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Bausteine der kindlichen Entwicklung

A. Jean Ayres

Bausteine der
kindlichen
Entwicklung
Sensorische Integration verstehen und anwenden
Das Original in moderner Neuauflage

5., überarbeitete und erweiterte Auflage

Überarbeitet und erweitert durch das Pediatric Therapy


Network

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Elisabeth Soechting

Mit 106 Abbildungen

1  C
Dr. A. Jean Ayres † Mag. Elisabeth Soechting
Torrance, California, SPIELSTUDIO Kindertherapie
USA Oberzellergasse 1/19
1030 Wien
Österreich
email: eso@spielstudio.at

Titel der amerikanischen Originalausgabe


A. Jean Ayres: Sensory Integration and the Child:
Understanding Hidden Sensory Challenges 25th Anniversary Edition
Western Psychological Services 2005

ISBN-13 978-3-642-30176-6              ISBN 978-3-642-30177-3 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;


detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Planung: Marga Botsch, Heidelberg


Projektmanagement: Ulrike Dächert, Heidelberg
Lektorat: Maria Schreier, Laumersheim
Projektkoordination: Barbara Karg, Heidelberg
Zeichnerin: Christine Goerigk, Ludwigshafen
Photos: Shay McAtee
Umschlaggestaltung: deblik Berlin
Fotonachweis Umschlag: © Brian A Jackson, www.istockphoto.com
Herstellung: Crest Premedia Solutions (P) Ltd., Pune, India

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

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V

Widmung
Diese Jubiläumsausgabe ist Dr. A. Jean Ayres gewidmet. Sie war eine Visionärin:
Ihr Lebenswerk hat weltweit tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben vieler
Familien, und es ist eine Quelle der Inspiration für Generationen von Therapeutin-
nen, die sich bemühen, sensorische Integrationsstörungen zu verstehen und den
Betroffenen zu helfen.
VII

Vorwort zur Jubiläumsausgabe

Seit über drei Jahrzehnten hege ich den höchsten Respekt für Dr. Ayres und ihr Lebens-
werk. Ich erinnere mich noch deutlich an meine erste Begegnung mit ihr im Jahr 1973,
als ich gerade Direktorin der Ergotherapieabteilung und -schule am Krankenhaus Penn-
hurst geworden war. In dieser staatlichen Einrichtung in Pennsylvania waren mehr als
1.000 Kinder und Erwachsene mit Entwicklungsbehinderungen untergebracht. Gegen die
Einrichtung war eine Klage wegen »Rechts auf Bildung« erhoben worden. Folgen des Ge-
richtsurteils waren der Ausbau und die Einrichtung einer professionell geführten Ergothe-
rapieabteilung und meine Anstellung, um die Lebensqualität der Bewohner von Pennhurst
zu verbessern.

Nach wenigen Wochen in meiner neuen Position erlebte ich die spannendste Behandlung
in meiner Karriere. Diese Behandlung, die von einem Team äußerst kompetenter Ergothe-
rapeutinnen durchgeführt wurde, führte mich in die Sensorische Integrationstherapie ein.
Ich sah mit eigenen Augen, wie Bewohner, die ein massiv selbstschädigendes und aggres-
sives Verhalten zeigten, nach einer Therapiesitzung ruhiger waren und sich sinnvoller mit
ihrer Umgebung beschäftigten. Ich sah, wie Erwachsene mit schwerwiegenden Entwick-
lungsbehinderungen, die Therapie jahrelang unzugänglich gewesen waren und sozial völlig
isoliert waren, sich in den Therapiesitzungen sensorische Angebote aussuchten. Im Verlauf
der nächsten drei Jahre beobachtete ich, dass die Bewohner nachhaltige Fortschritte in ihrer
Entwicklung machten, die offenbar mit diesem innovativen ergotherapeutischen Behand-
lungsansatz zusammenhingen.

Ich wusste aber auch, dass es nicht reichte, diese positiven Ergebnisse mit eigenen Augen
mitzuerleben. Als Direktorin der Ergotherapieabteilung in Pennhurst war ich entschlossen,
die Wirksamkeit dieser Therapie wissenschaftlich zu überprüfen. Finanzielle Einschränkun-
gen und die Tatsache, dass es keine Mitarbeiterin in der Abteilung gab, die ein Doktorat
(PhD) – und damit die nötigen Forschungskompetenzen hatte, – behinderten unser Vorha-
ben. Es war klar, dass wir auf die Beratung einer Expertin angewiesen waren, um ein gutes
Studiendesign zu entwickeln. Das Team stellte eine Liste möglicher Berater zusammen, auf-
gereiht nach Expertise, Verfügbarkeit und zu erwartenden Kosten. Natürlich stand Dr. Ay-
res als diejenige, die die Therapie begründet und bereits zu deren Wirksamkeit bei Kindern
mit Lernbehinderungen publiziert hatte, an erster Stelle. Allerdings nahmen wir an, dass sie
sowohl finanziell als auch terminlich außerhalb unserer Reichweite lag. Zu unserer Über-
raschung stellte sich jedoch heraus, dass sie von all den Kandidaten, die ich anrief, diejenige
war, die am begeistertsten von unserem Projekt war, und die auch bezüglich ihrer zeitlichen
Ressourcen und ihres Honorars am entgegenkommendsten war. Mein erster Eindruck von
Dr. Ayres war, dass es ihr größtes Anliegen war, die Wissenschaft zu unterstützen und eine
effektivere Therapie zu entwickeln, um die Lebensqualität von Menschen mit Behinderun-
gen und deren Familien zu verbessern.

Dr. Ayres‘ Ankunft in Pennhurst glich dem Empfang der Königinmutter an einem abgele-
genen Ort des British Commonwealth. Obwohl sie nur wenige Tage mit uns arbeitete, war
ich fasziniert von der Genauigkeit ihres klinischen Blicks, ihrer beeindruckenden Fähigkeit,
selbst den schwierigsten Bewohnern zu helfen, neue Herausforderungen zu meistern; ihrem
neurobiologischen Fachwissen und ihrem Wissen über wissenschaftliche Forschung.
VIII Vorwort zur Jubiläumsausgabe

Als Beraterin schenkte sie uns in den Teambesprechungen großzügig ihre Zeit, und sie be-
handelte auch viele Klienten. Sie verwickelte sie in sinnvolle Beschäftigungen, überprüfte
ihre sensorische Verarbeitung und formulierte Behandlungsansätze, die für unser For-
schungsprojekt von Interesse waren. Dr. Ayres war eine Ergotherapeutin, wie ich noch keine
andere gesehen hatte – sie war eine Expertin in der praktischen Arbeit, eine fesselnde Leh-
rerin und eine peinlich genaue Wissenschaftlerin, die einzig und allein von humanitären
Motiven angetrieben wurde.

. Jean Ayres, Ergotherapeutin, Neuropsychologin, Urheberin der Theorie der Sensorischen Integration

In den nächsten 16  Jahren, in denen sich unsere Zusammenarbeit intensivierte, wurden
meine ersten Eindrücke oftmals bestätigt. Da ich in der Nähe Ayres‘ arbeiten wollte, nahm
ich im Jahr 1976 die Stelle als Dozentin an der Abteilung für Ergotherapie (Occupational
Therapy) an der University of Southern California (USC) in Los Angeles an. Ich war ver-
antwortlich, Sensorische Integration zu unterrichten und zu erforschen. Dr. Ayres, die mit-
gewirkt hatte, dass ich diese Stelle bekam, eröffnete gerade ihre private Praxis in Torrance
(Großraum Los Angeles), die AyresClinic; sie arbeitete aber auch als außerordentliche Pro-
fessorin an der USC. Eine meiner ersten Aufgaben war, in enger Zusammenarbeit mit ihr
einen neuen Kurs zu entwickeln, der graduierten Ergotherapeutinnen mit Berufserfahrung
eine intensive Ausbildung in Theorie und Praxis der Sensorischen Integration vermitteln
sollte. Dieser Kurs, der 1977 zum ersten Mal angeboten wurde und bis heute unter dem Na-
men »OT610« läuft, bestand aus 20 Wochenstunden praktischer Übung in der AyresClinic
unter Supervision von Dr. Ayres und 6 Wochenstunden Seminar. Ich war eine der vier er-
fahrenen Therapeutinnen, die sich in den ersten Ausbildungsgang einschrieben. Ohne dass
ich es wusste, war meine Erfahrung als Studentin im OT610 T der Schlüssel für meine ganze
Karriere, in der ich seither Wissenschaft und Praxis kombiniere.

Es war keine leichte Aufgabe, Schülerin von Dr.  Ayres zu sein. Es bedeutete, täglich Sta-
pel von wissenschaftlichen Veröffentlichungen durchzuarbeiten, die sie in der Fachbiblio-
thek ihrer Praxis sammelte; ihren detailliert ausgearbeiteten Vorträgen zuzuhören, die sie
handschriftlich auf einem gelben Notizblock vorbereitet hatte; zu beobachten, wie sie mit
unerschütterlicher Einfühlsamkeit und Besorgnis mit den Eltern kommunizierte und mit
unglaublicher Fachkenntnis mit den Kindern arbeitete – aber auch umgekehrt – wenn
wir Befund aufnahmen, mit Adleraugen beobachtet zu werden und zu unseren schrift-
lichen Befund- und Verlaufsberichten ausführliche Rückmeldungen zu erhalten. Ich erin-
nere mich, wie sie erzählte, dass sie wegen eines Kindes eine schlaflose Nacht gehabt und
sich auf neurowissenschaftlicher Grundlage eine optimale Lösung ausgedacht hatte. Meine
IX
Vorwort zur Jubiläumsausgabe

Kolleginnen konnten beobachten, wie sie Therapiegeräte reparierte, entwickelte und gestal-
tete, die individuell auf die sensorischen Bedürfnisse bestimmter Kinder abgestimmt waren.
Und sie verschwendete nicht eine Sekunde, wenn sie unsere wissenschaftlichen und prakti-
schen Fähigkeiten förderte. Sie integrierte immer Forschungsergebnisse in ihre Lehre, und
die therapeutische Praxis immer von ihrem nächsten Forschungsprojekt beeinflusst. Kurz
gesagt: Dr. Ayres ging mit ungeheurem Scharfsinn, Engagement, wissenschaftlicher Kompe-
tenz und Menschlichkeit an ihre Aufgabe als Mentorin und Lehrerin heran.

Warren Bennis, der international anerkannte Experte für Führungskräfte hat darüber ge-
schrieben, dass es zu wenige Menschen gibt, die Originalbeiträge zur amerikanischen
Gesellschaft liefern. Er beschreibt diese Personen als Männer und Frauen, »die mit einer
einzigartigen Stimme sprechen« und zugleich eine unkonventionelle Perspektive mit Au-
thentizität zu bieten haben (Vorwort zu »The Contrarians‘ Guide to Leadership« von
S.  Sample (Jossey Bass 2002, San Francisco). Es ist ein Zeichen von Dr.  Ayres‘ Genie und
ihrer bedingungslosen Überzeugung, dass ihre Theorie und ihr Behandlungsansatz bei Au-
tismus, Entwicklungs- und Lernbehinderungen nicht nur die Ergotherapie revolutionierten,
sondern auch das Verständnis und die Behandlungsansätze anderer Berufsgruppen beein-
flusst haben. Heute gehen die meisten Ansätze bei Verhaltens- und emotionalen Problemen
bei Kindern davon aus, dass
55 die Sinnesverarbeitung auf subkortikalem Niveau eine Schlüsselrolle für die kindliche
Entwicklung spielt,
55 sensorisch-integrative und vestibulär-zerebelläre Mechanismen einen Einfluss auf das
Lernen haben, und
55 ein fachkundig ausgewähltes Angebot an Sinnesreizen und Herausforderungen in der
physikalischen und räumlichen Umwelt ein kraftvolles Mittel darstellen, um die Alltags-
bewältigung von Kindern und Erwachsenen mit sensorischen Integrationsstörungen zu
verbessern.

Ich erinnere mich lebhaft daran, wie Dr. Ayres das Manuskript für die 1. Auflage dieses Bu-
ches fertig gestellt hatte [Anm. d. Übersetzerin: »Sensory Integration and the Child« 1979].
Alle, die mit der AyresClinic in Verbindung standen, lasen es augenblicklich. Wir wussten,
dass dieses neue Buch an Eltern und Fachleute ohne Kenntnisse in Sensorischer Integration
gerichtet war, und wir waren skeptisch, ob diese komplexe Theorie und Therapie für Laien
verständlich beschrieben werden konnte. Nachdem wir das Buch gelesen hatten, waren wir
von Dr. Ayres‘ Brillanz noch stärker beeindruckt als zuvor. Ohne Frage hatte sie das Unvor-
stellbare geschafft. Es war ein Meisterwerk, wie sie die wichtigsten Vorstellungen der Theo-
rie der Sensorischen Integration und des Behandlungsansatzes in eine gewöhnliche und
verständliche Sprache übersetzt hatte. Das Buch beschrieb klar die Natur von sensorischen
Integrationsstörungen, auf welche Art diese subtilen Probleme den Alltag der betroffenen
Kinder und ihrer Eltern erschwerten, und was getan werden konnte, um ihnen zu helfen.
Und mit diesem Buch erreichte sie auch Erwachsene, die ihr Leben lang mit sensorisch-
integrativen Störungen gekämpft hatten, und die nun besser verstehen konnten, wie es zu
all ihren Schwierigkeiten gekommen war, und wie sie in Zukunft besser damit umgehen
konnten.

Dr. Ayres‘ hat unbestreitbar einen immensen Beitrag geleistet, um die sensorische Grundla-
ge von bestimmten Verhaltens- und emotionalen Problemen bei Kindern zu verstehen; und
ihre professionelle Integrität, mit der sie nach wissenschaftlicher Wahrheit strebte, ist unta-
X Vorwort zur Jubiläumsausgabe

delig und vorbildhaft. Es ist wirklich eine Ehre, das Vorwort für die Jubiläumsausgabe ihres
Buches zu schreiben. Diese Neubearbeitung ist ein Buch für Ergotherapeutinnen und ande-
re Fachkräfte, aber auch für Eltern von Kindern mit sensorisch-integrativen Störungen und
betroffene Erwachsene. Es ist ein Werk von großer Bedeutung, das eine Fülle von Reichtü-
mern zu bieten hat.

Prof. Dr. Florence A. Clark, Professorin und Vorsitzende der Division of Occupational Sci-
ence and Occupational Therapy und Ass. Dekanin der School of Dentistry an der University
of Southern California, Los Angeles; Präsidentin der American Occupational Therapist As-
sociation (AOTA)

April 2004
XI

Vorwort zur Neubearbeitung

Dr. A. Jean Ayres begann in den 1950er Jahren die Theorie der Sensorischen Integration zu
entwickeln und leitete daraus Verfahren zur Befundung und Behandlung ab. Mit der Ver-
öffentlichung ihres Buches »Sensory Integration and the Child« (Deutsch: »Bausteine der
kindlichen Entwicklung«) Ende der 1970er Jahre erlangte ihre Arbeit weltweite Bekanntheit.
Obwohl Dr. Ayres eine passionierte Wissenschaftlerin und Lehrerin war, war sie in erster
Linie Ergotherapeutin; sie arbeitete unermüdlich, um den Kindern und Familien zu helfen,
die in ihre Praxis kamen. Immer wieder hörte sie frustrierten Eltern zu, weil sie das Verhal-
ten ihres Kindes nicht verstehen konnten. Diese Eltern waren erleichtert, als die Probleme
ihres Kindes einen Namen bekamen und erklärbar wurden; und sie schöpften Hoffnung,
wenn ihnen ein Therapieplan vorgeschlagen wurde. Dr. Ayres schrieb dieses Buch, um auch
anderen Familien, die nicht in ihre Praxis kommen konnten, diese Erleichterung und Hoff-
nung zuteil werden zu lassen. Ihr Buch richtete sich ebenso an Ärztinnen, Therapeutinnen
und Lehrerinnen, weil Eltern sich oft zuerst an diese Fachkräfte wenden, wenn bei ihrem
Kind Entwicklungs- oder Lernschwierigkeiten auftreten.

Seit der Erstauflage wurden Tausende von Buchexemplaren verkauft, und das Buch ist in
sechs Sprachen übersetzt worden. Die Expertinnen, die die Sensorische Integration durch
Forschung und Lehre weiterentwickeln, und die Therapeutinnen, die Sensorische Integ-
ration praktisch anwenden, schätzen dieses Buch, weil es die Grundprinzipien des SI-An-
satzes verständlich vermittelt. Eltern berichten begeistert, dass dieses Buch das Leben ihres
Kindes verändert hat.

Obwohl das Buch im Laufe der Jahre nichts von seiner Bedeutsamkeit eingebüßt hat, wa-
ren doch manche Eltern von der reinen Textform in der Originalausgabe überfordert. Um
Dr.  Ayres‘ Konzept einem möglichst breiten Personenkreis zugänglich zu machen, haben
wir – eine Gruppe von Therapeutinnen aus dem engsten Kreis um Dr. Ayres – diese Neu-
auflage zusammengestellt. Wir haben die wesentlichen Inhalte unverändert übernommen
und einige fachlich anspruchsvollere Abschnitte in einen Anhang gefasst. Zusätzlich haben
wir Checklisten, Fallgeschichten, Tipps für Eltern, wichtige Aussagen und Abbildungen hin-
zugefügt und das Buch in ein modernes, leicht lesbares Layout gebracht.

Wir hoffen, dass diese aktualisierte Jubiläumsausgabe dazu beträgt, dass sich ein weiter Per-
sonenkreis mit Dr. Ayres‘ brillianten Erkenntnissen und praktischen Lösungen vertraut ma-
chen kann.

Dr. Zoe Mailloux und Gina Geppert Coleman

Danksagung
Die amerikanische Jubiläumsausgabe konnte nur durch das Engagement der Mitglieder des
Pediatric Therapy Networks zustande kommen. Das amerikanische Verlagshaus Western
Psychological Services dankt deshalb insbesondere den folgenden Mitgliedern:

Sefanie Bodison, M.A., OTR/L


Lori Butler Brunn, M.N.S., CCC-SLP
XII Vorwort zur Neubearbeitung

Gina Geppert Coleman, M.A., OTR/L


Kerstin Isselhard, OTR/L
Zoe Mailloux, M.A., OTR/L, FAOTA
Shay McAtee, M.A., OTR/L
Terri Nishimura, M.A., OTR/L
L. Diane Parham, Ph.D., OTR/L, FAOTA
Selga Ruzzano, OTR/L
Susanne Smith Roley, M.S., OTR/L, FOATA
Danke auch an Brian Erwin und Christine Hunsicker
XIII

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Als Dr. A. Jean Ayres »Sensory Integration and the Child« schrieb, hatte sie ein einfaches
Buch vor Augen, das Eltern helfen sollte, ihre Kinder besser zu verstehen. Sie hatte im-
mer betont, dass das Buch sich auch an Pädagogen und Therapeuten richten solle, weil sie
wusste, dass die klaren Beschreibungen ihrer täglichen Arbeit mit Kindern und Familien
hilfreich sein würden. Ich bezweifle, dass sie sich vorstellen konnte, dass ihr Werk in viele
Sprachen übersetzt und auf der ganzen Welt gelesen werden würde, so wie das bei der Erst-
ausgabe der Fall war. Ich glaube, es hätte sie sogar noch glücklicher gemacht, zu sehen, dass
ihr Buch der Zeit standgehalten hat und auch heute noch so bedeutsam ist, dass diese Neu-
auflage herausgegeben wird. Als wir uns entschieden hatten, in diesem Buch den aktuellen
Forschungsstand und heutige Sichtweise darzustellen, sahen wir, dass die Kernthemen der
SI keiner Überarbeitung bedurften. Vielmehr haben wir zusätzliche Erklärungen, Tipps für
Eltern und Übersichten in das Buch eingefügt, um es für den Leser nachvollziehbar und
greifbar werden zu lassen. Die Übersetzung in die deutsche Sprache ist ein weiteres Zeugnis
für die Bedeutsamkeit von Dr. Ayres‘ Werk und dessen Einfluss auf Kinder, Familien und
Professionelle auf der ganzen Welt.

Dr. Zoe Mailloux, ehem. Forschungsassistentin von Dr.  Ayres 1978–1989, Mitautorin des
SIPT

Dezember 2012
XV

Vorwort der Übersetzerin

Obwohl ich Dr. Ayres nie persönlich kennengelernt habe, ist sie mein größtes berufliches
Vorbild – sie hat mein Berufsverständnis und meine berufliche Entwicklung geprägt wie
kaum ein anderer. Mit ihrem komplexen, wissenschaftlich fundierten, ursachenorientierten
und zutiefst humanistischen Konzept hat sie meine intellektuellen Bedürfnisse voll erfüllt.
Sensorische Integration ist so umfassend wie kein anderes Konzept in der Ergotherapie – ich
möchte sogar sagen: in den Sozialwissenschaften. Auf einzigartige Weise synthetisierte Dr.
Ayres die Erkenntnisse aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen mit der ergotherapeuti-
schen Praxis, und sie spannte den Bogen von der Theorie zur Praxis – von einer standardi-
sierten Befundung über ein komplexes und wissenschaftlich fundiertes klinisches Reasoning
bis zu einem evidenzbasierten und höchst individualisierten Behandlungsansatz. Dr. Ayres‘
Sensorische Integration hat mein Leben so weit beeinflusst, dass ich die letzten zwei Jahre
in Kalifornien gelebt und an der Wiege der SI gearbeitet habe. Die wissenschaftliche Kom-
petenz und Integrität von Dr. Ayres und ihren Nachfolgerinnen kann Ergotherapeutinnen
weltweit als Modell dienen.

Mit meinen Übersetzungen der Fachbücher zur Sensorischen Integration möchte ich die
beste und fundierteste Literatur zur Sensorischen Integration in den deutschsprachigen
Raum bringen. An dieser Stelle möchte ich Dr. Inge Flehmig für ihre Initiative und Voraus-
sicht danken, die sie Anfang der 1980er Jahre bewies, als sie Ayres‘ Erstausgabe ins Deutsche
übersetzte. Ich wünsche mir, dass diese Neuauflage, so wie die vorherige Auflage, als Stan-
dardwerk zur kindlichen Entwicklung einen Stammplatz in jedem Kindergarten, jeder Arzt-
praxis, jeder Therapieabteilung und in der Ausbildung all derjenigen findet, die mit Kindern
zu tun haben.

Mag.  Elisabeth Söchting, Präsidentin der Gesellschaft für Sensorische Integration in


Österreich (GSIÖ  e.V.), Inhaberin des SI-SeminarInstituts und der SPIELSTUDIO-
Kindertherapie

Dezember 2012
XVII

Inhaltsverzeichnis

I Sensorische Integration und das Gehirn

1 Was ist sensorische Integration? ���������������������������������������������������������������������������������������������������    3


1.1 B
 emerkungen zur Sprache in diesem Buch ������������������������������������������������������������������������������������    5
1.2 Sensorische Integration ist … �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������    6
1.2.1 Verkehrsregeln�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������    7
1.2.2 Nahrung für das Gehirn���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������    7
1.2.3 Von Einzelteilen zum Ganzen ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������    8
1.2.4 Vom Sinnesreiz zum Sinn�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������    8
1.2.5 Sensorische Integration im Lebenslauf ���������������������������������������������������������������������������������������������������    9
1.2.6 Anpassende Reaktionen�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������    9
1.2.7 Sensorische Verarbeitung�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   10
1.2.8 Spaß haben�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   10
1.3 Schlechte sensorische Integration ist �������������������������������������������������������������������������������������������������   11
1.3.1 Diagnostik und Befundaufnahme �������������������������������������������������������������������������������������������������������������   11
1.3.2 Frühsymptome�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   12
1.3.3 Schulschwierigkeiten�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   13
1.4 Warum dieses Buch geschrieben wurde ���������������������������������������������������������������������������������������������   16

2 Die Entwicklung der sensorischen Integration��������������������������������������������������������������������   17


2.1 Grundprinzipien der kindlichen Entwicklung�����������������������������������������������������������������������������������   18
2.1.1 Organisation durch anpassende Reaktionen�����������������������������������������������������������������������������������������   19
2.1.2 Der innere Antrieb �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   20
2.1.3 Entwicklungsbausteine���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   21
2.2 Die Entwicklungsstufen��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   21
2.2.1 Der 1. Lebensmonat���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   21
2.2.2 2. und 3. Lebensmonat ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   25
2.2.3 4. bis 6. Lebensmonat �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   27
2.2.4 6. bis 8. Lebensmonat �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   29
2.2.5 9. bis 12. Lebensmonat ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   30
2.2.6 Das 2. Lebensjahr �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   31
2.2.7 3. bis 7. Lebensjahr�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   34

3 Das Nervensystem von innen�����������������������������������������������������������������������������������������������������������   37


3.1 Wie unser Gehirn arbeitet�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  38
3.1.1 Ein kurzer Überblick���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   38
3.1.2 Bestandteile des Nervensystems���������������������������������������������������������������������������������������������������������������   39
3.2 Wie das Gehirn Informationen verarbeitet��������������������������������������������������������������������������������������   45
3.2.1 Die Nervenbahnen�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   45
3.2.2 Die Synapse�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   46
3.2.3 Bahnung und Hemmung �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   48
3.2.4 Entwicklung der Nervenverbindungen ���������������������������������������������������������������������������������������������������   48
3.3 Die Bedeutung von Sinnesreizen�����������������������������������������������������������������������������������������������������������  50
3.3.1 Mehr als fünf Sinne�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   50
3.3.2 Der Gleichgewichtssinn (vestibulärer Sinn) �������������������������������������������������������������������������������������������   54
XVIII Inhaltsverzeichnis

3.3.3 Sensibilität der inneren Organe (viszeraler Sinn)���������������������������������������������������������������������������������   56


3.4 Sinnesinformationen und das »ganze« Gehirn��������������������������������������������������������������������������������  56
3.5 Wie das Gehirn lernt, Sinnesinformationen zu integrieren��������������������������������������������������������  57
3.5.1 Wie ältere Kinder und Erwachsene lernen����������������������������������������������������������������������������������������������   57
3.5.2 Das Lernen lernen������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   58
3.5.3 Lernen in der Therapie����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   58

II Störungen der sensorischen Integration

4 Was sind sensorische Integrationsstörungen?��������������������������������������������������������������������   63


4.1 Symptome, Ursachen und Ebenen�������������������������������������������������������������������������������������������������������   64
4.2 Wo liegen die Ursachen der Störung?�������������������������������������������������������������������������������������������������   68
4.2.1 Zeichen und Symptome von sensorischen Integrationsstörungen������������������������������������������������   70
4.3 Der integrative Prozess������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   74
4.3.1 Das 1. Integrationsstadium�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   77
4.3.2 Das 2. Integrationsstadium�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   79
4.3.3 Das 3. Integrationsstadium�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   81
4.3.4 Das 4. Integrationsstadium�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   83

5 Störungen des Gleichgewichtssystems������������������������������������������������������������������������������������   87


5.1 Die Organisation des Gleichgewichtssystems���������������������������������������������������������������������������������  89
5.1.1 Modulation������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   90
5.1.2 Einfluss auf die Augen- und Nackenmuskulatur ����������������������������������������������������������������������������������   90
5.1.3 Einflüsse auf die Muskeln und den Körper ��������������������������������������������������������������������������������������������   93
5.1.4 Halte- und Gleichgewichtsreaktionen ����������������������������������������������������������������������������������������������������   94
5.1.5 Zusammenarbeit des vestibulären Systems mit der Formatio reticularis ������������������������������������   95
5.1.6 Interaktionen mit anderen Sinnessystemen������������������������������������������������������������������������������������������   97
5.1.7 Raumwahrnehmung ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   98
5.1.8 Einflüsse auf die emotionale Entwicklung und das Verhalten����������������������������������������������������������   99
5.1.9 Einflüsse auf die Verdauungsorgane�������������������������������������������������������������������������������������������������������  100
5.1.10 Einflüsse auf die Schulleistungen�������������������������������������������������������������������������������������������������������������  101
5.2 Das unterempfindliche Gleichgewichtssystem �����������������������������������������������������������������������������  102
5.2.1 Was ist eine vestibuär bedingte bilaterale Integrationsstörung?���������������������������������������������������  104
5.2.2 Vestibulär bedingte Sprachstörungen���������������������������������������������������������������������������������������������������  107
5.3 Überreaktionen auf Gleichgewichtsreize �����������������������������������������������������������������������������������������  110
5.3.1 Schwerkraftunsicherheit�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  111
5.3.2 Bewegungsunverträglichkeit��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  117

6 Entwicklungsdyspraxie ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  121


6.1 Bewegungsarten und Bewegungsstörungen ���������������������������������������������������������������������������������  122
6.1.1 Exakte Bewegungssteuerung �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  123
6.1.2 Haltereaktionen���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  124
6.1.3 Zentral programmierte Bewegungen�����������������������������������������������������������������������������������������������������  124
6.1.4 Motorische Fertigkeiten �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  125
6.1.5 Bewegungsplanung�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  126
6.2 Körperschema und Bewegungsplanung�������������������������������������������������������������������������������������������  128
6.2.1 Das Gedächtnis der Nervenzellen �����������������������������������������������������������������������������������������������������������  129
XIX
Inhaltsverzeichnis

6.2.2 Wie der Berührungssinn zu Körperschema und Bewegungsplanung beiträgt�������������������������  130


6.2.3 Wie der Kraft- und Stellungssinn (Propriozeption) zu Körperschema und
Bewegungsplanung beiträgt���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  133
6.2.4 Wie der Gleichgewichtssinn zu Körperschema und Bewegungsplanung beiträgt�������������������  136
6.2.5 Internes Feedback�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  136
6.2.6 Tun ohne zu denken�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  137
6.3 Was ist eine Entwicklungsdyspraxie?�������������������������������������������������������������������������������������������������  138
6.3.1 Kennzeichen der Entwicklungsdyspraxie ���������������������������������������������������������������������������������������������  139
6.3.2 Auswirkungen von Dyspraxie auf Schulleistungen ���������������������������������������������������������������������������  140
6.4 Wie fühlt sich ein Kind mit Dyspraxie?���������������������������������������������������������������������������������������������������  141

7 Taktile Abwehr�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  145


7.1 Die Symptome ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  146
7.2 Wie das Kind Berührungen erlebt �������������������������������������������������������������������������������������������������������  149
7.3 Was geht im Nervensystem vor?�����������������������������������������������������������������������������������������������������������  150
7.4 Was ist falsch gelaufen? ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  154

8 Störungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung�����������������������������������������������  157


8.1 Störungen der visuellen Wahrnehmung�������������������������������������������������������������������������������������������  159
8.1.1 Raum- und Formwahrnehmung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������  159
8.1.2 Willkürliche Bewegungen���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  160
8.1.3 Anpassung durch Evolution�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  161
8.1.4 Zwei Arten von visueller Wahrnehmung�����������������������������������������������������������������������������������������������  163
8.2 Störungen der zentralen Hörverarbeitung und der Sprache ���������������������������������������������������  167
8.2.1 Ebenen der Hörverarbeitung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  169

9 Kinder mit Autismus�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  173


9.1 Sensorische Verarbeitungsstörungen bei Autismus���������������������������������������������������������������������  175
9.1.1 »Registrieren« von Sinnesinformationen�����������������������������������������������������������������������������������������������  176
9.1.2 Modulieren von Sinnesinformationen ���������������������������������������������������������������������������������������������������  179
9.1.3 Integrieren von Sinnesinformationen�����������������������������������������������������������������������������������������������������  180
9.2 Der Wunsch, etwas zu tun�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  181
9.2.1 Die »Ich-will-es-tun«-Funktion������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  181
9.2.2 Die Entwicklung der Bewegungsplanung���������������������������������������������������������������������������������������������  184

III Was getan werden kann

10 Befundung und Behandlung����������������������������������������������������������������������������������������������������������  189


10.1 K
 ompetent werden durch Auseinandersetzung mit der Umwelt�������������������������������������������  191
10.2 Therapie nach dem sensorisch-integrativen Ansatz���������������������������������������������������������������������  193
10.2.1 Die wichtigsten Prinzipien der Therapie �����������������������������������������������������������������������������������������������  194
10.2.2 Die Befunderhabung�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  195
10.2.3 Fachkundige Auswahl von Sinneserfahrungen�����������������������������������������������������������������������������������  196
10.2.4 Therapeutische Aktivitäten �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  198
10.2.5 Die therapeutische Atmosphäre���������������������������������������������������������������������������������������������������������������  200
10.3 Vergleich: SI-Ansatz versus andere Therapieansätze�������������������������������������������������������������������  202
10.4 Warum hilft die Sensorische Integrationstherapie? �������������������������������������������������������������������  205
XX Inhaltsverzeichnis

11 Was Eltern tun können �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  209


11.1 Das Problem erkennen �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  210
11.2 Helfen Sie Ihrem Kind, sich in seiner Haut wohl zu fühlen���������������������������������������������������������  213
11.2.1 Ein körperliches Problem ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  213
11.2.2 Emotionale Krisen vorhersehen���������������������������������������������������������������������������������������������������������������  214
11.2.3 Besser als Bestrafung�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  215
11.2.4 Erziehungsmaßnahmen �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  215
11.2.5 Erwartungen���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  216
11.2.6 Das Gute hervorheben��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  217
11.3 Die Umgebung verändern�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  217
11.3.1 Struktur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  218
11.3.2 Die taktile Umgebung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  218
11.3.3 Vestibuläre und propriozeptive Erfahrungen���������������������������������������������������������������������������������������  219
11.3.4 Geräusche und Gerüche�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  220
11.3.5 Die Warnzeichen�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  221
11.4 Helfen Sie Ihrem Kind zu spielen ���������������������������������������������������������������������������������������������������������  221
11.5 Suchen Sie professionelle Hilfe�������������������������������������������������������������������������������������������������������������  227

Anhang A�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  233



Anhang B �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  257

Anhang C �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  271

Anhang D�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  279

Stichwortverzeichnis���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  303
1 I

Sensorische Integration
und das Gehirn
Kapitel 1      Was ist sensorische Integration? – 3
Kapitel 2      Die Entwicklung der sensorischen Integration – 17
Kapitel 3      Das Nervensystem von innen – 37­
2 Sensorische Integration und das Gehirn

. Abb. 1   Brandon vor der Therapie

»Je besser Sie die sensorisch- Brandons Geschichte


integrativen Funktionen Ihres Brandon wirkte oft frustriert, wütend und traurig (. Abb. 1). Er galt all-
Kindes verstehen, desto eher gemein als kluger Kopf, trotzdem kämpfte er seit dem Kindergarten.
Wenn seine Kameraden Fußball oder Basketball spielten, wollte er gerne
werden Sie … ihm zu einem
mitmachen. Doch er stellte sich so ungeschickt an, dass er schnell zum
glücklicheren, erfolgreicheren »Loser« abgestempelt war. Brandons Mutter erkannte früh, dass Brandon
Leben verhelfen können.« »irgendwie anders« war als seine beiden älteren Geschwister. Sie fragte
die Kinderärztin, ob ihr etwas auffiele, doch diese stellte fest, dass Brandon
ein gesundes Kind war, das sich innerhalb der Altersnorm entwickelte.
Nach Meinung mancher Familienmitglieder mangelte es Brandon ledig-
lich an ausreichender Disziplin, aber Brandons Mutter fühlte intuitiv, dass
viele seiner Schwierigkeiten außerhalb seiner Kontrolle lagen. Brandon
lief gegen Möbel, ruinierte Spielsachen und patzte beim Essen, aber er
schien diese Dinge nicht mit Absicht zu tun, sondern war verlegen, wenn
sie passierten. Eines Tages erzählte Brandons Mutter einer Nachbarin über
ihre Sorgen und ihre Verzweiflung, dass sie nicht wusste, was sie tun solle.
Diese empfahl ihr das Buch »Bausteine der kindlichen Entwicklung«; ihre
Schwester hatte es gelesen, und es war ihrer Familie eine große Hilfe, ähn-
liche Probleme bei ihrem Kind zu verstehen.
3 1

Was ist sensorische


Integration?
Eine Einführung in das Konzept

1.1 Bemerkungen zur Sprache in diesem Buch – 5


1.2 Sensorische Integration ist … – 6
1.2.1 Verkehrsregeln – 7
1.2.2 Nahrung für das Gehirn – 7
1.2.3 Von Einzelteilen zum Ganzen – 8
1.2.4 Vom Sinnesreiz zum Sinn – 8
1.2.5 Sensorische Integration im Lebenslauf – 9
1.2.6 Anpassende Reaktionen – 9
1.2.7 Sensorische Verarbeitung – 10
1.2.8 Spaß haben – 10

1.3 Schlechte sensorische Integration ist … – 11


1.3.1 Diagnostik und Befundaufnahme – 11
1.3.2 Frühsymptome – 12
1.3.3 Schulschwierigkeiten – 13

1.4 Warum dieses Buch geschrieben wurde – 16

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
4 Kapitel 1 • Was ist sensorische Integration?

