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Björn Lemmer
Kay Brune (Hrsg)
Pharmakotherapie
Klinische Pharmakologie
Begründet von G. Füllgraf und D. Palm
123
Professor Dr. med. Dr. h.c. Björn Lemmer
Institut für Experimentelle und klinische Pharmakologie und Toxikologie
Medizinische Fakultät Mannheim
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Maybachstraße 14
68169 Mannheim
E-Mail: bjoern.lemmer@pharmtox.uni-heidelberg.de
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung,
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gütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.
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Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetz-
gebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen.
SPIN 12110735
B. Lemmer
K. Brune
Mannheim und Erlangen, im Januar 2010
VII
G. Fülgraff
D. Palm
Berlin und Frankfurt am Main im Mai 1975
IX
Biographien
Björn Lemmer
geboren 1942, Medizinstudium an der Universität Frankfurt. Nach der Tätigkeit als Medi-
zinalassistent, Stipendiat am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt. Assisten-
tenstelle am Institut für Pharmakologie, Universität Frankfurt, nach Habilitation und Fach-
arztausbildung, Berufung auf eine Universitätsprofessur in der Abteilung Allgemeine Phar-
makologie und Toxikologie.
1993 lehnt er einen Ruf auf die C4-Professur für Pharmakologie und Toxikologie an der
Universität Greifswald ab, um 1995 den Lehrstuhl für Pharmakologie und Toxikologie an
der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg zu übernehmen.
Seine wissenschaftlichen Arbeiten befassen sich mit der Pharmakologie des sympa-
thischen Nervensystems, im Mittelpunkt seines Interesses steht die Chronopharmakologie,
d. h. die Auswirkung biologischer Rhythmen auf die Kinetik und Dynamik von Arzneimit-
teln bei Mensch und Tier. Er ist Autor bzw. Herausgeber zahlreicher deutsch- und englisch-
sprachiger Bücher auf dem Gebiet der Chronopharmakologie. Darüber hinaus Mitarbeit an
Lehr- und Handbüchern der Pharmakologie, z. B. ArzneiverordnungsReport, Taschenbuch
der Arzneibehandlung, Pharmakotherapie – Klinische Pharmakologie (Mitautor seit der
ersten Auflage).
Er war Präsident der European Society for Chronobiology, Vizepräsident der Interna-
tional Society for Chronobiology, Wahrnehmung zahlreicher Gastprofessuren an den Uni-
versitäten Kanton, Mailand, Paris und Bordeaux, wurde 1998 zum Dr. h.c. der Universität
Bordeaux ernannt. 2007 wurde er vom Europäischen Parlament in das Management Board
der European Medicines Agency (EMA) berufen.
Kay Brune
geboren 1941, absolvierte sein Medizinstudium an den Universitäten Hamburg, Basel und
München. Nach seiner Tätigkeit als Assistenzarzt und praktischer Arzt in Northeim und
Hamburg übernahm er eine Assistentenstelle, später Oberarzt und Privatdozent, in der
Abteilung Pharmakologie des Biochemiezentrums der Universität Basel.
Als Gastwissenschaftler war er in den USA (Chapel Hill und Detroit) tätig. Er lehnte
einen Ruf auf eine »Full Professorship« nach Kansas ab, um 1981 den Lehrstuhl für Pharma-
kologie und Toxikologie in Erlangen zu übernehmen.
Seine wissenschaftliche Beschäftigung mit Problemen der Arzneimitteltherapie von
Schmerz und Entzündung führte nicht nur zu herausragenden Publikationen, der Beset-
zung mehrer Lehrstühle durch Mitarbeiter, sondern auch zur Verleihung des deutschen
Schmerzpreises sowie des Felix-Wankel-Tierschutzpreises.
Als Präsident der ›International Association of Inflammation Research Societies‹, als
Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes und schließlich als
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Experimentelle & Klinische Pharmakologie und
Toxikologie übernahm er zusätzliche organisatorische Aufgaben.
Seit 2003 beschäftigt sich K. Brune als Doerenkamp-Professor für Innovation für Tier-
und Verbraucherschutz besonders mit den Möglichkeiten, durch Verfahren der Bildgebung
und der Informationsverarbeitung die Patientensicherheit zu erhöhen und den Tierver-
brauch in der Forschung zu reduzieren.
XI
Autorenverzeichnis
Dr. hum. biol. Peter Aurnhammer Prof. Dr. med. Bernd Drewelow PD Dr. med. Birgit S. Gathof
Apotheke Dr. Aurnhammer Universitätsklinikum Rostock Zentrale Dienstleistungseinrichtung
Bahnhofstr. 22 Zentrum für Pharmakologie und für Transfusionsmedizin
85737 Ismaning Toxikologie Klinikum der Universität zu Köln
Schillingallee 70 Joseph-Stelzmann-Str. 9
PD Dr. med. Annegret Balogh 18057 Rostock 50924 Köln
Institut für Klinische Pharmakologie
Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. med. Erland Erdmann Prof. Dr. med. Hartmut Glossmann
Dornburger Str. 159 Universität zu Köln Biochemische Pharmakologie
07740 Jena Klinik III für Innere Medizin Universität Innsbruck
Kerpener Str. 62 Peter-Mayr-Str. 1
Prof. Dr. med. habil. Reiner Benecke 50924 Köln A-6020 Innsbruck
Klinik für Neurologie und Poliklinik
Universität Rostock Prof. Dr. med. Thomas Eschenhagen Prof. Dr. med. Martin Gramatzki
Gehlsheimer Str. 20 Institut für Experimentelle und Klinische Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
18147 Rostock Pharmakologie Sektion für Stammzell- und
Zentrum für Experimentelle Medizin Immuntherapie, Campus Kiel
Prof. Dr. med. Hans Bigalke Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Arnold-Heller-Str. 3
Institut für Toxikologie Martinistr. 52 24105 Kiel
Medizinische Hochschule Hannover 20246 Hamburg
Carl-Neuberg-Str. 1 Prof. Dr. med. Andreas Greinacher
30625 Hannover Prof. Dr. med. Heidrun Fink Universitätsklinikum Greifswald
Fachbereich Veterinärmedizin Institut für Immunologie
Prof. Dr. med Reiner Böger Institut für Pharmakologie und Transfusionsmedizin
Institut für Experimentelle und Klinische und Toxikologie Abt. Transfusionsmedizin
Pharmakologie Freie Universität Berlin Sauerbruchstr.
Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf Koserstr. 20 17489 Greifswald
AG für Klinische Pharmakologie 14195 Berlin
Martinistr. 52 Prof. Dr. med. Joachim Greven
20246 Hamburg Prof. Dr. med. Ulrich Förstermann Institut für Pharmakologie
Pharmakologisches Institut und Toxikologie
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Kay Brune Johannes Gutenberg-Universität RWTH Aachen
Institut für Experimentelle und Klinische Obere Zahlbacher Str. 67 Wendlingweg 2
Pharmakologie und Toxikologie 55131 Mainz 52057 Aachen
Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. med. dent. Heidi Foth Prof. Dr. med. Peter Gross
Fahrstr. 17 Institut für Umwelttoxikologie Schwerpunkt-Professur Nephrologie
91054 Erlangen Martin-Luther-Universität Medizinische Klinik und Poliklinik III
Franzosenweg 1a Universitätsklinikum der TU Dresden
Prof. Dr. med. Stefan Dhein 06097 Halle/Saale Fetscherstr. 74
Herzzentrum 01307 Dresden
Klinik für Herzchirurgie Prof. Dr. rer. nat. Uwe Fricke
Universität Leipzig Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Thomas Gudermann
Strümpellstr. 39 Klinikum der Universität zu Köln LMU München
04289 Leipzig Gleueler Str. 24 Walther-Straub-Institut für Pharmakologie
50924 Köln Goethestr. 33
Prof. Dr. med. Peter Dominiak 80336 München
Institut für Experimentelle und Klinische Prof. Dr. med. Martin F. Fromm
Pharmakologie und Toxikologie Institut für Experimentelle und Klinische Prof. Dr. med. Ursula Gundert-Remy
Universitätsklinikum Schleswig- Pharmakologie und Toxikologie Bundesinstitut für Risikobewertung
Holstein (SH) Friedrich-Alexander-Universität Thielallee 88–92
Campus Lübeck Erlangen-Nürnberg 14195 Berlin
Ratzeburger Allee 160 Fahrstr. 17
23538 Lübeck 91054 Erlangen
XII Autorenverzeichnis
Prof. Dr. med. Walter E. Haefeli Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Prof. Dr. med. Dr. h.c. Björn Lemmer
Abt. Innere Medizin VI Hans-Georg Joost Institut für Experimentelle und klinische
Klinische Pharmakologie Deutsches Institut für Pharmakologie und Toxikologie
und Pharmakoepidemiologie Ernährungsforschung Medizinische Fakultät Mannheim
Medizinische Klinik und Poliklinik Postdam-Rehbrücke Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Universitätsklinikum Heidelberg Arthur-Scheunert-Allee 114–116 Maybachstr. 14
Im Neuenheimer Feld 672 14558 Nuthetal 68169 Mannheim
69120 Heidelberg
Prof. Dr. med. Malte Kelm Prof. Dr. med. Bernhard Manger
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Medizinische Klinik I Medizinische Klinik III mit Poliklinik
Ekkehard Haen Universität Aachen Friedrich-Alexander-Universität
Klinische Pharmakologie/ Pauwelsstr. 30 Erlangen-Nürnberg
Psychopharmakologie 52074 Aachen Krankenhausstr. 12
Psychiatrische Universitätsklinik 91054 Erlangen
Regensburg Prof. Dr. rer. nat. Ulrich Klotz
Bezirksklinikum Regensburg Dr. Margarete-Fischer-Bosch-Institut Prof. Dr. med. Christian Y. Mardin
Universitätsstr. 84 für Klinische Pharmakologie Augenklinik
93053 Regensburg Auerbachstr. 112 Friedrich-Alexander-Universität
70376 Stuttgart Erlangen-Nürnberg
Dr. med. M. Heidbreder Schwabachanlage 6
Inst. f. Exp. & Klin. Pharmkologie Prof. Dr. med. Rainer Kolloch 91054 Erlangen
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Klink f. Allg. Innere Medizin
Campus Lübeck Evang. Krankenhaus Bielefeld PD Dr. med. Frank Martens
Ratzeburger Allee 160 Kantensiek 19 Universitätsmedizin Berlin
23530 Lübeck 33617 Bielefeld Charité Campus Virchow-Klinikum
Medizinische Klinik mit Schwerpunkt
Prof. Dr. med. Rainer Hellweg Prof. Dr. med. Herbert J. Kramer Nephrologie und Internistische
Charité Universitätsmedizin - Berlin Medizinische Universitätspoliklinik Intensivmedizin
Campus Benjamin Franklin Wilhelmstr. 35-37 Augustenburger Platz 1
Klinik und Hochschulambulanz für 53111 Bonn 13353 Berlin
Psychiatrie und Psychotherapie
Eschenallee 3 PD Dr. med. habil. Michael Kretzschmar Dr. med. Karin May
14050 Berlin Klinikum Altenburger Land GmbH Institut für Pharmakologie
04600 Altenburg Abt. Klinische Pharmakologie
Prof. Dr. med. Gerhard Hindricks Ernst-Moritz-Arndt-Universität
Herzzentrum Leipzig Prof. Dr. med. Reinhold Kreutz Friedrich-Loeffler-Str. 23d
Strümpellstr. 19 Charité-Universitätsmedizin Berlin 17487 Greifswald
04289 Leipzig Campus-Benjamin Franklin
Institut für Klinische Pharmakologie Prof. Dr. med. Andreas Moser
Prof. Dr. rer. nat. Burkhard Hinz und Toxikologie Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Institut für Toxikologie und Pharmakologie Abt. Klinische Pharmakologie Campus Lübeck
Universität Rostock Charitéplatz 1 Klinik für Neurologie
Schillingallee 70 10117 Berlin Ratzeburger Allee 160
18057 Rostock 23538 Lübeck
Prof. Dr. rer. nat. Heyo Kroemer
Prof. Dr. med. Heidelore Hofmann Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Michael Nauck
Klinik und Poliklinik für Dermatologie Ernst-Moritz-Arndt-Universität Diabeteszentrum Bad Lauterberg
und Allergologie Friedrich-Loeffler-Str. 23d Kirchberg 21
Technische Universität München 17489 Greifswald 37431 Bad Lauterberg
Biedersteiner Str. 29
80802 München Dr. Franz J. Legat Prof. Dr. med. Olaf Ortmann
Medizinische Universität Graz Klinik für Frauenheilkunde und
Prof. Dr. med. Thomas Hohlfeld Universitätsklinik für Dermatologie Geburtshilfe
Inst. f. Pharmakologie und und Venerologie der Universität Regensburg
Klin. Pharmakologie Augenbruggerplatz 8 Caritas-Krankenhaus St. Josef
Universität Düsseldorf A-8036 Graz Landshuter Str. 67
Universitätsstr. 1 93053 Regensburg
40225 Düsseldorf
XIII
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. med. H. Oßwald PD Dr. med. Tobias Schilling Prof. Dr. med. Jörg Striessnig
Inst. f. Pharmakologie Universität Heidelberg Institut für Pharmazie
Universität Tübingen Medizinische Universitätsklinik Abt. Pharmakologie und Toxikologie
Wilhelmstr. 56 Abt. Innere Medizin I Universität Innsbruck
72074 Tübingen Endokrinologie und Stoffwechsel Peter-Mayr-Str. 1
Im Neuenheimer Feld 410 A-6020 Innsbruck
Prof. Dr. med. Kurt Racké 69120 Heidelberg
Institut für Pharmakologie Prof. Dr. med. Norbert Suttorp
und Toxikologie Prof. Dr. med. Edgar Schömig Medizinische Klinik mit Schwerpunkt
Universität Bonn Institut für Pharmakologie Infektiologie
Reuterstr. 2b Klinikum der Universität zu Köln Charité-Universitätsmedizin Berlin
53113 Bonn Gleuelerstr. 24 Campus Virchow-Klinikum
50931 Köln Augustenburger Platz 1
Prof. Dr. med. Ursula Ravens 13353 Berlin
Prof. Dr. med. Karsten Schrör
Technische Universität Dresden
Institut für Pharmakologie
Institut für Pharmakologie und Toxikologie Dr. med. Karsten Sydow
und Klinische Pharmakologie
Medizinische Fakultät „Carl Gustav Carus“ Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Fetscherstr. 74 Klinik und Poliklinik für Kardiologie/
Universitätsstr. 1
01307 Dresden Angiologie
40225 Düsseldorf
Martinistr. 52
Prof. Dr. med. Emil C. Reisinger Prof. Dr. med. Matthias Schwab 20246 Hamburg
Universität Rostock Dr. Margarete-Fischer-Bosch-Institut
Medizinische Fakultät für Klinische Pharmakologie Prof. Dr. med. Marta Szamel
Klinikum der Universität Rostock Auerbachstr. 112 Institut für Pharmakologie
Abt. für Tropenmedizin und 70376 Stuttgart Medizinische Hochschule Hannover
Infektionskrankheiten Carl-Neuberg-Str. 1
Ernst-Heydemann-Str. 6 Prof. Dr. med. Harald Schwörer 30625 Hannover
18057 Rostock Med. Klinik und Poliklinik
Abt. Gastroenterologie und Endokrinologie Dr. rer. nat. Dirk Taubert
Prof. Dr. med. Klaus Resch Universität Göttingen Institut für Pharmakologie
Medizinische Hochschule Hannover Robert-Koch-Str. 40 Universität zu Köln
Institut für Pharmakologie 37075 Göttingen Gleuelerstr. 24
Zentrum Pharmakologie und Toxikologie 50931 Köln
Carl-Neuberg-Str. 1 Prof. Dr. med. Hannsjörg W. Seyberth
30625 Hannover Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin Prof. Dr. med. A.-A. Weber
Philipps-Universität Marburg Institut f. Pharmakologie
Prof. Dr. med. T. Risler Baldingerstr. 12 Universitätsklinikum Essen
Medizinische Klinik IV 35043 Marburg Hufelandstr. 55
Universitätsklinikum Tübingen 45122 Essen
Prof. Dr. med. habil. Werner Siegmund
Otfried-Müller-Str. 10
Institut für Pharmakologie
72076 Tübingen Prof. Dr. med. Ralf Wettengel
Abt. Klinische Pharmakologie
Schillbachstr. 13
Ernst-Moritz-Arndt-Universität
Prof. Dr. rer. nat. C. Ritter 07743 Jena
Friedrich-Loeffler-Str. 23d
Institut f. Pharmazie
17487 Greifswald
Universität Greifswald Prof. Dr. rer. nat. Thomas Wieland
Friedrich-Ludwig-Jahn-Str. 17 Dr. med. Reinhard Sittl Institut für Pharmakologie und Toxikologie
17487 Greifswald Anästhesiologische Klinik Fakultät für Klinische Medizin Mannheim
Universitätsklinikum Erlangen Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Dr. med. habil. A. Salameh Krankenhausstr. 12 Maybachstr. 14
Klinik f. Kinderkardiologie 91054 Erlangen D-68169 Mannheim
Herzzentrum Leipzig GmbH
Strümpellstr. 39 Prof. Dr. med. Ralf Stahlmann Prof. Dr. med. Hanns Ulrich Zeilhofer
04289 Leipzig Institut für Klinische Pharmakologie Pharmakologisches Institut
und Toxikologie, Abt. Toxikologie Universität Zürich
Charité-Universitätsmedizin Berlin Winterthurer Str. 190
Campus Benjamin Franklin CH-8057 Zürich
Garystr. 5
14195 Berlin
Dosierung:
Pharmakotherapie: Das didaktische Konzept wichtige Hinweise zur Dosierung
gängiger Medikamente
Inhaltliche Struktur:
klare Gliederung
durch alle Kapitel
Abbildungen:
veranschaulichen
komplexe Sachverhalte
Leitsystem:
Orientierung über
die Kapitel 1–38 und
Anhang
Wichtig:
das Wichtigste auf
den Punkt gebracht
Übersicht: therapeutische
und diagnostische
Maßnahmen im Überblick
Tabelle:
klare Übersicht der Navigation:
wichtigsten Fakten Seitenzahl und Kapitelnummer
für die schnelle Orientierung
Cave
Vorsicht!
Bei falschem Vorgehen
Gefahr für den
Patienten
In Kürze:
Wiederholung der
wichtigsten Fakten
zum schnellen
Repetieren
Übersicht Leitsystem
Inhaltsverzeichnis
1 Arzneimittelrecht und Arzneimittelprüfung . 1 5.3 Behandlung mit Diuretika . . . . . . . . . . . . . . . 54
U. Gundert-Remy
m 5.4 Differenzialtherapeutische Gesichtspunkte . . . . 58
1.1 Die Ware Arzneimittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1.2 Staatliche Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . 2 6 Therapie mit Elektrolyt-
1.3 Was sind Arzneimittel? . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 und Infusionslösungen . . . . . . . . . . . . . . . . 61
1.4 Qualität, Wirksamkeit, Unbedenklichkeit . . . . . . 3 U. Ravens, P. Gross
1.5 Zulassung von Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . . 3 6.1 Begriffsbestimmung und Pathophysiologie . . . . 62
1.6 Rücknahme von Arzneimitteln vom Markt . . . . . 4 6.2 Prinzipien der Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . 65
1.7 Verkaufsabgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 6.3 Behandlung der Volumenkontraktion . . . . . . . . 65
1.8 Verschreibungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 6.4 Behandlung von Störungen des Säure-Basen-
1.9 Besonderheiten des Arzneimittelmarktes . . . . . 5 Haushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
1.10 Besondere Verantwortung von Herstellern 6.5 Behandlung von Störungen des Kalium-
und Ärzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 haushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
1.11 Information für Fachkreise, Gebrauchs- 6.6 Behandlung von Störungen des Calcium-
information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 haushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
1.12 Begründung für die Arzneimittelprüfung 6.7 Behandlung von Störungen des Magnesium-
am Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 haushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
1.13 Voraussetzungen für die Prüfung 6.8 Behandlung von Störungen des Phosphat-
von Arzneimitteln am Menschen . . . . . . . . . . . 7 haushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
1.14 Die Phasen der klinischen Prüfung . . . . . . . . . . 9
7 Therapie mit Analgetika
2 Komplementär- und Alternativmethoden . . . 13 und Lokalanästhetika . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
K. Brune, U. Gundert-Remy, B. Lemmer H.U. Zeilhofer, R. Sittl
2.1 Homöopathie/Bachblütentherapie . . . . . . . . . 14 7.1 Begriffsbestimmung und Pathophysiologie . . . . 70
2.2 Phytotherapeutika/Pflanzenextrakte . . . . . . . . 16 7.2 Opioidanalgetika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
2.3 Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 7.3 Antipyretische Analgetika . . . . . . . . . . . . . . . 72
2.4 Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 7.4 Lokalanästhetika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
2.5 Akupunktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 7.5 Medikamentöse postoperative Schmerztherapie 76
2.6 Manualtherapie/Chiropraxis . . . . . . . . . . . . . . 18 7.6 Schmerztherapie in der Notfallmedizin . . . . . . . 76
7.7 Medikamentöse Tumorschmerztherapie . . . . . . 76
3 Therapie-Monitoring, 7.8 Wirkstoffe zur Behandlung von Migräne . . . . . . 77
Probleme der Compliance (Adherence)
und Noncompliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 8 Therapie mit Antipsychotika
W.E. Haefeli und Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
3.1 Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 M. Heidbreder, P. Dominiak
3.2 Surrogate und primäre Endpunkte . . . . . . . . . . 22 8.1 Antipsychotika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
3.3 Optimaler Zeitpunkt des Monitorings . . . . . . . . 23 8.2 Antidepressiva und Phasenprophylaktika . . . . . 93
3.4 Monitoring-Techniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
9 Therapie mit Antikoagulanzien,
4 Verschreibung und Abgabe Thrombozytenfunktionshemmern
von Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 und Thrombolytika . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
E. Haen, P. Aurnhammer A. Greinacher, A.A. Weber
4.1 Gesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 9.1 Gerinnungsphysiologische Grundlagen . . . . . . 106
4.2 Grundsätzliches zur Verschreibung . . . . . . . . . . 32 9.2 Hemmung der Thrombozytenfunktion . . . . . . . 108
4.3 Verschreibung zur individuellen Zubereitung 9.3 Hemmung der plasmatischen Gerinnung . . . . . 110
(Rezeptur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 9.4 Hypokoagulabilität (hämorrhagische
4.4 Verschreibung auf Formularen der gesetzlichen Diathesen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
Krankenkassen (GKV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 9.5 Fibrinolyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
4.5 Verschreibung von Betäubungsmitteln . . . . . . . 44 9.6 Hyperfibrinolyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
9.7 Lokale Anwendung von Heparin . . . . . . . . . . . 120
5 Therapie von Ödemen mit Diuretika . . . . . . 53
H. Osswald, T. Risler
5.1 Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
5.2 Allgemeine therapeutische Maßnahmen . . . . . . 54
XX Inhaltsverzeichnis
36 Arzneimittelallergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479
J. Striessnig, F.J. Legat
36.1 Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480
36.2 Klinische Manifestationen . . . . . . . . . . . . . . . 483
36.3 Pseudoallergische Reaktionen . . . . . . . . . . . . . 490
36.4 Überlegungen zu Diagnose und Prävention . . . . 490
1
1 Arzneimittelrecht
und Arzneimittelprüfung
U. Gundert-Remy
1.7 Verkaufsabgrenzung –5
1.8 Verschreibungspflicht –5
Was ist ein Arzneimittel? Wie unterscheidet es sich von Pillen das Paul-Ehrlich-Institut, Bundesamt für Sera- und Impfstof- f
(Nahrungsergänzungsmitteln), die man im Supermarkt kau- fe, haben die Aufgabe:
fen kann? Wer bringt sie auf den Markt? Wer ist verantwort- 4 anhand von Unterlagen, die von der pharmazeutischen
lich dafür, was im Beipackzettel steht? Was sind die Vorausset- Industrie erstellt werden, zu prüfen, ob Arzneimittel die
zungen, dass Arzneimittel auf den Markt kommen? Warum ihnen zugeschriebene Wirksamkeit besitzen, d. h. eine
und unter welchen Umständen werden Arzneimittel vom vernünftige therapeutische Chance bei dem vom Herstel-
Markt genommen? Was ist eine Arzneimittelprüfung? Wer ler angegebenen Anwendungsgebiet besteht;
führt sie durch? Was ist Arzneimittelsicherheit? Wo kann ich 4 darauf zu achten, dass Arzneimittel ausreichend im Hin-
mich über ein Arzneimittel aktuell und unabhängig informie- blick auf zu erwartende unerwünschte Wirkungen, unter-
ren? Welche Rolle hat der Arzt? sucht sind, bevor sie erstmals am Menschen angewendet
Diese Fragen werden im Kapitel zu Arzneimittelrecht und werden und bevor sie auf den Markt gelangen so dass jeden-
Arzneimittelprüfung beantwortet. Die Antworten sollen helfen, falls keine häufigen, schweren, im Vergleich zum möglichen
Informationen zu Arzneimitteln zu finden, richtig lesen zu kön- Nutzen unvertretbaren unerwünschten Wirkungen zu er-
nen und sich besser im Arzneimittelmarkt zurechtzufinden. warten sind;
4 zu gewährleisten, dass Arzneimittel korrekt bezeichnet
sind und sämtliche notwendigen Fach- und Gebrauchsin-
1.1 Die Ware Arzneimittel formationen enthalten;
4 die Qualität von Arzneimitteln, z. B. hinsichtlich der Men-
Arzneimittel sind Waren besonderer Art. Sie haben die Zweck- ge der Inhaltsstoffe oder ihrer Beschaffenheit und Rein-
bestimmung, Krankheiten zu heilen und das Befinden güns- heit, zu kontrollieren;
tig zu beeinflussen; es ist die Zweckbestimmung, die einen 4 Arzneimittel nach ihrer Ausbietung im Hinblick auf ihre
chemischen Stoff/einen Pflanzenteil zum Arzneimittel macht. unerwünschten Wirkungen zu beobachten, die Nutzen-
Als weitere das Attribut Arzneimittel verleihende Zweck- Risiko-Abschätzung fortzuschreiben und gegebenenfalls
bestimmung ist die Diagnostik von Krankheiten zu nennen die Fach- oder Gebrauchsinformation zu ändern oder die
(z. B. Röntgenkontrastmittel, oraler Glucosetoleranztest). Am Anwendung einzuschränken bis hin zu einer Rücknahme
Arzneimittelmarkt sind viele Gruppen mit sehr unterschied- vom Markt;
lichen Interessen beteiligt: Produzenten (pharmazeutische 4 zu verhindern, dass Arzneimittel vertrieben werden, deren
Hersteller), Verteiler (Apotheker und Ärzte), direkte Zahler Risiken im Vergleich zu ihrem Nutzen unvertretbar sind;
(Krankenkassen), Konsumenten und indirekte Zahler (Patien- 4 die Ärzte in die Lage zu versetzen, Gebote der Wirtschaft-
ten), Öffentlichkeit (Presse, Politiker, Wissenschaftler und lichkeit bei ihren Verschreibungen zu berücksichtigen.
Behörden). Die unterschiedlichen Interessen werden deutlich,
wenn es um Nachweis der Wirksamkeit, Bewertung von und In der Bundesrepublik Deutschland gilt seit 1978 das »Gesetz
Information über Nutzen und Risiken, Marktübersicht, Preis- über den Verkehr mit Arzneimitteln«, kurz Arzneimittelgesetz
vergleiche, Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen, Werbung, (AMG), das seitdem mehrfach geändert (novelliert) wurde.
staatliche Aufsicht und Positivlisten geht. Darin sind die Richtlinien der Europäischen Union (EU) be-
In dem Diskussionsgerangel sind der Verbraucher und rücksichtigt, die einen einheitlichen gemeinsamen Markt von
oftmals auch der einzelne Arzt nicht in der Lage, diese Einflüs- Arzneimitteln innerhalb der EU herstellen.
se im Einzelnen zu durchschauen. Ärzte sollten deshalb:
4 die Regeln kennen, nach denen das Geschehen am Arz-
neimittelmarkt abläuft; 1.3 Was sind Arzneimittel?
4 vertraut sein mit den gesetzlichen Rahmen, innerhalb des-
sen der Interessensausgleich der am Arzneimittelmarkt
> In gesetzlicher Definition sind Arzneimittel Stoffe oder
Beteiligten möglich ist;
Zubereitungen aus Stoffen, die vom Hersteller oder
4 fachkundig den Informationswert von Schriften beurteilen
demjenigen, der sie in den Verkehr bringt, dazu be-
können, die sie Interessens geleitet zu einem bestimmten
stimmt sind, zu therapeutischen oder diagnostischen
Verhalten auf dem Arzneimittelmarkt bewegen wollen.
Zwecken am oder im Körper angewendet zu werden.
Die Ärzte sind dringend aufgerufen, gerade in den ersten 1.5.3 Homöopathische Arzneimittel
Jahren nach Zulassung eines neuen Arzneimittels ihre Pati-
enten sorgfältig auf Ereignisse, die unerwünschte Wirkungen Für die homöopathischen Arzneimittel sieht das Arzneimit-
eines Arzneimittels sein könnten, zu beobachten und ihre Er- telgesetz eine Ausnahmeregelung vor. Hersteller solcher Prä-
kenntnisse an die Arzneimittelkommission der Deutschen parate können entweder ihr Präparat unter denselben Bedin-
Ärzteschaft oder direkt an das Bundesinstitut für Arzneimit- gungen wie oben geschildert zur Zulassung anmelden oder
tel und Medizinprodukte bzw. das Paul-Ehrlich-Institut zu es als homöopathisches Arzneimittel registrieren lassen. Im
melden. Nur auf der Basis solcher Berichte können die Wis- ersteren Fall wird eine Indikation nach homöopathischen Ver-
senschaftler des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medi- ständnis formuliert und der Beleg für die Wirksamkeit in die-
zinprodukte in Zusammenarbeit mit den Arzneimittelkom- sem Indikationsgebiet entsprechend historisch tradierten
missionen der Heilberufe die Nutzen-Risiko-Abschätzung Annahmen zur Wirksamkeit, z. B. Erwähnung in einem Buch
insbesondere neuer Arzneimittel aktualisieren. oder tradierter Fallbericht geführt. Im Falle der Registrierung
wird diese ohne Nennung eines Anwendungsgebietes vor-
genommen. Die Anwendung erfolgt dann nach Maßgabe des
1.5.2 Arzneimittel mit bekanntem Wirkstoff anwendenden Arztes.
sowie Arzneimittel der sog.
Besonderen Therapierichtungen und
Kombinationspräparate 1.6 Rücknahme von Arzneimitteln
vom Markt
Für den Beleg der Wirksamkeit und Unbeweglichkeit von
Arzneimitteln mit bekanntem Wirkstoff und der sog. beson- Das Arzneimittelgesetz sieht vor, dass unter bestimmten Be-
deren Therapierichtungen kann an Stelle der pharmakolo- dingungen die Zulassung eines Arzneimittels widerrufen wer-
gisch-toxikologischen und der klinischen Untersuchungen den kann. Das hat zur Folge, dass das Arzneimittel nicht län-
und Gutachten »anderes wissenschaftliches Erkenntnis- ger »verkehrsfähig« ist, d. h. nicht mehr auf den Markt ge-
material«, wozu auch »nach wissenschaftlichen Methoden bracht werden darf. Als weniger schwerwiegende Maßnahmen
aufbereitetes medizinisches Erfahrungsmaterial« zählt, he- können z. B. Einschränkungen der Anwendungsgebiete, er-
rangezogen werden. Diese Besonderheit des deutschen Arz- gänzende Risikoangaben in Form weiterer unerwünschter
neimittelrechts hat zu Schwierigkeiten in der europäischen Wirkungen in der Fach- und Gebrauchsinformation oder Do-
Zusammenarbeit geführt, da keine allgemein anerkannten sierungsbeschränkungen wie beispielsweise »Anwendung
Kriterien darüber, was »anderes wissenschaftliches Erkenntnis- nicht länger als 14 Tage« durch die zuständige Behörde ange-
material« sein kann und wie medizinische Erfahrung in die ordnet werden.
Bewertung der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit einbezo- Diese Maßnahmen werden von der zuständigen Behörde
gen werden kann, gefunden werden konnten. Unter besonde- nach Abstimmung in den zuständigen europäischen Gremien
ren Therapierichtungen versteht der Gesetzgeber/das Arznei- verfügt, wenn neue Erkenntnisse, die nach der Zulassung zum
mittelgesetz Arzneimittel, die in einem speziellen medizi- Markt, gelegentlich auch erst nach jahrelanger Anwendung
nischen Kontext angewandt werden (z. B. die anthroposo- (7 Kap. 1.5.1) bekannt werden, das Nutzen-Risiko-Verhältnis
phischen), und diejenigen, die sowohl in einem besonderen für das Arzneimittel verändern. Die Behörde ist gesetzlich
medizinischen Kontext verwendet werden wie auch durch ein verpflichtet, wenn bislang der Art nach nicht bekannte uner-
besonderes Herstellungsverfahren gekennzeichnet sind (z. B. wünschte Wirkungen auftreten, oder wenn bekannte UAW
die homöopathischen; zur Registrierung s. unten), aber auch offenbar häufiger auftreten, als bisher angenommen wurde,
Arzneimittel, die aufgrund ihres Ausgangsmaterials als Phy- entsprechende Maßnahmen zur Risikominderung im Sinne
topharmaka bezeichnet werden. In den europäischen Partner- des Contergan-Beschlusses (7 Kap. 1.10) bereits bei »begrün-
ländern wird die bloße »gute« Erfahrung mit einem Arznei- detem Verdacht« einzuleiten und nicht abzuwarten, bis ein
mittel als unzureichende Basis für den Wirksamkeitsbeleg solcher Verdacht zweifelsfrei wissenschaftlich belegt ist. Mit
angesehen. anderen Worten: Vom Gesetz wird für den Beleg der Wirk-
Kombinationspräparate haben besondere Voraussetzun- samkeit als Zulassungsvoraussetzung eines Arzneimittels der
gen zu erfüllen. Für eine sinnvolle Kombination sind in einer plausible Nachweis der Wirksamkeit gefordert, wohingegen
Richtlinie der EU folgende Punkte beschrieben: ein Risiko bereits bei ernstzunehmenden Hinweisen als Trig-
4 Jede Komponente der Kombination muss zu der beabsich- ger für Maßnahmen anzusehen ist.
tigten Wirksamkeit beitragen. Diese Asymmetrie wird von Ärzten und Patienten oftmals
4 Die einzelnen Komponenten müssen hinsichtlich Wir- nicht ausreichend verstanden, obwohl sie gerade dem Schutz
kungseintritt, Wirkungsdauer und Dosierungsintervall vor unangemessen hohem Risiko bei der Behandlung dient.
zueinander passen. Im Verständnis von Ärzten und Patienten besteht unausge-
4 Die Komponenten müssen in einem Mengenverhältnis vor- sprochen eine umgekehrte Asymmetrie: nach dieser Vorstel-
liegen, das das Präparat wirksam und unbedenklich macht lung ist der Verdacht, dass ein Mittel wirksam sein könnte
für eine ausreichend große Zahl von Patienten, die der ausreichend als Begründung für die Anwendung, während der
gleichzeitigen Behandlung mit allen Einzelkomponenten unumstößliche Beweis der schädlichen Wirkung gefordert
bedürfen. wird, um einschränkende Maßnahmen als gerechtfertigt zu
1.9 · Besonderheiten des Arzneimittelmarktes
5 1
akzeptieren.. Wegen des sog. publication bias, also der Tatsa- Die Zulassungsvoraussetzungen garantieren nicht ein
che, dass üblicherweise nur Studien mit günstigem Ausgang besseres Nutzen-Risiko-Verhältnis, als es für bereits zugelas-
für ein neues Arzneimittel veröffentlicht werden, werden die sene Arzneimittel existiert, sondern lediglich ein nicht deut-
positiven Wirkungen von Arzneimitteln von Ärzten oft über- lich schlechteres. Es ist daher falsch anzunehmen, dass neu
schätzt. Auf der anderen Seite werden unerwünschte Wir- zugelassene Arzneimittel nachgewiesenermaßen besser seien,
kungen als eine Art »Betriebsunfall« gerne negiert. als bisher auf dem Markt befindliche.
Einschränkende Maßnahmen (z. B. eingeschränkte An-
wendungsgebiete, mehrere Patientengruppen unter Kontrain-
dikation) verringern den Umsatz der betroffenen Arzneimit- 1.9 Besonderheiten
tel. Daher wird häufig die Sichtweise der betroffenen pharma- des Arzneimittelmarktes
zeutischen Unternehmen nicht mit der Sichtweise der Behör-
de übereinstimmen. Wegen der besseren Möglichkeiten, seine Unsere Wirtschaftsordnung basiert auf der Vorstellung eines
Sichtweise durch entsprechende publizistische Aktionen an Marktes, auf dem Preis-, Qualitäts- und Produktwettbewerb
die Öffentlichkeit zu bringen, hat das pharmazeutische Unter- unter mehreren Anbietern herrscht und auf dem Konsu-
nehmen oft Vorteile gegenüber der Behörde. menten ihre Nachfrage bei Preissenkungen verstärken und bei
Preiserhöhungen einschränken können.
> Kenntnisse in klinischer Pharmakologie und Epide-
Beides ist auf dem Arzneimittelmarkt nicht der Fall. Die
miologie können Ärzte zu einem ausgewogenen
Nachfrage nach Arzneimitteln ist nicht preiselastisch. Ein er-
Urteil befähigen, da sie dann zwischen ihrer indivi-
forderliches Arzneimittel kann nicht bei Preiserhöhung abge-
duellen Erfahrung und den Ergebnissen klinisch-
setzt werden, ebenso wenig kann seine Dosis bei einer Preis-
pharmakologisch-epidemiologischer Untersuchun-
senkung erhöht werden; allenfalls kann unter gleichartigen
gen besser unterscheiden und Letztere sinnvoll in
und gleichwertigen Präparaten das billigere ausgewählt bzw.
ihr Handeln integrieren können.
auf ein billigeres umgestiegen werden.
Das große Angebot von Fertigarzneimitteln mit oft ähn-
lichen Wirkstoffen, die verschiedenen Darreichungsformen,
1.7 Verkaufsabgrenzung galenischen Zubereitungen, Wirkstoffmengen, Kombina-
tionen von Wirkstoffen und die oft unsachliche Sprache der
Nach dem Arzneimittelgesetz dürfen Arzneimittel im Einzel- Werbung machen einen Preis- und Qualitätsvergleich für
handel grundsätzlich nur in Apotheken verkauft werden. Aus- Ärzte und Patienten unmöglich. Die große Zahl von Präpa-
nahmen gelten für Arzneimittel, die nicht therapeutischen, raten erhöht weder die Arzneimittelsicherheit, noch verbrei-
sondern ausschließlich diagnostischen Zwecken oder der Vor- tert sie das therapeutische Angebot. Der wesentliche Anreiz
beugung dienen, und für Produkte wie Mineralwässer, Heil- für Forschungsinvestitionen besteht andererseits darin, durch
erden, Tees, Pflanzen und Pflanzenteile, Pflanzensäfte, Pflas- Entdeckung eines neuen Wirkstoffes oder eines neuen Be-
ter oder Desinfektionsmittel. Durch Rechtsverordnung kön- handlungsprinzips vorübergehend ein Monopol zu erhalten
nen diese Ausnahmen unter bestimmten Bedingungen einge- und entsprechende Pioniergewinne zu machen. Zu diesem
schränkt werden, aber auch weitere Gruppen von Arzneimitteln Zwecke werden Ärzte zu der unzutreffenden Annahme ge-
von der Apothekenpflicht freigestellt werden. Verschreibungs- bracht, die Zulassung beruhe darauf, dass ein Vorteil gegen-
pflichtige Arzneimittel dürfen nur in Apotheken abgegeben über bisher im Gebrauch befindlichen Arzneimitteln nachge-
werden. wiesen sei.
Eine weitere Besonderheit des Arzneimittelmarktes ist
dadurch gegeben, dass den anbietenden Produzenten auf der
1.8 Verschreibungspflicht Nachfrageseite kein einheitlicher Partner gegenübersteht. Der
Verbrauch von Arzneimitteln wird, vom Bereich der Selbst-
Die ärztliche Verschreibung hat heute zwei Funktionen, die medikation abgesehen, nach Art und Menge von Ärzten be-
unabhängig voneinander zu beachten sind. Sie dient zum stimmt, während die Arzneimittel von den Patienten konsu-
einen nach dem Arzneimittelgesetz der Risikominderung im miert und von den Krankenkassen bezahlt werden, die durch
Umgang mit Arzneimitteln. Bestimmte Arzneimittel dürfen Abschließen von Verträgen mit Anbietern die Kosten senken
nur auf ärztliche Anweisung abgegeben werden, um durch wollen. Bedauerlicherweise wird hierdurch ein erheblicher
ärztliche Überwachung Gefahren für die Gesundheit zu ver- Wirrwarr beim Patienten erzeugt, der je nach Preislage unter-
ringern. schiedliche Fertigarzneimittel (mit identischen wirksamen
Zum anderen dient die ärztliche Verschreibung der Kos- Bestandteil) erhält.
tenübernahme durch die gesetzlichen Krankenversicherungen Bei Verordnungen zu Lasten der gesetzlichen Kranken-
(7 Kap. 4.4) bzw. der Kostenerstattung durch private Kranken- versicherungen, und dies sind über 90% der ärztlichen Ver-
versicherungen. Die Zulassung eines Arzneimittels ist eine schreibungen, hat der Arzt daher auch auf die Wirtschaftlich-
notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die keit seiner Verschreibung zu achten. Dafür braucht der Arzt
Erstattungsfähigkeit, auch wenn die Industrie häufig damit Informationen, die es ihm ermöglichen Entscheidungen zu
argumentiert, dass die Zulassung auch die Erstattungsfähig- treffen. Der Wunsch nach Positivlisten wird von Ärztinnen
keit mit sich bringe. und Ärzten immer wieder artikuliert, jedoch konnte diesem
6 Kapitel 1 · Arzneimittelrecht und Arzneimittelprüfung
Wunsch wegen erheblicher Kontroversen mit wirtschaftlich Die besondere Verantwortung der Ärzte besteht darin,
interessierten Kreisen bisher nicht entsprochen werden. The- sich über Wirksamkeit und unerwünschte Wirkungen eines
rapieempfehlungen, wie sie von der Arzneimittelkommission Arzneimittels ausreichend zu informieren und in jedem Ein-
der deutschen Ärzteschaft herausgegeben werden, können zelfall den durch ein Arzneimittel erwarteten Nutzen gegen
diese Lücke füllen. das damit verbundene Risiko abzuwägen. Vor allem jedoch
sollten sie auf unerwünschte Wirkungen von Arzneimitteln
achten und über diese auf den dafür veröffentlichten Form-
1.10 Besondere Verantwortung g blättern an die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzte-
von Herstellern und Ärzten schaft oder direkt an das Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte berichten. Letzteres sammelt diese Berichte
Der allgemeine Konflikt zwischen Gewinnmaximierung als und wertet sie zusammen mit den Arzneimittelkommissionen
dem Primum movens unserer Wirtschaftsordnung und dem der anderen Heilberufe (Zahnärzte, Tierärzte, Heilpraktiker,
Anspruch auf optimale Gesundheitsversorgung mit Arznei- Apotheker) und mit den betroffenen Herstellerfirmen aus.
mitteln ist im Prinzip nicht lösbar. Daher muss es einen ge- Nur wenn die Ärzteschaft hierbei mitarbeitet, können uner-
setzlichen Rahmen geben, in dem eine unabhängige Instanz wünschte Wirkungen erfasst und Risiken bewertet werden,
damit beauftragt ist, im Interesse der Verbraucher deren An- und nur dann können evtl. erforderliche Konsequenzen gezo-
spruch auf Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von gen werden. Die Mitarbeit der Ärzteschaft ist nicht nur bei
Arzneimitteln durchzusetzen und die Einhaltung der dafür neuen Arzneimitteln wichtig, sondern auch bei bereits einge-
anerkannten Normen und Richtlinien auf Seiten der Herstel- führten Präparaten, da wir genug Beispiele kennen, bei denen
ler zu überwachen. erst nach Jahren oder Jahrzehnten der Anwendungen schwer-
Es ist unbestritten, dass zahlreiche verantwortungsbe- wiegende Schäden bekannt wurden, die zu einer Neubewer-
wusste Hersteller sich auch ohne staatlichen Zwang freiwillig tung des Arzneimittels zwangen.
schärfere Qualitätsmaßstäbe auferlegt haben als das Gesetz sie
von allen Herstellern verlangt. Ein einziger Außenseiter kann
jedoch soviel Unheil anrichten, dass eine freiwillige Selbst- 1.11 Information für Fachkreise,
beschränkung der Industrie nicht ausreicht, sondern der Staat Gebrauchsinformation
verpflichtet ist, ordnend und überwachend und ggf. durch
Maßstäbe und Richtlinien helfend in diesen Konflikt als An- Die pharmazeutische Industrie versteht ihre Werbung als In-
walt der Verbraucher einzugreifen. formation und Dienstleistung. Um so weniger sind weder die
häufig aufdringliche und irreführende Laienwerbung gerecht-
> Arzneimittelrecht und Arzneimittelmarkt
fertigt, noch die vielen Aussendungen und Werbegeschenke
Die Arzneimittelproduktion ist im Verlauf der letz-
an Ärzte, die oft reich bebilderte sowie emotional aufgemach-
ten Jahrzehnte zu einem wichtigen wirtschaftlichen
te Erinnerungswerbung in ärztlichen Fachzeitschriften, die
Faktor geworden. Gewinnerwartungen der Arznei-
Buffets und Empfänge auf Fortbildungstagungen oder die
mittelproduzenten stehen mit Anforderungen an
Symposien an fernen Sonnenstränden, die einzelne Produkte
den Beleg von Wirksamkeit und Sicherheit im Kon-
der besonderen Aufmerksamkeit der ärztlichen Meinungs-
flikt. Alle in Europa neu auf den Markt gelangten
bildner empfehlen sollen. Viele Zeitungen und Zeitschriften
Arzneimittel haben ein europäisches Zulassungsver-
für Ärzte werden ausschließlich aus Anzeigen finanziert. Die
fahren durchlaufen. Den verschreibenden Ärzten
Kosten der Veranstaltungen und Druckerzeugnisse bringen
kommt eine hohe Verantwortung zu, der sie nur mit
allemal die Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen über
einem soliden klinisch-pharmakologischen Kennt-
den Preis auf.
nisstand und durch eine kontinuierliche Unterrich-
Zwar gibt es ein Heilmittelwerbegesetz, doch werden des-
tung mit Hilfe unabhängiger, nicht interessensgelei-
sen ohnehin weiche Bestimmungen in der Praxis nicht ausrei-
teter Information gerecht werden können.
chend durchgesetzt und Verstöße zu wenig verfolgt. Anderer-
Im Einstellungsbeschluss des »Contergan-Prozesses« hat das seits gibt es wenig werbungsneutrale Information für den Arzt
Landgericht Aachen 1970 erstmals festgestellt, dass der Arz- (7 Kap. 4.4). Die Güte eines Arzneimittels wird jedoch in der
neimittelhersteller eine Offenbarungspflicht besitzt, wenn Praxis nicht nur von pharmazeutischen Kenndaten, sondern
ihm schädigende Wirkungen seines Präparates bekannt wer- gerade auch von der Qualität der Information bestimmt. Ver-
den. Der Arzneimittelhersteller hat nicht erst dann Schutz- fälschung der Information oder Unvollständigkeit sind keine
maßnahmen zu ergreifen, wenn der gegen sein Präparat er- Kavaliersdelikte, sondern müssen genauso beurteilt werden
hobene Verdacht wissenschaftlich begründet ist. Dies würde wie Verfälschungen der pharmazeutischen Qualität.
die Interessen der Hersteller unangemessen bevorzugen und Folgerichtig verlangt daher das Arzneimittelgesetz für je-
die Risiken ausschließlich den Verbrauchern aufbürden. Nach des neu zugelassene Fertigarzneimittel neben der Gebrauchs-
dem Arzneimittelgesetz ist der Hersteller zu regelmäßigen Be- information in Form der Packungsbeilage, die sich an
richten über ihm bekannt werdende unerwünschte Wir- die Patienten richtet, auch ein Informationsblatt für Fach-
kungen und zur unverzüglichen Meldung von schweren Zwi- kreise. Diese Fachinformation, die sich an Ärzte und Apo-
schenfällen an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medi- theker richtet und deren Inhalt im Gesetz vorgeschrieben ist,
zinprodukte bzw. Paul-Ehrlich-Institut verpflichtet. soll in wissenschaftlicher Sprache die für den richtigen Ein-
1.13 · Voraussetzungen für die Prüfung von Arzneimitteln am Menschen
7 1
satz des Arzneimittels notwendigen Angaben. Da der Inhalt dung zuzulassen, die vorher nicht ausreichend untersucht
bei Zulassung durch die Behörde überprüft wird, ist hiermit sind. Darum steht auch derjenige unter dem Zwang ethischer
eine objektive Informationsquelle gegeben. Bedauerlich ist, Rechtfertigung, der etwa verlangt, klinische Prüfungen zu un-
dass bislang die Ergebnisse der klinischen Prüfungen, die terlassen.
bei Zulassung vorgelegt wurden, nur unzureichend darge-
stellt werden können. Diese Darstellung würde eine objek-
tive Darstellung des Ausmaßes an Wirkungen und der auf 1.13 Voraussetzungen für die Prüfung
die Wirksamkeit bezogenen Veränderungen von Parametern von Arzneimitteln am Menschen
erlauben. Neuerdings besteht die Möglichkeit, sich aus dem
Internet den europäischen Bewertungsbericht für ein neu 1.13.1 Rechtliche Problematik
zugelassenes Arzneimittel (EPAR) über die Homepage der
EMEA, zu besorgen. Dies ist eine Möglichkeit, sich über neu Bei der klinischen Prüfung von Arzneimitteln ist zwischen
zugelassene Arzneimittel aus unabhängiger Quelle zu infor- dem Anspruch der Patienten auf bestmögliche, individuelle
mieren. ärztliche Behandlung und der Notwendigkeit, im Interesse der
Weiterentwicklung der therapeutischen Möglichkeiten Erpro-
bungen am Menschen vorzunehmen, abzuwägen. Diese Er-
1.12 Begründung für die Arzneimittel- probungen sollen die individuelle ärztliche Behandlung künf-f
prüfung am Menschen tiger Patienten verbessern helfen, doch steht der Arzt in dem
Konflikt, seinem heutigen Patienten verpflichtet zu sein und
Therapie auf rationaler Basis setzt voraus, dass der Arzt die nicht einem abstrakten Fortschritt.
Chance kennt, mit der nach Gabe eines Arzneimittels seine Das Arzneimittelgesetz enthält Aussagen über die kli-
gewünschten wie aber auch unerwünschten Wirkungen beob- nische Prüfung, ihre grundsätzliche Zulässigkeit, die Bedin-
achtet werden. In der klinischen Prüfung werden die Daten gungen, die daran zu knüpfen sind, und die Rechte der Pro-
erarbeitet, auf denen basierend diese Wahrscheinlichkeitsaus- banden/Patienten (§§ 40 bis 42 AMG). Sie entsprechen den
sage gemacht werden kann. Grundsätzen, die der Weltärztebund 1964 in Helsinki erstmals
Klinische Untersuchungen am Menschen müssen ethisch formuliert und danach mehrfach überarbeitet hat. Die kli-
gerechtfertigt sein. Die Schwelle dafür ist hoch. Andererseits nische Prüfung muss von der zuständigen Bundesbehörde
wäre es unvertretbar, Arzneimittel zur allgemeinen Anwen- genehmigt werden.
1.13.2 Ethische Problematik ihre Entscheidung zur Teilnahme an der Prüfung haben
kann.
Eine Untersuchung am Menschen ist dann und nur dann ge- Ein fast noch heikleres Problem ist die Bezahlung des kli-
rechtfertigt, wenn der Entwicklung des zu prüfenden Arznei- nischen Prüfers. Einerseits rechtfertigt der mit der Unter-
mittels eine sinnvolle Fragestellung zugrunde liegt, wenn die suchung verbundene zusätzliche Arbeitsaufwand eine Hono-
pharmakologisch-toxikologischen Daten eine Abschätzung rierung, andererseits ist nicht auszuschließen, dass eine solche
des Risikos möglich machen und wenn ein medizinisches Be- Honorierung die Bereitschaft und die Einstellung des Unter-
dürfnis für das neue Arzneimittel besteht. Ethikkommissionen suchers zur Prüfung und die Bewertung der Ergebnisse der
geben ein Votum über die Vertretbarkeit der vorgesehenen klinischen Prüfung beeinflussen kann. Hier wird die Auffas-
klinischen Prüfung ab. Die ärztlichen Berufsordnungen ver- sung vertreten, dass sich die Honorierung an der ärztlichen
pflichten approbierte Ärzte unter Androhung berufsrecht- Gebührenordnung orientieren solle.
licher Sanktionen, vor Beginn einer klinischen Prüfung eine
Ethikkommission einzuschalten.
Für einige Gruppen der Bevölkerung gelten zusätzliche 1.13.3 Methodische Probleme
Bedingungen für den Einschluss in eine klinische Prüfung:
Die klinische Prüfung und die Erfassung und Bewertung un-
Klinische Prüfung – Risikogruppen erwünschter Wirkungen von Arzneimitteln sind vordring-
liche wissenschaftliche Aufgaben der Klinischen Pharmako-
4 Schwangere sollen grundsätzlich von klinischen Prü-
logie.
fungen ausgeschlossen werden, es sei denn, das in
Der kontrollierte klinische Versuch ist ein besonders
Frage stehende Arzneimittel soll gerade während der
stringentes Verfahren, um die Wirksamkeit eines Arznei-
Schwangerschaft angewendet werden und ist anders
mittels zu ermitteln. Er hat den Vorteil, dass er methodisch am
nicht zu prüfen.
besten entwickelt ist und mit ihm die meiste Erfahrung vor-
4 Prüfungen an Kindern sind nur dann zulässig, wenn
liegt, wie aus seinen Ergebnissen Wirkungen und Nebenwir-
das Arzneimittel bei Kindern angewendet werden
kungen bewertet werden können. Das Prinzip des kontrollier-
soll und eine Prüfung an Erwachsenen nicht möglich
ten klinischen Versuchs (7 Kap. 1.14.2) besteht darin, den
ist, z. B. weil das Arzneimittel bei einer Krankheit hilf-
Krankheitsverlauf bei Gruppen von Patienten zu vergleichen,
reich sein kann, die nur im Kindesalter auftritt.
die sich nur in der einen Variablen unterscheiden sollen, näm-
4 Alte Menschen reagieren auf viele Arzneimittel quan-
lich darin, ob sie das zu untersuchende Arzneimittel bekom-
titativ und gelegentlich auch qualitativ anders als
men haben oder nicht, wobei die Zuteilung des einzelnen
Menschen in jungen und mittleren Lebensjahren
Patienten zu der Behandlungsgruppe oder zu der Kontroll-
(7 Kap. 34). Arzneimittel, die vorwiegend für Krank-
gruppe entsprechend einer vorher aufgestellten Zufallsvertei-
heiten des höheren Lebensalters entwickelt werden,
lung erfolgt. Der Vergleich mit einer zeitgleich beobachteten
sollten dann in Phase III (7 Kap. 3.4.5) auch an Men-
Kontrollgruppe – daher der Terminus kontrollierter klinischer
schen im entsprechenden Alter geprüft werden.
Versuch –, deren Mitglieder in allen Variablen ihrer Krankheit
4 Der Einschluss von geistig behinderten Patienten in
und ihres physischen, psychischen und sozialen Status mit
die klinische Prüfung verlangt eine Abweichung von
den Patienten der behandelten Gruppe möglichst überein-
dem Grundsatz der »Einwilligung nach Aufklärung«.
stimmen sollen, erleichtert die Interpretation möglicher zwi-
Daher wird über die nach dem Gesetz vorgeschrie-
schen der Behandlungs- sowie der Kontrollgruppe beobach-
bene Einwilligung des gesetzlichen Vertreters hinaus
teter Unterschiede als behandlungsbedingt.
eine Ethikkommission besonders sorgfältig prüfen,
Ein Dilemma der Bewertung von Arzneimitteln liegt da-
ob eine klinische Prüfung an geistig Kranken oder Be-
rin, dass bei der Behandlung einer Vielzahl von Erkrankungen
hinderten erforderlich und im Interesse der Patienten
Arzneimittel in einer lang dauernden, wenn nicht lebens-
vertretbar ist.
langen Behandlung eingesetzt werden; Arzneimittel sind aber
4 Studenten und Firmenangehörige. Es sollte in jedem
üblicherweise in der klinischen Prüfung nur über eine relativ
Fall ausgeschlossen werden, dass Abhängigkeitsver-
kurze Zeitspanne –über einige Monate und für wenige Patien-
hältnisse vorliegen, die die Freiheit der Entscheidung
ten über ein Jahr – eingesetzt worden. Das heißt, dass in diesen
einschränken oder beeinflussen. Ethikkommissionen
Fällen bestimmte pharmakologische Wirkungen, die inner-
können dazu beitragen, dass an diesen leichter zu be-
halb der kurzen Beobachtungsperiode auftreten, anstelle der
einflussenden Personen keine unverantwortlichen
nur langfristig zu beurteilenden Wirksamkeit als Zielgrößen
Untersuchungen vorgenommen werden.
definiert werden. Die Zielgrößen dienen als sog. Surrogate der
eigentlichen klinischen Wirksamkeit (»Surrogatparameter«,
Ähnliche Überlegungen tauchen bei der Frage nach der Be- »Ersatzparameter«). Die Kenntnislücke besteht darin, dass wir
zahlung der Probanden/Patienten (7 Kap. 1.14.1) auf. Natür- bei vielen Krankheiten nicht ausreichend wissen, wie gut die
lich sollten entstehende Kosten ersetzt werden; doch sollte Ersatzparameter tatsächlich das weitere Krankheitsgeschehen,
nach herrschender Auffassung kein Honorar in Aussicht ge- Lebensdauer und Lebensqualität der Patienten beurteilen las-
stellt werden, das unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen sen. Welche Bedeutung hat u. a. die fibrinolytische Wiederer-
Situation der Probanden/Patienten erheblichen Einfluss auf öffnung einer Koronararterie, die Steigerung der systolischen
1.14 · Die Phasen der klinischen Prüfung
9 1
Auswurfgeschwindigkeit, die medikamentöse Senkung eines zung für die Prüfung am Menschen. Der therapeutische Nut-
leicht erhöhten diastolischen Blutdrucks, die Senkung des Se- zen eines Arzneimittels und das mit ihm verbundene Risiko
rumcholesterins langfristig tatsächlich? Wir wissen die Zu- können jedoch nur nach Anwendung am Menschen abge-
sammenhänge für einige, aber nicht für alle Arzneimittel. Die schätzt werden.
Wirksamkeit eines Arzneimittels und seines therapeutischen Um eine Prüfung verantwortungsvoll planen zu können,
Nutzens im Hinblick auf Lebensdauer und -qualität der Pati- muss der verantwortliche klinische Prüfer über die Ergebnisse
enten zu kennen, wird zunehmend auch unter dem Gesichts- der vorangegangenen pharmakologisch-toxikologischen Un-
punkt der Kostenerstattung wichtig. tersuchungen unterrichtet sein.
An die Erforschung des menschlichen Genoms werden
große Erwartungen geknüpft, z. B. die durch bessere Kenntnis
heute noch nicht oder nicht gezielt therapierbaren Krank- 1.14 Die Phasen der klinischen Prüfung
heiten erfolgreich behandeln zu können. Insbesondere durch
eine »Individualisierung« der Therapie – so die Erwartung – 1.14.1 Erstmalige Anwendung eines neuen
sei es durch entsprechende Auswahl eines Medikaments aus Arzneimittels am Menschen
einer Palette von Medikamenten oder durch individuell ange-
passte Dosierung, erhofft man sich eine erfolgreichere, mit Die Phase I der klinischen Prüfung (Erstanwendung am Men-
geringeren Nebenwirkungen behaftete Therapie. schen) wird i. A. an gesunden Probanden durchgeführt. Es
gibt aber Ausnahmen, die es erforderlich machen, schon diese
Versuche an Patienten durchzuführen, z. B. wenn die Unter-
1.13.4 Tierversuche suchung an gesunden Versuchspersonen mit für die Proban-
den nicht zu vertretenden Risiken verbunden ist (z. B. bei
Tier- und andere Laborversuche schaffen Voraussetzungen Zytostatika). Auch in Fällen, in denen pharmakodynamische
für eine klinische Prüfung. Die Ergebnisse von Laboruntersu- Wirkungen an Probanden aufgrund des vorgesehenen An-
chungen sollten eine therapeutische Nutzungsmöglichkeit der wendungsgebietes nicht zu erwarten sind, sind humanphar-
pharmakodynamischen Wirkung der Substanz mindestens makologische Untersuchungen angezeigt, da sie Aussagen
soweit erkennen lassen, dass es gerechtfertigt erscheint, das über die Verträglichkeit und Pharmakokinetik erlauben (z. B.
