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NACHWORT 2

EINLEITUNG

Vor mehr als einem Jahr schrieb ich das Nachwort zu der Edition der
Kosmogonie Marius Schneiders. Mit dem Text war ich in der Revision durch,
nur die Abbildungen bedurften des weiteren Nachsehens.

Das gestaltete sich schwierig. Und ich bin mit dem Ergebnis durchaus nicht
zufrieden – manche Zuordnungen kann ich nicht nachvollziehen, geforderte
Abbildungen nicht beibringen, weil ich die dafür nötige Bibliotheksarbeit
nicht leisten kann.

Ich habe Herrn Leopoldo Siano gefragt, ob er vielleicht bereit ist, an diesem
Punkte zu helfen.

So habe ich mich entschlossen, ganz gegen meinen eigenen Sinn nach
Vollkommenheit, an dieser Stelle die Arbeit an der Kosmogonie zu beenden.

Nun bin ich in der Lage auszusprechen – und zwar deutlicher, als ich es im
Jahre 2012 vermochte -, was ich als Hörer dieses Werkes, auf das ich mehr als
vierzig Jahre gewartet hatte, vernommen habe.

Hörer – nicht Leser.

Denn der Leser trägt ja mit dem Autor zusammen das zuhauf, was eine
bestimmte Sache beleuchtet, erklärt, verständlich werden läßt. Aber der
Hörer fragt: Was soll ich tun, was soll ich anders tun als vorher, nachdem ich
die Botschaft vernommen habe.

Das Verblüffende nach diesen vier Jahren Arbeit an dem Manuskript: die
Botschaft hatte ich aus dem, was ich aus dem mündlichen Vortrag schon
wußte, längst geschöpft und beherzigt. Nur ist nun die Spannung weg, weil
ich ja weiß und den vielfältigen Erweisen, Belegen, Deutungen usw.
begegnet bin.

Wie sich da Altes und Neues für meinen Sinn erschlossen und gegenseitig
durchdrungen hat, möchte ich daher versuchen auszusagen.
2

Hier das Programm für mein zweites Nachwort.

I Die Einheit – das eine Wort – Marius Schneiders in folgenden vier Werken:

1 Die Geschichte der Mehrstimmigkeit, 1934/1935, 1969


2 El origen musical de los animales-simbolos en la mitologia y la escultura antiguas,
1946
3 Rekonstruktion der alten Kosmogonien, unveröffentlicht
4 Rhythmus, ungeschrieben, aber als künftige Arbeit im Sinn

II Die Entdeckung des Modells des Astrolabiums für die Bedeutung des
Zusammenhangs von Klang und Bild

III Das fehlende Glied in der Kette: die 26 Energiepunkte von Jin Shin Jyutsu,
angezeigt in der Folge der hebräischen Buchstaben

IV Die Bedeutung der Sprache Marius Schneiders in diesen Untersuchungen


für die Menschheit auf dem Planeten Erde.
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I DAS EINE „WORT“ MARIUS SCHNEIDER

Marius Schneider ist im Jahre 1903 geboren. Nach seinem Klavierexamen


1924 studierte er bei Alfred Cortot und auch privatim bei Maurice Ravel.
1919 prägte der Musikkritiker Paul Bekker (1882-1937) das Wort von der
Neuen Musik. Seit Ausbruch des Ersten Weltkrieges – die letzte Repertoire-
Oper „Der Rosenkavalier“ von Richard Strauß wurde im Januar 1911
uraufgeführt – steht die abendländische Musiktradition infrage.

Es sind vier Punkte, die fraglich sind:

1) Ist das Tonsystem mit zwölf gleichschwebend temperierten Tönen weiterhin


brauchbar?

2) Wo ist der Ort der lebendigen Musik im Leben der Gesellschaft, wenn die Grenzen
der europäischen Nationen nicht mehr trennen, weder räumlich noch von der
Geschichte des Menschengeschlechts her gesehen?

3) Welche Bedeutung haben musikalische Verläufe überhaupt?

4) Wie kommt es dazu, daß ein lebendiger Rhythmus entsteht und Gegenwart
schafft, indem aus einem an sich flach verlaufenden Zeitablauf eine musikalische
Gestalt wird, die unverkennbar und unterscheidbar ist?

Auf diese für die Musik existentiellen Fragen hat Marius Schneider
geantwortet, und nur mit ihnen zusammen erschließt sich sein Lebenswerk.

Ich kann das sagen, weil ich – nachdem ich das dritte seiner Hauptwerke, die
Rekonstruktion der alten Kosmogonien, studiert habe – doch aus dem von
Marius Schneider während des Studiums 1962-1967 Gehörten weiß, daß er
fest vorhatte, noch ein viertes Werk zu schreiben, auf das er längst gründlich
vorbereitet war, von dem er auch mit großer, wenn auch – angesichts des
noch nicht Vorhandenen – verhaltener Freude sprach: das Buch über den
Rhythmus.

Daß das möglich war, wird belegt durch folgende Passage aus Walter
Zimmermanns Recherchen im Berliner Phonogramm-Archiv1: „Es handelt
sich um Tausende von Transkriptionen, die Schneider während seiner Zeit im
Phonogramm-Archiv machte. Die Handschrift ist unverkennbar. Auch die
Sammlung zum Rhythmuskatalog ist dabei.“

1 Walter Zimmermann, Tonart ohne Ethos, S. 30 (im internet)


4

Mehrstimmigkeit als Phänomen geistiger Kraft, viele zu einem Concentus, zu


einem Zusammenklang zu bewegen, galt als die große Errungenschaft des
Abendlandes. Das Zusammenfügen der römischen und der jeweils eher
lokalen Traditionen rief die Mehrstimmigkeit hervor, nicht nur in der Musik,
z. B. auch im Rechtsleben.

Auch die Altarbilder sind in diesem Sinne mehrstimmig: sie vereinen die
kirchlich-liturgische Tradition mit dem jeweilig vor Augen Gegebenen.

Um 1600 wurde dann die Harmonie neu entdeckt, seither ist die Geschichte
der europäischen Musik zu verstehen als immer größere Zusammenballung
von Klängen, gipfelnd in den Opern-Klangkörpern aus Solisten, Chor und
großem Orchester, wie der „Rosenkavalier“ sie verlangt. Die Vergrößerung
des mit immer mehr Raffinesse wirkenden instrumentalen Klangkörpers
forderte, um das Zusammenwirken der vielen Musiker zu gewährleisten,
immer größere Rationalisierung im Umgang mit dem „Einsatz“: der
Klangvermehrung entsprach die Verarmung rhythmischer Vielfalt.

