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LUCIFER-GNOSIS
1903-1908
1987
R U D O L F STEINER VERLAG
DORN ACH/SCHWEIZ
RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE
SCHRIFTEN
GESAMMELTE A U F S Ä T Z E
Herausgegeben von der Rudolf Steiner-Nachlaß Verwaltung, Dornach
Die Herausgabe besorgte Johann Waeger
Bibliographie-Nr. 34
Alle Rechte bei der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung Dornach/Schweiz
© 1960 by Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Dornach/Schweiz
Printed in Germany by Konkordia Druck, Bühl
ISBN 3-7274-0340-3
INHALT
Zur Einführung 11
AUFSATZE
D I E K U L T U R DER G E G E N W A R T IM SPIEGEL
DER T H E O S O P H I E - Z E I T B I L D E R
BEMERKUNGEN ZU AUFSÄTZEN
Theosophische Gesellschaft
(Theosophical Society) Juni 1903 531
Von der theosophischen Bewegung . . . . August 1903 532
Theosophie und deutsche Kultur.
Autoreferat Oktober 1903 533
Okkulte Geschichtsforschung.
Autoreferat November 1903 535
Hinweis auf den Kongreß in Amsterdam
im Juni 1904 April 1904 538
Der theosophische Kongreß in
Amsterdam. Bericht Juni 1904 539
Mitteilung über Vorträge Annie Besants
in Deutschland August 1904 553
Weitere Mitteilungen: Vorträge
Dr. Rudolf Steiners im Architekten-
hause in Berlin August 1904 553
Notizen: Bericht über die Vorträge
Annie Besants in Deutschland Oktober 1904 553
Mitteilungen: Bericht über die Jahres-
versammlung der deutschen Sektion
der Theosophischen Gesellschaft,
Oktober 1904 Dezember 1904 555
Hinweis auf den Kongreß in London
im Juli 1905 Februar 1905 556
Mitteilungen: Hinweis auf die Schrift
«Schiller und unser Zeitalter» Mai 1905 557
Von der Arbeit der Zweige:
Die Arbeit in Hamburg, Köln,
Düsseldorf Juni 1905 558
Die Arbeit in Stuttgart, Lugano,
Weimar, Nürnberg September 1905 560
Bildung neuer Zweige 1906 (Nr. 30) 562
Die Arbeit in München . . . . 1906 (Nr. 30)/1908 (Nr. 35) 564
Der theosophische Kongreß in London.
Bericht Juli/August 1905 566
Hinweis auf den Kongreß in Paris
im Juni 1906 1906 (Nr. 30) 571
Der Kongreß in Paris im Juni 1906.
Bericht 1906 (Nr. 31) 572
Nachruf auf die Gräfin Brockdorff . . . . 1906 (Nr. 32) 584
Vorträge von Dr. Rudolf Steiner 1906 (Nr. 32) 584
Nachruf auf Henry Steel Oleott 1907 (Nr. 33) 585
Mitteilungen: Hinweise auf Bücher . . . . 1907 (Nr. 33) 589
Ankündigung des theosophischen
Kongresses in München 1907 (Nr. 33) 590
Der theosophische Kongreß in München.
Bericht 1907 (Nr. 34) 591
Zur bevorstehenden Präsidentenwahl
der Theosophischen Gesellschaft . . . . 1907 (Nr. 33) 615
Mitteilung: Die Wahl von Annie Besant
zur Präsidentin der Theosophischen
Gesellschaft 1907 (Nr. 34) 619
Hinweise 621
Namenregister 649
Werkregister 655
Meditation
Frage: Du strebst nach Selbsterkenntnis? Wird dein soge-
nanntes Selbst für das Ganze der Welt morgen mehr bedeuten
als heute, wenn du es erkannt hast?
Erste Antwort: Nein, wenn du morgen nichts anderes bist
als heute, und dein Erkennen von morgen nur dein Sein von
heute wiederholt.
Zweite Antwort: Ja, wenn du morgen ein anderer bist als
heute, und dein neues Sein von morgen die Wirkung deines
Erkennens von heute ist.
E I N W E I H U N G UND M Y S T E R I E N
Einen «.Garten der Reife» nennen alte Weise den Ort, den der
Mensch betritt, wenn die Geheimnisse der Welt ihm offenbar
werden. Keine Blume sei in dem Garten, die nicht ihre Frucht,
kein Ei, das nicht das in ihm keimende Leben gereift hätte.
Aber als dunkel und gefahrvoll werden zugleich die Pfade ge-
schildert, die zur «engen Türe» führen, durch die dieser Gar-
ten abgeschlossen ist. Zugleich wird versichert, das Dunkel
werde heller als die Sonne, die Gefahren machtlos gegen die
in der Seele schwellenden Kräfte für den, welchem ein Myste,
ein «Eingeweihter» mit sorgender Hand diese Pfade weist.
Als kindliche Vorstellungen einer Zeit, in der man nichts
ahnte von den Wissenschaften unserer Tage, wird solches bei-
seite geschoben von dem «Aufgeklärten», der unterscheiden
zu können vermeint zwischen den Wahngebilden «tastender
Einbildungskraft» und den nüchternen Einsichten eines
«wissenschaftlich geschulten» Verstandes. Und wer dennoch
heute von solchen Vorstellungen spricht, der darf sicher sein,
daß er bei vielen seiner Zeitgenossen, wenn nicht auf ein hoch-
mütiges, so doch wenigstens auf ein mitleidiges Lächeln stößt.
Und trotz alledem gibt es solche, die heute ähnlich wie jene
alten Weisen von der Welt der Seele und der Heimat des Gei-
stes sprechen. Sie werden für Personen gehalten, die von einer
Welt reden, die ihnen nur ihre zügellose Phantasie vorspiegelt.
Man bedauert wohl gar, daß sie, mitten in einer Welt, die
durch nüchterne Logik so unendlich viel erreicht hat, als
Trunkene taumeln, die in jedem Augenblick die Sicherheit
verlieren, weil sie sich nicht an das halten, was «tatsächlich»
vorhanden ist.
Was sagen nun diese « Trunkenen» selbst zu solcher Wider-
rede? Wenn sie sich auf der Höhe fühlen, auf der ihnen ein
Recht erteilt wird, über sich zu sprechen, dann hört man aus
ihrem Munde das Folgende: Wir verstehen euch, die ihr unsere
Widersacher sein müßt, ganz genau. Wir wissen, daß viele von
euch ehrliche Leute sind, die sich rückhaltlos in den Dienst
des Wahren und Guten stellen. Aber wir wissen auch, daß ihr
uns nicht verstehen könnt, solange ihr so denkt, wie ihr eben
denkt. Über die Dinge, von denen wir zu sprechen haben,
können wir mit euch erst sprechen, wenn ihr euch bemüht ha-
ben werdet, unsere Sprache zu erlernen. - Nach diesem unseren
Ausspruch werden wohl viele von euch mit uns fertig sein,
denn sie werden nun zu erkennen glauben, daß sich zu unserer
phantastischen Schwärmerei auch noch unser unheilbarer
Hochmut gesellt. Wir aber verstehen euch auch in solcher Be-
hauptung, und wir wissen zugleich, daß wir nicht hochmütig,
sondern bescheiden zu sein haben. Um euch zu dem Versuch zu
bewegen, auf unsere Vorstellungen einzugehen, haben wir nur
eines zu sagen. Ihr dürft uns glauben, daß wir niemandem ein
echtes Recht zugestehen, über unsere Erkenntnisse mitzu-
sprechen, der euch nicht nachfühlen kann, was euch zu euren
Behauptungen drängt, und der nicht die Kraft, die überzeu-
gende Gewalt und Tragweite eurer Wissenschaft gründlich
kennt. Wer nicht das sichere Wissen in sich trägt, daß er so
nüchtern, so «wissenschaftlich» denken kann, wie der nüch-
ternste Astronom, Pflanzen- und Tierforscher, der sollte in
Dingen des geistigen Lebens, in mystischen Erkenntnissen
nur ein Lernender, kein Lehrender sein. Aber man mißverstehe
uns nicht: wir sprechen nur von Lehrenden, nicht von Lernen-
den. Ein Schüler der Mystik kann jeder Mensch werden, denn
in jedes Menschen Seele liegen die Ahnungsvermögen, die
sich der Wahrheit erschließen. Zu den Unwissendsten sollte
der Mystiker verständlich sprechen. Und denen, welchen er
nach dem Grade ihres Verständnisses nicht ein Hundertstel
der Wahrheit sagen kann, er sage ihnen ein Tausendstel. Heute
erkennen sie das Tausendstel, und morgen werden sie das
Hundertstel erkennen. Alle sollen Lernende sein. Aber keiner
sollte Lehrender sein wollen, der nicht des nüchternsten Ver-
standes und der strengsten Wissenschaft Disziplin an sich
wirken lassen kann. — Nur die sind wahre Lehrer der Mystik,
die vorher strenge Wissenschafter gewesen sind, und die des-
halb wissen, wie es sich in der Wissenschaft lebt. Auch der
wahre Mystiker sieht jeden für einen Phantasten, für einen
Trunkenen an, der nicht in jedem Augenblicke der Mystik
ernstes Feiertagskleid ausziehen, und im Wochentagsanzug
des Physikers, des Chemikers, des Pflanzen- und Tierforschers
einhergehen könnte. - So spricht der echte Mystiker zu seinen
Gegnern; in aller Bescheidenheit versichert er ihnen, daß er
ihre Sprache versteht, und daß er sich kein Recht zugestände,
Mystiker zu sein, wenn er sich unkundig in ihrer Sprache
wüßte. — Dann aber darf er auch hinzufügen, daß er weiß, so
weiß, wie man Tatsachen des äußeren Lebens weiß: im Falle
seine Gegner seine Sprache erlernen, werden sie aufhören,
seine Gegner zu sein. Er weiß das, wie jeder Mann, der Chemie
studiert hat, weiß, daß unter gewissen Bedingungen aus
Sauerstoff und Wasserstoff Wasser wird.
Daß Plato niemand in die höheren Stufen der Weisheit ein-
führen wollte, welcher der Geometrie unkundig war, bedeutet
nicht, daß er nur gelehrte Geometer zu seinen Schülern machte,
sondern, daß diese sich an ernstes, strenges und genaues For-
schen gewöhnt haben mußten, bevor ihnen die Geheimnisse
des Geisteslebens erschlossen wurden. Eine solche Forderung
erscheint in rechtem Lichte, wenn man bedenkt, daß in diesen
höheren Gebieten die Kontrolle aufhört, die den gewöhn-
lichen Forscher auf Schritt und Tritt korrigiert. Wenn der
Pflanzenforscher sich falsche Vorstellungen macht, so werden
ihn bald seine Sinne über seinen Irrtum aufklären. Er verhält
sich dem Mystiker gegenüber wie derjenige, der auf ebenem
Wege geht, zum Bergsteiger. Der eine kann zu Boden fallen;
er wird sich nur in Ausnahmefällen töten; dem andern steht
diese Gefahr immer bevor. Und gewiß kann niemand Berge
besteigen, der nicht gehen gelernt hat. - Weil geistige Tat-
sachen nicht in derselben Art die Vorstellungen korrigieren
wie äußere Tatsachen, ist strengstes, zuverlässiges Denken
eine ganz selbstverständliche Voraussetzung für den mysti-
schen Forscher.
Gibt man sich solchen Gedanken hin, so erkennt man, was
jene alten Weisen meinten, wenn sie von den Gefahren spra-
chen, die dem Menschen drohen, der zu den Geheimnissen der
Welt vordringen will. Wer mit ungeschultem Denken zu ihnen
kommt, in dessen Seele richten sie Verwirrung an. Sie werden
gefährlich wie eine Dynamitbombe in den Händen eines Kin-
des. Daher tritt an jeden mystischen Forscher die strenge For-
derung heran, daß sich die Richtigkeit seines Denkens, ja sei-
nes ganzen Seelenlebens an schwierigen, dornenvollen Auf-
gaben erst erprobe, bevor er den eigentlichen höheren Auf-
gaben sich nähert. - Das ist eine Hindeutung darauf, was der
Mystiker im Sinne hat, wenn er von den ersten Stufen der
«Einweihung» in die höheren Wahrheiten spricht.
Durch den Sinn des Auges vernimmt der Mensch die Natur
in hundertfältigen Licht- und Farbenschattierungen. Es sind
die Strahlen des Sonnenlichtes, die, von den Dingen zurück-
geworfen, deren Lichtschattierungen bewirken. Ist auf diese
Art die Wahrnehmung des Sonnenlichtes eine tägliche Ge-
wohnheit des Auges, so vermag das Auge doch nicht unge-
straft in den Quell des Lichtes, in die Sonne selbst zu schauen;
es wird durch die unmittelbaren Sonnenstrahlen geblendet.
Was in seinen Wirkungen dem alltäglichen Beruf des Auges ent-
spricht: das wird der Anlaß eines Schmerzes, wenn es als Ur-
sache selbst den Sinn des Sehens trifft. - Wer dieses Bild in der
richtigen Art auf das Geistesleben des Menschen anzuwenden
weiß, der versteht, warum diejenigen, die da «wissen», von
Gefahren der Einweihung in die Mysterien sprechen. Diese
Gefahren sind durchaus vorhanden; nur dürfen die Worte
dessen, der von ihnen spricht, nicht buchstäblich in dem Sinne
verstanden werden, wie man im gewöhnlichen Leben von
Gefahren spricht. - Des Menschen Verstand und Vernunft
sind ebensowenig daran gewöhnt, die Quellen der Wahrheit
in dem Weltganzen zu schauen, wie das Auge unmittelbar in
die Sonne zu sehen vermag. So wie dieses die Wirkungen des
Lichtes als das ihm Entsprechende empfindet, so Verstand und
Vernunft die Wirkung der ewigen Weisheit in den Erschei-
nungen der Natur und in dem Verlauf der Menschengeschich-
te. Und wie das Auge ohnmächtig wird dem Lichtquell gegen-
über, so wird menschliches Verständnis den Urquellen der
Weisheit gegenüber. Dieses Verständnis versagt zunächst.
Man muß nur dasjenige, was mit dem Menschen da geschieht,
in der rechten Art mit der Tatsache vergleichen, daß das Auge
von der Sonne geblendet wird. Weil der Mensch daran ge-
wöhnt ist, in Natur und Geistesleben nur den Abglanz der
Wahrheit, nicht diese selbst zu schauen, steht er dieser ohn-
mächtig gegenüber, wenn sie ihm entgegentritt. Gewöhnt,
nur die derbe Wirklichkeit zu fassen, die ihn alltäglich umgibt,
empfindet er die Offenbarungen höherer Weisheit als Illusion,
als Gebilde unwirklicher Phantastik. Sie können ihm nichts
sagen. Sie sind ihm Luftgebilde, verschwimmend, wenn er sie
ergreifen will. Denn er will sie so ergreifen, wie er gewohnt ist,
die Dinge der gewöhnlichen Wirklichkeit zu ergreifen. Diese
Wirklichkeit zieht ihn mit tausend Banden an sich. Was sie
ihm versprechen kann, das kennt er, das hat er tausendfältig
schätzen gelernt. - Wer hier im rechten Lichte sieht, der ver-
steht, was religiöse Legenden meinen, wenn sie von dem Ver-
sucher sprechen, der denen alle Herrlichkeiten dieser Welt ver-
spricht, die den Pfad höherer Erleuchtung betreten wollen.
Ist in ihnen nicht die Kraft erweckt, diesem Versucher zu
widerstehen: dann verfallen sie ihm unbedingt. Und damit
ist etwas angedeutet von dem, was mit den Gefahren der « Schwel-
le» gemeint ist, die überschritten werden muß, wenn der
«Pfad» der Weisheit betreten werden soll. - Keiner kann auf
diesen Pfad gelangen, der sein geistiges Auge, seinen Ver-
stand und seine Vernunft, nur so gebrauchen will, wie sie im
Alltagsleben gebraucht werden. Als ein Verwandelter, als
einer, dessen Geist-Auge stark gemacht ist, muß der Mensch
die Schwelle betreten. - Und es ist in unserem gegenwärtigen
Zeitalter schwer, das Auge also zu stärken. Denn dieses Auge
ist gerade durch unsere Wissenschaft nur auf das Handgreif-
liche eingestellt. Um ihre Eroberungen auf dem Gebiete der
äußeren Naturkräfte zu machen, mußte diese Wissenschaft das
Auge abstumpfen für die geistigen Gewalten des Daseins. Man
mißverstehe dies nicht dadurch, daß man es als einen Vorwurf
deutet. Wer den Mechanismus einer Uhr verstehen will,
braucht gewiß nicht die Gedanken des Erfinders der Uhr zu
erforschen: er kann sich an dasjenige halten, was er in der
Physik gelernt hat. Er kann die Uhr aus ihrem Mechanismus
selbst verstehen. Aber niemand kann verstehen, wie die Kräfte
und Dinge, die in der Uhr zusammenwirken, ursprünglich
gefügt sind, der nicht den Geist sucht, der sie gefügt hat, und
die Gründe erforscht, warum sie gefügt sind. Der Naturfor-
scher vermag die Natur nur richtig zu verstehen, wenn er zu-
nächst die Kräfte ihres Wirkens in ihr selbst sucht. Behauptet
er, daß sie sich selbst zusammengefügt haben, so gleicht er
dem, der da meinen kann, die Uhr habe sich selbst verfertigt.
Aberglaube ist nicht, hinter den Dingen den Geist zu suchen:
sondern ihn blindlings in die Dinge selbst zu verlegen. Der
Abergläubische gleicht nicht dem, der zur Uhr den Erfinder
sucht, sondern dem, der in der Uhr selbst einen Geist ver-
mutet, der die Zeiger vorwärts bewegt. - Nur wenn man die-
jenigen so mißversteht, die nach dem Geist in dem Welten-
dasein suchen, kann man sie zusammenwerfen mit denen, die
man mit Recht des Aberglaubens beschuldigt, und die man
heute mit ebensolchem Rechte als Störenfriede betrachtet,
weil sie die Segnungen gefährden, die unsere wissenschaftliche
Kultur geschaffen. (Wer unbefangen sieht, wird wissen, wer
nach beiden Richtungen hin gemeint ist.)
Wer die «Schwelle» zur höheren Einsicht betritt, muß,
wenn ihm der Fortschritt gelingen soll, mit der Kraft ausge-
stattet sein, die zum Empfinden des Wirklichen da führt, wo
der gewöhnliche Verstand und die alltägliche Vernunft Phan-
tastik und Illusion wahrnehmen. - Denn es ist das Dauernde
und Ewige dort, wo dem auf das Vergängliche und Zeitliche
eingestellten Auge nur Illusion und Phantastik erscheinen.
Nichts kann es daher dem Menschen helfen, wenn er mit sei-
nem gewöhnlichen Verstände vor die Quellen der ewigen
Weisheit geführt wird. Deshalb ist in den Mysterien die erste
Stufe der Einweihung nicht die Vermittlung neuen Verstan-
deswissens, sondern völlige Umwandlung der menschlichen
Erkenntniskräfte. Mit feinsinniger Einsicht charakterisiert
daher Edouard Schure in seinem Buche «Die großen Einge-
weihten» den Weg der durch die Mysterien zum «Wissen»
Strebenden: «Die Einweihung war eine stufenweise Hinfüh-
rung der menschlichen Wesenheit gegen die schwindelerregen-
den Gipfel des Geistes hin, von denen das Leben beherrscht
wird.» Und weiter wird uns gesagt: «Um die Meisterschaft
zu erreichen, sagten die alten Weisen, hat der Mensch eine
gänzliche Umgestaltung seiner physischen, moralischen und
intellektuellen Wesenheit nötig. Diese Umgestaltung ist nur
möglich durch gleichzeitige Übung des Willens, der Intuition
und der Vernunft. Durch ihre vollständige Übereinstimmung
kann der Mensch seine Fähigkeiten bis zu unberechenbaren
Grenzen erweitern. Die Seele hat schlafende Sinne. Die Ein-
weihung erweckt sie. Durch vertieftes Studium, durch kon-
stanten Fleiß kann der Mensch in bewußte Beziehung zu den
geheimen Kräften des Universums gelangen. Durch eine er-
staunliche Anstrengung kann er bis zur unmittelbaren spiri-
tuellen Vollkommenheit gelangen, kann sich die Wege dahin
öffnen und sich fähig machen, sich selbst dahin zu richten.
Dann allein kann er sagen, daß er das Geschick besiegt hat,
und daß er von da aus seine göttliche Freiheit erobert hat. Nur
der Eingeweihte kann Einweiher, Prophet und Theurg wer-
den, das heißt sehend und Schöpfer von Seelen. Denn nur
wer sich selbst die Wege weist, kann sie andern weisen: der
allein kann befreien, der frei ist.» (« Die großen Eingeweihten »,
Seite 124.)
So muß man die Aufgabe der Mysterien verstehen, inso-
ferne deren erste Stufe in Betracht kommt. Nicht bloß um eine
neue Wissenschaft handelte es sich, sondern um das Schaffen
neuer Seelenkräfle. Ein anderer mußte der Mensch werden, ein
Verwandelter, bevor er in die Geistessonne, zu dem Quell der
Weisheit geführt wurde.
Wessen Kräfte nicht gestählt sind, wenn er die «Schwelle»
betritt, der empfindet nicht die Wirklichkeit der ewigen, gei-
stigen Gewalten, die ihm da entgegentreten. Statt sich zu ver-
binden mit einer höheren Welt, fällt er in die niedere zurück.
Dieser Gefahr ist ausgesetzt, wer nach den Quellen der Weis-
heit sucht. Erliegt hier der Mensch, dann hat er den Ewig-
keitskeim in sich vorläufig ertötet. Dieser Keim schlummerte
vorher in ihm. Aber auch als schlummernder war er dasjenige,
was die vergängliche, niedere Natur adelte und verklärte. Naiv,
unbewußt lebte der Mensch mit seiner Anlage zur höheren
Geistigkeit. Durch den mißglückten Einweihungsversuch ist
die schlummernde Anlage erstorben. Nichts ist dem Men-
schen geblieben als der Trieb, in dem Vergänglichen zu leben,
dem Reiche dieser Welt allein zu leben. Weil er das Göttlich-
Geistige als Illusion empfunden hat, vergöttert er das Sinnlich-
Stoffliche. So kann an der «Schwelle» dem Menschen sein
Wertvollstes, sein unsterblicher Teil verloren gehen. Dies ist
die Gefahr, die analog der Blendung des Auges in obigem
Bilde ist.
Es leuchtet ein, daß diejenigen, denen in den Mysterien die
Einweihung oblag, aus dem Bewußtsein ihrer Verantwortung
heraus, an die Jünger die höchsten Anforderungen stellten.
Denn diese Anforderungen mußten zur Stählung der geisti-
gen Kräfte in dem geschilderten Sinne wirken. Schure schildert
die Stufenfolge der Einweihung, wie sie in der Schule des
Pythagoras (582-507 v.Chr.) gepflogen war. Von geniali-
schem Künstlersinn und mystischer Tiefe ist diese Schilderung
eingegeben. - Mit Anlehnung an diese Darstellung sei hier
von diesen Stufen gesprochen. - Nur diejenigen wurden zur
Einweihung zugelassen, die durch die Beschaffenheit ihres
intellektuellen, moralischen und geistigen Wesens die Sicher-
heit des Erfolges boten. Für diese begann dann die Zeit der
Vorbereitung. Sie wurden während mehrerer Jahre Hörer. In
unserer Zeit, in der ein jeder sich zum kritischen, prüfenden
Urteil berechtigt glaubt, wenn er einiges gelernt hat, oder
auch - vielleicht noch mehr - wenn er nichts gelernt hat, ist es
gar nicht leicht, einen sympathischen Begriff von dieser lan-
gen Hörerschaft zu geben. Diesem Hörer war absolutes Schwei-
gen geboten. Das Schweigen war nicht äußerlich gemeint. Es
war ein Schweigen des Urteils. Man mußte völlig unbefangen
aufnehmen, ohne sich diese Unbefangenheit durch vorzeitige
Prüfung zu verlegen. Der Weise wußte, und die Hörer hatten
Vertrauen. Prüfen durften sie vorläufig nicht. Denn das Wis-
sen, das sie empfingen, sollte sie ja erst reif zur Prüfung ma-
chen. Wie soll jemand wirklich lernen^ der sogleich prüfen will,
was er lernt. - Mit dieser Anschauung von schweigendem
Lernen haben die Pythagoreer einem Grundsatz gehuldigt,
der allein die Stufen der Erkenntnis hinaufführen kann. Wer
den Erkenntnis weg gegangen ist, weiß das. Er hat nur Mit-
leid für diejenigen, die sich durch vorzeitiges Urteilen und
Kritisieren den Erkenntnisweg verbauen. Unsere Zeit ist ganz
erfüllt von diesem unreifen kritischen Geist. Man braucht sich
nur in dem umzuschauen, was von unseren Rednern geredet,
was von unseren Schriftstellern geschrieben wird. Wäre nur
ein wenig pythagoreischer Geist in unserer Zeit zu finden, so
bliebe wohl viel mehr als neun Zehntel von dem ungesprochen,
was gesprochen wird, und ebensoviel von dem ungedruckt, was
gedruckt wird. Wer heute ein paar Beobachtungen gemacht,
ein paar Begriffe sich gebildet hat, der glaubt sich über die
wesentlichsten Dinge zu einem Urteil berechtigt. Aber solches
Recht hat nur der, welcher verstanden hat, jahrelang sein Ur-
teil zurückzuhalten, und unbefangen hinzuhören auf das, was
die Weisen der Menschheit gesagt haben. Prüfet alles, und das
beste behaltet, ist ein trüglicher Grundsatz in der Seele dessen,
der nicht reif zur Prüfung ist. Unser Urteil ist so lange nichts,
gar nichts vor der Wahrheit, so lange wir es nicht haben von
der Wahrheit selbst prüfen lassen. Statt zu sagen: ich prüfe
alles, und will das beste behalten, sollten viele sagen: ich will
mich von der Wahrheit prüfen lassen; und wenn ich gut genug
bin für sie, dann mag sie mich behalten. Wer nicht Jahre hin-
durch sich geübt hat in der Anschmiegung, im Einleben, in
der rückhaltlosen Hingabe an das Urteil der weisen Führer
der Menschheit, dessen Urteil ist Schall und Rauch.
