Immer wieder betont Nietzsche, daß seine Schriften nur für Wenige bestimmt
seien, ja daß seine Leser vielleicht noch gar nicht existierten. ( AC, 167) Ist das als
bloße Attitüde zu verstehen, mit der Nietzsche sich von der Masse seiner
Zeitgenossen, dem „Pöbel” absetzt? Diese antipopulistische Haltung war unter
den Intellektuellen seiner Zeit gängig, wie etwa das Zitat Flauberts andeutet:
„Die Masse, die Zahl ist immer idiotisch” .(Michel 1965, 102). Renate Werner
(1978 II, 87f.) meint, daß die elitäre Kunstkritik der literarischen Avantgarde der
späten achtziger und beginnenden neunziger Jahre als „oppositive
Denkmöglichkeit angesichts der damals in Deutschland erstmals in aller Schärfe
zutage tretenden Probleme einer sich etablierenden Industriegesellschaft im
Schwange waren, wobei hinzuzufügen ist, daß es sich durchweg um Spielarten
einer konservativen, gegen den ideell-ideologischen wie sozial-institutionellen
Prozeß einer allmählichen Demokratisierung gerichteten Kultur-Kritik handelt.”
Daß die Avantgarde sich dabei auf Nietzsches Polemik gegen die Massen und die
Demokratie berief, ist nicht verwunderlich, obwohl ihre Kritik der bürgerlichen
Gesellschaft nicht die „Radikalität und Tiefenschärfe” Nietzsches erreichte. (Ebd.,
88)
Nimmt Nietzsche in seinen polemischen antipopulistischen Sentenzen aber
nicht auch scharfsinnig seine Wirkung vorweg? Zumal er ja tatsächlich von
seinen deutschen Zeitgenossen und ihren Nachkommen, die seine Philosophie in
den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen versuchten, mißverstanden wurde,
falls er überhaupt gelesen wurde. 1 Allerdings gab es vor dem Faschismus eine
kritische und extensive Auseinandersetzung mit Nietzsches Werk: Hugo von
Hoffmannsthal, Alfred Döblin, Robert Musil, Thomas und Heinrich Mann, Got-
tfried Benn deuten das Ausmaß dieser Rezeption in der deutschen Literatur an.
1Als Hauptvertreter der Präfaschismus-Theorie sei hier Lukács erwähnt, der Nietzsche in dem
WerkDie Zerstörung der Vernunft selbst zum Begründer des Nihilismus und der décadence erklärt.
Damit unterschlägt er das Ambivalente an Nietzsches décadence-Begriff und setzt ihn in starre
Opposition zu seinem klassizistischen ästhetischen Ideal, das er für den Sozialismus zu retten
versucht. Obwohl Jost Hermand (148) sich von Lukács distanziert, reagiert er doch irritiert auf
marxistische Annäherungen an Nietzsche: „Man kann doch nicht Nietzsche einerseits als
exquisiten Prosakünstler hochjubeln - und ihn andererseits als gewalttätigen Präfaschisten ver-
dammen [...] Und obendrein: Wer kann sich heute noch ästhetisch an Dingen erfreuen, die durch
den Faschismus, die brutalste Terrorherrschaft des 20. Jahrhunderts, total korrumpiert worden
sind?” Hermand (ebd.) meint, daß Nietzsche junge Leser zu „Hochmut, Brutalität, Sexismus,
Massenhaß, Arbeiterverachtung und Antidemokratismus” verführe, und schlägt Brecht als kul-
turelles Erbe vor. Dabei unterschlägt er jedoch sexistische Züge bei Brecht. Für eine ausgezeich-
nete Darstellung der deutschen Nietzsche-Rezeption, siehe Montinari (1979).
1
So sieht z.B. Thomas Mann (1978 I, 183) Nietzsche als Sprachkünstler, der der
deutschen Prosa ganz neue Dimensionen eröffnete: „Er verlieh der deutschen
Prosa eine Sensivität, Kunstleichtigkeit, Schönheit, Schärfe, Musikalität, Akzentu-
iertheit und Leidenschaft - ganz unerhört bis dahin und von unentrinnbarem
Einfluß auf jeden, der nach ihm deutsch zu schreiben sich erkühnte.”
Eine Neubewertung Nietzsches wurde erst durch die historisch-kritische
Gesamtausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari in den späten
sechziger Jahren ermöglicht. Bezeichnenderweise gingen die Impulse dieser
Neubewertung nicht von Deutschland, sondern von Frankreich und Italien aus.
Hängt das damit zusammen, daß die Franzosen und Italiener nicht in demselben
Maße wie die Deutschen von dem Stigma des Faschismus belastet waren, und es
sich daher leisten konnten, Nietzsche unbefangener zu lesen, oder damit, daß die
Deutschen, wie Nietzsche schon behauptete, nicht genau, d.h. philologisch, zu
lesen verstanden? Die philologische Lesart sei ihnen von den Priestern, vor allem
Luther, ausgetrieben worden.
Haben sich die Voraussetzungen, unter denen Nietzsche verstanden werden
kann, also grundlegend verändert, oder hat sich inzwischen eine Gruppe von
Lesern herausgebildet, die den Anforderungen Nietzsches genügt? Er nennt fol-
gende geistige und psychologische Voraussetzungen seines idealen Lesers:
Man muß rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte, um
auch nur meinen Ernst, meine Leidenschaft auszuhalten. Man muß
geübt sein, auf Bergen zu leben - das erbärmliche Zeitgeschwätz von
Politik und Völker-Selbstsucht unter sich zu sehn. Man muß gle-
ichgültig geworden sein, man muß nie fragen, ob die Wahrheit nützt,
ob sie Einem Verhängniss wird… Eine Vorliebe der Stärke für Fragen,
zu denen Niemand heute den Muth hat; der Muth zum Verbotenen;
die Vorherbestimmung zum Labyrinth. Eine Erfahrung aus sieben
Einsamkeiten. Neue Ohren für neue Musik. Neue Augen für das Fern-
ste. Ein neues Gewissen für bisher stumm gebliebene Wahrheiten.
Und der Wille zur Ökonomie grossen Stils: seine Kraft, seine Begeis-
terung beisammen behalten… Die Ehrfurcht vor sich; die Liebe zu
sich; die unbedingte Freiheit gegen sich… (AC, 167)
Dieses Zitat enthält Nietzsches anti-populistisches Programm als Schriftsteller
und „Philosoph" .Er weiß, daß nur ein paar Auserwählte, falls überhaupt jemand,
seinen hohen Anforderungen gewachsen sind. Die Selbstsucht dieser Auser-
wählten, die er zum Gesetz erhebt, unterscheidet sich von der Selbstsucht der
Massen, d.h. der Äußerung ihres politischen Willens, dadurch, daß die Auser-
wählten sich ihr eigenes Gesetz schaffen, dem sie sich dann aber genauso bedin-
gungslos unterwerfen, als wäre es ein despotisches. Darin liegt ihre Einzigar-
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tigkeit, während die Masse sich einem Gesetz unterwirft, das auf einem allge-
meinen Konsensus beruht oder ihnen von oben her aufgezwungen wird. Dieses
demokratische oder despotische Gesetz kann aber nur die Mittelmäßigkeit
garantieren. Es bringt daher den Durchschnittsmenschen hervor. Nietzsche sieht
ein dialektisches Verhältnis zwischen dem allgemeinen und dem individuellen
Gesetz, oder zwischen dem Durchschnittsmenschen und dem Genie (das er auss-
chließlich als „männlich” kennzeichnet, worauf ich noch zurückkommen werde).
