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Als wir 1913 als blutjunge Abiturienten, die Theologie studieren woll-
ten, aus Hannover in das sdiloßgekrönte Marburg fuhren, umgab ans
eine neue Welt. Es war das Marburg der vielen bunten Studentenfahnen,
die unter einem unwahrscheinlich blauen Sommerhimmel flatterten, das
Marburg der Faßpartien, der nächtlichen Fackelzüge, das Marburg des ju-
gendlich beschwingten Übermutes. Abends pilgerten wir zum Schloßberg
hinauf und sahen im Mondlicht mit sehnsüchtigen Augen auf die ferfien
Schatten der Berge, sahen die Lahn heraufblitzen, verfolgten mit den
Blicken die heranrollenden Schlangen der Fernzüge; wie herrlich grün
waren die wogenden Wälder, in die wir untertauchten, wenn der Sonntag
gekommen war.
Aber wie strahlend war der Geisteshimmel, der um uns leuchtete. En-
neccerus, der große Mitverfasser des BGB, wandelte damals noch, leidht
vornübergebeugt und die Hände auf dem Rücken verschränkt, wie ein
Turm des Geistes durch die Wettergasse, zu dem wir hinaufstauntenf
Theodor Birt plauderte in einem schmucklosen Auditorium grazil über
Horazische Satiren, Karl Budde, der Alttestamentler, zupfte seinen Pro-
phetenbart, wenn er mit tiefer Stimme hebräische Worte des 1. Jesaja aus
der Kehle rollte, Wilhelm Hermann, erleuchteten und verklärten Geistes,
gab uns in seiner schlichten Art unverrückbare, so schien es, Grundsätze
der christlich-kantischen Ethik, Adolf Jülicher sprach stundenlang, indem
er seine breiten Handflächen nach außen und nach innen wandte, sehr
gelehrt über die Eingangsverse des Philipperbriefes, dessen so kompli-
zierte Hintergründe wir durchaus nicht verstanden. Wilhelm Heitmüller,
uns freundschaftlich zugetan, ladite herzlich mit seinen großen Augen,
wenn er eine schwierige Stelle des Römerbriefes exegisierte, um bis-
weilen, verzückt und gleichsam verklärt von der Hoheit der Worte, län-
gere Zeit an die Decke des Auditoriums zu schauen.
Wir fühlten uns völlig geborgen und sicher, bis der August 1914 uns
zu den Fahnen des Heeres rief. Die Wirklichkeit schien gebörsten, es tat
sich ein Abgrund auf, die Fassaden einer so herrlichen Welt wankten
und fielen, der Himmel wurde blaß, leichenblaß. Die bunten Farben er-·
bleichten langsam.
Da sehe ich ihn zum ersten Male deutlich in der Erinnerung vor mir:
seine kleine, schmale,,fast zierliche Gestalt, scheinbar wesenlos geworden,
aber transparent für die reine Idee, fast vom Geist gedrückt, der Körper
nur noch Kopf, seine schneeweißen, glänzenden, gescheitelten Haare wie
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eine Krone, der lange Bart, der die Würde verkörperte, und die klarsten,
strahlendsten Kinderaugen in dein Gelehrtengesicht, die hinter scharfen
und unerbittlichen Brillengläsern hervorlugten. Ende Juli 1914 richtete
er ein paar persönliche Worte an uns im Auditorium maximum, die wir,
die Generation der spateren Langemarckkämpfer, bebenden Herzens an-
hörten. Er sprach von Vaterland und Menschheit, nicht schmetternd und
begeisternd, sondern gleichsam zaghaft, schüchtern und stockend mit
„heiliger Nüchternheit" vor dem gewaltigen Donner des Schicksals, dessen
Blitze auch seinen Sohn treffen sollten. War es eine Vorlesung über all-
gemeine transzendentale Logik, in der er uns die apriorischen Grundlagen
der Wirklichkeit der Erfahrung mit subtiler Genauigkeit auseinander-
gelegt hatte, war es ein Kolleg über Platon, ein Kolleg, dessen Gelehr-
samkeit wir bewunderten, ohne sie zu verstehen, wir zogen kurz darauf
in den ersten Weltkrieg, überschwenglichen Herzens, wie junge home-
rische Helden, wie zu einem Tanz der Waffen, von Tyrtaios berauscht,
das Wort von Horaz auf den Lippen und in der bangenden Seele: Süß
ist es und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben. Und wie viele starben,
wie das.Gesetz des Vaterlandes es befohlen hatte.
Verwundeten, zerbrochenen Herzens kehrte ich 1917, schwergetroffen
durch einen Granatsplitter, auf Kriegsurlaub nach Marburg zurück» Wie-
der fand ich mich in den Vorlesungen und im Seminar von Paul Natorp, das,
wenn ich mich nicht irre, damals von Hinrich Knittermeyer betreut wurde.