Arzneimittel überhaupt am Menschen zu testen. Das Risiko Antihypertensiva, Antibiotika).
muss, soweit es aus den Tierversuchen auf Grund der Pharma- Die human-pharmakologischen Untersuchungen sollen
kodynamik, der Pharmakokinetik und der Toxizität abschätz- vor allem Anhaltspunkte liefern über die
bar ist, dem ins Auge gefassten Anwendungszweck des Arz- 4 Verträglichkeit: Treten unerwünschte Wirkungen, vor
neimittels angemessen sein. Die Möglichkeit toxischer Wir- allem unerwartete auf? In welchem Verhältnis stehen sie
kungen kann bei der Behandlung einer schweren Krankheit zur erwarteten erwünschten Wirkung, sind sie im Hin-
eher in Kauf genommen werden als bei Arzneimitteln, die zur blick auf das vorgesehene Anwendungsgebiet vertretbar?
Behandlung einer verhältnismäßig leichten Erkrankung vor- Ist eine Fortsetzung der klinischen Prüfung unter Risiko-
gesehen sind, oder einer Erkrankung, für die bereits andere, gesichtspunkten gerechtfertigt?
mehr Sicherheit bietende Arzneimittel verfügbar sind. Um- 4 Wirkungen: Werden die erwünschten pharmakodyna-
fang und Dauer der Toxizitätsversuche, die vor Beginn der mischen Effekte auch beim Menschen beobachtet? Recht-
klinischen Prüfung durchgeführt sein müssen, hängen von fertigen sie die Fortsetzung der klinischen Prüfung? Wer-
Art und Dauer der vorgesehenen Anwendung am Menschen den pharmakodynamische Effekte beobachtet, die eine
ab. So kann für eine einmalige Gabe am Menschen ein Toxizi- Änderung des vorgesehenen Anwendungsgebietes erfor-
tätsversuch über wenige Tage ausreichen, während eine länge- derlich machen?
re Anwendungsdauer Tierversuche über mehrere Monate 4 Pharmakokinetik: Wird der Wirkstoff resorbiert? Welche
voraussetzt. Gelegentlich kann es aufgrund der ersten Ergeb- Plasmakonzentrationen werden für welchen Zeitraum er-
nisse am Menschen erforderlich werden, das weitere klinische reicht? Wie wird der Wirkstoff beim Menschen inakti-
Programm aufzuschieben oder zu unterbrechen, um neue viert, metabolisiert, ausgeschieden? Mit welcher Ge-
Tierversuche durchzuführen. schwindigkeit erfolgt die Ausscheidung (Kumulation nach
Die Übertragbarkeit jedes Einzelergebnisses aus Tierver- Mehrfachgabe?, altersabhängig?)? Treten unbekannte Me-
suchen auf den Menschen wird oft zum Kriterium für Wert taboliten auf, die ein Risiko darstellen können?
und Unwert des Tierexperiments überhaupt erhoben, doch 4 Dosierung: Welche Dosen, ggf. welche Dosierungsinter-
geht eine solche Forderung am Kern des Problems vorbei. In valle sind für die weiteren klinischen Prüfungen zu emp-
vielen Fällen werden biologische »Gesetzmäßigkeiten«, wenn fehlen? Toleranz bei wiederholter Gabe?
sie einmal bei einer Spezies entdeckt wurden, bei anderen Spe-
zies wieder gefunden. Die Rolle des Tierexperiments wird Falls die Ergebnisse dieser 1. Phase die weitere Prüfung des
missverstanden, wenn es als Instrument zur Vorhersage von Arzneimittels rechtfertigen, kann die nächste Phase der Un-
Reaktionen des menschlichen Organismus aufgefasst wird, tersuchung am Menschen begonnen werden.
das von der Notwendigkeit der unmittelbaren Beobachtung
am Menschen entbindet. Im Gegenteil, der Tierversuch liefert
durch die von ihm abgeleiteten Hypothesen die Vorausset-
10 Kapitel 1 · Arzneimittelrecht und Arzneimittelprüfung
2 Komplementär-
und Alternativmethoden
K. Brune, U. Gundert-Remy, B. Lemmer
2.1 Homöopathie/Bachblütentherapie – 14
2.2 Phytotherapeutika/Pflanzenextrakte – 16
2.2.1 Historie – 16
2.3 Wirksamkeit – 16
2.4 Risiken – 16
2.5 Akupunktur – 17
2.6 Manualtherapie/Chiropraxis – 18
14 Kapitel 2 · Komplementär- und Alternativmethoden
Die Anwendung von Komplementär- und Alternativmetho- herzustellen. Das in der Homöopathie übliche Potenzierungs-
den, wie Homöopathie, anthroposophische Arzneimittel, verfahren erwies sich dazu als ungeeignet.« (Krämer)
Bachblütentherapie, und andere besondere Heilweisen entzie-
hen sich der wissenschaftlichen Bewertung. Auf sie sind die Es ist nicht das Ziel dieses Kapitels, eine gründliche Analyse
üblichen Kriterien der wissenschaftlichen Beweisführung für aller in der deutschen Öffentlichkeit hoch bewerteten Alter-
evidenzbasierte Empfehlungen nicht anwendbar, oder die An- nativ- und Komplementärmethoden durchzuführen, obwohl
wendung der nötigen Methode wird von den Vertretern dieser – wie eine neue Umfrage zeigt – mehr als 50% der Deutschen
Therapieformen wegen eines besonderen Ansatzes ihrer »Me- diese Methoden anwenden und ihnen sogar oft den Vorzug
dizin« explizit abgelehnt. So hat Samuel Hahnemann, der Be- geben gegenüber der »evidenzbasierten« Schulmedizin (Här-
gründer der Homöopathie, die individualisierte Therapie als tel et al. 2004). Wir wollen uns in diesem Artikel darauf be-
die einzig Richtige definiert und die Bildung von Gruppen, die schränken, sehr knapp drei Komplementär- und Alternativ-
nach gleichen Kriterien behandelt und mit Kontrollgruppen methoden anzusprechen:
verglichen werden, inhaltlich ausgeschlossen (jeder Patient ist 4 Homöopathie/Bachblütentherapie
anders!). Ähnliches gilt für die jüngere, aber in wesentlichen 4 Phytotherapeutika/Pflanzenextrakte
Teilen mit der Homöopathie verwandte Bachblütentherapie. 4 Akupunktur/Manualtherapie
Die Phytopharmakologie akzeptiert grundsätzlich die Re-
geln des wissenschaftlichen Beweises. Die Anhänger dieser
Therapierichtung postulieren, dass der Gesamtgehalt an Wirk- 2.1 Homöopathie/Bachblütentherapie
stoffen von Heilpflanzen beim therapeutischen Einsatz beim
Menschen eine synergistische, therapeutische Wirkung entfal- Die Homöopathie (homoios »gleich, gleichartig, ähnlich«
tet, die weit über das hinausgeht, was isolierte Einzelwirkstoffe pathein »leiden«) ist eine kontrovers diskutierte alternative
einer Heilpflanze erzielen können. Mit anderen Worten: Der Heilmethode, deren Prinzipien von Samual Hahnemann um
Gesamtextrakt von Digitalis purpurea soll wirksamer und/ 1800 formuliert wurden. Die Homöopathie behandelt Krank-
oder verträglicher als Digitoxin sein. Für dieses Konzept ist der heiten nach dem Grundsatz similia similibus curentur (lat.
wissenschaftliche Nachweis schwer zu erbringen, zumal die »Ähnliches werde durch Ähnliches geheilt«). Zu diesem
Standardisierung der pflanzlichen Extrakte meist über einen Zweck werden Substanzen, von denen bekannt ist oder an-
einzelnen Inhaltsstoff (»Leitsubstanz«) erfolgt. Dabei wird der genommen wird, sie könnten bei gesunden Menschen der
Gehalt anderer möglicher Wirk- oder Schutzstoffe nicht er- Krankheit ähnelnde Symptome hervorrufen, in starker Ver-
fasst. Der Gehalt ist daher von der Art der Herstellung des dünnung verabreicht. Das Verfahren zur Verdünnung wird
Extrakts abhängig und kann von Extrakt zu Extrakt unter- von Homöopathen »Potenzieren« genannt, weil sie glauben,
schiedlich sein. Daher ist die Übertragung der Ergebnisse einer dass durch eine schrittweise Verdünnung nach festen Regeln
Therapiestudie (durchgeführt mit einem bestimmten Extrakt) (Schütteln, Verreiben) Energie zugeführt wird, die die Wir-
auf einen anders hergestellten Extrakt nicht möglich. Trotzdem kung der Substanz verstärkt.
sind auch Phytopharmaka keineswegs nebenwirkungsfrei. So Eine Grundüberlegung der homöopathischen Medizin
kommt es nach Einnahme von Gingko-Extrakten z. B. immer ist, dass Krankheit eine Gesamtheit von Krankheitszeichen
wieder zu Störungen der Blutgerinnung (Bent et al. 2005). und Symptomen darstellt und mit einer »Verstimmung der
Mit Interesse kann man verfolgen, dass auch innerhalb der Lebenskraft« gleichgesetzt wird. Gemäß Hahnemanns Haupt-
Befürworter und Begründer von Alternativ- und Komple- werk »Organon« sind sowohl Krankheiten als auch deren Be-
mentärmethoden erhebliche Zweifel an der jeweils anderen handlungen als »Affectionen« der Lebenskraft zu verstehen.
Heil(s)methode herrschen. Sie schlagen sich z. B. in der ge- Eine »Affection« kann nur durch eine andere, auf einem an-
genseitigen Methodenkritik nieder. So kann man über das deren Mechanismus beruhende, aber in ihrem Ergebnis ähn-
Leben von Dr. Eduard Bach, einem ehemaligen Immunologen liche »Affection« dauerhaft ausgelöscht werden. Daher sei ein
und Mikrobiologen, Folgendes lesen: Krankheitszustand durch eine Arznei zu heilen, die bei Ge-
sunden einen ähnlichen Krankheitszustand mit einem ähn-
»Trotz immenser Heilerfolge war Bach […] mit seiner Arbeit lichen Symptombild hervorruft. Nach Hahnemann geschieht
unzufrieden. Zum einen wollte er nicht auf Dauer mit […] als die Heilung einzig durch die Umstimmung der Lebenskraft:
homöopathische Arznei aufbereiteten Darmbakterien arbei- Dadurch werde die Gesamtheit der Symptome aufgehoben.
ten und suchte nach pflanzlichen Alternativen; zum anderen Diese Umstimmung der Lebenskraft sei – so glaubt man –
sah er Krankheit als Folge einer Disharmonie zwischen Körper durch kleine, geschüttelte oder verriebene (»dynamisierte«)
und Seele des Menschen an und forschte nach Möglichkeiten Gaben von Substanzen zu erreichen.
für eine Behandlung der eigentlichen Ursachen im Gemüts- Die Homöopathie stützt sich auf drei therapeutische Prin-
bereich. Um sich ganz der Forschung widmen zu können, gab zipien:
er schließlich seine […] Praxis […] auf und zog aufs Land. 4 das Simile- oder Ähnlichkeitsprinzip (similia similibus
Aufgrund seiner ausgeprägten Sensitivität fand er […] 38 curentur, s. oben), nach dem ein Patient mit einem Mittel
Pflanzen, die in ihren Schwingungen 38 archetypischen See- behandelt wird, das bei einem Gesunden ähnliche Symp-
lenzuständen des Menschen entsprechen. Gleichzeitig ent- tome hervorruft, wie sie der kranke Patient zeigt;
wickelte er eine völlig neue Methode, um daraus Heilmittel 4 die Arzneimittelprüfung hat am Gesunden zu erfolgen,
6 nicht am Patienten;
2.1 · Homöopathie/Bachblütentherapie
15 2
4 individualisierte Symptomerfassung und Therapiepla- 4 Q oder LM (Quinquagintamillesimal): Verdünnung:
nung. Eine Gruppenbildung (z. B. Pneumonien) ist aus- 1:50.000
geschlossen.
Schon bei C3 ist nur noch ein Millionstel der Ausgangssubs-
Zur Therapie werden »potenzierte« Arzneimittel verwendet. tanz enthalten. Jenseits der statistischen Nachweisgrenze (Ge-
Die Arzneimittel werden durch stufenweise durchgeführtes setz von Avogadro), also ca. ab C12, ist kein Wirkstoff mehr
Potenzieren aus Urtinkturen (pflanzlichen und tierischen Ur- in den Arzneien enthalten. Hahnemann bezeichnete so her-
sprungs (Symbol: Ø) oder mineralischen und chemischen gestellte Arzneien deshalb auch als »geistartig« oder »dyna-
Ursprungs (Symbol O)) und aus indifferenten Verdünnungs- misch«, die Potenzierung wurde auch »Dynamisation«
mitteln wie Alkohol, destilliertem Wasser, Glycerin und genannt. Die »Wirkung« wird damit von der zugeführten
Milchzucker hergestellt. Mit der Potenzierung erfolgt die »Energie« getragen. Da ultrahohe Verdünnungen besonders
»Übertragung« der »Energie« auf das Lösungsmittel. Zur Ver- hohe Energiezufuhr erhalten haben, gelten sie bei manchen
dünnung (Potenzierung) sind nur entsprechend ausgebildete Homöopathen als »gefährlich«.
Ärzte und Apotheker berechtigt. Bis heute konnte in keiner den wissenschaftlichen Anfor-
Homöopathische Arzneimittel werden flüssig (Dilution) derungen genügenden Studie eine über den Placeboeffekt
oder fest als Globuli, in tiefen Potenzen auch in Form von hinausgehende Wirksamkeit homöopathischer Arzneimittel
Tabletten angewendet. nachgewiesen werden. In . Tab. 2.1 sind Metaanalysen und
Es gibt in der klassischen Homöopathie drei verschiedene Übersichten zum Vergleich homöopathischer Medizin mit
Verfahren zur Potenzierung mit je unterschiedlichen Verdün- entsprechenden Kontrollstudien aufgeführt. Erfolge der Ho-
nungsschritten: möopathie, die einigen Studien nachgesagt werden, können
4 D (Dezimal)-Potenzen: Verdünnung: 1:10 nach strengen wissenschaftlichen Kriterien mit methodischen
4 C (Centesimal)-Potenzen: Verdünnung: 1:100 Mängeln bzw. verzerrenden Einflüssen im Studiendesign er-
Homöopathisches Influenza, Influenza- Review: 7 placebo- Die Ergebnisse sind nicht Vickers u. Smith (2004)
Oscillococcinum ähnliche Syndrome kontrollierte Studien, ausreichend, eine über- Cochrane Database
(Extrakt aus Enten- 3 Präventionsstudien zeugende Therapieemp- Syst Rev
leber und -herz) (n=2265), 4 Behand- fehlung abzugeben. Ein
lungsstudien (n=1194) präventiver Effekt ist nicht
nachgewiesen
Homöopathische Asthma bronchiale Review: 6 randomisierte Kein überzeugender McCarney et al. (2004)
Medizin Studien bei 556 Patienten Hinweis einer positiven Cochrane Database
(Beobachtungszeitraum Wirkung Syst Rev
mindestens 1 Woche)
Homöopathische Demenz Review: randomisierte Es wurde keine Studie McCartney et al. (2003)
Medizin kontrollierte Studien mit gefunden, die den Ein- Cochrane Database
mindestens 20 Patienten schlusskriterien entsprach, Syst Rev
daher ist eine Stellung-
nahme nicht möglich
Homöopathische Geburtseinleitung Review: nur 2 randomi- Keine überzeugenden Smith (2003) Cochrane
Medizin sierte, placebokontrol- Daten, Homöopathie zur Database Syst Rev
lierte Studien wurden Geburtseinleitung zu
gefunden (n=133 Frauen) verwenden
Homöopatische Atemwegsinfekte, Review: Metaanalyse, Die größeren Studien von Shang et al. (2005)
Medizin Pollinosis und Asthma, 110 placebokontrollierte hoher Qualität zeigten für The Lancet 366: 726
Operationen und Anäs- homöopathisch, homöopathische Medizin
thetika, neurologische 110 gematchte, konven- keine von Placebo unter-
und gastrointestinale tionelle Studien. Nur 21 schiedene Wirksamkeit,
Störungen, Muskel- homöopathische und kleinere und schlechtere
beschwerden 9 konventionelle Studien Studien zeigten geringe
waren von hoher Qualität Effekte. Folgerung: Klini-
sche Wirkungen von
homöopathischer Medizin
sind Placebo-Effekte
16 Kapitel 2 · Komplementär- und Alternativmethoden
klärt werde. Dies zeigt auch eine jüngste Metaanalyse im 2.3 Wirksamkeit
Lancet (Shang et al. 2005; . Tab. 2.1). Der fehlende Beleg der
Wirksamkeit wird häufig mit der Forderung nach weiteren In den Ausschüssen der EMEA vorgesehenen Indikationsfor-
(besseren) Studien verknüpft. Da Wirkungslosigkeit grund- mulierung werden die beiden Einteilungen auch für den Laien
sätzlich nicht beweisbar ist, erhebt sich die Frage, ob weitere erkennbar unterschieden: Die ohne Wirksamkeitsbeleg im
Forschungsgelder in diese offensichtlich immer frustanen Be- Markt zugelassenen Arzneimittel sollen mit der Formel:
mühungen fließen sollen. Jüngste Metaanalysen bestätigen die »Pflanzliches Arzneimittel, traditionell angewendet bei…«
skeptische Einstellung zu Methoden der komplementären und zugelassen werden. Aus der Formulierung der zweiten Klasse:
alternativen Medizinmethoden (Akupunktur, Homöopathie »Pflanzliches Arzneimittel«, gefolgt von der Formel »für die
u. a.) bei rheumatoider Arthritis, Osteoarthritis, verschie- Behandlung von ...«, »für die symptomatische Behandlung
denen Schmerzen. Die Akupunktur soll eine geringe Wirkung von ...« oder » für die Vorbeugung von ...«, geht jedoch nicht
bei chronischem Kopfschmerz und Arthritis haben. Tai-chi, hervor, auf welcher Evidenz die Zulassung beruht.
Akupunktur, Akupressur, Yoga und Meditation sollen bei Beispiele für die unterschiedliche Evidenz für die Wirk-
wenigen Patienten die Schlafqualität verbessern, die Daten- samkeit von gebräuchlichen Phytopharmaka sollen hier
lage ist jedoch mager (vgl. Weiterführende Literatur und exemplarisch abgehandelt werden . Tab. 2.2):
Website) 4 Mariendistel (Silymarin)-haltige Arzneimittel werden zur
Behandlung von Lebererkrankungen eingesetzt. Eine Me-
taanalyse von klinischen Studien kam zu dem Ergebnis,
2.2 Phytotherapeutika/Pflanzenextrakte dass Silymarin-haltige Arzneimittel den klinischen Ver-
lauf der Krankheit von Patienten mit alkoholischer und/
2.2.1 Historie oder Hepatitis B bzw. C nicht beeinflussen. Phytopharma-
ka mit Echinacea-haltigen Inhaltsstoffen werden zur Be-
Die Therapie mit Pflanzen und Pflanzenextrakten hat histo- handlung der banalen Erkältungskrankheit eingesetzt,
rische Wurzeln: Bekannt ist die Behandlung der Herzinsuffi- ohne dass der Beleg der Wirksamkeit in kontrollierten
zienz mit Digitalis purpurea (Teezubereitung) oder die Be- Studien geführt wurde.
handlung von Malariaanfällen mit Chinarinde. Mittlerweile 4 Für andere Phytopharmaka sind aus Studien, die den
ist es jedoch gelungen, die wirksamen Inhaltsstoffe zu identi- Standards der Zeit entsprechen, in der sie durchgeführt
fizieren und diese – in gleich bleibender Qualität synthetisch wurden, Belege für eine (geringfügige) klinische Wirk-
hergestellt – zur Therapie zur Verfügung zu stellen. Beispiele samkeit ableitbar (z. B. für Johanniskraut – Hypericum).
aus jüngster Zeit sind Artemisin, ein Malariamittel aus Arte- Der Hinweis auf eine klinische Wirksamkeit beruht
misia annua L, und Taxol, ein Zytostatikum, welches aus der z. T. auf dem Beleg der Gleichwertigkeit mit zugelasse-
Rinde von Taxus brevifolia gewonnen werden kann. Die nen Arzneimitteln, was, wenn deren Wirksamkeit nur
Sicherung der gleichbleibenden Mengen der Inhaltsstoffe so- gering ausgeprägt ist, auch bedeuten kann, dass hier-
wie der gleichbleibenden Qualität sind ein äußerst problema- mit ein Placeboeffekt bestätigt wird (Schulz 1993). Zu-
tisches Gebiet der Phytotherapie, da die wirksamen Bestand- sätzlich wurden in früherer Zeit für die Auswertung
teile in Pflanzen in Abhängigkeit von lokalen Witterungs- und statistische Konzepte angewendet, die heute als obsolet
anderen Wachstumsbedingungen extrem schwanken können. betrachtet werden müssen (Röhmel et al. 2005). Unter
Studien zu Gehalten von Johanniskrautextrakt (Hypericum) die nach überholtem Standard durchgeführten Studien
aus unterschiedlicher Herstellung wiesen Schwankungen von fallen z. B. solche mit Ginkgo-biloba-Extrakt EGb 761 in
22–140% des deklarierten Inhalts auf (Fong 2002). Damit ist der Behandlung der peripheren arteriellen Verschluss-
eine Therapie wegen unklarer Dosis selbst mit Phytopharma- krankheit.
ka, für deren Inhaltsstoffe ein gewisser Effekt in klinischen 4 Für wenige Phytopharmaka gibt es placebokontrollierte,
Studien gezeigt werden konnte, äußerst unsicher. adäquate Studien. Allerdings sind sie z. T. widersprüch-
In Europa werden Phytopharmaka von einem Ausschuss lich, z. B. Rosskastanienextrakt bei Patienten mit venöser
bei der Europäischen Agentur für die Bewertung von Arznei- Insuffizienz. Eine Studie mit angemessener statistischer
mitteln (EMEA) bewertet. Dieser Ausschuss schlägt vor, bei Auswertung zum Nachweis der Gleichwertigkeit mit einer
der Bewertung der klinischen Wirksamkeit mit zwei Stan- Standardtherapie betrifft die Anwendung von Comfrey
dards zu arbeiten. Traditionell verwendete Phytopharmaka Extrakt im Vergleich zu Diclofenac-haltiger Salbe bei
sollen allein basierend auf der Tatsache zugelassen werden, Knöcheldistorsion (Predel et al. 2005).
dass sie schon immer verwendet wurden, d.h. die klinische
Wirksamkeit ist nicht nachgewiesen. Für Phytopharmaka mit
gut etabliertem Gebrauch sollen Belege für die klinische Wirk- 2.4 Risiken
samkeit unterschiedlicher Evidenzklassen akzeptiert werden.
Dieser Vorschlag entspricht in etwa dem bisherigen Vorgehen Manche Vertreter der Phytotherapie, besonders aber medizi-
bei der Zulassung von Phytopharmaka für den deutschen nische Laien hängen der Ansicht an, Arzneimittel, welche
Markt. aus Pflanzen hergestellt werden, könnten – da reiner Natur –
keine unerwünschten Wirkungen auslösen. Diese Auffassung
ist falsch:
2.5 · Akupunktur
17 2
Mariendistel Hepatits B/C alkoholische Übersicht Keine Wirkung Rambaldi A et al. (2005) Am J
(Silymarin) Hepatitis Gastroenteol 100: 2583–2591
Ginkgo biloba Arterielle periphere Klinische Studie Unsichere Wirkung Birks J, Grimli Evans J (2009)
Extrakt EGb 761 Verschlusskrankheit Cochrane Database Syst
Rev CD003120
Ginkgo Extrakte Zerebrale Leistungs- Analyse aller Studien Keine sichere Wirkung Birks J, Grimli Evans J (2009)
fähigkeit Cochrane Database Syst
Review CD003120
Johanniskraut Leichte bis mittelschwere Übersicht Unsichere Wirkung Bilia AR et al. (2002) Life
depressive Verstimmung Science 70: 3077–3096
Rosskastanien- Venöse Insuffizienz Kontrollierte Studie: Unsichere Wirkung Ottilinger B, Greeske K (2001)
extrakt placebokontrolliert BMC Cardiovascular
Disorders 1: 1–5
Comfrey Extrakt Knöcheldistorsion Kontrollierte Studie, Unsichere Wirkung Predel HG et al. (2005) Phyto-
Verum-kontrolliert medicine 12: 707–714
Daten, welche im amerikanischen Toxic-Exposure-Sur- > Insofern ist es auch bei Phytopharmaka erforderlich,
veillance-System erhoben wurden, lassen erkennen, dass eine Risiko-Nutzen-Analyse vorzunehmen. Die Ver-
wegen der Häufigkeit von unerwünschten Wirkungen ordnung von Phytopharmaka ist bei nicht belegtem
Y himbin- und Ephedra-haltige Produkte deutlich kritischer
Yo Nutzen wegen des nicht auszuschließenden Risikos
zu bewerten sind als Echinacea-enthaltende Produkte. immer kritisch zu betrachten.
Schwerwiegende Wirkungen traten bei Ephedra-haltigen Pro-
dukten in einer Häufigkeit von 1% auf, darunter Schlaganfälle
und Herzinfarkte (Woolf et al. 2005). Für Ginkgoextrakte sind 2.5 Akupunktur
Blutgerinnungsstörungen beschrieben worden (Bent et al.
2005). Für dieses Therapieverfahren liegen inzwischen eine Reihe
Der deutschen Arzneimittelbehörde wurden für Echina- von Cochraneanalysen vor (. Tab. 2.3). Danach kann die
cin-haltige Produkte schwerwiegende Reaktionen, nämlich Schmerztherapie mit Akupunktur nicht als evidenzbasiert ge-
drei anaphylaktoide Reaktionen und fünf anaphylaktische rechtfertigt und naturwissenschaftlich gesichert gelten. Auch
Schocks nach intravenöser oder intramuskulärer Injektion eine große, prospektive, kontrollierte Studie in Deutschland
berichtet (Huntley et al. 2005). Hepatotoxische Effekte sind (GERAC-Studie) ändert an dieser Bewertung nichts (Endres
von Pyrrolizidinalkaloiden mit 1,2-Doppelbindung be- et al. 2005; Hummelsberger et al. 2005; Haake et al. 2007 – vgl.
schrieben. Nierenversagen, Nephritis und Tumore der Harn- Kommentar). Sie sollte dazu dienen, die schmerzlindernde
wege sind im Zusammenhang mit der Anwendung von Wirkung der Akupunktur in einer placebokontrollierten
Präparationen beschrieben worden, welche Aristolochia ent- Studie zu belegen. Dabei wurde von erfahrenen Therapeuten
halten. das Setzen der Akupunkturnadeln entweder gemäß der von
Auch Interaktionen sind möglich. So ist eine verringerte der Akupunktur vorgeschriebenen Meridiane (Verumgruppe)
Wirkung von einer Vielzahl von Arzneimitteln, unter ihnen oder nach dem Zufallsprinzip vorgenommen. Ein möglicher
auch HIV-Reverse Transkriptaseinhibitoren (Nevirapin, Efavi- observer bias wurde durch die Befragung der behandelten
renz) und (Indinavir), bei gleichzeitiger Gabe von Johannis- Patienten durch unabhängige Untersucher (Telefoninter-
kraut enthaltenden Arzneimitteln beobachtet worden. views) versucht auszuschalten.
Es können folgende Schlüsse gezogen werden: Es kam
nicht zu signifikanten Therapieerfolgen der »korrekten« Aku-
18 Kapitel 2 · Komplementär- und Alternativmethoden
Cochrane Sys Rev Rheumatoide Metaanalyse Wirkung möglich Casimiro L et al. (2005)
Arthritis Cochrane Database Syst Rev 19(4):
CD003788
Cochrane Sys Rev Schulterschmerz Metaanalyse Wirkung möglich Green S et al. (2005) Cochrane Database
Syst Rev 18(2): CD005319
Cochrane update Kreuzschmerz Metaanalyse Wirkung nicht Furlan AD et al. (2005) Spine 30(8):944–963
(Toronto, Canada) gesichert
Isfahan, Iran Spannungskopf- Prospektive, Wirkung nicht Ebneshahidi NS et al. (2005) Acupunct Med
schmerz kontrollierte, rando- gesichert 23(1): 8–13
misierte Studie
Baltimore, USA Schmerzen bei Prospektive, Trend zu Wirk- Berman BM et al. (2004) Ann Intern Med
Kniearthrose kontrollierte, rando- samkeit 141(12): 901–910
misierte Studie
GERAC-Studie (AOK Kopfschmerz, Prospektive, kon- Scheinakupunk- Endres HG et al. (2005) Schmerz 19(3):
und TK, Deutschland) Kreuzschmerz, trollierte, randomi- tur ist genauso 201–204
Migräne, Knie sierte Studie wirksam Hummelsberger J et al. (2005) MMW Fort-
schr Med 147(25): 12–14
Wettig D (2005) Schmerz 19(4): 330–1
Sood A et al. (2005) J Altern Complement
Med 11(4): 719–722
In Kürze
3 Therapie-Monitoring, Probleme
der Compliance (Adherence)
und Noncompliance
W.E. Haefeli
3.1 Bedeutung – 22
3.4 Monitoring-Techniken – 24
3.4.1 Vorbemerkungen – 24
3.4.2 Noncompliance – 24
3.4.3 Therapeutisches Arzneimittel-Monitoring (TDM) – 26
3.4.4 Effekt-Monitoring – 27
3.4.5 UAW-Monitoring – 27
22 Kapitel 3 · Therapie-Monitoring, Probleme der Compliance (Adherence) und Noncompliance
. Abb. 3.1. Schematische Darstellung der Nonresponder-Raten gesetzte Arzneimittel bzw. die Arzneimittelkombination. Falls meh-
einer Auswahl von akuten und chronischen Arzneimitteltherapien. rere Arzneimittel mit demselben Resultat vergleichend getestet wur-
Aufgeführt sind Therapieindikation, primärer Endpunkt und das ein- den, sind sie durch Kommata getrennt
3.3 · Optimaler Zeitpunkt des Monitorings
23 3
In diesen Fällen muss ersatzweise ein (subklinischer) 3.3 Optimaler Zeitpunkt des Monitorings
Surrogatparameter zur Therapiesteuerung verwendet wer-
den, für den gezeigt wurde, dass er einen vergleichsweise Der optimale Zeitpunkt eines Monitorings hängt davon ab,
hohen prädiktiven Wert für das erwünschte therapeutische wann eine Wirkung oder UAW auf ein Surrogat bzw. den pri-
Resultat (bakteriologische Resistenzprüfung auf Antibio- mären Endpunkt erwartet werden kann. Für konzentrations-
tika, HI-Virus-RNA und AIDS-Progression, HbA1c und abhängige Ereignisse sind deshalb die Konzentrations-
diabetische Mikroangiopathie) oder eine gefürchtete Ne- wirkungs- und -Nebenwirkungsbeziehung (therapeutische
benwirkung hat (z. B. QT Tc-Verlängerung als Vorbote von Breite), die Pharmakokinetik (z. B. Verteilung in das Wirk-
Torsade-de-Pointes, Theophyllin3-Plasmakonzentration kompartiment), das Dosierungsschema (geringste Fluktua-
und Epilepsierisiko). Geeignete Surrogatparameter spiegeln tion der Plasmakonzentrationen bei Verabreichung retar-
jede Änderung des primären Endpunktes wider, sollten dierter Formen bzw. kontinuierlicher Infusion) und die The-
durch die therapeutische Intervention in vergleichbarem rapiedauer mitbestimmend (Zeitpunkt bis zum Erreichen des
quantitativem Ausmaß beeinflusst werden und alle As- Steady State). Ohne Verabreichung von Sättigungsdosen kann
pekte des Behandlungseffektes auf den primären End- ein Konzentrationsmaximum (und deshalb auch Effektmaxi-
punkt umfassen. Außerdem muss ein brauchbarer Surro- mum) frühestens nach Verabreichung während 4–5 Halb-
gatparameter weitgehend unberührt von Einflüssen bleiben, wertszeiten erwartet werden.
die den primären Endpunkt nicht mit verändern. Surrogate Zwischen der Verabreichung eines Arzneimittels, dem Er-
stellen also Zwischenresultate im Krankheitsgeschehen dar, scheinen des Arzneimittels am Wirkort und dem Auftreten
die das Endresultat möglichst direkt widerspiegeln, jedoch einer Wirkung (primärer Endpunkt, Surrogatendpunkt, UAW)
zeitlich sehr viel früher und im Falle von kategorischen End- verstreicht in den allermeisten Fällen etwas Zeit, was zu Hys-
punkten (Rehospitalisationsrate, Fraktur, komplette Tumor- teresephänomenen führt (. Tab. 3.1). Wie in . Abb. 3.2 dar-
remission, Tod, Überleben) das Risiko für das Eintreten gestellt, kommt es dann zur zeitabhängigen kreisförmigen
des primären Therapieziels möglichst kontinuierlich voraus Aufweitung der Dosis- und/oder Konzentrations-Wirkungs-
sagen. beziehung. Dies bedeutet, dass in der Startphase die Konzent-
In dieser Weise validierte Surrogate sind selten und bilden rationen mehr oder weniger lange ansteigen, bevor Effekte
im klinischen Alltag noch immer die Ausnahme. Häufiger beobachtet werden können (a in . Abb. 3.2). Anschließend
sind Messwerte, die zwar assoziiert sind mit dem Krankheits- nimmt die Wirkung oft noch weiter zu, obwohl kein weiterer
geschehen, jedoch nicht jede Risikoänderung widerspiegeln Konzentrationsanstieg mehr erfolgt (z. B. im Steady State und
(sog. Biomarker). Selbst allgemein übliche Messparameter kurz danach, b in . Abb. 3.2) und bildet sich (z. B. nach Abset-
wie beispielsweise die Blutdruckmessung zur Hypertonieein- zen) nur verzögert wieder zurück (c in . Abb. 3.2). Hysterese-
stellung haben bisher keine eigentlichen Surrogatqualitäten. kurven führen somit dazu, dass für eine bestimmte Konzent-
Dies wird u. a. dadurch deutlich, dass der Therapieerfolg einer ration jeweils mehrere verschieden große Effekte beobachtet
antihypersensitiven Behandlung innerhalb derselben Popula- werden können in Abhängigkeit vom Beobachtungszeitpunkt
tion unterschiedlich ausfallen kann, selbst wenn die Blut- innerhalb der Therapie.
druckwerte in gleichem Ausmaß gesenkt wurden. Bei Patien- Die meisten Arzneimitteleffekte auf primäre Endpunkte
ten mit arterieller Hypertonie und linksventrikulärer Hyper- (wie Morbidität, Mortalität, Lebensqualität) bilden sich erst
trophie waren beispielsweise Hirnschlagraten oder kardio- nach im Vergleich zur Halbwertszeit langer, kontinuierlicher
vaskuläre Sterblichkeit höher unter Behandlung mit dem Arzneimittelexposition aus (z. B. Änderung der Mortalität bei
β1-selektiven Adrenorezeptor-Antagonisten Atenolol4 als bei HMG-CoA-Reduktase-Hemmern erst nach Jahren, obschon
Patienten, welche den Angiotensin-1-Rezeptor-Antagonisten Steady-State-Bedingungen in einem Tag erreicht wären und
Losartan5 erhielten, obschon die Blutdrucksenkung identisch die Plasmalipidwerte bereits nach wenigen Wochen maximal
war. gesenkt sind). Die Biomarker (z. B. Blutfette, Blutzucker) wer-
Wiederholt und gelegentlich mit Schaden für den Patien- den somit durch die Therapie rascher beeinflusst als die End-
ten (z. B. CAST-Studie: Mortalität bei Kammerarrhythmien punkte. Auch wird man nicht erwarten, dass eine Nagelmyko-
unter Typ-Ic-Antiarrhythmika, PRIME-II-Studie: Mortalität se nach 3–4 Tagen (= 4–5 Halbwertszeiten) unter Terbinafin7
bei Herzinsuffizienz unter Dopamin-Agonist Ibopamin) wur- abgeheilt wäre, da die Pharmakokinetik des Antimykotikums
den Surrogatparameter Therapien zugrunde gelegt, die sich nicht allein entscheidend ist.
anschließend – obwohl primär scheinbar plausibel – nicht als
Prädiktoren des Erfolges herausstellten. So waren weder die
Arrhythmiesuppression durch Flecainid6 bzw. Encainid noch
die als günstig angesehene neurohormonale Dämpfung und
Vasodilatation bei Ibopamin assoziiert mit dem Endpunkt
Mortalität. Ähnlich verhielt es sich auch mit dem Surrogat
Tumorvolumen als Marker für eine Zytostatika-assoziierte
3 Solosin®, Bronchoretard®
Veränderung der Lebensqualität oder des Überlebens. Daraus 4 Tenormin® oder Atenolol-ratiopharm®
wird ersichtlich, dass Surrogatparameter sorgfältig validiert 5 Lorzaar®
werden müssen, bevor sie uneingeschränkt zur Therapiesteu- 6 Tambocor®, flecadura®
erung verwendet werden dürfen. 7 Lamisil®, Dermatin®
24 Kapitel 3 · Therapie-Monitoring, Probleme der Compliance (Adherence) und Noncompliance
3.4 Monitoring-Techniken
3.4.1 Vorbemerkungen
3.4.2 Noncompliance
. Tab. 3.1. Wahl des Zeitpunktes des Arzneimittel-Monito-
rings. Illustrierende Beispiele für Endpunkte mit relevanter
Hysterese Der häufigste Grund für ungenügende Wirkung ist die nicht
vorschriftgemäße Arzneimitteleinnahme durch den Patienten
Substanz- Therapiedauer Endpunkt (Noncompliance). In diesen Fällen stellt sich deshalb stets die
klasse bis zur maxi- Frage, ob Noncompliance oder Nonresponse vorliegt. Die Fä-
malen Wirkung higkeit, eine Therapie regelmäßig durchzuführen (Compli-
HMG-CoA- Wochen Lipidsenkung ance, Adherence), ist das Resultat eines vielschichtigen Pro-
Reduktase- zesses, in dem der Patient und seine Betreuer, der Arzt und das
Hemmer Monate bis Jahre Mortalität Arzneimittel eine wichtige Rolle spielen. Diese multifakto-
rielle Entstehung von Compliance und Noncompliance ist der
Insulin Stunden Blutzuckersenkung
Hauptgrund dafür, dass bisher keine erfolgreiche Methode zur
Tage bis Wochen Morbidität Früherkennung von Risikopatienten für Noncompliance ent-
Jahre Mortalität
wickelt werden konnte, dass keine einzelne Maßnahme eine
gute Compliance zu garantieren vermag, aber auch dafür, dass
Aspirin Minuten Thrombozytenaggregation sich Ärzte und Betreuer regelmäßig täuschen, wenn sie das
Stunden Analgesie Compliance-Verhalten ihrer Patienten beurteilen sollen. Sie
ist auch der Grund dafür, dass nicht alle Methoden geeignet
Jahre Sekundärprävention sind, Noncompliance zu entdecken und von Nonresponse zu
(Mortalität)
unterscheiden, und nur wenige Techniken Teilaspekte der
Trizyklika Tage Mundtrockenheit Compliance direkt nachweisen können (. Tab. 3.2). Aus die-
sen Gründen kommt neben der Erkennung von Noncompli-
Wochen Stimmungsaufhellung ance der kontinuierlichen Compliance-Förderung große Be-
ACE- Minuten bis (First-Dose)-Hypotonie deutung zu.
Hemmer Stunden Noncompliance ist menschlich und kann deshalb nur ver-
hindert werden, wenn Compliance-fördernde Maßnahmen
Tage bis Wochen Blutdrucksenkung
grundsätzlich und kontinuierlich jede Therapie begleiten.
Monate bis Jahre Mortalität Eine erste zwingende Voraussetzung für eine gute Compliance
ist die Information des Patienten über die fünf unabding-
Diuretika Stunden Diurese
baren Informationen zur Arzneimittelanwendung (s. un-
Tage Blutdrucksenkung ten); ohne dieses Wissen ist es unmöglich, compliant zu sein.
Jahre Morbidität (z. B. Hirnschlag) Außerdem ist ohne minimale Kenntnisse über die Zusam-
menhänge zwischen Behandlung, Krankheit und Resultat
3.4 · Monitoring-Techniken
25 3
Kontrollierte Verabreichung/ XX – – – – –
beobachtete Einnahme
Tagebuch X – – – – –
Tablettenwochenschachtel X – – – – –
MEMS X – – – – –
Tablettenzählen X – – – – –
Fremdanamnese XX – – – – –
Rezeptbezug X – – – – –
XX = besonders gut geeignet, direktes Maß für Beurteilung des angegebenen Parameters; X = oft geeignet; (x) = indirektes Maß, nur
ausnahmsweise bzw. nur im Erfolgsfall aussagekräftig; – = nicht geeignet.
Compliance-verstärkende Elemente
Aber selbst wenn all diese Voraussetzungen gegeben sind,
4 Patient (ggf. auch dessen Betreuer)
wird es vielen Patienten schwer fallen, gewisse Therapiepläne
– Kennt Bedrohung durch Krankheit und ihre Folgen
konsequent umzusetzen, da sie nur bedingt in den individu-
– Kennt Wirksamkeit und Verträglichkeit der vorge-
ellen Tagesablauf integrierbar sind. Entsprechend erratisch
schlagenen Therapie
werden im Therapieverlauf die Fehler sein (. Abb. 3.3); in der
– Integriert das Therapieschema in seinen Tagesablauf
Tat sind lediglich ein Sechstel der Patienten in der Lage, kon-
– Ist finanziell und intellektuell in der Lage, die The-
sequent eine hohe Compliance einzuhalten. Die besonders
rapie durchzuführen
typischen Einnahmemuster sind in . Abb. 3.3 dargestellt. Viel
– Hat sich bereit erklärt, die Therapie durchzuführen
häufiger als perfekte Compliance (. Abb. 3.3A) ist das Aus-
4 Arzt
lassen einzelner Dosen, was nicht selten am Wochenende ge-
– Klare Information über Rationale für und Art der
schieht (. Abb. 3.3B). Besonders bei Patienten mit unregelmä-
Therapie (mündlich und schriftlich)
ßigem Tagesablauf bzw. häufigem Zeitzonenwechsel ist eine
6 regelmäßige Einnahme schwierig (. Abb. 3.3C). Entsprechend
muss der Patient darauf vorbereitet werden, was anschließend
26 Kapitel 3 · Therapie-Monitoring, Probleme der Compliance (Adherence) und Noncompliance
In Kürze
1 Alle Angaben in diesem Kapitel beziehen sich auf den Stand vom zuletzt geändert durch die Artikel 15 und 15a des Gesetzes zur
09.09.2009. Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom
2 Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz, 17.07.2009 (BGBl. I S. 2013)
AMG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 12.12.2005 (BGBl. 9 Verordnung über unwirtschaftliche Arzneimittel in der gesetzli-
I S. 3394), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes zur Ände- chen Krankenversicherung vom 21.02.1990 (BGBl. I, S. 301), zuletzt
rung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 17. Juli geändert durch die 2. Änderungsverordnung vom 09.12.2002
2009 (BGBl. I S. 1990). (BGBl I, S. 4554)
3 Verordnung über apothekenpflichtige und freiverkäufliche Arznei- 10 Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen
mittel in der Fassung vom 24.11.1988 (BGBl I, S. 2150) unter Be- über die Verordnung von Arzneimitteln in der kassenärztlichen
rücksichtigung der Berichtigung vom 17.02.1989 (BGBl. I, S. 254), Praxis (Arzneimittel-Richtlinien – AMR) vom 31.08.1993 (Bundes-
zuletzt geändert durch Artikel der Verordnung vom 29.12.2006 anzeiger Nr. 246, S. 11155), zuletzt geändert am 18.07.2008 (Bun-
(BGBl. I S. 3276). Die Verordnung wird durch Änderungsverord- desanzeiger Nr. 112, S. 2746)
nungen in unregelmäßigem Rhythmus ergänzt. 11 Die Festbeträge werden für jede Arzneimittelgruppe im Bundes-
4 Verordnung über die Verschreibungspflicht von Arzneimitteln anzeiger bekannt gemacht und in der medizinischen und pharma-
(Arzneimittelverschreibungsverordnung – AMVV) in der Fassung zeutischen Fachpresse veröffentlicht. In der »Roten Liste« (7 Kap.
der Verordnung zur Neuordnung der Verschreibungspflicht von 1.11) ist vor dem Preis eines jeden Präparates in Klammern nach
Arzneimitteln vom 21.12.2005 (BGBl. I, S. 3632), zuletzt geändert der Abkürzung »FB« der entsprechende Festbetrag angegeben.
am 02.12.2008 (BGBl. I, S. 2338). Die Verordnung wird durch Ände- 12 Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung
rungsverordnungen in halbjährigem Rhythmus jeweils zum 01.01. (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG) vom 14.11.2003 (BGBl I, S.
und 01.07. ergänzt. 2190-2259)
5 Gesetz über Medizinprodukte (Medizinproduktegesetz, MPG) in 13 Verordnung über die Zuzahlung bei der Abgabe von Arznei- und
der Fassung der Bekanntmachung vom 07.08.2002 (BGBl. I S. Verbandmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung vom
3146), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 09.09.1993 (BGBl. I, S. 1557) in der Fassung der Änderungsverord-
14.06.2007 (BGBl. I S. 1066) nung vom 12.09.1997 und der Berichtigung vom 05.01.1998 und
6 Betäubungsmittelgesetz vom 28.07.1981 in der Fassung der Be- Gesetz zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimit-
kanntmachung vom 01.03.1994 (BGBl I, S. 358) zuletzt geändert telversorgung (Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz
durch Artikel 2 des Gesetzes vom 29.07.2009 (BGBl. I, S. 2288) – AVWG) vom 20.04.2006 (BGBl. I, S. 984–987)
7 Verordnung über das Verschreiben, die Abgabe und den Nachweis 14 Gesetz über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens vom
des Verbleibs von Betäubungsmitteln in der Fassung vom 18.10.1978 (BGBl. I, S. 604), in der Fassung der Bekanntmachung
20.01.1998 (BGBl. I, S. 74), zuletzt geändert durch Artikel 3 des vom 19.10.1994 (BGBl. I, S. 3068), zuletzt geändert durch Artikel 2
Gesetzes zur diamorphingestützten Substitutionsbehandlung des Gesetzes vom 26.04.2006 (BGBl. I, S. 984)
vom 15.07.2009 (BGBl. I S. 1801) 15 Derzeit gültig ist das DAB 2006/EuAB 6. Ausgabe 2006. In ihm sind
8 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (Artikel 1 des Gesetzes zur Struk- alle Bestimmungen der Europäischen Pharmakopoe (Ph.Eur.) ein-
turreform im Gesundheitswesen vom 20.12.1988, BGBl I, S. 2477), gearbeitet.
4.1 · Gesetzliche Grundlagen
31 4
AMG wurde der deutsche Arzneimittelbegriff außerdem an Der Bundesminister für Gesundheit und Soziale Siche-
die europäische Rechtssprechung angepasst: In Abgrenzung rung (BMG) wird durch das AMG darüber hinaus ermächtigt,
zu Lebensmitteln muss ein Arzneimittel eine nennenswert auf dem Verordnungswege sowohl die Apothekenpflicht für
über die physiologische Wirkung hinausgehende Wirkung einzelne Arzneimittel als auch die Freistellung von der Apo-
haben (Funktionsarzneimittel). Arzneimittel dürfen nur in thekenpflicht aufzuheben. Dies geschieht mit der Verordnung
den Verkehr gebracht werden, wenn sie in einem Zulassungs- über apothekenpflichtige und freiverkäufliche Arzneimit-
verfahren ihre Wirksamkeit, Verträglichkeit und pharmazeu- tel3. Medikamente, die zwar der Apothekenpflicht unterliegen,
tische Qualität nachgewiesen haben. Die Zulassung wird aber auch ohne ärztliches Rezept abgegeben werden dürfen,
durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinpro- werden (ohne Gewähr) in der »Roten Liste« des Bundesver-
dukte (BfArM) in Berlin bzw. die European Medicines Agency bandes der Pharmazeutischen Industrie mit dem Kürzel »Ap«
(EMEA) in London erteilt. gekennzeichnet.
Seit 1. Januar 1995 unterliegen auch Medizinprodukte wie Prinzipiell dürfen Arzneimittel, die einen Wirkstoff enthalten,
Arzneimittel einem Zulassungsverfahren, (»Konformitäts- dessen Wirkungen in der medizinischen Wissenschaft nicht
bewertungsverfahren«), in dem der für Patienten, Anwender allgemein bekannt sind, oder bei denen die Gefahr besteht,
und Dritte sichere Gebrauch und die vom Hersteller bean- dass sie auch bei bestimmungsgemäßem Gebrauch die Ge-
spruchten Leistungen überprüft werden. Die zu erfüllenden sundheit von Mensch und Tier gefährden können, wenn sie
Normen wurden auf europäischer Ebene einheitlich festge- ohne ärztliche Überwachung angewendet werden, oder die
legt. Das »CE«-Zeichen gibt an, dass das Medizinprodukt ein die Gesundheit von Mensch und Tier gefährden, weil sie häu-
solches Konformitätsbewertungsverfahren durchlaufen hat fig in erheblichem Umfang nicht bestimmungsgemäß ge-
und die grundlegenden europäischen Anforderungen erfüllt braucht werden, nur nach ärztlicher Verschreibung abgegeben
(conformité européenne). Je nach ihrem Gefährdungspoten- werden. Die verschreibungspflichtigen Arzneimittel sind in
zial, ihrem Anwendungsort, der Anwendungsdauer und der der Verordnung über verschreibungspflichtige Arzneimit-
eingesetzten Technik werden die Medizinprodukte in vier tel4 zusammengestellt, die halbjährlich überarbeitet und neu
Klassen eingeteilt. Klasse I kann vom Hersteller selbst zuge- erlassen wird.
lassen werden, die anderen Klassen werden von Einrichtungen Die Zusammenstellungen in dieser Verordnung sind recht-
bewertet, die von den zuständigen Gesundheitsbehörden lich verbindlich. Die gängigen Arzneimittellisten enthalten
(Bundesoberbehörde: Bundesinstitut für Arzneimittel und ohne Gewähr Hinweise auf das Vorliegen einer Verschrei-
Medizinprodukte, BfArM) benannt werden (sog. »benannte bungspflicht, z. B. durch die Abkürzung »Rp« in der »Roten
Stellen«). Liste« des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie.
Auch für die Einstufung als Medizinprodukt ist eine me-
> Alle verschreibungspflichtigen Arzneimittel sind
dizinische Zweckbestimmung ausschlaggebend, wobei im
auch apothekenpflichtig.
Unterschied zum Arzneimittel die Hauptwirkung weder durch
pharmakologische noch durch immunologische Mittel und Nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel dürfen vom
auch nicht durch den Stoffwechsel (Metabolismus) erreicht Apotheker auch ohne Vorliegen eines Rezeptes abgegeben
werden darf. Die Abgrenzung zum Arzneimittel kann im Ein- werden. Dies ist der ständig an Bedeutung zunehmende Be-
zelfall sehr schwierig sein, was vor allem wirtschaftliche Kon- reich der Selbstmedikation (nach dem Englischen auch als
sequenzen hat, da ein Konformitätsbewertungsverfahren er- OTC-Bereich bezeichnet, Verkauf direkt über den Ladentisch:
heblich weniger aufwändig und damit schneller und billiger »over the counter«). Hier erwächst dem Apotheker eine be-
ist als eine arzneimittelrechtliche Zulassung. sondere medizinische Verantwortung, da der Kunde ein Arz-
neimittel erwirbt und selbst bezahlt, ohne einen Arzt zu kon-
sultieren.
4.1.3 Apothekenpflicht
Prinzipiell dürfen Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die 4.1.5 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch
nach der Definition des § 2 AMG als Arzneimittel zu betrach-
ten sind, nur über Apotheken abgegeben werden. Einige Arz- Das SGB V enthält alle Vorschriften über die Funktion der
neimittel sind im AMG ausdrücklich von der Apotheken- gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Es wurde durch
pflicht ausgenommen. Entscheidendes Kriterium ist dabei, das Gesundheitsreformgesetz (GRG), durch das Gesund-
dass sie nicht zur Behandlung von Krankheiten, Leiden, Kör- heitsstrukturgesetz (GSG) und durch das GKV-Modernisie-
perschäden oder krankhaften Beschwerden deklariert sind, rungsgesetz (GMG)12 geändert. Für die Verschreibung wich-
wie z. B. Vitamine in niedriger Dosierung, natürliche Heilwäs- tig sind die in diesen Gesetzen enthaltenen Bestimmungen zur
ser, bestimmte Tees, Pflaster und Brandbinden, Desinfek- Festbetragsregelung11, die Zusammenstellung von Arzneimit-
tionsmittel zum äußeren Gebrauch oder zur Anwendung in teln, die überhaupt nicht zu Lasten der gesetzlichen Kranken-
der Mundhöhle. versicherung verschrieben werden dürfen (Verordnung über
32 Kapitel 4 · Verschreibung und Abgabe von Arzneimitteln
unwirtschaftliche Arzneimittel in der gesetzlichen Kranken- tierten ärztlichen Rezeptes, nicht nach alleiniger Vorlage
versicherung9), und die Regelungen über die Eigenbeteili- des Kassenbeleges einer Apotheke erstatten.
gung der Patienten an den Arzneimittelkosten (Verordnung
über die Zuzahlung bei der Abgabe von Arznei- und Verband- Dies bedeutet, dass auch nicht verschreibungspflichtige Arz-
mitteln in der vertragsärztlichen Versorgung13). Streng ge- neimittel auf einem Rezept verschrieben werden müssen,
nommen gelten die Regelungen des SGB V nur für den Be- wenn der Patient die Kosten nicht selbst tragen soll. Für den
reich der gesetzlichen Krankenversicherung. Da jedoch bei Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist aller-
weitem die meisten Patienten in der GKV versichert sind und dings bis auf wenige Ausnahmen (z. B. für Kinder bis 12 Jah-
die Regelungen des SGB V in der Regel von anderen Kranken- ren) die Erstattung nicht-verschreibungspflichtiger Arznei-
versicherungseinrichtungen übernommen werden (z. B. Bei- mittel mittlerweile ausgeschlossen worden (7 Kap. 4.4).
hilferegelungen der Beamten), haben sie einen prägenden
Charakter für die medizinische Versorgung der Gesamtbevöl- Verschreibungsberechtigung
kerung in Deutschland. Verschreibungsberechtigt sind Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte
innerhalb ihres jeweiligen Tätigkeitsbereiches (z. B. darf ein
Zahnarzt kein Kontrazeptivum verordnen16). Eine weitere,
4.1.6 Heilmittelwerbegesetz darüber hinausgehende Einschränkung innerhalb dieser drei
Arztgruppen auf die einzelne Facharztdisziplin gibt es, von
Die Werbung für Arzneimittel unterliegt strengen Einschrän- sehr wenigen, in der Arzneimittelverschreibungsverordnung
kungen. Auf die einzelnen Bestimmungen des Heilmittelwer- explizit genannten Ausnahmen abgesehen, nicht.
begesetzes14 soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen
werden. Für die Verschreibung ist in diesem Zusammenhang Rezeptformulare
nur wichtig, dass verschreibungspflichtige Arzneimittel nur in Die Ausführung einer Verschreibung ist prinzipiell nicht an
medizinischen Fachkreisen beworben werden dürfen. Die im- ein bestimmtes Formular gebunden. Ein Privatrezept kann
mer zahlreicher werdenden Arzneimittelreklamen in frei zu- formlos auf jedem Blatt Papier ausgefertigt werden. Der be-
gänglichen öffentlichen Medien betreffen somit stets Arznei- kannte Typ des Privatrezeptes mit der vorgedruckten An-
mittel, die nicht verschreibungspflichtig sind und deshalb in schrift des Arztes (. Abb. 4.2) stellt lediglich eine Bequemlich-
der Regel auch nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenver- keit, häufig ein Werbegeschenk, dar. Von Seiten der privaten
sicherung verschrieben werden dürfen. Krankenversicherungen wird mittlerweile ein blau eingefärb-
ter Querformatvordruck empfohlen, der sich an dem entspre-
chenden Vordruck der gesetzlichen Krankenkassen orientiert
4.1.7 Arzneibücher (Pharmakopöen) und computerlesbar ist. Vorgeschrieben ist keiner dieser Aus-
führungstypen. Die gesetzlichen Krankenkassen haben dage-
Das Deutsche Arzneibuch (DAB)15 wurde mittlerweile mit gen einen verbindlichen Formulartyp (Muster-16-Formular)
dem Europäischen Arzneibuch (Ph. Eur bzw. EuAB)15 verei- für Verschreibungen zu ihren Lasten eingeführt (Kassenre-
nigt. Sie besitzen beide Gesetzescharakter. Neben der Beschrei- zept, . Abb. 4.10). Auch für die Verschreibung von Betäu-
bung der chemischen Eigenschaften von Arzneistoffen enthal- bungsmitteln ist nach der Betäubungsmittelverschreibungs-
ten sie alle relevanten Vorschriften zur Herstellung individu- ordnung ein spezielles Formular vorgeschrieben, das sich an
eller Rezepturen (Augentropfen, Salben, Zäpfchen etc.). den Kassenrezeptformularen orientiert (Betäubungsmittel-
Die im Arzneibuch aufgeführten Arzneistoffe werden als rezept, . Abb. 4.11 und 7 Kap. 4.5.4).
»offizinell« bezeichnet. Sie müssen die im DAB geforderte ga-
rantierte standardisierte Beschaffenheit haben. Der Apothe- Verschreibung von Arzneimitteln mit einem besonderen
ker überprüft und garantiert die geforderte Qualität. Gefährdungspotenzial (Sonderrezepte). Als erste derartige
Arzneimittel dürfen seit 08.02.2009 Thalidomid- (früher Con-
tergan®) oder Lenalidomid-haltige Arzneimittel nur nach Ver-
4.2 Grundsätzliches zur Verschreibung schreibung auf ein als »T-Rezept« bezeichnetes sog. Sonderre-
zept abgegeben werden. Es handelt sich um einen weißen,
4.2.1 Form und rechtliche Bedeutung fortlaufend durchnummerierten zweiseitigen (Original und
anonymisierter Durchschlag) amtlichen Vordruck (. Abb. 4.1)
Die Verschreibung ist eine verbindliche Anweisung des Arztes mit roter Schrift. Er kann über das BfArM17 von Ärzten be-
an den Apotheker zur Aushändigung bzw. Anfertigung eines
Arzneimittels. Sie hat den Charakter einer Urkunde und erfüllt
16 Diese Einschränkung ergibt sich aus der Bundesärzteordnung, dem
zwei Aufgaben:
Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde und der Bundes-
4 Sie berechtigt zur Abgabe bzw. zum Erwerb verschrei-
tierärzteordnung. Nach diesen Berufsordnungen dürfen die drei
bungspflichtiger Arzneimittel. Arztgruppen nur in ihrem jeweiligen Aufgabenbereich ärztlich tä-
4 Sie dient als Bestätigung gegenüber Krankenversiche- tig werden. Die Verschreibung eines Medikamentes und/oder ei-
rungen, dass der Erwerb des Arzneimittels ärztlich be- nes Medizinproduktes ist eine derartige ärztliche Tätigkeit.
gründet war. In der Regel wird eine Krankenversicherung 17 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, T-Register,
die Kosten für Arzneimittel nur nach Vorlage eines quit- Kurt-Georg-Kiesinger-Allee 3, 53175 Bonn
4.2 · Grundsätzliches zur Verschreibung
33 4
. Abb. 4.1. Sonderrezept zur Verschreibung Thalidomid- und Lenalidomid-haltiger Arzneimittel (T-Rezept)
zogen werden, die sachkundig im Umgang mit diesen Arznei- ging 2006 in eine erste Erprobungsphase; wann sie verbindlich
mitteln sind, das medizinische Informationsmaterial (Fachin- für alle Patienten eingeführt wird, ist gegenwärtig noch nicht
formation, Patienteninformation) besitzen und erklären, alle abzusehen.
