erhebliche Vorbehalte gegen alles Deutsche“ einandergesetzt zu haben.
Reiter: Ja, aber man darf nicht außer Acht
Weltkriegs sähen und ihr ehemaliges Ter- immer, dass die künftigen Generationen lassen, dass sich das historische Bewusst-
ritorium im Osten zurückhaben wollten. in Deutschland die Vertreibungen ohne sein der kommenden Generationen jetzt
Reiter: Ich mag diese Rhetorik ganz gewiss den Zusammenhang der deutschen Kriegs- in einem völlig veränderten weltpolitischen
nicht. Aber man muss die Probleme und schuld betrachten und falsche Schlüsse Umfeld neu gestaltet.
Ängste dahinter wahrnehmen, auch wenn daraus ziehen. Der Vorschlag von Tusk si- SPIEGEL: Hat nicht auch Polen versäumt,
einem der Ton der Diskussion nicht gefällt. gnalisiert aber vor allem: Wir wollen und in den letzten zwei Jahren eine Alternative
SPIEGEL: Welche ernstzunehmenden As- können die Deutungshoheit über die Ge- zum „sichtbaren Zeichen“ in Berlin vor-
pekte haben die Vorwürfe denn?
Reiter: In Deutschland hat sich doch in der
Tat die Wahrnehmung der Geschichte ver-
ändert. Die Vertreibungen, der Bomben-
krieg rückten ins Blickfeld. Viele bei uns
haben das gespürt und Angst bekommen.
Ich weiß, dass Polen nicht ewig einen mo-
ralischen Bonus in der deutschen Politik
erwarten kann. Das wäre unrealistisch. Ich
muss aber gestehen: Der Gedanke, dass es
in 15 Jahren in Berlin mit dem Holocaust-
Mahnmal und dem Zentrum gegen Ver-
treibungen nur zwei historische Symbole
von überragender Bedeutung geben sollte,
beunruhigt mich. Eine gewisse Sensibilität
für die Geschichte ist auch heute noch Vor-
aussetzung für ein gutes Verhältnis zwi-
schen unseren Ländern.
SPIEGEL: Der neue polnische Premier Do-
nald Tusk hat als Alternative zum Zentrum
gegen Vertreibungen vorgeschlagen, in
Danzig ein Museum des Zweiten Welt-
kriegs zu errichten.
Reiter: Diese Idee ist nicht ganz neu. Der
WAJSZCZAK / REPORTER / EASTWAY

Hintergrund ist, dass man Vertreibungen


und Deportationen im Rahmen der von
den Deutschen verübten Verbrechen be-
trachtet. Die polnische Befürchtung war ja
* Oben: eine Danziger Landespolizeieinheit beim Nie-
derreißen eines Schlagbaums an der Grenze zu Polen;
unten: am 21. Dezember bei einer Feier zur Erweiterung
der Schengen-Zone nahe Zittau. Partner Tusk, Merkel*: „Aufeinander angewiesen“

d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 49
Deutschland

anzutreiben, wie es von der SPIEGEL: Wie soll sich das än-
Vertriebenenpräsidentin Eri- dern?
ka Steinbach, aber auch von Reiter: Wir müssen unseren
Kanzlerin Angela Merkel ge- außenpolitischen Blick erwei-
fordert wird? Warschau hat- tern. Dafür sind die USA
te sich in der Vergangenheit wichtig. Amerika mag ge-
dafür ausgesprochen, ein ge- schwächt sein, es mag schwe-
meinsames „Netzwerk Soli- re Fehler machen. Das ist
darität und Erinnerung“ zu kein idealer Partner, aber wir
schaffen. Das aber dümpelt leben in einer realen und
vor sich hin. nicht in einer idealen Welt.
Reiter: Diese Kritik muss ich Europa braucht Amerika als
akzeptieren. Wir haben das Partner in der Weltpolitik.
versäumt. Dabei liegt eine Polen und Deutschland ha-
ehrliche Darstellung der Ver- ben eine ganz wichtige Rolle
treibungen absolut in Polens in der transatlantischen Zu-
Interesse. Aber auch die sammenarbeit zu spielen.
Deutschen haben etwas ver- Und zum Glück trennt uns
schlafen und die Debatte Frau unser Verhältnis zu den USA
Steinbach und den Vertrie- anders als noch vor fünf Jah-
benenverbänden überlassen. ren nicht mehr.
Die ganze Sache wurde bei SPIEGEL: Sie waren gerade

W. ROZBICKI / REPORTER / EASTWAY


Ihnen häufig als Nebensäch- Botschafter in Washington.
lichkeit abgetan, im Sinne Hat die Eintrübung des
von: Ach komm, das interes- deutsch-polnischen Klimas
siert doch keinen Menschen. dem Renommee Ihres Landes
Das war ein Fehler und wur- dort geschadet?
de in Polen als Arroganz Reiter: Da muss ich mich di-
wahrgenommen, als man- plomatisch ausdrücken: Es
gelnde Bereitschaft, die Sor- Brüder Jaroslaw und Lech Kaczyński: „Suche nach Identität“ war nicht das, wofür Polen
gen der Nachbarn ernst zu am höchsten geschätzt wur-
nehmen. So hat die Problematik eine wächst. Dieses Land passt in keine der de. Aus amerikanischer Sicht ist eine gute
Größenordnung gewonnen, die ihr eigent- bislang in Europa bestehenden Katego- deutsch-polnische Zusammenarbeit ideal.
lich nicht zusteht. Ich hoffe wirklich, dass rien. Es ist nicht so groß wie Deutschland Deutschland hat das größte politische Ge-
wir uns bald über solche Fragen nicht mehr oder Frankreich, es ist aber auch kein wicht in der EU, und Polen ist sehr pro-
streiten müssen. Es gibt eine Menge The- kleines Land. Polen ist ein mittelgroßes amerikanisch eingestellt und hat gewisse
men, über die wir uns unterhalten sollten, Land in einer geografischen Lage, die Kenntnisse und Wirkungsmöglichkeiten in
über die EU-Erweiterung, die Türkei und früher als eine Art Fluch galt. Heute ist Osteuropa. Dass es nicht klappte zwischen
die Ukraine. Dafür müssen wir den Kopf das eine ganz wichtige, exponierte geo- diesen beiden Ländern, das fanden die
frei haben. politische Lage. Wir sind ein Land, das Amerikaner enttäuschend.
SPIEGEL: Polen fordert mit Hinweis auf sei- politisch ehrgeizig ist und auch bereit, SPIEGEL: Polen und Deutschland haben –
ne Geschichte nach wie vor einen morali- Risiken einzugehen. Polen ist auf der historisch bedingt – auch ein besonderes
schen Bonus ein. Steht das nicht auf Dau- Suche nach seinem Platz in Europa, nach Verhältnis zu Russland. Wie sollten beide
er einem partnerschaftlichen Verhältnis, seiner Identität im europäischen Kontext. Länder mit Moskau umgehen?
wie es Ihnen vorschwebt, im Weg? Ich hoffe, es wird dabei nicht zu beschei- Reiter: Die Deutschen müssen verstehen,
Reiter: Das ist richtig. Der moralische Bo- den sein. dass Polens Beziehung zu Russland nicht
nus kann auch nicht von ewiger Dauer SPIEGEL: Aber warum verläuft diese Iden- Ausdruck einer gekränkten Überempfind-
sein. Mir ist wichtig, dass Deutschland sich titätsfindung so häufig destruktiv und auch lichkeit ist. Russland, das wir Europäer
weiter an der selbstauferlegten Kultur der in Konfrontation mit Deutschland? politisch wie wirtschaftlich brauchen, ist
Zurückhaltung orientiert. Das wird nicht Reiter: Polen reibt sich und misst sich an die größte politische Herausforderung für
mehr so wie vor 1989 sein, aber ich glaube, Deutschland. So war es immer. Das führt Europa. Deutschland und Polen sind zwei
dass diese Kultur der Beschränkung sehr manchmal zu heftigen Übertreibungen. Länder, auf die es dabei besonders an-
wichtig für Deutschland und Europa war. Man sollte Deutschland bei all seiner Be- kommt. Diese Frage erfordert höchste Sen-
Aber auch wir als Nachbarn müssen uns deutung weniger beachten. Wir sind zu sibilität in unseren Ländern. Wir in Polen
bemühen, Deutschland zu verstehen. Und sehr auf Deutschland fixiert. müssen erkennen, dass unsere Erfahrung
da haben wir zuletzt manches versäumt – mit Russland nicht die einzige ist. Viele
um es milde auszudrücken. Polen wissen nicht, dass die Deutschen we-
SPIEGEL: Schadet sich Polen nicht auch da- gen der Millionen russischer Opfer des
mit, oft aus der Rolle des Opfers heraus zu Zweiten Weltkriegs auch Schuldgefühle
argumentieren, dem die Welt etwas schul- Russland gegenüber haben. Das wirkt sich
dig sei? Das Argument der Kaczyńskis, Po- mehr oder weniger bewusst auch auf die
JACEK RENARD / EK PICTURES

len müsse in der EU ein höheres Stimm- deutsche Politik aus. Wie wir künftig ge-
gewicht erhalten, weil es so viele Kriegs- meinsam mit Russland umgehen, ist die
tote zu beklagen hatte, wurde doch von zentrale Frage im deutsch-polnischen Ver-
niemandem in Europa ernst genommen. hältnis. Wenn wir hier zu einer Einigung
Reiter: Geben Sie uns noch ein biss- kommen, haben wir eine große Zukunft
chen Zeit. Das polnische Selbstvertrauen vor uns.
Reiter, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Reiter, wir danken Ihnen für
* Jan Puhl und Hans-Ulrich Stoldt in Warschau. „Wir haben manches versäumt“ dieses Gespräch.
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Deutschland

gen und Verwahrlosungen aus und hielt


der von Merkel verordneten Kultur des
KOA L I T ION
Hinsehens eine sozialdemokratische En-

Der Kammermusiker als Punk


zyklika entgegen. „Wer hart ums tägliche
Brot kämpfen muss, fällt abends todmüde
ins Sofa“, dichtete Steinmeier mit klas-
senkämpferischem Unterton, „wer wenig
Frank-Walter Steinmeier schlägt als Vizekanzler verdient, kann sich mitunter kein Auto
leisten, um seine Kinder zum Fußballtrai-
harsche Töne an und verstört damit nicht nur die Union. ning zu fahren.“
Schneller als andere hatte Stein-
meier auch eine konkrete Zahl zur
Hand, in welchen Dimensionen
sich ein flächendeckender Min-
destlohn bewegen müsse, zwischen
7,20 und 7,50 Euro nämlich. Und er
verkündete, dass die Arbeitneh-
mer „es verdient haben, 2008 mit
deutlichen Lohnerhöhungen ihren
fairen Anteil am Aufschwung“ zu
erhalten.
Der bisher differenziert argu-
mentierende Feingeist forderte
plötzlich von Vorständen, sie soll-
ten ihre Arbeitnehmer nicht als
„Kostenstellen mit zwei Ohren“
begreifen. Den Tenor des jüngst
verabschiedeten CDU-Grundsatz-
programms verglich Steinmeier
mit belangloser „Kaufhausmusik“.
Der Union, also der Bundeskanz-
lerin, bescheinigte er „Abstauber-
tore am Fünf-Meter-Raum“.
Im hessischen Wahlkampf
mischt er ebenfalls mit. Dem Mi-
nisterpräsidenten Roland Koch un-
terstellte Steinmeier, in Anlehnung
an dessen Wort von der „brutalst-
möglichen Aufklärung“ im CDU-
DOMINIK BURTZMANN / LAIF

Spendenskandal, „größtmöglichen
Populismus“, als der gegen jugend-
liche Gewalttäter mit Migrations-
hintergrund zu Felde zu ziehen
begann. Überhaupt, so Steinmeier
plötzlich, werde er „sicher nicht
Sozialdemokrat Steinmeier: „Nicht nur der freundliche Herr vom Auswärtigen Amt“ nur der freundliche Herr vom Aus-
wärtigen Amt sein“.

D
ie Rolle war Frank-Walter Stein- mir“. In einem seiner ersten Interviews als Als „Kammermusiker“ der Koalition
meier zur Natur geworden. Als Vizekanzler gab er vor sechs Wochen im wurde Steinmeier zu Zeiten von Rot-Grün
Staatskanzleichef in Hannover, als SPIEGEL zu Protokoll: „Ich bin kein Kra- bezeichnet. Jetzt spielt er Punk.
Kanzleramtschef in Berlin – fast ein Jahr- wallmacher.“ Sein Wandel ist symptomatisch. Die
zehnt bestand die Aufgabe des Juristen Doch mit rasender Geschwindigkeit Große Koalition aus Union und SPD ist
darin, hinter politischen Raubeinen wie wurde aus dem netten Herrn Steinmeier in eine neue Phase eingetreten, und so
seinem langjährigen Chef Gerhard Schrö- ein parteipolitischer Haudrauf, der kei- viel steht fest: Eine gedeihliche Phase
der herzuräumen und Leute wieder an ei- ne Gelegenheit auslässt, das Motto der wird das nicht. Der Wahlkampf in Hes-
nen Tisch zu holen, die sich heillos zer- SPD-Vaterfigur Johannes Rau in ihr Ge- sen, Niedersachsen und Hamburg lädt
stritten hatten. genteil zu verkehren: Steinmeier spaltet die Atmosphäre auf. Als „gereizt“ be-
Nach dem Ende von Rot-Grün 2005 in der Großen Koalition statt zu versöh- zeichnet SPD-Fraktionschef Peter Struck
wurde aus dem Kabinettsdiplomaten nen. Schon beim SPD-Parteitag in Ham- die Stimmung.
Schröders der Außenminister und Chef- burg fiel er mit der gegen Angela Merkel Wurden bisher – mitunter bemüht – die
diplomat der Bundesrepublik Deutschland gerichteten Bemerkung auf, Menschen- Gemeinsamkeiten betont, tut nun vor
in der Großen Koalition. Das Bündnis, rechtspolitik dürfe „keine Schaufenster- allem die SPD alles, die Unterschiede zur
schrieb er damals für das Parteiblatt „Vor- politik“ sein. Das war noch eine Aus- Union deutlich zu machen. Der Streit ist
wärts“, müsse „eine Koalition der Vernunft einandersetzung auf dem Feld der Außen- nicht mehr der Ausnahme-, sondern der
und Verlässlichkeit sein: pragmatisch, pro- politik. Normalzustand. Merkels Leuten im Kanz-
blem- und sachorientiert“. Inzwischen aber poltert Steinmeier ge- leramt dämmert: In Müntefering ist mehr
Vielleicht, sagte der Nachfolger Joschka gen die Kanzlerin, wo immer es geht. In als ein Mann von Bord gegangen, der es
Fischers an anderer Stelle, „wird die poli- einem Beitrag in der „Welt am Sonntag“ vorzog, der Frau an seiner Seite in schwe-
tische Präsentation etwas nüchterner mit ließ er sich über die Fälle von Kindstötun- rer Zeit beizustehen. In Müntefering ist
52 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
möglicherweise der Geist der Großen mots, zum Beispiel das von der „Kauf-
Koalition verlorengegangen. hausmusik“ oder das der „Kostenstellen
Wie unter diesen Umständen noch ge- mit zwei Ohren“, kommen manchen So-
meinsame Politik gemacht werden soll, fra- zialdemokraten überdies verdächtig be-
gen sich nicht nur die Bürger, sondern auch kannt vor. Sie vermuten hinter dem neuen
die Akteure. Merkels Neujahrsansprache Sound Ulrich Deupmann, früher Par-
mit Blick auf 2008 war auffallend projekt- lamentskorrespondent (auch für den SPIE-
frei. Das Gerangel um den Mindestlohn GEL), jetzt bei Steinmeier offiziell als
Branche für Branche nervt die Union. Die Redenschreiber im Brot. Viele in der SPD
Föderalismusreform II, eine Aufgabe, bei halten ihn für den Einflüsterer, der den

HANS-CHRISTIAN PLAMBECK / LAIF


der es um viel Geld und das Wohl des Lan- parteipolitisch unerfahrenen Vizevorsit-
des geht, dümpelt vor sich hin. Bei der zenden Steinmeier durch die gefährlichen
Reform der Erbschaftsteuer spielen die Gewässer der SPD zu bugsieren versucht.
Koalitionäre Poker: Mehrere SPD-Spitzen- Und ihn nicht zuletzt als potentiellen
politiker haben die Erbschaftsteuer bereits Kanzlerkandidaten trimmt.
als etwaige Bruchstelle der Koalition mar- Außer Beck selbst, der weiter offenlässt,
kiert. Union und SPD, so ist festzustellen, ob er gegen Merkel 2009 antritt, kommt nur
haben sich nichts mehr zu sagen. Was jetzt Parteifreunde Müntefering, Beck noch Steinmeier für diese Aufgabe in Fra-
noch kommt, ist vor allem Krawall. Klare Rollenverteilung ge. Beck lässt ihm Raum. Die Frage ist, ob
Aber auf Seiten der Union in der Re- Steinmeier diesen Raum unbotmäßig aus-
gierung fühlt sich manch einer an einen Kurt Beck und Vizekanzler Müntefering – dehnt. Beck hat seinen Instinkt für Macht
„Politruk“ erinnert, wenn Steinmeier sei- so kühl ihr Verhältnis gewesen sein mag – und Konkurrenz bewiesen.
ne neue Rolle übt. Politruk nannte man zu hatten eine klare Rollenverteilung. Münte- Es ist 48 Tage her, dass Franz Münte-
Zeiten der Sowjetunion Politkommissare fering gab in der Großen Koalition meist fering ging. Noch immer werden die
der KPdSU, die in jeder Einheit der Roten den Galan und stritt mit Merkel nur im Machträume arrondiert, die er freigemacht
Armee dafür sorgten, dass die Streitkräfte Notfall. Beck griff als eine Art außerpar- hat. Steinmeier steckt seine Fahnen tie-
auf Linie blieben. lamentarische Opposition innerhalb der fer in den Raum hinein, als es Müntefe-
Auch in der SPD will die Begeisterung Koalition immer wieder an. ring tat.
über ihren entfesselten Vizekanzler keinen Steinmeier verspiele das Image des Se- Gegen ein verstärktes „Wir gegen die“
rechten Anfang nehmen, wie Karl Valentin riösen, das er sich aufgebaut habe und das habe er gar nichts, ließ vergangene Woche
einmal so schön formulierte – weil die Ge- ihn zu einem der beliebtesten Politiker in ein SPD-Politiker aus dem Urlaub heraus
nossen finden, das passe nicht zu ihm, und Deutschland gemacht habe, fürchtet ein wissen – „solange kein ,Wir gegen uns‘
weil sie Unheil kommen sehen: SPD-Chef Parteifreund. Einige von Steinmeiers Bon- daraus wird“. Christoph Schwennicke
als optimal. Die naturwissenschaftlichen
Institute der ehemaligen DDR-Akademie
der Wissenschaften, die in Adlershof ihren
Sitz hatten, wurden reihenweise abge-
wickelt. Wo einst Kanzlerin Angela Merkel
als Physikerin forschte, machte sich Tris-
tesse breit, die Laborgebäude samt Sprela-
kart-Interieur verrotteten zusehends. High-
tech-Konzerne ließen Berlin links liegen
und zogen nach Sachsen, wo der damalige
Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU)
mit einer gezielten Ansiedlungspolitik,

HEINER MUELLER-ELSNER / JENOPTIK


flankiert von vielen Fördermillionen, Dres-
den zum Silicon Saxony ausbaute.

EUROLUFTBILD / ULLSTEIN BILD


Durch das Fehlen von Großinvestoren
waren die Adlershofer auf sich allein ge-
stellt, und „darin lag die Chance des Stand-
orts“, meint Geschäftsführer Schmitz in
der Rückschau. Abgewickelte Akademie-
mitarbeiter gründeten aus der Not heraus
Technologiepark, Adlershofer Forscher: „Umfangreiches Netzwerk“ eigene, mitunter höchst innovative Unter-
nehmen. Sie legten den Grundstock für
nun Erfolg: Nach einem Gutachten einer das Adlershofer Wirtschaftswunder. Die
AU F BAU O ST
Consultingtochter des Deutschen Instituts Tüftler zogen alsbald Investoren nach

Fast wie für Wirtschaft (DIW) haben allein im Jahr


2006 die 750 Unternehmen des Entwick-
lungsgebiets Adlershof über 600 Millio-
sich, die die Nähe zu Instituten und For-
schungseinrichtungen schätzen.
In Phase zwei der Entwicklung förderte

in China
In Berlin-Adlershof boomt ein
nen Euro erwirtschaftet; weltweit verkau-
fen die Adlershofer ihre Hightech-Produk-
te – von speziellen Röntgengeräten bis
zu Scannern zum Erkennen von Gammel-
der Staat die neuen überlebensfähigen
Firmen: Mit knapp hundert Millionen Euro
pro Jahr entwickelte das Land Berlin in
Adlershof einen bisher einmaligen Tech-
Wissenschafts- und Technologiepark. fleisch. Die Subventionen machten am nologiepark. Gezielt wurden dabei An-
Gesamtumsatz des Parks gerade mal noch siedlung und Gründung von Unternehmen
Experten gilt er als Muster- fünf Prozent aus. unterstützt, die aus verschiedenen natur-
beispiel für den sinnvollen Einsatz Auch die Arbeitsplatzbilanz sei erstaun- wissenschaftlichen Sparten kamen: Che-
von Subventionen im Osten. lich positiv: Obwohl die Fördermittel seit mie, Pharmazie, Optoelektronik sowie
2005 zurückgegangen seien, steige die Zahl Lasertechnologie, Luft- und Raumfahrt-

W
enn Thilo Sarrazin (SPD), Finanz- der Arbeitsplätze weiter. Mittlerweile be- technik.
senator der hochverschuldeten schäftigen die hier ansässigen Einrichtun- DDR-Improvisationsgeist und Westför-
Hauptstadt, über Subventionen gen über 12 000 Menschen. „Der Stand- derung gingen eine erstaunlich erfolgreiche
spricht, dann gewöhnlich mit höhnischem ort“, so die Bilanz der DIW-Experten, Beziehung ein: „Adlershof“, schwärmt
Unterton. Ob Opernintendant oder Uni- „trägt signifikant zur regionalen Wirt- Sarrazin, „ist unter den Berliner Entwick-
versitätsrektor – kaum einer ist vor seinem schaftsentwicklung in Berlin bei.“ Die In- lungsgebieten dasjenige, das sich wirklich
eigenwilligen Spott sicher. vestitionsbank Berlin prognostiziert Ad- auszahlt.“ Hier sei ein „echter Zukunfts-
Nur wenn es um einen Zuschussposten lershof jährliche Wachstumsraten von bis standort aufgebaut“ worden. Und der
geht, dann scheint den Sparkommissar zu acht Prozent – fast wie in China. strahlt inzwischen über die Bundeshaupt-
die Altersmilde zu überkommen: den Wis- Dabei waren die Ausgangsbedingungen stadt hinaus. Technologieparkmanager
senschafts- und Technologiepark Berlin- Anfang der neunziger Jahre alles andere Schmitz genoss nicht nur den Besuch von
Adlershof. „Eine sinnvolle Investition“ sei- Bundesforschungsministerin Annette Scha-

Entwicklung Adlershof
en die Millionen, die das Land dafür zah- van (CDU), er beobachtet Interesse am
le, lobt Sarrazin. Kurz vor Weihnachten Adlershofer Modell auch im Westen: „Die
erhielt Adlershof-Geschäftsführer Hardy 13 000 100
merken, dass eine staatlich koordinierte
Schmitz einen weiteren Förderbescheid Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft
über 27,5 Millionen Euro. Arbeitsplätze und Wirtschaft funktionieren und einer
Subventionskritiker Sarrazin steht mit ganzen Region Impulse geben kann.“
seinem Adlershof-Lob nicht allein. Ost- Der Erfolg zieht immer mehr Unterneh-
experten gilt die Entwicklung des Stand- 12 000 90 men an – auch aus früheren Ostvorzeige-
orts mittlerweile als ein Musterbeispiel für regionen. Vor eineinhalb Jahren eröffnete
eine gelungene staatliche Investitions- Jenoptik nicht etwa am Stammsitz Jena,
lenkung – wie vor Jahren in Jena oder sondern in Adlershof eine neue Fabrik für
Dresden. Die rund 1,2 Milliarden Beihil- Hochleistungsdiodenlaser, die etwa in der
11 000 80
fen für den inzwischen größten Wissen- Medizin oder zum Härten von Metall
schafts- und Technologiecluster Deutsch- benötigt werden. Ausschlaggebend für die
lands haben sich voll und ganz rentiert. Fördermittel Standortwahl, so der Vorstandsvorsitzende
Das 4,2 Quadratkilometer große Areal im in Mio. Euro der Jenoptik AG, Alexander von Witzle-
Südosten Berlins ist einer der wenigen 10 000 70 ben, sei die Einbindung „in ein umfang-
Wachstumskerne der Hauptstadt. 2002 2003 2004 2005 2006
reiches Netzwerk von Forschungseinrich-
Selbst subventionskritische Wissenschaft- tungen und innovativen Unternehmen“
Quelle: WISTA Management GmbH/DIW econ 2007
ler bescheinigen den Adlershof-Machern gewesen. Andreas Wassermann

54 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Deutschland

der Aufschwung um jeden Preis gelingen,


wenn zugleich Geld für soziale Projekte
S TÄ D T E
fehlt? Bleibt Bremerhaven trotz neuer Fas-

Dubai an der Nordsee


saden und Gebäude womöglich so tot wie
viele Städte im Osten Deutschlands, die in
den neunziger Jahren saniert wurden?
Protzig jedenfalls reckt sich schon das
Bremerhaven ist das Armenhaus des Westens – neue Wahrzeichen Bremerhavens direkt
hinter dem Deich empor: Wie ein aufge-
doch nun soll ein gewagter Plan Rettung bringen. blähtes, silbernes Segel erscheint der Bau.
Im März schon sollen die ersten Gäste ins

N
icht einmal der türkische Gemüse- vestoren. Das Geld für den Aufbau West Atlantic Hotel Sail City kommen.
händler hat es hier ausgehalten. stammt allerdings hauptsächlich vom Dabei ist es eigentlich nur eine Kopie,
Schon Jahre steht der Laden in der Bund. In den neunziger Jahren hatte das eine Miniaturausgabe des berühmten Lu-
Goethestraße leer. Die Fenster sind zuge- Land Bremen, zu dem Bremerhaven ge- xushotels Burj Al Arab in Dubai. Das ara-
klebt, seit die Menschen zu Tausenden aus hört, Milliarden zur Entschuldung vor dem bische Original gilt als einzige Sieben-
Lehe, dem Arbeiterstadtteil im Zentrum Bundesverfassungsgericht erstritten. Von Sterne-Herberge der Welt und ist 321 Me-
Bremerhavens, weggezogen sind. Entschuldung wollen die Bremerhavener ter hoch. Für Bremerhaven reichen vier
„Zwei Drittel der Wohnungen stehen leer, Stadtväter jetzt aber nicht mehr viel wis- Sterne und gut 100 Meter. „Bis nach Hel-
in manchen Blocks wohnt niemand mehr.“ sen, sie wollen bauen – obwohl schon jetzt goland“ könne man bei klarer Sicht im
Ramiz Hamzic, ein grauhaariger Kroate, Plätze und Straßen zu groß für die rest- Winter sehen, verspricht Hoteldirektor
hört auf, Laub zusammenzufegen. Dabei – lichen Einwohner erscheinen. Michael Schröer.
so schlecht seien die alten Häuser doch gar Die Stadt aber sieht in der riskanten Beobachten kann man von dort oben
nicht. Vielleicht ein wenig feucht. „Mein Investition ihre letzte Chance. Bremer- auch, wie rund um den Prachtbau die wei-
Sohn“, erzählt er, „wollte gerade die Woh- haven selbst ist so gut wie pleite. Fast eine teren Schmuckstücke inmitten einer grau-
nung unter meiner kaufen. Aber für die Ge- Milliarde Euro Schulden belasten den en Stadtwüste entstehen. Bald wird das Me-
gend hier? Da gibt keine Bank Kredit.“ Haushalt. diterraneo öffnen, ein schickes Einkaufs-
Etliche Millionen Euro hat Bremerhaven Und so wird das Ganze ein gefährliches zentrum. Daneben wächst ein futuristisches
schon in die Sanierung heruntergekom- Experiment, eine fragwürdige Therapie Gebäude, das einmal wie eine gewaltige,
mener Stadtteile wie Lehe oder Geeste- voller Risiken und Nebenwirkungen: Kann gläserne Gurke aussehen soll: das Klima-
münde gesteckt, es wurden Straßen ge-
pflastert, Bäume gepflanzt, Sozialzentren
gebaut. Lebendig wird es in der Goethe-
straße dennoch nur selten: Etwa dann,
wenn die Bremerhavener Tafel Essen für
Arme verteilt: „2500 Menschen sichern wir
mittlerweile das Überleben“, rechnet Lei-
ter Manfred Leutert vor. „Jede Woche
kommen vier bis fünf Familien dazu.“
Bremerhaven ist das Armenhaus des
Westens. In Deutschlands einziger Groß-
stadt an der Nordsee ist die Situation
schlimmer als in vielen Kommunen Ost-
deutschlands: Zwei von fünf Kindern leben
hier von Hartz IV, jeder Fünfte hat keinen
Job, rund 30 Prozent aller Haushalte sind
überschuldet.
Einst lebte die Stadt gut von Werften
und Fischfang. Es war laut und dreckig,
doch es gab Arbeit. Seit Jahren aber steckt
Bremerhaven in einer tiefen Krise: Mehr
als zehn Prozent ihrer Einwohner hat die
Stadt seit Mitte der neunziger Jahre verlo-
ren. 116 000 sind noch übrig, im Jahr 2020,
sagen Prognosen, dürften es nur noch
103 000 sein.
Nun allerdings soll das triste Sozialghet-
to mit einem verwegenen Plan gerettet wer-
den: Bremerhaven will sich zu einer „ma-
ritimen Attraktion“ für Millionen Touristen
wandeln, und auf dem Weg zu einer bes-
seren Zukunft wird nicht gekleckert: Die
Stadt baut sich gleich eine neue Innenstadt,
ein funkelndes Zentrum mit Shows und
Shops, eine Ansammlung von gläsernen
Museen, Büros und Wohnungen.
Satte 300 Millionen Euro lässt sich die
Kommune den Aschenputtel-Plan kosten,
sponsert damit unter anderem private In- Neues Zentrum von Bremerhaven mit Hotelneubau und Klimahaus: Schmuckstücke inmitten

56 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
haus. In knapp zwei Jahren sollen Besu- Job finden, ist das schon viel.“ Ihm gehe es
cher dort die verschiedenen Klimazonen BREMERHAVEN darum, vor allem jungen Menschen wieder
der Welt kennenlernen können. Die Stadt Einwohner Arbeitslosenquote eine Perspektive zu geben. Da müsse man
hat sich auch gleich noch einen neuen Zoo 1990: 130 940 November 2007: ganz pragmatisch sein.
geleistet sowie das Auswandererhaus, ein 2007: 115 919 19,3 % „Ressourcenverschwendung“ sei es, fin-
Museum über die Auswanderwelle nach –11,5 % zum Vergleich Deutschland: det der Oberbürgermeister, in die alten
Amerika. Ein neuer Sportboothafen, Büros Stadtteile Geld zu stecken. Das könne sich
und Apartmenthäuser sind schon fertig. 8,1 % Bremerhaven nicht mehr leisten.
Keine 500 Schritte entfernt zeigt sich je- Damit allerdings zeigt sich ein weiteres
doch, wie waghalsig die Investitionen sind: Nordsee Problem der Stadt: Die Alarmsignale aus
Dort zieht sich ein graues Betonband den verslumten Vierteln sind nicht zu über-
durch die Stadt, die Fußgängerzone. Hier Hamburg sehen. Beispielsweise wie junge Mädchen
wird nicht über eine Sonntagsöffnung dis- versuchen, der sozialen Tristesse zu ent-
kutiert wie beim Mediterraneo. Hier fliehen: Sie werden schwanger. Nirgend-
kämpfen Billigketten und eine Siebziger- Bremerhaven wo sonst in der Republik gibt es so viele
Jahre-Einkaufspassage um Kunden. Am minderjährige Mütter wie in Bremerhaven.
Ende der Straße liegt ein schmutziger Ge- NIEDERSACHSEN „Wie das neue Hotel wächst, so wächst
bäudeblock: das Nordsee Hotel, früher Oldenburg Bremen auch die Kinderarmut in der Stadt“, klagt
eine der besten Unterkünfte am Platze. 30 km zudem Eberhard Muras, Chef des Diakoni-
Anfang vergangenen Jahres hat das Haus schen Werks. „Die Stadt baut eine gewal-
dichtgemacht. Es kamen zu tige Kulisse auf, hinter der die
wenig Gäste. Armen bloß versteckt werden
Ein idealer Platz, um auch sollen“, fürchtet Wolf Hast,
noch ein neues Rathaus zu Vorsitzender des Bremerhave-
bauen, findet zumindest der ner Topfs, eines Zusammen-
Bremerhavener Oberbürger- schlusses von 50 Selbsthilfe-
meister. Zurzeit allerdings gruppen.
muss Jörg Schulz, der Motor Gewaltige Umsätze jeden-
des Stadtumbaus, in Lehe falls bringen nicht zwangsläu-
ausharren. Nach dem Krieg fig mehr Arbeitsplätze. Denn

CLAUDIA SCHIFFNER / BILDERBERG


schon heute ist Bremerhaven
ein Musterbeispiel dafür, wie
stark wirtschaftlicher Auf-
schwung eine Stadt verändern
kann – und wie wenig manch-
mal die Menschen davon ha-
ben: Vier Kilometer nördlich
Oberbürgermeister Schulz: Kampf weit vor der Front des Zentrums, im Übersee-
hafen, rollen Tag und Nacht
war die Stadtverwaltung dort in eine ehe- Sattelschlepper zu den Kaianlagen. Ständig
malige Kaserne gezogen. rattern Züge beladen mit teuren, neuen
Schulz ist ein spröder, nordischer Typ: Autos zu den Anlegern. Die Globalisie-
groß, schlank, blond. Seit acht Jahren rung treibt den Hafen seit Jahren an, sorgt
leitet der ehemalige Amtsrichter die Stadt- ständig für Rekorde.
verwaltung. Als der Sozialdemokrat da- Qualifizierte Jobs springen freilich kaum
mals gewählt wurde, versprach er, er wer- dabei heraus. In Bremerhaven werden die
de sich bemühen, seine Stadt „weiter vor- Waren nämlich nur umgeschlagen, selten
anzubringen“. Das klang bescheiden. jedoch bearbeitet. Auch finanziell profi-
Heute sagt der 54-Jährige über sich tiert Bremerhaven wenig von dem Boom.
selbst, er kämpfe „weit vor der Front“. Denn der Überseehafen gehört zur Stadt
Eine freundliche Umschreibung dafür, dass Bremen – wohin auch die Steuern der Un-
der Stadt-Therapeut umstritten ist – seine ternehmen fließen.
Radikalkur geht manchem zu weit. „Nach Jahren des Stillstands kommt der
Schulz hat aber keine Lust, nur das Arbeitsmarkt endlich ein wenig in Bewe-
Elend zu verwalten. Lieber lädt er Archi- gung“, behauptet trotzdem Heinz Haus-
tekten, Planer und Verwaltungsleute in hahn. Der Verwaltungsmann ist für die
sein Büro, um zu hören, wie die Arbeit Bremerhavener Arge zuständig, die ge-
vorangeht. Im Sommer hat er eine Werbe- meinsame Einrichtung von Stadt und Ar-
DVD produzieren lassen. Dort ist zu se- beitsagentur, die sich um Langzeitarbeits-
hen, wie der Politiker mit Krawatte und lose kümmert. Grund für seinen Optimis-
Helm auf dem Kopf Baustellen inspiziert. mus: Windenergieunternehmen wollen 500
Die Videoanimationen erinnern nicht an Dauerarbeitsplätze schaffen.
die Provinz. Sie erinnern an Hamburg, Es gibt nur einen Haken – es fehlen
London oder Barcelona. Fachleute in der Stadt. „Wenn wir kein hei-
Weniger gern spricht der Sozialdemo- misches Personal bieten können, werden
JÖRG OBERHEIDE

krat darüber, was aus den über 10 000 die Firmen Mitarbeiter im Rest der Repu-
Langzeitarbeitslosen in seiner Stadt wer- blik suchen“, fürchtet deshalb Haushahn,
den soll. Das sei ein „Scheißthema“, sagt „dann geht der Aufschwung an uns vor-
einer grauen Stadtwüste er: „Wenn 1000 oder 2000 davon je einen bei.“ Michael Fröhlingsdorf

d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 57
Deutschland

Hinter Gittern wird Meinecke wohl erst Zudem schlägt nun die Stunde findiger
GASTRONOMIE
mal nicht landen, aber seit Anfang des Jah- Tüftler. Nicht nur Wintergartenhersteller

Auf zur res müssen Rebellen wie er mit Geldbußen


bis zu 1000 Euro und dem Konzessionsent-
zug rechnen. In zwölf Bundesländern gilt
wittern jetzt die Chance, ihren Kunden-
stamm von Reihenhausbesitzern auf ver-
zweifelte Schankwirte auszudehnen. Glä-

Kippenschlacht seit Januar das Rauchverbot in öffentlichen


Gebäuden und der Gastronomie, die Mehr-
heit der Tabak-User passt sich dort an. Sach-
sen folgt am 1. Februar, das Saarland und
serne Qualmkabinen – sieht so die Zukunft
des zechenden Rauchers aus?
Für die Gäste der „Lustigen Mamma“ in
Hamburg kommt solch ein Unsinn über-
Seit Jahesbeginn verbannen
Rheinland-Pfalz zwei Wochen später. haupt nicht in Frage. „Dieses ganze
die meisten Wirte ihre qualmenden Das Regelwerk zur Kippenschlacht ist Rauchverbot ist doch die reine Bevor-
Gäste brav vor die Tür. Doch unübersichtlich wie so vieles im deutschen mundung“, sagt etwa Daniela Ilian, 59,
einige Rebellen wehren sich stand- Föderalismus, die Übergangsfristen, Aus- die hier nur deshalb ihr Bier trinkt, weil sie
haft gegen das Rauchverbot. nahmeregelungen und Strafen sehen in je- dazu eine rauchen darf. „Wenn’s wirklich
dem Bundesland anders aus. Eines aber um die Gesundheit ginge, dann müsste

S
olange Helmut Meinecke diese Knei- eint den Paragrafenwirrwarr: Der Knei- man die Zigaretten ganz verbieten. Aber
pe führt, bleiben die Aschenbecher penbesitzer, der in seinem Eckladen kei- dann hat der Finanzminister ja nix mehr
auf den Tischen, ganz klar. „Zur lus- nen separaten Quarzraum einrichten kann, davon.“
tigen Mamma“ heißt sein Eckladen in ist fast überall der Verlierer. Über 110 Milliarden Euro an Tabak-
Hamburg-St. Pauli, es ist ein wohnzimmer- Doch in vielen Winkeln der Republik steuer sackte der Staat seit 1999 ein. Noch
großer Raum mit Holztresen, Jukebox und ziehen die Don Quichottes vom Tresen ge- raucht ein Drittel der Erwachsenen in
Spielautomat. Ein Jedermann des deut- gen das übermächtige Rauchverbot zu Fel- Deutschland, an den direkten Folgen ster-
ben jährlich rund 140 000 Menschen. Der
Drogen- und Suchtbericht der Bundes-
regierung verzeichnet außerdem etwa
3300 Nichtraucher, die jedes Jahr durch
die Folgen des Passivrauchens zu Tode
kommen.
In Irland habe die Zahl der Herzinfark-
te seit dem Rauchverbot im März 2004 um
elf Prozent abgenommen, sagen irische
Forscher. In Italien, wo das Rauchverbot
vor drei Jahren in Kraft trat, ging die In-
farktrate in der Region Piemont bei den
unter 60-Jährigen ebenfalls um elf Prozent
zurück. Und im US-amerikanischen Pue-
blo, Colorado, sank sie im Jahr 2006 nach
dem Rauchverbot gar um 27 Prozent.
Kneipenwirt Meinecke weiß um die Ge-
fahren des Rauchens, er hat ja selbst damit
aufgehört nach seinem Herzinfarkt vor 18
Jahren. Doch die Gesundheit spielt in
Meineckes Kampf eben nur eine Neben-
rolle – ihm geht es um die Freiheit.
Prominente Unterstützung kommt aus
DAVID HEERDE

der Politik. Hinnerk Fock, FDP-Spitzen-


kandidat bei der Hamburger Bürger-
schaftswahl am 24. Februar, hat kürzlich in
Raucherinnen (am 1. Januar in Berlin): Die Zigaretten ganz verbieten? Meineckes Kneipe pressewirksam das erste
Plakat seiner Anti-Rauchverbot-Kampagne
schen Schankwesens, wie es ihn überall im de. Nicht alle wählen als Kampfmittel den angebracht. Der Slogan „Freie Wahl für
Land gibt – Zigarettenqualm inklusive. „80 zivilen Ungehorsam à la Meinecke. Eine Gäste und Wirte“ prangt jetzt in blauen
Prozent meiner Gäste rauchen“, sagt beliebte Waffe im Feldzug für die Rauch- Lettern auf gelbem Grund an der Back-
Meinecke, 61, und sie tun das zur Genüge freiheit ist auch das Volksbegehren – aller- steinwand im Schankraum.
auch an diesem Januarabend, obwohl das dings muss man dafür meist Zehntausende Auch in Hessen und Bayern wollen die
Rauchverbot in Hamburg zu Jahresbeginn Unterschriften sammeln. Liberalen damit in den Landtagswahl-
in Kraft getreten ist. Wen diese Mühen der Ebene schrecken, kämpfen auf Stimmenfang gehen. Im Frei-
Meinecke, grauer Rolli, weiße Haare, der kann auch gleich nach Karlsruhe ge- staat, wo das strikteste Rauchverbot der
roter Kopf, zapft Pils hinterm Tresen und hen. Verfassungsbeschwerde, mithin die Republik künftig sogar aus den Wiesn-Zel-
redet sich in Rage. „Ich bin sauer bis zum Königsdisziplin der Bürgerwehr, haben in- ten sämtliche Glimmstengel verbannt, sol-
Gehtnichtmehr“, sagt er. „Wenn meine zwischen bereits Wirte aus Bayern, Hessen len freiheitsliebende Raucher die seit Jah-
Gäste hier nicht mehr rauchen dürfen, und Baden-Württemberg eingelegt. ren darbende FDP endlich wieder über die
muss ich den Laden dichtmachen.“ Doch Bei Deutschen ebenfalls beliebt: die Fünf-Prozent-Hürde hieven.
bevor Meinecke dann nach 42 Arbeitsjah- Gründung eines Vereins. Die Besitzerin Ein Schlupfloch für renitente Qualmer
ren in Hartz IV abrutscht, lässt er Werner der Hamburger Bar „Parallelwelt“ etwa gibt es im strengen Bayern freilich jetzt
und Edith und das übrige Stammpublikum wandelte ihren Laden einfach in einen schon: In den Arbeitsräumen von Prosti-
lieber weiterqualmen. Rauchverbot hin Raucherverein um. Wer für sechs Euro tuierten dürfen die Anwesenden auch wei-
oder her, Meinecke zieht das jetzt durch, Jahresbeitrag Mitglied wird, darf wie bis- terhin nach Lust und Laune rauchen.
„von mir aus bis zur Beugehaft“. her eintreten und weiter rauchen. Merlind Theile

60 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Szene

Was war da los, Fujii mit Roboter in Tokio

Herr Fujii?
Der japanische Student Genki Fujii, 22,
über sein Frühstück mit einem Roboter

„Schon lange wird uns ein menschen-


ähnlicher Roboter versprochen, endlich
gibt es ihn. Er heißt Twendy-One und
wurde von meinem Professor entwickelt.
Seine Hände sind aus Silikon und seine
Finger so beweglich, dass er einem Men-
schen aus dem Bett helfen kann, ohne
ihm weh zu tun. An jeder Hand ist er mit
241 Drucksensoren ausgestattet, er be-
wegt sich auf Rollen und kann sprechen.
Über Sprache empfängt er auch die Be-
fehle. Eingesetzt werden soll er vor allem

KURITA KAKU / EYEDEA / GAMMA / LAIF


in Altenheimen, dort wird er den Men-
schen im Haushalt behilflich sein. Auf
den Markt kommen soll er erst 2015, für
200 000 Dollar. Bis dahin müssen wir ihn
noch verbessern: Der Roboter muss ler-
nen, länger wach zu bleiben. Im Moment
hält seine Batterie nur 15 Minuten.“

FOTOGRAFIE sein. Ein kulturhistorischer Verlust, SPIELE

Bröckelnde Pracht Kindliche Gesten


denn im 19. Jahrhundert bildete sich
hier unter britischer Herrschaft eine
wirtschaftlich potente indische Elite, die

I ndien boomt, die Immobilienpreise


explodieren, doch in die Erhaltung
des architektonischen Erbes wird zu
in einem eigenwilligen Mix aus östlicher
Tradition und klassizistischem Stil eine
Art bengalische Variante der Fabri-
S chere, Stein, Papier: Das ist die
perfekte Balance im Schnick-Schnack-
Schnuck-Spiel, der Brunnen, sagen die
wenig investiert. Dramatisch ist der kantenvilla errichtete. Als Schnittstelle Cracks, bringt zu viel Unordnung ins
Verfall der prominenten Chitpur Road zwischen Indien und dem Empire ist die Gestenspiel, er stört die Ausgewogenheit
im Norden Kalkuttas. Wenn nichts Chitpur Road einzigartig: Vergangenen der Chancen. Also wurde kürzlich der
geschieht, wird die Prachtstraße Glanz und gegenwärtiges Elend der Kampf um die Weltmeisterschaft mit den
in 20 Jahren nicht mehr zu erkennen Prachtstraße zeigt nun ein Bildband, für drei Klassikern ausgefochten: Die Schere
den 21 Studenten der besiegt das Papier und unterliegt dem
Bremer Kunsthochschule Stein; der Stein verliert gegen das Papier;
einen Monat lang mit das Papier hat keine Chance gegen die
Großbildkameras den Schere. „Ich muss meinen Gegner belau-
schwungvollen Handel ern“, so Graham Walker, Präsident der
vor der lädierten World Rock Paper Scissors Society, „und
großbürgerlichen Kulisse erahnen, was er machen wird“ – immer
in der Chitpur Road mehr Zeitgenossen, sagt er, erliegen dem
porträtierten: Viele Reiz des Spiels. Dass fast jede Woche
Fenster sind vernagelt, irgendwo ein nationales oder regionales
wuchernde Pflanzen Turnier ausgetragen wird, in Toronto wie
sprengen den Putz ab, in Bad Segeberg, findet Walker wunder-
Paläste werden als bar, und dass ein Richter, wie unlängst in
Lagerräume für Alteisen Orlando, Florida, die Entscheidung über
genutzt. Besonders das Wo einer Zeugenvernehmung von
schlimm für die Bau- verfeindeten Anwälten auf diese Weise klä-
substanz: die in Kalkutta ren lässt, billigt Walker zutiefst. Den Boom
immer noch ansteigende erklärt er sich so: „Das Spiel erlaubt die
Luftverschmutzung. Hinwendung zum Einfachen, Überschau-
baren, Kindlichen.“ Schnick-Schnack-
Peter Bialobrzeski (Hg.): Schnuck sei das Globalisierungsspiel
„Calcutta. Chitpur Road Neighbor-
hoods“. Hatje Cantz Verlag, schlechthin: „85 Prozent der Weltbevölke-
Altbau an der Chitpur Road, Kalkutta Ostfildern; 144 Seiten; 39,80 Euro. rung haben es mindestens einmal gespielt.“
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Gesellschaft
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE und Cafés auf und deckt sich mit seiner
braunen Lederjacke zu. „Man kann

Ich bin dann mal weg


doch nicht einfach zu den Leuten ge-
hen, wenn man sie nicht kennt“, sagt er.
Am fünften Tag beschließt er, zu ge-
hen, 1300 Kilometer, von Leipzig nach
Wie ein litauischer Bauer von Deutschland aus nach Hause fand Antasava, zurück nach Hause. Die Last-
wagenströme führen ihn zur Autobahn.

S
aulius Marcinkevicius ist gern zu ten, setzt sich in eine Kneipe, raucht, Die ist breit, die Autos fahren schnell,
Hause. Zu Hause, das sind vier bestellt ein Bier, irgendwann zahlt er, viel schneller als zu Hause. Er schafft
Zimmer in einem 30 Jahre alten steht auf, geht. Die Zeit verschwimmt. 30 Kilometer. Dann hält ein Streifen-
Haus am Rand von Antasava, das er Marcinkevicius irrt umher, übermüdet wagen. Passkontrolle. Die Beamten sind
sich mit seiner Mutter teilt. Überhaupt und ein wenig betrunken, er versinkt nett, sie geben Marcinkevicius zu ver-
teilt der 41-Jährige viel mit seiner im Geräuschmeer der fremden Sprache. stehen, dass es nicht erlaubt sei, auf den
Mutter. Den Fernseher, die Wärme des Der Bus scheint wie vom Erdboden Autobahnen zu wandern. Dann fahren
Holzofens, die Erinnerung an den toten verschluckt. sie ihn ins nächste Dorf, wie einen ver-
Vater und das Geld, das er seit drei Marcinkevicius hofft, dass die ande- irrten Käfer, und setzen ihn aus.
Jahren als Hilfsbauer auf einem Hof im ren ihn suchen. Manchmal schaut er auf Marcinkevicius geht zurück zur Auto-
Dorf verdient. „Wer zusammen lebt, die Uhr seines Handys. Es funktioniert bahn. Abermals folgt er ihr, jetzt jen-
teilt zusammen“, sagt er. nicht, hier im Ausland. Es ist so nutzlos seits der Leitplanke. Der Weg erschöpft
Sonst sagt Marcinkevicius nicht viel. wie Marcinkevicius sich fühlt, in dieser ihn, er muss viele Pausen machen,
Er hat Litauen nur einmal verlassen, fremden Welt. 80 Euro hat er in der Ta- trinkt Wasser aus Pfützen und Bächen,
um nach Usbekistan zu fahren. Aber sche; in einem asiatischen Imbiss wärmt isst faule Äpfel. Wenn es dunkel wird,
da war Usbekistan noch kein kauert er sich unter einen Baum
Ausland und Marcinkevicius oder an einen Lärmschutzwall,
noch Soldat in der Armee. Ihr einmal auch in den Müllcon-
Sohn bleibe am liebsten daheim, tainer einer Möbelfabrik. Die
sagt seine Mutter und meint es Nächte sind kalt, Marcinkevicius
nicht abwertend. schläft kaum, es regnet, das Lau-
Die Einladung, die Marcin- fen auf dem unebenen Boden
kevicius’ Leben ändern wird, wird immer beschwerlicher, sei-
kommt deshalb ungelegen. Er ne Füße bluten. Acht Tage ist
soll nach Deutschland fahren, er unterwegs, als er beschließt,
fünf ganze Tage lang. Auf der zurück auf die A 4 zu wechseln.
ARTURAS STRIMAITIS / TRANSIT

„Agritechnica“, der größten „Die werden doch nicht auf ei-


Landmaschinenmesse der Welt, nen Menschen zufahren“, denkt
soll er mit eigenen Augen sehen, er, während die Autos an ihm
wie weit die Technik im Westen vorbeirasen. Die Polizisten, die
ist: Mähdrescher, Güllewagen, ihn wenig später einsammeln,
Hochleistungseinzelkornsähma- haben Mitleid. Sie kontrollieren
schinen. Die 170 Euro für die Marcinkevicius den Pass, kochen Tee und or-
Fahrt will der Chef zahlen, als ganisieren eine Übersetzerin;
Weiterbildung für seinen Traktoristen. schließlich bringen sie Marcinkevicius
Doch Marcinkevicius kann sich nicht zur nahen polnischen Grenze.
recht freuen. 157 Kilometer sind es al- 200 Kilometer ist er gelaufen, der
lein von Antasava nach Kaunas, wo die Bart ist inzwischen lang, die Jeans
Reise Richtung Hannover beginnen soll. sind schmutzig. Auf dem Parkplatz von
Ein Freund bringt ihn und seine üppig Zgorzelec findet Marcinkevicius einen
geschmierten Wurstbrote schließlich litauischen Lkw-Fahrer. „Ein Litauer
zum Bus. Marcinkevicius kennt nie- muss einem Litauer helfen“, sagt der
manden in der Reisegruppe, die Bauern und nimmt ihn mit.
kommen aus ganz Litauen. Widerwillig Aus der „Frankfurter Allgemeinen“ Als er endlich zu Hause ankommt,
steigt er ein. „Wenn man eingeladen weinen Bruder, Schwester und Mutter,
wird, dann muss man fahren“, sagt er. er sich auf. Was er gegessen hat, weiß er nehmen ihn in dem Arm, danken Gott,
Über Polen geht es nach Westen, Rich- bis heute nicht. Es gibt keine China- dass er lebt. Marcinkevicius verspricht,
tung Deutschland, Marcinkevicius isst Restaurants in Antasava. er wolle Litauen nie wieder verlassen.
seine Brote, trinkt Wodka dazu. Dann setzt er sich auf eine Bank an Doch dann kommt eine Einladung.
Es ist 12 Uhr, als der Bus im Süden der Haltestelle der Linie 15, Fahrtrich- Die deutsche Botschaft bietet ihm an,
von Leipzig hält. Ein Abstecher zum tung Meusdorf, und wartet. Es wird zur „Grünen Woche“ nach Berlin zu
Völkerschlachtdenkmal, ein bisschen dunkel, die Nacht kommt, und mit dem kommen, Flug und Hotel werden be-
Kultur, ein bisschen Bewegung. Mar- Tag verlässt Marcinkevicius die Hoff- zahlt. Marcinkevicius’ Füße schmerzen
cinkevicius döst, die lange Fahrt und nung, dass die anderen ihn finden. Vier noch immer, ein Zeh ist taub, aber er
der Wodka haben ihn müde gemacht. Tage verbringt er in Leipzig, legt sich wird wohl fahren. „So was muss man
Als er aufwacht, ist der Bus leer. Mar- mal auf eine Parkbank, sitzt mal an ei- annehmen. Da kann man nicht einfach
cinkevicius steigt aus, läuft zehn Minu- ner Haltestelle, wärmt sich in Kneipen absagen“, sagt er. Barbara Hans

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Gesellschaft

RABATTI - DOMINGIE / AKG

Der heilige Antonius im Kampf mit dem Dämon (Gemälde, um 1645), römischer Chefexorzist Amorth, Oberhirte Benedikt XVI.: Der intellektuelle

KIRCHEN

Auf Teufel komm raus


Unerbittlich kämpft er gegen Hexer, Flüche, Besessenheit – der römische Geistliche Gabriele Amorth
ist der meistbeschäftigte Exorzist Europas. Zu tun gibt es mehr als genug:
„Der Dämon bemächtigt sich mit Vorliebe der Politiker.“ Von Alexander Smoltczyk

M
ein Gott, wenn es diese empfind- Der 82-jährige Priester trägt die Soutane Das Gelände gehört dem Orden Sankt-
samen Nachbarn nicht gäbe. Dann mit den 33 Knöpfen. Sein Schädel ist bis Paulus-Gesellschaft, einst gegründet, um
wäre alles viel einfacher. Aber die auf einige weiße Stoppeln nahezu kahl, das das Evangelium mit den Mitteln moderns-
beschwerten sich ständig: „Wegen Ruhe- Doppelkinn hängt herunter, ein wenig wie ter Technik zu verbreiten.
störung …!“ Don Gabriele hat zu viel er- bei einem Basset. Er trägt eine Bifokal- Die Privatpraxis des Teufelsaustreibers
lebt, um sich noch aufzuregen. Aber diese Brille, seine Augen sind graublau und las- sieht aus wie eine Teeküche. Sie ist zur
Proteste waren einfach lästig und dumm. sen einen nicht los. Für Padre Amorth ist Hälfte gekachelt, mit Spüle, einem kleinen
„Ruhestörung … Die beschwerten sich der der Teufel keine Metapher, sondern tägli- Altar und einem Tischchen, auf dem Plas-
Schreie wegen. Aber ohne Schreien geht es che Praxis. Er sagt: tikbecher und eine Flasche Mineralwasser
nun mal nicht bei den harten Fällen.“ Ich bin der einzige Exorzist, der sieben „San Benedetto“ stehen. An den Wänden
Also kann Don Gabriele Amorth bei sich Tage die Woche arbeitet, von morgens bis Bilder von Padre Pio, Johannes Paul II.
zu Hause nur noch die harmloseren Fälle nachmittags, einschließlich Heiligabend und Amorths Lehrmeister Don Candido
behandeln. Aber: „Zum Glück hat mir ein und Ostern. Ich habe in 21 Jahren über Amantini. Es ist nichts Unheimliches zu
Kollege einen Raum in der Innenstadt zur 70 000 Exorzismen durchgeführt. Als ich bemerken, kein Schwefelgeruch, keine
Verfügung gestellt. Dort habe ich fünf, noch jünger war, schaffte ich im Schnitt Kohlebecken oder Streckbänke.
sechs Helfer, falls jemand gewalttätig wird. 15, 16 Austreibungen am Tag. Sehen Sie Amorth ist ein ernsthafter Mensch. Ne-
Da können sie schreien.“ Die vom Teufel meinen Terminkalender? In den nächsten ben dem Theologie- hat er auch ein Jura-
Besessenen. Jeden Di. und Fr., ab 9 Uhr. zwei Monaten ist schon alles voll. studium abgeschlossen. Seine Bücher sind,
Don Gabriele ist der offiziell beauftrag- Amorth wohnt in einem großen Wohn- wie er sogleich mitteilt, in 21 Sprachen
te Exorzist der Diözese Rom und damit heim für Geistliche, einem Neubau aus den übersetzt, darunter ins Japanische. Der
auch der zuständige Teufelsaustreiber für Siebzigern, unterhalb der Basilika Sankt Pater gilt als Kapazität auf dem Gebiet der
den Bischof Roms, Papst Benedikt XVI. Paul vor den Mauern an der Via Ostiense. Mariologie, der Wissenschaft von der Mut-
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CLAUDIO PERI / ANSA / DPA
CARLO LANNUTTI

Papst aus Deutschland hat mit den Teufelsaustreibern nicht gebrochen – im Gegenteil, er ermutigt sie

tergottes. 1990 gründete Amorth die „In- ten, die allein durch Gebet und Fasten raum verschwunden, wo schon drei Gehil-
ternationale Gesellschaft der Exorzisten“. verschwinden. finnen warteten, ältere und freundlich
Bis heute ist er deren Ehrenpräsident. Er Er empfiehlt für den Hausgebrauch das nickende Hausfrauen mit Rosenkränzen.
sagt: „Befreiungsgebet“. Es geht so: „Herr, all- Die Tür mit dem gehäkelten Spitzen-
Ich sage allen, sie sollen zuerst die Ärzte mächtiger und barmherziger Gott, Vater, vorhang schließt sich, und wenig später ist
und Psychologen um Rat fragen. In den Sohn und Heiliger Geist, befreie mich von ein an- und abschwellendes Murmeln zu
allermeisten Fällen gibt es psychische allen Einflüssen des Bösen, Vater, im Na- hören, in dem bisweilen die Stimme des
oder physische Ursachen für das Leiden. men Christi bitte ich dich, dass du jede Paters zu erkennen ist. Dann schreit es.
Psychiater schicken mir die unheilbaren Kette, die der Teufel über mich hat, zer- Obszön laut. Als würde ein Schwein zur
Fälle. Es gibt keine Konkurrenz. Der brichst. Vergieße das kostbarste Blut deines Schlachtbank gezerrt. Sogleich wird auch
Psychiater sagt, ob es sich um Symptome Sohnes über mich. Damit sein unbefleck- das Murmeln lauter. Es schreit: „Maledet-
einer psychischen Krankheit handelt. Der tes und heilbringendes Blut jegliche Ein- to!“ Eine Frauenstimme.
Exorzist sagt, ob es sich um spezifische flüsse über meinen Körper und meinen Im Neuen Testament heißt es: „Der Teu-
Symptome eines Fluchs handelt. Er kann Geist vernichtet.“ fel geht wie ein brüllender Löwe umher
feststellen, ob ein Hexer einen Fluch aus- Das Gebet ist kostenlos aus dem Netz her- und sucht, wen er verschlingen kann“
gesprochen hat. unterzuladen und sollte bei Symptomen von (1. Petrus Kapitel 5, Vers 8).
Wer davon überzeugt ist, dass die Welt Besessenheit täglich gesprochen werden. Nach einer Weile kommt eine der Haus-
voll von Teufeln und Teufelchen ist, der Wenn alles nicht hilft, dann bleibt nur frauen heraus und wäscht sich die Hände.
entwickelt eine Technik des Umgangs mit der Gang zu Don Gabriele. Sie lächelt freundlich, als wäre in dem
dem Bösen, die sich in Vokabular und Die „Kirche der Unbefleckten Empfäng- Raum hinter ihr nicht gerade ein spitzes To-
Denkstruktur nicht wesentlich von der nis auf dem Esquilin“ liegt an einer stark- ben, ein gurgelndes Gebrüll, ein Pesten
Welt eines Automechanikers unterschei- befahrenen Straße unweit des römischen und Schluchzen zu hören. „Ich verfluche
det. Es käme Amorth nicht in den Sinn, Hauptbahnhofs Termini. Energiesparlam- dich!“, ist zu hören, dann wieder Amorths
dass jemand es ungewöhnlich finden könn- pen und einige elektrische Gebetsbirnchen Stimme: „Wie ist dein Name? Wie ist dein
te, von schwebenden oder nägelspeienden erhellen den hohen, mit Deckenfresken Name?“ Man hört ein Gurgeln, das sich in
Signoras berichtet zu bekommen. Der Pa- ausgemalten Raum nur kümmerlich. Hier einem langgezogenen, hohen Schrei ent-
ter spricht über den Teufel wie ein Hand- ist Padre Amorths Ort für harte Fälle. lädt. „Dein Name! Ist es Astaroth?!“ Die
werker über die Kunst, einen Rohrbruch zu Zur Morgenmesse an diesem Freitag ha- Stimme bleibt nicht nur die Antwort schul-
reparieren. Don Gabriele ist der Klempner ben zwei, drei Dutzend Besucher in den dig, sondern auch jegliche Ehrerbietung:
des Bösen. Er sagt: Bänken gesessen, in der ersten Reihe eine „Nein! Nein!! Porrrrca Madonna!!!“
Im Allgemeinen riecht man nichts. Aber rundliche, hübsche junge Frau mit modi- Eine halbe Stunde ringt es hin und her, Ge-
manchmal speien sie Dinge aus. Gestern schen Schuhen. Vor dem Pater wurden brüll übertönt Murmeln, Murmeln steigt an
kam ein geheilter Patient vorbei. Mit den Mineralwasser, Haushaltssalz und Fotos und senkt sich wieder, ab und zu ein Stamp-
Nägeln, die er ausgespien hatte, hätten von einer Hochzeit ausgepackt. Amorth fen und ein Heulen. Dann ist es vorbei.
wir einen Eisenwarenladen aufmachen hat diesen Dingen den Segen gegeben und Einer der Diakone erscheint in der Tür,
können. Es gibt aber auch Besessenhei- ist dann mit drei Diakonen in den Neben- fragt: „Wie geht’s?“ und zieht, noch die
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CINETEXT
Besessenes Mädchen (im Film „Der Exorzist“, 1973): „Der Teufel sucht, wen er verschlingen kann“, so steht es im Neuen Testament

violette Stola um den Hals, ein Handy aus Als Erstes frage ich den Dämon nach sei- Wie heißt du? „Skarbrick oder so …“,
der Tasche, um eine SMS einzutippen. nem Namen. Oft will er ihn nicht sagen. flüstert der Gemeindepriester. Die Mutter
Dann kommt die Besessene aus dem Denn sobald er seinen Namen nennt, ist reicht eifrig einen Zettel herüber, auf der
Exorzistenzimmer. Es ist die Frau, die in er schon angreifbarer. Er hat viele Na- einige Namen stehen. Skarbrick, das klingt
der Frühmesse in der ersten Reihe gesessen men. Es gibt natürlich die Fachbegriffe wie eine Figur aus „World of Warcraft“,
hatte. Jetzt ist ihr Gesicht etwas gerötet, sie aus der Bibel, Satan, Beelzebub, Asch- einem Fantasy-Computerspiel. Don Ga-
nickt allen grüßend zu, macht eine Be- modai, das sind die mächtigsten. Es gibt briele kennt das Spiel nicht.
merkung über den Bahnstreik und strahlt, auch andere, die nicht aus der Bibel kom- Tonino sagt nichts. Ihm ist unwohl. Auf
als hätte sie soeben ein Autogramm von men. Man darf nie idiotische Fragen stel- cool gemacht hat er die ganze Zeit nicht.
Leonardo DiCaprio bekommen. Das Schrei- len, etwa ob Roma gegen Lazio im Fuß- Das hier ist kein Spaß, auch für einen
en muss ihr gutgetan haben. ball gewinnt. Man stellt nur Fragen, die 17-jährigen Vorstadt-Ragazzo nicht.
Im Wartezimmer sitzt schon Tonino mit unmittelbar mit der Heilung zu tun ha- „Mit Hilfe von Don Candido, mit Hilfe
seinen Eltern. Sie wohnen in einer ärmli- ben. Also zuerst den Namen, dann den von Johannes Paul II., mit Hilfe der aller-
chen Vorstadt im Osten Roms und haben Tag des Eintritts, den Grund und den unbeflecktesten Jungfrau Maria – lasse ab
das Problem, dass sich die Möbel in ihrem Namen dessen, der ihn geschickt hat. von Tonino …“, psalmodiert der Pater und
Schlafzimmer bewegen. „Tonino wacht Tonino liegt inzwischen auf einer Liege. patscht Tonino immer wieder mit der Hand
nachts auf und sieht Schatten mit Kapu- Eine Frau hält seinen Kopf, ein Priester auf die Stirn. Der Junge schwitzt, ver-
zen“, sagt die Mutter. Sie ist eine unter- zieht das Gesicht wie unter
setzte Frau mit kurzem Haar, unansehnlich
und direkt wie die Armut. Niemals würde
Dann schreit es. Obszön laut, als würde Schmerz, verkrampft die Bei-
ne. „Lasse ab von Tonino, las-
sie mit ihrem Jungen zu einem Psychiater ein Schwein zur Schlachtbank gezerrt. se ab …“ Bei jedem Krampf
gehen. Das ist was für Verrückte. halten die Priester ihre rech-
Ihr Mann schweigt. Tonino schweigt seine Linke. Die Eltern stehen am Fuß- te Hand segnend in die Richtung des Pa-
auch. Er trägt tiefgelegte Jeans, Bomber- ende, der Hauspriester gegenüber. Plötz- tienten, als wollten sie etwas abwehren.
jacke mit Kaninchenpelz und zwischen den lich fängt der ganze Raum an zu zittern. Ein wenig so wie in „Star Wars“.
Schulterblättern seit neuestem ein Tattoo: Das ist die Metro-Linie A, die unter der Jetzt versucht er sich aufzubäumen,
„Zwei Flügel, und dazwischen irgendein Kirche verläuft. wölbt den Bauch nach oben. Die kräftigste
Schädel“, flüstert ein sehr ernster junger Der Exorzist besprengt den Jungen mit der Helferinnen setzt sich auf seinen Ober-
Mann in Soutane, der Gemeindepriester ein paar Tropfen Weihwasser. „Lasse ab, schenkel. Eine andere holt eine Serviette,
der Familie. Und fügt hinzu: „Der Dämon Tonino, von Satanismus, von Hexerei, von falls Tonino anfängt zu spucken. Es ist jetzt
nutzt diese Tattoos aus …“ – „Kommen Sie Dämonen, von Kartenlesern …“ Tonino nicht mehr ganz geheuer in dem kleinen
doch herein“, sagt Don Gabriele. Hinter schaut auf die Neonlampe. Er hat zwei Nebenraum. Wenn Tonino jetzt anfangen
ihm ist ein enger Raum zu sehen, mit ei- Stahlknöpfe im Ohr. würde, Zimmermannsnägel auszuspucken
nem schäbigen Sessel, einigen Stühlen und Don Gabriele salbt dem Jungen einige oder Rasierklingen oder anfangen würde
einer Massageliege in der Mitte. Drum her- Male die Stirn, mit festem Daumen, in zu schweben, müsste man sein Weltbild
um sitzen bereits die drei Hausfrauen mit Form eines Kreuzes, dann patscht er überdenken.
ihren Rosenkränzen und reden über ir- ihm wiederholt auf die Stirn: „Wie heißt Aber Tonino spuckt nicht, und er sagt
gendein Sonderangebot. Außerdem stehen du?“, er hält sein Ohr an die Lippen Toni- auch keinen anderen Namen als den in sei-
drei junge und kräftige Diakone bereit. nos. Nichts. nen Pass geschriebenen. Tonino kneift die
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Gesellschaft

