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Von Dr. R. S o l o w e i c z i k .
Aus dem psychologischen Seminar der Universität München.
Einleitung.
1. Vorbemerkung. — Die Kantische Bestimmung der Moralität
ist vielfachen Angriffen ausgesetzt worden, die zum Teil durch die
ungenaue Fixierung der Begriffe bei Kant bedingt sind. Die Fest-
stellung und genauere Präcisierung dieser Begriffe erscheint darum
als eine notwendige Angelegenheit, die hier im Anschlüsse an den
Gedankengang in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" voll-
zogen werden soll. Schon gegen die Problemstellung, die sich auf
die Bestimmung der Moralität richtet, kann der Einwand erhoben
werden und ist thatsächlich der Einwand erhoben worden, dass die
Moralität gar nicht bestimmbar sei, weil die sittlichen Urteile zu ver-
schiedenen Zeiten verschieden seien, und darum keine Grundlage
der Untersuchung abgeben könnten. Wir müssen daher, von dem
Begriffe des sittlichen Urteils ausgehend, die e i g e n t l i c h e Thatsache,
die der Behauptung von der Verschiedenheit der sittlichen Urteile
zu Grunde liegt, feststellen, um zu sehen, ob d i e s e Thatsache der
Bestimmung der Moralität hinderlich sein kann. — Durch die Zurück-
weisung dieses Einwandes gelangen wir dann zugleich zu einer
Fixierung des Kantischen Problems und des Weges, der eingeschlagen
werden muss, um mit Kant dies Problem zu lösen.
2. Das sittliche Urteil. — Wenn ich ein sittliches Urteil fälle,
so setze ich nicht eine Beziehung zwischen zwei objektiven That-
beständen, sondern eine Beziehung zwischen einem objektiven That-
bestande und mir, dem Subjekte, dem Urteilenden; mit anderen
Worten, das sittliche Urteil drückt eine Beziehung zwischen einem
Kantstudien V. 26
leben durch einen Thatbestand bedingt sein soll, so kann es nur der
„wahrgenommene", der „appercipierte", kurz der „subjektive" That-
bestand sein. Daraus folgt zugleich, dass das Billigungserlebnis
gegenüber einem Thatbestande nur dann o b j e k t i v giltig ist, wenn
der „objektive" und der „subjektive" Thatbestand identisch sind.
Andererseits wird jenes Erlebnis nur dann a l l g e m e i n giltig sein,
wenn der „subjektive" Thatbestand für alle derselbe ist.
5. Der „objektive" ethische Thatbestand. — Wir fragen also
zuerst, welches ist der objektiv^ ethische Thatbestand. Wenn ich
einen Mord als sittlich resp. unsittlich bezeichne, so ist der Mord,
an und für sich betrachtet, eine Reihe von Bewegungen einzelner
Körperteile, die einer ästhetischen, nicht aber einer ethischen Be-
urteilung unterliegen können. Der Mord kann also von mir ethisch
beurteilt werden, nur entweder seiner Folgen, oder seiner Ursachen
wegen, d. h. der Gesinnung wegen, die sich darin kund giebt. Wenn
wir aber in Betracht ziehen, dass unter Folgen hier wieder nicht
die Veränderungen und Bewegungen in der objektiven Welt ver-
standen werden können, sondern nur das Wohl und Wehe der
Menschen, so können wir auch sagen: der objektive Thatbestand ist
entweder das aus der Handlung thatsächlich folgende eigene und
anderer Menschen Wohl und Wehe, oder er besteht in der thatsächlich
vorhandenen Gesinnung. In jedem Fall ist damit der „objektive"
sittliche Thatbestand als ein solcher charakterisiert, der keine sinnlich
wahrnehmbare Veränderung in der Welt, sondern ein innerer, mensch-
licher, persönlicher, kurz p s y c h i s c h e r Thatbestand ist.