Dem liegt ein hierarchisches Konzept von Kultur zugrunde. Die breite Masse der
Mittelmäßigen, zu denen Nietzsche auch die Spezialisten zählt, die nur eine aus-
geprägte Fähigkeit besitzen, ermöglicht die Entfaltung des überdurchschnittlich
Begabten, des Genies. Die Masse bildet also die Grundlage der Kultur-Pyramide.
Zugleich heben die Auserwählten aber das Niveau des Durchschnittsmenschen
an, indem ihr eigenes Gesetz zum allgemeinen Gesetz wird. Dadurch wird das
Gesetz des Einzelnen und der Masse historisch relativiert. Nietzsche schreibt
dem Genie einen ungeheuren Willen zur Macht zu, der ihn von den Zwängen
der Vergangenheit befreien und die Zukunft bestimmen soll. Dieser Wille wird
durch Adjektive wie „hart", „scharf", „hoch” und „kalt” umschrieben. In dieser
Härte gegen sich selbst und die Masse ist aber auch eine ambivalente destruk-
tive-kreative Lust enthalten, die Nietzsche als Seligkeit bezeichnet: „Seligkeit, auf
dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, - härter als Erz, edler
als Erz. Ganz hart allein ist das Edelste.” (GD, 161)
Was Nietzsche somit scheinbar verachtet, ist das Weiche, Nachgiebige, Femi-
nine, Kranke, das er unter die Begriffe der Demokratie und der décadence sub-
sumiert. Zur Décadence gehören alle Symptome der Auflösung einer hierarchis-
chen, aristokratischen Ordnung; d.h. die gesamte Moderne als kulturelles
Phänomen. Nietzsche verwendet den Begriff der décadence seit seiner Lektüre
Paul Bourgets im Winter 1883/84 (Borchmeyer 1989, 85) jedoch nicht mehr im
herkömmlichen abwertenden Sinne. Borchmeyer (1989, 88) zufolge ist die déca-
dence für Nietzsche nun „ein polarisierender Begriff, der alles, was er bezeichnet,
ins Zwielicht rückt, jede eindeutige Wertung ausschließt” (Borchmeyer 1986, 179)
.
Trotzdem lasse sich eine Wertung erkennen, die von Nietzsches jeweiliger Per-
spektive abhänge: „Je nachdem, welchen Aspekt Nietzsche ins Auge faßt, ob er
die Décadence an der Gegenwart mißt, in der sie absolut notwendig ist, an der
‘klassischen’ Vergangenheit, von der aus betrachtet sie ‘Verfall’ ist, oder an der
Zukunft, in der sie durch das wiederaufsteigende Leben aufgehoben wird, wech-
seln die Wertungsvorzeichen” .(Borchmeyer 1989, 93) Die Ansätze des Verfalls
der aristokratischen Werte siedelt Nietzsche bereits in der sokratischen Dialektik
und später im Christentum an. Von hier aus zieht er eine Linie über Kant und
Hegel zur Demokratie und zum aufkommenden Sozialismus seiner Zeit. Er sieht
3
sich selbst als ein décadent, der versucht, über seine Zeit hinauszuweisen und eine
neue Wertehierarchie aufzustellen. Daraus geht seine ambivalente Haltung zur
Gegenwart hervor. Er schreibt:
Und damit ich keinen Zweifel darüber lasse, was ich verachte, wen ich
verachte: der Mensch von heute ist es, der Mensch, mit dem ich ver-
hängnisvoll gleichzeitig bin. Der Mensch von heute - ich ersticke an
seinem unreinen Athem… Gegen das Vergangene bin ich, gleich allen
Erkennenden, von einer grossen Toleranz, das heisst grossmüthigen
Selbstbezwingung: ich gehe durch die Irrenhaus-Welt ganzer
Jahrtausende, heisse sie nun ‘Christentum’, ‘christlicher Glaube’,
‘christliche Kirche’ mit einer düsteren Vorsicht hindurch, - ich hüte
mich, die Menschheit für ihre Geisteskrankheiten verantwortlich zu
machen. Aber mein Gefühl schlägt um, bricht heraus, sobald ich in die
neuere Zeit, in unsre Zeit eintrete. Unsre Zeit ist wissend… Was ehe-
mals bloss krank war, heute ward es unanständig, - es ist unanständig,
heute Christ zu sein. Und hier beginnt mein Ekel. - Ich sehe mich um:
es ist kein Wort von dem mehr übrig geblieben, was ehemals
‘Wahrheit’ hiess, wir halten es nicht einmal mehr aus, wenn ein
Priester das Wort ‘Wahrheit’ in den Mund nimmt. (AC, 209f.)
Nietzsche wirft seinen Zeitgenossen vor, daß ihr ganzes Wissen sie nicht davor
bewahren konnte, auf dieselben Lügen und Vorurteile wie ihre Vorfahren here-
inzufallen. Daher könnten sie sich aber auch der Vergangenheit gegenüber keines
Fortschritts rühmen. Nietzsche bezieht sich wohl vor allem auf die Geisteswis-
senschaften im Zuge der Aufklärung, die die Vernunft zur Grundlage alles Han-
delns machen wollten und dabei die Realität aus dem Auge verloren. „Realität”
bedeutet für Nietzsche aber das, was der Theorie entgeht, nämlich der Körper
und die Triebe. Da die Triebe sich in einem ständigen Fluß befinden, lassen sie
sich nicht auf vereinheitlichende Konzepte wie „Subjekt” oder „Objekt” fixieren.
Diese Opposition scheint Nietzsche völlig zu verwerfen. Er ist sich jedoch
darüber im klaren, daß auch Begriffe wie „Realität", „Körper” und „Triebe”
sprachliche Konstrukte sind und nicht einfach auf das Ding selbst verweisen. Die
„Wahrheit” sprechen wäre demnach der Versuch, das, was der Sprache ständig
entflieht, in den Griff zu bekommen, was im Grunde ein absurdes Verlangen ist.
Dennoch sieht Nietzsche sein höchstes Ziel als „Philosoph” darin, die „Wahrheit”
zu sagen, auch wenn diese „Wahrheit” auf einem Mangel der Sprache (nicht der
„Realität", die er als Überfluß definiert) beruht. Sie ist niemals als Ganzes sicht-
bar, sondern immer nur als Teil, der von der jeweiligen Perspektive des Subjekts
bedingt ist. Nietzsche führt somit Begriffe der Optik in die Philosophie ein, um
ihre Erkenntnisse zu relativieren. Er weist auf die blinden Flecken der Philoso-
4
phie im Zuge der Aufklärung hin (Kant, Hegel, selbst Schopenhauer), d.h. auf
ihre unreflektierten Glaubenssätze. Geht Nietzsche damit hinter die Aufklärung
zurück, oder überwindet er sie? Welche Implikationen haben die jeweiligen Posi-
tionen für Nietzsches Einstellung zum Populismus?
Die erste Position würde zu einer Verherrlichung der aristokratischen oder oli-
garchischen Ordnungen der Vergangenheit führen, z.B. der antiken griechischen
„Demokratie", in der nur die einheimischen, freien Männer der Stadt ihre
Beamten wählen und auf dem Markt politische Entscheidungen fällen durften.
Auswärtige, Frauen und Sklaven waren von dieser Form der Mitbestimmung
ausgeschlossen, obwohl sie durch ihre Arbeit zum Reichtum der Stadt beitrugen.