Augen zusammen, dann ist es vorbei. Alle Teufel hat die außergewöhnliche Fähig- Der Papst unterstützt uns Exorzisten. Als
Anwesenden beten ein Ave Maria. Tonino keit, in manchen Fällen einen Körper zu Präfekt der Glaubenskongregation hatte
betet das Ave Maria mit, zur Erleichterung besetzen. Aber … Ratzinger am neuen Katechismus mit-
aller Anwesenden. Don Gabriele deutet mit dem Zeigefin- gearbeitet, in dem der Exorzismus erklärt
„Na, geht’s dir schon besser?“, fragt der ger auf sein Gegenüber, in Höhe des So- ist. Er hat mich immer sehr ermutigt. Al-
Exorzist. Tonino nickt. „Ein Exorzist kann larplexus. lerdings glaube ich nicht, dass er jemals
dir helfen, aber heilen kannst nur du dich. … nur den Körper, nicht die Seele. Wenn einen Exorzismus durchgeführt hat, an-
Du musst täglich beten und das hier befol- Sie in Einklang mit Gott leben, ist es sehr ders als Wojtyla.Wir waren früher neun
gen“, Amorth reicht ihm eine fotokopier- viel schwieriger, Sie zu verfluchen. Exorzisten hier in Rom. Einer ist krank,
te Liste der Zehn Gebote. Bei der ersten internationalen Exorzis- einer ist befördert worden und einer um-
„Aber was sollen wir mit den Möbeln muskonferenz, in Mexiko 2004, hat die gezogen. Im Vatikan ist seither kein
machen, die sich bewegen, Pater?“, fragt katholische Kirche beschlossen, verstärkt Exorzist mehr tätig. Dafür gibt es sata-
die Mutter. „Weihwasser hilft meistens. Ein gegen den Teufel vorzugehen. Auch nach nische Sekten dort. Sie sind überall. Man
paar Tropfen in jede Zimmerecke.“ dem Tod Karol Wojtylas hat sich daran sieht sie nicht. Aber es gibt sie. Der Dä-
Die Mutter drückt Amorth die Hand und nichts geändert. Während der Generalau- mon arbeitet überall. Der Teufel ist in
schiebt einen zerknitterten 20-Euro-Schein dienz auf dem Petersplatz am 14. Septem- Fátima, in Lourdes, überall. Und ganz si-
hinein. „Für die Armen“, sagt Don Ga- ber 2005 wandte sich auch der frischge- cherlich ist er im Vatikan tätig, dem Zen-
briele. Seine Behandlung ist gratis. wählte deutsche Papst ausdrücklich an die trum des Christentums.
Der stämmigste Diakon reibt Tonino Teilnehmer des Nationalkongresses der ita- Deutschland ist, zum Leidwesen Don
noch Salböl zwischen die Schulterblätter. lienischen Exorzisten. Er ermutigte sie, Gabrieles, ein exorzistenloses Land. Die
Der Junge stöhnt auf. Offenbar ist sein „mit ihrem wertvollen Dienst an der Kir- Austreiber sind in den Untergrund getrie-
Tattoo noch frisch. che fortzufahren“. Der Intellektuelle auf ben worden, seit jenem Fall der jungen
Dann gehen sie. Keiner hat den Eindruck dem Petrus-Thron hat mit dem Exorzismus Anneliese Michel aus Klingenberg am
gemacht, als sei es ihm peinlich, beim Exor- nicht gebrochen, im Gegenteil. Mit Nach- Main, die 1976 nach einer monatelangen
zisten gesehen zu werden. Der Besuch beim druck werden unter Benedikt XVI. in Rom Exorzismusbehandlung an Unterernährung
Teufelsaustreiber scheint für sie nicht un- Fortbildungskurse für Teufelsaustreiber starb. Die Affäre kam 2006 ins Kino, als
gewöhnlicher als ein Zahnarzttermin. durchgeführt. Es gibt Nachwuchsmangel. Spielfilm mit dem Titel „Requiem“.
„Ein scheinbar schwacher Fall“, sagt Zwar gebe es in Süddeutschland charis-
Don Gabriele entschuldigend. Und weil matische Bewegungen, die mit Bordmit-
der nächste Fall vom Streik der Nahver- teln gegen Satan kämpften („Sie lesen pri-
kehrsbetriebe aufgehalten worden ist, setzt vat das Befreiungsgebet – das ist besser als
der Pater sich und sagt: nichts“), aber letztlich bleibe die Last auf
Nein, natürlich bin auch ich nicht gegen seinen eigenen Schultern liegen. Jede Wo-
den Dämon gefeit. Jeder ist ihm ausge- che bekommt Amorth Briefe von deut-
setzt. Selbst Mutter Teresa ist exorzisiert schen Priestern oder Gläubigen, die einen
worden, in ihren letzten Jahren. Auch an- „Grande esorcismo“ erbitten – die echte,
dere Heilige. Ihr Leben lang konnten sie wahre, komplette Austreibung nach allen
sich zur Wehr setzen, aber am Ende des Regeln des Tridentinischen Konzils.
Lebens nutzt der Dämon die Schwäche Aber das geht nicht. Schon weil ich kein
aus. Der Dämon ist überaus intelligent. Deutsch spreche. Und eine Behandlung
Weil er die Intelligenz der Engel behalten kann Jahre dauern. Bei 3 bis 4 Jahren bin
hat. Auch deren strenge Rangordnung ich schon zufrieden. Ich hatte Fälle von
übrigens. Wie oft habe ich einen Dämon 16, 18 Jahren. Manche sind auch dann
gefragt: Warum gehst du nicht? Und er nicht vollständig erlöst, sondern kommen
antwortete: Weil Satanas, der oberste Dä- dann noch zweimal im Jahr. Sie können
mon, es mir verboten hat. aber ihr Leben weiterführen.
Nach katholischer Lehrmeinung gibt es Im Kino wird Besessenheit gern mit Le-
Teufel als „geschöpfliche Wirklichkeiten“, vitationen bebildert. Die Person schwebt
HULTON ARCHIVE / GETTY IMAGES

genauso wie es Engel gibt, die jungfräuliche dann an der Zimmerdecke und spricht mit
Empfängnis und das Klavier im Apartment der Stimme von Charles Bronson. Auf das
des jetzigen Papstes. Das Böse ist der Preis Thema angesprochen, sagt Don Gabriele:
für die menschliche Freiheit. Nur weil der „Levitationen, jaja …“ – in einem Tonfall,
Mensch als freies Wesen geschaffen wurde, als wäre er nach der Existenz von Tauben
hat er die Möglichkeit zum bösen Tun. in Rom gefragt worden. „Die gibt es, wenn
Aber was hat das mit dem Teufel zu tun? auch selten. Ich erinnere mich an einen jun-
Wie ist Besessenheit bei der Annahme ei- gen Bauern, aus meiner Anfangszeit. Wir
nes freien Willens denkbar? brauchten sechs Mann, um ihn zu halten. Er
Die Offenbarung sagt uns, dass die Geis- kam und sagte: I am Lucifer! König der Skor-
ter des Bösen Engel waren, die sich gegen pione und der Schlangen. Und spuckte mir
Gott erhoben haben. Ihre Hauptaufgabe ins Gesicht. Er sprach nur Englisch, obwohl
besteht darin, den Menschen in die er noch nicht einmal richtig Italienisch konn-
Sünde zu ziehen. Es kommt vor, dass te. Er schwebte ungefähr so hoch …“
jemand neidisch auf Ihren Job ist und Padre Amorth könnte jetzt beeindru-
Ihnen einen Fluch anhexen lässt. Dann ckende Flughöhen angeben. Er tut es nicht.
werden Sie krank und können nicht mehr „So hoch schwebte er“, sagt er und hält
arbeiten. In 90 Prozent meiner Fälle ist die Hand eine Ellenbogenlänge über dem
eine Verwünschung die Ursache. Der Rest Tisch.
sind Satanssekten, Teilnahme an einer Diktatoren Stalin (1945), Hitler (1934) Es gibt in Italien mehr Hexer als Priester.
spiritistischen Sitzung oder Magie. Der „Mit Sicherheit besessen vom Dämon“ Und mit den Hexern hat die Zahl der
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Gesellschaft

CARLO LANNUTTI
Behandlungszimmer des Padre Amorth: 70 000 Exorzismen in 21 Jahren

Verfluchungen zugenommen. Die Jungen ner zu Scharlatanen. Rund sechs Milliarden Rom und sollte Andreottis Nachfolger wer-
haben keinen Glauben mehr. Das nutzt Euro nehmen diese jährlich ein, und weil den. Er entschied sich dagegen, Amorth
der Teufel aus. sie nur in seltenen Fällen Steuern bezahlen, wurde lieber Priester.
Am 2. April 1978 nahm der spätere Mi- entsteht dem Staat ein erheblicher Scha- Die Freundschaft des Exorzisten mit
nisterpräsident Romano Prodi an einer spi- den. Unter das Scharlatanerie-Gesetz fällt Andreotti ist bis heute geblieben. Die bei-
ritistischen Sitzung im Landhaus eines übrigens auch der Beruf des Exorzisten. den alten Männer sehen sich gelegentlich.
Freundes teil. In jenen Tagen suchte das Nicht immer kann ein Exorzismus eine Giulio Andreotti wurde nach dem Krieg
ganze Land nach dem von Rotbrigadisten Besessenheit vollständig beenden. Aber siebenmal Ministerpräsident und war in
entführten Politiker Aldo Moro. So be- man kommt zur Quasi-Befreiung, so dass etliche Skandale Nachkriegsitaliens ver-
fragten die elf Versammelten, darunter fünf die Person arbeiten, ihr Familienleben wickelt. Jeder kennt Andreotti. In den Zei-
Kinder, auch den Geist des im Jahr zuvor weiterführen kann. Die Leiden hören auf. tungen wird er oft nur beim Spitznamen
verstorbenen Christdemokraten Giorgio Sie können wieder beten, in die Kirche genannt: Beelzebub.
La Pira, übrigens ein enger politischer gehen, das Abendmahl einnehmen. Aber Natürlich gibt es das Böse in der Politik,
Freund auch von Don Gabriele Amorth. nein, es gibt keinen perfekten Schutz. sehr häufig sogar! Der Dämon bemächtigt
Die Frage an den Geist La Piras war Selbst der Papst ist nicht immun. Aller- sich mit Vorliebe derer, die große Ver-
schlicht: Wo ist Moro? dings verfügt der über eine Formation antwortung tragen, Industrielle, Politiker.
Eine Untertasse sei auf einem Buch- von Schutzengeln. Hitler und Stalin waren mit Gewissheit
stabenfeld herumgeschoben worden. Da- Don Gabriele benutzt an dieser Stelle besessen vom Dämon. Woher ich das
bei habe sich, so gab Romano Prodi am einen militärischen Ausdruck: Schiera- weiß? Sie haben Millionen umgebracht.
10. Juni 1981 der Untersuchungskommis- Im Evangelium heißt es: An
sion zu Protokoll, unter anderem das Wort
Gradoli gebildet, der Name eines Dörf-
Über den Teufel spricht er wie ein Hand- den Früchten erkennst du die
Pflanze. Ein Exorzismus hät-
chens nördlich von Rom. Es sei zwar nur werker. Er ist der Klempner des Bösen. te leider auch nichts genützt,
ein Spiel gewesen, dennoch habe man so- weil Hitler und Stalin sich
fort die Polizei benachrichtigt: Denn keiner mento – Formation. Das Wort kommt aus völlig über ihr Tun im Klaren waren. Es
der Anwesenden habe den Namen des einem früheren Leben des Paters, einer war keine Besessenheit im eigentlichen
Dorfes vorher je gehört. Durchsuchungen Vergangenheit, die nicht weniger dunkel Sinne, sondern ein ständiges Befolgen der
in Gradoli blieben erfolglos. Erst nach der und heroisch ist als seine späteren Akti- Einflüsterungen des Dämons.
Ermordung Moros kam heraus, dass sich in vitäten. Amorth hat bereits früher gegen Amorth sagt, auch nach 70 000 Fällen
der Via Gradoli Nr. 96 in Rom ein Versteck das Böse gekämpft. Im Zweiten Weltkrieg könne er einen Teufel nicht vom bloßen
der Roten Brigaden befand. war Gabriele Amorth ein Untergrund- Augenschein her erkennen. „Jeder Fall ist
Laut Gesetz ist „der Beruf des Scharla- kämpfer gegen die Deutschen. unterschiedlich“, sagt der Padre. Dann
tans“ in Italien verboten. Das faschistische In der Wohnung des Exorzisten liegt noch kommt ihm eine Idee: „Wir können es bei
Gesetz von 1931 ist nie abgeschafft wor- die Militärmedaille der Repubblica Italia- Ihnen versuchen. Bleiben Sie ganz ruhig.
den und wurde 1994 sogar verschärft. Den- na. Mit 18 Jahren hatte er sich den Partisa- Es dauert nur wenige Minuten.“
noch gehen etwa 150 000 Menschen, groß- nen in Modena angeschlossen. Sein Kampf- Kalt wie Marmor und schwer ruht die
teils Einwanderer, ihrem Beruf als Karten- name war „Alberto“, er wurde Komman- Greisenhand auf der Stirn. Padre Amorth
leser, Hexer oder Liebesbeschwörer nach. deur des 3. Bataillons der Brigade „Italia“. spricht ein lateinisches Gebet. Ein Ver-
Nach Angaben des renommierten Sozial- Nach dem Ende des Faschismus ver- fluchter müsste jetzt wohl wimmernd auf
forschungsinstituts Eurispes von 2001 kos- suchte Giulio Andreotti, den Kommandeur die Knie fallen. Es kribbelt ein wenig im
tet eine Verfluchung, je nach Region und Alberto in die Politik zu holen, als seinen Bauch. Vielleicht nur die Fagioli von ges-
Schwere, zwischen 100 und 3000 Euro. Noch Stellvertreter im christdemokratischen Stu- tern Abend.
heute gehen etwa zwölf Millionen Italie- dentenverband FUCI. Amorth ging nach Vielleicht. ™
68 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Gesellschaft

Der Löwe hat ausgeschlafen


Ortstermin: Der frühere FDP-Chef Wolfgang Gerhardt
meldet sich mit einer Kritik an seinem Nachfolger zurück.

G
erade kommt Wolfgang Gerhardt dem Tisch aneinander. Es soll das Mehr werden musste, versucht er sich erst recht
vom Arzt, er hat sich überprüfen symbolisieren, das, was fehlt. Viel ist ihm als intellektueller Impulsgeber.
lassen, das Herz, das Blut, er muss- dazu aber auch nicht eingefallen, er Eigentlich könnte die FDP einen Vor-
te Fahrrad fahren und dabei seine Belas- schreibt: „Diejenigen Gesellschaften wer- denker gut gebrauchen. Ob Gerhardt je-
tungsfähigkeit messen lassen. „Alles funk- den am Ende erfolgreich sein, die mit dem doch die ideale Besetzung für diese Rolle
tioniert“, sagt Gerhardt, „alles bestens.“ Tempo der Veränderungen unserer Zeit ist, bezweifeln manche. Gewiss, er hat in
Er reibt sich die Hände, dann lässt er am besten zu Recht kommen, die Kompe- seiner Karriere bereits intelligente Reden
sich in einem flauschigen Sessel nieder. tenz im Wandel entfalten und zu neuen gehalten, zur Bioethik etwa, aber es war
Die Lobby des Hotels Nassauer Hof ist Antworten auf innere und äußere Heraus- auch kein Zufall, dass Parteifreunde ihn
Gerhardts Lieblingsort in Wiesbaden. Er forderungen fähig sind.“ Das hatte man „den schnarchenden Löwen von Wies-
kommt oft mit einem Packen Zeitungen fast geahnt. baden“ nannten. Jetzt wirkt er wenigstens
her, er wohnt nicht weit weg. „Ahhhh“, Man könnte Gerhardt einen plumpen ausgeschlafen.
sagt Gerhardt, „man sitzt hier so bequem.“ Rachefeldzug unterstellen, schließlich hat Es ist schon ein Gewinn für die Partei,
Er wirkt zufrieden mit sich, und das liegt Westerwelle ihm viele Verletzungen zuge- wenn es wenigstens einen gibt, der sich
nicht nur am Arzt. fügt. Aber das ist es nicht allein. Die Defi- traut, unbequeme Wahrheiten auszuspre-
An diesem Freitagmorgen chen. Etwa, dass die FDP
sind die Zeitungen voll mit nicht als One-Man-Show in
Geschichten über Gerhardt. die Wahlkämpfe ziehen dür-
Nachdem Guido Westerwelle fe, wie Gerhardt sagt.

LUBENOW/PICTURE-ALLIANCE/HB-VERLAG (O.); RÖHRBEIN / ULLSTEIN BILD


ihn aus allen Ämtern gedrängt Der politische Liberalismus
hatte und nur der Vorsitz der in Deutschland wurde immer
Friedrich-Naumann-Stiftung mehr durch den Westerwellis-
geblieben war, nahm der frühe- mus ersetzt, lautstark und ein-
re Partei- und Fraktionsvorsit- dimensional. Das radikale
zende über ein Jahr Urlaub Misstrauen gegen den Staat,
von der FDP. Viele dachten, es das Westerwelle seit Jahren
sei ein Abschied für immer. predigt, klingt inzwischen
Vorige Woche aber hat sich ziemlich altmodisch.
der 64-Jährige zurückgemel- Wäre es nicht Zeit für einen
det. Zum traditionellen Drei- differenzierten Liberalismus?
königstreffen der FDP in Ba- Einen Liberalismus, der dem
den-Württemberg hat er ein Staat nicht jede Zuständigkeit
Strategiepapier veröffentlicht, entreißen will, als Selbstzweck
das „Für Freiheit und Fair- quasi, sondern klug und ehr-
ness“ heißt. 23 Seiten mit man- Freidemokrat Gerhardt: „Die Leute wollen einen größeren Sinn“ lich genug ist, um sich einzu-
chen Plattitüden und einigen gestehen, dass ein starkes Ge-
Gedanken, die niemandem Angst machen zite, auf die er hinweist, sind offensicht- meinwesen seine Vorteile hat: zum Schutz
müssten und dennoch einige Unruhe in lich. Die FDP mag Programme haben, aber des Verbrauchers zum Beispiel oder zum
der FDP-Führung auslösen konnten. sie hat keinen gesellschaftlichen Entwurf. Schutz der Umwelt. Wer soll sie denn sonst
Gerhardt bestellt einen grünen Tee. Er Sie hat viele Forderungen, aber keinen schützen, wenn nicht der Staat? BASF?
sagt, er verstehe die Aufregung nicht. Er Überbau. BMW? Die deutsche Fleischindustrie?
frage sich, warum die Herren in Berlin Guido Westerwelle und Generalsekretär Auch Gerhardt gibt darauf in seinem
plötzlich so empfindlich seien. Dirk Niebel versprühen die intellektuelle Papier noch keine überzeugende Antwort.
Natürlich weiß er das. Die Herren in Aura eines Fitness-Studios. Wolfgang Ger- Aber er will darüber nachdenken. Die
Berlin haben es hinbekommen, dass die hardt verkörpert eine andere FDP, eine meisten in seiner Partei wollen das nicht.
FDP trotz guter Bedingungen an Sympa- Art Salon-FDP. Sie passt gut in dieses Als er aufsteht, entdeckt er sein Gesicht
thie verliert. Es gibt eine Große Koalition, Foyer des Nassauer Hofs mit seinen tiefen auf der ersten Seite der „Bild“-Zeitung.
die vor allem streitet. Es gibt eine Union, Sesseln, dem dicken Teppich und dem Das Blatt hat ihn heute zum „Verlierer“
die so weit nach links rückt, dass alle Wirt- Kristallleuchter. Gerhardts FDP ist etwas des Tages ernannt, weil er Kritik übt, ob-
schaftsreformer eigentlich zur FDP fliehen langweiliger als die Fitness-Studio-FDP, wohl die FDP in seiner Zeit als Parteivor-
müssten. Die Rahmenbedingungen könn- aber auch gediegener, nicht so krächzend, sitzender viel weniger Landtagswahlen ge-
ten für die Liberalen kaum besser sein, nicht so besserwisserisch. Sie ist auf ange- winnen konnte als in der Ära Westerwelle.
aber sie profitieren nicht. nehme Weise nachdenklich. „Ja, ja“, murmelt Gerhardt. „Juckt mich
„Mit unserem Parteiprogramm sind Gerhardt trägt inzwischen gern Tweed- jetzt herzlich wenig.“
viele einverstanden“, sagt Gerhardt. „Aber sakkos, die Sherlock Holmes getragen Er denkt kurz nach. Dann sagt er, dass
die Leute wollen darüber hinaus noch haben könnte, auf der Nase ein feines auch er am liebsten gewinne. „Aber ich
ein Mehr. Sie wollen einen größeren Sinn.“ Brillengestell. Seit er im April 2006 Vor- will nachhaltig gewinnen.“
Er reibt die Fingerkuppen hoch über sitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung Markus Feldenkirchen

70 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Trends

Firmenimperium unter einem großen Schuldenberg zusam-


menbrach, seinen Gläubigern nicht die ganze Wahrheit er-
zählt. In einer eidesstattlichen Versicherung zwei Jahre vor
seiner Privatinsolvenz Anfang 2005 erwähnte er nur vier
deutsche Konten. Nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft
Berlin, die wegen des Verdachts auf Insolvenzverschleppung,
Betrug und Kursmanipulation ermittelt, besaß Windhorst zum
damaligen Zeitpunkt jedoch 20 Kontoverbindungen. Zu den
verheimlichten Positionen gehören neben Konten bei Ameri-
can Express unter anderem zwei Konten und ein Wertschrif-
tendepot bei der Großbank Credit Suisse in Genf. Nach An-
gaben von Windhorsts Verteidiger Robert Unger waren die

NORBERT MICHALKE
Konten jedoch zum Zeitpunkt der Privatinsolvenz allesamt
bereits im Minus oder unbenutzt – was im Rahmen des In-
Windhorst solvenzplanverfahrens auch von allen Gerichtsinstanzen, bis
hin zum Bundesverfassungsgericht, überprüft worden sei.
Ob Windhorst die negativen Depots dennoch hätte angeben
A F FÄ R E N müssen, ist juristisch umstrit-

Verheimlichte Konten
ten. Unklar ist auch, wann die
Konten ins Minus rutschten.
Windhorst, der sich von ei-
nem Flugzeugabsturz über

F inanzjongleur Lars Windhorst, 31, ist wieder ganz oben. Er Kasachstan erholt, hatte sich

DANIEL KARMANN / DPA


führt die Geschäfte von Vatas, einer Investmentfirma des vor kurzem mit 60 Gläubi-
südafrikanischen Millionärs Robert Hersov, die soeben ein 15- gern geeinigt. Für eine Abfin-
prozentiges Aktienpaket der Fluggesellschaft Air Berlin über- dung von 1,6 Millionen Euro
nommen hat. Doch gleichzeitig holt die Vergangenheit den verzichteten sie auf Ansprü-
einstigen Vorzeige-Jungunternehmer von Ex-Bundeskanzler che in Höhe von mehr als
Helmut Kohl wieder ein. Offenbar hatte Windhorst, dessen Air-Berlin-Jets 70 Millionen Euro.

KFW ENERGIE

Fragwürdige Entmachtung Weniger Geld für Ölimporte


M it seinen Plänen, im Verwaltungsrat der
Bankengruppe KfW einen Präsidialaus-
schuss einzurichten, gerät Bundesfinanzminister
O bwohl der Preis für ein Barrel
Rohöl im vergangenen Jahr
um rund drei Viertel gestiegen ist
erheblich vergünstigt. Zudem ging
der Verbrauch zurück: Im vergan-
genen Jahr hat Deutschland – ob-
Peer Steinbrück (SPD) in rechtliche Schwierig- und gerade sogar die 100-Dollar- wohl die Wirtschaft kräftig wuchs –
keiten. Nach einem Gutachten der Wissenschaft- Marke nahm, haben die Deutschen rund 2,5 Prozent weniger Rohöl
lichen Dienste des Bundestages hat der Verwal- für Ölimporte 2007 weniger bezahlt eingeführt als 2006; die Menge ist
tungsrat der staatlichen Förderbank deutlich als im Vorjahr. Rund 41 Milliarden laut MWV auf 106,7 Millionen
mehr Kompetenzen als gewöhnliche Aufsichtsräte Euro kosteten die Einfuhren nach Tonnen gesunken. Verantwort-
von Aktiengesellschaften, bei denen Präsidial- vorläufigen Zahlen des Mineralöl- lich dafür ist insbesondere der
ausschüsse zur Vorbereitung von Entscheidungen wirtschaftsverbandes (MWV), 2006 schwache Heizölabsatz. Wegen der
üblich sind. So habe der „Verwaltungsrat der war es noch eine halbe Milliarde milden Witterung und der Spar-
KfW ein Weisungsrecht gegenüber dem Vor- Euro mehr. Der starke Euro hat samkeit der Verbraucher schrumpf-
stand“, heißt es in dem Gutachten. Vor allem den in Dollar gehandelten Rohstoff te er um rund 40 Prozent.
bei Geschäften, „die ein besonderes Risiko be-
inhalten oder viel Kapital binden“, urteilt der Ölförderung (in Sibirien)
Wissenschaftliche Dienst, sei die Mitentschei-
dung des 37-köpfigen Gremiums „verlangt“.
Folglich könne Steinbrück die „Entscheidungs-
DMITRY BELIAKOV / LANDOV / PICTURE-ALLIANCE / DPA

befugnis nicht auf eine Handvoll Verwaltungs-


ratsmitglieder konzentrieren“, meint der
Bundestagsabgeordnete und KfW-Verwaltungsrat
Jürgen Koppelin (FDP), der das Gutachten in
Auftrag gegeben hat. Das, so Koppelin, „wäre
eine Entmachtung des Gremiums“. Vor dem
Hintergrund der Turbulenzen um die KfW-Toch-
ter IKB Industriebank, die wegen Spekulationen
um minderwertige US-Hypotheken in Schieflage
geraten ist, will Steinbrück die Aufsicht über die
staatliche Bankengruppe straffen.
72
Wirtschaft
Peking offenbar verhin-
dern, dass der Streit um
billige Exporte im US-
Wahlkampf weiter hoch-
kocht. Die Erhöhung spie-
gele auch den politischen
Druck der EU, sagt Jun
Ma, Chefökonom der
Deutschen Bank in Hong-
kong. Verärgert über das
wachsende Handelsdefizit
mit der Volksrepublik,

REINHARD KRAUSE / REUTERS


hatte Brüssel vor einer Be-
lastung der Beziehungen
gewarnt, nachdem sich
der Yuan seit 2005 um fast
zwölf Prozent gegenüber
dem Euro verbilligt hatte.
Spielzeugfertigung in China Chinas rote Planer wollen
allerdings den Eindruck
WÄ H R U N G E N vermeiden, sie würden gegenüber dem

Rote Planer lenken ein


Westen einknicken. Ein höherer Yuan-
Kurs liege in Chinas eigenem lang-
fristigen Interesse, zitierte die staatlich

A ls ein klares politisches Signal an


die USA werten Analysten die
jüngste Kurserhöhung des chinesischen
kontrollierte Presse den einflussreichen
Ökonomen Yu Yongding, der früher
dem Komitee für Geldpolitik der
Yuan. Gleich am ersten Handelstag im Notenbank angehörte. Ein Anstieg des
neuen Jahr war der Yuan gegenüber Yuan zum Dollar um zehn Prozent in
dem Dollar auf den höchsten Wert diesem Jahr sei „sehr wahrscheinlich“.
geklettert, seit China die strikte Koppe- Denn ein teurerer Yuan könnte China
lung an die US-Währung im Juli 2005 auch helfen, die stark angestiegene
gelockert hat. Mit dem Kursanstieg, Inflation zu bekämpfen – durch billigere
dem wohl weitere folgen werden, will Rohstoffeinfuhren.

Wohnorts Erlangen: „Es ist


SIEMENS / PHOTOTHEK.NET

die normalste Sache der Welt,


dass man einzelne Unterneh-
mensteile kalben lässt, wenn
sie eine bestimmte Größen-
ordnung überschreiten.“
Franz nimmt damit den neu-
en Siemens-Chef gegen
Vorwürfe in Schutz, er
habe beim Umbau des
W. M. WEBER / INTERFOTO

Konzerns überstürzt
gehandelt. Auch lobt
er, dass Löscher endlich
eine„klare personelle
Verantwortung“ für das
Löscher Franz operative Geschäft
geschaffen habe. Insider
SIEMENS bei Siemens werten den Vorstoß von

Lob vom Ex
Franz als Versuch, sich in der neuen
Führungsspitze Verbündete zu sichern.
Denn der 1998 ausgeschiedene

B eifall von unerwarteter Seite be-


kommt die neue Siemens-Führung
unter Konzernchef Peter Löscher und
Aufsichtsratsvorsitzende und frühere
Vorstand verfügt, ähnlich wie andere
ehemalige Chefkontrolleure, noch
Aufsichtsratschef Gerhard Cromme für immer über ein Büro nebst Sekretärin
ihre zu Beginn des Jahres vollzogene und Fahrer in der Firmenzentrale am
Neuorganisation: Der ehemalige Wittelsbacherplatz in München. Auf der
Siemens-Aufsichtsratsvorsitzende bevorstehenden Hauptversammlung am
Hermann Franz, 79, schreibt in einem 24. Januar wollen Kleinaktionäre diese
Leserbrief an die Lokalzeitung seines Privilegien öffentlich anprangern.
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 73
Wirtschaft

W E LT H A N D E L

Im Schatten der
Globalisierung
Sinkende Löhne und ungebremste Jobverlagerung machen
den USA schwer zu schaffen. Die Freihandelsdoktrin,
bisher das Kernstück der US-Wirtschaftspolitik, gerät ins Wanken.
Hat das Zeitalter des Protektionismus begonnen?

W
enn die Toshiba-Mitarbeiter aus sagt Rodriguez, der heute Personalchef der
Tennessee ihren alten Arbeits- Fabrik ist, organisiere er ein großes Pick-
platz besuchen wollen, müssen nick für alle Mitarbeiter und ihre An-
sie nicht weit reisen. Es empfiehlt sich ein gehörigen. Es gebe Musik und kostenloses
Flug in die amerikanische Grenzstadt El Essen. Das sei immer ein großer Spaß.
Paso, Texas, und von dort mit dem Taxi in In den Vereinigten Staaten findet das
Richtung Mexiko. mittlerweile niemand mehr lustig. Dass die
Durch die Grenzanlagen geht es zu Fuß alten, einst gutbezahlten Industriejobs ver-
weiter. Sie erinnern in ihrer grauen Grob- schwinden, hätte man noch hingenommen.
schlächtigkeit an die Sicherungsanlagen Wenn nur die Ersatzarbeitsplätze nicht so
der DDR, nur dass hier George W. Bush lausig wären. Eine moderne Serviceindu-
von der Wand grüßt und nicht Erich strie war versprochen worden,
Honecker. Am besten geht man zügig aber gekommen sind vor allem
vorbei, auch an den furchteinflößenden die schlechtbezahlten Jobs von Wachsende Skepsis
Plakaten, die vor dem Kauf von Papageien Einpackern, Zustellern und
(„Du kaufst dir die Vogelgrippe“) und vor Handlangern aller Art. Auch „Glauben Sie, dass die zunehmende Globalisierung
Menschenraub („Tod ist nur eine Form, nach fünf Jahren des Auf- der amerikanischen Wirtschaft
dein Leben zu verlieren“) warnen. schwungs, schrieb das staat- gut ist, weil dadurch neue Märkte für US-Produkte
Die gesamte Millionenstadt Ciudad liche Statistikbüro erst kürzlich und neue Arbeitsplätze entstehen, oder
Juárez auf der anderen Seite der Grenze ist in einem Sonderbericht, seien schlecht ist, weil dadurch die US-Unternehmen
im Grunde eine einzige Ansammlung von die realen Löhne niedriger als einem unfairen Wettbewerb und Billiglöhnen
Industrieparks. Unterbrochen werden die im Jahr 1999. Der Fortschritt, ausgesetzt sind?“
Fertigungsanlagen nur durch Hamburger- könnte man zynisch anmer- Dezember
Restaurants, Schrotthändler und Palmen, ken, ist eben auch nicht mehr 2007
die erkennbar darunter leiden, dass sie mit das, was er mal war.
Stromkabeln und Satellitenschüsseln be- Ein Politiker aber kann von 58
hängt wurden. Zynismus nicht leben, vor al- Juni
Im „Parque Industrial Río Bravo“ sind lem nicht in Wahlkampfzeiten. 1997
heute die Arbeitsplätze aus Tennessee zu Also wird gewettert, was das
Hause. Toshiba-Manager Saul Rodriguez, Zeug hält. Der demokratische 48
US-Bürger mit mexikanischen Eltern, hat Vorwahlsieger von Iowa, Se- Angaben der befragten
sie hierher gebracht. Als er vor 20 Jahren nator Barack Obama aus Illi- 42 US-Bürger in Prozent
mit der Umsiedlung begann, war die mexi- nois, hat in den vergangenen
kanische Fernsehproduktion nur als Er- Wochen die Rhetorik gegen
gänzung zur Fabrik in Tennessee gedacht. China deutlich verschärft. Kin-
Jedenfalls wurde das den Arbeitern so derspielzeug aus Asien, sagte
gesagt. Heute ist sie deren Ersatz. In Ten- er mitten im Weihnachtsge- 28
Umfrage: NBC News,
nessee wird zum Jahresende der letzte schäft, würde er am liebsten Wall Street Journal
Fabrikarbeiter verabschiedet. aus den Läden verbannen. 80
Seine Nachfolger sind Mexikaner. Knapp Prozent aller amerikanischen
3000 Menschen, die meisten davon junge Spielwarenangebote stammen aus China. Anfang an unter das Motto „Die zwei
Frauen, stehen an großen Tischen. Sie Die Tatsache, dass weltweiter Handel die Amerikas“ gestellt, auf der einen Seite
schrauben, bohren und stecken die aus Produkte verbillige, sei für ihn kein ent- die „hart arbeitenden Menschen“, die von
China angelieferten Komponenten so lan- scheidendes Argument mehr, sagt er: „Die Jobverlagerung und Reallohnschwund be-
ge zusammen, bis sie wie der LCD-Bild- Leute wollen keine billigen T-Shirts, wenn droht sind, ihnen gegenüber „gierige Un-
schirm aussehen, der in der Empfangshal- der Preis dafür der Verlust ihres Arbeits- ternehmer“, die sich mit „dem Pack der
le hängt. Acht Dollar zahlt Toshiba als Ein- platzes ist.“ Lobbyisten“ verbündet haben.
stiegsgehalt für einfache Mitarbeiter – am Der Zweitplazierte der Demokraten, Edwards hat alle amerikanischen Frei-
Tag, nicht in der Stunde. „Einmal im Jahr“, John Edwards, hat seine Kampagne von handelsabkommen der vergangenen Jahre
74 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF
Präsident Bush, Arbeiter (in Las Vegas): Drei Millionen Industriejobs weniger seit der Jahrtausendwende

abgelehnt, schon in der Bill-Clinton-Ära, Konjunktur wegknickt und in den Firmen messen und am Donnerstag vergangener
und wirft der Bush-Administration eine wieder das große Entlassen beginnt, hat Woche die Ergebnisse veröffentlicht: Im
Handelspolitik vor, die ausschließlich den der Wahlkampf sein neues Thema gefun- Herbst 2007 enthielten 40 Prozent aller
internationalen Konzernen und der Volks- den: die Schattenseiten der Globalisierung. TV-Spots der Demokraten das Wort
republik China nütze: „Das amerikanische Notleidende Hauskredite, sinkende Real- „Irak“, im Dezember nur noch 3 Prozent.
Volk aber verliert.“ Als Präsident wolle löhne und die Angst vor den in der Rezes- „Als wir die Kampagne starteten“, sagt
er den Menschen zurufen: „Buy local“, sion sich womöglich noch beschleunigen- Clintons Chefstratege Mark Penn, „war der
kauft heimische Produkte, denn nur das den Verlagerungsaktivitäten der Firmen Krieg das große Thema. Nun ist es eine
schütze die Arbeitsplätze und die Natur lassen die Bombenexplosionen von Bag- Mischung aus Krieg, wirtschaftlicher Situa-
gleichermaßen. dad zum Hintergrundgeräusch werden. tion und Gesundheitssystem.“
Die prominentesten Neuzugänge im Die Firma TNS Media Intelligence hat Nach dem Geschmack der Amerikaner
Club der Globalisierungskritiker sind den Themenwechsel wissenschaftlich ver- waren es einfach zu viele schlechte
derzeit die beiden Präsidentschaftskandi- Wirtschaftsnachrichten, die in
1993 95 97 99 2001 03 05
daten Hillary Clinton von den Demokraten jüngster Zeit den Weg in
und der Republikaner Mike Huckabee. die Abendnachrichten fan-
Der Freihandel in seiner bisherigen Form – 70 den: 2007 wurden bereits zum
schade Amerika, sagt nun auch sie. „Wenn wiederholten Mal mehr Autos
ein Präsident nicht begreift, dass es kei- ausländischer Hersteller ver-
nen freien Handel ohne fairen Handel kauft als von amerikanischen
gibt“, sagt er, „dann wird es auch wei- US-Handelsbilanz – 380 Firmen. Das Handelsbilanz-
terhin Menschen geben, die 20 oder 30 defizit mit China steigt weiter
Jahre für ihre Firma gearbeitet haben, und Defizit bei Gütern an. Selbst den Titel „größter
eines Tages bekommen sie die Kündigung und Dienstleistungen – 497 Exporteur von Informations-
überreicht.“ in Milliarden Dollar technologie“ hat Amerika mitt-
Noch bevor im Frühjahr, wie von vielen Quelle: Census lerweile an die Volksrepublik
Ökonomen befürchtet, die amerikanische verloren. Drei Millionen Indu-
– 759
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 75
Wirtschaft

striearbeitsplätze sind seit der Jahrtau- zum Burger. Die Globalisierung heutigen
sendwende verlorengegangen. Nur noch Typs wäre nicht denkbar ohne das be-
15 Prozent der Beschäftigten sind mit der harrliche, oft auch brutale Drängen der
Produktion von Gütern beschäftigt. Die Amerikaner auf Reisefreiheit für Waren
importierten Waren, das kommt hinzu, und Dienstleistungen aller Art. Runter
sind nicht nur billig, sondern oft auch ge- mit den Zollsätzen! Weg mit nationalen
fährlich. Giftige Chemikalien wurden im Regularien! Das war das Credo einer
abgelaufenen Jahr zuhauf gefunden, in ganzen Epoche.
Tiernahrung, Zahnpasta und Kinderspiel- Selbst die Exportoffensive des wieder-
zeug aus Fernost. Allein in den vergan- erstarkten Japan zu Beginn der siebziger
genen Monaten mussten mehr als 20 Mil- Jahre konnte dem Glauben der Amerika-
lionen chinesische Importprodukte aus ner an die Segnungen einer schranken-
Amerika zurückgerufen werden. Drei Kin- losen Wirtschaftswelt keinen wirklichen
der starben. Abbruch tun. In Fragen der Handelspolitik
Der Glaube, dem Wohlstand der Natio- gab es in Amerika keine Parteien, nur
nen sei dadurch gedient, dass jeder mit Freetrader: Der Freihandel, wiederholte
jedem fleißig Handel treibe, ist vielen auch Bill Clinton immer wieder, schaffe
Amerikanern abhandengekommen. Eine Wohlstand und Arbeit für alle. Er sei im
kurz vor Weihnachten veröffentlichte Um- Interesse Amerikas. Clinton war es, der
frage, durchgeführt vom „Wall Street Jour- die von Bushs Vater gestarteten Verhand-
nal“ und dem TV-Sender NBC, war an lungen über ein Freihandelsabkommen mit
Deutlichkeit nicht zu überbieten: Nur noch Mexiko und Kanada schließlich zum Ab-
schluss brachte. Der Industriepark Juárez
ist auch sein Werk. Chinesische Textilarbeiterinnen (in der Provinz
Von außen sieht der amerikanische Hin-
terhof so aus, wie man sich einen Hinter- seher die Fertigungshallen verlassen. Ein
hof vorstellt: unwirklich, lebensfeindlich, Rekordergebnis, sagt Rodriguez.
vor allem dreckig. Der Plastikmüll weht Erschreckend hoch ist allerdings auch
über die Straßen und bleibt am Stachel- die Kriminalität in der Stadt. Wenn Zehn-
draht hängen, der all die neuen Produk- tausende Fabrikarbeiter abends in die klap-
tionsstätten umschlungen hält. Die Fabri- prigen Firmenbusse steigen, übernehmen
IVAN PIERRE AGUIRRE / WPN

ken sehen aus wie große Lagerhallen, sie in der Stadt Gangsterbanden die Regie.
sind ausnahmslos fensterlos und meist un- Vor allem für Frauen, tagsüber die Stützen
verputzt. Viele der großen westlichen In- dieser gleichermaßen emsigen wie trost-
dustriekonzerne sind hier untergekommen: losen Wirtschaft, wird es dann lebens-
der Flugzeugbauer Bombardier, Hewlett- gefährlich.
Packard, General Motors. Die Firmen- Angelockt von den neuen Arbeitsplät-
Toshiba-Fabrik (in Ciudad Juárez, Mexiko) schilder sind auffällig klein gehalten, die zen, sind Zehntausende von ihnen aus
Acht Dollar Einstiegsgehalt – am Tag Erbauer wussten schon, dass in ihrer welt- dem Landesinneren Mexikos hierherge-
weiten Produktionskette hier nicht das kommen. Ohne den Schutz ihrer Familien
28 Prozent der Amerikaner sagen, Globa- Juwel sitzen wird. sind sie für die Männer von Juárez eine
lisierung sei eine gute Sache. In den Hauswänden finden sich große leichte Beute. In den letzten Jahren wur-
Nicht mehr nur die Arbeiter, sondern Eisenrollos, die von Zeit zu Zeit nach oben den mehr als 500 junge Frauen geschändet
auch die Angestellten, die „white collar gezogen werden. Dann ergießen sich Hun- und ermordet.
workers“, lehnen die derzeit gültige Form derte Pappkartons in die bereitstehenden Mehr noch als die örtliche Polizei be-
des internationalen Warenaustauschs ab. Trucks, die nur darauf warten, das kon- gannen sich die Filmproduzenten von Hol-
Erstmals sind beide politischen Lager da- sumhungrige Amerika mit DVD-Playern, lywood für die Frauenmorde von Juárez
von überzeugt, dass die Globalisierung Tintenstrahldruckern, Toastern, Stereoan- zu interessieren. Mit Jennifer Lopez in der
schlecht für ihr Land sei, 55 Prozent der lagen und Fernsehern zu beliefern. Im ge- Hauptrolle entstand der Film „Border-
Republikaner und 63 Prozent der demo- rade abgelaufenen Jahr haben allein aus town“, der vom Leben und Sterben in
kratischen Wähler empfinden so. der Toshiba-Produktion 1,1 Millionen Fern- Juárez erzählt. Die Millionenstadt am Rio
Da weiterzumachen, wo Bush ende, Grande gilt in Amerika mittlerweile als
sei für eine Präsidentin Clinton „keine 1997 Symbol für ein internationales Handelssys-
Option“, so die Kandidatin Clinton. Sie 17,59 1999 tem, das wenigen nützt und vielen schadet,
plädiere in Sachen Freihandelsabkommen das die Löhne der Arbeiter genauso radi-
für ein „Time-out“, eine Auszeit. Zwar ver- 17,28 kal senkt wie die moralischen Standards.
handelt die Bush-Regierung unverdrossen Wenn ein amerikanischer Politiker heu-
weiter etwa mit Panama und Kolumbien te Freihandel sagt, beginnt beim durch-
2001
um neue Liberalisierungsschritte. Ob es schnittlichen Amerikaner der Puls zu
dafür im Kongress und im Senat eine 15,71 rasen. Für die Mehrheit ist Freihandel
Mehrheit gibt, ist mehr als fraglich. „Der ein Synonym für Arbeitsplatzverlust
neue, kühle Blick der politischen Klasse
2003
auf die Handelspolitik und die aktuellen
Meinungsumfragen markieren einen neuen 14,30 2005
Konsens“, sagt Douglas Schoen, Mitgrün-
der Politikberatungsfirma Penn, Schoen &
Schwindende Kraft 14,21 November
2007

Berland.
Beschäftigte im produzierenden Gewerbe 13,96
in den USA, jeweils am Jahresende, in Millionen
Bisher gehörte die Freihandelsdoktrin
zum Nachkriegsamerika wie der Ketchup Quelle: US-Department of Labour

76 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
sagt er, würden die Worte von Clinton und
Huckabee als Zynismus, Populismus und
Demagogie bezeichnen: „Aber es ist gut
möglich, dass die amerikanische Bevöl-
kerung ein besseres Gespür für die reale
Gefahr besitzt als die Eliten, die dem
Globalisierungsprojekt sehr verbunden
sind.“
Zumal das Volk mit seinen Bedenken
und Befürchtungen nicht mehr allein ist.
Immer neue Experten tauchen auf, die Be-
lege dafür liefern, dass die Globalisierung
nicht zum Wohle des Landes sei. Der pro-
minenteste Neuzugang ist ohne Zweifel
Alan Blinder, der in Princeton lehrt und
Mitte der neunziger Jahre als Vize der

RICHARD JONES / SINOPIX / LAIF


amerikanischen Notenbank neben Alan
Greenspan saß. Als Vertreter der Freihan-
delsschule genoss er bisher einen untade-
ligen Ruf.
Die neuen Produktionsanlagen im chi-
nesischen Jangtse-Delta und im mexikani-
schen Grenzland seien der Beginn, nicht
Jiangsu): Nicht das Ende, sondern der Anfang einer Entwicklung das Ende einer Entwicklung, sagt er nun
mit drohendem Unterton. Mit geradezu
und Unmenschlichkeit geworden. Kaum schwinden vom Lohnzettel. Die nach kur- atemberaubendem Tempo würden sich
eine anderes Wort hat eine derartige Tal- zem Streik durchgesetzten Einstiegslöhne ehemalige Dritte-Welt-Länder in die Hoch-
fahrt im öffentlichen Ansehen hinter sich. bei den drei großen Autofirmen – Ford, technologiebranchen Software, Pharmazie
In einer international angelegten Studie Chrysler und General Motors – betragen und Biotechnologie hocharbeiten. Entge-
des German Marshall Funds fand man her- nur noch rund 14 Dollar, was umgerechnet gen der bisherigen Freihandelstheorie wer-
aus, dass nur in Frankreich die Abneigung knapp 10 Euro entspricht. In der Zeit der de das heutige Amerika von dieser Ent-
gegen den internationalen Warenaustausch Bush-Regierung sind zusätzlich neun Mil- wicklung nicht profitieren, sondern im Ge-
so ausgeprägt ist wie in den USA. lionen Amerikaner, zumeist Mitarbeiter genteil schweren Schaden nehmen. Blinder
Eine Mehrheit in beiden Ländern ver- weltweit operierender Konzerne, zum rechnet vor, das in den nächsten 10 bis 20
langt den Schutz der heimischen Unter- Heer der Nicht-mehr-Krankenversicherten Jahren bis zu 40 Millionen US-Jobs verlo-
nehmen und lehnt weitere Liberalisierung dazugestoßen. Insgesamt besitzen damit rengehen werden, darunter viele gutbe-
ab. Mehr als jeder zweite Amerikaner und 47 Millionen von 300 Millionen Amerika- zahlte Arbeitsplätze für Angestellte.
fast zwei Drittel aller Franzosen stimmen nern keine Krankenversicherung. Blinder, Clinton und andere empfehlen
dem Satz zu: „Ich bin dafür, die Handels- Wenn es in Deutschland eine Gerech- denn auch keineswegs, die Zollmauern
schranken unten zu lassen, um unsere tigkeitslücke gibt, klafft in der Mitte Ame- hochzuziehen und den freien Welthandel
Wirtschaft zu beschützen.“ rikas ein Gerechtigkeitsloch. Mehr als die zu beenden.
Den Experten fallen zunehmend weni- Hälfte aller Löhne und Gehälter werden Wohl aber plädieren sie für eine Han-
ger Argumente ein, diese Stimmung zu von einem Fünftel der Menschen verdient. delspolitik, die Chinesen, Indern und Me-
entschärfen. Denn in der Tat kann Ameri- Zehn Prozent der Bevölkerung besitzen xikanern im Gegenzug zur Marktöffnung
ka von der weltweiten Arbeitsteilung nicht 70 Prozent aller Vermögenswerte. Deshalb in Amerika etwas abverlangt – hohe Um-
mehr so selbstverständlich profitieren wie spricht Präsidentschaftskandidat John Ed- weltstandards zum Beispiel, den Aufbau
früher. Vorbei ist die Zeit, da US-Konzer- wards von den „zwei Amerikas“. eines eigenen Sozialstaats oder aber die
ne die Weltwirtschaft dominierten – von Bisher haben die Republikaner diese Freigabe ihrer Währungen. In bilateralen
„Coca-Cola-Imperialismus“ war damals Rhetorik bewusst überhört. Das war ein Handelsverträgen, also nicht mehr in dem
die Rede. Jahrzehntelang diktierte Ame- Fehler, sagt Karl Rove, Bush-Freund und einen weltumspannenden Werk, soll dann
rika dem Rest der Welt die Handels- Architekt seiner beiden Wahlsiege. Er rät versucht werden, den Handel frei und fair
bedingungen, der Dollar dominierte, die den Republikanern dringend, sich dem zu gestalten.
US-Firmen konnten ihre technischen Themenwechsel nicht zu verweigern: Die Toshiba-Mann Saul Rodriguez in Juárez
Standards durchsetzen, die Arbeiter aus- Präsidentschaftskandidaten sollten sich von versteht die amerikanischen Sorgen bes-
ländischer Werke waren Zulieferer, noch nun an „sichtbar, laut und kraftvoll“ um ser, als es ihm recht ist. Auch er hat zu
keine Wettbewerber. jene Fragen kümmern, die „rund um den kämpfen gegen Konkurrenten aus China.
Heute ist Amerika der größte Schuld- Küchentisch“ eine Rolle spielen: die Ge- Seine eigene Firma hat dort mittlerweile
ner der Welt und der weltgrößte Impor- sundheitspolitik, die Angst vor Jobverlust, ebenfalls eine Produktion eröffnet. Das
teur. Die Zulieferer von einst treten nun die ganze Palette der Befürchtungen, die Toshiba-Werk in Mexiko wird in diesem
vielfach als selbständige Konkurrenten auf. sich aus jenem widersprüchlichen Prozess Jahr die Produktion der kleineren Fern-
Die großen US-Konzerne melden zwar Re- ergeben, den man gemeinhin Globalisie- sehgeräte an das Toshiba-Werk in China
kordgewinne, und auch die Bonuszahlun- rung nennt. abgeben. Der Personalchef zuckt mit den
gen an der Wall Street fallen weiter üppig Tony Blankley sieht das genauso. Er war Schultern: „Wir sind besser, aber die sind
aus, die heimischen Arbeiter und Ange- einst Redenschreiber von Ronald Reagan, billiger.“
stellten aber darben. später diente er als Pressechef bei Newt Aus der Firmenzentrale versichert man
In den Hochburgen des US-Mittelstands Gingrich, heute ist er einer der großen ihm, China sei kein Ersatz für Juárez, nur
kehrt vielfach die Vergangenheit zurück. konservativen Kommentatoren des Lan- eine Ergänzung. Die Haltbarkeit solcher
Die Löhne schrumpfen, die Beträge für des und gerngesehener Gast in Amerikas Erklärungen schätzt Rodriguez realistisch
Gesundheits- und Altersvorsorge ver- Polit-Talkshows. Klassische Freihändler, ein. Gabor Steingart

d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 77
Wirtschaft

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Fristlos, formlos, fruchtlos“


DGB-Chef Michael Sommer, 55, über den Vorschlag, die Einkommen der Manager
zu begrenzen, das Versagen der Tarifautonomie beim Aushandeln
sozialpolitisch erträglicher Löhne und seine Fundamentalkritik an den Agenda-Reformen
SPIEGEL: Herr Sommer, ist es gen in den Aufsichtsräten ma-
gerechtfertigt, dass der Chef chen. Das unterliegt der Ver-
eines Dax-Konzerns mit fast traulichkeit. Mal abgesehen
drei Millionen Euro im Jahr davon, dass wir dort nicht die
das Hundertfache eines Fach- Mehrheit haben. Im Zweifels-
arbeiters verdient? fall zieht der Vorsitzende die
Sommer: Natürlich versteht Doppelstimme.
ein normaler Mensch nicht, SPIEGEL: Sie erwecken den
warum ein Manager so viel Eindruck, als gäbe es in der
verdient und er selbst so we- Gehaltsfrage ständig Kampf-
nig. Niemand ist 100- oder abstimmungen.
200-mal so viel wert wie ein Sommer: Welchen Eindruck
anderer. Dabei liegen drei Mil- Sie von mir haben, kann ich
lionen bei weitem noch nicht ohnehin nicht ändern. Aber
an der oberen Grenze dessen, natürlich habe ich eine poli-
was Manager in Deutschland tische und gesellschaftspoli-
verdienen. tische Meinung zu dem The-
SPIEGEL: Das entsprechende ma. Die Managergehälter sind
Gehalt bekommt Telekom- aus dem Ruder gelaufen, weil
Chef René Obermann, den dieses Land akzeptiert hat,
Sie als Aufsichtsrat kontrollie- dass sich im Zuge der Share-
ren. Warum haben Sie nicht holder-Value-Debatte das Wirt-
widersprochen, als sein Ge- schaftsleben nach amerikani-
halt festgesetzt wurde? schen Normen ausrichtet. Ak-
Sommer: Das ist eine Unter- tienoptionen und alles, was
stellung und keine Frage, daran hängt, sind schließlich
denn Sie wissen nicht, was ich amerikanische Bezahlungs-
im Aufsichtsrat gemacht habe. systeme.
Nach dem Aktienrecht unter- SPIEGEL: Und die wollen Sie
liege ich der Verschwiegen- abschaffen?
heitspflicht. Deswegen ist Sommer: Wir müssen dafür
auch das Schwarze-Peter-Spiel sorgen, dass wieder kontinen-
MARKO PRISKE / SPOT

etwas schwierig. Sie können taleuropäische Wertmaßstäbe


aber davon ausgehen, dass wir bei der Bezahlung gelten.
uns die Vorstandsgehälter Denn wenn Sie heute mit
ähnlich genau ansehen wie Managern über die Höhe der
die Nebenleistungen, die Ver- Gewerkschafter Sommer: „Verlogene Debatte“ Gehälter reden, dann sagen
tragsdauer, Pensionen oder die immer: Ja, aber mein
die Abfindungen. Aber der entscheidende Sommer: Wir könnten ja wieder auf den al- US-Kollege bekommt viel mehr, und wenn
Punkt ist doch ein anderer. ten Satz von 53 Prozent hochgehen oder ich nach Amerika gehe, bekomme ich auch
SPIEGEL: Und zwar? die Reichensteuer entsprechend erhöhen. so viel.
Sommer: Dass die Große Koalition eine De- Jetzt liegt der Spitzensteuersatz bei 42 Pro- SPIEGEL: Vielleicht haben Ihre Gesprächs-
batte angestoßen hat, die geradezu wider- zent. Dazu kommen noch einmal drei Pro- partner ja recht.
sinnig und verlogen ist. Vor kurzem noch zent Reichensteuer. Das ist immerhin schon Sommer: Wenn sie tatsächlich so gut sind,
haben die gleichen Politiker den Spitzen- ein Stück Einsicht gewesen. Die Politiker, dann sollen sie doch in die USA gehen,
steuersatz gesenkt und gesagt, das sei die die jetzt so lautstark nach Grenzen für Ma- um besser zu verdienen. Dort sind sie aber
Beglückung der Menschen in Deutschland. nagergehälter rufen, sollten endlich Ernst offenbar wenig gefragt. Zudem gibt es
Jetzt stellen sie sich hin und wollen die auf dem Feld machen, wo sie wirklich han- große deutsche Unternehmen, die in zehn
Managergehälter nach oben begrenzen. Ich deln können. Und das ist die Steuerpolitik. Jahren 17 oder 18 Vorstände auswechseln,
sage ihnen: Wenn sie dafür sorgen wür- SPIEGEL: Sie verweisen immer auf die Poli- weil die Qualität von deutschen Managern
den, dass Manager in Deutschland wieder tik. Warum sorgen nicht auch die Gewerk- so furchtbar hoch dann doch nicht ist. Das
anständige Spitzensteuersätze zahlen, wäre schaftsvertreter in den Aufsichtsräten Normalmaß gilt offenbar auch in diesem
schon viel geholfen. Dann wäre auch man- dafür, dass die Managergehälter nicht aus Bereich, nur bei ihrer Bezahlung wollen das
ches an der Diskussion ehrlicher. dem Ruder laufen? viele Manager nicht für sich akzeptieren.
SPIEGEL: Was wäre für Sie ein anständiger Sommer: Das ist schon wieder eine Unter- SPIEGEL: Der Betriebsratsvorsitzende von
Spitzensteuersatz? stellung. Ich weiß nicht, was meine Kolle- BASF findet die Vorstandsgehälter im Ver-
78 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
FRANKA BRUNS / AP (L.); VOLKER HARTMANN / DDP (R.)

