Mit seinen Optionen für eine Theorie der Subjektivität und eine spekulative Metaphysik
des Absoluten ist Dieter Henrich lange gegen den Strom unserer Zeit geschwommen, von
keiner Woge rasch wechselnder Moden getragen und mancherorts als Traditionalist abge-
tan. Doch die Nachdenklichen überzeugte er bald. Wie kaum ein anderer hat er unser Be-
wusstsein verändert. Dies gelang ihm zunächst dank seiner Arbeit an Überlieferungen, die
man totgesagt hatte, vornehmlich an der klassischen deutschen Philosophie. Seine bewusst-
seinsverändernde Wirkung wuchs sodann im selben Maße, in dem er sein Denken syste-
matisch entfaltete. Er erntete Beifall auch bei denen, die sich über Subjektivitätstheorie
und spekulative Metaphysik alten Stils erhoben hatten. Denn mehr und mehr zeigte sich,
dass hier etwas Neues entstand, dem mit wohlfeiler Traditionskritik nicht beizukommen
war.
In meinem Vortrag 1 werde ich mich an Henrichs voll ausgebildeter Philosophie ausrich-
ten. Im ersten Teil soll sie erläutert, im zweiten befragt werden, beides von meinem Stand-
punkt aus. Schon Auswahl und Gewichtung der Themen sind von meinen Erkenntnis-
interessen diktiert. In die Erläuterungen des ersten Teils mögen sich sogar von mir zu
verantwortende Gedanken mischen. Ihre leitende Absicht ist aber, Henrichs Denken von
innen zu entfalten. Die im zweiten Teil aufgeworfenen Fragen geben demgegenüber
Alternativen zu erwägen. Es mag sein, dass auch sie nicht frei sind von der Tendenz, Hen-
rich in eine bestimmte Richtung zu drängen, und dass sie sein Selbstverständnis stellen-
weise überformen. Alternativen machen sie gleichwohl nur insofern geltend, als sie auf
Möglichkeiten hinweisen, die im zuvor Erläuterten angelegt sind. Im Übrigen hoffe ich,
dass sie etwas von dem Interesse widerspiegeln, das wir in unseren philosophischen Ge-
sprächen der Jahre 2000/2001 aneinander genommen haben.
I.
Der erste Teil behandelt fünf Themen: den subjektivitätstheoretischen Ansatz, die Exis-
tenzialisierung dieses Ansatzes, seine Erweiterung auf Freiheit und Intersubjektivität hin,
die Lehre von der Alleinheit und vom Grund der Subjektivität, schließlich Dank und
1 Auf Einladung des Philosophie-Departments der Universität München gehalten am 5. Juli 2002, im
Anschluss an ein anlässlich des 75. Geburtstags Dieter Henrichs veranstaltetes Colloquium. Auch
der hier abgedruckte Text sei dem Jubilar als nachträgliche Gabe dargebracht.
Dankbarkeit. Die Abfolge dieser Themen steht im Dienst des Vorhabens, den Bogen nach-
zukonstruieren, den Henrich vom Gang des Lebens zum Absoluten schlägt.
1. Wir haben es mit einer Subjektivitätstheorie zu tun, welche die im Deutschen Idealis-
mus entworfene keineswegs geradlinig fortsetzt. Neu nach Gegenstand und Methode, bil-
det sie zur idealistischen sogar einen Kontrast. Analytischen Kriterien verpflichtet, löst sie
sich von der Tradition zumal im Methodischen. Überzogene Erkenntnisansprüche überlie-
ferter Subjektphilosophien stimmt sie herab. Zwar ist Subjektivität auch in ihr Prinzip, fun-
damental und irreduzibel, aber weder adäquat fassbar noch geeignet für eine Deduktion
alles anderen. Subjektivität lässt sich nur annäherungsweise aufklären. Immerhin bleibt sie
keine Voraussetzung. Ihre Komplexität erlaubt eine Analyse, die aufweist, wie ihre Struk-
turelemente miteinander zusammenhängen.
Sein Kontrastprogramm hat Henrich 1997 umrissen. 2 Bald danach trat an seiner Version
von Subjektivität ein bis dahin für mich eher verborgener Zug hervor: ihre Prozessualität.
Die aus dem Schatten des Idealismus herausgetretene Subjektivität durchläuft einen Pro-
zess nicht erst als voll konstituierte; sie prozessiert von vornherein. Im Blick auf die ihr inne-
wohnende Dynamik erscheint das sie auszeichnende Selbstbewusstsein mehr und mehr als
bewusstes Leben und dieses Leben als eine Bewegung, in der sie von Anfang an begriffen
ist, als Lebensgang.
In der Prozessualisierung der Subjektivität liegt ein gutes Stück der von Henrich voll-
brachten Vermittlungsleistung. Sie bereitet den Boden, auf dem er Transzendentalphiloso-
phie an Dialektik anschließt, wohl noch anders als in seinen Studien zu Kant und Hegel.
Transzendental geht er zu Werke bei der Erhellung des Vorverständnisses, das ein Subjekt
von sich selbst und kraft dessen von seiner Welt hat. Hier führt er auch transzendentale In-
tentionen der Fundamentalontologie fort. Schon in die Durchdringung der vorgängigen
Selbst- und Welterschlossenheit spielt ein dialektisches Moment hinein, sofern sie nämlich
erkundet, wie die Konstituentien der Subjektivität durcheinander bestimmt und aneinan-
der gebunden sind. Aber erst mit deren Prozessualisierung setzt sich die tragende Über-
zeugung dialektischen Denkens durch, dass ein Subjekt, welches sich in seinem Vollzug im-
mer zugleich deuten muss, aus einer Bewegung resultiert. Damit wächst die Entfernung zur
Fundamentalontologie, an der jetzt nicht nur ihre Primärorientierung an der Welt Kritik
hervorruft. Ihr wird jetzt auch entgegengehalten: Die Einheit, die sie bereits dem elemen-
taren Verstehen zutraut, entsteht erst im Gang des sich deutenden Lebens.3
2. Der Lebensbegriff, der auf ein geführtes Leben zielt, zeigt bereits an, dass die Prozes-
sualisierung des tradierten Subjekts über sich hinausweist. Sie existenzialisiert es. Zu ihr
schickt sich eine Philosophie an, die auch ein existentielles Denken sein will. Die Philoso-
2 Dieter Henrich, Subjektivität als Prinzip, in: Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von
Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999,49-73, bes. 50: „Umrisse eines Kontrastprogramms".
3 Dieter Henrich, Lebensdeutungen der Zukunft, Hochschule St. Gallen für Wirtschafts- und Sozial-
wissenschaften, 1981 (Aulavorträge 11), 8: „Bewusstes Leben ist in seinem alltäglichen Vollzug auch
in vielerlei Weise verstehend. Am kraftvollsten hat Heidegger die These aufgestellt, dass dieses Ver-
stehen in sich selbst schon den Einheitszusammenhang hat, auf den die Lebensdeutungen nur immer
ausgehen könnten. [...] Ich stelle nun dieser These, welche die Einheit im Ausgang sucht, die These
entgegen, dass bewusstes Leben zwar auf Einheit des Verstehens verweist, dass es diese Einheit aber
nicht in seinem natürlichen Verlauf findet oder gar schon besitzt."
phie Henrichs kommt aus dem Leben und geht auf das Leben. Aus dem Leben kommt sie,
sofern sie fortsetzt, was im Leben anfängt, und auf das Leben geht sie, sofern sie darin wirk-
sam werden will.4 Das Leben, das ihr Thema ist, gibt ihr zugleich das Ziel vor. Im Verfolg
ihres existenziellen Ziels unterzieht sie es aber vor allem einer existenzialen Analyse. Da-
bei nimmt die Dialektik, mit der sie den Transzendentalismus vereinigt, konkrete Gestalt
an, die einer existenzialen Dialektik. Als solche begegnet sie in zwei Formen, zum einen als
Dialektik von Konflikt und Konfliktlösung, zum andern als die von Glück und Not.5 Da
beide Dialektiken Bahnen freilegen, in denen bewusstes Leben sich bewegt, sind beide
selbst prozessualer Natur. Sie decken aber auch eine den Prozess mehr oder weniger mit-
bestimmende Struktur auf. Die erste beschreibt, grob gesagt, einen Prozess, den der Lö-
sung von Konflikten, in welchem die Struktur auf die Konflikte selbst eingeschränkt ist und
sich nicht auf deren Lösung erstreckt; die zweite hingegen legt diese Struktur an ihrem Ge-
samtgegenstand frei, am Verhältnis von Glück und Not.
Die Struktur ist in beiden Formen gleich. Auf ihre Kennzeichnung als dialektisch legt
Henrich wohl keinen Wert, aber das Wort trifft auf sie im stärkstmöglichen Sinne zu. Sie ist
antinomisch. Die Antinomie ergibt sich aus der Verfassung bewussten Lebens. Ein solches
Leben wird notwendigerweise in Erfahrungen hineingezogen, die einander widerstreiten.