Die Wirklichkeit, die wundervolle Wirklichkeit von 1913/14, war zerschla-
gen, wir kehrten zurück, um die unverrückbare Wahrheit der Dinge, die
feste und wirkliche Wirklichkeit in dem Wirbel der Ereignisse zu suchen,
wir waren an Abgründen entlanggegangen, die wir nicht geahnt hatten,
wir wollten den felsenfesten Grund der Dinge kennenlernen, nachdem wir
das Wanken der Zeitgeschichte unter den Füßen gespürt hatten, von dem
Ernst Troeltsch schon 1905 geredet hatte, wir suchten etwas zu fassen,
was nicht wie Nebel und Traum verschwand. Wir übersetzten in Natorps
Seminar unmittelbar aus dem Griechischen Stellen aus dem Phaidon, des-
sen ewiger Tiefsinn uns tröstlich war, ohne daß wir ihn ganz ergründen
konnten. „Rechenschaft ablegen", ja, das wollten wir, „von dem, was
wirklich ist", wir wollten den Logos des Seins erfassen, die Ratio des
Irrationalen. Wir wollten das Leben, das ins Bodenlose abzusinken drohte,
durch ein Gesetz bändigen und binden, durch eine Ordnung festigen, die
unzerstörbar sein sollte. Dieses Gesetz fanden wir damals in der klaren
Ratio des „Bis-zum-Grunde-Denkens" Natorps, der aus der schöpferischen
Synthese ursprünglichen Denkens die Grundformen gerechten Bei-einander-
und Mit-einander-Seins der Mensdien und der Menschheit mit logischer
Notwendigkeit entwickelte, die glasklar war. 1919, nachdem ich über vier
Jahre Soldat gewesen war, wagte ich, damals in Göttingen, an Paul Na-
torp zu schreiben und ihn zu fragen, ob ich zu ihm kommen dürfte, um
die Probleme, die mich in der Theologie bewegten, vom Philosophischen
hei zu lösen. Leider habe ich durch die Flucht aus Oberschlesien 1945 die
Briefe verloren, die er mir damals schrieb. Umgehend, wie es damals Sitte
war, schrieb er an mich, wie ich es nicht erwarten konnte, ohne Über-
schwang, klar, sachlich, menschlich so nah, daß mich diese Nähe des be-
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rühmten Mannes beinahe beschämte. Ich ging nach Marburg, legte ihm.
Schriftstücke, geistige Entwürfe, Schattenrisse eines geistigen Aufbaus
vor, wie ich ihn mir dachte, und es begann, befeuert durch die Gegen-
wart von Rudolf Otto, mit dem ich weite Spaziergänge machen durfte,
eine Zeit menschlicher Begegnung mit Paul Natorp, über die ich heute
noch aus der Erinnerung staune. Wohl sah ich Natorp wöchentlich1 häufi-
ger im Platonseminar, in dem sich rhapsodisch begeisterte Georgean-
hänger über den Eros äußerten (das Symposion trat an die Stelle des
Phaidon), aber jeden Sonnabend gegen 12 Uhr sprang idi die Treppen
zu seiner Wohnung hinauf und durfte mit ihm allein . Wenn ich
an der Tür klopfenden Herzens lauschte, hörte ich oft die ehernen Schick*
salsklänge Beethovens herausrauschen, ich wagte nicht zu läuten, bis die
Töne verklangen, dann stand ich plötzlich vor ihm, der mich etwas
steif begrüßt hatte, und dann begann eine Musik der Gedanken, so scheint
es mir heute, die sich klar gegeneinander abgrenzten, von seiner Seite
gefügt wie Bachsche Fugen; ich durfte ihm meine Meinung sagen, in Figu-
ren aufzeichnen, er saß als gleicher Gesprächspartner mir gegenüber, £ine
Tatsache, die mich immer wieder erschütterte, es ging um den libgos
philosophischen und religiösen Denkens und deren Abgrenzung, es war
für seine philosophische Ratio wohl schwer zu fassen, was ich- über Bild,
Sinnbild, unechtes und echtes Symbol zu sagen hatte. Einmal hatten wir
mit Gedanken wieder gekämpft sine ira et studio, er konnte manchmal
hell auflachen über die Kühnheit, die Jugendkühnheit gedanklicher Folge-
rungen, da ging er still an eines seiner gewaltigen Büchergestelle und
schlug Platons 7. Brief auf und las mir griechisch vor: „Denn es läßt sich
gar nicht wie andere Einzelerkenntnisse in Worte fassen, sondern aus
häufigem Beisammensein, das sich um die Sache selbst zusammenschließt,
und aus wirklicher Lebensgemeinschaft wird es im Nu, wie sich aus einem
springenden Funken Licht entfacht, in der Seele erzeugt, und siehe da?
schon nährt es sich aus sich selbst.11 (Weinstock).