»Sie werden in diesem Buch eine Manche Störungen wie z.B. Masern, Knochenbrüche oder Fehlsich-
1 neue Sichtweise von Lernen und tigkeit sind offensichtlich, andere jedoch wie Lernschwierigkeiten
Verhalten kennenlernen.« oder Verhaltensauffälligkeiten sind nicht so deutlich sichtbar. Diese
Schwierigkeiten können bei manchen Kindern durch eine schlechte
Verarbeitung von Sinnesinformationen im Gehirn verursacht sein.
Obwohl Störungen der sensorischen Integration nicht direkt zu se-
hen sind, kommen sie doch bei Kindern auf der ganzen Welt vor. Sie
können bewirken, dass selbst hochintelligente Kinder Schwierigkei-
ten haben, in der Schule zu lernen, und dass Kinder mit wunderbaren
Eltern und einer förderlichen Erziehung Verhaltensauffälligkeiten
zeigen.
Da sensorisch-integrative Probleme nicht offensichtlich sind, und
trotzdem so viele Schwierigkeiten verursachen, wollen wir sie hier er-
klären. Nur wenige Menschen befassen sich mit dem Gehirn, und nur
wenige setzen sich mit Begriffen wie »sensorisch« und »Integration«
auseinander. Sensorische Integration läuft bei den meisten von uns
automatisch ab, so dass wir sie für selbstverständlich halten, genauso
wie wir unseren Herzschlag und unsere Verdauung als gegeben an-
sehen. Störungen der sensorisch-integrativen Funktion werden von
Menschen ohne spezielle Ausbildung oft übersehen, sofern sie keine
schwerwiegenden Probleme verursachen. Man könnte annehmen,
dass Ärzte aufgrund ihrer Ausbildung Fachkenntnisse über senso-
rische Integrationsstörungen mitbringen. Allerdings richten Kinder-
ärzte, Allgemeinmediziner und Psychiater das Augenmerk eher auf
andere Aspekte von Gesundheit, Krankheit und Entwicklung und
erkennen nicht immer, dass ein sensorisch-integratives Problem vor-
liegt. Auch Pädagoginnen erkennen die Natur des Problems oft nicht.
Am ehesten sehen die Eltern das Problem, da sie ihre Kinder viel be-
obachten; doch ihnen fehlt die fachliche Kenntnis über das Gehirn,
und sie können sich oft nicht erklären, was in ihren Kindern vorgeht.
Wenn Sie sich bisher das Gehirn nicht als Steuerzentrum all unse-
rer körperlichen und geistigen Aktivitäten vorgestellt haben, werden
Sie in diesem Buch eine neue Sichtweise über Lernen und Verhalten
kennenlernen. Sie werden so manche typisch menschlichen Züge bes-
ser verstehen lernen. Und Sie werden zu den fünf Sinnen, von denen
man normalerweise spricht (Sehen, Hören, Geschmack, Geruch und
Tasten), zwei zusätzliche Sinne hinzufügen können (Gleichgewichts-
und Bewegungssinn). Ist Ihnen der Prozess der sensorischen Integra-
tion erst einmal bewusst, werden Sie erkennen können, ob Ihr Kind
diesbezüglich Probleme hat.
>> Je besser Sie die sensorisch-integrativen Funktionen Ihres
Kindes verstehen, desto eher werden Sie Ihr Kind bei Prob-
lemen unterstützen können und ihm zu einem glückliche-
ren, erfolgreicheren Leben verhelfen können.
1.1 • Bemerkungen zur Sprache in diesem Buch
5 1
1.1 Bemerkungen zur Sprache in diesem Buch

Der Zweck von Wörtern ist es, zu kommunizieren. Allerdings gibt


es Wörter, die nur für bestimmte Personen Bedeutung haben und
anderen nichts sagen, oder sie haben für verschiedene Personen eine
unterschiedliche Bedeutung. Um dies zu vermeiden, wollen wir in
diesem Buch die Begriffe definieren, die wir verwenden. Solange Sie
die Bedeutung der verwendeten Begriffe nicht kennen, können Sie
auch unsere Ideen nicht verstehen. Lassen Sie uns also zunächst die
Begriffe in diesem Buch erklären.
Wenn wir von der »Lehrerin« oder »Therapeutin« sprechen, be-
ziehen wir Männer und Frauen mit ein. Dadurch wird der Text ein-
facher lesbar. Wenn wir von »jungen Kindern« sprechen, beziehen wir
uns auf Kinder unter 8–9 Jahren.
Das Nervensystem ist ein Netzwerk von verschalteten Nerven-
zellen, die über den ganzen Körper verteilt sind. Das Gehirn ist eine
dichte Ansammlung von Nervenzellen innerhalb des Schädels. In der
Wirbelsäule zieht ein Strang von Nerven zum Gehirn, das sogenannte
Rückenmark. Gehirn und Rückenmark zusammen werden Zentral-
nervensystem genannt. Außerhalb des Zentralnervensystems liegen
Nervenzellen des peripheren Nervensystems in der Haut, den Mus-
keln, den Gelenken, den inneren Organen und den Sinnesorganen
(genauere Informationen 7 Kap. 3).
Obwohl der Ausdruck »nervös« mit den Nerven zusammenhängt,
wird er in neurologischem Zusammenhang nicht verwendet, sondern
steht für einen psychischen Zustand. Stattdessen verwenden Neuro-
wissenschaftler das Wort »neuronal«, wenn sie über das Nervensys-
tem sprechen. Ein neuronaler Prozess ist ein geordneter Ablauf im
Nervensystem. Der Begriff »Funktion« kommt von dem lateinischen
Wort für ausführen, leisten. Eine neuronale Funktion ist also eine
Leistung des Nervensystems. Ein Neurowissenschaftler ist ein Hirn-
forscher, der im Labor die Teile des Nervensystems und deren Funk-
tionen erforscht.
Sinnesempfindungen kommen durch Energie zustande, die die
Nervenzellen stimuliert bzw. aktiviert und dadurch neuronale Pro-
zesse auslöst.

Beispiel
Sie können dieses Buch lesen, weil Lichtwellen die Nervenzellen in
Ihren Augen stimulieren und sensorische Prozesse in Ihrem Gehirn in
Gang setzen. Schallschwingungen, Berührungen auf der Haut, Gerü-
che, Muskelaktivität und Schwerkraft sind weitere Energien, die Sin-
nesempfindungen auslösen.

»Integration« bedeutet Verarbeitung, Verknüpfung und Ordnung.


»Etwas integrieren« bedeutet, verschiedene Teile zu einem Ganzen
zusammenzufügen und einzuordnen.
6 Kapitel 1 • Was ist sensorische Integration?

>> In einem gut integrierten System funktionieren alle Teile als


1 eine Einheit zusammen.

Das Zentralnervensystem – und besonders das Gehirn – ist dafür


angelegt, unzählige Informationen aus den Sinnessystemen einzuord-
nen und zu einer integrierten, ganzheitlichen Erfahrung zu vereinen
(. Abb. 1.1).
Wir benutzen das Wort »sagen«, um auszudrücken, dass die Ner-
venzellen miteinander kommunizieren, z.B. in Sätzen wie »Sinnes-
empfindungen sagen dem Gehirn, was der Körper tut«, oder »Das
Gehirn sagt dem Körper, was er tun soll«. Wissenschaftler würden
dafür Fachausdrücke verwenden, die aber die Lektüre dieses Buches
verkomplizieren würden.
Da sich dieses Buch ausdrücklich an Eltern richtet, versuchen wir,
die Sprache einfach und alltäglich zu halten und möglichst viele Bei-
spiele und Vergleiche zu bringen. Wir hüten uns aber vor falschen
Vereinfachungen.
. Abb. 1.1  Durch sensorische Integra-
Der Begriff »physisch« bezieht sich auf alles Körperliche, des-
tion erhalten Erfahrungen Bedeutung,
da das Gehirn die Informationen filtert sen Masse, Energie, räumliche oder zeitliche Parameter messbar sind.
und ordnet und dem Kind dadurch Schwerkraft, Distanz, Form, Licht, Vibration, Bewegung und Berüh-
ermöglicht, sich zu konzentrieren rung sind physisch; Gedanken und Erinnerungen sind nicht physisch,
obwohl sie von körperlicher Aktivität im Gehirn produziert werden.
Die physikalische Umwelt ist die natürliche Umgebung, in der Dinge
hinunterfallen, schwere Dinge schwierig zu bewegen sind, zwei Dinge
nicht zur gleichen Zeit an derselben Stelle sein können, scharfe Din-
ge schneiden, Objekte unbewegt sind, sofern sie nicht gezogen oder
geschoben werden, und jede Aktion eine eindeutige Folge hat. Eine
physische Interaktion ist eine Beziehung, die den unabänderlichen
Gesetzen der Physik unterworfen ist.

Beispiel
Ein Kind, das ein Buch liest, hat sowohl eine physische als auch eine
geistige Beziehung zu dem Buch. Die physische Interaktion erfordert,
das Buch gegen die Anziehung der Schwerkraft hochzuhalten, den
Kopf aufrecht zu halten, mit den Augen die Zeilen zu verfolgen und im
Gehirn die schwarzen Zeichen vor dem weißen Hintergrund zu spei-
chern. Die geistige Interaktion besteht darin, diese Zeichen in Silben,
Wörter und Sätze zu übersetzen sowie die inhaltliche Bedeutung der
Sätze zu erfassen.

1.2 Sensorische Integration ist …

Definition
Sensorische Integration ist die Verarbeitung von Sinnesinforma-
tionen, damit wir sie nutzen können.
1.2 • Sensorische Integration ist …
7 1
Über unsere Sinne erhalten wir Informationen über die physikali-
schen Bedingungen unseres Körpers und der Umgebung.

Beispiel
Sinnesempfindungen fließen zum Gehirn wie Flüsse, die in einen See
fließen. In jedem Augenblick strömen unzählige sensorische Informa-
tionen in unser Gehirn, nicht nur von den Augen und Ohren, sondern
von jeder Stelle unseres Körpers. Wir haben einen speziellen Sinn, der
die Anziehung der Schwerkraft und die Bewegungen unseres Körpers
in Bezug auf die Erde wahrnimmt.

1.2.1 Verkehrsregeln

Damit es uns möglich ist, erfolgreich Bewegungen, Lernen und Ver-


halten zu produzieren, muss das Gehirn alle diese Sinneseindrücke
ordnen.

Beispiel
Das Gehirn ortet (lokalisiert), sortiert und ordnet die Sinnesempfin-
dungen – vergleichbar einem Verkehrspolizisten, der den Verkehr re-
gelt. Fließen die Sinnesinformationen organisiert und gut integriert,
dann kann das Gehirn die Informationen nutzen, um Wahrnehmung
(Perzeption) und Verhalten zu erzeugen und Erfahrungen abzuspei-
chern (Lernen). Ist der Fluss der Sinnesempfindungen jedoch unorga-
nisiert, so ist das Leben wie ein Verkehrschaos zur Stoßzeit.

In 7 Übersicht 1.1 fassen wir die Aspekte der sensorischen Integration


auf einen Blick zusammen.

Übersicht 1.1. Sensorische Integration …


55 i st ein unbewusster Prozess im Gehirn (d.h., sie läuft ab, ohne »Wir können uns Sinnesreize
dass wir darüber nachdenken, so wie die Atmung). als ‚Nahrung für das Gehirn’
55 verarbeitet die Informationen, die unsere Sinnessysteme vorstellen; sie liefern die
registrieren (Geschmack, Sehen, Hören, Berührung, Geruch, Informationen, die das Gehirn
Bewegung, Schwerkraft und Position). braucht, um den Körper und den
55 ermöglicht uns, in jeder Situation zweckmäßig zu reagieren Verstand zu steuern.«
(mit einer sogenannten anpassenden Reaktion).
55 stellt eine Grundlage für schulisches Lernen und Sozialver-
halten dar.

1.2.2 Nahrung für das Gehirn

Die Integration der Sinnesinformationen ist der wichtigste Aspekt der


sensorischen Verarbeitung.
8 Kapitel 1 • Was ist sensorische Integration?

Beispiel
1 Es ist allgemein bekannt, dass Nahrung den Körper nährt, aber sie
muss erst verdaut werden. Wir können uns Sinnesreize als »Nahrung
für das Gehirn« vorstellen; sie liefern die Informationen, die das Gehirn
braucht, um den Körper und den Verstand zu steuern. Aber ohne gut
organisierte sensorische Prozesse können die Sinneseindrücke nicht
verdaut werden und das Gehirn nähren.

1.2.3 Von Einzelteilen zum Ganzen

Im Prozess der sensorischen Integration werden alle Sinnesinforma-


tionen verknüpft.

. Abb. 1.2  Sensorische Integration Beispiel


»bringt alles zusammen«. Bei Aktivi- Stellen Sie sich vor, Sie schälen und essen eine Orange. Sie nehmen
täten wie z.B. dem Essen einer Orange die Orange durch Augen, Nase, Mund, die Haut der Hände und Finger
werden Informationen von Augen, und die Muskeln und Gelenke in Ihren Fingern, Händen und Armen
Nase, Mund, Haut, Muskeln und Ge-
wahr. Wie wissen Sie, dass es nur eine Orange ist und nicht mehrere?
lenken vereint und ergeben so eine
ganzheitliche Erfahrung Wodurch arbeiten Ihre beiden Hände und zehn Finger koordiniert zu-
sammen?
Sämtliche Sinneseindrücke von der Orange und von Ihren Fingern
und Händen kommen in Ihrem Gehirn zusammen;, und diese Integra-
tion ermöglicht Ihrem Gehirn, die Orange als Ganzes zu erfahren, und
Ihre Hände und Finger so zu steuern, dass sie koordiniert die Orange
schälen können.

1.2.4 Vom Sinnesreiz zum Sinn

Sinnesempfindungen sind Ströme von elektrischen Impulsen. Auch


chemische Reaktionen innerhalb unseres Nervensystems erzeugen
Impulse. Damit wir den Sinn und die Bedeutung dieser Impulse erfas-
sen können, müssen wir sie integrieren. Durch die Integration werden
viele verschiedene Einzelinformationen zu einer Wahrnehmung oder
Perzeption. Wir nehmen unseren Körper, andere Personen und Ob-
jekte wahr, weil unser Gehirn die Sinnesinformationen zu sinnvollen
Einheiten und Zusammenhängen zusammengesetzt hat.

Beispiel
»Sensorische Integration beginnt Wenn wir eine Orange ansehen, integriert unser Gehirn die Sinnes-
im Mutterleib, sobald das Gehirn empfindungen unserer Augen, so dass wir Farbe und Form erkennen.
des Fötus die Bewegungen der Wenn wir die Orange berühren, werden die Sinnesempfindungen
Mutter wahrnimmt.« unserer Finger und Hände integriert, so dass wir erkennen, dass die
Orange außen fest und innen feucht ist. Wenn unser Gehirn die Sin-
nesempfindungen unserer Nase integriert, wissen wir, dass die Orange
den Geruch einer Zitrusfrucht hat (. Abb. 1.2).
1.2 • Sensorische Integration ist …
9 1
1.2.5 Sensorische Integration im Lebenslauf

Sensorische Integration beginnt im Mutterleib, sobald das Gehirn des


Fötus die Bewegungen der Mutter wahrnimmt. Unendlich viele sen-
sorisch-integrative Prozesse müssen stattfinden und sich entwickeln,
damit das Kind im 1. Lebensjahr krabbeln und aufstehen lernt.
>> Spielen liefert Kindern viele Gelegenheiten, um Sinnesinfor-
mationen zu verarbeiten und zu integrieren (. Abb. 1.3).

Kinder integrieren spielerisch die Sinnesempfindungen ihres Körpers


und der Schwerkraft mit Sehen und Hören. Lesen erfordert eine sehr
komplexe Integration von Informationen der Netzhaut, der Augen-
und Nackenmuskulatur und des Gleichgewichtsorgans im Innenohr.
Tänzer und Turner entwickeln eine außergewöhnliche Integration
von Körper- und Schwerkraftempfindungen, der sie ihre anmutigen
Bewegungen verdanken. Künstler und Handwerker müssen sich auf
die Integration der Sinnesempfindungen ihrer Augen und Hände ver-
lassen können. Ausgeglichene, zufriedene Menschen haben im All- . Abb. 1.3  Kinder entwickeln im
gemeinen ein gut integriertes Nervensystem.Die meisten Menschen Spiel immer komplexere Fähigkeiten,
kommen mit durchschnittlichen sensorisch-integrativen Leistungen was ihnen später hilft, verschiedenste
gut zurecht. Herausforderungen im Leben zu be-
wältigen
Die menschlichen Gene geben die Grundausstattung für senso-
risch-integrative Funktionen vor; diese ist bereits bei der Geburt vor- »Jedes Kind muss seine
handen. Die sensorisch-integrativen Fähigkeiten müssen jedoch im sensorisch-integrativen
Laufe der Kindheit erst entwickelt werden, indem das Kind sich aktiv Fähigkeiten entwickeln, indem
mit vielen Dingen in der Welt auseinandersetzt und seinen Körper es sich aktiv mit vielen Dingen in
und sein Gehirn laufend an körperliche Herausforderungen anpasst. der Welt auseinandersetzt.«
Am besten entwickelt sich die sensorische Integration im Zuge einer
anpassenden Reaktion.

1.2.6 Anpassende Reaktionen

Eine anpassende Reaktion ist eine beabsichtigte, zielgerichtete Re-


aktion auf eine sensorische Erfahrung.

Beispiel
Ein Baby sieht eine Rassel und greift danach. Das Hinreichen und Grei-
fen ist eine anpassende Reaktion. Ein nur ungezieltes Bewegen der
Hände wäre dagegen kein anpassendes Verhalten. Eine komplexere
anpassende Reaktion zeigt das Baby, wenn es versteht, dass die Rassel
zu weit weg liegt und es hinkrabbelt.

>> Mit einer anpassenden Reaktion bewältigen wir eine Her-


ausforderung und lernen etwas Neues. Zugleich trägt das
Produzieren der anpassenden Reaktion dazu bei, dass sich
das Gehirn entwickelt und organisiert.
10 Kapitel 1 • Was ist sensorische Integration?

Für die meisten Erwachsenen ist dies »nur« Spiel. Aber dieses Spiel
1 besteht aus einer Serie von anpassenden Reaktionen, bei denen sen-
sorische Integration stattfindet. Die Entwicklung der sensorisch-in-
tegrativen Fähigkeiten verbessert wiederum deren Organisation und
ermöglicht dem Kind komplexere Leistungen. Ein Kind, das lernt,
organisiert zu spielen und im Spiel neue Fertigkeiten entwickelt, wird
wahrscheinlich auch seine Schularbeiten organisieren und sich den
Herausforderungen im Leben stellen können.

1.2.7 Sensorische Verarbeitung

Bis zum Alter von etwa 7 Jahren ist die Aufgabe des Gehirns in erster
Linie die Verarbeitung von Sinnesinformationen. Das Kind nimmt
Dinge wahr, und diese gewinnen direkt aus den Sinneseindrücken
eine Bedeutung. Ein kleines Kind hat nicht viele abstrakte Gedan-
ken oder Ideen über Dinge; es ist hauptsächlich damit beschäftigt,
sie wahrzunehmen und seinen Körper in Bezug zu diesen Sinnes-
eindrücken zu bewegen. Seine anpassenden Reaktionen sind mehr
muskulär oder motorisch als kognitiv oder geistig. Daher werden
die ersten 7 Lebensjahre auch die Phase der sensomotorischen Ent-
wicklung genannt.
»Die Integration von Sinnesinfor- Mit zunehmendem Alter werden die sensomotorischen Aktivi-
mationen, die während der täten teilweise durch geistige und soziale Reaktionen abgelöst.
Bewegung, dem Sprechen Die geistigen und sozialen Funktionen des Gehirns basieren jedoch
und dem Spielen stattfindet, auf der Grundlage der sensomotorischen Prozesse. Das Verarbeiten
ist die Vorarbeit für die und Integrieren von Sinnesinformationen, das während der Bewe-
komplexeren sensorisch-inte- gung, dem Sprechen und dem Spielen stattfindet, ist die Vorarbeit
grativen Leistungen, die für für die komplexeren sensorisch-integrativen Leistungen, die für Le-
Lesen, Schreiben und geordnetes sen, Schreiben und geordnetes Verhalten notwendig sind. Laufen die
Verhalten notwendig sind.« sensomotorischen Prozesse in den ersten 7 Lebensjahren gut organi-
siert ab, wird es dem Kind später leichter fallen, kognitive und soziale
Kompetenzen zu erwerben.

1.2.8 Spaß haben

Verfügt das Gehirn eines Kindes über ausreichende sensorisch-integ-


rative Kapazitäten, um die Anforderungen der Umwelt zu bewältigen,
so werden seine (Re-)Aktionen effizient, kreativ und befriedigend
sein.
>> Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen macht Spaß.

»Spaß ist gewissermaßen »Spaß« ist gewissermaßen der kindliche Ausdruck für sensorische In-
der kindliche Ausdruck für tegration. Es ist befriedigend, Sinneseindrücke einordnen zu können,
sensorische Integration.« und noch mehr, sie mit immer reiferen und komplexeren Reaktionen
beantworten zu können. Dies ist ein wesentlicher Aspekt des Erwach-
senwerdens.
1.3 • Schlechte sensorische Integration ist …
11 1
Der Mensch ist dafür geschaffen, Dinge zu genießen, die die Ent-
wicklung seines Gehirns fördern. Darum suchen wir uns von Natur
aus Sinnesreize, die unserem Gehirn helfen, sich zu organisieren.

Beispiel
Kinder werden gerne hochgehoben, geschaukelt und umarmt, und
sie lieben es, herumzurennen, zu springen und auf Spielplätzen und
am Strand zu spielen. Sie wollen sich bewegen, weil die durch die Be-
wegung gewonnenen Sinneserfahrungen Nahrung für ihr Gehirn sind.

1.3 Schlechte sensorische Integration ist …

Sensorische Integration funktioniert nicht nach dem Alles-oder-


Nichts-Prinzip. Es ist nicht so, dass unsere sensorische Integration
entweder perfekt oder gar nicht funktioniert. Niemand verarbeitet
Sinnesempfindungen perfekt. Glückliche, produktive und gut koor-
dinierte Menschen kommen der perfekten sensorischen Integration
wahrscheinlich am nächsten. Manche Menschen haben besonders
gute sensorisch-integrative Fähigkeiten, andere durchschnittliche
oder eher schwache.
Integriert das Gehirn die Sinnesinformationen schlecht, so wirkt
sich dies auf viele Bereiche des Lebens aus. Die Betroffenen müssen
sich mehr anstrengen und erleben trotzdem mehr Misserfolge. Exper-
tinnen schätzen, dass in den USA etwa 5–15% der Kinder Schwierig-
keiten in der sensorischen Verarbeitung und Integration (sogenannte
SI-Störungen) haben, dass sie verlangsamt lernen oder verhaltensauf-
fällig sind. Kinder mit sensorischen Verarbeitungsstörungen1 können
in vielen Bereichen unauffällig sein. Oft sind sie durchschnittlich oder
sogar überdurchschnittlich intelligent. Sie können aber auch medizi-
nische oder psychologische Diagnosen haben, mit Schwierigkeiten,
die über die sensorisch-integrative Problematik hinausgehen.

1.3.1 Diagnostik und Befundaufnahme

Zur Zeit gibt es kein Verfahren, mit dem die Störung direkt an der Stö-
rungsstelle im Gehirn gemessen werden kann. Darin unterscheidet
sich die sensorische integrative Störung von anderen medizinischen
Störungsbildern. Ein chemisches Ungleichgewicht, Virusinfektionen,
Veränderungen im Blutbild und Gewebepathologien können im La-
bor gemessen werden. Eine zentrale Verarbeitungsstörung hingegen

1 Im deutschen Sprachraum sind außerdem die Begriffe »zentrale Verarbei-


tungsstörung«, »Wahrnehmungsstörung« und »sensorische Verarbeitungs-
störung« üblich. Wichtig ist der letztgenannte Begriff, da die sensorische
Verarbeitungsstörung als Diagnose in der Neuauflage der Krankheitsklassi-
fikation »Diagnostic and Statistical Manual« (DSM-V) eingereicht wurde, die
2013 erscheinen soll.
12 Kapitel 1 • Was ist sensorische Integration?

kann nicht so leicht abgegrenzt werden. Wir können nur versuchen,


1 über Beobachtungen des Kindes in der freien Beschäftigung (Spiel
und Handeln; .  Abb.  1.4) und seine Leistungen in standardisierten
Tests rückzuschließen, wie sein Gehirn funktioniert. Nur eine aus-
gebildete Beobachterin kann die subtilen Unterschiede zwischen Ver-
haltensweisen sehen, die auf guter oder auf schlechter sensorischer
Integration basieren.
Ärzte, die das Kind mittels der typischen medizinischen Verfah-
ren untersuchen, finden meist keine Abweichungen. Sie versuchen
deshalb oft, die Eltern mit Aussagen wie »Ihr Kind wird schon aufho-
len« oder »Das wird sich schon auswachsen« zu beruhigen. Ist die Stö-
rung nicht sehr ausgeprägt, fällt den Eltern oft nichts auf, bis das Kind
in die Schule kommt und Schwierigkeiten hat, Lesen und Schreiben
zu lernen. Eltern mit mehreren Kindern oder einer besonderen Beob-
achtungsgabe bemerken vielleicht, dass mit ihrem Kind »etwas nicht
stimmt«, aber sie können nicht sagen, was es ist. Sie fragen sich, wa-
rum das Kind solche Schwierigkeiten hat, obwohl von medizinischer
Seite alles »in Ordnung« ist, warum es so leicht zu weinen beginnt,
oder warum es so starrköpfig ist. Eine Therapeutin mit einer fun-
dierten Zusatzausbildung in Sensorischer Integrationstherapie kann
. Abb. 1.4  Sensorische Integrations-
helfen, diese Fragen zu beantworten.
störungen können einfache Aktivitä-
ten schwierig machen

1.3.2 Frühsymptome

Manche Säuglinge mit sensorisch-integrativen Problemen erlernen


das Drehen, Krabbeln, freie Sitzen und Aufstehen verzögert. Später
können sie Schwierigkeiten beim Binden der Schnürsenkel oder beim
Fahrradfahren ohne Stützräder haben. Andere Kinder mit schlechter
sensorischer Integration erreichen ihre motorischen Meilensteine
dem Alter entsprechend und fallen erst stäter auf. Es kann sein, dass
sie sich nicht so leicht und geschmeidig bewegen wie Gleichaltrige,
oder dass sie ungeschickt laufen. Sie können tollpatschig sein und
häufig fallen oder stolpern.
Nicht jede Ungeschicklichkeit wird jedoch durch eine sensorische
Integrationsstörung verursacht. Manche Menschen bewegen sich un-
koordiniert, weil bestimmte motorische Nerven oder Muskeln nicht
gut funktionieren.
>> Bei einem Kind mit einer sensorischen Verarbeitungsstö-
rung funktionieren die Nerven und Muskeln gut. Vielmehr
hat das Gehirn Schwierigkeiten, alle Informationen zu ver-
knüpfen und zu koordinieren.

Im Vorschulalter fällt bei einem Kind mit schwacher sensorischer


Integration oft das Spielverhalten auf. Da es die Informationen von
Augen, Ohren, Händen und Körper nicht integrieren kann, kann es
zwar sehen, hören und spüren, aber trotzdem nicht anpassend reagie-
ren. Manche Kinder übersehen Details oder verstehen Dinge nicht so
1.3 • Schlechte sensorische Integration ist …
13 1
wie Gleichaltrige. Andere mögen die Spielsachen nicht, die Gleich-
altrige typischerweise lieben. Spielzeuge, mit denen man hantieren
muss, stellen oft zu hohe Anforderungen an sie. Sie machen häufiger
Dinge kaputt und sind oft auch unfallgefährdet.
Eine Verzögerung der Sprachentwicklung ist ein gängiges Prob-
lem und ein früher Anhaltspunkt, dass etwas im Gehirn nicht optimal
funktioniert. Manche Kinder können nicht zuhören, wobei sie aber
keine Fehlhörigkeit haben. Es scheint, als ob die Wörter in ihre Ohren
hineingehen, aber auf dem Weg zum Gehirn verloren gehen. Andere
Kinder wissen, was sie sagen wollen, aber sie können ihrem Mund
nicht die richtigen Befehle geben, um es auszusprechen.
Ohne klare Informationen von den Händen und Augen kann ein
Kind nicht exakt ausmalen, Puzzles zusammensetzen, mit der Schere
auf einer Linie schneiden (. Abb. 1.5) oder zwei Stücke Papier ordent-
lich zusammenkleben. Jede kleine Aufgabe erledigt es schlechter als
die Gleichaltrigen, und dabei fällt sie ihm schwerer und erscheint
ihm komplizierter als den anderen Kindern. Erwachsene halten dies
oft für Desinteresse. Aber: Ein Kind mit sensorischen Integrations-
störungen hat deshalb wenig Interesse an diesen Aufgaben, weil es . Abb. 1.5  Ohne klare Informationen
seine Sinneseindrücke und die Aktionen, mit denen es auf sie reagiert, von seinen Händen und Augen kann
als bedeutungslos und unbefriedigend erlebt. ein Kind Schwierigkeiten mit Aktivi-
Manche Kinder können die Sinnesempfindungen ihrer Haut nicht täten wie Schneiden haben
einordnen. Sie reagieren gereizt oder ängstlich, wenn jemand sie be-
rührt oder einfach nur neben ihnen steht.
>> Hyperaktivität bei Kindern ist häufig durch schlechte sen-
sorische Integration verursacht.