Das Wahlrecht galt als Privileg der Wenigen, durch Geburt und Stand
gewährleistet, und nicht als grundlegendes Menschenrecht wie es die Ideologie
des bürgerlichen demokratischen Staates will. Nietzsches Auffassung zufolge
liegt jedem System, selbst dem demokratischen, ein Herrschaftsverhältnis zu-
grunde, ob es sich um den Gegensatz von freien Athenern und Sklaven oder von
Bürgern und Arbeitern handelt. Er bejaht diese sozialen Unterschiede als Aus-
druck des Willens zur Macht, obwohl er die antike Form der Demokratie der
modernen bürgerlichen vorzuziehen scheint.i An der bürgerlichen Demokratie
setzt Nietzsche aus, daß sie das Mittelmaß, aber nicht den überdurchschnittlich
Begabten fördert.ii Zwischen Nietzsches Affirmation des Lebens (nicht des Beste-
henden) und seiner Kritik an der Gegenwart öffnet sich ein Widerspruch, der
sich vielleicht durch die Frage „Wie kann der Einzelne sein höchstes Potential er-
reichen?” umschreiben ließe.iii
Die zweite Position, die Überwindung der Aufklärung, enthält ein befreiendes
Moment, weil sie von der Unmöglichkeit ausgeht, für „die Masse” oder „die
Menschheit” zu sprechen. Indem das Subjekt für die „die Masse” oder „die Men-
schheit” spricht, setzt es sich von ihr ab, d.h. es entsteht ein Machtunterschied.
Um sprechen zu können, verurteilt das Subjekt die anderen zum Schweigen.
Damit nimmt es die Position der Autorität ein. Der Diskurs der Aufklärung ver-
wischt die Grenze zwischen dem sprechenden Subjekt und den schweigenden
anderen, indem er sich auf eine außerdiskursive „objektive Wahrheit” beruft. Das
Subjekt, das sich dem Diskurs unterwirft und ihn beherrscht, spricht also nicht
bloß seine Meinung aus, sondern die „objektive Wahrheit” äußert sich unmittel-
bar in ihm. Die Identität des Zeichens und des Bezeichneten wird somit durch
das sprechende Subjekt gewährleistet. Nietzsche entlarvt diese Konstitution des
Subjekts als eine Fiktion, die dem modernen, demokratischen Staat zugrun-
deliegt. Das Bürgertum regiert im Namen der „Menschheit” und legitimiert
somit seine Herrschaft sowohl über das Proletariat als auch über die Wenigen,
die Genies.
5
Für Nietzsche sind der moderne Staat und das Christentum untrennbar
verknüpft (Vgl. Kaufmann 1974, 184). In der bürgerlichen Demokratie sieht er die
Herrschaft der Vielen, der Sklaven, über die Wenigen, die eigentlich einen
Anspruch auf Herrschaft hätten, da sie die überdurchschnittliche Begabung
(sowohl geistig als auch körperlich) dazu besitzen. Nietzsches Begriff der Macht
schließt ein biologistisches Moment ein. Er meint, daß die Sklaven kein hohes
Maß an Kultur hervorbringen könnten, da sie in ihrem Instinkt vom Ressenti-
ment gegen alles Privilegierte geprägt seien. Um jedoch neue Werte setzen zu
können, müsse man im Instinkt aktiv sein, d.h. über einen gesunden Körper und
Verstand verfügen. Die von Natur aus Privilegierten sind also dazu vorherbes-
timmt, zu regieren. Die Zu-Kurz-Gekommenen rächen sich an den Privilegierten,
indem sie das Mittelmaß als einzigen Maßstab gelten lassen. iv Die moderne bürg-
erliche Demokratie bewahrt somit die prästabilisierte Harmonie der Mit-
telmäßigkeit.
Im Christentum sieht Nietzsche das Ressentiment und die Rache der niederen
Stände und der Kranken, Mißratenen zur Moral erhoben. Die Aufwertung der
Nächstenliebe und des Mitleids impliziert die Verneinung der gesunden, selb-
sterhaltenden Instinkte. Mitleiden heißt, die Grenzen zwischen den Starken und
den Schwachen verwischen, den gesunden Körper von dem kranken anstecken
lassen. Dadurch findet eine Schwächung und Verweichlichung des Willens zur
Macht statt, den Nietzsche als Instinkt begreift. Der Christ will nicht die
Krankheit heilen, denn er verachtet den Körper und die Instinkte. Sie gelten ihm
als sündig, dämonisch und müssen durch den Tod gesühnt werden. Erst jenseits
des Todes ist eine Erlösung vom Leiden als Versöhnung zwischen Mensch und
Gott möglich. Nietzsche zufolge ist die christliche Umwertung der aristokratis-
chen Werte Symptom eines kulturellen Wahnsinns, der décadence.
Er unterscheidet zwischen der Praxis des Evangeliums, wie Christus es lebte,
und dem Dogma des Christentums, das erst von Paulus begründet wurde. Der
milde, sanfte Umgang Christi selbst mit seinen Feinden widerspreche der Rache
und dem Ressentiment gegen die Reichen und Mächtigen, das erst von Paulus
zum Dogma erhoben wurde. Nietzsche meint daher, daß Christus eher buddhis-
tisch als christlich gehandelt habe. Das Christentum als Lehre gehe aber erst aus
der Notwendigkeit hervor, den sinnlosen Tod Christi am Kreuz zu inter-
pretieren. Der Tod eines einfachen Verbrechers forderte den Glauben der Apostel
heraus. Wie konnte Gott es zulassen, daß sein Sohn starb? Sie deuteten den Tod
Christi also als einen Opfertod, der alle weiteren Opfer aufwog: Gottes auser-
wählter Sohn starb für die Sünden der gesamten Menschheit. Dieser unver-
ständliche, grausame Akt wird also als Zeichen der Liebe gedeutet. Nietzsche
fällt auf diese Interpretation nicht herein, die mit allen Regeln der Vernunft
6
bricht, sondern behauptet, daß sich Gott durch den Opfertod seines Sohnes selbst
ans Kreuz nageln ließ. Christi Tod markiert somit den Tod Gottes. Dadurch ent-
larvt Nietzsche den nihilistischen Grundzug des Christentums, denn wenn Gott
nicht existiert, warum hofft der Mensch dann noch auf eine Erlösung im Jenseits?
Nietzsche meint, daß Paulus und später die christlichen Priester die gesunden,
aristokratischen Werte auf den Kopf stellen mußten, um dem Tod Christi einen
Sinn zu verleihen. Dafür wählten sie sich als Verbündete die Armen, Kranken,
die Zu-Kurz-Gekommenen. Die Priester stehen an der Spitze des Sklavenaufs-
tands in der Moral und lenken das Ressentiment der Masse. In ihnen sieht Niet -
zsche den Prototyp des décadents. Nietzsche zitiert Paulus (1 Cor. 1, 20ff), den er
den „grössten aller Apostel der Rache” nennt, um diese These zu belegen:
Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Thorheit gemacht? Denn
dieweil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht
erkannte, gefiel es Gott wohl, durch thörichte Predigt selig zu machen
die, so daran glauben. Nicht viel Weise nach dem Fleische, nicht viel
Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen. Sondern was thöricht ist vor
der Welt, das hat Gott erwählet, dass er die Weisen zu Schanden
mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, dass
er zu Schanden mache, was stark ist. Und das Unedle vor der Welt
und das Verachtete hat Gott erwählet, und das da Nichts ist, dass er zu
nichte mache, was etwas ist. Auf dass sich vor ihm kein Fleisch rühme.
