Jorge Semprún
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS
Wolf Lepenies
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Laudatio
Was für ein schöner Sonntag - heute im Weimar war rückwärts nicht mehr zu se-
Herbst des Jahres 1994, da Jorge Semprún, dem hen... Als Schriftsteller und im schmerzenden
französisch schreibenden spanischen, dem gro- Rückblick hat Jorge Semprún die Erinnerung an
ßen europäischen Schriftsteller, in der Frankfur- Buchenwald wachgehalten; als Europäer hat er
ter Paulskirche, dieser Hoffnungsstätte der frü- uns in der Hoffnung bestärkt, daß trotz Buchen-
hen deutschen Demokratie, der Friedenspreis des wald Weimar sichtbar bleibt. Der schmerzende
Deutschen Buchhandels verliehen wird! Was für Rückblick und die stärkende Hoffnung - wir
ein schöner Sonntag - heute vor fast genau fünf- haben ihm für beides zu danken.
zig Jahren, im Kriegswinter 1944; der Neu- 44 904 - Wer sind Sie, Jorge Semprún, alias
schnee ist weich, die Sonne scheint, und Sie, Camille Salagnac, alias Rafael Artigas, alias
Jorge Semprún, 20 Jahre alt, befinden sich auch Ramón Barreto, Gérard Sorel, Monsieur de
damals in Deutschland, doch frieren Sie in Ihrem Saint-Prix, Agustín Larrea, Federico Sánchez,
blauen Kapuzenmantel, auf dessen linker Seite, Johann Peter Eckermann?
oberhalb des Herzens, schwarz auf weiß, Ihre Jorge Semprún ist Spanier, in Madrid gebo-
Identität sich unvergeßlich einprägt: fünf Zif- ren, der Großvater mütterlicherseits, ein Führer
fern, die Nummer 44 904. Sie sind Häftling im der Konservativen, war Ministerpräsident unter
Konzentrationslager Buchenwald-Weimar. Alfons XIII., ein Onkel, Miguel Maura, wird
»Quel beau dimanche!« so heißt das Buch, zum Mitbegründer der Spanischen Republik, der
in dem Sie daran erinnern, daß der Doppelname Vater, ein Linkskatholik, begrüßt die Volksfront
dieses KZs einem Akt bürokratischer Fürsorge und vertritt die Spanische Republik in Den
entsprang - nur durch die Hinzufügung des Orts- Haag, Jorge Semprún selbst wird 1988 Kultus-
namens Weimar ließ sich gewährleisten, daß den minister in der Regierung von Felipe González.
im Konzentrationslager beschäftigten SS-Män- Es ist eine lange Tradition des politischen Enga-
nern ein angemessenes Quartiergeld ausbezahlt gements, auf die die Familie Semprún stolz sein
werden konnte. Buchenwald lag nicht bei Wei- darf, und noch stolzer darf sie sein auf deren
mar, Weimar war Buchenwald geworden. Unterbrechung im Jahre 1939: Dem Regime
Was für ein schöner Tag, Mittwoch, der 27. Francos hat sie nicht gedient - die Worte aus
September 1826, an dem von Weimar aus Goe- Goethes »Egmont« widerlegend, die Spanier
the in Gesellschaft Eckermanns eine Landpartie seien dazu gemacht, ihr Gewissen stets tyranni-
auf den Ettersberg unternimmt! Hier wird das sieren zu lassen.
KZ entstehen, das für Jorge Semprún der Ort 1936 bricht der Spanische Bürgerkrieg aus;
war, an dem es keine Vögel gab - der Rauch des in Prag hält im gleichen Jahr Edmund Husserl,
Krematoriums hatte sie vertrieben -, doch Goe- der als Jude in Deutschland nicht mehr lehren
the bewundert an dieser Stelle Ammern, Sper- darf, seine Vorträge zur »Krisis der europäischen
linge und zierliche Grasmücken, deren Verhal- Wissenschaften«. Die Nachkriegs- wird zur
tensweisen ihm Eckermann - froh, selbst einmal Vorkriegszeit. 1936 sprachen Sie, unterrichtet
belehren zu dürfen - pedantisch erklärt. »Hier ist von zwei »germanischen Gouvernanten«, bereits
gut sein«, ruft Goethe aus, als man sich zum Deutsch - Sie sollten selbstverständlich zum
Frühstück in freier Natur niedersetzt. »Rechts an Europäer erzogen werden. Als drei Jahre später,
unserer Seite hatten wir Eichen und Buchen und nach tatkräftiger Unterstützung durch die deut-
anderes Laubholz«, schreibt Eckermann, »Wei- schen und die italienischen Faschisten, Franco
mar war rückwärts nicht mehr zu sehen.« triumphierend in Madrid einzieht, da müssen Sie
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Ihr Vaterland verlassen, und Ihre Heimat wird gie wie die Mischung von Dokument und Fik-
Europa, dieser Kriegsschauplatz. In Paris, im tion gehören zu diesen Schutzvorrichtungen, und
Lycee Henri IV, vervollkommnen Sie sich im dazu gehört auch der Gebrauch einer fremden
Französischen, der Sprache, in der Sie später - Sprache, des Französischen, denn Semprúns
mit der Ausnahme Ihrer Autobiographie - Ihre Muttersprache, das Kastilische, so hat er ironisch
Bücher schreiben. In den Wirren des europäi- sich selbst gewarnt, ist ein machtvolles und au-
schen Bürgerkriegs werden Sie zum Europäer, tonomes Idiom, und wer es leicht zu schreiben
doch damit werden Sie auch heimatlos: Bei versteht, verfällt in den Wahn, Gott selbst führe
Kriegsende aus Buchenwald nach Frankreich ihm die Feder.
zurückkehrend, wird Ihnen, der Sie als Mitglied Die spanische Literatur hat in der Gestalt
der Resistance ins KZ deportiert worden waren, des Don Quixote den kühnsten aller Leser her-
die Zigarettenration verweigert, die den Heim- vorgebracht - doch nicht weniger arm ist sie an
kehrern zusteht: Nur Angehörige französischer selbstbewußten Autoren. Jorge Semprún ist ein
Nationalität haben Anspruch darauf... spielerischer und ein selbstbewußter Autor, aber
Mehr als zwei Jahrzehnte verbringen Sie er schreibt nicht autoritär, und fern ist ihm der
damit - es sind Ihre Worte -, kein Überlebender Wahn, für seine Metaphern und für seinen Satz-
zu sein. Kein Verein oder Freundeskreis ehema- bau sei eine höhere Instanz zuständig. Hier
liger Deportierter zählt Sie zu seinen Mitglie- schreibt kein Demiurg, sondern ein Handwerker,
dern. Sie verbergen und Sie verdrängen nichts, und der Leser kann mitverfolgen, wie Literatur
aber Sie weigern sich, die Erinnerung an ein verfertigt wird.