Auch Licht oder Lärm kann diese Kinder irritieren und ablenken.
Wenn man genau beobachtet, kann man die Irritation am Gesichts-
ausdruck des Kindes erkennen.
.  Abb. 1.6 gibt uns eine Vorstellung, was sensorische Integration
bedeutet.

1.3.3 Schulschwierigkeiten

Es gibt Kinder, die zu Hause gut zurechtkommen oder zumindest »Beim Lesen, Schreiben und
unauffällig sind, aber mit dem schulischen Lernen große Schwierig- Rechnen … handelt es sich um
keiten haben. Obwohl Pädagogen das Lesen, Schreiben und Rechnen äußerst komplexe Prozesse,
als »Grundlagen« sehen, handelt es sich doch um äußerst komplexe die sich nur auf einem starken
Prozesse, die sich nur auf einem starken Fundament der Verarbeitung Fundament der Verarbeitung
und Integration von Sinnesinformationen entwickeln können. Eine und Integration von Sinnesinfor-
Schwäche der sensorischen Integration, die in der frühen Kindheit mationen entwickeln können.«
»geringfügig« ist, kann bei Schuleintritt eine erhebliche Beeinträch-
tigung werden.
Eltern und Lehrer erwarten von einem Schulkind mehr als von
einem kleineren Kind – nicht nur, dass das Kind verschiedenste neue
Dinge lernen muss, es muss auch mit seinen Klassenkameraden und
14 Kapitel 1 • Was ist sensorische Integration?

1
Sensorische Integration verstehen

Überlegen Sie einmal, wie sehr Sie von Sinnesinformationen


abhängig sind, um der Welt Sinn geben zu können.
Stellen Sie sich vor, Sie gehen in einen unbekannten Lagerraum, um unter vielen anderen
eine Kiste herauszusuchen, und plötzlich geht das Licht aus. Dann fängt ein Alarm an
zu heulen, und die Wassersprinkler gehen los. Ohne Ihren Seh- und Hörsinn müssten Sie
sich ganz auf Ihren Tast- und Lagesinn verlassen, um herauszufinden, was sie tun können.
Würden der laute Alarm und das unerwartete Gefühl von Wasser auf Ihrer Haut
Ihre Fähigkeit, alle Informationen zu sortieren und klar zu denken, beeinträchtigen?

Da wir Menschen davon abhängig sind, dass alle unsere Sinne zusammenarbeiten, wird
es rasch unangenehm, wenn wir keine verlässlichen, bekannten Sinnesreize vorfinden.
Wenn uns einzelne Sinne nicht die Informationen liefern können, die wir brauchen,
müssen wir auf Sinnessysteme zurückgreifen, die wir im Normalfall nicht nutzen würden.

Können Sie sich vorstellen, wie es Ihnen in diesem Lagerraum erginge, wo Ihnen alle
vertrauten Sinnesinformationen fehlen, die Ihnen im Alltag helfen, ruhig, organisiert
und sicher zu sein, was zu tun ist?

. Abb. 1.6  Sensorische Integration verstehen

Lehrern auskommen. Kinder, deren Gehirn Sinnesreize nicht gut ver-


arbeitet, haben oft auch Schwierigkeiten, Freundschaften zu schließen
und aufrechtzuerhalten. Die Schule setzt diese Kinder oft unter star-
ken Druck, da sie für dieselben Aufgaben härter arbeiten müssen als
ihre Klassenkameraden. Viele Kinder mit sensorischen Integrations-
störungen fühlen sich deshalb in der Schule hilflos und ängstlich.
Ein Kind muss in der Schule unzählige Kleinigkeiten erledigen.

Beispiel
Ohne gute sensorische Integration ist es schwierig, die Schnürsenkel
zu binden, eine Schere zu halten, mit dem Stift nicht so fest aufzudrü-
cken, dass die Mine abbricht, von einer Aufgabe zur nächsten zu wech-
seln oder auf dem Schulweg die Verkehrszeichen zu erkennen. Das
Kind wird im Turnunterricht gegen Kinder antreten müssen, die weit
besser entwickelte sensomotorische Fähigkeiten haben. Es muss in
einem Raum voller Menschen aufmerksam sein, obwohl es kaum auf-
passen kann, wenn es mit seiner Lehrerin allein ist. Man verlangt, dass
es Dinge möglichst schnell erledigt, für die es Zeit braucht, und dass es
sich zwei Aufträge gleichzeitig merkt (z.B. »Legt die Bücher weg, und
nehmt Eure Stifte heraus!«), obwohl es ihm schon schwer fällt, sich eine
einzelne Anweisung zu merken.
1.3 • Schlechte sensorische Integration ist …
15 1
In der Klasse ist ein solches Kind leicht von Hintergrundgeräuschen,
Licht und der Betriebsamkeit der Mitschüler abgelenkt, vor allem,
wenn sie an unterschiedlichen Aufgaben arbeiten. Sein Gehirn wird
überstimuliert, worauf es mit übermäßiger Aktivität reagiert.
Ein hyperaktives Kind »springt im ganzen Klassenzimmer her-
um« – nicht weil es das so gerne tut, sondern weil sein Gehirn außer
Kontrolle geraten ist. Seine überschießende Aktivität ist eine zwang-
hafte Reaktion auf Sinnesreize, die es weder ausblenden noch ordnen
kann. Das Chaos in seinem Gehirn macht es ihm unmöglich, sich zu
konzentrieren, und so bekommt es den Unterricht nicht mit. Es kann
vorkommen, dass dieses Kind wütend wird oder sogar zuschlägt,
wenn es beim Anstehen unabsichtlich berührt oder geschubst wird.
Seine aggressiven Reaktionen sind aber nicht persönlich gemeint;
sie sind automatische Reaktionen auf Sinnesreize, die die Toleranz
des Kindes übersteigen.
Das Kind kann diese Probleme weder besprechen noch kann es »Jedes Kind mit einer SI-Störung
verstehen, was mit ihm passiert, denn das Problem betrifft Prozesse zeigt eine unterschiedliche
im Gehirn, die unbewusst ablaufen, und die das Kind daher nicht Kombination von Symptomen.«
kontrollieren kann. Es ist nutzlos, das Kind zu ermahnen, sich zu-
sammenzunehmen oder besser zu konzentrieren. Belohnungen wie
Bonbons oder Aufkleber und Strafen machen es für das Gehirn nicht
leichter, die Sinnesinformationen zu organisieren. Wenn Erwachse-
ne Forderungen an das Kind stellen, die es nicht erfüllen kann, ver-
schlimmern sich seine Probleme noch.
Macht das Kind über Jahre solche Erfahrungen, wird ihm be-
wusst, dass es »anders« ist und vielleicht ein Leben lang in bestimm-
ten Bereichen anders sein wird als die anderen. Ohne verständnisvolle
Unterstützung seiner Eltern läuft es Gefahr, sich selbst für dumm oder
schlecht zu halten, vor allem, weil es das von anderen Kindern zu hö-
ren bekommt. Es reicht nicht aus, dem Kind immer wieder mit Wor-
ten zu versichern, dass es nicht dumm oder ein schlechter Mensch ist,
denn Wörter und Gedanken können das Gehirn nicht organisieren.
Sinneserfahrungen und anpassende Reaktionen hingegen helfen
dem Gehirn und stärken zusätzlich das Selbstbewusstsein des Kindes.
Eine sensorische-integrative Funktionsstörung ist eine schwe-
re Belastung für die Betroffenen. Man muss bedenken, dass jedes
Kind mit SI-Störung eine unterschiedliche Kombination von Sym-
ptomen zeigt. Sogar normal entwickelte Kinder können dann und
wann manche dieser Auffälligkeiten zeigen. Erst wenn bei einem Kind
viele dieser Probleme kontinuierlich vorkommen, sollten die Eltern
aufmerksam werden. Wenn Sie vermuten, dass Ihr Kind sensorisch-
integrative Schwächen hat, bringen Sie es zu einer Ergotherapeutin
mit einer Zusatzqualifikation in Ayres’ Sensorischer Integrations-
therapie (7 Kap. 11).

>> Mit Behandlung und verständnisvollen, unterstützenden El-


tern hat ein Kind gute Chancen, ein erfolgreiches Leben zu
führen, soziale Interaktionen zu genießen und einen Beitrag
für die Gesellschaft zu leisten, wenngleich manche Dinge
immer eine Herausforderung bleiben werden.
16 Kapitel 1 • Was ist sensorische Integration?

Wenn Sie an alle Erwachsenen denken, die Sie kennen, wird Ihnen
1 auffallen, dass jeder irgendwelche Schwierigkeiten hat, zu lernen und
sich anzupassen. Die meisten von uns sind in der Lage, ohne perfekte
sensorische Integration durchzukommen.

1.4 Warum dieses Buch geschrieben wurde

Wir hoffen, dass dieses Buch Eltern hilft, sensorisch-integrative Pro-


bleme bei ihrem Kind zu erkennen, zu verstehen und ihr Kind zu
fördern. Wird eine sensorische Verarbeitungsstörung diagnostiziert,
und die Eltern entscheiden sich für eine Behandlung, kann das Buch
helfen, nachzuvollziehen, was das Kind in der Therapie macht.
>> Sie müssen eine sensorische Perspektive einnehmen und an
alle Sinneseindrücke von Körper und Schwerkraft, Augen
und Ohren denken, die das Gehirn verarbeiten muss, bevor
es sie nutzen kann, um den Körper und die geistigen Pro-
zesse zu steuern.

Außerdem müssen Sie Kinder beobachten und schauen, womit und


wie sie sich gerne beschäftigen. Zu Beginn werden Sie nur wenige
Anzeichen von sensorischer Integration entdecken; später werden Sie
zunehmend mehr sehen. Selbst Therapeutinnen mit SI-Ausbildung,
die diesen Prozess bei Kindern schon jahrelang beobachtet haben,
fallen immer wieder neue Aspekte von sensorischen Integrationsstö-
rungen auf.
In  7  Kapitel  2 werden wir zunächst die Aktivitäten von normal
entwickelten Säuglingen und Kindern beobachten, um zu sehen, wie
sich die sensorisch-integrativen Funktionen entwickeln. In 7 Kapitel 3
werden wir uns mit dem Gehirn beschäftigen, da dies der Ort ist, wo
die Störung lokalisiert ist, und wo die Therapie Veränderungen be-
wirkt. In den 7 Kapiteln 4 bis 9 werden wir verschiedene Arten von SI-
Störungen genauer erklären. In 7 Kapitel 10 beschäftigen wir uns mit
der Therapie, die auf die Verbesserung der sensorisch-integrativen
Funktionen abzielt. Das  7  Schlusskapitel soll Ihnen als Eltern helfen,
Ihr Kind im Alltag zu verstehen und zu unterstützen.
Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Prof.  Dr.  Mary Schneider zu den Punkten, die in
diesem Kapitel angesprochen werden, finden Sie in Anhang A.
17 2

Die Entwicklung der


sensorischen Integration
Wie Kinder in verschiedenen Altersstufen Sinnesreize
verarbeiten – vom Säugling bis zum Grundschulalter

2.1 Grundprinzipien der kindlichen Entwicklung – 18


2.1.1 Organisation durch anpassende Reaktionen – 19
2.1.2 Der innere Antrieb – 20
2.1.3 Entwicklungsbausteine – 21

2.2 Die Entwicklungsstufen – 21


2.2.1 Der 1. Lebensmonat – 21
2.2.2 2. und 3. Lebensmonat – 25
2.2.3 4. bis 6. Lebensmonat – 27
2.2.4 6. bis 8. Lebensmonat – 29
2.2.5 9. bis 12. Lebensmonat – 30
2.2.6 Das 2. Lebensjahr – 31
2.2.7 3. bis 7. Lebensjahr – 34

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
18 Kapitel 2 • Die Entwicklung der sensorischen Integration

In den ersten 7 Lebensjahren lernt ein Kind, seinen Körper und sei-
ne Umwelt wahrzunehmen, sich aufzurichten und seine Bewegungen
zweckgerichtet einzusetzen. Es erfährt, was verschiedene Geräusche
2 bedeuten und lernt zu sprechen. Anhand von unzähligen Erfahrun-
gen mit Möbelstücken, Kleidung, Schuhen, Essbesteck, Spielsachen,
Stiften, Büchern usw. lernt es mit den physikalischen Gesetzen auf der
Erde und mit anderen Menschen umzugehen.
>> Die Sinne des Kindes nehmen aus allen erlebten Erfah-
rungen Informationen auf, und das Kind muss gute senso-
risch-integrative Fähigkeiten entwickeln, um diese nutzen
und sich sinnvoll mit seiner Umwelt auseinandersetzen zu
können.

»Sensorisch-integrative Sensorisch-integrative Funktionen entwickeln sich bei allen Kindern


Funktionen entwickeln sich bei in einer natürlichen Abfolge. Manche Kinder entwickeln sich schnel-
jedem Kind in einer natürlichen ler und andere langsamer, aber alle gehen ungefähr den gleichen Weg.
Abfolge. Manche Kinder Kinder, die starke Abweichungen vom normalen Entwicklungsverlauf
entwickeln sich schneller und der sensorisch-integrativen Leistungen zeigen, werden später eher
andere langsamer.« Schwierigkeiten in verschiedenen Lebensbereichen haben.
In diesem Kapitel beschreiben wir in großen Zügen die wichtigs-
ten Schritte der sensorisch-integrativen Entwicklung, wie wir sie in
der Normalentwicklung sehen. Es ist keine fachliche Qualifikation
nötig, um zu erkennen, wie Kinder sensomotorische Prozesse orga-
nisieren. Alles, was Sie tun müssen, ist, Ihr Kind und andere Kinder
im Alltag zu beobachten. Man kann zwar nicht direkt in das Gehirn
schauen, aber die Verhaltensweisen eines Kindes geben Hinweise,
denn sie sind Ausdruck der Aktivität seines Gehirns.

2.1 Grundprinzipien der kindlichen Entwicklung

Es gibt bestimmte Grundprinzipien der Entwicklung, die man bei


jedem Kind vorfindet. Das grundlegendste Prinzip ist Organisation
oder Ordnung.
>> Die meisten Aktivitäten der ersten 7 Lebensjahre verfolgen
einen Zweck: die Sinneseindrücke im Nervensystem geord-
net zu verarbeiten.

Ein Neugeborenes sieht, hört und fühlt seinen Körper, aber es kann
die Eindrücke nicht einordnen, so dass es den meisten keine Bedeu-
tung geben kann. Es kann nicht sagen, wie weit Dinge entfernt sind,
was bestimmte Geräusche bedeuten, welche Form die Dinge in seiner
Hand haben, oder wo sich sein Körper im Raum befindet. Durch Sin-
neserfahrungen lernt das Kind allmählich, die Eindrücke in seinem
Gehirn zu ordnen und findet heraus, was sie bedeuten. Es lernt, seine
Aufmerksamkeit auf bestimmte Sinnesreize zu richten und andere zu
ignorieren. Bewegungen, die im Säuglingsalter unbeholfen und fahrig
2.1 • Grundprinzipien der kindlichen Entwicklung
19 2
waren, werden geschmeidiger und zielgerichteter. Das Kind erlernt
die komplizierten Bewegungen des Sprechens.
Mit der Ordnung der Sinneseindrücke gewinnt das Kind auch zu-
nehmend Kontrolle über seine Emotionen. Es lernt, für längere Zeit-
räume organisiert zu bleiben. Manche Situationen, die einen Säugling
aufregen, sind für ein älteres Kind lehrreich und befriedigend.

2.1.1 Organisation durch anpassende Reaktionen

Das Gehirn organisiert sich durch die sensomotorische Aktivität


während einer anpassenden Reaktion auf einen Sinnesreiz. Bei dieser
Reaktion setzt das Kind seinen Körper auf kreative oder zweckmäßige
Weise im Raum ein: Es hört ein Geräusch und dreht den Kopf, um zu
sehen, »was da los ist«; es wird geschubst und verlagert das Gewicht,
um die Balance wiederherzustellen.
Legt man einen Säugling auf den Bauch, hebt er den Kopf und »Kinder lieben von Natur aus
dreht ihn zur Seite, um leichter atmen zu können. Bei älteren Kindern Aktivitäten, die sie zu neuen
erfordert z.B. das Anziehen, Spielen und Fahrradfahren zahlreiche Sinneserfahrungen und zur
anpassende Reaktionen. Entwicklung von motorischen
Wir reagieren auf Sinnesreize, um uns an die Bedingungen anzu- Funktionen herausfordern.«
passen. Bevor unser Körper jedoch reagieren kann, muss unser Ge-
hirn die wahrgenommenen Reize aus dem Körper und der Umwelt
einordnen.
>> Wir können uns nur dann einer Situation entsprechend
verhalten, wenn unser Gehirn die Situation erfassen kann.
Immer wenn ein Kind passend handelt, wissen wir, dass sein
Gehirn die Sinnesinformationen gut verarbeitet hat.

Außerdem entstehen aus jedem anpassenden Verhalten, d.h. aus jeder


Aktion neue Sinneseindrücke, die wiederum integriert werden. Eine
gut organisierte anpassende Reaktion bringt das Gehirn in einen or-
ganisierten Zustand. Um Sinneserfahrungen zu integrieren, versucht
das Kind, sich an diese neuen Sinneseindrücke anzupassen.

Beispiel
Beim Schaukeln passt das Kind seinen Körper an die Schwerkraft und
die Bewegungsreize, die es wahrnimmt, an. Durch die anpassenden
Körperbewegungen kann das Gehirn diese Sinnesinformationen ein-
ordnen.

Niemand kann die anpassende Reaktion für das Kind ausführen; das
kann es nur selbst tun. Glücklicherweise lieben Kinder von Natur aus
Aktivitäten, die sie zu neuen Sinneserfahrungen und zur Entwicklung
von motorischen Funktionen herausfordern. Es macht ihnen Spaß,
Sinneserfahrungen zu integrieren und entsprechend zu reagieren.
20 Kapitel 2 • Die Entwicklung der sensorischen Integration

Beispiel
Beobachten Sie einmal ein Kind beim Fahrradfahren. Sie werden se-
hen, wie sensorische Informationen anpassende Reaktionen auslö-
2 sen, und diese wiederum sensorische Integration bewirken. Um auf
dem Fahrrad die Balance halten zu können, muss das Kind die An-
ziehung der Schwerkraft und die Bewegungen seines Körpers wahr-
nehmen (. Abb. 2.1). Jedes Mal, wenn es die Balance verliert und zu
fallen droht, integriert sein Gehirn die Informationen des Fallens und
produziert eine anpassende Reaktion. In diesem Fall besteht sie dar-
in, das Gewicht zu verlagern bis das Gleichgewicht wiederhergestellt
ist. Macht das Kind diese anpassende Reaktion nicht oder zu langsam,
fällt es vom Fahrrad. Passiert ihm dies wiederholt, weil es keine klaren,
genauen Informationen von seinem Körper- und Schwerkraftsinn be-
kommt, wird es das Fahrradfahren möglicherweise aufgeben.
. Abb. 2.1  Um auf einem Fahrrad Weitere anpassende Reaktionen sind nötig, um das Fahrrad zu
die Balance halten zu können, muss lenken, damit es dorthin fährt, wohin das Kind will. Damit das Kind
ein Kind den Zug der Schwerkraft und
weiß, wo es sich in Bezug zu einem Baum befindet, muss sein Gehirn
seine eigenen Körperbewegungen
wahrnehmen können visuelle Informationen mit Sinnesempfindungen aus dem Körper und
Gleichgewichtsorgan abstimmen. Dann muss es diese sensorischen
Informationen nutzen, um einen Weg um den Baum herum zu pla-
nen. Je schneller das Fahrrad fährt, desto stärker sind die sensorischen
Reize, und desto genauer müssen die anpassenden Reaktionen sein.
Fährt das Kind gegen den Baum, bedeutet dies, dass sein Gehirn die
Sinnesinformationen nicht oder nicht schnell genug verarbeiten konn-
te. Steigt das Kind nach einer erfolgreichen Fahrt vom Rad, so ist sein
Gehirn um die Erfahrungen mit der Schwerkraft, den räumlichen Be-
ziehungen zwischen seinem Körper und der Umwelt und mit seinen
Bewegungen reicher, so dass ihm das Fahrradfahren mit jedem Mal
leichter fallen wird. Auf diese Art entwickelt sich die sensorische In-
tegration.

2.1.2 Der innere Antrieb

»Jedes Kind hat einen starken Jedes Kind hat einen starken inneren Antrieb, seine sensorisch-inte-
inneren Antrieb, seine sensorisch- grativen Fähigkeiten zu entwickeln. Man muss ihm nicht sagen, dass
integrativen Fähigkeiten zu es krabbeln, sich aufrichten oder gehen soll; die Natur treibt das Kind
entwickeln.« von selbst dazu an. Achten Sie darauf, wie ein Kind seine Umgebung
nach Gelegenheiten absucht, sich weiterzuentwickeln, und wie es
sich bemüht und anstrengt, bis es eine Tätigkeit gemeistert hat. Ohne
diesen inneren Antrieb, Sinnesreize zu integrieren, wären wir alle in
unserer Entwicklung stehengeblieben. Da dieser innere Antrieb so
stark ist, erscheint uns die sensomotorische Entwicklung so selbstver-
ständlich. Sie passiert automatisch von Natur aus.
2.2 • Die Entwicklungsstufen
21 2
2.1.3 Entwicklungsbausteine

Im Entwicklungsverlauf nutzt das Kind jede Aktivität, um »Baustei- »Das Kind nutzt jede Aktivität,
ne« zu entwickeln, auf denen komplexere und reifere Entwicklungs- um ‚Bausteine’ zu entwickeln,
schritte aufbauen können. Ständig kombiniert es einzelne Funktio- auf denen komplexere und
nen, um daraus höhere Leistungen zu entwickeln. Es übt eine Aktivi- reifere Entwicklungsschritte
tät immer wieder, bis es jeden sensorischen und motorischen Teil da- aufbauen können.«
von beherrscht. Manchmal geht das Kind einen Schritt zurück, bevor
es etwas Neues beginnt und übt einen früheren Entwicklungsschritt.

Beispiel
Die Bausteine, die zum freien Gehen führen, sind nicht schwer zu er-
kennen: Das Kind muss den Kopf aufrecht halten können, bevor es frei
sitzen und auf allen Vieren krabbeln kann. Erst dann kann es sich auf-
richten und auf zwei Beinen gehen.

Die Sinne entwickeln sich ebenso in Form von Bausteinen, auch wenn
diese schwieriger zu erkennen sind. Am frühesten entwickeln sich
die Sinnessysteme, die Informationen über den eigenen Körper und
seinen Bezug zur Schwerkraft liefern (Nahsinne). Auf diesen Baustei-
nen können dann die Sinnessysteme für das Sehen und Hören auf-
bauen, die Informationen über die Umwelt liefern (Fernsinne). Die
visuell-perzeptiven Leistungen, die für das Lesen erforderlich sind,
sind das Endprodukt von vielen Bausteinen, die sich während der
sensomotorischen Aktivitäten in der frühen Kindheit und Vorschul-
zeit aneinanderreihen. Dasselbe gilt für alle kognitiven Leistungen,
für das Verhalten und das emotionale Wachstum; sie alle bauen auf
einem sensomotorischen Fundament auf.

2.2 Die Entwicklungsstufen

Lassen Sie uns nun die entscheidenden Entwicklungsschritte der sen-


sorischen Integration verfolgen. Wir beginnen im 1.  Lebensmonat
und gehen bis ins 8. Lebensjahr.

2.2.1 Der 1. Lebensmonat

Berührungssinn  Ein Neugeborenes kann bereits einige Sinnesein-


drücke seines Körpers interpretieren und mit angeborenen Refle-
xen beantworten. Sein Tastsinn war schon im Mutterleib mehrere
Monate lang aktiv. Berührt man sanft die Wange des Säuglings, so
dreht er den Kopf in diese Richtung. Dieser Reflex ist eine anpas-
sende Reaktion, die die Natur entwickelte, damit das Kind seine
Nahrungsquelle leichter findet. Legt man ein Tuch über das Gesicht
des Säuglings, wenn er auf dem Rücken liegt, dann versucht er, es
durch Strampeln mit den Armen und Drehen des Kopfes wegzube-
22 Kapitel 2 • Die Entwicklung der sensorischen Integration

. Abb. 2.2  Die fürsorglichen Berührungen und rhythmischen Bewegungen der


Bezugsperson sind grundlegend für die Entwicklung des Säuglings

kommen. Obwohl diese angeborenen Reaktionen automatisch sind,


muss das kindliche Gehirn die entsprechenden Sinnesreize integrie-
ren, damit die Reaktion überhaupt ausgelöst wird.
Die meisten Säuglinge reagieren quengelig, wenn sie wahrneh-
men, dass ihre Windel nass ist, wohingegen sie sich von einer Berüh-
rung ihrer Mutter beruhigen lassen. Der Säugling kann noch nicht
exakt erkennen, wo er berührt wird, weil sein Gehirn die verschiede-
nen Stellen an seinem Körper noch nicht gut unterscheiden kann. In
diesem Alter sind Berührungsreize als Quelle emotionaler Zufrieden-
heit wichtiger (. Abb. 2.2).
>> Die Berührung zwischen dem Säugling und seiner Mutter
spielt eine entscheidende Rolle für die Gehirnentwicklung
und die Entwicklung der Beziehung zwischen Mutter und
Kind.

Im 1.  Lebensmonat ergreift das Baby automatisch jedes Objekt, das


seine Handfläche berührt. Dieser Greifreflex dient dazu, dass sich
das Kind festhalten kann und nicht fällt. Da das Neugeborene seine
Finger noch nicht öffnen und ausstrecken kann, sind seine Hände in
den ersten Lebensmonaten meist lose gefaustet.

Gleichgewichtssinn  Das Neugeborene zeigt auch Reaktionen auf


Schwerkraft- und Bewegungsempfindungen, die vom Gleichge-
wichtsorgan im Innenohr stammen. Hält man das Baby im Arm und
lässt es abrupt ca. 30 cm absinken, zeigt es eine Schreckreaktion, so als
ob es sich mit Armen und Beinen festklammern wollte. Die Informa-
tionen aus seinem Gleichgewichtsorgan im Innenohr sagen ihm, dass
es fällt und lösen eine Schutzreaktion aus. Diese Klammerreaktion
2.2 • Die Entwicklungsstufen
23 2
oder Beugung des ganzen Körpers ist das erste Bewegungsmuster des
ganzen Körpers.
Man könnte meinen, dass ein menschlicher Säugling keine auto-
matischen Reaktionen braucht, um sich zu schützen und sein Essen
zu finden, da sich ja seine Mutter um ihn kümmert. Entstanden sind
diese Reflexe bei Tieren, für die sie notwendig waren, um das Über-
leben ihres Nachwuchses zu sichern. Evolution geht sehr langsam
vonstatten, und die Natur lässt eine Verhaltensweise, die über Jahr-
millionen dem Überleben gedient hat, nicht einfach verschwinden.
Die Arbeitsweise unseres Nervensystems basiert also auf den Bedürf-
nissen der Tiere, aus denen der Mensch sich entwickelt hat, und auf
den Bedürfnissen der ersten Menschen vor der Zivilisation. Diese
angeborenen Reaktionen sind die Bausteine für die Entwicklung rei-
ferer Fähigkeiten.
Hält man einen 1-monatigen Säugling hoch, so dass sein Kopf an
der Schulter des Erwachsenen ruht, versucht er immer wieder, sei-
nen Kopf zu heben. Das tut er, weil die Schwerkraft das Gehirn dazu
stimuliert, die Nackenstreckmuskeln zu aktivieren. In den nächsten
Wochen wird sich diese anpassende Reaktion weiterentwickeln, so
dass das Baby seinen Kopf in Bauchlage anheben kann. Aufgrund
dieses neuronalen Mechanismus können wir als Erwachsene ohne
bewusste Anstrengung den Kopf aufrecht halten. Mit einem Monat
ist diese Reaktion noch unreif, und der noch wackelige Kopf muss
unterstützt werden.
Jede Mutter begreift rasch, dass es ein Baby tröstet und beruhigt,
wenn man es trägt oder wiegt. Die Sinnesempfindungen von sanfter,
rhythmischer Bewegung wirken organisierend auf das Gehirn. Das ist
der Grund, warum der Anblick einer Wiege Erinnerungen an liebe-
volle Geborgenheit wachruft. Die Sinnesreize, die das Kind erfährt,
wenn es getragen oder gewiegt wird, sind darüber hinaus wichtige
Bausteine für die Verarbeitung anderer Sinnesinformationen und die
Willkürmotorik. Obwohl Sie nicht direkt in das Gehirn Ihres Kindes
schauen können, ist es offensichtlich, dass Ihr Kind gerne getragen
und geschaukelt wird.
>> Sinneseindrücke, die das Kind glücklich machen, fördern im
Allgemeinen seine Wahrnehmungsintegration.

Kraft- und Stellungssinn  Das 1-monatige Kind passt seinen Körper


gut an die Arme und den Körper der Person an, die es hält. Es nimmt
durch seine Muskeln und Gelenke wahr, wie es das tun muss. Später
werden ihm Informationen von seinen Muskeln und Gelenke helfen,
Messer und Gabel zu benutzen und auf ein Klettergerüst zu klettern.
Das Kind muss viele, viele Bewegungen üben und organisieren, bis
es die Geschicklichkeit des Erwachsenen erreicht hat. In den ersten
Lebensmonaten macht der Säugling daher viele Bewegungen, die zu-
fällig und unbeabsichtigt erscheinen, die aber später gut organisiert
werden. In Rückenlage streckt er spielerisch Arme und Beine weg, in
24 Kapitel 2 • Die Entwicklung der sensorischen Integration

Bauchlage macht er Schwimmbewegungen. Diese Bewegungen kom-


men zustande, weil das Gehirn durch die Sinnesempfindungen von
Muskeln, Gelenken und Gleichgewichtsorgan stimuliert wird, Bewe-
2 gungen auszulösen. Das Kind hat den inneren Antrieb, diese Sinnes-
eindrücke und Bewegungen zu ordnen und zu verarbeiten.
Informationen von den Muskeln und Gelenken sagen dem Ge-
hirn auch, wenn der Kopf zur Seite gedreht ist. Diese Stellung aktiviert
eine Reaktion, die als tonischer Nackenreflex bekannt ist: Der eine
Arm wird tendenziell gestreckt, der andere wird tendenziell gebeugt.
Achten Sie auf den Ausdruck »tendenziell«! Beschrieben wird eine
Tendenz; diese Reaktion tritt nicht bei jeder Kopfdrehung auf. Wäh-
rend der ersten Lebenswochen spielt dieser Reflex eine entscheidende
Rolle für die Entwicklung der Armbewegungen. Der Säugling ver-
bringt viel Zeit damit, auf dem Rücken zu liegen und zu seinem aus-
gestreckten Arm zu schauen, während sein anderer Arm gebeugt ist.
Obwohl der tonische Nackenreflex die Muskelspannung der Arme
ein ganzes Leben lang beeinflusst, sollte er seinen Einfluss bis zum
6. Lebensjahr weitgehend verloren haben.
>> Bei Kindern mit sensorischen Integrationsstörungen ist der
tonische Nackenreflex oft überaktiv und kann als ein Zei-
chen für Defizite der sensorischen Integration angesehen
werden.

Sehsinn  Der Sehsinn des 1-monatigen Säuglings ist noch nicht gut
organisiert, obwohl er bereits das Gesicht seiner Mutter und andere
bedeutungsvolle Reize erkennen kann. Der Säugling sieht noch un-
scharf, und er kann komplexe Formen oder Farbkontraste noch nicht
unterscheiden. Er nimmt Gefahren durch Bewegung oder Berührung
wahr, aber nicht durch Sehen. Ein erster Schritt der Entwicklung des
Sehens ist es, wenn der Säugling lernt, einem sich bewegenden Objekt
oder einer Person mit den Augen und dann mit dem Kopf zu folgen.
Diese anpassende Reaktion erfordert, dass das Gehirn Informatio-
nen von den Augen- und Nackenmuskeln mit Informationen über
Schwerkraft und Bewegung aus dem Gleichgewichtsorgan integriert.
>> Ein Baby ist aufmerksam und glücklich, wenn es Menschen,
Tiere oder Spielsachen in Bewegung sieht und seine Fähig-
keit, sie mit den Augen zu verfolgen, üben kann.