6. Der „subjektive" ethische Thatbestand. — Da der ethische
Thatbestand ein psychischer ist, so kann derselbe nie für alle Menschen
identisch sein. Eine e r s t e M o d i f i z i e r u n g d e s o b j e k t i v e n T h a t -
b e s t a n d e s für den Betrachtenden ist dadurch bedingt, dass dieser
Thatbestand als psychischer von aussen nicht wahrgenommen werden
kann, sondern aus eigenen psychischen Erlebnissen auf Grund wahr-
genommener Zeichen von uns konstruiert werden muss. Daraus folgt 1.,
dass alle Momente am „objektiven" Thatbestande, denen kein eigenes
Erlebnis entspricht, gänzlich verloren gehen (so wie ζ. B. für einen
Wilden, der nie erlebt hat, was bekleidet und unbekleidet herum-
laufen heisst, der Thatbestand, den wir „unbekleidet" nennen, nicht
existiert). Es folgt 2., dass jeder den Thatbestand aus s e i n e n
Erlebnissen konstruieren wird (für einen Diener giebt es keinen
Helden).
Eine zweite Modifizierung des objektiven Thatbestandes beruht
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404 Dr. R. S o l o w e i c z i k ,
I. Moralität.
1. Moralität und Legalität. — Bevor wir zu Kants Lösung des
Problems übergehen, haben wir das Problem selbst genauer zu
präcisieren, indem wir Zweifaches streng auseinanderhalten. Oben
(§ 4) wurde bestimmt, dass der Thatbestand, der unser ethisches
Erlebnis, unser Gefühl der Billigung oder Missbilligung bedingen
kann, entweder die Folgen der Handlung sind, oder die Gesinnung,
aus der die Handlung entsprungen ist. Diese beiden Möglichkeiten
des Thatbestandes müssen unterschieden werden, denn dieselbe
Handlung kann ein anderes Billigungserlebnis bedingen; je nachdem
wir den einen oder den anderen Thatbestand in Betracht ziehen.
Eine Handlung kann in ihren Folgen wohlthätig sein, sie kann etwas
Gutes schaffen, dann ist die Handlung eventuell für jemand
sittlich; vielleicht ist aber die Handlung aus „selbstsüchtiger
Absicht" (IV, 245) geschehen, dann ist dieselbe Handlung eventuell
nach jemands Ansicht unsittlich. Noch mehr, es kann Persönlich-
keiten geben, denen es „durch eine besondere Ungunst des Schicksals
oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur gänzlich
an Vermögen fehlt, ihre Absicht durchzusetzen" (IV, 242); diese Per-
sönlichkeiten können sittlich sein, obgleich hier keine Folgen vor-
liegen, da nichts vollbracht worden ist. Um nun jede Missdeutung
über die Thatbestande, die im einzelnen Falle unser Billigungs-
erlebnis bedingen, auszuschliessen, müssen die diesen Erlebnissen ent-
sprechenden Prädikate bei den einen und den anderen Thatbeständen
verschieden bezeichnet werden. Wir nennen daher eine Handlung
l e g a l , p f l i c h t m ä s s i g , wenn der Thatbestand, der unser ethisches
oder Billigungserlebnis bedingt, die* Folgen der Handlung sind. Da-
gegen wenn wir auf die Gesinnung unsere Aufmerksamkeit richten
und dann ein solches ethisches Erlebnis haben, so nennen wir die
Handlung s i t t l i c h .