Demgegenüber hält nun die Geschichte der Mehrstimmigkeit Marius Schneiders


von 1934/1935 (in neuer Auflage mit Ergänzung des verlorenen dritten Teils
1969) fest,

1) daß die Mehrstimmigkeit ein Urphänomen des Musizierens ist, keine


Erfindung des Abendlandes,

2) daß die Vokalmusik den richtigen Wegweiser durch die Geschichte der
Musik abgibt, also nicht die „übertürmte“ Instrumentalmusik von 1600 bis
1900,

3) daß zur Vokalmusik die schwankende Intonation gehört,

4) daß die Mehrstimmigkeit zustande kommt, indem mehrere mit derselben


Intention dasselbe verschieden sagen.

Daraus ergibt sich z. B., daß die Zwölftonmusik, wie Arnold Schönberg sie
initiiert hat, nur eine weitere Fortsetzung des „Übertürmens“ ist, wie die
Partituren seiner Kompositionen auf einen Blick offenbaren. Marius
Schneider hingegen hat die Entfaltung der Tonalität genau verfolgt von der
ungewissen Modulation zwischen zwei Tönen bis hin zu den vielstimmigen
Chören.

Und man sieht, daß die Reichskulturen der Antike und der subtropischen
Zonen nördlich und südlich des Äquators die Mehrstimmigkeit vermieden
haben, dafür aber eine immer feinere Überschichtung tonaler Funktionen auf
5

eine jeweils einzige Leiter hervorgebracht haben. Die sogenannten


Kirchentöne z. B. sind das Ergebnis solcher Überschichtung.

Die Mehrstimmigkeit des Mittelalters entpuppt sich als das


Übereinandertürmen der Tradition mehrstimmigen Singens mit den
einstimmigen Gesängen der Kirche, die wiederum die Reichskulturen beerbt
haben.

Diese Forschungsergebnisse, bei deren Darstellung die Kulturkreislehre von


Leo Frobenius nicht dazu führen soll, sie als rassistisch geprägtes
Beurteilungsmuster abzutun2, könnten also praktisch Vorstellungen bilden,
wie es mit der Musik auf dem Planeten Erde weitergehen könnte, ohne daß
das „Bestimmen“ der Hörer die Hauptsache ist.

Dabei ist die Vorherrschaft der Pop-Musik in allen Spielarten als weitere
Fortsetzung des Machtfeldzuges klangballender Musik zu verstehen.

Meines Wissens ist dieser wichtige Beitrag verhallt. Marius Schneider selber
sagte, daß das Buch in Deutschland nicht gelesen wurde, weil es in einem
jüdischen Verlag, im Ausland aber nicht, weil es in Nazi-Deutschland
erschien.

Das zweite Hauptwerk Marius Schneiders: El origen musical de los animales-


simbolos en la mitologia y la escultura antiguas. Ensayo historico-etnografico sobre
la subestructura totemistica y megalitica de las altas culturas y su supervivencia en
el folklore espanol, Barcelona, 1946, (Neuauflage: Madrid 1998, it. Gli Animali
simbolici e la loro origine musicale nella mitologia e nella scultura antiche. trans.
dallo spagnolo, Milano 1986)

ist, von seinen Ergebnissen her, in deutscher Sprache als Singende Steine.
Rhythmus-Studien an 3 katalanischen Kreuzgängen romanischen Stils. Bärenreiter,
Kassel/ Basel 1955. (überarbeitete Neuauflage 1978, fr. Le chant des pierres,
Milano, 1976; it. Pietre che cantano: Studi sul Ritmo di tre chiostri catalani di
stile romanic, Milano 1976) bekannt geworden.

Das Inhaltsverzeichnis aber offenbart, wie dieses Werk das Herzstück des
ganzen Schaffens und Forschens ist:

Kapitel 1: Es singen die Tiere (primitive Überlieferung)


Kapitel 2: Es singen die Menschen (indische Überlieferung)

2 In diese Falle geht auch Walter Zimmermann. Marius Schneider lehnte jede
Verabsolutierung einer Methode als solcher ab, es käme immer darauf an, was das
Zusammenwirken von Stoff und Methode für Ergebnisse brächte, mit anderen Worten: die
entscheidende Frage ist, ob eine Methode fruchtbar ist.
6

Kapitel 3: Es singen die Steine (romanische Überlieferung)


Kapitel 4: Es singen die Planeten (sino-iranische und griechische Überlieferung)
Kapitel 5: Es singen die Elemente (chinesische und indo-arische Überlieferung)
Kapitel 6: Es singt der Kosmos (die Überlieferung der Megalithkulturen)

Die ersten fünf Kapitel umfassen etwa 140, das letzte Kapitel etwa 200 Seiten.
Mit 132 Abbildungen, 18 zum Teil ausgedehnten Notenbeispielen und 16
Tafeln.

Man sieht sogleich, daß das dritte Hauptwerk in deutscher Sprache, die
Rekonstruktion der alten Kosmogonien hier schon aufgestellt ist. Aber es ist in
seiner Wirkung auf die spanisch und italienisch lesende Welt beschränkt.
Mir ist nicht bekannt, wie diese Forschungsergebnisse von anderen etwa
aufgenommen und weiter genutzt und vertieft worden sind.

Tiere, Menschen, Steine, Planeten, Elemente, Kosmos – das ist das


Klangspektrum der Musik, die nicht an Nationen usw. gebunden ist, die den
Zweck des Singens (das nicht zufällig in der Überschrift aller Kapitel steht)
für uns Menschen offenbart: als Geschöpfe an der Schöpfung mitzuwirken.

Das dritte Hauptwerk Marius Schneiders liegt nur in unvollendeter Form


vor. An die Stelle der Reihe: Tiere, Menschen, Steine, Planeten, Elemente, Kosmos
ist im ersten, eher systematischen Teil die Reihe getreten:

Bilder, Zahlen, Grundbedingungen des menschlichen Erlebens, Sterben, Schöpfung,


Musik (auch 6 Kapitel),

im zweiten Teil, der die kosmologisch geordnete Entfaltung nachvollzieht:

Urwelt, Chaos und Totenreich, Anthropokosmos, Opfer, Ritual, Gestalt des Jahres
(ebenfalls 6 Kapitel).

Da tritt man nun ein in die Werkstatt, die jahrzehntelang bestellt, gepflügt
und beackert wurde. Am auffälligsten vielleicht; kaum Musikbeispiele.
Dafür Textbelege von rund um den Planeten Erde.

Meine Gliederung des Textes macht es leichter möglich zu erkennen, in wie


hohem Maße Marius Schneider von dem Leser das HÖREN verlangt,
unbefangenes Vernehmen dessen, was gesagt worden ist, in Respekt und
ohne Bevormundung.

Die Fülle des Materials – die niemals, wie Marius Schneider nicht müde
wurde zu betonen, über die Qualität eines Buches entscheidet – macht es
nicht leicht, zu dem entscheidenden Moment vorzudringen:
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wie nämlich ein Verlauf in mehreren Schritten sinnvoll wird. Das


kosmologische Modell der Kreise von I-X, der Jahreslauf als Modell des
rhythmischen Erlebens der Zeit ist – für uns – zu übersetzen in das
Verständnis, wie die Schritte des Erlebens nicht einander gleichgültig sind,
sondern gerade durch verschiedene Qualifizierung sinnvoll werden.