Solange ich die eine mache, kann ich die andere nicht als wahr gelten lassen. Die wechsel-
seitige Bestreitung von Wahrheitsansprüchen wird voll einsichtig erst im Zusammenhang
von Glück und Not. Für den Widerstreit von Konflikten genügt ein Beispiel, das der Rol-
len, die wir schon vor aller gesellschaftlichen Rollenverteilung spielen. Wenn wir Behaup-
tungen auf ihre Richtigkeit prüfen, dann verstehen wir uns so, wie wir uns im normenge-
leiteten Handeln nicht verstehen können, und unser normatives Selbstverständnis ist
wiederum so, dass es im liebenden Umgang miteinander suspendiert werden kann.
Die Zuspitzung solcher Konflikte zu antinomischen hat Folgen für die Sicht auf ihre Lö-
sung. Sie verbietet eine Übernahme des klassischen Harmonieideals. Auch die Vorstellung
von einer Synthese muss in ihrem Licht verharmlosend erscheinen. Zwar spricht Henrich
gern von einer Zusammenführung konfligierender Selbstbeschreibungen. Damit meint er
aber mehr als eine Synthese von These und Antithese. Zusammenführen lassen sich kon-
fligierende Selbstbeschreibungen allein in einem Gedanken, der in ihnen noch nicht ent-
halten war und der dem Subjekt ermöglicht, zu ihnen Distanz zu gewinnen.
Die den beiden Formen existenzialer Dialektik gemeinsame Struktur lässt sich an der
Relation von Glück und Not leichter ablesen, weil in ihrem Fall die Relate klar definiert
sind. Sie decken nicht jede Vorstellung von Glück und Not ab. Auf der einen Seite steht
kein Glück, das man bisweilen haben kann, keine Bedürfnisbefriedigung und kein Genuss,
auf der anderen kein Mangel, kein Leid und keine Irritation durch etwas Fremdes oder
Feindliches. Was sich da gegenübersteht, sind vielmehr universalisierende Lebensdeutun-
gen, die jedes einzelne Erlebnis auf das Ganze dessen, was man je selber ist, und darüber
4 So in einem noch unveröffentlichten Vortrag: „Es steht bei uns, ob wir es vermögen, das spekulative
Denken mehr noch als Hegel in unsere Lebenswirklichkeit einzubringen und selbst zu einer Le-
benswirklichkeit zu machen" (Dieter Henrich, Erkundung im Zugzwang. Ursprung, Leistung und
Grenzen von Hegels Denken des Absoluten, Jena 2001, Skript, 30).
5 Dieter Henrich, Glück und Not, in: ders., Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982,131-141.
hinaus auf das Ganze der Welt hin übersteigen. Im Glück kann man alles, was überhaupt
ist, gutheißen, in der Not findet man an nichts einen Halt. Nirgends zeichnet sich schärfer
ab, was die existenziale Dialektik mit der Daseinsanalytik verbindet und was sie von ihr
trennt. Das Verbindende liegt in der Annahme, dass situationsgebundene Erfahrungen die
Kraft zur Erschließung des Ganzen haben, das Trennende in der Einsicht, dass dessen Er-
schließung des Deutens bedarf und nicht schon von Stimmungen zu leisten ist.
So streng Glück und Not je für sich umgrenzt sind, so treffsicher ist die Beschreibung
ihrer Relation. Henrich beschreibt sie als Korrelation zweier Negationen - Not ist die Ne-
gation der Wahrheit des Glücks, Glück die Negation der Wahrheit der Not. Auch mit die-
ser Einsicht bleibt er seinem Verständnis des Lebens als eines sich wissenden und deuten-
den treu. Wer eine der einander ausschließenden Erfahrungen macht, weiß von der
Möglichkeit der je anderen, und dieses Wissen gehört zu ihnen mit dazu. Weil er aber auch
vom Ausgeschlossensein der je anderen weiß, kann er sie nicht als seine eigene Möglich-
keit auffassen. Die Extreme sind füreinander verschlossen. In dieser Lage will aber nie-
mand verharren. Ein jeder muss sich auf einen Weg begeben, der Glück und Not hinter sich
lässt. Insofern beschreibt die zweite Form existenzialer Dialektik, nicht viel anders als die
erste, einen Prozess, der über den Konflikt, diesmal von Glück und Not, auch hinausführt.
Allerdings bleibt unausgeführt, inwiefern das Ziel des Weges etwas anderes ist als eine
Selbstberuhigung, die beidem, dem Glück und der Not, die Spitze abbricht.
Trotz des blinden Fleckes in Henrichs Bild von Glück und Not, der mangelnden Be-
stimmung ihrer erstrebten Einheit, darf die knappe Studie zum Thema als einer seiner
dichtesten und gehaltvollsten Texte gelten. Er hat sie erstmals schon vor vielen Jahren ver-
öffentlicht. Sie ist aber in seinem Denken bis zuletzt gegenwärtig geblieben. Insbesondere
seine Auseinandersetzung mit dem Naturalismus6 basiert auf ihr. Denn das in eine natura-
listische Weltanschauung treibende Gefühl, in einem grundlosen und gleichgültigen Ge-
schehen auch selbst belanglos zu sein, kommt aus der Not. Not negiert über die Wahrheit
des Glücks letztlich die des bewussten Lebens, das als Produkt mikrophysikalischer Ab-
läufe nicht mehr der Gang wäre, als den es sich begreift.
3. Henrich hat das Fundament seiner Philosophie nicht nur in bestimmter Weise ausge-
baut, durch Prozessualisierung und Existenzialisierung der Subjektivität. Er hat es in jüng-
ster Zeit ebensowohl erweitert, in der Absicht zu zeigen, dass es auch Sachverhalte, die das
Subjektivitätsprinzip scheinbar überfordern, zu tragen vermag. Die Erweiterungen gehen
in zwei Richtungen. Zum ausdrücklichen Thema wurde einmal Freiheit, die früher nur ge-
streift worden war. Zum andern erfuhr Intersubjektivität eine Behandlung, die sie explizi-
ter auf den eigenen Ansatz bezieht, als dies im Streit mit Habermas der Fall war.
Freiheit möchte Henrich dadurch auf Subjektivität gründen, dass er sie an wissende
Selbstbeziehung bindet. Sie soll ausschließlich im Verhältnis des Subjekts zu sich möglich
sein.7 Damit ist ihr allerdings erst nur der Bereich angewiesen, in dem allein sie sich ver-
6 Diese durchzieht Henrichs ganze voll ausgebildete Philosophie. Vgl. bes. Dieter Henrich, Was ist
Metaphysik - was Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas, in: ders., Konzepte. Essays zur
Philosophie in der Zeit, Frankfurt/M. 1987,11^43,6. Abschnitt.
7 Dieter Henrich, ,„... und verstehe die Freiheit'", in:Thomas Propper (Hg.), Bewußtes Leben in der
Wissensgesellschaft, Altenberg 2000, 59-78, bes. 62: „Sie hat innerhalb der wissenden Selbstbezie-
wirklichen lässt. In die Wirklichkeit tritt sie mit einer bestimmten Art von Selbsttätigkeit.
Henrich definiert sie als „Fähigkeit zur selbsttätigen Ausbildung einer Einstellung".8 Aber
auch die hält sich ja im abgesteckten Rahmen. Als Einstellungssache bleibt Freiheit beim
Subjekt, auch insofern, als sie sich nicht in die Welt entäußert. Sie ist keine Handlungsfrei-
heit, selbst nicht die des je eigenen Handelns. Vielmehr setzt die Freiheit des Handelns und
auch schon des Wollens die in der wissenden Selbstbeziehung liegende bereits voraus, als
die ursprüngliche und „eigentliche" Freiheit.
Natürlich meint,Subjektivität' in alledem die prozessierende. Am deutlichsten wird dies
an der Art und Weise, wie Henrich im Kontext Endlichkeit denkt. Freiheit hat Grenzen,
und dies nicht so, als sei sie an sich unbegrenzt, begrenzt nur durch kontingente Umstände.
Ihr eignet eine innere Begrenztheit, und durch sie erweist sie sich als Freiheit einer pro-
zessierenden Sübjektivität. Ein Subjekt besitzt keine absolute Verfügungsmacht über sich,
weil es, so ein Lieblingsausdruck Henrichs, „in eine Dynamik gezogen" wird. Daraus leitet
er denn auch die Forderung ab, Subjektivität selbst in ihrer Endlichkeit zu begreifen.
Im Umkreis der Endlichkeit liegt auch der Anknüpfungspunkt für die Ausdehnung des
Untersuchungsfelds in Richtung auf Intersubjektivität. Die Subjektivität, die Henrich zum
Prinzip erhebt, ist die des Einzelnen. Am Anfang steht keine umfassende, die erst nachträg-
lich zur einzelnen spezifiziert würde. Alle Subjektivität ist von vornherein durch Einzelheit
gekennzeichnet. Ihre Erweiterung zur Intersubjektivität läuft denn auch über sie. Die
Brücke schlägt ein ebenso einfacher wie einsichtiger Gedanke: Indem endliche Subjekte
sich als Einzelne verstehen, setzen sie sich schon von anderen Einzelnen ab.