Sicherheitsmaßnahmen (in erster Linie Schwangerschaftsprä-
ventionsmaßnahmen) einzuhalten. Der Arzt muss dies durch Verschreibung außerhalb der Zulassung
Ankreuzen von zwei Kästchen auf dem T-Rezept bei jeder Ver- (sog. »off-label use«)
schreibung ausdrücklich bestätigen. Mit Hilfe zweier weiterer, Zugelassene Indikation. -
alternativ zu markierender Kästchen, erklärt der Arzt, ob das telgesetzes1 im Jahre 1978 müssen alle neu zugelassenen
Arzneimittel innerhalb oder außerhalb der zugelassenen Indi- Arzneimittel auf Wirksamkeit, Verträglichkeit und Qualität
kationen verordnet wird. Die übrigen Angaben auf dem T-Re- geprüft werden. Dies bedeutet, dass die Wirksamkeit von Arz-
zept entsprechen dem Kassenrezept. Auf dem T-Rezept dürfen neimitteln in der Indikation, für die sie zugelassen werden, in
ausschließlich nur Thalidomid- oder Lenalidomid-haltige Arz- Zulassungsstudien nach dem geltenden Stand der Wissen-
neimittel verschrieben werden. Die Durchschläge der T-Rezep- schaft nachgewiesen werden muss. In der Praxis werden je-
te müssen von der Apotheke vierteljährlich an das BfArM doch viele Wirkstoffe in Indikationen angewendet, für die
übermittelt werden, das halbjährlich der EMEA über die An- keine Zulassung ausgesprochen wurde, für die auch nie eine
wendung der Thalidomid- oder Lenalidomid-haltigen Arznei- Zulassung beantragt werden wird, da nach Ablauf des Patent-
mittel berichtet. schutzes niemand mehr die Kosten für die notwendigen Stu-
dien tragen wird. Darüber hinaus sind zugelassene Indikatio-
Elektronische Patientenkarte. Mit der Einführung der ge- nen häufig sehr eng gefasst, die Zulassung für die Therapie
planten »elektronischen Patientenkarte« werden alle Rezept- eines bestimmten Krebstumors beinhaltet zum Beispiel nicht
formulare hinfällig werden. Der Arzt wird ein Rezept dann in die Therapie einer anderen Krebsart. Kinder, Jugendliche und
digitalisierter Form ausstellen, d. h. er stellt die erforderlichen ältere Menschen über 65 Jahre werden in der Regel aus Zu-
Daten an seinem Praxiscomputer zusammen und speichert sie lassungsstudien ausgeschlossen, so dass die Anwendung des
anschließend auf der elektronischen Patientenkarte. Der Apo- Arzneimittels bei diesem Personenkreis von der zugelassenen
theker ließt die Angaben in seinen Apothekencomputer ein, Indikation auch nicht miterfasst wird.
hat die Möglichkeit Indikation und Dosierung zu kontrol- Grundsätzlich hat der Arzt im Rahmen seiner Thera-
lieren und die Verschreibung auf Arzneimittelrisiken wie Un- piefreiheit das Recht, die von ihm ärztlich für notwendig erach-
verträglichkeiten und Interaktionen zu überprüfen. Die Ver- tete Medikation zu verschreiben. Außerhalb der Zulassung
knüpfung mit dem Warenlager ermöglicht dann eine schnelle übernimmt er jedoch eine besondere Verantwortung für die
Abgabe der Verschreibung. Die elektronische Patientenkarte Nutzen-Risiko-Beurteilung seiner Verschreibung, über die er
34 Kapitel 4 · Verschreibung und Abgabe von Arzneimitteln
. Abb. 4.2. Vorgeschriebener Inhalt einer Verschreibung. Bei allen Rezepten ist die eigenhändige Unterschrift des Arztes vorgeschrieben
(kein Unterschrift-Stempel!)
die betroffenen Patienten auch aufklären muss. Gestützt auf pretation wie in . Abb. 4.3 sowohl der verschreibende Arzt als
Urteile des Bundessozialgerichtes (BSG)18 weigern sich außer- auch der abgebende Apotheker haften.
dem einige gesetzliche Krankenkassen in jüngster Zeit ver-
> Die Unterschrift muss stets vom verschreibenden
mehrt, die Kosten derartiger Verordnungen zu übernehmen.
Arzt eigenhändig und handschriftlich mit einem
Betroffen hiervon sind in erster Linie neue, teuere Arzneimit-
dokumentenechten Schreibgerät erfolgen (kein Un-
tel, zu denen es noch keine Generika gibt. Die Ärzte werden in
terschriftenstempel!).
diesen Fällen aufgefordert, ihre Therapieentscheidung in auf-f
wendigen gutachterlichen Stellungnahmen unter Hinzuzie-
hung der internationalen Literatur zu begründen. Das BSG Sprache und Abkürzungen.
sieht in einer breiten Anwendung in einer (noch) nicht zugelas- bestimmte Sprache vorgeschrieben. Man hat sich früher vor
senen Indikation eine verkappte Zulassungsstudie, die nicht zu allem der latinisierten Schreibweise bedient. Da auch Ärzte im
Lasten der GKV Versicherten durchgeführt werden darf.
aut idem – »oder dasselbe«. Gemeint ist ein Fertigpräparat, das denselben Wirkstoff in gleicher
Arzneiform und Dosierung enthält.
Beispiel: Verschrieben wurde Aspirin®, der Apotheker kann mit dem Hinweis »aut idem«
auch ASS ratiopharm® abgeben
aut simile – »oder etwas Ähnliches«. Mit diesem Hinweis stellt der Arzt dem Apotheker frei, ein Arznei-
mittel mit ähnlicher Wirkung abzugeben, falls er das verschriebene nicht vorrätig hat und
auch nicht kurzfristig beschaffen kann. Beispiel: Verschrieben wurde Aspirin® als Kopf-
schmerzmittel. Der Apotheker darf mit dem Hinweis »aut simile« auch ein Kopfschmerzmittel
abgeben, das als analgetischen Wirkstoff Paracetamol enthält.
da bzw. detur, dentur D oder d. »gib« bzw. »es werde gegeben«, »es werden gegeben«.
noctu – »nachts«; wird zugefügt, wenn in einem dringenden Fall der Apotheker das Arzneimittel
auch außerhalb seiner regulären Geschäftszeit abgeben soll. Denn nur bei Rezepten, die
mit diesem Zusatz versehen sind, wird die vom Apotheker erhobene »Nachttaxe« von den
gesetzlichen Krankenkassen vergütet.
pro communitate p.c. »für den Praxisgebrauch«. Vorsicht! Die Abkürzung p.c. kann - wenn sie in die Gebrauchs-
anweisung für den Patienten geschrieben wird - auch »post cenam« (= nach dem Essen)
bedeuten.
signa s. »bezeichne«; darauf folgt die Gebrauchsanweisung (Signatur) für den Patienten.
sine confectione s.c. Soll der Patient aus der vom Hersteller gewählten Verpackung bzw. dem Beipackzettel Name
oder Indikation des Arzneimittels nicht erfahren (z. B. bei Zytostatika), so gibt der Apotheker
bei diesem Zusatz das Arzneimittel in neutraler Packung ab. Eine Kennzeichnung des Arznei-
mittels ist ihm jedoch vorgeschrieben (§ 14 Apothekerbetriebsordnung). Er kann dazu den
Freinamen oder die chemische Bezeichnung des Wirkstoffes benutzen.
Allgemeinen ihre Muttersprache sicherer beherrschen als die bation als Arzt geführt werden können. Die Angabe der Fach-
lateinische, soll wegen der geringeren Gefahr eines Miss- richtung (z. B. Ärztin für Allgemeinmedizin) ist wünschens-
verständnisses die deutsche Sprache vorgezogen werden. Der wert, aber nicht vorgeschrieben.
Gebrauch einiger Abkürzungen, die sich aus der latinisierten
Schreibweise ergeben haben, kann dagegen empfohlen wer- Telefonnummer des Arztes. Vom Gesetzgeber wird nur bei
den, da diese nicht nur kürzer sind, sondern auch eine genau BtM-Rezepten verlangt, dass der Verschreibende seine Tele-
definierte Bedeutung haben. Sie spielen vor allem bei der Re- fonnummer auf dem Rezept für evtl. Rückfragen des Apothe-
zeptur eine Rolle (7 Kap. 4.3). Die wichtigsten Abkürzungen kers angibt. Es ist jedoch auch bei anderen Verschreibungen
sind in . Tab. 4.1 zusammengefasst. empfehlenswert, dies zu tun.
Adresse des Arztes. Aus der Adresse muss hervorgehen, Zahl der verschriebenen Arzneimittel. Im Allgemeinen ist es
dass der Verschreibende ein Arzt, Zahnarzt oder Tierarzt ist. gestattet, auf einem Rezeptformular mehrere Arzneistoffe
Hierbei handelt es sich um geschützte Berufsbezeichnungen, bzw. Arzneimittel zu verschreiben (für BtM gelten besondere
die nur führen darf, wer die entsprechende Approbation be- Vorschriften, 7 Kap. 4.5.3). Verordnungen zu Lasten der GKV
sitzt. Die Angabe der ärztlichen Berufsgruppe ist auch deshalb sollten aus abrechnungstechnischen Gründen nicht mehr als
notwendig, weil der Apotheker nachprüfen muss, ob das ver- drei Arzneimittel pro Rezept enthalten (. Abb. 4.10).
schriebene Arzneimittel in den Tätigkeitsbereich des betref-f
fenden Arztes fällt16. Die alleinige Angabe »Dr. med. Hans Spezialitäten, Generika und Reimport-Arzneimittel. Fertig-
Meier« oder »Dr. Hans Meier, Psychotherapeut« ist nicht aus- arzneimittel, die unter einem besonderen, meist geschützten
reichend, da diese Bezeichnungen und Titel auch ohne Appro- Warenzeichen im Handel sind (z. B. Aspirin®) werden als
36 Kapitel 4 · Verschreibung und Abgabe von Arzneimitteln
. Abb. 4.4. Beispiel für die Verschreibung einer Arzneispezialität . Abb. 4.5. Beispiel für eine Verschreibung ohne Festlegung eines
Handelspräparates
Arzneispezialitäten (. Abb. 4.4) bezeichnet. Neben den Ori- tel dieser als Monopräparat mit dem verschriebenen Wirk-
ginalpräparaten (= die erste Arzneispezialität, für die ein neu- stoff abgibt. Die Entscheidung des Apothekers hängt jedoch
er Wirkstoff entwickelt wurde) gibt es Fertigarzneimittel, Ge- davon ab, ob es sich um ein Privatrezept oder ein Kassen-
nerika (7 Kap. 1.3 und Beispiel . Abb. 4.5) genannt, die nach rezept handelt. Bei einem Privatrezept muss er im ersten Fall
Auslaufen des Patentschutzes für das Originalpräparat von das konkret verordnete Fertigarzneimittel abgeben, während
anderen Herstellern in den Handel gebracht werden. Sie tra- er im zweiten Fall frei zwischen Originalpräparat, den ver-
gen häufig nur den internationalen Freinamen (INN: interna- schiedenen Generika oder einem Reimport-Arzneimittel
tional nonproprietary name) sowie den Namen des Herstellers wählen kann, soweit dieses den Wirkstoff als Monopräparat in
(z. B. Diclofenac Stada®), das muss aber nicht so sein. Da der der verlangten Dosis enthält. Bei einem Kassenrezept muss er
Preis dieser Präparate ohne Forschungs- und Entwicklungs- jedoch die Regelungen des SGB V zur Wirtschaftlichkeit der
kosten kalkuliert werden kann, sind Generika oft erheblich Verordnung im Rahmen der GKV beachten. Seit Juli 2007
billiger. Unter Reimport-Arzneimitteln versteht man für den spielen hier vor allem die sog. »Rabattverträge« zwischen
ausländischen Markt gefertigte, namens- und herstellerglei- Krankenkassen und Herstellern eine bedeutende Rolle, die –
che Arzneimittel, die aus dem Ausland nach Deutschland zu- abhängig von Krankenkasse und Wirkstoff – den Apotheker
rückimportiert werden. Reimporte finden nur dann statt, zur Abgabe des Präparates eines bestimmten Herstellers
wenn das Arzneimittel dadurch billiger verfügbar wird als die zwingen. Gibt es für einen Wirkstoff keinen solchen Vertrag,
deutsche Arzneispezialität. Dies wird an einem Beispiel so muss der Apotheker eines der drei billigsten Generika ab-
(. Tab. 4.2) deutlich. geben. Freilich hat der Arzt auch heute noch die Möglichkeit,
die Abgabe eines bestimmten Handelspräparates sicher zu
Bezeichnung des Arzneimittels. Der Arzt kann ein Arznei- stellen: Er muss auf dem Muster-16-Formular (. Abb. 4.10)
mittel unter Angabe eines bestimmten Handelsnamens oder das mit »aut idem« überschriebene Kästchen für das entspre-
ohne Nennung eines Warenzeichens unter dem Freinamen chende Medikament ankreuzen, um die Substitution durch
(INN, vgl. 1.3) verschreiben (. Abb. 4.4 und . Abb. 4.5). Er den Apotheker auszuschließen (beachte die dem Wortsinn ent-
überlässt es damit dem Apotheker, welches Fertigarzneimit- gegengesetzte Bedeutung dieses Kreuzes auf den Kassen-
rezepten! 7 Kap. 4.2.3).
Tabletten Der Wirkstoff ist zusammen mit Füll- und Bindemittel Per os. Lutschtabletten lässt man im Mund zergehen.
zu meist runden Formen gepresst. Der Zusatz sog. Weitere Sonderformen: Filmtabletten mit einem dün-
Sprengmittel erleichtert den Zerfall im Wasser. nen wasserlöslichen Überzug; magensaftresistente
Tabletten; Brausetabletten, die in Wasser aufzulösen
sind; Tabletten mit gesteuerter Wirkstofffreigabe
(sog. Retardtabletten); Implantationstabletten
Dragees Mit Zuckerschicht überzogener tablettierter Kern Per os. Dragees werden meist unzerkaut geschluckt. Die
von meist linsenförmiger Gestalt Zuckerschicht gibt dann erst nach ihrer Auflösung im
Magen den oft schlecht schmeckenden Wirkstoff frei.
Kapseln Aus Hart- oder Weichgelatine bzw. Stärke, die sich Per os. Kapseln werden in der Regel unzerkaut ge-
im Magen oder bei besonderen Kapseln erst im schluckt. Sublingualkapseln werden nur zerbissen,
Darm auflösen. Inhalt fest (Pulver) und flüssig. In der Inhalt im Mund behalten.
Kapseln können relativ große Wirkstoffmengen
untergebracht werden.
Zäpfchen (Suppo- Die Wirksubstanz befindet sich in einer Grundmasse, Rektal oder vaginal
sitorien) die nach dem Einführen in die Körperhöhle erweicht
oder sich verflüssigt. Die Art der Grundmasse (fettig
oder wasserlöslich) bestimmt in hohem Maße die
Resorption des Wirkstoffes
Injektions- oder Wässrige (i.m. auch ölige) Lösungen, eventuell mit Parenteral. Die Lösungen müssen steril sein. Bei der
Infusionslösungen Zusatz von Lösungsvermittlern. Entweder in Ampul- Anwendung im Gewebe ist außerdem Isotonie sowie
len eingeschmolzen oder in Flaschen mit durch- evtl. Isohydrie erforderlich, da sonst Nekrosen entste-
stechbarer Gummikappe verpackt. hen können.
Tropfen Meist wässrige Lösungen von Arzneimitteln denen Per os. oder lokal als Augen-, Nasen- bzw. Ohrentrop-
oft Konservierungsmittel zugesetzt sind. In Tropf- fen. Augentropfen müssen steril, annähernd isoton
oder Pipettenflaschen verpackt. Sollen Augentropfen und isohydrisch sein. Die Flasche muss mit dem
kein Konservierungsmittel enthalten, muss dies auf Vermerk versehen sein: »Nach Anbruch nur 1 Monat
dem Rezept vermerkt werden, da es andernfalls verwendbar«.
vom Apotheker (auch ohne besondere Anweisung)
zugesetzt werden muss.
Dosieraerosole In einem Gefäß mit Sprühmechanik befindet sich Zur Inhalation z. B. von Asthmamitteln
die Wirkstofflösung zusammen mit einem Treibmit-
tel. Durch jeden Sprühstoß wird eine definierte Dosis
Wirkstoff in Form feinster Tröpfchen abgegeben.
Pulverinhalatoren Bei den Pulverinhalatoren befinden sich die Einzel- Zur Inhalation z. B. von Asthmamitteln
dosen des Wirkstoffs
4 als Feinpulver in einer Kapsel. Diese wird in die
Zerstäubervorrichtung eingesetzt und mecha-
nisch geöffnet. Durch einen kleinen Propeller
der Vorrichtung wird der Wirkstoff verwirbelt und
der entstehende Staub inhaliert
4 als mikronisiertes Pulver im Luftkanal des Pulver-
inhalators, in den es durch Drehen eines Knopfes
über eine Dosierscheibe exakt dosiert einge-
6 bracht wird.
38 Kapitel 4 · Verschreibung und Abgabe von Arzneimitteln
Puder Pulverisierter Wirkstoff zusammen mit Talkum oder Auf der Haut.
anderen Füll- und Gleitmitteln
Salben Der Wirkstoff befindet sich in einer einphasigen Auf der Haut. Außerdem Spezialsalben zur Anwendung
fettigen (z. B. Vaselin) oder in einer einphasigen an Auge, Nasen- und Mundschleimhaut. Die Art der
wasserlöslichen (z. B. Polyethylenglykolsalbe DAB 8) Salbengrundlage ist von Bedeutung für die Resorbier-
streichfähigen Grundmasse. Als Creme wird eine barkeit des Wirkstoffes sowie für die Abwaschbarkeit
wasserhaltige Salbe bezeichnet. Je nach Emulsions- der Salbe.
typ unterscheidet man die Wasser-in-Öl-Emulsion
(W/O, z. B. »wasserhaltige Wollwachsalkoholsalbe«
DAB) und die Öl-in-Wasser-Emulsion (O/W, z. B.
»wasserhaltige hydrophile Salbe« DAB). Salbenartige
Zubereitungen mit sehr hohem Anteil an festen,
pulverförmigen Bestandteilen (bis 50%) werden als
Pasten bezeichnet (z. B. »Zinkpaste« DAB).
Gele Wässrige Lösungen des Wirkstoffes mit Zusatz von Auf der Haut. Nach dem Auftragen trocknet das Gel
Gel-Bildnern ein und hinterlässt eine dünnen wirkstoffhaltigen Film,
der abwaschbar ist.
Schüttelmixturen Suspension pulverförmiger Bestandteile (z. B. Talkum) Auf der Haut. Wird nach kräftigem Aufschütteln auf-
(Lotionen) in einer glycerolhaltigen Lösung getragen. Hinterlässt nach Verdunsten des Wassers
eine kosmetisch wenig störende Schicht der suspen-
dierten bzw. gelösten Stoffe, die durch den Glycerol-
zusatz haften.
Transdermale Auf die Haut aufzuklebende Pflaster mit einer Matrix, Zur kontinuierlichen Anwendung von Wirkstoffen,
therapeutische die den Wirkstoff enthält. Aus der Matrix wird der v. a. wenn diese wegen schneller Metabolisierung
Systeme (TTS) Wirkstoff längere Zeit gleichmäßig abgegeben und bei der ersten Leberpassage per os wenig wirksam sind.
gelangt nach Resorption durch die Haut zur systemi- Beispiele: Estradiol, Glyceroltrinitat, Scopolamin.
schen Wirkung.
Flüssigkeit Tropfen
»Aut idem«, »aut simile«. Nach der Apothekenbetriebsord- Bezeichnung der Wirkstoffe. Diese müssen wegen der unter-
nung muss der Apotheker dasjenige Arzneimittel abgeben, schiedlichen Molekularmassen chemisch korrekt und voll-
das der verschreibende Arzt namentlich auf der Verschrei- ständig bezeichnet werden. Zum Beispiel »Morphin«, wenn
bung genannt hat (z. B. Aspirin®). Selbst wenn er dieses Mittel die Base gemeint ist, bei den Salzen des Morphins »Morphin-
nicht vorrätig hat oder es nicht schnell genug beschaffen kann, hydrochlorid« bzw. »Morphinsulfat«. Missverständnisse sind
ist es ihm (ohne Rückfrage beim Arzt) nicht erlaubt, ein ande- auch durch den Gebrauch von nicht eindeutigen Abkürzungen
res »gleich wirkendes« (»aut idem«) oder »ähnlich wirkendes« möglich. So kann »Kal. sulf.« als Abkürzung für drei verschie-
(»aut simile«) Mittel abzugeben (Substitutionsverbot). Der dene Substanzen verstanden werden, nämlich Kaliumsulfid,
Arzt kann den Apotheker von diesem Substitutionsverbot ent- -sulfit oder -sulfat.
binden, wenn er auf der Verschreibung den Vermerk »aut
idem« oder »aut simile« anbringt (. Tab. 4.1). Nach der Apo- Mengenangaben. Bei einer Rezeptur werden die Mengen der
thekenbetriebsordnung darf der Apotheker allerdings bei der zu verarbeitenden Wirkstoffe als Menge pro Tablette, Zäpf- f
Dienstbereitschaft außerhalb der allgemeinen Ladenöffnungs- chen, Ampulle usw. zusammen mit der Anweisung für die
zeiten ein anderes gleich wirkendes Arzneimittel abgeben gewünschte Stückzahl, z. B. »6 solcher Zäpfchen«, angegeben
(»Aut-idem«-Substitution), wenn: (Dispensiermethode). Ein Beispiel dafür zeigt . Abb. 4.7. Al-
4 das verschriebene Arzneimittel nicht verfügbar ist und ternativ kann auch die Gesamtmenge mit Angabe von Art und
4 ein dringender Fall vorliegt, der die unverzügliche An- Stückzahl der Arzneiform aufgeschrieben werden (Dividier-
wendung des Arzneimittels erforderlich macht. methode). Bei flüssigen Arzneizubereitungen oder Salben
verschreibt man immer die Gesamtmenge (. Abb. 4.8 und
Das substituierte Arzneimittel muss mit dem verschriebenen . Abb. 4.9). Der Patient misst sich dann nach der Anweisung
Arzneimittel die Einzeldosis (Tropfen, Messlöffel usw.) selbst ab.
4 nach Anwendungsgebiet und
4 nach Art der wirksamen Bestandteile identisch sowie Arzneihilfsstoffe
4 in der Darreichungsform und
4 Lösungsmittel
4 in der pharmazeutischen Qualität vergleichbar sein.
4 Tabletten- oder Suppositoriengrundmasse
4 Die Gesamtmenge darf die verordnete Menge nicht über-
4 Salbengrundlage
schreiten.
4 Stabilisierungs- und Konservierungsmittel
Von diesem Substitutionsverbot ausgenommen sind Rege-
lungen des SGB V für den Bereich der gesetzlichen Kranken- Art und Menge der Arzneihilfsstoffe können in der Regel dem
kassen, die den Apotheker dazu verpflichten, bei nicht wirt- Apotheker überlassen werden, der von deren galenischer Eig-
schaftlicher Verordnung durch den Arzt ein preisgünstigeres nung meist mehr versteht als der Arzt. Man gibt nur die all-
Handelspräparat gleicher Zusammensetzung und Qualität gemeine Bezeichnung für die Grundmasse an (. Abb. 4.7)
abzugeben. Durch Ankreuzen des »Aut-idem«-Feldes auf den und fügt zur Bezeichnung der Menge die Abkürzung »q.s.«
Kassenrezeptformularen kann der Arzt diesen Austausch ver- (quantum satis = so viel wie nötig) an. Soll dem Wirkstoff
bieten (s. oben »Bezeichnung des Arzneimittels«). Lösungsmittel oder z. B. eine Salbengrundmasse bis zu einer
bestimmten Gesamtmenge zugesetzt werden (. Abb. 4.8 und
. Abb. 4.9), so schreibt man z. B. »Wasser für Injektionszwe-
cke ad 100,0« oder »Polyethylenglykolsalbe ad 50,0«.
. Abb. 4.8. Verschreibung einer Hydrocortison-Salbe als Rezeptur . Abb. 4.9. Verschreibung einer Infusionslösung als Rezeptur
werden. Bei Zäpfchen sollten aus diesem Grunde 6 Stück oder Arzneimitteln zur Substitution von Drogenabhängigen vor-
ein Mehrfaches davon verschrieben werden (. Abb. 4.7). kommen. Bei den festen Arzneiformen haben am ehesten
noch Kapseln eine Bedeutung. Eine Rezeptur der übrigen For-
Anweisungen zur Verarbeitung. In der Regel ist es überflüs- men ist so selten geworden, dass sich eine Beschreibung an
sig, dem Apotheker zu beschreiben, wie er die Wirk- und dieser Stelle erübrigt.
Hilfsstoffe zur fertigen Arznei verarbeiten soll, denn dafür ist
er der Fachmann. Es genügt zu schreiben: »als Salbe«, »als
Zäpfchen«, »als Injektionslösung« (. Abb. 4.7 bis . Abb. 4.9 4.4 Verschreibung auf Formularen der
und . Abb. 4.11). Schließlich gehören hierher auch noch An- gesetzlichen Krankenkassen (GKV)
weisungen zur Sterilisation, Konservierung oder Isotonie und
Isohydrie der Lösung soweit dies dem Apotheker nicht bereits Rezeptformulare. Für Rezepte, die zu Lasten der gesetzlichen
durch das DAB vorgegeben ist. Im Interesse der Eindeutigkeit Krankenkassen gehen, müssen besondere Formulare benutzt
einer Verschreibung ist es ratsam, lieber ein Wort zu viel als zu werden (Muster 16 Formular, . Abb. 4.10). Andere Träger wie
wenig zu schreiben. z. B. Bundeswehr, benutzen davon abweichende Formulare.
Gemeinsam ist jedoch allen, dass auf den Formularen zusätz-
Anweisungen zur Verpackung. Der Arzt kann dem Apothe- lich zur Verschreibung noch Angaben zum »Status« des Pati-
ker auch vorschreiben in welches Gefäß er die fertige Zube- enten bzw. der mitversicherten Familienangehörigen gemacht
reitung abfüllen soll, doch ist auch dies meist überflüssig. Man werden müssen. Darüber hinaus sind vom Arzt maschinen-
darf voraussetzen, dass der Apotheker eine Salbe nicht in eine lesbar die Kassennummer, Versichertennummer, Betriebsstät-
Ampulle und eine Injektionslösung nicht in ein Salbengefäß tennummer, Arztnummer und das Ausstellungsdatum einzu-
einfüllt. tragen.
Signatur. Bei Rezepturen wird die Angabe einer Gebrauchs- Wirtschaftlichkeit der Verschreibung. Diese sollte zwar bei
anweisung durch die Arzneimittelverschreibungsverordnung4 jeder Verschreibung beachtet werden, sie hat aber bei den Kas-
zwingend vorgeschrieben. senrezepten eine besondere Bedeutung, weil der Arzt durch
die Verträge mit den Kassen sowie auch durch die Bestim-
Bedeutung von Rezepturen. Im Gegensatz zu früher handelt mungen des SGB V gehalten ist, das angestrebte therapeu-
es sich heute um relativ seltene Verschreibungsarten, die im tische Ziel mit möglichst geringem Kostenaufwand zu errei-
Wesentlichen noch bei Salben und manchmal bei Injektions- chen (7 Kap. 1.9) sowie ein vorgegebenes Gesamtbudget für
lösungen oder Suppositorien, auch bei der Herstellung von sein Verschreibungsvolumen nicht zu überschreiten. Verstößt
4.4 · Verschreibung auf Formularen der gesetzlichen Krankenkassen (GKV)
43 4
. Abb. 4.10. Verschreibungsformular für Rezepte zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen, geeignet für maschinelle Lesbarkeit und EDV-
gestützte Ausfertigung
er dagegen, kann er regresspflichtig gemacht werden. Der Arzt die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für ein Arzneimit-
darf also bei der Auswahl eines Arzneimittels nicht nur von tel übernehmen. Die Festbeträge werden für jede Arzneimit-
den therapeutischen Eigenschaften ausgehen, sondern muss telgruppe im Bundesanzeiger bekannt gemacht und in der
den Preis miteinbeziehen. Eine Hilfe bei diesen Überlegungen medizinischen und pharmazeutischen Fachpresse veröffent-
können die in der Übersicht genannten Publikationen geben. licht. Verschreibt der Arzt ein Arzneimittel, das den Festbe-
trag überschreitet, muss der Patient die Differenz selbst zuzah-
Literatur über Preisvergleiche bei gleichartig len. Der Arzt ist verpflichtet, den Patienten darauf hinzuwei-
wirkenden Arzneimitteln: sen! Die meisten, aber keineswegs alle Hersteller von Fertig-
präparaten haben inzwischen ihre Arzneimittelpreise dieser
4 »Transparenzlisten«, herausgegeben vom Bundes-
Obergrenze angepasst.
institut für Arzneimittel und Medizinprodukte,
MMV Medizin Verlag, München;
4 »Arzneimittelbrief« , Westkreuz-Verlag, Berlin; monat- Festbeträge
lich Festbeträge betreffen folgende drei Gruppen:
4 »Arzneitelegramm«, Arzneimittelinformationsdienst 4 Arzneimittel mit denselben Wirkstoffen
GmbH, Berlin (ATI); monatlich 4 Arzneimittel, deren Wirkstoffe sich pharmakologisch
4 »Arzneiverordnung in der Praxis (AVP)«, Arzneimittel- und chemisch ähnlich sind (sog. Molekülvarianten)
kommission der Deutschen Ärzteschaft, Köln viertel- 4 Arzneimittel mit pharmakologisch-therapeutisch ver-
jährlich gleichbarer Wirkung, insbesondere Kombinationen,
4 »Arzneiverordnungs-Report«, Springer, Berlin Heidel- aber auch noch patentgeschützte Originalpräparate
berg, jährlich in gleichen Indikationsgebieten
4 »Arzneiverordnungen«, Deutscher Ärzteverlag, Köln,
21. Auflage, 2006
Auf Kassenrezept nicht verschreibbare Mittel. Einige Arz-
neimittel sind von der kassenärztlichen Verordnung gänzlich
Festbeträge. Eine Kostenersparnis wird auch durch die mit ausgeschlossen (Negativliste)8,9.
dem Gesundheitsreformgesetz (GRG) 1988 eingeführten
Festbeträge angestrebt. Dies sind Obergrenzen, bis zu denen
44 Kapitel 4 · Verschreibung und Abgabe von Arzneimitteln
Der Ausschluss von Präparaten mit mehr als 3 Wirkstoffen gilt Anlagen zum Betäubungsmittelgesetz
nicht für Arzneimittel, die nach dem 1. Februar 1987 zugelas-
4 Anlage I – Nicht verkehrsfähige Stoffe: Diese Stoffe
sen worden sind und für die ein positiver Beitrag eines jeden
sind gesundheitsgefährdend oder werden nicht zu
Bestandteils ausreichend begründet ist.
therapeutischen Zwecken verwendet (z. B. Diamor-
phin (Heroin), LSD, Mescalin, Haschisch).
Patientenzuzahlung. Versicherte bei den gesetzlichen Kran-
4 Anlage II – Verkehrsfähige, aber nicht verschreibungs-
kenkassen (ausgenommen Personen unter 18 Jahre, Schwange-
fähige Stoffe: Diese Stoffe werden nur als Rohstoffe,
re bei Medikation im Zusammenhang mit der Schwangerschaft
Grundstoffe, Halbsynthetika und Zwischenprodukte
und Versicherungsnehmer bei bestimmten Trägern [z. B. Bun-
verwendet, in Form einer Arzneimittelzubereitung
deswehr, pro Familia]) haben für jede Position einer Verord-
können sie jedoch nicht verschrieben werden (z. B.
nung eine Eigenbeteiligung zu leisten12. Seit dem 01.01.2004
Thebain, Pethidin-Zwischenprodukte, Diamorphin –
richtet sich diese Patientenzuzahlung nach dem Apothekenver-
sofern es zur Herstellung von Zubereitungen zu medi-
kaufspreis des entsprechenden Handelspräparates.
zinischen Zwecken bestimmt ist). Ausnahmen in Ab-
4 Fertigarzneimittel bis 50,-- €: Zuzahlung 5,-- €
hängigkeit von der Konzentration (7 Kap. 4.5.1)
4 Fertigarzneimittel 50,-- bis 100,-- €: Zuzahlung in Höhe
4 Anlage III – Verkehrs- und verschreibungsfähige
von 10% des Verkaufspreises
Stoffe: Diese Stoffe können in Form einer Arzneimit-
4 Fertigarzneimittel über 100,00 €: Zuzahlung 10,-- €
telzubereitung als Betäubungsmittel verschrieben
4 Hilfsmittel: Zuzahlung in Höhe von 10% des Verkaufs-
werden (z. B. Codein, Morphin, Opioide, Barbiturate,
preises (Obergrenze 10,-- € pro Monat pro Indikation für
Benzodiazepine, Diamorphin – nur in Zubereitungen,
zum Verbrauch bestimmte Hilfsmittel, z. B. Inkontinenz-
die zur Substitutionsbehandlung zugelassen sind).
produkte)
Ausnahmen in Abhängigkeit von der Konzentration
4 Vom Apotheker hergestellte Rezeptur: wie Fertigarznei-
(7 Kap. 4.5.1)
mittel
Seit 01.06.2006 wird die Zuzahlung nicht erhoben, wenn das Der im Gesetz verwendete Ausdruck »Betäubungsmittel« hat
Präparat mindestens 30% weniger als der jeweilige Festbetrag historische Gründe und wirkt heute irreführend. Denn neben
kostet. Sozial schwache Versicherte können sich auf Antrag »betäubend« wirkenden Stoffen, wie z. B. Morphin, befinden
bei ihrer Krankenkasse von der Zuzahlung befreien lassen, sich darunter auch zentral erregende Stoffe, wie z. B. Methyl-
wenn die ihnen durch die Zuzahlung im Jahr entstehenden phenidat. Unter dem Begriff »Betäubungsmittel« fasst das
Kosten 2% (bei chronisch Kranken 1%) ihres Jahreseinkom- Gesetz solche Substanzen zusammen, bei welchen – beson-
men übersteigen. ders bei unsachgemäßem Gebrauch – die Gefahr der Entwick-
Die Zuzahlung darf den Preis des Arzneimittels nicht lung einer Abhängigkeit gegeben ist (7 Kap. 7.2.1). Das Gesetz
übersteigen. Durch die Neuregelung der Vergütung der Apo- regelt außerdem Anbau, Einfuhr, Herstellung, Abgabe und
theke kostet jedes verschreibungspflichtige Arzneimittel seit Erwerb der BtM.
dem 01.01.2004 jedoch mindestens 8,10 € (abzüglich 2,30 €
Kassenrabatt bei GKV-Versicherten), da der Apothekenab- Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV).
gabepreis jetzt durch ein sog. »Beratungshonorar« in dieser Diese Verordnung (7 Kap. 4.16) hat im wesentlichen zum Ziel,
4.5 · Verschreibung von Betäubungsmitteln
45 4
die ärztliche Verschreibung von Betäubungsmitteln auf einen sondere Erlaubnis, die vom Bundesinstitut für Arzneimittel
bestimmungsgemäßen Gebrauch einzuengen. Als Grundsatz und Medizinprodukte19 auf begründeten Antrag hin erteilt
gilt: wird.
> Ein Betäubungsmittel darf nur verschrieben werden,
wenn eine zwingende Indikation vorliegt. Die An-
4.5.1 Welche Betäubungsmittel sind
wendung eines BtM ist nicht begründet, wenn das
therapeutische Ziel auf anderen Wegen erreicht
verschreibbar?
werden kann (§ 13 Abs. 1 BtMG).
Nach der BtMVV darf ein Arzt, Zahnarzt oder Tierarzt
Ein anderer Weg ist z. B. Schmerzstillung durch ein Anal- nur Betäubungsmittel aus Anlage III BtMG verschreiben. Die
getikum, das nicht unter die BtM-Regelung fällt und kein Ab- BtMVV führt die von den einzelnen Berufsgruppen verschrei-
hängigkeitspotenzial hat (7 Kap. 7.5) oder Entzugstherapie bungsfähigen Stoffe namentlich getrennt, unter Angabe einer
bei der Substitution von Drogenabhängigen. Andererseits darf Verschreibungs-Höchstmenge auf. Jedoch dürfen diese Stoffe
der Arzt einem an schweren Schmerzen leidenden Patienten niemals als Substanz, sondern nur in Form einer Arzneimit-
ein BtM nicht vorenthalten, nur weil er z. B. die komplizierten telzubereitung verschrieben werden.
Vorschriften scheut. Betäubungsmittel dürfen nur im Rahmen In den . Tab. 4.5 bis . Tab. 4.7 sind die wichtigsten Stoffe
einer ärztlichen Behandlung verschrieben werden. Darunter zusammengefasst, deren Verschreibung durch den Arzt und
fällt auch die Substitutionsbehandlung bei Drogenabhän- den Zahnarzt zulässig ist, nämlich:
gigen, wenn die Substitution unter bestimmten, in der BtMVV 4 Analgetika und Antitussiva (Opioide) (. Tab. 4.5)
festgelegten Bedingungen durchgeführt wird (7 Kap. 4.5.5). 4 Zentral erregende Stoffe (. Tab. 4.6)
Auch der Erwerb und die Verwendung von BtM zu analy- 4 Nur für den Praxisbedarf verschreibungsfähige Betäu-
tischen Zwecken (z. B. Chromatographie) erfordert eine be- bungsmittel (. Tab. 4.7)
Tbl. 0,216/0,432
Amp. 0,785
TTS 2,5/5/7,5/10
Methadon (nur Rezeptur) 3.000 – Lösung zum Einnehmen 10 mg/ml (entspr. 1%)
Tbl. 5/10/40
MSI Mundipharma®
Kps. 50
Supp. 60
Supp. 100
* auch mit Zusatz von Naloxon (z. B. Valoron® N) im Handel und in dieser Form von der BtM-Verschreibungsordnung ausgenommen.
den Potenzen D4–D6 ist verschreibungspflichtig, in höheren 4.5.3 Zahl der verschreibbaren BtM
Potenzen als D6 ist Opium feiverkäuflich).
Je nach Wirkstoff sieht die BtMVV für Ärzte zwei Möglich-
Ausnahmen. Bestimmte Stoffe gelten nicht als BtM wenn in keiten vor:
der fertigen Arzneizubereitung nicht nur ihre Menge begrenzt 4 Von den in der BtMVV namentlich mit Angabe der
ist, sondern außerdem noch bestimmte Zusatzstoffe enthalten Höchstmenge aufgelisteten Wirkstoffen (Tab. 3.3) dürfen
sind, (zum Beispiel Tilidin zusammen mit dem Opiat-Anta- für einen Patienten innerhalb von 30 Tagen bis zu zwei
gonisten Naloxon zur oralen Applikation). Betäubungsmittel unter Einhaltung der Höchstmengen
verschrieben werden.
4 Alternativ darf einer der übrigen in Anlage III BtMG auf- f
4.5.2 »Höchstmenge« geführten Wirkstoffe (im Wesentlichen Schlaf- f und Be-
ruhigungsmittel, 7 Kap. 4.5.1) außer Alfentanil, Cocain,
Verschreibung für einen Patienten. Bei jeder Verschreibung Etorphin, Remifentanil und Sufentanil innerhalb dieser 30
von Betäubungsmitteln ist die in der BtMVV für jeden Wirk- Tage ohne Beachtung einer Höchstmenge verschrieben
stoff angegebene Höchstmenge zu beachten. Sie gibt die werden, sofern die in der Anlage III angegebene Grenz-
Gesamtmenge an, bis zu der dieser Wirkstoff innerhalb von dosierung überschritten werden soll (andernfalls sind diese
30 Tagen für einen Patienten verschrieben werden darf. Die Wirkstoffe ja als ausgenommene Zubereitungen keine
Höchstmengen sind mittlerweile so reichlich bemessen, dass BtM), was in der Praxis nicht vorstellbar ist (7 Kap. 4.5.1).
in der Regel keine Schwierigkeiten auftreten. Allerdings gibt es
mittlerweile z. B. Fentanyl als transdermales therapeutisches Selbstverständlich darf ein bestimmtes Betäubungsmittel in
System (TDS, »Pflaster«), bei dem für die Berechnung der mehreren Arzneiformen gleichzeitig verschrieben werden,
Höchstmenge natürlich auch die insgesamt im Depot enthal- wenn dabei insgesamt die Höchstmenge nicht überschritten
tene Wirkstoffmenge und nicht die Freisetzungsrate entschei- wird (. Abb. 4.11).
dend ist. Dadurch wird selbst bei Verschreibung nur einer N3
Packung die Höchstmenge überschritten. Das Rezept ist somit
mit einem Großbuchstaben A zu kennzeichnen (7 Kap. 4.5.6). 4.5.4 Zeitraum für die Verschreibung
von BtM
Verschreibung für Krankenhaus und den Bedarf in der
Praxis. - Die Beschränkung der Zahl der Betäubungsmittel und die
kenhauses überschritten werden. Für seinen Praxisbedarf darf angegebenen Höchstmengen gelten für einen Zeitraum von
der Arzt Betäubungsmittel bis zur Menge seines durchschnitt- 30 Tagen.
lichen Zweiwochenbedarfs verschreiben. Sein BtM-Vorrat soll
den Bedarf eines Monats nicht überschreiten.
4.5.5 Zeitliche Gültigkeit eines BtM-Rezeptes
. Abb. 4.12. Rezeptur einer Morphinlösung zur oralen Anwendung. rechnen, dass die Gesamtmenge für einen Zeitraum von 5 Tagen ge-
Nach der BtMVV braucht nicht angegeben zu werden, für welchen dacht ist
Zeitraum verschrieben wurde. Aus der Signatur lässt sich jedoch er-
4.5 · Verschreibung von Betäubungsmitteln
49 4
. Abb. 4.14. Kennzeichnung der Gesamtmenge eines Betäubungsmittels bei einem Fertigarzneimittel ohne abgeteilte Arzneiformen
50 Kapitel 4 · Verschreibung und Abgabe von Arzneimitteln
20 Erhältlich für Ärzte und Zahnärzte, die ein Krankenhaus oder eine
4.5.11 Nachweis über den Verbleib Krankenhausabteilung leiten, von der Bundesopiumstelle, Bundes-
der Betäubungsmittel institut fü
f r Arzneimittel und Medizinprodukte, Kurt-Georg-Kie-
singer-Allee 3, 53175 Bonn
Der Verbleib von Betäubungsmitteln (Eingang und Ausgang), 21 Erhältlich bei: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach
die im Praxisbetrieb gebraucht werden, muss auf Karteikarten 100534, 50445 Köln
. Abb. 4.16. Karteikarte zur Eintragung des Bestandes und Verbleibs von Betäubungsmitteln für den Praxisbedarf
52 Kapitel 4 · Verschreibung und Abgabe von Arzneimitteln
In Kürze
5.1 Begriffsbestimmung – 54
. Tab. 5.1. Thiaziddiuretika (Benzothiadiazin-Derivate und gleichartig wirkende Diuretika). Pharmakokinetische Daten und Dosierung
a vgl. jedoch niedrigere Dosis bei antihypertensiver Therapie (7 Kap. 14); b Kombinationspräparat mit Amilorid; c Initialdosis; d Erhal-
tungsdosis
5.3.1 Thiaziddiuretika kontraktion kann – wenn auch selten – mit einer Hyponatri-
(Benzothiadiazinderivate) ämie verbunden sein. Durch die Volumenänderung und die
Elektrolytverschiebungen aktivieren Diuretika das sympatho-
Alle Diuretika dieser Gruppe wirken im Prinzip ähnlich. Sie adrenale System und regen die Renin-, Aldosteron- und Vaso-
hemmen die Natrium- und Chloridreabsorption vorwiegend pressinsekretion an, wodurch der diuretische Effekt stark ab-
im Anfangsteil des distalen Tubulus durch Blockade eines Na- nehmen kann, die renale Kaliumausscheidung aber durch die
trium/Chlorid-Cotransporters in der apikalen Zellmembran, Aldosteronerhöhung gesteigert wird.
wobei maximal 5–10% des glomerulär filtrierten Natriums Eine weitere unerwünschte Wirkung betrifft den Kohlen-
ausgeschieden werden können. Die Chlorid- und Kaliumaus- hydratstoffwechsel. Im Zusammenhang mit Kaliumverlusten
scheidung steigt fast ebenso stark an. Die Kaliumausschei- kann es vorübergehend zu einer Abnahme von Glukosetole-
dung wird wesentlich durch die Kaliumsekretion im distalen ranz bzw. bei prädiabetischer Stoffwechsellage zu einem ma-
Tubulus bestimmt. Bei vermehrtem distalem Natriuman- nifesten Diabetes mellitus kommen. Auch der Fettstoffwech-
gebot, wie es nach Gabe von Diuretika entsteht, erfolgt ein sel kann in ungünstiger Weise beeinflusst werden, allerdings
vermehrter Austausch zwischen Natrium- und Kalium-Ionen, nur bei höheren Dosen und erst nach einer Anwendungsdau-
wodurch die Kaliumausscheidung ansteigt. Dagegen ist es ty- er von mehreren Wochen. Bei länger dauernder Behandlung
pisch für die Diuretika dieser Gruppe, dass sie die Konzentra- steigt auch der Harnsäurespiegel im Plasma an. Die pathoge-
tion von Calcium im Harn durch eine gesteigerte tubuläre netischen Komplikationen des erhöhten Harnsäurespiegels
Calciumreabsorption herabsetzen. Diese Wirkung hat auch sind für Herz-Kreislauf-
f Erkrankungen nicht gesichert.
klinische Bedeutung bei der Therapie und Prophylaxe der Os- Gelegentlich kommt es unter Thiazidtherapie zu Arznei-
teoporose und der Prophylaxe von calciumhaltigen Nieren- mittelexanthemen (z. B. Sulfonamidallergie), sehr selten zu
steinen bei idiopathischer Hyperkalziurie. Anämie oder Pankreatitis.
Bei Niereninsuffizienz mit einer glomerulären Filtrations-
rate unter ca. 30 ml/min (CKD 4) lässt die Wirkung dieser Kinetik und Dosierung. Nach oraler Gabe wird das Wirkungs-
Diuretikagruppe mit Ausnahme von Xipamid nach bzw. kann maximum in etwa 4–6 h erreicht. Das Verteilungsvolumen ist
völlig zum Erliegen kommen. in Abhängigkeit von der Lipidlöslichkeit sehr unterschiedlich.
Die renale Ausscheidung erfolgt durch glomeruläre Filtration
Unerwünschte Wirkungen. Sie sind bei allen Substanzen in und aktive Sekretion im proximalen Tubulus. Durch diese Eli-
dieser Gruppe nahezu identisch. Bei länger dauernder An- minationmechanismen erreichen die Thiazide erst den Ort
wendung diuretisch wirkender Dosen entwickelt sich in 20 ihrer Wirkung, nämlich die luminale Membran der Zellen im
40% der Fälle eine Hypokaliämie und weniger häufig auch distalen Tubulus.
eine Hypomangesiämie. Eine stärker auftretende Volumen-
ausscheidung innerhalb von wenigen Minuten stark an. Mit 200 mg), die ausschließlich dann indiziert sind, wenn bei
Schleifendiuretika kann man bis zu 30% des filtrierten Na- einer stark verminderten glomerulären Filtrationsrate mit den
triums zur Ausscheidung bringen. Diese anhaltende dras- üblichen Dosen keine diuretische Wirkung zu erzielen ist.
tische Diurese ist nur möglich, weil die Schleifendiuretika Furosemid, Piretanid und Bumetanid werden zu etwa 2/3 re-
auch den Na+/K+/2Cl--Cotransporter in der luminalen Memb- nal durch aktive Sekretion in den proximalen Tubulus elimi-
ran der Macula-densa-Zellen hemmen. Hierdurch wird die niert. Die renale Ausscheidung von Torasemid erfolgt zu 25%
Vasokonstriktion des Vas afferens als Reaktion auf die erhöhte als unveränderte Substanz und zu 58% in Form von Metabo-
Natrium-Chlorid-Konzentration in der Tubulusflüssigkeit am liten, die teilweise noch diuretisch wirksam sind. Aufgrund
Macula-densa-Segement blockiert. Diese Hemmung des tu- der kurzen Halbwertszeit der Elimination ist die diuretische
buloglomerulären Feedbacks durch Schleifendiuretika ver- Wirkungsdauer der Schleifendiuretika wesentlich kürzer als
hindert eine Abnahme der glomerulären Filtration. die der Thiaziddiuretika. Die Wirkung der Schleifendiuretika
Der Harn wird unabhängig von der Ausgangssituation beginnt nach oraler Einnahme nach 30–60 min. Bei i.v. Injek-
stets plasmaisoton. Neben der deutlichen Erhöhung der Aus- tion tritt die Wirkung ohne Verzug ein.
scheidung von Chlorid und Natrium wird auch die renalen
Ausscheidung von Kalium, Calcium und Magnesium erhöht.
Das Säure-Basen-Gleichgewicht des Organismus verschiebt 5.3.3 Kaliumsparende Diuretika
sich in Richtung einer metabolischen Alkalose, ohne dass die
diuretische Wirkung dadurch nachlässt. Schleifendiuretika Triamteren und Amilorid sind zwei im spätdistalen Tubulus
wirken auch bei stark eingeschränkter glomerlärer Filtrations- und im Sammelrohr angreifende Diuretika, die die Natrium-
rate (<5 ml/min) oft noch diuresesteigernd. kanäle in der apikalen Zellmembran blockieren. Ihre Bedeu-
tung liegt jedoch weniger in der natriuretischen Wirkung, als
Unerwünschte Wirkungen. Wegen des besonders starken in einer Hemmung der K+-Sekretion, die an die Natriumreab-
und schnell einsetzenden Effektes kann es zu einer Hämo- sorption gekoppelt ist. Da auch die H+-Sekretion abnimmt,
konzentration mit der Gefahr von Thrombenbildungen und steigt die Bicarbonatausscheidung an. Die natriuretische Wir-
unter Umständen zum Kreislaufkollaps kommen. Auch eine kung beider Substanzen ist relativ schwach. Triamteren hemmt
Hyponatriäme kann nach hohen Dosen von Schleifendiure- die Reabsorption von 2–4% des filtrierten NaCl, Amilorid
tika auftreten. Besonders zusammen mit Aminoglykosiden wirkt etwas stärker. Sie werden wegen ihres kaliumretinie-
kann es zu Hörstörungen bis zum permanenten Hörverlust renden Effekts in Kombination mit Thiazid- oder Schleifen-
kommen (7 Kap. 10.1.7). diuretika angewendet.
Triamteren comp-
ratiopharm
Triamteren HCT AL®
Amiloretik
Amilorid HCT Sandoz
Amilorid comp-ratio-
pharm
Unerwünschte Wirkungen. Wichtigste unerwünschte Wir- schwach, doch hat die Ausscheidung von 1,5% des Glomerul-
kung ist eine Hyperkaliämie als Folge von Kaliumretention, umfiltrats längerfristig einen erheblichen Effekt auf die Flüs-
die bei Niereninsuffizienz lebensgefährliche Ausmaße anneh- sigkeitsbilanz. Die Chloridausscheidung nimmt geringfügig,
men kann und eine laufende Kontrolle der Plasma-Kalium- die von Bicarbonat stärker zu, so dass der pH-Wert des Harns
Werte erfordert. Weitere unerwünschte Wirkungen bestehen ansteigt. Aldosteronantagonisten sollten zur Ausschwem-
aus Erbrechen, Wadenkrämpfen, Exanthemen und Pruritus. mung von Ödemen eingesetzt werden, wenn andere Diuretika
aufgrund eines Hyperaldosteronismus (M. Conn) keine aus-
Kinetik und Dosierung. Triamteren unterliegt in der Leber reichende Diurese bewirken.
einer raschen Hydroxylierung zu Hydroxytriamteren, das
dann weiter zum Schwefelsäureester umgewandelt wird. Die- Unerwünschte Wirkungen. Als unerwünschte Wirkung ist
ser Metabolit wird renal ausgeschieden und ist noch diure- vor allen Dingen eine Hyperkaliämie zu beachten, die selbst
tisch wirksam. Als unveränderte Substanz wird Triamteren zu bei gleichzeitiger Gabe von Schleifen- und Thiaziddiuretika
4% renal ausgeschieden. Die Wirkung von Amilorid setzt auftreten kann. Ferner sind Exantheme und gastrointestinale
nach 2 h ein und erreicht nach 10 h ihr Maximum. Amilorid Beschwerden beobachtet worden (Häufigkeit ca. 2%). Eine
wird nicht metabolisiert und jeweils zur Hälfte mit dem Harn typische unerwünschte Wirkung bei Männern ist die Gynä-
und den Fäzes ausgeschieden (. Tab. 5.3). komastie, die dosisabhängig bei ca. 10–50% ausmacht und in
ca. 30% der Fälle von Potenzstörungen begleitet ist. Bei Frauen
kann es zu Regelstörungen wie Zwischenblutungen und Ame-
5.3.4 Aldosteronantagonisten norrhö kommen. Selten treten Stimmveränderungen wie Hei-
serkeit und Änderung der Stimmlage auf, die irreversibel
Spironolacton und das wasserlösliche i.v. injizierbare Kalium- sein können und für manche Berufe große Probleme mit sich
Canreonat sind kompetitive Antagonisten des Aldosteron an
seinem Rezeptor. Diese Substanzen wirken dadurch nur in 9 Triampteren comp-ratiopharm, Triampteren HCT AL
Gegenwart von Aldosteron, dessen Natrium-retinierende und 10 Amiloretik, Amiloretik HCT Sandoz, Amilorid comp-ratiopharm
kaliuretische Wirkungen aufgehoben werden. Da Aldosteron 11 Spironolacton-ratiopharm®, Spironolacton AAA Pharm, Spironol-
»nur« die Ausscheidung von 1,5% des filtrierten Natriums acton AL
kontrolliert, ist die natriuretische Wirkung kurzfristig relativ 12 Inspra®
58 Kapitel 5 · Therapie von Ödemen mit Diuretika
bringen. Die unerwünschten endokrinen Wirkungen beruhen insuffizienz nicht auf ihren renalen Wirkungen, sondern auf
zum Teil auf antagonistischen Effekten von Spironolacton an einer Verminderung der Fibroblastenproliferation im Herzen.
Androgen- und Progesteron-Rezeptoren. Bei Männern wurde Auch bei Anwendung von Eplerenon besteht wie bei allen
nach Gabe von Spironolacton auch eine vermehrte Umwand- kaliumsparenden Diuretika, v. a. bei eingeschränkter Nie-
lung von Testosteron zu Estradiol und eine Hemmung der renfunktion oder bei Kombination mit ACE-Hemmern
Testosteron-Biosynthese nachgewiesen. oder AT1-Rezeptoantagonisten die Gefahr einer Hyperka-
liämie. Zur Therapie des kardial bedingten Ödems wird auf
Kinetik und Dosierung. Nach der enteralen Resorption von 7 Kap. 16.11 verwiesen.
Spironolacton finden sich im Plasma unverändert Spironolac-
ton und insbesondere wirksame schwefelhaltige Metabolite Ödeme bei nephritischem und
wie 7-α-Thiomethyl-Spironolacton und Canrenon. Aufgrund nephrotischem Syndrom
der guten Lipidlöslichkeit ist das Verteilungsvolumen groß. Das nephritische Ödem resultiert aus renaler Natriumreten-
Die Wirkung setzt am zweiten Tag ein und erreicht erst nach tion und gesteigerter Gefäßpermeabilität. Bei einer glome-
3–5 Tagen ein Maximum. Kalium-Canrenoat bewirkt dagegen rulären Filtrationsrate von weniger als 20–30 ml/min sind
in Gegenwart von Aldosteron bereits nach 3–6 h eine Natriu- Thiaziddiuretika in der Regel unwirksam und müssen durch
rese (. Tab. 5.3). Furosemid oder andere Schleifendiuretika ersetzt werden. Da
Eine Weiterentwicklung der Aldosteronantagonisten ist die Wirkung nicht sicher vorhersehbar ist, sollte vorsichtig
das Eplerenon. Seine aldosteronantagonistische Wirkung ent- dosiert werden, um gegebenenfalls große Elektrolyt- und
spricht der von Spironolacton – allerdings weist Eplerenon im Wasserverluste zu vermeiden.
Unterschied zu Spironolacton nur noch eine geringe Affinität Beim nephrotischen Syndrom stehen die renalen Eiweiß-
zu Androgen- und Progesteron-Rezeptoren auf. Demzufolge verluste, die zur Abnahme des kolloidosmotischen Drucks im
treten unerwünschte endokrine Wirkungen nach Applikation Plasma führen, im Vordergrund. Infusionen von Humanal-
dieser Substanz nur selten auf. bumin sind nur kurzfristig wirksam. Um den glomerulären
Eiweißverlust zu vermindern, werden ACE-Hemmer oder
AT1-Rezeptorantagonisten verschrieben. Zur Ödemaus-
5.4 Differenzialtherapeutische schwemmung dieser Patienten setzt man Diuretika ein, wobei
Gesichtspunkte häufig der Einsatz von stark wirkenden Diuretika notwendig
ist. Es muss aber darauf geachtet werden, dass die stark wirk-
5.4.1 Generalisierte Ödeme samen Diuretika keinen zu starken Flüssigkeitsverlust verursa-
chen, denn Patienten mit nephrotischem Syndrom neigen zu
Kardiales Ödem thromboembolischen Komplikationen. Bei einer Plasmaprote-
Die Therapie der Herzinsuffizienz beruht auf der Senkung der inkonzentration von weniger als 2,5 g/dl ist eine gerinnungs-
Vor- und Nachlast des Herzens. Ödeme entstehen durch eine hemmende Therapie indiziert (7 Kap. 9.2.3. und Kap. 9.2.4).
erhöhte Vorlast im Sinne einer venösen Stauung. Gleichzeitig
besteht eine Aktivierung des Sympathikus sowie des Renin- Hepatisches Ödem
Angiotensin-Aldosteron-Systems. Deshalb muss die Therapie Ödeme und Aszites entwickeln sich bei der Leberzirrhose
der Herzinsuffizienz mit Ödemen zunächst die Nachlast ver- durch Pfortaderhochdruck, mangelnde Albuminsynthese
bessern. Dies ist möglich durch die Gabe von ACE-Hemmern und oft sehr ausgeprägtem Hyperaldosteronismus, der auch
oder AT1-Rezeptorantagonisten und β-Blockern. Erst dann durch den verminderten Aldosteronabbau in der Leber ge-
wird nach einer verbesserten Auswurfleistung die Gabe von fördert wird. In aller Regel ist eine Therapie mit Aldosteron-
Diuretika zur Verminderung der Vorlast eingesetzt. antagonisten indiziert. Bei der Entwicklung generalisierter
Verwendet werden in erster Linie Thiaziddiuretika wie Ödeme kann die Gabe von Schleifendiuretika versucht wer-
Hydrochlorothiazid. Aufgrund seiner protrahierten Wirkung den, jedoch besteht dann die erhöhte Gefahr der Entwicklung
bietet Chlortalidon den Vorteil des längeren Dosisintervalls. eines hepatorenalen Syndroms, verbunden mit einer Ver-
Tägliche Gewichtsabnahme sollte während der Ödemaus- schlechterung der Leberfunktion (Unterperfusion durch Blut-
schwemmung 1 kg nicht überschreiten. Reicht die Wirkung drucksenkung) und die Gefahr der Entgleisung des Elek-
der Thiaziddiuretika nicht aus, können Schleifendiuretika wie trolythaushaltes sowie einer weiteren Abnahme des Glome-
zum Beispiel Torasemid oder Furosemid verwendet werden. rulumfiltrates.
Ein Vorteil der Schleifendiuretika bei der Behandlung der
> Intravasaler Volumenmangel als Folge einer forcier-
Herzinsuffizienz besteht darin, dass sie eine Abnahme der glo-
ten Behandlung des Aszites mit Schleifendiuretika
merulären Filtrationsrate verhindern (s. oben).
kann häufig die Ursache eines hepatorenalen Syn-
Die früher häufig beobachtete Hypokaliämie bei Therapie
droms sein.
mit Diuretika wird heute nur noch selten beobachtet wegen
der jetzt zusätzlich gegebenen ACE-Hemmer bzw. AT1-Re-
zeptorantagonisten. Ein weiterer neuer Aspekt ist die Gabe Schwangerschaftsödem
von Aldosteronantagonisten zur Behandlung der Herzinsuf- In dieser Situation sind Diuretika kontraindiziert, da die utero-
fizienz. Nach dem gegenwärtigen Verständnis beruhen die plazentare Durchblutung verschlechtert wird. Die Behandlung
günstigen Wirkungen von Aldosteronantagonisten bei Herz- dieser Ödeme sollte konservativ sein (Bettruhe).
5.4 · Differenzialtherapeutische Gesichtspunkte
59 5
Medikamenten-induzierte Ödeme manchmal noch mit einer entzündlichen Komponente ver-
Zahlreiche Arzneimittel, insbesondere nichtsteroidale Anti- bunden ist, der kolloidosmotische Druck auch im Interstitium
rheumatika, Glukokortikoide und einige Antihypertensiva erhöht ist.