Und daraus ergibt sich, daß Verläufe, die über den vierten Schritt nicht
hinauskommen, innerhalb der Urwelt bleiben, nur nach innen wirken
können. Nach innen innerhalb der diese Schritte vollziehenden Person oder
Gruppe, je nachdem. Daß in den Schritten 5-8 die Umkehr geschieht, die zur
Offenbarung der Veränderung führt. Daß sich die Schritte 9-10, wenn sie
nicht an die Umkehr durch das Opfer gebunden sind, in Starrnis zu verlieren
drohen.

Es ist die Sprache, die die entscheidenden Schritte der Offenbarung allein
vollziehen kann (gehöht und erfahren im Ritual). Davon ist nichts zu sehen
und auch nichts sichtbar zu machen. Die Symbole wirken nur so lange, wie
sie als solche verstanden werden.

Aus dieser Lage heraus verstehe ich es auch, daß Marius Schneider so lange
gezögert hat, das „fertig“ zu machen, was – auf den ersten Blick – als die
sensationelle Entdeckung gelten muß: die Korrespondenz zwischen
Kultbildern und Klangdisposition. Ich weiß noch, mit welcher Sorgfalt für
das kleinste Detail er um die Abbildungen bemüht war – und trotzdem ist es
gerade dieser Teil der Arbeit, den nun auch ich unvollendet lassen muß. Ist
das, weil die andere Botschaft, nämlich: „Musik ist der Leib des Unsichtbaren“
oder „Im Anfang war das Wort“ (Joh, 1, 1), so vordringlich gehört werden
muß?

Was das Wort, der Logos, ist, das bei dem Evangelisten Johannes gemeint ist,
darüber ist reichlich nachgedacht worden. Hier tritt die bescheidene
Ergänzung hinzu: Wir sind aus dem Klang erschaffen und jedes
schöpferische Tun beginnt ebenso. Es sind die Namen – im vollsten,
ursprünglichsten Sinne -, die unser Leben im Wort erschaffen.

Es lohnt sich, das ausführliche Register dieser Stimmen mit der Sprachlehre
Eugen Rosenstock-Huessys zusammenzubringen3, wie es mir schon
während der Studienjahre von 1962 bis 1967 beschieden war. Wie da Namen,
Wörter, Dinge unterschieden sind als Schichten des einen, uns
durchströmenden Wortes, und wie die vier Antiken (Stamm, Reich, Israel,
Griechenland) in der christlichen Zeitrechnung durch Jesu Opfer zueinander
geöffnet worden sind und zueinander geöffnet werden.

3Vor allem in: Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie in zwei Bänden, Stuttgart 1956 und
1958, Die Sprache des Menschengeschlechts in zwei Bänden Heidelberg 1963/1964
8

Von dem vierten, nicht geschriebenen Hauptwerk Marius Schneiders gibt es


Spuren in allen drei genannten Werken genug. Im dritten gehören die
Passagen über den lebendigen musikalischen Rhythmus zum Kostbarsten,
was darüber je gesagt wurde. Es lohnt sich, diese Passagen auszuziehen und
konzentriert zu bedenken.

Aber natürlich hätte bei Marius Schneider dazugehört, daß er die Beispiele
dem Leser vorgelegt und zugemutet hätte, die das vielfältige Phänomen des
lebendigen Rhythmus belegt hätten. Zumutung deswegen, weil ja die
schriftliche Wiedergabe eines lebendigen Rhythmus – fast – unmöglich ist,
weil er in jedem Falle nicht mechanisch sein kann und daher der
Verkörperung in einem lebendigen, sich bewegenden Menschen verlangt.

So sehr in der Rekonstruktion der alten Kosmogonien das Obertonsystem als


Modell des Betrachtens eine Rolle spielt. so sehr wird immer wieder gesagt,
daß der lebendige Rhythmus eben nicht in einem solchen Schema aufgeht,
sondern das Phänomen der wirklichen Schöpfung ist, die niemand
nachmachen kann.

Hier also der Versuch, die vier gestellten, für die Musik auf dem Planeten
Erde existentiellen Fragen zu beantworten, wie ich es bei Marius Schneider
gehört habe4:

1) Ist das Tonsystem mit zwölf gleichschwebend temperierten Tönen weiterhin


brauchbar?

Nein. Wir müssen uns auf die Vokaltradition besinnen, den Klangrausch
abbauen, die Intentionalität lebendiger Darstellung suchen (schon die
Konserve in Schallaufnahmen und dergleichen mindert die Lebendigkeit).
Das wirklich gesungene Lied erst trifft den lebendigen Augenblick im Leben
eines wirklichen Menschen. Dabei ist die schwankende Intonation oft das
Merkmal solcher Lebendigkeit. Die Notenschrift ist nicht dazu da, absolute
Tonhöhen zu fixieren, sondern Tonverhältnisse, die mit der leiblichen
Resonanz des Singenden von Kopf bis Fuß übereinstimmen (jeder hat einen
anderen Grundton). Und beim Zusammensingen (und –musizieren) kommt
es vor allem darauf an, daß erfahren wird, wie alle dasselbe meinen, aber
verschieden artikulieren (z. B. bei dem Gestus der an der Kammermusik
mitwirkenden Musiker).

4
Immerhin möchte ich darauf hinweisen, daß ich nach den aus Marius Schneiders Lehre
geschöpften Maximen seit 1962 komponiert habe.
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2) Wo ist der Ort der lebendigen Musik im Leben der Gesellschaft, wenn die Grenzen
der europäischen Nationen nicht mehr trennen, weder räumlich, noch von der
Geschichte des Menschengeschlechts her gesehen?

Der Ort der Musik ist die Schöpfung. Der Klang, der im eigenen Leibe
Resonanz findet, ist zugleich die Verbindung mit allen anderen Geschöpfen.
Das Hören versetzt in dieses allen gemeinsame INNEN.

Die Lautsprechermusik ist nur ein trauriges Surrogat solchen


Übereinstimmens, weil sie dem Hörer keine Chance mehr bietet, auf das
Erklingen selber einzuwirken (was bei live-Aufführungen doch immer noch
geschehen kann).

Der Verlust des Erlebens mit Tieren, Steinen, Planeten und dem Kosmos, wie
ihn der gleichgültig machende Kalender der industrialisierten Welt auferlegt,
will zuerst einmal als solcher erkannt werden. Der Konsumverzicht in dieser
Richtung lohnt sich: man findet vielleicht den Rhythmus der eigenen
Biographie plötzlich wieder. Diesen kann nämlich niemand rauben, wenn er
nur hörbar wird.