Dies ist gewiß ein unsympathischer Grundsatz in unserem
Zeitalter der «Aufklärung», der öffentlichen Kritikasterei
und des Journalistengeistes. Aber ihm gemäß lebten die py-
thagoreischen Hörer.
Hatte der Hörer die notwendige Reife erlangt, so kam für
ihn der «goldene Tag», mit dem die Offenbarungen über das
Wesen der Natur und des Menschengeistes begannen. Es
wurde ihm die Gesetzmäßigkeit des körperlichen und seeli-
schen Daseins allmählich klar gemacht. Wer mit dem alltäg-
lichen, ungeläuterten Verstände diese Gesetzmäßigkeit erfas-
sen will, begreift nichts von ihr. - Goethe deutete einmal auf
das, worauf es hier ankommt. Als er sich in Italien und Si-
zilien eifrig dem Studium der Pflanzenwelt hingegeben und
seine heute viel besprochenen, aber wenig verstandenen An-
schauungen über die «Urpflanze» sich gebildet hatte, schrieb
er nach Deutschland, daß er eine Reise nach Indien machen
wolle, nicht um Neues zu entdecken, sondern das Entdeckte
nach seiner Art anzuschauen. Es kommt eben nicht darauf an,
die Gesetze zu kennen, welche dieVerstandes-BotanikzuTage
gefördert hat, sondern darauf, mit Hilfe dieser Gesetze in das
innere Wesen des Pflanzenlebens einzudringen. Man kann
ein gelehrter Professor der Botanik sein, und nichts von die-
sem Leben begreifen. Unsere Gelehrten haben da allerdings
besonders merkwürdige Auffassungen. Sie glauben entweder,
in das Innere der Natur könne man überhaupt nicht dringen;
oder sie behaupten, unsere Forschung sei eben noch nicht «so
weit». Sie ahnen nicht, daß sie durch diese Forschung der Sinne
und des Verstandes zwar in segensreicher Weise unsere Kennt-
nisse immer vermehren können, daß aber zur Erforschung
des «Inneren» eine ganz andere Denkweise nötig ist, als sie
entwickeln. Sie wollen von dem Erfinder der Uhr nichts wis-
sen, indem sie nach den Grundsätzen der Physik die Uhr stu-
dieren. Weil sie in der Uhr kein kleines Geistchen finden kön-
nen, das die Zeiger vorwärts treibt, leugnen sie entweder den
Geist, der die Räder gefügt, oder sie behaupten: er sei dem
menschlichen Erkennen entweder ganz, oder «bis heute» un-
zugänglich. Wer von dem Geist in der Natur spricht, wird be-
schuldigt, bloß mit Worten zu phantasieren. Nun, er kann
eben nicht dafür, daß die Anschuldiger bloße Worte hören.
Die Pythagoreer-Schüler wurden auf der zweiten Stufe ihres
Unterrichtes in den Geist der Natur eingeführt.
Hatten sie diese Stufe überschritten, dann erst konnten sie
zur «großen» Einweihung geführt werden. Jetzt waren sie
reif, die Geheimnisse des Daseins in sich aufzunehmen. Ihr
geistiges Auge war jetzt genügend dazu gestärkt. Sie lernten
nunmehr nicht bloß den Geist in der Natur, sondern auch die
Absichten dieses Geistes [kennen]. - Von da ab kann über das
Wesen der Mysterien nicht mehr im eigentlichen Sinne, son-
dern nur noch bildlich gesprochen werden, weil unsere Spra-
che ganz dem Verstände angepaßt ist und gar keine Worte für
die höhere Erkenntnisart hat, die hier in Betracht kommt.
So bitte ich denn auch das Folgende zu verstehen. - Vor allen
Dingen lernte der Mensch über sein persönliches Leben hin-
ausschauen. Er erfuhr davon, daß dieses sein Leben die Wie-
derholung früherer Leben auf neuer Daseinsstufe ist. Er
konnte sich davon überzeugen, daß dasjenige, was man im
rechten Sinne Seele zu nennen berechtigt ist, sich oftmals ver-
körpert und wiederverkörpert, und daß er die Fähigkeiten,
Erlebnisse und Handlungen dieses seines Lebens als Wirkun-
gen von Ursachen aufzufassen hat, die in seinen früheren
Leben liegen. Auch wurde ihm klar, daß die Taten und Er-
lebnisse seines gegenwärtigen Lebens in einem zukünftigen
Dasein ihre Wirkungen nach sich ziehen werden. - Da die
Absicht ist, über die großen Gesetze von «Wiederverkör-
perung » und « Weltgesetzmäßigkeit», oder « Reinkarnation »
und «Karma» in dieser Zeitschrift ausführlich zu sprechen,
so sei hier bei diesen Andeutungen stehen geblieben. - Diese
Wahrheiten konnten für den Mysterienschüler so zur Über-
zeugung werden, wie für den gewöhnlichen Menschen die
Wahrheit« zweimal zwei ist vier », weil er dazu reif war auf der
dritten Stufe. Aber man kann auch auf dieser Stufe nur ein
völlig sicheres Urteil über diese Erkenntnisse haben, weil man
erst auf ihr ihren Sinn richtig zu verstehen in der Lage ist. -
Es wird auch heute wie zu allen Zeiten an diesen Vorstellun-
gen viel herumkritisiert. Was da aber kritisiert wird, sind nur
die willkürlichen Gedanken der Kritiker selbst; und die sind
ganz ohne Belang. - Im übrigen soll aber durchaus zugestan-
den werden, daß viele Anhänger der Wiederverkörperungs-
Idee auch keine besseren Vorstellungen von ihr haben, als
deren Gegner. - Es soll hier natürlich nicht behauptet werden,
daß heute jeder diese Lehren versteht, der sie verteidigt. Auch
unter diesen Verteidigern gibt es viele, die durchaus zu be-
quem oder zu - selbstbewußt sind, um schweigend zu lernen,
bevor sie lehren.
Wenn nun vielleicht auch nicht bei den Pythagoreern, so
gab es doch in andern Mysterien nach der «großen» Offen-
barungs-Einweihung die Stufe der eigentlichen mystischen Ein-
weihung. Es war diejenige, in der sich nicht allein Anschauung
und Denken, sondern das gan%e Leben über die unmittelbare
menschliche Persönlichkeit hinaus erweiterte. Hier wurde der
Jünger nicht nur ein Weiser, sondern ein Seher. Er nahm nun
nicht nur das Wesen der Dinge wahr, sondern er erlebte es
mit ihnen. Es ist sehr schwierig, eine Vorstellung von dem zu
geben, um was es sich da handelt. Der Seher empfindet nicht
bloß die Dinge, sondern er empfindet in den Dingen; er denkt
nicht über die Natur, sondern er tritt aus sich heraus, und
denkt in der Natur. - Der Theosoph kennt diesen Vorgang
und spricht von ihm, indem er ihn das Öffnen der astralen
Sinne nennt. - Der Verstandesmensch geht an den Sehern vor-
bei; sie müssen ihm Schwärmer, wenn nicht etwas Schlimmeres
sein. Wer Sinn für ihre Gaben hat, der hört auf sie mit from-
mer Scheu, denn er empfindet, daß aus ihnen nicht mehr eine
menschliche Persönlichkeit spricht, sondern die lebendige Weis-
heit selbst. Sie haben ihre persönlichen Neigungen, Sym-
pathien und Meinungen hingeopfert, damit sie ihren Mund
leihen konnten dem ewigen Worte, durch das «alle Dinge
gemacht sind». Denn wo noch menschliche Meinung spricht,
wo Neigungen und Interessen in Betracht kommen, da
schweigt die ewige Weisheit. Und dringt sie an die Ohren
derer, die keine Empfindung dafür haben, dann erscheint sie
als persönliches Menschenwort, wenn göttliche Kraft auch
immer in ihr liegen mag. - Von den Sehern selbst könnten
aber die Menschen hören lernen, denn der Seher ist schweig-
sam in seiner menschlichen Persönlichkeit, wenn der Wahr-
heit Stimme zu ihm spricht. Sein Urteil - schweigt, seine Inter-
essen und Neigungen Hegen vor ihm, so bedeutungslos für
ihn, wie der Tisch, der vor ihm steht, bedeutungslos ist, er ist
ganz nur dem inneren Hören hingegeben.
Nur der Seher soll zur folgenden Stufe emporsteigen, wel-
che die Alten die des Theurgen nannten, und die in der deut-
schen Sprache dadurch angedeutet werden kann, daß man sie
als die bezeichnet, auf der eine «vollständige Umkehrung der
menschlichen Fähigkeiten» stattfindet, Kräfte, die sonst nur
in den Menschen einströmen, die strömen jetzt von ihm aus.
Auf gewissen Gebieten, in denen der Mensch bloß Diener
ist, wird derjenige Herrscher, dessen Fähigkeiten «gewen-
det» sind. Und da nur der Seher die Tragweite und Wirkens-
art solcher Kräfte zu beurteilen in der Lage ist, wird der
Mensch diese Kräfte dann mißbrauchen, wenn er in ihren
Besitz gelangt, ohne die Reinheit des Sehers erlangt zu haben.
Und diese «Weisheit ohne Reinheit» ist durch eine gewisse
Verkettung von Umständen, die hier nicht zu erörtern sind,
möglich. - In ausgezeichneter Weise spricht Schure von der
höheren Einweihung mit Bezug auf die Pythagoreer: «... Auf
dem Gipfel verschwand die Erde wie ein Schatten, gleich
einem sterbenden Stern. Von da aus eröffneten sich die himm-
lischen Aussichten - und es entrollte sich, wie ein wunder-
bares Ganzes, der < Gesichtspunkt der Höhe>, die <Epi-
phanie > des Universums. Der Zweck der Unterweisung war
nicht, den Menschen aufgehen zu lassen in Kontemplation
oder Ekstase. Der Lehrer hatte die Jünger in die unberechen-
baren Regionen des Kosmos geführt, er hatte sie getaucht
in die Abgründe des Unsichtbaren. Von der furchtbaren Reise
waren die wahren Eingeweihten auf die Erde besser zurück-
gekommen, kräftiger und gestählter für die Prüfungen des
Lebens ... Auf die Einweihung der Intelligenz war diejenige
des Wollens gefolgt, die schwierigste von allen. Denn es han-
delte sich darum, den Jünger aufzunehmen in die Wahrheit,
in die Tiefen des Lebens... Auf dieser Höhe wurde der Mensch
Adept, und besaß eine genügende Energie, um in den Besitz
neuer Kräfte und Fähigkeiten zu kommen. Die inneren Kräfte
der Seele öffneten sich, und der Wille strahlte in die andern.»
- Zu allem, was der Mensch vor Erreichung dieser Stufe voll-
bringt, liegen die Ursachen in Regionen, die ihm vollkommen
unbekannt sind. Des Theurgen Blick sieht in diese Regionen;
und bewußtläßt er von sich ausstrahlen, was in dem Menschen
gewöhnlich in den tiefsten Schachten der Seele unbewußt
schlummert. Er steht Auge in Auge gegenüber dem Führer,
der ihn vorher unsichtbar «von hinten» geleitet hat. Mit sol-
chen Gedanken gerüstet, soll man Sätze lesen, wie den fol-
genden aus dem alten Weisheitsbuch « Mundakopanishat»:
« Wenn der Seher den goldfarbenen Schöpfer sieht, den Herrn,
den Geist, dessen Schoß Brahman ist, dann, nachdem er Ver-
dienst und Mangel an Verdienst weggeworfen hat, fleckenlos,
erreicht der Weise die höchste Vereinigung.»
Auf die Gipfel, die also erreicht werden, richtet Schure das
Auge; und der mystische Glaube an die leuchtende Kraft die-
ser Gipfel gibt ihm die Fähigkeit, einige der Nebelwolken zu
durchschauen, die das wahre Wesen der großen Führer der
Menschheit verhüllen. Das befähigt ihn, sie zu schildern, die
großen Eingeweihten: Rama, Krishna, Hermes, Moses, Or-
pheus, Pythagoras, Piaton und Jesus. Stufenweise sind durch
diese Führer die Kräfte in die Menschheit eingestrahlt worden,
je nach der Reife, die in den Zeiten das Menschengeschlecht
erlangt hatte. Rama führte zu dem Tore der Weisheit, Krishna
und Hermes gaben einigen den Schlüssel in die Hand, Moses,
Orpheus und Pythagoras zeigten das Innere, und Jesus, der
Christus, stellte das Heiligtum dar. - Es hieße den ganz eige-
nen Zauber des Schureschen Buches beeinträchtigen, wollte
man die Ausführungen nacherzählen, in die, so wie sie sind,
ein jeder selbst sich vertiefen sollte.
Schure" deutet daraufhin, wie durch den Stifter des Christen-
tums in der Form, daß es die Ohren der Menschheit hören
konnten, die Weisheitskräfte der Mysterien in die geistigen
Adern der Menschheit gegossen worden sind. - Und auf den
Wegen, die Schure darstellt, ist auch auf diesem Gebiete die
Wahrheit zu suchen. - Die Kraft, die von Jesu Persönlichkeit
ausstrahlt, ist lebendige Kraft in den Herzen aller derer, die sie
in sich strömen lassen. Verstehen kann das lebendige Wort, das
in dieser Kraft wirkt, nur, wer sich durch das Verständnis der
Mysterienweisheit den Schlüssel zu diesem Worte holt. Und
dazu gibt, soweit möglich, A.nnie Besants «Esoterisches Chri-
stentum» die Grundlage. Es ist ein Buch, durch das der ver-
borgene Sinn der Bibelworte sich für den hingebungsvollen
Leser enthüllt.
In unserer Zeit sind solche Schlüsselbücher notwendig. Die
Menschheit war in einem anderen Zustand als dem gegen-
wärtigen, als sie das Evangelium, die «frohe Botschaft» er-
hielt. Heute hat der Verstand eine ganz andere Schulung als
vor neunzehn Jahrhunderten. Heute kann der Mensch die
lebendige Kraft des «offenbaren Wortes» nur erleben, wenn
er mit seiner Urteilsfähigkeit diese Kraft erfassen kann. Aber
was wahr ist, bleibt ewig wahr; auch wenn die Art, wie es der
Mensch erfassen muß, sich im Laufe der Zeiten ändert. Daß
heute der Verstand, die Urteilsfähigkeit ihre Rechte geltend
machen, ist eine Notwendigkeit; der Kenner der Mensch-
heitentwickelung weiß, daß das so sein muß. Deshalb gibt er
heute dem Verstände, was vor Jahrhunderten anderen Seelen-
kräften gegeben worden ist. - Aus dieser, und aus keiner
anderen Erkenntnis heraus sollte der wahrhafte Theosoph
wirken. Annie Besants «Esoterisches Christentum» will so
aufgefaßt werden.
Der Theosoph weiß, daß im Christentum die Wahrheit ist.
Und er weiß auch, daß Jesus, in dem der Christus verkörpert
war, kein Führer der Toten ist, sondern ein Führer der Leben-
digen. Er versteht das große Meisterwort: Ich bin bei euch
alle Tage bis ans Ende. An den lebendigen Führer, nicht an den
der geschichtlichen Berichte wendet sich zuerst, wer so wie
Annie Besant das Christentum erklären will. Was das «leben-
dige Wort» noch heute dem Ohre verkündet, das lauschen will:
das strahlt dann ein in die Evangelienberichte. Jawohl, er ist
dageblieben bis heute, der Kündiger des Wortes, und er kann
uns selbst sagen, wie wir den Buchstaben zu erfassen haben,
der von seinen Taten und Reden berichtet. Esoterisch sollen
die «frohen Botschaften» erfaßt werden, das heißt, erst muß
in unserem Innern die lebendige Kraft erwacht sein, die ihnen
den Stempel des «Heiligen» aufdrückt. Und weil der Ver-
stand, die Urteilskraft die großen Mittel der gegenwärtigen
Kultur sind, müssen sie befreit werden aus den Banden der
bloß sinnlichen Erfassung, des rein handgreiflichen Ver-
stehens der Wirklichkeit. Der Verstand der Gegenwarts-
menschheit muß selbst eintauchen in das Meer, das ihn mit
wahrer Frömmigkeit erfüllt. Denn es ist nicht richtig, daß der
kluge Verstand nur die «Illusionen» zerstört, die der religiöse
Sinn um die Dinge gewoben hat. Das vollbringt nur derjenige
Verstand, der geblendet ist und festgebannt von den Erfolgen,
die er in der Erkenntnis und Beherrschung der rein materiellen
Naturkräfte erlangt hat. - Die Menschen der Gegenwart, und
mit ihnen unsere Physiker, Biologen, Kulturgeschichtschreiber
glauben sich/m in ihrer rein auf das Tatsächliche gerichteten
Verstandeswelt. In Wahrheit leben sie unter einer allbeherr-
schenden Suggestion. Frei bis zu einem gewissen Grade könntet
ihr werden, ihr Physiker, Biologen und Kulturgeschichtfor-
scher der Gegenwart, wenn ihr erkennen wolltet, daß eure
Vorstellungen von Wirklichkeit, ja von Stoffen und Kräften
der Welt, von Menschengeschichte und Kulturentwickelung
nichts sind als Massen-Suggestionen, Einst wird die Binde von
eueren Augen fallen, und dann werdet ihr erst erfahren, inwie-
fern Wahrheit und nicht Irrtum ist, was ihr über Elektrizität
und Licht, über die Entwicklung der Tiere und des Men-
schen denkt. Denn, wohlgemerkt, auch die Theosophen sehen
eure Behauptungen nicht als Irrtum, sondern als Wahrheit an.
Denn auch eure Naturanschauung ist ihnen ein religiöses Be-
kenntnis, und wenn sie sagen: sie wollen den Wahrheitskern
in allen Bekenntnissen suchen, so tun sie das nicht allein in
bezug auf Buddha, Moses und Christus, sondern auch in be-
zug auf Lamarck, Darwin und Haeckel. - Und Schriften wie
die genannten von Edouard Schure und Annie Besant sind be-
rufen, von eueren Augen die Binden zu nehmen; sie sollen
euch euere Suggestionen durchschauen lehren. Insofern
kommt es bei solchen Büchern gar nicht allein auf das an, was
in ihnen wörtlich steht, sondern auf die verborgenen Kräfte,
welche den Verfassern die Federn führten, und die sich in die
Adern der Leser ergießen, so daß diese von einer neuen Wahr-
heits-Gesinnung durchrieselt werden. Leser, die von solchen
Büchern die rechte Wirkung erfahren, werden verstandes-
gemäß in gewisser Beziehung eingeweiht. - Wer hinter die-
sem Satze nicht die Behauptung eines Wunders wittert, und
wer imstande ist, etwas anderes als eine Phrase in ihm zu se-
hen, der wird auch verstehen, wenn ihm diese Bücher nicht
bloß mit dem Ansinnen zur gewöhnlichen Lektüre, sondern
mit dem ganz anderen vorgelegt werden, daß sie durch Kräfte,
mit denen sie geschrieben sind, in ihm schlummernde Kräfte
erwecken sollen, wenn auch diese Kräfte zunächst nur die der
Verstandesseele sein können. Aber für unsere Zeit gibt es keine
echte Einweihung, die nicht durch den Verstand hindurch-
ginge. - Wer heute mit Umgehung des Verstandes zu den
«höheren Geheimnissen» führen will, weiß nichts von den
«Zeichen der Zeit»; und er kann nur neue Suggestionen an
die Stelle der alten setzen.
Meditation
Wer den Weltengeist leugnet, weiß nicht, daß er sich selbst
leugnet. - Ein solcher aber begeht nicht bloß einen Irrtum,
sondern er versäumt seine erste Pflicht: selbst aus dem Geist
heraus %u wirken.
R E I N K A R N A T I O N UND KARMA, V O M S T A N D P U N K T E
DER M O D E R N E N NATURWISSENSCHAFT
NOTWENDIGE VORSTELLUNGEN
Anmerkungen
1
Das Obige muß ausdrücklich gesagt werden, denn die flüchtigen Leser
sind heute zahlreich, und sie sind jederzeit gern bereit, jeden möglichen Un-
sinn in die Ausführungen eines Denkers hinein^ulesen, auch wenn dieser be-
müht ist, ganz genau sich auszusprechen. Deshalb sei hier noch besonders hin-
zugefügt, daß es mir gar nicht beifallen kann, diejenigen zu bekämpfen, die,
auf naturwissenschaftlichen Voraussetzungen fußend, dem Problem der «Ur-
zeugung» nachgehen. Aber wenn es auch Tatsache sein kann, daß irgendwie
bloß «leblose» Substanzen sich zu lebendigem Eiweiß vereinigen, so folgt
daraus nicht, daß, richtig verstanden, Redis Anschauung falsch sei.
2
Die Getreuen der Wundtschen Schule mögen sich entsetzlich berührt
fühlen, daß ich in so altvaterischer Weise von «Seele» spreche, während sie
doch auf die Worte ihres Meisters schwören, der es eben wieder verkündet
hat, daß man nicht von «Seele» sprechen soll, weil von dieser «überwirk-
lichen» Seelensubstanz, nachdem «sich die Mythologisierung der Erschei-
nungen ins Transzendente verflüchtigt» hat, nichts übriggeblieben ist, als ein
«zusammenhängendes Geschehen». N u n ja: Wundtsche Weisheit kommt der
Behauptung gleich, daß man nicht von «Lilie » reden dürfe, weil man es ja nur
mit Farbe, Form, Wachstumsprozessen usw. zu tun habe. (Wundt: Natur-
wissenschaft und Psychologie, Leipzig 1903.)
3
Es mag heute viele geben, die sich gerne recht schnell über die Lehren der
Geisteswissenschaft unterrichten möchten. Solche werden es recht unbequem
finden, wenn man ihnen in umständlicher Weise die naturwissenschaftlichen
Tatsachen erst einmal in einem solchen Lichte vorführt, daß sie als Grundlage
eines anthroposophischen Aufbaues dienen müssen. Sie sagen: wir wollen
etwas von Geisteswissenschaft hören, und ihr erzählt uns naturwissenschaft-
liche Dinge, die jeder Gebildete kennt. Das ist ein Einwand, der so recht klar
zeigt, wie unsere Zeitgenossen gar nicht ernstlich denken wollen. In Wahrheit
wissen die, welche in der angedeuteten Weise reden, gar nichts von der Trag-
weite ihrer Kenntnisse; der Astronom nichts von den Konsequenzen der
Astronomie, der Chemiker nichts von denen der Chemie usw. Und es gibt für
sie kein Heil, als bescheiden %u sein und still zuzuhören, wenn ihnen klargemacht wird,
wie sie — wegen der Flüchtigkeit ihres Denkens gar nichts wissen von dem, was sie in
ihrem Dünkel ganz ausgeschöpft t(u haben glauben. - Und auch Anthroposophen
meinen oft, es sei unnötig, die Überzeugungen von Karma und Reinkarnation
mit Ergebnissen der Naturwissenschaft zu belegen. Sie wissen nicht, daß dies
die Aufgabe der Unterrassen ist, denen die Bewohner Europas und Amerikas
angehören; und daß ohne diese Grundlage die Mitglieder dieser Rassen nicht
wahrhaft zur geisteswissenschaftlichen Einsicht kommen können. Wer nur
nachreden will, was er von den großen Lehrern des Ostens hört, der kann inner-
halb der europäisch-amerikanischen Gesittung nicht Anthroposoph werden.
4
Von manchem mag gegen die obigen Ausführungen eingewendet werden,
daß ja die Naturwissenschaft in der gegenwärtigen Gestalt der anthroposophi-
schen Lehre widerspräche, und daß zum Beispiel in H.P.Blavatskys «Ge-
heimlehre» eine andere Abstammungslehre sich finde, als die von Haeckel
vertretene ist. Wie es sich damit verhält, wird später einmal auseinandergesetzt
werden. Hier soll ja gar nicht gezeigt werden, wie sich der «Neue Glaube»
zur «Geheimlehre» verhält, sondern lediglich, wie er sich %usich selbst verhalten
müßte, wenn er seine eigenen Voraussetzungen verstände.