(in AC, 223)
Nietzsche argumentiert, daß die philosophische Tradition des Sokratismus der
Instinktverirrung des Christentums zuvorkam, und daß diese beiden Traditionen
sich gegenseitig verstärkten, um den Verfall der aristokratischen Werte zu
beschleunigen. In der sokratischen Dialektik und Ironie sieht er das Mittel der
Schwachen, die Stärkeren zu überlisten, indem sie die Grenzen der Kategorien
verwischen, die den Werten zugrundeliegen. Sie enthält somit den Keim zum
Aufstand gegen die bestehende Ordnung. Sokrates, der seiner Herkunft nach
zum niedersten Volk gehört, markiert eine Wende in der Antike:
Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der Di-
alektik um: was geschieht da eigentlich? Vor Allem wird damit ein
vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik
obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialek-
tischen Manieren ab: sie galten als schlechte Manieren, sie stellten
bloss. Man warnte die Jugend vor ihnen. Auch misstraute man allem
solchen Präsentiren seiner Gründe. (GD, 69)
Nietzsche sieht in der Dialektik die Rache der Schwachen gegen die Starken,
Privilegierten, da sie sie zum Nachweis ihrer Intelligenz zwingt, aber auch eine
7
neue Form des Agon, des Wettstreits, der die Hellenen faszinierte, denn „er
brachte eine Variante in den Ringkampf zwischen jungen Männern und Jünglin-
gen” .(GD, 71) Diese Faszination sei eine erotische.
Nietzsche macht Sokrates nicht für die Degeneration verantwortlich, die bere-
its in Athen reif war. Er meint jedoch, daß die sokratische Formel „Vernunft = Tu-
gend = Glück” diese Notlage nicht bekämpfen konnte.
Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit
schon aus der décadence herauszutreten, dass sie gegen dieselbe den
Krieg machen. Das Heraustreten steht ausserhalb ihrer Kraft: was sie
als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder ein Ausdruck der
décadence — sie verändern deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst
nicht weg. Sokrates war ein Missverständniss; die ganze christliche
Besserungs-Moral, auch die christliche, war ein Missverständniss…
Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben
hell, kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt, im Widerstand gegen In-
stinkte war selbst nur eine Krankheit, eine andre Krankheit — und
durchaus kein Rückweg zur ‘Tugend’, zur ‘Gesundheit’, zum
‘Glück’… Die Instinkte bekämpfen müssen — das ist die Formel für
décadence: so lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt. —
(GD, 72f.)
Nietzsches Verwendung des Begriffspaars „Gesundheit-Krankheit” scheint ein
metaphysischer Begriff der Physiologie zugrundezuliegen. Inwiefern können
geistig-moralische Wertvorstellungen Ursache von Krankheiten sein? Verwech-
selt Nietzsche hier nicht gesellschaftlich-historische Vorgänge mit physiologis-
chen? Nietzsche definiert den Körper jedoch auf eine eigensinnige Weise, weder
rein empiristisch, noch im herkömmlichen metaphysischen Sinne, demzufolge
der Körper sich vom Geist unterscheidet. Vielmehr sieht Nietzsche den Körper
als ein Feld teils sich widersprechender und teils zusammestimmender Reize,
eine Einsicht Freuds über die Konstitution des Ichs vorwegnehmend: „Das alte
Wort ‘Wille’ dient nur dazu, eine Resultante zu bezeichnen, eine Art individu-
eller Reaktion, die nothwendig auf eine Menge theils widersprechender, theils
zusammenstimmender Reize folgt: - der Wille ‘wirkt’ nicht mehr, ‘bewegt’ nicht
mehr ...” (AC, 180) Aus dieser Perspektive stellt der Geist einen Fehlgriff der
Natur dar: „das Bewusstwerden, der ‘Geist’, gilt uns gerade als Symptom einer
relativen Unvollkommenheit des Organismus, als ein Versuchen, Tasten,
Fehlgreifen, als eine Mühsal, bei der unnöthig viel Nervenkraft verbraucht wird,
- wir leugnen, daß irgend Etwas vollkommen gemacht werden kann, so lange es
noch bewusst gemacht wird.” (AC, 181)
8
Somit kann es aber auch nicht als ein moralischer Mangel des Durchschnitts-
menschen verstanden werden, wenn er reaktiv denkt und handelt. Nietzsche
zeigt nur die biologischen, philosophischen und religiösen Prozesse auf, die zur
Situation der décadence führten und eine Möglichkeit, sie zu überwinden. Borch-
meyer (1989, 85) leitet aus Nietzsches Definition des Willens eine Dialektik zwis-
chen Stärke und Schwäche, Fortschritt und décadence ab:
Dem von der Stärke diktierten Darwinschen Selektionsprinzip tritt die
Schwäche als Bedingung der Möglichkeit des Fortschritts gegenüber.
Schwäche verstanden als moralische wie physische Einbuße und Ab-
normität. In ihren semantischen Umkreis gehören ‘Abartung’, ‘Entar-
tung’, ‘Verstümmelung’, ‘Wunde’, ‘Krankheit’, ‘Laster' .Die sittliche
und körperliche Schwäche ist die felix culpa des Fortschritts - freilich
nur, solange das Gemeinwesen als ganzes Kraft genug besitzt, sie zu
verkraften, solange es ihr nicht gelingt, sich zu verabsolutieren und
die Stabilität der allgemeinen Grundsätze außer Kraft zu setzen. Die
schwächere Natur ist die zartere und freiere, das letztere, weil sie sich
nicht dem gesellschaftlichen Konsensus beugt, das erstere, weil durch
die angegriffene Physis, durch das gestörte Gleichgewicht der körper-
lichen und geistigen Kräfte eben diese sich emanzipieren und ‘vere-
deln' .
Als Begleiterscheinungen der Demokratie greift Nietzsche den Feminismus und
den Sozialismus an. Der Vorstoß der Frauen in die ehemals männlichen Bereiche
der Kunst und der Wissenschaft zerstört die reine Kontemplation des Wahren
und Schönen, das die Frauen repräsentieren. Der Künstler oder Philosoph ver-
hüllt die Wahrheit oder Realität mit dem schönen Schleier, um sie von sich zu
distanzieren und damit besser beherrschen zu können. In einem Abschnitt voller
Gedankenstriche und Ellipsen, die Nietzsches Sprachlosigkeit und Empörung an-
gesichts der emanzipierten Frau andeuten, reflektiert er das Verhältnis der Frau
zur Wahrheit:
Ist es nicht vom schlechtesten Geschmacke, wenn das Weib sich
dergestalt anschickt, wissenschaftlich zu werden? Bisher war glück-
licher Weise das Aufklären Männer-Sache, Männer-Gabe - man blieb
damit „unter sich”; und man darf sich zuletzt, bei Allem, was Weiber
über das „Weib” schreiben, ein gutes Misstrauen vorbehalten, ob das
Weib über sich selbst eigentlich Aufklärung will - und wollen kann..…
Wenn ein Weib nicht damit einen neuen Putz für sich sucht - ich denke
doch, das Sich-Putzen gehört zum Ewig-Weiblichen? - nun, so will es
vor sich Furcht erregen: - es will damit vielleicht Herrschaft. Aber es
will nicht Wahrheit! Nichts ist von Anbeginn an dem Weib fremder,
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widriger, feindlicher als Wahrheit, - seine grosse Kunst ist die Lüge,
seine höchste Angelegenheit ist der Schein und die Schönheit. ( JGB,
171)
Wenn sich diese Wahrheit nun aber selbst als Schein, als Lüge entlarvt? Wird die
Opposition von Wahrheit und Schein dann nicht hinfällig? Derrida argumentiert,
daß dies eine Konsequenz des Eintritts der Frau in das männliche Spiel der
Repräsentation sei: „Denn wenn die Frau Wahrheit ist, weiß sie, daß es die
Wahrheit nicht gibt, daß die Wahrheit nicht stattfindet und daß man die Wahrheit
nicht hat. Und sie ist Frau, insofern sie ihrerseits nicht an die Wahrheit glaubt,
also an das, was sie ist, an das, was man glaubt, daß sie sei, das sie also nicht ist.”