Da sind sie, die Gesten der Tiere, die immer wieder begangenen Wege der
Steine, die Konflikte und Auflösungen der Planeten, die kosmischen
Entsprechungen (etwa in den fünf Tiefen bei Jin Shin Jyutsu mit jeweils etwa
15 Lebensjahren oder in den zwölf astrologischen Häusern mit je 6
Lebensjahren).

3) Welche Bedeutung haben musikalische Verläufe überhaupt?

Musikalische Verläufe präfigurieren das soziale Leben. Sie gehören – bei der
Dreiteilung in Tiefschlaf, Traum und Wachen – ganz in den Tiefschlaf (bei
Marius Schneider in die Kreise I-IV). Die Bilder gehören in den Bereich der
Imagination der Traumwelt (sie halten ja Augenblicke fest, die es im
wirklichen Leben so nicht gibt: ein Porträtierter sieht schon bald wieder
anders aus, als wie er im Bilde festgehalten ist – das Leben entzieht sich dem
Sichtbarwerden).

Aber zum Musizieren wiederum gehört höchste Wachsamkeit, erst die


hingebende, alle drei Stufen umfassende Tätigkeit trägt Frucht. Deshalb muß
es immer unternommen werden, die kritischen Phasen V-VII, wie Marius
Schneider sie darstellt, zu erleben und durchzumachen, um dann die
Umkehr und Wiederherstellung der Verbindung zur Urwelt (dem Tiefschlaf)
im Ritual zu schaffen.

Dabei ist – für uns – dieses Ritual schon in der einfachsten lebendigen
Anrede unsres Nächsten akut! Also nicht erst in dem als Ritus erkannten und
als solchem ja eher zurücktretenden kirchlichen Geschehen oder auch in
10

anderen Gebieten, wo „Form“ und „Benehmen“ das lautlose Funktionieren


der Gesellschaft regeln sollen.

Als Beispiel fällt mir Paul Celans Gedicht ein5:

DU DARFST mich getrost


mit Schnee bewirten:
sooft ich Schulter an Schulter
mit dem Maulbeerbaum schritt durch den Sommer,
schrie sein jüngstes
Blatt.

- da sind die Anrede, an der nicht vorbeizukommen ist, die Schöpfung mit
Schnee, Schulter, Maulbeerbaum und Blatt, der bestimmte Zeitpunkt mit
Sommer und jüngstes, da sind Tiefschlaf (Unverständlichkeit), Traum
(Halbverständlichkeit) und Wachen (besonders in: schrie und der
Erinnerung: sooft ich) beisammen.

4) Wie kommt es dazu, daß ein lebendiger Rhythmus entsteht und Gegenwart
schafft, indem aus einem an sich flach verlaufenden Zeitablauf eine musikalische
Gestalt wird, die unverkennbar und unterscheidbar ist?

Hier sollen zuerst zwölf Beispiele stehen, wie Marius Schneider vom
Rhythmus spricht:

Rhythmus entsteht dort, wo die Zeitteilung eines Klanggeschehens innerhalb der


neutral fließenden Zeit sich selbst einen eigenen Anfang, eine eigene Gliederung und
ein eigenes Ende setzt.

Rhythmus ist die Kraft der Sinngebung, insofern er einzelne Teile qualifizierend in
einem qualifizierten Ganzen miteinander verbindet oder, umgekehrt, auch erst aus
sich hervorgehen läßt.

Rhythmus entsteht dort, wo die einander kompensierenden, semantisch völlig


neutralen Aspekte des Tao durch ein scheinbares Tertium zusammengefaßt sind.
Dieses Tertium ist aber kein neues, drittes Element, weil die scheinbare Dreiheit der
zwei Aspekte und deren Zusammenfassung eine Einheit bildet, die aufgrund der
akustischen Urweltnatur in der Zusammenfassung begründet ist.

5 Paul Celan, Atemwende 1967, I, 1


11

Der spontane Rhythmus entspringt einem naturgegebenen Vertrauen, welches der


Mensch unbewußt in seine Leistungskraft einsetzt, die aber, sobald sie bewußt
überwacht wird, erheblich an Charakter und Qualität einbüßen kann.

Der musikalische Rhythmus ist unsichtbar gestaltete Bewegung einer subjektiven


Zeit innerhalb der objektiven Zeit. Seine Zeitteilungen und Qualifizierungen
gliedern nicht die physikalische, sondern unsere eigene, selbstgelebte
psychophysische Zeit, deren Rhythmus den neutralen Charakter der objektiven Zeit
scheinbar außer Kraft setzt, indem er sie seinem eigenen Willen gemäß auf seine
eigene Art form- und gestaltgebend strukturiert und den endlosen, homogenen und
ungeteilten Ablauf der objektiven Zeit subjektiv aufgliedert und qualifiziert. Er ist
die subjektive, biologische Zeit, die mit ihrem Rhythmus sich selbst einen Anfang
und ein Ende setzt.

Der Rhythmus ist das Leben, welches die Dinge wie leere Gefäße oder
Resonanzräume durchströmt, bewegt oder verläßt.

Der Rhythmus ist aber nicht nur Wiederholung des Ähnlichen, denn er besitzt eine
Wandlungsfähigkeit, durch welche die Wiederkehr des Ähnlichen allmählich eine
Evolution zeitigt, die Neues an den Tag fördert.

Rhythmische Gestalten (und dies gilt ganz besonders für die musikalischen) können
ständig evolutionieren, ohne deswegen ihre Grundform aufzugeben.

Der Ursprung des Rhythmus liegt im Wunsch, zu existieren, und sei es zunächst
nur durch eine bald symmetrische, bald asymmetrische Beziehung zu sich selbst oder
zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich, die zu einer stetigen Wiederholung des
Gleichen oder Ähnlichen führt. Aus diesem Beziehungswunsch wächst die
Bipolarität, das Spannungsfeld polarisierter Stetigkeit.
12

10

Der reine Rhythmus steht der leeren Form sehr nahe. Er unterscheidet sich jedoch
von ihr, insofern er völlig unsichtbar ist, keinerlei sichtbare Umrisse und nur
akustische Gestalt hat, aber beide sind ohne greifbaren Inhalt und beide sind
lebendige Gestalten.

11

Die Musik ist das endlos wuchernde, unsichtbare Urgewächs der Schöpfung.

12

Rhythmus ist zeitlich gestaltete Klangfolge, deren Qualität dadurch entsteht, daß
Klang und Zeit sich gegenseitig bedingen. Ohne diese Qualität gibt es keinen
Rhythmus und keine Wandlungen, sondern nur toten Lärm.

Hier darf aber doch an zweiter Stelle der Hinweis stehen, wie dieses Wort
„Marius Schneider“ mich vor fünfzig Jahren inspiriert hat, mir die Kraft gab,
mehr als vierzig Jahre darauf zu warten, das Hauptwerk aufzunehmen, die
Kraft, es in vier Jahren zu bearbeiten und jetzt diese Arbeit zu beenden.

