Entwicklung des Gottesbildes im Alten Testament
Es ist eine unbestreitbare Grundtatsache, die wir
nie übersehen dürfen, dass auch Religionen - wie
alles andere, was zu uns Menschen gelangen will -,
5 Erscheinungen der Geschichte sind. Sie entwickeln
sich aus Anfängen. Sie leben auf. Sie setzen sich
gegen andere oder frühere Religionen durch. Sie
wandeln sich. Sie degenerieren. Sie nehmen
Fremdes auf, fremde Gedanken, fremde Rituale. Sie
10 reifen. Sie sterben ab oder werden von einer
anderen Religion aufgesogen. Und das alles in
Jahrtausenden. Sie sind, solange sie wahr sind, nicht
nur kenntlich an ihrem Stehvermögen, an ihrer
Kraft zu beharren, sondern vor allem und in erster
15 Linie an ihrer Wandlungsfähigkeit. Innerhalb
solcher Entwicklungen wandeln sich auch die Bilder,
die die Menschen sich von Gott machen oder die
ihnen von ihrer Religion gezeigt werden. Was nun
die Bibel betrifft, so ist diese Wandlungsfähigkeit
20 der Gottesvorstellungen mit Händen zu greifen.
David hat anders geglaubt als Abraham, und die
Wüstenwanderer der Mosezeit anders als die
Weisen des 2. Jahrhunderts vor Christus. Wir
missverstehen die Botschaft des Alten Testaments
25 aufs Gründlichste, wenn wir meinen, der Gott
Jakobs müsse dieselben Züge tragen wie der Gott
Jesajas. Gerade die Differenzen sind ein Zeichen
dafür, dass dieser Glaube die Menschen
bestimmter Zeiten konkret anging und betraf. Ich
30 sehe allein in den Jahrhunderten von Abraham bis
zur babylonischen Gefangenschaft, also vom 15. bis
zum 6. Jahrhundert vor Christus, eine ganze Folge
von Stufen der religiösen Entwicklung.
Denken wir einen Augenblick zurück in die
35 Bronzezeit, also in das 3. und 2. Jahrtausend vor
Christus. Neben den großen Stadtkulturen in
Mesopotamien und Syrien lebten dort wandernde
Hirtenvölker. Es bildeten sich die Kulte einerseits
für die mütterlich vorgestellten
40 Ackerbaugottheiten der sesshaften Völker und die
männlich gedachten Wandergottheiten
andererseits der Nomaden. Israel und seine Reli-
gion aber gehen auf charakteristische Weise auf die
Lebensformen und die Gottesvorstellungen der
45 nomadischen Völker jenes Raums zurück. So war
Gott für Abraham ein Begleiter auf seinen
Wanderungen. Gott war erfahrbar im Sturm oder
am nächtlichen Sternhimmel. Er war nicht einfach
„da" wie die Ackerbaugottheiten, die in der Erde
50 wohnten, ihn musste man rufen: „Komm!"„Hilf
uns!" Man hatte, eben weil man immer unterwegs
war, keinen Tempel, sondern baute nur hier und
dort einen Altar. Für diese Frühzeit war Gott der,
„der am Himmel reitet" (5. Mose 33,26). „Er reitet
55
auf schneller Wolke" (Jeremia 19,1). „Er reitet durch
die Steppe" (Psalm 68,5). Dieser Gott dürfte den
Namen „El Schaddaj" getragen haben.
60 Eine zweite Stufe mag man sehen: Im 12.
Jahrhundert vor Christus tritt ein anderer Gott ins
Blickfeld Israels. Er ist dem alten Clangott „Abrahams,
Isaaks und Jakobs" ähnlich, aber doch auch deutlich
von ihm verschieden. Er trägt den Namen „Jahwe".
65 Dass er mit dem Gott Abrahams nichts zu tun hatte,
drückt das Alte Testament so aus, dass es sagt:
„Abraham kannte ihn nicht" (2. Mose 6,3). Als Israel
nach Darstellung der Bibel um 1200 versklavt in
Ägypten lebte, begegnete Mose auf seiner Flucht zu
70 den Midianitern deren führender Gottheit „Jahwe"
und verband ihn mit dem Gott seiner Ahnen. Auch
dieser Wüstengott war ein Sturm- und Gewittergott,
der den Wüstenwanderern sagte, wann sie rasten
und wann sie aufbrechen sollten (4. Mose 9,18-23).
75 Zwischen diesem Gott und dem Volk Israel wurde nun
ein „Bund" geschlossen, der beide, Gott und die
Menschen, zu ausschließlicher Zuwendung und fester
Treue verpflichtete.
Eine dritte Stufe oder Phase, wenn wir so wollen:
80 Sie setzte ein, als um 1100 aus den Wüstenwanderern
Bauern wurden. Sie brauchten nun keinen
„Wegbegleitergott“ mehr, sondern einen, der
ihnen die Frucht ihrer Äcker gab und der an ihrem
Regierungssitz anzutreffen war. Gleichzeitig verband
85 man die Verehrung Jahwes mit der des Baal, des
Fruchtbarkeitsgottes der Syrer, und mit
Gottesvorstellungen und Ritualtexten der Kanaanäer.
Man übernahm die Kultstätten kanaanäischer
Gottheiten und widmete Gesänge von dort nun um auf
90 den Gott Israels. So dürfte der Psalm 29 ursprünglich
ein Psalm gewesen sein, der im Kult des Baal gesungen
wurde. Er wird bis heute in christlichen Gottes-
diensten gesprochen und hat nichts von seiner Kraft
verloren.