Dementsprechend birgt die wissende Selbstbeziehung, in der Henrich Freiheit ansiedelt,
bereits Fremdwissen in sich. Das sie begleitende Wissen ist ein vom Wissen über sich ab-
zugrenzendes Wissen von sich, von dem der Wissende zugleich weiß, dass es Wissen von
sich ist. In ihm weiß er aber von sich als einem Einzelnen, der einer unter vielen ist, und
auch das Wissen selbst weiß von sich als dem eigenen dieses Einzelnen. Natürlich indiziert
das Wissen von sich nicht nur das von anderen; es enthält auch eine Anzeige auf Weltwis-
sen. Aber das Weltwissen zeigt sie nicht auf dieselbe Weise an wie das Wissen von anderen.
Henrich formuliert den Unterschied gern so: Der Einzelne ist als „einer unter vielen"
ebenso „einer gegenüber allem". Während das durch Einzelheit gekennzeichnete Subjekt
sich in die Vielheit der in der Welt existierenden Subjekte einordnet, weiß es in seinem Wis-
sen von sich, dass die Welt es „nicht einschließt".9 Im Gegensatz zu den anderen bleibt Welt
gewissermaßen draußen. Genau genommen, ist nicht das Wissen von anderen Fremdwis-
sen, sondern das Wissen von ihr.
Der Anfang mit einem Subjekt, das andere als Subjekte vor sich hat, nötigt zur Fundie-
rung der Sozialphilosophie in einer Theorie der Intersubjektivität. Diese wird nach Maß-
gabe ihres Namens aus dem Blickwinkel der Subjektivität wahrgenommen. Gleichwohl
hung den einzigen Bereich, in dem sie zur Geltung kommt, und sie ist selbst nichts anderes als eine
ausgezeichnete Weise, in der die Verfassung dieser wissenden Selbstbeziehung über das einfache
Selbstbewußtsein hinaus erweitert wird." (Der Titel „,... und erstehe die Freiheit'" ist Hölderlins
Ode „Lebenslauf", erweiterte Fassung von 1800, entnommen.)
8 Dieter Henrich, „,... und verstehe die Freiheit'", in: a. a. O. (Anm. 7), 61.
9 Dieter Henrich, Bewußtes Leben. Einleitung und Übersicht zu den Themen des Bandes, in: a. a. O.
(Anm. 2), 11-48 (25).
liegt deren Vorherrschaft schwerlich in Henrichs Intention. Nicht nur den Versuch einer
Herleitung der Subjektivität aus der Intersubjektivität, wie Habermas ihn in Umkehrung
idealistischer Programme unternimmt, hält Henrich für aussichtslos. Auch davon, die Um-
kehrung nochmals umzukehren, also zurückzukehren zu Positionen wie der Fichtes, ver-
spricht er sich keinen Erfolg. Statt einer so oder so ausgerichteten Umkehrungsstrategie
verfolgt er eine auf Vermittlung abzielende. Mit ihr billigt er den in Idealismus und Idea-
lismuskritik gegeneinander ausgespielten Sachverhalten Gleichursprünglichkeit zu.10
Eine Balance zwischen ihnen soll auf dem Wege einer Verschränkung von gegenläufigen
Prioritäten zu Stande kommen. Man könnte einem logischen Prius einen zeitlichen
gegenüberstellen. Subjektivität liegt der Intersubjektivität logisch voraus. Denn jede Inter-
aktion beruht auf dem Selbstverhältnis der interagierenden Subjekte. Dagegen besitzt
Intersubjektivität vor der Subjektivität einen Vorrang in der Zeit. Beides möchte Henrich
am Umgang mit Sprache aufweisen. Der Sprachgebrauch bezeugt die logische Priorität der
Subjektivität, der Spracherwerb die zeitliche der Intersubjektivität. Einerseits sind schon so
elementare Funktionen wie die Beherrschung demonstrativer oder die richtige Verwen-
dung negierender Ausdrücke - vom Verstehen des Personalpronomens „ich" ganz zu
schweigen - auf ein nicht wieder sprachtheoretisch ableitbares Selbstbewusstsein der Spre-
cher angewiesen. Andererseits kann der Einzelne sich eine Sprache nur aneignen, wenn
andere ihn in sie leiten und bei der Vervollkommnung seiner Kompetenzen begleiten. Auf
dieser Linie seiner Argumentation geht Henrich keineswegs davon aus, dass der Einzelne
schon für sich als Subjekt konstituiert ist. Er nennt die der Leitung und Begleitung be-
dürftigen Menschen „Wesen, die in ihre Subjektivität hineinwachsen und sich zu Subjek-
ten bilden".11
Trifft allerdings zu, dass Intersubjektivität nach ihrem Begriff unter die Direktive der
Subjektivität gerät, dann kann die, der er die Genese des Subjekts zutraut, keine im engen
Sinne des Wortes sein. Tatsächlich hat sie eine andere, reichere Struktur. Henrich nimmt
dort, wo er die genetische Perspektive auszieht, umfassendere Sozialverhältnisse in den
Blick als im Zuge seiner Bemühungen um die logische Seite des Problems. Seine Fundie-
rung der Sozialphilosophie in Intersubjektivitätstheorie lässt ja auch Raum für eine kon-
kretere Sozialität. Im Augenblick muss es bei dieser Feststellung sein Bewenden haben. Ob
Henrich die beabsichtigte Vermittlung auf seinem Boden und mittels einer Verschränkung
ihrer gegenläufigen Prioritäten leisten kann, ist eine später zu erörternde Frage.
4. Mit der Ergänzung seines Philosophiekonzepts durch Freiheitslehre und Soziallehre
verweilt Henrich noch im Ausgangsbereich einer prozessierenden und zu bewusstem Le-
ben aufgerufenen Subjektivität. Seine These, Freiheit sei von innen eingeschränkt, sagt
Entscheidendes über menschliche Freiheit aus, und seine Auslotung der sozialen Dimen-
sion bewussten Lebens übersteigt es nur auf die Welt hin, in der es ein Zusammenleben
wird. Aber auch dem Absoluten nähert er sich auf dem Wege einer seinen Ausgangspunkt
vertiefenden Reflexion. Er möchte das Absolute von zwei Seiten her in den Griff bekom-
men: als Grund der Subjektivität oder Grund im Bewusstsein und als Alleinheit. Erst die
Alleinheitslehre geht vom Absoluten selbst aus. Die Theorie des Grundes erhellt eine Er-
fahrung, die wir mit uns und an uns machen.
Es ist dies die Erfahrung, dass wir nicht von uns aus in ein Verhältnis zu uns selbst ge-
treten sind und uns auch nicht aus eigener Kraft darin erhalten können. Eingeschränkt ist
unsere Freiheit im Innersten dadurch. Dadurch auch sind wir genötigt, uns einen Grund
vorauszusetzen. Allerdings haben wir auch nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Verge-
wisserung des Grundes. Was für die Subjektivität selber gilt, das trifft erst recht auf ihren
Grund zu. Gegenständlicher Erkenntnis ist er unzugänglich. Er kann nicht mehr sein als
eine Hypothese und zudem nur eine, die sich nicht verifizieren lässt. Andererseits ist er der
Subjektivität nicht gänzlich entzogen. Immerhin meldet er sich ja in unserer Selbsterfah-
rung. Erfahrbar wird an ihm die Art, wie er uns begründet. Der Tradition war immer be-
wusst, dass wir das Absolute nur als einen solchen Grund ansprechen dürfen, der das von
ihm Begründete umfasst. Es wäre nicht das Absolute, hätte es anderes außer sich. Aber un-
ser eigener Grund umfasst uns so, dass wir dank seiner „aus uns selbst heraus tätig" sein
können.12 Begründet sind wir in ihm gerade nicht so, als würde uns Freiheit, das Vermögen,
von uns selbst anzufangen, verwehrt.
Wenn Henrich weitergeht und von dem Prozess, dem er die Subjektivität unterwirft, be-
hauptet, dass er ihrem Grund „zugehört"n, so bringt er, die Blickrichtung ändernd, bereits
die zweite Bestimmung des Absoluten ins Spiel, die Alleinheit. Beide Gedanken vom Ab-
soluten - der einer Zugehörigkeit des endlichen Subjekts zu ihm und der in ihm liegenden
Alleinheit - laufen bei Hegel zusammen. Aber bei Hegel knüpft Henrich so an, dass er ihn
in den weiten Horizont der Philosophie Europas und in den noch weiteren eines Denkens
rückt, das seinen Ursprung im Fernen Osten hat. In den Rahmen der derart weltumspan-
nenden Alleinheitslehre fügt er zugleich seinen eigenen Standpunkt ein. Die vier Varian-
ten dieser Lehre - die fernöstliche, die alteuropäische, die hegelianische und die von ihm
selbst erarbeitete - empfangen ihren sie unterscheidenden Sinn vornehmlich aus der je-
weiligen Stellung zum Differenzproblem. Eine Verneinung aller Unterschiede finden wir
wohl nur im Fernen Osten und im Eleatismus. Im Allgemeinen war die Philosophie im
Westen seit je bestrebt, in der Alleinheit die Differenz zwischen dem Absoluten und dem,
was scheinbar nicht das Absolute ist, unterzubringen. Hegel sah sie sogar im Absoluten
vorgebildet. Dabei war jedoch ein Problem, wie das Insistieren auf Differenz in sein Pro-
gramm passt, das Absolute in reine Formverhältnisse aufzulösen. Henrich nun löst dieses
Problem, indem er zwar an der Absicht festhält, das Absolute aus Formverhältnissen zu
konstruieren, aber ebenso darauf besteht, dass diese auf die Erkenntnisweise des endli-
chen, in der Sphäre der Differenz beheimateten Geistes angewiesen bleiben.