Hörsinn  Das 1-monatige Kind reagiert auf den Klang einer Rassel
oder Glocke und auf die menschliche Stimme, obwohl es noch nicht
versteht, was diese Geräusche bedeuten. Es wendet seinen Kopf dem
Geräusch zu oder lächelt. Auf Geräusche zu reagieren ist der erste
Baustein der Sprachentwicklung. Der Säugling macht auch kleine,
kehlige Laute. Die Sinnesreize, die dabei durch die Muskelkontrak-
tionen in der Kehle entstehen, tragen dazu bei, die Sprachzentren im
Gehirn zu entwickeln.
2.2 • Die Entwicklungsstufen
25 2
Geruchs- und Geschmackssinn  Ein weiterer Sinn, der bereits zum
Zeitpunkt der Geburt gut entwickelt ist, ist der Geruchssinn. Er spielt
in den ersten Lebensmonaten eine wichtige Rolle. Wie der Gleich-
gewichts- und der Tastsinn prägte sich dieser Sinn bereits früh in der
Evolution von den Tieren aus, aus denen der Mensch sich entwickelt
hat. Der Geruchssinn verbessert sich im Laufe der Kindheit nicht
mehr, so wie etwa der Seh- und der Hörsinn.
Der junge Säugling hat auch schon einen gut ausgeprägten Ge-
schmackssinn. Das Saugen ist eine anpassende Reaktion, die durch
Geschmacks- und Geruchsreize ausgelöst wird. Der Saugreflex ist
normalerweise bei der Geburt vorhanden.
Der 1-monatige Säugling verfügt bereits über eine beträchtliche
Anzahl von anpassenden Reaktionen auf Sinnesreize, besonders auf
Empfindungen seines eigenen Körpers und des Schwerkraftsinns.
Viele dieser frühen Reaktionen sind bereits vorgeburtlich im Nerven-
system angelegt und werden durch Schwerkraft-, Bewegungs- und
Berührungsreize ausgelöst. Ohne die Integration, die während dieser
einfachen sensomotorischen Aktivitäten stattfindet, wäre eine gute
Entwicklung im späteren Leben unmöglich.

2.2.2 2. und 3. Lebensmonat

Augen und Nacken  Die motorischen Funktionen des Säuglings ent-


wickeln sich vom Kopf zu den Füßen. Augen und Nacken sind die
ersten Körperteile, die er kontrollieren kann. Kopf und Augen stabil
zu halten ist eine grundlegende Fähigkeit, die wichtig ist für das
Überleben. Zur visuellen Wahrnehmung gehört weit mehr als das
Sehen; die Augen müssen das Bild von dem Objekt und der Nacken
den Kopf stabil halten, sonst würde das Objekt verschwommen und
verwackelt erscheinen wie ein unscharfes Foto. Um das zu bewerk-
stelligen, muss das Gehirn Informationen von drei Sinnessystemen
integrieren: (1)  Schwerkraft- und Bewegungsempfindungen vom
Gleichgewichtsorgan im Innenohr; (2)  Sinnesempfindungen von
den Augenmuskeln und (3) Sinnesempfindungen von der Nacken-
muskulatur. Das Gehirn bringt diese drei Arten von Sinnesempfin-
dungen zusammen, um Information zu erhalten, wie es Augen und
Nacken stabil halten kann.
Während der Säugling sich in seiner Umgebung umschaut und
Personen und Dinge betrachtet (.  Abb.  2.3), ist sein Gehirn damit
beschäftigt, die Informationen von den Gleichgewichtsorganen, Au-
gen- und Nackenmuskeln zu integrieren. Durch diesen integrativen
Prozess lernt der Säugling, sich ein »scharfes Bild« von seiner Um-
gebung zu machen, selbst wenn sein Kopf in Bewegung ist. Diese
Entwicklung verläuft über mehrere Jahre und ist ein wichtiger Bau-
stein für das Lesen und auch für die Balance und grobmotorische
Geschicklichkeit.
26 Kapitel 2 • Die Entwicklung der sensorischen Integration

. Abb. 2.3  Das 3-monatige Kind hat den Drang, seinen Kopf und Oberkörper so
anzuheben, dass es seine Umwelt sehen und erforschen kann

Aufrichtung  Wenn man bedenkt, wie stark und beständig die Erd-
anziehung ist, wird klar, wie viel inneren Antrieb das Kind haben
muss, um in nur einem Jahr eine aufrecht stehende Position zu errei-
chen. Nachdem es gelernt hat, mit seinen Nackenmuskeln den Kopf
aufrecht zu halten, setzt es die obere Rücken- und Armmuskulatur
ein, um in Bauchlage die Brust vom Boden abzuheben. Der Drang
des Säuglings, den oberen Rumpf anzuheben, wird hauptsächlich von
Schwerkraftreizen verursacht, die das Gehirn dazu stimulieren, die
Rückenstreckmuskeln zu aktivieren. Das Kind lernt, mit guter Kopf-
kontrolle aufrecht zu sitzen, wenn es im unteren Rücken etwas unter-
stützt wird. Ein gewisses Maß an Herausforderung ist für jede Art
von Lernen notwendig: Würde man den ganzen Rücken unterstützen,
wäre die Herausforderung genommen, andererseits wäre das Sitzen
ohne Unterstützung in diesem Alter noch eine zu große Anforderung.

Greifen  Bei einem 3-monatigen Säugling sind die Hände die meiste
Zeit über offen. Er greift nach Gegenständen und Personen, doch fehlt
ihm noch die nötige Auge-Hand-Koordination, um dosiert danach
zu reichen. Diese Feinbewegung findet er allmählich heraus, indem
er die Informationen aus seinem Körper mit den Seheindrücken zu-
sammenbringt (integriert).
2.2 • Die Entwicklungsstufen
27 2
In diesem Alter setzt das Kind Daumen und Zeigefinger noch
nicht zum Greifen ein, sondern hält Dinge mit drei Fingern und der
Handfläche fest. Auf diese einfache Weise ergreift es eine Rassel, wäh-
rend sein Tastsinn Informationen an das Gehirn sendet, die umge-
setzt dazu beitragen, dass es sie festhalten kann. Da das Greifen im-
mer noch eine automatische Reaktion auf den Berührungsreiz in der
Handfläche ist, kann das Kind die Rassel nicht willkürlich loslassen.
In den nächsten Monaten wird das Kind dann die Tast-, Kraft- und
Stellungssinnempfindungen seiner Hände integrieren und so einen
immer geschickteren Zangengriff mit Daumen und Zeigefinger ent-
wickeln.

2.2.3 4. bis 6. Lebensmonat

Arme und Hände  Das Kind macht jetzt große Bewegungen: Es


schlägt z.B. mit dem Löffel auf den Tisch und erfreut sich daran,
dass es eine Wirkung auf die physische Welt hat. Diese sehr einfache
emotionale Zufriedenheit ist ein Baustein für die reiferen Emotio-
nen, die sich später entwickeln.
Das Kind beginnt jetzt, seine Hände zu berühren und anzuschau-
en; dadurch entwickelt es ein Bewusstsein, wo seine Hände im Raum
sind. Das Zusammenbringen von Eindrücken des Berührungs-,
Kraft- und Stellungssinns mit den visuellen Informationen ist nötig,
damit das Kind lernt, seine Hände genau auf die Dinge, die es sieht,
abzustimmen (Auge-Hand-Koordination). Dabei müssen zwei Teile
des Gehirns zusammenarbeiten: der Teil, der die Sehinformationen
und der Teil, der die Spürinformationen von Hand und Arm verarbei-
tet. Wenn das Kind beginnt, Daumen und Zeigefinger zu benutzen,
fehlt es seinem Griff noch an Genauigkeit. Da es seinen Drang zu
greifen schon besser zügeln kann, setzt es immer häufiger nur eine
Hand ein, nicht mehr beide.
Eine der wichtigsten Entwicklungen in diesem Alter ist, wenn das
Kind seine Hände spontan vor seinem Körper zusammenbringt, so
dass sie einander berühren. Dies ist der Anfang der Koordination von
beiden Körperseiten (bilaterale Koordination). Der nächste Schritt
zeigt sich einige Monate später, wenn das Kind in jeder Hand ein Spiel-
zeug hält und beide aneinanderschlägt. Diese Handlungen erfordern
eine wichtige Art von sensorischer Integration, die sich entwickeln
muss, lange bevor das Kind rechts und links unterscheiden kann.
>> Bei Kindern, die ihre Hände nicht vor dem Körper zusam-
menbringen und nicht Dinge/Spielzeuge aneinanderschla-
gen, findet man im späteren Alter oft Zeichen von sensori-
schen Integrationsstörungen.

Mit 6  Monaten kann das Kind sein Handgelenk drehen, so dass es


seine Hand wenden und auf viele neue Arten mit Gegenständen
hantieren und spielen kann. Die meisten Bewegungen in den ersten
6  Monaten waren automatisch, aber jetzt beginnt das Kind, Dinge
28 Kapitel 2 • Die Entwicklung der sensorischen Integration

. Abb. 2.4  Mit rund 6 Monaten streckt sich das Baby automatisch gegen die
Schwerkraft und orientiert seinen Kopf und seinen Körper im Raum

zu tun, die es planen muss. Für jede neue Spielaktivität ist mehr Be-
wegungsplanung und mehr sensorische Integration nötig. Das Kind
kann jetzt auch für kurze Zeit frei sitzen, ohne umzufallen. Die auto-
matischen muskulären Reaktionen, die es aufrecht halten, werden
von den Schwerkraft-, Bewegungs- und Seheindrücken gesteuert.
>> Kann das Gehirn die Informationen von Schwerkraft-, Be-
wegungs- und Sehsinn nicht gut integrieren, hat das Kind
Schwierigkeiten zu sitzen und versucht es möglicherweise
erst gar nicht.

Die Flugzeughaltung  Im Alter von ca. 6 Monaten ist das Nervensys-


tem des Kindes besonders empfindlich gegenüber der Schwerkraft.
Diese Empfindlichkeit löst einen starken Drang aus, in Bauchlage
Kopf, Schultern, Arme und Beine gleichzeitig anzuheben (. Abb. 2.4).
Das Kind balanciert seinen ganzen Körper auf dem Bauch und schaut
ein bisschen aus wie ein Flugzeug. Therapeutinnen sprechen in die-
sem Zusammenhang von der Flugzeughaltung (auch: Streck- oder
Extensionsmuster). Mit dieser Haltung werden die Muskeln entwi-
ckelt, die für das Rollen, Aufstehen und Gehen wichtig sind.
>> Können ältere Kinder die Flugzeugposition nicht halten, ist
dies oft ein Zeichen dafür, dass sie Schwierigkeiten haben,
Gleichgewichtsinformationen zu verarbeiten.

Freude an Bewegung  Das 6-monatige Kind liebt es, wenn man es


wiegt, hochhebt und in der Luft schwenkt, kopfüber dreht und rund-
herum bewegt. Diese Erfahrungen gehören zu den befriedigendsten
2.2 • Die Entwicklungsstufen
29 2
in der frühen Kindheit. Der Spaß daran stammt von den intensiven
Schwerkraft- und Bewegungsempfindungen, die das Kind jetzt inte-
grieren kann.
>> Wenn Bewegungen zu wild sind oder das Kind die Schwer-
kraft- und Bewegungsreize nicht integrieren kann, wirken
sie desorganisierend auf sein Nervensystem. Das Kind be-
ginnt zu weinen.

2.2.4 6. bis 8. Lebensmonat

Fortbewegung  Einer der wichtigsten Entwicklungsschritte in dieser


Zeit ist die Fortbewegung, d.h., von einem Ort zu einem anderen zu
kommen. Durch die Fortbewegung erweitert das Kind seine Mög-
lichkeiten, unterschiedliche Dinge und Orte zu erkunden. Robben . Abb. 2.5  Wenn das 8-monatige
Kind von einem Ort zum anderen
und Krabbeln auf Händen und Knien liefern viele Sinnesempfin-
krabbelt, macht es Erfahrungen mit
dungen, die verarbeitet und integriert werden müssen. Sie geben dem Raum und lernt, sich im Raum zu
dem Kind ein Bild von sich als einem unabhängigen Wesen. orientieren
Zuerst muss das Kind in Bauchlage kommen. Dabei hilft ihm der
sogenannte Nackenstellreflex sich vom Rücken auf den Bauch zu
drehen – eine Reaktion, die seit der Geburt besteht. Es ist derselbe
Reflex, der es einer Katze ermöglicht, auf den Füßen zu landen, selbst
wenn sie rücklings fallen gelassen wird. Ausgelöst wird der Reflex
von den Schwerkraftreizen und Sinnesempfindungen der Muskeln
und Gelenke im Nacken. Diese Reize aktivieren ständig die Nackens-
tellreaktion, so dass das Kind in diesem Alter viel Zeit in Bauchlage
verbringt.

Räumliche Wahrnehmung  Wenn das Kind sich fortbewegt, erfährt es


den Raum und die Entfernung zwischen sich und den Gegenständen
in seiner Umgebung (. Abb. 2.5). Es reicht nicht aus, die Dinge nur zu
sehen, um den Abstand einzuschätzen; das Gehirn muss den Abstand
durch die Sinnesempfindungen der Bewegung im Raum erleben.
Wenn das Kind von einem Ort zu einem anderen robbt oder krabbelt,
lernt es die physikalische Struktur des Raums kennen und versteht
so umfassender, was es sieht. Kann man Distanzen gut beurteilen, so
kann man auch besser einschätzen, wie groß die Dinge sind.
>> Hat ein 8-monatiges Kind Schwierigkeiten, die Sinnes-
erfahrungen des Robbens und Krabbelns zu integrieren, so
könnte es ihm später schwerfallen, Distanzen und Größen
einzuschätzen.

Finger und Augen (Visuomotorik)  Das Kind kann nun Daumen und
Zeigefinger für den Zangen- oder Pinzettengriff benutzen, um kleine
Dinge aufzuheben oder an einer Schnur zu ziehen. Es steckt seinen
Zeigefinger gerne in Löcher. Die Tastempfindungen und die Informa-
30 Kapitel 2 • Die Entwicklung der sensorischen Integration

tionen aus den Muskeln und Gelenken liefern grundlegende Informa-


tionen, um diese Bewegungen zu steuern. Für feine Handbewegungen
braucht man auch präzise Informationen von den Augen. Das Kind
2 muss seine Augenmuskeln gut kontrollieren können, um seine Augen
genau auf die Stelle zu richten, die es sehen muss. Diese genaue Au-
genkontrolle baut auf der einfachen Stabilisierung der Augen auf, die
das Kind zuvor in Bauchlage entwickelte, als es seinen Kopf hob und
umherkrabbelte.

Bewegungsplanung  Das Kind beginnt, seine Handbewegungen so


gut zu planen, dass es eine Glocke läuten oder einfache Dinge zusam-
mensetzen und auseinandernehmen kann. Damit wir eine Aktions-
serie in der richtigen Abfolge ausführen können, muss unser Gehirn
den Bewegungsablauf planen. Sensorische Informationen aus dem
Körper liefern die notwendigen Daten für die Planung.
In diesem Alter fängt das Kind an, nach Dingen zu suchen, die
verdeckt wurden oder hinuntergefallen sind. Durch die Erfahrungen,
die es gemacht hat, wenn es Dinge berührt oder sich um Dinge herum
bewegt hat, weiß es, dass sie auch noch existieren, wenn es sie nicht
sehen kann. Dies ist der Beginn der geistigen Fähigkeit, sich Dinge
vorstellen zu können.

Plappern  Das 8-monatige Kind hört so genau auf Geräusche, dass es


Feinheiten erkennen kann. So erkennt es vertraute Wörter und weiß,
dass bestimmte Geräusche etwas Bestimmtes bedeuten. Es kann ein-
fache Silben wie »ma« und »da« wiederholen, auch wenn das noch
keine richtige Sprache ist. Beim Plappern werden Sinnesempfindun-
gen von Kiefergelenk und -muskeln und von der Haut des Mundes
an das Gehirn gesendet. Je mehr dieser Sinneseindrücke das Gehirn
integriert, desto besser lernt das Kind, wie kompliziertere Laute ge-
formt werden.
>> Plappert ein 8-monatiges Kind nicht, kann dies ein Vorbote
sein, dass es Schwierigkeiten haben wird, sprechen zu ler-
nen.

2.2.5 9. bis 12. Lebensmonat

In dieser Periode verändert sich der Bezug des Kindes zur Erde und
zum Raum um seinen Körper sehr stark. Es kann nun über länge-
re Distanzen krabbeln und erkundet eine immer größer werdende
Umgebung. Sein Nervensystem wird durch die vielen Sinnesemp-
findungen der Muskulatur, die seinen Kopf und Körper gegen die
Schwerkraft halten, der Knochen, die sein Gewicht tragen, und von
der Schwerkraft stimuliert. Diese Sinneserfahrungen helfen dem
Kind, seine beiden Körperseiten zu koordinieren, seine Bewegungen
zu planen und visuelle Wahrnehmung zu entwickeln. Das Kind ver-
2.2 • Die Entwicklungsstufen
31 2
bringt viel Zeit damit, sich Dinge einfach anzusehen und herauszu-
finden, was sie sind. Je vielfältiger die Erfahrungen, die es bei seinen
Erkundungen macht, desto mehr übt es sich, Sinnesinformationen zu
verarbeiten und für anpassende Reaktionen zu nutzen.

Spiel  Beobachten Sie Ihr Kind, wie es Dinge zusammenschlägt,


sie vom Tisch zieht, sie herumwirft usw., und machen Sie sich be-
wusst, wie wichtig das ist, was es tut, und was es dabei wahrnimmt
(. Abb. 2.6). Häufig greift es mit einer Hand zur anderen Seite seines
Körpers hinüber. Durch diese Bewegungen entwickelt sich seine Fä-
higkeit, die Mittellinie zu überkreuzen. Kinder mit sensorisch-integ-
rativen Funktionsstörungen haben damit oft Schwierigkeiten. Jedes . Abb. 2.6  Gegen Ende des 1. Lebens-
Mal, wenn das Kind etwas zusammensetzt oder auseinandernimmt, jahres verfeinert das Kind spielerisch
seine Koordination und Handgeschick-
lernt sein Gehirn, eine Serie von Bewegungen in der richtigen Rei- lichkeit
henfolge zu planen und auszuführen. Jedes Mal, wenn es mit seinem
Löffel sein Essen »herumkleckert« oder mit einem Stift kritzelt, lernt
es etwas über Werkzeuge, und wie man sie benutzt.

Aufstehen  Eines der größten Ereignisse in der frühen Kindheit ist


das selbstständige Aufstehen. Nur wenigen Erwachsenen ist die Be-
deutung dieser bedeutenden Leistung bewusst, und was sie für das
Selbstvertrauen des Kindes bedeutet. Aufstehen ist das Endprodukt
der Integration von Informationen über Schwerkraft, Bewegung,
Muskelspannung und Gelenkstellungen der vorhergegangenen Mo-
nate. Um aufstehen zu können, müssen die Sinnesempfindungen al-
ler Körperteile integriert werden, auch die der Augen- und Nacken-
muskulatur, die weiterhin wichtig ist. Aufstehen ist eine beachtliche
Herausforderung, da ein relativ hoher Körper auf zwei kleinen Füßen
ausbalanciert werden muss. Es ist am besten, wenn man das Kind das
Aufstehen selbst üben lässt, damit es diese Herausforderung selbst
meistern kann (. Abb. 2.7).

Wörter  Das Kind versteht nun recht viel von dem, was seine Eltern
sagen; und selbst kann es schon einige einfache Wörter wie »Mama« . Abb. 2.7  Eines der größten Er-
oder »Dada« sagen. Es scheint, dass die durch die Körperbewegungen eignisse der frühen Kindheit ist das
freie Stehen und Gehen. Das Kind
erlebten Sinneserfahrungen Bereiche des Gehirns stimulieren, die an
überwindet die Schwerkraft – eine
der Lautbildung beteiligt sind. großartige Leistung, die sein Selbstver-
trauen stärkt

2.2.6 Das 2. Lebensjahr

In dieser Periode lernt das Kind zu gehen, zu sprechen und komplexe-


re Handlungen zu planen und erfolgreich auszuführen. Mit Sicherheit
wäre es für das Kind sehr schwierig, diese Dinge zu lernen, wenn es
nicht während des 1. Lebensjahres schon unzählige sensorische Infor-
mationen verarbeitet und integriert hätte. Und ohne die Integration,
die im 2. Lebensjahr stattfindet, wäre wiederum die weitere Entwick-
lung schwierig.
32 Kapitel 2 • Die Entwicklung der sensorischen Integration

Lokalisieren von Berührungen  Die Fähigkeit, Bewegungen zu pla-


nen, hängt von der Genauigkeit des Berührungssinns ab. Das Neu-
geborene nimmt bereits wahr, ob es berührt wird, und Berührungen
2 können seine Gefühlslage beeinflussen; aber es kann nicht orten, wo
es berührt wird. Als Reaktion auf die Berührung bewegt es seinen
Kopf, aber dies ist eine automatische Reaktion und keine willkürliche
Aktion. Im 2. Lebensjahr kann das Kleinkind nun grob sagen, wo es
berührt wird, und es kann seine Reaktionen auf die Berührung will-
kürlich steuern.
Tastempfindungen machen es offensichtlich angenehm, Dinge an-
zugreifen und festzuhalten; sie geben dem Gehirn Informationen, die
man nicht bekommt, wenn man die Dinge nur ansieht (.  Abb. 2.8).
Durch die Sinnesempfindungen der Haut spürt das Kind auch seine
Körpergrenzen. Dieses sensorische Sich-seines Körpers-bewusst-sein
ist weitaus grundlegender als das Anschauen eines Körpers auf einem
Bild.
Kinder, die Berührungsempfindungen nicht gut integrieren kön-
. Abb. 2.8  Im 2. Lebensjahr er-
nen, sind nicht in der Lage, genau zu spüren, wie ihr Körper aufgebaut
möglichen Tastinformationen dem
Kind, seine Hände immer präziser zu ist, und was jeder Körperteil tut. Deshalb fällt es ihnen schwer, neue
bewegen Dinge zu erlernen. Größtenteils lernen sie ohne Auffälligkeiten zu
sitzen, stehen und gehen, aber sie haben Schwierigkeiten, mit Spielsa-
chen zu spielen oder Knöpfe, Reißverschlüsse und Küchenutensilien
zu benutzen.
>> Wenn ein Kind ungeschickt mit Dingen umgeht oder oft
etwas fallen lässt, bekommt es wahrscheinlich keine guten,
genauen Tastinformationen von seinen Händen.

Bewegung  Im 2. Lebensjahr übt das Kind unzählige Variationen von


Bewegung, über die es weitere sensorische Erfahrungen macht, wie
sein Körper und die Umwelt funktionieren. Es hebt Dinge auf und
wirft sie, schiebt und zieht Spielsachen, geht Stufen hinauf und hin-
unter, erforscht sein Haus und die Welt draußen und ist überall mit-
tendrin, oft zur Verzweiflung seiner Eltern. Allerdings sollten Eltern
viel unglücklicher sein, wenn ihr Kind das nicht tun würde.
>> Ein Kind braucht Gelegenheiten, sich mit seiner Umgebung
auseinanderzusetzen, ebenso wie es Nahrung und Liebe
braucht.

Die »Landkarten« des Körpers  Kinder in diesem Alter lieben es, her-
umzutoben, zu schaukeln und Huckepack getragen zu werden. Diese
Aktivitäten liefern viele Sinnesempfindungen vom eigenen Körper
und den Schwerkraftrezeptoren im Innenohr. Sie vermitteln dem
Kind, wie die Erdanziehung funktioniert, wie sich seine Körperteile
bewegen und zusammenspielen, was sie nicht tun können, was sich
gut anfühlt, und was weh tut oder unangenehm ist. Alle diese Sinnes-
informationen formen im Gehirn ein inneres sensorisches Bild vom
2.2 • Die Entwicklungsstufen
33 2
Körper. Wir bezeichnen es als Körperschema. Um das Körperschema
besser zu verstehen, kann man es sich wie einen Weltatlas vorstellen,
mit Karten von jeder Gegend der Welt. Mit jeder Bewegung und Er-
fahrung über deren Folgen fügt das Kind die »Landkarten« seines
Körpers zusammen. Sein Gehirn speichert unzählige Informationen,
auf die es später zurückgreift, um die Bewegungen des Körpers zu
steuern.

Klettern  Kinder haben einen inneren Antrieb, den Raum nicht nur in
der horizontalen, sondern auch in der vertikalen Ebene zu erkunden.
Noch bevor sie gehen können, klettern sie an Gegenständen hoch.
Um klettern zu können muss das Kind die Schwerkraft- und Bewe-
gungsempfindungen gut verarbeiten. Schon während des Kletterns
integriert es diese Informationen mit den Sinneseindrücken des Kör- . Abb. 2.9  Im 2. Lebensjahr nimmt
das Kind sich selbst wahr und entwi-
pers und der Augen. Klettern erfordert sensomotorische Intelligenz
ckelt ein Unabhängigkeitsgefühl
und ist ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der visuellen Raum-
wahrnehmung.
Zweijährige lernen auch, Anweisungen und Aufträge zu verstehen
und zu befolgen. Die meisten Kinder lernen in diesem Lebensjahr,
zahlreiche Wörter auszusprechen; bei anderen findet der Sprachent-
wicklungsschub erst im 3. Lebensjahr statt.

Gefühl für das eigene Selbst  Erfährt sich das Kind über seine Körper-
empfindungen als selbständiges und kompetentes Individuum – se-
parat und sich unterscheidend von seiner Mutter und allen anderen
Menschen und Dingen – dann ist es auf dem besten Weg zu einem
gesunden Selbstbewusstsein. Das Gefühl für das eigene »Selbst« ent-
wickeln ist eine wichtige Aufgabe auf dem Weg zum 2. Geburtstag.
>> Das Kind nimmt sich als eigene Person wahr, weil es seinen
Körper als ein physisches Ganzes fühlt und sich selbststän-
dig bewegen kann.

Es ist nicht mehr der Schwerkraft ausgeliefert, es kann aufrecht stehen


und lange Strecken – auch bergauf und bergab – gehen, hüpfen und
klettern. Es kann sich verstecken und wieder auftauchen, weil es die
Dimensionen seines Körpers kennt. Versteck- und Guckguck-Spiele
sind eine wichtige Aktivität in dieser Altersstufe.
Das Erlebnis, etwas in seiner Umwelt bewirken zu können, fördert
das Selbstbewusstsein. Dem Kind macht es Spaß, Kochgeschirr aus
den Schränken zu räumen, Dinge umzuwerfen und mit Buntstiften
und Farbe zu kritzeln.
Ein Kind, das sich seinem 2. Geburtstag nähert, glaubt, sein Le-
ben selbst bestimmen zu können, und lässt die anderen das wissen.
Mit dem Wort »Nein« drückt es seine neu entdeckte Unabhängigkeit
aus (. Abb. 2.9). Das kann für die Eltern frustrierend sein, aber es ist
ein wichtiger Baustein in der Entwicklung sozialer Kompetenzen. Es
braucht viel Geduld und Verständnis, um den Widerstand des Kindes
gegen die Wünsche der Eltern gutheißen zu können.
34 Kapitel 2 • Die Entwicklung der sensorischen Integration

Das Kind kann sein Leben nur soweit selbst bestimmen, wie seine
Körperwahrnehmung ihm erlaubt, sich frei und effizient zu bewegen.
Sein Leben besteht weiterhin hauptsächlich aus Spüren und Bewegen,
2 Essen und Schlafen und den Beziehungen innerhalb seiner Familie.
>> Die Integration von Sinneseindrücken schafft die Grundlage
für gute zwischenmenschliche Beziehungen. Verhält sich
ein Kind im Umgang mit anderen Menschen auffällig, so
kann dies mit Schwierigkeiten zusammenhängen, die Sin-
nesreize zu verarbeiten.

Obwohl das Kind nun die ersten Schritte in Richtung einer selbst-
ständigen Persönlichkeit gemeistert hat, hat es noch einen langen Weg
vor sich, bis es unabhängig ist. Es braucht noch eine Menge Unter-
stützung, Ermutigung und Trost. Viel davon bekommt es, wenn es
umarmt und festgehalten, gewiegt, geknuddelt und liebkost wird. Be-
ruhigende Sinneserfahrungen wirken integrierend und helfen einem
aus der Fassung geratenen Kind, sich wieder zu organisieren.

2.2.7 3. bis 7. Lebensjahr

In diesen 5 Jahren wächst das Kind zu einem sensomotorischen We-


sen heran, das mit vielen verschiedenen Menschen sprechen und Be-
ziehungen aufbauen kann. Höhere intellektuelle Funktionen entwi-
ckeln sich erst nach dem 7. Lebensjahr, und sie entwickeln sich besser
auf einer guten sensomotorischen Grundlage.
Das 3. bis 7. Lebensjahr ist eine entscheidende Phase für die sen-
sorische Integration. In dieser Zeitspanne ist das Gehirn von Natur
aus am aufnahmefähigsten für Sinneseindrücke und kann sie auch
am besten verarbeiten. Aufgrund seines inneren Antriebs ist das Kind
sehr aktiv und lernt, seinen Körper auf unzählige Arten einzusetzen.
Seine anpassenden Reaktionen werden immer komplexer, und mit
jeder anpassenden Reaktion verbessert sich seine Fähigkeit, Sinnes-
informationen zu integrieren.
>> 3- bis 7-jährige Kinder rennen, springen, hüpfen, hopsen,
rollen, rangeln, klettern und schaukeln. Sie machen dies aus
Spaß an der Sache; und der Spaß kommt daher, dass sich
die sensorische Integration entwickelt.

Achten Sie auf die Verbesserungen der Balance, der Auge-Hand-


Koordination und der Planung von Bewegungsabläufen. Beachten
Sie, wie die Kinder Dinge ausprobieren, die gefährlich sind, um die
Grenzen ihrer sensomotorischen Fähigkeiten auszuloten. Beachten
Sie auch, wie sie es mit der Schwerkraft aufnehmen und mit dieser
mächtigen und unnachgiebigen Kraft umgehen. Spielplätze sind bei
Kindern beliebt, weil die Schaukeln, Rutschen, Karusselle, Kletterge-
rüste, Wippen, Tunnel und Sandkästen die Bedürfnisse ihres in Ent-
wicklung befindlichen Nervensystems befriedigen.
2.2 • Die Entwicklungsstufen
35 2
Werkzeuggebrauch  In diesem Alter lernt das Kind, einfache Werk-
zeuge wie Messer und Gabel, Eimer und Schaufel, Nadel und Faden,
Schere, Stifte und Papier, Schnürsenkel, Reißverschluss, Knöpfe und
andere Haushaltsgeräte zu benutzen (.  Abb. 2.10). Bei jeder Aufgabe
muss das Kind auf alle sensorischen Informationen zurückgreifen, die
das Gehirn während früherer Aktivitäten gespeichert hat. Erwachse-
ne nehmen es als gegeben an, aber Sinnesinformationen vom Körper
sind absolut notwendig, um dem Gehirn zu sagen, wie man eine Hose
anzieht, Butter auf eine Scheibe Brot streicht oder ein Loch in die Erde
gräbt.
Gegen Ende dieser Phase »polieren« speziell Mädchen ihr Bewe-
gungsgeschick noch einmal auf, indem sie anspruchsvolle Geschick-
lichkeitsspiele wie Himmel und Hölle, Hampelmann, Hula-Hoop,
Seilspringen und Gummihüpfen spielen. Jungen messen lieber ihre
Kräfte und treiben Sport.
Mit 8 Jahren ist die Entwicklung des Berührungssinns praktisch
abgeschlossen. Das Kind kann meist sehr genau sagen, wo es berührt . Abb. 2.10  Zwischen 3 und 7 Jahren
wurde. Ebenso ist der Gleichgewichtssinn fast ausgereift. Das Kind wird das Kind immer geschickter im
kann auf einem Bein stehen und auf einer schmalen Oberfläche ba- Umgang mit Werkzeugen

lancieren. Die meisten Informationen von den Muskeln und Gelen-


ken sind gut integriert; ebenso gut ist die Fähigkeit, eine Handlungs-
abfolge zu planen, und sie wird sich in den nächsten Jahren noch
weiter verbessern. Das Kind versteht und spricht seine Muttersprache
so gut, dass es seine Bedürfnisse und Interessen ausdrücken kann.
>> Jean Piaget, der renommierte Beobachter von Kindern,
stellte fest, dass Kinder vor dem 7. oder 8. Geburtstag kaum
zu abstrakten Gedanken und Überlegungen fähig sind.

Piaget nahm an, dass das menschliche Gehirn nicht dazu geschaffen
ist, Abstraktionen zu verarbeiten, bevor es nicht konkrete Kenntnis
vom Körper und von der Welt mit ihren physischen Kräften hat. Es
ist einfach notwendig, sich  7 oder 8  Jahre lang zu bewegen und zu
spielen, damit die sensomotorische Intelligenz sich entwickeln kann
– als Grundlage für die weitere intellektuelle, soziale und persönliche
Entwicklung.
Aber manchmal läuft die Entwicklung nicht so ab, wie die Natur
es vorgesehen hat. Wir können nicht sagen, warum das so ist, aber wir
erkennen, wenn Kinder Schwierigkeiten haben, Sinnesinformationen
zu verarbeiten und zu integrieren. Wir können die Natur zwar nicht
ersetzen und alles in Ordnung bringen, aber wir können einiges tun,
um dem Kind zu helfen, sich besser zu organisieren. Dies verdanken
wir dem Umstand, dass Kinder ihrem inneren Antrieb zu sensori-
scher Integration folgen. Je besser Sie Ihr Kind beobachten, desto bes-
ser werden Sie ihm helfen können.

Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Dr. Susan Knox zu den Punkten, die in diesem
Kapitel angesprochen werden, finden Sie in Anhang A.
37 3

Das Nervensystem von innen


Die Funktionsweise des Gehirns und die Bedeutung
der Sinne

3.1 Wie unser Gehirn arbeitet – 38


3.1.1 Ein kurzer Überblick – 38
3.1.2 Bestandteile des Nervensystems – 39

3.2 Wie das Gehirn Informationen verarbeitet – 45


3.2.1 Die Nervenbahnen – 45
3.2.2 Die Synapse – 46
3.2.3 Bahnung und Hemmung – 48
3.2.4 Entwicklung der Nervenverbindungen – 48

3.3 Die Bedeutung von Sinnesreizen – 50


3.3.1 Mehr als fünf Sinne – 50
3.3.2 Der Gleichgewichtssinn (vestibulärer Sinn) – 54
3.3.3 Sensibilität der inneren Organe (viszeraler Sinn) – 56

3.4 Sinnesinformationen und das »ganze« Gehirn – 56


3.5 Wie das Gehirn lernt, Sinnesinformationen zu
integrieren – 57
3.5.1 Wie ältere Kinder und Erwachsene lernen – 57
3.5.2 Das Lernen lernen – 58
3.5.3 Lernen in der Therapie – 58

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
38 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen

»Im Lernen und Verhalten Verhalten und Lernen sind der sichtbare Ausdruck der unsichtbaren
wird sichtbar, wie das Aktivität des Gehirns. Im Lernen und Verhalten wird sichtbar, wie
Gehirn Sinnesinformationen Sinnesinformationen verarbeitet werden. Um die sensorische Integ-
verarbeitet.« ration besser zu verstehen, muss man die Struktur und Funktionen
des Nervensystems kennen. In diesem Kapitel erklären wir die neuro-
nalen Prozesse, die dafür verantwortlich sind, dass Ihr Kind lernt und
3 bestimmte Verhaltensweisen zeigt. Im ersten Teil beschreiben wir die
Struktur und die Funktionen des Gehirns, im zweiten Teil beschäf-
tigen wir uns mit den Sinnessystemen und ihrer Bedeutung für die
Entwicklung.

3.1 Wie unser Gehirn arbeitet

3.1.1 Ein kurzer Überblick

Das Nervensystem besteht aus den zwei Großhirnhälften, dem Klein-


hirn, dem Hirnstamm, dem Rückenmark und zahlreichen Nerven,
die jeden Körperteil erreichen. Jede dieser Strukturen enthält viele
Nervenzellen, die sogenannten Neurone. Jedes Neuron hat eine Faser,
die elektrische Impulse leitet. Die Neurone, die Impulse vom Kör-
per zum Gehirn leiten, heißen sensorische Neurone; diejenigen, die
Impulse vom Gehirn zu den Muskeln und inneren Organen leiten,
werden motorische Neurone oder Motoneurone genannt.
»Über 80% des Nervensystems Hauptaufgabe der Neurone ist es, uns über unseren Körper und
sind mit der Verarbeitung unsere Umgebung zu informieren und unsere Handlungen und
von Sinnesinformationen Gedanken zu produzieren und zu steuern. In jedem Teil unseres
beschäftigt.« Körpers gibt es »Organe«, die die Sinnesreize aufnehmen (soge-
nannte Sinnesorgane oder Rezeptoren). Sie nehmen die Energie auf
ähnliche Weise auf wie ein Radioempfänger die Funkwellen in der
Luft aufnimmt. Die Rezeptoren der Augen nehmen Lichtwellen auf,
die Rezeptoren der Nase Gerüche; und die Rezeptoren der Muskeln
sind empfindlich für die Spannung oder Dehnung des Muskels. Jeder
Rezeptor wandelt die Energie in elektrische Impulse um, die in den
sensorischen Nervenfasern zum Rückenmark und weiter zum Gehirn
geleitet werden. Der Strom von elektrischen Impulsen zum Gehirn
wird sensorischer Input genannt.
Rückenmark, Hirnstamm, Kleinhirn und die beiden Hemisphä-
ren des Großhirns nutzen den sensorischen Input von den Rezepto-
ren, um Bewusstseinszustand, Wahrnehmung und Wissen zu produ-
zieren und Körperhaltung und Bewegungen inkl.deren Planung und
Koordination, Emotionen, Gedanken, Erinnerungen und das Lernen
zu steuern. Über 80% des Nervensystems sind mit der Verarbeitung
von sensorischen Informationen beschäftigt.
>> Das Gehirn ist in erster Linie ein Informationsverarbeitungs-
system.
3.1 • Wie unser Gehirn arbeitet
39 3

. Abb. 3.1  a-c Wenn das Gehirn als Ganzes und ausbalanciert arbeitet, sind die Körperbewegungen sehr adaptiert, das
Lernen fällt leicht, und soziales Verhalten ist eine natürliche Sache

Die sensorische Verarbeitung ist äußerst komplex, da die verschie-


denen Arten von Sinnesinformationen überall im Gehirn miteinan-
der vermischt werden. Das Produkt dieser komplexen sensorischen
Verarbeitung ist eine »Nachricht« im Gehirn, die über die Moto-
neurone in Körperaktivität umgesetzt wird. Jeder Muskel besitzt viele
Motoneurone. Werden sie durch elektrische Impulse aktiviert, so ver-
anlassen sie, dass sich der Muskel zusammenzieht. Zahlreiche Mus-
kelkontraktionen müssen kombiniert werden, um Augen und Kopf
zu drehen, damit man sich etwas ansehen kann, oder um die Hände
und Finger zu bewegen, damit man mit einem Gegenstand hantie-
ren kann, oder um den Körper von einem Ort zu einem anderen zu
bewegen.
Damit diese Muskelkontraktionen koordiniert und effizient sind, »Sensorische Integration ist
muss die Aktivität des Gehirns gut organisiert sein und geordnet ab- der Prozess, die Sinnesinforma-
laufen. Sensorische Integration ist der Prozess des Verarbeitens von tionen zu verarbeiten, so dass
Sinnesinformationen, so dass das Gehirn eine zweckmäßige kör- das Gehirn eine zweckmäßige
perliche Reaktion und sinnvolle Wahrnehmungen, Emotionen und körperliche Reaktion und
Gedanken produzieren kann. Bei der sensorischen Integration wer- sinnvolle Wahrnehmungen,
den alle Sinnesinformationen sortiert, geordnet und schließlich für Emotionen und Gedanken
eine umfassende Funktion des ganzen Gehirns zusammengestellt produzieren kann.«
(. Abb. 3.1).

3.1.2 Bestandteile des Nervensystems

Wir werden nun die Strukturen und Funktionen des Gehirns detail-
lierter betrachten. .  Abb.  3.2 zeigt die Teile des Gehirns, die wir in
diesem Abschnitt behandeln werden.

Die Nervenzelle
Nervenzellen oder Neurone sind die Leistungsträger des Nervensys- »Schätzungen zufolge breitet
tems. Durchschnittlich hat man etwa 12 Milliarden (12.000.000.000) sich ein Impuls in einer einzigen
Neurone. Diese Zahl, die fast das Doppelte der Erdbevölkerung aus- Sekunde über bis zu einer
macht, lässt erahnen, wie komplex neuronale Funktionen sind. Million Nervenzellen in vielen
Jedes Neuron besteht aus einem Zellkörper und einer Faser, verschiedenen Gebieten des
die sich in viele kleinere Fasern verzweigt (.  Abb. 3.3). Manche der Gehirns aus.«
40 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen

. Abb. 3.2  Ansicht des Gehirns im


Längsschnitt

. Abb. 3.3  Das Neuron

Verästelungen eines Neurons haben Verbindungsstellen zu anderen


Neuronen. Die meisten Nervenfasern haben Tausende von Veräs-
telungen, was Verbindungen zu Tausenden anderen Neuronen er-
möglicht. Die Verästelungen all dieser Neurone kreuzen sich wie die
Zweige von Bäumen in einem dichten Wald, aber wesentlich komple-
xer. Jedes Neuron leitet die Signale nur in eine Richtung weiter, doch
manche Impulse wirken durch einen Regelkreis auf das erste Neuron
zurück. Der Fluss von elektrischen Impulsen durch dieses kompli-
zierte Netzwerk ist für unser Lernen und Verhalten verantwortlich.
Nervenfasern leiten Hunderte von Impulsen pro Sekunde, und
diese Impulse breiten sich in viele Richtungen gleichzeitig aus. Ein
Impuls breitet sich in einer einzigen Sekunde schätzungsweise über
eine Million Neurone in verschiedenen Teilen des Gehirns aus. Daher
kann ein einziges Geräusch oder eine Berührung auf dem Finger im
selben Augenblick Bewusstsein, Bedeutung, Gedanken, Emotionen,
Lernen und Verhalten auslösen. Diese Aktivität in unserem Nerven-
system übersteigt unser Vorstellungsvermögen.
>> Die Aktivität in unserem Nervensystem zu organisieren
kommt einer Meisterleistung gleich!

»Wenn Sie Ihr Kind beobachten, Stellen Sie sich vor, wie ungeheuer komplex die innere Welt Ihres
wie es übt, seine Schnürsenkel Gehirns ist, während Sie dieses Buch lesen. Und wenn Sie Ihr Kind
zu binden, dann denken Sie beobachten, wie es übt, seine Schnürsenkel zu binden, oder wie es auf
an die unzähligen elektrischen einer Geburtstagsfeier »überdreht« wird, dann denken Sie an die un-
Impulse, die für diese Aktivität zähligen elektrischen Impulse, die dafür verantwortlich sind.
verantwortlich sind.«
Nervenbahnen und Kerne
Viele Neurone sind in langen dünnen Bündeln zusammengefasst,
den sogenannten Nervenbahnen. Die meisten Nervenbahnen leiten
nur eine Art von Sinnesinformation oder motorischen Impulsen von
3.1 • Wie unser Gehirn arbeitet
41 3
einem Ort im Nervensystem zu einem anderen, nur manche sind für
mehrere Arten von Reizen (Sinnesmodalitäten) zuständig. Ähnlich
wie Telefonleitungen, die jedes Gespräch einzeln übertragen, stellt
dieser geordnete Verlauf der Nervenbahnen sicher, dass die Infor-
mationen nicht durcheinanderkommen. Wir haben separate Nerven-
bahnen für visuelle Impulse, Geräusche, Gerüche usw.
Kerne sind Anhäufungen von Nervenzellen, die als eine Art
Schnittstelle von sensorischen oder motorischen Informationen
funktionieren. Sie nehmen die sensorischen Impulse auf, ordnen sie
neu, verfeinern die Information und bringen sie in Bezug zu anderen
Informationen. Visuelle Informationen von der Netzhaut z.B. passie-
ren auf ihrem Weg zum Großhirn Kerne im Hirnstamm (. Abb. 3.4),
in denen sie neu geordnet, verfeinert und mit anderen Sinnesinfor-
mationen abgestimmt werden; dann erst werden die integrierten Bot- . Abb. 3.4  Hirnstamm, Rückenmark
schaften an die Areale in den Großhirnhemisphären weitergeleitet
(. Abb. 3.6). Dort werden die Informationen noch detaillierter aufbe-
reitet und an motorische und andere Zentren weitergeleitet, die dann
die Reaktion vorbereiten und veranlassen. An jeder Stelle werden vie-
le Arten von Informationen zu einer immer umfassenderen Botschaft
zusammengestellt.

Das Rückenmark
Das Rückenmark enthält zahlreiche Nervenbahnen: Bahnen, die die
sensorischen Informationen zum Gehirn leiten, und Bahnen, die die
motorischen Befehle zu den Nerven in den Körper bringen, die dann
diese Befehle an die Muskeln und Organe weitertragen (.  Abb. 3.4).
Zu einem Teil dient die absteigende Aktivität im Rückenmark der Hal-
tungs- und Bewegungskontrolle, zum anderen werden die Funktionen
der inneren Organe reguliert. Eine geringfügige Verarbeitung von Sin-
nesinformationen erfolgt bereits im Rückenmark, der Großteil findet
im Gehirn statt. Das Gehirn ist besser für die sensorische Integration
geeignet, da die Neurone im Gehirn die meisten Verbindungen haben.
>> Sensorische integrative Funktionsstörungen betreffen das
Gehirn und nicht das Rückenmark.

Der Hirnstamm
Der Hirnstamm ist eine kegelförmige Ansammlung von Neuronen,
die in Höhe der Ohren liegt (. Abb. 3.4). Die sensorischen Bahnen des
Rückenmarks setzen sich im Hirnstamm fort, und zusätzlich enthält
der Hirnstamm viele wichtige und komplexe Kerne. In vielen Kernen
kommen die Impulse von zwei oder mehreren Sinnesmodalitäten zu-
sammen. Es ist der Hirnstamm, wo die vielen Sinneseindrücke einer
Orange (wie in  7  Kap.  2 beschrieben) zur ganzheitlichen Wahrneh-
mung der Orange verschmelzen. Die meisten Hirnstammaktivitäten
sind automatisch, d.h., sie finden ohne unsere Absicht statt, und ohne
dass wir darüber nachdenken.
Der Mittelpunkt des Hirnstamms wird von einer Gruppe von
Neuronen und Kernen gebildet, die netzartig miteinander verbunden
42 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen

Sensorische Integration verstehen


3
Möglicherweise haben Sie bisher gedacht, dass das Gehirn
etwas „Wissenschaftliches“ ist, mit dem Sie in Ihrem Alltag wenig zu tun
haben. Aber die Aktivitäten unseres Gehirns begleiten uns den ganzen Tag,
z.B. die Aktivität der Formatio reticularis: Sie ist verantwortlich dafür, dass wir am
Morgen wach werden und am Abend zur Ruhe kommen.
Damit die Formatio reticularis überhaupt aktiv werden kann, braucht sie Sinnesreize.
Deshalb lassen wir uns von einem Wecker, kaltem Wasser oder einem Klaps aufwecken,
gehen zu einem Morgenspaziergang an die frische Luft oder verschaffen uns auf andere
Art starke Sinnesreize. Am Abend hingegen soll sich die Formatio reticularis beruhigen.
Also liegen wir in einem abgedunkelten Raum ruhig in unserem weichen, warmen Bett.
Die Fehlen von Sinnesinformationen lässt uns einschlafen.

. Abb. 3.5  Sensorische Integration verstehen

.  Abb. 3.5 Sensorische Integration verstehen

sind. Wissenschaftler, die das Nervensystem mikroskopisch unter-


sucht haben, haben sie daher Netzkörper (Formatio reticularis oder
F.R.) genannt. Das lateinische Wort »reticularis« bedeutet »vernetzt«,
und die Formatio reticularis ist tatsächlich noch komplexer vernetzt
als die anderen Gehirnstrukturen. Sie enthält Fasern, die sie mit
jedem sensorischen System, vielen Motoneuronen und den meisten
anderen Teilen des Gehirns verbinden.
>> Aufgrund ihrer komplexen Vernetzung spielt die Formatio
reticularis eine Schlüsselrolle bei der Verarbeitung und Inte-
gration von sensomotorischen Aktivitäten.

Der Netzkörper im Hirnstamm enthält die autonomen Kerne, die


die Informationen von Blutkreislauf und lebenswichtigen Organen
verarbeiten und nutzen, um Herzschlag, Atmung und Verdauung zu
regulieren. Andere Kerne wirken als »Weckzentren« für das ganze
Nervensystem; diese Zentren machen uns wach, beruhigen oder er-
regen uns (.  Abb. 3.5). Wieder andere Kerne tragen erheblich dazu
bei, dass die kortikalen Aktivitäten in den Hemisphären organisiert
ablaufen, was uns ermöglicht, die Aufmerksamkeit von einer Sache
zu einer anderen zu lenken.
>> Funktionieren die Prozesse in der Formatio reticularis nicht
regelrecht, kommt es zu Aufmerksamkeitsstörungen und
leichter Erregbarkeit bei alltäglichen Ereignissen.
3.1 • Wie unser Gehirn arbeitet
43 3
Vestibuläre Kerne und Kleinhirn
Der Hirnstamm enthält zudem eine Gruppe von äußerst komplexen
Kernen, die die Impulse von den Schwerkraft- und Bewegungsrezep-
toren im Innenohr verarbeiten und diese Informationen für die Kon-
trolle der aufrechten Haltung, der Balance und vieler anderer auto-
matischer Funktionen verwenden. Die Vestibulariskerne im Hirn-
stamm verarbeiten auch Informationen anderer Sinne, besonders des
Kraft- und Stellungssinns.
Das Kleinhirn befindet sich auf der Rückseite des Hirnstamms.
Ursprünglich war das Kleinhirn ein Auswuchs der vestibulären
Kerne, und deshalb sind die Funktionen des Kleinhirns zum Teil
eine Erweiterung der Funktionen der Vestibulariskerne. Das Klein-
hirn verarbeitet alle Sinnesmodalitäten, speziell aber Schwerkraft-,
Bewegungs-, Muskel- und Gelenkempfindungen. Es sorgt dafür, dass
wir unsere Körperbewegungen geschmeidig und exakt ausführen
können.
. Abb. 3.6  Die Großhirnhemisphäre
Die Großhirnhälften
Die beiden Hirnhälften oder Hemisphären des Großhirns (. Abb. 3.6),
die sich auf der rechten und linken Seite des Kopfes befinden, machen
den größten Anteil an der Gehirnmasse aus. In den Großhirnhälf-
ten finden die komplexesten Verarbeitungsprozesse der sensorischen
Informationen statt; sie liefern uns exakte und detaillierte Auskunft
über einen Reiz. Des Weiteren liegen hier Strukturen, die die Körper-
bewegungen planen und ausführen, und auch das limbische System.
Das limbische System ist eine Gruppierung von Strukturen, die für
das emotionale Verhalten verantwortlich sind. Diese »Gefühlszent-
ren« erhalten sensorischen Input, damit sie emotionale Reaktionen
und die emotionale Reifung regulieren können.

Die Hirnrinde
Die äußere Schicht der Hirnhälften wird Hirnrinde (lat. Kortex)
genannt. Die Hirnrinde des menschlichen Gehirns ist hoch spezia-
lisiert; es gibt eigene Bereiche (sogenannte Felder) für die visuelle
Wahrnehmung, die Interpretation von Umgebungsgeräuschen, das
Sprachverständnis, große Bereiche für die Interpretation von Körper-
empfindungen und mehrere Bereiche für die willkürliche Kontrolle
von Körper- und Augenbewegungen. Die Areale, in denen die Kör-
perempfindungen verarbeitet und willkürliche Bewegungen gesteu-
ert werden, sind in einzelne Abschnitte unterteilt: Jeder Abschnitt
ist einem Körperteil zugeordnet. Dabei sind die Abschnitte für die
Finger, Hände und Sprachmuskeln viel größer angelegt als diejenigen
für die anderen Körperteile.
>> Eine besonders wichtige Funktion der Hirnrinde ist es, präzi-
se und komplizierte Handbewegungen wahrzunehmen und
zu steuern, z.B. Essbesteck oder einen Stift benutzen, oder
zu sprechen.
44 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen

Viele Rindenfelder sind auf eine bestimmte Sinnesmodalität spezia-


lisiert. Sie erhalten aber auch Informationen von den anderen Sin-
nessystemen; im visuellen Rindenfeld z.B. werden auch Hör-, Berüh-
rungs- und Bewegungsempfindungen verarbeitet. Kortikale Nerven-
zellen sprechen häufig auf zwei oder mehrere Sinnesmodalitäten an.
Auf diese Weise setzt sich die Integration aller Sinnesinformationen
3 in der Hirnrinde fort. Das ist die Grundlage dafür, dass wir Assozia-
tionen zwischen den Empfindungen verschiedener Sinnesmodalitä-
ten herstellen können.
In der Hirnrinde finden sich auch die sogenannten Assoziations-
felder. Durch die Aktivität in diesen Arealen werden viele verschie-
dene Arten von sensorischen Informationen zu einer ganzheitlichen
Wahrnehmung zusammengefügt. Visuelle Wahrnehmung entsteht
im Hirnstamm, und im visuellen Rindenfeld wird die Information
präzisiert. Dann wird diese Information zu den visuellen Assozia-
tionsarealen weitergeleitet, wo sie mit Erinnerungen an andere visu-
elle Erfahrungen verknüpft wird, und dann weiter zu anderen Asso-
ziationsfeldern, wo eine verstandesmäßige Interpretation erfolgt und
eine willkürliche Reaktion geplant wird.

Beispiel
Tastet ein Kind ein Puzzleteilchen ab, werden die taktilen Empfindun-
gen seiner Finger zunächst im Hirnstamm verarbeitet. Die Details wer-
den dann im somatosensorischen Feld der Hirnrinde erkannt und in
den Assoziationsfeldern mit anderen Puzzleteilchen verglichen. Das
Kind braucht diesen umfassenden sensorischen Input, damit sein
Gehirn eine Entscheidung treffen kann, wohin dieses Puzzleteilchen
passt.

Weil die kortikalen Gebiete so wichtig für die höchste Ebene der sen-
sorischen Verarbeitung sind, zu der auch die bewusste Wahrnehmung
gehört, werden Wahrnehmungs- oder Lernstörungen oft für korti-
kale Probleme gehalten. Doch die neurowissenschaftliche Forschung
hat gezeigt, dass die niedrigeren Hirnebenen eine wesentlich wich-
tigere Rolle spielen. Die »höhere« kortikale Verarbeitung ist näm-
lich abhängig von der sensorischen Verarbeitung auf den niedrigeren
Ebenen. Wenn der Kortex nicht gut funktioniert, ist es leicht möglich,
dass bereits auf niedrigeren Ebenen ein Problem besteht.

zz Seitenspezialisierung
Die beiden Hirnhälften haben unterschiedliche Funktionen und
Arbeitsweisen, jede Hemisphäre ist auf bestimmte Funktionen spezia-
lisiert. Diese Seitenspezialisierung wird auch Lateralisation genannt,
abgeleitet vom lateinischen Wort für »Seite«. Unter Wissenschaftlern,
die sich mit Sprach- und Lernproblemen beschäftigen, ist der Prozess
der Lateralisation seit Jahrzehnten ein Diskussionsthema. Die Seiten-
spezialisierung ist noch nicht umfassend verstanden.
3.2 • Wie das Gehirn Informationen verarbeitet
45 3
Die sensorischen und motorischen Funktionen sind bereits in der
frühen Kindheit lateralisiert. Auf ihrem Weg zum Großhirn kreuzt
ein Großteil der sensorischen und motorischen Bahnen in Höhe des
Hirnstamms auf die andere Körperseite, d.h., die Impulse von der
rechten Körperseite kommen in der linken Hemisphäre an und wer-
den dort in den Kontrollzentren für die rechte Körperseite verarbeitet,
und die sensorische Verarbeitung und motorische Steuerung der lin-
ken Körperseite findet in der rechten Hemisphäre statt.
Jede Hirnhälfte ist auf bestimmte Funktionen spezialisiert. Bei
Rechtshändern übernimmt die linke Hirnhälfte die Steuerung der
Feinmotorik (z.B. Schreiben), deshalb schreiben sie mit der rech-
ten Hand. Auch für die Sprachproduktion ist die linke Hirnhälfte
zuständig, während die rechte auf die räumlichen Aspekte von visu-
ellen und taktilen Eindrücken spezialisiert ist. Bei manchen Links-
händern sind die Hirnhälften genauso spezialisiert wie bei Rechts-
händern, bei anderen ist die Seitenspezialisierung umgekehrt. An
komplexen Funktionen sind immer beide Hirnhälften beteiligt, und
sie müssen gut zusammenarbeiten.
Eine gute Spezialisierung der Funktionen führt normalerweise zu
einer Steigerung und Effizienz der Gesamtleistung der Hirnfunktion,
während ein schlechtes Spezialisiert-Sein oft Auswirkungen auf die
Sprachentwicklung und das schulische Lernen hat. Eine gute Late-
ralisation steht wahrscheinlich für ein normales Wachstum und eine
ungestörte Reifung des Gehirns. Eine ungenügende Lateralisation
kann durch verschiedenste Störungen der Hirnfunktion verursacht
werden.
Die detaillierte räumliche Wahrnehmung, Sprechen und Sprache
sowie das kognitive Denken sind die kompliziertesten Funktionen
unseres Gehirns. Sie erfordern exakte Arbeitsabläufe in beiden Hirn-
hälften. Die beiden Hemisphären können aber nur gut zusammen-
arbeiten, wenn der Hirnstamm gut funktioniert. Bei den meisten
Menschen arbeiten die beiden Hirnhälften automatisch koordiniert
zusammen, ohne dass es ihnen bewusst ist.
>> Eine ungenügende Koordination der beiden Großhirnhälf-
ten kann bei Kindern und auch Erwachsenen zu Beeinträch-
tigungen im Lernen und Verhalten führen.

3.2 Wie das Gehirn Informationen verarbeitet

3.2.1 Die Nervenbahnen

Neuronale Impulse müssen mindestens zwei Neurone passieren, da-


mit sie eine sensorische Erfahrung, eine motorische Reaktion oder
einen Gedanken produzieren können. Je komplexer eine Funktion ist,
desto mehr Neurone sind an der Reizleitung beteiligt. Jedes Neuron
fügt neue Elemente zu einer Erfahrung oder Reaktion der Person
46 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen

. Abb. 3.7  Kinder reagieren auf dieselbe Sinneserfahrung sehr unterschiedlich


(mit freundl. Genehmigung von Danette Piantanida 2005)

hinzu (.  Abb. 3.7). Das menschliche Nervensystem funktioniert auf


eine typische Art und Weise, so dass wir alle auf eine ähnliche Weise
wahrnehmen und reagieren.
Wie lernen wir, was verschiedene Sinneseindrücke bedeuten, und
wie man darauf reagiert? Warum nehmen manche Menschen einen
Reiz wahr und andere nicht? Warum nehmen wir nicht alle Reize
wahr, die auf unser Nervensystem treffen? Was hält uns von Über-
reaktionen ab?

Beispiel
Stellen Sie sich vor, Sie kommen mit den Fingern an einen heißen Ofen.
Die Hitze aktiviert die taktilen Rezeptoren in Ihrer Haut, die Schmerz-
impulse erzeugen. Diese werden über die sensorischen Nervenbahnen
von Ihrer Hand über Ihren Arm zum Rückenmark geleitet. Dort enden
sie und setzen in dem mikroskopisch kleinen Spalt zur nächsten Ner-
venfaser – in der Synapse – einen chemischen Botenstoff frei. Dieser
Botenstoff trägt die elektrische Energie dann zu einer Gruppe von
motorischen Nervenzellen, und die Motoneurone leiten einen Bewe-
gungsimpuls zu den Muskeln in Arm, Hand oder Fingern. Dieser Bewe-
gungsbefehl bewirkt, dass sich die Muskeln derart kontrahieren, dass
Sie Ihre Hand vom Ofen wegziehen.

3.2.2 Die Synapse

Synapsen sind elektrochemische Kontaktstellen zwischen den Ner-


venzellen. Sie sind »Brücken«, die elektrische Impulse von einem
Neuron auf ein anderes übertragen. Diese Brücken befinden sich
zwischen den Verästelungen der Hauptnervenfasern oder des Zell-
körpers. Neurone »kommunizieren« über Synapsen. Die physische
Struktur der meisten Neurone verändert sich nach der frühen Kind-
3.2 • Wie das Gehirn Informationen verarbeitet
47 3

. Abb. 3.8  Können Sinnesempfindungen nicht ungestört fließen, ist das


. Abb. 3.9  In jede Erfahrung und
wie Stoßzeit im Verkehr
Aktivität im Leben ist ein unendlich
komplexes Netzwerk von Neuronen
heit nicht mehr wesentlich, allerdings verändert sich deren Fähigkeit, und Synapsen involviert
neuronale Impulse zu leiten.
>> Veränderungen in der Leitfähigkeit von Synapsen sind die
Basis für das Lernen (auch das Lernen in Schule oder Beruf).

Der Reflexbogen, über den Sie Ihre Hand von der Schmerzquelle
weggezogen haben, läuft nur über wenige Synapsen; bei komplexen
Erfahrungen, die Bewegungskoordination, Emotionen und Gedan-
ken umfassen, müssen dagegen viele Neurone über unzählige Synap-
sen kommunizieren. Die Schmerzimpulse, die durch den heißen Ofen
ausgelöst wurden, stimulieren nicht nur die Motoneurone, sondern
werden über Synapsen im Rückenmark bis zum Hirnstamm geleitet.
Von dort verteilen sich die Impulse über verschiedene Synapsen auf
zahlreiche Neurone und aktivieren viele Bereiche des Gehirns. Dies
bewirkt, dass Ihnen der Schmerz bewusst wird, dass Sie emotional re-
agieren, dass Sie eine willkürliche Aktion durchführen (z.B. den Ofen
ausschalten), dass Ihnen Gedanken und Erinnerungen kommen und
Sie kognitive Entscheidungen treffen (z.B. niemals mehr einen heißen
Ofen zu berühren).
Jede neuronale Botschaft breitet sich im Bruchteil einer Sekunde
über Tausende oder Millionen von Synapsen aus. An jeder Erfahrung
und Aktivität im Leben ist ein unendlich komplexes Netzwerk von
Neuronen und Synapsen beteiligt (. Abb. 3.9). Um die richtige Wahr-
nehmung oder ein sinnvolles Verhalten zu produzieren, müssen die
Impulse in den richtigen Bahnen laufen. Löst ein sensorischer Reiz
keine entsprechende Wahrnehmung oder kein anpassendes Verhalten
aus, sagt das aus, dass Signale irgendwo im Nervensystem nicht über
die richtigen Synapsen weitergeleitet werden. Sie gehen im Netzwerk
verloren (. Abb. 3.8).
In einer Synapse kommen viele Impulse aus den verschiedenen
Bereichen des Körpers und des Gehirns an, sie mischen sich, und sie
alle beeinflussen die elektrische und chemische Energie innerhalb der
48 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen

Synapse. Damit aber ein Signal eine Synapse überqueren kann und
in einen anderen Teil des Nervensystems weitergeleitet wird, muss
es eine gewisse elektrische Stärke haben oder durch andere Impulse
verstärkt werden.

3 3.2.3 Bahnung und Hemmung

Sendet ein Hirnbereich Impulse aus, können andere Hirnbereiche


diese Impulse verstärken, um ihnen den Weg über einzelne Synap-
sen zu bahnen (fazilitieren). Diese elektrischen Potenziale werden
erregend oder exzitatorisch genannt. Andere Hirnstrukturen wie-
derum können Impulse senden, die die Überquerung einer Synapse
behindern oder hemmen. Diese Potenziale sind inhibitorisch. Das
Zusammenspiel des Bahnens und Hemmens von sensorischen Im-
pulsen ergibt die Modulation, einen Prozess der Selbstorganisation
oder -regulation des Nervensystems. Wenn wir Radio hören, regulie-
ren oder modulieren wir die Intensität des Geräuschs, indem wir die
Lautstärke verstellen. Das Nervensystem reguliert oder moduliert sich
selbst, indem es manche Impulse verstärkt und andere abschwächt.

Beispiel
Signale von den vestibulären Kernen bahnen motorische Befehle im
Rückenmark, um die Muskelspannung und Körperhaltung aufrecht-
zuerhalten. Gleichzeitig wird die Aktivität der vestibulären Kerne aber
von Signalen aus dem Kleinhirn gehemmt. Diese Hemmung ist not-
wendig, um eine überschießende vestibuläre Aktivität zu verhindern.
Jeder sensorische und motorische Prozess beinhaltet ein komplexes
Zusammenspiel von bahnenden und hemmenden Kräften, um die
wesentlichen Informationen weiterzuleiten und unwesentliche zu
unterdrücken. Ohne ausreichende Hemmung würden sich sämtliche
sensorischen Impulse wie ein Lauffeuer im Nervensystem ausbreiten
und zu völliger Reizüberflutung führen, so dass wir nicht mehr zu einer
sinnvollen Handlung fähig wären.

>> Bahnung und Hemmung sind wichtige Aspekte der senso-


rischen Integration. Die Fähigkeit, Sinnesempfindungen zu
regulieren, ist ein Prozess, den das Kind früh lernen muss,
damit es sich im Alltag mit sensorischen Reizen auseinan-
dersetzen kann.

»Sensorische Anregung und 3.2.4 Entwicklung der Nervenverbindungen


motorische Aktivität in den ersten
Lebensjahren formt die Neurone Bei der Geburt sind die meisten Neurone bereits angelegt, während
und deren Verbindungen für die der ersten Lebensjahre kommen nur noch wenige hinzu. Allerdings
sensorischen und motorischen sind die Nervenzellen des Neugeborenen sehr wenig vernetzt, d.h., es
Prozesse.« hat nur wenige Synapsen. Sehr viele dieser Verbindungsstellen zwi-
3.2 • Wie das Gehirn Informationen verarbeitet
49 3

. Abb. 3.10  a-c Die Nervenzellen brauchen Anregung, um Verbindungen zu entwickeln

schen den Neuronen entstehen in der frühen Kindheit. Immer wenn


sich das Baby mit seiner Umwelt oder mit seinem Körper beschäftigt,
bewirken die sensorischen und motorischen Impulse, die zwischen
den Neuronen fließen, dass die Nervenfasern Verzweigungen und
Verästelungen zu anderen Neuronen ausbilden.
Die Nervenzellen brauchen Anregung, um Verbindungen zu ent-
wickeln (. Abb. 3.10). Das visuelle System kann die Verbindungen, die
für die visuelle Wahrnehmung erforderlich sind, nur dann entwickeln,
wenn es Licht als auch Dinge zu sehen gibt. Für die Entwicklung des
auditiven Systems sind Geräusche und für das Gleichgewichts- und
Körpereigenwahrnehmungssystem ist Bewegung nötig.
>> Ein Sinnessystem kann sich nur entwickeln, wenn die Re-
zeptoren durch stimulierende Reize aktiviert werden.