95 Eine vierte Stufe mag man in der
Davidsgeschichte finden. David, der junge Heerführer,
erlebte eines Tages, dass Saul, der regierende König,
ihm gegenüber von höchstem Misstrauen erfüllt war
und ihn gerne als lästigen Konkurrenten beseitigt
100 hätte. Er floh über die Grenze des Landes hinaus ans
Tote Meer und fluchte dort den Leuten, die ihn
zwangen, das Land zu verlassen und damit bei
fremden Göttern Zuflucht zu suchen: „Verflucht seien
die, die mich vertreiben aus dem Besitz Jahwes und
105 sagen: Fort! Diene anderen Götter!" (1. Samuel 26,19).
Für ihn war der brausende Wüstengott zu einem
eingegrenzten Landesgott geworden, der gerade in
der Wüste nicht mehr zuständig war, sondern eben
nur bis an den Rand des Staats. Und ähnlich emp-
110 fanden noch vierhundert Jahre nach David die
gefangenen Judäer in Babylon, von denen die
Bewacher verlangten, sie sollten ein Lied singen, wie
sie es am Tempel in Jerusalem gesungen hätten, und
die zur Antwort gaben: „Das geht doch nicht! Man
115 kann doch kein Lied für Jahwe singen auf fremder
 Erde!" (Psalm 137,4).
Eine fünfte Phase: Israel musste sein Bild
von Gott nicht nur deshalb verändern, weil es zum
ansässigen Bauernvolk wurde, sondern auch
120 deshalb, weil es einen Staat gründen musste, eine
Hauptstadt festlegen und eine Dynastie von
Herrschern einsetzen. So wurde ihnen Gott nun
zu dem, der die Sicherheit der Stadt
gewährleistete, die Kriege des Staats führte, die
125 Rechtsordnung im Lande schützte und eine
dauerhafte Dynastie sicherte. Dies alles sagt ein
Prophet dem David in einem Spruch von Gott zu.
Eine sechste Phase: Nach vierhundert Jahren
des Bestehens des jüdischen Staats ging Jerusalem in
130 Flammen auf und die Babylonier trieben die
Menschen durch die syrische Wüste nach Babylon,
wo sie als Gefangene und Arbeitssklaven fast fünfzig
Jahre lang lebten. Aber hier, gerade hier, am Ende
aller Träume, geschah unter den Juden der geistige
135 Aufbruch, der ihren Glauben und ihre
Gottesvorstellung auf eine Höhe führte, die in den
damaligen Zeiten ohne Beispiel war: die Erkenntnis
des Gottes, der die Welt erschaffen hat, neben den
andere Götter undenkbar wurden, dessen Wesen
140 sowohl das Licht umfasste als auch die Finsternis, das
Gute und das Böse. Die Erkenntnis jenes souveränen
Gottes, der über allem ist und in allem und dem der
Mensch mit seiner ganzen freien Zustimmung
gegenübertritt. In der Schöpfungsgeschichte wird
145 dieses Bild Gottes als Protest gegen die Götter des
babylonischen Reiches formuliert. In
Verstehensvorgängen von unglaublicher Freiheit
hat dieses Volk damals nicht nur seine Identität
gefunden, nicht nur eine Überlieferung von
150 tausend Jahren zugleich bewahrt und überwunden,
sondern hat vor allem einer schlechthin überlegenen
politischen und militärischen Macht, die es im Griff
hatte, den Anspruch des einen, großen, alles
prägenden Gottes entgegengestellt.
155 Man könnte fortfahren bis in die Zeit der
Weisheitsschriften in den letzten Jahrhunderten vor
Jesus und der apokalyptischen Bewegungen der Zeit
Jesu selbst. Immer wieder tritt ein neuer Aspekt der
Gottheit Gottes hervor. Das muss hier nicht
160 ausgeführt werden, die Beispiele mögen genügen.
Klar muss uns nur sein, dass es durchaus nicht ein
einheitliches und gleichbleibendes Bild von Gott ist,
das das Alte Testament uns zeigt, sondern dass es
Entwicklungen gab, auch Brüche und Mischungen. Das
165 aber ist sinnvoll, solange der Mensch als ein
geschichtliches Wesen sein Leben auf dieser Erde
führt, solange sein Glaube sich in Situationen
konstelliert, das Bild von Gott sich in immer wieder
anderen Lebensaufträgen spiegelt und ein
170 allmählicher Prozess hin zur Reife sich abspielt
Religionen wandeln sich. Sie klären, was sie anfangs
in archaischen Bildern erfassten. Sie weiten sich aus
einer anfänglichen Enge. Sie wachsen über den Zustand
eines Deutungsmusters, das für einen Clan galt, zu
175 einer verbindenden Kraft für ein Volk und zu einer
weltweit agierenden geistigen Kraft. Sie reformieren
sich, indem sie, was ihnen anfangs gegolten hatte,
wieder aufgreifen und in Geltung setzen. Sie heilen
aus, was Störungen oder Krankheit oder Zerstörung
180 war. Vielleicht gelangen sie mehr und mehr zu der
verborgenen Zielgestalt, die ihnen mitgegeben war.
Jörg Zink, Die Urkraft des Heiligen, Stuttgart 2003,
5.133-138
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