(Derrida 1986, 136) Die Teilnahme der Frau am männlichen Diskurs entlarvt die
männliche Kunst und Philosophie als das was sie ist, aber nicht sein will: Arbeit
oder Schauspiel. Die Wissenschaft wird zu einer Anhäufung und Auswertung
von Fakten, von Spezialisten betrieben, die im Dienste aller, des Staates, arbeiten,
während die Kunst zum Schauspiel und die Künstler zu Schauspielern werden,
die vorgeben, zu wissen, wovon sie reden. Als hervorragendstes Beispiel dafür
gilt Nietzsche Wagner.
Nietzsche bejaht die Frau als Nicht-Wahrheit, die die männlichen Repräsenta-
tionen ihrer selbst verlachen würde. Er beneidet sie um ihre Fülle, um ihre
Fähigkeit zu gebären. Sie sei das eigentlich produktive Geschlecht, das der
scheinbaren Produktionen der Männer, der Kunst und Philosophie, nicht
bedürfe. Er bezeichnet die Künstler und Philosophen aber auch als männliche
Mütter. Alison Ainley macht darauf aufmerksam, daß Nietzsche durch die Meta-
pher der Schwangerschaft die Einheit des philosophischen Subjekts subvertiert:
„Hence the singular, full presence which is the lynchpin and promulgator of
phallophilosophy is potentially put into question by the symbolism of preg-
nancy. The suppression of that which is different and diverse in pregnancy - the
laughing, desiring, orgasmic mother - has ensured the continuity of the patrilin-
ear descent, the father’s name, through successive generations, which is a relation
of sameness.” (Ainley 1988, 124f.)
Es scheint so, als ob Nietzsche die Position der Frau einnimmt, während er
den umgekehrten Prozeß bei den Feministinnen kritisiert, nämlich die Identifika-
tion mit der männlichen Rolle. Derrida stellt Nietzsches vermeintliche Frauen-
feindlichkeit so dar:
„Und wirklich sind die Frauenrechtlerinnen, gegen die Nietzsche
seinen Sarkasmus vervielfacht, Männer. Der Feminismus ist das Ver-
fahren, durch das die Frau dem Mann, dem dogmatischen
Philosophen ähneln will, indem sie die Wahrheit, die Wissenschaft,
die Objektivität fordert, das heißt zusammen mit der gesamten
10
männlichen Illusion, auch den Kastrationseffekt, der ihr anhaftet. Der
Feminismus will die Kastration - auch der Frau. Verliert den Stil.”
(Derrida 1986, 140)
Das könnte (in Nietzsches und Derridas Fall) als Bestätigung des „weiblichen
Wesens” als Unterpfand des phallozentrischen Diskurses gelesen werden, oder
aber als Dekonstruktion eben dieses Diskurses. Wie kann man/frau diesen
Diskurs aber dekonstruieren, ohne ihn erst zu beherrschen, oder ist diese
Herrschaft selbst eine Täuschung? Wer täuscht wen?
Nietzsche setzt der Erkenntnis der „reinen, objektiven Wahrheit” seine eigene,
im Negativen umrissene Art zu verstehen entgegen, wie Klossowski (28) meint:
„ridere, lugere, detestari - verlachen, beklagen, verwünschen” .Daran knüpft Klos-
sowski die Frage an:
Aber was ist eine Wissenschaft, die lacht, klagt und verwünscht? Eine
pathetische Erkenntnis? Unser Pathos erkennt, aber wir können an
seiner Erkenntnisform nie teilhaben. Für Nietzsche entspricht jeder
geistige Akt nur einer Änderung der Stimmungslage; dem Pathos aber
einen absoluten Wert zuzusprechen, würde die Unparteilichkeit des
Erkennenden zerstören, während man doch vom erreichten Grad der
Unparteilichkeit aus die Unparteilichkeit selber in Frage gestellt hat.
(Klossowski, 28)
Wenn die Wahrheit einem Trieb entspringt, kann das Subjekt sie nicht für sich in
Anspruch nehmen. Sie kann aber auch niemals eine objektive, „unparteiliche”
sein, weil sie Ausdruck eines Triebes zur Herrschaft ist, der ganz bestimmte Ziele
erreichen will. Das Subjekt kann sie höchstens verschleiern als allgemeine
„Wahrheit", um andere Subjekte von ihr zu überzeugen und somit zu be-
herrschen. Das Subjekt wird jedoch selbst von dem Trieb zur Wahrheit be-
herrscht. Obwohl die „unparteiliche Wahrheit” einen Irrtum darstellt, da der In-
stinkt nicht über sich selbst hinausgelangen kann, ist dieser Irrtum lebenserhal-
tend, da er ein zielgerichtetes Handeln ermöglicht, auch wenn dieses Ziel den Er-
werb von Macht bedeutet.
Als Kehrseite des zahmen Durchschnittsmenschen in der modernen
Demokratie sieht Nietzsche im Sozialismus die Herrschaft des ungebändigten
Arbeiters, der um so strengere Gesetze aufstellt, als er die Macht zum ersten Mal
probiert. Als Schreckensvision schwebt Nietzsche die „Pariser Kommune und die
Entwicklung der sozialistischen Massenparteien, besonders in Deutschland,
sowie Art und Erfolg des bürgerlichen Kampfes gegen sie” (Lukács 1962, 11)
vor.v Dabei sieht er in der Herrschaft des Proletariats, gemäß der bürgerlichen
Ideologie, eine bloße Terrorschaft, wie aus dem folgenden Zitat hervorgeht:
„Und nun! Entsetzen! Gerade der ‘Arbeiter’ ist gefährlich geworden! Es wimmelt
11
von ‘gefährlichen Individuen’ !Und hinter ihnen die Gefahr der Gefahren - das
Individuum!” (MR, 154) Die Masse der Arbeiter kann man verachten, da sie
form- und lenkbar ist, aber sobald sie sich zu einem revolutionären Subjekt her -
ausbildet, wird sie bedrohlich. In dem Abschnitt „Der Staat als Erzeugniss der
Anarchisten” wird die Angst vor einem Arbeiterstaat besonders scharf for-
muliert:
In den Ländern der gebändigten Menschen giebt es immer noch
genug von den rückständigen und ungebändigten: augenblicklich
sammeln sie sich in den socialistischen Lagern mehr als irgendwo an-
ders. Sollte es dazu kommen, dass diese einmal Gesetze geben, so
kann man darauf rechnen, dass sie sich an eine eiserne Kette legen
und furchtbare Disciplin üben werden: - sie kennen sich! Und sie wer-
den diese Gesetze aushalten, im Bewusstsein, dass sie selber dieselben
gegeben haben, - das Gefühl der Macht, und dieser Macht, ist zu jung
und entzückend für sie, als dass sie nicht Alles um seinetwillen litten.”
(MR, 159f.)
Das impliziert, daß Nietzsche das Reich Bismarcks trotz der Mängel, die er in
seinen Tiraden gegen Deutschland identifiziert, als Rückhalt sieht, von dem aus
er seine Attacken gegen die sozialistische Revolution führen kann. Er zieht somit
die alte Macht, die décadence, der jungen Macht vor.