Das Entstehen neuer Verbindungen schafft mehr Möglichkeiten für


Kommunikation zwischen den Nervenzellen. Jede neue Verbindung
fügt den Sinneswahrnehmungen und motorischen Fähigkeiten des
Säuglings neue Elemente hinzu.
>> Je mehr Nervenverbindungen ein Mensch hat, desto besser
kann er lernen; und das ist es eigentlich, was Intelligenz
ausmacht.

In der frühen Kindheit werden die Neurone und Synapsen durch


sensorische Anregung (Stimulation) und motorische Aktivitäten so
»geformt«, dass sie sensorische und motorische Prozesse ausbilden,
die ein Leben lang relativ stabil erhalten bleiben. Da im Gehirn des
Säuglings noch genügend Raum vorhanden ist, um neue Nervenver-
bindungen auszubilden, ist er in seinen Wahrnehmungen und Verhal-
tensweisen sehr flexibel und lernt schnell und leicht. In der Kindheit
50 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen

bleiben die sensorischen und motorischen Hirnbereiche weiterhin gut


formbar, erst mit etwa 10 Jahren kommt das Ausbilden von Synapsen
in den meisten Hirnbereichen zum Abschluss. Bei älteren Kindern
und Erwachsenen bilden sich neue sensorische Verbindungsstellen
dann nicht mehr so leicht.
3
3.3 Die Bedeutung von Sinnesreizen

3.3.1 Mehr als fünf Sinne

Sinnesreize sind »Nahrung« für das Nervensystem. Alle Muskeln,


Gelenke, lebenswichtigen Organe, Bereiche der Körperoberfläche
(Haut) und Sinnesorgane (Kopf) senden sensorische Informationen
an das Gehirn. Jede Sinnesempfindung ist eine Information. Das Ner-
vensystem verwendet diese Informationen, um Reaktionen zu erzeu-
gen, durch die wir uns körperlich und geistig an die Gegebenheiten
anpassen. Ohne eine gute Versorgung mit vielen verschiedenen Sin-
nesreizen kann das Nervensystem sich nicht richtig entwickeln.
>> Das Gehirn braucht ständig variationsreiche »sensorische
Nahrung«, damit es sich entwickeln und gut funktionieren
kann.

In diesem Abschnitt werden wir uns mit den Sinnessystemen be-


schäftigen: zunächst mit den Sinnen, durch die wir die Welt bewusst
wahrnehmen, und dann mit den Sinnen, die für uns so selbstver-
ständlich sind, weil sie unbewusst im Gehirn verarbeitet werden. Es
gibt drei Ebenen der Reizverarbeitung, über die wir wichtige Infor-
mationen über unseren Körper und die Umgebung erhalten. Unsere
Sinne sagen uns,
55 was im Außen ist (Sehen und Hören), was an den Körper kommt
(Berührungssinn), und was in den Körper kommt (Geruchs-
und Geschmackssinn),
55 wie und wohin der Körper sich bewegt (Gleichgewichts-, Kraft-
und Stellungssinn) und
55 was im Innern des Körpers vor sich geht (viszerale Rezeptoren).

Wir werden uns mit den in 7 Übersicht 3.1 genannten Sinnessystemen


beschäftigen.

Übersicht 3.1. Sinnessysteme


1. Sinne, die über Reize außerhalb des Körpers informieren (Fern-
sinne oder Exterozeption):
–– Sehen (visueller Sinn)
–– Hören (auditiver Sinn)
–– Geschmacks- und Geruchssinn (gustatorischer und olfakto-
rischer Sinn)
3.3 • Die Bedeutung von Sinnesreizen
51 3

–– Berührungssinn, auch Tastsinn oder Oberflächensensibilität


genannt (taktiler Sinn)
2. Sinne, die über Position und Bewegung des Körpers im Raum
informieren (Eigenwahrnehmung oder Propriozeption):
–– Kraft- und Stellungssinn, auch Stellungs- und Bewegungs-
sinn oder Tiefensensibilität genannt (propriozeptiver Sinn)
–– Gleichgewichtssinn (vestibulärer Sinn)
3. Sinne, die über das Körperinnere informieren (Interozeption):
–– Viszeraler Sinn

Der Sehsinn (visuelles System)


Rezeptoren für visuelle Reize liegen in der Netzhaut (Retina) im
Auge. Sie sind empfindlich gegenüber Lichtwellen in der Umwelt. Das
Licht regt die Zellen der Retina an, elektrische Impulse an die visuel-
len Verarbeitungszentren im Hirnstamm zu senden. Dort werden die
Impulse eingeordnet und mit anderen Sinnesinformationen v.a. von
. Abb. 3.11  Der Sehsinn (visuelles
den Muskeln, Gelenken und dem Gleichgewichtsorgan zusammen- System)
gebracht. Diese Integration auf Hirnstammniveau ist verantwortlich
dafür, dass wir ein grundlegendes Bewusstsein von unserer Umge-
bung haben, und davon, wo Dinge sich befinden (. Abb. 3.11).
Die Hirnstammkerne leiten dann die Impulse an andere Teile des
Hirnstamms und des Kleinhirns weiter, wo sie zu Bewegungsbefehlen
verarbeitet werden, die an die Augen- und Nackenmuskeln gehen.
Durch diesen neuronalen Prozess können wir sich bewegenden Ob-
jekten mit den Augen und dem Kopf folgen. Ein Teil der Impulse wird
in verschiedene Bereiche des Großhirns geleitet, wo sie weiterver-
arbeitet, verfeinert und mit den Empfindungen anderer Modalitäten
verknüpft werden. Manche Signale erreichen die visuellen Areale der
Hirnrinde, wo visuelle Details fein und präzise unterschieden werden
– wiederum mit Unterstützung durch andere Sinne.
>> Eine gute Funktion auf allen Ebenen des Gehirns und das
Verbinden des visuellen Inputs mit vielen unterschiedlichen
Sinnesinformationen sind notwendig, um unsere visuelle
Umwelt sinnvoll interpretieren können. Dies gilt besonders
für alles, was wir uns auf einem Blatt Papier oder einer
Buchseite ansehen.

Der Hörsinn (auditives System)


Schallwellen in der Luft erregen die Gehörrezeptoren im Innenohr,
die elektrische Impulse an die Gehörzentren im Hirnstamm senden.
Diese Kerne verarbeiten die auditiven Signale zusammen mit Impul-
sen vom vestibulären System, den Muskeln und der Haut. Die Zent-
ren für die auditive Verarbeitung im Hirnstamm liegen sehr nahe bei
den visuellen Verarbeitungszentren. Wie der visuelle Input wird ein
Teil der auditiven Impulse in anderen Teilen des Hirnstamms und des
52 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen

Kleinhirns mit den Empfindungen anderer Sinnessysteme verknüpft


und zu Bewegungsbefehlen verarbeitet. Kombiniert mit anderen Sin-
nesinformationen gelangen die auditiven Informationen in mehrere
Bereiche des Großhirns.
Würden auditive Informationen nicht auf allen Hirnebenen mit
den Informationen anderer Sinne kombiniert werden, so hätten wir
3 Schwierigkeiten, dem Gehörten eine Bedeutung zu geben. Damit wir
Geräusche sinnvoll interpretieren können, müssen sie fast immer mit
vestibulärem und anderem Input verknüpft sein. Auf jeder Ebene im
Gehirn wird die Nachricht klarer und genauer (. Abb. 3.12).
>> Der komplizierteste Teil des Verarbeitungsprozesses von
auditiven Informationen ist die Zerlegung bestimmter Ge-
räusche in bedeutungsvolle Silben und Wörter, also die
Spracherkennung.

. Abb. 3.12  Der Hörsinn (auditives


Der Geschmackssinn (gustatorischer Sinn)
System) Die Zunge liefert Informationen über die chemische Zusammenset-
zung der Partikel, die sie berühren. Es gibt vier Geschmacksrichtun-
gen: süß, sauer, bitter und salzig. Diese grobe Geschmacksunterschei-
dung ist überlebenswichtig, da sie uns erkennen lässt, welche Parti-
kel als Nahrung geeignet sind, und welche schädlich sein könnten
(. Abb. 3.13).

Der Geruchssinn (olfaktorischer Sinn)


Die Nase liefert uns Information über die chemische Zusammenset-
zung von den winzigen Partikeln, die in der Luft verteilt sind und
Gerüche erzeugen.
>> Der Geruchssinn ist einzigartig, da die Informationen direkt
in das limbische System gelangen, ohne den typischen Weg
über den Hirnstamm nehmen zu müssen. Deshalb ist es
möglich, dass Gerüche unmittelbar Emotionen aktivieren
können. Das, was wir mögen oder nicht mögen ist davon
beeinflusst, wie es riecht.

Gerüche lassen auch Erinnerungen und Assoziationen aufleben, die


. Abb. 3.13  Der Geschmackssinn
bestimmte Entscheidungen und Vorlieben beeinflussen können, wie
(gustatorischer Sinn) z.B. unsere Lieblingsblume oder -seife. Ein Säugling erkennt seine
Mutter am Geruch, und diese Beziehung wird mit einem angeneh-
men, sicheren und beglückenden Duft in Verbindung gebracht. Und
natürlich sind unsere Essensvorlieben eindeutig vom Geruch be-
stimmt. Der Geruchssinn sagt uns, ob Nahrung gesund oder verdor-
ben ist (. Abb. 3.14).

Der Berührungs- oder Tastsinn (taktiler Sinn)


In der Haut liegen verschiedene Arten von Rezeptoren, die auf Be-
rührung, Druck, Beschaffenheit (Konsistenz), Temperatur, Schmerz
und die Bewegung der Härchen auf der Haut ansprechen. Die meisten
3.3 • Die Bedeutung von Sinnesreizen
53 3
Menschen denken kaum über die Bedeutung von Berührung in ihrem
Leben nach. Aber das taktile System ist das größte Sinnessystem des
Menschen, und es beeinflusst grundlegend unser körperliches und
auch geistiges Verhalten (. Abb. 3.15).
Die taktilen Rezeptoren unterhalb des Halses senden ihre Impulse
an das Rückenmark, und von dort steigen sie zum Hirnstamm auf.
Die taktilen Rezeptoren im Gesicht und am Kopf senden ihre Im-
pulse über Hirnnerven direkt an den Hirnstamm. Vom Hirnstamm
werden die Berührungsinformationen in weite Bereiche des Gehirns
verteilt. Viele dieser Impulse erreichen jedoch nie den Kortex, der uns
Berührungsempfindungen bewusst werden lässt. Stattdessen werden
sie auf niedrigeren Ebenen des Gehirns verarbeitet, um eine effektive
Bewegung auszuführen, das retikuläre Wecksystem anzuregen, Emo-
tionen zu beeinflussen und anderen Sinnesinformationen Bedeutung
zu geben.
Die Kerne im Hirnstamm, die den taktilen Input verarbeiten, kön-
nen uns sagen, dass etwas die Haut berührt, und ob der Reiz schmerz- . Abb. 3.14  Der Geruchssinn (olfakto-
haft, kalt, heiß, nass oder kratzig ist. Die entscheidende Funktion des rischer Sinn)
Hirnstamms ist, uns zu informieren, ob ein Berührungsreiz gefähr-
lich sein könnte. Aber diese Kerne können noch keine Information
geben, wo genau der Reiz auf der Haut lokalisiert ist, oder von welcher
Art der Reiz ist. Diese Details werden erst in den sensorischen Feldern
der Hirnrinde bearbeitet.
Taktile Impulse erreichen fast alle Bereiche des Gehirns. Schon im
Mutterleib ist das taktile System das erste ausgebildete Sinnessystem.
Es funktioniert bereits, wenn das visuelle und auditive System gerade
im Beginn sind, sich zu entwickeln. Wie wir sehen, ist Berührung für
die allgemeine Organisation des Nervensystems sehr wichtig.
>> Erhält der Körper nicht ausreichend taktile Stimulation, so
zeigt sich das in einem »unausgeglichenen« Nervensystem.

Der Kraft- und Stellungssinn (propriozeptiver Sinn)


Als Propriozeption (auch: Tiefensensibilität) bezeichnen wir Sinnes-
informationen, die durch Anspannung (Kontraktion) und Dehnung
von Muskeln, durch Beugung und Streckung von Gelenken sowie
Zug und Druck auf Gelenke verursacht werden. Auch Knochenhäute
enthalten Propriozeptoren. Der Ausdruck kommt von dem lateini- . Abb. 3.15  Der Berührungs- oder
schen Wort »proprius«, was »eigen« bedeutet. Sinnesempfindungen Tastsinn (taktiler Sinn)
des Körpers treten besonders bei Bewegung auf; aber sie treten auch
auf, wenn wir ruhig stehen, da Muskeln und Gelenke ständig Infor-
mationen an das Gehirn senden, die uns über unsere Körperposition
informieren. Weil es so viele Muskeln und Gelenke im Körper gibt, ist
das propriozeptive System fast so ausgedehnt wie das taktile System.
Propriozeptive Informationen werden durch das Rückenmark
zum Hirnstamm und Kleinhirn geleitet und erreichen zum Teil das
Großhirn. Ein Großteil des propriozeptiven Inputs wird in Regio-
nen verarbeitet, die keine bewusste Wahrnehmung erzeugen, so dass
54 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen

wir die Sinnesempfindungen der Muskeln und Gelenke selten be-


merken – es sei denn, wir würden unsere Aufmerksamkeit auf unsere
Bewegungen richten. Doch selbst wenn wir das tun, wird uns nur
ein Bruchteil der vollen Tiefensensibilität während der Bewegung
bewusst (. Abb. 3.16).
3 >> Tiefensensibilität hilft uns, uns zu bewegen. Bei einem Man-
gel an propriozeptiven Informationen bewegen wir unseren
Körper langsamer, schwerfälliger und angestrengter.

Wäre die Tiefensensibilität der Hände herabgesetzt, würden wir keine


klaren Informationen erhalten, was unsere Hände tun. Wir bekämen
große Schwierigkeiten, Kleidung zuzuknöpfen, etwas aus der Tasche
zu nehmen, den Deckel auf einer Dose zuzuschrauben oder uns zu
erinnern, in welche Richtung der Wasserhahn zugedreht wird. Ohne
gute Tiefensensibilität von Rumpf und Beinen würde es uns schwer-
fallen, in ein Auto einzusteigen, steile Stufen hinunterzugehen oder
einen Sport auszuüben. Wir würden uns viel mehr auf unseren Seh-
sinn verlassen und mit den Augen immer genau überwachen, was der
Körper tut.
>> Kinder mit schlechter propriozeptiver Verarbeitung haben
. Abb. 3.16  Der Kraft- und Stellungs- normalerweise große Schwierigkeiten, etwas zu tun, was sie
sinn (propriozeptiver Sinn)
nicht mit den Augen sehen können.

3.3.2 Der Gleichgewichtssinn (vestibulärer Sinn)

Das Innenohr, das am inneren Ende des Gehörgangs liegt, enthält


eine komplizierte knöcherne Struktur, das Labyrinth. Darin befinden
sich sowohl die Rezeptoren für das Hören als auch zwei Rezeptorty-
pen für Gleichgewichtsreize (vestibuläre Rezeptoren).
Der eine Rezeptortyp reagiert auf die Schwerkraft. Es handelt
sich dabei um haarähnliche Neurone mit winzigen Kristallen aus Kal-
ziumkarbonat. Durch die Schwerkraft werden diese Kristalle nach
unten gedrückt, wodurch sie auf die haarähnlichen Zellen drücken.
Dadurch werden die Nervenfasern des Nervus vestibularis aktiviert,
der die Signale zu den vestibulären Kernen im Hirnstamm transpor-
tiert. Da die Schwerkraft auf unserem Planeten immer wirksam ist,
senden die Schwerkraftrezeptoren während des ganzen Lebens einen
ununterbrochenen Strom von Impulsen. Bei jeder Kopfbewegung,
z.B. Kopfneigung oder Vor- und Zurückbewegung, ändert sich durch
den Zug der Schwerkraft die Position der Kristalle, und die Schwer-
kraftrezeptoren liefern neue Informationen an das vestibuläre System.
Außerdem sind die Schwerkraftrezeptoren empfindlich für Vibration
über Knochenleitung, bei der die Kristalle erschüttert werden.
Der andere Rezeptortyp des Gleichgewichtsorgans liegt in einem
geschlossenen System von dünnen Röhren, den Bogengängen. Sie
sind mit einer gallertartigen Flüssigkeit gefüllt. In jedem Innenohr
3.3 • Die Bedeutung von Sinnesreizen
55 3
gibt es drei Bogengänge, einen für jede Ebene des Raums. Bei einer
raschen Kopfbewegung staut sich die Flüssigkeit in mindestens einem
der drei Bogengänge. Der dadurch entstehende Druck stimuliert die
Rezeptoren, die in den Bogengängen liegen. Sie erzeugen Impulse, die
über den Nervus vestibularis zu den vestibulären Kernen im Hirn-
stamm weitergeleitet werden. Dieser sensorische Input ändert sich
jedes Mal, wenn die Bewegungsgeschwindigkeit oder -richtung des
Kopfes geändert wird. Daher wird dieser Sinn als Sinn für die Bewe-
gung im Raum bezeichnet. Eigentlich müsste er »Sinn für die Kopf-
beschleunigung und -verlangsamung« heißen (. Abb. 3.17).
Die Inputkombination von Schwerkraftrezeptoren und Bogen-
gängen ist sehr präzise. Sie sagt uns genau, wo wir uns in Bezug zur
Schwerkraft befinden, ob wir ruhig oder in Bewegung sind, und wie
schnell und in welche Richtung wir uns bewegen. Möglicherweise
fällt es Ihnen schwer, sich vorzustellen, dass diese Informationen in
Ihrem Gehirn verarbeitet werden, da sie so grundlegend sind, dass es
unvorstellbar ist, ohne sie auszukommen.
Das vestibuläre System ist so empfindlich, dass bereits minimale
Veränderungen der Position und Bewegung eine starke Wirkung auf . Abb. 3.17  Der Gleichgewichtssinn
(vestibulärer Sinn)
das Gehirn haben. Dieser Effekt ist schon sehr früh im Mutterleib
vorhanden. Bereits 9  Wochen nach der Empfängnis entstehen die
vestibulären Kerne, und ab der 10.  oder 11.  Schwangerschaftswoche
nehmen sie ihre Arbeit auf. Bis zum 5.  Schwangerschaftsmonat hat
sich das vestibuläre System gut entwickelt und liefert dem Gehirn des
Fötus – zusammen mit den taktilen und viszeralen Informationen
– schon fast die kompletten Sinnesinformationen. Fast während der
ganzen Schwangerschaftsmonate stimuliert die Mutter das vestibuläre
System des ungeborenen Kindes durch ihre eigenen Bewegungen.
Gleichgewichtsinformationen werden hauptsächlich in den vesti-
bulären Kernen im Hirnstamm und im Kleinhirn verarbeitet. Sie wer-
den dann sowohl zum Rückenmark als auch zum Kleinhirn weiterge-
leitet, wo sie eine wichtige integrative Rolle spielen. Zum Teil werden
sie vom Hirnstamm auch zum Großhirn gesendet. Die Impulse, die
im Rückenmark absteigen, werden mit anderen sensorischen und
motorischen Impulsen verknüpft und sind mit an der Haltungskon-
trolle, Balance und Bewegungssteuerung beteiligt. Die Impulse, die
höhere Hirnebenen erreichen, werden mit taktilen, propriozeptiven,
visuellen und auditiven Signalen verknüpft und tragen zur Wahrneh-
mung des Raums, der Position im Raum und Orientierung im Raum
bei. Vestibulärer Input wird selten bewusst wahrgenommen – es sei
denn, wir drehen uns so lange, bis wir schwindlig werden und die
Welt sich zu drehen scheint. Selbst wenn wir durch eine Reizüberflu-
tung des vestibulären Systems »seekrank« sind, spüren wir die Effekte
im Körper und nicht im Innenohr.
56 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen

Beispiel
Die Bogengänge liefern im Grunde dieselbe Information wie ein Na-
vigationsgerät in einem Flugzeug oder Raumschiff. Ginge es kaputt,
würde man nicht wissen, in welche Richtung man sich bewegen muss,
und bei einer Richtungsänderung würde man sehr schnell die Orien-

3 tierung verlieren. Flugzeugpiloten, die versucht haben, ohne Naviga-


tionssystem zu fliegen und sich nur an der Erdoberfläche zu orientie-
ren, sind in Kreisen oder Spiralen geendet. Die visuelle Information
allein ist nutzlos; es braucht ein Bezugssystem. Die Bogengänge lie-
fern uns dieses Bezugssystem, so dass wir unsere Seheindrücke richtig
interpretieren können.

3.3.3 Sensibilität der inneren Organe


(viszeraler Sinn)

Auch in den inneren Organen und größeren Blutgefäßen liegen sen-


sorische Rezeptoren. Sie werden von der Aktivität der Organe, dem
Blutfluss und der chemischen Zusammensetzung des Blutes angeregt,
Informationen an den Hirnstamm zu senden. Über diese Informa-
tionen wird der Körper in einem gesunden Zustand gehalten, indem
über das autonome Nervensystem Blutdruck, Verdauungsaktivi-
tät, Atmung und andere Funktionen reguliert werden. Der viszerale
Input informiert das Gehirn auch darüber, wie viel der Körper zu
essen und zu trinken braucht. Auch andere Sinnessysteme beeinflus-
sen das autonome Nervensystem mit, besonders das taktile und das
vestibuläre. Das ist der Grund, warum wir nach einer vestibulären
Überstimulation (Drehen) Übelkeit empfinden oder schmerzhafte
Empfindungen dazu führen können, dass wir aufhören zu atmen. Das
viszerale System ist zwar für unser Überleben und unsere Gesund-
heit wichtig, im Rahmen dieses Buches werden wir aber nicht näher
darauf eingehen.

3.4 Sinnesinformationen und das »ganze« Gehirn

Je besser Informationen in einem Sinnessystem verarbeitet werden


und Informationen aus mehreren Sinnessystemen integriert werden,
desto mehr müssen alle Gehirnanteile zusammenarbeiten. Wenn ein
Baby durch den Raum krabbelt oder ein Kind einen Hindernispar-
cours überwindet, arbeitet der ganze Körper als harmonische Einheit
zusammen. Die Sinnesempfindungen, diedurch die anpassenden Re-
aktionen des ganzen Körpers entstehen, erzeugen ein geordnetes und
ausgewogenes Aktivitätsmuster im Gehirn.
>> Wenn der Körper und alle Sinne zusammen als Ganzes funk-
tionieren, fällt es dem Gehirn leicht, sich anzupassen und zu
lernen.
3.5 • Wie das Gehirn lernt, Sinnesinformationen zu integrieren
57 3
Das Gleichgewichtssystem spielt dabei eine zentrale, vereinende
Rolle. Es ist grundlegend für unseren Bezug zur Schwerkraft und
physikalischen Welt verantwortlich. Alle anderen Sinnesempfindun-
gen werden in Bezug zu den vestibulären Informationen verarbeitet.
Vestibulärer Input scheint die Funktion des ganzen Nervensystems zu
fördern. Funktioniert das Gleichgewichtssystem nicht gut, so werden
auch die anderen Sinnesempfindungen unzuverlässig und ungenau
interpretiert, und das Gehirn kommt nicht recht »in Gang«.
>> Die Aktivität des vestibulären Systems ist der Bezugsrah-
men für alle unsere Erfahrungen.

3.5 Wie das Gehirn lernt, Sinnesinformationen zu


integrieren

Das Nervensystem beginnt zu lernen, lange bevor ein Kind in die »Ein großer Teil der
Schule kommt. Dort kommen schulische Fächer hinzu; aber schon Lernfähigkeit von Kindern
seit der Zeit im Mutterleib entwickelt das Gehirn die Grundlagen für beruht auf der Fähigkeit,
die Fähigkeit zu lernen. Ein Großteil dieser Lernfähigkeit beruht auf sensorische Informationen zu
der Fähigkeit, sensorische Informationen zu integrieren. integrieren.«
Bereits zum Zeitpunkt der Geburt kann das Gehirn grundlegen-
de taktile, vestibuläre und propriozeptive Informationen integrieren.
Daher kann ein Neugeborenes auf Reize reagieren, wie in 7 Kapitel 2
beschrieben. Ferner haben wir in diesem Kapitel  dargestellt, für
welche Leistungen das menschliche Nervensystem angelegt ist; im
Folgenden werden wir erläutern, wie sich die Hirnfunktion eines
Kindes entwickelt. Niemand kann genau sagen, wie das Lernen im
Gehirn stattfindet, aber manche Dinge sind allgemein bekannt.

3.5.1 Wie ältere Kinder und Erwachsene lernen

Je häufiger ein Muskel benutzt wird, desto stärker wird er. Wenn er
nicht benutzt wird, wird er schwach. Dasselbe gilt für die Synapsen im
Zentralnervensystem: Je häufiger man sie benutzt, desto stärker und
effizienter werden sie. Eine Synapse wird durch häufige Aktivierung
durchlässiger; bleibt sie ungenutzt, lässt sie sich schwerer aktivieren.
Jedes Mal, wenn ein Signal eine Synapse überquert, verändern sich
die Neurone und Synapsen derart, dass es für ähnliche Botschaften
zukünftig leichter wird, diese Synapse zu überqueren. Mit jeder Wie-
derholung eines sensorischen oder motorischen Prozesses ist also
weniger Energie erforderlich, diesen auszuführen. Genau das passiert
gleichzeitig in Tausenden oder Millionen von Synapsen, wenn wir
eine Telefonnummer auswendig lernen oder eine motorische Fertig-
keit üben. Durch die wiederholte Aktivierung der Synapsen können
wir uns schließlich die Nummer merken oder die Bewegung leichter
und schließlich ganz automatisch ausführen.
58 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen

3.5.2 Das Lernen lernen

>> Die durch die unzähligen Verbindungen bestehende Wech-


selwirkung zwischen dem sensorischen und dem motori-
schen System ist verantwortlich dafür, dass unsere Sinnes-
3 eindrücke Bedeutung bekommen und unsere Bewegungen
zweckmäßig sind.

Das vestibuläre und das taktile System liefern die grundlegendsten


Informationen. Als Nächstes folgt das propriozeptive System, es lie-
fert ebenfalls wesentliche Informationen. Diese drei Sinne geben dem,
was wir sehen, Bedeutung, indem die visuellen Informationen mit
den Bewegungs- und Berührungserfahrungen verknüpft (assoziiert
oder integriert) werden. Das Sehen wiederum hilft uns, Geräusche zu
interpretieren, und umgekehrt hilft das Hören, Gesehenes zu inter-
pretieren. Und schließlich hilft uns die Interpretation der Sinnesemp-
findungen, abstrakt und kognitiv zu denken.
Ohne Auseinandersetzung mit der natürlichen Umgebung ist
es sehr schwierig zu lernen. Ein Großteil unseres Lernens erfolgt
zunächst durch die Integration von Sinnesinformationen. Später kann
dann vermehrt intellektuelles und akademisches Lernen in der Hirn-
rinde stattfinden. Sensomotorische Erfahrungen legen die Basis für
spätere kognitive Funktionen.
>> Es mag so aussehen, als ob das Kind im Spiel nichts lernt,
aber tatsächlich lernt es etwas sehr Grundlegendes: Es lernt
zu lernen.

Lernen ist eine Funktion des ganzen Nervensystems.

Beispiel
Ein Kind hat Schwierigkeiten lesen zu lernen, wenn seine Sinnessys-
teme ihm nicht helfen, die Zeichen auf der Buchseite zu verarbeiten.
Je besser seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr
kann es lernen, und desto leichter wird es ihm fallen. Lernen beginnt
mit der Schwerkraft und dem Körper. Die Lernerfahrungen, die das
Kind macht, wenn es aufrecht sitzt, eine Rassel schüttelt, Stufen hin-
untergeht oder einen Stift hält, entwickeln die Fähigkeit des Gehirns,
noch komplexere Dinge zu lernen. Diese Lernfähigkeit, die sich auf der
sensomotorischen Ebene entwickelt hat, ermöglicht dem Kind später,
ohne Schwierigkeiten zwei Zahlen zusammenzuzählen, einen Satz zu
schreiben oder Freunde zu finden.

»Es mag so aussehen, als ob 3.5.3 Lernen in der Therapie


das Kind lediglich spielt, doch
die Arbeit findet innerlich statt. In der Behandlung nach dem Ansatz der Sensorischen Integration
… eigentlich ist es dabei zu wollen wir erreichen, dass das Kind möglichst viele Synapsen benutzt.
lernen, wie es lernt.« Vor allem wollen wir die Synapsen im Hirnstamm aktivieren, durch
3.5 • Wie das Gehirn lernt, Sinnesinformationen zu integrieren
59 3
die viele verschiedene Sinnesinformationen fließen. Es mag so aus-
sehen, als ob das Kind lediglich spielt, doch die Arbeit findet inner-
lich statt. Es mag auch so aussehen, als ob die Behandlungsaktivitä-
ten nichts mit dem Problem zu tun haben, aber das Kind macht die
Erfahrung, wie es sein Gehirn effizient und leichter arbeiten lassen
kann. In jungen Jahren werden die Nervenzellen neue Verbindungen
ausbilden, und Verbesserungen werden rasch auftreten. Ist das Kind
älter, so wird es in der Therapie erfahren, wie es bestimmte Sinnes-
informationen bahnen und andere hemmen kann, wie es Informatio-
nen an die richtigen Stellen im Gehirn oder Körper leiten kann, und
wie es alle Informationen zu sinnvollen Wahrnehmungen zusammen-
bringen und für zweckbestimmte Handlungen nutzen kann.
>> In der sensorisch-integrativen Behandlung geht es nicht
um Fertigkeitstraining wie z.B. Lesen oder Schreiben üben;
vielmehr lernt das Kind, sein Gehirn zu organisieren, so dass
es besser funktioniert. Diese innere Organisation ist die
Voraussetzung, dass das Kind leichter lesen und schreiben
lernt – und viele andere Dinge.

Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Dr. Susan Knox zu den Punkten, die in diesem Kapi-
tel angesprochen werden, finden Sie in Anhang A.
61 II

Störungen der
sensorischen Integration
Kapitel 4      Was sind sensorische Integrationsstörungen? – 63
Kapitel 5      Störungen des Gleichgewichtssystems – 87
Kapitel 6      Entwicklungsdyspraxie – 121­
Kapitel 7      Taktile Abwehr – 145
Kapitel 8     Störungen der visuellen und auditiven
Wahrnehmung – 157­
Kapitel 9      Kinder mit Autismus – 173
63 4

Was sind sensorische


Integrationsstörungen?
4.1 Symptome, Ursachen und Ebenen – 64
4.2 Wo liegen die Ursachen der Störung? – 68
4.2.1 Zeichen und Symptome von sensorischen Integrationsstörungen – 70

4.3 Der integrative Prozess – 74


4.3.1 Das 1. Integrationsstadium – 77
4.3.2 Das 2. Integrationsstadium – 79
4.3.3 Das 3. Integrationsstadium – 81
4.3.4 Das 4. Integrationsstadium – 83

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
64 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?

4.1 Symptome, Ursachen und Ebenen

Eine Störung der sensorischen Integration ist für das Gehirn das
Gleiche wie eine Magenverstimmung für den Verdauungstrakt. Der
Begriff »Störung« bedeutet »nicht richtig funktionieren«, d.h., das
Gehirn arbeitet nicht optimal. »Sensorisch« bedeutet, dass die Funk-
tionsstörung des Gehirns vor allem die Sinnessysteme betrifft. Das
Gehirn der Betroffenen verarbeitet und ordnet die eingehenden Sin-
4 nesinformationen nicht in dem Maße, dass sie gute, genaue Informa-
tionen über sich selbst und ihre Umwelt erhalten. Wenn das Gehirn
die Informationen der Sinnesorgane nicht gut verarbeitet, kann es
folglich auch das Verhalten nicht gut kontrollieren und steuern. Ohne
gute Integration von Sinnesinformationen ist auch das Lernen be-
einträchtigt; die Betroffenen fühlen sich unwohl in ihrer Haut und
kommen oft nicht mit Alltagsanforderungen und Stress zurecht.