Ist das nicht wichtigster Beleg für die Wirksamkeit und eben auch
„Wirklichkeit“ dieses „Wortes“?

Das Rhythmusbuch Marius Schneiders bleibt ungeschrieben – steht aber als


mächtiger Imperativ für die Forschung da!

In die vier Richtungen des Kreuzes der Wirklichkeit – nach Eugen


Rosenstock-Huessys Soziologie - entfaltet sich das „Wort“ Marius Schneider:

als IMPERATIV für uns: das Rhythmus-Buch, das ungeschrieben blieb,

als OPTATIV, so vielen wünschenswert: die Rekonstruktion der alten


Kosmogonien,

als TRAJEKTIV, sicher von des Autors Hand überliefert: das spanische
Herzbuch, mit dem in deutscher Sprache auch über die
musikwissenschaftliche Gemeinschaft hinaus Anklang findenden Teil:
Singende Steine,

als OBJEKTIV, unabweislich da: die Geschichte der Mehrstimmigkeit.


13

II DIE ENTDECKUNG DES MODELLS DES ASTROLABIUMS FÜR DIE


BEDEUTUNG DES ZUSAMMENHANGS VON KLANG UND BILD

So sensationell die Entdeckung der Entsprechungen von romanischen


Kapitell-Figuren zu Tönen und der Darstellung einer genau zu benennenden
Melodie war (in den Singenden Steinen beschrieben), so sensationell ist auch
die Entdeckung, daß das Astrolabium, das zur Orientierung am
Nachthimmel dient, als Modell, als Raga oder Maqam für die Kultbilder
angesehen werden kann – und, nach den gebrachten Nachweisen, angesehen
werden muß.

Das Aufregende daran ist, daß nicht so sehr der Inhalt der Bilder jeweils
„spricht“, sondern vielmehr die Kombination zwischen dem durch die
Position qualifizierten Ort auf dem Bild (von der Mitte aus gesehen) und
dem jeweils Dargestellten. Noch aufregender womöglich, daß offenbar
dieses optische Modell eines Bildes dem Empfinden der Zonen eines auf die
Mitte konzentrierten Bildes entspricht: wir erheben den Blick zu einem Bild
empor, suchen dessen Mitte und positionieren die Empfindungen nach
diesen Zonen.

Marius Schneider hat unendliche Mühe darauf gewendet, von den


Kultbildern Reproduktionen herzustellen, die dem Größenmaßstab des
Astrolabiums entsprechen, damit der Beweis der Kongruenz evident ist.

Es ist mir ein Rätsel, wie die Kultbilder in verschiedensten Größen praktisch
nach diesem Modell gefertigt wurden. Hat man die konzentrischen Kreise
jeweils zugrundegelegt, egal in welchem Maßstab? Konnte ein Künstler, der
solche Bilder zu fertigen hatte, dieses Modell so sicher lernen, daß es ihm
sozusagen im Auge wohnte und er es wie im Schlaf „bedienen“ konnte – so
wie ein Musiker Maqam oder Raga oder Melodiemodell ja auch „auswendig“
können muß, um sich lebendig darin zu bewegen?

Die Emanzipation von dem Kultbild – um sie einmal so zu nennen – ist der
Inhalt der Bildergeschichte des zweiten Jahrtausends nach Christus im
Abendland: ausgehend von den Ikonen, die dem alten Muster wohl folgen,
werden die dargestellten Personen, Vorfälle und Sachen immer mehr in
Bewegung gebracht. An die Seite des meditativ zu gebrauchenden Bildes,
das die Versenkung in die Mitte (als Darstellung des Tiefschlafs) verlangt
und ermöglicht, treten Bilder, die als Erzählbilder von links nach rechts (oder
auch umgekehrt) gelesen werden sollen.
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Dieser Prozeß ist - ebenso wie die Ordnung der abendländischen Musik –
vor und mit dem Ersten Weltkrieg an ein Ende gelangt. Paul Cézanne (1839-
1906) hat das Augenfeld, das die empfindliche Stelle in der Mitte hat, als
Urphänomen des Sehens wiederentdeckt. Danach ist die Bildnerei in die
rhythmisch geprägte Abstraktion gefallen – und in das Foto, das aber immer,
da es durch ein technisches Gerät hindurchmuß, mehr Ähnlichkeit mit dem
musikalischen Metrum hat, das ein striktes Maß abmißt, als mit dem
lebendigen Rhythmus.

Die Entdeckung des Astrolabiums mit seinen zugleich komplizierten wie


einfach zu merkenden Positionen als Modell für die Kultbilder könnte für
den Gebrauch von Bildern einen neuen Impuls geben. Denn woher kommt
es, daß die nach diesem Modell gefertigten Bilder so sicher in ihrer Wirkung,
so überzeugend in ihrem Duktus sind?

Ein Meditationsbild löst sich sozusagen auf, wenn die Meditation gelingt:
dann löst sich die Aufmerksamkeit von dem Bild ab und erreicht – das
Gehör.

Und nicht anders soll es doch zum Beispiel mit den Darstellungen der
Altarbilder sein: das Betrachten soll sich auflösen in das Anhören der
Evangelien- oder Legendentexte, die als Zu-wissendes unbedingt dazu
gehören. Beim Betrachten der Bilder aber erreicht man den akustischen
Urgrund.

Bilder bedürfen des Zuspruchs. So sind z. B. die Titel, die Paul Klee seinen
Bildern gab, das Verbindungsstück, das der Betrachter zum Verstehen
unbedingt braucht. Die Titel rücken die Bilder fast in die zweite Linie und
verschaffen ihm von daher den Humor, daß sie, die Bilder, eben zweitrangig
sind. Beispiele: Roter Ballon, Villa R, Insula Dulcamara, Haupt- und Nebenwege,
Senecio.

Bilder wollen ins Leben – und der Weg dahin sind die lebendigen Worte in
der Ansprache.

Die kann auch im inneren, im betenden Gespräch geschehen.

Oder auch einfach im Anhören einer Musik.


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Beide schließen die Anwesenheit anderer Bilder in diesem Augenblick aus.


(Weshalb eine ertönende Musik im Museum nicht dienlich sein kann – sie ist
nur möglich zu einem einzigen Bild zu einer Zeit. Wie ja auch ein
erläuternder Vortrag die Konzentration auf ein Bild voraussetzt.)

Die Bilder sind für sich allein verloren – es lohnt sich immer, den Ort
vorzustellen, für den sie gedacht sind.

Wie hat ein Bild von Karl Schmitt-Rodtluff z. B. auf die Gespräche
eingewirkt, die im Hause Helmuth James von Moltkes in Kreisau
stattfanden? Oder was macht es aus, wenn über dem Schreibtisch eines
Notars das Porträt Otto Fürst von Bismarck hängt?