Infolgedessen ist im umrissenen Konzept weder metaphysisches noch spekulatives Den-
ken, was es einst war. Vorkantische Metaphysik wird transformiert in eine erst am Ende
hervortretende, den Abschluss bildende Philosophie, in eine dem Leben verpflichtete
Theorie letzter Gedanken, deren Notwendigkeit sich aus der Unvollständigkeit aller ele-
mentaren Erkenntnis ergibt. Nachkantisch spekulatives Denken verwandelt sich in eines,
12 Dieter Henrich, Mit der Philosophie auf dem Weg, noch unveröffentlichter Vortrag, Heidelberg
2001, Skript, 20.
13 Dieter Henrich, Bewußtes Leben, in: a. a. O. (Anm. 2), 35.
das die Spannung in seinem Verhältnis zum Verstandesdenken, statt dass es sie beseitigte,
fruchtbar macht. In einem Hegel-Vortrag der jüngsten Zeit heißt es: „Nur in der Spannung
zwischen nüchtern-normalem und spekulativem Denken kann sich eine Weltsicht ausbil-
den, die Alltag und Absolutes in eine stabile Beziehung zueinander bringt."14 Darauf will
das umrissene Philosophiekonzept hinaus.
5. Die Bewältigung der Aufgabe, das alltägliche Dasein in der Welt mit dem Absoluten
zusammenzuschließen, fällt einer Phänomenologie des Danks zu. is Henrichs Ausführun-
gen zu diesem Thema verdienen den Titel einer Phänomenologie, weil sie eine Fülle von
Bewusstseinsgestalten ausbreiten, darin vergleichbar den gelungensten Partien im Werk
Husserls, und weil sie alle Gestalten auf einer aufsteigenden Linie anordnen, dies fast ana-
log zur Bewusstseinsgeschichte in der Urphänomenologie von 1807. Auf dem in den ein-
schlägigen Ausführungen beschrittenen Weg von unten nach oben bilden die Gestalten
gleichsam Stufen einer Leiter. Die Leiter benutzt der Climacus novus, in der veralteten
Sprache des religiösen Spiritualismus ausgedrückt, als Himmelsleiter, um im Aufstieg von
seinen Analysen bewussten Lebens auf Erden zu seiner spekulativen Erkundung des Ab-
soluten das Band, das er um beides schlingt, fester zu knüpfen.
Unter den Stufen lassen sich solche unterscheiden, die Stationen in Henrichs eigenem
Gedankengang sind, und andere, die er gewissermaßen überspringt, indem er die auf ihnen
stehenden Gestalten zwar beschreibt, aber nicht für sich reklamiert. Von der letzteren Art
ist die unterste Stufe. Auf ihr finden wir den Dank an einen Wohltäter, den alltäglichsten.
Dass er so niedrig einzuschätzen ist, bedeutet keineswegs Minderwertigkeit. Erfüllt er doch
den sittlichen Anspruch, den ein Wohltäter zu Recht erhebt. Das Miteinandersein von
Menschen würde ohne ihn viel von seiner Würde verlieren. Freilich geht in ihn noch ein
Rest des Äquivalenzprinzips ein, das reinen Austauschverhältnissen zu Grunde liegt. Was
da noch an Warenaustausch oder Geldverkehr erinnert, verschwindet auf der zweiten
Stufe gänzlich. Auf ihr macht Henrich seinen ersten Halt. Zur Basis seiner Phänomenolo-
gie wählt er statt des Danks an jemanden den für jemanden. Damit gibt er ihr eine für alles
Weitere folgenreiche Wendung.
Auf eine dritte Leitersprosse steigt er mit der Beschreibung des Danks, den jemand für
sein eigenes Leben sagt. Auch für sein ganzes Leben kann man danken. Es scheint aber
nicht sinnvoll, dafür eine vierte Stufe zu reservieren. Denn die Dankbarkeit, die jemand für
sein eigenes Leben empfindet, ist gegenüber der Dankbarkeit für einen Mitmenschen
nicht darum höherstufig, weil sie sich von diesem aufs Eigene zurückwendete, sondern weil
sie schon für sich genommen den Ganzheitsaspekt ins Spiel bringt. Auf eine höhere Stufe
erhebt sie sich als eine, die letztlich dem ganzen Leben des Dankenden gilt. Dass dies auch
Henrichs Verständnis von ihr ist, lässt sich aus seiner Interessenrichtung schließen. Nach
seiner Wendung vom Dank für einen anderen zum Dank für das eigene Leben sammelt
sich sein Interesse von Anfang an auf den Totalitätsgesichtspunkt. Näher betrachtet, rich-
tet es sich auf die Frage, wie ein Leben, das außer Glück auch Not kennt, dennoch insge-
samt dankenswert erscheinen kann. Wie kann jemand in allem und für alles dankbar sein,
obwohl sein Leben durchaus nicht durchweg glücklich war?
Die Antwort liegt in einer Unterscheidung, welche die Gestaltenreihe, statt dass sie sie
bloß fortsetzte, umgreift. Mit der Unterscheidung von kommunalem und kontemplativem
Dank löst Henrich vollends den Schein auf, als sei an der Wendung vom Dank für jemanden
zum Dank für das Leben des Dankenden selbst eine Rückwendung aufs Eigene entschei-
dend gewesen. In ihr steht zwar auf der einen Seite, unter dem Titel des kommunalen, der
Dank an jemanden. Aber auf der anderen Seite steht, unter dem Titel des kontemplativen,
keineswegs nur der Dank für mein eigenes Leben. Erstens reicht der kontemplative Dank
schon in den für jemanden zurück, und zweitens reicht er noch über den für das Ganze des
eigenen Lebens hinaus. Ich kann nicht wirklich Dankbarkeit empfinden für mein Leben als
Ganzes, ohne dankbar zu sein für das Ganze der Welt, in der ich es verbracht habe.
Was macht nun einen solchen Dank zu einem kontemplativen? Dasselbe, das auch er-
klärt, wie ich trotz aller Not für alles danken kann. Dies erfordert die gleiche Distanz, die
uns in einer bestimmten Ausprägung bereits bei der Erörterung der Konflikte begegnet ist,
als die Haltung, in der allein sie zu lösen sind. Distanz in allen ihren Formen gehört zum
Kernbestand der Philosophie Henrichs. In anderer Ausprägung findet er sie im Erinnern,
das man geradezu das Organ seines Denkens nennen kann. Die Gewinnung von Distanz
aus dem Erinnern ist eine der beiden Distanzbildungen, als die er in seinem Versuch über
Kunst und Leben (2001) die ästhetische Betrachtung und den Lebensprozess gegeneinan-
der abhebt. Erinnern verbindet er wiederum mit Danken. Aber die Verbindung, die er zwi-
schen Erinnern und Danken herstellt, läuft über die Distanz, in der das Lebensganze ge-
genwärtig wird. Im Anschluss an Hölderlin geht es ihm um eine Erinnerung, die, statt dass
sie ein vorgefundenes Ganzes bloß rekapitulierte, eines, das vorher gar nicht da war, aus
der Distanz zu vorgegebenen Daten erzeugt. Es ist dieses Ganze, dem der Dank in seiner
wie in Hölderlins Sicht gilt. Das Kontemplative an solchem Dank liegt in einem Zurück-
treten von Glück und Not, mit dem das Ganze erst in den Blick kommt. Kontemplativ ist
demnach aller Dank, den Henrich in sein Konzept aufnimmt. Den kommunalen hingegen
überspringt er in dem Sinne, dass er ihm bei aller Anerkenntnis seiner lebensweltlichen
Relevanz den Zutritt zu seiner Philosophie verwehrt.
Wo aber bleibt das Absolute, das die Phänomenologie des Danks laut Ankündigung mit
dem Leben endlicher Subjekte zusammenschließt? Es bleibt in ihr eine Leerstelle. Zum
Teil ist dies, wie gleich zu zeigen sein wird, in Henrichs Konzept begründet. Zu einem nicht
geringeren Teil erklärt sich die Leerstelle aber auch daraus, dass er eigene Lebenserfah-
rungen reflektiert. Dazu bekennt er sich ausdrücklich.16 Dies ist umso erstaunlicher, als er
ja sonst persönliche Mitteilungen scheut. Offenbar will er mit seinem Bekenntnis zu ver-
stehen geben, dass Dank für ihn mehr ist als ein Randstück seiner Philosophie. Seine Scheu
vor pseudoexistenziellem Exhibitionismus lassen freilich auch seine Gedanken zur Dank-
barkeit spüren. Scheu schlägt eben in der Zurückhaltung durch, die sie sich gegenüber dem
Absoluten auferlegen. Immerhin sollen wir ihnen eine Anzeige auf das Absolute entneh-
men. Sie wollen uns dahin bringen, es vom Ganzen her zu begreifen, als Fluchtpunkt der
16 Dieter Henrich, Textnachweise, in: a. a. O. (Anm. 2), 220. Vgl. die Charakterisierung der Phänome-
nologie des Danks in der Einleitung und Übersicht zu den Themen des Bandes: 47. Hier heißt es
auch von ihr, dass sie die Erfahrung bewussten Lebens in einer Weise erhelle, „die Gedanken von
einem Absoluten gar nicht von sich ausgrenzen kann".
