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Ricki Nusser-Müller-Busch (Hrsg)

Die Therapie des Facio-Oralen Trakts


Ricki Nusser-Müller-Busch (Hrsg)

Die Therapie des


Facio-Oralen Trakts
F.O.T.T. nach Kay Coombes

2. Auflage

Mit 94 zum Teil farbigen Abbildungen und 13 Tabellen


Mit Geleitworten von Kay Coombes und Prof. Dr. Peter Bülau

Mit Beiträgen von:


Jeanne-Marie Absil, Barbara Elferich, Petra Fuchs,
Karin Gampp Lehmann, Claudia Gratz,Wibke Hollweg, Silke Kalkhof,
Dr. med. Berthold Lipp, Jürgen Meyer-Königsbüscher, Doris Müller,
Ricki Nusser-Müller-Busch, Dr. med.Wolfgang Schlaegel,
Dr. med. Rainer O. Seidl, Heike Sticher, Daniela Tittmann,
Margaret Walker

123
Ricki Nusser-Müller-Busch (Hrsg)
Unfallkrankenhaus Berlin
Warener Straße 7
12683 Berlin

ISBN-13 978-3-540-49683-0 Springer Medizin Verlag Heidelberg

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Gedruckt auf säurefreiem Papier 22/2122/cb – 5 4 3 2 1 0
V

Geleitwort

Hirnveränderungen und ihre Folgen treten in sehr verschiedenen Formen und Schweregraden
auf. Die Folgen von Hirnschädigungen können sehr einschneidend sein. Die auslösenden Ur-
sachen sind verschiedener Art. An prominenter Stelle steht der Hirnschlag (und mit den Bemü-
hungen um eine angemessene Therapie nach Schlaganfall ist der Name »Bobath« verbunden).
Zusammenarbeit ist nötig:
4 Kooperation aller derjenigen, die den unmittelbar Betroffenen helfen,
4 Partnerschaft dieser »Helfer« untereinander und mit den Patienten sowie mit der Familie,
4 Verbindung zwischen den aktuellen Forschungsergebnissen und den Therapiemethoden
des Rehabilitationsteams.

Weltweit geht es darum, Menschen mit Hirnschädigungen ein sinnerfülltes Leben zu ermög-
lichen, so gut es unter den jeweiligen konkreten Bedingungen geht:
4 körperlich,
4 psychisch,
4 sozial.

Der für die »Facial Oral Tract Therapy« (F.O.T.T.) charakteristische Grundzug der Kooperation
kommt auch im Aufbau und in den Inhalten dieses Buchs zum Ausdruck. Diese in der Therapie
gelebte Philosophie ist durchwegs handlungsanleitend in den Beiträgen. Die Autorinnen und
Autoren kommen aus verschiedenen Fachrichtungen. Einige Texte entstanden als Gemein-
schaftswerk.
F.O.T.T. beschäftigt sich mit (Problemen beim)
4 Atmen,
4 (selbständigem) Essen und Trinken,
4 Schlucken und
4 verbaler und non-verbaler Kommunikation (besonders unter Einschluss des Gesichtsaus-
drucks und der Körpersprache).

Das grundlegende Konzept der F.O.T.T. wird nun in diesem Buch dargelegt und an relevanten
Behandlungsbeispielen aufgezeigt.
Dabei ist zu beachten, dass F.O.T.T. keine starre Übungsabfolge ist, sondern eine Anwendung
von Prinzipien, die auf der Physiologie des Menschen, den Neurowissenschaften und den Lern-
theorien basieren. F.O.T.T. begleitet so die Therapeutinnen und Therapeuten (einschließlich
Krankenpflege, ärztlicher Dienst und andere am Rehabilitationsprozess Beteiligte) bei der
Betreuung »rund um die Uhr«.
Behandlungsmethoden müssen maßgeschneidert sein, um die Bedürfnisse des individuel-
len Betroffenen zu treffen.Dabei ist unser aktuelles Wissen über normales und davon abweichen-
des Verhalten (nach Hirnschädigung) zu berücksichtigen – und dies bedeutet auch Zugriff auf
aktuelle Technologien für Menschen mit »Handicaps«. Technische Geräte zur »Alternative &
Augmentative Communication (AAC)« sind Beispiele hierfür.Dieses wichtige Thema wird in der
ersten Auflage dieses Buches noch nicht abgedeckt, doch wer in diesem Bereich tätig ist, wird
schnell erkennen können, wie wichtig und lohnend es ist, auch bei Auswahl, Einübung und Ver-
wendung von High-tech- oder Low-tech-Hilfsmitteln die F.O.T.T.-Grundeinsichten praktisch
umzusetzen.
VI Geleitwort

Oft passen die vorhandenen Fähigkeiten und die angebotenen Mittel nicht zusammen. So
sehen wir in der Praxis beispielsweise Rollstuhlfahrer, die damit kämpfen, den E-Rollstuhl mit
dem Joystick zu bewegen – ohne Möglichkeit,den Arm bei dieser Aufgabe abzustützen,und viel-
leicht wird dies noch durch instabile Fußstützen verschlimmert. Das vorhersagbare Resultat ist
steigender Tonus (durch die Kombination von fehlschlagenden Versuchen, den Körper zu stabi-
lisieren,auf Grund fehlender Balance,ohne angemessene dynamische Stabilität fehlschlagenden
Versuchen einer willkürlichen, gezielten Bewegung und innerem Erregungsaufbau durch die
Intention, sich anderen darüber mitzuteilen).
Kurz: Hier werden pathologischer Tonus und pathologische Handlungsmuster vertieft.
Diese aber sollten in der Rehabilitation »ent-lernt« werden, d. h., es ist nötig, hier gezielt zu
hemmen und günstigere Muster anzubahnen, und dazu kann F.O.T.T. beitragen. Denn ohne den
wirklich helfenden Eingriff gehen in diesem und anderen Fällen erhaltene Fertigkeiten verloren.
Diese »spontane« Entwicklung unterdrückt die bei richtiger Behandlung mögliche Besserung.
Für uns alle besteht die Verpflichtung, uns Rechenschaft abzulegen über unsere Vorgehens-
weisen bei Diagnose und Behandlung und über die Langzeitwirkung sowie die unmittelbar
sichtbaren Ergebnisse der Behandlung.
Wenn auf Grund medizinischer Fortschritte immer mehr Menschen auch schwere Schlagan-
fälle und schwere Hirnverletzungen überleben (mit schwergradigen und dauerhaften Behin-
derungen), ist auf der Seite der Rehabilitation die kontinuierliche Reflektion des Vorgehens und
die Evaluation immer wichtiger, um bestmöglichst helfen zu können.
Die Erforschung der Neurophysiologie normaler und gestörter Handlungsabläufe zeigt den
Weg zur wirkungsvolleren Prävention und/oder Intervention.Aber in der Realität gibt es immer
auch Verzögerungsgründe für die praktische Umsetzung des verbesserten theoretischen Ver-
ständnisses in der Therapie. Diese zeitlichen Verzögerungen müssen kürzer werden! Dazu kann
auch beitragen – und das ist Ziel dieses Buches –, die therapeutische Praxis präzise zu beschrei-
ben und sie zu erklären.
Die Beiträge entstanden aus Anlass des 1. F.O.T.T.-Syposiums im Oktober 2001 in Berlin.
TherapeutInnen (mich eingeschlossen) und Krankenpfleger sind nicht gerade voller Selbstver-
trauen, wenn es darum geht, eigene Erfahrung zu veröffentlichen. Ich persönlich stehe in der
Schuld all der Autorinnen und Autoren dieses F.O.T.T.-Buches: Es freut mich, wie die komplexe
und nicht leichte Aufgabe hier kooperativ gelöst wurde.

Kay Coombes
(deutsch von Dr.V. M. Roth)
VII

Geleitwort

Schluckstörungen nach einer Schädigung des ZNS können lebensbedrohlich sein. Bei gestörten
Schutzreflexen werden sie häufig übersehen. Unsachgemäße orale Ernährung führt zur Aspira-
tion, die erst nach Entwicklung einer Pneumonie klinisch auffällig wird.
Dieses Problem wird mit zunehmender Kenntnis pathophysiologischer Zusammenhänge
und intensiverer Betreuung der Patienten viel häufiger wahrgenommen. Insbesondere hat der
Paradigmenwechsel von Versorgungspflege zu rehabilitativer Pflege den Blick für neurologische
Funktionsstörungen geschärft. Das Verdienst von Kay Coombes, einer ausgewiesenen Sprach-
therapeutin, ist es nun, neben einer genauen Beobachtung und Beschreibung dieses Funktions-
defizits auch fundierte Behandlungsansätze entwickelt und perfektioniert zu haben. Dabei kann
sie sich auf die in der neurologischen Rehabilitation zusammengeführten vielfältigen Speziali-
sierungen und Kompetenzen der unterschiedlichen Berufsgruppen stützen.
Das von ihr entwickelte Konzept der Facio-Oralen Trakt Therapie (F.O.T.T.) beruht auf die-
ser breiten Interdisziplinarität.Die Autoren der hier publizierten Buchbeiträge repräsentieren so-
mit auch alle Fachgebiete, die in eine erfolgreiche Therapie einbezogen sind. Nur die Synergie
von Arbeiten am Schluckvorgang selbst, an der Atmung, der Stimme und der Körperhaltung
erlauben die bemerkenswerten Resultate dieser Therapie. Diese intensive Arbeit am Patienten,
oft nur als Doppelbehandlungen möglich, bindet große Personalressourcen der behandelnden
Institutionen. Dies ist in unserer heutigen Zeit der Fallpauschalen und Ausgabenbegrenzungen
nur sehr schwer zu vertreten. Deshalb ist es einerseits wichtig, die Behandlung durch begleiten-
de wissenschaftliche Studien in ihrer Evidenz zu belegen.Andererseits gilt es,langfristige gesund-
heitsökonomische Überlegungen anzustellen. Es muss der finanzielle Benefit durch die Verhin-
derung von Aspirationspneumonien oder durch frühzeitige Entwöhnung von Trachealkanülen
den Kosten der personalintensiven F.O.T.T. gegenübergestellt werden. Sowohl der Aspekt der
Evidence-based Medicine als auch der langfristige ökonomische Gewinn muss in engagierter
Lobbyarbeit gesundheitspolitisch vertreten werden.
Die Idee für dieses Buch entstand beim ersten internationalen F.O.T.T.-Symposium in
Deutschland. Heraus kam eine wertvolle, umfassende Darstellung des State of the Art der
Schlucktherapie bei neurologischen Patienten aus dem Blickwinkel aller beteiligter Berufsgrup-
pen. Dem Anliegen der Autoren, den Stellenwert der Schlucktherapie und der Rehabilitation des
gesamten fazio-oralen Trakts in Deutschland zu heben, wünschen wir viel Erfolg.

Prof. Dr. Peter Bülau


IX

Vorwort zur 2. Auflage

Drei Jahre nach der 1. Auflage und einem Nachdruck geht das F.O.T.T.-Buch in seine 2. über-
arbeitete Auflage. Dem Wunsch vieler Leser folgend sind die Fotos nun überwiegend farbig
abgedruckt. Zusätzlich wurden in einem weiteren Kapitel (Kap. 10) die Ergebnisse erster wissen-
schaftlicher Untersuchungen zur Wirkung von F.O.T.T.eingefügt.Teilergebnisse dieser Studie hat
Wibke Hollweg im Rahmen einer Diplomarbeit an der Universität Aachen im Diplomstudien-
gang Forschungs- und Lehrlogopädie im Jahr 2003 unter dem Titel »Eine Therapiestudie zur
Therapie des Facio-Oralen Trakt (F.O.T.T) bei neurogenen Schluckstörungen in der Akutphase
und Frührehabilitation« untersucht.
Damit soll zum einen die fortschreitende weitere Entwicklung von F.O.T.T. dokumentiert,
aber auch die kritische Auseinandersetzung mit diesem komplexen Therapieansatz gefördert
werden.

Ricki Nusser-Müller-Busch
Berlin, Januar 2007
XI

Vorwort zur 1. Auflage

Die Rehabilitation des fazio-oralen Trakts hat sich innerhalb der neurologischen Rehabilitation
vom »Niemandsland« zum vielbeachteten Bereich entwickelt. Das vorliegende Buch soll in das
Konzept der Therapie des Facio-Oralen Trakts (F.O.T.T.) einführen, das bei Patienten mit erwor-
bener Hirnschädigung Anwendung findet. Die Autorenschaft setzt sich aus den Referentinnen
und Referenten des 1. internationalen F.O.T.T.-Symposiums und Mitgliedern der Special interest
group (S.I.G.) F.O.T.T. International zusammen.
Die »Facial Oral Tract Therapy« wurde in den letzten 30 Jahren von der englischen Sprach-
therapeutin und Bobath-Tutorin Kay Coombes entwickelt, indem sie sprachtherapeutisches
Wissen mit dem Bobath-Konzept und den Erkenntnissen und Erfahrungen benachbarter Berufs-
zweige zusammenführte und daraus Behandlungsprinzipien für die Integration und Koordina-
tion der Funktionen des fazio-oralen Trakts ableitete.
Kay Coombes stellte als Berufsanfängerin in ihrer Arbeit mit Patienten mit Hirnschädigun-
gen fest, dass Physiotherapeuten oft bedeutend bessere Ergebnisse in der Sprechleistung ihrer
Patienten erzielten als sie, die »Expertin für Stimme, Sprechen …«. (Eine Erfahrung, die mich
übrigens auch – einige Jahre später – nach anderen Wegen als logopädischen Therapieansätzen
suchen ließ).Deshalb besuchte sie 1969 als eine der ersten Sprachtherapeutinnen einen 8-wöchi-
gen Bobath-Ausbildungskurs und arbeitete anschließend mit Kindern im Londoner Bobath-Zen-
trum, das von der Physiotherapeutin Berta Bobath und dem Psychiater und Neurologen Karel
Bobath nach ihrer Emigration aus Berlin in London gegründet und geleitet wurde. Dort und auf
vielen Reisen rund um die Welt haben das Ehepaar Bobath von den siebziger Jahren an – bis zu
ihrem gemeinsamen Tod 1991 – gelehrt. Ihr holistisches Therapiekonzept wurde und wird von
ihren Schülern weiterentwickelt. Stellvertretend verwiesen sei auf die Kindertherapeutin Nancy
Finnie und die heutige Senior Bobath-Instruktorin Pat Davies.
Berta Bobath zeigte sich zu Beginn mehr als skeptisch über das Ansinnen einer Sprach-
therapeutin, mit dem Bobath-Konzept arbeiten zu wollen. Kay Coombes erzählt, dass das Arbei-
ten mit den Bobaths eine Inspiration, aber nicht gerade bequem und entspannend (»relaxing«)
war.Anfangs verging kein Tag, an dem sie nicht Berties Stimme hörte: »Why are you continuing
with something that does not work?« („Warum machst du mit etwas weiter, das nicht wirkt?«)
Das sollte sich ändern! Im Laufe der Jahre hat Kay Coombes ein umfassendes, interdiszi-
plinäres Konzept für die Rehabilitation des fazio-oralen Trakts bei neurogenen Störungen
entwickelt, das sich eng am Alltag der Patienten und ihren bio-psycho-sozialen Bedürfnissen
orientiert. In der Therapie, die auch nach Möglichkeit die Angehörigen miteinbezieht, wird der
Tatsache Rechnung getragen,dass zentral bedingte Störungen von Haltung,Bewegung und Mus-
kelspannung das Schlucken, die Atmung, die nonverbale Kommunikation, die Stimmgebung
und das Sprechen nachhaltig und u.U. lebenslang beeinflussen.
Gemeinsam mit Weggefährten wie Pat Davies, mit der sie in den 80er Jahren die ersten Kur-
se in Bad Ragaz unterrichtete,hat sie damit die Neurorehabilitation entscheidend mitgeprägt.Seit
1993 werden von Kay Coombes Multiplikatoren ausgebildet. Diese erste Generation von F.O.T.T.-
Instruktoren kommen aus den Bereichen Physio-, Ergotherapie, Pflege und Sprachtherapie
und unterrichten die Grundkurse in Europa. Die Kurse in Japan werden gemeinsam mit Kay
Coombes gestaltet. Mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen und Erfahrungen prägen die In-
struktoren und die S.I.G. F.O.T.T. International gemeinsam das interdisziplinäre Konzept weiter.
XII Vorwort

Die F.O.T.T. steht, ebenso wie das Bobath-Konzept und viele andere Therapieansätze, erst am
Beginn eines Prozesses, in dem ihre klinische Effektivität noch wissenschaftlich untermauert
werden muss. In Zeiten sehr knapp werdender Ressourcen wird der Ruf nicht nur nach evidenz-
basierter Medizin (evidence-based medicine), sondern auch nach evidenzbasierter Praxis
(evidence-based practice) laut. Forschung tut not! Hier sollten neue Wege beschritten werden:
die Finanzierung von Therapieforschung, Forschungsstellen und Stipendien auch für nicht-
akademische Professionen!
Wer in diesem Buch Handlungsanweisungen im Sinne von Technikvermittlung oder festge-
legten Übungsangeboten erwartet, wird enttäuscht werden. Wer F.O.T.T. bisher als Schluck-
therapie oder nur als »Arbeit an der oralen Phase« oder gar nur als die Durchführung der
taktilen Mundstimulation kennen gelernt hat, erhält hier die Möglichkeit, die Vielschichtigkeit
des Konzeptes in einigen seiner Bereiche kennen zu lernen.
Die Persönlichkeit und Individualität der Menschen, der Patienten zu berücksichtigen
und ihre Probleme und Störungen effektiv zu behandeln, ist jeden Tag bei jedem Patienten eine
Herausforderung.Als Therapeutin,Pflegende,Arzt usw.offen und wach zu bleiben,ist dafür Vor-
aussetzung! Das heißt, Fragen zu stellen, unsere Arbeit auf die individuellen Probleme der an-
vertrauten Patienten abzustimmen und immer wieder unser Handeln mit anderen zu diskutie-
ren, zu reflektieren und ggf. zu ändern.
»The patients guide you in their treatment« (»Die Patienten führen uns in ihrer Behandlung«)
(Berta Bobath)

Ricki Nusser-Müller-Busch
Berlin, Februar 2004
XIII

Dankesworte

Mein Dank und der Dank aller »F.O.T.T.-Autorinnen« geht zu allererst an

Kay Coombes, die uns immer wieder aufs Neue mit Enthusiasmus lehrt, das physiologische
Wunder »Mensch« zu achten und seinen Geheimnissen nachzugehen und die uns Vorbild ist, in
ihrer Achtung und Respektierung der Patienten und ihrer Angehörigen.
Dass der Patient und sein Befinden 24 Stunden pro Tag im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen,
erfahren alle, die mit Kay Coombes Zeit verbringen können. Bis spät abends werden nach Kurs-
oder Supervisionsschluss noch stationäre und ambulante »Problem«-Patienten von ihr angese-
hen, d. h. behandelt. Die für ihre pünktliche Abreise »Verantwortlichen« – nicht selten Nerven-
zusammenbrüchen nahe – müssen Taxifahrer bei Laune halten, die dann hoffnungslos verspä-
tet in Richtung Flughafen rasen. Und wenn sie wieder einmal einen der Flüge nach Birmingham
verpasst hat, kann es sein, dass gute Freunde ihr Haus in der Zwischenzeit mit einem Trans-
parent geschmückt haben:
»Kay feeds the world«
Ein Konzept entwickelt sich durch die mannigfaltigen Impulse vieler Menschen, die einen Weg
gemeinsam gehen oder ihn begleiten. Wir danken stellvertretend
4 allen Kliniken und ihren Mitarbeitern, die mit uns gemeinsam an der Umsetzung des Kon-
zeptes arbeiten,für die vielen fruchtbaren Diskussionen und die Unterstützung,die wir auch
als Special interest group S.I.G. F.O.T.T.-International von Seiten der Verwaltungen erfahren.
Allen voran sei das Therapiezentrum Burgau (TZB) genannt mit den Klinikchefs Dr.Lipp und
Dr. Schlaegel,
4 Chefarzt Prof Dr. Bülau für das Geleitwort und der Westerwald Klinik Waldbreitbach für die
Unterstützung in der Sache,
4 Chefarzt Prof. Dr. Meier-Baumgartner und dem Albertinen-Haus Hamburg, das maßgeblich
an der Implementierung des Bobath- und F.O.T.T.-Konzeptes im norddeutschen Raum
beteiligt war und ist.

Aber was wären diese Kliniken ohne ihre hervorragenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?
Stellvertretend seien genannt:
4 Barbara Kuhlmann, Logopädin am Albertinen-Haus Hamburg, eine der deutschen Pionier-
innen der F.O.T.T,
4 Karen Nielsen, als Leiterin der Therapie-Abteilung im Therapiezentrum Burgau verantwort-
lich für die Qualität der therapeutischen Arbeit im TZB,
4 Annette Schneider, Leiterin des erfolgreichen Schulungszentrum im TZB, das eine qualita-
tiv hochwertige Ausbildungsstätte im Bereich neurologische Rehabilitation ist,
4 die Bobath Instruktorinnen Heidi Lessig, Reha Nova Köln, Bettina von Bidder, REHAB Basel,
und Heidrun Pickenbrock, St. Barbara Hospital Gladbeck, für ihre unerlässlichen Hilfen
und Diskussionsfreudigkeit. Und – last but really not least – Senior Bobath-Instruktorin Pat
Davies für ihre Ermutigung im November 2001, dieses Buch zu schreiben!
XIV Dankesworte

Wir lernen jeden Tag, ganz besonders von Patienten wie Daniel, die uns lehren, das alltagsrele-
vante Konzept besser zu verstehen und umzusetzen!
Bei der Realisierung dieses Buches haben uns viele Personen unterstützt und das Ergebnis
mitgestaltet. Gedankt sei:
4 »unseren Fotografen« Bernd Milkereit, Thorsten Megele und Rainer Högl (Video- und
Dokumentationsabteilung des TZB), Nicolas Lerch (Videoabteilung REHAB Basel) und
Silke Lehmann (Ergotherapeutin, Klinik Bavaria Kreischa), die an der Erstellung einer nicht
unerheblichen Anzahl von Patientenfotos beteiligt waren. Frau OÄ Dr. Christiane Laun,
Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Unfallkrankenhaus Berlin, für die freund-
liche Überlassung der Aufnahmen zur Punktionstracheotomie in Kapitel 6 und Menschen
wie Frank Winkler, die die elektronische Bildbearbeitung »fazilitiert« haben;
4 Marga Botsch, Heidrun Becker und Claudia Wallmann vom Springer Verlag für ihre profes-
sionelle Unterstützung dieses Vorhabens und ihre Geduld;
4 Unseren Lebenspartnern, Familien, Freundinnen und Freunden, Menschen, die uns Frei-
raum, aber auch »Unterstützungsfläche und dynamische Stabilität« gaben – »who kept us
sane«.

Das vorliegende Buch ist in der Freizeit entstanden, an unzähligen Abenden bis tief in die Näch-
te – nach der täglichen Arbeit,an Wochenenden,… sozusagen ein (Neben)Produkt des täglichen
Lebens (»PtL«).
Wir gingen schwanger mit dem Buch. Eine Zeit, die zwar auch an eine Schwangerschaft und
Geburt erinnerte, aber eigentlich noch viel mehr an die doch anstrengenden Monate danach.
Margaret Walker, »Kiwi in Schwaben«, verzweifelte daran, dass die deutschen Übersetzun-
gen ihres englischen Manuskripts ihrer Meinung nach nie das widerspiegelten, was mit der en-
glischen Sprache so prägnant auf den Punkt gebracht werden kann. Sie freut sich also schon auf
eine englische Ausgabe dieses Buches! Ihrem »Übersetzer« Hartmut Bunse sei besonders
gedankt. Es liegt nicht an ihm, sondern an der Sperrigkeit der deutschen Sprache, wenn »Kiwi«
sich beschwert …
Silke Breternitz, die neben der Leitung der Logopädie-Abteilung der Median-Klinik Grün-
heide, ebenso wie Margaret Walker noch »nebenbei« ihre Instruktoren-Ausbildung in England
absolviert.
Doris Müller, die ihren eigenen Haltungshintergrund und ihr Körper-Alignment beim regel-
mäßigen Bauchtanztraining dynamisch in Schwung hält, deren Lebensmittelpunkt Dresden
während des Kapitelschreibens in den Fluten versank, … und die gemeinsam mit
Heike Sticher,bis November 2002 langjährige und verdienstvolle Secretary der S.I.G. F.O.T.T.
International, in dieser Zeit noch die kulturellen Unterschiede – nicht nur der Nahrungsaufnah-
me und nonverbalen Kommunikation – in Kursen in Japan erfahren und studieren konnte.
Jeanne Marie Absil, als »niederländische Schweizerin« fähig, das Konzept in mehreren Spra-
chen zu unterrichten, deren Computer in dieser Zeit den Geist aufgab und die – dem Himmel sei
Dank – einen schweren Autounfall weitgehend unversehrt überstand.
Petra Fuchs, die ihre Flexibilität bei mehrmaligen Wohnungswechseln in London und durch
regelmäßiges »Jetten« über den Kanal und nach »Down under« unter Beweis stellte.
Daniela Tittmann, unsere an Jahren jüngste „Schluckschwester» mit sehr ausgereiften, über-
zeugenden didaktischen Fähigkeiten, die sich hervorragend bei Tai Bo abreagieren kann, aber
auch innerhalb einiger Wochen ihr Leben umkrempelte und jetzt als Supervisorin in Kopen-
hagen unsere dänischen F.O.T.T.-Kolleginnen unterstützt.
XV
Dankesworte

Jürgen Meyer-Königsbüscher, der den organisatorischen Aufbau von FOrmaTT, Organisa-


tion der F.O.T.T.-Kurse in Europa, mitgestaltete.
Barbara Elferich, die beim Aufbau von FOrmaTT nicht nur organisatorisch sondern auch in-
haltlich aktiv war, so »nebenbei« noch ein geeignetes Domizil in einer größeren süddeutschen
Stadt suchte und fand, zwei Umzüge durchführte und ihre »ambulante« Wochenendbeziehung
in eine »stationäre« umwandeln konnte. Und selbstverständlich dabei noch einen geordneten
Weggang aus Burgau hinlegte, um in einem neuen Arbeitsgebiet »die Ärmel hochzukrempeln«!
Und den ärztlichen Autoren, Dr.Wolfgang Schlaegel, Dr. Berthold Lipp und Dr. Rainer Seidl?
Ging es ihnen besser? … Nun ja, einige haben Frauen im Hintergrund, denen in solchen Worten
dann immer gedankt wird (»Ohne sie …«). Aber auch hier hieß es, nach einem 10–12 Stunden-
Kliniktag: Ran den Schreibtisch.
Ich danke Rainer Seidl, meine permanenten wie penetranten Änderungswünsche für das
gemeinsame Kapitel ausgehalten zu haben.
Und dann noch der hehre Versuch, Menschen unserer Lebensgemeinschaften nicht zu ver-
nachlässigen, was da heißt, unser Wichtigstes – Kinder – mit Liebe und Fürsorge zu begleiten.
Ein Hoch auf unsere Mütter mit Kleinkindern, die nicht nur im übertragenen Sinne, sondern in
vivo schwanger gingen. F.O.T.T. ist eben ein alltagsorientierter Ansatz!
Karin Gampp Lehmann hat hier Extremes geleistet. Während des Schreibens noch einen
neuen Eidgenossen zu gebären, in die Familie zu integrieren und die Aufgaben in der Gemein-
schaftspraxis nicht zu vernachlässigen, ist gleichzusetzen mit den Leistungen bei einem Triath-
lon Marke Ironman Hawaii – nur länger andauernd.
Und auch Claudia Gratz, die just in dieser Zeit ihre 3-köpfige Familie mit fast ebenso
vielen Haustieren noch mal zu vergrößern begann. Mal sehen, wer früher da ist, N. N. oder
das Buch …?

Ricki Nusser-Müller-Busch
XVI Hinweis/Abkürungen

Hinweise

Die Bezeichnung F.O.T.T. wurde durch die Urheberin des Therapiekonzeptes Kay Coombes
geschützt, welches auch durch die Schreibweise F.O.T.T.® verdeutlicht wird. Um den Lesefluss
nicht zu beeinträchtigen haben wir die Schreibweise ohne Trademarkzeichen »®« gewählt.
Zur besseren Lesbarkeit wird im Text häufig nur eine Geschlechtsbezeichnung benutzt. Die
Autorinnen und Autoren haben sich jeweils für die männliche oder weibliche Form entschieden.
Es sind jedoch immer beide Geschlechter gemeint.
XVII

Inhaltsverzeichnis

»Erde an Daniel …« 1 2.2.2 Brustwirbelsäule – Halswirbelsäule –


Schulterblatt – Os hyoideum 35
1 Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – 2.2.3 Halswirbelsäule – Os hyoideum 35
komplex – alltagsbezogen 3 2.2.4 Os temporale – Os hyoideum 36
Ricki Nusser-Müller-Busch 2.2.5 Mandibula – Os hyoideum 37
1.1 Menschliches Bewegungsverhalten 4 2.2.6 Zunge – Os hyoideum 37
1.1.1 Normale Bewegungsmuster 4 2.2.7 Larynx – Os hyoideum 38
1.1.2 Abnorme Bewegungsmuster 6 2.2.8 M. Cricopharyngeus – Os hyoideum 38
1.2 Was tun, wenn die Problemlösungsmaschine – 2.3 Therapie 40
genannt ZNS – gestört arbeitet? 8 2.3.1 Physiologische Bewegungen
1.2.1 Ein konzeptioneller Ansatz und Ausgangsstellungen 40
bei zentralen Läsionen 8 2.3.2 Patientenbeispiele 41
1.2.2 Konsequenzen Literatur 44
für das therapeutische Vorgehen 9
1.2.3 Konzept versus Technik – ein Beispiel 10 3 Nahrungsaufnahme –
1.3 Die Therapie des Facio-Oralen Trakts 12 mehr als Schlucken 45
1.3.1 Die therapeutische Situation 12 Doris Müller, Jürgen Meyer-Königsbüscher
1.3.2 Die Aufgabenstellung und Jeanne-Marie Absil
in den verschiedenen Krankheitsphasen 13 3.1 Normale Nahrungsaufnahme 46
1.3.3 Die vier Bereiche der F.O.T.T. 16 3.2 Nahrungsaufnahme
1.4 Das interdisziplinäre 24-Stunden-Konzept 21 bei neurologischen Patienten 47
1.4.1 Individuelle und multidisziplinäre 3.2.1 Typische Probleme beim Essen und Trinken 48
therapeutische Kompetenz 21 3.2.2 Die Nahrungsaufnahme wird unsicher 48
1.4.2 Das interdisziplinäre Team 22 3.3 Wann ist die Nahrungsaufnahme
1.4.3 Der 24-Stunden-Tag 22 ausreichend sicher? 49
1.5 Nutzen und Kosten 23 3.3.1 Nahrungsaufnahme ist mehr
1.5.1 »Wer A sagt, muss auch B sagen!« 23 als die pharyngeale Phase 49
1.5.2 »Wer A und B sagt, muss auch C, D, E, 3.3.2 Die Schlucksequenz 51
und F sagen!« 24 3.3.3 Funktionelle Zusammenhänge erkennen 54
1.6 Ausblick 25 3.4 Sichere Nahrungsaufnahme
Literatur 26 ist mehr als Schlucken 56
3.4.1 Sicherheitsrelevante Aspekte 56
2 Haltungshintergrund 27 3.4.2 Die Bewertung sicherheitsrelevanter
»Wir schlucken mit dem Becken …« Faktoren 57
Heike Sticher und Karin Gampp Lehmann 3.5 Voraussetzungen
2.1 Grundlagen Physiologie/Haltung 28 für orale Nahrungsaufnahme erarbeiten 61
2.1.1 Haltungshintergrund 28 3.5.1 F.O.T.T. beginnt frühzeitig 61
2.1.2 Motorisches Lernen 31 3.5.2 Therapeutisches Essen 62
2.1.3 Dynamische Stabilität 32 3.6 Assistierte Mahlzeiten 69
2.2 Grundlagen Anatomie/Physiologie Schlucken 32 3.6.1 Überlegungen zur Gestaltung der Situation 70
2.2.1 Os hyoideum 32 3.6.2 Vorbereitung der assistierten Mahlzeit 70
XVIII Inhaltsverzeichnis

3.6.3 Therapeutische Hilfen bei der Mahlzeit 71 5.3 Stimme 124


3.6.4 Nachbereitung der Mahlzeit 73 5.3.1 Zentrale Steuerung der Stimmgebung 125
3.6.5 Assistierte Mahlzeiten 5.3.2 Aspekte aus Anatomie und Physiologie 125
und enterale Ernährung 74 5.4 Einfluss von Körperhaltung
3.6.6 Zusammenfassung 74 und Muskeltonus 127
Literatur 75 5.5 Grundsätzliche Überlegungen
und Behandlungsprinzipien in der F.O.T.T. 128
4 Mundhygiene in der F.O.T.T.: 5.6 Typische Probleme von Patienten
therapeutisch – strukturiert – mit Hirnschädigung
regelmäßig 77 und einige Lösungsansätze 130
Barbara Elferich und Daniela Tittmann 5.6.1 Zentrale Störungen der Atmung 130
4.1 Aus der Geschichte der Mundhygiene 78 5.6.2 Probleme mit Haltung und Bewegung 130
4.2 Probleme bei Patienten 5.6.3 Weitere Probleme,
mit erworbener Hirnschädigung 79 die die Atmung beeinflussen 132
4.2.1 Primärprobleme nach Hirnschädigung 5.6.4 Auswirkungen pathologischer Atmung
und Lösungsansätze 79 auf Stimme und Sprechen 135
4.2.2 Sekundärprobleme nach Hirnschädigung 5.7 Ausgangsstellungen für die Behandlung 140
und Lösungsansätze 83 Literatur 145
4.3 Die Mundhygiene in der F.O.T.T. 89
4.3.1 Der Prozess von Befundung 6 Die Trachealkanüle:
und Behandlung 90 Segen und Fluch 147
4.3.2 International Classification of Functioning, Rainer O. Seidl und Ricki Nusser-Müller-Busch
Disability and Health 93 6.1 Indikationen zur Tracheotomie 148
4.3.3 Vorgehen bei der therapeutischen 6.2 Arten der Tracheotomie 149
Mundhygiene 95 6.2.1 Temporäre Tracheotomie 149
4.4 Hilfsmittel für die Mundhygiene 6.2.2 Plastische Tracheotomie 151
bei neurologischen Patienten 105 6.2.3 Komplikationen der Tracheotomie 153
4.4.1 Reguläre Hilfsmittel 105 6.3 Arten der Trachealkanüle 153
4.4.2 Therapeutische Hilfsmittel 107 6.3.1 Blockbare Kanülen 153
4.4.3 Kontraindizierte Hilfsmittel 6.3.2 Nichtblockbare Kanülen 155
bei neurologischen Patienten 108 6.3.3 Sonstige Kanülen 157
4.5 Mundhygiene – eine multidisziplinäre 6.3.4 Kanülenzubehör 157
Aufgabe 110 6.4 Trachealkanülenwechsel
4.6 Angehörigenarbeit – eine individuelle und Tracheostomapflege 157
Prozessbegleitung 113 6.4.1 Einsetzen und Befestigen
4.6.1 Prozessbegleitung 114 der Trachealkanüle 157
4.6.2 Angehörigenanleitung 6.4.2 Wechsel der Trachealkanüle 158
am Beispiel Mundhygiene 115 6.4.3 Pflege von Trachealkanülen
Literatur 117 und Tracheostomas 159
6.4.4 Komplikationen am Tracheostoma 160
5 Atmung und Stimme: 6.4.5 Komplikationen an der Trachea 162
wieder sprechen … 119 6.5 Trachealkanülen und Schlucken 163
Silke Kalkhof und Margaret Walker 6.6 Entfernung der Trachealkanüle 166
5.1 Atmung 120 6.6.1 Indikationen zur Entfernung
5.1.1 Zentrale Steuerung der Atmung 120 einer Trachealkanüle 166
5.1.2 Aspekte aus Anatomie und Physiologie 121 6.6.2 Entfernung der Trachealkanüle 167
5.2 Atem-Schluck-Koordination 123 Literatur 167
XIX
Inhaltsverzeichnis

7 Trachealkanülen-Management 9 F.O.T.T.: Mythos oder messbar? 205


in der F.O.T.T. – Der Weg zurück Petra Fuchs
zur Physiologie 173 9.1 Studiendesigns 206
Heike Sticher und Claudia Gratz 9.1.1 Nachweis der Therapiewirksamkeit 206
7.1 Grundlagen: Physiologie 170 9.1.2 Gruppendesigns 208
7.1.1 Normale Atmung 170 9.1.3 Einzelfalldesigns 209
7.1.2 Schutz- und Reinigungsmechanismen 173 9.2 Das F.O.T.T. Assessment Profile 213
7.1.3 Atem-Schluck-Koordination 174 9.2.1 Entstehungsgeschichte 213
7.2 Grundlagen: Pathophysiologie 174 9.2.2 Beschreibung
7.2.1 Veränderungen der Atmung 175 des F.O.T.T. Assessment Profile 214
7.2.2 Abnormale Haltung und Bewegung 175 9.2.3 Inhaltliche Validität
7.2.3 Trachealkanülen und ihre Auswirkungen 176 und Inter-Rater Reliabilität 216
7.3 Therapie 177 9.3 Studiendesign für F.O.T.T. 218
7.3.1 Grundgedanken 178 9.3.1 Ausarbeiten der Fragestellung 218
7.3.2 Behandlungspositionen 179 9.3.2 Design 218
7.3.3 Reinigung des Atem-Schluck-Trakts 179 9.3.3 Studienteilnehmer 219
7.3.4 Therapeutisches Absaugen 181 9.3.4 Instrumente 219
7.3.5 Therapeutisches Entblocken 182 9.3.5 Datenerhebung 219
7.3.6 Therapeutisches Vorgehen 9.3.6 Datenanalyse 220
nach der Entblockung 182 Literatur 221
7.3.7 Interdisziplinäre Zusammenarbeit 185
Literatur 186 10 Pilotstudie zu F.O.T.T. bei
neurologischen Patienten 223
8 Das F.O.T.T.-Konzept in der Rainer O. Seidl, Wibke Hollweg
neurologischen Rehabilitation und Ricki Nusser-Müller-Busch
am Beispiel TZB 10.1 Methode 224
(Therapiezentrum Burgau) 189 10.1.1 Beobachtungszeiträume 224
Wolfgang Schlaegel und Berthold Lipp 10.1.2 Therapie- und Untersuchungsablauf
8.1 Strukturen 190 am Behandlungstag 224
8.1.1 Personal 190 10.1.3 Untersuchungsverfahren 225
8.1.2 24-Stunden-Konzept 192 10.2 Ergebnisse 226
8.1.3 Standards 193 10.2.1 Verlauf über den Behandlungszeitraum 226
8.2 Dokumentation und Statistik 195 10.2.2 Verlauf am Behandlungstag 227
8.2.1 Dokumentation 195 10.3 Diskussion 228
8.2.2 Statistik 195 10.3.2 Patienten 229
8.3 Diagnostik 196 10.3.3 Zielparameter 230
8.3.1 Abklärung von Schluckstörungen 196 10.3.4 Verlauf über den Behandlungszeitraum 230
8.3.2 Apparative Schluckdiagnostik im Vergleich 197 10.3.5 Verlauf am Behandlungstag 231
8.3.3 Der Stellenwert der Laryngoskopie 197 Literatur 231
8.3.4 Poststationäre Nachuntersuchungen 200
8.4 Fortbildung 201 11 Glossar 233
Literatur 202
12 Fort- und Weiterbildungs-
möglichkeiten 241

Sachverzeichnis 245
XXI

Autorenverzeichnis

Jeanne-Marie Absil Karin Gampp Lehmann Dr. med. Berthold Lipp


Pflegefachfrau Physiotherapeutin Chefarzt
F.O.T.T.®-Senior Instruktorin qualif. Therapeutin für Therapiezentrum Burgau
Instruktorin für Dysphagie craniosacrale Osteopathie Dr.-Friedl-Straße 1
Rehaklinik Bellikon S.I.G. F.O.T.T. International 89331 Burgau
5454 Bellikon, Schweiz Sandbühl 26 E-Mail: b.lipp@
E-Mail: 3122 Kehrsatz, Schweiz therapiezentrum-burgau.de
absil@formatt.org E-Mail: karin.gampp@bluemail.ch
Dipl.-Päd.
Prof. Dr. Peter Bülau Claudia Gratz Jürgen Meyer-Königsbüscher
Ärztlicher Direktor Ergotherapeutin Diplompädagoge
Westerwaldklinik Waldbreitbach F.O.T.T.®-Senior Instruktorin F.O.T.T.®-Instruktor
Schwerpunktklinik Neurologie und Supervisorin F.O.T.T. Leiter Abt. Stimm-
Psychosomatik Therapiezentrum Burgau und Sprachtherapie
Klinikstraße 1 Dr.-Friedl-Straße 1 Hardtwaldklinik I
56588 Waldbreitbach 89331 Burgau Hardtstraße 31
E-Mail: buelau@t-online.de E-Mail: gratz@formatt.org 34596 Bad Zwesten
E-Mail: me-koe@formatt.org
Barbara Elferich Wibke Hollweg
Ergotherapeutin Diplom-Logopädin Doris Müller
F.O.T.T.®-Senior Instruktorin Sechzigstraße 85 Ergotherapeutin
Am Schwarzenberg 14 50733 Köln F.O.T.T.®-Senior Instruktorin
97078 Würzburg E-Mail: Wibke.Hollweg@t-online.de Fachl. Leitung Ergotherapie
E-Mail: elferich@formatt.org Klink Bavaria II
Silke Kalkhof An der Wolfsschlucht 1-2
Petra Fuchs Dipl. Stimm- und Sprachtherapeutin 01731 Kreischa
Logopädin F.O.T.T.®-Instruktorin E-Mail: mueller@formatt.org
MSc in Human Communication Ltd. Therapeutin der Abteilung
Route de Corps-Nuds Logopädie Ricki Nusser-Müller-Busch
35230 Saint Armel, Frankreich MEDIAN Klinik Grünheide Logopädin
E-Mail: pfuchs2000@yahoo.co.uk An der Reha-Klinik 1 F.O.T.T.®-Instruktorin
15537 Grünheide Leitung Logopädie
E-Mail: silke.kalkhof@freenet.de Abt. für physikalische Therapie
und Rehabilitation
Unfallkrankenhaus Berlin
Warener Straße 7
12683 Berlin
E-Mail: rnmb@formatt.org
XXII Autorenverzeichnis

Dr. med. Rainer O. Seidl Daniela Tittmann Dr. med. Wolfgang Schlaegel
Stellv. Klinikdirektor Ergotherapeutin Leiter Schluckzentrum am
Klinik für Hals-, Nasen-, F.O.T.T.®-Senior Instruktorin Therapiezentrum Burgau
Ohrenheilkunde, Kopf- Fachliche Anleiterin Dr.-Friedl-Straße 1
und Halschirurgie Abteilung Neurorehabilitation 89331 Burgau
Unfallkrankenhaus Berlin Hvidovre Hospital E-Mail: w.schlaegel@
Warener Straße 7 Kettegård Allé 30 therapiezentrum-burgau.de
12683 Berlin 2650 Hvidovre, Dänemark
E-Mail: ROSeidl@UKB.DE E-Mail: tittmann@formatt.org

Heike Sticher Margaret Walker


Physiotherapeutin Ergotherapeutin
F.O.T.T.®-Senior Instruktorin F.O.T.T.®-Instruktorin
Supervisorin F.O.T.T. ARCOS Whitbourne Lodge
REHAB Basel 137 Christ Street
Im Burgfelderhof 40 Malvern, WR 14 2 AN
4055 Basel, Schweiz Great Britain
E-Mail: sticher@formatt.org E-Mail: kiwi.in.schwaben@web.de
1
Erde an Daniel ...

»Erde an Daniel …« Mit therapeutischer Unterstützung des Haltungshinter-


Daniel, ein 22-jähriger Patient mit Zustand nach Schädelhirn- grundes und der Ausatmung kommt ein tiefer Seufzer. Weite-
trauma auf der neurologischen Intermediate Care (Wach- rer Input ist gefragt! Die Therapeutin »designt« die Aus-
station), ist seit heute – tagsüber – mit einer Sprechkanüle gangsposition der co-therapierenden Freundin: Maus setzt
versorgt. Seine Reaktionen sind noch sehr verlangsamt, er sich seitlich sehr nahe zu Daniel hin. Die Therapeutin führt
versteht und zeigt erste Ansätze, sprechen zu wollen. Er kann seinen Arm und berührt mit seiner Hand das Maus-Gesicht,
aber Stimmgebung und Sprechbewegungen noch nicht ko- ihren Hals, ihre Arme und Hände. Nach einiger Zeit fordert sie
ordinieren. Auch die Schluckfrequenz ist herabgesetzt. An Maus/Erde auf, Daniel einen Kuss zu geben – und siehe da –
orale Nahrungsgabe ist noch nicht zu denken. Seine Freundin nach einer nur leicht verlängerten Verarbeitungszeit kommt
ist zu Besuch und in der Therapie anwesend. die motorische Antwort: eine schwache, aber eindeutige
Es wird streng dogmatisch nach den Prinzipien der Aktivität des M. orbicularis oris, die Lippen werden gespitzt.
Therapie des Facio-Oralen Trakts (F.O.T.T.) vorgegangen: Nach dieser erfolgreichen Bahnung ist die F.O.T.T.-Thera-
peutin nun nicht mehr zu bremsen:
Einbeziehen der Angehörigen in die Therapie
Die F.O.T.T.-Therapeutin geht davon aus, dass die Freundin Einsatz von Hilfen nach den Prinzipien
mehr zur Steigerung der Wachheit des Patienten beitragen des motorischen Lernens
kann als sie selbst, die vom Alter her Daniels Mutter sein Eine Kombination von Hilfen bietet sich an: Neben den takti-
könnte. len Hilfen kommt nun additiv auch verbaler Input zum Ein-
Sie erfragt vorab Vorlieben ihres Patienten und den Na- satz: »Jetzt soll Daniel Erde einen Kuss geben«. Erde hält ihr
men seiner Partnerin. Zum besseren Verständnis der folgen- Gesicht hin – und Hase küsst seine Erde (so in etwa). Wieder-
den Situation: Die Freundin nennt Daniel »Hase« und er sie holt!
wahlweise »Erde« oder »Maus«.
Therapieevaluation und Hypothesenbildung
Ausgangsposition Nach Evaluierung der therapeutischen Situation baut die
Daniel ist »geschafft«, da er in der Physiotherapie heute zum F.O.T.T.-Therapeutin konsequent ihre Hilfen ab und lässt die
ersten Mal wieder aufrecht gestanden hat. Er sitzt mit ge- beiden unter Bildung folgender Hypothese alleine: Erde und
schlossenen Augen gut gelagert in einem Sessel. Seine junge Maus werden – »hands-on« – die alltagsrelevante Therapie
Freundin hat verständlicherweise andere Erwartungen. »Erde fortführen bzw. das in der Therapie Wieder-erfahrene im All-
an Daniel … nicht schlafen, ich bin doch jetzt da …«. tag umsetzen! Die Übergänge sind hier fliessend...
Fazilitation im Sinne des sensomotorischen Regelkreises Hoffentlich ist Erde morgen wieder da...
unter Berücksichtigung der Umweltbedingungen: kontext-
bezogener Input – Verarbeitung – Output Ricki Nusser-Müller-Busch
1

Das F.O.T.T.-Konzept:
funktionell – komplex –
alltagsbezogen
Ricki Nusser-Müller-Busch

1.1 Menschliches Bewegungsverhalten –4


1.1.1 Normale Bewegungsmuster –4
1.1.2 Abnorme Bewegungsmuster –6

1.2 Was tun, wenn die Problemlösungsmaschine –


genannt ZNS – gestört arbeitet? – 8
1.2.1 Ein konzeptioneller Ansatz bei zentralen Läsionen –8
1.2.2 Konsequenzen für das therapeutische Vorgehen –9
1.2.3 Konzept versus Technik – ein Beispiel – 10

1.3 Die Therapie des Facio-Oralen Trakts – 12


1.3.1 Die therapeutische Situation – 12
1.3.2 Die Aufgabenstellung in den
verschiedenen Krankheitsphasen – 13
1.3.3 Die vier Bereiche der F.O.T.T. – 16

1.4 Das interdisziplinäre 24-Stunden-Konzept – 21


1.4.1 Individuelle und multidisziplinäre
therapeutische Kompetenz – 21
1.4.2 Das interdisziplinäre Team – 22
1.4.3 Der 24-Stunden-Tag – 22

1.5 Nutzen und Kosten – 23


1.5.1 »Wer A sagt, muss auch B sagen!« – 23
1.5.2 »Wer A und B sagt, muss auch C, D, E, und F sagen!« – 24

1.6 Ausblick – 25

Literatur – 26
4 Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen

Die von Kay Coombes entwickelte Therapie des Facio-Ora- len und später behandeln zu können, müssen wir zuerst
1 len Trakts (F.O.T.T.) hat ihre Wurzeln im Bobath-Konzept die physiologischen Abläufe genau kennen.
und beinhaltet wie dieses eine vielschichtige Sichtweise
neurogener Probleme und ihre Auswirkungen auf das > Beispiel
menschliche Verhalten. Das Vorgehen basiert auf der Ver- Wir verschwenden keine Gedanken darüber, wie wir
bindung von theoretischen und praktischen Erkenntnissen morgens aus dem Bett kommen, was wir als erstes
normaler Bewegungs- und Handlungsabläufe und ihrer dabei bewegen müssen, sondern eher, ob wir ver-
Abweichungen bei neurogenen Schädigungen. Ziel ist es, schlafene Zeit einholen müssen, um pünktlich zu sein.
den gestörten Tonus und die Haltung so zu beeinflussen, Wir lesen die Tageszeitung während wir – so nebenbei
dass die Funktionen Atmen, Stimme geben, Sprechen und ohne besondere Aufmerksamkeit und Anstrengung –
die Nahrungsaufnahme wieder koordiniert und sicher frühstücken. Wir trinken den Kaffee im Stehen, wenn
ablaufen können. Die Selbständigkeit des Patienten soll wir es eilig haben. Wir fahren zur Arbeit und begrüßen
wiederhergestellt bzw. maximal gefördert und ihm eine dort die Arbeitskollegen, dies tun wir normalerweise
Teilnahme am sozialen Leben ermöglichen werden. Dieses atem-rhythmisch angepasst in der uns eigenen
Einführungskapitel stellt grundsätzliche Überlegungen zur normalen Sprechstimmlage.
neurologischen Rehabilitation vor und soll einen Einblick in
das F.O.T.T.-Konzept geben. Für eine Bewegung werden eine ganze Reihe von Muskeln
angesteuert. Ein komplexer Bewegungsablauf setzt sich
aus einer Vielzahl von Einzelbewegungen zusammen.
1.1 Menschliches Bewegungsverhalten Jede Bewegung, jede Handlung findet in einem sensomo-
torischen Regelkreis statt, in dem der Bewegungsablauf
: Beachte gleichzeitig u. a. propriozeptiv, visuell und auditiv kon-
Atmen, Stimmgebung, Sprechen und Schlucken sind trolliert wird. Wir benötigen dazu:
essentielle Voraussetzungen für die menschliche 4 eine normale Sensorik und Wahrnehmung,
Kommunikation und die Nahrungsaufnahme. 4 zentrale Verarbeitungsprozesse und
Der ganze Körper ist an diesen Vorgängen beteiligt. 4 eine adäquate Ansteuerung funktionsfähiger Ausfüh-
rungsorgane.
Mit dem Auftreten von Hirnschädigungen wie Infar-
ten, Schädelhirntraumen, hypoxischen (durch Sauerstoff- Diese Ansteuerung erfolgt auf der Grundlage eines Align-
mangel verursachte) Hirnschäden etc. kann es zu unter- ments des Körpers (= die Ausrichtung aller Körperab-
schiedlichen Störungen der Funktionen des Schluck- und schnitte zueinander und in Beziehung zur Umwelt, also
Sprechtrakts und ihrer Koordination kommen. Das Spre- zur jeweiligen Unterstützungsfläche und der Schwer-
chen, das Schlucken von Speichel, das Kauen, Trinken und kraft).
Schlucken von Nahrung sind oft erschwert oder nicht
möglich. : Beachte
Die in den folgenden beiden Abschnitten dargelegten Faktoren wie Wachheit, Aufmerksamkeit, Kognition,
Erläuterungen beruhen auf den Erkenntnissen der Neuro- Psyche, Motivation, unsere bisherigen Erfahrungen,
und Bewegungswissenschaften,der Lerntheorien und des unser Wissen und die Umwelt beeinflussen die Aus-
Bobath-Konzeptes. führung unserer Handlungen und ihre Ergebnisse.

Das Zentralnervensystem ermöglicht es uns, Ziele zu er-


1.1.1 Normale Bewegungsmuster reichen und unseren Körper dabei an die jeweilige Aufga-
be und Umweltbedingung zu adaptieren.Die eingehenden
»Wir müssen das Normale kennen!« Informationen werden selektiert, aber auch integriert, in
(Kay Coombes 2002) dem sie ausgewertet,mit unserem Wissen und unserer Er-
fahrung abgeglichen und gespeichert werden. Sie dienen
Um zentral bedingte Störungen der Vital- und Alltags- als Grundlage für die Ausführung gleichgearteter, ähn-
funktionen von Stimme,Sprechen und Schlucken beurtei- licher oder aber auch neuer Bewegungen.
1.1 · Menschliches Bewegungsverhalten
5 1

Lernen in der motorischen Entwicklung Die Bewegungsabläufe haben sich im Laufe der ersten
Mit einer großen Anzahl reflektorischer, automatischer Lebensjahre verändert, ausdifferenziert und weiterent-
Bewegungen, die – wie man heute annimmt – auf die Ak- wickelt und laufen in geringem Maße bewusst ab: Vom
tivierung angeborener neuronaler Muster (Mustergenera- frühkindlichen Schluckmuster des Neugeborenen, dem
toren, »central pattern generators«, Kandel et al. 1996) reflektorischen Ansaugen flüssiger Nahrung,bis zum per-
zurückzuführen sind, werden wir am Beginn unseres Le- fektionierten Verarbeiten fester Konsistenzen, dem koor-
bens ausgestattet. Diese – einmal aktiviert – generieren dinierten Kauen mit seinen rotatorischen Komponenten.
sich ständig selbst (Paeth Rohlfs 1999). Ein Beispiel ist der
Saug-/Schluckreflex. > Exkurs
Nach Mulder et al. (2002) werden Menschen durch Schluckreaktion
4 körperbezogene (propriozeptive, viszerale, vestibulä- Analog zu den Schlussfolgerungen Duysens et al.
re …) und (1990), dass Reflexe keine rigiden vorprogrammierten
4 umweltbezogene (auditive, olfaktorische, visuelle, Reaktionen sind, ist davon auszugehen, dass sich der
postural etc.) Informationen beim Lösen von Aufga- reflektorische/automatische Anteil des Schluckvorgan-
ben angetrieben. ges durch die Reifung des Schluckmusters und durch
die Adaptation an verschiedene Konsistenzen und
Im Laufe unserer prä-,peri- und postnatalen Entwicklung Bolusarten ebenfalls verändert und seine neuronalen
lernen wir zielgerichtet Bewegungen und Bewegungs- motorischen Antworten im Laufe der Reifung
abfolgen auszuführen, indem wir sie zigtausende Male differenzierter ausfallen als zu Beginn der mensch-
wiederholen. (Man denke an die unermüdlichen Aktivitä- lichen Entwicklung. Im Kinder-Bobath-Konzept
ten von Kleinkindern, vom Krabbeln in den Stand zu kom- (NDT = neurodevelopmental treatment) wird
men). Dies führt zu automatisierten Bewegungen, die daher anstelle von Schluckreflex oft von der
dann ohne die früher notwendige kortikale Initiierung, Schluckreaktion gesprochen.
subkortikal,ausgeführt werden.Sie laufen später unterbe-
wusst, sicher, schnell und ökonomisch ab (Paeth Rohlfs Lernen/Integrieren neuer Bewegungsabläufe
1999). Menschen haben die Fähigkeit, lebenslang zu lernen.

Normale Haltung und Bewegung am Beispiel : Beachte


der Nahrungsaufnahme Neuen, ungewohnten Aufgaben müssen und werden
> Beispiel erhöhte Aufmerksamkeit, Energie und Konzentration
Sitzen wir bei Tisch und wollen zu essen beginnen, zukommen.
werden wir i. d. R. den Rumpf und den Kopf in
Richtung des vor uns stehenden Essens ausrichten. > Beispiel
Wir können uns aber auch anders positionieren, Lernen wir neue Bewegungsabläufe, z. B. Autofahren,
so wie es uns bequem ist. Zerkauen der Nahrung Stricken, Skaten, das Bedienen der Maus am Computer,
und Durchmengen mit Speichel sind längst gelernte, sind Aufmerksamkeit und Konzentration nötig. Die
automatisierte Bewegungen, die wir auch ausführen Körperspannung steigt, die Atmung wird u. U. ange-
können, wenn z. B. der Kopf zum seitlich sitzenden halten. Die Bewegungsabläufe sind zunächst mit viel
Tischnachbar gedreht ist. Das anschließende Aufwand und Anstrengung verbunden, wirken lin-
Schlucken erfolgt dann – meistens mit zentriertem kisch und sind anfangs unökonomisch, nicht effizient.
Kopf – reflektorisch/automatisch. Wer erinnert sich nicht an die hohe Anspannung –
den erhöhten (schon »abnormen«) Haltungstonus
: Beachte bei seinen ersten Auto-Fahrstunden?
Nahrungsaufnahme ist ein automatisierter Vorgang Sind wir zum nicht alltäglichen Hummer-Essen
mit automatischen Anteilen (z. B. dem reflektorischen eingeladen, müssen wir dem Vorgang der Nahrungs-
Schlucken). aufnahme mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen.
Im Umgang mit dem speziellen und ungewohnten
6
6 Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen

Besteck und den Zerteiltechniken wird der Tonus – und nicht mehr gereizt ist, und sich dann langsam wie-
1 eventuell nicht nur in den oberen Extremitäten und im der ruhiges, rhythmisches Atmen, unterbrochen von
Gesicht – zunehmen. Es kann sein, dass das Tisch- gelegentlichem (Speichel)Schlucken, einstellen kann.
gespräch währenddessen doch etwas verebbt.
Weitere Ausführungen zur physiologischen Schluckse-
: Beachte quenz und ihren Kontroll- und Schutzmechanismen fin-
Beim Lernen neuer Bewegungsabläufe können den sich in Abschnitt 1.3.3.
assoziierte Bewegungen auftreten. Dies sind
»normale automatische Haltungsanpassungen, : Beachte
die Willkürbewegungen begleiten, um präzise Machen wir uns alltägliche Bewegungsabläufe be-
Bewegungen anderer Körperteile zu verstärken, wusst, stellen wir fest, dass es normale 7 Bewegungs-
oder wenn eine Aktivität sehr viel Kraft oder muster gibt, die – von individuellen Abweichungen
Konzentration erfordert« (Davies 2002). abgesehen – bei allen Menschen ähnlich ablaufen.

Haltungs- und Bewegungskontrolle


Im Leben passiert tagtäglich Unvorhergesehenes, auf das 1.1.2 Abnorme Bewegungsmuster
wir reagieren müssen und können. Glücklicherweise ver-
fügen wir über die Fähigkeit, uns meist schnell und effi- »Das Gehirn ist eine Problemlösungsmaschine«
zient anzupassen. Im Bobath-Konzept wird dies als dyna- (Mulder 2003)
mische Haltungs- und Bewegungskontrolle bezeichnet.
Sie besteht u. a. aus: Aus der Analyse physiologischer Bewegungen und Hand-
4 dem zentralen Haltungs-Kontroll-Mechanismus und lungen, die im menschlichen Verhalten immer auch ziel-
4 physiologischen Gleichgewichts-, Equilibriums- und gerichtet sind, können wir schlussfolgern, dass uns das
Stützreaktionen (Paeth Rohlfs 1999). Zentralnervensystem während des ganzen Tages dabei
unterstützt, Aufgaben und Probleme zu lösen.
Gjelsvik (2002) beschreibt den Begriff Balance als eine Wenn ein Körperteil nicht mehr in gewohnter Weise
Reaktion auf eine unerwartete Störung, aber auch als eine einsatzfähig ist, z. B. ein Arm durch eine Schiene, erfahren
Strategie, wenn wir uns aufrichten oder unser Gewicht wir, wie schwierig die Bewältigung des Alltags werden
verlagern. Dies beinhaltet Elemente wie: kann.Wir sind aber in der Lage, die eingeschränkte Bewe-
4 posturale (=Haltungs)Kontrolle, gung des Armes zu kompensieren,in dem wir z. B.den an-
4 Schutzreaktionen oder -strategien und deren Arm vermehrt einsetzen.
4 Einstellungen (v. a. Stellreaktionen des Kopfes und Ist das Gehirn von einer Schädigung betroffen,können
Rumpfes), wenn sich der Körperschwerpunkt inner- die Störungen vielfältig und komplex sein.
halb oder außerhalb der Unterstützungsfläche (Kon-
takt mit der Unterlage) verändert. > Beispiel
Eine Tasse Kaffee steht zum Trinken bereit:
Im Alter bauen sich diese Fähigkeiten wieder ab. 4 Kann eine Tasse aufgrund einer Gesichtsfeldein-
schränkung nicht wahrgenommen werden, wird nicht
> Beispiel nach ihr gegriffen, vielleicht wird sie sogar aus Verse-
Übertragen auf eine plötzliche Störung der Nahrungs- hen umgestoßen.
aufnahme kann das bedeuten: 4 Ist die Propriozeption (also die Wahrnehmung der
Nehmen wir einen zu großen Schluck aus der Stellung der Gelenke, der Richtung und Geschwindig-
Tasse und verschlucken uns, werden wir unseren keit ihrer Bewegung) gestört, wird der Tonus in der
Oberkörper eventuell abrupt nach vorne beugen und greifenden Hand vielleicht übermäßig hoch sein, die
uns dabei abstützen – Stützreaktion – und den Kaffee Bewegung wird ruckartig, der Kaffee wird verschüttet.
wieder ausprusten – Schutzreaktion. Wir werden 4 Ist die Sensorik eingeschränkt und wird der
solange alles hochhusten bis die Atempassage frei Speichel im Mund deshalb nicht gespürt, läuft er
6 6
1.1 · Menschliches Bewegungsverhalten
7 1

irgendwann aus dem Mund heraus oder wird ohne > Beispiel
einsetzende Schluckbewegung unkontrolliert in den Der Patient ist vom Rollstuhl auf die Therapieliege
Larynx (Kehlkopf ) und die unteren Atemwege transferiert worden. Eine für den Patienten günstige
eindringen. Ausgangsstellung ist erarbeitet worden mit einer
4 Sind kognitive Prozesse gestört, kann der Auffor- sorgfältigen Positionierung des stärker betroffenen
derung, die Tasse zu ergreifen, nicht nachgekommen Armes. Durch plötzlich auftretendes Husten oder
werden, obwohl sie vielleicht gesehen wird. Niesen wird der Arm wieder in ein Beugemuster
4 Ist die zentrale Ansteuerung motorischer Bewe- gezogen.
gungen gestört, kann es zu einer Parese (Lähmung)
im Arm oder statt einer Greifbewegung zu einer ! Vorsicht
Tonuserhöhungen, zu einer Spastik im Arm kommen. Treten 7 assoziierte Reaktionen in der Therapie auf,
Vielleicht merkt der Patient, dass die Bewegung nicht verändern sie die oft mühsam erarbeitete Ausgangs-
zu dem gewünschten Erfolg führt und versucht nun in stellung, den Haltungshintergrund stereotyp in Rich-
der Folge mit verstärkter Anstrengung, die Tasse zu tung des für den Patienten typischen abnormen Kör-
greifen. Dies kann dann zu einer weiteren sekundären permusters (Extensions-/Streck- oder 7 Flexions-/
Spannungszunahme im Arm führen. Beugetendenz).

Zerebrale Schädigungen verändern den ursprünglichen > Exkurs


Regelkreis und können dramatische Auswirkungen auf Typische, gestörte 7 Bewegungsmuster bei Hemi-
das (Bewegungs)Verhalten haben: plegie,Tetraplegie etc. wurden seinerzeit beschrieben
4 Fehlende oder verzerrte Informationen führen zu ei- durch B. und K. Bobath (1977, 1986, 1990). Die Weiter-
ner veränderten Ansteuerung und in Folge zu einer führung dieser Grundlagen und Behandlungsprinzi-
veränderten Ausführung einer Bewegung. Auch diese pien typischer Bewegungsmuster sind bei Davies
Muster werden gespeichert und können kurzfristige (1995, 2002), Paeth Rohlfs (1999) und Gjelsvik (2002)
(Tonuserhöhung, »Spastik«) oder permanente Verän- nachzulesen. Aspekte und Betrachtungsweisen
derungen, z. B. Kontrakturen, nach sich ziehen. normaler Aktivität bezogen auf den fazio-oralen
4 Störungen von Haltung und Bewegung,des Gleichge- Trakt und die Konsequenzen bei zentralen Schädi-
wichts beeinflussen die Rumpf- und Kopfstabilität, gungen sind in den folgenden Therapie-Kapiteln
das stabile Fundament, das notwendig ist, um selekti- ausgeführt.
ve Bewegungen durchzuführen.
4 Die dem Organismus eigenen Schutzmechanismen : Beachte
sind nicht mehr oder nur mehr bedingt vorhanden, Da bei einer Hirnschädigung oft Störungen auf
oder können – sekundär – aufgrund einer kompensa- mehreren Ebenen vorliegen oder diese sich gegen-
torisch »fixierten« Haltung nicht entsprechend zum seitig beeinflussen, entsteht ein neuer, veränderter
Einsatz kommen (z. B. das physiologische Vorbeugen sensomotorischer Regelkreis, der als motorische
des Rumpfes und Kopfes beim Husten). Antworten abnorme 7 Bewegungsmuster
auslösen kann.
Bei Menschen mit einer Hemiparese treten assoziierte Dieser veränderte sensomotorische Regelkreis
Bewegungen der weniger betroffenen Seite (oder Extre- arbeitet 24 Stunden am Tag.Wird er nicht unter-
mität) auf, wenn sie versuchen, die betroffene Seite oder brochen, zementiert sich das Erfahren und Lernen
Extremität zu bewegen. Diese sind nicht zu verwechseln gestörter Bewegungen.
mit pathologischen 7 assoziierten Reaktionen, die als ste-
reotype Muster auf der stärker betroffenen Seite bei An-
strengung, Angst etc. in Assoziation mit willkürlichen
und/oder automatischen Bewegungen zu sehen sind
(Davies 2002).
8 Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen

1.2 Was tun, wenn die Problemlösungs- Schädigungen des zentralen Nervensystems (ZNS). Seit
1 maschine – genannt ZNS – den 50er Jahren revolutionierten Berta und Karel Bobath
gestört arbeitet? die Ansichten ihrer Zeit, u. a. bezüglich der Beeinflussbar-
keit von erhöhtem Tonus (»Spastik«) mittels reflexhem-
> Beispiel mender Positionen, Inhibition (Hemmung) und Fazilita-
Ein Patient hat eine Hirnschädigung erlitten. tion (Bahnung).
Der Patient zeigt 7 Symptome einer Schluckstörung Bis zu diesem Zeitpunkt wurden in der Behandlung
(7 Dysphagie) und einer zentralen Sprechstörung neurologischer Bewegungsstörungen im Wesentlichen
(7 Dysarthrophonie). Die Koordination von Atmung, bewegungsbezogene 7 Kompensationen trainiert, z. B.
Schlucken, Stimmgebung und Sprechen sind gestört. wie der Patient mit seiner »gesunden« Seite möglichst
Das Ausmaß seiner Funktionseinschränkungen und selbständig werden konnte. Im Lauf der Zeit stellte man
der Verlauf der Rehabilitation sind zu Beginn noch aber fest, dass der zu frühe Einsatz von »Technik«, Hilfs-
nicht zu prognostizieren. Wir wissen noch nichts über mittel wie z. B.der Einsatz eines Vierpunktstocks bei einer
die Persönlichkeit, etwaige vorbestehende Erkrankun- Halbseitenlähmung,zu einer Reihe sekundär auftretender
gen und die Lebensumstände des Patienten und – Probleme wie zunehmenden Ausweichbewegungen und
wir können das mögliche Rehabilitationspotential Spastik und damit längerfristig zu einem Verlust von
dieses Patienten nicht vorhersagen! Selbständigkeit führte (Ashburn et al. 1988).
Bobaths Beschreibung (1977; 1986; 1990) physiologi-
scher 7 Bewegungsmuster und der Abweichungen bei
1.2.1 Ein konzeptioneller Ansatz neurogenen Schädigungen veränderte grundlegend die
bei zentralen Läsionen Betrachtungsweisen, das Denken in »Muskeln und Mus-
kelgruppen« und sie veränderte das therapeutische Vorge-
> Exkurs hen. Die Zielsetzung war es nun, dass der Patient die Kon-
Therapiekonzepte auf neurophysiologischer trolle über Bewegung, nicht über einzelne Muskeln wie-
Grundlage der erlernen soll. Ein seinerzeit auf die Therapie gemünz-
Die Grundlagenforschungen im letzten Jahrhundert, tes, provokativ gemeintes Statement Berta Bobaths wird
u. a. die Arbeiten der späteren Nobelpreisträger Pen- überliefert:
field (1950) zur Kortex-Repräsentation und Levi-Mon- »Das Gehirn weiß nichts von Muskeln, nur von Bewegun-
talcini (1968) zur Plastizität des ZNS prägten die Ent- gen.« (Berta Bobath)
wicklung von Therapiekonzepten auf neurophysiolo-
gischer Grundlage, die sich durch aktuelle Erkennt- Die Sichtweise über die Funktionsweise des ZNS hat sich
nisse der Neurowissenschaften weiter verändern und während der folgenden Jahrzehnte vom hierarchischen
ihr therapeutisches Vorgehen laufend aktualisieren. System der fünfziger Jahre zum nicht-hierarchischen Sys-
Die verschiedenen Konzepte beeinflussen sich auch temmodell der neunziger Jahre weiter verändert. Heute
gegenseitig (u. a. Bobath 1990; Vojta 1992; Castillo geht man davon aus, dass die Erlangung der Kontrolle
Morales 1991) und kommen heutzutage auch in Kom- über das Ziel, der Wiedererwerb von »Regeln«, die Aufga-
bination zum Einsatz (siehe das ABC-Konzept, Affolter ben sein könnten. Regeln, die uns helfen, unseren Alltag
1983; Bobath 1990; Coombes 1996). und die darin auftretenden Probleme zu bewältigen. Der
offene, konzeptionelle Charakter spiegelt sich auch in der
Anhand der Entwicklung des Bobath-Konzeptes, auf dem derzeit aktuellen Definitionen des Bobath-Konzeptes wi-
die F.O.T.T. basiert, soll der »dynamische« Charakter von der:
Konzepten exemplarisch dargestellt werden. »Das Bobath-Konzept ist ein problemlösender Ansatz
zur Befundung und Behandlung von Individuen mit
Die Entwicklung des Bobath-Konzeptes Störungen von Funktion, Bewegung und Tonus aufgrund
Das Bobath-Konzept ist der wohl europaweit am weitesten einer Läsion des zentralen Nervensystems … Ziel ist
verbreitete Therapie- und Pflegeansatz für die Behand- die Wiedererlangung der größtmöglichen Selbständig-
lung von Säuglingen, Kindern und Erwachsenen mit keit im Alltag und die soziale Integration bei Menschen
1.2 · Was tun, wenn die Problemlösungsmaschine – genannt ZNS – gestört arbeitet?
9 1

mit einer neurologischen Erkrankung. Die Behandlung Wiedererlernen motorischer Fertigkeiten


ist charakterisiert durch die Analyse und Fazilitation Entgegen früherer Annahmen ist nach erlittenen Funk-
von effizienter Haltungs- und Bewegungskontrolle in der tionseinschränkungen nicht das Wiedererlangen der
Vorbereitung auf funktionelle Aktivitäten und während- Kontrolle über einzelne Muskeln, ihre Kräftigung und das
dessen« (IBITA 2006) Verbessern ihres Bewegungsausmaßes gefragt, sondern
die Anpassung an ständig neue Situationen und Aufga-
4 Was also tun, wenn die Verarbeitungsprozesse der ben. Demzufolge wurde und wird vom Üben isolierter,
Sensomotorik, Wachheit, Aufmerksamkeit, Kognition abstrakter Bewegungen Abstand genommen. Drei Vor-
und Psyche unsere Bewegungsabläufe, unser Hand- aussetzungen werden heute für optimales Lernen be-
lungsausführungen verändern? schrieben (. Übersicht 1.1).
4 Was tun, wenn Lähmungen oder Störungen des Tonus
die Haltung und Bewegung primär, aber auch sekun-
där aufgrund von Angst, Stress verändern? Übersicht 1.1: Voraussetzungen für optimales
4 Was tun, wenn der Körper nicht in der Lage ist, dies zu Lernen
kompensieren? 4 Optimale sensorische Information
4 Variabilität der Aufgaben
: Beachte 4 Anwendungsbezogene Ausrichtung
Wir müssen dem rund um die Uhr arbeitenden, des kontextbezogenen Trainings
gestörten zentralen Nervensystem helfen, möglichst (Mulder u. Hochstenbach 2002)
physiologische Reize und Bewegungen zu erfahren
und wieder zu automatisieren und Problemlösungs-
strategien wieder zu lernen, – rund um die Uhr!!! : Beachte
Sensorische Information muss sowohl qualitativ wie
quantitativ auf die jeweilige Aufgabenstellung und an
1.2.2 Konsequenzen für das den Bedürfnissen des Patienten ausgerichtet werden.
therapeutische Vorgehen
Das Anbieten sensorischer Information in der Therapie,
»Ohne Information (ohne sensorischen Input) gibt es die therapeutischen Hilfen müssen angepasst erfolgen,
keine Kontrolle, kein Lernen, keine Veränderung, keine d. h. klein- oder großschrittig genug sein und dürfen den
Weiterentwicklung« (Mulder u. Hochstenbach 2002). Patienten weder unter- noch überfordern.

Im Folgenden werden die Überlegungen, Grundsätze vor- : Beachte


gestellt, die in der neurologischen Rehabilitation und Das Angebot sensorischen Inputs ist zu variieren und
auch im F.O.T.T.-Konzept das therapeutische Vorgehen soll unter verschiedenen Bedingungen, in verschiede-
leiten. Die Ausführungen beruhen auf den Publikationen nen Lernzusammenhängen stattfinden.
von Mulder et al. (2002). Sie verbinden die Erkenntnisse
der Bewegungswissenschaften und der Neuropsycholo- Dies schafft Voraussetzungen, um neue Situationen zu
gie. meistern. Erst das ermöglicht den Transfer in den Alltag.
Es nützt relativ wenig, wenn der Patient in einer geschüt-
Input, Aktivität und Adaptation zen Therapiesituation, einen Bewegungsablauf gut meis-
Die Faktoren Input, Aktivität und Adaptation bestimmen tert, im Alltag, bei Ablenkung etc. jedoch versagt. Schon in
unsere Entwicklung und unser (Über)leben und sind der Therapie muss demnach zielorientiert im Hinblick auf
»Basics« für motorisches Lernen. Ohne Aktivität gibt es die Anwendung im Alltag gearbeitet werden.
keinen Input, ohne Input keine Anpassung und ohne An- Aber auch die Verfügbarkeit und der Zugriff auf höhe-
passungsfähigkeit ist Lernen nicht möglich. re Hirnleistungen ist von essentieller Bedeutung für das
Lernen.
10 Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen

: Beachte ! Vorsicht
1 Hirnleistungen wie Aufmerksamkeit und Motivation In der neurologischen Rehabilitation können KEINE
sind bestimmend für das Planen und die motorische Techniken oder Übungsfolgen eingesetzt werden,
Ausführung. die bei ALLEN Patienten gleichermaßen zum Erfolg
führen.
Nach Kandell (1996) richtet Motivation die Aufmerksam- Ein und derselbe Griff oder ein und dieselbe
keit auf eine Ziel, steigert dabei die Wachheit und Auf- Technik sind nicht bei jedem Patienten wirksam.
merksamkeit und hat auch organisierende und koordi-
nierende Funktion, in dem sie individuelle Komponenten Der Einsatz von Techniken in Konzepten
zu einer kohärenten zielorientierten Verhaltenssequenz Warum eine starr eingesetzte Technik im Rahmen eines
führen kann. Konzeptes oft nicht wirksam ist,ja scheitern muss,soll am
Die Ergebnisse leiten auch das Vorgehen in der Beispiel des seinerzeit im Bobath-Konzept entwickelten
F.O.T.T. . Weitere Ausführungen dazu finden sich im fol- Kieferkontrollgriffes (KKG) in seiner Anwendung im
gendem Abschnitt, in Abschnitt 1.3 und 1.4 und in den F.O.T.T.-Konzept verdeutlicht werden. (Für Leser, die mit
Therapiekapiteln dieses Buches. der F.O.T.T. noch nicht vertraut sind, bietet es sich viel-
leicht an, diesen Abschnitt erst nach Studium der gesam-
ten Lektüre zu lesen.)
1.2.3 Konzept versus Technik – ein Beispiel
Der Kieferkontrollgriff
In diesem Abschnitt soll exemplarisch dargestellt werden, > Beispiel
warum dem Wunsch nach »Übungen« oder »rezeptartig« Es ist eine weit verbreitete (unrichtige) Annahme,
niedergeschriebenen Übungsabfolgen im Rahmen von dass der KKG zum Öffnen des Kiefers eingesetzt wird,
Konzepten nicht entsprochen werden. Zuerst werden die in dem man mit den am Unterkiefer positionierten
Begriffe »Konzept« und »Technik« definiert und die das Fingern Zug nach unten gibt. Dieser taktile Reiz kann
Vorgehen leitenden Überlegungen erläutert. zum gewünschten Erfolg führen bei Patienten mit
erhaltener Sensibilität und Wahrnehmung. Bei Patien-
Konzept versus Technik ten mit schweren Störungen führt dieser Griff aber
Der Begriff Konzept (lat.: das Zusammenfassen) steht oft zu einem gegenteiligen Ergebnis: Die ohnehin
synonym für einen Entwurf, einen Plan. Es stellt sozusa- schon feste Kiefermuskulatur spannt noch mehr an.
gen den Rahmen oder die hardware dar, innerhalb dessen Eine Öffnung des Kiefers ist nicht zu erreichen.
als software das Programm, die Philosophie lebt und be-
heimatet ist. Hier ist der Ausgangspunkt für die Ausarbei- Voraussetzungen zur Analyse und Hypothesenbildung
tung und Überprüfung von Fragestellungen. In diesem 4 Wissen um die Funktionsweise von Muskeln: Muskeln
Rahmen ist es offen für Interpretationen und Erweiterun- reagieren auf Zug mit Kontraktion, d. h. bei Führen
gen. Flexible Lösungswege für individuelle Fragestellun- des Unterkiefers nach unten kontrahiert die Musku-
gen können in einem Konzept entwickelt und neue For- latur, hier u. a. des M. masseter und des M. pterygoi-
schungsergebnisse integriert werden. Der interaktive deus medialis. Der Kiefer schließt also noch fester.
Prozess zwischen dem Patienten und der Therapeutin/
dem Team und die individuelle Schwerpunktsetzung prä- i Praxistipp
gen die Therapie. Eine schon eingangs sehr hypertone, »feste«
Als Technik (griech.: Handwerk, Kunstwerk, Kunst- Kiefermuskulatur wird noch mehr kontrahieren.
fertigkeit) wird die Gesamtheit der Mittel,Verfahren,Vor-
gehensweisen und Methoden bezeichnet, die dazu die- 4 Beobachten UND Erspüren normaler Funktion: Der
nen, die Natur dem Menschen nutzbar zu machen. Unter Kiefer bewegt sich bei der Öffnung erst etwas nach
einer Technik wird aber auch die Beherrschung eines Ar- vorne, dann nach unten.
beitsmittels oder einer Fertigkeit verstanden.Eine Technik
ist so gesehen gebunden an eine feste Interpretation, an
ein genaues Vorgehen und festgelegte Übungsabfolgen.
1.3 · Die Therapie des Facio-Oralen Trakts
11 1

i Praxistipp these aufgestellt werden, warum der Patient seinen Mund


Die Hilfen zur Bewegungsführung müssen also erst so fest geschlossen hält. Ausführungen zu dem Zu-
nach vorne und dann nach unten ausgerichtet sein. sammenspiel von Körperstrukturen finden sich in Kapi-
tel 2. Verschiedene Varianten des Kieferkontrollgriffes
4 Finden einer Position/Ausgangsstellung und thera- sind im Buch abgebildet (. Abb. 4.8c, 4.20a, 4.24c).
peutisches Handling – jeweils abgestimmt auf die ak-
tuellen, individuellen Probleme des Patienten (siehe Schlussfolgerungen
dazu auch Ausführungen in den folgenden Therapie- 4 Entscheidend ist, dass ein Plan existiert, WOFÜR der
Kapiteln). Griff in DIESER therapeutischen Situation bei DIE-
SEM Patienten eingesetzt werden soll. Die anschlie-
i Praxistipp ßende Bewertung zeigt, ob damit das gewünschte Er-
Denn: Der Kieferkontrollgriff ist nur dann hilfreich, gebnis erreicht werden konnte.
wenn das momentane, gesamtkörperliche Haltungs- 4 Es ist konzeptionell nicht unbedingt von Bedeutung,
muster berücksichtigt und ggf. vorher verändert dass der Griff lehrbuchgemäß angewendet wird.
oder optimiert wird oder/und wenn keine weiteren Wichtig ist aber, dass das Prinzip Kieferstabilisierung
limitierenden Faktoren übersehen werden. erreicht wird.
4 Die Grifftechnik ist nicht starr:
4 Erstellen einer Arbeitshypothese zum Einsatz des 4 Sie kann und muss variiert werden, zum einen
Kieferkontrollgriffes: Sehr oft ist der Kieferkontroll- durch verschiedene Grifftechniken (extra- wie
griff hilfreich, intraoral, bilateral etc.) zum anderen durch die
4 um die fehlende Stabilisierung des Unterkiefers Position des Anwenders: von vorne/unten,von der
zu gewährleisten, damit die Zunge (und damit Seite, von hinten.
verbunden die Mundboden-, die Nacken- und 4 Sie sollte im Laufe der Therapie unter dem Aspekt
Kopfmuskulatur) ihre kompensatorische Halte- »Abbau von Hilfen« abgewandelt und am Ende
funktion aufgeben und sich bewegen kann (u. a. vielleicht ganz entbehrlich werden.
bei den Funktionsabläufen: Bolustransport, Schlu-
cken); : Beachte
4 damit ein zurückgezogener, 7 retrahierter Kiefer Der Kieferkontrollgriff ist eine Fertigkeit, eine Technik,
tendenziell nach vorne gebracht werden kann mit der unterschiedliche, funktionelle Ziele erreicht
(u. a. beim Funktionsablauf: Kieferöffnung). werden sollen. Je nach Intention ist er individuell und
variabel einzusetzen und veränderbar.
Evaluierung
4 Die Anwendung des Kieferkontrollgriffes im eingangs In der F.O.T.T.werden abgestuft uni- und multisensorische
beschriebenen Beispiel war u. U. »technisch« nicht Informationen (u. a. auch Stimulationstechniken wie
richtig. Nach der Analyse des normalen Funktionsab- Druck,Vibration, tapping etc.) eingesetzt, mit deren Hilfe
laufes: »Kieferöffnung« und der Funktionsweise der notwendige Bewegungen fazilitiert (erleichtert, gebahnt)
Muskeln wird man verstehen, warum dieser Griff – so unerwünschte Bewegungen ggf. inhibiert (gehemmt)
angewendet – bei einer schweren Kieferöffnungsstö- werden können.
rungen versagen muss. Das Beherrschen von Techniken ist unbestritten
4 Wurde der Griff jedoch exakt eingesetzt und ist das Er- notwendig. Ihr Einsatz und ihr Erfolg sind aber von
gebnis aber immer noch nicht befriedigend, wären im einer Vielzahl von Faktoren abhängig wie die individuel-
weiteren die Richtigkeit Arbeitshypothese und/oder len Ausfälle, die Prädisposition und das Potential des
das therapeutische Vorgehen zu prüfen. Patienten im Umgang mit diesen Problemen und der
jeweils zu lösenden Aufgabe. Die Reaktionen auf den
Weiteres Vorgehen Einsatz eines Stimulus oder einer Technik sind immer zu
Wird das gewünschte Ergebnis (hier: Kieferöffnung) nicht evaluieren!
erreicht, muss die Arbeitshypothese verworfen werden
und der Prozess beginnt erneut. Es muss eine neue Hypo-
12 Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen

1.3 Die Therapie des Facio-Oralen Trakts ist aber die Frage nach dem vorhandenen, zu aktivieren-
1 den Potential des Patienten.
Die F.O.T.T. hat die Rehabilitation der Funktionen des
fazio-oralen Trakts und ihre integrative Koordination i Praxistipp
zum Ziel. Das therapeutische Vorgehen wird individuell Potentiale des Patienten erkennen:
auf den Patienten und seine jeweilige Erkrankungsphase 4 Was kann der Patient?
abgestimmt. 4 Wobei braucht er Hilfe und Unterstützung?
In . Übersicht 1.2 sind wichtige Prinzipien des 4 Wie müssen diese Hilfe gestaltet werden,
F.O.T.T.-Konzeptes zusammengestellt. um das Optimum an Bewegungs- und Handlungs-
möglichkeiten zu erreichen?

Übersicht 1.2: Prinzipien des F.O.T.T.-Konzeptes Der Patient wird zu Beginn in eine möglichst physiologi-
Die Therapie des Facio-Oralen Trakts bietet einen sche Ausgangsposition gebracht, in der er die Möglich-
strukturierten Ansatz zur Befunderhebung und Be- keiten hat, annähernd normale Bewegungen zu spüren
handlung neurogener Störungen des mimischem und auszuführen (s. Kap. 2, 5 und 7). Das Vorgehen ist in
Ausdrucks,oraler Bewegungen,des Schluckens und . Übersicht 1.3 schematisiert:
der Atmung, der Stimmgebung und des Sprechens.
Dieser Ansatz ist
4 alltagsbegleitend, Übersicht 1.3: Das Vorgehen in der F.O.T.T.
4 interdisziplinär, 4 Herstellen einer möglichst physiologischen
4 integriert in ein 24-Stunden-Konzept. Haltung in einer dem Patienten und der Situa-
tion angepassten Ausgangsstellung
Die F.O.T.T. beginnt so früh wie möglich und hat 4 Individuelle Befunderhebung
zum Ziel, 4 Aufstellen von Arbeitshypothesen für Teilziele
4 dem Patienten zu möglichst normaler, physio- 4 Angepasstes therapeutisches Vorgehen/Hand-
logischer Haltung, Bewegung und Funktionen ling im Hinblick auf die Aufgabenstellung
im Rahmen sinnvoller, alltäglicher Handlungs- 4 Evaluierung, ob die F.O.T.T.-Teilziele erreicht
abläufe zu verhelfen; wurden
4 die Kommunikationsfähigkeit und die Partizi- 4 Erstellen neuer Teilziele und entsprechende
pation am täglichen Leben und somit die Inte- Hypothesenbildung
gration in die Gesellschaft so weit wie möglich
wieder zu ermöglichen.
Die Beobachtungen der motorischen Reaktionen müssen
»richtig interpretiert« werden. Erst dann kann eine Ar-
1.3.1 Die therapeutische Situation beitshypothese für das weitere Vorgehen gebildet und
therapeutische Hilfen eingeleitet werden. Ob die einge-
»Befundung ist Behandlung – Behandlung ist Befun- setzten Maßnahmen »richtig« sind, zeigt die ständige
dung«. (Kay Coombes 2002) Evaluation der motorischen Antworten.

Der Patient und die Therapeutin treffen aufeinander. Alltagsrelevantes Vorgehen


Dem ständig arbeitenden ZNS eines Patienten, aber auch Menschliche Bewegungen und Aktivitäten finden statt,
dem einer Therapeutin ist es egal,ob es sich bei einem the- um ein Ziel zu erreichen. Das zu erreichende Ziel ist dabei
rapeutischen Vorgang, um eine Befundung oder eine Be- Motivation und Kontrolle zugleich. Soweit es möglich ist,
handlung handelt. Beide sollen die kommenden Anforde- werden deshalb alltagsbezogene Funktionen und Akti-
rungen lösen! vitäten in der therapeutischen Situation benutzt: Die
Die F.O.T.T.-Therapeutin wird immer befunden, be- Hand zum Gesicht führen, Speichel vom Mund abtupfen,
handeln und evaluieren, egal wie sich die Situation nennt. Zähneputzen, Kerzen auspusten, die eintretenden Angehö-
Das Erkennen von Problemen ist wichtig, noch wichtiger rigen mit »hallo« begrüßen …
1.3 · Die Therapie des Facio-Oralen Trakts
13 1

Alltagsrelevante und zielorientierte Aufgaben haben kommen kontrolliert beatmet per Notarztwagen oder
die Vorteile, dass Rettungshubschrauber auf eine Intensivstation oder eine
4 auf eventuell – auch bruchstückhaft – vorhandenes Stroke unit (Station zur Akutversorgung von Schlagan-
Situationsverständnis des Patienten zurückgegriffen fällen). Muss die Beatmung fortgesetzt werden, ist eine
werden kann, 7 Tracheotomie (= Luftröhreneröffnung) und die Beat-
4 nicht unbedingt Sprachverständnis zur Ausführung mung mittels einer 7 Trachealkanüle, die in die Öffnung
notwendig ist. eingeführt wird, längerfristig ebenso erforderlich wie
eine künstliche Ernährung. (Nähere Information s. Kap. 6
Die Patienten können dabei ein Ergebnis spüren, sehen und 7).
oder hören und erhalten dadurch eine konkrete, alltags- Zu Beginn beeinflussen auch intensivmedizinische
relevante Rückmeldung, ob sie ihr Ziel erreicht haben. Maßnahmen wie Sedierung und Langzeitbeatmung:
Dies kann zu einer Verbesserung des Verständnisses für 4 die Vigilanz (Wachheit),
das situative Geschehen und in der Folge zur erneuten, 4 die Schluckfähigkeit und die Schutzreaktionen und
selbständigen Initiierung der Bewegung führen. 4 die Kommunikationsmöglichkeiten.

: Beachte Die Anlage eines Tracheostomas und eine Trachealkanü-


Die Therapiesituation ist alltagsbezogen zu gestalten. le, die Ernährung über Sonde erschweren den Fortgang
Befunderhebung,Therapie und Evaluation sind ein der Rehabilitation und führen nicht selten zu sekundären
sich wechselseitig beeinflussender, permanenter Komplikationen. Das sich anschließende »weaning« (=
Prozess. Abtrainieren von der künstlichen Beatmung), die Umstel-
lung auf eine Atmung mit Trachealkanüle, gestalten sich
je nach Ausmaß der Schädigung und Allgemeinzustand
1.3.2 Die Aufgabenstellung in den unterschiedlich (s. Kap. 6 und 7).
verschiedenen Krankheitsphasen
! Vorsicht
Die Erst- und Notfallversorgung nach einem lebens- Patienten in der Intensiv- oder Akutphase können
bedrohlichen Ereignis hat sich in den letzten Jahren ent- zu Beginn oft nicht oder nur sehr reduziert ihren
scheidend verbessert.Heute überleben immer mehr Men- Speichel schlucken.
schen schwere und schwerste Verletzungen, Poly- und Schlucken kann zu den Vitalfunktionen gezählt
Schädelhirntraumen etc. Die Menschen in den reichen werden.Wer seinen Speichel nicht schlucken kann,
Ländern werden aufgrund des sozialen und medizini- wer keine Schutz- und Abwehrmechanismen hat
schen Fortschritts immer älter. Es entstehen neue Proble- oder sie nicht einsetzen kann, ist ohne medizinische
me, Aufgaben und Herausforderungen für die Medizin Hilfe nicht lebensfähig!
und Therapie.
Die prämorbiden Voraussetzungen und die Funk- > Beispiel
tionseinschränkungen bei Patienten mit erworbenen Das kann nach Extubation dazu führen, dass die Lunge
Hirnschädigungen sind sehr unterschiedlich ausgeprägt, des Patienten innerhalb kurzer Zeit mit Speichel voll
so dass kein einheitliches, allgemein gültiges Prozedere läuft. Re-Intubation und andere Intensivmaßnahmen
festgelegt werden kann. Wie also vorgehen? oder das Wiederblocken der Trachealkanüle entschei-
den dann über Leben und Tod!
»Den Patienten da abholen, wo er steht!« (Anonymus)
Aufgrund des reduzierten Allgemeinzustandes und
Dieser Leitsatz hat bei jedem Patienten und in jeder der oft multiplen medizinischen Probleme der Intensiv-
Therapiephase Gültigkeit. und Akutpatienten ist zu diesem frühen Zeitpunkt das
Schlucken von Nahrung oft noch gar nicht indiziert, ob-
Intensiv- und Akutphase wohl immer wieder diese Fragestellung an die Therapeu-
Dank des engmaschigen Versorgungsnetzes werden viele ten herangetragen wird.
Patienten heute am Auffindungsort oral intubiert und
14 Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen

Die Nöte der Patienten sind zu diesem Zeitpunkt : Beachte


1 meist andere: Regelmäßige Veränderungen der Positionen und
4 Die fehlenden oder eingeschränkten Möglichkeiten Bewegen sind Teil der F.O.T.T.-Behandlung und dienen
des Patienten zur physiologischen Selbststimulation darüber hinaus der Prophylaxe zur Vermeidung von
können zu sensorischer Deprivation im fazio-oralen Sekundärschäden.
Trakt führen,
4 zum Versiegen der Bewegungsinitiierung führen und i Praxistipp
4 primär wie sekundär Hypersensibilität (eventuell so- In der Intensiv- oder Akutphase werden ver-
gar mit entsprechenden, stereotypen Überreaktionen stärkt taktil-kinästhetische Reize eingesetzt.
im Gesicht wie hypertonem Kieferschluss, Beißreak- Die Hände der Therapeutin sind Sensor und Helfer.
tionen etc.) auslösen oder verstärken. »Hands-on« spürt die Therapeutin die Möglichkeiten
und die Nöte des Patienten und kann eingreifen
Frühzeitiger Therapiebeginn und Stabilität und Unterstützungsfläche anbieten,
»Die Therapeutin wird zur wichtigsten Quelle externer um anschließend eine selektive Bewegung
Information« (Mulder u. Hochstenbach 2002) zu fazilitieren und nicht hilfreiche Bewegungen
zu hemmen.
In der Intensiv- oder Akutphase oder beim schwer betrof-
fenen (auch komatösen) Patienten beginnt die F.O.T.T.mit Da wir z. B. schlucken, weil wir den Speichel spüren – und
der Vermittlung physiologischer Bewegungserfahrungen. nicht, weil es uns jemand sagt –, wird an der Automatisie-
rung des sensomotorischen Regelkreises gearbeitet. So
: Beachte wird u. a. die Mundstimulation (s. Kap. 4.3.3) durchge-
Wir lernen, indem wir uns bewegen oder bewegt führt, mit deren Hilfe der Patient seine Strukturen im
werden.Wenn wir selbst dazu nicht in der Lage sind, Mund und den Speichel besser spüren kann, dies löst oft
müssen so früh wie möglich von außen gesetzte Reize unwillkürlich eine motorische Reaktion,manchmal sogar
und Stimuli und geführte Bewegungen unsere fehlen- ein Schlucken aus. Hamdy et al. (1997, 2000), erforschen
de Eigenaktivität und Selbststimulation ersetzen. derzeit den Einfluss von gezielter Stimulation auf die Re-
organisation der Schluckfähigkeit nach zentralen Schädi-
Die therapeutischen Hilfen sind zu Beginn v. a. taktiler gungen.
Art. Dies bringt den großen Vorteil, dass Patienten für die Nach Jeannerod (1997) aktivieren das Beobachten ei-
Therapie nicht wach sein müssen und nicht unbedingt ner Aktion aber auch ihre mentale Vorstellung Neuronen,
über Sprachverständnis zur Ausführung von Bewegun- die für Planung und Durchführung motorischer Leistun-
gen verfügen. gen notwendig sind. Deshalb kommen auch visuelle Hil-
fen der Therapeutin zum Einsatz, z. B. das Vormachen
> Beispiel alltäglicher mimischer und Zungenbewegungen, die der
Der Patient liegt seit einer Stunde in Seitenlage links. Patient nach Möglichkeit imitieren soll.
Die Arbeit beginnt mit der Veränderung seiner Aus-
gangsposition. Er wird mit eindeutigen therapeuti- i Praxistipp
schen und pflegerischen Hilfestellungen auf die rechte Neben den Händen kommen auch visuelle Hilfen
Seite gelagert. Sind dabei Ansätze einer Schluckinitiie- zum Einsatz.
rung erkennbar, wird das Umlagern unterbrochen und Die Erfahrung zeigt, dass bei schwer betroffenen
eine Schluckhilfe angeboten. Mit der weiteren fazio- Patienten zum einen das Imitieren von Bewegungen
oralen Arbeit wird nach optimierter Positionierung eher zum Erfolg führt als das Umsetzen verbaler Auf-
in Seitenlage rechts fortgefahren. forderungen und zum anderen die Durchführung
isolierter, abstrakter Bewegungen oft nicht möglich
ist oder oft nur im Moment Wirkung zeigen.
1.3 · Die Therapie des Facio-Oralen Trakts
15 1

Rehabilitationsphase Patienten mit progredienten Erkrankungen


Die Verweildauer auf einer Intensivstation wird heute so Bei progredient verlaufenden neurogenen Erkrankun-
kurz wie möglich gehalten. Viele Patienten werden mit gen, z. B. Amyotrophe Lateralsklerose, Multiple Sklerose,
7 Trachealkanülen auf periphere Stationen oder in Abtei- müssen der jeweiligen Krankheitsphase entsprechend
lungen für Frührehabilitation weiterverlegt. Da eine ge- therapeutische Hilfestellungen und Hilfsmittel ange-
blockte Trachealkanüle das physiologische Schlucken be- passt werden. Eine Genesung des Patienten wird nicht
hindert, wird nach sorgfältiger Befundung und Abwä- erfolgen.
gung zahlreicher Faktoren zu prüfen sein, ob die Trache- Ziel kann es sein, dem Patienten so lange wie möglich
alkanüle entblockt oder in der Therapie entfernt werden eine angemessene Kommunikation und sicheres Essen
kann, um durch eine physiologische Lenkung des Aus- und Trinken (ggf. diätetisch modifiziert oder in Kombina-
atemstroms die Sensibilität im Rachen zu ermöglichen tion mit künstlicher Ernährung) zu ermöglichen und
und dadurch das Schlucken in seiner Frequenz zu erhöhen somit Lebensqualität zu erhalten (s. auch »Bewertung
(Seidl et al. 2002) und in seiner Qualität zu verbessern (s. sicherheitsrelevanter Faktoren«, Kap. 3.4.2). Rechtzeitig
Kap. 6 und 7). müssen aber auch die verbleibenden Möglichkeiten oder
Verbessert sich der Allgemeinzustand und die Be- Notwendigkeiten künstlicher Ernährungsformen und al-
wusstseinslage eines Menschen, werden die eingangs ternativer Kommunikationshilfen aufgezeigt werden und
durch die Therapeutin initiierten basalen Reizsetzungen die Patienten ggf. darauf vorbereitet werden.
mehr und mehr durch die Fazilitierung (Bahnung, Er-
leichterung) aktiver und selektiver Funktionen abgelöst. i Praxistipp
An der Verbesserung mimischer und schluckrelevanter 4 Das therapeutische Vorgehen muss der
Bewegungen, an der Koordination von Atmung und Bewusstseinslage des Patienten angepasst
Schlucken und an der Stimm- und Sprechanbahnung werden.
wird gearbeitet. Kann der Patient aktiv(er) am therapeu- 4 Beim komatösen, nicht wachen Patienten
tische Geschehen teilnehmen, können zunehmend »hö- können (für ihn stellvertretend ausgeführte)
here« Ausgangsstellungen wie Sitzen, Stehen (siehe taktile Bewegungshilfen eine Deprivation mindern
»Ausgangsstellungen für die Behandlung« s. Kap. 5.7), oder verhindern und Bewegungsansätze wieder
Alltagshandlungen und Bewegungselemente in die bahnen.
Therapie mit aufgenommen werden. 4 In einem günstigen Rehabilitationsverlauf
werden die Koordination von Stimmgebung,
Spätphase Sprechen und die Nahrungsaufnahme auf der
Die oft lebenslang bestehenden Beeinträchtigungen der Basis einer optimierten Haltung und Bewegung
Haltungs- und Bewegungskontrolle durch z. B. Hemi- erarbeitet und die Integration dieser Funktionen
und Tetraparese bergen die Gefahr von Sekundär- und angestrebt.
Langzeitschäden in sich, denen frühzeitig, d. h. schon in 4 Bei pflegebedürftigen Patienten bestimmen
frühen Phasen, und langfristig therapeutisch begegnet auch präventive Gesichtspunkte das Vorgehen.
werden muss.Ist eine vollständige orale Ernährung bisher
nicht möglich geworden, wird eine kombinierte Ernäh-
rungsform (oral und Sondennahrung) angestrebt. Eine
tägliche orale Nahrungsgabe auch kleinster, diätetisch
modifizierter Mengen hält die Bewegungsfähigkeit der
schluckrelevanten Strukturen aufrecht und kann das
Schleimhautmilieu im Schlucktrakt gesund erhalten (s.
»Therapeutisches Essen«, Kap. 3.5.2).
16 Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen

1.3.3 Die vier Bereiche der F.O.T.T. und Trinken sind wichtiger Bestandteil der mensch-
1 lichen Kultur und eine Form der menschlichen Kommuni-
Wir atmen beim Kauen und nach dem Schlucken, wir kation, von der Geburt (Tauffeiern) bis zum Tode (Lei-
schlucken beim Zähneputzen und beim Sprechen. Wir chenschmaus). Diese Tatsachen prägen auch die F.O.T.T.-
sprechen während des Essens, unser Gesichtsausdruck Sichtweise zum Thema »Schlucken« und so wird in Kapi-
und die mimischen Ausdrucksmöglichkeiten wechseln tel 3 treffend formuliert:
ständig während all dieser Vorgänge. »Nahrungsaufnahme dient neben der Ernährung und
Der folgende Abschnitt soll in die konzeptionelle dem Genuss, der alltäglichen Begegnung mit unseren
Sicht- und Vorgehensweise der vier großen F.O.T.T.-Berei- Mitmenschen und folglich der Nährung sozialer Kon-
che einführen: takte.« (Müller Kap. 3)
4 Nahrungsaufnahme,
4 Mundhygiene, > Beispiel
4 Nonverbale Kommunikation, Wir produzieren Speichel beim Anblick und Geruch
4 Atmung – Stimme – Sprechen. von Speisen und schlucken ihn. Bekommen wir eine
Tasse Kaffee ans Bett gereicht, verändern wir auto-
Diese Aufteilung ist künstlich und hat didaktische Grün- matisch unsere Position, um ihn sicher zu schlucken.
de. Das folgende Beispiel zeigt, wie die verschiedenen Wir führen Nahrung zum Mund und öffnen dabei
F.O.T.T.-Bereiche ineinander greifen und kein Bereich un- angepasst unseren Kiefer …
abhängig vom anderen therapiert werden kann.
Es finden also Handlungsabläufe vor dem eigentlichen
> Beispiel Schlucken von Nahrung statt, die den weiteren Verlauf
Nicht selten ist bei Patienten, die das erstem Mal beeinflussen. Die prä-orale Phase, deren Bedeutung und
Stimme geben oder zum Sprechen ansetzen wollen, Einfluss auf den Schluckvorgang mittlerweilen anerkannt
zuerst ein Schluckvorgang zu beobachten: Bei der ist,wird von Coombes im Rahmen der Schlucksequenz als
Initiierung einer Sprechbewegung werden durch den eigenständige Phase beschrieben und in die Therapie
Ausatem die in der Mundhöhle und/oder im Rachen- miteinbezogen (s. auch Kap. 3.3.2).
raum befindlichen Speichelresiduen bewegt und
dadurch gespürt. Dies führt dann zum (ggf. Die Schlucksequenz nach Coombes
therapeutisch unterstützten) Abtransport des Die Schlucksequenz besteht aus folgenden Phasen:
Speichels und Schlucken und erst anschließend 4 Prä-orale Phase
wird erneut zum Sprechen angesetzt. 4 Orale Phase
1. Bolusformung
Im deutschsprachigen Raum wurde in den letzten 20 Jah- 2. Bolustransport
ren besonders der F.O.T.T.-Bereich Nahrungsaufnahme 4 Pharyngeale Phase
bekannt, da die Vorgehensweise bei Patienten mit gravie- 4 Ösophageale Phase
renden Problemen der Schlucksequenz und/oder mit (Coombes 1996)
komplexen neurogenen Störungen der Sensomotorik
und der Wahrnehmung Therapiemöglichkeiten eröffnet. Die Erkenntnisse über normale Bewegung und 7 Bewe-
Für diese schwer betroffenen Patienten hat sich auf der Ba- gungsmuster, das Wissen um unsere Möglichkeiten der
sis dieser vier Bereiche auch ein spezielles Trachealkanü- Haltungs- und Bewegungskontrolle (s. Abschn. 1.1.1) kön-
len-Management entwickelt, das heute ein wichtiger Teil nen auf den Vorgang der Nahrungsaufnahme übertragen
der F.O.T.T. ist (s. Kap. 7). werden.
Bei einer normalen, physiologischen Schlucksequenz
F.O.T.T.-Bereich Nahrungsaufnahme lassen sich differenziert abgestimmte Bewegungsabläufe
Wenn Menschen zusammentreffen,miteinander kommu- und -muster erkennen, die sich zusammensetzen aus
nizieren, verbinden sie das oft mit einem gemeinsamen 4 willkürlichen und automatisierten Bewegungen (wie
Essen. Dies ist eine Möglichkeit, seine Anerkennung, Für- angepasstes Mundöffnen, Kauen etc.),
sorge, Zuneigung und Gastfreundschaft zu zeigen. Essen
1.3 · Die Therapie des Facio-Oralen Trakts
17 1

4 automatischen Bewegungen (das eigentliche »Schlu- Auch die Bewertung des Fehlens eines Würgreflexes bei
cken« in der pharyngealen Phase) und klinischer Testung ist fragwürdig. Bei einem nicht unbe-
4 Kontroll- und Schutzmechanismen. trächtlichen Teil gesunder Menschen (10 % der Frauen,
40 % der Männer) lässt sich in der Untersuchungssitua-
Schutzreaktionen kommen besonders dann zum Tragen, tion kein Würgreflex auslösen (Logemann 1998).
wenn der Schluckvorgang nicht erfolgreich verlaufen ist.
! Vorsicht
Kontroll- und Schutzmechanismen Die Effizienz der Schutzmechanismen Niesen,
Atem-Schluck-Koordination Husten und Würgen erweist sich in letzter Konse-
Während des Schluckens ist die Atmung unterbrochen. quenz oft nur im Alltag – im Ernstfall!
Atmung und Schlucken verhalten sich reziprok. Nach
dem Schlucken wird i. d. R. reflektorisch kurz ausgeatmet, Viele der »schluckgestörten« Patienten haben Beein-
um verbliebende Reste zu spüren und ggf. zu räuspern, trächtigungen im gesamten Vorgang der Nahrungsauf-
husten und/oder wieder zu schlucken. nahme, die »als komplexer Teil einer ganzkörperlichen
Problematik zu sehen sind« (Gratz u.Woite 2000) und die
Reinigen der »Schluckstrasse« den Schluckvorgang unsicher machen können (s. Kap.
Die Zunge kontrolliert und sammelt Reste in der Mund- 3.2.2).Es werden daher in der F.O.T.T. nicht nur die Störun-
höhle ein, die wir »nachschlucken«. Durch wiederholtes gen des Schluck»aktes« (= Boluspassage vom Mund in
Schlucken wird auch der Rachen von Resten (»Residuen«) den Magen), sondern die Störungen der Nahrungsauf-
gereinigt. nahme, der gesamten Sequenz analysiert und therapiert
(Nusser-Müller-Busch 1997).
Räuspern
Räuspern transportiert Material aus dem Hypopharynx i Praxistipp
hoch (eine abgeschwächte Form des Hustens). Besondere Aufmerksamkeit wird im F.O.T.T.-Bereich
Nahrungsaufnahme auf die Normalisierung von
Husten Haltung und Muskelspannung im gesamten Körper
Husten transportiert Nahrung,die in den Kehlkopf »pene- gelegt, um im weiteren Verlauf die physiologischen
triert« oder gar unterhalb der Stimmbänder »aspiriert« Bewegungsabläufe in den Phasen der Schluckse-
wird, wieder hoch. Husten ist aber nur dann effektiv, quenz und die Schutzreaktionen zu bahnen und
wenn wir das Hochgehustete danach schlucken oder aus- zu unterstützen.
spucken.
F.O.T.T.-Bereich Mundhygiene
Würgen/Erbrechen Wir nehmen die Fähigkeit des Aufspürens von Essensres-
Würgen befördert bei Gefahr den Bolus reflektorisch aus ten in den Zahnzwischenräumen und die motorischen
dem Rachen in die Mundhöhle und kann Erbrechen ein- Aktivitäten unserer Zunge beim Entfernen – oder ersatz-
leiten. weise das Hantieren mit Zahnstochern und allerlei diffi-
zilen Gerätschaften – als selbstverständlich hin. Aber
Niesen auch uns Gesunden kann es passieren, dass wir beim
Niesen befördert in den Nasenrachenraum eindringen- morgendlichen »verschlafenen« Zähneputzen würgen
des Material aus der Nase. müssen. Das Auslösen der körpereigenen Schutzreaktion
– hier eine Überreaktion – zeigt, dass unser sensorisches
: Beachte intraorales System für unvorhergesehene Inputs noch
Willkürliches Husten und das im Alltag äußerst selten nicht genug vorbereitet ist. Wir gehen in der Folge also
auftretende Husten nach Aufforderung ist nicht vorsichtiger und zarter ans Werk, damit unsere Mund-
gleichzusetzen mit einem unwillkürlichen, reflektori- höhle noch ein bisschen Zeit zum Aufwachen hat. Im Lau-
schen Husten als Antwort auf einen irritierenden, fe des Tages wird dieses Problem nicht mehr auftreten:
gefährdenden Reiz im Rachen oder in den Atem- Wir sprechen, schlucken unseren Speichel, essen, trinken,
wegen. und geben uns dadurch ständig taktilen Input im oralen
18 Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen

Trakt so wie wir das den ganzen Tag über unbewusst auch In unserem Kulturkreis lernen wir, dass wir unsere Ge-
1 mit unseren Händen im Gesicht tun. sprächspartner beim Sprechen interessiert – oder zumin-
Das Säubern der Mundhöhle und der Zähne von dest nicht gelangweilt – anzusehen haben. In anderen
Essensresten hat bei den Patienten einen hohen und Kulturen ist es verpönt, Blickkontakt mit dem Lehrer auf-
sicherheitsrelevanten Stellenwert. Die strukturiert durch- zunehmen.
geführte Mundsäuberung soll die noch fehlenden oder Wir registrieren auch verschiedene Formen assoziier-
eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten des Patienten ter Bewegungen im Gesicht bei Tätigkeiten, die jemand
ersetzen und ihn anleiten,die Mundhygiene später wieder präzise ausführen will.
allein ausführen zu können. Diese Berührungen und
Manipulationen sind nicht zufällig oder gar »überfalls- > Beispiel
artig«, sondern die taktilen Informationen werden klar, Einen Faden durch ein dünnes Nadelöhr zu fädeln
eindeutig und strukturiert gesetzt. Für den Patienten oder eine neue Sportart erlernen.
sind das Möglichkeiten, im Laufe des Tages Erfahrungen
im Mundbereich zu machen (s. Kap. 4). Beherrschen wir allmählich die neuen Bewegungsabläu-
fe, werden diese – mitunter auch verzerrt wirkenden – Va-
: Beachte rianten unseres Gesichtsausdrucks nur mehr dann auf-
Neben der Gesunderhaltung der Mundhöhle dient treten, wenn uns der Ehrgeiz packt und wir z. B. den Ball
der F.O.T.T.-Bereich Mundhygiene immer auch als: besonders präzise in den Korb werfen wollen. In profes-
»Medium zur Problemanalyse am Patienten, zur sionell ausgeübten Sportarten grenzen diese Mitbewe-
Anbahnung physiologischer Bewegungsabläufe gungen oft schon an 7 assoziierte Reaktionen.
und der Vermeidung von Sekundärproblemen«
(Elferich u.Tittmann, Kap. 4). > Beispiel
Man denke nur an Monica Seles, an ihre Körperhal-
F.O.T.T.-Bereich Nonverbale Kommunikation tung, ihren Gesichtsausdruck und ihre unwillkürliche
Körpersprache und Mimik verraten viel über uns Men- »assoziierte (Mit)Phonation« beim Schlagen des
schen. Unsere auf dieser Ebene gezeigten Gefühle wie Zu- Tennisballes über das Netz, die sie auch nicht abstellen
neigung, Ängste,Akzeptanz oder Ablehnung werden vom kann, wenn die Zuschauer darüber lachen.
Empfänger schneller wahrgenommen als verbal Geäu-
ßertes. Jeder, der schon mal das Phänomen »Liebe auf Da der F.O.T.T.-Bereich Nonverbale Kommunikation
dem ersten Blick« erleben konnte, weiß wovon die Rede meistens in der Vorbereitung und Therapie der Nah-
ist. Vom Säuglingsalter an lernen wir mimisch zu reagie- rungsaufnahme integriert wird, ist ihm in diesem Buch
ren und im Laufe der Kindheit unsere Gefühle auszu- kein eigenes Kapitel gewidmet.Daher sollen im Folgenden
drücken. Eltern erkennen den gleich einsetzenden Wut- die Überlegungen zum therapeutischen Vorgehen erläu-
anfall ihrer Kleinkinder noch bevor ein Laut ausgestoßen tert werden:
ist. Wir lernen auch, Nonverbales zu interpretieren und Viele unserer Patienten haben Sensibilitäts- und Be-
wissen um die Bedeutung des differenzierten Spiels der wegungsstörungen im Gesichts- und Mundbereich. Ein
Gesichtsmuskeln von Menschen, die wir gut kennen. differenziertes Mienenspiel ist nicht mehr möglich:
4 Der Gesichtsausdruck ist oft starr und wirkt abweisend.
> Beispiel 4 Die Bewegungen sind verlangsamt und oft nicht sehr
Wir erkennen und nehmen wahr, ob der Chef langsam differenziert.
nervös wird, weil wir uns nicht kurz genug fassen oder 4 Die Asymmetrie der Gesichtszüge durch eine Fazialis-
ihm das Thema unangenehm ist. parese verstärken sich oft bei Aktion.
Wir wenden uns einem lächelnden Mitmenschen 4 Fehlende Sensibilität im Mundraum beeinträchtigt
(aber auch einem lächelnden Patienten?) eher und das Spüren und Wahrnehmen des Speichels. Der
öfter zu als einem, dessen Gesichtsausdruck wir als Mund steht offen, es kommt zu permanentem Spei-
missmutig, ernst oder abweisend interpretieren. chelfluss oder 7 protruhierende Zungenbewegungen
befördern dann den Speichel aus dem Mund heraus
statt ihn in den Rachen zu transportieren.
1.3 · Die Therapie des Facio-Oralen Trakts
19 1

Die sozialen Folgen sind bekannt. Aber auch bei körper- Die kompensatorische Haltearbeit (ggf. sogar Fixie-
lich anstrengenden Aktivitäten, wie erste Gehversuche rung) des Kopfes oder Rumpfes kann dann entfallen.
oder die Zahnbürste zum Mund führen,sind oft Mitbewe- Die Aufmerksamkeit und vorhandenen Kapazitäten
gungen und Reaktionen im Gesicht als Zeichen der An- können wieder auf das Spüren und Ausführen
strengung und fehlender selektiver Bewegungsmöglich- mimischer Bewegungen gerichtet werden.
keiten wahrzunehmen. Bei einigen Patienten bietet sich als Ausgangs-
stellung (unterstütztes) Stehen an. Die Aufrichtung
: Beachte kann eine physiologischere Stellung des Nacken und
Mimische Bewegungen erfolgen nicht losgelöst vom Kopfes (»langer Nacken«) ermöglichen.
Körper. Auch ihre Beeinträchtigungen sind daher nicht
isoliert zu sehen oder isoliert zu behandeln. Oft sind Durch eine für den Patienten günstige Ausgangsstellung
sie Teil eines komplexen Musters, das aus eigenen (s. Kap. 5) wird eventuell schon eine hilfreiche, verbesser-
Impulsen nicht aufgelöst werden kann. te Kopf-/Nackenbeweglichkeit erreicht oder es kann an
diesen Basismaßnahmen gearbeitet werden (Davies 1995;
> Beispiel Nusser-Müller-Busch 2001).
Therapeutische Bemühungen, die Stirn eines Patien- Das taktile Führen von Bewegungen im Gesicht und
ten zu bewegen, der konstant die Augenbrauen mit intraoral ermöglicht,dass alltäglich benötigte Abläufe wie
hochzieht, werden scheitern, wenn man sich nur auf »Mund spitzen« »lächeln« wieder gespürt und (ggf. mit
die Stirn konzentriert und den »erstaunten Gesichtaus- Hilfe) durchgeführt werden können.
druck« nicht als Teil und Folge eines Musters erkennt. Ist eine Gesichtsseite durch eine Lähmung mehr be-
Es gilt den Blick von der Stirn zu lösen, um u. U. troffen, können die mimischen Bewegungen auf dieser
die weit geöffneten Augen, den offenen, zurück- Seite taktil unterstützt werden. Die oft auftretende Über-
gezogenen Kiefer, den »kurzen Nacken«, den hypoto- aktivität der weniger betroffenen Seite, die die Asymme-
nen, flektierten Rumpf, das nach hinten fixierte Becken trie noch zusätzlich verstärken kann, wird ggf. gehemmt.
als abnormes gesamtkörperliches Muster wahrzu-
nehmen. : Beachte
Das zusätzlich eingesetzte, visuelle Vorbild der Thera-
Wird schwerpunktmäßig an der Verbesserung der Mimik peutin ist oft eine für Patienten leichter umzusetzende
gearbeitet, kann es sein, dass die sitzende Ausgangsstel- Hilfe als verbale Instruktionen.
lung u. U. nicht hilfreich ist, da sie das oben beschriebene
Körpermuster provozieren oder unterhalten kann. Sitzen Bei dauerhaft hohem Tonus kann mittels der Hände des
fordert dem Patienten viel Haltungstonus ab, entspre- Patienten oder des Therapeuten Unterstützungsfläche im
chend weniger »(Rest-)Kapazität« steht dann für die selek- Gesicht geboten werden, damit die darunter liegenden
tiven Bewegungsausführungen im Gesicht zur Verfügung. Muskeln in ihrer Spannung nachlassen kann.
Erst Veränderungen am Haltungshintergrund wie Bei schlaffem Tonus werden u. U. kurze, feste Reize
Becken- und Rumpfaufrichtung oder die Wahl einer für mit Druck – tapping – zur Aktivierung der Muskelspan-
den Patienten geeigneteren Behandlungsposition, die nung eingesetzt.
eine Veränderung der Kopfposition, der Nacken-, Kopf-
und Gesichtsmuskulatur nach sich ziehen,können zeigen, ! Vorsicht
ob die hochgezogene Stirn Teil eines kompensatorischen Thermale Kältereize im Gesicht werden in der F.O.T.T.
Gesamtmusters ist (s. Kap. 2). nicht verwendet, da sie bei wahrnehmungsge-
störten Patienten ein zu starker (»überfallsartiger«)
i Praxistipp Reiz/Stimulus sein können. (Orientierung am
Bei vielen Patienten ist eine stärker unterstützte Normalen: Eis im Gesicht kommt in unserem
Ausgangsstellung z. B. Seitenlage von Vorteil, Alltag auch nur höchst selten vor!).
in der das Gewicht von Kopf und Rumpf auf eine
Unterstützungsfläche abgegeben werden kann.
6
20 Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen

Auch das Zusammenspiel so vieler kleiner Muskeln beim und ihrer Koordination oft gemeinsam auf. Die Patienten
1 mimischen Ausdruck lässt eine gezielte Eisbehandlung haben Probleme, Bewegungsabläufe koordiniert auszu-
im Gesicht eher fragwürdig erscheinen. Ebenso kann das führen. Das Durchführen selektiver Bewegungskompo-
Phänomen der Fehlsprossung des N. facialis bei seiner nenten und das Überführen dieser zu Bewegungssyner-
Regeneration u. U. begünstigt werden (Poeck 1982). gien sind aufgrund der gestörten,veränderten neuromus-
Intraoral kann Eis angewendet werden, aber auch kulären Aktivität nicht oder nur eingeschränkt möglich.
Vibration (z. B. intraorale Stimulation des M. buccinator Der F.O.T.T.-Behandlungsbereich umfasst die Arbeit an
mit der elektrischen Zahnbürste). 4 der Atmung,
4 der Stimmgebung und
: Beachte 4 des Sprechens.
Die Durchführung isolierter Stimulationen um
ihrer Selbst willen ergeben keinen Sinn. Es sollte Durch Einflussnahme auf die Haltung und Regulierung
eine Aktion, eine motorische Antwort in Form einer der Körperspannung werden die Voraussetzungen dafür
Bewegung folgen. geschaffen, dass die an der Atmung beteiligte Muskulatur,
die Artikulationsorgane etc. effizienter arbeiten können.
> Beispiel Initial muss oft erst an der Koordination von Atmung und
Nach intraoraler Vibration des M. buccinator werden Schlucken gearbeitet werden, bevor Laute wieder gebahnt
z. B. im Wechsel Artikulationsbewegungen fazilitiert werden können (s. Kap. 5).
wie »e« (Funktion: Mund breit ziehen) und »u«
(Funktion: Mund spitzen) oder kurze Wörter, in Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T.
denen diese Vokale enthalten sind. Die Hilfe durch die Trachealkanüle bei der Beatmung
oder/und bei schluckgestörten und aspirationsgefährde-
Die Behandlung des »vernachlässigten« Gesichtes ist ten Patienten – zu Beginn ein »Segen« – kann aus vieler-
bei Davies (2002) in Zusammenarbeit mit Coombes be- lei Gründen zum »Fluch« werden. Zu den negativen Aus-
schrieben. wirkungen der Trachealkanülen zählen:
4 mechanische Einschränkungen des Schluckvorganges,
F.O.T.T.-Bereich Atmung – Stimme – Sprechen 4 Einschränkungen der Kommunikation,
Die erste Aktivität eines gesunden neuen Erdenbürgers ist 4 sich erst später manifestierende Komplikationen wie
eine Atemaktivität, entweder ein Einatem oder ein Ausa- Trachealstenosen.
tem, gefolgt von Schreien (Alavi Kia u. Schulze-Schindler
1998). Die Entwicklung der Atemmuster, die darauf auf- . Übersicht 1.4 fasst zusammen, was in der Arbeit mit
bauende Ausbildung der individuellen Stimme, aber auch Trachealkanülen zu beachten ist.
die Fähigkeit der Bildung von Konsonanten gehen einher
mit verschiedenen Beuge-/Flexions- und Streck-/7 Ex-
tensionsphasen in der motorischen Entwicklung eines Übersicht 1.4: Arbeit mit Trachealkanülen
Kindes. Die weitere Automatisierung von Bewegungsab- In der Arbeit mit Patienten mit Trachealkanülen
läufen verfeinert im Laufe der Jahre unsere Artikulation. ist es notwendig:
Gleichzeitig ergreifen wir mit den Händen Gegenstände 4 die entsprechenden Überwachungsparame-
und be«greifen« so im weiteren ihre Namen und beginnen ter beim monitoring (z. B. Sauerstoffsättigung
die Sprache zu erlernen. im Blut) beurteilen zu können.
Dass wir mit der uns eigenen Sprechstimmlage,modu- 4 die funktionellen Voraussetzungen und
liert, sprechrhythmisch und mit präziser Artikulation Kriterien für ein Dekanülement zu kennen,
verständlich sprechen können, basiert auf dem soliden 4 das therapeutische Vorgehen bei der Ent-
Fundament einer physiologischen Haltung und Atmung. wöhnung von der Trachealkanüle (inklusive
Wie entscheidend dieses Fundament ist, wird erst klar, Absaugtechniken und Wechsel der Tracheal-
wenn es nicht mehr tragfähig ist. Bei zentralen Hirnschä- kanülen) in Kombination mit
digungen treten 7 Dysphagien und 7 Dysarthrophonien, 4 dem therapeutischen Know-how der Schluck-
d. h. zentrale Störungen der Atmung, Stimme, Sprechen und Stimmanbahnung zu beherrschen.
1.4 · Das interdisziplinäre 24-Stunden-Konzept
21 1

Das Wissen über Trachealkanülen, Wege zur Dekanülie- tigen von Alltagsfunktionen und Aktivitäten des täg-
rung sind noch nicht sehr verbreitet. Im therapeutischen lichen Lebens ein.
Umgang mit diesen Patienten bedarf es u. a. der Beurtei- 4 Pflegende lagern, transferieren, reichen Essen an und
lung des Schutzes der unteren Atemwege, seiner körperei- führen die Mundhygiene durch.
genen Kontroll- und Abwehrmöglichkeiten auf der Basis 4 Sprachtherapeuten aus den Bereichen Logopädie,
eines suffizienten Haltungshintergrundes. Die Kapitel 3, 6 Sprachheilpädagogik und Linguistik bringen speziel-
und 7 zeigen hier die Beeinträchtigungen der physiologi- le Kenntnisse im Umgang und in der Behandlung von
schen Abläufe und Kriterien auf dem Weg zurück zur Schluck-, Stimm- und Sprech- und Sprachstörungen
Physiologie auf. Ein qualifiziertes Trachealkanülen-Ma- ein.
nagement bei neurologischen Patienten ist dringend er-
forderlich. Es kann Rehabilitationszeit verkürzen, Kosten Und trotzdem passiert es nicht selten, dass die »Spezialis-
senken und die Lebensqualität der betroffenen Patienten ten« im Laufe ihrer Arbeit in der neurologischen Rehabi-
verbessern helfen (siehe Abschnitt 1.5.2). litation immer deutlicher ihre »Defizite« und ihre Hilf-
losigkeit merken, mit den basalen Problemen des Patien-
ten umzugehen. Das Arbeiten an den spezifischen Auf-
1.4 Das interdisziplinäre 24-Stunden- gaben gestaltet sich mitunter schwierig:
Konzept 4 Das Erkennen einer asymmetrischen Kieferstellung
und einer in den Rachen »zurückgezogenen« Zunge
Ein 24-Stunden-Konzept ist nur auf der Basis einer gut helfen einer Therapeutin nicht weiter, wenn sie nicht
funktionierenden Gemeinschaft (Patient, Angehörige in der Lage ist, das Problem ganzkörperlich zu sehen
und Team) zu verwirklichen, die verstanden hat, dass sie und z. B.dem Patienten aus seiner zusammengesunke-
den Kampf gegen ein rund um die Uhr gestört arbeiten- nen Haltung »herauszuhelfen« und Rumpf-, Kopf-
des zentrales Nervensystem aufnehmen muss. und Nackenmuskulatur zu mobilisieren!
4 Essen anreichen im Bett deckt zwar den Kalorienbe-
darf des Patienten, entspricht aber nicht dem Rehabi-
1.4.1 Individuelle und multidisziplinäre litationsziel, dem Patienten zu sicherer, selbständiger
therapeutische Kompetenz Nahrungsaufnahme zu verhelfen!
4 Das Durchführen neuropsychologischer Tests und
»Feel the patient’s body function« Therapie in Rückenlage im Bett fördert weder das Si-
»Spürt die Körperfunktionen des Patienten«, tuationsverständnis noch die Alltagskompetenz der
(Kay Coombes 2002) Patienten!

Um im konkreten Tun mit dem Patienten seine Probleme, i Praxistipp


die Abweichungen von der Norm wahrnehmen und beein- Die Teammitglieder müssen in der Lage sein oder es
flussen zu können, sind neben theoretischem Wissen die erlernen, den Patienten (ev. mit anderen Teammit-
Fähigkeiten der Therapeutin,zu sehen und beobachten,zu gliedern gemeinsam) aus dem Bett zu transferieren
spüren und zu bewegen, zu hören, zu riechen, und alle und am Tisch in eine geeignete Ausgangsstellung zu
ihre weiteren »siebten« Sinne gefragt. bringen. Erst dann kann mit der therapeutischen
Viele Berufsgruppen arbeiten an der Rehabilitation Vorbereitung und ggf. dem Essen anreichen oder der
eines neurologischen Patienten mit und jede Berufsgrup- Durchführung neuropsychologischer Tests begon-
pe verfügt über spezielles Wissen, hat ihre Sichtweise und nen werden.
Erfahrung im Umgang mit dem Patienten und den jewei-
ligen Störungsbildern. Teaminterne Fort- und Weiterbildungen sind dafür not-
4 Physiotherapeuten bringen ihr komplexes Wissen wendig. In regelmäßigen Selbsterfahrungen können
über normale Haltung, Bewegung, Atmung und den normale Bewegungen gespürt und bewusst nachvollzo-
Umgang mit Störungen dieser Bereiche ein. gen werden. Man lernt dabei, wie es dem Patienten in ei-
4 Ergotherapeuten setzen dieses (und ihr Spezial)Wis- ner zusammengekauerten Stellung, bei erhöhtem Span-
sen in der Anleitung des Patienten zum Wiederbewäl- nungszustand der Muskeln geht, ob und wie man dann
22 Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen

noch in der Lage ist, zu sprechen oder mit nach hinten Das heißt, Abstand zu nehmen von »berufsgruppen-
1 überstrecktem Kopf zu schlucken.Wer solche Situationen bedingten Neglekten«.
an sich selbst erlebt und die anschließenden wohltuenden Das erfordert Bereitschaft zur Kommunikation, fach-
Korrekturen und Erleichterungen durch eine sachgemäße lichen Austausch, um sich auf ein einheitliches Vorgehen
Hilfestellung erfahren hat,wird wesentlich aufmerksamer verständigen zu können.
die aktuellen Beeinträchtigungen der Patienten zu verän- Das erfordert aber auch, in gemeinsamen Schulun-
dern suchen. gen, in Selbsterfahrungen die Situation des Patienten zu
Das bewusste Erspüren normaler Funktionen wie erleben, nachzuempfinden.
Kauen, Schlucken Atmen etc., das Erleben von Stabilität, Das adäquate Handling im Umgang mit dem Patien-
die ein gut angesetzter Kieferkontrollgriff geben kann, ten muss von ALLEN in der neurologischen Rehabilitation
und das Erleben von Sicherheit bei einem strukturiert arbeitenden Berufsgruppen beherrscht werden.
durchgeführten Transfer vom Bett in den Stuhl, gibt den Von den anderen zu lernen,bietet die Möglichkeit und
Teammitgliedern differenziertere Möglichkeiten »an die Chance, das eigene Wissen und seine eigenen therapeuti-
Hand«, die Patienten therapeutisch effizient zu unterstüt- schen Möglichkeiten zu erweitern!
zen. Die Patienten profitieren davon,wenn das Team realis-
tische Ziele verfolgt, die in regelmäßigen Teamkonferen-
i Praxistipp zen oder Besprechungen nach der Sammlung und Analy-
Theoretische Fortbildungen und praktische Selbst- se der Beobachtungen gemeinsam formuliert werden.
erfahrungs-Workshops im interdisziplinären Team Das bedeutet, dass alle Berufsgruppen ihre Vorgehens-
erweitern die therapeutische Kompetenz. weise auf dieses Ziel hin prüfen, im Team abstimmen und
Das Üben therapeutischer und pflegerischer Kompetenzen klar geregelt werden. Ein Teammitglied
Techniken mit anderen hat den großen Vorteil, sollte koordinierend für einen Patienten zuständig sein.
dass Rückmeldung gegeben werden können, Im häuslichen Bereich sind dies meist die Angehörigen,
ob das Handling angepasst ist oder noch mal die die koordinierende Schlüsselrolle innehaben.
verändert werden muss. Die Patienten können uns
diese Rückmeldungen oft nicht verbal geben.
1.4.3 Der 24-Stunden-Tag

1.4.2 Das interdisziplinäre Team Wie Schlaegel und Lipp in Kapitel 8.1.2 zutreffen schrei-
ben, bedeutet ein 24-Stunden-Konzept nicht, dass die Pa-
Das interdisziplinäre Team setzt sich aus allen Beteiligten tienten ständig Therapie haben. Ruhepausen, sogenannte
zusammen, die sich im Rahmen eines Klinikaufenthaltes »hands-off«-Phasen, dienen der Erholung aber auch der
oder in der häuslichen Betreuung und Langzeitpflege um Verarbeitung und sind für die Rehabilitation genauso
das Wohl eines Patienten kümmern. Zum multiprofessio- notwendig wie die »hands-on«-Phasen. Es bedeutet, dass
nellen Team zählen Ärzte, Pflege, Therapeutinnen der die vorab festgelegten Prinzipien und Vorgehensweisen
Physio- und Ergotherapie, Logopädie und alle im jeweili- zu jeder Tageszeit bei Untersuchungen, in der Therapie
gen Team mitarbeitenden Berufsgruppen wie Neuro- und bei der Durchführung von Pflegemaßnahmen und
psychologen, Freizeit- und Musiktherapeuten, etc.. Im Besuchen beachtet und umgesetzt werden.
Rahmen des stationären Aufenthaltes des Patienten hat
die Pflege eine Schlüsselfunktion. Sie ist die Berufsgrup- > Beispiel
pe,die den Patienten in seinem Tagesablauf kontinuierlich Eine, aber auch drei Einzeltherapien pro Tag bringen
begleitet und die meisten Aktivitäten mit ihm durchführt. den Patienten nicht weiter, wenn er stundenlang
zusammengesunken im Rollstuhl sitzt oder den
: Beachte Rest des Tages in Rückenlage im Bett verbringen
Jede Berufsgruppe muss bereit sein, von den anderen würde.
Berufsgruppen zu lernen.
1.5 · Nutzen und Kosten
23 1

Abgesehen von der Dekubitusgefahr und der Gefahr der 1.5 Nutzen und Kosten
übersteigerten Strecktendenz im Körper (z. B. Spitzfuß-
gefahr),die die Rückenlage mit sich bringt,würde kein ge- Im Titel dieses Abschnittes soll es entgegen dem norma-
sunder Mensch mehrere Stunden in derselben Position len Sprachgebrauch gestattet sein, die Nutzen für den
verbringen. Patienten VOR den Kosten zu platzieren. So wichtig heute
die Finanzierungsprobleme im Gesundheitswesen sind,
: Beachte der Patient sollte immer an erster Stelle der Betrachtung
Jede Veränderung, jedes Positionieren, jedes Umlagern stehen.
des Patienten und viele Pflegemaßnahmen und
Alltagsverrichtungen (Wegziehen der Bettdecke,
Mundhygiene, Mundabwischen, Fieber- und Blut- 1.5.1 »Wer A sagt, muss auch B sagen!«
druck messen etc.) bieten dem Patienten Möglich-
keiten, Erfahrungen zu machen und zu lernen. Die Fortschritte der Medizin,der flächendeckende Ausbau
Es ist notwendig, dass bei allen Alltagsverrichtungen der Notfall- und der intensivmedizinischen Versorgung zog
des 24-Stunden-Tages die festgelegten Prinzipien den Ausbau neurologischer Rehabilitationskliniken nach
immer wieder angewendet werden. sich. Die Behandlung von Patienten der Phase A (Akut)
und B (Frührehabilitation) erfordert einen hohen Bedarf
Wenn kleinschrittig daran gearbeitet wird, dass der an Personalleistungen. Nach Schönle (1996) sind die Kos-
Patient Berührungen im Gesicht in unterschiedlichen ten der Frührehabilitation hoch, relativieren sich aber zu
Ausgangsstellungen und bei unterschiedlichen Tätigkei- denen der Intensivpflege. Der Autor berechnet in einem
ten zulässt ohne mit Zähneknirschen oder festem Kiefer- Personalanforderungsprofil für neurologische Rehabili-
schluss zu reagieren, so muss dies über den ganzen Tag tation den Stellenbedarf für die Kombination der Phasen
beachtet werden. B und C (Mischung der unterschiedlichen Schweregrade
Ein Transfer in den Alltag kann nur stattfinden, wenn der Patienten).Ausgehend von 4 Stunden Funktionsthera-
die in der Therapie und im Pflegealltag wiedererworbenen pie pro Patient und Tag ergeben sich Stellenschlüssel für
Fähigkeiten und Fertigkeiten bei allen Verrichtungen und Pflegepersonal und Therapeuten (. Übersicht 1.5).
Tätigkeiten im Laufe des Tages erneut, aber in verschiede-
nen Situationen erfahrbar sind und angewendet werden.
So können Regeln gebildet, so kann gelernt werden. Übersicht 1.5: Stellenschlüssel in der
Hilfestellungen sollten durch alle Teammitglieder und Frührehabilitation
angeleitete Angehörige strukturiert und therapeutisch 4 2,27 Pflegekräfte pro Patient, die sowohl
erfolgen, wann immer sie erforderlich sind. kurativ – wie rehabilitationsmedizinische
4 Wir leben und arbeiten in Gemeinschaft mit anderen. Aufgaben haben.
Besonders als Patient ist man auf die Hilfe anderer 4 Ein Therapeut auf 1,15 Patienten.
Menschen angewiesen. Im 24-Stunden-Konzept ar- 4 Aufteilung der Therapeutenstellen:
beiten die geschulten Mitarbeiter des interdisziplinä- 4 40 % für Motorik (Statomotorik, Lokomo-
ren Teams an der Verbesserung der Spür- und Bewe- tion, obere Extremität)
gungsinformation rund um die Uhr. 4 30 % für orofaziale Funktionen (Kauen,
4 Schwer betroffene Patienten brauchen zu Beginn Schlucken, Sprechen) und Kommunikation
(und manchmal auch später) zwei Teammitglieder in 4 30 % für mental/kognitive Funktionen
Co-Therapie zum Transferieren, Positionieren und 4 Doppel- bis Dreifach-Therapien sind im Pfle-
Lagern oder für die Durchführung einer effizienten geschlüssel mit eingerechnet. Bei Reduzierung
Therapie. Dies erfordert Teamarbeit, ausreichend des Pflegestellenschlüssels müssen diese dem
Personal und viel Zeit! Therapeutenschlüssel zugerechnet werden.
4 Der ärztliche Stellenschlüssel ist von der
Größe der Klinik abhängig.
(Schönle 1996)
24 Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen

Kostenträger, die diese Stellenschlüssel in den Pflege- ten Aufwendungen von Phase zu Phase ab. Die Personal-
1 sätzen nicht berücksichtigen, Rehabilitationskliniken, die situation in Langzeitpflegeeinrichtungen ist bekannter-
diesem Personalschlüssel nicht entsprechen, können we- maßen schon seit langem vollkommen unzureichend.
der die Aufgaben einer Frührehabilitation gewährleisten Dies führt zu Sekundärkomplikationen (z. B. Aspira-
noch Qualitätsstandards erfüllen oder sichern! tionspneumonien, Dekubiti, Kontrakturen, Komplikatio-
nen durch langliegende Trachealkanülen, …), die medizi-
> Exkurs nisch versorgt werden müssen, und damit zu weiteren
Studien zu Kosten und Nutzen Kosten. Mitarbeiter der Aktukrankenhäuser kennen die-
der Frührehabilitation se bedauernswerten »Drehtürpatienten«.
Bisher gibt es nur wenig Publikationen, die den
Kosten-Nutzen-Effekt früher – und rechtzeitiger – > Exkurs
Therapie nachweisen. Nach Howarth (1995) wurden Untersuchungen zur Ernährungssituation
1992 in den USA 500 Millionen Dollar für künstliche und Therapieerfolgen
Ernährung ausgegeben. In nur 3 Jahren (1989–1992) Groher u. McKaig (1995) untersuchten in einer Review
stieg allein die Zahl der so versorgten ambulanten 212 Bewohner zweier Pflegeheime, die keine Therapie
Patienten um 115 %. hatten. 91 % waren auf eine Art Diät gesetzt, die nicht
Haaks u.Walkenbach (1999) zeigen in einer Studie indiziert war. Adäquat war die Ernährung nur bei 5 %
mit 233 neurologischen Patienten, dass 76,4 % mittels der Bewohner. 49 % waren auf eine Kost gesetzt,
F.O.T.T. und Funktioneller Dysphagietherapie (Barto- die für sie nicht sicher war.
lome 1999) wieder an eine komplette orale Ernährung Klor u. Milianti (1999) untersuchten den Effekt von
herangeführt werden konnten. Auf Basis dieser und Therapie und Management an 16 Bewohnern eines
anderer Daten rechnen sie die monatlichen Ausgaben Pflegeheimes mit zerebro-vaskulären Schädigungen.
für Sondenernährung auf 30 Millionen Euro hoch. Alle Bewohner waren zu diesem Zeitpunkt mindestens
Ginge man von einem Therapieerfolg von nur 50 % 10 Monate mit einer PEG versorgt und wiesen in einer
aus, könnten die Kosten halbiert werden. (Dies ent- zu Beginn der Studie durchgeführten radiologischen
spricht der Oralisierungsrate von 55 %, die Prosiegel Eingangsuntersuchung Aspirationen auf. Nach Ab-
et al. 2002) in einer prospektiven Studie an Patienten schluss einer durchschnittlich 7-wöchigen Therapie
der Phasen A – E fanden). Unter Berücksichtigung der (2–16 Wochen) konnten bei 10 von ihnen (67 %) die
unsicheren Datenlage, des noch nicht wissenschaftlich PEG entfernt werden. Bei ihnen wurde keine Aspiration
untersuchten Spontanverlaufs anhand einer Kontroll- mehr nachgewiesen. Die restlichen 6 Bewohner (37 %)
gruppe, halbieren die Autoren in ihrer Diskussion diese aspirierten nur mehr dünne Flüssigkeiten, wobei 5 mit
Zahlen großzügig noch mal. Es würden nach Abzug diätetischen Maßnahmen (z. B. Andicken der Flüssig-
der Therapiekosten immer noch 7,5 Millionen Euro keiten) ebenfalls oral ernährt werden konnten. Auch
im Monat eingespart und – nicht zu vergessen – der Mangelernährung konnte entgegengewirkt
die Lebensqualität dieser Patienten wahrscheinlich werden: 15 Bewohner nahmen an Gewicht zu.
verbessert werden! Beim 16. übergewichtigen Patienten wurde erfolg-
reich das Gewicht reduziert.

1.5.2 »Wer A und B sagt, muss auch C, D, E, Die Ergebnisse sprechen für sich: Die täglichen Kosten
und F sagen!« für enterale Ernährung betrugen 27,95–41,68 Dollar. Die
Kostenhochrechnung für enterale Ernährung der 16 Pa-
Maximierung der Ausgaben in Phase A haben ihre Legiti- tienten pro Jahr ergab einen Betrag von 163 228,– bis
mation. Ziel ist es, optimale Therapie zu gewährleisten, 243 411,– Dollar. Die Kosten für Untersuchung und Thera-
um Pflegefälle zu verhindern. Die durchgehende Konzep- pie bei einer durchschnittlichen Behandlungsdauer von
tion von Phase A – F (Pflegeheim) ist fundiert.Angesichts 7 Wochen betrugen 3125,- Dollar. Die weitere täglichen
der derzeitigen verordneten Kostenreduktion im Ge- Kosten einer oralen Ernährung betragen maximal 7 Dol-
sundheitswesen wird ihre Umsetzung aber zunehmend in lar pro Tag!
Frage gestellt. Kontinuierlich bauen sich die bereitgestell-
1.6 · Ausblick
25 1

Bei Fortbildungsveranstaltungen und Supervisionen in : Beachte


Alten- und Pflegeheimen erleben Referentinnen immer Neurologische Rehabilitation – so sie verantwortungs-
wieder, wie hoch der Bedarf an fundiertem Wissen in der voll und effektiv sein soll – ist personalintensiv und
Langzeitversorgung von Patienten ist. Dieses Know-how verursacht hohe Kosten. Aber: Gibt es dazu eine
würde Kosten sparen und die Situation der Patienten ver- Alternative?
bessern, wie die folgenden Ausführungen zeigen:
Neun Patienten eines Modellprojekts für Patienten im
Wachkoma wurden seit Mitte 2001 mit der Fragestellung 1.6 Ausblick
nach Veränderungen des Trachealkanülenstatus in der
interdisziplinären Schlucksprechstunde (HNO-Arzt/ Die Therapie des Facio-Oralen Trakts kennen zu lernen
Logopädin) des Unfallkrankenhauses Berlin von ihrem und mit ihr zu arbeiten, ist ein spannender Prozess. Die-
Team vorgestellt und werden seither konsiliarisch mitbe- ser erfolgt mit und zwischen Menschen, die sich beim ge-
treut. meinsamen Arbeiten theoretisch und praktisch mit dem
Im Zeitraum eines Jahres konnte durch das gemein- Konzept auseinandersetzen. Wir lernen voneinander in
sam festgelegte Vorgehen bisher bei 5 dieser Patienten die der täglichen Arbeit und in Kursen, die in Kliniken statt-
Kanüle entfernt und das Tracheostoma verschlossen wer- finden: durch das interdisziplinäre Behandeln von Patien-
den. Eine Patientin ist auf ihrem Weg zur Dekanülierung ten unter Supervision und die anschließende Evaluation
auf eine gefensterte Sprechkanüle umgestellt. Eine weite- und Diskussion.
re Patientin mit 7 Trachealstenose ist mit einer speziellen Die Kursangebote sind grundsätzlich auf eine multi-
Kanüle versorgt. Nur 2 Patienten müssen zur Zeit wegen professionelle Teilnehmergruppe gerichtet. Im Angebot
permanenter Aspiration mit einer geblockten Tracheal- sind zweitägige Einführungen, fünftägige Grund-, darauf
kanüle versorgt bleiben. Ihre Kanülen werden jedoch in aufbauende dreitägige Refresher Kurse und Kurse zur
der Therapie entblockt bzw. auf Sprechkanüle umgestellt. Behandlung von Patienten mit Trachealkanülen (siehe
Ausgelöst wurden diese Veränderungen durch den Anhang). Das Konzept lebt vor Ort in den Kliniken, den
Wunsch des therapeutischen Teams nach einer Fortbil- Praxen,bei Hausbesuchen und es beginnt langsam auch in
dung. Bei Vorgesprächen im Pflegeheim und nach einem Langzeiteinrichtungen zu leben. In der Arbeit mit dem
Rundgang über die Station schlug die Autorin dem thera- einzelnen Patienten werden immer wieder Fragestellun-
peutischen Team die Vorstellung und Mitbetreuung der gen konkretisiert, die es mit anderen zu bearbeiten und
Patienten in der Schlucksprechstunde vor. Der Vorschlag befriedigend zu lösen gilt.
wurde umgesetzt. Die Therapeuten stellen die Patienten Seit 1993 treffen sich Menschen zum Austausch, die
vor, betreuen sie bei der endoskopischen Schluckunter- mit dem Konzept arbeiten oder sich dafür interessieren.
suchung mit und können anschließend ihre Fragen Die »special interest group« S.I.G. – F.O.T.T. International
bezüglich Befund, Therapie und des weiteren Vorgehens tagt dreimal jährlich. Durch die Verbreitung des Kon-
mit dem Untersucherteam besprechen. zeptes und durch die ca. 20 jährlich stattfindenden
Als Zwischenergebnis kann resümiert werden, dass Grundkurse werden in einiger Zeit auch regionale Ar-
der Pflegeaufwand bei den dekanülierten Patienten ver- beitsgruppen möglich werden.
ringert werden konnte und sich Erfahrung und Wissen Ein Konzept lebt von Impulsen und Veränderungen.
der betreuenden Therapeuten und der Mitarbeiter der Medizinisches Wissen verdoppelt sich derzeit alle fünf
Schlucksprechstunde erweitert haben. Dieses Wissen Jahre. Das, was heute gilt, kann morgen verworfen sein.
kommt weiteren Patienten zugute. Auch kann von einer Das Grundlagenwissen wird sich ändern und die F.O.T.T.
partiellen Verbesserung der Lebensqualität der 5 dekanü- sich dadurch weiterentwickeln. Die Philosophie der
lierten Patienten ausgegangen werden, da die Prozeduren auf dem Bobath-Konzept basierenden Therapie des
des Absaugens und Trachealkanülenwechsels entfallen. Facio-Oralen Trakts wird sich sicher nicht so schnell
Eine Objektivierung, eine Befragung der Patienten zu ändern:
ihrer Lebensqualität ist bei diesem Krankheitsbild nicht
möglich.
26 Kapitel 1 · Das F.O.T.T.-Konzept: funktionell – komplex – alltagsbezogen

: Beachte Groher ME, McKaig TN (1995) Dysphagia and dietary levels in skilled
1 Der Patient mit seiner Individualität und Persönlichkeit nursing facilities. J Am Geriatr Soc 43:528–532
Haaks T, Walkenbach K (1999) Klinisches Management neurogener
steht im Mittelpunkt der Bemühungen. Dysphagie unter Berücksichtigung einer Kosten-Nutzen-Analyse.
Neurol Rehabil 5:269–274
Auch die Orientierung an normalen, physiologischen Ab- Hamdy S, Aziz Q, Rothwell JC, Crone R, Hughes DG, Tallis RC, Thompson
läufen und Alltagssequenzen wird weiterhin eine zentra- DG (1997) Explaining oropharyngeal dysphagia after unilateral
le Bedeutung einnehmen. hemispheric stroke. Lancet 350:686–692
Hamdy S, Rothwell JC, Aziz Q, Thompson DG (2000) Organization and
Die in diesem Buch dargelegten Inhalte geben einen reorganization of human swallowing motor cortex: implications
Einblick in die derzeitigen aktuellen Betrachtungs- und for recovery after stroke. Clin Sci 99(2):151–7
Arbeitsweisen. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann Howarth L (1995) Current use of clinical outcome of home parenteral
nicht erhoben werden. Jeder ist aufgefordert und eingela- and enteral nutrition therapies in the USA. Gastroenterology
den, an diesem Prozess teilzunehmen. 199:355–365
IBITA (Internet-Website) International Bobath Instructors Training Asso-
ciation: www.ibita.org
Jeannerod M (1997) The Cognitive Neuroscience of Action. Blackwell
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2

Haltungshintergrund
»Wir schlucken mit dem Becken…«
Heike Sticher und Karin Gampp Lehmann

2.1 Grundlagen Physiologie/Haltung – 28


2.1.1 Haltungshintergrund – 28
2.1.2 Motorisches Lernen – 31
2.1.3 Dynamische Stabilität – 32

2.2 Grundlagen Anatomie/Physiologie Schlucken – 32


2.2.1 Os hyoideum – 32
2.2.2 Brustwirbelsäule – Halswirbelsäule – Schulterblatt –
Os hyoideum – 35
2.2.3 Halswirbelsäule – Os hyoideum – 35
2.2.4 Os temporale – Os hyoideum – 36
2.2.5 Mandibula – Os hyoideum – 37
2.2.6 Zunge – Os hyoideum – 37
2.2.7 Larynx – Os hyoideum – 38
2.2.8 M. Cricopharyngeus – Os hyoideum – 38

2.3 Therapie – 40
2.3.1 Physiologische Bewegungen und Ausgangsstellungen – 40
2.3.2 Patientenbeispiele – 41

Literatur – 44
28 Kapitel 2 · Haltungshintergrund

Der Titel »Wir schlucken mit dem Becken« mag provokant hindert, wie im Folgenden aus den funktionellen Zu-
oder irritierend klingen, in der praktischen Arbeit in der sammenhängen zu ersehen ist.
F.O.T.T. (Facial Oral Tract Therapy) wurde dieser Satz für die Wir wollen dem Patienten eine optimale Möglichkeit
2 Autorinnen jedoch wichtig als Hinweis auf Ursache und geben,wieder normale Bewegung im fazio-oralen Trakt zu
Wirkung. erfahren. Das bedeutet in der Arbeit mit unseren Patien-
Ein Patient mit einem schweren Schädelhirntrauma ten, dass die Therapeutinnen vorbereitend und beglei-
oder nach einem Apoplex ist häufig nicht in der Lage, seine tend an der Basis, nämlich an Haltung und Bewegung,
Position selbst in einer physiologischen Art und Weise zu arbeiten müssen.
verändern. Dies können mehrere Faktoren verursachen,
z. B. mangelnde oder verzerrte sensorische Informatio-
nen oder Schwierigkeiten bei der Verarbeitung der senso- 2.1 Grundlagen Physiologie/Haltung
rischen Informationen. Die Informationen können dann
nicht adäquat eingeordnet werden. Der Patient wird sich : Beachte
bewegen,seine Position verändern – aber nur so,wie es ihm Unser Körper ist darauf ausgerichtet, alle Bewegungen
durch seine veränderte Senso-Motorik möglich ist. effektiv, sicher und ökonomisch durchzuführen.
Durch eine Hirnschädigung ist der gesamte Mensch be-
troffen, nicht nur bestimmte Nerven- oder Muskelgruppen. Unsere 7 Bewegungsmuster sind teilweise bereits vor der
So ist eine Schluckstörung häufig kein isoliertes Problem, Geburt angelegt,teilweise werden sie erst nach der Geburt
sondern ein Teil eines »Gesamtproblems« (Gratz u. Woite gelernt, danach ständig benutzt und weiter verfeinert und
2000).Für die Arbeit mit Patienten in der neurologischen Re- dadurch optimiert (automatisierte Bewegungen). Mit der
habilitation ist es wichtig, dass kein behandlungsbedürfti- Zeit werden sich Eigenheiten ausbilden: Gewisse indivi-
ger Bereich isoliert betrachtet wird, sondern der Mensch duelle Muster verfestigen sich, andere Bewegungsabläufe
immer individuell in seinen funktionellen Zusammenhän- sind nicht mehr so fließend, es werden Umwege gemacht
gen gesehen wird. oder es muss – bei Fehlhaltungen – gar kompensiert wer-
Um sich der These: »Wir schlucken mit dem Becken« zu den. Das hat einerseits mit Gewohnheiten und anderer-
nähern, werden in diesem Kapitel anatomische und funk- seits auch mit »Abnutzung« zu tun.
tionelle Beziehungen aufgezeigt zwischen einzelnen Kör- In unserem Körper befinden sich auf kleinstem Raum
perstrukturen und physiologischen bzw. unphysiologi- viele verschiedene Strukturen (Knochen, Muskeln, Seh-
schen Haltungen – zuerst allgemeiner Art und danach nen,Nerven,Blutgefässe,Bindegewebe...),die miteinander
detaillierter bezogen auf den Bereich des Schluckens. Mit in Beziehung stehen, aufeinander aufbauen und gemein-
Hilfe dieses Wissens um die funktionellen Zusammenhänge sam funktionieren müssen. Da der Mensch ein sehr
und Abweichungen bei neurogenen Schädigungen kön- großes Repertoire an Bewegungsmöglichkeiten hat,
nen in der Arbeit mit neurologischen Patienten muskuläre braucht er ein spezielles System von begleitender Haltung
Fehlfunktionen und ihre Auswirkungen genau analysiert – 7 Haltungshintergrund –, um zu jeder Zeit zu gewähr-
und therapiert werden. leisten, dass er nicht aus dem Gleichgewicht gerät –
gleichzeitig aber einfache oder komplexere Funktionen
Die alleinige Behandlung des fazio-oralen Trakts, ohne ausführen kann (Davies 1994; Edwards 1996; Umphred
Berücksichtigung bzw. Einbeziehung des gesamten Kör- 2000).
pers wird zu unphysiologischen Ausgangsstellungen
führen, wie eingesunkenem asymmetrischen Rumpf mit
unphysiologischer Kopfhaltung. Diese wiederum rufen 2.1.1 Haltungshintergrund
unphysiologische 7 Bewegungsmuster (z. B. Streckspas-
tik in den Extremitäten) hervor und erschweren so dem »Es muss betont werden, dass die Haltung die Basis jeder
Patienten das Wiedererlernen möglichst normaler Bewe- Bewegung ist und dass jede Bewegung aus der Haltung
gung, eventuell wird sie sogar unmöglich gemacht (Nus- ihren Anfang nimmt und in ihr endet« (Wright 1954).
ser-Müller-Busch 1997). Durch unphysiologische Aus-
gangsstellungen werden normale Bewegungsabläufe be-
2.1 · Grundlagen Physiologie/Haltung
29 2

Diese Möglichkeiten setzen einen flexiblen Haltungshin-


tergrund voraus, der von K. Bobath (1980) umschrieben
wird mit »angehaltene Bewegung in jedem Augenblick ei-
nes Bewegungsablaufes«, von Davies (1991) als »dynami-
sche Stabilität« oder auch »stabile Dynamik« und von
Vojta (1992) als »Jede Bewegung wird von einer ausgewo-
genen, automatisch gesteuerten Körperhaltung begleitet
(posturale Aktivität)«. Dieser Haltungshintergrund kann
nicht etwas Starres sein, da er ja die Bewegung begleiten
soll, sondern er muss stabil und dennoch jederzeit modi-
fizierbar, änderbar sein (Shumway-Cook u. Woollacott
1995).

Physiologische Sitzhaltung
bei der Nahrungsaufnahme
Als Beispiel soll der Zusammenhang zwischen Becken,
. Abb. 2.1.
Lenden-, Brust- und Halswirbelsäule sowie Kopf in der
Normale Sitzhaltung
Ausgangsstellung »normale Sitzhaltung« aufgezeigt wer-
den (. Abb. 2.1).
Beim Sitzen am Tisch, z. B. beim Essen, ist das 7 Be-
cken als Basis des Sitzens nach vorne »gekippt«,die Belas-
tung wird an den Sitzhöckern spürbar.Die Füße stehen auf
dem Boden, Hüften und Knie sind flektiert (+/– 90°). Die
Lendenwirbelsäule, die Brustwirbelsäule, die Halswirbel-
säule sowie der Kopf richten sich entsprechend darüber
aus, es entsteht eine S-Form der Wirbelsäule, wobei die
7 Schwerkraftlinie zwischen die Sitzhöcker fällt.
Aus diesem Haltungshintergrund heraus ist es leicht
möglich, den Kopf (. Abb. 2.2) in jede beliebige Richtung
zu drehen oder zu neigen, mit seinem Nachbarn zu reden
und die Hände frei zu benutzen, zu kauen und zu schlu-
cken. Auch das Os hyoideum (Hyoid, Zungenbein) ist
dabei in alle Richtungen frei beweglich.

Veränderte Sitzhaltung
Nehmen wir nun an,dass – aus welchen Gründen auch im-
mer – das Becken nicht mehr 7 nach vorne gekippt ist,
sondern nach hinten (. Abb. 2.3).
Die Folge davon ist, dass die Belastung jetzt nicht
mehr an den Sitzhöckern zu spüren ist, sondern dahinter.
Es wird zu einer nach oben weiterlaufenden 7 Flexion der
Lendenwirbelsäule kommen und daraus resultierend zu
vermehrter 7 Kyphose der Brustwirbelsäule, die dann
zu einer 7 Flexion der Halswirbelsäule führt. Da jeder . Abb. 2.2. Das funktionelle Gleichgewicht des Kopfes

Mensch das Bedürfnis hat etwas von der Welt oder seinem
Gegenüber zu sehen,wird die Augenlinie nicht zum Boden schen 7 Hyperextension der oberen Halswirbelsäule also
gerichtet bleiben, sondern sie wird sich wieder horizontal zu einem sehr »kurzen Nacken«. Häufig ist hierbei eine
einstellen; dadurch kommt es zu einer kompensatori- gleichzeitige Translation (Verschiebung ) des Kopfes nach
30 Kapitel 2 · Haltungshintergrund

vorne und eine Rückverlagerung des Unterkiefers (ggf. : Beachte


auch Schmerz im Kiefergelenk) zu beobachten (. Abb. Schon kleine Verlagerungen des Beckens (Kippen)
2.4) (Engström 2001). nach dorsal bewirken Veränderungen der oberen
2 Verändert sich nur einer dieser Faktoren,gibt es sofort Halswirbelsäule in Richtung verstärkter 7 Extension
Auswirkungen auf die anderen Strukturen dieses Sys- (30–40°).
tems (Engström 2001; Liem 1998; Orth und Block 1987).
Die vorher übereinander aufgerichteten Strukturen sind > Exkurs
jetzt im Ungleichgewicht und können ihre Funktionen Zusammenhang zwischen Kopfstellung
deshalb nicht mehr regelrecht ausführen. und Schluckvorgang
Eine Untersuchung von Castell et al. 1993 zeigt
diesbezüglich interessante Zusammenhänge
zwischen Veränderung der Kopfstellung und Ablauf
des Schluckvorgangs. Im Pharynx und am oberen
Ösophagussphinkter (oÖS) wurden während des
Schluckens manometrische Messungen vorgenom-
men und zwar jeweils bei einer Kopf-7 Flexion von
30 Grad, 15 Grad, 0 Grad und dann bei zunehmender
Kopf-7 Extension von 15 Grad, 30 Grad und 45 Grad.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Kopf-Flexion keine
nennenswerten Effekte auf Pharynxkontraktion oder
oÖS-Öffnung hatte. Mit zunehmender Kopfextension
erhöhte sich die Grundspannung des oÖS jedoch
markant, die oÖS-Öffnungszeiten verkürzten sich
dabei ebenso markant und die Koordination zwischen
Pharynxkontraktion und oÖS-Öffnung verschlechterte
sich zunehmend bis zu dem Punkt, an dem sich der
oÖS erst verspätet nach Beginn der Pharynxkontrak-
tionen öffnete und verfrüht vor Ende der Pharynx-
. Abb. 2.3. Veränderte Sitzhaltung
kontraktion wieder verschloss.

Eine verstärkte Extension der Halswirbelsäule hat sofor-


tigen und direkten Einfluss auf alle am Schluckvorgang
beteiligten Strukturen wie Knochen, Muskeln, Faszien,
Ligamente, Nerven, etc. (Orth und Block 1987; Sasaki 1985;
Schewe 1988).
Achtet man nun noch auf der . Abbildung 2.3 auf den
Bereich unterhalb des Beckens,werden auch hier Auswir-
kungen sichtbar. Als Gegengewicht für die Verlagerung
vom Rumpf nach hinten, strecken sich die Beine in Knie
und Hüfte (evtl. sogar auch noch die Arme), d. h. die Füße
stehen nicht mehr auf dem Boden, sondern gleiten nach
vorne über ihn hinweg und der Kopf 7 translatiert nach
vorne. Die beschriebenen Reaktionen sind normal und
bei allen Menschen in verschiedenen Alltagssituationen
zu beobachten (Edwards 1996; Engström 2001), z. B. beim
Sitzen in einem Liegestuhl.

. Abb. 2.4. Ungleichgewicht des Kopfes


2.1 · Grundlagen Physiologie/Haltung
31 2

i Praxistipp Das 7 sensomotorische System ist extrem flexibel und


Mit einem intakten sensomotorischen System kann gleichzeitig sehr zuverlässig. Ständig wird evaluiert, ver-
die Körperposition, der Haltungshintergrund modifi- glichen mit altem Wissen/gemachten Erfahrungen. Es
ziert oder angepasst werden. Dies ist in einer großen werden Hypothesen erstellt, überprüft, Bewegungen
Bandbreite möglich, wenn die Voraussetzungen zu nachgeregelt, d. h. Bewegungen werden abgeglichen mit
normaler Bewegung gegeben sind (Panturin 2001; anderen gleichzeitig ablaufenden Aktivitäten und Schutz-
Shumway-Cook und Woollacott 1995; Umphred mechanismen werden aktiviert. Dabei wird Neues gelernt
2000). und als Erfahrung abgespeichert. Eine enorme Leistung
des Körpers und des ZNS,ohne dass wir uns ihrer bewusst
sind!
2.1.2 Motorisches Lernen Die Aktivität, für die sich der Organismus entschei-
det, wird entweder komplett aus einer früheren, ver-
Eine Handlung oder Bewegung wird in der Abfolge man- gleichbaren Situation übernommen oder – falls es sich
nigfaltiger Teilprozesse, nach der Aufnahme von Signalen um eine neue Situation handelt, für die kein fertiger
(Informationen) aus der Umwelt und dem Organismus, Handlungsplan zur Verfügung steht – aus bekannten Tei-
vorbereitet, geplant und ausgeführt. Dabei spielen die Er- len zusammengesetzt. Dann kommt es zur Ausführung
fahrungen aus früheren Situationen eine bedeutende durch die Muskeln (nach der Umsetzung der Nervenim-
Rolle. Die Aufnahme der Signale (Informationen) erfolgt pulse in mechanische Energie). Nach der Aktivität – egal
über die Sinnesorgane. Es können z. B. akustische, visuel- ob zu Ende ausgeführt, ob von Erfolg gekrönt oder fehl-
le, taktile, aber auch olfaktorische Informationen sein. geschlagen – erfolgt eine Auswertung, auf die in ähn-
Diese werden übersetzt in Nervenimpulse,die weitergelei- lichen Situationen wieder zurückgegriffen werden kann.
tet werden ins zentrale Nervensystem (ZNS). Dort wird Diese Auswertung ist immer auch verbunden mit den da-
unter Einbezug der früheren Erfahrungen analysiert, ob bei ausgelösten Gefühlen, wie z. B. Erfolg/Misserfolg,
eine Handlung zum jetzigen Zeitpunkt notwendig er- Schmerzen, Angst, oder Freude (Edwards 1996; Schewe
scheint. Danach wird die Entscheidung gefällt, ob und 2000; Umphred 2000).
welche Bewegung erfolgt (. Abb. 2.5).
Feedback
: Beachte : Beachte
Die Informationsverarbeitung beim normalen motori- Feedback ist eine Ergebniskontrolle, es überprüft die
schen Lernen stützt sich auf ein intaktes 7 senso- Bewegung nach der Ausführung.
motorisches System mit Feedback- und Feedforward-
Mechanismen, die körpereigene Schutz- oder Sicher- Die Auswirkungen können jedoch erst bei der nächsten
heitsreaktionen auslösen können. Bewegung korrigiert werden, da erst dann die Anpassun-
gen durchgeführt werden können. Das Ergebnis der lau-
fenden Bewegung bleibt also unbeeinflusst hiervon. Feed-
back kann aus dem eigenen 7 sensomotorischen System
oder über die Umwelt kommen (Schewe 1988; Shumway-
Cook und Woollacott 1995; Umphred 2000).

Feedforward
: Beachte
Feedforward ist eine Verlaufskontrolle, die während
der Ausführung einer Bewegung/Handlung abläuft
und so die Möglichkeit bietet, auf die laufende
. Abb. 2.5. Darstellung der Handlungs- und Bewegungsplanung in Bewegung einzuwirken, d. h. diese zu verändern
der Theorie der Informationsverarbeitung. (Schewe 2000) oder anzupassen.
32 Kapitel 2 · Haltungshintergrund

Der Feedforward-Mechanismus bewirkt, dass unser Kör- : Beachte


per schon vor der eigentlichen Bewegung Maßnahmen Dynamische Stabilität bedeutet, dass die Funktion
ergreift, die die eigentliche Bewegung erst optimal er- bestimmt, wann eine Struktur als Punctum stabile
2 möglichen. Z.B. wird vor dem Anheben eines Servier- oder Punctum mobile benutzt wird. Dies erfordert
tabletts mit Gläsern,der Rumpf nach hinten verlagert und einen flexiblen Haltungshintergrund.
die Tonusverhältnisse im Rumpf entsprechend angepasst.
Die Feedforward Steuerung ist zum Teil sogar eine vor- Diese Fähigkeit des Wechsels zwischen Punctum stabile
wegnehmende Korrektur, die schon regulierend ein- und Punctum mobile trägt viel zur Ökonomie und Effek-
greift, bevor ein potentieller Fehler der laufenden Bewe- tivität von Bewegungen bei, setzt aber eine große Selekti-
gung gemeldet werden kann (Edwards 1996; Schewe vität von Bewegungen voraus.
2000; Umphred 2000). Um den funktionellen Zusammenhang zwischen der
Haltung der Wirbelsäule und der an der Schlucksequenz
beteiligten ossären (knöchernen) Strukturen und der
2.1.3 Dynamische Stabilität entsprechenden Muskulatur aufzuzeigen, folgen genaue-
re anatomisch-funktionelle Betrachtungen, mit denen
Um den unzähligen, verschiedenen Funktionen gerecht unsere These – »wir schlucken mit dem Becken« – unter-
werden zu können, muss unser Körper so viele verschie- mauert werden soll. Daraus können Überlegungen zur je-
dene, zeitlich und räumlich komplexe und hochkoordi- weils physiologischen Ausgangsstellung für die Patienten
nierte Bewegungen ausführen. abgeleitet werden.

: Beachte
Ein und dieselbe Struktur kann je nach Bewegungs- 2.2 Grundlagen Anatomie/
ablauf unterschiedliche, oft gegensätzliche Aufgaben Physiologie Schlucken
erfüllen.
2.2.1 Os hyoideum
Punctum stabile/Punctum mobile
Durch den Wechsel einer Struktur in ihrer Funktion (als Das Os hyoideum (Zungenbein, Hyoid) ist ein hufeisen-
Punctum stabile oder Punctum mobile) bietet sich eine förmiger Knochen an der Knickstelle zwischen Mundbo-
breitere Funktionsfähigkeit. Durch den Wechsel von den und Hals auf Höhe des 3. Halswirbelkörpers. Als ein-
Punctum stabile und Punctum mobile kann es zur Ände- ziger Knochen im Körper hat es keine knöcherne Gelenk-
rung der Muskelzugrichtung kommen. verbindungen, sondern ist nur über Muskeln, Ligamente
und Faszien mit anderen Knochen verbunden (. Abb.
> Exkurs 2.6 a–b) (Liem 1998; Sobotta 2000; Upledger u. Vrede-
Der Begriff »Muskelzugrichtung« voogd 1996).
Der Begriff »Muskelzugrichtung« ist ein Begriff aus der Diese Verbindungen bestehen zur Mandibula (Unter-
Vojta-Therapie (Vojta 1992) und beschreibt folgenden kiefer), zum Os temporale (Schläfenbein), zum Sternum
Vorgang: Muskeln haben jeweils einen Ansatz und (Brustbein), zur Klavikula (Schlüsselbein), zur Skapula
einen Ursprung. Die Muskelzugrichtung und damit (Schulterblatt) und zur Wirbelsäule. Von Upledger
die Richtung der Bewegung ist normalerweise vom (Upledger und Vredevoogd 1996) wird das Os hyoideum
Ansatz hin zum Ursprung, da der Ursprung als als schwimmender Anker beschrieben, der einerseits
Punctum stabile (der Ansatz als Punctum mobile) über Muskeln und Faszien mit den darunter liegenden
dient. Dies kann sich aber umkehren, wenn der Ansatz Partien (Kehlkopf, Sternum etc) verbunden ist und ande-
zum Punctum stabile wird und sich dann der Ursprung rerseits den Muskeln des Schädels Fixationsmöglichkeiten
dem Ansatz nähert (s. Abschnitt 2.2.1). 7 Dynamische bietet, u. a. auch der Muskulatur der Mandibula und der
Stabilität bedeutet, dass die Fähigkeit vorhanden ist, Zunge (. Abb. 2.6c).
schnell und adäquat zwischen Punctum stabile
und Punctum mobile hin und her zu wechseln.
2.2 · Grundlagen Anatomie/Physiologie Schlucken
33 2

a c

. Abb 2.6 a–c. Das Zungenbein a–b Lage des Os hyoideum (Zungenbein) c Das Os hyoideum in seiner Funktion als schwimmender Anker

Spezielle Funktionen des Os hyoideum


: Beachte Übersicht 2.1: Funktionen des Os hyoideum
Das Os hyoideum hat wechselnde Funktionen als 4 Punctum stabile bei Kieferöffnung: Stütz-
Punctum stabile oder Punctum mobile bei allen punkt und Stabilisierung für Bewegungen
Bewegungen der oralen und der pharyngealen Phase der Mandibula. Gleichzeitig wird dabei das
des Schluckens! Os hyoideum durch die 7 infrahyoidale und
7 retrohyoidale Muskulatur und durch den
In . Übersicht 2.1 sind die verschiedenen Funktionen des M. constrictor pharyngis medius stabilisiert
Os hyoideum beschrieben. (. Abb. 2.7 a–b) (Liem 1998).
Durch die Umkehr von Punctum stabile (vorher: Os hyo- 4 Punctum mobile bei Kieferschluss und beim
ideum, jetzt: Mandibula) und Punctum mobile (vorher: Schlucken: Bei stabilisierter Mandibula kann
Mandibula, jetzt: Os hyoideum) kann eine Änderung der sich das Os hyoideum 7 kranial/7 ventral
Muskelzugrichtung stattfinden, d. h. die Muskulatur, die bewegen und zieht so aufgrund seiner Ver-
vorher den Unterkiefer zum Beißen und Kauen geöffnet bindungen den Larynx (Kehlkopf ) und sich
hat,ermöglicht jetzt die Hebung des Os hyoideum und des anschliessende Strukturen bis zum oÖS mit
Larynx beim Schlucken nach vorne/oben (. Abb. 2.7d). (. Abb. 2.7c).

: Beachte
Ein koordiniertes Zusammenspiel der Muskulatur, die keln kommen. Das Bild des schwimmenden Ankers zeigt
am Os hyoideum Ansatz oder Ursprung hat, ist für eindrücklich, wie labil dieses funktionelle Gleichgewicht
das muskuläre Gleichgewicht und die dynamische sein kann.
Stabilität im Kopf-/Halsbereich wichtig.
: Beachte
Ist einer dieser Muskeln nicht mehr in der Lage seine Das Os hyoideum kann als sensibler Marker dienen.
Funktion – anspannen oder loslassen – auszuführen, Gleichzeitig ist aber festzuhalten, dass Schlucken ohne
kann es zu Funktionsstörungen aller umliegenden Mus- Os hyoideum durchaus möglich ist.
34 Kapitel 2 · Haltungshintergrund

a c

b d
. Abb 2.7 a–d. Das Os hyoideum a Das Os hyoideum als Punctum stabile b Funktion: »Öffnung des Unterkiefers« c Das Os hyoideum als Punctum
mobile d Funktion »Hebung des Os hyoideum nach kranial/ventral beim Schluckvorgang«
2.2 · Grundlagen Anatomie/Physiologie Schlucken
35 2

> Beispiel für den Austritt der Nerven (der M. omohyoideus wird
Zum Beispiel bei Patienten mit nicht-neurogenen von den ersten Zervikalnerven innerviert) zu eng,kann es
Ätiologien, nach Hyoidektomie bei Z. n. Laryngekto- zu Druckläsionen und dadurch zur Beeinträchtigung –
mie, bei Z. n. horizontaler Kehlkopf-Teilresektion, z. B. Schwäche – der »ungenügend« innervierten Musku-
Halszysten-OP. latur kommen (Liem 1998; Upledger und Vredevoogd
1996).

2.2.2 Brustwirbelsäule
– Halswirbelsäule – Schulterblatt – 2.2.3 Halswirbelsäule – Os hyoideum
Os hyoideum
Eine 7 Hyperextension der oberen HWS bewirkt
Als Auswirkung der bereits beschriebenen veränderten 4 eine Verengung der neuralen Austrittsstellen 7 dor-
Beckenstellung (nach hinten gekippt, s. . Abb. 2.3), ergibt sal. Dies kann direkten Einfluss auf das Os hyoideum
sich im Sitz eine verstärkte 7 Kyphose der Brustwirbel- haben,da der M.geniohyoideus auch durch den ersten
säule (BWS) und – zur Aufrechterhaltung des Blickkont- Zervikalnerven sowie durch den N. hypoglossus
aktes – eine verstärkte 7 Extension der Halswirbelsäule innerviert wird (Umphred 2000). Die 7 ventrale 7 in-
(HWS). Die Schulterblätter werden dabei hochgezogen frahyoidale Muskulatur sowie der oben erwähnte
(die Muskulatur hilft das Gewicht von Kopf und HWS zu M. omohyoideus werden ebenfalls durch die zervika-
tragen). Die Schulterblattstellung beeinflusst und wird len Nerven innerviert.
beeinflusst vom M. omohyoideus (. Abb. 2.8). 4 eine Verkürzung der Distanz zwischen Os temporale
Da der M. omohyoideus durch seinen Verlauf indirekt und Os hyoideum (. Abb. 2.9). Dadurch kommt es zu
beugend auf die Kopf- und Halsgelenke wirkt, wird er bei einer Dehnung der 7 ventralen Strukturen 7 supra-
einer 7 Hyperextension der oberen HWS in seinem hyoidal und als Folge zu einer Gegenspannung
7 kranialen Teil gedehnt und zieht dadurch das Os hyoi- der 7 infrahyoidalen Muskulatur: Der M. constrictor
deum nach 7 kaudal, was wiederum eine ausgleichende pharyngis medius verliert seine optimale Ausdeh-
Gegenspannung der 7 suprahyoidalen Muskulatur zur nung und kann als Folge in seiner Funktion – Peristal-
Folge hat. Ist durch diese 7 Hyperextension der Raum tik des Pharynx – eingeschränkt sein.

. Abb. 2.8. Lage des M. omohyoideus . Abb. 2.9. Stabilisation des Os hyoideum nach dorso-kranial
36 Kapitel 2 · Haltungshintergrund

. Abb 2.10 a,b. M. constrictor pharyngis medius


a Lage des M. constrictor pharyngis medius
von lateral links b Lage des M. constrictor pharyngis
medius von dorsal
2

Der M. constrictor pharyngis medius setzt am Os hyoi- : Beachte


deum und an der Raphe pharyngis an.Diese wiederum ist 4 Der M. stylohyoideus und der venter posterior
an der Schädelbasis befestigt und über straffes Bindegewe- des M. digastricus werden vom Nervus fazialis
be mit den Halswirbeln verbunden. Aufgrund dieser Ver- innerviert.
bindungen kann es über den M. constrictor pharyngis 4 Der Venter anterior des M. digastricus wird
medius zu Wechselwirkungen zwischen HWS und Os vom Nervus trigeminus innerviert.
hyoideum kommen (. Abb. 2.10 a,b) (Liem 1998). 4 Bei entsprechenden neuralen Läsionen ist an
Auch die 7 ventralen Halsfaszien (z. B. läuft die Lami- diese Innervationen unbedingt zu denken!
na 7 suprahyoidea vom oberen Rand des Os hyoideum zu
beiden Seiten des Unterkiefers) haben einen starken Ein- Hält die 7 Hyperextension der oberen HWS über längere
fluss auf die Beweglichkeit des Os hyoideum (Liem 1998). Zeit an, kann es zu Kontrakturen (Verkürzungen) der
Verbindungen zwischen Os temporale und Os hyoideum
kommen. So ist es möglich, dass der Kopf nur noch mit
2.2.4 Os temporale – Os hyoideum vermehrtem Kraftaufwand in der Neutralstellung gehal-
ten werden kann, und dass es in dieser Neutralstellung
Der M. stylohyoideus und das gleichnamige Ligamentum zu einem Spannungsgefühl (Würgen) kommt, da das
bilden eine Verbindung vom Os hyoideum zum Os tempo- Os hyoideum – durch die Kontraktur der Muskulatur
rale: vom Corpus ossis hyoidei zum Processus styloideus. (M. digastricus und M. stylohyoideus) – zu weit nach
Ebenso bildet der M. digastricus eine Verbindung vom Os dorso-7 kranial gezogen wird. Erfahrungen aus der
hyoideum zum Os temporale, indem er mit dem M. digas- physiotherapeutischen Praxis von Gampp Lehmann
tricus venter posterior (hinterer Anteil des M.digastricus) zeigen:
am Processus mastoideus ansetzt und mit seinem vorde- Schon bei gesunden Personen kann eine arbeitsplatz-
ren Anteil, dem M. digastricus venter anterior an der bedingte, täglich mehrstündige unphysiologische Sitz-
Mandibula (Unterkiefer). Diese Muskeln bilden das haltung (zum Beispiel bei Bildschirm-Arbeit) zu Kon-
Gleichgewicht nach dorso-7 kranial und stabilisieren trakturen der Verbindungen zwischen Os temporale und
beim Schlucken auch in diese Richtung (. Abb. 2.11). Os hyoideum führen und bei 7 Flexion der oberen HWS
ein Würgegefühl erzeugen!
2.2 · Grundlagen Anatomie/Physiologie Schlucken
37 2

a c

b d

. Abb 2.11 a–c. Muskuläre Verbindungen zwischen Os hyoideum und Mandibula a M. digastricus b M. geniohyoideus c M. mylohyoideus

2.2.5 Mandibula – Os hyoideum 2.2.6 Zunge – Os hyoideum

Durch den M. digastricus (. Abb. 2.11a), den M. genio- Eine vermehrte 7 dorsale oder 7 kaudale Fixation des
hyoideus (. Abb. 2.11b) und den M. mylohyoideus Os hyoideum kann einen entsprechenden Zug auf den
(. Abb. 2.11c) ist der Unterkiefer mit dem Os hyoideum M. hyoglossus (. Abb. 2.12a) und den M. chondroglossus
muskulär verbunden. Diese Muskeln bilden den Mund- (. Abb. 2.12b) bewirken. Dadurch kann wiederum so-
boden. wohl die Zunge wie auch der Unterkiefer einen vermehr-
ten Zug in dieselbe Richtung nach 7 kaudal erfahren, was
: Beachte gerade die oft schon beeinträchtigte Hebung der Zunge
Ist das Os hyoideum zu sehr 7 dorsal oder 7 kaudal weiter erschwert.
blockiert und verliert dadurch seine Funktion als
Punctum mobile oder Punctum stabile, wird in der : Beachte
Folge auch der M. geniohyoideus den Unterkiefer 4 Die Bewegungen des Os hyoideum nach
vermehrt unten halten. Dies erschwert den Kiefer- 7 kranial sind eng mit Geschehnissen in der Mund-
schluss und die Zungenfunktion beim Schlucken höhle verknüpft,
(Upledger und Vredevoogd 1996). 4 die Bewegung des Os hyoideum nach anterior
hingegen ist eng mit der Öffnung des oÖS verknüpft
(Ishida und Palmer 2002).
6
38 Kapitel 2 · Haltungshintergrund

4 Eine veränderte Stellung des Os hyoideum wirkt Auf Grund ihrer muskulären und ligamentären Verbin-
sich auf die Bewegungsfreiheit der Zunge aus und dungen wird das Spannungsgleichgewicht der Zunge
damit auch auf das Schlucken. vom Os hyoideum, der Mandibula und dem Os tempora-
2 le beeinflusst (. Abb. 2.12c) (Ishida und Palmer 2002;
Liem 2000). Somit wird umgekehrt auch ersichtlich, wie
sehr die Zungenfunktion von einer optimalen Kopfhal-
tung – und damit von der Beckenstellung – abhängig ist.

i Praxistipp
Der Kieferkontrollgriff wird in der F.O.T.T. primär als
Stabilisierungshilfe für den Unterkiefer angeboten,
um das Punctum stabile adäquat zu unterstützen,
d. h. der Zunge einen stabilen Referenzpunkt zu
a geben, die Transportbewegung einzuleiten und
somit den oralen Transport von Speichel und
Nahrung zu fazilitieren (s. . Abb. 2.7d).

Der Kieferkontrollgriff ermöglicht dadurch eine Opti-


mierung der Muskelfunktion (die Strukturen können re-
gelrecht arbeiten) und eine qualitativ verbesserte Ausfüh-
rung der Bewegung.

2.2.7 Larynx – Os hyoideum

Der M. thyrohyoideus (. Abb. 2.13a) zieht den Larynx


b
beim Schlucken an das Os hyoideum und folgt so dessen
kranio-7 ventraler Bewegung.Dadurch wird u. a.die Stel-
lung der Epiglottis (Kehldeckel) und der Cartilago arytae-
noidea (Stellknorpel) beeinflusst (beachte auch das Lig.
Hyoepiglotticum als Verbindung zwischen Os hyoideum
und Epiglottis, . Abb. 2.13b).

: Beachte
Eine veränderte Stellung des Os hyoideum und damit
eine veränderte Spannung der 7 infrahyoidalen
Muskeln kann Heiserkeit und Schluckstörungen
zur Folge haben (Liem 1998).
c

2.2.8 M. Cricopharyngeus – Os hyoideum

Über den Cartilago cricoidea (Cricoidknorpel, Ringknor-


pel) hat der Kehlkopf eine direkte Verbindung zum
oberen Ösophagus-Sphinkter (oÖS, . Abb. 2.14a).
. Abb 2.12 a–c. Muskuläre Verbindungen zwischen Os hyoideum
Die Verbindung verläuft über muskuläre und liga-
und Zunge a M. hyoglossus b M. chondroglossus c Das Spannungs- mentäre Strukturen vom Os hyoideum über den Larynx
gleichgewicht der Zunge zur Cartilago cricoidea und schliesslich zum M. crico-
2.2 · Grundlagen Anatomie/Physiologie Schlucken
39 2

. Abb 2.13 a–b. Larynx a Lage des M. thyrohyoideus,


der den Larynx an das Os hyoideum zieht
b Larynx (Kehlkopf ), Medianschnitt

a b

. Abb 2.14 a,b. Muskuläre Verbindung zwischen


Larynx und Cartilago cricoidea (Ringknorpel)
a M. cricothyroideus b M. cricopharyngeus
(kaudaler Teil des M. constrictor pharyngis
inferior) als Teil des oÖS

a b

pharyngeus als Teil des oÖS (. Abb. 2.14b). Der M. crico- > Exkurs
pharyngeus ist der 7 kaudale Teil des M. constrictor Zusammenhang zwischen Haltungshintergrund
pharyngis inferior und wird auch als Schlundschnürer und der Fähigkeit zu schlucken
bezeichnet. Eine retrospektive Untersuchung von Detoledo et al.
(1994) an 36 Erwachsenen, die seit Geburt behindert
: Beachte waren (Ursachen u. a. perinatale Hypoxie, Meningitis),
Je freier das Os hyoideum in seinen Bewegungen ist zeigt ebenfalls den Zusammenhang zwischen Hal-
und je weiter es beim Schlucken nach 7 ventral tungshintergrund und der Fähigkeit zu schlucken
(und 7 kranial) bewegen kann, desto besser öffnet sich auf. Obwohl die orale Ernährung in der 1. und even-
auch der oÖS (Garon et al. 2002; Sasaki 1985). tuell 2. Dekade ihres Lebens möglich war, wurden die
Schluckprobleme im Laufe der Zeit so massiv, dass
i Praxistipp eine orale Ernährung nicht mehr möglich war. Sie
4 In der F.O.T.T. wird bei Öffnungsstörungen des mussten mit einer Ernährungssonde versorgt werden.
oÖS besonderes Augenmerk auf die funktionelle Die Untersucher konstatieren den sich verschlechtern-
Regulation der oberhalb des oÖS liegenden den Haltungshintergrund (häufig starke Kyphoskolio-
Strukturen gelegt. se, Kontrakturen an den Extremitäten…) als die Haupt-
4 Die Therapie einer funktionellen Öffnungs- ursache für die Zunahme der Schluckprobleme dieser
störung des oÖS beginnt immer am Becken, Patienten.
d. h. mit einer physiologischen Basis für die Sitz-
haltung als Ausgangsstellung für die Therapie.
40 Kapitel 2 · Haltungshintergrund

Erfahrungen aus der Praxis von Gampp Lehmann bestäti- zen. Der Begriff »entsprechende« Ausgangsstellung be-
gen diese Aussagen und zeigen gleichzeitig, wie erfolg- zieht sich auf das Ziel der jeweiligen Therapieeinheit.
reich das Arbeiten am Haltungshintergrund das Schlu- 4 Ist das Ziel der Therapieeinheit, wieder vermehrte
2 cken beeinflussen kann (s. unter 2.3.1 Patientenbeispiel 1). Selektivität der Zunge zu erhalten, kann das für den
Patienten die Ausgangsstellung Seitenlage (s. . Abb.
5.9) bedeuten als Ausgangsstellung mit größerer
2.3 Therapie Unterstützungsfläche und zusätzlicher Stabilisation
des Unterkiefers durch den Kieferkontrollgriff.
»Die Aufmerksamkeit des Klienten muss sich auf das Ziel 4 Die Produktion einer kräftigeren Stimme, erfor-
der Aufgabe richten und nicht auf einzelne Komponenten dert eventuell – bei demselben Patienten – die Aus-
der Bewegung. Der Bewegungsplan muss programmiert gangsstellung Stehen (s. . Abb. 5.12) oder Gehen (s.
und geübt werden ohne dauernde kognitive Kontrolle.« . Abb. 5.11).
Umphred (2000) 4 Wird bei der Phonationsanbahnung an einem koordi-
nierten Einsatz von Atmung und Stimmgebung gear-
Am Anfang steht die Befunderhebung, die das Ausführen beitet, wird die Ausgangsstellung vielleicht zu Anfang
von Aktivitäten, das Potential des Patienten erfasst. Da- das Sitzen am Tisch (s. . Abb. 3.4) mit nach vorne ab-
nach werden Hypothesen aufgestellt – häufig mehr als gelegtem Oberkörper und gelagerten Armen sein.
eine – die dann in der Behandlung überprüft und ggf.ver-
ändert werden. : Beachte
Wir gehen von der Annahme aus, dass jeder Patient In der F.O.T.T. werden zu Beginn keine kompensatori-
das Potential hat zu lernen. Ob das Lernpotential genutzt schen Hilfen oder Techniken angeboten, um nicht den
werden kann, um alle oder nur einen Teil der funktionel- Weg des Lernens von ökonomischen, physiologischen
len Bewegungen wieder physiologisch zu lernen, kann zu Bewegungen zu versperren.
Anfang noch nicht prognostiziert werden. Ob Therapeu-
ten in der Lage sind, ihm die entsprechende Lernumge- Um wirklich beurteilen zu können,ob es sich um einen ge-
bung und das entsprechende Angebot zur Weiterentwick- eigneten Haltungshintergrund für eine bestimmte Funk-
lung oder Wiederentdeckung anzubieten, stellt sich erst tion handelt oder ob dadurch eine »fixierte« Position ent-
mit der Zeit heraus. steht, sollte der Patient Bewegungsveränderungen in der
Therapie erfahren.

2.3.1 Physiologische Bewegungen i Praxistipp


und Ausgangsstellungen Ausgangsstellungen müssen während der Therapie
immer wieder variiert werden, damit der Patient
: Beachte Bewegungsveränderungen erfährt und dadurch
Ein Ziel des F.O.T.T.-Konzeptes ist es, dass der Patient das Neuerlernte auf andere Situationen übertragen
wieder physiologische, sichere und ökonomische kann.
Bewegungen und Funktionen ausführen kann. Nur soviel Hilfestellung anbieten, wie es
die physiologische Bewegung erfordert.
i Praxistipp
Die Lernsituation soll so gestaltet werden, dass Dem Patienten soll es ermöglicht werden,
möglichst ausschließlich physiologische Inputs 4 in wechselnden Situationen aus sich selbst heraus
zum Tragen kommen. Feedback zu erhalten – self stimulation – (s. Kap. 5.7)
und
Der Patient soll die Möglichkeit erhalten, durch eine 4 auftretende »Fehler« selbst während der Aktion zu
»entsprechende« Ausgangsstellung, physiologische Ak- korrigieren.
tivitäten – ohne Kompensation – zu erfahren. Dies kann
gelingen, indem wir für eine gewisse Zeit seine ungenü-
gende Stabilität durch Hilfestellungen »von außen« erset-
2.3 · Therapie
41 2

Bieten wir ihm diese vorher beschriebenen Ausgangs- 2.3.2 Patientenbeispiele


stellungen nicht, muss er kompensieren, d. h. er wird
zu unphysiologischen/unökonomischen Bewegungen Frau F.S.
gezwungen. Es können dann sekundäre Probleme resul- > Beispiel
tieren, wie z. B. häufigeres Verschlucken ohne sichere Frau F.S. ist 26 Jahre alt. Sie hat eine zerebrale Bewe-
Schutzmechanismen, hervorgerufen durch die ständige gungsstörung unklarer Ätiologie mit linksbetonter
(nun unveränderbare) 7 Hyperextension der HWS (s. Dystonie und Athetose.
Kap. 3.3.3).
Hauptprobleme
: Beachte Atmung/Essen: In letzter Zeit zunehmend starkes
In der F.O.T.T. können keine einheitlichen Lösungen Verschlucken mit Atemnot beim Essen, vor allem bei
angeboten werden, sondern gemeinsam mit dem festen Speisen. Dies löst bei der Patientin Angst aus.
Patienten wird an Lösungswegen/Lösungsstrategien Atmung/Sprechen: Die Artikulation wird seit einiger
gearbeitet. Zeit zunehmend schlechter, aktuell kaum verständ-
liches Sprechen, auch der Sprechrhythmus ist stark
Für unsere Patienten heißt das, bereits während des Vor- beeinträchtigt.
ganges (z. B. der Nahrungsaufnahme) angepasste Verän- Arme: Beide Schultern sind stark nach 7 ventral
derungen zu erlernen (z. B. sich räuspern und anschlie- gezogen und die ventralen Muskeln entsprechend
ßend schlucken) und nicht erst nach der »verunglückten« verkürzt. Beide Arme sind in Innenrotation, der linke
Aktion, z. B. dem Verschlucken, Rettungsmaßnahmen er- Arm ist zusätzlich 7 retrahiert und flektiert.
greifen zu müssen (ineffektives Husten ohne Schlucken bis Beine: Beide Hüften stehen in starker Innenrotation,
man blau wird und fremde Hilfe benötigt!). links mehr als rechts. Beide Hüften und Knie
Auch für uns therapeutisch Tätige kann das heißen, sind flektiert.
dass wir lernen müssen. Rumpf: Rechte Seite ist deutlich verkürzt. Starke
Als gesunde Menschen können wir jederzeit auf die Streckspannung im Rumpf beim Gehen.
verschiedensten Anforderungen eingehen und haben die Kopf: 7 Hyperextension der oberen Halswirbelsäule
Auswahl zwischen unterschiedlichen »Antworten«. (HWS) und entsprechende Rückneigung des Kopfes.
Passiv kann der Kopf und die obere HWS spontan nur
> Beispiel knapp bis zu einer Neutralstellung gebracht werden.
Sie sitzen im Flugzeug, dieses startet und Sie erfahren Eine 7 Flexion der oberen HWS ist nicht möglich.
die Beschleunigung, werden in Ihren Sitz gedrückt Im Liegen wird der Kopf oft unwillkürlich ruckartig in
und haben evtl. auch noch etwas Angst. Ihre Span- die Luft gehoben.
nung steigt, Ihre Arme und Beine gehen in Streckung, Muskelspannungen und Kontrakturen sind im
Ihr Kopf drückt nach hinten ins Kopfpolster. Wenn gesamten Hals-/Gesichts-/Mundbereich zu tasten.
Ihnen die Stewardess in dieser Position etwas zu Fazio-oraler Bereich: Der Unterkiefer ist geöffnet und
trinken anbieten würde, würden Sie dankend wird stark nach 7 dorsal gezogen. Dabei wird die
ablehnen oder Ihre Position verändern. Unterlippe eingezogen und es entsteht ein schmat-
zendes Geräusch. Der Mundschluss kann nicht gehal-
i Praxistipp ten werden. Zunge, Zungengrund und Os hyoideum
Wir müssen in Selbsterfahrung nachvollziehen, werden nach 7 dorsal gezogen. Es finden sich aus-
in welcher Haltung oder Spannung sich manche geprägte unwillkürliche Bewegungen von Zunge und
Patienten befinden, denen Essen oder Trinken Unterkiefer. Willkürliche Zungenbewegungen können
angereicht wird. nur im Ansatz ausgeführt werden. Die Zunge kann
nicht vorgestreckt werden, sie kann mit viel Anstren-
gung knapp bis hinter die untere Zahnreihe bewegt
werden. Laterale Bewegungen sind nicht möglich.
6
42 Kapitel 2 · Haltungshintergrund

Der Speichel fließt schaumig vor allem aus dem linken Epikrise
Mundwinkel. Dort wird er sofort von der Patientin mit Nach achtzehn Sitzungen wird die Therapie mit folgenden
einem Tuch abgewischt (Sensorik am Mundwinkel Ergebnissen abgeschlossen:
2 soweit intakt). 4 Die Fehlhaltungen sind soweit aufgelöst, dass die Pa-
Schlucken: Es finden sich nur dyskoordinierte, tientin den Kopf in einer neutralen Stellung halten
ineffektive Rollbewegungen der Zunge in der oralen kann.
Phase. Mit dem Finger wird die feste Speise weit nach 4 Die kontrakturbedingten Fixierungen der Zunge
hinten Richtung Zungengrund geschoben, der Kopf konnten gelöst werden. Die Zungenmotorik hat sich
wird dabei stark nach hinten gelegt. Zum Schlucken verbessert. Die Zunge kann nun u. a. bis über die
wird der Kopf dann stark nach vorne und nach rechts Zahnreihe nach vorne herausgestreckt werden.
gedreht. Dabei beisst die Patientin zum Teil zusätzlich 4 Die Patientin kann wieder passierte Kost zu sich neh-
in ein Tuch. Larynxbewegungen sind kaum zu sehen men ohne sich zu verschlucken.
und kaum tastbar. 4 Gleichzeitig verbessert sich ihr Gangbild. Der Kopf
und die obere HWS sind nicht mehr in einer 7 Hyper-
Arbeitshypothesen extension fixiert.
4 Die Probleme sind bedingt durch die enorme Tonus-
Dysbalance im ganzen Körper und haben ihre Auswir- Weiterer Verlauf
kungen auf den fazio-oralen Trakt und die Nahrungs- Dieser Zustand hielt über ein Jahr an. Danach nahmen die
aufnahme. Kontrakturen allmählich wieder zu, sodass sich das
4 Die meisten der oben beschriebenen Schwierigkeiten Schlucken wieder verschlechterte und eine weitere Thera-
entstanden aufgrund sekundärer Kontrakturen, die pie verordnet wurde.
durch die jahrelangen Fehlstellungen verursacht wur-
den. Diese führten zu unphysiologischen Kompensa- Herr L.N.
tionen, u. a. beisst die Patientin während des Schluck- > Beispiel
vorganges in ein Tuch,um vermehrten Tonus zu erzeu- Herr L.N., 56 Jahre alt, zeigt eine Tetraparese
gen und den Unterkiefer zu stabilisieren. bei Z. n. Hirnblutung.

Vorgehen in der Therapie Hauptprobleme


Die Patientin kommt wöchentlich für eine dreiviertel Atmung/Essen: kann keine orale Kost zu sich nehmen,
Stunde zur ambulanten Schlucktherapie (die physiothe- da Gefahr von Aspiration.
rapeutische Therapie zur allgemeinen Gehfähigkeit und Atmung/Sprechen: Kurze schnelle Ausatmung,
Kontrakturprophylaxe wird bei ihrer bisherigen Thera- erhöhte Atemfrequenz. Wenn Stimme produziert wird,
peutin fortgesetzt). dann gepresst und häufig während der Einatmung.
Es wird nun versucht,von den Beinen her über das Be- Arme: Die Schultern sind hochgezogen,
cken nach 7 kranial aufbauend die Kontrakturen passiv zu die Ellbogen flektiert, die Hände geschlossen.
lösen durch feinste Mobilisations- und Dehntechniken, Beine: Oberschenkel sind adduziert und innenrotiert,
die keinerlei Gegenspannung erzeugen sollen.Besonderes Knie sind leicht gestreckt, die Fersen sind beidseits
Augenmerk wird dabei auch auf die hyoidale Muskulatur nicht auf dem Boden, sondern nur der Vorfuß.
und auf die HWS-7 Extensoren gelegt. Rumpf: Das 7 Becken ist nach hinten gekippt, der
Der Rumpf, die Halswirbelsäule und die Mund- und Rumpf verharrt in 7 Flexion.
Zungenbein-Muskulatur sollen mobilisiert werden, da- Kopf: extendiert und 7 translatiert.
mit – als Grundlage für die funktionellen Bewegungen – Fazio-oraler Bereich: die Stirn ist hochgezogen,
die physiologischen Längenverhältnisse so gut wie mög- der Kiefer offen und 7 retrahiert, die Zunge liegt
lich wieder hergestellt werden. zurückgezogen im Mund.
Schlucken: ist selten beobachtbar. Bei Lagever-
änderungen kommt es zu Pumpbewegungen des
Unterkiefers und nachfolgend zu starkem Husten.
2.3 · Therapie
43 2

Arbeitshypothesen lichen Bewegungen der Zunge im Mund (z. B. Apfel in


4 Mangelnder Haltungshintergrund, fehlende Rumpf- Gaze aus der Wange nach vorne bringen),gezielte seitliche
stabilität Bewegungen der Zunge ausserhalb des Mundes (z. B. Rei-
4 Kompensatorische Kopfhaltung (kurzer Nacken) be- nigen des äusseren rechten Mundwinkels) sowie Unter-
dingt durch zuviel Rumpfflexion stützung bei der Ausatmung und begleitend Schluckhil-
4 ungenügende Stabilität des Unterkiefers fen, wenn der Patient hustet oder von sich aus das Schlu-
4 mangelnde Selektivität und Beweglichkeit der Zunge cken einleitet (s. auch Kap. 3 und 7).
und des Os hyoideum Angestrebtes Teilziel: Der Kiefer befindet sich in einer
4 Beeinträchtigung der Atmung/Stimmproduktion durch neutralen Stellung, die Zunge liegt in der Mitte des Mun-
ungenügende dynamische Rumpfstabilität des. Die Pumpbewegungen werden weniger, gleichzeitig
4 Bewegungsansatz fürs Schlucken ist vorhanden. steigt die Schluckfrequenz.

: Beachte Mögliche nächste Schritte


Um die Hypothesen zu überprüfen und um festzu- 4 Übergang in die Ausgangsstellung Sitz am Tisch mit
stellen, ob es sich hier um primäre oder sekundär ent- nach vorne abgelegtem Oberkörper (s. . Abb. 5.4)
standene Symptome handelt, wird zuerst die Haltung
verändert und mehr Stabilität durch die Umwelt i Praxistipp
angeboten. Fragestellungen:
4 Kann der Patient auch in der höheren Ausgangs-
i Praxistipp stellung den Kiefer und die Zunge in Mittelstellung
Lässt sich z. B. durch stabile Unterstützung im Sitz halten?
oder in der Seitenlage (eventuell unter Zuhilfenah- 4 Wird das Schlucken initiiert?
me von Lagerungsblöcken) der Tonus normalisieren, 4 Kann der Patient mit Unterstützung zu einer
wird ersichtlich, dass es sich um ein 7 sekundäres längeren Ausatmung kommen?
Symptom handelt. 4 Kann er phonieren während des Ausatmens?
Fragestellungen: 4 Kann er den Ton unterbrechen und während
4 Kann der Kiefer in eine neutrale Stellung der gleichen Ausatmung den Ton wieder neu
kommen und dort bleiben (Mundschluss)? ansetzen?
4 Wird dadurch die Zunge in Mittellage 4 Kann er einatmen, ohne dass er die Ausgangs-
gebracht? stellung verändern muss (z. B. Kopf anheben,
4 Werden die selektiven Bewegungen der Zunge Rumpf nach hinten bewegen)?
durch die zusätzliche Stabilität – Kieferkontrollgriff –
unterstützt? 4 Übergang zu unterstütztem Sitz (s. . Abb. 3.6 a,b)
4 Können die Pumpbewegungen des Unterkiefers
reduziert werden? i Praxistipp
4 Kommt es durch verbesserte Kieferstabilität Fragestellungen:
zu einem vollständigen Schlucken evtl. sogar zu 4 Was kann der Patient auf diese neue Situation
Nachschlucken? übertragen?
4 Ist mehr 7 Extension der Brustwirbelsäule
Exemplarischer Aufbau einer Behandlungsserie möglich?
Um selektive Bewegungen der Zunge und des Os hyoi- 4 Ist ein »langer Nacken« möglich?
deum zu ermöglichen, benötigt der Patient zu Beginn 4 Wie ist die Kieferstellung?
als Ausgangsstellung die Seitenlage (s. . Abb. 5.9), da er 4 Kann die Zunge selektiver bewegt werden?
nicht in der Lage ist, seinen Haltungshintergrund im Sit- 4 Wird das Schlucken weiterhin mit pumpenden
zen zu bewahren (zuviel Haltearbeit notwendig) und Bewegungen von Kiefer und Zunge eingeleitet?
gleichzeitig selektive Zungenaktivitäten auszuführen. In
dieser Position wird dann im fazio-oralen Trakt gearbei-
tet: Mundstimulation (s. Kap. 4.3.3), Fazilitieren von seit-
44 Kapitel 2 · Haltungshintergrund

Die F.O.T.T. beginnt in einer Position (Ausgangsstellung), Gratz C,Woite D (2000) Die Therapie des Facio-oralen-Traktes bei neuro-
in der der Patient die Möglichkeit hat,weitgehend norma- logischen Patienten: Zwei Fallbeispiele. Schulz-Kirchner, Idstein
Ishida R, Palmer JB (2002) Hyoid motion during swallowing: factors af-
len sensorischen Input zu erfahren. Dies dient fecting forward and upward displacement. Dysphagia 17:262–272
2 4 der Anbahnung physiologischer Bewegung, Liem Torsten,(1998) Kraniosakrale Osteopathie.2.Auflage,Hippokrates,
4 verhilft zu normalem Feedback und Stuttgart
4 dadurch zu verbessertem Feedforward. Liem Torsten,(2000) Praxis der Kraniosakralen Osteopathie.Hippokrates,
Stuttgart
Nusser-Müller Busch R (1997) Therapieansätze bei Störungen der Nah-
Dabei richtet sich die Therapie stets nach dem Potential rungsaufnahme – Eine Standortbestimmung. FORUM Logopädie,
des Patienten (Edwards 1996). Schulz-Kirchner, Idstein
Orth H, Block R (1987) Die Beeinflussung orofazialer Funktionen durch
die Wirbelsäulenhaltung. Der Kinderarzt 18. Jg Nr. 9
Panturin E (2001) The importance of the Trunk and Neck: Therapeutic
implications.Jubiläumsschrift 10 Jahre Schulungszentrum Burgau,
Literatur Therapiezentrum Burgau, D-89331 Burgau
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Bobath K (1980) Neurophysiology, pt 1. videofilm recorded at the Post- ter 3,W. B. Sounders and company.
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Castell JA et al (1993) Effect of head position on the dynamics of the Schewe H (2000) Wege zum Verständnis von Bewegung und Bewe-
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Davies P (1991) Im Mittelpunkt. Springer, Berlin Neckar,Villingen-Schwenningen
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Heidelberg
3

Nahrungsaufnahme –
mehr als Schlucken
Doris Müller, Jürgen Meyer-Königsbüscher
und Jeanne-Marie Absil

3.1 Normale Nahrungsaufnahme – 46

3.2 Nahrungsaufnahme bei neurologischen Patienten – 47


3.2.1 Typische Probleme beim Essen und Trinken – 48
3.2.2 Die Nahrungsaufnahme wird unsicher – 48

3.3 Wann ist die Nahrungsaufnahme ausreichend sicher? – 49


3.3.1 Nahrungsaufnahme ist mehr als die pharyngeale Phase – 49
3.3.2 Die Schlucksequenz – 51
3.3.3 Funktionelle Zusammenhänge erkennen – 54

3.4 Sichere Nahrungsaufnahme ist mehr als Schlucken – 56


3.4.1 Sicherheitsrelevante Aspekte – 56
3.4.2 Die Bewertung sicherheitsrelevanter Faktoren – 57

3.5 Voraussetzungen für orale Nahrungs-


aufnahme erarbeiten – 61
3.5.1 F.O.T.T. beginnt frühzeitig – 61
3.5.2 Therapeutisches Essen – 62

3.6 Assistierte Mahlzeiten – 69


3.6.1 Überlegungen zur Gestaltung der Situation – 70
3.6.2 Vorbereitung der assistierten Mahlzeit – 70
3.6.3 Therapeutische Hilfen bei der Mahlzeit 71
3.6.4 Nachbereitung der Mahlzeit 73
3.6.5 Assistierte Mahlzeiten und enterale Ernährung – 74
3.6.6 Zusammenfassung – 74

Literatur – 75
46 Kapitel 3 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken

»Die Nahrungsaufnahme ist ein wichtiger Bestandteil


des täglichen Lebens. Sie dient neben der Ernährung Übersicht 3.1: Normale Nahrungsaufnahme
und dem Genuss, der alltäglichen Begegnung mit unse- Normale Nahrungsaufnahme ist:
ren Mitmenschen und folglich der Nährung sozialer Kon- 4 komplex,
takte.« (Müller) 4 sicher und automatisiert,
3 4 zentral oder nebenbei,
Die Bewegungsabläufe bei der Nahrungsaufnahme im All- 4 mit Genuss in den Alltag integriert.
tag sind einerseits auf das sichere Essen und Trinken,ande-
rerseits auf Kommunikation und Interaktion ausgerichtet.
Für Patienten, die nicht essen, trinken und schlucken kön- > Beispiel
nen, steht die Wiedererlangung möglichst 7 physiologi- Stellen wir uns vor: Die Familie und die Verwandt-
scher Bewegungsabläufe im Vordergrund. Ihnen fehlt der schaft sitzen anlässlich der Konfirmation der Tochter
Genuss und auch die gesellschaftliche Einbindung über die um die große, festlich geschmückte und gedeckte
gemeinsame Mahlzeit. Tafel. Der Ober hat bereits allen Gästen das Haupt-
In diesem Kapitel sollen basierend auf dem F.O.T.T.- gericht serviert und wünscht »guten Appetit«. Jeder
Konzept Wege zur sicheren oralen Nahrungsaufnahme von uns kennt eine derartige Situation und weiß,
und somit zurück in ein erfüllteres Leben aufgezeigt wer- dass die Anwesenden ihre Aufmerksamkeit dem Essen
den. Dazu werden zunächst verschiedene Aspekte bei der widmen. Sie sitzen auf den Stühlen, wenden sich zum
normalen Nahrungsaufnahme beleuchtet, aus denen sich Nachbarn und bitten um die Gewürze. Sie schneiden
eine erweiterte Betrachtung der Schlucksequenz ergibt. ein Stück Fleisch ab, führen es mit der Gabel zum
Die Beschreibung der Arbeit mit Nahrung im Sinne der the- Mund. Sie drehen den Kopf, um nach dem vierjährigen
rapeutischen Nahrungsgabe und der assistierten Mahlzeit Sohn zu schauen, zerkauen das Fleisch und korrigieren
schließen sich an. Ferner werden Aspekte der Sicherheit im zeitgleich ihre Sitzposition. Sie richten sich auf,
Bezug auf orale Ernährung diskutiert. Es soll verdeutlicht verändern die Stellung ihrer Beine und Füße und
werden,warum das Essen in Gemeinschaft für viele Patien- greifen nach dem Weinglas, um auf die Konfirmation
ten ein sehr hohes Ziel ist. anzustoßen.
In der Situation des festlichen Zusammenseins
besitzt die Nahrungsaufnahme eine zentrale
3.1 Normale Nahrungsaufnahme Bedeutung. Sie ist ein komplexer, vielschichtiger
Vorgang und läuft automatisiert ab.
Im Rahmen der F.O.T.T.lenken wir bei der Betrachtung ei-
ner Funktion unser Augenmerk zunächst auf deren Bei Betrachtung der . Abb. 3.1 fällt auf, dass die Nah-
physiologischen Ablauf. Erst danach beurteilen wir Ab- rungsaufnahme hier nicht im Mittelpunkt steht. Es geht
weichungen vom Normalen. Damit schaffen wir uns die am Tisch lebhaft und kommunikativ zu.Die Nahrungsauf-
Möglichkeit, Störungen der Funktion zu erkennen, zu be- nahme ist in die Situation integriert. Ihre Komplexität
schreiben, über funktionell zu Grunde liegende Ursachen zeigt sich besonders in den Variationen der prä-oralen
Hypothesen zu bilden,den Behandlungsplan zu formulie- Phase, dem Zerteilen der Pizza, dem Halten des Bestecks
ren und die Behandlung zu beginnen. oder Glases, dem »Nach vorne gerichtet« sein des Ober-
Nahrungsaufnahme verläuft vielschichtig und kom- körpers. Die Personen nehmen in unterschiedlichem
plex. Sie geschieht aber auch nebenbei. Kein Gesunder Maße an der Kommunikation, der Unterhaltung bei Tisch
macht sich Gedanken darüber. Wenn wir mit anderen teil. Für einige ist das Essen in diesem Moment zentrales
Menschen zusammentreffen, verbindet sich damit oft ge- Thema, sie sind voll darauf konzentriert, für andere er-
meinsames Essen. Die Nahrungsaufnahme ist dabei in ei- folgt es nebenbei.Das Bild macht darüber hinaus deutlich,
nigen Situationen das zentrale Thema, in anderen erfolgt dass der Gesunde in der Lage ist, seine Haltung der
sie nebenbei. . Übersicht 3.1 nennt die Kennzeichen der Situation anzupassen, asymmetrisch zu sitzen, Ablen-
normalen Nahrungsaufnahme. kung zu tolerieren, dass unsere Hände ins Gespräch ein-
gebunden werden können oder Kontakt zu Gesicht und
Körper halten.
3.2 · Nahrungsaufnahme bei neurologischen Patienten
47 3

. Abb. 3.1. Fröhliche Gesellschaft beim


gemeinsamen Essen an einer langen Tafel

: Beachte zu verändern, Gegenstände zu greifen und Nahrung


Nahrungsaufnahme ist in manchen situativen zum Mund zu führen.
Zusammenhängen nicht von zentraler Bedeutung,
sondern erfolgt nebenbei. > Beispiel
Ein Patient kann durch eine Halbseitenlähmung in
Gesunde Menschen sind im gemeinsamen Kontakt mit eine asymmetrische Sitzhaltung gezwungen sein, die
anderen in der Lage, verschiedene Handlungen gleich- er nicht auflösen kann. Er hat Koordinationsprobleme
zeitig zu tun. Trotz der Komplexität der Situation erfolgt bei Bewegungen, die alltägliche Aktivitäten beeinflus-
Essen und Trinken im Rahmen gemeinsamer Mahlzeiten sen. Diese Probleme setzen sich im Gesicht und oralen
automatisiert, unabhängig davon, ob die Nahrungsauf- Trakt fort und zeigen sich z. B. als gestörte Bewegun-
nahme in diesem Moment von zentraler Bedeutung gen und Bewegungsasymmetrien.
ist oder ob sie nur nebenbei erfolgt. Gesunde bewegen
sich angepasst an die Situation, nehmen an der sozia- : Beachte
len Interaktion teil, essen und trinken, sprechen und Sensomotorische Probleme beeinträchtigen
lachen … Bewegungen und die Koordination von Abläufen.
Sie betreffen den ganzen Körper, so auch den Rumpf,
die Kopfhaltung und setzen sich im fazio-oralen Trakt
3.2 Nahrungsaufnahme fort.
bei neurologischen Patienten
Zur psychosozialen Bedeutung des Essens und Trinkens
Bei neurologisch erkrankten Patienten finden wir die verweisen wir auf Elferich (2001). Die Autorin fokusiert
Grundvoraussetzungen für alltägliche Aktivitäten wie die fachlichen und ethischen Aspekte der Dysphagie-
Nahrungsaufnahme verändert. rehabilitation, die psychodynamischen Prozesse bei der
Sie haben unter anderem Probleme: normalen Nahrungsaufnahme und deren Veränderungen
4 in der Wahrnehmung, Sensibilität und der Koordina- bei gestörter oraler Nahrungsaufnahme,beschreibt häufig
tion von Haltung und Bewegung. beobachtbare Verhaltensmuster bei oraler Nahrungska-
4 Sie sind oft nicht in der Lage ihre Haltung ohne Auf- renz und während des oralen Kostaufbaus bei Patienten,
wand und Anstrengung zu verändern. Teammitgliedern und Angehörigen und formuliert Ge-
4 Sie haben Bewegungseinschränkungen, die es ihnen danken zur Angehörigenarbeit.
unmöglich machen, z. B. den Kopf zu drehen, den
Rumpf zu bewegen, Beine und Füße in ihrer Stellung
48 Kapitel 3 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken

3.2.1 Typische Probleme beim Essen 4 Penetration/Aspiration von Nahrung in den Kehlkopf,
und Trinken auf die im günstigsten Fall mit einem kräftigen Hus-
ten mit Nachschluck »geantwortet« wird,
Beim Essen und Trinken treten typische Probleme auf. Sie 4 bestimmte, z. B. feste oder flüssige Konsistenzen kön-
sind in . Übersicht 3.2 zusammengefasst. nen nicht mehr problemlos aufgenommen werden.
3
Die Diät wird deshalb modifiziert, z. B. passierte Kost an-
Übersicht 3.2: Typische Probleme beim Essen geboten. Viele Patienten benötigen Unterstützung oder
und Trinken Hilfe von außen, um die Essenssituation zu meistern. Die
4 Komplexe Leistungen zerfallen. Teilnahme an sozialen Interaktionen, die eine Essenssitu-
4 Die Bewegungsqualität verändert sich. ation darstellt, erfolgt nur noch selten.
4 Essen wird zur »Schwerstarbeit«.
! Vorsicht
Werden die benötigten Leistungen bei der
Vielen Patienten mit einer neurogenen Schädigung ist Nahrungsaufnahme für den Patienten zu komplex,
nicht mehr möglich, gleichzeitig zu sprechen und zu lau- wird die Nahrungsaufnahme unsicher. Der Schutz
fen,andere Patienten spüren beim Zuhören oder Aktivität der unteren Atemwege ist nicht mehr gegeben. Dies
ihren Speichel nicht, es kommt zu Speichelfluss. Komple- ist ein Alarmsignal, da Aspiration lebensbedrohliche
xe Leistungen stellen für unsere Patienten sehr große Komplikationen nach sich ziehen kann.
Herausforderungen dar. Sie können oft nicht mehr wäh-
rend des Essens zuhören oder sprechen, indem sie die Die Rehabilitation von Störungen der Nahrungsaufnahme
Nahrung in der Wange parken,um das Tischgespräch auf- muss daher verschiedene Stufen anbieten (. Übersicht
recht erhalten. 3.3).
Die mangelnde Koordination von Haltung und Bewe-
gung bei alltäglichen Aktivitäten kann dazu führen, dass
komplexe Leistungen, bei denen man mehreres gleichzei- Übersicht 3.3: Behandlungsstufen bei Störungen
tig macht, zerfallen. Die Qualität der Bewegungen verän- der Nahrungsaufnahme
dert sich u. U. dramatisch. Die Bewegungen werden un- 4 Eine ausreichend sichere Schlucksequenz
ökonomisch, wirken ineffektiv und verlaufen nicht mehr erarbeiten.
harmonisch, sondern unphysiologisch. Es kommt zu 4 Fazilitierend Arbeiten mit therapeutischer
7 Tonuserhöhungen und Fixierungen in bestimmten Nahrungsgabe.
Haltungen, die auch Schmerzen verursachen können. 4 Alle von Patienten und Umfeld eingebrachten
Jede Bewegung bedarf besonderer Anstrengung, das Faktoren einbeziehen, um den richtigen Zeit-
Essen wird zur »Schwerstarbeit«. punkt für den Beginn und die optimale Art
des Nahrungsangebotes festzustellen.
4 Oralen Kostaufbau beginnen.
3.2.2 Die Nahrungsaufnahme wird unsicher 4 Nahrungsmenge und angebotene Konsistenz-
formen erweitern.
Trotz dieser Probleme ernähren sich viele unserer Patien- 4 Orale Nahrungsaufnahme im Sinne der
ten oral oder werden oral ernährt. Die Patienten konzen- assistierten Mahlzeit begleiten.
trieren sich vollständig auf die Nahrungsaufnahme, ohne
Funktionelle Zusammenhänge und Wahrneh-
in der Situation Kapazität für eine Unterhaltung zu haben.
mungskontext müssen in allen Stufen berücksich-
Manche Patienten beginnen während der Mahlzeit zu
tigt werden.
sprechen und können den Bolus dabei nicht ausreichend
Das Ziel ist es, langfristig eine sichere
kontrollieren. Die Folgen sind vielfältig:
Nahrungsaufnahme mit Genuss (ev. sogar) in
4 Nahrung fällt aus dem Mund
Gesellschaft zu erreichen oder zu erhalten.
3.3 · Wann ist die Nahrungsaufnahme ausreichend sicher?
49 3

3.3 Wann ist die Nahrungsaufnahme … aber das ist nicht alles!
ausreichend sicher? Die Fokusierung in der Therapie auf das »Schlucken« – auf
die pharyngeale Phase – bringt aber auch Probleme mit
Im Folgenden befassen wir uns zunächst mit den Fragen, sich:
welche Faktoren gegeben sein müssen, um die Nahrungs- 4 Die pharyngeale Phase ist nur ein Teil der Schluck-
aufnahme sicher zu machen,und über welche Fähigkeiten sequenz.
neurologisch erkrankte Patienten verfügen müssen, um 4 Ein direkter »Zugriff« auf diese Phase – seitens des
wieder zu sicherer oraler Ernährung geführt werden zu Patienten und Therapeuten – ist nicht möglich.
können. 4 Relevante therapeutische Mittel werden nicht ausge-
schöpft.
4 Das Therapiepotential wird unterschätzt.
3.3.1 Nahrungsaufnahme ist mehr
als die pharyngeale Phase Indirekte Beeinflussung des Schluckvorganges
Die Strukturen und Bewegungsabläufe in der pharyngea-
Die pharyngeale Phase – kritisch betrachtet len Phase können therapeutisch nicht direkt taktil beein-
Physiologische Abläufe in der pharyngealen Phase flusst werden wie die der oralen Phase.Der orale Anteil der
werden in der Literatur detailliert und einheitlich be- Zunge kann berührt und bewegt werden, um sensomoto-
schrieben (Logemann 1983; Neumann 1999 etc.). Durch rischen Input zu geben.
die Schubkraft der Zunge und v. a. des Zungengrundes
wird der mit Speichel vermengte Bolus in den Rachen be- i Praxistipp
fördert und mit Hilfe der peristaltischen Pharynxwelle Der pharyngeale Anteil der Zunge kann beeinflusst
durch den Rachen in Richtung Ösophagus befördert. Da- werden durch:
bei zieht das Zungenbein nach vorne und der sich ver- 4 passives Bewegen der Zunge,
schließende Kehlkopf nach oben, vorne und der obere 4 7 Fazilitieren des oralen Zungenanteils und/oder
Ösophagussphinkter öffnet sich. Der Nasen-Rachen- 4 durch Stimulation am Mundboden und Bewegen
Raum sowie die unteren Atemwege werden dabei ver- und Positionieren des Kopfes.
schlossen und somit vor eindringendem, fehlgeleitetem
Material geschützt. Unwillkürliches Schlucken
Weder der Patient noch die Therapeutin können die
Die pharyngeale Phase ist wichtig … reflektorischen Anteile der Schlucksequenz in der pha-
Das Wort Schlucken wird oft als Synonym für den Vorgang ryngeale Phase willentlich beeinflussen. Der Begriff
in der pharyngealen Phase genutzt. »Schluckreflex«, der auch häufig synonym für das pha-
Die Bedeutung dieser Phase ergibt sich daraus, dass ryngeale Schlucken verwendet wird, versinnbildlicht die
sich im Rachen der Atem- und Nahrungsweg überschnei- »Ohnmächtigkeit«, die Therapeuten und Ärzte oft im Be-
den. Kommt es nicht zum adäquaten Nahrungstransport zug auf die pharyngeale Phase beziehungsweise auf das
und zum effektiven Schutz der Atemwege, so ist das Ein- Schlucken empfinden.
dringen von Nahrung in den Kehlkopfbereich bis zu
den Stimmlippen – Penetration – oder gar unterhalb der i Praxistipp
Stimmlippen – Aspiration – die gefürchtete Konsequenz. Wenn ein Reiz – hier im Bereich der Pharynxschleim-
In der pharyngealen Phase entscheidet sich also, ob die haut – nicht mit dem adäquaten, unwillkürlich
Nahrung oder der Speichel »den richtigen Weg nimmt«. regelrecht ablaufenden Vorgang – hier koordinierte
Erregung der Schlund-, Kehlkopf- und Ösophagus-
! Vorsicht muskulatur – beantwortet wird, wie kann da eine
Werden Nahrung und/oder Speichel aspiriert und sinnvolle therapeutische Intervention aussehen?
gelangen in die Lunge, kann dies zu Komplikationen
bis hin zu lebensbedrohlichen Aspirationspneumo- Diese Frage beantwortet sich, wenn wir die Nahrungs-
nien führen. aufnahme/das Schlucken im erweiterten Blickwinkel be-
trachten, der über die pharyngeale Phase hinausgeht.
50 Kapitel 3 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken

Nahrungsaufnahme und die Sichtweise F.O.T.T. nach Kay Coombes:


des Bobath-Konzeptes Die erweiterte Sichtweise
»Im Allgemeinen führen Menschen die Aktivitäten in der Der Ablauf des Schluckens ist also durchaus variabel –
prinzipiell gleichen energiesparenden Weise aus. Kann und auch beeinflussbar. Dabei spielen nicht nur verschie-
ein Patient eine dieser Aktivitäten nicht auf diese Weise dene Nahrungsmittel oder –konsistenzen eine Rolle.Es ist
3 durchführen, muss die Therapeutin herausfinden, warum wichtig,die Nahrungsaufnahme als Ganzes zu betrachten,
das nicht geht. Die Antwort darauf dient ihr später als und nicht nur die kritischste, die pharyngeale Phase. Kay
Grundlage ihrer Behandlung. Sie wird versuchen, dem Coombes hat als Bobath-Tutorin mit ihrem Wissen um
Patienten wieder ein normales ökonomisches Bewegen 7 normale Bewegungsabläufe das Schlucken und die
mit geringem Kraftaufwand zu ermöglichen.« Nahrungsaufnahme analysiert und kommt zu dem Er-
(Davies 2002) gebnis:

Die Beobachtung und Auswertung normaler Abläufe bei : Beachte


der Nahrungsaufnahme und beim Speichelschlucken zei- Für eine effektive pharyngeale Phase sind auch zeitlich
gen, dass sich das Schlucken durch vorhersagbare Abläu- vorgelagerte Abläufe wie die Haltung und Bewegung
fe und 7 Bewegungsmuster auszeichnet. In . Übersicht des Körpers, das Einbeziehen der Sinne (spüren, sehen,
3.4 sind die typischen Aspekte 7 normaler Bewegung bei riechen, schmecken …) und Bewegungen im Mund
der Nahrungsaufnahme dargestellt. wesentlich.