Für die Musik mag Ähnliches gelten: als Gustav Mahlers


Auferstehungssymphonie 2007 zur Feier des 100. Geburtstages Helmuth
James von Moltkes im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin gespielt
wurde, fand die Musik Anschluß an das Wort: So gehe hin und tue desgleichen
(Lukas 10, 37).

Wer überall auf der Welt Kirchen besichtigt, wird um die Zweitrangigkeit
der Bilder betrogen: sie wirken erst, wenn sie das lebendige Wort begleiten.
Das wiederum von der Musik begleitet oder vom Gesang gekrönt wird.
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III DAS FEHLENDE GLIED IN DER KETTE: DIE 26 ENERGIEPUNKTE


VON JIN SHIN JYUTSU, ANGEZEIGT IN DER FOLGE DER
HEBRÄISCHEN BUCHSTABEN

Im Mai 1982 – also kurz vor Marius Schneiders Tod – gelangten wir, um für
unseren Sohn David, der wegen Polypen operiert werden sollte, in die Praxis
Margot Bernickels in Bonn, die mit der aus Japan überlieferten Heilkunst Jin
Shin Jyutsu (SEINER Kreaturen Therapie) behandelt. Der Patient liegt auf
einer Liege und wird von allen vier Seiten behandelt, indem der
Behandelnde beide Hände auf bestimmte Energiepunkte legt und abwartet,
bis er in beiden Fingerspitzen des Mittelfingers eine gleichmäßige Pulsation
fühlt.

Als ich das sah, fiel mir sofort ein: Das ist es, was ich bei Marius Schneider
gelernt habe. Und lernte von da an, diese Behandlung zu erhalten und
weiterzugeben.

Das Urphänomen dieser Energieströme, deren Existenz schon oft


angenommen, aber scheinbar nie bewiesen wurde (Fritz Popp hat mit seinen
Untersuchungen zur biologischen Wirksamkeit des ultraschwachen Lichts
einen Weg gewiesen6), ist für den, der die praktische Erfahrung macht, keine
Frage mehr: die Ströme sind fühlbar da.

Von ihnen ist in den Texten zur Kosmogonie die Rede, wenn von Prana
gesprochen wird, von dem Brahman usw.

Marius Schneider sind sie nur in Form der Yoga-Texte beigekommen.

Wie erstaunt war ich, als ich eine Korrespondenz zwischen den ersten 22
Energiepunkten, die in der Lehre Jin Shin Jyutsu beschrieben sind (von Mary
Burmeister, einer Japanerin aus Arizona, überliefert, nachdem sie jahrelang
bei Jiro Murai (1886-1960) in Japan gelernt hatte, der wiederum die Lehre in
den Kojiki-Schriften am Kaiserhof bestätigt fand), und den 22 hebräischen
Buchstaben fand7!

Aleph – der Stier – der Punkt 1 liegt innen unter dem Knie, der Buchstabe
könnte die Drehscheibe der Kniescheibe andeuten, der Punkt der
Geburtshilfe, der den Rhythmus der Wehen stabilisiert,

6
Biologie des Lichts: Grundlagen der ultraschwachen Zellstrahlung. Parey, Berlin 1984
7 Die Bedeutung der Buchstaben bei: Friedrich Weinreb, Zahl, Zeichen, Wort, Hamburg 1978
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Beth – das Haus – der Punkt 2 liegt auf dem oberen Beckenrand, dem Haus
des Menschen während der Schwangerschaft,

Gimel – der Kamelhöcker – der Punkt 3 liegt auf der Schulterhöhe,

Daleth – die Tür – der Punkt 4 liegt am unteren Schädelrand und öffnet die
geistigen Fähigkeiten,

He – das Fenster – der Punkt 5 liegt zwischen Knöchel und Ferse innen,
öffnet den Schritt in die eigene Biographie,

Waw – der Haken – der Punkt 6 liegt im Fußbogen innen, deutet die
Verknüpfung und Haftung mit der Erde an,

Sajin – das Schwert – der Punkt 7 liegt an der Spitze des großen Zehs, an
dieser Stelle dreht sich die Richtung der Ströme um, deshalb ist es der Punkt
der Entscheidung (vgl. die entscheidende Bedeutung der 7 im
kosmologischen System!),

Cheth – der Garten – der Punkt 8 liegt gegenüber dem Punkt 1 außen am
Knie und gehört zu allen dualen Verhältnissen,

Teth – die Gebärmutter – der Punkt 9 liegt am unteren Schulterblattrand,


gehört zu jeder Form des Epochenwechsels (Mondzyklus),

Jod – der zeigende Finger der weisenden Hand – der Punkt 10 liegt in der
Mitte des Schulterblattrands und gehört zur Stimme,

Kaph – die Greifhand, Zahlenwert 20, der Punkt 11 liegt neben dem
prominenten Halswirbel, dort wo man jemandem am Schlafittchen packt,

Lamed – der Löckstachel, Zahlenwert 30, der Punkt 12 liegt neben der
Halswirbelsäule in der Mitte, die empfindlichste Stelle für Leben und Tod
durch Köpfen und Hängen,

Mem – die Mutterbrust, die Welle, Zahlenwert 40, der Punkt 13 liegt über der
Brustwarze, wird z. B. berührt bei dem Friedensgruß mit überkreuzten
Händen auf der Brust,

Nun – der Fisch, Zahlenwert 50, der Punkt 14 liegt in der Mitte des untersten
Rippenbogens, gehört zu allen Stoffwechselprozessen,

Samech – die Schlange, Zahlenwert 60, der Punkt 15 liegt in der Mitte der
Leiste, der Vitalitätspunkt par excellence,

Ajin – das Auge, Zahlenwert 70 (wieder die sieben!), der Punkt 16 liegt
gegenüber dem Punkt 8 (Verdoppelung) zwischen Knöchel und Ferse außen,
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Pe – der Mund, Zahlenwert 80, der Punkt 17 liegt auf der Handkante außen,
nahe dem Handgelenk,

Zadeh – Angelhaken, Zahlenwert 90, der Punkt 18 liegt auf dem


Daumenballen (als wäre der Daumen und seine Hakenfunktion dargestellt)

Koph – das Nadelöhr, Zahlenwert 100, der Punkt 19 liegt im Ellenbogen, das
Nadelöhr sieht man, wenn man die beiden Arme über dem Kopf erhebt und
mit ihnen das Loch bildet, durch die der Faden – die Stimme – gezogen wird,

Resch – das Haupt, Zahlenwert 200, der Punkt 20 liegt auf der Stirnmitte
(deutliche Entsprechung),

Schin – die Zähne, Zahlenwert 300, der Punkt 21 liegt unter den
Wangenknochen (deutlichste Entsprechung),

Taw – das Zeichen (das Kreuz), Zahlenwert 400, der Punkt 22 liegt in der
Schlüsselbeinkuhle (dort versammeln sich sämtliche Energieströme).