(Vasodilatoren ) können zu renaler Flüssigkeitsretention so- Eine langfristige Therapie dieser Ödemform mit Diureti-
wie zur Ödembildung führen. Die nach Gabe von Calcium- ka ist nicht nur wenig erfolgversprechend, sondern auch nicht
kanalblockern vom Dihydropyridin-Typ gelegentlich auftre- ohne Risiko. Diuretika sollten, wenn überhaupt, nur für we-
tenden Ödeme beruhen nicht auf einer Salz-Flüssigkeits-Re- nige Tage bei ausgeprägten Ödemen und vor dem Anpassen
tention, sondern sind die Folge eines erhöhten Kapillardrucks eines Kompressionsstrumpfes angewendet werden. Sofern
bei Vasodilatation (7 Kap. 14.3.6). Paradox erscheint, dass Diuretika eingesetzt werden, sollten ausschließlich protrahiert
auch durch Diuretika Ödeme ausgelöst werden können. Be- wirkende Substanzen in der niedrigsten Dosierung zur An-
obachtet wird dieses Phänomen bei Frauen, die primär keine wendung gelangen. Der Einsatz schnell und stark wirkender
Ödeme aufweisen und wegen kosmetischer Gründe zur Diuretika könnte zur Hämokonzentration führen und da-
Gewichtsreduktion Diuretika einnehmen. Nach Absetzen der durch sogar eine Thromboseneigung verstärken.
fehlverwendeten Diuretika kommt es als Folge des stimulier- Auch beim Lymphödem sind Diuretika nicht indiziert;
ten Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems zu einer Salz- angezeigt sind physikalische Maßnahmen wie z. B. Lymph-
und Wasserretention, zum Gewichtsanstieg sowie zur Aus- drainage.
bildung von Ödemen, die wiederum bei diesen Frauen zur
Diuretikaeinnahme führen. So genanntes idiopathisches Ödem
Mit diesem Begriff wird ein oft orthostatisch bedingtes Ödem
bezeichnet, das bei sonst gesunden Personen vorkommt. Zu-
5.4.2 Lokale Ödeme meist handelt es sich um jüngere Frauen, bei denen Knöchel-,
Unterschenkel-, aber auch Hand- oder Gesichtsödeme oder
ein allgemeines Spannungsgefühl auftreten. Gelegentlich ste-
Lungen- und Hirnödem bei Höhenkrankheit hen die Symptome in einem zeitlichen Zusammenhang mit
Das Risiko einer Höhenkrankheit, insbesondere eines Lun- dem hormonellen Zyklus.
gen- und Hirnödems, wird von der individuellen Disposition
> Angioneurotisches Ödem und Capillary-Leak-Syn-
bestimmt. Es ist ratsam, eine langsame Höhenakklimatisie-
drom und weitere entzündliche lokale Ödeme stellen
rung anzustreben (nach Erreichen einer Höhe von 2500 m
keine Indikation zur Behandlung mit Diuretika dar.
jeweils Übernachtungen nach Höhenanstieg von nicht mehr
als 300 m/Tag). Für den Notfall sollte die Möglichkeit eines
raschen Verlassens der Höhe gegeben sein. Die Einnahme von In Kürze
Acetazolamid (täglich zweimal 250 mg) hat sich als erfolg-
Generalisierte Ödeme kardialer, hepatischer und renaler
reiche Prophylaxe der Höhenkrankheit bewährt.
Genese gehen einher mit einer Vergrößerung des extra-
Das Lungenödem, das in großer Höhe auch unabhängig
zellulären Flüssigkeitsraumes. Die Therapie von Ödemen
von der Höhenkrankheit entstehen kann, wird nicht mit Diu-
richtet sich zunächst auf die Behebung der Grundkrank-
retika behandelt. Es ist kein Stauungsödem. Es entsteht bei
heit.
erhöhtem Druck in der Arteria pulmonalis und im Pulmonal-
Bei Ödemen kardialer Genese wird die Herzinsuffi-
kapillarbett bei gleichzeitig erniedrigtem Druck in den Aveo-
zienz mit ACE-Inhibitoren plus Diuretika behandelt. Bei
len, wodurch der Druckgradient zwischen den Pulmonalka-
ungenügender Wirkung der Diuretika bei ausgeprägter
pillaren und dem Interstitium ansteigt. Als Prophylaxe und
Herzinsuffizienz (»Diuretikaresistenz«) sollte zunächst
Therapie haben sich Vasodilatatoren bewährt, wie z. B. Sil-
eine Verbesserung der Nierenfunktion (Anstieg der glo-
denafil.
merulären Filtrationsrate) angestrebt werden.
Hirnödem Bei Ödemen hepatischer Genese wird mit der Gabe
von Aldosteronantagonisten (Eplerenon, Spironolacton)
Die Therapie des Hirnödems richtet sich nach der Grund-
begonnen. Bei der Entwicklung des hepatorenalen
krankheit. Die Gabe von Diuretika hat sich nicht bewährt. Ein
Syndroms kann die Ödemtherapie (Aszites plus genera-
Hirnödem bei erhöhtem Hirndruck – unabhängig von der
lisierte Ödeme) mit Schleifendiuretika versucht werden.
Primärkrankheit – kann mit Dexamethason (20–40 mg) the-
Allerdings besteht die Gefahr einer Verschlechterung der
rapiert werden.
Leberfunktion und einer Entgleisung des Elektrolythaus-
Venöse Insuffizienz und Lymphödem haltes.
Für die Therapie von lokalen Ödemen wie Hirnödem,
Aufgrund der pathophysiologischen Ausgangssituation lässt
Lungenödem bei Höhenkrankheit, Ödeme bei venöser
sich der lokale Venendruck bei der venösen Insuffizienz
Insuffizienz, entzündliche Ödeme, ist eine Therapie mit
im Gegensatz zum kardial bedingten Stauungsödem durch
Diuretika nicht indiziert.
Diuretika kaum senken. Wirksam werden kann nur der durch
die Diurese hervorgerufene Anstieg des kolloidosmotischen
Druckes im Plasma. Doch ist auch dieser Effekt meist gering,
weil gerade bei länger bestehender venöser Stauung, die Weiterführende Literatur 7 www.springer.com
6
6.1 Begriffsbestimmung und einem Anstieg der Osmolalität im EZR. Kompensatorisch wird
Pathophysiologie ADH freigesetzt, wodurch die Osmolalität auf isotone oder
hypotone Werte abnimmt. Eine isotone Volumenkontraktion
In diesem Kapitel werden Grundsätze für die Wiederherstel- beobachtet man bei renalen Flüssigkeitsverlusten, bei Aszites
lung einer gestörten Bilanz zwischen Zufuhr und Ausschei- und Pleuraerguss oder bei massivem Gewebsödem durch
dung von Flüssigkeit und Elektrolyten, dargestellt. Dabei steht Rhabdomyolyse. Eine hypotone Volumenkontraktion tritt bei
die Korrektur von Hypovolämien (Volumenkontraktion) und Morbus Addison auf sowie bei einigen Patienten als eine Reak-
von Störungen des Säure-Basen- und des Elektrolythaushalts tion auf Diuretika der Benzothiadiazin-Gruppe durch Verlust
im Vordergrund. Die Behandlung von Ödemen wurde im der renalen Verdünnungsleistung (7 Kap. 5.3.1).
7 Kap. 5 beschrieben. Fragen der Volumensubstitution und Bei Volumenexpansion wird aus dem gedehnten rechten
des Plasmaersatzes zur Wiederauffüllung des Kreislaufs wer- Vorhof atriales natriuretisches Peptid (ANP) freigesetzt.
den in 7 Kap. 19.2 besprochen. Dieses Hormon fördert die renale Natrium-Ausscheidung
und die Diurese und führt so zur Hyponatriämie. Bei fort-
geschrittener Herzinsuffizienz und Leberzirrhose ist die Na-
6.1.1 Störungen der Flüssigkeits- triumkonzentration im EZR bei gleichzeitiger Volumen-
und Natriumbilanz expansion vermindert. Die Abnahme des effektiven arteriellen
Blutvolumens löst eine überschießende ADH-Freisetzung
Der menschliche Körper besteht zu 50–70% aus Wasser, von aus, dadurch wird ein geringes Volumen eines hoch konzent-
dem sich etwa ⅓ im Extrazellulärraum (EZR) und ⅔ im Intra- rierten Harns ausgeschieden. Zu einer Volumenexpansion mit
zellulärraum (IZR) befinden. Interstitielle Flüssigkeit und Plas- Hypernatriämie kann es unter der Wirkung von Mineralo-
ma zusammen verhalten sich somit zum Zellwasser wie 1:2. corticoiden, durch Infusion hypertoner Elektrolytlösung oder
Alle Bilanzstörungen betreffen zunächst den EZR. So- bei Verschlucken von Meerwasser kommen.
lange dessen Osmolalität, die vor allem von der Konzentra-
tion von Natrium und den entsprechenden Anionen bestimmt
wird, nicht verändert wird, bleibt das Volumen des IZR unbe- 6.1.2 Störungen des Säure-Basen-Haushalts
einflusst. Nur wenn die Natriumkonzentration und damit
die Osmolalität des EZR über den Normbereich von 136– Die physiologische Wasserstoffionenkonzentration im Plas-
144 mmol/l bzw. 285 mosmol/l hinaus erhöht oder erniedrigt ma beträgt etwa 40 nmol/l, entsprechend einem pH von 7,4.
ist, wird das Volumen des Zellwassers (IZR) verändert. Die mit dem Leben noch vereinbaren Extremwerte liegen bei
Eine Steigerung der Osmolalität des EZR, z. B. durch 16–100 nmol/l, d. h. in einem pH-Bereich von 7,8–7,0. Die
Glucose oder Mannitol1, lässt die Zellen durch Wasseraus- Konzentration von H+ und damit der Blut-pH wird durch die
strom schrumpfen. Stoffe wie Harnstofff oder Alkohol, die Hydrogencarbonat-, Phosphat-, Plasmaprotein- und Hämo-
sich schnell gleichmäßig im EZR und IZR verteilen, beeinflus- globin-Puffersysteme, die untereinander im Gleichgewicht
sen weder die Osmolalität in einem der Flüssigkeitsräume, stehen, reguliert. Für diagnostische Zwecke ist das Hydrogen-
noch die Größe des IZR. carbonat-Puffersystem von besonderer Bedeutung. Das
Bei einer isotonen Volumenänderung des EZR ist der Mengenverhältnis von H2CO3 zu HCO3– beträgt bei normaler
IZR nicht betroffen. Dagegen führt sowohl die hypotone Vo- Wasserstoffionenkonzentration etwa 1:20. Der pH des Blutes
lumenexpansion als auch die hypotone Volumenkontrak- bleibt so lange normal, wie das Verhältnis von H2CO3 zu
tion des EZR durch Wassereinstrom zur Zellschwellung. Um- HCO3– im Blut 1:20 beträgt. Die Beziehung zwischen den
gekehrt geht eine hypertone Volumenänderung des EZR mit Konzentrationen von Wasserstoffionen, Hydrogencarbona-
Wasserausstrom und daher Zellschrumpfung einher. tionen und gelöster Kohlensäure ist durch folgende Formel
Die Osmolalität der extrazellulären Flüssigkeit wird von definiert:
Osmorezeptoren im Hypothalamus überwacht. Das Plasma-
volumen wird über Barorezeptoren z. B. im Carotissinus und
über Volumenrezeptoren in den Vorhöfen reguliert. Bei An-
stieg der Plasma-Osmolalität löst die Stimulation der Osmo- wobei der numerische Wert für pK im Plasma 6,1 beträgt.
rezeptoren einerseits Durstgefühl, andererseits die Ausschüt- Im Organismus fallen saure Stoffwechselendprodukte an
tung von antidiuretischem Hormon (ADH) mit Drosselung (täglich 20.000 mmol der flüchtigen Säure CO2, 80 mmol
der renalen Ausscheidung von osmotisch freiem Wasser aus. nichtflüchtige Säureäquivalente), die durch Lunge und Nieren
Ein Volumenmangel führt zur Aktivierung des Sympathikus ausgeschieden werden müssen. Daher droht immer die Ge-
sowie des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems, Natrium fahr einer Entgleisung zur sauren Seite. Eine Azidose kann
wird renal zurückgehalten. Bei ausgeprägtem Volumenman- respiratorischen (verminderte pulmonale Elimination von
gel wird ebenfalls ADH ausgeschüttet (so genannte nichtos- Kohlendioxid) oder metabolischen Ursprungs sein. Eine
molare ADH-Stimulation). metabolische Azidose tritt z. B. bei nichtkompensierter dia-
Hypotone Flüssigkeitsverluste können durch Erbrechen betischer Stoffwechsellage (Ketoazidose), bei anaerober Gly-
oder Diarrhö, durch Exsudate bei flächigen Verbrennungen, kolyse durch Gewebshypoxie (Laktazidose), bei verminderter
durch osmotische Diurese mit Mannitol1 oder nach Gabe stark
wirkender Diuretika (7 Kap. 5.3.2) entstehen und führen zu 1 Osmofundin® 15% Infusionslösung, Sterofundin®
6.1 · Begriffsbestimmung und Pathophysiologie
63 6
. Abb. 6.1a–d. Beziehung zwischen
Kalium- und Säure-Basen-Haushalt.
Der Austausch von H+ und K+ zwischen
EZR (weiß) und IZR (grau) ist verein-
facht dargestellt; andere beteiligte
Ionen sind weggelassen
renaler Säureausscheidung oder bei(distal- renalen oder intes- einem Mangel an Mineralocorticoiden verlässt Kalium die
tinalen Hydrogencarbonat-Verlusten auf. Zellen. Insulin schleust Kalium auch bei Abwesenheit von
Alkalotische Stoffwechsellagen sind seltener. Eine respira- Glucose in die Zellen ein.
torische Alkalose mit erniedrigter CO2-Konzentration kann Die engen Beziehungen zwischen dem Kalium- und dem
als Folge von Hyperventilation auftreten. Eine metabolische Säure-Basen-Haushalt sind in . Abb. 6.1 schematisch darge-
Alkalose mit erhöhter Hydrogencarbonatkonzentration wird stellt. Ein Abfall der Kaliumkonzentration im Plasma und
z. B. nach Verlust von saurem Magensaft oder unter Behand- damit im EZR führt zu einem zellulären Kalium-Verlust mit
lung mit Diuretika sowie bei primärem oder sekundärem Hy- gleichzeitiger Aufnahme von Wasserstoffionen; das Ergebnis
peraldosteronismus, Cushing- oder Bartter-Syndrom beob- ist eine Alkalose mit intrazellulärer Azidose (. Abb. 6.1a). Bei
achtet. Die häufigste Ursache der metabolischen Alkalose ist Hyperkaliämie und erhöhter intrazellulärer Kaliumkonzent-
die Hypokaliämie (7 Kap. 6.1.3). Diese Alkalose sollte daher ration kommt es durch den Austritt von Wasserstoffionen aus
konsequenterweise durch Gabe von KCl und nicht durch den Zellen zu einer extrazellulären Azidose (. Abb. 6.1b).
Gabe von Säure-Äquivalenten behandelt werden. Dies gilt Umgekehrt kann die Kaliumkonzentration im EZR und damit
auch für hypochlorämische Alkalosen, da bei einem Mangel im Plasma durch eine Azidose erhöht (. Abb. 6.1c) und durch
an Chloridionen neben der Alkalose oft auch eine Hypokali- eine Alkalose erniedrigt (. Abb. 6.1d) werden.
ämie besteht. Unter den Störungen des Kaliumhaushalts ist der Kalium-
mangel mit Hypokaliämie die häufigere Form. Bilanzstörun-
gen können durch intestinale oder renale Kalium-Verluste
6.1.3 Störungen des Kaliumhaushalts zustande kommen. Intestinale Verluste treten bei Erbrechen
oder Diarrhö auf, u. a. bei Morbus Crohn, renale bei Conn-
Der Gesamt-Kalium-Bestand des menschlichen Körpers oder Bartter-Syndrom, bei Morbus Cushing, bei renovasku-
befindet sich zu 98% im IZR und nur zu 2% im EZR. Die lärer Hypertonie, bei der polyurischen Phase des akuten Nie-
Plasmakonzentration von Kalium, deren Normalwert 3,6– renversagens, ferner durch Diuretika oder Glucocorticoide.
5,0 mmol/l beträgt, wird bestimmt vom Gesamtkörperkali- Eine Hypokaliämie kann auch durch Störungen der Kalium-
um, von der internen Kalium-Homöostase, der Nierenfunkti- Verteilung bedingt sein. Solche treten außer bei Alkalose auch
on und zu einem geringen Teil von der Funktion des Kolons. bei der hypokaliämischen periodischen Paralyse, bei paren-
Die hohe intrazelluläre Kaliumkonzentration und der Kon- teraler Ernährung ohne Kalium-Zufuhr, bei der Rückvertei-
zentrationsunterschied auf beiden Seiten der Zellmembran lung von Kalium bei der Behandlung eines diabetischen Coma
werden durch einen aktiven Austausch von Kalium gegen Na- oder durch Arzneimittel, z. B. Theophyllin2 oder α2-Adreno-
trium aufrecht erhalten. Einflussfaktoren für die Feineinstel- zeptor-Agonisten auf.
lung des intra-/extrazellulären Ionengleichgewichts sind vor Die klinischen Folgen und Symptome des Kalium-
allem Aldosteron und die Aktivität der Na+/K+-ATPase, die mangels betreffen die Skelettmuskulatur durch Schwäche,
von Insulin, dem pH der Extrazellulärflüssigkeit und dem
Grad der Anpassung an die Kalium-Zufuhr abhängt. Bei 2 Bronchoretard, Theophyllin-ratiopharm
64 Kapitel 6 · Therapie mit Elektrolyt- und Infusionslösungen
Myalgie, »restless legs«, Muskellähmungen und Rhabdomyo- 6.1.5 Störungen des Magnesiumhaushalts
lyse und das Herz durch Begünstigung von atrialen und vent-
rikulären Extrasystolen und Erhöhung der Empfindlichkeit Magnesium liegt im Organismus zu 60% im Knochen, zu
für Digitalisglykoside. Im EKG kommt es zur Abflachung der 39% im IZR, v. a. der Muskulatur, und zu 1% im EZR vor. Das
T-Welle, zu einer Senkung der ST-Strecke und zum Auftreten Plasmamagnesium, dessen Konzentration normalerweise
einer U-Welle und TU-Verschmelzungswelle. Die Nieren re- 0,75–1,0 mmol/l beträgt, liegt zu ca. 55% in ionisierter Form
agieren mit einer Verringerung der glomerulären Filtrations- vor, der Rest ist an Proteine gebunden. Die extrazelluläre
rate und der Konzentrierungsfähigkeit, der Darm mit einer Magnesiumkonzentration wird u. a. renal und gastrointestinal
Neigung zu Obstipation und der Stoffwechsel mit gesteigerter reguliert. Zwischen der Magnesiumkonzentration im Plasma
Bildung von Ammoniak, metabolischer Alkalose, erhöhter und dem Magnesium im Knochen besteht ein Gleichgewicht.
Sekretion von Renin und verminderter Sekretion von Insulin Die Magnesiumkonzentration im Plasma ist aber nicht reprä-
und Aldosteron. sentativ für den Magnesium-Bestand des Organismus.
Kaliumüberschuss und Hyperkaliämie können nach Hä- Magnesium ist Cofaktor zahlreicher Enzyme. Der gesamte
molyse oder umfangreichen Gewebsschädigungen (Trauma, Energiestoffwechsel und die neuromuskuläre Erregbarkeit
Verbrennung, Tumorzellzerfall) auftreten, vor allem aber bei sind ebenso wie die Proteinsynthese und die Regulation der
renaler Ausscheidungsinsuffizienz und bei Nebennierenrin- Membranpermeabilität von Magnesium abhängig. Enge Be-
deninsuffizienz. Die renale Kalium-Ausscheidung ist vermin- ziehungen bestehen zum Calciumhaushalt. Chronischer
dert, wenn das Glomerulusfiltrat auf <10 ml/min reduziert ist, Magnesiummangel kann eine Hypokalzämie unterhalten, z. T.
aber auch bei leicht eingeschränkter glomerulärer Filtration durch Suppression der Parathormonsekretion.
(50 ml/min) unter der Wirkung so genannter Kaliumsparender Magnesiummangel kann durch verminderte Zufuhr, ge-
Diuretika (7 Kap. 5.3.3). Ein Aldosteron-Defizit kann außer bei störte intestinale Aufnahme oder durch renale Verluste auf- f
Morbus Addison und Diabetes mellitus z. B. auch unter der Be- treten. Eine Hypomagnesiämie wird ferner beobachtet nach
handlung mit ACE-Hemmern (7 Kap. 14.3.4) auftreten. Wei- akutem Herzinfarkt, chronischem Alkoholismus, langem
tere Ursachen können nicht-selektive α-Adrenozeptor-Antago- Hungern und parenteraler Ernährung mit Magnesium-freien
nisten, Insulinmangel oder metabolische Azidose sein. Lösungen. Von Arzneimitteln können v. a. stark wirkende Di-
uretika, α2-Adrenozeptor-Agonisten, Cisplatin, Ciclosporin3
und Aminoglykosid-Antibiotika eine Hypomagnesiämie her-
6.1.4 Störungen des Calciumhaushalts vorrufen. Klinisch bestehen Zeichen erhöhter neuromuskulä-
rer Erregbarkeit, Konzentrationsstörungen, Apathie und De-
Die Gesamtcalciumkonzentration im Plasma beträgt 2,25– pression, sowie am Herzen Arrhythmien. Die Symptome des
2,7 mmol/l. Davon liegen 45–60% als Calciumionen vor, der Magnesiummangels sind oft nicht von einer meist gleichzeitig
Rest ist an Proteine oder komplex gebunden und nicht ioni- bestehenden Hypokalzämie abgrenzbar.
siert. Die Konzentration des ionisierten Calciums im Plasma
wird auch vom Säure-Basen-Haushalt beeinflusst. Alkalose Indikationen zur Magnesiumtherapie
senkt und Azidose steigert den Ionisationsgrad von Calcium.
4 Myokardinfarkt: Zahlreiche Studien deuten darauf
Allein der ionisierten Calciumfraktion kommt funktio-
hin, dass im Rahmen eines akuten Myokardinfarktes
nelle Bedeutung zu. Calcium-Ionen sind unerlässlich für die
in hohen Dosen intravenös verabreichtes Magnesium
Blutgerinnung, für die elektromechanische Koppelung in
die Inzidenz maligner Herzrhythmusstörungen senkt
Herz- und Skelettmuskulatur sowie für die elektrosekreto-
und möglicherweise die Überlebensrate verbessert;
rische Kopplung in endokrinen Organen (z. B. Hypophysen-
der endgültige Nachweis der Wirksamkeit steht aller-
hinterlappen, Nebennierenmark oder B-Zellen des Pankreas.)
dings noch aus! Der Wirkungsmechanismus ist bisher
Mangel an ionisiertem Calcium tritt bei Hypoparathy-
nicht gut verstanden.
reoidismus, Hypomagnesiämie, akuter Pankreatitis, Mangel
4 Torsade-de-pointes-Tachykardie: Mittel der Wahl
an Vitamin D oder unter der Behandlung mit Antiepileptika,
4 Schwangerschafteklampsie: Mittel der Wahl
Glucocorticoiden oder Schleifendiuretika auf. Klinisch führt
4 Nächtliche Wadenkrämpfe: Magnesium wird häufig
die Abnahme der ionisierten Calciumfraktion zu gesteigerter
zur Therapie eingesetzt, ohne dass die Wirksamkeit in
neuromuskulärer Erregbarkeit bis zu tetanischen Anfällen
klinischen Studien gesichert wurde.
und Krämpfen. Im EKG fallen Verlängerung von QT-Zeit,
ST-Intervall und T-Inversion auf.
Eine Hyperkalzämie wird vor allem bei Patienten mit Eine Hypermagnesiämie beobachtet man mit wenigen Aus-
chronischer Niereninsuffizienz, mit neoplastischen Erkran- nahmen bei Patienten mit fortgeschrittener Niereninsuffizi-
kungen sowie bei Patienten mit einem primären Hyperpara- enz, v. a. wenn magnesiumhaltige Antacida oder Abführmittel
thyreoidismus beobachtet. Sie kann ebenfalls bei Thyreotoxi- genommen werden, aber auch bei normaler Nierenfunktion
kose, Sarkoidose, Vitamin-D-Intoxikation, Morbus Addison, kann eine exzessive Magnesiumzufuhr zur Hypermagnesiä-
Hypophosphatämie, lang dauernder Immobilisation oder mie führen. Behandlung mit Lithium kann bei Niereninsuffi-
unter der Behandlung mit Diuretika der Benzothiadiazin- zienz kann eine Hypermagnesiämie auslösen. Die Symptome
Gruppe (7 Kap. 5.3.1) auftreten.
3 Sandimmun, Cicloral HEXAL, Ciclosporin-1 A Pharma
6.3 · Behandlung der Volumenkontraktion
65 6
der Hypermagnesiämie umfassen verminderte neuromusku- Diuretika abzusetzen, oder bei einem Diabetes insipidus
läre Erregbarkeit mit vermindertem Muskeltonus und fehlenden centralis das Vasopressin-Analogon Desmopressin4 oder bei
Sehnenreflexen, Überleitungsstörungen am Herzen, erniedrig- einem Diabetes insipidus renalis ein Benzothiadiazin-Derivat
ter Blutdruck und drohende Somnolenz, Atemdepression und einzusetzen (7 Kap. 5.3.1). Zur symptomatischen Behandlung
Herzstillstand. gibt man bei leichten Formen extrazellulärer Volumenkont-
raktion zuckerhaltige Kochsalzlösung oral, wobei der Zusatz
von Glucose die intestinale Resorption von Natrium verbes-
6.1.6 Störungen des Phosphathaushalts sert. Ein schweres Volumendefizit muss durch die Infusion
plasmaisotoner Elektrolytlösung, sog. Vollelektrolytlösung,
Phosphat ist im Organismus zu 85% im Skelettsystem, zu 14% ausgeglichen werden.
im IZR und lediglich zu 1% im EZR lokalisiert. Hauptfunktion Bei hypertoner Volumenkontraktion besteht Bedarf an
des Knochenphosphats ist die Sicherstellung der Mineralisa- freiem Wasser, oftmals auch von Elektrolyten. Elektrolytfreie
tion des Knochens. Intrazellulär ist Phosphat insbesondere für Kohlenhydratlösungen sollten nur mit Vorsicht gegeben wer-
den Energiestoffwechsel von Bedeutung durch die Bildung den, da sie leicht die Osmolalität des EZR in ein anderes Ex-
und Spaltung von ATP. trem entgleisen lassen. Auch Lösungen, die in erster Linie zur
Ein Defizit von Phosphat kann bedingt sein durch renale Energiezufuhr gedacht sind, sollten aus Gründen der Wah-
Verluste (z. B. durch Parathormone); durch verminderte in- rung der Osmolalität des EZR halbisoton oder wenigstens
testinale Absorption (z. B. nach aluminiumhaltigen Antacida, ⅓-isoton Elektrolyte enthalten. Die Korrektur einer Hyperos-
bei Vitamin-D-Mangel) oder durch Verteilungsstörungen. molalität, (Hypernatriämie) durch hypotone Elektrolytlö-
Die Folgen des Phosphatmangels umfassen Schäden des hä- sungen muss langsam erfolgen, da bei schneller Anflutung die
mopoetischen Systems, des zentralen sowie des peripheren Gefahr eines Hirnödems droht. Die Konzentration von Natri-
Nervensystems (Irritabilität, Konzentrationsschwäche, Paräs- um im Plasma sollte pro Stunde nicht mehr als 1–2 mmol/l
thesie und Neuropathie) und Schädigungen der Muskulatur gesenkt werden.
(Rhabdomyolyse, Kardiomyopathie) und des Skeletts (Osteo-
! Die Korrektur einer metabolischen Azidose sollte nur
malazie). Dazu kommt eine metabolische Azidose.
bei exzessiven Formen und auf der Grundlage des
Erhöhungen der extrazellulären Phosphatkonzentration
ermittelten Basendefizits erfolgen (7 Kap. 6.4.1).
treten bei Niereninsuffizienz (GFR <30 ml/min), bei Hypopa-
Die Korrektur einer Azidose muss langsam erfolgen,
rathyreoidismus, bei Vitamin-D-Intoxikation oder bei Rhab-
um drohende Natrium-Überladung, Hypokaliämie,
domyolyse auf. Die Folgen der Hyperphosphatämie bestehen
Abnahme der ionisierten Calciumfraktion und eine
in erster Linie in Weichteilverkalkungen, die durch Über-
überschießende Alkalose zu vermeiden. Eine sofor-
schreiten des kritischen Calcium-Phosphat-Produktes
tige Vollkorrektur sollte nicht angestrebt werden.
(>70 mg/dl; >5,7 mmol/l) begünstigt werden.
Bei metabolischer Alkalose ist die Zufuhr von Säureäquiva-
lenten weit seltener erforderlich, da die Korrektur einer alka-
6.2 Prinzipien der Behandlung lotischen Stoffwechsellage in den meisten Fällen durch den
Ausgleich der gestörten Kalium- und Chloridbilanz erfolgt.
Die Substitution von Flüssigkeit und Elektrolyten muss 2 Ziele
verfolgen: Ersatz von verloren gegangener extra-zellulärer
Flüssigkeit und Bilanzausgleich. Der Gesamtbedarf an Flüs- 6.3 Behandlung der Volumenkontraktion
sigkeit, Elektrolyten und Puffersubstanzen ergibt sich somit
aus der Summe von Korrektur- und Erhaltungsbedarf. Eine Die Indikation zur Behandlung einer bestehenden oder zur
erfolgreiche Substitutionstherapie setzt regelmäßige Kontrol- Prävention einer drohenden Volumenkontraktion soll weit
len des klinischen Bildes, der Blutchemie, d. h. der Elektrolyt- gestellt werden. Als Beispiele für eine notwendige Substitu-
konzentrationen einschließlich der Parameter des Säure-Ba- tionstherapie seien hier aufgeführt: Großflächige Verbren-
sen-Haushalts, des Hämatokrit und der Proteinkonzentration, nungen, Hypovolämien durch chirurgische Eingriffe, post-
der Messung von Körpergewicht und zentralem Venendruck operativer Salz- und Wasserverlust, Fieber und starke
und die Bilanzierung externer Flüssigkeitsverluste voraus. Schweißverluste, anhaltende Diarrhö und Erbrechen, Ileus
Die Schätzungen der letzteren werden dann schwierig, wenn und Flüssigkeitssequestierung in den Gastrointestinaltrakt
Flüssigkeitsverluste nicht nach außen, sondern nach innen, in und Flüssigkeitsverluste durch Fisteln.
Körperhöhlen (»third space«), in den Magen-Darm-Trakt Vollelektrolytlösungen enthalten die Kationen Natrium,
oder in Gewebe erfolgt sind. Bei schwerkranken Patienten Kalium, Calcium und Magnesium in etwa den Konzentra-
muss ein täglicher Gewichtsverlust von ca. 300 g infolge Kata- tionen, in denen sie im Plasma vorkommen, und als Anionen
bolismus in Rechnung gestellt werden. Chlorid und z. T. Acetat oder Lactat.
Bei Volumenkontraktion oder -expansion sollten, insbe- Daneben gibt es ⅔-, ½- oder ⅓-Elektrolytlösungen mit
sondere wenn sie mit einer gegenüber dem Plasma erhöhten entsprechenden Mengen von Kohlenhydraten, um die Plas-
oder erniedrigten Osmolalität des EZR, also mit einer Hyper- ma-Isotonie zu erreichen. Mit diesen kann ein relativer Was-
oder Hyponatriämie, einhergehen, die Ursachen beseitigt
werden. Dies bedeutet, Erbrechen oder Diarrhö zu behandeln, 4 Minirin®, Nocutil, Desmogalen® Nasenspray
66 Kapitel 6 · Therapie mit Elektrolyt- und Infusionslösungen
7.2 Opioidanalgetika – 70
Wirkungsweise, erwünschte und unerwünschte Wirkungen – 70
7.2.2 Spezielle Substanzen – 71
7.4 Lokalanästhetika – 74
7.4.1 Wirkungsweise, chemische Struktur – 74
7.4.2 Anwendung – 75
7.4.3 Unerwünschte Wirkungen – 75
7.4.4 Vasokonstriktorische Zusätze – 75
25 7 Lutschtablette: 200–1600 μg
Fixe Kombinationen von Agonisten niert wird. Keine Dosisreduktion bei Niereninsuffizienz ist bei
und Antagonisten Fentanyl2, Alfentanil3, Sufentanil15 und Buprenorphin8 not-
Tilidin und Naloxon12 sowie Oxycodon und Naloxon13. Hin- wendig.
ter diesen Kombinationen steht die Idee, einen Agonisten Bei Leberfunktionsstörungen ist eine Verringerung der
(Tilidin oder Oxycodon) mit einem Antagonisten, der hepa- Dosis bei Morphin und Pethidin5, also bei vorwiegend hepa-
tisch inaktiviert wird, gemeinsam zu verabreichen. Prähepa- tisch metabolisierten Opioiden erforderlich. Tilidin, Trama-
tische Opioidrezeptoren im Darm, die für die Obstipation dol7 und Codein sind Prodrugs, die erst hepatisch aktiviert
verantwortlich gemacht werden, werden durch Naloxon blo- werden müssen. Bei schweren Leberfunktionsstörungen soll-
ckiert. Zudem ist bei missbräuchlicher (intravenöser) Anwen- ten statt dieser andere Analgetika verwendet werden (Dosie-
dung von Valoron N® wegen des Auftretens von Naloxon in rungen . Tab. 7.1).
der systemischen Zirkulation nur mit einer geringen und
langsam einsetzenden Wirkung zu rechnen.
7.3 Antipyretische Analgetika
Zentral wirkende Analgetika ohne Affinität
zu Opioidrezeptoren 7.3.1 Wirkungsweise
Flupirtin14 ist ein zentral wirksames Analgetikum ohne Affi-
nität zu Opioidrezeptoren. Sein Wirkmechanismus ist nicht Der gemeinsame Wirkungsmechanismus der antipyretischen
vollständig aufgeklärt. Analgetika ist vermutlich eine Hemmung der Prostaglandin-
synthese. Diese bewirkt neben der Analgesie auch die anti-
Dosierung bei Nieren- oder Leberfunktions-
störungen
12 Valoron N®, Tilidin comp HEXAL®, Tilidin-ratiopharm plus®
Hier müssen bei verschiedenen Medikamenten Dosiskorrek- 13 Targin®
turen durchgeführt werden. Bei Niereninsuffizienz ist eine 14 Katadolon®, Trancolong®, Trancopal® Dolo
Dosisreduktion bei Morphin erforderlich, da dessen wirk- 15 Sufenta®, Sufentanil HEXAL®
samer Hauptmetabolit Morphin-6-Glucuronid renal elimi- 16 Norspan®
7.3 · Antipyretische Analgetika
73 7
pyretische und, bei den sauren antipyretischen Analgetika, schnelles Anfluten. Zudem werden hier so genannte Retard-
den nichtsteroidalen entzündungshemmenden Wirkstoffen präparate mit prolongierter Wirkstofffreisetzung verwendet.
(engl. non-steroidal antiinflammatory drugs = NSAID),
auch die antiphlogistische Wirkung. Prostaglandine, ins- Unerwünschte Wirkungen. Die meisten unerwünschten Wir-
besondere das Prostaglandin E2, spielen eine bedeutende kungen sind Folge der Cylooxygenasehemmung. Im Vorder-
Rolle bei der Schmerzsensibilisierung im Rahmen von Ent- grund steht die Entstehung von Magen- und Duodenalulcera.
zündungen. Die Blockade ihrer Synthese kann die entzün- Weitere UAW sind das so genannte Analgetika-Asthma und
dungsbedingte Schmerzsensibilisierung weitgehend aufhe- Natrium- und Wasserretention. Lang dauernde Einnahme
ben. NSAID wirken daher bei verschiedenen Entzündungs- kann zur so genannten Analgetika-Nephropathie bis hin
formen antihyperalgetisch, auch bei Verletzungen, postopera- zur dialysepflichtigen Niereninsuffizienz führen. Bei Kopf-
f
tiven Schmerzen, Tumorschmerzen und bei Kopfschmerzen. schmerzpatienten können antipyretische Analgetika bei lang
Die Acetylsalicylsäure nimmt eine Sonderstellung ein, da dauernder Einnahme selbst Kopfschmerzen auslösen (so ge-
nur sie zu einer Acetylierung und damit zu einer irreversiblen nannter Analgetika-Kopfschmerz).
Hemmung der Cyclooxygenasen führt. Dieser irreversiblen
Wirkung liegt die Verwendung der Acetylsalicylsäure als Kontraindikationen. NSAID dürfen nicht bei bestehenden
Thrombozytenaggregations-Hemmer zugrunde (7 Kap. 9.2.2). Magen- oder Duodenalulcera eingenommen werden. Weitere
Ihre Anwendung zur Analgesie ist umstritten, da Cyclooxy- Kontraindikationen sind Asthma bronchiale, Leber- und
genase-Inhibitoren mit geringerer gastrointestinaler Toxizität Niereninsuffizienz. Acetylsalicylsäure darf in der Schwanger-
existieren, die zudem die Thrombzytenaggregation weitge- schaft insbesondere im letzten Trimenon nicht angewendet
hend unbeeinflusst lassen. werden; andere NSAID (Ibuprofen) nur nach strenger Indika-
tionsstellung. Wegen der Gefahr der Auslösung eines Reye-
Syndroms (Enzephalopathie und Leberdegeneration nach
7.3.2 NSAID Virusinfekt) dürfen Kinder vor der Pubertät nicht mit Acetyl-
salicylsäure behandelt werden.
Gemeinsam ist dieser Gruppe die analgetische, antipyretische
und entzündungshemmende Wirkung. Alle drei Wirkungen
beruhen auf der Blockade der Cyloooxygenasen (COX-1 und 7.3.3 Selektive Cyclooxygenase-2-Hemmer
COX-2) und damit der Hemmung der Prostaglandinproduk- (»Coxibe«)
tion (. Tab. 7.2).
Selektive COX-2-Hemmer besitzen eine ähnliche analgetische
Indikationen. NSAID werden als Analgetika häufig bei akuten und antiphlogistische Wirksamkeit wie klassische NSAID.
Schmerzen (z. B. Kopfschmerzen, Zahnschmerzen, Menstrua- Von den klassischen NSAID unterscheiden sie sich in erster
tionsbeschwerden) verwendet. Erwünscht ist hier in erster Linie durch ihre niedrigere gastrointestinale Toxizität und
Linie ein schnelles Einsetzen der analgetischen Wirkung. Not- eine fehlende Hemmung der Thrombozytenaggregation.
wendig dafür ist ein rasches Anfluten des Wirkstoffs nach Auch pseudoallergische Reaktionen (Asthma) scheinen we-
oraler Gabe. Über die Verwendung bei rheumatischen Schmer- sentlich seltener zu sein. Andere z. B. nephrologische uner-
zen 7 Kap. 23. In der Tumorschmerztherapie bilden sie die wünschte Wirkungen, etwa Blutdruckanstieg durch Wasser-
unterste (erste) Stufe der Schmerztherapie (7 Kap. 7.7). Hier und Natriumretention, sind dagegen ähnlich ausgeprägt wie
wird ein möglichst gleichmäßiger Wirkstoffspiegel im Körper bei klassischen NSAID. Verglichen mit den meisten anderen
angestrebt. Eine lange Halbwertszeit ist hier wichtiger als antipyretischen Analgetika haben sie nach oraler Gabe einen
langsameren Anstieg der Plasmakonzentration, was ihre
Eignung für die Behandlung akuter Schmerzen einschränkt.
. Tab. 7.2. In der analgetischen Therapie gebräuchliche anti- . Tab. 7.3 gibt einen Überblick über die derzeit verfügbaren
pyretische Analgetika Coxibe und deren pharmakologische Eigenschaften.
Die Beobachtung, dass nach lang dauernder Einnahme
HWZ [h] Tagesdosierung (≥18 Monate) von Rofecoxib21 kardiovaskuläre Ereignisse
(Myokard- und Hirninfarkte) signifikant häufiger als nach
Acetylsalicylsäure 0,25 500–3000 mg
Placebo auftraten, hat zur freiwilligen Rücknahme des Präpa-
Ibuprofen17 1,8–3,5 3-mal 200–400 mg rats vom Markt geführt. Sehr wahrscheinlich handelt es sich
(bis 1200 mg/Tag) dabei um einen Gruppeneffekt. Patienten mit erhöhtem kar-
diovaskulärem Risiko sollten nicht längere Zeit mit Coxiben
Ketoprofen18 1,5–2,5 1– bis 3-mal 50–100 mg
behandelt werden. Auch bei klassischen NSAID, mit Ausnah-
(300 mg/Tag)
17 Aktren®, Ibu-ratiopharm®, Ibuprofen Atid®, Ibuprofen AL®,
Naproxen19 14 2– bis 3-mal 250 mg
IbuHEXAL®
(1250 mg)
18 Gabrilen®, Ketoprofen-ratiopharm®
Dexketoprofen- 1–2,7 Bis 3-mal 50 mg 19 Proxen®, Naproxen HEXAL, Naproxen AL®
Trometamol20 20 Sympal®
21 Vioxx® (Präparat vom Markt genommen)
74 Kapitel 7 · Therapie mit Analgetika und Lokalanästhetika
7.4 Lokalanästhetika
Das Wirkspektrum der nicht-sauren antipyretischen Analge- Lokalanästhetika verhindern die Entstehung von Aktions-
tika (antipyretische Wirkung und Analgesie) legt eine Hem- potenzialen oder unterbrechen deren Fortleitung durch Blo-
mung der Prostaglandinproduktion v. a. im ZNS nahe. Ex ckade schneller spannungsabhängiger Natriumkanäle. Bei
vitro ist eine geringe Hemmung der Cyclooxygenasen in Injektion in die Umgebung eines peripheren Nervens fallen
analgetischen Dosen nachweisbar. Entsprechend haben diese dessen Funktionen in charakteristischer Reihenfolge aus. Zu-
Wirkstoffe weder eine klinisch relevante antiphlogistische erst werden langsam leitende nicht oder dünn myelinisierte
Wirkung noch eine ulzerogene Wirkung und beeinflussen die Nervenfasern blockiert. Dazu gehören nozizeptive (»schmerz-
Thrombozytenaggregation kaum (. Tab. 7.4). leitende«) und temperatursensitive Fasern sowie vegetative
Paracetamol25 besitzt eine relativ schwache analgetische Fasern. Später fallen auch die dick myelinisierten niedrig-
und gute antipyretische Wirkung. Eingesetzt wird es bei leich- schwelligen mechanosensitiven Nervenfasern aus, die Berüh-
ten (bis mittelgradigen) Schmerzen. Besonders bei Kindern rung und Druck vermitteln, zuletzt die motorischen Funk-
wird es häufig auch als Antipyretikum verwendet. Darüber tionen der peripheren Nerven. Erwünscht ist die Blockade
hinaus liegen ausreichende epidemiologische Daten vor, die
zeigen, dass Paracetamol kein teratogenes Risiko besitzt und
daher in der Schwangerschaft eingenommen werden kann. 22 Celebrex®
Problematisch ist Paracetamol bei Überdosierung. Als to- 23 Dynastat®
24 Arcoxia®
xische Grenzdosis gilt etwa 1 g/10 kg Körpergewicht. Bei Pa-
25 ben-u-ron®, Paracetamol-ratiopharm®
tienten mit vorgeschädigter Leber liegt diese Dosis niedriger.
26 Fluimucil®, ACC HEXAL®, NAC-ratiopharm®
Bei gesicherter Paracetamolvergiftung ist N-Acetylcystein26 27 Novalgin®, Metamizol 1A-Pharma®
als Antidot lebensrettend. 28 Demex® Zahnschmerztabletten, Optalidon® N (Kombination mit
Metamizol27 besitzt eine sehr gute analgetische und anti- Coffein)
pyretische Wirkung und wirkt zudem spasmolytisch, aber in 29 Migräne-Kranit®, Mono-Migränin gegen Kopfschmerzen®
Paracetamol25 1–4 3- bis 4-mal 500–1000 pro Tag (bis 50 mg/kg KG und Tag)
Metamizol27 1,8–4,6 1- bis 4-mal 500–1000 pro Tag (bis 5000 mg/Tag)
Alternativen zu den Katecholaminen bei besonders ge- auch eine intrathekale Analgesie mit Morphin (einmalig 0,1–
fährdeten Patienten sind peptiderge Vasokonstringenzien 0,5 mg) möglich. Sie erfordert ein kontinuierliches Atemmo-
(Felypressin36, Vasopressinanaloga), die keine direkten Wir- nitoring. Die Wirkung hält ungefähr 12–18 h an.
kungen auf das Erregungsleitungssystem des Herzens besit-
zen. Zu den Nachteilen vasokonstriktorischer Zusätze gehören
außerdem Wundheilungsstörungen, die durch die verminder- 7.5.3 Intrathekale Schmerztherapie
te Gewebeperfusion verursacht werden. Nicht zugesetzt wer-
den dürfen Vasokonstringenzien bei der Lokalanästhesie an Zur intrathekalen Therapie ist Ziconotid46 zugelassen. Dabei
Akren (z. B. Finger und Zehen), da sie hier zu ischämischen handelt es sich um ein Peptid, das neuronale Calciumkanäle
Nekrosen führen können. blockiert. Anders als Morphin scheint es keiner Toleranzent-
wicklung zu unterliegen. Es scheint keine lebensbedrohliche
Toxizität bei Überdosierung zu besitzen, es kann allerdings auch
7.5 Medikamentöse postoperative nicht antagonisiert werden. Nebenwirkung treten vor allem im
Schmerztherapie ZNS in Form von Ataxie und Merkfähigkeitsstörungen auf. Sein
Stellenwert für die Therapie schwerer chronischer Schmerzen
Die Wahl des Analgetikums richtet sich nach der Schwere der kann bis heute nicht endgültig angegeben werden. Teilweise
Schmerzen und nach der Schwere des Eingriffs. Während (z. B. in der Schweiz) ist seine Anwendung auf solche Patienten
Schmerzen nach kleinen chirurgischen Eingriffen häufig mit beschränkt, bei denen mit Morphin keine ausreichende Analge-
antipyretischen Analgetika erfolgreich behandelt werden kön- sie erzielt werden kann, oder die Morphin nicht tolerieren.
nen, sollte die analgetische Therapie nach mittleren und gro-
ßen chirurgischen Eingriffen mit schwach wirksamen Opioi-
den (Tramadol7) bzw. stark wirksamen Opioiden (Morphin, 7.6 Schmerztherapie in der Notfallmedizin
Fentanyl2, Buprenorphin8) begonnen werden. Antipyretische
Analgetika können hier zusätzlich gegeben werden, dagegen Im Vordergrund stehen Unfallverletzungen und Myokard-
macht die Kombination von schwach und stark wirksamen infarkte. Medikament der ersten Wahl zur intravenösen
Opioiden keinen Sinn. Schmerzbekämpfung beim Myokardinfarkt ist Morphin
Bei kolikartigen Schmerzen können Spasmolytika (N-Bu- (5 mg), wenn notwendig danach wiederholte Gaben von 2 mg
tylscopolamin37), bei Nervenschmerzen Antikonvulsiva (Clo- und eventuell zusätzlich in kleinen Schritten Midazolam47
nazepam38, Gabapentin39, Pregabalin40) oder Antidepressiva (0,025–0,1 mg/kg). Neben der Analgesie bewirkt Morphin
(Amitriptylin41) zusätzlich gegeben werden. Grundsätzlich eine Verminderung der Linksherzbelastung durch ein ver-
kann der Stufenplan der WHO zur Tumorschmerztherapie mehrtes venöses Pooling.
(. Tab. 7.5) auch bei der postoperativen Schmerztherapie Bei akuten traumatischen Schmerzen eignet sich be-
angewendet werden. Häufig wird man entsprechend der ab- sonders Fentanyl (0,1 mg) evtl. zusammen mit S-Ketamin48
nehmenden Stärke der Schmerzen auf Stufe 3 beginnen und (0,125 mg/kg KG). Ketamin besitzt in subnakotischen Dosen
dann mit nachlassenden Schmerzen auf Stufe 2 und Stufe 1 eine sehr gute analgetische Wirksamkeit und verursacht kei-
zurückgehen. nen unerwünschten Blutdruckabfall.
. Tab. 7.6. Dosierung von wichtigen Analgetika in der Tumorschmerztherapie (orale Applikation)
Antipyretische Analgetika
Transdermale Applikation
8.1 Antipsychotika – 82
8.1.1 Übersicht – 82
8.1.2 Antipsychotika der ersten Generation – 83
8.1.3 Antipsychotika der zweiten Generation – 84
8.1.4 Unerwünschte Arzneimittelwirkungen der Antipsychotika – 89
8.1.5 Spezielle Aspekte der Pharmakotherapie der Schizophrenie – 92
. Tab. 8.1. Übersicht über die in Deutschland am häufigsten verordneten Antipsychotika (Stand November 2008)
Levomepromazin8 16–78/– Hepatisch 1A2, 2D6 5-HT2, H1, M1, α1, geringer D2 100–300
Perazin10 8–16/– Hepatisch 1A2, 2D6 D2, H1, α1, M1-5 100
Prothipendyl13 2–3/– n.b. n.b. H1, α1, geringer D2, 5-HT2A 80–300
Clozapin17 6–26/– Hepatisch 1A2, 3A4 D4, 5-HT2A/C, H1, M1/4, α1, 50
geringer D2/3
Risperidon21h 3/n.b.i Hepatisch 2D6, 3A4 D2, 5-HT2A/C, 5-HT7, α1/2, 1–2
geringer H1
rette-Syndrom oder unter Morbus Parkinson aufgetretene werden zum Teil auf die Blockade von D2-Rezeptoren im nig-
psychotische Symptome. Als Begleitmedikation werden Anti- rostriatalen System zurückgeführt (. Tab. 8.3).
psychotika bei Persönlichkeits-, Angst- und Zwangsstörungen Auch heute noch wird die antipsychotische (»neurolep-
eingesetzt. Eine der herausragenden Indikationen für den Ein- tische«) Potenz der Erstgenerations-Antipsychotika in Chlor-
satz der Antipsychotika ist nach wie vor die Akuttherapie und promazin-Äquivalenten (CPZ) angegeben, worunter man die
die Rezidivprophylaxe schizophrener Störungen. Multiplikation mit 1 mg einer Substanz versteht, die eine ver-
gleichbare antipsychotische Wirkung wie 100 mg Chlorpro-
mazin entfaltet (. Tab. 8.1). Die CPZ kann als ein Anhaltspunkt
8.1.2 Antipsychotika der ersten Generation für die Dosierung der verschiedenen Erstgenerations-Antipsy-
chotika herangezogen werden. Hochpotente Antipsychotika
Der erste Vertreter der Antipsychotika dieser Generation war der ersten Generation haben z. B. Chlorpromazin-Äquivalenz-
das in Deutschland nicht mehr erhältliche Chlorpromazin, das
15 z. B. Amisulid, Solian®
1952 die Therapie schizophrener Psychosen revolutionierte,
16 ABILIFY®
indem es Patienten einer Psychotherapie erst zugänglich mach-
17 z. B. Clozapin HEXAL®, Leponex®
te. Bei den Erstgenerations-Antipsychotika korreliert die Stär- 18 ZYPREXA®
ke der antipsychotischen Wirkung, die von der Bindungsstärke 19 INVEGA®
der einzelnen Pharmaka an Dopamin D2-Rezeptoren abhängt, 20 Seroquel®
besonders stark mit dem Auftreten extrapyramidal-moto- 21 z. B. Risocon®, Risperdal®
rischer Störungen (EPMS). Diese unerwünschten Wirkungen 22 ZELDOX®
84 Kapitel 8 · Therapie mit Antipsychotika und Antidepressiva
dosen von weniger als 5 mg bezogen auf 100 mg Chlorproma- Anzumerken ist, dass das hochpotente Erstgenerations-
zin. Auch für die Antipsychotika der zweiten Generation (s. u.) Antipsychotikum Droperidol, das 2001 vom Markt genom-
werden CPZ angegeben. Allerdings sind CPZ bei diesen Anti- men wurde, für die intravenöse Applikation vor kurzem wie-
psychotika nur bedingt anwendbar, da Zweitgenerations-Anti- der zugelassen wurde. Die Indikation für Droperidol besteht
psychotika andere Wirkungsmechanismen als die der ersten jetzt in der Prophylaxe und der Therapie von postoperativer
Generation aufweisen. Übelkeit und Erbrechen bei Erwachsenen und Kindern (älter
Als niedrigpotente Antipsychotika werden Substanzen als zwei Jahre), sowie in der Prophylaxe und der Therapie
der ersten Generation bezeichnet, die Chlorpromazin- Äqui- opioidinduzierter Übelkeit und Erbrechen bei Erwachsenen.
valente von mehr als 40 mg aufweisen und im Vergleich zu Auch bei Droperidol besteht die Gefahr einer Verlängerung
den hochpotenten Antipsychotika vor allem anticholinerge, des QTc-Intervalls. Daher müssen Interaktionen mit ande-
antisympathotone und sedierende Nebenwirkungen hervor- ren Pharmaka, welche ebenfalls zu einer Verlängerung des
rufen. Daher werden niedrigpotente Erstgenerations-Antip- QTc-Intervalls führen (z. B. bestimmte Antiarrhythmika, Ma-
sychotika als Antipsychotika im eigentlichen Sinne nicht mehr krolidantibiotika), beachtet werden.
eingesetzt, sondern finden nur noch Anwendung als Sedativa
und Hypnotika. Sulpirid, das von manchen Autoren auch als
»atypisches« Antipsychotikum betrachtet wird, ist diesbezüg- 8.1.3 Antipsychotika der zweiten Generation
lich eine Ausnahme, weil es keine sedierende Eigenschaften
besitzt und für die Therapie der Schizophrenie zugelassen Der Begriff »Antipsychotika der zweiten Generation« umfasst
ist. eine heterogene Gruppe von Antipsychotika, die sich vonei-
Haloperidol5 ist der Prototyp der hochpotenten Erstgene- nander in Wirkungsmechanismen, Wirkungen und Neben-
rations-Antipsychotika und der zurzeit am häufigsten verord- wirkungen unterscheiden. Diese vormals als »atypisch« be-
nete Vertreter dieser Klasse. Auch heute noch wird Haloperi- zeichneten Antipsychotika weisen außerdem im Vergleich zu
dol zur Dämpfung akuter psychomotrischer Erregungszu- Erstgenerations-Antipsychotika andere Rezeptorbindungs-
stände und deliranter Zuständen unterschiedlichster Genese profile auf.
eingesetzt. Seine antipschotische Wirkung bezieht Haloperi- Ausgehend vom Clozapin, das mit multiplen Rezeptoren
dol – wie die anderen hochpotenten Erstgenerations-Antipsy- interagiert, wurde das Konzept entwickelt, dass für eine effek-
chotika – aus der Blockade von D2-Rezeptoren im mesolim- tive Therapie schizophrener Psychosen mehrere Neurotrans-
bisch-mesokortikalen System, während die Blockade der- mittersysteme simultan moduliert werden müssen (magic
selben Rezeptoren im nigrostriatalen System ein hohes Risiko shotgun), um auf diese Weise auch z. B. Negativsymptome
für die Auslösung von EPMS bedingt. In therapeutischer Do- oder kognitive Defizite günstig beeinflussen zu können –
sierung weist Haloperidol kaum sedierende und keine anti- gleichzeitig verbunden mit einem geringeren Risiko für das
cholinergen Wirkungen auf. Besonders in hoher Dosierung Auftreten von EPMS. Antipsychotika der ersten Generation
und parentaler Applikation besteht ein gesteigertes Risiko für dahingegen beeinflussen fast ausschließlich die dopaminerge
eine Verlängerung des QTc-Intervalls. Haloperidol erhöht die Neurotransmission (magic bullet). Deshalb wird den Zweit-
Krampfbereitschaft, es sollte daher beispielsweise zur Akut- generations-Antipsychotika, von denen viele neben dem
therapie alkoholbedingter Entzugssyndrome nur in Kombina- D2-Antagonismus z. B. einen zusätzlichen Antagonismus an
tion mit Benzodiazepinen verabreicht werden. Gelegentlich Serotonin 5-HT2-Rezeptoren aufweisen, eine geringere Ne-
treten orthostatische Dysregulationen, verursacht durch eine benwirkungsrate hinsichtlich extrapyramidal-motorischer
Blockade von α1-Adrenozeptoren, auf. Nebenwirkungen, sowie ein breiteres psychopathologisches
Promethazin12 ist der Prototyp der niedrigpotenten Erst- Wirkungsspektrum nachgesagt.
generations-Antipsychotika und eines der am häufigsten ver- Derzeit bestehen jedoch noch einige Kontroversen hin-
ordneten Antipsychotika überhaupt. Es besitzt keine antipsy- sichtlich der Überlegenheit von Zweitgenerations-Antipsy-
chotische Wirksamkeit, weist aber eine ausgesprochen starke chotika. Das Auftreten von EPMS, insbesondere unter Hoch-
sedierende Wirkung auf, die durch Blockade zentraler Hista- dosistherapie mit Zweitgenerations-Antipsychotika, wird
min H1-Rezeptoren verursacht ist. Problematisch ist die aus- beispielsweise bei Olanzapin, Risperidon oder Ziprasidon da-
geprägte anticholinerge Wirkung von Promethazin, welche durch erklärt, dass unter hohen Dosierungen die simultane
vor allem bei älteren Patienten zu gravierenden Nebenwir- Blockade von 5-HT2A- und D2-Rezeptoren, die das Risiko von
kungen führten kann. Besonders in Kombination mit anderen EPMS zu mindern scheint, nicht mehr aufrechterhalten wird.
anticholinerg wirksamen Pharmaka (z. B. trizyklische Anti- Es kommt daher zu einer überwiegenden D2-Blockade im nig-
depressiva, zentral wirksame Anticholinergika) kann ein rostriatalen System mit einem konsekutiv gesteigerten Risiko
medikamenteninduziertes Delir ausgelöst werden. Zudem für das Auftreten von EPMS.
verursacht Promethazin durch die Antagonisierung von
> Die antipsychotische Potenz der Zweitgenerations-
α-Adrenozeptoren sehr häufig ausgesprochene vegetative
Antipsychotika wird in etwa so hoch angesehen
Nebenwirkungen, wie z. B. Hypotonie oder orthostatische
wie die der hochpotenten Vertreter der ersten Gene-
Dysregulation.
ration.