Dass diese Deutung des Beispieles die allein zulässige ist, er-
hellt aus folgender Stelle (V, 73): „Die Regel der Urteilskraft unter
Gesetzen der reinen praktischen Vernunft ist diese: Frage dich selbst,
ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der
Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du
wohl, als durch deinen Willen möglich, ansehen könntest? Nach
dieser Regel beurteilt in der That jedermann Handlungen, ob sie
sittlich gut oder böse sind. So sagt man: wie, wenn ein j e d e r ,
wo er seinen Vorteil zu schaffen glaubt, sich erlaubte, zu betrügen,
oder befugt hielte, sich das Leben abzukürzen, sobald ihn ein völliger
Überdruss desselben befällt, oder Anderer Not mit völliger Gleich-
giltigkeit ansähe, und du gehörst mit zu einer solchen Ordnung der
Dinge, würdest du darin wohl mit Einstimmung deines Willens
sein? Nun weiss ein j e d e r wohl, d a s s , wenn er sich ins-
g e h e i m B e t r u g e r l a u b t , d a r u m eben n i c h t j e d e r m a n n es
a u c h thue, oder wenn er u n b e m e r k t l i e b l o s ist, n i c h t so-
f o r t auch j e d e r m a n n g e g e n ihn es sein w ü r d e , d a h e r ist
d i e s e V e r g l e i c h u n g der Maxime s e i n e r H a n d l u n g mit
einem a l l g e m e i n e n N a t u r g e s e t z e auch nicht d e r Be-
s t i m m u n g s g r u n d seines Willens.
A b e r d a s L e t z t e r e ist doch ein T y p u s der B e u r t e i l u n g
der E r s t e r e n nach s i t t l i c h e n P r i n z i p i e n . " Wenn auch Kant
seinen Gedanken nicht ganz deutlich formuliert, so sehen wir doch,
was eigentlich diese ganze Formel der Moralität will. Sie ist ein
„ T y p u s der B e u r t e i l u n g " von Maximen nach sittlichen Prinzipien,
d. h. sie ist nichts weiter als ein Mittel, um f e s t z u s t e l l e n , ob die
Maxime sittlich sei, in unserer Sprache, ob der Willensentscheid ob-
jektiv giltig oder legal sei. — Dies wird erreicht, indem man ver-
sucht, ob bei Anwendung der Formel der Willensentscheid aufrecht
erhalten werden kann.
Wenn aber das richtig ist, so folgt daraus, dass die Be-
urteilung nach diesem „Typus" sittliche Willensentscheide ergiebt.
Die Beurteilung gemäss der Formel bewirkt, dass „Neigungen" ver-
schwinden und keine subjektive Wertung bestimmend ist. — Da aber
doch Willensentscheide entstehen, und zwar objektiv giltige, so muss
eine andere Wertung, nämlich eine solche, die nicht durch Nei-
gungen bestimmt wird, also eine objektiv bedingte bestehen.
Wird so der Begriff des objektiv bedingten Wertes implicite
der Formel der Moralität als zu Grunde liegend gedacht, so ist der
ganze Gedankengang klar und zusammenhängend. — Es bestehen
kann doch nicht ohne weiteres die Pflicht mit der objektiven Wertung
identifizieren. Wir müssen vielmehr, um diesen Begriff fixieren zu
können, auf den Gegensatz der hypothetischen und kategorischen
Imperative bei Kant eingehen. Erst wenn wir den Sinn dieser Be-
griffe festgestellt haben, wird uns auch die Bedeutung des Begriffes
der Pflicht klar werden.
Auch hier, beim Begriffe der Pflicht, werden wir auf eine
Mehrdeutigkeit seines Sinnes stossen, eine Mehrdeutigkeit, die wieder
zu verschiedenen Angriffen und Missdeutungen Veranlassung gegeben
hat, die aber nach Fixierung dieses Begriffes nur so weit als be-
rechtigt anzuerkennen sein werden, als sie gegen die t h a t s ä c h -
liche Bedeutung, die Kant bei diesem Begriffe im Auge hat, ge-
richtet sind, resp. gerichtet sein können.