5
Dem Schreiber dieses Aufsatzes kann schon aus dem Grunde kein Ver-
kennen der großen Verdienste unserer Neu-Gläubigen vorgeworfen werden,
weil er doch selbst in seinem Buche «Welt- und Lebensanschauungen im neun-
zehnten Jahrhundert» diese Verdienste im Zusammenhange der Geistesent-
wickelung ihrer Zeit in vollem Maße gewürdigt und mit Anerkennung ihres
Wertes dargestellt hat.
WIE KARMA WIRKT
Der Schlaf ist oft der jüngere Bruder des Todes genannt wor-
den. Mehr, als man bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht
anzunehmen geneigt ist, versinnlicht dieses Gleichnis die
Wege des Menschengeistes. Denn es gibt eine Idee davon, in
welchem Sinne die mannigfaltigen Verkörperungen, welche
dieser Menschengeist durchmacht, zusammenhängen. In dem
Aufsatz «Reinkarnation und Karma, vom Standpunkte der
modernen Naturwissenschaft notwendige Vorstellungen » ist
dargelegt worden, daß die gegenwärtige naturwissenschaft-
liche Vorstellungsart, wenn sie sich nur wirklich selbst ver-
steht, zu der uralten Lehre von der Entwickelung des ewigen
Menschengeistes durch viele Leben hindurch führt. Notwen-
dig schließt sich an diese Erkenntnis die Frage: wie hängen
diese mannigfaltigen Leben miteinander zusammen? In wel-
chem Sinne ist das Leben eines Menschen die Wirkung seiner
früheren Verkörperungen, und wie wird es zur Ursache der
späteren? Ein Bild des Zusammenhanges von Ursache und
Wirkung auf diesem Felde gibt das Gleichnis vom Schlafe1.
Ich stehe des Morgens auf. Meine fortlaufende Tätigkeit war
des Nachts unterbrochen. Ich kann diese Tätigkeit des Mor-
gens nicht in behebiger Weise wieder aufnehmen, wenn Regel
und Zusammenhang in meinem Leben sein soll. Mit dem, was
ich gestern getan habe, sind die Vorbedingungen geschaffen
für das, was ich heute zu tun habe. Ich muß an das Ergebnis
meines Wirkens von gestern anknüpfen. In vollem Sinne des
Wortes gilt es: meine Taten von gestern sind mein Schicksal
von heute. Ich habe mir selbst die Ursachen geformt, zu
denen ich die Wirkungen hinzufügen muß. Und ich finde diese
Ursachen vor, nachdem ich mich eine Weile von ihnen zu-
rückgezogen habe. Sie gehören zu mir, auch wenn ich einige
Zeit von ihnen getrennt war.
Noch in einem anderen Sinne gehören die Wirkungen mei-
ner Erlebnisse von gestern zu mir. Ich bin selbst wohl durch
sie verändert worden. Man nehme an, ich habe etwas unter-
nommen, das mir nur halb gelungen ist. Ich habe nachge-
dacht, warum dies teilweise Mißlingen mich getroffen hat.
Wenn ich etwas Ähnliches wieder zu verrichten habe, so ver-
meide ich die erkannten Fehler. Also ich habe mir eine neue
Fähigkeit angeeignet. Dadurch sind meine Erlebnisse von
gestern die Ursachen meiner Fähigkeiten von heute. Meine
Vergangenheit bleibt mit mir verbunden; sie lebt in meiner
Gegenwart weiter; und sie wird mir in meine Zukunft hinein
weiter folgen. Ich habe mir durch meine Vergangenheit die
Lage geschaffen, in der ich gegenwärtig mich befinde. Und
der Sinn des Lebens verlangt, daß ich mit dieser Lage verknüpft
bleibe. Sinnlos wäre es doch, wenn ich unter regelmäßigen
Verhältnissen ein Haus, das ich mir habe bauen lassen, nicht
beziehen würde.
Nicht erwachen müßte ich heute morgen, sondern neu, aus
dem Nichts heraus, geschaffen werden, wenn die Wirkungen
meiner Taten von gestern nicht mein Schicksal von heute sein
sollen. Und neugeschaffen, aus dem Nichts heraus entstanden,
müßte der Menschengeist sein, wenn nicht die Ergebnisse sei-
ner früheren Leben verknüpft blieben mit seinen späteren. Ja,
der Mensch kann in gar keiner anderen Lage leben als in der-
jenigen, die durch sein Vorleben geschaffen worden ist. Er
kann es ebensowenig wie die Tiere, die nach ihrer Einwan-
derung in die Höhlen von Kentucky das Sehvermögen ver-
loren haben, anderswo als in diesen Höhlen leben können.
Sie haben sich durch ihre Tat, durch die Einwanderung, die
Bedingungen ihres späteren Lebens geschaffen. Eine Wesen-
heit, die einmal tätig war, steht in der Folge eben nicht mehr
isoliert da; sie hat ihr Selbst in ihre Taten gelegt. Und alles,
was sie wird, ist fortan verknüpft mit dem, was aus den Ta-
ten wird. Diese Verknüpfung einer Wesenheit mit den Er-
gebnissen ihrer Taten ist das die ganze Welt beherrschende
Gesetz vom Karma. Die Schicksal gewordene Tätigkeit ist
Karma.
Und deswegen ist der Schlaf ein gutes Bild für den Tod,
weil der Mensch während des Schlafes in der Tat dem Schau-
platz entzogen ist, auf dem sein Schicksal ihn erwartet. Wäh-
rend wir schlafen, laufen die Ereignisse auf diesem Schau-
platz weiter. Wir haben eine Zeitlang auf diesen Lauf keinen
Einfluß. Dennoch finden wir die Wirkungen unserer Taten
wieder, und müssen an sie anknüpfen. Wirklich verkörpert
sich unsere Persönlichkeit jeden Morgen aufs neue in unserer
Tatenwelt. Was über die Nacht von uns getrennt war, ist
tagsüber gleichsam um uns gelegt.
So ist es mit den Taten unserer früheren Verkörperungen.
Ihre Ergebnisse sind der Welt, in der wir verkörpert waren,
einverleibt. Sie gehören aber zu uns, wie das Leben in den
Höhlen zu den Tieren gehört, die durch dieses Leben das
Sehvermögen verloren haben. Wie diese Tiere nur leben kön-
nen, wenn sie die Umgebung wiederfinden, an die sie sich
angepaßt haben, so kann der Menschengeist nur leben in der
Umgebung, die er durch seine Taten, als die ihm entspre-
chende, sich geschaffen hat.
Auch für den Vergleich der Seele mit dem Gedächtnis ist
eine Berufung auf die gegenwärtige Naturwissenschaft mög-
lich. Im Jahre 1870 hat der Naturforscher Ewald Hering eine
Abhandlung veröffentlicht, die den Titel trägt: «Über das
Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten
Materie». Und Ernst Haeckel stimmt mit den Ansichten
Herings überein. Er sagt in seiner Arbeit «Über die Wellen-
zeugung der Lebensteilchen» das Folgende: «In der Tat über-
zeugt uns jedes tiefere Nachdenken, daß ohne die Annahme
eines unbewußten Gedächtnisses der lebenden Materie die wich-
tigsten Lebensfunktionen überhaupt unerklärbar sind. Das
Vermögen der Vorstellung und Begriffsbildung, des Denkens
und Bewußtseins, der Übung und Gewöhnung, der Ernäh-
rung und Fortpflanzung beruht auf der Funktion des unbe-
wußten Gedächtnissesy dessen Tätigkeit unendlich viel bedeu-
tungsvoller ist, als diejenige des bewußten Gedächtnisses. Mit
Recht sagt Hering, <daß es das Gedächtnis ist, dem wir fast
alles verdanken, was wir sind und haben>.» Und nun versucht
Haeckel die Vorgänge der Vererbmgumerhalb der Lebewesen
auf dieses unbewußte Gedächtnis zurückzuführen. Daß das
Tochterwesen dem Mutterwesen ähnlich ist, daß von dem
letzteren die Eigenschaften auf das erstere vererbt werden,
soll darnach auf dem unbewußten Gedächtnis des Lebendigen
beruhen, das im Laufe der Fortpflanzung die Erinnerung an
vorhergehende Formen bewahrt. - Es ist hier nicht zu unter-
suchen, was an den Darstellungen Herings undHaeckels natur-
wissenschaftlich haltbar ist; für die Ziele, die hier verfolgt
werden, ist lediglich wichtig, daß der Naturforscher sich ge-
zwungen sieht, da, wo er über Geburt und Tod hinausgeht,
wo er etwas voraussetzen muß, was den Tod überdauert, daß
er da eine Wesenheit annimmt, die er sich dem Gedächtnis
ähnlich denkt. Er greift naturgemäß zu einer übersinnlichen
Kraft, da, wo die Gesetze der physischen Natur nicht hin-
reichen.
Man muß übrigens beachten, daß es sich hier zunächst nur
um einen Vergleich, um ein Bild handelt, wenn von Gedächt-
nis gesprochen wird. Man darf nicht glauben, daß wir unter
Seele etwas verstehen, was ohne weiteres dem bewußten Ge-
dächtnis gleichkommt. Auch im gewöhnlichen Leben ist ja
nicht immer bewußtes Gedächtnis im Spiele, wenn man sich
die Erlebnisse der Vergangenheit zunutze macht. Die Früchte
dieser Erlebnisse tragen wir in uns, auch wenn wir uns nicht
bewußt an das Erlebte immer erinnern. Wer erinnert sich an
alle Einzelheiten, durch die er lesen und schreiben gelernt hat?
Ja, wem sind diese Einzelheiten überhaupt alle zum Bewußt-
sein gekommen? Die Gewohnheit zum Beispiel ist eine Art
unbewußten Gedächtnisses. - Nur hingedeutet werden soll
eben durch den Vergleich mit dem Gedächtnis auf das Seelische,
das sich zwischen Körper und Geist einschiebt und den Ver-
mittler bildet zwischen dem Ewigen und dem, was als Physi-
sches in den Lauf von Geburt und Tod eingesponnen ist.
Januar 1904
Begreiflich ist, daß bei den meisten, die heute von übersinn-
lichen Wahrheiten hören, sogleich die Frage auftaucht: «Wie
kann man selbst zu solchen Erkenntnissen gelangen?» Es
wird ja oft als ein Charakterzeichen der Menschen unserer
Gegenwart hingestellt, daß sie nichts auf Treu und Glauben,
auf «eine bloße Autorität» hin annehmen, sondern nur auf
ihr eigenes Urteil bauen wollen. Wenn daher Mystiker und
Theosophen Erkenntnisse aussprechen über die übersinn-
lichen Teile des Menschen, über das Schicksal von Menschen-
seele und Menschengeist vor der Geburt und nach dem Tode,
so wird ihnen, aus der genannten Grundforderung unserer
Zeit heraus, entgegnet: derlei «Dogmen» haben für den Men-
schen erst dann eine Bedeutung, wenn ihr ihm den Weg weist,
auf dem er sich selbst von ihrer Wahrheit überzeugen kann.
Diese Forderung ist gewiß berechtigt; und es kann keinen
wahren Mystiker oder Theosophen geben, der diese Berech-
tigung nicht anerkennen wollte. Aber ebenso gewiß ist, daß
bei vielen, die heute diese Forderung stellen, sich zugleich die
Gefühle des Zweifels und der Ablehnung gegenüber den
Behauptungen des Mystikers geltend machen. Diese Ableh-
nung tritt besonders dann deutlich zutage, wenn der Mystiker
damit anfängt, Andeutungen darüber zu machen, wie man zu
den von ihm dargestellten Wahrheiten gelangt. Man sagt ihm
dann gar oft: was wahr ist, muß sich beweisen lassen; beweise
uns also, was du behauptest. Man deutet weiter an: die Wahr-
heit muß eine einfache, klare Sache sein, die dem «schlichten»
Verstände einleuchtet; sie kann doch nicht der Besitz einiger
weniger Auserwählter sein, die sie einer besonderen «Er-
leuchtung» verdanken. Und so sieht sich der Träger über-
sinnlicher Wahrheiten gar oft vor Menschen gestellt, die ihn
zurückweisen, weil er, nach ihrer Meinung, ihnen für seine
Behauptungen nicht die Beweise erbringen könne, die ihnen
doch der Naturforscher zum Beispiel in einer ihnen verstand-
liehen Sprache erbringe. - Andere sind wieder, die vorsich-
tiger mit der Zurückweisung sind, die aber doch zurück-
zucken vor einer wahrhaften Beschäftigung mit diesen Din-
gen, weil sie «ihrem Verstände einmal nicht begreiflich
erscheinen». Sie begnügen sich dann wohl mit der - meist
halben - Beruhigung: was über Geburt und Tod hinausliegt,
was man nicht mit den Sinnen wahrnehmen kann, davon
«kann der Mensch eben nichts wissen».
Nur einige von den Empfindungen und Gedanken sind da-
mit angeführt, auf die gegenwärtig der Träger einer spirituel-
len Weltanschauung stößt. Aber sie sind mit all den andern
gleichartig, die einen Grundton unseres Zeitalters bilden.
Über diesen Grundton muß sich derjenige klar sein, der sich
in den Dienst einer spirituellen Bewegung stellt.
Der Mystiker selbst weiß für sich^ daß seine Erkenntnisse
ebenso auf - übersinnlichen - Tatsachen beruhen, wie zum
Beispiel die Beschreibungen, die ein Afrikareisender von sei-
nen Erlebnissen und Wahrnehmungen gibt. Für ihn gilt, was
Annie Besant in ihrer Schrift «Der Tod und was dann?» sagt:
«Wenn ein wettergebräunter Afrikaforscher uns von seinen
Erlebnissen erzählt, uns die Tiere beschreibt, deren Eigen-
schaften und Lebensgewohnheiten er studiert hat, uns die
Gegenden schildert, welche er durchwandert hat und uns
deren Produkte und charakteristische Eigentümlichkeiten
aufzählt, so wird er sich wenig um die Kritik bekümmern,
welche Leute, die diese Orte nie gesehen haben, über seine
Berichte fällen. Ja selbst wenn er von solchen unerfahrenen
Kritikern Widerspruch erfährt oder lächerlich gemacht und
zurechtgewiesen wird, so wird er sich darüber weder ärgern,
noch gekränkt fühlen, sondern er wird sich einfach gar nicht
darum bekümmern. Ein Unwissender kann durch noch so
oftmalige Beteuerung seines Wissens den, der etwas wirklich
weiß, nicht überzeugen. Die Ansicht von hundert Personen
über eine Sache, von der sie absolut nichts wissen und ver-
stehen, fällt ebensowenig ins Gewicht wie die Ansicht eines
einzelnen von ihnen. Die übereinstimmenden Aussagen vieler
Zeugen, welche alle für ihre Kenntnis einer Tatsache eintreten,
verstärken die Beweiskraft; aber wenn wir nichts auch mit
tausend multiplizieren, so bleibt es doch immer nichts.»
Damit ist die Lage charakterisiert, in welcher [sich] der Mysti-
ker sich selbst gegenüber befindet. Er hört die Einreden, die ihm
ringsherum gemacht werden. Er weiß, daß er sich mit ihnen
gar nicht auseinanderzusetzen braucht, weil er sieht, daß an-
dere, die nicht erlebt, erfahren haben, was er erlebt und erfahren
hat, über seine Erkenntnisse urteilen. Er ist in dem Falle eines
Mathematikers, der eine Wahrheit eingesehen hat, und dem
diese Wahrheit auch dann gelten muß, wenn tausend Stimmen
gegen sie sich erheben.
Aber hier kommt sogleich der Einwand der Zweifler: «Die
mathematische Wahrheit kann jedem bewiesen werden», sagen
sie. « Du hast sie zwar gefunden; aber wir nehmen sie erst an,
wenn wir sie aus unserer eigenen Einsicht heraus erkannt
haben.» Und dann glauben sie mit ihrer Einwendung im
Rechte zu sein, da es doch sicher sei, daßjeder Mensch, der sich
die nötigen Kenntnisse erwirbt, jede mathematische Wahrheit
beweisen könne, während doch die von dem Mystiker be-
haupteten Erlebnisse von den besonderen Fähigkeiten einzel-
ner Auserwählter abhingen, und man diesen «glauben» solle.
Aber für den, welcher diesen Einwand recht überdenkt
und die Sachlage prüft, fällt zugleich die Berechtigung jeg-
lichen Zweifels dahin. Denn jeder wahre Mystiker wird ganz
so sprechen, wie diese Zweifler selbst. Er wird immer be-
tonen: der Weg zu den höheren Erkenntnissen steht jedem
Menschen offen, wenn er sich die nötigen Fähigkeiten erwirbt,
ihn zu gehen; wie die Einsicht in die mathematischen Wahr-
heiten jedem offensteht, der sich die notwendigen Kenntnisse
erwirbt. Der Mystiker behauptet also nichts, was seine Gegner
nicht selbst behaupten müßten, wenn sie sich selbst auch nur
richtig verstünden. - Sie aber stellen ihre Behauptung auf, um
sogleich eine Forderung zu erheben, welche dieser ihrer eige-
nen Behauptung ins Gesicht schlägt. Sie wollen nämlich nicht
dann erst die Aussagen des Mystikers prüfen, wenn sie sich
die dazu erforderlichen Fähigkeiten angeeignet haben werden,
sondern sie richten vorher über ihn, mit den Fähigkeiten, die
sie schon haben, nicht mit denen, die er verlangen muß. Er
sagt ihnen: ich will kein Auserlesener sein in dem Sinne, wie
ihr meint. Ich habe nur an mir gearbeitet, um mir die Fähig-
keiten anzueignen, die es mir möglich machen, jetzt von Ein-
sichten in übersinnliche Gebiete zu sprechen. Das aber sind
Fähigkeiten, die in jedem Menschen schlummern. Nur müssen sie
eben ausgebildet werden. Seine Gegner aber sagen: du mußt
uns deine «Wahrheiten»beweisen, so, wie wir jetzt sind. Sie
gehen nicht ein auf sein Verlangen, erst die in ihnen selbst
schlummernden Kräfte auszubilden, sondern sie verlangen
den Beweis, ohne daß sie diese Ausbildung wollen. Und sehen
nicht ein, daß das soviel heißt, wie wenn der Bauer am Pfluge
von dem Mathematiker den Beweis eines höheren Lehrsatzes
verlangte, ohne daß er sich zuerst der Mühe unterzöge, Ma-
thematik zu lernen.
Das alles scheint so einfach, daß man fast sich scheuen
möchte, es auszusprechen. Und dennoch bezeichnet es einen
Irrtum, in dem gegenwärtig Millionen von Menschen leben.
Macht man ihnen das Obige klar, so werden sie es in der
Theorie immer zugeben, denn es ist so einfach, wie daß «zwei
mal zwei vier» ist. In ihrem Verhalten zeigen sie aber fort-
während das Gegenteil. Man kann sich immer davon über-
zeugen. Der Irrtum ist vielen eben, wie man sagt, in «Fleisch
und Blut» übergegangen; sie üben ihn, ohne weiter darüber
nachzudenken, ohne den Willen, sich davon überzeugen zu
lassen, wie sie gegen alles verstoßen, was sie selbst als Ver-
standesregel der allereinfachsten Art jeden Augenblick wür-
den gelten lassen, wenn nur sie zur Ruhe des Nachdenkens
kämen. - Ob sich der Mystiker heute unter denkenden
Arbeitern, ob er sich unter «Gebildeten»bewegt, überall be-
gegnet er der geschilderten Befangenheit, dem gekennzeich-
neten Widerspruch in sich selbst. Man findet ihn in populären
Vorträgen, in allen Zeitungen und Zeitschriften, und auch in
gelehrten Abhandlungen und Werken.
Nun muß man sich aber auch darüber klar sein, daß man
eine Zeiterscheinung vor sich hat, die man nicht einfach als
«Unzulänglichkeit» hinzustellen oder mit einer vielleicht
richtigen, aber deshalb noch nicht berechtigten Kritik abzu-
tun hat. Man muß wissen, daß diese Erscheinung, diese Be-
fangenheit gegenüber den höheren Wahrheiten tief im Wesen
unseres Zeitalters begründet liegt. Man muß sich darüber
aufklären, daß die großen Erfolge, die unermeßlichen Fort-
schritte, welche dieses Zeitalter auszeichnen, notwendig zu dem
genannten Fehler führten. Insbesondere das neunzehnte Jahr-
hundert hatte in dieser Beziehung die großen Schattenseiten
seiner außerordentlichen Vorzüge. Die Größe dieses Jahr-
hunderts beruht auf seinen Entdeckungen in der Erkenntnis
der äußeren Natur, auf seiner Eroberung der Naturkräfte für
Technik und Industrie. Diese Erfolge konnten nur erzielt
werden durch die Beobachtung der Sinne und durch die An-
wendung des Verstandes auf diese Sinnenbeobachtung. Un-
sere Gegenwartskultur ist das Ergebnis der Schulung unserer
Sinne und unseres mit der Sinnenwelt beschäftigten Ver-
standes. Jeder Schritt fast, den wir heute auf die Straße
machen, zeigt uns, wieviel wir dieser Schulung verdanken. -
Und unter dem Einfluß dieser Kultursegnungen haben sich
die Denkgewohnheiten unserer Gegenwartsmenschen her-
ausgebildet. Sie bauen auf Sinne und Verstand, weil sie ihnen
so viel verdanken, weil sie durch diese groß geworden sind.
Die Menschen mußten sich so gewöhnen, nur das gelten zu
lassen, was Sinne und Verstand liefern. Und nichts neigt mehr
dazu, die alleinige Geltung, die unbedingte Autorität für sich
in Anspruch zu nehmen, als Sinn und Verstand. Hat sich der
Mensch bis zu einer gewissen Schulung in ihnen durchge-
rungen, dann gewöhnt er sich einfach daran, alles ihrem Richter-
spruche, alles ihrer Kritik zu unterwerfen. - Und noch auf
einem anderen Gebiete begegnet man einer ähnlichen Er-
scheinung: auf dem des sozialen Lebens. Der Mensch des
neunzehnten Jahrhunderts machte im vollsten Sinne des Wor-
tes die absolute Freiheit der Persönlichkeit geltend, er verwarf
die Autorität auf den Gebieten des sozialen Zusammenlebens.
Er suchte die Gemeinwesen so zu gestalten, daß die volle
Unabhängigkeit, die Selbstbestimmung der Persönlichkeit
sich ganz ausleben kann. Dadurch wurde er gewöhnt, alles
auf das zu bauen, was dem Durchschnittsmenschen entspricht.
Die höheren Kräfte, die in den Seelen schlummern, kann der
eine in dieser, der andere in jener Richtung entwickeln. Der
eine kommt weiter, der andere weniger weit. Die Menschen
unterscheiden sich, wenn sie solche Kräfte entwickeln oder
ihnen eine Geltung zusprechen. Man muß, wenn man sie
zugibt, auch dem einen, der weiter gekommen ist, mehr Recht
zuerkennen, über eine Sache zu sprechen oder in einer Rich-
tung zu handeln, als dem andern, der weniger weit ist. In
bezug auf Sinne und Verstand kann ein gleicher, ein Durch-
schnittsmaßstab angelegt werden. Es können, von diesem
Gesichtspunkte aus, alle gleiches Recht, gleiche Freiheit haben. -
Man sieht, auch die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens
hat in der Gegenwart zur Auflehnung gegen die höheren Kräfte
in der Menschennatur geführt. Der Theosoph sagt: im neun-
zehnten Jahrhundert hat sich die Kultur ganz auf dem physi-
schen Plane bewegt; und die Menschen haben sieggewohnt, sich
ebenfalls nur auf diesem physischen Plane zu bewegen, sich
da heimisch zu fühlen. Die höheren Fähigkeiten, die durch
das Leben auf den anderen, nicht physischen Planen, ent-
wickelt werden, und die Erkenntnisse, die sich auf diese
andern Welten beziehen, wurden dadurch dem Menschen
entfremdet.
Man braucht nur in Volksversammlungen zu gehen, um
sich davon zu überzeugen, wie die Stimmführer ganz außer-
stande sind, einen anderen Gedanken zu haben als einen
solchen, der sich auf die Sinnenwelt - auf den physischen
Plan - bezieht. Ein gleiches kann man erleben an den Wort-
führern in unseren Zeitungen, Zeitschriften usw. Und überall
auch die Erscheinung des hochmütigsten, absolutesten Ab-
lehnens alles dessen, was sich nicht mit Augen sehen, mit
Händen greifen läßt, was der Durchschnittsverstand nicht
erfassen kann. Aber noch einmal sei es gesagt: nicht ange-
klagt, nicht verurteilt soll diese Erscheinung werden. Sie ist
eine notwendige Stufe der Menschheitsentwickelung. Ohne den
Hochmut und die Befangenheit von Sinn und Verstand hätten
wir die großen Errungenschaften unseres materiellen Lebens
nimmermehr, hätten wir es nicht dazu gebracht, der Persön-
lichkeit ein gewisses Maß freier Beweglichkeit zu geben - und
könnten wir auch nimmermehr hoffen, daß uns noch manches
Ideal verwirklicht werde, das gebaut werden muß auf des
Menschen Freiheitsdrang und Persönlichkeitsgefühl.