Pimozid und Thioridazin erfordern wegen ihrer ausge-
prägten Kardiotoxizität intensive Kontrolluntersuchungen und Amisulprid15, ein Derivat des Sulpirids, blockiert in niedriger
werden nur noch als Reserve-Antipsychotika verwendet. Dosierung vor allem präsynaptische D2-/D3-Rezeptoren und
8.1 · Antipsychotika
85 8
kann so vorübergehend zu einer gesteigerten Dopaminaus- Wirkung nicht bei. Einerseits werden die multiplen Interak-
schüttung führen, wodurch die Wirksamkeit auf die schizo- tionen mit den verschiedenen Neurotransmittersystem als
phrene Negativsymptomatik erklärt wird. Die selektive Blo- Wirkmechanismus diskutiert, andererseits eine rasche Ab-
ckade von D2- und D3-Rezeptoren ist überwiegend im meso- dissoziation vom D2-Rezeptor und Verstärkung der dopami-
limbischen und tuberoinfundibulären System lokalisiert, we- nergen Neurotransmission im präfrontalen Kortex, wo der
niger im nigrostriatalen System. Amisulprid wird hauptsächlich Ursprungsort der Negativsymptomatik der Schizophrenie
unverändert über die Nieren eliminiert (. Tab. 8.1), dement- vermutet wird. Die HWZ von Clozapin beträgt 12–16 h,
sprechend ist eine Dosisanpassung bei eingeschränkter Nie- wobei einige Metaboliten eine HWZ von ca. 26 h aufweisen
renfunktion erforderlich. Endokrine Nebenwirkungen, be- (. Tab. 8.1).
dingt durch die D2-Blockade, bestehen in einer ausgeprägten
Erhöhung des Prolaktinspiegels, verbunden mit Amenorrhö, Unerwünschte Wirkungen. Die Anwendung von Clozapin ist
Galaktorrhö und sexuellen Funktionsstörungen (. Tab. 8.4). aufgrund der gravierenden Nebenwirkungen dieser Substanz
Daneben treten unter Amisulprid häufig Schlaflosigkeit und auf die Behandlung »therapieresistenter« Schizophrenien
Angst auf. Anzumerken ist, dass während der Therapie Ami- (vorhergehendes Nichtansprechen auf zwei andere Antipsy-
sulprid ein gehäuftes Auftreten von Akathisien zu beobachten chotika trotz angemessener Dosierung, ausreichend langer
ist. Amisulprid kann das QTc-Intervall verlängern und sollte Therapiedauer und Ausschluss anderer Ursachen wie z. B.
deswegen nicht mit Medikamenten, die Herzrhythmusstö- eingeschränkte Compliance) sowie psychotischer Symptome
rungen auslösen können (z. B. Antiarrhythmika der Klasse I im Rahmen des Morbus Parkinson beschränkt (. Tab. 8.4).
und III), kombiniert werden. Einer der Gründe für den restriktiven Einsatz sind Agranulo-
Aripiprazol16 besitzt antagonistische Wirkungen an D3-, zytosen, die in bis zu 1% der Fälle auftreten, bei rechtzeitiger
5-HT2A-, 5-HT2C-, H1-Rezeptoren und α1-Adrenozeptoren. Erkennung aber reversibel sind. Das Risiko scheint in den
Es wirkt partiell agonistisch an D2- und 5-HT1A-Rezeptoren ersten drei Monaten nach Therapiebeginn, und hier insbeson-
und hemmt mäßig die neuronale Wiederaufnahme von Sero- dere im dritten Behandlungsmonat am höchsten zu sein. Da-
tonin. Durch den partiellen Agonismus wirkt Aripiprazol bei her muss vor einer Therapie mit Clozapin ein Differenzial-
dopaminerger Überaktivität im mesolimbischen System, wel- blutbild angefertigt werden. Danach wird die Behandlung mit
che mit psychotischen Symptomen assoziiert ist, antagonis- einer niedrigen Dosis begonnen, die langsam bis zur Zieldosis
tisch, bei dopaminerger Hypoaktivität dagegen agonistisch. gesteigert wird (. Tab. 8.2). Während der ersten 4 Monate der
Aripiprazol wird als ein schwächer wirksames Antipsychoti- Therapie mit Clozapin sollten wöchentliche Blutbildkontrol-
kum angesehen. len erfolgen, danach sind monatliche Kontrollen ausreichend
Aripiprazol besitzt eine HWZ von 60–80 h, die sich bei (. Tab. 8.5). Clozapin darf nicht mit anderen Pharmaka, die
schlechten Metabolisierern auf bis zu 146 h verlängern kann ebenfalls eine Agranulozytose auslösen können (z. B. Carba-
(. Tab. 8.1). Die Metabolisierung erfolgt hepatisch haupt- mazepin, Carbimazol, Metamizol), kombiniert werden. Soll
sächlich über CYP3A4 und CYP2D6, weshalb auf Interak- das Originalpräparat (Leponex®) für die Behandlung genutzt
tionen mit Arzneimitteln, die die Aktivität dieser Enzyme werden, muss der behandelnde Arzt beim Hersteller eine
induzieren beziehungsweise inhibieren, zu achten ist. Thera- schriftliche Erklärung vorlegen, dass die geforderten Blutbild-
peutisch bedeutsam ist auch die starke Bindung (>99%) an kontrollen durchgeführt werden. Von dieser Regelung sind
Plasmaproteine. Häufige unerwünschte Wirkungen sind Generika mittlerweile ausgenommen.
Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Angst (. Tab. 8.4). Je- Clozapin wirkt insbesondere zu Behandlungsbeginn sehr
doch wurden auch Müdigkeit und Benommenheit als Neben- stark sedierend, häufig kommt es außerdem zu einer ausge-
wirkungen beschrieben. Akathisie ist eine weitere häufig auf-f prägten Hypotension und orthostatischen Dysregulation.
tretende Nebenwirkung von Aripiprazol. Aripiprazol führt Unter zu schneller Aufsättigung mit Clozapin können sich
üblicherweise nicht zu einer Gewichtszunahme oder zu einer durch die anticholinerge Wirkkomponente delirante Symp-
Erhöhung der Prolaktinspiegel. Wegen seiner potenziell tome entwickeln. Die Kombination mit anderen anticholinerg
krampfauslösenden Wirkung sollte Aripiprazol bei prädis- wirksamen Pharmaka (z. B. trizyklische Antidepressiva, Anti-
ponierten Patienten vermieden werden. Es häufen sich Be- histaminika der ersten Generation) sollte vermieden werden.
richte, dass Aripiprazol eine psychotische Symptomatik ver- Ein weiteres Problem sind metabolische Störungen, die
schlechtern oder auslösen kann, was auf den partiellen Ago- häufig auftreten und sich bis hin zu einem metabolischen Syn-
nismus an D2-Rezeptoren zurückgeführt wird. drom manifestieren können. Mittlerweile wird angenommen,
Clozapin17 ist das »atypischste« aller »atypischen« Anti- dass die antagonistische Wirkung von Clozapin an 5-HT2A-
psychotika (s. o.), da es unter seiner Anwendung beispiels- und vor allem an 5-HT2C-Serotoninrezeptoren in einer Insu-
weise praktisch keine EPMS gibt. Clozapin besitzt eine hohe lin- und Leptinresistenz resultiert. Dementsprechend löst Clo-
Affinität zu 5-HT2A-, 5-HT2C-Rezeptoren, zu muskarinergen zapin häufig Hyperglykämien aus, die gelegentlich zu einem
Acetylcholin-Rezeptoren (mACh) M1 und M4, sowie zu D4-, hyperosmolaren Koma führen. Zudem verursacht Clozapin
H1-Rezeptoren und α1-Adrenozeptoren. An D1/2/3/5-Rezep- eine Dyslipidämie, bei der insbesondere die Triglyzeride an-
toren, 5-HT1A-, 5-HT3-, M2-Rezeptoren und α2-Adrenozep- steigen. Diese metabolischen Störungen bedingen eine zum
toren weist Clozapin eine niedrige Affinität auf. Der eigent- Teil beträchtliche Gewichtszunahme, die durch den H1-Anta-
liche Wirkmechanismus von Clozapin ist bis heute unbekannt. gonismus noch verstärkt wird und zum eigenmächtigen Abset-
Der früher postulierte D4-Rezeptor-Antagonismus trägt zur zen des Medikaments durch den Patienten führen kann.
86 Kapitel 8 · Therapie mit Antipsychotika und Antidepressiva
Ein weiterer Grund für das Absetzen seitens des Patienten ! Besondere Vorsicht ist bei der Kombination von
ist die durch Clozapin häufig ausgelöste, persistierende Hy- Clozapin mit Benzodiazepinen geboten. Vor allem
persalivation, deren Ursache wahrscheinlich in der agonis- bei gleichzeitiger intravenöser Gabe von Benzodia-
tischen Wirkung von Clozapin am mACh M4-Rezeptor zu zepinen kann es zu einer gravierenden Hypotension
suchen ist. Bei sehr starker Ausprägung der Hypersalivation und zum Atemstillstand kommen.
kann ein Therapieversuch mit Pirenzepin unternommen
werden. 18 ist ein Derivat von Clozapin. Olanzapin be-
Clozapin ist unter allen Antipsychotika mit dem höchsten sitzt antagonistische Effekte an D1–5-Rezeptoren, 5-HT2A-
Risiko für Krampfanfälle behaftet. Diese treten dosisabhängig und 5-HT2C-Rezeptoren, sowie an muskarinergen Rezeptoren
in 1–2% der Fälle auf und machen gegebenenfalls, wenn auf (M1–3,5), H1-Rezeptoren und α1- und α2-Adrenozeptoren. Die
Clozapin nicht verzichtet werden kann, eine Begleitmedika- HWZ beträgt 30–60 h (. Tab. 8.1). Der hepatische Metabolis-
tion mit Antikonvulsiva erforderlich. Myokarditiden, Kardio- mus erfolgt über CYP1A2 und weniger über CYP2D6. Olan-
myopathien und Pankreatitiden werden dagegen eher selten zapin ist zusätzlich zur Phasenprophylaxe bei bipolaren Stö-
beobachtet. Dennoch sollte Clozapin bei Verdacht auf kardiale rungen zugelassen. Ähnlich wie Clozapin kann Olanzapin ein
Risiken sofort abgesetzt werden. metabolisches Syndrom hervorrufen (. Tab. 8.4). Dement-
. Tab. 8.2. Orale Dosierung einiger Antipsychotika am Beispiel der Akuttherapie der Schizophrenie
. Tab. 8.3. Unerwünschte Wirkungen von Antipsychotika auf das extrapyramidal-motorische System. (Nach Holsboer et al. 2008 und
Dayalu et al. 2008)
Meist innerhalb 48 h, Meist innerhalb von Meist innerhalb von >3 Monate bis Jahre
Auftreten spätestens bis zu 1 Woche 18 Wochen, unter Fort- 2 Wochen, spätestens
nach Thera- führung der anti-psycho- bis zu 10 Wochen
piebeginn tischen Therapie auch
später
Wichtige 4 Hochpotente Erst- 4 Hochpotente Erstge- 4 Alle Antipschotika 4 Vor allem hochpotente
Risiko- generations-Anti- nerations-Antipsycho- 4 Dosiserhöhung Erstgenerations-
faktoren/ psychotika tika Antipsychotikac
häufiger 4 Junge Männer 4 Höheres Lebensalter 4 Zerebrale Vorschäden
betroffene 4 Dosissteigerung 4 Frauen 4 Frauen
Patienten 4 Intravenöse Gabe 4 Schnelle Dosis- 4 Diabetes mellitus
reduktion
Dauer der Meist innerhalb von Wochen, seltener Monate Wochen bis Monate Monate bis Jahre, poten-
Rückbildung Stunden nach adäquater nach Absetzen des Anti- ziell irreversibel, auch
Therapie psychotikums nach Absetzen des Anti-
psychotikums
a Der häufig als eigene klinische Entität aufgefasste orofaziale Tremor der Lippen (rabbit syndrome) ist eine Sonderform des Antipsy-
chotika-induzierten Parkinsonoids.
b Angaben schwanken zwischen 5 und 75%. Dies ist zum Teil dadurch bedingt, dass nicht zwischen akut oder verzögert aufgetretenen
Akathisien differenziert wird.
c Risiko für die Zweitgenerations-Antipsychotika noch nicht ausreichend dokumentiert, einige Fälle wurden bereits beschrieben.
d Zum Beispiel Biperiden24, Procyclidin25, Trihexyphenidyl26. Eine prophylaktische und/oder langfristige Gabe ist nicht indiziert.
e Hyperkinesien der pharyngealen und/oder laryngealen Muskulatur sind potenziell vital gefährdend → i.v. Anwendung.
. 8.4. Häufige unerwünschte Wirkungen von Antipsychotika der ersten (Haloperidol) und zweiten Generation
Krampfanfälle 0/+ 0 ++ ++ 0 0 0 0
Transaminasen/ + (+) 0 ++ ++ ++ + +
Bilirubinanstieg
Obstipation ++ ++ 0 +++ ++ + ++ 0
Agranulozytose (+) 0 0 ++ 0 0 0 0
Prolaktin ↑d ++ +++ 0 0 0 ++ ++ +
Malignes neurolep- n.b. n.b. (+) (+) (+) (+) (+) n.b.
tisches Syndrom
a 0 = nicht vorhanden, (+) = vereinzelt/kein signifikanter Unterschied zu Plazebo, + = selten (<1%), ++ = gelegentlich (<10%), +++ =
häufig (>10%), n.b. = unzureichende und/oder widersprüchliche Datenlage zur Abschätzung der Häufigkeit.
b Gehäuftes Auftreten von Akathisien.
c Ausmaß über 6–10 Wochen: + = niedrig (0–1,5 kg), ++ = mittel (1,5–3 kg), +++ = hoch (>3 kg)
d Nur für Amisulprid, Clozapin, Risperidon und Quetiapin gut dokumentiert.
sprechend werden unter Therapie mit Olanzapin häufig er- Paliperidon (= 9-Hydroxy-Risperidon) erfolgt vorwiegend
höhte Glukose- und Triglyzeridspiegel beobachtet. Olanza- über CYP2D6, weniger über CYP3A4. Paliperidon wird zu
pin führt ebenfalls zu einer zum Teil gravierenden Gewichts- 60% unverändert renal eliminiert. Die HWZ von Paliperidon
zunahme. Der in der zu Therapiebeginn häufig auftretenden beträgt ca. 20 h, die von Risperidon 3 h. Häufige Nebenwir-
Sedierung begegnet man am besten mit abendlicher Gabe der kungen der beiden Substanzen sind Kopfschmerzen, Schlaf-
Substanz. Außerdem werden zu Behandlungsbeginn transi- losigkeit und Angstzustände (. Tab. 8.4). Gelegentlich tritt
ente anticholinerge Wirkungen beobachtet. Blutbildverän- unter der Therapie eine Hypotension auf. Dosisabhängig
derungen sind unter Olanzapin wesentlich seltener als unter kommt es häufiger zu einem Prolaktinanstieg, der in sexuel-
Clozapin. EPMS, insbesondere eine Akathisie, treten vor len Funktionsstörungen resultiert. Paliperidon und Risperi-
allem bei hoher Dosierung auf. Olanzapin ist seit kurzem auch don können EPMS hervorrufen, deren Ausprägungsgrad typi-
in einer Depotformulierung erhältlich. scherweise von der Höhe der verwendeten Dosis abhängig ist.
Paliperidon19 und Risperidon21 wirken vornehmlich ant- Anticholinerge Nebenwirkungen werden nicht beobachtet.
agonistisch an D2-, 5-HT2A-, 5-HT7-Rezeptoren, aber auch an Risperidon ist ebenfalls als Depotpräparat verfügbar. Palipe-
α1/2-Adrenozeptoren. Zu H1-Rezeptoren weisen Paliperidon ridon werden weniger pharmakologische Interaktionen nach-
und Risperidon eine niedrigere Affinität auf. Die hepatische gesagt, ansonsten weist es sehr ähnliche Eigenschaften wie
Verstoffwechselung von Risperidon zum aktiven Metaboliten Risperidon auf.
8.1 · Antipsychotika
89 8
Quetiapin20 zeigt antagonistische Wirkungen an 5-HT2-, einer Stigmatisierung der Patienten. EPMS werden nach vier
D2- und α1-Rezeptoren, weniger ausgeprägt an 5-HT1-, D1-, Prägnanztypen – Frühdyskinesie, Antipsychotika-induzier-
D3-, α2- und H1-Rezeptoren. Die Bioverfügbarkeit von Quetia- tes Parkinsonoid, Akathisie und Spätdyskinesie – unterteilt.
pin ist mit 9% sehr gering, die HWZ wird mit 7 h angegeben Nach dem Zeitpunkt ihres Auftretens nach Therapiebeginn
(.Tab. 8.1). Die Substanz wird in der Leber durch CYP3A4 abge- werden diese weiterhin in akut (Frühdyskinesie, Parkinso-
baut, daher sind Interaktionen mit anderen Medikamenten, die noid, Akathisie) und verzögert (tardiv) auftretende Bewe-
die Aktivität von CYP3A4 inhibieren oder induzieren, zu beach- gungsstörungen unterschieden. Zu den letzteren werden die
ten. Obwohl die HWZ relativ kurz ist, reicht im Allgemeinen die Spätdyskinesie (auch als tardive Dyskinesie bezeichnet) und
2mal tägliche Gabe aus. EPMS wurden bisher nur selten beob- neuerdings auch die tardive Dystonie (Spätdystonie) gezählt.
achtet. Im Vordergrund stehen bei Therapiebeginn die starke Letztere äußert sich – wie bei der Frühdyskinesie – durch eine
Sedierung und die orthostatische Dysregulation (. Tab. 8.4). Tonuserhöhung bestimmter Muskelgruppen, tritt aber we-
Quetiapin hat keine anticholinergen Nebenwirkungen. sentlich später unter Behandlung mit Antipsychotika auf und
Ziprasidon22 antagonisiert D2-Rezeptoren, 5-HT2A- und spricht auf therapeutische Maßnahmen schlechter an.
5-HT2C-Rezeptoren, in geringerem Ausmaß auch α1-Adreno- Die Akathisie ist wahrscheinlich die häufigste, sowohl un-
zeptoren und H1-Rezeptoren. An 5-HT1A-Rezeptoren wirkt ter Antipsychotika der ersten und zweiten Generation auf-
Ziprasidon partiell agonistisch. Außerdem hemmt es die neu- tretende EPMS. Diese Nebenwirkung wird von Patienten oft
ronale Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin. subjektiv als sehr quälend empfunden. Differenzialdiagno-
Die Affinität von Ziprasidon ist am höchsten an den Sero- tisch ist an das Restless-legs-Syndrom und an eine Verschlech-
toninrezeptoren, weniger hoch an Dopaminrezeptoren. Zu terung der psychotischen Symptomatik zu denken. Das Auf- f
mACh-Rezeptoren hat Ziprasidon keine Affinität. Die HWZ treten einer Akathisie scheint mit einem höheren Risiko für
beträgt 6–7 h. Die Substanz wird in der Leber metabolisiert, das Auftreten eines Antipsychotika-induzierten Parkinsono-
unter anderem zu einem Drittel durch CYP3A4 und CYP1A2 ids assoziiert zu sein. Die Akathisie sollte mit Benzodiazepi-
(. Tab. 8.1). Ziprasidon unterliegt einer ausgeprägten Plasma- nen behandelt werden oder auch mit einem β-Adrenozeptor-
eiweißbindung (>99%). Antagonisten.
Besonders bei Therapiebeginn treten Unruhe, Sedie- Das Antipsychotika-induzierte Parkinsonoid sollte zur
rung und verschwommenes Sehen auf. Auch EPMS-ähn- Dosisreduktion des Antipsychotikums führen, wenn diese
liche Symptome, wie beispielsweise Tremor oder Muskelstei- Maßnahme mit dem psychopathologischen Befund vereinbar
figkeit, werden häufig beobachtet. Zudem können Akathisien ist.
auftreten. Bei mehr als 12% der Patienten unter Ziprasidon-
therapie wurde eine dosisabhängige mäßig ausgeprägte Ver- Zerebrale Krampfanfälle. Diese Nebenwirkung tritt vor allem
längerung des QTc-Intervalls beobachtet (. Tab. 8.4). Daher bei Antipsychotika der ersten Generation, sowie bei Clozapin
soll Ziprasidon nicht mit anderen Medikamenten, die eben- und Zotepin häufiger auf als bei anderen Antipsychotika.
falls das QTc-Intervall verlängern, kombiniert werden. Eine Risikofaktoren sind vorbestehende hirnorganische Verän-
EKG-Aufzeichnung wird vor Behandlungsbeginn und bei derungen, schnelle Dosissteigerung und eine hochdosierte
signifikanter Dosissteigerung empfohlen. Ziprasidon kann zu Therapie.
einer sehr gering ausgeprägten Gewichtszunahme führen. Es
sind Fälle von durch Ziprasidon ausgelösten Spätdyskinesien Endokrine und sexuelle Funktionsstörungen. Ein dosis-
berichtet. Dennoch wird das Risiko für das Auftreten von abhängiger Prolaktinanstieg ist unter Therapie mit hochpo-
EPMS unter Ziprasidon als gering eingeschätzt. tenten Antipsychotika der ersten Generation, sowie unter
Sertindol ist ein Reserve-Antipsychotikum, das nur unter Amisulprid und schwächer ausgeprägt unter Risperidon zu
Auflagen verwendet werden darf, da es schwere kardiovas- beobachten. Hieraus können Dys-, Amenorrhö, Galaktorrhö,
kuläre Nebenwirkungen aufweist. Insbesondere verlängert Gynäkomastie und sexuelle Funktionsstörungen resultieren.
Sertindol das QTc-Intervall. Todesfälle in Zusammenhang Letztere führen nicht selten zum eigenmächtigen Absetzen
mit Sertindol sind beschrieben. Zotepin wird aufgrund aus- des Medikamentes durch den Patienten und damit zur Gefahr
gesprochen ausgeprägter vegetativer Nebenwirkungen, eines eines Rezidivs. Sexuelle Funktionsstörungen treten bei fast
erhöhten Risikos für zerebrale Krampfanfälle und auch dank allen Antipsychotika auf. Als Ursache wird neben der Hyper-
besserer Alternativen immer zurückhaltender eingesetzt. prolaktinämie ein Ungleichgewicht zwischen der dopaminer-
gen und serotoninergen Neurotransmission diskutiert.
Präventiv scheinen besonders diätetische und allgemeine Auftreten dieser Komplikationen birgt. Daher sind Antipsy-
Maßnahmen zur Gewichtsreduktion zu wirken. Der Patient chotika für diese Indikation derzeit nur als ultima ratio an-
sollte auf diese unerwünschte Wirkung hingewiesen und zu zusehen, wenn alle anderen Interventionen versagt haben. Die
selbstständigen Gewichtskontrollen angehalten werden. Anwendung dieser Substanzen soll möglichst kurz und in der
niedrigsten Dosierung erfolgen, es sollte nach derzeitigem
Kardiovaskuläre Nebenwirkungen. Unter Therapie mit Anti- Kenntnisstand Zweitgenerations-Antipsychotika der Vorzug
psychotika ist das Risiko für einen plötzlichen Herztod im gegeben werden. Bei Patienten mit kardiovaskulären Grund-
Vergleich zu Unbehandelten signifikant erhöht. Vor allem erkrankungen ist besondere Vorsicht geboten. Der Patient
den trizyklischen Erstgenerations-Antipsychotika, aber auch und/oder der Betreuer müssen hinsichtlich dieser Neben-
Haloperidol und Pimozid werden kardiale Nebenwirkungen wirkung aufgeklärt werden, die Indikation sollte schriftlich
zugeschrieben. Eine Verlängerung des QTc-Intervalls tritt mit detailliert begründet und dokumentiert werden.
unterschiedlicher Häufigkeit insbesondere bei Erstgenera-
tions-Antipsychotika auf. Bei den Zweitgenerations-Antipsy- Blutbildveränderungen. Patienten sollten darauf hingewie-
chotika Sertindol und Ziprasidon ist eine Verlängerung des sen werden, Symptomen wie beispielsweise Fieber oder Hals-
QTc-Intervalls bereits seit geraumer Zeit bekannt. Mittlereile schmerzen besondere Beachtung zu schenken. Eine Agranu-
wurde jedoch auch für Clozapin, Olanzapin, Quetiapin und lozytose tritt am häufigsten unter Clozapin auf, wobei Frauen
Risperidon ein erhöhtes Riskio für gravierende kardiale und ältere Patienten häufiger betroffen zu sein scheinen. We-
Rhythmusstörungen bis hin zum plötzlichen Herztod nachge- sentlich seltener tritt eine Agranulozytose unter Olanzapin
wiesen. auf. Im Falle des Auftretens einer Agranulozytose muss das
Von besonderer therapeutischer Relevanz ist der Einsatz auslösende Antipsychotikum unverzüglich abgesetzt werden.
von Antipsychotika bei Patienten mit demenziellen Syndro- Transiente Leukopenien können mit Beginn der Therapie bei
men. Die verschiedenen Formen der Demenz gehen gehäuft vielen Antipsychotika auftreten.
einher mit wahnhaften Syndromen, die wiederum mit Antip-
sychotika behandelt werden, obwohl die meisten Präparate – Malignes neuroleptisches Syndrom. Das Auftreten dieser
mit Ausnahme von Risperidon – für diese Indikation nicht lebensbedrohlichen Komplikation unter Therapie mit Anti-
zulassen sind (off-
f label-use) und die erzielten Erfolge zumeist psychotika muss zum unverzüglichen Absetzen des Antipsy-
begrenzt sind. Bereits 2005 wurde explizit davor gewarnt, dass chotikums führen. In den meisten Fällen tritt das maligne
ältere Patienten, die an einer Demenz erkrankt sind, unter neuroleptische Syndrom, das unter anderem durch gravie-
Therapie mit Antipsychotika der zweiten Generation einer rende EPMS, Bewusstseinsstörungen und eine Myoglobinä-
erhöhten Schlaganfall- und Sterberate ausgesetzt sind. Insbe- mie bedingt durch eine massiver Rhabdomyoloyse gekenn-
sondere fortgeschrittene Demenz, hohes Alter und Begleit- zeichnet ist, in den ersten Wochen nach Behandlungsbeginn
erkrankungen scheinen das Risiko für unerwünschte Arznei- auf. Anzumerken ist, dass dieses Syndrom eine der seltensten
mittelwirkungen der Zweitgenerations-Antipsychotika bei Nebenwirkungen (0,02–0,5%) einer Therapie mit Antipsy-
diesen Patienten zu steigern. Dieses Risiko ist bereits ab Tag chotika ist, aufgrund der hohen Letalität (heute ca. 10%) je-
30 nach Behandlungsbeginn deutlich erhöht. Infolgedessen doch frühzeitig diagnostiziert werden muss. Bei gesicherter
wurde für die Therapie demenzbedingter psychotischer Diagnose sollen – neben intensivmedizinisch symptomatischer
Symptome verstärkt auf Antipsychotika der ersten Generation Therapie – in erster Linie Dantrolen (alternativ Bromocriptin)
zurückgegriffen. Jedoch zeigten kürzlich weitere Studien, dass und adjuvant Benzodiazepine eingesetzt werden.
die Anwendung von Erstgenerations-Antipsychotika ein min- Routine-Untersuchungen, die bei der Anwendung von
destens genauso hohes, wenn nicht sogar ein noch höheres Antipsychotika durchgeführt werden sollten, sind in . Tab. 8.5
Risiko im Vergleich zu den neueren Antipsychotika für das aufgeführt.
. Tab. 8.5. Empfohlene Untersuchungen vor und während der Therapie mit Antipsychotika. (Nach Behandlungsleitlinie Schizophrenie
[DGPPN 2006] und Holsboer et al. 2008)
1 2 3 4 5 6 Nach Therapiebeginn
Blutdruck, Puls
Alle Antipsychotika
Blutbild
Trizyklische Antipsychotikaa
6
8.1 · Antipsychotika
91 8
1 2 3 4 5 6 Nach Therapiebeginn
Andere Antipsychotika
Blutglukose, Blutlipideb
Clozapin, Olanzapin
Andere Antipsychotika o
Körpergewicht, BMIc
Alle Antipsychotika
Leberenzyme
Trizyklische Antipsychotika
Andere Antipsychotika
Kreatinin, Harnstoff
Alle Antipsychotika
EKG, QTc-Intervalld
Clozapine
Pimozid, Sertindol,
Thioridazin
Andere Antipsychotikaf g
EEGh
Clozapin, Zotepin
Schwangerschaftstest
Alle Antipsychotika
Kontrolle notwendig.
Kontrolle notwendig bei pathologischen Ausgangswerten, ansonsten halbjährliche Kontrollen meist ausreichend.
o Kontrolle notwendig bei pathologischen Ausgangswerten, ansonsten jährliche Kontrollen meist ausreichend.
a Chlorprothixen, Flupentixol, Fluphenazin, Perazin, Perphenazin, Levomepromazin, Perphenazin, Promethazin, Thioridazin, Zuclopen-
thixol. Die Zweitgenerations-Antipsychotika Olanzapin, Quetiapin und Zotepin sind ihrer Struktur nach ebenfalls Trizyklika.
b Besonders bei Anwendung von Clozapin und Olanzapin gegebenenfalls Blutzuckertagesprofil, Glukosetoleranztest und HbA .
1c
c Zusätzliche monatliche Gewichtskontrollen durch den Patienten werden empfohlen.
d Eine absolute Zunahme des frequenzkorrigierten QT-Intervalls (QTc-Intervall) auf >450 ms bei Frauen, beziehungsweise auf >440 ms
bei Männern gilt derzeit als auffällig. Ein erhöhtes Risiko für Herzrhythmusstörungen besteht desgleichen bei einer relativen Verlän-
gerung des QTc-Intervalls um mehr als 60 ms durch Medikamente.
e Unter Therapie mit Clozapin werden im Falle des Auftretens kardialer Symptome und/oder von Fieber, sowie 14 Tage nach Behand-
dem angezeigt bei Therapie mit Fluspirilen, Perazin, anderen hochpotenten Butyrophenon-Derivaten, sowie Ziprasidon.
h Häufigere EEG-Kontrollen werden generell empfohlen bei Vorliegen einer zerebralen Vorschädigung, einer erhöhten Krampfbereit-
schaft und bei unklarer Bewusstseinsveränderung vor und während der Therapie mit Antipsychotika.
92 Kapitel 8 · Therapie mit Antipsychotika und Antidepressiva
8.1.5 Spezielle Aspekte der Pharmako- > Essenziell ist die Früherkennung der Schizophrenie,
therapie der Schizophrenie da eine sehr frühzeitig eingeleitete Therapie den
späteren Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen
Grundlagen scheint. Ein besonderes Augenmerk liegt hierbei auf
Schizophrene Psychosen sind komplexe Erkrankungen, die der Erkennung kognitiver Beeinträchtigungen, die
durch Denk- und Wahrnehmungsstörungen, Veränderungen bei unbehandelten Patienten der akuten psycho-
der Affektivität, des Antriebs und der Persönlichkeit ge- tischen Episode häufig vorausgehen.
kennzeichnet sind. Bei den positiven Symptomen leiden die
Patienten unter Wahnvorstellungen und Halluzinationen, Therapie
welche häufig bei akuten Episoden auftreten. Die Pharmakotherapie, die neben Psychotherapie und Sozio-
Affektverflachung, Sprachverarmung und Apathie wer- therapie einen wesentlichen Baustein des integrativen Ge-
den zu den negativen Symptomen gerechnet, welche akute samtbehandlungskonzepts der Schizophrenie darstellt, ver-
Episoden der Psychose überdauern können. folgt das Ziel, die Symptome des Patienten zu minimieren und
Im Verlauf der Erkrankung treten zudem kognitive Defi- ihm zu einer selbst bestimmten Lebensführung zu verhelfen.
zite auf, die sich unter anderem in zerfahrener Sprache, Kon- Er soll aktiv in die therapeutischen Maßnahmen einbezogen
zentrations- und Gedächtnisstörungen äußern. werden, damit er Nutzen und Risiko seiner Therapie selbst
Die Prävalenz der Schizophrenie liegt weltweit zwischen abzuwägen lernt.
1,4 und 6,4 Patienten/1000 Einwohner. Fasst man die Defi- Bedingt durch die teilweise sehr häufigen und starken Ne-
nition der Schizophrenie sehr eng, dann liegt die Neuer- benwirkungen sollte vor Beginn der Pharmakotherapie eine
krankungsrate innerhalb eines Jahres bei 0,01%. Schizo- Routineuntersuchung erfolgen, die dazu dient, das individu-
phrene Psychosen treten meistens zwischen dem 15. und elle Risiko der Therapie abzuschätzen und gegebenenfalls zu
35. Lebensjahr auf, bei 65% der Erkrankten sogar vor dem 30. minimieren (. Tab. 8.5).
Lebensjahr. Die Geschlechtsverteilung betrifft gleicher- Bei der Pharmakotherapie unterscheidet man eine Akut-
maßen Frauen und Männer, wobei Männer ca. 4 Jahre früher therapie von der Langzeittherapie bzw. Rezidivprophylaxe.
als Frauen erkranken. Prognostisch ungünstig gepaart sind
ein sehr frühes Erkrankungsalter (<30 Jahre) und männliches Akuttherapie. Patienten mit einer Erstmanifestation zeigen
Geschlecht. im Vergleich zu mehrfach Erkrankten
Hinsichtlich der Pathophysiologie wurde zunächst von 4 eine höhere Ansprechrate auf die antipsychotische Phar-
einer Störung der zentralen dopaminergen Übertragung aus- makotherapie;
gegangen (»Dopamin-Hypothese«), da vor allem Antipsycho- 4 niedrigere Rückfallraten während der Erhaltungsthe-
tika der ersten Generation die Wirkungen von Dopamin re- rapie;
duzieren und besonders die Positivsymptomatik schizophre- 4 ein Ansprechen bereits auf eine niedrigere antipsycho-
ner Patienten reduzieren. Mittlerweile ist klar, dass auch Ver- tische Dosierung und
änderungen einer ganzen Reihe anderer Transmittersysteme 4 eine höhere Empfindlichkeit für unerwünschte Arznei-
wie z. B. das Serotoninsystem an der Krankheitsentstehung mittelwirkungen, insbesondere für EPMS.
beteiligt sind, womit die Wirksamkeit der Zweitgenerations-
Antipsychotika bei Schizophrenie erklärt wird. In letzter Da Antipsychotika der zweiten Generation eine geringere
Zeit richtet sich die Aufmerksamkeit zunehmend auch auf Rate an EPMS aufweisen, sollten sie bei der akuten Schizo-
die glutamaterge Neurotransmission, welche vermutlich eine phrenie den Erstgenerations-Antipsychotika vorgezogen wer-
wichtige Rolle bei der Entstehung der Negativsymptomatik den, es sei denn, der Patient bevorzugt die Antipsychotika der
und der kognitiven Defizit spielt. ersten Generation. Es sollte darauf geachtet werden, dass in
Ein erhöhtes genetisches Risiko, an Schizophrenie zu er- der Akuttherapie bereits die Antipsychotika angewendet wer-
kranken, wurde nachgewiesen. So erhöht sich das Morbi- den, die auch für die Langzeittherapie vorgesehen sind. Wurde
ditätsrisiko bei Kindern mit zwei betroffenen Elternteilen auf eine Entscheidung für diese Antipsychotika getroffen, sollten
ca. 46%, während Kinder mit einem erkrankten Elternteil ein Haloperidol5, Flupentixol2, Fluphenazin3 oder Perazin10 be-
Risiko von 13% haben. vorzugt werden, da für diese eine hohe Evidenz für die An-
Die Lebenserwartung von schizophrenen Patienten ist wendung vorhanden ist. Dosierungen in der Akuttherapie
im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich reduziert, was . Tab. 8.2.
unter anderem auf der relativ hohen Suizid- und Unfallrate Bei der akuten Schizophrenie sollte die Monotherapie be-
dieser Patienten beruht. Auch kardiovaskuläre und respirato- vorzugt werden. Stehen als Symptome krankhafte Erregung,
rische Erkrankungen treten häufiger auf. Bedeutsam für die Angst oder innere Unruhe im Vordergrund, so empfiehlt sich
Pharmakotherapie ist außerdem der Umstand, dass 15–65% eine zeitlich befristete Kombination mit Benzodiazepinen
der Erkrankten an einer komorbiden Substanzabhängigkeit (Augmentation). Ist der Patient suizidgefährdet, kann Lithium
leiden. Insbesondere der Konsum von Nikotin, Alkohol und als Komedikation eingesetzt werden. Ansonsten können zur
Cannabis spielt bei Patienten mit Schizophrenie eine große Wirkungsverstärkung Valproat oder Carbamazepin verab-
Rolle. reicht werden.
Ist der Patient mit einem Antipsychotikum der ersten
Generation gut kontrolliert eingestellt, dann sollte nicht ohne
8.2 · Antidepressiva und Phasenprophylaktika
93 8
zwingenden Grund auf ein Präparat der zweiten Generation 8.2 Antidepressiva und Phasen-
umgestellt werden. Bei mangelnder Wirksamkeit sollte man prophylaktika
frühestens nach 2–4 Wochen die Dosis erhöhen bzw. auf ein
anderes Antipsychotikum umstellen. Empfohlen wird die re- 8.2.1 Übersicht
gelmäßige Überprüfung der Compliance, insbesondere bei
Nichtansprechen auf die Medikation. Antidepressiva werden bei depressiven Störungen verschie-
Der Patient sollte, wenn es die Symptomatik erlaubt, in dener Genese eingesetzt und wirken meist stimmungsauf-
die Entscheidungsfindung für ein Antipsychotikum aktiv mit hellend. Ihr Wirkspektrum geht allerdings über die reine
einbezogen werden (shared decision making). Ist der Patient Stimmungsaufhellung hinaus, so dass sie auch bei anderen
nicht kooperationsfähig, kann die parenterale Applikation des Störungen eingesetzt werden und daher der Begriff ›Antide-
Antipsychotikums erforderlich sein. Depot-Antipsychotika pressivum‹ nur eine Wirkungskomponente dieser Pharmaka
sind in der Akuttherapie wegen ihrer langen Eliminationszeit beschreibt. Antidepressiva können antriebssteigernd, an-
und dem langsamen Erreichen wirksamer Plasmaspiegel nicht triebsneutral, antriebsdämpfend sowie sedierend und anxio-
sinnvoll. In Betracht zu ziehen sind Depot-Antipsychotika bei lytisch wirksam sein. Anzumerken ist, dass eine Reihe von
Problemen mit der Compliance des Patienten. Medikamenten aus dem psychiatrischen und nichtpsychia-
trischen Bereich eine depressive Symptomatik als Nebenwir-
Langzeittherapie/Rezidivprophylaxe. Hauptziel der Lang- kung auslösen kann.
zeittherapie ist neben der Unterdrückung der Symptome die
Verhinderung von Rezidiven. Auch für die Langzeittherapie Pharmaka, die psychische Störungen auslösen
sollten Antipsychotika Verwendung finden, wobei dem Medi- können
kament der Vorzug gegeben werden sollte, mit dem bei der
4 Risikofaktoren
Akuttherapie eine Remission bei guter Verträglichkeit erzielt
– Pharmakotherapiebedingte Risikofaktoren sind
werden wurde. Es sollte daran gedacht werden, dass viele Pa-
beispielsweise
tienten mit Schizophrenie rauchen, was wiederum zu einer
– Überdosierung, Intoxikation
Induktion von CYP1A2, über welches einige Antipsychotika
– plötzliches Absetzen
(z. B. Clozapin, Olanzapin) metabolisiert werden, führt.
– Interaktionen mit anderen Medikamenten
Bei der Erstmanifestation sollte die Pharmakotherapie
– Psychische Störungen als spezifische Neben-
mindestens ein Jahr lang erfolgen, nach einem ersten Rezidiv
wirkung des Pharmakons
dagegen 2–5 Jahre. Die Dosierungen der Antipsychotika in
– Patientenbedingte Risikofaktoren sind beispiels-
der Langzeittherapie werden patientenindividuell festgelegt,
weise
daher gibt es diesbezüglich keine gesicherten Dosierungsemp-
– Höheres Lebensalter
fehlungen. Es sollte versucht werden, mit einer niedrigeren
– Hirnorganische Veränderungen
Dosierung als in der Akuttherapie auszukommen. Die Um-
– Multimorbidität
stellung von einem auf ein anderes Antipsychotikum sollte
– Eingeschränkte Leber- und/oder Nieren-
Fachleuten überlassen bleiben.
funktion
In Kürze 4 Medikamente, die eine psychotische Symptomatik
auslösen können (Auswahl)
4 Aufgrund der nicht unerheblichen unerwünschten – Analgetika
Arzneimittelwirkungen sollten bei allen Antipsycho- – Nicht-steroidale Antiphlogistika (besonders im
tika Nutzen und Risiko für den Patienten sehr sorg- höheren Alter), z. B. Ibuprofen, ASS
fältig abgewogen werden. – Opioide: Buprenorphin, seltener Morphin, Tra-
4 Antipsychotika sind ohne dringende Indikation nicht madol
zur Ruhigstellung von Patienten oder als Ersatz für – Antiarrhythmika: Amiodaron, Lidocain nach i.v.
Benzodiazepine indiziert. Gabe
4 Antipsychotika haben unter allen Psychopharmaka – Antibiotika: Cefuroxim, Ciprofloxacin, Clarithro-
bei medizinischen Laien den schlechtesten Ruf mycin, Gentamicin, Penicillin G u. a.
(»chemische Zwangsjacke«, »chemische Keule«). – Antihypertensiva: lipophile β-Rezeptorenblocker
Antipsychotika sind neben der Psycho- und Sozio- – Antirheumatika: Chloroquin
therapie aber derzeit das einzig effektive Therapie- – Glukokortikoide
prinzip bei Schizophrenie - insbesondere bei akuten – Histamin-H2-Antagonisten: Ranitidin
psychotischen Zuständen. – Medikamente zur Therapie des Morbus Parkinson
4 Patienten müssen auf Wechselwirkungen von Anti- – Amantadin
psychotika mit Alkohol oder anderen zentral wirk- – Zentrale Dopaminagonisten, z.B. Bromocriptin,
samen Pharmaka (z. B. mit frei verkäuflichen Anti- Lisurid, Pergolid
histaminika der ersten Generation) hingewiesen – L-Dopa
werden.
6
94 Kapitel 8 · Therapie mit Antipsychotika und Antidepressiva
. Tab. 8.6. Übersicht über die in Deutschland häufig verordneten Antidepressiva (Stand November 2008). Die Einteilung der trizyk-
lischen/tetrazyklischen Antidepressiva hinsichtlich ihrer chemischen Struktur wurde der besseren Übersicht wegen beibehalten, ob-
wohl diese Einteilung der klinischen Wirkung dieser Antidepressiva nur teilweise gerecht wird. Ansonsten werden Antidepressiva nach
ihrem Angriffspunkt eingeteilt.
Amitriptylin32b 10–28 Hepatisch u. a. 2C8, 3A4 H1, M1-5, α1/2; NAc, 5-HT
Clomipramin34 12-36 Hepatisch u. a. 2D6, 3A4 H1, M1/2, α1, gering 5-HT2; 5-HT>NA
Doxepin36 8–25 Hepatisch 2C19, 2D6 H1, geringer M1-5, α1; NA>5-HT
Trimipramin40 23–24 Vorwiegend renal 2C19, 2D6 H1, M1-5 , geringer 5-HT2, D2; –
Mirtazapin42i 20–40 Hepatisch, renal 1A2, 2D6, 3A4 H1, 5-HT2, 5-HT3; –i
Trazodon51 5–8 Hepatisch, renal n.b. 5-HT2A, α1, geringer H1; 5-HT
Phytopharmaka
darstellt. Opipramol ist nur für die Indikationen »generalisier- tamin H1-Rezeptoren, welche die sedierende Wirkung dieses
te Angststörungen« und »somatoforme Störungen« zuge- Antidepressivums erklärt. Mirtazapin wird vorwiegend bei
lassen, eine antidepressive Wirksamkeit ist wenig belegt. Den- Schlaf-
f und Angststörungen, sowie ängstlich-agitierten De-
noch wird es bei depressiven Erkrankungen zunehmend häu- pressionen eingesetzt. Hinsichtlich der unerwünschten Arz-
figer angewandt. Ein Vorteil dieser Substanz liegt in dem neimittelwirkungen gilt Mirtazapin als sehr gut verträglich,
Umstand, dass Opipramol im Rahmen der Behandlung von insbesondere, da es in therapeutischer Dosierung keine anti-
Angststörungen gegenüber Benzodiazepinen kein Abhängig- cholinergen Nebenwirkungen aufweist. Daher spielt Mirtaza-
keitspotenzial aufweist. pin auch im gerontopsychiatrischen Bereich eine große Rolle.
Eine häufige Nebenwirkung ist neben Müdigkeit, Benommen-
heit, Schwindel und Kopfschmerzen eine Gewichtszunah-
8.2.3 Tetrazyklische Antidepressiva (TezAD) me, die aber nicht mit metabolischen Störungen (z. B. Hyper-
glykämie) verbunden ist. Obwohl der Gebrauch von Mirta-
Zu diesen werden Maprotilin41, Mianserin und Mirtazapin42 zepin – im Gegensatz zu Mianserin – vermutlich nicht mit
gezählt (. Tab. 8.6). Mirtazapin, ein Derivat von Mianserin, hämatologischen Veränderungen assoziiert ist, sollte auf kli-
nimmt in dieser Gruppe mittlerweile eine herausragende Stel- nische Zeichen einer Agranulozytose geachtet werden.
lung ein, die Verwendungshäufigkeit betreffend. Mirtazapin Maprotilin weist ein ähnliches Wirkspektrum wie die
wird auch als Noradrenalin-Serotonin-selektives Antidepres- TzAD auf und wirkt über einen Antagonismus an zentralen
sivum (NaSSA) klassifiziert, weil es simultan sympathische H1-Rezeptoren vor allem bei Therapiebeginn sedierend. An-
und serotonerge Strukturen beeinflusst. Mirtazapin blockiert ticholinerge Nebenwirkungen sind vorhanden, jedoch schwä-
ausgeprägt zentrale präsynaptische α2-Adrenozeptoren, was cher ausgeprägt als bei vielen TzAD. Neuerdings werden
in einer erhöhten Freisetzung von Noradrenalin resultiert.
Zusätzlich antagonisiert Mirtazapin postsynaptische Seroto-
nin 5-HT2- und 5-HT3-Rezeptoren und führt auf diese Weise 51 z. B. Thombran®, Trazodon-neuraxpharm®
zu einer vermehrten Serotonin-Ausschüttung. Daneben hat 52 Jatrosom®
Mirtazapin eine ausgesprochene Affinität zu zentralen His- 53 z. B. Jarsin®, Laif®
8.2 · Antidepressiva und Phasenprophylaktika
97 8
Maprotilin und die TzAD auch als nichtselektive Monoamin- 8.2.4 Noradrenalin-Wiederaufnahme-
Rückaufnahme-Inhibitoren (NSRMI) klassifiziert. Hemmer (NARI)
Mianserin gilt aufgrund der Auslösung von Agranulozy-
tosen und aplastischer Anämien, die regelmäßige Kontrollen Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer blockieren selektiv
des Blutbilds erforderlich machen, sowie angesichts des Vor- den Noradrenalintransporter (NAT), der Noradrenalin aus
handenseins besserer therapeutischer Alternativen als ent- dem synaptischen Spalt in die sympathischen Nervenendi-
behrliches Antidepressivum. gungen zurückpumpt (. Tab. 8.6 und . Tab. 8.7). Als Folge
davon wird die Noradrenalinkonzentration im synaptischen
Spalt erhöht und die Wirkung an den Adrenozeptoren gestei-
98 Kapitel 8 · Therapie mit Antipsychotika und Antidepressiva
gert. In Deutschland ist Reboxetin43 das einzig verfügbare Die gastrointestinalen Nebenwirkungen führen nicht sel-
Antidepressivum dieser Gruppe. NARI werden bevorzugt bei ten zu einem Gewichtsverlust. Zu erklären sind diese Neben-
leichten bis mittelschweren Depressionen, die mit Antriebs- wirkungen unter anderem durch die Stimulation peripherer
störungen verbunden sind, verwendet. 5-HT3- und 5-HT4-Rezeptoren. Abgesetzt werden sollten
Reboxetin weist ein günstiges Nebenwirkungsprofil auf, SSRI in den seltenen Fällen, in denen extrapyramidal-moto-
da es nicht mit mACh-, Histamin H1-Rezeptoren und α-Adre- rische Störungen, wie Parkinsonismus oder Akathisie, eintre-
nozeptoren interagiert (. Tab. 8.8). Durch die noradrenerge ten. Seit kurzem ist nachgewiesen, dass SSRI –wahrscheinlich
Wirkkomponente treten häufiger zu Behandlungsbeginn über Blockade der Serotonintransporter in den Thrombo-
Schlafstörungen, Schwitzen und orthostatische Dysregula- zyten – zu einer Funktionsstörung der Thrombozyten und
tion auf. Seltener ist unter Reboxetin ein Harnverhalt zu be- damit zu einer verlängerten Blutungszeit führen können.
obachten. Es wird empfohlen, bei Patienten mit einer posi- Daher sollte bei Anwendung von SSRI verstärkt auf klinische
tiven Anamnese für zerebrale Krampfanfälle Reboxetin nur Zeichen einer Thrombozytenfunktionsstörung geachtet wer-
mit Vorsicht einzusetzen. den. Kombinationen von SSRI mit anderen, die Gerinnung
beeinflussenden Medikamenten sollten nach Möglichkeit ver-
mieden werden.
8.2.5 Selektive Serotonin-Wiederaufnahme- Nach wie vor kontrovers wird eine mögliche suizidalitäts-
Hemmer (SSRI) verstärkende Wirkung von SSRI diskutiert, die dadurch be-
dingt sein soll, dass bei SSRI häufig der antriebssteigernde vor
Sie blockieren selektiv den Serotonintransporter (SERT), was dem stimmungsaufhellenden Effekt eintritt. Neuere Studien
zu einer erhöhten Verfügbarkeit von Serotonin im synapti- konnten diese potenzielle Nebenwirkung nicht bestätigen, je-
schen Spalt und an Serotoninrezeptoren führt (. Tab. 8.6 doch ist die Datenlage insgesamt noch nicht hinreichend für
und . Tab. 8.7). Viele SSRI werden u. a. auch zur Therapie von eine abschließende Bewertung dieses Risikos. Daher sollten
Angst- und Panikstörungen, sowie bei Zwangserkrankungen vor allem Patienten, die an ängstlich-agitierten Depressionen
eingesetzt. Daneben sind SSRI zurzeit immer noch die am leiden, unter Therapie mit SSRI engmaschig überwacht wer-
häufigsten bei Depressionen eingesetzten Antidepressiva. Die den. SSRI lösen besonders in den ersten Wochen nach Behand-
momentan verfügbaren SSRI unterscheiden sich unterein- lungsbeginn und bei älteren Patienten eine Hyponatriämie
ander nur unwesentlich, ihre Effizienz betreffend. Hinsicht- aus, die durch eine inadäquate Sekretion von ADH erklärt
lich des Interaktionspotenzials, das CYP450-System betreffend, wird.
und der Nebenwirkungen bestehen jedoch wesentliche Unter- Vor allem bei abruptem Absetzen von SSRI kann es zu
schiede (. Tab. 8.8). einem Absetzsyndrom kommen, welches sich in Schwindel,
In Deutschland ist mittlerweile Citalopram44 das mit Ab- Übelkeit, Kopfschmerzen, Unruhe, Angst und Schlafstörun-
stand am häufigsten verschriebene SSRI, was u. a. auf das re- gen äußern kann. Risikofaktoren für das Auftreten sind unter
lativ geringe Interaktionspotenzial von Citalopram zurückzu- anderem hohe Dosierungen und eine lange Therapiedauer.
führen ist. Seit kurzem ist auch das pharmakologisch eigent- Pharmakologisch ist das Absetzsyndrom nicht als ein Ent-
lich aktive Enantiomer Escitalopram45 zugelassen, das mög- zugssyndrom, sondern vermutlich als ein Rebound-Phäno-
licherweise einen schnelleren Wirkeintritt als Citalopram men zu interpretieren.
aufweist. Fluoxetin und vor allem Fluvoxamin werden auf- f
grund ihrer inhibierenden Wirkung auf mehrere CYP450-En- Serotonin-Syndrom (auch serotonerges Syndrom). Diese
zyme mittlerweile zurückhaltend eingesetzt. Fluoxetin weist seltene, aber potenziell lebensbedrohliche unerwünschte Arz-
zudem mit 4–6 Tagen die längste Halbwertszeit unter den neimittelwirkung wird durch serotinerg wirksame Pharmaka,
SSRI auf, aktive Metabolite können bis zu 16 Tagen nach- vor allem durch die Kombination derselben, verursacht. Ein
weisbar sein. Diese Eigenschaft muss hinsichtlich potenzieller Serotonin-Syndrom äußert sich in vielfältigen Symptomen.
Interaktionen bei einem Wechsel auf ein anderes Antidepres- Als Zeichen der vegetativ-autonomen Dysfunktion treten bei-
sivum berücksichtigt werden. spielsweise Tachykardie, Hypertension, Schwitzen, Fieber,
SSRI gelten im Vergleich zu TzAD als besser verträglich, beschleunigte Atmung, Übelkeit, Diarrhö und eine Mydriasis
da sie keine kardiotoxischen, anticholinergen oder orthostati- auf. Zeichen der motorischen Dysfunktion sind unter ande-
schen Nebenwirkungen auslösen. Wie alle Antidepressiva mit rem Tremor, gesteigerte Reflexe, Myoklonien, Akathisie und
serotonerger Wirkkomponente erzeugen auch SSRI in 10–30% Krämpfe. Zusätzlich sind psychische Symptome, wie Reizbar-
der Fälle sexuelle Funktionsstörungen (v. a. Libidoverlust, keit, Unruhe, Angst und Halluzinationen zu beobachten. Dif-f
Anorgasmie, verzögerte Ejakulation, erektile Dysfunktion), ferenzialdiagnostisch sind vor allem eine akute Verschlechte-
die ein Absetzen des Medikaments durch den Patienten zur rung der Grunderkrankung, ZNS-Infektionen und das malig-
Folge haben können. Andere häufige, vor allem bei Therapie- ne neuroleptische Syndrom in Betracht zu ziehen.
beginn auftretende unerwünschte Arzneimittelwirkungen
sind Unruhe, Schlaflosigkeit und Angst. Diese Nebenwirkun- ! Das Serotonin-Syndrom muss frühzeitig diagnos-
gen treten besonders stark ausgeprägt unter Fluoxetin auf. tiziert werden, da es unbehandelt zum Tod durch
Daneben sind häufig Kopfschmerzen und vor allem gastroin- Multiorganversagen führen kann. Die Behandlung
testinale Beschwerden, wie Übelkeit, Erbrechen und Diarrhoe ist rein symptomatisch ausgerichtet, das auslösende
(seltener auch Obstipation), zu beobachten. Medikament muss abgesetzt werden.
8.2 · Antidepressiva und Phasenprophylaktika
99 8
8.2.6 Selektive Serotonin-Noradrenalin- fügung. Man unterscheidet zwei Typen des Enzyms, MAO-A
Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI) und MAO-B. Während Substanzen, die die MAO-A hemmen,
zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden, finden
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer hemmen Medikamente, welche die MAO-B hemmen, Verwendung bei
simultan die neuronale Wiederaufnahme von Noradrenalin der Therapie des Morbus Parkinson.
und Serotonin (. Tab. 8.6 bis . Tab. 8.8). SNRI sind im Ver-
! Kombinationen von MAOI mit SSRI, Clomipramin,
gleich zu TzAD besser verträglich und werden hauptsächlich
SNRI und Triptanen sind aufgrund der Gefahr des Auf-
bei Depressionen und Angststörungen eingesetzt. SNRI gelten
tretens eines Serotonin-Syndroms kontraindiziert.
auch als effektiv bezüglich der Wirksamkeit auf die soma-
tischen Symptome einer Depression. In Deutschland sind der-
zeit Duloxetin44 und Venlafaxin45 verfügbar. eine Wartezeit von mindestens 2, im Falle von Fluoxetin von
Bei Venlafaxin ist in niedriger Dosierung die Hemmung des mindestens 5 Wochen einkalkuliert werden. MAOI gelten als
Serotoninrücktransports vorherrschend, erst in höherer Dosie- die mit am stärksten antriebssteigernden Antidepressiva.
rung kommt es zur Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung. Man unterscheidet reversible von irreversiblen MAO-
Daher ist das Nebenwirkungsprofil von Venlafaxin dem der Hemmern. Tranylcypromin47 ist schon seit langer Zeit auf
SSRI relativ ähnlich, was bedeutet, dass unter Venlafaxin vor dem Markt und wird als irreversibler und nicht selektiver
allem Übelkeit, Erbrechen und sexuelle Funktionsstörungen MAO-Hemmer charakterisiert. Diese Substanz zeichnet sich
auftreten. Duloxetin dagegen weist, die Hemmung der Wieder- durch schwerwiegende Interaktionen mit tyraminhaltigen
aufnahme von Serotonin und Noradrenalin betreffend, ein aus- Lebensmitteln wie Wein und Käse aus, da bei gleichzeitiger
gewogenes Verhältnis auf, weshalb es auch als »dual wirksames Einnahme Blutdrucksteigerungen auftreten, die in hyperten-
Antidepressivum« bezeichnet wird. Als häufigste Nebenwir- siven Krisen münden können. Beim Wechsel von Tranyl-
kungen werden Kopfschmerzen, Mundtrockenheit, Übelkeit cypromin auf ein anderes Antidepressivum muss eine Warte-
und Schlaflosigkeit genannt, sexuelle Funktionsstörungen tre- zeit von mindestens zwei Wochen eingehalten werden, um
ten seltener als bei Venlafaxin oder den SSRI auf. ernste Wechselwirkungen zu vermeiden (. Tab. 8.8).
Duloxetin ist auch zur Therapie der schmerzhaften diabe-
a Moclobemid ist ein reversibler MAO-A Hemmer und
tischen Polyneuropathie zulassen. Aufgrund der noradrener- zeigt vergleichsweise weniger schwere Nebenwirkungen und
gen Wirkung auf das Urogenitalsystem wird Duloxetin vom Interaktionen.
selben Hersteller auch unter dem Handelsnamen »YENTREVE« Trotz dieser Unterschiede wird Tranylcypromin, das auf-
f
vertrieben. Einzige Indikation für dieses Präparat ist die Belas- grund seiner Anwendung bei therapieresistenten Depres-
tungsinkontinenz bei Frauen. sionen eine Nischenposition einnimmt, wesentlich häufiger
verschrieben als Moclobemid.
8.2.7 Monoaminoxidasehemmer
(MAO-Hemmer, MAOI) 8.2.8 Duale serotonerge Antidepressiva
(DSA)
Sie hemmen den neuronalen Abbau verschiedener Transmit-
ter wie Dopamin, Noradrenalin und Serotonin (. Tab. 8.6 und Duale serotonerge Antidepressiva hemmen postsynaptische
. Tab. 8.7). Dadurch steht eine höhere Transmitterkonzentra- 5-HT2A Serotoninrezeptoren und blockieren weniger stark
tion in der Nervenendigung und für die Freisetzung zur Ver- und nichtselektiv die Wiederaufnahme von Serotonin
Nebenwirkungen
TzAD a Mundtrockenheit, Schwitzen, Obstipation, Hypotension (bei vorwiegend noradrenergen TzAD Hypertension),
Miktionsstörungen, Akkommodationsstörungen, Subileus, Delir, sexuelle Dysfunktion, Schlaflosigkeit, substanzabhängig
Sedierung, Krampfanfälle, Herzrhythmusstörungen, Transaminasenanstieg, feinschlägiger Tremor, Exantheme
TezAD Wie TzAD, jedoch weniger ausgeprägte anticholinerge NW (Maprotilin), ausgeprägte dämpfende Komponente (Mirtazapin)
(. Tab. 8.6 und . Tab. 8.7). Daher werden DSA neuerdings auch pflicht unterstellt worden. Alle anderen Präparate bleiben frei
als »serotonin antagonist/reuptake inhibitors« (SARI) klassifi- verkäuflich oder apothekenpflichtig.
ziert. In Deutschland ist als einziges DSA Trazodon51 auf dem Obwohl Johanniskraut als Phytopharmakon bei medizi-
Markt. Es hat im Vergleich zu SSRI ein günstigeres Nebenwir- nischen Laien als harmlos gilt, ist es nicht frei von Neben- und
kungsprofil, Schlafstörungen und sexuelle Funktionsstörun- Wechselwirkungen. Entgegen der weit verbreiteten Auffas-
gen betreffend. Trazodon ist eines der wenigen prosexuell sung tritt eine Photosensibilisierung durch Johanniskraut-
wirksamen Antidepressiva, das die sexuelle Leistungsfähigkeit präparate jedoch nur selten auf. Diese Nebenwirkung ist bei-
und das sexuelle Empfindungsvermögen steigern kann. Dieser spielsweise unter Therapie mit trizyklischen Antidepressiva,
Effekt wird auf die Affinität von Trazodon zu α1- und α2-Adre- besonders bei Amitriptylin, das zudem photoallergische Re-
nozeptoren zurückgeführt, ebenso wie die vor allem zu Be- aktionen auslösen kann, wesentlich häufiger zu beobachten.
handlungsbeginn auftretende orthostatische Dysregulation. Im Vordergrund der unerwünschten Wirkungen von Johan-
Als sehr seltene Komplikation, die einen urologischen Notfall niskraut steht eine ausgeprägte Induktion von CYP3A4 durch
darstellt, kann unter Trazodon ein Priapismus auftreten. Johanniskraut in der Leber, die zu einem beschleunigten Ab-
bau anderer Pharmaka, z. B. Cumarinderivate, Ciclosporin,
Tacrolimus, HIV-Proteasehemmstoffe, Theophyllin, Digoxin,
8.2.9 Noradrenalin-Dopamin- aber auch hormoneller Kontrazeptiva führt. Bedeutsam sind
Wiederaufnahmehemmer auch Interaktionen mit Antidepressiva (Wirkungsverstärkung
von z. B. Paroxetin, Sertralin, MAO-Hemmer), die zu ver-
Aus dieser Gruppe ist in Deutschland nur das Bupropion ver- stärkten serotonergen Effekten führen können. In Einzelfällen
fügbar, das vor kurzem zur Behandlung von Depressionen resultierte aus der Kombination von Johanniskraut mit ande-
zugelassen wurde. Bekannt ist Bupropion vor allem als »Rau- ren Antidepressiva ein Serotonin-Syndrom. Es wird emp-
cherentwöhnungsmittel«. Als Nebenwirkungen treten beson- fohlen, unter Therapie mit Johanniskraut-Präparaten keine
ders Kopfschmerzen, innere Unruhe, Schlafstörungen und weiteren Medikamente einzunehmen, insbesondere nicht
Obstipation auf. Zu beachten ist, dass Bupropion insbesonde- solche, die Substrate von CYP3A4 sind.
re bei hoher Dosierung Krampfanfälle auslösen kann.