2. Objektivitätsgefühl. (IV, 260.) — „Ein jedes Ding der Natur
wirkt nach Gesetzen",z.B. gewisse Stoffe, wenn sie in den menschlichen
Körper eingeführt werden, verursachen das Sinken der Temperatur
des menschlichen Körpers. „Nur ein vernünftiges Wesen hat das
Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien
zu handeln, oder einen Willen." Indem der Mensch von diesem
gesetzmässigen Zusammenhange Kenntnis hat, kann er den Willens-
entschluss fällen, diese Stoffe einzunehmen, um auf diesem Wege
das Sinken der Temperatur zu erreichen. Während in der Natur
also das Verhältnis von Ursache und Wirkung besteht, verwandelt
sich bei einem willensbegabten Wesen dieses Verhältnis in die Be-
ziehung zwischen Mittel und Zweck. „Da zur Ableitung der Hand-
lungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts
anderes, als praktische Vernunft." Wenn ein Mensch zur Erreichung
eines Zweckes sich entscheidet, diejenigen Mittel anzuwenden, die
ihm nach seiner Kenntnis des gesetzmässigen Zusammenhanges der
Natur als im Verhältnisse von Ursache (Mittel) und Wirkung (Zweck)
stehend bekannt sind, so ist ein solcher Willensentscheid ein objek-
tiver, weil er auf Grund der Kenntnis der objektiven Wirklichkeit
entstanden ist, und ein solcher objektiver Willensentschluss ist
immer begleitet von dem Gefühle des „Richtighandelns", des „Recht-
handelns", der „Objektivität."
3. Die Gesetzmässigkeit. — Ein Willensentscheid ist objektiv
und ist begleitet von einem Gefühl der Objektivität, wenn zwischen
dem zu Bewirkenden oder dem Mittel, das angewendet werden soll,
und dem Zweck, der dadurch erreicht werden soll, ein gesetz-
mässiger Zusammenhang, d. h. ein Verhältnis von Ursache und
der andere mit dem Gefühle der Subjektivität verbunden ist, so entsteht
das Gefühl der Passivität, oder Nötigung. „1st der Wille nicht an
sich völlig der Vernunft gemäss (wie es bei Menschen wirklich ist),
so sind die Handlungen, die objektiv als notwendig erkannt werden,
subjektiv zufällig, und die Bestimmung eines solchen Willens, objek-
tiven Gesetzen gemäss, ist Nötigung, d. i. das Verhältnis der objek-
tiven Gesetze zu einem nicht durchaus guten Willen wird vorgestellt
als die Bestimmung des Willens eines vernünftigen Wesens zwar
durch Gründe der Vernunft, denen aber dieser Wille seiner Natur
nach nicht notwendig folgsam ist." (IV, 261.)
5. Hypothetischer Imperativ. — „Die Vorstellung eines objek-
tiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heisst ein
Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebotes heisst Imperativ.
Alle Imperative werden durch ein Sollen ausgedrückt, und zeigen
dadurch das Verhältnis eines objektiven Gesetzes der Vernunft zu
einem Willen an, der seiner subjektiven Beschaffenheit nach dadurch
nicht notwendig bestimmt wird (eine Nötigung)." (IV, 261.) Ein
Kaufmann, der sich als Zweck gesetzt hat, Geld zu verdienen, sieht
sich zum Entschlüsse genötigt, wenn er alle Thatsachen, die vor-
liegen, in ihrer Bedeutung, die sie für Erreichung seines Zweckes
haben, sich vergegenwärtigt, eine Reise zu unternehmen; dieser Ent-
schluss ist ein objektiver, weil er die Thatsachen in i h r e m W e r t e
zur E r r e i c h u n g s e i n e s Z w e c k e s in Betracht gezogen hat. Nun
lockt ihn aber Faulheit, den gefassten Entschluss nicht auszuführen,
er beschliesst seiner Faulheit nachzugeben und zu Hause zu bleiben.