Aber die gekennzeichneten Schattenseiten einer rein mate-
riellen Kultur haben das ganze Wesen des modernen Men-
schen auch tief ergriffen. Man braucht gar nicht auf die er-
wähnten auffallenden Tatsachen sich, zum Beweise, zu be-
ziehen; man kann gerade an Dingen, deren Bedeutung leicht
besonders heute unterschätzt wird, zeigen, wie tief das Ver-
wachsensein mit Sinn und Durchschnittsverstand in der Seele
des Gegenwartsmenschen sitzt. Und gerade diese Dinge sind
es, an denen man die Notwendigkeit einer Umkehr und einer
Erneuerung des spirituellen Lebens ersehen kann.
Der starke Widerhall, welchen die von Prof. Friedrich
Delitzsch angeregte «Bibel-Babel-Frage» hervorgerufen hat,
rechtfertigt es wohl, auf die Denkweise ihres Urhebers als auf
ein Zeitsymptom hinzuweisen. Prof. Delitzsch hat auf die
Verwandtschaft gewisser Überlieferungen des Alten Testa-
mentes mit babylonischen Schöpfungsurkunden hingewiesen,
von einer Stelle aus und in einer Form, so daß es von vielen
bemerkt worden ist, die sonst wohl an diesen Fragen vorbei-
gehen. Viele sind dadurch veranlaßt worden, über den soge-
nannten «Offenbarungsbegriff» nachzudenken. Sie fragten
sich: wie kann man annehmen, daß der Inhalt des Alten Testa-
mentes von Gott geoffenbart sei, wenn man ähnliche Vor-
stellungen auch bei entschieden heidnischen Völkern findet?
Auf diese Frage kann hier nicht näher eingegangen werden.
Delitzsch fand viele Gegner, die durch seine Ausführungen
die Grundfesten der Religion erschüttert glaubten. Er hat sich
nun gegen diese in einer Schrift: «Babel und Bibel. Ein Rück-
blick und Ausblick» verteidigt. Es soll nun hier auf einen
einzigen Satz der Schrift hingewiesen werden. Er ist wichtig,
weil er die Anschauung eines bedeutenden Mannes der Wis-
senschaft über des Menschen Stellung zur übersinnlichen
Wahrheit kennzeichnet. Und so wie Delitzsch denken und
empfinden heute Unzählige. Der Satz gibt so recht Gelegen-
heit, die Herzensmeinung unserer Zeitgenossen da kennenzu-
lernen, wo sie sich ganz ungezwungen, also in ihrer aller-
wahrsten Gestalt ausspricht. Delitzsch wendet sich gegen
diejenigen, die ihm ein etwas weitherziges Umspringen mit
dem Begriff «Offenbarung» vorgeworfen haben, die gerne
diesen Begriff als eine «Art alter Priesterweisheit» ansehen
wollen, der «den Laien nichts angeht». Dagegen sagten «Ich
für meine Person bin der Ansicht, daß, wenn wir selbst und
unsere Kinder in Schule, Konfirmandenunterricht und Kirche
in der <Offenbarung> unterwiesen werden, es nicht nur unser
Recht, sondern unsere Pflicht ist, über diese ernsten Fragen,
die doch auch eine eminent praktische Seite haben, selbständig
nachzudenken, schon um unsern Kindern nicht < ausweichend >
antworten zu müssen. Eben deshalb wird es vielen Wahrheit-
suchenden nur willkommen sein, wenn durch die babylonisch-
assyrische und alttestamentliche Forschung im Verein das
Dogma einer Israel zuteil gewordenen besonderen <Aus-
erwähltheit> in das Licht einer höheren und weitherzigeren
Geschichtsbetrachtung gerückt werden wird.» Und ein paar
Seiten vorher liest man, wozu solche Denkweise führen soll:
«Im übrigen würde es mir als das einzig Konsequente er-
scheinen, daß sich Kirche und Schule für die ganze Ur-
geschichte der Welt und der Menschheit mit dem Glauben
an Einen allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde
begnügten und jene alttestamentlichen Erzählungen etwa
unter der Bezeichnung < Althebräische Sagen> für sich gestellt
würden.» - Es darf wohl als selbstverständlich vorausgesetzt
werden, daß in dem Folgenden niemand einen Angriff auf den
Forscher Delitzsch sehen soll. - Was wird hier aus naiver Un-
befangenheit heraus gesagt? Nichts anderes, als der auf Tat-
sachen der physischen Forschung gerichtete Verstand werfe
sich zum Richter auf über die Erkenntnisse übersinnlicher A.rt.
Es ist kein Bewußtsein davon vorhanden, daß dieser Verstand
vielleicht auch ungeeignet sein könnte, über die Unterweisun-
gen in der «Offenbarung» so ohne weiteres nachzudenken.
Wenn das, was als «Offenbarung» auftritt, verstanden werden
soll, dann müssen zu diesem Verständnis diejenigen Kräfte
herangezogen werden, aus denen die «Offenbarung» selbst
geflossen ist. Wer nun mystische Erkenntniskräfte in sich
entwickelt, der sieht bald, daß sich ihm in gewissen von
Delitzsch «althebräische Sagen» genannten Erzählungen des
Alten Testamentes Wahrheiten höherer Art aussprechen, die
nicht mit dem auf das Sinnliche gerichteten Verstände erfaßt
werden können. Das eigene mystische Erleben führt ihn dazu,
einzusehen, daß die «Sagen» aus mystischer Erkenntnis der
übersinnlichen Wahrheiten geflossen sind. Und dann ändert
sich der ganze Gesichtspunkt mit einem Schlage. So wenig
man gegen die Wahrheit eines mathematischen Satzes etwas
erfahren kann, wenn man nachweist, wer ihn zuerst gefunden
hat, oder gar durch den historisch gewiß wertvollen Fund,
daß ihn mehrere behauptet haben: so wenig kann irgend
etwas gegen die Wahrheit einer biblischen Erzählung dadurch
ausgemacht werden, daß man eine ihr ähnliche anderswo
entdeckt. Statt zu fordern, daß jeder auf seinem Rechte, oder
gar auf seiner Pflicht bestehen solle, über die sogenannten
«Offenbarungen» nachzudenken, sollte vielmehr gesagt wer-
den, daß nur der ein Recht habe, über diesen Begriff etwas
zu entscheiden, der die in ihm schlummernden Kräfte ent-
wickelt hat, die es ihm möglich machen, nachzuleben^ was die-
jenigen Mystiker erlebt haben, welche «übersinnliche Offen-
barungen» verkündet haben. - Hier hat man es so recht mit
einem Beispiel zu tun, wie der zu den schönsten Triumphen
auf dem Gebiete sinnlicher Erfahrung befähigte Durchschnitts-
verstand sich in naivem Hochmut zum Richter macht über
Gebiete, die er gar nicht kennenlernen will. Denn auch die
rein historische Forschung ist nichts anderes als sinnliche
Erfahrung.
In ganz ähnlicher Weise hat sich die neutestamentliche For-
schung selbst in eine Sackgasse geführt. Es sollte durchaus
auf die Evangelien die Methode der «neueren Geschicht-
forschung» angewendet werden. Man hat diese Urkunden
verglichen, sie mit allem möglichen in Beziehung gesetzt, um
herauszubekommen, was sich eigentlich vom Jahre i bis zum
Jahre 33 in Palästina zugetragen hat, wie die «historische Per-
sönlichkeit», von der sie uns erzählen, gelebt, und was sie
wirklich gesagt haben kann. - N u n , ein Mann des siebzehnten
Jahrhunderts, Angelus Silesius, hat schon die ganze Kritik über
diese Forschung gesprochen:
«Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren,
Und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.
Das Kreuz zu Golgatha kann dich nicht von dem Bösen,
Wo es nicht auch in dir wird aufgericht, erlösen.» -
Das hat kein Zweifler, sondern ein gut gläubiger Christ
gesprochen. Und sein nicht minder gläubiger Vorgänger, der
Meister Eckhart, hat im dreizehnten Jahrhundert gesagt: «Et-
liche Leute wollen Gott mit den Augen ansehen, als sie eine
Kuh ansehen, und wollen Gott lieb haben, als sie eine Kuh
lieb h a b e n . . . Einfältige Leute wähnen, sie sollen Gott an-
sehen, als stände er dort und sie hier. So ist es nicht, Gott und
ich sind eins im Erkennen.» Gewiß sollen solche Worte nicht
gegen die Erforschung der «historischen Wahrheit» geltend
gemacht werden. Aber niemand kann die historische Wahrheit
solcher Urkunden, wie es die Evangelien sind, richtig erkennen, der
nicht querst den in ihnen liegenden mystischen Sinn in sich erlebt hat.
Alle Analysen und Vergleiche in dieser Richtung sind wertlos,
denn niemand kann finden, wer «zu Bethlehem geboren ist»,
der nicht in sich mystisch den Christus erlebt hat; und nie-
mand kann entscheiden, wie «das Kreuz zu Golgatha»
von dem Bösen erlöset, der es nicht in sich aufgerichtet gefühlt
hat. «Reinhistorische» Forschung kann gegenüber der «my-
stischen Tatsache» nichts anderes entscheiden als etwa der
zergliedernde Anatom über einen großen Dichtergenius er-
kunden kann. (Vergleiche meine Schrift: «DasChristentum
als mystische Tatsache».)
Wer in solchen Dingen klar sieht, der erkennt, wie tief ein-
gewurzelt gegenwärtig der «Hochmut» des auf die sinnlichen
Tatsachen gerichteten Verstandes ist. Er sagt: ich will nicht
Entwickelung der Kräfte, damit ich zu höheren Wahrheiten
gelange, sondern ich will mit meinen Kräften, so wie ich bin,
über die höchsten Wahrheiten entscheiden. - In einer gut-
gemeinten, aber ganz aus dem charakterisierten Geist der Gegen-
wart geschriebenen Broschüre («Was wissen wir von Jesus?»
Von A. KalthojBF, Schmargendorf-Berlin, Verlag Renaissance
1904) ist zu lesen: «Dem Christus, der das Gemeindeleben
verkörpert, kann der heutige Mensch innerlich frei gegen-
übertreten, er kann ihn heute aus seiner Seele geradesogut
schaffen, wie ihn der Schreiber eines Evangeliums geschaffen;
er kann mit den Verfassern der Evangelien als Mensch sich
gleichstellen, weil er ihren seelischen Prozeß in sich nach-
empfinden, weil er selber Evangelium sagen, Evangelium
schreiben kann.» Diese Worte können wahr, sie können aber
auch grundfalsch sein. Wahr sind sie, wenn sie im Sinne des
Angelus Silesius oder des Meisters Eckhart gefaßt werden,
wenn sie der Ausgangspunkt sind für die Entwickelung der
in jeder Menschenseele schlummernden Kräfte, die den Chri-
stus der Evangelien in sich selbst zu erleben suchen. Grund-
falsch sind sie, wenn aus dem Geiste der Gegenwart, der nur
Sinnliches gelten lassen will, ein mehr oder minder seichtes
Christus-Ideal geschaffen werden soll. - Das Leben im Geiste
kann nur begriffen werden, wenn der Mensch es nicht nach
dem äußerlichen Verstände kritisieren, sondern wenn er sich
in seinem Innern dazu entwickeln will. Es kann niemand hoffen,
über die höchsten dem Menschen zugänglichen Wahrheiten
etwas zu erfahren, der verlangt, daß diese Wahrheiten bis
zu dem «gemeinen Verständnisse» heruntergeführt werden
sollen. - Nun könnte man ja einwenden: warum verkündet
ihr Mystiker und Theosophen dennoch diese Wahrheiten vor
Leuten, von denen ihr behauptet, daß sie dieselben noch nicht
fassen können? Wozu gibt es eine theosophische Bewegung,
die Lehren verkündet, da doch vielmehr erst die Kräfte ent-
wickelt werden sollten, welche den Menschen zu der Erkennt-
nis dieser Lehren führen? Es wird gerade die Aufgabe dieser
Zeitschrift sein, diesen scheinbaren Widerspruch zu lösen. An
dieser Stelle wird gezeigt werden, daß die spirituellen Strö-
mungen der Gegenwart in anderer Art und auf anderer Grund-
lage sprechen, als die auf den bloß sinnlichen Verstand
bauende Wissenschaftlichkeit. Damit sind diese spirituellen
Bewegungen nicht weniger wissenschaftlich als die auf «bloße
Tatsachen» bauende Wissenschaft. Sie dehnen vielmehr das
Gebiet wirklicher wissenschaftlicher Erkenntnis auf das Über-
sinnliche aus. Mit einer Frage, die gestellt werden kann, muß
diesmal geschlossen werden: Wie gelangt man zu übersinn-
lichen Wahrheiten, und was tragen die spirituellen Bewegun-
gen zu dieser Erlangung bei? Von der Beantwortung dieser
Frage hängt auch die Ansicht ab, die man sich über die reli-
giös-geistige Entwickelung der Gegenwart bilden kann. Ihr
sollen Ausführungen gewidmet sein, die nächstens in dieser
Zeitschrift hier erscheinen werden.
A R I S T O T E L E S ÜBER DAS M Y S T E R I E N D R A M A
Goethe sprach von der Kunst als von einer Offenbarung ge-
heimer Naturgesetze, die ohne sie ewig verborgen bleiben
müßten. Damit rückt er die Kunst in die Nähe der Erkenntnis.
Er macht sie zur Auslegerin der Weltgeheimnisse. Er hat
dadurch prophetisch auf etwas hingewiesen, was denjenigen
Geistern der Gegenwart als Ideal vorschweben muß, welche
die Zeichen der Zeit zu deuten wissen. Eine Kunst, welche den
Zusammenhang wieder sucht mit den Wegen der suchenden
Seele, die zu den Quellen des Daseins führen, schwebt den
Geistern vor. Sie wollen zu dem schönheitsbedürftigen
Gemüte sprechen; aber, was sie sprechen, soll zugleich der
Ausdruck höchster Wahrheiten und Erkenntnisse sein. Reli-
gion, Mystik, Forschung und Kunst sollen aus einem Urquell
dringen. Dadurch sucht der Menschengeist heute etwas zu
erneuern, was in der Morgendämmerung unserer Kulturen
vorhanden war. Dem schauenden Geiste sind ja die ägypti-
schen Pyramiden und Sphinxe die in kleinen Steinen ver-
körperten großen Wahrheiten, welche die Weisen des Nil-
landes zu verkünden hatten. In den uralten Dichtungen der
Inder haben wir zugleich monumentale Urkunden der Weis-
heit dieses Volkes. Und im griechischen Urdrama ahnt die
intuitive Phantasie ein Kunstwerk, das zugleich der Ausdruck
war für die religiösen Wahrheiten der Urzeit. Der in die
Materie herabsteigende, leidende und im Menschenwerk seine
Erlösung findende Gott ist der Held dieses Dramas. - Sieht
man die Weltentwickelung so an, so blickt man auf eine
Menschheitskultur zurück, in welcher Religion, Kunst und
Wissenschaft noch eine ungetrennte Einheit bildeten. Die
Eine Wahrheit fand in Formen ihren Ausdruck, welche
Schönheit, Weisheit und religiöse Erhebung zugleich dar-
stellten. Erst eine spätere Zeit fand für das Gemüt einen
besonderen religiösen, für die Sinne einen künstlerischen und
für die Vernunft einen wissenschaftlichen Ausdruck. So
mußte es kommen, denn nur, wenn der Mensch auf getrenn-
ten Wegen eine jede seiner Fähigkeiten entfaltete bis zur
höchsten Blüte, konnte ein Vollkommenes erreicht werden.
Durch Jahrtausende gingen Wahrheit, Schönheit und Gött-
lichkeit getrennte Wege. Die hohen Kunstwerke der Griechen
und aller folgenden Zeiten sind möglich geworden durch ein
Streben nach Schönheit, das seinen eigenen Gesetzen folgte
und nur der Phantasie die Rolle der Meisterin zuerteilte. Die
Tiefen der christlichen Religion stammen aus einer Seelen-
vertiefung, welche sich den Formen der schönen Sinnlichkeit
entzog. Und die Errungenschaften unserer Wissenschaft sind
dem vernünftigen Denken und der strengen Erfahrung ent-
sprungen, welche der Phantasie ebenso wie den religiösen
Bedürfnissen der Seele keinen Zugang gewährten.
Was aus einer Quelle entsprungen ist, strebt heute, sich
wieder zu vereinigen. Was wollte Richard Wagner anderes, als
ein Kunstwerk, das zugleich die Seele zu den Quellen des
Göttlichen erhebt? Und was wollte im Grunde schon Goethe,
als er im zweiten Teil seines «Faust» den Helden bis zur Er-
lösung in den Regionen der höchsten Wahrheit zu führen
suchte? Sagt er doch selbst (am 29. Januar 1827 zu Ecker-
mann) : «Aber doch ist alles (im Faust) sinnlich und wird, auf
dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen. Und
mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist, daß die
Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem
Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen.»
Und dieser «höhere Sinn» ist kein anderer, als der des Men-
schendaseins überhaupt. Und ihn zeigen Religion, Kunst und
Weisheit.
Wird sich die Kunst dieses ihres Zusammenhanges mit der
Wahrheit bewußt, dann muß sie ihre Inspiration aus dem-
selben Born schöpfen, aus dem auch Religion und Wissen-
schaft stammen.
Solches Bewußtwerden durchdringt ganz die Persönlich-
keit, von der hiermit eine Schöpfung dem deutschen Publi-
kum vorgelegt wird. Edouard Schure, der geistvolle und tiefe
französische Schriftsteller, sollte auf unsere Zeitgenossen eine
bedeutende Wirkung ausüben. Denn ihm ist es gegeben, als
Künstler ein Künder der Wahrheit und als Forscher ein
Enthüller der mystischen Seelenwege zu sein. Mit intuitivem
Geiste hat er sich vertieft in die Mysterien des Menschen-
geistes. Seine «Großen Eingeweihten» (Les Grands Inities)
führen zu jenen Höhen der Menschheitsentwickelung, auf
denen Krischna, Hermes, Moses, Pythagoras, Orpheus, Plato
und Jesus gewandelt haben. Die Wege, auf denen diese Füh-
rer ihren Völkern und Zeiten das Ziel der Menschheit zeigten,
das sie aus der Quelle ihrer göttlichen Einsicht schöpften,
werden in glänzenden Farben geschildert. Und schon vorher
hatte ja Schure in seinen Büchern über das «Musikalische
Drama» und über «Richard Wagner» das Ziel unserer Zeit
gezeigt, das in der Vereinigung des wahrheitsuchenden Gei-
stes, der religiösstrebenden Seele und des schönheitsbedürf-
tigen Sinnes liegt. In den «Heiligtümern des Orients» (Sanc-
tuaires d'Orient) hat er mit genialischem Sinn das heilige
Drama von Eleusis wiederhergestellt, jenes Urdrama, das
zugleich Kunstwerk und religiöse Kulthandlung war. Das
spätere griechische Drama hat die Kunstform, die vorher die
Ausgestalterin der göttlichen Weltenhandlung war, auf die
Sphäre des menschlichen Handelns und Erlebens angewendet.
So ist Edouard Schure - um einen Ausdruck Goethes zu
gebrauchen - von dem Suchen nach Wahrheit zur künstle-
rischen Auslegung der Wahrheit gekommen. In der Vorrede
zu seinen «Heiligtümern des Orients» sagte er (1898), daß er
«durch das künstlerische Wort und im durchscheinenden
Mittel der Poesie» das aussprechen wolle, was in den tiefen
Schächten der forschenden und strebenden Menschenseele
vorgeht. «Theater der Seele» nennt er die «Kinder des
Lucifer» und das damit vereinigte Drama «La Sceur Gar-
dienne ».
Schures ganzes Schaffen zeigt, wie tief durchdrungen er ist
von der Notwendigkeit, die Zeitkultur wieder zu vereinigen
mit dem intimen mystischen Erleben der Seele. Die drama-
tische Handlung ist ihm Symbol für die tieferen Vorgänge im
Innern des Menschen. Was das Auge schaut, ist ein Bild des-
sen, was die Seele erfährt, wenn in ihr die Kräfte walten, die
sie mit dem Ewigen verbinden. Man möchte über das Drama
«Kinder des Lucifer» die Worte des Goetheschen Chorus
mysticus schreiben: «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis
- das Unzulängliche, hier wird's Ereignis - das Unbeschreib-
liche, hier ist's getan.» Denn das, was sich hier abspielt im
Rahmen des vierten Jahrhunderts, als Hellenismus und
Christentum den großen Kampf kämpften: das ist ein Gleich-
nis für zwei ewige Kräfte in der ringenden Seele. Ewig strebt
der Mensch aus den Tiefen in die Höhe; und ewig muß er aus
den Höhen die Erlösung erwarten. Freiheit und Gnade sind
die Pole, die zu einander wollen, Sehnsucht und Wille streben
nach Ergänzung. Diese « zwei Seelen » ringen in der Menschen-
brust. Und alle äußeren Vorgänge sind die Bilder der ringen-
den Seelen. Schaffen und Empfangen verkörpern sich in
tausend Formen. Und was zwischen Mensch und Mensch sich
abspielt, ist eine Wechselwirkung zwischen Schaffen und
Empfangen, oder - um nochmals mit Goethe zu sprechen -
zwischen Nehmen und Geben. Und immer wird durch das
«Wunder der Liebe » die Ausgleichung bewirkt. Dieses «Wel-
tenrätsel» kann man nicht mit dem Verstände erfassen, man
muß es mit den tiefsten Kräften der Seele erleben. Wer
schaffend liebt, dem strömt die lebendige Kraft entgegen und
vereinigt sich mit seinem Leben zum schöpferischen Bunde.
In der liebenden Hingabe des Eigenen wird der Same gelegt,
der den Menschen ins ewige Weltenweben einfügt. Wie das
Blut den Leib durchströmt, so diese Menschheitsgeheimnisse
das Drama Schures.
Die «Kinder des Lucifer» sind «Theater der Seele», weil
hinter der Handlung die ewigen Hieroglyphen des ringenden
Menschengeistes zu schauen sind. Von dem, was man in der
Mystik die Eine Ursache der Menschheit nennt, sind sie in-
spiriert. Phantasie und mystischer Sinn haben an diesem
Kunstwerke den gleichen Anteil. Wenn der mystische Sinn
ii
nicht in das Dunkel des Gefühles sich verliert, sondern die
Klarheit des Schauens sein eigen nennt, und wenn die Phan-
tasie nicht der Willkür der subjektiven Einfälle sich überläßt,
sondern der Intuition der Wahrheit folgt, dann kann allein
ein solches Kunstwerk entstehen.
Könnten wir Kunstwerke dieser Art auf dem Theater sehen,
dann wären diese Tempel des Wahren; und die Schönheit
wäre nicht eine Dienerin des religiösen Sinnes, sondern dessen
Kind. Und von solcher Vertiefung der Kunst wäre zu erhof-
fen, daß sie auch wieder zurückwirkte auf ihre Schwestern:
die Religion und die Weisheit. Vernunft, Phantasie und reli-
giöse Erbauung könnten wieder in Harmonie miteinander
kommen.
In Schure lebt diese Harmonie als Ziel. Weil er als Künstler
Mystiker ist, und weil er die Kraft hat, die mystische Erkennt-
nis in der Form der Kunst auszusprechen, deshalb sollte die
Zeit ihn hören. In seinem Schaffen lebt etwas von dem, was
die Zukunft bringen muß.
Mit Verstand und Sinnen haben die letzten Jahrhunderte
unser Leben umgestaltet; das «Lebender Seele» aber werden
diejenigen bringen, welche dem äußeren Leben wieder die
großen Intuitionen des Wahren und Göttlichen einprägen. In
dieser Gesinnung soll dieses Drama dem deutschen Leserkreise
vorgelegt werden.
Wenn ich heute über das Thema spreche: Haeckel, die Welt-
rätsel und die Theosophie, so weiß ich, daß dieses Thema dem
Erforscher des geistigen Lebens außerordentliche Schwierig-
keiten bereitet und daß ich vielleicht mit meinen Ausführun-
gen nach Links und nach rechts schwer Anstoß erregen werde.
Dennoch aber scheint es mir eine Notwendigkeit zu sein, ein-
mal vom theosophischen Standpunkte aus darüber zu spre-
chen, denn einerseits hat ja das Evangelium, das Haeckel aus
seinen Forschungen gewonnen hat, durch sein Buch, «Die
Welträtsel», den Zugang zu Tausenden und aber Tausenden
von Menschen gefunden. Zehntausend Exemplare der «Welt-
rätsel » waren nach kurzer Zeit abgesetzt, und in viele Sprachen
ist das Buch übersetzt worden. Selten hat ein so ernstes Buch
eine so große Verbreitung gefunden.