Linie, auf welcher der kontemplative Dank sich bewegt. Wenn wir jetzt in die Erwägung
von Alternativen zu dem umrissenen Philosophiekonzept eintreten, so werden wir uns als
Erstes zu fragen haben, ob wir dem Wink folgen können.
II.
Übergehend zur Diskussion, greife ich aus dem Komplex der fünf behandelten Themen
ebenso viele Punkte heraus. Diskussionsbedürftig erscheinen mir zunächst der Begriff des
Absoluten und dessen Alleinheit, die Relation der Alleinheit zum Grund im Bewusstsein,
das Verhältnis von Subjektivität, InterSubjektivität und Sozialität, die Frage nach Freiheit
der wissenden Selbstbeziehung und Freiheit schlechthin. Schlusspunkt soll die noch nicht
eigens zur Sprache gekommene Idee einer erfüllten Gegenwart sein. Wie die Vorschau
zeigt, wird der Weg, der vom endlichen Subjekt zum Absoluten hinaufgeführt hat, mit den
ersten vier Schritten in umgekehrter Richtung zurückzulegen sein, von der Alleinheit, als
die das Absolute sich darstellt, zur Freiheit des Einzelnen in der Welt. Der fünfte Schritt
auf dem Rückweg entspricht dem fünften des Hinwegs: Er zeichnet den in Henrichs Den-
ken geschlagenen Bogen noch einmal nach. Die Allpräsenz, als welche die Alleinheit aus
der Zeitperspektive erscheint, konfrontiert er mit dem Ausstand, der zur Zeitlichkeit des
Daseins in der Welt gehört.
1. Henrich hat ein klares Bewusstsein von dem Bedeutungswandel, den alles, was in einer
wesentlichen Hinsicht absolut ist, erleidet, sobald man es zu dem Absoluten substantiviert.
Durch die Substantivierung wird etwas aus der Abhängigkeit von anderem Gelöstes das
von nichts abhängige Eine und Einzige, das zugleich das Ganze ist; den Namen der
Alleinheit trägt es darum. Besteht aber auch hinreichende Klarheit über das Problem, das
der Bedeutungswandel aufwirft? Sind die Übergänge vom schlechthin Einen zum Ganzen
und vom Ganzen zur Alleinheit genügend durchleuchtet? Die Weiterverwendung des Wor-
tes ,absolut' scheint gerechtfertigt nur unter der Bedingung, dass sie nicht preisgibt, was
darin liegt: etwas, das von anderem nicht abhängt, weil es von ihm losgelöst ist. Wie und wo-
von kann aber das Absolute losgelöst sein, wenn es das Ganze ist? Kann ferner das Ganze
eine Alleinheit sein, ohne seine Teile zu verleugnen? Zur Konkretisierung des Problems
tun wir gut daran, es an dem Punkt aufzunehmen, zu dem uns die Erläuterung des zu dis-
kutierenden Konzepts geführt hat, also an jener in der Phänomenologie des Danks ausge-
sparten Stelle, in die das Absolute einzusetzen wäre. Die Bestimmung des Absoluten als
Alleinheit sollten wir noch einen Augenblick zurückstellen.
Ich erinnere: Henrich sucht das Absolute auf der Linie des kontemplativen Danks, nicht
des kommunalen. Der kommunale Dank ist Dank an..., der kontemplative ein Dank für...,
für einen Menschen oder für das Ganze des eigenen Lebens und in eins damit für das Ganze
der Welt. Ist nicht aber jeder Dank/üf... seinerseits ein Dank an...? Er muss doch einer In-
stanz dargebracht werden. Die Welt kann die Instanz nicht sein, und aus der Sicht Henrichs
fällt auch das Absolute als Instanz aus. Sein Argument hierfür ist das gleiche wie das für den
Ausfall der Welt: Das Absolute vermag Dank ebenso wenig wie die Welt „auf- und anzu-
nehmen".17 Was jedoch für die Welt einleuchtet, überzeugt nicht unbedingt hinsichtlich des
Absoluten. Beruht die Abweisung des Auf- und Annehmens in seinem Fall gar bloß auf
einer Setzung, zu der genötigt wird, wer sich weigert, den Weg vom Dank fiir... zum Dank
an... fortzusetzen? Etwas thetisch wirkt bereits die Identifizierung des Danks für... mit dem
kontemplativen, noch thetischer sodann die insgeheim gemachte Annahme, dass der kon-
templative den kommunalen, von dem er tatsächlich verschieden ist, geradezu ausschließt.
Die Annahme basiert ihrerseits auf einem bestimmten Vorverständnis vom Absoluten.
Henrich folgert die Unfähigkeit des Absoluten, Dank auf- und anzunehmen, aus seiner
Prämisse, dass es keine Person ist. Folgerichtig spricht er dem kommunalen Dank die Mög-
lichkeit ab, an das Absolute heranzureichen. Denn ein solcher Dank kann, so setzt er vo-
raus, allein einer Person gelten. Diese Erklärungen geben den Rahmen vor, in dem das mit
der Substantivierung des Prädikats,absolut' sich aufdrängende Problem zu diskutieren ist.
Theologie und Philosophie verhandeln ja in ihrem Streit über Personalität oder Aperso-
nalität nicht zuletzt die Frage, in welchem Sinne wir das Absolute wortgemäß als losgelöst
zu denken haben und ob Losgelöstes sich als das Ganze denken lässt. Nun ist die Position,
die Henrich in dem Streit einnimmt, vielschichtiger, als sie im Lichte seines strikten Neins
zum Personsein des Absoluten aussieht. Dasselbe Absolute zeigt sich ihm so, dass ihm
„Züge der Personalität zugedacht werden können" und dass es darüber hinaus Persona-
lität „aufkommen läßt".18 Diese Zugeständnisse dürften dem seit je an Religiosität Inte-
ressierten übrigens ermöglicht haben, nach seiner Beschäftigung mit den frühen, in Indien
entstandenen Hochreligionen sich auch verstärkt mit dem Glauben an einen persönlichen
Gott auseinander zu setzen.19
Der von Henrich vertretene Standpunkt verlangt im Negativen uneingeschränkte Zu-
stimmung: Das Absolute ist keine Person. Das zu sagen, gebieten sowohl die Äquivokatio-
nen im überlieferten Personbegriff wie auch die Einsichten einer Sprachanalyse, die das
Recht, jemanden als Person anzusprechen, an die Bedingung seiner Koexistenz mit ande-
ren Personen knüpft. Dessen ungeachtet, gibt die Theologie eine vernünftige Antwort auf
die Frage nach der Art des Losgelöstseins, das wir im Reden von einem Absoluten in An-
spruch nehmen. Soll das Resultat eines absolvere nicht zur Substanz geraten, dann bleibt
nur übrig, an dem, was nicht Person ist, gleichwohl eine personale Seite hervorzukehren,
nach der es uns souverän gegenübertritt. Dies ist noch etwas mehr als das im diskutierten
Konzept Zugestandene, dass sich ihm Züge der Personalität zudenken lassen. Solche Züge
müssen ihm eingeschrieben werden. Denn Personalität, nämlich die des Menschen, kann
allein eine Instanz freisetzen, die sie selbst an sich hat.
Das uns Gegenübertretende nennen wir geradezu ein Gegenüber, und auf ein Gegen-
über zielte der älteste, noch nicht mehrdeutig gewordene Personbegriff. Das Antlitz, das
griechische prosopon, verweist direkter als die vom lateinischen Wort persona bezeichnete
Maske auf die Gestalt, in der ein anderer mir gegenübertritt. Henrich grenzt das Absolute,
18 Ebd.
19 Dieter Henrich, Lebensdeutungen der Zukunft, a.a.O. (Anm. 3), 14; ders., Bewußtes Leben und
Metaphysik, in: a. a. O. (Anm. 2), 194-216. Henrichs Interesse für Religion überhaupt ist vermutlich
durch sein Studium der Gestalten des Dankes verstärkt worden. Vgl. Dieter Henrich, Gedanken zur
Dankbarkeit, in: a. a. O. (Anm. 2), 152: „Der Dank ist nicht nur eine Form des kommunikativen Aus-
tausche, sondern ebenso eine Grundform in der Praxis aller Religionen."
das für ihn vor allem Grund ist, von einem Gegenüber ab.20 Daran tut er recht, sofern wir
es nicht als ein Gegenüber vor uns haben können, solange wir es für unseren Grund neh-
men. Wir sind aber genötigt, es so und so zu denken, in seinem Grundsein, weil es nur als
Grund das Ganze sein kann, in seinem Gegenübersein, weil es nur als ein Gegenüber auf
nicht verdinglichende Weise losgelöst ist. Unmöglich scheint nur, dass wir es gleichzeitig in
seinem Grundsein und seinem Gegenübersein erfahren. Aber das, was sich uns als Grund
erschließt, kann im Prozess unserer Erfahrung zum Gegenüber werden, so wie umgekehrt
das uns als ein Gegenüber Begegnende in den Grund gehen mag. Gewiss nötigt beides zu
einem Einstellungswechsel. Das religiöse Bewusstsein, das in Kategorien der Begegnung
mit einem Gegenüber denkt, muss sich, um eines Grundes ansichtig zu werden, zu einem
philosophischen bilden, das philosophische, das am Gedanken des Grundes orientiert ist,
muss, will es darin ein Gegenüber sehen, religiös werden. Das Religiöswerden des philoso-
phischen Bewusstseins setzt aber ebenso wie das Philosophischwerden des religiösen ein
Absolutes voraus, das an sich beides ist, Grund und Gegenüber.