Alle Hinweise auf die Zahlen, deren Qualität, Beziehung zueinander, das
Spiel mit Quersummen, Multiplikationen usw., die in Marius Schneiders
Darstellung zu finden sind, stimmen mit diesen Entsprechungen überein.

Der Gedanke ist nicht fern, daß diese Energiepunkte als die Buchstaben des
Lebens angesehen wurde, daß die Beschreibungen von Prozessen, wie sie in
den Kapiteln über die Kreise I-X zu finden sind, auf die Wege zwischen
diesen Energiepunkten weisen.

Wir tragen die Geschichte des Lebens, des Kosmos, wie er lebt, auf unserem
Leibe!

Als Beispiel einer Entsprechung zu der Erfahrung mit diesen


Energieströmen, die in dem Yoga-Kapitel am nächsten beschrieben und
gestreift wird, bringe ich hier folgendes.

Eine der grundlegenden Behandlungen mit Jin Shin Jyutsu ist die sogenannte
Kleine Mittellinie, die jeder selber machen kann und soll (die Große Mittellinie
hingegen soll immer ein anderer machen). Folgende acht Schritte gehören
dazu:

I die rechte Hand (mit der Fingerspitze des Mittelfingers) liegt auf dem
Scheitelpunkt (dem Scheitel-Chakra), die linke Hand auf der Stirnmitte
(Mitte 20),
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II die rechte Hand bleibt bis zum Schritt VIII auf dem Scheitelpunkt, die linke
wandert, zuerst auf die Nasenspitze (Mitte 21),

III dann auf die Kehlgrube (Mitte 22),

IV dann auf die Mitte des Brustbeins (Mitte 13),


V dann auf das Ende des Brustbeins (Mitte 14),

VI dann eben über dem Bauchnabel (gegenüber der Mitte 23),

VII dann auf das Schambein (Mitte 15),

VIII die linke Hand bleibt auf dem Schambein, die rechte geht auf das
Steißbein (Mitte 25).

Diese Passage nun läßt genau den Gang durch die Kreise I-VIII erfahren. Die
ersten drei Schritte bilden den Kontakt zur Urwelt, bis sich das Antlitz öffnet,
indem die linke Hand das Gesicht freigibt, die nächsten vier Schritte stellen
die Erfahrung der Kreise IV bis VII dar, bis hin zum Opfer, der letzte Schritt
ist dann die Welt des Rituals, wo der ursprüngliche Kreislauf alles Lebens
auf bewußter Ebene erfahren werden kann.

(Es ist sinnvoll – soviel sei hier noch gesagt -, diese acht Schritte denen des
Vaterunsers in der Überlieferung durch Matthäus zuzuordnen:

I Vater unser, der Du bist im Himmel – Stirnmitte,


II geheiligt werde Dein Name – Nasenspitze,
III Dein Reich komme – Kehlgrube, das aufquillende Wort,
IV Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden – Brustmitte, Kontakt
zwischen dem Oberkörper und dem Unterleib,
V unser zukünftiges Brot (das wir im Himmel mit Dir essen werden), gib uns schon
heute8 - auf dem Sonnengeflecht, der empfindlichsten Resonanzstelle, dem
Urmund in der kosmologischen Darstellung,
VI und vergib uns unsre Schuld wie wir vergeben unseren Schuldigern – über dem
Nabel, der direkten Verbindung zur Urwelt,
VII und führe uns nicht in Versuchung – auf dem Schambein, der
kosmologischen Stelle des Sonnenuntergangs vom Tage her gesehen, des
Sonnenaufgangs von der Nachtwelt her gesehen,
VIII sondern erlöse uns von dem Bösen – Steißbein, die Schwanzstelle, die in der
Kosmogonie den Kontakt zu der Urwelt herstellt, das Wichtigste aber ist der
geschlossene Kreis der Energien, das kosmische Ei, in das man nunmehr
hineingerät.)

8 in Ernst Lohmeyers Übersetzung, Das Vaterunser, Göttingen 1946


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Es ist mir nicht möglich, die vielen Erzählungen in dem Text Marius
Schneiders nun alle danach nochmals aufzuschlüsseln – es muß hier
genügen, darauf hinzuweisen, daß Anliegen und Stoff der alten Texte, wo
von Geschichten und Prozessen die Rede ist, eben nicht historische
Ereignisse in dem Sinne meinen, wie wir es verstehen, sondern schöpferische
Prozesse, die mit dem lebendigen Leib zu tun haben.

Viele Therapieformen – z. B. Therapie mit Klangschalen auf den Chakren –


nähern sich dieser Auffassung.

Also es ist nichts Fernliegendes, von dem in Marius Schneiders Werk


gehandelt wird, wenn man diese Brücke gelten läßt und betritt. Wie es heißt
(Römer 10, 5-9):

Mose schreibt wohl von der Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt: „Welcher
Mensch dies tut, der wird dadurch leben.“ Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben
spricht also: „Sprich nicht in deinem Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren?“
(Das ist nichts anderes denn Christum herabholen.) Oder: „Wer will hinab in die
Tiefe fahren?“ (Das ist nichts anderes denn Christum von den Toten holen.) Aber
was sagt sie? „Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem
Herzen.“ Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen.
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IV DIE BEDEUTUNG DER SPRACHE MARIUS SCHNEIDERS IN DIESEN


UNTERSUCHUNGEN FÜR DIE MENSCHHEIT AUF DEM PLANETEN
ERDE

Ein Wort noch zu dem Ereignis, das dem Leser der Kosmogonie Marius
Schneiders zuteil werden kann, dem Ereignis der Sprache.

Wenn es in der Sprache des Menschengeschlechts vier Modi der Äußerung


gibt (wieder nach der Sprachlehre Eugen Rosenstock-Huessys):

den Imperativ: Tu das!


den Optativ: O daß ich tausend Zungen hätte!
den Narrativ: Es begab sich aber zu der Zeit
den Indikativ: So ist es

dann folgt daraus, daß ein Verständnis eines Textes nur dann vollständig
wird, wenn man den Imperativ mit vernimmt, der den Sprecher zu dem
Wort gebracht hat.

Dann erschließt sich auch, welche Wünsche sein Tun umkleidet,


vervielfältigt, auf den Weg gebracht und geschmückt haben.

Ist das offenbar, tritt der Leser in die Erzählung ein, die gemeinsame, die
beide, Sprecher wie Hörer (Schreiber wie Leser in abgeschwächter Form) mit
denen verbindet, von denen erzählt wird.

Und am Ende gibt es dann auch, wenn alle drei vorigen Modi zueinander
gehalten haben und nicht in Unsinn zerfallen sind, ein vorzeigbares
Ergebnis, das Existenzrecht über den Tod sowohl des Sprechers wie des
Lesers hinaus beanspruchen darf.