Johanniskraut (Hypericum perforatum) wird zunehmend Affektive Störungen lassen sich zunächst in zwei große Grup-
zur Behandlung leichter und mittelschwerer depressiver Epi- pen, unipolar depressive Störungen (ohne manische oder hy-
soden eingesetzt. Bei schweren depressiven Episoden sind pomanische Episoden) und bipolare Störungen unterteilen.
Johanniskrautextrakte bislang kontraindiziert. Es wird ange-
nommen, dass Hyperforin eine der wirksamen Verbindungen Unipolare Depressionen
im Johanniskraut ist. Jedoch scheinen mehrere Inhaltsstoffe Symptomatik. Depressionen sind psychische Störungen, die
für die Wirkung verantwortlich zu sein, da Hyperforin alleine sich durch Antriebslosigkeit, Interessenslosigkeit, gedrückte
nicht, sondern nur der Gesamtextrakt eine antidepressive Stimmung und Freudlosigkeit, gestörtes Selbstwertgefühl und
Wirkung in vollem Ausmaß entfaltet. Der genaue Wirkme- erhöhte Ermüdbarkeit bemerkbar machen. Neben diesen
chanismus von Johanniskraut ist nicht bekannt, sehr wahr- Hauptsymptomen können als Zusatzsymptome außerdem
scheinlich hemmen die verschiedenen Inhaltsstoffe unselektiv Minderwertigkeitsgefühle, Beeinträchtigung der Konzentra-
die Wiederaufnahme von Serotonin, Noradrenalin, Dopamin tion und Aufmerksamkeit, Schuldgefühle, verringerte Kon-
und Glutamat. Die klinische Wirksamkeit von Johanniskraut zentrations- und Entscheidungsfähigkeit, negative Zukunfts-
ist immer noch umstritten, obwohl neuere klinische Studien perspektiven, suizidale Gedanken, Denkverlangsamung,
eine Wirksamkeit bei leichten und mittelschweren Depressio- Reizbarkeit und verringertes sexuelles Interesse hinzutreten.
nen zu belegen scheinen. Anzumerken ist, dass eine aktuelle Sehr häufig werden außerdem Schlafstörungen, die sich als
Metaanalyse zeigt, dass Johanniskraut-Präparate auch bei Ein- und Durchschlafstörungen, frühmorgendliches Aufwa-
schweren Depressionen eine ähnliche Wirksamkeit aufweisen chen und Tagesmüdigkeit äußern können, beobachtet.
wie die TzAD und SSRI, zugleich verbunden mit einem güns- Depressionen können sich auch vorwiegend somatisch
tigeren Nebenwirkungsprofil. äußern wie z. B. in Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Ge-
Wahrscheinlich spielt die Dosierung eine entscheidende wichtsabnahme oder -zunahme, Schmerzempfindungen am
Rolle, denn in Studien, die eine Wirksamkeit nachgewiesen ganzen Körper oder einer verlangsamten Motorik.
haben, wurden Extrakte von 900 mg bis zu 1800 mg eingesetzt
worden. Die meisten Zubereitungen, die auch in Drogerien Epidemiologie. Man nimmt an, dass in Deutschland der
oder Supermärkten frei verkauft werden, sind Präparate mit überwiegende Teil der ca. 12.000 Suizide pro Jahr auf De-
ca. 180 mg Extrakt. Diese Präparate liegen daher vermutlich pressionen zurückgeführt werden kann, d. h., in Deutschland
weit unter der Wirksamkeitsgrenze. Seit kurzem sind Johan- sterben pro Jahr mehr Menschen an einer Depression als an
niskraut-Präparate, die explizit für die Indikation ›mittel- Autounfällen. Fast jeder Zehnte, der in Deutschland eine
schwere Depression‹ zugelassen sind, der Verschreibungs- Praxis besucht, leidet an Depressionen. Damit ist die Depres-
8.2 · Antidepressiva und Phasenprophylaktika
101 8
sion eine der am häufigsten gestellten Diagnose. Bei Frauen jugendlichen Alter entwickeln. Die manischen Phasen sind
wird die Diagnose »Depression« etwa doppelt so häufig wie häufig etwas kürzer als die depressiven, mit fortschreitender
bei Männern gestellt, dafür sterben signifikant mehr Männer Dauer nehmen jedoch die depressiven Phasen zu und die ma-
an depressionsbedingten Suiziden. In den entwickelten Län- nischen ab. Zwillings- und Familienforschungen deuten auf
dern und ganz besonders in den industrialisierten Ländern eine gewisse Vererblichkeit der Erkrankung hin.
wurde in den letzten Jahren ein starker Anstieg depressiver
Erkrankungen beobachtet. Therapieziele und Therapiestrategien
Die Eckpfeiler der antidepressiven Therapie sind die Pharma-
Einteilung. Es werden unterschiedliche Formen von Depres- ko- und Psychotherapie. Häufig werden beide miteinander
sionen beschrieben, die sich an analytisch ausgerichteten The- kombiniert.
orien orientieren wie endogene Depression, neurotische De-
pression oder auch reaktive Depression (ältere Diagnose- Kriterien für die Auswahl eines Antidepressivums
schemata). Neue Diagnoseschemata sind eher deskriptiv und
4 Prägnanztyp und Ausprägung der Symptomatik
unterscheiden Episoden von rezidivierenden Störungen. Der
4 Wirksamkeit des Antidepressivums
Schweregrad der Erkrankung wird dabei mit leicht, mittelgra-
4 Verträglichkeit des Antidepressivums
dig und schwer charakterisiert.
4 Behandlungsvorgeschichte
Ätiopathogenese. Als Ursache einer Depression spielen ver-
schiedene Faktoren wie Genetik, entwicklungsgeschichtliche Der Prägnanztyp umfasst gehemmte, agitiert-ängstliche, lar-
Erlebnisse und aktuelle Ereignisse eine Rolle. Wie bei vielen vierte, zwanghafte und wahnhafte Depressionen. Neben der
Erkrankungen ist auch bei der Depression die Ursache multi- klinischen Symptomatik sind der Verlauf und Schweregrad
kausal, letztlich aber ist sie nicht vollständig aufgeklärt. Dis- maßgeblich für die Auswahl des Medikaments. Antidepres-
kutiert werden psychische und physische Ursachen sowie siva lassen sich grob in sedierende und nicht-sedierende Phar-
Depressionen als Begleiterscheinung anderer Erkrankungen maka unterscheiden. Es gibt bisher allerdings keinen wissen-
und genetische Dispositionen. Ähnlich wie bei der Schizo- schaftlich belegten Vorteil für sedierende Antidepressiva bei
phrenie ist das Risiko für Kinder, bei denen ein Elternteil er- der agitierten Depression oder bei Depressionen mit Suizi-
krankt ist 10–15%; während bei Erkrankung beider Elternteile dalität. Nicht sedierend wirkende Antidepressiva sollten bei
das Risiko auf 30–40% ansteigt. Neurobiologische und patho- diesen Formen der Depression kurzfristig mit sedierend wirk-
physiologische Betrachtungen der Depressionen gehen von samen Substanzen wie Benzodiazepinen kombiniert werden.
einem Defizit der Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin Depressive Patienten mit Schlafstörungen können dagegen
und Dopamin im Gehirn aus. Dabei wird dem Serotonin eine mit sedierend wirksamen Antidepressiva behandelt werden
mehr stimmungsaufhellende Wirkung, dem Noradrenalin (z. B. Amitryptilin, Doxepin oder Mirtazapin). Sollten diese
dagegen ein antriebssteigernder Effekt zugeschrieben. Der Patienten ein nicht sedierendes Antidepressivum verordnet
Wirkungsmechanismus der verschiedenen Antidepressiva bekommen, dann ist auch hier an den nächtlichen Einsatz
führt zu einer vermehrten Verfügbarkeit der diversen Neuro- eines Hypnotikums zu denken. Bei Suizidalität sollte immer
transmitter im synaptischen Spalt, sei es durch Hemmung an eine sedierende Begleitmedikation gedacht werden.
ihrer neuronalen Wiederaufnahme oder durch Hemmung ih- Alle Antidepressiva besitzen ausreichende antidepressive
res abbauenden Enzyms, der MAO. Die Wirkungsmechanis- Wirkungen. Gesicherte Unterschiede in der Wirksamkeit mit
men sind gleichzeitig auch für die meisten Nebenwirkungen Ausnahme der Zwangsstörungen und atypischen Depression
verantwortlich, denn die Effekte der Antidepressiva sind nicht existieren nicht. Es gibt bisher auch keine Untersuchungen,
nur auf das ZNS beschränkt, sondern auch in der Peripherie die eine Überlegenheit in der antidepressiven Wirkung der
lokalisiert. neueren Antidepressiva gegenüber den klassischen trizykli-
schen Antidepressiva berichtet hätten. Allerdings weisen neu-
Bipolare Störung (Zyklothymie) ere Antidepressiva Vorteile bezüglich der Nebenwirkungen,
Die bipolare Störung wurde früher manische Depression ge- Verträglichkeit und Compliance auf, was sich in geringeren
nannt. Sie ist durch eine affektive Störung gekennzeichnet, die Therapieabbruchraten bemerkbar macht.
sich durch Schwankungen der Stimmung zwischen extremer Die Antidepressiva zeigen hinsichtlich der antidepres-
Hochstimmung und schwerer Depression bemerkbar macht. siven Wirkung eine Wirklatenz von 1–3 Wochen, bei Zwangs-
In der manischen Phase werden die Patienten durch stark geho- störungen dauert sie sogar bis zu 10 Wochen an. Mit Schlaf- f
benen Antrieb, aggressives Verhalten, Reizbarkeit, Rededrang, entzug kann man die Wirkung des Antidepressivums verbes-
hemmungsloses und unkritisches Verhalten, gesteigerte Impul- sern und den Wirkeintritt beschleunigen.
sivität und Spontaneität, gesteigertes Selbstbewusstsein und
wenig Schlafbedürfnis auffällig. Während der depressiven Pha- Behandlungsdauer. Die Behandlung der Depression diffe-
se leiden die Patienten unter einer niedergedrückten Stimmung, renziert sich in eine Akuttherapie und eine Erhaltungsthe-
vermindertem Antrieb, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit mit rapie sowie Rezidivprophylaxe. Nach Stellung der Diagnose
Gewichtsverlust, fehlendem Selbstbewusstsein, Selbstvorwür- ›Depression‹ sollte die Pharmakotherapie möglichst um-
fen und suizidalem Denken. Die bipolare Störung tritt ebenfalls gehend beginnen. Da die Wirklatenz ca. 3 Wochen dauert,
meist vor dem 30. Lebensjahr auf und kann sich erstmals im ist auch eine Beurteilung der Wirksamkeit bzw. Unwirk-
102 Kapitel 8 · Therapie mit Antipsychotika und Antidepressiva
samkeit frühestens nach drei Wochen möglich und bei Handelt es sich bei der Erkrankung um eine Erstmanifesta-
Zwangsstörungen erst nach ca. 10 Wochen. Daher sollte ein tion, dann sollte eine Erhaltungstherapie über 6 Monate mit
frühzeitiges Absetzen oder Umstellen auf eine andere Subs- gleich bleibender Dosierung erfolgen.
tanz nur bei schwerwiegenden Nebenwirkungen vorge-
nommen werden. Man sollte beachten, dass zu Beginn einer Unipolare Episoden. Bei entsprechender Indikation, also bei
antidepressiven Therapie zunächst vor allem die Nebenwir- Suizidversuchen in der Anamnese oder bei einer entspre-
kungen auftreten, die sich im Verlauf der Therapie zurück- chenden Familienanamnese, kann sich an die Erhaltungsthe-
bilden. rapie die Rezidivprophylaxe anschließen. Man verwendet
dazu das gleiche Antidepressivum, mit dem auch eine Remis-
> Ist die Therapie mit einem bestimmten Antidepres- sion erreicht wurde.
sivum unwirksam, dann sollte auf ein Antidepres-
sivum mit einem anderen Wirkmechanismus umge- Bipolare Episoden. Nach Remission einer Depression im
stellt werden. Rahmen einer bipolaren Störung wird das Antidepressivum
. Tab. 8.9. Empfohlene Routineuntersuchungen vor und während der Therapie mit Antidepressiva. (Nach Holsboer et al. 2008)
Blutbild
Trizyklische Antidepressiva
Andere Antidepressiva
GOT, GPT,
T γ-GT
Trizyklische Antidepressiva
Andere Antidepressiva
Kreatinin
Trizyklische Antidepressiva
Andere Antidepressiva
Puls, Blutdruck
Trizyklische Antidepressiva
Andere Antidepressiva
EKG
Trizyklische Antidepressiva
Andere Antidepressiva
EEG
Trizyklische Antidepressiva
Schwangerschaftstest
Alle Antidepressiva
Kontrolle notwendig.
Kontrolle notwendig bei pathologischen Ausgangswerten, ansonsten jährliche Kontrollen meist ausreichend.
8.2 · Antidepressiva und Phasenprophylaktika
103 8
meist abgesetzt und die Phasenprophylaxe mit Lithium, bezie- verordnet. Ist die Ansprechbarkeit auf Lithium und Carbama-
hungsweise auch mit Carbamazepin, Lamotrigin oder Val- zepin nur gering, kommen auch Antipsychotika in Betracht.
proat weitergeführt. Unter Umständen muss bei diesen Pati- Lithium besitzt einen ausreichend belegten suizid- und mor-
enten die Therapie über mehrere Jahre beibehalten werden, talitätsreduzierenden Effekt.
bevor man einen Absetzversuch wagen kann. Auch die akute Manie kann mit Lithium und Carbama-
zepin behandelt werden. Hier ist aber häufig die Kombina-
Therapieresistenz. Wird eine akute Depression mit zwei tion mit einem Antipsychotikum oder einem Benzodiazepin
Antidepressiva aus zwei verschiedenen Substanzklassen in notwendig. Lithium wird so dosiert, dass ein Plasmaspiegel
ausreichender Dosierung und Plasmakonzentration nach vier zwischen 0,6 und 0,8 mmol/l erreicht wird. Der phasen-
bis sechs Wochen nur wenig oder gar nicht gebessert, gilt sie prophylaktische Effekt tritt allerdings erst nach einigen Mona-
als therapieresistent. Diese Resistenz tritt in 20–30% der Fälle ten ein. Die Therapie beginnt einschleichend mit zunächst
auf. Trizyklische Antidepressiva sollen dann auf hochnormale 10–20 mmol/Tag, wobei aufgrund der geringen therapeu-
Plasmakonzentrationen für zwei Wochen eingestellt werden. tischen Breite der Lithium-Spiegel kontinuierlich kontrolliert
SSRI, NARI, SNRI und NaSSA erfahren solange eine Dosis- werden muss. Bei der akuten Manie wird der Plasmaspiegel
steigerung, bis die Verträglichkeitsgrenze bzw. die in . Tab. 8.7 zwischen 1,0 und 1,2 mmol/l eingestellt, wobei Lithium rasch
angegebenen oberen Dosisgrenzen erreicht sind. Falls damit aufdosiert wird. Man beginnt mit 30–40 mmol/Tag und kont-
kein ausreichender Effekt erzielt werden kann, ist die Kombi- rolliert den Spiegel im Abstand von 2–3 Tagen.
nation mit einem zweiten Antidepressivum, eine Augmenta- Lithium löst zahlreiche Nebenwirkungen aus. Charakte-
tion mit beispielsweise Lithium oder die Umstellung auf Tra- ristisch ist der feinschlägige Tremor, der auf β-Adrenozeptor-
nylcypromin in Erwägung zu ziehen. Antagonisten anspricht. Daneben können eine euthyreote
Empfohlene Kontrolluntersuchungen vor und während Struma, eine Polyurie durch die hemmende Wirkung von Li-
der Therapie mit Antidepressiva sind in . Tab. 8.9 aufge- thium auf ADH und eine Gewichtszunahme, bedingt durch
führt. einen gesteigerten Appetit, auftreten. Da Lithium und Natri-
um in der Niere um die tubuläre Rückresorption konkurrie-
Therapie der bipolaren Störungen ren, können Zustände, die zu einem Salz- und Flüssigkeitsver-
(Zyklothymie) lust führen (z. B. starkes Schwitzen, Diuretika), bei gleich
Für die Therapie der Phasenprophylaxe affektiver und schi- bleibender Dosierung zu erhöhten Lithiumspiegeln führen.
zoaffektiver Depressionen werden Lithium und Carbamaze- Die wichtigsten Kontraindikationen der Antidepressiva
pin und andere Antikonvulsiva wie Valproat oder Lamotrigin sind in . Tab. 8.10 aufgeführt.
Antidepres- Kontraindikation
sivum*
TzAD Ileus, Pylorusstenose, frischer Myokardinfarkt, akute Ischämiezeichen im EKG, instabile Angina pectoris, AV-Block II
und III, Rechtsschenkelblock, ventrikuläre Arrhythmie nach Therapiebeginn, Engwinkelglaukom, iMAOI in den
letzten 14 Tagen, Krampfanfälle, Herz-Kreislauf-Störungen
SSRI iMAOI in den letzten 14 Tagen, Moclobemid in den letzten 2 Tagen, gleichzeitige Antikoagulanzien-Therapie,
relative Kontraindikationen: gleichzeitige Lithiumtherapie, Sick-Sinus-Syndrom
MAOI Phäochromozytom, Thyreotoxikose, Karzinoid, opiatartige Narkoanalgetika (Pethidin), SSRI in den letzten 2 Wochen
(Fluoxetin: 5 Wochen), Clomipramin oder anderes serotonerges Pharmakon
Alle AD Akute Alkohol-, Schlafmittel-, Analgetika- und Psychopharmaka-Intoxikationen; akute Delirien; akute Harnverhal-
tung; relevante Herz-Kreislauf-Erkrankungen; schwere Leberschäden; schwere Nierenschäden bzw. eingeschränkte
GFR; relevante Blutbildstörungen
Relative Kontraindikationen: Schilddrüsen- und Stoffwechselstörungen, hirnorganische Schädigungen, Störungen
der Harnentleerung, Blutbildstörungen, Schwangerschaft und Stillzeit
In Kürze
c
108 Kapitel 9 · Therapie mit Antikoagulanzien, Thrombozytenfunktionshemmern und Thrombolytika
toren reduziert. Daraus resultiert eine weitere Verschiebung Neben diesen Substanzgruppen kommen bei der Akuttherapie
des Hämostasegleichgewichts in Richtung einer Hyperkoagu- thrombotischer Ereignisse Aktivatoren der Fibrinolyse zum
labilität. Einsatz.
Ein erhöhtes Risiko arterieller Thrombosen besteht bei
fortgeschrittenen Stadien der Artherosklerose, bei Lipidstoff-
wechselstörungen und bei Diabetes mellitus. Im Vorder- 9.2 Hemmung der Thrombozyten-
grund steht bei arteriellen Thrombosen eine Hyperreaktivität funktion
der Thrombozyten mit Aktivierung der Thromboxansynthese,
Freisetzung von Thrombozyteninhaltsstoffen (Serotonin, 9.2.1 Acetylsalicylsäure
Wachstumsfaktoren) und Externalisierung bzw. Aktivierung
von Adhäsionsmolekülen (P-Selektin, Integrine), die eine An- Acetylsalicylsäure (ASS) ist die Standardsubstanz zur Hem-
lagerung der Thrombozyten an die Gefäßwand und Bildung mung der Thrombozytenfunktion (. Tab. 9.1). Der Wirkungs-
von Thrombozytenaggregaten fördern. Wichtige Komplika- mechanismus besteht in einer irreversiblen Hemmung der
tionen akutthromboembolischer arterieller Gefäßverschlüsse Thromboxansynthese durch Blockade der Cyclooxygenase
sind Myokardinfarkt und (ischämischer) Schlaganfall sowie (COX)-1. Eine Thrombozytenfunktionshemmung ist nach
die kritische Extremitätenischämie bei peripheren arteriellen Absetzen noch über 4–5 Tage vorhanden, was bei operativen
Durchblutungsstörungen (7 Kap. 20.3.2). Eingriffen mit einem besonderen Blutungsrisiko (z. B. bei
Tiefe Venenthrombosen sind durch die Aktivierung neuro- oder augenchirurgischen Eingriffen) berücksichtigt
der plasmatischen Gerinnung bedingt. Die Aktivierung der werden muss.
plasmatischen Gerinnung erfolgt durch den tissue factor der ASS1 ist die Basistherapie für die Sekundärprophylaxe
auf glatten Muskelzellen, aktivierten Monozyten, thrombo- nach Myokardinfarkt bzw. akutem Koronarsyndrom und per-
zytären Mikropartikeln und im artheromatösen Plaque expri- kutanen Koronarinterventionen (PTCA, Stentimplantation),
miert wird. Risikofaktoren für die Entstehung tiefer Bein- sowie nach ischämischem Schlaganfall (7 Kap. 17.3.6 und
venenthrombosen sind größere operative Eingriffe bzw. Ver- 7 Kap. 20.1.2).
letzungen, Tumorerkrankungen, intravaskuläre Katheter und
Immobilisation von Extremitäten, hohe Konzentrationen von Unerwünschte Wirkungen. Zu den unerwünschten Wir-
Gerinnungsfaktor VIII und Fibrinogen, niedrige Konzentra- kungen von ASS zählen – neben einer Blutungsneigung – Rei-
tionen an AT, Protein C und Protein S, sowie Mutationen, die zungen der Schleimhaut im Magen-Darm-Trakt
- mit einem
zu erhöhten Spiegeln an Prothrombin führen bzw. die Spal- erhöhten Risiko für Magen-Darm-Ulcera. Insbesondere bei
tung von FVa durch aPC erschweren (FV-Leiden). Eine le- Erwachsenen mit einem Asthma bronchiale kann eine Bron-
bensbedrohende akute Komplikation der tiefen Venenthrom- chokonstriktion ausgelöst werden (sog. Analgetikaasthma).
bose ist die Lungenembolie, eine wichtige Spätkomplikation
das postthrombotische Syndrom.
Zur Beeinflussung der Hyperkoagulabilität stehen 2
Hauptgruppen von Pharmaka zur Verfügung: 1 ASS-ratiopharm® 100 mg, ASS-100 HEXAL
4 Hemmstoffe der Thrombozytenfunktion 2 Ticlopidin-ratiopharm®
4 Hemmstoffe der plasmatischen Gerinnung 3 Reopro®
Mechanismus der Funk- Hemmung der Thromboxan- Hemmung der ADP-Wirkung Hemmung der Fibrinogenbin-
tionshemmung bildung (irreversible COX-1- am P2Y12-Rezeptor dung an den GPIIb/IIIa-Rezeptor
Hemmung)
Thrombozytenspezifisch Nein Ja Ja
Dosierung
9.2.2 Thienopyridine Clopidogrel:
4 75 mg 1-mal täglich, Aufsättigungsdosis zum raschen
Clopidogrel (Clopidogrelhydrogensulfat)4 und Ticlopidin2 Wirkungseintritt 300–600 mg an Tag 1
sind chemisch eng verwandte Thienopyridinderivate und
Ticlopidin:
hemmen die Thrombozytenfunktion irreversibel. Die Subs-
4 250 mg 2-mal täglich
tanzen selbst sind Prodrugs und werden nach oraler Gabe in
4 Prasugrel 60 mg Aufsättigungsdosis, dann 10 mg/Tag
der Leber zu kurzlebigen aktiven Metaboliten bioaktiviert. Sie
(<60 kg i.v. mg/Tag)
hemmen irreversibel die Bindung von ADP an den thrombo-
zytären ADP-Rezeptor P2Y12; (. Abb. 9.1). Clopidogrel wird
zur Sekundärprävention bei Patienten nach akutem Koronar-
syndrom, ischämischem Schlaganfall und peripherer arteriel- 9.2.3 GPIIb/IIIa-Antagonisten
ler Verschlusskrankheit eingesetzt. Bei Patienten mit einem
akuten Koronarsyndrom wird in der Regel eine Aufsättigungs- Abciximab3 ist das chimäre (Maus/Mensch) Fab-Fragment
dosis appliziert, um einen schnelleren Wirkungseintritt zu eines monoklonalen Antikörpers gegen den GPIIb/IIIa-(Fi-
erreichen. brinogen)-Rezeptor der Thrombozyten. Tirofiban7 ist ein syn-
Clopidogrelbesilat5 ist eine alternative Versalzungsform thetischer und nicht-peptidischer GPIIb/IIIa-Rezeptoranta-
von Clopidogrel, die – beruhend auf einer sog. Bioäquivalenz- gonist, der den Rezeptor reversibel blockiert und eine kurze
studie, in der die Konzentrationen eines inaktiven Metabo- Halbwertszeit bzw. Wirkdauer hat. Eptifibatid8 ist ein syn-
liten bei gesunden Probanden bestimmt wurden – für die thetisches zyklisches Heptapeptid, das den thrombozytären
Therapie zugelassen wurde. Klinische Vergleichstudien mit GPIIb/IIIa-Rezeptor ebenfalls reversibel hemmt.
Clopidogrelhydrogensulfat wurden bislang nicht publiziert. GPIIb/IIIa-Inhibitoren verhindern die Bindung von Brü-
Prasugrel6 hat einen schnelleren Wirkeintritt als Clopido- ckenmolekülen (Fibrinogen, vWF) und führen – ab einer kri-
grel und hemmt die Thrombozyten stärker mit geringeren tischen Rezeptorbesetzung von etwa 80% – zu einer vollstän-
interindividuellen Unterschieden. Es hemmt die Thrombozy-
tenfunktion irreversibel. In einer randomisierten Vergleichs- 4 Plavix®, Iscover®
studie war Prasugrel effektiver als Clopidogrel (insbesondere 5 Clopidogrel HEXAL®
bei Patienten mit Diabetes mellitus), es verursachte aber auch 6 Efient®
mehr Blutungen. Prasugrel hat eine längere Halbwertszeit als 7 Aggrastat®
Clopidogrel (bis zu 15 Stunden). 8 Integrilin®
110 Kapitel 9 · Therapie mit Antikoagulanzien, Thrombozytenfunktionshemmern und Thrombolytika
digen Hemmung der Thrombozytenaggregation, unabhängig 9.3.1 Indirekte Hemmung von Thrombin
vom Mechanismus der Thrombozytenaktivierung. und FXa
Die Substanzen werden beim akuten Koronarsyndrom
– insbesondere bei Hochrisiko-Patienten und bei periinter- Heparin
ventionell beobachteter koronarer Thrombusbildung –zusätz- Heparin (unfraktioniertes Heparin, UFH)9 wird aus Schwei-
lich zu Acetylsalicylsäure und Heparin eingesetzt. nedarmmukosa gewonnen. Es ist ein Gemisch sulfatierter
Glykosaminoglykane mit einem medianen Molekulargewicht
Pharmakokinetik. Die Substanzen werden intravenös appliziert. von 15 kDa (entspricht einer Kette von ca. 45 Zuckermo-
Die Plasmahalbwertszeiten sind kurz (Abciximab ca. 0,5 h; lekülen) aber einer breiten Verteilung der Molekülgrößen.
Tirofiban ca. 1,5 h; Eptifibatid ca. 2,5 h). Allerdings normalisiert Ungefähr ein Drittel der Heparinmoleküle enthält eine spezi-
sich die Thrombozytenfunktion nach Absetzen von Abciximab fische Sequenz aus fünf Zuckern, das Pentasaccharid. Nur
erst innerhalb von etwa zwei Tagen. Dies liegt an der pseudo- über diese Sequenz bindet Heparin an Antithrombin (AT)
irreversiblen Bindung an thrombozytäre GPIIb/IIIa-Rezep- und katalysiert die Reaktion zwischen AT und Gerinnungs-
toren. Bei Niereninsuffizienz muss für Tirofiban eine Dosisre- faktoren (insbesondere Thrombin und Faktor Xa). Ohne AT
duktion vorgenommen werden (Akkumulationsgefahr). haben Heparine praktisch keine antikoagulatorische Wir-
kung. Heparinmoleküle binden aufgrund ihrer stark nega-
! Eptifibatid darf bei Niereninsuffizienz nicht gege-
tiven Ladung an sehr viele Moleküle. Sie können z. B. durch
ben werden.
Freisetzung einer Lipoproteinlipase aus dem Gewebe die Auf-
f
lösung von Chylomikronen im Blut bewirken, aber auch
Unerwünschte Wirkungen. durch Komplexbildung mit positiv geladenen Proteinen, wie
das Blutungsrisiko. Alle drei Substanzen können eine Pseudo- z. B. Plättchenfaktor-4-Immunreaktionen auslösen.
thrombozytopenie (Aggregation der Thrombozyten im Röhr-
! Heparin und Heparinoide dürfen nie mit anderen
chen nach Blutentnahme und Kalzium Entzug durch EDTA)
Arzneistoffen außer Elektrolyten in einer Spritze auf-
und eine richtige Thrombozytopenie induzieren (Abciximab
gezogen oder in einer Infusion verabreicht werden.
>> Tirofiban > Eptifibatid). Antidot bei schweren Blutungen
ist die Transfusion von Thrombozytenkonzentraten. Die biologische Funktion von Heparin, das in menschlichen
Leber- und Mastzellen vorkommt, ist unklar. Seine wichtigste
Dosierung therapeutisch genutzte Eigenschaft ist die Hemmung der plas-
Abciximab: matischen Gerinnung durch Aktivierung von AT. Heparin ist
4 0,25 mg/kg i.v. Bolus, nachfolgend 0,125 μg/kg/min damit ein indirekt wirkendes Antikoagulans. Die Länge des
(maximal 10 μg/min) für 12–24 h Heparinmoleküls ist wichtig für seine biologischen Eigen-
schaften. Zur Inaktivierung von Thrombin muss das Hepa-
Eptifibatid: rinmolekül sowohl an AT als auch an Thrombin binden
4 180 μg/kg als Bolus; Dauerinfusion 2 μg/kg/min bis
(. Tab. 9.2). Dies können nur Heparinmoleküle ab einer Ket-
zu 72 h tenlänge von 18 Zuckern (ab ca. 6 KDa Molekulargewicht).
Tirofiban: Diese inaktivieren FXa und FIIa (Thrombin). Kleinere Hepa-
4 0,4 μg/kg/min über 30 min; Dauerinfusion 0,1 μg/kg/ rinmoleküle katalysieren nur die Inaktivierung von Faktor Xa
min für 48–108 h durch AT.
Grundsätzlich hemmen alle Heparine »nur« die weitere
Aktivierung der Gerinnungskaskade. Heparine können beste-
hende Gerinnsel nicht auflösen (dies erfolgt über die endo-
9.3 Hemmung der plasmatischen gene Fibrinolyse). Sie können nur freies Thrombin im Plasma
Gerinnung inaktivieren, aber nicht Thrombus-gebundenes Thrombin, da
die Heparin-AT-Komplexe zu groß sind, um in den Thrombus
Die plasmatische Gerinnung ist vor allem für venöse Throm- zu diffundieren. Außerdem ist die Heparin-Bindungsstelle
bosen von Bedeutung. Zentraler Mechanismus der plasma- des Thrombins durch Fibrin im Thrombus bereits besetzt.
tischen Gerinnung ist die Bildung von Thrombin (. Abb. 9.2). Zunehmend werden fraktionierte Heparinmoleküle ver-
Für die Hemmung der Gerinnungskaskade werden zurzeit wendet, die sog. niedermolekularen Heparine. Diese werden
fünf pharmakologische Ansätze verfolgt: durch verschiedene chemische und enzymatische Verfahren
4 Indirekte Hemmung des Thrombins durch Aktivierung aus unfraktioniertem Heparin hergestellt. Je nach Verfahren
von Antithrombin sind diese Moleküle unterschiedlich lang und unterscheiden
4 Indirekte Hemmung des Faktor Xa durch Aktivierung von sich auch in ihren pharmakologischen Eigenschaften. Allen
Antithrombin niedermolekularen Heparinen gemeinsam ist, dass der größte
4 Direkte Hemmung des Thrombins Teil der Moleküle kürzer als 18 Zuckermoleküle ist. Nieder-
4 Direkte Hemmung des Faktor Xa molekulare Heparine katalysieren daher vor allem die Inakti-
4 Hemmung der Carboxylierung der Gerinnungsfaktoren
(FX, FIX, FVII, FII; Merkhilfe »1972«) durch Vitamin-K-
Antagonisten 9 Heparin-ratiopharm, Liquemin®, Heparin-Natrium Braun®
9.3 · Hemmung der plasmatischen Gerinnung
111 9
vierung von FXa durch AT aber nur zu einem geringen Teil die lokale Anwendung auf der Haut lassen sich keine systemischen
Inaktivierung von Thrombin. Heparinwirkungen erzielen. Aufgrund der Gefahr der Entste-
Das biologische Ausgangsmaterial bedingt, dass Heparine hung ausgedehnter Hämatome sollen Heparine nicht intra-
uneinheitliche Molekülgemische sind. Jede Charge wird des- muskulär, sondern intravenös infundiert oder tief (zur Vermei-
halb anhand ihrer Gerinnungsaktivität im Vergleich zu einem dung von Blutungen aus dem Stichkanal) subkutan injiziert
WHO-Standard standardisiert. Für unfraktionierte Heparine werden. Bei letzterer Anwendungsweise entsteht eine Depot-
werden Anti-Thrombin
- -Einheiten und für niedermolekulare wirkung. Zwischen Calcium- und Natrium-Salzen des unfrak-
Heparine Anti-FXa-Einheiten verwendet. Während unfrak- tionierten Heparins besteht kein Wirkungsunterschied. Die
tionierte Heparine verschiedener Hersteller vergleichbar sind, Elimination von großen Heparinmolekülen erfolgt zum Teil
bieten die Anti-FXa-Einheiten für niedermolekulare Heparine durch Phagozytose und teilweise durch Spaltung in der Leber.
nur einen Richtwert, erlauben aber keinen direkten Vergleich Kleine Heparinmoleküle werden bis zu 50% von der Niere aus-
der Präparate. Für jedes niedermolekulare Heparinpräparat geschieden/abgebaut. Der Abbau des Heparins ist sättigbar.
muss daher, vor der Zulassung, seine biologische Wirksamkeit Seine Halbwertszeit ist daher abhängig von der applizierten
in der jeweiligen Indikation in klinischen Studien gezeigt wer- Dosis und der Größe der Heparinmoleküle. Je höher die Dosis
den. Alle Messparameter für Heparine (PTT und Anti-FXa- und je kleiner das Molekül, desto länger ist die Halbwertszeit.
Einheiten) sind Surrogatmarker, die nur einen Anhaltspunkt Die ladungsabhängige Bindung von großen Heparinmole-
für die Stärke der Antikoagulation darstellen. Es gibt bislang külen an zahlreiche Proteine des Blutes und der Gefäßwand
keinen Parameter, der eine genaue Einschätzung der Gerin- bedingt eine relativ kurze Halbwertszeit (0,5–2,5 h) (. Tab. 9.2).
nungssituation des Patienten erlaubt. Dieser müsste neben Da diese Bindung von der Konzentration der Plasmaproteine
dem plasmatischen Gerinnungspotential auch die Funktion abhängig ist, kann sie zwischen verschiedenen Patienten und
von Thrombozyten und Endothelzellen erfassen. auch im Verlauf einer Behandlung bei dem gleichen Patienten
(Akute-Phase-Proteine) sehr unterschiedlich sein. Deshalb
Pharmakokinetik. Unfraktioniertes und niedermolekulares muss unfraktioniertes Heparin durch Messung der Partiellen
Heparin werden aufgrund ihrer Molekülgröße und negativen Thromboplastinzeit (PTT) überwacht und gesteuert werden,
Ladung nur sehr schlecht aus dem Darm oder von anderen wenn es in therapeutischer Dosierung gegeben wird. Die Ver-
Schleimhäuten resorbiert und müssen parenteral zugeführt wendung eines Nomogramms erleichtert die Dosisfindung
werden. Heparine passieren die Plazentaschranke nicht. Durch (. Tab. 9.3).
112 Kapitel 9 · Therapie mit Antikoagulanzien, Thrombozytenfunktionshemmern und Thrombolytika
aPTT (sec) Änderung der Dosierung Zusätzlich Kontrolle der aPTT nach
(IE/kg/h)
71–90 –2 – 6h
Für die Anwendung eines Nomogramms ist es zwingend erforderlich, dass das Labor die PTT an den Anti-Faktor-Xa-Einheiten kalibriert
1,5- bis 2,5-fache PTT-Verlängerung = 0,3–0,7 Anti-FXaE.
Im Extremfall binden alle großen Heparinmoleküle an Antagonisierbarkeit ist der wichtigste Grund, unfraktioniertes
andere Proteine als AT. Dies führt dazu, dass trotz hoher Heparin für die therapeutische Antikoagulation bei einigen
Heparingaben keine PTT-Verlängerung zu messen ist (PTT- Patientengruppen bevorzugt einzusetzen. Typische klinische
Resistenz). Hierbei akkumulieren jedoch die kleineren Hepa- Situationen sind Operationen an der Herz-Lungen-Maschine,
rinmoleküle, die die PTT nicht beeinflussen. Ab einer Dosis die therapeutische Antikoagulation bei blutungsgefährdeten
von 35.000 IE unfraktioniertem Heparin/Tag sollte die The- Patienten oder bei Patienten, bei denen innerhalb der nächs-
rapie daher mit einem Anti-FXa-Test überwacht werden, ten 24 h ein größerer invasiver Eingriff geplant ist. Es gibt kei-
wenn die PTT eine unzureichende Verlängerung zeigt. Sonst ne überzeugenden Argumente für eine Antikoagulation in
besteht die Gefahr schwerer Blutungskomplikationen durch prophylaktischer Dosierung mit unfraktioniertem Heparin.
eine Akkumulation der kleineren (niedermolekularen) Hepa-
! Weder unfraktioniertes Heparin, noch niedermole-
rinmoleküle, die über ihre Anti-FXa-Aktivität die Gerin-
kulares Heparin passieren die Plazentaschranke und
nungskaskade hemmen (. Tab. 9.2).
können in der Schwangerschaft und bei stillenden
Die Elimination der niedermolekularen Heparine erfolgt
Frauen angewendet werden.
langsamer (Halbwertszeit ca. 2–4 h) als die des unfraktio-
nierten Heparins. Sie haben aufgrund ihrer kürzeren Ketten-
länge und homogeneren Zusammensetzung eine wesentlich Unerwünschte Wirkungen von unfraktioniertem
bessere Bioverfügbarkeit (ca. 90%) und konstantere Kinetik. Heparin
Für die prophylaktische (niedrigdosierte) Antikoagulati-
4 Prophylaktische Dosierung: Heparin-induzierte
on wird für alle Patienten eine fixe Dosis verwendet sowohl für
Thrombozytopenie (bis zu 3%; Wechselwirkungen
unfraktioniertes, als auch für niedermolekulares Heparin. In
mit Plättchenfaktor 4)
therapeutischer Dosierung wird niedermolekulares Heparin,
4 Therapeutische Dosierung: Blutungen (bis zu 10%)
je nach Präparat und Studienlage, entweder in einer fixen Do-
>> Heparin-induzierte Thrombozytopenie (bis zu 2%)
sis für alle Patienten, oder körpergewichtsbezogen dosiert. Das
> Osteoporose (aber bei langfristiger Gabe >50%;
Antikoagulationsniveau unter niedermolekularem Heparin ist
Wechselwirkung mit Osteoklasten)
stabiler als unter unfraktioniertem Heparin. Eine Bestimmung
der Wirkspiegel anhand des Anti-FXa-Spiegels ist bei den Unerwünschte Wirkungen von niedermolekularem
meisten Patienten nicht notwendig. Ausnahmen sind: nieren- Heparin
insuffiziente Patienten (reduziertes Clearance); stark überge- 4 Prophylaktische Dosierung: Heparin-induzierte
wichtige Patienten (Heparine verteilen sich im Intravasalraum, Thrombozytopenie (<0,1%)
da Fettgewebe verhältnismäßig schlecht durchblutet ist, führt 4 Therapeutische Dosierung: Blutungen >> Heparin-in-
die körpergewichtsbezogene Dosierung zu hohen Spiegeln); duzierte Thrombozytopenie (<0,5%)
Schwangerschaft (erhöhter Heparinabbau).
Ein großer Vorteil des unfraktionierten Heparins ist seine Weitere unerwünschte Wirkungen
Antagonisierbarkeit durch Protamin. Protamin ist stark posi- 4 Reversibler, klinisch unbedeutender Anstieg von
tiv geladen und komplexiert/inaktiviert dadurch Heparin. Transaminasen (GOT, GPT), γ-GT, LDH, Diaminoxydase
Aufgrund ihrer geringen Wechselwirkungen mit positiv ge- und Lipase im Serum (bis zu 10%)
ladenen Molekülen können niedermolekulare Heparine nur 4 Reversibler Haarausfall, der nach 4–12 Wochen Lang-
zu einem geringen Teil (bis zu ca. 30% der antikoagulato- zeittherapie auftritt (5–40%)
rischen Wirkung) durch Protamin antagonisiert werden. Die
9.3 · Hemmung der plasmatischen Gerinnung
113 9
Heparin-induzierte Thrombozytopenie. Die Interaktionen 9.3.2 Direkte Hemmung von FXa
von Heparin und Thrombozyten kann zu einem nicht-immu-
nologischen (harmlos; HIT Typ I) und einem immunologisch Rivaroxaban13 ist ein oral applizierbarer, synthetischer FXa-
(gefährlich; HIT Typ II) verursachten Thrombozytenabfall Inhibitor, der den FXa direkt (unabhängig von AT) hemmt.
führen. Bei der immunologischen Form der Heparin-in- Die maximale Wirkung ist ca. 3 h nach Einnahme zu messen,
duzierten Thrombozytopenie bilden Patienten Antikörper die terminale Halbwertszeit beträgt 7–11 h. Die Substanz wird
gegen Komplexe aus negativ geladenem Heparin und dem po- über die Leber verstoffwechselt und über die Niere als Meta-
sitiv geladenen Thrombozytenprotein-Plättchenfaktor 4. Diese bolit oder unverändert ausgeschieden. Wechselwirkungen mit
Antikörper aktivieren Thrombozyten intravasal. Auf der Ober- anderen Medikamenten sind gering, die Dosis-Wirkungs-
fläche der aktivierten Thrombozyten (und Endothelzellen) beziehung ist linear und zwischen verschiedenen Patienten
wird die Gerinnungskaskade massiv aktiviert und Thrombin sehr vergleichbar. Im Gegensatz zu den indirekten FXa-Inhibi-
entsteht. Damit wirkt das Antikoagulans Heparin paradoxer- toren erhöht Rivaroxaban auch die INR und beeinflusst die
weise prothrombotisch. Je mehr Heparin gegeben wird und je meisten funktionellen Gerinnungsteste. In klinischen Studien
stärker die Thrombozyten aktiviert werden, desto höher ist das zur Thromboseprophylaxe nach großen orthopädischen
Risiko für eine neue Thrombose. Da B-Zellen einige Tage be- Eingriffen war Rivaroxaban effektiver als niedermolekulares
nötigen um Antikörper zu bilden manifestiert sich die HIT Heparin bei vergleichbarer Rate an Blutungskomplikationen.
typischerweise zwischen Tag 5 und 14 nach Beginn der Hepa- Die Substanz wird derzeit bei Patienten mit Thrombosen und
rintherapie mit einem Abfall der Thrombozytenwerte >50% bei Vorhofflimmern in therapeutischer Dosierung geprüft. Es
und/oder neuen Thrombosen; Blutungen sind sehr selten. Die steht kein Antidot für die Substanz zur Verfügung.
HIT tritt häufiger unter Heparin in prophylaktischer als in the-
rapeutischer Dosierung auf, und unter unfraktioniertem He-
parin 10-mal häufiger als unter niedermolekularem Heparin. 9.3.3 Direkte Hemmung von Thrombin
> Die Letalität beträgt bei zu spät erkannter HIT bis
Dabigatran14 ist ein oral applizierbarer, synthetischer Throm-
zu 20% mit einem ebenso hohen Risiko für einen
bin-Inhibitor, der Thrombin direkt (unabhängig von AT)
Schlaganfall oder den Verlust einer Extremität. Früh-
hemmt. Die maximale Wirkung ist ca. 2–3 h nach Einnahme zu
zeitige Diagnose und Wechsel auf ein anderes Anti-
messen, die terminale Halbwertszeit beträgt 12–17 h. Die Bio-
koagulans (z. B. Lepirudin, Danaparoid, Argatroban)
verfügbarkeit von Dabigatran ist mit ~5% gering. Die Substanz
sind entscheidend für die Prognose.
ist eine Prodrug, die über die Leber in den aktiven Metaboliten
verstoffwechselt wird. Dabigatran bzw. sein Metabolit werden
Heparinoide und synthetische indirekte zu 80% über die Niere ausgeschieden und akkumuliert bei Nie-
Inhibitoren des aktivierten Faktor X reninsuffizienz. Wechselwirkungen mit anderen Medikamen-
Danaparoid10 ist eine Mischung aus niedermolekularem He- ten sind gering. In klinischen Studien zur Thromboseprophy-
paransulfat, Dermatansulfat und Chondroitinsulfat. Es hat laxe nach großen orthopädischen Eingriffen war Dabigatran
vor allem Anti-FXa-Wirkung mit einer langen Halbwertszeit ebenso effektiv wie niedermolekulares Heparin bei vergleich-
(22 h für die Anti-FXa-Aktivität). Danaparoid ist ein Reserve- barer Rate an Blutungskomplikationen. Bei Patienten mit
medikament für die weitere Antikoagulation bei HIT. Thrombosen ist Dabigatran 150 mg zweimal täglich ebenso
Fondaparinux11 ist die vollsynthetische Pentasaccharid- wirksam wie Vitamin-K-Antagonisten, bei vergleichbarer Rate
sequenz des Heparins und hat ausschließlich Anti-FXa-Aktivität. schwerer Blutungen. Bei Patienten mit Vorhofflimmern war die
Die Substanz ist ebenso wirksam (therapeutische Antikoagula- Dosis von 110 mg zweimal täglich ebenso effektiv wie Vitamin-
tion) oder wirksamer (prophylaktische Antikoagulation) als nie- K-Antagonisten bei einer geringeren Rate von Blutungen. Die
dermolekulares Heparin. Fondaparinux hat eine lange Halb- Dosis von 150 mg zweimal täglich war effektiver als Vitamin-K-
wertszeit (17–21 h) und es steht kein Antidot zur Verfügung. Bei Antagonisten bei einer vergleichbaren Rate an Blutungen. Es
Einschränkung der Nierenfunktion muss die Dosis reduziert steht kein Antidot für die Substanz zur Verfügung.
werden, da Fondaparinux stark akkumuliert. Alle unerwünschten Rekombinante Hirudine (Desirudin, Lepirudin) sind re-
Wirkungen, die durch die Bindung der Heparine an andere Pro- kombinante, direkte, bivalente, parenteral anwendbare Throm-
teine als AT bedingt sind (HIT, Osteoporose, variable Dosis-Wir- bininhibitoren und führen zur irreversiblen Hemmung des
kungsbeziehung), sind unter Fondaparinux zu vernachlässigen Thrombins. Die Substanzen sind für die Prophylaxe tiefer
(. Tab. 9.2). Fondaparinux kann auch für die therapeutische An- Beinvenenthrombosen bei Patienten nach Hüft- oder Knie-
tikoagulation in einer einmal Dosis pro Tag gegeben werden. gelenksersatzoperationen (Desirudin) oder für die Behand-
Idraparinux12 (2009 in der Phase III der klinischen Prü- lung von Patienten mit Heparin-induzierter Thrombozyto-
fung) ist eine modifizierte Form des Pentasaccharids mit einer penie Typ II (Lepirudin) zugelassen. Hirudine wirken unab-
sehr langen Halbwertszeit (80 h), die mit einer Dosis subkutan hängig von AT und inaktivieren auch Thrombin im Throm-
eine Vollantikoagulation für eine Woche ermöglicht. Da es
10 Orgaran®
auch hier kein Antidot gibt, ist an Idraparinux eine Biotin-
11 Arixtra®
Gruppe gekoppelt, so dass durch die intravenöse Gabe von 12 in Entwicklung
Streptavidin Idraparinux über die Biotin-Streptavidin Bin- 13 Xarelto
dung abgefangen werden kann. 14 Pradaxa
114 Kapitel 9 · Therapie mit Antikoagulanzien, Thrombozytenfunktionshemmern und Thrombolytika
Dosierung
Heparin:
4 Unfraktioniertes Heparin
4 Thromboseprophylaxe: Indikation fraglich
4 Therapeutische Antikoagulation:
– Zur Thrombosetherapie 800–1200 IE/h PTT-ge-
Univalente direkte
direkt
steuert (. Tab. 9.3)
Bivalente direkte Thrombininhibitorne Trombininhibitoren
– Bei schwerer Lungenembolie Bolus von 10.000 IE,
Lepirudin Bivalirudin Dabigatran dann 1000–1500 IE/h PTT gesteuert
Molekulargewicht 6980 Da 2180 Da 627 Da – Kinder erhalten ca. 20 IE/kg KG/h
– In der Regel wird eine Verlängerung der PTT auf
Clearance renal enzymatisch > 80% renal
das 2- bis 3-fache der Norm angestrebt (Therapie
renal
der Heparin-Überdosierung 7 Kap. 9.2.5)
Bindung irreversibel reversibel reversibel 4 Niedermolekulares Heparin
Effekt auf INR + ++ +++ 4 Thromboseprophylaxe: 1-(Europa)- bis 2-(Nordame-
Immunogenität +++ + –
rika) mal 2500–5000 Anti-FXa IE, je nach Zulassung
des Präparates
. Abb. 9.3. Direkte Thrombininhibitoren. 1 = Fibrinogenbindungs- 4 Therapeutische Antikoagulation: 100 Anti-FXa-Ein-
stelle; 2 = Heparinbindungsstelle; 3 = katalytisches Zentrum des heiten/kg KG, 2×/Tag subkutan, oder 175 Anti-FXaE/
Thrombins kg KG, 1×/Tag subkutan, oder 8000 Anti-FXa-Ein-
heiten, 2×/Tag subkutan (je nach Zulassung des
Präparates)
bus. Die Halbwertszeit von Hirudin beträgt 1–2 h. Da Hirudin
zu >90% über die Niere ausgeschieden wird, muss die Dosis Fondaparinux:
bereits bei geringer Einschränkung der Nierenfunktion deut- 4 Prophylaktische Antikoagulation: 2,5 mg, 1×/Tag sub-
lich reduziert werden. Der Hirudinwirkspiegel sollte engma- kutan (Dosisreduktion bei Niereninsuffizienz)
schig überwacht werden (PTT, Standardlabortest); Ecarin 4 Therapeutische Antikoagulation: 7,5 mg, 1×/Tag sub-
Clotting Time (hohe Dosierung); chromogener, Prothrom- kutan (Dosisreduktion bei Niereninsuffizienz)
bin-unabhängiger Test [Intensivpatienten]). Für Hirudin steht
kein Antidot zur Verfügung. Als Fremdprotein (Blutegel) kön- Danaparoid:
nen Hirudine zur Bildung von Antikörpern führen (>50%), 4 Prophylaktische Antikoagulation: 750 Anti-FXaE,
die die Halbwertszeit des Wirkstoffs im Plasma verlängern 2–3×/Tag subkutan
und damit die Wirkung meist verstärken, selten auch reduzie- 4 Therapeutische Antikoagulation: Bolus i.v. 2500
ren. Die für die therapeutische Antikoagulation zugelassene Anti-FXaE, dann 400 E/h für 4 h i.v., dann 300 E/h
Dosierung ist zu hoch und sollte deutlich reduziert werden für 4 h i.v., dann 200 IE/h Erhaltungsdosis
(Dosierung 7 Übersicht).
Bivalirudin15 (. Abb. 9.3): ist ein synthetischer direkter, Rivaroxaban:
bivalenter Thrombininhibitor bei dem die Bindungssequenzen 4 Prophylaktische Antikoagulation: 10 mg oral,
für seine beiden Bindungsstellen an Thrombin über einen 1×/Tag
Spacer verbunden sind. Der Spacer wird durch Thrombin 4 Therapeutische Antikoagulation: 15 mg oral, 2×/Tag
gespalten und das Medikament so inaktiviert. Daher ist die
Gefahr der Akkumulation geringer als bei Hirudin. Bivaliru- Hirudine:
din wird anhand der PTT oder Activated Clotting Time (ACT) 4 Prophylaktische Antikoagulation: 15–20 mg, 2×/Tag
überwacht. Es ist für die Antikoagulation bei perkutanen Ko- subkutan
ronar-Interventionen zugelassen. 4 Therapeutische Antikoagulation: 0,05–0,1 mg/kg
Argatroban16 ist ein niedermolekularer, synthetischer, KG×h i.v. (PTT Kontrolle alle 4 h bis Steady State er-
univalenter Thrombininhibitor, der reversibel an das kataly- reicht ist)
tische Zentrum des Thrombins bindet. Seine Halbwertszeit
beträgt ca. 45 min. Da Argatroban über die Leber abgebaut Dabigatran:
wird, ist seine Halbwertszeit bei Leberinsuffizienz und -min- 4 Prophylaktische Antikoagulation: 150 mg oral, 1×/
derdurchblutung verlängert. Argatroban wird über die PTT Tag
überwacht (es erhöht auch die INR!). Es ist für die Antikoagu- 4 Therapeutische Antikoagulation: 110/150 mg oral,
lation bei HIT zugelassen. Die in der Zulassung angegebene 2×/Tag
Dosierung ist zu hoch und sollte auf 25–50% reduziert werden
(Dosierung 7 Übersicht). Argatroban:
4 Therapeutische Antikoagulation: 0,5–1 μg/kg KG/min
15 Angiox® i.v.
16 Argatra®
9.3 · Hemmung der plasmatischen Gerinnung
115 9
9.3.4 Hemmung der Carboxylierung von reduzieren, werden zwei viel versprechende Ansätze zur Zeit
Gerinnungsfaktoren (Phenprocoumon, klinisch geprüft:
Warfarin) 4 Kombinierte Gabe von geringen Mengen Vitamin K zusam-
men mit Vitamin-K-Antagonisten (verringert die Schwan-
Die Vitamin-K-Antagonisten Warfarin17 oder die Derivate kungen der Vitamin-K-Aufnahme mit der Nahrung)
des 4-Hydroxycumarins Phenprocoumon18 hemmen kom- 4 Die Genotypisierung von Vitamin-K1-Epoxidreduktase-
petitiv die Vitamin-K1-Epoxidreduktase in der Leber und da- Polymorphismen, die mit einer unterschiedlichen Enzym-
mit die Regeneration von Vitamin-K1-Hydrochinon, das zur aktivität assoziiert sind (z. B. benötigen Asiaten viel gerin-
Carboxylierung N-terminaler Glutaminsäurereste der Ge- gere Dosen von Vitamin-K-Antagonisten als Europäer)
rinnungsfaktoren X, IX, VII und II sowie der antikoagulato-
rischen Proteine C und S nötig ist. Die nicht carboxylierten Wechselwirkungen mit Vitamin-K-Antagonisten
Gerinnungsfaktoren sind zwar als Proteine vorhanden, kön-
4 Wirkungsverstärkung (verstärkte Blutungsbereit-
nen aber keine Calcium-Ionen mehr binden, da ihnen die
schaft): Acetylsalicylsäure, Pyrazol-Derivate, Piroxi-
negativ geladenen Carboxylgruppen fehlen. Deshalb können
cam19, Clofibrat20 und Bezafibrat21, Chlorampheni-
sie die für ihre Aktivierung notwendige Komplexbildung mit
col22, Tetracycline, Sulfonamide, Imidazol-Derivate,
Phospholipiden auf Zellmembranoberflächen nicht mehr ein-
Allopurinol23, Disulfiram24, anabole Steroide, Amio-
gehen.
daron25, Schilddrüsenhormone, Chinidin26 und Pro-
Eine klinisch relevante Hemmung der Blutgerinnung tritt
pafenon27, Sulfonylharnstoffe, Cephalosporine
ein, wenn die im Blut zirkulierende Menge aktiver Faktoren
4 Wirkungsabschwächung (unzureichende therapeu-
auf mindestens 20% vermindert ist. Dies ist abhängig von der
tische Wirkung): Barbiturate, Carbamazepin28, 6-Mer-
Dosis des verwendeten Arzneistoffs. Cumarinderivate haben
captopurin29, Thiouracil, Colestyramin30, Alkohol
keinen direkten Effekt auf bereits vorhandene Thromben. Sie
(chronisch), Phenytoin31
hemmen aber das weitere Thrombuswachstum und verhin-
dern damit sekundäre thromboembolische Komplikationen.
Pharmakokinetik. Die Vitamin-K-Antagonisten werden nach
Unerwünschten Wirkungen. Die wichtigsten unerwünsch- oraler Gabe rasch und vollständig resorbiert. Die Plasmapro-
ten Wirkungen der Vitamin-K-Antagonisten sind Blutun- teinbindung beträgt >97%. Schon eine geringe Verdrängung
gen (zerebrale Blutungen, Nasen- und Gingivablutungen, der Substanzen aus der Plasmaproteinbindung kann daher
Hämaturie), die auch bei korrekt eingestelltem INR-Wert akut zu einem erheblichen Anstieg der freien Konzentration
auftreten können. Dabei scheinen insbesondere starke im Blut und damit zu einer Verstärkung der antikoagulato-
Schwankungen der INR-Werte für Blutungen zu prädesti- rischen Wirkung führen. Phenprocoumon17 und Warfarin18
nieren. Schwere Blutungen treten bei 3% der Patienten/Jahr werden in der Leber metabolisiert (. Tab. 9.4).
auf. Im ersten Jahr der Therapie ist die Blutungsrate höher, als
in den Folgejahren bei stabil eingestellten Patienten (Selektion 17 Coumadin®
von Patienten mit niedrigerem Risiko). Vor allem cerebrale 18 Marcumar®, Falithrom®
Blutungen sind als Komplikation gefürchtet (ca. 0,5%/Be- 19 Piroxicam-ratiopharm®, Piroxicam AL, Piroxicam HEXAL
handlungsjahr). Weitere seltenere unerwünschte Wirkungen 20 Clofibrat STADA®
sind Hepatitis, Netzhautblutungen, reversibler Haarausfall, 21 Bezafibrat-ratiopharm®, Bezafibrat AL
Urticaria und Dermatitis. 22 Paraxin pro injectione®
Wegen der komplexen Pharmakokinetik von Vitamin-K- 23 Allopurinol-ratiopharm®, Allopurinol AL, Allopurinol HEXAL
Antagonisten können zahlreiche Arzneimittelinteraktionen 24 Antabus®
25 Cordarex®, Amiodaron-ratiopharm®
eintreten, die die antikoagulatorische Wirkung verstärken
26 Chinidin Duriles®, Cordichin®
oder abschwächen. Die Wirkung der Vitamin-K-Antagonis- 27 Rytmonorm®, Propafenon-ratiopharm®
ten wird durch den Vitamin-K-Gehalt der Nahrung direkt 28 Zegretal®, Timonil, Carbamazepin-HEXAL®
beeinflusst (z. B. Wirkungsverminderung durch Grünkohl 29 Puri-Nethol®
oder Spinat und Wirkungserhöhung durch Papaya). Um die 30 Quantalan®, Colestyramin-ratiopharm®
Gefahr der Überdosierung von Vitamin-K-Antagonisten zu 31 Zentropil, Phenhydan®, Phenytoin AWD®
Cumarine passieren die Plazentaschranke und können die Anzahl der Komplikationen unter Cumarintherapie redu-
aufgrund ihrer Teratogenität ein sog. fetales Warfarin-Syn- ziert werden.
drom verursachen. Daher ist ihre Anwendung im ersten
> Die Wirkung von Vitamin-K-Antagonisten kann
Trimenon der Schwangerschaft kontraindiziert und sie sollten
sofort aufgehoben werden durch die Transfusion
im weiteren Verlauf der Schwangerschaft nur nach sorgfältiger
von Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktor-Kon-
Nutzen-Risiko Abwägung gegeben werden. Epidemiologische
zentraten (PPSB-Konzentrate: 1E/kg KG erhöht den
Untersuchungen deuten darauf hin, dass Kinder, deren Mütter
Quick Wert um 1–2%).
im 2. und 3. Trimenon der Schwangerschaft Vitamin-K-Ant-
agonisten eingenommen haben, Aufmerksamkeitsstörungen
zeigen. Cumarine gehen in die Muttermilch über und sind bei Indikationen. Indikationen für Vitamin-K-Antagonisten sind
stillenden Frauen kontraindiziert. vor allem die Sekundärprophylaxe und die Therapie venöser
Thrombosen, die Prävention einer zerebralen Embolie bei
Therapie und Therapiekontrolle. Die Wirkungskontrolle Vorhofflimmern, künstliche Herzklappenprothesen, sowie
einer Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten erfolgt durch ggf. periphere Bypass-Operationen.
die Bestimmung der Gerinnungszeit im Thromboplastin-
test (Thromboplastinzeit nach Quick). Wegen der unter-
schiedlichen Thromboplastinpräparate sollte statt des sog. 9.4 Hypokoagulabilität (hämorrhagische
Quick-Wertes in % grundsätzlich nur noch die INR (Inter- Diathesen)
national Normalized Ratio) verwendet werden. Nur die
INR erlaubt einen Vergleich der Antikoagulationsstärke 9.4.1 Pathophysiologische
unter Cumarinen in verschiedenen Laboratorien (Zielbereich: Vorbemerkungen
INR Wert von 2,0–3,5 je nach Indikation). Die Cumarinthe-
rapie sollte unter konsequentem Schutz eines parenteralen Eine verminderte Gerinnungsfähigkeit des Blutes beruht auf
Antikoagulanz (z. B. Heparin) begonnen werden und nur mit einem Mangel an:
maximal 6 mg Phenprocoumon/Tag. Zu Beginn der Phenpro- 4 Funktionsfähigen Thrombozyten
coumon-Gabe kommt es aufgrund der mit 8 h kurzen Halb- 4 Funktionsfähigen plasmatischen Gerinnungsfaktoren
wertszeit des Protein C (wichtiges antikoagulatorisches Pro- 4 Mangel an Vitamin K (bei ungenügender Aufnahme oder
tein) zu einem iatrogenen Protein-C-Mangel. Ohne gleich- Überdosierung von Vitamin-K-Antagonisten einschließ-
zeitige parenterale Antikoagulation wird durch diesen pas- lich Vergiftungen mit Pestiziden (Mäuse- und Rattengift
sager induzierten Protein-C-Mangel bei noch nicht vermin- auf Cumarin-Basis)
derten prokoagulatorischen Gerinnungsfaktoren (die eine 4 Zu starkem Umsatz von Gerinnungsfaktoren (z. B. Sepsis,
längere Halbwertszeit haben: Faktoren X und II: 40 und 60 h) Verlust- und Verbrauchskoagulopathie)
das Risiko für die Bildung mikrovaskulärer Thrombosen und 4 Inaktivierung von Gerinnungsfaktoren (z. B. bei Immun-
von Hautnekrosen (selten) erhöht. Daher sollte die parenterale koagulopathie, Amyloidose)
Antikoagulation frühestens nach 5 Tagen und erst nach Er-
> Eine Hypokoagulabilität des Blutes besteht, wenn
reichen einer therapeutischen INR abgesetzt werden. Wird
ein Gerinnungsfaktor auf unter 20% der Norm redu-
eine therapeutische INR bereits vor Tag 5 der Cumaringabe
ziert ist.
erreicht, liegt meist ein Laborartefakt durch einen isolierten
FVII-Mangel vor.