Nietzsche schien 1871 mehr über die Zerstörung der „herrlichsten Kunst-
werke” der europäischen Kultur als über die Zerschlagung der Pariser Kom-
mune erschrocken gewesen zu sein, wie aus einem Brief an Carl von Gersdorff
vom 21 Juni 1871 hervorgeht. Dennoch verurteilt er nicht einfach das Ereignis,
sondern sieht es als Symptom einer „allgemeinen Schuld” .Er schreibt:
Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so war ich für einige Tage
völlig vernichtet und aufgelöst in Thränen und Zweifeln: die ganze
wissenschaftliche und philosophisch-künstlerische Existenz erschien
mir als eine Absurdität, wenn ein einzelner Tag die herrlichsten Kunst-
werke, ja ganze Perioden der Kunst austilgen konnte; ich klammerte
mich mit ernster Überzeugung an den metaphysischen Werth der
Kunst, die der armen Menschen wegen nicht da sein kann, sondern
höhere Missionen zu erfüllen hat. Aber auch bei meinem höchsten
Schmerz war ich nicht im Stande, einen Stein auf jene Frevler zu wer-
fen, die mir nur Träger einer allgemeinen Schuld waren, über die viel
zu denken ist! (B 3, 204)
Dagegen ist Flauberts Urteil über die Pariser Kommune sehr viel entschiedener.
Er scheint das Vorgehen der Armee zu unterstützen und kein Mitleid für die
Kommunarden zu verspüren. In einem Brief an George Sand von 1871 breitet er
12
seine Gedanken zu einer aristokratischen Ordnung aus, an deren Spitze die
Gelehrten, die Mandarins stehen sollen:
Was die im Verröcheln liegende Commune angeht, so ist das die letzte
Bekundung des Mittelalters. Die letzte? Hoffen wir es! Ich hasse die
Demokratie… An was soll man glauben? An nichts! Das ist der Beginn
der Weisheit. Es war Zeit, sich der Prinzipien zu entledigen und in die
Wissenschaft, die Untersuchung einzutreten. Das einzige Vernünftige
(ich komme immer wieder darauf zurück) ist eine Regierung von
Mandarins, vorausgesetzt, daß die Mandarins etwas wissen und sogar
sehr viel wissen. Das Volk ist ewig minderjährig, und es wird immer
(in der Hierarchie der sozialen Elemente) an letzter Stelle stehen, da es
die Zahl, die Masse, das Unbegrenzte ist. Es ist nicht sehr wichtig, ob
viele Bauern lesen können und nicht mehr auf ihre Pfarrer hören, aber
es ist von unendlich großer Bedeutung, daß Männer wie Rénan oder
Littré leben können und man auf sie hört. Unser Heil liegt jetzt in einer
legitimen Aristokratie, ich verstehe darunter eine Mehrheit, die sich aus
etwas anderem als aus Zahlen zusammensetzt. (nach Michel 1965, 102)
Darin äußert eine romantische Form des Anti-Kapitalismus, die sowohl den
Arbeiter als auch den Unternehmer als die Kehrseite des gleichen „vulgären”
Mechanismus der Gewinnsucht sieht. Dieser Auffassung zufolge hat der Un-
ternehmer keine besonderen „angeborenen” Fähigkeiten, die ihn vom Arbeiter
unterscheiden. Das Geld gilt in dieser „vornehmen” Wertehierarchie nicht als
auszeichnendes Merkmal. Dazu schreibt Nietzsche:
Vom Mangel der vornehmen Form. - Soldaten und Führer haben im-
mer noch ein viel höheres Verhalten zu einander, als Arbeiter und Ar-
beitgeber. Einstweilen wenigstens steht alle militärisch begründete
Cultur noch hoch über aller sogenannten industriellen Cultur: letztere
in ihrer jetzigen Gestalt ist überhaupt die gemeinste Daseinsform, die
es bisher gegeben hat. Hier wirkt einfach das Gesetz der Noth: man
will leben und muss sich verkaufen, aber man verachtet Den, der diese
Noth ausnützt und sich den Arbeiter kauft. Es ist seltsam, dass die Un-
terwerfung unter mächtige, furchterregende, ja schreckliche Personen,
unter Tyrannen und Heerführer, bei Weitem nicht so peinlich empfun-
den wird, als diese Unterwerfung unter unbekannte und uninteres-
sante Personen, wie es alle Grössen der Industrie sind: in dem Arbeit-
geber sieht der Arbeiter gewöhnlich nur einen listigen, aussaugenden,
auf alle Noth speculierenden Hund von Menschen, dessen Name,
Gestalt, Sitte und Ruf ihm ganz gleichgültig sind. Den Fabricanten
und Gross-Unternehmern des Handels fehlten bisher wahrscheinlich
13
allzusehr alle jene Formen und Abzeichen der höheren Rasse, welche
erst die Personen interessant werden lassen; hätten sie die
Vornehmheit des Geburts-Adels im Blick und in der Gebärde, so gäbe
es vielleicht keinen Socialismus der Massen. Denn diese sind im
Grunde bereit zur Sclaverei jeder Art, vorausgesetzt, dass der Höhere
über ihnen sich beständig als höher, als zum Befehlen geboren legit-
imiert — durch die vornehme Form! Der gemeinste Mann fühlt, dass
die Vornehmheit nicht zu improvisieren ist und dass er in ihr die
Frucht langer Zeiten zu ehren hat, — aber die Abwesenheit der
höheren Form und die berüchtigte Fabricanten-Vulgarität mit rothen,
feisten Händen, bringen ihn auf den Gedanken, dass nur Zufall und
Glück hier den Einen über den Anderen erhoben habe: wohlan, so
schliesst er bei sich, versuchen wir einmal den Zufall und das Glück!
Werfen wir einmal die Würfel! — und der Socialismus beginnt. ( FRW,
407f.)
Döblin moniert, daß Nietzsche zwar die „Verspießerungstendenz” bei den
deutschen Sozialisten sah, aber nicht ihren „kämpferischen, ewig
revolutionäre(n) Charakter” und urteilt: „Gegen den Elan dieser Ideen sind seine
eigenen Lehren höchst abseits, muffig und Stubenweisheit.” (1978 I, 243f.) Er
gesteht Nietzsche dennoch zu, daß er zwischendurch einmal auf unübertroffene
Weise gesagt habe, was der wirkliche Sozialismus zu betreiben habe:
Die wirtschaftliche Einigung Europas kommt mit Notwendigkeit und
ebenso als Reaktion die Friedenspartei. Eine Partei des Friedens, ohne
Sentimentalität, welche sich und ihren Kindern verbietet, Krieg zu
führen, verbietet, sich der Gerichte zu bedienen, welche den Kampf,
den Widerspruch, die Verfolgung gegen sich heraufbeschwört, eine
Partei der Unterdrückten, alsbald die große Partei. Gegnerisch gegen
Rache und Rachegefühle. (nach Döblin, ebd.)