Dieser Entschluss wäre ein subjektiver, weil er die Thatsachen und
ihren gesetzmässigen Zusammenhang nicht mit Bezug auf den
Zweck, den er vorhat, betrachtet, d. h. weil er die Thatsachen ein-
ordnet nicht nach ihrem Werte in Bezug auf seinen Zweck, sondern
nach demjenigen Werte, den sie ganz abgesehen von seinem Zweck
jetzt und unter gegebenen Verhältnissen f ü r ihn haben. Dann
stehen zwei Willensentscheide einander gegenüber: ein objektiver
und ein subjektiver. Der objektive Willensentscheid nimmt in diesem
Falle den Charakter des Nötigenden, des Seinsollenden an; „die
Reise s o l l t e ich eigentlich unternehmen", sagt sich der Kaufmann,
„aber ich m ö c h t e zu Hause bleiben". Dies Bewusstsein des Sollens
ist das Passivitätsgefühl, das entsteht, wenn einem objektiven ein
subjektiver Willensentscheid gegenüber steht. Objektive Willens-
entscheide, indem sie den Charakter des Seinsollenden annehmen,
treten in Form von Vorschriften, Imperativen auf. „Du sollst dies
sein der Objektivität. „Ich erfülle die Pflicht, weil es meine Pflicht
ist." D. h. ich erfülle eine pflichtmässige Handlung, weil ich das
Bewusstsein habe, dass so zu handeln recht, richtig ist. Dies be-
sagt, dass der Betreffende das Bewusstsein der Objektivität oder
des „Richtighandelns" hat. Auch die schönste unter den „schönen
Seelen" hat dies Bewusstsein, wenn unter der „schönen Seele" eine
solche verstanden wird, die notwendigerweise legale oder objektiv
giltige Handlungen vollbringt; wo aber objektiv giltige Willensent-
scheide entstehen, da ist auch das Gefühl der Objektivität oder
Pflichtbewusstsein in diesem Sinne vorhanden.
„Ein vollkommen guter Wille würde also ebensogut unter ob-
j e k t i v e n G e s e t z e n s t e h e n , aber nicht dadurch als zu gesetz-
mässigen Handlungen g e n ö t i g t vorgestellt werden können, weil er
von selbst, nach seiner subjektiven Beschaffenheit, nur durch die
Vorstellung des Guten bestimmt werden kann. Daher gelten für
einen göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen keine
Imperative, das Sollen ist hier am Unrechten Ort, weil das Wollen
schon von selbst mit dem Gesetze notwendig einstimmig ist."
(IV, 261.) Es bleibt aber auch hier das Gefühl der Objektivität
(Pflichtbewusstsein) bestehen, weil ein solcher Wille unter o b j e k t i v e m
Gesetze steht.
„Zu dieser Stufe . . . kann es aber ein Geschöpf niemals bringen,
denn da es ein Geschöpf ist, . . . . so kann es niemals von Be-
g i e r d e n und N e i g u n g e n ganz frei sein, die . . . . es jederzeit
notwendig machen, . . . die Gesinnung seiner Maximen zu gründen
auf moralische Nötigung, nicht auf bereitwillige Ergebenheit . . .
und Liebe . . . ., gleichwohl aber diese letztere, nämlich die blosse
Liebe zum Gesetze . . . . sich zum beständigen, obgleich unerreich-
baren Ziele seiner Bestrebung zu machen." (V., 88.) Wenn also
Kant das wirkliche Vorkommen einer „schönen Seele" leugnet, so
nennt er eine solche, falls sie vorkommen sollte, nicht nur sittlich,
sondern stellt das Erreichen eines solchen Zustandes als ein Ideal
hin. Aber auch in einzelnen Fällen, wo objektiven Willens-
entscheiden subjektive nicht gegenüberstehen, ist das Pflichtbewusst-
sein oder das Gefühl der Objektivität vorhanden, weil alle Motive
objektiv geordnet sind oder weil der Willensentscheid objektiv ist.
Aber im Menschen bestehen nun einmal, wie Kant richtig hervor-
hebt, Neigungen und Begierden, daher gelten für den Menschen
Imperative, denn „Imperative sind Formen, das Verhältnis objektiver
Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjektiven Unvollkommenheit
Abhandlung, dass sittlich für Kant eine Handlung ist, die nicht aus
Neigung, sondern aus Pflicht vollbracht ist. — Wir bestimmten die
Neigung als die subjektive Wertung, und bestimmten als sittlich
eine Persönlichkeit, in der alle Wertungen objektiv giltig sind. Da
aber für Kant im Menschen die objektiv bedingten Wertungen nicht
schon seiner subjektiven Natur nach notwendig vorhanden sind,
sondern erst durch Überlegung, resp. Anwendung der Formel der
Moralität hergestellt werden, so stellte Kant als den Gegensatz zur
Neigung nicht die objektive Wertung auf, sondern diejenige Trieb-
feder, die zur objektiven Wertung n ö t i g t , nämlich die Pflicht, d. h.
die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.