DGB-Werbung für Mindestlohn (in Berlin), Manager Zumwinkel (Post), Obermann (Telekom): „Dieses Land hat die Maßstäbe verloren“

gleich zur Bezahlung des Bayern-Mana- SPIEGEL: Was halten Sie von dem Vor- Sommer: Mein Gegenargument ist folgen-
gers Uli Hoeneß eher moderat. schlag, Gehälter gesetzlich zu deckeln? des: Erstens haben wir auch beim Urlaub
Sommer: Letztlich geht es um die Wert- Sommer: Sie meinen als Pendant zum Min- oder bei der Arbeitszeit gesetzliche Min-
maßstäbe einer Gesellschaft, und da ist destlohn das Höchsteinkommen? destregelungen, die alle durch Tarifverträ-
vieles nicht mehr in Ordnung – auch bei SPIEGEL: Die SPD prüft diesen Vorschlag ge verbessert worden sind.
manchen Talkmastern, Bundesliga-Profis, in einer Arbeitsgruppe. SPIEGEL: Und zweitens?
Journalisten und Künstlern. Dieses Land Sommer: Das ist eine typische Drei-F-De- Sommer: Sind 7,50 Euro das absolute Mini-
hat über die Amerikanisierung des Wirt- batte: fristlos, formlos, fruchtlos. Was mei- mum, das zugegenermaßen heute durch
schaftslebens die Maßstäbe verloren. Dazu nen Sie wohl, was da herauskommt? Das einige Tarifverträge unterschritten wird.
gehört auch, dass die Bezahlung sehr viel geht aus wie das Hornberger Schießen. Über dem Mindestlohn würde dann die
stärker an den vordergründigen Erfolg ge- Nein, viel ehrlicher wäre es, den Weg über Tarifautonomie einsetzen, so wie in Frank-
koppelt ist, der sich vor allem am Aktien- den Spitzensteuersatz oder die Reichen- reich, wo es trotz eines Mindestlohns eine
kurs bemisst. steuer zu gehen. höhere Tarifbindung als bei uns gibt. Ich
SPIEGEL: Was haben Sie daran auszusetzen? SPIEGEL: Vieles deutet darauf hin, dass es in weiß, dass diese Haltung auch bei uns um-
Sommer: Wir haben die bekanntermaßen Deutschland demnächst einen gesetzlichen stritten ist, weil für manche Kollegen die
perverse Situation, dass der Aktienkurs Mindestlohn geben wird. Wäre das ein Er- Tarifautonomie absoluten Vorrang hat,
steigt, wenn Beschäftigte rausgeschmissen folg für Sie? aber ich glaube, man kann und muss das
werden. Das heißt, wenn jemand recht- Sommer: Wenn er mindestens 7,50 Euro miteinander verbinden.
zeitig die Leute feuert, kann er seine beträgt, ist es ein Erfolg, sonst nicht. Es SPIEGEL: Aber was haben die Gewerk-
Aktienoptionen zu einem besseren Kurs geht schließlich um ein menschenwürdiges schaften davon, wenn es der Staat ist, der
verscheuern. Das alles sind Auswüchse. Einkommen, von dem man einigermaßen den Mindestlohn festsetzt?
Die Managergehälter sind jenseits von Gut leben kann, und von 7,50 kann man das Sommer: Die Frage der Lohnfindung ist in
und Böse, weil sie durch die Umstellung auch nur, wenn man Single ist. der Tat eine der zentralen Aufgaben der
auf sogenannte erfolgsorientierte Zah- SPIEGEL: Ihre Forderung ist schon einige Gewerkschaften. Das Problem ist nur: Wir
lungen nicht mehr kontrolliert werden Jahre alt. Wollen Sie inzwischen einen haben in vielen Branchen gar nicht mehr
können. höheren Mindestlohn? die Möglichkeit, für die Betroffenen tarif-
SPIEGEL: Erfolg soll also keine Rolle mehr Sommer: Ich bleibe bei den 7,50 Euro, weil lich etwas durchzusetzen, was sozialpoli-
spielen? es eine politische Zahl ist. Aber sie hat tisch erträglich ist.
Sommer: Die Frage stellt sich doch: Was natürlich keine Ewigkeitsdauer. Je länger SPIEGEL: Warum?
ist denn eigentlich ein Erfolg? Ist es ein wir warten müssen, desto höher muss die Sommer: Weil es entweder gar keine Ar-
Erfolg, wenn ich kurzfristig den Aktien- Forderung werden. Und wenn er kommt, beitgeberverbände mehr gibt oder die Ge-
kurs hochboxe? Oder ist es ein Erfolg, brauchen wir natürlich Angleichungs- werkschaften nicht stark genug sind. Dann
wenn ich über fünf Jahre ein Unterneh- mechanismen wie die Royal Commission in stehen Sie als Gewerkschaft vor der Frage,
men stabil halte und seine Weltmarktposi- England, die den Mindestlohn übrigens stets wegzusehen oder nicht.
tion ausbaue … nach oben und nie nach unten anpasst. SPIEGEL: Das heißt, ein gesetzlicher Min-
SPIEGEL: … oder die Produktivität stei- SPIEGEL: Ihre Forderung ist im Gewerk- destlohn ist eigentlich ein Zeichen ge-
gere … schaftslager umstritten, weil es dann nicht werkschaftlicher Schwäche?
Sommer: … oder meinetwegen bestimmte mehr in erster Linie die Gewerkschaften Sommer: Er ist ein Zeichen dafür, dass die
Klimaziele erreiche. Um der Kanzlerin mal sind, die den Lohn erkämpfen, sondern Tarifautonomie in bestimmten Bereichen
einen Gefallen zu tun. der Staat. in Deutschland versagt, teilweise, weil wir
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 79
MARCUS BRANDT / DDP
Proteste gegen Hartz IV (am 13. Oktober 2007 in Berlin): „Ich will, dass die Menschen in Würde leben und arbeiten können“

die Arbeitgeberstruktur nicht mehr haben, kommen soll. Die Gefahr, dass Arbeitgeber partei nicht schmecken. Das Thema Alters-
teilweise, weil die Beschäftigten schwach Tarifentgelte drücken wollen, ist sicher da. armut etwa oder Rente mit 67. Wir ma-
organisiert sind. Dann stehen Sie vor der Daran werden wir sie hindern müssen. Das chen unseren Frieden mit der Rente mit 67
Frage, ob Sie trotzdem einen Tarifvertrag Leben eines Gewerkschafters ist und bleibt nicht, und wir brauchen auch nachhaltige
abschließen sollen. Ich habe als junger Ge- nun mal Kampf. Korrekturen bei Hartz IV, um es ganz deut-
werkschaftsfunktionär gelernt, dass jeder SPIEGEL: Sie führen gerade eine aktive lich zu sagen.
Tarifvertrag besser ist als keiner, weil man Kampagne für Mindestlöhne und leisten SPIEGEL: Wir hatten gehofft, zum Thema
zumindest den Fuß in der Tür hat, zum damit aktive Wahlkampfhilfe für die SPD… Hartz IV sei bereits alles von Ihnen gesagt
Beispiel auch bei Urlaubsanspruch und Ar- Sommer: … mitnichten! worden.
beitszeit. Und dann kommen manchmal SPIEGEL: Wie passt das zur parteipolitischen Sommer: Wenn Karlsruhe gerade entschie-
Verträge heraus, die bei den Entgelten un- Neutralität des DGB, die Sie selbst ver- den hat, dass der Kern der Reform – näm-
ter 7,50 Euro liegen. Wie für die Friseurin kündet haben? lich die Verwaltungskonstruktion – verfas-
in Thüringen und die Floristin in Meck- Sommer: Der DGB ist parteipolitisch un- sungswidrig ist, sollte man gleich auch die
lenburg-Vorpommern. abhängig. Das gilt für die kommenden anderen Konstruktionsfehler beseitigen.
SPIEGEL: Was passiert mit diesen Abkom- Landtagswahlen und die Bundestags- und Man muss an die Frage des Schonvermö-
men, wenn der Mindestlohn kommt? Europawahl 2009. Darauf können Sie Gift gens ran. Das ist, was die Alterseinkünfte
Sommer: Das wäre das Ende für solche nehmen. betrifft, viel zu niedrig. Der Kinderzu-
Tarifentgelte … SPIEGEL: Aber? schlag ist viel zu niedrig. Ich glaube auch,
SPIEGEL: … und würde vermutlich dazu Sommer: Das heißt nicht, dass der DGB dass wir einen speziellen Schülerzuschlag
führen, dass die Floristin und die Friseurin politisch neutral wäre. Wir treiben unsere brauchen, sogar einen Zuschlag für Schul-
arbeitslos werden, weil sich ihre Arbeits- speisung, damit die Kinder der armen Leu-
plätze für 7,50 Euro die Stunde für ihre te etwas davon haben. Ich bin dafür, dass
Arbeitgeber nicht mehr rechnen. die Regelsätze erhöht werden müssen, und
Sommer: Falsch, denn beide stehen ja nicht schließlich muss es noch einmal um die
im globalen Wettbewerb. Richtig ist, dass Frage gehen, welche Arbeit für Langzeit-
dann die Frisur und der Blumenstrauß arbeitslose zumutbar sein soll und welche
minimal teurer werden würden. Aber das nicht. Ich will, dass die Menschen in Wür-
kostet keine Arbeitsplätze. Auch die Mehr- de leben und arbeiten können. Dazu
wertsteuererhöhung um drei Prozent- gehört auch, dass sie keine Angst vor Ar-
GOETZ SCHLESER

punkte haben die Konsumenten ohne mut haben müssen. Heute ist Hartz IV
Kaufboykott hingenommen. aber Armut; das wissen die Menschen.
SPIEGEL: Ist es Ihnen lieber, wenn Men- SPIEGEL: Wie groß ist Ihrer Meinung nach
schen von Hartz IV leben statt einer Sommer, SPIEGEL-Redakteure* der Anteil der rot-grünen Arbeitsmarkt-
schlecht bezahlten Arbeit nachzugehen? „Der DGB ist parteipolitisch unabhängig“ reformen an dem Umstand, dass die Ar-
Sommer: Diese Alternative stellt sich nicht. beitslosigkeit auf den niedrigsten Stand seit
Ich wünsche mir, dass jeder von seiner Themen nach vorn, unabhängig davon, ob der Wiedervereinigung gesunken ist?
Hände Arbeit leben kann, ohne als Voll- sie irgendeiner Partei passen oder nicht. Sommer: Er tendiert gegen null. Der Ein-
zeitbeschäftigter zusätzlich Hartz IV als Dazu gehört auch die Frage der Mindest- fluss der Weltwirtschaft oder der Investi-
staatliche Fürsorge beantragen zu müssen. löhne. Ich nehme an, dass das Teilen der tionstätigkeit ist sehr viel größer. Es ist die
Der eigentliche Skandal ist doch, dass dies Union nicht passt. Allerdings scheine ich so völlig falsche These, dass die Beschäfti-
derzeit schon Hunderttausende tun müs- weit nun auch wieder nicht von dieser Par- gung steigt, wenn man Sozialleistungen
sen. Auch deswegen brauchen wir den tei entfernt zu sein, denn immerhin sind 67 abbaut und die Rechte der Menschen ver-
Mindestlohn. Prozent der Unionsanhänger für einen schlechtert …
SPIEGEL: Es gibt auch Gewerkschafter, die Mindestlohn. 75 Prozent der Bevölkerung SPIEGEL: … die aber von schätzungsweise
befürchten, ein Mindestlohn könne bei übrigens auch, obwohl ihnen immer wie- 80 Prozent des derzeitigen wirtschaftlichen
Löhnen, die über 7,50 Euro liegen, einen der eingeredet wird, dieses Land fahre gut Sachverstands der Republik vertreten wird.
Sog nach unten auslösen. mit Niedriglöhnen. Ganz offensichtlich Sommer: Die herrschende deutsche Wirt-
Sommer: Das macht mir auch Sorgen. Wir glauben die Menschen das nicht mehr. schaftswissenschaft zeichnet sich doch da-
wollen die 7,50 Euro, um den Lohntrend SPIEGEL: Mit welchen Wahlkampfinterven- durch aus, dass ihre Prognosen sehr selten
nach oben hinzukriegen, aber auch hier tionen dürfen wir noch rechnen? eingetreten sind. Sie ist vor allem ideologie-
gilt, was man mir als jungem Gewerk- Sommer: Wir werden auch Dinge anspre- beladen, aber dafür empirisch nicht son-
schaftsfunktionär beigebracht hat: Jeder chen, die der anderen großen Regierungs- derlich beleckt und deshalb auch kaum
Tarifvertrag muss zweimal durchgesetzt Nobelpreis-verdächtig.
werden. Einmal, wenn er abgeschlossen * Konstantin von Hammerstein und Michael Sauga in der SPIEGEL: Herr Sommer, wir danken Ihnen
wird, und einmal, wenn er zur Anwendung DGB-Zentrale in Berlin. für dieses Gespräch.
80 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Motorenfertigung (bei Deutz)
Anzeichen der Besserung

ses Mal zeigt die Wirtschaft eine


erstaunliche Resistenz gegen
„außenwirtschaftliche Schocks“,
wie es in der Ökonomenspra-
che heißt. Ein hausgemachter
Schock kam hinzu: Zusätzlich
zu allen anderen Belastungen
mussten Wirtschaft und Ver-
braucher in Deutschland mit
der kräftigsten Mehrwertsteuer-
erhöhung seit Bestehen der Re-
publik fertig werden.
Von all diesen Widrigkeiten

ANDREAS GEBERT / VARIO IMAGES


ließ sich die Wirtschaft kaum
beeindrucken. Unerwartet kräf-
tig legte sie im Jahr 2007 um
rund 2,5 Prozent zu.
Für das neue Jahr sieht es
nicht mehr ganz so gut aus.
Forschungsinstitute korrigieren
ihre Prognosen gleich reihen-
weise nach unten, sie pendeln knapp über
ARBEITSMARKT
bis knapp unter zwei Prozent. Das aber

Erstaunliche Resistenz
ist immer noch dreimal so viel wie im
Schnitt der Dümpeljahre zu Beginn des
Jahrzehnts.
All das lässt auf eine bemerkenswerte
Der kräftige Aufschwung der vergangenen beiden Jahre hat die Elastizität und Flexibilität der Volkswirt-
schaft schließen. Eine Reihe von Ursachen
Arbeitslosigkeit spürbar gesenkt. Diese positive ist dafür verantwortlich. So stellten sich
Entwicklung dürfte sich fortsetzen – dank der Agenda 2010. die deutschen Unternehmen hervorragend
auf die Bedürfnisse des Weltmarkts ein.

B
ert Rürup, Professor in Darmstadt Ölpreis nahm vergangene Woche die 100- Sie sind innovativ, flexibel und effizient.
und Vorsitzender des Sachverstän- Dollar-Marke, und auch der Euro steigt Zur Entlastung trugen auch die Tarif-
digenrats der Bundesregierung, ist schon wieder. parteien bei. Die Gewerkschaften gaben
so etwas wie der Hausarzt der deutschen In den vergangenen Jahren reichte eine sich in den vergangenen Jahren mit viel
Volkswirtschaft. Seit Jahrzehnten beob- einzige dieser Entwicklungen, um Deutsch- niedrigeren Lohnzuwächsen zufrieden als
achtet er mit dem Blick des kritischen Dia- lands Aufschwung abzuwürgen. Doch die- in anderen Ländern üblich. Das steigerte
gnostikers ökonomische Aggregate. die Wettbewerbsfähigkeit deut-
Derzeit ist der Professor vergleichsweise
zufrieden mit dem Patienten Deutschland,
Unterm Sockel scher Unternehmen und ihrer
Produkte auf den Weltmärkten
der noch vor wenigen Jahren als der Arbeitslose in Deutschland seit 1970; zusätzlich.
chronisch kranke Mann Europas galt. Jahresdurchschnitte Doch vor allem die Kur, die
Denn das Land zeigt deutliche Anzeichen Ex-Kanzler Gerhard Schröder
der Besserung: Die Arbeitslosigkeit, so Gesamtdeutschland 4,0
dem Land verschrieb, trug zur
etwas wie die Fieberkurve, sinkt bestän- Westdeutschland 3,85 Wiederbelebung des Standorts
dig. Das Wachstum, vergleichbar mit dem 3,51 Mio. bei. „Dass Deutschland jetzt so
Body-Mass-Index, ist solide. Und die gut dasteht, liegt auch an den
Staatsfinanzen, sie entsprechen dem Im- Quelle: Bundesagentur für Arbeit Reformen der Agenda 2010“,
3,0
munsystem, erholen sich in Rekordge- sagt Rürup.
schwindigkeit. Das Maßnahmenpaket, das
Was Rürup am meisten freut: Die Ab- die rot-grüne Bundesregierung
wehrkräfte des Patienten sind gewachsen. 2,29 Mio. auf den Weg brachte, löste den
„Die deutsche Wirtschaft ist widerstands- 2,32 Aufschwung mit Sicherheit
fähiger geworden“, stellt er zufrieden fest. 2,0 nicht aus, doch es half, dass
Der nächste Abschwung werde kürzer aus- Arbeitslose im die Wirtschaft richtig Fahrt auf-
fallen als die letzte Schwächephase, „weil Dezember 2007; nehmen konnte, als der Welt-
der Arbeitsmarkt und die Lohnstrukturen 1,60 saisonbereinigt wirtschaftsboom Deutschland
flexibler geworden sind“. endlich anschob.
Eine Immunschwäche kann sich Deutsch- 1,0 Ein Auslöser war die Zusam-
land auch nicht leisten, denn von überall 0,87 Arbeitslose am Ende menlegung von Arbeitslosen-
her droht Ansteckungsgefahr. In den USA eines konjunkturellen hilfe und Sozialhilfe zum Ar-
könnte die Finanz- und Immobilienkrise Aufschwungs beitslosengeld II. „Die Anreize
das Land in eine Rezession stürzen, nega- zur Arbeitsaufnahme sind ge-
tive Auswirkungen für die Exportnation stiegen, vor allem für qua-
Deutschland wären unausweichlich. Der 1975 80 85 90 95 2000 05 07 lifizierte Arbeitslose“, meint
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 85
Wirtschaft

Dennis Snower, Präsident des Kieler Insti- dent des Deutschen Instituts für Wirt-
UNTERNEHMEN
tuts für Weltwirtschaft. schaftsforschung, in den letzten anderthalb
Als Folge sank die Zahl der Arbeitslosen Jahren seien 1,3 Millionen neue Arbeits-
viel schneller als in den Aufschwungphasen plätze entstanden. Die Ursache für den
davor. Seit Anfang 2006 nahm sie um Unterschied: Horn setzt für den Beginn Scherben im
1,6 Millionen Personen ab. Was aber am des Aufschwungs das vierte Quartal 2004
meisten zählt: Erstmals seit Jahrzehnten an, als noch Arbeitsplätze massenweise
liegt die Zahl der Jobsuchenden niedriger als verlorengingen. Zimmermann zählt ab
im vorangegangenen Boom. Auf dessen Frühjahr 2006, als die Belebung den Ar-
Porzellanladen
Mit schicken Boutiquen wollte
Höhepunkt waren immer mehr als 3,8 Mil- beitsmarkt erreichte – und die ist noch
lionen Menschen auf Arbeitssuche. Im De- nicht zu Ende. der Porzellanhersteller
zember 2007 waren es nur noch 3,4 Mil- Gänzlich nutzlos sei die Agenda-Politik Villeroy & Boch das dümpelnde
lionen, viel weniger als erwartet. dennoch nicht gewesen, gesteht auch Horn Geschäft in Deutschland
2009, so sagen Forschungsinstitute vor- zu. Wenn nach längerem Aufschwung ankurbeln – bislang ohne Erfolg.
aus, könnte die Arbeitslosigkeit im Jah- die Arbeitskräfte knapp würden, würden

T
resschnitt auf 3 Millionen Menschen oder wegen der verschärften Arbeitsanreize im Salzgeber war jung und hochmo-
darunter sinken. Das gab es zuletzt 1992. mehr Arbeitskräfte mobilisiert. „Der Auf- tiviert, er hatte Erfahrung im Einzel-
„Diese Entwicklung ist mehr als ein kon- schwung kann dann länger anhalten, als handel und konnte obendrein ein ab-
junktureller Trend“, glaubt Ifo-Präsident dies ohne Reformen geschehen würde.“ geschlossenes Studium vorweisen. „Genau
Hans-Werner Sinn, der bislang eher zu den Hinzu kommt, dass die Qualität des solche Leute suchen wir“, sagt Jens-Peter
Standort-Skeptikern zählte. „Am Arbeits- Aufschwungs dieses Mal besser ist als Schlingmann, der beim Keramik- und Por-
markt ist etwas Signifikan- zellanhersteller Villeroy & Boch für den
tes passiert.“ Vertrieb in Deutschland und Österreich zu-
Spiegelbildlich zur Ab- ständig ist.
nahme der Arbeitslosigkeit Die Begeisterung beruhte auf Gegen-
entwickelt sich die Zu- seitigkeit. Denn die traditionsreiche Firma
nahme der Erwerbstätigen. aus dem Saarland verspricht in ihren
Seit September arbeiteten „Fakten für den Erfolg“ Leuten wie Salz-
mehr als 40 Millionen geber „ein zukunftsweisendes Franchise-

ALEXANDRA WINKLER / REUTERS


Menschen in Deutschland, System“ mit ordentlichen Umsätzen und
so viele wie noch niemals einer guten Umsatzrendite: „mittelfristig
zuvor. Eindrucksvoll wi- zweistellig“.
derlegt das Land trotz for- Franchise-Partner sind selbständige Un-
cierter Globalisierung die ternehmer, die ihr Geschäft nach den Vor-
These, dass ihm schon bald gaben eines Konzerns betreiben. Der Fran-
die Arbeit ausgehen werde. chise-Geber bestimmt, was wie gehandelt
Kritiker wenden ein, die Reformer Schröder*: Wiederbelebung des Standorts wird, er legt nicht nur das Sortiment fest,
Abnahme der Beschäfti- sondern oft auch die Ladenausstattung und
gungslosigkeit überzeichne die Dynamik zur Jahrtausendwende. Derzeit entstehen Werbemittel, der Franchise-Nehmer han-
am Arbeitsmarkt. Die Zahl der Jobsuchen- zehnmal mehr Vollzeitjobs als damals, delt selbständig, auf eigene Rechnung.
den sinke auch aus demografischen Grün- stellte das Institut für Arbeitsmarkt und Ausgestattet mit einem umfangreichen
den, weil wegen der alternden Gesellschaft Berufsforschung der Bundesagentur für „Beratungsbericht“, erstellt im Auftrag von
das Arbeitskräfteangebot schrumpfe. Arbeit fest. Villeroy & Boch, unterschrieb Salzgeber
Gustav Adolf Horn, Chef des gewerk- Unabhängig von der tatsächlichen Zahl Ende 2001 einen solchen Vertrag. Wenige
schaftsnahen Instituts für Makroökonomie der neuen Jobs setzen beide Denkschulen Monate später eröffnete er zusammen mit
und Konjunkturforschung, behauptet so- ihre Hoffnungen für den Fortgang des Auf- seiner Frau in Karlsruhe einen Laden un-
gar, dass im gegenwärtigen Aufschwung schwungs dennoch auf die zusätzlich Be- ter dem Label „The House of Villeroy &
weniger Arbeitsplätze entstehen als in schäftigten. Sie könnten den Konsum ent- Boch“ – und beide glaubten damals fest
früheren Boomphasen. „Die Arbeitsmarkt- scheidend beleben. daran, das „Fundament für eine solide
reformen zeigen bisher kaum Wirkung“, Wer neue Arbeit gefunden hat, kauft Existenz“ gelegt zu haben.
sagt er. Zwar wachse die Beschäftigung eher ein als ein Arbeitsloser; wer in der Der Traum von der Selbständigkeit
gemessen in Arbeitsstunden kräftiger als Krise um seinen Job fürchtete, kann jetzt währte nur kurz. In keinem einzigen Jahr
früher, aber: Die Zahl der Beschäftigten vergleichsweise sicher sein, dass er ihn erreichte Salzgeber die im Beratungs-
nehme weniger stark zu. Bislang seien nur behält. Auch das fördert die Konsum- bericht prognostizierten Umsätze – und
rund 700 000 neue Jobs entstanden im Ver- freude. schon gar nicht die Gewinne. Stattdessen
gleich zu 1,3 Millionen im vorangegange- „2008 wird der Aufschwung auch bei wuchsen die Schulden immer weiter.
nen Aufschwung. den Arbeitnehmern ankommen“, prophe- Mitte 2007 stieg Salzgeber frustriert aus
Den Grund dafür sieht Horn gerade in zeit Rürup. Er rechnet damit, dass die dem Franchise-Vertrag aus. „Wir haben al-
den Flexibilisierungen der vergangenen Bruttolöhne nach Abzug der Inflation um les verloren, was wir uns erarbeitet hat-
Jahre. Im letzten Boom blähten viele Mini- 1,5 Prozent steigen. „Das wäre der höchste ten“, sagt der Mann aus Karlsruhe verbit-
und Teilzeitjobs die Arbeitsplatzstatistik Zuwachs seit 1995.“ Endlich wären damit tert und verklagte Villeroy & Boch auf
auf. Sie werden im jetzigen Aufschwung auch die Voraussetzungen geschaffen, dass Schadensersatz – und dabei geht es im-
umgewandelt in Vollzeitstellen. Auch die sich die chronisch dümpelnde Binnen- merhin um einen Streitwert von mehr als
Verlängerung der Arbeitszeiten habe zur nachfrage belebt und zur treibenden Kraft 800 000 Euro. Sein Vorwurf: „Wir wurden
Folge, dass weniger neue Jobs entstehen. des Aufschwungs wird. mit völlig illusorischen Zahlen angelockt.“
Andere Forscher kommen auf höhere So könnte sich Deutschland von den Andere Franchise-Nehmer wollen eben-
Werte. So sagt Klaus Zimmermann, Präsi- weltwirtschaftlichen Turbulenzen zumin- falls klagen. Denn Salzgebers Erfahrungen
dest teilweise abkoppeln. mit dem angesehenen Porzellanhersteller
* Am 5. Mai 2003 in Nürnberg. Christian Reiermann sind kein Einzelfall. Etliche Franchise-Neh-
86 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
CARSTEN KOALL
Franchise-Partnerin Palka: „Das Konzept stimmt vorn und hinten nicht“

mer, die das saarländische Unternehmen in Sportwagen-Fan wollte zeigen, was er Galerie in Karlsruhe eröffnet. Für ein
den vergangenen Jahren mit vollmundigen kann, und verpasste dem vor sich hin düm- „Fachgeschäft dieser Größe und Lage“
Versprechungen geködert hat, klagen über pelnden Konzern eine neue Strategie. wurde damals ein Umsatz von zunächst
schlechte Einkaufskonditionen, miese Ren- Für neuen Schwung bei „einem der äl- rund 340 000 Euro prognostiziert, der im
diten und sinkende Umsätze. testen deutschen Industrieunternehmen zweiten Jahr um 18 Prozent und im dritten
„Wir bedauern diese Fälle, aber die Ver- mit Weltgeltung“ sollte nicht nur der Aus- Jahr noch einmal um 10 Prozent auf dann
hältnisse in unserer Branche sind zurzeit bau des Auslandsgeschäfts sorgen, sondern gut 440 000 Euro steigen sollte.
ausgesprochen schwierig“, entschuldigt auch die Ausrichtung des Konzerns auf Der Frust begann schon sofort nach der
Villeroy-Manager Schlingmann die deso- Lifestyle und Design. Statt einfach nur Flie- Eröffnung. Nur gut die Hälfte der erwar-
late Bilanz der Luxusläden. Der Konzern, sen wurden nun komplette Bäder verkauft, teten Einnahmen kam im ersten Monat in
klagt dagegen eine Händlerin, „gibt sei- und statt Tellerstapeln sollten gedeckte Ti- die Kasse. Und so ging es weiter. Am Ende
nen Franchise-Partnern viel zu wenig Un- sche in speziellen Mono-Label-Shops „eine konnten die Salzgebers nicht einmal mehr
terstützung, und am Ende werden sie fallen neue Art von Einkaufserlebnis“ bieten. die Miete für den von Villeroy & Boch aus-
gelassen wie eine heiße Kartoffel“. „The House of Villeroy & Boch“ nann- gesuchten Laden bezahlen.
Was für etliche Franchise-Nehmer so te der Konzern die gediegenen Boutiquen, Etliche Franchise-Nehmer machten ähn-
böse endete, nahm 1998 seinen Anfang, als die neben Tischdecken, Kerzen und Ge- liche Erfahrungen. Läden in Augsburg, Er-
Wendelin von Boch-Galhau die Führung schenkartikeln vor allem das hochwertige furt, Hamburg, Konstanz, Hamm und an-
der Firma übernahm, deren Mehrheit noch Porzellan der Traditionsfirma in einer „Mi- deren Städten wurden wieder geschlossen
immer in der Hand des rund 200-köpfigen schung aus Ambiente, Design, Emotion oder von neuen Franchise-Nehmern über-
Familienclans liegt. Der Hobbyjäger und und weltoffenem Flair“ verkaufen sollten. nommen. Und selbst die vom Konzern
Allein in Deutschland, wo die Umsätze ge- gern als Aushängeschild präsentierte Fran-
fährlich ins Rutschen gekommen waren, chise-Partnerin Daniela Palka in Berlin will
sollten mehr als hundert solcher Geschäf- ihren Vertrag nicht mehr verlängern. „Das
te entstehen, berichten Insider. Konzept“, sagt die erfahrene Geschäfts-
Doch daraus wurde nichts. Zwar konn- frau, „stimmt vorn und hinten nicht.“
te Boch-Galhau, 65, der vergangenes Jahr Nun steht der Traditionskonzern vor ei-
in den Aufsichtsrat wechselte, das Aus- nem Scherbenhaufen. Die ehrgeizigen Ex-
landsgeschäft stark ausbauen und so im- pansionspläne mit dem „House of Villeroy
merhin den Gesamtumsatz bei knapp einer & Boch“ sind jedenfalls grandios geschei-
Milliarde Euro stabilisieren. Die Schwind- tert. Fast zehn Jahre nach dem Start um-
sucht des Deutschland-Geschäfts konnte fasst die Kette hierzulande gerade mal 20
er jedoch nicht kurieren. Inzwischen er- Läden, und die Zahl der Franchise-Filialen
wirtschaftet der Konzern nur noch knapp ist sogar auf 7 geschrumpft.
280 Millionen Euro in Deutschland – 1999 Villeroy-&-Boch-Manager Schlingmann
BECKER & BREDEL / PICTURE-ALLIANCE / DPA

waren es noch 367 Millionen Euro. will aber trotz der schweren Rückschläge
Opfer der grandiosen Fehleinschätzung nicht aufgeben. „In einem schwierigen
waren vor allem die Franchise-Nehmer, die Markt“, behauptet er, „ist es uns gelun-
im guten Glauben an das Renommee des gen, unseren Marktanteil auszuweiten.“
Konzerns 100 000 Euro und mehr in ihre Der Porzellan-Mann sieht deshalb auch
Geschäfte gesteckt haben. Wie weit die keinen Grund, von seinen vollmundi-
Prognosen der Konzernmanager von der gen Prognosen abzurücken. „Bisweilen“,
Realität entfernt waren, zeigt beispielhaft macht sich Schlingmann Mut, „haben wir
der Fall Salzgeber. einfach die Standorte falsch eingeschätzt“,
Unternehmer Boch-Galhau Das Ehepaar hatte im März 2002 seinen aber das sei „doch ganz normal im
Grandiose Fehleinschätzung Laden in der kurz zuvor eröffneten Post- Handel“. Klaus-Peter Kerbusk

d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 87
Trends

GEZ

Millionen für Gebühreneintreiber


D as Kassieren von Gebühren für die GEZ lassen sich die Rundfunkanstalten eini-
ges kosten: Allein die 136 freiberuflichen Gebühreneintreiber des MDR erhielten
im Jahr 2006 Provisionen von insgesamt 4,23 Millionen Euro. Von den Rundfunk-
anstalten werden diese Zahlungen wie ein Geheimnis gehütet, in den Geschäfts-
berichten fehlt dazu jede Angabe. Erst durch eine Anfrage im Landtag sah sich die
sächsische Landesregierung gezwungen, Angaben über die Millionenzahlungen zu ma-
chen. Die Gebührenbeauftragten gehen als freie Mitarbeiter ohne spezielle Berufs-
ausbildung – ausgestattet mit Ausweisen der Sender – auf die Jagd nach Schwarzsehern
und -hörern. Gefordert werden „systematisches Vorgehen, sicheres Auftreten“ und ein
Alter „idealerweise zwischen 30 und 60“, wie es in einer Ausschreibung des NDR
heißt. Ihre Provisionen erhalten die GEZ-Spione erst, wenn die Zahlung des Teil-
nehmers auch wirklich auf dem Konto der GEZ eingegangen ist. Besonders fleißige
Beauftragte können es dabei schnell zu viel Geld bringen: So zahlte der Sender RBB
im vergangenen Jahr 40 Prozent der Nachzahlungen an seine Beauftragten. Und wer
überdurchschnittlich viele Schwarzseher überführte, konnte noch einmal mit einem
Bonus in Höhe von zehn Prozent der gezahlten Provision rechnen. Für die Rund-
funkanstalten kann sich der Einsatz ihrer Gebührenjäger lohnen: Der MDR kassier-
te laut Geschäftsbericht allein 2006 Nachzahlungen in Höhe von 10,7 Millionen Euro.

FERNSEHEN

Kamera statt Kanzel


Ulrich Fischer, 50, Leiter der Katho-
lischen Fernseharbeit, über die
Suche nach TV-tauglichen Pfarrern

SPIEGEL: Die Deutsche Bischofskonferenz hat


erstmals per Casting nach neuen Pfarrern für
Fernsehgottesdienste und andere TV-Auftritte su-
chen lassen. Gibt es keine guten Prediger mehr?
Fischer: Doch, aber manchmal wurden uns etwa
für den ZDF-Fernsehgottesdienst Pfarrer emp-
fohlen, die gar keine Lust hatten, sich dem Fern-

CHRISTOF STACHE / AP
sehpublikum zu stellen. Andere können nicht im
Zeitkorsett einer Live-Sendung arbeiten oder
haben Planungsschwierigkeiten. So eine Sendung
hat fast die Anforderungen von „Wetten, dass ..?“.
SPIEGEL: Beim Pfarrer kommt es doch eher aufs
Wort an. Wie telegen muss ein guter Prediger für
die Kamera sein? SPORTSENDUNGEN lich über den Quoten des Vorjah-

Im Aufwind
Fischer: Man muss rhetorisches, fast schauspiele- res. RTL hatte die Skisprungüber-
risches Talent mitbringen. In der Kirche hören tragungen nach sieben Jahren we-
die Leute einfach zu und kritisieren nicht. gen zuletzt gesunkenen Interesses
Fernsehzuschauer reagieren kritischer, schreiben
Briefe und rufen an. Das macht Angst und
erfordert Selbstbewusstsein. Auch die Sprache ist
T rotz weiter ausbleibender
Top-Leistungen der deutschen
Teilnehmer begeistern sich überra-
abgegeben. Von den Zuschauer-
zahlen der Jahre, als deutsche
Teilnehmer wie Martin Schmitt
wichtig: Ich bekam etwa einen Anruf von einer schend wieder mehr TV-Zuschauer und Sven Hannawald stets zu den
Dame mit sehr breitem bayerischem Dialekt. Es für die Skisprungwettbewerbe, seit- Favoriten zählten, sind die Über-
ist kaum vorstellbar, dass sie in einem bundes- dem die Übertragungen in dieser tragungen allerdings immer noch
weiten Programm Verkündigung betreiben kann. Saison wieder bei ARD und ZDF weit entfernt. In der Saison 2001/02
SPIEGEL: Wer sind denn nun die Gewinner? laufen. Das erste Springen der etwa, als Sven Hannawald die Vier-
Fischer: Dabei sind ein bayerischer Pfarrer, ein Vierschanzentournee in Oberstdorf schanzentournee gewann, hatten
Pastoralreferent aus der Schweiz und eine junge etwa hatte fast 2,3 Millionen Zu- schon in Oberstdorf 7,4 Millionen,
Theologiestudentin aus Bonn. Wir werden schauer mehr als im Vorjahr. Auch in Garmisch fast 8,7 Millionen
verschiedene Verkündigungsrollen trainieren: Pre- beim zweiten Springen in Gar- und zum Finalspringen in Bischofs-
digt, Interview, Beten. Dann verteilen wir Engage- misch-Partenkirchen lag die ARD hofen sogar gut 12 Millionen
ments bei Sat.1, dem ZDF und anderen Sendern. mit 6,6 Millionen Zuschauern deut- zugeschaut.
88 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Medien
TV-Vorschau Es hat schon raffiniertere „Blochs“ mit
Dieter Pfaff gegeben. Aber dieser (Buch
Mord mit Aussicht und Regie: Thorsten Näter) stellt im-
merhin eine grandiose Dagmar Manzel
Montag, 20.15 Uhr, ARD als gestörte Schriftstellerin auf eine ihr
Wieder ein neuer Bewerber auf dem angemessene Fernsehbühne.
montäglichen Serienplatz der ARD:
sechs Folgen mit einer Kommissarin Commissario Laurenti:
(Caroline Peters), die es aus der
Großstadt in die Eifel verschlägt.
Der Tod wirft lange Schatten
Zur frechen Komödie über moderne Donnerstag, 20.15 Uhr, ARD
Landeierei mag sich das Spiel leider Laurenti (Henry Hübchen) kennt seine
nicht entschließen, es lähmt sich Pappenheimer, wenn mächtige Dynas-
selbst durch zu starke Konzentration tien unter Verdacht geraten: Zeugen lei-
auf eher mäßig spannende Fälle. den plötzlich unter Amnesie, sein Chef

PRO 7
bremst die Ermittlungen, und eine Lei-
Soap-Star Kraus mit Matthias Komm
Duell in der Nacht che bleibt selten allein. Diesmal gerät
aber auch sein alter Kollege, der Ge-
Montag, 20.15 Uhr, ZDF
Das Drehbuch (Daniel Nocke) liebt
richtsmediziner Galvano (Rolf Hoppe),
in Gefahr. Außerdem macht sich des
Volles Haus
den doppelten Boden und den ver- Commissarios eigener Spross mit heim- Sonntag, 17.25 Uhr, ProSieben
letzenden Dialog, die Regie (Matti lichen Sprühereien gegen Tiertransporte Nicht ohne Grund startet ProSieben
Geschonneck) die Präzision des Kam- strafbar. Eindringlich und geheimnisvoll seine neue wöchentliche Soap auf
merspiels und die Kamera (Martin dreht sich der Fall (Buch: Lothar Kurza- einem vorsichtigen Sendeplatz: Die
Langer) das Gleiten über die glitzern- wa, Regie: Hannu Salonen) um Erpres- Serie über die Reibereien in einem
den Fassaden moderner Architektur. sung und mörderische Familientraditio- Mietshaus war schon in den Nieder-
nen im malerischen Triest, ohne gängige landen und Österreich ein Flop. Der
Italo-Klischees auszuschlachten. Hüb- Sender engagierte für seine Version
chen bei seinen charmant-grantigen Sonya Kraus als intrigantes Luder Iris,
Ermittlungen zuzusehen ist auch in der die in ihrer ersten Sitcom-Hauptrolle
vierten Verfilmung nach den Romanen mit einem großzügigen Negligé-Sor-
Veit Heinichen vergnüglich. timent für durchsichtige Erotik sorgt.

TV-Rückblick
MICHAEL BOEHME / ZDF

die Erinnerungen, die unangestrengt in


den Film wehten. Parin, der Utopist,
Der Rauch der Träume weiß, dass die Linke zurzeit im Wind-
schatten des Zeitgeists lebt. Trotzdem
6. Januar, Arte konnten Popp und Bergmann von einem
Vogel, Berben in „Duell in der Nacht“ Paul Parin, 91, ist ein Mensch, auf den späten Sieg eines sozialistischen Ideals
Europa stolz sein muss. Was für eine berichten. Um den greisen Intellektuel-
In solcher Umgebung blühen die Biografie: noch während der Donau- len haben Weggefährten, Kollegen und
Schauspieler auf. Iris Berben als In- monarchie als Sohn jüdischer Groß- ehemalige Patienten ein Betreuungsnetz
trigantin, Uwe Kockisch als hilfloses grundbesitzer in Slowenien geboren, aufgebaut. Abend für Abend versehen
Werkzeug hinterlistiger Interessen, Jäger, Fischer, Tennisspieler, Springrei- wechselnde Parin-Jünger den Dienst bei
Jürgen Vogel als grimmiger Idealist. ter, von Kindheit an gehbehindert, Chir- dem Alten, zu dem Kochen, Sprechen
Dazu die mafiösen Grandseigneurs urg, Antifaschist, Militärarzt bei Titos und genussvolles Trinken gehören. Lau-
Peter Lerchbaumer und Thomas Thie- Partisanen, mit seiner Frau Goldy ein ter graue Panther, vorwiegend aus der
me. Wer allerdings klare und mora- Traumpaar der europäischen Linken, Analytikerszene, leben ein per E-Mail
lische Lösungen mag, ist in diesem Neurologe, Psychoanalytiker, Ethnolo- gesteuertes Modell humaner Altenbe-
Krimi falsch. Lose und kaum aus- ge, Schriftsteller, Drogenkenner (SPIE- treuung vor. Für die Realisierung linker
erzählt flattern am Schluss die Hand- GEL 22/1999), seit zwei Jahren nahezu Träume ist es eben nie zu spät.
lungsstränge. Das Böse, so die Bot- blind, von tausend Krankheiten geplagt,
schaft, ist zu stark. Man kann es nicht mit dem Rollator nur noch in seiner
besiegen, nur genießen. Züricher Wohnung unterwegs. Aber
geradezu unfassbar lebendig. Die Auto-
Bloch: Die blaue Stunde ren dieses meisterhaften TV-Porträts,
Mischka Popp und Thomas Bergmann,
Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD taten das einzig Richtige und ließen
JÖRG JESHEL / ZDF

Die Ursachen für eine psychische Er- Parin sich in seinem ganzen trockenen
krankung müssen nicht immer in der Charme entfalten. Die Würde des Al-
verkorksten Kindheit liegen, manch- ters? Für Parin: am Morgen seine Klei-
mal ist der Grund ganz in der Nähe. der zu finden und nachts zu wissen, dass
auf der Toilette das Licht brennt. Dazu Psychoanalytiker Parin
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 89
DALLE / INTER-TOPICS
Scorpions-Konzert (2007 in Paris): „Dorthin gehen, wo man uns hören will“

MUSIKINDUSTRIE

Alter Rock schlägt jungen Pop


In Deutschland sind die Scorpions schon fast vergessen, im Rest der Welt dagegen gelten sie
noch immer als Superstars: Selbst in Kasachstan, der Mongolei oder Indien spielt die Band in vollen
Stadien und will nach rund 40 Jahren im Rockgeschäft nicht ans Aufhören denken. Warum bloß?

M
ilitärgeländewagen bahnen mit den Flug mit Zwischenlandung von Neu- schauern. Sie sind mit weit über 60 Millio-
Blaulicht den Weg für die Kolonne Delhi in die nordöstliche Großstadt Gu- nen verkauften Alben und dank Hits wie
schwarzer Limousinen durch den wahati, dann weiter mit dem gecharterten „Still Loving You“, „Rock You Like a Hur-
dichten Verkehr zum Stadion. Auf der La- Hubschrauber über Hügelketten und dich- ricane“ und natürlich „Wind of Change“
defläche hockt ein halbes Dutzend mit ten Urwald nach Shillong. Als der Heli- der erfolgreichste Rockexport Deutsch-
Sturmgewehren bewaffneter Soldaten, ein kopter zur Landung ansetzt, stimmt Meine lands aller Zeiten.
Sondereinsatzkommando des indischen Mi- den Guns-N’-Roses-Klassiker „Welcome to Ausgerechnet die deutschen Altrocker
litärs, eigens abgestellt für – die Scorpions. the Jungle“ an. machen hierzulande nahezu unbemerkt
Rudolf Schenker, Bandgründer, Gitar- Der Flugplatz der 250 000-Einwohner- seit Jahren vor, was im globalen Musik-
rist und bald 60 Jahre alt, starrt durch die Stadt ist zwar nicht viel mehr als eine Ba- geschäft der aktuelle Trend ist: Vergiss die
abgedunkelten Scheiben hinaus in die vor- racke mit einem unkrautbewachsenen Roll- Plattenverkäufe, und toure stattdessen um
beiziehende indische Landschaft: wind- feld, doch gleich am Ausgang wartet schon die Welt – denn das bringt das große Geld.
schiefe Wellblechhütten, Frauen, die ihre ein halbes Dutzend Kamerateams und Im Gegensatz zu den konstant ab-
Wäsche auf den Steinen des Flussufers aus- dreimal so viele Fotografen. Die Band ist stürzenden CD-Verkäufen lohnt sich das
klopfen. „In der Ukraine“, sagt Schenker, nicht überrascht. Was sie von ihrem Auftritt Live-Geschäft wie nie zuvor: The Police
„werden wir immer von einer ganzen hier erwarten würden, fragt ein Reporter. kassierten rund 133 Millionen Dollar an
Horde Motorradrocker vom Flughafen ins „Wir haben gehört, dass Shillong richtig Konzerteinnahmen und waren damit der
Hotel begleitet.“ rocken soll“, ruft Meine in die Runde. Spitzenverdiener im Musikgeschäft – weit
Indien ist die letzte Station des Jahres In Deutschland mögen es viele nicht vor jüngeren Popstars wie Justin Timber-
auf der Welttournee der Scorpions. „Das glauben, oder besser: nicht wahrhaben, lake, der gerade mal die Hälfte einstrich.
Jahr war lang“, sagt Klaus Meine. Zuvor dass die Scorpions aus Hannover, gegrün- Alter Rock schlägt jungen Pop.
war die Band in Portugal, die Reiserei geht det 1965 als Schülerband, im Rest der Welt Die Scorpions erhalten im Schnitt eine
allen in die Knochen. Der erste von drei noch immer eine große Nummer sind. viertel Million Euro pro Auftritt. Die Reise-
Auftritten in Indien ist ausgerechnet in Richtig groß sogar: Allein im vergangenen und Hotelkosten trägt der lokale Veranstal-
einer der hintersten Ecken des Landes, in Jahr haben sie knapp 70 Konzerte in 27 ter. „Früher haben wir gespielt, um unsere
Shillong, irgendwo im Dreieck zwischen Ländern gegeben, und zwar nicht vor je CDs zu promoten“, sagt Meine. „Heute pro-
Bhutan, Burma und Bangladesch. Die An- ein paar hundert hartgesottenen Fans, son- duzieren wir CDs, um die Live-Auftritte zu
reise war lang und kompliziert, sechs Stun- dern vor insgesamt rund einer Million Zu- promoten.“ 2007 sei ein gutes Jahr gewesen.
90 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Medien

NAMAS BHOJANI / WPN / AGENTUR FOCUS


Indische Scorpions-Fans (in Bangalore): Die Zeitungen berichten auf der Titelseite, Konzertbesucher bekommen einen Tag frei

In Deutschland treten die Scorpions nur sein. Vergangenes Jahr hat die Band unter und freundlich, über die Jahre auf Tour
noch selten auf. Sie haben schon lange ein anderem in Kasachstan gespielt und auf mit AC/DC etwa, er nennt Axl Rose ei-
gespanntes Verhältnis zu ihrem Heimat- den Färöer-Inseln, in Brasilien und in Süd- nen netten Kerl und sagt zwischendrin Sät-
land, in dem sie zwar fast jeder kennt, sich korea, aber auch in London, Paris, New ze wie: „Mit ‚Wind of Change‘ ist es wie
aber kaum jemand zu ihnen bekennt. York und Tokio. Sogar in Ulan Bator ka- mit allen Superhits: Es ist Segen und Fluch
Schon früher machte Meine seinem Un- men 2006 etwa 90 000 Menschen. zugleich.“ Nur die Kappe nimmt er an-
verständnis darüber Luft, nachdem die Meine ist seit 1969 der Sänger der Band. scheinend wirklich nie ab – weder in Han-
Scorpions als erste westliche Rockband Dieses Jahr wird er sechzig. Meine ist das nover noch in Shillong.
durch Russland tourten: „Wenn Udo Lin- personifizierte Image der Band, das voller Dort sind zum Konzert 35 000 Menschen
denberg in Ost-Berlin einen Furz lässt, Klischees ist: der kleine Mann, immer mit gekommen. Das alte Sportstadion, einst
horcht hier jeder auf. Wenn wir aber zehn der schwarzen Kappe auf dem Kopf. Der koloniales Zentrum der Engländer für die
Konzerte in Leningrad vor insgesamt mit „Wind of Change“ persönlich versucht Teeregion Assam, ist ausverkauft. An jeder
350 000 Zuschauern geben, ist das hier kei- hat, die Mauer niederzupfeifen und dafür Ecke stehen Militärpolizisten, vor wie
ne Meldung wert.“ von Michail Gorbatschow in den Kreml hinter der Bühne. Shillong ist militärische
Meine sagt, die Scorpions würden statt- eingeladen wurde. Der mit Ex-Kanzler Sonderzone, wegen der Nähe zu China,
dessen nun schon lange „dorthin gehen, Gerhard Schröder Tennis spielt. Aber aber wohl auch wegen einheimischer Ter-
wo man uns hören will“. Überraschender- wenn man mit Meine zusammensitzt, egal, roristen.
weise, zumindest aus deutscher Sicht, ob beim Abendessen, im Flugzeug oder in Der Scorpions-Auftritt ist hier ein Groß-
scheint das fast überall auf der Welt zu der Garderobe, dann spricht er stets leise ereignis. Die Zeitungen berichten auf der
Titelseite, vor dem Konzert begrüßt der
Gouverneur die Besucher von der Bühne.
Viele haben einen Tag frei bekommen, um
das schon am Nachmittag beginnende
Konzert zu sehen, für das sie zwischen 10
und 30 Dollar Eintritt bezahlt haben.
Aber die Zeiten waren nicht immer gut
für die Scorpions, und eine Weile sah es
sogar so aus, als würden sie es niemals wie-
der werden. Mitte der Neunziger war das,
als „Grunge den Heavy Metal plattgemacht
hatte“, sagt Schenker. Weil da „plötzlich ei-
ner wie Cobain um die Ecke kam und da-
von erzählt, wie beschissen das Leben ist“.
JENS KALAENE / PICTURE-ALLIANCE / DPA

Die Zeit schien abgelaufen für die Spaß-


rocker von den Scorpions mit ihren wenig
existentialistischen Texten, die einst auf
Riesenfestivals wie Monsters of Rock als
Hauptgruppe spielten und Metallica und
Bon Jovi noch als Vorgruppe buchten.
Ein musikalischer Überlebenskampf
sei das in den Neunzigern gewesen, sagt
Scorpions-Auftritt auf dem Roten Platz in Moskau (2003): Metallica als Vorgruppe Schenker, eine wirklich schlechte Zeit. So-
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 91
Medien

gar die zuvor freundlich gesinnte „Bild“- genspunkt auf die Stirn, und in jedem Zim-
Zeitung fiel damals über die Scorpions her: mer steht ein aus Schokolade geformtes
Sie seien zur „Karikatur einer modernen Taj Mahal.
Hardrockband“ geworden, auch weil sie Beim Abendessen im indischen Spezia-
ihre Mähnen abschnitten und die Klamot- litätenrestaurant des Hotels ist die Stim-
ten edler wurden. mung gelöst. Kottak sagt, dass Gerhard
Sicher, die Scorpions können ein leich- Schröder wirklich ein netter Kerl sei, und
tes Ziel für Spott hergeben, heute vielleicht dann erzählt er, wie Doris Schröder-Köpf
noch mehr als damals: wenn der 59-jähri- und Heidi Klum nach einem Konzert
ge Schenker mit übergroßer Strass-Son- unangemeldet in die Garderobe stürmten
nenbrille von Cavalli, steinchenbesetzten und die halbe Band nackt dastand. „Doris
Turnschuhen und roter Harley-Davidson- ist heiß“, sagt Kottak.
Lederjacke über die Bühne turnt. Oder Vor dem Konzert am nächsten Abend ist
wenn neben ihm der ebenso alte Meine in die Stimmung weniger gut. Scorpions-
Schnallenstiefeln und mit Totenkopf-Kra- Manager Peter Amend ist sichtlich genervt.
watte Luftgitarre spielt. Die Ticketpreise seien zu hoch, bis zu
Warum also haben sie nicht aufgehört, 200 Dollar, so seien weit weniger Besucher
damals, als die Zeiten schlecht und die als möglich gekommen. Vor der Bühne
Häme groß war, oder jetzt, mit dem anste- stehen 10 000 Menschen. Genug, um in
henden 60. Geburtstag der beiden Band- Deutschland die meisten Hallen zu füllen.
Protagonisten? Geld müssen sie doch ge- Doch zu Hause scheinen die Scorpions
nug verdient haben. sich das nicht mehr zuzutrauen. Oder wol-
„Daran haben wir nie gedacht, Musik len sie nicht mehr in ihrer Heimat spielen?
ist unsere Lebensaufgabe“, sagt Schenker. „Natürlich wollen wir das“, sagt Meine.
„Wir leben immer noch den Rock’n’Roll- Aber der Rahmen müsse stimmen. So wie
Traum“, sagt Meine. Nur im Rock sei das beim mehrtägigen Heavy-Metal-Festival in
Alter seltsamerweise überhaupt
ein Thema, sagt Gitarrist Mat-
thias Jabs. „Einem Jazzmusiker
würde man solche Fragen nie
stellen.“
Spätabends nach dem Konzert
sitzt die Band noch in der Hotel-
bar zusammen, es gibt Scotch
und Wein. Im Garten brennt ein
Lagerfeuer, das James Kottak,
der Schlagzeuger, in Gang zu
halten versucht, indem er einen

ULLSTEIN BILD
der Hotelstühle in die Flammen
wirft.
Kottak ist erst seit 1996 bei
den Scorpions dabei und lebt in Band Scorpions (1978): Als Schülergruppe angefangen
Los Angeles. Seine Frau ist die
Schwester des US-Rockers Tommy Lee. Wacken vorletztes Jahr, als Headliner vor
Kottak sieht aus, als könne er auch jeder- 60 000 zahlenden Besuchern. „Da hieß es
zeit bei einer jüngeren Rockband einstei- auch vorher in der Presse: Diese Weich-
gen. Seine Haare sind blond und stachelig, spülerband soll Wacken spielen?“, sagt Mei-
die Fingernägel schwarz lackiert, und zum ne. „Aber wir haben nur unser härteres Re-
Konzert schminkt er die Augen mit Kajal. pertoire gespielt und Wacken in Grund und
Meine sagt, die Scorpions hätten früher Boden gerockt.“ Ohne „Wind of Change“?
auch wilde Zeiten gehabt, in denen Fern- Natürlich, sagt Meine. Dann grinst er.
seher aus Hotelzimmern geschmissen wur- In Mumbai spielen die Scorpions „Wind
den. Nur habe man das nicht wie andere of Change“. Wie auch alle anderen Hits.
Bands ständig an die große Glocke gehängt. Die Fans wollen es so.
Kottak lacht. Er sagt: „Klaus, you are the Die Scorpions bieten keine extravagan-
man!“ „No, you are the man“, sagt Meine. te Bühnenshow. Sie verlassen sich darauf,
Dann klatschen sie sich ab und umarmen dass alle Bandmitglieder ihre Instrumente
sich. So was machen die Scorpions unter- beherrschen, vor allem die beiden Gitarris-
einander ziemlich oft: sich gegenseitig gut ten Schenker und Jabs. Dem Publikum ist
finden und das Gruppengefühl stärken. das genug, egal, ob in Shillong, Mumbai
Am nächsten Tag fliegt die Band weiter oder beim letzten Auftritt in Bangalore:
nach Mumbai. Am Flughafen wartet dieses Die Masse schreit und klatscht und singt
Mal kein Sondereinsatzkommando, son- fast jeden Refrain ekstatisch mit.
dern ein Dutzend privater Sicherheitsleu- Allerdings geben sich die Scorpions of-
te und eine Kolonne schwarzer S-Klasse- fenbar auch ab und an mit einer weit weni-
Limousinen. Bei der Ankunft im Kem- ger lautstarken Kulisse zufrieden. Wenige
pinski steht schon die ganze Hotelführung Tage vor Weihnachten flogen sie nach Mos-
parat. Es gibt Blumenkränze, Champagner, kau, um ein äußerst exklusives Privatkon-
den traditionellen hinduistischen roten Se- zert zu geben – im Kreml. Thomas Schulz
92 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Panorama Ausland
BULGARIEN

Getrübte Rückkehr
V or knapp sechs Monaten wurden sie
als Helden umjubelt und gefeiert –
das scheint nun ziemlich lange her. Die
fünf bulgarischen Krankenschwestern
und der palästinensische Arzt, die im
Juli nach über achtjähriger Geiselhaft in
libyschen Gefängnissen in ihre Heimat
zurückkehrten, sind den Bulgaren ir-
gendwie suspekt geworden. Das liegt
wohl zum einen an der ungebremsten
Selbstvermarktung der Helfer, die in Li-
byen wegen der angeblichen Infizierung
von 426 Kindern mit dem HI-Virus zum

JEGO MATHIEU / LAIF


Tode verurteilt und gefoltert worden
waren. Und zum anderen an den Forde-
rungen, die sie umgehend nach ihrer

Saddam-Anwesen bei Cannes

IRAK

Eingefrorene Millionen
VALENTINA PETROVA / GAMMA / EYEDEA / LAIF
B ei der Banque de France nahe dem
Pariser Louvre wird seit geraumer
Zeit ein Konto über genau 23,48 Millio-
Chauffeur, seinem Leibwächter und sei-
nem Koch. Neben dem Pariser Konto
und der Residenz an der Côte d’Azur
nen Euro geführt – Gelder, die Saddam hielt Iraks Führer über Scheinfirmen
Hussein einst außer Landes geschafft auch Anteile an den inzwischen fusio-
hatte und die jetzt die irakische Regie- nierten französischen Unternehmen
rung zurückfordert. Doch selbst mehr Hachette und Matra – Beteiligungen, de-
als vier Jahre nach Saddams Festnahme ren Wert mittlerweile auf 200 Millionen
und ein Jahr nach seinem Tod durch den Euro geschätzt wird. Da verwundert es Freigelassene Geiseln (im Juli 2007)
Strang weigert sich die französische Re- nicht, dass Frankreichs Ex-Präsident
gierung, die Rückgabe in die Wege zu Jacques Chirac den Diktator in Bagdad Rückkehr stellten: Von der EU verlang-
leiten. „Frankreich ist damit eines der einst „mon cher ami“ nannte, „meinen ten die sechs Freigekommenen finan-
letzten Länder der Welt, das unseren lieben Freund“. zielle Kompensation von mindestens
Bitten nicht nachkommt“, bedauert ein einer Million Dollar pro Person, der
irakischer Diplomat. Selbst Banken in Arzt wollte sogar eine Einzelforderung
Steuerparadiesen wie Luxemburg hät- von 15 Millionen Euro durchsetzen. Der
ten entsprechende Gelder inzwischen bulgarischen Regierung warfen die
wieder nach Bagdad transferiert. Die Rückkehrer jahrelange Untätigkeit in
Franzosen ließen Saddams Vermögen ihrer Angelegenheit vor. Zwei der Kran-
nach dessen Sturz zunächst „einfrieren“. kenschwestern haben mittlerweile eine
Um es jetzt einem neuen Besitzer zu Biografie über ihr Leben als Gaddafis
übergeben, so heißt es im Außen- wie Geiseln veröffentlicht. Ein drittes Werk
im Finanzministerium, müsse man erst ist noch in Arbeit. Auch Hollywood hat
gesetzliche Grundlagen schaffen. Für sich selbstverständlich schon gemeldet.
Mitte Januar ist ein Treffen zwischen Die Dreharbeiten am Film über das
dem Anwalt der irakischen Regierung Schicksal der Heimkehrer sollen 2009
und der französischen Finanzministerin beendet sein – geplanter Titel: „Die
Christine Lagarde geplant. Sechs von Bengasi“. Enttäuscht über
Nach langen juristischen Auseinander- die mangelnde Unterstützung westlicher
setzungen war es den Irakern im Früh- Politiker ist vor allem Arzt Aschraf al-
jahr 2007 immerhin gelungen, in den Be- Hadschudsch. Der wollte vor dem Men-
DAVID FURST / GETTY IMAGES

sitz einer Villa bei Cannes zu gelangen. schenrechtskomitee der Vereinten


Das Anwesen mit Meerblick und zwei Nationen in Genf eine Klage gegen
Schwimmbädern (geschätzter Wert: Libyen einreichen. Die Regierung in
zwölf Millionen Euro) war auf Saddams Den Haag „riet ihm“ eindringlich, dar-
Halbbruder Tikriti eingetragen. Der auf zu verzichten: Die bilateralen Bezie-
Diktator hatte es seinerzeit von drei hungen zu Tripolis seien fragil. Ein An-
Strohmännern kaufen lassen: seinem Saddam, Halbbruder Tikriti (2005) trag des Arztes auf niederländische
Staatsbürgerschaft wurde abgelehnt.
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Panorama
S Ü DKORE A

Sorgen eines Siegers


L ee Myung Bak, der unter Betrugs-
verdacht stehende designierte Präsi-
dent, bemüht sich krampfhaft um Nor-
malität. In der vergangenen Woche rief

BORIS ROESSLER / PICTURE-ALLIANCE/ DPA


der kürzlich gewählte konservative Poli-
tiker seine Mitarbeiter zusammen, um
die Amtsübernahme am 25. Februar
vorzubereiten. Dabei verkündete er ehr-
geizige Pläne: Der aufgeblähte Regie-
rungsapparat soll nach japanischem Vor-
bild verschlankt und bürgerfreundlicher
werden. Die Anhänger des 66-Jährigen
plagt derweil die Sorge, ob ihr Idol Indira Gandhi International Airport, Delhi
überhaupt jemals Staatsoberhaupt wird.
Zwei Tage vor Lees Erdrutschsieg im L U F T FA H R T

Das Grauen vor dem Start


Dezember hatte das Parlament die Ein-
setzung eines Sonderermittlers beschlos-
sen, um Berichten über angebliche du-
biose Finanzgeschäfte des Politikers
nachzugehen. Lee soll an der Gründung
einer Internet-Firma beteiligt gewesen
sein, die später auf betrügerische Weise
E inst verhießen Flughäfen kostspielige
Reisen und Glamour – Zeiten, die lan-
ge vorbei sind. 2,2 Milliarden Passagiere
Charles de Gaulle
Airport/Paris
Mineralnyje Wody
Airport/Russland

bankrott ging. Zwar hatte die Staats- werden mittlerweile pro Jahr global durch
anwaltschaft Entwarnung für Lee gege- die Luft befördert, und die denken dabei
eher an verspätete Maschinen, lange War-
teschlangen, miese Luft und enge Sitze. Die
amerikanische Zeitschrift „Foreign Policy“
hat jetzt eine Liste mit den fünf schlimm-
sten Flughäfen der Welt im Internet veröf- Léopold Sédar Baghdad Indira Gandhi
fentlicht. Sie beginnt mit dem Léopold Senghor Airport/Irak Airport/Delhi
Sédar Senghor Airport im senegalesischen Airport/Dakar

S PA N I E N organisationen der Terrorbande sind.

Vergebliche Tarnung
Kurz vor Weihnachten ließ Richter Bal-
tasar Garzón eine Frau festnehmen, die
er für eine Schlüsselfigur hält. Marije

V or der Parlamentswahl am 9. März


will die Regierung mit Hilfe der Jus-
tiz verhindern, dass der politische Arm
Fulluando soll Mitglied der verbotenen
Batasuna sein – mit engen Verbindungen
zu EHAK und ANV. Schon Mitte Januar
YONHAP / REUTERS

der Terrororganisation Eta eigene Kandi- könnte die Staatsanwaltschaft vor dem
daten präsentieren kann. „Wer gegen das Obersten Gericht das Verbot der beiden
Gesetz verstößt oder dagegen verstoßen Eta-nahen Parteien beantragen. Gleich-
hat, wird die Rechte einer politischen zeitig soll eine Verfügung erwirkt wer-
Lee Beteiligung nicht genießen können“, den, damit sie keine Wahllisten aufstel-
warnte der sozialistische Ministerpräsi- len können.
ben, doch dann war ein Video aufge- dent José Luis Rodríguez Zapate-
taucht, das ihn erneut belastet. Für den ro. Seit dem Verbot der Eta-Partei
Sonderermittler drängt die Zeit, denn ab Batasuna 2003 haben Sympathi-
Beginn seiner fünfjährigen Amtszeit santen der baskischen Separa-
würde Lee Immunität genießen. Doch tisten mit Hilfe zweier legaler Par-
schon im April muss er eine weitere teien, der kommunistischen
hohe politische Hürde nehmen. Es gilt, EHAK und der nationalistischen
sich bei der Parlamentswahl eine Mehr- ANV, Einzug in das Regionalpar-
heit in der Volksvertretung zu sichern. lament gehalten und kontrollieren
Sein gefährlichster Widersacher dabei ist dadurch mehr als 40 Gemeinden.
ausgerechnet ein ehemaliger Partei- Seit Monaten trägt die Justiz Indi-
freund: Lee Hoi Chang will konserva- zien zusammen, die belegen sol-
AFP

tive Wähler gegen den neuen Präsiden- len, dass beide Parteien Deck-
ten mobilisieren und ihm dann im
Parlament das Regieren erschweren. ANV-Demonstration in Bilbao
96 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Ausland
FINNLAND

Das Nokia-Virus
I m Städtchen Nokia westlich von Tam-
pere leben die 30 000 Einwohner seit
jeher nach einem festen „Prinzip“, so
sagen es zumindest die Stadtoberen:
„Wir laufen in Nokia-Stiefeln, wir nut-
zen Nokia-Toilettenpapier, und wir

HALARY GERARD / GAMMA / LAIF


sprechen durch Nokia-Telefone.“ Seit
fast 150 Jahren ist die Entwicklung des
Kaffs in der finnischen Feldmark un-
trennbar mit der Erfolgsgeschichte des
gleichnamigen Unternehmens verknüpft
– dessen Aufstieg zum Telekommunika-
Charles de Gaulle Airport, Paris

LEHTIKUVA MATTI BJÖRKMAN / PICTURE-ALLIANCE / DPA


Dakar, der sich unter anderem dadurch und Dolche verkauft. Der Baghdad Airport
auszeichnet, dass er ohne Sitzplätze aus- rühmt sich zwar inzwischen, einen Burger
kommt. Reisende, die trotzdem versuchen, King und eine Pizza-Hut-Filiale zu beher-
sich kurzfristig auszuruhen, werden von der bergen, der Schrecken indes beginnt kurz
Polizei angehalten, nicht herumzulungern. vor der Landung. Um Beschuss zu ent-
Ähnlich chaotisch geht es auf dem Indira gehen, sind Piloten angehalten, den Anflug
Gandhi Airport in Delhi zu, auf dem ge- im „Korkenzieher-Verfahren“ auszuführen:
brauchte Spritzen am Boden herumliegen steil abwärts und spiralförmig. Der Charles
und das Toilettenpapier käuflich erworben de Gaulle Airport in Paris hat es als einzi-
werden muss. Ordnung altsowjetischer Art ger EU-Flughafen auf die „Foreign Policy“-
herrscht dagegen auf dem Mineralnyje Liste geschafft. Die attestierten Mängel dort
Wody Airport in Russland, der Touristen- muten zwar vergleichsweise europäisch an: Provisorische Wasserleitung in Nokia
Drehscheibe am Kaukasus. In dessen Ab- rüdes Personal, verwirrende Lagepläne und
flughalle hängt nicht nur eine riesige Karte überteuertes Essen. Trotzdem, der Airport tionskonzern hier begann und das in
der alten Sowjetunion; manchmal finden gleiche einem „Dritte-Welt-Flughafen“. Ein der Welt inzwischen fast viermal so vie-
sich dort auch Spuren von Schnee und Eis französischer Reiseveranstalter bestätigt: le Mitarbeiter hat wie Nokia Einwoh-
und ein fliegender Händler, der Schwerter „Er ist eine Schande.“ ner. Nun aber droht der Name Schaden
zu nehmen durch einen Skandal, für
den das Weltunternehmen gar nichts
kann. Es ist die „Nokia-Wasserkrise“,
die vor sechs Wochen begann, als rund
Molterer, Gusenbauer 400 000 Liter notdürftig geklärte Abwäs-
ser durch die städtischen Trinkwasser-
sprechen gebrochen. Lautstark hatten leitungen rauschten: Ein Bediensteter
sich die Sozialdemokraten seinerzeit ge- hatte ein falsches Ventil geöffnet. Die
gen den umstrittenen Eurofighter-Deal – Brühe, aus der lediglich die „festen Be-
Kaufpreis zwei Milliarden Euro – sowie standteile“ entfernt waren, floss tage-
gegen Studiengebühren ausgesprochen. lang aus den Wasserhähnen und trans-
Das ernüchternde Ergebnis: 15 von 18 portierte einen bunten Reigen an Fäkal-
ursprünglich georderten Jets kommen, bakterien und -viren, darunter auch das
die Gebühren für die Uni bleiben. derzeit in Deutschland grassierende
Schon bei den Koalitionsverhandlungen Norovirus. 5000 Krankheitsfälle waren
war Gusenbauer wenig erfolgreich ge- die Folge, drei Menschen starben,
REUTERS

wesen, seine Partei verfügt über eher womöglich in direktem Zusammenhang


zweitrangige Ressorts. Kritiker ätzen, mit der Verseuchung. Alle Todesfälle
für den Obergenossen habe der Einzug der vergangenen Wochen werden nun
ÖSTERREICH ins Kanzleramt oberste Priorität gehabt. untersucht. Die örtliche Brauerei muss-

Gerupfter Kanzler
Gusenbauer und sein Vizekanzler, Wil- te 100 000 Flaschen Bier wegkippen.
helm Molterer (ÖVP), verstehen sich Wie lange die Reinigung der Trinkwas-
denkbar schlecht: Die Koalition gründe serleitungen noch dauert, ist ungewiss.