Nietzsches Argumente gegen den Populismus bilden kein in sich geschlossenes
System: Sie bestehen aus Aphorismen, die mal die eine, mal die andere Seite des
Problems beleuchten. Widersprüche und Extreme werden nicht aufgehoben, son-
dern in ihrer ganzen Schärfe ausgestellt. Peter Pütz (1978 II, 145) formuliert das
so: „Es ist schwer, eine systematische Ordnung in die Fülle seiner Gedanken zu
bringen. Nietzsche mag sein Urteil noch so apodiktisch formulieren - an anderer
Stelle widerruft er es und behauptet das genaue Gegenteil. Einheitlichkeit ist
auch dann nicht zu finden, wenn man sich auf begrenzte Themen, etwa die der
Ästhetik beschränkt” .Ebenso verhält es sich mit Nietzsches Äußerungen zur
Demokratie und zum Volk. Er verzichtet auf die historisierende Darstellung der
Demokratie: So betrachtet er sie einmal im Kontext der griechischen Antike und
14
dann wieder im zeitgenössischen Kontext des verspäteten deutschen National-
staats, der die Überreste des Feudalismus noch nicht ganz abgeworfen hat. Er
sieht die Geschichte nicht als eine lineare, teleologische Entwicklung, sondern als
einen genealogischen Prozeß, der sowohl biologische als auch kulturelle Aspekte
einschließt. Je nach seiner Perspektive erscheinen die antike und die moderne
Demokratie, der Fortschritt und die décadence, der Arbeiterstaat und der Feminis-
mus in einem positiven oder negativen Licht. Henry Staten (1990, 9) bezeichnet
diese psychodialektische Struktur als „double investment", d.h. daß entgegenge-
setzte libidinöse Energien in Nietzsches Texten parallel geschaltet sind.
Anmerkungen
1 Als Hauptvertreter der Präfaschismus-Theorie sei hier Lukács erwähnt, der Nietzsche
in dem WerkDie Zerstörung der Vernunft selbst zum Begründer des Nihilismus und
der décadence erklärt. Damit unterschlägt er das Ambivalente an Nietzsches déca-
dence-Begriff und setzt ihn in starre Opposition zu seinem klassizistischen ästhetis-
chen Ideal, das er für den Sozialismus zu retten versucht. Obwohl Jost Hermand (148)
sich von Lukács distanziert, reagiert er doch irritiert auf marxistische Annäherungen
an Nietzsche: „Man kann doch nicht Nietzsche einerseits als exquisiten Prosakünstler
hochjubeln - und ihn andererseits als gewalttätigen Präfaschisten verdammen [...]
Und obendrein: Wer kann sich heute noch ästhetisch an Dingen erfreuen, die durch
den Faschismus, die brutalste Terrorherrschaft des 20. Jahrhunderts, total kor-
rumpiert worden sind?” Hermand (ebd.) meint, daß Nietzsche junge Leser zu
„Hochmut, Brutalität, Sexismus, Massenhaß, Arbeiterverachtung und An-
tidemokratismus” verführe, und schlägt Brecht als kulturelles Erbe vor. Dabei unter-
schlägt er jedoch sexistische Züge bei Brecht. Für eine ausgezeichnete Darstellung der
deutschen Nietzsche-Rezeption, siehe Montinari (1979).
2 Walter Kaufmann (1974, 187) weist darauf hin, daß Nietzsche in seiner Schrift Men-
schliches, Allzumenschliches die Mängel aller bisherigen Demokratien kritisiert und auf
eine zukünftige Demokratie hofft, in der soviel Menschen wie möglich unabhängig
sein werden.
3 Lukács (1962, 28) argumentiert jedoch überzeugend, daß Nietzsche in der zweiten
Hälfte der siebziger Jahre einen Kompromiß mit der Bismarckschen Demokratie eing-
ing, da er in ihr das „wirksamste Gegenmittel gegen den Sozialismus erblickt” .
4 Nietzsche hat den Wert der Geschichte nicht als Entwicklung auf ein Ziel ver-
standen, sondern in den höchsten Menschen begründet, die sie hervorbrachte. Siehe
Kaufmann (1974, 149)
15
5 Nietzsche zufolge toleriert das Genie jedoch den Mittelmäßigen und zwingt ihm
nicht sein eigenes strenges Gesetz auf. (Vgl. Kaufmann 1974, 384)
6 Sloterdijk (1986, 60f.) weist darauf hin, daß sich folgende Betrachtung Nietzsches über
den griechischen Chor wie ein sozialistisches Manifest liest: „Unter dem Zauber des
Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder
zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr
Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen … Jetzt ist der Sclave
freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth,
Willkür und ‘freche Mode’ zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem
Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur
vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerris-
sen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnisvollen Ur-Einen herumflatterte.
Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemein-
samkeit ...” (GT 29f.) Dieser Zauber dauert aber nur für den Augenblick, während der
Chor aus der Ferne eine Einheit bildet. Sloterdijk (ebd., 123) meint, daß Nietzsche,
wenn auch widerwillig, eine Form der plebejischen Größe anerkennt, und zwar in
Anlehnung an Diogenes, den Kyniker.
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(Staten 1990): Henry Staten, Nietzsche’s Voice. Cornell University Press: Ithaca and Lon-
don
17
nimmt einen Ausspruch von Sokrates als Beweis dafür, daß er ein décadent
war: „leben — das heisst lange krank sein: ich bin dem Heilande Asklepios einen
Hahn schuldig.” (GD, 67) „Sokrates gehörte, seiner Herkunft nach, zum nieder-
sten Volk: Sokrates war Pöbel. Man weiss, man sieht es selbst noch, wie hässlich
er war. Aber Hässlichkeit, an sich ein Einwand, ist unter Griechen beinahe eine
Widerlegung. War Sokrates überhaupt ein Grieche? Die Hässlichkeit ist häufig
genug der Ausdruck einer gekreuzten, durch Kreuzung gehemmten Entwick-
lung.
Warum ist Nietzsche so von der Vorstellung der décadence besessen? Wider-
spricht die Vehemenz seines Kampfes gegen die décadence nicht seiner Affirma-
tion des Lebens? Er gibt ja zu, daß ihn der Rückgang des Willens zur Macht, der
dem gesunden, aristokratischen Organismus zugrundeliegt, ungeheuer inter-
essiert und fasziniert. Er geht an das Problem der décadence heran, wie der Arzt
an den kranken Körper, mit dem Unterschied, daß sein Körper bereits von der
Krankheit befallen ist. Diese Betroffenheit erklärt vielleicht die Vehemenz seines
Angriffs auf die Symptome der Krankheit und die Scharfsinnigkeit, mit der er sie
aufspürt, aber auch das Bewußtsein, wie schwierig eine Genesung ist, da sein
ganzer Scharfsinn nicht ausreicht, die Krankheitserreger auszumerzen.
„Aus der von Wagner ‘resümierten’ Modernität sehnt er sich einer dionysis-
chen Post-Moderne, in welcher der Streit zwischen klassischer und Décadence-
Ästhetik als die zeitgenössische Variante der ‘Querelle des Anciens et des Mod-
ernes’ aufgehoben sein wird.” (Borchmeyer 1986, 183)
18
Diät, Hygiene (sinnliche Werte) - Liebe, Hoffnung, Gnade (geistig-moralische
Werte)
Über das Neue Testament: „Nichts ist darin, was frei, gütig, offenherzig,
rechtschaffen wäre. Die Menschlichkeit hat hier noch nicht ihren ersten Anfang
gemacht, - die Instinkte der Reinlichkeit fehlen… Es giebt nur schlechte Instinkte
im neuen Testament, es giebt keinen Muth selbst zu diesen schlechten Instinkten.