Aus dem Alltag ist uns die Komplexität der Nahrungsauf-


Übersicht 3.4: Einige typische Aspekte nahme vertraut. Intuitiv nutzen wir für uns selbst unsere
normaler Bewegung Erfahrung, wie wir zum Beispiel das Trinken ausreichend
4 Sie ist ökonomisch, fließend und harmonisch sicher gestalten können:
koordiniert.
4 Sie ist auf ein Ziel ausgerichtet. > Beispiel
4 Der Ablauf wird den Erfordernissen angepasst. Nur mit äußerster Vorsicht würden wir in Rückenlage
4 Die Bewegungsabläufe, Bewegungsmuster aus einer Flasche oder gar einer Schnabeltasse
sind bei verschiedenen Konsistenzen ähnlich, trinken! Wenn Sie sich nicht sicher sind, ob diese
weisen aber relevante Unterschiede auf. Aussage stimmt, probieren Sie aus! Sie werden sehr
behutsam versuchen, nicht zu viel Flüssigkeit auf
einmal in den Mund aufzunehmen, indem Sie über
> Beispiel Hand- und Armbewegungen, sowie Kopf-, Lippen-
Wenn eine Person ein Stück Apfel isst bzw. einen und Zungenposition die Flüssigkeit bremsen.
Löffel Apfelmus zu sich nimmt, verläuft dies ähnlich, Würden Sie sich auch gerne seitlich drehen und
aber nicht genau gleich. Wir wissen, dass beim Essen abstützen oder gar aufsetzen?
von Apfelmus Beißen und Kauen nicht erforderlich Sofort ist uns bewusst, dass die Rückenlage –
sind. Mit bildgebenden Verfahren wie 7 Endoskopie mit ihrer typischen, beschleunigenden Schwerkraft-
und 7 Videofluoroskopie wird auch erkennbar, wirkung auf die Flüssigkeit – uns zum Husten bringen
dass sich der Transport dieser beiden Nahrungs- würde bzw. den Schluckvorgang unsicher macht.
konsistenzen durch den Rachen nicht gleich darstellt.
Dies spiegelt sich unter anderem durch eine Diese Sichtweise integriert auch weitere, die Nahrungs-
veränderte pharyngeale Transit-Time des Bolus aufnahme beeinflussende Bereiche:
wider (Bisch et al. 1994). 4 Haltung/7 Tonus,
4 Atmung,
4 Artikulationbewegungen,
4 mimische Bewegungen und
4 deren Koordination.
3.3 · Wann ist die Nahrungsaufnahme ausreichend sicher?
51 3

Einige Komponenten mimischer und artikulatorischer 3.3.2 Die Schlucksequenz


Bewegungen, z. B. der Lippen und der Zunge, werden
auch bei der Nahrungsaufnahme genutzt. Durch 7 Fazili- Aus der erweiterten Betrachtungsweise des Schluckablau-
tieren alltagsrelevanter Lippen- und Zungenbewegung fes im Rahmen der F.O.T.T. ergibt sich ein Beobachtungs-
unter gleichzeitiger Hemmung der für neurologische Pa- schema,das die Nahrungsaufnahme als einen aufeinander
tienten typischen abnormalen Bewegungskomponenten, aufbauenden, sequenziellen Vorgang beschreibt.
wie Überaktivität der weniger betroffenen Seite beim
Halbseitengelähmten,Ausweichbewegungen, 7 assoziier- Die Schlucksequenz nach Coombes
te Reaktionen oder spastische Tonuserhöhung, wird der Die Schlucksequenz besteht aus vier Phasen, in . Über-
Zugriff auf 7 normale, ökonomische Bewegungsabläufe sicht 3.6 sind diese dargestellt.
für den Patienten gebahnt und erleichtert.
Das therapeutische Vorgehen zeigt . Übersicht 3.5.
Übersicht 3.6: Phasen des Schluckvorganges
Prä-orale Phase
Übersicht 3.5: Therapeutisches Vorgehen 4 7 Haltungshintergrund:
Aufgerichtetes Becken, entspannter, symmetri-
4 Erarbeiten der sicheren Schlucksequenz
scher Schultergürtel, Kopf in Mittelposition,
4 Erarbeiten von Schutzmechanismen
langer Nacken
4 Zielgerichtete Bewegungen unter Einbeziehen
Währenddessen:
der Sinneskanäle:
4 Berücksichtigung beeinflussender Bereiche:
4 »Hand« bereitet die Nahrung vor
Haltung/7 Tonus, Atmung, Artikulation und
4 »Hand« bewegt Nahrung zum Mund
mimische Bewegungen und deren Koordina-
4 Spüren der Bewegung und der Position
tion
4 Augen (Nase + Ohren) sammeln Informa-
4 Erleichtern/7 Fazilitieren 7 physiologischer,
tion über die Vorbereitung der Nahrung.
alltagrelevanter Bewegungen
4 Hemmen/Inhibieren abnormer Bewegungs- Orale Phase
komponenten. 4 Bolusformung: Zerkleinern der Nahrung und
Durchmischen mit Speichel
4 Bolustransport: Horizontaler oraler Transport
Dieser Behandlungsansatz hat sich für schwer betroffene
mit der Zunge durch die Mundhöhle
neurologische Frührehabilitationspatienten bewährt.
Auch bei leichter betroffenen Patienten mit umschriebe- Pharyngeale Phase
nen Störungen, die das Schlucken und die Nahrungs- 4 Vertikaler Bolustransport unter Verschluss der
aufnahme beeinträchtigen, ist eine genaue Analyse der Atemwege
vorhandenen Bewegungskomponenten sowie das »hands-
on-Vorgehen« zum Lenken der sensomotorischen Abläu- Ösophageale Phase
fe erforderlich. Damit wird der Grundstein für ein siche- 4 Vertikaler Transport in den Magen
res Schlucken gelegt.

: Beachte unzureichend: eine isolierte Betrachtung …


Die F.O.T.T. ist mehr als »Schlucktherapie« für neuro- … der einzelnen Phasen oder Bewegungskomponenten!
logische Patienten. Sie bezieht Aspekte und Vorbe- Das ist die logische Schlussfolgerung,wenn der Ablauf
dingungen ein, die für die alltägliche Nahrungsauf- bei der Nahrungsaufnahme als Schlucksequenz betrach-
nahme wesentlich sind, um 7 normale Bewegungs- tet wird. Dies beinhaltet auch, dass nicht nur die Funktion
abläufe auszubauen, so dass der Patient lernt, einzelner Muskeln oder Bewegungskomponenten in deren
während des Essens und Trinkens – und später im Effektivität bewertet werden, sondern dass koordinierte
Alltag – wieder Zugriff darauf zu erlangen. Bewegungsabläufe in funktionellen Zusammenhängen
und die Koordination verschiedener Abläufe miteinan-
52 Kapitel 3 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken

der – wie Atmen und Schlucken – beurteilt und therapeu- i Praxistipp


tisch beeinflusst werden (s. Kap. 2 und 5). Generelle Überlegungen und einige Beispiele:
4 Wir gestalten das »Davor und Danach der pharyn-
i Praxistipp gealen Phase«. Dazu nutzen wir die Überlegungen
Der 7 Haltungshintergrund – und somit die prä- und Mittel der therapeutischen Nahrungsgabe, der
3 orale Phase – beeinflusst die Bewegungsmöglich- assistierten Mahlzeit und der Mundhygiene unter
keiten in der oralen und der pharyngealen Phase Einbeziehung basaler Zusammenhänge wie Haltung
und somit die Sicherheit. Beachte und nutze, dass und Atmung. So wird das Zähneputzen in einer
eine Phase die nächste Phase beeinflusst! hilfreichen Ausgangsstellung bei vielen Patienten
vermehrtes Schlucken auslösen.
Bei einem wahrnehmungsgestörten Patienten ist es be- 4 Wir richten unsere Arbeit auf Erweiterung und
sonders wichtig, die prä-orale Phase auszubauen. Die ge- Ausbau sensomotorischer Fähigkeiten zur Erreichung
spürte Information über das Geschehnis, die Alltagsakti- funktioneller Ziele aus: Gestaltung des 7 Haltungs-
vität, muss vermittelt werden (Affolter und Bischofberger hintergrundes + Berührung der Zunge verhilft häufig
1996). Nur so kann er die Situation »begreifen« und adä- zum Schlucken von Speichel.
quate Bewegungen in der oralen Phase ausführen. Ohne 4 Wir kontrollieren, ob unser Vorgehen etwas
ausreichende Spürinformation kommt es zum Beispiel verändert. z. B.: Ist die Stimme nicht mehr »nass«
zum Beißen ins Glas, aus dem der Patient trinken soll. nach dem »Schlucken«? Dies bedeutet, dass der
Gratz (2002) führt in diesem Zusammenhang den Begriff Patient Residuen im Bereich der Stimmlippen
»erweiterte prä-orale Phase« ein. Diese bezieht neben der entfernen konnte und heruntergeschluckt hat.
Vor- und Zubereitung der Nahrung auch gegebenenfalls 4 Wir achten bei der Ausführung von Bewegun-
deren Zusammenstellung und das Einkaufen (Besorgen) gen, z. B. der Zunge, auf die Bewegungsqualität und
gemeinsam mit dem Patienten mit ein. beeinflussen sie, zum Beispiel durch den Kiefer-
kontrollgriff.
i Praxistipp 4 Wir korrigieren die Kopfposition.
Bei der Frage nach »Sicherheit« 4 Wir fördern die 7 dynamische Stabilität des
4 wird die prä-orale Phase oft unterschätzt, Unterkiefers durch einen an die Fähigkeiten des
4 wird die orale Phase ebenfalls unterschätzt, Patienten angepassten Kieferkontrollgriff. Dieser
4 wird die pharyngeale Phase zu isoliert stabilisiert den Kiefer vom Beginn des oralen Bolus-
betrachtet. transports bis zum Ende der pharyngealen Phase.
4 Wir geben Schluckhilfen am Mundboden, die
Therapeutische Konsequenzen 4 den Kiefer stabilisieren
Die Betrachtung der Nahrungsaufnahme als Schluckse- 4 Transportbewegungen der Zunge initiieren
quenz gibt dem therapeutischen Team, den Patienten und oder unterstützen
den Angehörigen eine Möglichkeit, den Ablauf des Schlu- 4 Residuen z. B. im 7 Vallecularraum spürbar
ckens, Essens und Trinkens zu verändern, ihn effektiver machen (. Abb. 3.2b, 36.b, 3.9)
und somit sicherer zu machen. Auch die pharyngeale
Phase kann positiv beeinflusst werden durch: > Beispiel
4 Einbeziehen der Hände, Erarbeiten einer ausreichend sicheren Schlucksequenz
4 Unterstützen des 7 Haltungshintergrundes, der Kopf- Herr B., der sich normalerweise mit dem Rollstuhl
position, der koordinierten Kiefer- und Zungenakti- fortbewegt, sitzt in korrigierter Haltung auf einem
vität und Stuhl am Tisch. Zwischen der Wand und dem rechten
4 die »Vorbereitung des Mundes« durch Stimulation Bein wurde ein Pack (fester Schaumstoffblock) positio-
von Bewegung und vermehrten taktilen Input. niert, über den der Patient die Wand als stabile Seite
(stabile Umwelt) spüren kann. Nach dieser Vorberei-
tung des 7 Haltungshintergrundes wird die Mund-
stimulation durchgeführt und somit die oralen
6
3.3 · Wann ist die Nahrungsaufnahme ausreichend sicher?
53 3

Strukturen und das Schlucken vorbereitet. Dann gekostet und prompt geschluckt. Nun berührt die
erfolgt das Entblocken der 7 Trachealkanüle. Therapeutin die Zunge des Patienten gezielt und mit
Da Herr B. ein punktiertes 7 Tracheostoma hat, etwas Druck. Ihr Finger ist mit etwas Apfelsaft ange-
das sich innerhalb kurzer Zeit verkleinert, schrumpft, feuchtet, um den Geschmacksstimulus zur Anregung
kann die Trachealkanüle nicht für die Therapie vermehrter Bewegung und der Speichelproduktion zu
entfernt werden. Sie kann aber für einige Zeit mit nutzen. Der rechte Arm der Therapeutin unterstützt
einem Sprechventil »verschlossen werden«. mit dem Kieferkontrollgriff von der Seite die Kopf-
Herr B. kann trotzdem ruhig und fließend – jetzt position des Patienten.
über Kehlkopf und Rachen – ausatmen. (Nähere Infor- Nach der Berührung der Zunge 7 fazilitiert die
mationen zur Trachealkanüle in Kapitel 6 und 7) Therapeutin das Schlucken (. Abb. 3.2b). Ihre rechte
Herr B. hält ein Glas mit gekühltem Apfelsaft in Hand unterstützt am Occiput die Kopfposition »langer
der Hand (. Abb. 3.2a). Er hat schon mit dem Finger Nacken«. Daumen und Mittelfinger der linken Hand
6

. Abb 3.2 a–c. Erarbeiten einer ausreichend sicheren


Schlucksequenz mit Herrn B. a Die Therapeutin berührt Herrn B.s
Zunge. b Anschließend erfolgt die Stimulation des Schluckens.
c
c Stimmkontrolle, war das Schlucken effektiv?
54 Kapitel 3 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken

stabilisieren bilateral den Unterkiefer und heben mung nach dem Schlucken Residuen aus dem unteren
über den Mundboden leicht den hinteren, oralen Pharynx oder gar Larynxeingang bewegt werden können.
Zungenanteil an. Herr B. schluckt. Damit werden sie leichter spürbar, die unteren Atem-
Nach dem Schlucken erfolgt die »Stimmkontrolle« wege werden geschützt und Reste können in den oberen
(. Abb. 3.2c). Die Therapeutin erspürt Herrn Bs Atem- Pharynx transportiert und dann geschluckt werden.Auch
3 rhythmus und unterstützt ihn bei der Ausatmung und bei gesunden Personen wird teilweise nach dem Schlu-
beim koordinierten Einsatz der Stimme, indem sie zum cken eine Ausatmung hörbar.
rechten Zeitpunkt gemeinsam mit ihm ihre Stimme In der Regel wird vor der pharyngealen Phase der
erklingen lässt (statt ihn dazu aufzufordern). Herr B. Schlucksequenz etwas ausgeatmet, dann erfolgt das
artikuliert, einsetzend mit der Ausatmung für fünf Schlucken (die Atmung stoppt – »Schluckapnoe«),worauf-
Sekunden ein kräftiges, klares »a«. Die Stimme ist hin erneut die Ausatmung einsetzt (s. auch 5 und 7). Die-
»frei«, es hat sich kein Speichel auf die Stimmlippen ser Ablauf, also Ausatmen – Schlucken – Ausatmen,
gelegt und im Bereich des Sternum ist kein Rasseln wurde auch mit verschiedenen Studien als der vorherr-
zu spüren. Dies sind klinische Zeichen für ein »erfolg- schende belegt. Die ermittelten Prozentsätze variierten
reiches«, sicheres Schlucken. jedoch.

i Praxistipp > Exkurs


Es gibt keine »Zaubergriffe«, die bei allen Patienten Studienergebnisse
wirken.Wir müssen uns mit der Komplexität von Nach einer Studie von Klahn und Perlman (1999)
Alltagsleistungen wie der Nahrungsaufnahme ging in 93 % der Fälle dem Schlucken eine Ausatmung
vertraut machen.Wir müssen detektivische Arbeit voraus und zu 100 % folgte Ausatmung. Bei dieser
leisten, um herauszufinden, was dem einzelnen Untersuchung bekamen die Testpersonen die
Patienten hilft, normalere Alltagsbewegungen Nahrung angereicht. Hiss et al. (2001) berichteten,
auszuführen. Dadurch ermöglichen wir dem dass bei 900 bzgl. Atem-Schluck-Koordination
Patienten, diese Abläufe später auch ohne analysierten Schluckvorgängen Ausatmung zu 75 %
externe Hilfe zur Verfügung zu haben. vor dem Schluck und zu 86 % nach dem Schluck
erfolgte. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis,
»Give the patients their body back!« dass normale Testpersonen dieses sichere Schluck-
Atemmuster nutzen, wenn sie aufgrund der Versuchs-
»Gebt den Patienten (die Kontrolle über) den eigenen anordnung die Nahrung nicht selbst zum Mund
Körper zurück!« (Kay Coombes) führen können.

: Beachte Aus den Studienergebnisse kann man schließen, dass eine


Schlucken ist eine Alltagsaktivität, die sich durch Beeinträchtigung in der normalen prä-oralen Phase – das
Schnelligkeit, höchste Koordination,Variabilität Anreichen von Nahrung – eine Umstellung auf mehr
und Automatisierung auszeichnet. Ökonomische Kontrolle – mehr Sicherheit – in den funktionellen Zu-
Bewegungsabläufe, die auf gespürter Information sammenhängen verlangt. Mehr Sicherheit bedeutet in
und normalen 7 Bewegungsmustern basieren, diesem Fall Ausatmung vor und nach dem Schlucken,
sind für ein effektives, unwillkürliches Schlucken damit werden Residuen entfernt, zum Beispiel aus dem
unerlässlich. Kehlkopfeingangsbereich.

: Beachte
3.3.3 Funktionelle Zusammenhänge erkennen Menschen mit normaler Sensomotorik sichern sich
über Umstellung der Atem-Schluck-Koordination
Normale Koordination von Atmung und Schlucken annähernd maximale Sicherheitsfaktoren, wenn
Normalerweise können wir beobachten, dass Atmung sie selbst nicht die Nahrung zum Mund führen
und Schlucken in einer vorhersagbaren Weise miteinan- können.
der koordiniert werden. Wir wissen, dass mit der Ausat-
3.3 · Wann ist die Nahrungsaufnahme ausreichend sicher?
55 3

Typische Probleme im Bezug auf Haltung, Besonders den Rumpf selektiv aufzurichten und
Atmung und Schlucken mit dem Oberkörper vorzukommen, fällt den Patien-
Beim Anreichen von Essen und Trinken in den Selbst- ten schwer. Auf dieser Position und den Tonusverhält-
erfahrungs-Workshops, die in den F.O.T.T.-Kursen durch- nissen des Rumpfes basierend ist der Kopf nicht frei
geführt werden, versuchen die Kursteilnehmer, mit den beweglich (s. Kap. 2). Der Körper kann der Nahrung
ihnen zur Verfügung stehenden (präoralen) Bewegungen nicht »entgegenkommen« und damit etwas Kontrolle
und Schutzreaktionen, die Situation zu kontrollieren. Es übernehmen. Auch für die visuelle Kontrolle des Vor-
können dabei generell gültige Beobachtungen gemacht gangs wäre eine differenzierte Kopfeinstellung nötig.
werden: Die Probleme verstärken sich noch, wenn die Nahrung
Wir kompensieren mit vermehrter Informations- von der Seite angereicht wird.
suche über Augenbewegungen und neigen Kopf- und
Oberkörper oder gar den ganzen Rumpf vor, wenn uns > Exkurs
Nahrung angereicht wird. Ziel dieser kontrollierenden Studie zum Pneumonierisiko
(Re-)Aktionen auf die veränderte Situation ist, das Untermauert werden diese Überlegungen durch einer
Herstellen der Sicherheit in den einzelnen Phasen der Studie von Langmore et al. (1998), die übrigens selbst
Schlucksequenz. Neben dem Vermeiden von prä-oralen vom Ergebnis ihrer Recherchen überrascht waren. In
»Unfällen«, z. B. dem Verschütten von Flüssigkeit aus dem der Arbeit werden Faktoren, die das Auftreten von
Glas, das jemand anreicht, soll insbesondere auch ein Pneumonien wahrscheinlich machen, untersucht. Der
sicherer oraler und pharyngealer Flüssigkeitstransport wesentlichste »Vorhersagefaktor« für das Auftreten
ermöglicht werden. Beim Übergang von der prä-oralen einer Pneumonie war, dass Patienten die Nahrung
zur oralen Phase kontrollieren wir vor allem die Nah- angereicht werden musste! Als weitere relevante pro-
rungsmenge und kehren dann schnell in eine für das gnostische Faktoren erwiesen sich: die Abhängigkeit
Schlucken günstige »Mittelposition mit langem Nacken« bei der Mundpflege, die Anzahl der schlechten Zähne,
zurück, um vor allem die pharyngeale Phase sicher zu Sondenernährung, mehr als eine medizinische Dia-
bewältigen. gnose und, dies sei der Vollständigkeit halber genannt,
Wird im Alltag Patienten Nahrung angereicht,so müs- Rauchen. 7 Dysphagie, also eine Schluckstörung war
sen wir berücksichtigen, dass sie damit die Kontrolle über keiner der relevantesten Prognosefaktoren für eine
den Ablauf verlieren können. Gerade schwerer betroffene Pneumonie!
Patienten können aufgrund ihrer koordinativen Beein-
trächtigung die oben genannten Strategien zur Sicherung Ein umfassender Therapieansatz ist nötig!
der Nahrungsaufnahme nicht oder nur eingeschränkt Die therapeutische Konsequenz dieser Studie liegt auf der
einsetzen. Sie sind damit einem erhöhten Risiko ausge- Hand: Um Sicherheit zu schaffen – und hier schwebt dem
setzt. »Schlucktherapeuten« vor allem die Vermeidung einer
Aspiration und einer lebensbedrohlichen Pneumonie
> Beispiel vor –, müssen Parameter betrachtet werden, die über die
Die fixierte Rumpfposition oder Rumpfinstabilität der Beurteilung der pharyngealen Phase hinausgehen.
Patienten verhindert häufig die Möglichkeit sich selbst Des Weiteren bekräftigt das Ergebnis der Studie, dass
in eine normale »Schluckposition« zu bringen und es für eine effektive Behandlung mehr als die Fokusierung
auch die Atmung ökonomisch den Erfordernissen auf das Schlucken braucht. Insbesondere die Wichtigkeit
anzupassen. Dies scheitert gerade dann, wenn die einer adäquaten Mundhygiene, der Gesunderhaltung des
Anforderung komplexer wird und mit weiteren Funk- oralen Milieus wird betont.F.O.T.T.-Therapeuten arbeiten
tionen kombiniert wird, hier Atmung und Schlucken, mit diesem Schwerpunkt während der Mundstimulation
aber auch Atmung und Stimmgebung/Sprechen. nach Coombes (Kap. 4.3.3), bei der Anbahnung von Zun-
Neurologische Patienten haben in der Regel auch gen- und Schluckbewegungen und innerhalb der Durch-
Mühe, ihre Haltung und Bewegung ökonomisch an führung einer strukturierten Mundhygiene (Kap. 4). All
die Situation an zu passen. Hier sind die Probleme dies ist eng mit dem Thema »Sicherheit« bzw. Vermei-
vielschichtig: dung von Pneumonie verknüpft.
6
56 Kapitel 3 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken

: Beachte 4 Kann der Patient effektiv husten, wenn


4 Durch Arbeit in der prä-oralen und oralen Phase es nötig ist?
wird die pharyngeale Phase beeinflusst. Husten nach Aufforderung ist kein alltagsrelevantes
4 Denken in funktionellen Zusammenhängen Kriterium!
erleichtert die Analyse und Beeinflussung von Alltags- 4 Der Patient muss husten, wenn er in Aspirations-
3 problemen. Z. B. sollte der Therapeut mit der Koordina- gefahr ist, und über einen kompletten Schutzmecha-
tion von Atmen und Schlucken vertraut sein. nismus verfügen, d. h. spontanes, kräftiges Husten
4 Sichere Nahrungsaufnahme setzt voraus, dass der gefolgt von Schlucken (oder Husten und anschließen-
Patient seinen Alltag möglichst automatisiert bewälti- des Ausspucken)!
gen kann. Ist dies nicht möglich, ist eine therapeuti-
sche Begleitung des Patientenalltags erforderlich. ! Vorsicht
Bedenke die besondere Situation von tracheotomier-
ten Patienten!
3.4 Sichere Nahrungsaufnahme Patienten, die eine 7 Trachealkanüle haben,
ist mehr als Schlucken werden dadurch funktionell sowohl beim Husten
als auch beim Schlucken beeinträchtigt (s. Kap. 7).
»Um Pneumonien zu verhindern, müssen wir mehr als
einen Faktor, wie die 7 Dysphagie, betrachten. Die Be- Wenn der Patient diese Kriterien erfüllt, kann in einer
handlung muss alle relevanten Faktoren umfassen.« kontrollierten Situation mit der im Folgenden beschriebe-
(Langmore et al. 1998). nen therapeutischen Nahrungsgabe begonnen werden.
Erfüllt der Patient über längere Zeiträume diese Kriterien
nicht, so sollte die Therapeutin weitere Gesichtspunkte
3.4.1 Sicherheitsrelevante Aspekte heranziehen, um abzuwägen, ob die therapeutische Nah-
rungsgabe zwar mutig, aber chancenreich oder einfach
In der täglichen Arbeit mit Patienten und auch in F.O.T.T.- leichtsinnig wäre. Für die frühzeitige, kontrollierte Nut-
Kursen beschäftigt Therapeutinnen, Pflegende und na- zung von Nahrungs- und Geschmacksreizen sprechen die
türlich Patienten und Angehörige häufig die Frage, zu Chancen, die Geschmack und Nahrung mit sich bringen.
welchem Zeitpunkt mit dem Angebot von Nahrung be- Im Klinikalltag ist immer wieder zu beobachten, dass
gonnen werden kann. Zu dieser dringenden Frage gibt es Patienten nach einer guten Vorbereitung des 7 Haltungs-
keine einfache, allgemein gültige Antwort. Im Ansatz der hintergrundes sowie oraler Vorbereitung und darauf
F.O.T.T. werden bei der klinischen Untersuchung, häufig folgender Geschmacks- oder Nahrungsgabe effektiver
untermauert mit bildgebenden Verfahren, folgende Fra- schlucken als wenn nur Speichel zu schlucken ist. Dies
gen beantwortet: bringt der gesteigerte sensorische Input, die Kontraste
Ist der 7 Haltungshintergrund des Patienten in der an Geschmacks- und Spürinformation der Nahrung mit
sitzenden Position dynamisch-stabil bzw. durch die sich.
Therapeutin kontrollierbar? Wie ist die Schulter – Nacken-
position? ! Vorsicht
Trotz der positiven, stimulierenden Aspekte des
i Praxistipp Nahrungsangebotes ist von der »trial and error«-
In der Regel sollte der Patient für die Nahrungsauf- Methode (Versuch und Irrtum) dringend abzuraten.
nahme aktiv sitzen! Der Patient muss bestmöglich auf die therapeuti-
4 Schluckt der Patient seinen Speichel? Sind orale sche Nahrungsgabe vorbereitet und optimal beglei-
Transportbewegungen und pharyngeale Bewegun- tet werden. Die Unterstützung und Bewertung aller
gen vorhanden? Aspekte der Schlucksequenz und der Schutzfunktio-
Patienten, die aufgrund von Speichelaspiration nen stehen im Mittelpunkt der therapeutischen
eine geblockte 7 Trachealkanüle haben, werden Intervention.
auch Nahrung aspirieren!
6
3.4 · Sichere Nahrungsaufnahme ist mehr als Schlucken
57 3

3.4.2 Die Bewertung sicherheitsrelevanter sicheren oralen Nahrungsaufnahme. Es werden Kernfak-


Faktoren toren und Zusatzfaktoren unterschieden. Sind die Kern-
faktoren Schlucken und Schutzmechanismen vorhanden,
Die Beurteilung der Situation des Patienten im Bezug auf aber noch nicht sicher genug, so sollten die Zusatzfakto-
eine ausreichend sichere Nahrungsaufnahme ist häufig ren die Situation absichern.
Mittelpunkt der Diskussion zwischen den Mitgliedern
des Behandlungsteams, den Patienten und den Angehöri- : Beachte
gen.Essen ist eine der wichtigsten alltäglichen Aktivitäten, Ausreichende Sicherheit: Für jeden Patienten setzt sich
die eine vielschichtige Relevanz hat. Mit einem Festessen die Entscheidungsfindung individuell aus den unter-
tun wir uns oder unseren Gästen etwas Gutes. Eine Zeit- schiedlichen Kern- und Zusatzfaktoren zusammen.
lang nicht essen oder trinken zu dürfen, zum Beispiel vor
und nach einer Operation, stört unser Wohlbefinden er- Die Kernfaktoren
heblich. Auch wenn die Zufuhr von Nährstoffen gesichert Effektives Schlucken und effektive Schutzmechanismen
ist, ist besonders das »Nicht trinken dürfen« für viele Pa- sind die wesentlichsten Gesichtspunkte in der Bewertung
tienten eine deutliche Beeinträchtigung.Der Mundinnen- einer ausreichend sicheren Nahrungsaufnahme, daher
raum fühlt sich bei Nahrungs- und insbesondere Flüssig- »Kernfaktoren« genannt.
keitskarenz unangenehm an.Und wie soll man ohne etwas
»Richtiges zwischen den Zähnen und im Bauch« wieder zu Schlucken
Kräften kommen? Das normale sichere Schlucken (pharyngeale Phase) und
Es ist daher nicht verwunderlich, dass häufig Kontro- die Schlucksequenz sollen die Grundlage für die Bewer-
versen um das Thema Nahrungsaufnahme entstehen und tung des Schluckens sein. Doch wann ist das Schlucken
auch Gesichtspunkte der Lebensqualität einfließen, die ausreichend sicher? Noch schwieriger wird die Entschei-
sogar zu emotional geladenen Debatten in den Behand- dung, wenn Studien belegen, dass auch Normalpersonen
lungsteams oder mit den Angehörigen führen können. nicht »perfekt« schlucken, wie die Studie von Robbins et
Zur Entscheidungsfindung können gedankliche Modelle al. (1999) sehr anschaulich verdeutlicht.
beitragen, die klare, aber nicht eindimensionale Kriterien »Obwohl keine der normalen, gesunden Personen aspi-
beinhalten. rierte, zeigte die Penetrations-Aspirations-Skala, dass bei
Normalpersonen während des Schluckens Material in die
Sicherheits- und entscheidungsrelevante Kriterien Atemwege eindringt. Es verbleibt jedoch oberhalb der
Ursprünglich wurde das folgende Modell genutzt für Stimmlippen, ein Phänomen, das wir als »hohe Penetra-
die Entscheidungsfindung bei der Kanülenentwöhnung tion« bezeichnen, und wird meist (97 % der Schlucke) vor
(. Abb. 3.3). Die dargestellten Faktoren bieten aber auch Beendigung des Schlucks aus den Atemwegen beför-
Entscheidungshilfen zur Erwägung einer ausreichend dert.« (Robbins et al. 1999)

. Abb. 3.3. Kernfaktoren (grau unterlegt):


Schlucken und Schutzmechanismen;
Zusatzfaktoren:Wachheit, Haltungs-
hintergrund und Handling, Gesamtkonsti-
tution; Modell: Lehmann K. & Müller D.,
Klinik Bavaria Kreischa
58 Kapitel 3 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken

Zum gleichen Ergebnis kam Schlaegel bei der Endos- Huggins und Mitarbeiter (1999) kommen in ihrer Studie
kopie von nicht schluckgestörtem Personal (s. auch Kap. zu folgenden Schlüssen:
9.3.3). Eine Kollegin entsprach der erwarteten Norm so 4 Eine naso-gastrale Sonde verlangsamt das Schlucken
wenig, dass Schlaegel bei einem Patienten mit gleichem bei jungen, gesunden Erwachsenen, die aber ausrei-
Befund erwogen hätte, eine 7 Trachealkanüle einzuset- chend kompensieren können und auch mit Nasen-
3 zen. Hier schließt sich deshalb die Frage an: sonde sicher schlucken.
4 Möglicherweise beeinträchtigt die Nasensonde die
! Vorsicht Erholung und Rehabilitation von Patienten mit
Verlangen wir den Patienten nicht einen Schluckstörungen.
hypernormalen, supersicheren Schluck ab?
In den letzten Jahren hat sich die Anlage von 7 perkuta-
Logemann (1999) zweifelt ebenfalls an den bisher nen endoskopischen Gastrostomien (PEG) zunehmend
üblichen Kriterien. Sie fragt: durchgesetzt. Die frühzeitige Anlage schafft oft erst die
»Wissen wir, was normaler und was abnormaler Schutz Voraussetzung für einen erfolgreichen Rehabilitations-
der Atemwege ist?« prozess, da viele Patienten nach PEG-Anlage und Entfer-
nung der Nasensonde ihren Speichel deutlich effektiver
Diese Aussage Logemanns unterstützt die Wichtigkeit der schlucken.
Evaluation normaler Funktionen, die eine wesentliche
Grundlage der F.O.T.T darstellt.Normale Funktionen sind i Praxistipp
sowohl Grundlage als auch das primäre Ziel der Behand- Wird aufgrund medizinischer Erwägungen die
lung. Der Schutz der Atemwege wird nicht ausschließlich PEG-Anlage verzögert, empfiehlt es sich –
durch den effektiven Verschluss der Atemwege und den re- im Rahmen des Sondenwechsels –, eine Therapie-
gelgerechten Nahrungstransport innerhalb der Schluck- einheit ohne Nasensonde durchzuführen.
sequenz gewährleistet.
> Beispiel
: Beachte Endoskopisch lässt sich immer wieder beobachten,
Das Material, das »hoch penetriert«, das also beginnt dass Speichel entlang der Nasensonde, die quasi als
in den Kehlkopf einzudringen, wird durch eine kurze Schienung dient, nach unten läuft und an der hinteren
Ausatmung aus den Atemwegen befördert. Eine Kommissur in den Larynx überläuft. Patienten, bei
sichere Atem-Schluck-Koordination stellt somit einen denen dies zu beobachten ist, aspirieren ihren Spei-
wesentlichen Schutzaspekt dar. chel permanent und brauchen oft eine geblockte
7 Trachealkanüle. Nach Entfernung der Sonde begin-
Ein ausreichend sicheres Schlucken kann auch dann gege- nen sie, den Speichel zu schlucken und im weiteren
ben sein,wenn der Patient bei Penetration oder Aspiration Verlauf werden dann therapeutische Nahrungsgaben
einen effektiven Schutz zeigt. Kommt es zu Residuen im oder die Aufnahme kleiner Mahlzeiten sicher möglich.
Rachen oder oberhalb der Stimmlippen, muss geprüft
werden: Da die Schlucksequenz auch bei gesunden Menschen mit
4 Kann der Patient verbliebene Residuen z. B. während zunehmendem Alter tendenziell langsamer werden kann
der therapeutischen Nahrungsgabe spüren, durch (Schaupp 2000) und bei neurologischen Patienten die
Hochräuspern oder Mundausspülen aus dem Laryn- verzögerte Initiierung des pharyngealen Schluckens ein
xeingang oder Pharynx-Bereich entfernen und aus- 7 Leitsymptom ist (Bisch et al. 1994, die auch auf weitere
spucken oder herunterschlucken? Studien mit entsprechenden Ergebnissen verweisen),
4 Ob und inwieweit beeinträchtigen veränderbare Fak- ist es nur zu verständlich, dass bei einigen Patienten
toren wie z. B. eine Nasensonde zusätzlich mecha- die Nasensonde mit den oben beschriebenen Effekten
nisch das Schlucken. sozusagen »das Fass zum Überlaufen« bringt und der ent-
scheidende Faktor sein kann, der das Schlucken zu lang-
sam und damit nicht ausreichend sicher macht.
3.4 · Sichere Nahrungsaufnahme ist mehr als Schlucken
59 3

Schutzmechanismen Koordination der »Kernfaktoren«


Effektive Schutzmechanismen zeichnen sich durch fol- Gerade bei Patienten, bei denen es zu pharyngealen Resi-
gende Kriterien aus: duen, zur Penetration und/oder Aspiration kommt, ist es
4 Effektive Schutzmechanismen setzen »rechtzeitig« wichtig,zu beurteilen,was in diesen kritischen Momenten
und »automatisch« ein. passiert.Ein wesentlicher Aspekt ist die Frage nach der in-
dividuellen Effektivität des Schluckens, der Schutzmecha-
> Beispiel nismen und deren Koordination. Hierbei kann neben der
Der Patient hustet oder räuspert sich, da er spürt, dass geschulten klinischen Beurteilung ein bildgebendes Ver-
Material in die Atemwege eindringt. Dies müssen wir fahren (wie die Endoskopie) Aufschluss über erweiterte
im Alltag beobachten. Effektive Schutzmechanismen Fragestellungen geben (s. . Übersicht 3.7).
sind nicht verlässlich dadurch zu prüfen, dass ein
Patient auf Aufforderung husten kann.
Übersicht 3.7: Fragen zur Beurteilung
4 Effektive Schutzmechanismen sind produktiv. der Kernfaktoren
4 Unter welchen Gegebenheiten schluckt
> Beispiel dieser Patient effektiv und sicher?
Das in die Atemwege eingedrungene Material wird (z. B. prä-oral:Wie muss der 7 Haltungs-
durch Husten oder Räuspern zurück in den pharyn- hintergrund unterstützt werden?)
gealen oder oralen Bereich befördert. 4 Schluckt der Patient nach, wenn er hustet?
4 Wie effektiv und spontan sind die Schutz-
4 Teil der effektiven Schutzmechanismen ist eine »reini- mechanismen des Patienten?
gende« Aktivität. 4 Wie muss dieser Patient unterstützt werden,
um effektiv Schlucken und Husten zu können?
> Beispiel 4 Welche Vor- und Nachbereitung benötigt
Nach oben in den Pharynx befördertes Material muss dieser Patient, um sicher etwas therapeutische
anschließend geschluckt oder ausgespuckt werden. Nahrungsgabe oder gar eine assistierte
Geschieht dies nicht, so besteht die Gefahr, dass es Mahlzeit zu erhalten?
wieder in die Atemwege eindringt.

Funktionelle Voraussetzungen für effektives, präzis koor- Zusatzfaktoren


diniertes Husten sind: Überlegungen bezüglich der Kernfaktoren »Schlucken
4 Ein adäquates 7 Bewegungsmuster des gesamten und Husten« müssen dahingehend gelenkt werden, ob sie
Körpers, Husten geht mit 7 Flexion vor allem des gemeinsam oder unter Mitberücksichtigung der Zusatz-
Rumpfes einher. faktoren-Liste ausreichend sicher sind.
4 Ausreichende Möglichkeit zum Druckaufbau sind
vorhanden: Bei forcierter Ausatmung, die auf einem Wachheit
koordinierten Zusammenspiel von Diaphragma, Wache Patienten ohne erhebliche Einschränkung der
Bauchmuskulatur und Atemhilfsmuskulatur basiert, Wahrnehmung bzw. der kognitiven Leistungen können
müssen die Stimmlippen zunächst fest geschlossen selbst zur Sicherheit der Nahrungsaufnahme beitragen.
bleiben, um dann explosionsartig geöffnet zu werden. Sie können zu Experten für ihre eigenen Fähigkeiten bei
der Nahrungsaufnahme werden.
: Beachte
Eine 7 Trachealkanüle beeinträchtigt den effektiven > Beispiel
Druckaufbau. Diese Patienten können selbst prüfen, ob die servierte
Mahlzeit ausreichend passiert ist. Sie können die
gut gemeinte, aber gefährliche, dekorative Petersilie
beiseite legen und nicht mitessen.
60 Kapitel 3 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken

Auch die Möglichkeit einer selbständigen Mundpflege Gesamtkonstitution


nach der Mahlzeit ist sicherheitsrelevant. Kognitiv nicht Wenn Schlucken und Schutzmechanismen nicht als sicher
beeinträchtigte, nicht sprachgestörte Patienten können eingestuft werden können,
sich melden, wenn sie Probleme haben, Unterstützung 4 muss beurteilt werden, wie anfällig und vorgeschä-
oder Hilfe benötigen. digt die unteren Atemwege, die Lungen des Patienten
3 All diese positiven Aspekte schaffen Sicherheit, vor- sind.
ausgesetzt,der Patient ist sich der Tragweite der Problema-
tik bewusst und nicht leichtsinnig. Dies hängt beides oft > Beispiel
nicht nur von der neurologischen Störung, sondern auch Pneumonien seit dem Krankheitsbeginn oder eine
von der Persönlichkeit des Patienten, seiner Compliance zusätzliche Erkrankung mit Vorschädigung der Lun-
ab. gen, wie chronisch obstruktive Lungenerkrankungen
etc., sind ein Warnsignal.
! Vorsicht
Aus der Wachheit des Patienten und seinen kogniti- 4 müssen prognostische Faktoren in Erwägung gezo-
ven Fähigkeiten schließen Laien häufig, dass der gen werden.
Patient Essen können müsste. Aufgrund ihres
Leidensdrucks übersehen besonders Angehörige > Beispiel
und Pflegende, dass der Patient seine Schluck- Bei einigen progredienten Erkrankungen, wie z. B.
probleme in der Regel nicht kognitiv lösen kann. beim Krankheitsbild Amyotrophe Lateralsklerose
(ALS), ist im Laufe der Zeit mit deutlichen Verschlech-
Haltungshintergrund und Handling terungen bis hin zum völligen Funktionsausfall der
Patienten, die sich selbst in eine 7 dynamisch stabile Sitz- Schluck- und Schutzmechanismen zu rechnen. Da ein
position für die Nahrungsaufnahme und das Schlucken Aufhalten des Prozesses bisher nicht möglich ist, hat
bringen können, unterstützen damit die Sicherheit der die Frage nach Sicherheitsaspekten einen anderen
Nahrungsaufnahme. Können Patienten selbst eine adä- Stellenwert.
quate Veränderung des Rumpfes und Kopfes (selektive Hier sollte mit dem Patienten, den Angehörigen
Verstärkung der flexorischen Komponenten) z. B. für das und dem behandelnden Team eine Klärung erfolgen,
Husten vornehmen, ist die Nahrungsaufnahme insgesamt die neben der medizinischen Situation die Definition
sicherer als bei Patienten, die hierbei auf Hilfe durch das von Lebensqualität und Bedürfnissen des Betroffenen
Personal oder Angehörige angewiesen sind. Patienten, die mit in den Mittelpunkt rückt.
sicherheitsrelevante Unterstützung benötigen, sind da-
von abhängig, wie geschult und aufmerksam der Angehö- i Praxistipp
rige daheim oder die professionelle Hilfe, z. B. im Pflege- Typische Fragestellungen bei progredienten
heim ist, oder auch wieviel Zeit die betreuende Person Erkrankungen:
hat. 4 Würde eine frühzeitige PEG-Anlage den Druck
Wenn der Patient selbst seine Haltung nicht korrigie- von Familie und Patient nehmen, ständig auf die
ren kann und Hilfe in kritischen Situationen braucht, ausreichende Flüssigkeitszufuhr zu achten, wenn
müssen wir uns fragen, ob dieser externe Faktor im Alltag selbst angedickte Getränke nur langsam getrunken
des Patienten wirklich »abgesichert« werden kann. werden können?
4 Möchte der Patient weiterhin, auch wenn es
: Beachte zeitintensiv und unsicher ist, Nahrung zu sich
Anleitung der Angehörigen und klare Informationen nehmen? Definiert er darüber schwerpunktmäßig
an Alltagsbetreuer sind genauso wichtig wie eine Lebensqualität? Ist er über die Risiken aufgeklärt?
Reflexion der (oft ernüchternden) Möglichkeiten oder
Grenzen der Betreuung in den individuellen Lebens-
umständen des Patienten.
3.5 · Voraussetzungen für orale Nahrungsaufnahme erarbeiten
61 3

Konflikte können verhindert werden, indem Wenn die Angehörigen von Frau G. zu Besuch
4 aufgeklärt wird über medizinische Probleme, kommen, möchte sie gerne auch etwas Kaffee,
4 Patienten und Angehörige ihre Bedürfnisse äußern »nur ein paar Löffel«, zu sich nehmen. Die sichere
und diese Ernst genommen werden und Aufnahme dieser Konsistenz wird in der Therapie
4 sich alle Beteiligten auf ein gemeinsames Prozedere erarbeitet.
einigen.
: Beachte
Auch hier muss sich die Therapeutin oder das Team der Nur über ein Team-Managment lassen sich sicher-
Lebenssituation des Patienten stellen und Abstriche im heitsrelevante Faktoren effektiv beeinflussen:
Bereich »Sicherheit« abwägen. 4 Lagerung und Handling,
4 Hilfen beim Husten und Schlucken,
Anmerkungen zur Teamarbeit 4 adäquate Begleitung,Vor- und Nachbereitung
Klare Regeln bezüglich oraler Nahrungskarenz bzw.diäte- der Nahrungsaufnahme,
tischen Einschränkungen beim oralen Kostaufbau müssen 4 effektive und strukturierte Mundhygiene.
allen Teammitgliedern, den Angehörigen und Besuchern Um Sicherheit zu schaffen, bedarf es eines interdiszi-
bekannt sein. Dies betrifft besonders Patienten, die funk- plinären 24-Stunden-Behandlungsansatzes für den
tionelle Fortschritte machen, aber aus Sicherheitsgrün- Patienten ggf. unter Einbeziehung der Angehörigen.
den noch keine Nahrung zu sich nehmen dürfen.

> Beispiel 3.5 Voraussetzungen für


Ein Patient mit Schädel-Hirn-Trauma »erwacht« lang- orale Nahrungsaufnahme erarbeiten
sam aus dem Koma. Er beginnt, seine nicht gelähmte
Seite zu bewegen, Dinge zu ergreifen und wieder »Bedenke, dass die Mahlzeiten wahrscheinlich die schwie-
loszulassen. Allmählich versucht er, seinen Besuch rigsten Zeiten sind, um die Bewegungsabläufe des Essens
anzuschauen. In dieser Situation kommt es wieder zu zu üben.« (Kay Coombes)
»normaleren« Krankenbesuchen. Es werden kleine
Präsente mitgebracht, die zur Genesung beitragen
oder Freude machen sollen, wie Obst oder das Lieb- 3.5.1 F.O.T.T. beginnt frühzeitig
lingskonfekt, das dem Patienten fürsorglich ange-
boten wird. : Beachte
Therapeuten und Pflegende dürfen nicht mit der
i Praxistipp Therapie warten, bis der Patient zu schlucken beginnt.
Eine geschriebene Information am Bett des Patien-
ten oder das Eingreifen des anwesenden Pflege- Intensive Therapie ist besonders bei Patienten nötig, die
personals kann gefährliche Situation vermeiden. keine orale Nahrung zu sich nehmen können (und die
auch nicht sprechen können). Diese Patienten erleiden
Manchmal scheint es einfacher, sich mit heimlichen und durch mangelnde Spürinformation und herabgesetzte
»unheimlichen« Mahlzeitensituationen nicht auseinan- Bewegungsmöglichkeiten »sensorische Deprivation« in
der zu setzen, aber welchen Sinn macht dann die Thera- einem Bereich, der normalerweise hochsensibel und äu-
pie? Günstig ist, wenn es gelingt, den Wunsch, etwas Be- ßerst selektiv beweglich ist. An dieser Stelle sei besonders
stimmtes zu sich zu nehmen, in die Therapie zu integrie- die Wichtigkeit der Mundstimulation (der taktilen Stimu-
ren. lation des Zahnfleisches, der Zunge und des Gaumens),
und der strukturierten Mundhygiene unter Einbeziehen
> Beispiel des 7 Haltungshintergrundes und der Hände erwähnt
Die Ehefrau bringt Herrn B einen Apfel aus dem (s. Kap. 4).
eigenen Garten mit, der dann für die therapeutische Bevor dem Patienten Nahrung angeboten wird, müs-
Nahrungsaufnahme genutzt wird. sen die benötigten Fähigkeiten, die Funktionen der prä-
6 oralen, oralen und pharyngealen Phase, wieder ange-
62 Kapitel 3 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken

bahnt werden.Arbeit in diesen Bereichen bahnt nicht nur vor dem sich schließenden Kiefer.Wäre diese
7 normale Bewegung und Verarbeitung von Spürinfor- Koordination nicht vorhanden, würden wir uns
mation an, sondern verhindert auch Sekundärkomplika- auf die Zunge beißen. Durch aktive oder passive
tionen wie Beißen, allgemeine 7 Tonuserhöhung bei der Zungenbewegungen beeinflussen wir indirekt
Berührung des Mundes, die von Nusser-Müller-Busch die pharyngeale Phase.
3 (1997) als Folgen sensorischer »oraler Deprivation« ver-
standen werden.Diese Arbeit geschieht,genau wie der Be- Bei unseren Patienten kommt es vor, dass sie Reste unzu-
ginn der therapeutischen Nahrungsgabe, losgelöst von reichend spüren oder keine adäquate Reinigungsbewe-
Mahl-Zeiten,da sie im günstigsten Falle eine Art Vorberei- gung ausführen können.Dadurch fällt es ihnen schwer,ein
tungsstufe für den Beginn oraler Nahrungsaufnahme Stückchen Fleisch mit der Zunge zu entfernen. Beim Ver-
darstellt. F.O.T.T.-Behandlungsansätze werden beschrie- such, es mit dem Finger zu entfernen, beobachten wir
ben von Davies (1995, 2002), Nusser-Müller Busch (1997), meist ganzkörperliche Bewegungen. Es ist unser Ziel, den
Woite (1998), Gratz u. Woite (2000) und Tittmann (2001). Patienten dahin zu bringen, mit der Zunge die »Zähne zu
. Übersicht 3.8 fasst die Aspekte anbahnender Arbeit putzen« und damit den kleinen Rest zu entfernen.
der F.O.T.T. zusammen.
i Praxistipp
Patienten, bei denen das Nachschlucken nicht
Übersicht 3.8: Wesentliche initiale automatisch erfolgt, können es häufig mittels
F.O.T.T.-Aspekte gezielter Zungenbewegungen aktiv erlernen und
4 Aktiven 7 Haltungshintergrund und Kopf- automatisieren.
kontrolle erarbeiten. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, die im
4 Hand-Mund-Bezug fördern. Rahmen der Arbeit mit Nahrung eingeschränkte
4 Atmung und Schutzmechanismen/ laterale Zungenbeweglichkeit zu verbessern, z. B.:
Sprechen/Kanülenentwöhnung anbahnen. 4 Der Patient soll etwas mit der Zunge am Mund-
4 Mimische und orale Bewegungen 7 fazilitie- winkel ablecken (. Abb. 3.4).
ren, Orale Stimulation. 4 Man platziert einen Gazeknoten zwischen Wan-
4 Mundhygiene (auch zur Vermeidung von ge und Zähnen, den der Patient mittels koordinierter
Sekundärproblemen wie Bissstellen oder Wangen- und Zungenaktivität aus der Mundhöhle
Pneumonien). heraus oder in die andere Wange befördern soll.
4 Kauen von Nahrung, die in Gaze eingehüllt ist.

Zungenbewegungen
Um normal essen zu können, sind selektive Zungenbewe- 3.5.2 Therapeutisches Essen
gungen notwendig. Die Fazilitation 7 normaler Bewe-
gungen dieses für die orale und pharyngeale Phase der Beim therapeutischen Essen werden dem Patienten klei-
Schlucksequenz wichtigen Organs Zunge wird im Folgen- ne Mengen Nahrung angeboten, um einzelne Aspekte
den als Beispiel der anbahnenden Arbeit im Rahmen der oder den Gesamtverlauf der Schlucksequenz zu einem
F.O.T.T. vorgestellt (s. auch Kap. 5.6.2). Teil des automatischen Bewegungsrepertoires zu ma-
chen. Nahrung führt bei Patienten häufig zu effektiveren
i Praxistipp und ökonomischeren Bewegungen im Mund- und Ra-
Kiefer- und Zungenbewegungen müssen sehr chenbereich als beim Speichelschlucken zu beobachten
koordiniert erfolgen. sind. Dies ist auf den erhöhten sensorischen Input, das
Erst durch eine Selbsterfahrungsübung wird funktionelle Ziel und die Vertrautheit der Nahrung zu-
uns bewusst, wie viele koordinierte Bewegungen rückzuführen.
erfolgen, wann zum Beispiel der Kiefer sich beim Bei unzureichender Sicherheit der Schlucksequenz
Abbeißen selektiv bewegt. Beim Kauen erspüren oder der Situation wird es eher zu Spannungen kommen,
wir das koordinierte Ausweichen der Zunge die sich auch im veränderten 7 Tonus des Patienten
6 widerspiegeln werden.Daher muss therapeutisches Essen
3.5 · Voraussetzungen für orale Nahrungsaufnahme erarbeiten
63 3

fach, schluckt den Saft, saugt kurz und schluckt nach


Fazilitation erneut. Das Apfelstück wird aus dem Mund
genommen. Auf die Frage der Therapeutin, ob der
Apfel schmeckt, antwortet Herr B.: »Ja« mit klarer,
deutlich hörbarer Stimme. Apfelsaft und Speichel ha-
ben die Stimmlippenebene nicht erreicht. Die Atmung
ist ruhig, ohne spür- oder hörbares Rasseln. Dennoch
können Saftreste im Rachen, im 7 Vallecularraum
liegen. Die Therapeutin unterstützt Herrn B dabei, die
Zunge wiederholt in die Wangentaschen zu bewegen.
In den Pausen zwischen den Bewegungen unterstützt
sie das Schlucken erneut.

Die Vorteile und Ziele des therapeutischen Essens finden


sich in . Übersicht 3.9.

Übersicht 3.9: Therapeutisches Essen


4 Nahrung wird genutzt, um 7 normale Bewe-
gung zu erleichtern.
4 Therapeutische Nahrungsgabe ermöglicht
. Abb. 3.4. Der Patient wird aufgefordert, einen Tropfen Flüssigkeit
eine hilfreiche Bewegungserfahrung in siche-
vom Mundwinkel abzulecken. Der Kieferkontrollgriff stabilisiert dabei
den Unterkiefer, damit die Zunge die selektive, laterale Bewegung opti- rer und kontrollierter Situation.
mal ausführen kann. Der Kopf ist zentriert. Zur Verbesserung des Hal- 4 Therapeutische Nahrungsgabe erleichtert die
tungshintergrundes wird mit seitlichen Packs am linken Bein ein stabi- Beobachtung für die Therapeutin. Die Situa-
ler Referenzpunkt gegeben tion ist weniger komplex als eine Mahlzeit.

Was geschieht, wenn DIESE Nahrung


gut vorbereitet sein, engmaschig und 7 fazilitierend be- auf DIESEN Mund trifft?
gleitet werden. Die therapeutische Nahrungsgabe wird »What happens when that food meets that mouth?«
häufig zunächst nur eine kleine Sequenz in einer Therapi- (Kay Coombes)
eeinheit darstellen.
Die Anforderungen, die mit der therapeutischen Nah-
> Beispiel rungsgabe an den Patienten gestellt werden, sind nicht zu
Herr B. unterschätzen. Die Therapeutin muss sich mit den selek-
Zunächst erfolgt die Vorbereitung durch Erarbeiten tiven Bewegungen und den koordinativen Leistungen
eines adäquaten 7 Haltungshintergrundes und die innerhalb der Schlucksequenz vertraut machen, die ver-
taktile Stimulation des Mundes. Anschließend wird schiedene Nahrungsmittel erfordern. Die Therapeutin
der Patient dabei geführt, den Apfel zu schneiden muss die sensomotorischen Fähigkeiten des Patienten
(. Abb. 3.5a,b). Erst dann wird der in einer Lage feuch- befunden und bewerten. Erst dann kann das Medium
ter Gaze gesicherte Apfel zum Mund geführt und »therapeutische Nahrungsgabe« gezielt und individuell
seitlich angeboten (. Abb. 3.5c). Herr B kaut mehr- auf den Patienten abgestimmt eingesetzt werden.
6
64 Kapitel 3 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken

. Abb 3.5 a–c. Herr B.: »Apfel kauen – in Gaze« Therapieschwerpunkt


prä-orale, orale und pharyngeale Phase. a: Geführte Sequenz:
Messer ergreifen, b: den Apfel schneiden, c: Apfel Kauen:
Der Apfel wird in einer Lage angefeuchteter Gaze gesichert
und zwischen den Kauflächen platziert

c
3.5 · Voraussetzungen für orale Nahrungsaufnahme erarbeiten
65 3

. Tabelle 3.1 gibt ein Beispiel für die Analyse der An- i Praxistipp
forderungen, die an den Patienten gestellt werden und die Kauen und Beißen eignen sich sehr gut
Zielsetzungen bei der therapeutischen Nahrungsgabe. 4 zum Ausbau selektiver lateraler Bewegungen
von Zunge und Kiefer,
Charakteristika von Nahrungskonsistenzen 4 zum Tonusaufbau der Wangen und Kaumuskula-
Eine solche Analyse kann auch für weitere Konsistenzen tur (z. B. bei fehlendem Mundschluss), und
erstellt werden. Einige Charakteristika von bestimmten 4 zur Vorbereitung einer koordinierteren und
Nahrungskonsistenzen sind uns aus dem Alltag,der Arbeit sicheren pharyngealen Phase.
mit Patienten und der Literatur vertraut: Dünne Flüssig-
keit muss »schnell geschluckt« werden.Nach einer Studie Verwendung von Kältereizen
von Robbins et al. (1999) penetrieren auch gesunde Per- In Literatur und therapeutischer Praxis wird die Arbeit
sonen 20 % der Schlucke dünner Flüssigkeiten in den mit Eis und anderen Kältestimuli als wesentlich(st)er
Larynxeingang, ohne dass es zu Residuen kommt! Sie Auslöser des Schluckens erachtet. Nach Bisch et al. (1994)
werden vorher »hochgeatmet«. beeinflussen Viskosität und Menge des Bolus jedoch das
Schlucken mehr als Kälte, die »in aller Munde« ist.
! Vorsicht Nur bei kleinen Mengen Flüssigkeit war für eine sig-
Bei Patienten mit deutlich verzögertem Schlucken nifikante Anzahl von neurologisch leichter betroffenen
führt das Trinken von Flüssigkeit in der Regel zu Patienten Kälte von Vorteil. Der genutzte 1 ml Bolus ent-
Penetration oder Aspiration. spricht in etwa der Menge von Speichel, die kontinuierlich
geschluckt werden muss. Bei dieser Konsistenz hatten
Breiige Konsistenz fließt langsamer, hat bereits an- leicht schluckgestörte Patienten die größten Probleme.
nähernd Bolusform, erfordert also weniger orale Vorbe- Hier, sowie bei Patienten, bei denen es unter Nutzung von
reitungsarbeit und kann direkt mittig auf der Zunge Kältereizen zu qualitativ besseren und effektiveren Bewe-
platziert werden. Sie kann insgesamt von Patienten im gungen (z. B. Schlucken) kommt, scheint das Mittel Kälte
oralen Bereich leichter kontrolliert werden als Flüssiges angebracht.
und erfordert weniger selektive Vorbereitungsarbeit der
oralen Strukturen als feste Nahrung während der Bolus- ! Vorsicht
formung. Kälte darf nicht als Allheilmittel oder als das
einzige Mittel zur »Auslösung des Schluckreflexes«
! Vorsicht missverstanden werden!
Breiresiduen sind häufig schwerer zu entfernen als
flüssige Residuen, die durch Bewegung des Körpers i Praxistipp
(Zunge, Kopf,Veränderung der Ausgangsposition, Für jeden Patienten muss die Bolusmenge,
Husten) wieder in Bewegung versetzt werden -beschaffenheit und -temperatur genau geprüft
können. werden, um den optimalen Bolustypen zu entdecken
(Bisch et al. 1994).
Feste Nahrung muss gekaut werden. Die normale Kaube-
wegung erfordert das Zusammenspiel und höchste Selek- : Beachte
tivität von Kiefer, Zunge,Wangen und Lippen. Daher sind Es gibt keine Patentrezepte für die richtige Konsistenz
feste Konsistenzen gerade für Patienten mit Einschrän- beim Beginn der therapeutischen Nahrungsgabe
kung der Koordination eine hohe Anforderung. Je nach- bzw. beim oralen Kostaufbau.
dem, in welche Bestandteile die Nahrung beim Kauen Eine gezielte Analyse der Fähigkeiten des
zerkleinert wird, können weitere Anforderungen an die Patienten ist notwendig.
Koordination entstehen. Zum Beispiel das »Zwischen-
schlucken« der Flüssigkeit beim Apfel, das Entfernen von
Fleischfasern mit der Zunge.
66 Kapitel 3 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken

. Tabelle 3.1. Kauen in Gaze: Eine beispielhafte Analyse der Anforderungen an den Patienten und der Zielsetzungen bei der therapeuti-
schen Nahrungsgabe

Phase Anforderung Therapeutisches Ziel

3 Prä-oral
Wahrnehmung Person ´ Umwelt: in Berührung sein, Quellenwechsel in der Interaktion zwischen Person
Bewegen, Spannung und Umwelt im Alltagsgeschehnis »Apfel essen«
Geschehnis: verstehen Æ mitmachen
Æ übernehmen Vom Verständnis zur Produktion
Durch modalitätsspezifische Leistungen
(spüren, sehen, riechen, hören, schmecken)
Durch intermodale Leistungen:
! Umweg/unvertraut: Gaze

Haltungshintergrund Rumpf dynamisch stabil Basis schaffen für koordinierte Dynamik


der oro-pharyngealen Strukturen
Langer Nacken

Oral
Bolusformung Gut koordiniert: Dosierter Tonus ≠
4 Wangentonus und geschlossene Lippen, Wangen, Kaumuskulatur, Zunge
4 Unterkieferrotation, Laterale Aktivität: ≠
4 laterale Zungenbewegungen 4 Seite spüren Æ seitlich bewegen,
4 Beißen Æ Kauen,
4 Saugen hemmen
Speichelproduktion ≠
Kontrast (schmecken, spüren…) ≠
Bewegung ≠

Bolustransport ! Kauen stoppt Bewegung ≠


Geschlossene Lippen
Zungenrinne hält Bolus
»Wellenförmiger« Abdruck der Zunge
gegen harten Gaumen

Pharyngeal
Koordinierter aktiver Bolustransport: Effektiver Nahrungstransport Schluck und Nachschluck
4 Zunge (pharyngealer Anteil), Effektiver Schutz durch Koordination, Atmung und Schlucken:
4 Pharynx 4 Atempause Æ Schlucken,
Schutz der Atemwege: 4 Einatmung Æ Schlucken Æ Ausatmung,
4 weicher Gaumen hebt sich ≠, 4 ! Spüren ≠,
4 Kehlkopfanhebung ≠, 4 Räuspern/Husten Æ Schlucken
4 Verschluß Stimmlippen und
Taschenfalten ƨ,
4 Kehldeckel senkt sich Ø,
4 oberer Ösophagussphinkter öffnet sich ¨ Æ

Ösophageal
Aktiver Transport Reflux und Erbrechen vermeiden
Æ aufrechte sitzende Position
3.5 · Voraussetzungen für orale Nahrungsaufnahme erarbeiten
67 3

Auswahl von Situationen und Konsistenzen – 4 Generell sollte die Therapeutin die Situation gut pla-
Beispiele nen,den Therapieplatz und die Gegenstände vorberei-
Schwer wahrnehmungsgestörte Patienten ten, bevor sie beginnt, mit dem Patienten zu arbeiten.
Bei schwer wahrnehmungsgestörten Patienten steht Unterbrechungen, weil zum Beispiel noch das
meist die Arbeit in der prä-oralen Phase im Vordergrund. Glas fehlt, sind schwierige Situationen, bei denen
Hier einige wesentliche Aspekte zur Gestaltung der Situa- die Handlungsstruktur, die sog. »Schirmstruktur«
tion der therapeutischen Nahrungsgabe unter Einbezie- (Peschke 1996) leicht zerfällt. Es sei denn, es gelingt,
hung von Prinzipien des Affolter-Konzeptes (Gratz 1996; das Problem gemeinsam mit dem Patienten in einer
Schütz 2000): geführten Situation zu lösen,z. B.das Glas gemeinsam
4 Durch das Nutzen vertrauter Nahrung und einer ver- mit dem Patienten zu holen.
trauten Situation, zum Beispiel der gemeinsamen
Mahlzeit im Essensraum, kann das Geschehnis »Es- Pharyngeal schwer beeinträchtigte Patienten
sen« verständlich werden. Bei Patienten, bei denen vor allem die pharyngeale Phase
4 Durch Nahrung, bei deren Vorbereitung der Patient beeinträchtigt ist, muss genau analysiert werden, wo das
geführt werden kann, entsteht ein taktiler Bezug zum funktionelle Hauptproblem liegt. Die Therapeutin muss
Geschehnis. Der Patient beginnt zu verstehen, er be- die initiale Konsistenz ermitteln, die der Patient mit Vor-
greift, was geschieht. Diesbezüglich ist auch die Ver- bereitung und 7 Fazilitation am sichersten schlucken
wendung von Gegenständen zu empfehlen, die klare kann. Bei vielen Patienten ist die Arbeit mit dieser einen
Widerstände bieten und damit leichter spürbar sind. Konsistenz im Sinne der therapeutischen Nahrungsgabe
der Schlüssel zur automatisch(er)en, physiologisch(er)en
> Beispiel Schlucksequenz. Diese Automatisierung ist der erste
Kleine Medizin- oder Plastikbecherchen werden von Schritt zum effektiven Schlucken. Danach kann an der
Patienten schwer über den taktilen Sinneskanal wahr- Variation von Konsistenzen und dem Ausbau der aufge-
genommen und leicht zerdrückt! Stattdessen kann ein nommenen Nahrungsmenge gearbeitet werden (Nusser-
festes Glas oder eine stabile Tasse günstiger sein. Müller-Busch 2001).
Soweit möglich kann auch ein Wiederholen der nor-
4 Durch das Schaffen einer spürbaren, stabilen Umwelt malen Abläufe über ein selbständiges oder von Angehöri-
können viele Patienten ihre Kapazität besser auf das gen begleitetes »Heim- oder Eigenprogramm« zur Auto-
Geschehnis »Essen« ausrichten. matisierung der Schlucksequenz beitragen. Auf den Tag
verteilte, variabel gestaltete, supervidierte, kurze Übungs-
> Beispiel sequenzen sind in der F.O.T.T. beim Wiedererlernen der
Platzwahl und -gestaltung Schlucksequenz wichtig. Auch aus diesem Grund sieht
4 Patienten sollte man eher an eine Wand setzen, sich die F.O.T.T. als 24-Stunden-Konzept. Die Therapeutin
statt in den freien Raum. (Auch in Restaurants sind muss jedoch sicher stellen, dass das Eigenprogramm aus-
die Nischenplätze beliebter als die Mitte in einem reichend sicher ist und in 7 physiologischen Bewegungs-
bahnhofshallenartigen Raum!). bahnen verläuft.
4 Eventuell sollte man Packs (feste Schaumstoff-
blöcke) nutzen, um spürbare Widerstände zu schaffen > Beispiel
(s. . Abb. 3.4, 3.5a und 3.9). Frau G.
Initial: Speichelschlucken sehr erschwert. Es kommt
4 Nicht zwingende Handlungssequenzen (= nicht unbe- immer wieder zum Pooling (Ansammlung von
dingt notwendige Handlungsbestandteile) wie Essen Speichel bis in den Stimmlippenbereich mit belegter
mit Besteck sind häufig schwierig für Patienten. Essen Stimme). Das Sekret wird dann ausgespuckt.
mit den Fingern ist der direkte Weg, der zunächst Erste Therapiephase: Ausbau sensomotorischer Fähig-
sinnvoller für wahrnehmungsgestörte Patienten sein keiten, mit dem Ziel, sicher den Speichel zu schlucken.
kann. Herangehensweise: 4 Wochen F.O.T.T. ohne Nahrung
mit minimalen Geschmacksreizen. Mundstimulation
6
68 Kapitel 3 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken

in Seitenlage, da im Sitzen Tendenz zu hochgezoge- Bereich zwischen Zunge und Epiglottis. Dünnflüssige
nen Schultern, Bewegung des Kopfes in den kurzen Reste kann Frau G. durch Zungenbewegungen wieder
Nacken, während sie versucht, zu schlucken. Patientin aus dem 7 Vallecularraum entfernen, sozusagen
spuckt nach diesem Therapiezeitraum nur noch sehr herausmobilisieren, und dann schlucken. Zähflüssig
selten ihren Speichel aus und schluckt auch, wenn oder breiige Retentionen verbleiben in der »Tasche«,
3 sie auf etwas anderes konzentriert ist, z. B. auf führen mit erneuter Nahrungsgabe zum Überlaufen
das Treppensteigen in der Krankengymnastik. ohne rechtzeitigen Schluck und zum Husten.
Das Schlucken von Speichel verläuft automatisch. 4 Die Patientin hat gute orale Kontrolle
Zweite Therapiephase: Ziel ist die normale Schluck- (Patientin kann bei der Mundpflege aspirationsfrei
sequenz beim sicheren Schlucken kleiner Nahrungs- gurgeln).
mengen. 4 Bei kaltem Wasser ist mittlerweile die Schluck-
Herangehensweise: Vorbereitung in Seitenlage wie in einleitung nicht mehr verzögert (keine Pump-
Phase 1; anschließend therapeutische Nahrungsgabe bewegungen des Unterkiefers oder der Zunge,
in sitzender, mit Packs unterstützter Ausgangsposition keine assoziierten Bewegungen im Schultergürtel).
auf der Therapieliege. Als erste genutzte »Nahrungs«- 4 Es ist eine gute Atem-Schluck-Koordination
Konsistenz wird kaltes Wasser gewählt (. Abb. 3.6 a,b), zu beobachten (nach dem Schlucken und meist
da sich als Hauptproblem Pooling im 7 Vallecular- auch davor Ausatmung).
bereich, herausgestellt hat. Es verbleiben Reste im 6
6

a b

. Abb 3.6 a–b. Frau G. Therapeutische Nahrungsgabe. a Die Patien- b Das erste Schlucken erfolgt prompt und automatisch, beim Nach-
tin führt selbständig das Glas zum Mund und nimmt einen Schluck. schluck wird Frau G. taktil unterstützt
3.6 · Assistierte Mahlzeiten
69 3

4 Effektive Schutzmechanismen sind vorhanden Pooling) erfolgt nun die therapeutische Nahrungs-
(produktives Räuspern und Husten, rechtzeitig mit gabe mit Kauen von Apfel in Gaze und teils ohne
Nachschluck). Gaze.
Nach weiteren 3 Wochen nimmt Frau G.
Alle anderen Nahrungsmittel setzen sich schwer- kleine Mahlzeiten breiiger Konsistenz bzw. sehr
punktmäßig im Rachen fest und müssen dann wieder weicher Konsistenz, die sie zu einem sehr homogenen
ausgespuckt werden. Nach einigen Tagen aspirations- Bolus formen kann, auf. Es beginnt die Phase der
freien Trinkens von 3–4 Schlucken Wasser wird die »assistierten Mahlzeiten«.
Möglichkeit des Eigenprogramms erprobt: das
selbständige, gut vorbereitete Trinken auf ihrem
Zimmer (. Abb. 3.7 a,b). 3.6 Assistierte Mahlzeiten
Frau G. trinkt selbstständig 2 mal täglich einige
Schlucke Wasser, nachdem sie den Mund ausgespült In der Phase der »assistierten Mahlzeiten« erhält der Pa-
und noch vorhandene Speichelresiduen ausgespuckt tient, der nicht selbständig essen kann, Hilfe und Unter-
hat. Nach ähnlich aufgebauter Arbeit mit Götterspeise stützung vor,während und nach der Einnahme von Mahl-
(Joghurt und Apfelmus führten wieder stärker zum zeiten.
6

a b

. Abb 3.7 a–b. Eigenprogramm (»selbständiges supervidiertes Üben«). b Anschließend trinkt Frau G. am Tisch sitzend langsam, Schluck für
a Eigenprogramm: Zunächst spült Frau G. den Mund aus. Speichel- Schluck ein halbes Glas kaltes Wasser
residuen werden damit aus dem Mund- und Rachenraum entfernt.
70 Kapitel 3 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken

: Beachte wird es für den Patienten schwierig, sich auf das Wesent-
Assistiertes Essen umfasst eine volle Mahlzeit liche, auf die Nahrungsaufnahme zu konzentrieren.
und dient der Ernährung.
Aber es ist unselbständiges Essen! i Praxistipp
Wird die Mahlzeit von Pflegenden begleitet, so ist
3 In . Übersicht 3.10 sind die Voraussetzungen für assisi- mehr Zeit und Ruhe gegeben, wenn sie außerhalb
tiertes Essen zusammengestellt. der pflegerischen »Rushhour« stattfindet.

Eine ruhige und stressfreie Umgebung ist Voraussetzung,


Übersicht 3.10: Voraussetzungen solange das Automatisierungsniveau der Abläufe noch zu
für assistierte Mahlzeiten gering ist, um 7 normale Bewegungssequenzen (Physio-
4 Angemessener 7 Haltungshintergrund logie) wieder erlernen zu können oder im Rahmen der
4 Auge-Hand-Mund-Koordination Essensbegleitung zu festigen.
4 Bei fester Kost: Kieferbeweglichkeit,
um beißen und kauen zu können i Praxistipp
4 Ausreichende Zungenbeweglichkeit, Patienten lernen durch aktives Tun und neue Erfah-
um das Essen zum Bolus zu formen rungen. Sie können sich besser auf eine sichere Nah-
und den Bolus transportieren zu können rungsaufnahme konzentrieren, wenn die Umgebung
4 Ausreichender Wangentonus, um das Essen ruhig und ablenkungsarm gestaltet wird.
mitzubewegen
4 Ausreichende Transportbewegungen, > Beispiel
um den Bolus in den Rachen zu bewegen, Herr N.
um schlucken zu können Er benötigt noch intensive Vorbereitung und
4 Ausreichende Schutzmechanismen Begleitung bei der Mahlzeit mit taktilen Hilfen.
Sein 7 Haltungshintergrund muss immer wieder ver-
ändert bzw. korrigiert werden. Aufgrund des beste-
Die in der Übersicht aufgeführten Fertigkeiten werden henden 7 Neglects ist die Exploration des Tisches ein-
zunächst in der Therapie angebahnt. Im Rahmen der the- geschränkt. Herr N. nimmt eine Seite nicht wahr. Um
rapeutischen Nahrungsgabe werden sie weiter gefestigt den Löffel zum Mund zu bringen, müssen seine Hände
und automatisiert. Während der Mahlzeit werden senso- geführt werden. Weil er nicht nachschluckt, benötigt
motorische Abläufe der einzelnen Phasen der Schluck- Herr N. Schluckhilfe (. Abb. 3.9). Es verbleiben
sequenz unterstützt. Speisereste im Mund. Beim Ausspülen des Mundes,
bei der anschließenden Mundhygiene benötigt
: Beachte er Hilfe, um das Wasser auszuspucken.
Genaue Beobachtung und eine genaue Evaluation
der Fähigkeiten des Patienten sind nötig, um die Bei diesem Patienten wäre das Essen in Gesellschaft oder
Begleitung so zu gestalten, dass der Patient Hilfe Gruppe noch eine zu hohe Anforderung, aber er kann mit
erhält, wann immer er sie braucht. Unterstützung sicher seine Mahlzeit in ruhiger Umge-
bung einnehmen.

3.6.1 Überlegungen zur Gestaltung


der Situation 3.6.2 Vorbereitung der assistierten Mahlzeit

In Alltagssituationen, in denen wenig Personal viel Arbeit Vorbereitung des Haltungshintergrundes


zu erledigen hat, ist es oft schwierig, die Patienten in einer Für die Handlungssequenz benötigt der Patient einen
ruhigen Umgebung und ohne Stress bei der Nahrungsauf- adäquaten 7 Haltungshintergrund. Zu Beginn wird die
nahme zu unterstützen. Sobald z. B. ein Telefon klingelt Sitzposition optimiert (. Abb. 3.8). Packs bieten 7 Unter-
oder eine Kollegin ins Zimmer kommt und etwas fragt, stützungsfläche und dienen als stabile Referenzpunkte
3.6 · Assistierte Mahlzeiten
71 3

(. Abb. 3.4, 3.6a, 3.9). Während der Mahlzeit muss die 4 Förderung der lateralen Zungenbeweglichkeit
Sitzposition immer wieder kontrolliert und ggf. korri- Wie die laterale Zungenbeweglichkeit verbessert werden
giert werden. kann, wurde im Abschnitt 3.5.1 dargestellt.
Zeigt der Patient eine ausreichende oro-pharyngeale
Vorbereitung des Mundes Bewegungssequenz, kann mit der Mahlzeit begonnen
und der oro-pharyngealen Bewegungsabläufe werden.
4 Taktile Mundstimulation
Zu Beginn führen wir häufig die taktile Mundstimulation
durch. Ziel ist es, die intraorale Wahrnehmung zu verbes- 3.6.3 Therapeutische Hilfen bei der Mahlzeit
sern und die orale Bewegungen und das anschließende
Schlucken zu fördern, sozusagen »in Gang zu bringen«, Die Speise steht vor dem Patienten auf dem Tisch. Wenn
bevor die Nahrungsaufnahme beginnt. Es können dabei es dem Patienten nicht möglich ist, aktiv mit zu helfen,
verschiedene Flüssigkeiten benutzt werden, wie zum Bei- erhält er angemessene Unterstützung.
spiel: Apfelsaft,Orangensaft,Kaffee.Vorlieben und Abnei-
gungen des Patienten werden berücksichtigt. Durch den Möglichkeiten der Unterstützung
intensiven Geschmack erhält der Patient spezifischen Führen bei der Vorbereitung
gustatorischen Input, den er oft besser als Wasser spüren > Beispiel
kann. Die Therapeutin 7 führt den Patienten beim
Heranholen des Suppentellers. Sie entfernen
zusammen den Warmhaltedeckel. Der Löffel
wird in die Hand genommen.

Die Nahrung geführt zum Mund bringen


Auch mit sehr viel Unterstützung können manche Patien-
ten noch nicht mit Messer und Gabel essen.Die Beeinflus-
sung der oralen Phase durch die prä-orale Phase wird bei
diesen Patienten besonders deutlich. Hier kann eventuell
ein angepasstes Besteck helfen, den Löffel selbst zum
Mund bringen. Dieser verringert die Verletzungsgefahr,
z. B. wenn der Patient zusätzlich eine 7 Ataxie hat. Gelingt
dies nicht, muss die Therapeutin die Mahlzeit anreichen.

> Beispiel
Der Patient holt sich den Suppenteller heran. Er ist
noch nicht in der Lage, ausreichend koordiniert den
Löffel selbst in die Hand zu nehmen. Die Therapeutin
führt die Aktion »Löffel in die Hand nehmen«. Unter-
stützend führt sie den Patienten auf dem Weg mit
dem Löffel zum Mund und platziert diesen auf der
Zunge. Wenn notwendig hilft sie dem Patienten beim
Mundschluss und dem Transport des Bolus durch die
Mundhöhle.

Trinken
Beim Versuch, zu trinken, verschütten die Patienten
manchmal den Inhalt des Bechers. Für sie ist es eine
. Abb. 3.8. Vor der Mahlzeit: Die Beckenaufrichtung wird fazilitiert. schwierige Aufgabe, sich aufrecht, stabil zu halten und
Die Arme sind bereits auf dem Tisch gelagert gleichzeitig noch etwas anderes zu tun (trinken).
72 Kapitel 3 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken

! Vorsicht
Das Trinken ist für viele Patienten problematischer
als das Essen. Ursächlich hierfür ist die dünnflüssige
Konsistenz, die schneller die Mundhöhle passiert.

3 Es ist zu überlegen, welche Unterstützung es dem Patien-


ten ermöglicht, zu trinken.

> Beispiel
Unterstützung durch Führen des Armes gibt dem
Patienten die Möglichkeit, den Becher zum Mund zu
führen und dann trinken zu können. Eine weitere Hilfe
könnte der von Coombes entwickelte Trinkbecher sein
(s. . Abb. 3.10).

i Praxistipp
4 Bei verzögertem Schlucken oder reduzierter
oraler Kontrolle empfiehlt es sich, die Getränke anzu-
dicken, um einen vorzeitigen Übertritt der Flüssig-
keit zu vermeiden. Durch Andicken der Getränke
wird die Konsistenz an die jeweiligen Fähigkeiten
des Patienten angepasst. . Abb. 3.9. Die angebotene Schluckhilfe ermöglicht dem Patienten
4 Einige Andickungspräparate lösen sich nicht gut effektiv zu schlucken
auf, es kommt zu Klumpenbildung oder sie benöti-
gen mehr Zeit, um die gewünschte Konsistenz zu
erreichen.
4 Auf die Inhaltsstoffe des Andickmittels ist zu Hilfsmittel
achten. Sehr oft sind Vitamine beigemischt, die Cheyne Spoon
die Patienten bereits verabreicht bekommen. Der Löffel aus stabilem Plastik ist für Patienten mit Beiß-
Ein Übermaß an Vitaminen ist nicht notwendig. tendenz besser geeignet als ein Metalllöffel. Metall ver-
stärkt durch seine »Kälte« das Beißen. Die Aufnahme von
Schluckhilfe Nahrung in die Mundhöhle ist durch die abgeflachte und
Erfolgt das Schlucken nicht spontan oder versiegen verbreiterte Löffelfläche therapeutisch gut zu fazilitieren.
die oralen Aktivitäten, 7 fazilitiert die Therapeutin das Die Lippen können die Nahrung leichter abnehmen und
Schlucken mittels Schluckhilfe bei guter Kopfposition die Nahrung kann mit deutlichem Input auf der Zunge
(langer Nacken) und ggf. mit Kieferkontrollgriff (. Abb. plaziert werden (. Abb. 3.10).
3.9).
Kommt es zum Verschlucken und Husten, beeinflusst Becheraufsatz
die Therapeutin die Effektivität des Hustens durch Unter- Der Becher und der Aufsatz sind aus Plastik. Der von
stützung einer kontrollierten Rumpfflexion und taktile Coombes entwickelte Becheraufsatz hat kleine Öffnun-
Unterstützung der Ausatembewegung, z. B. am seitlichen gen, damit eine bestimmte, anzureichende Menge in dem
Brustkorb. Sie achtet darauf, dass unmittelbar nach dem Aufsatz gehalten und dann angereicht werden kann. Um
Husten ein Schlucken erfolgt. Sofern dies nicht geschieht, den verbreiterten Rand kann der Patient seine Lippen gut
7 fazilitiert sie das Schlucken. anlegen und umschließen. Die Sicherheit beim Schlucken
wird durch die Beibehaltung eines »erwachsenen« Ab-
nehmens der Flüssigkeit (veränderte orale Transport-
phase im Gegensatz zum »Ansaugen«) erhöht (. Abb.
3.10).
3.6 · Assistierte Mahlzeiten
73 3

Verbale Aufforderung?
Oft wird die Ansicht vertreten, dass Patienten besonders
durch verbale Aufforderung veranlasst werden könnten,
zu schlucken.

: Beachte
Aber was passiert, wenn keine Therapeutin oder
Pflegende neben dem Patienten steht und ihn
zum Schlucken auffordert?
»Wir schlucken, weil wir den Speichel oder
Nahrung spüren und nicht, weil wir einen »kleinen
Mann im Ohr« haben, der uns ein- bis zweimal
pro Minute sagt, dass wir schlucken sollen!«
(Nusser-Müller-Busch).

Da verbale Aufforderungen bereits bei Normalpersonen


zu assoziierten Bewegungen und Tonuserhöhungen füh-
ren können, achten wir bei den Patienten darauf, dies zu
vermeiden.
Stattdessen geben wir taktile Hilfen zur Unterstützung
des senso-motorischen Zyklus, zum Wiedererlernen der
Funktion.
. Abb. 3.10. Hilfsmittel.Vorne: Besteck mit Griffverdickungen, Cheyne
Spoon, hinten: Kay Coombes-Becher mit und ohne Aufsatz, Pat Saun-
ders-Strohhalm
3.6.4 Nachbereitung der Mahlzeit

Wenn Patienten unmittelbar nach dem Essen hingelegt


Trinkhalme werden, besteht die Gefahr einer Aspiration durch im
Der Pat Saunders-Strohhalm hat am unteren Ende ein Schlucktrakt verbliebene Residuen. Um auszuschließen,
»Ventil«, dass das Rückfließen der angesaugten Flüssig- dass sich noch Reste in der Mundhöhle befinden, fordern
keit verhindert. Die bereits angesaugte Flüssigkeit bleibt wir den Patienten auf, mit der Zunge die Zähne zu putzen,
dadurch im Trinkhalm stehen, wenn der Patient sein An- und unterstützen danach das Schlucken. Gegebenenfalls
saugen unterbricht. Beim erneuten Ansetzen muss der untersuchen wir bei der anschließenden Durchführung
Patient dann weniger Arbeit leisten, um Flüssigkeit anzu- der Mundhygiene die Mundhöhle auf das Vorhandensein
saugen (. Abb. 3.10). Der Trinkhalm wurde für Patienten von Speiseresten.
entwickelt, die über gut koordinierte orale und pharyn-
geale Bewegungen verfügen, aber Probleme haben, die i Praxistipp
Nahrung sicher zum Mund zu führen. Jeder Patient sollte nach dem Essen in aufrechter
oder vorgeneigter Haltung für ca. 20–45 Minuten
Besteck therapeutisch gelagert werden.
Griffverdickungen an Löffeln, Messern und Gabeln er-
leichtern es dem Patienten, das Besteck selbständig zu Diese Position fördert das Schlucken von Residuen und
greifen und zum Mund zu führen.Durch individuell gebo- mit Hilfe der Schwerkraft den Speisetransport durch die
genes Besteck können Bewegungseinschränkungen des Speiseröhre in den Magen.
Patienten ausgeglichen werden (. Abb. 3.10). Hierzu wird der Patient in Vorlage, z. B. am Tisch,
Bauch Richtung Tisch, den Kopf seitlich gedreht und
leicht flektiert gelagert. Durch Kissen oder Packs vor dem
Oberkörper kann die Aufrichtung des Rumpfes und
74 Kapitel 3 · Nahrungsaufnahme – mehr als Schlucken

Oberkörpers gehalten werden. Die Arme sind als breite Die PEG-Sonde sollte nicht zu früh entfernt werden.
7 Unterstützungsfläche seitlich der Packs auf dem Tisch Durch Verschlechterungen des Allgemeinzustandes ist
gelagert. Die Füße haben Kontakt zum Boden. bei manchen Patienten das sichere Schlucken nicht immer
Die . Übersicht 3.11 fasst die Möglichkeiten der gewährleistet. In solchen Phasen kann man unmittelbar
Unterstützung vor, während und nach der Mahlzeit zu- wieder auf die Sonde zurückgreifen. In . Übersicht 3.12
3 sammen. sind Kriterien für die Fortsetzung der PEG-Sondierung
zusammengefasst.

Übersicht 3.11: Assistierte Mahlzeit =


unselbständiges Essen Übersicht 3.12: Kriterien zum Belassen
Vorbereitung der PEG-Sonde
4 Ausgangsposition schaffen 4 Orale Flüssigkeitsaufnahme beträgt weniger
4 Taktile Mundstimulation als 1,5 l pro Tag
4 Anbahnung spezifischer oraler und 4 Gefahr der Dehydration (Martino 2002)
pharyngealer Bewegungsabläufe 4 Ansteigen der Entzündungsparameter
(CRP-Wert )
Unterstützung während der Mahlzeit 4 Medikamente werden nicht immer sicher ge-
4 Führen (der Arme) schluckt oder müssen noch gemörsert werden.
4 Kieferkontrollgriff 4 Temperaturschwankungen (subfebril mor-
4 »Schluckhilfen« gens und abends)
4 Modifizierte Diät 4 Die quantitative Menge ist nicht gewährleistet
4 Hilfsmittel (1/2 Portionen), Proteinmangel!!
4 Nahrungsmenge (Kilokalorien, Kcal) ist noch
Nachbereitung
ungenügend, dem Patienten müssen extra Kcal
4 Lagerung / Sitzposition
angeboten werden.
4 Mundhygiene
4 Schwankender Allgemeinzustand
(Kay Coombes)
(z. B. epileptische Anfälle, regelmäßige Infekte)
4 Progredienter Erkrankungsverlauf
(Amyotrophe Lateralsklerose, M. Parkinson,
3.6.5 Assistierte Mahlzeiten Multiple Sklerose …)
und enterale Ernährung

Bei der assistierten Mahlzeit bieten wir dem Patienten : Beachte


eine mehr oder weniger vollständige Mahlzeit an. Damit Die Kombination von oraler und Sondenernährung
kann der Anteil der Sondenernährung an der Kalorien- kann ein reelles Ziel bei schwer betroffenen Patienten
bilanz verringert werden. Hierbei arbeiten nach Möglich- sein.
keit Ernährungsberaterinnen und Diätassistentinnen mit
Ärzten und Pflegenden zusammen, um die Kalorien- und
Flüssigkeitsbilanz sicher zu stellen. 3.6.6 Zusammenfassung
Solange die Flüssigkeitszufuhr oral nicht 100 % ge-
währleistet werden kann, muss darauf geachtet werden, Die Art und Intensität der Hilfen während der Mahlzeit
dass der Patient ausreichend Flüssigkeit über die Sonde wird den Bedürfnissen des Patienten angepasst und je
zugeführt bekommt. Dies gilt vor allem für Patienten in nach Patient unterschiedlich sein. Die Begleitung ermög-
Pflegeheimen und in häuslicher Betreuung. Da für viele licht einerseits eine sichere und weniger anstrengende
Patienten die Aufnahme von 2 Liter Flüssigkeit/Tag sehr Nahrungsaufnahme. Damit kann der Patient in einem
anstrengend ist, stellt die Flüssigkeitszufuhr über die gewissen Rahmen das Essen und Trinken genießen. An-
PEG–Sonde eine große Erleichterung dar. dererseits wird der Abbau von Hilfen angestrebt, sobald
Bewegungsabläufe und -qualität ausreichend sind.
Literatur
75 3

Der Weg zur Selbständigkeit von der assistierten Mahl- Hiss G,Treole K,Stuart A (2001) Effects of Age,Gender,Bolus Volume and
zeit zum normalen Essen beinhaltet folgende Aspekte: Trial on Swallowing Apnea Duration and Swallow/Respiratory
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4 Sicherheit in der alltäglichen Ess- und Trinksituation Huggins P, Tuomi S, Young (1999) Effects of Nasogastric Tubes on the
4 Sicheres Schlucken aller Konsistenzen Young, Normal Swallowing Mechanism. Dysphagia 14:157–161
4 Möglichkeit des Essens in Gesellschaft. Klahn M, Perlman A (1999) Temporal and Durational Patterns Associat-
ing Respiration and Swallowing. Dysphagia 14:131–138
Patienten müssen sich das Erreichen dieser Ziele oft über Langmore S, Terpenning M., Schork A, Chen Y, Murray J, Lopatin D,
Loesche W (1998) Predictors of Aspiration Pneumonia: How Impor-
Monate »erkämpfen«! Mit zunehmenden Verbesserungen tant is Dysphagia? Dysphagia 13:69–81
der oralen Nahrungsaufnahme können sie dann wieder Logemann JA (1983) Evaluation and Treatment of Swallowing Dis-
gemeinsam mit anderen die Mahlzeit einnehmen – ein orders. Pro-ed, Austin
weiterer Schritt zur Selbständigkeit. Logemann JA (1999) Do We Know What Is Normal and Abnormal Airway
Protection? Dysphagia 14:233–234
Martino R (2002) When to PEG? Dysphagia 17:233–234
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Bisch E, Logemann J, Rademaker A, Kahrilas P, Lazarus C (1994) Pharyn- rungsaufnahme. Forum Logopädie 2:1–4
geal Effects of Bolus Volume,Viscosity, and Temperature in Patients Nusser-Müller-Busch R (2001) Diätetik bei Schluckstörungen im Er-
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37:1041–1049 Fischer München
Coombes K Coursenotes und Skript zum Grundkurs F.O.T.T. unveröf- Peschke V.(1996) Von der Frührehabilitation zur weiterführenden Reha-
fentlicht bilitation – erweiterte Alltagsgeschehnisse in der neuropsycho-
Davies PM (1995) Wieder Aufstehen. Frühbehandlung und Rehabilita- logischen Milieutherapie. In: Wege von Anfang an. Neckar Villin-
tion für Patienten mit schweren Hirnschädigungen.Springer,Berlin gen-Schwenningen
Davies PM (2002) Hemiplegie. Ein umfassendes Behandlungskonzept Robbins JA,Coyle J,Rosenbek J,Roecker E,Wood J (1999) Differentiation
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2. Aufl. Springer, Berlin Using the Penetration-Aspiration Scale. Dysphagia 14:228–232
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Schulungszentrum,Therapiezentrum Burgau Dr. Friedl Str 1 89331 und Geriatrie. Urban & Vogel, München
Burgau Schütz M (2000) Die Bedeutung der präoralen Phase im Rahmen des
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Gratz C, Woite D (2000) Die Therapie des Facio-Oralen Traktes bei neu- Woite D (1997) Therapie des Facio-Oralen Traktes nach Coombes.
rologischen Patienten. Zwei Fallbeispiele. Schulz-Kirchner, Idstein Praxis Ergotherapie Jg10(5):350–352
4

Mundhygiene in der F.O.T.T.:


therapeutisch – strukturiert –
regelmäßig
Barbara Elferich und Daniela Tittmann

4.1 Aus der Geschichte der Mundhygiene – 78

4.2 Probleme bei Patienten


mit erworbener Hirnschädigung – 79
4.2.1 Primärprobleme nach Hirnschädigung
und Lösungsansätze – 79
4.2.2 Sekundärprobleme nach Hirnschädigung
und Lösungsansätze – 83

4.3 Die Mundhygiene in der F.O.T.T. – 89


4.3.1 Der Prozess von Befundung und Behandlung – 90
4.3.2 International Classification of Functioning,
Disability and Health – 93
4.3.3 Vorgehen bei der therapeutischen Mundhygiene – 95

4.4 Hilfsmittel für die Mundhygiene


bei neurologischen Patienten – 105
4.4.1 Reguläre Hilfsmittel – 105
4.4.2 Therapeutische Hilfsmittel – 107
4.4.3 Kontraindizierte Hilfsmittel
bei neurologischen Patienten – 108

4.5 Mundhygiene – eine multidisziplinäre Aufgabe – 110

4.6 Angehörigenarbeit –
eine individuelle Prozessbegleitung – 113
4.6.1 Prozessbegleitung – 114
4.6.2 Angehörigenanleitung am Beispiel Mundhygiene – 115

Literatur – 117
78 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

Eine gesunde Mundhöhle ermöglicht eine optimale Auf- Zähne, sondern auch zum Frottieren des Zahnfleisches
nahme und Zerkleinerung der Nahrung. Bleiben Nahrungs- (Peters 1978).
reste an den Zähnen hängen,sind es in erster Linie Zungen- »Zahnpflege« zu betreiben war bereits zu Zeiten des
und Kieferbewegungen und der Speichel, die einen natür- römischen Dichters Ovid ein Merkmal von Schönheit. Er
lichen Selbstreinigungsmechanismus in Gang setzen. riet, die Zähne fleißig zu putzen und die Mundhöhle mit
Experten der Zahnheilkunde sind sich darüber einig, kaltem Wasser zu waschen. Hippokrates (459–377 v. Chr.)
dass sich präventive Maßnahmen zur 7 Karies – und Paro- fiel bereits auf, dass die Frequenz der Benutzung des
dontalprophylaxe nicht alleine auf eine optimale Mund- Zahnstochers mit der Gesundheit der Zähne zu tun hatte.
4 hygiene beschränken, sondern wesentlich mit einer ausge- Es dauerte jedoch noch einige Jahrhunderte, bis spezifi-
wogenen Ernährung und einer regelmäßigen Fluoridie- sche Aspekte der Mundhygiene erstmals im 19. Jahrhun-
rung der Zähne zusammenhängen (Reich 1995, Bauch dert durch systematische Verwendung von Putztechnik
1995).In neueren Studien ist ein deutlicher Trend erkennbar, und Bürsten erkannt und gelehrt wurde. Regelmäßige
dass die Frequenz des Zähneputzens die Zahngesundheit Mundhygiene galt als eine allgemeine Tischsitte der
wesentlich beeinflusst (Nover und Netzter 1998, Schiffner Kulturvölker. Anfangs als »Mahnung zur Mundspülung
1995). In unserer Gesellschaft ist ein sauberer und gepfleg- und Abreiben der Zähne mit Salz, Salbei oder Alaun und
ter Mund die Norm (York und Holtzman 1999, Wardh et al. höchstens einmal am Tag« – dies sollte möglichst privat
1997). Für das äußere Erscheinungsbild sind gepflegte Zäh- durchgeführt werden (Peters 1978).
ne ein wichtiger Faktor, wenn wir mit unseren Mitmen- Neben kosmetischen Gründen waren auch religiös-
schen in Kontakt treten. Was aber, wenn wir z. B. aufgrund kulturelle Bräuche verantwortlich für eine regelmäßige
einer Krankheit unsere Zähne nicht mehr selbst oder nur un- Mundhygiene. In alten indischen Rechtsbüchern und in
zureichend putzen könnten und auf die Hilfe anderer ange- Gesetzbüchern der islamischen Welt finden sich Hinweise
wiesen sind? auf eine ausgedehnte, rituelle Mundhygiene. So führten
Wir beleuchten in diesem Kapitel aus der Vielzahl der indische Mönche mit einer »Zahnfege« eine 1-stündige
Aspekte diejenigen, die im klinischen Alltag der neurologi- Zahnpflege während ihrer Gebete durch. Uralte religiöse
schen Rehabilitation am häufigsten auftreten.Typische Pro- Vorstellungen verlangen noch heute von jedem Japaner
bleme und prinzipielle,aber auch konkrete Lösungsansätze nach dem Aufstehen den Mund zu spülen und die Zähne
werden beschrieben. zu reinigen, bevor er seine Andacht verrichtet (Peters
1978).
In der industrialisierten Welt gibt es eine reichhaltige
4.1 Aus der Geschichte der Mundhygiene Auswahl an Mundhygieneartikeln zur präventiven Zahn-
und Mundhygiene. Diverse manuelle und elektrische
»Zahnpflege betreibt der Mensch, seit er das Bedürfnis Zahnbürsten, Zahnpasten mit verschiedenen Inhaltsstof-
hat, seine Mundhöhle von haften gebliebenen Nahrungs- fen, Zahnseide für Zahnzwischenräume bis hin zu Mund-
rückständen zu säubern« (Peters 1978). wässern und Zungenreinigern sind auf eine individuelle
Mundhygiene abstimmbar.
Da schon verschiedenen Naturvölkern die Selbstreini- Die präventive Zahnheilkunde wird durch eine In-
gung nicht ausreichte, benutzten sie zusätzliche Utensi- formationskampagne der Weltgesundheitsorganisation
lien zur Zahnpflege. So ließ der Gebrauch von weißem (WHO) – das Oral Health Programme – unterstützt und
Sand und der Finger das Bedürfnis nach Putzmitteln und in groß angelegten Projekten weltweit betrieben, denn für
Werkzeug zur Zahnreinigung erkennen. Daraus ent- viele Menschen ist Mundhygiene noch keine selbstver-
wickelte sich der Zahnstocher, der als Vorläufer der ständliche Routine (WHO Internet website).
Zahnbürste betrachtet wird (Peters 1978).
Zahnstocher wurden in frühester Zeit aus kleinen : Beachte
Zweigen verschiedener Holzarten, Knochen, Horn und Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und
Federkielen gefertigt. Der Vorläufer der eigentlichen Mundhygiene ist in Forschungsprojekten der letzten
Zahnbürste bestand im 16. Jahrhundert aus einer aus- Jahrzehnte beschrieben worden.
gefaserten und als Pinsel benutzten Wurzel des Eibisch,
des Süßholz oder der Malve – nicht nur zum Putzen der
4.2 · Probleme bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung
79 4

»Gesunde Zähne – gesunder Körper« – so lautete der Slo- > Beispiel


gan der Bundesärztekammer auf ihrer Pressekonferenz in Der Patient ist desorientiert, motorisch unruhig, will
Berlin 2002, in der die zunehmende Bedeutung der For- aufstehen oder weglaufen, wirft Zahnputzutensilien
schung bezüglich der bakteriellen parodontalen Erkran- von sich, versteht Erklärungen oder Gesten nicht.
kungen als eigenständige Risikofaktoren und auch der Mögliche Problemlösung: Die Therapeutin
Zusammenhang mit Herz-Kreislauf- und Gefäßerkran- umfasst mit dem Patienten den Zahnputzbecher,
kungen dargestellt wurden (Deutsches Zahnärzteblatt geht mit ihm zum Waschbecken und hilft ihm,
2002). sich auf einen Stuhl setzen. Dann füllt sie mit ihm
den Zahnputzbecher mit Wasser. Sie spricht möglichst
wenig und vermittelt über das Führen gespürte
4.2 Probleme bei Patienten Informationen beim »Mit-dem-Patienten-agieren«.
mit erworbener Hirnschädigung
Primärproblem: Gestörte Handlungsplanung/
Mundhygiene ist eine ursprünglich pflegerische Tätig- eingeschränkte Gedächtnisleistungen
keit. Im Rehabilitationsalltag erschweren die vielfältigen Lösungsansatz. Die Mundhygiene als therapeutisches
Probleme der Patienten mit Hirnschädigungen auch Medium in den täglichen Therapieplan mit aufnehmen,
diese alltägliche Routine. In den folgenden Abschnitten das Zähneputzen z. B.nach der therapeutischen Essensbe-
werden typische Probleme, die bei der Mundhygiene auf- gleitung integrieren im Sinne einer Tagesstrukturierung,
treten können, und Lösungsansätze, die wir als spezielle, die man dem Patienten anbietet. Das Personal dokumen-
therapeutische und interdisziplinäre Aufgaben verstehen, tiert die durchgeführte Mundhygiene, um deren Regel-
aus unserem Praxisalltag beschrieben. mäßigkeit zu gewährleisten. Auch die Angehörigen kön-
nen zur Mundhygiene mit dem Patienten angeleitet wer-
den.
4.2.1 Primärprobleme nach Hirnschädigung
und Lösungsansätze > Beispiel
Der Patient kann ohne fremde Hilfe nicht mit dem
Unter primären Problemen verstehen wir in der F.O.T.T. Zähneputzen beginnen, er braucht jemanden, der ihm
Störungen oder Einschränkungen, die als Folge der Hirn- die Utensilien vorbereitet.
schädigung auftreten können. Gestörte Sensibilität und Mögliche Problemlösung: Nach und nach werden
abnorme Bewegungen finden sich auch im fazio-oralen mit dem Patienten gemeinsam die Utensilien zur
Bereich und beeinträchtigen in der Folge die Durchfüh- Mundhygiene aus dem Schrank geholt, die Zahnpasta
rung der Mundhygiene. geführt auf die Bürste aufgetragen und dann mit dem
Putzen begonnen. Danach werden die Utensilien mit
Kognitive Probleme dem Patienten gemeinsam aufgeräumt. Durch das
Primärproblem: Fehlendes Verständnis für Situation, Einbeziehen des Patienten erhöht sich die Chance,
Sprache, Gestik dass er wieder lernt, seinen Alltag zu planen und
Lösungsansatz. Für die Situation Verständnis schaffen Aktivitäten zu initiieren.
durch das Vermitteln gespürter Information über das
Führen nach Affolter (Affolter und Bischofberger 2001) Senso-motorische Probleme
(s. auch Abschn. 4.3.2). Die Arbeit mit dem Patienten fin- Primärproblem: Unzureichender
det in einer ruhigen Atmosphäre statt, in der wenig Haltungshintergrund
gesprochen wird. Die Umwelt wird möglichst realistisch Lösungsansatz. Erarbeiten selektiver Rumpfaktivität
gestaltet, z. B. findet die Mundhygiene im Badezimmer und automatischer Haltungskontrolle.Auswahl geeigneter
oder am Waschbecken statt. Positionen zur Mundhygiene wie Sitz, erhöhter Sitz oder
Stand unter Einsatz geeigneter Hilfsmittel wie Packs
(stabile Schaumstoffpolster) oder Kissen. 7 Fazilitieren
von Rumpfaufrichtung und Kopfkontrolle durch die Hän-
de des Therapeuten. Führen von Bewegungsübergängen
80 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

erfolgt in Verbindung mit zielorientiertem Arbeiten im > Beispiel


Alltag. Der Patient hat aufgrund einer zur rechten Seite fixier-
ten Kopfposition keine visuelle Kontrolle darüber,
> Beispiel ob die Zahnpasta wirklich auf den Bürstenkopf oder
Ein Patient mit mangelnder Rumpfkontrolle (hypotone daneben gedrückt wurde.
7 ventrale Rumpfmuskulatur) und mangelndem Mögliche Problemlösung: Vorbereitende Mobili-
Gleichgewicht. Um im Sitzen nicht umzufallen, muss er sation der Schulter- und Nackenmuskulatur im Liegen.
sich über seine oberen Extremitäten fixieren. Er kann Unterstütztes Sitzen auf einem Stuhl vor dem Wasch-
4 deshalb zum Zähne putzen den Arm nicht vom Rand becken nach Rumpfmobilisation und Unterstützen
des Waschbeckens nehmen. des Kopfes mit dem Kieferkontrollgriff von der Seite.
Mögliche Problemlösung: 7 Fazilitieren von
selektiver Aufrichtung des Beckens nach anterior Primärproblem: Gestörte Hand-Mund-Koordination
(vorne), 7 Tonusnormalisierung durch kleine Bewe- Lösungsansatz. 7 Tonusnormalisierung im Rumpf für
gungen des Rumpfes. Die Therapeutin stellt ihr Bein eine dynamische Stabilität. Führen des Armes, Einbezie-
direkt hinter den Patienten auf den Stuhl und gibt ihm hen der stabilen Umwelt (Waschbecken, Wand, etc., um
damit Hilfe bei der Rumpfaufrichtung. Außerdem der Patientin Sicherheit zu vermitteln). Regulation der
unterstützt sie den Rumpf mit ihrer Hand am Brust- gestörten Sensibilität im Bereich des Gesichtes und der
bein. Gegebenenfalls wird sie seinen Arm beim Putzen Mundhöhle.
der Zähne führend unterstützen.
> Beispiel
Primärproblem: Gestörte Hand-Hand-Koordination, Die Patientin putzt mit der Zahnbürste außen an der
die das Hantieren mit den zur Zahnpflege nötigen Wange, ohne es zu merken. Sie spürt nicht, wo sich die
Utensilien unmöglich bzw. unökonomisch und Zahnbürste befindet.
ineffizient macht Mögliche Problemlösung: Vorbereitende Mund-
Lösungsansatz. Einsatz der mehr – und weniger betrof- stimulation (s. Abschn. 4.3.3) mit den Händen der
fenen Seite in sinnvollem Zusammenspiel. Hier können Patientin, die von der Therapeutin zum Gesicht und
Aktivitäten geführt werden, wie z. B. das Aufschrauben zum Mund geführt werden. Ihre Hand wird beim Ein-
der Zahnpastatube oder das Einfüllen von Wasser in den führen der Zahnbürste in den Mund geführt. Dabei
Zahnputzbecher,die das beidhändige Arbeiten erfordern. stabilisiert der Kieferkontrollgriff den Unterkiefer.