Leben, das Sie in einem Kollektiv von Todge- Bevor Sie zum Autor werden, sind Sie ein
weihten verbrachten, in Gemeinschaft mit an- unermüdlicher Leser, und stets treiben Gedicht-
deren Überlebenden wachzuhalten. Im KZ waren fetzen durch Ihr Gedächtnis - die Verse Baude-
Sie ein Kamerad, dem KZ entronnen, werden Sie laires werden Ihnen zum Trost im Gefängnis,
zum Einzelgänger, zum innerlich Einsamen und und die Gedichte Valérys (den Sie ein bißchen
endlich zum Autor. weniger schätzen) lassen sich immerhin nutzen,
Als ich Sie zum erstenmal traf, im März um rezitierend eine Zeitlang mit dem Hunger
1992, besuchten Sie in Berlin Mario Vargas fertig zu werden. Wie groß Ihr aus eigener Er-
Llosa, der ein Jahr am Wissenschaftskolleg ver- fahrung geborenes Vertrauen in das Hilfsmittel
brachte. Sie waren als spanischer Kultusminister Literatur ist, zeigt sich im Scheherazade-Erleb-
zurückgetreten, und Vargas Llosa schrieb den nis eines Gefangenen in Riga, der die furchtbare
Rückblick auf seine gescheiterte Präsident- Kerkermisere übersteht, weil er die ihm nach
schaftskandidatur in Peru. Heiterkeit prägte das dem Leben trachtenden Mitgefangenen fesselt -
Gespräch über Ihre Mißerfolge. Waren Sie beide durch die Geschichte des Grafen von Monte
an der Politik - oder war die Politik an Ihnen Christo, die er, andere Romane der Weltliteratur
gescheitert? Wie auch immer - der Literatur schamlos plündernd, einfach kein Ende nehmen
waren Sie wiedergeschenkt. Heiterkeit herrschte läßt.
- und dann erzählten Sie von Ihrer Reise nach K. haben Sie, der Kafka-Leser, diesen geris-
Berlin. Sie waren im Auto unterwegs. Zum er- senen Geschichten-Erzähler genannt, und etwas
stenmal nach Kriegsende hatten Sie Buchenwald von einem solchen K., der sich zur Lebenssiche-
wiedergesehen. rung »aller Vorzüge und Tricks des Kolportage-
Sein erstes Buch, »Le grand voyage«, hat romans« bedient, steckt auch in Ihnen. Wenn Sie
Jorge Semprún erst 1963 geschrieben. Er von Literatur sprechen, von Ihrem langen Lese-
brauchte Distanz, um schreiben zu können, und kampf mit Proust, von dem Schweigen Shake-
nie hat er aufgehört, distanziert zu schreiben. Die speares, vom »Don Quixote«, der Utopie des
Techniken der literarischen Moderne, dieser Romans und dem Roman der Utopie, mit dem
Ästhetik der Umwege und Labyrinthe, der Ironie alles beginnt und alles endet - dann reißen Sie
und der Verfremdungen, sind ihm vertraut, aber Ihre Leser mit, und wir glauben Ihnen: Auch
wenn Semprún schreibt, benutzt er keine Tech- Revolutionäre erleben ihre glücklichsten Augen-
nik, hier schreibt ein Autor wie mit einem blicke in der Bibliothek.
Schutzschild, der ihn davor bewahrt, anderen Die Literatur ist für Sie ein Hilfs-, aber sie
und - wer weiß - vielleicht auch sich selbst ganz ist mehr noch, ein Lebensmittel, das dem Lesen-
sichtbar zu werden. Das Spiel mit der Chronolo- den und Schreibenden Kraft gibt, die Zukunft zu
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entwerfen und die Vergangenheit zu ordnen. 1945 Kommunist waren, aufhören sollen, Kom-
Diesem Ziel dient schon Ihr erstes Buch, »Le munist zu sein, als Sie - auch mit Hilfe der Roten
grand voyage«, und alle Ihre Bücher und Filme Armee - 1945 der Vernichtung durch die Nazis
sind eine lange Reise in die Vergangenheit, entgingen? Diese Frage ist bereits eine Antwort,
manches Mal gelingende, oft genug scheiternde, und sie zu stellen ist immer noch aktuell - in
stets schmerzliche Ordnungsrufe an das Leben. unserem vereinten, aber zerrissenen Deutschland
»Unser Leben ist so eitel, daß es nur der zumal, in dem wir nach dem Fall der Mauer
Widerschein unseres Gedächtnisses ist« - so voreilig und in trügerischer Selbstgefälligkeit
haben Sie einmal Chateaubriand zitiert. Aber glaubten, so manchen Lebenslauf der Deutschen
Ihre Erzählungen von ersehnter und erzwunge- in der DDR über Nacht seiner Würde und seiner
ner Erinnerung sind nicht nur der Ausdruck einer Legitimation berauben zu dürfen.