Wenn die Theosophie klarmachen soll, welches ihre Ziele
sind, dann muß sie sich mit einer so wichtigen Erscheinung,
die sich auch mit den tiefsten Fragen des Daseins beschäftigt,
auseinandersetzen und ihre Stellung dazu zum Ausdruck brin-
gen. An sich ist ja die theosophische Lebensbetrachtung nicht
da zum Kampfe, sondern zur Versöhnung, zum Ausgleich der
Gegensätze. Dann bin ich auch selbst in einer besonderen Lage
gegenüber der Weltanschauung Ernst Haeckels. Denn ich
kenne die Empfindungen und Gefühle, die heute den Men-
schen teilweise aus seinem wissenschaftlichen Gewissen, teil-
weise aus der allgemeinen Weltlage und Weltanschauung her-
aus, wie durch eine faszinierende Kraft hineinführen können
in die einfachen, großen Gedankengänge, aus denen sich diese
Weltanschauung Haeckels zusammensetzt. Ich würde wohl
nicht wagen, heute so unbefangen zu sprechen, wenn ich in be-
zug auf Haeckel das wäre, was man einen Gegner nennt; wenn
ich nicht genau bekannt wäre mit dem, was man durchmachen
kann, wenn man sich hineinlebt in dieses wunderbare Gebäude
seiner Ideen.
Vor allem aber wird derjenige, der mit offenem Sinn die Ent-
wicklung des Geisteslebens betrachtet, in Haeckels Wirken
die moralische Kraft anerkennen müssen. Mit ungeheuerem
Mut hat dieser Mann seit Jahrzehnten seine Weltanschauung
durchgekämpft, schwer durchgekämpft und sich sehr gegen
mannigfache Widerwärtigkeiten, die ihm entgegentraten, zu
wehren gehabt. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht verken-
nen, daß in Haeckel eine große Kraft der zusammenfassenden
Darstellung und des zusammenfassenden Denkens lebt. Was
in dieser Beziehung so vielen Naturforschern fehlt, das hat er
in hohem Maße. Er hat es gewagt, trotzdem in den letzten Jahr-
zehnten die eigentHch wissenschaftHchen Strömungen gegen
ein solches Unternehmen gerichtet waren, die Resultate seiner
Forschungen in einer Weltanschauung zusammenzufassen. Das
muß als eine Tat besonderer Art anerkannt werden. Auch der
theosophischen Weltanschauung gegenüber bin ich in einer
eigentümlichen Lage, wenn ich über Haeckel spreche. Wer sich
mit dem Entwickelungsgang unserer theosophischen Bewe-
gung befaßt hat, der weiß, welche scharfen Worte und Kämpfe
von Seiten derTheosophen und auch gerade von Seiten der Be-
gründerin der theosophischen Bewegung, von Seiten der Frau
H. P. Blavatsky, gegen die Konsequenzen geführt worden sind,
die Ernst Haeckel aus seinen Forschungen gezogen hat. Gegen
wenige Erscheinungen auf dem Gebiete der Weltanschauun-
gen wird in der «Geheimlehre» mit solcher LeidenschaftHch-
keit gekämpft, wie gerade gegen die Haeckelschen Auseinan-
dersetzungen. Ich darf wohl behaupten, unbefangen zu spre-
chen, weil ich glaube, zum Teil in meiner Schrift« Haeckel und
seine Gegner », wie auch in meinem Buch über die «Welt- und
Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert», dem
wirkHchen Wahrheitsgehalt der Haeckelschen Weltanschau-
ung in vollem Sinne gerecht geworden zu sein. Ich glaube das
aus seinen Werken herausgesucht zu haben, was unvergäng-
Hch, was fruchtbar ist.
Sehen Sie die ganze Lage der Weltanschauung an, insofern
sie sich auf wissenschaftHche Gründe stützt. Noch in der ersten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war die Geistesrichtung
eine ganz andere als in der zweiten. Und Haeckels Auftreten
fiel in eine Zeit, in welcher es sehr nahe lag, dem jungen soge-
nannten Darwinismus eine materialistische Konsequenz zu ge-
ben. Wenn man versteht, wie nahe es damals lag, als Haeckel
in die Naturwissenschaft hineinkam als junger enthusiastischer
Forscher, alle naturwissenschaftlichen Entdeckungen mate-
rialistisch zu deuten, dann wird man die materialistische Ten-
denz begreifen und den Weg der Friedensstiftung einschlagen
und weniger den des Kampfes. Wenn Sie diejenigen betrach-
ten, welche in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts den
Blick frei nach den großen Menschheitsrätseln gerichtet haben,
so werden Sie zweierlei finden. Auf der einen Seite eine völlige
Resignation gegenüber den höchsten Fragen des Daseins, ein
Eingeständnis, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus nicht
durchdringen zu können zu den Fragen nach der göttlichen
Weltordnung, nach der Unsterblichkeit, der Freiheit des Wil-
lens, dem Ursprung des Lebens, kurz zu den eigentlichen Welt-
rätseln. Auf der anderen Seite werden Sie außer dieser resi-
gnierenden Stimmung noch Überreste einer alten religiösen
Tradition auch bei den Naturforschern finden. Kühnes Vor-
dringen bei der Untersuchung dieser Fragen, vom wissen-
schaftlichen Standpunkt aus, finden Sie in der ersten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts nur bei den deutschen Philosophen,
zum Beispiel bei Schelling, Fichte oder auch bei Oken, einem
Freiheitsmann sondergleichen auch auf anderen Gebieten des
Lebens. Was heute bei den Naturforschern spukt, die Weltan-
schauungen begründen wollen, können Sie schon in größeren
Zügen bei Oken finden. Aber es weht noch ein eigentümlicher
Windhauch darüberhin, es lebt noch darin die Empfindung des
alten Spiritualismus, der sich klar ist, daß hinter allem, was
man durch die Sinne wahrnehmen und durch Instrumente er-
forschen kann, etwas Geistiges zu suchen ist.
Haeckel hat selbst immer wieder und wieder erzählt, wie
durch das Gemüt seines großen Lehrers, des unvergeßlichen
Naturforschers Johannes Müller, dieser eigentümliche Hauch
wehte. Sie können es bei Haeckel nachlesen, wie ihm, als er auf
der Berliner Universität bei Johannes Müller beschäftigt war
und die Anatomie der Tiere und Menschen studierte, die große
Ähnlichkeit, nicht nur in der äußeren Form, sondern in dem,
was sich in der Form erst durchringt, in der Tendenz der Form,
auffiel. Wie er dann dem Lehrer gegenüber äußerte, daß dies
auf eine geheimnisvolle Verwandtschaft der Tiere und Men-
schen hindeute, worauf Johannes Müller, der so tief in die Na-
tur hineingesehen hatte, erwiderte: «Ja, wer einmal das Ge-
heimnis der Arten ergründet, der wird das Höchste erreichen.»
Man muß sich eben hineindenken in das Gemüt eines solchen
Forschers, der sicher nicht Halt gemacht hätte, wenn für ihn
eine Aussicht gewesen wäre, in das Geheimnis einzudringen.
Ein anderes Mal, als Lehrer und Schüler auf einer Forschungs-
reise waren, da äußerte Haeckel wieder, welche große Ver-
wandtschaft unter den Tieren bestehe; da sagte abermals Jo-
hannes Müller etwas ganz Ähnliches. Hiermit wollte ich nur
eine Stimmung kennzeichnen. Lesen Sie bei irgendeinem be-
deutenden Naturerforscher der ersten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts nach, zum Beispiel bei Burdach, so werden Sie,
trotz sorgfältiger Herausarbeitung aller naturwissenschaftli-
chen Einzelheiten, da, wo vom Reiche des Lebens gesprochen
wird, stets einen Hinweis darauffinden, daß da nicht bloß phy-
sische und chemische Kräfte wirken, sondern daß etwas Hö-
heres in Betracht komme.
Als dann aber die Ausbildung des Mikroskopes dem Men-
schen ermöglichte, hineinzuschauen in die eigentümliche Zu-
sammensetzung des lebendigen Wesens und man beobachten
konnte, daß man es mit einem feinen Gewebe kleinster Lebe-
wesen zu tun hat, aus welchen sich der physische Leib der We-
sen zusammensetzt, da wurde es anders. Dieser physische Kör-
per, welcher Pflanzen und Tieren als Kleid dient, löst sich für
den Naturforscher in Zellen auf. Die Entdeckungen über das
Leben der Zellen wurden von den Naturforschern am Ende
der dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts gemacht.
Und weil man so viel von dem Leben der kleinsten Lebewesen
in sinnlicher Weise durch das Mikroskop erforschen konnte,
war es naheliegend, daß man das, was als organisierendes Prin-
zip in dem Lebewesen wirkt, vergaß und übersah, weil es durch
keinen physischen Sinn, überhaupt durch nichts Äußeres er-
kannt werden kann.
Damals gabes noch keinenDarwinismus, aberunter den Ein-
drücken dieser großen Erfolge, die auf dem Gebiete der Erfor-
schung des Sinnenfälligen gemacht wurden, bildete sich in den
vierziger, fünfziger Jahren eine materialistische Naturwissen-
schaft heraus. Da dachte man, daß man aus dem, was man sin-
nenfällig wahrnimmt und erklären kann, auch die ganze Welt
begreifen könne. Was heute sehr vielen geradezu kindlich vor-
kommt, das machte damals ungeheures Aufsehen und bildete
sozusagen «ein Evangelium für die Menschheit». «Kraft und
Stoff», Büchner, Moleschott, das waren die Schlagworte und
die tonangebenden Größen. Als ein Ausdruck kindlicher Phan-
tasie früherer Menschheitsepochen galt es, wenn man bei dem,
was man ins kleinste mit den Augen untersuchen kann, noch
etwas vermutet, das über das Augenfällige, das sinnlich Wahr-
nehmbare hinausgeht.
Nun müssen Sie bedenken, daß neben aller Urteilskraft, ne-
ben aller Forschung, in der Entwickelung des Geisteslebens
die Gefühle und Empfindungen eine große Rolle spielen. Der-
jenige, der da glaubt, daß Weltanschauungen nur nach den
kühlen Erwägungen der Urteilskraft gebildet werden, der irrt
sich sehr. Da spricht, wenn ich mich radikal aussprechen darf,
immer auch das Herz mit. Da wirken auch geheime Erziehungs-
gründe mit. Die Menschheit hat in ihrer letzten Entwickelungs-
phase eine materialistische Erziehung durchgemacht. Diese
reicht zwar in ihren Anfängen weit zurück, ist aber erst zu der
Zeit, von der wir sprechen, an ihrem Höhepunkt angelangt.
Wir nennen diese Epoche der materialistischen Erziehung das
Zeitalter der Aufklärung. Der Mensch mußte sich - das war
auch die letzte Konsequenz gerade der christlichen Weltan-
schauung - hier auf diesem festen Boden der Wirklichkeit zu-
rechtfinden lernen. Den Gott, den er so lange jenseits der Wol-
ken gesucht hatte, sollte er nun in seinem eigenen Innern su-
chen. Das wirkte tief auf die ganze Entwickelung des neun-
zehnten Jahrhunderts ein; und der, welcher als Zeitpsychologe
die Entwickelung der Menschheit im neunzehnten Jahrhun-
dert studieren will, der wird alle Erscheinungen, die darin auf-
treten, wie zum Beispiel die Freiheitsbewegung in den dreißi-
ger und vierziger Jahren, nur als einzelne, gesetzmäßig verlau-
fende Stürme des sich herausentwickelnden Gefühls von der
Bedeutung physischer Wirklichkeit erfassen. Man hat es mit
einer Erziehungsrichtung der Menschheit zu tun, die zunächst
mit Gewalt allen Ausblick nach einem spirituellen, nach einem
geistigen Leben aus dem menschlichen Herzen herausriß. Und
nicht aus der Naturwissenschaft heraus ist die Konsequenz ge-
zogen, daß die Welt aus sinnenfälligen Erscheinungen bestehe,
sondern man zog, infolge der Menschheitserziehung jener
Zeit, in die Erklärung naturwissenschaftlicher Tatsachen den
Materialismus hinein. Wer wirklich die Dinge unbefangen stu-
diert wie sie sind, der wird finden, daß es so ist, wie ich sagen
werde, obgleich ich in einer kurzen Stunde mich nicht darüber
ausführlich aussprechen kann.
Die ganz gewaltigen Fortschritte auf dem Gebiete der Na-
turerkenntnis, der Astronomie, der Physik und Chemie, durch
die Spektralanalyse, durch die erweiterte theoretische Kennt-
nis der Wärme und durch die Lehre von der Entwickelung der
Lebewesen, die man die Darwinsche Theorie nennt, fallen in
diese Periode des Materialismus. Wenn diese Entdeckungen in
eine Zeit gefallen wären, in der man noch so gedacht hätte, wie
um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts,
als man noch eine mehr spirituelle Empfindung hatte, dann
hätte man in denselben noch ebenso viele Beweise für das Wal-
ten und Wirken des Geistes in der Natur gesehen. Gerade zum
Beweise des Primats des Geistes würden die wunderbaren Ent-
deckungen der Naturwissenschaft geführt haben. Man sieht
hieraus, daß die naturwissenschaftlichen Entdeckungen an sich
nicht notwendig und unter allen Umständen zum Materialis-
mus hinführen mußten; sondern nur, weil viele Träger des
Geisteslebens in dieser Zeit materialistisch gesinnt waren, wur-
den diese Entdeckungen materialistisch gedeutet. Der Mate-
rialismus wurde in die Naturwissenschaft hineingetragen, und un-
bewußt haben Naturforscher, wie Ernst Haeckel, denselben
angenommen. Darwins Entdeckung selbst hätte nicht zum
Materialismus drängen müssen. In seinem ersten Werke finden
Sie den Säte: «Ich halte dafür, daß alle Lebewesen, die je auf
der Erde gewesen sind, von einer Urform abstammen, welcher
das Leben vom Schöpfer eingehaucht wurde.» Diese Worte
stehen in Darwins Buch von der Entstehung der Arten, jenem
Werke, das der Materialismus zu seiner Stütze macht.
Es ist klar, wer als materialistischer Denker an diese Ent-
deckungen herantrat, der mußte dem Darwinismus eine mate-
rialistische Färbung geben. Durch Haeckels materialistisch
kühne Art des Denkens erhielt der Darwinismus seine jetzige
materialistische Tendenz. Es war von großer Wirkung, als im
Jahre 1864 Haeckel den Zusammenhang der Menschen mit
den Herrentieren (Affen) verkündete. In jener Zeit konnte dies
nichts anderes heißen, als der Mensch stamme von den Herren-
tieren ab. Bis heute hat aber das Denken einen eigentümlichen
Entwickelungsgang durchgemacht. Haeckel ist dabei stehen
geblieben, daß der Mensch von den Herrentieren abstamme,
diese wieder von den niederen und diese niederen wieder von
den allereinfachsten Lebewesen. So entwickelt er den ganzen
Stammbaum des Menschen. Dadurch war für ihn aller Geist
aus der Welt ausgeschaltet und nur als Erscheinungsform des
Materiellen vorhanden. Haeckel sucht sich noch zu helfen, da
er in seinem Innersten, neben seiner materialistischen Denker-
seele, eine eigentümlich geartete, spiritualistische Gefühlsseele
hat. Diese beiden haben sich in ihm nie so recht ausgleichen,
nie so recht eine brüderliche Einigung finden können. Er
kommt deshalb dazu, daß er dem kleinsten Lebewesen auch
eine Art Bewußtsein zuschreibt; dabei bleibt aber unerklärt,
wie sich das komplizierte menschliche Bewußtsein aus dem Be-
wußtsein der kleinsten Lebewesen entwickelt. Haeckel sagte
einst bei Gelegenheit eines Gespräches: «Da stoßen sich die
Leute an meinem Materialismus; aber ich leugne ja gar nicht
den Geist, ich leugne ja gar nicht das Leben; ich möchte doch
nur, daß die Leute bedenken, daß, wenn sie Stoffe in eine Re-
torte hineinbringen, darinnen bald alles lebt und webt.» Das
zeigt so recht deutlich, wie Haeckel neben der wissenschaftli-
chen Denkerseele eine spiritualistische Gefühlsseele hat.
Einer derjenigen, die damals, als Darwin auftrat, die Ab-
stammung der Menschen vom höheren Tier ebenfalls behaup-
teten, war der englische Forscher Huxley. Er hat es ausgespro-
chen, daß eine so große Ähnlichkeit im äußeren Bau zwischen
dem Menschen und den höheren Tieren besteht, daß diese
Ähnlichkeit größer sei, als die Ähnlichkeit zwischen den höhe-
ren und niederen Affenarten. Man könne daraus nur schließen,
daß eine Abstammung des Menschen von den höheren Tieren
bestehe. In neuerer Zeit haben die Forscher neue Tatsachen ge-
funden; auch jene Empfindungen, die in jahrhundertelanger
Erziehung des Menschen Herz und Seele herangebildet haben,
formten sich um; und so kam es, daß Huxley in den neunziger
Jahren, kurz vor seinem Tode, die für ihn merkwürdige An-
sicht ausgesprochen hat: So sehen wir denn, daß wir in der Na-
tur draußen eine Stufenfolge des Lebendigen finden, vom Ein-
fachsten und Unvollkommensten bis zum Zusammengesetz-
ten und Vollkommensten. Diese Reihenfolge können wir über-
sehen. Warum aber sollte sich diese Reihenfolge nicht fortset-
zen in ein Gebiet, das wir nicht übersehen können ? - In diesen
Worten ist der Weg angedeutet, auf dem der Mensch aus der
Naturforschung heraus sich emporschwingen kann zur Idee
eines göttlichen Wesens, das hoch über dem Menschen steht,
eines Wesens, das höher über diesem steht, als er selbst über
einem einfachen Zellenwesen. Huxley sagte einst: «Ich will
lieber von solchen Vorfahren abstammen, die tierähnlich
sind, als von solchen, welche die menschliche Vernunft
leugnen.»
So haben sich die Begriffe und Empfindungen, das, was die
Seele denkt und fühlt, verändert. Haeckel hat in seiner Art
seine Forschungen fortgesetzt. Schon im Jahre 1868 hat er sein
populäres Buch « Natürliche Schöpfungsgeschichte» veröffent-
licht. Aus dieser kann man vieles lernen; man kann lernen, wie
die Reiche des Lebendigen in der Natur gesetzmäßig zusam-
menhängen. Man kann hineinschauen in die grauen Zeiten der
Vergangenheit und das Lebende in Zusammenhang mit dem
Ausgestorbenen bringen, von dem nur noch die letzten Über-
reste auf der Erde vorhanden sind. Das hatte Haeckel genau
eingesehen. Das Welthistorische, das sich im weiteren abspielt,
kann ich nur durch einen Vergleich klarmachen. Derjenige,
welcher den Willen hat, auf solche Dinge einzugehen, wird fin-
den, daß dieser Vergleich nicht mehr hinkt, als alle Vergleiche
hinken, die aber trotz alledem treffend sein können. Nehmen
Sie an, es käme ein Kunsthistoriker und beschriebe das große
Reich der Malerei von Leonardo da Vinci bis heute in einer
schönen kunstgeschichtlichen Abhandlung. Alles was in die-
ser Zeit nach solcher Richtung hin geschaffen worden ist, träte
vor Ihre Seele hin und Sie würden glauben, hineinzuschauen
in dieses frei sich entwickelnde Weben und Wirken des Men-
schengeistes. Nehmen Sie ferner an, es käme jemand und sagte
bezüglich dieser Beschreibung: «Aber alles, was der Kunsthi-
storiker hier darstellt, ist ja nichts Wirkliches, das ist ja etwas,
was gar nicht da ist, das ist ja nur eine Beschreibung von Phan-
tasiegebilden, die es gar nicht gibt, und was gehen mich diese
Phantasien an; man muß das Wirkliche untersuchen, um zu ei-
ner richtigen kunstgeschichtlichen Darstellung zu kommen.
Ich will daher einmal die Gebeine des Leonardo da Vinci einer
Prüfung unterziehen und versuchen, den Körper desselben
wieder zusammenzustellen, untersuchen, was er für ein Gehirn
gehabt und wie dieses gearbeitet hat.» Dieselben Dinge wer-
den also sowohl von dem Kunsthistoriker, als auch von
dem anatomischen Naturhistoriker beschrieben. Kein Fehler
braucht zu unterlaufen, alles könnte richtig sein. Dann meinte
der anatomische Historiker, wir müssen auf Tod und Leben
bekämpfen, was die idealistischen Kunsthistoriker uns erzäh-
len, wir müssen es als eine Phantasie bekämpfen, denn das sei
ja fast so, als wäre über die Menschen ein Aberglaube gekom-
men, der uns glauben machen will, daß neben der Gestalt von
Leonardo da Vinci noch so ein gasförmiger Wirbel als Seele
bestanden habe.
Dieser Vergleich ist treffend, obgleich er albern erscheinen
mag. In solcher Lage befindet sich derjenige, welcher auf die
alleinige Richtigkeit der «Natürlichen Schöpfungsgeschichte »
schwört. Auch er kann nicht so bekämpft werden, daß man
ihm Fehler nachweist. Die mögen zwar vorhanden sein, aber
daraufkommt es hier gar nicht an. Wichtig ist es, daß das Sin-
nenfällige einmal seinem inneren Zusammenhange nach dar-
gestellt wurde. Das ist im Grunde genommen durch Haeckel
in einer großen und umfassenden Weise geschehen. Es ist so
geschehen, daß derjenige, der sehen will, auch sehen kann, wie
gerade das Geistige bei der Bildung der Formen wirksam ist,
wo scheinbar nur die Materie waltet und webt. Daraus kann
man viel lernen; man kann ersehen, wie man geistig den mate-
riellen Zusammenhang in der Welt mit Ernst, Würde und Aus-
dauer erfaßt. Derjenige, welcher die «Anthropogenie»
Haeckels durchnimmt, der sieht, wie die Gestalt sich aufbaut
von den einfachsten Lebewesen bis zu den kompliziertesten,
von den einfachsten Organismen bis hinauf zum Menschen.
Wer zu dem, was der Materialist sagt, noch den Geist hinzu-
zufügen versteht, der studiert in diesem Haeckelismus die
schönste elementare Theosophie.
Die Haeckelschen Forschungsresultate bilden sozusagen das
erste Kapitel der Theosophie. Viel besser als durch irgend et-
was anderes kann man sich in das Werden und Umgestalten der
organischen Formen hineinfinden, wenn man seine Werke stu-
diert. Allen Grund haben wir, zu zeigen, was durch den Fort-
schritt dieser vertieften Naturerkenntnis Großes geleistet
wurde.
In den Zeiten, da Haeckel diesen Wunderbau aufgeführt hat,
stand man den tieferen Rätseln der Menschheit als unlösbaren
Problemen gegenüber. In einer rhetorisch glänzenden Rede
hat Du Bois-Reymond im Jahre 1872 über die Grenzen der Na-
turforschung und des Naturerkennens gesprochen. Über we-
niges ist in den letzten Jahrzehnten mehr gesprochen worden,
als über diese Rede mit dem berühmten «Ignorabimus». Sie
war eine wichtige Tat und stellt einen wichtigen Gegensatz zu
Haeckels eigener Entwickelung und seiner Lehre von der Ab-
stammung des Menschen dar. In einer anderen Rede hat Du
Bois-Reymond als die großen Rätselfragen des Daseins, die der
Naturforscher nur teilweise oder gar nicht beantworten kann,
«Sieben Welträtsel» aufgestellt, nämlich:
i. Den Ursprung von Kraft und Materie.
2. Wie ist in diese ruhende Materie die erste Bewegung hin-
eingekommen?
3. Wie ist innerhalb der bewegten Materie Leben entstan-
den?
4. Wie erklärt es sich, daß in der Natur so vieles ist, das den
Stempel der Zweckmäßigkeit an sich trägt, wie sie nur bei den
von der menschlichen Vernunft ausgeführten Taten vorhan-
den zu sein pflegt?
5. Wie erklärt es sich, da, wenn wir unser Gehirn untersu-
chen könnten, wir doch nur durcheinanderwirbelnde kleine
Kügelchen finden würden, daß diese Kügelchen es zustande
bringen, daß ich « rot» sehe, Orgelton höre, Schmerz empfinde
usw. ? - Denken Sie sich wirbelnde Atome und es wird Ihnen
sofort klar sein, daß nie die Empfindung daraus entstehen
kann, die sich ausdrückt in den Worten, «ich sehe rot, ich rie-
che Rosenduft usw.»
6. Wie entwickelt sich innerhalb der Lebewesen Verstand,
Vernunft, das Denken und die Sprache?
7. Wie kann ein freier Wille entstehen in einem Wesen, das
so gebunden ist, daß jede Handlung hervorgerufen werden
muß durch das Wirbeln der Atome?
In Anknüpfung an diese «Welträtsel» von Du Bois-Rey-
mond hat Haeckel eben sein Buch «Die Welträtsel» genannt.