> Beispiel Primärproblem: Eingeschränkte Mundöffnung


Ein Patient mit linksseitiger Hemiplegie hat Schwierig- bei Annäherung der Zahnbürste an den Mund
keiten beim Öffnen der Zahnpastatube aufgrund feh- Lösungsansatz. Auswahl einer Ausgangsposition mit
lender Selektivität der Finger und mangelnder Stabi- großer und stabiler 7 Unterstützungsfläche, z. B. der Sei-
lität der Schulter und des Ellenbogens auf der mehr tenlage. 7 Tonusregulation der Kieferschließer und Aus-
betroffenen Seite. schließen von Kieferretraktion (Zurückziehen des Unter-
Mögliche Problemlösung: Die linke Hand kann als kiefers bei 7 ventraler Translation (Überstreckung der
Haltehand eingesetzt werden. Die Therapeutin gibt Halswirbelsäule) als Voraussetzung für adäquate Mund-
dem Patienten die Tube in die Hand, hält sie mit ihm öffnung. Situatives Verständnis beim Patienten schaffen.
zusammen fest. Dabei sollten, um möglichst adäquate
Spürinformationen zu vermitteln, die Finger der Thera- > Beispiel
peutin genau auf den Fingern des Patienten liegen. Aufgrund hypertoner Kaumuskulatur und schwacher
Gemeinsam wird nun die Tube aufgeschraubt. 7 suprahyoidaler Muskulatur kann der Patient seinen
Mund nur 1 cm öffnen. Es besteht keine freie Kopf-
Primärproblem: Gestörte Hand-Augen-Koordination beweglichkeit, der Kopf wird kompensatorisch über
Lösungsansatz. Erarbeiten freier Kopfbeweglichkeit bei Erhöhung des Extensionstonus der Nackenmuskulatur
dynamisch-stabilem Rumpf. gehalten.
6
4.2 · Probleme bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung
81 4

Mögliche Problemlösung: Die Seitenlage im > Beispiel


7 Alignment und eine optimale Unterstützung von Der Patient reagiert aufgrund einer Kieferfraktur und
Kopf und Nacken in Verbindung mit dem Kieferkon- abgebrochener Zähne (als Folge eines Polytraumas)
trollgriff bieten eine Möglichkeit zur Tonusregulierung extrem auf Berührung durch die Zahnbürste und baut
der kompensatorischen Hyperextension der Nacken- im gesamten Körper viel Spannung auf. Dabei verzieht
muskulatur. Das Situationsverständnis kann verbessert er schmerzvoll das Gesicht.
werden, wenn der Patient in die Vorbereitung des Zäh- Mögliche Problemlösung: Zahnärztliche Beratung
neputzens einbezogen wird, z. B. kann in Seitenlage zur Sanierung der abgebrochenen Zähne, um Verlet-
die Zahnbürste aus einem Kulturbeutel geholt wer- zungen von Wangen und Lippen zu vermeiden. Kör-
den, oder die Hand des Patienten mit der Zahnbürste perwarmes Zahnputzwasser verwenden. Langsames,
zum Mund geführt werden. vorsichtiges Bürsten der Zähne unter Einbeziehen der
Arme und Hände des Patienten.
Primärproblem: Eingeschränkte Dauer und Weite
der Mundöffnung beim Reinigen der Kauflächen Primärproblem: Fehlende oder eingeschränkte
Lösungsansatz. Arbeit am 7 Haltungshintergrund und Aktivität mimischer Muskulatur für den Mundschluss
der Kopfkontrolle. Erarbeiten selektiver oraler Bewegun- Lösungsansatz. Tonusregulation der mimischen Musku-
gen und gezielter Einsatz von Hilfsmitteln. Hemmen latur. 7 Fazilitieren von Lippen- und Wangenbewegungen
subkortikaler Automatismen wie 7 phasisches Beißen, nach vorne, z. B. durch Mund spitzen, Lippen schließen,
Pump-, Saug- und Schmatzbewegungen durch Anbieten Wangen aufblasen.
von Kieferstabilität mit dem Kieferkontrollgriff.
> Beispiel
> Beispiel Ein Patient mit Fazialisparese links und damit fehlen-
Aufgrund subkortikaler Automatismen, die der Patient der Aktivität der perioralen Muskulatur (M. orbicularis
nicht selbst steuern kann (z. B. 7 phasisches Beißen, oris, M. buccinator) aufgrund von Hypotonus hat
»Pumpbewegungen« der Zunge, bei deren Auftreten Schwierigkeiten beim Mund ausspülen bzw. Aus-
sich der Unterkiefer hebt, können die 7 Kauflächen spucken von Speichel und Zahnpasta.
nicht ausreichend gereinigt werden bzw. es ist ein Mögliche Problemlösung: Vorbereitende Gesichts-
erhöhter Zeitaufwand für die Mundhygiene behandlung vor der Mundhygiene mit Tonusregula-
erforderlich. tion durch Hemmen der Überaktivität der rechten
Mögliche Problemlösung: Arbeit in einer Position Gesichtsseite bei gleichzeitigem 7 Tapping auf der
mit viel 7 Unterstützungsfläche, z. B. der Seitenlage. linken Gesichtsseite und anschließender Aktivierung
Anwendung des Kieferkontrollgriffs und 7 Fazilitieren durch Fazilitation mimischer Bewegungen, z. B. Lippen
des Schluckens am Mundboden, um »pumpende« spitzen, Lippen schließen. Beim anschließenden Zäh-
Bewegungen der Zunge zu hemmen. Einsatz eines neputzen wird das Ausspucken fazilitiert (. Abb. 4.1
gepolsterten Spatels (s. Abschn. 4.4.2), der zwischen und 4.2).
die 7 Molare geschoben wird, um die Kauflächen der
Gegenseite putzen zu können. Primärproblem: Salivation bei herabgesetzter
Schluckfrequenz
Primärproblem: Orale Überempfindlichkeit Lösungsansatz. Steigern der spontanen Schluckfrequenz
(Hyperästhesie) und Anbahnung eines physiologischen Schluckmusters
Lösungsansatz. Desensibilisierung in Richtung Normo- auf der Basis eines möglichst adäquaten 7 Haltungshin-
sensibilität durch regelmäßige Mundhygiene. Zu kaltes tergrundes.
oder zu heißes Zahnputzwasser sind ebenso zu vermeiden
wie »Attacken« beim Zähneputzen zugunsten eines
strukturierten taktilen Inputs. Vorbereitend wird die
Mundstimulation durchgeführt, dabei ist es hilfreich, die
Hände des Patienten mit einzubeziehen und in Kontakt
mit Gesicht und Mund zu bringen.
82 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

> Beispiel
Bei einem Patienten mit herabgesetzter Schluckfre-
quenz und damit verbundenem Speichelfluss ist bei
der Mundpflege durch den mechanischen Reiz in der
Mundhöhle mit vermehrter Speichelproduktion zu
rechnen. Es kann zu »Hustenattacken« kommen.
Mögliche Problemlösung: Mundhygiene in
Seitenlage oder im nach vorne abgelegtem Sitz, um zu
4 verhindern, dass Speichel mit der Schwerkraft in die
Atemwege gelangt, bevor der Patient schluckt.
Rückenlage vermeiden! In Seitenlage wird während
der Mundstimulation der Speichel mit Gaze im Mund-
vorhof und auch die Speichelseen in den Wangen-
taschen entfernt. Versuche des Patienten zu schlucken,
werden während der gesamten Prozedur durch taktile
Schluckhilfe am Mundboden unterstützt. Zu beachten
ist dabei die möglichst physiologische Position von
Kiefer, Nacken, Schultergürtel und Becken in Relation
zueinander.

Zähneknirschen/Bruxismus –
ein besonderes Problem
. Abb. 4.1. Die Mundhygiene findet im Stehen an einer Waschtheke
Zur Ätiologie des 7 Bruxismus gibt es neben psychischen
statt. Der Physiotherapeut begleitet durch gezieltes Führen der pareti-
schen Hand das Auftragen der Zahnpasta auf die Zahnbürste (Stress) auch somatische Erklärungsmodelle (Universität
Mannheim, Internet website). So z. B. 7 okklusale Interfe-
renzen, wie sie auch bei neurologischen Patienten durch
veränderten Tonus der Nacken-,Kau- und 7 suprahyoida-
len Muskulatur und damit einhergehenden Fehlstellungen
von Kiefer und Halswirbelsäule vorkommen können.
Anhaltendes Zähneknirschen verhindert das Reini-
gen der Kauflächen und Zahninnenseiten und führt
mittelfristig zu Sekundärproblemen:
4 Zahnbeweglichkeit und Zahnwanderungen (Plag-
mann 1998, Künkel 1990),
4 7 Schlifffacetten im Kauflächenbereich und
4 hypertropher Kaumuskulatur.

Fehlbelastungen des Parodonts sind z. B. unphysiologi-


sche Funktionen des Kauapparates wie das Knirschen, die
verstärkte 7 Zungenprotrusion (Zungenpressen) oder
das Beißen. Störungen der 7 Okklusion wiederum kön-
nen Schmerzen im Kiefer-, Ohr- und Kaumuskulatur-
bereich zur Folge haben (Plagmann 1998).

Primärproblem: Zähneknirschen/Bruxismus
Lösungsansatz. Erkennen der Ursachen des Zähneknir-
. Abb. 4.2. Nach dem Zähneputzen fazilitiert der Therapeut das sym- schens. Stress und Schmerzen ggf. ausschalten oder mil-
metrische Mundspitzen, um das Ausspucken zu ermöglichen dern. 7 Haltungshintergrund erarbeiten, insbesondere
4.2 · Probleme bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung
83 4

den Kopf in eine neutrale Stellung bringen.Strukturierten Internet website). Nach hinreichender Evaluation des
Input für das Gesicht und den Mund geben, z. B. durch die Symptomkomplexes im multidisziplinären Team, zu der
Mundstimulation. Therapeutisches Essen (Kap. 3.5.2, in diesem Fall auch der Kieferchirurg zählt, kann im Falle
wenn der Patient die Voraussetzungen dazu erfüllt). Die einer muskulären Kieferklemme diese Behandlung eine
therapeutische Mundhygiene kann auf eine gesamte ergänzende Massnahme darstellen, um die Kieferöffnung
Therapieeinheit ausgedehnt werden, wenn der Patient für die tägliche Mundhygiene zu ermöglichen.
intensiv in die Vorbereitung mit einbezogen wird und Grundsätzlich sollte die Injektion nur dann erfolgen,
vorher eine für ihn geeignete und tonusnormalisierende wenn es
Lagerung erarbeitet wurde. Ausgehend von der Hypo- a) pflegerische Indikationen gibt,z. B.wenn die Innensei-
these, dass Patienten mit gestörter sensibler Rückmel- ten der Zähne nicht mehr geputzt werden können und
dung mit den Zähnen knirschen, um über die Rezeptoren Infektionen drohen und
des 7 stomatognathen Systems Spürinformationen zu be- b) nach der Injektion ganzheitliche therapeutische Maß-
kommen (Reiber 1992), soll ein alternatives Angebot an nahmen ergriffen werden, um die Mundöffnung auch
Spürinformation vermittelt werden. nach abklingender Wirkung des Botulinumtoxins zu
erhalten.
> Beispiel
Ein Patient nach intrazerebraler Massenblutung i Praxistipp
knirscht mit den Zähnen, wenn er im Bett liegt oder Bei Hyperaktivität der Kaumuskulatur liegt häufig
im Rollstuhl sitzt und nichts mit ihm passiert. Bei plötz- eine multikausale Funktionsstörung im 7 stomato-
lichem Berühren des Patienten oder beim Bewegt- gnathen System vor. Eine differenzierte, interdiszipli-
werden nimmt das Knirschen noch zu. näre Befundung und Behandlungsevaluation
Mögliche Problemlösung: Langsame, geführte ist notwendig.
Lagewechsel entlang einer stabilen Umwelt.
Im Rahmen der morgendlichen Körperpflege wird : Beachte
der Patient geführt, sein Gesicht zu waschen, abzu- Primäre Probleme als direkte Folge einer Hirnschädi-
trocknen und einzucremen (auch das bedeutet gung können einzeln oder kombiniert sowohl in der
Behandlung des fazio-oralen Trakts!). In Vorbereitung Vorbereitung als auch bei der Durchführung der
zur Mundstimulation werden die Hände des Patienten Mundhygiene auftreten. Sie verhindern normales
zum Gesicht geführt und die Mundstimulation durch- sensomotorisches Feedback und damit physiologische
geführt. Danach packt die Therapeutin gemeinsam Bewegungen. Bei Nichtbehandlung treten mannig-
mit dem Patienten eine Tüte mit Trockenobst aus. faltige Sekundärprobleme auf.
Ein Stück Trockenobst wird in Gaze gewickelt und
zwischen die 7 Molaren gegeben. Nach 1–2 Kaube-
wegungen wird das Stück wieder herausgenommen 4.2.2 Sekundärprobleme nach Hirnschädigung
und ein Schlucken sowie Nachschlucken fazilitiert und Lösungsansätze
durch Hilfe am Mundboden (vgl. Kap. 3). Anschließend
ggf. geführtes Zähneputzen. Sekundärprobleme sind Komplikationen oder Spätfol-
gen, die
: Beachte 4 einerseits durch fehlerhafte Behandlung der Probleme
Als Ursache des 7 Bruxismus und Zähneknirschens des Patienten oder inadäquat durchgeführte Mund-
kommt auch »Spür-Informationssuche« aufgrund hygiene (z. B. Infektionen des Zahnfleisches durch
gestörter sensibler Rückmeldungen in Frage. mangelnde und zu selten durchgeführte Mundhygie-
ne) entstehen oder
Botulinumtoxin 4 andererseits aus den Spätfolgen der Hirnschädigung
Ebenso stellt sich die Diskussion der Behandlung mit resultieren können.
7 Botulinumtoxin bei neurologischen Patienten als ins-
gesamt sehr kontrovers dar, da eine Reihe von Sekundär-
problemen auftreten können (Universität Mannheim,
84 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

> Exkurs > Beispiel


Studien zur Notwendigkeit der Mundhygiene Ein Patient mit Fazialisparese und Sensibilitätsstörun-
Englische und amerikanische Studien bestätigen die gen im rechten Bereich der Mundhöhle putzt sich
Notwendigkeit einer adäquaten Mundhygiene. In die Zähne selbständig und vernachlässigt dabei die
diesen Studien werden Zusammenhänge zwischen mehr betroffene Seite. Es kommt auf dieser Seite zur
sanierungsbedürftigen 7 Kariesläsionen, deutlich 7 Plaquebildung mit Infektion des Zahnfleisches
reduzierter oraler Hygiene, pflegerisch abhängigen, (. Abb. 4.3).
enteral ernährten Patienten und dem Auftreten von Mögliche Problemlösung: Therapeutische Mund-
4 Aspirationspneumonien beobachtet (Nelson und hygiene mit Einbeziehen der mehr betroffenen Seite.
Lesser 1997, Langmore et al. 1998, Dyment und Casas An Stellen, die vom Patienten nur unzureichend
1999, Clarke 1993). geputzt werden, wird die Hand des Patienten beim
Eine weitere Studie beobachtete Reservoire für Putzen geführt, ggf. wird die Therapeutin /Pflegende
respiratorische Infektionen besonders bei hospitali- anschließend nochmals nachputzen. Zusätzlich wird
sierten und geschwächten Patienten durch schlechte zum Spülen des Mundes ein entzündungshemmen-
Mundhygiene. Gerade an den Zahnoberflächen und des Mundwasser benutzt.
Prothesen wurde eine stärkere Kolonisation von respi- Infektionen der Mundhöhle und 7 Erosionen des
ratorischen Keimen festgestellt (Hayes et al. 1998, Zahnschmelzes können auch durch gastralen 7 Reflux
Scannapieco 1999). Bei fehlendem Mundschluss (häufig beobachtbar bei neurologischen Patienten
kommt es beispielsweise zur Mundtrockenheit. aufgrund von Nahrungsunverträglichkeit und/oder
Der Speichel kann seine Funktion nicht mehr erfüllen, Motilitätsstörungen des Verdauungstrakts) verursacht
die physiologische Mundflora wird zerstört und es werden, der in die Mundhöhle regurgitiert wird.
kommt zu 7 Karies (Reich 1995, Holmes 1998) Mögliche Problemlösung: Therapie des gastralen
(s. Abschn. 4.3.2). 7 Refluxes (medikamentös, veränderte Geschwindig-
keit der enteralen Nahrungsgabe, 30-Grad-Schrägstel-
: Beachte lung des Bettes des Patienten). Regelmäßige, hochfre-
Sekundärprobleme können auch durch nicht hilfrei- quente Mundhygiene, (wenn nötig, öfter als 3 mal am
che Kompensationsstrategien entstehen, die 7 patho- Tag), um den Schutz der Atemwege vor regurgitiertem
logische Bewegungsmuster verstärken. Die Patienten 7 Refluxmaterial zu gewährleisten. Einsatz entzün-
eignen sich diese an, wenn nicht frühzeitig therapeu- dungshemmender und zahnschmelzhärtender
tisch interveniert wird oder wenn diese Probleme vom Zusätze im Zahnputzwasser.
therapeutischen Team nicht erkannt werden. Bei Patienten, die lange beatmet wurden, können
Defekte der Mundschleimhaut entstehen. Sind diese
Defekte mit einer lokalen Mundtrockenheit vergesell-
Probleme im Mund- und Rachenraum schaftet, kann eine 7 Candidabesiedlung begünstigt
und den Atemwegen werden (Holmes 1998).
Sekundärproblem: Karies und Infektionen Mögliche Problemlösung: Therapie zum Mund-
7 Karies und Infektionen treten aufgrund dentaler 7 Pla- schluss und durch Fazilitierung des langen Nackens
ques oder bakterieller Besiedelung der Zungenschleim- (z. B. in Seitenlage). Zusätzlich hochfrequente Mund-
haut oder Infektionen des Zahnfleischs auf. hygiene mit Mundstimulation zur Befeuchtung der
Lösungsansatz. Regelmäßige Mundhygiene zur Pro- Mundhöhle und Anregung der Speichelproduktion.
phylaxe unter Verwendung individuell ausgewählter Zu- Zur Beseitigung des Zungenbelages wird eine mecha-
sätze zur Reinigung, z. B. entzündungshemmende Gels, nische Entfernung mit dem Noppenstab (z. B. Nuk-
etc. – eine zahnärztliche Konsultation ist ggf. indiziert. Putztrainer) bei jeder Mundhygiene vorgenommen.
4.2 · Probleme bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung
85 4

Sekundärproblem: Kiefer- und Gaumendeformitäten


Aufgrund veränderter Tonusverhältnisse bei zerebralen
Bewegungsstörungen führt dies oft zu einer Hyperexten-
sion der Halswirbelsäule mit einhergehender Retraktion
des Unterkiefers. Die damit veränderten Tonusverhält-
nisse der Wangen und eine Vorverlagerung der Zunge
(z. B. durch 7 Zungenprotrusion) führen zu Zahnfehlstel-
lungen, in diesem Beispiel zum »offenen Biss«, (. Abb.
4.4a). Bei hypertonem M.orbicularis oris und nach innen
gezogener Unterlippe können die Zähne nach dorsal,
Richtung Zunge geschoben werden,(. Abb. 4.4b und 4.4c)

. Abb. 4.3. Patient mit Fazialisparese rechts und Zahnfleischentzün-


dung markiert

Sekundärproblem: Pneumonie und oder Infektion


des Pharynx und Larynx
Pneumonie und oder Infektion des Pharynx und Larynx a
können durch Aspiration 7 kontaminierten Speichels
verursacht werden (Langmore et al. 1998, Dyment und
Casas 1999, Hayes et al. 1998). Als Folge des offenen Mun-
des und unregelmäßig durchgeführter Mundhygiene
kommt es neben der bakteriellen Besiedelung des Spei-
chels oft auch zur Veränderung der Speichelkonsistenz.Er
wird zäher und ist deshalb schwieriger zu schlucken.
Beim Patienten mit bestehender Dysphagie kommt es zu
Speichelresiduen in den 7 Vallecularräumen, im Pharynx b
oder Larynx, die das Schlucken und die Atmung erschwe-
ren.
Lösungsansatz. Arbeit am Mundschluss und regel-
mäßig durchgeführte Mundhygiene, speziell vor dem Ent-
blocken der 7 Trachealkanüle und sorgfältiges Entfernen
von Speichelresten aus der Mundhöhle, z. B. im Rahmen
der Mundstimulation mit feuchter Gaze. Absaugen des
Sekrets oberhalb der Blockung erfolgt unmittelbar in der
Situation des Entblockens der 7 Trachealkanüle.

Sekundärproblem: Lockerung von Zähnen


Lockere Zähne können entweder als Folge anhaltenden
Zähneknirschens oder bei fortgeschrittener Parodontose
auftreten. c
Lösungsansatz. Siehe Abschnitt 4.2.1 Primärproble- . Abb 4.4 a–b. Kiefer- Zahnstellungsdeformität a Offener Biss b Inver-
me: Zähneknirschen/7 Bruxismus. tierte Unterlippe c dorsal gekippte untere Schneidezähne
86 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

Eine Verformung des Gaumens (hoher Gaumen) mit Bei Patienten mit geblockter 7 Trachealkanüle kann zu
letztlich auch erschwerter Nasenatmung (Broich 1992, gegebener Zeit ein Entblocken und evtl. Verschließen der
Künkel 1990) kann eine weitere Sekundärproblematik Kanüle (der Patient atmet dann über Mund und Nase)
sein. hilfreich sein: der Patient lernt durch diesen physiologi-
Lösungsansatz. Regelmäßige F.O.T.T. ausgerichtet schen »Input«, den ihm der Ausatemstrom gibt, seine
auf eine allgemeine Tonusnormalisierung (Lagerung, oralen Strukturen wieder zu spüren und zu gebrauchen
Mobilisation und Arbeit im Mund und Erarbeitung mög- (s. Kap. 6 und 7).
lichst physiologischer Zungenbewegungen).
4 > Beispiel
Sekundärproblem: Abrasionen des Dentins Ein Patient nach SHT reagiert auf das Einführen
und Defekte an der Gingiva der Zahnbürste in seinen Mund mit extremen Tonus-
Durch gestörte Hand-Mund-Koordination wird mit zu anstieg und Wegdrehen des Kopfes zur Seite. Dabei
viel Druck und groben horizontalen Scheuerzügen ge- stöhnt er und verzieht das Gesicht. Mit der linken
putzt. Dies kann zu keilförmigen Defekten an der 7 Gin- Hand greift er zur Hand des Therapeuten und schiebt
giva und am Dentins (Zahnhartsubstanz) führen (Plag- diese von sich weg.
mann 1998). Mögliche Problemlösung: Der Patient wird in die
Lösungsansatz. Neue Putztechnik z. B.Rot-Weiß Me- Vorbereitung des Zähneputzens mit einbezogen. Die
thode (Roulet et al. 1999). Der Patient wird dabei geführt Therapeutin taucht dazu seinen Finger in eine Tasse
ggf. werden die Zähne durch die Therapeutin oder Pfle- Tee, die sie ihm zum Halten gibt und führt langsam
gende in präventiver Putzmethode nachgeputzt. seinen Finger zum Mund und später auch am Zahn-
fleisch entlang. Bei der anschließenden Mundstimula-
Sekundärproblem: Druckstellen tion berührt ihr Finger erst einige Sekunden das Zahn-
durch eine nicht mehr passende Prothese fleisch des Patienten, ohne den Finger sofort weiterzu-
Bereits nach kurzer Zeit des Nichttragens der Prothese bewegen. Erst dann fährt sie langsam am Zahnfleisch
(z. B. nach der Intubationszeit auf der Intensivstation), entlang. Um die Dauer der Berührung für den Patien-
löst sich diese nach dem Einsetzen vom Kiefer. Gründe ten absehbar zu machen, kann sie das Entlangreiben
dafür sind u. a.ein veränderter Wangen- und Lippentonus des Fingers am Zahnfleisch verbal begleiten, indem sie
und eine reduzierte Zungenbeweglichkeit. Auch kann bis 3 zählt. Nach jedem Quadranten wird eine Pause
die Mundschleimhaut beim ersten Tragen empfindlich einlegt. Ggf. lässt sich danach ein Schlucken 7 fazilitie-
reagieren und es bilden sich leicht Rötungen,Druckstellen ren. Erst dann gibt sie dem Patienten die Zahnbürste
und im schlimmsten Fall Ulcera. zum Erspüren in die Hand und beginnt vorsichtig,
Lösungsansatz. Die Prothese so bald als möglich diese in seinen Mund zu einzuführen.
wieder einsetzen und ggf.mit Prothesenhaftpulver/creme
stabilisieren. Nach jedem Tragen den Gaumen und den Hypersensibilität mit Beißen –
Zahndamm gründlich vom Haftmaterial befreien und auf ein besonderes Problem
Rötungen hin untersuchen. Tägliches Herausnehmen der Durch Hypersensibilität im fazio-oralen Trakt, häufig in
Prothese zum Reinigen, auch bei non-oraler Ernährung. Kombination mit festem Kieferschluss oder 7 Bruxismus,
Die Unterfütterung der Prothese durch den Zahnarzt ist ergeben sich massive Einschränkungen bei der Durch-
ggf.notwendig.Eine passgerechte Prothese lässt Rötungen führung der Mundpflege. Durch negatives sensomotori-
und selbst Ulcera schnell abheilen (Schubert 1991). sches Feedback und unangenehme Erfahrungen des Pa-
tienten, besonders wenn physische Gewalt und kontrain-
Sekundärproblem: Orale sensorische Deprivation dizierte Hilfsmittel (. Abb. 4.18, 4.19) zur Mundpflege
(Nusser Müller Busch 1997) eingesetzt werden, entsteht ein Circulus vitiosus, in dem
Lösungsansatz. Die F.O.T.T. sollte möglichst direkt nach die Hypersensibilität und damit auch der Tonus der Kie-
der Hirnschädigung, also bereits im Akutkrankenhaus ferschließer weiter steigen – dies erschwert das aktive Öff-
und der Intensivstation, beginnen. Regelmäßiger, »struk- nen des Kiefers noch mehr. Diesen Kreislauf gilt es durch
turierter Input« für Gesicht und Mund durch die Mund- therapeutische Interventionen zu unterbrechen. Es folgen
stimulation unter Einbeziehen der Hände des Patienten. einige Beispiele:
4.2 · Probleme bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung
87 4

Sekundärproblem: Bisswunden an Zunge, Wangen-


innenseiten und Unterlippe (. Abb. 4.5 a–c)
Lösungsansatz. Abhängig von den Ursachen der Biss-
wunden (Millwood und Fiske 2001), siehe Abschnitt
»Mögliche Ursachen für die Entstehung von Bisswun-
den«.

> Beispiel
Ein Patient nach Schädelhirntrauma (SHT) hat weder
Kopf- noch Rumpfkontrolle, überstreckt im Bereich des
Nackens und zieht den Unterkiefer zurück. Er gähnt
häufig, danach schließt sich der Unterkiefer jedes Mal
schnell und unkoordiniert. Die Unterlippe gerät dabei
a
zwischen die Zähne, er beißt sich massiv auf die Lippe
und verletzt sich.
Mögliche Problemlösung: Da Rückenlage den
Extensorentonus im Nacken erhöhen kann, wird der
Patient in Seitenlage mit angebeugten Hüften und
Knien gelagert bzw. im Halbsitz oder im Sitz mit nach
vorne abgelegtem Oberkörper, um eine Hyperexten-
sion des Nackens zu vermeiden. Eine ausreichende
stabile Unterstützung von Kopf und Nacken in neutra-
ler Stellung durch eine gefaltete Bettdecke oder
gefaltete Handtücher verhindert, dass der Kopf des
Patienten, der von ihm selbst nicht gehalten und
bewegt werden kann, verrutscht. Bei der Arbeit im
Gesicht und Mund korrigiert die Therapeutin die b
Stellung des Kiefers. Bestehende Bisswunden
werden mit entzündungshemmenden Salben
versorgt. Die Mundhygiene erfolgt entsprechend
vorsichtig und langsam, um der Überempfindlichkeit
Rechnung zu tragen und dem Patienten keine
zusätzlichen Schmerzen zuzufügen.

! Vorsicht
Schmerzen und Angst lassen den Gesamttonus
des Patienten ansteigen und verstärken so die
sensomotorische Dysfunktion (Davies 1995).

Mögliche Ursachen für die Entstehung


von Bisswunden
c
Sensibilitätsverlust in der Mundhöhle. Zum Beispiel in
Verbindung mit hypotoner Wangenmuskulatur, die zwi- . Abb 4.5 a–c. Beispiele für Bisswunden an der Unterlippe

schen die Kauflächen gerät.


88 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

i Praxistipp 4 aufgrund mangelnder oder fehlender Sprech- und


Therapeutisch steht hier neben der Sensibilisierung Schluckbewegungen bzw. Fehlen von Atemstrom in
von Gesicht und Mund auch die Tonusregulation der den oberen Luftwegen (hier: bei Patienten mit
mimischen (hier: Wangenmuskulatur) und Kaumus- geblockter 7 Trachealkanüle). Die Reizschwelle des
kulatur im Vordergrund. Patienten für Berührung und Bewegung im Mund-
Je früher ein Patient wieder über selektive orale und Gesichtsbereich ist herabgesetzt.
Bewegungen verfügt, umso eher werden stereotype Hypersensibilität kann als
Bewegungsmuster wie diese Art des Beißens 4 primäre Folge der Hirnschädigung auftreten und
4 gehemmt und überlagert. 4 sekundär als Folge der »Vernachlässigung« von Ge-
sicht und Mund während der Neurorehabilitation. Es
Starkes Beißen des Patienten. Durch allgemeine Tonus- wird angenommen, dass nach einer Hirnschädigung
erhöhung, z. B. bei Lagewechsel oder bei diffuser Berüh- die Reizschwelle für Berührung und Bewegung herab-
rung im Gesicht und Mund und bei Hypersensibilität oder heraufgesetzt ist (Davies 1995).
(siehe unten).
Lagewechsel werden therapeutisch geführt, ein plötz- Im senso-motorischen Kortex findet sich ein relativ
liches Bewegen des Patienten ohne stabile Umwelt sollte groß angelegtes Areal für Gesicht, Mundhöhle und Hände
vermieden werden. Die Behandlung von Gesicht und im Gegensatz zu den Repräsentationen des Rumpfes
Mund erfolgt langsam, durch strukturierten Input (hier: (McNaught und Callander 1983). Dies ist noch mehr zu
eindeutige taktile Berührung) im Rahmen der Mundsti- verstehen, wenn wir die vielfältigen Reize und Stimulatio-
mulation und unter Einbeziehen der Hände des Patienten. nen dieser Gebiete über den ganzen Tag verteilt bedenken.
Diffuse Wisch- und Streichbewegungen im Gesicht sind So erhalten wir durch die Berührung der Hände im Ge-
kontraindiziert. Zusätzlich muss der Gesamttonus des sicht,beim Sprechen,Kauen und Schlucken kontinuierlich
Patienten reguliert werden. sensorische Informationen. Verschiedene Muskeln des
Gesichts, der Zunge, des Rachens und Gaumens und des
Retrahierter Unterkiefer. In Verbindung mit nach innen Kiefers werden dabei ständig bewegt und erfahren senso-
gezogener Unterlippe, die beim Gähnen und anschlie- motorisches Feedback.
ßendem (vom Patienten nicht zu kontrollierenden) Zu- Ein sensorischer Entzug beginnt dann, wenn der Pa-
schnappen des Unterkiefers zwischen die Zähne gerät. tient bewusstlos ist oder schwere Lähmungen im Gesicht
oder in der Mundhöhle erleidet (Davies 1995, Weizsäcker
i Praxistipp 1990, Nusser Müller Busch 1997). Dieser Entzug kann zur
Hier spielt eine stabile, gut unterstützte und eine sensorischen Deprivation führen mit allen schon be-
den Extensionstonus hemmende Lagerung eine schriebenen Problemen der Hypersensibilität und damit
wichtige Rolle. Das stundenweise Lagern des wahr- auch zur Verschlechterung der oralen Hygiene führen.
nehmungsgestörten Patienten auf einer Therapie- Beim Berühren im Gesicht und Mundbereich kann bei
liege und der Einsatz von stabilem Lagerungs- diesen Patienten mit schweren zentralen Läsionen oft
material (Packs) haben sich als hilfreich erwiesen. ein 7 phasisches oder tonisches Beißen beobachtet wer-
Im Gegensatz zur normalen Matratze bietet den.
die Therapieliege eine deutlich stabilere 7 Unter-
stützungsfläche. Dies trägt zur Regulation des : Beachte
Gesamttonus bei. Hypersensibilität zeigt sich klinisch in Form von anstei-
Die Anwendung des Kieferkontrollgriffs während gender Gesamtkörperspannung bzw. abwehrenden
der Arbeit in Gesicht und Mund erleichtert es, Reaktionen bei Eigen- oder Fremdberührung im
den Kiefer in eine neutrale Position zu bringen Gesicht und Mund (auch bei der Mundhygiene).
und da zu stabilisieren.
Konsequenzen für den Umgang mit dem Patienten
Hypersensibilität (Hyperästhesie, Parästhesie) (Weizs- Vom Personal oder den Angehörigen werden diese Reak-
äcker 1990) entsteht durch tionen oft fälschlicherweise als Ausdruck mangelnder
4 gestörte sensible Rückmeldung oder verminderte Reize, Kooperation missverstanden. Hinzu kommt die oftmals
4.3 · Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
89 4

gestörte Kommunikationsfähigkeit vieler Patienten, die 4.3 Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
sich nicht oder nur unzureichend mitteilen können (z. B.
bei Aphasie). Daher ist besondere Achtsamkeit bei der »Ich bin davon überzeugt, dass es nicht die Läsion allein
Befundung und Therapie geboten. ist,die das Endresultat diktiert,sondern auch die Behand-
Das Auftreten eines Beißreflexes (tonisches Beißen) lung, die der Patient in der Frühphase bekommt ...Was ist
verunsichert die Teammitglieder, erinnert an schlechte die »richtige« Behandlung? Diejenige, die vermeidbare
Erfahrungen wie Schwierigkeiten, Gegenstände nach dem sekundäre Komplikationen verhindert und die ein
Zubeißen wieder aus dem Mund zu bekommen oder gar Wiederkehren funktioneller Aktivität fördert und verbes-
erlittene Verletzungen.Solche Erfahrungen bewirken einen sert« … (Davies 1995).
zaghaften Umgang mit Patienten und können zu einer
deutlichen Vernachlässigung der Mundhygiene führen. In der F.O.T.T. ist die Mundhygiene neben der Pflege und
Eine frühe Intervention zur Reaktivierung der Poten- Gesunderhaltung des Mundes ein wichtiges Medium zur
tiale des Patienten und zur Vermeidung der Sekundär- Problemanalyse am Patienten, zur Anbahnung physio-
probleme ist notwendig (Annunciato 2000; Davies 1995). logischer Bewegungsabläufe und zur Vermeidung von
Sekundärproblemen. Häufig muss eine strukturierte
i Praxistipp und therapeutische Mundhygiene fehlende oder einge-
Es ist wichtig, schränkte orale Bewegungen ersetzen, z. B. Bewegungen
4 das Phänomen Hypersensibilität und das der Zunge zum Entfernen von Speiseresten in den Wan-
Auslösen des Beißreflexes zu kennen, gentaschen, auf die der Patient aufgrund seiner Hirnschä-
4 Handlungskompetenz im Umgang mit diesem digung noch nicht wieder zurückgreifen kann. Die indi-
Reflexmuster und auch in Notfallsituationen, viduellen Maßnahmen werden im Rehabilitationsprozess
wie z. B. dem Zubeißen auf die Unterlippe oder über den 24-Stunden-Tag geplant und interdisziplinär
auf die Zahnbürste oder den Finger des Helfenden durchgeführt. Die Ziele und Prinzipien der F.O.T.T.-
zu erwerben. Mundhygiene werden in . Übersicht 4.1 erläutert.
Damit die »sensorische Deprivation« im oro-
fazialen Bereich, mit dem typischen Symptom des
hyperaktiven Beißens, erst gar nicht in dem Ausmaß Übersicht 4.1: Ziele und Prinzipien
entstehen kann, gilt es bereits in der frühen Phase der therapeutischen Mundhygiene
der Rehabilitation vorzubeugen. Nur mit konstanter Ziele der Mundhygiene
und strukturierter »sensomotorischer Inputgabe« 4 Gesunderhaltung der Mundhöhle
kann auf Dauer eine routinierte individuelle Mund- 4 Erwerb möglichst physiologische Bewegungen
hygiene für den Patienten möglich bleiben. Ist das und Sensibilität oraler Strukturen in Verbin-
Problem bereits entstanden, so stellt die strukturier- dung mit möglichst normalem 7 Haltungs-
te Behandlungsweise zur Behandlung der Über- hintergrund
empfindlichkeit einen sehr wesentlichen und 4 Prävention von Sekundärproblemen
oftmals auch langfristigen Behandlungsanteil 4 Zugang zum Situationsverständnis und dem
im Rehabilitationsprozess dar. fazio-oralen Trakt des Patienten schaffen über
die Aktivität der Mundhygiene (durch geführte
: Beachte Interaktionen)
Fehlender oder mangelnder taktiler Input im fazio-
Prinzipien der Mundhygiene
oralen Trakt verhindert normales sensomotorisches
4 Arbeiten im Alltagskontext
Feedback, d. h. er wirkt motorischem Lernen und
4 Interdisziplinäres Arbeiten, Einbeziehen
7 physiologischer Bewegung und Sensibilität ent-
Angehöriger
gegen. Daraus können sich Sekundärprobleme
4 Individueller Einsatz von Hilfsmitteln
entwickeln, die sich in Bewegungseinschränkungen
4 Befund und Therapie der auftretenden
(7 Kontrakturen), Schmerzen, sensorischer Deprivation
Probleme gehen ineinander über
oder Infektionen äußern. Sekundärprobleme sind zu
vermeiden!
90 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

4.3.1 Der Prozess von Befundung und Behandlung > Beispiel


Herr K., 21 Jahre, Z. n. Schädelhirntrauma und Hypoxie
Wie schon aus den beiden vorangegangen Abschnitten er-
sichtlich wird, bietet die therapeutische Arbeit eine stän- Problemanalyse beim Zähneputzen
dige Quelle für die Befunderhebung und Bewertung. Herr K. hat keine Kopf- und Rumpfkontrolle. Im Sitzen
weisen seine Arme Flexionsmuster, die Beine Exten-
Der fortlaufende Prozess von Befundung sionsmuster auf. Bei Berührung der Hände, des Gesich-
und Behandlung nach Coombes tes und Mundes zuckt er zusammen und stöhnt. Dabei
4 : Beachte beißt er seine Zähne fest zusammen. Er kann die Zahn-
Der F.O.T.T.-Bereich Mundhygiene bietet einen bürste nicht selbst halten und zum Mund führen.
Behandlungsansatz zur Problemanalyse und Bei Annäherung der Zahnbürste an die Lippen erfolgt
Erstellung eines Therapieplanes, um möglichst keine Öffnung des Mundes. Die Reinigung der Kau-
7 physiologische Bewegungsmuster zu erarbeiten. flächen und Zahninnenseiten ist nicht möglich, dabei
wäre es mindestens dreimal täglich nötig, denn in der
Zur Befundung und Behandlung der Probleme bei der Mundhöhle befinden sich häufig Speichelreste und
Mundhygiene, die aus gestörter sensomotorischer Kon- Sekret, die Herr K. weder ausspucken noch schlucken
trolle und/oder eingeschränkter Handlungsplanung bzw. kann. Die Mundhygiene inklusive Vorbereitung durch
eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten resultieren Lagerung, Mundstimulation und Putzen der Außen-
können,nutzen wir die Prinzipien der F.O.T.T.®:Wir filtern flächen dauert ca. 60 Minuten, da Herr K. mit starker
im Rahmen der klinischen Untersuchung die Hauptpro- Tonuserhöhung auf Berührung und Bewegung
bleme des Patienten in Bezug auf seine Haltungskontrolle reagiert und Lagewechsel sehr langsam durchgeführt
und seine Fähigkeiten im fazio-oralen Trakt heraus und werden müssen.
registrieren gleichzeitig die Reaktion des Patienten auf
unsere Interventionen. Ziele setzen
4 Was hilft dem Patienten zu möglichst normaler Bewe- Funktionelle Ziele sind:
gung? 4 Der Patient toleriert Berührung ohne extremen
4 Was kann der Patient alleine und wie ist die Qualität Anstieg der Gesamtkörperspannung.
der Bewegung? 4 Der Patient kann zumindest mit Hilfe einige
4 Was hindert den Patient daran, sich normal zu be- Putzbewegungen an den Außenseiten der Zähne
wegen? ausführen.

Anschließend wird für die nächsten Behandlungsziele


ein Behandlungsplan erstellt. Dieser wird in Absprache
mit dem interdisziplinären Team, bestehend aus Arzt,
Pflegenden, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten und
Sprachtherapeuten etc. umgesetzt.

: Beachte
Problemanalyse und Therapie gehen ineinander über.

Der Prozess der Problemanalyse und Behandlung impli-


ziert ebenfalls die Evaluation der erreichten Ergebnisse in
der Therapie (. Abb. 4.6).
4 Ist das Ziel, z. B. das Erlernen einer hilfreichen Putz-
methode, erreicht?
4 Welches Ziel kann als Nächstes gesetzt werden?
4 Wie wird es erreicht?
. Abb. 4.6. a Evaluationsprozess in der Mundhygiene
4.3 · Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
91 4

c e

. Abb. 4.6. b Die seitlichen Schneide- und Eckzähne des Patienten bein. Gleichzeitig wird die ventrale untere Rumpfmuskulatur aktiviert.
wurden beim selbstständigen Putzen vernachlässigt. Es finden sich d Die Stehhilfe erleichtert Herrn W. seinen Rumpf zu stabilisieren. Die
folglich dessen Plaques und gerötete Zahnsäume. Der Patient wendet eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten von Hand- und Fingern
horizontale Scheuerzüge an (Plagmann 1998). c Die Anleitung im können durch das Verwenden einer elektrischen Zahnbürste kompen-
Umgang mit der Zahnbürste erfolgt durch die Therapeutin, die dem siert werden. Eine effiziente und komplette Reinigung der Zähne ist
Patienten die Putztechnik vermittelt. Die Hand der Therapeutin unter- somit selbstständig möglich. e Nach Anleitung des Patienten im Putzen
stützt die Kopfstellung mit dem »langen Nacken« . Die Holzstufe unter mit der elektrischen Zahnbürste wurden große Teile der Plaques ent-
dem linken Fuß erleichtert die Hüftkontrolle auf dem rechten Stand- fernt
92 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

Prävention/Prophylaxe: hindeuten, dass er zu schlucken versucht, unterstützt


4 Durch Putzen aller Flächen der Zähne innerhalb sie durch Stabilisieren des Unterkiefers und taktiler
einer Therapiestunde soll einer Aspirationspneumonie Schluckhilfe am Mundboden, um ein komplettes
durch 7 kontaminierten, aspirierten Speichel vorge- Schlucken zu erleichtern.
beugt werden. 4 Vor der Mundhygiene gibt sie dem Patienten die
4 Entzündungen des Zahnfleisches und 7 Karies Zahnbürste in die Hand, führt diese zum Mund und
vermeiden. begleitet seine Hand während einiger Putzbewegun-
4 Minimieren der Beißreaktionen, um Schäden an gen. Um auftretenden Überempfindlichkeitsreaktio-
4 den Zähnen zu vermeiden. 7 Kontrakturprophylaxe nen vorzubeugen, wird sie klaren Input geben und
durch Einbeziehen der Hände. den Kopf mittels Kieferkontrollgriff unterstützen.
4 Nach dem Putzen jedes Quadranten der Mund-
Behandlungsplan (für eine Therapiestunde) höhle erhält der Patient die Möglichkeit, den Mund zu
festlegen schließen und wieder zu schlucken. Zur Reinigung der
Die Mundhygiene erfolgt zweimal täglich durch die Kauflächen und Innenseiten der Zähne wird ein mit
Pflegenden, einmal in Therapie (Ergo- oder Physio- Gaze gepolsterter Spatel verwendet, der jeweils auf
therapie), bei Bedarf häufiger. Die Mutter des Patien- einer Seite flächig zwischen die 7 Molare platziert
ten ist angeleitet worden, die Mundstimulation durch- wird, um den dann geöffneten Kiefer zu stabilisieren.
zuführen. Wenn sie Herrn K. besucht, führt sie diese mit Mit einer Kinderzahnbürste ist es nun möglich,
einer um den Finger gewickelten Kompresse durch, die Kauflächen rechts und links, oben und unten
um Speichelreste zu entfernen. zu putzen. Nach dem Putzen jeder Kaufläche wird
4 Den Patienten positionieren in stabiler Umwelt, der Spatel entfernt, damit der Patient den Mund
z. B. Wand, Nische, Tisch, Stuhl einbeziehen. schließen kann.
4 Hand-Mund-Bezug und Hand-Augen-Koordina-
tion erarbeiten. Reaktionen evaluieren
4 Gesicht und Mund desensibilisieren. 4 Die Reaktionen des Patienten werden an kurz-
4 Alle Flächen der Zähne reinigen, einen fristigen Veränderungen deutlich: Zunächst baut der
gepolsterten Spatel einsetzen. Patient viel Tonus auf und die Atemfrequenz steigt, als
4 Schluckfrequenz von Speichel während der der Waschlappen über seine Hand gestreift wird. Bei
Mundhygiene steigern. Berührung der linken Wange ist die Gesamtkörper-
spannung noch recht hoch. Als der Waschlappen zur
Behandlung beginnen (Behandlungsablauf) rechten Wange kommt, dreht Herr K. leicht den Kopf
Der Patient wird mit festem Lagerungsmaterial in zu diesem hin. Kopf- und Handbewegungen sind für
Seitenlage gelagert. Nacken und Kopf werden stabil einen kurzen Moment koordiniert. Der Tonus lässt
unterstützt, um eine neutrale Position des Kopfes nach, die Atmung wird wieder ruhiger. Die Augen
zu erreichen. öffnen sich. Für einen kurzen Moment lässt sich Blick-
4 Hände des Patienten in sein Gesicht führen, um kontakt herstellen.
die Berührung mit einem konkreten Ziel zu verbinden: 4 Pumpende Kiefer- und Zungenbewegungen las-
Das Gesicht wird mit einem feuchten Waschlappen sen sich leicht unterbrechen und ein anschließendes
gewaschen und anschließend abgetrocknet (Hand- Schlucken 7 fazilitieren.
Mund-Koordination, Hand-Augen-Koordination). 4 Die Öffnung des Kiefers ist grundsätzlich möglich.
Diffuse Wischbewegungen werden dabei vermieden. Allerdings steigt der Gesamtkörpertonus beim Einfüh-
Anschließend berührt die Therapeutin mit eindeuti- ren des Spatels. Das hat u. a. eine eingeschränkte Be-
gem Druck und ohne zu streichen mit ihren Händen weglichkeit im 7 temporomandibularen Gelenk zur
das Gesicht des Patienten. Folge und erschwert die weitere Öffnung des Kiefers.
4 Bei der anschließenden Mundstimulation hilft sie Die Halswirbelsäulenextension geht mit Kieferretrak-
dem Patienten, seinen Mund mit einem Tuch abzu- tion einher (Hochschild 1998). An diesem Problem
tupfen, wenn Speichel herausfließt. Pumpende Kiefer- muss noch weiter gearbeitet werden. Die Analyse
und Zungenbewegungen des Patienten, die darauf beginnt erneut.
6
4.3 · Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
93 4

: Beachte Die Körperfunktions- und Körperstrukturebene


Das Schema zur Evaluation und Behandlung hilft, das Zunächst betrachten wir die Körperfunktions- und –
Problem des Patienten zu erkennen und realistische, strukturebene. Unter Körperfunktionen versteht man
konkrete und funktionelle Ziele zu planen und zu ver- physiologische Funktionen von Systemen (einschließlich
folgen. Es verlangt vom Therapeuten und Pflegenden, psychologischer Funktionen). Körperstrukturen sind
immer wieder die Bewegungen und das Verhalten der anatomische Teile des Körpers, wie Organe, Gliedmaßen
Patienten zu analysieren. Erst die genaue Kenntnis und ihre Bestandteile. Wenn eine Körperfunktion- oder
von normalen Bewegungen und Abläufen und die Struktur eine wesentliche Abweichung oder einen Verlust
Beobachtung der Abweichungen ermöglicht es, Hypo- aufweist, spricht man von einer Schädigung.
thesen aufzustellen, zu verwerfen oder zu bestätigen. Es handelt sich hier jeweils um eine Auswahl von für
die Aktivität Mundpflege relevanten Problemen, welche
die Anwendung der 7 ICF veranschaulichen sollen.
4.3.2 International Classification of Functioning,
Disability and Health > Beispiel
Herr F. hat auf Köperfunktionsebene u. a. folgende
Als konzeptioneller Behandlungsansatz ist die F.O.T.T. of- Schädigungen:
fen für neue Forschungsergebnisse und andere Standards 4 eingeschränkte Handlungsplanung,
der Befunderhebung und Problemanalyse. Das bio- 4 Gedächtnisprobleme,
psycho-soziale Modell der International Classification of 4 Arm und Hand der linken Seite sind plegisch,
Functioning, Disability and Health (7 ICF 2001) bietet 4 deutlich eingeschränkte Sensibilität in der linken
eine strukturierte Möglichkeit, gesundheitliche Störun- Mundhöhle und linken Gesichtsseite,
gen auf verschiedenen Ebenen zu befunden und auf die- 4 eingeschränkter Mundschluss links.
ser Basis einen Behandlungsplan zu erstellen, der eine in-
dividuell auf den Patienten abgestimmte Therapie zulässt Auf Körperstrukturebene hat Herr F. keine Einschrän-
und auf die Bedürfnisse des Patienten eingeht.Das folgen- kungen, die für unsere Beispiel relevant wären.
de Beispiel soll dies erläutern.
Die Aktivitätsebene
Wechselwirkungen zwischen den Komponenten Sie bezeichnet die Durchführung einer Aufgabe oder
der ICF Handlung (Aktion) durch einen Menschen. Beeinträchti-
. Abb. 4.7 zeigt eine grafische Darstellung des Modells. gungen der Aktivität sind Schwierigkeiten, die ein
Betrachtet wird die Aktivität Mundpflege und die Pro- Mensch bei der Durchführung einer Aktivität haben
bleme des Patienten in allen Ebenen der 7 ICF (Körper- kann. In der vorläufig neuen Fassung der 7 ICF (Mai
funktion/-struktur,Aktivität und Teilhabe sowie Kontext- 2002) sind die Komponenten der Aktivitäten und Teilha-
faktoren). Auf dieser Basis ergeben sich konkrete Gedan- ben in einer einzigen Liste zum Zwecke der Kodierung
ken zum weiteren Behandlungsplan. enthalten.
In unserem Beispiel beziehen wir uns auf das Schema
> Beispiel in . Abb. 4.7.
Herr F. hat eine Gesundheitsstörung oder Krankheit, Auf 7 Aktivitätsebene finden sich u. a. folgende Pro-
in diesem Fall einen rechtshirnigen Insult. Er ist bleme, verursacht durch die Probleme auf Körperfunk-
45 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder. Er ist tionsebene:
Versicherungsvertreter und seit 2 Monaten in einer 4 Schwierigkeiten beim Planen/Problemlösen einer Ak-
Rehabilitationsklinik. Das Rehabilitationsziel ist die tivität: Vorbereitung der Utensilien zum Zähneput-
Wiedereingliederung in seinen Beruf, in einer Außen- zen, nachdem er ein Teilziel erreicht hat, z. B. Uten-
stelle der Versicherung. Herr F. kann sich selbst im silien aus dem Spiegelschrank zu holen, hört er auf zu
Rollstuhl fortbewegen, in der Therapie geht er bereits agieren, weil er nicht weiter weiß.
kürzere Strecken, auf der Station in Begleitung durch 4 Herr F. vergisst die Zähne nach dem Essen oder im
eine Hilfsperson. Rahmen der Körperhygiene zu putzen, wenn man ihn
nicht daran erinnert.
94 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

zwischen den Zähnen oder in der Wangentasche, die


ihm beim Sprechen aus dem betroffenen Mundwinkel
herausfallen oder dort hängen bleiben, da er sie nicht
spürt.
4 Herr F. hat momentan aufgrund seiner Planungs-,
Gedächtnis- und Sensibilitätsprobleme keine Strate-
gien zur Verfügung, die das Problem beheben könn-
ten.
4 4 Er kann nicht um Hilfe bitten, weil ihm das Problem
nicht bewusst ist.

Somit ist Mundhygiene für Herrn F. momentan nur auf


7 Aktivitätsebene, nicht auf 7 Partizipationsebene mög-
lich.
Anmerkung: Herr F. wäre auf 7 Partizipationsebene,
wenn er z. B. um Hilfe bitten könnte oder zumindest die
. Abb. 4.7. Das bio-psycho-soziale Modell der International Classi- Speisereste spüren und mit dem Finger entfernen könnte.
fication of Functioning, Disability and Health (ICF 2001)
Die Kontextfaktoren
Mit der Aktivität Mundpflege sind außerdem die Kontext-
4 Die Hand-Handkoordination ist eingeschränkt. So ist faktoren zu betrachten, die den gesamten Lebenshinter-
das Aufschrauben der Zahnpastatube eingeschränkt grund des Menschen darstellen. Sie umfassen zwei Kom-
aufgrund der fehlenden Funktion in der linken Hand. ponenten:
4 Herr F. putzt die linke Seite der Mundhöhle nicht, da 4 Umweltfaktoren und
er sie nicht spürt. 4 personenbezogenen Faktoren.
4 Er kann seinen Mund nicht effektiv ausspülen, da das
Wasser aus dem betroffenen Mundwinkel heraus- Umweltfaktoren
rinnt. Die Umweltfaktoren teilt man wiederum in zwei Ebenen
ein:
Die Partizipationsebene 4 Ebene des Individuums und
Die Ebene der 7 Partizipation/Teilhabe umfasst das Ein- 4 Ebene der Gesellschaft.
bezogensein in eine Lebenssituation. Sie bedeutet auch,
dass ein Mensch bei auftretenden Problemen Strategien Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale und ein-
findet, um die Aufgabe zu lösen.Auf Mundpflege bezogen stellungsbezogene Umwelt, in der Menschen leben und
kann das bedeuten, dass der Mensch in der Lage wäre, die ihr Leben gestalten.
Zähne in jedem anderen Badezimmer als zu Hause zu
putzen bzw. zu anderen Gelegenheiten, beispielsweise Personenbezogene Faktoren
beim Camping und bei auftretenden Problemen (z. B. die Auf Ebene des Individuums lassen sich bei Herrn F. fol-
Zahnpastatube ist leer oder eine neue Zahnbürste muss gende Faktoren vermerken:
besorgt werden), angemessen zu reagieren und das Pro-
blem zu lösen. Teilhabe beinhaltet auch andere Arten der > Beispiel
Mundhygiene, z. B. das Benutzen von Zahnpflegekau- Herr F. ist momentan in der Rehaklinik, jedes zweite
gummi vor dem Kontakt mit Kunden etc. Wochenende verbringt er zu Hause. Er hat bereits
In unserem Beispiel hat Herr F. folgende Probleme auf früher viel Wert auf eine gute Mundhygiene gelegt,
Ebene der 7 Partizipation, bedingt durch die Probleme war regelmäßig beim Zahnarzt und hat häufig,
auf 7 Aktivitätsebene: bevor er seine Kunden besucht hat, die Zähne
4 Herr F. hat aufgrund mangelnder Mundhygiene nochmals geputzt oder Zahnpflegekaugummis
Mundgeruch und nach dem Essen häufig Speisereste verwendet.
4.3 · Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
95 4

Auf der Ebene der Gesellschaft ist zu beachten, dass in 4.3.3 Vorgehen bei der
unserer Kultur ein ungepflegter, schlecht riechender therapeutischen Mundhygiene
Mund als Zeichen mangelnder Hygiene gewertet wird
und sozial nicht akzeptiert wird. »Lernen läuft aufgabenorientiert ab. Dazu sind Bewegen
und Fühlen notwendig« (Davies 1995).
Behandlungsplan
Auf der Basis dieser sich gegenseitig beeinflussenden Die Befunderhebung und Prozessevaluation bestimmen
Faktoren wird der Behandlungsplan erstellt, der sich auf das Vorgehen. Die therapeutisch durchgeführte Mund-
alle Ebenen der 7 ICF erstreckt. hygiene ist Therapie! Während der sorgfältigen Vorberei-
Auf Körperfunktionsebene: tung und der anschließenden Reinigung der Mundhöhle
4 Handlungsplanung und Verbesserung von Gedächt- werden therapeutische Hilfestellungen gegeben, Bewe-
nisleistungen durch das Führen bei problemlösenden gungen 7 fazilitiert und unerwünschte Reaktionen ge-
Aktivitäten erarbeiten hemmt. Die Reinigung der Zähne erfolgt strukturiert und
4 Mundstimulation zur Sensibilisierung der Mundhöh- bietet dem Patienten immer wieder die Möglichkeit, seine
le durchführen oralen Strukturen zu spüren und im Alltagskontext zu
4 Gesichtsbewegungen 7 fazilitieren gebrauchen.
4 Zungenbewegungen und Lippenschluss 7 fazilitieren
4 In Rumpf und linkem Arm nach Bobath Aktivität : Beachte
anbahnen, mobilisieren und fazilitieren. Erst wenn wir uns im Rahmen von Befund und
Behandlung darüber klar werden, welche Hilfe der
Auf Aktivitätsebene: Patient braucht, können wir ihn gezielt unterstützen
4 Führen beim Zähneputzen, inkl. Vor- und Nachberei- und seinen Alltag so gestalten, dass er mit unserer
tung Hilfe wieder lernt, Probleme des Alltags zu lösen.
4 Linken Arm als Haltehand während des Auf- und Zu-
schraubens der Zahnpastatube einsetzen Vorbereitung
4 Führen der Putzbewegungen mit der Zahnbürste in Je schwerer der Patient in seinem Situationsverständnis
der rechten Hand, auch in die linke Seite der Mund- beeinträchtigt ist oder auch durch sensomotorische Defi-
höhle. zite der Hand-Mund-Koordination gestört ist, um so we-
sentlicher ist die Vorbereitung auf die Mundhygiene.
Auf Partizipationsebene: Bei eingeschränktem Situationsverständnis bietet die
4 Mundpflege als festen Bestandteil der Essensbeglei- Durchführung der Mundhygiene einen Einstieg in die Be-
tung und Körperhygiene in die Tagesstruktur inte- handlung von Gesicht und Mund. Die Situation ist so zu
grieren, d. h. alle Teammitglieder, die mit dem Patien- gestalten, dass der Patient verstehen kann, »dass es jetzt
ten arbeiten, führen mit ihm zusammen die Mund- um das Zähneputzen geht«. Die Prinzipien und Erfahrun-
pflege durch gen des Affolter- Konzeptes lassen sich mit dem Behand-
4 Ehefrau für die Gewährleistung der Mundpflege zu lungsansatz der F.O.T.T. gut verbinden. Das heißt, dass der
Hause anleiten. Patient in die Vorbereitung der Mundhygiene mit einbe-
zogen und dabei geführt wird (. Abb. 4.8 a–c).
Zu den ausführlichen Definitionen vgl. Internationale »Wir können nicht die Augen des Patienten nehmen, sie
Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und bewegen und sicher sein, dass der Patient sieht, noch kön-
Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), nen wir seine Ohren bewegen und wissen, dass er hört.
Entwurf der deutschsprachigen Fassung, Juli 2002. Aber wenn wir seine Hände und seinen Körper führen
und in Kontakt mit Oberflächen und Gegenständen brin-
gen,dann ist einiges an taktilem Input und Interaktion ge-
sichert.« (Affolter 2001)
96 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

a b

. Abb 4.8 a–c. Der Patient wird in die Vorbereitung der Mundpflege
mit einbezogen. a Öffnen des Wasserhahns zum Füllen des Zahnputz-
bechers. b Der Patient versteht die Situation und öffnet aktiv den
Mund, damit die Zahnbürste eingeführt werden kann. Mit dem Kiefer-
kontrollgriff wird ihm sowohl das Halten des Kopfes als auch die
Mundöffnung erleichtert. c Das Abtupfen des Mundes mit dem
Handtuch wird geführt

i Praxistipp
Die Alltagsaktivität Mundhygiene wird bewusst so
gestaltet, dass der Patient durch das Vermitteln von
gespürter Information zu verbessertem Situations-
verständnis kommen kann.
4.3 · Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
97 4

Bei Patienten mit Beeinträchtigungen des Situationsver- Die Mundstimulation


ständnisses muss deshalb besonders der Umweltgestal- : Beachte
tung Rechnung getragen werden. Das Gesicht und besonders der Mund gehören zu den
intimen Körperregionen des Menschen. Um so größer
i Praxistipp ist die Verantwortung bei der Durchführung bei
Eine individuell auf den Patienten abgestimmte Patienten, die auf unsere Hilfe angewiesen sind.
Vorbereitung beginnt bereits extraoral und bedeutet
für den Patienten eine »Einstimmung« auf die sich Um sich dem Mund gezielt und nicht überfallsartig zu
anschließende intraorale Berührung und Mund- nähern, werden zuerst die Hände und das Gesicht durch
hygiene. Das Putzen der Zähne am Waschbecken eine ruhige, langsame und strukturierte Eigenberührung
und die eindeutige Gestaltung der Situation erleich- (die Hände des Patienten werden dabei geführt) oder
tern dem Patienten den Einstieg in diese alltägliche durch die Fremdberührung (durch die Hände des Thera-
Routine. Oftmals bieten die vertrauten und eindeuti- peuten/Pflegenden) berührt. Mit einem »taktilen Hallo«
gen Situationen eine Möglichkeit für erste funktio- wird auf die kommenden Berührungen im Mund vorbe-
nelle Bewegungen. reitet.
Gedanklich wird die Mundhöhle in Abschnitte (Qua-
> Beispiel dranten) aufgeteilt (. Abb. 4.9) und auf einer Mundseite
Der Gebrauch vertrauter Mundhygieneartikel ist eine begonnen. Die Berührungen werden gezielt und mit ein-
Möglichkeit zur Verbesserung der vielfältigen koordi- deutigem, nicht zu festem Druck durchgeführt.
nativen Leistungen von Augen, Händen und des Mun-
des. Durch das Miteinander-Öffnen der Zahnpastatube i Praxistipp
und Aufbringen der Paste auf die Zahnbürste werden 4 Die Fingerbeere des kleinen Fingers des Thera-
oftmals erste aktive kleine Handlungssequenzen vom peuten wird am oberen Zahnfleisch von vorne nach
Patienten übernommen. Fehlt in anderen Situationen, hinten und zurück (i. d. R. dreimal) entlang geführt
wie z. B. passiv im Bett liegend oder sitzend, das und dehnt danach einmal die Innenseite der Wange.
Öffnen des Mundes bei der Mundhygiene gänzlich, Der Mund wird geschlossen und die Reaktionen des
so kann es dem Patienten vielleicht erst am Wasch- Patienten abgewartet.
becken und mit der gemeinsam bewegten Zahn- 4 Diese Prozedur wird auf derselben Seite unten
bürste möglich sein, den Mund zu öffnen. am Zahnfleisch durchgeführt und dann auf der
anderen Mundseite (oben, unten).
Viele Aspekte zum eindeutigen Erkennen der Situation 6
Mundhygiene helfen bei der Vorbereitung und Aktivie-
rung des Patienten.So könnte z. B.nach dem Berühren der
Hände, der Zahnputzbecher vom Patienten umfasst und
mit der Therapeutin/Pflegenden gehalten werden.
Das Hantieren mit den notwendigen Gegenständen
und das Integrieren der stärker betroffenen Körperhälfte
ermöglicht es darüber hinaus, gezielt geführte Bewegun-
gen mit taktilem Input zu vermitteln. Eine intensive stu-
fenweise Vorbereitung benötigt auch der hypersensible
Patient, der bei Berührung mit deutlichen Zeichen rea-
giert, wie Wegdrehen des Gesichtes und 7 Tonusanstieg
am ganzen Körper.
Dann kann sich die Mundstimulation anschließen.
Sie ist hierbei die intraorale Vorbereitung auf die Mund-
hygiene. . Abb. 4.9. Gedankliche Einteilung des Mundes in Quadranten
98 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

4 Kann eine Beißreaktion ausgeschlossen werden,


wird im nächsten Schritt die Zunge im vorderen Übersicht 4.2: Die Mundstimulation
Zungendrittel in drei kleinen Schritten von 7 ventral nach Coombes
nach dorsal berührt (von der Zungenspitze zur 4 dient der Vorbereitung der Arbeit im Mund
Zungenmitte) und anschließend der Mund und der Mundhygiene bei hyper- und hypo-
geschlossen. sensiblen Patienten;
4 Der harte Gaumen wird einmal hinter den 4 verhilft durch ihr langsames, strukturiertes
oberen Schneidezähnen berührt und der Mund Vorgehen mit gezielten Berührungen und
4 wieder geschlossen. Bewegungen der oralen Strukturen den
4 Bei jedem Mundschluss abwarten, ob Zungen- 7 Tonus zu regulieren; verbessert die
bewegungen etc. erfolgen und ob ein Schlucken Durchblutung des Zahnfleisches;
fazilitiert werden kann. 4 verbessert das Wahrnehmen der oralen Struk-
4 Während der Mundstimulation wird der turen und löst in der Folge oft eine motorische
7 Haltungshintergrund ständig kontrolliert und Antwort der Zunge bzw. ein Schlucken aus.
ggf. korrigiert, um das Schlucken zu erleichtern. Das Schlucken von Speichel kann den Wach-
4 Es erhöht die Aufmerksamkeit, wenn der heitsgrad und damit den Gesamttonus des
Finger des Patienten zur Stimulation benutzt Patienten verändern;
und geführt wird. Aber Vorsicht: Phasisches Beißen 4 erhöht den Wachheitsgrad der Patienten
unterliegt nicht der Eigenkontrolle des Patienten! und wird daher auch bei komatösen Patienten
eingesetzt.
Das Vorgehen, die Anzahl und Art der Berührungen wird
der individuellen Problematik und den Reaktionen des
Patienten angepasst. So kann eine einmalige deutliche Die Mundstimulation eignet sich gut als Einstieg in die
Berührung ohne Bewegung oder das Einbeziehen der Therapiesituation Mundhygiene. So strukturiert vorbe-
Hände des Patienten sinnvoll sein. Die Wiederholun- reitet, wird das Einführen der weichen Kinderzahnbürste
gen der Reize können bereits zur 7 Tonusregulation der oder des mit einer Kompresse umwickelten Fingers er-
Wangeninnenseite führen und eine De- oder Sensibilisie- leichtert. Selbständige Patienten können danach oft ihre
rung kann wirksam werden. Der Transport von Speichel hyposensible Seite besser spüren und die betroffene Seite
wird aktiviert und die Speichelproduktion angeregt. der Mundhöhle daher besser putzen bzw. die Seite ohne
Durch das Berühren und Bewegen werden die Strukturen externe Hilfestellungen integrieren.
stimuliert und wahrgenommen und damit ein reakti-
ves Schlucken ausgelöst. Gegebenenfalls helfen weitere : Beachte
taktile Hilfen (z. B. am Mundboden, Zungengrund) den Vorbereitung in der Mundhygiene bedeutet
Schluckvorgang zu komplettieren. Mit der gleichzeitig 4 Umweltgestaltung im Alltagskontext zur Förde-
massierenden Stimulation wird das Zahnfleisch besser rung von Situationsverständnis,
durchblutet. Dies ist besonders wichtig bei Patienten mit 4 Extraorale Desensibilisierung oder Sensibilisierung
oraler Nahrungskarenz, da hier die natürlichen taktilen (»Taktiles Hallo«),
Inputs durch die mechanischen Reibungen der festeren 4 Intraorale Desensibilisierung oder Sensibilisierung
Nahrung fehlen und damit auch durchblutungsfördernde durch die Mundstimulation,
Bewegungen beim Reinigen mit der Zunge.In . Übersicht 4 7 Tonusregulation.
4.2 werden die wichtigsten Apekte der Mundstimulation
zusammengefasst. Reinigung der Mundhöhle
Es gibt generelle Empfehlungen zur Putzweise der Zähne,
wenn bereits ein erhöhtes Erkrankungsrisiko besteht
(Plagmann 1998).
4.3 · Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
99 4

> Exkurs ! Vorsicht


Eine Studie mit Bewohnern einer geriatrischen Rehabi- Vor der Entblockung einer Trachealkanüle muss
litationsklinik in Würzburg ergab, dass nur etwa die als Vorbereitung jedes Mal eine sorgsame Mund-
Hälfte der zu rehabilitierenden Senioren physisch hygiene erfolgen, damit das Risiko einer broncho-
und psychisch in der Lage waren, ohne Unterstützung pulmonalen Infektion durch Aspiration von alten
optimale Mund- und Prothesenhygiene zu betreiben Speichel- und Sekretresten mit 7 nosokomialen
und Prophylaxeprogramme für die Patientengruppe Keimen (u. a. Staphylokokken, 7 Candida albicans,
der Alten und Behinderten notwendig sind (Stark et al. Streptokokken) minimiert wird (Knöbber 1991).
1999). Studien bei älteren pflegebedürftigen Men-
schen weisen auf die Bedeutsamkeit oraler Hygiene Veränderungen der Speichelfunktion
bei nicht selbständigen Patienten hin (Clarke 1993, und ihre Folgen
Holmes 1998, Lechner 1998). Der Speichel spielt für die Gesunderhaltung der oralen
Strukturen eine wichtige Rolle und hat verschiedene
Derzeit existieren noch keine Empfehlungen zur Mund- wichtige Funktionen,die zur Prophylaxe von 7 kariesaus-
hygiene bei neurologischen Patienten, die die Bandbreite lösenden 7 Plaqueansammlungen beitragen:
der Probleme, z. B. orale Nahrungskarenz, kanülenbe- 4 Durch seine Spülfunktion wird ein Anheften von
dingte Probleme etc., berücksichtigen. Die Reinigung Mikroorganismen (Bakterien) im Mund erschwert.
der Mundhöhle bedeutet nicht nur die Entfernung von 4 Der Speichel befeuchtet die Schleimhäute als Schutz
Essensresten, sondern oft auch die Beseitigung von Zun- vor dem Austrocknen.
genbelag, Borken, Speichel- und Sekretansammlungen. 4 Er ist Transportmittel für Nahrung und Mikroorga-
nismen. Nur mit der Bewegung und der Berührung
i Praxistipp entlang der oralen Strukturen kann diese spülende
4 Patienten mit fazio-oralen Problemen haben Funktion stattfinden.
Schwierigkeiten beim Transport von Speichel und/ 4 Er ist Säurepuffer und hat eine remineralisiernde
oder Nahrung. Sie spüren Residuen nicht und/oder Wirkung auf die Zahnhartsubstanzen. Besonders der
können diese nicht entfernen. dünnflüssige Speichel hat diese natürlichen Repara-
4 Die Mundhygiene in der F.O.T.T. beschränkt sich turmechanismen.
nicht nur auf die Reinigung der Zähne, sondern 4 Speichel ist bedeutsam für die Bakterienabwehr und
auch auf weitere Strukturen der Mundhöhle (Gaumen, zieht einen Schutzfilm über die Schleimhäute (Plag-
Zunge und Sulci etc). mann 1998, Roulet et al. 1999).
4 Auch bei oraler Nahrungskarenz ist eine Reini-
gung der Mundhöhle von Speichel und Sekretresten : Beachte
notwendig, besonders dann, wenn keine selbst- Zeigt ein Patient keine ausreichenden oralen Sammel-
ständige Mundhygiene betrieben werden kann und Transportbewegungen, kein Schlucken von
(Dyment und Casas 1999, Holmes 1998). Speichel und/oder keinen aktiven Mundschluss, dann
ist die natürliche Reinigungs- und Schutzwirkung des
Fehlender Input durch das tägliche Essen und Trinken Speichels eingeschränkt oder aufgehoben.
macht eine Mundhygiene als »Ersatz-Input« und die Selten sind große Speichelmengen auf eine wirkli-
Mundstimulation für alle oralen Strukturen zunehmend che Überproduktion von Speichel (7 Hypersalivation)
bedeutungsvoller, je länger die Nahrungskarenz anhält. zurückzuführen. Ursachen sind meist eine zu niedrige
Dies gilt in besonderem Maße für Patienten mit geblock- Schluckfrequenz und/oder ein verändertes, abnor-
ter 7 Trachealkanüle. Eine geblockte Trachealkanüle males Schluckmuster, bei dem die Zunge nach vorne
impliziert nach unserem Verständnis i. d. R. eine totale stößt und Speichel aus dem Mund geschoben wird.
Nahrungskarenz (Kap. 7.3.1). Während des Kanülen-
managements bedarf es immer wieder des Entblockens Die prädisponierenden Faktoren wie Mundatmung, offen
der Kanüle, u. a. um physiologische Bewegungen der At- stehender Mund und mangelnder Speichelfluss (Roulet et
mung und des Schluckens zu erreichen. al. 1999) führen in der Folge zu Zahnfleischentzündung
(7 Gingivitis) besonders im Frontzahnbereich.Dort findet
100 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

keine Benetzung zur lokalen Abwehr statt, kein Lippen- 4 Bewegungen der Zunge und Befeuchtung
schluss zur Verringerung der mechanischen Reinigungs- der Schleimhäute,
wirkung. Wenn der Speichel zu mukös wird, verringern 4 der Einsatz medizinischer Mundwasser und
sich diese natürlichen Schutzmechanismen. Geringe Kräutertees bei der Mundhygiene,
Speichelproduktion ist z. B. auch bei Verabreichung von 4 eine eingehende Ursachenforschung und
Psychopharmaka, Antibiotika oder nach Bestrahlung ggf. ergänzende medizinische Maßnahmen.
zu beobachten. Trockene Schleimhäute bei erheblicher
Dehydrierung oder bei Fieber führen zur Veränderung Auch das therapeutische Kauen in Gaze (s.Kap.3.5.2),falls
4 der gesunden Mundflora. Weitere prädisponierende Fak- es bereits eingesetzt werden kann, fazilitiert den notwen-
toren sind Mangel- und Fehlernährung durch einseitige digen mechanischen Abrieb und stimuliert die natürliche
Nahrungszusammensetzungen und Konsistenzen (Plag- Befeuchtung der Schleimhäute durch Zungen- und Kiefer-
mann 1998). Durch den Verzehr ausschließlich breiiger bewegungen.
Nahrung ohne feste Konsistenzen,welche bekanntlich zur
mechanischen Reinigung der Kauflächen beitragen, wird ! Vorsicht
die 7 Plaquebildung begünstigt. Durch Zahnstein (ver- Beim Abtragen vom Zungenbelag kann es zum
kalkte Plaque), auf dessen rauer Oberfläche sich frischer Auslösen des Würgreflexes kommen.
Plaque ablagert, wird der 7 Kariesprozess unterhalten
(Roulet et al. 1999). Mundgeruch hat verschiedene Ursachen, wie z. B. eine
mangelhafte Mundhygiene, Entzündungen der oralen
Zungenbelag und Mundgeruch und pharyngealen Strukturen. Bei Erkrankungen des
Neben dem harmlosen Belag, der in der Regel am Morgen Verdauungstrakts und auch bei enteraler Ernährung
stärker auf der Zunge haftet als abends, ist dem Zungen- sind spezifische Gerüche wahrzunehmen (Meyer et al.
belag mehr Aufmerksamkeit zu widmen, der bei wenig 1999). Gastro-ösophagealen 7 Reflux kann man am
Bewegungen der Zunge, durch einen offen stehenden stark säuerlichen Geruch erkennen. Patienten mit ein-
Mund oder durch Nahrungskarenz entsteht. Dieser meist geschränkter Kommunikationsfähigkeit bedürfen dies-
grau-weiße Belag stellt einen Nährboden für Pilze und bezüglich der sorgsamen Beobachtung. In jedem Fall
Bakterien dar und sollte in diesem Stadium regelmäßig muss die Ursache für den schlechten Atem diagnostiziert
abgetragen werden. werden und darf nicht einfach mit einem Mundwasser
Eine Pilzinfektion ist häufig durch eine örtlich be- übertüncht werden (Roulet et al. 1999).
grenzte Schwächung der Hautbarriere, z. B. durch Aus-
trocknung der Schleimhaut zu beobachten. Zu diesen Medizinische Mundwasser und Heilkräutertees
Pilzbelägen gehört auch der Soor mit dem weißlichen, In nationalen und internationalen Publikationen zum
schwer zu entfernenden Belag. Er kann die gesamte Thema der Prävention und Behandlung von Entzündun-
Mundhöhle befallen und gehört zur Gruppe der Hefepil- gen werden verschiedene Mittel unterschieden:
ze (Plagmann 1998, Roulet et al. 1999). 4 Schleimhaut schützende Mittel (z. B. Kamille und
So können Entzündungen der Mundschleimhaut ent- steriles Wasser),
stehen und dadurch bedingt Pneumonien durch Aspi- 4 Zellschutzmittel (z. B. Vitamin E, A und pflanzliche
ration (u. a. auch 7 Candidapneumonie) hervorgerufen Inhaltstoffe, wie Ringelblume, Arnika, Früchtetee),
werden (Knöbber 1991, Langmore et al. 1998, Meyer et al. 4 Mittel mit antiseptischer/antibakterieller (Chlorhexi-
1999). din, Fluoride, Johanniskraut, Nelkenöl),
4 mit antifungaler und
i Praxistipp 4 mit antiviraler Wirkung (z. B. schwarzer Tee) (Gott-
Ein mehrdimensionaler Lösungsansatz gegen schalk und Dassen 2002).
Zahnbelag ist erfolgversprechend:
4 Regelmäßiges mechanisches Abtragen Zur symptomatischen Behandlung bei kleineren Entzün-
der Beläge, dungen der Mundschleimhaut, wie z. B.Aphten und Rha-
6 gaden sind Salbeitee, Kamillentee und Thymiantee geeig-
net – lokal als Tinktur oder als Spülung (bei Patienten, die
4.3 · Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
101 4

den Mund ausspülen können), wobei zu beachten ist, dass zur Desensibilisierung – oder weniger betroffenen
die Speichelproduktion durch Salbeitee reduziert werden Seite – z. B. zur Sensibilisierung (Coombes 1994). Da-
kann. nach folgt i.d.R. der untere Quadrant auf der gleichen
Bei eher trockenen Schleimhäuten wird die Speichel- Seite.
bildung durch Malvenblütetee angeregt und ermöglicht 4 Von »Rot nach Weiß« (. Abb. 4.10b und 4.10c): Die
dadurch einen natürlichen Impuls im Heilungsprozess. Zahnbürste wird vom Zahnfleischsaum zum Zahn
Eine Reihe von Heilkräutertees, wie der Pfefferminz-, geführt und am nächsten Zahn wieder neu angesetzt.
Anis- und Fencheltee verhelfen zu frischem Atem (Meyer Damit soll verhindert werden, dass Speichel, Sekret
et al. 1999). oder Speisereste verteilt werden.
Gebrauchsfertige Mundspülpräparate haben einen 4 Von »hinten nach vorne« (. Abb. 4.10d und 4.10e):
nachgewiesenen entzündungshemmenden Effekt (Gott- Die Bürste wird intraoral immer von dorsal (Backen-
schalk und Dassen 2002). Sie ersetzen aber keineswegs zähne) nach 7 ventral (Schneidezähne) auf den Zahn-
das Zähneputzen. Langzeitanwendungen sind wegen di- flächen bewegt. Dadurch wird vermieden, Speise-
verser Nebenwirkungen mit dem Zahnarzt zu klären. oder Speichelreste beim Putzen zu verteilen. Speise-
und Sekretreste sind auf dem direkten Weg heraus zu
i Praxistipp nehmen, dies ist besonders wichtig bei den Patienten,
Alle Heilkräutertees können je nach Indikation zur die nicht ausspülen können.
Mundstimulation und neben dem mechanischen 4 Von »außen nach innen« (. Abb. 4.10e und 4.10f): Die
Abtragen der 7 Plaque beim Zähneputzen benutzt Außenseiten werden zuerst geputzt. Die Innenseiten
werden. werden nach den Kauflächen gereinigt.
4 Nach jedem Quadranten wird eine Pause eingelegt,
Die Putzmethode damit der Patient entweder seinen Speichel schlucken
In der Zahnmedizin werden bezüglich der Putzhäufigkeit oder ausspucken kann und damit seine Toleranzgren-
und Putzdauer folgende Empfehlungen gegeben. ze für Berührung nicht überschritten wird.
4 Die Putzdauer eines vollbezahnten Gebisses sollte 3–5
Minuten betragen, pro Zahn werden dabei ca. 10–15 . Übersicht 4.3 fasst die Regeln kurz zusammen.
Putzbewegungen durchgeführt.
4 Die Zähne sollten 2–3 mal täglich geputzt werden, ide-
aler Weise morgens nach dem Frühstück, mittags und Übersicht 4.3: Grundsätzliche Regeln
abends vor dem Schlafengehen (Schubert 1991). zur Zahnreinigung
4 Bei der Reinigung der Mundhöhle ist zu beachten, 4 Im oberen Quadranten und auf der stärker
dass es eine Rangfolge hinsichtlich des Erkrankungs- betroffenen Seite beginnen
risikos der zu putzenden Areale (der schwer zugäng- 4 Von »Rot nach Weiß« putzen
lichen Zahnflächen) gibt. 4 Von »hinten nach vorne« putzen
4 Von »außen nach innen« vorgehen
In der F.O.T.T. wird die »Rot-Weiß Methode« (Plagmann 4 Nach jedem Quadranten eine Pause einlegen
1998, Roulet et al. 1999) als Basisputzmethode verwendet
(. Abb. 4.10 a–j). Sie ermöglicht in Verbindung mit einer
klaren Vorgehensweise und Bewegungsführung der i Praxistipp
Zahnbürste eine individuell angepasste Reinigung der Bei vielen Patienten mit Überempfindlichkeit wird als
Zähne. Einstieg das Putzen der Außenseiten der Zähne
Dabei gilt es einige grundsätzliche Regeln zu beachten: leichter toleriert als das Putzen der Kauflächen oder
4 Eine gedankliche Einteilung der Mundhöhle in vier Innenseiten der Zähne. Dabei kann die Reaktion
Quadranten (. Abb. 4.9) ermöglicht eine strukturier- beim Berühren mit der Zahnbürste genau beobach-
te Vorgehensweise und Beobachtung von Reaktionen tet werden. Beginnt eine Tonuszunahme mit
auf die Reinigung. Begonnen wird in dem oberen 7 phasischem Beißen, kann ein vorsichtiges Putzen
Quadranten und je nach individueller Zielsetzung des dennoch fortgesetzt werden, nach einer Pause
Patienten auf der stärker betroffenen Seite – z. B. mit z. B. einer Aufbisshilfe (s. Abschn. 4.4.2).
6
102 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

a b

c d

e f

. Abb 4.10 a–k. Zahnreinigung


4.3 · Die Mundhygiene in der F.O.T.T.
103 4

g h

i j

. Abb 4.10 a–k. Zahnreinigung. a Einführen der Bürste: Die Ober-


lippe wird leicht angehoben und abgehalten. Die glatte Seite des
Bürstenkopfes zum Zahn gehalten und erst in der Wange zum Zahn
gewendet. Damit wird eine diffuse Wischbewegung durch die Borsten
in der Wangeninnenseite vermieden. b und c Oberer und unterer
Quadrant: Die Außenseite wird geputzt – vom Zahnfleisch zum Zahn
(»rot nach weiß«), vom Backenzahn zum Schneidezahn (von »hinten
nach vorne«). d Oberer Quadrant: Die Kaufläche wird geputzt.Von
»hinten nach vorne«. e Unterer Quadrant: Die Kaufläche wird geputzt.
Von »hinten nach vorne«. f und g Oberer und unterer Quadrant:
Die Innenseite wird geputzt. »Von rot nach weiß – von hinten nach
vorne«. h und i Oberer und unterer Quadrant: Die Innenseite vorne
wird geputzt.Von »rot nach weiß«. j Die Borsten reinigen auch die
Approximalräume (Zahnzwischenräume). k Zusätzliche Interdental-
k
pflege mit einer Zahnseide in Halterung
104 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

Professionelle Putzmethoden Ein Haftmittel kann vorübergehend zum besseren


4 Die Rot-Weiß Methode kann individuell durch Halt der Prothese empfohlen werden oder wenn alle
andere Putzmethoden ergänzt und abgewandelt Möglichkeiten der Anpassung ausgeschöpft sind
werden (s. dazu Bass-Methode, 7 Stillmann-Metho- (Slaughter et al. 1999; Stark und Welfers 1998). Bei
de, Rotationsmethode (Plagmann 1998, Roulet et al. Patienten mit Mundtrockenheit empfiehlt sich eher
1999). die Verwendung von Haftcreme als Haftpulver.
Professionelle Putzmethoden verlangen aber
sowohl vom Patienten als auch vom Helfer eine ! Vorsicht
4 hohe Koordinationsleistung der Hand- und Finger- Das vorschnelle Benutzen von Haftmittel verdeckt
bewegungen. unerwünschte Anpassungsfehler.
4 Die verwendete Putzmethode ist in jedem Fall Auch Haftcreme kann aspiriert werden.
zu überprüfen, auch wenn der Patient bereits Reste der Haftcreme müssen entfernt werden!
selbständig putzt, da es immer wieder zu »traumati-
sierendem, aggressiven Putzen bei falscher Putz- Besonders beim ersten Wiedereinsetzen und Tragen
technik« (Plagmann 1998) kommt und Areale kann die Mundschleimhaut empfindlicher reagieren.
ausgespart bleiben (. Abb. 4.3, 4.6a). Nach jedem Tragen (auch bei oraler Nahrungskarenz) ist
die Prothese zu reinigen, der Gaumen und Zahnkamm
Zahnprothesen und ihre Pflege gründlich vom eventuellen Resten des Haftmaterials zu
Eine passgenaue Prothese stellt einen wesentlichen Teil in befreien und auf Rötungen zu untersuchen. Sitzt die Pro-
der funktionellen Einheit von Zunge, Wange, Gaumen these (auch mit Haftcreme) nicht mehr stabil, muss der
und Kiefer dar.Sie ist qualitätsbestimmend für die Artiku- Zahnarzt ggf. eine Unterfütterung vornehmen.
lation und den oralen Transport von Speichel und Nah-
rung. i Praxistipp
Störungen im 7 Tonus der Gesichtsmuskeln, z. B. Ge- 4 Die Zahnprothese sollte sobald und so lange
sichtslähmungen, beeinflussen die Stellung der Zähne im wie möglich am Tag getragen werden.
Zahnbogen und somit auch die Passgenauigkeit der Pro- 4 Die Prothese ist täglich und nach jeder Mahlzeit
these (Rateitschak et al.1998,Schubert 1991).Ein veränder- zu reinigen. Auch müssen der Gaumen und der
ter Wangen- und Lippentonus und eine reduzierte Zun- Kieferkamm gebürstet werden, um Beläge
genbeweglichkeit kann deren Sitz instabil machen. abzutragen.
Ist der Patient durch akut- und intensivmedizinische 4 Reinigt der Patient seine Prothese bereits
Maßnahmen (z. B. Beatmung, Operation) längere Zeit selbständig, muss die Reinigung mit Sorgfalt regel-
ohne seine Prothese, kann es bereits in kürzester Zeit zu mäßig supervidiert werden.Visuseinschränkungen
einer Veränderung des Zahnhalteapparates/Kieferkam- und feinmotorische Störungen sind oftmals Gründe
mes kommen. Atrophien (z. B. des Pars alveolaris des für ein Hygienedefizit.
Unterkiefers) machen dann zusätzlich große Schwierig- 4 Die Prothese wird nachts in einem Extrabehälter
keiten bei der Neuanpassung (Rauber und Kopsch 1996). mit Wasser oder antiseptischer Lösung aufbewahrt
Mangelnde Passgenauigkeit der Totalprothese führt und morgens vor dem Einsetzen nochmals abge-
zur Atrophie des Kieferkammes und bedingt die Entwick- spült (Bundesärztekammer 2002; Lechner 1998).
lung von 7 Stomatitiden – dies erschwert die Mundhygie- 4 Die Mundstimulation wird ohne Prothese und
ne zusätzlich. anschließend mit Prothese durchgeführt.

i Praxistipp
Durch eine mit Haftcreme stabilisierte, gut sitzende
Prothese nimmt die Beißkraft und Kaufähigkeit zu
und verbessert die Artikulation (Slaughter et al.
1999; Stark und Welfers 1998). Eine passgerechte
Prothese lässt Rötungen und selbst akute Ulcera
schnell abheilen (Schubert 1991).
6
4.4 · Hilfsmittel für die Mundhygiene neurologischer Patienten
105 4

4.4 Hilfsmittel für die Mundhygiene : Beachte


neurologischer Patienten Im Umgang mit der manuellen Zahnbürste kommt es
häufig zu Putzfehlern aufgrund fehlender koordinier-
Der Einsatz von Hilfsmitteln bei der Mundhygiene wird ter selektiver Bewegungen der Hand.
den momentanen individuellen Bedürfnissen des Patien-
ten angepasst. Nach Möglichkeit werden nur solche Der Kunststoffspatel dient einerseits zum Befunden der
Gegenstände verwendet, die der Patient aus seinem Alltag Mundhöhle und wird auf dem Spatelhalter der Untersu-
kennt und die ihm vertraut sind. chungslampe befestigt (. Abb. 4.12). Andererseits kann
Es werden Hilfsmittel benutzt, die zum einen direkt der Spatel mit Gaze umwickelt werden und zur Reinigung
auf die physiologischen Bewegungen der Mundhöhle ein- der Zunge eingesetzt werden oder als Aufbisshilfe dienen
wirken und zum anderen indirekt auf die gesamtphysio- (s. unten). Die um den Finger des Therapeuten gewickelte
logischen Bewegungen des 7 Haltungshintergrundes ein- Kompresse (. Abb. 4.13) ersetzt vorübergehend die
wirken, um eine Mundhygiene für den Patienten und Hel- Zahnbürste, wenn eine Reinigung mit der Zahnbürste
fer überhaupt zu ermöglichen.

4.4.1 Reguläre Hilfsmittel

Die reguläre Auswahl an Mundhygieneartikeln be-


schränkt sich auf
4 zwei Zahnputzbecher,
4 eine Kinderzahnbürste,
4 Kompressen,
4 Spatel aus Kunststoff,
4 Fingerlinge (oder Handschuhe) und
4 Zahnseide (. Abb. 4.11).
4 Zur visuellen Untersuchung der Mundhöhle wird eine
Lampe mit Spatelhalter bereitgehalten.

Es werden zwei Zahnputzbecher benutzt. Ein Becher


dient zum Säubern der Zahnbürste nach jedem Putzgang
und der andere Becher zum Eintauchen der Zahnbürste in
frisches Wasser oder ggf. zum Ausspülen des Mundes.
Das Benutzen einer Kinderzahnbürste hat viele Vortei-
le.Der schmale und kurze Bürstenkopf erweist sich bei Pa- . Abb. 4.11. Standardausstattung bei der F.O.T.T. Mundhygiene:
2 Zahnputzbecher, 1 Kinderzahnbürste, Gaze, Kunststoffspatel, Zahn-
tienten mit reduzierter Kieferöffnung geeignet zum Put-
seidenhalter, Fingerlinge
zen der Kauflächen und Innenseiten der Zähne. Die wei-
chen,abgerundeten Borsten ermöglichen eine sanfte Säu-
berung und schonen empfindliches Zahnfleisch. Eine
individuell angepasste Griffverdickung kann das Halten
und Handhaben der Zahnbürste und damit auch die
Putzbewegungen erleichtern. Durch den kurzen Stiel
wird das Bewegen der Zahnbürste im Mund auch für den
Pflegenden/Therapeuten erleichtert, wenn der Patient in
Seitenlage liegt.

. Abb. 4.12. Untersuchungslampe mit Spatel und Halterung


106 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

. Abb. 4.13. Umwickelter Finger mit Gaze zum Reinigen der Zähne . Abb. 4.14. Interdentalpflegemittel von oben nach unten: 1 Inter-
und der Mundhöhle dentalbürste, 2 Zahnseide, 3 Halterung mit Zahnseide

aufgrund des sehr leicht blutenden Zahnfleisches und/


oder erheblicher Hypersensibilität nicht möglich ist.Spei-
chel und Sekretreste können so mit eindeutiger taktiler
Stimulation aus der Mundhöhle entfernt und abheilende
Salben oder antibakterielle Gels bei Entzündungen aufge-
tragen werden.

: Beachte
Nur passgenaue Fingerlinge oder Handschuhe
ermöglichen eine eindeutige taktile Information.

Das Reinigen der Zahnzwischenräume – immerhin sind


. Abb. 4.15. Elektrische Zahnbürste und Griffverdickung bei einer
dies 40 % der Gesamtzahnfläche – mit Zahnseide gehört
manuellen Zahnbürste
zu einer kompletten Mundhygiene (Roulet et al. 1999).
Nur bei ausreichend weiter (und sicherer) Kieferöffnung
können die 7 Interdentalräume mit Zahnseide auf einer
entsprechenden Halterung gereinigt werden. Diese Halte-
rung ist sowohl für den selbständigen Patienten, der mit (1998) empfiehlt den Einsatz elektrischer Zahnbürsten
einer Hand reinigen kann, als auch bei Reinigung durch auch bei geistig Behinderten.
den Helfer sehr hilfreich. Dieser kann mit seiner zweiten
Hand zusätzlich die Mundöffnung 7 fazilitieren (Davies ! Vorsicht
1995). Bei größeren Zahnzwischenräumen empfiehlt sich Bei Patienten mit Hypersensibilität und 7 phasi-
die Interdentalbürste (. Abb. 4.14). schem Beißen, kann die elektrische Zahnbürste
Die elektrische Zahnbürste bietet eine Alternative bei kontraindiziert sein. Die Vibrationen und der Ge-
Patienten, die eine manuelle Zahnbürste nicht oder nur räuschpegel des Motors verursacht oft ein Ansteigen
unzureichend einsetzen können, da sie die geforderten des Gesamtkörpertonus und löst ein Beißen aus.
feinen Rotations- und Rüttelbewegungen größtenteils Auch kann sich der Wechselkopf der Zahnbürste
ausführen kann. Zusätzlich erleichtert der dickere Griff beim Beißen auf die Bürste lösen bzw. abbrechen
das Umfassen im Faustschluss (. Abb. 4.15). Plagmann und in der Mundhöhle verbleiben.
4.4 · Hilfsmittel für die Mundhygiene neurologischer Patienten
107 4

i Praxistipp anderen Seite fortgesetzt. Der gepolsterte Spatel dient


Es sollte zuerst am Handrücken des Patienten getestet nicht zum »Aufhebeln des Mundes«. Bei gleichzeitiger
werden, ob die Vibration der Zahnbürste toleriert Anwendung des Kieferkontrollgriffes soll er dazu dienen,
wird. Erst dann wird die Zahnbürste in den Mund den Unterkiefer zu stabilisieren und das 7 phasische Bei-
eingeführt. Die Vibration wird erst am Zahn einge- ßen zu hemmen.
schaltet und vor dem Herausnehmen jeweils ausge-
stellt. So können diffuse Vibrationen an Wangen und > Exkurs
Lippen vermieden werden. Zusammenhänge zwischen Funktionsstörungen
des Kiefergelenks und des Bewegungsapparates
sind in verschiedenen Untersuchungen bekannt
4.4.2 Therapeutische Hilfsmittel (Broich 1992, Künkel 1990, Nicolais et al. 1998,
Robinson 1996, Schafer 1987). Das 7 stomatognathe
Griffverdickung am Zahnputzstiel System reagiert nach Erregung von Pressorezeptoren
Oftmals ist für die paretische Hand des Patienten der ver- besonders im Front- und Eckzahnbereich auf
dickte Griff der Kinderzahnbürste nicht ausreichend zum Druck- und Zugsetzung. 7 Okklusale Kontakte
Umgreifen und Halten.Bei beginnenden Bewegungen der leiten den Druck auf den Zahnhalteapparat an
Hand und Finger kann die Verwendung einer Griffver- die Trigeminuskerne des Hirnstammes weiter
dickung (. Abb. 4.15) erste selbständige Putzbewegun- (Reiber 1992).
gen erleichtern oder beim geführten Putzen der Faust-
schluss fazilitiert werden. i Praxistipp
Durch eine vorsichtige Vorgehensweise (beim
Aufbisshilfe Einführen, Platzieren und Herausnehmen) und
Bei Patienten mit 7 phasischem Beißen und reduzierter den lateralen Input kann eine Hemmung des Beißens
aktiver Kieferöffnung hat sich ein gepolsterter Mundspa- erzielt werden. Der Patient lernt durch die gleich-
tel oder das Stielende des Cheyne-Löffels zur Stabilisie- mäßige laterale Verteilung des Aufbeißdrucks
rung der Kieferöffnung bewährt (. Abb. 4.16). Nach suk- die Kieferschließer zu entspannen.
zessiver Erarbeitung der Kieferöffnung wird die plane
Aufbisshilfe – von lateral kommend – zwischen die 7 Mo- Noppenputzstäbe
lare gebracht.Danach kann die gegenüberliegende Kauflä- Zur Verbesserung der Durchblutung des Zahnfleisches
che und Innenseite der Zahnreihe geputzt werden. Nach und zum Abtragen/Reinigen von Zungenbelag eignet sich
einer Pause mit Mundschluss wird das Putzen auf der ein kleiner gummierter Noppenputzstab (. Abb. 4.17),

. Abb. 4.16. Aufbisshilfen: Kunststoffspatel, gepolstert mit Gaze und . Abb. 4.17. Noppenputzstäbe
Tapeband. Cheyne-Löffel, am Stiel umwickelt mit Gaze und Tapeband
108 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

der ggf. mit einer Kompresse umwickelt und ebenfalls zur


Zahnpflege benutzt werden kann.

4.4.3 Kontraindizierte Hilfsmittel


bei neurologischen Patienten

! Vorsicht
4 Bei Patienten mit einem Beißreflex dürfen keine
Gegenstände aus Metall und keine zerbrechlichen
Mundhygieneartikel benutzt werden.

Einweg-Zahnbürsten
Sie sind in der Rehabilitation von neurologischen Patien-
ten in vielerlei Hinsicht kontraindiziert. Bei der darge-
stellten Zahnbürste (. Abb. 4.18) ist bereits getrocknete
Zahnpasta aufgebracht. Zahnpasta kann aspiriert wer-
. Abb. 4.18. Kontraindizierte Mundhygieneartikel: (v. links) Metall-
den. Die sehr harten, nicht abgerundeten Borsten können klemme mit Kompresse, Wechselkopfzahnbürste, Einwegzahnbürste
das Zahnfleisch verletzen und führen bei leicht erhöhtem mit Zahnpasta,Watteträger, Beißkeil
Druck bereits bei gesundem Zahnfleisch zu Zahnfleisch-
blutungen. Durch unkontrolliertes Zubeißen können sich
Borsten lösen oder die Bürste kann abbrechen. Es besteht Durch die unspezifische Wischbewegung kann keine ein-
Verletzungs- und/oder Aspirationsgefahr durch die losen deutige Stimulation und daher kein verbessertes Spüren
Partikel. der mehr betroffenen Seite erreicht werden.
Durch unkontrolliertes Zubeißen besteht die Gefahr
i Praxistipp des Zerbrechens des Watteträgers.
Bei sehr abwehrgeschwächten Patienten sollte aus Watteträger mit Zitronengeschmack sind ebenso wie
hygienischen Gründen alternativ zur Einwegzahn- der Einsatz von Fetten/Ölen bei aspirationsgefährdeten
bürste eine Desinfektion der weichen Kinderzahn- Patienten kontraindiziert.
bürste erfolgen oder mit Gaze gesäubert werden.
Glycerin-Zitronenstäbchen
Watteträger Glycerin-Zitronenstäbchen zum Abtragen der Beläge
Watteträger sind durch ihre glatte Oberflächenstruktur sind dauerhaft angewendet ungeeignet.
keine Alternative zur Zahnbürste. Sie helfen lediglich, Die Zitronensäure greift den Zahnschmelz an (Gott-
Sekret mittels einer wischenden Bewegung zu absorbieren schalk und Dassen 2002, Meyer et al. 1999) und kann
und aus den Wangentaschen herauszuholen. Dabei wird durch den intensiven Geschmack oder auch im Kontakt
das Zahnfleisch nur kurz gestreift,nicht aber massiert.Bei mit Mikroverletzungen der Schleimhaut Schmerzen ver-
Patienten mit einer Hypersensibilität kann diese leichte, ursachen und tonuserhöhend wirken. Glycerin trocknet
flüchtig wischende Bewegung der Auslöser für eine Tonus- die Schleimhaut aus und kann mangels fehlender oraler
erhöhung sein (Davies 1995).Reflektorisches Beißen kann Transportbewegungen einen Fettfilm auf der Schleim-
dadurch ausgelöst werden. haut bilden,unter dem Erregerkeime weiter wachsen kön-
nen.
! Vorsicht
Eine effektive 7 Plaqueentfernung kann mit einem Fette oder Öle
Watteträger nicht erfolgen. Auch hier kann sich ein Fettfilm auf der Mundschleimhaut
bilden. Das Verwenden von Fetten oder Ölen zum Entfer-
nen von Borken ist bei Patienten mit Schluckstörungen
kontraindiziert,da es im Larynx keine Rezeptoren gibt,die
4.4 · Hilfsmittel für die Mundhygiene neurologischer Patienten
109 4

Fette und Öle erkennen und auf deren Eintritt in die


unteren Atemwege reagieren.

! Vorsicht
Es besteht Aspirationsgefahr.
. Abb. 4.19. Abgenützte Zahnbürste mit umgeknickten Borsten
Tupfern an Metallklemmen
Die Verwendung z. B. von Tupfern an Metallklemmen
(. Abb. 4.18) zur Reinigung der Zähne bedeutet in vieler-
lei Hinsicht eine diffuse taktile Information in der Mund- Daneben ist der hygienische Zustand der Zahnbürste
höhle und ermöglicht zudem – analog zu Watteträgern – zu beurteilen, damit es bei einem bereits abwehrge-
keine effektive Entfernung von Plaque. Das Verletzungs- schwächtem Patienten nicht zu einer oralen Keimver-
risiko für den Patienten durch den dabei schnell auszu- schleppung durch die Zahnbürste kommen kann.
lösenden Beißreflex ist hoch. Es kann dabei zum Abbre-
chen der Zähne kommen. ! Vorsicht
Die 7 Plaqueentfernung mit einer Zahnbürste mit
! Vorsicht verbogenen Borsten ist unzureichend und bei Patien-
Metallklemmen und Watteträger gehören nicht zu ten mit einer oralen Hypersensibilität kontraindi-
den alltäglichen Mundhygieneartikeln, mit denen ziert. Die umgeknickten Borsten erzeugen beim
der Patient vor seiner Hirnschädigung die Zähne Einführen in den Mund und beim Putzen kitzelnde,
gereinigt hat und haben somit keinen Wert für das diffuse Wischbewegungen in der Wangeninnenseite
Wiedererkennen der Alltagsaktivität Mundhygiene. und unterhalten die Hypersensibilität mit ihren
Metallklemmen sind bei Patienten mit 7 phasi- bekannten Folgen.
schem Beissen kontraindiziert (Verletzungsgefahr)!