überlebensnotwendigen »Eitelkeit« - sie sind Jorge Semprún ist der unnachgiebigste An-
auch Ihr wirkungsvollstes Mittel der Abrech- kläger seiner selbst. Bitter ist seine Schlußfolge-
nung mit dem Kommunismus. Denn der Kom- rung, daß man, »weil man unter dem Nazismus
munismus ist die Ideologie und die blutige Pra- einige Jahre im Konzentrationslager gesessen
xis der Gedächtnismanipulation: Geschichte hat, [nicht] immun gegen politische Verwirrun-
wird zur höheren Ehre der Partei nicht gedeutet, gen ist«. Wie so viele Intellektuelle glaubte auch
sondern vernichtet, verleugnet, gequält, immer er lange Zeit, es sei besser, mit der Partei zu
wieder umgeschrieben. Der Kommunismus ent- irren, als gegen sie recht zu haben. Selbst wenn
eignet die private Erinnerung, sein Ziel ist die diese Intellektuellen etwas gewußt hätten, hätten
Kollektivierung des Gedächtnisses. Das kom- sie von den Stalinschen Schrecken nichts wissen
munistische Gedächtnis - am schärfsten läßt es wollen. Man sah - und sah weg. Man hörte - und
sich in Ihrer Muttersprache sagen - ist »una schwieg. Man las - und schrie nicht auf.
desmemoria«. Die vielfältigen, souveränen und Josef Frank, ein Mithäftling, wird im Zuge
einfallsreichen Techniken der Rück- und Vor- der Prager Säuberungen gehenkt - unter der Be-
blendungen, die Ihre Bücher und Ihre Drehbü- schuldigung, in Buchenwald für die Gestapo
cher kennzeichnen, entstehen aus einem zutiefst gearbeitet zu haben. Man weiß, daß Frank un-
politischen Motiv: So reagieren Sie auf den von schuldig ist. Aber man schweigt. Und endlich
der Kommunistischen Partei ausgeübten Zwang schreiben Sie, daß auch Sie geschwiegen haben,
zum Verdrängen und zum Vergessen. und versuchen - wie kann man sonst leben -, sich
Sich erinnernd, rechnen Sie mit dem Kom- selbst zu verstehen, ohne sich zu verzeihen. Die
munismus ab, und also mit sich selbst. »unschuldige Erinnerung« an Buchenwald, der
Denn so außerordentlich uns Ihr Leben und Glaube, dem Lager der Gerechten angehört zu
Ihr Werk auch erscheinen, in einer Hinsicht sind haben, läßt Sie den vielleicht traurigsten Satz
Sie ein normaler europäischer Intellektueller Ihres ganzen Werkes schreiben: »Die Ideen, für
dieses 20. Jahrhunderts: als Opfer einer totalitä- die ich zu kämpfen glaubte, [dienten] zur glei-
ren Ideologie schwören Sie nicht sofort dem chen Zeit dazu, die radikalste Ungerechtigkeit,
Totalitarismus ab, sondern suchen Ihr Heil in der das vollkommenste Übel zu rechtfertigen: das
Gegentotalität, in der Heilslehre des Kommu- Lager der Gerechten hatte die Lager [Stalins]
nismus. Sie waren zur Zeit Stalins Kommunist, geschaffen...«
also Stalinist, Sie haben das obligate Trauerge- Sich erinnernd, werden Sie zum Ankläger
dicht auf den Tod Stalins und Sie haben einen aller Totalitarismen. Von einem Schwarzweiß-
Cantus auf die Pasionaria des Spanischen Bür- Denken geheilt, das auf der einen Seite nur das
gerkriegs, auf Dolores Ibarruri, geschrieben - Gute, auf der anderen nur das Schlechte wahr-
aber Sie besaßen schon als Kommunist Ge- nimmt und wahrnehmen will, nennen Sie hinfort
schmack genug, nicht jedes Ihrer Gedichte auch die Übel beim Namen - wo immer sie sich zei-
zu veröffentlichen. gen: »Durch Zwangsarbeit arbeiten zu lassen
Ihre Familie gehörte zu den Stützen der und zu bessern, umzuerziehen, findet man darin
Spanischen Republik. Franco trieb Sie ins Exil. nicht die tiefe Identität zwischen den beiden
Der Faschismus machte Sie heimatlos. Sie wur- Systemen [des Nationalsozialismus und des Sta-
den Mitglied der Kommunistischen Partei. Sie linismus], was auch immer die historisch oder
kämpften in der Resistance. Sie wurden ins KZ sogar die geographisch bedingten Unterschiede
deportiert. Warum hätten Sie, der Sie schon vor sein mögen?« Sie haben diesen Satz 1980 und
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auf Französisch geschrieben, doch Sie kennen begrüßen Sie daher die Mosel - das Unverständ-
unser Land gut genug, um zu wissen, wie ge- nis Ihrer gequälten Mitgefangenen noch stei-
fährlich es ist, einen solchen Satz in Deutschland gernd. Um so mehr, als der Aufenthalt des Zuges
zu zitieren. Nicht weit von der Paulskirche findet von den deutschen Passanten nicht unbemerkt
heutzutage ein kaum getarnter Antisemit ver- bleibt:
ständnisvolle Richter, wenn er nur aus Überzeu- »Auf dem Bahnsteig stehen Leute, und jetzt
gung hetzt und sich ansonsten nichts hat zu- merken sie, daß wir kein gewöhnlicher Zug sind.