Ein Gegenüber zu sein, fällt allerdings nicht in den Begriff des Absoluten. Es gehört zum
Begriff des Gottes, als der das Absolute sich dem religiösen Bewusstsein zeigt. Aber noch
weniger taugt für unsere Verständigung über den Begriff des Absoluten das letzte unter
den drei aufgezählten Merkmalen des schlechthin Losgelösten, des Ganzen und der
Alleinheit. Denn der Versuch, das Absolute umstandslos als Alleinheit zu fassen, behebt
nicht die Schwierigkeit, ein schlechthin Losgelöstes als das Ganze zu denken. Er geht ihr
eher aus dem Weg, da er über die Losgelöstheit des Absoluten hinwegsieht und aus dem
Ganzen die Teile entfernt, aus denen es sich zusammensetzt.
Derart evasiv operieren jedenfalls die ungezügelten Alleinheitslehren. Die Schärfe, mit
der Henrich ein Gegenübersein des Absoluten verneint, erklärt sich aus einer gewissen
Anhänglichkeit an sie. Sofern diese Lehren, zumal die frühen des Fernen Ostens, den Ge-
danken einer Alleinheit bis zur Tilgung aller Differenzen treiben, kann man sie emphatisch
nennen. Das Dilemma von Alleinheitslehren ist aber, dass sie als emphatische unrealistisch
sind und als moderate trivial. An den emphatischen ist zu beobachten, dass sämtliche An-
stalten, die für differenzlos ausgegebene Alleinheit an Realität festzumachen, an ihre Stelle
unter der Hand etwas anderes setzen. Auch Henrich neigt ein wenig dazu. Zur Bekräfti-
gung des Realitätsgehalts solcher Lehren führt er an, dass ein Subjekt ungeachtet seiner
Distanz zur Welt „sich mit allem, was überhaupt ist, ebenso auch verbunden weiß".21 Aber
erstens ist Verbundenheit eines Subjekts mit allem noch keine von allem mit allem. Zwei-
tens wäre auch Verbundenheit von allem mit allem keine Alleinheit. Drittens schließlich ist
sie ein Konstrukt. Nicht zufällig lebte die stoische Idee universaler Sympathie nur in ro-
mantischen Strömungen weiter.
Eine moderate Alleinheit würde Hegel lehren, wenn in ihr tatsächlich, wie Henrich
meint, „auch unbestimmt Vieles eingeschlossen"22 wäre. Aber unbestimmt Vieles ist zu-
sammen mit allem Unbestimmten das Einzige, das Hegel abschließt, wenn nicht schon am
20 Dieter Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, in: a. a. O. (Anm. 2), 191: „Der Grund aber ist nicht ein
Gegenüber in einer ihm eigenen Einzelnheit."
21 Dieter Henrich, Erkundung im Zugzwang, a. a. O. (Anm. 4), 9.
22 Dieter Henrich, Mit der Philosophie auf dem Weg, a. a. O. (Anm. 12), 24.
Anfang, so im Gang seines Denkens. Im selben Atemzug bescheinigt ihm sein Interpret,
dass er nicht Differenz als solche bestreite, sondern nur deren „Letztheit". Doch als exis-
tierendes insistiert das unbestimmt Viele eben auf Letztheit. Es klagt damit das Recht der
Wirklichkeit ein, das sogar eine Alleinheitslehre hegelianischen Typs verletzt.
2. An der Alleinheit ist bisher, jetzt und zuvor schon bei ihrer Erläuterung, nur die Seite
beleuchtet worden, welche die Schau des Absoluten in Ost und West schon seit Jahrtau-
senden vor sich hat. Wo und wie Henrich sie in sein System einfügt, wurde nicht eigens
erörtert. Zu befragen bleibt insbesondere ihre Beziehung zum Grund im Bewusstsein. In-
dem Henrich dem Bewusstsein, dem er auf den Grund geht, mithin dem Selbstbewusstsein
als präreflexivem Wissen des Subjekts von sich, einen Vorrang vor dem Weltwissen ein-
räumt, zeichnet er es auch vor dem Gegenstand dieses Wissens aus, der Welt. Gleichwohl
macht er dort, wo er vom Grund im Bewusstsein ausgeht und auf die Alleinheit zugeht, im
Übergang zu ihr einen Neuansatz bei der Welt. Er führt die Alleinheit als die der Welt ein.
Wäre es nicht einsichtiger, sie von vornherein als eine anzusetzen, die das von sich wis-
sende Subjekt mit umfasst? Müsste nicht gerade Henrich, der versichert, unsere Selbstver-
ständigung mit unserer Verständigung über die Welt im Zeichen der Alleinheit zusam-
menführen zu wollen23, ihr mit der Welt auch uns selbst einverleiben? Nur so bekäme er ja
/tWeinheit in den Griff. Eine analoge Frage wirft sein Anfang mit dem Grund im Bewusst-
sein auf. Auch für sie ist Henrich keineswegs blind. Hypothetisch fragt er selbst nach einem
der Natur vorauszudenkenden Grund. Darüber spricht er sich jedoch nicht aus. In seinem
Konzept bleibt zwischen dem Grund der Subjektivität und der Alleinheit faktisch eine
Kluft bestehen. Könnte nicht /nfersubjektivität die Kluft überbrücken? Bildet sie doch den
Bereich, in dem wir unseres Einsseins mit Wesen, die nicht wir selbst sind, am unmittel-
barsten inne werden und in welchem wir zugleich am nachhaltigsten erfahren, dass auch
solche Wesen sich einen Grund voraussetzen müssen. Schon dies ist Anlass genug, Inter-
subjektivität mit in die Prüfung des Konzepts einzubeziehen.
3. Henrich verfolgt, so hatte sich bei der Erläuterung seiner Sozialphilosophie gezeigt,
eine die Intersubjektivität mit der Subjektivität vermittelnde Strategie, indem er dieser
einen logischen, jener einen zeitlichen Vorrang einräumt. Die Subjektivität ist das logische
Prius, weil intersubjektive Beziehungen auf der Selbstbeziehung des von sich wissenden
Subjekts basieren. Demgegenüber bedarf die Selbstbeziehung, wenn sie auch unter Mit-
wirkung anderer enistanden ist, zu ihrem Bestand einer Stütze durch andere nicht. In dem
Gleichgewicht, auf das die Vermittlungsstrategie aus war, bekommt je meine Subjektivität
insofern doch ein Übergewicht.
Ein Übergewicht gewinnt sie allerdings nur über eine Intersubjektivität, die sich schon
durch ihren Namen als dominiert bekennt, aber nicht die ganze Sphäre der Sozialität be-
setzt.24 Henrich verweilt in seinen aufweisenden Überlegungen gleichwohl und bei aller
23 Ebd., 25.
24 Ausgreifend auf diese Sphäre, fragt Henrich, „wie ohne Verkürzung die Sozialität des Menschen auf
der Entwicklungsstufe der Intelligenz der zur Hochkultur fähigen Menschheit aufzufassen ist. Zu
ihr gehören sowohl die von der sozialen Gruppe ablösbare Intimbeziehung der Mitmenschlichkeit
wie die Selbstverwirklichung in über Argumentaustausch stabilisierten Verbänden, also Bubers Ich-
Du-Beziehung und Habermas' .Öffentlichkeit'." (Dieter Henrich, Was ist Metaphysik - was Mo-
derne?, a. a. O. [Anm. 6], 36)
Anerkenntnis einer umfassenderen Sozialität ausschließlich bei ihr. Dies zeigt sich insbe-
sondere daran, dass das Basisthema dieser Überlegungen das Für-sich-Sein ist. In ihnen
tritt zu je meinem Für-sich-Sein zunächst nur hinzu, was ein anderer seinem eigenen Für-
sich-Sein verdankt. Ihre ausdrücklich festgeschriebene Aufgabe ist es, „Implikationen des
Für-sich-Seins hinsichtlich von Intersubjektivität zu erkunden". 25 Die Wendung zur Inter-
subjektivität wendet sich also keineswegs von Subjektivität ab. Nicht nur wir sind ja für uns
selbst Subjekte, Subjekte sind auch die für sich seienden anderen. Gewiss geht Henrich
vom Für-sich-Sein her auf ein Für-einander-Sein zu. Aber für einander zu sein, läuft in sei-
nen Augen nur darauf hinaus, dass ich mir die anderen in ihrem Für-sich-Sein vergegen-
wärtige, so wie den anderen mein Für-mich-Sein gegenwärtig wird. Für einander zu sein,
bedeutet, so gesehen, bloß beiderseitige Erschlossenheit des eigenen und des fremden Für-
sich-Seins.