Ein Beißkeil (. Abb. 4.18) wird in der F.O.T.T. nicht einge- Zahnpasta
setzt, denn er führt zu einem ungleich verteiltem Aufbiss Zahnpasta soll mit den beinhaltenden Wirkstoffen wie
beim Kieferschluss. Ein »Aufhebeln« der Kieferöffnung Tensiden (Schaumbildner) und Fluoriden den Reini-
hat auch durch die Druckreizauslösung an den Front- und gungseffekt erhöhen. Aus zahnmedizinischer Sicht sind
Eckzähnen (Rezeptoren des 7 stomatognathen Systems) lediglich die Putzkörper (Abrieb oder Politurwirkung)
ein vermehrtes Beißen zur Folge (Reiber 1992). In Verbin- entscheidend für die Plaqueentfernung (Plagman 1998).
dung mit allen vorbereitenden Maßnahmen und dem Dies haben auch vergleichende klinische und experimen-
Kieferkontrollgriff, kann mit einem weichen, plan gepol- telle Untersuchungen zur Wirkung von 7 Zahnpasten
sterter Spatel als Aufbisshilfe eine gleichmäßigere Druck- auf die Zahnhartsubstanzen und die 7 Gingiva gezeigt
verteilung beim Zubeißen erreicht werden. (Albers et al 1982, Gottschalk und Dassen 2002, Roulet
et al. 1999).
Gebrauchte Zahnbürsten
Gebrauchte Zahnbürsten, die von zu Hause mitgebracht : Beachte
werden, müssen auf ihre Funktionstüchtigkeit überprüft Es ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zur
werden (. Abb. 4.19). Sind die Borsten bereits umge- Verwendung von Wasser als Putzmedium im Vergleich
knickt, ist eine Entfernung der 7 Plaque, insbesondere zur Zahnpasta (Gottschalk und Dassen 2002).
des 7 Interdentalraumes und des Zahnsaumes der 7 Gin-
giva nicht mehr ausreichend möglich (Plagmann 1998). Lediglich der Zeitgewinn,den man bei der Benutzung von
Zahnpasta erreicht, rechtfertigt den Gebrauch. Auch der
Wunsch nach einem frischen Geschmack ist eine Motiva-
tionskomponente bei der Wahl der Zahnpasta.
110 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

! Vorsicht Patienten, damit es zu einer »synergistischen Wirkung«


Bei neurologischen Patienten empfiehlt sich gene- der einzelnen Therapieelemente kommen kann (Bundes-
rell ein eher zurückhaltender Gebrauch mit Zahn- arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 1994).
pasta.Vielfach ist das Ausspucken des schäumenden Neben Organisationsformen und Umgangsregeln ge-
Materials nach dem Putzen nur schwer bis gar nicht hören auch Tätigkeitsbeschreibungen mit Kompetenzre-
möglich. Es besteht die Gefahr der Aspiration von gelungen der verschiedenen Fachdisziplinen zu den per-
Zahnpasta. Das Putzen mit wenig Wasser oder Tee sonellen Voraussetzungen (s. Kap. 9).
ist aus Sicherheitsgründen vorzuziehen. Das F.O.T.T.-Behandlungskonzept ermöglicht jedem
4 Teammitglied und den Angehörigen,verschiedene Schwer-
Kann Zahnpasta verwendet werden, ist auf den 7 Abra- punkte im Tagesablauf des Patienten umzusetzen. So
sionsfaktor (ABR) der Zahncreme zu achten. Bei frei- kann die konkrete Maßnahme der Mundhygiene über
liegenden Zahnhälsen ist ein niedriger ABR unter 30 zu eine gemeinschaftliche und speziell kompetenzorientier-
verwenden. Ein hoher 7 Abrasionsfaktor und eine falsche te Zielsetzung für die einzelnen Teammitglieder definiert
Putztechnik können zu 7 Erosion der Zahnhartsubstanz und realisiert werden.
führen (Plagmann 1998, Roulet et al. 1999).
: Beachte
! Vorsicht Der sorgsame Umgang mit dem Mund als Intim-
Die Verwendung von Zahnpasta ist kontraindiziert: bereich ist von allen Teammitgliedern zu beachten!
4 bei Aspirationsgefahr
4 bei geblockter Trachealkanüle Die festgelegte Vorgehensweise der F.O.T.T.-Mundhygiene
4 bei mangelndem Situationsverständnis für das muss für das ganze Team verbindlich sein. Mit ihrer
Ausspucken von Zahnpasta klaren Struktur hilft sie sowohl dem Patienten, der Hilfe
4 bei senso-motorischer Störungen, die das Aus- benötigt, als auch dem Teammitglied, das die Hilfestel-
spucken und Mundausspülen beeinträchtigen. lung gibt. Patienten mit Überempfindlichkeit im fazio-
oralen Trakt profitieren im besonderen Maße von der ein-
Hilfreiche Alternativen zur Zahnpasta stellen in erster heitlichen und behutsamen Vorgehensweise. Durch die
Linie mehrfach am Tag stattfindende Routine kann die ge-
4 die Putztechnik und meinsame Zielsetzung – die Verbesserung der Berüh-
4 die Putzfrequenz dar. rungstoleranz des Patienten – auf alle Teammitglieder
chancenreich verteilt werden (. Abb. 4.23). In den ver-
Daneben können Mundwasser und Heilkräutertees un- schiedenen Ausgangspositionen sowohl des unselbstän-
terstützend eingesetzt werden. digen Patienten mit 7 Trachealkanüle wie auch des weit-
gehend selbständigen und oral ernährten Patienten kön-
nen die Situationen einfach bis komplex gestaltet werden.
4.5 Mundhygiene – eine multi- Welche Berufsgruppe den jeweiligen Aspekt der
disziplinäre Aufgabe F.O.T.T. schwerpunktmäßig praktiziert, hängt im wesent-
lichen von der Organisationsstruktur der Einrichtung ab.
»Der Mund bietet ausgezeichnete Möglichkeiten Verschiedene Faktoren sind dabei entscheidend für die
zur Stimulation im Rehabilitationsalltag« praktische Umsetzung:
(Coombes 1994). 4 Stellenbeschreibung,
4 Personalkapazität,
Mundhygiene ist eine ursprünglich pflegerische Tätig- 4 Einzel- und Gesamtqualifikation der Mitarbeiter und
keit. Im Rehabilitationsalltag von Hirnverletzten lassen 4 persönliche Schwerpunkte der Mitarbeiter (Gratz
die vielfältigen Probleme und ihr Schwierigkeitsgrad die- 2001).
se alltägliche Routine zu einer multiprofessionellen und
interdisziplinären Zusammenarbeit anwachsen. Die vie-
len Aspekte im Rehabilitationsprozess benötigen eine
gemeinsame Sicht auf die Probleme und Bedürfnisse des
4.5 · Mundhygiene – eine multidisziplinäre Aufgabe
111 4

In den folgenden Abbildungen werden Möglichkeiten und behandelt werden können (Nitschke et al. 2000). Re-
der interdisziplinären Teamarbeit am Therapiezentrum gelmäßige Konsultationen in Alten- und Behindertenhei-
Burgau während der Mundhygiene dargestellt (. Abb. men werden als Bestandteil des Prophylaxeprogrammes
4.20 a–c, 4.21 a–c, 4.22 a–c). in einer Veröffentlichung der bayrischen Landeszahnärz-
Auch zahnärztliche Untersuchungen sollten ein Be- tekammer (Bundeszahnärztekammer 2002) propagiert,
standteil der Maßnahmen in allen Rehabilitationsphasen um die Lebensqualität des einzelnen zu erhalten bzw. wie-
neurologischer Patienten und darüber hinaus sein, damit der zu verbessern.
orale und parodontale Erkrankungen frühzeitig erkannt

a b

. Abb 4.20 a–c. Therapeutische Hilfestellungen.


a Die Pflegende unterstützt die Kieferöffnung mit
dem Kieferkontrollgriff und führt die Mundstimu-
lation durch. Die Ergotherapeutin stabilisiert die
Aufrichtung des Rumpfes und unterstützt die pare-
tische Hand der Patientin beim Halten des Zahnputz-
bechers. b Die Pflegende führt den paretischen Arm
zum Mund und verhilft damit der Patientin beim
Putzen der Kauflächen. Die Ergotherapeutin stabili-
siert dabei die Nackenextension. c Die Pflegende
unterstützt das Abtupfen des Mundes.

c
112 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

a b

. Abb 4.21 a–c. Hilfestellungen beim Zähneputzen. a Mit dem


Rollator angekommen am Waschbecken, um Zähne zu putzen:
Der Physiotherapeut fazilitiert die Gewichtsübernahme auf das
paretische Bein des Patienten und hilft ihm beim Abstellen des
Zahnputzbechers auf den Beckenrand. b Während der Patient
selbständig die Zähne putzt, fazilitiert der Physiotherapeut mit Hilfe
der stabilen Lagerungselemente die Hüft- und Knieextension.
Die paretische Hand wurde auf dem Beckenrand platziert. c Das
Umfassen und Halten des Zahnputzbechers mit der paretischen
Hand wird fazilitiert

c
4.6 · Angehörigenarbeit – eine individuelle Prozessbegleitung
113 4
Æ
. Abb 4.22 a–c. Nach dem Zähneputzen. a, b Die Sprachtherapeutin
erarbeitet mit dem Patienten das Benennen von Gegenständen zur
Mundhygiene. c Beim Lesen der Sätze kann die paretische Hand geführt
mit eingesetzt werden

4.6 Angehörigenarbeit – eine individuelle


Prozessbegleitung

»Die Genesung des hirnverletzten Patienten schließt fast a


immer eine erfolgreiche Arbeit mit der Familie ein. Die
Angehörigen arbeiten eng mit dem Team zusammen.
Wenn sie ermutigt werden, auf therapeutische Art und
Weise mitzuhelfen, können sie viele Entscheidungen für
die Zukunft und zu jeder Therapie ihre Zustimmung
geben. Deshalb müssen sie gut informiert sein.«
(Davies 1995)

Viele Angehörige gehen vom ersten Tag an mit ihrem Pa-


tienten den Weg der Rehabilitation. Studien zeigen, dass
die Anleitung von Angehörigen ein essentieller Bestand-
teil der Rehabilitation ist (Zasler et al. 1993). Darin liegen
viele Möglichkeiten und Chancen,aber auch Gefahren.Da
die Angehörigen gleichermaßen Mitbetroffene sind, kön-
nen ihre Krisenreaktionen denen einer Trauerbewälti-
gung gleichen.Auch sie bedürfen ggf. der psychosozialen b
Unterstützung durch Fachmitglieder des Reha-Teams.
Bei fehlender Prozessbegleitung wird die »Wahrheits-
Entdeckung« (Schuchardt 2002) unverhältnismäßig lange
hinausgeschoben. Die Berater sollen sich der »Spiralför-
migkeit« der Verarbeitungsphasen bewusst sein. Diese
Phasen können nebeneinander und miteinander existie-
ren und sind individuell von unterschiedlich langer Dau-
er (Heusler und Heinz 2001). Nur das Akzeptieren der
Situation kann eine Bereitschaft für ihre Neugestaltung
initialisieren (Schuchardt 2002). Die Erwartungshaltung
der Angehörigen bezüglich der Genesung des Patienten
kann sich mit Hilfe einer intensiven und kontinuierlichen
Begleitung durch das Rehabilitationsteam realistisch ent-
wickeln, wobei das Team die Möglichkeiten und Grenzen
der Angehörigen sorgfältig einschätzen muss.
c
114 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

. Abb. 4.23. F.O.T.T. interdisziplinär im Tagesablauf

4.6.1 Prozessbegleitung
Übersicht 4.4: Anleitung der Angehörigen
Eine kompetente Angehörigenanleitung versteht sich als 1. Anwesenheit
Prozessbegleitung und besitzt i. d. R. eine didaktische Die Anwesenheit des Angehörigen in der Therapie
Lernstruktur, die sich individuell modifizieren lässt. Eine und während der pflegerischen Maßnahmen ge-
stufenweise Steigerung der Aufgaben bezogen auf die ben die Möglichkeit erste Funktionen, aber auch
pflegerisch-therapeutischen Zielsetzungen ist beabsich- Grenzen des Patienten zu erleben. Dies soll und
tigt, um längerfristig die co-therapeutische Kompetenz kann eine Art erste Vermittlung von Sicherheit
der Angehörigen für eine selbständige Übernahme indi- durch den professionellen Umgang mit der Situa-
vidueller Pflegemaßnahmen zu ermöglichen. tion und dem Erleben von situationsbezogener
In der F.O.T.T. gehören verschiedene Inhalte in die Problemlösung geben.
prozessbegleitende Angehörigenanleitung und ermög- 6
lichen dem Angehörigen einen individuellen Lernpro-
zess. Sie sind in . Übersicht 4.4 dargestellt.
4.6 · Angehörigenarbeit – eine individuelle Prozessbegleitung
115 4

2. Information dauerhaft zufriedenstellende und sichere Situation


Zum Verständnis der therapeutischen Maßnah- zu ermöglichen. Informationen u. a. über Lage-
men und Zielsetzungen werden Gespräche ange- rungstechniken sowie Hilfestellungen für konkrete
setzt, in denen zusätzlich Medien wie Abbildungen, Situationen im Alltag werden formuliert und be-
Modelle, und Videos eingesetzt werden können, sprochen.
um offene Fragen zu klären. Die Medienauswahl
wird dabei individuell auf den Angehörigen abge-
stimmt. Können die Angehörigen das Wissen im Umgang mit dem
Patienten weitgehend umsetzen, ist die Anleitung abge-
3. Selbsterfahrung
schlossen. Die Prozessbegleitung kann im Idealfall bis in
Zum weiteren Verständnis und zum Erlernen des
die ambulante Weiterbehandlung weitergeführt werden.
Handlings mit dem Patienten, vermitteln Selbster-
Die Vermittlung von Kontakten zu weiterführenden
fahrungen spürbare, mehrdimensionale Lernerfah-
ambulanten Therapeuten, zu anderen Angehörigen oder
rungen. Selbsterfahrungen sind ein wesentlicher
Selbsthilfegruppen ist eine weitere Aufgabenstellung des
Bestandteil in der Problemdarstellung und verhel-
Rehabilitationsteams.
fen zum Verstehen von Rehabilitationsmaßnah-
men. Sie sind eine essentielle Voraussetzung für die
co-therapeutische Tätigkeit des Angehörigen im 4.6.2 Angehörigenanleitung
Verlauf der Rehabilitation. am Beispiel Mundhygiene
4. Praktische Anleitung
Nach der Selbsterfahrung wird das Handling direkt Signalisieren die Angehörigen Bereitschaft bei den Reha-
am Patienten geübt. Die neu erworbenen Fertig- bilitationsmaßnahmen mitzumachen, kann die Durch-
keiten werden dabei zuerst am Anleiter (Therapeu- führung der Mundhygiene ein guter Einstieg dazu sein.
tin/Pflegende) geübt. Anschließend praktiziert der In der Anleitung müssen prozessbegleitend die (Albers et
Angehörige unter der Supervision des Anleiters am al. 1982, Gottschalk und Dassen 2002, Roulet et al. 1999)
Patienten. Wertigkeit der Aufgaben vermittelt werden. Die Angehö-
rigen müssen die Folgen der Schädigungen verstehen
5. Erlernen von Notfallmaßnahmen lernen. Dies bedeutet hier z. B. dass ihr Patient auf Hilfe
Der Umgang mit Notfallsituationen, das Erkennen angewiesen ist, sich die Zähne nicht selber putzen kann,
und Wissen um die Art möglicher Notfälle (z. B.Ver- eine (ev. sogar lebensbedrohliche) Schluckstörung hat,
schlucken, Erbrechen, Beißen) ist ein unerlässlicher die das gewohnte normale Essen und Trinken für lange
Teil der Anleitung. Auch hier wird mit den Angehö- Zeit verbietet.
rigen in einzelnen Schritten die Vorgehensweise Die Vorgehensweise bei der Mundhygiene und das
und die dazugehörigen Maßnahmen theoretisch schrittweise Erlernen von Hilfestellungen können im
und anschließend praktisch erarbeitet, so dass sich Rahmen einzelner pflegerisch-therapeutischer Maßnah-
Sicherheit durch Kompetenz etablieren kann. men erarbeitet werden. Dies beinhaltet zwangsläufig
Notfallsituationen müssen vor dem ersten Ta- auch
ges-/Wochenendaufenthalt des Patienten zu Hause 4 den Umgang mit notwendigen Hilfsmitteln,
von den Angehörigen erkannt werden können und 4 den Erwerb einer Notfallkompetenz und
helfende Maßnahmen geübt worden sein. 4 das Erkennen von Sekundärproblemen, um entspre-
chende Maßnahmen später eigenständig einleiten zu
6. Erstellung eines Heimprogramms können.
Bei der Erstellung eines Heimprogramms gilt es die
Stärken und Ressourcen des Patienten und seiner Die . Abbildungen 4.24 a–g zeigen exemplarisch die An-
Angehörigen in Bezug zueinander zu setzen, um leitung der Ehefrau eines Patienten während eines statio-
dem Patienten in seinem sozialen Umfeld eine nären Aufenthaltes.
6
116 Kapitel 4 · Mundhygiene in der F.O.T.T.: therapeutisch – strukturiert – regelmäßig

a b

c d

. Abb 4.24 a–g. Angehörigenanleitung. a Die Ehefrau des Patienten


zeigt, wie sie die Mundpflege bei ihrem Mann zu Hause durchführt.
Der Kopf bleibt dabei unkorrigiert in einer für die oralen und pharyn-
gealen Bewegungen nicht hilfreichen Position. b Die Ergotherapeutin
demonstriert die Vorgehensweise und das Fazilitieren der Mundöff-
nung. c Lernen durch Selbsterfahrung: Die Ehefrau des Patienten spürt
den Kieferkontrollgriff und die Korrektur des Nackens durch die Thera-
peutin. d Das anschließende Üben an der Therapeutin ermöglicht
hilfreiche Rückmeldungen zum neuerlernten Handling zu geben.
e Beim erneuten Zähneputzen wird das neu gelernte angewendet.
Die Therapeutin gibt dabei noch Hilfestellung.

e
Literatur
117 4

: Beachte
Angehörige sind immer auch Mitbetroffene und
müssen zu Beginn des Rehabilitationsprozesses in
ihren Phasen der Verarbeitung begleitet werden. Eine
fachgerechte Informationsweitergabe ist eher als
Prozessbegleitung mit stetem Informationsabgleich,
Diskussionen über gewonnene Einsichten bezogen
auf das Ziel und die Maßnahmen anzusehen. Auch die
Anleitung von Angehörigen muss vom ganzen Reha-
bilitationsteam getragen werden.
Eine zufriedenstellende Wiedereingliederung des
Patienten in sein häusliches Umfeld kann nur unter
der Berücksichtigung aller fachlichen, sozialen
f
und ethischen Aspekte erreicht werden.

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5

Atmung und Stimme:


wieder sprechen…
Silke Kalkhof und Margaret Walker

5.1 Atmung – 120


5.1.1 Zentrale Steuerung der Atmung – 120
5.1.2 Aspekte aus Anatomie und Physiologie – 121

5.2 Atem-Schluck-Koordination – 123

5.3 Stimme – 124


5.3.1 Zentrale Steuerung der Stimmgebung – 125
5.3.2 Aspekte aus Anatomie und Physiologie – 125

5.4 Einfluss von Körperhaltung und Muskeltonus – 127

5.5 Grundsätzliche Überlegungen


und Behandlungsprinzipien in der F.O.T.T. – 128

5.6 Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigung


und einige Lösungsansätze – 130
5.6.1 Zentrale Störungen der Atmung – 130
5.6.2 Probleme mit Haltung und Bewegung – 130
5.6.3 Weitere Probleme, die die Atmung beeinflussen – 132
5.6.4 Auswirkungen pathologischer Atmung auf Stimme
und Sprechen – 135

5.7 Ausgangsstellungen für die Behandlung – 140

Literatur – 145
120 Kapitel 5 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …

Die Fähigkeit zu sprechen ist allein Menschen gegeben. Im Säuglingsalter ist die Atem-Stimm-Koordination noch
Durch Atmung und Stimmgebung (Phonation) können wir nicht ausgereift.Säuglinge produzieren Stimme – schreien
neben anderen Faktoren wie Artikulation und Kognition – z. T. inspiratorisch, d. h. bei Einatmung, und sind noch
miteinander in sozialen Kontakt treten. So können Wün- nicht in der Lage, willkürlich die Luft anzuhalten. Die
sche, Bedürfnisse, Ängste mitgeteilt oder differenzierte Ge- typische »Schreiatmung« ist durch eine kurze und tiefe
danken über verschiedene Themen ausgetauscht werden. Einatmung durch den Mund und eine langanhaltende
Dies ist für die Kommunikation besonders wichtig. Ausatmungsphase gekennzeichnet (Wendler u. Seidner
Sprechen scheint so einfach zu sein. Erst das Fehlen 1987). Die Kontrolle über Atmung und Stimmgebung –
bzw. die Einschränkung dieser kommunikativen Möglich- und somit die Möglichkeit, Bedürfnisse auszudrücken
keit, die bis hin zur sozialen Isolation führen kann, macht und zu kommunizieren – entwickelt sich im Laufe der
5 uns dies bewusst. Deshalb hat die Rehabilitation von At- Zeit mit zunehmender Reifung und der selektiven Bewe-
mung und Stimme – und in Folge von Sprechen – in der gungsentwicklung. Der individuelle Atemrhythmus und
F.O.T.T. einen großen Stellenwert. Eine fazio-orale Therapie die für das Sprechen und Singen notwendige Atemstütze
darf nicht nur auf den Gesichts- und Mundbereich und verändern und entwickeln sich mit der physiologischen
den Schluckvorgang beschränkt bleiben. Die Funktionen Sprach- und Sprechentwicklung. Aufgrund des Wachs-
Atmung, Schlucken und Stimmgebung sind eng mitein- tums werden das Lungenvolumen (Atemkapazität) und
ander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Eine dadurch bedingt auch die Dauer der Ein- und Ausat-
ökonomische Arbeitsweise ist nur koordiniert möglich. mungsphase immer größer. Frauen haben i. d. R. ein klei-
In der therapeutischen Arbeit erfahren wir die Komple- neres Lungenvolumen als Männer.
xität des Zusammenspiels,wieviele Muskeln zusammenar-
beiten und wieviel Koordination notwendig ist, um Stimme
zu produzieren und Worte verständlich zu artikulieren. So 5.1.1 Zentrale Steuerung der Atmung
gehört zur ganzheitlichen Diagnostik und Therapie der
F.O.T.T. die Arbeit an der Verbesserung der Haltung, der To- Die Atmung wird vom Atemzentrum in der Pons und der
nusverhältnisse, der motorischen und sensiblen Gegeben- Medulla oblongata gesteuert. Dehnungsrezeptoren geben
heiten des Gesichts- und Mundbereiches auch die Arbeit an Informationen von der Lunge ans Gehirn weiter, Mecha-
Atmung, Stimmgebung und Sprechen. In diesem Kapitel norezeptoren geben die Informationen von allen Atem-
werden typische Probleme schwer betroffener Patienten muskeln weiter und Chemorezeptoren registrieren den
und Behandlungsansätze fokusiert. ph-Wert, den Kohlensäure- und Sauerstoffpartialdruck
im Blut. Das Atemzentrum verarbeitet diese verschiede-
nen afferenten Reize aus dem Organismus und leitet dann
5.1 Atmung efferente Impulse zur gesamten an der Atmung beteiligten
Muskulatur zurück und koordiniert ihre Bewegungen
Nach der Geburt eines Babys entfalten sich die Lungen. (Siemon et al.1996).Während der Einatmung leiten die in-
Der erste Atemzug, der erste Schrei setzt ein, wenn die spiratorischen Neurone Impulse weiter und die exspirato-
Haut des Kindes mit der Luft in Kontakt kommt. Der Me- rischen Neurone sind gehemmt (reziproke Innervation).
chanismus der Atmung wird ausgelöst. In . Übersicht 5.1 Exspiratorische Neurone innervieren die Ausatemmus-
werden die drei wichtigen Aufgaben der Atmung genannt. kulatur nur bei forcierter (aktiver) Ausatmung (Husten,
Sprechen etc.).
Es gibt einen autonomen Grundrhythmus, der durch
Übersicht 5.1: Aufgaben der Atmung verschiedene Komponenten wie Angst, Trauer, unge-
4 Lebensnotwendiger Gasaustausch wohnte Sprechsituation (limbisches System) etc. verän-
4 Schutz der unteren Atemwege dert werden kann (dies geschieht unbewusst).Eine Verän-
4 Stimmgebung derung der Atmung spüren wir, wenn wir emotional er-
regt sind oder wenn wir unseren Körper stärker belasten
wie z. B. beim Treppen steigen. Die Atmung verändert
sich dann aufgrund des erhöhten Sauerstoffbedarfes. Das
5.1 · Atmung
121 5

Atemsystem reagiert also auf emotionale und physische


Gegebenheiten eines Menschen. Übersicht 5.2: Atemtypen
4 Brustatmung
: Beachte (Thorakal- oder Kostalatmung)
Die Atmung ist ein automatischer Prozess, der Hier vergrößert sich der Brustraum überwie-
unbewusst geschieht. Sie ist aber auch willkürlich gend durch die Veränderung der Rippenstel-
beeinfluss- und veränderbar. lung (die Flankenatmung ist ein Teil dieses
Atemtyps).
Die Atmung ist zum Teil willkürlich beeinflussbar, sie 4 Zwerchfellatmung
kann bewusst gemacht werden. Da auch Nervenbahnen (Bauch- oder Abdominalatmung)
von höheren Gehirnregionen einschließlich des Kortex Hier vergrößert sich der Brustraum über-
zum Atemzentrum ziehen, kann die automatische At- wiegend durch die Senkung des Zwerchfells.
mung zu jedem Zeitpunkt willkürlich unterbrochen wer- 4 Mischatmung
den (Schultz-Coulon 2000). (Kosto-abdominale Atmung)
Physiologisch gesehen ist diese Kombination
(aus Brust- und Bauchatmung) der günstigste
5.1.2 Aspekte aus Anatomie und Physiologie Atemtyp.

Beim Einatmen gelangt die Luft über die Nase oder den
Mund in den Rachen und über den Kehlkopf, die Luftröh- Bei der Sprechatmung geht der größere Anteil der Aus-
re und die Bronchien in die Lunge und deren Lungen- atemluft durch den Mund, ein kleinerer Teil bei der Bil-
bläschen. Dort findet der Gasaustausch statt. Sauerstoff dung von Nasallauten durch die Nase. Die Einatmung ver-
gelangt mit der eingeatmeten Luft ins Blut und Kohlen- tieft sich und beim Ausatmen kommt es darauf an,mit der
dioxid vom Blut in die auszuatmende Luft. Luft hauszuhalten,d. h.die Luft muss dosiert und kontrol-
Die Ruheatmung (Ein- und Ausatmung durch die liert abgegeben werden. Kontrolle bedeutet, dass der
Nase ohne Stimmgebung) besteht aus drei Phasen: Ein- Atem willkürlich angehalten und danach weiterströmen
atmung, Ausatmung und Atempause. Das Ein- und Aus- kann. Das Verhältnis von Ein- und Ausatmung beträgt ca.
atemverhältnis beträgt ca. 1:1. Nach der Ausatmung ent- 1:10 oder mehr.
steht eine kurze Atempause, ein kurzes Verharren der
Atembewegung, bis zum erneuten Impuls zur Einatmung : Beachte
(wird durch die Konzentration von CO2 im Blut gesteuert). Bei einem gesunden Erwachsenen beträgt die
Tonhaltedauer ca. 15–20 Sekunden.
: Beachte
Die Atemfrequenz eines Neugeborenen beträgt ca. 50 Beim Sprechen, aber besonders beim Singen ist die Atem-
Atemzüge pro Minute. In den darauffolgenden Jahren stütze von Bedeutung. Da beim Sprechen und Singen län-
nimmt die Atemfrequenz langsam ab. Bei Jugend- gere und langsamere Luftabgabe erforderlich ist, wird bei
lichen und Erwachsenen beträgt die Atemfrequenz der Ausatmung kurzzeitig noch die 7 Inspirationsmus-
ca. 15 Atemzüge pro Minute. Jeder Mensch hat seine kulatur aktiviert, so dass der Brustraum bei der Ausat-
eigene charakteristische, individuelle Atmung. mung anfänglich noch erweitert bleibt und so die Luft
noch langsamer wieder ausströmen kann (Fiukowski
Man kann verschiedene Atemtypen unterscheiden (. Über- 1992).
sicht 5.2).
122 Kapitel 5 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …

Einatmung Bauchwand etwas vor,da die Bauchorgane vom Zwerchfell


Wichtigster Einatemmuskel ist das Zwerchfell (. Abb. 5.1). verdrängt werden.
In . Übersicht 5.3 sind die Funktionen des Zwerch-
fells zusammengefasst. : Beachte
Für eine effiziente Arbeitsweise des Zwerchfells
spielen die Stellung der Rippen und der Tonus der
Übersicht 5.3: Funktionen des Zwerchfells Rumpfmuskulatur eine wichtige Rolle (s. Abschn. 5.4).
4 Trennung des Brustraumes vom Bauchraum
4 Atmung (auch Spezialformen Weitere Atemmuskulatur für die Einatmung ist die exter-
der Ausatmung) ne interkostale Muskulatur (Ehrenberg 1997; Spiecker-
5 4 Mobilisation des Thoraxbereiches Hencke 1997). Die Lunge folgt der Bewegung der Thorax-
4 Druckgradient: wichtigste venöse, wand und der Querdurchmesser sowie das Brustraumvo-
lymphatische Pumpe lumen vergrößern sich. Die Funktion der externen Inter-
4 Einfluss auf N. vagus, N. phrenicus kostalmuskulatur ist jedoch in der Literatur umstritten.
4 Unterstützt den Vorgang des Erbrechens Andere Autoren sehen diese Muskeln nicht als reguläre
Einatemmuskeln an (Bunch 1997).
In bestimmten Situationen (Sauerstoffmangel, Höchst-
Folgende physiologische Bewegungen vollziehen sich leistung) wird auf die Atemhilfsmuskulatur (. Abb. 5.2)
beim kosto-abdominalen Atemtyp: zurückgegriffen. Dazu gehören u. a. die Muskeln Mm.
Nach einem Ausatemvorgang ist das Zwerchfell, dass pectoralis major und minor, Mm. sternocleidomastoi-
an der Wirbelsäule,am Brustbein (Sternum) sowie an den deus, Mm. serrati und Mm. scaleni. Diese bewirken ein
letzten drei Rippen ansetzt, entspannt. Bei der erneuten Heben des Brustkorbes (Schultz-Coulon 2000).
Einatmung kontrahiert die Zwerchfellmuskulatur und
das Zwerchfell senkt sich. Das Volumen des Brustraumes Ausatmung
vergrößert sich nach unten, wobei ein Unterdruck in der Bei der Ausatmung in Ruhe entspannt sich das Zwerchfell
Lunge ensteht, so dass Luft in die Lungen einströmen wieder und hebt sich. Die elastischen Rückstellkräfte von
kann. Mit der Senkung des Zwerchfells wölbt sich die Lunge und Rippen und das Eigengewicht des Brustkorbes

. Abb. 5.1. Zwerchfell


Herz
rechte
Zwerchfellkuppel
Centrum tendineum

Rippenbogen
Brusthöhle
Bewegungsrichtung
bei Einatmung
Pars lumbalis
des Zwerchfells linke
Zwerchfellkuppel

Aorta
12. Rippe
Hiatus oesophageus
M. transversus
abdominis schräge Bauch-
muskeln
M. quadratus
lumborum Crista iliaca
M. psoas major
Wirbelsäule
5.2 · Atem-Schluck-Koordination
123 5

bewirken, dass in der Lunge ein Überdruck entsteht und Die Bauchmuskulatur wird besonders beim Husten (na-
die verbrauchte Luft ausgeatmet wird. Das Volumen des türliche Reinigungsfunktion für den Kehlkopf) einge-
Brustraumes verkleinert sich (Ehrenberg 1997). Dies wird setzt. Ein zeitgleiches Zusammenspiel der Muskulatur ist
durch das Eigengewicht des Brustkorbes unterstützt. dafür notwendig (Bauchpresse).
Die Phase der Ausatmung in Ruhe ist ein passiver Pro-
zess, da keine Muskeln 7 konzentrisch aktiv sind, d. h. es
findet keine aktive Verkürzung der Muskulatur gegen die 5.2 Atem-Schluck-Koordination
Schwerkraft statt. Die Einatemmuskulatur muss jedoch
7 exzentrisch nachlassen, d. h. die Muskeln verlängern Ein Vorgang, der den Atemrhythmus beeinflusst bzw.
sich aktiv mit der Schwerkraft. unterbricht, ist der Schluckvorgang. Zu Beginn der pha-
Für die forcierte Ausatmung beim Sprechen – ein ryngealen Phase des Schluckvorganges werden die Kehl-
aktiver Prozess – und bei größerer Anstrengung sind die kopfstrukturen nach oben und vorne unter den Mundbo-
Mm. intercostalis interni mitverantwortlich (dies ist in den gezogen. Gleichzeitig nähern sich die Stimmlippen
der Literatur ebenso umstritten, s. Bunch 1997). Sie bewir- und Taschenfalten einander an bzw. verschließen die
ken eine Senkung der Rippen und des Sternums, so dass Glottis und der Kehldeckel kippt über den Larynxein-
der Brustraumdurchmesser verkleinert wird. gang. Damit sind die unteren Atemwege geschützt und
Zu den weiteren Ausatemhilfsmuskeln zählen die der Atemvorgang wird gestoppt. Der Schub der Zungen-
äußeren und inneren schrägen Bauchmuskeln sowie die basis und die peristaltische Pharynxwelle können den
geraden Bauchmuskeln. Wenn sie kontrahieren, werden Bolus in Richtung Ösophagus treiben.
die Bauchorgane zurückgedrängt und damit wird das
Zwerchfell nach oben verlagert (Schultz-Coulon 2000). > Exkurs
Dies hat zur Folge, dass sich der Brustraum verkleinert. Koordinationsmuster
Verschiedene Autoren beschreiben ein Koordinations-
: Beachte muster zwischen Atem- und Schluckvorgang (Selley et
Spezielle Formen der forcierten Ausatmung sind: al. 1989; Smith et al. 1989). In diesen Studien differieren
Husten, Niesen, Räuspern, Lachen,Weinen die Aussagen über die Phase vor dem Atemstopp.
und Seufzen. 6

. Abb. 5.2. Atemmuskulatur Atlas


M. sternocleidomastoide
und Atemhilfsmuskulatur Axis
M. scaleni
Manubrium sterni
Corpus sterni Sternum
Proc. xiphoideus

1. Rippe

Mm. intercostales
Mm. intercostales externi
interni

Rippenknorpel
BW 10
Rippenbogen
BW 11

BW 12

LW 1 12. Rippe
LW 2
124 Kapitel 5 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …

Bei einigen der Versuchspersonen (Selley et al. 1989) Schreie drücken durch Klangveränderung der Stimme
war der physiologische Rhythmus Einatmung – Atem- Wünsche oder Reaktionen auf Hunger, Durst, allein sein,
stopp/Schlucken – Ausatmung. In anderen Studien Kälte u. ä. aus. Analog dazu entwickelt sich auch die an-
(Klahn et al. 1999; Martin et al. 1994) wurde beobach- fänglich spontane Mimik (Ausdrucksbewegungen im Ge-
tet, dass bei den meisten Versuchspersonen die sicht ohne bekannten Anlass) hin zur reaktiven Mimik
Exspirationsphase bereits eingesetzt hat, wenn (Herzka 1979). Dies eröffnet erste Möglichkeiten, die non-
die Atemunterbrechung für den Schluckvorgang verbale Kontaktaufnahme mit der Umwelt oder die
erfolgt (Klahn et al. 1999). stimmlich ausgedrückten Bedürfnisse zu unterstützen.
In der Studie von Martin et al. (1994) wurde ge- Im Rahmen der ersten motorischen Streckphase mit
zeigt, dass der Atemstopp vor der laryngealen Eleva- zunehmender Nackenstreckung entwickeln sich auch die
5 tion einsetzt. Die Atmung wird dabei nicht einfach nur Sprechorgane weiter. Es folgt die Lallperiode, in der erst-
unterbrochen. Durch verschiedene sensorische Inputs, malig die Sprechorgane (als Vorbereitung zum späteren
die auch über das Schluckreflexzentrum geleitet Sprechen) gebraucht werden. Vokale und Konsonanten
werden, wird in der Regel ein neues Atemmuster – bis hin zu sogenannten Lallmonologen werden produ-
Ausatmen nach dem Atemstopp – initiiert ziert. Alle Kinder lallen zunächst unspezifische Laute.
(Selley et al. 1989). So ist ein Schutz der Atemwege Mit voranschreitender Entwicklung ahmen die Kinder
am besten möglich. nur noch Laute und klangliche Elemente aus ihrer Umge-
bung (Sprachregion) nach. Dabei wird die Stimmbildung
i Praxistipp melodischer und rhythmischer (Wendler u. Seidner
Werden Speichel oder Nahrung penetriert oder 1987).
aspiriert, erfolgt eine Reinigung der Atemwege
durch anschließendes Husten (bei Ausatmung). : Beachte
Das darauffolgende physiologische Nachschlucken Im Laufe der Entwicklung wächst der Mensch und
verhindert, dass das hochgehustete Material somit auch der Kehlkopf und seine Strukturen. Der
wieder in die Luftröhre gelangt. Kehlkopf senkt sich, die Stimmlippen werden länger
und kräftiger. Die Sprechstimmlage senkt sich weiter
Weiterhin wurde festgestellt, dass bei älteren Menschen ab und die Stimmumfänge werden größer.
der Atemstopp etwas länger dauert als bei jüngeren Men-
schen (Selley et al.1989).Hiss et al.(2001) stellten fest,dass Eine besondere Form der Wandlung von der kindlichen
Frauen einen längeren Atemstopp als Männer haben und zur erwachsenen Stimme stellt die Mutation (Stimm-
dass die Größe des Bolus Auswirkung auf die Dauer des bruch) während der beginnenden Geschlechtsreife dar.
Atemstopps hat – je größer das Bolusvolumen desto län- Die Mutation beginnt zwischen dem 11.und 12.Lebensjahr
ger der Atemstopp. und ist bei Jungen wesentlich deutlicher vernehmbar als
bei Mädchen. Ursache ist der veränderte Hormonhaus-
halt, durch den sich die Stimmlippen verändern (Verbrei-
5.3 Stimme terung, Verlängerung, Massenzunahme). Außerdem tritt
der Kehlkopf tiefer. Die Sprechstimmlage sinkt um ca.
Mit dem ersten Schrei des Babys nach der Geburt beginnt eine Oktave.
die Stimmentwicklung.Dieser Schrei wird in der Literatur
mit ca. 440 Hz (Kammerton a) angegeben. : Beachte
Im Verlaufe der Entwicklung des Säuglings werden Der Stimmumfang bei Erwachsenen
verschiedene Schreiperioden unterschieden. Die erste beträgt etwas weniger als zwei Oktaven
Schreiperiode (in der ersten Beugephase) ist von unspezi- (Biesalski 1994).
fischen Reflexschreien mit weichen Stimmeinsätzen ge-
kennzeichnet und der Stimmumfang nimmt zu. Die Stimmen von Sängern haben den größten (antrai-
In der zweiten Schreiperiode werden schon »Lust- nierten) Stimmumfang. Bei Menschen, die einen Sprech-
schreie« (weicher Stimmeinsatz) von »Unlustschreien« oder Sängerberuf haben, ist die Stimmhygiene besonders
(harter Stimmeinsatz) unterschieden (Wirth 1995). Diese wichtig. Dazu ist eine besondere Stimmausbildung zum
5.3 · Stimme
125 5

physiologischen Gebrauch der Stimme (Achten auf Hal- 5.3.2 Aspekte aus Anatomie und Physiologie
tung, Einsetzen der Atemstütze usw.) wichtig.
Jeder Mensch hat seinen eigenen individuellen Der Kehlkopf sitzt am oberen Ende der Luftröhre
Stimmklang (Timbre). Er ist Teil unserer Identität. Mit At- (. Abb. 5.3). Das Grundgerüst wird aus dem Schild- und
mung und Phonation verändern wir den Klang der Wor- dem Ringknorpel sowie den Stellknorpeln gebildet, die
te; wir können den Äußerungen einen ruhigen oder aber alle durch Bänder, Muskeln und Membranen miteinander
eine drohenden Charakter geben. Hierbei spielen auch verbunden sind. Ring- und Schildknorpel können gegen-
die durch Atmung und Stimmgebung erzeugten und kon- einander gekippt werden. Diese Kippung bewirkt der M.
trollierten 7 prosodischen Elemente wie Tonhöhe, Laut- cricothyreoideus, der die beiden Knorpel miteinander
stärke, Akzentuierung u. a. eine wesentliche Rolle. verbindet. Auf der Ringknorpelplatte gegenüber dem
Im Alter finden Abbauprozesse im Körper statt. Kehl- Schildknorpel sitzen die beiden Stellknorpel (Aryknor-
kopf und Stimmklang sind davon betroffen. Ein wesent- pel), die die Form von kleinen Pyramiden haben (Wirth
licher Faktor sind hormonelle Veränderungen (Wendler u. 1995).
Seidner 1987). Es kann zu einer zunehmenden Verknö- Am Processus vocalis der Aryknorpel und an der
cherung des Kehlkopfes mit dem daraus resultierenden gegenüberliegenden Mitte des Schildknorpels setzen die
Elastizitätsverlust der Gelenke kommen (beginnend Stimmlippen an. Diese sind das eigentliche stimmbilden-
allerdings schon ca. mit dem 15. Lebensjahr). Weiterhin de Organ. Die Stimmlippen setzen sich aus dem inneren
können die Stimmlippen atrophieren und die Schleim- Teil des M. thyreoarytaenoideus (dem M. vocalis) und
haut kann sich verändern. Durch Muskelerschlaffung dem Stimmband (Ligamentum vocale) zusammen. Der
senkt sich der Kehlkopf und die Artikulationsräume er- Stimmlippenspalt zwischen den beiden Stimmlippen
weitern sich.Aus diesen Umbauprozessen ergibt sich eine wird Glottis genannt.
Senkung der Sprechstimmlage bei Frauen sowie eine Ver- Die paarig angelegten Muskeln müssen alle koordi-
änderung des Stimmklanges (nicht obligatorisch). Der niert und in einem angepassten Tonus zusammenarbei-
Stimmumfang wird wieder geringer. Beim Sprechen kann ten, um ein effektives Atmen, Schlucken und eine effizien-
die Stimme schneller ermüden (Wendler u. Seidner 1987). te Stimmgebung zu ermöglichen.

: Beachte Stimmgebung
Die Abbauprozesse im Alter können auch Die Stimmgebung wird durch die Stimmlippenschwin-
die Schlucksequenz beeinflussen. gung erzeugt. Diese entsteht durch aerodynamische und
myoelastische Kräfte. Um die Stimmlippen zum Schwin-
gen zu bringen, muss bei geschlossener Glottis ein sub-
5.3.1 Zentrale Steuerung der Stimmgebung glottischer Anblasedruck, den die Atemmuskulatur pro-
duziert, aufgebaut werden.
Die gesamte Kehlkopfmuskulatur wird vom N. Vagus, Die Stimmlippenspannung ist entscheidend dafür,
dem X. Hirnnerv, innerviert. Die innere Kehlkopfmusku- wann die Phonationsluft die Stimmlippen nach oben und
latur wird motorisch vom N. laryngeus inferior (abzwei- seitlich drückt, so dass sich die Glottis öffnet (Spiecker-
gend vom N. laryngeus recurrens) und die obere Kehl- Henke 1997) und die Luft entweichen kann. Damit sinkt
kopfschleimhaut bis zu den Stimmlippen sensibel vom N. der Druck und die Stimmlippen schließen wieder (eine
laryngeus superior versorgt. Der N. laryngeus superior Schwingung). Dann wird sofort erneuter subglottischer
versorgt noch den M. cricothyreoideus und weitere Mus- Druck aufgebaut usw.. So kann bei der Phonation die
keln motorisch.Die Schleimhaut des subglottischen Berei- Ausatemluft dosiert und kontrolliert werden. Das Stimm-
ches wird vom N. laryngeus inferior sensibel versorgt band (Schleimhaut) ist mit dem Stimmlippenmuskel nur
(Wirth 1995). locker verbunden und führt während des Schwingungs-
vorganges eine eigene Bewegung aus. Diese wird als
Randkantenverschiebung bezeichnet (Spiecker-Henke
1997).
126 Kapitel 5 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …

. Abb 5.3 a,b. Kehlkopfansichten,


Ansicht von dorsal, Ansicht von kranial

5 a

: Beachte Jeder Mensch hat seine eigene physiologische Sprech-


Die Tonhöhe wird durch die Spannung stimmlage (Indifferenzlage). Das ist der Tonbereich des
der Stimmlippen erzeugt. Stimmumfanges, der mit dem geringsten Kraftaufwand
für die gesamte Kehlkopfmuskulatur und mit dem ge-
Schwingen die Stimmlippen in voller Länge und sind ringsten Atemdruck erzeugt wird. Dieser Bereich liegt in
entspannt, wird ein tiefer Ton produziert. Je mehr Span- den unteren zwei Dritteln des gesamten Sprechbereiches
nung die Stimmlippen haben, desto höher wird der pro- des jeweiligen Menschen (Fiukowski 1992).
duzierte Ton. Die Lautstärke der Töne ist von den Schwingungsam-
Dazu sind verschiedene Mechanismen notwendig: plituden der Stimmlippen abhängig. Je größer der sub-
u. a. bewirkt die Kippung des Schildknorpels eine Verlän- glottische Anblasedruck ist, desto höher ist die Schwin-
gerung und damit passive Spannung der Stimmlippen. gungsamplitude und damit die Lautstärke.
Weiterhin werden durch die Aktivität der Zopfmuskulatur
des M. vocalis (isometrische Kontraktion) die Stimm- : Beachte
lippen schmaler (Massenabnahme).Bei höher werdenden Die Lautstärke wird durch die Höhe des
Tönen steigt die Zahl der Schwingungen (Wirth 1995). Bei subglottischen Anblasedrucks bestimmt.
sehr hohen Tönen schwingt nur noch die Schleimhaut
(Ligamentum vocale). Es gibt verschiedene Formen physiologischer Stimmein-
sätze. Diese werden in . Übersicht 5.4 näher erläutert.
5.4 · Einfluss von Körperhaltung und Muskeltonus
127 5

5.4 Einfluss von Körperhaltung


Übersicht 5.4: Physiologische Stimmeinsätze und Muskeltonus
Zu Beginn der Phonation kann die Glottis unter-
schiedliche Formen haben. Diese beeinflussen Neben Mimik und Gestik sind auch Stimmgebung und
den Stimmeinsatz. Es werden drei physiologische Haltung (Körpersprache) entscheidend für den ersten
Stimmeinsätze unterschieden: Eindruck, den wir von einem Menschen gewinnen. Ist
4 1. Gehauchter Stimmeinsatz: die Stimm- unsere Körperhaltung »gebeugt« und unsere Stimme
lippen sind einander angenähert und leise und wenig tragend, signalisieren wir vielleicht, dass
berühren sich nicht. Ausatemluft strömt wir müde oder krank sind. Eine aufrechte Haltung und
bereits, wenn die Stimmlippen zu schwingen eine feste Stimme können z. B. eine starke Persönlichkeit
anfangen (Wörter mit initialem »h«). vermuten lassen.
4 2. Weicher Stimmeinsatz: die Stimmlippen »Sprich damit ich sehe, wer du bist!« (Sokrates)
liegen leicht aneinander an und dann beginnt
die Stimmlippenschwingung. Besonders wichtige Faktoren für die physiologische, öko-
4 3. Fester Stimmeinsatz: leichte Spannung der nomische Atmung und Stimmgebung sind Haltung und
Stimmlippen, die aneinander anliegen und bei Muskeltonus. Für gut entfaltete Atemräume sind eine auf-
Phonationsbeginn voneinander abgesprengt gerichtete Körperhaltung und ein angepasster Körper-
werden (bei initialen Vokalen). tonus notwendig.Alle Körperabschnitte müssen sich über
dem aufgerichteten Becken physiologisch ausrichten,
d. h. der Kopf darf nicht in hyperextendierter Stellung
Beim Sprechen ist eine atemrhythmisch angepasste (überstreckter, kurzer Nacken) sein. Der Kopf muss unter
Phonation physiologisch. Der Atemrhythmus wird beim Beibehaltung des »langen Nackens« leicht nach vorne
Sprechen durch Sinneinheiten des Textes beeinflusst; die geneigt sein (Kinn zur Brust).
Phrasenlänge wird dem individuellen Atemrhythmus Während des Atmens erfolgt durch eine fein abge-
angepasst. stimmte reziproke Innervation eine fließende Umkehr-
bewegung von Einatmung zu Ausatmung.
: Beachte
Der primär durch die Stimmlippen gebildete Ton wird : Beachte
durch Rachen-, Mund- und Nasenraum sowie durch Einatmung geht immer mit dem Bewegungsmuster
artikulatorische Aktivitäten verändert. Dabei wird auch der 7 Extension/Streckung und Ausatmung mit dem
die Qualität der Stimme beeinflusst. Bewegungsmuster der 7 Flexion/Beugung einher.
4 Bei einer engen Stellung dieser Resonanzräume
klingen die Töne gepresst. Dabei darf der Haltetonus des Körpers weder zu hoch
4 Bei einer weiten Einstellung dieser Räume klingt (hyperton) noch zu niedrig (hypoton) sein, sondern es
die Stimme klar. muss eine 7 dynamische Stabilität vorhanden sein (s.
4 Hängt das Gaumensegel schlaff herunter, entsteht auch Kap. 2). So stabilisiert die Bauchmuskulatur den
ein nasaler Laut wie bei »m«, »n« »ng«. Ist das Gaumen- Brustkorb, indem sie in reziproker Innervation mit der
segel gespannt, entsteht ein Laut ohne nasalen Anteil 7 autochthonen Rückenmuskulatur den Brustkorb im
wie z. B. »a«.Verschiedene Sprachen haben einen Schwerkraftsfeld verankert und ausrichtet. Damit ist die
unterschiedlichen Grad an Nasalität. Basis für eine dynamische Stabilität gegeben.

: Beachte
Erst das koordinierte Zusammenwirken von physio-
logischer Haltung und Bewegung sowie angepasstem
Tonus ermöglicht eine effiziente, ökonomische Aus-
führung der Schlucksequenz, der Ruhe- und Sprech-
atmung, der Stimmgebung und des Sprechens.
128 Kapitel 5 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …

5.5 Grundsätzliche Überlegungen und Die F.O.T.T.-Therapeutin muss in der Lage sein, mit
Behandlungsprinzipien in der F.O.T.T. dem Wissen und dem Verständnis über normale Haltung,
Bewegung und Funktion die vorliegenden Abweichungen
In der Ausbildung von Berufssängern ist die Bedeutung von der Norm zu analysieren, Behandlungsansätze zu
der Körperhaltung und ihr Einfluss auf die Atmung und entwickeln und diese dann therapeutisch effizient umzu-
Stimme schon lange akzeptiert (Bunch 1997). In der setzen. Die Reaktionen des Patienten auf ihre therapeuti-
Therapie funktioneller Stimmstörungen hat die Körper- sche Intervention werden evaluiert und genutzt als Basis
arbeit mittlerweile einen großen Stellenwert (Spiecker- für das weitere Vorgehen.
Henke 1997; Saatweber 2002). Leider haben diese Er-
kenntnisse bisher noch keinen großen Einfluss auf die Be- ! Vorsicht
5 handlung von Patienten mit erworbenen Hirnschädigun- Die Probleme von Patienten mit erworbenen Hirn-
gen genommen.Eine mögliche Erklärung liegt darin,dass verletzungen können lebensbegleitend sein und zur
die verschiedenen Berufszweige zwar ihre speziellen Ausbildung von sekundären Komplikationen führen,
Fachgebiete weiterentwickelt haben, der Blick für die wodurch sich der Zustand des Patienten im Lauf der
Komplexität und Ganzheitlichkeit der Problematik bei Zeit verschlechtern kann. Es ist daher notwendig,
neurogenen Störungen aber oft noch nicht gegeben ist. diesen vorzubeugen.
Sind bereits sekundäre Probleme entstanden,
: Beachte gilt es diese zu erkennen und von den primären
In der therapeutischen Arbeit mit Atmung und Problemen zu differenzieren.
Stimme ist es notwendig, die physiologische Funk-
tionsweise aller beteiligten Körperabschnitte, > Beispiel
ihr Zusammenspiel und ihre Wechselwirkungen Bei gestörter Atem-Schluck-Koordination (primäres
zu kennen und zu wissen, wie sie sich gegenseitig Problem nach Hirnschädigung) wird häufig Speichel
beeinflussen und wie sie ein möglichst optimales und/oder Nahrung aspiriert und möglicherweise
Ganzes ergeben. entwickelt sich daraus eine Pneumonie (Sekundär-
problem).
Wird nur die Stimme oder deren Nichtvorhandensein
(Aphonie) behandelt, ohne die unphysiologische/abnor- Erst wenn man Erkenntnisse u. a. aus Medizin, Physio-
male Haltung, die fehlende Mobilität oder das einge- therapie, Ergotherapie und Logopädie zu einem Ganzen
schränkte Gleichgewicht des Patienten zu berücksichti- zusammensetzt und therapeutisch anwendet, wird sich
gen, wird dies lediglich, wenn überhaupt, eine kurzfristi- der Gesamtzustand des Patienten in der Folge verbes-
ge Verbesserung ergeben. sern.
Langfristig können unbehandelte Symptome jedoch Der »hands-on« Ansatz (Coombes 1991) ist ein ent-
zu Sekundärproblemen führen, da sich die zugrunde- scheidender Aspekt im F.O.T.T.-Konzept. So werden
liegende Problematik nicht ändert. neben der Beobachtung die Hände zur Untersuchung
von Bewegungsfreiheit und Tonusverhältnissen sowie zur
> Beispiel Behandlung miteingesetzt. Dabei erfährt der Patient
Wird Stimme mit zuviel Anstrengung produziert, durch gezielte taktile Fazilitation deutliche sensorische
werden dadurch u. U. eine Erhöhung des Muskeltonus Stimulation und möglichst physiologische Bewegungen,
und vielleicht auch 7 assoziierte Reaktionen ver- die er ohne Hilfe, z. B. aufgrund von Wahrnehmungs-
ursacht. Der ökonomische Einsatz des Luftstroms, störungen oder Sensibilitätsausfällen nicht ausführen
der notwendig ist, um zu phonieren, wird hierdurch kann. Coombes (2001a) betont, welche Bedeutung der
vermindert oder unmöglich gemacht. Einsatz des eigenen Körpers des Patienten zur Erhöhung
der Sensibilität hat.
Auf den Einfluss des Haltungshintergrundes und der Aus-
gangsstellung auf Atmung und Schlucken wird in einer
Studie von Smith et al. (1989) mit gesunden Probanden
hingewiesen.
5.5 · Grundsätzliche Überlegungen und Behandlungsprinzipien in der F.O.T.T.
129 5

i Praxistipp
Die Self Stimulation (= Spüren der eigenen aktiven
Bewegung) ist die aktivste Behandlungsform und
formt das stärkste Feedback für senso-motorisches
Lernen. Diese wird mittels taktiler Hilfen fazilitiert:
»Hands-on« ist ein wichtiges Prinzip im F.O.T.T.-
Konzept. Eine dem Therapieziel angepasste Stellung
ist anzustreben und wird unterstützt durch die
Beeinflussung der Schlüsselregionen.
Alleinige verbale Instruktionen werden
vermieden.
Verbale Hilfen werden
4 kurz,
4 prägnant und
4 situativ relevant gehalten.

Bei der Behandlung ist das Arbeiten an funktionellen


Aktivitäten von großem Nutzen. Geeignete funktionelle
Aktivitäten sind Auspusten von Kerzen, Mundharmonika
spielen oder Seifenblasen produzieren. Alltagsaktivitäten
haben den Vorteil, dass die Patienten direkt das Ergebnis
spüren, sehen oder hören, dadurch eine konkrete Rück-
meldung erhalten und dass sie nicht unbedingt Sprachver- . Abb. 5.4. Mit Unterstützung von vorne durch ein (halbmondförmi-
ständnis zur Ausführung benötigen. Die Wahl der geeig- ges) Pack gelingt es, selektiv den Mund zu spitzen, um Seifenblasen zu
neten Ausgangsstellung und das Anbieten von Unter- machen

stützungsfläche (. Abb. 5.4) beeinflussen den Erfolg der


Aktion.
Auch die Zeit, in der keine Therapie stattfindet, wird
berücksichtigt. Dabei kommt den Pflegenden und Ange- Übersicht 5.5: Allgemeine F.O.T.T.-Prinzipien
hörigen eine bedeutende Rolle zu, z. B. bei der Lagerung 4 Normale Haltung, Bewegung und Funktionen
tagsüber bzw. in der Nacht (s. auch Abschn. 5.6.3). Die kennen und verstehen.
konsequente Umsetzung der F.O.T.T.-Prinzipien über 4 Primäre und sekundäre Probleme erkennen
24 Stunden kann sekundäre Komplikationen vermindern und differenzieren.
bzw. beugt diesen vor und hilft damit auch die Folge- 4 In der Therapie und beim Handling:
kosten für diese aufgetretenen Komplikationen zu redu- »hands-on« möglichst normaler Funktionen
zieren. erarbeiten, d. h. taktile und propriozeptive
In . Übersicht 5.5 sind die allgemeinen F.O.T.T. Prin- Inputs geben – wenig Sprache benutzen.
zipien zusammengefasst. 4 Realistische und zielgerichtete funktionelle
Aktivitäten als Mittel benutzen.
130 Kapitel 5 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …

5.6 Typische Probleme von Patienten Haltungshintergrund und der Bewegung (Breich 1992;
mit Hirnschädigung Davies 1990; Paeth Rohlfs 1999). Die Rumpfmuskulatur,
und einige Lösungsansätze inklusive der abdominalen Muskulatur (M. rectus ab-
dominis, M. external oblique, M. internal oblique und
In diesem Abschnitt wird exemplarisch auf eine Auswahl M. transversus abdominis) ist verantwortlich für die
typischer Probleme von Patienten mit Hirnschädigungen 7 dynamische Stabilisierung des Brustkorbes. Nach er-
und ihre Auswirkungen auf Atmung und Stimme und auf worbenen Hirnschädigungen sind jedoch genau diese
deren Koordination sowie die Atem-Schluck-Koordina- Muskeln oft nicht mehr fähig, diese Funktion adäquat
tion eingegangen. auszuführen.

5 Bauchmuskulatur
5.6.1 Zentrale Störungen der Atmung : Beachte
Die Haltefunktion der Bauchmuskulatur ist
Zu den pathologischen Atemtypen bei zentral bedingten abgeschwächt.
Schädigungen des Atemzentrums zählen u. a.
4 die Cheyne-Stokes-Atmung, Die Patienten haben Schwierigkeiten ihren Körper sta-
4 die Biot-Atmung und bil zu halten und gleichzeitig andere Funktionen wie
4 die Schnappatmung mit kurzen, schnappenden, un- Schlucken und/oder Sprechen physiologisch auszufüh-
regelmäßig einsetzenden Atemzügen (Kasper u.Kraut ren. Aufgrund insuffizienter Bauchmuskeln kommt es zu
2000). einem fehlenden aktiven und passiven Zug auf die Rippen
und damit zu einer Bewegungseinschränkung in Rich-
Es finden sich u. a. Veränderungen des Rhythmus, der tung Ausatemstellung.
Ein- und Ausatemtiefe sowie prolongierte Atempausen. Dadurch ist die Atmung flach und die Ausatemphase
Dabei können sich die Atemgeräusche verändern. verkürzt. Dies beeinflusst den Stimmklang, der dann
Zur paradoxen Atmung kommt es z. B. bei Thorax- aphon, verhaucht oder kompensatorisch durch Tonus-
instabilität, bei Tetraplegien und -paresen infolge von erhöhung fest oder gepresst sein kann. Auch die Anzahl
Hirnschädigungen und Rückenmarksverletzungen (s. der Silben oder Worte, die auf einen Ausatemzug gespro-
Abschn. 5.5.1 Rumpf). Die Atembewegungen sind dann chen werden können (Tonhalte- und Sprechdauer), kann
entgegengesetzt zur physiologischen Atmung. Auch die verkürzt sein. Körperliche Aktivitäten verursachen bei
Stimmgebung und das Sprechen verändern sich aufgrund diesen Patienten schnell deutliche Kurzatmigkeit und
des veränderten Atemmusters. Ermüdungserscheinungen (Davies 1990).
Hadjikoutis et al. (2000) wiesen abnorme Atem-
Schluckmuster,z.B: Einatmen nach Schlucken,bei Patien- Rumpfmuskulatur
ten mit zentralen,spinalen oder peripheren Schädigungen : Beachte
in 91 % der Fälle (20 von 22), bei Patienten mit Motoneu- Insuffiziente Rumpfmuskeln begrenzen die
ronerkrankungen in 44 % der Fälle (14 von 32) nach.In der Bewegungen und den funktionellen Einsatz
Kontrollgruppe gesunder Probanden betrug die Abwei- der oberen Extremitäten.
chung von der Norm nur 9 % (2 von 22).
Lösungsansätze für die Veränderung des Atem- Auch die 7 dynamische Stabilität des Schultergürtels, der
musters und taktile Atemführung, unterstützend für mit dem Brustkorb vorwiegend über Muskeln verbunden
die Mehrbelüftung der Lunge oder als Anbahnung für ist,ist von der intakten Funktionsweise der Rumpfmusku-
physiologische Atemmuster, finden sich in Abschn. 5.6.4. latur abhängig. Bei hypotoner Rumpfmuskulatur werden
oft 7 distale Muskelgruppen (d. h. also Muskeln von Ar-
men und Händen) kompensatorisch zur Stabilisierung
5.6.2 Probleme mit Haltung und Bewegung und Aufrechthaltung des Körpers gegen die Schwerkraft
genutzt. Dies führt zu einer 7 distalen Tonussteigerung
Da Atemprobleme häufig mit Problemen des Rumpfes (Davies 1990; Panturin 2001).
zusammenhängen, liegt ein Hauptaugenmerk auf dem
5.6 · Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigung und einige Lösungsansätze
131 5

Hals- und Nackenmuskulatur : Beachte


: Beachte Ist der Tonus des M. pectoralis major zu hoch, werden
Das Kompensationsprinzip trifft u. a. auch auf Kopf die Schultern in 7 Flexion fixiert bei einem Punktum
und Nacken zu, die mit dem Brustkorb in Verbindung stabile 7 proximal (also an den Rippen) und damit ist
stehen. die Entfaltung der Atemräume nur erschwert möglich
(Paeth-Rohlfs 1999).
4 Ohne die 7 antagonistische Wirkung der abdomina-
len Muskeln auf den Brustkorb erhöht sich der Tonus . Abb. 5.5 zeigt Rippenhochstand bei einem Patienten
in der Hals- und Schultermuskulatur und zieht da- mit hypotonem Rumpf.
durch die Rippen nach oben. Dies führt zu flachen
Atembewegungen und zu eingeschränkten Kopfbe- Lösungsansatz: Einsatz von Bewegung
wegungen. Die Wirksamkeit von Bewegung bei der Behandlung von
4 Das Zungenbein wird ebenfalls durch Muskelverbin- Störungen der Atmung wurde in einer Studie von Falken-
dungen mit der Scapula, den oberen Rippen und der bach (2001) bestätigt. In dieser zeigten Patienten mit
Klavicula stabilisiert. Das kann bedeuten, dass Patien- einem rigiden Thorax eine effektivere Bauchatmung
ten mit einer mangelnden Rumpfkontrolle eine Stö- schon nach geringsten Bewegungen und Aktivitäten im
rung im Bereich der Mund und der Zungenmotorik lumbalen Bereich. Beobachtungen an Säuglingen (Wilson
(Schlucken) aufweisen (Panturin 2001). et al. 1981) zeigen auch einen Zusammenhang zwischen
Aktivität und Schluckfrequenz. Die Häufigkeit des Schlu-
Rumpfrotation ckens erhöhte sich bei Aktivität und nahm in Ruhephasen
: Beachte ab.Erwachsene zeigen ein ähnliches Muster.Sie schlucken
Die rotatorische Bewegungsfreiheit des Rumpfes im Tagesdurchschnitt im Wachzustand ca. 600 Mal und
verringert sich, vor allem in der thorakalen Region. während der Nacht nur noch ca. 50 Mal (Wilson et al.
1981).
Ohne die gegebene Stabilität der Rumpfmuskulatur auf 4 Die Kombination von Stabilität und Bewegung kann
einer Seite des Körpers ist es nicht möglich, die Muskeln die Bewegungsmöglichkeiten des Rumpfes für eine ef-
auf der anderen Seite effektiv einzusetzen (Davies 1990). fektive Atmung verbessern.
Wenn die Rippen in einer Position fixiert sind, ist es sehr 4 Diese Kombination gibt dem Patienten die Möglich-
schwierig sich zu bewegen, da sie dann die Bewegungen keit, mehr selektive Bewegungen auszuführen und
des Rumpfes blockieren. den Einsatz von Massenbewegung zu reduzieren
(Davies 1990; Edwards 2002).
4 Physiologisch gehen Einatmung tendenziell mit dem
Muster der 7 Extension und Ausatmung tendenziell
mit dem Muster der 7 Flexion einher. Es ist daher
naheliegend, diese Muster in die Behandlung zu inte-
grieren.

Diese Muster sind dabei jedoch mit Rotationskomponen-


ten zu verbinden, da Flexion und Extension alleine keine
vollständige Bewegungsfreiheit des Rumpfes und der Ex-
tremitäten gewährleisten können.Rotation ist das koordi-
nierte Ergebnis von Flexion und Extension in allen Bewe-
gungsebenen (Edwards 2002). Die Rotation ist ebenso
eine sinnvolle Kombination von Flexion und Extension
der Körperschlüsselpunkte in verschiedenen Ausgangs-
. Abb. 5.5. Patient mit Rippenhochstand stellungen (s.Abschn.5.7). . Abbildung 5.6 zeigt die Arbeit
an der Ausatmung in Verbindung mit Rotationsbewegun-
gen des oberen Rumpfes.
132 Kapitel 5 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …

i Praxistipp
In dieser Phase ist das gesamte Rehabilitationsteam
gefordert, denn hier gilt es Lagerungen für den
Patienten zu finden, in denen er entspannen kann
und die helfen seinen Gesamttonus zu regulieren.
Ein häufiges Umlagern des Patienten ist erforderlich.

Stridor
Stridor bezeichnet ein pfeifendes Atemgeräusch bei Ein-
und/oder Ausatmung.
5
Inspiratorischer Stridor
Inspiratorischer Stridor tritt u. a. auf
4 bei Verlegung der oberen Atemwege durch Sekret
oder muskuläre Züge der pharyngealen Muskulatur
und Zungenmuskulatur oder kann durch ein Kippen
der Epiglottis nach dorsal bedingt sein (z. B. in
Rückenlage). Bei Kanülenträgern ist aber auch an
. Abb. 5.6. Ausatmung in Verbindung mit Rotationsbewegung des Granulationen zu denken (s. Kap. 6).
oberen Rumpfes. Um die Beckenaufrichtung zu unterstützen wurden 4 bei Einengungen in Höhe des Kehlkopfes, z. B. bei
die Sitzbeinhöcker jeweils mit einem Handtuch unterlagert
beidseitigen Stimmbandparesen
4 bei subglottischen Einengungen, z. B. Trachealste-
nosen.
: Beachte
Der Tonus der Bauch- und Rumpfmuskulatur darf i Praxistipp
nicht zu niedrig sein, da ein hypotoner, durch die Sekret aus den oberen Atemwegen entfernen durch
Schwerkraft flektierter Rumpf 7 distal eine hypertone Mobilisation und Lagerung (z. B. Bauchlage) des
Kopf-, Nacken- und Kehlkopfmuskulatur und eine Patienten, Unterstützen des Hustens und ggf.
hyperextendierte Haltung des Kopfes und Nackens medikamentöser Sekretolyse.
verursachen kann. Des weiteren versucht man den Tonus im Bereich
Bei einer zu hypotonen Bauchmuskulatur bleiben des Schultergürtels und Nackens sowie der ventra-
die Rippen in Einatemstellung, also nach oben fixiert len Halsmuskulatur zu normalisieren.
und das erschwert die Ausatmung. Auch das Zwerch- Rückenlage sollte aufgrund des ungünstigen
fell wird von einem nach oben gezogenen Brustkorb Einflusses auf den Gesamttonus des Patienten
beeinflusst und kann seine Funktion nicht mehr effek- vermieden werden, wenn dabei erschwerte Atmung
tiv erfüllen. zu beobachten ist (vgl. Abschn. 5.7).

! Vorsicht
5.6.3 Weitere Probleme, Bei A- oder 7 Dyspnoen aufgrund von Ein-
die die Atmung beeinflussen engungen im Kehlkopf und/oder der Trachea
ist eine Tracheotomie und die Versorgung
Ungünstige Lagerungen, die den Gesamttonus mit einer Trachealkanüle notwendig.
des Patienten erhöhen
Gerade bei schwer betroffenen Patienten finden wir oft Expiratorischer Stridor
das Problem, dass sie schon nach kurzer Zeit die Lage- Expiratorischer Stridor tritt auf bei obstruktiven Erkran-
rung,in die sie gebracht wurden,nicht mehr tolerieren.Sie kungen der Atemwege, z. B. Bronchitiden.
schwitzen stark und zeigen erhöhte Atemfrequenz.
5.6 · Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigung und einige Lösungsansätze
133 5

i Praxistipp i Praxistipp
Behandlung der Grunderkrankung, Prophylaxe Entblocken der Trachealkanüle – anfangs nur in
von Atemwegserkrankungen durch Mobilisation Therapie und nach Absprache mit dem behandeln-
zum Sitzen und Stehen Patienten in geeigneten den Arzt. Zum genauen Vorgehen beim Entblocken
Positionen lagern. s. Kap. 6 und 7.
Gelingt es dem Patienten, an der entblockten
Auswirkungen von Trachealkanülen Kanüle vorbeizuatmen, wenn man diese zuhält oder
auf die Atmung, das Schlucken ein Sprechventil aufsetzt, hat die über die oberen
und die Stimmgebung Atemwege auströmende Luft eine stimulierende
Viele der schwer betroffenen neurologischen Patienten Wirkung auf die Sensibilität im Oro-, Naso- und
werden in der Akutphase wegen der notwendigen Lang- Hypopharynx.
zeitbeatmung und/oder einer Schluckstörung mit einem
Tracheostoma und einer Trachealkanüle versorgt. Bei ungeblockter Trachealkanüle mit einem Sprechauf-
satz wird die Luft über die Trachealkanüle eingeatmet
: Beachte und via Kehlkopf, Stimmlippen, über den Rachen, Nase
Bei Trachealkanülenträgern fällt der gesamte Atemwi- oder Mund wieder ausgeatmet.
derstand von Naso-, Oro- und Hypopharynx weg. Die Dies hat zur Folge:
Atmung wird flacher und schneller. 4 Dass sich die Sensibilität und dadurch die Kontrolle
über diesen Bereich verbessert.
Auch die Art der Trachealkanüle hat Einfluss auf die 4 Dass Patienten mit der Fähigkeit zu ausreichender
physiologischen Atemverhältnisse und damit auf die Atem-Stimm-Koordination dadurch wieder in die
Funktionen von Atmung, Stimmgebung und Schlucken. Lage versetzt werden, zu phonieren oder verbal zu
Bei geblockter Trachealkanüle wird der gesamte kommunizieren.
Nasen-, Mund-, Rachen- und Kehlkopfraum inklusive des
Tracheabereiches über dem Tracheostoma, von der Luft- Jede Trachealkanüle nimmt Raum in der Trachea ein.Aus-
zufuhr abgeschnitten. Dies bringt folgende Veränderun- atemluft kann nur seitlich an einer ungeblockten Trache-
gen von Atmung/Stimme und Schlucken mit sich: alkanüle vorbeiströmen.
4 Die Atmung über die Nase oder den Mund und auch
ein Wechsel dieser beiden Atmungsvarianten sind ! Vorsicht
nicht möglich. Nimmt die Kanüle in der Trachea zuviel Platz ein, so
4 Die Sensibilität und damit die Kontrolle über den Be- dass nicht ausreichend Luft seitlich an der Kanüle
reich sind vermindert. Das darin befindliche Sekret ausgeatmet werden kann oder versperren Granula-
kann nicht mehr mit Hilfe des Ausatemstroms bewegt tionen den Luftweg, tritt ein Ausatemstau auf!
und nicht mehr ausreichend gespürt werden, Räus- Es besteht akute Erstickungsgefahr!
pern oder Husten werden weniger (auch weniger Die sofortige Ausatmung über die Trachealkanüle ist
effektiv und effizient) bzw. nicht mehr initiiert. In zu gewährleisten. Ein Sprechaufsatz oder eine Ver-
der Folge wird das Sekret seltener bzw. nicht mehr schlusskappe etc müssen sofort entfernt werden!
abgeschluckt.
4 Es kann keine Stimme produziert werden. i Praxistipp
4 Riechen und Schmecken sind nur noch eingeschränkt Eine Trachealkanüle kleinerer Größe kann dann Ab-
möglich. hilfe schaffen. Hat die Kanüle eine Fensterung, kann
mehr Ausatemluft auch durch die Trachealkanüle
hochsteigen. Dadurch verbessert sich i. d. R. die
Stimmqualität. Ausführlichere Beschreibungen
zum Thema Trachealkanülen und Funktionsweisen
finden sich in den Kapiteln 6 und 7.
134 Kapitel 5 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …

Eingeschränkte Kieferöffnung Auch hier ist der kausale Zusammenhang mit einer ver-
Bei Patienten, die Schwierigkeiten mit dem Öffnen des änderten Körper- und Kopfhaltung gegeben:
Kiefers haben, ist in der Folge häufig die sensorische
Rückmeldung im oropharyngealen Trakt verändert. Oft ! Vorsicht
ist der Kiefer in einer abnormen Haltefunktion fixiert und Durch den nicht vorhandenen Mundschluss fehlt die
der Patient hat keine Möglichkeit, dieses Muster zu lösen, notwendige, stabile Basis des Unterkiefers für die
die Zunge zu bewegen und einen Schluckvorgang zu initi- Zunge, damit sie selektive orale Transportbewegung
ieren oder physiologisch durch den Mund zu atmen. in Richtung Pharynx initiieren kann.

> Beispiel Dies führt zu einer erhöhten Anstrengung und oft zu


5 Im Anschluss an ein gelegentlich spontan auftreten- pumpenden Kieferbewegungen bei Initiierung der
des Gähnen bei diesen Patienten ist oft ein Schlucken Transportbewegung der Zunge.
oder ein Versuch dazu zu beobachten. Hier ließe sich Der Speicheltransport ist verlangsamt und führt
interpretieren, dass dabei durch den Luftstrom eine 4 entweder zu einer verlängerten Dauer der Schluck-
Reizeingabe in ein reizarmes Gebiet geschieht. Dies apnoe, des Atemstopps, während des Schluckens oder
kann die Sensibilität erhöhen und als sensorische 4 aber zu »Zwischenatmen«, d. h. der Patient muss wäh-
Rückmeldung ein Schlucken auslösen. rend des Schluckens einatmen.

! Vorsicht Patienten mit diesen Problemen benötigen oft mehrere


Ohne Stimulus, ohne Reizeingabe in ein reizarmes Ansätze, bevor sie wirklich schlucken können und selbst
Gebiet, sind keine Reaktionen zu erwarten. dann wird der Schluckvorgang häufig nicht vollständig
ausgeführt. Die pharyngealen Bewegungen sind dann
i Praxistipp nicht effizient und ausreichend, um den Speichel in den
Am Haltungshintergrund arbeiten und dabei die Ösophagus zu transportieren. Die Gefahr der Aspiration
präorale Phase beim Erarbeiten der Mundöffnung von Speichel (Selley et al.1989; Smith et al.1989) und Nah-
einbeziehen mit gezielten taktilen Inputs im rung ist erhöht.
Gesicht und Mundbereich.
i Praxistipp
Fehlender Mundschluss Zunächst wird eine geeignete Ausgangsposition
Einige Patienten können nur schwer den Mund schließen. (beachte Alignment von Becken, Rumpf und Nacken)
Der Wechsel zwischen Ruheatmung durch die Nase zu erarbeitet.
forcierter Ausatmung durch den Mund ist erschwert oder Dann wird dem Patienten mittels Kieferkontroll-
nicht möglich. Ein fehlender Kieferschluss verändert die griff der Mundschluss fazilitiert und taktile Schluck-
Position des Unterkiefers, der Zunge und des weichen hilfe am Mundboden gegeben.
Gaumens und beeinflusst dadurch auch die Atmung und Je weniger Pumpbewegungen der Patient aus-
das Schlucken. führen muss, um zu schlucken, desto kürzer ist die
Schluckapnoe und damit verringert sich das Risiko
: Beachte einer Zwischenatmung, die möglicherweise
Bei geöffnetem Mund ist die Nasenatmung weit- mit Aspiration einhergeht.
gehend ausgeschaltet, olfaktorische und gustatorische
Reize können nur reduziert wahrgenommmen Koordination von Atmung, Schlucken und Essen
werden. Die Mundschleimhaut trocknet aus und Schlucken unterbricht den Atmungsvorgang.Wie schon in
der Speichel wird zäh. Abschn. 5.2 beschrieben, zeigen Studien mit gesunden
Versuchspersonen,dass die meisten Probanden nach dem
Schlucken kurz reflektorisch ausatmen, egal ob ein Bolus
gereicht wurde oder nicht (Hiss et al.2001; Preiksaitis et al.
1992; Smith et al.1989).Selley et al.(1989) beschreiben,dass
sich sowohl bei Gesunden als auch bei neurologischen
5.6 · Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigung und einige Lösungsansätze
135 5

Patienten das Atem-Schluckmuster beim Anreichen von Dem Nachschlucken wird besondere Aufmerk-
Nahrung ändert. Die Gesunden wiesen eine Veränderung samkeit geschenkt, weil es hilft, Reste in den Valle-
der Ruheatmung beim Anreichen von Nahrung auf. cularräumen zu entfernen, die der Patient vielleicht
Sie atmeten jedoch nach dem Schlucken immer aus. Die noch nicht ausreichend spürt und bei der nächsten
neurologischen Patienten atmeten unmittelbar nach dem Einatmung penetrieren oder aspirieren würde
Schlucken ein statt aus. (s. Kap. 3).

! Vorsicht Koordination von Atmung, Schlucken


Wird sofort nach dem Schlucken eingeatmet, beim Strohhalm trinken
besteht die Gefahr der Aspiration von Residuen. Patienten wird oft empfohlen,mit dem Strohhalm zu trin-
ken, um z. B. fehlenden Mundschluss oder eingeschränk-
Das Ausatmen nach dem Schlucken ist eine Schutzfunk- te Zungenbewegungen zu kompensieren.
tion, da es – eventuell nach dem Schlucken verbliebene – In einer Studie von Martin et al. (1994) wurde das
Residuen im Pharynx und in den Atemwegen aufspüren Trinken mit einem Strohhalm bei gesunden Versuchsper-
und ggf. mit Husten bewegen und aus den Atemwegen sonen untersucht. Beschrieben werden mehrere aufein-
befördern kann, die anschließend erneut geschluckt oder ander folgende Schlucke ohne Zwischenatmung, d. h. also
ausgespuckt werden können. dass der Atemstop verlängert war.
. Übersicht 5.6 fasst die Faktoren zusammen, die zu
einer erhöhten Aspirationsgefahr führen. ! Vorsicht
Martin et al. (1994) gehen bei neurologischen
Patienten mit einem verlangsamten Ablauf der
Übersicht 5.6: Erhöhte Aspirationsgefahr Schlucksequenz und Störung der Atem-Schluck-
Erhöhte Aspirationsgefahr ist gegeben, Koordination von einer erhöhten Aspirationsgefahr
4 wenn die Apnoephasen zu kurz sind besonders beim Trinken mit dem Strohhalm aus.
und/oder
4 nach dem Schlucken nicht reflektorisch i Praxistipp
ausgeatmet wird. Ob es für den Patienten hilfreich ist, mit dem Stroh-
4 Ist der Schluckvorgang aufgrund verlängerter halm zu trinken oder nicht, muss im klinischen Ver-
Bolustransitzeit durch Mundhöhle und lauf genau abgewogen und evaluiert werden.
Pharynx zu lang, müssen die Patienten Das Ansaugen von Flüssigkeit aus einer Tasse
während des Bolustransportes einatmen oder einem Glas mit den Lippen ist wahrscheinlich
und im Pharynx befindliches Material kann sicherer, da die Flüssigkeit nicht sofort in den
in die unteren Luftwege gelangen. hinteren Teil der Mundhöhle fließt.
Patienten mit den o. g. Problemen profitieren
eher von einer Unterstützung ihres Haltungshinter-
i Praxistipp grundes, des Kopfes und des Kiefers während
In der F.O.T.T. wird während der Essensbegleitung des Trinkens.
ein besonderes Augenmerk auf die präorale Phase
gelegt, d. h. der Patient wird soweit es möglich ist,
in die Vorbereitung der Nahrungsaufnahme mitein- 5.6.4 Auswirkungen pathologischer Atmung
bezogen. auf Stimme und Sprechen
Hier setzt die Therapie an: durch spezielle Gestal-
tung der Umwelt (Packs,Wand, etc.) und Erarbeitung Atmen und Stimmgebung werden normalerweise unbe-
des Haltungshintergrundes wird es möglich, den wusst,ohne Anstrengung und zeitgleich während anderer
Patienten dabei zu führen, die in Größe und Tempo Tätigkeiten ausgeführt.
angepasste Menge selbst zum Mund zu bringen. Da viele der Strukturen, die beim Sprechen genutzt
6 werden auch am Schluckvorgang beteiligt sind, findet
sich bei erworbenen neurologischen Schädigungen oft
136 Kapitel 5 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …

eine Vergesellschaftung von 7 Dysphagien und 7 Dys- Dazu werden die Hände links und rechts an den
arthrophonien (Coombes 1991; Logemann 1983; Perkins Brustkorb (ventral – lateral) ungefähr auf die Höhe von
und Kent 1986). Dysarthrophonien, also die zentral 5.–10. Rippe gelegt. Die Therapeutin begleitet mit ihren
bedingten Störungen von Haltung und Tonus, der Händen die Atembewegungen des Patienten und beginnt
(Sprech)Atmung, Stimmgebung und Artikulation, und dann mit konstantem sanftem Druck die Ausatmung zu
die daraus resultierenden Probleme beeinträchtigen die betonen und zu verlängern. Die Hände der Therapeutin
Verständlichkeit und die Natürlichkeit des Sprechens. bleiben während der Atempause und der Einatmung mit
Die basalen Probleme, z. B. veränderte Körper- konstantem sanftem Druck nach unten am Thorax des
haltung, Tonus und Bewegung (Abschn. 5.4 und 5.6.2) Patienten, und bilden mit diesem eine Einheit. Abhängig
und veränderte Atemmuster (Abschn. 5.6.1) sind schon von der Atemfrequenz des Patienten kann durch die Beto-
5 thematisiert worden. Sie beeinträchtigen zusätzlich die nung jeder dritten Ausatmung ein Ausatemzug verlängert
(ggf. auch primär gestörten) Stimmgebung, die Artikula- werden.
tion und die 7 prosodischen Elemente des Sprechens Die Therapeutin registriert Veränderungen der Atem-
auch in ihrem koordinativen Zusammenspiel. bewegungen und Atemfrequenz taktil, visuell und auditiv
(z. B. die physiologische Atempause, Flankenbewegun-
i Praxistipp gen, und Atemgeräusche) und bewertet diese.
»Hands-on« – taktile Atemführung: Die taktile Atemführung kann auch mit dem Phonie-
Ein erster Schritt in der Therapie ist es, ren von Lauten und/oder einer Vibration am Sternum
4 die Ausatemphasen zu verlängern und kombiniert werden.
4 die Einatmung zu vertiefen, wobei die tiefere
Einatmung eine direkte Konsequenz der voran- > Beispiel
gegangenen verlängerten Ausatmung ist. In unserem Patientenbeispiel (. Abb. 5.7) wird mit
einem Pezziball gearbeitet. Hierbei zieht der Patient
In Rückenlage (. Abb. 5.7 oder in einer der in Abschn. 5.7 bei Ausatmung seine Beine an, bei Einatmung schiebt
beschriebenen Ausgangsstellungen) lenkt die Therapeu- er den Ball mit seinen Beinen weg. Diese Aktivitäten
tin mit ihren Händen die Atembewegungen in Richtung unterstützen die Arbeit der Bauchmuskulatur.
der Flanken und beeinflusst das Atemmuster mit ihren
Händen. Weitere Ziele sind
4 die Verbesserung des Schutzes der Atemwege durch
Steigerung der laryngealen und pharyngealen Sensi-
bilität
4 die Verbesserung der Atem-Schluck-Stimm-Koordi-
nation.

! Vorsicht
Mündliche Anweisungen sollten bei der Atemarbeit
nicht gegeben werden, da Patienten oftmals dazu
tendieren, ihre Atmung dann ungünstig zu verän-
dern, indem sie den Energieaufwand durch aktive,
angestrengte Atmung erhöhen.

. Abb. 5.7. In Rückenlage wird der Thorax unterlagert, um dem


Rippenhochstand entgegenzuwirken. Ausreichend stabile Kissen im
Nacken und Kopfbereich gewährleisten die Position des »langen
Nackens«. Die Arme werden nah am Körper gelagert
5.6 · Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigung und einige Lösungsansätze
137 5

i Praxistipp
Durch den verstärkten Ausatemstrom (mit oder
ohne Phonation), werden Speichelreste im pharyn-
gealen Raum (z. B. in den Valleculae) in Bewegung
bzw. in Vibration versetzt. Dabei wird durch den
Stimulus Luftstrom eine vorübergehende Erhöhung
der Sensibilität erzeugt, die als Reaktion Schlucken
auslösen kann, das ggf. durch eine Schluckhilfe
(Kap. 3) unterstützt werden muß.

Stimmanbahnung
Neben zentralen Innervationsstörungen des Stimmappa-
rates sind viele Patienten zunächst nicht in der Lage,Stim-
me zu produzieren. Diese Patienten können oft nur flüs-
tern oder sie produzieren Stimme mit dem Einatem. Dies
kann am mangelnden subglottischen Anblasedruck lie-
gen, der sich aus einer eingeschränkt arbeitenden Rumpf-
und Bauchmuskulatur ergibt und ein Zeichen für eine ge-
störte koordinative Abstimmung von Atem- und Stimm-
muskulatur ist.
Ein suffizienter subglottischer Anblasedruck des Aus-
atemstroms ist an dem Zustandekommen der Vibration
der Stimmlippen beteiligt, durch die die Stimme entsteht
(Perkins und Kent 1986). Ohne ausreichenden Luftstrom
und einer gut abgestimmten Dosierung kann nicht pho- . Abb. 5.8. Das Stehen an der Bank als Position mit wenig Unterstüt-
niert werden. zungsfläche (Tonuserhöhung) ermöglicht diesem Patienten mit einem
sonst hypotonen Rumpf, die Ausatemluft so zu dosieren, dass große
i Praxistipp Seifenblasen entstehen
4 Die Arbeit an der Ausatemverlängerung steht
am Anfang und kann in verschiedenen Ausgangs-
stellungen durchgeführt werden. Ein tragfähiger
Atem ist die Basis für die Stimmgebung. Zu Beginn der Phonation sollte der Patient
4 Ist es dem Patienten möglich, (unterstützt) zu nicht aufgefordert werden, bewusst und tief
stehen, bietet sich das Stehen als Ausgangsposition einzuatmen. Es besteht kein Bedarf an einer
mit wenig Unterstützungsfläche an. Kann der Patient großen Menge Luft, um Stimme zu produzieren,
(mit hypotonem Rumpf) den im Stehen zwangs- sondern die Luft muß kontrolliert freigesetzt
läufig höheren Tonus aufbauen, ist es ihm oft werden (Coombes 1991).
besser möglich den Ausatem dosiert abzugeben.
Der in . Abbildung 5.8 abgebildete Patient kann > Beispiel
seine Ausatmung steuern und damit Seifenblasen Die in . Abbildung 5.9 gezeigte Patientin zeigt im
produzieren. Alltag stark assoziierte Reaktionen beim Sprechen
4 Am Anfang der Therapie bietet sich das Phonie- und eine kurze Tonhaltedauer. Daher wird für diesen
ren von Seufzern, Ausrufen auf den ausatmungs- Patienten die Seitenlage gewählt, eine Position mit
gestützten Silben wie z. B. »ho« oder »he« und viel Unterstützungsfläche. Die Patientin phoniert
später kurzer Wörter wie z. B. »Hallo« an. ein »ho« und wird von der Therapeutin mit Vibration
6 am Sternum und Druck an den Rippen unterstützt.
138 Kapitel 5 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …

Feucht-gurgeliger Stimmklang
Finden sich Speichel oder Flüssigkeit auf den Stimmlip-
pen, bewirkt der Sprechatem eine Vibration dieser Resi-
duen.

! Vorsicht
Klingt die Stimme feucht, gurgelig und/oder ver-
schleimt, ist das immer ein Zeichen einer Penetration
oder aber auch von Aspiration von Sekret oder
Flüssigkeit!
5
i Praxistipp
Sofortiges Räuspern oder Husten muss fazilitiert
werden, um Aspiration zu vermeiden. Am Thorax
. Abb. 5.9. In Seitenlage phoniert die Patientin ein »ho« und wird von und Sternum können dabei durch Druck oder Vibra-
der Therapeutin mit Vibration am Sternum und Druck an den Rippen tion die Effizienz des Hochhustens unterstützt
unterstützt werden und anschließend Schluckhilfe gegeben
werden.

i Praxistipp Heiserer Stimmklang


Bei unerwünschten Bewegungen, wie z. B. zu viel Durch Recurrensparesen, aber auch durch falschen
Bewegung im Schulterbereich (Hochatmung) Stimmgebrauch kann der Stimmklang heiser sein.
oder assoziierten Reaktionen und Tonuserhöhung,
muss eine »niedrigere« Ausgangsstellung mit mehr i Praxistipp
Unterstützungsfläche gewählt werden. Auf der Basis einer möglichst 7 eutonen Ausgang-
sposition werden ein weicher Stimmeinsatz und das
Stimmklang Ausnutzen der Resonanzräume im Kopf und Rumpf
Nasaler Stimmklang angestrebt.
Durch Gaumensegelparesen, aber auch durch Mobilitäts- Diese gezielte Arbeit ist eher in späteren Thera-
einschränkung im fazio-oralen Bereich (Kopf-, Nacken- piestadien angezeigt und sollte ggf. von Logopäden,
stellung) und im Rumpf kann die Stimme in ihrem ge- die die neurophysiologischen Gegebenheiten
wohnten Klang beeinträchtigt sein. Sie klingt nasal. berücksichtigen, weitergeführt werden.

! Vorsicht Tragfähigkeit der Stimme und Tonhaltedauer


Eine abnorme Kopfposition verändert die Position Aufgrund der eingeschränkten Koordination ihrer inter-
und die Mobilität des Kehlkopfes und hat Auswir- kostalen und abdominalen Muskeln sowie des Zwerch-
kung auf den Stimmklang (Coombes 1991). fells haben viele Patienten Probleme mit der kontrollier-
ten, dosierten Abgabe der Atemluft. Die dafür notwendi-
i Praxistipp ge Koordinationsfähigkeit ist jedoch unerlässlich für eine
Haltung und Tonus von Rumpf, Stellung von Becken, ökonomische Stimmproduktion.Sie pressen kompensato-
Kopfposition und den Tonus im fazio-oralen Trakt risch und begünstigen so einen forcierten, festen Stimm-
(u. a. mit Hilfe der Kieferkontrolle, taktiler Inputs, einsatz. Die Tonhaltedauer beträgt oft nur 1 bis 2 Sekun-
Bewegungsimpulse) normalisieren und ggf. die den. Dieser Ablauf ist nicht ökonomisch, da sehr viel
Indikation für die Anpassung einer Gaumenplatte Luft verbraucht wird. Oft sind anfangs nur ein oder zwei
prüfen. Silben pro Ausatemzug möglich und diese klingen oft
sehr monoton.
5.6 · Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigung und einige Lösungsansätze
139 5

i Praxistipp : Beachte
Um Stimme geben zu können,Töne halten zu kön- Die Tonhaltedauer ist umso länger, je dosierter
nen und um später den Stimmeinsatz und Stimm- der Ausatem abgegeben werden kann.
absatz – das Starten und Stoppen der Stimme –
bei der Ausatmung zu kontrollieren, bedarf es einer i Praxistipp
guten Muskelkoordination. Der Bewegungsansatz Mit stimmhaften Konsonanten, also Konsonanten bei
kommt dabei vom Zwerchfell. Die Auswirkung der denen Stimme produziert wird z. B. »m«, »n« und »l«,
Zwerchfellbewegung ist am Bauch zu spüren, kann an der Verbesserung der Atem-Stimm-
da die abdominalen Strukturen dem Zwerchfell Koordination und an der Verlängerung der
ausweichen müssen. Phonationsdauer gearbeitet werden.
Daher ist der Bauch eine gute Stelle, um zu spü-
ren, ob das Zwerchfell ökonomisch arbeiten kann. Bei der Arbeit an der Verlängerung der Tonhaltedauer
und den Betonungsvariationen ist auf eine Balance zwi-
: Beachte schen Vokalen und Konsonanten zu achten (Coombes
Ein erstes Ziel bei Patienten mit einer Hirnschädigung 2001b; Smith 2000).
kann das Erreichen einer Tonhaltedauer von 4 Sekun-
den sein. : Beachte
Eine Kombination von Lauten ist sinnvoll, da Sprechen
Zum Erlernen des willkürlichen Startens und Stoppens nicht aus isolierten Bewegungen besteht.
der Stimme soll der Patient (. Abb. 5.10) auf einen Aus-
atemzug mehrmals die Silbe »ho« sprechen.Dabei bewegt Artikulation
die Therapeutin mit ihm zusammen seine Arme bei jeder Wenn die Zunge keine präzisen Artikulationsbewegun-
Silbe weiter zu seinem Körper. Die Therapeutin unter- gen ausführen kann, verändert sich nicht nur der Sprech-
stützt die Ausatmung an den Flanken. Später kann dann klang, sondern auch die Artikulation. Die Aussprache
der Einsatz zweier Silben mit Bewegungskontrasten wird dann undeutlich, »verwaschen«.
(»hu« – »hi«) folgen. Eine durch hyperextendierten Nacken weit in den
Mundraum und Rachen zurückgezogene Zunge, über-
nimmt meist kompensatorisch Haltearbeit zur Kopf- und
Kieferstabilisierung. Diese feste, »fixierte« Zunge, kann
sich kaum bewegen und daher keine akkuraten Sprech-
bewegungen ausführen.
U.a.beeinträchtigen Lähmungen der Zunge das Bewe-
gungsausmaß und die Ansteuerung des Artikulationsor-
tes.

i Praxistipp
Für ein verständliches, unauffälliges Sprechen ist
die Koordination und Feinabstimmung von atem-
rhythmisch angepasster Phonation und Artikula-
tionsbewegungen Voraussetzung.
Oft ist auch beim Phonieren die stabilisierende
Funktion des Unterkiefers nicht mehr gewährleistet
und es bedarf daher einer erhöhten Unterstützung
durch den Kieferkontrollgriff, um der Zunge und
den Lippen eine Basis für selektive, zielgerichtete
Bewegung beim Schlucken und Sprechen zu geben
und so die stabilisierende Rolle des Unterkiefers
. Abb. 5.10. Kontrollieren der Ausatemluft bei Phonation auf »ho« zu ermöglichen.
140 Kapitel 5 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …

Bei der Anbahnung von Konsonanten werden neben i Praxistipp


auditiven besonders taktile und visuelle Hilfen (visuelles Nach Möglichkeit sollten auch die 7 prosodischen
Vorbild der Therapeutin) eingesetzt. Elemente in die Therapie miteinbezogen werden
Eine einfache Frage bestimmt das Vorgehen, den Ein- und nicht nur die Verbesserung der Artikulation
satz der Hilfen bei der Artikulationsanbahnung: fokusiert werden (Coombes 1991).
»Was muß wohin?« (Coombes 2001a,b) Es kann hilfreich sein, rhythmische Elemente
bei der Verbesserung der Stimmqualität und
> Beispiel der Erhöhung der Silben- oder Wortanzahl
Soll ein »l« angebahnt werden, bekommt das »Was« – pro Ausatemzug einzusetzen.
hier die Zungenspitze – einen Input. In fortgeschrittenen Therapiestadien kann
5 Die Reaktion wird beobachtet: Ist der Input aus- eine Kombination von Phonation und Bewegung,
reichend? Bewegt sich die Zunge zum Artikulationsort z. B. dem Gehen entlang einer Therapiebank,
oder reicht der Input noch nicht aus? Dann muss eine angestrebt werden.
weitere Hilfe dazukommen.
Das »Wohin«, der Artikulationsort, muss dann > Beispiel
ebenfalls einen Input bekommen. Bei der Anbahnung In . Abb. 5.11 unterstützt die Therapeutin den
des »l« wäre der Artikulationsort die Papilla incisiva, Patienten am Rumpf, während er an der Bank entlang
am Übergang Schneidezähne zum Gaumen. Schritte nach vorne macht. In Kombination zu
einem Schritt phoniert er ein »o«.
i Praxistipp
Taktile Reize zum Spüren des Artikulationsorgans
(z. B. Zunge) und zum Finden des Artikulationsortes 5.7 Ausgangsstellungen
sind sehr effektiv. Die motorische Antwort zeigt, ob für die Behandlung
die eingesetzten therapeutischen Hilfen greifen.
Später kann man ein- und mehrsilbige Wörter, Das Positionieren und die Lagerung der Patienten sind
kurze Sätze erarbeiten. sowohl für die Behandlung als auch für deren Ruheperio-
Mit dem Sprechatem werden oft Speichelresi- den notwendig und wichtig.Die konsequente Anwendung
duen im Larynx und Pharynx produktiv bewegt, der verschiedenen Positionen sind in einer Optimierung
dadurch gespürt und es kommt zum Husten. Nach des Muskeltonus, in einer Verbesserung der sensorischen
dem spontanen oder (an den Flanken) unterstützten Rückmeldung, Vertiefung der Atmung sowie in einer Re-
Husten wird das Nachschlucken ggf. durch taktile duzierung von sekundären Komplikationen zu sehen
Schluckhilfe fazilitiert. (Lange et al. 1999; Schenker 2000).
Innerhalb des Bobath Konzeptes ist der Begriff
Prosodie Schlüsselregionen entstanden (Gjelsvik 2002). Dies sind
Prosodie spielt neben der Artikulation eine wesentliche bestimmte Körperregionen über die man Bewegung,
Rolle in der Verständlichkeit des Sprechens. Ein beträcht- Haltung, Gleichgewicht, Funktion, Selektivität und Mus-
licher Teil unserer Patienten hat aufgrund der zentralen keltonus effektiv beeinflussen kann (Paeth Rohlfs 1999;
Sprechstörung auch eine veränderte Prosodie, d. h. sie Edwards 2002; Gjelsvik 2002). Einige Autoren benutzen
haben nicht die Möglichkeit,das Sprechen durch eine Ver- den Begriff Körperschlüsselpunkte (Paeth Rohlfs 1999;
änderung der Betonung, des Sprechrhythmus, ein Variie- Edwards 2002), wobei die inhaltliche Bedeutung für die
ren der Tonhöhe und der Lautstärke sowie eine Vergröße- Therapie bei beiden Termini im Prinzip übereinstimmt:
rung der Silbenanzahl bzw. im späteren Stadium der Wör- Die Schwerkraft wirkt auf die Schlüsselregionen ein.
teranzahl abwechslungsreich und so für den Zuhörer Gesunde Menschen können sich adäquat anpassen. Im
interessant zu gestalten. Für eine natürliche Prosodie sind Gegensatz dazu können neurologische Patienten oft nicht
auch die Variationen des Atemwegwiderstandes (airway auf Veränderungen reagieren. Wird z. B. in Rückenlage
resistance) und kleine, differenzierte Veränderungen im der Schultergürtel von der Schwerkraft passiv nach hinten
intra-oralen Druck notwendig. – in Richtung Unterlage – gezogen (Retraktion),bleibt der
5.7 · Ausgangsstellungen für die Behandlung
141 5

und das Material unter dem Kopf dünner zu formen als


unter dem Nacken (Pickenbrock 2002).

i Praxistipp
Bei allen Ausgangsstellungen sollte der Patient
nicht für die gesamte Zeitdauer der Behandlung
statisch in einer Position bleiben. Die Möglich-
keiten zur Bewegung und Aktivität sollten in alle
Ausgangsstellungen gegeben sein.

Die Menge des benötigten Lagerungsmaterials ist von


Patient zu Patient unterschiedlich.Die Beschaffenheit des
Materials sollte ausreichend unterstützend, komfortabel
und formstabil sein,d. h.es sollte im Lauf der Zeit nicht zu
stark nachgeben und so die Unterstützung reduzieren.

i Praxistipp
Es ist wichtig, die jeweils individuell angepasste Aus-
gangsstellung für den Patienten in der Therapie zu
finden und seine Reaktionen zu evaluieren. Bringt
die gewählte Position nicht das gewünschte Ergeb-
nis, müssen kleinere oder größere Veränderungen
vorgenommen werden oder sogar eine andere
Ausgangsstellung gewählt werden.

Seitenlage
Die Seitenlage bietet eine große Unterstützungsfläche,
. Abb. 5.11. Die Therapeutin unterstützt den Patienten am Rumpf, wodurch sich der Patient auf die selektive Aufgabe, z. B.
während er an der Bank entlang Schritte nach vorne macht. In Kombi- Stimme geben,konzentrieren kann,ohne sich gleichzeitig
nation zu einem Schritt phoniert er ein »o« mit dem Problem beschäftigen zu müssen, seine Haltung
gegen die Schwerkraft zu finden. Diese Position kann so-
wohl für Patienten mit zu niedrigen als auch zu hohen
Patient ohne Unterstützung oft in dieser Position fixiert Grundtonus in verschiedenen Variationen angewendet
und braucht Hilfe, um die nötigen Anpassungen und Kor- werden.
rekturen vorzunehmen.
4 Eine dem Therapieziel angepasste Stellung und ! Vorsicht
Unterstützung durch die Beeinflussung der Schlüssel- In Seitenlage besteht das Risiko einer Kompression
regionen ist anzustreben. des Schultergürtels. Dies kann zu einer verringerten
4 Die Positionierung und Unterstützung des Schulter- Effizienz der Atmung führen.
gürtels, des Beckens, des Kopfes und des Nackens
benötigen spezielle Aufmerksamkeit. Besteht die Gefahr einer Kompression der Schulter,sollten
Rumpf und Kopf durch Lagerungsmaterial so unterstützt
Die Lagerung des Kopfes gestaltet sich oft schwierig, da werden, dass kein Gewicht auf der unten liegenden Schul-
die zu unterstützende Fläche des Kopfes größer ist als die ter ist. Dadurch kann auch die Effizienz der Atmung
des Nackens. Um den Abstand zwischen Schultergürtel verbessert werden. Zugleich muss das 7 Abdomen unter-
und Kopf zu halten und gleichzeitig dem Verlauf der stützt werden, da sein Gewicht in dieser Position mit der
Nackenlordose zu folgen, muss bei der Lagerung darauf Schwerkraft von der Körpermitte weg zieht und somit
geachtet werden, die Halswirbelsäule gut zu unterstützen auch die Atmung negativ beeinflussen kann.
142 Kapitel 5 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …

Die beiden folgenden Ausgangspositionen sind be- stabilen Bezugspunkt, der es ihnen ermöglicht,
sonders hilfreich für Patienten, die bei Aktivität im Sitzen Gewicht nach vorne abzugeben und ihren Streck-
oder Stehen (Schlucken, Sprechen …) deutliche 7 assozi- tonus zu reduzieren.
ierte Reaktionen zeigen:
Stehen
Asymmetrische Lagerung ! Vorsicht
Die Therapeutin kann sich für eine asymmetrische Lage- Das Stehen erfordert viel Arbeit gegen die Schwer-
rung entscheiden (. Abb. 5.9). Dabei ist das Bein, auf dem kraft, da die Unterstützungsfläche (nur die Füsse)
der Patient liegt gestreckt und die unten liegende Rumpf- relativ klein ist. Diese Position zu halten, erfordert
seite verlängert. Die oben liegende Körperseite ist ver- von den Patienten einen höheren Muskeltonus
5 kürzt und das oben liegende Bein ist in Flexionsstellung und daher oft eine größere Anstrengung als dies
positioniert und gelagert.Durch die asymmetrische Lage- in Seitenlage oder im Sitz der Fall ist.
rung werden 7 Extensions- und Flexionsmuster miteinan-
der kombiniert. In dieser Ausgangsstellung befinden sich der Brustkorb
und somit auch das Zwerchfell in einer physiologisch
Symmetrische Lagerung günstigeren Position, in der die Atmung und Stimm-
Die Therapeutin kann sich auch für eine symmetrische gebung physiologisch arbeiten und/oder effizient unter-
Position entscheiden, bei der beide Beine angebeugt stützt werden kann. Zugleich wird mehr Aktivität von
sind. Der Vorteil dieser Position kann u. a. eine Erleichte- einer – nicht effizient arbeitenden – Rumpfmuskulatur
rung beim Abhusten und eine verbesserte Stellung des gefordert (Davies 1990; Edwards 2002). Das Stehen bietet
Brustkorbes sein. viele Variationsmöglichkeiten.