G enau ein Jahr ist die Große Koali-


tion in Wien im Amt – und schon
ist das Vertrauen in Rot-Schwarz beim
sich allein auf „Trotz und Misstrauen“,
so das Polit-Magazin „Profil“. Einigkeit
besteht ausgerechnet bei Gesetzespro-
Nur eines steht für die Stadtverwaltung
fest: Der Skandal darf nicht als „Nokia-
Wasserkrise“ in die Annalen eingehen,
Wahlvolk dahin. Vor allem der Ruf von jekten, die höchst umstritten sind. So schließlich gelte es, höheren Schaden
SPÖ-Kanzler Alfred Gusenbauer hat ge- schränkten SPÖ und ÖVP massiv die abzuwenden – einen Imageverlust des
litten. Umfragen zufolge halten 79 Pro- Rechte von Asylbewerbern ein – gegen Mutterkonzerns. Es solle lieber von ei-
zent der Österreicher den Sozialdemo- den Rat von Verfassungsexperten – und ner „Wasserepidemie in Pirkanmaa“
kraten für einen Umfaller. Gusenbauer verlängerten die Legislaturperiode von gesprochen werden – einer lieblichen
habe die im Wahlkampf gemachten Ver- vier auf fünf Jahre. Seenlandschaft um Tampere.
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 97
Ausland

KENIA

Die Toten von


Kiambaa
In Nairobi versuchen internationale Vermittler, Präsident Kibaki zu
einem Kompromiss mit der Opposition zu bewegen. Offen-
kundige Wahlfälschungen hatten zu Pogromen und ethnischen
Säuberungen geführt. Hunderttausende sind auf der Flucht.
Das Massaker, das sich vorige Woche in
der Nähe der kenianischen Gebirgsstadt El-
doret ereignete, war der vorläufige Höhe-
punkt jener ethnischen Gewalt, die Kenia
seit Tagen erschüttert. Ausgelöst wurde sie
THIELO THIELKE / DER SPIEGEL

von der offenkundig manipulierten Präsi-


dentenwahl am 27. Dezember. Seither ver-
sucht sich die internationale Gemeinschaft
in hektischem Krisenmanagement.
Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon te-
lefonierte Freitag vergangener Woche mit
Opfer Githuthwa Staatschef Mwai Kibaki wie auch mit dem
„Wir wussten, das ist unser Ende“ unterlegenen Oppositionsführer Raila
Odinga. Er forderte beide Kontrahenten

E
s war mittags, gegen zwölf, die Äqua- auf, die „Rückkehr zu Ruhe und Norma-
torsonne stand hoch über Kiambaa, lität“ zu sichern.
da hörten die Menschen, die auf dem Ghanas Präsident John Kufuor, zugleich
Gelände der kleinen Kirche Zuflucht ge- Chef der Afrikanischen Union, kündigte
sucht hatten, den Gesang von Kriegslie- eigene Vermittlungsbemühungen an und
dern. Er kam aus zwei Richtungen, er wur- griff ebenfalls zum Telefon. „Wir sind sehr
de lauter, er wurde deutlicher. Sie sahen erpicht darauf, den Frieden in unserem
die erste Gruppe: Es waren Hunderte jun- Schwesterland wiederherzustellen“, ver-
ger Männer, sie trugen Macheten, Speere, kündete sein Außenminister.
Pfeil und Bogen. Da ahnten sie, welche Der südafrikanische Friedensnobelpreis- Anhänger von Oppositionsführer Odinga (nahe
Prüfung ihnen bevorstand. Sie flüchteten träger Bischof Desmond Tutu war bereits
in das aus Lehm gebaute Gotteshaus, knie- seit Donnerstag vor Ort, er rief im „Africa Der Gewaltausbruch der letzten Tage in
ten nieder und beteten. Es wurde still. Council of Churches“ in Nairobi ebenfalls Kenia ist nicht nur die Folge von Wahlfäl-
Grace Githuthwa war unter ihnen, die zum Frieden auf: „Wir hatten in Südafrika schung – auch Stammesrivalitäten, soziale
dreijährige Tochter Miriam fest im Arm. eine ähnlich aussichtslose Situation, und Deklassierung ganzer Volksgruppen und
Als die ersten Steine und Pfeile flogen, kam wir haben sie gemeistert. Alle Seiten müs- schamloser Machtmissbrauch haben in das
Panik auf. „Wir wussten, das ist unser sen jetzt aufeinander zugehen.“ blutige Desaster geführt. Kibaki führt ein
Ende“, sagt die 30-Jährige. Machetenhiebe Doch Präsident Kibaki wollte von einem hochgradig korruptes Kabinett, dessen
zerhackten das morsche Holz der Türen, Einlenken lange Zeit nichts wissen. Während Schlüsselpositionen fast ausschließlich Ki-
Steine und Pfeile flogen ins Haus. Während er dem Chef der Afrikanischen Union bis zu kuyu besetzen. Die Kikuyu sind zwar die
die Männer ins Freie flüchteten und dort Beginn des Wochenendes die Reise nach größte Volksgruppe Kenias, aber sie re-
von Kämpfern mit Macheten zerstückelt Nairobi noch verweigerte, ließ
wurden, harrten die Frauen und Kinder in er sich Freitag immerhin auf
der Tiefe der Kirche auf mitgebrachten Ma- ein Treffen mit Tutu ein. Am
tratzen aus. Die Angreifer übergossen die Abend erklärte der Staatschef,
Schlaflager mit Benzin und zündeten sie er sei zu einer Neuwahl bereit –
an, die Tür aber verrammelten sie. wenn ein Gericht das anordnen
Grace Githuthwa rettete sich mit Toch- würde. Wie ernst das gemeint
ter Miriam durch ein Fenster. Doch drau- war, stand zu diesem Zeitpunkt
ßen empfing sie ein grölender Mob. Einer dahin: Kenias Richter sind
der Männer entriss ihr das Kind, nahm es handverlesen, sie werden vom
und schleuderte es in die Flammen. Präsidenten kontrolliert.
Githuthwa sah nicht mehr zurück, sie rann-
te um ihr Leben, und sie schaffte es – aber Vereidigung von Präsident Kibaki
ohne ihre Tochter. Wahlsieg ein „ziviler Putsch“
98 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
THIELO THIELKE / DER SPIEGEL (O.); SIMON MAINA / AFP (U.)
Eldoret): Seit Jahrzehnten politisch diskriminiert und sozial deklassiert

präsentieren nur gut 20 Prozent der Be- liches Indiz dafür sei die Tatsache, dass Victoriasees. Sie fühlen sich seit Jahrzehn-
völkerung. Seit Jahrzehnten dominieren sein „Orange Democratic Movement“ die ten von den Kikuyu diskriminiert. Ihr An-
sie das Land: Sie bekommen die besten Parlamentswahl, die am selben Tag statt- führer Tom Mboya war 1969 von einem
Jobs, die besten Straßen in ihren Gebieten, fand, haushoch gewonnen habe. Kikuyu ermordet worden; vergessen ha-
die beste Gesundheitsversorgung. Schon Die Urnen für beide Abstimmungen ben die Luo dieses Attentat bis heute nicht.
Staatsgründer Jomo Kenyatta war Kikuyu. standen in den Wahllokalen dicht beiein- Raila Odinga ist ein hochgewachsener,
Mwai Kibaki, sein Nachfolger, ist es auch. ander: Sehr unwahrscheinlich, dass die Ke- charismatischer Mann. Er spricht fließend
Dass die Präsidentenwahl eine Farce ge- nianer auf dem Wahlzettel fürs Parlament Deutsch, er hat in den sechziger Jahren in
wesen ist, bestätigte auch die europäische ihr Kreuz hinter einer anderen Partei ge- Leipzig und Magdeburg studiert. Sein Va-
Beobachtermission, die vom deutschen macht haben als auf jenem Zettel, mit dem ter war unter Kenyatta Vizepräsident.
FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff über die Präsidentschaft abzustimmen war. Nachdem Kibaki sich in einer hastig in-
geleitet wurde. Sie nannte den Urnengang In letzterer Urne aber war merkwürdiger- szenierten Veranstaltung im Garten seines
„internationalen demokratischen Stan- weise meist der Name Kibaki angekreuzt. „State House“ vereidigen ließ, rief sich
dards nicht entsprechend und zweifelhaft“. Lag während der Auszählung Herausfor- Odinga ebenfalls zum Präsidenten aus. Das
In mindestens einem Wahlbüro soll die Be- derer Odinga mit zeitweise über einer Mil- führte in Nairobi zu Straßenschlachten mit
teiligung bei 115 Prozent gelegen haben. lion Stimmen vorn, so schlug das Pendel der Polizei, Barrikaden wurden errichtet,
Und in mindestens zwei Kreisen lautete plötzlich in ein Plus von 232 000 Stimmen Geschäfte geplündert. Dutzende Tote wa-
das Ergebnis nach der Zählung vor Ort völ- für Kibaki um. ren zu beklagen.
lig anders, als später von der kenianischen Raila Odinga ist Luo. Die Luo repräsen- Nach den Ausschreitungen suchte auch
Wahlkommission in der Hauptstadt Nairo- tieren gut ein Zehntel der kenianischen Odinga nach einer neuen Strategie. Seine
bi verkündet. Jedes Mal fiel die Änderung Bevölkerung. Während die Kikuyu im Wähler erwarten, dass er um die Macht
zugunsten des Präsidenten aus. Zentrum des Landes leben, in der Region kämpft, ein weiteres Blutbad aber muss er
Herausforderer Odinga bezichtigte Ki- um das Mount-Kenia-Massiv, stammen die vermeiden. „Wir haben drei Möglichkei-
baki umgehend der Wahlfälschung. Deut- Luo aus dem Westen, von den Ufern des ten“, sagte der Oppositionschef an seinem
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 99
Ausland

„Unheimlich brutal“
Die kenianische Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai, 67,
über den Ausbruch der Gewalt und Wege aus der Krise
Kenia passieren kann, dass Menschen
in eine Kirche getrieben und angezün-
det werden. Diese Gewalt ist unheim-
lich brutal, sehr stark, sehr spontan.
Und dennoch hat sich so eine Ent-
wicklung abgezeichnet. Das Gefühl,
ungerecht behandelt zu werden, ist in
weiten Teilen der Bevölkerung schon
lange sehr stark ausgeprägt.
SPIEGEL: Woran liegt das?
Maathai: Politik wird in diesem Land,
besonders aber von der Regierungs-
partei, sehr stark entlang ethnischen
Linien gemacht. Angehörige anderer
Volksgruppen als die der Kikuyu
fühlen sich ausgestoßen, vernachläs-
sigt. Die Krise, die sich derzeit ver-
schärft, begann vor fünf Jahren, als
AFP

Kibaki die Regierung übernahm.


SPIEGEL: Sie waren selbst in seinem
Die Biologin und Umweltaktivistin Kabinett.
Maathai wurde nicht nur durch ihr Maathai: Ja, aber ich habe immer
Sozialprojekt gegen die Versteppung gesagt: Hört mit dieser einseitigen
des Landes bekannt, sondern auch Politik auf. Der Kurs der Regierung
durch ihr furchtloses Eintreten gegen hat das Land geteilt. Das wurde be-
das hochkorrupte Regime des lang- sonders beim Streit um die neue Ver-
jährigen Präsidenten Daniel arap Moi. fassung deutlich. Diese hätte Kibaki
2002 wurde sie ins Parlament gewählt noch mehr Macht beschert. Zum
und kurz darauf Vize-Umweltministe- Glück fiel sie bei einem Referendum
rin. 2004 erhielt sie als erste Afrikane- durch. Danach bin ich aus der Regie-
rin überhaupt den Friedensnobelpreis. rung ausgeschieden.
SPIEGEL: Wie bewerten Sie den Ablauf
SPIEGEL: Frau Maathai, Kenia wird von dieser Wahlen?
heftigen Unruhen erschüttert. Wie Maathai: Ich finde es sehr merkwürdig,
kann die Gewalt gestoppt werden? dass die Parlamentswahl ganz klar von
Maathai: Insbesondere die Opposition der Opposition gewonnen wurde, die
muss ihre Leute jetzt zur Besonnenheit Präsidentenwahl jedoch von Kibaki.
aufrufen. Sie muss ihre Anhänger dazu Aber die Hauptverantwortung trägt die
bringen, mit den Plünderungen, den Wahlkommission. Die hat ihren Job
Morden, den Zerstörungen aufzuhören. nicht ordentlich gemacht, sie kam viel
Die Führer der Opposition müssen in zu spät mit ihrem Ergebnis. Der ganze
ihrer eigenen Sprache zu ihren Leuten Vorgang war nicht transparent. Man
sprechen, sie haben großen Einfluss. hätte die Zählung direkt an den Wahl-
Die Zeit drängt, denn irgendwann ha- stationen öffentlich bekannt machen
ben wir ein Niveau erreicht, wo die sollen, um zu verhindern, dass in
Gewalt sich verselbständigt und nicht Nairobi plötzlich – wie geschehen –
mehr gestoppt werden kann. ganz andere Zahlen vorgelegt werden.
SPIEGEL: Ist denn nur die Opposition Aber wer jetzt gewonnen hat? Keine
für die Gewalt verantwortlich? Ahnung. Es kann jeder von beiden ge-
Maathai: Natürlich nicht ausschließlich, wesen sein.
aber die Morde wurden bisher haupt- SPIEGEL: Raila Odinga hat Neuwahlen
sächlich von Sympathisanten der innerhalb von drei Monaten gefordert,
Opposition, des „Orange Democratic bis dahin könne er sich eine Über-
Movement“, begangen. gangsregierung vorstellen.
SPIEGEL: Überrascht Sie dieser Aus- Maathai: Das halte ich für einen ver-
bruch von Gewalt? nünftigen Vorschlag. Aber drei Mona-
Maathai: Er macht mich unendlich trau- te scheinen mir zu kurz. In einem hal-
rig. Ich hätte nicht gedacht, dass es in ben Jahr könnte das gehen.

100 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
hatte jüngst erst der EU-Afrika-
Gipfel in Portugal gezeigt. Als
Bundeskanzlerin Angela Merkel
dort Simbabwes Diktator Robert
Mugabe rügte, wies Senegals
Präsident Abdoulaye Wade die
Deutsche böse zurecht: Nie-
mand könne sagen, dass die
Menschenrechte in Simbabwe
stärker verletzt würden als in an-
deren afrikanischen Ländern, ar-
gumentierte Wade.
Ausgerechnet die stetig flie-
ßende Entwicklungshilfe hat
das Mittel des diplomatischen
Drucks ohnehin relativiert.
Außer Simbabwe werden fast

YASUYOSHI CHIBA / AFP


alle afrikanischen Diktaturen
vom Westen alimentiert – fast
immer mit der Begründung, eine
Einstellung der Hilfe schade in
erster Linie den Bedürftigen.
Leichenschauhaus in Kisumo, Westkenia: „Wir töten jeden Kikuyu“ Im Fall Kibaki kommt hinzu,
dass Kenia der Weltgemein-
Parteisitz, dem „Orange House“: „Wir kön- Urnengangs kaum noch rekonstruieren, schaft bislang als Hort der Stabilität in Afri-
nen zivilen Ungehorsam üben, wir kön- glaubt der Bischof. Eine Koalition der „na- ka erschien – vor dem Hintergrund einer
nen durch unsere Mehrheit im Parlament tionalen Einheit“ zwischen Odinga und Ki- noch viel düstereren Nachbarschaft. Erst
Politik machen, wir können das Gericht baki scheint ebenfalls fraglich – weil dieses herrschte in Uganda Krieg, dann begann
anrufen.“ Experiment schon einmal gescheitert ist. das Völkermorden in Ruanda, schließlich
Zähe Parlamentsarbeit käme in den Au- Raila Odinga war der Schmied jenes Re- nahmen die Bürgerkriege im Kongo, in So-
gen seiner Anhänger einer Kapitulation genbogen-Bündnisses, das Kibaki vor fünf malia und im Sudan ihren Lauf. Die alar-
gleich. Ziviler Ungehorsam könnte ande- Jahren an die Macht brachte. Doch als der mierenden Zustände im Innern Kenias
rerseits zu weiterem Chaos führen. Odin- erst einmal Präsident geworden war, brach wurden vom Westen geflissentlich über-
ga will das vermeiden, klein beigeben aber er das Versprechen, Odinga zum Premier- sehen.
nicht. Er verglich Kibaki vergangene Wo- minister zu machen. Er besetzte die wich- Während sich nun in Nairobi Vermittler
che mit dem ugandischen Massenmörder tigsten Posten mit Kikuyu und gab sich die Klinke in die Hand geben, scheinen
Idi Amin, den „Wahlsieg“ seines Kontra- derart hemmungslos der Selbstbereiche- außerhalb der Hauptstadt die ethnischen
henten nannte er einen „zivilen Putsch“. rung hin, dass der ehemalige britische Abrechnungen noch nicht vorbei zu sein.
Als die für vergangenen Donnerstag Hochkommissar Edward Clay formulierte, Rund um Eldoret haben vergangenen Don-
angekündigte Demonstration seiner An- die derzeit Regierenden seien so arrogant nerstag mit Messern und Macheten be-
hänger in Nairobis Innenstadt von schwer- gierig, dass sie sich „wie Vielfraße“ den waffnete Männer von der Volksgruppe der
bewaffneten Polizisten auseinanderge- Magen vollschlügen. Kalenjin brennende Straßensperren er-
knüppelt wurde, rief Odinga sofort zum Dass afrikanische Führer wie Kibaki auf richtet. Sie kontrollieren die Autos – auf
nächsten Protestmarsch einen Tag später westliche Kritik oft allergisch reagieren, der Suche nach verhassten Kikuyu.
auf. Zustande kam der nicht. Aber es Zur gleichen Zeit bilden sich
reichte, um die Nervosität in Nairobi auf- S U DA N ÄTHIOPIEN Wichtige Ethnien vor der Polizeistation endlose
rechtzuerhalten. Zwar machten Freitag zö- Bantu Autokonvois, Hunderte Kikuyu
gerlich erste Geschäft wieder auf, doch Hamito-Niloten campieren seit Tagen auf dem
wurden Lebensmittel und Treibstoff durch Niloten Gelände. „Letzte Woche kam
Hamsterkäufe knapp. 180 000 Menschen ein Kalenjin zu unserem Haus
U G A N DA
im Land sind laut Angaben eines Uno- KENIA und kündigte an, sie würden
Sprechers auf der Flucht, eine halbe Mil- bald mich und meine Familie tö-
lion Kenianer nun auf humanitäre Hilfe KA ten“, sagt Joe Kamau, 37. Er
LEN
angewiesen. LUHYA JIN
Kiambaa
packte seine Sachen, nahm die
Dass Kibaki den internationalen Druck drei Kinder und suchte Zuflucht
Eldoret
lange ignorieren kann, ist eher unwahr- in der Polizeistation. Kamau will
U
UY

scheinlich. Selbst die Amerikaner, die ihm Victoria- LUO K nach Nairobi.
voreilig zum Wahlsieg gratuliert hatten, ru- KI Vor der Kirche in Kiambaa
see Ma Nairobi
derten zurück. Sie sehen in Kibaki zwar ei- ss stochern Mitarbeiter des Roten
nen treuen Verbündeten im Kampf gegen ai Kreuzes währenddessen in den
den Terror; nachdem der Protest gegen TA N S A N I A Resten der Brandstätte. 13 ver-
den Staatschef aber lauter wurde, rückten kohlte Leichen finden sie – von
sie von dem Autokraten wieder ab. 100 km Kleinkindern und Säuglingen,
Trotzdem: Eine tragfähige Lösung des der jüngste vielleicht zwei Mo-
Konflikts war bis zum Wochenende nicht Offizielles Ergebnis der zum Vergleich: nate alt. Die ermordeten Väter
in Sicht. Die Nachzählung der Wahlstim- Präsidentenwahl gewonnene Sitze liegen noch vor dem Gotteshaus.
bei der Parla- ODM PNU
men hält selbst Desmond Tutu für wir- Odinga Kibaki (Odinga) (Kibaki) Sie hatten versucht, ihre Fami-
mentswahl
kungslos. Nach dem Chaos der letzten lien zu beschützen. Dafür muss-
Tage ließe sich das wirkliche Ergebnis des 44,3 % 46,7 % (vorläufig) 100 37 ten sie sterben. Thilo Thielke

d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 101
USA

Prinzip Hoffnung
Barack Obama und Mike
Huckabee, die Sieger von Iowa,
versprechen dem Land
Einigkeit und einen Neuanfang –
kurz: ein besseres Amerika.

I
n dem Augenblick, in dem Barack

RICK BOWMER / AP
Obama, 46, weiß, dass er die Vorwahl
von Iowa gewonnen hat, schickt er
Trommler in die Hy-Vee-Halle im Zentrum
der Landeshauptstadt Des Moines. Sie sol-
len kräftig Stimmung machen, bevor er sei- Demokrat Obama, Ehefrau Michelle: Trommeln gegen Hillary
ne Siegesrede hält.
Es ist ein Experiment – und es ist ris- Auch die Republikaner waren zahlreicher Einiges spricht dafür, dass Obama am
kant: Im annähernd blütenweißen Agrar- als sonst. Auch sie wollen etwas Neues, Dienstag in New Hampshire an seinen Er-
staat Iowa sind nur wenige in der Lage, zu konnten bislang aber nur wenig überzeu- folg anknüpfen kann. „Wenn Hillary Oba-
afrikanischen Rhythmen zu tanzen, aber gende Bewerber präsentieren. ma nicht in New Hampshire stoppt, wird er
der Saal tanzt. Auf den Bildschirmen über Vor zehn Wochen kannte noch kaum je- der demokratische Kandidat“, glaubt der
der Bühne wird gerade die Rede von Hil- mand den Baptistenprediger Mike Hucka- prominente Wahlkampfberater Robert
lary Clinton übertragen. Man sieht sie, bee, 52, aus Arkansas. Er war ein Politiker Shrum. Sie muss deshalb ihre beste Waffe
aber man hört sie nicht mehr. mit Charme, aber ohne Geld. Statt mit einsetzen, ihren Mann Bill. Bis Dienstag
Der Abend gehört Barack Obama. Zu- einem professionellen Wahlkampfteam zog soll er nonstop Wahlkampf für sie machen.
mindest für ein paar Tage ist er der neue er mit seinen drei Hunden durch Iowa, New Hampshire kann für die Demokra-
Favorit. „Man hat uns gesagt, dass dieser dennoch deklassierte er nun die Konkur- ten schon die Vorentscheidung bringen. Die
Tag nie kommen wird“, triumphiert er. renz mit 34 Prozent der Stimmen. Den Republikaner dürfen dagegen kaum auf
Aber nun hat Obama, der Newcomer, sei- Mormonen und Geschäftsmann Mitt Rom- eine schnelle Klärung ihres unübersicht-
ner Gegnerin eine Niederlage beigebracht. ney ließ er mit 25 Prozent hinter sich. lichen Feldes von Bewerbern hoffen. „Sie
38 Prozent der Stimmen gingen an ihn, Obama und Huckabee sind selten einer haben niemanden aufgestellt, um den wir
weitere 30 Prozent bekam Senator John Meinung, aber was sie eint, ist das Verspre- uns sammeln können“, sagt der Repu-
Edwards und nur 29 Prozent Hillary Clin- chen, eine andere Art Politik zu machen, blikaner Bob Tank aus Manning, 120 Kilo-
weniger ideologisch, weniger hinterhältig,
ton. Platz drei ist ein herber Schlag für die meter westlich von Des Moines. Sein
ehemalige First Lady, die sich so gern als dafür aber mit innerer Überzeugung. „Es Freund, der Farmer Russ Stribe, ergänzt:
unbesiegbar dargestellt hatte. sind neue Gesichter“, sagt Christopher „Kein Kandidat ragt wirklich über die an-
Die Vorwahl von Iowa war ein klares Hull, Professor an der Georgetown Uni- deren hinaus.“ Zwar konnte Huckabee die
Votum für den Wandel. Amerikas Wähler versity und Experte für die Vorwahlen in erste Runde für sich entscheiden, aber ein
suchen nach dem Kandidaten, der größt- Iowa. „Sie sind nicht beschmutzt durch neuer Erfolg für den Baptistenprediger ist
mögliche Veränderung verspricht. Sie wol- politische Kämpfe und polarisieren nicht.“ in anderen Regionen ungewiss. Die evan-
len den Bruch mit der Ära von George Beide lieben große, unschuldige Sätze, gelikalen Christen, in Iowa besonders stark,
W. Bush, 70 Prozent der Bürger glauben, die an das Harmoniebedürfnis der Ameri- waren Huckabees größte Unterstützer.
dass sich das Land in die falsche Richtung kaner appellieren. „Wir sind keine An- Auch die bisherigen Favoriten der
bewegt. Sie wollen der Welt ein anderes sammlung von roten – republikanischen – Republikaner straucheln nun. Romney
Amerika präsentieren, ein freundlicheres. und blauen – demokratischen – Staaten. wäre nach einer weiteren Niederlage in
Die Hoffnung auf einen Neuanfang hat Wir sind die Vereinigten Staaten von Ame- New Hampshire wohl erledigt. Und New
vor allem mehr Demokraten und unab- rika“, sagt Obama. Bei Huckabee hört sich Yorks Ex-Bürgermeister Rudy Giuliani hat
hängige Wähler in die Wahllokale gelockt, das kaum anders an. „Was wir gesehen sich vielleicht verkalkuliert, als er darauf
fast doppelt so viele wie beim letzten Mal.haben, ist ein neuer Tag in der amerikani- setzte, vor allem die bevölkerungsreichen
schen Politik“, verheißt er Küstenstaaten zu umwerben. Bis dort ge-
seinen Anhängern nach der wählt wird, glaubt möglicherweise nie-
Wahl. „Wandel bedeutet, mand mehr, dass er überhaupt gewinnen
die Amerikaner wieder zu kann. Politische Kommentatoren in Wa-
vereinen.“ shington sprechen schon von einem ge-
Der Sieg in Iowa macht genseitigen Vernichtungsfeldzug der Re-
Huckabee und Obama zu publikaner.
ernstzunehmenden Bewer- Wenn überhaupt, kann davon ein Be-
bern, aber noch mehr hängt werber profitieren, der ganz zu Anfang
davon ab, wie sie am Diens- des Wahlkampfs schon einmal als der
tag bei den Vorwahlen in große Favorit galt, dann aber als chancen-
New Hampshire abschnei- los abgeschrieben wurde: John McCain,
CLIFF HAWKINS / AFP

den. Wer sowohl Iowa als 71. In den Umfragen aus New Hampshire
auch New Hampshire ge- hat sich der Senator aus Arizona, auch
winnt, wurde bisher stets er ein ausgewiesener Bush-Widersacher,
zum Präsidentschaftskandi- klammheimlich wieder an die Spitze ge-
Republikaner Huckabee, Ehefrau Janet: Charme ohne Geld daten nominiert. setzt. Marc Hujer, Cordula Meyer

102 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Ausland

kurz vor ihrem Tod, das pakistanische Mi- bart: Die PPP scheint Privatbesitz der
PA K I S TA N
litär oder der Geheimdienst ISI steckten Bhutto-Dynastie zu sein.

Beten für hinter der Tat, sei „ein Witz“, empört sich
der Präsident: „Wer gewinnt durch den
Tod von Benazir Bhutto? Ich? Die Regie-
Für Anhänger der Volkspartei wie Kur-
shid Iqbal liegt der Fall von Rawalpindi
ziemlich klar, für sie sind „militante

Bhutto rung? Oder jemand anderes?“


Unter der Hand aber sind seine Leute
längst dabei, Gerüchte zu streuen: Sie len-
ken den Verdacht auf Bhuttos Witwer Asif
Muslime die Hauptverdächtigen“ für den
Bhutto-Mord. „Benazir hatte den Extre-
misten den Kampf angesagt, dafür musste
sie sterben“, sagt Iqbal, der am Ort des
Nach dem Attentat von Rawalpindi
Zardari. Auf jenen Mann, der wegen Kor- Attentats Blumen niederlegt. Am Eingang
verspricht Präsident Musharraf ruption acht Jahre im Gefängnis saß und des Liaquat-Bagh-Parks versammeln sich
rückhaltlose Aufklärung – und lenkt als einer der bestechlichsten Politiker Pa-immer noch Menschen, zünden Kerzen an,
den Verdacht auf kistans gilt, dessen Ehe mit der Ermorde- beten für Bhutto. „Ich habe Angst, dass
den Ehemann der Ermordeten. ten nur noch zum Schein bestanden ha- bald Islamisten unsere Politik bestimmen“,
ben soll und der nun aber Zugriff auf das sagt Iqbal.

D
er junge Mann auf dem Flughafen üppige Bhutto-Vermögen hat. Leute wie Mullah Rehman. Der End-
von Islamabad ist außer sich. Er ist Seit vorvergangenem Wochenende ist er dreißiger, der sich auch „Kind Gottes“
gerade gelandet, und eben hat er der neue starke Mann der PPP, als Vize- nennt, sitzt wenige Kilometer entfernt in
erfahren, dass die Parlamentswahl auf parteichef hält er die Fäden in der Hand. einem Teehaus. Er ist aus seinem Dorf in
den 18. Februar verschoben wurde. Der Sohn Bilawal Zardari, der drei Tage nach Waziristan an der Grenze zu Afghanistan
Urnengang ist vertagt und mit nach Islamabad gekommen, um
ihm die Demokratie: Die kom- Verbündete für den Krieg gegen
menden sechs Wochen soll das die Amerikaner in Afghanistan
Militär für Ruhe und Ordnung zu suchen.
sorgen. In den vergangenen Jahren
Den Reisenden versetzt das in sei Pakistan leider vom rechten
Wut, er tritt auf einen Cola-Au- Weg abgekommen, sagt Mullah
tomaten ein und schreit: „Lang Rehman, es lebe nicht mehr
leben die Bhuttos“ und „Nieder nach den Regeln des Islam:
mit Benazirs Mördern, nieder „Musharraf vertritt ebenso ob-
mit Musharraf“. Vier Polizisten szöne Werte, wie Bhutto es tat.“
führen ihn ab. Niemand in Pakistan werde die
Es ist die Woche nach dem wahren Gläubigen bei ihrem
Bhutto-Mord von Rawalpindi, Vormarsch aufhalten können,
einer Bluttat, die das Land wie davon ist der Gottesmann über-

ZAHID HUSSEIN / REUTERS


die Welt erschüttert hat. „Ich zeugt: „Aber wir werden nicht
bete zum allmächtigen Gott, durch Wahlen an die Macht
dass er die ewige Seele von Be- kommen, sondern durch eine
nazir in Frieden hält“, erklärt Revolution in den Köpfen und
Präsident Pervez Musharraf – Herzen der Menschen.“
dunkler Anzug, blaue Krawatte Bhutto-Witwer Asif, Sohn Bilawal: „Wer gewinnt durch den Tod?“ Auch Hamid Gul, 71, der
und betroffener Blick – live bei frühere Chef des pakistanischen
einer Fernsehansprache seinem Geheimdienstes, meldet sich
Volk. Er habe den britischen nach der Ermordung Bhuttos
Premier Gordon Brown um ein wieder zu Wort. Er hoffe, dass
Team von Scotland Yard gebe- die prowestliche Haltung Paki-
ten, das die Tat aufklären hel- stans bald ihr Ende habe, sagt er.
fen soll. Dass Islamabad die USA im
Seit die Spuren des Attentats Kampf gegen Terrorismus nur
MIAN KHURSHEED / REUTERS

beiseitegeräumt sind, gehört das deswegen unterstütze, weil Pa-


Land auch optisch wieder der kistan das amerikanische Geld
Armee. Soldaten, Polizisten und brauche. Und dass Musharraf ein
paramilitärische Einheiten kon- Feigling sei, der sich nicht traue,
trollieren die Straßen; wer mit den USA zu widersprechen: „Ir-
dem Auto über Land reist, muss gendwann, Inschallah, sind wir
zahlreiche Kontrollen über sich Bhutto-Anhänger in Islamabad: Angst vor den Extremisten nicht mehr auf fremde Hilfe an-
ergehen lassen. Gerüchte über gewiesen.“ Doch auch Gul weiß:
sieben Selbstmordattentäter, die aus dem Tod seiner Mutter zusätzlich den Na- Seit dem Bhutto-Attentat gehören die Sym-
Nordwest-Pakistan in die Hauptstadt ge- men Bhutto annahm, ist zwar offiziell das pathien zuallererst der PPP.
reist sein sollen, haben die Nervosität noch neue Parteioberhaupt, als 19-Jähriger aber So herrschen, einmal mehr, Verunsiche-
erhöht. Der Schutz hoher Politiker wurde politisch viel zu unerfahren für den Job. Er rung wie Chaos zwischen Islamabad und
verstärkt. will zunächst sein Studium in Oxford ab- Karatschi. Präsident Musharraf ficht das
Das Rätsel aber, wer die Chefin der Pa- schließen. nicht an. Er verspricht für den 18. Februar
kistanischen Volkspartei (PPP) ermordet Dass er aber später Parteichef auf Le- eine „freie, faire und transparente“ Wahl.
haben könnte, bleibt vorerst ungelöst. benszeit und das Amt an seine Kinder wei- „Mit Hilfe des Militärs werden wir das hin-
Musharraf selbst, der zunächst militante tervererben wird, daran zweifelt kaum bekommen“, sagt er. Und dass er sich ganz
Muslime beschuldigt hatte, hielt sich mit jemand in Islamabad. Das politische Tes- besonders freue auf den neuen Wahltermin:
Spekulationen zurück. Der Verdacht aller- tament der Mutter hat die totale Abwesen- „An diesem Tag haben meine Frau und mei-
dings, genährt durch Äußerungen Bhuttos heit innerparteilicher Demokratie offen- ne Tochter Geburtstag.“ Hasnain Kazim

d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 103
Ausland

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Die Bibel nennt das Sünde“


Metropolit Kyrill, Außenminister der Russischen Orthodoxen
Kirche, über christliche Werte in der postkommunistischen Ära, Homosexualität,
das Verhältnis zum römischen Papst und den Kirchgänger Wladimir Putin
SPIEGEL: Eminenz, nach dem Zusammen- minalität und Korruption. Mord, Raub, Be- und die Konsummentalität, das Leistungs-
bruch der Sowjetunion sah die Russische trug wurden zum Massenphänomen. War denken, all diese postmodernistischen
Orthodoxe Kirche wie der Sieger über die das nicht eine Niederlage der Kirche? Ideen griffen um sich, wonach alles An-
gottlosen Kommunisten aus. Aber hat sie Kyrill: Die Wiederherstellung der Moral ist sichtssache sei und nicht mehr zwischen
das geistige Vakuum füllen können, das ein langer Prozess, auch in anderen Län- Wahrheit und Lüge unterschieden werden
danach entstand? dern beobachten wir eine hohe Krimina- müsse.
Kyrill: Ich würde nicht von einem Vakuum lität. Zudem musste Russland gewaltige SPIEGEL: Das klingt so, als sei in Ihren Au-
sprechen. Im Kommunismus hatte die Kir- Umbrüche ertragen. Unsere Wirtschaft gen die Gegenwart nicht besser als die
che keine direkte Möglichkeit, die Gesell- lag darnieder, der fremde Einfluss wuchs, Vergangenheit.
schaft zu beeinflussen, aber sie Kyrill: Die Kirche hätte Zeit ge-
beeinflusste die russische Kul- braucht, um sich zu regene-
tur, das Bewusstsein der Men- rieren, wir waren durch den
schen. Ich erinnere mich an eine Atheismus geschwächt, nun
Führerin in einem Kloster bei aber einer doppelten Belastung
Wologda Anfang der siebziger ausgesetzt. Wir glichen einem
Jahre: Sie sprach so über Archi- Boxer, der über Monate mit ei-
tektur und Malerei, dass es wie nem Gipsarm herumläuft und
eine Predigt war. Vom Chris- dann jäh in den Ring geschubst
tentum war gar nicht die Rede, wird, begleitet von anfeuern-
aber in ihrer Erzählung ging es den Rufen. Dort aber wartet
ständig um das christliche Wer- ein guttrainierter Gegner auf
tesystem. Diese Frau war nicht uns: Unterschiedlichste Missio-
allein, so sprachen auch Schrift- nare aus Amerika oder aus
steller und Kunstschaffende. Südkorea versuchten, die rus-
Oder jemand sah ein zerstörtes sischen Menschen zu ihrem
Gotteshaus und entdeckte, dass Glauben hinüberzuziehen. Zu-
es jenseits der tristen Platten- dem verdrängte die säkulare
bauhäuser, in denen man lebte, Denkweise die Religion.
noch eine andere Welt gab. SPIEGEL: Ist der Kapitalismus
Christliche Werte blieben jeder- am Ende schlimmer als der
zeit im Volk präsent. Sie haben Kommunismus?
letztlich den Zusammenbruch Kyrill: Die freie Marktwirtschaft
des Kommunismus bewirkt. hat sich jedenfalls als effekti-
SPIEGEL: Nach dem Ende der ver herausgestellt als die Plan-
Sowjetunion explodierten Kri- wirtschaft. Im Unterschied zu
Managern jedoch denkt die
YURI FEKLISTOV

Das Gespräch führten die Redakteure


Kirche auch an Gerechtigkeit.
Martin Doerry, Christian Neef und Mat- Mit der aber gibt es heute nicht
thias Schepp in Moskau. weniger Probleme als zur So-

Die Russische lichen verfolgt und die meisten


Gotteshäuser geschlossen. Un-
Orthodoxe Kirche ter den Präsidenten Jelzin und
ist die größte Glaubensgemein- Putin erhielt die Kirche einen
schaft in Russland; sie versteht Großteil ihrer Besitztümer zurück,
sich als Trägerin der russisch- darunter das Moskauer Danilow-
nationalen Kultur. Ihr Grundstein Kloster, um dessen Ausbau sich
wurde durch die von Konstanti- Metropolit Kyrill schon Zar Iwan der Schreckliche
nopel betriebene Missionierung gekümmert hatte. In der Anlage
der Ostslawen gelegt, 988 wurde an der Moskwa residiert heute
das Christentum Staatsreligion im damaligen Kiewer Reich. In kritischen die Kirchenführung unter Patriarch Alexij II. Der 61-jährige Kyrill, mit bür-
Perioden der Geschichte wichtige Stütze der nationalen Selbstbehaup- gerlichem Namen Wladimir Gundjajew, derzeit Metropolit von Smolensk
tung, genoss die Orthodoxie zunehmend die Vorteile einer Staatskirche; und Kaliningrad, ist seit 1989 Chef der Auslandsabteilung – er gilt als
nach Machtübernahme der Bolschewiki 1917 jedoch wurden die Geist- möglicher Nachfolger des kranken Kirchenoberhaupts.

104 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
JUSTIN JIN / AGENTUR FOCUS (L.); ALEXEI SAZONOV / AP (R.)
Besucher der Moskauer Millionärsmesse (2006), Obdachlose in einer Moskauer Kirche: „Skandalöse Kluft zwischen Arm und Reich“

wjetzeit, vielleicht sogar mehr. Die Kluft Kirchen vervierfacht, die der Diözesen ver- Kyrill: Die Bibel nennt das Sünde. Aber wir
zwischen Arm und Reich in Russland ist doppelt und die der Klöster ist um das 32fa- verurteilen diese Menschen nicht. Die Kir-
skandalös. Das bringen wir zur Sprache. che auf mehr als 700 gestiegen. 15000 junge che ist dagegen, dass diese Menschen ver-
SPIEGEL: Da müssen Sie den zur Schau ge- Menschen studieren Theologie. Anderer- folgt oder beleidigt werden. Warum aber
stellten Reichtum der russischen Oligar- seits: 80 Prozent der Neugeborenen werden soll Sünde noch propagiert werden? Die
chen mit ihren Schlössern und Yachten ge- bei uns getauft, aber nur 60 Prozent der Rus- Gay-Parade ist eine aufdringliche Zurschau-
radezu obszön finden. sen bekennen sich zur Orthodoxie, und re- stellung von Unzucht. Dann können wir
Kyrill: Es ist nicht Sache der Kirche, mit dem gelmäßig in die Kirche kommen nicht mehr gleich auch für andere Sünden werben, wie
Finger auf jemanden zu zeigen und zu sa- als 10 Prozent, in einigen Provinzen sogar es im Fernsehen schon längst geschieht. Das
gen: Er hat Yachten und Flugzeuge, nehmen weniger. Wir müssen also keine neuen Kir- zersetzt die öffentliche Moral. Es ist Auf-
wir ihm diesen Reichtum weg und teilen chen bauen, sondern unserem Volk zur Ein- gabe der Kirche, Sünde auch Sünde zu nen-
wir ihn neu auf. Das ist in der nen. Sonst wird sie nicht
Revolution von 1917 passiert. „Die Kommunisten haben gesagt, gut ist, was mehr gebraucht. Leider wird
Damals hieß es, dass nach in der heutigen Welt mehr
der Enteignung das Paradies gut für die Arbeiterklasse ist – und die Freiheit der Wahl ver-
ausbreche, erhalten aber ha- 60 Millionen Leben wurden ausgelöscht.“ fochten, die Freiheit vom Bö-
ben wir die Hölle. Gott be- sen aber beinahe vergessen.
hüte Russland davor, diesen Fehler zu wie- sicht verhelfen, wie wichtig es ist, sich an SPIEGEL: Wenn ein Mensch homosexuell
derholen. Der Staat allerdings muss dafür christlichen Werten zu orientieren. Ob uns ist, so ist das etwas Menschliches. Wie
sorgen, dass die Kluft nicht zu krass wird. das gelingt, hängt auch davon ab, ob wir uns kann etwas Menschliches Sünde sein?
Davon hängt Russlands Zukunft ab. äußeren Einflüssen entziehen können. Kyrill: Und was ist Ihrer Meinung nach Ehe-
SPIEGEL: Was müsste er tun? SPIEGEL: Sie sprechen vom liberalen Wes- bruch – etwas Gutes oder etwas Schlechtes?
Kyrill: Unsere Kirche hat eine progressive ten. Was stört Sie beispielsweise daran, SPIEGEL: Diese Entscheidung liegt im Ge-
Einkommensteuer gefordert, noch bevor wenn auch in Moskau Homosexuelle bei wissen jedes einzelnen Menschen.
das die politischen Parteien taten. Und wir einer Parade durch die Straßen ziehen, so Kyrill: Es geht nicht um irgendeine Ent-
wollen eine Steuer auf Luxuswaren. Nur wie in Berlin oder Amsterdam? scheidung, es geht um Moral. Man will uns
dürfen mit dieser Steuer nicht die Flügel Kyrill: Das verwischt die Grenze zwischen weismachen, Moral sei relativ. Das ist sie
der neu entstehenden Mittelklasse be- Gut und Böse, zwischen Sünde und Hei- überhaupt nicht. Die Kommunisten haben
schnitten werden. Unser Land braucht eine ligkeit. Selbst Ehebruch soll jetzt schon kei- gesagt, gut ist, was gut für die Arbeiter-
Atmosphäre, die Reiche dazu anhält, ne Sünde mehr sein, obwohl jeder Ehe- klasse ist. Das war relative Moral – und 60
schlicht zu leben. Viele von ihnen tun brecher spürt, dass er etwas Schlechtes tut. Millionen Leben wurden ausgelöscht. Hit-
schon heute Gutes, praktisch alle Sozial- Der Mensch aber hat ein Gewissen. Das ler hat behauptet, gut ist, was für Groß-
programme der Kirche werden von wohl- konnten selbst die Marxisten nicht ab- deutschland gut ist. Auch das hat Millionen
habenden Privatpersonen finanziert. Es schaffen. Die hatten für alles eine Er- Leben dahingerafft. Moral ist entweder ab-
wäre falsch zu behaupten, alle Reichen sei- klärung, eine in sich geschlossene Philo- solut, oder es gibt sie nicht. Wenn Sie Ho-
en schlecht und alle Armen gut. sophie, nach der das Sein das Bewusstsein mosexualität rechtfertigen, warum dann
SPIEGEL: Wir beobachten, dass viele Russen bestimmte. So wie auch Ihre Philosophen nicht gleich Pädophilie?
einen westlich-liberalen Lebensstil pflegen. in Deutschland heute sagen, das Gewissen SPIEGEL: Das ist doch ein gewaltiger Un-
Sex vor der Ehe ist für viele normal, nur sei das Ergebnis kultureller Entwicklung. terschied! Sexualität betrifft Erwachsene,
eine kleine Minderheit besucht regelmäßig Aber ob in Papua-Neuguinea, im deut- die frei entscheiden können. Pädophilie
den Gottesdienst. Wie stark sind christliche schen München oder im sibirischen No- hat nichts mit menschlicher Freiheit zu tun,
Werte in Russland verankert? wosibirsk – überall heißt es: Du sollst nicht dabei werden Kinder missbraucht.
Kyrill: Spiritualität lässt sich nicht statistisch stehlen, du sollst nicht töten … Kyrill: In ein paar Jahren wird man Ihnen
messen. Obwohl wir auch da keinen Ver- SPIEGEL: … aber nicht überall heißt es: Du erklären, dass Mädchen mit zwölf Jahren
gleich scheuen: Keine 20 Jahre nach dem sollst nicht schwul sein. Warum soll man früher Kinder waren, jetzt aber schon viel
Ende der Sowjetunion hat sich die Zahl der seine Homosexualität verstecken? weiter entwickelt sind. Vor 20 Jahren hät-
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 105
Ausland

te sich doch auch niemand träumen las- Kyrill: Die meisten Gläubigen, die wir heu- Kyrill: Wir haben nicht deswegen positiv
sen, dass in Deutschland ein Gesetz ver- te in der Kirche treffen, waren gestern reagiert, weil Wladimir Putin ihn unter-
abschiedet wird, das homosexuelle Ehen noch Atheisten. Wenn dieser Wandel bei stützt, sondern weil Medwedew ein erfah-
anerkennt. Inzwischen hat man sich damit einem Ingenieur möglich ist, warum soll er rener Politiker ist. Und die Idee, Putin zum
abgefunden. Es geht um die Wahrung des bei einem Politiker nicht funktionieren? Regierungschef zu machen, widerspricht
Prinzips. Es gibt eine allgemeine morali- Leider kommen sie zu selten. Ich wünsche nicht der Verfassung. Putin stand an der
sche Natur. mir, dass Präsident wie Minister jeden Spitze jener Partei, die bei der Duma-Wahl
SPIEGEL: Sie hängt auch von 64 Prozent der Stimmen er-
Zeit und Region ab. Es gibt „Die Gerüchte vom Verschmelzen von Kirche hielt – sie hat das moralische
Völker, welche die Vielehe Recht, den Regierungschef
erlauben. und Staat in Russland sind, zu stellen.
Kyrill: Dostojewski hat ge- gelinde gesagt, stark übertrieben.“ SPIEGEL: Schon wahr, aber
schrieben, dass Gott und damit nehmen Sie doch Par-
Teufel im Herzen des Menschen mitein- Sonntag in die Kirche gehen und nicht nur tei. Dürfen wir an Metropolit Sergij er-
ander ringen. Heute folgen aber viele der ein-, zweimal im Jahr. innern, der sich zehn Jahre nach Macht-
Logik, dass alles, was sie wollen, gut und SPIEGEL: Wir haben umgekehrt den Ein- übernahme der Bolschewiki auf deren Sei-
gerechtfertigt sein soll. Allzu leicht halten druck, dass die orthodoxe Kirche Präsi- te schlug? Damals hat Ihre Kirche den Weg
wir Seelenregungen, die uns letztendlich dent Putin recht wohlgesinnt ist – und mit der Zusammenarbeit mit der kommunisti-
schaden, für natürliche Bedürfnisse. Wenn seiner Hilfe manche ihrer Probleme lösen schen Staatsführung gewählt – den Ge-
moralische Grundfesten zerrüttet werden, will. heimdienst KGB inbegriffen –, obwohl sie
setzen wir unsere Instinkte frei. Und frei- Kyrill: Ich verstehe sehr wohl den Kern Ih- schwer unterdrückt wurde. Das hängt ihr
gesetzte Instinkte gehören ins Tierreich. rer Frage, aber wir haben unseren Pries- bis heute an.
Damit sage ich etwas, was der liberale tern untersagt, sich politischen Parteien Kyrill: Nach dem Staatsstreich der Bolsche-
SPIEGEL nie drucken wird: Sie denken si- anzuschließen. In den neunziger Jahren wiki, als die in der russischen Geschichte
cher, dieser Metropolit ist verrückt gewor- haben noch einige für das Parlament kan- einzigartige Verfolgung der Kirche begann,
den und erzählt irgendeinen Stuss. didiert. Das darf nicht sein, die Kirche ist hielten es einige Geistliche für nötig, den
SPIEGEL: Wir streiten gern. Aber Sie wollen für alle da. Als 1993 unser Parlament be- Weg des Kompromisses mit der kirchen-
doch Homosexualität nicht etwa als einen schossen wurde und ein Bürgerkrieg droh- feindlichen Macht einzuschlagen. Einfach
tierischen Instinkt bezeichnen? te, war dieses Kloster, in dem wir jetzt um sich die Möglichkeit zu bewahren, den
Kyrill: Instinkt ist kein Begriff mit negati- sitzen, der einzige Ort, an dem sich die Gottesdienst abzuhalten und dem Volk zu
vem Vorzeichen. Nehmen Sie Hunger, verfeindeten Seiten treffen konnten. Weil predigen, ohne sich verstecken zu müssen.
Durst, den Geschlechtstrieb. Hätte Gott jeder verstand, dass die Kirche weder die Andere verwarfen diesen Weg, die soge-
uns das nicht gegeben, könnte der Mensch eine noch die andere Seite unterstützt. In nannte Katakombenkirche wurde fast völ-
nicht existieren. Der Mensch unterscheidet einem Mehrparteienstaat darf sie keine lig vernichtet. Wir haben nicht das Recht,
sich vom Tier dadurch, dass die einen oder die anderen
er seine Triebe im Zaum zu verurteilen. Alle von ih-
halten kann. nen haben brutale Repres-
SPIEGEL: Ihre Meinung zur sionen erlebt.
Homosexualität teilen offen- SPIEGEL: Inzwischen besitzt
bar die meisten russischen die Kirche wieder so viel
Politiker. Welche Staatsform Einfluss, dass russische No-
hält die orthodoxe Kirche in belpreisträger jüngst in ei-
Russland eigentlich für an- nem Brief an Präsident Pu-
gemessen? Es gibt bei Ihnen tin vor einer weiteren Kleri-
Würdenträger, die mit dem kalisierung der Gesellschaft
Zarentum liebäugeln, mit gewarnt haben.
der Monarchie also. Kyrill: Diese Herren möch-
Kyrill: Es ist für uns nicht ten gern zur Sowjetunion
vorrangig, die eine oder an- zurück. Haben sie damals
PHOTOXPRESS / VISUM

dere Staatsform zu unter- ihre Stimme zum Schutz der


stützen. Grundsätzlich ist Kirche erhoben? Nein. Dass
die Rettung der Seele in je- viele Kirchen zerstört da-
der Staatsform möglich. In standen, hat sie nicht ge-
Russland leben seit Jahr- stört. Im Übrigen sind die
hunderten verschiedene Polizeieinsatz gegen Gay-Parade in Moskau (2006): „Es geht um Moral“ Gerüchte vom Verschmel-
Völker und Religionen fried- zen von Kirche und Staat in
lich zusammen. Als einheitlicher Staat ha- politischen Gegner oder Verbündeten ha- Russland, gelinde gesagt, stark übertrie-
ben wir nur dann eine Zukunft, wenn wir ben. Niemand soll vor einem Gotteshaus ben. Ich wünschte, wir wären da so weit
dem Regionalismus und der Spaltung wi- stehen und sagen: Da gehe ich nicht hinein, wie in Deutschland. Bis heute haben wir
derstehen. Die Orthodoxie ist aus Russland weil dort meine politischen Gegner zu keine Seelsorger in der Armee, auch keine
nicht wegzudenken. Hause sind. Auch die Politiker dürfen die in Krankenhäusern.
SPIEGEL: Wladimir Putin sagt, auf seinen Kirche nicht einspannen, um wohlfeil SPIEGEL: Sie segnen aber doch ohne Pro-
langen Reisen in der Präsidentenmaschine Popularität zu erlangen. bleme Waffen aller Art: Panzer, Schiffe
lese er oft in der Bibel. Er, seine Minister SPIEGEL: Ihre Kirche hat doch gerade ganz und Kanonen.
und Beamten zeigen sich auch gern beim klar Partei genommen: Sie hat Putins by- Kyrill: Das übernehmen Priester, wenn sie
Gottesdienstbesuch – obwohl viele von ih- zantinische Entscheidung, Dmitrij Medwe- gerufen werden.
nen zur Sowjetzeit den Atheismus auf ihre dew zu seinem Nachfolger zu bestimmen, SPIEGEL: Viele Russen erregt, dass Sie
Fahnen geschrieben hatten. Freut oder är- überschwänglich begrüßt. Und ihn aufge- jüngst Ihre Religion als Pflichtfach in den
gert Sie das? fordert, als Premier weiterzumachen. Schulen einführen wollten.
106 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
REUTERS
Staatschef Putin, Patriarch Alexij (in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale): „Wir unterstützen weder die eine noch die andere Seite“

Kyrill: Wir wollen die Grundlagen der Kul- Auch der Marxismus hat sich einmal für einer Ehescheidung. Der christliche Wes-
tur traditioneller Religionen lehren und die einzig richtige und wissenschaftlich be- ten und der christliche Osten sind ausein-
schlagen nun vor, dass Schüler zwischen gründete Theorie gehalten … andergegangen, weil sie geglaubt haben,
orthodoxer, islamischer, jüdischer und SPIEGEL: Diese beiden Theorien können Sie den jeweils anderen nicht mehr zu brau-
buddhistischer Religion als Unterrichtsfach doch nicht gleichsetzen. Außerdem ist Dar- chen. Die Wiedervereinigung ist nur über
wählen können. Das wird ab 2009 gesche- wins Lehre inzwischen weitgehend unan- eine geistige Annäherung möglich. Man
hen, im Hauptfach „Geistig-moralische gefochten. kann noch so viele Papiere unterschrei-
Kultur“. Für Kinder aus nichtgläubigen Kyrill: … lassen Sie mich der Objektivität ben. Wenn wir nicht das Gefühl haben,
Familien muss es ein Fach geben, das halber hinzufügen, dass Darwin ein gläu- dass wir uns lieben, dass wir eine Familie
„Weltliche Ethik“ heißen könnte. Deutsch- biger Mann war … sind, dass jeder den anderen braucht, wird
land ist für uns da ein Vorbild. SPIEGEL: Es war wohl eher so, dass er als sie nicht zustande kommen.
SPIEGEL: Was halten Sie von orthodoxen Naturwissenschaftler an seinem Glauben SPIEGEL: Wann kommt es zu dem lange er-
Priestern, die Darwins Evolutionstheorie verzweifelte. warteten Treffen zwischen Papst Benedikt
aus dem Unterrichtsplan streichen wollen, Kyrill: … keinesfalls darf Darwins Theorie und Ihrem Oberhaupt, Patriarch Alexij?
weil diese der Schöpfungsgeschichte der zur Bekämpfung der Religion missbraucht Kyrill: Seit Benedikt Papst ist, haben sich
Bibel widerspreche? werden. Andererseits ist die Bibel kein unsere Beziehungen verbessert. Er hat die
Kyrill: Die Untersuchung der physischen Lehrbuch zur Kosmologie. Frage eines Besuchs in Moskau von der
Welt soll nicht Gegenstand der Religion SPIEGEL: Aber offenkundig eine Hand- Tagesordnung gestrichen. Ein solcher Be-
sein, und die Kirche soll deshalb keine wis- lungsanleitung für Außenpolitik. Russlands such hätte keine Probleme gelöst, sondern
senschaftlichen Theorien vereinnahmen. Außenminister Sergej Lawrow hat sich in neue provoziert. Viele Gläubige in Russ-
Die katholische Kirche hat diesen Fehler einem Aufsatz auf das Neue Testament be- land stehen den Katholiken misstrauisch
gemacht, als sie den Geozentrismus pre- rufen, als er sich gegen eine unipolare, von gegenüber. Das ist ein Erbe der Kriege und
digte. Als Wissenschaftler später heraus- Amerika beherrschte Welt wandte. der Missionierungsversuche des 17. und 18.
fanden, dass nicht die Erde, sondern die Kyrill: Das Gebot Christi aus dem Lukas- Jahrhunderts.
Sonne im Mittelpunkt unseres Systems Evangelium – „Wie ihr wollt, dass euch die SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, dass
steht, galt das dann als Ketzerei. Koperni- Leute tun sollen, so tut ihnen auch“ – gilt der Papst und der Patriarch sich in einem
kus war ebenfalls ein Priester, die katholi- auch in den internationalen Beziehungen. dritten Land treffen, gleichsam auf neutra-
sche Kirche verstand sich damals auch als Hochmut ist in der Politik so gefährlich wie lem Boden?
Wissenschaftsgemeinde. Das hat die or- in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Kyrill: Das ist durchaus möglich. Die ganze
thodoxe Kirche nie gemacht. Wir als orthodoxe Kirche weisen jegliche Entwicklung der beiderseitigen Beziehun-
SPIEGEL: Wie würden Sie es mit den Lehren Versuche zurück, eine unipolare Welt zu er- gen läuft darauf hinaus, dass es zu einem
Darwins halten, wenn Sie Lehrer wären? richten. Das hieße eine Zwangseinheit her- solchen Treffen kommen wird.
Kyrill: Ich würde sagen, dass die Theorie beizuführen, die Unterschiede von Religio- SPIEGEL: Dass es kein polnischer Papst
viele Anhänger hat, aber auch einige weiße nen, Kulturen und Zivilisation einebnet. mehr ist, sollte den Russen den Zugang er-
Flecken. Zum Beispiel ist der Übergang SPIEGEL: Können Sie sich eine Wiederver- leichtern.
von einer Art zur anderen von nieman- einigung der orthodoxen mit der römi- Kyrill: In diesem Fall möchte ich Ihnen eine
dem exakt bewiesen worden. Es wäre schen Kirche vorstellen, die seit nahezu offizielle Antwort geben. Sie lautet: Die
falsch, Darwins Theorie für die einzig rich- tausend Jahren getrennt sind? Nationalität spielt keine Rolle.
tige zu halten. Heute ist sie die führende, Kyrill: Die Spaltung ist eine Folge der SPIEGEL: Eminenz, wir danken Ihnen für
morgen kann es schon eine andere sein. menschlichen Sünde. Insofern ähnelt sie dieses Gespräch.
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Ausland

DOUG NIVEN / AFP


Gedenkstätte mit den Gebeinen Ermordeter in der Kleinstadt Sisophon: „Wie Vieh, das zum Schlachthof soll“

KAMBODSCHA

Die Zeugen der Killing Fields


Die Roten Khmer begingen einen Völkermord, dem fast jeder vierte ihrer Landsleute zum Opfer
fiel. 29 Jahre nach dem Ende ihrer Schreckensherrschaft soll ein Gerichtshof endlich die Taten sühnen.
Pol Pot, der „Bruder Nr 1.“, ist tot, aber sein Vize sitzt auf der Anklagebank. Von Erich Follath

CHOR SOKOUNTHEA / AFP

Angeklagter Duch vor dem Tribunal in Phnom Penh (Dezember 2007): „Bringt sie alle um“

108 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
G
litzernde Reisfelder im ersten Son- ze „Bruder Nr. 1“, Pol Pot. Als die vietna- Der Premier hat sich durchgesetzt: Das
nenlicht, millionenfach gebrochene mesischen Truppen dem Spuk schließlich jetzige Tribunal ist ein Zwitter – „Außer-
Spiegelungen des Himmels, schat- ein Ende machten, war fast ein Viertel der ordentliche Kammern“, eingebettet in
tenspendende Maulbeerbäume, sprudelnde acht Millionen Kambodschaner dem Men- kambodschanisches Recht wie in Uno-Ge-
Bäche, in deren Wasser exotische Vögel schen-Experiment zum Opfer gefallen, ver- richtsbarkeit. Sieben einheimische und
ihre Schnäbel tauchen. Choeung Ek ist ein hungert, von Krankheiten dahingerafft, fünf ausländische Richter werden sich auf
Ort, an dem die Schöpfungsgeschichte be- ausgelöscht in einem Blutrausch. jeden Schuldspruch einigen müssen. Um
gonnen haben könnte: so friedlich, so Niemand bestreitet, dass es ein Völker- ihr Leben brauchen die Angeklagten nicht
freundlich, so unschuldig. mord war. Niemand hat bisher die Verant- zu fürchten, die Todesstrafe ist in Kam-
Choeung Ek ist der Ort eines Massen- wortlichen für diesen Genozid belangt. bodscha abgeschafft.
mordes. Choeung Ek ist ein Synonym für Jetzt, 29 Jahre nach der Vertreibung der Angeklagt sind: Nuon Chea, 81, Pol Pots
die Killing Fields. In der idyllischen Land- Roten Khmer, fast ein Jahrzehnt nach Chefideologe und Stellvertreter, bekannt
schaft 15 Kilometer südlich der kambo- dem Tod Pol Pots – friedlich starb er, im als „Bruder Nr. 2“; Ieng Sary, 82, Ex-
dschanischen Hauptstadt Phnom Penh ha- Bett –, sollen die Verantwortlichen zur Re- Außenminister und Pol Pots Schwager, so-
ben die Roten Khmer viele ihrer Gefange- chenschaft gezogen werden. Kambodscha wie dessen Frau Ieng Thirith, 75, ehemali-
nen getötet, „entsorgt“, wie sie es selbst bekommt sein Nürnberg. Die Anhörungen ge Sozialministerin; Khieu Samphan, 76,
nannten. Choeung Ek: Das sind Schädel laufen, bald könnte der Prozess losgehen. Staatschef des „Demokratischen Kampu-
von 8985 Hingerichteten, übereinander- chea“, wie das Land in Khmer-Rouge-Zei-
geschichtet und in einem weißen Stupa mit ten hieß; Kaing Guek Eav alias Duch, 65,
goldfarbenem Dach aufbewahrt, ein Mo- der Chef des größten Folterlagers, der sich
nument, das die Welt an die Greuel erin- zum wiedergeborenen Christen gewandelt
nern soll; 43 von 129 Massengräbern wur- hat. Als Einziger war dieser Duch längere
den ungeöffnet gelassen, zu den anderen Zeit inhaftiert. Die anderen lebten bis vor
führen Hinweise. Wo die Erde voller Lei- wenigen Wochen von der Öffentlichkeit
chen ist, hat sich die Natur besonders in- zurückgezogen, aber von den Behörden
tensiv entwickelt. Unkraut wuchert. unbehelligt, in ihren Villen.
„Hier wurden hauptsächlich Frauen und Die fünf sind seit Anfang Dezember in
Kinder umgebracht.“ Die Mörder haben hübschen, neugebauten Bungalows am
Gewehrkugeln gespart: Die Erwachsenen Rande des Gerichtsareals in der Nähe des
erschlugen sie mit Eisenstangen und Flughafens Phnom Penh untergebracht.
Schaufeln, bei den Kleinsten machten sie Rund um die Uhr werden sie von Ärzten