Einmal sagte er mir, er, der berühmte Platonforscher, seine Ansicht
über Platons Idee sei doch wohl nicht richtig gewesen, sie habe sich ihm-
gewandelt, er gab kurz darauf sein Platonbuch in neuer Sicht heraus,
übrigens schrieb er damals an seinem meiner Kenntnis nach1 letzten Buch
Sozialidealismus mit einer jugendlichen Begeisterung, sprachlich von einer
Jugendfrische, deren Unmittelbarkeit mich auch im Gespräch dem Profes-
sor gegenüber „mit dem Silberhaar", wie ich ihn zu nennen pflegte, in
Verlegenheit setzte. Damals gab er eine Teestunde: die Professoren Ru-
dolf Otto, Nicolai Hartmann, der von der Intuition der Intuition redete,
Heitmüller, der Psychologe Jaensch, der Kirchengeschichtler Horst Stephan
und andere, die ich vergessen habe, fanden sich ein, ich durfte aus meiner.
Arbeit vorlesen. In einer anderen Teestunde im größeren Kreise sprach er
über sein Verhältnis zu Dostojewskij, den er sehr zu verehren schien. Tft
der Doktorprüfung unterhielten wir uns miteinander plaudernd über den
Unterschied von Platon und Kant, ein Problem, das mich nie wieder los-
gelassen hat.
Persönlich widrige Schicksale führten mich dann weit von ihm fort.
Der Sternenklang philosophischer Sphären brach jäh ab in dem Erdbeben
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der damaligen Umwälzungen ? die Brutalität und nackte Wirklichkeit der
Inflationszeit, die Paul Natorp mir gegenüber im Gespräch einmal stark
gegeißelt hatte, sie hatten mein Leben äußerlich erschüttert. Der warme
Herzton echter Menschlichkeit, echten Denkens, der Idealismus des sozia-
len Menschen wurde verzerrt und seine reine Idee entstellt, sie war nicht
mehr da, sie war später zur Grimasse nackter Gewalt und tyrannischer
Gewalttätigkeit geworden. Das schöpferische Selbst, das im Logos le-
bendig und im zur Wirklichkeit wird, es. versank in der
brutalen Massenhaftigkeit technisierten Daseins. 1922 schrieb er mir die
letzte tröstliche Karte, in der er sorgfältig auf meine philosophischen
Fragen einging.
In stummer Trauer um seinen Tod, die reine Idee schien mit ihm ge-
storben, der sie mir verkörpert hatte, war ich ihm im Jahre 1924 auf
seinem letzten Wege gefolgt. Fast dreißig Jahre später nach Zertrümme-
rung von ganzen politischen Welten suchten meine Frau und ich sein
Grab auf dem Marburger Friedhof von neuem, es war im Sommer 1952.
Das Grab fanden wir nicht, auf das wir ein paar Sommerblumen legen
wollten, wir gingen auf den Spuren nach dem ewigen Sein wie Platons
Schüler, wir spürten die Kraft der ewigen Idee glühend'in unseren Her-
zen aufblühen, der Idee ewigen Denkens um ein gerechtes Menschsein.
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INHALT
L. W. Beck, Rochester:
Die Kantkritik von C. I. Lewis und der analytischen Schule 3
A. Diemer, Mainz:
Zum Problem des Materialen in der Ethik Kants . . . . . 21
G. Freyr Stuttgart:
Phänomenologische und operationale Begründung der Natur-
wissenschaften 33
F. Grayeff, London:
Interpretation und Logik 55
R. S. Hartman, Columbus:
The Analytic, the Synthetic, and the Good: Kant and the
Paradoxes of G. E. Mpore 67
J. Hyppolite, Paris:
La Critique Hegelienne de la Reflexion Kantienne . . . 83
K. Kanthacfc, Berlin:
Erkenntnis als Formung bei Leibniz und Kant . . . . 96
H. Knittermeyer, Bremen:
Von der klassischen zur kritischen Transzendentalphilosophie 113
P. Lachieze-Rey, Lyon:
Reflexion sur la Methode Kantienne et sur son Utilisation
Possible 132
G. Lehmann, Berlin:.
Erscheinungsstufung und Realitätsproblem in Kants Opus
postumum 140
G. Martin, Mainz:
Neuzeit und Gegenwart in der Entwicklung des mathema-
tischen Denkens . . .155
318
P. Menzer, Halle:
Das Freiheitsgefühl 166
H. J. Paton, Oxford:
An Alleged Right to Lie . . . . 190
G. Schrader, New Haven:
The Status of Teleological Judgment in the Critical Philosophy 204
E. K. Specht, Köln:
Einheit und Logos bei Aristoteles . . 236
H. J. de Vleeschauwer, Pretoria:
Les Antecedants du Transcendantalisme Geulincx et Kant 245
W. H. Walsh, Oxford:
Categories . . . . 274
M. Wundt, Tübingen:
Kants Stellung im Wegestreit 286
H. Zantop, Zürich:
über das Problem einer Selbstkritik der Vernunft .· . . 297
P. Krüger, Hannover:
Zur Erinnerung an Paul Natorp 314
Mitteilungen der Kantgesellschaft . . . . . . . . . 320
319