Sitzende Ausgangsstellung i Praxistipp


! Vorsicht Unterstützungsmöglichkeiten für das Stehen:
Die sitzende Position erfordert vom Patienten 4 Ggf. dorsale Knieschiene (am günstigsten indivi-
mehr Arbeit gegen die Schwerkraft als eine liegende duell aus Gips oder ähnlichem Material angefertigt)
Ausgangsstellung. 4 Stehpult / Stehbarren / Standing
4 Stark erhöhter Sitz mit leichter Unterstützung am
Unterstützung ist daher für hypo- als auch für hypertone Gesäß z. B. durch hochgestellte Behandlungsbank
Patienten sinnvoll und nützlich. 4 Angelehnter Stand an der Wand oder in einer Ecke
4 Ein Fuß erhöht in Schrittstellung
i Praxistipp 4 Unterarmstütz auf einem stabilen Gegenstand
Es gibt verschiedene Variationen, das Sitzen
zu unterstützen: Rückenlage
4 »Hypotone« Patienten brauchen beim Sitzen Auch diese Ausgangsstellung wird bei der Behandlung
i. d. R. mehr Unterstützung von hinten, da sie nicht von Atmung und Stimme eingesetzt. Sie bedarf jedoch
genügend Extension (Streckaktivität) haben, um sich großer Aufmerksamkeit:
gegen die Schwerkraft aufzurichten.Werden sie nur
von vorn unterstützt, bleibt das Becken nach hinten ! Vorsicht
gekippt und sie sacken in Brusthöhe ein (Rund- Dies ist die Position, in der Patienten mit insuffizien-
rücken). Daraus resultiert eine Hyperextension ter Rumpfmuskulatur oft mit Schultergürtel in
(Überstreckung) des Nackens. Retraktion liegen! Sie kann die Anhebung des Brust-
4 »Hypertone« Patienten brauchen beim Sitzen korbes (Rippenhochstand) verstärken und eine
i. d. R. mehr Unterstützung von vorne, da sie häufig Überstreckung des Rückens und der unteren
zuviel Extension (Streckaktivität) haben. Sie haben Extremitäten forcieren. Aber auch eine Protraktion
Schwierigkeiten, eine flektierte Haltung einzuneh- des Schultergürtels hat Auswirkungen auf das
men. Eine Unterstützung von vorn gibt ihnen einen Alignment.
6 6
5.7 · Ausgangsstellungen für die Behandlung
143 5

Eine nicht bzw. falsch unterstützte Rücken- wachung oder das Monitoring (z. B. Pulsoxymeter) indi-
lagerung kann das ungünstige Alignment noch ziert, während sie in dieser Position liegen.
verstärken! Eine Variation der Bauchlage ist eine Stellung, die in
Bei Patienten mit Aspirationsgefahr (auch bei der Literatur 30°- oder 135°-Lagerung genannt wird (Lipp
Patienten mit geblockten Kanülen) ist diese Aus- et al. 2000; Lange et al. 1999) und vergleichbar der »stabi-
gangsstellung nur in Einzelfällen zu wählen, da es len Seitenlage« bei Notfällen ist. Der Patient benötigt ven-
das unkontrollierte Abfließen von Speichel in den trale Unterstützung entlang des Rumpfes und Beckens,
Pharynx begünstigen kann und die Aspirations- um zu verhindern, dass er nach vorn fällt und sich
gefahr dadurch deutlich erhöht wird. der Druck auf Schulter und Kopf erhöht oder sogar die
Atmung behindert wird.
i Praxistipp
Um die Nachteile der Rückenlage zu vermeiden, Teamarbeit und Anleitung
werden Rumpf und Kopf in eine leicht flektierte Alle Beteiligten müssen die Bedeutung der verschiedenen
Position gebracht. Positionierungsmöglichkeiten für den Alltag kennen und
Zudem sollten die Arme am Körper entlang in der Lage sein, den Patienten in den entsprechenden
abgelegt und die Beine leicht angebeugt werden. Positionen zu lagern.
Für die Aktivierung der hypotonen abdominalen
Muskeln ist es sinnvoll eine unterstützte Mittel- : Beachte
stellung zu wählen, d. h. die Beine nicht endgradig Die für den Patienten geeigneten Lagerungsvarianten
flektiert oder überstreckt lagern, um eine Basis müssen mit dem interdisziplinären Team, das auch die
für Fazilitation zu gewährleisten. Familien und Helfer mit einschließt, festgelegt und ggf.
geübt werden.
Bauchlage
Die Bauchlage kann besonders nützlich sein, um Sekret in Angehörige, die ihren Patienten bei Besuchen effektiv
den Bronchien und der Lunge zu mobilisieren. Eine unterstützen wollen und/oder sich entschlossen haben,
Untersuchung von Lange et al. (1999) zeigte innerhalb der ihren Patienten zu Hause weiterzuversorgen, werden in
ersten dreißig Minuten eine Verbesserung der Lungen- vereinbarten Therapiestunden angeleitet.
belüftung und Sauerstoffkonzentration sowie des Kreis- . Abbildung 5.12 zeigt die Einbeziehung eines Ange-
laufs. hörigen während einer Therapie. Der Sohn des Patienten
wird von einer Therapeutin angeleitet, die Vertiefung der
! Vorsicht Ausatmung an den Flanken zu unterstützen, die für ein
Diese Position darf nur in Absprache mit dem effektives Husten und die Stimmgebung notwendig ist.
behandelnden Arzt genutzt werden, da sie u. a. Die Trachealkanüle ist vorher entblockt worden, nach
bei Herzinsuffizienz oder erhöhtem Hirndruck Aufsetzen eines Sprechventils auf die Trachealkanüle
kontraindiziert sein kann. kann der Patient sprechen. Die Co-Therapeutin unter-
stützt den Patienten dabei zusätzlich am Sternum.
Für Patienten mit schweren neurologischen Hirnschädi- . Übersicht 5.7 fasst die wichtigsten Therapieaspekte
gungen (mit oder ohne Trachealkanüle) ist die Über- zusammen.
144 Kapitel 5 · Atmung und Stimme: wieder sprechen …

Übersicht 5.7: Wichtige Therapieaspekte


4 Die Therapie ist ein interaktiver Prozess
zwischen Therapeutin und dem Patienten:
Die gewählte Ausgangsstellung, die Therapeu-
tenhände und die Aktivitäten beeinflussen
aktiv die Probleme des Patienten.
4 Das Ziel der Behandlung in der F.O.T.T. ist die
Wiedererlangung möglichst physiologischer
Bewegungsmuster u. a. durch adäquate taktile
5 und propriozeptive Inputs.
4 Daher sind Kenntnisse der physiologischen
Bewegungsabläufe und ihrer Abweichungen
bei Patienten mit Hirnschädigungen sowie
therapeutische Fertigkeiten für die F.O.T.T.-
Therapeutin notwendig, um den Patienten
wieder zu möglichst normalen Funktionen
zu verhelfen.
4 Die F.O.T.T. bedient sich dabei der taktilen
Unterstützung und Fazilitation. Der Patient
kann eine Bewegung nur wiedererlernen,
wenn er die (fazilitierte) Bewegung spüren
kann.Wichtig sind dabei die erarbeitete Aus-
gangsstellung und die Haltung des Patienten,
denn sie geben dem Patienten die Möglichkeit,
sein eigentliches Potential wieder zu nutzen.
4 Im ungünstigsten Fall beginnt die Therapie mit
einem lebensnotwendigen minimalen Stan-
dard (Schutz der Atemwege, z. B. durch eine
geblockte Trachealkanüle und Lagerung,
Einbeziehen der Hände, des Mundes, taktile
. Abb. 5.12. Angehörigenarbeit: Anleitung eines Angehörigen bei Stimulation) und endet im Idealfall mit norma-
der Unterstützung der Ausatmung (Aus Gratz 2002) lem Sprechen (Atem-, Stimm-, Schluck- und
Sprech-Koordination).
Literatur
145 5

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6

Die Trachealkanüle:
Segen und Fluch
Rainer O. Seidl und Ricki Nusser-Müller-Busch

6.1 Indikationen zur Tracheotomie – 148

6.2 Arten der Tracheotomie – 149


6.2.1 Temporäre Tracheotomie – 149
6.2.2 Plastische Tracheotomie – 151
6.2.3 Komplikationen der Tracheotomie – 153

6.3 Arten der Trachealkanüle – 153


6.3.1 Blockbare Kanülen – 153
6.3.2 Nichtblockbare Kanülen – 155
6.3.3 Sonstige Kanülen – 157
6.3.4 Kanülenzubehör – 157

6.4 Trachealkanülenwechsel
und Tracheostomapflege – 157
6.4.1 Einsetzen und Befestigen der Trachealkanüle – 157
6.4.2 Wechsel der Trachealkanüle – 158
6.4.3 Pflege von Trachealkanülen und des Tracheostomas – 159
6.4.4 Komplikationen am Tracheostoma – 160
6.4.5 Komplikationen an der Trachea – 162

6.5 Trachealkanülen und Schlucken – 163

6.6 Entfernung der Trachealkanüle – 166


6.6.1 Indikationen zur Entfernung einer Trachealkanüle – 166
6.6.2 Entfernung der Trachealkanüle – 167

Literatur – 167
148 Kapitel 6 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch

Trachealkanülen sind für den Patienten ein Segen, da sie Der regelmäßige Trachealkanülenwechsel muss Rou-
ihn am Leben halten, (Be-)Atmung ermöglichen oder er- tine in der neurologischen Rehabilitation werden. Leider
leichtern. Sie sind aber auch ein Fluch, da sie die Kommuni- erschweren die in der Intensivversorgung vermehrt zum
kation und das Schlucken behindern, Sinne wie Riechen Einsatz kommenden Punktionstracheotomien den Tra-
und Schmecken einschränken. chealkanülenwechsel und die Therapie von Schluckstö-
Neurologische Patienten mit einer 7 Trachealkanüle rungen erheblich. Bei Verdacht auf eine Schluckstörung
sind meist 7 multimorbide, ihrer Stimme – oft auch ihrer sollte daher in der initialen Versorgung immer eine kon-
Kommunikationsfähigkeit – beraubt, und haben vielfach ventionelle Tracheotomie durchgeführt werden.
zusätzlich eine mechanische Behinderung oder Beein-
trächtigung des Schluckvorganges.Folge ist,dass beständig
Speichel aus dem Tracheostoma und der Kanüle übertritt 6.1 Indikationen zur Tracheotomie
und/oder aus dem Mund läuft.
6 Das betreuende Personal und die Angehörigen werden : Beachte
durch einen solchermaßen gehandikapten Patienten vor Unter einer Tracheotomie oder einem Luftröhren-
eine Vielzahl von Aufgaben und Problemen gestellt.Dabei schnitt versteht man die Eröffnung der Luftwege
fehlt es an vielen Orten an Wissen und Routine im Umgang unterhalb des Kehlkopfes.
mit Trachealkanülen. Welche Kanüle ist die richtige? Wann
kann die Kanüle wieder entfernt werden? Das 7 Dekanül- Tracheotomien werden elektiv, d. h. unter geordneten
ement erfolgt oft willkürlich, ohne klare Kriterien. Oft sind chirurgischen Bedingungen z. B. zur Vorbereitung eines
die Beteiligten überfordert und haben Angst, muss doch chirurgischen Eingriffs oder notfallmäßig, bei einer Luft-
beim 7 Absaugen in eine Körperhöhle eingedrungen wer- not, die nicht durch eine Intubation zu beherrschen ist,
den.Gelegentlich hat es sogar den Anschein,dass die Reini- durchgeführt.
gung eines eingekoteten Menschen weniger Überwin- Der Begriff der Tracheotomie wird in diesem Aufsatz
dung kostet, weniger Ekel erregt als Speichel, der aus dem identisch dem der Tracheostomie gesetzt. . Übersicht 6.1
Mund,Tracheostoma und der Trachealkanüle läuft. stellt die Indikationen für eine Tracheotomie dar.
Es ist für eine suffiziente Versorgung solcher Patienten
unbedingt notwendig, das Verständnis für die Vielzahl der
Abläufe und der möglichen Probleme und deren Lösungen Übersicht 6.1: Indikationen für
bei der Versorgung mit einer Trachealkanüle zu verbessern. eine Tracheotomie
4 Langzeitbeatmung
Die ältesten Erfahrungen mit Tracheotomien und der Ka- 4 Stenosierung des Larynx durch
nülenversorgung gab es früher im Bereich der Laryngolo- 4 Tumore,
gie und Chirurgie, die meisten Erfahrungen und Routine 4 Schwellungen (z. B. durch Bestrahlung,
liegen heute im Bereich der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. allergische Reaktion),
Alle in der HNO tätigen Ärzte und Pflegenden beherr- 4 Beidseitige Stimmlippenparese
schen den Trachealkanülenwechsel und auch die HNO- 4 Subglottische Stenose
Patienten und ihre Angehörige werden bei Bedarf ange- 4 Pulmonale Erkrankungen (zur Erleichterung
lernt. der Bronchialtoilette)
Auf diese Erfahrungen sollte – unter sorgfältiger Be- 4 Schluckstörungen mit permanenter
rücksichtigung der Besonderheiten bei Patienten mit Aspirationsgefahr (neurogen und nach
neurogenen Schädigungen – in der neurologischen Reha- operativen Eingriffen)
bilitation zurückgegriffen werden. So wird in diesem Ka-
pitel der in der HNO-Heilkunde selbstverständliche tägli-
che Wechsel der Trachealkanüle, das vollständige Säu-
bern des Larynx und der Trachea als Standard propagiert.
Im Vergleich dazu: Niemand würde einen inkontinenten
Patienten 10 Tage lang in seinen nassen Windeln liegen
lassen!
6.2 · Arten der Tracheotomie
149 6

Tracheotomien werden vorwiegend in der HNO-Heilkun- 6.2 Arten der Tracheotomie


de und der Intensivmedizin durchgeführt. HNO-Ärzte tra-
cheotomieren Patienten vornehmlich wegen Stenosen der Man kann unterscheiden zwischen
oberen Atemwege und postoperativer Schluckstörungen. 4 der temporären und
Intensivmediziner tracheotomieren hingegen kritisch 4 der dauerhaften oder plastischen Tracheotomie.
kranke Patienten, um vorübergehend eine Beatmung zu
erleichtern und die Spätfolgen einer translaryngealen
Intubation vermeiden. 6.2.1 Temporäre Tracheotomie
Die größte Zahl der Tracheotomien wird bei Patienten
mit einer Langzeitbeatmung durchgeführt. Da alle Pa- Die Anlage eines temporären Tracheostomas erfolgt
tienten mit einem kritischen Gesundheitszustand eine bei Patienten, bei denen damit zu rechnen ist, dass das
Erstbehandlung auf einer Intensivstation erhalten, liegt Tracheostoma im Verlauf der nächsten 4–6 Wochen wie-
die Indikationsstellung für ein Tracheotomie heute in er- der verschlossen werden kann.
ster Linie in der Hand von Intensivmedizinern. In einer
Konsensuskonferenz von Intensivmedizinern wurden die : Beachte
Indikationen für eine Tracheotomie festgelegt (Graumül- Bei der temporären Tracheotomie wird eine vorüber-
ler et al. 2002): gehende Verbindung zwischen Haut und Trachea
4 Ist die zu erwartende Intubationsdauer weniger als geschaffen.
10 Tage, ist eine translaryngeale Intubationsdauer
ausreichend. Zur Anwendung kommen heute die konventionelle Tra-
4 Ist die zu erwartende Intubationsdauer länger als cheotomie sowie verschiedene endoskopische Techniken.
21 Tage, soll eine Tracheotomie nach 3 bis 5 Tagen
durchgeführt werden. Konventionelle, temporäre Tracheotomie
4 Bei einer unklaren Intubationsdauer soll täglich die Nach einem Hautschnitt in Längs- oder Querrichtung
Indikation für eine Tracheotomie geprüft werden. wird die prälaryngeale Muskulatur auseinandergedrängt
(. Abb. 6.2a).
Dies spiegelt sich auch in einer Untersuchung über Querschnitte sollen eine geringere Narbenbildung
den Zeitpunkt für eine Tracheotomie wieder (. Abb. 6.1, haben, da sie dem Verlauf der Hautlinien folgen; nach
Oeken et al. 2002). Dekanülierung verschließen sie sich jedoch in vielen Fäl-
len nicht spontan.
Längsschnitte sind technisch einfacher durchzu-
führen, haben eine geringere Komplikationsrate und ver-
schließen sich in den meisten Fällen spontan (Denecke
1979).
Nach Darstellung des Schilddrüsenisthmus wird die-
ser gespalten, um einen breiteren Zugang zur Trachea zu
gewähren (. Abb. 6.2b). Früher übliche Techniken mit
einer Tracheotomie oberhalb, durch oder unterhalb der
Schilddrüse sollten heute nicht mehr zur Anwendung
kommen. Die nicht gespaltene Schilddrüse erschwert den
Trachealkanülenwechsel und neigt zu Blutungen und
Komplikationen.
Nach Identifikation des Ringknorpels wird mindes-
tens eine Trachealspange unterhalb des Ringknorpels
. Abb. 6.1. Zeitpunkt der Tracheotomie auf den Intensivstationen in eine 7 Inzision (Einschnitt) im Zwischenraum der Tra-
Deutschland im Jahre 1999 chealspangen über ein Drittel der Trachealvorderwand
ausgeführt.
150 Kapitel 6 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch

a b

c d

. Abb 6.2 a–d. Konventionelle Tracheotomie. a Nach Spalten der Trachealappens Blick auf den durch den Mund eingeführten Beat-
Haut und der prälaryngealen Muskulatur sichtbares Schilddrüsenge- mungstubus. d Einsetzen der Trachealkanüle mit einem Spekulum zum
webe. b Nach Durchtrennen der Schilddrüse sichtbare Trachea mit den Ende der Operation
Knorpelspangen. c Nach Eröffnen der Trachea und Zurückschlagen des
6.2 · Arten der Tracheotomie
151 6

Wird die Öffnung der Trachea über mehr als ein winde. Auch in diesem Fall sollte der Dilatationsvorgang
Drittel der Tracheavorderwand geführt, werden die endotracheal beobachtet werden.
Seitenwände der Trachea instabil und fallen in das
Trachealumen. Folge ist, dass sich nach Verschluss des Translaryngeale Tracheotomie nach Fantoni
Tracheostomas eine Stenose bilden kann,die bei Röntgen- Auch hier wird die Punktion der Trachea von außen zwi-
aufnahmen eine typische sanduhrförmige Gestalt hat. schen der 2. und 3. Trachealspange durchgeführt. Der
Anschließend erfolgt das Schneiden eines Lappens Führungsdraht wird dann allerdings von der Trachea aus
aus der Tracheavorderwand, der sich über 2 oder 3 Trache- durch den Mund geführt. An diesen Führungsdraht wird
alspangen erstreckt (. Abb. 6.2c). Der Lappen wird an die eine spezielle Trachealkanüle mit konischer Spitze durch
Haut angenäht. Er kann, wenn das Tracheostoma ver- den Larynx zurückgezogen. Die Dehnung des Tracheo-
schlossen wird, zurückgeklappt werden. stomas erfolgt endolaryngeal durch die Trachealkanüle.
Dieser Trachealappen kann als Leitschiene beim Tra- Abschließend wird die konische Spitze auf der Tracheal-
chealkanülenwechsel dienen (. Abb. 6.2d). Eine Resek- kanüle entfernt und die Kanüle in den zur Lunge führen-
tion der Tracheavorderwand sollte nicht erfolgen (Den- den Schenkel der Trachea positioniert (Oeken et al. 2002).
ecke 1979). Die Fäden werden am 10. Tag nach der Opera-
tion entfernt.
6.2.2 Plastische Tracheotomie
Punktionstracheotomie
Prinzipiell handelt es sich bei allen Arten der Punktions- Gibt es Anlass für die Annahme, dass ein Tracheostoma
tracheotomie um eine Seldinger-Technik. Das heißt, über länger als 6–8 Wochen oder dauerhaft notwendig ist, z. B.
einen Führungsdraht oder Katheter wird eine Tracheal- im Rahmen einer Langzeitbeatmung, sollte eine plasti-
kanüle platziert.Es kommen heute 4 verschiedene Verfah- sche Tracheotomie erfolgen.
ren zur Anwendung.
: Beachte
Punktionstracheotomie nach Ciaglia Bei der Anlage eines plastischen Tracheostomas
Nach initialer Punktion der Trachea und nach Einführen wird eine dauerhafte Verbindung zwischen der Haut
eines Führungsdrahts wird der Punktionskanal von außen und Tracheawand geschaffen.
sukzessive mit Dilatatoren (stiftförmige Instrumente)
verschiedener Größe soweit aufgedehnt, bis eine Trache- Nach Eröffnung der Haut wird die prälaryngeale Musku-
alkanüle eingesetzt werden kann. Die Punktionsstelle latur auseinandergedrängt und der Schilddrüsenisthmus
wird durch Palpation und endotracheale Endoskopie gespalten. Befinden sich in diesem Bereich zystische
mittels Bronchoskop festgelegt und zwischen der 2. und Veränderungen der Schilddrüse werden diese entfernt,
3. Trachealspange durchgeführt. In letzter Zeit wird die um genügend Raum für die Fixierung der Haut an der
Dilatation mit einem einzigen Dilatator (»blue rhino«) Tracheawand zu schaffen.
durchgeführt (. Abb. 6.3 a–d) (Ciaglia 1985). Anschließend wird die Tracheavorderwand über 3
Tracheaknorpel eröffnet und die Tracheavorderwand re-
Dilatationstracheotomie nach Griggs siziert. Dabei muss darauf geachtet werden, dass nicht
Die Vorgehensweise entspricht der Punktionstracheo- mehr als ein Drittel der Vorderwand resiziert wird. An-
tomie nach Ciaglia. Die Dilatation des Gewebes erfolgt in schließend wird die mobilisierte Haut an der Trachea-
diesem Fall jedoch mit einer Spreizpinzette, die bis in die wand fixiert, wobei für eine problemlose Heilung darauf
Trachea eingeführt wird (Griggs et al. 1991). geachtet werden muss, dass die Haut Stoß an Stoß mit der
Tracheaschleimhaut vernäht wird. Die Fäden werden lang
Dilatationstracheotomie nach Frova gelassen, so dass sie nach 10 Tagen problemlos entfernt
Auch bei dem jüngsten Verfahren entspricht die Vorge- werden können und nicht im Tracheostoma zu liegen
hensweise den oben genannten Verfahren. Die Dilatation kommen.
erfolgt bei dieser Methode über eine konisch zulaufenden Plastisch angelegte Tracheotomien müssen operativ
Dilatationsschraube mit einem selbstschneidenden Ge- verschlossen werden.
152 Kapitel 6 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch

a b

c d

. Abb 6.3 a–d. Punktionstracheotomie. a Blick in die Trachea über ein nem Dilatator. d Positionierte Trachealkanüle in der Trachea. (Wir be-
Bronchoskop. b Punktion der Trachea mit sichtbarer Sonde, die durch danken uns für die Überlassung von Bildmaterial zur Punktions-
die Vorderwand geführt wird. c Erweitern des Punktionskanals mit ei- tracheotomie bei Frau Dr. Laun, Unfallkrankenhaus Berlin.)
6.3 · Arten der Trachealkanüle
153 6

6.2.3 Komplikationen der Tracheotomie 6.3.1 Blockbare Kanülen

Intraoperativ kann es zu einer Verletzung des Ösophagus Blockbare Trachealkanülen haben einen einheitlichen
kommen, die sofort durch eine Naht versorgt wer- Aufbau. Sie bestehen aus einem Schlauch, der in die Tra-
den muss. Blutungen können bei einer konventionellen chea reicht über den die Atmung ermöglicht wird, sowie
Tracheotomie durch eine Naht verschlossen werden, einer Manschette, einem »Block« oder »Cuff«, der diesen
bei den Punktionsmethoden müssen diese in einem er- Schlauch gegen die Tracheawände abschließt. Der Cuff ist
weiterten Eingriff operativ versorgt werden.Verletzungen durch einen dünnen Schlauch mit einem außen liegenden
der Trachea oder Fehlpunktionen während einer Punk- Ventil und/oder einem Ausgleichsballon verbunden. In
tionstracheotomie müssen ebenfalls sofort in einem er- den meisten Fällen wird für das Auffüllen des Cuffs Luft
weiterten Eingriff versorgt werden, sind aber insgesamt genutzt, in besonderen Fällen werden andere Gase (Lach-
selten geworden. gas etc.) eingesetzt (. Abb. 6.4 a–c).
Postoperativ sind in den ersten Stunden nach einem Blockbare Kanülen bestehen aus Kunststoff. Dabei
operativen Eingriff Blutungen aus dem Tracheostoma werden sowohl unflexible vorgeformte, als auch flexible
nicht selten. Diese entstehen in den meisten Fällen aus der Kanülen angeboten.
Haut oder dem Schilddrüsengewebe. In der Notfallsitua- Vorteil der flexiblen Kanülen ist, dass sie sich besser
tion kann eine Tamponade (z. B. feuchte Kompresse), die den anatomischen Gegebenheiten eines Patienten anpas-
zwischen die Kanüle und das Tracheostoma gepresst sen können.
wird, die Blutung in den meisten Fällen stoppen. Stärkere
Blutungen müssen im Operationssaal versorgt werden. i Praxistipp
Bei Verletzung der Tracheaknorpel, die insbesondere bei Eingesetzt werden blockbare Kanülen, wenn ein
den Punktionsmethoden gefährdet sind, wird eine opera- vollständiger Abschluss der Trachea notwendig ist.
tive Revision, in den meisten Fällen die Anlage eines plas- In den meisten Fällen ist dies eine externe mechani-
tischen Tracheostomas notwendig. sche Beatmung, z. B. im Rahmen einer Langzeit-
Ein 7 Emphysem der Haut oder des Mediastinums beatmung, in seltenen Fällen eine Schluckstörung
weist auf eine Fehlpositionierung der Kanüle hin. Sie mit Aspiration.
liegt nicht vollständig in der Trachea. Die Beatmungsluft
dringt in das umgebende Weichgewebe. In einem solchen Der Abschluss der Trachea gegen die Kanüle erfolgt durch
Fall muss die Kanüle neu positioniert werden oder ein an- den Cuff. Der Cuff einer Trachealkanüle muss kompri-
derer Kanülentyp gewählt werden.Die Position der Kanü- mierbar sein. Mit jedem Schluck kommt es zu einer Kom-
le muss auf jeden Fall endoskopisch kontrolliert werden. pression der Trachea, diese Kompression muss ausge-
glichen werden, damit keine Schäden an der Trachea ent-
stehen. Moderne Trachealkanülen (»low pressure«) er-
6.3 Arten der Trachealkanüle möglichen dem Cuff einen Druckausgleich durch einen
außen liegenden Ausgleichsballon,der Druckschwankun-
: Beachte gen in der Trachea ausgleicht.
Das grundsätzliche Funktionsprinzip einer Tracheal- Cuffs werden in zwei Formen angeboten: kugelförmig
kanüle besteht darin, die Atemluft unter Aussparung oder walzenförmig. Kugelförmige Cuffs liegen der Tra-
des Kehlkopfes direkt in die Trachea zu leiten. chea nur zu einem sehr kleinen Querschnitt an,walzenför-
mige mit ihrer gesamten Außenfläche. Bei langzeitbeat-
Nach einer Tracheotomie sollen Kanülen das neu geschaf- meten Patienten ist die kleine Auflagefläche eines kugel-
fene Tracheostoma offen halten. Unterschieden werden förmigen Cuffs in den meisten Fällen ausreichend, da nur
kann zwischen der Luftdruck in der Trachea gehalten werden muss.
4 blockbaren und
4 nicht blockbaren Trachealkanülen.
154 Kapitel 6 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch

a
b c

. Abb 6.4 a–d. Blockbare Trachealkanüle. a Über eine Ventil (1)


wird der Cuff (2) mit Luft gefüllt. Das Trachealkanülenschild (3)
dient der Befestigung der Trachealkanüle. b Schematische Darstellung
einer geblockten Trachealkanüle in der Trachea. c Schematische
Darstellung der Funktion einer geblockten Trachealkanüle. Sie soll
den Übertritt von Speichel (blau) in den Trachealbaum verhindern.
d Selbstblockende Kanüle mit einem schaumstoffgefüllten Cuff.
Um die Kanüle einzusetzen, muss die Luft aus dem Cuff entfernt
d
werden. Der Cuff füllt sich nach Öffnen des Ventils
6.3 · Arten der Trachealkanüle
155 6

i Praxistipp personals im Wechsel der Trachealkanüle hin. Eine kom-


Bei Patienten mit einer Schluckstörung, bei denen es plette Reinigung der Trachea ist mit diesen Kanülen nicht
zu einer permanenten Aspiration von Speichel möglich. Verschiedentlich wird eine Dauerabsaugung
kommt, ist die kugelförmige Fläche nicht aus- über diesen Kanal propagiert.
reichend, um die tieferen Atemwege zu schützen.
Die wesentlich größere Auflagefläche der walzen- ! Vorsicht
förmigen Cuffs bietet einen besseren Schutz Eine dauerhafte Beschallung eines Patienten durch
gegen eine Aspiration. ein Absauggeräusch im Kehlkopf ist, insbesondere
Beim Füllen der walzenförmigen Cuffs ist darauf bei schwer betroffenen Patienten, nicht zu akzeptie-
zu achten, dass sich die Cuffmembran vollständig ren!
entfalten muss, um der Tracheawand anzuliegen.
Deshalb muss der Cuff nach Einsetzen der Kanüle
erst mit mäßigen Überdruck gefüllt werden, um ihn 6.3.2 Nichtblockbare Kanülen
dann zu entlasten.
: Beachte
: Beachte Nichtblockbare Kanülen stellen eine Verbindung
Flüssigkeiten, die nicht komprimierbar sind, zwischen der Trachea und der äußeren Haut her.
dürfen nicht in den Cuff gefüllt werden!
Der Druck im Cuff sollte 25 mmHg nicht über- In seltenen Fällen handelt es sich nur um ein einfache
schreiten (»grüner Bereich« des Cuffdruckmessers). Rohr (»Hummerschwanz«). In den meisten Fällen han-
delt es sich um ein doppeltes Rohr, die Kanüle beinhal-
25 mmHg ist der Druck in den Kapillarien der Trachea- tet zusätzliche eine sogenannte »Seele« (. Abb. 6.5a,c).
schleimhaut. Wird dieser überschritten, ist eine Versor- Diese Seele kann z. B. für eine Reinigung entnommen
gung der Tracheaschleimhaut mit Blut nicht mehr ge- werden, ohne die gesamte Kanüle entfernen zu müssen.
sichert, die Schleimhaut atrophiert und geht zugrunde. Hergestellt werden diese Kanülen heute in den meisten
In vielen Fällen ist allerdings durch einen Cuffdruck von Fällen aus thermoplastischen Kunststoffen, die früher
25 mmHg ein Abschluss der Trachea vor abfließendem üblichen Metallkanülen (»Silberkanülen«) sollten wegen
Speichel nicht vollständig möglich. In solchen Fällen ist der fehlenden Anpassung an die anatomischen Gegeben-
ein erhöhter Cuffdruck notwendig. Die Tracheaschleim- heiten nur noch in Ausnahmefällen zum Einsatz kom-
häute müssen dabei regelmäßig kontrolliert werden und men.
die Position des Cuffs in Abständen geändert werden. In- Sprechkanülen haben in ihrem Verlauf zusätzlich ein
dustriell erstellte Kanülen mit zwei Cuffs, die wechselnd Öffnung oder ein Sieb (Fensterung), so dass beim Aus-
geblockt und entblockt werden, versuchen dieses Prinzip atmen die Luft durch die Trachealkanüle in den Larynx
umzusetzen. geleitet werden kann. Ventile mit einer Klappe, Sprech-
Selbstblockende Trachealkanülen haben im Cuff ventile, die auf die Kanüle gesetzt werden und sich beim
Schaumstoff, der sich selbst entfaltet. Bei diesen Kanülen Einatmen öffnen, ermöglichen beim Einatmen die Tra-
muss die Luft aus dem Cuff entfernt werden,bevor die Ka- chealkanüle zu benutzen (»kurzer Weg«) und beim Aus-
nüle eingesetzt werden kann. Nach Platzierung der Kanü- atmen über den Kehlkopf zu atmen (»langer Weg«)
le wird der Verschluss des Cuffschlauches geöffnet, der (. Abb. 6.5 b–d).
Cuff füllt sich von selbst mit Luft. Um eine Druckaus-
gleich zu ermöglichen, darf der Cuffschlauch nicht ge- i Praxistipp
schlossen werden (. Abb. 6.4d). Bei Sprechkanülen tritt die Luft über das Sieb in
Verschiedene blockbare Kanülen werden mit einem den Kehlkopf. Bei allen anderen Kanülen (»Biesalski-
zusätzlichen Kanal angeboten, der in Richtung Kehlkopf Kanülen«) muss die Ausatemluft an der Kanülen
weist und ein 7 Absaugen des Patienten ermöglicht, vorbei in den Kehlkopf treten. Das kann für den
ohne die Kanüle zu wechseln. Diese Lösung erscheint für Patienten eine erheblich erhöhte Atemarbeit
verschiedene Pflegeeinrichtungen von Vorteil zu sein, bedeuten und das Sprechen, z. B. wenn die Kanüle
weist aber gleichzeitig auf die fehlende Praxis des Pflege- 6
156 Kapitel 6 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch

zusätzliche einen Cuff besitzt, unmöglich machen. den.Wird das Sprechventil bei einer Sprechkanüle
Sprechventile auf entblockten Kanülen sollten in entfernt und durch einen Verschluss (Stopfen/
diesen Fällen nur eine kurzzeitige Lösung sein und Deckel/Kappe) ersetzt, ermöglicht das eine vollstän-
möglichst bald durch Sprechkanülen ersetzt wer- dige Atmung über den Kehlkopf (. Abb. 6.5 e).

a b c

. Abb 6.5 a–e. Nichtblockbare


Trachealkanülen a mit sichtbarer
Seele. b Sprechkanüle mit einem Sieb
(Pfeil), das die Ausatemluft durch den
Kehlkopf lenkt. c Die Seele ist entnom-
men und liegt neben der Kanüle.
Das Ventil an der Vorderseite
(kleines Bild) verschließt sich beim
Ausatmen und öffnet sich beim
Einatmen. d Schematische Darstellung
einer Sprechkanüle, bei der die Aus-
atemluft über den Kehlkopf gelenkt
wird. e Sprechkanüle, mit einem Deckel
d e
verschlossen
6.4 · Trachealkanülenwechsel und Tracheostomapflege
157 6

6.3.3 Sonstige Kanülen Bei Patienten mit einer Schluckstörung sind solche
Aufsätze in den meisten Fällen nicht sinnvoll,wenn der Pa-
Kombinationskanülen tient häufig abgesaugt werden muss. Der Speichel in der
Zunehmend finden Kanülen Verbreitung, die die Funk- Trachea verhindert sicher ein Austrocknen der Schleim-
tionsprinzipien einer blockbaren Kanüle mit dem einer haut. Gleichzeitig verhindern Filter auf der Kanüle das
Sprechkanüle kombinieren. Abhusten, sie verkleben durch den Schleim und erschwe-
ren dann die Atmung.
! Vorsicht
Eine blockbare Kanüle mit einem Fenster ermöglicht ! Vorsicht
nicht die Aufgabe einer blockbaren Kanüle, den Es kann zu massiven Komplikationen mit
Abschluss der Trachea! Erstickungen durch solche Filter bei Patienten
mit einer Schluckstörung kommen.
Die Aspiration findet über das Fenster statt. Nur wenn
eine das Fenster verschließende Seele vorhanden ist, ge- Für den Aufsatz eines Filters bei nichtblockbaren Kanülen
lingt der vollständige Abschluss der Trachea. Wird diese stehen Adapter zur Verfügung.
Seele jedoch entfernt, um ein Sprechen zu ermöglichen,
muss eine vorherige Reinigung des Kehlkopfes und der Sprechaufsätze
Trachea von Speichel erfolgen. Dies ist durch eine Kanüle Sprechaufsätze sind Ventile, die das Einatmen über die
jedoch nicht ausreichend möglich! Kanüle (das Ventil ist geöffnet) und das Ausatmen über
den Kehlkopf (das Ventil ist geschlossen) ermöglichen.
: Beachte Diese Ventile finden auch bei blockbaren Kanülen Ver-
Diese Kanülen sollten nur in Einzelfällen zum Einsatz wendung.
kommen.
! Vorsicht
Stomaplatzhalter Die Kanülen müssen vor dem Aufsetzen des
Steht die Entfernung einer Trachealkanüle an, muss der Sprechventils entblockt werden!
Patient jedoch intermittierend abgesaugt werden, kom-
men verschiedene Platzhalter zum Einsatz. Die äußere In vielen Fällen ist der Raum zwischen der Kanüle mit
Form erinnert an ein T, der lange Schenkel wird in der Cuff und der Tracheawand sehr gering,so dass eine erhöh-
Trachea platziert, der kürzere über das Tracheostoma te Atemarbeit notwendig ist. Mit einer kleineren Kanüle
ausgeleitet. Die Befestigung dieser Platzhalter ist in vie- kann diese erleichtert werden, Sprechventile sollten aber
len Fällen schwierig, häufig werden sie durch die Patien- nur eine kurzzeitige Lösung sein.
ten mit einem kräftigen Hustenstoß ausgehustet. Sprech-
kanülen mit einem Deckel sind in vielen Fällen eine
bessere Lösung für den Patienten und das Pflegepersonal 6.4 Trachealkanülenwechsel
(. Abb. 6.5 e). und Tracheostomapflege

Der Wechsel von Trachealkanülen und die Pflege des


6.3.4 Kanülenzubehör Tracheostomas muss zur Vermeidung von Komplikatio-
nen täglich durchgeführt werden.
Filter (»feuchte Nase«)
Da die Befeuchtung der Atemluft durch die Nase und den
Mundraum nach einer Tracheotomie nicht mehr gewähr- 6.4.1 Einsetzen und Befestigen
leistet ist, muss die Atemluft angefeuchtet werden, um ein der Trachealkanüle
Austrocknen der Trachealschleimhaut zu verhindern.
Diese Filter werden in vielen Fällen mit einem Adapter ge- Die leicht eingefettete Trachealkanüle (Oliven-Öl, Kanü-
liefert, der den Anschluss einer Sauerstoffsonde ermög- len-Öl, Xylocain-Gel) wird mit einer Drehung um 90° in
licht. das Tracheostoma eingeführt, die Drehung beim Einfüh-
158 Kapitel 6 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch

ren erfolgt im Uhrzeigersinn – von »Viertel nach Halb«. digung der 7 kranialen Tracheaknorpel oder des Ring-
Jeder übermäßige Druck ist dabei zu vermeiden, um Ver- knorpels,Granulationen und in Folge der Kompression zu
letzungen zu verhindern. Abschließend sollte immer die einer Tracheastenose kommen. Gummibänder, die eine
Position einer neuen Kanüle mit einem Endoskop kontrol- zu straffe Befestigung ermöglichen, sind zu vermeiden.
liert werden.
! Vorsicht
i Praxistipp Zwischen dem Trachealkanülenband und der Haut
Vor Einsetzen der Kanüle sollte an einer Seite der sollen immer zwei Finger passen!
Kanüle bereits das Band zur Befestigung der
Trachealkanüle und die Schlitzkompresse angebracht
werden. Dieses Vorgehen erleichtert die endgültige 6.4.2 Wechsel der Trachealkanüle
Befestigung der Kanüle und minimiert den Reiz in
6 der Trachea und schont den Patienten. Indikationen für einen Wechsel der Trachealkanüle sind:
4 Komplikationen (Luftnot etc.),
Die Reaktion des Patienten auf das Einsetzten der Kanüle 4 Aspiration.
kann sehr unterschiedlich sein. In vielen Fällen ist das
vorsichtige Einsetzen der Kanüle nur von einigen Husten- : Beachte
stößen begleitet. Zur Reinigung der Trachealkanüle und des Larynx
bei Aspiration und um weitere Komplikation (Entzün-
: Beachte dungen s. u.) zu verhindern, muss die Trachealkanüle
Bei wahrnehmungsgestörten Patienten kann die Reak- täglich gewechselt werden!
tion auf das Einsetzen der Kanüle sehr heftig sein.
i Praxistipp
Neben langandauerndem Husten kommt es manchmal zu Ein Austausch der Trachealkanüle muss erfolgen,
einer massiven vagalen Reaktion, die bis zum Erbrechen wenn sie nicht mehr ihre Funktion erfüllt. Das heißt
führt. In solchen Fällen sollte die Trachea vor dem Einset- bei Kanülen mit einem Cuff, dass dieser nicht mehr
zen der Kanüle mit einem anästhesierenden Spray (z. B. ausreichend Druck aufbauen kann oder den Druck
Xylocain-Spray) betäubt werden und/oder die Kanüle zu- nicht mehr über eine längere Zeit halten kann.
sätzlich mit einem anästhesierenden Gel (z. B. Xylocain- Kunststoffkanülen altern mit der Dauer ihres Ein-
Gel) eingerieben werden. satzes, der Kunststoff wird porös, bzw. thermoplasti-
Die Befestigung der Trachealkanüle erfolgt mit einem sche Kunststoffe verlieren ihre Plastizität und wer-
Band am Trachealkanülenschild. Das Schild kann bei den hart. Der Zeitraum ist unterschiedlich, es liegt
blockbaren Kanülen auf eine individuelle Position einge- also immer im Ermessen des Behandelnden, wann
stellt werden (. Abb. 6.4a). er sich zu einem Kanülenaustausch entschließt.

i Praxistipp : Beachte
Bei blockbaren Kanülen kann als Faustregel gelten, Jeder geplante Trachealkanülenwechsel muss
dass die Kanüle in der richtigen Position ist, wenn vorbereitet sein! Die dafür notwendigen Instrumente
der aufsteigende, aus der Haut ragende Tracheal- müssen bereitliegen und einsatzfähig sein.
kanülenschenkel sich in einem 90° Winkel zur
Tracheahinterwand befindet und der Haut um Für einen Trachealkanülenwechsel benötigt man:
das Tracheostoma nicht oder nur mit geringem 4 einen funktionsfähigen und einsatzbereiten Absauger
Druck anliegt. mit einem ausreichend großen Absaugkatheter (Cha-
riere 12, Grün; Chariere 14, Orange),
Dabei ist auf eine ausreichende Beweglichkeit der Tra- 4 ein Spekulum, um das Tracheostoma aufhalten zu
chealkanüle zu achten. Zu starr befestigte Kanülen ziehen können (. Abb. 6.2d. Das Spekulum sollte mindestens
die Kanüle nach 7 kranial und behindern das Schlucken. 12 cm lange Schenkel haben!),
Bei längerer Liegedauer kann es zusätzlich zu einer Schä-
6.4 · Trachealkanülenwechsel und Tracheostomapflege
159 6

4 eine Lampe, um das Tracheostoma inspizieren zu zu einer vorzeitigen Austrocknung der Trachea mit einer
können, Verborkung.
4 eine zusätzliche Trachealkanüle, die im Notfall sofort Neben Filtern, die auf die Trachealkanüle aufgesetzt
eingesetzt werden kann. werden können, verhindert die regelmäßige Befeuch-
tung der Luft durch Luftbefeuchter oder Inhalationen
Vor der Entfernung der Trachealkanüle bei schluckgestör- diese Komplikation. Besteht allerdings eine Schluckstö-
ten Patienten muss der Mund von Sekret gesäubert wer- rung mit einer Aspiration, sind diese Maßnahmen zu
den und die Trachea oberhalb durch das Tracheostoma überdenken. Durch den beständigen Speichelfluss in die
und unterhalb durch die Kanüle sorgfältig abgesaugt Trachea ist ein Austrocknen der Trachea nicht zu erwar-
werden. Erst dann darf die Trachealkanüle unter Absaug- ten.
bereitschaft entblockt und entfernt werden.
Nach dem Entfernen ist sofort nochmals durch das ! Vorsicht
Tracheostoma abzusaugen, um aufgestautes Sekret von Die aufsetzbaren Filter stellen eine zusätzliche
oberhalb des Cuffs, das nun die Trachea hinabläuft, zu Gefährdung des Patienten dar, da sie durch ausge-
entfernen. Sollte das Tracheostoma sehr eng sein oder hustetes Sekret soweit verlegt werden können, das
schnell schrumpfen, muss es mit einem Spekulum offen eine Atmung nicht mehr möglich ist. Die regelmäßi-
gehalten werden. Anschließend wird das Tracheostoma ge Reinigung der Trachealkanüle bleibt die wichtig-
inspiziert. Dabei ist sowohl die Außenhaut als auch der ste Maßnahme!
Tracheostomakanal und die Trachea ggf.mit einem Endo-
skop zu inspizieren. Trachealkanülen aus Kunststoff oder Silber werden unter
laufendem Wasser mit einer Flaschenbürste gereinigt.
i Praxistipp Eine spezielle Desinfektion ist nicht notwendig, wenn die
Bei flexiblen, blockbaren Kanülen sollte unbedingt Trachealkanüle für den gleichen Patienten weiter benutzt
zum Einführen der Kanüle die standardmäßig wird.
beiliegende Einführhilfe (Mandrain) benutzt werden. Trachealkanülen auf Intensivstationen müssen natür-
Sie stabilisiert und führt die Kanüle zusätzlich. lich nach den dort geltenden Regeln unter sterilen Bedin-
gungen gewechselt werden, die Kanülen werden ausge-
: Beachte tauscht und durch neue ersetzt.
Jede Person (Arzt, Pfleger,Therapeut und Angehöriger), Das Tracheostoma eines Patienten mit einer Schluck-
die mit der Betreuung von Patienten mit einer störung muss regelmäßig gepflegt und kontrolliert wer-
Trachealkanüle betraut ist, muss den Wechsel einer den. Wichtig ist der regelmäßige Wechsel der feuchten
Trachealkanüle beherrschen. Kompressen am Tracheostoma. Dennoch kann es immer
wieder zu Komplikationen durch eine Trachealkanüle
Die klinische Erfahrung zeigt, dass es immer wieder kommen.
zu Komplikationen durch die Trachealkanüle kommen
kann.Tritt eine solche Situation auf,muss die erste eintref- : Beachte
fende Person die Erstmaßnahme, das Entfernen oder den Der regelmäßige, tägliche Trachealkanülenwechsel
Wechsel der Trachealkanüle durchführen. Warten auf ist bei Patienten, die mit einer Trachealkanüle versorgt
eine zweite Person, z. B. den Arzt, kann in einem solchen sind, unerlässlich. Dies insbesondere bei einer Schluck-
Fall katastrophale Folgen haben. störung.

Es ist selbstverständlich, das jeder Patient unverzüglich


6.4.3 Pflege von Trachealkanülen gereinigt und frisch versorgt wird, wenn seine Windel
und des Tracheostomas nass oder beschmutzt ist. Patienten, bei denen beständig
Speichel aus dem Tracheostoma tritt, werden in vielen
Eines der häufigsten Probleme bei Trachealkanülen sind Institutionen nur wöchentlich oder seltener mit einem
Verborkungen der Kanüle. Da die befeuchtende Funktion Kanülenwechsel versorgt. Um die Zahl der Komplikatio-
der Nase wie bei der normalen Atmung entfällt, kommt es nen an Trachea und Tracheostoma zu vermindern, ist ein
160 Kapitel 6 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch

täglicher Wechsel der Trachealkanüle bei einem Patienten 6.4.4 Komplikationen am Tracheostoma
mit einer Schluckstörung unumgänglich. Dies ist bei Pa-
tienten in der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Standard und Entzündungen
muss Eingang in die rehabilitativen Disziplinen finden. Die häufigste Komplikation im Bereich des Tracheosto-
mas sind Entzündungen. Ursache für Entzündungen ist,
: Beachte in den meisten Fällen der Übertritt von Speichel, der sich
Jeder Patient mit einer Schluckstörung muss regel- oberhalb des Kanülen-Cuffs staut, aus der Trachea über
mäßig abgesaugt werden. Bei der Absaugung ist das Tracheostoma auf die Haut läuft. Da Speichel überaus
darauf zu achten, dass durch das Saugen keine zusätz- aggressiv Gewebe angreift, (seine Hauptaufgabe ist das
lichen Verletzungen an den Trachealschleimhäuten Spalten von »Gewebe« im Magen), wird das umliegende
gesetzt werden. Gewebe um das Tracheostoma »angedaut«. Es kommt zu
einer Entzündung des Stomakanals sowie der umliegen-
6 i Praxistipp den Haut (. Abb. 6.6a).
Für ein schonendes Absaugen in der Trachea
sollte sich zwischen dem Saugerschlauch und dem : Beachte
Absaugkatheter ein sog. »Finger-tip« befinden, Um Entzündungen im Bereich des Tracheostomas zu
so dass es möglich ist, beim Einführen des Katheters therapieren, ist es unbedingt notwendig, die Menge
den Sog zu entfernen und beim Herausziehen durch des austretenden Speichels bzw. seine Verweildauer
Verschluss des »Finger-tip« Sog auf den Absaug- am Gewebe zu minimieren.
katheter zu bringen.
i Praxistipp
Es werden von verschiedenen Firmen Katheter angeboten, 4 Es sollte eine regelmäßige »Trachealtoilette«
die dies nicht mehr notwendig machen sollen. Die klini- durchgeführt werden, bei der die Trachealkanüle
sche Erfahrung zeigt allerdings, das es immer wieder zu entfernt und der Larynx sowie die Trachea durch
Verletzungen der Tracheaschleimhäute kommt und der Absaugen gereinigt wird. Ein täglicher Kanülen-
Reiz in der Trachea für diese Patienten mit diesen Kathe- wechsel ist dringend angeraten.
tern deutlich stärker ist,so dass auf dieses Prinzip verzich- 4 Der Mundraum muss regelmäßig von Sekret
tet werden sollte. gesäubert werden. Larynx und Trachea müssen
regelmäßig abgesaugt werden, nicht nur über die
! Vorsicht Trachealkanüle, sondern auch vorsichtig mit einem
Der Absaugkatheter sollte nicht zu tief eingeführt kleinen Absaugkatheter durch das Tracheostoma
werden, da er sonst auf die Carina, die Teilungsstelle oberhalb der Kanüle.
zwischen den Bronchien, stößt und dort zu Verlet- 4 Kompressen am Tracheostoma müssen regel-
zungen führen kann. mäßig gewechselt werden, wenn sie feucht sind. Es
sollten möglicht sehr saugfähige Mull-Kompressen
i Praxistipp benutzt werden.
Muss ein Patient häufiger als 3–4 mal am Tag abge- 4 Metalline Kompressen sollten bei Übertritt von
saugt werden, ist von einer Aspiration bei diesem Speichel nicht benutzt werden. Der Erfahrung nach,
Patienten auszugehen. Infektionen der Lunge kommt es durch die Metalline zu einer Verstärkung
gehen in den seltensten Fällen mit einer so starken der Entzündung um das Tracheostoma.
Produktion von Sekret einher. Hat der Patient
bereits ein geblockte Kanüle, ist der Druck im Cuff Die Hautoberfläche um das gerötete Tracheostoma kann
nicht ausreichend den Speichel zu stoppen, mit Zinksalbe gepflegt werden, die großzügig aufgetragen
d. h. der Patient ist durch die Trachealkanüle nicht wird. Zusätzlich kann zur Pflege des Tracheostomakanals
ausreichend geschützt! Die Kanüle muss gewechselt, die Trachealkanüle mit einer schmalen Tamponade um-
durch einen anderen Typ oder eine größere Kanüle wickelt werden. Auf diesen Salbenstreifen kann ebenfalls
ersetzt, oder der Cuff aufgeblockt werden! Zinksalbe aufgetragen werden. Ein endgültiges Abheilen
6.4 · Trachealkanülenwechsel und Tracheostomapflege
161 6

der Haut um das Tracheostoma ist erst bei einem aspira- kam. Ursache ist, dass der sehr enge Punktionskanal
tionsfreien Schluckvorgang zu erwarten. keinen Übertritt von Speichel aus dem Tracheostoma
ermöglicht. Folge ist, dass der aspirierte Speichel
> Exkurs nicht mehr über das Tracheostoma ablaufen kann,
Untersuchungen zur Punktionstracheotomie der Larynx und Pharynx stehen beständig in Speichel,
In vielen Untersuchungen zur Punktionstracheotomie der die Therapie und Rehabilitation einer Schluck-
konnte festgestellt werden, dass es durch die Punk- störung deutlich erschwert. Aus diesem Grund sind
tionstracheotomie zu einer Abnahme der entzünd- Punktionstracheotomien bei einer manifesten
lichen Komplikationen im Bereich des Tracheostomas Schluckstörung kontraindiziert.
6

a b

. Abb 6.6 a–c. Entzündetes Tracheostoma a mit Granulationen.


b Blick in Trachea. Das Trachealumen ist mit Granulationen vollständig
verlegt. c Blick in die Trachea mit einem Einbruch der Tracheavorder-
wand und folgender Stenosierung der Trachea

c
162 Kapitel 6 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch

Granulationen liegt. Aus diesem Grund sind endoskopische Kontrol-


Granulationen entstehen als Antwort eines Reizes auf len von Trachealkanülen in regelmäßigen Abständen
eine offene Wunde (. Abb. 6.6b). notwendig.
Ursachen für Granulationen am Tracheostoma sind
4 eine zu harte, unflexible Trachealkanüle (Metall, har- ! Vorsicht
te, nicht thermoplastische Kunststoffe), Ein klinisches Zeichen für die Positionierung der
4 mechanische Irritation des Tracheostomarandes durch Trachealkanüle auf dem Truncus brachiocephalicus
das Sieb bei einer Sprechkanüle, ist die sogenannte »reitende Kanüle«, die sich im
4 ein zu enges Tracheostoma, Rhythmus des Herzschlages bewegt.
4 eine zu straffe Befestigung der Trachealkanüle,
4 ein beständiger Speichelfluss. > Beispiel
Durch den Druck der Trachealkanüle am Oberrand
6 Dabei muss davon ausgegangen werden, dass die Wahr- des Tracheostomas kann es zu einem Eindrücken der
scheinlichkeit für Granulationen mit der Liegedauer der Trachealknorpel oder/und des Ringknorpels oberhalb
Trachealkanüle zunimmt. Ab der 6. Woche ist ein deut- der Öffnung in der Trachea kommen. Das Tracheal-
licher Anstieg solcher Reaktionen zu verzeichnen (Grau- lumen wird eingedrückt, es entsteht eine Tracheal-
müller et al. 2002). stenose (. Abb. 6.6c).
Behandelt werden Granulationen durch
4 eine Änderung der Trachealkanülenposition oder ! Vorsicht
4 dem Wechsel der Trachealkanülenart, Trachealstenosen treten nicht unbedingt direkt
4 Entfernen durch Ätzung mit Silbernitrat, Abtragung nach der Entfernung eine Trachealkanüle und
durch einen Laser oder ein Elektromesser in Lokal- dem Verschluss des Tracheostomas auf. Erst nach
anästhesie, 3–4 Monaten werden viele klinisch relevant,
4 bei einem sehr engen Tracheostoma ist die Anlage solange braucht die verbleibende Entzündung
eines plastischen Tracheostomas notwendig. in den Trachealspangen, um zu einer Stenose zu
führen. Patienten nach einer Tracheotomie oder
einer Langzeitintubation, die im weiteren Verlauf
6.4.5 Komplikationen an der Trachea über eine zunehmende Luftnot klagen, sind somit
immer auf eine klinisch relevante Trachealstenose
Beim Trachealkanülenwechsel sollte unbedingt immer zu untersuchen!
die Trachea auf Schäden inspiziert werden. Durch den
Druck der Trachealkanüle oder des Cuffs kann es zu Schä- Ist es zu einer geringen Verletzung der Tracheawand ge-
den an den Tracheawänden kommen. Verletzungen der kommen, kann der vorübergehende Einsatz eines Mont-
Schleimhaut sind nicht selten und heilen in den meisten gomery-T-Röhrchen die entstandene Verletzung schie-
Fällen ohne Komplikationen ab, wenn man nach einem nen.
Kanülenwechsel darauf achtet, den Cuff oder die Kanüle Bei ausgedehnten Verletzungen ist eine Tracheal-
nicht wieder auf die vorhandene Verletzung zu platzieren. plastik notwendig.
Verletzungen der Trachealknorpel sind wesentlich Für die Versorgung von Tachealstenosen stehen heute
gefährlicher und schwieriger zu behandeln. eine Vielzahl von operative Verfahren zur Verfügung
(. Abb. 6.7 a–b).
> Beispiel 4 Stenosen bis ca.5 cm werden durch eine Resektion der
Die Trachealkanüle kann durch Reibung oder falsche Stenose und Wiedervereinigung der Luftröhre ver-
Platzierung in die Tracheawand einspießen und dabei sorgt.
den Knorpel verletzen oder zerstören. In seltenen Fäl- 4 Ausgedehntere Verletzungen machen weit aufwendi-
len kann es dabei zu einer einspießenden Verletzung gere Verfahren notwendig, die bis zu einer Transplan-
in das Mediastinum und einer Verletzung des Truncus tation von Tracheagewebe reichen können.
brachiocephalicus kommen, der in Höhe des Cuffs
6
6.5 · Trachealkanülen und Schlucken
163 6

a b

. Abb 6.7 a,b. Veränderungen an der Trachea und ihre Behandlung. nicht exakt in der Mittellinie durchgeführt,bzw.durch den Druck der Tra-
a Intraoperatives Bild typischer Veränderungen an der Trachea und chealkanüle ist es zu einem Verlust an Trachealknorpel an der seitlichen
dem Tracheostoma 5 Jahr nach einer Tracheotomie. 1 Granulationen Trachea gekommen. Wird die Trachealkanüle entfernt, fällt die Seiten-
am Oberrand der Trachea durch das Reiben der Trachealkanüle. Die wand ein und blockiert die Trachea, es besteht eine Trachealstenose.
darüber liegenden Trachealknorpel bzw. der Ringknorpel sind einge- b Nach Entfernung der Stenose wird die verbliebene Trachea an ihren
drückt. 2 Massive Verdickung der unteren Tracheostoma- und Trachea- Enden wieder zusammen genäht (End-zu-End Anastomose), es ist
anteile durch den Druck der Trachealkanüle. 3 Die Tracheotomie wurde wieder eine normale Trachea vorhanden

6.5 Trachealkanülen und Schlucken Barthel-Index (FRB, Schönle 1995) lag bei allen Patienten
unter –200 (± 29) Punkten, die Daten weiterer Indizes
In einer eigenen Studie wurde der Einfluss einer Tracheal- können . Tabelle 6.1 entnommen werden.
kanüle auf die Schluckfrequenz überprüft (Seidl et al. Als Kriterium für den Einfluss einer Trachealkanüle
2002b). Untersucht wurden 10 Patienten (64 ± 7 Jahre, auf die Schlucksequenz wurde die Schluckfrequenz ge-
8 männlich, 2 weiblich) mit einer Schluckstörung nach wählt. Der Schweregrad der neurologischen Erkrankun-
einem Hirninfarkt oder einem Schädelhirntrauma 3. Gra- gen schloss weitere Untersuchungsverfahren aus. Die Er-
des.Die Schluckfrequenz der Patienten pro 5 Minuten war hebung der Schluckfrequenz erfolgte durch Zählung der
kleiner gleich eins, bei allen Patienten war wegen der Schluck- bzw. Kehlkopfbewegungen über einen Zeitraum
Schluckstörung eine Tracheotomie 14 Tage (±7 Tage) vor von 5 Minuten.
der Untersuchung durchgeführt worden.Der 7 Frühreha-
164 Kapitel 6 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch

Die erste Erhebung der Schluckfrequenz erfolgte vor Early Functional Abilities (EFA, Heck et al. 2000) und
jeder Manipulation an dem Patienten bei liegender und Komaremissionsskala (KRS, Schönle und Schwall 1995)
geblockter Trachealkanüle. bestand nicht.
Um den Einfluss von Speichelresten im Mundraum Um ein akzidentelles, also zufälliges Ergebnis auszu-
und Pharynx auszuschließen, erfolgte nach Seitenlage- schließen,wurden die Untersuchungen bei allen Patienten
rung bzw. Aufrichten des Patienten die Reinigung des an fünf aufeinanderfolgenden Tagen einer Woche wieder-
Mundraumes nach den Regeln der F.O.T.T. (Gratz und holt.
Woite 1999) und die Reinigung des Tracheo-Bronchial-
baumes durch Absaugen nach Entblocken, Entfernen der : Beachte
Kanüle und digitalen Verschluss des Tracheostomas. Der Anstieg der Schluckfrequenz nach Entfernung
Anschließend erfolgte die zweite Erhebung der der Trachealkanüle und Verschluss des Tracheostomas
Schluckfrequenz. Die Untersuchung wurde an 5 auf- war reproduzierbar.
6 einanderfolgenden Tagen wiederholt.
Das Ergebnis von 20 Einzeluntersuchungen zeigt Zusätzlich wurde sichtbar, dass es zu einem Anstieg der
einen statistisch signifikanten Anstieg der Schluckfre- Zunahme der Schluckfrequenz über die untersuchten
quenz nach Entfernen der Trachealkanüle und Verschluss Tage kommt (. Abb. 6.8b).
des Tracheostomas (Student t-Test, p = 0,001) (. Tabel- Der Einfluss einer Trachealkanüle auf das Schluckver-
le 6.2, . Abb. 6.8a). halten, den Schluckvorgang und das Schluckergebnis
Eine Korrelation zwischen der Zunahme der Schluck- wird unterschiedlich beurteilt.
frequenz und dem Status der Patienten, gemessen mit
den Skalen 7 Frühreha-Bartel-Index (FRB, Schönle 1995), > Exkurs
Zum Einfluss der Trachealkanüle auf das Schlucken
Eine Anzahl von Untersuchungen legt nahe, dass eine
geblockte Trachealkanüle den Schluckvorgang nega-
. Tabelle 6.1. Daten der untersuchten Patienten (Seidl et al. tiv beeinflusst. Muz et al. (1989) berichtet über eine
2002b) Abnahme der Aspiration in szintigraphischen Unter-
suchungen nach Verschluss der Trachealkanüle bei
Patienten Werte Patienten mit Operationen bei Kopf- Halstumoren.
Geschlecht 8, 2
Dettelbach et al. (1995) und Stachler et al. (1996) zeig-
ten einen positiven Effekt eines Trachealkanülenver-
Alter 64±7 Jahre schlusses auf die Aspiration. Eibling und Gross (1996)
und Stachler et al. (1996) vermuteten den positiven
Frühreha-Barthel-Index (–325–0) –200±29
subglottischen Druck, der nach der Entfernung der
Early Functional Abilities (20–100) 22,25±2,6 Trachealkanüle auftreten kann, als Auslöser für das
verbesserte Schluckvermögen nach dem Verschluss
Komaremissionsskala (0–24) 8,25±4,9
der Trachealkanüle.Weitere Autoren machten auf ver-
schiedene Einschränkungen durch Trachealkanülen
beim Schlucken aufmerksam. So soll die Beweglichkeit
des Kehlkopfes durch die Fixierung der Trachealkanüle
. Tabelle 6.2. Änderung der Schluckfrequenz nach Entfer- an der Halshaut mechanisch eingeschränkt werden.
nen der Trachealkanüle (n = 20, t-Test, p = 0,001) Dies führt zu einer verminderten Kehlkopfhebung und
einer ungenügenden Öffnung des oberen Ösopha-
Schluckfrequenz Geblockte Kanüle gussphinkters (Bonanno 1971; Nash 1988). Durch den
Kanüle entfernt Druck der Tubusmanschette kommt es zu einer Einen-
Mittelwert 0,4 1,65 gung des Ösophagus, es folgt eine erschwerte Passage
und ein Rückstau von Speichel in den Kehlkopf
Standardabweichung 0,82 1,5 (Feldmann et al. 1966).
6
6.5 · Trachealkanülen und Schlucken
165 6

. Abb 6.8 a,b.


Schluckfrequenz.
a Einfluss der Tracheal-
kanüle auf die Schluck-
frequenz gemessen bei
20 Einzeluntersuchun-
gen. Dargestellt sind
Mittelwert und Stan-
dardabweichung.
b Verlauf der Änderung
der Schluckfrequenz
nach Entfernen der
Trachealkanüle. Darge-
stellt sind die Mittelwer-
te bei 10 Patienten an
5 aufeinanderfolgenden
Tagen (Seidl et al. a
2002b)

Weitere klinische Untersuchungen fanden keinen 4 In einer weiteren Untersuchung (Leder et al. 2001)
Einfluss einer Trachealkanüle und deren Status auf wurde gezeigt, dass der Status der Trachealkanüle
den Schluckvorgang und die Aspiration: keinen Einfluss auf eine Aspiration oder den Tonus
4 Leder et al. (1996) zeigte in einer Untersuchung bei des unteren Ösophagussphinkters besitzt.
Patienten mit Operationen im Kopf- Halsbereich, dass Dennoch wird von Leder empfohlen, die Tracheal-
ein kurzzeitiger Verschluss einer entblockten Tracheal- kanüle während einer fiberoptischen Untersuchung
kanüle, keine Änderung der Aspirationsinzidenz zur des Schluckens zu entblocken und zu verschließen
Folge hatte. (Leder und Sasaki 2001).
4 Leder et al. (1998) untersuchte 16 Patienten nach
Operationen im Kopf-Halsbereich und fand keinen Die eigene Untersuchung findet eine Änderung der
Zusammenhang zwischen Verschlussstatus der Schluckfrequenz bei schwerbetroffenen Patienten mit
Trachealkanüle und einer Aspiration. einer Tracheotomie nach Änderung des Trachealkanülen-
4 Leder berichtete 1999, dass bei einer heterogenen status. Direkte Folge einer Änderung des Trachealkanü-
Patientengruppe mit einer Tracheotomie nach Lang- lenstatus ist die Lenkung des Ausatemstromes durch den
zeitintubation ein Sprechventil auf der Trachealkanüle Kehlkopf.
keinen Einfluss auf eine Aspiration hatte.
6
166 Kapitel 6 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch

Bereits frühere Untersuchungen wiesen auf die Fol-


gen einer Änderungen der Sensibilität im Larynx durch Indirekte Folgen:
Trachealkanülen (Murray 1999; Shaker et al. 1995; Wyke 4 Neuere Untersuchungen haben gezeigt,
1973) und der Trachea hin. Es kommt zu einer Reduktion dass eine Zunahme von sensiblen Reizen im
der Schlucktriggerung und der Schutzmechanismen Hus- Pharynx zu einer Änderung der Repräsentation
ten und Räuspern (Tolep et al. 1996). der entsprechenden Areale im Motorcortex
Folgen sind führt (Hamdy et al. 1997).
4 eine Verkürzung des laryngealen Verschlusses wäh- 4 Reproduzierbare elektrische Reize im Pharynx
rend des Schluckens, führen zu einem Anstieg der Schluckfrequenz
4 eine Störung der Koordination zwischen Schluck- (Fraser et al. 2002),
reflextriggerung, Stimmlippenverschluss und Apnoe- 4 Langfristig ist durch den Reiz in Larynx und
phase während des Schluckens (Shaker et al. 1995). Pharynx mit einer verbesserten Reorganisation
und Rehabilitation des Schluckvorgangs nach
6 Die fehlende Korrelation zwischen der Zunahme der der Entfernung einer Trachealkanüle zu rech-
Schluckfrequenz und dem Gesamtzustand der Patienten, nen. Dies konnte in den eigenen Untersuchun-
gemessen mit verschiedenen Skalen (EFA, KRS, FRB), gen bestätigt werden (. Abb. 6.8).
kann als Hinweis auf eine direkte Beeinflussung der
Schluckfrequenz durch den geänderten Ausatemstrom
gewertet werden.
Bei den meisten der Studien, insbesondere denen 6.6 Entfernung der Trachealkanüle
von Leder (Leder et al. 2001; 1998; 1996; 1999), handelte es
sich um Patienten mit einer Operation im Kopf-/Hals- 6.6.1 Indikationen zur Entfernung
bereich. In diesen Fällen sind strukturelle, mechanische einer Trachealkanüle
Änderungen Ursache für eine Schluckstörung.Eine Ände-
rung des Ausatemstromes und damit der Sensibilität und : Beachte
Wahrnehmung im Larynx kann somit zu keiner Besse- Trachealkanülen können entfernt werden, wenn die
rung des Schluckvermögens führen. Indikation für eine Tracheotomie nicht mehr
vorhanden ist.
Einfluss der Sensibilität
Eine Zunahme der Reize in Larynx und Pharynx durch Langzeitbeatmung
einen Luftstrom kann zu einer gesteigerten Sensibilität Bei Patienten mit einer Langzeitbeatmung ist dies der
in diesen Regionen führen. Die Folgen einer geänderten Fall, wenn der Patient ausreichend über den Mund atmen
Sensibilität können dabei direkte und indirekte sein (s. und seinen Speichel schlucken kann und eine Reinigung
. Übersicht 6.2). der Atemwege über einen produktiven Hustenstoß mög-
lich ist. Patienten mit einer Querschnittläsion sind dazu
nicht in jedem Fall in der Lage und müssen in Einzelfällen
Übersicht 6.2: Folgen veränderter Sensibilität ein Tracheostoma behalten.
Direkte Folgen:
4 Abwehrreaktionen wie Husten und Räuspern Schluckstörungen
nehmen zu. Vor der Entfernung bzw. Änderung der Trachealkanülen-
4 Kontrolle des Aspirats mit dem Versuch dieses art bei einer Schluckstörung ist immer der Status des
zu entfernen (Ausspucken, Nach-Schlucken) Schutzes der unteren Atemwege zu untersuchen. Nur
verbessert sich. wenn dieser ausreichend ist, kann eine Trachealkanüle
4 Bolus kann besser kontrolliert werden. entfernt bzw. eine geblockte Trachealkanüle durch eine
6 ungeblockte Trachealkanüle ersetzt werden.
6.6 · Entfernung der Trachealkanüle
167 6

. Abb. 6.9. Schematische Darstellung des


Schutzes der unteren Atemwege aus dem Schutz der unteren Atemwege
Berliner Dysphagie-Index

Abwehrmaßnahmen Schluckfähigkeit
● Husten ● Auslösen des Schlucks
● Räuspern ● Erfolg des Schlucks
● Sekrettransport

Allgemeinzustand
Kraft – Koordination – Tonus
Haltung – Vigilanz

Der Schutz der unteren Atemwege wird durch drei Teil- Patienten ermöglicht, sich an die geänderten Atembedin-
bereiche bestimmt (. Abb. 6.9): gungen zu gewöhnen. Das Tracheostoma sollte dann für
4 Allgemeinzustand: Koordination, Tonus, Haltung, einige Tage mit einem Zugverband verschlossen werden,
Vigilanz, Kraft, so dass die Öffnung schrumpfen oder sich spontan ver-
4 Abwehrmaßnahmen: Husten, Räuspern, Sekrettrans- schließen kann. Nach Anlage eines plastischen Tracheo-
port, stomas ist eine operativer Eingriff zum Verschluss des
4 Schluckfähigkeit: Auslösen des Schlucks, Erfolg des Tracheostomas notwendig.
Schlucks.
! Vorsicht
Geprüft werden kann der Schutz der unteren Atemwege Der operative Eingriff eines Tracheostomaverschlusses
durch eine 7 Videofluoroskopie oder eine 7 fiberoptische sollte immer unter stationären Bedingungen durch-
Untersuchung. Es gibt eine Vielzahl von Empfehlungen geführt werden, da es durch eine Nachblutung im
zur Interpretation der Untersuchungsbefunde für die Operationsgebiet mit folgender Kompression der
Entfernung einer Trachealkanüle (Lipp und Schlaegel Trachea zu lebensgefährdenden Komplikationen
1997; Schröter-Morasch 1996), ein standardisiertes Unter- kommen kann.
suchungsprotokoll (»Berliner 7 Dysphagie-Index, BDI«)
für die fiberoptische Untersuchung erleichtert heute die Die Wundheilung nach Verschluss eines Tracheostomas
Entscheidungsfindung (Seidl et al. 2002a). ist in vielen Fällen verzögert. Das Gewebe in der Umge-
bung des Tracheostomas ist durch den langanhaltenden
Entzündungsreiz durch den austretenden Speichel massiv
6.6.2 Entfernung der Trachealkanüle verändert. Es kann zu eitrigen Sekretionen und der Aus-
bildung einer Fistel kommen.
! Vorsicht
In jedem Fall ist zu prüfen, ob der Patient in der Lage i Praxistipp
ist, ausreichend über den Kehlkopf zu atmen. Die Komplikationen sollten erst konservativ mit lokal
reinigenden Maßnahmen, Streifeneinlage und Druck-
Nach Entfernung einer geblockten Trachealkanüle sollte verbänden behandelt werden. Sollte sich der Zustand
erst für einige Tage eine Sprechkanüle, dann eine ge- nach 6–8 Wochen nicht gebessert haben, kann ein
schlossene Sprechkanüle eingesetzt werden, die es dem zweiter operativer Verschluss versucht werden.
168 Kapitel 6 · Die Trachealkanüle: Segen und Fluch

: Beachte Leder SB, Ross DA, Burell MI, Sasaki CT (1998) Tracheotomy tube occlu-
Schlucken ist eine Vitalfunktion! Trachealkanülen sind sion Status and Aspiration in Early Postsurgical Head and Neck
Cancer Patients. Dysphagia 13:167–171
für das Überleben von schluckgestörten Patienten Leder SB (1999) Effect of a One-Way Tracheotomy Speaking Valve on the
notwendig. Das Trachealkanülenmanagement, die Incidence of Aspiration in Previously Aspirating Patients with Tra-
Pflege der Trachealkanüle und des Tracheostomas cheotomy. Dysphagia 14:73–77
und der therapeutische Umgang mit diesen sind für Leder SB, Joe JK, Hill SE, Traube M (2001) Effect of Tracheotomy Tube
die Rehabilitation von entscheidender Bedeutung. Occlusion on Upper esophageal Sphincter and Pharyngeal
Pressures in Aspirating and Nonaspirating Patients. Dysphagia
Jeder, der an der Pflege von Trachealkanülen-Trägern 16:79–82
beteiligt ist, muss dabei die Grundkenntnisse der Leder SB, Sasaki CT (2001) Use of FEES to Assess and Manage Patients
Versorgung von Trachealkanülen beherrschen. with Tracheotomy. In: Langmore SE (ed): Endoscopic Evaluation
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7

Trachealkanülen-Management
in der F.O.T.T. –
Der Weg zurück zur Physiologie
Heike Sticher und Claudia Gratz

7.1 Grundlagen: Physiologie – 170


7.1.1 Normale Atmung – 170
7.1.2 Schutz- und Reinigungsmechanismen – 173
7.1.3 Atem-Schluck-Koordination – 174

7.2 Grundlagen: Pathophysiologie – 174


7.2.1 Veränderungen der Atmung – 175
7.2.2 Abnormale Haltung und Bewegung – 175
7.2.3 Trachealkanülen und ihre Auswirkungen – 176

7.3 Therapie – 177


7.3.1 Grundgedanken – 177
7.3.2 Behandlungspositionen – 178
7.3.3 Reinigung des Atem-Schluck-Trakts – 179
7.3.4 Therapeutisches Absaugen – 181
7.3.5 Therapeutisches Entblocken – 182
7.3.6 Therapeutisches Vorgehen nach der Entblockung – 182
7.3.7 Interdisziplinäre Zusammenarbeit – 185

Literatur – 186
170 Kapitel 7 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T. – Der Weg zurück zur Physiologie

Die therapeutische Behandlung neurologischer Patienten zu den Bronchien reicht. Sie ist 10–12 cm lang mit einem
mit 7 Trachealkanüle hat sich in Deutschland erst seit Mitte Durchmesser von ca. 13–20 mm (entspricht etwa der Grö-
der achtziger Jahre zum breiteren Aufgabenbereich von ße von einem 1 Cent bis zu einem 5 Cent Stück).Sie besteht
Ergotherapeutinnen, Physiotherapeutinnen, Logopädinnen aus 16–20 hufeisenförmigen Knorpelspangen mit Bän-
und Krankenpflege entwickelt. Sie stellt hohe Anforderun- dern dazwischen, so dass die Trachea ständig offen gehal-
gen an ein interdisziplinäres Team. ten wird und den Zug- und Druckbelastungen (bei Ein-
Nach wie vor gibt es viele Kliniken,die Patienten mit Tra- und Ausatmung sowie bei Bewegungen des Körpers) ge-
chealkanülen versorgen ohne den therapeutischen,pflege- wachsen ist. Die Spangen werden dorsal durch elastisches
rischen aber auch ärztlichen Mitarbeitern Fortbildungs- Bindegewebe (pars membranacea) und Muskulatur (M.
möglichkeiten aufzuzeigen, die konzeptionell fundiertes trachealis) zu Ringen geschlossen (Dikeman und Ka-
Wissen und wertvolle Erfahrungshintergründe zur Behand- zandjian 1997; Ehrenberg 1998; Mang 1992). Dadurch er-
lung dieser besonders komplexen Problematik anbieten. gibt sich eine elastische Trennung zur Speiseröhre hin.
Einschränkend muss allerdings gesagt werden, dass das Die gesamte Trachea ist mit Flimmerepithel tragender
Angebot an Fortbildungen zum Thema »Umgang mit tra- Schleimhaut ausgekleidet.
cheotomierten Patienten« gering ist und sich zumeist mit An der Bifurkation (auf Höhe des 5. Brustwirbels)
7 Materialfragen befasst. trennt sich die Trachea in einen rechten und linken
Für die Therapie von Patienten mit erworbenen Hirn- Hauptbronchus, weiter in Hauptlappen, Bronchien, dann
schäden,die eine Trachealkanüle haben,braucht es weitaus in Bronchiolen und zuletzt in die Alveolen. Die gesamte
mehr als die richtige Kanüle. Unabdingbar sind – neben Lunge besitzt etwa 300–400 Millionen Alveolen, deren
dem fundierten Wissen über die Physiologie – auch ein ver- Durchmesser von 0,06 bis 0,2 mm variiert und deren
tieftes Verständnis für die Veränderungen, die durch eine Gesamtoberfläche zwischen 80 m2 bei Einatmung und
Hirnverletzung verursacht werden. Diese haben oft Auswir- 40 m2 bei starker Ausatmung beträgt.
kungen auf das komplizierte System von Atmung und
Schlucken. : Beachte
Wir stellen in diesem Kapitel einen Behandlungsansatz Trachea und Bronchien werden durch ihre Bauweise
vor, der sich als konzeptionell begründetes, interdisziplinä- offen gehalten und brauchen, um verschlossen zu
res 7 Trachealkanülenmanagement versteht. Dabei sollte werden, einen besonderen (Schutz-)Mechanismus. Die
den Mitarbeitern mit der meisten Erfahrung und dem fun- Bronchiolen hingegen sind dehn- und komprimierbar.
diertesten F.O.T.T. Hintergrund auch die Hauptverantwor-
tung bezogen auf Befunderhebung, Zielsetzung, Behand-
lungsplanung und Evaluation zukommen.

7.1 Grundlagen: Physiologie

Grundlage der Therapie ist ein detailliertes Wissen über


Atmung, Schlucken und deren Koordination. Im Folgen-
den werden diese Funktionen erläutert (s. dazu auch Kap.
3 und 5).

7.1.1 Normale Atmung

Die Anatomie der Atemwege


Der Abstand von der oberen Zahnreihe bis zur Glottis be-
trägt etwa 14 cm (. Abb. 7.1). Der Kehlkopf befindet sich
auf der Höhe des 6./7. Halswirbelkörpers, daran schließt
sich die 7 Trachea als ein elastisches Rohr an, welches bis . Abb. 7.1. Übersichtsbild Lunge und Trachea
7.1 · Grundlagen: Physiologie
171 7

Das Atemzentrum Ausatmung. Durch die Entspannung des Zwerchfells


Das Atemzentrum befindet sich im Hirnstamm (Medulla und durch die Rückstellkraft des inspiratorisch gedehnten
oblongata). Der Rhythmus der Atmung wird dort vorge- Lungen- und Brustkorbgewebes,wird die Lunge wieder in
prägt, er kann jedoch individuell moduliert werden, z. B. ihre Ausgangslage gebracht. Durch den entstehenden
durch die Erfordernisse des Stoffwechsels oder durch das »Überdruck« wird die Luft aus der Lunge nach außen
Lenken der Aufmerksamkeit auf die Atmung. Vom Atem- gepresst. Wird die Ausatmung forciert, werden u. a. die
zentrum aus steuern die respiratorischen Neuronen die schrägen und geraden Bauchmuskeln aktiv.
Ein- und Ausatembewegungen über die Innervation der
Muskeln. Atempause. Nach der Ausatmung gibt es eine kurze
Regelgrößen der Atmung sind: Pause, bis der erneute Impuls zur Einatmung gegeben
4 der ph-Wert, wird (Dikeman und Kazandjian 1997, Ehrenberg 1998,
4 der Kohlendioxidpartialdruck (PCO2) und Mang 1992).
4 der Sauerstoffpartialdruck (PO2) im arteriellen Blut.
: Beachte
Der PCO2 ist der stärkste chemische Antrieb bei der At- Normale Ruheatmung ist gekennzeichnet durch:
mung. 4 Einatmung – Ausatmung – Atempause.
Die Frequenz der Atmung verändert sich abhängig 4 Die Frequenz liegt beim Erwachsenen bei
von ca. 15 Atemzügen pro Minute.
4 Lebensalter,
4 Anstrengung (z. B. Hochleistungssport) bzw.Anspan- Die eingeatmete Luft wird über den oberen (Nase/
nung (z. B. Angst), Mund/Rachen) und den unteren (Kehlkopf/Trachea/
4 anatomischen Gegebenheiten (z. B. starke Kyphosko- Bronchien) Atemweg bis zu den Alveolen geleitet. Dort
liose) und findet der lebensnotwendige Gasaustausch statt. Dabei
4 Veränderungen des Haltungshintergrundes, die im haben die verschiedenen Abschnitte spezielle Funktionen
Zusammenhang mit verschiedenen neurologischen zu erfüllen.
Krankheitsbildern zu sehen sind. Der Nase gelingt es auf einer Strecke von ca.5–8 cm die
eingeatmete Luft zu reinigen, zu befeuchten und zu er-
. Übersicht 7.1 fasst die Faktoren, die die Atmung beein- wärmen. Die Befeuchtung wird auf dem weiteren Weg bis
flussen zusammen. zu den Bronchien fortgesetzt. Die gesamte Strecke von
Nase bis Bronchien (ca. 40–50 cm) bezeichnet man als
anatomischen Totraum, da nur Luft transportiert wird,
Übersicht 7.1: Auswirkungen auf die Atmung also kein Gasaustausch stattfindet.
4 Alter Der funktionelle Totraum umfasst zusätzlich die Volu-
4 Konstitution mina der belüfteten, aber nicht durchbluteten Alveolen
4 Kondition (dort kann kein Gasaustausch stattfinden). Beim Gesun-
4 Haltungshintergrund den stimmen anatomischer und funktioneller Totraum
4 Psychische Faktoren praktisch überein (das Volumen umfasst ca. 150 ml).

Lungenvolumina
Der Atemvorgang Innerhalb der Atemphysiologie werden verschiedene Vo-
Die Atmung wird in 2 bzw. 3 Phasen unterteilt. lumina mit speziellen Namen bezeichnet. Grundsätzlich
gibt es mobilisierbare und nicht mobilisierbare Lungen-
Einatmung. Das Zwerchfell (Diaphragma), als unser volumina. Die nicht mobilisierbaren Volumina verbleiben
wichtigster Einatemmuskel, kontrahiert sich (senkt sich immer in der Lunge, die mobilisierbaren werden je nach
nach unten) und schafft dadurch mehr Volumen im Erfordernissen genutzt.
Brust-/Bauchraum,es entsteht ein Unterdruck in der Lun- In . Tabelle 7.1 ist eine Übersicht der wichtigsten
ge und die Luft wird eingesogen. Atemvolumina dargestellt (Dikeman und Kazandjian
1997; Ehrenberg 1998; Mang 1992).
172 Kapitel 7 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T. – Der Weg zurück zur Physiologie

. Tabelle 7.1. Atemvolumina

Totalkapazität (TLC) Gesamtes Luftvolumen, das sich nach maximaler Einatmung in der Lunge befindet
(= RV + VC)

Vitalkapazität (VC) Maximal einzuatmendes Luftvolumen nach einer maximalen Ausatmung


(= ERV + AZV + IRV) ca. 4,5 l

Exspiratorisches Reservevolumen (ERV) Noch zusätzlich auszuatmendes Luftvolumen nach einer normalen Ausatmung, ca. 1,5 l

Inspiratorisches Reservevolumen (IRV) Noch zusätzlich einzuatmendes Luftvolumen nach einer normalen Einatmung ca. 2,5 l

Atemzugvolumen (AZV) Luftvolumen eines spontanen Atemzugs (= Alveolar- + Totraumvolumen, ca. 600 ml
beim gesunden Erwachsenen)

Inspirationskapazität (IC) Maximale Einatmung aus der Atemmittellage heraus (IC=AZV + IRV)

7 Totraumvolumen Das in den oberen und unteren Atemwegen verbleibende Luftvolumen (des AZV),
welches nicht am Gasaustausch teilnimmt, ca. 150 ml

Alveolarvolumen Das Luftvolumen des AZV, welches am Gasaustausch teilnimmt, ca. 450 ml

Residualvolumen (RV) In der Lunge verbleibendes Restluftvolumen nach einer maximalen Ausatmung, ca. 1,5 l

Funktionelles Residualvolumen (FRV) Luftvolumen, welches sich nach einer normalen Ausatmung in der Lunge befindet
(= ERV + RV), ca. 3 l

Atemminutenvolumen Luftvolumen, das innerhalb einer Minute ein- und ausgeatmet wird, ca. 6–9 l/min.

In . Abb. 7.2 ist das Spirogramm mit den mobilisier- : Beachte


baren Lungenvolumina und dem nicht mobilisierbaren Um das erforderliche Atemzugvolumen zu erreichen,
Residualvolumen dargestellt. Der Fußpunkt für das nor- sind wenige tiefe Atemzüge effizienter als viele flache.
male Atemzugsvolumen wird als Atemmittellage bezeich- Durch viele flache Atemzüge wird das AZV kleiner
net. werden (z. B. 350 ml) und dadurch sinkt der Anteil der
sauerstoffreichen Luft.
Gasaustausch
Beim Gasaustausch in den Alveolen diffundiert O2 aus Bei der Ruheatmung geht in den meisten Fällen sowohl
der Luft in die Blutbahn und CO2 aus der Blutbahn in die die Ein- als auch die Ausatmung durch die Nase. Bei der
Luftwege. Diese »verbrauchte« Luft wird dann ausgeat- Sprechatmung wird die Ausatmung größtenteils über
met. Um eine ausreichende Versorgung mit Sauerstoff zu den Mund gelenkt.
gewährleisten, muss das Atemzugvolumen (AZV) groß Bei der Ein- und Ausatmung muss auch ein gewisser
genug sein, d. h. also das Totraumvolumen deutlich über- Atemwegswiderstand überwunden werden (Ehrenberg
steigen. Dies ist direkt abhängig von der Atemfrequenz. 1998; Martin et al.1994; Sasaki et al.1977).Rechnet man mit
Ein gesunder Mensch hat etwa ein AZV von 600 ml (bei 100 % Widerstand für den ganzen Weg, entfallen auf den
einer Frequenz von 15 Atemzügen pro Minute). Abschnitt Nase alleine ca. 50 %, auf den Bereich Pharynx/
Larynx ca. 25 % und auf das letzte Teilstück, Trachea/
Bronchien ca. 25 %. Die Lunge benötigt diesen Wider-
stand, um sich ausreichend entfalten zu können und da-
mit eine möglichst große durchblutete Fläche (Alveolen)
für den Gasaustausch zur Verfügung steht.
7.1 · Grundlagen: Physiologie
173 7

7.1.2 Schutz- und Reinigungsmechanismen

Schutz-/Reinigungsmechanismen für die Atemwege sind


mit forcierter Ausatmung verknüpft: das Räuspern/Hüs-
teln, Niesen und Husten.
Räuspern (forcierte Ausatmungstechnik mit einem
mittleren Lungenvolumen) kann Material aus dem La-
rynxeingang in den Rachen hoch befördern. Das fehlge-
gangene Sekret oder die Flüssigkeit oder die Nahrung
kann von dort weggeschluckt werden (Martin et al. 1994).
Niesen dient der Reinigung der Nase und des Rachen-
raumes, z. B. nach Eindringen von Staub oder fehlgegan-
gener Nahrung.
Husten kann an verschiedenen Stellen ausgelöst wer-
den und ist in der Stärke variabel.Normalerweise wird das
unwillkürliche, reflektorische Husten auf Ebene der Glot-
tis,in der Trachea – dort besonders stark an der Bifurcatio
– oder in den Bronchien ausgelöst (Sasaki et al. 1977).

: Beachte
Effektive, physiologische Schutzmechanismen
erfolgen unwillkürlich, ohne bewusste Steuerung.
. Abb. 7.2. Spirogramm
Schutzmechanismen sind teilweise auch willkürlich ab-
rufbar und beeinflussbar. Besonders wenn ein gestörtes
senso-motorisches System vorliegt, bieten willkürlich
abgerufenes Räuspern und/oder Husten aber keinen
Die Atmung hat ein hochgesichertes System mit dem ausreichenden Schutz für die tieferen Atemwege: Jemand,
Ziel, keine andere Materialien außer Luft von oben nach der nicht spürt, dass er sich verschluckt, wird auch nicht
unten zu den Lungen durchzulassen und jedes festere Be- husten.
standteilchen sofort von unten nach oben herauszutrans-
portieren: Reflektorisches Husten
4 Die Stimmlippen und Taschenfalten können sich Das in der Lunge vorhandene Volumen wird durch An-
schließen, damit nichts von oben nach unten eindrin- spannung der Thorax-, Bauch- und Beckenmuskulatur
gen kann und bei gleichzeitigem Verschluss von Stimmlippen und vor
4 die Flimmerhärchen der Lungen- und Trachea- allem der Taschenfalten komprimiert und dann – unter
schleimhaut können Staub- und Sekretteilchen von Beibehaltung der Spannung in Thorax-, Bauch- und Be-
unten nach oben befördern. ckenmuskulatur – durch schlagartiges Öffnen der Stimm-
lippen und Taschenfalten nach cranial entladen (Ehren-
Das koordinierte Schlagen aller Flimmerhärchen (20 mal berg 1998; Kapandaji 1985; Mang 1992; Sasaki 1985).
pro Sekunde) bewirkt den Transport des Schleims nach Zum Schutz des Atemtrakts ist es zwingend, dass die
kranial mit einer Geschwindigkeit von 2 cm/Min. komprimierte Luft aus der Lunge gerichtet entladen wer-
den kann und freien Abgang nach oben hat. Beim Husten
: Beachte kommt es zu einer 42-fachen Zunahme der linearen Strö-
Die Atemluft muss sowohl eine gewisse Distanz als mungsgeschwindigkeit – statt 667 cm/sec Erhöhung auf
auch einen gewissen Atemwegswiderstand überwin- 28000 cm/sec – in der Trachea (De Vita 1990). Bei einer
den, um von Nase/Mund zu den Alveolen zu gelangen paradoxen Atmung ist dieser nach oben gerichtete Aus-
und umgekehrt. atemstrom nicht gewährleistet, da die Thorax-, Bauch-
174 Kapitel 7 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T. – Der Weg zurück zur Physiologie

und Beckenmuskulatur keine Kompression aufbauen und 4 Annähern oder Schließen der Stimmlippen und Ta-
beibehalten kann, und sich der aufgestaute Druck (sehr schenfalten,
gering in der Stärke) so in den nicht komprimierten 4 Anschließendes Ausatmen.
Bauchraum entlädt und die Hustenwirkung verpufft (s.
Kap. 5). Zum Schutz der Atemwege gehört auch ein unwillkür-
Damit dieser Schutzmechanismus erfolgreich sein liches Atem-Schluckmuster. Bei den meisten Menschen
kann, muss verhindert werden, dass das hochgehustete sieht es wie folgt aus:
Material sich wieder in Richtung untere Atemwege be- 4 Entweder: Einatmung – Atemstop/Schlucken – Ausat-
wegt. mung.
4 Oder: Einatmung – Beginn der Ausatmung – Atem-
: Beachte stopp/Schlucken – die Ausatmung setzt sich fort
Dem Husten folgt entweder ein Schlucken, das für (Morgan und Mackay 1999; Selley et al. 1989; Leder
den Abtransport des hochgehusteten Materials in den et al. 1996; Smith et al. 1989).
Magen sorgt, oder ein Ausspucken.Voraussetzung
dafür ist ein intaktes senso-motorisches System. Nach dem Schlucken sind häufig noch Reste im Oropha-
7 rynx. Bei Ein- und Ausatmung, werden sie durch die Luft
Sind die Schutzmechanismen unvollständig (Husten »verwirbelt«, und können besser wahrgenommen wer-
ohne Schlucken) oder nicht effektiv (zu schwaches Hus- den. Bei Einatmung werden diese Reste mit in Richtung
ten),sind sie nicht geeignet,fehlgegangenes Material so zu Trachea/Lunge gezogen. Bei Ausatmung kann ein mög-
beseitigen, dass die Lunge geschützt wird. Therapeutische liches Husten diese Reste direkt nach oben befördern.
Hilfestellungen können das notwendige Schlucken Das erforderliche nochmalige Nachschlucken kann dann
nach dem Husten fazilitieren (Addington et al. 1999; ohne Lufthunger erfolgen (Dikeman und Kazandjian
Davies 1994; Edwards 1996; Gratz und Woite 2000). In 1997; Klahn und Perlman 1999; Martin et al. 1994).
. Übersicht 7.2 sind die Eigenschaften des reflektorischen
Hustens dargestellt. : Beachte
Es gibt ein koordiniertes, unwillkürliches Atem-
Schluckmuster, das bereits vor oder direkt nach dem
Übersicht 7.2: Eigenschaften des Atemstop die Ausatmung initiiert.
(unwillkürlichen) reflektorischen Hustens
4 Ist ein Schutzmechanismus. Ökonomie, Effizienz und Sicherheit des Schluckens hän-
4 Erfolgt mit forcierter Ausatmung. gen zum Einen eng mit den normalen Haltungs- und
4 Ist mit Schlucken oder Ausspucken gekoppelt. Bewegungsmöglichkeiten unseres Körpers zusammen,
4 Reinigt die unteren und mittleren zum Anderen mit einer intakten Sensibilität. Dabei be-
(evtl. sogar oberen) Atemwege von eindruckt, wie groß die Anpassungsfähigkeit der oro-
eingedrungenem Material. pharyngealen und laryngealen Strukturen an Haltungs-
4 Variiert in der Stärke je nach Bedarf. und Bewegungsveränderungen ist, solange das funktio-
nelle Gleichgewicht nicht gestört wird.

7.1.3 Atem-Schluck-Koordination 7.2 Grundlagen: Pathophysiologie

Der Schutz der Atemwege beim Schlucken setzt sich zu- Grundlage der Therapie ist ein detailliertes Wissen über
sammen aus: Veränderungen der Atmung, des Schluckens und ihrer
4 Anhebung des Gaumensegels gegen die Rachenhin- Koordination sowie die Auswirkungen dieser Verände-
terwand, rungen auf den Menschen. Im Folgenden werden diese
4 Hebung von Larynx/Hyoid nach kranial/7 ventral Veränderungen erläutert.
mit Kippung der Epiglottis nach kaudal/dorsal,
7.2 · Grundlagen: Pathophysiologie
175 7

7.2.1 Veränderungen der Atmung unterstützen (Davies 1991). Bei Einatmung wird der
Patient versuchen sich etwas zu strecken und bei Aus-
Durch eine Verletzung des Gehirns können die Atem- atmung sich zu beugen. Dies ist für unsere Patienten
bzw. Schluckzentren in ihrer Funktion beeinträchtigt schwere körperliche Arbeit. Normalerweise macht man
werden, u. a. können abnorme Atem-Schluckmuster, mit nach schwerer körperlicher Anstrengung eine Bewe-
der Tendenz zur Einatmung nach dem Schlucken, auftre- gungspause, um sich auszuruhen.
ten (Hadjikoutis et al. 2002). Ist das Atemzentrum direkt Stellen die Patienten die oben beschriebenen Bewe-
betroffen, kann daraus z. B. die Cheyne-Stokes-, die Kuss- gungen ein, sinkt die Sauerstoffsättigung, da die Lunge
maul- oder die Biot-Atmung resultieren (Frost 1977). nicht ausreichend belüftet wird (Frost 1977). Durch die
Durch eine vegetative Dysregulation kann es z. B. zu vermehrte Atemarbeit und die Bewegungen des Kopfes
einem hochfrequenten Atemrhythmus oder zu einer nach vorne kann die Kanüle an der Tracheawand reiben,
veränderten Zusammensetzung des Speichels/Sekrets auf den Ösophagus drücken und dadurch ein Erbrechen
kommen. Bei Ausfällen von Atemmuskulatur, wie z. B. provozieren. Dies ist für einen schluckgestörten Patienten
bei einer hohen Querschnittlähmung tritt die paradoxe bei erhöhtem Aspirationsrisiko denkbar ungünstig. Wei-
Atmung auf (s. Kap. 5). tere Folgekomplikationen sind Stenosen oder Knorpel-
Bei bestehender Spastizität (erhöhte Muskelaktivität) einbrüche in der Trachea (s. Kap. 6.4.5).
kann es zu einem erhöhten Sauerstoffbedarf kommen.
Normalerweise steigen sowohl die Atemfrequenz als auch
das Atemzugvolumen an, um diesen erhöhten Sauerstoff- 7.2.2 Abnormale Haltung und Bewegung
bedarf zu decken. Die Ausatmung (mit Atempause) ver-
kürzt sich, die Einatmung bleibt fast gleich. Ist ein Patient Sich normal »halten und bewegen« zu können ist abhän-
darüber hinaus mit einer Kanüle versorgt, wird er große gig von bestimmten Voraussetzungen:
Schwierigkeiten haben, sein Atemzugvolumen zu erhö- 4 einem Muskeltonus, der sich ständig an die Erforder-
hen, da zusätzlich sowohl der physiologische Atemwegs- nisse unserer (zielgerichteten) Aktivitäten anpasst,
widerstand (um ca. 70–75 %) als auch der (genutzte) 4 intakter taktil-kinästhetischer Wahrnehmung und
anatomische Totraum (um ca. 50 %) reduziert sind (s. 4 der fortwährenden Aufrechterhaltung unseres Gleich-
Abschn. 7.1). gewichts.

: Beachte Auf dieser Grundlage sind uns hoch koordinierte und


Der Patient hat nur die Möglichkeit die Atemfrequenz selektive Bewegungen möglich; ebenso auch das Einneh-
zu steigern, die Ausatmung auf ein Minimum zu men eines für die jeweilige Aktivität angemessenen Hal-
verkürzen und die Atempause nicht zu nutzen. tungshintergrundes.
Die Patienten atmen flacher und schneller. Der neurologisch betroffene Patienten hat in diesen
Bereichen leichte bis schwere Beeinträchtigungen.
Dies bewirkt, dass sich das Totraumvolumen erhöht und So zeigen Patienten abnormale Haltungs- und Bewe-
das Alveolarvolumen reduziert, das heißt die Versorgung gungsmuster, die nicht nur zu großen Einschränkungen
mit Sauerstoff nimmt ab (Dikeman und Kazandjian 1997; z. B. der Gehfähigkeit und/oder der Bewegungsmöglich-
Ehrenberg 1998; Mang 1992). keiten ihrer Arme und Hände führen. Sie haben u. a. auch
Auswirkungen auf die Atmung, die Atem-Schluck- und
: Beachte Atem-Sprech-Koordination und das Zusammenspiel der
Bei den meisten Patienten mit einer Kanüle ist keine gesamten oro-pharyngealen und laryngealen Strukturen.
Atempause in ihrem Atemrhythmus zu beobachten. Therapeutisch nicht behandelte, »veränderte Bewegungs-
Sie atmen ständig ein und aus, ohne Pause! muster führen zu falschen/wenig hilfreichen sensori-
schen Rückmeldungen, beeinträchtigen so das senso-
Ab einer Frequenz von 24 Atemzügen/min. ist die Belüf- motorische Lernen« und ziehen oft Sekundärkomplika-
tung der Lunge ungünstig. Da die Lunge aus sich heraus tionen nach sich.
die Atemleistung nicht mehr bewältigt, versucht der Kör-
per über Bewegungen von Rumpf und Kopf diese zu
176 Kapitel 7 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T. – Der Weg zurück zur Physiologie

7.2.3 Trachealkanülen und ihre Auswirkungen

Unbestritten ist die lebensrettende und lebenserhaltende


Funktion einer Trachealkanüle. Die Trachealkanüle si-
chert die ausreichende Versorgung des Patienten mit
Luft (bzw. dem darin enthaltenen Sauerstoff) und sie
schützt in ihrer blockbaren Ausführung (. Abb. 7.3) die
tiefen Atemwege vor aspiriertem Material. Trachealkanü-
len haben aber neben ihren eindeutigen Vorteilen auch
erhebliche Nachteile (s. auch Kap. 6).
Da bei vielen Patienten mit erworbenem Hirnschaden
davon ausgegangen werden muss,dass das Tragen der Ka- . Abb. 7.3. Schematische Darstellung einer geblockten Kanüle
nüle über einen längeren Zeitraum (Wochen – Monate)
notwendig sein wird,müssen Angaben darüber vorliegen,
wie das 7 Tracheostoma angelegt worden ist. Ein plas-
7 tisch angelegtes Tracheostoma lässt ein anderes Vorge-
4 Es besteht kein geschlossenes System mehr für
hen im rehabilitativen Prozess zu als eine 7 Dilatations- physiologisch effektives Husten (Buckwalter
tracheotomie (Graumüller et al. 2002).
und Sasaki 1984; Dikeman und Kazandjian
1997; Gratz und Woite 2000).
Auswirkungen der Trachealkanüle
. Übersicht 7.3 stellt die Auswirkungen der Tracheal- Auswirkung auf das Schlucken:
kanüle auf die Haltung und Bewegung und das Schlucken 4 Die Schluckbewegungen, das Heben von
dar. Hyoid und Kehlkopf werden mechanisch
behindert (Bonanno 1971; Butcher 1982;
Cameron et al. 1973; Lipp und Schlaegel 1997).
Übersicht 7.3: Auswirkungen der Trachealkanüle 4 Die Atem-Schluck-Koordination ist gestört.
Auswirkung auf Haltung und Bewegung: Ein Atemstopp ist nur eingeschränkt möglich,
4 Die Patienten nehmen zumeist eine Schonhal- da trotz geschlossener Glottis die Luft im unte-
tung ein. Der Nacken wird verkürzt und fixiert, ren Teil der Atemwege über die Trachealkanüle
um sich vor mechanischer Reizung zu schüt- entweicht (Buckwalter und Sasaki 1984;
zen. Selektive Bewegungen des Kopfes werden De Vita 1990; Higgins et al. 1997).
erschwert (Gratz und Woite 1999). 4 Es kommt weniger bis keine Luft in den
laryngealen und pharyngealen Raum,
Stark verändert sind die Bedingungen im äußeren
wodurch die normale Sensibilität als Voraus-
Atemsystem:
setzung für normale Schutzmechanismen
4 Befeuchtung, Erwärmung und Reinigung der
zusätzlich herabgesetzt wird (Davies 1994;
Atemluft sind nicht mehr gewährleistet oder
Leder et al. 1996; Nash, Selley et al. 1989).
erschwert (Dikeman und Kazandjian 1997;
Gratz und Woite 2000; Sasaki et al. 1977).
4 Schlucken bzw. Nachschlucken sind oft in ihrer
Frequenz reduziert (Gratz und Woite 2000;
4 Riechen und Schmecken ist – wenn überhaupt
Sasaki et al. 1977).
– nur reduziert möglich (Dikeman und Kazand-
jian 1997; Gratz und Woite 2000).
4 Es besteht erhöhte Infektgefahr für die unteren
Atemwege und die Lunge (Dikeman und
4 Atemwiderstand und Distanz ändern sich für
Kazandjian 1997; Higgins et al. 1997).
die Ein- und Ausatmung. Die Patienten atmen
schneller und flacher (Dikeman und Kazand-
jian 1997; Gratz und Woite 1999; Sasaki 1985;
Sasaki et al. 1977).
6
7.3 · Therapie
177 7

Durch die in . Übersicht 7.3 beschriebenen Beeinträchti- : Beachte


gungen der Hebung von Hyoid und Kehlkopf kann es zu Nur wer spürt, dass sich Speichel oder Nahrungsteile
Beeinträchtigungen der Funktionen des oberen Ösopha- im Pharynx befinden, wird schlucken. Nur wer spürt,
gussphinkters kommen, u. U. öffnet er verspätet, häufig dass sich Nahrungsteilchen in Richtung Kehlkopf
in nicht ausreichendem Masse und schließt verfrüht (But- bewegen, wird sich räuspern oder husten und
cher 1982; Cameron et al. 1973; De Vita 1990). anschließend erneut schlucken.
Von entscheidender Bedeutung für die Aufrecht-
erhaltung (Wiedererlangung) von normaler Sensi-
7.3 Therapie bilität im physiologischen System ist ein Stimulus.
Bezüglich Larynx und Pharynx ist dies Luft.
Das Behandlungskonzept entwickelt sich aus dem Ver- Klinische Beobachtungen legen nahe, dass die
ständnis von normalen Bewegungsabläufen und der Fak- Bewegungsmöglichkeiten des Kopfes und des
toren, welche diese beeinträchtigen. Besondere Aufmerk- Schultergürtels für normales Spüren in diesen Berei-
samkeit kommt der Physiologie der Atmung, des Schlu- chen von Bedeutung sind (Gratz und Woite 2000).
ckens, der dafür notwendigen Schutzmechanismen sowie
der Koordination dieser verschiedenen Funktionen zu. > Beispiel
Grundlegend für die Basis der Arbeit mit kanülierten Pa- Bei Patienten mit belegt klingender Stimme oder bei
tienten sind die Kenntnis und das Verständnis der F.O.T.T. Patienten mit fehlendem Nachschlucken kommt es
Neben der ausführlichen Befundaufnahme, der Do- deutlich öfter spontan zum Schlucken, wenn sie den
kumentation und Bewertung des Ist-Zustandes bestim- Kopf bewegen. Ähnliche Beobachtungen kann man
men eine Reihe von Faktoren das Vorgehen. Hier zu nen- bei fazilitierten Armbewegungen machen.
nen sind z. B. der Allgemeinzustand des Patienten, seine
Sensorik und motorischen Fähigkeiten (Umphred 2000), Nun ist aber bei neurologischen Patienten beides, sowohl
stattgehabte Aspirationspneumonien, eine bestehende die Sensibilität als auch die Bewegungsmöglichkeit mit
Refluxproblematik, aber auch die Anlageform des 7 Tra- (geblockter) 7 Trachealkanüle beeinträchtigt (Butcher
cheostomas (Graumüller et al. 2002), der Kanülentyp und 1982; Cameron et al. 1973; De Vita 1990).
ggf. weitere Erkrankungen. Patienten mit einer Trachealkanüle befinden sich so-
mit in einem Teufelskreis:
4 Einerseits haben sie eine geblockte Trachealkanüle,
7.3.1 Grundgedanken weil fehlende oder mangelhafte Sensibilität und Bewe-
gungsmöglichkeit eine sichere Schlucksequenz ge-
Wie auch aus den vorangegangenen Kapiteln deutlich fährden. Andererseits sind sie durch die geblockte
wird, sind Patienten mit einer schweren neurologischen Trachealkanüle von den Möglichkeiten, normal zu
Schädigung in Haltung, Bewegung und Koordination so- spüren und zu bewegen, abgeschnitten und der
wie ihren Schutzmechanismen zu Beginn oft massiv ein- Schluckvorgang ist zusätzlich mechanisch behindert.
geschränkt. Die gestörte Schlucksequenz und die fehlen- 4 Einerseits ist ein zu frühzeitiges Entfernen oder
den Schutzmechanismen erfordern das Einlegen einer dauerhaftes Entblocken der Kanüle fahrlässig, wenn
geblockten Trachealkanüle. Die in Abschnitt 7.2.3 be- die Patienten nicht die Möglichkeit haben, ihre Lunge
schriebenen Auswirkungen einer Trachealkanüle auf Hal- ausreichend vor Aspiration zu schützen. Andererseits
tung, Bewegung und Schlucken verstärken sekundär die kann der kanülierte Patient seine Schluckbewegun-
Problematik. gen nicht unter physiologischen Bedingungen durch-
Eine intakte Sensibilität im laryngo-pharyngealen führen und bekommt dadurch keinen Zugang zur
Bereich ist grundvoraussetzend für den Schutz unserer Förderung seiner Schutzmechanismen.
Atemwege. Sensomotorisches Lernen setzt praktisches
Tun voraus.
178 Kapitel 7 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T. – Der Weg zurück zur Physiologie

Diese Patienten brauchen während der Therapie die


Möglichkeit in geschütztem/überwachtem Rahmen diese
Funktionen wieder zu erlernen. Um dies zu ermöglichen,
muss die Kanüle während der Therapie entblockt oder
entfernt werden (s.auch Kap.6 und Gratz und Woite 2000:
Leder et al. 1996; Sasaki 1985). Daraus ergeben sich auch
die Prioritäten der Zielsetzung.

: Beachte
Solange der Patient auf eine (geblockte) Kanüle
angewiesen ist, erfolgt keine ernährungsrelevante
Nahrungsaufnahme und es gelten bestenfalls die
Grundprinzipien des »therapeutischen Essens«
(s. Kap. 3.5.2). Das primäre Ziel ist in der Regel die
dauerhafte Dekanülierung. Erst dann wird der Fokus
7 auf die orale Nahrungsaufnahme gerichtet.

7.3.2 Behandlungspositionen

Die Erarbeitung einer adäquaten Behandlungsposition


(. Abb. 7.4) kann zu Beginn einen Großteil der Therapie
ausmachen. Dies ist aber notwendig, um den gesamten
Entblockungsvorgang sowie die Therapiesituation sicher
für den Patienten zu gestalten (Davies 1994; Gratz und
Woite 2000).

! Vorsicht
Eine Trachealkanüle darf nicht ohne Berücksichti-
gung der Ausgangsposition und des sich möglicher- . Abb. 7.4. Schwer betroffene Patientin im »Standing« (Stehrahmen).
weise bereits aufgestauten Speichelsees entblockt Entblockte Trachealkanüle Gr. 7, versorgt mit einem Sprechventil.
werden. Ausatemunterstützung mit Bewegungsrichtung für die Rippen nach
vorne/unten durch die dahinterstehende Therapeutin
Seitenlage
Eine Seitenlage sollte immer so gestaltet sein, dass Sekret
und Speichel aus dem Mund herauslaufen kann oder das Stand
in der untenliegenden Wange gesammelte Sekret nach Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei auf die Unter-
Bedarf mit Gaze aus dem Mund entfernt werden kann. So stützung von oberem Rumpf und Halswirbelsäule – in
kann zumindest die Gefahr einer Aspiration von im Mund leichter 7 Flexion – gerichtet werden, da so die Effizienz
befindlichem Speichel minimiert werden. des Abhustens erhöht und das Risiko von erneuter Aspi-
ration gemindert werden kann. Im Stand können Atmung
Sitz und Husten gut unterstützt werden (. Abb. 7.4).
Im Sitz ist darauf zu achten, dass der Oberkörper nach
vorne geneigt ist und der Kopf sich in einer leichten 7 Fle- Rollstuhlversorgung am Beispiel des B.A.T.S.A.
xion (»langer Nacken«, »Chin-tuck«) befindet, das heißt, Ein weiterer wichtiger Aspekt im Gesamtmanagement,
dass das Kinn der Brust etwas angenähert ist. Auch hier liegt in der Versorgung des Patienten in den therapie-
kann Sekret oder Speichel nach vorne aus dem Mund flie- freien Zeiten des 24-Stunden-Konzeptes. Dazu zählt auch
ßen oder vom Therapeuten regelmäßig entfernt werden. die Rollstuhlversorgung von sehr schwer betroffenen
7.3 · Therapie
179 7

a b

. Abb 7.5 a–b. Patient ohne Rumpf- und Kopfkontrolle im Rollstuhl. (B.A.T.S.A) wird das Einordnen der einzelnen Körperabschnitte überein-
a mit vorderem Aufbau und entsprechend angepasster Kopfstütze ander auch für einen Patienten mit reduziertem Körpertonus (hypoton)
(B.A.T.S.A.); b seitliche Ansicht: durch den Aufbau des Rollstuhls möglich

Patienten mit ihrer 7 Trachealkanüle (De Vita 1990; Eng- ! Vorsicht


ström 2001; Mack 2002). Rückenlage, die ein sofortiges passives Nachlaufen
Die . Abbildungen 7.5 a–b zeigen eine Möglichkeit, von Speichel aus der Mundhöhle in die Luftwege
wie die Grundgedanken zur Ausgangsstellung auch bei provoziert, ist beim Entblocken kontraindiziert.
Patienten im Rollstuhl Berücksichtigung finden können.
Der Patient ohne aktive Rumpf- und Kopfkontrolle sitzt in
einem speziell angepassten Rollstuhl. Der fehlende Hal- 7.3.3 Reinigung des Atem-Schluck-Trakts
tungshintergrund wird ihm »von außen« angeboten. Er
hat jetzt Unterstützung, um »komplexere« Leistungen wie Das über der Blockung stehende Sekret (Speichel, Nasen-
Schlucken besser zu bewältigen. Dieser Aufbau eines »äu- und Rachenraumsekret) stellt ein hervorragendes Milieu
ßeren Haltungshintergrundes« muss am Becken begon- zur Keimvermehrung dar. Werden diese Sekrete vor dem
nen werden und darauf aufbauend für den gesamten Entblocken nicht entfernt, wird der Patient einer Gefähr-
Rumpf stabil sein (7 B.A.T.S.A. = Basler anterior trunk dung durch absteigende Keime ausgesetzt, die u. a.
support approach). So ist die Basis gelegt für die Positio- nosokomiale Pneumonien verursachen können (Dike-
nierung des Kopfes.Diese Sitzhaltung wird je nach Patient man und Kazandjian 1997; Higgins et al. 1997). Der Reini-
für ca. 30 bis höchstens 90 Minuten eingenommen (Mack gung des nasalen,oralen,(pharyngealen) und laryngo-tra-
2002). chealen Trakts kommt deshalb besondere Bedeutung zu.
180 Kapitel 7 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T. – Der Weg zurück zur Physiologie

Reinigung von Mundhöhle und Nase blockens in die Trachea eindringende Sekretmenge mini-
Das benötigte Material ist bereitgestellt (. Abb. 7.6). miert werden.
Zu Beginn wird der Mund zunächst mit angefeuchte- Die Reinigung von Mund und Nase ist unverzicht-
ter Gaze gesäubert (. Abb. 7.7b) und die Zunge von Belä- barer Teil des vorbereitenden Managements vor dem Ent-
gen befreit. Ggf. werden auch die Zähne geputzt (. Abb. blocken, sollte aber selbstverständlich auch unabhängig
7.7a, hier in einer geführten Sequenz zu sehen) (Affolter vom Entblocken mehrmals am Tage durchgeführt wer-
1990) und die Nase gereinigt. So soll die während des Ent- den.