AP
nicht einmal das Gerät schmutzig; ihre Roter Khmer bei der „Säuberung“ (1975) überwacht. Klagen über das Essen wurde
Köpfe wurden gegen einen mächtigen Gnadenlos gegen das eigene Volk sofort entsprochen: Es gibt jetzt neben
Stamm geschleudert. „Killing Tree“ steht Fisch und Fleisch immer auch ein vegeta-
auf dem Schild am Baum, als handelte es THAILAND LAOS risches Alternativgericht. Die Hocktoilette
sich um eine botanische Besonderheit. Auf bereite seinen Knien Schmerzen, monier-
den Versuch einer Einordnung des Unge- Anlong Veng te der Angeklagte Nuon Chea; seitdem
heuerlichen wird verzichtet. Angkor sind alle „American Standard“.
In der Zeit vom 17. April 1975 bis zum Siem Reap In Sichtweite des Luxusgefängnisses has-
6. Januar 1979, als die Roten Khmer Kam- Battambang ten in diesen Tagen Ermittler aus Dutzen-
bodscha beherrschten, haben sie ihr Land KAMBODSCHA den Nationen – darunter auch die Deut-
in das wohl wahnwitzigste Experiment der sche Pamela Reusch – über die Flure des
Menschheitsgeschichte gestürzt. Abgeschot- Phnom Penh neuerrichteten Tribunalgebäudes, das mit
tet von der Außenwelt, unterstützt von Killing Field seinen Türmchen aussieht wie ein buddhis-
Maos China, negiert vom Westen, versuch- Choeung Ek tisches Kloster. Übersetzer präparieren
ten sie, im Zeitraffer und mit Brachialgewalt 100 km VIETNAM sich. Jede Zeugenaussage, jede Angeklag-
den „neuen Menschen“ zu schaffen, aus- tenbemerkung muss in den drei Gerichts-
gerichtet nur auf Grundbedürfnisse. sprachen Khmer, Englisch und Französisch
Sie trieben die „Verweichlichten“ aus Besser spät als nie, argumentieren viele. festgehalten werden.
den Städten und zwangen sie unter primi- Andere meinen, man dürfe die alten Wun- Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Das
tivsten Umständen zur Umerziehung, zum den nicht aufreißen, die Menschen hielten Schlimmste für die Strafverfolger wäre,
Reisanbau auf die Felder. Sie wollten ein das nicht aus. Wie sollten sie den Massen- wenn ihnen die Angeklagten unter den
autarkes Land schaffen, von der Weltge- mördern noch einmal gegenübertreten, als Händen wegstürben. Auf drei Jahre ist das
schichte abgeschnitten, damit eine neue Zeugen, als Zuschauer? Gerichtsverfahren angelegt, die etwa 60
Geschichte beginnen konnte: etwas noch Vor allem politische Streitigkeiten ha- Millionen Dollar Budget – der Löwenanteil
nie Dagewesenes. Sie zerstörten Biblio- ben die juristische Aufarbeitung so lange von der Uno, der Rest aus Haushaltsmitteln
theken, Museen und Universitäten, sie hinausgezögert. Kambodschas Regierung Kambodschas bestritten – dürften allerdings
schafften das Geld ab und alle Banken, sie wird seit 1993 geführt von dem autoritären nur noch einige Monate reichen. Weniger
brannten Klöster und Tempel nieder. Sie Ministerpräsidenten Hun Sen, der selbst problematisch ist die Aktenlage: Die Ro-
rotteten den „Klassenfeind“ systematisch in seiner Jugend ein Khmer Rouge war, ten Khmer haben, wie die Nazis, mit Stolz
aus, wer eine Fremdsprache konnte, wer bevor er die Fronten wechselte und an der und Akribie ihr Treiben dokumentiert.
eine Brille trug, war als Intellektueller ver- Seite der Vietnamesen sein Land befreite. Den Angeklagten steht neben einem
dächtig und damit vogelfrei. Hun Sen wollte nie eine umfassende Straf- kambodschanischen Rechtsbeistand auch
Schwarz sollten alle tragen, und Schwarz verfolgung, hochrangige Positionen in ein internationaler Anwalt zu. Die Vertei-
trugen sie, als aus dem einst sanften, seiner Regierung sind mit ehemaligen digung des früheren Staatschefs Samphan
blühenden Land in Südostasien ein end- Radikalkommunisten besetzt. Nur die Füh- wird Jacques Vergès, 82, übernehmen, je-
loser Schreckensteppich wurde. Die Fami- rungsspitze von einst sollte sich verant- ner berühmt-berüchtigte Advokat, der
lie galt nichts mehr; sie wurde ersetzt durch worten müssen und nicht in einem inter- schon Klaus Barbie, den ehemaligen
„Angkar“, die Organisation – an ihrer Spit- national diktierten Strafverfahren. Gestapo-Chef von Lyon, leidenschaftlich
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KAKU KURITA / GAMMA / STUDIO X
Rote-Khmer-Anführer Pol Pot, Kämpfer beim Marsch durch den Dschungel (1979): Der Wahn vom „neuen Menschen“

DAVID LONGSTREATH / AP
REUTERS

AFP

Angeklagte Khieu Samphan, Ieng Sary, Ieng Thirith, Nuon Chea: Gerechte Strafe 29 Jahre nach dem Sturz?

vertrat, außerdem den Terroristen Carlos; hörung. Da beklagte sich der Anwalt Duchs Gesundheitszustand verschlechtert. „Die
er beriet auch den angeklagten Kriegsver- darüber, dass dessen „Menschenrechte“ Nieren machen nicht mehr mit“, sagt der
brecher Slobodan MiloΔeviƒ. Der Maître, durch die Haft verletzt würden. Die Kam- Mann mit den schneeweißen Haaren und
ein wahrer Connaisseur des Grauens, liebt bodschaner auf den Zuschauerbänken den eingefallenen Wangen. Buschige Brau-
es zu provozieren. „Meine Moral ist, gegen lachten; so hilflos, wie sie immer lachen, en stehen wie Schutzschilde über wässri-
jede Moral zu sein“, sagt der Mann, der wenn ihnen etwas peinlich ist, wenn sie gen Augen. Sie sind immer in die Weite ge-
immer Schwarz trägt – freiwillig und De- bei einer Beleidigung nicht weiterwissen. richtet, als gäbe es nichts in der unmittel-
signer-gestylt. Vergès ist von der Rote- Das Tribunal mag wichtig sein. Womög- baren Umgebung, nichts in der Gegenwart,
Khmer-Ideologie fasziniert, er soll Pol Pot lich wichtiger ist, ob und wie Opfer, Mit- das sich zu betrachten lohne. „Ich komme
und Mao getroffen haben, auf dem läufer und Schuldige von damals zu- von der Blutwäsche“, sagt er: „Aber die
Schreibtisch in seinem Pariser Stadtpalais sammenleben können. Menschen wie der scheint nicht mehr so richtig zu helfen.“
thront der steinerne Kopf eines lächeln- gefolterte Maler Vann Nath, der Rote- Spätfolgen der Qualen, die er erleiden
den Khmer-Herrschers. Khmer-Handlanger Nhem En, der Killer musste? Nath zuckt mit den Schultern, als
Im Vergès-Umfeld heißt es, der Star- Him Huy – ihre Stimmen, ihre Gefühle interessiere ihn Ursache und Wirkung
anwalt plane die ganz große Show. Er wer- zählen für die Zukunft Kambodschas. schon lange nicht mehr. Und beginnt dann
de den früheren König Norodom Sihanouk doch zu erzählen. Stockend zuerst, ge-
vorladen, dessen zwischenzeitlicher Flirt Das Opfer presst die Stimme, dann flüssiger und ge-
mit den Roten Khmer diese erst hoffähig
machte. Er werde Henry Kissinger in den
Zeugenstand holen, den US-Politiker, der
D as kleine Restaurant in Phnom Penh,
drei Kilometer entfernt vom früheren
Foltergefängnis Tuol Sleng, gleicht Hun-
gen Ende wie befreit: die Geschichte seines
Lebens. Nein, er will nichts verschweigen,
auch seine Schwächen nicht, Lehren sollen
gemeinsam mit Präsident Nixon für das derten anderen in der aufstrebenden Stadt andere daraus ziehen. Für das Folteropfer
völkerrechtswidrige Bombardement Kam- mit ihrem Baufieber und dem hektischen Nath hat schon lange nichts mehr Bedeu-
bodschas verantwortlich war – ohne die Motorradverkehr: ein paar Tische mit Plas- tung außer seiner Familie.
zigtausend Opfer unter den Zivilisten, tikstühlen, eine Art buddhistischer Altar, Seine Eltern besaßen einen Bauernhof
ohne den so geschürten Hass auf den Wes- Neonlicht. Die Currys kosten um die drei am Rande der Provinzhauptstadt Battam-
ten, sagen Historiker, sei der Aufstieg von Dollar. Es bedienen Familienmitglieder des bang, die Reisernten ernährten sie gut. Weil
Pol Pot und Co. kaum denkbar gewesen. Inhabers Vann Nath, 62, manchmal auch der Junge ein wenig zu übermütig war, ga-
Wie die Dinge vor Gericht aus dem Ru- der Chef selbst. ben die Erzieher ihn für drei Jahre in ein
der laufen können, zeigte sich auch schon Er bittet um Entschuldigung, dass er es buddhistisches Kloster zur Obhut – durch-
ohne Maître Vergès bei einer ersten An- heute nicht tut. In letzter Zeit hat sich sein aus üblich damals. Aber die künstlerische
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Ausland

Ader Naths konnten dann weder Mönche seln lösen, nur untergehakt und stolpernd lich an einen Führerkult. Doch dazu
noch Eltern unterdrücken: Er wollte Maler vor Schwäche kann er ihnen in das Büro kommt es nicht mehr. Eines Tages im Ja-
werden. Er lernte das Gewerbe von der des Tuol-Sleng-Chefs folgen. Duch heißt nuar 1979 bricht Hektik aus, die Wächter
Pike auf, pinselte Filmplakate, Porträts von der Mann, gefürchtet und verhasst bei den scheuchen die Maler ins Freie, die Vietna-
Honoratioren, für den Besuch in der Stadt Delinquenten. „Du bist also der Maler“, mesen stehen schon in Phnom Penh. Im
auch das des Staatschefs Sihanouk; und sagt der Boss. „Kannst du auch ein schönes Chaos kann Nath fliehen, irrt über die Fel-
weil er begabt und geschäftstüchtig war, Bild nach einem Foto machen, eine exakte der, fragt verzweifelt nach seiner Familie.
gründete er eine kleine Firma. Reproduktion?“ Zögernd nickt Nath. Er Eine Woche später hat er wie durch ein
Doch die neuen Herren tolerieren 1975 weiß nicht, wer der Mann ist, dessen Kon- Wunder seine Frau gefunden; seine Söhne
keine bürgerlichen Existenzen. Wie die terfei er kopieren soll, erst später sagt man aber – fünf Jahre alt der eine, sechs Mona-
Hauptstadt wird auch Battambang von Ka- ihm, es sei „Bruder Nr. 1“. Und so beginnt te der andere, als er sie verließ – haben
laschnikow schwingenden Roten Khmer, Nath, mit Extraportionen Reis aufgepäp- nicht überlebt.
manche erst 13 Jahre alt, leergeräumt. pelt, in ein bequemeres Zimmer verlegt, Woher Vann Nath die Kraft genommen
Vann Nath, seine junge Frau und ihren fieberhaft und mit zittriger Hand um sein hat, mit seiner Frau noch einmal eine Fa-
kleinen Sohn verfrachten sie in die Land- Leben zu malen. Er ahnt: Enttäuscht er milie zu gründen, das weiß er nicht. Aber er
kommune Nummer fünf. Er schuftet beim Duch, wird es keine zweite Chance geben. hat heute drei gesunde Kinder: Simen, 26,
Dammbau, sammelt nachts Sineth, 23, Narung, 16. Und
Holz und hilft mit beim Aus- er hat Ende der siebziger Jah-
heben der Gräber – die Ro- re wieder gemalt, das einzige
ten Khmer lassen ihr Volk Motiv, das ihn beschäftigt. In
verhungern. Immerhin kann Tuol Sleng, dem heutigen
Nath seine Familie zusam- Genozid-Museum, hängen
menhalten und wird noch seine Gemälde. Szenen, wie
einmal Vater. sie sich in seine Erinnerung
Als sie an einem Dezem- brannten, Szenen, wie sie
bertag 1977 kommen und ihn ihm die anderen erzählt ha-
abholen, als sie ihn zusam- ben, die das Foltergefängnis
menbinden „wie ein Stück überlebten: 7 Menschen von
Vieh, das zum Schlachthof etwa 14 000, 4 sind in der
soll“, weiß er nicht, wie ihm Zwischenzeit verstorben.
geschieht. Bis heute hat Nath Nath hat von seinen Ho-

ERICH FOLLATH / DER SPIEGEL


keine Ahnung, ob seine Ver- noraren das Restaurant ein-
haftung nur ein Irrtum ist. gerichtet und in den letzten
Nach einer mehrtägigen Jahren noch andere Projekte
Lkw-Fahrt landet er in ei- zu zeichnen versucht, zuletzt
nem Gefängnis, von dem Entwürfe für ein Altersheim.
ihm seine Mitgefangenen zu- Doch jetzt hat er schon mo-
flüstern, es heiße Tuol Sleng, Künstler Vann Nath*: Nächtelang um sein Leben gemalt natelang Pinsel und Stift aus
Parteikürzel: S-21. der Hand gelegt. „Es gibt
Man führt ihn mit verbundenen Augen Zu seiner riesigen Erleichterung gefällt keine Themen mehr für mich“, sagt der
in einen kalten Raum, zwingt ihn in Fuß- dem Chef-Folterer der dreieinhalb Meter Überlebenskünstler, aus dem jede Kraft
fesseln aus schwerem Eisen; mit mehr als hohe Pol Pot. „Gut, aber streng dich bloß gewichen ist. Er träumt nur noch von ei-
30 anderen teilt er „wie in einer Galeere weiter an“, murmelt Duch, und Nath hät- nem: keine Alpträume mehr zu haben.
aneinandergeschmiedet“ einen kahlen te diesen Augenblick seiner Rettung noch Nicht mehr jede Nacht dieses Gesicht des
Raum. Er hat Anstaltskleidung bekommen, mehr genießen können, hätte er nicht widerwärtigsten aller Folterer vor sich zu
dünnes Tuch, die meisten sind nackt. Es Schreie gehört, die aus dem Hof zu ihm sehen, der sadistisch ausführte, was der
gibt nicht mehr als zwei, drei Löffel ver- heraufhallten, die Verzweiflungsschreie der Anstaltschef und Mathematiklehrer Duch
wässerte Reisgrütze. „Glaubst du, Angkar Gefolterten, und hätte er nicht kurz darauf wollte. Auch nicht mehr das Gesicht des
kennt deine Verbrechen nicht?“, fragen sie wieder diese Lastwagen gesehen, die Fotografen, der ihm bei der Ankunft in
ihn und bearbeiten ihn mit Elektroschocks. mehrmals die Woche abends vorfuhren S-21 die Augenbinde abnahm und ihn an-
Er wird ohnmächtig. und auf denen sie Gefangene abtranspor- herrschte: „Geradeaus sehen, keine Bewe-
Vier Wochen geht das so, und er sieht tierten, von denen jeder wusste: Sie kom- gung, keine Fragen!“
Zellengenossen, die viel schlimmer zuge- men nicht mehr zurück.
richtet sind als er. Wer abends stirbt, wird Nath arbeitet rund um die Uhr, gemein- Der Mitläufer
erst am nächsten Morgen weggeräumt. Läu- sam mit zwei anderen Malern produziert er
se befallen Vann Naths Körper, eitrige Wun- Bild um Bild der Führungselite. Als ihm ein
den brechen auf. Doch das Schlimmste sind Assistent zur Seite gestellt wird, ertappt
D ie Fahrt zum Dokumentar des
Schreckens führt über eine Lehm-
straße in den äußersten Norden Kambo-
die endlos langen Stunden in der Zelle – sich Nath bei der Überlegung, ihm nicht dschas, nach Anlong Veng. Rund 350 Kilo-
und der Hunger. „Dass die Roten Khmer die beste Technik zu zeigen: Falls der Neue meter von seiner ehemaligen Wirkungs-
mich darauf reduziert haben, an nichts an- zu gut wird, macht er sich da nicht selbst stätte entfernt und fast in Sichtweite der
deres zu denken als an die nächste Schale überflüssig? Andererseits: Lässt er ihn ins thailändischen Grenze, arbeitet Nhem En,
Reis, das nehme ich ihnen am meisten Leere laufen, unterschreibt er nicht ein 48 – der Fotograf des Foltergefängnisses
übel“, sagt Nath. Und erzählt von dem ent- Todesurteil für den Assistenten? ist heute stellvertretender Distriktgouver-
würdigenden Kampf der Gefangenen um Die Künstler sollen schließlich auch Sta- neur. Ein Politiker auf dem Sprung nach
die Grashüpfer, die gelegentlich von der tuen Pol Pots anfertigen, erst in Gips, dann oben.
Zellendecke fielen und die sich hastig jeder aus Silber: Bruder Nr. 1 denkt offensicht- Sein breites Gesicht überzieht ein Dau-
in den Mund zu stecken versuchte. erlächeln, sorgfältig gekämmt ist der Mit-
Er hat schon aufgegeben, als die Scher- * Vor einem seiner Gemälde – einem Selbstporträt – im telscheitel, der Kopf ohne Nacken. Die Au-
gen plötzlich eines Morgens seine Fußfes- Genozid-Museum Tuol Sleng in Phnom Penh. gen zielen lauernd in alle Richtungen, als
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Ausland

witterten sie permanent Gefahr. Die ge- nachts die Schreie, er sieht die Lkw beim springen muss – die Roten Khmer stehen
drungene Figur mit den muskulösen Ar- Abtransport. Er schweigt. Er macht einen vor dem Ende.
men gibt En etwas von einem Boxer, der Job, und er konzentriert sich darauf, ihn so Und seitdem also: Politik unter anderen
weiß, dass er nach Punkten zurückliegt gut wie möglich zu machen. Er kontrol- Vorzeichen. Zuerst tritt En für eine kleine
und den K. o. suchen muss. liert die Dunkelkammer, fertigt die Abzü- Oppositionsgruppierung als Abgeordneter
Er bewohnt ein schönes Holzhaus am ge. Er entwickelt, wie er sagt, „einen pro- an – einmal, ein einziges Mal in seinem
See, seine Frau betreibt mit Hilfe der sechs fessionellen Stolz, die Fotos können sich Leben will er riskieren, nicht mit dem
Kinder einen Gemischtwarenladen, neue heute noch technisch sehen lassen“. Strom der Macht zu schwimmen. Doch der
Honda-Motorräder stehen auf dem Hof. Und – kein Mitleid? begnadete Opportunist erkennt bald, dass
Es fehlt an nichts für ein komfortables Er umgeht die Frage. „Ich sah vor mir in der kambodschanischen Scheindemo-
Leben. An nichts – nur an Ruhm. Der nur Motive, ich musste das Berufliche von kratie nur die Regierungspartei Pfründen
Ruhm, den der „bedeutende Zeitzeuge“ den Menschen und ihren Schicksalen tren- zu verteilen hat. En wechselt die Fronten,
(En über En) gern nutzen würde für seine nen. Und ich hatte ständig Angst, etwas wird mit einem Vizegouverneursposten be-
grandiosen Zukunftspläne. Er möchte falsch zu machen.“ lohnt. Er zeigt seine neue Armbanduhr,
ein „Versöhnungsmuseum“ bauen. Be- Wie schnell die Stimmung umschlägt, auf dem Zifferblatt prangt ein Porträt von
stücken will er es mit alten Khmer-Rouge- sieht er, als einer seiner Kollegen wegen ei- Premier Hun Sen.

FOTOS: ERICH FOLLATH / DER SPIEGEL

Fotograf Nhem En mit Rote-Khmer-Erinnerungsstücken, Pol-Pot-Grab in Anlong Veng: „Nur noch als Düngemittel zu gebrauchen“

Kampfanzügen, Gewehren, Kameras aus nes missglückten Fotos verschwindet; eines Das Tribunal hält der Fotograf für eine
seinem Privatbestand – und mit Fotos. Tages wird auch En degradiert, muss in ei- gute Sache, er hat vor einigen Wochen in
Stolz zeigt er Dutzende Alben, in denen nem dem Gefängnis angeschlossenen Stall Phnom Penh als Zeuge ausgesagt. Den-
säuberlich seine Werke eingeklebt sind: Schweine füttern, zwischengeparkt, bis noch hat er sich geärgert, es gab keine Vor-
Pol Pot in allen Lebenslagen, Porträts über eine Entscheidung von oben kommt. Er zugsbehandlung für ihn, und wie alle an-
Porträts aus dem Foltergefängnis. 60 000 leidet Todesängste, als er den Vorwurf er- deren Zeugen sollte er sich mit fünf Dollar
Dollar soll sein Museum kosten, ein An- fährt: Ein von ihm in China geschossenes Tagegeld begnügen. Das hat En als unan-
ziehungspunkt für Touristen in der ver- Pol-Pot-Bild zeigt den Bruder Nr. 1 mit ei- gemessen abgelehnt und ist wutschnau-
armten Nordprovinz werden. En sucht nem entstellenden schwarzen Fleck über bend nach Anlong Veng zurückgefahren.
Sponsoren. den Augen. Nach Tagen dann die Entwar- Solange sein Museum nicht steht, über-
Er war noch nicht einmal zehn, erzählt nung: Die Chinesen geben zu, dass sie legt sich der Vizegouverneur, könnte man
er, als er 1970 von den Roten Khmer re- beim Negativ gepatzt haben. mit anderen Sehenswürdigkeiten locken.
krutiert wurde, als Trommler für die Mu- „Wenn der Sabotageverdacht an mir Die Villen der früheren Rote-Khmer-Füh-
sikgruppe. Die Streifzüge mit den Gueril- hängengeblieben wäre, dann …“, sagt En rer bieten sich an – und die Verbren-
leros sind dann für den Jungen ein einziges und hält sich einen Finger an die Schläfe. nungsstätte Pol Pots. Nhem En, Mitläufer
Abenteuer. So beeindruckt sind seine Der Anstaltsleiter schätzt ihn damals und Chronist der Roten Khmer, zeigt den
Chefs von dem anstelligen Knaben, dass sehr. „Das lag an meinem Organisations- Weg zum Grab der einstigen Nummer eins.
sie beschließen, ihn 17-jährig zu einem talent und meiner methodischen, zuver- Auf einem Hügel liegt es, am Rande eines
Lehrgang nach China zu schicken: Nhem lässigen Arbeit“, vermutet der Fotograf. Weilers. Kühe grasen, Kinder spielen Fan-
En wird als Fotograf ausgebildet. Zwei Jah- Duch schenkt ihm aus einer Laune heraus gen, ein Wellblechdach steht über schwar-
re später machen sie ihn zum Chef des eine Rolex; als das Foltergefängnis dann in zer Erde, abgegrenzt durch in den Boden
Fotografenteams von Tuol Sleng. die Hände der vietnamesischen Sieger fällt, gerammte alte Milchflaschen. Ungeziefer
Seine Aufgabe ist es, von jedem Neu- als En im letzten Moment fliehen kann, kriecht zwischen Plastikbechern.
eingewiesenen ein Bild für die Akten zu nützt ihm die teure Uhr sehr: Er tauscht sie Noch kurz vor seinem Tod hat der Füh-
machen. Sie werden von Lastwagen her- gegen mehrere Säcke Reis. Er bleibt aber rer einen seiner engsten Vertrauten und
untergezerrt und in seinem Zimmer abge- weiter an der Seite der führenden Roten dessen Familienclan hinrichten lassen, was
laden. Dann ist er allein mit ihnen. „Fast Khmer, vergraben in den letzten Außen- ihn die Macht auch in seinem letzten
alle haben mich gefragt: Warum bin ich posten, die sie im Norden und Westen des Sprengel kostete. Der neue Boss Ta Mok
da? Was machen Sie hier mit mir? Aber ich Landes noch fast zwei Jahrzehnte lang hal- verurteilte den geschwächten Pol Pot zu
durfte ja nicht antworten.“ En weiß, was ten. Mit seinem Gespür für Macht erkennt lebenslangem Gefängnis, woraus dann nur
mit den Gefangenen geschieht: Er hört En dann 1997 in Anlong Veng, dass er ab- einige Monate Hausarrest wurden. Als der
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TANG CHHIN SOTHY / AFP
Opfer-Fotos im Genozid-Museum Tuol Sleng in Phnom Penh: Mit Stolz und Akribie dokumentierte Taten

Krebskranke im Schlaf gestorben war, ließ mit dem amerikanischen Werbespruch neuesten Errungenschaft des Haushalts.
ihn Mok ohne jedes Aufheben einäschern „Life is Action“ wirbt; das letzte Bauern- Süßigkeiten aus klebrigem Reis werden ge-
– man warf Autoreifen und alte Matratzen haus vor dem Ortsende, etwas zurück von reicht, man setzt sich auf die Matten, bar-
ins kerosingetränkte Feuer, damit es rich- der Straße – das müsste es nach den Be- fuß: Gemütlich ist’s beim Massenmörder.
tig brannte. „Kuhscheiße ist jetzt wichtiger schreibungen der anderen Dörfler sein, die „Es hätte alles nicht so kommen müs-
als Pol Pot“, sagte der letzte (und inzwi- seine Mobilfunknummer kennen. „Will- sen“, sagt Huy unaufgefordert, das sonnen-
schen verstorbene) Rote-Khmer-Komman- kommen“, sagt der drahtige Mann am gegerbte, lederne Gesicht zur Andeutung
deur an diesem 17. April 1998 zu seinen Hauseingang jovial, stolz drückt er sein eines Lächelns verzogen. „Meine Eltern
Genossen: „Wir können ihn nur noch als neues Handy ans Ohr. „Ja, ich bin der hätten sich bestimmt eine andere Karriere
Düngemittel gebrauchen.“ frühere stellvertretende Kommandant der für mich gewünscht.“
Um die Verbrennungsstätte herum lie- Wachmannschaften von Tuol Sleng.“ Er ist 18, als er sich den Roten Khmer
gen Minen, die der Vizegouverneur nun Im Parterre des geräumigen Holzhauses anschließt, und obwohl er als „Sohn eines
räumen will. „Ich dachte an zwei Dollar ist der Stall, drei Kühe, Hühner, Gänse. Knechts“ nur vier Jahre Grundschule ge-
pro Tourist, um diesen Platz zu sehen – ist Die Felder, erklärt der Hausherr, seien et- nossen hat, begreift er schnell und bau-
das angemessen?“, fragt Nhem En. was weiter entfernt, Reis baue man an, ernschlau, was man wie sagen muss. „Die
Bohnen, Erdnüsse. „Die letzten Ernten Privilegien der alten Gesellschaft hatte ich
Der Täter waren gut, wir sind zufrieden.“ Eine Trep- gründlich satt“, wird Huy in einem frühen

A m schwierigsten ist der Killer von S-21


zu finden, der Mann, den sowohl der
Maler als auch der Fotograf als Inbegriff
pe führt in den zweiten Stock, zu den
Wohnräumen. Rote Bastmatten liegen auf
dem sorgfältig gekehrten Boden. Auf ei-
Rote-Khmer-Dokument zitiert. Er impo-
niert den führenden Genossen mit Einsatz
und Wagemut. Beim siegreichen Angriff
der Brutalität in der Hölle der „a-pret“, nem kleinen Tisch, mit Seidendeckchen auf Phnom Penh wird er verwundet, Gra-
der „verdammten Seelen“, identifiziert ha- geschützt, steht ein Sony-Farbfernseher. natsplitter stecken noch heute in seinem
ben. Der Mann, der die Folterungen über- Die Wände sind geschmückt mit Dut- Körper. Die Partei macht ihn 1977 zu ei-
wachte und den Tod auf den Killing Fields zenden Familienfotos. „Meine neun Kin- nem der Wächter von Tuol Sleng, 1978 ist
mitorganisierte, ist als Him Huy im Doku- der“, sagt der Hausherr stolz, während sei- er schon Stellvertreter und verantwortlich
mentationszentrum geführt, wohnhaft in ne Frau Tee serviert. „Sechs Jungs, drei für die Sicherheit im Foltergefängnis. Einer
der „Provinz Kandal“. Mädchen – aber Großvater bin ich leider der fünf Top-Leute in S-21.
Die Bundesstraße von Phnom Penh 65 noch nicht.“ Him Huy, 53, raucht Marl- Wie kam es zum raschen Aufstieg? „Sie
Kilometer Richtung Süden, an einem lang- boro, zwei halbwüchsige Kinder, die beim haben all die anderen umgebracht, die in
gestreckten Reisfeld links in einen Weiler Interview zuhören wollen, bedienen sich der Befehlskette vor mir standen“, sagt er
namens Prek Sdei, dessen kleines Geschäft am Wasserspender, made in Taiwan, der ohne erkennbare Emotionen und bläst den
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Ausland

Zigarettenrauch gegen die Decke. „Als abgeglichen.“ Anschließend führte Huy Und dass Kambodscha in einer Sportdiszi-
Verräter, aber was hieß das damals sie zu den ausgehobenen Gruben und for- plin vorn mit dabei ist: Beim gerade in
schon. Duch schaltete jeden aus, den er derte sie auf niederzuknien. Dann schlug Phnom Penh ausgetragenen Volleyball-
nicht mochte. Davor hatte ich Angst.“ er zu. Dann fiel der Körper vornüber. World-Cup für Behinderte hat das Land
Er war so nah dran an der Anstaltslei- Dann gab es unten noch einen, der sicher- den dritten Platz errungen. Durch die zahl-
tung, dass er die Anweisungen von Bruder heitshalber die Kehlen durchschnitt. Dann reichen Unfälle mit Minen verfügt das
Nr. 2 gesehen hat. „Tötet sie alle“, hieß es kamen Chemikalien über die Leichen, Land über ein riesiges Reservoir von Ver-
in einer Direktive. Und Duch selbst zeigte damit keine Seuchen ausbrechen konnten. sehrtensportlern.
ihm öfter stolz seine eigenen Aufzeich- Und dann waren sie fertig und konnten Das Rote-Khmer-Tribunal kommt bei
nungen, die er sorgfältig katalogisiert hat- zum Schlafen in ihre Quartiere zurück- vielen als Thema unter „ferner liefen“.
te. „Der letzte Plan“ hieß eines seiner Ma- gehen. Mehr als der Gesundheitszustand der In-
nuskripte, und diese Verschwörungstheorie „Wir hatten auf die Killing Fields extra haftierten interessiert, wie es dem König
zeigte auf, was die Parteispitze brauchte: Elektrizität legen lassen“, sagt Huy. Und ja, im Ruhestand geht, mit dem dieses Volk
einen nie endenden Strom von geständigen also einmal habe er einem älteren Opfer eine merkwürdige Hassliebe verbindet.
Spionen und Parteifeinden, der ein „reini- gesagt, dass es ihm leid tue, aber wenn er Norodom Sihanouk, 85, hat sich dieser
gendes“ Blutbad erforderte. ihn nicht töte, dann werde er getötet. „Ich Tage wieder einmal in Peking behandeln
Huy hat das bis heute nicht so richtig be- hatte den Eindruck, er verstand mich.“ lassen, den Thron – der freilich nur noch
griffen, sagt er. Huy sieht sich als Werk- „Einige Monate“ will Huy nach dem ein symbolisches Gewicht hat – überließ er
zeug. „Ich hatte keine Wahl“, sagt er, „ich Ende der Roten Khmer angeblich „bei den schon vor drei Jahren seinem Sohn Siha-
moni, einem früheren Balletttänzer. Der
Ex-Monarch ist nur noch selten in der Öf-
fentlichkeit zu sehen, hält aber ander-
weitig mit dem Volk Kontakt: Auf seiner
Website gibt der Exzentrische selbstkom-
ponierte Ständchen an seine Frau Monique
zum Besten. Über die Roten Khmer, die er
einst als „Garantie für den Fortschritt“ ge-

ERICH FOLLATH / DER SPIEGEL (L.); PER-ANDRE HOFFMANN / PICTURE PRESS (R.)
priesen hat und die ihn später „ausspuck-
ten wie einen Kirschkern“ (und einen Teil
seiner Familie ausrotteten, was ihn mit al-
len anderen Kambodschanern verbindet),
schweigt sich der hochwohlgeborene Blog-
ger seit langem aus.
Man müsse verzeihen, die Vergangen-
heit Vergangenheit sein lassen, das ist am
Hofe Diktum. Der Ex-Monarch wird eben-
so wenig vor dem Tribunal aussagen wie
der Premier. Schwamm drüber: So denkt
auch die Studentin, die sich Sitha Sar
nennt – das einzige Kind des Saloth Sar
alias Pol Pot; es stammt aus seiner zweiten
Ehe mit der Bäuerin Meas.
Nur wenige wissen, wer die hübsche
junge Dame ist, die da allmorgendlich ihr
Totschläger Him Huy in seinem Bauernhaus: „Ich hatte keine Wahl“ Moped im Hof der Pannasastra-Universität
von Phnom Penh parkt. Das private
habe an Flucht gedacht, ich mochte das al- Vietnamesen“ im Gefängnis gesessen ha- Lehrinstitut gilt als Eliteanstalt Nummer
les nicht.“ Wie erklärt er sich dann, dass ben. Die Dorfgemeinschaft habe ihn wie- eins in Kambodscha und verlangt hohe Ge-
Augenzeugen wie Nath und En ihn als Sa- der gut aufgenommen; keine Fragen. Eine bühren. Pannasastra erhält auch finanziel-
disten und Schlächter bezeichnet haben, neue Verhaftung fürchtet er nicht. Das Tri- le Unterstützung aus den USA; ein Glück-
dem der Job sichtbar Spaß machte? „Die bunal hält er für eine „gute Sache, weil wunsch von George Bush senior an den
liegen falsch“, sagt er. endlich die wahren Schuldigen dran- Gründer hängt gerahmt im Gebäude.
Er hat also nicht die Todgeweihten ei- kämen“ – er wird aussagen, als Zeuge ver- Die Pol-Pot-Tochter Sitha, 21, hat sich
genhändig auf die Lastwagen verfrachtet, steht sich. Die Bäuerin schaut noch ein- im Fach Management eingeschrieben, die
er hat nicht auf den Killing Fields Hand an- mal herein, als es nichts mehr zu sagen meisten Lesungen sind in Englisch; ein
gelegt, Tausende erschlagen? gibt. „Noch Tee?“, fragt Frau Huy. Grundkurs in Geschichte gehört zur Aus-
„So viele waren es nicht“, sagt Huy. bildung, das entsprechende Lehrbuch wid-
„Aber ich musste in Choeung Ek schon Das neue Kambodscha met der Zeit der Roten Khmer allerdings
selbst zupacken. Öfter stand Duch neben
mir und drückte mir die Eisenstange in die
Hand und sagte: ,Los, oder getraust du dich
D ie Touristen strömen ins neue Kam-
bodscha, zu den schönen Stränden des
Südens, vor allem aber zu den welt-
nicht mehr als eine halbe Seite. Ihren
Freundinnen hat sie anvertraut, sie lasse
nichts auf ihren Vater kommen; was da
nicht, dann bist du der falsche Mann …‘ “ berühmten Tempeln von Angkor. Die Di- über ihn in den Medien erzählt werde,
Die Routine hätte die Sache erleichtert. rektflüge nach Siem Reap, Ausgangsort für müsse ein Missverständnis sein. Zu ihr sei
Alle Exekutionen liefen nach einem be- die Besichtigungen, sind das wichtigste Ge- er immer sehr freundlich gewesen, viel-
stimmten Schema ab, erklärt Huy und be- sprächsthema in der Hauptstadt, man er- leicht nicht herzlich, aber fürsorglich.
schreibt dieses dann klinisch präzise. „Wir hofft sich neue Einnahmequellen. Disku- Tatsächlich hat Kambodschas Bruder
fuhren immer nachts vor. Die Gefangenen tiert wird auch, dass die Behörden wieder Nr. 1 kurz vor seinem Tod seinen Sekretär
wurden in einen kleinen Raum gebracht, einen pädophilen Touristen mitsamt sei- Tep Kunnal angewiesen, sich um Frau und
ihre Namen mit den Exekutionslisten nem zwölfjährigen Opfer erwischt haben. Tochter zu kümmern. Kunnal heiratete
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Königspalastanlage in Phnom Penh: Touristenmagnet und Treffpunkt der neuen heimischen Eliten

nach Pol Pots Tod dessen Witwe und zog wie ein lähmendes Gift muss ihn in seiner noch nicht gebrochen ist. „Schreib die Ge-
das Mädchen seines Bosses wie ein eigenes winzigen Zelle die Verzweiflung gepackt schichte auf, wie du deine Tochter sexuell
Kind auf. Zur „Patriotin“ wolle er die Klei- haben, die Todesangst – diesmal richtet er missbraucht hast. Es hat keinen Zweck,
ne machen, vertraute Kunnal Freunden an, das Schreiben direkt an Pol Pot. dies zu leugnen, denn wir haben Zeugen“,
aber Englisch müsse sie schon können und „In meiner ersten Woche in S-21 bin ich heißt es in einer dokumentierten Auffor-
die Geschäftswelt, den Feind „dort drau- nur angekettet worden, es gab keine Über- derung an den Häftling: „Lass deinen Kör-
ßen“, kennenlernen. griffe. Aber die Verantwortlichen sagen per doch nicht wegen solcher Lappalien
Fräulein Sar hat das Foltergefängnis S-21 mir, nach fünf bis sieben Tagen beginne noch mehr Schmerzen leiden.“
noch nicht besucht. Sie weiß nichts Ge- Phase zwei, die Folterungen. Geliebter Alle haben alles gestanden in Tuol
naues über die Akten, die der Anstalts- Bruder, ganz gleichgültig, was die Genos- Sleng, um den Qualen zu entgehen. Es gibt
leiter Duch angelegt hat, die auf Mikro- sen mit mir tun, ob sie mich schlagen, mei- nur ein Dokument des Widerstands: die
filmen dokumentiert sind. Die Pol-Pot- ne Knochen in Stücke brechen, es gibt folgenden Zeilen von Siet Chhe.
Tochter macht einen Bogen um Tuol Sleng. nichts Neues zu berichten. Ich werde der „Verehrte Organisation! Dies ist mein
Sie sieht das kommende Tribunal mit Partei gegenüber immer loyal sein, bis zum Report über meine Tochter, das einzige
großer Skepsis. Und so kennt das einzige Ende.“ Und dann ein dringlicher Appell: Mädchen unter meinen vier Kindern, und
Kind des kambodschanischen Schicksals- „Bitte rette deinen jüngeren Bruder recht- ich gestehe: Ich habe sie ganz besonders in
gottes auch nicht die Geschichte des besten zeitig! Ich wäre glücklich, wenn ich mit mein Herz geschlossen. Wenn ich sie
Freundes ihres Vaters. meiner Frau und meinen Kindern auf einer während meiner Reisen sah, habe ich ihren
Wenn dem Führer Pol Pot irgendjemand Kollektivfarm Reis anbauen dürfte, ich Kopf und ihre Schultern berührt und sie in
wirklich nahegestanden hat, dann dieser brauche keine offizielle Position. Lass mich den Arm genommen, mit der Liebe und
Siet Chhe. Sie haben Seit an Seit den Kom- einfach nur leben!“ der Fürsorglichkeit eines Vaters. Was ihre
munismus entdeckt. Chhe wich beim Un- Bei der Prominenz des Häftlings ist es Sexualmoral angeht, bin ich sicher, sie ist
tergrundkampf auch dann nicht von Saloth wahrscheinlich, dass Anstaltsleiter Duch ein normales, verantwortungsvolles Kind.
Sars Krankenbett, als der im Dschungel das Schreiben weitergeleitet hat, schon um Die Anschuldigungen, ich hätte mich an
von Malaria-Anfällen geschüttelt wurde. sich abzusichern. Aber die Akten enthalten meiner eigenen Tochter vergriffen, sind
Aufopferungsvoll pflegte er den Schwer- keine Antwort von Pol Pot. Kein Wort zu lächerlich. Ich wünsche ihr, dass sie einen
kranken. seinem Freund. Da ist nur das große, mit- aufrechten und anständigen Revolutionär
Der Freund rückte nach dem Sieg der leidlose, kalte Schweigen. Und so weiß der trifft, mit dem sie ein politisch und mora-
Roten Khmer an der Seite Pol Pots in eine oberste Folterknecht von S-21, dass er sich lisch sauberes Leben führen kann. – Sollte
Spitzenposition der Bewegung, wurde Lo- mit diesem Chhe alles erlauben kann. mir in meinen anderen Berichten ein Feh-
gistikchef im Generalstab, begleitete Pol Die schweren Folterungen setzen im Mai ler unterlaufen sein, bitte ich die Organi-
Pot 1975 zu Mao – und fiel während der 1977 ein. In der Folge erste Geständnisse sation um Vergebung.“
großen Säuberungen zwei Jahre später in des Delinquenten, spioniert habe er. Aber Duch und seine Schergen quälten ihn
Ungnade. Der Sturz muss völlig unerwar- immer wieder auch Zeichen von Auf- noch fünf Monate. Ein Inzest-Geständnis
tet gekommen sein, noch Tage nach der müpfigkeit. Chhe erlaubt sich die schrift- konnten sie ihm nicht abzwingen. Dann
Einlieferung im April 1977 ins Folterge- liche Bitte, „selbst seiner Existenz ein Ende brachten sie ihn auf den Killing Fields mit
fängnis Tuol Sleng glaubt Chhe an ein machen zu dürfen“. einem Schlag gegen den Nacken um und
Missverständnis. Er richtet eine Petition In Tuol Sleng ist nur Duch Herr über stießen ihn in die Grube. Sie hatten ge-
an die Anstaltsleitung, verlangt, mit den Leben und Sterben. Er denkt sich einen dacht, jedem Menschen alles Menschliche
„höheren Brüdern“ sprechen zu dürfen. neuen Plan im Umgang mit dem renitenten austreiben zu können.
Abgelehnt. Noch einmal versucht es Chhe, Gefangenen aus, der offensichtlich immer Sie irrten. ™
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 117
Ausland

NE W YORK
Die Weltkreuzung
Global Village: Einst stand der Times Square für Abgrund und Abenteuer, jetzt
wird dort ein Fußgänger verhaftet, weil er in den Himmel guckte.

D
ie Ecke, an welcher der nette Matt In den ersten Jahrhunderten New Yorks machten liebende Männer zu Mördern,
Jones zum Verbrecher wurde, war gab es Times Square noch nicht. Die am Ende heirateten sie sechs Millionä-
einst wirklich eine Ecke der Ver- Stadt wuchs langsam von Süden her, re. Bordelle! Das New-Amsterdam-Thea-
brecher, aber das ist lange her, das sieht Washington Square war ihre erste Piazza, ter! Die erste Leuchtreklame! Rund um
man der Ecke nicht mehr an. Heute sieht Union Square ihr erstes Zentrum. 1811 be- Times Square erfand sich ein neues New
man hier das Geflimmer von Budweiser schlossen die Stadtväter dann eines der York, die Subkultur der Kosmopoliten:
und Panasonic, man sieht vorn links das größten Projekte in der Geschichte ur- „Hektiker“ hießen jene Menschen, die
Hard Rock Cafe, wo Familienväter aus baner Planung: Manhattan wurde zum von Restaurant zu Theater zu Bar zu
South Dakota und Germany 75 Minuten Schachbrett, mit zwölf Avenues von Süd Puff eilten.
lang auf 15-Dollar-Hamburger warten und nach Nord, 155 Straßen von Ost nach West. Der New Yorker von heute ist ein öko-
sich doch fühlen sollen wie Elvis, man sieht Nur den Broadway ließen sie, wie er war, nomischer Mensch, der nicht raucht und
die Drogeriekette Duane Reade und Star- diagonal, im Winkel von ungefähr 20 Grad nicht hurt, und es ist erstaunlich, dass er
bucks, den Virgin-Megastore und das größ- schneidet der Broadway heute die Ave- nicht Rolltreppe fahren kann: links gehen,
te Toys ”R” Us der Welt. nues; Times Square entstand dort, wo sich rechts stehen, das schafft er nicht, aber al-
Es schrillt und dröhnt an der einstigen Broadway, 7. Avenue und 42. Straße be- les andere kann er gut. Er steht artig in
Ecke der Gangster, Seventh Avenue und gegnen, darunter ein U-Bahn-Knoten. Die Schlangen an. Er isst und telefoniert und
42nd Street, Menschenmassen schieben „New York Times“ zog 1904 hierher, dar- schreibt Mails, während er über die Kreu-
sich dahin und fotografieren, sie essen und um heißt der Platz so, der gar kein Platz zung rennt. Er geht zugleich scharf und
schmeißen ihre Big-Mac- geschmeidig, er berührt die
Kartons auf den berühmten anderen New Yorker nicht.
Times Square. Der Fall Jones sorgt für
Um 2.01 Uhr in einer Erregung in New York. Die
Donnerstagnacht war es Verhaftung sei richtig, das
trocken und warm, und Mat- schrieben die einen in die
thew Jones aus Brooklyn Blogs, die Banker und Mak-
war stolz, ein wenig senti- ler schrieben, die Gehwege
mental, er blieb stehen. Er seien die Freeways Manhat-
überlegte, was er tun sollte, tans, also Platz da! Morgen
noch einen trinken? Heim- würden dann Wadenkrämp-
fahren? Matthew guckte sich fe verboten, anschließend
die Leuchtreklamen an, ein Kinderwagen und Rollstüh-
zufriedener New Yorker. Ein le, und Senioren kämen di-
paar Freunde waren bei ihm, rekt in den Knast, das ant-
einer lachte, einer sagte: worteten die anderen, Bohe-
„Fuck, es ist spät.“ Matthew miens, die letzten Flaneure.
lag nicht auf der Straße, er Und die siebenjährige Kate
torkelte auch nicht, er stand Kaplan schrieb, das höchste
nur auf dem Gehweg und Gebäude der Stadt werde so-
blickte in die Nacht von wieso bald ein gigantisches
KPA

Manhattan. Starbucks sein.


Aber dann sah er Officer Times Square in New York: „Der Angeklagte bewegte sich nicht“ Matt Jones bekannte sich
Momen Attia im schwarzen schuldig, er wollte seine Ru-
Hemd, Pistole am Gürtel. „Beweg dich“, ist, es sind ja nur Ecken und Kurven, kein he, dann legte er doch Widerspruch ein
schrie der Polizist. Denn der Polizist sah Grün, nur Beton und Glas und die Video- und verlor, erst die höchste Instanz sprach
den Angeklagten „zusammen mit einer An- wände; Times Square ist das Amphitheater ihn frei. Matthew mag die Weltkreuzung
zahl anderer Individuen herumstehen“, so der Werbeagenturen, ein Ausstellungspark heute nicht mehr.
steht es im Schriftsatz der Staatsanwalt- des Corporate America. Man kann am Am vergangenen Montag feierten die
schaft. „Der Angeklagte bewegte sich nicht, Times Square schon sehen, was aus New New Yorker und ihre Gäste auf dem Times
und das Ergebnis des Verhaltens des Ange- York einmal werden wird, falls Konzerne Square, es war Silvester, Matt Jones war
klagten war, dass zahlreiche Fußgänger um die Stadt übernehmen oder noch ein paar nicht dabei. Um Mitternacht wurde eine Ku-
den Angeklagten herumgehen mussten.“ Bürgermeister regieren, die das Fehlen gel aus 672 Waterford-Kristallen und 9576
Officer Attia nahm Matthew Jones fest, von Leben für Sicherheit halten oder Geld- Leuchtdioden auf den Platz herabgelassen,
„ungebührliches Verhalten“ hieß das erste verdienen für das Leben; man sieht, was wo über eine Million Menschen standen.
Verbrechen. Als Attia die Handschellen für eine Stadt es sein mag, wenn die Zeit Alkohol war verboten, Knallfrösche auch,
vom Gürtel nahm, zappelte Matt, darum anbricht von Cops wie Momen Attia. über dem Volk kreisten Hubschrauber, um
kam „Widerstand gegen die Festnahme“ Der alte Times Square schrieb New das Volk herum wachten Scharfschützen.
hinzu. Den Rest der Nacht verbrachte Matt Yorker Geschichten: Die ersten Varie- Gehen konnte keiner mehr. Auch Of-
Jones im Gefängnis, wo er sicherlich dar- tés gab es in Dachgärten; die sechs ficer Momen Attia, so wurde gemeldet,
über nachdachte, was aus dem Mittelpunkt Florodora-Mädchen aus einem Musi- stand einfach da und guckte nach oben.
seiner Stadt geworden ist. cal um 1900, Tänzerinnen, rauchten und Klaus Brinkbäumer

118 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Szene Sport
MOTORSPORT

„Neue Ziele suchen“


FUSSBALL

BILDAGENTUR KRÄLING

Rennfahrer Dirk
von Zitzewitz, 39,
Ausgepresste Zitrone
Co-Pilot beim Team
Volkswagen, über
die Absage der Ral-
lye Dakar

SPIEGEL: Wegen einer Reisewarnung der


französischen Regierung für Maureta-
nien findet das Rennen in den Senegal
nicht statt. Können Sie die Entschei-
dung des Veranstalters nachvollziehen?

LUKE MACGREGOR / REUTERS


Zitzewitz: Natürlich. Motorsport ist ein
Abenteuer, aber das Abenteuer muss
kalkulierbar sein. Mauretanien war
schon immer ein gefährliches Pflaster,
aber jetzt kann anscheinend keiner für Berbatow
unsere Sicherheit garantieren.
SPIEGEL: Hätten Sie Angst gehabt, durch
Mauretanien zu fahren?
Zitzewitz: Nein. Ich kenne auch keinen
anderen Piloten, der Bedenken hatte.
D er Bulgare Dimitar Berbatow, Stürmer in Diensten von Tottenham Hotspur,
gehört zu den begehrtesten Spielern Europas – Manchester United umwirbt
den 26-Jährigen ebenso wie der FC Chelsea oder der AC Mailand, auch der FC
Dies wäre meine neunte Rallye Dakar Bayern ist im Gespräch. Für einen Transfer würden rund 50 Millionen Euro fällig,
gewesen, es war nie gefährlich. Wir ha- Rekordablöse für die englische Premier League, und ein Wechsel würde nicht nur
Berbatow zu einem der bestverdienenden Fußballer machen, sondern auch seine
Berater beglücken, den Deutschen Wolfgang Vöge und den Bulgaren Emil Dan-
tschew. Bereits im Sommer 2000 hatten die Agenten den Jungprofi von ZSKA So-
fia zu Bayer Leverkusen vermittelt. Als sich zwei Jahre später abzeichnete, dass der
hochbegabte Kicker Karriere machen würde, verfassten Dantschew und Vöge eine
Vereinbarung mit Berbatow. Demnach beanspruchten sie im Falle einer Vertrags-
FREDERICK FLORIN / AFP

verlängerung oder eines Wechsels „allfällige Kommissionen“ von den beteiligten


Vereinen: „Die Clubs müssen zahlen“, schrieb ein Mitarbeiter Vöges in einer Mail,
„sonst gibt’s keinen Transfer!“ Zudem sicherten sich beide Agenten einen beacht-
lichen Anteil an Berbatows Gehalt, das mittlerweile bei 90000 Euro pro Woche liegt.
Der Vöge-Mitarbeiter notierte in seinem Vertragsentwurf für einen Hamburger An-
Rallye-Dakar-Starterfeld in Lissabon walt: „Die Beratungskommission wird dem Spieler ab 1. Juli 2002 in Rechnung ge-
stellt werden können. Ich weiß nicht mehr, ob’s 5 oder 10 Prozent seines Brutto-
ben alle mitbekommen, dass Heilig- verdienstes ist. Die Zitrone wird also ausgepresst!“
abend in Mauretanien vier französische
Touristen ermordet wurden, aber am
Donnerstagabend hieß es in Lissabon
noch, die Rallye finde statt wie geplant,
weil die mauretanische Regierung zuge- SURFEN Weltmeister bei den Männern, Gilmores

Radikale Frau
sagt habe, die Sicherheitsvorkehrungen Stil. Der Teenager von der Gold Coast
zu verstärken. gilt als Prototyp einer neuen Genera-
SPIEGEL: War die Absage voreilig? tion. Im Gegensatz zu ihren meist zier-
Zitzewitz: Möglicherweise. Die Teams
waren alle ready to go. Ich wäre dafür
gewesen, erst einmal durch Portugal
I n der Regel haben die besten Surfer
der Welt wenig Respekt vor surfen-
den Frauen. Auch die australische Welt-
lichen Gegnerinnen hat Gilmore einen
athletischen Körper. Sie ist 1,77 Meter
groß und wiegt 67 Kilogramm. Gilmore
und Marokko bis zur mauretanischen meisterin Stephanie Gilmore, 19, musste trainiert nicht nur im Wasser, sie absol-
Grenze zu fahren. Dann hätte man ge- sich schon viele „komische Kommen- viert auch täglich ein spezielles Fitness-
guckt, wie sich die Lage entwickelt hat, tare“ anhören. Damit dürfte es vorbei programm. Dank ihrer Physis ist sie in
und immer noch abbrechen können. sein. „Sie surft wie ein Kerl“, so der Lage, auch in kraftvollen Wellen
SPIEGEL: Wird es in den nächsten Mona- beschrieb kürzlich Mick Fanning, der radikale Manöver zu fahren. Möglich,
ten eine Alternativ-Rallye geben? dass es, ähnlich wie im Tennis,
Zitzewitz: Das ist aus logistischen Grün- irgendwann zu einem Ver-
den ausgeschlossen. Überhaupt glaube gleichskampf kommt. „Stepha-
PIERRE TOSTEE / AFP

ich, dass Dakar in den nächsten Jahren nie“, sagt Wayne Bartholo-
für uns nicht erreichbar sein wird. Wir mew, der Präsident des Profi-
müssen uns andere Ziele suchen, in Weltverbandes ASP, „surft wie
Südamerika, China oder Russland. Es die besten Männer.“
ist erschreckend, dass der Terrorismus
so eine Veranstaltung verhindern kann. Gilmore
119
Sport

ULMER / IMAGO

Skirennläufer Maier: „Ich war schon als Kind sehr ehrgeizig und wollte es immer allen zeigen, meine Kindheit war ein einziger Wettkampf,

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Auf und weiter“


Die österreichische Skifahrer-Legende Hermann Maier über Unfälle und Stürze, seinen ramponierten
Ruf als Herminator und über seinen Körper, der sich nicht mehr so leicht besiegen lässt

SPIEGEL: Herr Maier, Sie haben in der Ab- SPIEGEL: Skifahren macht Ihnen aber noch
fahrt in dieser Saison die Plätze 16, 11, Midas auf Ski Spaß?
23 und 13 belegt. Im Gesamtweltcup ste- wird der gelernte Maurer aus Flachau im Maier: Natürlich, deswegen fahre ich ja
hen Sie nur auf Rang 21. In Ihrer Heimat Salzburger Land genannt: Alles, was er Weltcup-Rennen. Ich sehe das Rennfahren
wird bereits gespottet, Sie müssten zu- anfasst, wird zu Gold. Hermann Maier, 35, allerdings heute von einer anderen Seite.
rück in die Skischule. Haben Sie keine gewann bis zu einem lebensgefährlichen Ich muss nicht mehr gewinnen, sondern
Angst, Ihren Ruf als „Herminator“ zu zer- Motorradunfall im August 2001 dreimal ich will gewinnen, und es macht mir
stören? die Weltcup-Gesamtwertung, je zweimal großen Spaß. Früher kannte ich nur weiter,
Maier: Nein. Ich habe meine eigenen Er- Gold bei den Olympischen Spielen 1998 weiter, weiter, und zum Schluss musste die
wartungen doch schon längst weit über- und bei den Weltmeisterschaften 1999. große Weltcup-Kugel da stehen.
troffen. Soll ich Ihnen sagen, was mir gut- Zurück aus dem Krankenstand, holte er SPIEGEL: Auf dem Höhepunkt Ihrer Kar-
tut? Zu wissen, dass mir niemand weg- WM-Silber 2003, 2004 den vierten Ge- riere gewannen Sie 13 Weltcup-Rennen in
nehmen kann, was ich bisher in meinem samtweltcup und WM-Gold 2005. Bei einem Winter und definierten sich über
Leben geleistet habe. Das ist ein Teil von Olympia 2006 sicherte er sich Silber und die Größe des Abstands auf den Zweit-
mir. Siegen wollen ist ein Trieb, aber man Bronze. Insgesamt siegte er bei 53 Welt- plazierten.
kann eben nicht immer ganz oben stehen. cup-Rennen. Am Wochenende startet er Maier: Damals sah man in mir eben die
in der Schweiz, beim Lauberhornrennen in Maschine. Vielleicht sollte man mich heu-
Das Gespräch führten die Redakteure Cathrin Gilbert und Wengen. te, nach dem schweren Motorradunfall im
Maik Großekathöfer. August 2001, ein bisschen mehr als Mensch
120 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
habe die Erwartungen durch meine Erfol-
ge ja selbst so hochgeschraubt.
SPIEGEL: Sie fühlten sich zu Recht gefeiert?
Maier: Meine Leistungen waren sicherlich
einzigartig. Vor allem, wenn ich heute be-
obachte, wie sehr ich mich anstrengen
muss, um vorn mitzumischen. Was die
Leute nicht sehen: Ich bin hochsensibel.
SPIEGEL: Den Eindruck vermitteln Sie auf
der Piste nicht.
Maier: Mag ja sein, aber um so perfekte
Leistungen zu bringen, wie es mir gelungen
ist, muss man seinen Körper genau ken-
nen. Voraussetzung dafür ist, sehr emp-
findsam zu sein. Andererseits habe ich nur
deshalb so viele Rennen gewonnen, weil
mein Geist in der Lage war, die Schmerzen
abzuschalten und über das Limit hinaus-
zugehen.
SPIEGEL: Ihr Geist?
Maier: Skirennen werden im Kopf entschie-
den. Wie weit kann ich an meine Grenzen
gehen? Wie weit und wann kann ich drüber-
gehen? Wie viel schneller ist mein Geist als
die Augen? Wenn ich Kurven fahre, dann
kommen die Augen nicht mehr mit. Dann
bin ich so schnell, dass ich mich auf den
Geist verlassen muss. Ich kann mich nicht
an den Start stellen und einmal schauen,
was passiert. Dann könnte ich nur reagie-

FABRICE COFFRINI / AFP


ren. Aber ich muss agieren, angreifen.
SPIEGEL: Und inzwischen hat Ihr Geist den
Körper nicht mehr so unter Kontrolle?
Maier: Ich zweifle keine Sekunde an mei-
nem Können, brauche aber heute auch das
da gab es kein Liegenbleiben, kein Aufgeben“ Glück auf meiner Seite, um das perfekte
Rennen zu fahren.
sehen. Das wäre schön. Ein Mensch mit Maier: Wie bitte, nur eine Million? Im SPIEGEL: Woher nehmen Sie die Kraft, nie
70 Prozent Wasser, wie jeder andere, das Ernst: so ein Quatsch. Sind das die Dinge, aufzugeben?
bin ich doch auch, da muss man auch ab die die Leute beschäftigen? Das ist traurig. Maier: Ich war schon als Kind sehr ehrgei-
und zu mal verlieren dürfen – oder? SPIEGEL: Was war der Grund für den Aus- zig und wollte es immer allen zeigen, mei-
SPIEGEL: Vor sieben Jahren hat man Sie zum rüsterwechsel? ne Kindheit war ein einziger Wettkampf,
bekanntesten Bürger Österreichs gewählt … Maier: Mit einem neuen Ski ein Rennen zu da gab es kein Liegenbleiben, kein Auf-
Maier: … nein, zum wichtigsten bitte, der gewinnen, das ist momentan die ultimati- geben. Auf und weiter, auf und weiter! Ich
bekannteste war ich damals schon. ve Herausforderung für mich. Ich suche habe immer gespürt, dass ich Außerge-
SPIEGEL: Wie fühlt sich das an, eine solche solche Reize: Der spektakuläre Sturz bei wöhnliches leisten kann.
Zuneigung zu erfahren? den Olympischen Spielen in Nagano 1998 SPIEGEL: Weil Sie zu klein und zu zierlich
Maier: Es bedeutet den vollständigen Ab- und der Motorradunfall, das waren zwei waren, verließen Sie mit 15 die Ski-Han-
schied aus der Anonymität, das ist ein entscheidende Momente in meinem Le- delsschule in Schladming.
wahnsinnig hoher Preis. Es fängt bei ganz ben, aber danach wieder auf die Piste zu Maier: Stimmt, nach einem Jahr. Ich hatte
banalen Dingen an: Wenn ich einen Kau- gehen und alles zu geben, das waren Auf- die ganze Zeit leichtes Heimweh, ich war
gummi ausspucke, und der Falsche sieht gaben, an denen ich größer geworden bin. nie der Typ fürs Internat. Vielleicht hat
dabei zu, dann macht sich das ganze Land Die letzten drei Jahre plätscherte alles ir- sich deshalb der Körper nicht so richtig
darüber Gedanken. Ich werde ständig von gendwie so dahin. Ich weiß heute, dass ich entwickelt.
anderen Menschen beurteilt und benotet. den Gesamtweltcup nicht mehr gewinnen SPIEGEL: Waren Sie frustriert?
SPIEGEL: Nervt die öffentliche Beurteilung? kann, deshalb musste ich ein neues Aben- Maier: Dazu blieb mir nicht viel Zeit. Ge-
Maier: Es tut sehr oft sehr weh. Ich sehe das teuer suchen. nau zu dem Zeitpunkt nämlich stürzte
Skifahren als Hobby, für mich war Geld SPIEGEL: Die österreichische Literatur-No- mein Vater aus acht Meter Höhe vom Dach
immer nebensächlich. Nach dem Motor- belpreisträgerin Elfriede Jelinek sagte ein- auf den Asphalt. Er verletzte sich schwer.
radunfall habe ich anderthalb Jahre lang mal über Sie: „Das ist ja so, als ob das Da wir eine recht arme Familie waren,
für ein Comeback geschuftet, und dann Jesuskind wiedergeboren wäre.“ Erdrückt musste ich anfangen zu arbeiten. Man
heißt es, ich würde nur starten, um bei der Sie so viel Anerkennung nicht? wusste ja nicht, wie es weitergeht. Ich
Versicherung abzukassieren. Schlimmere Maier: Ich wurde auch schon als Messias wusste, auf dem Internat werden die Welt-
Schmerzen hat mir nie jemand zugefügt. bezeichnet. Ehrlich gesagt kann ich mit klasse-Skifahrer ausgebildet, aber ich be-
SPIEGEL: Es gibt österreichische Medien, solchen Vergleichen nicht viel anfangen. gann eine Maurerlehre. Im Nachhinein war
die behaupten, Sie hätten vor dieser Saison Die sind nicht wirklich angebracht. Das es genau die richtige Entscheidung.
und zum ersten Mal in Ihrer Karriere den Problem ist doch, wenn man einen so irr- SPIEGEL: Warum?
Skiausrüster nur deshalb gewechselt, um sinnig hochlobt, fällt es auch leicht, nach Maier: Als Maurer habe ich gelernt zu
noch mal eine Million Euro zu kassieren. einer Zeit wieder draufzuhauen. Aber ich schuften. Ich habe Steine geschleppt. Das
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 121
Sport

hat mich abgehärtet, und ich habe ein Ge- regt. Mir war aber gar nicht klar, dass es da
fühl für meinen Körper entwickelt. Ohne auch um Geld geht. Ich bin einfach ge-
die Arbeit als Maurer wäre ich nie Profi- kommen und habe mir unbewusst einen
skifahrer geworden. großen Teil vom Kuchen geschnappt. Ich
SPIEGEL: Wie lange haben Sie als Maurer kann schon verstehen, dass die mich als
gearbeitet? Eigenbrötler gesehen haben – ich kam, ge-
Maier: Vom 16. August 1988 bis zum 25. noss und siegte, so was hatten die noch
Oktober 1995. nicht erlebt. Der Österreichische Skiver-
SPIEGEL: Das ist exakt. band hat trotzdem viel für mich getan.
Maier: Das sind ja auch ganz besondere Mein Rackern hat später die anderen mit-