schulden kommen lassen, und ehrenwerte Histo- Sie müssen gesehen haben, daß sich hinter den
riker, um nichts als die Geistesfreiheit besorgt, vergitterten Löchern Gestalten bewegen. Sie
rekonstruieren die Höhe der Flammen, die aus reden miteinander, zeigen mit den Fingern auf
den Krematorien schlugen, und rechnen kalt die den Zug und gebärden sich ganz aufgeregt. Ge-
Zahl der KZ-Opfer herab. nau unserem Wagen gegenüber steht ein etwa
Sie schreiben gefährliche Sätze, aber es ist zehnjähriger Junge mit seinen Eltern. Er horcht,
unser Problem, daß diese Sätze so gefährlich was sie sagen, schaut zu uns herüber und nickt
sind. Sie erhalten den Friedenspreis des Deut- mit dem Kopf. Dann rennt er davon. Und kommt
schen Buchhandels für Ihr Lebenswerk, und Ihr mit einem großen Stein in der Hand wieder an-
Leben und Werk geben jedem Satz, den Sie ge- gelaufen. Und nähert sich uns und schleudert mit
schrieben haben, Gewicht. Auf Sie, auf Ihre aller Kraft den Stein gegen die Öffnung, neben
Absage an alle Totalitarismen, auf Ihren Ab- der wir stehen. Blitzschnell werfen wir uns zu-
scheu vor der »westliche[n] Taubheit den östli- rück, der Stein prallt vom Stacheldraht ab, um
chen Realitäten gegenüber« kann sich nicht be- ein Haar hätte er den Jungen aus Semur ins Ge-
rufen, wer die Zahl der von den mörderischen sicht getroffen. >Undjetzt<, sagt dieser, >kennst
Ideologien unseres Jahrhunderts Geopferten du die Boches immer noch nicht?<
gegeneinander aufrechnet. Wer Sie liest, kann Ich antworte nicht. Eine ganz verflixte
Sie nicht mißverstehen. Hätten Sie den Frieden- Schweinerei, denke ich, daß das ausgerechnet in
spreis nicht längst erhalten müssen? Aber bei Trier passieren mußte. Dabei gäbe es so viele
diesem Preis zählt, mehr vielleicht als bei jeder andere deutsche Städte auf unserem Weg.«
anderen Auszeichnung, nicht, ob man ihn früh Deutschland ist ein zweideutiges Land. Sie
oder spät, sondern ob man ihn rechtzeitig erhält. haben seine Zweideutigkeit erfahren. An jenem
Für uns Deutsche erhalten Sie, Jorge Semprún, schönen Sonntag im Winter 1944 erfüllt Sie ein
den Friedenspreis genau zur rechten Zeit. tiefes Glücksgefühl, als Sie einen Baum auf dem
Sie erhalten einen deutschen Preis. An KZ-Gelände von Buchenwald betrachten. So
Deutschland haben Sie gelitten, und vieles an erregen Sie den Verdacht der SS-Wachmann-
unserem Land haben Sie geliebt. Tun Sie es schaften und müssen einem Hauptsturmführer
nicht heute noch? Auf der Fahrt aus dem besetz- den Grund ihrer unangemessenen Heiterkeit
ten Frankreich ins Konzentrationslager Buchen- erklären. Für die Behauptung, Sie hätten eine
wald hält der Zug abends auf einem deutschen Buche aus der Nähe ansehen wollen, findet die
Bahnhof. Im fahlen Licht, das den alliierten Nr. 44 904 wohlwollendes Verständnis, die Nr.
Bombern kein Ziel bieten soll, und über die 44 904 kennt Goethe und spricht seine Sprache,
Köpfe der zusammengepferchten Deportierten außerdem gibt es, was den Deutschen stets ge-
hinweg entziffern Sie mühsam den Namen der fällt, wieder einen Grund zur Belehrung: Der
Station: Trier. Ihre Freude könnte kaum größer Goethe-Baum, der Baum, in den Goethe seine
sein, als wenn Sie sich auf einem Ferienausflug Initialen geritzt hat, steht ganz woanders, als 44
befänden, und nur mit Mühe können Sie einem 904 ihn vermutet, nämlich mitten im Lager, auf
Kameraden, einem Jungen aus Semur, der bei dem Vorplatz zwischen den KZ-Küchen und der
der Ankunft in Buchenwald schon tot sein wird, Effektenkammer. Aus kulturellem Verantwor-
klarmachen, was sie so freudig erregt. Trier, das tungsbewußtsein und Pietät hat die SS ihn ste-
ist die Stadt von Karl Marx, und die frühen, in henlassen, als der Ettersberg gerodet wurde.
ihrer peitschenden Polemik und in ihrer mitfüh- Entscheidend aber: Es ist gar keine Buche, es ist
lenden Gerechtigkeit so mitreißenden Artikel eine Eiche.
von Marx gegen das Holzdiebstahlsgesetz und Aber wer hat nun recht? Im September 1827
zur Lage der Winzer an der Mosel kommen Ih- führt Goethe Eckermann beim Ausflug auf den
nen in den Sinn, und wie eine Jugendfreundin Ettersberg auch an den Baum, in den 50 Jahre
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zuvor er - und Schiller! - ihre Initialen geschnit- hatten mich zutiefst gerührt!«
ten hatten: »Sie sehen«, sagt er zu Eckermann, So führen Goethe und der Gefangene 44
»er ist noch in der vollesten Pracht! - Auch un- 904 im KZ Buchenwald ein Gespräch über
sere Namen sind noch zu spüren, doch so ver- Bäume, das zu einer ebenso bitteren wie trauri-
quollen und verwachsen, daß sie kaum noch gen Abrechnung mit der deutschen Kultur wird,
herauszubringen.« Es ist eine Buche. Sollte die dem Verbrechen nicht widerstand. Und doch
Goethe sich geirrt haben? Auch im Hinblick auf endet diese Abrechnung mit einem Hoffnungs-
Fauna und Flora liegen Buchenwald und Wei- ruf: »Wer weiß«, sagt der unsterbliche Goethe
mar in einer zweideutigen Gegend. Denn 1805 mitten im KZ Buchenwald, auf dem fast kahlge-
schreibt Goethe, im Ettersberg bei Weimar sei rodeten Ettersberg, »vielleicht werden alle diese
ein zweideutiger Baum, »eine Buche gefunden unglücklichen Individuen, dieses Gemisch aus
[worden], welche sich in Gestalt und sonstigen den verschiedensten Nationen, das hier entsteht,
Eigenschaften offenbar der Eiche nähere«. Der dazu beitragen, eine gemeinsame europäische
zweideutige Baum führt beide zusammen: den Seele zu schmieden?«
Hauptsturmführer und Goethe. Da klingt in den Worten, die Ihr Goethe
In »Quel beau dimanche!« taucht auf einmal sagt, der Schluß des »Zauberbergs« an, in dem
Goethe auf, der Leon Blum besuchen will, den Hans Castorp - »Ich schnitt in seine Rinde / So
Goethe-Kenner und Ministerpräsidenten der manches liebe Wort« als Abschiedsweise vor
Französischen Volksfront, der in der Nähe von sich hersingend - in das Feuer des Ersten Welt-
Buchenwald interniert worden ist. Dem unsterb- kriegs stürzt: »Wird auch aus diesem Weltfest
lichen Goethe werden Sie zum Eckermann, und des Todes, auch aus der schlimmen Fieber-
schöner Sonntag und schöner Mittwoch, 1944 brunst, die rings den regnerischen Abendhimmel
und 1827, verschmelzen zu einem Selbstbild entzündet, einmal die Liebe steigen?«
deutscher Kultur: Neun Jahre nachdem Thomas Mann so ge-
»Wußten Sie«, sagt Goethe zu Eckermann, fragt hatte, gab Hitler die Antwort. Fünfzig Jahre
alias 44 904, »wußten Sie, daß der Baum, in nach Ihrem schönen Sonntag des Jahres 1944
dessen Schatten wir gerne rasteten, im Inneren dürfen wir mit Ihnen, Jorge Semprún, eine Hoff-
der Lagerumzäunung stehengeblieben ist? Wie- nung teilen - die unbeirrbare Hoffnung auf Eu-
der eine typisch deutsche Geste, die ich sehr zu ropa, die aus Ihrem ganzen Werk spricht.