Es ist aber keineswegs ausgemacht, dass wir das, was wir je für uns selbst sind, also Sub-
jekte, notwendigerweise auch für einander sind. Wir müssen sogar unsere ursprüngliche
Einstellung ändern, um uns wechselweise als Subjekte realisieren zu können. Ursprünglich
begegnen wir uns im Für-einander-Sein nicht so, dass wir uns vor Augen führen, wie jeder
von uns ,ich' sagt. Noch ursprünglicher als das ursprüngliche Für-einander-Sein ist zudem
das Λί/í-einander-Sein, das aus der Perspektive des erst aus einem Einstellungswechsel her-
vorgehenden Für-einander-Seins gar nicht in den Blick kommt. Verborgen bleibt infolge-
dessen eine Sozialität, die anders verfasst ist als Intersubjektivität. Ihre Andersartigkeit
verwehrt es, sie nach Analogie der je eigenen Subjektivität zu konstruieren. Das reduzierte
Für-einander-Sein lässt sich aus dem Für-sich-sein des Subjekts ableiten, als das ich mich
selber verstehe. Das Mi/-einander-Sein hingegen würde dafür keine Handhabe bieten, weil
ich nicht mit mir bin. Seine Struktur generiert erst in einer über Intersubjektivität hinaus-
weisenden Sozialität.
Am Mit-einander-Sein könnte ein Versuch anknüpfen, von der sozialen Welt aus zu
einem im Zusammenhang mit dem Absoluten diskutierten Problem zurückzuleiten. Die
Wörter ,ich' und ,du' sind Personalpronomina. Ihr Gebrauch rührt das Problem der Per-
sonalität auf. Trotz aller Vorbehalte gegenüber dem Personbegriff nötigen doch beide Wör-
ter dazu, sich Rechenschaft über die Frage abzulegen, inwiefern die, die sie verwenden, sich
als Personen verstehen. Es scheint sinnvoll, der so genannten ersten Person die wissende
Selbstbeziehung zuzuordnen, die nur eine notwendige Bedingung von Personalität ist, und
deren hinreichende Bedingung erst in der zweiten Person, also im Gegenübersein, erfüllt
zu sehen. Das Wort ,ich' würde danach das im Personsein vorausgesetzte Subjektsein auf-
rufen, das Wort ,du' das Personsein selbst und im Ganzen.
Hier soll und kann nicht entschieden werden, ob das System der persönlichen Fürwör-
ter eine solche Unterscheidung wirklich hergibt. Auf jeden Fall dürfte man bei der Ausdif-
ferenzierung von notwendiger und hinreichender Personalitätsbedingung das im Person-
sein vorausgesetzte Subjektsein nicht unterschätzen. Denn schon ein Subjekt besitzt die
unendliche Bedeutung, die man gern der Person vorbehält. Es hat sie in seiner Einzelheit.
Der Person im Vollsinn wächst freilich eine Bedeutung zu, deren Unendlichkeit darin liegt,
dass sie die Schranken der Einzelheit aufhebt. Zu einer Person würde das Subjekt danach
26 Für Henrich „heißt sinnvoll zu sprechen immer, an eine Person eine Mitteilung ergehen zu lassen
mit der Intention, etwas zu verstehen zu geben" (Dieter Henrich, Subjektivität und Intersubjekti-
vität, a. a. O. [Anm. 10], 9. These).
27 Dieter Henrich, ,„... und verstehe die Freiheit"', in: a. a. O. (Anm. 7), 72.
28 Ebd., 61.
ner Sicht „nicht Leistung, sondern Geschick".29 Darin sollten wir ihn beim Wort nehmen.
Das „ist" legt ja in bewusstes Leben mehr hinein als bloß die Möglichkeit, dass der bewusst
Lebende dann und wann von Schicksalsschlägen getroffen wird. Die Kopula des Satzes
gibt bewusstes Leben vielmehr selbst und im Ganzen für geschickhaft aus. Sie zieht damit
einen unausweichlichen Schluss aus der Prämisse der Konfliktträchtigkeit seines Ganges.
Wenn bewusstes Leben aber wirklich Geschick ist, dann fällt die Grenze zwischen innerer
und äußerer Eingeschränktheit der sich in ihm verwirklichenden Freiheit auch in Bezug
auf seinen Gang dahin. Dann reicht allerdings die so genannte innere so tief, dass sie die
Gewissheit erschüttert, mit der Henrich versichert, sie stelle die Freiheit von Menschen
nicht infrage. Dann ist die Existenz menschlicher Freiheit keineswegs verbürgt.
5. Noch ein Letztes ist anzusprechen. Wir müssen aufs Neue die Alleinheit ins Auge fas-
sen, aber nun aus der Zeitperspektive, aus der Henrich sie als Allpräsenz anschaut. Unter
dem Zeitaspekt rückt nämlich an der Alleinheitslehre eine dem ganzen Konzept die Rich-
tung weisende Vorentscheidung in den Blick. Wer die Annehmbarkeit dieses Konzepts für
sich selbst prüfen will, kommt darum ohne eine Stellungnahme zum Gedanken einer All-
präsenz nicht aus. Zu ihr sieht er sich umso mehr genötigt, als sonst auch der Disput über
Freiheit unvollständig bliebe.
Zur Fixierung des Punktes, über den es sich zu verständigen gilt, mag vorläufig ein ge-
schichtlicher Hinweis genügen. Allpräsenz meint eine Gegenwart, die vollkommen erfüllt
ist, weil sie alles in sich einbegreift. Als eine solche Gegenwart übt sie seit je eine fast un-
widerstehliche Anziehungskraft aus. In der abendländischen Tradition definiert Boethius
durch sie Ewigkeit, längst vorher hat Piaton sie in seiner Auseinandersetzung mit Par-
menides mobilisiert, und entdeckt worden war sie nach herrschender Auffassung bereits
durch Parmenides selber, für den das rein Seiende, wie er sagt Jetzt zugleich ganz ist. Par-
menides kennzeichnet es durch Unbewegtheit, und in einem kunsttheoretischen Kontext
redet auch Henrich einmal von einer Ordnung jenseits der „Dynamik" und „Bewegtheit"
bewussten Lebens.30 Allerdings spricht er da nicht von Allpräsenz, und die scheint er auch
nicht meinen zu können, weil MXpräsenz an der Alleinheit die zeitliche Seite hervorkehrt.
Immerhin bleibt zu fragen, ob in ihr ein Rest von parmenideischer Unbewegtheit sich er-
halten hat.
Die von außen an das Konzept herangetragene Frage kann ihre Äußerlichkeit nur ab-
streifen, wenn der Versuch ihrer Klärung auf das bewusste Leben zurückgeht, bei dem die
Verzeitlichung ansetzt. Sie verweist uns auf die Prozessualisierung der Subjektivität und
die existenziale Dialektik von Konflikt und Konfliktlösung. Dass diese Dialektik in einen
Zeitrahmen eingespannt ist, liegt auf der Hand. Um Konflikte lösen zu können, muss man
einen zeitlichen Prozess durchlaufen. In der Sicht Henrichs gerät der Prozess jedoch nach
der Lösung von Konflikten nicht zwangsläufig wieder in neue; man kann ein Gleichgewicht
finden, das ihnen ein für allemal ihre Virulenz nimmt. Hier meldet sich so etwas wie Un-
bewegtheit, ein Stillstand der Bewegung. Wer der Vorstellung von einem gleichsam vorzei-
tig zur Ruhe kommenden Prozess unterstellen wollte, dass sie die Realität verfehlt, würde
sie allerdings missverstehen. Henrich kennt unlösbare Konflikte, die zur Zerrissenheit des
Subjekts führen. Über den Zustand der Welt macht er gar keine Aussagen. Er umschreibt
nur das dem Gang des Lebens vorgegebene Ziel, dem auch nur nacheifern kann, wer im
Stande ist, seine konfligierenden Selbstbeschreibungen in einem Umfassenderen zusam-
menzuführen. Außer Betracht bleibt indes die Möglichkeit, dass eben das Ziel ins Unglück
stürzt, weil es nicht zu erreichen ist. Mit ihr hat Sartre sich konfrontiert. Das Bewusstsein
erstrebt ihm zufolge ein Ende seiner Bewegung. Aus der Unerreichbarkeit des Erstrebten
folgert er die Absurdität menschlichen Lebens. Könnte nicht auch aussichtslos und inso-
fern absurd sein, alle Konflikte noch in diesem Leben hinter sich bringen zu wollen?
Die Frage ist zu ernst, als dass sie eine eilfertige Antwort vertrüge. Ihr angemessener
scheint, sie in einer Erweiterung der lebensphilosophischen Basis zuzuspitzen. Die kom-
plementäre Dialektik von Glück und Not legt den Grund für die Naturalismuskritik. Gerät
doch jemand in Not, sobald ihn das in eine naturalistische Weltsicht treibende Gefühl über-
wältigt, nichts als der Auswurf eines Geschehens zu sein, mit dem es keine Bewandtnis hat.