Verschlechtert sich nach Beginn der oralen Antikoagula- Thrombozytär bedingte hämorrhagische Diathesen -
tion eine vorbestehende Thrombose akut, oder treten Haut- hen entweder auf einer Hemmung der Thrombopoese, einem
nekrosen auf, sollte unbedingt Vitamin K (z. B. 20 mg oral) erhöhten Thrombozytenumsatz oder einer Thrombozyto-
gegeben werden, um den Protein-C-Spiegel zu normalisieren pathie. Erworbene Thrombozytopenien können entstehen
und gleichzeitig ein parenterales Antikoagulans. Bei folgenden durch:
Grunderkrankungen sind diese Komplikationen zu erwarten 4 Knochenmarksdepression (häufige unerwünschte Wir-
(nach Häufigkeit im klinischen Alltag): Adenokarzinome kung einer Zytostatikatherapie; Virusinfekte; Medika-
> HIT > angeborener Protein-C-Mangel. Diese Differenzial- mente)
diagnosen sollten in entsprechenden Fällen ausgeschlossen 4 Erhöhter Thrombozytenverbrauch (bei disseminierter
werden. intravasaler Gerinnungsaktivierung bei großen Opera-
Ist die Ziel-INR erreicht, benötigen die meisten Patienten tionen)
1,5–3 mg Phenprocoumon/Tag (0,5–1 Tablette à 3 mg). Do- 4 Immunologisch (Autoantikörper, medikamentenindu-
sisänderungen lassen sich bei Phenprocoumon oft erst zierte Antikörper (Häufigkeit: Heparin-induzierte Anti-
3–4 Tage später aus den Gerinnungstests sicher ablesen. Ab- körper > GPIIb/IIIa-Inhibitor-induzierte Antikörper >
rupte Veränderungen der Dosis sollten vermieden werden. alle anderen medikamenteninduzierten Antikörper) be-
Die INR-Bestimmung muss anfangs täglich, später alle dingt sein
2–4 Wochen durchgeführt werden. Die Überwachung kann
vom Patienten selbst durchgeführt werden, mit einem mobi- Die häufigste Ursache für erworbene Thrombozytopathien
len Bestimmungsgerät. Durch die Selbstüberwachung kann sind Medikamente (z. B. Acetylsalicylsäure).
9.4 · Hypokoagulabilität (hämorrhagische Diathesen)
117 9
Plasmatisch bedingte hämorrhagische Diathesen können darf nach der Infusion erst wieder trinken, wenn er Wasser
angeboren (Hämophilie) oder erworben sein. Zu Letzteren gelassen hat).
gehört Vitamin-K-Mangel bei vollständig parenteral er-
nährten Patienten, besonders wenn gleichzeitig eine Thera- Dosierung
pie mit Breitspektrumantibiotika erfolgt. Grund ist die the- Desmopressin:
rapiebedingte Elimination der Vitamin-K-bildenden Darm- 4 0,3 μg/kg als i.v. Infusion über 20–30 min
flora.
Eine schwerwiegende erworbene Gerinnungsstörung ist Der Effekt ist 1–2 h nach Gabe maximal und bis etwa 4 h
die Verbrauchskoagulopathie mit intravasaler Thrombin- nach Substanzgabe nachweisbar. Die Gabe kann im Ab-
bildung und reaktiver Steigerung der Fibrinolyse. Die hämor- stand von 12–24 h maximal zweimal wiederholt werden,
rhagische Diathese resultiert aus der Kombination von ver- dann sind die Speichergranula der Endothelzellen er-
stärkter Aktivierung der Gerinnung, bei gleichzeitig verstärk- schöpft.
ter Fibrinolyse, wodurch Gerinnungsfaktoren verbraucht
werden und nebeneinander Mikrothromben und diffuse Blu-
tungen entstehen. Behandlung mit Vitamin K
Vitamin K34 wirkt als Cofaktor der Synthese der Gerinnungs-
faktoren II, VII, IX und X und ist nur bei Vitamin-K-Mangel
9.4.2 Prinzipien der Behandlung bzw. beim Neugeborenen indiziert. Die natürlichen Vitamine
K1 und K2 sind fettlöslich und werden aus dem Darm nur bei
Bei hereditärer oder irreversibler erworbener Hypokoagulabi- Anwesenheit von Gallensalzen resorbiert. Vitamin K wird im
lität muss häufig, vor allem in Notfällen, eine Substitutionsbe- Organismus nicht nennenswert gespeichert. Nach Einnahme
handlung vorgenommen werden (für einzelne Behandlungs- von Vitamin K beginnen die Werte für die Thromboplastin-
regimes siehe Leitlinien der Bundesärztekammer zur Hämo- aktivität nach einigen Stunden dosisabhängig anzusteigen
therapie). (INR-Wert fällt); nach 8–24 h ist die Gerinnungsfähigkeit des
Hierfür kommen neben der Behandlung der Grunder- Blutes in der Regel normalisiert.
krankung in Frage: Vitamin K wird bei therapeutischer Indikation fast immer
4 Bei Thrombozytopenien: Transfusion von Thrombozyten- oral in Tropfenform verabreicht, lediglich bei Schwangeren
konzentraten und Neugeborenen kann Vitamin K prophylaktisch (s. Dosie-
4 Bei Thrombozytenfunktionsstörungen: Desmopressin33 rung) gegeben werden. Bei intravenöser Gabe können Blut-
4 Bei Mangel an einzelnen Gerinnungsfaktoren: Transfu- druckabfälle und schwere allergische Reaktionen ausgelöst
sion von Gerinnungsfaktor-Konzentraten werden.
4 Bei generalisiertem Mangel aller Gerinnungsfaktoren
(Verbrauchskoagulopathie, Verlustkoagulopathie, Leber- Dosierung
synthesestörung): Transfusion von Frischplasma Vitamin K:
4 Bei Hyperheparinämie mit lebensbedrohlicher Blutung: 4 Prophylaxe der Neugeborenen: 1–2 mg oral am 1.,
Neutralisierung des Heparins mit Protaminsulfat zwischen dem 4. und 6. Tag sowie nach 4 Wochen
(7 Kap. 9.3.5) 4 Bei Schwangeren, die Antikonvulsiva oder Tuber-
4 Bei Intoxikation mit Cumarinen: Vitamin K; bei schweren kulostatika einnehmen: 10–20 mg oral oder 2–5 mg
Blutungen Gerinnungsfaktoren parenteral 2 Tage bis einige Stunden vor der Entbin-
4 Bei Immunkoagulopathien (Hemmkörper): rFVIIa32 dung
4 Bei allen übrigen Indikationen: initial 10–20 mg
Behandlung mit Desmopressin parenteral, zur Erhaltung 1–10 mg
Für keinen der klinisch verwendeten Thrombozytenfunk- 4 Bei Cumarin-Intoxikationen (Rattengift!) bis 60 mg,
tions-Hemmer gibt es ein spezifisches Antidot. Bei nicht auf-
f bei akuten Blutungen i.v. Gabe
schiebbaren operativen Eingriffen, z. B. bei Patienten unter
einer Behandlung mit Acetylsalicylsäure, kann eine symp-
tomatische Therapie mit Desmopressin33 versucht werden.
Allerdings stehen größere kontrollierte klinische Studien, die 9.4.3 Behandlung mit Heparinantagonisten
den Erfolg einer derartigen Maßnahme zweifelsfrei belegen,
aus. Desmopressin ist ein Vasopressin Analogon. Es führt aber Unfraktioniertes Heparin bindet aufgrund seiner stark ne-
auch zur Freisetzung von Gerinnungssubstanzen aus den gativen Ladung an positiv geladene Proteine wie Protamin35.
Granula der Endothelzellen, z. B. von-Willebrand-Faktor. Es Die Wirkung von Heparin kann mit ausreichenden Dosen
führt bei den meisten Formen erworbener (auch durch Me- solcher Polybasen sofort aufgehoben werden (von nieder-
dikamente) oder angeborener Thrombozytopathien zu einer
ausreichenden Blutstillung. Wichtigste unerwünschte Wir- 32 Novo Seven
kungen sind Hypotonie bei zu schneller Infusion, sowie ve- 33 Minirin®, Nocutil, Desmogalen® Nasenspray
nöse und arterielle (Indikation für ASS) Gefäßverschlüsse und 34 Konakion®, Kanavit®
Überwässerung (Vasopressin Effekt; Grundregel: der Patient 35 Protamin Valeant®
118 Kapitel 9 · Therapie mit Antikoagulanzien, Thrombozytenfunktionshemmern und Thrombolytika
molekularem Heparin maximal 30%). Üblicherweise wird abgeschlossen. Eine Auflösung oder zumindest Rekanalisie-
hierfür Protamin verwendet, ein Arginin-reiches Protein, das rung bereits bestehender Thromben erfolgt durch die endo-
i.v. gegeben werden muss. gene Fibrinolyse. Hierzu ist aktives Plasmin erforderlich
Protamin wird nach Wirkung dosiert, wobei bei Heparin- (. Abb. 9.2c). Die Aktivierung von Plasminogen zu Plasmin
überdosierung die Regel gilt, dass 1 E Protamin die Wirkung ist der Schlüsselvorgang der Fibrinolyse und erfolgt durch
von 1 IE Heparin neutralisiert. Protamin soll nur in abge- zwei natürliche Plasminogenaktivatoren: Urokinase (uroki-
stimmter Dosierung zum Heparin verabreicht werden, da bei nase-type plasminogen activator, u-PA) und Gewebeplasmi-
Überdosierung des Protamins die Fibrinolyse aktiviert wird. nogenaktivator (tissue-type plasminogen activator, t-PA).
Die Halbwertszeit von Protamin ist kürzer, als die von Hepa- Die Plasminogenaktivierung sollte möglichst auf den Ort
rin. Daher sollte bei Heparinüberdosierung ca 60–90 min der Fibrinbildung, d. h. den Thrombus, begrenzt sein. Dies
nach Protamingabe die PTT nochmals kontrolliert und ggf. wird durch endogene Serin-Protease-Inhibitoren erreicht.
erneut Protamin gegeben werden. Spezifische Inhibitoren von t-PA und Urokinase sind Plasmi-
nogenaktivator-Inhibitor (PAI-I) und α2-Antiplasmin.
Rekombinanter FVIIa32 ist zugelassen für die Behandlung von Folgende Stoffe sind als Plasminogenaktivatoren in klinischem
Patienten mit Antikörpern gegen FVIII und für die Behand- Gebrauch (. Tab. 9.5).
lung von Blutungen bei Patienten mit einer sehr seltenen, 4 Streptokinase36, ein Protein aus hämolysierenden Strep-
schweren Thrombozytenfunktionsstörung, bei der den Pa- tokokken, hat keine direkte fibrinolytische Wirkung, son-
tienten der Fibrinogenrezeptor auf den Thrombozyten fehlt dern stimuliert über die Bildung eines Plasminogen/Akti-
(Glanzmannsche Thrombasthenie). rFVIIa ermöglicht bei vatorkomplexes die Bildung von Plasmin. Streptokinase
diesen seltenen Blutungsursachen eine ausreichende Blutge- spaltet Fibrin im Thrombus aber auch freies Fibrinogen
rinnung, wahrscheinlich über verstärkte Thrombinbildung im Plasma.
auf der Thrombozytenoberfläche, die in Anwesenheit hoher 4 Urokinase37 aktiviert Plasminogen direkt zu Plasmin.
Konzentrationen von FVIIa auch ohne FVIII Aktivierung er- 4 Alteplase38 (t-PA) ist eine rekombinante Serinprotease.
folgen kann. Die Plasminogenaktivierung durch t-PA ist 100- bis
rFVIIa kann als Ultima ratio bei schweren traumatischen 1000fach effektiver in Gegenwart von Fibrin, da dieses die
Blutungen (90 μg/kg KG als Bolus i.v.) angewendet werden. Affinität von t-PA zu Plasminogen erhöht. Dies bedeutet
Hierfür besteht keine Zulassung (off label use). In seltenen eine gewisse Thrombusspezifität und eine reduzierte sys-
Fällen kann dies zu schweren Thrombosen/Lungenembolie temische Fibrin(ogen)olyse.
führen. 4 Reteplase39 ist eine Serinprotease mit vergleichbarer Wir-
kung und therapeutischer Aktivität wie t-PA. Wegen ihrer
9.5 Fibrinolyse
36 Streptase®
9.5.1 Pathophysiologische Vorbemerkungen 37 Urokinase HS Medac lokal, Urokinase medac®, rheothromb®
38 Actilyse®
Mit der Bildung des Thrombozyten-Fibrin-Thrombus und 39 Rapilysin®
dessen Vernetzung durch FXIII ist die (lokale) Blutgerinnung 40 Metalyse®
Die angegebenen Dosierungen sind mittlere Erfahrungswerte und bedürfen der individuellen Einstellung. Initiale Bolusgabe bzw.
höhere Dosierung ist vor allem bei Streptokinase zur Absättigung evtl. vorhandener Streptokinase-Antikörper im Plasma erforderlich.
9.6 · Hyperfibrinolyse
119 9
längeren Halbwertszeit kann sie als Doppelbolus im Ab- zirkulierenden Plasminogen-Aktivator-Inhibitor (PAI-I).
stand von 30 min appliziert werden. Urokinase und t-PA werden in der Leber abgebaut. Die klini-
4 Tenecteplase40 ist eine rekombinante, gentechnisch mo- sche Wirksamkeit dieser Fibrinolytika wird deshalb auch ent-
difizierte Mutante des t-PA. Sie hat eine höhere Spezifität scheidend vom Aktivitätszustand des antifibrinolytischen
für Fibrin, eine geringere Affinität für ihre natürlichen Systems (α2-Antiplasmin; PAI-I) sowie, im Falle von t-PA und
Antagonisten (PAI-I) und eine längere Halbwertszeit. Urokinase, vom Leberstatus bestimmt.
Dies ermöglicht eine therapeutische Applikation als ein- Die Fibrinolyse bei akuter Lungenembolie und Herzin-
maligen Bolus. farkt erfolgt in hoher Dosierung über eine kurze Zeit, so dass
keine Therapiekontrolle möglich ist.
Unerwünschte Wirkungen. Unerwünschte Wirkungen der Thrombolyse bei tiefer Beinvenenthrombose: Standard-
Fibrinolytika sind Blutungen durch die Spaltung von Fibrin, therapie der tiefen Beinvenenthrombose ist die lokale Kom-
Fibrinogen sowie der Gerinnungsfaktoren V und VIII. pression und Antikoagulation. In klinischen Studien zur Lyse
Die Fibrin- und Fibrinogenabbauprodukte können bei tiefen Venenthrombosen war das Risiko schwerer Blu-
Thrombozyten und das plasmatische Koagulationssystem tungskomplikationen deutlich erhöht gegenüber der alleini-
aktivieren und dadurch initial eine paradoxe Zunahme der gen Antikoagulation.
Gerinnungsaktivität verursachen. Bei Streptokinase können
bei Patienten die sich aufgrund vorangegangener Strepto-
kokkeninfektionen gegen Streptokokkenproteine immuni- 9.6 Hyperfibrinolyse
siert haben, allergische, selten anaphylaktische Reaktionen
auftreten. 9.6.1 Pathophysiologische Vorbemerkungen
Dosierung
Fibrinolysehemmstoffe:
4 Tranexamsäure: initial 500 mg langsam i.v., dann als
Infusion 250 mg/h oder 3-mal 500–1000 mg/Tag oral
4 p-Aminomethylbenzoesäure: 50–150 mg langsam
i.v. oder 300–600 mg/Tag oral
In Kürze
. Tab. 10.2. Einteilung der Antibiotikaklassen mit wichtigen Vertretern nach Wirkungstyp (antibakterielle Chemotherapeutika)
Bakterizida Bakteriostatika
Substanzen ohne klinisch relevante antibakterielle Eigenwirkung sind β-Lactamase-Inhibitoren: Sulbactam, Clavulansäure und Tazo-
bactam (ausschließlich zur Kombination mit β-Lactamase-labilen β-Lactam-Antibiotika).
10.1 · Bakterielle Erkrankungen
125 10
tionen beim Patienten als Veränderung der Standortflora lide und Fluorchinolone sowie Azol-Antimykotika, bedingen
(z. B. Darm- und Hautflora) oder der Infektionsflora (Erreger- meist ein höheres Nebenwirkungsrisiko. Weitere wichtige
wechsel) sowie im Krankenhaus resultierend aus dem Selek- Beispiele für interaktionsbedingte Nebenwirkungen sind in
tionsdruck durch übermäßigen und einseitigen Einsatz von . Tab. 10.3 dargestellt.
Antibiotika. Dies führt schließlich zum »Nachlassen« der
Wirksamkeit von Antibiotika. Es besteht eine Korrelation zwi- Resistenz, Persistenz, Superinfektion
schen Häufigkeit und Intensität des Antibiotikaeinsatzes und Bei der natürlichen Resistenz (Speziesresistenz) hat das An-
dem Ausmaß des Auftretens von Resistenzen. Zur Vermei- tibiotikum bei einer gegebenen Erregerart keine Wirkung,
dung bzw. Reduktion der Resistenzentwicklung wird deshalb d. h. der Erreger gehört nicht zum Wirkspektrum des Chemo-
auch das alternierende Therapieregime empfohlen (z. B. therapeutikums, z. B. wirkt Penicillin G nicht gegenüber En-
Wechsel der »Standardmedikamente« alle 3–6 Monate auf terobakteriaceae.
einer Station bzw. in einem Krankenhaus). Eine sekundäre Resistenz entwickelt sich durch die Be-
Durch die Selektion resistenter Populationen kann für handlung mit Antibiotika. Die Mechanismen können sein:
den Patienten unmittelbar Gefahr entstehen, wenn besonders 4 Bildung bakterieller Enzyme, die den Wirkstoff inaktivieren
pathogene Erreger, wie z. B. Clostridium difficile, selektioniert (z. B. Spaltung des β-Lactam-Ringes durch β-Lactamasen)
werden, die eine pseudomembranöse Enterokolitis hervor- 4 Verringerte Aufnahme in die Bakterienzelle oder Zunah-
rufen können. Sehr häufig treten diese schweren, z. T. lebens- me des Efflux aus dem Erreger (z. B. Tetracycline, Makro-
bedrohlichen Enteritiden unter Aminopenicillinen (auch in lide, Fluorchinolone) und
Kombination mit β-Lactamase-Inhibitoren), Clindamycin 4 Molekulare Veränderungen am Angriffsort des Antibio-
und Cephalosporinen auf. Bis zu 25% dieser Patienten müssen tikums (z. B. Fluorchinolone, Tetracycline, β-Lactam-
medikamentös (z. B. mit Metronidazol und/oder Vancomycin Antibiotika).
oral) behandelt werden.
Zu den unerwünschten biologischen Wirkungen zählt Kreuz- oder Parallelresistenz besteht häufig bei pharmako-
auch die massive inflammatorische Reaktion durch bakte- logisch bzw. chemisch verwandten Antibiotika. Auch Multi-
rielle Lyse und Endotoxinfreisetzung bei Therapie mit bak- resistenzen (extrachromosomal durch Plasmide übertragen)
teriziden Antibiotika. Klassischerweise in der Luestherapie gegen völlig unterschiedliche Chemotherapeutika kommen
(Herxheimer Reaktion) beschrieben, spielt sie auch eine Rolle bevorzugt bei Mykobakterien, aber auch bei Enterokokken
bei anderen Endotoxinbildnern wie Shigellen, Salmonellen, und Pseudomonas-Arten vor. Relevant ist z. B. die Übertra-
Brucellen, Leptospiren und Enterobakteriaceae. Klinisch gung von Mehrfachresistenzen zwischen Enterobakterien und
kommt es zur Temperaturerhöhung, Tachykardie und ggf. zur anderen gramnegativen Erregern. Sie spielt besonders bei Er-
Organbeteiligung bis zum Endotoxinschock. regern nosokomialer Infektionen eine Rolle.
Wie alle Medikamente haben Antibiotika dosisabhän- Persister sind Bakterien, die trotz einer Antibiotikathera-
gige unerwünschte Wirkungen, die sowohl von der Spitzen- pie überlebt haben, aber nicht resistent geworden sind. Von
oder Talkonzentration als auch von der verabreichten Ge- ihnen kann ein Rezidiv ausgehen. Beispielsweise setzt die er-
samtdosis abhängen können. Ein Beispiel ist die dosisabhän- folgreiche Therapie von intrazellulär lebenden Keimen (z. B.
gige Hemmung der Kaliumkanäle u. a. durch Fluorchinolone Chlamydien, Listerien, Mykobakterien, Legionellen, Trepone-
mit der Folge einer QT-Verlängerung im EKG und der Gefahr men, Salmonellen, Brucellen) voraus, dass eine ausreichend
von Herzrhythmusstörungen (Torsades de pointes) bis hin hohe intrazelluläre Konzentration des Chemotherapeutikums
zum Kammerflimmern. Die individuelle Patientendisposi- erreicht wird. Aufgrund ihrer molekularen Eigenschaften er-
tion, wie Leber- und/oder Nierenfunktionsstörungen, kardio- reichen z. B. β-Lactam-Antibiotika und Aminoglykoside
logische Vorerkrankungen, begünstigen die Entwicklung keine ausreichend hohe intrazelluläre Konzentration und sind
toxischer unerwünschter Wirkungen und sind bei der Dosie- daher meist unwirksam.
rung des Antibiotikums zu beachten. Akut-toxische Wir- Die antimikrobielle Chemotherapie kann das mikrobio-
kungen (z. B. neurologische Störungen bei Fluorchinolonen) logische Gleichgewicht stören und so Superinfektionen her-
haben häufig eine bessere Rückbildungstendenz als chro- vorrufen, wie z. B. die pseudomembranöse Kolitis durch Clos-
nisch-toxische Schädigungen (z. B. Innenohrschwerhörigkeit tridium difficile (s. o.). Auch Pilz-Infektionen durch Candida
und Nierenversagen bei Aminoglykosiden). albicans und anderen Spezies sind häufig und nehmen beson-
Allergische unerwünschte Wirkungen schränken relativ ders in den Intensivtherapiebereichen mit hohem Antibioti-
häufig die Auswahl von Antibiotika ein. Hier kommen die kaverbrauch deutlich zu.
Sofortreaktionen vom anaphylaktischen Typ, insbesondere
bei Anwendung von Penicillin G (Benzylpenicillin), als auch Niereninsuffizienz und Chemotherapie
beschleunigte allergische Reaktionen sowie allergische Spät- Renal eliminierte Chemotherapeutika müssen bei einge-
reaktionen (80–90% der allergischen Reaktionen) vor (siehe schränkter Nierenfunktion niedriger dosiert werden, da bei
auch Arzneimittel-Allergie). höheren Konzentrationen mit vermehrten unerwünschten
Eine weitere wichtige Ursache für unerwünschte Neben- Wirkungen gerechnet werden muss. Auch eine Verlängerung
wirkungen können Interaktionen mit anderen Arzneimitteln des Dosierungsintervalls kommt in Frage. Bei Aminoglykosi-
sein. Insbesondere die Hemmung hepatischer Monooxygena- den, insbesondere bei Kombination mit Glykopeptiden, trifft
sen, der Cytochrom-P450-Enzyme, z. B. durch einige Makro- dies wegen der Nephro- und Ototoxizität besonders zu.
126 Kapitel 10 · Therapie mit Antibiotika und Chemotherapeutika (Infektionen)
. Tab. 10.3. Interaktionen von Antibiotika mit anderen Arzneimitteln und deren Folgen (Auswahl)
Nephro- oder ototoxische Pharmaka, Gesteigertes Risiko von Gehör- und/oder Nierenschäden
z. B. Vancomycin, Colistin, Amphotericin B,
Ciclosporin A, Cisplatin, Schleifendiuretika
Glykopeptide Nephro- oder ototoxische Pharmaka, Gesteigertes Risiko von Gehör- und Nierenschäden
z. B. Aminoglykoside, Amphotericin B,
Ciclosporin A, Cisplatin, Schleifendiuretika
Zu den vorwiegend renal eliminierbaren Antibiotika, pierbaren Infektionen in Erwägung gezogen werden. Dabei
bei denen eine Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz not- sollte eine enge Kontrolle der Leberwerte (z. B. ASAT, ALAT)
wendig ist, gehören z. B. Aminoglykoside, Penicilline, die erfolgen. Cholestatische Leberveränderungen treten bei Ver-
meisten Cephalosporine, Glykopeptide, Levofloxacin, Carba- wendung von Erythromycin-Estolat-Präparationen beim Er-
peneme u. a. wachsenen relativ häufig auf.
4 Chemotherapeutika, deren Einsatz bei gestörter Leber-
Leberschädigung und Chemotherapie funktion möglichst vermieden werden sollen (potenziell
Bei Vorliegen von Leberschäden sollten hepatotoxische Subs- hepatotoxisch): Clavulansäure, Clindamycin, Griseoful-
tanzen nur nach sorgfältigem Abschätzen von möglichem vin, Isoniazid, Ketoconazol, Linezolid, Miconazol, Nitro-
therapeutischen Nutzen und Risiko bei nicht anders thera- furantoin, Pyrazinamid und Rifampicin.
10.1 · Bakterielle Erkrankungen
127 10
4 Chemotherapeutika, deren Einsatz mit Vorsicht angewen- (antimikrobielle Chemotherapie) oder antineoplastisch (anti-
det werden sollte bei gestörter Leberfunktion (stärkere neoplastische Chemotherapie) wirksam sind. Die antimikro-
biliäre Ausscheidung oder Metabolisierung): Cefotaxim, bielle Chemotherapie kann sich gegen Bakterien, Viren, Pilze
Ceftriaxon, Chloramphenicol, Co-trimoxazol, Doxycyc- oder Protozoen richten. Antibiotika im eigentlichen Sinne
lin, Flourchinolone, Erythromycin-Esolat, Fusidinsäure, sind Substanzen, die von Mikroorganismen gebildet und ge-
Metronidazol, Mezlocillin, Sulfonamide u. a. wonnen werden und als Naturstoffe antibakteriell wirksam
sind. Da viele Antibiotika auch chemisch synthetisch oder
Therapeutisches Drug Monitoring von Anti- halbsynthetisch hergestellt werden können, ist eine Abgren-
biotika (Blutspiegel-gestützte Dosierung) zung zwischen den Begriffen Chemotherapeutika und Anti-
Viele Antibiotika sind durch erhebliche interindividuelle Un- biotika zunehmend schwierig. Der Begriff Antibiotika wird
terschiede der pharmakokinetischen Eigenschaften, vor allem in der Regel bevorzugt. Die Begriffe Antibiotika und Chemo-
im Eliminationsverhalten und Verteilungsvolumen, gekenn- therapeutika werden hier synonym verwendet.
zeichnet. Dies trifft im besonderen Maße auf Intensivpatienten
a
mit Multiorganversagen und starken Veränderungen in den β-Lactam-Antibiotika
Verteilungsräumen, z. B. durch Infusionsbehandlungen, zu. Zu den β-Lactam-Antibiotika werden die Penicilline, Cepha-
Dadurch können die resultierenden Plasmakonzentrationen losporine, Carbapeneme und Monobactame gerechnet. Struk-
nach Standarddosen in weiten Bereichen streuen, wodurch turell werden dieser Gruppe auch die β-Lactamase-Inhibi-
einerseits die Gefahr der Unterdosierung mit unzureichender toren (z. B. Sulbactam, Tazobactam) zugerechnet, die jedoch
therapeutischer Wirkung, andererseits überhöhte Plasmaspiegel über keine klinisch relevante antibakterielle Aktivität verfü-
mit dem Risiko unerwünschter toxischer Wirkungen drohen. gen und stets mit einem Penicillin-Antibiotikum kombiniert
Ziel des therapeutischen Drug Monitoring (TDM) ist es, werden müssen. Die Gruppe der β-Lactam-Antibiotika um-
unter Nutzung pharmakokinetischer Prinzipien und Mes- fasst eine Vielzahl von Stoffen mit unterschiedlichem antibak-
sungen der Arzneimittelkonzentration im Patientenblut die terielleM Wirkspektrum sowie unterschiedlicher Pharmako-
individuell optimale Dosierung für den Patienten zu finden. kinetik Zu den wichtigsten β-Lactam-Antibiotika in Klinik
Voraussetzung und Indikationen für die Durchführung und Praxis gehören:
eines TDM ist vor allem, dass die betreffenden Substanzen
4 signifikante Konzentrations-Wirkungs-Beziehungen für Penicilline
therapeutische und toxische Effekte aufweisen, Benzylpenicillin (Penicillin G1) kann aufgrund seiner Säure-
4 einen engen therapeutischen Bereich (geringe therapeu- labilität nur intravenös oder in Bindung an schwache orga-
tische Breite) haben und sie anhand klarer klinischer Wir- nische Basen (Benzathin-Benzylpenicillin, Procain-Benzyl-
kungen nicht sicher dosiert werden können. penicillin, Clemizol-Benzylpenicillin) intramuskulär als De-
pot verabreicht werden. Indikationen können sein Infektionen
Zu den Arzneimitteln, für deren sicheren Einsatz ein TDM mit Streptokokken (z. B. Erysipel), Meningokokken (z. B. Me-
dringend empfohlen wird, gehören die Aminoglykosid- und ningitis), Pneumokokken (z. B. akute Exazerbation einer
Glykopeptidantibiotika. Darüber hinaus kann ein TDM auch chronischen Bronchitis, Pneumonie) und Gonokokken (z. B.
für Antimykotika und Virustatika sinnvoll sein. Gonorrhö; Resistenzen beachten).
Das TDM für Antibiotika ist besonders für schwerkranke, Oralpenicilline (Penicillin V2, Propicillin3) sind säurefest
intensivmedizinisch betreute Patienten indiziert, deren arz- und daher auch nach oraler Gabe wirksam. Das Wirkspekt-
neimittelausscheidende Organe (Leber, Niere) in der Regel rum ist gleich dem des Benzylpenicillins, wegen der nur ge-
eingeschränkt funktionsfähig bzw. funktionsuntüchtig sind. ringen Bioverfügbarkeit mit i. d. R. niedrigen Plasmakonzent-
Wichtig ist das TDM auch für immunsupprimierte Patienten rationen sind sie jedoch nur für leichtere ambulante Infek-
aufgrund ihrer verminderten Infektionsabwehr, bei Langzeit- tionen, z. B. Atemwegsinfektionen, Tonsillitis, indiziert.
therapie oder wenn trotz Standarddosierung kein therapeu- Isoxazolylpenicilline (Oxacillin, Flucloxacillin4) sind
tischer Erfolg erzielt wird bzw. toxische, insbesondere nephro- i. d. R. gegen β-Lactamase-bildende Staphylokokken und En-
toxische, Effekte auftreten. terokokken wirksam, da der β-Lactamring nicht von Penicil-
Für die meisten Antibiotika, wie zum Beispiel Penicilline, linase gespalten werden kann. Sie sind oral und parenteral
Cephalosporine, Makrolide oder Fluorchinolone, ist die Ge- anwendbar.
fahr toxischer Wirkungen geringer, da sie eine relativ große Aminopenicilline (Ampicillin5, Amoxycillin6) haben ein
therapeutische Breite besitzen. Für diese Antibiotika ist eine erweitertes Spektrum im gramnegativen Bereich. Sie sind zu-
blutspiegelorientierte Therapie im Sinne des TDM nur selten sätzlich wirksam gegen H. influenzae und Enterokokken. Un-
notwendig. terschiedlich empfindlich sind E. coli und Proteus mirabilis.
Sie sind nicht β-Lactamase-fest, aber säurestabil und daher
1 Penicillin Grünenthal®
10.1.2 Therapie mit antibakteriellen 2 Penicillin V-ratiopharm®
Chemotherapeutika 3 Baycillin® mega
4 Staphylex®, Fluclox Stragen®
Chemotherapeutika im engeren Sinne sind chemisch synthe- 5 Unacid®
tisch hergestellte Substanzen, die entweder antimikrobiell 6 Amoxypen®, Amoxicillin-ratiopharm®
128 Kapitel 10 · Therapie mit Antibiotika und Chemotherapeutika (Infektionen)
Nomenklatur nicht mehr empfehlenswert und international terien schwächer wirksam ist und eine vergleichsweise un-
unüblich ist. günstige Nutzen-Risiko-Relation aufweist. Ciprofloxacin und
Fluorchinolone wirken in Abhängigkeit von der Dosis Ofloxacin besitzen im Gegensatz zu den Substanzen der
rasch bakterizid und haben gegenüber einigen Bakterien Gruppe I ein wesentlich breiteres Indikationsspektrum. Haupt-
einen »postantibiotischen Effekt«, d. h. sie hemmen die Pro- indikationen sind neben den komplizierten Harnwegsinfek-
fileration der Erreger trotz Absinken der Wirkkonzentration. tionen auch Infektionen der Atemwege (z. B. nosokomiale
Der Anteil resistenter Bakterienstämme hat in den letzten Pneumonie), insbesondere verursacht durch gramnegative
Jahren kontinuierlich zugenommen (z. B. bei E. coli). Bedenk- Erreger, Haut-, Weichteil- sowie Knocheninfektionen (Osteo-
lich ist in diesem Zusammenhang auch die übermäßig häufige myelitis) und Sepsis. Ciprofloxacin ist das Mittel der Wahl bei
Verwendung von Fluorchinolonen bei Bagatellinfektionen schweren typhösen Salmonellenerkrankungen und bei symp-
und in der Veterinärmedizin. Seit kurzem werden Generika tomatischen Dauerausscheidern. Auch bei Shigellen-Infek-
angeboten, die z. T. stark unterdosiert sind und dadurch auf-
f tionen und Cholera ist Ciprofloxacin klinisch oft wirksam. Es
tretende subtherapeutische Konzentrationen zu einer weite- ist für viele Infektionen zur Sequenztherapie vorgeschlagen
ren Verschlechterung der Resistenzsituation führen können. worden. Bei der ambulanten Pneumonie (meist durch Pneumo-
Fluorchinolone haben ein großes Verteilungsvolumen. Sie er- kokken hervorgerufen) ist es aufgrund ungenügender Aktivi-
reichen hohe Gewebespiegel und wirken teilweise auch gegen tät gegen diese Erreger nicht geeignet, wird aber oft falsch
intrazellulär gelagerte Bakterien, wie Chlamydien, Mykoplas- indiziert eingesetzt. Dies ist einer der häufigsten Fehler in der
men, Listerien und Legionellen (bedeutsamer Unterschied zu Antibiotikaanwendung überhaupt.
β-Lactam-Antibiotika und Aminoglykosiden!). Von der Paul-
! Bei der akuten Exazerbation einer COPD und ambu-
Ehrlich-Gesellschaft für Chemotherapie e.V. ist eine Eintei-
lanten Pneumonie ist Ciprofloxacin aufgrund un-
lung der Fluorchinolone in die folgenden vier Gruppen vorge-
genügender Aktivität gegen Pneumokokken nicht
schlagen worden, die auch die Einordnung weiterer Derivate
geeignet. Außerdem ist aufgrund des häufigen Ein-
zulässt.
satzes eine deutliche Resistenzentwicklung zu ver-
4 Gruppe I: Orale Fluorchinolone mit im Wesentlichen auf
zeichnen.
Harnwegsinfektionen eingeschränkter Indikation (z. B.
Norfloxacin)
4 Gruppe II: Systemisch anwendbare Fluorchinolone mit Gruppe III. Levofloxacin20 weist im Gegensatz zu den Fluor-
breiter Indikation (z. B. Ciprofloxacin, Ofloxacin, Eno- chinolonen der Gruppe II eine verbesserte Aktivität gegen
xacin) grampositive Erreger wie Staphylokokken, Streptokokken,
4 Gruppe III: Fluorchinolone mit verbesserter Aktivität ge- Pneumokokken und Enterokokken auf, bei vergleichbarer
gen grampositive und »atypische« Erreger (z. B. Levoflo- Aktivität gegen Chlamydien und Mykoplasmen. Levofloxacin
xacin) wirkt auch gegen Mykobacterium tuberculosis (Reservemittel
4 Gruppe IV: Fluorchinolone mit verbesserter Aktivität ge- bei Tuberkulose). Levofloxacin stellt den antibakteriell wirk-
gen grampositive und »atypische« Erreger sowie gegen samen Anteil von Ofloxacin dar (Ofloxacin ist ein racemisches
Anaerobier (z. B. Moxifloxacin) Gemisch, Levofloxacin das L-Enantiomer). Die Indikationen
von Levofloxacin entsprechen im Wesentlichen denen von
Gruppe I. Norfloxacin17 besitzt eine hohe Aktivität gegen Ofloxacin, darüber hinaus kann es auch bei Pneumokokken-
gramnegative Bakterien (z. B. Enterobakterien). Aufgrund der Infektionen (ambulant erworbene Pneumonie, akute Exazer-
antibakteriellen und pharmakokinetischen Eigenschaften bation der chronischen Bronchitis) angewandt werden.
kommt es bevorzugt zur Therapie von Harnwegsinfektionen.
Norfloxacin sollte nur bei leichteren Harnweginfektionen an- Gruppe IV. Moxifloxacin21 ist derzeit das einzig verfügbare
gewandt werden. Auch bei bakterieller Enteritis, Gonorrhö Fluorchinolon aus dieser Gruppe. Es ist das aktivste Chinolon
und Prostatitis wird es eingesetzt. gegen Pneumokokken und andere grampositive Erreger. Au-
ßerdem besitzt es auch eine hohe Aktivität gegen »atypische«
Gruppe II. Ciprofloxacin18 und Ofloxacin19 verfügen über Erreger und Anaerobier sowie gegen M. tubercolosis. Neben
eine sehr hohe In-vitro-Aktivität gegen Enterobakterien und den bakteriellen Infektionen der Atemwege kommt Moxifloxa-
Haemophilus influenzae. Sie besitzen jedoch nur mittlere bzw. cin aufgrund seines antibakteriellen Spektrums auch für Infek-
relativ schwache antibakterielle Aktivität gegen Staphylo- tionen durch Anaerobier in Betracht (abdominelle Infektionen,
kokken, Pneumokokken, Enterokokken und Chlamydien und Infektionen der Haut- und Weichgewebe). Weitere klinische
Mykoplasmen. Ciprofloxacin ist derzeit das wirksamste Flu- Erfahrungen sind bei einigen Indikationen notwendig, um den
orchinolon gegen Pseudomonas aeruginosa. Beide Fluorchi- therapeutischen Stellenwert der hochpotenten Substanz in der
nolone sind sowohl oral als auch parenteral anwendbar und Therapie weiterer Krankheitsbilder zu definieren.
daher zur Sequenztherapie geeignet. Ciprofloxacin ist das ein-
zige Antibiotikum zur oralen Therapie von Infektionen durch 17 Barazan®, Norfloxacin-ratiopharm®
Pseudomonas aeruginosa; dieser Keim tritt häufig bei chro- 18 Ciprobay®, Ciprohexal®
nischer Otitis media und externa sowie bei Mukoviszidose- 19 Tarivid®, Oflohexal®
Patienten mit Atemwegsinfektionen auf. In diese Gruppe wird 20 Tavanic®
auch Enoxacin eingeordnet, das allerdings gegen viele Bak- 21 Avalox®
10.1 · Bakterielle Erkrankungen
131 10
Unerwünschte Wirkungen. Unerwünschte Wirkungen der togene Wirkungen einer Chinolontherapie, doch sollten
Fluorchinolone betreffen insbesondere den Gastrointestinal- Schwangere und Stillende nicht mit Fluorchinolonen be-
Trakt und das Zentralnervensystem (z. B. Kopfschmerzen, handelt werden.
Schwindel, Benommenheit, Schlaflosigkeit, Verwirrung, Hal-
luzinationen). Allergische Hautreaktionen kommen selten Makrolide
vor, doch besitzen alle Fluorchinolone ein phototoxisches Makrolid-Antibiotika inhibieren die Proteinsynthese, wir-
Potenzial. Bei allen Fluorchinolonen sind auch EKG-Verände- ken bakteriostatisch und in Abhängigkeit von Keim, Substanz
rungen (Verlängerung des QT-Intervalls) beobachtet worden. und Konzentration z. T. bakterizid. Sie wirken hauptsächlich
Sparfloxacin ist aufgrund des photo- und kardiotoxischen gegen grampositive Stäbchen und Kokken, Bordetellen,
Potenzials vor wenigen Jahren vom Markt genommen wor- Mykoplasmen, Legionellen, Spirochäten, Corynebakterien,
den. Die Kombination von Fluorchinolonen mit Antiarrhyth- Helicobacter pylori, und Actinomyceten. Azithromycin ist
mika, die Einfluss auf die QT-Zeit haben (Antiarrhythmika deutlich besser wirksam gegen Haemophilus influenzae und
der Klassen Ia, z. B. Chinidin, Disopyramid, und III, z. B. andere gramnegative Erreger. Gegen grampositive Erreger
Amiodaron, Sotalol) ist zu vermeiden. Außerdem ist aus ist es weniger wirksam als andere Makrolide aber i. d. R. aus-
diesem Grund auch die Komedikation mit einigen Neurolep- reichend.
tika, z. B. Phenothiazinen, Haloperidol und trizyklischen Makrolide (Erythromycin22, Roxithromycin23, Clarithro-
Antidepressiva, kontraindiziert. Funktionsstörungen der Le- mycin24 oder Azithromycin25) sind indiziert bei ambulant
ber und Niere treten gelegentlich auf; Trovafloxacin wurde erworbenen Pneumonien und akuter Exerbationen chro-
1999 wegen schwerer, z. T. tödlicher hepatischer Reaktionen nischer Bronchitiden, bei Keuchhusten und Legionellosen.
vom Markt genommen. Auch bei anderen Vertretern sind Le- Bei Scharlach, Erysipel und Diphtherie sind sie Alternativen
berschäden beobachtet worden. Dies muss beim Einsatz, ins- bei Penicillinallergie.
besondere bei bereits vorbestehenden Leberschädigungen
beachtet werden. Fluorchinolone können zu Tendopathien Pharmakokinetik. Makrolide erreichen intrazellulär wirk-
führen; während oder auch noch mehrere Wochen nach Ab- same, z. T. sehr hohe Konzentrationen. Azithromycin wird
schluss der Therapie wurden Entzündungen und Rupturen besonders stark, vor allem auch in Phagozyten, angereichert
der Achillessehne und anderer Sehnen beobachtet. Die The- aufgrund seines großen Verteilungsvolumens. Dadurch blei-
rapie mit Glukokortikoiden ist ein zusätzlicher Risikofaktor ben lang anhaltende hohe Gewebespiegel besonders in ent-
für Tendopathien. zündeten Arealen bestehen. Dies ermöglicht eine Kurzzeit-
Fluorchinolone wirken toxisch auf die Entwicklung des behandlung als sog. Dreitagetherapie mit je 500 mg/Tag. Die
Gelenk- und Epiphysenknorpels (bisher nur tierexperimentell Liquorgängigkeit ist nicht hoch. Sie treten in die Muttermilch
nachgewiesen). Sie sind daher bei Kindern und Jugendlichen und den fetalen Kreislauf über. Die Makrolide werden über-
kontraindiziert. Unter sorgfältiger Abwägung von Nutzen und wiegend in der Leber metabolisiert und können durch Hem-
Risiko kann Ciprofloxacin jedoch zur Behandlung von Infek- mung der Cytochrom-P450-abhängige Monooxygenasen
tionen bei Kindern und Jugendlichen mit zystischer Fibrose (z. B. CYP 3A4 und 2E1) die Metabolisierung, z. B. von Carba-
eingesetzt werden, da die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass mazepin, Ciclosporin A und Theophyllin blockieren. In diesen
unter diesen Bedingungen das Risiko für Arthropathien nicht Fällen sollten Blutspiegelkontrollen im Sinne des TDM durch-
erhöht ist und Ciprofloxacin die beste Option für die orale geführt werden. Diese Interaktion tritt nicht bei Azithromycin
Behandlung der meist durch Pseudomonas aeruginosa verur- auf und ist bei Roxithromycin geringer ausgeprägt.
sachten respiratorischen Infektionen bei Mukoviszidose-Pa-
tienten darstellt. Enoxacin und in geringem Maße auch Cipro- Unerwünschte Wirkungen. Unter Makrolid-Therapie kommt
floxacin hemmen den Abbau von Theophyllin durch Inhibi- es nur gelegentlich zu allergischen Reaktionen. Schwere
tion hepatischer Monooxygenasen (CYP 1A2). Bei gleichzei- Hauterscheinungen wurden vor allem von Kindern aller Al-
tiger Gabe ist ein Therapeutisches Drug Monitoring von tersstufen entwickelt. Gastrointestinale Störungen (häufig)
Theophyllin sinnvoll. Unter Levofloxacin ist eine Verlänge- mit Übelkeit, Erbrechen, Durchfällen und pseudomembra-
rung der Halbwertzeit von Ciclosporin A um 30–40% beob- nöse Enterokolitis sowie allergische Hauterscheinungen und
achtet worden. Die Wirkung von Vitamin-K-Antagonisten, dosisabhängig Ohrensausen und reversibler Hörverlust kom-
z. B. Phenprocoumon, ist unter Levofloxacin und anderen men vor. Besonders bei längerer Gabe von Erythromycin wur-
Flourchinolonen verstärkt (Erhöhung der INR/Abfall des den Leberfunktionsstörungen mit intrahepatischer Choles-
Quick-Wertes) und es können Blutungen auftreten. Da Fluor- tase beobachtet. Erythromycin hat im Darm prokinetische
chinolone mit mehrwertigen Metallkationen Chelatkomplexe Wirkung, die zu einer Verstärkung der gastrointestinalen
bilden, ist die Resorption aus dem Gastrointestinaltrakt bei Symptome führt. Wegen der besseren gastrointestinalen Ver-
gleichzeitiger Einnahme von mineralischen Antazida und träglichkeit sollten bei der oralen Therapie die neueren
anderen metallhaltigen Medikamenten (Eisenpräparate, Vita- Makrolide bevorzugt werden. Auch mit zentralnervösen Stö-
minpräparate mit Zinkzusatz) unter Umständen so stark
reduziert, dass mit einem Therapieversagen gerechnet wer- 22 Eryhexal®, Erythro von CT®
den muss. Deshalb sind mindestens 2–3 h zwischen der 23 Rulid®
oralen Einnahme von Präparaten aus diesen Grund einzu- 24 Klacid®, Biaxin® HP
halten. Bisherige Erfahrungen geben keinen Hinweis auf tera- 25 Zithromax®
132 Kapitel 10 · Therapie mit Antibiotika und Chemotherapeutika (Infektionen)
rungen (Kopfschmerzen, Schwindel, Benommenheit) ist zu (»Statine«) muss während der Einnahme von Telithromycin
rechnen. Nebenwirkungen durch Arzneimittelinteraktionen: unterbrochen werden.
siehe auch Telithromycin. Makrolide können bei Patienten Das Antibiotikum ist kontraindiziert bei Patienten mit
mit verlängertem QT-Intervall im EKG gefährliche ventri- angeborenem QT-Syndrom in der Anamnese oder Familien-
kuläre Arrhythmien (Torsade de pointes) und ventrikuläre anamnese und bei Patienten mit erworbener QT-Intervall-
Tachykardien hervorrufen. Die kardialen Nebenwirkungen Verlängerung, bei bekannter Überempfindlichkeit gegen
sollten bei gleichzeitiger Gabe von potenziell arrhythmogenen Telithromycin oder Makrolide und in der Schwangerschaft
Substanzen, incl. Antiarrythmika (besonders Klassen Ia und und Stillzeit.
III) beachtet und ggf. die Komedikation vermieden werden. Da Ketolide möglicherweise wie die Makrolide die QT-
Zeit verändern, ist besondere Vorsicht geboten bei Patienten
Ketolide mit koronarer Herzkrankheit, bekannten ventrikulären Ar-
Telithromycin26 ist ein orales, konzentrationsabhängig bakte- rhythmien, nicht ausgeglichener Hypokaliämie oder Hypo-
rizid wirkendes Antibiotikum und das erste zugelassene Prä- magnesiämie, Bradykardie oder bei gleichzeitiger Anwendung
parat dieser Klasse, welche aus den Makroliden hervorgegan- von anderen Substanzen, die die QT-Zeit verlängern (s. oben).
gen ist. Es blockiert den Translationskanal und damit die Pro- Insbesondere auf Grund der Nebenwirkungen sowie des In-
teinsynthese durch Wirkung auf die Ribosomen. Durch seinen teraktionspotenzials hat Telithromycin in der Praxis an Be-
dualen Wirkmechanismus war eine schnelle Resistenzentwick- deutung verloren.
lung relativ unwahrscheinlich. Jedoch sind unter Praxisbedin-
gungen bereits Resistenzen nachgewiesen worden. Tetracycline
Sein Wirkspektrum umfasst sowohl grampositive als auch Doxycyclin27 und Minocyclin28 sind die klinisch relevantesten
gramnegative Erreger. Empfindlich sind Streptococcus pneu- Tetracycline und werden aufgrund ihrer hohen Bioverfügbar-
moniae, Streptokokken, Staphylococcus aureus und Entero- keit heute bevorzugt. Tetracycline wirken bakteriostatisch
kokken bei den Grampositiven, sowie Moraxella catarrhalis, gegen eines breites Spektrum grampositiver und gramnega-
Legionellen und Bordetella pertussis bei den Gramnegativen. tiver Erreger wie Staphylokokken, Streptokokken, Pneumo-
Intermediär empfindlich sind Haemophilus influenzae und kokken, Actinomyceten und gegen intrazelluläre Erreger wie
parainfluenzae. Weiterhin werden erfasst Chlamydia pneu- Rickettsien, Chlamydien, Legionellen und Mykoplasmen.
moniae, Chlamydia psittaci und Mykoplasma pneumoniae, Allerdings bestehen heute z. T. erhöhte Resistenzraten, so dass
also v. a. Erreger, die bei Atemwegsinfektionen als »atypische sie bei einer Reihe von klinisch relevanten Infektionen zu-
Erreger« eine wesentliche Rolle spielen. rückhaltend, bzw. nach Resistenztestung eingesetzt werden
Indikationen bei Erwachsenen sind die Behandlung von sollten. Eine Therapie mit Tetracyclinen als Mittel der ersten
leichten bis mittelschweren ambulant erworbenen Pneumo- Wahl kommt in Frage bei Infektionen durch Borrelien,
nien, akute Exazerbation einer chronischen Bronchitis, akute Rickettsien, Bartonellen, Brucellen (in Kombination mit
Sinusitis und Tonsillitis/Pharyngitis, verursacht durch β-hä- Gentamicin), Chlamydien, Helicobacter pylori, Burkholderia,
molysierende A-Streptokokken, sofern β-Lactam-Antibiotika Vibrionen. Für die Therapie von Atemwegsinfektionen
nicht geeignet sind. Letzteres gilt auch für Patienten im Alter (AECB, ambulante Pneumonie) sind sie nach den aktuellen
von 12 bis 18 Jahren. Leitlinien eine akzeptierte Alternative. Minocyclin wird in
niedriger Dosierung bei der Akne vulgaris und schweren For-
Unerwünschte Wirkungen. Bei mehr als 10% der Patienten men der Rosacea eingesetzt. Die älteren Tetracycline Oxytet-
kommt es zu Durchfällen, die größtenteils leicht verlaufen. racyclin (Oxytetracyclin) und Chlortetracyclin (Aureomycin)
Weitere häufige unerwünschte Nebenwirkungen sind Übel- werden wegen der unsicheren Bioverfügbarkeit kaum noch
keit, Erbrechen, Schwindel, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen systemisch eingesetzt. Sie stehen z. T. noch zur topischen An-
und Geschmacksstörungen. Es kann zu einem Anstieg der wendung bei Haut- und Augeninfektionen zur Verfügung.
Leberenzyme kommen. Neuesten Publikationen zufolge tra-
ten auch schon nach kurzfristiger Therapie mit Telithromy- Pharmakokinetik. Doxycyclin und Minocyclin werden zu
cin26 schwerste Leberschäden auf. über 90% enteral resorbiert und die Bioverfügbarkeit wird,
Telithromycin ist ein stärkerer Inhibitor des CYP 3A4- anders als bei den älteren Tetracyclinen, durch die Nahrungs-
Enzyms und ein schwacher Inhibitor von CYP 2D6. Es kann aufnahme, insbesondere von Milchprodukten, nicht wesent-
die Plasmaspiegel z. B. von Mutterkornalkaloiden, Pimozid, lich (zu beachten wären Aluminium, Calcium, Magnesium,
einigen Statinen, Benzodiazepinen und Ciclosporin A erhö- Colestyramin) beeinträchtigt. Die Halbwertszeit von Doxy-
hen. Eine gleichzeitige Anwendung mit einigen Antiarrhyth- cyclin beträgt 15–24 h, die Wirkdauer bis zu 24 h und die
mika (s. a. Fluorchinolone) ist kontraindiziert, da diese zu Plasmaeiweißbindung 80–93%. Doxycyclin hat eine recht
einer QT-Verlängerung und zu kardialen Arrhythmien führen hohe Gewebegängigkeit und verteilt sich gut in Galle, Milz,
kann. Pankreas, Knochen, Zähnen und Synovialflüssigkeit. Wegen
Es darf nicht gleichzeitig eingenommen werden mit Sim- der geringen Konzentration im Liquor ist es zur Therapie der
vastatin, Atorvastatin und Lovastatin. Da unter Telithromy-
cin-Einnahme auch Fälle von Exazerbationen der Myasthenia 26 Ketek®
gravis auftraten, ist die Komedikation mit Statinen steng 27 Supracyclin®, Doxycyclin AL®
kontraindiziert. Eine Behandlung mit diesen Arzneimitteln 28 Minocyclin®, Minocyclin-ratiopharm®
10.1 · Bakterielle Erkrankungen
133 10
Meningitis nicht geeignet. Doxycyclin wird zu 40% in der nation mit oralen Antikoagulanzien: Dann engmaschige Über-
Leber konjugiert und mit der Galle in den Darm ausgeschie- wachung der Gerinnungsparameter.
den (durch Enzyminduktion beschleunigter Abbau). 35–60%
werden über die Niere eliminiert, davon ca. 40% unverändert. Aminoglykoside
Bei Niereninsuffizienz ist jedoch keine Dosisanpassung erfor- Zu den Aminoglykosiden zählt Streptomycin30, das nur für die
derlich. Doxycyclin kann auch intravenös verabreicht werden Therapie der Tuberkulose eingesetzt wird und hier deshalb
(möglichst der Sequenztherapie). nicht berücksichtigt wird (7 Kap. 10.2). Weiterhin gehören dazu
Gentamicin31, Tobramycin32, Amikacin33, Netilmicin und Neo-
Dosierung mycin34 sowie das nur am Auge angewendete Kanamycin.