schätzen weiß! Trotz der schrecklichen Notwen- Was für ein schöner Sonntag, jener 13. Ok-
digkeiten des Krieges ist dieser Baum - den die tober 1991, da György Konrád den Friedenspreis
Offiziere und Soldaten dieser Garnison weiterhin des Deutschen Buchhandels erhielt! Sie standen
>Goethe-Baum< nennen, was sicherlich dazu an diesem Platz, denn Sie hielten die Laudatio
beiträgt, die Stimmung dieser elenden Einge- auf einen Freund und einen großen ungarischen
sperrten aus verschiedenen Gründen zu heben - Europäer, und Sie gaben jedem Ihrer Nachfolger
nicht gefällt worden. Er ragte noch bis vor eini- einen unschätzbaren Rat: »Es gibt keine bessere
gen Monaten, stolz und majestätisch, irgendwo Laudatio als eine solche, die man mit den Wor-
zwischen den Küchengebäuden und der Effek- ten des Geehrten selbst hält.«
tenkammer empor. Ja, ich weiß diese Achtung Ihren Rat befolgend, zitiere ich Sie noch
vor den Erinnerungen an unsere Geschichte zu einmal: »Die Paulskirche ist ein adäquater Ort,
schätzen. Bereits 1937, als die Errichtung dieses um von einem demokratisch vereinigten
Umerziehungslagers in Angriff genommen wor- Deutschland zu sprechen, das in einem demo-
den war, hatte mich der Protest des nationalso- kratisch expandierenden Europa verankert ist. In
zialistischen Kulturbundes von Weimar zutiefst gewisser Weise kann das, was hier 1848 eher
gerührt, der verlangte, daß das Lager nicht den verworren und widersprüchlich seinen Anfang
Namen KZ Ettersberg tragen solle, weil besagter nahm, heute zu sagen wagen, daß es einen Mo-
Ort mit meinem Leben und meinem Werk unver- ment historischer Reife erreicht hat.«
gänglich verknüpft sei. Ich kann es Ihnen geste- Mit dem Friedenspreis geehrt, ehren Sie,
hen, Eckermann, dieser Protest und die letztlich Jorge Semprún, uns durch dieses Vertrauen. Was
getroffene Entscheidung für ein schöner Sonntag!
- von höchster Instanz, wie ich aus zuverläs-
siger Quelle weiß
-, diesen Ort KZ Buchenwald zu nennen,
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Jorge Semprún
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Dank
Es war ein Sonntag, in der Tat, ein schöner ablegen zu wollen, wäre mein eigener Tod ge-
Sonntag im März. Graue Wolkenfetzen trieben wesen. Das war die Schlußfolgerung, die sich
sanft in einem Himmel, der den Frühling ankün- mir sehr schnell aufdrängte.
digte. Und der Wind, wie immer, über dem Et- Natürlich weiß ich, daß dies eine ganz per-
tersberg: der Wind der Vergangenheit und der sönliche Erfahrung ist. Andere - Primo Levi zum
Ewigkeit über Goethes Hügel. Aber es war März Beispiel: und er ist ein großartiges Beispiel, sein
1992, und der Rauch des Krematoriums von Werk ist unglaublich reich, reich an Wahrhaftig-
Buchenwald stieg nicht mehr in jenen fahlen keit und luzidem Mitleid - andere also konnten
Himmel, über jene Waldlandschaft mit Buchen nur mittels des Aufschreibens zum Leben zu-
und Eichen. rückfinden. Mich hingegen stieß jede geschrie-
Die Vögel waren zurückgekehrt. Das be- bene Seite, die ich mir mit Gewalt entreißen
merkte ich als erstes, als ich in den leeren und mußte, hinein in eine unheilvolle und todbrin-
dramatischen Raum schritt, den Appellplatz. gende Erinnerung, sie raubte mir den Atem mit
Nachtigallen und Amseln, alle Singvögel waren den Ängsten jener Vergangenheit.
mit ihrem verworrenen Tirilieren, Trällern und Ich mußte zwischen Schreiben und Leben
Zwitschern auf die jahrhundertealten Bäume in wählen und entschied mich für das Leben. Aber
Goethes Wald zurückgekehrt, aus dem sie Jahr- indem ich mich dafür entschied, mußte ich das
zehnte zuvor von dem ekelerregenden Rauch des Lebensprojekt, Schriftsteller zu werden, aufge-
Krematoriums vertrieben worden waren. ben - ein Vorhaben, das mich sozusagen seit der
Eine bunte Vogelschar empfing mich an je- Kindheit begleitet und mein eigentliches Selbst
nem Sonntag im März 1992, dem Tag meiner ausgemacht hatte. Ich mußte mich dafür ent-
ersten Rückkehr nach Buchenwald. scheiden, ein anderer zu sein, nicht ich selbst zu
Wenige Wochen zuvor hatte mich Peter sein, damit ich irgend jemand, irgend etwas sein
Merseburger aus Berlin angerufen. Er bereitete könne. Denn es war natürlich unvorstellbar, daß
eine Fernsehsendung überWeimar vor, die Kul- ich überhauptetwas schreiben könnte, nachdem
turstadt und Stadt des Konzentrationslagers, und ich den Versuch aufgegeben hatte, literarisch
er schlug mir vor, einer der befragten Zeugen zu über die Erfahrung in Buchenwald Rechenschaft
sein. Ich lehnte den Vorschlag, fast ohne nach- abzulegen.
zudenken, sofort ab. Nie hatte ich seit jenem Das erklärt zum Teil meine Entscheidung
Apriltag 1945, als das Lager von den amerikani- für die Politik. Wenn das Schreiben mich in der
schen Soldaten, Pattons dritter Armee, befreit grauenhaften Erinnerung an die Vergangenheit
worden war, zurückkehren wollen. festhielt, so projizierte mich die politische Tätig-
Die Gründe für diese Absage sind katego- keit in die Zukunft. Das zumindest glaubte ich,
risch, sind leicht zu erklären. bis die Zukunft, die die kommunistische Politik
Als erstes lagen sie lange Zeit in meinem zu gestalten vorgab, ihren unheilvollen Charak-
Entschluß begründet, jene todbringende Erfah- ter enthüllte: Das war nur eine Illusion der Zu-
rung zu vergessen, um weiterleben zu können. kunft.