CARL YARBROUGH / PRESSE SPORT / WITTERS


Daten. Der Beginn war einschneidend und gerissen, darum hatte Österreich damals
das Ende dann ja auch. Irgendwann habe so ein Niveau: weil einmal ein anderer, ein
ich mir gedacht, jetzt probiere ich wieder, Querkopf, mit einer anderen Einstellung
Skirennen auf hohem Niveau zu fahren. dazugekommen ist.
SPIEGEL: Das ging so einfach? SPIEGEL: Vermissen Sie Querköpfe unter
Maier: Nein. In Österreich hat man nicht Ihren Kollegen?
viele Möglichkeiten, international an den Maier: Mir fehlt die Spontaneität bei man-
Start zu gehen. Es hieß, mit 22 Jahren sei chen. Diese Art, was kann ich wie sagen,
ich zu alt für eine Karriere als Profirenn- damit es am besten ankommt, nervt mich.
fahrer. Erst war ich zu klein, dann zu alt. Maier-Sturz (1998), Patient Maier (2001) Ehrlich heraus kann heute anscheinend
Aber so einfach habe ich mich nicht ab- „Zwei entscheidende Momente“ kein Sportler mehr öffentlich auftreten.
wimmeln lassen. Ich hatte zwei Chancen, Das finde ich traurig.
den Sprung ins Verbandsteam zu schaffen. SPIEGEL: Haben Sie sich manchmal einsam
Die erste bei den österreichischen Meis- gefühlt?
terschaften habe ich gleich genutzt – mit Maier: Klar habe ich gemerkt, dass der eine
Startnummer 130. Die zweite Chance war oder andere hinter meinem Rücken Dinge
im Europacup. Da bin ich am ersten Tag über mich erzählte, die nichts mit Skisport
Zweiter geworden und habe am zweiten zu tun hatten. Das sollte mich aus der Bahn
Tag gewonnen. werfen. Ich spürte, wie sie versuchten zu
SPIEGEL: Haben Ihre Eltern Sie in dieser sticheln. Aber ich habe denen ja Grund
Phase unterstützt? genug gegeben.
Maier: Meine Eltern waren schon immer SPIEGEL: Sie haben innerhalb von zwölf
meine größte Stütze. Sie sind beide Ski- Jahren viermal den Gesamtweltcup ge-
lehrer und sind auch Rennen gefahren. Die wonnen, 53 Weltcupsiege geholt, dazu 3
haben meinen Bruder Alexander und mich Weltmeisterschafts- und 2 Olympiasiege.
geschnappt, in den VW-Käfer gesetzt und Gab es eine Phase, in der Sie sich dem
sind mit uns zu den Wettkämpfen ge- Größenwahn näherten?
TORNSTROEM / DPA

zuckelt. Beim Zuschauen dachten wir, Maier: Ja, aber ausschließlich auf der Ski-
wow, das ist was Schönes. Da jagt man run- piste. Der Sturz bei den Olympischen Spie-
ter und kriegt einen Pokal. Das machen len 1998 in Nagano war ein Resultat meines
wir auch. Als ich zwölf Jahre alt war, bin Größenwahns.
ich aufs Kitzsteinhorn raufgefahren. Am SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Schlepplift traf ich Toni Sailer, die öster- meinschaft, kannten sich ja alle von Kin- Maier: Ich erinnere mich genau. Ich fuhr
reichische Ski-Legende. Der fragte mich, desbeinen an. Ich stand allein da. Aber diesen Rechtsschwung, diese Kante, an. Es
wer mein Vorbild sei. Ich antwortete: ich brauchte auch niemanden, die Trainer wurde sehr leise im Helm – ich wusste, ich
„Mein Vater natürlich.“ Wie der denn taten sich schwer mit mir. Weil ich mir die bin verdammt schnell, ich hatte Rücken-
heiße? „Na, Maier Hermann“, sagte ich. Jahre zuvor alles selbst angeeignet hatte, wind. Ich hob ab und geriet im Sprung in
Von dem habe er noch nie gehört. Darauf musste mir niemand erklären, wie ich wel- Schieflage. Das war mir aber schon öfter
ich: „Kann schon sein, aber er fährt gut.“ che Kurve nehmen muss. Dass ich das passiert. Ich dachte, wenn ich jetzt halb-
SPIEGEL: Was faszinierte Sie an ihm? Ganze als Hobby sah, mein Beruf war ja wegs die Landung hinkriege, bleib ich im
Maier: Seine Leidenschaft! Wie der sich Maurer, hat die anderen noch mehr aufge- Rennen. Doch die Kräfte waren so groß,
aufregte, wenn er einen Skistock verlor – dass ich höher und höher stieg. Und es zog
mein Vater war so richtig mit Herz dabei. mir die Beine nach oben. Ich wusste, jetzt
SPIEGEL: Sie sind ein Autodidakt. Wären geht es nur noch um Schadensbegrenzung.
Sie auch so ein guter Skifahrer geworden, Um mir nicht das Genick zu brechen,
wenn Sie auf dem Internat geblieben und streckte ich meinen Kopf reflexartig im-
im Verband groß geworden wären? mer mehr nach rechts, je näher ich dem
Maier: Höchstwahrscheinlich nicht. So ein Boden kam. Nach dem Aufprall sah ich
System schleift dir deine Ecken und Kan- die roten Netze näher kommen und dach-
ten ab. Teamtraining wäre nichts für mich te, nein, hoffentlich bleibe ich da nicht wie-
gewesen. der mit der Hand drin hängen. So hatte
CONTRAST / ACTION PRESS

SPIEGEL: Als Sie in die Nationalmannschaft ich mir schon einmal das Handgelenk ge-
kamen, waren Sie ein Einzelgänger. Ihr brochen. Aber durch das hohe Tempo habe
langjähriger österreichischer Teamkollege ich die Netze überhaupt nicht gespürt. Als
und größter Konkurrent Stephan Eber- ich endlich lag, war ich mir sicher, an der
harter bezeichnete Sie als Kauz. Warum linken Schulter steht der Knochen raus.
haben Sie sich so abgeschottet? Ich traute mich gar nicht hinzuschauen,
Maier: Am Anfang war es Selbstschutz. Die Maier-Brüder Hermann und Alexander (1981) hatte aber nur Prellungen. Drei Tage spä-
anderen waren eine verschworene Ge- „Wow, das ist was Schönes“ ter gewann ich den Super-G.
122 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
SPIEGEL: Haben Sie überhaupt darüber Noch hat sich kein Richter konkret mit
FUSSBALL
nachgedacht, was Ihnen durch den Über- ihnen befasst. Allein die formale Frage,
mut hätte passieren können?
Maier: Nein. Ich wollte das Rennen gewin-
nen. Unter allen Umständen.
SPIEGEL: Würden Sie das Risiko heute wie-
Ohne Rechnung welches Gericht für den Fall zuständig ist,
könnte jedoch bedeutsamer sein als der
Streit um Rufschädigung und Mobbing.
Eingereicht wurde die Klage zunächst
Rund 1200 Honorartrainer
der in Kauf nehmen? beim Arbeitsgericht Kempten. Die An-
Maier: Das kann man nicht vergleichen.
beschäftigt der DFB für sein Talent- wälte des DFB beantragten, die Klage
Die Erfahrung würde mich heute daran förderprogramm. Jetzt müssen abzuweisen, weil der Rechtsweg zu den
hindern. Gerichte klären, ob sie selbständig Arbeitsgerichten nicht zulässig sei. Die
SPIEGEL: Haben Sie die Dominanz verloren, sind oder Arbeitnehmer. Trainer seien keine Arbeitnehmer. Der
weil Sie jetzt zu viel Erfahrung haben? DFB, der die Trainer laut Klage nicht

M
Maier: Als junger Profi lässt man sich nichts it dem Projekt sucht der Deutsche genügend geschützt haben soll, habe daher
sagen und fährt sein Ding. Das ist schon ein Fußball-Bund (DFB) seit 2002 keine Fürsorgepflicht, es gebe keinen
Vorteil. Aber die Erfahrung hilft, die per- flächendeckend die Stars von Arbeitsvertrag.
fekten Abstimmungen schneller zu finden. übermorgen, der damalige Chef Gerhard Das sieht Werner L. Maier, der Münch-
SPIEGEL: Gibt es auch Momente, in denen Mayer-Vorfelder erklärte es zur „Chef- ner Anwalt der Trainer, anders. Der DFB
Sie nicht an die perfekte Kurve, den per- sache“. Nach dem Talentförderprogramm, wolle sich bloß der Sozialversicherungs-
fekten Sprung denken? das sich der Verband rund zehn Millionen pflicht entziehen, womöglich könnten ja
Maier: Heute schon. 2001 hat meine dama- Euro jährlich kosten lässt, bekommen etwa Versicherer rückwirkend bis 2002 An-
lige Freundin am Morgen vor dem Rennen 16000 besonders begabte Nachwuchskicker sprüche geltend machen, wenn nun geklärt
in Kitzbühel zu mir gesagt, dass ich in der zwischen 11 und 17 Jahren an 390 Stütz- werde, dass die Trainer Nichtselbständige
Nacht fürchterlich gezappelt hätte. Da habe punkten der Republik einmal pro Woche seien. „Das kann ihn teuer zu stehen kom-
ich bestimmt den Zielschuss geprobt, der eine Zusatzschicht in Technik und Taktik. men.“ Das Problem ist das Programm
passte beim Training nicht perfekt. Heute 29 hauptamtliche Stützpunktkoordina- selbst. Schon der Gedanke einer Verein-
schaffe ich es, auch mal ganz abzuschalten. toren hat der DFB für das unbefristete Pro- heitlichung von Trainingsmethoden und
SPIEGEL: Eine Folge des Motorradunfalls, jekt eingestellt, nach bundesweit einheit- bundesweit gleicher Lehrinhalte wider-
bei dem Sie fast gestorben wären? lichen Trainingsplänen arbeiten rund 1200 spreche einer selbständigen Tätigkeit der
Maier: Ganz unten zu sein macht mensch- Honorartrainer mit den Talenten. Jetzt 1200 Trainer, meint Maier.
lich. Ich habe Demut gelernt, selbstver- Zu Beginn des För-
ständlich ist für mich heute nichts mehr. derprogramms hatte der
Heute danke ich in Momenten des Erfolgs DFB den Status des Ho-
dem lieben Gott für den Triumph. Ich glau- norartrainers an einem
be, der Unfall war ein Zeichen von oben, Vertragsbeispiel prüfen
dass es auch bei mir Grenzen gibt. lassen: Bundesversiche-
SPIEGEL: Der Druck der Medien war nach rungsanstalt für Ange-
Ihrem Unfall so groß, dass Sie noch im stellte, eine Krankenkas-
Krankenbett eine Pressekonferenz gaben. se und ein Finanzamt be-

OLIVER BERG / PICTURE-ALLIANCE / DPA


Haben Sie Ihre Infusionsschläuche vor den stätigten, dass es sich um
Kameras versteckt, weil Hermann Maier eine selbständige Tätig-
keine Schwäche zeigen durfte? keit handele.
Maier: Die Fans sollten glauben, dass es wie- Es komme aber auf die
der schnell aufwärtsgeht mit mir. Vielleicht konkrete Gestaltung an,
habe ich mir auch selbst was vormachen so Maier. Seinen Man-
wollen. Abends, als ich wieder allein dort danten sei vorgeworfen
lag, fühlte ich mich elend. Man hätte gleich worden, sie hätten unent-
die Wahrheit sagen müssen. Informieren, DFB-Jugendtrainer: Kündigungsschutz und Urlaubsanspruch? schuldigt bei Pflicht-
dass ich Monate, vielleicht Jahre ausfalle. veranstaltungen gefehlt,
SPIEGEL: Sie sind vor kurzem 35 Jahre alt muss der DFB sein Stützpunkttraining vor auch das sei ein Indiz für eine abhängige
geworden, wie alt fühlen Sie sich wirklich? Gericht erläutern. Wenn es dumm läuft, Arbeitnehmerstellung. Außerdem zahle
Maier: Mit 28 habe ich mich deutlich fitter muss er für die nebenberuflichen Ho- der DFB den Trainern jeden Monat 307
gefühlt. Da taten mir die Knochen noch norartrainer nachträglich Sozialversiche- Euro, unabhängig vom Aufwand, ohne
nicht so weh. Und das Bein, das beim Un- rungsbeiträge zahlen, es geht auch um Rechnungsstellung. Die Trainer müssten
fall verletzt wurde, schwillt beim Skifahren Kündigungsschutz und Urlaubsanspruch. die DFB-Datenbank nutzen, seien also
an, der Fuß wird taub. Wenn ich im Flug- Hintergrund ist ein Rechtsstreit mit zwei auch betrieblich eingegliedert.
zeug sitze, bläst sich das Bein auf wie ein ehemaligen Trainern aus dem Allgäu. Sie Das Arbeitsgericht Kempten hielt die
Ballon. Ich habe immer schwarze Throm- klagen gegen einen Stützpunktkoordina- Kläger für Selbständige. Deren Anwalt hat
bosestrümpfe an. tor wegen gezielten Mobbings und gegen Beschwerde eingereicht, jetzt muss das
SPIEGEL: Toni Sailer hat nach der Karrie- den DFB wegen Verletzung der Fürsorge- Landesarbeitsgericht München entschei-
re Filme gedreht wie „12 Mädchen und pflicht. Klaus Felder, 47, und Ralf Schil- den, ob es zuständig ist.
1 Mann“, der österreichische Fußballer ling, 38, beide inzwischen wegen Auflö- Derzeit wird die Talentförderung im
Hans Krankl hat Platten aufgenommen. sung der Trainingsgruppe vom DFB gekün- DFB reformiert. Das Programm soll de-
Was planen Sie? digt, fordern 20 000 beziehungsweise 25 000 zentralisiert, die Förderkader beschränkt,
Maier: Singen kann heute ja fast jeder, und Euro Schadensersatz. Vier Jahre lang seien die Zahl der Honorartrainer um rund ein
konkrete Filmpläne habe ich auch noch sie durch falsche Anschuldigungen diffa- Drittel verkleinert werden. Vielleicht wird
nicht. Im Moment fühle ich mich in meiner miert worden, der Koordinator habe ziel- es schwieriger als gedacht, sich von den
Rolle als Skifahrer noch sehr wohl. gerichtet versucht, ihre Reputation zu schä- Trainern zu trennen. Werden sie nun als
SPIEGEL: Herr Maier, wir danken Ihnen für digen. Der Stützpunktkoordinator bestrei- Arbeitnehmer eingestuft, haben sie Kün-
dieses Gespräch. tet die Vorwürfe. digungsschutz. Jörg Kramer

d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 123
Prisma

BILDUNG

Schulverweigerer
auf der Flucht
B ei der Behörde haben sie sich schon
abgemeldet – noch in dieser Woche
wollen Tilman Neubronner und seine
Söhne Moritz, 11, und Thomas, 8, ihre
Bremer Heimat verlassen. Der Grund:
Seit rund zwei Jahren verweigern die
Neubronner-Jungs den Schulbesuch, sie
wurden von ihren Eltern zu Hause un-
terrichtet (SPIEGEL 14/2007). Ein
Schuljahr lang ließ die Bildungsbehörde
THOMAS PFLAUM / VISUM

die Homeschool-Fans gewähren; nun


jedoch drohen den aufmüpfigen Eltern
Zwangsgelder, Ersatzzwangshaft und
womöglich gar Einschränkungen des Kernkraftwerk (in Biblis)
Sorgerechts. „Mit Zwangsgeld können
wir leben, aber die Angst um das Sorge-
recht treibt uns jetzt ins Ausland“, sagt ENERGIE

Mogelpackung Ökostrom
Mutter Dagmar Neubronner, die vorerst
in Bremen bleibt, um ihren Buchverlag
weiterzuführen. Wohin die Flucht ge-
hen soll, wollen die Neubronners noch
nicht verraten. In den meisten EU-Län-
dern ist Heimunterricht unter Auflagen
erlaubt. „Auch in Deutschland sollte
F ührende Energieexperten sowie der Bundesverband der Verbraucherzentralen
kritisieren die (legale) Praxis, Atom- oder Kohlestrom in Ökoenergie umzueti-
kettieren. Grundlage dafür ist das „Renewable Energy Certificate System“ (RECS),
das möglich sein“, fordert Matthias Wes- das in etlichen europäischen Ländern einen für Stromkunden wenig transparenten
terholt, Anwalt der Familie. Im Rechts- Tausch ermöglicht: Ein Stromversorger kauft Strom an der Börse, etwa aus dem AKW
streit um die Befreiung der Kinder von Krümmel, für 7 Cent je Kilowattstunde. Den veredelt er dann für 0,05 Cent mit ei-
der Schulpflicht steht demnächst das nem Ökozertifikat eines norwegischen Wasserkraftwerks; dessen Betreiber muss
Berufungsverfahren an.

GESUNDHEIT

Agentur für seltene Krankheiten


D ie EU-Kommission will die prekäre Lage von vielen Millionen Menschen ver-
bessern, die an einer sogenannten seltenen Krankheit leiden. Dazu zählen etwa
5000 bis 8000 Erkrankungen, von denen die meisten Ärzte kaum etwas wissen.
Solche Leiden – wie Lungenhochdruck, Progerie (vorzeitige Alterung), besondere
THOMAS LOHNES / DDP

Formen von Muskelschwund und viele Krebsarten, vor allem bei Kindern – erwi-
schen höchstens einen von 2000 Menschen. Oft gibt es weltweit jeweils sogar nur ein
paar hundert Fälle. Fehlende Kenntnisse darüber führen häufig zu falschen oder
verspäteten Diagnosen. Spezielle
Medikamente gibt es kaum. Für
die Pharmakonzerne ist der jewei- Beutelspacher (vor der Zahl Pi)
lige Markt nicht lukrativ genug.
Brüssel schlägt nun die Gründung M AT H E M AT I K

Pi am Kölsch-Glas
einer „Agentur für seltene Krank-
heiten“ vor. Die könnte das in
europäischen Universitäten, For-
schungslabors und Kliniken de-
zentral vorhandene Wissen bün-
deln und Ärzten wie Wissen-
W ie wird aus etwas Zweidimen-
sionalem etwas Dreidimensiona-
les? Wie lässt sich mit Hilfe von zwei
schaftlern zur Verfügung stellen. Pflöcken und einer Schnur ein perfekt
Mit einer schriftlichen „öffent- elliptisches Gartenbeet anlegen? Und
KARSTEN SCHÖNE

lichen Anhörung“ will die Kom- wie schnippelt man eine Postkarte so
mission bis zum 14. Februar zurecht, dass daraus ein Ring entsteht,
die Reaktion von Fachleuten und durch den – rein mathematisch – sogar
den Gesundheitspolitikern der ein Flugzeug passen würde? In ihrem
Progerie-Patienten-Treffen (in Bad Münstereifel) 27 EU-Mitgliedstaaten erkunden. Buch „Wie man durch eine Postkarte
124 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Wissenschaft · Technik
die entsprechende Menge seines Öko-
stroms in konventionellen umetiket-
tieren – im Gegenzug darf der deut-
sche Versorger seinen Graustrom als

PHIL YEOMANS / BNPS


Ökostrom verkaufen. Als „reinen Ver-
schiebebahnhof“ bezeichnet Thorsten
Kasper von der Verbraucherzentrale
diesen Trick, der Angebote erst mög-
lich macht, bei denen angeblich auf ei-
nen Schlag ganze Städte komplett mit
Ökostrom versorgt werden – „auf dem ARCHÄOLOGI E

Antiker Schuh-Tick
Papier, ohne dass auch nur eine zu-
sätzliche Kilowattstunde davon er-
zeugt wird“. Erst kürzlich hatten sich
auf diese Weise die Städtischen Werke
Kassel als „Vorreiter für umweltge-
rechte Stromerzeugung“ präsentiert,
D ie weibliche Leidenschaft für luxu-
riöses Schuhwerk ist kein neuzeit-
liches Phänomen – davon zeugt der
mit „sauberem Naturstrom“ für alle jüngste Fund einer römischen Frauen- Korksohle, Steinsarkophag
Haushalte. Etliche Versorger ziehen bestattung aus dem 3. Jahrhundert im
derzeit nach. „Eine Täuschung des englischen Boscombe Down (Grafschaft chemischen Reaktion um eine Metall-
Verbrauchers“, sagt Uwe Leprich von Wiltshire). Die Tote trug exquisite Pan- perle herum erhalten haben“, schwärmt
der Hochschule für Technik und Wirt- toffeln aus Hirschleder mit Korkabsät- Andrew Fitzpatrick vom privaten Aus-
schaft des Saarlands: Der meine, für zen; die Kanten der Schuhe waren mit gräber Wessex Archaeology. Im Arm
sein Geld drehten sich neue Wind- Fellstreifen verziert – ein Import aus hielt die Tote zudem ein junges Mäd-
räder. „Tatsächlich landet sein Geld dem fernen Spanien oder Portugal. In chen, das Stiefeletten aus feinstem
größtenteils beim Atom- oder Kohle- Britannien war solches Schuhwerk da- Kalbsleder trug – wahrscheinlich ebenso
kraftwerkbetreiber. Womöglich wird mals noch unbekannt. Von einem Be- Importware. Wer waren diese beiden
mit dem grünen Label auch noch die gräbnis erster Klasse zeugt auch der Unbekannten mit dem Schuhtick? Be-
nächste Preiserhöhung kaschiert.“ Sarkophag der Toten: In der drei Ton- kannt ist nur: Ihr Grab war um 220 nach
Ökointeressierte Verbraucher sollten nen schweren Sonderanfertigung aus Christus das erste auf diesem Friedhof.
deshalb bei ihren Anbietern nachfra- Stein hielt sich die Leiche trotz des Alle späteren Toten wurden in schlich-
gen, welcher konkrete zusätzliche Um- feuchten Bodens in außerordentlich ten Holzsärgen begraben, an den Füßen
weltnutzen entstehe, rät Leprich. gutem Zustand. „Wir haben sogar noch einfache, derbe Lederstiefel aus heimi-
Stoffreste gefunden, die sich dank einer scher Produktion.

steigt“ haben der Gießener Mathema- TIERE dringend hohes „ziiiieh“. Seine akusti-

Horch, wer da pfeift!


tikprofessor Albrecht Beutelspacher sche Exkursion bereichert der Gründer
und sein junger Mitarbeiter Marcus der Fachgruppe Ornithologie des Natur-
Wagner Mathematik zum Anfassen auf- schutzbundes Deutschland mit viel Wis-
bereitet. Viele Experimente und Kno-
belspiele eignen sich prima für Kinder
und ebenso für Mathe-Muffel; für die
I st’s die Kohlmeise, die hier tiriliert,
ein simpler Gimpel oder gar die
Nachtigall? Nein, es ist der Diplombio-
senswertem über Lebensraum und Ver-
halten der Vögel. Er erklärt Aufbau und
Struktur ihrer Gesänge und streut laut-
meisten braucht man nicht mehr als loge Uwe Westphal, der auf einer CD malerische Merksätze für den nächsten
Schere, Lineal, Papier und Uhu: schnip- 95 Vogelstimmen so perfekt imitiert, Waldlauf ein. So lässt sich das Lied des
FRITZ RAUSCHENBACH / MAURITIUS IMAGES

peln, verdrehen, kleben – fertig ist das dass sich sein Gezwitscher von dem der Trauerschnäppers übersetzen mit:
Möbius-Band. Dieses und andere Aha- Vögel praktisch nicht mehr unterschei- „Siehst du, Siehst du – trüb, trüb ist die
Erlebnisse vermitteln die Autoren recht- den lässt. Die knirschend-quietschende Lieb, trüb ist die Lieb.“ Und die Dorn-
zeitig zum Jahr der Mathematik: „Mit Strophe des Hausrotschwanzes trifft er grasmücke fällt ein: „Sag ich doch. Hab
einem physikalischen Experiment wird ebenso tongenau wie den Schluss- ich doch gesagt. Sag ich doch
ein Naturgesetz nachgewiesen, mathe- schnörkel des Wintergold- die ganze Zeit.“ Und die Nach-
matische Experimente regen Gedanken hähnchens oder den „Bo- tigall? Entpuppt sich mit ihrem
an“, sagt Beutelspacher – zum Beispiel, denfeindwarnruf“ der Schluchzen und Schlagen in
dass manchmal hinter etwas Geboge- Amsel – ein durch- Westphals Umschrift als Dada-
nem etwas ganz Gerades stecken kann. Poetin:
Oder dass man mit einem DIN-A4-Blatt Ih ih ih ih ih watiwatiwatih!
ganz einfach bis zum Mond kommen hih titagirarrrrrrrrrr itz,
lü lü lü lü lü lü lü lü lü watitititi
kann – zumindest in Gedanken. Oder Dadada jetjetjetjetjetjetjetjetjet
wie man mit einer Schnur die Zahl Pi tütütütütütütü zatnzatnzatnzi,
am Kölschglas entdeckt. Na dann: zezezezezezzäzäzäzäzazazazi,
Prost, Mathe! ji jih güh güh güh güh güh dalidowitz.

Albrecht Beutelspacher und Marcus Wegner: „Wie Uwe Westphal: „Vogelexkursion“. Musik-
Kohlmeise verlag Edition AMPLE, Rosenheim;
man durch eine Postkarte steigt – und andere spannen-
de mathematische Experimente“. Herder-Verlag, Frei- Audio-CD inklusive 32-seitigem Beiheft;
burg; 160 Seiten; 14,90 Euro; erscheint am 21. Januar. 14,95 Euro.

125
RAFIQUR RAHMAN / REUTERS

Flutkatastrophe in Bangladesch (2005): Erforschen, was das globale Dorf im Innersten zusammenhält – und entzweit

BILDUNG

Die Welt-Universität
Seit über 30 Jahren leisten sich die Vereinten Nationen eine eigene Universität – doch in der kaum
bekannten Einrichtung findet bislang kein regulärer Lehrbetrieb statt. Nun will der neue
Rektor, ein Mathematiker aus der Schweiz, die Uno-Uni in eine richtige Hochschule verwandeln.

S
ieben Stunden lang war er gleichzei- stalt weder Studenten noch regulär unter- Seit über 30 Jahren untersuchen UNU-
tig Chef zweier Universitäten. „Eine richtende Professoren, sondern funktio- Wissenschaftler, was das globale Dorf zu-
Folge der Zeitverschiebung“, sagt niert eher als Thinktank der Vereinten Na- sammenhält und entzweit: Kriege und
Konrad Osterwalder mit seinem Schwei- tionen. Der neue Rektor will daraus eine Friedenseinsätze, Armut und Entwick-
zer Singsang und einem markigen Grin- richtige Hochschule machen – die vielleicht lungshilfe, Naturkatastrophen und Um-
sen, das an Luis Trenker erinnert. universellste Universität, die es je gab. weltschutz. Mit derlei Themen befassen
Um Punkt 24 Uhr am 31. August ver-
gangenen Jahres schied der Mathematiker Das Netz der UN-Universität
als langjähriger Rektor der renommierten
Eidgenössischen Technischen Hochschule
ISLAND FINNLAND
(ETH) in Zürich aus – und Punkt Mitter- Helsinki
nacht Ortszeit am 1. September trat der KANADA Reykjavík
65-Jährige sein neues Amt an: als Rektor Hamilton
NIEDERLANDE
der „United Nations University“, kurz Maastricht DEUTSCHLAND
UNU. USA Bonn
Welcher Universität, bitte? Ithaca BELGIEN
Brügge JAPAN
Osterwalder ist derlei ungläubige Nach- JORDANIEN Tokio
fragen gewöhnt – und genau das ist das Amman Macau
Problem. Bislang kennen nur Eingeweihte
die UNU, deren Buchstaben man einzeln
ausspricht, was so klingt wie „You’n’You“. VENEZUELA GHANA MALAYSIA
Der Name lädt zu Missverständnissen Caracas Accra Kuala Lumpur
ein: Bislang hat die vermeintliche Lehran- Quelle: UNO

126 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Wissenschaft

sich über 350 Forscher aus rund hundert die Nachbarstadt Yokohama verlegt – und nischen Vizerektor andienen wollte, hat er
Ländern an 13 Standorten in aller Welt, Teile der Verwaltung nach Kuala Lumpur. kühl geantwortet: „Wenn er so gut ist, wie
von Macau bis Helsinki, von Accra bis Um Verständnis und Geld einzuwerben, Sie sagen, setzt er sich sicher gegen die
Bonn. versucht Osterwalder, den Japanern die Konkurrenz durch.“
Die UNU-Zentrale thront mit ihren 14 Welt-Universität als Teil ihres nationalen Seine mangelnde diplomatische Rück-
Stockwerken im Herzen von Tokio. An der Erbes schmackhaft machen. Immerhin: Ei- sichtnahme ist Programm – und vielleicht
Spitze der trutzigen Pyramide, entworfen ner der größten Fans der UNU ist keine sogar eine Stärke. Immer wieder betont
vom Stararchitekten Kenzo Tange, resi- Geringere als die japanische Prinzessin Osterwalder die absolute Unabhängigkeit
diert Osterwalder in einer geräumigen Masako, die angeblich sogar ein eigenes der UNU. „Wenn ich akademische Qua-
Penthousewohnung. Vom Frühstückstisch Büro in der Uni-Zentrale hat. Osterwalder lität will, darf ich keine politischen Zuge-
aus kann er den schneebedeckten Gipfel will das nicht kommentieren. Unstrittig ist ständnisse machen“, sagt er.
des Fujisan in der Ferne funkeln sehen. jedoch: Die dienstälteste Herrscherdy- Besonders stolz ist er auf Forschungs-
Zwei Stockwerke unter seinem Schlaf- nastie der Welt ist mit der Zukunft der berichte aus seinem Haus, die sogar die ei-
zimmer liegt sein Büro. Nach vier Monaten Welt-Uni eng verwoben. Denn das Wohl- gene Dachorganisation kritisieren, die Ver-
ist es noch immer so kahl, wie sein Amts- wollen des Tenno öffnet viele Türen, und einten Nationen. So werden zum Beispiel
vorgänger es hinterlassen hat. Vor seinem ohne Japan keine Welt-Uni. die „unerwünschten Nebeneffekte“ von
Rechner hängt schlaff und im Spielzeug- Unermüdlich trommelt Osterwalder für Blauhelmmissionen untersucht, etwa Kor-
format ein kleines blaues Uno-Fähnchen. seine Vision. Deshalb sitzt er auch an die- ruption und Prostitution.
„Good morning, Rector“, sagt seine As- sem Nachmittag in der Chefetage des wohl Doch Osterwalder will auch die UNU
sistentin, bringt noch einen Espresso, und wichtigsten Fernsehsenders im Inselreich. selbst einer schonungslosen Begutachtung
überreicht ihm einen akribisch ausgear- Der TV-Chef rauscht herein, umgeben von unterziehen. „Ich will ein unabhängi-
beiteten Terminplan: das tägliche Meeting- seiner Entourage. Man verbeugt sich, doch ges Evaluationssystem einführen“, sagt er.
ANDRONIKI CHRISTODOULOU / WPN / AGENTUR FOCUS

UNU-IIST / IMAGINECHINA
Rektor Osterwalder vor der UNU-Zentrale in Tokio, Schulung am UNU-Institut in Macau: „Heute habe ich wieder Diplomatie geübt“

Marathon mit Ministern und Medienbos- dann stockt die Zeremonie: Osterwalder Einige Forschungsbereiche sollen abge-
sen, Direktoren und Diplomaten, Honora- hat seine Visitenkarten vergessen. baut, Kernkompetenzen gestärkt werden.
tioren und Höflingen. Schließlich ist er der Höflich wird der Fauxpas übergangen. Osterwalder tritt nicht nur als Visionär an,
höchste Repräsentant der Vereinten Na- Osterwalder hält seinen „Sales talk“, wie sondern vor allem auch als Sanierer.
tionen in Asien. Osterwalder untersteht di- er es später selbstironisch nennt, und wirbt Sein vielleicht wichtigstes Vorbild heißt
rekt dem Uno-Generalsekretär Ban Ki für seine neue UNU. Und statt Visitenkar- Marie Jean Marquis de Condorcet, ein Ma-
Moon – auf einer Stufe mit den Chefs von ten hat er eine Idee mitgebracht: Wäre es thematiker wie Osterwalder selbst. In sei-
Organisationen wie Unesco oder Unicef. nicht möglich, die Entwicklung von Billig- nen Schriften wetterte Condorcet gegen
Osterwalder ist der oberste Diplomat ei- Fernsehgeräten für Entwicklungsländer zu Zölle und Monopole und warb für die all-
ner globalen Gelehrtenrepublik; das UNU- fördern? Sein Gegenüber nimmt es höflich gemeine Schulpflicht. Der Vordenker der
Gebäude hat den Status einer Botschaft. zur Kenntnis. Und präsentiert seinerseits Wissensgesellschaft starb 1794 im Gefäng-
Kein Rektor der Welt hat eine solche einen teuren Flachbildfernseher. nis. „Condorcet ist in die Mühlen der Po-
Machtfülle wie er – aber kaum einer ist Osterwalder nimmt es gelassen. Er ist litik geraten“, sagt Osterwalder. Er selbst
auch so hilflos der Politik ausgeliefert. ein pragmatischer Idealist, ein Visionär der dagegen hofft, diese Mühlen für sich mah-
Die UNU weckt Begehrlichkeiten aus kleinen Schritte. Als eine der ersten Amts- len zu lassen. Offiziell beträgt seine Amts-
vielen der 192 Mitgliedstaaten der Uno. handlungen hat er allen UNU-Filialen zeit nur fünf Jahre, aber sein internes Stra-
Doch für die Finanzierung der rund 45 Mil- ein Videokonferenzsystem verordnet, um tegiepapier trägt optimistisch den Titel
lionen Dollar Betriebskosten pro Jahr ist Flugreisen einzusparen. Er hat das Foyer „UNU 2020“.
sie auf das Wohlwollen weniger Geberlän- von alten Postern entrümpelt und nutzt Die Geschichte der Uno-Uni dagegen in-
der angewiesen, allen voran Japan. Und die unteren Geschosse für öffentliche Ver- teressiert ihn nicht weiter. Auf seinem
seit die japanische Wirtschaft schwächelt, anstaltungen. Tisch liegen zwei Bücher zum Thema. Sie
sinkt die Spendenbereitschaft. Wegen Etat- Ein geborener Diplomat ist er nicht. Als erzählen von deren Gründung im Jahr 1975
kürzungen wurden einige ihrer Räume in die japanische Regierung ihm einen japa- und von den Hoffnungen Japans, mit einer
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 127
100-Millionen-Dollar-Spende für die Uno-
Uni endlich aus dem langen Schatten des
Zweiten Weltkriegs zu treten. Der erste
Rektor war ein Amerikaner, der fließend
Japanisch sprach – weil er hier als Besat-
zungsoffizier stationiert war. Er beschrieb
die UNU als Experiment, das gleichzeitig
„erfunden, finanziert, popularisiert und
gerechtfertigt“ werden musste.
Osterwalder hat diese Bücher nur ober-
flächlich durchgeblättert. „Ich will mir un-
vorbelastet meine eigenen Gedanken ma-
chen“, sagt er. Ein bisschen scheint es, als
wolle er die Welt-Uni nach dem Vorbild
der ETH Zürich umformen. Vor allem will
er erstmals Studenten an die Welt-Uni
holen, an der sie auch Abschlüsse erhal-
ten sollen – mit dem Logo der japanisch-
globalen Alma Mater.
Der Umbau in eine Uni solle Prestige Fossilienküste „Jurassic Coast“
bringen, so Osterwalder, was Sponsoren
aus der Industrie anlocke; auf diese Weise
wiederum könnte die Finanzierung gesi-
chert werden – und damit die Qualität. PA L Ä O N T O L O G I E

Das Grab Gottes


Doch sein Vorstoß ist gewagt, denn bis-
lang sind Abschlüsse das Privileg her-
kömmlicher nationaler Universitäten; und
das wird von den Mitgliedstaaten eifer-
süchtig verteidigt. Die UNU aber ist klein
und auf Kooperation angewiesen: „An je- Im Süden Englands liegt ein Saurierfriedhof, auf dem Sammler,
der Universität, die Rang und Namen hat, Kinder und Forscher nach den Resten der Vorzeit wühlen. Einem
sollten wir zumindest einen engen Mitar- Mädchen gelangen dort einst Funde, die den Schöpfungsbericht
beiter sitzen haben“, sagt Osterwalder. „Es
soll eine Auszeichnung sein, mit der UNU der Bibel entzauberten – und der Evolutionslehre Bahn brachen.
zusammenzuarbeiten.“

W
Um die weltweite Zuständigkeit zu be- enn es schüttet und stürmt, wenn cken, manchmal ragen einzelne Knochen
tonen, will er zudem alle Filialen in Indu- die See gegen die Steilküste Süd- einfach so aus der Felswand. Und manch-
strieländern verpflichten, jeweils ein „Twin englands peitscht und ganze mal findet er gar nichts.
Institute“ in einem Entwicklungsland auf- Schieferwände zerschlägt, dann geht Chris Hart ist die Arbeit und gefährlich. Von
zubauen. Das soll die Wissenskluft verrin- Moore auf die Jagd nach Großwild, das den Klippen drohen Erdrutsche und
gern und Forschungsmonopole schleifen. schon ziemlich lange tot ist. Schlammlawinen. In diesem Lehm kann ein
Wie viel er von diesen kühnen Plänen Moore wartet die Ebbe ab, dann zieht er Mensch versinken wie im Treibsand. Schon
umsetzen kann, muss sich zeigen. Auch warm verpackt mit Rucksack und Ham- lange macht Moore seinen Job, und er hat
die Unterstützung durch Deutschland mer hinaus auf den langen Strand vor nicht genug davon. „Man kann hier“, sagt
könnte dabei eine Rolle spielen. Zum Charmouth an der Kanalküste. Dies ist ein er, „immer noch etwas ganz Neues finden.“
Beispiel will die UNU die Bundesre- einzigartiger Ort: Genau da, wo sich im Ist er nicht auf Pirsch, verbringt Moore
gierung im Vorfeld des nächsten G-8- Sommer halbnackte Badetouristen in der seine Tage in der Werkstatt, einer Intensiv-
Gipfels, der im Juli in Japan stattfindet, Sonne aalen, da liegen an manchen Win- station für Saurier. Sie ist voll von Gestein
beraten. Und es kursieren Gerüchte, dass tertagen plötzlich halbverkrustete Mon- und Gebein, Wirbel hier, Flossen dort; es
neben dem UNU-Institut in Bonn dem- stren im Sand, teils meterlang, wenn auch ist staubig und laut. Mit Fräsen und Sand-
nächst eine zweite Filiale hierzulande selten in einem Stück. strahlern legt Moore die Geschöpfe frei.
eröffnen könnte. Bei diesen Erscheinungen handelt es Alex, sein 23-jähriger Sohn, hilft ihm dabei.
Osterwalder weiß um die Widerstände sich um Zeitreisende aus einer unterge- Jedes der Urgerippe, sagt Moore, erfor-
gegen seine Umbaupläne; aber er gibt sich gangenen Welt. Es sind die versteinerten dere „Hunderte Stunden Arbeit“. Wenn
lernfähig. „Heute habe ich wieder etwas Überbleibsel von Urechsen, Riesenfischen sie fertig sind, verkauft er sie mitunter für
Diplomatie geübt“, erzählt er seiner Frau und Dinosauriern. Das Meer hat sie her- Zehntausende Pfund an Forscher, Sammler
abends im Restaurant. Am Nachmittag ausgespült aus ihren Gräbern in der Küs- und Dekorateure. Moores Werke stehen
habe er sich mit einem Diplomaten aus ei- tenwand. Viele von ihnen haben seit 200 unter anderem im Natural History Muse-
ner arabischen Monarchie getroffen. Millionen Jahren kein Licht mehr gesehen um in London, in Tokio und in Toronto.
„‚Sie müssen mehr in Bildung investie- – und wenn Moore sie findet, dann ist dies Drei Arten von Fischsauriern hat er als
ren, wenn Sie eine stabile Demokratie auf- entweder der Moment ihrer Verdammnis Erster gefunden. Eine ist sogar nach ihm
bauen wollen‘, wollte ich dem eigentlich ra- oder ihrer Auferstehung. benannt: Leptonectes moorei.
ten“, erzählt der Welt-Rektor. „Aber dann Sein Blick ist geschult. Falls er fündig Moores Dorf Charmouth thront auf ei-
habe ich mir auf die Zunge gebissen.“ wird, dann tut Eile not. Was Moore, 49, ner der reichsten Fossilienlagerstätten der
Denn vermutlich wolle der dortige Herr- nicht vor der Flut einholen kann, das wird Welt. Und gleichzeitig ist der Ort eine der
scher gar keine Demokratie. „Also habe auf ewig in der See verschwinden. Manch- Wiegen der Geologie und der Paläonto-
ich einfach nur gesagt: ‚Ohne Bildung und mal findet er nur einen in Gestein einge- logie. Moores Vorgänger, allen voran eine
Forschung kann kein Land wirtschaftlich schlossenen Schädel, manchmal ganze Ge- bettelarme Frau namens Mary Anning,
vorwärtskommen.‘“ Hilmar Schmundt rippe. Manchmal muss er graben und ha- haben hier vor fast 200 Jahren Funde ge-
128 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Wissenschaft

che durch das bizarre Gräberfeld. Unter im Boden bis heute sichtbar ihre Fährte
seiner Anleitung finden selbst Kinder so hinterlassen. Vor allem aber strotzte die
leicht Fossilien wie anderswo Muscheln. Gegend vor Wasserbewohnern – vor Ur-
Kauzig, im Indiana-Jones-Aufzug, erzählt krokodilen, Langhälsen und Fischsauriern.
Dawes den Kleinen dabei Geschichten Immer schon haben Menschen Teile von
vom großen Darwin und davon, wie die Fossilien aus der Vorzeit gefunden. Aber
natürliche Selektion immer neue Arten sie ahnten nicht entfernt, womit sie es zu
hervorgebracht hat. Hin und wieder trifft tun hatten: dass es auf Erden Welten gab
er dabei auf empörte Eltern, die nicht vor dieser hier, das war lange undenkbar.
die naturwissenschaftliche Schöpfungsge- Mancherorts nannte man Ammoniten
schichte hören wollen, sondern die andere. „Schlangensteine“, weil in ihnen Verstei-
Tourismusmanager haben diesen Küs- nerungen eingerollter Schlangen gesehen
tenabschnitt des Distrikts East Devon und wurden. Manche Leute versprachen sich
der Grafschaft Dorset in „Jurassic Coast“ von ihnen Heilkräfte, gegen Schlangen-
RICHARD AUSTIN / REX FEATURES
umbenannt. Neuerdings steht er sogar auf bisse etwa oder gegen Impotenz. Anderen
der Unesco-Liste des Weltnaturerbes – ne- galten Fossilien als Werk Satans, den meis-
ben Wundern wie dem Great Barrier Reef ten aber als Werk Gottes: Für sie waren die
oder dem Grand Canyon. Die Jurassic versteinerten Tiere nichts anderes als die
Coast ist ein Geschichtsbuch der Erde und Opfer der Sintflut. Wer den Weg auf Noahs
des Lebens: Auf einer Länge von 150 Kilo- Arche nicht gefunden hatte, der fand sich
metern offenbart sich hier das Erdmittel- eben petrifiziert im Dreck wieder.
alter mit den Zeitaltern Trias, Jura und Über Jahrhunderte galt die Genesis, das
macht, die das Wissen um die Geschichte Kreide in einer Deutlichkeit wie nirgendwo 1. Buch Mose, der Christenheit als histori-
des Lebens revolutionierten – und den sonst in seinem Glanz und Schrecken. scher Tatsachenbericht – und die Existenz
Schöpfungsbericht des Alten Testaments Die ersten Ablagerungen datieren von der Fossilien schien ihn sogar noch zu un-
jäh entzauberten, Jahre bevor Charles Dar- vor 250 Millionen Jahren. Damals hatte es termauern. Es passte scheinbar ins Bild,
win mit seiner Evolutionstheorie das Fun- gerade ein planetares Massensterben ge- wenn versteinerte Muscheln hoch im Ge-
dament legte für eine gottlose Welt. geben, das den Dinosauriern erst den Auf- birge gefunden wurden: So hoch musste
Wenn Gott also tot ist, dann sind es stieg ermöglichte. Die jüngsten stammen die Sintflut eben gestiegen sein.
die Monster im Gestein von Charmouth, aus der Zeit von vor 65 Millionen Jahren, Der irische Erzbischof James Ussher er-
die ihn auf dem Gewissen haben. als die Dinos ihr Ende fanden und die Säu- rechnete 1650 aus den Lebensspannen
Heute nähren die toten Viecher viele getiere sich anschickten, sie als Herrscher der Personen im Alten Testament ge-
Münder. Neben Moore leben sieben wei- der Welt abzulösen. Dazwischen schrieb nau den Zeitpunkt der Sintflut und sogar
tere „fossil hunters“, wie sie sich nennen, die Evolution 185 Millionen Jahre lang ihre der Schöpfung. Ergebnis: Gott sandte die
vom Urgetier, und nicht alle haben so viel Dramen – und an der Jurrasic Coast lassen Fluten im Jahr 2501 vor Christus. Him-
Glück wie Tony Gill. Der ist eine Berühmt- sie sich Schicht für Schicht studieren, fast mel, Erde und alles Lebendige, jedes Tier,
heit, seit er nahe dem Parkplatz vor seinem wie bei einem Baumkuchen: Aufstieg und jede Pflanze hatte er exakt 1503 Jahre vor-
Laden einen Mega-Fischsaurier aufspürte. Fall mächtiger Arten, die Verästelung des her geschaffen. Gottes erster Arbeitstag
Zwölf Meter misst das Wesen, seine scharf- Lebens in raffinierte Nischen, Anpassung war Sonntag, der 23. Oktober des Jahres
bezahnte Schnauze ist lang wie ein Men- an Klimawandel, Massensterben, Auslö- 4004 vor Christus. Und vorher war gar
schenbein, die Augenhöhlen sind größer schung und Neubeginn. nichts.
als Metzgerhände. Heute ist die Jurassic Coast geprägt von Viele Jahrzehnte lang hat niemand über
Und auch Zehntausende Touristen wüh- Stränden, sanften Hügeln, viel Grün und solche Theorien gelächelt. Im Gegenteil:
len hier am Strand jedes Jahr nach den schmucken Dörfchen. Aber durch die Jahr- Ussher galt als Koryphäe. Seine Darlegun-
Resten vorzeitlicher Fauna. Hunderte millionen war diese Gegend mal Wüste, gen wurden den Bibeln beigelegt. Der
Spaßpaläontologen dirigiert allein der frei- mal Tropen, mal Karibik. Auf den Inseln Schöpfungsbericht selbst war ohnehin un-
berufliche Biologe Colin Dawes jede Wo- lebten einige Dinosaurier, manche haben angreifbar – allerdings wurde es für den-

MARCO EVERS / DER SPIEGEL


APEXNEWSPIX.COM / APEX

Biologe Dawes, Fossilienjäger Moore (mit Fischsaurier): Halbverkrustete Monstren liegen im Sand

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Wissenschaft

THE BRIDGEMAN ART LIBRARY


NATURAL HISTORY MUSEUM
Anning-Zeichnung eines Plesiosauriers (1824), Fossiliensammlerin Anning (Gemälde): Welche Rolle spielte dieses Tier in Gottes Plan?

kende Menschen immer schwieriger, ihn in sogleich einer Fälschung. Sie habe wohl
hinaus waren sie ratlos. Die Schnauze: spitz
Einklang zu bringen mit der Natur. aus Geldgier das Gerippe einer Seeschlan-
wie die eines Delphins. Die Zähne: wie von
Wo blieben menschliche fossile Opfer einem Krokodil. Die Augenhöhlen deute- ge auf das eines Ichthyosaurus montiert.
der Sintflut? Warum lagen Fossilien von Um ein Haar wäre ihr Ruf ruiniert gewe-
ten auf einen Vogel hin, die Wirbel aber auf
Säugetieren stets weit über denen der Rep- einen Fisch. Was war das? Welche Rolle sen. Dann aber fanden sich doch noch Ge-
tilien? Sind Tierarten nicht doch ausge- spielte dieses Wesen in Gottes Plan? lehrte, die an ihr Zwitterwesen glaubten.
storben, haben sich andere neu entwickelt? Als „Plesiosaurier“, offensichtlich ausge-
Mary Anning hatte weder Bildung, noch
Gab es also mehr als nur eine Schöpfung? storben, ging es in die Paläontologie ein.
war sie von Stand, aber sie war klug und
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf der Fossilienjagd geschickt wie kein Unter dem Druck solcher Funde muss-
wurde die gerade entstehende Geologie Mann. Unter 50 Felsbrocken, so hieß es,ten die Feinde der Evolutionisten langsam
„Untergrundkunde“ genannt, zur subver- konnte sie auf Anhieb den herauspicken,eingestehen, dass tatsächlich Arten von der
siven Betätigung. Die Bewahrer des Glau- Erde wieder verschwunden sind – obwohl
der ein Fossil enthielt. Massenweise fand
bens hofften, dieses Fach werde ihnen am dies in krassem Gegensatz zur Genesis
sie Koprolithen – versteinerten Saurierkot.
Ende Gottes Schöpfungsplan erhellen. An- steht. Führende Kreationisten mussten
Ein Sammler schrieb über sie, sie durch-
dere aber strebten nach dem Gegenteil. jetzt sogar einräumen, dass selbst Gott sei-
forste „die düsteren, steil abfallenden Klip-
Sie wollten die Wissenschaft ausdrücklich ne Schöpfung nicht an sechs Tagen hat
pen selbst dann, wenn die wütende Spring-
von Mose befreien. Beide Seiten hatten flut sich mit heulenden Sturmwinden zu-vollbringen können. Die sechs Tage, so be-
ihre Titanen, die sich intellektuell und sammentat“. Tray, ihrem Hund, wurde dasschwichtigten sie, seien eher zu verstehen
manchmal handgreiflich befehdeten. Mit zum Verhängnis. Ihn erschlug ein Stein,als Zeiteinheiten, die jeweils Millionen Jah-
wachsender Faszination schaute das Pu- der sich aus den Klippen löste. re dauern konnten. Der Schaden dieser
blikum zu, wie das biblische Weltbild ins Eingeständnisse für den Glauben war groß:
Regelmäßig empfing die Jägerin Unter-
Wanken geriet. Manche Leute nahmen grundkundler aus Oxford und London. In In Scharen verließen die Leute die Kirche.
auch selbst Anteil: Unter den Gebildeten ihrem Lädchen verkaufte sie steinerne Ar- 1847 starb Mary Anning mit 48 Jahren
wurde es Mode, die rätselhaften Fossilien am Brustkrebs. Die Geological Society
gumente an beide Seiten, an Kreationisten
daheim im Regal zu sammeln. widmete ihr immerhin einen Nachruf,
wie frühe Evolutionisten, und so wurde sie
Der Nachbarort von Charmouth ist das zur Marketenderin in einem der ersten nachdem sie ihr als Frau stets die Mit-
Dorf Lyme Regis. Hier ging 1812 ein Forscherkriege um Gott und die Welt. gliedschaft verweigert hatte. Doch die Ge-
Mädchen auf Fossilienjagd, ganz ähnlich Am 10. Dezember 1823 stieß Mary An- lehrten wussten, wie viel sie ihr zu ver-
wie Chris Moore heute. Mary Anning war danken hatten. Sie hatte es auch gewusst –
ning wieder auf etwas, was bis dahin kein
etwa zwölf Jahre alt, kurz zuvor war ihr und sich zeitlebens geärgert, dass sie in
Mensch je gesehen hatte. Es war eine be-
Vater gestorben, mit Bruder und Mutter deren Fachaufsätzen nie zitiert worden war.
stürzende Kreatur: 2,70 Meter lang, winzi-
lebte sie von der Armenhilfe. An diesem ges Gehirn, der Hals länger als Rumpf samtUnd heute? An der Stelle am Strand von
Tag fand sie im Kalkstein etwas ganz Be- Lyme Regis, an der Mary Anning einst
Schwanz. Sie hatte weder Beine noch Flos-
sonderes: ein Skelett, fünf Meter lang, von ihre, wie es damals hieß, „Krokodilsköpfe“
sen, sondern Paddel. Der Hals allein be-
einem Wesen wie aus einer anderen Welt. verkaufte, steht jetzt ein Dorfmuseum, das
stand aus 35 Wirbeln, wofür es weder bei
Im Jahr zuvor hatte Marys Bruder glei- Säugetieren, Vögeln noch Reptilien ein auch der berühmten Sammlerin ein paar
chenorts einen schaurigen Schädel gefun- Räume widmet. Aber ein Weltklasse-
Beispiel gab. Sie ähnelte allenfalls Nessie,
den – und er passte genau auf das Gerippe dem Monster von Loch Ness, aber Nessie museum für ihren epochalen Urtierzoo
des Ungeheuers. Für 23 Pfund konnten die war zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt.gibt es an der ganzen Jurassic Coast nicht.
Halbwaisen ihren Fund verkaufen, genug, Anning verschickte Zeichnungen davon Saurierjäger Chris Moore in Charmouth
um davon ein halbes Jahr zu leben. Dies empört sich über den Mangel. „Das ist
an die Experten. Doch die bezichtigten sie
war der Beginn einer Karriere, doch eine Schande“, sagt er.
die Mary Anning die Beinamen GROSSBRITANNIEN Aber er ist guter Dinge, dass
London
„Prinzessin der Paläontologie“ sich dies eines Tages ändern
und „größte Fossiliensammlerin wird, wenn nämlich der An-
aller Zeiten“ einbrachte. Dorset drang spektakulärer Wesen aus
East Devon
Mary Annings Erstling landete der Vorzeit übergroß wird. Und
50 km
Jahre später im British Museum. das wird er. Solange die Erosion
Die Gelehrten dort verpassten l an der Steilküste Englands nagt,
dem Tier den Namen „Ichthyo- Lyme Regis Charmouth a n a so lange wird diese Küste Fossi-
Ärmel k
saurus“ – „Fischechse“. Darüber lien gebären. Marco Evers

130 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Wissenschaft

K ATA S T R O P H E N

Verhängnisvolle Wende
Hamburger Forscher simulieren den
Untergang der „Estonia“. Offenbar war die Ostseefähre bei
schwerer See viel zu schnell gefahren.

JONAS LEMBERG / REUTERS


A
ls der Wecker vom Nachttisch nia“-Untergang zu erstellen. Ende März
rutschte, wiesen die Zeiger auf 1.02 will die Gruppe um TU-Forscher Stefan
Uhr. Daran erinnert sich der über- Krüger und Petri Valanto von der Schiff-
lebende „Estonia“-Passagier deshalb so ge- bau-Versuchsanstalt ihre Ergebnisse vor-
nau, weil die Batterien beim Aufprall aus legen.
dem Gehäuse flogen und er sie wieder ein- Die dürften, das legen die bislang ge-
setzte. wonnenen Einsichten nahe, nicht nur den „Estonia“-Rettungsinsel (1994), Fährschiff „Estonia“
Um 1.00 Uhr Bordzeit, kurz bevor eine Hergang der Katastrophe aufklären, son-
plötzlich auftretende Schlagseite des Schif- dern auch Konsequenzen für die Passa- nacht unter voller Kraft gegen stürmische
fes den Wecker vom Nachttisch fegte, be- gierschifffahrt haben. So erweisen sich die See mit mehr als vier Meter hohen Wellen.
ginnt auch die Computersimulation, mit Vorschriften für die Evakuierung kombi- Da brach das Bugvisier vom Rumpf. Auch
der Hamburger Wissenschaftler die letz- nierter Auto- und Personenfähren wie der die Fahrzeugrampe, die hochgeklappt hin-
ten Geheimnisse der Schreckensnacht des „Estonia“ als unzureichend. ter der Bugklappe eine zweite Barriere ge-
28. September 1994 entschlüsseln wollen. Mutmaßungen, das Ostsee-Desaster gen die See bildete, öffnete sich. Wasser-
Es war die Nacht, als die estnische Fähre könne nur durch einen Sprengstoffan- massen schossen in das rund drei Meter
„Estonia“ bei Sturm und schwerer See auf schlag erklärbar sein, widerlegen die Be- über der Wasserlinie gelegene Fahrzeug-
der Fahrt von Tallinn nach Stockholm ken- rechnungen mit „Rolls“, dem weltweit bes- deck.
terte. Nur 137 der 989 Passagiere und Be- ten Simulationsprogramm für Schiffs- Der Verlust des gewaltigen Bugvisiers
satzungsmitglieder konnten sich retten. unglücke. Fahrtgeschwindigkeit, Wellen galt Medien und Experten lange als Indiz
Bis heute halten sich Vermutungen, wo- und ein Wendemanöver besiegelten das für ein Verbrechen. Weil die mächtige Ver-
nach eines der folgenschwersten Unglücke Schicksal der „Estonia“. riegelung des Visiers am Rumpf nicht bloß
der europäischen Seefahrtgeschichte kri- Auch das Drehbuch des Desasters abgebrochen sein könne, musste dieser
minellen Machenschaften anzulasten sei. schreiben die Forscher um. Laut Unfall- Theorie zufolge eine Sprengladung das Tor
Genährt wurden die Anschlagstheorien bericht von 1997 nahm das Drama von 1.14 vom Rumpf gefetzt haben.
auch von Zweifeln an der offiziellen Un- Uhr an seinen Lauf. Etwa 25 Minuten spä- Mal wollten die Gerüchte von einer Nu-
falluntersuchung, die estnische, finnische ter kenterte die Fähre in schwerer See. Die klearfracht auf einem Lastwagen an Bord
und schwedische Behörden 1997 veröf- Computersimulation verlängert den Todes- wissen, dann wieder von heimlichen Waf-
fentlichten. kampf der Fähre um 14 Minuten. Danach fenladungen des schwedischen Geheim-
Vor diesem Hintergrund haben schwe- schlug die letzte Stunde der „Estonia“ be- dienstes. Um der drohenden Entdeckung
dische Behörden Experten der Hambur- reits um Punkt ein Uhr. durch den schwedischen Zoll zu entgehen,
gischen Schiffbau-Versuchsanstalt und der Weil sie eine Verspätung wettmachen sei die „Estonia“ versenkt worden.
Technischen Universität Hamburg-Har- wollte, peitschte die estnische Schiffs- Um diese These zu belegen, barg ein
burg beauftragt, eine Expertise zum „Esto- führung die „Estonia“ in der Unglücks- privates Unternehmen im August 2000

1.02 Uhr
Ein Wendemanöver soll der
1.01 Uhr
Durch starken Wassereinbruch in
Simulation der Schreckensnacht
bedrohlichen Schräglage ent- das Fahrzeugdeck erleidet das Computeranalyse der
gegenwirken – stattdessen Schiff Schlagseite nach Steuerbord. „Estonia“-Katastrophe
verstärkt es die
1.00 Uhr
Neigung noch. Quelle: Hamburgische
Das Bugvisier der „Estonia“
Schiffbau-Versuchsanstalt,
reißt ab. In der Nacht zum TU Hamburg-Harburg
28. September 1994
Die „Estonia“ läuft mit 14
1.07 Uhr Knoten auf Westkurs von
Die Schlagseite Tallinn nach Stock-
wächst auf 30°. holm. Lage des Wracks
am Meeresgrund
1.20 Uhr
50° Schräglage.