Alles ist Feigheit, Alles ist Augen-Schliessen und Selbstbetrug darin.” ( AC, 223)
„Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence? Damit, dass das Leben
nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem
Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite
gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen - das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber
das ist das Gleichniss für jeden Stil der décadence: jedes Mal Anarchie der
Atome, Disgregation des Willens, ‘Freiheit’ des Individuums, moralisch geredet,
— zu einer politischen Theorie erweitert ‘gleiche Rechte für Alle’ .Das Leben, die
gleiche Lebendigkeit, die Vibration und Exuberanz des Lebens in die kleinsten
Gebilde zurückgedrängt, der Rest arm an Leben. Überall Lähmung, Mühsal, Er-
starrung oder Feindschaft und Chaos: beides immer mehr in die Augen sprin-
gend, in je höhere Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt über-
haupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt.--”
(FW, 27)
Siehe Kaufmann (1974):
149: history justified by highest specimens (opp. to socialism + democracy)
187: future democracy which guarantees independence for as many as possi-
ble
302: Nietzsche identifies himself neither with the master race nor the slaves;
this is just a note, which has not been fully thought out yet; cf. 297: Nietzsche’s
own ethic beyond master and slave morality
352: philological standards applied to bible
384: mediocre not supposed to sacrifice their happiness for the strong, but
they’re incapable of and incapacitated by it.
184: present ethics indebted to powerless or slaves
296: Nietzsche’s non-racial definition of a people (conditions of diet, climate,
need bind them together, not their blood or genes)
1. Einleitung:
Populismus: für das Volk/die Masse; populär: massenwirksam.
Läßt sich die populäre Wirkung aus der Textstruktur ableiten (z.B. als populistis-
cher Code oder als populistischer Stil) oder ist sie eine unbekannte Größe der
Textrezeption? Der Text richtet sich zwar an einen bestimmten Adressaten, doch
19
reagiert der Adressat auch auf diesen Appell? Erkennt er sich, bzw. seine Wün-
sche in dem Text wieder?
Nietzsche wurde durch die Verfälschung seiner Schwester popularisiert, indem
sie bestimmte faschistoide Tendenzen bei Nietzsche isolierte und verstärkte. Die
Vermarktung des Textes Der Wille zur Macht als Philosophie des Faschismus
bezeugt dieses Vermächtnis der Schwester. Andererseits wäre Nietzsche ohne
den Eifer seiner Schwester nicht so schnell populär geworden. Nun steht diese
Rezeption jedoch im Widerspruch zum antipopulistischen Tenor der Texte Niet-
zsches. Was sind die Gründe für
Nietzsches Antipopulismus? Dabei werden wir keine Theorie des Populismus ex
negativo finden, sondern Nietzsches ambivalenter Einstellung zum „Volk” und
zum Populismus nachgehen.
2. Nietzsches Argumente gegen den Populismus
Herde - großes Individuum (Ausnahme), Sokratismus - Christentum - modernes
dekadentes Individuum, Demokratie - Arbeit - Feminismus.
Bruch zwischen dem Früh- und Spätwerk: Sehnsucht nach der Vereinigung mit
dem Volke (Dionysos, Geburt der Tragödie, Aufhebung der Leiden der Individua-
tion) - Distanz zwischen dem Individuum und der Masse (Antichrist, Götzendäm-
merung, Ecce Homo). Siehe Sloterdijk und Staten (212 + 214)
Vorstellung, daß das Volk ressentimentgeladen ist, sich also an den Herrschen-
den für ein erlittenes Übel auf einer imaginären Ebene rächt, z.B. durch die
christliche Vorstellung, daß im Jenseits die Armen, Geschundenen über die
schlechten, ungerechten Herren regieren werden. Für Nietzsche halten sich die
Armen, Ohnmächtigen dadurch aber schadlos, denn sie ändern nichts an den
irdischen Herrschaftsgesetzen.
Henry Staten macht darauf aufmerksam, daß der Unterschied zwischen symbol-
ischer und wirklicher Rache nur ein scheinbarer ist. Ihm zufolge ist jede Rache
symbolisch, da sie auf ein „Übel” reagiert, daß mir in der Vergangenheit zuge-
fügt worden ist. Die Rache kann das Übel aber nicht auslöschen, sondern höch-
stens durch eine symbolische Tat wettmachen. Nietzsche propagiert daher das
Vergessen als angemessene Haltung des ressentimentfreien Menschen/Sklaven.
3. Der Tenor der Argumente
aggressiv, provokant, herausfordernd, „großer Stil", „große Ökonomie", egoman-
isch, ironisch, spöttisch, traurig, resigniert?
4. Die psychodynamische Struktur der Argumente
a) Nietzsche empfand, daß er von seinen Zeitgenossen nicht gebührend an-
erkannt wurde, sie erkannten nicht sein Genie, das kulturgeschichtliche Ereignis,
das sich in ihm verkörperte. Daher bedrohte die Reaktion seiner Zeitgenossen die
libidinöse Ökonomie Nietzsches, die auf dem Wechselspiel zwischen Aneignung
und Verschwendung beruht. Diese Bedrohung kompensierte er mit seinem
20
Heldenpathos und seiner Megalomanie. Gleichzeitig extreme Sensibilität, ”Ver-
letzbarkeit".
b) Er sah die Ursachen für das fehlende Verständnis in den Institutionen seiner
Zeit, die gegen das verschwenderische, männliche Genie gerichtet waren (z.B.
der demokratische Staat, die Frauenemanzipation, der Kapitalismus (Geld), der
Sozialismus). Sie begünstigten seines Erachtens eher das mittelmäßige Indi-
viduum, das sich der großen Masse am besten anpassen kann.
c) Daher wendet er sich zurück zur griechischen Sklavenhaltergesellschaft und
zur Adelsgesellschaft der Renaissance.
d) Bedrohung durch die Pariser Commune, die seines Erachtens das ganze eu-
ropäische Kulturgebäude zu stürzen drohte.
5. Schluß
Ist menschliche Größe (ob politisch, intellektuell oder künstlerisch) möglich ohne
die Unterdrückung der Masse, d.h. ohne den Ausschluß der Mehrheit von den
Produkten der Kultur? Jedes kulturelle Erzeugnis ein Zeugnis der Barbarität
(Benjamin). Welche psychische Ökonomie (Subjektivität) wäre nötig, um eine
solche inklusive Kultur zu ermöglichen?
21
iWalter Kaufmann (1974, 187) weist darauf hin, daß Nietzsche in seiner Schrift Menschliches, Allzumenschliches
die Mängel aller bisherigen Demokratien kritisiert und auf eine zukünftige Demokratie hofft, in der soviel Men -
schen wie möglich unabhängig sein werden.
iiLukács (1962, 28) argumentiert jedoch überzeugend, daß Nietzsche in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre
einen Kompromiß mit der Bismarckschen Demokratie einging, da er in ihr das „wirksamste Gegenmittel gegen
den Sozialismus erblickt” .
iiiNietzsche hat den Wert der Geschichte nicht als Entwicklung auf ein Ziel verstanden, sondern in den höch-
sten Menschen begründet, die sie hervorbrachte. Siehe Kaufmann (1974, 149)
ivNietzsche zufolge toleriert das Genie jedoch den Mittelmäßigen und zwingt ihm nicht sein eigenes
strenges Gesetz auf. (Vgl. Kaufmann 1974, 384)
vSloterdijk (1986, 60f.) weist darauf hin, daß sich folgende Betrachtung Nietzsches über den griechischen
Chor wie ein sozialistisches Manifest liest: „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der
Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte
Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen … Jetzt ist der Sclave freier
Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür und ‘freche Mode’ zwis-
chen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit
seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerris-
sen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnisvollen Ur-Einen herumflatterte. Singend und tanzend
äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit ...” ( GT 29f.) Dieser Zauber dauert aber nur
für den Augenblick, während der Chor aus der Ferne eine Einheit bildet. Sloterdijk (ebd., 123) meint, daß Niet-
zsche, wenn auch widerwillig, eine Form der plebejischen Größe anerkennt, und zwar in Anlehnung an Dio -
genes, den Kyniker.