Im Herbst 1945, mit 22 Jahren, fing ich an, jene Der zweite Grund, der es mir unmöglich
Lebenserfahrung literarisch zu verarbeiten: jene gemacht hatte, nach Weimar zurückzukehren,
Erinnerung an den Tod. Aber es war mir un- war ein ganz anderer. Seitdem ich meine Bücher
möglich. Man verstehe mich: Es war nicht un- über die Erfahrung in Buchenwald publiziert
möglich zu schreiben - es wäre unmöglich gewe- hatte - besonders seit »Was für ein schöner
sen, das Schreiben zu überleben. Das einzige Sonntag!« -, bekam ich Nachrichten und Infor-
vorhersehbare Ende jenes Abenteuers, Zeugnis mationen über den Fortbestand des Konzentrati-
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onslagers unter dem Regime der sowjetischen gen Gewißheit auf, daß ich den Vorschlag von
Besatzung. Peter Merseburger doch akzeptieren mußte. Die
So erhielt ich, zum Beispiel, einen Roman demokratische Wiedervereinigung Deutschlands
von Peter Pöttgen, »Am Ettersberg«, in dem die hatte die Perspektive zum einen radikal verän-
doppelte Erinnerung an Buchenwald anhand der dert: Meine Vorbehalte von früher waren hinfäl-
Geschichte der Familie Stein erzählt wird: das lig geworden. Zum anderen, das war vielleicht
Konzentrationslager der Nazis und das stalinisti- das wichtigste, würde ich das neue Buch,
sche Arbeitslager. In dem Brief, der das Buch »L'écriture ou la vie« (Schreiben oder leben), an
begleitete, schrieb mir Pöttgen auf französisch: dem ich gerade arbeitete, nicht beenden können,
»Im Winter 1944 lag der Schnee über den Bu- wenn ich die Reise nach Buchenwald nicht noch
chen und Baracken, und ich, ein mittelmäßiger einmal machen würde.
vierzehnjähriger Schüler, besuchte ein Gymna- Ich hatte einige Bücher ausgewählt, die
sium in Weimar. Ich hörte dem Lehrer kaum zu, mich auf dieser Reise zurück begleiten sollten.
der uns einen Goethevers erläuterte...« Ich wußte, daß ich nicht die Zeit hatte, sie
Das sind die Gründe, weswegen ich nie den nochmals zu lesen, aber ich brauchte sie an mei-
Wunsch verspürte, nach Weimar-Buchenwald ner Seite. Ich mußte sie durchblättern können,
zurückzukehren. Deshalb sagte ich Peter Merse- sie zur Hand haben können: Sie sollten meine
burger, daß er für seine Fernsehsendung nicht Weggefährten sein. Das erste war eine französi-
mit mir rechnen könne: Ich lehnte sofort ab, sche Übersetzung von Thomas Manns »Lotte in
ohne darüber nachzudenken. Weimar«. Es war nämlich das erste Buch, das
Aber in jener Nacht träumte ich wieder von ich nach meiner Rückkehr aus dem Lager in
Buchenwald. Es war nicht der übliche Traum, Paris gekauft hatte und das damals gerade er-
vielmehr der Alptraum, der mich im Laufe der schienen war. Seitdem zählt es zu meinen Lieb-
langen Jahre der Erinnerung so oft hatte hoch- lingsbüchern. Außerdem wußte ich, daß ich im
schrecken lassen. Ich hörte die nächtliche, hei- Hotel Elephant wohnen würde, einem histori-
sere und gereizte Stimme des SS-Sturmführers, schen Fleck und Schauplatz verschiedener Ro-
der Wache im Kontrollturm hielt, nicht noch mane, angefangen mit diesem von Thomas
einmal in der Lautsprecheranlage. Diese Mann. Und ein Schriftsteller ist immer interes-
Stimme, die in den Nächten, wenn die Jagdbom- siert an Schauplätzen der Literatur.
ber der Alliierten in das eisige Herz Deutsch- Andere Gründe gab es auch, tieferliegende.
lands vorstießen, Fliegeralarm gab und den Be- Genau an diesem Ort, in diesem nach den
fehl erteilte, das Krematorium abzustellen, damit Zerstörungen des Krieges 1949 wiedererbauten
die hohen kupferfarbenen Flammen den anglo- Rund der Paulskirche, in diesem entscheidenden
amerikanischen Piloten nicht zur Orientierung Jahr der deutschen Geschichte, genau hier hielt
dienen könnten. Krematorium, ausmachen! Thomas Mann eine denkwürdige Rede. Er
Zitternd, wie immer, voller Angst, wie im- sprach im Rahmen der Feierlichkeiten des Goe-
mer, fiel ich in jener Nacht in den Traum von thejahres, genauer zum Gedenken des 200. Ge-
Buchenwald. Aber es war doch nicht der übliche burtstages. Und es war das erste Mal, daß sich
Traum. Es war kein Angsttraum. Ich hörte nicht Thomas Mann von deutschem Boden aus nach
die Stimme des wachhabenden SS-Unteroffi- sechzehn Jahren Exil wieder an seine Landsleute
ziers, der den Befehl erteilte, das Krematorium wandte.