Doxycyclin: Sie sind wirksam im gramnegativen Bereich, vor allem gegen
4 Initial 0,2 g/d, dann 100 mg/d. Enterobakterien. Bei Pseudomonas-Infektionen, eine der Haupt-
4 Häufig wird es in Sequenztherapie (initial i.v., nach anwendungsgebiete für Aminoglykoside, besitzen Tobramycin
2–3 Tagen oral) eingesetzt. und Amikacin einen Vorteil gegenüber anderen Aminoglykosi-
den. Die Wirkung auf grampositive Erreger ist wenig ausgeprägt,
doch werden sie auch für Infektionen mit Enterokokken in Kom-
Unerwünschte Wirkungen. Gastrointestinale Störungen durch bination mit β-Lactam-Antibiotika eingesetzt, um deren Wir-
Schleimhautreizung (besonders bei oraler Gabe) und Beein- kung zu verstärken und den Eagle-Effekt aufzuheben.
trächtigung der Darmflora mit Superinfektionen (pseu- Die Substanzen zeigen eine ausgeprägte, schnell ein-
domembranöse Enterokolitis!) kommen vor. Aufgrund von setzende Bakterizidie und eine konzentrationsabhängige Ab-
Chelatbildung mit mehrwertigen Kationen (Calcium!) findet tötungskinektik. Der Serum- bzw. Gewebespiegel sollte dabei
eine Einlagerung in Knochen und Zähnen, mit Störungen des nach Möglichkeit mindestens das 5-fache der MHK des Er-
Knochenwachstums und Schmelzhypoplasie sowie Gelb- regers überschreiten. Der postantibiotische Effekt der Amino-
färbungen der Zähne (keine Gabe an Kinder unterhalb des glykoside kann in Abhängigkeit vom Serumspiegel, dem
8. Lebensjahres!) statt. Photodermatose mit Onycholyse, Fett- Kombinationspartner und dem Immunstatus des Patienten
einlagerung in der Leber, evtl. mit Ikterus, Azotämie, Azidose mehrere Stunden andauern. Die Wirkung der Aminoglyko-
mit Schock als Folge sind in seltenen Fällen möglich. Selten side ist abhängig vom pH-Wert; im sauren anaeroben Milieu
sind Blutbildveränderung, wie Leukozytose, thrombozyto- sind sie unwirksam, z. B. in Abszessen, in die sie aufgrund
penische Purpura und reversible Leukopenie sowie aller- ihrer Struktur ohnehin nur in geringem Maße penetrieren.
gische Hauterscheinungen und Angioödem. Wegen des ulze-
rogenen Potenzials sollten oral Tetracycline mit reichlich Flüs- Pharmakokinetik. Aminoglykoside verteilen sich extrazellu-
sigkeit (keine Milchprodukte) eingenommen werden. Leber- lär. Das relative Verteilungsvolumen liegt bei etwa 0,25 l/kg
schäden traten bei Überdosierungen oder in Kombinationa mit mit einer Schwankungsbreite von 0,1–0,8 l/kg. Die Halbwerts-
potenziell lebertoxischen Substanzen und in der Schwanger- zeit der unverändert, ausschließlich renal eliminierten Subs-
schaft auf. Tetracycline können renale Schäden verursachen tanzen, liegt bei nierengesunden Patienten bei etwa 2 h, doch
oder bestehende Nierenfunktionsstörungen verstärken. können bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion
deutlich höhere Werte erreicht werden. Eine Berücksichti-
Glycylcycline gung der Kreatinin-Clearance und ein therapeutisches Drug
Tigecyclin29 ist ein neues Breitspektrum-Antibiotikum, das Monitoring (TDM) sind daher insbesondere bei Risikopa-
2006 zugelassen wurde. Es leitet sich strukturell von den Tetra- tienten erforderlich. Einer einmal täglichen Gabe der Gesamt-
cyclinen ab und wirkt wie diese nur bakteriostatisch. Es hat eine tagesdosis sollte der Vorzug vor allem in der Kombinations-
hohe Aktivität gegen grampositive Erreger, einschließlich therapie mit β-Lactam-Antibiotika gegenüber der konventio-
MRSA, Penicillin-resistenter Pneumokokken, Vancomycin-re- nellen 3× täglichen Dosierung gegeben werden, um einen
sistenter Enterokokken, gramnegativer Erreger mit ESBL-Bil- möglichst hohen Spitzenspiegel zu erreichen. Es gibt Hinwei-
dung sowie Anaerobier. Unwirksam ist es gegenüber Pseudo- se auf eine geringere Toxizitätsrate bei günstigeren klinischen
monas aeruginosa. Es liegt nur für die parenterale Applikation Erfolgen unter der 1× täglichen Dosierung. Als therapeutische
vor (30–60 minütige Infusion). Startdosis: 100 mg gefolgt von Zielbereiche innerhalb eines 24-h-Dosierungsintervalls
50 mg alle 12 h (i.v.). Indikationen: Komplizierte Haut- und werden Talspiegel von <1 mg/l und (extrapolierte) Spitzen-
Weichgewebsinfektionen und komplizierte intraabdominale spiegel von 15–20 mg/l für Gentamicin und Tobramycin,
Infektionen. Reserve-Antibiotikum für schwere Infektionen;
k es >20 mg/l für Netilmicin und etwa 60 mg/l für Amikacin bei
sollte jedoch beachtet werden, dass es nur bakteriostatisch wirk- Patienten mit normaler Nierenfunktionsleistung angestrebt.
sam ist und bei pulmonalen Infektionen nach dem derzeitigen Bei der Behandlung von Endokarditiden und neutropenischen
Stand nicht ausreichend wirksam ist. Kontraindikation und Ne- Patienten ist die Datenlage für die Einmalgabe noch nicht aus-
benwirkungen: Schwangerschaft und Stillzeit sowie bekannte
29 Tygacil®
Überempfindlichkeit, auch gegenüber Tetracyclinen, stellen 30 Strepto-Fatol®
Kontraindikationen dar. Ebenso Kinder bis zu 8 Jahren (Verfär- 31 Genta CT®
bung und Verlust der Zahnschmelzes). Übelkeit und Erbrechen, 32 Tobramaxin®
besonders bei Therapiebeginn. Leberenzyme können erhöht 33 Amikacin Fresenius®
seine, gelegentlich erhöhte INR-Werte insbesondere in Kombi- 34 Uro-Nebacetin®
134 Kapitel 10 · Therapie mit Antibiotika und Chemotherapeutika (Infektionen)
reichend, so dass in diesen Fällen i. d. R. weiterhin konventi- Nierenschäden dar. Allergische Reaktionen treten seltener,
onell behandelt werden sollte. dann meist bei lokaler Anwendung auf. Bei gleichzeitiger An-
wendung von Muskelrelaxanzien und Anästhetika muss mit
Indikationen. Aminoglykoside sind Antibiotika mit einem Atemstillstand durch Verstärkung der neuromuskulären Blo-
ausgeprägten oto- und nephrotoxischen Potenzial, die nur ckade gerechnet werden.
nach strenger Indikationsstellung eingesetzt werden sollten
(Reserve-Antibiotika). Bei sachgerechter Anwendung (1× Lipopeptide
täglich, kurze Behandlungsdauer, therapeutisches Drug Mo- Daptomycin35 wirkt konzentrationsabhängig bakterizid und
nitoring) sind sie auch heute noch als wertvolle Substanzen, ist das erste Antibiotikum dieser neuen Klasse, das 2006 zuge-
insbesondere bei schweren septischen Infektionen und Pseu- lassen wurde. Es hat einen neuartigen Wirkungsmechanis-
domonas-Infektionen, mit akzeptabler Verträglichkeit anzu- mus: Irreversible Bindung an die Zellmembran mit konse-
sehen. kutiver schnellen Depolarisierung der unter Kalium-Efflux
Zugelassene Indikationen sind schwere (nosokomiale) schnellen Abtötung der Bakterienzellen. Es wirkt ausschließ-
Infektionen durch gramnegative Stäbchen, Fieber bei Neutro- lich gegen grampositive Erreger, einschließlich MRSA und ist
penie und Pseudomonas-Infektionen bei zystischer Fibrose. nur parenteral anwendbar. Bei Verdacht auf Beteiligung gram-
Aminoglykoside dürfen bei diesen Indikationen niemals in negativer Erreger ist eine entsprechende Kombination mit
Monotherapie gegeben werden. Nach Möglichkeit werden sie einem weiteren entsprechend wirksamen Antiinfektivum not-
mit einem β-Lactam-Antibiotikum kombiniert, um einen ad- wendig. Aufgrund der langen Halbwertszeit (8–9 h) wird es
ditiven Effekt zu erzielen. Möglich ist auch die Kombination einmal täglich als Infusion über 30 min (4–6 mg/kg) dosiert;
mit Fluorchinolonen. In der Regel (außer bei der Behandlung die Dosierung muss wegen der hohen (~80%) renalen Elimi-
der Endokarditis) werden die Aminoglykoside nur zur Kurz- nation, an die Nierenfunktion angepasst werden. Creatinin-
zeittherapie (3–5 Tage) eingesetzt. Clearance ≤30 ml/min: Dosierungsintervall 24 → 48 h.
Geeignet sind sie je nach Erreger- und Resistenzsituation
auch zur Behandlung von schweren Infektionen wie Pyelo- Indikationen. Komplizierte Haut- und Weichtgewebsinfek-
nephritis, Sepsis, Peritonitis, Endokarditis, Pneumonie, Me- tionen (sSSTI), rechtsseitige infektiöse Endokarditis durch
ningitis, Osteomyelitis durch gramnegative Bakterien. Wegen Staphylococcus aureus sowie Staphylokococcus aureus-Bak-
ihrer geringen therapeutischen Breite sollen sie nur angewen- teriämie. Für die Therapie von Atemwegsinfektionen ist Dap-
det werden, wenn die Erreger gegen besser verträgliche Anti- tomycin nicht geeignet, da es durch Surfactant inaktiviert
biotika resistent sind oder bei lebensgefährlichen Infektionen. wird.
Ihre Anwendung ist der Klinik vorbehalten. Wegen der gerin-
gen therapeutischen Breite ist eine Blutspiegel-gestützte The- Unerwünschte Wirkungen. Kreatinphosphokinase (CPK)-Er-
rapie (»therapeutic drug monitoring«) anzuraten, wobei die höhung mit Muskelschmerzen, Muskelschwäche und Myo-
Spitzenspiegel entscheidend für die therapeutische Wirkung sitis: Deshalb mindestens 1×/Woche Kontrolle der CPK,
sind (s. o.) und die Talspiegel zur Vermeidung der Toxizität bei Werten oberhalb des fünffachen des Normwertes 2täg-
bestimmt werden sollen Alle Aminoglykoside werden gastro- liche Kontrolle, bes. bei Patienten mit Clkrea <30 ml/min so-
intestinal nur geringfügig resorbiert, wirken im Darm des- wie Komedikation mit Statinen, Fibraten und Ciclosporin A.
infizierd im Sinne der selektiven Darmdekontamination, und Außerdem periphere Neuropathie, Auftreten von Nierenin-
müssen für systemische Wirkung parenteral gegeben werden. suffizienz (cave: Dosisanpassung), Antibiotika-assoziierte
Die inhalative Anwendung von Tobramycin kann bei Patien- Diarrhö.
ten mit cystischer Fibrose (Mukoviszidose) erwogen werden.
Glykopeptide (Vancomycin36, Teicoplanin37)
Unerwünschte Wirkungen. Die wichtigsten und schwerwie- Diese großmolekularen Antibiotika wirken relativ schwach
gendsten unerwünschten Wirkungen bestehen in Ototoxizi- bakterizid auf grampositive Bakterien. Sie werden überwie-
tät durch Schädigung des 8. Hirnnerven und in Nephrotoxi- gend bei Penicillinallergie und bei Staphylokokken-Infek-
zität, deren Häufigkeit und Schweregrad unter anderem da- tionen, insbesondere durch die Problemkeime MRSA und
von abhängen, wie häufig diese Antibiotika pro Tag gegeben MRSE, eingesetzt.
werden. Die Einmalgabe erwies sich als günstiger als eine Vancomycin und Teicoplanin haben ausschließlich Wir-
fraktionierte Verabreichung der Tagesdosis. Deshalb sollten kung im grampositiven Bereich. Sie hemmen die Zellwand-
vor und während der Therapie in regelmäßigen Abständen die synthese und sind dadurch bakterizid wirksam gegen Staphy-
Kreatinin-Clearance überprüft und ggf. Audiogramme auf- f lokokken, auch Methicillin-resistente Stämme, Enterokokken
genommen werden. Das Risiko für toxische Wirkungen steigt und Pneumokokken sowie Clostridium difficile (bei pseudo-
auch mit der Behandlungsdauer deutlich an (deshalb mög- membranöser Kolitis). Sie werden zur parenteralen Therapie
lichst nur maximal 3–5 Tage mit Aminoglykosiden behan- bei schweren Staphylokokken-Infektionen, die gegen andere
deln!). Antibiotika resistent sind oder bei Patienten, die gegen andere
Da Aminoglykoside im Nierengewebe in den Zellen des
proximalen Tubulus über mehrere Wochen nach Abschluss 35 Cubicin®
der Behandlung persistieren, stellt eine vorangegangene 36 Vancomycin® CP, Vancomycin-ratiopharm®
Aminoglykosid-Therapie einen wichtigen Risikofaktor für 37 Targocid®
10.1 · Bakterielle Erkrankungen
135 10
Antibiotika allergisch sind, und oral bei pseudomembranöser Die Hauptindikationen sind auch hier Staphylokokken-
Kolitis, die gegen Metronidazol therapierefraktär ist, einge- und Anaerobier-Infektionen bei Penicillin-Allergie oder Re-
setzt. Ein wichtiges Anwendungsgebiet sind Infektionen bei sistenz gegen andere Antibiotika. Weiterhin wird Clindamycin
hämatologisch-onkologischen Patienten in Kombination mit eingesetzt zur oralen Nachbehandlung der Staphylokokken-
Breitband-β-Lactam-Antibiotika (z. B. Carbapeneme); bei Osteomyelitis und zur Therapie der ZNS- und Augen-Toxo-
Verdacht auf Pilzinfektionen mit Antimykotika (Therapie von plasmose (besonders bei AIDS).
Mykosen, 7 Kap. 10.4). Wegen der Toxizität sind therapiebe-
gleitend Blutspiegelkontrollen mit entsprechender Dosisan- Dosierung
passung (»therapeutic drug monitoring«) indiziert. Clindamycin:
4 600–1800 mg pro Tag aufgeteilt auf 3–4 Dosen. Es
Unerwünschte Wirkungen. Allergien mit Fieber, Urticaria kann sowohl oral als auch i.v. verabreicht werden.
und Exanthem und Thrombophlebitiden treten häufig auf 4 Für Kinder wird auch hier die Dosis nach Körper-
(5–10%). Interstitielle Nephritis, Nierenschädigung und gewicht (ca. 8–25 mg/kg) berechnet.
Hörverlust (insbesondere bei Kombination mit Aminogly- 4 In der Schwangerschaft und Stillzeit sowie bei
kosiden), Schwindel, Ohrensausen und Neutropenie sowie Magen-Darm-Erkrankungen und schweren Leber-
Thrombopenie sind möglich. Das sog. Red-man-Syndrom funktionsstörungen ist es kontraindiziert.
(Hautrötung des Oberkörpers) wird wahrscheinlich durch
Hyperosmolarität bedingte Histaminausschüttung bei Infu-
sion hervorgerufen und ist bei den neueren Zubereitungen Unerwünschte Wirkungen. Gelegentlich treten Bauch-
kaum noch von Bedeutung. Teicoplanin ist besser verträglich schmerz, Übelkeit, weiche Stühle, Diarrhö und Erbrechen
(keine Thrombophlebitis, kein Red-man-Syndrom), hat aber (5–20%) auf (die nach Absetzen meistens abklingen), selten
auch ototoxisches Potenzial. Bei Patienten mit ausgedehnter allergische Haut-Reaktionen, Leukopenie und pathologische
Schädigung der Darmschleimhaut und gleichzeitiger Nieren- Leberfunktionswerte (mit Ikterus). Eine zu schnelle i.v. Gabe
funktionsstörung ist bei oraler Therapie mit klinisch bedeut- kann zu Blutdruckabfall führen. Clindamycin kann die Wir-
samen Serumkonzentrationen zu rechnen (Nebenwirkungen kung von Muskelrelaxanzien verstärken. Die gefährlichste
wie nach i.v. Infusion). Akutes Nierenversagen, Schwerhörig- Komplikation der Therapie ist die pseudomembranöse Ente-
keit und Schwangerschaft (parenterale Therapie) sind eben- rokolitis, die im Vergleich zu anderen Antibiotika relativ häu-
falls Kontraindikationen. fig auftritt.
Im ersten Lebensmonat darf Clindamycin wegen mög-
Lincosamide (Lincomycin38, Clindamycin39) licher Atemstörungen durch das Lösungsmittel Benzylalkohol
Lincosamide blockieren das Enzym Peptidyltransferase und nicht parenteral gegeben werden. Bei schwererer Niereninsuf- f
unterbrechen dadurch die Kettenverlängerung während der fizienz kann eine Dosisanpassung oder Intervalländerung
Proteinbiosynthese. Sie wirken, je nach Konzentration, bak- erforderlich werden.
teriostatisch bis bakterizid und sind bezüglich des Wirkme-
chanismus und des Wirkspektrums den Makroliden ähnlich. Oxazolidinone (Linezolid40)
Eine Kombination mit Aminoglykosiden oder Chinolonen ist Linezolid ist der einzige Vertreter dieser neuartigen Struktur-
möglich. Vorsicht gilt bei gleichzeitiger Gabe von Ganglien- klasse antibakterieller Chemotherapeutika. Es greift in den
blockern, da eine Verstärkung der Wirkung dieser eintreten Translationsprozess der bakteriellen Proteinsynthese bei der
kann (Muskelrelaxation). Bildung des Initiationskomplexes ein und wirkt bakteriosta-
Die Resistenzrate in Deutschland liegt für Staphylococcus tisch. Auf Grund des Wirkungsmechanismus ist eine rasche
aureus bei nosokomialen Infektionen um etwa 10–15% und Resistenzentwicklung wenig wahrscheinlich. Dennoch sind
für MRSA bei 50–60%. Es gibt kaum Resistenzen bei Staphy- erste resistente Mutanten beschrieben worden.
lococcus aureus bei ambulanten Infektionen und sehr selten Das Wirkungsspektrum umfasst ausschließlich grampo-
bei Streptokokken. sitive Bakterien: Enterokokken, auch bei Vancomycin-Resis-
Clindamycin ist das semisynthetische Derivat von Linco- tenz, Staphylokokken, auch Methycillin-resistente Keime
mycin (dem ersten Präparat dieser Gruppe) mit einer besseren (MRSA, MRSE), sensible und resistente Streptokokken sowie
Wirksamkeit (2- bis 10-fach stärker als Lincomycin). Es hat Listerien und Mykobakterien.
eine sehr gute Gewebegängigkeit vor allem in die Knochen, Indikationen sind schwere Infektionen mit nachgewie-
allerdings eine schlechte Liquorgängigkeit. Seine Bioverfüg- senen resistenten Erregern aller Lokalisationen und bei be-
barkeit liegt bei 80%, die Halbwertzeit beträgt 2–3 h und die gründetem Verdacht auf Beteiligung solcher Keime, z. B. no-
Plasmaeiweißbindung liegt bei 80–90%. Clindamycin wird sokomialer Pneumonie, schweren Haut- und Weichgewebsin-
vorwiegend biotransformiert, teilweise zu wirksamen Meta- fektionen. Die Behandlung sollte derzeit nur im Klinikumfeld
boliten. 10–40% werden im Urin ausgeschieden. Es besteht nach Konsultation eines Infektiologen begonnen werden.
eine Kreuzresistenz zu Makroliden.
Clindamycin erfasst hauptsächlich Staphylokokken,
Streptokokken und Anaerobier. Empfindlich sind auch Diph- 38 Albiotic®
theriebakterien, Milzbrandbazillen, Gardnerella vaginalis und 39 Sobelin®, Clinda-saar®
Mykoplasma hominis. 40 Zyvoxid®
136 Kapitel 10 · Therapie mit Antibiotika und Chemotherapeutika (Infektionen)
Dosierung Fosfomycin
Fosfomycin41, ein Derivat der Phosphorsäure, ist ein bakte-
4 2-mal 600 mg über 10–14 Tage. rizides Breitspektrumantibiotikum ohne strukturelle Ver-
4 Linezolid ist gut zur Sequenztherapie geeignet, da es wandtschaft zu anderen Antibiotika.
als i.v. und orale Darreichungsform verfügbar ist und Es hemmt die Pyruvyltransferase, die für einen frühen
eine hohe Bioverfügbarkeit (~95%) besitzt. Schritt der Bakterienzellwandsynthese nötig ist. Es dient in
4 Eine Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz ist nicht erster Linie als Reserveantibiotikum bei Infektionen mit emp-
erforderlich. findlichen Erregern, z. B. bei Penicillin- oder Cephalosporin-
allergie und z. B. bei Staphylokokken-Osteomyelitis. Die orale
Zubereitung Fosfomycin-Trometamol wird zur oralen Thera-
Unerwünschte Wirkungen. Die häufigsten Nebenwirkungen, pie unkomplizierter Harnwegsinfekte eingesetzt. Sekundäre
die während klinischer Studien beobachtet wurden, waren Resistenzentwicklung ist möglich.
Kopfschmerzen, Diarrhö, Übelkeit und Candidiasis. Unter Fosfomycin hat eine Halbwertszeit von ca. 2–3 h und eine
Anwendung von Linezolid tritt bei einigen Patienten eine orale Bioverfügbarkeit von ca. 40%, ist gut gewebegängig, pe-
Myelosuppression (einschließlich Leukopenie, Panzytope- netriert in den Liquor cerebrospinalis und ist deshalb auch zur
nie, Anämie und Thrombozytopenie) auf, die nach Absetzen Therapie der Meningitis geeignet. Ca. 90% werden renal eli-
reversibel ist. Diese Nebenwirkung korreliert offensichtlich miniert, weshalb es in der Dosierung an die Nierenfunktion
mit der Dauer der Anwendung und tritt bei Niereninsuffizi- angepasst werden soll.
enz häufiger auf. Deshalb sind dann häufiger (mindestens
wöchentlich) eine Blutbildkontrollen erforderlich und die Dosierung
Anwendungsdauer ist auf 30 Tage beschränkt. Fosfomycin:
Bei Leberinsuffizienz ist Linezolid möglichst zu meiden. 4 Bei Erwachsenen 6–16 g auf 2–3 Dosen verteilt als
Häufiger als bei anderen Antibiotika (ca. 3% der Patienten) Infusion oder 1-mal 3 g als Einmaldosis (oral).
tritt eine arzneimittelbedingte Candidiasis auf. Weiterhin
können periphere und optische Neuropathien mit Visusein-
schränkungen teilweise mit nachfolgender Erblindung auftre- Unerwünschte Wirkungen. Die wichtigsten unerwünschten
ten (opthalmologische Abklärung erforderlich). Wirkungen sind gastrointestinale Symptome (z. B. Brechreiz),
Da Linezolid ein reversibler, nichtselektiver MAO-Hem- allergische Reaktionen und reversible Erhöhung von Trans-
mer ist, sollte die Kombination mit Antidepressiva von MAO- aminasen. Wegen des Natriumgehalts der i.v. Zubereitung ist
Hemmer-Typ (z. B. Moclobemid, Selegelin, Isocarboxacid, Vorsicht geboten bei Herzinsuffizienz, Ödemen und sekun-
Phenelzin) gemieden werden. Der Blutdruck muss bei schwerer därem Hyperaldosteronismus. Schwangerschaft gilt als Kon-
Hypertonie engmaschig kontrolliert werden, insbesondere bei traindikation:
psychischen Erkrankungen und entsprechender medika-
mentöser Therapie. Folsäureantagonisten (Sulfonamide
und Trimethoprim)
Streptogramine (Quinupristin/Dalfopristin) Sulfonamide sind in Monotherapie durch Resistenzentwick-
Quinupristin (30%) und Dalfopristin (70%) sind in Synercid® lung praktisch nicht mehr ausreichend antibakteriell wirksam.
in Kombination im Handel. Sie wirken synergistisch (bakteri- Als Monotherapeutika finden sie nur noch bei der Behandlung
zid) gegen Staphylokokken, Streptokokken und Pneumo- der Nocardiose und leichten Harnwegsinfektionen Verwen-
kokken. Auch Methicillin-resistente Staphylokokken, Vanco- dung. Sulfonamide werden heute in Kombination mit Trime-
mycin-resistente Enterokokken und Penicillin-resistente thoprim angewandt. Am verbreitetsten ist die Kombination
Pneumokokken werden erfasst. Das Präparat ist ein absolutes aus Sulfamethoxazol und Trimethoprim (Co-trimoxazol). Die
Reserve-Antibiotikum und spielt therapeutisch aufgrund der Kombination aus Pyrimethamin mit Sulfonamiden findet bei
Nebenwirkungen (s. u.) kaum noch eine Rolle. Die Halbwerts- der Therapie der Malaria (7 Kap. 10.5.1) Anwendung.
zeit beträgt 1 h.
Co-trimoxazol
Unerwünschte Wirkungen. Häufige unerwünschte Wirkun- Trimethoprim und Sulfamethoxazol, die Kombinationspart-
gen sind Venenreizung mit Thrombophlebitis an der Infu- ner in Co-trimoxazol, weisen ähnliche pharmakokinetische
sionsstelle, Hautreaktionen, Gelenk- und Muskelschmerzen, Eigenschaften auf. Trimethoprim sollte nicht allein zur The-
Übelkeit und Erbrechen. Transaminasen- und Bilirubin-An- rapie verwendet werden, da es rasch zur Resistenzentwicklung
stieg sind häufig. Eine Hemmung Cytochrom-P450-abhän- kommen kann. Co-trimoxazol wird heute überwiegend zur
giger Monooxygenasen kann zu Interaktionen mit anderen Therapie von Harnwegsinfektionen eingesetzt; es kann auch
hepatisch metabolisierten Pharmaka führen, insbesondere als Alternativ-Präparat bei Salmonellen- und Shigellen-In-
solcher Substanzen, die über das CYP 3A4 (z. B. Ciclosporin fektionen angewandt werden. Der jahrzehntelange häufige
A, Benzodiazepine) metabolisiert werden. Aufgrund der Ver- Gebrauch hat allerdings zu ausgeprägten Resistenzen bei kli-
fügbarkeit besser wirksamer und verträglicher Alternativen nisch wichtigen Erregern geführt (z. B. Salmonellen, Shigellen
(z. B. Linezolid, Daptomycin) werden Streptogramine nur
noch selten eingesetzt. 41 Infectofos pro infusione®
10.1 · Bakterielle Erkrankungen
137 10
und E. coli). Co-trimoxazol wird zur Prophylaxe und Thera- chäten und Chlamydien. Wegen schwerwiegender Knochen-
pie der Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie bei AIDS-Patien- markstoxizität (reversible und irreversible Formen mit leta-
ten angewandt. lem Ausgang) ist es heute nur noch ein absolutes Reserve-An-
tibiotikum.
Unerwünschte Wirkungen. Unerwünschte Wirkungen der
Sulfonamid-Komponente bestehen insbesondere in Form von
allergischen Reaktionen. Außerdem kommen gastrointestinale 10.1.3 Lokale antibakterielle Chemotherapie
Beschwerden und Hauterscheinungen vor. Das oftmals letal
verlaufende Lyell-Syndrom (toxische epidermale Nekrolyse) Die Verwendung von Antibiotika auf Schleimhäuten, z. B. bei
gehört zu den seltenen aber fatalen unerwünschten Wirkungen Pharyngitiden, Sinusitiden, Anginen, Tonsillitiden, Infektio-
der Sulfonamid-Komponente. Als Folge des Folat-Mangels nen der oberen Atemwege und des Mittelohres (Otitis media),
kann es bei bis zu 4% der Behandlungsfälle zu reversiblen ist sinnlos und stellt i. d. R. eine grundsätzliche Kontraindika-
Thrombozytopenien, hyperchromen, makrozytären Anämien tion dar. Analoges gilt für die Anwendung auf der Haut bei
und Leukopenien kommen, die in seltenen Einzelfällen bis zur Abszessen, Furunkeln und Mastitiden. Angesichts der be-
reversiblen Agranulozytose führen können. Die Rate an Un- sonders häufigen Resistenzentwicklung und Allergisierung
verträglichkeiten ist bei AIDS-Patienten besonders hoch. Tera- (besonders häufig bei topischer Anwendung) sollten syste-
togene Wirkungen wurden im Tierversuch beobachtet; eine misch wirksame Antibiotika nur in Ausnahmefällen lokal an-
Therapie mit Co-trimoxazol sollte daher während der Schwan- gewandt werden.
gerschaft nicht erfolgen. Bisher gibt es allerdings keine Hinwei-
> Antiseptika wie Polyvidon-Iod sowie Chlorhexidin
se auf ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko beim Menschen bei
sind zu bevorzugen.
unbeabsichtigter Exposition im ersten Trimenon.
Polyvidon-Iod43 kann bei oberflächlichen Wunden und zur
Nitroimidazole (Metronidazol) Hautinfektion vor Inzisionen die meisten Keime stark redu-
Metronidazol42 ist wirksam gegen Protozoen (z. B. Trichomo- zieren. Gegenüber Staphylococcus aureus, Escherichia coli
nas vaginalis, Entamoeba histolytica, Giardia lamblia, Balan- und Pseudomonas aeruginosa ist die Wirkung mangelhaft.
tidum coli) und wirkt darüber hinaus rasch bakterizid gegen Für die Behandlung offener Wunden, für Körperhöhlenspü-
anaerobe Bakterien, wie z. B. Bacteroides fragilis, Fusobakte- lungen, zur Mund- oder Vaginalspülung sowie zur Händedes-
riumarten, anaerobe grampositive und gramnegative Kokken infektion ist Polyvidon-Iod ungeeignet. Im Frühgeborenen-,
und Clostridien. Metronidazol weist ein hohes Verteilungsvo- Neugeborenen- und Säuglingsalter sowie bei Schilddrüsen-
lumen auf (ca. 80% des Körpergewichts). Wegen seiner guten kranken ist es kontraindiziert.
Penetrationseigenschaften ist seine klinische Anwendung bei Chlorhexidin44 ist ebenfalls ein gut verträgliches Haut-
Gehirnabszessen, Anaerobier-Meningitis, intraabdominalen antiseptikum, das 0,1- bis 0,5%-ig angewendet werden kann.
Abszessen, Peritonitiden und gynäkologischen Infektionen Es ist für Händedesinfektion, Vaginalspülungen und Kathe-
(unspezifische Vaginitis) sowie Anaerobier-Infektionen des terpflege besonders gut geeignet. Hospitalkeime können resis-
Knochens und der Gelenke von Bedeutung. Metronidazol tent sein. Es können Kontaktdermatitiden sowie Photosensi-
kann zur Behandlung der pseudomembranösen Kolitis durch bilität auftreten. Lebensbedrohliche anaphylaktische Reak-
Clostridium difficile eingesetzt werden (anwendung i. d. R. tionen durch Chlorhexidin sind beschrieben worden.
oral). Taurolidin45 bzw. sein Abbauprodukt wirkt gegen aerobe
und anaerobe Bakterien und ihre Sporen sowie gegen Endo-
Unerwünschte Wirkungen. Unerwünschte Wirkungen von und Exotoxine. Die klinische Wirksamkeit ist umstritten.
Metronidazol sind gastrointestinale Störungen, wie Bauch- Der Wirkungsbereich von Bacitracin46 umfasst gram-
schmerzen, Übelkeit, Erbrechen, sowie Reaktionen des Ner- positive Bakterien und Kokken sowie gramnegative Kokken.
vensystems (z. B. Schwindel, Krampfanfälle, Parästhesien) Wegen seiner ausgesprochenen Nephrotoxizität kann Bacitra-
und in Einzelfällen Pankreatitis. Wegen der Entwicklung einer cin nur lokal appliziert werden. Bei oraler Gabe ist keine Re-
Leuko- und Granulozytopenie sind regelmäßige Blutbild- sorption zu erwarten.
kontrollen empfohlen. Selten werden anaphylaktische Reak- Das Aminoglykosid Neomycin wirkt gegen grampositive
tionen, pseudomembranöse Enterokolitis, Leberfunktions- und gramnegative Bakterien. Es wird gelegentlich noch vor
störungen, Dysurie, Zystitis oder Candida-Superinfektionen Darmoperationen oder bei Leberkoma oral zur Keimzahl-
beschrieben. Bei gleichzeitigem Alkoholgenuss kann es zum reduktion verabreicht (nur geringe Resorption). Risiken be-
sog. »Antabus-Syndrom« kommen. Im Tierexperiment wur- stehen durch die mangelnde Wirksamkeit und Toxizität der
den mutagene und karzinogene Wirkungen beobachtet. Be- Substanz durch unerwartet hohe Resorption, z. B. bei beste-
obachtungen beim Menschen gaben bisher keinen Anhalt auf henden Schädigungen der Darmschleimhaut.
ein derartiges Risiko. Es wird aber empfohlen, die Behand-
lungsdauer auf maximal 10 Tage zu begrenzen. 42 Clont®, Metronidazol-rationpharm®
43 Betaisodona®, PVP-Jod-rationpharm®
Chloramphenicol 44 Chlorhexamed®, Chlorhexidinpuder
Chloramphenicol wirkt bakteriostatisch auf grampositive und 45 Taurolin®
gramnegative Bakterien und erfasst auch Rickettsien, Spiro- 46 Nebacetin®
138 Kapitel 10 · Therapie mit Antibiotika und Chemotherapeutika (Infektionen)
Hämatogene Staphylococcus aureus Aminopenicillin/BLI oder Cephalosporin 1–4 Wochen i.v., gefolgt
Osteomyelitis Streptokokken Gruppe 2 + Clindamycin oder Fluorchino- von 2–6 Wochen oral;
lon Gruppe 2 oder Gruppe 3 jeweils + insgesamt mindestens 8 Wochen
Clindamycin oder Fluorchinolon Gruppe 4
Peritonitis. Die Peritonitis ist meist eine Komplikation der Akute Prostatitis/Prostataabszess. Typische Erreger sind
Perforation von intraabdominalen Hohlorganen, iatrogen Escherichia coli, andere Enterobakterien, Pseudomonaden,
oder traumatisch. Diese sekundäre Peritonitis ist zu 80% die Enterokokken sowie Staphylokokken. Die Initialtherapie be-
häufigste Form; es ist fast immer eine Operation notwendig steht in einem Fluorchinolon Gruppe 2/3; alternativ ein Cepha-
zum Anlegen einer Drainage und zur Beseitigung der Ursa- losporin Gruppe 3/4. Die Therapiedauer beträgt 2–4 Wochen.
che. Meist handelt es sich um eine Mischinfektion. Typische
Erreger sind Enterobacteriaceae, Enterokokken sowie Anae- Genitalinfektionen
robier, seltener Staphylokokken. Lues. Typischer Erreger ist Treponema pallidum. Mittel der
Von der PEG wird als Initialtherapie ein Cephalosporin Wahl ist Benzylpenicillin parenteral. Alternative Mittel sind
Gruppe 3 + Metronidazol für 3–5 Tage, in Abhängigkeit vom Doxycyclin oder ein Makrolid. Die Therapiedauer beträgt
klinischen und bakteriologischen Befund empfohlen. Alter- etwa 14 Tage.
nativ kommt ein Carbapenem Gruppe 1 oder Piperacillin/
Tazobactam42 oder ein Cephalosporin Gruppe 4 + Metroni- Gonorrhö. Typische Erreger sind Gonokokken. Mittel der
dazol in Betracht. Wahl sind Cefixim oder ein Cephalosporin Gruppe 2/3 pa-
renteral. Alternativen sind Doxycyclin und Ciprofloxacin. Die
Harnwegsinfektionen Therapiedauer beträgt i. d. R. 10–14 Tage.
Zystitis. Typische Erreger sind Escherichia coli 75–85%, Pro-
teus mirabilis 10–15%, Staphylokokken 5–15%. Andere Er-
reger z. B. Enterokokken sind seltener. Mittel der Wahl sind 48 Tazobac®
142 Kapitel 10 · Therapie mit Antibiotika und Chemotherapeutika (Infektionen)
Unspezifische Urethritis. Typische Erreger sind Chlamydia balpunktion, spätestens aber in den ersten 30 Minuten nach
trachomatis. Mittel der Wahl ist Doxycyclin. Alternativ kommt Eintreffen des Patienten in der Klinik.
ein Makrolid in Betracht. Die Therapiedauer beträgt etwa
> Frühtherapie der Meningitis!
14 Tage.
Bei unbekanntem Erreger wird kalkuliert unter Berücksich-
Gynäkologische Infektionen tigung des Alters des Patienten, der prädisponierenden Fak-
Kolpitis. Typische Erreger sind Candida albicans, Staphylo- toren und der damit wahrscheinlichsten Bakterien behandelt.
kokken, Streptokokken und Escherichia coli. Mittel der Wahl Bei eitrigem Liquor gibt man initial sofort 2 g Ceftriaxon i.v.
sind Clotrimazol, Aminopenicillin, Clindamycin, Metronida- als Kurzinfusion. Vorher muss Liquor zur mikrobiologischen
zol. Alternative Mittel sind Nystatin und Cephalosporin Diagnostik entnommen werden; nach Antibiogramm soll die
Gruppe 2. intravenöse Antibiotikatherapie ggf. entsprechend angepasst
werden.
Endometritis. Typische Erreger sind Streptokokken, Anaero- Die intraventrikuläre Gentamicinapplikation (5–10 mg/
bier sowie Enterobacteriaceae. Mittel der Wahl ist Amino- Tag bei Erwachsenen) bleibt Einzelfällen vorbehalten:
penicillin + β-Lactamase-Inhibitor. Alternative Mittel sind 4 bei einer Meningitis durch gramnegative Stäbchen,
Makrolid + Metronidazol, Ciprofloxacin + Clindamycin oder 4 wenn ein Aminoglykosid-empfindlicher Erreger nachge-
Metronidazol, Levofloxacin + Clindamycin oder Metronida- wiesen ist,
zol. Die Therapiedauer beträgt etwa 10 Tage bis 2 Wochen. 4 eine externe Liquordrainage aufgrund einer Liquorab-
flussstörung bereits gelegt wurde,
Salpingitis. Typische Erreger sind Chlamydia trachomatis, 4 eine Ventrikulitis nachgewiesen ist,
Streptokokken, Anaerobier sowie Enterobakteriaceae. Mittel 4 ein schweres klinisches Bild vorliegt (z. B. komatöser Pa-
der Wahl sind Doxycyclin + Metronidazol. Alternative Mittel tient) oder
sind Aminopenicillin + β-Lactamase-Inhibitor. Die Therapie- 4 keine klinische und mikrobiologische Besserung unter
dauer beträgt 10 Tage bis 2 Wochen. intravenöser Antibiotikatherapie zu erkennen ist.
Peginterferon β-2b58 Immunmodulator Hepatitis C Depression, Husten, s. c.: 1-mal 120 μg/Woche
Hypothyreose,
Leukopenie
49 Rifa®, Eremfat® Bis zum Vorliegen des Antibiogramms wird mit einer em-
50 Myambutol® pirischen 4-fach Therapie begonnen. Als so genannte Stan-
51 Isozid®, tebesium® dardmedikamente gelten Rifampicin49 (RMP), Ethambutol50
52 Pyrafat® (EMB), Isoniazid51 (INH), Pyrazinamid52 (PZA) und Strepto-
53 Zovirax®, Aciclovir AL®
mycin (SM). Die Wahl der einzelnen Kombinationspartner
54 Famvir®
55 Cymeven®
soll grundsätzlich nach der Empfindlichkeit des betreffenden
56 Foscavir®, Triapten® Mykobakterien-Stammes erfolgen. Eine primäre Resistenz
57 Virazole®, Copegus® gegen eines der Antituberkulotika liegt in Deutschland in
58 PegIntron® etwa 5–10% vor. Entscheidend für die Wahl der Kombina-
59 Hepsera® tionspartner sind neben der Wirksamkeit gegen Mycobacte-
60 Tamiflu® rium tuberculosis (INH, RMP, PZA > EMB, SM > übrige),
61 Relenza® bakterizide Eigenschaften bei großen Bakterienmengen (INH
62 Retrovir® > RMP, EMB, SM), sterilisierende Eigenschaften bei lang-
63 Epivir®, Zeffix® samem Wachstum (PZA > INH) oder bei Wachstumsschüben
64 Crixivan®
(RMP > INH) bzw. bei persistierenden Bakterien (RMP >
65 Sustiva®
INH, SM) sowie die intrazelluläre Wirksamkeit (nicht: SM;
schlecht: Rifabutin) und die unerwünschten Wirkungen:
144 Kapitel 10 · Therapie mit Antibiotika und Chemotherapeutika (Infektionen)
Grundsätzlich wird jedes Antituberkulotikum nur einmal am 10.3.1 Behandlung von Herpes-Infektionen
Tag gegeben und nach Körpergewicht dosiert. Als Reserve-
mittel gelten: Rifabutin, Fluorchinolone, Protionamid, Terizi- Herpes-Infektionen haben die Neigung rezidivierend zu Vi-
don, Paraaminosalizylsäure (PAS) u. a. rusaktivierungen zu führen.
In der Initialphase werden 3 oder 4 Präparate für 2 Monate Aciclovir53 ist ein Nukleosidanalogon und Prodrug, das
kombiniert, in den darauf folgenden 4 Monaten (Kontinuitäts- nach Phosphorylierung zum Triphosphat als kompetitiver
phase, Sicherungsphase) werden 2 Präparate kombiniert (Ge- Hemmer der DNA-Polymerase zum Abbruch neu gebildeter
samtdauer der Behandlung 6 Monate). DNA führt. Es hat eine weitgehend selektive Wirkung gegen
Herpes-simplex- (HSV)- und Varizella-Zoster-Viren (VZV).
Unerwünschte Wirkungen. Als unerwünschte Wirkungen Trotz einer oralen Bioverfügbarkeit von nur 20% kann es oral
von Isoniazid treten periphere Polyneuropathien und zentral- angewendet werden, bei schweren Infektionen ist allerdings
nervöse Störungen wie herabgesetzte Merkfähigkeit, seltener die i.v. Behandlung nötig. Aciclovir wird auch lokal bei Her-
Psychosen und Krämpfe auf. Wegen seines Antagonismus zu pesbläschen (z. B. Herpes labiales) angewandt. Die Behand-
Vitamin B6 ist die Zufuhr von Vitamin B6 (40–80 mg/Tag) lung sollte innerhalb der ersten 72 h nach Auftreten der Symp-
insbesondere bei Diabetikern und Alkoholikern notwendig. tomatik beginnen. Die neuralgischen Schmerzen bei Gürtel-
Erhöhungen der Serumtransaminasen nach INH sind nach rose können auch nach erfolgreicher Therapie weiterbestehen.
Absetzen des Medikamentes meist reversibel. Aciclovir ist im Tierversuch bei sehr hohen Dosen teratogen,
Leberfunktionsstörungen und gastrointestinale Beschwer- daher ist die Indikation insbesondere in der Frühschwanger-
den gehören zu den häufigsten unerwünschten Wirkungen schaft sehr streng zu stellen. Bei HSV und VZV in der Schwan-
des Rifampicin (RMP), während neurologische Reaktionen gerschaft sollte die Schwangere zur Vermeidung einer ma-
seltener sind. Bei intermittierender Therapie können Throm- ternofetalen Transmission peripartal systemisch behandelt
bozytopenien und reversible Nierenschädigungen vorkom- werden. Bei Verdacht auf konnatale Infektion muss das Neu-
men. Wegen teratogener Wirkungen (Tierexperiment), darf geborene sofort i.v. mit Aciclovir behandelt werden.
Rifampicin in der Schwangerschaft nicht verwendet werden.
Rifampicin induziert Cytochrom-P450-abhängige Mono- Unerwünschte Wirkungen. Unerwünschte Wirkungen sind
oxygenasen. Gleichzeitig gegebene Arzneimittel, die über u. a. gastrointestinale Beschwerden und Überempfindlich-
diesen Weg eliminiert werden, müssen unter der Therapie mit keitsreaktionen der Haut. Nach intravenöser Gabe kann es
Rifampicin u. U. höher dosiert (z. B. hormonelle Kontrazep- zum Auskristallisieren in der Niere (ausreichende Hydrata-
tiva) oder abgesetzt werden. tion beachten) und in der Folge zur Erhöhung von Kreatinin
Bei Rifabutin (RB), das lipophiler als RMP ist, stehen gas- und Harnstoff im Serum kommen. In hoher Dosierung kön-
trointestinale und hämatotoxische unerwünschte Wirkungen nen Krämpfe, Halluzinationen und Tremor auftreten.
im Vordergrund. Pyrazinamid (PZA) kann bei 2/3 der Patien- Valaciclovir66 hat eine ca. 4-fach bessere orale Bioverfüg-
ten eine reversible Hyperurikämie hervorrufen und die gleich- barkeit als Aciclovir. Famciclovir67 ist eine »Prodrug«, das in
zeitige Gabe von Allopurinol erfordern. Hepatotoxische Reak- Penciclovir umgewandelt wird und die Dauer postherpeti-
tionen sind nicht selten. scher Zosterschmerzen verringern kann. Famciclovir hat eine
Als seltene (0,001–0,3%), aber gravierende Nebenwirkung hohe Virusselektivität und gelegentlich treten Kopfschmerzen,
nach Ethambutol (EMB) sind irreversible Schäden des N. opti- Übelkeit und Verwirrtheit auf. Zu Aciclovir besteht meist
cus beschrieben worden (Verlust des Grünsehens). Die Gefahr Kreuzresistenz.
nimmt bei eingeschränkter Nierenfunktion zu. Bei niereninsuf- f
fizienten Patienten sollte daher vor und während der Therapie
der Visus und das Farbsehen kontrolliert werden. Seltener tre- 10.3.2 Behandlung von Cytomegalievirus-
ten Allergien, Hyperurikämie und gastrointestinale Störungen Infektionen
auf. Nach Streptomycin (SM) sind ototoxische Nebenwirkungen
wegen Anreicherung in der Perilymphe möglich. Daher sollte Ganciclovir55 unterscheidet sich von Aciclovir durch eine
die Vestibularisfunktion regelmäßig überprüft werden. Weitere Hydroxymethyl-G, die aber sowohl das Erregerspektrum als
unerwünschte Wirkungen von Aminoglykosid-Antibiotika auch die unerwünschten Wirkungen deutlich verändert. Die
sind Nierenschäden (siehe Abschnitt 10.1). orale Bioverfügbarkeit beträgt nur ca. 10%, deshalb sollte
Ganciclovir oral nur zur Prophylaxe bzw. zur Erhaltungsthe-
rapie der CMV-Retinitis eingesetzt werden. Alle manifesten
10.3 Behandlung von Virusinfektionen Erkrankungen Immunsupprimierter müssen intravenös be-
mit Chemotherapeutika handelt werden. Von vielen Transplantationszentren wird eine
sog. präventive Therapie bei positiver CMV-Antigenämie
Die Chemotherapie von Viruserkrankungen hat in den ver- durchgeführt. Wegen renaler Elimination muss die Dosis bei
gangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Die enge Bezie- Niereninsuffizienz reduziert werden. Die Konzentration im
hung von Virus und Wirtszelle macht eine wirksame und gut Liquor kann 40–70% der Plasmakonzentration betragen.
verträgliche Therapie, die selektiv die Virusfunktionen
hemmt, sehr schwierig. Die wichtigsten Virustatika und deren 66 Valtrex®
Charakteristika sind in . Tab. 10.5 zusammengefasst. 67 Famvir®
10.3 · Behandlung von Virusinfektionen mit Chemotherapeutika
145 10
An unerwünschten Wirkungen kommen Übelkeit, Erbre- Kombination mit pegyliertem Interferon-α über 6–12 Monate
chen, Verwirrtheit, Krampfanfälle und Nephrotoxizität vor. indiziert. Hier werden in Abhängigkeit des Genotyps An-
Wegen Myelodepression sollte es nicht gemeinsam mit Zidovu- sprechraten von über 50–90% erreicht. Eine sorgfältige Nut-
din verwendet werden. Es kann die Spermatogenese hemmen. zen/Risiko-Abschätzung unter Berücksichtigung des Alters
Foscarnet56 ist kein Nukleosidanalogon. Es hat ein breites des Patienten, des Risikos der Leber-Zirrhoseentstehung und
Spektrum und wird nicht durch die Phosphorylierung durch des möglichen Therapieerfolges ist erforderlich. Es ist auch
Thymidinkinasen aktiviert. Es ist daher auch bei Aciclovir- wirksam gegen Erreger viraler Atemwegserkrankungen (RSV,
und Ganciclovir- resistenten Stämmen wirksam und wird bei Influenza- und Parainfluenzaviren) und gegen einige hämor-
Immunsupprimierten bei CMV und Aciclovir-resistenten rhagische Fieber-Viren. Bei schwerkranken Kindern mit RSV-
HSV-Infektionen eingesetzt. Infektionen wird es inhalativ angewendet. Ribavarin wird
Zu den unerwünschten Wirkungen der renal eliminierten nach oraler Gabe nahezu vollständig resorbiert. Bei systemi-
Substanz gehört vor allem die Nephrotoxizität, die durch In- scher Anwendung kann es zu Hyperurikämie und zu Urat-
fusion von je 500 ml Kochsalz vor und nach der Infusion von nephropathie mit Nephrolithiasis kommen. Es zeigt eine
Foscarnet vermindert werden kann. Die regelmäßige Kontrol- Kanzerogenität und Mutagenität im Tierversuch. Zu den un-
le der Nierenfunktion ist indiziert. Fieber, Schüttelfrost, Exan- erwünschten Wirkungen gehören Kopfschmerzen, Bauch-
theme, Blutbildveränderungen (bei Kombination mit Co-tri- krämpfe, Anämie und Erhöhung des Bilirubins.
moxazol vermehrt Neutropenie und Anämie), Unruhe, Kopf- f
schmerz, Tremor, psychotische Episoden und Ulzerationen
am Penis und an der Vulva sind möglich. 10.3.4 Antiretrovirale (HIV) Therapie
Cidofovir68 ist ein Nukleotidanalogon das bei AIDS-Pa-
tienten mit CMV-Retinitis als Alternative eingesetzt werden Zur Hemmung des AIDS-Erregers HIV sind in den letzten
kann. Eine ausgeprägte Nephrotoxizität mit Kreatininanstieg Jahren eine Reihe von antiretroviralen Substanzen entwickelt
im Serum und Proteinurie ist dosislimitierend und schränkt worden. Ziel der Therapie ist eine vollständige Unterdrückung
die Anwendung ein. Die intravenöse Hydratation mit NaCl der Virusreplikation. Man unterscheidet zwischen nukleosi-
wird zusammen mit hochdosiertem oralem Probenicid durch- dischen Inhibitoren (NRTI) und nicht-nukleosidischen Inhi-
geführt. Daher kann es auch zu Interaktionen mit anderen bitoren (NNRTI) der reversen Transkriptase, Protease Inhibi-
Arzneimitteln kommen. Seltener sind Neutropenien und toren (PI), Korezeptor-Antagonisten, Fusions-Inhibitoren
Übelkeit. Im Tierversuch ist Cidofovir teratogen und kanze- und Integrase-Inhibitoren.
rogen. Daher muss bei behandelten Männern und Frauen eine Die wichtigste Ursache für das Versagen einer Therapie ist
Antikonzeption sichergestellt sein. die Resistenzentwicklung. Je nach verwendetem Pharmakon
führen Resistenzmutationen zu Aminosäurenaustausch in der
reversen Transkriptase oder der HIV-Protease. Da bei Mono-
10.3.3 Behandlung der chronischen therapie eine rasche Resistenzentwicklung beobachtet wird,
Hepatitis B und C ist grundsätzlich eine Kombinationstherapie durchzuführen
(hochaktive antiretrovirale Therapie = HAART). Die PI-ba-
Die Hepatitis B manifestiert sich in den meisten Fällen als sierte Kombination von 2 Nukleosid Analoga (z. B. Zidovudin
akute Hepatitis. Bei Verläufen über 6 Monate spricht man von plus Lamivudin) und 1–2 Protease Inhibitoren (z. B. Indina-
chronischer Hepatitis B. Bei Transaminasen-Erhöhung über vir) ist Standard. Ein NNRTI-basiertes Schema zur Initial-
das 1,5-fache der Normalwerte erfolgt die Therapie mit pegy- therapie sieht 1 NNRTI und 2 NRTI vor. Daneben ist auch
liertem Interferon-α (s. c.) oder mit den Nukleosidanaloga eine »triple NRTI« Kombination möglich. Die wissenschaft-
Lamivudin63, Entecavir69 und Telbivudin70 oder mit dem liche Entwicklung schreitet rasch voran; aktuelle Informa-
Nukleotidanalogon Adefovir. Die Nukleosid- und Nukleotid- tionen sind im Internet erhältlich (http://www.hiv.net, http://
analoga werden täglich verabreicht. Die Erfolgsrate nach www.aidsinfo.nih.gov).
24 Wochen liegt bei pegyliertem Interferon-α bei 30%, bei den
Nukleosid- und Nukleotidanaloga liegt die Erfolgsrate nach Nukleosidische Reverse-Transkriptase-
einem Jahr bei HBe-Antigen-negativen Patienten zwischen Inhibitoren (NRTI)
50 und 90%, bei HBe-Antigen-positiven Patienten zwischen Zidovudin wird bei HIV-Infektion seit 1990 verwendet und
20 und 70%. Die Nukleosid- und Nukleotidanaloga sind im ist nach wie vor ein Standardmedikament. Die Anwendung
Vergleich zu Interferon alpha relativ gut verträglich. von Zidovudin in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft und
Die Nebenwirkungen von Interferon-α sind u. a. Schüttel- postnatal reduziert das Risiko einer HIV-Übertragung auf das
frost, Fieber, Gelenk-, Glieder- und Kopfschmerzen, Alopezie, Neugeborene auf unter 2%, insbesondere, wenn eine Sectio
Knochenmarkschädigung und Depressionen. Die Nukleosid- am noch wehenfreien Uterus erfolgt.
und Nukleotidanaloga können Kopfschmerzen, Übelkeit, Anämien und Neutropenien treten häufig auf. In Kombi-
Müdigkeit, Diarrhö, Asthenie, Husten und einen Anstieg des nation mit Ganciclovir, Pyrimethamin, Dapson und Sulfona-
Serumkreatinins (außer Entecavir), Pankreatitis und Laktata-
zidose verursachen. 68 Vistide®
Ribavarin ist ein Nukleosidanalogon mit einem breiten 69 Baraclude®
Spektrum bei RNA und DNA-Viren. Es ist bei Hepatitis C in 70 SEBIVO®
146 Kapitel 10 · Therapie mit Antibiotika und Chemotherapeutika (Infektionen)
miden kann die Myelosuppression verstärkt sein. Darüber etc.) und Viren (Cytomegalieviren, Herpesviren etc.) häufige
hinaus werden Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Haut- Komplikationen dar. Eine prophylaktische Gabe diverser
reaktionen, Muskelschmerzen, Parästhesien, Erhöhung der Chemotherapeutika (z. B. Co-trimoxazol gegen Toxoplas-
Leberenzyme und Hepatomegalie beobachtet. mose und Pneumocystis jirovecii Pneumonie) ist bei fortge-
schrittener Immunsuppression notwendig, um schwere In-
Pharmakokinetik. Die Bioverfügbarkeit nach oraler Gabe fekte zu verhindern. Dabei unterscheidet man die Primärpro-
beträgt etwa 60–70%. Zidovudin weist eine gute Gewebegän- phylaxe vor dem ersten Auftreten einer Infektion (z. B. bei
gigkeit auf, die Konzentration im Liquor beträgt ca. 50% der CD4+-Zellen unter 200/ìl) und die Sekundärprophylaxe nach
Plasmakonzentration. Mit einer Halbwertzeit von etwa 1 h dem Auftreten einer Infektion.
wird Zidovudin überwiegend als Glucuronid über die Niere
ausgeschieden.
10.3.5 Therapie der Influenza
Nicht-nukleosidische Reverse-Transkriptase- und der Hühnergrippe
Inhibitoren NNRTI
Mit Nevirapin71 und Efavirenz65 stehen Hemmstoffe der re- Die wichtigste Maßnahme gegen Influenza ist die jährliche
versen Transkriptase zur Verfügung, die sich nicht von Nu- Schutzimpfung von Personen mit erhöhtem Infektionsrisiko
kleosiden ableiten. Sie lagern sich nicht an das katalytische (ältere Menschen, Patienten mit chronischen Erkrankungen,
Zentrum der Reversen Transkriptase, sondern an benachbar- Personen mit Publikumsverkehr etc.).
te Stellen an. Die genannten Substanzen weisen gute Aktivität Therapeutische Möglichkeiten eröffnen sich durch die
gegen HIV-1 auf, wirken aber nicht ausreichend gegen HIV-2. Neuraminidase-Inhibitoren. Das Enzym Neuraminidase ist
Ihr Einsatz wird durch das Risiko von Arzneimittel-Interak- ein essenzieller Bestandteil von Influenzaviren. Es erleichtert
tionen limitiert. die Ausbreitung der Viren in den Epithelzellen des Respira-
tionstraktes. Zanamivir und Oseltamivir sind Hemmstoffe
Protease-Inhibitoren dieses viralen Enzyms.
Hemmstoffe der HIV-Protease wie Saquinavir72, Ritonavir73, Zanamivir61 liegt in Pulverform vor und wird mit Hilfe
Indinavir74 und Nelfinavir75 stellen sinnvolle Kombinations- eines speziellen Gerätes (Diskhaler) inhaliert. Oseltamivir
partner für die NRTI und NNRTI dar, weil sie die Virusver- stellt eine »Prodrug« dar, die nach oraler Gabe rasch in den
mehrung über einen anderen Mechanismus hemmen. Die eigentlichen Wirkstoff metabolisiert wird. Die Plasmahalb-
HIV-Protease spaltet mehrere für die Replikation der Viren wertszeit liegt bei 6–8 h.
essenzielle Proteine aus einem Vorläuferprotein heraus. Durch Zanamivir und Oseltamivir60 sind bei Influenza A und B
Hemmung dieses virusspezifischen Enzyms wird der Zusam- wirksam. Bei frühzeitigem Behandlungsbeginn kann der Er-
menbau der Viren in der Zelle unterdrückt. krankungsverlauf um 1–2 Tage verkürzt werden. Bei Patienten
mit relativ milden Verläufen einer Influenza (kein Fieber) ist
Korezeptor-Antagonisten ein therapeutischer Nutzen nicht nachweisbar. Auch bei In-
HIV benötigt für den Eintritt in die Zelle neben dem CD4-Re- fektionen durch andere Viren (»grippaler Infekt«) sind die
zeptor auch Korezeptoren. Die wichtigsten Korezeptoren sind Neuraminidase-Hemmstoffe unwirksam.
CCR-5 und CXCR-4. Die HIV-Viren haben einen Korezeptor- Zanamivir und Oseltamivir werden auch bei Hühnergrip-
tropismus, d. h. sie bevorzugen den einen oder den anderen pe zur Therapie verwendet. Der prophylaktische Einsatz, ins-
Korezeptor. Maraviroc ist ein CCR-5-Antagonist, der das Re- besondere von Oseltamivir, ist wegen der raschen Resistenz-
zeptormolekül räumlich verändert, so dass die Funktion des entwicklung umstritten. Unerwünschte Wirkungen: Die In-
Rezeptors behindert wird. halation von Zanamivir ist i. d. R. gut verträglich. In klinischen
Studien waren keine Unterschiede bzgl. der Nebenwirkungen
Fusions-Inhibitoren zwischen Zanamivir und Placebo zu sehen. Auch Oseltamivir
Enfuvirtide76 ist ein Peptidderivat des Gp41-Transmembran- ist gut verträglich, gelegentlich kommt es zu Übelkeit, Erbre-
proteins. Es verhindert die Fusion von HIV mit der Zielzelle. chen und Diarrhö.
Zur medikamentösen Prophylaxe und frühzeitigen The-
Integrase-Inhibitoren rapie der Influenza A steht seit langem auch orales Amantadin
Raltegravir77 hemmt den Einbau der viralen DNA (nach re- zur Verfügung. Es wird aufgrund unerwünschter zentralner-
verser Transkription von Virus-RNA in DNA = Provirus) in vöser Wirkungen allerdings selten eingesetzt.
die Wirts-DNA im Zellkern (Hemmung des Strangtransfer
des viralen DNA-Präintegrationskomplexes).
Die Häufigkeit invasiver Mykosen hat in den vergangenen Wechselwirkungen. Alle Azol-Antimykotika hemmen Cyto-
Jahren stetig zugenommen, insbesondere bei Patienten mit chrom-P450-abhängige Monooxygenasen und können da-
prädisponierenden Faktoren. durch zu zahlreichen Interaktionen mit anderen hepatisch
eliminierten Substanzen führen. Die Spiegel von Benzodiaze-
Prädisponierende Faktoren für die Entwicklung pinen, Ca2+-Kanal-Blockern, Immunsuppresiva (Ciclospo-
einer systemischen Mykose rin A, Tacrolimus, Sirolimus), HMG-CoA-Reduktase-Hem-
mern, nicht-sedierenden Antihistaminika (z. B. Terfenadin,
4 nach Organtransplantation
Astemizol), oralen Antikoagulanzien, Sulfonylharnstoffen,
4 Lang andauernde und schwere Neutropenie
HIV-Protease-Hemmern, Vinca-Alkaloiden und vielen ande-
4 Graft-vs-Host-Erkrankung
ren Arzneistoffen sind bei gleichzeitiger Gabe erhöht. Vorico-
4 Aufenthalt auf der Intensivstation (Dauer der Intensiv-
nazol und Itraconazol werden selbst ebenfalls durch Cyto-
therapie, Dauer der Beatmung)
chrom-P450-abhängige Monooxygenasen abgebaut. Dadurch
4 Kolonisierung mit Pilzen
können Induktoren von Cytochrom-P450, wie z. B. Rifam-
4 Längere Breitband-Antibiotikatherapie
picin, Rifabutin und Phenytoin, zu einer Verringerung der
4 Parenterale Ernährung
Voriconazol- oder Itraconazol-Spiegel führen.
4 Hochdosierte Kortikosteroidtherapie
4 HIV-Infektion
Fluconazol. Wirkspektrum: Candida spp. (insbesondere
4 Große chirurgische Eingriffe
C. albicans, C. krusei ist intrinsisch resistent), keine Wirksam-
4 Onkologische Patienten
keit gegenüber Aspergillus und Dermatophyten. Applikation:
Intravenös oder oral möglich. Pharmakokinetik: Überwie-
Unter den am häufigsten isolierten nosokomialen Erregern gend renale Elimination, daher Dosierungsanpassung bei
im Blut nehmen Candida spp. die vierte Stelle ein. In einigen Niereninsuffizienz notwendig.
Ländern sind Candida-Stämme unter den Top 3 zu finden.
25–50% dieser nosokomialen Candidainfektionen passieren Itraconazol. Wirkspektrum: Candida spp, Aspergillus spp.
auf der Intensivstation. Candida albicans (Anteil ca. 50%) und Dermatophyten. Applikation: Intravenös und oral (als
stellt weiterhin den häufigsten Erreger dar, allerdings nimmt Kapseln und als Liquid) möglich. Pharmakokinetik: Itracona-
der Anteil isolierter Non-albicans-Candida-Stämme (z. B. zol wird extensiv hepatisch (Cytochrom-P450) metabolisiert,
Candida glabrata, Candida krusei) zu. Neben Candida spp. oral variable Bioverfügbarkeit.
ist Aspergillus spp. die zweithäufigste Erregergruppe in-
vasiver Mykosen. Häufigstes Isolat ist Aspergillus fumigatus Voriconazol. Wirkspektrum: Candida spp., Aspergillus spp.,
(Anteil 80–90%), seltener A. flavus, A. terreus und A. niger. Fusarium und Scedosporum. Applikation: Intravenös und
Ein besonders hohes Risiko für eine invasive Aspergillose ha- oral möglich. Pharmakokinetik: Cytochrom-P450-abhängige
ben Patienten mit hämatologisch-onkologischen Erkran- Metabolisierung.
kungen, insbesondere bei antineoplastischer (zytostatischer)
Therapie und nach Knochenmarktransplantation. Die infek- Posaconazol. Wirkspektrum: Aspergillus spp., Coccidioides
tionsbedingte Letalität invasiver Candidosen und besonders immitis, Fonsecaea pedrosoi und Fusarium spp. Applikat