Der Imperativ erschließt sich am ehesten daraus, wie der Sprecher mit den
Namen umgeht. Stehen sie in der Anrede? Würdigt die Namensnennung,
daß jeder Name Schon-bekanntes wie Noch-nicht-bekanntes erklingen läßt?
Hebt der Sprecher die Namen über sein Haupt? (LITURGIE)

Der Optativ ist am merklichsten an der Fülle der Aspekte, der weiteren
Möglichkeiten, an dem Gefühl, in einem Meer von unendlicher Verheißung
zu schwimmen, aber dann auch an dem Anspruch der Teilnahme, die von
dem Hörer (oder Leser) verlangt wird: setzt er zum Verstehen die eigene
Erfahrung mit ein? Bereichert er das Gesagte mit dem bunten Tanz der
Vorstellungen, die verknüpfen und Linien bis ins Unendliche ausziehen? So
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dürfen die vielen Zitate aus den vedischen Schriften verstanden werden.
(POESIE)

Der Narrativ wird sofort fühlbar, wenn Hörer (oder Leser) sagen: Mea res
agitur – es geht um etwas, was mich angeht, was meine Beteiligung
unbedingt erfordert. Dann entsteht das anhaltende Interesse, das überhaupt
nur möglich macht, bis zuende zuzuhören, bis zum Ende zu lesen, ohne die
Beweglichkeit in bezug auf den Sinn des Ganzen zu verlieren. (LITERATUR)

Der Indikativ schließlich entscheidet darüber, ob etwas auf der Hand übrig
bleibt (wie ich in diesem Nachwort versuche, den Gehalt des ganzen Werkes
zu umreißen). Wenn man dann also sagen kann: Es hat sich gelohnt, es ist
etwas dabei herausgekommen, an das wir anschließen können.
(WISSENSCHAFT)

In dem Gebrauch der Namen kommt in Marius Schneiders Werk der Respekt
zum Ausdruck, den er den Trägern, den Sprechern zollt, woher sie auch
kommen (Namen der Stämme, der Sprecher – z. B. Ogotommeli von den
Dogon).

Dankbar reiht er sich in die Schar derer ein, die mit dem Hören auf das, was
man „außereuropäische Kulturen“ genannt hat, begonnen haben – um das
Hören auf das in Gang zu setzen, es zu vervollkommnen, was für das
Menschengeschlecht im Ganzen, rund um den Planeten Erde, wichtig war,
ist und sein wird (Namen der Forscher, auf deren Mitteilungen die Arbeit
aufruht, z. B. P. Cyrill von Korvin-Krasinski, Werner Müller, P. Wilhelm
Schmidt, G. Dieterlen, Hildegard von Bingen).

Getreulich werden die Götternamen u. ä. genannt und dem Leser zugemutet,


eine fast unübersehbare Fülle, bei der man vielleicht erst nicht einsieht,
warum der Wortlaut genannt werden muß. Er muß, weil eben in jedem
Namen eine völlig eigenartige Schwingung und damit eine eigenartige und
schätzbare Beziehung zu der geistigen Wirklichkeit leiblich wird.

An dem kühnen Schritt, die Zahlen in ihrer Qualität als Namensmächte zu


etablieren und die Erkenntnis des Lesers instand zu setzen, die bunte Fülle
des Erzählten auf den – letztendlich rhythmischen – Gehalt zu reduzieren,
erweist sich die Kraft, die namengebende Kraft selber zu üben.

Der Optativ wird in diesem Werk in vielen Aspekten vertreten, am


deutlichsten doch aber wohl in dem Anspruch, den die Abbildungen
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vorbringen: die abstrusesten Kombinationen von bildlichen Gegebenheiten


klären sich bei dem Vergleich mit dem Modell, das im Astrolabium mit
seinen qualifizierenden Positionen vorliegt. Dieses bunte Geflirr von
Mehrdeutigkeit in der Eindeutigkeit ist es denn auch, was dem Leser
vielleicht am meisten zu schaffen macht.

Es war Marius Schneiders Wunsch, daß die Abbildungen und das als Folie
zu gebrauchende Modell des Astrolabiums auf eine Größe von DIN A 3
reproduziert würden (nicht auf DIN A 4, wie in der von Frau Grajdian
vorgelegten Version), damit die stupende Genauigkeit der Bezüge, die im
Text ja deutlich genug beschrieben ist, auch evident genug wird.

Mit einemmale nämlich fällt ja ins Auge, wie die sich stark unterscheidende
Vielfalt der Darstellungen (besonders derer aus Mittel- und Südamerika)
doch auf demselben Schema beruht.

Daß es also wahr ist, was sowohl Johannes 1, 1 wie Genesis 1, 3 sagen: Gott
sprach – und es ward. Daß das Menschengeschlecht eines ist (vgl. auch die
Studie von Eduard Stucken, Polynesisches Sprachgut in Amerika und Sumer,
Leipzig 1927 und die Darstellung Edgar Dacqués, Urwelt, Sage und
Menschheit, 1924).

Der Narrativ fällt am meisten in den ausführlichen Märchen-Erzählungen ins


Auge, die dennoch so konzis gefaßt sind, daß sie in den Rahmen der
Darstellung gefügt sind. Meisterstück in dieser Beziehung die Erzählung von
den ägyptischen Gottheiten Isis, Osiris, Seth, Hathor usw. einmal in der
Form der Erzählung, dann in der Aufschlüsselung.

So wird der Leser also zum Hörer auf der gleichen Stufe wie der Autor! Das
gemeinsame Hören legt den Grund für die gemeinsame Arbeit an dem
„Stoff“.

Dieses gemeinsame Hören auf etwas, was substantiell nur als Klang, als
Sprache existiert, macht einen so großen Teil des Textes aus, daß darüber aus
dem Blick geraten kann, wie diszipliniert und sparsam-subtil Marius
Schneiders Text selber ist.

Man kann an der Klarheit dieses Stils gesunden.

Der Indikativ – also die Ergebnisse, die weitere Forschung eröffnen können –
sind so zahlreich, daß es schwer ist sie aufzuzählen.
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Daß die Oberton-Ordnung so eng mit den bildlichen Darstellungen


zusammenhängt (und dennoch – wie Marius Schneider nicht müde wird zu
erklären – noch nicht der lebendigen Rhythmus ist!), das ist mir erst mühsam
aufgegangen und verlangt dem Leser einige Geduld ab.

Das Kapitel über die Musikinstrumente gehört in Gold gefaßt in das


Repertoire jedes Musikforschers.

Der Ernst des Opfers des Atems als Urmodell für Leben und Tod
durchdringt das Mark des beharrlichen Lesers nach und nach, so daß er ihn
nicht mehr loswird.

Mit anderen Worten: das – unvollendet gebliebene – Werk ist so reich, daß
man jederzeit mit Gewinn zurückkehren kann, um das Wissen, das ins Leben
will, dabei zu festigen.

Dem soll das Register dienen, das ausdrücklich mit solcher Absicht verfaßt
ist.

Köln, 26. Februar 2014


Eckart Wilkens

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