Er wollte die Antwort auf die Ausführungen Du Bois-Rey-
monds geben. Eine besonders wichtige Stelle ist in jener Rede
Du Bois-Reymonds, die er über die Grenzen des Naturerken-
nens gehalten hat. Auf diese wichtige Stelle werden wir hin-
geführt und können durch sie zur Theosöphie hinübergeleitet
werden.
Als Du Bois-Reymond in Leipzig vor den Naturforschern
und Ärzten sprach, da schaute der Geist der Naturforschung
aus nach einer reineren, freieren und höheren Luft, nach der
Luft, welche in die theosophische Weltanschauung führte. Du
Bois-Reymond sagte damals folgendes: Wenn wir den Men-
schen naturwissenschaftlich betrachten, so ist er für uns ein Zu-
sammenwirken unbewußter Atome. Den Menschen naturwis-
senschaftlich erklären, heißt diese Atombewegungen bis ins
letzte hinein verstehen. Er meint, wenn man in der Lage ist,
anzugeben, wie die Bewegung der Atome an irgendeiner Stelle
des Gehirns ist, wenn man sagt, «ich denke», oder «gib mir
einen Apfel», so hat man dieses Problem naturwissenschaft-
lich gelöst. Du Bois-Reymond nennt dieses die «astronomi-
sche» Erkenntnis des Menschen. Wie ein Sternenhimmel im
kleinen würden sich die bewegten Gruppen von menschlichen
Atomen ausnehmen. Was man da nicht begriffen hat, ist der
Umstand, wie es kommt, daß in dem Bewußtsein des Men-
schen, von dem ich, sagen wir, ganz genau weiß, so und so be-
wegen sich seine Atome - Empfindung, Gefühl und Gedanke
entstehen. Das kann keine Naturwissenschaft feststellen. Wie
das Bewußtsein entsteht, kann keine Naturwissenschaft sagen.
Du Bois-Reymond schloß nun wie folgt: Beim schlafenden
Menschen, der sich der Empfindung nicht bewußt ist, die sich
ausdrückt in den Worten: «ich sehe rot», haben wir die physi-
sche Gruppe der bewegten Körperteile vor uns. Bezüglich die-
ses schlafenden Körpers brauchen wir nicht zu sagen: «Wir
werden nicht wissen », «Ignorabimus ». Den schlafenden Men-
schen können wir verstehen. Der wache Mensch ist dagegen
für keinen Naturforscher verständlich. Im schlafenden Men-
schen ist das nicht vorhanden, was beim wachenden vorhanden
ist, nämlich das Bewußtsein, durch das er uns als Geistes wesen
entgegentritt.
Damals war bei der Mutlosigkeit der Naturwissenschaft ein
weiteres Vordringen nicht möglich; man konnte damals noch
nicht an Theosophie denken, weil die Naturwissenschaft
scharf die Grenze bezeichnet, den Punkt hingesetzt hatte, bis
wohin sie in ihrer Weise gehen will. Wegen dieser Selbstbe-
schränkung, die sich die Naturforschung hiermit auferlegt hat,
hat die theosophische Weltanschauung in derselben Zeit ihren
Anfang genommen. Niemand wird behaupten, daß der Mensch,
wenn er abends einschläft und des Morgens wieder aufwacht,
am Abende aufhöre zu sein und am nächsten Morgen von
neuem entstehe. Dennoch sagt Du Bois-Reymond, daß in der
Nacht beim Menschen dasjenige nicht da ist, was bei Tag in
ihm vorhanden ist. Hier liegt für die theosophische Weltan-
schauung die Möglichkeit einzusetzen. Das Sinnesbewußtsein
spricht nicht bei dem schlafenden Menschen. Indem aber der
Naturforscher sich darauf stützt, was dieses Sinnesbewußtsein
vermittelt, so kann er nichts über das, was darüber hinausgeht,
über das Geistige, sagen, weil ihm dadurch gerade dasjenige
fehlt, was den Menschen zum geistigen Wesen macht. Mit den
Mitteln der Naturforschung können wir also in das Geistige
nicht hineindringen. Die Naturforschung stützt sich darauf,
was sinnlich wahrnehmbar ist. Was nicht mehr wahrnehmbar
ist, wenn der Mensch schläft, das kann nicht Objekt ihrer For-
schung sein. In diesem, bei dem schlafenden Menschen nicht
mehr wahrnehmbaren Etwas haben wir aber gerade die We-
senheit zu suchen, die den Menschen zum Geisteswesen macht.
Nicht früher kann man über dasjenige etwas aussagen, was
über das rein Materielle, das Sinnliche hinausgeht, als bis - wo-
von der Naturforscher als solcher, wenn er nur auf das Sinnen-
fällige ausgeht, nichts wissen kann - Organe, geistige Augen
geschaffen sind, die auch das sehen, was über das Sinnliche hin-
ausgeht. Deshalb darf man nicht sagen, hier sind die Grenzen
der Erkenntnis, sondern nur, hier sind die Grenzen der sinn-
lichen Erkenntnis. Der Naturforscher nimmt sinnlich wahr,
ist aber nicht geistiger Seher. Seher muß er aber werden, um das
schauen zu können, was der Mensch Geistiges in sich hat. Das
ist es auch, was alle tiefere Weisheit in der Welt anstrebt, nicht
eine bloße Erweiterung der sinnlichen Erkenntnis, dem Um-
kreise nach, sondern eine Erhöhung der menschlichen Fähig-
keiten. Das ist auch der große Unterschied zwischen der heu-
tigen Naturwissenschaft und dem, was die Theosophie lehrt.
Die Naturwissenschaft sagt sich: der Mensch hat Sinne, mit
denen er wahrnimmt, und einen Verstand, mit dem er die Sin-
neswahrnehmungen kombiniert. Was man damit nicht errei-
chen kann, das liegt außerhalb der naturwissenschaftlichen Er-
kenntnis. Die Theosophie hat eine andere Anschauung. Sie
sagt: du hast recht, Naturforscher, wenn du von deinem Stand-
punkte aus urteilst, du hast dann genau so recht, wie der
Blinde von seinem Standpunkte aus recht hat zu sagen, die
Welt ist licht- und farbenlos.
Ich mache keine Einwendungen gegen den naturwissen-
schaftlichen Standpunkt; ich möchte ihm nur die Anschauung
der Theosophie gegenüberstellen, welche sagt: es ist möglich,
nein, es ist sicher, daß der Mensch nicht stehenzubleiben
braucht auf dem Standpunkte, auf welchem er heute steht. Es
ist möglich, daß sich Organe, Geistesaugen entwickeln, in ähn-
licher Weise, wie sichin diesem physischen Leibe Sinnesorgane,
Augen und Ohren, entwickelt haben. Sind diese Organe ent-
wickelt, dann treten höhere Fähigkeiten auf. Das muß man zu-
nächst glauben - nein, man braucht es nicht einmal zu glauben,
man nehme es nur unbefangen als eine Erzählung hin. So wahr
aber, wie nicht alle Gläubigen der «Natürlichen Schöpfungs-
geschichte » gesehen haben, was in ihr an Tatsachen angeführt
ist - denn wie viele sind es, die diese Tatsachen wirklich gese-
hen haben -, ebensowenig kann man die Tatsache der Erkennt-
nis des Übersinnlichen hier jedermann vorweisen. Es gibt
für den gewöhnlichen Sinnenmenschen keine Möglichkeit,
in dieses Gebiet hineinzukommen. Wir können nur mit
Hilfe der Forschungsmethoden der geistigen Gebiete hin-
eingelangen. Wenn der Mensch sich zu einem Werkzeug um-
wandelt für die höheren Kräfte, um hineinzuschauen in die
dem Sinnenmenschen verborgenen Welten, dann treten in ihm
- ich werde im neunten Vortrage über «Innere Entwickelung »
noch ausführlich darüber sprechen-ganz besondere Erschei-
nungen auf. Der gewöhnliche Mensch ist nicht imstande, sich
selbst zu schauen oder die Gegenstände in seiner Umgebung
bewußt in sich aufzunehmen, wenn seine Sinne schlafen. Wenn
aber der Mensch die okkulte Forschungsmethode anwendet,
dann hört diese Unfähigkeit auf, und er fängt dann an, in einer
bewußten Weise die Eindrücke in der astralen Welt wahrzu-
nehmen.
Zunächst gibt es einen Übergang, den jeder kennt, zwischen
dem äußerlichen Leben der Sinnes Wahrnehmung und jenem
Leben, das selbst im tiefsten Schlafe nicht erstirbt. Dieser
Übergang ist das Chaos der Träume. Jeder kennt es, meist nur
als Nachklang dessen, was er am Tage erlebt hat. Wie sollte er
auch im Schlafe etwas Neues aufnehmen können? Der innere
Mensch hat ja noch keine Wahrnehmungsorgane. Aber etwas
ist doch vorhanden. Leben ist da. Was aus dem Körper beim
Schlafe herausgetreten ist, das erinnert sich, und diese Erinne-
rung steigt in mehr oder weniger verworrenen Bildern in dem
Schlafenden auf. (Wenn Sie sich weiter über diese Dinge infor-
mieren wollen, so nehmen Sie die Aufsätze «Wie erlangt man
Erkenntnisse der höheren Welten? » zur Hand.) An Stelle des
Chaos beginnt dann nach und nach Ordnung und Harmonie
in das Reich der Träume zu kommen. Dies ist ein Zeichen da-
für, daß der Mensch anfängt, sich geistig zu entwickeln; und
dann sieht er im Traume nicht bloß die Nachklänge der Wirk-
lichkeit in chaotischer Weise, sondern auch Dinge, die es für
das gewöhnliche Leben gar nicht gibt. Gewiß werden die
Leute sagen, welche auf dem Gebiete des Tastbaren, auf dem
Gebiete des Sinnlichen bleiben wollen: «Das sind ja nur
Träume.» Wenn Sie aber dabei Einsicht in die höchsten Welt-
geheimnisse erlangen, so kann es Ihnen eigentlich ganz gleich-
gültig sein, ob Sie sie im Traume oder auf sinnliche Weise er-
halten haben. Denken Sie, Graham Bell hätte das Telephon im
Traume erfunden. Darauf käme es doch heute gar nicht an,
wenn das Telephon auf jeden Fall zu einer bedeutsamen und
nützlichen Einrichtung geworden wäre. Das klare und geord-
nete Träumen ist also der Anfang.
Wenn der Mensch in der Stille des Nachtlebens in die Träu-
me sich einlebt, wenn er eine Weile sich gewöhnt hat, ganz an-
dere Welten wahrzunehmen, dann kommt auch bald die Zeit,
da er auch mit diesen neuen Wahrnehmungen in die Wirklich-
keit hinauszutreten lernt. Dann bekommt diese ganze Welt ein
neues Aussehen für ihn, und er ist sich dieses Neuen so bewußt,
wie wir des Sinnlichen uns bewußt sind, wenn wir durch diese
Stuhlreihen, durch alles, was Sie hier sehen, hindurchschreiten.
Dann ist er in einem neuen Bewußtseinszustand; es eröffnet
sich etwas Neues, Wesenhaftes in ihm. Der Mensch kommt
dann dadurch auch weiter in der Entwicklung, zuletzt zu dem
Standpunkte, wo er nicht nur die eigentümlichen Erscheinun-
gen der höheren Welten wie Lichterscheinungen mit geistigem
Auge wahrnimmt, sondern auch Töne der höheren Welten er-
klingen hört, so daß ihm die Dinge ihre geistigen Namen sagen
und in neuer Bedeutung ihm entgegentreten. In der Sprache
der Mysterien wird das ausgedrückt mit den Worten: Der
Mensch sieht die Sonne um Mitternacht, das heißt für ihn sind
keine räumlichen Hindernisse mehr da, um die Sonne auf der
anderen Seite der Erde zu sehen. Dann wird ihm auch das, was
die Sonne im Weltenraume tut, offenbar, dann wird er auch das,
was die Pythagoräer als eine Wahrheit vertreten haben, die
Sphärenharmonie, wahrnehmen. Dieses Klingen und Tönen,
diese Sphärenharmonie wird für ihn etwas Wirkliches. Dich-
ter, die zugleich Seher waren, wußten, daß es so etwas wie
Sphärenharmonie gibt. Nur der, welcher Goethe von diesem
Standpunkte aus faßt, kann ihn verstehen. Die Worte im « Pro-
log im Himmel» zum Beispiel kann man entweder nur als
Phrase hinnehmen oder als höhere Wahrheit. Da, wo Faust im
zweiten Teile in die Geisterwelt eingeführt wird, spricht er
wieder von diesem Tönen: «Tönend wird für Geistes-Ohren
schon der neue Tag geboren.»
Da haben wir den Zusammenhang zwischen der Naturfor-
schung und der Theosophie. Du Bois-Reymond hat daraufhin-
gewiesen, daß nur der schlafende Mensch Gegenstand für die
Naturforschung sein kann. Wenn nun aber der Mensch an-
fängt, seine inneren Sinne zu eröffnen, wenn er anfängt, zu hö-
ren und zu schauen, daß es auch eine geistige Wirklichkeit gibt,
dann beginnt das ganze Gebäude elementarer Theosophie, das
Haeckel so wunderbar aufgebaut hat, und das keiner mehr be-
wundern kann als ich, einen ganz neuen Glanz, eine ganz neue
Bedeutung zu bekommen. Nach diesem Wunderbau sehen wir
als Urwesen ein einfaches Lebewesen, aber ebenso können
wir unser Wesen geistig zurückverfolgen, bis zu einem früheren
Zustand des Bewußtseins.
Ich werde nun die theosophisch gehaltene Abstammungs-
lehre auseinandersetzen. Von «Beweisen» für dieselbe muß
natürlich in einem einzelnen Vortrage ganz abgesehen werden.
Es ist natürlich, daß für alle diejenigen, welche nur die heute
üblichen Vorstellungen über die «Abstammung des Men-
schen » kennen, alles unwahrscheinlich und phantastisch klin-
gen wird, was ich werde sagen müssen. Aber alle diese Vor-
stellungen sind ja den herrschenden materialistischen Gedan-
kenkreisen entsprungen. Und viele, welche vielleicht gegen-
wärtig den Vorwurf des Materialismus weit von sich weisen
wollen, sind doch nur in einer - allerdings begreiflichen -
Selbsttäuschung befangen. Die wahre theosophische Entwik-
kelungslehre ist heute kaum bekannt. Und wenn Gegner von
ihr sprechen, so sieht derjenige, der sie kennt, aus den Einwür-
fen sofort, daß sie von einer Karikatur dieser Entwickelungs-
lehre sprechen. Für alle diejenigen, welche eine Seele oder ei-
nen Geist nur anerkennen, die innerhalb der menschlichen oder
tierischen Organisation zum Ausdruck kommen, ist die theo-
sophische Vorstellungsart ganz unverständlich. Mit solchen
Personen ist jede Diskussion über diesen Gegenstand un-
fruchtbar. Sie müßten sich erst frei machen von den materiali-
stischen Suggestionen, in denen sie leben, und müßten sich mit
der Grundlage theosophischer Denkrichtung bekannt machen.
Wie die sinnlich-naturwissenschaftliche Forschungsme-
thode die physisch-körperliche Organisation zurück verfolgt
bis in ferne unbestimmte Urzeiten, so tut es die theosophische
Denkweise in bezug auf Seele und Geist. Die letztere kommt
dabei mit den bekannten naturwissenschaftlichen Tatsachen
nicht in den geringsten Widerspruch; nur mit der materialisti-
schen Ausdeutung dieser Tatsachen kann sie nichts zu tun haben.
Die Naturwissenschaft verfolgt die physischen Lebewesen
ihrer Abstammung nach rückwärts. Sie wird auf immer einfa-
chere Organismen geführt. Nun sagt sie, die vollkommenen
Lebewesen stammen von diesen einfachen, unvollkommenen
ab. Das ist, soweit die physische Körperlichkeit in Betracht
kommt, eine Wahrheit, obgleich die hypothetischen Formen
der Urzeit, von denen die materialistische Wissenschaft spricht,
nicht ganz mit jenen übereinstimmen, von denen die theoso-
phische Forschung weiß. Doch das mag uns für unseren jetzi-
gen Zweck nicht weiter berühren.
In sinnlich-physischer Beziehung erkennt auch die Theoso-
phie die Verwandtschaft des Menschen mit den höheren Säu-
getieren, also mit den menschenähnlichen Affen, an. Von einer
Abstammung aber des heutigen Menschen von einem an seeli-
schem Wert dem heutigen Affen gleichen Wesen kann nicht die
Rede sein. Die Sache verhält sich ganz anders. Alles was der
Materialismus in dieser Beziehung vorbringt, beruht auf einem
einfachen Denkfehler. Dieser Fehler möge durch einen trivia-
len Vergleich klargemacht werden, der aber trotzdem nicht
unzutreffend ist, obgleich er trivial ist. Man nehme zwei Per-
sonen. Die eine sittlich minderwertig, intellektuell unbedeu-
tend; die andere sittlich hochstehend, intellektuell bedeutend.
Man könne, sagen wir, durch irgendeine Tatsache die Ver-
wandtschaft der beiden feststellen. Wird man nun schließen
dürfen, daß die höher stehende von einer solchen abstammt,
die der niedrig stehenden gleichwertig ist? Nimmermehr. Man
könnte durch die andere Tatsache überrascht werden, welche
da besagt: die beiden Personen sind verwandt; sie sind Brüder.
Aber der gemeinsame Vater war weder dem einen, noch dem
andern Bruder ganz gleichwertig. Der eine der Brüder ist her-
abgekommen; der andere hat sich emporgearbeitet.
Den in diesem Vergleich angedeuteten Fehler macht die ma-
terialistische Naturwissenschaft. Sie muß, nach den ihr be-
kannten Tatsachen, eine Verwandtschaft annehmen zwischen
Affe und Mensch. Aber sie dürfte nun nicht folgern: der
Mensch stammt von einem affengleichen Tiere ab. Sie müßte
vielmehr ein Urwesen - einen gemeinsamen physischen
Stammvater - annehmen; aber der Affe ist der herabgekom-
mene, der Mensch der höher hinaufgestiegene Bruder,
Was hat nun jenes Urwesen auf der einen Seite zum Men-
schen emporgehoben, auf der andern ins Affentum hinabge-
stoßen? Die Theosophie sagt: das hat die Menschenseele selbst
getan. Diese Menschenseele war auch schon zu jener Zeit vor-
handen, als da auf dem physisch-sichtbaren Erdboden als höch-
ste sinnliche Wesen nur jene gemeinsamen Urväter des Men-
schen und des Affen herumwandelten. Aus der Schar dieser
Urväter waren die besten imstande, sich dem Höherbildungs-
prozeß der Seele zu unterwerfen; die minderwertigen waren es
nicht. So hat die heutige Menschenseele einen Seelenvorfah-
ren, wie der Körper einen körperlichen Vorfahren hat. Für die
sinnliche Wahrnehmung wäre zur Zeit jener «Urväter» die
Seele allerdings nicht im heutigen Sinne innerhalb des Körpers
nachweisbar gewesen. Sie gehörte in einer gewissen Beziehung
noch den «höheren Welten» an. Sie hatte auch andere Fähig-
keiten und Kräfte als die gegenwärtige Menschenseele. Die
heutige Verstandestätigkeit und Moralgesinnung fehlte ihr.
Sie baute sich nicht aus den Dingen der Außenwelt Werkzeuge
und errichtete nicht Staaten. Ihre Tätigkeit war noch in erheb-
lichem Maße auf die Umarbeitung der Urbildung der «Urvä-
ter-Leiber » selbst gerichtet. Sie gestaltete das unvollkommene
Gehirn um, so daß dieses später Träger der Gedankentätigkeit
werden konnte. Wie die heute nach außen gerichtete Seele Ma-
schinen baut, so baute die Vorfahrenseele noch an demmensch-
lichen Vorfahrenkörper selbst. Man kann natürlich einwerfen :
ja warum kann denn die Seele heute nicht mehr in dem Maße
am eigenen Körper bauen? Das kommt eben daher, daß die
Kraft, die früher aufgebracht worden ist zur Organ-Umbil-
dung, später sich nach außen auf die Beherrschung und Re-
gelung der Naturkräfte richtete.
So kommt man in der Urzeit auf einen zweifachen Ursprung
des Menschen. Dieser ist geistig-seelisch nicht erst durch die
Vervollkommnung der sinnlichen Organe entstanden. Son-
dern die «Seele» des Menschen war schon da, als die «Urvä-
ter » noch auf Erden wandelten. Sie hat sich - dies natürlich nur
vergleichsweise gesprochen - selbst einen Teil aus der «Urvä-
ter-Schar » ausgewählt, dem sie einen äußerlich körperlichen
Ausdruck verliehen hat, der ihn zum heutigen Menschen
machte. Der andere Teil aus dieser Schar ist verkümmert, her-
abgekommen, und bildet die heutigen menschenähnlichen Af-
fen. Diese haben sich also - im wahren Sinne des Wortes - aus
dem Menschenvorfahren als dessen Ab-^weigung gebildet. Jene
«Urväter» sind die physischen Menschenvorfahren; aber sie
konnten es nur dadurch sein, daß sie die Fähigkeit der Umbil-
dung durch die Menschenseelen in sich trugen. So stammt der
Mensch physisch von diesem «Urvater» ab; seelisch aber von
seinem «Seelenvorfahren». Nun kann man wieder weiter in
bezug auf den Stammbaum der Wesen zurückgehen. Da
kommt man zu einem physisch noch unvollkommeneren «Ur-
vater ». Aber auch zu dessen Zeit war der « Seelenvorfahr » des
Menschen schon vorhanden. Dieser hat selbst diesen «Urva-
ter» zum Affendasein emporgehoben, wieder die nicht ent-
wickelungsfähigen Brüder auf der betreffenden Stufe zurück-
lassend. Aus diesen sind dann Wesen geworden, deren Nach-
kommen heute noch unter den Affen in der Säugetierreihe ste-
hen. Und so kann man hinaufgehen in jene urferne Vergangen-
heit, in der auf der damals ganz anders als heute aussehenden
Erde nur jene einfachsten Lebewesen vorhanden waren, aus
denen Haeckel alle höheren entstehen läßt. Auch ihr Zeitge-
nosse war schon der «Seelenvorfahr» des Menschen. Er hat
die brauchbaren umgestaltet und die unbrauchbaren auf jeder
besonderen Stufe zurückgelassen. Die ganze Summe der irdi-
schen Lebewesen stammt also in Wahrheit vom Menschen ab.
Was heute als « Seele »in ihm denkt und handelt, hat die Ent-
wickelung der Lebewesen bewirkt. Als unsere Erde im Anfang
war, war er selbst noch ein ganz seelisches Wesen. Er begann
seine Laufbahn, indem er einen einfachsten Körper sich bil-
dete. Und die ganze Reihe der Lebewesen bedeutet nichts an-
deres als die zurückgebliebenen Stufen, durch die er seinen
Körperbau heraufentwickelt hat bis zur heutigen Vollkom-
menheit. Die heutigen Lebewesen geben natürlich nicht mehr
diejenige Gestalt wieder, welche ihre Vorfahren auf einer be-
stimmten Stufe hatten, als sie sich vom Menschen[stamm]-
baum abzweigten. Sie sind nicht stehengeblieben, sondern nach
einem bestimmten Gesetze, das hier wegen der notwendigen
Kürze der Darstellung nicht weiter berücksichtigt werden
kann, verkümmert. Das Interessante ist nun, daß man äußerlich
auch durch die Theosophie auf einen Stammbaum des Men-
schen kommt, der dem von Haeckel konstruierten gar nicht so
unähnlich ist. Doch macht Haeckel aus den physischen «Ur-
vätern» des Menschen überall - hypothetische - Tiere. In
Wahrheit sind aber an alle die Stellen, an die Haeckel Tierna-
men setzt, die noch unvollkommenen Vorfahren des Men-
schen zu setzen, und die Tiere - ja sogar alle Wesen - sind nur
die verkümmerten, herabgekommenen Formen, welche jene
Stufen beibehalten haben, durch die hindurch sich die Men-
schenseele gebildet hat. Äußerlich besteht also eine Ähnlich-
keit zwischen den Haeckelschen und den theosophischen
Stammbäumen; innerlich - dem Sinne nach - sind sie himmel-
weit verschieden.
Daher kommt es, daß man aus Haeckels Ausführungen so
gut elementare Theosophie lernen kann. Man braucht nur die
von ihm bearbeiteten Tatsachen theosophisch zu durchdringen,
und seine eigene naive Philosophie zu einer höheren zu erhe-
ben. Wenn Haeckel solche «höhere» Philosophie abkanzelt
und kritisiert, so ist er eben selbst naiv; wie etwa, wenn jemand,
der es nur bis zum «Einmal-Eins » gebracht hat, sagen wollte:
«Was ich weiß, ist wahr, und die ganze höhere Mathematik
ist nur ein phantastisches Zeug.» Die Sache liegt doch gar
nicht so, daß jemand, der Theosoph ist, das widerlegen will,
was elementare Tatsache der Naturwissenschaft ist; sondern
nur so, daß der von materialistischen Suggestionen einge-
nommene Forscher gar nicht weiß, wovon die Theosophie
redet.