Beispiel
Wir können uns das Gehirn als Großstadt vorstellen; die Nervenimpul-
se sind der Verkehr auf den Straßen dieser Stadt. Eine gute sensori-
sche Verarbeitung ermöglicht allen Impulsen, ungestört zu fließen und
ihren Zielort rasch zu erreichen. Eine sensorische Integrationsstörung
bewirkt eine Art »Stau« im Gehirn. Manche Sinnesinformationen blei-
ben im Verkehrsstau stecken, so dass bestimmte Gehirnareale nicht
die Informationen bekommen, die sie brauchen, um ihre Funktion re-
gelrecht zu erfüllen.

»Wenn das Gehirn die Andere Begriffe für dieses Problem sind »sensorische Verarbeitungs-
Sinnesinformationen nicht gut störung«, »zentrale Verarbeitungsstörung« oder »sensorisch-integra-
verarbeitet, kann es folglich tive Funktionsstörung«. Sind Sie schon einmal zur Stoßzeit in einem
auch das Verhalten nicht gut Verkehrsstau stecken geblieben? Dann können Sie sich ungefähr vor-
kontrollieren und steuern.« stellen, was diese Störung bedeutet.
Unfälle oder Erkrankungen, die eindeutige Hirnschädigungen zur
Folge haben, bewirken normalerweise, dass das Gehirn Sinnesreize
nicht mehr richtig verarbeitet kann. Bei den meisten Kindern mit
sensorischen Integrationsstörungen liegt aber wahrscheinlich keine
organische Schädigung des Gehirns vor.

Beispiel
Eine Magenverstimmung bedeutet nicht, dass der Magen oder Darm
geschädigt sein muss; vielmehr können diese Organe die Nahrung
nicht richtig verarbeiten. Ebenso bedeutet ein Stau nicht, dass die Stra-
ßen beschädigt sind.

Der Begriff »Funktionsstörung« soll aussagen, dass das Problem


rückgängig gemacht werden kann. So wie man eine Magenverstim-
mung oder einen Stau beheben kann, kann man auch die Funktions-
störung des Gehirns reduzieren.
Obwohl sensorische Verarbeitungsstörungen von einer untypi-
schen Gehirnaktivität verursacht werden, finden die meisten Neuro-
4.1 • Symptome, Ursachen und Ebenen
65 4
logen (Ärzte, die sich speziell mit Erkrankungen des Nervensystems
beschäftigen) bei dem betroffenen Kind keine Auffälligkeiten. Neuro-
logen suchen normalerweise nach Schädigungen des Gehirns oder
nach fortschreitenden Erkrankungen wie z.B. Hirntumoren.
>> Sensorische Integrationsstörungen lassen sich selten an-
hand von neurologischen Untersuchungen nachweisen.

Sensorische Integrationsstörungen sind keine Krankheit und ver-


schlechtern sich nicht, auch wenn die Auswirkungen auf das Leben
des Kindes mit der Zeit meist zunehmen. Manche Neuropädiater
(Kinder- oder Entwicklungsneurologen) sind mit sensorischen Ver-
arbeitungsstörungen vertraut, so dass sie diese Störung diagnostizie-
ren können.
Lern- und Entwicklungsstörungen können verschiedene Ursa-
chen haben; eine schlechte sensorische Integration ist nur eine davon.
Kinder mit Lern- oder Entwicklungsbehinderungen können auch
Sprachstörungen, Verhaltensprobleme und andere psychische Proble-
me haben. Manchen Kindern hilft eine Diät, da als Ursache festgestellt
wurde, dass ihr Organismus bestimmte biochemische Substanzen
nicht verarbeiten kann. Lern- und Entwicklungsstörungen sind auch
nicht das Gleiche wie eine geistige Behinderung, und eine sensorische
Integrationsstörung ist wiederum etwas anderes.
>> Viele Kinder mit Problemen der sensorischen Integration
sind normal oder sogar überdurchschnittlich intelligent.

Nur wenn die Sinnesverarbeitung eines Kindes in vielen Gehirnberei-


chen gestört ist, werden ihm auch intellektuelle Herausforderungen
schwerfallen, z.B. Ideen zu entwickeln oder Dinge zu verallgemeinern.
Eine schwerwiegende zentrale Verarbeitungsstörung kann also wie
eine kognitive Beeinträchtigung aussehen. Bei den meisten Kindern
ist die Störung aber nicht so gravierend, so dass viele der betroffenen
Kinder nicht als lern- oder entwicklungsgestört eingestuft werden.
Die Entwicklung von Kindern mit sensorischen Integrations- »Die Entwicklung von Kindern
störungen verläuft meist unharmonisch. Da nur Teile ihres Nerven- mit sensorischen Integrations-
systems nicht richtig funktionieren, entsprechen ihre Leistungen in störungen verläuft meist
bestimmten Bereichen durchaus den Alterserwartungen, in anderen unharmonisch.«
Bereichen weisen sie aber Verzögerungen oder Auffälligkeiten auf.
Andererseits werden Kinder mit schweren Verarbeitungsstörungen
in allen Bereichen ähnlich verzögert sein. Bei manchen Kindern sind
Denkfähigkeit und Intelligenz schwächer ausgeprägt als die moto-
rischen Fähigkeiten. Für Kinder mit sensorischen Verarbeitungsstö-
rungen ist das allerdings untypisch, sie haben im Allgemeinen größe-
re Probleme mit der Bewegungsplanung als mit dem Erfassen und
logischen Schlussfolgern.

Definition
Intelligenz ist die Fähigkeit, Beziehungen in der physikalischen
Umwelt oder zwischen Gedanken und Ideen herzustellen.
66 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?

Grundlage für Intelligenz ist eine gute Zusammenarbeit von Milliar-


den von Nervenzellen. Es wird angenommen, dass Intelligenz mit der
Anzahl von Hirnneuronen und Verbindungen zwischen den Neuro-
nen (Synapsen) zusammenhängt. Kinder mit sensorischen Integra-
tionsstörungen haben im Allgemeinen genauso viele Neuronen wie
normale Kinder. Ihre Probleme werden dadurch verursacht, dass die
Verbindungen nicht gut funktionieren. Wir wollen diesen Punkt mit
einem Bild illustrieren.
4
Beispiel
Stellen Sie sich zwei sehr ähnliche Firmen vor, die eine hat 4 Mitarbei-
ter, die andere 8  Mitarbeiter. Wenn alle anderen Bedingungen auch
gleich sind, würden wir erwarten, dass die Firma mit den 8 Mitarbei-
tern mehr Arbeit leistet.
Nehmen wir einmal an, dass an einem Tag nur 4 der 8 Mitarbeiter
zur Arbeit kommen, während die andere Firma mit der gesamten Be-
legschaft arbeitet. Obwohl nun in beiden Firmen 4  Mitarbeiter tätig
sind, erledigt die Firma, in der der Mitarbeiterstab normalerweise nur
aus 4 Personen besteht, mehr Arbeit als die Firma, die mit halber Be-
setzung arbeiten muss.
Genauso müssen im Gehirn alle Neurone – d.h. die gesamte Beleg-
schaft – zusammenarbeiten, um volle Intelligenzleistung produzieren
zu können. Eine sensorische Integrationsstörung bedeutet nicht, dass
Funktionen vollständig fehlen, sondern dass sie ungenügend sind.
Die 8-köpfige Firma wäre ziemlich unproduktiv, wenn die Mitarbei-
ter nicht miteinander reden und ihre Bemühungen nicht koordinieren
würden. Selbst 8  Personen, die nicht miteinander kommunizieren,
können nicht leisten, was 4 Personen leisten, die gut aufeinander ab-
gestimmt arbeiten.

Bei einem Kind mit einer sensorischen Verarbeitungsstörung arbei-


ten die Nervenzellen zwar in »voller Besetzung«, aber sie kommuni-
zieren nicht immer miteinander. Sie arbeiten nicht als eine Einheit
zusammen, und manche Aktionen sind nutzlos oder übertrieben.
>> In den letzten Jahren hat sich das Wissen, dass bei Lern-
schwierigkeiten eine gestörte Hirnfunktion vorliegt, zuneh-
mend verbreitet. Weniger bekannt hingegen ist, dass auch
Verhaltensstörungen ihre Wurzeln in einer gestörten Hirn-
funktion haben können.

Natürlich haben viele Umweltfaktoren Einfluss darauf, wie die Per-


sönlichkeit sich entwickelt und ausdrückt (verhält). Lernen kann
nicht stattfinden, wenn es nichts zu lernen gibt; und die Persönlichkeit
kann sich nicht entwickeln, wenn das Kind sich nicht mit den Lebens-
umständen auseinandersetzt. Doch genau diese Fähigkeit des Kindes
– sich auseinanderzusetzen – ist abhängig von seiner Hirnfunktion.
Manche Menschen kommen nicht mit Mathematik zurecht, andere
können Stress nicht meistern. Wieder andere haben Schwierigkeiten,
4.1 • Symptome, Ursachen und Ebenen
67 4

. Abb. 4.1  Wenn Kinder Sinnesinformationen falsch interpretieren, beeinträch-


tigt das ihre Lernfähigkeit und ihre sozialen Beziehungen

wenn Pläne sich unvorhergesehen ändern, wenn sie aufmerksam sein,


mit anderen teilen oder einfach still sitzen sollen. Solche Leistungs-
unterschiede beruhen wahrscheinlich darauf, dass das Gehirn der Be-
troffenen anders funktioniert.
>> Nicht alle Probleme im Leben können auf sensorische Integ-
rationsstörungen zurückgeführt werden.

Wenn jemand blind ist, so bekommt er keine optischen Informatio-


nen. Bei Blindheit ist das Problem aber die Aufnahme der Sinnes-
informationen im Rezeptor und nicht die Integration der Sinnesin-
formationen. Liegt – wie bei einer Zerebralparese – eine Schädigung
in dem Gehirnareal vor, das die Muskulatur steuert, so dass das Kind
seine Bewegungen nicht gut koordinieren kann, handelt es sich um
ein neuromuskuläres Problem, nicht um ein sensorisch-integratives.
Ein Kind, das mit starken psychischen Belastungen aufwächst, ist viel-
leicht aggressiv oder zurückgezogen. Diese Probleme haben ebenfalls
andere Ursachen als eine sensorische Integrationsstörung. Bei den
meisten Kindern mit sensorisch-integrativen Funktionsstörungen
sind Sehkraft und Hörvermögen normal, aber sie können diese Sin-
nesempfindungen nicht eindeutig interpretieren (.  Abb.  4.1). Auch
haben die meisten dieser Kinder keine härteren Schicksalsschläge er-
litten als der »Durchschnittsmensch«, aber die Störung in ihrem Ge-
hirn beeinflusst auch ihr emotionales Wachstum.
>> Ist die Störung leicht, kann das einzig sichtbare Problem
des Kindes beim Lernen in der Schule auftreten, meist beim
Rechnen oder Lesen.

Lehrerinnen und Psychologinnen sprechen dann oft von einer Lern-


störung oder Legasthenie. Viele Lernprobleme sind das Ergebnis
68 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?

einer ungenügenden sensorischen Integration, und viele Kinder mit


Lernstörungen haben sensorische Verarbeitungsschwächen unter-
schiedlichen Ausmaßes.
»Die Meinung, dass Kinder von Häufig hört man, dass Kinder mit Lern- oder Verhaltensproble-
selbst aus ihren Schwierigkeiten men lediglich Spätentwickler seien. Zweifellos muss man eine ge-
herauswachsen … verhindert, wisse Bandbreite der normalen Entwicklung berücksichtigen. Die
dass Kinder in einem Alter klinische Praxis hat jedoch gezeigt, dass Kinder mit dieser Art von
professionelle Hilfe bekommen, Schwierigkeiten niemals völlig aus ihren Problemen herauswachsen.
4 wo sie am meisten bewirken Viele Kinder lernen, ihre Schwächen teilweise zu kompensieren oder
kann.« durch mehr Anstrengung auszugleichen. Oder sie drücken ihre Prob-
leme auf eine andere Art aus. Die Meinung, dass Kinder von selbst aus
ihren Schwierigkeiten herauswachsen, ist schädlich, weil diese Ein-
stellung verhindert, dass Kinder in einem Alter professionelle Hilfe
bekommen, wo sie am meisten bewirken kann.

4.2 Wo liegen die Ursachen der Störung?

Wir wissen weniger darüber, wodurch Störungen der sensorischen


Integration verursacht sind, als darüber, wie wir damit umgehen kön-
nen. Einige Wissenschaftler denken, dass bestimmte Lern- und Ent-
wicklungsstörungen vererbt sind. Viele denken, dass die Zunahme an
Giftstoffen in der Umwelt (wie Luftverschmutzung, Virusinfektionen
und die Aufnahme von Chemikalien) zur Entwicklung einer Funk-
tionsstörung beiträgt. Möglicherweise ist eine Kombination von er-
blichen und chemischen Faktoren ausschlaggebend, dass es zu einer
sensorischen Verarbeitungsstörung kommt. Das Nervensystem ent-
wickelt sich während der ersten Schwangerschaftsmonate und ist
in dieser Zeit sehr verletzbar. Genetische Faktoren könnten dazu bei-
tragen, dass bei manchen Kindern bestimmte Gehirnteile verletzbarer
sind als normalerweise üblich. Wird das Gehirn in diesem hochemp-
findlichen Zustand schädigenden Umwelteinflüssen ausgesetzt, kann
das Auswirkungen auf die sensorisch-integrative Entwicklung haben.
Auch bei der Geburt ist das Gehirn einem Verletzungsrisiko aus-
gesetzt. Manche Säuglinge bekommen während des Geburtsvorgangs
nicht genügend Sauerstoff, wodurch die Hirnfunktion beeinflusst wird.
Auch Kinder, die ohne ausreichende Anregung (unter deprivier-
ten Umständen) aufwachsen und kaum Kontakt mit Menschen und
Dingen haben, entwickeln sich in sensorischer, motorischer und intel-
lektueller Hinsicht nicht altersentsprechend. Wir alle kennen die Bilder
von Kinderheimen, in denen Kinder in leeren Räumen und mit weni-
gen Möglichkeiten zu Bewegung, Spiel und sensorischer Anregung
aufgezogen werden. Kinder, die auf solche Art grundlegenden Sin-
neserfahrungen beraubt werden, zeigen Entwicklungsstörungen und
gravierende Probleme mit der sensorischen Integration (. Abb. 4.2).
Der Entzug von Sinneseindrücken (sensorische Deprivation)
bringt sogar das Gehirn gesunder Erwachsener durcheinander
(7  Exkurs). Wissenschaftler haben vorübergehende Verhaltens- und
4.2 • Wo liegen die Ursachen der Störung?
69 4

. Abb. 4.2  Ohne geeignete Möglichkeiten für sensorisches Explorieren und


neue Erfahrungen können Kinder ihre Wahrnehmung nicht so entwickeln, dass
sie Fertigkeiten aufbauen können

Persönlichkeitsstörungen bei Piloten gefunden, die einen langen Flug


hinter sich hatten, während dem sie sich in ihren Sitzen nicht bewe-
gen konnten, und bei Personen, die während eines arktischen Winters
ihre kleinen Hütten nicht verlassen konnten. Haben Sie jemals die Er-
fahrung gemacht, wie es ist, lange ans Bett gefesselt zu sein oder lange
ohne Bewegung im Auto zu sitzen? Können Sie sich erinnern, sich
unwohl und reizbar gefühlt zu haben? Dieses Unwohlsein wird durch
den Mangel an vestibulärem und propriozeptivem Input verursacht,
und durch die fehlende Möglichkeit, anpassend darauf zu reagieren.
Wissenschaftliche Experimente zeigen, was komplette sensori-
sche Deprivation bewirkt (7 Exkurs).
Der vollständige Entzug von Sinneserfahrungen ist jedoch in
der Regel nicht die Ursache sensorischer Integrationsstörungen. Die
meisten Kinder mit leichten Unregelmäßigkeiten der Hirnfunktion
haben normale sensorische Erfahrungen gemacht. Ihre Eltern und
Betreuungspersonen haben ihnen ausreichend Möglichkeiten für
eine gute Hirnentwicklung geboten; und wenn keine neurologische
Störung vorliegt, werden sie sich wie andere Kinder entwickeln. Die
Eltern haben weder bewusst noch unbewusst die Entstehung dieser
Funktionsstörung verursacht.
Die meisten Kinder mit sensorischen Verarbeitungsstörungen »Für Eltern kann es schwer sein,
waren zwar nie einer derartigen sensorischen Deprivation ausgesetzt, zu erkennen, dass die Lern- und
aber ihre Probleme können das Ergebnis eines inneren sensorischen Verhaltensprobleme ihres Kindes
Entzugs sein. Obwohl die Umgebung dem Kind durchaus Sinnes- das Ergebnis neurologischer
anregungen bietet, erreichen die Sinnesempfindungen nicht alle die Funktionsstörungen sind, die das
Gehirnareale, die die Information zur Verarbeitung bräuchten. Die Kind nicht kontrollieren kann.«
Rezeptoren nehmen die Reize auf, aber ein Teil der Sinnesimpulse ge-
langt nicht zu den Neuronen und Synapsen, die sie erreichen sollten.
70 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?

Exkurs: Sensorische Deprivation


Einige Wissenschaftler arbeiteten nen Empfindungen – wie das Ticken die Ohren wurden zugestöpselt,
mit Versuchspersonen in sensori- einer Uhr – zu verarbeiten, so dass oder sie bekamen ein monotones
schen Entzugskammern. Sie block- sie keine Nahrung mehr für das Ge- »weißes Rauschen« zu hören. Nach-
ten alle Reize ab, um zu sehen, wie hirn darstellen. dem die Versuchspersonen mehrere
ein gesunder Erwachsener reagiert, Des Weiteren gab es Versuche, Stunden unter diesen Bedingungen
wenn seine Sinne keine Reize mehr bei denen die Versuchspersonen in verbracht hatten, zeigten sich Zer-
erleben. Es ist zwar praktisch un- lauwarmem Wasser lagen, welches fallserscheinungen der geistigen
4 möglich, einem lebenden Nerven- dem Gehirn nach kurzer Zeit keiner- Prozesse. Sie bekamen übersteiger-
system jegliche Empfindung zu lei Berührungsinformation mehr te Ängste und erlebten visuelle und
nehmen, aber über Veränderungen lieferte. Bei anderen Versuchen auditive Halluzinationen.
kann man ihm sämtliche Sinnes- trugen die Versuchspersonen einen Die normalen Wahrnehmungs-
informationen entziehen. In dieser Ganzkörperanzug, der von Kopf bis prozesse zerfallen, wenn das Gehirn
Kammer werden der Versuchsper- Fuß alle Informationen über Be- keine sensorische Nahrung erhält.
son also alle Sinneseindrücke bis rührungen und Körperbewegungen Diese Probleme hielten oft noch
auf wenige gleichbleibende ent- ausschaltete. Weiterhin wurden eine Zeit lang an, nachdem die Ver-
zogen. Diese stimulieren das Gehirn den Versuchspersonen die Augen suchspersonen die Entzugskammer
nur leicht, und nach kurzer Zeit hört verbunden, oder sie bekamen verlassen hatten.
das Gehirn ganz auf, diese monoto- konstant nur weißes Licht zu sehen;

Es sind die ganzheitlichen Sinneseindrücke, die dem Gehirn fehlen,


um bestimmte Funktionen zu entwickeln.
Für Eltern kann es schwer sein, zu erkennen, dass die Lern- und
Verhaltensprobleme ihres Kindes das Ergebnis neurologischer Funk-
tionsstörungen sind, die das Kind nicht kontrollieren kann. Sie glau-
ben, dass es Dinge mit Absicht macht und reagieren auf eine Art, die
dem Kind das Leben noch schwerer macht. Am hilfreichsten ist es,
wenn Eltern ihr Kind unterstützen, sein Gehirn zu organisieren; zu-
mindest sollten sie ihm helfen, sich in seiner Haut wohler zu fühlen.

4.2.1 Zeichen und Symptome von sensorischen


Integrationsstörungen

Sensorische Integrationsstörungen wären viel leichter zu erkennen


und zu behandeln, wenn das Problem bei jedem Kind gleich aussähe.
Es ist selbst für Therapeutinnen, die in der Befundung von senso-
risch-integrativen Funktionen ausgebildet sind, nicht einfach, die ge-
naue Art der Funktionsstörung zu identifizieren, da die Symptome bei
jedem Kind anders aussehen. In den nächsten vier Kapiteln werden
wir diese Zeichen und Symptome im Detail beschreiben und ihre Be-
deutung erklären; zunächst folgt eine kurze, allgemein verständliche
Übersicht.

Hyperaktivität oder Ablenkbarkeit

>> Motorische Unruhe oder Hyperaktivität fällt Eltern meist als


Erstes auf, weil sie so offensichtlich und störend ist; sie stellt
oft ein großes Problem dar.
4.2 • Wo liegen die Ursachen der Störung?
71 4

. Abb. 4.3  Schwierigkeiten, ruhig und aufrecht zu sitzen können ein Zeichen
für eine sensorische Integrationsstörung sein

Das Kind ist praktisch ständig in Bewegung. Es rennt anstatt zu ge-


hen, und seine Aktivitäten sind oft ziellos und unzweckmäßig. Es
ist ihm beinahe unmöglich, still zu sitzen und sich zu konzentrieren
(. Abb. 4.3). Diese Ablenkbarkeit kann in der Schule zu großen Pro-
blemen führen. Da das Kind Geräusche und Licht nicht ausfiltern
kann, ist es permanent abgelenkt, wenn im Klassenzimmer mehrere
Aktivitäten gleichzeitig stattfinden. Dadurch kommt es nicht dazu, bis
an seine Leistungsgrenze zu arbeiten. Als Kleinkind war es ȟberall
und nirgends«. Mit zunehmendem Alter kann es den Drang herum-
zurennen wahrscheinlich besser unterdrücken. Aber dieselbe über-
schießende neuronale Aktivität hindert es daran, sein Zimmer in
Ordnung zu halten, seine Hausaufgaben fertig zu machen oder alles
in die Schule mitzunehmen, was es braucht.

Beispiel
Von den Eltern hört man oft: »Wenn er einmal daran denkt, seinen Pull-
over mitzunehmen, vergisst er dafür sein Pausenbrot – und wenn er an
das Pausenbrot denkt, vergisst er seine Bücher!« oder »Sie bekommt es
einfach nicht auf die Reihe!«

Ein Gehirn, das Sinnesinformationen und Bewegungen nicht richtig


verarbeiten kann, kann auch einen Schrank voller Kleidungsstücke
oder einen Rucksack voller Bücher, Hefte und Stifte nicht ordnen.

Verhaltensprobleme  Ein Kind mit sensorischen Verarbeitungsstö-


rungen ist für seine Eltern im Allgemeinen anstrengender als andere
Kinder. Es wirkt weniger glücklich – irgendetwas stimmt nicht mit
ihm. Es ist quengelig und hat wenig Spaß am gemeinsamen Spiel
mit seiner Familie oder anderen Kindern. Es kann nicht verlieren.
Verlieren ist eine Bedrohung für sein schwaches Selbstbewusstsein,
72 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?

und so zerstört es das Spiel lieber vorher. Möglicherweise fällt es ihm


auch schwer, Spielsachen oder Essen zu teilen. Es versucht unentwegt,
sich erfolgreich und wichtig zu fühlen. Dabei kann es die Bedürfnisse
anderer nicht miteinbeziehen.
>> Weil das Gehirn bei einem Kind mit sensorischen Verarbei-
tungsstörungen untypisch reagiert, verhält es sich auch
untypisch.
4 Möglicherweise ist das Kind übermäßig empfindlich, und seine Ge-
fühle werden oft verletzt. Wahrscheinlich hat es Schwierigkeiten, mit
Stress im Alltag oder nicht vertrauten Situationen umzugehen.
Da diese Verhaltensweisen für die Umwelt unangenehm und he-
rausfordernd sind, wird sich das Kind durch sein Verhalten wenig
Freunde machen; manche Kinder lehnen es vielleicht schlichtweg
ab und machen ihm das Leben schwer. Kinder können sehr gemein
zueinander sein, und die Eltern haben darüber nicht immer die
Kontrolle. Ein Teufelskreis von geringem Selbstbewusstsein, unan-
genehmem Verhalten und negativen Reaktionen von anderen kann
das Kind in eine dauerhaft unglückliche Situation bringen. Es kämpft
nicht nur mit seinen Schwierigkeiten aufgrund der sensorischen Ver-
arbeitungsstörung, sondern auch mit Menschen, die sich über seine
Handlungen ärgern und es ablehnen. Viele dieser Kinder suchen sich
jüngere Kinder als Spielpartner, die keine Herausforderung darstellen,
oder sie tendieren zu älteren Kindern oder Erwachsenen, die auf sie
eingehen und sie akzeptieren.

»Abweichungen der Verzögerung der Sprachentwicklung  Weil das Sprechen (Artikula-


Sinnesverarbeitung wirken sich tion) und die Sprachentwicklung von vielen sensorisch-integrativen
auch auf die Sprachentwicklung Prozessen abhängen, wirken sich Abweichungen der Sinnesverarbei-
aus.« tung auch auf die Sprachentwicklung aus.
>> Unsere Gesellschaft legt großen Wert auf die Sprache als
Mittel der zwischenmenschlichen Kommunikation, daher
fallen den Eltern als Erstes Sprachentwicklungsstörungen
auf, bevor sie andere, subtilere Symptome bemerken.

Muskelspannung und Koordinationsprobleme  Vestibuläre und pro-


priozeptive Informationen steuern die Muskelspannung, die den
Körper aufrecht und aktionsbereit hält. Viele Kinder mit sensorisch-
integrativen Funktionsstörungen haben einen niedrigen Muskelto-
nus, wodurch sie schlaff und schwach wirken. Sie müssen sich mehr
anstrengen als andere, um Kopf und Körper gegen die Schwerkraft
aufrecht zu halten, und dadurch ermüden sie rasch. Ist die Spannung
der Nackenmuskulatur herabgesetzt, so muss das Kind seinen Kopf
auf die Hand stützen oder auf seinem Arm ausruhen, während es am
Tisch sitzt. Auch das freie Stehen ist für das Kind zu anstrengend, so
dass es oft an Mauern oder Säulen lehnt.
4.2 • Wo liegen die Ursachen der Störung?
73 4
>> Arbeiten das vestibuläre, propriozeptive und taktile Sinnes-
system nicht regelrecht, wird das Kind Schwächen in der
Koordination von Bewegungen zeigen.

Das Kind gerät leicht aus der Balance und stolpert oft. Der Stift fällt
ihm häufiger aus der Hand als anderen Kindern. Manche Kinder fal-
len sogar von ihrem Stuhl, weil sie nicht genau spüren, wo sie sich auf
der Sitzfläche befinden. Die Ursache für diese Ungeschicklichkeit ist
oft eine schlechte Verarbeitung der Sinnesempfindungen über den
eigenen Körper und die Schwerkraft. Es muss jedoch ausgeschlossen
werden, dass andere neurologische Störungen die Ursache sind.
>> Unreifes Spielverhalten ist generell ein frühes Zeichen
einer sensorischen Integrationsstörung. Ein Kind, das nicht
mit Bausteinen baut, mit Spielzeug hantiert oder Puzzles
zusammensetzt, hat wahrscheinlich Probleme, Sinnesinfor-
mationen zu integrieren.

Lernschwierigkeiten in der Schule  Ist die sensorisch-integrative Stö- »Sensorisch-integrative


rung im Gehirn leicht, können die ersten Probleme erst auffallen, Störungen können sich entweder
wenn das Kind in die Schule kommt. Lesen, Schreiben und Rechnen direkt auf den Lernprozess
setzen die Integration von vielen Sinneserfahrungen voraus und stel- im Gehirn auswirken, oder
len sehr komplexe Anforderungen an das Gehirn. Sensorisch-integ- sie verursachen Probleme
rative Störungen können sich entweder direkt auf den Lernprozess im im Arbeitsverhalten, die sich
Gehirn auswirken, oder sie verursachen Probleme im Arbeitsverhal- wiederum auf die Schulleistun-
ten, die sich wiederum auf die Schulleistungen auswirken, auch wenn gen auswirken.«
das Kind grundsätzlich keine Lernschwäche hat. Wenn »Schule« das
Kind überfordert und es keine entsprechende Unterstützung erhält,
kann es passieren, dass es die jeweiligen Klassenziele nicht erreicht
und schließlich seine Schulausbildung vorzeitig abbricht.
Das Hauptproblem kann darin liegen, Lesen und Schreiben zu
lernen. Dazu muss sich das Kind merken, ob der Strich beim »M« zu-
erst nach oben oder unten geht, und ob das »P« nach links oder nach
rechts schaut. Dieses Wissen stammt von visuellen und Bewegungs-
erinnerungen, auf die die meisten Menschen automatisch zugreifen
können. Ist die Gehirnaktivität jedoch unorganisiert, kann das Kind
diese Erinnerungen »nicht finden«, wenn es sie braucht.
>> Vorschulkindern das Lesen beizubringen, bevor ihr Gehirn
für diese Aufgabe vorbereitet ist, bringt nichts und nimmt
dem Kind zudem die Gelegenheit für sensomotorische Akti-
vitäten. Genau diese braucht sein Gehirn aber im Vorschul-
alter, um später Lesen lernen zu können.

Für Kinder mit einer bestimmten Art der sensorischen Integrations-


störung ist vor allem das Schreiben schwierig. Manchen fällt es beson-
ders schwer, gehörte Wörter hinzuschreiben (nach Diktat zu schrei-
ben); sie können die Höreindrücke nicht mit den Spürempfindungen
ihrer Hände und Finger zusammenbringen. Möglicherweise hören
74 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?

Sie von einem betroffenen Kind die Aussage: »Ich weiß, was Sie wol-
len, aber ich kann es nicht hinschreiben.«
Kinder mit sensorischen Integrationsstörungen haben generell
Schwierigkeiten, den sie umgebenden Raum wahrzunehmen. Sie lau-
fen in Leute oder Gegenstände, weil sie nicht einschätzen können, wo
die Objekte sich im Raum befinden, und wo ihr eigener Körper sich
befindet. Sie sind buchstäblich »lost in space« (im Raum verloren).
In der Schule kann dies zu Schwierigkeiten beim Abschreiben von
4 der Tafel führen. Das Kind hat schon Schwierigkeiten mit dem Raum
zwischen ihm und der Tafel, und noch mehr Schwierigkeiten, die
Abstände zwischen den Buchstaben richtig zu verteilen. Seine Buch-
staben haben keine einheitliche Größe und sind schief und krumm.

Jugendalter  Wenn das Kind mit sensorisch-integrativen Problemen


im Teenageralter ist, hat es entweder schlecht und recht gelernt, wie es
in der Schule gerade so durchkommt, oder es gibt auf und bricht die
Schule ab. Ist die Störung nur leicht ausgeprägt, kann sie sich in klei-
neren Problemen zeigen: Die Jugendlichen verwechseln gelegentlich
die Seite, sie können sich Zahlenfolgen wie eine Telefonnummer nicht
merken und haben Schwierigkeiten, das Wechselgeld zu kontrollie-
ren. Viele Jugendliche mit schwacher sensorischer Integration ver-
meiden bestimmte Aktivitäten wie Tanzen und Sport. Manche haben
bereits Schwierigkeiten, zu einer Musik einen einfachen Rhythmus
zu klatschen. Man kann sich gut vorstellen, dass sich ein Jugendlicher
mit diesen Problemen unzulänglich fühlt.
Eine der häufigsten Beschwerden von Eltern mit Teenagern, die
sensorische Verarbeitungsstörungen haben, ist ihre schlechte Organi-
sationsfähigkeit. Ein Gehirn, das Schwierigkeiten hat, Sinneseindrü-
cke geordnet zu verarbeiten, hat auch Schwierigkeiten, andere Dinge
zu ordnen. Es verlangt uns allen etwas ab, sich auf eine Aufgabe zu
konzentrieren, wie z.B. das Zimmer aufräumen oder eine Buchbe-
sprechung schreiben.
>> Jugendlichen mit schwacher sensorischer Integration fällt
es besonders schwer, eine Abfolge von Aufgabenschritten
zu planen – so wie es ihnen in der Grundschulzeit schwer-
gefallen ist, eine Abfolge von Buchstaben oder Zahlen zu
interpretieren.

Sie wissen nicht, womit sie als Erstes beginnen sollen, und wie lange je-
der Schritt dauern wird. Wenn sie unterbrochen werden, vergessen sie
meist, was sie gerade getan haben. Es gibt Tage, an denen sie sich über-
haupt nicht konzentrieren können und keine Aufgabe zu Ende bringen.

4.3 Der integrative Prozess

Die Symptome, die wir im obigen Abschnitt beschrieben haben, sind


nicht das Problem; sie sind vielmehr Endprodukte der unorganisier-
4.3 • Der integrative Prozess
75 4

. Abb. 4.4  Der Prozess der sensorischen Integration

ten und ineffizienten Sinnesverarbeitung im Gehirn. Das Flussdia-


gramm in . Abb. 4.4 zeigt, wie die unterschiedlichen Sinnesinforma-
tionen zusammenwirken, damit sich die Funktionen, die ein Kind für
ein erfolgreiches und glückliches Leben braucht, entwickeln können.
Wenn Sie die nachfolgenden Kapitel lesen, kann es hilfreich sein, zu
diesem Flussdiagramm zurückzublättern.
Ganz rechts, unter der Überschrift »Endprodukte« ist eine Reihe
von Leistungen aufgeführt, die wir brauchen, um in der Familie und
zu Freunden gute Beziehungen zu haben, eine schulische Ausbildung
abzuschließen und als Erwachsene erfolgreich im Berufsleben zu ste-
hen.
>> Mit einer normalen Lernfähigkeit, einer gesunden Persön-
lichkeit und Entschlusskraft können wir es im Leben zu
etwas bringen. Allerdings sind diese Dinge nicht plötzlich
da; sie sind das Ergebnis einer jahrelangen Hirnentwicklung
und Integration von Erfahrungen.