11. Die Notwendigkeitsbeziehung. — Wir fragten, worin die
Triebfeder für den objektiven Willensentscheid besteht, oder, anders
ausgedrückt, worauf sich die Nötigung gründet. Wir sahen die
Antwort Kants beim hypothetischen Imperativ: die Nötigung besteht,
weil im Wollen des Zweckes das Wollen der Mittel notwendig ein-
geschlossen ist. — Die Notwendigkeit des Wollens der Mittel nötigt
nun nur dann, wenn dem objektiven hypothetischen Willensentscheid
ein subjektiver gegenübertritt, sie liegt aber thatsächlich vor, auch
wenn jene Nötigung nicht vorhanden ist. In diesem Falle bedingt
diese Notwendigkeit das Bewusstsein der Objektivität.
Nun sagt Kant, dass beim kategorischen Imperativ die Pflicht
die Triebfeder sei, und er bestimmt dieselbe als die Notwendigkeit
einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz. — Die Nötigung besteht
also, weil eine Notwendigkeitsbeziehung vorliegt zwischen einer
pflichtmässigen Handlung und der Achtung fürs Gesetz. — Obgleich
wir noch nicht wissen, welcher Art die Notwendigkeitsbeziehung ist,
noch was unter Achtung fürs Gesetz zu verstehen ist, so sehen wir
doch, dass auch beim kategorischen Imperativ die Nötigung sich
auf eine Notwendigkeitsbeziehung gründet. Es wird sich also auch
hier so verhalten, dass die Notwendigkeitsbeziehung thatsächlich vor-
handen ist, wenn auch kein Gefühl der Nötigung besteht, denn
letzteres entsteht nur dann, wenn ein subjektiver Willensentscheid
einem objektiven gegenüber tritt. — Die Notwendigkeit muss be-
stehen, wenn sie auch nicht als nötigend auftritt, d. h. wenn das
Pflichtbewusstsein im zweiten Sinne, im Sinne der Objektivität besteht,
denn sie kann als nötigend nur auftreten, wenn sie thatsächlich
auch schon früher vorlag, aber da kein subjektiver Willensentscheid
entgegentrat, als nötigend nicht auftreten konnte. — Die Pflicht
oder die Notwendigkeit einer Handlung· aus Achtung fürs Gesetz
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wie das Meer, ein Vulkan, _ ein Raubtier, niemals aber Achtung in
ans erwecken . . . . Ein Mensch kann mir auch ein Gegenstand der
Liebe, der Furcht oder der Bewunderung, sogar bis zum Erstaunen,
und doch darum kein Gegenstand der Achtung sein. Seine scherz-
hafte Laune, sein Mut und Stärke, seine Macht durch seinen Rang,
den er unter anderen hat, können mir dergleichen Empfindungen
einflössen, es fehlt aber immer noch an innerer Achtung gegen ihn.
