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M2 Realistische Literatur aus dem 19.

Jahrhundert

Das Bettelweib von Locarno Heinrich von Kleist


„Am Fuße der Alpen, bei Locarno im oberen Italien, er herunterkam, fragte ihn, wie die Untersuchung
befand sich ein altes, einem Marchese gehöriges Schloss, abgelaufen; und da er sich, mit scheuen und ungewissen
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das man jetzt, wenn man vom St. Gotthard kommt, in Blicken, umsah und, nachdem er die Tür verriegelt,
Schutt und Trümmern liegen sieht: ein Schloss mit hohen versicherte, dass es mit dem Spuk seine Richtigkeit habe,
und weitläufigen Zimmern, in deren einem einst, auf Stroh, so erschrak sie, wie sie in ihrem Leben nicht getan, und bat
das man ihr unterschüttete, eine alte kranke Frau, die sich ihn, bevor er die Sache verlauten ließe, sie noch einmal, in
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bettelnd vor der Tür eingefunden hatte, von der Hausfrau, ihrer Gesellschaft, einer kaltblütigen Prüfung zu
aus Mitleiden, gebettet worden war. Der Marchese, der, bei unterwerfen. Sie hörten aber, samt einem treuen Bedienten,
der Rückkehr von der Jagd, zufällig in das Zimmer trat, wo den sie mitgenommen hatten, in der Tat, in der nächsten
er seine Büchse abzusetzen pflegte, befahl der Frau Nacht, dasselbe unbegreifliche, gespensterartige Geräusch;
unwillig, aus dem Winkel, in welchem sie lag, aufzustehn und nur der dringende Wunsch, das Schloss, es koste was
und sich hinter den Ofen zu verfügen. Die Frau, da sie sich es wolle, los zu werden, vermochte sie, das Entsetzen, das
erhob, glitschte mit der Krücke auf dem glatten Boden aus sie ergriff, in Gegenwart ihres Dieners zu unterdrücken und
und beschädigte sich, auf eine gefährliche Weise, das dem Vorfall irgendeine gleichgültige und zufällige
Kreuz; dergestalt, dass sie zwar noch mit unsäglicher Mühe Ursache, die sich entdecken lassen müsse, unterzuschieben.
aufstand und quer, wie es ihr vorgeschrieben war, über das Am Abend des dritten Tages, da beide, um der Sache auf
Zimmer ging, hinter dem Ofen aber, unter Stöhnen und den Grund zu kommen, mit Herzklopfen wieder die Treppe
Ächzen, niedersank und verschied. zu dem Fremdenzimmer bestiegen, fand sich zufällig der
Mehrere Jahre nachher, da der Marchese, durch Krieg und Haushund, den man von der Kette losgelassen hatte, vor
Misswachs, in bedenkliche Vermögensumstände geraten der Tür desselben ein; dergestalt, dass beide, ohne sich
war, fand sich ein florentinischer Ritter bei ihm ein, der das bestimmt zu erklären, vielleicht in der unwillkürlichen
Schloss, seiner schönen Lage wegen, von ihm kaufen Absicht, außer sich selbst noch etwas Drittes, Lebendiges,
wollte. Der Marchese, dem viel an dem Handel gelegen bei sich zu haben, den Hund mit sich in das Zimmer
© Schroedel, Braunschweig