abzustellen. Ich hörte eine wunderschöne Frau- Von jener Rede aus dem Jahr 1949 möchte
enstimme. Ich erkannte sie sofort: Es war die ich nur eine Aussage hervorheben, die es mir
Stimme von Zarah Leander. erlauben wird, mein eigenes Thema fortzufüh-
»Schön war die Zeit, da wir uns so ge- ren.
liebt...« Hier, auf dieser historischen Tribüne - und
Ein Liebeslied, denn Zarah Leander sang ich muß gestehen, welches Risiko es für mich
immer Liebeslieder in der Lautsprecheranlage bedeutet und wie wunderbar es ist, nach so vie-
von Buchenwald. Man merkte schon, daß die len hervorragenden Persönlichkeiten heute hier
SS-Unteroffiziere gerne Liebeslieder hörten, vor Ihnen zu stehen -, hier also behauptete Tho-
gerne diese dunkle, wohlklingende Stimme von mas Mann, damals amerikanischer Staatsbürger,
Zarah Leander. daß das eigentliche, unveräußerliche Vaterland
Ich wachte aus diesem Traum mit der ruhi- für ihn die deutsche Sprache sei. Niemals wäre
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ihm der Gedanke gekommen, sagte er, sich auch aber den des Vaterlands, das gebe ich zu.
als Schriftsteller ins Exil zu begeben, in eine Letztendlich ist mein Vaterland nicht die
andere Sprache auszuwandern, sich womöglich Sprache, weder die spanische noch die französi-
die englische als Literatursprache anzueignen. sche: Mein Vaterland ist das Sprachvermögen.
Mit dem Erbe der deutschen Sprache, sagte er, Das heißt, ein Raum sozialer Kommunikation
sei er ins Exil gegangen, in ihr gründe seine und linguistischer Möglichkeiten; es gibt die
wahre Identität, niemals wolle er von ihr lassen, Chance, das Universum darzustellen, es auch zu
diese Tradition verraten, dieses Vaterland ver- ändern, wenngleich dies nur ganz wenig oder am
gessen. Vaterland! Ein schweres Wort, zweifels- Rande geschehen kann, eben durch dieses
ohne, und wir wissen, welch schlechten Ge- Sprachvermögen.
brauch man davon gemacht hat, welche Nun gibt es also in diesem meinem Vater-
Schlechtigkeiten in seinem Namen geschehen land, dem Sprachvermögen, Ideen, emblemati-
sind. Ich benutze es also mit Vorsicht, wohl sche Bilder, emotionale Augenblicke, intellektu-
wissend, daß Vaterländer nur dann Wege zum elle Anklänge, deren Ursprünge spezifisch
Universalismus der demokratischen Vernunft deutsch sind. Ich wage zu behaupten, daß das
sind - was ihre Aufgabe wäre -, wenn sie weder Deutsche - in der Dichtung, im Roman, in der
Vaterlandstümelei noch arrogantes, exklusives philosophischen Reflexion - ein wesentlicher
Verhalten erlauben. Ich werde es also benutzen Bestandteil meines geistigen Vaterlands ist. Das
und nochmals betonen, daß »Vaterland« niemals liegt sicher daran, daß ich immer ein unersättli-
»über allem« stehen kann noch darf. cher und begeisterter Leser in Deutsch gewesen
Nachdem dieser Punkt geklärt ist: Ist die bin und bleiben werde. Sogar den »Quijote«
Sprache also das Vaterland eines Schriftstellers, habe ich zum erstenmal auf Deutsch gelesen! Ich
wie Thomas Mann behauptet hat? Ich kann das werde Ihnen jetzt nicht sagen, um nicht von un-
nicht behaupten. In meinem Fall war die spani- serem Thema abzukommen, wie das vor sich
sche Sprache nicht mein Vaterland im Exil, und gegangen ist, noch wie ich versuchte - ein Nach-
dies sicher aufgrund meiner Biographie, meines eiferer von Borges' Pierre Menard, ohne daß ich
Alters und der besonderen Umstände halber. Sie es damals gewußt hätte -, den »Quijote« neu zu
war in jedem Fall nicht das einzige. schreiben und ihn mit der Arroganz der Jugend
Im Gegensatz zu Thomas Mann habe ich aus der germanischen Fassung ins Spanische zu
mich nie aus meiner spanischen Staatsbürger- übersetzen...
schaft exiliert, wohl aber aus meiner Mutterspra- Eine starke, leidenschaftliche Beziehung
che. Eine Zeitlang dachte ich, daß ich ein neues verbindet mich also mit der deutschen Kultur,
Vaterland gefunden hätte, nachdem ich mir die ich hatte und habe sie, sie hat meinen intellektu-
französische Sprache zu eigen gemacht hatte, in ellen Charakter geprägt. In ihr habe ich die ent-
der ich den Großteil meiner Bücher geschrieben scheidenden Argumente des Kampfes gegen den
habe. Vom Standpunkt der Literatursprache aus Nazismus gefunden. Bei der Lektüre der deut-
gesehen, bin ich also entweder vaterlandslos - da schen Autoren habe ich - wie einer von ihnen,
ich ein leidenschaftlicher Zweisprachler bin oder den ich in meiner Jugend gelesen habe, Karl
weil ich an unheilbarer linguistischer Schizo- Marx, sagen würde - hier habe ich die Waffen
phrenie leide - wie man will -, oder aber ich habe der Kritik gefunden, die es mir dann ermöglich-
zwei Vaterländer. Etwas, was in jeder Hinsicht ten, den Nazismus mittels der Kritik der Waffen
unmöglich ist, wenn man den Gedanken des Va- zu bekämpfen.
terlands ernst nimmt: das heißt für etwas nimmt, 1949 fuhr Thomas Mann, einige Tage,
für das es die Mühe lohnen würde zu sterben. nachdem er hier, in der Paulskirche, seine Rede
Man kann nicht für zwei verschiedene Vaterlän- über Goethe gehalten hatte, nachWeimar weiter,
der sterben, das wäre absurd. um sie dort im Nationaltheater zu wiederholen.