1.32 Uhr
Das Schiff hat
Wellen
sich auf die
Windrichtung Seite gelegt.

132 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
fes wurde durch das Ret-
tungsmanöver also nicht ver-
mindert, sondern nahm durch
die auf die rechte Schiffsseite
drängenden Massen an Meer-
wasser sogar noch zu.
Nun schoss das Wasser,
wie das Verhalten der vir-
tuellen „Estonia“ zeigt, auch
in das unter der Fahrzeug-
ebene gelegene Passagier-
deck. Um 1.20 Uhr Simula-

LEHTIKUVA OY / ACTION PRESS


tionszeit hatte es bereits eine
Neigung von 50 Grad, um
1.32 Uhr kippte die „Estonia“
auf die Seite. Dabei brach
sich die See neue Breschen
in den Rumpf.
im Hafen von Tallinn: Eine große offene Wunde Große Scheiben zierten
die Decks entlang der hinte-
Metallproben vom Grund der Ostsee. Drei Daher spricht nach den bisherigen Si- ren Hälfte der Fähre. Zum Bug hin hatten
Institute suchten nach Spuren einer mög- mulationen alles für Szenario 1: Als das die Außenkabinen kleine Fenster. Es ist
lichen Sprengung. Am Ende widerlegte Bugvisier wegbrach, konnten die Nautiker das Sicherheitsglas der großen Fenster, das
eine vom SPIEGEL in Auftrag gegebene unter „Estonia“-Kapitän Arvo Andresson in der Simulation zuerst versagt.
Analyse (SPIEGEL 5/2001) die Spreng- nur ahnen, wie schwer es ihr Schiff getrof- Durch die rund 90 jeweils mehrere Qua-
stoffversion. fen hatte. Ein Blick auf das fehlende Visier dratmeter großen Öffnungen strömt der
Alles andere hätte TU-Forscher Krüger war ihnen verwehrt, weil es im toten Win- Tod endgültig ins Schiff. Die simulierte
auch überrascht. Denn die Kräfte, die kel der vom Bug zurückgesetzten, fünf „Estonia“ dreht den Kiel nach oben und
während der Volldampffahrt in schwerer Decks höher aufragenden Brücke lag. sinkt.
See auf die „Estonia“ wirkten, so Krüger, Dennoch darf nach Einschätzung der Auch dass der Katastrophe nur 137 Men-
seien „nachweislich größer gewesen“ als Unfallermittler, aber auch der Hamburger schen entkamen, wird mit Hilfe der Simu-
die Lasten, für die das Bugvisier ausgelegt Forscher als sicher gelten, dass die Nauti- lationen erstmals verständlich.
worden war. ker, von denen keiner überlebte, wussten, Hätten sich für die Nacht, die Europa
Welchen Kurs die „Estonia“ auf ihren was passiert war. schockierte, die Normen der Internationa-
letzten Seemeilen fuhr, haben die Behör- Tatsächlich weist der letzte Kurs der len Seeschifffahrtsorganisation (IMO) be-
den aus den Aussagen überlebender Crew- „Estonia“ eine Wende nach Backbord aus. währt, die meisten Passagiere und Besat-
mitglieder, Radardaten, Trümmerspuren Auch verlangsamte die Fähre ihre Fahrt. zungsmitglieder würden noch leben. Die
und der Lage des Wracks ermittelt. Da- Von 14 Knoten (26 Stundenkilometer) IMO setzt Evakuierungsstandards für den
nach stampfte die „Estonia“ mit Westkurs beim Bruch des Visiers fiel die Geschwin- Bau von Passagierschiffen. Danach sind
von 281 Grad nach Stockholm. Wind und digkeit binnen weniger Minuten auf 9 Kno- die Flure, Türen und Treppen so auszu-
Wellen peitschten aus rund 45 Grad von ten (17 Stundenkilometer). legen, dass im Notfall alle Passagiere und
Backbord gegen das Schiff. Die Wende deutet Valanto als Versuch, Crewmitglieder aus dem Innern des Schif-
Was dann folgte, wird von den Ham- das Schiff mit Hilfe von Wind und Wellen fes auf die offenen Decks gelangen und
burgern in drei Szenarien simuliert: Nach zu stabilisieren. Aus seemännischer Sicht sich in Boote und Rettungsinseln flüchten
Untergangsmodell „0a“ hing das Visier ist das Manöver gut begründet: Zum ei- können.
noch am Rumpf, hatte sich aber wie die nen würden die Naturkräfte gegen die Im Fall der „Estonia“ hätten die rund
Fahrzeugrampe um einen Spalt von einem rechte Bordseite drücken und so helfen, 40 Minuten vom Bruch des Bugvisiers bis
Meter Breite geöffnet. Version „0b“ nimmt das Schiff wieder aufzurichten. Außerdem zum Kentern des Schiffes ausreichen sol-
den Verlust des Visiers an, die Rampe würde der Bug, der der See eine große of- len, allen Insassen die Flucht aus dem
bietet mit einem Spalt von einem Meter fene Wunde bot, aus den anrollenden Wel- Schiff zu ermöglichen. Doch die Realität
aber noch einen Restschutz gegen die See. len gedreht. widerlegte die IMO-Norm: Lediglich 250
Unter Szenario „1“ endlich fehlen Bug- Doch wider Erwarten rettete das bis 300 Passagieren und Besatzungsmit-
klappe und Rampe als Barriere gegen das Manöver das Schiff nicht. Und der Com- gliedern gelang die Flucht aus der Fähre.
Meer. puter zeigt, warum die Physik einen fol- Warum es Hunderte Verzweifelte nicht
Version „0a“ kann nach Einschätzung genschweren Sieg über die Nautiker errang. schafften, verdeutlicht die Simulation. Erst-
der Autoren nur für die „sehr frühe Phase In der ersten Phase des Unglücks, nach- mals berücksichtigten die Hamburger ge-
des Unglücks“ gegolten haben. Denn die dem die Bugklappe abgebrochen war und, meinsam mit den Entwicklern der Eva-
Menge eindringenden Wassers reiche wie die Hamburger Forscher annehmen, kuierungssoftware „Aeneas“ die Auswir-
nicht, um den Unfallverlauf zu erklären. auch die Rampe ihre Schutzfunktion ver- kung zunehmender Schlagseite auf die
Aber auch, wenn die Bugklappe wie un- lor, nahm die „Estonia“ viel Wasser auf. Fluchtchancen von Passagieren und Crew.
ter „0b“ abbricht, sei der Wassereinbruch Dazu trug, so Valanto, das „dynamische Die so ermittelten Daten weichen nach
durch die leicht geöffnete Rampe nicht aus- Verhalten“ des Schiffes bei: Bei hoher Ge- Angaben der Autoren „erheblich“ von den
reichend, die Dynamik der Katastrophe zu schwindigkeit sinkt der Bug tiefer ins IMO-Standards ab. Denn Schlagseite, das
erklären. In diesem Fall hätte das Schiff Meer, zugleich baut sich eine höhere Bug- zeigen die Rechnungen für die virtuelle
nach zehn Minuten eine Schlagseite von 14 welle auf. „Estonia“, macht Rettungswege nahezu
bis 15 Grad angenommen. Die nautische Als die „Estonia“ dann nach Backbord unpassierbar. Nur 278 der 989 digitalen
Leitung hätte noch „ausreichend Zeit ge- drehte, drückten die Fliehkräfte der Kur- Schiffsflüchtlinge gelangen auf offene
habt, Maßnahmen gegen den Wasserein- venfahrt das Wasser in die entgegenge- Decks. Für die anderen wird die Fähre zum
bruch zu ergreifen“. setzte Richtung: Die Schlagseite des Schif- Sarg. Ulrich Jaeger

d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 133
Wissenschaft

Männer – sofern sie unter sich sind –


lachen Tränen über solche Witze. Der
V E R H A LT E N S F O R S C H U N G
Scherz wird zur Demütigung. Und Femi-

Herr der Pointe


nistinnen wie Barreca glauben, dass da-
durch Vorurteile verstärkt und damit ge-
sellschaftliche Normen und der Status quo
zementiert würden.
Ein britischer Forscher behauptet: Männer haben mehr Humor Ausgelacht, so sagen viele Lachforscher,
werde grundsätzlich von oben nach unten.
als Frauen. Wahr ist: Frauen finden nur „Humor und Macht haben definitiv etwas
selten lustig, worüber Männer lachen – und umgekehrt. miteinander zu tun“, erklärt Kotthoff. Je
mächtiger der Witzbold, desto garantierter

K
ennen Sie den? Ein ostfriesisches upon Tyne und protokollierte die Reaktio- sei der Lacherfolg, egal wie schlecht der
Ehepaar geht in ein Restaurant. Sie, nen der Bürger. 95 Prozent der kommen- Witz auch sein mag. „Humor ist wie eine
schusselig wie sie ist, verschüttet die tierenden Frauen ermunterten den Ruhe- hingehaltene Hand, die genommen wer-
ganze Suppe über ihr Kleid. „Guck mal, ständler oder zeigten sich besorgt um seine den muss.“ Andernfalls werde es schnell
Hein, ich seh ja aus wie ein Schwein“, sagt Gesundheit. Drei Viertel der Männer hin- peinlich.
sie. „Ja“, sagt er, „und außerdem hast du gegen hätten versucht, „mit höhnischen Schon im Sandkasten legten Jungs auf
auch noch die ganze Suppe verschüttet.“ oder abfälligen Kommentaren komisch zu diese Weise ihre Rangfolge durch Witze
Haben Sie gelacht? Dann
sind Sie sehr wahrscheinlich
ein Mann. Männer, sagt Sam
Shuster von der britischen
University of East Anglia in
Norwich, mögen aggressive
und diskriminierende Witze,
die andere lächerlich machen
oder herabsetzen. Im „Bri-
tish Medical Journal“ hat der
Gelehrte die These aufge-
stellt, dass Humor eng mit
Aggression zusammenhängt.
Testosteron mache witzig,
sagt Shuster. Viel Testosteron STEFAN GREGOROWIUS / ACTION PRESS (L.); CHRISTOPHER ADOLPH / VARIO IMAGES (R.)

mache sogar unwidersteh-


lich witzig. „Frauen fliegen
auf humorvolle Männer“,
behauptet der Forscher.
Der größte Witzbold habe
bei den Frauen den größten
Schlag. Kein Wunder also,
dass die Evolution ein Heer
von Komikern hervorbrach-
te. Shuster: „Männer sind de-
finitiv witziger als Frauen.“
Sind Mario Barth und
Dieter Hallervorden also die
Speerspitzen der Männlich-
keit? Das muss Widerspruch
hervorrufen. „Ich wäre mit
rein biologischen Erklärun-
gen vorsichtig“, warnt die
Sprachwissenschaftlerin Hel- Komiker Stratmann, Barth: Wer hat häufiger die Lacher auf seiner Seite?
ga Kotthoff von der Pädago-
gischen Hochschule Freiburg. Zwar sei der sein“, berichtet Shuster. Weil Kinder und fest. Mädchenhumor dagegen sei hinter-
Mann immer noch der „Herr der Pointe“. Ältere weniger Schmäh verbreiteten, Ju- gründiger und nicht so oft darauf angelegt,
In jüngerer Zeit jedoch hätten immer häu- gendliche und junge Männer jedoch be- andere zu erniedrigen.
figer die Frauen die Lacher auf ihrer Seite. sonders bösartig waren, glaubt Shuster an „Frauen erzählen eher Geschichten“,
„Frauen sind mit Sicherheit lustiger als ein hormongesteuertes Phänomen. sagt Barreca. „Ihr Humor schafft Gemein-
Männer“, sagt gar die US-Humorforsche- Ist ein rüstiger Einradfahrer witzig? Dass schaft.“ Häufig ironisierten Frauen bei-
rin Gina Barreca von der University of der Mediziner Hohn und Spott ertragen spielsweise Alltagssituationen, um sie bes-
Connecticut. „Stecken Sie drei Frauen drei musste, liegt möglicherweise an der ser zu verkraften. Sprachwitz, Nuancen
Minuten in ein Zimmer, und Sie haben Versuchsanordnung. Unbestritten jedoch und Pointen schätzten sie weit mehr als
schallendes Gelächter – bei Männern habe scheint, dass der derbe Kalauer eine vor lahme Kalauer.
ich das noch nie erlebt.“ allem männliche Eigenart ist. „Männer mö- Etwa so: Die Eltern haben ihren Sohn
Wie also kommt Shuster zu seiner Tes- gen offenbar ordinäres Zeugs“, sagt die zum Psychoanalytiker geschickt. Wochen
tosteron-Theorie? Der emeritierte Derma- US-Autorin Fran Lebowitz. Wie wahr: Gott nach der Behandlung rückt er mit der
tologe frönt dem Hobby des Einradfahrens. gab den Menschen Intelligenz. Ausnahmen Diagnose heraus: „Mama, ich habe einen
Ein Jahr lang radelte er durch Newcastle bekamen die Regel. Ödipuskomplex.“ „Ach was“, sagt die Mut-
134 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
ter und drückt ihn tröstend an sich, „Ödi-
pus, Schnödipus! Hauptsache, du hast dei-
ne Mutter lieb.“
Zusammengefasst: Er haut drauf – sie
lacht über sich selbst. Beide scheint aller-
dings der Wille zu einen, mit Humor die
Widernisse des Lebens besser zu meistern.
Prostataleiden, Hängebrüste, sexuelle Ver-
sagensängste, Einparkprobleme, nervige

PIRMIN RÖSLI
Chefs oder Ehepartner werden erträg-
licher, sobald sie als Witz daherkommen:
Sagt eine Frau zu ihrem Mann: „Früher
warst du glücklich, wenn du mich bloß ein Flussforscher Tonolla: Fahndung in der Klangpartitur
paar Stunden am Tag sehen konntest.“
Antwortet er: „Daran hat sich nichts ge- Pflanzen ihre Ränder säumen. All das
U M W E LT
ändert.“ zeigt, wie es um die Natur des Flusses
Erklärungsbedürftig bleibt, warum Frau-
en trotz unzweifelhafter Abneigung gegen
derlei flache Witze eben doch mitlachen, Lauschangriff steht. Doch möglicherweise kann das auch
ein viel einfacher zu ermittelndes Merk-
mal des Gewässers: sein Klang.
wenn Männer die Humorkanone aus-
packen.
Der Brite Shuster hält an der darwinis-
tischen Erklärung fest. Fast alle Komiker
unter Wasser Am Rauschen kann der Flussforscher
zum Beispiel Lebensräume, sogenannte
Habitate, deutlich unterscheiden. Fließt
ein Fluss schnurgerade und gleichmäßig,
Jedes Gewässer klingt
seien männlich, gibt er zu bedenken – und dringt ein dumpfes Brummen aus den
die Frauen seien hingerissen. „Humor ist anders. Aus dem Plätschern und Lautsprechern, im farbigen Schalldia-
Teil der sexuellen Evolution und könnte Rauschen wollen Ökologen gramm leuchten die tiefen Frequenzen wie
nach ähnlichen Mechanismen entstanden jetzt heraushören, wie gesund die Säulen auf. Saust das Wasser über eine
sein wie Hirschgeweih oder Pfauenrad“, Flüsse und Bäche sind. Schwelle, nehmen die mittleren Frequen-
sagt der Wissenschaftler. zen zu. Stürzt es als Kaskade hinab, wird

N
Humorforscherin Kotthoff dagegen sagt, ur ungern beschreibt Diego Tonolla der bunte, wogende Klangteppich lauter.
dass letztlich Erziehung und Gesellschaft das Flüstern eines Flusses mit Wor- Kommt das Wasser schließlich vor ange-
definierten, wer welche Witze machen ten. Sprachakrobatik überlässt er schwemmten Kiesbänken zur Ruhe, wogt
darf. Im Fall der Frauen wirke ein über- lieber den Dichtern. Seit Jahrhunderten ein kaum hörbares Rauschen ans Ohr.
kommenes „Damenhaftigkeitsideal“ bis mühen sie sich, das Murmeln, Plätschern Einmal hat Tonolla bereits das Porträt
heute nach. „Die Dame halte sich bei Tisch und Tosen in klangvolle Verse zu fassen. eines ganzen Flusslaufs auf diese Weise er-
mit der Darbietung von Scherzen zurück“, Die Sprache des Schweizer Ökologen, stellt: 30 Kilometer weit hat er sich zu-
hieß es noch in den sechziger Jahren in in die er die Töne von Gewässern über- sammen mit Kollegen von der University
den Etikettefibeln. „Humor als selbstbe- setzt, besteht aus Zahlen: Frequenzen, of Montana den Fluss North Fork Flathead
wusster Akt wurde damals der Frau nicht Lautstärken, Zeitintervallen. Eine Software in Montana hinabtreiben lassen, zwei
zugebilligt“, sagt Kotthoff. Gefälligkeit statt komponiert daraus farbige Diagramme. In Hydrofone im Schlepptau. Das Ergebnis
Komik wird bis heute von Frauen erwartet. diesen Klangpartituren fahndet Tonolla der Horchtour ist eine Karte, die alle
Witzige Frauen, sagt Barreca, machten dann nach ökologischen Fingerabdrücken. Lebensräume des Gewässers recht wirk-
Männern sogar Angst. Sie verletzten deren „Jeder Fluss tönt zwar anders, aber lichkeitsgetreu abbildet.
exklusive Humordomäne. trotzdem finden wir typische Klangmus- Im Bann des Wassergeflüsters steht auch
Die Forscherin bringt den streng regle- ter“, sagt der Umweltexperte vom Wasser- Nathaniel Morse von der University of
mentierten Partytalk humoristisch auf den forschungsinstitut Eawag der Eidgenössi- Vermont. Allein am Sound des Fluss-
Punkt: „Wenn wir Frauen nicht lachen, schen Technischen Hochschule Zürich. rauschens glaubt er zu erkennen, wie gut
denkt er, dass wir den Witz nicht verstan- Doch wozu ist das gut? das Wasser durchlüftet ist. „Die Methode
den hätten – und erzählt ihn noch mal!“ Überall, wo Wasser sanft ans Ufer ist bestechend einfach“, sagt Tonolla. „Wo
Humor ist, wenn man trotzdem lacht. schwappt, wo Bäche über Steine wirbeln mehr Turbulenzen, also mehr Klang ist,
Doch es gibt Veränderungen. Frauen la- oder wo ein Strom eine Stufe hinabdon- wird mehr Sauerstoff aufgenommen.“ Für
chen nicht mehr über jede dumme Zote. nert, baut der Forscher seine Abhörstation Flussforscher stellt dies eine besonders
Und sie gewinnen zunehmend an Macht. auf und startet den Lauschangriff aufs wichtige Information dar: Sie verrät, ob
Als Folge scheint sogar eine Art feministi- Gewässer. An einer Stange befestigt, regi- das Gas im Wasser für das Überleben von
scher Kalauer in Mode zu kommen. strieren zwei Unterwassermikrofone das Fischen und anderen Lebewesen ausreicht.
„Frauen machen zunehmend Witze auf Gurgeln und Blubbern. Das Geplätscher Tonolla will nun feststellen, ob das Rau-
Kosten der Männer“, sagt Kotthoff. „Ihr von rund 20 vor allem Schweizer Flüssen schen auch etwas darüber erzählt, wie viel
Repertoire wird immer größer.“ hat Tonolla bereits so aufgenommen und Kies oder Sand ein Fluss mit sich reißt
Früher hätten Humoristinnen entweder ausgewertet. und ob er Geröll transportiert und somit
den harmlosen Mutterwitz verkörpert „Wir suchen nach einer einfachen Me- Schotterbänke ablagert. Denn das würde
oder, wie Helga Feddersen, das Trutschige thode, die uns schnell Informationen über bedeuten, dass Fliegen ihre Eier hier ab-
gepflegt. Heute jedoch reüssierten Komi- einen Fluss liefert“, sagt Tonolla. Denn legen oder dass der Flussregenpfeifer brü-
kerinnen wie Anke Engelke und Cordula herkömmliche Flussuntersuchungen sind ten kann.
Stratmann. Und mit der neuen Rolle wer- aufwendig. Meter für Meter laufen Ökolo- Schon jetzt vermag Tonolla zu hören,
den natürlich auch die Witze schärfer. gen die Ufer von Limmat, Rhône, Thur wenn an den Hydrofonen Sedimentparti-
Kennen Sie den? oder Inn ab, um ein hydrologisches Profil kel vorbeitrudeln. „Drrr drrr“, imitiert
Was macht eine Frau, deren Mann zick- zu erstellen. Sie messen Wassertiefe und Tonolla das sanfte Knistern im Lautspre-
zack durch den Garten rennt? Breite des Flusses, notieren, wo Ufer ver- cher. Sehr malerisch klingt das nicht, aber
Weiterschießen. Philip Bethge baut oder naturbelassen sind und welche Poesie ist ihm ja auch fern. Tania Greiner
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 135
Szene Kultur
FILM Corbijn: Alle wichtigen Fotos, die Joy Di-

„Für Rockmusiker untypisch“


vision zeigen, sind schwarzweiß. Die Ar-
tikel über sie erschienen nicht in bunten
Hochglanzmagazinen. Die Band ist musik-
geschichtlich wegweisend, doch kommer-
Der niederländische Fo- keinen Ausweg mehr und nahm sich das ziell erfolgreich war sie nie, wohl auch,
tograf und Regisseur Leben. Für einen Rockmusiker war er weil Curtis schon mit 23 Jahren starb.
Anton Corbijn, 52, über untypisch, weil er sich nach geordneten SPIEGEL: Neben dem großartigen briti-
Rock’n’Roll-Klischees, die Verhältnissen sehnte. schen Hauptdarsteller Sam Riley spielen
britische Musiker-Legen- SPIEGEL: In einer Einstellung lassen Sie Alexandra Maria Lara und Herbert Grö-
de Ian Curtis und seinen Curtis in einer Lederjacke mit der Auf- nemeyer mit. Haben Sie eine Vorliebe
Film „Control“ schrift „Hate“ über die Straße gehen, … für deutsche Schauspieler?

SPIEGEL: Herr Corbijn, in


HOLLAND.HOOGTE / LAIF

„Control“ erzählen Sie


die Geschichte des 1980
verstorbenen Sängers Ian
Curtis und seiner Band Joy
Division – ohne Drogen-
exzesse oder Sexorgien.
Haben Sie die Rock’n’Roll-Klischees be-
wusst vermieden?
Corbijn: Ja, die haben mich nicht interes-
siert. Natürlich haben die Musiker da-
mals Drogen genommen, und Sex mit
ihren Groupies hatten sie auch. Doch ich
wollte den Zuschauer an dem Drama
eines Mannes teilnehmen lassen, der ein
begnadeter Künstler war, aber an Epilep-

CAPELIGHT PICTURES
sie litt und immer mehr zerrissen wurde
von der Liebe zu zwei Frauen. Eine uni-
versale Geschichte, die in der Musikwelt
spielt.
SPIEGEL: Sie kannten Ian Curtis persön- Darsteller Riley, Lara in „Control“
lich, haben ihn Ende der siebziger Jah-
re fotografiert. Zerbrach er daran, dass Corbijn: … und dann betritt er das Ar- Corbijn: Die Herkunft war nicht aus-
er sein Leben nicht mehr kontrollieren beitsamt, wo er als kleiner Angestellter schlaggebend. Für die Rolle der belgi-
konnte – wovon ja auch seine Lieder er- arbeitet. Ich mochte diese Ironie, die- schen Geliebten von Curtis suchte ich
zählen? sen Widerspruch zwischen Rebellion und eine Schauspielerin, von der große
Corbijn: Das kann gut sein. Curtis hat sehr bürgerlicher Existenz. Und dennoch Wärme ausgeht. Die hat Alexandra Ma-
jung geheiratet, schon mit 19, wurde früh spürt man in dieser langen Einstellung, ria Lara. Herbert Grönemeyer und ich
Vater, sehnte sich nach Geborgenheit in der wir Curtis folgen, die vorwärts- kannten uns von einigen Videoclips, aber
und Sicherheit. Später lernte er eine an- strebende Kraft dieses Mannes, die ihn als Schauspieler mochte ich ihn schon
dere Frau kennen, brachte es aber nicht zu einem bedeutenden Musiker machte. in „Das Boot“. Dass er über 20 Jahre
über sich, seine Familie zu verlassen. In SPIEGEL: Warum haben Sie Ihren Film in lang keinen Film gemacht hat, ist eine
seiner zunehmenden Verwirrung sah er Schwarzweiß gedreht? Schande.

AU S Z E IC H N U NGE N war: nämlich die sächsische Landesregierung

Triumphales Tier
davon abzuhalten, eine ausgesprochen scheuß-
liche Brücke ins ausgesprochen schöne Dresd-
ner Elbtal zu bauen (SPIEGEL 38/2007). Natur-

D er Vorstand des Bundes Deutscher Architekten (BDA) trat


Ende vergangenen Jahres zusammen und überlegte, wer
demnächst Ehrenmitglied werden könne. Nach kurzer De-
schützer hatten im Juli 2007 über einen Eilantrag
beim Dresdner Verwaltungsgericht einen Bau-
stopp erwirkt – Begründung: Die scheue Huf-
batte kamen die Vorstandsmitglieder, so BDA-Sprecher eisennase im Elbtal sei durch die Brücke gefähr-
Olaf Bahner, zu einem eindeutigen, wenn auch etwas det. Der Baustopp war drei Monate später durch
unbefriedigenden Ergebnis. Diesmal, so beschlossen das Sächsische Oberverwaltungsgericht wieder
die hochmögenden Damen und Herren, müsste es aufgehoben worden; die Brücke wird nun ent-
E. MENZ / BLICKWINKEL

eigentlich ein Tier sein, die Fledermaus „Klei- stehen, doch der zwischenzeitliche Triumph des
ne Hufeisennase“. Der Hufeisennase war für kleinen Tiers nötigte den BDA-Mitgliedern gehörigen
kurze Zeit etwas gelungen, was diversen Respekt ab.
Architekten, Stadtplanern, Denkmalschüt-
zern und Politikern keineswegs geglückt Kleine Hufeisennase
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 137
Szene
KUNST

Blog aus dem Jenseits


I m Juli vergangenen Jahres wurde die New Yorker Kunstwelt
von einem mysteriösen Doppelselbstmord erschüttert. Die Au-
torin und Filmemacherin Theresa Duncan, 40, nahm eine Über-
dosis Tabletten, eine Woche später ging ihr Partner, Jeremy Blake,
35, ins Wasser – der Maler und bildende Künstler stand an der
Schwelle zum Weltruhm. Jeremy Blake hinterließ nur den Satz
„Ich folge der reizenden Theresa“. Seitdem ranken sich Mythen
um das attraktive, einander zwölf Jahre lang treu ergebene Pär-
chen. Von Alkohol und Depressionen ist die Rede, auch von
Verfolgungswahn, mal die CIA, vor allem aber Scientology betref-
fend. Eine Covergeschichte in der Januarausgabe der amerikani-

STEFANIE KEENAN / PMC


schen „Vanity Fair“ wirft nun mehr Fragen auf, als sie beantwor-
tet. Zudem sind zwei ominöse Einträge im Internet-Tagebuch von
Theresa Duncan aufgetaucht, der letzte an Silvester. Was bloggt
eine Verstorbene? Eine Gespenstergeschichte. Und einen Ab-
schnitt aus T. S. Eliots Gedicht „East Coker“, das von der Schwie-
Duncan, Blake (2005) rigkeit handelt, in unserer verdrehten Welt zu kommunizieren.

WA H L K A M P F Thomas Glavinic über Leo Tolstois


„Anna Karenina“
Wechselwähler
Der russische Schriftsteller Leo Tolstoi (1828 bis 1910) schildert
N och im Oktober 2007 hatte der
schwarze Musiker Ben Harper
verkündet, sein Lied „Better Way“ sei
in seinem 1878 erschienenen Roman
„Anna Karenina“ psychologisch differenziert das Drama einer Ehe.
vom demokratischen Präsidentschafts-
kandidaten Barack Obama, 46, zum
Campaign Song auserkoren worden.
Doch nach dessen Sieg bei den Vorwah-
D enke ich an „Anna
Karenina“, fällt mir
ein, wie ich den Roman
Das Buch meines Lebens gebraucht haben, viel-
leicht war ich sogar mal
im Supermarkt, eher

SUPERSTOCK / MAURITIUS IMAGES


SVEN PAUSTIAN / AGENTUR FOCUS

len der Demokraten vergangene Woche zum ersten Mal las. Mit während einer Schnep-
in Iowa erklomm Obama die Bühne 19, im Bett, in einer Tag- fenjagd, sicher nicht an
schon zum wiederholten Mal zu U2s Nacht-Tag-Sitzung, also der Stelle, an der Lewin
„City of Blinding Lights“. Auf Harper innerhalb von etwa 40 und Kitty zusammen-
scheint er nicht mehr wirklich zu durchgehend mit Lesen kommen, in einer der
setzen. Fest steht, dass es in der Wahl- verbrachten Stunden. romantischsten Liebes-
kampfgeschichte der USA noch kein Gegen den Hunger wur- szenen der Weltlitera-
einziger Kandidat mit dem Lied eines de der Pizzadienst ge- Glavinic Tolstoi tur, als sie einander die
schwarzen Interpreten zur Präsident- rufen, wenn das Telefon Anfangsbuchstaben der
schaft gebracht hat. klingelte, ging ich nicht hin, wenn es an Wörter aufzeichnen, die sie einander mit-
der Tür läutete, fürchtete ich mich vor teilen wollen. Vermutlich war es so, ver-
dem Exekutor und ging sowieso nicht hin. mutlich war ich draußen, berauscht, ein
40 Stunden ohne Schlaf mit einem Meis- Fremder unter den Menschen, rätselhaft
terwerk, das in seiner Wucht, seiner ko- berührt von dem Umstand, dass es etwas
JIM YOUNG / REUTERS (O.); ALESSIO PIZZICANNELLA / CONTRASTO / LAIF (U.)

lossalen Größe unerreichbar ist, das war wie Autos und Supermarktkassen gibt.
mein erstes „Anna Karenina“. Zumindest Ich ging wohl zurück zu diesem Buch, in
in meiner Erinnerung. meine Wohnung, als wartete dort eine
Denn wenn ich weiter nachdenke, kann reale Frau auf mich, mit der ich seit Tagen
daran etwas nicht stimmen. Ich bezweif- bei herabgelassenen Jalousien nur aß und
le, dass man dieses Buch innerhalb von 40 trank und Liebe machte und redete, wie
Stunden lesen kann, jedenfalls nicht ohne es eben real einige Male im Leben pas-
Unterbrechungen. Eine Nacht durchzu- siert, es waren möglicherweise vier Tage,
machen und den ganzen nächsten Tag nicht 40 Stunden.
weiterzulesen, das klingt mir heute mehr Ich mystifiziere also. Doch das ist ver-
nach Mystifizierung. ständlich und in diesem Fall nicht unge-
Irgendwann werde ich schon das Buch bührlich, denn „Anna Karenina“ ist der
weggelegt und das Licht ausgeknipst perfekte Roman, ihn zum ersten Mal zu
haben. Irgendwann am nächsten Tag lesen aufwühlend und ergreifend. Auch
werde ich weitergelesen haben, und viel- ohne Anführungszeichen: Ich liebe Anna
leicht werde ich ein, zwei Tage länger Karenina.
Wahlkampfbuttons, Bono von U2
138 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Kultur
L I T E R AT U R det, dass sie Daphne verblüffend ähnelt. den Kopf verdreht: Ist Lorena wirklich

Kunstadel verpflichtet
Und flugs ist er verwickelt in abenteuer- so verzweifelt und geldversessen, wie es
liche Machenschaften, bei denen die zunächst scheint?
schöne Lorena eine zwielichtige Rolle Von kleinen Durchhängern abgesehen,

F ür die Weltgeschichte gilt die Regel,


dass sich deren Tragödien, wenn
überhaupt, nur als Farce wiederholen.
spielt.
Der aus Zürich stammende, in Spanien
und Guatemala lebende Erfolgsschrift-
beschreibt Suter die Verwirrungen sei-
ner Helden in einem flinken, lässigen
Parlando. „Der letzte Weynfeldt“ ist ein
Trifft für große Liebesgeschichten nicht steller Martin Suter, 59, liebt solche Kriminal- und Kunstadelsroman, in dem
Ähnliches zu? Der Kunsthändler Adrian schwer schicksalhaltigen Konstella- der Leser eine Menge über Auktionen
Weynfeldt lebt in einer großen Schwei- tionen. Mit einer Virtuosität und einer und Kunstfälschungen lernt und über
zer Stadt die materiell bestens Beharrlichkeit, die an den die Werke berühmter Schweizer Maler
abgesicherte Existenz eines Meisterautor Georges Simenon wie Ferdinand Hodler und Félix Vallot-
Mannes jenseits der Vierzig, erinnern, bastelt er daraus ton. Die wichtigste Lektion aber bezieht
der von der Frauenwelt nicht spannende Storys. Suters sich auf die Frage, ob tragische Liebes-
mehr viel erwartet. Es ist mehr neuer Roman „Der letzte geschichten sich wirklich wiederholen.
als zwei Jahrzehnte her, dass Weynfeldt“ schildert mit Der Autor Suter scheint in diesem
er (sehr dezent) das Mädchen freundlicher Ironie die Le- Punkt einer schwer romantischen Ant-
Daphne geliebt hat, doch die bensordnung des männlichen wort zuzuneigen: Bei näherer Betrach-
junge Frau starb bei einem Titelhelden, der sich einen tung gleicht keine Love-Story einer
Verkehrsunfall. Eines Nachts Freundeskreis von Künstlern früheren.
nun trifft Weynfeldt in einer hält, aber keinen echten
Bar eine Mittdreißigerin na- Freund hat. Komplizierter Martin Suter: „Der letzte Weynfeldt“. Diogenes
mens Lorena, von der er fin- steht es um die Frau, die ihm Verlag, Zürich; 320 Seiten; 19,90 Euro.

Kino in Kürze

WARNER BROS. (L.); EDITION SALZGEBER (U.)


Szene aus „I Am Legend“ mit Will Smith, Willow Smith, Salli Richardson

„I Am Legend“ zeigt eine faszinierende Horrorvision der nahen ben von 1914 spielen: Leutnant Tamino wird von drei Laza-
Zukunft: ein entvölkertes New York. Eine Epidemie hat die rettschwestern aus einem Granattrichter gerettet, die koloratu-
gesamte Menschheit dahingerafft – bis auf den zähen Wissen- renselige Königin der Nacht rollt in einem Panzer übers
schaftler Robert Neville (Will Smith). Begleitet von seiner Schä- Schlachtfeld, ihr Gegenspieler Sarastro predigt im Revoluzzer-
ferhündin, jagt Neville mitten in Manhattan Hirsche; er selbst kostüm auf einem Soldatenfriedhof Gewaltlosigkeit. Das an-
wiederum passt ins Beuteschema lichtscheuer Monster, die im- sehnliche junge Ensemble unter Leitung von James Conlon
mer aggressiver werden. Der Endzeit-Thriller, inszeniert vom singt und agiert mit
Musikvideo-Regisseur Francis Lawrence, ist bereits die dritte Feuereifer. Das üppige,
Verfilmung des Science-Fiction-Romans von Richard Matheson auch mit Computerzau-
(nach 1964 mit Vincent Price und 1971 mit Charlton Heston), ber nicht sparsame Breit-
doch über weite Strecken von zeitlos schöner Schockwirkung. wandwerk ist die erste
Kino- und Videoproduk-
„Die Zauberflöte“. Mit seinen Shakespeare-Verfilmungen, bisher tion der Stiftung des bri-
insgesamt fünf, hat der britische Schauspieler und Regisseur tischen Milliardärs Sir
Kenneth Branagh einige Höhen und Tiefen durchschritten. Peter Moores; ihr Luxus
Und nun macht er sich ungebrochen in Unternehmungslust signalisiert: Hier wird
und Einfallsreichtum über Mozart her. Seine „Magic Flute“ nicht gekleckert!
(mit einem neuen englischen Libretto von Stephen Fry) gibt der
gern ins Märchenhafte verharmlosten Oper einen kriegerischen Lyubov Petrova in
Hintergrund und lässt sie in den Kostümen und Schützengrä- „Die Zauberflöte“

d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 139
Kultur

TRIUMPH EINES DICHTERS: Eben erst 65 geworden, ist reichische Nationalbibliothek seine Werkmanuskripte –
der österreichische Schriftsteller Peter Handke so präsent die Notizbücher, die der SPIEGEL einsehen konnte, bieten
wie lange nicht. Der „Publikumsbeschimpfer“ von einst: ebenso extreme wie intime Lebensspuren. Wichtigste
fast schon ein Klassiker zu Lebzeiten. Das Deutsche Litera- Handke-Novität aber ist seine große, bizarre, selbstironi-
turarchiv in Marbach erwarb seine Notizbücher, die Öster- sche Erzählung „Die morawische Nacht“.

L I T E R AT U R

Der übermütige Unglücksritter


In der Erzählung „Die morawische Nacht“ zieht Peter Handke das Fazit eines Dichterlebens.

E
in erledigter Fall? Von we- vergangenen Jahres erschienen: seine vermeintlichen Schwächen auf: „Daß
gen. Eher lässt sich sagen: die Gedichtsammlung „Leben er allein dem Abseitigen nachgegangen
So viel Handke war nie. Zu ohne Poesie“ und die Essaysamm- war. Daß er die Augen geschlossen hatte
Beginn des neuen Jahres ist der lung „Meine Ortstafeln, Meine vor der Realität … Schicksale, Charaktere,
Österreicher als Schriftsteller prä- Zeittafeln“ (mit Aufsätzen aus den Aktionen: nichts für ihn.“ Selbst die Erotik:
sent wie kaum jemals seit seinem Jahren 1967 bis 2007). „Für ihn kein Thema“.
rasanten Start als Junggenie Mitte Und in dieser Woche nun Und so geht es weiter: „Nirgends zeigte
der sechziger Jahre („Publikums- kommt eine neue Erzählung mit er ein Herz für seine Zeitgenossen. Dafür
beschimpfung“). dem Titel „Die morawische Nacht“ begeisterte er sich an einem Glühwürm-
Im Dezember feierte Peter hinzu, eine verspielte, weitgehend chen, einem Igel, einem Bach mit einem
Handke seinen 65. Geburtstag. autobiografische Summe seines Stück Glimmer am Grund … einer Kuh-
Pünktlich zu diesem Datum ist er mit Lebens als Schriftsteller: Handkes groß- flade, einem Kinderhaarwirbel, einem
einer Rowohlt-Monografie geehrt worden. angelegter Versuch, die eigene Position Mergelrot, einem Quittenblütenweiß. Und
Er selbst überließ der Österreichischen poetisch zu bestimmen und zu vertei- entsprechend abseitig er selber.“ Fazit:
Nationalbibliothek in Wien viele Manu- digen*. „Auch die Gutgesinnten müssen Angst um
skripte seiner Werke (darunter „Mein Jahr Dabei geht er unorthodox vor. Wenn diesen Unglücksritter haben.“
in der Niemandsbucht“, 1994, „Don Juan“, es gilt, sich und die eigene Lebensform zu Lässt es sich besser formulieren? Aber
2004, und „Kali“, 2007); ein Konvolut verhöhnen, so macht ihm keiner etwas vor. ist hier denn überhaupt von Peter Handke
seiner Notizbücher hat er hingegen dem Als wollte er einen Katalog der Vor- die Rede? Nein, nicht direkt. Gegenstand
Deutschen Literaturarchiv in Marbach würfe und Einwände anlegen, die gegen dieser Attacken ist vielmehr der Held der
gegeben, wo es für Forschungszwecke ein- ihn schon laut geworden sind, zählt er neuen Erzählung, ein namenloser Schrift-
gesehen werden kann (siehe Seite 143). steller, der – im Gegensatz zum Verfasser
Auch zwei Bücher mit bekannten, aber * Peter Handke: „Die morawische Nacht“. Suhrkamp Ver- der „Morawischen Nacht“ – mit dem
bisher verstreuten Texten sind noch Ende lag, Frankfurt am Main; 564 Seiten; 28 Euro. Schreiben längst aufgehört hat.
CINETEXT (L.); S. FALKE / LAIF (R.)
DEFD

Autor Handke, Freundinnen Moreau (1974), Semin (1992), Colbin (1996), Flint (2005): Geheimnisvolle Frau in einer langen Nacht

140 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
PATRICK ZACHMANN / MAGNUM / AGENTUR FOCUS

Schriftsteller Handke (in seinem Haus in Chaville): „Irgendwohin in das Land, sich leiten lassen, ohne vorgefaßtes Ziel“

Das ist der Clou der Erzählung, der Handkes Held und Alter Ego (oder auch: Tafelrunde drei Tage und drei Nächte ge-
doppelte Boden: Freier noch als in seinen Alternativ-Ich) lebt zurückgezogen auf währt habe, heißt es sogleich: „,Währen‘,
früheren Büchern über das Schriftsteller- diesem kleinen Hotelschiff mit dem Na- solche Wörter unterliefen ihm, der schon
leben – in dem knapp-konzisen „Nachmit- men „Morawische Nacht“, das sonst keine lange fern der aktuellen Sprache lebte.“
tag eines Schriftstellers“ (1987) oder sei- Gäste empfängt und „mit der übergroßen Und die Zuhörer sind keineswegs nur
nem voluminösen „Jahr in der Niemands- Flagge eines längst versunkenen oder ab- Beifallspender, sie fragen sich sogar zwi-
bucht“ – kann Handke hier mit den Ver- gestunkenen Landes“ (also wohl der jugo- schendurch, ob vielleicht doch stimmt,
satzstücken der eigenen Vita umspringen. slawischen) ausstaffiert ist. Hier, an Bord, „was die ganzen europäischen Zeitungen
Und mit der Fiktion, der Verlockung spie- beginnt eine lange Erzählnacht. zuerst prophezeit und in der Folge berich-
len: mit dem Schreiben aufzuhören. Die Morawa in Serbien ist einer jener tet hatten: daß der alte Freund auf dem
Es scheint ihm viel Spaß gemacht zu vier Flüsse, zu denen einst die „Winterliche Weg war, endgültig verrückt zu werden“.
haben, den „Verzicht auf gleichwelche Reise“ geführt hatte, die Handke unter Die Route dieser Reise zeigt, dass
Veröffentlichung“ zu beschwören. Immer dem Titel „Gerechtigkeit für Serbien“ 1996 Handke mit der „Morawischen Nacht“
wieder findet er für seinen Helden neue beschrieben hat: in einem seiner wenig eine Art Lebensbilanz anstrebt, oft genug
Bezeichnungen, der mal als „Ex-Autor“, überzeugenden Versuche, der Öffentlich- voller Selbstironie und Übermut. In zwölf
mal als der „abgedankte Schreiber“, der keit einen anderen, seinen Blick auf die Kapiteln spürt er wichtigen biografischen
„ehemalige Autor“ oder der „Autor-in- Zersplitterung des ehemaligen Jugoslawien Stationen, gewissermaßen seinen europäi-
Ruhe“ erscheint. nahezubringen. schen Wurzeln nach. Da geht es mit dem
Der Grund für dessen Abkehr vom Ausgerechnet von hier aus – so viel Bus zunächst unter widrigen Umständen
Schreiben? Eine ins Unermessliche gestei- Selbstironie und wohl auch Trotz muss (Steinewerfer am Wegesrand) ein Stück
gerte Lärmempfindlichkeit. Irgendwann sein – ist sein Held, der „Wanderer“, zu Richtung Belgrad, dann mit dem Fährboot
hat dieser Mann nicht einmal mehr das Ra- einer Rundreise aufgebrochen, die ihn auf eine Insel, die hier Cordura heißt und
scheln des Bleistifts auf dem Papier ertra- quer durch Europa geführt hat und von auf der der „abgedankte Autor“ sein erstes
gen können, ja sogar einen Hautausschlag der er nun, wieder auf seinem Boot, den Buch geschrieben hat – tatsächlich ent-
bekommen, „wenn er ein Blatt Papier, vor Gästen berichten will: in Anwesenheit stand vor gut vier Jahrzehnten auf der
allem ein leeres, berührte, und sogar schon einer geheimnisvollen Frau, die mit ihm jugoslawischen Insel Krk Handkes erster
bei einem bloßen Papierknistern“. dort zu wohnen scheint und die Männer Roman „Die Hornissen“ (1966).
Aber erzählen kann er noch, möchte er bewirtet. Weiter führt die Reise über Spanien
sogar. Was ihm also bleibt: der mündliche Überliefert wird sein Bericht von dieser nach Deutschland, in den Harz, zum Her-
Bericht. Der Ex-Schreiber lädt eine kleine Rundreise, der „Rund- und Zickzackreise“, kunftsort des „nie gekannten Vaters“, und
Gruppe von Zuhörern zu sich ein (sieben durch ein kollektives Wir (das sich nur nach Österreich, dem „Heimatland“, wo
Männer): auf sein Boot, das auf der Mora- gelegentlich in einzelne Ich-Stimmen auf- der kranke Bruder zu besuchen ist, der
wa schwimmt, zwischen der Stadt Velika löst), durch „seine Zuhörer, seine (mehr sich dann noch gut daran erinnern kann,
Plana und dem Dorf Porodin, südwestlich oder weniger) Freunde“. Die Gäste kom- wie der ehemalige Autor als Jugendlicher
von Belgrad. Dort jedenfalls befindet sich mentieren dabei auch die Art des Erzäh- mit ersten Schreibversuchen die Familie
der Liegeplatz, als die Gäste in einer April- lens, des Sprachgebrauchs. Als der Boots- tyrannisiert habe: „Keinen Mucks hatten
nacht eintreffen. herr einmal davon berichtet, dass eine sie machen dürfen. Hustete bloß einer von
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 141
Kultur

ihnen, oder schrammte ein Stuhl, so brüll- feldein durch die Städte durch, von der
te er schon um Ruhe.“ Vorstadt in die Stadt, zur großen Stadt wie-
Hier gehen Dichtung und Wahrheit ein der zu Fuß hinaus“. Wäre seine umfang-
munteres Verwirrspiel ein. Handke selbst reiche Erzählung über weite Strecken nicht
hat seinen leiblichen Vater, einen Deut- gar so grüblerisch und angestrengt aus-
schen, durchaus kennengelernt, und es war gefallen, sein Buch könnte durchaus Hape
seine Halbschwester, die sich einmal ganz Kerkelings Dauerbestseller „Ich bin dann

FOTOS: MATHIAS MICHAELIS / DLA-MARBACH.DE


ähnlich über den schreibenden Anfänger mal weg“ Konkurrenz machen.
Handke geäußert hat, der „herrisch die Denn bei aller Schwermut und Selbst-
Familie zwang, seine Selbstzweifel und Ar- qual hat „Die morawische Nacht“ auch
beitsqual mitzuleiden“. ganz nüchterne Seiten, etwa wenn der
„Die morawische Nacht“ ist das bisher Wanderer überlegt, „daß es an der Zeit
raffinierteste von Handkes Büchern über wäre, die von dem nachtlangen Weg
das Erzählen, das Schreiben und Schreib- schlammigen Gehstiefel zu putzen, daß er
leben. Noch nie zuvor ist er derart mit möglichst bald einen Geldautomaten fin-
sich ins Gericht gegangen. Im Rahmen der den mußte“.
Fiktion wird auch der Umgang mit Frauen Die Gewohnheit, sich während der Rei-
zum Thema. Nur einmal nämlich, mit der sen Notizen zu machen, hat Handkes Held
ersten Freundin auf der Insel Cordura, hat freilich abgelegt. Nur ein einziges Mal un- welthaltig und gegenwartsbezogen. Aber,
der Ex-Autor das Schreiben und die Liebe terläuft es ihm, „daß er sein kaum mehr unter Freunden, eine gewaltige Luftnum-
zugleich ertragen: „In späteren Jahren benütztes Notizbuch hervorzog, wie um mer ist das Ganze eben doch: eine Num-
wurde das anders. An dem Zwiespalt, als nach längst abgetaner Gewohnheit mit mer auf dem literarischen Hochseil, artis-
Beruf den des Schreibers, oder Aufschrei- all diesen kleinen Begebnissen mitzuschrei- tisch und wagemutig ausbalanciert, stets
bers, auszuüben, ausüben zu sollen, und ben“. Aber unschwer ist zu erkennen, dass absturzgefährdet. Und manchmal ein wenig
andererseits Liebhaber oder Geliebter zu manche Passage dieses Buchs aus eben- anstrengend.
sein, war dann nichts mehr zu genießen. Es solchen Handke-Notizen stammt, schlich- Es folgt schließlich noch ein letztes, ein
war eine Schuld. Es war die Schuld. Beides te Reihungen scheinbar zufälliger Beob- 13. Kapitel. Da löst sich, am Ende der
zusammen, das war die Strafwürdigkeit.“ achtungen, wie etwa diese: „Ein Fahrrad Nacht, alles auf, keine Spur von einem
Die Überzeugung des armen Mannes: fiel um. Eine Frau hatte graugrüne Augen. Schiff, von Zuhörern, einer Frau, nicht
Das Schreiben verlange „ein Leben jenseits Ein Mann hatte auf der Wange eine Nar- einmal von dem erträumten Buch. Und
der Geschlechterliebe“. Ja, der ehemalige be, die kein Schmiß war. Ein Zweig fe- im Morgengrauen fragt sich ein einsamer
Autor berichtet seinen Gästen sogar die derte von einem da aufgeflogenen Vogel. Erzähler gar: „Was hatte er bloß bei den
Geschichte von der Frau, „die er einmal Der Rest einer Zeitung ragte aus einem Verlorenen auf dem Balkan zu suchen
fast totgeprügelt hätte“. Als die ihn wieder- Kanalgitter … Ein Türke und ein Asiate gehabt?“ Darauf gibt es zwar keine Ant-
holt beim Schreiben gestört habe, sei es sprachen miteinander im österreichischen wort, aber es gibt doch dieses eindrucks-
eines Nachts dazu gekommen, dass er „auf Dialekt.“ volle Buch, das nicht über Nacht entstan-
die Frau, ohne sie überhaupt anzuschauen, Obgleich nicht im engeren Sinne rea- den ist, sondern von Januar bis Novem-
losstürzte und auf sie einprügelte“. listisch, ist Handkes Buch bemerkenswert ber 2007. Volker Hage
Was immer daran autobiografisch ge-
färbt sein mag: Eine ehemalige Freundin,
die Schauspielerin Marie Colbin, hat ein-
mal öffentlich über einen Gewaltausbruch
Handkes geklagt: „Ich höre noch meinen
Kopf auf den Steinboden knallen. Ich spü-
re wieder den Bergschuh im Unterleib …“
Vor allem Schauspielerinnen sah man an
der Seite des Schriftstellers, von Libgart
Schwarz über Jeanne Moreau, Sophie Se-
min bis zu Katja Flint.
Und eines teilt der reale Handke ganz
gewiss mit seinem fiktiven Ex-Kollegen im
Buch – das Bedürfnis, völlig auf sich ge-
stellt zu sein, die Welt als Einzelgänger zu
betrachten, und zwar im wörtlichen Sinn:
als jemand, der sich dem Gehen und oft
ziellosen Herumreisen überlässt; zwischen-
durch auch einmal eine Strecke mit dem
Zug oder Flugzeug.
Und so heißt es dann etwa: „Es war
noch mitten am Tag, und die Sonne schien,
die Sonne des Zeithabens. Sich sonnen in
M. SCHNETZER / SÜDD. VERLAG

ihr: und so beschloß er, vom Flughafen zu


Fuß aufzubrechen, irgendwohin in das
Land, sich leiten lassen, ohne vorgefaßtes
Ziel“, geleitet „von den Straßen, den We-
gen, dem Querfeldein, den Horizonten“.
Das Gehen, hat Handke einmal ge-
sprächsweise formuliert, sei heute das
wirkliche Abenteuer, „das Gehen quer- Literat Handke, Ehefrau Schwarz (1972): Hassausbruch durchgestrichen

142 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Handke-Tagebücher*: „Mitten im Schreiben sind wir im Tod, sind wir mitten im Leben“

Willkommen, oh Schattenreich
persönliche Lebensspuren, nichts Geküns-
teltes, keine affektierte Rollenprosa.
Es geht um die großen Themen: die Lie-
be, den Tod, die Kunst. Sogar die politische
Selbstdemontage des proserbischen Polit-
Handkes Tagebücher: Dichten als permanente Existenzkrise Rambos Peter Handke („Gerechtigkeit für
Serbien“) meint man nach der Lektüre

M
orgens, vor Sonnenaufgang – ir- Beobachtungen füllte und als Steinbruch dieser Aufzeichnungen als Kollateralscha-
gendwo in Paris. Was schreibt der für sein umfangreiches Werk nutzte, sind den einer radikalen Subjektivität verste-
Dichter, etwas krakelig, im Dun- nie veröffentlicht worden. Nun kann man hen zu können – ohne sie deshalb verzei-
keln? „Vorstellung von einer nur sexuellen sie in Marbach lesen und einen anderen hen zu müssen.
,Begegnung‘: wir wären beide nur darauf Handke entdecken. Einige Beispiele: Handkes Notizbücher zeigen einen gro-
konzentriert + gespannt auf das Vögeln.“ Handke, empfindlich: „Schon das Ra- ßen Einzelgänger und Kunstbesessenen bei
Doch ach, gleich melden sich Zweifel: scheln der Zigarettenschachtel allein macht der Arbeit, sie geben Einblick in die inne-
„Aber vielleicht erwartete sie dabei, wenn mich kribblig.“ ren und äußeren Widerstände, denen der
auch von der Geilheit völlig befangen, Handke, cholerisch: „A. hat Angst vor Dichter sein Werk abringen muss.
doch immer noch den einen Blick von mir, meiner Unbeherrschtheit, noch bevor ich Ende der siebziger Jahre – so viel war
der alles ändern würde!“ die Beherrschung verliere (auch so ein klei- bekannt – befand sich Handke in einer
Dann dämmert der Morgen, und die ner Teufelskreis).“ monatelangen Existenz- und Schreibkrise.
Schrift wird regelmäßiger: „Ich habe fast Handke, einsam: „Krankheit und Seine Notizbücher zeigen, dass es sich tat-
im Dunkeln zu schreiben angefangen, und Schmerz erscheinen mir immer mehr als sächlich um eine Dauerkrise handelt.
jetzt sehe ich schon meine Buchstaben.“ Auswirkung einer Unfähigkeit, für andre Oft macht ihm die „schreckliche Gren-
Diesen letzten Satz hat Peter Handke nie sich zu öffnen; als Folge des Eingeschlos- zenlosigkeit der Depression“ zu schaffen,
veröffentlicht. senseins in sich selber.“ dann wieder der ganz profane Alltag, dem
Die Skizze der Pariser Morgenstimmung Handke, zweifelnd: „Wenn ich etwas er- sich der Schriftsteller und alleinerziehende
ist eines der zahlreichen tagebuchähnli- zählen will, gerade das tatsächlich gesche- Vater einer Tochter ausgesetzt sieht. Hand-
chen Fragmente, wie sie Handke seit Jahr- hene, ist mir, als lüge ich.“ kes oft kalte, empfindliche, „immer tro-
zehnten in kleinen Notizbüchern festhält. Handke, erleichtert: „Tränen des Glücks: ckene, eingetrocknete Hausarbeitshände“
Die Entdeckung der eigenen Schrift, das ich habe die Erzählung; heute nacht, nach müssen schreiben und abwaschen: „Immer
Wunder des Schreibens, ist der eigentlich Alpträumen des fruchtlosen Schreibens, lecke ich mir am Abend über die Hand-
intime Moment, den der Dichter damals erschien sie mir, am Übergang zwischen flächen.“ Manchmal sind sie so klamm,
für sich behalten hat. Traum und Wachsein.“ dass sie selbst das kalte Leitungswasser als
Publiziert wurde der Inhalt der handli- Handke, allein zu Haus: „Heute beherr- warm empfinden.
chen Kladden bisher nur in einigen – vom sche ich alles: das Bettenmachen, die Hose Im Kampf mit den Ansprüchen des All-
Autor selbst besorgten – Auswahlbänden. vom Bügel nehmen, ohne überflüssige Be- tags und den eigenen Stimmungsschwan-
Und so kursierten immer wieder Vermu- wegung.“ kungen ist die Kunst für den Dichter Fluch
tungen, was der so produktive wie umstrit- Handke, bizarr: „Ich suchte in der dunk- und Rettung zugleich.
tene Starautor wohl verändert oder aus- len Küche für den umgeschütteten Wein Mal ermahnt er sich: „Hör endlich auf
gelassen haben könnte. draußen den Schwamm; plötzlich die Vor- mit deinem verderblichen, in die Unschuld
Während die Österreichische National- stellung: ,Mein Freund, der Schwamm!‘“ der Dinge eingreifenden Schriftsteller-
bibliothek etliche seiner literarischen Ma- Die manchmal banalen, nicht selten ge- tum in der Zeit des Nichtschreibens.“ Mal
nuskripte für 500 000 Euro kaufen durfte, nialen Fragmente sind Bruchstücke einer ermannt er sich: „Vorstellung, daß ich
überließ der in Kärnten geborene Schrift- großen Konfession und bieten mehr als die meinem Mörder, um ihn von der Tat ab-
steller für eine ungenannte Summe 66 sei- gedruckten Notizen: die vielen Zeichnun- zuhalten, sagen würde: ,Ich bin Schrift-
ner Notizbücher dem Deutschen Litera- gen, hingeworfenen Satzfetzen, die Adres- steller.‘“
turarchiv in Marbach. sen, kleine ins Tagebuch eingelegte Auf- Die existentielle Einsamkeit, die reizba-
Die ungewöhnliche Erbteilung ist für das hebsel wie Blätter, Kassenbons oder Ähn- re Nervosität, der verzweifelte Kampf mit
angesehene Marbacher Archiv ein echter liches – lauter authentische, zum Teil sehr sich selbst erinnern nicht von ungefähr an
Coup: Schätzungsweise zwei Drittel der die Tagebücher Franz Kafkas, dieses an-
über 10 000 Seiten, die der fleißige Autor * Mit Skizzen, die den Kopf des sterbenden Nicolas Born deren großen, an sich selbst leidenden
zwischen 1975 und 1990 mit Einfällen und zeigen. Dichters. „Auf der Straße ging ich wie aus-
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 143
Kultur

gesetzt“ – dieser Handke-Satz könnte auch junge Dame nächtelang seine Salzburger hab mich verdammt gefühlt, als ich an ,Lang-
von Kafka sein. Behausung belagerte und sich auch dann same Heimkehr‘ schrieb. Verurteilt, wie in
Doch Handke versinkt nicht in Melancho- nicht abschütteln ließ, als der Dichter sie in dem Kafka-Brief an den Vater. Über Jahre
lie und Ratlosigkeit – bei ihm ist es immer ein Flugzeug zurück in die Schweiz setzte. sogar. Aber ich hab mich gewehrt gegen den
wieder das Schreiben, das die feindselige „Irgendwann war ich so weit, dass ich ge- großen Vater, indem ich weitergemacht habe,
Wirklichkeit schließlich bannt und den Dich- dacht habe, jetzt bring ich dich um“, sagt mit der ,Lehre der Sainte Victoire‘ und dem
ter rettet: „Schreibend wieder einmal das Handke im Rückblick. „Das war so ein ,Chinesen des Schmerzes‘. Ich habe mich
In-Sicherheit-Gefühl.“ Die Notizen schen- Impuls in mir, sie zu packen und dann auf verurteilt gefühlt. Das hat nichts mit Selbst-
ken dem Autor die „Phantasie der Dauer“. eine eiserne Zaunspitze zu spießen, und mord zu tun, es ist viel geheimnisvoller.“
Die Künstlerexistenz erscheint hier als dann habe ich gedacht: um Gottes willen.“ Und doch findet sich im Notizbuch vom
permanente Krise, die immer neu bewältigt Auch die Lebensgefährtinnen des Dich- 8. Dezember 1976 eine Bemerkung von
werden muss. Ein Schwebezustand zwi- ters hatten es nicht leicht mit einem Mann, Handkes siebenjähriger Tochter: „Ich will
schen Tag und Nacht, Glück und Verzweif- der, wie es in seiner neuen Erzählung „Die nicht, daß Du Dich tötest.“ Diese erschüt-
lung, aus dem der „Meister der Dämme- morawische Nacht“ heißt, „dem Schreiben ternde Bitte ist ein Beleg für die vielleicht
rung“ seine Werke schöpft. versprochen“ ist. Schwer, einen Besessenen wichtigste und sicher engste Bindung, die
zu lieben wie den Autor in die- Peter Handke je einging; noch heute ist dem
sem Buch, für den es bei jedem Vater die Betroffenheit über das, was seine
neuen Werk „um Leben und Tochter damals gesagt hat, anzumerken:
Tod, um Sein oder Nichtsein“ „Die hat das wahrscheinlich gespürt, so ein
geht und der auf Störungen reiz- Kind spürt das.“ Nur wenn das Schreiben
bar bis aggressiv reagiert. den Autor von der Realität befreien würde,
Das musste auch Handkes wäre der Tod eine Erlösung: „Wenn die
erste Frau, die Schauspielerin Erzählung anfängt, eine Art Parallelwelt zur
Libgart Schwarz, erleben, und Realität zu werden“, sagt Handke im Ge-
es gehört wenig Phantasie dazu, spräch, „dann würde auch ich wie Hölder-
in Tagebucheinträgen wie „L.: lin sagen: Willkommen, oh Schattenreich.“
Ich finde sie ekelhaft + lächer- Doch der Tod zur Unzeit wäre der reine
lich, diese Frau“ das Ergebnis Horror. Als Handke mitten in einer
einer zerrütteten Ehe zu sehen, Schreibkrise im März 1976 aufgrund eines
die später in Büchern wie „Die Verdachts auf Herzinfarkt im Krankenhaus
linkshändige Frau“ ihre Spiege- liegt, kritzelt er im Bett wie besessen ins
lung fand. Immerhin: So rasch Notizbuch: „Überall in, neben, unter mei-
Handke diesen Wutausbruch nem Bett suche ich die Spuren früherer
hingeschrieben hatte, so schnell Toter … rasiert habe ich mich, vage sicht-
strich er ihn wieder durch. Die bar in dem Blechtablett, wirklich wie zum
Tagebücher sind voll von sol- letzten Mal mit eigener Hand.“
PATRICK ZACHMANN / MAGNUM / AGENTUR FOCUS

chen Irritationen und Wutaus- Und wieder ist es das Schreiben, das ihn
brüchen. Mitunter sieht man inmitten der Dunkelheit bei Bewusstsein
den Zeilen an, dass sie impulsiv hält: „Mein Filzstift“, notiert er, „macht
niedergeschrieben wurden. schreibend in der fast schon völligen Fins-
Das Notizbuch wird zur Waf- ternis Geräusche, als flüstere er, tuschele er
fe des Dichters gegen die Wirk- (wie ein Kind manchmal einem anderen
lichkeit, und Handke schießt was zutuschelt).“ Wochen später dann der
immer aus der Hüfte. „Wie die erleichterte Satz: „Wie oft ich daran denke,
Westernhelden den Revolver diesen und jene, die nun tot sind, jetzt wie-
ziehen“, sagt der Autor, „so ha- der um einen Tag überlebt zu haben!“
Dichter Handke: „Eine gewaltige Krise“ be ich meine Notizbücher ge- Er habe sich damals an irgendwelchen
zückt und losgeschossen.“ Geräuschen festhalten müssen, erklärt
Handke wohnt in Chaville bei Paris, in Doch mitunter geht diese Waffe nach Handke heute. Um ihn seien die Leute ge-
einem von hohen Hecken geschützten al- hinten los, wie Ende der siebziger Jahre, storben, „und da kann es kommen, dass so
ten Jagdhaus. In diesem Haus, an dem die als Handke Schwierigkeiten hatte, aus dem ein Bleistift- oder Filzstiftgeräusch einen an
Vorortzüge sehr nah vorbeirauschen, lebt Fragmentarischen wieder in eine zusam- der Erdoberfläche hält oder weiterschubst“.
er seit 17 Jahren, fern von Deutschland menhängenden Prosa zu finden: „Das war So hielt es der Dichter auch im Dezem-
und Österreich, fern von seinem Publikum. eine gewaltige Krise“, erinnert sich der Au- ber 1979, als er allein am Bett des todkran-
„Ich mach schon lange keine öffentlichen tor und nickt, „und im Grunde genommen ken Schriftstellerkollegen Nicolas Born saß.
Lesungen mehr.“ bin ich immer noch drin.“ Dabei schrieb er nicht nur, er zeichnete den
Einer der Gründe, natürlich: die Frau- Die Erzählung „Langsame Heimkehr“ Sterbenden auch dreimal, zuletzt im Tod.
en! Im Gespräch mit dem SPIEGEL, wäh- (1979) wurde zwar oft als Überwindung Bis heute führe er immer ein Notizbuch
rend auf dem Küchenherd eine Pilzsuppe dieser Krise gelesen. Heute gesteht der bei sich, sagt Handke: „Einfach nur, um
vor sich hin blubbert, holt der Dichter aus: Autor, er sei gescheitert an dem großen, mich zu erden oder um mich in den Tag zu
„Hüte dich vor den Leserinnen.“ Er fühlt epischen Projekt. Noch immer sei das befördern.“ Wenn er dabei irgendetwas so
sich verfolgt: „Ich hab einen richtigen Hor- konzentrierte kohärente Erzählen für den bemerke, wie er es noch nie zuvor bemerkt
ror vor Frauen, also den Leserinnen.“ Auch „lyrischen Epiker“ nichts Vorgegebenes: habe, dann werde es sogar am Abend Tag
davon wissen die Notizbücher zu berichten: „Es ist ein Steigen ins Bergwerk der Bilder – allein durch das Aufschreiben.
Der Starautor Handke wurde schon von und Sätze, fast eine Art Gnade.“ „Mitten im Schreiben sind wir im Tod,
Verehrerinnen verfolgt, als der Begriff Stal- Furchtbar, wenn diese Gnade ausbleibt. sind wir mitten im Leben“, hat Handke
kerin noch nicht im Lexikon stand. Immer wieder zeugen die Notizbücher 1990 notiert. Wer diese Tagebücher gelesen
Er kann sich noch gut an einen Vorfall von Angstgefühlen, Selbstzweifeln, „Traum- hat, der weiß: Dies Dichterwort ist keine
1985 erinnern, als eine offenbar gestörte rhythmusstörungen“. Handke heute: „Ich hohle Phrase. Malte Herwig

144 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
FEMINISMUS

Denkerin in der
Männerwelt
Simone de Beauvoir, Philosophin,
Schriftstellerin und
Frauenrechtlerin, wird zu ihrem
100. Geburtstag neu
gelesen – unabhängig von Sartre.