Es hängt von dem Menschen ab, was er für eine Philosophie
hat. Das hat Fichte gesagt mit den Worten: Wer kein wahrneh-
mendes Auge hat, kann die Farben nicht sehen, wer keine auf-
nahmefähige Seele besitzt, der kann den Geist nicht sehen.
Auch Goethe hat denselben Gedanken in dem bekannten Spru-
che zum Ausdruck gebracht: «War* nicht das Auge sonnenhaft,
die Sonne könnt' es nie erblicken; lag' nicht in uns des Got-
tes eigne Kraft, wie könnt' uns Göttliches entzücken?» Und
einen Ausspruch Feuerbachs ins rechte Licht setzend, kann man
sagen: jeder sieht das Bild von Gott so, wie er selbst ist. Der
Sinnliche macht sich einen sinnlichen Gott, derjenige, welcher
das Seelische wahrnimmt, weiß auch das Seelische in seinem
Gott zu finden. Wenn Löwen, Stiere und Ochsen sich Götter
machen könnten, so würden sie Löwen, Stieren und Ochsen
ähnlich sein, bemerkte schon ein Philosoph im alten Griechen-
land. In dem Fetisch-Anbeter lebt auch etwas als höchstes, gei-
stiges Prinzip, er hat es aber noch nicht in sich gefunden; er ist
daher auch noch nicht dazu gekommen, in seinem Gott mehr
zu sehen als den Holzklotz. Der Fetisch-Anbeter kann nicht
mehr anbeten, als er in sich selbst fühlt. Er erachtet sich selbst
noch gleich dem Holzklotz. Wer nicht mehr sieht als wirbelnde
Atome, wer das Höchste nur in den kleinen bloß materiellen
Pünktchen sieht, der hat eben in sich selber nichts von dem
Höheren erkannt.
Haeckel hat sich zwar das, was er uns in seinen Schriften dar-
bietet, ehrlich erworben, und ihm mußte es daher gestattet sein,
auch die Fehler seiner Tugenden zu haben. Das Positive seiner
Arbeit wird wirken, das Negative wird verschwinden. Von
einem höheren Gesichtspunkte aus gesehen, kann man sagen:
der Fetisch-Anbeter betet den Fetisch, ein lebloses Wesen, an,
und der materialistische Atomist betet nicht nur ein kleines
Götzchen an, sondern eine Menge kleiner Götzchen; die er
Atome nennt. (Das Wort «anbeten »ist natürlich nicht« wört-
lich» zu nehmen, denn der «materialistische» Denker hat sich
zwar nicht den Fetischismus, wohl aber das «Beten» abge-
wöhnt. -) So groß der Aberglaube des Fetisch-Anbeters ist, so
groß ist der des Materialisten. Das materialistische Atom ist
nichts anderes als ein Fetisch. In dem Holzklotz sind nämlich
auch nur Atome. Haeckel sagt nun an einer Stelle:« Gott sehen
wir im Stein, in der Pflanze, im Tier, im Menschen. Überall ist
Gott.» Er sieht aber nur den Gott, den er begreift. Goethe hat
doch so bezeichnend gesagt: «Du gleichst dem Geist, den du
begreifst, nicht mir.» So sieht der Materialist die wirbelnden
Atome im Stein, in der Pflanze, im Tier und in dem Menschen
und vielleicht auch im Kunstwerk, und beruft sich darauf, daß
er eine einheitliche Weltanschauung besitze und den alten
Aberglauben überwunden habe. Eine einheitliche Weltan-
schauung haben aber auch die Theosophen, und wir können
dieselben Worte gebrauchen wie Haeckel: Wir sehen Gott im
Stein, in der Pflanze, und im Menschen, aber wir sehen nicht
einen Wirbel von Atomen, sondern den lebendigen Gott, den
geistigen Gott, den wir in der Natur draußen zu finden trach-
ten, weil wir ihn in uns selbst auch suchen.
Anmerkung
1
Das Obige ist die Wiedergabe eines nicht vorher ausgearbeiteten Vortrages
nach einer stenographischen Aufnahme. Da es manchem ausgesprochenen
Wunsch entspricht, solche Vorträge auch lesen zu können, so habe ich mich
zur Veröffentlichung entschlossen. Ich bitte dabei zu bedenken, daß ich einen
großen Unterschied mache zwischen dem mündlich gesprochenen Worte und
einer schriftstellerischen Arbeit. Was im ersten Falle frommt, ist nicht auch im
zweiten gut. Damit, hoffe ich, ist manches in der obigen Darstellung entschul-
digt, was ich in einem Aufsatze anders gestalten würde. Nachträglich aber ist
das Stenogramm von mir durchgesehen worden.
E D U A R D VON H A R T M A N N
251
Macht man sich dies ganz klar, so wird man unschwer einse-
hen, was in der Weltauffassung Eduard von Hartmanns zu ei-
ner wirklichen Erhebung in die geistige Welt fehlen muß. Man
wird durch eine solche Klarheit ihr aber innerhalb ihrer Gren-
zen gerecht werden können. Gerade dadurch, daß Hartmann
nicht über die sinnliche Wahrnehmung hinausgeht, sieht er
sich um so mehr genötigt, innerhalb dieser Sinnenwelt nach
allen Seiten Umschau zu halten und genau nachzusehen, wo
diese schon als solche ein gründliches Denken nötigt, von einer
geistigen Grundlage zu sprechen. Das macht Hartmanns Stärke
gegenüber dem naturwissenschaftlichen Materialismus aus. Er
kann diesem zeigen, wie er nur durch eine oberflächliche Be-
trachtung der Tatsachen zu seinen Schlüssen kommt. Er kann
nachweisen, daß gerade die Ergebnisse der Naturforschung
das Denken dazu drängen, in allen Erscheinungen geistige Ur-
sachen zu suchen. Dadurch ist er zum Beispiel imstande, den
materialistischen Naturforschern ein Bild ihrer eigenen Wis-
senschaft zu geben, das sich allerdings ganz erheblich von
ihrem eigenen unterscheidet. Das bewirkte, daß gerade die ma-
terialistisch gesinnten Naturforscher heftigen Widerspruch er-
hoben gegen die «Philosophie des Unbewußten». Sie erklär-
ten den Schöpfer derselben für einen Dilettanten auf naturwis-
senschaftlichem Gebiet. Mit einer solchen Art hat man einem
größeren Publikum gegenüber gewöhnlich einen recht leich-
ten Stand. Dieses prüft ja nicht genau. Wenn die «Fachmän-
ner», die es doch nach dieses Publikums Meinung verstehen
müssen, sagen: Mit dieser Philosophie ist es nichts, denn der
Philosoph versteht nichts von den Tatsachen, von denen er
spricht: So schwört eben das Publikum auf solchen Ausspruch.
Und der Philosoph mag dann die besten Gründe für seine Auf-
fassung vorbringen: das hilft ihm gar nichts.
Hartmann sah die Erfolglosigkeit eines solchen Weges ein.
Deshalb wählte er einen viel klügeren, um die naturwissen-
schaftlichen Materialisten ganz gründlich zu widerlegen. Ei-
nen Weg, gegen den es absolut nichts gab zur Rettung der na-
turwissenschaftlichen Oberflächlichkeit. Es sei mir gestattet,
diesen Weg Eduard von Hartmanns auch wieder so darzustel-
len, daß ich wiedergebe, was ich bereits früher darüber gesagt
habe, nämlich in einem Vortrage, den ich am 20. Februar 1893
im Wiener wissenschaftlichen Klub gehalten habe, und der ab-
gedruckt ist im Juliheft 1893 der «Monatsblätter des wissen-
schaftlichen Klubs in Wien»: «Eduard von Hartmann ver-
suchte in einem Kapitel des Buches (der «Philosophie des Un-
bewußten»), sich mit dem Darwinismus philosophisch ausein-
anderzusetzen. Er fand, daß die damals herrschende Auffas-
sung desselben einem folgerechten Denken gegenüber nicht
standhalten könne, und suchte sie zu vertiefen. Die Folge da-
von war, daß er von seiten der Naturforscher des Dilettantis-
mus beschuldigt und auf die denkbar schärfste Art verurteilt
wurde. In zahlreichen Aufsätzen und Schriften wurde ihm Ein-
sichtslosigkeit in naturwissenschaftlichen Dingen vorgewor-
fen. Unter den gegnerischen Schriften befand sich auch eine
von einem ungenannten Verfasser. Das darin Gesagte wurde
von angesehenen Naturforschern als das Beste bezeichnet, was
gegen Hartmanns Ansichten vorgebracht werden könne. Die
Fachgelehrten hielten den Philosophen für vollständig wider-
legt. Der berühmte Zoologe Dr. Oskar Schmidt sagte, die
Schrift des unbekannten Verfassers habe <alle, welche nicht
auf das Unbewußte eingeschworen sind, in ihrer Überzeugung
vollkommen bestätigt, daß der Darwinismus - und Schmidt
meinte die von den Naturforschern vertretene Auffassung des-
selben - im Rechte sei>. Und der auch von mir als der größte
deutsche Naturforscher der Gegenwart verehrte Ernst Haeckel
schrieb: <Diese ausgezeichnete Schrift sagt im Wesentlichen
alles, was ich selbst über die «Philosophie des Unbewußten» den Lesern
der Schöpfungsgeschichte hätte sagen können. > - Als später eine
zweite Auflage der Schrift erschien, stand auf dem Titelblatte
der Name des Verfassers - Eduard von Hartmann. Der Philo-
soph hatte zeigen wollen, daß es ihm durchaus nicht unmög-
lich sei, sich in den naturwissenschaftlichen Gedankenkreis
einzuleben und in der Sprache der Naturforscher zu reden,
wenn er will. Hartmann hat damit den Beweis geliefert, daß es
nicht den Philosophen an Verständnis für die Naturwissen-
schaft, sondern umgekehrt den Vertretern der letzteren an Ein-
sicht in die Philosophie fehlt.» - Das war allerdings eine derbe
Lektion, welche Eduard von Hartmann den naturwissenschaft-
lichen Materialisten erteilt hat. Wenn man nun auch nicht be-
haupten kann, daß die letzteren durch sie zu einiger Gründlich-
keit in bezug auf die geistige Forschung getrieben worden
sind: Hartmanns Stellung zu ihnen und wohl auch diejenige
der Geistesforschung überhaupt ist dadurch in ein weltge-
schichtlich bedeutsames Licht gerückt worden.
Ist demgemäß die « Philosophie des Unbewußten » der mate-
rialistischen Naturforschung turmhoch überlegen, so brachte
sich Eduard von Hartmann von vornherein gegen die Geistes-
forschung in eine schiefe Lage durch seine bis zu gewissen
Grenzen in Kantische Bahnen einlenkende Erkenntnistheorie.
Er charakterisierte die gewöhnliche Ansicht des Menschen als
naiven Realismus. Er sagte: Diese gewöhnliche Ansicht sieht
in den Wahrnehmungen der Sinne wirkliche Dinge. Nun läßt
sich aber leicht zeigen, daß diese Ansicht falsch ist. Denn daß
der Mensch einen Gegenstand in einer bestimmten Farbe sieht,
mit einem gewissen Geruch wahrnimmt usw., rührt doch nur
davon her, daß seine Augen, sein Geruchsorgan usw. in einer
bestimmten Art gebaut sind. Hätte er statt der Augen, statt des
Geruchsorganes andere Organe, so würde er etwas ganz ande-
res wahrnehmen. Somit sind die Wahrnehmungen keine wirk-
lichen Dinge, sondern nur Erscheinungen, welche in ihrer Ei-
genart von den Sinnesorganen bewirkt werden. Der gewöhn-
liche Mensch, der sie für wirklich hält, lebt also in einer Täu-
schung. Man müsse vielmehr annehmen, daß die wahre Wirk-
lichkeit als Ursache hinter den Wahrnehmungen der Sinne
liege. Und eben deshalb sucht Hartmann diesen naiven Realis-
mus des gewöhnlichen Menschen zu überwinden. Er sucht
durch Denken zu ergründen, was als wahre Wirklichkeit hinter
der scheinbaren steckt. Damit gibt er in einem gewissen einge-
schränkten Sinne zu, daß der Mensch sich zu einer höheren Er-
kenntnis entwickeln könne. Er sieht seinen eigenen Stand-
punkt als einen solchen an, der in jedem Menschen schlum-
mert, und zu dem sich der naive Realist nur nicht erhebt.
Wie nahe hätte es nun, nachdem Hartmann schon so weit ge-
gangen war, doch gelegen, sich zu sagen: Könnte man sich
denn nicht zu einem noch höheren Erkenntnis Standpunkt er-
heben? Könnte es nicht eine höhere Erkenntnisfähigkeit ge-
ben, der auch mein Standpunkt als eine Täuschung erscheint,
wie mir derjenige des naiven Realismus ? Diesen naheliegenden
Schluß hat Hartmann nie ziehen wollen. Deshalb ist ihm die
okkulte Erkenntnis immer ganz unverständlich geblieben. Das
lag an den ihm gesteckten Grenzen seines Geistes. Er konnte
über einen gewissen Punkt eben nicht hinauskommen. Er hat
sich in einer gewissen Beziehung alle Mühe gegeben. Als in
den achtziger Jahren die «Esoterische Lehre des Geheimbud-
dhismus » von Sinnett erschien und damit der theosophischen
Zeitströmung ein erster literarischer Ausdruck gegeben war,
da schrieb Hartmann einen ausführlichen Aufsatz über dieses
Buch. Nun kann man ja allerdings sagen, daß in jenem Sinnett-
schen Buche die Theosophie in einer viel zu dogmatischen Art
zutage trat, als daß einem gründlichen Denken damit hätte viel
geholfen sein können, und daß der «Geheimbuddhismus» zu
viel Schablonenhaftes, ja sogar direkt Fehlerhaftes enthielt,
was den Zugang erschwerte; man muß aber dessen ungeachtet
finden, daß Hartmann einer gewissen Art seines Geistes bei
dieser Forschungsrichtung ebenso zum Opfer fiel, wie ihm dies
auch gegenüber anderen Erscheinungen der Geistesforschung
erging. Er hatte sich frühzeitig in die von ihm einmal festgeleg-
ten Gedankengebüde eingekapselt und dadurch jede Möglich-
keit verloren, anderes auch nur zu verstehen. Deshalb war für
ihn nie ein anderes Verhältnis zu einer fremden Forschung
mehr möglich, als rein dasjenige, welches jeden andern Gedan-
ken einfach mit dem eigenen verglich und dann sagte: Was mit
mir übereinstimmt, ist richtig; was dies nicht tut, ist falsch. In
einer gewissen Beziehung war daher das kritische Verhalten
Eduard von Hartmanns gegenüber fremden Leistungen so,
daß man im einzelnen Falle gar nicht abzuwarten brauchte, was
er sagen werde. Wer seine Philosophie gut kannte, und dann
einen andern Standpunkt ins Auge faßte, der konnte immer
schon wissen, was Hartmann über den letzteren sagen werde,
auch bevor er selbst gesprochen hatte.
Auch mit untergeordneten Zeiterscheinungen der Geistes-
forschung, wie mit Hypnotismus, mit dem Spiritismus usw.
hat sich Hartmann beschäftigt, ohne auch da zu irgend etwas
anderem zu gelangen als zu einem ziemlich schablonenhaften
Einregistrieren in seine Gedankenformen. Deshalb sind auch
viele der späteren Bücher Eduard von Hartmanns weit weniger
anregend als seine ersten. Gewiß, er hat in einzelnen Punkten
seine ursprünglichen Ergebnisse modifiziert, und deshalb ist
es unrecht, daß das Publikum ihn zumeist nur nach seiner ersten
Schöpfung, der «Philosophie des Unbewußten», beurteilt. Er
hat sich über diese einseitige Beurteilung seines Philosophie-
rens oft bitter beklagt. Aber die Veranlassung dazu liegt doch
auch darinnen, daß in bezug auf einschneidende Grundgedan-
ken Hartmann in vielen späteren Schriften nichts geliefert hat,
als was sich ein jeder Kenner seiner Prinzipien eigentlich selbst
ausbauen kann. Es wird wenige Autoren geben, in bezug auf
welche man mit soviel Recht wie bei Hartmann sagen kann:
Um das zu gewinnen, was sie in ihren späteren Werken bieten,
braucht man sie eigentlich selber gar nicht mehr. Ein einiger-
maßen begabter Mensch kann sich zum Beispiel das Wesent-
liche, was in der «Kategorienlehre», oder in der «Geschichte
der Metaphysik » steht, selbst im Sinne Hartmanns konstruie-
ren, wenn er dessen vorhergehende Schriften kennt und ver-
steht.
Leicht kann man mißverstehen das, was Hartmanns Pessi-
mismus ausmacht. Daß er ursprünglich von Schopenhauers Ge-
dankenrichtung mit beeinflußt war, hat der «Philosophie des
Unbewußten» eine Färbung nach dem Pessimismus hin gege-
ben. Doch sollte man nicht übersehen, daß auf Hartmann eben-
so stark zum mindesten wie Schopenhauer auch Hegel und
Schelling gewirkt haben mit ihrer durchaus nicht pessimisti-
schen Vorstellungsart. Es würde hier viel zu weit führen, wenn
das Verhältnis Hartmanns zu den genannten drei Philosophen
oder noch andern Denkern auseinandergesetzt würde. Deshalb
soll ohne eine solche Ausführung Hartmanns Verhältnis zum
Pessimismus kurz charakterisiert werden.
Weil die « Philosophie des Unbewußten » den Geist der Welt
aus den zwei Elementen zusammensetzt, den unbewußten Wil-
len und die unbewußte Idee, so kann sie den Gang der Welt-
entwickelung nicht als einen durchaus vernünftigen und guten
ansehen. Denn ist auch die Idee für sie vernünftig und logisch;
der Wille ist es nicht. Nur durch den Willen aber kann die Welt
entstanden sein. Es ist ja bereits oben gesagt worden, daß zum
wirklichen Schaffen eine Kraft nötig ist. Die kraftlose Idee
kann nichts schaffen. So kommt denn Hartmann dazu, sich zu
sagen, daß die Welt überhaupt da ist, rühre von dem vernunft-
losen Willen her, und die Idee kann nichts tun, als sich des Wil-
lens bemächtigen, um die Schöpfung wieder aufzuheben. Der
Weltprozeß bestehe also darinnen, daß die Idee sich hinterher
unbefriedigt fühlt davon, daß sie durch den Willen ins Dasein
gerufen worden ist; sie fühlt damit die Schöpfung als ihr Lei-
den, und strebt danach, sich von diesem Leiden zu befreien. Es
sei wieder gestattet, auch in bezug darauf einige Sätze aus mei-
nem Buche «Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten
Jahrhundert» (S. 165 f.) anzuführen: «Das Walten des Unver-
nünftigen drückt sich in dem Vorhandensein der Schmerzen
aus, die alle Wesen quälen. Der Schmerz überwiegt in der Welt
gegenüber der Lust. Diese Tatsache, die philosophisch aus dem
unlogischen Willenselemente des Daseins zu erklären ist, sucht
Eduard von Hartmann durch sorgfältige Betrachtungen über
das Verhältnis von Lust und Unlust in der Welt zu erhärten.
Wer sich gar keiner Illusion hingibt, sondern objektiv die Übel
der Welt betrachtet, kann zu keinem andern Ergebnis gelan-
gen, als daß die Unlust in weit größerem Maße vorhanden sei
als die Lust. Daraus aber folge, daß das Nichtsein dem Dasein
vorzuziehen sei. Das Nichtsein kann aber nur erreicht werden,
wenn die logisch-vernünftige Idee den Willen, das Dasein,
vernichtet. Als eine allmähliche Vernichtung des unvernünfti-
gen Willens durch die vernünftige Ideenwelt sieht daher Hart-
mann den Weltprozeß an. Es müßte die höchste sittliche Auf-
gabe des Menschen die sein, an der Überwindung des Willens
mitzuwirken.» Man sieht, die «Philosophie des Unbewußten»
steht der okkulten Geistesforschung als etwas ganz Entgegen-
gesetztes gegenüber. Denn diese muß, kurz ausgesprochen, die
Welt und damit auch den Menschen in einer Entwickelungs-
strömung sehen, die zuletzt alles zum Göttlichen, also zum gu-
ten Ursein führt.
Nun aber verbindet sich bei Hartmann mit diesem umfassen-
den Pessimismus ein merkwürdiger untergeordneter Optimis-
mus. Denn sein Pessimismus soll nicht zu einer Abkehr vom
Dasein, sondern im Gegenteil, zu einem hingebungsvollen
Mitwirken an demselben führen. Er glaubt nämlich, daß zu
einem sittlichen Handeln nur dieser Pessimismus führen könne.
So lange der Mensch den Glauben hat, daß Lust und Glück
erreicht werden können, so lange wird er auch - nach Eduard
von Hartmanns Annahme - das selbstsüchtige Jagen nach
ihnen nicht aufgeben. Nur eines kann wirkliche Heilung von
allem Egoismus bringen. Das ist die Einsicht, daß aller Glaube
an die Lust und das Glück Illusion ist. Ist sich der Mensch dar-
über klar, dann wird er alles derartige Streben aufgeben. Nun
könnte man allerdings sagen: unter solchen Voraussetzungen
ist ja alles Dasein zwecklos; und die «Philosophie des Unbe-
wußten » müßte demnach eigentlich dem Menschen die Ver-
nichtung seines Daseins anempfehlen. Hartmann erwidert dar-
auf, daß absolut nichts erreicht wäre, wenn der einzelne sein
Dasein austilgen wollte. Denn was im letzten Grunde leidet, ist
nicht bloß der Einzelgeist, sondern der Allgeist. Soll das Lei-
den aufhören, so muß das Dasein des Allgeistes selbst ausge-
tilgt werden. Dies kann aber nicht dadurch erreicht werden,
daß sich der einzelne vernichtet, sondern im Gegenteile da-
durch, daß dieser einzelne seine Arbeit in den Dienst des Gan-
zen stellt. Alle Arbeit der Menschheit muß zusammenwirken,
um zuletzt den Allgeist von seinen Leiden zu befreien. Die
ganze Kulturentwickelung ist nichts anderes, als ein Hinarbei-
ten auf dieses Ziel. Die Weltentwickelung besteht in der Erlö-
sung der Gottheit von dem Leiden des Daseins durch die Ar-
beit der Menschheit. Der einzelne muß auf eine Glückseligkeit
für sich verzichten und alle seine Leistungen in den Dienst der
Erlösung der Gottheit stellen. - Es kann hier nun nicht die Auf-
gabe sein, zu zeigen, wie Hartmann in einer recht phantasti-
schen Art voraussetzt, daß die Menschheit dahin erzogen wer-
den könnte, zuletzt durch einen gemeinsamen Entschluß,
durch vereintes Streben, das Dasein radikal zu vernichten, und
die Gottheit zu erlösen.
Wenn man auch gestehen muß, daß in solchen Endpunkten
des philosophischen Nachdenkens die «Philosophie des Unbe-
wußten » sich in grundlose Untiefen verliert, so kann dem Ein-
sichtigen nicht entgehen, daß im Speziellen Hartmann manche
schöne Darlegungen geleistet hat. Eine solche muß insbeson-
dere in der Auseinandersetzung der verschiedenen Sittlich-
keitsstandpunkte in seiner «Phänomenologie des sittlichen Be-
wußtseins » gesehen werden. Da hat er alle möglichen sittli-
chen Lebensansichten aufgeführt, vom krassen Egoismus bis
zur religiös-selbstlosen Hingabe an die Arbeit im Gesamt-
Menschheitsdienste. Und wenn auch über all diesen Ausfüh-
rungen der Hauch seines Pessimismus liegt mit dem paradoxen
Ziel einer Erlösung des Weltgeistes von seinem Leiden: so
kann doch ein jeder, der von diesem radikalen Endpunkte ab-
zusehen vermag, aus dem einzelnen bei Hartmann viel gewin-
nen. - Ein gleiches ist zu sagen von dem Buche: «Das religiöse
Bewußtsein der Menschheit in der Stufenfolge seiner Entwik-
kelung». Da will Hartmann zeigen, wie im geschichtlichen
Verlaufe sich die Menschheit allmählich durchringt durch die
verschiedenen religiösen Standpunkte zur Verehrung jenes
Allgeistes, wie er ihm als «der Unbewußte» vorschwebt. Ihm
erscheinen alle bisherigen Religionen als eine Vorstufe der
«Religion des Geistes». Daß in jedem einzelnen der «Geist»
lebt, und daß das Leben in der Erlösung dieses leidenden Gei-
stes bestehen muß: dies soll der Inhalt solcher Zukunftreligion
sein. Auch das Christentum kann zu dieser «Religion des Gei-
stes » nur eine Vorstufe sein. Es gibt sich - so meint Hartmann
- der Illusion hin, daß in Einer Person, dem Gottessohne, der
Allgeist gelitten hat: es muß aber an die Stelle dieser einen Per-
son die Summe aller Personen treten. Alle müssen sich als lei-
dende und zur Erlösung berufene Söhne des Einen Geistes füh-
len. Hartmann ist überzeugt davon, daß die wissenschaftliche
Theologie der neuen Zeit zu einer « Selbstzersetzung des Chri-
stentums » führen müsse. Sie muß sich zuletzt durch den Wi-
derspruch auflösen, der sich aus dem Nachdenken über die Un-
möglichkeit ergibt, das Erlösungswerk könne durch einen Ein-
zelnen herbeigeführt werden. Ist auch in dieser Ausführung
Hartmanns wieder das völlige Mißverstehen des Christentums
durchleuchtend: so hat der Schöpfer der «Philosophie des Un-
bewußten » doch auch auf diesem Gebiete manche wichtige
Einzelausführung gegeben, und er ist auch in dieser Bezie-
hung den zeitgenössischen Theologen und Philosophen weit
überlegen durch Scharfsinn und Unabhängigkeit des Den-
kens.