. Abb. 7.6. Vorbereitete Materialien und Geräte


zum Entblocken der Kanüle eines Patienten
1 Absauggerät,
2 Absaugkatheter,
3 sterile Handschuhe,
4 2¥20 ml Spritzen,
5 Kompressen,

7 6 Fingerlinge,
7 »Feuchte Nase«,
8 Sprechventil,
9 Abklebefolie,
10 Manometer,
11 Mundschutz,
12 FOTT-Box
13 Gazetupfer

a b

. Abb 7.7 a–b. Vorbereitende Mundreinigung vor dem Entblocken a Geführtes Zähneputzen.b Entfernung von Speichel aus den Wangentaschen
unter Kieferkontrolle
7.3 · Therapie
181 7

: Beachte
Vor dem Entblocken der Kanüle müssen (in einer
geeigneten Ausgangsstellung) Mund und Nasenraum
gereinigt werden.

Reinigung der Trachealkanüle


und des Bereichs oberhalb der Blockung
Wie die Reinigung der Trachealkanüle durchgeführt
wird, ist abhängig von der Kanülenart.
4 Eine Innenkanüle (»Seele«) kann herausgenommen
und gesäubert werden. a
4 Ist das 7 Tracheostoma im Verhältnis zur Kanüle
groß, kann ein Teil des (über der geblockten Tracheal-
kanüle) aufgestauten Sekrets neben bzw. am Rand des
Tracheostomas vorsichtig abgesaugt werden.
4 Erlaubt die Trachealkanüle ein Absaugen des Sekrets
oberhalb der Blockung,wird dieses zunächst mit einer
Spritze abgezogen (. Abb. 7.8a und 7.8b). Dies bietet
auch einen gewissen Parameter in der Dokumenta-
tion für die Menge aspirierten Materials im Gesamtbe-
handlungsverlauf. Da mittels Spritze jedoch häufig
nicht sämtliches Sekret abgezogen werden kann,muss
nochmals mit dem Absauger in Feinsogeinstellung
(über den gleichen Zugang wie mit der Spritze) abge-
saugt werden.

7.3.4 Therapeutisches Absaugen

Patienten mit einer Trachealkanüle werden mehr oder b


weniger oft am Tag in der Trachealkanüle und der Trachea
passiv abgesaugt. . Abb 7.8 a–b. Geblockte Trachealkanüle mit subglottischer Absaug-
möglichkeit a mit zwei dazu passenden Innenkanülen. b oberhalb der
Ziel des Absaugens ist die Entfernung von Sekret, das
Blockung stehendes Sekret wird mit einer Spritze abgezogen
den Patienten bei der Atmung behindert und die ausrei-
chende Versorgung mit Sauerstoff gefährdet. Dabei kann
es sich um Sekrete von den Schleimhäuten oder um aspi-
riertes Material handeln. kommen ist, schonend in einer Ausatemphase abgesaugt
Bei dem in der F.O.T.T. angewandten und als »thera- werden. Bei diesem Vorgang arbeiten idealerweise zwei
peutisches Absaugen« bezeichneten Vorgehen wird vor Mitarbeiter aus Therapie und Pflege zusammen. Ein Mit-
dem erforderlichen Absaugen zunächst versucht, den arbeiter unterstützt die Ausatmung und der andere saugt
Patienten mit Hilfe einer unterstützten, forcierten Ausat- ab (. Abb. 7.9).
mung zum Husten anzuregen. Denn Luft, die mit mehr Beim therapeutischen Absaugen wird der Atemrhyth-
Druck durch die Trachea strömt, lässt den Patienten vor- mus des Patienten berücksichtigt, die Ausatmung wird
handenes Sekret besser spüren.Zudem wird das Sekret bei unterstützt und es wird lediglich in der Trachealkanüle
unterstützter Ausatmung oft so weit nach oben mobili- abgesaugt. So kommt es seltener dazu, dass der Patient
siert, dass es sich knapp unterhalb der Trachealkanüle durch mechanische Reizung der Tracheaschleimhaut
oder in der Trachealkanüle befindet. Hier kann es dann, (verursacht durch den Absaugkatheter) oder gar der Bi-
wenn der Patient nicht zum eigenständigen Abhusten ge- furkation zu heftigem Husten gereizt wird, der zum einen
182 Kapitel 7 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T. – Der Weg zurück zur Physiologie

7.3.5 Therapeutisches Entblocken

Während des Entblockungsvorgangs bzw. kurz danach


muss – in Abhängigkeit vom Kanülentyp – das aufge-
staute Material oberhalb des Blocks abgesaugt werden,da
dieses Aspirat sonst ungehindert in die Trachea fließen
würde (. Abb. 7.10 a–b).
Das therapeutische Entblocken schließt sich direkt an
das therapeutische Absaugen an. Für den kurzen Vorgang
des Entblockens sind 2 Personen notwendig, so dass der
ganze Vorgang für den Patienten ohne Angst und Hektik
ablaufen kann. Eine Person entblockt und unterstützt den
Patienten weiter bei der Atmung, eine weitere Person ist
bereit zum Absaugen. Eine gegenseitige Absprache ist un-
abdingbar für eine gute Koordination der Durchführung.
7 Muss während des Entblockens und der nachfolgenden
Therapie die Sauerstoffsättigung kontrolliert werden,
kann der Patient an den Pulsoxymeter oder den Monitor
angeschlossen werden.

i Praxistipp
Der Entblockungsvorgang selbst wird mit einer
. Abb. 7.9. Therapeutisches Absaugen: Der Absaugkatheter wird
Spritze durchgeführt. Zunächst wird nur eine Druck-
ohne Sog bis knapp unterhalb der Trachealkanüle eingeführt. Sekret
in der Trachea wird durch Ausatemunterstützung bis zur Tracheal- reduzierung vorgenommen und die Reaktion des
kanüle hochmobilisiert, wo es schonend –möglichst in einer Ausatem- Patienten beobachtet: Hustet er spontan oder
phase – abgesaugt wird räuspert er sich? Dies kann einen Hinweis auf die
Sensibilität des Patienten geben. Erst danach
wird vollständig entblockt (. Abb. 7.11).

den Verlust einer oft mühsam aufgebauten Ausgangsstel- : Beachte


lung bedeutet und zum anderen vermehrte Sekretpro- Während des Entblockens erhält man Informationen
duktion provoziert. . Übersicht 7.4 fasst die wichtigsten über die Sensibilität, die Schutzmechanismen und die
Aspekte des therapeutischen Absaugens zusammen. Möglichkeiten des Patienten seinen Haltungshinter-
grund beim eventuell auftretenden Husten zu
bewahren.
Übersicht 7.4: Therapeutisches Absaugen
4 Atemrhythmus des Patienten beachten
4 Verstärkte Ausatmung unterstützen 7.3.6 Therapeutisches Vorgehen
4 Absaugen nur in der Kanüle nach der Entblockung
(bzw. kurz darunter)
Optional wird nach dem Entblocken weiter zu zweit mit
dem Patienten gearbeitet. Nun geht es in erster Linie da-
rum, Luft durch den Kehlkopf in die oberen Atemwege zu
lenken.
Eine Person begleitet und unterstützt mit den Händen
seitlich am Brustkorb die Atmung des Patienten, die zwei-
te Person hält die Trachealkanüle nach einer Einatmung
für die Ausatemphase vorsichtig zu (. Abb. 7.12).
7.3 · Therapie
183 7

: Beachte
Das Zuhalten der Kanüle ist so zu gestalten, dass es zu
keiner Irritation der Trachea durch die Kanüle kommt.
Um den Atemstrom zu lenken, bedarf es nur eines
»Widerstandes« am Kanülenende außen, ein
»Zudrücken« ist nicht notwendig.

Diese Vorgehensweise
4 ermöglicht eine erneute Einatmung sicher und angst-
frei über die Trachealkanüle und
a b 4 lenkt den Ausatemstrom durch den Kehlkopf und den
Rachen.
. Abb 7.10 a–b. Schematische Darstellung der Ansammlung von
Sekret a oberhalb des Blocks in geblocktem Zustand der Tracheal-
kanüle; b während und nach der Entblockung bewegt sich das aufge- Dadurch wird ermöglicht, dass Residuen gespürt, ggfs.
staute Sekret entsprechend der Schwerkraft abgehustet und/oder anschließend geschluckt werden
können.
Bei den ersten Versuchen, die Trachealkanüle zu ver-
schließen, kann es sein, dass der Patient hustet. Dies wird
immer als positiv im Sinne einer normalen Reaktion
bewertet, zeigt es doch, dass der Patient in der Lage ist,
Sekret zu spüren und zu husten. Diese Reaktion lässt die
Interpretation zu, dass der Hustenreiz durch Sekret aus
dem oberen Atemtrakt verursacht wurde.
Bei jeder Ausatmung wird nun die Trachealkanüle er-
neut mit einer angefeuchteten Kompresse verschlossen,
so dass der Ausatemstrom physiologisch durch Rachen
und Nase oder den Mundraum entweichen kann. Der Pa-
tient kann dann aufgefordert werden, die Luft stimmhaft
. Abb. 7.11. Schematische Darstellung des druck- und volumenredu- z. B. auf »haa« auszuatmen. Dies verstärkt auch seine
zierten Blocks nach erfolgter Entblockung
Möglichkeiten Residuen zu spüren und darauf zu reagie-
ren.Als sehr hilfreich erweist es sich dabei immer wieder,
die Ausatem-Unterstützung mit leichter Vibration zu
verbinden (Gratz und Woite 2000).
Toleriert der Patient das Zuhalten der Kanüle in den
Ausatmungsphasen, kann die angefeuchtete Kompresse
durch einen Sprechaufsatz (Ventil) ersetzt werden.

! Vorsicht
Durch das Husten ausgelöst, kommt es häufig zu
Veränderungen der Position des Patienten. Um zu
verhindern, dass die jetzt frei bewegliche Kanüle in
der Trachea einen Hustenreiz unterhält, ist die
Beachtung des Haltungshintergrundes (langer
Nacken!) sowie das Anbieten von Husten- und
Schluckhilfe ein Muss!

. Abb. 7.12. Therapie mit entblockter Kanüle: Lenkung des Atem-


stroms bei der Ausatmung über die oberen Atemwege
184 Kapitel 7 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T. – Der Weg zurück zur Physiologie

Bei den ersten Versuchen zu schlucken, können viele Pa- Gründe können sein:
tienten Unterkiefer und Zunge noch nicht selektiv be- 4 Größe der Trachealkanüle: Eine 10-er oder auch 9-er
wegen. Sie haben Schwierigkeiten, den Unterkiefer stabil Kanüle kann zu groß sein, als dass ausreichend Luft
zu halten und gleichzeitig die Zunge zu bewegen. Deshalb an der Trachealkanüle vorbei strömen könnte;
wird neben dem Kieferkontrollgriff, der den Unterkiefer 4 eine beidseitige Stimmlippenparese;
stabilisiert, eine Schluckhilfe angeboten (. Abb. 3.6b). 4 Granulationen in der Trachea;
Dazu werden 2 Finger seitlich im Bereich des hinteren 4 eine Tracheal- oder eine Laryngealstenose.
Zungendrittels als »Stütze« angeboten, die aber die Bewe-
gung des Hyoid auf keinen Fall behindern dürfen. Diese : Beachte
Schluckhilfe dient sowohl der Zunge als auch dem Hyoid Eine endoskopische Kontrolle ist in diesem Fall
dazu, den Ort besser zu spüren, an dem die Bewegung dringend indiziert!
stattfinden soll. Bei Bedarf werden Kieferkontrollgriff
und Schluckhilfe gemeinsam angewendet. Die Dauer der Entblockungszeit wird am Anfang nur kurz
Ist der Patient in der Lage mühelos durch die Nase zu sein (unter Umständen nicht länger als 3–5 Minuten) und
atmen,wird die Trachealkanüle dann auch bei Einatmung kann in Abhängigkeit des Verlaufs ausgedehnt werden.
7 zugehalten. Erfolgen nun Ein- und Ausatmung ohne An- Soll der Patient später auch in therapiefreien Zeiten
strengung, kann die Trachealkanüle mit einer angefeuch- entblockt sein, kann er mit einem »Sprechaufsatz« ver-
teten Kompresse oder einem Deckel verschlossen werden. sorgt werden, oder er bekommt unter Umständen eine
Besteht der erste wichtige Schritt nach dem Ent- Sprechkanüle. Dies wirkt sich regulierend auf die Atmung
blocken in der Atemarbeit, wird der zweite Schritt sein, aus (Leder et al. 1996).
den Schluckvorgang anzuregen oder die Qualität der In einigen Kliniken wird danach eine vorübergehen-
Schluckbewegungen zu verbessern. Unter entblockten de Dekanülierung des Patienten und ein Abkleben des
Bedingungen ist der Häufigkeit und Qualität des Schlu- 7 Tracheostomas für die Zeitdauer einer Therapieeinheit
ckens größte Aufmerksamkeit zu widmen. durchgeführt.
Bei der Behandlung in Seitenlage muss bei Patienten,
die sehr wenig schlucken, der sich ansammelnde Speichel
von Zeit zu Zeit aus der Wangentasche entfernt werden,
Übersicht 7.5: Therapeutische Interventionen
um einen Überlauf nach hinten in den Rachen zu verhin-
nach Entblockung der Kanüle
dern.
4 Mit der angefeuchteten Kompresse die Kanüle
Kann ein Patient Töne bilden oder sprechen, dient die
bei der Ausatmung zuhalten.
Kontrolle des Stimmklangs dazu,mögliche Penetrationen
4 Produktion von Stimme während der
im Kehlkopf hörbar zu machen.Klingt die Stimme des Pa-
Ausatmung anregen, falls möglich.
tienten feucht oder brodelig, wird vor jedem weiteren
4 Sprechaufsatz benutzen.
Vorgehen immer zunächst eine Reinigung der Glottis
4 Mit dem Finger (mit angefeuchtetem
über Nachschlucken, Räuspern oder Husten erforderlich
Fingerling) die Kanüle bei Aus- und Einatmung
sein. . Übersicht 7.5 gibt einen Überblick über die thera-
zuhalten.
peutischen Interventionen nach Entblockung der Kanüle.
4 Trachealkanüle (mit angefeuchteter
Kompresse/Deckel) verschließen.
! Vorsicht
4 Unterstützung beim Husten anbieten.
Bei Verschluss der Trachealkanüle kann es vorkom-
4 Kieferkontrollgriff und/oder Schluckhilfe
men, dass die Luft nicht – oder nicht ausreichend
anbieten, wenn der Patient versucht zu
– in die oberen Atemwege strömt. Es kann zu einem
schlucken.
Atemstau kommen!

Ist dies der Fall, muss die Ausatmung sofort wieder über
das 7 Tracheostoma gewährleistet werden. Danach muss
die Ursache gesucht werden.
7.3 · Therapie
185 7

Das abgeklebte 7 Tracheostoma (. Abb. 7.13) stellt In . Übersicht 7.6 wird die Vorgehensweise beim Ent-
eine gute Voraussetzung für die therapeutische Arbeit an blocken einer Trachealkanüle unter F.O.T.T.-Gesichts-
der Vertiefung der Atmung sowie der Verbesserung der punkten dargestellt.
Beweglichkeit von Kopf und Nacken dar. Die Gründe, die
Sasaki für eine frühzeitige Dekanülierung anführt, unter-
stützen diese Herangehensweise ebenfalls. Übersicht 7.6: Entblockung einer Trachealkanüle
unter F.O.T.T. –Gesichtspunkten
: Beachte
4 Behandlungsposition erarbeiten
Gründe für frühzeitige Dekanülierung
4 Therapeutische Reinigung des Mundes und
4 Verhindert die zentrale Dysorganisation des
der Nase
laryngealen Verschlussreflexes.
4 Therapeutisches Absaugen
4 Stellt die physiologischen Funktionen des Larynx
4 Therapeutisches Entblocken
wieder her (nach Sasaki 1985).
4 Ausatemstrom über die oberen Atemwege
lenken
Bei diesem Vorgehen ist allerdings die Anlageform
4 Schlucken fazilitieren
des 7 Tracheostomas von entscheidender Bedeutung.
Schwierigkeiten machen hier vor allem die dilatierten Nach Beendigung der Arbeit unter entblockten
(punktierten) Tracheostomen, die zwar kosmetisch für Bedingungen
den Patienten von Vorteil sind, das therapeutische Vorge- 4 Kanüle blocken
hen jedoch erschweren. 4 Gesamten Bereich (oral, nasal, pharyngeal,
tracheal) reinigen
: Beachte 4 Dokumentation erstellen
Der »Einstichkanal« eines punktierten
7 Tracheostomas kann sich relativ schnell (innerhalb
von Minuten) verengen und erschwert so die erneute
Einlage einer Kanüle gleicher Größe. 7.3.7 Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Das konzeptionelle Vorgehen basiert auf der Interdiszipli-


narität des Managements (Higgins et al. 1997). Die Arbeit
mit Patienten mit einer Trachealkanüle erfordert ausrei-
chend Hintergrundwissen und Teamfähigkeit aller Mit-
glieder, die mit dem Patienten arbeiten. Zu den Berufs-
disziplinen, die je nach Klinik mit unterschiedlichem
Schwerpunkt mit tracheotomierten Patienten arbeiten,
zählen Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie, Pflege,
Ernährungsberatung und Arztdienst.
Es bedarf klarer Absprachen in einem interdisziplinä-
ren Team,deren Umsetzung sorgfältig dokumentiert wer-
den muss. Nur so können fundierte Entscheidungen oder
Änderungen im Vorgehen getroffen werden (Gratz und
Woite 2000; Higgins et al. 1997). Jedes festgelegte Tracheal-
kanülen-Management ist nur so gut, wie es in der Praxis
auch tatsächlich umgesetzt wird. Darüber hinaus muss es
Spielraum für individuell patientenbezogene Abweichun-
. Abb. 7.13. Abkleben des Tracheostomas mit Kompresse und einer
luftundurchlässigen Folie nach erfolgter Dekanülierung. Die Patientin
gen lassen. Von großem Vorteil sind hier F.O.T.T.-Super-
liegt in Seitenlage, eine optimale Kopfposition wird von einer zweiten visoren, denen eine besondere, beratende Aufgabe zu-
Person unterstützt kommt (s. Kap. 8.1.1).
186 Kapitel 7 · Trachealkanülen-Management in der F.O.T.T. – Der Weg zurück zur Physiologie

Kliniken, die keinen eigenen HNO-Arzt haben und : Beachte


die auf die Zusammenarbeit mit HNO-Ärzten angewiesen Erst ein gut funktionierendes Trachealkanülen-
sind, sind in besonderem Maße gefordert, ihre Sicht management mit geschultem Personal erlaubt die
des kanülierten Patienten und ihr Trachealkanülen-Ma- optimale Versorgung und Behandlung des tracheo-
nagement den Konsiliarärzten verständlich zu machen. tomierten Patienten. Nicht immer ist das Ziel der
Denn eine rhinolaryngoskopische Untersuchung wird, dauerhaften Dekanülierung und des 7 Tracheostoma-
eingebettet in die F.O.T.T., anders ablaufen als bei nicht verschlusses tatsächlich zu erreichen. Aber auch das
neurologischen Patienten (Lipp und Schlaegel 1997). Erreichen von Teilschritten, wie z. B. regelmäßige
Die Vorgehensweise bei der Entwöhnung von der Tra- Entblockungszeiten und/oder die Versorgung des
chealkanüle differiert von Klinik zu Klinik. Dies hängt Patienten mit einem »Sprechaufsatz«, bedeuten für
zum einen mit den unterschiedlichen Strukturen einer den Patienten einen Zuwachs an normalem Input
Klinik zusammen, zum anderen mit den Erfahrungen der einerseits (der immer Voraussetzung ist für eine
Mitarbeiter und dem jeweiligen bevorzugten Kanülensys- Weiterentwicklung des Patienten) und verbalen
tem, das in einer Klinik verwendet wird. Ausdrucksmöglichkeiten andererseits.
Immer wird sich das Vorgehen im individuellen Pa-
7 tientenfall an mehreren Faktoren entwickeln. . Übersicht
7.7 fasst diese Faktoren zusammen. Literatur

Addington WR et al.(1999) Assessing the laryngeal cough reflex and the


Übersicht 7.7: Faktoren, die das therapeutische risk of developing pneumonia after stroke. Arch Phys Med Rehabil
Vol 80
Vorgehen bestimmen
Affolter F (1990) Wahrnehmung Wirklichkeit und Sprache.Neckar,Villin-
gen-Schwenningen
4 Allgemeinzustand des Patienten Bonanno PC (1971) Swallowing dysfunction after Tracheostomy. Ann.
4 Haltungshintergrund des Patienten Surg. Vol. 174 No. 1
4 Bewegungsmöglichkeiten des Patienten Buchholz DW (1996) What is Dysphagia? Dysphagia 11: 23–24 Springer
4 Effektivität des Schutzes seiner Atemwege NY
Buckwalter JA, Sasaki CT (1984) Effect of tracheotomy on laryngeal
4 Lagerungsmöglichkeiten im Sitzen, Liegen und
function. Otolaryngologic Clinics of North-America – Vol. 17
Stehen (auch außerhalb der Therapien) Butcher RB (1982) Treatment of chronic aspiration as a complication of
4 Anlageart des 7 Tracheostomas cerebrovascular accident. Laryngoscope 92
4 Vorangegangene broncho-pulmonale Infekte Cameron JL et al. (1973) Aspirations in patients with tracheostomies,
und (Aspirations-) Pneumonien Department of Surgery, The John Hopkins Medical Institutions,
Baltimore
4 Bestehende Refluxproblematik
Davies P (1991) Im Mittelpunkt. Rehabilitation und Prävention 25,
4 Befunde aus rhinolaryngoskopischer, Springer Berlin
bronchoskopischer und ggf. 7 videofluoro- Davies P (1994) Wieder Aufstehen. Rehabilitation und Prävention 30,
skopischer Untersuchung Springer Berlin
4 Personelle, zeitliche und professionelle DeVita MA (1990) Swallowing disorders in patients with prolonged
orotracheal intubation or tracheostomy tubes. Critical care medi-
Kapazität der Klinik
cine Vol. 18, No 12: 1328–1330
4 Mitarbeit der Angehörigen Dikeman KJ, Kazandjian MS (1997) Communication and swallowing
4 Versorgung des Patienten nach Entlassung management of tracheostomized and ventilator dependent
aus der Klinik nach Hause, in ein Pflegeheim, adults. Singular Publishing Group Inc., San Diego
eine Tagesstätte, eine Förderstätte oder eine Edwards S (1996) Neurological Physiotherapy. Churchill Livingstone
New York
andere Klinik.
Ehrenberg H (1998) Atemtherapie in der Physiotherapie. Krankengym-
nastik, Pflaum, München
Engström B (2001) Ergonomie-Sitzen im Rollstuhl. Posturalis Books
Frost EAM (1977) Respiratory Problems associated with head trauma.
Neurosurgery Vol. 1, No 3
Literatur
187 7

Gratz C, Woite D (2000) Die Therapie des Facio-Oralen-Traktes bei Mang H (1992) Atemtherapie: Grundlagen, Indikationen und Praxis.
neurologischen Patienten: Zwei Fallbeispiele. Schulz-Kirchner, Schattauer, Stuttgart
Idstein Martin BJW, Logemann JA, Shaker R, Dodds WJ (1994) Coordination
Graumüller S et al. (2002) Spätkomplikationen und Nachsorge nach between respiration and swallowing respiratory phase relation-
Tracheotomie unter besonderer Berücksichtigung der Punktions- ships and temporal intergration. J. Appl Physiol 76: 714–723
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koma B.A.T.S.A.. Vortrag an der 35. APO-Jahrestagung, Montreux, und Prävention Bd 52, Springer Berlin
Schweiz
8

Das F.O.T.T.-Konzept in der


neurologischen Rehabilitation
am Beispiel TZB
(Therapiezentrum Burgau)
Wolfgang Schlaegel und Berthold Lipp

8.1 Strukturen – 190


8.1.1 Personal – 190
8.1.2 24-Stunden-Konzept – 192
8.1.3 Standards – 193

8.2 Dokumentation und Statistik – 195


8.2.1 Dokumentation – 195
8.2.2 Statistik – 195

8.3 Diagnostik – 196


8.3.1 Abklärung von Schluckstörungen – 196
8.3.2 Apparative Schluckdiagnostik im Vergleich – 197
8.3.3 Der Stellenwert der Laryngoskopie – 197
8.3.4 Poststationäre Nachuntersuchungen – 200

8.4 Fortbildung – 201

Literatur – 202
190 Kapitel 8 · Das F.O.T.T.-Konzept in der neurologischen Rehabilitation am Beispiel TZB (Therapiezentrum Burgau)

Das Therapiezentrum Burgau ist eine Klinik zur Rehabilita-


tion von Patienten mit schweren erworbenen Hirnschädi-
gungen mit insgesamt 100 Betten, davon 75 Betten der
Frührehabilitation (Phase B). Integriert ist ein Schulungs-
zentrum mit den Schwerpunkten der Behandlungskon-
zepte nach Affolter, Bobath und Coombes (ABC) sowie ein
hauseigenes, abteilungsunabhängiges Institut für Wissen-
schaft und Forschung (weitere Info unter: www.therapie-
zentrum-burgau.de).
Bei stationärer Aufnahme weisen 95 % aller Patienten
relevante Probleme im fazio-oralen-Trakt auf, rund 1/3 der
Patienten ist bei Aufnahme mit einer geblockten Tracheal-
kanüle versorgt (Schlaegel 2000). Abgesehen von den me-
dizinisch-pflegerischen Problemen kommt der Mimik, dem
Beißen, Kauen, Schlucken und der Stimme eine hohe sozia-
le Bedeutung zu. Ein Verlust der »Gesellschaftsfähigkeit«,
z. B. durch Speichelfluss, führt zwangsläufig zur Einschrän-
8 kung sozialer Kontakte und somit zur Verringerung der Le-
bensqualität (Coombes 1996, Schlaegel 1996).
So bestimmt die 7 Dysphagie im weiteren Verlauf des . Abb. 8.1. Organigramm TZB
Lebens maßgeblich die Pflegebedürftigkeit und die Le-
bensqualität des Patienten, wenn es nicht gelingt, diese
Probleme durch entsprechende rehabilitative Maßnahmen
auf Dauer zu lösen. Die F.O.T.T. ist hierbei eine der wichtigs- verkürzt und eine raschere Umsetzung im praktischen
ten therapeutischen Optionen. Alltag erreicht.
Es ist jedoch nicht ausreichend,einige in der F.O.T.T.aus- Stationsübergreifende Teams, wie F.O.T.T.-Grup-
gebildete Therapeuten anzustellen, wenn das entspre- pe,Physikalische-Medizin-Gruppe (7 Kontrakturbehand-
chende Setting innerhalb der Klinik konzeptionell nicht auf lung) und das Affolter Supervisionsteam werden von der
dieses Problem abgestimmt ist. Eine erfolgsorientierte Im- Klinikleitung eingesetzt (eigene Geschäftsordnung, siehe
plementierung des F.O.T.T.-Konzeptes in die stationäre 8.1.1) und sind nicht der Leitung einer Station unterstellt.
Neurorehabilitation bedingt daher zahlreiche Vorausset- Neben diesen notwendigen personellen Strukturen
zungen bezüglich Strukturen und Prozessen,die im Folgen- muss es ein durchgehendes stationsübergreifendes Kon-
den am Beispiel des Therapiezentrums Burgau beschrieben zept geben, in dem die Grundprinzipien der F.O.T.T. ein-
werden. gebettet sind. Abläufe und Prozesse müssen standardi-
siert sein, um individuelle und stationsabhängige Abwei-
chungen zu minimieren und so maßgeblich zur Qualitäts-
8.1 Strukturen sicherung beizutragen.

Die Organisationsstruktur der Klinik (. Abb. 8.1) ist so


konzipiert, dass es de facto nur noch zwei Entscheidungs- 8.1.1 Personal
ebenen gibt: die Klinikleitung und die Stationsleitung,
stellvertretend für die Leistungserbringer, d. h. für die Neben den einzelnen Fazio-Oraler-Trakt-Therapeuten
Pflege,Therapeuten und Ärzte.Durch diese flache Hierar- (FOT-Therapeuten) muss das gesamte Behandlungsteam
chie ist ein hohes Maß an Eigenständigkeit und Eigenver- auf der Station bestimmte Prinzipien mit dem Umgang
antwortlichkeit gegeben. Außerdem werden durch den beim Patienten beachten (z. B. das Ansprechen des Pa-
Wegfall von Zwischenebenen,wie bei traditionellen Orga- tienten auf gleicher Höhe) und die wesentlichen Überle-
nisationsstrukturen üblich (z. B. Abteilungsleiterebene) gungen der F.O.T.T. kennen. Eine stationsübergreifende
der Informationsfluss verbessert, bürokratische Wege Expertengruppe hat sich bewährt, die bei besonderen
8.1 · Strukturen
191 8

Fragestellungen oder schwierigen Patienten zu Rate gezo- praktische Umsetzung des Gelernten verbessert und so
gen wird. die Qualität von Befunderhebung, Beurteilung und thera-
peutischer Maßnahmen steigert.
Der Fazio-Orale-Trakt-Therapeut
(FOT-Therapeut) F.O.T.T.-Gruppe
Die Berufsbezeichnung »FOT-Therapeut« ist kein ge- In der F.O.T.T.-Gruppe (Schlaegel 2000b) sind Mitarbeiter
schützter Begriff mit einer definierten Ausbildung. Im aus verschiedenen Disziplinen, die über eine langjährige
TZB werden hausintern Ergotherapeuten und Logopä- Erfahrung im Umgang mit FOT-spezifischen Problemen
den zum FOT-Therapeuten weitergebildet. der Patienten haben. Die Mitglieder der F.O.T.T.-Gruppe
Dies geschieht durch eine Teilnahme am F.O.T.T.- kommen aus der Pflege, aus der Ergotherapie, der Logo-
Grundkurs. Es erfolgt anschließend eine Einweisung in pädie und der Medizin.Entsprechend dem Fachbereich ist
der endotrachealen Absaugtechnik durch die Pflege mit die Supervision zugeordnet:
entsprechender Zertifizierung. . Übersicht 8.1 stellt die . Übersicht 8.2 beschreibt die Aufgaben der F.O.T.T.-
Aufgaben des FOT-Therapeuten dar. Gruppe und der Supervision.

Übersicht 8.1: Aufgaben des FOT-Therapeuten Übersicht 8.2: Aufgaben der F.O.T.T.-Gruppe
Jeder FOT-Therapeut sollte in der Lage sein: und der Supervision
4 einen Patienten mit 7 Tracheostoma bzw. Aufgaben der F.O.T.T.- Gruppe
7 Trachealkanüle abzusaugen, 4 (Weiter-)Entwicklung von Strukturstandards
4 die Trachealkanüle zu entblocken, (Material, Personal) und Prozessstandards
4 den physiologischen Atemweg über Mund, (Techniken, Ablauf )
Nase und Kehlkopf zu beüben, 4 Beratung und Supervision des therapeuti-
4 die Kanüle anschließend wieder fachgerecht schen Teams auf der Station
zu blocken, 4 Fort- und Weiterbildung
4 notfalls eine Trachealkanüle zu wechseln, 4 Auswertung der Statistik, Diskussion möglicher
4 typische fazio-oralen Behandlungsstrategien Konsequenzen, praktische Umsetzung
wie 7 Tonusregulierung der Gesichtsmuskula-
tur, Stimulation des Zahnfleisches sowie der Pflegerische Supervision
Triggerpunkte für das Schlucken und die 4 7 Trachealkanülen (verschiedene Materialien,
Mundhygiene durchzuführen. Umgang mit Kanülen, Kanülenwechsel), Haut-
probleme, Absaugung, Hygiene (Kiffe 2000;
Seitz 1996; Vogel 2000)
Neben den typischen fazio-oralen Behandlungsstrategien Therapeutische Supervision
wie Tonusregulierung der Gesichtsmuskulatur, Stimula- 4 Befundung und Beurteilung, therapeutisches
tion des Zahnfleisches sowie der Triggerpunkte für das Vorgehen, Atmung, Phonation (Coombes 1996;
Schlucken und der Mundhygiene (Davies 1994, Gratz und Coombes 2001; Davies 1994)
Woite 2000, Seitz 1996) soll der Therapeut angeleitet wer-
den, zumindest in speziellen Situationen eine Tracheal- Ärztliche Supervision
kanüle wechseln zu können. Da auch die Pflege Teile der 4 Apparative Diagnostik, medizinische Interven-
F.O.T.T. wie Essensvorbereitung und – begleitung über- tionen (medikamentöse Behandlung,
nimmt, absolvieren auch zahlreiche Pflegekräfte den HNO-Intervention, PEG-Anlage, etc.)
Grundkurs. (Schröter-Morasch 1999)
Weitere Kurse wie der F.O.T.T.-Trach-Kurs, der F.O.T.T.-
Aufbaukurs sowie der Aufbaukurs für Logopäden mit
dem Schwerpunkt 7 Dysphagie, vertiefen das theoreti- Die F.O.T.T.-Gruppe bzw. einzelne Mitglieder werden in
sche Wissen, während im Arbeitsalltag die fachliche der Regel von den betreffenden Stationen angefordert. Sie
Supervision durch einen erfahrenen Therapeuten die supervidieren die Behandlung und geben Empfehlungen
192 Kapitel 8 · Das F.O.T.T.-Konzept in der neurologischen Rehabilitation am Beispiel TZB (Therapiezentrum Burgau)

zum weiteren Vorgehen ab. Dies kann – je nach Fragestel- Qualität der Versorgung und einem optimalen Ressour-
lung – eine Berufsgruppe, aber auch das ganze therapeu- ceneinsatzes.
tische Team betreffen. Am TZB wird jeder Ergotherapeut und jeder Logopä-
Die Vorteile von solchen Expertenteams liegen in: de zum FOT-Therapeut ausgebildet. Demnach arbeiten
4 Informations- und Erfahrungshäufung (Spezialisie- auf jeder Station mit ca. 20 Patienten 7 FOT-Therapeuten
rung), (6 Ergotherapeuten, 1 Logopäde), unterstützt von ca. 3–4
4 Reduzierung individueller Abweichung in der Beurtei- Pflegekräften pro Station, die den F.O.T.T.-Grundkurs ab-
lung und praktischen Umsetzung, solviert haben.
4 Routine im Handling, Der FOT-Therapeut ist häufig in sogenannten Dop-
4 Einheitliches Vorgehen bei: Befunderhebung, Dia- pelstunden eingeplant, da viele Patienten auf Grund der
gnostik, Therapieplanung, Therapie, allgemeinem Schwere ihrer Störungen nur in Co-Therapien sinnvoll zu
Handling, Evaluation, Dokumentation, Auswertung behandeln sind. So arbeitet FOT-Therapeut in einer ge-
und Beurteilung der erhobenen Befunde. meinsamen Therapiestunde beispielsweise mit einem
Physio- oder Ergotherapeuten an der Schluckanbahnung
Zusammensetzung, Aufgaben und Kompetenzen der in einer hohen Ausgangsstellung (z. B. Stehen). Dieses
F.O.T.T.-Gruppe sind im TZB in einer Geschäftsordnung Beispiel soll nicht nur die klassische Teamarbeit demon-
definiert. Die F.O.T.T.-Gruppe trifft sich in regelmäßigen strieren, sondern unterstreicht den hohen Stellenwert des
8 Abständen zur Bearbeitung bestimmter Projekte wie z. B. interdisziplinären Arbeitens mit einem übergeordneten
Erstellen bzw. Überarbeitung neuer Standards (siehe Ziel. Konventionelle Ansätze wie die Zuordnung be-
8.1.3), probeweises Einführen neuer Materialien, Validie- stimmter Probleme zu bestimmten Abteilungen oder Dis-
rung von Assessments, Organisation in- und externer ziplinen finden in diesem Konzept keinen Platz mehr.
Fortbildungen u.v.a.m.. Das Stationsteam wird durch den konsiliarisch täti-
gen HNO-Arzt und durch den Zahnarzt ergänzt.
Stationsteam
Die Mitarbeiter der verschiedensten therapeutischen Ab-
teilungen, die Pflege sowie die Stationsärzte bilden das 8.1.2 24-Stunden-Konzept
Stationsteam, vertreten durch eine Teamleitung, beste-
hend aus Stationsarzt (Stationsleitung Medizin),Stations- Ein 24-Stunden-Konzept bedeutet natürlich nicht, dass
leitung Pflege und einer Stationsleitung Therapie (. Abb. rund um die Uhr therapiert wird.
8.1). Das »Abteilungsdenken« verliert an Bedeutung, der
klassische Abteilungsleiter wird zum fachlichen Koordi- : Beachte
nator. Das 24-Stunden-Konzept besagt, dass bestimmte
Das multiprofessionelle Team auf der Station ent- Grundsätze im Umgang mit den Patienten durch-
scheidet über die meisten Belange wie gängig, d. h. von allen Teammitgliedern zu jeder Zeit
4 Therapieplanung, zu beachten sind (Coombes 2001).
4 Ressourcenverteilung,
4 Belegung und Dazu gehören beispielsweise die richtige (Um-)Lagerung
4 Personaleinsatz. (auch nachts!), ebenso wie der Transfer, die Mundpflege,
die Positionierung im Sitzen,Aspekte der taktil-kinästhe-
Diesem Stationsteam obliegt somit die Verantwortung, tischen Wahrnehmung und vieles andere mehr. Hierzu
ausgefallene Therapiestunden innerhalb des Stations- sind grundsätzlich Schulungen erforderlich,die jeder – ob
teams zu kompensieren und nicht durch Hinzuziehung Arzt, Pflegekraft oder Therapeut – durchläuft.
eines Therapeuten der gleichen Fachabteilung auszuglei- Im Alltag dienen patientenbezogene Workshops
chen, der den Patienten nicht kennt. Durch diese Struktur dazu, um für alle Teammitglieder ein einheitliches Vorge-
sind die Bedingungen zur Umsetzung eines durchgängi- hen bei spezifischen Problemen zu demonstrieren bzw.
gen therapeutischen, pflegerischen und medizinischen zu erarbeiten. Die Angehörigen werden ebenfalls in
Konzeptes deutlich verbessert. Jede Station bildet somit den Umgang mit Patienten einbezogen und so zum
eine »eigene Firma« mit einem hohen Anspruch an die »Co-Therapeuten« geschult, was nicht nur Vorteile für
8.1 · Strukturen
193 8

den Patienten, sondern auch für den Angehörigen selbst 4 Vorgehen bei rezidivierendem Erbrechen bzw. bei
bringt, der sich oft ohnmächtig mit dem Leiden seines 7 Reflux,
betroffenen Angehörigen konfrontiert sieht. 4 Anlage einer PEG-Sonde,
4 7 Tracheostomaverschluss.
: Beachte
Ein durchgängiges 24-Stunden-Konzept soll ver- Sie sind bezüglich Indikationsstellung,Ablauf, Durchfüh-
meiden, dass mit dem Patienten nach völlig unter- rung und Dokumentation standardisiert, um durch ein
schiedlichen Prinzipien umgegangen wird, sei es durch festgelegtes Zusammenwirken verschiedenster Diszipli-
verschiedenes Personal oder durch Angehörige. nen einen reibungslosen Ablauf dieser Untersuchung zu
gewährleisten.

8.1.3 Standards Standardisierte Befunderhebung


Ein standardisiertes und EDV-taugliches Befundungssys-
In einer Neurorehabilitationsklinik gibt es speziell beim tem bietet gerade bei der Auswertung große Vorteile. Eine
schluckgestörten Patienten mit und ohne Trachealkanüle standardisierte Anamnesenerhebung sowie ein standardi-
eine Reihe von Abläufen, deren Standardisierung sich be- sierter Befundbogen der Untersuchung des fazio-oralen
währt hat.Im Folgenden sind einige Standards aufgelistet, Trakts, der ärztlichen Untersuchung und der Laryngosko-
wie sie am TZB zur Anwendung kommen. pie haben sich hierbei bewährt, wie z. B. der Berliner
7 Dysphagie-Index (Seidl et al. 2002).
Trachealkanülenmanagement Die Befunderhebung des fazio-oralen Trakts mittels
Die Entwöhnung von der Trachealkanüle ist aus vielerlei TZB-Befundbogen dokumentiert den Status bei Aufnah-
Hinsicht ein wichtiges Ziel in der Neurorehabilitation me, nach 6–8 wöchiger Behandlung und bei Entlassung.
(Schlaegel 2000).Den Nachteilen wie Irritation und Affek- Dabei werden beachtet:
tionen der Trachea und des 7 Tracheostomas, der Gefahr 4 Ernährungssonde (PEG, naso-gastral, jejunal),
der Verlegung der Kanüle, bronchopulmonale Infekte 4 7 Trachealkanüle/7 Tracheostoma,
sowie der Beeinträchtigung des Schluckvorgangs und 4 Kommunikation (stimmlich),
der Lebensqualität stehen Sicherheitsaspekte (relativer 4 Atmung,
Schutz vor Aspiration, erleichterte Atmung) gegenüber 4 Stimme (ohne kommunikative Qualität),
(Lipp und Schlaegel 1997; Tittmann und Kleber 2000). 4 Mimik,
Häufig kommt noch der nachdrückliche Wunsch der An- 4 Mundbereich,
gehörigen hinzu,die Trachealkanüle vor der Entlassung zu 4 präoralen, oralen und pharyngealen Phase,
entfernen, bevor der Patient in eine dauerhafte häusliche 4 7 Reflux,
Versorgung kommt. Ebenso scheuen sich Pflegeheime 4 Schutzreflexe,
nicht selten vor der Aufnahme von Patienten mit Trache- 4 Essen und Trinken.
alkanülen.
Ein standardisiertes Vorgehen unter Berücksich- Management der oralen Nahrungsaufnahme
tigung diagnostischer Befunde und der allgemeinen Der Schweregrad des Patienten und die Vielzahl der Beein-
rehabilitativen Entwicklung des Patienten (z. B. Vigilanz, trächtigung bzgl. der oralen Nahrungs- und Flüssigkeits-
7 Tonus, etc.) hat sich hierbei bewährt, muss aber gele- aufnahme erfordern ein standardisiertes Vorgehen. Der
gentlich bei individuellen Besonderheiten entsprechend Patient muss so bereits am Aufnahmetag von einem erfah-
modifiziert werden (. Abb. 8.2) (siehe auch Kap. 7). renen Ergotherapeuten, evtl. unter Hinzuziehung des
F.O.T.T.-Supervisors (F.O.T.T.-Gruppe) untersucht wer-
FOT-relevante apparative Untersuchungen den, um eine Aussage bzgl. der oralen Ernährung treffen
bzw. Eingriffe zu können. Zur Weitergabe dieser Informationen gibt es
FOT-relevante apparative Untersuchungen bzw. Eingriffe eine Essensinformation, die für das Team, aber auch für
sind zum Beispiel: die Angehörigen zur Verfügung steht und einen 7 Dys-
4 Laryngoskopie, phagiekostplan, ausgerichtet auf verschiedene Phasen:
4 Bronchoskopie, Stimulationsphase, Püreephase, Weichkostphase, Über-
194 Kapitel 8 · Das F.O.T.T.-Konzept in der neurologischen Rehabilitation am Beispiel TZB (Therapiezentrum Burgau)

. Abb. 8.2. Entwöhnung einer geblockten Trachealkanüle


8.2 · Dokumentation und Statistik
195 8

gangskostphase und Flüssigkeitsklassifikation. Dieser Dies gilt vor allem dann, wenn es um Beobachtungen be-
Dysphagiekostplan wird für alle Mahlzeiten (Frühstück, stimmter Verhaltensmuster oder Reaktionen geht. Am
Mittagessen, nachmittags und Abend) ausgearbeitet und TZB ist daher eine eigene Abteilung für Bild- und Video-
in Form einer Essenskarte an die Küche weitergegeben. dokumentation etabliert, die mit der Erstellung von fest-
stehenden und bewegten Bildern, deren Nacharbeitung
und Archivierung beauftragt ist. Das erstellte Material
8.2 Dokumentation und Statistik wird dann für die individuelle Beurteilung, aber auch
grundsätzlich für Schulungszwecke verwendet.
8.2.1 Dokumentation Die endoskopischen und computertomographischen
Befunde stehen primär in digitaler Form zur Verfügung.
Eine sorgfältige, einheitliche und aussagekräftige Doku- Sie lassen sich daher einfach nacharbeiten und sind bei
mentation unter Anwendung geeigneter valider Assess- entsprechender Archivierung (CD-ROM,DVD) rasch ver-
ments (Blanco und Mäder 1999) bietet die Grundlage für: fügbar. Ebenso lassen sich Bilder und bewegte Sequenzen
4 die Therapieevaluation des einzelnen Patienten, auf dem elektronischen Datenweg verschicken, wenn es
4 individuelle Konsequenzen für die Behandlung, um Befundübermittlung bei Verlegung oder um das Ein-
4 statistische Aussagen für ein Patientenkollektiv, holen einer zweiten Meinung geht.
4 Überprüfung und ggf. Korrektur von
4 Materialeinsatz,
4 qualitativem und quantitativen Personaleinsatz, 8.2.2 Statistik
4 bestehender Standards.
Die Auswertung des FOTT-Befundbogens zeigt beispiels-
Die Dokumentation im therapeutischen Bereich umfasst weise, bei wie vielen Patienten (in %) während der statio-
neben der gründlichen Aufnahmeuntersuchung auch nären Behandlung eine vollständige 7 Trachealkanülen-
eine Dokumentation des Verlaufs. Soweit möglich, ge- entwöhnung (in . Abb. 8.3 hell dargestellt) und/oder ein
schieht dies in standardisierter und EDV-tauglicher Syste- vollständiger oraler Nahrungsaufbau (dunkel dargestellt)
matik (siehe auch 8.1.3), darüber hinausgehend ist natür- gelungen ist. Diese »Erfolge« sind, wie in der . Abb. 8.3
lich auch der traditionelle Prosabefund und die Videodo- ersichtlich, diagnoseabhängig.
kumentation unentbehrlich.
Wichtige Aussagen liefert die Verknüpfung dieser er- > Beispiel
hobenen Befunddaten mit anderen Daten des Patienten, Beim hypoxisch geschädigten Patienten sind die
seien es anamnestische, medizinische oder biographische »Erfolge« erwartungsgemäß am geringsten. So gelingt
Angaben und Daten der anderen beteiligten Abteilungen. die Entwöhnung von der 7 Trachealkanüle nur bei
Im TZB werden so ca. 1.200 Variablen pro Patient erhoben jedem 5. Patient (20 %) und der orale Kostaufbau bei
und daraufhin untersucht, ob sich bei einer bestimmten nur jedem 10. (9 %), wohingegen bei Patienten mit
statistischen Datenkonstellation ein wahrscheinlicher SHT die Entwöhnung in 65 % und der Kostaufbau
Verlauf und Outcome voraussagen lässt. immerhin noch in knapp 40 % erfolgreich ist.
Ein weiterer Anspruch an die Dokumentation ist de-
ren Praktikabilität, da der Untersucher mit einer zu kom- In . Abb. 8.4 wird aufgezeigt, bei wieviel Patienten (in %)
plizierten und umfangreichen Dokumentation überfor- die Störungen der genannten Bereiche, die bei der statio-
dert ist und seine Ressourcen weniger in die praktische nären Aufnahme bestanden, beseitigt werden konnten
Patientenbehandlung einbringen kann. Entscheidend bei (»Normalisierung«). So zeigten beispielsweise 35 % der
der Dokumentation beim noch unerfahrenen Therapeu- Patienten bezüglich Stimme bei Entlassung keine Auffäl-
ten oder Arzt ist die entsprechende fachliche Supervision, ligkeiten mehr.
da sonst zu befürchten ist, dass bei unsicherer Befundung Gerade im Hinblick auf die im Bereich der Gesund-
auch falsche Konsequenzen eingeleitet werden. heitspolitik immer knapper werdenden Mittel und dem
Trotz aller Vorteile der standardisierten Befunddoku- eindeutigen Trend zur evidenzbasierten Medizin wird
mentation und der kodierten Dateneingabe wird regel- eine sorgfältige Dokumentation mit einer sauberen statis-
mäßig auf die Videodokumentation zurückgegriffen. tischen Auswertbarkeit immer notwendiger. Nur der wis-
196 Kapitel 8 · Das F.O.T.T.-Konzept in der neurologischen Rehabilitation am Beispiel TZB (Therapiezentrum Burgau)

senschaftliche Nachweis der Wirksamkeit einer Behand- Existenz einer Rehabilitationsklinik auf Dauer sichern.
lungsmethode, die mit einer notwendigen Behandlungs- Entsprechende Voraussetzungen sind am TZB durch die
dauer und einem erforderlichen Maß an qualitativem und Einrichtung eines hauseigenen, von anderen Bereichen
quantitativem Personaleinsatz verbunden ist, kann die unabhängigen wissenschaftlichen Instituts (Abteilung
Forschung und Wissenschaft) geschaffen worden.

8.3 Diagnostik

Jeder Patient wird zu allen apparativen Untersuchungen


von seinem FOT-Therapeuten begleitet. Dies hat die Vor-
teile,
4 dass der Patient für die notwendige Untersuchung
optimal positioniert ist,
4 geeignete Untersuchungsmaterialien zur Verfügung
stehen,
4 notwendige therapeutische Interventionen während
8 der Untersuchung stattfinden können und
4 der Befund kann anschließend besprochen und ein
entsprechendes Vorgehen gemeinsam festgelegt wer-
den.

Der FOT-Therapeut kennt daher den zu erwartenden


Untersuchungsablauf und kann so die Zumutbarkeit und
. Abb. 8.3. Diagnoseabhängige »Erfolge« bzgl. Trachealkanülenent-
wöhnung und vollständigem oralen Nahrungsaufbau Aussagemöglichkeit besser abschätzen und spontan
während des Untersuchungsablaufs auf bestimmte Gege-
benheiten reagieren.

i Praxistipp
Gemeinsam besprochene Befunde und ein gemein-
sames Festlegen des weiteren Procedere erhöht
nicht nur die Akzeptanz, sondern auch die
Motivation zur Umsetzung auf der Station.

8.3.1 Abklärung von Schluckstörungen

Standardverfahren zur Abklärung von Schluckstörungen


sind:
4 klinische Untersuchung,
4 Laryngoskopie,
4 Bronchoskopie,
4 7 Videofluoroskopie bzw. Röntgenkinematographie
Als ergänzende Verfahren werden eingesetzt:
4 cervikale Auskultation,
4 Sonographie,
4 EMG.
. Abb. 8.4. Normalisierung im FOT-Bereich
8.3 · Diagnostik
197 8

Die Anamneseerhebung und die sorgfältige klinische 8.3.2 Apparative Schluckdiagnostik


Untersuchung (Bartolome 1999) der Schlucksequenz im Vergleich
haben in der Diagnostik auch im Zeitalter der Apparate-
medizin einen hohen Stellenwert. So können klare Hin- In . Tabelle 8.1 sind Stärken und Schwächen der gängigen
weise gegeben werden, ob eine 7 dysphagische Störung apparativen Untersuchungen gegenübergestellt und nach
besteht und welcher Phase sie schwerpunktmäßig zuzu- eigenen Erfahrungen beurteilt:
ordnen ist. Aus . Tabelle 8.1 geht hervor, dass die 7 Videofluo-
Nur durch eine klinische Untersuchung kann eine roskopie die eindeutigsten Aussagen über die aktuelle
Störung der prä-oralen Phase diagnostiziert werden. Sie Schlucksituation liefert, während die Bronchoskopie die
ist dadurch gekennzeichnet, dass der Patient keinerlei einzige der angegebenen Untersuchungsarten ist, die Auf-
Bezug zu dem vor ihm stehenden Essen bzw. Getränk hat schluss auf die zurückliegende Schluckfunktion geben
und das Zuführen der Speise vom Teller zum Mund nicht kann.Auf die Laryngoskopie wird in Abschnitt 8.3.3 näher
alleine organisieren kann (Schütz 2000). Störungen der eingegangen.
oralen Phase mit Auffälligkeiten der Bolusformung und Welche der apparativen Untersuchungen nun gewählt
des Bolustransports können ebenfalls klinisch diagnosti- wird,sollte in erster Linie von der Fragestellung abhängen.
ziert und bei Bedarf sonographisch bestätigt werden. Häufig ist eine Kombination der verschiedenen Untersu-
Die triggergesteuerten, reflektorischen Schluckabläu- chungsverfahren angezeigt.
fe lassen sich am besten laryngoskopisch und 7 video- Sollte eine Schweregradeinteilung der Aspiration er-
fluoroskopisch diagnostizieren. forderlich sein,ist dies ausschließlich durch radiologische
In der 7 Videofluoroskopie werden ca. 25–30 Bilder Methoden mit Kontrastmittel festzustellen, da die Grad-
pro Sekunde erzeugt, in der Röntgenkinematographie einteilung u. a. nach Abschätzung des Bolusvolumens er-
sind zwischen 50–200 Bilder pro Sekunde möglich, so folgt (. Tabelle 8.2).
dass letztere Untersuchung speziellen Fragestellungen
vorbehalten bleibt (Hannig und Wuttke-Hannig 1999).
Die Bronchoskopie hat sich mittlerweile einen festen 8.3.3 Der Stellenwert der Laryngoskopie
Platz in der Schluckdiagnostik erobert (Seibold 2000),
nachdem diese Untersuchung zwar nicht Aussagen über Die Laryngoskopie bietet sich auf Grund der hohen Prak-
die aktuelle Schluckfunktion, wohl aber über die Schluck- tikabilität,dem niedrigen Risiko und der geringen subjek-
situation der zurückliegenden Tage und Wochen geben tiven Belastung sowie der Möglichkeit, die Phonation be-
kann. In den meisten Fällen von chronischen, rezidi- urteilen zu können, als Routinediagnostikum an. Zudem
vierenden Aspirationen sind Veränderungen der tiefen kann mit einer transportablen Lichtquelle und einer ein-
Luftwege in Form von Entzündungsreaktionen auszuma- fachen 7 Fiberoptik die Untersuchung problemlos auch
chen. als Bedside-Untersuchung (Anagnostopoulos-Schleep

. Tabelle 8.1. Laryngoskopie, Bronchoskopie und Videofluoroskopie im Vergleich

Untersuchung Belastung Praktikabilität Risiko Aussagekraft: Schluckfunktion

aktuell zurückliegend

Laryngoskopie + +++ 0 ++ 0

Bronchoskopie +++* + ++ 0 ++

Videofluoroskopie ++ + ++ +++ 0

* transglottisch
198 Kapitel 8 · Das F.O.T.T.-Konzept in der neurologischen Rehabilitation am Beispiel TZB (Therapiezentrum Burgau)

4 Schlucken verschiedener Konsistenzen (Schluck- und


. Tabelle 8.2. Schweregradeinteilung der Aspiration (Han- Reinigungsmanöver),
nig und Wuttke-Hannig 1999)
4 Bei 7 Tracheostoma: Tracheoskopie und 7 retrograde
Laryngoskopie.
Grad I Aspiration des im Kehlkopfeingang retinierten
Materials bei erhaltenem Hustenreflex
. Abb. 8.5 zeigt die Laryngoskopie – Untersuchungssitu-
Grad II Aspiration <10 % des Bolusvolumens ation im Überblick und . Abb. 8.6 stellt die Details dar.
bei erhaltenem Hustenreflex Für die laryngoskopische Schluckabklärung wird in
der Regel eine noch liegende naso-gastrale Sonde entfernt
Grad III Aspiration >10 % des Bolusvolumens
bei erhaltenem Hustenreflex oder <10 % und dazu dekanüliert, um
bei fehlendem/unzureichendem Hustenreflex 4 das 7 Tracheostoma besser inspizieren zu können,
4 die 7 retrograde Laryngoskopie durchzuführen,
Grad IV >10 % bei fehlendem/unzureichendem Hustenreflex
4 den Schluckvorgang ohne mechanische Behinderung
durch eine 7 Trachealkanüle und/oder eine naso-gas-
trale Sonde begutachten zu können.
1999) durchgeführt werden. Patienten mit Problemkei-
men (MRSA) und den erforderlichen Isolierungsmaß- . Abb. 8.7 zeigt die 7 anterograde und 7 retrograde La-
8 nahmen können so spezifisch abgeklärt werden. ryngoskopie.
Dabei hat sich folgender Untersuchungsablauf be- Wegen des bekannten 7 »White-Out-Phänomens«
währt: während des Schluckens, bedingt durch die Kehlkopfele-
4 Inspektion von Nasenschleimhaut und Gaumensegel vation und dem direkten Kontakt der Optik mit der
(mit Funktionsprüfung), Schleimhaut, ist man bei der 7 anterograden Untersu-
4 Inspektion Larynx (Morphologie, Retentionen), chung meist auf indirekte Zeichen angewiesen (Anagnos-
4 Sensibilitätsprüfung, topoulos-Schleep 1999):
4 Funktionsprüfung Glottis (Räuspern, Husten, forcier- 4 erniedrigte bzw. fehlende Sensibilität im Hypopha-
tes Ausatmen, Atem anhalten, Pressen, »iii, aaa, he he rynx,
he«, schnüffeln), 4 »verspätete Triggerung«,

. Abb. 8.5. Laryngoskopie – Untersuchungs-


situation
8.3 · Diagnostik
199 8

4 7 Retentionen, i Praxistipp
4 entzündliche Veränderungen der Aryknorpel, Die Schluckprüfung wird in der Regel mit angefärb-
4 »Leaking« (Abgleiten des Bolus in den pharyngealen tem Speichel, angefärbter Flüssigkeit verschiedener
Raum vor der Reflexauslösung), Viskositäten, Ressource und angefärbtem Brot
4 Penetration. durchgeführt; zur Anfärbung dient Lebensmittel-
farbe.
> Beispiel Das Aspirationsrisiko u. a. dadurch eingeschätzt,
Bei Patienten mit 7 Tracheostoma kann unter wie tief der Bolus gelangt, bevor es zu einer Schluck-
retrograder Larynxansicht im Falle der Aspiration ein triggerung kommt (Logemann 1997).
transglottischer Durchtritt von Speichel, angefärbter
Flüssigkeit oder Nahrung beobachtet werden.

. Abb. 8.6. Laryngoskopie – Schluckprüfung

. Abb. 8.7. Antero- und retrograde


Laryngoskopie
200 Kapitel 8 · Das F.O.T.T.-Konzept in der neurologischen Rehabilitation am Beispiel TZB (Therapiezentrum Burgau)

Dies gilt grundsätzlich für die radiologische Betrach- 8.3.4 Poststationäre Nachuntersuchungen
tungsweise im seitlichen Strahlengang mit Kontrastmit-
tel wie auch für die endoskopische Sichtweise.Studien mit Nach eigenen Zahlen werden ca. 20–25 % aller Patienten
Schluckgesunden belegen jedoch, dass ein flüssiger Bolus mit einer klinisch relevanten Schluckstörung (gänzliche
in ca. 60 % und ein fester sogar in 76 % endoskopisch oder teilweise Einschränkung der oralen Nahrungszu-
sichtbar war, bevor es zu einem Schlucken kam (Dua et al. fuhr) aus der stationären Behandlung entlassen. Die
1997). In eigenen Nachuntersuchungen mit jüngeren Pro- meisten Patienten davon sind pflegebedürftig und entwe-
banden ließ sich diese »späte Triggerung« in über 85 % der der zu Hause oder in einem Pflegeheim untergebracht.
Fälle bei einem völlig physiologischen Schluckvorgang Nur in Einzelfällen findet eine qualifizierte ambulante
beobachten. Ebenso waren in 71 % postdeglutitive Reten- Weiterbehandlung des fazio-oralen-Trakts statt. Ebenso
tionen (nach erfolgtem spontanen Nachschlucken) bei sind meist nur sporadischen, ärztlichen Nachunter-
den Schluckgesunden nachzuweisen. suchungen in der Regel nicht FOT-spezifisch ausgerich-
tet.
: Beachte In der regulären Schluckambulanz werden diese Pa-
Die eigenen Beobachtungen bei den schluckgesun- tienten nur entweder auf Wunsch der Angehörigen oder
den Probanden zeigten, dass es ein großes Variations- mit einer speziellen Fragestellung des Hausarztes vorge-
spektrum bzgl. Morphologie und Funktion gibt stellt. In der Regel wird bei Entlassung des Patienten ein
8 und dass »spätes Triggern« und postdeglutitive Procedere bezüglich 7 Trachealkanüle und Nahrungsauf-
Retentionen für sich allein keine Prädiktoren für nahme festgelegt, welches oft lebenslang unverändert
eine 7 dysphagische Störung sind. fortgeführt wird, ohne auf spontane Entwicklungen zu
reagieren.
. Abbildung 8.8 zeigt das Aspirationsrisiko.
: Beachte
Auch chronische neurogene 7 Dysphagien lassen
sich durch gezielte Schlucktherapien bessern
(Prosiegel et al. 2002).

Ebenso ist es möglich, dass auch nach Jahren spontane


Teilremissionen auftreten können, die eine teilweise
Nahrungsaufnahme bis hin zur Entfernung der Sonde
oder auch eine Entwöhnung der Kanüle bis hin zum
7 Tracheostomaverschluss erlauben, was natürlich zu
einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität und
Reduktion der Pflegeintensität führt. Andererseits kön-
nen sich Schluckstörungen verschlechtern und akute
Krankenhauseinweisungen, z. B. wegen Bronchopneumo-
nien erforderlich machen.
Eine systematische Nachuntersuchung dieser 7 dys-
phagischen, meist pflegebedürftigen Patienten nach der
Entlassung soll daher klären, ob diese von den regelmäßi-
gen, ambulanten Nachuntersuchungen und den entspre-
chenden Interventionen in Bezug auf Pflegeintensität und
Lebensqualität profitieren (BMG gefördertes Modellpro-
jekt am TZB). Die Fragestellungen werden in . Übersicht
8.3 beschrieben.

. Abb. 8.8. Aspirationsrisiko


8.4 · Fortbildung
201 8

werden diese Qualifikationen in Form von Kursen oder


Übersicht 8.3: Fragen zur Wirksamkeit Seminaren am hauseigenen Schulungszentrum ver-
von Nachuntersuchungen mittelt.
4 Kann die Pflegeintensität reduziert werden? Für neue Mitarbeiter wurde ein 60-stündiges Einfüh-
4 Wird die pflegerische Versorgung zu Hause rungsprogramm entwickelt, in dem schwerpunktmäßig
statt im Pflegeheim ermöglicht? die Behandlungskonzepte nach Affolter, Bobath und
4 Können notfallmäßige Krankenhauseinweisun- Coombes in Therorie und supervidierter Praxis ver-
gen vermieden? mittelt werden.
4 Wird die Mortalität verringert? . Tabelle 8.3 zeigt die Zahlen von Kursen und Teil-
4 Kann die Lebensqualität für diese pflegeinten- nehmern, die in den vergangenen 10 Jahren am hauseige-
siven Patienten erhöht werden? nen Schulungszentrum im F.O.T.T.-Konzept nach Kay
Coombes geschult wurden:
Innerhalb der Teamstrukturen (8.1.1) ist es vorgese-
: Beachte hen, dass auch Mitarbeiter anderer Disziplinen über die
Allein in Deutschland wird bei Schlaganfallpatienten Arbeit des FOT-Therapeuten und der F.O.T.T.-Gruppe
durch eine suffiziente Therapie der Schluckstörung unterrichtet werden. Die F.O.T.T.-Gruppe organisiert in
nicht nur eine entscheidende Verbesserung der regelmäßigen Abständen entsprechende Fortbildungen
Lebensqualität der Patienten erwartet, sondern für das gesamte Personal. Darüber hinaus gibt es FOT-re-
auch eine Kostenersparnis von ca. 15 Millionen 1 levante Notfallfortbildungen,die sich orientierend an den
(Haaks und Walkenbach 1999). gemachten Erfahrungen mit folgenden Themenkomple-
xen beschäftigen:
4 Erbrechen,
8.4 Fortbildung 4 unbeabsichtigtes Dekanülieren (durch den Patienten
selbst),
Die Teilnahme an bestimmten Fortbildungen ist in einem 4 plötzliches Verlegen der 7 Trachealkanüle,
klinikeigenen Standard festgelegt. Dieser regelt für jede 4 Umgang mit Hustenanfällen,
Berufsgruppe den Umfang an Basis- und Aufbauqualifika- 4 Beißen.
tion. (Für den FOT-Therapeut siehe 8.1.1). Soweit möglich

. Tabelle 8.3. F.O.T.T. – Kurse am TZB (Mai 2003)

Kurse/Seminare Anzahl der Kurse/ Gesamt Externe Interne


Seminare Teilnehmer Teilnehmer Teilnehmer

Grundkurs Fazio-Orale-Trakt-Therapie (G/F.O.T.T.) 51 932 491 441

Refresher Kurs Facio-Orale-Trakt-Therapie (R/F.O.T.T.) 3 53 41 12

Aufbaukurs Facio-Orale-Trakt-Therapie (A/F.O.T.T.) 9 139 81 58

Facio-Orale-Trakt-Therapie bei Patienten 5 59 32 27


mit Trachealkanüle (F.O.T.T.-TRACH)

Informationskurs über den Umgang 2 31 19 12


mit Patienten mit erworbener Hirnschädigung
bei Ess- und Trinkproblemen (F.O.T.T.)

Gesamtzahlen 70 1.214 664 550


202 Kapitel 8 · Das F.O.T.T.-Konzept in der neurologischen Rehabilitation am Beispiel TZB (Therapiezentrum Burgau)

Diese Themen wurden aufgrund der Praxisrelevanz ge- Literatur


wählt, nachdem immer wieder Mitarbeiter anderer Fach-
abteilungen die Frage stellten: »Wie gehe ich in meiner Anagnostopoulos-Schleep et al.(1999) Videoendoskopische Pharyngo-
laryngoskopie: Untersuchungstechnik und Befundinterpretation
Therapiestunde mit einer solchen Situation um?«
Neurologie & Rehabilitation 5 (3):133–141
Hinzu kommen patientenbezogene Fortbildungen in Bartolome G (1999) Schluckstörungen. In: Frommelt u. Grötzbach
Form von Workshops auf den jeweiligen Stationen. (Hrsg): Neurorehabilitation, Blackwell
. Übersicht 8.4 fasst die wichtigsten Aspekte zusam- Blanco J, Mäder M (1999) Dokumentation, Messung und Qualitätsman-
men. agement. In: Frommelt u. Grötzbach (Hrsg) Neurorehabilitation,
Blackwell
Coombes K (1996) Von der Ernährungssonde zum Essen am Tisch –
Aspekte der Problematik, Richtlinien für die Behandlung. In: Lipp B,
Übersicht 8.4: F.O.T.T. im Klinikalltag Schlaegel W (Hrsg) Wege von Anfang an.Neckar,Villingen-Schwen-
4 Bei der Rehabilitation von erworbenen schwe- ningen
ren Hirnschädigungen spielen die Störungen Coombes K (2001) Facial Oral Tract Therapy (F.O.T.T.) S 51, Jubiläumss-
im fazio-oralen Bereich, allen voran die neuro- chrift: 10 Jahre Schulungszentrum am TZB 2001 Eigenverlag
Davies P (1994) Reanimating the Face and Mouth. In: Davies (Hrsg)
gene Schluckstörung, wegen ihrer Häufigkeit
Starting again. Springer Heidelberg Berlin
und der Konsequenz für den Betroffenen eine Dua et al.(1997) Coordination of Deglutive Glottal Function and Pharyn-
große Rolle. geal Bolus Transit During Normal Eating.Gastroenterology 112:73–
8 4 Einzelne, isoliert in den Tagesablauf einge- 83
streute Therapiestunden haben ohne ein ent- Gratz C, Woite D (2000) Die Therapie des Facio-Oralen Traktes bei neu-
rologischen Patienten. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein
sprechendes Gesamtkonzept keine ausrei-
Haaks T, Walkenbach K (1999) Klinisches Management neurogener
chende Effizienz (Nutzen im Verhältnis zum Dysphagie unter Berücksichtigung einer Kosten-Nutzen-Analyse.
Aufwand). Neurologie & Rehabilitation, 5:269–274
4 In einer Neurorehabilitationsklinik müssen Hannig C, Wuttke-Hannig A (1999) Radiologische Funktionsdiagnostik
Strukturen geschaffen bzw. modifiziert, Perso- von Schluckstörungen. In: Bartolome et al. (Hrsg) Schluckstörun-
gen – Diagnostik und Therapie. Urban & Fischer, München-Jena
nal geschult, Abläufe standardisiert, Kompe-
Kiffe G (2000) Trachealkanülen am Therapiezentrum Burgau. In: Lipp et
tenzen gebildet und unter Umständen sogar al. (Hrsg) Gefangen im eigenen Körper. Neckar, Villingen-Schwen-
Hierarchien verändert werden, um dem sehr ningen
komplexen Problem entsprechend umfassend, Lachhammer H (2000) Kosten-Nutzen eines Qualitätmanagements im
ganzheitlich und durchgängig zu begegnen. Dienstleistungsbereich. In: Lipp et al. (Hrsg) Gefangen im eigenen
Körper. Neckar,Villingen-Schwenningen
4 Bei den immer knapper werdenden finanziel-
Lipp B, Schlaegel W (1997) Das Tracheostoma in der neurologischen
len Ressourcen im Gesundheitswesen ist eine Frührehabilitation. FORUM Logopädie 3:8–11, Schulz-Kirchner,
Stellenmehrung nicht zu erwarten. Eine Steige- Idstein
rung der Effektivität ist daher nur über eine Logemann JA (1997) Therapy for oropharyngeal swallowing disorders.
bessere Nutzung bestehender Kapazitäten In: Perlman/Schulze-Delrieu (Hrsg) Deglutition and its Disorders,
Singular Publish. Group, San Diego
möglich. Die dazu erforderlichen, z.T. ein-
Prosiegel M et al. (2002) Schluckstörungen bei neurologischen Patien-
schneidenden Änderungen konventioneller ten. Nervenarzt 73:364–370, Springer Heidelberg Berlin,
Hierarchien und Denkweisen mögen anfangs Schlaegel W (2000) Von der geblockten Trachealkanüle zum ver-
auf gewisse Skepsis stoßen, ermöglichen aber schlossenen Tracheostoma. In: Lipp B et al. (Hrsg) Gefangen im
langfristig einen ökonomischeren Weg (Lach- eigenen Körper. Neckar,Villingen-Schwenningen
Schlaegel W (2000b) Redressionsteam und FOTT-Gruppe – zwei
hammer 2000), der dem Patienten letztendlich
Beispiele der interdisziplinären Teamarbeit zur Verbesserung der
mehr hilft als ein gutgemeintes traditionelles Prozessqualität.In: Lipp B et al. (Hrsg) Gefangen im eigenen Körper.
Behandlungskonzept. Neckar,Villingen-Schwenningen
Schlaegel W (1996) Rehabilitation des facio-oralen Traktes. In: Lipp B,
Schlaegel W (Hrsg) Wege von Anfang an.Neckar,Villingen-Schwen-
ningen (1996)
Schröter-Morasch H (1999) Medizinische Basisversorgung von Patien-
ten mit Schluckstörungen, Trachealkanülen-Sondenernährung. In:
Bartolome G et al. (Hrsg) Schluckstörungen – Diagnostik und
Therapie, Urban & Fischer, München
Literatur
203 8

Schütz M (2000) Die Bedeutung der präoralen Phase im Rahmen des Seitz S (1996) Bedeutung und Aspekte der Mundhygiene. In: Lipp,
oralen Kostaufbaus. In: Lipp B et al. (Hrsg) Gefangen im eigenen Schlaegel (Hrsg) Wege von Anfang an. Neckar, Villingen-Schwen-
Körper. Neckar,Villingen-Schwenningen ningen
Seibold G (2000) Bronchoskopie in der Behandlung dysphagischer Pa- Tittmann D, Kleber E (2000) Entwöhnung von der Trachealkanüle. In:
tienten. In: Lipp et al. (Hrsg) Gefangen im eigenen Körper. Neckar, Lipp et al. (Hrsg) Gefangen im eigenen Körper. Neckar, Villingen-
Villingen-Schwenningen Schwenningen
Seidl RO, Nusser-Müller-Busch R, Ernst A (2002) Evaluation eines Un- Vogel W (2000) Know How beim Kanülenwechsel. In: Lipp et al. (Hrsg)
tersuchungsbogens zur endoskopischen Schluckuntersuchung. Gefangen im eigenen Körper. Neckar,Villingen-Schwenningen
Sprache Stimme Gehör 26:28–36,Thieme Stuttgart
9

F.O.T.T.: Mythos oder messbar?


Petra Fuchs

9.1 Studiendesigns – 206


9.1.1 Nachweis der Therapiewirksamkeit – 206
9.1.2 Gruppendesigns – 208
9.1.3 Einzelfalldesigns – 209

9.2 Das F.O.T.T. Assessment Profile – 213


9.2.1 Entstehungsgeschichte – 213
9.2.2 Beschreibung des F.O.T.T. Assessment Profile – 214
9.2.3 Inhaltliche Validität und Inter-Rater Reliabilität – 216

9.3 Studiendesign für F.O.T.T. – 218


9.3.1 Ausarbeiten der Fragestellung – 218
9.3.2 Design – 218
9.3.3 Studienteilnehmer – 219
9.3.4 Instrumente – 219
9.3.5 Datenerhebung – 219
9.3.6 Datenanalyse – 220

Literatur – 221
206 Kapitel 9 · F.O.T.T.: Mythos oder messbar?

Die Therapie des Facio-Oralen Trakts nach Coombes ist wis- Trotzdem müssen wir uns fragen: Sind die in der Re-
senschaftlich nicht bewiesen – und doch findet sie zuneh- habilitation beobachteten Veränderungen wirklich eine
mend Verbreitung. Damit befindet sie sich in guter Gesell- Konsequenz der Facio-Oralen Trakt Therapie?
schaft mit anderen bewährten und weit verbreiteten Thera-
piekonzepten wie z. B. dem Bobath-Konzept oder der Re-
flexlokomotion nach Vojta. In den letzten Jahren, u. a. als 9.1.1 Nachweis der Therapiewirksamkeit
Folge des Drucks Kosten im Gesundheitswesen zu reduzie-
ren, wird der Ruf nach evidence-based medicine, einer auf Wissenschaftliche Messungen
wissenschaftlichen Beweisen basierenden Medizin laut. De Rein wissenschaftlich werden Messungen mit einer Inter-
facto gibt es aber kaum Studien über physio- und ergo- vallskala vorgenommen, deren Messpunkte die gleichen
therapeutische oder logopädische Behandlungsansätze, Abstände zueinander haben (Wade 1992; Blanco u. Mäder
die wissenschaftlichen Kriterien standhalten. Diese Thera- 1999).
pieansätze waren zum einen bisher kaum Thema wissen-
schaftlichen Interesses, zum anderen stellen sich in der ver- > Beispiel
gleichsweise jungen Disziplin Neurorehabilitation – z. B. im Ein alltägliches Beispiel für eine Intervallskala ist ein
Vergleich zu einer Medikamentenwirksamkeitsprüfung – Messband, bei dem alle Abstände einen Zentimeter
eine Vielzahl ethischer und methodischer Fragen. betragen.
Der folgende Beitrag soll Therapeutinnen dazu er-
mutigen, im kleinen Rahmen zur Therapieforschung der In der Neurorehabilitation sind derzeit jedoch nur weni-
F.O.T.T. beizutragen, solange 7 randomisierte Studien und ge Aspekte einfach quantifizierbar und definierte Stan-
9 Effizienznachweise fehlen. Um den Einstieg zu erleichtern, dardeinheiten fehlen (Wade 1992; Blanco u. Mäder 1999).
werden zwei Gruppen- und zwei Einzelfall-Designs be- Dies macht es schwierig Neurorehabilitation und – als
schrieben. Danach werden das F.O.T.T. Assessment Profile Teilaspekt davon – F.O.T.T. zu messen.
und ein mögliches Design vorgestellt, das F.O.T.T.-Thera- Zunehmend wächst der Druck ausschließlich Thera-
peutinnen in der Praxis anwenden könnten. pieansätze anzuwenden, die einerseits auf einer theoreti-
schen Grundlage beruhen und deren Wirksamkeit ande-
rerseits in wissenschaftlichen Studien nachgewiesen wur-
9.1 Studiendesigns de (evidence-based practice). Es wird dabei zwischen
Effizienz (efficacy) und Effektivität (effectiveness) einer
Mythos wird definiert als »A thing or a person that Therapie unterschieden (Robey u. Schultz 1998).
is imaginary or not true« (Oxford Dictionary 1995), als
eine unwahre Sache oder als imaginäre Person. : Beachte
Die Therapie des Facio-Oralen Trakts (F.O.T.T.) hat Effizienz-Forschung untersucht den Effekt der
sich etabliert. Das zeigt das vorliegende Buch, andere klinischen Arbeit unter optimalen Bedingungen,
Beschreibungen dieses Konzeptes (Davies 1994, Nusser- d. h. in einer Kontrollstudie. Im Gegensatz dazu
Müller-Busch 1997, Gratz u. Woite 2000) und v. a. die weit wird die Effektivität unter »normalen« klinischen
verbreitete Anwendung in der Rehabilitation und Lang- Bedingungen erforscht.
zeitpflege von Patienten mit erworbenen Hirnschädigun-
gen. Die Effizienz einer Therapie sollte vor ihrer Effektivität
Vom Team und den Angehörigen wahrgenommene etabliert werden.Die Autoren skizzieren diesen Prozess als
Fortschritte des Patienten werden auf die Anwendung im ein Fünf-Phasen-Modell, bei dem die randomisierte Kon-
Rahmen des 24-Stunden-Konzeptes zurückgeführt. Zum trollstudie (s. 9.1.1) als der stärkste Beweis für die Wirk-
Beispiel, wenn nach vier Monaten F.O.T.-Therapie und samkeit einer Therapie gilt.
Anleitung der Pflegekräfte seine Zahninnenflächen nun De facto gibt es z. B.im Bereich der Logopädie oder der
wieder geputzt werden können, ohne dabei einen Beiß- 7 Dysphagie-Therapie kaum Studien, die den derzeit
reflex auszulösen. gängigen wissenschaftlichen Kriterien standhalten wie
die durchgeführten Reviews, z. B. Cochrane Database of
Systematic Review und Metaanalysen zeigen (Thomas
9.1 · Studiendesigns
207 9

et al. 1999). Als ein methodisches Hauptproblem wird das Das Design berücksichtigt »weltliche« Einschränkungen
Fehlen der Randomisierung gesehen, d. h. die Zufalls- wie den Ort der Untersuchung, den Zeitaufwand, finan-
verteilung der zu untersuchenden Subjekte in Versuchs- zielle und personelle Ressourcen.
und (z. B. nicht behandelte) Kontrollgruppen. Traditionell unterscheidet man drei Strategien:
4 experimentelle Designs,
Aussagekraft statistischer Untersuchungen 4 Befragungen (Surveys) und
F.O.T.T.-Therapeutinnen und Reha-Teams stehen in der 4 Fallstudien.
Verantwortung, sich wissenschaftlich mit diesem Kon-
zept auseinander zu setzen. Die Wahl des Studiendesigns Experimentelle Designs testen Hypothesen (z. B. Medika-
will jedoch gut überlegt sein, da statistisch nicht signifi- ment X senkt den Blutdruck), vergleichen Behandlungen
kante Resultate dazu führen könnten, dieses Konzept all- (z. B. Medikament X senkt den Blutdruck schneller als
gemein als »nicht effektiv« abzustempeln. All zu gerne Medikament Y) und erklären die Zusammenhängen von
wird übersehen, Ursache und Wirkung.Sie verlangen einen hohen Grad an
4 dass statistische Signifikanz nur ausdrückt, wie wahr- Kontrolle aller beeinflussender Faktoren.
scheinlich es ist, dass die Resultate durch Zufall er- Befragungen werden in vielfältiger Weise angewen-
reicht wurden; det, um im Gesundheitswesen Informationen zu sam-
4 dass statistisch signifikante Resultate nicht gleichzei- meln. Sie fragen zum Beispiel nach der Häufigkeit von
tig bedeuten, dass sie auch klinisch relevant sind; Asthma in der Bevölkerung, ob alle Gruppen der Gesell-
4 Umgekehrt kann ein statistisch nicht signifikantes schaft die gleiche Gesundheitsversorgung erhalten, oder
Resultat für einen Patienten in der realen Welt von wie Ärzte zum Thema Euthanasie denken (Crombie
Bedeutung sein. 1997).
Fallstudien beschreiben und untersuchen Gescheh-
> Beispiel nisse in einem spezifischen Kontext und lassen keine
Stiefel et al. (1993) verglichen den Mundstatus Schlüsse der Kausalität zu. Sie sind jedoch oft ein erster
(z. B. Anzahl kariöser Zähne, Paradontose) rückenmark- Schritt zu mehr experimentellen Untersuchungen und
verletzter Menschen mit dem anderer behinderter eine wertvolle Ergänzung für die Praxis.
Menschen (z. B. nach Schädelhirntrauma). Sie fanden
eine Tendenz zu mehr 7 Gingivitis und periodontalen : Beachte
Problemen bei Tetraplegikern, die auf tägliche Mund- Grundsätzlich sollte die Fragestellung die Wahl des
pflege angewiesen waren als bei Rückenmarkver- Designs leiten, doch leider wird oft das vom Untersu-
letzten, die die Mundpflege selbständig ausführen cher/der Untersucherin bevorzugte Forschungsdesign
konnte. Obwohl dieses Resultat statistisch nicht gewählt (Robson 1998).
signifikant war, kann man sich die Konsequenzen
für das Individuum gut vorstellen. Im Folgenden werden aus den Gruppendesigns die
7 randomisierte Kontrollstudie, das quasi-experimen-
Forschung und Studien verfolgen das Ziel, Wissen zu er- telle Design, und aus den Einzelfalldesigns die experi-
weitern sowohl im Labor wie auch im klinischen Setting. mentelle Einzelfallstudie und die beschreibende Fallstudie
Das Design ist das Vehikel, welches die Fragen des For- beschrieben.
schers/der Forscherin in Projekte umsetzt, d. h. systema-
tisch und organisiert nach Antworten sucht. : Beachte
Es beschäftigt sich mit Die randomisierte Kontrollstudie gilt als das »wahre«
4 Zielen, experimentelle Forschungsdesign und wird häufig als
4 Methoden, der stärkste Beweis für die Effektivität einer Therapie
4 Datensammlung und –analyse und genannt. Sie kann jedoch kaum in ihrer reinen Form
4 dem Kommunizieren der Resultate (Crombie 1997). außerhalb des Labors umgesetzt werden. Das
quasi-experimentelle Design soll dies ermöglichen.
6
208 Kapitel 9 · F.O.T.T.: Mythos oder messbar?

Die experimentelle Einzelfallstudie und die beschrei- Da die Test- und Kontrollgruppe von derselben
bende Fallstudie scheinen Stiefkinder der Forschung Population stammen, können Schlussfolgerungen
zu sein, haben im Klinikalltag aber durchwegs ihren bezüglich Ursache und Wirkung auf die Gesamt-
Platz und ihre Berechtigung. . Übersicht 9.1 fasst die population (alle Pflanzen derselben Art) übertragen –
Forschungsmethoden zusammen. generalisiert – werden.

Auch außerhalb des Labors, im klinischen Setting, muss


Übersicht 9.1: Forschungsmethoden eine Studie gewisse Voraussetzungen erfüllen, um als
Gruppendesigns wahres Experiment zu gelten, welches Schlussfolgerun-
4 Gruppendesigns gen bezüglich der Wirksamkeit einer Therapie zulässt.
4 7 Randomisierte Kontrollstudie Die randomisierte Zuteilung aller an der Studie teilneh-
4 Quasi-experimentelles Design menden Patienten (Subjekte) zur Testgruppe (die das
4 Einzelfalldesigns Medikament erhält) oder zur Kontrollgruppe (die ein
4 Experimentelle Fallstudie Placebo erhält) ist von größter Bedeutung. Dies verlangt
4 Beschreibende Fallstudie eine homogene Gruppe vieler Patienten mit einer klaren
Diagnosenstellung (wie z. B. Bluthochdruck). Die rando-
misierte Zuteilung einer großen Anzahl Patienten zur
Test- oder Kontrollgruppe erleichtert das Erzielen signifi-
9.1.2 Gruppendesigns kanter Resultate trotz einer gewissen Variabilität zwi-
schen den Subjekten.Verabreicht wird eine klar beschrie-
9 Das »wahre« Experiment: bene, uniforme Therapie, z. B. das neue Medikament, wel-
randomisierte Kontrollstudie ches in derselben Dosis an alle Patienten abgegeben wird.
Jeder Arzt und jede Therapeutin möchte verständlicher-
weise glauben, dass ihre gewählte Form der Therapie : Beachte
wirksam ist. Die traditionelle Medizin (z. B. beim Testen Oft werden die Tests als Doppelblindstudien durch-
neuer Medikamente) und auch Studien der Psychologie geführt, d. h. weder die Person, die das Medikament
bedienen sich, um Zusammenhänge von Ursache und aushändigt, noch die Person, die das Medikament
Wirkung zu beweisen, oft eines sogenannten experimen- einnimmt wissen, wer den Wirkstoff und wer den
tellen Designs. Placebo erhält.

> Exkurs Ist die Hürde der Randomisierung genommen, kann die
Die Methodik für Experimente stammt ursprünglich Studie mehr oder weniger komplex gestaltet werden. Es
aus der landwirtschaftlichen Forschung, wo Experi- können zum Beispiel Vor- und Nachtests vorgenommen
mente unter Laborbedingungen durchgeführt wur- werden oder verschiedene Medikamente (oder Thera-
den. Pflanzen derselben Gruppe (Population) wurden pien) miteinander verglichen werden. Robson (1998) be-
in zufälliger Weise – randomisiert – verschiedenen schreibt einfache experimentelle Designs und gibt weite-
Untergruppen (Testgruppe und Kontrollgruppe) zuge- re Quellen an.
teilt. In der Testgruppe wurde zum Beispiel die Menge
Wasser oder Licht manipuliert, die Veränderungen ge- Das quasi-experimentelle Design
messen und mit denselben Variablen in den Kontroll- Voraussetzungen
gruppen verglichen. Der hohe Grad an Kontrolle aller In der Therapieforschung ist es oft unmöglich, die Prinzi-
beeinflussender Faktoren erlaubt es mathematisch pien der randomisierten Kontrollstudie vollständig zu
auszudrücken, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, erfüllen. Eine häufig auftretende Schwierigkeit ist eine
dass der beobachtete Effekt durch Zufall entstanden ausreichend große Anzahl Personen mit derselben Schä-
ist (p-Wert, statistische Signifikanz). Ist der p-Wert sehr digung zu finden. Dies erschwert eine randomisierte Zu-
klein (p<0.05) wird der Schluss gezogen, dass die teilung in zwei Gruppen oder macht sie manchmal un-
manipulierte Variable den Effekt ausgelöst hat. möglich. Somit ist die wichtigste Voraussetzung der expe-
6 rimentellen Kontrollstudie bereits nicht erfüllt. Da auch
9.1 · Studiendesigns
209 9

beeinflussende Faktoren in der realen Welt nicht vollstän- Es wird gefragt,


dig kontrolliert werden können, wird das quasi-experi- 4 warum die Therapie bei einem bestimmten Patienten
mentelle Design als Alternative zur randomisierten Kon- (nicht) gewirkt hat,
trollstudie vorgeschlagen (Robson 1998). Wie der Name 4 wie sie wirkt oder
sagt, ist auch dieses Design experimentell, die Zuteilung 4 wie lange es dauert, bis ein Patient Veränderungen
zur Test-oder Kontrollgruppe ist jedoch nicht randomi- zeigt.
siert, sondern geschieht auf der Basis anderer Kriterien
(z. B. Patienten zweier verschiedener Pflegeheime wer- Dies sind Fragen die in den ersten zwei Phasen von Robey
den miteinander verglichen). Oft wird versucht die und Schultz (1998) untersucht werden. Gruppenstudien
Subjekte der einzelnen Gruppen aufeinander abzustim- eignen sich nicht, um diese Fragen zu beantworten, da sie
men – matching –, z. B. Alter, Geschlecht, absolvierte überdecken, wie individuelle Patienten auf eine Therapie
Schuljahre. reagieren.

Durchführung Die experimentelle Einzelfallstudie


Beide Gruppen werden nach denselben Kriterien befun- Bei der experimentellen Einzelfallstudie (single-subject
det (Vortests), die Testgruppe wird anschließend behan- experimental design) handelt es sich um einen von
delt, während die Kontrollgruppe keine spezielle Inter- B. F. Skinner geprägten Ansatz (Robson 1998). Es werden
vention erhält. Nach der Behandlungsphase werden beide wiederholt Messungen am selben Subjekt vorgenom-
Gruppen nochmals getestet (Nachtests). men, wobei die Messungen über eine gewisse Zeitspanne
Eine starke Indikation dafür, dass die Behandlung erhoben werden, meistens bevor, während und nach einer
die Veränderungen bewirkt hat (Ursache-Wirkung), wäre Intervention. Der Patient agiert somit als seine eigene
folgendes Resultat: Kontrolleinheit.
Im Weiteren ist die Kontrolle beeinflussender Fakto-
> Beispiel ren von größter Wichtigkeit:
Die Testgruppe erlangte in den Vortests schlechtere 4 So muss zwischen den Einflüssen der Therapie und
Ergebnisse als die Kontrollgruppe und in den Nach- anderen, zu Verbesserungen führender Faktoren
tests bessere Ergebnisse, die zudem über den Vortest- unterschieden werden (z. B. Spontanheilung).
Ergebnissen der Kontrollgruppe liegen. Solche Resul- 4 Es müssen spezifische Einflüsse der Therapie von
tate könnten, wenn auch mit Vorsicht, auf die Gesamt- mehr generellen, wie zum Beispiel erhöhter persön-
population generalisiert werden. licher Aufmerksamkeit, separiert werden.

Durchführung
9.1.3 Einzelfalldesigns Ein mögliches Design ist ein sogenanntes ABA-Design.
Die Buchstaben stehen für drei verschiedene Phasen, die
Die oben erwähnten Kontrollstudien testen Hypothesen sich über einen gewissen Zeitraum erstrecken.
und ziehen Schlüsse bezüglich Ursache und Wirkung, die Die erste Phase A entspricht der ersten »Nicht-Be-
auf eine Gesamtpopulation übertragen werden können. handlungsphase«. In dieser werden Tests und Untersu-
Dieses Vorgehen ist vor allem beim Testen von neuen chungen an den zu beobachtenden Verhalten (Variablen)
Medikamenten wünschenswert, da deren Wirkung (bzw. vorgenommen und somit die Baseline etabliert.
die Nebenwirkungen) noch nicht bekannt ist. Phase B entspricht der Behandlungsphase und A
Im klinischen Alltag (z. B.in der Rehabilitation) konn- einer zweiten »Nicht-Behandlungsphase«, an deren Ende
te die Wirksamkeit von »hands-on« Therapien bereits be- wiederum getestet und untersucht wird.
obachtet werden, wenn auch nicht immer eindeutig klar
ist, warum sich das Verhalten des Patienten verändert hat : Beachte
(z. B. durch Effekte wie Spontanremission, Kombination Man geht von einem Behandlungseffekt aus, wenn
der Therapien). Die Frage ist also nicht, ob der therapeu- das beobachtete Verhalten in der ersten Phase A stabil
tische Ansatz einen Effekt hat. ist, sich in der Phase B verbessert und in der zweiten
Phase A wieder auf die Baseline zurückfällt.
210 Kapitel 9 · F.O.T.T.: Mythos oder messbar?

Das Zurückfallen des beobachteten Verhaltens auf die teilnehmer, Instrumente, Datenerhebungstechniken und
Baseline ist notwendig um zu validieren, dass die Verän- falls angebracht Datenanalyse, sollten deshalb vor dem
derung aufgrund der Behandlung entstanden ist (Fuk- Beginn der Datensammlung zumindest überlegt wer-
kink 1996). Die Rückkehr zur Baseline ist in der Therapie den.
natürlich nicht wünschenswert. In diesem Fall kann auf Robson (1998) vertritt die Ansicht, dass die Fragestel-
ein AB-Design ausgewichen werden,wobei in beiden Pha- lung allgemein oder sehr spezifisch sein kann und mehre-
sen genügend Daten aus verschiedenen Quellen gesam- re Haupt- wie auch Nebenfragen beinhalten kann. Diese
melt werden müssen. Zudem müssen wichtige Verände- Fragestellungen werden im Verlauf des Prozesses, auf-
rungen (z. B.Infekte,Medikamentengabe,Abschluss ande- grund der gesammelten Daten überdacht und gegebenen-
rer Therapien) festgehalten werden (Pring 2000). falls verändert.

: Beachte i Praxistipp
Die Ergebnisse einer einzelnen experimentellen Einzel- Bei einer mehr strukturierten Strategie ist es
fallstudie können nicht auf die Gesamtpopulation hilfreich, sich eine Art Trichter vorzustellen, in den
generalisiert werden. anfangs alle Projektideen gefüttert werden, an
dessen Ende jedoch nur eine spezifische Fragestel-
Mehrere, sorgfältig geplante experimentelle Einzelfall- lung untersucht wird (Clifford 1990). Im Raum
studien können jedoch Tendenzen aufzeigen. zwischen Trichtermündung und Ausfluss werden
die Ideen verfeinert, bis sich eine Fragestellung
i Praxistipp herauskristallisiert.
9 Experimentellen Designs gemeinsam ist, dass alle
wichtigen Aspekte der Studie vor der Datensamm- > Beispiel
lung festgelegt werden müssen, d. h.: Mögliche Fragestellungen:
4 zu testende Hypothese, 4 Wie lange dauert es im Rehabilitationsprozess,
4 Auswahlkriterien für Patienten, bis die Zahninnenflächen bei einem Patienten
4 zu sammelnde Daten, Art der Datenanalyse und mit Beißreflex geputzt werden können? Welche
4 statistische Tests, Kontrollvariable. therapeutischen Maßnahmen wurden eingesetzt,
Hat das Sammeln der Daten begonnen, dürfen keine um zu diesem Resultat zu gelangen?
Veränderungen am Design mehr vorgenommen 4 Wie lange dauert es, bis der Patient nicht mehr mit
werden. hypersensiblen Reaktionen auf Berührungen im
Gesicht/Mund reagiert, z. B. beim Gesicht waschen?
Die beschreibende Fallstudie 4 Wie wirkt sich regelmäßige F.O.T.T. auf die beein-
: Beachte trächtigte Schluckfunktion aus, z. B. weniger häufiges
Beschreibende Fallstudien verfolgen das Ziel, Patien- Absaugen, Schlucken von einer oder mehrere Kon-
ten, den Rehabilitationsprozess, die angewandte sistenzen?
Therapie selbst oder zum Outcome beitragende 4 Welche Langzeitveränderungen können bei einem
Faktoren zu explorieren. Patienten nach Abschluss der Therapie beobachtet
werden? Ist zum Beispiel eine Verbesserung,
Sie können auch Hinweise darauf geben, wie sich die The- Verschlechterung oder Erhaltung der Funktion
rapie (z. B. F.O.T.T.) auf eine beeinträchtigte Funktion beobachtbar, z. B. des Speichelschluckens?
auswirkt oder bei welchen Patienten die besten Resultate
erzielt werden. Beschreibende Fallstudien lassen jedoch Die Daten zur Beantwortung dieser Fragen werden aus
keine Generalisierungen bezüglich der Kausalität oder möglichst vielen Quellen zusammengetragen. Das Her-
der Gesamtpopulation zu. ausarbeiten eines spezifischen Problems oder eines As-
Fallstudien können mit mehr oder weniger Struktur pektes der Therapie ist für im wissenschaftlichen Arbei-
angegangen werden,dabei gilt es jedoch zu beachten,dass ten ungeübte F.O.T.T.- Therapeutinnen ein zeitaufwändi-
nicht alles untersucht werden kann. Die Hauptaspekte ger Prozess, der jedoch für das Gelingen eines Projektes,
der Fallstudie, d. h. Fragestellungen, Design, Studien- und mag es noch so klein sein, wichtig erscheint.
9.1 · Studiendesigns
211 9

Die Wahl der Patientenklientel für eine Einzelfallstu- Objektivität von Tests
die ergibt sich entweder aus dem klinischen Arbeitsfeld Die Möglichkeit Beobachtungen mittels Zahlen auszu-
(z. B.Neurologie,HNO) oder wird aufgrund des Zieles ge- drücken, ist wohl ein Grund dafür, dass die Ergebnisse
wählt werden (z. B. Beschreibung des Rehabilitationsver- experimenteller Studien – speziell von Kontrollstudien –
laufes). heute als der stärkste Beweis für die Effektivität einer
Dieses Design wurde von Gratz u. Woite (2000) ge- Therapie gelten. Dass der die Tests durchführende Akade-
wählt, die die Rehabilitation des fazio-oralen Trakts miker als unabhängiger Beobachter gewertet wird, ver-
zweier Patienten beschrieben. . Tabelle 9.1 fasst die wich- stärkt die Ansicht, dass solche Studien und deren Resulta-
tigsten Merkmale der oben beschriebenen Studiendes- te objektiv sind. Robson (1998) hingegen argumentiert,
igns zusammen. dass alle Beobachtungen auf Theorien basieren, welche

. Tabelle 9.1. Zusammenfassung der wichtigsten Merkmale der Studiendesigns

Gruppendesigns Einzelfalldesigns

Randomisierte Kontroll- Quasi-experimen- Experimentelle Beschreibende


studie: Das »wahre« telles Design Einzelfallstudie Fallstudie
Experiment

Untersuchungsort Labor Reale Welt Reale Welt Reale Welt

Ziel Testen von Hypothesen Testen von Hypothese Exakte Beschreibung


Vergleichen von Therapien bzgl. eines individuellen des Therapieprozesses
(v.a. Medikamente) und Patienten. Explorieren spezifischer
Therapieansätzen. Untersuchen des Fragestellungen.
Ursache – Wirkung. Therapieprozesses und
spezifischer Fragestellungen.

Kontrollen Randomisierte Einteilung Einteilung in Test- Patient agiert als eigene Keine Kontrollen
in Test-und Kontrollgruppe. und Kontrollgruppe Kontrolle. notwendig.
Rigorose Kontrolle aller aufgrund spezifi- Möglichst umfassende
beeinflussenden Faktoren. scher Kriterien. Kontrolle der beeinflussen-
Matching der Studien- den Faktoren.
teilnehmer.
Möglichst umfassende
Kontrolle der beeinflus-
senden Faktoren in
beiden Gruppen.

Planung Detaillierte Planung vor der Datensammlung notwendig: Ausarbeiten der Frage-
4 Formulierung der Hypothese und/oder Fragestellungen stellung/en
4 Festlegung der Datensammlung und -analyse Welche Daten sollen
4 Festlegung der statistischen Tests erfasst werden?
4 Bestimmen der statistischen Signifikanz-Levels Wer sammelt die Daten?
Wann?
Hat das Sammeln der Daten begonnen, dürfen keine Veränderungen mehr Mit welchem Instrument?
angebracht werden.

Generalisieren Resultate können auf Gesamtpopulation Resultate mehrerer Studien Beschreibungen können
der Resultate generalisiert werden geben Tendenzen an. nicht auf die Gesamt-
population generalisiert
werden.
212 Kapitel 9 · F.O.T.T.: Mythos oder messbar?

die Wahrnehmung des Forschers beeinflussen und somit > Beispiel


eine vollkommene Objektivität verunmöglichen. Das durch die neurologische Schädigung vorherr-
schende Muster (z. B. Extensionsmuster) kann durch
: Beachte das Lagern im Bett verstärkt (bei Rückenlagerung)
Das Ausarbeiten eines Projektes, die Datensammlung oder (zumindest teilweise) vermindert werden
und -analyse wird von diesen Theorien beeinflusst, (bei Seitenlagerung mit Beinen und Oberkörper
ob sich der Forscher dessen bewusst ist oder nicht. in Flexion, Davies 1994).

Dies weist auf zwei Kulturen der Medizin (Wulff 1999) Coombes (1996a, b) betont die Wichtigkeit eines konse-
hin: quenten 24-Stunden-Konzeptes in der Rehabilitation von
4 die Kultur der objektiven Fakten (d. h. der Naturwis- schädelhirnverletzten Menschen, unter anderem um
senschaften) und Sekundärproblemen (z. B. Muskelverkürzungen) vorzu-
4 die Kultur der Subjektivität und Werte (d. h. der Hu- beugen.
man-/Geisteswissenschaften). Akzeptieren wir, dass Lernen mehr ist als Wissenser-
weiterung und dass es lebenslang stattfindet, (zumindest
Die Vertreter der ersten Kultur, sind der Ansicht, dass so lange der Patient stimuliert wird), dann kommt der
alles gemessen werden muss. Kann etwas nicht gemessen Rolle von Pflegekräften besondere Bedeutung zu, vor al-
werden, muss es messbar gemacht werden. Vertreter der lem in der Langzeitpflege von schwerst behinderten Pa-
zweiten Kultur setzen sich mit der subjektiven, indivi- tienten, einem Sektor in dem kaum mehr Therapien statt-
duellen Welt der Patienten auseinander. Dieser Zwiespalt finden.Auch hier gibt es noch keine Untersuchungen dar-
9 ist laut Wulff unglücklich,da die Medizin sowohl eine wis- über, wie sich Pflege auswirkt, die Aspekte von F.O.T.T.
senschaftliche als auch eine humanistische Disziplin ist. im Langzeitmanagement neurologisch beeinträchtigter
Dieses Problem tritt auch im therapeutischen Kontext auf. Menschen integriert.
Kesselring (2000) fordert, dass für »hands-on« Thera- Nachfolgend zeigt . Übersicht 9.2 die Schwierigkeiten
pien (wie z. B. F.O.T.T., Physiotherapie, Ergotherapie), die auf, die randomisierte Kontrollstudie auf F.O.T.T. anzu-
unbestritten von größter Wichtigkeit in der Neurorehabi- wenden.
litation sind, andere Kriterien zur Bewertung ihrer Effek-
tivität gelten müssen als bei Studien der Wirksamkeit von
Medikamenten. Er begründet dies damit, dass sich die Übersicht 9.2: Probleme der Randomisierung
Neurorehabilitation die Mechanismen der Plastizität 4 Die randomisierte Zuteilung in Test- und
(Robertson u. Murre 1999) zu Nutze macht. Die Theorien Kontrollgruppe wird erschwert oder ist
der Plastizität des ZNS und Forschungsstudien gehen beinahe unmöglich, da die Gruppe der
davon aus, dass Lernen ein Leben lang stattfindet – auch Patienten, die F.O.T.T. benötigen relativ klein
nach Hirnschädigungen (Hamdy et al. 1998). Kesselring ist und heterogen bezüglich Krankheits-
kommt zum Schluss, dass »hands-on« Therapien konse- verursachung und Läsionsort.
quenterweise wie Lernerfolge oder Trainingseffekte be- 4 Die randomisierte Zuteilung wird zur ethi-
urteilt werden müssten. Er fordert heraus mit der Frage, schen Problematik.Wie kann zum Beispiel
wem es denn einfallen würde, die Effektivität von Erzie- begründet werden, dass eine Patientengruppe
hung – Schule – oder eines Training-Camps in einer Dop- nicht oder erst später behandelt wird? Vor
pelblindstudie zu evaluieren. allem in der Frührehabilitation widerspricht
dies der Überzeugung, dass frühstmögliche
: Beachte Intervention z. B. zur Prävention notwendig ist
Lernen im Kontext der Neurorehabilitation muss also (Robertson u. Murre 1999).
als Veränderung allgemein verstanden werden, 4 Die Messbarkeit wird dadurch erschwert, dass
als Verhaltensänderung, die sich auch physisch für F.O.T.T. kein Rezeptbuch besteht, dem die
zeigen kann. Therapeutin folgen könnte (s. Einführungs-
6
9.2 · Das F.O.T.T. Assessment Profile
213 9

: Beachte
kapitel). Das wichtigste Gut der Therapeutin, Experimentelle Einzelfallstudien und beschreibende
ihre »Handlingsskills«, werden in Kursen erwor- Fallstudien, oder eine Kombination beider Designs,
ben und im Alltag und im interdisziplinären scheinen am besten geeignet für F.O.T.T..
Austausch verfeinert. Persönliche Beobachtun-
gen bestätigen, dass die Therapie von Thera-
peutin zu Therapeutin variiert, abhängig vom 9.2 Das F.O.T.T. Assessment Profile
beruflichen Hintergrund und der Berufserfah-
rung. Multizentrische Studien (Studien an 9.2.1 Entstehungsgeschichte
denen verschiedene Institutionen gleichzeitig
teilnehmen) sind deswegen schwierig zu ver- Um die Effektivität der F.O.T.T. – oder Aspekte daraus –
gleichen, da einerseits die Patienten und ande- nachzuweisen, ist ein Instrument notwendig, das F.O.T.T.-
rerseits die »Handlingskills« der Therapeutin- Therapeutinnen erlaubt, ihre klinischen Beobachtungen
nen aufeinander abgestimmt werden müssten festzuhalten, zu vergleichen und zu quantifizieren. Dieses
(matching). Instrument sollte sensitiv genug sein, um diskrete Verän-
4 Die Interdisziplinarität von F.O.T.T.,Vorausset- derungen, die noch nicht zu funktionellen Verbesserun-
zung für eine optimale Rehabilitation, stellt gen führen, zu erfassen.
eine weitere Schwierigkeit dar, da sie die Ab- Die Idee,solch ein Instrument zu entwickeln,entstand
grenzung zwischen den Einflüssen verschie- während meiner Arbeit mit schädelhirnverletzten
dener Therapien (z. B. Physiotherapie) nahezu Patienten in einer großen Akutklinik in London. Die
unmöglich macht. Gerade in der Frührehabili- Umsetzung erfolgte im Rahmen eines Pilotprojektes
tation bleibt zudem die Frage nach Spontan- (Fuchs Ziegler u. O’Donoghue 1998) und meiner Disser-
heilung oder Spontanremission bestehen. tation (Fuchs 2001), für den Studiengang Masters of
4 Das »Handling« des Patienten in der therapie- Science in Human Communication an der City Universi-
freien Zeit ist von zentraler Bedeutung.Wird ty London. Letztere testete die Inhaltsvalidität und Inter-
der Patient zum Beispiel ständig in einer nicht Rater Reliabilität (s. auch Abschn. 9.2.3) des weiterent-
adäquaten Stellung gelagert, so kann dies die wickelten F.O.T.T. Assessment Profile. Die Realisierung
Resultate einer F.O.T.T. Studie negativ beein- dieses Vorhabens war nur mit Hilfe der Unterstützung
flussen. vieler F.O.T.T-Therapeutinnen und Therapeuten mög-
4 Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf lich, die in den verschiedenen Phasen die Skalen erprob-
die Messergebnisse stellt die Untersucherin ten. An dieser Stelle möchte ich mich für die Mitarbeit
selbst dar (Reed u. Procter 1995). Bei der 7 ran- und konstruktive Kritik herzlich bedanken!
domisierten Kontrollstudie (d. h. beim Testen
von Medikamenten) spielt die Persönlichkeit, Bisher angewandte Instrumente
Erfahrung oder Motivation des Studienleiters Im Rahmen der ersten Phase der Dissertation (Fuchs
eine minimale Rolle. Hingegen ist die Person, 2001) ergab eine Umfrage bei sechsundzwanzig F.O.T.T.-
die sich mit Fragen zu F.O.T.T. auseinandersetzt Therapeutinnen und Therapeuten aus sieben Kliniken in
wahrscheinlich eine Insiderin, eine Therapeu- Dänemark, Deutschland und der Schweiz, dass Verände-
tin, die sich mehr wissenschaftlich mit dem rungen im fazio-oralen Trakt erfasst wurden anhand von:
Thema oder einem praktischen Problem aus- 4 schriftlichen Therapieaufzeichnungen,
einander setzten möchte.Therapeutin und 4 Videos,
Patient werden im Verlauf der Therapie mitein- 4 hausinternen F.O.T.T. Erfassungsbögen,
ander vertraut, sie interagieren und in der 4 dem 7 »Functional Independent Measure« (FIM) und
Regel versucht die Therapeutin den Patienten 4 7 »Early Functional Abilities« (EFA) (Heck et al.
positiv zu verstärken. 2000).
214 Kapitel 9 · F.O.T.T.: Mythos oder messbar?