Zugespitzt lautet die Frage: Holt der Naturalismus das ihn zurückdrängende Philosophie-
konzept ein? Flackert der Streit mit ihm genau da wieder auf, wo Henrich ihm mit dem
Programm einer Zusammenführung konfligierender Selbstbeschreibungen begegnen
möchte? Henrich fordert auch von jemandem, der den Boden unter den Füßen verliert,
„Einstimmung". Könnte er ihn damit nicht überfordern? In seinen Augen ist die Forderung
billig, weil ihm gewiss erscheint, dass „alles, worin die Bodenlosigkeit bestätigt schien", am
Ende in die „Affirmation des bewußten Lebens" eingeht.31 Vielleicht unterschätzt er aber
das Überfordernde an seiner Forderung auch infolge gewisser Äquivokationen in seinem
Affirmationsbegriff. Wenn er von einer Affirmation nicht nur des Glücks, sondern auch der
Not spricht, so meint er nur die Anerkenntnis der Tatsache, dass eine Not, in der ich mich
actu befinde, gleichzeitiges Glück ausschließt. Aber in die „Affirmation des bewußten Le-
bens", die er dem am Sinn seiner Existenz Verzweifelnden abverlangt, spielt Bejahung hi-
nein. Und sie ist es, die den Naturalisten überfordern könnte, weil sie aus Einstimmung Zu-
stimmung macht.
Die Allpräsenz möchte Henrich in sein Philosophiekonzept integrieren, indem er sie in
seine Theorie prozessierender Subjektivität einarbeitet. AWpräsenz meint ja Präsenz für ein
Subjekt und in seinem Lebensgang. So müssen wir von der prozessierenden Subjektivität
zum Absoluten nicht springen. Wir brauchen sie nur daraufhin zu befragen, wie in ihren
Lebensgang das Absolute in Form einer Allpräsenz einbricht. Da Allpräsenz eine Gegen-
wart meint, die alles umfasst, muss die Frage des Näheren die sein, wie sie alles unmittel-
bar nicht Gegenwärtige in sich versammeln kann. Die Richtung, in der Henrich eine Ant-
wort sucht, ist auch die, welche die Sache vorzeichnet. Als Reservoir für eine Auffüllung
der Gegenwart bietet sich das Vergangene an. Erinnerung ist ja selbst ein gegenwärtiger
Lebensvollzug, der Vergangenes mit gegenwärtig macht.
Eine Präsenz von Vergangenem ist allerdings noch keine Allpräsenz. Zu dieser bedürfte
es einer Auffüllung der Gegenwart auch durch Zukunft. Wirklich erfüllt wäre Gegenwart
erst dann, wenn sie die Leere vertriebe, die uns in stürmischem Streben, verzehrendem
Sorgen, ungeduldigem Wünschen, ungestilltem Begehren quält. Erst dann würde sie auch
31 Dieter Henrich, Mit der Philosophie auf dem Weg, a. a. O. (Anm. 12), 26.
die in ihrem Begriff offenbar mit gemeinte Befriedigung gewähren, die das Erinnern als
Bewahren von Vergangenem oft versagt. Werden wir doch nicht zuletzt darum an uns irre,
weil wir in der Rückschau auf unser Leben erkennen: Manche Abkehr von Wegen, auf die
wir uns begeben hatten, war eine Abkehr von uns selbst. Die Irritation ist umso größer, als
uns in eins damit zur Gewissheit wird, dass diese Wege wesentlich zu uns gehören.32
Auf der dem Zukünftigen zugewandten Seite drängen sich aber Fragen auf. Die Grund-
frage ist: Kann für Allpräsenz gut parmenideisch allein eine Gegenwart ohne jeden Aus-
stand gelten oder ist ein gewisser Ausstand mit ihr vereinbar? Als eine an Henrich lässt sich
die Frage vielleicht auf einem Umweg entscheiden. Die Gedanken, die er die letzten nennt,
sind dies in einer zweifachen Bedeutung, im Wesenssinne und im zeitlichen Sinne. Unter
ihnen versteht er zum einen definitive, nicht revisionsbedürftige, zum andern solche, mit
denen man sein Leben, so seine eigene Beschreibung, „enden lassen kann, ohne verloren
zu sein".33 Der Sinn, in welchem diese Sorte von Gedanken letzte sind, ist demnach ein auf
besondere Weise zeitlicher. In ihrer Kennzeichnung kehrt die Figur eines vorzeitigen
Endes wieder. Mit ihnen könnte man sein Leben enden lassen, auch wenn es noch weiter-
geht. Das geschickhaft beschiedene Lebensende fällt mithin als definiens ihrer Letztheit
aus. Dagegen könnte ein anderes Ende mit in ihre Definition eingehen. Der Ausdruck
„letzte Gedanken" nimmt den Topos von den letzten Dingen auf, die für das äußerste Ende
stehen, das Eschaton. Dem entspricht die zitierte Beschreibung. Mag ein Mensch in seinem
Sein zum Tode auch noch so viel verlieren - er selbst wäre verloren nur, wenn er sich im
Blick auf das Ende aller Zeiten verloren geben müsste.
Nun hat Henrich trotz seiner Sympathie für Parmenides ein Verständnis von Allpräsenz,
das sich gegen die Annahme eines ausstehenden Eschatons jedenfalls nicht sperrt. Zumin-
dest stellt er ein Mittel bereit, mit dem Allpräsenz für den Ausstand zu öffnen wäre. In
einer Auseinandersetzung mit mir erwägt er die Möglichkeit einer „proleptischen Reali-
sierung dessen, worauf die Erwartung des Menschen geht".34 Die Erwartung selber ist Sa-
che eines antizipierenden Subjekts. Das Erwartete hingegen ist das reale Geschehen eines
Vorfalls der Zukunft in die Gegenwart. Die Prolepse, von der die Theologie spricht, teilt
der Gegenwart von der Zukunft her Fülle mit. So verstanden, dementiert Ausstand All-
präsenz nicht. Die proleptisch selbst zur Gegenwart werdende Zukunft kann allerdings
grundsätzlich keine innerweltliche sein. Henrich zielt auf sie im Zusammenhang mit Frei-
heit. Eine ganz andere Freiheit als die, von sich selbst her Einstellungen auszubilden, wäre
für ihn Freiheit als ein „Zustand, in dem alle Bedrängnis aufgehoben ist".35 Ein solcher Zu-
stand übersteigt sämtliche innerweltlichen Möglichkeiten. Weder könnte ich selbst ihn be-
32 Henrich mit Bezug auf Hölderlins nähere Bestimmung der Freiheit als Freiheit des Menschen, „auf-
zubrechen, wohin er will" („Lebenslauf"): „Jeder ist von einem Absturz bedroht. Der eigentlich we-
sentliche Grund dafür ist aber der, daß ein Leben, das seiner selbst inne ist, die Wege, von denen es
sich abkehrte, als ihm gleichfalls wesentlich erfahren muß. Deshalb wird die Krise auf jedem Weg,
den es in solchen Aufbruch einschlägt, für es unabwendbar." (Dieter Henrich, ,„... und verstehe die
Freiheit'", in: a. a. O. [Anm. 7], 64)
33 Dieter Henrich, Bewußtes Leben und Metaphysik, in: a. a. O. (Anm. 2), 196.
34 Dieter Henrich, Zeit und Gott. Anmerkungen und Anfragen zur Chronotheologie, noch unveröf-
fentlichter Festschriftbeitrag, Skript, 25.
35 Dieter Henrich, ,„... und verstehe die Freiheit'", in: a. a. O. (Anm. 7), 77.
werkstelligen noch ein Mitmensch noch ein Kollektiv. Herbeiführen könnte ihn nur ein
Gott.
Ich bin weit davon entfernt, Henrich für eine christliche Eschatologie retten zu wollen.
Dass der Zukunftsaspekt in seiner Philosophie hinter dem Vergangenheitsaspekt zurück-
tritt, ist eine natürliche Folge der Entschiedenheit, mit der er den eingeschlagenen Kurs auf
eine bewahrende Gegenwart hält. Nicht eine Kurskorrektur anzuregen, war die Absicht
des Hinweises auf ein mögliches Noch-nicht-Sein im Schon-Sein. Vielmehr ging es allein
darum, das diskutierte Konzept vor einer in ihm selbst lauernden Gefahr zu schützen. Die
Idee, das Absolute in eine Allpräsenz zu setzen, als die es in den Gang des Lebens von
Menschen tritt, kann es menschlicher machen. Sie kann aber auch ins Gegenteil umschla-
gen. Dann dient der Gedanke einer Allpräsenz dazu, menschliches Dasein ins Absolute zu
verklären. Dieser Gefahr lässt sich nur begegnen, indem man am menschlichen Dasein das
Unterwegssein hervorhebt. Eine das Absolute humanisierende Erfahrung ist Allpräsenz
nur dann, wenn in ihr der Ausstand mit erfahren wird, der den homo viator vom Absolu-
ten scheidet.