Es wäre interessant, auch noch auszuführen, wie auch in der
«Ästhetik» Hartmann trotz Unzulänglichkeit seiner Grund-
prinzipien manch Treffliches im einzelnen geleistet hat. Doch
muß hier - aus Raummangel - davon abgesehen werden.
Eduard von Hartmann bietet einem jeden, der sich mit ihm
beschäftigt, viel des Anregenden. Und der Geistesforschung
kann er nicht ohne Nutzen sein. Man hat in ihm eine Persön-
lichkeit vor sich, welche auf der einen Seite ein energisches
Losringen von den Vorurteilen des materialistischen Zeitgei-
stes zeigt, die aber doch sich nicht erheben kann in das Gebiet
wirklichen geistigen Schauens. Gerade bei ihm kann man ge-
wahr werden, wie die Vorstellungsart der Gegenwart dem Gei-
ste die Freiheit nimmt zu solchem wirklichen Schauen. - Und
noch eines darf bei dieser Persönlichkeit nicht übersehen wer-
den. Hartmann hat nicht nur die höchsten Lebensanschau-
ungsfragen behandelt, sondern er ist in alle Zeitfragen einge-
drungen : in die Kulturfragen, in die Politik, in die Sozialöko-
nomie, in die Rechtsfragen usw. Und überall erweist er sich da
als ein Denker, der fest auf dem Boden der Wirklichkeit stehen
bleiben will, der sich nirgends in phantastische Utopien und
abstrakte Zukunftsperspektiven verlieren will. Ja, sein Wirk-
lichkeitssinn in dieser Hinsicht steht in einem sonderbaren Ge-
gensatze zu seinen radikalen, und wirklich oft bodenlosen
Träumereien in den höchsten Fragen und Zielen der Mensch-
heit. Schi Konservativismus in Politik und Sozialismus hat
manchmal etwas Philiströses, aber viel Gesundes. Deshalb
wird er auch in bezug darauf für den Geistesforscher wertvoll
sein. Dieser hat allen Grund, sich vor Phantastereien zu hüten,
und fest auf dem Boden der Realität zu bleiben. Da kann Hart-
mann ein vortreffliches Beispiel abgeben. Ob man dies oder
jenes von ihm annehmen will, daraufkommt nicht viel an; aber
darauf, daß man immer fruchtbare Anregungen von ihm emp-
fangen kann.
LEBENSFRAGEN
D E R T H E O S O P H I S C H E N BEWEGUNG
L E B E N S F R A G E N DER T H E O S O P H I S C H E N BEWEGUNG
V O R U R T E I L E AUS V E R M E I N T L I C H E R W I S S E N S C H A F T
20
und Tod», Seite 21). Er soll aber nur nicht hinzufügen: «Die
Wissenschaft beweist es», wie es in der angeführten Schrift ge-
schieht. Denn die Wissenschaft «beweist» in diesem Falle
nichts, sondern der an die Sinnenwelt gefesselte Glaube stellt
das Dogma auf: Wovon ich mir nichts vorstellen kann, das
muß als Wahn gelten; und wer gegen meine Behauptung sün-
digt, vergeht sich an echter Wissenschaft.
Wer die menschliche Seele in ihrer Entwickelung kennt, der
findet es ganz begreiflich, daß durch die gewaltigen Fort-
schritte der Naturwissenschaft die Geister zunächst geblendet
sind und sich heute nicht zurechtfinden können in den Formen,
in denen hohe Wahrheiten traditionell überliefert sind. Die
Geisteswissenschaft gibt der Menschheit solche Formen wie-
der zurück. Sie zeigt zum Beispiel, wie die Schöpfungstage der
Bibel Dinge wiedergeben, die dem hellseherischen Blick sich
entschleiern. Der an die Sinnenwelt gefesselte Geist findet nur,
daß diese Schöpfungstage den Errungenschaften der Geologie
usw. widersprechen. Die Geisteswissenschaft ist bei dem Er-
kennen der tiefen Wahrheiten dieser Schöpfungstage ebenso
weit davon entfernt, sie als bloße « Mythendichtungen » zu ver-
flüchtigen, wie irgendwie allegorische oder symbolische Er-
klärungsarten anzuwenden. Wie sie vorgeht, das ist allerdings
denen ganz unbekannt, welche noch immer von dem Wider-
spruch dieser Schöpfungstage mit der Wissenschaft phantasie-
ren. Auch darf nicht geglaubt werden, daß die Geistesfor-
schung ihr Wissen aus der Bibel schöpft. Sie hat ihre eigenen
Methoden, findet unabhängig von allen Urkunden die Wahr-
heiten und erkennt sie dann wieder in diesen. Dieser Weg ist
aber notwendig für viele gegenwärtige Wahrheitsucher. Denn
diese fordern eine Geistesforschung, die in sich denselben Cha-
rakter trägt wie die Naturwissenschaft. Und nur wo das Wesen
solcher Geisteswissenschaft nicht erkannt wird, verfällt man in
die Ratlosigkeit, wenn es sich darum handelt, die Tatsachen
der übersinnlichen Welt vor den blendenden Wirkungen der
scheinbar auf Naturwissenschaft gebauten Meinungen zu be-
wahren. Eine solche Gemütsverfassung wurde sogar schon
vorher geahnt von einem seelisch warmen Manne, der aber für
sein Gefühl keinen geisteswissenschaftlichen übersinnlichen
Inhalt finden konnte. Schon vor beinahe achtzig Jahren schrieb
eine solche Persönlichkeit, Schleiermacher, an Lücke, der um
vieles jünger war als er selbst: «Wenn Sie den gegenwärtigen
Zustand der Naturwissenschaft betrachten, wie sie sich immer
mehr zu einer umfassenden Weltkunde gestaltet, was ahndet
Ihnen von der Zukunft, ich will nicht einmal sagen für unsere
Theologie, sondern für unser evangelisches Christentum? ...
Mir ahndet, daß wir werden lernen müssen, uns ohne Vieles zu
behelfen, was Viele noch gewohnt sind, als mit dem Wesen des
Christentums unzertrennlich verbunden zu denken. Ich will
gar nicht vom Sechstagewerk reden, aber der Schöpfungsbegriff,
wie er gewöhnlich construiert wird ..., wie lange wird er sich
noch halten können gegen die Gewalt einer aus wissenschaft-
lichen Combinationen, denen sich Niemand entziehen kann,
gebildeten Weltanschauung? ... Was soll denn werden, mein
lieber Freund? Ich werde diese Zeit nicht mehr erleben, son-
dern kann mich ruhig schlafen legen; aber Sie, mein Freund,
und Ihre Altersgenossen, was gedenken Sie zu thun? » («Theo-
log. Studien und Kritiken», von Ulimann und Umbreit, 1829,
Seite 489.) Diesem Ausspruch liegt die Meinung zugrunde, daß
die «wissenschaftlichen Kombinationen» ein notwendiges Er-
gebnis der Tatsachen seien. Wären sie es, dann könnte sich
ihnen «niemand» entziehen; und wen dann sein Gefühl nach
der übersinnlichen Welt zieht, der kann wünschen, es möge
ihm gegönnt sein, sich «ruhig schlafen zu legen» vor dem An-
sturm der Wissenschaft gegen die übersinnliche Welt. Die Vor-
aussage Schleiermachers hat sich insofern erfüllt, als in weiten
Kreisen die «wissenschaftlichen Kombinationen »Platz gegrif-
fen haben. Aber zugleich gibt es gegenwärtig eine Möglichkeit,
die übersinnliche Welt auf ebenso «wissenschaftliche» Art
kennenzulernen wie die sinnlichen Tatsachenzusammenhänge.
Wer sich mit der Geisteswissenschaft so bekannt macht, wie es
gegenwärtig schon möglich ist, der wird durch sie von man-
chem Aberglauben bewahrt sein, aber die übersinnlichen Tat-
sachen in seinen Vorstellungsinhait aufnehmen können, und
dadurch außer allem anderen Aberglauben auch den abstreifen,
daß Furcht und Not diese übersinnliche Welt geschaffen ha-
ben. - Wer sich zu dieser Anschauung durchzuringen vermag,
der wird dann auch nicht mehr gehemmt sein durch die Vor-
stellung, er könne der Wirklichkeit und Praxis durch die Be-
schäftigung mit der Geisteswissenschaft entfremdet werden.
Er wird dann eben erkennen, wie wahre Geisteswissenschaft
nicht das Leben ärmer, sondern reicher macht. Er wird durch
sie gewiß zu keiner Unterschätzung der Telephonie, Eisen-
bahntechnik und Luftschiffahrt verführt; aber er wird man-
ches andere Praktische noch sehen, das gegenwärtig unberück-
sichtigt bleibt, wo man nur an die Sinnenwelt glaubt und daher
nur einen Teil, nicht die ganze Wirklichkeit, anerkennt.
DIE ERZIEHUNG DES KINDES
VOM G E S I C H T S P U N K T E
DER GEISTESWISSENSCHAFT
Notiz
In bezug auf die in dem Aufsätze über «Erziehung des Kindes
vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» entwickelten
Tatsachen mag es nicht uninteressant erscheinen, die tastenden
Versuche eines Mannes kennenzulernen, der sich vor mehr als
hundert Jahren ohne das Hilfsmittel der Geisteswissenschaft
eine Vorstellung zu bilden bestrebte über die verschiedenen
Lebensalter des heranwachsenden Menschen. Es ist gemeint
der im Zeitalter Goethes berühmte Philologe Friedrich August
Wolf. Etwas grotesk nimmt sich sein Versuch aus, die «Ent-
wickelungsstufen des männlichen Individuums » zu beschrei-
ben. Doch zeigte er zugleich, daß ein nach dem Wesen der Er-
ziehung forschender Geist die Notwendigkeit empfinden muß,
nicht mit allgemeinen Redensarten, wie sie so häufig in der Er-
ziehungskunde zu finden sind, die betreffenden Fragen zu lö-
sen, sondern, wie er darauf ausgehen muß, das Wesen der ver-
schiedenen Lebensstufen im einzelnen zu überblicken. Wie nötig
die Geisteswissenschaft ist, um an die Stelle willkürlicher Ein-
teilungen und phantastischer Vorstellungen auf diesem Ge-
biete solche Erkenntnisse zu setzen, die in der Wirklichkeit be-
gründet sind: das zeigt wohl anschaulich dieser doch gewiß
gut gemeinte, aber ohne alle wirkliche Grundlage unternom-
mene Versuch Friedrich August Wolfs. Er lautet:
i. Goldenes mildharmonisches Zeitalter. Indianer und Südseein-
sulaner vom ersten bis zum drittenJahre ; unentzweite Kindheit.
2. Asiatischer Kampf. Zustand der nordamerikanischen und
anderer Wilden. Heroenzeit der Griechen. - Erste Kraftübun-
gen, Begriffsbildung. Knabenalter bis zum sechsten Jahre.
3. Griechen^eitvon Homer bis Alexander. Noch nicht reflektie-
rend, doch erfinderisch und dichterisch. -Jugendzeit bis etwa
zum neunten Jahre.
4. Rö'mer%eit. Übergang in die sogenannten Flegeljahre (aber
diese adle man durch Römerzeit). - Etwa bis zum zwölften
Jahre.
5. Mittelalter. Ritterzeitgeist, Kraftwuchs. Bis zum fünfzehn-
ten Jahre. Zu adeln durch Religion, geistige Liebe, Chevalerie,
Achtung gegen das weibliche Geschlecht, kühne, schwärmeri-
sche Unternehmungen.
6. Wiedererwachen der Künste und Wissenschaften mit reflektie-
rendem, kritischem Geiste. Am Gymnasium. Geistige Ringer-
schule, geadelt durch Studium der Alten, aber mit später
Übung des Erfindungs- und Entdeckungsgeistes, der Interpre-
tation, Kritik - von der niedern bis zur höhern - im Herzen
durch feinere Ritterzeit der Minnesänger und petrarchischen
Liebe. Weitere Entdeckungsperiode. - Bis zum achtzehnten
Jahre.
7. Reformations- und systematische Wiß^eit, geadelt durch ed-
lere Freiheit, wärmste Erweckung bis zur Aufopferung für
Wahrheit und Recht. Universitätszeit. - Bis zum einundzwan-
zigsten Jahre.
8. Bildungfür gegenwärtige Zeit. Zeitraum für praktische Ver-
suche für Geschäfte des Lebens. Verteidigung des Edlen. Stre-
ben zur Erhebung über die Zeit. - Bis zum vierundzwanzig-
sten Jahre.
9- Erhebung über die Zeit. Bis zum dreißigsten Jahre.
10. Nun tritt der vollendete Mensch auf und wirkt, groß wie ein
Gott.
Es wird dabei ausgegangen von dem Gedanken, daß der ein-
zelne Mensch in Kürze noch einmal die Stufen durchlebt, wel-
che die Gesamtmenschheit bis in sein Zeitalter durchgemacht
hat. Abgesehen davon, daß Friedrich August Wolf weniger
den «Menschen» als solchen, sondern nur den «Philologen»
im Auge zu haben scheint, ist sein Versuch voll von Beobach-
tungsfehlern in bezug auf die menschliche Entwickelung. Das
Rüstzeug zu wirklicher Beobachtung auf diesem Gebiete kann
eben nur die Geisteswissenschaft geben.
AN D I E L E S E R
W E G E N DER GROSSEN Z W I S C H E N Z E I T VOM E R S C H E I N E N
DER V O R I G E N NUMMER BIS ZU DEM DER V O R L I E G E N D E N
Zur Einführung
Bemerkung
In dieser Abteilung — Fragen und Antworten — werden von
jetzt ab Fragen, die uns zukommen, beantwortet werden. Wir
bitten die Leser von «Luzifer-Gnosis», solche Fragen zu stel-
len. Gerade dadurch kann mancher Zweifel aufgeklärt, man-
chem Bedenken Rechnung getragen werden, was bei den
Aufsätzen, die nicht solchen persönlichen Bedürfnissen ent-
gegenkommen können, naturgemäß nicht in derselben Art
der Fall sein kann.
Gibt es einen Zufall?
Frage: In einer Zuschrift aus dem Leserkreise ist folgende
Frage enthalten: «Läßt denn die theosophische Lehre gar
keinen <Zufall) gelten? Ich kann mir zum Beispiel nicht den-
ken, daß es im Karma jedes einzelnen liegen kann, wenn bei
einem Theaterbrande fünfhundert Menschen zusammen zu-
grunde gehen.»
Antwort: Die Gesetze des Karma sind so verwickelt, daß
es niemanden wundern sollte, wenn irgendeine Tatsache zu-
nächst dem menschlichen Verstände in Widerspruch mit der
allgemeinen Gültigkeit dieses Gesetzes zu sein scheint. Man
muß sich eben durchaus klar machen, daß dieser Verstand
zunächst an unserer physischen Welt geschult ist, und daß er
im allgemeinen nur gewöhnt ist, das zuzugeben, was er in
dieser Welt gelernt hat. Nun gehören aber die karmischen
Gesetze durchaus höheren Welten an - in Deutschland ist es
üblich, «höheren Ebenen» zu sagen. - Will man daher irgend-
ein Vorkommnis, das den Menschen trifft, karmisch so be-
wirkt denken, wie man sich etwa das Walten einer Gerechtig-
keit rein im irdisch-physischen Leben denkt, so muß man
notwendig auf Widerspruch über Widerspruch stoßen. Man
muß sich klar machen, daß ein gemeinsames Erlebnis, das
mehrere Menschen in der physischen Welt trifft, für jeden
einzelnen von ihnen in den höheren Welten etwas durchaus
Verschiedenes bedeuten kann. Natürlich ist auch das Umge-
kehrte nicht ausgeschlossen, daß sich gemeinsame karmische
Verkettungen in gemeinsamen irdischen Erlebnissen zur Wir-
kung bringen. Nur wer in höheren Welten klar zu sehen ver-
mag, kann im einzelnen sagen, was vorliegt. Wenn sich die
karmischen Verkettungen von fünfhundert Menschen so aus-
leben, daß diese Menschen bei einem Theaterbrande zugrunde
gehen, dann sind unter anderem folgende Fälle möglich:
Erstens: Es brauchen die karmischen Verkettungen keines
einzigen der fünfhundert Menschen mit denen eines anderen
der Verunglückten etwas zu tun zu haben. Das gemeinsame
Unglück verhält sich dann zu den Karmen der einzelnen Per-
sonen, wie sich etwa das Schattenbild von fünfzig Personen
auf einer Wand zu den Gedanken- und Empfindungswelten
dieser Personen verhält. Vor einer Stunde hatten vielleicht
diese fünfzig Personen nichts Gemeinsames; in einer Stunde
werden sie vielleicht wieder nichts Gemeinsames haben. Was
sie bei ihrem Zusammentreffen im gemeinsamen Räume erlebt
haben, wird für jeden seine besondere Wirkung haben. Ihr
Zusammensein aber drückt sich in dem genannten gemein-
samen Schattenbilde aus. Wer aber aus diesem Schattenbilde
irgend etwas schließen wollte für eine Gemeinsamkeit der
Personen, würde recht fehl gehen.
Zweitens: Es ist möglich, daß das gemeinsame Erlebnis der
fünfhundert Personen gar nichts mit deren karmischer Ver-
gangenheit zu tun hat, daß sich aber gerade durch dieses
gemeinsame Erlebnis etwas vorbereitet, was sie in der Zu-
kunft karmisch zusammenführt. Vielleicht werden diese fünf-
hundert Personen in fernen Zeiten zusammen eine gemein-
same Unternehmung ins Werk setzen, und durch das Unglück
sind sie für höhere Welten zusammengeführt worden. Dem
erfahrenen Mystiker ist es durchaus bekannt, daß zum Beispiel
Vereine, die sich gegenwärtig bilden, ihren Ursprung dem
Umstände verdanken, daß die Menschen, die sich zusammen-
tun, in einer fernen Vergangenheit ein gemeinsames Unglück
erlebt haben.
Drittens: Es kann wirklich ein solcher Fall die Wirkung
früherer gemeinsamer Verschuldungen der in Betracht kom-
menden Personen sein. Dabei sind aber noch unzählige andere
Möglichkeiten vorhanden. Es können zum Beispiel alle drei
angeführten Möglichkeiten miteinander kombiniert sein usw.
In der physischen Welt von «Zufall» sprechen, ist gewiß
nicht unberechtigt. Und so unbedingt der Satz gilt: «Es gibt
keinen Zufall», wenn man alle Welten in Betracht zieht, so
unberechtigt wäre es, das Wort «Zufall» auszumerzen, wenn
bloß von der Verkettung der Dinge in der physischen Welt
die Rede ist. Der Zufall in der physischen Welt wird nämlich
dadurch herbeigeführt, daß sich in dieser Welt die Dinge im
sinnlichen Räume abspielen. Sie müssen, insofern sie sich in
diesem Räume abspielen, auch den Gesetzen dieses Raumes
gehorchen. In diesem Räume aber können äußerlich Dinge zu-
sammentreffen, die zunächst innerlich nichts miteinander zutun
haben. Sowenig mein Gesicht wirklich verzerrt ist, weil es
sich in einem unebenen Spiegel verzerrt zeigt, so wenig brau-
chen die Ursachen, die einen Ziegelstein vom Dache fallen
lassen, der mich, als gerade Vorübergehenden, beschädigt,
mit meinem Karma, das aus meiner Vergangenheit stammt,
etwas zu tun zu haben. - Der Fehler, der da gemacht wird,
besteht darinnen, daß viele sich die karmischen Zusammen-
hänge zu einfach vorstellen. Sie setzen zum Beispiel voraus:
wenn diesen Menschen ein Ziegelstein beschädigt hat, so
muß er sich diese Beschädigung karmisch verdient haben.
Dies ist aber durchaus nicht notwendig. Im Leben eines jeden
Menschen treten fortwährend Ereignisse auf, die mit seinem
Verdienst oder seiner Schuld in der Vergangenheit durchaus
nichts zu tun haben. Solche Ereignisse finden ihren karmi-
schen Ausgleich eben in der Zukunft. Was mir heute unver-
schuldet zustößt, dafür werde ich in der Zukunft entschädigt.
Das eine ist richtig: nichts bleibt ohne karmischen Ausgleich.
Ob aber ein Erlebnis des Menschen die Wirkung seiner karmi-
schen Vergangenheit oder die Ursache einer karmischen Zu-
kunft ist: das muß im einzelnen erst festgestellt werden. Und
das kann nicht durch den an die physische Welt gewöhnten
Verstand, sondern lediglich durch die okkulte Erfahrung und
Beobachtung entschieden werden.
Über Geisteskrankheiten
Eine weitere Anfrage lautet: «Wie stellt sich die Theosophie
zu den Geisteskrankheiten? Die gegenwärtige Wissenschaft
leugnet, daß jemand durch eine irrtümliche, verkehrte Ge-
dankenrichtung in Geisteskrankheit verfallen kann. Höch-
stens könne Überanstrengung in bezug auf geistige Arbeit
das Nervensystem und Gehirn krank machen, nicht aber der
geistige Inhalt. Gibt das auch die Theosophie zu?»
Antwort: Die gegenwärtige medizinische Wissenschaft
weiß zwar durchaus nicht Bescheid in bezug auf die gesetz-
mäßigen Zusammenhänge in höheren Welten; was aber die
angeführte Behauptung derselben betrifft, so liegt ihr durch-
aus eine Wahrheit zugrunde. Was man Geisteskrankheit
nennt und was als solche Erkrankung physischer Organe ist,
kann auch nur seinen unmittelbaren Ursprung in physischen
Tatsachen haben. Eine verkehrte Empfindung, ein verfehlter
Gedanke haben ihre schädlichen Wirkungen zunächst in
höheren Welten, und sie können nur mittelbar auf die physi-
sche Welt zurückwirken. Wer also nur von den Gesetzen der
physischen Welt spricht und andere nicht kennt, würde eben
einen Fehler machen, wenn er einen in der angedeuteten
Richtung gehenden Einfluß des Geistes auf das Gehirn zu-
geben wollte. Die gegenwärtige Medizin hat also von ihrem
Standpunkt aus ganz recht. In ihrem Sinne können irrsinnige
Gedanken nur die Folge eines kranken Gehirnes sein, nicht,
umgekehrt, kann ein krankes Gehirn die Folge irrender Ge-
danken sein. Der Zusammenhang zwischen Gehirn und
Gedanke liegt aber nicht in der physischen Welt. Er liegt in
einer höheren Welt. Und obwohl das physische Gehirn, wel-
ches unser Auge im physischen Räume sieht, nicht direkt
beeinflußt werden kann von dem Inhalte des Gedankens, wie
ihn der ebenfalls an die physische Welt gebundene Verstand
kennt: so besteht doch ein - für physische Beobachtung ver-
borgener — Zusammenhang zwischen den höheren (mentalen)
Gesetzen, aus denen das Gehirn einerseits, die Gedanken die-
ses Gehirnes andererseits stammen. Und wer diesen Zusam-
menhang sehen kann, für den ist - unter gewissen Verhält-
nissen - durchaus der Satz richtig: der Mensch macht sich
selbst durch seine verkehrten Gedanken wahnsinnig, das
heißt gehirnkrank. Einen solchen Satz muß man aber erst
verstehen, bevor man ihn kritisiert. Und der gegenwärtigen
Medizin - natürlich nicht allen Medizinern - fehlen die Mit-
tel, ihn zu verstehen. Man sollte nun als Theosoph in solchen
Fällen durchaus duldsam sein. Mit der bloßen Aburteilung
über die ärztliche Kunst und ihren Materialismus ist gar
nichts getan. Der Theosoph müßte einsehen, warum ihn der
heutige Arzt nicht verstehen kann; während er doch durchaus
diesen Arzt zu verstehen vermag.
ZU D E M B U C H E V O N T H E O D U L E R I B O T ,
« D I E S C H Ö P F E R K R A F T D E R PHANTASIE»
Z U M B U C H E V O N B R U N O WILLE,
«OFFENBARUNGEN DES WACHHOLDERBAUMS»