Alle diese Methoden haben ihre Berechtigung im klini- 9.2.2 Beschreibung des F.O.T.T.
schen Alltag, sind jedoch nur zum Teil geeignet für Assessment Profile
F.O.T.T. Studien.
Therapieaufzeichnungen und Videos sind zum Bei- Das F.O.T.T. Assessment Profile ist wie alle funktionalen
spiel wertvoll in der Verlaufsdokumentation. Das Verglei- Messverfahren (z. B. FIM) eine Ordinalskala, die die
chen von Therapieaufzeichnungen wird jedoch dadurch Rangposition verschiedener Messwerte zueinander an-
erschwert, dass sie selten einem einheitlichen System fol- gibt. In Ordinalskalen sind die Abstände zwischen den
gen, und von Therapeutin zu Therapeutin variieren. Rangpositionen nicht gleich groß. Der Abstand von Rang
Videoanalysen in Bezug auf die Therapieplanung sind zu- 2 zu Rang 3 entspricht somit nicht demjenigen von Rang 3
dem enorm zeitaufwendig. zu Rang 4. In der Praxis bedeutet dies, dass ein Patient mit
Der in der Rehabilitation oft benutzte 7 Functional Rang 4 nicht doppelt so gut ist wie ein Patient mit Rang 2.
Independent Measure (FIM) ist nicht darauf ausgerichtet,
die vier Bereiche von F.O.T.T. (d. h. Nahrungsaufnahme, Die Skalen des F.O.T.T. Assessment Profile
Mundhygiene, non-verbale Kommunikation, Atmung- Das F.O.T.T.Assessment Profile besteht aus sieben Skalen,
Stimme-Sprechen) zu erfassen. Auch sind sogenannte die, außer für die Mundhygiene, jeweils zwischen sponta-
Bodeneffekte bei schwerst beeinträchtigten Patienten nen Bewegungen und elizitierten/fazilitierten Bewegun-
bekannt (Hall u. Johnston 1994), d. h. im Klinikalltag gen separat unterscheiden. . Übersicht 9.3 stellt die Ska-
beobachtete Veränderungen, die zu keinem Funktions- len dar.
gewinn führen, können nicht aufgezeigt werden.
Das Benutzen hausinterner Erfassungsbögen ist ein
9 Schritt in die richtige Richtung. Sie zielen darauf ab, nach Übersicht 9.3: Skalen des F.O.T.T.
einheitlichen Kriterien zu befunden und Resultate zu Assessment Profile
sammeln. Schwierigkeiten ergeben sich vor allem daraus, 4 Mundhygiene
dass wissenschaftliche Kriterien wie Validität und Reliabi- 4 Spontanes Schlucken
lität der Instrumente nicht evaluiert worden sind und dies 4 Elizitiertes/fazilitiertes Schlucken
die Aussagekraft der Resultate limitiert. Resultate ver- 4 Spontane Zungenbewegungen
schiedener Bogen können zudem nicht miteinander ver- 4 Elizitierte/fazilitierte Zungenbewegungen
glichen werden. 4 Spontane Gesichtsbewegungen
Die 7 Early Functional Abilities Skalierung (Heck et 4 Elizitierte/fazilitierte Gesichtsbewegungen
al. 2000) scheint bisher am besten geeignet, Aspekte des
fazio-oralen Trakts widerzuspiegeln. EFA wurde zudem
validiert und hatte gute Resultate für Reliabilität gezeigt. Allen sieben Skalen des F.O.T.T. Assessment Profile liegt
Ein Vergleich von EFA und des F.O.T.T. Assessment eine Basisstruktur zu Grunde, die aus fünf Levels oder
Profile ergab im weiteren sowohl Gemeinsamkeiten als Stufen besteht.
auch Unterschiede.Die Unterschiede zwischen den beiden
Instrumenten, sowie Diskussionen mit Kolleginnen, Die Levels des F.O.T.T. Assessment Profile
denen beide bekannt waren, schienen eine Weiterent- Die Levels 1, 3 und 5 beschreiben klar zu unterscheidende
wicklung des F.O.T.T.Assessment Profile zu rechtfertigen. Patientenzustände.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden im Anschluss 4 Auf Level 1 ist der Patient komatös, reagiert nicht oder
an die Beschreibung des F.O.T.T. Assessment Profile zu- kann nicht aktiv mitarbeiten.
sammengefasst. 4 Auf Level 3 arbeitet der Patient mit, soweit es seine
eingeschränkte Funktion erlaubt.
4 Level 5 beschreibt Patienten mit noch leicht einge-
schränkten Funktionen.
9.2 · Das F.O.T.T. Assessment Profile
215 9

4 Die Levels 2 und 4 agieren als Übergänge,wobei Über- 4 wieviel Unterstützung der Patient benötigt,
schneidungen der Levels möglich sind. z. B. durch die Lagerung (s. . Tabelle 9.2 zur Illustra-
tion der Skala für 7 fazilitiertes/7 elizitiertes Schlu-
Die Levels des F.O.T.T. Assessment Profile erfassen: cken).
4 veränderte Sensibilität und 7 Tonus,
4 Bewegungsmöglichkeiten und -einschränkungen des . Übersicht 9.4 fasst die Gemeinsamkeiten und Unter-
Patienten, und schiede des F.O.T.T. Assessment Profile und EFA zusam-
men.

. Tabelle 9.2. Skala für Schlucken: elizitiert/fazilitiert (Version 9)

Level 1 Level 2 Level 3 Level 4 Level 5

In gut unterstützter In gut unterstützter In unterstützter In unterstützter In normaler Haltung oder


Lagerung: Lagerung: Lagerung: Lagerung: therapeutischer Lagerung:

Schlucken Schlucken Schlucken Schlucken Schlucken


Kein Schlucken Bis zu 5 Schlucke 6 bis 10 Schlucke Mehr als 10 Schlucke Mehr als 50 % der
pro Therapieeinheit; pro Therapieeinheit pro Therapieeinheit pro Therapieeinheit Schlucke pro Therapie-
in der Folge ständiger können fazilitiert fazilitiert fazilitiert einheit sind vollständig
Speichelfluss aus dem werden
Entblocken der Kanüle Schlucke können durch Therapeutisches Essen
Mund und/oder
Verändern der Lagerung elizitiert Schlucken Stimmgebung ausgelöst (Kauen in Gaze) Therapie-
Speichelansammlung
elizitiert Schlucken und/oder Schlucken werden bestandteil
im Mund/Pharynx
kann leichter fazilitiert
Entblocken der Kanüle Inhibieren des Zungen- Schlucken kann zuver-
Entblocken der Kanüle werden
elizitiert Schlucken pumpens resultiert in lässig fazilitiert werden
löst kein Schlucken aus
Pumpen der Zunge promptem Schlucken nach Husten/Räuspern
Zungenpumpen vor dem
Silent Aspiration kann inhibiert werden
Schlucken notwendig Bis zur Hälfte aller
vermutet oder sichtbar und resultiert in
Schlucke sind gefolgt Husten
via Kanüle Husten und Schlucken Schlucken
von klarer Stimme Verzögertes Husten
sind unkoordiniert
Unsichere Qualität (kein Husten) nach therapeutischem
Husten/Atmung Unsichere Qualität des Schluckens Essen möglich
Husten kann nicht Schlucken kann nicht
des Schluckens
fazilitiert werden Schlucken kann nicht fazilitiert werden
von TherapeutIn fazilitiert werden nach nach Husten/Räuspern
Husten Husten/Räuspern
Unwillkürliches/nicht Verzögertes und/oder
effektives Husten wird Husten
schwaches,
ausgelöst durch Husten Gelegentlich verzögertes
nicht effektives Husten
Absaugen Verzögertes Husten, Husten
kein Husten und/oder
Flaches und hastiges Stimme tönt ähnlich wie
Atmen Stimme
Gurgelnde, nasse Stimme Räuspern
Verändern der Stimme-
Bewusstes Husten höhe ’a’–’i’ nicht möglich
kann stimuliert werden
durch taktile Unter-
stützung am Brustkorb

Stimme
Veränderung der Stimm-
höhe ’a’ – ’i’ gelegentlich
möglich
216 Kapitel 9 · F.O.T.T.: Mythos oder messbar?

einfachsten zu evaluierenden Formen von Validität ist die


Übersicht 9.4: Gemeinsamkeiten inhaltliche Validität (content validity).Fachexperten beur-
und Unterschiede des F.O.T.T. teilen, ob das Instrument die für die zu messende Thera-
Assessment Profile und EFA pie wichtigen und relevanten Merkmale vereint (Streiner
Gemeinsamkeiten u. Norman 1991).
4 Zu den Gemeinsamkeiten zählten die Zielgrup- Unter Reliabilität versteht man die Zuverlässigkeit
pe und dass alle vier Bereiche der Facio-Oralen oder den Grad der Genauigkeit, mit dem ein Instrument
Trakt Therapie in fünf Levels unterteilt (Stufen 1 oder Test ein Merkmal misst, unabhängig davon, ob es
bis 5) wurden. dieses auch zu messen beansprucht (Blanco u. Mäder
1999).
Unterschiede
Die Inter-Rater Reliabilität gibt darüber Auskunft,
4 Im Gegensatz zum F.O.T.T. Assessment Profile wie stabil ein Instrument ist, wenn es von verschiedenen
unterscheidet EFA nicht in separaten Skalen
Benutzern angewendet wird.
zwischen spontanen Bewegungen und
7 fazilitierten Bewegungen. Phase 1: Etablieren der Inhaltsvalidität
4 EFA beschreibt die Abstände zwischen den ein- Die inhaltliche Validität des F.O.T.T. Assessment Profile
zelnen Messwerten sehr eindeutig, und. diskre-
(Version 8) wurde von sechzig F.O.T.T.-Therapeutinnen
te Veränderungen können weniger gut erfasst
und Therapeuten beurteilt, die die Skalen in einer Test-
werden als mit dem F.O.T.T. Assessment Profile.
phase anwendeten und mittels eines strukturierten Frage-
Das Schlucken wird bei EFA wie folgt beschrie-
bogens beurteilten. Im Anschluss an die Analyse der Fra-
9 ben: Level 1: schlucken fehlt/nicht sicher er-
gebogen konnten der Version 8 weitere wichtige Merkma-
kennbar; Level 2: schlucken angedeutet, spon-
le zugefügt werden. Einige Beispiele sind unten aufge-
tanes Schlucken; Level 3: Schlucken deutlich
führt. Diese adaptierte Version 9 wurde in einer weiteren
erkennbar, Esstraining beginnt. Im Vergleich
Phase auf ihre Inter-Rater Reliabilität getestet.
dazu wird das therapeutische Kauen beim
F.O.T.T. Assessment Profile erst auf Stufe 5
> Beispiel
erwähnt (s. . Tabelle 9.2).
4 Mundhygiene: Patient kann den Mund nicht öff-
4 Bei EFA wird der Einfluss der Lagerung und nen; Aspiration; Zahnprothesen.
Position des Patienten auf den fazio-oralen
4 Spontane Zungenbewegungen: ständiges
Trakt nicht bewertet, hingegen besteht eine
Bewegen der Zunge; Neglekt der Hemiseite.
Skala für Lagerung.
4 Elizitierte/7 fazilitierte Zungenbewegungen:
Zungenpumpen vor dem Schlucken; Silent Aspiration;
/n/ und /g/ Bewegungen.
4 Spontanes Schlucken: eingeschränkte Sicherung
9.2.3 Inhaltliche Validität und der Atemwege; Koordination von Husten und Schlu-
Inter-Rater Reliabilität cken; Patient schluckt nur während einer Lageverän-
derung.
Die Wahl des Messinstrumentes hängt sowohl von der 4 Elizitiertes/7 fazilitiertes Schlucken: Speichelfluss
Fragestellung, als auch vom zugrundeliegenden Stö- führt zu häufigerem Schlucken; Stimme nicht erwähnt
rungsbild ab.Ein Instrument sollte zudem gewisse wissen- auf Level 3; Patient schluckt nach Husten oder Räus-
schaftliche Kriterien erfüllen, um Resultate vergleichbar pern.
zu machen. Zu diesen Kriterien gehören Validität und Re- 4 Spontane Gesichtsbewegungen: Mitbewegungen
liabilität, die der Verständlichkeit halber erst definiert von Kopf und Oberkörper; Augenkontakt nicht
werden sollen (Blanco u. Mäder 1999). erwähnt auf Level 3.
Validität bezieht sich darauf, wie genau ein Instru- 4 Elizitierte/7 fazilitierte Gesichtsbewegungen:
ment die Merkmale misst, die es vorgibt zu messen markanter Unterschied in den drei Teilen des
(Johnston et al. 1992). Ein Instrument zu validieren ist ein Gesichtes (d. h. Stirne, Augen und Nase, Wangen
enorm arbeitsreicher und komplexer Prozess. Eine der und Lippen).
9.2 · Das F.O.T.T. Assessment Profile
217 9

Phase 2: Testen der Inter-Rater Reliabilität Nur gerade zweimal ergab sich ein Unterschied von mehr
Für die Inter-Rater Reliabilität wurden sechzehn verschie- als zwei Levels, wobei dies auf die unterschiedliche Tech-
dene Patienten (w = 3, m = 13) von neun Therapeutinnen- nik der beiden Therapeutinnen beim Erfassen zurückzu-
Paaren beurteilt. Die Daten (Total 112 Befundungen) wur- führen war.
den mit dem weighted Kappa (Cohen 1968) ausgewertet.
Der weighted Kappa (Kw) berücksichtigt: Diskussion
4 das zufällige Zustandekommen einer Übereinstim- Kritische Leser werden zu bedenken geben, dass dies rela-
mung und tiv viele Ratings mit einem Level Unterschied sind. Dem-
4 eine teilweise Übereinstimmung. gegenüber betont Wade (1992), dass sehr sensitive Instru-
mente oft weniger reliabel sind. Gerade in den vier Berei-
Die teilweise Übereinstimmung, bei Nominal- und Ordi- chen der F.O.T.T. und speziell bei schwerstbetroffenen Pa-
nalskalen ein wichtiger Aspekt, wird verschieden gewich- tienten aber ist es wichtig, diskrete Veränderungen zu
tet. So wird zum Beispiel beim F.O.T.T.Assessment Profile erfassen, weil Veränderungen nicht in riesigen Sprüngen
ein Unterschied von Level 1 zu Level 2 weniger schwer ge- geschehen. Benutzerinnen des F.O.T.T.Assessment Profile
wichtet als ein Unterschied von Level 1 zu Level 3 (Fuchs müssen sich also im Klaren sein, dass ein 7 Trade-Off
2001). Die Resultate für individuelle Skalen sind unten besteht zwischen Sensitivität und Reliabilität, d. h. dass
aufgeführt. die erhöhte Sensitivität eventuell eine reduzierte Reliabi-
lität zur Folge hat.
Ergebnisse
4 Resultate weighted Kappa Statistik (Kw) i Praxistipp
4 Mundhygiene: Kw = 0.60 (fair) Um auf eine wirkliche Veränderung schließen zu
4 Spontanes Schlucken: Kw = 0.49 (fair) können, wird in Anbetracht dieser Einschränkung
4 Elizitiertes/7 fazilitiertes Schlucken: vorgeschlagen, dass mindestens zwei Levels Unter-
Kw = 0.61 (good) schied bestehen sollten, wenn der Patient im Verlau-
4 Spontane Zungenbewegungen: fe der Rehabilitation von verschiedenen Therapeutin-
Kw = 0.70 (good) nen mit dem F.O.T.T. Assessment Profile beurteilt
4 Elizitierte/7 fazilitierte Zungenbewegungen: wurde.
Kw = 0.66 (good) Wird die Beurteilung hingegen von derselben
4 Spontane Gesichtsbewegungen: Therapeutin vorgenommen, reicht eine Veränderung
Kw = 0.50 (fair) von einem Level aus, um als klinisch signifikant zu
4 Elizitierte/fazilitierte Gesichtsbewegungen: gelten. Fisher (1992) weist darauf hin, dass dieselbe
Kw = 0.75 (good) Therapeutin einen konstanten Schweregrad bei der
Beurteilung von Funktionsbeeinträchtigungen an-
Übereinstimmung aller Skalen: Kw = 0.63 (good) wendet.
Drei Skalen resultierten in einer Übereinstimmung
die als »fair« bezeichnet wird (Robson, 1998), wobei die Zum jetzigen Zeitpunkt und im Wissen um die vorhande-
Skala für Mundhygiene an »gut« grenzt. Vier Skalen er- nen Grenzen, eignet sich die Version 9 des F.O.T.T.Assess-
reichten eine gute Übereinstimmung, wobei die Skala für ment Profile für die in . Übersicht 9.5 beschriebenen
»elizitierte/fazilitierte Gesichtsbewegungen« an »exzel- Zwecke.
lent« grenzt.

: Beachte
Eine visuelle Analyse aller Ratings (N = 112) ergab eine
totale Übereinstimmung in 65 Fällen, was rund 58 %
entspricht. 42 Mal (38 %) beurteilten die Therapeutin-
nen die Patienten mit einem Unterschied von einer
Stufe.
218 Kapitel 9 · F.O.T.T.: Mythos oder messbar?

4 die Befundaufnahme,
Übersicht 9.5: Einsatzmöglichkeiten 4 davon abgeleitete Therapieziele und therapeutische
des F.O.T.T. Assessment Profile Interventionen,
4 Quantifizieren der klinischen Beobachtun- 4 Zwischen- und Abschlussbefunde.
gen, zum Beispiel bei der Erstbefundung. Das
Instrument fördert ein strukturiertes Vorgehen Interessant wäre auch Patienten mit ähnlichen Diagnosen
und das Beobachten von Schlüsselparametern zu beurteilen (matching), die sich in Pflegeheimen mit
der Facio-Oralen Trakt Therapie. Dies wiederum wenig Therapie-Input aufhalten.
erleichtert eine gezielte Dokumentation und Bei beschreibenden Fallstudien können das F.O.T.T.
das Planen der Therapie. Assessment Profile und bildgebende Verfahren (z. B. End-
4 Vergleichen weiterer Befundungen im Verlauf oskopie) hinzugezogen werden.
der Rehabilitation mit der Erstbefundung zu
Evaluationszwecken.
4 Instrument bei Einzelfallstudien. 9.3.1 Ausarbeiten der Fragestellung
4 Basisinstrument für eine Weiterentwicklung
des F.O.T.T. Assessment Profile F.O.T.T.-Einzelfallstudien entwickeln sich aus den Erfah-
rungen in der Praxis heraus. Jede F.O.T.T.-Therapeutin er-
arbeitet sich die Fragestellung im jeweiligen therapeuti-
schen Umfeld. Es sollten spezifische Fragestellungen
untersucht werden, die im therapeutischen und pflegeri-
9 9.3 Studiendesign für F.O.T.T. schen Alltag wichtig sind (s. Fragestellungen in Abschn.
9.1.2). Das Projekt muss selbstverständlich von der Klinik
In diesem Abschnitt soll exemplarisch ein mögliches und ggf. von einer Ethikkommission genehmigt werden.
Design für eine F.O.T.T.-Einzelfallstudie skizziert werden
(Fuchs Ziegler 2000), das auf das jeweilige klinische Um-
feld abgestimmt werden muss. 9.3.2 Design
Statistisch signifikante Resultate können in einer
Kontrollstudie nur erreicht werden, wenn eine klare, rela- Es wird ein AB-Design vorgeschlagen, in dem die Phasen
tiv enge Fragestellung mittels einer homogenen Gruppe von unterschiedlicher Länge sind (z. B. drei Wochen in
(Test- und Kontrollgruppe) untersucht wird. Laut Pring der Phase A und zwölf Wochen in der Phase B).
(2000) ist ein solches Studiendesign beim derzeitigen Eine erste Phase A ist wichtig, um eine Baseline zu
Stand der Forschung verfrüht, da die Therapieforschung etablieren,sollte jedoch nicht zu lange sein,um Sekundär-
im Bereich von F.O.T.T. am Anfang steht, und wir vorerst problemen (z. B. Zahnfleischentzündung) vorzubeugen
noch im Prozess sind herauszufinden,bei welchen Patien- (vor allem in der Frührehabilitation). In Phase A wird der
ten der Ansatz wirkt, welche Patienten am meisten (oder Patient wie üblich behandelt (z. B. Physiotherapie) erhält
am wenigsten) davon profitieren und welche Auswirkun- jedoch keine spezifische Facio-Orale Trakt Therapie. Eine
gen in der Langzeitpflege zu beobachten sind. zweite Phase A (»Nicht-Behandlungsphase«) ist nicht
Die detaillierte Beschreibung von Patienten, ähnlich sinnvoll, da der einmal gewonnene Effekt nicht rückgän-
der Fallstudien von Gratz u.Woite (2000), die als eine gute gig gemacht werden möchte. Es können aber weitere
Vorlage dienen könnte, ist ein Einstieg für Therapeutin- 7 »follow-up«-Tests geplant werden (z. B. dreimal im Ab-
nen, die sich mit der wissenschaftlichen Arbeit ausein- stand von sechs Wochen), falls die Behandlung nach der
andersetzen möchten. Es sollten die Probleme im fazio- Phase B abgeschlossen wird. Diese würden aufzeigen, ob
oralen Trakt und der Behandlungsverlauf verschiedenster sich die Funktion ohne Therapie verschlechtert hat oder
Patienten (z. B. mit Schädelhirntrauma, nach Schlagan- erhalten geblieben ist,z. B.die Mundöffnung beim Zähne-
fall, Tumorpatienten und verschiedene Wachheitsgrade) putzen.
beschrieben werden, speziell:
9.3 · Studiendesign für F.O.T.T.
219 9

9.3.3 Studienteilnehmer Woche unabhängig voneinander. Die Befundungen


sollten an aufeinander folgenden Tagen unter densel-
4 Patienten mit schweren Problemen im fazio-oralen ben Bedingungen stattfinden (z. B. Tageszeit, keine
Trakt aufgrund neurologischer Schädigungen.Patien- Therapie vorher). Die Befundungen werden während
ten sollten bisher nicht mit dem F.O.T.T. Ansatz be- oder unmittelbar im Anschluss mit dem F.O.T.T.
handelt worden sein. Assessment Profile beurteilt. Die Beurteilungen bei-
4 Zwei Therapeutinnen (A und B), die für die Zeitdauer der Therapeutinnen werden anschließend verglichen
des Projektes nicht ausgewechselt werden. und Unterschiede von zwei und mehr Levels disku-
4 Ausgewählte Pflegekräfte (oder Therapeutinnen an- tiert und die Gründe dafür schriftlich festgehalten.
derer Berufsgruppen), die sich bereit erklärt haben, Eine dieser Befundungen wird zudem auf Video doku-
einen Fragebogen am Anfang und am Ende des Pro- mentiert.
jektes auszufüllen. 4 GCS Scores werden parallel zur Befundung erhoben.
4 Eine FEES Untersuchung wird innerhalb der ersten
drei Wochen vorgenommen. Relevante Beobachtun-
9.3.4 Instrumente gen werden sofort schriftlich festgehalten (z. B. Schlu-
cken von 20 ml angedicktem Saft mit anschließender
Die Instrumente werden generell aufgrund der zu beant- Penetration ohne effektives Räuspern, ohne anschlie-
wortenden Fragen ausgewählt. Aufgeführt sind einige ßendem Nachschlucken), damit sie in Nachuntersu-
Beispiele, wobei die Liste keinesfalls vollständig ist. chungen verglichen werden können.Mit dem Berliner
F.O.T.T. Assessment Profile zur Befundung von Mund- Dysphagie-Index können die Beobachtungen quanti-
pflege, Schlucken von Speichel, Gesichtsbewegungen und fiziert werden (Seidl et al. 2002).
Zungenbewegungen (spontan und elizitiert/7 fazilitiert). 4 Eine patientenspezifische Messung wird aufgrund
Berliner Dysphagie-Index (Seidl et al.2002) zur Befun- der Beobachtungen ausgewählt.
dung der FEES: Fiberoptic Endoscopic Examination of 4 Subjektive Informationen im Pflegeteam werden
Swallowing; Beurteilung des Befundes, des Schluckens mittels eines Fragebogens erhoben. Schwierigkeiten
von Speichel und Nahrung und der Schutzmechanismen. bei der Mundpflege könnten zum Beispiel mit einer
Glasgow Coma Scale (GCS) (falls notwendig) zur Be- Zahl ausgedrückt werden (z. B. Skala von 1 bis 10).
fundung der Wachheit und zur Kontrolle von funktionel- Hilfreich sind auch beschreibende Angaben (z. B.
len Verbesserungen aufgrund erhöhter Wachheit. Mundöffnung, Beißreflex, Schlucken).
Patientenspezifische Messung, z. B.Absaughäufigkeit 4 Andere therapeutische Interventionen werden be-
bei Kanülenpatienten oder abgesaugte Speichelmenge schrieben und deren Häufigkeit festgehalten (z. B.
pro Therapieeinheit. Die patientenspezifische Messung Mobilisation der HWS und des Kiefergelenkes in der
wird aufgrund der Beobachtungen in der Phase A festge- Physiotherapie; therapeutisches Zähneputzen).
legt. 4 Medikamente,Veränderungen der Medikamente und
Fragebogen für die Pflegekräfte bezüglich ihrer andere wichtige Ereignisse (z. B. Epilepsie, Infektio-
Wahrnehmung der Schwierigkeiten (z. B. bei der Mund- nen, Shuntanlage) müssen sorgfältig festgehalten
pflege, Schlucken). Dieser Fragebogen kann sehr wenige werden.
Fragen umfassen und kann von einzelnen Teammitglie-
dern vervollständigt werden. Phase B: Behandlungsphase
4 Der Patient wird für einen festgelegten Zeitraum (z. B.
zwölf Wochen) von Therapeutin B behandelt.
9.3.5 Datenerhebung 4 Therapeutin A und B beurteilen den Patienten monat-
lich mit dem F.O.T.T. Assessment Profile (insgesamt
Phase A: Etablieren der Baseline drei Befundungen in zwölf Wochen). Diese Beurtei-
4 Dreiwöchige Periode,in der der Patient keine Therapie lungen sollten an sich folgenden Tagen unter densel-
des fazio-oralen Trakts erhält. ben Bedingungen vorgenommen werden (z. B. Uhr-
4 Zwei Therapeutinnen (A und B) befunden den Pa- zeit, keine Therapie vorher, Ausgangsposition).
tienten sowohl in der ersten als auch in der dritten
220 Kapitel 9 · F.O.T.T.: Mythos oder messbar?

4 Die Anfangs- und Schlussbefundungen werden auf Fiberoptische Endoskopische Examination


Video aufgezeichnet. of Swallowing (FEES)
4 GCS Scores werden parallel zu den Befundungen erho- Die Untersuchungsergebnisse der FEES werden qualitativ
ben, so lange notwendig. analysiert.Die wichtigsten Beobachtungen jeder Untersu-
4 Die patientenspezifische Messung wird in jeder The- chung werden nach einheitlichen Kriterien beschrieben
rapieeinheit erfasst (z. B. Häufigkeit des Absaugens). (z. B. Schlucken, Sensibilität) und die Erstbefundung (in
4 Verlaufskontrolle FEES/Berliner Dysphagie-Index der Baseline) mit der letzten Untersuchung verglichen.
wird am Schluss der Behandlungphase (Woche zwölf) Falls möglich wird eine reliable Ordinalskala herangezo-
nochmals durchgeführt. gen (z. B. Seidl et al 2002).
4 Subjektive Informationen des Pflegeteams werden
mittels desselben Fragenbogens (dieselben Pflegen- Patientenspezifische Messung
den) am Ende der Behandlungsphase nochmals erho- Die Ergebnisse dieser Messungen werden entweder quali-
ben. tativ beschrieben oder graphisch dargestellt. Wichtig ist,
4 Veränderungen (z. B.Medikamente) werden über den dass die Analyse dieser Daten bereits in der Planungspha-
gesamten Zeitraum der Fallstudie sorgfältig festge- se überdacht wird.
halten.
Fragebogen
: Beachte Die Fragebogen können
Bei klinisch signifikanten Veränderungen müssen 4 für jede Pflegekraft individuell ausgewertet werden:
Befundungen auch »außerhalb« des Zeitrahmens Die Angaben des Fragebogens der Phase A werden
9 vorgenommen werden. mit denen der Phase B verglichen. Widersprüchliche
Angaben innerhalb desselben Fragebogens werden
aufgezeigt (s. Beispiel unten).
9.3.6 Datenanalyse 4 für die Gruppe der Pflegekräfte ausgewertet werden:
Die Angaben der Fragebogen der Phase A werden mit
F.O.T.T. Assessment Profile denen der Phase B verglichen.
Die mit dem F.O.T.T.Assessment Profile erhobenen Daten
werden analysiert und mittels einer Graphik dargestellt. > Beispiel
Skalen sollten individuell repräsentiert werden (d. h. sie- Innerhalb zweier Einzelfallstudien zum Thema Mund-
ben Graphiken) und die Datenpunkte beider Therapeu- pflege beurteilten die Pflegekräfte mittels eines
tinnen enthalten. Somit sind unterschiedliche Bewertun- Fragebogens, wie schwierig sich die Mundpflege für
gen zwischen den Therapeutinnen ersichtlich. Treten den jeweiligen Patienten gestaltete. Es wurde zum
Unterschiede von zwei und mehr Levels auf, sollten die einen danach gefragt, wie schwierig der Zugang zum
Gründe dafür separat aufgeführt werden. Mund des Patienten sei, zum anderen ob die Zahn-
Um herausfinden zu können, ob die Veränderungen außenflächen, Zahninnenflächen und die Beißflächen
im F.O.T.T. Assessment Profile mit einer Veränderung in geputzt werden konnten. Die Antwortmöglichkeiten
der Wachheit eines Patienten einhergehen, sollten die zur ersten Frage waren: »Unmöglich«, »Sehr schwie-
Durchschnittswerte jedes Monats mit dem monatlichen rig«, »Schwierig«, »Leicht«; bei der zweiten Frage: »Ja«,
GCS Score verglichen werden. Dieser Vergleich wird Nein«, »Manchmal«.
wiederum in einer Graphik dargestelt. Bei der Auswertung der Fragebogen fiel auf, dass
viele Pflegekräfte die erste Frage mit »Einfach« beant-
: Beachte wortet hatten, die zweite Frage hingegen zeigte, dass
Alle Graphiken sollten erst objektiv beschrieben und nur vereinzelte Pflegekräfte alle Zahnflächen putzen
anschließend interpretiert werden. konnten und auch dies nicht immer.

Daten, die in der Follow-up Phase erhoben werden, wer-


den zum entsprechenden Zeitpunkt der Datenanalyse
beigefügt.
Literatur
221 9

. Übersicht 9.6 fasst die wichtigsten Informationen zur Fisher AG (1992) Functional measures, part 2: selecting the right test,
Gestaltung eines Forschungsdesigns zusammen. minimizing the limitations. Am J Occ Therapy 3: 278–281
Fuchs Ziegler P (2000) The problems of assessing efficacy of Facial Oral
Tract Therapy. Unpublished coursework: professional develop-
ment. Assessing clinical effects. City University, London
Übersicht 9.6: Zusammenfassung Fuchs P (2001) The F.O.T.T. Assessment Profile: Validity and Reliability.
4 Therapieforschung findet nicht im Labor statt Unpublished Masters Thesis. City University, London
und ist deshalb eine ganz spezielle Heraus- Fuchs Ziegler P, O’Donoghue S (1998) Poster: FOTTOMT – Facial Oral
forderung an die Fachkräfte, die sich mehr Tract Therapy Outcome Measurement Tool. Pilot project, March
1998 – August 1998. 2nd Australasian Dysphagia Conference,
wissenschaftlich mit der Rehabilitation des
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fazio-oralen Trakts beschäftigen wollen. Fukkink R (1996) The internal validity of aphasiological single-subject
4 Selbst einfach geplante Fallstudien sind ein studies. Aphasiology 10: 741–754
wichtiger Beitrag im Prozess, die Effizienz und Gratz C, Woite D (2000) Die Therapie des Facio-Oralen Traktes bei neu-
Effektivität von F.O.T.T. darzustellen. Da sich die rologischen Patienten. Zwei Fallbeispiele. Schulz-Kirchner, Idstein
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Therapieforschung bezüglich F.O.T.T. noch in
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den Anfängen befindet, scheint eine zahlen- Med Rehabil 75: SC-10–SC-18
mäßig groß angelegte Studie mit Kontroll- Hamdy S, Rothwell JC (1998): Gut feelings about recovery after stroke:
gruppe wenig sinnvoll zu sein. the organization and reorganization of human swallowing cortex.
4 Therapeutinnen sollen ermutigt werden, Trends Neurosci 21: 278–82
Heck G et al. (2000) Early Functional Abilities (EFA) – Eine Skala zur Eval-
ihre Therapie in systematischer Weise nieder-
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Springer London
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Oxford Advanced Learner’s Dictionary (1995). Oxford University Press,
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Reed J, Procter S (1995) Practicioner Research in Health Care.The inside
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brain injury or other severe brain lesion. Springer, Berlin jectivity and values. J R Soc Med 92: 549–552
10

Pilotstudie zu F.O.T.T.
bei neurologischen Patienten
Rainer O. Seidl, Wibke Hollweg, Ricki Nusser-Müller-Busch

10.1 Methode – 224


10.1.1 Beobachtungszeiträume – 224
10.1.2 Therapie- und Untersuchungsablauf am Behandlungstag – 224
10.1.3 Untersuchungsverfahren – 225

10.2 Ergebnisse – 226


10.2.1 Verlauf über den Behandlungszeitraum – 226
10.2.2 Verlauf am Behandlungstag – 227

10.3 Diskussion – 228


10.3.2 Patienten – 229
10.3.3 Zielparameter – 230
10.3.4 Verlauf über den Behandlungszeitraum – 230
10.3.5 Verlauf am Behandlungstag – 231

Literatur – 231
224 Kapitel 10 · Pilotstudie zu F.O.T.T. bei neurologischen Patienten

Die englischsprachige Version dieses Artikels wird im Eingangsuntersuchung eine fiberoptisch endoskopische
August 2007 in der Zeitschrift Clinical Rehabilitation Schluckuntersuchung, die Registrierung des Allgemein-
(SAGE Publications 2007) publiziert. Sie ist erhältlich unter zustandes durch den Frühreha-Barthel-Index (FBI) und
hhtp://online.sagepub.com. die Komaremissionsskala (KRS) durch 2 unabhängige
Ziel der Pilotstudie war es, in einer prospektiven, rando- Neurologen. Die Untersuchungen wurden wöchentlich
misierten Untersuchung den Stellenwert der Therapie und nach Abschluss der Therapie wiederholt.
des Facio-Oralen Trakts im klinischen Alltag zu prüfen. Das
Therapieergebnis sollte während der Therapie anhand einer Verlauf am Behandlungstag
Vergleichsgruppe geprüft werden. Während der Therapie. Um den direkten Einfluss der
Therapiemaßnahmen auf den Patienten zu untersuchen,
erfolgte die Erhebung der Parameter Schluckfrequenz,
10.1 Methode Wachheit, Kanülenstatus, und Lagerung an den einzel-
nen Behandlungstagen vor, während und nach Ende der
Untersucht wurden 10 Patienten mit einer neurogenen Therapie.
Schluckstörung nach Hirnblutungen oder Schädelhirn-
traumen. Einschlusskriterien für die Studie waren: Nach Abschluss der Therapie. Um den posttherapeuti-
4 Frühreha-Barthel-Index (FBI) < –150, schen Verlauf der Patienten nach Ende der Therapie
4 Schluckfrequenz pro 5 Minuten kleiner als eins, zu überwachen, wurden die während der Therapie erho-
4 Tracheotomie und geblockte Trachealkanüle zur Ver- benen Parameter Schluckfrequenz, Wachheit, Kanülen-
hinderung einer Aspiration bei einer neurogenen status und Lagerung im Abstand von 30 Minuten für einen
Schluckstörung. Zeitraum von 120 Minuten erfasst.

10 Ausschlusskriterium für die Studie war ein hypoxischer


Hirnschaden. Da die Aufnahme in die Studie möglichst 10.1.2 Therapie- und Untersuchungsablauf
früh nach Krankheitsbeginn stattfinden sollte, befanden am Behandlungstag
sich am Ausgangspunkt der Therapie alle Patienten im
intensivmedizinischen Überwachungszustand.Die Thera- Vor Beginn jeder Manipulation am Patienten fand eine
pie begann nach vollständigem Absetzen der Sedierung erste Registrierung der Schluckfrequenz über fünf Minu-
und Beatmung. ten statt. Der Kanülenstatus, die Lagerung und die Wach-
heit der Patienten wurden dokumentiert.
Anschließend wurde der Patient im Rahmen der
10.1.1 Beobachtungszeiträume Therapie in eine möglichst physiologische Ausgangstel-
lung gebracht. Die Trachealkanüle wurde kontrolliert und
bei Bedarf fand eine Reinigung der Trachea durch Absau-
Beobachtungszeiträume gen statt. Das Trachealkanülenmanagement umfasste täg-
4 Verlauf über den gesamten Behandlungs- lich, je nach Patient und vorliegendem Kanülenstatus, das
zeitraum Entblocken der Kanüle,den danach folgenden intermittie-
4 Verlauf am Behandlungstag renden Verschluss der Kanüle, die entsprechende Versor-
– Während der Therapie gung mit einem Sprechventil bis zur Entfernung der Ka-
– Nach Abschluss der Therapie nüle und/oder Ersetzen der geblockten Kanüle durch eine
geschlossene Sprechkanüle.
Am Ende der Therapie wurden die Schluckfrequenz,
Es wurden drei Beobachtungszeiträume untersucht: der in der Therapie hergestellte Kanülenstatus, die Lage-
rung und die Wachheit des Patienten dokumentiert. An-
Verlauf über den Behandlungszeitraum schließend wurde die Trachealkanüle je nach Kanülen-
Um den Therapieverlauf der Patienten über den gesamten status wieder in ihren früheren Status zurückgeführt
Behandlungszeitraum (3 Wochen = 15 Behandlungstage) und der Patient in die Abschlusslagerung gebracht, in
zu evaluieren, erfolgte nach Aufnahme des Patienten als der erneut die Daten erhoben wurden. Die Parameter
10.1 · Methode
225 10

Schluckfrequenz,Wachheit, Lagerung und Trachealkanü- wurde auf diese Untersuchung verzichtet. Die Bewertung
lenstatus wurden für weitere 2 Stunden alle 30 Minuten erfolgte durch zwei von der Therapie unabhängige Unter-
kontrolliert (30, 60, 90, 120 Minuten nach Ende der Thera- sucher. Zur Dokumentation des Kanülenstatus durch den
pie).Die Therapie wurde für weitere Auswertungen mit ei- Therapeuten wurde eine Skala entwickelt, die der Abfolge
ner Kamera aufgezeichnet und erfolgte durch zwei Thera- des nach dem Konzept der F.O.T.T. durchgeführten Kanü-
peuten. lenmanagements entspricht
Die Lagerung der Patienten erfolgte nach dem Kon-
zept der F.O.T.T. und wurde mit einer eigenen Skala durch
10.1.3 Untersuchungsverfahren den Therapeuten registriert (. Tab. 10.1).
Die Dokumentation des Aspirationsgrades und des
Als nicht-invasives Untersuchungsverfahren zur Quantifi- Schluckerfolgs erfolgte durch die transnasale fiberoptisch
zierung des Schluckens während der Therapie wurde die endoskopische Untersuchung (Olympus Winter-Ibe,
Schluckfrequenz gewählt. Da keine sicheren technischen ENF-P4 ∆ 3,4 mm, rp-Szene, Rheder Medizintechnik,
Verfahren zur Registrierung der Schluckfrequenz vor- Hamburg). Die Dokumentation der endoskopischen
liegen, wurde die Frequenz visuell anhand der Kehlkopf- Untersuchung erfolgte mit einem eigenen Untersu-
hebung erfasst. Die Auszählung erfolgte durch zwei von chungsbogen für die endoskopische Untersuchung, der
der Therapie unabhängige Therapeutinnen. für die Studie evaluiert wurde (Seidl et al. 2002). Die
Zur Dokumentation der Wachheit wurde eine verän- endoskopische Untersuchung erfolgte zu Beginn und am
derte Form der Wachheitsskala der Komaremissions-Ska- Ende der Studie durch einen nicht an der Therapie betei-
la mit fünf Abstufungen genutzt. Da der wiederholte Ein- ligten Hals-Nasen-Ohrenarzt.
satz von Schmerzreizen tonuserhöhend wirken kann,

. Tabelle 10.1. Skalen für Lagerung, Kanülenstatus und Wachheit

Lagerung Kanülenstatus Wachheit

1 Seitenlage rechts 1 Geblockte Kanüle 1 Keine

2 Seitenlage links 2 Ungeblockte Kanüle 2 Augenöffnen spontan

3 Langsitz im Bett 3 Ungeblockte Kanüle 3 Hinwendung zum Reiz


mit Sprechaufsatz

4 Sitz an der Bettkante mit Unterstützung 4 Sprechkanüle 4 Verweilen am Reiz >5 Sekunden

5 Angelehnter Sitz auf Therapiebank 5 Sprechkanüle mit Verschluss 5 Aufmerksamkeit für 1 Minute oder länger

6 Sitz im Rollstuhl 6 Ohne Kanüle

7 Rückenlage

8 Angelehnter Langsitz

9 Sitz im Rollstuhl mit Unterstützung

10 Bauchlage

Zur Dokumentation des Kanülenstatus wurde eine Skala entwickelt, die der Abfolge des durchgeführten Kanülenmanagements entspricht. Der
Kanülenstatus wurde zu Beginn der Behandlung geändert und nach der Behandlung wieder in den ursprünglichen Zustand zurückgeführt oder
beibehalten. Zur Dokumentation der Wachheit wurde eine veränderte Form der Wachheitsskala der Komaremissions-Skala mit fünf ordinalskalier-
ten Abstufungen benutzt.Da der wiederholte Einsatz von Schmerzreizen bei wahrnehmungsgestörten betroffenen Patienten tonuserhöhend wirkt,
wurde auf die Untersuchung mit einem Schmerzreiz verzichtet
226 Kapitel 10 · Pilotstudie zu F.O.T.T. bei neurologischen Patienten

Die Dokumentation des Allgemeinstatus der Patienten


erfolgte durch den Frühreha-Barthel-Index (FBI, -325 -0)
und die Komaremissionsskala (KRS, 0-20). Die Bewer-
tung erfolgte durch zwei von der Therapie unabhängige
Neurologen.

10.2 Ergebnisse

Untersucht wurden 10 Patienten (6, 4) mit einem


Durchschnittsalter von 39,17 (±20,5) Jahren zum Zeit-
punkt der Erkrankung. Ursache der Erkrankungen waren
Hirnblutungen (5), Hirninfarkte (3) und Schädelhirn-
traumata (2). Die Tracheotomie erfolgte 10,22 (±4,41) . Abb. 10.1. Verlauf Schluckfrequenz vor Therapie
Tage, der Behandlungsbeginn 42,78 (12–177) Tage nach
dem Krankheitsbeginn. Bei allen Patienten konnte das
Tracheostoma nach Abschluss der Therapie verschlossen
werden, im Durchschnitt 32,22 (±14,96, 17-58) Tage nach
Behandlungsbeginn (. Tab. 10.2).

10
. Tabelle 10.2. Daten der Patienten der Therapiestudie

Patienten Werte

Geschlecht 6 , 4 

Alter 39,7 ± 20,5 Jahre . Abb. 10.2. Verlauf Wachheit vor Therapie

Zeitpunkt Tracheotomie nach Ereignis 10,22 ± 4,41 Tage


frequenz im Mittel auf mehr als 2 Schlucke pro 5 Minuten
Behandlungsbeginn nach Ereignis 42,78 (12–177) Tage
angestiegen. Die Steigerung der Schluckfrequenz über
Verschluss Tracheotomie 32,22 ± 14,96 Tage den gesamten Behandlungsverlauf war statistisch rele-
vant (Wilcoxon [p<0,05] p = 0,043) (. Abb. 10.1).
Die Wachheit, gemessen in einer 5-stufigen Skala
(. Tab. 10.1) vor Beginn der Therapie betrug am ersten
Tag 1,67 (±1,32) und am letzten Tag der Therapie 2,56
(±1,32). Die Steigerung der Wachheit über den gesamten
10.2.1 Verlauf über den Behandlungszeitraum Behandlungsverlauf war statistisch relevant (Wilcoxon
[p<0,05] p=0,067) (. Abb. 10.2).
Untersucht wurde über einen Zeitraum von 3 Wochen, Der Frühreha-Barthel-Index stellt eine Modifizierung
dies entsprach 15 Behandlungstagen. An den Wochen- des Barthel-Index dar, um ihn im Bereich der Rehabilita-
enden (Samstag und Sonntag) wurde die Therapie ausge- tion für schwer hirngeschädigte Patienten einsetzen zu
setzt. können. Eine statistisch relevante Änderung des Früh-
Die Schluckfrequenz vor Beginn der Therapie betrug reha-Barthel-Index konnte über den gesamten Zeitraum
am ersten Tag im Mittel 0,44 (±1,0) und am letzten Tag der Therapie beobachtet werden (Wilcoxon [p<0,05]
2,33 (±1,73). Ab dem 11. Therapietag war die Schluck- p=0,02) (. Tab. 10.3).
10.2 · Ergebnisse
227 10

. Tabelle 10.3. Verlauf Frühreha-Barthel-Index und Komaremissionsskala

Beginn 1.Woche 2.Woche Ende

FBI –175,00 ± 0,00 –175,00 ± 0,00 –154,17 ± 33,23 –124,44 ± 73,33

KRS 9,44 ± 6,64 11,17 ± 7,63 16,83 ± 7,36 18,89 ± 6,47

Dargestellt sind die Mittelwerte der Skalen vor Beginn der Therapie, nach Ende der 1. und 2. Woche sowie nach Abschluss der Therapie. Die
Änderung der Komaremissionsskala war statistisch signifikant (n = 10,Wilcoxon p < 0,05 farblich hervorgehoben)

. Tabelle 10.4. Verlauf endoskopische Schluckuntersuchung

Beginn Kontrolle Ende

Anatomie 5,29 ± 1,50 2,67 ± 2,31 2,86 ± 1,95

Schluckvermögen 33,57 ± 5,50 22,67 ± 6,11 8,57 ± 9,16

Schutz der Atemwege 11,86 ± 3,08 6,00 ± 2,00 2,57 ± 2,44

Dargestellt sind die Ergebnisse der endoskopischen Untersu-


chung mit dem BDI. Es zeigt sich eine statistisch relevante Ände-
rung der Untersuchungswerte (n = 10, Wilcoxon p < 0,05 farblich
hervorgehoben).
. Abb. 10.3. Verlauf Schluckfrequenz am Behandlungstag

Die Komaremissions-Skala erlaubt eine Einschätzung suchungen sollte die direkte Wirkung der Behandlung am
der Bewusstseinslage von Patienten mit protrahierter Ko- Patienten während der Therapie geprüft und evaluiert
maremission durch differenzierte Stimulationen und Ver- werden.
haltenbeobachtung. Während der Therapie kam es über
den Studienzeitraum zu einem statistisch signifikanten Schluckfrequenz
Anstieg der Komaremissionsskala (Wilcoxon (p<0,05) Während der Therapie. Die Schluckfrequenz wurde als
p=0,004) (. Tab. 10.3). Parameter für die direkte Folge der Schlucktherapie bei
Zur Prüfung des Schluckvermögens wurden endosko- dem Patienten gewählt. Ausgewertet wurde die Frequenz
pische Schluckuntersuchungen durchgeführt. Die über zwischen dem Beginn und dem Ende der Therapie. Es
dem Verlauf der Therapie registrierten Änderungen des kam während der Therapie zu einer Änderung der
Schluckvermögens und des Schutzes der unteren Atem- Schluckfrequenz, die statistisch nicht signifikant war
wege waren statistisch signifikant (. Tab. 10.4). (Wilcoxon [p<0,05] p=0,198) (. Abb. 10.3).

Nach Abschluss der Therapie. Zwischen dem Ende der


10.2.2 Verlauf am Behandlungstag Therapie und der Lagerung des Patienten kam es zu einem
signifikanten Abfall der Schluckfrequenz (Wilcoxon
Es wurden die Parameter Schluckfrequenz, Wachheit, [p<0,05] p=0,008).Die Schluckfrequenz stieg im weiteren
Trachealkanülenstatus, und Lagerung erfasst Eine Aus- Verlauf langsam wieder an und erreichte 90 Minuten
sage über die Wirkung der Therapie sollten die Schluck- nach der Umlagerung wieder die Ausgangswerte von vor
frequenz und die Wachheit geben. Durch diese Unter- Beginn der Therapie (. Abb. 10.3).
228 Kapitel 10 · Pilotstudie zu F.O.T.T. bei neurologischen Patienten

Gruppen mit bekannten Therapieverfahren oder im Ver-


gleich zu einem Spontanverlauf der Erkrankung geprüft.
Diesen Anforderungen entspricht in der Dysphagiethera-
pie bis zum heutigen Zeitpunkt nur eine Studie über den
Stellenwert einer chirurgischen Therapie bei Schluck-
störungen nach Operationen im Kopf-Hals-Bereich
(Jacobs et al.1999).Während zur Therapie von Schluckstö-
rungen nach Operationen im Kopf-Hals-Bereich bereits
Studien durchgeführt wurden (Logemann 2006), liegen
zur Therapie von neurologischen Schluckstörungen nur
wenige, unvollständige Untersuchungen vor (Bath et al.
2002).
. Abb. 10.4. Verlauf Wachheit am Behandlungstag Die Prüfung von komplexen neurophysiologischen
Therapiekonzepten im Rahmen von wissenschaftlichen
Studien bereitet Probleme. Zum einen handelt es sich bei
Wachheit den Therapieverfahren (F.O.T.T., Bobath) um Therapie-
Während der Therapie. Untersucht wurde die Ände- konzepte, die keine klare Handlungsanweisung an die
rung der Wachheit während der Therapie. Die Wachheit Therapeuten geben. Sie geben lediglich Prinzipien zur
stieg zwischen dem Beginn der Therapie und dem Ende Befunderhebung und Behandlung von Störungen vor.
der Therapie statistisch relevant an (Wilcoxon [p<0,05] Innerhalb dieses Rahmens werden individuelle Therapie-
p=06,35 * 10–8) (. Abb. 10.4). maßnahmen eingeleitet. Damit ist das therapeutische
Nach Abschluss der Therapie. Nach Abschluss der The- Prinzip in Teilen an die Entscheidung der Therapeuten
10 rapie und Umlagerung des Patienten kam es vorerst zu gebunden, was eine Reproduzierbarkeit der Therapie-
einer statistisch relevanten Minderung der Wachheit maßnahmen erschwert.
(Wilcoxon [p<0,05] p=6,48 * 10–7). Die Wachheit stieg Zum anderen ist die Bestimmung von einzelnen
jedoch in den nächsten 90 Minuten wieder auf das Aus- Therapiezielen im Rahmen einer Studie bei komplexen
gangsniveau von vor der Therapie an (. Abb. 10.4). Krankheitsursachen und Therapiestrategien diffizil.
Um zu prüfen, ob die Änderungen der Schluckfre- Komplexe Therapiestrategien lassen sich nur mit erheb-
quenz auf eine Änderung der Wachheit zurückzufüh- lichen Einschränkungen auf einzelne Therapieziele redu-
ren war, wurde die Korrelation zwischen den erhobe- zieren. In der hier vorgestellten Studie bereitet es Schwie-
nen Parametern Lagerung, Kanülenstatus, Wachheit und rigkeiten das Ergebnis der Dysphagietherapie von den
Schluckfrequenz an den einzelnen Messpunkten geprüft. weiteren Therapieeffekten, die mit den allgemeinen Ska-
Eine schwache Korrelation fand sich zwischen dem len gemessen wurden, zu differenzieren. Ursache für die
Trachealkanülenstatus und der Schluckfrequenz vor Be- Überschneidung in den gemessenen Therapieeffekten ist
ginn der Therapie (Spearmann-Rangkorrelationskoeffi- auch die Auswahl der Messparameter und Messverfahren.
zient [<=0,5, p<=0,05] 0,55) und 120 Minuten nach Ende Diese Auswahl musste den Grunderkrankungen der Pa-
der Therapie (Spearmann-Rangkorrelationskoeffizient tienten und den Anforderungen der Ethikkommission
[<=0,5, p<=0,05] 0,53). Eine statistisch relevante Korrela- angepasst werden, so dass keine anderen Verfahren für
tion zwischen der Wachheit und der Schluckfrequenz diese Studie zur Verfügung standen.
fand sich bei keinem der untersuchten Messpunkte. Durch die geschilderten Schwierigkeiten besteht die
Gefahr, dass die komplexen Therapieansätze in ein wis-
senschaftliches Abseits geraten, da diese Therapie den
10.3 Diskussion Anforderungen an eine Prüfung in einer evidenz-basier-
ten Medizin nicht standhält.Es wurden bereits verschiede-
Als Goldstandard bei der Überprüfung von therapeuti- ne Untersuchungen zu neurophysiologischen Therapie-
schen Verfahren gelten randomisierte, verblindete Ver- verfahren (z. B. Bobath-Therapie) vorgelegt, die aus den
gleichsstudien, die multizentrisch durchgeführt werden. beschriebenen Gründen sehr kontrovers diskutiert wur-
Dabei werden die Ergebnisse einer Therapie an gleichen den (Langhammer & Stanghelle 2003, Panturin 2001).
10.3 · Diskussion
229 10

Studiendesign In dieser Studie zeigte sich,dass es durch die Unterbre-


Die zuständige Ethikkommission lehnte bei der Planung chung der Therapie an zwei Tagen am Wochenende zu
der vorgestellten Studie den Antrag auf eine randomisier- keiner signifikanten Änderung der Parameter Wachheit
te, prospektive Studie mit einer Gruppe ohne Therapie und der Schluckfrequenz kam. Dies kann zum einen als
mit der Begründung ab, dass Patienten, die nicht einwilli- Indiz für die oben formulierte These angesehen werden
gungsfähig sind, nicht an einer Studie teilnehmen dürfen, und bedeutet für den klinischen Alltag, dass eine Unter-
in der sie nicht einen deutlichen Vorteil durch die Teilnah- brechung der Therapie am Wochenende ohne Folgen für
me an der Studie haben. Diese Aussage erstreckt sich den Patienten bleibt.Für eine endgültige Beurteilung fehlt
nicht nur auf eine Gruppe, die keine Therapie erhält, son- aber eine Kontrollgruppe, so dass eine fehlende Ände-
dern auch auf eine weitere Patientengruppe, die auf rung der Messparameter durch ein Aussetzen der Thera-
Grund von z. B. personellen oder finanziellen Engpässen pie am Wochenende auch bedeuten kann, dass mit und
in einer anderen Klinik keine Therapie erhält. Die Ein- ohne Therapie das Ergebnis unverändert bleibt.
schränkung der Ethikkommission macht die Überprü-
fung einer Therapie mit einer Kontrollgruppe bei Patien-
ten mit ausgeprägten neurologischen Erkrankungen 10.3.2 Patienten
nach evidenzbasierten Grundlagen unmöglich.
Der Vergleich mit einer bereits etablierten Therapie ist In den bisher vorliegenden Studien zu neurologischen
nicht möglich, da für Patienten mit diesem Schweregrad Schluckstörungen (Neumann 1993; Neumann 1995; Bar-
der neurologischen Erkrankung mit einer Schluckstö- tolome, Neumann 1993; Prosiegel 2002) wurden sehr un-
rung kein standardisiertes Therapieverfahren eingeführt einheitliche Patientenpopulationen untersucht. So wur-
ist. Die bekannten Therapieverfahren setzen eine kogniti- den akute und chronische Erkrankungen mit unter-
ve Mitarbeit und eine Kopf- und Rumpfkontrolle der schiedlichen Krankheitsursachen und Schweregraden ge-
Patienten voraus. Eine Änderung der zu untersuchenden mischt. In der vorgestellten Studie wurde erstmals eine
Patientenpopulation für die Studie ist nicht möglich, da Patientengruppe mit einem sehr schweren neurologi-
das zu untersuchende Therapieverfahren auf die geplante schen Krankheitsbild untersucht. Als Einschlusskrite-
Patientengruppe zugeschnitten ist. rium in die Studie wurde eine Skala (Frühreha-Barthel-
In der Literatur wurde ein ABA-Studiendesign für Index) gewählt, die in Deutschland in den Rehabilita-
eine Therapieüberprüfung bei Schluckstörungen vorge- tionskliniken für die Dokumentation des Behandlungs-
schlagen. Bei diesem Design wird eine Patientengruppe verlaufs vorgeschrieben wird. Um zu prüfen, ob das
eine Zeit behandelt (A) und in direkter Folge eine Zeit Therapiekonzept überhaupt eine Wirkung zeigt, wurden
lang nicht behandelt (B). Verglichen werden die Parame- für die erste Studie Patienten mit einem hypoxischen
ter am Ende der Perioden A und B. Dieses Studiendesign Hirnschaden aus der Studie ausgeschlossen, da bei diesen
setzt voraus,dass die Therapie (z. B.eine Übungstherapie) Patienten die Prognose für eine Rehabilitation deutlich
direkt für die Änderung eines Messparameters (z. B. das schlechter ist (Neumann et al. 1995).
Schlucken) verantwortlich ist. Dieses Design wurde be- Der Therapiebeginn nach dem Schadensereignis war
reits für die Überprüfung von Schluckmanövern in in dieser Studie nicht einheitlich. Komplikationen auf der
der Dysphagietherapie von Kopf-Halstumoren genutzt Intensivstation durch Begleiterkrankungen in Folge der
(Logemann 2006). Hirnerkrankungen verhinderten einen früheren Beginn
Das zu Grunde liegende Schädigungsmuster bei neu- der Therapie. In der Studie wurde als Startpunkt der The-
rogenen Schluckstörungen macht einen anderen Thera- rapie das Ende der intensivmedizinischen Interventionen
pieansatz notwendig. Rehabilitation bei neurogenen Er- und damit das Ende der therapeutischen Sofortmaßnah-
krankungen ist nicht nur mit einer Übungsbehandlung men im Rahmen der Grunderkrankung gewählt. Die
zu erreichen, sondern macht ein Therapiekonzept not- Sedierung der Patienten musste beendet sein, so dass eine
wendig, das zu zentralen Änderungen, führt. Eine Unter- medikamentöse Beeinflussung der Wahrnehmung und
brechung der Therapie würde in einem solchen Fall zu Motorik nicht mehr vorlag.
keiner schnellen Änderung der Messergebnisses führen,
sondern nur die Qualität des Endergebnisses ändern
(Muellbacher et al. 2001).
230 Kapitel 10 · Pilotstudie zu F.O.T.T. bei neurologischen Patienten

10.3.3 Zielparameter wurden alle Patienten über den Studienverlauf über eine
PEG ernährt. Der Parameter Ernährungsstatus ist wegen
Die Aspiration stellt ein häufiges Outcome-Kriterium der Schwere der Grunderkrankungen der Patienten nicht
bei Therapiestudien dar (Bartolome, Neumann 1993; aussagekräftig.
Freed 2001). Bartolome und Neumann (1993) konnten bei Eine Skala zur Erhebung des Allgemeinzustandes
65% von 28 untersuchten Patienten mit verzögerter Öff- der Patienten wurde in der Studie von Prosiegel (2002) er-
nung des krikopharyngealen Sphinkters nach Therapie hoben. Der Barthel-Index war in dieser Untersuchung
mit kausalen und kompensatorischen Therapieverfahren einer der aussagekräftigsten Outcome-Prädiktoren für
eine Abnahme der Aspiration beschreiben. Neumann die genannte Zielvariable „Schluckbeeinträchtigung“.
(1993) konnte bei 58 Patienten mit unterschiedlicher Neumann (1993) untersuchte u.a. einen möglichen Zu-
neurologischer Grunderkrankung keine Korrelationen sammenhang von kognitivem Status (Aufmerksamkeit,
zwischen dem Ausmaß der Aspiration und dem Ernäh- Gedächtnis, Problemlöseverhalten) und Behandlungs-
rungsstatus finden, wohingegen Prosiegel (2002) den erfolg und konnte keinen Zusammenhang finden. Barer
Aspirationsgrad als einen von vier aussagekräftigen Out- (1989) fand einen engen Zusammenhang zwischen Be-
come-Prädiktoren für den Ernährungsstatus angibt. wusstseinszustand und Schluckbeeinträchtigung bei
In den genannten Studien wurde keine differenzierten 105 Patienten mit Dysphagie nach Schlaganfall. Patienten
Angaben über die genaue Änderung des Schluckablaufs mit schweren Bewusstseinsstörungen, die über eine Son-
gemacht. Die Untersuchungsmethode zur Erfassung des de ernährt werden mussten, waren allerdings von der
Aspirationsgrads war in den Untersuchungen die Video- Studie ausgeschlossen. In dieser Studie besserte sich der
fluoroskopie. Dieses Untersuchungsverfahren stand hier Allgemeinzustand, gemessen mit dem Frühreha-Barthel-
nicht zu Verfügung, da es die aktive Teilnahme der Patien- Index und der Komaremissions-Skala, signifikant zwi-
ten erfordert. In dieser Studie konnten im Rahmen schen dem ersten und letzten Behandlungstag.
10 der endoskopischen Schluckuntersuchung an Hand eines
standardisierten Untersuchungsprotokolls statistisch
signifikante Änderungen beobachtet werden. 10.3.4 Verlauf über den Behandlungszeitraum
Der Kanülenstatus als Parameter zur Überprüfung
des Behandlungserfolgs bei neurogenen Dysphagien Über den gesamten Behandlungsverlauf kam es zu einer
wurde bisher selten beschrieben. Prosiegel (2002) führt signifikanten Steigerung der Wachheit der Patienten, was
als Outcome-Kriterium neben dem Ernährungsstatus sich in der Komaremissions-Skala und dem Frühreha-
auch die Dekanülierung auf. In einer Studie mit 208 Pa- Barthel-Index zeigte. Bereits 3 Tage nach Beginn der The-
tienten, von denen 55 zu Beginn der Studie auf eine Tra- rapie hatte sich die Wachheit deutlich gesteigert und blieb
chealkanüle angewiesen waren, konnte bei 24 Patienten über den Behandlungszeitraum auf einem hohen Niveau.
eine Dekanülierung erfolgen. In dieser Studie hat sich der Zusätzlich kam es über den gesamten Zeitraum zu einer
Kanülenstatus bei allen Patienten über den Studienver- nicht signifikanten Steigerung der Schluckfrequenz. Um
lauf verändert. Bei Anfangs geblockten Kanülen konnten auszuschließen, dass die Änderung der Wachheit Ursache
alle Patienten im Behandlungsverlauf auf eine Sprechka- für die Änderung der Schluckfrequenz ist, wurde die Kor-
nüle umgestellt werden. Bei allen Patienten konnte das relation zwischen den gemessen Parametern ermittelt.
Tracheostoma nach Ende der Studie, im Durchschnitt Dabei zeigte sich, dass die Änderung der Schluckfrequenz
32,22 Tagen nach Therapiebeginn verschlossen werden. unabhängig von der Wachheit war. Diese Aussage muss
In vielen Studien zur Dysphagietherapie wird der allerdings eingeschränkt werden, da die eigenen Untersu-
Ernährungsstatus als Erfolgsparameter für die Ände- chungen gezeigt haben, dass die Schluckfrequenz ein zu
rung einer Schluckstörung herangezogen (Neumann ungenaues Messinstrument ist und Änderungen nur sehr
et al. 1995). Als Kriterien werden Unterscheidungen wie grob erfasst. Es erscheint naheliegend, dass eine Ände-
„Ernährung über Sonde“ und „orale Ernährung“ herange- rung der Wachheit eine Änderung der Wahrnehmung
zogen. Prosiegel (2002) verwendet zur Beurteilung des und damit des Schluckens zur Folge haben kann. Hier
Ernährungsstatus vor und nach der Schlucktherapie eine sind weitere Untersuchungen mit differenzierteren
ordinale Variable „Schluckbeeinträchtigung“, die von den Untersuchungs- und Messmethoden notwendig, um die
Patienten angegeben wird. In der vorliegenden Studie Zusammenhänge weiter zu klären.
10.3 · Diskussion
231 10

10.3.5 Verlauf am Behandlungstag Areale (Hamdy et al. 1998a, Hamdy et al. 1998b, Fraser
et al. 2002).
Während der Therapie Ausgehend von diesen Untersuchungsergebnissen
An den einzelnen Behandlungstagen kam es während der wurde die Hypothese formuliert, dass es nach Ende einer
Therapie zu einer statistisch relevanten Steigerung der erfolgreichen Therapie zu einer Abnahme der Messpara-
Wachheit. Dabei korrelierte diese Änderungen nicht mit meter kommt.
einer Änderung der Schluckfrequenz, der Lagerung oder In der vorliegenden Untersuchung konnte die Hypo-
dem Trachealkanülenstatus. these nicht bestätigt werden. Es kam unmittelbar nach
Eine signifikante Änderung der Schluckfrequenz an dem Ende der Therapie zu einem signifikanten Abfall von
den einzelnen Behandlungstagen durch die Therapie Wachheit und Schluckfrequenz unter das Niveau der Aus-
konnte nicht gesehen werden. Über den gesamten Unter- gangswerte von vor Beginn der Therapie (. Abb. 10.3 und
suchungszeitraum kam es in den endoskopischen Unter- . Abb. 10.4). Die Schwere der Grunderkrankung legt
suchungen zu einer statistisch signifikanten Besserung nahe, dass die Patienten durch eine intensive körperliche
des Schluckvermögens und des Schutzes der Atemwege.Es Therapie maximal belastet wurden. Dies zeigte sich in der
kann anhand der Änderung der Schluckfrequenz vermu- sofortigen Erschöpfung nach Ende der Therapie. Diesem
tet werden, dass die Therapie Einfluss auf das Schlucken bisher nicht beschriebenen Ergebnis muss man in Zu-
hat. Diese Änderung erfolgt wahrscheinlich unterschwel- kunft vermehrt Aufmerksamkeit schenken. Geht man
liger und war nicht mit einer Änderung der Schluckfre- davon aus, das Neurorehabilitation ein Lernprozess ist,
quenz am Therapietag zu messen.Für die weitere Klärung so sind Lernpausen für den Rehabilitationserfolg von
der Prozesse die entscheidend für das Verständnis der entscheidender Bedeutung (Muellbacher et al. 2001).
Rehabilitationsprozesse ist, sind weitere Untersuchungen Wann diese Pausen erfolgen müssen und welche Dauer sie
mit anderen Messverfahren und Parametern notwendig. haben müssen, ist bisher nicht bekannt. Ruhepausen sind
Zusammenfassend fanden sich positive Änderungen demnach in die Planung von Therapien in Rehabilita-
der Messparameter durch die Therapie bei den Patienten. tionseinrichtungen in Zukunft einzubeziehen. Ob dies in
Diese Änderungen konnten über den gesamten Untersu- einer Zeit der knapper werdenden Ressourcen möglich
chungsverlauf signifikant nachgewiesen werden. Ob das sein wird, ist fraglich.
Ergebnis der Therapiebemühungen nach 3 Wochen aller-
dings über dem Ergebnis eines Spontanverlaufes liegt,
kann nicht ausgeschlossen werden. Geht man von der Literatur
Hypothese aus, dass ein neurologischer Rehabilitations-
Barer DH (1989) The natural history and functional consequences of
prozess eine kontinuierliche Lernleistung ist, kann aus
dysphagia after hemispheric stroke. J Neurol Neurosurg Psychiatry
den täglichen Änderungen während der Therapie ein 51: 236–241
positiver Einfluss der Therapie auf den gesamten Krank- Bartolome G, Neumann S (1993) Swallowing Therapy in Patients with
heitsverlauf vermutet werden. neurological disorders causing cricopharyngeal dysfunction.
Dysphagia 8: 146–149
Nach Abschluss der Therapie Bath PMW, Bath FJ, Smithard DG (2002) Interventions for dysphagia in
acute stroke (Cochrane Review). The Cochrane Libary, Issue 4:
Durch die Aufzeichnungen der Parameter nach Ende Update Software. Oxford
der Therapie in Intervallen von 30 Minuten für weitere Fraser C, Power M, Hamdy S, Rothwell J, Hobday D, Hollander I, Tyrell P,
120 Minuten sollte der posttherapeutische Verlauf der Hobson A, Williams S, Thompson D (2002) Driving Plasticity in
Messparameter bei den Patienten geprüft werden. Human Adult Motor Cortex is Associated with Improved Motor
Function after Brain Injury. Neuron 34: 831–840
Verschiedene Untersuchungen mit einer elektrischen
Freed ML,Freed L,Chatburn RL,Christian M (2001) Electrical Stimulation
Stimulation des Pharynx hatten bei gesunden Proban- for Swallowing Disorders Caused by Stroke. Respiratory Care 46:
den und Patienten mit einem Schlaganfall in der repetiti- 466–474
ven transkraniellen Magnetstimulation eine Ausdeh- Hamdy S,Aziz Q,Rothwell JC,Power M,Singh KD,Nicholson DA,Tallis RC,
nung des motorischen Schluckkortex gezeigt. Nach Ende Thompson DG (1998a) Recovery of Swallowing after stroke relates
to functional reorganisation in the intact motor cortex. Gastroen-
der elektrischen Stimulationen fand sich in den nächsten
terology 115: 1104–1112
90 Minuten eine Abnahme der Ausdehnung der durch
die elektrische Stimulation vergrößerten motorischen
232 Kapitel 10 · Pilotstudie zu F.O.T.T. bei neurologischen Patienten

Hamdy S,Rothwell JC,Aziz Q,Singh K,Thompson DG (1998b) Long-term Neumann S (1993) Swallowing Therapy with Neurologic Patients: Re-
reorganization of human motor cortex driven by short-term sen- sults of Direct and Indirect Therapy Methods in 66 Patients Suffer-
sory stimulation. Nature Neuroscience 1: 64–68 ing from Neurological Disorders. Dysphagia 8: 150–153
Jacobs JR, Logemann J, Pajak TF, Pauloski BR, Collins S, Casiano RR, Neumann S, Bartolome G, Buchholz D, Prosiegel M (1995) Swallowing
Schuller DE (1999) Failure of cricopharyngeal myotomy to improve Therapy of neurologic patients: Correlation of outcome with pre-
dysphagia following head and neck cancer surgery. Arch Otolaryn- treatment variables and therapeutic methods. Dysphagia 10: 1–5
gol Head Neck Surg 125: 942–946 Panturin E (2001) The Bobath concept. Clin Rehabil 15: 111–113
Langhammer B, Stanghelle JK (2003) Bobath or motor relearning pro- Prosiegel M, Heintze M,Wagner-Sonntag E, Hannig C,Wuttge-Hannig A,
gramme? A follow-up one and four years post stroke. Clin Rehabil Yassouridis A (2002) Schluckstörungen bei neurologischen Patien-
17: 731–734 ten. Nervenarzt 73: 364–370
Logemann JA (2006) Update on clinical trials in Dysphagia. Dysphagia Seidl RO, Nusser-Müller-Busch R, Ernst A (2002) Evaluation eines Unter-
21: 116–120 suchungsbogens zur endoskopischen Schluckuntersuchung.
Muellbacher W, Ziemann U, Boroojerdi B, Cohen L, Hallett M (2001) Role Sprache-Stimme-Gehör 26: 28–36
of the human motor cortex in rapid motor learning. Exp Brain Res
136: 431–438

10
11

Glossar
234 Kapitel 11 · Glossar

Abdomen Bauch.
Abduktion Seitwärtswegführen eines Körperteils von der Körper- bzw. von der Gliedmaßenlängs-
achse.
Abrasion Langsam fortschreitender Verlust von Zahnhartsubstanzen, d. h. von Zahnschmelz,
später auch am Dentin, an Kauflächen und Schneidkanten.
Absaugen Maschinelles Entfernen von Sekret aus der Trachea mittels Absaugkatheter.
Adduktion Heranführen eines Körperteils an die Körper- bzw. Gliedmaßenlängsachse.
Agonist Der Muskel,der die Schwerkrafteinwirkungen kontrolliert,d. h. 7 konzentrisch gegen die
Schwerkraft wirkt oder 7 exzentrisch die Schwerkrafteinwirkung bremst.Ein Agonist hat
wegen dieser Aufgabe stets ein höheres Tonusniveau als der 7 Antagonist (s. u., Paeth
Rohlfs 1999).
Aktivitätsebene In der 7 ICF wird mit Aktivitätsebene (Activity) die Durchführung einer Aufgabe oder
Tätigkeit (Aktion) durch eine Person bezeichnet.
Alignment Einstellung /Ausrichtung aller Körperabschnitte zueinander und in Beziehung zur
Unterstützungsfläche und zur Schwerkraft. A. bedeutet, dass alle Anteile eines Gelenks
(Knochen, Sehnen, Bänder, Muskeln, Kapseln) während jeden Moments einer Haltung
oder Bewegung in einer bestimmten,exakten Ausrichtung zueinander stehen müssen,um
einen geschmeidigen, effizienten Bewegungsablauf gewährleisten zu können.
Antagonist Der Muskel (es können auch mehrere sein), der sich in seiner Arbeit dem 7 Agonisten
(s. o.) reaktiv anpasst, d. h. mit seiner 7 exzentrischen Kontraktion dessen Verlängerung
begleitet. Der Antagonist hat stets ein niedrigeres Tonusniveau als der Agonist (Paeth
Rohlfs 1999).
Anterior Vorne, vorderer.
Anterograd Nach vorne kommend, nach vorne gerichtet.
11 Aphten Entzündliche Schleimhautveränderungen.
Approximalraum Zahnzwischenraum.
Aspiration Eindringen von Speichel, Nahrung, Flüssigkeit oder Fremdkörper in die unteren Atem-
wege (unterhalb der Stimmlippen). Meist begleitet von physiologischem Husten.
Assoziierte Reaktionen Unkontrollierte,pathologische und stereotype Bewegungen,die auf eine Störung norma-
ler Bewegungskontrolle hinweisen. Oft bei Anstrengung, am deutlichsten in den Extre-
mitäten zu erkennen.
Ataxie Störungen der Bewegungsabläufe u. der Haltungsinnervation mit Auftreten unzweck-
mäßiger Bewegungen infolge gestörter funktioneller Abstimmung der entsprechenden
Muskelgruppen.
Autochthone Muskulatur Rückenmuskeln,die aus den dorsalen Hälften der Myotome (embryonale Körpersegmen-
te) entstanden sind und sich in einer Rinne zwischen Dorn- und Querfortsätzen befin-
den.

B.A.T.S.A. Basler anterior trunc support approach: Basler Behandlungsansatz zur Unterstützung des
Rumpfes von vorne (im Rollstuhl).
Bewegungsmuster Koordiniertes Zusammenspiel von 7 Agonisten und 7 Antagonisten bezogen auf eine
Aktivität. Sie setzen sich aus einer Reihe von selektiver Bewegungen zusammen, die je
nach Person, Ziel und Zusammenhang der Bewegung variieren (Gjelsvik 2002).
Botulinumtoxin Zellgift, das zur vorübergehenden Hemmung von Muskelaktivitäten genutzt werden
kann.
Bruxismus Bezeichnet im Allgemeinen das nichtfunktionale Zähneknirschen und Aufeinander-
pressen der Zähne. Bruxistische Tätigkeiten können sowohl während des Tages als auch
nachts auftreten.
Glossar
235 11

Candida Sprosspilze mit zahlreichen fakultativ pathogenen Arten.

Dentin Zahnbein, knochenähnliche Zahnhartsubstanz.


Dekanülierung, Entfernung einer Trachealkanüle. .
Dekanülement
Dilatationstracheotomie Nicht chirurgische 7 Tracheotomie: nach einer Punktion wird mit stiftartigen Kathetern
aufsteigender Größe das 7 Tracheostoma erweitert.
Distal Körperfern, entfernt von der Körpermitte.
Dorsal Rückwärts, zum Rücken hin gelegen bzw. gerichtet bzw. erfolgend bzw. gehörend.
Dynamische Stabilität Stabilität eines Körperteils, die gehalten wird gegen die Schwerkraft oder gegen eine
erwartete oder unerwartete Aktion, und die gleichzeitig Aktivität/Bewegungen (eines
anderen Körperteils) zulässt.
Dysarthr(ophon)ie Zentral bedingte Störungen der Sprechmotorik. Die Bereiche: – (Sprech)Atmung, –
Stimmgebung, – Artikulation und – die Prosodie können isoliert oder in ihrem Zu-
sammenspiel gestört sein. Sehr oft liegen abnorme Haltungs- und Tonusbedingungen
zugrunde.
Dysphagie Schluckstörung.
Dysphagie Index, Messinstrument zur Klassifizierung des Schweregrades einer Dysphagie im Rahmen
Berliner (BDI) einer endoskopischen Untersuchung. Die erhobenen Befunde werden in einem standar-
disierten Untersuchungsbogen indexiert.
Dyspnoe Störung der Atmung hinsichtlich Frequenz, Tiefe, u./o. Volumen, verbunden mit ver-
mehrter Atemarbeit und mit Lufthungergefühl (»Atemnot«).

Early Functional Abilities Skala zur Beurteilung von Fähigkeiten schwer betroffener Patienten und zur Evaluierung
(EFA) von Behandlungsverläufen in der neurologischen Frührehabilitation (Heck et al. 2000).
Elizitiert Eine (durch einen Stimulus) ausgelöste, hervorgerufene Reaktion.
Emphysem Übermäßiges,ungewöhnliches Vorkommen von Luft (Gas) in Körpergeweben,-organen,
hier: nach Verletzungen, Perforationen oder Operationen.
Endoskopie Siehe Fiberoptische endoskopische Untersuchung.
Equilibriumreaktion 4 Kleinste automatisch ablaufende Spannungsveränderungen der Muskulatur, um
kleinste Gewichtsverlagerungen,welche zu geringem Ungleichgewicht führen,durch
eine Gegenkraft auszugleichen,
4 automatische Adaptionen des Haltungstonus als Reaktion auf Einwirkungen der
Schwerkraft und Gewichtsverlagerung.;
4 sind funktionell u. dienen dem Erhalt des 7 Alignments in einer Haltung,
4 können nicht willkürlich ausgeführt werden (Paeth Rohlfs 1999).
Erosion Materialabtragung durch chemisch-physikalische Vorgänge, z. B. Verlust von Zahnhart-
substanz durch Fruchtsäure.
Euton, Eutonus Physiologischer Normotonus.
Exspiration Ausatmung.
Extension Streckung, Bewegung einer Gliedmasse oder der Wirbelsäule aus der Beuge- in die
Streckstellung.
Exzentrische Kontraktion Koordinierte Aktivierung von Aktin-Myosin-Molekülen, die sich auseinanderschieben,
um einer einwirkenden Kraft (konzentrische Kontraktion des Antagonisten oder
Schwerkraft) kontrolliert nachzugeben. Durch sie kommt es zu einer Verlängerung des
Muskels, die trotz Spannungsentwicklung im Endeffekt zu einer Entspannung führt
(Paeth Rohlfs 1999).
236 Kapitel 11 · Glossar

Fazilitieren Geben eines Stimulus (Input), um eine Aktivität oder einen Prozess zu erleichtern (Paeth
Rohlfs 1999).
Fiberoptische endosko- Untersuchung mit einem flexiblen Endoskop (hier: transnasal zur Inspektion der Struk-
pische Untersuchung turen und Funktionen im Rachen).
Flexion Beugung, Bewegung einer Gliedmasse oder der Wirbelsäule aus der Streck- in die Beu-
gestellung.
Follow-up-Test Nachfolgetest zur Überprüfung eines Ergebnisses.
Frühreha-Barthel-Index Beurteilung des funktionellen Status von schwerbetroffenen Patienten mit neuromusku-
(FRB) lären und muskuloskelettalen Erkrankungen.
Führen, geführt »Führen nach Affolter«. Vermitteln von Information über (Alltags)Geschehnisse, z. B.
führen der Hände, Arme, des Körpers mittels taktiler Inputs, mittels gespürter Informa-
tion (Affolter 1996, 2001).
Functional Independence Psychometrisches Instrument zur Einschätzung der funktionalen Selbständigkeit bei
Measure (FIM) Patienten mit Funktionseinschränkungen.

Gingiva Zahnfleisch.
Gingivitis Zahnfleischentzündung.
Haltungshintergrund Die jeder Bewegung (Aktivität, Tätigkeit) zugrunde liegende Körperhaltung. Er wird
automatisch eingenommen und passt sich an die Anforderungen der jeweiligen Aktivität
an.Er ist abhängig von Faktoren wie 7 Tonus,Gleichgewicht, 7 Unterstützungsfläche und
gewährleistet ökonomische, effiziente Bewegung.
Hemianopsie Halbseitiger Ausfall des Gesichtsfeldes eines oder beider Augen infolge Schädigung der
Sehbahn vor, hinter oder im Chiasma opticum.
Hyperextension Überstreckung.
11 Hypersalivation Übermäßige Speichelabsonderung. Hypersalivation ist selten. Bei Dysphagien aber ein
oft verkanntes Phänomen: Zu viel Speichel im Schlucktrakt ist meist ein Hinweis auf eine
reduzierte Schluckfrequenz.
Hypertonus Überhöhte Haltungsspannung, oft mit vermehrt auftretenden Massenmuster und 7 as-
soziierten Reaktionen in der Auseinandersetzung mit der Schwerkraft. Der Widerstand
gegen eine passive Bewegung ist stärker bis sehr stark, der Bewegung wird nur mit Ver-
zögerung nachgegeben.
Hypotonus Schlaffe, reduzierte Haltungsspannung. Es ist zu wenig oder gar kein Widerstand gegen
eine Bewegung spürbar, die Extremität fühlt sich schlaff an.

ICF International Classification of Function, Disability and Health, neueste Fassung des
ICIDH-2. Sozialmedizinisches Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation
(WHO). Das Klassifikationskonzept umfasst 3 Dimensionen und Kontextfaktoren: 1. Kör-
perfunktion und Struktur, 2. Aktivität, 3. Partizipation, Kontextfaktoren (Umweltfakto-
ren und persönliche Faktoren).
Infrahyoidal Sich unterhalb des Os hyoideum befindend.
Inspiration Einatmung.
Interdentalraum Zahnzwischenraum, s. auch 7 Approximalraum.
Intrazerebral Innerhalb des Großhirns.

Karies Demineralisation der Zahnhartsubstanzen, die Symptome der Kariesbildung reichen


von Initialläsionen bis zur Bildung von Kavitäten (Höhlen).
Kaudal Schwanz- bzw. steißwärts.
Komaremissionsskala (KRS) Skala zur Dokumentation des Verlaufs eines Komazustandes (Schönle, Schwall 1995)
Glossar
237 11

Kompensation Ausgleichung einer verminderten Fähigkeit oder funktionellen Leistung durch eine ver-
stärkte, übertriebene oder alternative Aktivität.
Kontaminierter Speichel Mit Mikroorganismen verunreinigter Speichel.
Kontraktur Unwillkürliche Dauerverkürzung bestimmter Muskeln oder Muskelgruppen als rück-
bildungs- und nicht rückbildungsfähiges Geschehen mit dem Effekt einer anhaltenden
Gelenkzwangstellung mit Einschränkung bis zur Aufhebung der Beweglichkeit. Es gibt
auch Gelenkkontrakturen, bei denen ossäre (knöcherne) Strukturen die Bewegung ver-
hindern.
Konzentrische Kontraktion Koordinierte Aktivierung von Aktin-Myosin-Molekülen, die sich ineinanderschieben.
Es kommt zu einer Spannungsentwicklung mit Verkürzung des Muskels (Paeth Rohlfs
1999).
Kranial Kopfwärts.
Kyphose Nach dorsal (rückwärts) gerichtete Krümmung der Wirbelsäule. Im Bereich der BWS in
leichter Ausprägung natürlich.

Lateral Seitlich, von der Mitte(llinie) abgewandt.


Laryngoskopie Siehe Fiberoptische endoskopische Untersuchung.
Level Stufe.

Molare Backenzähne.
Multimorbid Gleichzeitig Erkrankt sein an mehreren Krankheiten.
Muster Sequenz selektiver Bewegungen in entsprechendem Alignment (Paeth Rohlfs 1999).

Nach hinten In der Physiotherapie spricht man hier vom – im Hüftgelenk – extendierten Becken.
gekipptes Becken Der Winkel vom Oberschenkel zum Becken ist im Sitzen auf einem normalen Stuhl
größer als 90°.
Nach vorne In der Physiotherapie spricht man hier vom – im Hüftgelenk – flektierten Becken.
gekipptes Becken Der Winkel vom Oberschenkel zum Becken ist auf einem normalen Stuhl kleiner als 90°.
Neglect Differenzierte sensorische Reize aus der kontralateralen Körperhälfte (somatosenso-
risch, visuell) werden nicht erkannt und motorisch nicht beantwortet.
Neural Einen Nerv bzw. das Nervensystem oder dessen Funktion betreffend.
Normale Bewegung Koordinierte und angepasste Antwort des ZNS, um ein Ziel zu erreichen. Grundlage für
normale Bewegung ist ein normaler Haltungs-Kontroll-Mechanismus. Dieser beinhaltet
normalen 7 Tonus,normale reziproke Innervation,normales Gleichgewicht und norma-
le Sensorik.

Okklusion Zahnreihenschluss, Stellung der unteren zur oberen Zahnreihe beim Schlussbiss.
Okklusale Interferenzen Überlagerungen, versetzter Zahnreihenschluss.

Parodont(ium) Zahnhalteapparat (Alveolarknochen, Zahnfleischsaum, Wurzelhaut).


Penetration Eindringen von Speichel, Nahrung, Flüssigkeit oder Fremdkörper in den Larynx bis
oberhalb der Stimmlippen.
Partizipationsebene Art und Ausmaß des Einbezogenseins einer Person in Lebensbereiche in Bezug auf Kör-
perfunktionen, Aktivitäten, gesundheitliche Situation und Kontextfaktoren (7 ICF). Die
Partizipation kann in Art, Dauer und Qualität eingeschränkt sein. Das Betrachtungsfeld
ist die soziale Ebene.
238 Kapitel 11 · Glossar

Pathologisches Abnormale Bewegungsmuster, die bei einem Patienten stereotyp, d. h. stets aus den-
Bewegungsmuster selben Komponenten zusammengesetzt sind, aber von Patient zu Patient variieren (nach
Paeth Rohlfs 1999).
Perkutane endoskopische Anlegen einer Magensonde durch die Bauchdecke in den Magen unter endoskopischer
Gastrostomie PEG Kontrolle.
Phasisches Beißen (Länger)anhaltendes, wiederkehrendes Öffnen und Schließen des Kiefers. Zeigt sich
durch dauerhafte, starke Tonuserhöhung bes. in den Mm. masseter. Häufig bei Patienten
mit deutlich herabgesetztem Bewusstsein (z. B. Wachkoma).
Physiologisch Normaler, natürlicher, gesunder Vorgang im Körper.
Physiologisches Sequenz selektiver Bewegungen in entsprechendem Alignment, die bei Menschen trotz
Bewegungsmuster individueller Variationen und Möglichkeiten prinzipiell ähnlich verlaufen.
Plaque Bakterielle Zahnbeläge mit einer polysaccharidreichen Grundsubstanz.
Pronation des Fusses Hochheben des äusseren Fussrandes und Absenken des inneren Fussrandes.
Prosodie, Sprechausdrucksmerkmale, z. B. Rhythmus, Akzent/Betonung, Intonation, Tonhöhe
Prosodische Elemente Tempo/Geschwindigkeit/Schnelligkeit.
Protrusion Vorschieben, hier: Vordrücken, Pressen der Zunge.
Proximal Körpernah, näher zur Körpermitte hin.
Punktionstracheotomie s. 7 Dilatationstracheotomie.

Randomisierte Studien Die teilnehmenden Personen einer Studie werden nach dem Zufallsprinzip der Ver-
suchs- oder Kontrollgruppe zugeordnet.
Reflux, gastroösophagealer Retrograde Bewegung von Mageninhalt in die Speiseröhre (und Rachen).
Retentionen Reste, Rückstände (hier: nicht abgeschluckte, im Rachenraum verbliebene Nahrung,
Speichel oder Sekret).
11 Retrahiert Zurückgezogen.
Retrograd Von hinten her bzw. entgegen der natürlichen Fluss- oder Eingriffsrichtung
Retrograde Larynxansicht Ansicht des Larynx, der Stimmbänder durch das 7 Tracheostoma.
Retrohyoidal Sich hinter dem Os hyoideum befindend.
Rhagade Hautschrunde, mikrotraumatischer Riss, Fissur in entzündlich veränderter Haut.

Salivation Speichelabsonderung.
Schilddrüsenisthmus Das die paarigen Seitenlappen verbindende schmale Gewebsmittelstück der Schilddrü-
se vor der Trachea.
Schlifffacetten Mechanischer Abrieb mit Substanzverlust,Reiben einzelner Zahnflächen gegeneinander,
z. B. durch Knirschen.
Schwerkraftlinie Ein gedachtes Lot durch die Längsachse des Körpers bei aufrechter Haltung.
Sensomotorisches System Zusammenspiel der Sensorik und Motorik. Dieses System verknüpft die aktiven Bewe-
gungsvorgänge des willkürlichen Systems mit den gesamten nervalen Vorgängen für
Aufnahme,Weiterleitung und Verarbeitung von Informationen über die Umwelt und den
eigenen Körper.
Stenose Angeborene oder erworbene dauerhafte Einengung eines Kanals.
Stille Aspiration Aspiration ohne Hustenreaktion (durch Schädigung oder Ausfall der »Schutz«-Rezepto-
ren).
Stillmann-Methode Zahnputzmethode in der professionellen Mundhygiene.
Stomatognathes System Gesamtheit der Funktionselemente: Zähne,Kieferknochen,Gelenke,Muskeln und Steue-
rung
Stomatitis, Stomatitiden Entzündung der Mundschleimhaut.
Stridor Pfeifendes Atemgeräusch bei Ein- u./o. Ausatmung.
Glossar
239 11

Subkortikale Automatismen Primitive Reflexsynergismen wie Saugen, Beißen, Rooting.


Suprahyoidal Sich oberhalb des Os hyoideum befindend.
Symptom Hinweiszeichen auf eine Krankheit.
Primäres S.: Durch die Grunderkrankung bedingt.
Sekundäres S.: Durch die aus der Krankheit entstandene Behinderung bedingt (z. B.
Kontrakturen durch veränderte Haltung oder erhöhten Tonus).

Tapping Fazilitationstechnik zur Tonisierung der quergestreiften Muskulatur.


Temporomandibulares Kiefergelenk.
Gelenk
Tonus Physiologischer Spannungs- und Erregungszustand eines Gewebes, hier: der Muskeln.
Trachea Luftröhre.
Trachealkanüle Kunststoff- oder Metallröhre für die Atemzuleitung über ein Tracheostoma.
Trachealstenose (Meist durch eine Trachealkanüle) erworbene dauerhafte Einengung der Trachea.
Tracheostoma Durch Tracheotomie herbeigeführte Öffnung der Luftröhre nach außen.
Tracheo(s)tomie Eröffnung der Luftröhrenvorderwand (Spaltung) im oberen Drittel zwecks Einführung
einer Kanüle.
Trade-Off Kompromiss, Abwägung.
Translatiert Verschoben.

Ulkus Geschwür, Substanzverlust der Haut oder der Schleimhaut.


Unterstützungsfläche Angebotene Fläche, auf der und über der Körpergewichte abgegeben werden können
(Paeth Rohlfs 1999).

Valleculae,Vallecularräume Paarige Grube zwischen Zungenbasis und Kehldeckel.


Venter Bauch.
Ventral Bauchwärts gelegen oder gerichtet bzw. die Vorderseite eines Körperteils betreffend.
Videofluoroskopie Videogestützte Röntgenuntersuchung des Schluckvorganges.

White-Out-Phänomen Bezeichnet den Zeitpunkt einer Endoskopie, wenn sich die Schleimhaut vollständig auf
das Endoskop legt (meist zeitgleich mit Epiglottiskippung, pharyngealem Schlucken).

Xerostomie Trockenheit der Mundschleimhaut.

Zungenprotrusion Vorschieben,Vordrücken,Vorpressen der Zunge.


12

Fort- und Weiterbildungs-


möglichkeiten
242 Kapitel 12 · Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten

E/F.O.T.T.: Einführungsseminar Voraussetzung:


4 Erfolgreiche Absolvierung eines F.O.T.T.-Grund-
Teilnehmer: Ärzte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, kurses (G/F.O.T.T.) und eine mindestens halbjährige
Sprachtherapeuten, Pflegende und Klinikmitarbeiter praktische Erfahrung im Umgang mit den Patienten.
Dauer: 2 Tage 4 Vor Kursbeginn: Einreichen eines Videos einer Pa-
Kursleitung: F.O.T.T. Instruktor/in tientenbehandlung.

Kursinhalte in Theorie und Praxis (Workshops):


G/F.O.T.T.: Grundkurs 4 »Problemlösen« im Alltag.
4 Fallbesprechungen und Reflexion der Patientenvideos.
Teilnehmer: Ärzte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, 4 Vertiefung von Inhalten.
Sprachtherapeuten, Pflegende (und nach Absprache: wei- 4 Supervidierte Patientenbehandlungen zu dritt.
tere Klinikmitarbeiter)
Dauer: 5 Tage
Kursleitung: 1–2 F.O.T.T.-Instruktor/innen A/F.O.T.T.: Themenspezifische Aufbaukurse:
Voraussetzungen:
4 Die Teilnehmer sollten mit dem Transfer der Patienten
vom Rollstuhl auf die Behandlungsbank vertraut sein. A/F.O.T.T. Trach-Kurs
4 Ein Bobath–Kurs ist erwünscht, aber nicht Vorausset-
zung. Teilnehmer: Ärzte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten,
Sprachtherapeuten, Pflegende
Kursinhalte in Theorie und Praxis (Workshops): Dauer: 4 Tage
4 Normale, physiologische Muster bei der Nahrungs- Kursleitung: 1–2 Senior Instruktorinnen
aufnahme, der Atmung, Stimmgebung, des Sprechens Voraussetzungen:
und nonverbale Kommunikation und ihr Zusammen- 4 Absolvierung eine G/F.O.T.T. und Einführungskurs in
wirken. das Bobathkonzept.
4 Typische Probleme von Patienten mit Hirnschädigun- 4 Praktische Arbeit mit Trachealkanülenpatienten.
12 gen. 4 Vor Kursbeginn: Einreichen eines Videos einer Pa-
4 Prinzipien der Befunderhebung und Therapie. tientenbehandlung (Trachealkanülen-Patient).
4 Therapeutisches Essen und therapeutische Mund-
pflege. Kursinhalte in Theorie und Praxis (Workshops):
4 Supervidierte Arbeit mit Patienten in Kleingruppen 4 Behandlung von Patienten mit Trachealkanülen nach
und Auswertung. dem F.O.T.T. Konzept im interdisziplinären Team.
4 Fazio-oraler Trakt und Trachealkanülenmanagement.
4 Umsetzen von theoretischen Prinzipien in die Be-
Speziell für Pflegende: G/F.O.T.T. Pflege handlung.
4 Supervidierte Patientenbehandlungen zu dritt.
4 Fallbesprechungen, Reflexion der Patientenvideos.
R/F.O.T.T.: Refresherkurs
Weitere A/F.O.T.T. Kurse in Planung u.a. Themenbereiche:
Teilnehmer: Ärzte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Gesicht, Nahrungsaufnahme (therapeutisch und
Sprachtherapeuten, Pflegende assistiert) F.O.T.T. und Kinder
Dauer: 3 Tage
Kursleitung: Kay Coombes i Praxistipp
Der Kurs findet in englischer Sprache mit Übersetzung Teilnahmeplätze für Einführungsseminare, Grund-,
statt. Aufbau- und Refresherkurse werden ausschließlich
von den veranstaltenden Kliniken vergeben. Die ak-
tuelle Kursliste ist unter www.formatt.org abzurufen.
Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten
243 12

FOrmaTT TOP – F.O.T.T. International

FOrmaTT ist eine von F.O.T.T.-Instruktor/innen ge- Organisation in England,die von Kay Coombes (MRCSLT,
gründete Gesellschaft mit Sitz in Deutschland. Sie bietet Speech and Language Therapist, Supervising F.O.T.T.-
Kliniken und Einrichtungen F.O.T.T. Grundkurse und Instruktorin, Bobath-Tutor) gegründet wurde. Sie bietet
Aufbaukurse an und vermittelt Referenten für Vorträge, folgende Dienstleistungen an:
Seminare und Supervision. Die kursleitenden Instrukto- Kursangebot für Kliniken: in begrenztem Umfang
rinnen sind von Kay Coombes ausgebildet und lizensiert. Grund- und Refresherkurse, Supervision an Kliniken.
FOrmaTT
Sekretariat Frau Christa Sticher Ausbildung zum/r F.O.T.T.-Instruktor/in gemeinsam mit
Strohgäuring 55 FOrmaTT
D-71254 Ditzingen
Fon 0049(0)7152-355 458 Kay Coombes, c/o ARCOS,Whitbourne Lodge, 137 Church
Fax 0049(0)7152-355 459 Street Malvern Worcs. WR14 2AN, G.B.
E-Mail: sekretariat@formatt.org E-Mail: arcos@globalnet.co.uk
Internet: www.formatt.org

Hilfsmittel
F.O.T.T. International S.I.G.
Untersuchungslampen mit Spatelhalter, Trinkbecher mit
(S.I.G. = special interest group) Aufsatz, Cheyne spoon und Pat Saunders Straw (Stroh-
Dieser Zusammenschluss besteht aus Personen, die sich halm) sind erhältlich bei:
mit dem Konzept auseinandersetzen,es weiter entwickeln FOrmaTT
und weiter verbreiten wollen.Die Gruppe ist multidiszipli- Abbildungen und Bestellformular: www.formatt.org
när und international zusammengesetzt. Voraussetzung
zur Mitgliedschaft ist die Absolvierung eines F.O.T.T.-
Grundkurses.
Pro Jahr gibt es zwei Treffen der Mitglieder an unter-
schiedlichen Orten, eines davon ist das AGM (annual ge-
neral meeting),die Jahresversammlung.Beim AGM gibt es
in der Regel ein »open meeting«, bei dem Gäste willkom-
men sind.
Auskünfte erteilt das Sekretariat der F.O.T.T. Internatio-
nal S.I.G.
E-Mail: fott_international_sig@web.de
Sachverzeichnis
246 Sachverzeichnis

24-Stunden-Konzept 21, 22, 178, 192 Behandlungsplan 92, 95 Dilatationstracheotomie 151, 176
Beißen 62 dynamische
– Hemmung von 107 – Bewegungskontrolle 6
A – phasisches 81, 88 – Haltungskontrolle 6
– starkes 88 – Stabilität 32, 127, 130
Absaugen 155 – tonisches 88 Dysarthrophonien 136
– regelmäßiges 160 – vermehrtes 109
– therapeutisches 181, 185 Beißkeil 109
Absaugkatheter 160 Beißreflex 89, 108, 109 E
Adaptation 9 Berliner Dysphagie-Index (BDI) 167,
Akutphase 13 219 EFA 164, 213, 214
Alignments 4 Bewegungen Einführungsseminar 242
Andickmittel 72 – assoziierte 6, 7 Einzelfalldesigns 211
Angehörige 143, 192 – automatische 5 Eis 19, 20
Angehörigenanleitung 114, 115 – automatisierte 5 Emphysem 153
Angehörigenarbeit 113 – fazilitierte 11 Entblocken 85
Arbeitshypothese 11, 12, 42, 43 – inhibierte 11 – therapeutisches 182, 185
Aspiration 49, 134 – normale 50, 62, 63 Entblockung 99
Aspirationsgefahr 108 – physiologische 51, 128 Ernährungssituation 24
Aspirationsrisiko 199 – selektive 131 Extension 35, 127, 131
assistierte Mahlzeit 48, 69, 70, 74 Bewegungsbahn Extensionsmuster 142
Atem-Schluck-Koordination 17, 54, – physiologische 67
68, 123, 128, 135, 174, 176 Bewegungskontrolle,
Atem-Schluckmuster 135 dynamische 6 F
– abnormes 130, 175 Bewegungsmuster 28, 50, 59
– unwillkürliches 174 – abnorme 6, 7 F.O.T.T.
Atem-Sprech-Koordination 175 – gestörte 7 – Assessment Profile 213, 219,
Atemführung – normale 4, 6 220
– taktile 136 – pathologische 84 – Aufbaukurs 191
Atemhilfsmuskulatur 122 Bisswunden 87 – Einzelfallstudie 218
Atempause 121 Bobath-Konzept 8 – Grundkurs 191
Atemstopp 123, 124 Bronchoskopie 197 – Mundhygiene 110
Atemtypen 121 Bruxismus 82, 83, 85 – Trach-Kurs 191
Atemvolumina 172 Fazilitation 8, 67
Atemwege Fazilitieren 51, 81
– Schutz der 58 C fazilitierend 63
Aufbaukurse 242 Fazilitierung 15
Ausgangsstellung 19, 28, 40 Cheyne spoon 243 Feedback 31, 44
– sitzende 142 Co-Therapien 192 Feedforward 31, 44
Cuff 153, 155 FIM 213, 214
Fingerlinge 105
B Flexion 29, 36, 42, 127, 131, 178
D Flexionsmuster 142
Balance 6 Flüssigkeitszufuhr 74
Basisputzmethode 101 Dekanülierung 185 Forschungsmethoden 208
Bauchlage 143 Deprivation Fortbildung 201
Befundung 90 – sensorische 14, 88 FRB 164
Behandlungsablauf 92 Diät 48
247 A–M
Sachverzeichnis

Frühreha-Barthel-Index (FBI) 224, Husten 59, 72, 167 kombinierte Ernährungsform 15


226, 230 – attacken 82 Kommunikation 120
Frührehabilitation 23 – reflektorisches 17, 173 – nonverbale 18
– willkürliches 17 Kompensation 8
Hyoid 32 Kontrakturen 36, 41
G Hyperextension 29, 35, 36, 41, 85 Konzept 10
Hypersensibilität 14, 86, 88, 106 Körperschlüsselpunkte 140
Glasgow Coma Scale (GCS) 219 Hypothesen 40, 46 Kostaufbau
Glycerin-Zitronenstäbchen 108 – Beginn 48
Granulationen 162 Kosten der Frührehabilitation 23
Grundkurs 242 I Kräutertee 100
Gruppendesigns 211 KRS 164
ICF 93 Kunststoffspatel 105
Inhibition 8 Kursangebote 25
H Innenkanüle 181
Input
Haftcreme 104 – strukturierter 88 L
Haltung – taktiler 17
– abnormale 175 Interdisziplinarität 185 Lagerung 140, 225
– korrigierte 52 – asymmetrische 142
Haltungshintergrund 19, 28, 39, 43, – symmetrische 142
56, 61, 63, 70, 81, 130 K Lagerungsmaterial 141
– flexibler 29 Lagewechsel 88
Haltungskontrolle, Kälte 65 Langzeitbeatmung 149, 166
dynamische 6 Kältereize 65
Handling Kanülen
– adäquates 22 – blockbare 153 M
Hands-on 14 – geblockte 224
– Ansatz 128 – nichtblockbare 155 Mahlzeiten
– taktile Atemführung 136 – sonstige 157 – assistierte 48, 69, 70, 74
Heiserkeit 38 – zubehör 157 Mechanismen
Hilfen Karies 84 – Feedback 31
– taktile 140 Kauen in Gaze 66 – Feedforward 31
– verbale 129 Kehlkopf 125, 170 Mimik 18
– visuelle 140 Kernfaktoren 57 Monitoring 143
Hilfsmittel 243 Kiefer motorisches Lernen 31
– Becheraufsatz 72 – retrahierter 11 Mundboden 37
– Besteck 73 Kieferbewegungen Mundgeruch 100
– Cheyne Spoon 72 – pumpende 92, 134 Mundhygiene 55, 61, 73, 78, 84, 89,
– für die Mundhygiene 105 Kieferkontrollgriff 10, 38, 81, 107, 92, 95, 97, 98, 110
– – Fingerlinge 105 184 Mundpflege
– – Kinderzahnbürste 105 Kieferschluss 37 – selbständige 60
– – Kunststoffspatel 105 – fehlender 134 Mundspatel
– – Untersuchungslampe 105 Kieferstabilisierung 11, 139 – gepolsterte 107
– – Zahnseide 105 Kieferstabilität 81 Mundstimulation 14, 61, 97
– kontraindizierte 108 Komaremissionsskala (KRS) 224, 226, – taktile 71
– therapeutische 107 230 Muskeltonus 127
– Trinkhalme 73 Kombinationskanülen 157 Muskelzugrichtung 32, 33
248 Sachverzeichnis

self stimulation 40, 129


N R Sensibilität 166
Sensibilitätsstörung 18
Nachschlucken 62, 135 Räuspern 17, 167, 173 sensorische Deprivation 14, 88
Nahrungsaufnahme 16, 47, 50 Reflux 100 Sicherheit 54
– sichere 57 Refresherkurs 242 Situationsverständnis 95
– – Kernfaktoren 57 Residuen 58 Sitz
– – Zusatzfaktoren 57 Rotationskomponenten 131 – am Tisch 43
Nahrungsgabe Rückenlage 142 – unterstützter 43
– therapeutische 56, 69 Sitzende Ausgangsstellung 142
naso-gastrale Sonde 58 Sonde 13
Niesen 173 S – naso-gastrale 58
Nonverbale Kommunikation 18 Spastizität 175
Salivation 81 Speichel 99
Saug- und Schmatzbewe- – transport 134
O gungen 81 Sprechaufsatz 183
Schädelhirntrauma (SHT) 87 Sprechkanüle 155, 167
oraler Kostaufbau 48 Schluckapnoe 54 – geschlossene 224
Ösophagussphinkter Schlucken Sprechventil 155, 224
– oberer (oÖS) 30, 38, 177 – elizitiertes 215, 216 Stabilität
– fazilitiertes 215, 216 – dynamische 127, 130
– sicheres 57 Stehen 142
P – spontanes 216 Stellenschlüssel 23
Schluckfrequenz 131, 163, 165, 224, Stenose 148, 151
Packs 67 225, 226, 227 Stimmklang
PEG-Sonde 74 – herabgesetzte 82 – feucht-gurgeliger 138
Penetration 49 Schluckhilfe 72 – heiserer 138
Pflegeheim 25 Schluckreaktion 5 – nasaler 138
Phase Schlucksequenz 16, 51, 52 Stomaplatzhalter 157
– orale 56 – sichere 48 Stridor
– pharyngeale 49, 52 Schlucksprechstunde 25 – expiratorischer 132
– prä-orale 46, 52, 56, 67, 197 Schutz der Atemwege 58 – inspiratorischer 132
Phonieren 136 Schutzfunktion 135 Strohhalm 243
Pilzinfektion 100 Schutzmechanismen 7, 17, 51, 57, – trinken 135
Pneumonie 55, 60, 85 166, 173, 177
Pneumonierisiko 55 – effektive 59, 69, 173
prä-orale Phase 16, 46, 197 – nicht effektive 174 T
primäre Probleme 79, 85 – physiologische 173
Problem – unvollständige 174 taktile
– primäres 79, 83 Schutzreaktion 6 – Hilfen 73, 98
– sekundäres 83 – körpereigene 17 – Mundstimulation 71
Problemanalyse 90 Schwerkraft 140 tapping 19
progredienten Erkrankungen 15 Schwerkraftlinie 29 Team 22
Punctum Seitenlage 43, 184 Technik 10
– mobile 32, 33 Sekrettransport 167 therapeutische
– stabile 32, 33 Sekundärkomplikationen 24, 62 – Hilfsmittel 107
Punktionstracheotomie 151, 161 Sekundärprobleme 41, 82, 83, 85, 89 – Nahrungsgabe 56, 69
Putzmethoden 104 Selbsterfahrungen 21 therapiefreien Zeiten 184
249 N–Z
Sachverzeichnis

Thermale Kältereize 19 Tracheostomaverschluss 167 Wechselwirkungen 36


Tonhaltedauer 139 Tracheotomie 13, 148 Würgen/Erbrechen 17
Tonus 62 – Arten 149 Würgreflex 17
Tonuserhöhung 62 – Indikationen 149
Tonusnormalisierung 80 – Komplikationen 153
Tonusregulation 98 – plastische 151 Z
Trachea 170 – temporäre 149
Trachealkanüle 13, 15, 53, 58, 59, 86, Trinkbecher 72, 243 Zahnbürste 109
133, 148, 155, 179, 181, 183, 193 Trinken 71 – elektrische 106
– Arten 153 Zähneknirschen 82, 83, 85
– befestigen 157 Zähneputzen 90
– Befestigung 158 U Zahnfleischentzündung 99
– einsetzen 157 Zahnprothesen
– entblockt 15 Unterstützungsfläche 80, 81, 137, – Pflege der 104
– Entblockung 99 141 Zahnreinigung
– Entfernung 159, 166 Untersuchungslampe 105, 243 – grundsätzliche Regeln 101
– geblockte 99, 133, 167, 177 Zahnseide 105, 106
– Pflege 157 Zunge 37, 53, 98
– selbstblockende 155 V – fixierte 139
– ungeblockte 133 – lähmungen 139
– Wechsel 157, 158 Vallecularbereich 68 – zurückgezogene 139
Trachealkanülen 133, 176 Vallecularraum 63, 68 Zungenbein 32
– Management 16, 20 Viskosität 65 Zungenbelag 100
Trachealknorpel Zungenbewegungen
– Verletzungen 162 – elizitierte 216
Trachealstenosen 20 W – fazilitierte 216
Tracheostoma Zusatzfaktoren 57
– abgeklebtes 185 Wachheit 225, 226 Zwerchfell 122
– punktiertes 53, 185 Wachkoma 25

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