D
er Tod erschütterte sie nicht. Ihr
Lebensgefährte seit über 50 Jahren
lag in seiner „kleinen Kiste“, er
würde da nicht mehr herauskommen, und
sie würde nicht mehr zu ihm kommen.
Nüchtern stellte sie fest: „Selbst wenn
man mich neben Euch beerdigt, von Eurer
CINETEXT

Asche zu meinen Überresten gibt es keinen


Übergang.“
Simone de Beauvoir blieb ihrer mate- Autorin Beauvoir (um 1965): „Man wird nicht als Frau geboren“
rialistischen Überzeugung treu. Ihrer ka-
tholischen Kinderfrömmigkeit, dem Glau- bändigen Memoiren haben die Debatte weiblichen Intellektuellen der Neuzeit
ben an den Himmel, hatte sie längst abge- über das Verhältnis von Mann und Frau gemacht; einer eigenständigen Denkerin,
schworen, im Alter von 14 Jahren erklärte entscheidend geprägt. nicht nur dem Anhängsel des enthemmten
sie ihrer Mutter mit trotziger Entschlos- „Selbstverständlich ist das Erbe von Si- Verführers Sartre.
senheit: „Ich werde nicht mehr zur Messe mone de Beauvoir nicht auf den feministi- Die Tochter aus gutem Hause entzog sich
gehen.“ schen Aspekt zu beschränken“, resümiert von Anfang an einem Gegensatz, der in
Der Tod hatte sie getrennt, nicht verei- Schwarzer, die Epigonin, die nie an das der bürgerlichen Gesellschaft damals als
nigt. Dabei war es das Paar des Jahrhun- Original herankam, „doch es gibt keine selbstverständlich galt: Schönheit und In-
derts: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Zeile, die nicht durchdrungen wäre von telligenz.
Sartre. Als sie am 14. April 1986 starb, sechs der Tatsache, dass sie eine Frau ist in einer Ein Mädchen war dafür bestimmt, zu
Jahre fast auf den Tag genau nach Sartre, Männerwelt.“ heiraten und Kinder zu bekommen. Wenn
ging die Protestbewegung von 1968 end- Mehrere Bücher und Biografien bemü- die Familie nicht reich genug war, der Toch-
gültig zu Ende. Der Trauerzug in Paris war hen sich jetzt, Simone de Beauvoir wieder ter eine ansehnliche Mitgift zu spendieren,
die letzte Kundgebung der Revolte. Die zu lesen, Neues, Überraschendes in ihrem wenn das Mädchen nicht attraktiv genug
Kellner der Brasserie La Coupole standen Werk zu entdecken, vor allem aber die war, einen Mann von Stand zu verführen,
auf der Straße Spalier, die weiße Serviette Klarheit, die Integrität, den Gerechtig- dann blieb sie existentiell auf sich selbst
über den linken Arm geschlagen, um ihrem keitssinn und die Kühnheit ihrer Visionen angewiesen, auf ihr Wesen an sich, unab-
treuen und prominenten Gast im Intellek- zu würdigen. hängig vom Geschlecht.
tuellen- und Künstlerviertel Montparnasse Nicht nur die Bücher, vor allem auch In ihrem epochalen Buch, „Das andere
die letzte Ehre zu erweisen. ihr Leben haben sie zur bedeutendsten Geschlecht“, das 1949 in zwei Bänden er-
Der kleine Platz vor der Kirche Saint-
Germain-des-Prés in Paris trägt heute ihren
Namen, verbunden mit dem von Sartre.
Ebenso eine kleine Fußgängerbrücke an
der neuen Nationalbibliothek: ein Über-
weg zu Büchern, das hätte ihr gefallen.
Die beiden sind so nun doch vereint.
Dabei hatte sie stets darauf geachtet, ihre
Selbständigkeit zu behalten, ihren Frei-
heitswillen, ihre Lebensfreude, ihre Neu-
gier, ihr Bedürfnis zu schreiben.
Hundert Jahre nach ihrer Geburt am
9. Januar 1908 ist die französische Schrift-
BRUNO BARBEY / MAGNUM / AGENTUR FOCUS

stellerin und Philosophin Simone de Beau-


voir Wegbereiterin für Generationen von
Frauen geblieben, eine Autorin, die Eman-
zipation praktisch lebte und mit ihren
Büchern die theoretischen Grundlagen des
modernen Feminismus lieferte – Vorbild
auch für Alice Schwarzer in Deutschland,
die seit Anfang der siebziger Jahre mit ihr
befreundet war. Beauvoirs Kultwerk „Das
andere Geschlecht“, aber auch ihre mehr- Partner Beauvoir, Sartre (1970 in Paris): Wegbereiter für Generationen

d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 145
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin schien und einen sofortigen Skandalerfolg
Bestseller „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl-
kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
erlebte (22000 verkaufte Exemplare in zwei
Wochen), sezierte Beauvoir die Frage,
Belletristik Sachbücher was es eigentlich für die eine Hälfte der
Menschheit bedeutet, von der anderen –
1 (1) Joanne K. Rowling Harry Potter 1 (1) Hape Kerkeling oft dümmeren, meist emotional ärmeren –
und die Heiligtümer des Todes Ich bin dann mal weg Malik; 19,90 Euro definiert, herabgesetzt, gepriesen, wie auch
Carlsen; 24,90 Euro 2 (4) Rhonda Byrne The Secret – immer fremdbestimmt zu werden.
Das Geheimnis Goldmann; 16,95 Euro Der Essay hatte eine Bombenwirkung
2 (2) Julia Franck Die Mittagsfrau und verurteilte seine Autorin zu einer qua-
3 (7) Markus Lanz Und plötzlich guckst
S. Fischer; 19,90 Euro
du bis zum lieben Gott – si dämonischen, lebenslangen Verrucht-
3 (7) Andrea Maria Schenkel Tannöd Die zwei Leben des Horst Lichter heit: unbefriedigt, frigide, nymphomanisch,
Edition Nautilus; 12,90 Euro
Gütersloher Verlagshaus; 19,95 Euro lesbisch, männer- und kindertötend, wüte-
4 (8) Richard Dawkins Der Gotteswahn ten Leser und Medien.
4 (6) Cornelia Funke Tintenherz Ullstein; 22,90 Euro In Schmähbriefen bot man ihr an, sie
C. Dressler; 19,90 Euro 5 (3) Peter Scholl-Latour Zwischen den zu heilen, ihre Begierde zu stillen, ihr die
Fronten Propyläen; 24,90 Euro Augen zu öffnen, um das Wahre, Schöne
5 (3) Cornelia Funke Tintentod und Gute zu entdecken – in den ordi-
C. Dressler; 22,90 Euro 6 (2) Eric Clapton Mein Leben
Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro
närsten und beleidigendsten Ausdrücken.
6 (5) Khaled Hosseini Selbst der gutkatholische und hochanstän-
7 (10) Manfred Lütz Gott – Eine kleine dige Schriftsteller François Mauriac spot-
Tausend strahlende Sonnen Geschichte des Größten tete angewidert gegenüber einem Mitar-
Bloomsbury Berlin; 22 Euro Pattloch; 19,95 Euro
beiter Beauvoirs: „Ich habe alles über die
7 (4) Milena Agus Die Frau im Mond 8 (6) Roberto Saviano Gomorrha Vagina Ihrer Chefin erfahren.“ Auch der
Hanser; 21,50 Euro zutiefst humanistische Albert Camus er-
Hoffmann und Campe; 14,95 Euro
9 Eva-Maria Zurhorst
(17) trug intelligente Frauen nicht, wie Beau-
8 (10) Tommy Jaud Millionär Liebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro voir rasch bemerkte: Er fühlte sich in ihrer
Scherz; 13,90 Euro 10 (11) Dieter Hildebrandt / Roger Gegenwart unwohl, so dass er sich über
Willemsen / Traudl Bünger sie lustig machte oder sie ignorierte, je
9 (8) Henning Mankell Die italienischen
„Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!“ nachdem, wie genervt er war: „Sein Ton
Schuhe Zsolnay; 21,50 Euro S. Fischer; 17,90 Euro mir gegenüber war gewöhnlich sarkastisch
10 (9) Cornelia Funke Tintenblut 11 (5) Eduard Augustin / Philipp von und häufig genug beleidigend.“
C. Dressler; 22,90 Euro Keisenberg / Christian Zaschke Dabei ahnte auch Simone de Beauvoir,
Ein Mann – Ein Buch dass ihre revolutionäre These „Man wird
11 (–) Ildefonso Falcones Süddeutsche Zeitung; 19,90 Euro nicht als Frau geboren, man wird es“ nicht
Die Kathedrale 12 (15) Alan Weisman Die Welt ohne uns ganz stimmen konnte.
des Meeres Piper; 19,90 Euro Zwanzig Jahre nach dem Erscheinen
Scherz; 19,90 Euro 13 (–) Eva-Maria Zurhorst / Wolfram des „anderen Geschlechts“ unterzog die
Zurhorst Liebe dich selbst und Schriftstellerin Suzanne Lilar das Grün-
Farbenprächtiges freu dich auf die nächste Krise dungswerk des modernen Feminismus ei-
Epochen-Panorama um Goldmann; 18,95 Euro ner fulminanten Kritik, die Beauvoir im-
einen Kathedralen- merhin dazu brachte, genetische, hormo-
bau im mittelalterlichen 14 (9)Helmut Kohl Erinnerungen
Barcelona 1990 – 1994 Droemer; 29,90 Euro nelle, anatomische Unterschiede zwischen
den Geschlechtern einzuräumen – auch
15 (12) Wilhelm Schmid Glück – Alles, wenn sie zu Recht an der kulturellen Prä-
12 (14) Andrea Maria Schenkel Kalteis was Sie darüber wissen müssen, gung der Vorstellung von Weiblichkeit fest-
Edition Nautilus; 12,90 Euro und warum es nicht das Wichtigste
im Leben ist Insel; 7 Euro
hielt, die immer noch zwischen Idealisie-
13 (13) Paulo Coelho Die Hexe von rung und Dämonisierung schwankt.
Portobello Diogenes; 19,90 Euro 16 (13) Rüdiger Safranski Romantik – „Frauen, ihr verdankt ihr alles!“, soll
Eine deutsche Affäre Hanser; 24,90 Euro Elisabeth Badinter, Frauenrechtlerin und
14 (12) Daniel Kehlmann Die Vermessung 17 (16) Graciano Rocchigiani / Autorin in Beauvoirs Geist, bei der Beer-
der Welt Rowohlt; 19,90 Euro Ralf Grengel / René Hiepen digung gerufen haben. Der französische
Rocky – Meine 15 Runden Existentialismus analysierte den Menschen
15 (15) Wladimir Kaminer Mein Leben im Schwarzkopf & Schwarzkopf; 19,90 Euro
als eine radikal freie Person, die sich durch
Schrebergarten Manhattan; 17,95 Euro 18 (19) Fritz Stern Fünf Deutschland ihr Handeln entwirft, statt durch die Um-
16 (–) Joanne K. Rowling und ein Leben Beck; 29,90 Euro stände getrieben zu sein. Aber sind alle
Harry Potter und der Halbblutprinz 19 (14) Jörg Pilawa mit Tilmann Bendikowski Menschen gleich frei, zu handeln?
Carlsen; 22,90 Euro Pilawas Zeitreise In ihren Erinnerungen hat sich Beau-
Kiepenheuer & Witsch; 17,90 Euro voir, die aus ihrem Milieu austreten muss-
17 (17) John Grisham Touchdown 20 (–) Klaus Bednarz te, um in die wahre Geschichte einzutre-
Heyne; 17,95 Euro Das Kreuz des ten, „betrogen“ gefühlt. Doch die radika-
Nordens. Reise le Avantgardistin, die sie war, verehrt und
18 (11) Isabel Allende Inés meines
durch Karelien verhasst, eine absolute Einzelgängerin,
Herzens Suhrkamp; 19,80 Euro Rowohlt Berlin; 19,90 Euro keineswegs nur eine Gefährtin oder ein
19 (–) Simon Beckett Kalte Asche Medium für den berühmteren Sartre, mit
Reiseporträt jenseits der dem sie das Grab auf dem Friedhof von
Wunderlich; 19,90 Euro Touristenpfade: Karelien,
vergessenes Land Montparnasse teilt – sie hat Generationen
20 (–) Marina Lewycka Caravan von rauer Schönheit und von Frauen in der ganzen Welt die Augen
dtv; 14 Euro wechselvoller Geschichte geöffnet. Romain Leick

146 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Kultur

SPIEGEL: Wenn Charles sie sabbernd in ei-


nen Swingerclub mitschleppt und auch
KINO
sonst mies behandelt, ist sie doch eindeu-

„Männer sind Feiglinge“


tig das Opfer.
Sagnier: Er behandelt sie nicht wirklich
mies, er ist nur nicht so offen und so ehr-
lich, wie es eine Frau sicher wäre. Er sagt
Die Schauspielerin Ludivine Sagnier, 28, über Gabrielle nicht, dass er sie nicht wieder-
sehen will. Sondern er verabredet sich mit
ihre Erfahrungen in Frankreich und Hollywood und ihre Rolle ihr für die kommende Woche. Und dann
in dem Claude-Chabrol-Film „Die zweigeteilte Frau“ lässt er die Schlösser auswechseln und mel-
det sich nicht mehr. Er lässt sie
SPIEGEL: Mademoiselle Sagnier, einfach allein. Männer sind Feig-
Sie spielen in Ihrem neuen Film linge, gerade wenn es um solche
eine junge Fernseh-Wetterfee Dinge geht.
namens Gabrielle, die von allen SPIEGEL: Sie haben mit zehn
Männern um sie herum ange- Jahren den ersten von inzwi-
himmelt wird. Warum verliebt schen mehr als 40 Filmen gedreht
sich diese Frau ausgerechnet in und sind schon länger ein Star
einen bräsigen, stoppelbärtigen, des französischen Kinos. Wie
60 Jahre alten Schriftsteller? kommt es, dass Sie erst jetzt zum
Sagnier: Sie liebt ihn, weil er ein ersten Mal in einem Film von
Künstler ist. Sie liebt seinen Chabrol mitspielen?
Intellekt, seine Spiritualität, sei- Sagnier: Er hat mich nie gefragt.
nen Humor. Es stimmt, dass Und für „Die zweigeteilte Frau“
Frauen manchmal Bewunderung wollte er mich auch nur, weil er
und erotisches Verlangen durch- mich als Tinker-Bell in einer Hol-
einanderbringen, aber Gabrielle lywood-Verfilmung von „Peter
ist smart und ehrgeizig und kei- Pan“ gesehen hatte. Diese Be-
neswegs auf den Kopf gefallen. gründung hat mich ziemlich er-
Sie sucht eine Beschützerfigur, staunt.
vielleicht weil sie selber ohne Va- SPIEGEL: Weil Sie auf Ihren ersten
ter aufgewachsen ist. und bis heute einzigen Ausflug
SPIEGEL: Claude Chabrol verlegt ins amerikanische Kino weniger
in „Die zweigeteilte Frau“ die stolz sind als zum Beispiel auf
Story eines berühmten Promi- Ihren Riesenerfolg „Swimming
nenten-Eifersuchtsmords, dem Pool“ aus dem Jahr 2003, bei
1906 der New Yorker Stararchi- dem François Ozon Regie geführt
tekt Stanford White zum Op- hat?
fer fiel, ins heutige Frankreich. Sagnier: Nichts gegen Hollywood,
Könnte es sein, dass er damit vor aber ich bin sehr froh über den
BENHAMOU SERGE / GAMMA / STUDIO X

allem beweisen will, dass eitle, Platz, den ich mir im französi-
alternde Künstlertypen die Fin- schen Kino erkämpft habe. Ich
ger lassen sollten von jungen bin gut beschäftigt und arbeite mit
Frauen wie Gabrielle? tollen Regisseuren. Schon mög-
Sagnier: Sie sind zu streng mit lich, dass ich irgendwann wieder
der Figur des Schriftstellers in einer amerikanischen Produk-
Charles, in den sich das Mäd- tion mitspiele, aber gerade aus
chen verliebt. Ich halte ihn je- den USA bekam ich nach meinem
denfalls nicht für einen eitlen Auftritt in François Ozons „Swim-
alten Widerling, sondern für ab- Darstellerin Sagnier: „Halb Opfer, halb Täterin“ ming Pool“ nur Angebote, in de-
solut charmant. nen ich Huren oder Verführerin-
SPIEGEL: So, wie François Berléand ihn Gabrielles Boss im Fernsehsender tätschelt nen spielen sollte. Die sahen in mir die
spielt, wirkt er wie die Karikatur eines dauernd an ihr herum. nächste große Sexbombe.
Salonliteraten, immer eine gelehrte Phrase Sagnier: Sie genießt es lange, das Objekt SPIEGEL: Und Sie finden, dass französische
auf Lager, um Gabrielle einzuwickeln. der Begierde zu sein. Sie ist jung und Produzenten und Regisseure wie Chabrol
Sagnier: Weibliches Verlangen funktioniert hübsch und geradeaus, während alle an- Sie weniger typusbetont einsetzen?
nun mal anders als das der Männer. Frauen deren sich verstellen. So sind zum Beispiel Sagnier: Ganz entschieden. Es ist ja grund-
lieben Männer wie Charles. Er repräsen- ihre Kollegen, die sie stets superfreund- sätzlich keine schlechte Sache, als sexy
tiert Erfolg und Macht, er verkörpert die lich behandeln, in Wahrheit total neidisch. zu gelten. Ich möchte nur nicht darauf
Welt der Wörter, der Literatur. Das zieht Und Paul gibt sich nett, ist aber voll- reduziert werden. In den Jahren seit
Frauen magisch an und macht Charles für kommen aus dem Gleichgewicht und auf „Swimming Pool“ habe ich wirklich an-
viele einfach unwiderstehlich. keinen Fall der Mann, der sie glücklich spruchsvolle Rollen gespielt in komplizier-
SPIEGEL: Ist Chabrols Film, in dem die vom machen wird. Jeder um sie herum spielt ten Psychodramen. Und gerade bei mei-
Literaten Charles sexuell ausgenutzte und ein Spiel. Sie ist die Einzige, die nicht nem Auftritt in dem Episodenfilm „Paris,
verstoßene Gabrielle schließlich den net- spielt. Das wird ihr zum Verhängnis. Aber je t’aime“ sah ich wirklich nicht wie eine
ten, jungen, aber psychisch labilen Millio- Chabrol betont, dass sie höchstens zur Sexbombe aus. Da hatte ich nicht lange
nenerben Paul heiratet, nicht dennoch eine Hälfte Opfer ist, zur Hälfte aber eben auch zuvor meine Tochter geboren.
höhnische Kritik an den Männern? Selbst Täterin. Interview: Wolfgang Höbel, Daniel Sander

d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 147
Kultur

geboren in Afghanistan, lenkt daher das wurden 100 Grundrisse präsentiert, etwa
ARCHITEKTUR
Augenmerk auf ein Problem, „das die heuti- die 23-Quadratmeter-Wohnung „für eine

Schöner hausen gen Architekten nicht mehr zu interessieren


scheint: die Armut, die Verwahrlosung“.
Weltweit hausen derzeit 900 Millionen Men-
erwerbstätige Frau“. Einer Familie wurde
das Zusammenleben auf 48 Quadratmetern
zugemutet. Le Corbusier hielt 4-Quadrat-

mit Hartz IV schen unter dramatisch schlechten Bedin-


gungen, so schätzt man im Bauhaus und
stellt die ketzerische Frage: „Wo sind die
Stararchitekten, die das Elend bekämpfen?“
meter-Schlafkammern für ausreichend.
Licht, Luft, Sonne: Das war das Credo
der Moderne, es bescherte den Städten
Wohnkisten mit Begrünung drum herum.
Das Bauhaus sucht in einem Für seinen „Bauhaus Award“ zum The- Doch Platz im Innern oder die Möglichkeit
Wettbewerb nach ma „Wohnungsnöte“ will Akbar junge Ar- einer individuellen Aufteilung war für die
chitekten und Designer ebenso wie Künst- Massen nicht vorgesehen. 1930 entstanden
der „Wohnung für das ler und Wissenschaftler gewinnen. Beiträge in Dessau sogenannte Laubenganghäuser.
Existenzminimum“. dürfen bis Ende März eingereicht werden, Schon sie erinnerten an Käfige.

LANGROCK / ZENIT / LAIF

ERWIN DÖRING / VISUM


Berliner Plattenbausiedlung Gropiusstadt, Bauhaus-Chef Akbar: „Wo sind die Stararchitekten, die das Elend bekämpfen?“

N
eues aus der Welt des Wohnens: Auf bereits im Januar veranstaltet das Bauhaus Viele Vorschläge, auch die guten, seien
der Kölner Möbelmesse in der kom- ein Kolloquium. später in Plattenbausiedlungen „geradezu
menden Woche wird einer der maß- Die Gruppe derer, die von den Vorschlä- pervertiert“ worden, sagt Akbar. Er lobt
geblichen Trends „Priceless“ heißen, also gen profitieren sollen, ist groß: Arbeitslose, dagegen die einst vom Bauhaus verteufel-
„unbezahlbar“. „Neo Nature“, noch so eine Obdachlose, Rentner, Alleinerziehende, ten Wohnungen der Gründerzeit. Ihre Zu-
Kategorie, spielt auf eine aktuelle Vorliebe kinderreiche Familien. Es lassen sich viele schnitte lassen mehrere Nutzungen zu:
für teuren Ökoschick im Wohnzimmer an. Daseinsformen am Existenzminimum fin- wohnen, arbeiten, beides zusammen. Na-
Erlaubt ist vieles, Retro oder Futuristi- den. Und: Überall, auch in Europa, nimmt türlich reicht es heute nicht aus, sich über
sches, Cooles und auch noch Kuscheliges, die Armut zu. Grundrisse zu verständigen. Auch das, was
obwohl das „Cocooning“ als ein wenig Es gab das alles schon einmal. Im Okto- man in Deutschland unter sozialem Woh-
überholt gilt. Wie man wohnt – diese Fra- ber 1929 fand in Frankfurt am Main zum nungsbau versteht und was zum Synonym
ge wird furchtbar ernst genommen, denn zweiten Mal der Architekturkongress für Wohnblocks und Ghettoisierung wur-
sie verrät viel über den Geschmack, aber CIAM (Congrès International d’Architec- de, bietet keinen Ausgangspunkt für mög-
auch über den Status einer Person. ture Moderne) statt; dort trafen sich Visio- lichst weltumspannende Konzepte.
Fast schon provozierend mutet bei all näre aus halb Europa, unter ihnen der Bald, so viel steht fest, wohnen die meis-
den ästhetischen Stilübungen eine Initia- Schweizer Architekt und CIAM-Miterfin- ten Menschen in Metropolen, von denen
tive an, die von der ostdeutschen Provinz der Le Corbusier und der Bauhaus-Grün- sich viele zu echten Megacitys entwickeln.
ausgehen und die ganze Welt erreichen der Walter Gropius. Titel der Konferenz, Nun müssten, meint Akbar zu Recht,
soll. Die Stiftung Bauhaus Dessau sucht schon damals: „Die Wohnung für das Exis- schleunigst ganze Städte neu strukturiert
seit Anfang Januar im Rahmen eines tenzminimum“. werden. Geht also vom Bauhaus tatsäch-
Wettbewerbs „Die Wohnung für das Exis- In Texten wurde eindringlich appelliert: lich wieder eine Revolution aus? Vielleicht
tenzminimum von heute“. Wohnungen für die „mindestbemittelte kann das Institut ja den Impuls zu einer
Hübscher wohnen für Hartz-IV-Emp- Schicht der Bevölkerung“ zu schaffen ste- neuen Leitdebatte über die Verantwortung
fänger und die Bedürftigen in den Slums? he „im Vordergrund des Interesses in fast der Architekten und Städtebauer geben.
Bauhaus-Direktor Omar Akbar, 59, hat allen zivilisierten Ländern“. Dass Armut Einen branchenfremden Pionier gibt es
Größeres im Sinn. Er will Architektur, De- zum globalen Sprengsatz werden kann, be- schon. Brad Pitt, Hollywoods gefragtester
sign sowie der eigenen Institution endlich wies 1929 die Weltwirtschaftskrise. Der Mann, beteiligt sich finanziell an einem
wieder gesellschaftspolitisches Gewicht ver- Schwarze Freitag der New Yorker Börse, Projekt in dem 2005 von einem Hurrikan
schaffen. Das Bauhaus fühlte sich schon in an dem die Aktienkurse abstürzten, ereig- verwüsteten New Orleans; dort bauen
den zwanziger Jahren für alle Fragen zu Ge- nete sich am zweiten Tag des Kongresses. ideenreiche Architekten wetterfeste Häu-
staltung, Architektur und Stadtplanung zu- Die in Frankfurt versammelte Avant- ser für einkommensschwache Familien.
ständig. Jetzt will die Einrichtung mit dem garde hatte sich bereits auf die Idee der Vielleicht ist das die Rettung – die so-
berühmten Namen auch den missionari- „Minimalwohnung“ eingeschworen. In ei- ziale Architektur zum Trend zu erklä-
schen Eifer von einst wiederbeleben. Akbar, ner Ausstellung und später in einem Buch ren. Ulrike Knöfel

148 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
T. HOEPKER / MAGNUM / AG. FOCUS
Robert Havemann, Wolf Biermann (1975)

Der Fall Havemann


steht stellvertretend für den Kampf um die Deutungshoheit über die DDR mann“) mit seinem Vater ab. Sibylle Havemann protestierte im No-
und ihre Gegner, der bis heute andauert. Der Chemiker und Schrift- vember in einem Brief an Suhrkamp-Chefin Ulla Unseld-Berkéwicz ge-
steller Robert Havemann (1910 bis 1982) war der wohl prominenteste gen das Werk ihres Bruders (siehe Kasten). Eine weitere Person, die
Regimekritiker der DDR. Nach der Ausbürgerung des Liedermachers durch das Buch ihre Persönlichkeitsrechte verletzt sah, erreichte durch
Wolf Biermann durch die SED-Führung 1976 wurde Havemann unter eine anwaltliche Androhung rechtlicher Schritte, dass der Suhrkamp-Ver-
Hausarrest gestellt. Bis zu seinem Tod wurde er von der Stasi schikaniert. lag die Auslieferung des umstrittenen Werks – die erste Auflage betrug
Havemanns Sohn Florian, Jahrgang 1952, floh 1971 in den Westen; 7000 Exemplare – stoppte und den Buchhandel um Rücksendung der
Tochter Sibylle, Jahrgang 1955, konnte 1977 ausreisen, zusammen mit bereits ausgelieferten Bücher bat. Für Ende Januar hat Suhrkamp eine
ihrem ersten Sohn, dessen Vater Wolf Biermann ist. Ende vergange- um rund 50 Seiten gekürzte Neufassung von „Havemann“ angekün-
nen Jahres rechnete Florian Havemann, mittlerweile gewählter Verfas- digt. In einem Beitrag für den SPIEGEL kritisiert Sibylle Havemann nun
sungsrichter in Brandenburg, in einem 1100-seitigen Buch („Have- ihren Bruder Florian.

Probleme und Konflikte nicht verschärft,


ZEITGESCHICHTE
sondern so beleuchtet, dass sie sich lösen

„Missbrauch unseres Namens“


lassen.
Diese belebende Ruhe, in der ein grund-
sätzliches Wohlwollen lag, kenne ich von
meinem Vater, solange ich mich an ihn er-
Sibylle Havemann zum vermeintlichen Tatsachenroman innern kann.
So erkläre ich mir auch, die Jahre mei-
ihres Bruders über den DDR-Dissidenten Robert Havemann ner Kindheit, die nicht gerade ohne politi-
sche und persönliche Erschütterungen ver-

Z
wei Stunden nachdem er gestorben streuen und ihn nicht beruhigen, dass ich liefen, nicht als zerstörerisch empfunden zu
war, erreichte ich die Burgwallstraße heil angekommen war. Aber wer konnte haben. An meinem Vater konnte ich er-
in Grünheide. Die Ärzte, die den mich beruhigen, wo doch meine schlimms- leben, wie es ist, wenn man sich nicht ein-
Totenschein ausstellten, waren noch im te Erwartung eingetroffen war? Mein toter schüchtern lässt: Es stärkt – einen selbst,
Haus. Ich sah ihre Autos und ahnte, dass Vater. Als wäre er noch am Leben. wie auch die Menschen, von denen man
ich ihn nicht mehr lebend antreffen würde, Diese Ruhe, die jegliche Panik nimmt, umgeben ist.
so wie ich es immer befürchten musste, die genau die Kräfte freisetzt, die Freude, Mein Bruder Florian muss einen ande-
seit ich 1977 die DDR verlassen hatte. Gelassenheit, Ernst und Interesse am Le- ren Menschen zum Vater gehabt haben.
Er wusste, dass ich auf dem Weg zu ihm ben beflügeln. Wie käme er sonst auf die Idee, sich auf
war. Es kümmerte ihn, ob ich auch genug Ruhe, die aufmuntert, weil sie selbst den über tausend Seiten seines „Have-
Geld fürs Taxi hätte. heiter ist, die Selbstvertrauen erzeugt, die mann“-Buchs immer wieder als „Loser“
Man ließ mich an der Grenze lange war- das Besonnene sucht, ohne hemmend zu beschreiben? Allerdings als Loser mit
ten. So konnte ich diese Sorge nicht zer- zu sein, die Klarheit hervorbringt, da sie einem monströsen Sendungsbewusstsein.
150 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Kultur

Oder ist es vielleicht Koketterie? Aber Da er aber ohne meine „Hilfe“ auf den Seit der Suhrkamp-Verlag das Buch
das wäre eine Unterstellung, also genau vielen Seiten seines Buchs nicht auszu- „Havemann“ zurückgezogen hat, weil es
dieselbe Methode, die er zum Prinzip sei- kommen scheint, habe ich als erste Reak- einen Kläger gibt, der in ihm seine Per-
nes Schreibens erhoben hat. tion auf meine Lektüre einen offenen Brief sönlichkeitsrechte verletzt sieht, könnte ich
Er nennt es nur anders: Behauptungen, an den Verlag und die Verlegerin geschrie- eigentlich erleichtert sein, dass es nun nicht
Legenden und Geschichten, die er andere ben, in dem ich mitteile, dass ich meinem mehr auf dem Markt ist. Aber ich bin es
glauben machen will, weil einzig und allein Bruder jegliche Autorisierung meinerseits nicht. Denn was wird jetzt aus meinem
er daran glaubt, worauf einzig und allein es verweigere. Bruder, dem Autor?
ihm ankommt. Meine Empörung sollte nicht an ihn ge- Wie hoch hat er sich da hinaufgeschwun-
So tauchen sie denn alle auf, die kapi- richtet sein, auch wenn sie gegen ihn ge- gen, um in den Niederungen anderer Leu-
talen Unterstellungen, mit denen man richtet war. Denn im Nachhinein enthielt te und auch seinen eigenen herumzuwüh-
besonders einen politischen Menschen des das vorsätzliche Verbergen seines Manu- len! Er erwartete ja geradezu freudig die
letzten Jahrhunderts treffen kann: der An- skripts mir gegenüber in meinen Augen so „Dreckkübel“, die er schon über sich aus-
tisemit, der Verräter, der Kollaborateur, viel Feindseligkeit, dass ich mit ihm nicht geschüttet sah. Kein „Gerichtsbeschluss“
der Betrüger, der Nichtstuer, der Trinker, mehr in Berührung kommen wollte. und keine „einstweilige Verfügung“ wür-
der Weiberheld, der inzestuöse Vater … Aber warum habe ich nicht darauf be- den ihn daran hindern, seine „Wahrheit“ zu
Hat er das alles erst mal eben so hin- standen, das Buch vor der Veröffentlichung verbreiten – notfalls, so erwägt er, der Ver-
geworfen, versucht er, sich durch einen zu lesen? Ich hätte es tun können. fassungsrichter, durch einen möglichen
Wust von Betrachtungen, die manche für Mir fehlte die Vorstellungskraft für so Rechtsbruch, indem er bei „Ärger“ das
„reflektiert“ halten mögen, wieder heraus- viel Missbrauch unseres Namens und mei- Buch „mal eben ganz schnell im Internet“
zuwinden. ner Person. Wie hätte ich mir ausdenken veröffentlichen würde, ein Buch, das ich
Es ist aber in der Welt – und so konnte können, dass mein Bruder fähig ist, dem für durch und durch eitel, kokett, missgüns-
es auch zu der absurden Überschrift im Leser zu suggerieren, mein Vater und ich tig, hämisch, schmähend, schlampig und
„Tagesspiegel“ kommen, Havemann offen- hätten eine inzestuöse Beziehung gehabt. gezielt unaufrichtig halte.
bare sich durch einen Brief als Judenfeind.
Zu den vielen „Geschichten“ meines
Bruders, die er selbst nicht erlebt haben
kann, gehört auch eine, die sich so anhört,
als hätte ich sie ihm erzählt. Es geht da um
ein „Köfferchen mit 50 Tausend Mark“,
das Wolf Biermann mir unmittelbar vor
seiner Ausbürgerung in die Hand gedrückt
haben soll. Für meinen Bruder ist das ein
ernstzunehmender Hinweis, dass Bier-
mann gewusst haben muss, dass er nach
seiner Tournee in die BRD nicht wieder in
die DDR zurückkommen würde.
MIKE WOLFF / PICTURE-ALLIANCE / DPA

Da ich mich hier auf mein eigenes Ge-


dächtnis verlassen kann, ist diese Geschich-
te schnell richtiggestellt: Im Mai 1975 wur-
de mein erstes Kind geboren. Bald darauf

HANS SCHERHAUFER
erledigte Wolf beim Jugendamt seine
Vaterschaftserklärung. In der Frage des
Unterhalts versicherten wir, es unter uns
im Sinne des Kindes zu regeln. So gab Wolf
mir ein Sparbuch mit 20 000 DDR-Mark Florian Havemann Sibylle Havemann
für seinen Sohn.
Zusammengefasst: 20 000, nicht 50 000, Offener Brief an die Verlegerin des Suhrkamp-Verlags
in einem Sparbuch für seinen Sohn mehr
als ein Jahr vor der Ausbürgerung. Sehr geehrte Frau Ulla Unseld-Berkéwicz!
Ohne Köfferchen.
Aber auch da, wo er meint, sich ganz Wussten Sie, dass Ihr Autor Florian Havemann im soeben erschienenen
sicher zu sein, bereitet er auf mehr als Buch mit dem Titel „Havemann“ für keine der zahlreichen Informationen,
einer halben Buchseite einen Irrtum vor, Zitate oder verwendeten Briefteile, die auf seine Schwester verweisen,
der so harmlos wie typisch und ungewollt um Einverständnis, geschweige denn um Autorisierung bei ihr ersucht hat?
komisch ist. Er datiert Biermanns Geburts- Vielmehr verweigerte er ihr jegliche Kenntnisnahme seines Manuskriptes
tag auf den 16. November, also genau einen mit der Empfehlung, auch das veröffentlichte Buch nicht zu lesen.
Tag später, als er wirklich ist. Daran habe ich mich nicht gehalten und teile Ihnen jetzt mit, dass ich, seine
Leider ist es nicht immer so lustig. Schwester, NICHTS von dem, was über mich geschrieben oder mir in
Warum macht er sich bei einigen ausge- den Mund gelegt wird, bestätige. Vielmehr handelt es sich um eine Mischung
suchten Personen die Mühe, um deren Er- aus Lügen, Unterstellungen und dem Missbrauch familiärer Intimität.
laubnis zu bitten, Fotos, Aussagen oder Welche Verantwortung tragen hier der Verlag und die Verlegerin? Ist es
Briefe zu veröffentlichen, und bei anderen mangelnde Professionalität oder Verletzung der Integrität von Menschen,
nicht? Bei mir zum Beispiel. oder beides, was die Veröffentlichung dieses Buches in dieser Form möglich
Ging er davon aus, dass ich, seine gemacht hat?
Schwester, mit allem einverstanden gewe-
sen wäre? Wohl nicht. Mit freundlichen Grüßen
Denn sonst hätte er mir nicht wiederholt Sibylle Havemann
empfohlen, sein Buch nicht zu lesen.
d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 151
Kultur

Der Möbelpacker der Kunst


ANNE SCHÖNHARTING / OSTKREUZ

Nahaufnahme: Wie der Berliner Bildhauer Florian Slotawa die


Gattung der Umzugskunst etabliert

I
m alten Innenhof des ehemaligen Mode- gegenständen aller Art – weshalb im al- geschickt. Nun ist das Zeug erst einmal aus
centrums Berlin Mitte parken dicht an ten Atelier die Deckenplatten aus Press- dem Weg – und darf Kunst werden.
dicht Lieferwagen. Junge Menschen pa- pappe fehlen. Einen Teil hat er bereits ver- Noch weiß er nicht, ob er für seine
cken Leinwände, Sessel und Lampen ein: arbeitet, für den Rest fällt ihm auch noch Schau alles verwenden wird. Vor einigen
Künstler, die hier ihre Ateliers eingerichtet etwas ein. Monaten erst hat er in Südafrika massen-
hatten und nun weichen müssen. Der Wind Vor etlichen Jahren hat er aus seinem weise Haushaltsgegenstände erworben und
ist eiskalt, die Stimmung ist es auch. Hausrat, von der Jeans bis zum Kühl- sie in einem Container nach Europa ver-
Der polnische Hausmeister mit der gro- schrank, seine Heimat, das bayerische Vor- schiffen lassen. Campingkocher, Dosen, al-
ßen bunten Wollmütze läuft rastlos von alpenland, kartografisch exakt nachgebaut. les in leuchtenden Farben.
Stockwerk zu Stockwerk, von Eingang zu Er hat Hotelzimmer für eine Nacht aus- Früher schuf er am liebsten Arbeiten, die
Eingang. Er wirkt ein wenig ungehalten, einandergeschraubt und neu zusammen- nicht für die Ewigkeit gemacht waren; die
eigentlich sollten alle längst ausgezogen gesetzt, Großraumbüros in Kunsthallen Waschmaschine, eben noch Teil der gesta-
sein. Es gibt einen Investor, Pläne zur Ent- verfrachtet. Man könnte ihn den neuen pelten Skulptur, durfte nach ihrem Ausflug
kernung, Zeitdruck. Marcel Duchamp nennen. Wie der legen- in die Kunst wieder Waschmaschine sein.
Der Bildhauer Florian Slota- Heute ist er weniger dogmatisch.
O. TJADEN/LAIF/ MODECENTRUM/COURTESY: FLORIAN SLOTAWA; SIES+HÖKE, DÜSSELDORF

wa, 35, einer der gefragtesten Seine eigenen, oft ausgestellten


Künstler der Stadt, war vor Möbel verkaufte er vor ein
eineinhalb Jahren einer der paar Jahren an einen Sammler,
Ersten, die sich hier angesie- inklusive des Schranks seiner
delt haben. Der Fabrikbau der Großeltern. Seinen Eltern er-
späten Gründerzeit steht in klärte er, dass er auch den alten

MODECENTRUM/COURT.: F. SLOTAWA; SIES+HÖKE, DÜSSELDORF


Kreuzberg. Ein Meter davor VW Golf sonst nie so gewinn-
verlief die Mauer. Vor der Wen- bringend losgeworden wäre.
de wurden hier unter anderem Anschließend richtete er sich
Hemden aufgebügelt, die in nach und nach wieder ein.
Osteuropa genäht worden wa- Auch für seine Kunst kauft er
ren. Später war das Areal lan- schon mal dazu – bei Ikea,
ge verwaist. Wer wollte in dem Ebay, Gebrauchtmöbellagern.
Jahrzehnt nach der Wieder- Slotawa mag als Witzbold
vereinigung schon nach Kreuz- erscheinen. Ihm ist aber die
berg? ästhetische Komponente wirk-
Slotawa konnte sich ideale lich wichtig. Er sagt, er beneide
Räume sichern, 400 Quadrat- die Maler, „wie die mit Farben
meter, 650 Euro. Dass man auf umgehen“, also malt er mit
einen Käufer für das Haus hoff- Slotawa-Arbeiten „KS.038“ und „KS.039“: Mythos des Zuhause Möbeln. Im Sommer hat er für
te, hatte man ihm und allen, die die hannoversche Ausstellung
später kamen, gleich gesagt. Zum Schluss däre Franzose gibt er dem Alltag und sei- „Made in Germany“ aus einem alten brau-
waren es hier rund hundert Künstler. nen Gegenständen eine neue Bedeutung. nen Tisch, roten Arne-Jacobsen-Hockern
Alle müssen sich eine neue Bleibe su- Auch ohne Zwangsauszug hatte er ge- und weiterem Mobiliar ein dreidimensio-
chen. Nur sei es gerade nicht so einfach, in nug zu tun. Da sind die Ausstellungen – nales Bild gebaut: eine gelungene Hom-
Berlin ein Atelier zu finden, sagt Slotawa. von Solothurn in der Schweiz bis Austin, mage an den Konstruktivisten El Lissitzky.
Er hat etwas in Aussicht, weiter östlich, Texas –, an denen er teilnimmt. Als Gast- Gerade in jüngster Zeit, als er sich auf
viel kleiner, aber das dauert noch. professor an der Berliner Universität der großer Fläche austoben konnte, hat er
Berlin wird seit Jahren von Künstlern Künste muss er sich um seine Studenten auch das Kleinformat gepflegt. „KS“, klei-
geradezu überlaufen, und zwar auch we- kümmern. Die Galerie Sies und Höke in ne Skulpturen, nennt er diese erstaunlich
gen der niedrigen Mieten. Sie kommen aus Düsseldorf wartete auf Vorschläge für sei- schönen Arbeiten; da wäre die Bohrma-
London, New York, Tokio, einfach von ne Soloschau. Sie beginnt in dieser Woche. schine an der Thermoskanne, die Porzel-
überall. Die globale Boheme belebt die Andere Leute würden Stresssymptome lanfiguren mit Filzstiften.
Stadt. Aber die Stadt und ihre Investoren entwickeln. Nicht so Slotawa. Er etabliert Vieles in seiner Kunst scheint sich – auf
machen es ihr allmählich schwerer. das Genre der Umzugskunst, obwohl er fein ironische Weise – mit dem Mythos des
Fast alles, was sich Slotawa in letzter selbst von „Notbildhauerei“ spricht. Zuhause auseinanderzusetzen. Für ihn,
Zeit angesehen hat, war aufwendig sa- Weil er nun einmal gerade kein neues den Möbelpacker der Kunst, ist einfach al-
niert und damit nicht nur zu teuer, son- Atelier zur Verfügung hat, beschloss er, les Material. Und das ist dazu da, aus dem
dern auch zu schick. „Ich will ja keine An- zwar innerhalb von Berlin, aber über Düs- Zusammenhang gerissen zu werden.
waltskanzlei eröffnen, ich muss schweißen seldorf umzuziehen und die Ausstellungs- Falls sich die Sache mit dem neuen Ate-
können.“ räume von Sies und Höke als Lager zu lier zerschlägt, muss er eben auch noch
Slotawa vergreift sich an Dingen, die nutzen. Alles, was sich so angesammelt über New York umziehen. Dort stellt er im
es schon gibt, am liebsten an Einrichtungs- hatte, wurde verpackt und ins Rheinland Sommer aus. Ulrike Knöfel

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E-Mail: m-kirchner@t-online.de (stellv.). Redaktion: Karen Andresen, Annette Bruhns, Joachim Mohr, Tel. (004822) 6179295, Fax 6179365
Abonnementspreise Dr. Johannes Saltzwedel, Manfred Schniedenharn, Dr. Rainer Traub, WA S H I N G TO N Cordula Meyer, Gabor Steingart, 1202 National Press
Kirsten Wiedner Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194
Inland: zwölf Monate ¤ 171,60
Sonntagszustellung per Eilboten Inland: ¤ 499,20 P E R S O N A L I E N Katharina Stegelmann; Petra Kleinau W I E N Marion Kraske, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431)
Studenten Inland: 52 Ausgaben ¤ 127,40 inkl. 5331732, Fax 5331732-10
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6-mal UniSPIEGEL Holger Wolters (stellv.)
Schweiz: zwölf Monate sfr 317,20 D O KU M E N TAT I O N Dr. Hauke Janssen, Axel Pult (stellv.), Peter Wahle
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Europa: zwölf Monate ¤ 226,20 mann, Lutz Diedrichs, Bianca Hunekuhl, Anke Jensen, Maika Kun-
Außerhalb Europas: zwölf Monate ¤ 304,20 Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Heinz Egleder,
ze, Stefan Moos, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Manfred Petersen, Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Klaus Falkenberg, Cordelia
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Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Sonderhefte: Karl-Heinz Körner Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Marie-
werden anteilig berechnet.

Odile Jonot-Langheim, Michael Jürgens, Renate Kemper-Gussek,
B I L D R E DA K T I O N Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft-
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156 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Chronik 29. Dezember bis 4. Januar SPIEGEL TV

S A M S TA G , 2 9 . 1 2 . – Autos müssen dort jetzt mit Schadstoff- MONTAG, 7. 1.


plaketten gekennzeichnet sein. 22.55 – 23.25 UHR SAT.1
DEMOKRATIE Der chinesische Volks-
kongress erteilt Forderungen nach freien SPIEGEL TV REPORTAGE
MITTWOCH, 2. 1.
Wahlen in der ehemaligen britischen Wenn der Wendler kommt –
Kronkolonie Hongkong für das Jahr 2012 FUSSBALL Trainer Ottmar Hitzfeld ver- Deutschlands unbekanntester Schlagerstar
eine Absage. kündet seinen Abschied vom Fußball-Re- Das Bierzelt ist seine Welt. Ob im Ruhr-
TALIBAN Sechs Jahre nach seiner Festnah-
kordmeister Bayern München zum Ende pott oder auf Mallorca: Michael Wendler
me durch US-Truppen in Afghanistan ist der Saison. treibt das Publikum zur Raserei. Pop-
der „australische Taliban“ David Hicks BAHN Im Tarifstreit um Gehalt und Ar-
aus der Haft entlassen worden. beitszeiten kommen Bahn und Lokfüh-
rergewerkschaft GDL zu Verhandlungen
S O N N TA G , 3 0 . 1 2 .
zusammen.

CNI RECORDS & MUSIKVERLAG


WAHLEN Die Wahlkommission in Kenia
erklärt Amtsinhaber Mwai Kibaki zum D O N N E R S TA G , 3 . 1 .
Sieger der Präsidentenwahl.
TERRORISTEN Weil sie nicht zum Tatablauf
NACHFOLGE Drei Tage nach der Ermor- beim Attentat auf Generalbundesanwalt
dung der Oppositionsführerin Benazir Siegfried Buback vor gut 30 Jahren
Bhutto übernimmt ihr 19-jähriger Sohn aussagen wollen, sollen die ehemaligen
Bilawal Zardari den Vorsitz der Pakista- RAF-Terroristen Brigitte Mohnhaupt, Schlagersänger Wendler
nischen Volkspartei PPP. Knut Folkerts und Christian Klar in Beu-
gehaft. Schlager nennt er seine Musik, selbst
M O N TA G , 3 1 . 1 2 . komponiert und selbst getextet. Jetzt
ENERGIE Der Ölpreis steigt erstmals über wartet er auf den großen Durchbruch.
PARTY Mehr als eine Million Menschen die 100-Dollar-Marke je Barrel (159 Liter).
versammeln sich am Brandenburger DIENSTAG, 8. 1.
Tor in Berlin, um das neue Jahr mit ei- JOBS Die Bundesagentur für Arbeit mel- 23.15 – 0.10 UHR VOX
nem zehnminütigen Feuerwerk zu be- det für 2007 einen Rekordrückgang der
grüßen. Arbeitslosigkeit. Im Jahresschnitt sank SPIEGEL TV EXTRA
die Zahl der Erwerbslosen auf 3,776 Mil- Zwischen Putzplan und Party –
ÜBERWACHUNG Acht Beschwerdeführer
lionen. Leben in der Wohngemeinschaft
reichen im Namen von rund 30 000 Men-
schen beim Bundesverfassungsgericht SPIEGEL TV begleitet WG-Bewohner,
US-WAHL Der schwarze US-Senator
Klage gegen das Gesetz zur massenhaften die Küche, Bad und Wohnzimmer teilen
Barack Obama und der republikanische und sich dabei den Tücken des Zusam-
Speicherung von Telefon- und Internet- Ex-Gouverneur Mike Huckabee sind
Daten ein. menlebens stellen.
Sieger der ersten Vorwahl im Rennen um
die Kandidatur für das Weiße Haus. FREITAG, 11. 1.
D I E N S TA G , 1 . 1 .
22.45 – 0.45 UHR VOX
EUROPÄISCHE UNION Als erstes Neumit- F R E I TA G , 4 . 1 .
glied übernimmt Slowenien die EU-Rats- SPIEGEL TV THEMA
URTEIL Der Bundesgerichtshof entschei-
präsidentschaft. det, dass die Razzien gegen Globalisie- Die Chemie des Todes –
rungsgegner vor dem G-8-Gipfel im ver- Mordermittlung im Labor, Teil 2/3
VERBOTE In acht Bundesländern tritt ein
Rauchverbot in Gaststätten in Kraft. gangenen Mai rechtswidrig waren. Verbrechen, die noch vor wenigen Jahren
Damit ist in zwölf Ländern das Rauchen ein Fall für die Akten waren, können Ex-
in öffentlichen Räumen verboten. IRAK Die irakische Armee hat nach eige- perten heute mit Hilfe modernster Kri-
nen Angaben ein von der Terrororganisa- minaltechniken aufklären.
VERKEHR Berlin, Köln und Hannover er- tion al-Qaida besetztes Viertel der Stadt
klären ihre Innenstädte zu Umweltzonen Bakuba unter ihre Kontrolle gebracht. SAMSTAG, 12. 1.
22.00 – 24.00 UHR VOX
Ein Schild auf einer Farm in Iowa – bei
den US-Vorwahlen dort unterlag die SPIEGEL TV SPECIAL
demokratische Präsidentschaftskandidatin Russlands erste Adresse –
Hillary Clinton parteiinternen Konkurrenten. das Grand Hotel Europe in St. Petersburg
Bisher unveröffentlichte Archivbilder so-
wie Zeitzeugen-Interviews illustrieren
die einmalige Geschichte des Traditions-
hotels.

SONNTAG, 13. 1.
23.25 – 0.10 UHR RTL
SPIEGEL TV MAGAZIN
Spinnen, Brücken, Blut – Leben trotz Angst;
PAUL SANCYA / AP

Sie wissen, was sie tun – Karrieren ju-


gendlicher Gewalttäter; Hillary for Presi-
dent – Wahlkampf in der Provinz.

d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 157
Register
gestorben wünschten. Der dicke Kumpeltyp war ei-
ner der bekanntesten Fernsehschauspieler
Werner Dollinger, 89. Als einziger Bun- im Arbeiter-und-Bauern-Staat. Populär
desminister amtierte er unter vier CDU- wurde er als Matrose Thomas auf dem
Bundeskanzlern, fast vier Jahrzehnte saß DDR-Handelsschiff „MS Fichte“ in der
er im Bundestag. Dollin- Serie „Zur See“. Schubert gab den Maurer,
ger, der protestantische Sportlehrer, Gepäckträger, später den In-
Franke in der CSU, terflug-Bordingenieur in „Treffpunkt Flug-
gehörte zum Urgestein hafen“. Dass er auch das ernste Charak-
seiner Partei. Der pro- terfach beherrschte, bewies er mit seiner

PETER ROGGENTHIN / DPA


ROLAND MAGUNIA / DDP
movierte Wirtschafts- Darstellung eines Sexualstraftäters in der
wissenschaftler begann „Polizeiruf“-Folge „Der Mann im Baum“
als Kommunalpolitiker, von 1988. Der Sachse hatte zunächst das
1953 zog er in den Bun- Handwerk des Kelchglasmachers erlernt,
destag ein. 1961 stieg spielte nebenbei am Arbeitertheater in Bad
Dollinger zum CSU-Lan- Muskau. Er absolvierte die Staatliche
desgruppenchef auf und wurde zwei Jahre Schauspielschule Berlin, ab 1970 gehörte er
später zum stellvertretenden Parteivor- zum Ensemble des DDR-Fernsehens. Auch
sitzenden gewählt, ein Amt, das er 26 Jah- nach der Wende blieb er Dauergast auf
re lang inne hatte. Ins Kabinett geholt wur- den nun bundesdeutschen Bildschirmen:
de er noch von Konrad Adenauer, im Jahr Er spielte die Hauptrolle in der ZDF-Serie
1962 als Schatzminister. Dollinger leitete „Elbflorenz“ und war außerdem in „Die
mehrere Ressorts, bis ihn Helmut Kohl 1987 Autobahnpolizei“ (RTL),
nach fünf Jahren als Verkehrsminister bei „Liebling Kreuzberg“
der Kabinettsneubildung unerwartet un- (ARD) und „Der Land-
berücksichtigt ließ. Seine Beziehungen zu arzt“ (ZDF) zu sehen.
dem Pfälzer galten seither als belastet. Da- Sein letzter Wille erin-

THOMAS SCHULZE / DPA


bei gab sich Dollinger parteiintern zumeist nert an seine Rolle des
als bescheidener Mann des Ausgleichs, der Matrosen Thomas: eine
lieber anderen die erste Reihe überließ und Seebestattung. Günter
sich bei Intrigen zurückhielt. Den Kreuther Schubert starb am 2. Ja-
Trennungsbeschluss der CSU von 1976 trug nuar in Leipzig.
er nicht mit. Werner Dollinger starb am
3. Januar in Neustadt an der Aisch. Willy Sommerfeld, 103. Seine Kunst er-
lernte er in einem fernen Zeitalter, als die
Ettore Sottsass, 90. „Valentine“ hieß Bilder gerade zu laufen gelernt hatten, aber
sein berühmtester Entwurf. Die knallrote die Filmdialoge noch nicht zu hören waren.
Olivetti-Kofferschreib- Der Stummfilmpianist Sommerfeld beglei-
maschine aus dem Jahr tete damals Klassiker wie „Metropolis“,
1969 stieg zum Status- „Nosferatu“ und „Das Cabinet des Dok-
symbol der schreiben- tor Caligari“. Seinen unverwechselbaren
den Avantgarde auf, Klang erreichte er, indem er über die Bil-
J. EMILIO FLORES / CORBIS

doch ihr Erfinder streb- der improvisierte, die auf der Leinwand
te nach Schönheit für erschienen; nie sah er sich einen Film vor-
alle. Kräftige Farben her an. „Die Noten gibt’s im Kopp“, so
waren Sottsass’ Marken- kommentierte Sommerfeld seine Arbeits-
zeichen. „Man soll die weise. Zu seinem Beruf
Gegenstände fühlen und kam der gebürtige Dan-
nicht nur benutzen“, so die Maxime des ziger, als er sich ein Zu-
italienischen Star-Designers. Während ei- brot zum Musikstudium
MNG COLLECTION / INTERFOTO

nes halben Jahrhunderts ungebrochener in Berlin verdienen


Schaffenskraft gestaltete Sottsass Leuch- wollte. Kurz bevor der
ten und Möbel, Schmuck und Keramik; Tonfilm die Kinos er-
zu seinen Klassikern gehören der „gelbe oberte, ging er als Ka-
Sekretärsstuhl“ von Olivetti oder das pellmeister nach Braun-
Alessi-Tafelservice „La Bella Tavola“. Zu schweig. Er wurde dort
seinem 90. Geburtstag widmeten ihm meh- 1933 entlassen, als er
rere Museen große Retrospektiven, an sich weigerte, nach einer Vorstellung den
einer noch bis März laufenden Ausstellung Hitlergruß zu zeigen. Die Nachkriegszeit
in Triest wirkte der Künstler bis kurz vor war besser zu ihm: Sommerfeld arbeitete
seinem Tod mit. Ettore Sottsass starb am als Chorleiter, Dirigent und Rundfunk-Ar-
31. Dezember in Mailand. rangeur. Die Renaissance der Stummfilm-
klassiker holte den Altmeister zurück in
Günter Schubert, 69. Bescheiden, robust, die großen Kinosäle. Noch mit über 100
kameradschaftlich: Schubert spielte seine saß er täglich für eine Stunde am Klavier.
Charaktere häufig so, wie sich die Mächti- Willy Sommerfeld starb am 19. Dezember
gen in der DDR den idealen Volksgenossen in Berlin.
158 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8
Personalien
Jörg Haider, 57, Landeshauptmann von Sacharowa
Kärnten, genießt daheim Narrenfreiheit.
Der Rechtspopulist verweigert der slowe-
nischen Minderheit beharrlich die Aufstel-
lung zweisprachiger Ortstafeln, obwohl
dies der österreichische Staatsvertrag von
1955 vorsieht. Erst kürzlich hat der Ver-
fassungsgerichtshof Haiders Verweige-
rungshaltung erneut für rechtswidrig er-
klärt. Doch Haider treibt weiter seine
Spielchen. Das meterweise Verrücken von

DANIEL RAUNIG / PICTURE-ALLIANCE / DPA

Haider

Ortstafeln oder deren Beschriftung in ky-


rillischen und chinesischen Schriftzeichen
gehören zu den medienwirksamen Aktio-
nen, mit denen er zeigt, was er von den
diversen Rechtsurteilen hält: gar nichts. Swetlana Sacharowa, 28, Starballerina des Bolschoi-Theaters und
neugewählte Abgeordnete des russischen Parlaments, wehrt sich ge-
Gillian Gibbons, 54, britische Lehrerin, gen Kritiker, die an der Ernsthaftigkeit ihrer politischen Ambitionen zwei-
DOUGLAS KIRKLAND / CORBIS (O.); MAXIM BURLAK / RUSSIAN LOOK (U.)

die im Sudan inhaftiert war, weil ihre feln. In der regierungsnahen Tageszeitung „Iswestija“ erklärte sie: „Ich
Schüler einen Teddybär Mohammed ge- kenne meine Theatertermine Jahre im Voraus, also kann ich meine
nannt hatten, zieht es wieder in die Ferne. Arbeit im Parlament gut planen.“ Die selbstbewusste Sacharowa, die
Nach einer Woche Gefängnis war Gibbons sich selbst als „Brillant im Diadem der weltweiten Ballettkunst“ sieht,
Anfang Dezember des Landes verwiesen zog bereits in den Kulturausschuss ein und warf dem alten Parlament
und in ihre Heimat Großbritannien zurück- vor, „wenig Kultur“ gezeigt zu haben. Die im Dezember neugewählte
geschickt worden. Radikale Islamisten hat- Versammlung der Volksvertreter ist zumindest weitaus ansehnlicher
ten sogar die Todesstrafe für Gibbons ge- als bisher. Sacharowa zählt zu einem Dutzend der sogenannten Putin-
fordert, weil sie eine Verhöhnung des Pro- Girls, junger Frauen mit hohem Glamour-Status, die auf vorderen Lis-
pheten zugelassen habe. Gibbons, Lehrerin tenplätzen der Putin-Partei „Einiges Russland“ gewählt wurden und gern
aus Leidenschaft, will nun eine Stelle in viel Haut zeigen. Die Olympiasiegerin in Rhythmischer Sportgymnastik,
China antreten. Sie hofft, dass sie dort trotz Alina Kabajewa, 24, die mehrfache Weltmeisterin und Olympia-
aller Schlagzeilen unbekannt geblieben ist. siegerin im Kunstturnen, Swetlana Chorkina, und die ehemalige Eis-
Ein Teddy wird wieder mit auf die Reise schnellläuferin Swetlana Schurowa sind ebenfalls mit von der Partie. Kabajewa
gehen, denn er spielt in ihrem Unterricht
eine wichtige pädagogische Rolle: Als ima-
ginärer Klassenkamerad soll er die Phan- seit dem Jahr 2000 flüchtigen Mafia-Paten Frauen, gefälschten Markenartikeln und
tasie der Kinder anregen. Diesmal heißt Eduardo Contini, 52, genannt „O’ Roma- verdorbenem Fleisch zum zigfachen Mil-
der stumme Assistent ganz unverfänglich no“ („der Römer“). Anti-Mafia-Kämpfer lionär gewordene Contini gilt als führender
Barnaby. hoffen, dass der sensationelle Fahndungs- Kopf der napolitanischen Kriminellen-
erfolg eine „Rebellion der Napolitaner“ Gesellschaft „Camorra“. Er hatte sich bei
Cristiana Mandara, 36, Polizistin in gegen die kriminellen Clans auslösen kön- einer mittellosen Witwe mit fünf Kindern
Neapel, wurde über Nacht zur gefeierten ne. Der durch den Handel mit Drogen, eingenistet und gerade das Abendessen
Symbolfigur ihrer von kor- geordert, als Abhörspezialisten der Polizei
NAPOLIPR./GIACOMINOFOTO/FOTOGRAMMA

rupten Politikern, Müll- ihn orteten. Cristiana und Kollegen schlu-


bergen und mordenden gen sofort zu und ließen dem überraschten
Mafia-Clans heimgesuch- Bandenboss nur noch die Gelegenheit zu
ten Stadt. „Die junge einem Kompliment für ihre „Tüchtigkeit“.
Blonde mit der Pistole in Dem widersprach die Kommissarin nicht
der Faust“, wie italieni- und feierte am Abend mit einer Flasche
sche Medien schwärmten, Champagner den „außergewöhnlichen Mo-
ist seit zwei Jahren Kom- ment“ in ihrer so jungen Karriere, „den sie
missarin bei einer mobi- ihr ganzes Leben“ nicht vergessen werde.
len Greifertruppe und lei-
tete die Festnahme des Mandara, Contini
160
habe sie sich eine Frau im Weißen Haus
gewünscht, „ich dachte bloß nicht, dass sie
das sein würde“.

Yannick Noah, 47, französischer Ex-Ten-


nisstar und heute Sänger mit Millionen
verkaufter CDs, rechnet mit Staatspräsi-
dent Nicolas Sarkozy ab. Der Sohn eines
Kameruners und einer Französin hatte sich
bei den Präsidentschaftswahlen vorigen
Mai öffentlich für die Linke starkgemacht,
dem rechten Sarko aber eine Bewährungs-

RAYMONDSPRESS.COM
chance gelassen. Noahs Resümee nach sie-
ben Monaten Sarkozy-Herrschaft: Sarko
sei „noch schlimmer geworden, als ich ge-
dacht habe“. Für die Immigrantenvororte
habe er „keine Lösungen gefunden, außer
Wright-Freunde mit Gedenktattoo noch mehr junge Bengel ins Gefängnis zu
werfen“. Charakterlich sei ebenfalls nichts
Simon Ivekich, 24, ein guter Freund des menkommen, um sich dann – laut Plan – los mit Sarkozy: Der habe ihn, so enthüll-
bei einem Bombenanschlag in Afghanistan um 9.30 Uhr an den Gedenksteinen zu ver- te Noah jetzt, für ein Konzert am vergan-
ums Leben gekommenen britischen Sol- neigen. Im Beschluss des Parteivorstands genen Nationalfeiertag, dem 14. Juli, mit
daten Tom Wright, ist einer von 50 Män- zur „Luxemburg-Liebknecht-Ehrung 2008“ einem Phantasiehonorar „kaufen wollen“
nern und Frauen, die eine besondere Art ist auch nachzulesen, wie viel den Genos- – Vorbedingung: ein gemeinsames Foto
des Gedenkens praktizieren. Die 50 Freun- sen die Erinnerung wert ist: „Für die Schal- Noah / Sarko. Der singende French-Open-
de haben sich einen Stern, Wrights Vorna- tung von Anzeigen und für die Bereitstel- Gewinner von 1983 will empört abgelehnt
men und seine Lebensdaten tätowieren las- lung von zwei Kränzen werden insgesamt haben.
sen. Viele von ihnen plazierten das Tattoo 3400 Euro aus dem Fonds des Parteivor-
im Nacken, so dass es leicht sichtbar ist. standes bereitgestellt.“
Ivekich ist von seiner Entscheidung für die-
se dauerhafte Demonstration der Treue Hillary Clinton, 60, Anwärterin für die
überzeugt: „Ich weiß, dass er es super ge- US-Präsidentschaftskandidatur, bekommt
funden hätte, dass alle seine Kumpels dies Unterstützung von einer ungeliebten Kon-
ihm zu Ehren getan haben.“ kurrentin. Die ehemalige Nachtclubsänge-
rin Gennifer Flowers, die 1992 Schlagzeilen
Oskar Lafontaine, 64, Parteichef der Lin- machte, weil sie sich als langjährige Ge-
ken, konnte sich mit einem diskreten spielin von Bill Clinton outete, hat sich zu
Wunsch in der Parteiführung durchsetzen: Wort gemeldet. Flowers’ Enthüllung brach-
etwas längere Sonntagsruhe. Am kom- te Bill Clinton vorübergehend in Schwie-
menden Sonntag wird die Parteiführung – rigkeiten – er befand sich mitten im Wahl-
vermutlich auch in diesem Jahr mit Zehn- kampf und bestritt jede Beziehung zu der

CATARINA ERIC / GAMMA / EYEDEA


tausenden Anhängern – an die beiden er- Lebedame. Jahre später räumte er aller-
mordeten Sozialisten Rosa Luxemburg und dings ein, Sex mit ihr gehabt zu haben,
Karl Liebknecht erinnern. Bisher traf sich wenn auch nur ein einziges Mal. Nun hat
die Parteispitze schon im Morgengrauen Flowers erklärt, dass sie „nicht anders
vor dem Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde, kann, als meine Geschlechtsgenossin zu
um vor allen anderen Besuchern Kränze unterstützen“. Die alten Geschichten wol-
abzulegen. Am 13. Januar wird nun der le sie nicht wieder aufwärmen, und Hil-
Führungszirkel erst um 9.15 Uhr zusam- lary zu schaden liege ihr fern. Schon lange Noah

Sacha Baron Cohen, 36, als nervtötender Kasache auf Besuch


in Amerika unter dem Namen „Borat“ weltweit bekannt ge-
wordener britischer Komiker, wendet sich ernsten Themen zu.
Der Starregisseur Steven Spielberg hat Baron Cohen als Dar-
steller für den radikalen Vietnamkriegsgegner Abbie Hoffman
20TH CENTURY FOX (L.); GETTY IMAGES (R.)

in dem Film „The Trial of the Chicago Seven“ engagiert.


Darin will Spielberg die Geschichte des manisch-depressiven
Hoffman erzählen, der nach gewalttätigen Demonstrationen
1968 in Chicago vor Gericht kam und in den ganzen USA be-
kannt wurde. 1989 nahm Hoffman sich das Leben. Für Baron
Cohen sind ungefähr drei Millionen Pfund Gage im Gespräch.
Das Geld könnte der Mann, dem nichts peinlich zu sein scheint,
gewiss gut gebrauchen: Als Resultat seines Borat-Films laufen
mehrere Verfahren wegen übler Nachrede und Betrugs gegen
Baron Cohen als „Borat“ (2006) Hoffman (1970) Baron Cohen.

d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8 161
Hohlspiegel Rückspiegel

Aus einem Vorspann der „Badischen Zei- Zitate


tung“: „Frauen mit Make-up oder ohne
Kopftuch werden enthauptet, Christen er- Die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“
mordet – dennoch zieht jetzt ein Großteil zum SPIEGEL-Artikel „Hilfsorgani-
der Briten aus der südirakischen Provinz sationen – ,Ganz viele Verrückte‘“ über
Basra ab.“ den Vorsitzenden des Vereins
„Kinder brauchen uns“ (Nr. 1/2008):

Aus der „Taunus Zeitung“: „Zum Gießen Über 300 afghanischen Kindern haben
eignet sich die ,Tauchmethode‘, bei der Markus Dewender und sein Verein in den
man den Wurzelballen so lange in feuchtes letzten Jahren das Leben gerettet. Ein En-
Wasser taucht, bis keine Luftbläschen gagement, das dem Burda-Verlag so impo-
mehr aufsteigen.“ nierte, dass er dem Verein einen renom-
mierten Bambi verlieh. Nur vier Wochen
später fällt ein dunkler Schatten auf den
Vorsitzenden. Erst als die Vorabmeldung
des SPIEGEL am Samstag über die Nach-
richtenticker lief, gab Dewender seine
Fehltritte zu und erstattete Selbstanzeige.
Seine Doktortitel sind gekauft.
Aus der „NRZ“
Die „Stuttgarter Zeitung“ zur Verlei-
hung des Negativumweltpreises
Aus der „Frankfurter Allgemeinen Sonn- „Dinosaurier des Jahres“ an Joachim
tagszeitung“: „Ein zunächst unspektakulä- Hunold und zum SPIEGEL-
res Blumenkohlsüppchen in einem Amuse- Gespräch „,Der Spaß wird weniger‘“ mit
Gueule steht für das Prinzip Offenbarung dem Air-Berlin-Chef (Nr. 38/2007):
ohne große Anpreisung.“
Es sind schon deftige Worte, mit denen der
Nabu-Präsident Olaf Tschimpke die dies-
Aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Es sind jährige Dinowahl begründet: „Obwohl ihm
dunkle Gesichter, ausdruckslose Mienen, die negativen Folgen des Klimawandels für
die schweigend nach Rache dürsten.“ Mensch und Natur bekannt sind, spielt Hu-
nold das Thema unverfroren in der Öffent-
lichkeit herunter. Er ist ein Umweltsünder
wider besseres Wissen und ohne schlechtes
Gewissen.“ Dabei regt sich im Air-Berlin-
Chef doch nur seine soziale Ader, wenn er
sich gegen Klimaauflagen im Luftverkehr
wendet. Wenigstens vermittelte er diesen
Aus der „Emder Zeitung“ Eindruck kürzlich in einem Interview des
SPIEGEL: Wenn durch den Klimaschutz
das Fliegen teurer würde, dann würde dies
Aus der „Oberhessischen Presse“: „SPD- vor allem die sozial Schwächeren treffen –
Fraktionschef Reinhold Becker sprach als und „da spiele ich nicht mit“, sagte Hunold.
Ortsvorsteher Elnhausens: ‚Es ist uns nicht
leicht gefallen, abzugeben‘… Georg Fül- Die „Frankfurter Allgemeine“ anläss-
berth (Marburger Linke) argumentierte in lich der angeordneten Beugehaft ge-
eine andere Richtung: Die Ortsvorsteher, gen Ex-RAF-Mitglieder und zum SPIE-
die die Bürgerbeteiligung verkörpern, dürf- GEL-Gespräch „Logik des Krieges“ mit
ten nicht beschnitten werden.“ Ex-RAF-Mitglied Knut Folkerts über
das Attentat auf Generalbundesanwalt
Siegfried Buback (Nr. 20/2007):

Nun schien die Version Boocks eine frühe-


re Aussage des RAF-Mitgliedes Verena
Becker, die diese Anfang der Achtziger ge-
Anzeige aus den „Friedrichsdorfer Nach- genüber dem Verfassungsschutz gemacht
richten“ haben soll, zu bestätigen. Danach soll sich
Folkerts, der heute als Buchhalter in Ham-
burg lebt, am Tag der Tat nicht in Karls-
Aus dem „Nordbayerischen Kurier“: „Mar- ruhe aufgehalten haben. Folkerts selbst
tin Luther soll über das ‚Weihnachtsorato- sagte später in einem SPIEGEL-Interview,
rium‘ von Johann Sebastian Bach gesagt er sei an dem Tag in Köln gewesen, habe
haben, dass die Weihnachtsgeschichte mit für eine „Geldbeschaffungsaktion“ eine
dieser Musik ‚in unser Herz gesungen‘ wird. Bank beobachtet und sei dann weiter in
Nach dem Konzert in der St. Bartholomäus- die Niederlande gefahren. Dies wurde von
Kirche in Pegnitz stimmt man dieser Aus- der früheren Terroristin Silke Maier-Witt
sage des evangelischen Reformators zu.“ bestätigt.
162 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 8

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