Fontenelle sagt: Vor einem Vornehmen bücke ich mich, aber mein
Geist bückt sich nicht. Ich kann hinzusetzen: vor einem niedrigen,
bürgerlich-gemeinen Mann, an dem ich eine Rechtschaffenheit des
Charakters in einem gewissen Masse, als ich mir von mir selbst
nicht bewusst bin, wahrnehme, bückt sich mein Geist, ich mag wollen
oder nicht, und den Kopf noch so hoch tragen, um ihn meinen
Vorrang nicht übersehen zu lassen. Warum das ? Sein Beispiel
hält mir ein Gesetz vor, das meinen Eigendünkel niederschlägt, wenn
ich es mit meinem Verhalten vergleiche, und dessen Befolgung, mit-
hin die Thunlichkeit desselben, ich durch die That bewiesen vor
mir sehe Achtung ist ein Tribut, den wir dem Verdienste
nicht verweigern können, wir mögen allenfalls äusserlich damit zu-
rückhalten, so können wir doch nicht verhüten, sie innerlich zu
empfinden" (V, 81/2). „Diese Achtung erweckende Idee der Persönlich-
keit ist selbst der gemeinsten Menschenvernunft natürlich und leicht
bemerklich. Hat nicht jeder, auch nur mittelmässig ehrliche Mann
bisweilen gefunden, dass er eine sonst unschädliche Lüge, dadurch
er sich entweder selbst aus einem verdriesslichen Handel ziehen, oder
wohl gar einem geliebten oder verdienstvollen Freunde Nutzen schaffen
konnte, bloss darum unterliess, um sich insgeheim in seinen eigenen
Augen nicht verachten zu dürfen? Hält nicht einen rechtschaffenen
Mann im grössten Unglücke des Lebens, das er vermeiden konnte,
wenn er sich nur hätte Uber die Pflicht wegsetzen können, noch das
Bewusstsein aufrecht, dass er die Menschheit in seiner P e r s o n
doch in ihrer Würde erhalten und geehrt habe, dass er sieh nicht vor
sich selbst zu schämen und den inneren Anblick der Selbstprüfung
zu scheuen Ursache habe?" (V, 92). „Die Menschheit im Menschen'·
seine „Vernunft", oder „die Gesetzmässigkeit" seines Geistes sind
dasjenige, was ihm Achtung gebietet, und diese Achtung vor dem
Gesetze, vor „der Menscheit im Menschen", dies ist die Triebfeder,
die den Menschen nötigt, für den objektiven sittlichen Willensentscheid
gegenüber dem subjektiven sich zu entschliessen.
15. Die Persönlichkeit. — Wir können also jetzt die subjektive
Menschen", vor der „Persönlichkeit", die uns nötigt, für den objek-
tiven Willensentscheid uns zu entschliessen. Diesen Gedanken kann
man auch folgendermassen ausdrücken: beim hypothetischen Sollen
ist ein Zweck, der jetztjWert hat, das Nötigende, beim kategorischen
Sollen ist es ein Zweck, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten
Wert hat, was als Z w e c k an s i c h s e l b s t der Grund eines mög-
lichen kategorischen Imperativs ist. Ein solcher Zweck an sich selbst
oder absoluter Zweck ist die „Menschheit im Menschen" oder die
Persönlichkeit, d. h. das Positive, das Gute, das Sittliche in ihr.
Dass dem so ist, dass das Sittliche im Menschen oder die Mensch-
heit im Menschen der absolute Zweck ist, muss hier als eine Behaup-
tung hingestellt werden. Dieselbe würde aber als eine unzweifelhafte
psychologische Thatsache dastehen, wenn wir untersuchen wollten,
was jeder Mensch als das absolut Wertvolle setzt. Dann würde sich
herausstellen, dass jeder Nützlichkeitswert oder Glückswert nur relativ
sei, und dass „ein unparteiischer Zuschauer sogar am Anblicke eines
ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines
reinen und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen haben
kann, und so der gute Wille die unerlässliche Bedingung der Würdig-
keit glücklich zu sein, auszumachen scheint" (IV, 241). Alle Glticks-
oder Lustwerte sind bedingt durch die Würdigkeit der Person, sie
haben einen „Marktpreis" oder „Affektionspreis", nur der Zweck an
sich selbst — das Sittliche — hat keinen „relativen Wert, d. h. einen
Preis, sondern einen inneren Wert, d. h. Würde" (IV, 283).
Wir sind jetzt an der Wurzel des Gegensatzes zwischen Neigung
und Pflicht: es ist der Gegensatz zwischen den Objektswerten und
Persönlichkeitswerten. Die Objektswerte, d. h. die Werte, die Objekte
für uns haben, sind nicht die sittlichen Werte, sondern sind alle ins-
gesamt relativ und abhängig von den Persönlichkeitswerten, die allein
sittliche Werte sind. „Nur die Sittlichkeit und die Menschheit, sofern
sie derselben fähig ist, ist dasjenige, was allein Würde hat" (IV, 283).