war, gab seiner Frau auf, den Fremden in dem nahmen. Das Ehepaar, zwei Lichter auf dem Tisch, die
obenerwähnten, leerstehenden Zimmer, das sehr schön und Marquise unausgezogen, der Marchese Degen und
prächtig eingerichtet war, unterzubringen. Aber wie Pistolen, die er aus dem Schrank genommen, neben sich,
betreten war das Ehepaar, als der Ritter kam, hoch und setzen sich, gegen elf Uhr, jeder auf sein Bett; und
teuer versichernd, dass es in dem Zimmer spuke, indem während sie sich mit Gesprächen, so gut sie vermögen, zu
etwas, das dem Blick unsichtbar gewesen, mit einem unterhalten suchen, legt sich der Hund, Kopf und Beine
Geräusch, als ob es auf Stroh gelegen, im Zimmerwinkel zusammengekauert, in der Mitte des Zimmers nieder und
aufgestanden, mit vernehmlichen Schritten, langsam und schläft ein. Drauf, in dem Augenblick der Mitternacht, lässt
gebrechlich, quer über das Zimmer gegangen und hinter sich das entsetzliche Geräusch wieder hören; jemand, den
dem Ofen, unter Stöhnen und Ächzen, niedergesunken sei. kein Mensch mit Augen sehen kann, hebt sich, auf
Der Marchese, erschrocken, er wusste selbst nicht recht Krücken, im Zimmerwinkel empor; man hört das Stroh,
warum, lachte den Ritter mit erkünstelter Heiterkeit aus das unter ihm rauscht; und mit dem ersten Schritt: tapp!
und sagte, er wolle sogleich aufstehn und die Nacht, zu tapp! erwacht der Hund, hebt sich plötzlich, die Ohren
seiner Beruhigung, mit ihm in dem Zimmer zubringen. spitzend, vom Boden empor, und knurrend und bellend,
Doch der Ritter bat um die Gefälligkeit, ihm zu erlauben, grad als ob ein Mensch auf ihn eingeschritten käme,
dass er, auf einem Lehnstuhl, in seinem Schlafzimmer rückwärts gegen den Ofen weicht er aus. Bei diesem
übernachte, und als der Morgen kam, ließ er anspannen, Anblick stürzt die Marquise, mit sträubenden Haaren, aus
empfahl sich und reiste ab. Dieser Vorfall, der dem Zimmer; und während der Marchese, der den Degen
außerordentliches Aufsehen machte, schreckte, auf eine ergriffen: „Wer da?“ ruft und, da ihm niemand antwortet,
dem Marchese höchst unangenehme Weise, mehrere gleich einem Rasenden, nach allen Richtungen die Luft
Käufer ab; dergestalt, dass, da sich unter seinem eignen durchhaut, lässt sie anspannen, entschlossen,
Hausgesinde, befremdend und unbegreiflich, das Gerücht augenblicklich nach der Stadt abzufahren. Aber ehe sie
erhob, dass es in dem Zimmer, zur Mitternachtsstunde, noch nach Zusammenraffung einer Sachen aus dem Tore
umgehe, er, um es mit einem entscheidenden Verfahren herausgerasselt, sieht sie schon das Schloss ringsum in
niederzuschlagen, beschloss, die Sache in der nächsten Flammen aufgehen. Der Marchese, von Entsetzen
Nacht selbst zu untersuchen. Demnach ließ er, beim überreizt, hatte eine Kerze genommen und dasselbe,
Einbruch der Dämmerung, sein Bett in dem besagten überall mit Holz getäfelt wie es war, an allen vier Ecken,
Zimmer aufschlagen und erharrte, ohne zu schlafen, die müde seines Lebens, angesteckt. Vergebens schickte sie
Mitternacht. Aber wie erschüttert war er, als er in der Tat, Leute hinein, den Unglücklichen zu retten; er war auf die
mit dem Schlage der Geisterstunde, das unbegreifliche elendiglichste Weise bereits umgekommen, und noch jetzt
Geräusch wahrnahm; es war, als ob ein Mensch sich von liegen, von den Landleuten zusammengetragen, seine
Stroh, das unter ihm knisterte, erhob, quer über das weißen Gebeine in dem Winkel des Zimmers, von
Zimmer ging und hinter dem Ofen, unter Geseufz und welchem er das Bettelweib von Lorcarno hatte aufstehen
Geröchel niedersank. Die Marquise, am andern Morgen, da heißen.

(Aus: Sämtliche Novellen. München: Goldmann Verlag 1965. S. 166.)


M2 Realistische Literatur aus dem 19. Jahrhundert

A ■ Was soll die Spukerscheinung bedeuten? In welcher Beziehung steht das Auftreten der Spukerscheinung zum Tod der
Bettlerin?
B ■ Warum haben die Bauern des Dorfes die Gebeine des toten Grafen in dem Zimmer, in dem die Bettlerin gestorben ist,
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„zusammengetragen“, also ausgestellt?


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