Es stimmt auch, daß mir bei den verschie- Damals, nachdem die Blockade Berlins
denen Gelegenheiten, die ich hatte, das Leben zu durch die Sowjetunion zu Ende gegangen war,
riskieren, niemals der Gedanke an das Vaterland erinnern wir uns, damals nahm die Teilung
gekommen ist. Freiheit, Gerechtigkeit, Solidari- Deutschlands in zwei verschiedene Staaten Ge-
tät mit den Armen und Unterdrückten: Gedanken stalt an. Der Kalte Krieg legte seine Hauptgrenze
dieser Art habe ich wohl im Kopf gehabt, wenn ganz sachlich - tragisch - in das Herz Europas, in
die Stunde kam, das Leben zu riskieren, niemals dieses geteilte und einander feindlich gegen-
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1986 getan, drei Jahre vor dem Fall der Berliner jener Jahre noch heute mit Gewinn lesen, zum
Mauer. Beispiel »Leiden an Deutschland« und »Achtung
Ich möchte Sie bitten, mir zu erlauben, daß Europa«, vor allem aber den Essay »Dieser
ich hier einen kurzen Auszug aus meiner dama- Friede«, eine brillante und fürchterliche
ligen Rede zitiere: »Ich möchte nur wenige Schmähschrift gegen die Politik der Kapitula-
Worte über das Problem der Teilung Deutsch- tion, wie sie die Demokratien praktizierten. Er
lands sagen - wenn es einem Ausländer über- veröffentlichte sie in »Die Zukunft«, der Pariser
haupt gestattet ist, sich darüber zu äußern. Aber Zeitung der deutschen Emigranten, und zwar
Sie müssen es erlauben, auch wenn es Sie verär- nach dem unheilvollen Münchner Abkommen,
gern oder überraschen mag, denn es handelt sich das Hitler das Herzstück des alten Europas aus-
hier um kein internes Anliegen: Dieses steht im lieferte.
Zentrum der Frage Europas, seiner demokrati- Der europäische Antifaschismus - insbeson-
schen Zukunft. Die Wiedervereinigung dere der deutsche in seiner liebenswert pazifisti-
Deutschlands ist in jeder Hinsicht notwendig schen, antinuklearen, ökologischen Version, der
und gleichzeitig undenkbar, wenn sich die histo- in gewisser Weise - und das ist sein positiver
rische Perspektive nicht radikal ändert, das Ver- Aspekt - die Ungeheuerlichkeiten und den Wahn
hältnis der Kräfte zwischen der Demokratie und der nationalen Vergangenheit widerlegt - besag-
dem Totalitarismus. ter Antifaschismus ist nämlich seit den 50er
Die Wiedervereinigung Deutschlands muß Jahren wie einseitig gelähmt. Trotz der Lehren
Ergebnis eines deutlichen Fortschritts der De- des Spanischen Bürgerkriegs, des deutschsowje-
mokratie in Europa sein, in allen Europas, dem tischen Beistandspakts von 1939, trotz der zyni-
westlichen, dem südlichen, dem östlichen. Aber schen Machtpolitik der Sowjetunion im Nach-
vor allem in Mitteleuropa, dem ausschlaggeben- kriegseuropa war das westliche antifaschistische
den Glied, diesem Gebiet, wo jahrhundertelang Denken mehrheitlich, um nicht zu sagen ganz-
das kulturelle - um nicht zu sagen das politische heitlich, wie gelähmt. Es konnte nur einen
- Schicksal der Welt geprägt worden ist. Aspekt der Wirklichkeit berücksichtigen -jenen,
Sicher wird jemand unter Ihnen sein, der der sich auf die evidenten Übel und Ungerech-
sehr erstaunt ist« (das sagte ich 1986, vergessen tigkeiten unserer Massen- und Marktdemokra-
Sie es nicht), »daß ich hier über die deutsche tien bezieht. Hier hat es eine kritische und über-
Wiedervereinigung spreche als Ergebnis der aus notwendige Rolle gespielt. Aber besagtes
Demokratisierung Europas - die einzige Revolu- Denken war nicht imstande, eine globale Theorie
tion, für die es sich zu kämpfen lohnt - und nicht und folglich eine Praxis gegenüber dem Totalita-
als Ergebnis der Fortschritte von Friedensbemü- rismus zu entwickeln, gegenüber seinen beiden
hungen, im Sinne von Entspannung und Ab- spezifischen historischen Erscheinungsformen:
rüstung. Denn die Demokratisierung ist die dem Nazismus und dem Stalinismus. Es war
Wurzel des Friedens, und nicht umgekehrt. Der nicht imstande, sich dem Problem des Fortbe-
Frieden, jedenfalls in seiner perversen Form von stands des sowjetischen Systems bis in die letz-
Beschwichtigung, kann sogar die Wurzel des ten Konsequenzen zu stellen. In diesem Zusam-
Krieges sein.« menhang erlauben Sie mir, daß ich nochmals ein
Ich wiederhole diese Überlegungen von vor wenig die privilegierte Position mißbrauche, die
acht Jahren nicht als Egoist, aus bloßem Ver- ich dieser Tribüne verdanke, auf der zu stehen
gnügen, recht gehabt zu haben, denn es war ich heute die Ehre habe, und an einen anderen
leicht, recht zu haben, man brauchte dafür nur Abschnitt meiner Rede während der Römer-
der antifaschistischen Tradition treu zu bleiben. berggespräche erinnere. Er lautete: »Wenn wir
Thomas Mann, der in den 50er Jahren so unfähig die Probleme der Kulturpolitik in diesem histori-
war, eine kohärente und wirksame intellektuelle schen Augenblick des Schiffbruchs des Marxis-
Strategie gegenüber den Problemen von Frieden mus - als historische Praxis und als Anspruch
und Krieg zu entwickeln, hatte doch in den 30er wissenschaftlicher Wahrheiten - überprüfen;
Jahren angesichts des Expansionsdrangs von wenn wir versuchen, daß bei diesem Schiffbruch
Hitler seine Weitsicht bewiesen. Er hatte erklärt, der absoluten Wahrheit weder die Werte noch
daß der Frieden nicht Ergebnis einer Politik sein die Wahrheiten verlorengehen; wenn wir den
könne, die auf Aussöhnung und Nachgiebigkeit Blick zurückwerfen auf die so reichhaltigen und
beruhe. Man kann seine Artikel und Aufsätze tragischen Erfahrungen der 30er Jahre, um etwas
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