Weil dem so ist, so kann das Sittengesetz lauten statt: Ordne alle
Motive objektiv bedingt ein: setze das höchste Motiv oder den abso-
luten Zweck an die höchste Stelle, oder handle so, dass du die
Achtung vor dir, vor der Menschheit in dir bewahrst, oder „handle
so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Per-
son eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss
als Mittel brauchst" (IV, 277).
Indem Kant diese zweite Formel aufstellt, gerät er nicht in Wider-
spruch mit seiner ersten; „die Forderung, dass die Achtung und
sonst nichts unser Wollen bestimme, ist die Forderung, dass die sitt-
liche Persönlichkeit uns überall als das absolut Wertvolle vorschwebe
und leite. So ist es denn auch durchaus berechtigt, wenn Kant
schliesslich dem obersten Gesetze einen sehr bestimmten Inhalt gibt.
Darin liegt keine Inkonsequenz, sondern eine notwendige Konsequenz". 1 )
„Die vernünftige Natur nimmt sich dadurch von den übrigen aus,
dass sie ihr selbst einen Zweck setzt. Dieser würde die Materie
eines jeden guten Willens sein. Da aber in der Idee eines ohne
einschränkende Bedingung (der Erreichung dieses oder jenes Zweckes)
schlechterdings guten Willens durchaus von allem z u b e w i r k e n d e n
Z w e c k e abstrahiert werden muss, so wird der Zweck hier nicht als
ein zu b e w i r k e n d e r , s o n d e r n s e l b s t ä n d i g e r Z w e c k , m i t h i n
n u r n e g a t i v g e d a c h t w e r d e n m ü s s e n , d. i. dem niemals zu-
wider gehandelt . . . . werden muss . . . . Das Prinzip: handle in
Beziehung auf jedes vernünftige Wesen (auf dich selbst und andere)
so, dass es in deiner Maxime zugleich als Zweck an sich selbst
gelte, ist demnach mit dem Grundsatze: handle nach einer Maxime,
die ihre eigene allgemeine Giltigkeit für jedes vernünftige Wesen
zugleich in sich enthält, im Grunde einerlei. Denn dass ich meine
Maxime im Gebrauche der Mittel zu jedem Zwecke auf die Bedingung
ihrer Allgemeingiltigkeit, als eines Gesetzes für jedes Subjekt ein-
schränken soll, sagt eben so viel, als: Das Subjekt der Zwecke, d. i.
das vernünftige Wesen selbst muss niemals bloss als Mittel, sondern
als oberste e i n s c h r ä n k e n d e B e d i n g u n g im Gebrauche aller
Mittel, d.'V.jederzeit zugleich als Zweck, allen Maximen der Hand-
lungen zum Grunde gelegt werden" (IV, 285/6).
17. Schlussbemerkung. — Der Gedankengang dieser Abhandlung
war folgender: wir suchten zuerst die Problemstellung zu fixieren,
indem wir sagten, dass die Frage lautet: Welches sind diejenigen
Momente am Thatbestande, die das Subjekt im sittlichen Urteile
ausmachen, von welchen unsere sittliche Billigung abhängt? Wir
bestimmten ferner, dass der Thatbestand ein zweifacher sein
kann, und stellten dann fest, dass Kant die Momente in d e r Ge-
s i n n u n g bestimmen will. Wir führten dann die Bestimmung Kants
ein und gingen über zu ihrer Fixierung. Wir unterschieden dabei
die verschiedenen möglichen Bedeutungen des Begriffes der Neigung
und bestimmten dieselbe nach längerer Untersuchung als die subjektiv
bedingte Wertung. — Wenn auch nicht zu verkennen ist, dass
in manchen Beispielen Kant als den Gegensatz zur subjektiven
Wertung die logische Widerspruchslosigkeit aufstellte, also intellek-
tualistisch den Gegensatz bestimmte, so sahen wir, dass es auch für Kant
L i p p s , Ethische Grundfragen, S. 159.