Was braucht ein Kind, um diesen Stand zu erreichen? Und was ist bei
Kindern schief gelaufen, die nicht dorthin gelangen? Die Antworten
auf diese Fragen werden klar, wenn wir uns die vielen Prozesse an-
76 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?

schauen, die in die Integration von Sinnesinformationen mit einge-


schlossen sind.
Ganz links im Diagramm sind die wichtigsten Sinnessysteme dar-
gestellt. Die erste Bedingung ist, dass diese Sinne ausreichend sti-
muliert werden und die Impulse von den Rezeptoren zum Gehirn
fließen. Kinder mit sensorischen Integrationsstörungen erfüllen diese
Bedingung im Allgemeinen; ihr Problem ist, diese sensorischen Im-
pulse miteinander zu verknüpfen – zu integrieren.
4 In den Klammern stehen die vier Entwicklungsstadien, die im
Prozess der sensorischen Integration durchlaufen werden. Leider
kann selbst ein Flussdiagramm nicht wiedergeben, wie fließend diese
Stadien im wirklichen Leben ineinander übergehen. Die Hirnfunk-
tionen bzw. -leistungen entwickeln sich nicht in großen Sprüngen
oder Stufen und bleiben dann auf einem Stand stehen. Vielmehr ent-
wickeln sie sich gemeinsam, und manche Leistungen sind Voraus-
setzung für andere.
Die Klammern bedeuten, dass viele Dinge zusammenkommen.
Die Klammer nach »taktil« im 1. Stadium sagt aus, dass Berührungs-
empfindungen der Haut für mehrere Funktionen genutzt werden:
Taktile Informationen sind nötig, damit das Kind saugen und essen
kann, aber auch, damit sich die Beziehung zwischen Mutter und Kind
entwickeln kann. Die Klammer, die »vestibulär« und »propriozep-
tiv« zusammenfasst, bedeutet, dass die Verknüpfung bzw. Integration
dieser Sinnesinformationen zu gut koordinierten Augenbewegungen,
guter Haltung und Balance, einer angemessenen Muskelspannung
und emotionaler Sicherheit im Umgang mit der Schwerkraft führt.
Das 2 Stadium wird erreicht, wenn Informationen der drei Nah-
sinne – dem taktilen, vestibulären und propriozeptiven Sinn – integ-
riert und für die Entwicklung des Körperschemas, der Koordination
beider Körperseiten, der Bewegungsplanung, des Aktivitätsgrads,
der Aufmerksamkeitsspanne und der emotionalen Stabilität genutzt
werden. Die Klammer zeigt an, dass Seh- und Höreindrücke nicht
wesentlich zur Entwicklung dieser Funktionen beitragen. Das Kind
sieht und hört, aber die Organisation seines Nervensystems hängt
mehr von den Empfindungen seines Körpers ab.
Im 3.  Stadium werden auditive und visuelle Sinneseindrücke
integriert. Auditive und vestibuläre Empfindungen werden mit dem
Körperschema und verwandten Funktionen zusammengebracht, da-
mit das Kind Sprache benutzen und verstehen kann. Die Verknüp-
fung der visuellen Informationen und der Körperempfindungen aus
den drei Nahsinnen ermöglicht dem Kind eine genaue und detail-
lierte visuelle Wahrnehmung sowie die Koordination von Augen und
Hand. Im 3. Stadium macht das Kind gerne Dinge, die einen Zweck
haben, z.B. mit Löffel oder Gabel essen, zeichnen oder Gegenstände
auseinandernehmen und wieder zusammensetzen.
Im 4.  Stadium ermöglichen die bisher erworbenen Leistungen
nun Funktionen des ganzen Gehirns. Die Leistungen in diesem Sta-
dium sind das Ergebnis der sensorischen Prozesse, die in den ersten
4.3 • Der integrative Prozess
77 4
drei Stadien stattfanden. Die Fähigkeit, sich zu organisieren und zu
konzentrieren macht einen Teil der schulischen Lernfähigkeit aus.
Selbstbewusstsein, Selbstbeherrschung und Selbstvertrauen entwi-
ckeln sich, wenn das Kind sich in seinem Körper als kompetentes
sensomotorisches Wesen fühlt, und wenn die neurologische Integra-
tion gut funktioniert. Sobald die beiden Körperseiten bei den zweck-
mäßigen Aktivitäten des Kindes gut zusammenarbeiten, kommt es
auf natürliche Art zu einer Spezialisierung der Körperseiten und der
Hirnhemisphären.
>> Keine dieser Funktionen entwickelt sich nur in einem be-
stimmten Alter. Die Fähigkeiten der sensorischen Integra-
tion entwickeln sich parallel in allen Stadien, über die ganze
Kindheit hinweg.

Das Nervensystem des 2-monatigen Säuglings arbeitet vor allem im


1. Integrationsstadium, ein bisschen im 2. Stadium und ansatzweise
im 3. Stadium. Das Einjährige erbringt vor allem sensorisch-integrati-
ve Leistungen des 1. und 2. Stadiums, und das 3. Stadium wird zuneh-
mend wichtiger. Im Alter von 3 Jahren bearbeitet das Gehirn immer
noch Leistungen der ersten 3 Integrationsstadien, aber das 4. Stadium
hat begonnen. Mit 6  Jahren sollte die Entwicklung des 1.  Stadiums
vollständig und die des 2. Stadiums fast abgeschlossen sein. Das Ge-
hirn arbeitet jetzt vor allem an den sensorisch-integrativen Leistun-
gen des 3. Stadiums, und das 4. Stadium gewinnt zunehmend an Be-
deutung. Das Kind lernt dieselben Dinge immer wieder: zuerst beim
Krabbeln, dann beim Gehen und später beim Fahrradfahren. Schau-
en wir uns die Integrationsstadien nun genauer an.

4.3.1 Das 1. Integrationsstadium

Berühren und Berührt-Werden sind sehr wichtige Erfahrungen für


den Säugling und sein ganzes späteres Leben. Tastinformationen hel-
fen ihm, seine Nahrung zu saugen und zu schlucken, und später zu
kauen.
>> Säuglinge mit Störungen der taktilen Verarbeitung haben
oft Schwierigkeiten zu saugen, und später lehnen sie feste
Nahrung aufgrund deren Beschaffenheit ab.

Ein Säugling braucht den Körperkontakt zu einer Bezugsperson,


und sein Gehirn muss die Empfindungen des Körperkontakts richtig
interpretieren, damit sich die erste emotionale Beziehung im Leben
entwickeln kann. Harlow (1958, 1959) zeigte, dass diese emotionale
Bindung in erster Linie taktiler Natur ist. Diese mit Berührung eng
verknüpfte Gefühlsbindung wird auch Mutter-Kind-Beziehung ge-
nannt. Diese Bindung vermittelt dem Säugling ein erstes Bewusstsein
von sich selbst als einem körperlichen Wesen. Die Haut ist die Grenze
des Selbst, daher ist das Verarbeiten von Berührungsreizen für den
78 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?

. Abb. 4.5  Die vertrauensvolle Beziehung zu Bezugspersonen ist sehr wichtig


für die emotionale, soziale und körperliche Entwicklung des Kindes

Säugling wichtigste Quelle für das Gefühl von Sicherheit (. Abb. 4.5).


Harlow zeigte dies, indem er Affen in Räume mit unbekannten Ob-
jekten brachte. Die Babyaffen, die mit einer Stoff-»Mutter« aufgezo-
gen wurden, erforschten den Raum und die Gegenstände ausgiebig.
War die »Mutter« anwesend, schauten sie gelegentlich zu ihr hin, um
sich zu beruhigen. Die Babyaffen, die mit einer unbequemen Draht-
»Mutter« aufgezogen wurden, hielten es nicht aus, in einer unvertrau-
ten Umgebung zu sein.
Kann ein Kind Berührungsempfindungen aufgrund einer senso-
rischen Integrationsstörung nicht richtig verarbeiten, reicht es nicht
aus, dass die Bezugsperson das Baby liebkost, umarmt und streichelt.
Damit kann sie sein Bedürfnis nach taktilen Reizen nicht wirklich
befriedigen. Wenn diese erste Bindung nicht gelingt, wird es für das
Kind im späteren Leben schwerer sein, emotionale Beziehungen auf-
zubauen.
>> Wenn ein Kind bei vertrauten Berührungen nicht das Gefühl
von Sicherheit und Geborgenheit erlebt, wird es weniger
emotionale Sicherheit entwickeln.

Kinder mit taktilen Störungen haben oft Schwierigkeiten, liebevoll


zu sein, obwohl sie mehr Zuneigung brauchen als normale Kinder.
Sie reagieren übertrieben auf die Anforderungen des Alltags. Vielen
Kindern fällt es schwer,selbstständig zu werden.
Die Integration von vestibulären und propriozeptiven Informatio-
nen ermöglicht dem Kind, seine Augenbewegungen zu kontrollie-
ren. Wenn diese Informationen nicht für das Steuern der Augenbewe-
4.3 • Der integrative Prozess
79 4
gungen umgesetzt werden, ist es für das Kind schwierig, den Blick auf
ein Objekt (Dinge oder Personen) zu richten und dessen Bewegungen
mit den Augen zu folgen. Später wird es dem Kind schwerfallen, beim
Lesen die Zeilen im Auge zu behalten. Dadurch kann das Lesen so
anstrengend sein, dass es die Mühe nicht lohnt.
Wenn das Gehirn Informationen aus dem vestibulären und pro-
priozeptiven System schlecht integriert, entwickeln sich Haltereak-
tionen verzögert – z.B. das Umdrehen von Bauch- in Rückenlage oder
das Einnehmen der Krabbelposition. Den betroffenen Kindern fehlen
damit die Grundlagen für das freie Stehen und Gehen. Manche Kin-
der werden auch später ihre Haltung nie so automatisch anpassen
können wie die meisten von uns. Ihre Bewegungen wirken dadurch
steif und wenig geschmeidig, sie haben wahrscheinlich eine schwache
Balance und eine verminderte Muskelspannung. Die meisten Kinder
finden zwar später im Leben Wege, diese Schwächen zu kompensie-
ren, trotzdem werden sie eher verlangsamt und rasch erschöpft sein.

4.3.2 Das 2. Integrationsstadium

Neben den Berührungsempfindungen ist die Schwerkraft eine Quelle


der Sicherheit.
>> Schwerkraftsicherheit heißt, mit beiden Füßen fest auf dem
Boden zu stehen und eine Verbundenheit mit der Erde zu
spüren.

Dieses Grundvertrauen kommt davon, dass wir den konstanten Zug


der Erdanziehung wahrnehmen und die Empfindungen organisieren,
so dass wir ein »freundschaftliches Verhältnis« zur Schwerkraft be-
kommen. Kann ein Kind die Sinnesinformationen von den Gleich-
gewichtsorganen, Muskeln und Gelenken nicht gut integrieren, dann
nimmt es nicht richtig wahr, wo es sich im Raum befindet, und wie
es sich bewegt. Die Angst zu fallen oder in die Luft geworfen zu wer-
den, kann ständiger Begleiter sein. Weil seine Beziehung zur Schwer-
kraft unsicher ist, ist seine ganze Persönlichkeit unsicher. Fehlt dem
Kind zusätzlich die emotionale Sicherheit, die es aus einer guten tak-
tilen Verarbeitung gewinnen kann, ist seine emotionale Entwicklung
schwer bedroht. Niemand von uns kann sich die Ängste von Kindern
vorstellen, die gewöhnliche Berührungs- und Gleichgewichtsempfin-
dungen als überwältigend erleben.
>> Taktile, vestibuläre und propriozeptive Funktionen sind
Bausteine für die emotionale Stabilität.

Kinder, bei denen diese drei Nahsinne nicht gut funktionieren, reagie-
ren untypisch auf ihre Umwelt. Manche ziehen sich zurück, sind sehr
ruhig und bemühen sich, anderen zu gefallen. Andere sind hyperaktiv
und reagieren auf alles, was sie sehen oder hören. Aber die visuellen
und auditiven Reize sind nicht das Problem. Das Kind ist hyperaktiv,
80 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?

weil seine grundlegenden sensorischen Prozesse sein Gehirn nicht so


organisieren, dass es ausgeglichen ist. Obwohl es sehr aktiv ist, achtet
es nicht darauf, was es tut, und bringt daher selten etwas erfolgreich
zu Ende. Es kann sein Gehirn nicht dazu bringen, sich auf irgendet-
was zu konzentrieren. Es ist eine große Herausforderung, ein solches
Kind zu Hause oder in der Klasse zu haben.
Diese Kinder haben auch eine schlechte Vorstellung von ihrem
Körper (Körperschema). Wir können uns das Körperschema als eine
4 »Landkarte« vom Körper vorstellen, die im Gehirn gespeichert ist.
Diese Landkarte enthält Informationen über jeden Körperteil, die
Beziehungen zwischen allen Körperteilen und alle Bewegungen, die
unserem Körper möglich sind. Diese innere Landkarte entwickelt
sich aus den Sinnesempfindungen von Haut, Muskeln, Gelenken
und Gleichgewichtsrezeptoren, die ihm während seiner alltäglichen
Aktivitäten vermittelt werden, und die das Gehirn organisiert und
sortiert. Mit einem guten Körperschema spürt man, was der eigene
Körper tut; man muss nicht hinsehen oder den Körper berühren.
Visuelle Informationen sind für die Körperwahrnehmung von unter-
geordneter Bedeutung.
>> Ist ein Kind sehr abhängig, alles mit den Augen zu kontrol-
lieren, ist das möglicherweise Ausdruck eines schlechten
Körperschemas.

Sind im Körperschema keine klaren Informationen über die Bezie-


hung zwischen der linken und rechten Körperseite gespeichert, hat
das Kind Schwierigkeiten, bei einer Tätigkeit beide Hände oder Füße
koordiniert einzusetzen. Es wird ihm z.B. schwerfallen, eine Trommel
regelmäßig und im Rhythmus zu schlagen oder zu tanzen.
>> Schwächen der Koordination von beiden Körperseiten sieht
man häufig bei Kindern mit vestibulären Störungen.

Wenn im Gehirn keine genaue »Landkarte« vom Körper gespeichert


ist, kann das Kind die Körperbewegungen nicht gut steuern oder pla-
nen. Die meisten Erwachsenen führen Tätigkeiten wie z.B. eine Gabel
benutzen oder ein Hemd anziehen automatisch aus, aber ein Kind
muss die Bewegungen für diese Tätigkeiten planen.

Definition
Unter Bewegungsplanung verstehen wir den sensorischen Pro-
zess, uns an eine unbekannte Aufgabe anzupassen und zu lernen,
diese Aufgabe automatisch auszuführen.

Der Schlüssel für gutes Planen einer Bewegung ist ein gutes Körper-
schema mit genauen taktilen, propriozeptiven und vestibulären Infor-
mationen. Ein Kind, das keine gute »Landkarte« von seinem Körper
hat, kann ungewohnte Bewegungen nicht planen und braucht lange,
um sie zu erlernen. Bis es soweit ist, hat es viele schlecht geplante
4.3 • Der integrative Prozess
81 4
Bewegungen ausgeführt. Das Kind wird Schwierigkeiten haben, mit
Spielsachen zu spielen und sie oft kaputt machen. Es macht das nicht
absichtlich, sondern es spürt nicht, wie es mit den Sachen umgehen
muss, so dass es zu fest drückt oder zieht.
Wie gut das Gehirn eines Kindes organisiert ist, kann man an sei-
ner Aufmerksamkeitsspanne und seinem Aktivitätsgrad beobach-
ten. Wenn Empfindungen außer Kontrolle sind, kann das Kind sich
nicht konzentrieren oder bei einer Aktivität bleiben. Auditive und
visuelle Reize lenken es ab und regen es auf. Dies geschieht normaler-
weise, wenn das Gehirn Empfindungen des Körpers und Schwerkraft-
sinns nicht richtig verarbeitet.

4.3.3 Das 3. Integrationsstadium

Sensorische Integration ist ein fortlaufender Prozess, und jedes Inte-


grationsstadium schafft die Voraussetzungen für das nächste. Bevor
das Kind Wörter verstehen kann, muss es in der Lage sein, sich auf
den Sprecher zu konzentrieren. Bevor es Wörter sprechen kann, muss
es gute sensorische Informationen von seinem Mund haben. Das au-
ditive Sprachzentrum im Gehirn benötigt auch vestibulären Input.
Im Flussdiagramm in .  Abb.  4.4 haben wir gesehen, dass die
Sprachentwicklung von der Integration der auditiven und vestibulä-
ren Empfindungen abhängt.
Wie in  7  Kapitel 3 beschrieben, sind das Hör- und das Gleichge-
wichtsorgan eng verwandt. Anderen Menschen beim Sprechen zuzu-
hören ist natürlich wesentlich, damit sich das Sprachverständnis und
die aktive Sprache entwickeln können, aber das vestibuläre System
hilft dem Gehirn, das Gehörte zu verarbeiten.
>> Bei manchen Typen einer vestibulären Funktionsstörung
zeigen die Kinder oft eine verzögerte Sprachentwicklung.
Wenn sie dann zu sprechen beginnen, ist ihre Sprache aller-
dings meist unauffällig.

Wörter aussprechen (artikulieren) zu können erfordert, dass alle drei


Nahsinne zusammenarbeiten. Schon bei einfachen einsilbigen Wör-
tern wie »Hund« oder »Korb« müssen Zunge und Lippen sehr exakt
positioniert werden. Viele Kinder mit sensorischen Verarbeitungsstö-
rungen spüren nicht genau, wo sich ihre Zunge befindet, und wie sich
ihre Lippen berühren, so dass ihre Aussprache schwer verständlich ist.
Wie Sprechen und Sprache ist auch die visuelle Wahrnehmung
ein Ergebnis früherer sensorischer Integration.

Definition
Visuelle Wahrnehmung bedeutet, dass wir das Gesehene richtig
interpretieren können.
82 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?

Die einfachste visuelle Wahrnehmungsleistung ist es, ein Objekt zu


erkennen Eine höhere Leistung ist es, ein Objekt zu erkennen, ob-
wohl man im Hintergrund andere Objekte sieht. Die visuell-räumli-
che Wahrnehmung gibt uns viele Informationen über unsere Umwelt
(.  Abb. 4.6): Steht die Kaffeetasse auf dem Kopf oder richtig? Passt
dieser Stift durch das Loch im Baustein? Passt dieses Puzzleteil an
diese Stelle? Wie muss ich den Brief in das Kuvert stecken, damit man
die Adresse im Fenster lesen kann?
4 Es ist offensichtlich, dass wir sehen müssen, um diese Fragen be-
antworten zu können. Die Fähigkeit, zu sehen, reicht jedoch nicht
aus. Zur Entwicklung der visuellen Wahrnehmung muss das Kind
viele Erfahrungen gesammelt haben, Dinge zu berühren, zu bewegen
mit den Muskeln deren Gewicht zu spüren und Schwerkraft und Be-
schleunigung auszutarieren.
. Abb. 4.6  Die visuelle Raumwahr-
>> Gleichgewichtsempfindungen sind besonders wichtig für
nehmung sagt uns viel über unsere
Welt, z.B. ob ein Stift in ein Loch passen
die Entwicklung der visuellen Wahrnehmung.
wird, oder wie die Teile eines Konstruk-
Kinder mit vestibulären Störungen haben daher oft Schwierigkeiten
tionsspiels zusammenpassen
zu interpretieren, was sie sehen. Ist die vestibuläre Verarbeitung sehr
schwach, wird auch das Tiefensehen beeinträchtigt sein, und das
Kind wird Schwierigkeiten haben, Stufen und Höhen richtig abzu-
schätzen. Liegt auch eine Störung der taktil-kinästhetischen Wahr-
nehmung vor, dann wird es für das Kind schwer sein, Milch aus
einem Krug einzuschenken oder den Tisch zu decken.
In diesem Integrationsstadium werden die Aktivitäten des Kin-
des zielgerichteter. Es kann jetzt Handlungen beginnen, weiterführen
und beenden, und es kann einen Ablauf durchziehen, um sein Ziel zu
erreichen, z.B. nach einer Rassel greifen, durch das Zimmer krabbeln,
um mit etwas zu spielen, ein Spielzeug aufheben, einen Stift in ein
Loch stecken und Klettern. Das normal entwickelte Kind kann ziel-
gerichtet handeln, weil seine grundlegenden sensorischen Prozesse
stabil, ausgeglichen und zuverlässig funktionieren.
>> Kinder mit sensorischen Integrationsstörungen können
Dinge nicht zu Ende bringen, weil es zu viele Unklarheiten,
Ablenkungen und Aufregungen gibt, die es verwirren und
durcheinanderbringen.

Bei vielen zielgerichteten Tätigkeiten steuern die Augen die Hände.


Zwar werden viele unserer Handbewegungen durch vestibuläre und
propriozeptive Informationen gesteuert, doch bei sehr genauen oder
neuen Aufgaben müssen wir hinschauen, was unsere Hände tun. Eine
gute Koordination von Augen und Händen bedeutet, dass die Hände
und Finger genau dorthin gehen, wo die Augen dem Gehirn sagen, dass
sie gehen sollen. Es reicht nicht aus, die Informationen von den Händen
auf die Informationen von den Augen abzustimmen; das Gehirn muss
sie mit den Informationen von Schwerkraft- und Bewegungsrezepto-
ren, Muskeln, Gelenken und der Haut des ganzen Körpers vereinen.
4.3 • Der integrative Prozess
83 4

>> Das Gehirn ist so angelegt, dass es als Ganzes arbeitet, und
nur auf diese Art funktioniert es optimal. Wenn die Informa-
tionen nur eines einzigen Sinns undeutlich sind, leidet das
Endergebnis.

Daher haben Kinder mit vestibulären, taktilen oder propriozeptiven


Störungen oft Schwierigkeiten mit der Auge-Hand-Koordination. Sie
erkennen nicht genau, wo sie eine Linie ziehen sollen, oder wie sie
ausmalen können, ohne über den Rand zu fahren. Später können sie
nicht geschickt mit Werkzeug umgehen.

4.3.4 Das 4. Integrationsstadium

Wenn das ganze Nervensystem gut als eine Einheit zusammenarbei-


tet, verarbeiten bestimmte Bereiche des Gehirns bestimmte Sinnes-
informationen immer effizienter und organisieren die anpassenden
Reaktionen effizienter.
>> Eine Funktionsspezialisierung ist wichtig für die optimale
Entwicklung des Gehirns und all seiner Funktionen.

Am sichtbarsten wird diese Spezialisierung an der Händigkeit. Abge-


sehen von den genetisch bedingten Linkshändern setzen die meisten
Menschen die rechte Hand für feinmotorische Tätigkeiten ein; ihre
linke Hand kann dagegen besser taktile Reize interpretieren und er-
kennen, was man in der Hand hält. In ähnlicher Art spezialisiert sich
auch eine Hirnhälfte – normalerweise die linke – Sprache zu verste-
hen und zu benutzen, während die andere Hirnhälfte besser räum-
liche Beziehungen wahrnehmen kann.
Bevor sich die einzelnen Teile des Gehirns spezialisieren können,
müssen sie aber zusammenarbeiten und miteinander kommunizie-
ren (.  Abb.  4.7). Arbeiten die beiden Hirnhälften nicht zusammen
und kommunizieren nicht, dann werden beide Hirnhälften ähnliche
Funktionen entwickeln. Kinder, deren sensorisch-integrative Funk-
tionsstörung zu einer mangelhaften Seitenspezialisierung geführt
hat, wechseln ihre Hände bei feinmotorischen Tätigkeiten ab, aber sie
sind normalerweise mit keiner Hand besonders geschickt.
>> Kommunizieren die beiden Hirnhälften nicht, können auch
die Körperseiten nicht gut zusammenarbeiten.

Die Betroffenen entwickeln kein klares, eindeutiges Bewusstsein für


rechts und links. Oft kompensieren sie mit kognitiven Strategien, z.B.
die linke Hand daran zu erkennen, dass sie einen Ring trägt.
Menschen mit einem gut entwickelten Körperschema brauchen
keine derartigen »Eselsbrücken«, weil sie die Informationen von der
sensorischen »Landkarte« abrufen, die in ihrem Gehirn gespeichert
ist. Als Säugling und Kleinkind haben sie unzählige Erfahrungen ge-
sammelt, koordiniert mit ihren Händen zu spielen. Sie haben den
84 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?

. Abb. 4.7  Wir integrieren Informationen von beiden Körperseiten, z.B. von
beiden Ohren, beiden Augen und beiden Hirnhälften – um uns mit der Welt aus-
einandersetzen zu können

Unterschied zwischen rechts und links auf eine sensomotorische Wei-


se gelernt, und dieses körperliche Wissen ist die Basis für eine gute
Kommunikation zwischen den beiden Hirnhälften.
Wenn die Hirnfunktionen spezialisiert sind, führt immer ein
Auge, auch wenn beide Augen für beidäugiges oder Tiefensehen zu-
sammenarbeiten. Mit dem dominanten Auge schauen wir normaler-
weise auch in das Okular einer Kamera oder durch ein Mikroskop.
Die Bedeutung der Seitenspezialisierung beschäftigt Fachleute
seit vielen Jahren. Manche versuchten, das Gehirn zu zwingen, sich zu
spezialisieren; sie nahmen an, dass sie damit dem Kind beim Lernen
und bei der Sprachentwicklung helfen würden. Allerdings hat dies
nicht funktioniert. Seitenspezialisierung ist das Ergebnis aller voran-
gegangenen Entwicklungsschritte.
>> Ein Kind zu zwingen, die »Endfunktion« zu erlernen, kann
nie so gut funktionieren wie ihm zu helfen, jedes Entwick-
lungsstadium nachzuholen, bis es schließlich beim End-
ergebnis angelangt ist. Auf natürlichem Weg tritt die Seiten-
spezialisierung nur dann auf, wenn das Kind die Lücken in
seiner sensomotorischen Entwicklung aufgefüllt hat.

»Bis zum Schuleintritt sollte Bis zum Schuleintritt sollte ein Kind die vier Stadien der sensorisch-
ein Kind die vier Stadien integrativen Entwicklung durchlaufen haben, weil es zu diesem Zeit-
der sensorisch-integrativen punkt die Endergebnisse der sensorischen Integration braucht. Die
Entwicklung durchlaufen Fähigkeit, sich zu organisieren und zu konzentrieren ist wichtig, da
haben.« das Kind jetzt mit immer mehr Personen und Dingen umgehen muss.
4.3 • Der integrative Prozess
85 4
Kann das Gehirn die Sinnesinformationen nicht organisieren, wird
es auch nicht in der Lage sein, Buchstaben und Zahlen zu ordnen.
Selbstbewusstsein, Selbstbeherrschung und Selbstvertrauen sind ent-
scheidend in Beziehungen mit anderen Menschen, aber sie entstehen
nicht ohne viele sensorische und andere neuronale Integrationspro-
zesse.
>> Kinder, bei denen Integrationsstadien lückenhaft und un-
vollständig entwickelt sind, bevor sie in die Schule kom-
men, werden auch in ihren schulischen Leistungen und in
anderen Lebensbereichen Lücken und Schwächen haben.

Bei manchen Kindern werden die Schwächen geringfügig sein, bei »Die meisten Kinder verhalten
anderen gravierend; bei manchen kommen sie auf die eine Art zum sich nicht mit Absicht so, aber
Ausdruck, bei anderen auf eine andere Art. Es gibt Erwachsene, die wenn sie von der Umwelt als
»der Schule« die Schuld geben und meinen, der Unterricht sei nicht »schlimme Kinder« behandelt
gut. Oft – allzu oft – betrachten sie die Schwierigkeiten als Verhaltens- werden, dann werden sie
probleme und bestrafen das Kind. Die meisten Menschen sehen nur sich tatsächlich bald mit
die Endergebnisse der schlechten sensorischen Integration: dass das Absicht den Erwachsenen
Kind aggressiv oder schüchtern ist, dass seine Aktivität überschießend widersetzen.«
oder ziellos ist, dass es Dinge vergisst oder in sie hineinläuft, dass es
nicht lesen, schreiben oder zwei Zahlen zusammenzählen kann. Sie
denken, das Kind mache sich einen Spaß daraus oder wolle provozie-
ren oder sei einfach »denkfaul«. Versucht man allerdings, schlechtes
Verhalten zu stoppen und zwingt das Kind, sich zu konzentrieren,
bringt man es nur noch mehr durcheinander. Die meisten Kinder
verhalten sich nicht mit Absicht so, aber wenn sie von der Umwelt als
»schlimme Kinder« behandelt werden, dann werden sie sich tatsäch-
lich bald mit Absicht den Erwachsenen widersetzen.

Splitterfertigkeiten
Unsere Gesellschaft verlangt von Kindern, dass sie bestimmte Leis-
tungen erbringen, auch wenn sie die sensorisch-integrativen Voraus-
setzungen für diese Leistungen noch gar nicht erreicht haben. Je äl-
ter das Kind mit einer sensorischen Integrationsstörung wird, desto
mehr Splitterfertigkeiten eignet es sich an, damit es seine schwache
sensorische Verarbeitung kompensieren kann. Eine Splitterfertigkeit
ist, ein Stück auf dem Klavier zu spielen, ohne eigentlich Klavier spie-
len zu können. Wenn im Gehirn eines Kindes keine natürliche Inter-
aktion von Sinnesinformationen stattfindet, durch die es lernen kann,
seine Schuhe zu binden, dann wird es den Knoten als Splitterfertigkeit
trainieren. Natürlich ist es einfacher, durch sensorische Integration zu
lernen; und jede Lernerfahrung hilft dem Gehirn, viele andere Dinge
zu lernen.
>> Eine Splitterfertigkeit zu erlernen erfordert viel Anstren-
gung und Konzentration und hilft dem Kind in anderen
Bereichen seines Lebens nicht weiter.
86 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?

Es gibt jedoch eine Menge Splitterfertigkeiten, die es wert sind, er-


lernt zu werden. Wenn ein Kind mit sensorischer Integrationsstörung
intelligent ist, lernt es viele Splitterfertigkeiten und wirkt körperlich,
geistig und sozial altersgemäß entwickelt. Und dennoch unterscheidet
sich sein Leben – gar einfach sein »Sein« – von Menschen mit einer
guten sensorischen Integration. Mit verständnisvollen und unterstüt-
zenden Eltern wird das Kind ein zufriedenstellendes Leben führen
und seinen gesellschaftlichen Beitrag wahrnehmen können. Werden
4 allerdings die Belastungen des Lebens zu viel für die Bewältigungs-
mechanismen seines Gehirns, kann es Schwierigkeiten bekommen,
den ständigen Anforderungen des täglichen Lebens nachzukommen.
Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Dr. Anita C. Bundy zu den Punkten, die in diesem
Kapitel angesprochen werden, finden Sie in Anhang A.
87 5

Störungen des
Gleichgewichtssystems
Wie der Gleichgewichtssinn zur Entwicklung beiträgt

5.1 Die Organisation des Gleichgewichtssystems – 89


5.1.1 Modulation – 90
5.1.2 Einfluss auf die Augen- und Nackenmuskulatur – 90
5.1.3 Einflüsse auf die Muskeln und den Körper – 93
5.1.4 Halte- und Gleichgewichtsreaktionen – 94
5.1.5 Zusammenarbeit des vestibulären Systems mit der Formatio
reticularis – 95
5.1.6 Interaktionen mit anderen Sinnessystemen – 97
5.1.7 Raumwahrnehmung – 98
5.1.8 Einflüsse auf die emotionale Entwicklung und das Verhalten – 99
5.1.9 Einflüsse auf die Verdauungsorgane – 100
5.1.10 Einflüsse auf die Schulleistungen – 101

5.2 Das unterempfindliche Gleichgewichtssystem – 102


5.2.1 Was ist eine vestibuär bedingte bilaterale Integrationsstörung? – 104
5.2.2 Vestibulär bedingte Sprachstörungen – 107

5.3 Überreaktionen auf Gleichgewichtsreize – 110


5.3.1 Schwerkraftunsicherheit – 111
5.3.2 Bewegungsunverträglichkeit – 117

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
88 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

Beispiel
Stellen Sie sich vier Kinder vor, die auf einer schmalen Bordsteinkante
balancieren. Das erste Kind geht anmutig zwei- oder dreimal die Kan-
te entlang, und es macht ihm sichtlich Spaß. Das zweite Kind tut sich
schwer, die Balance zu halten und tritt mehrmals neben den Bordstein.
Das dritte Kind marschiert ohne jede Grazie; es sieht seine Mutter an
und sagt etwas, aber sehr undeutlich. Das vierte Kind ist sehr ängstlich
und fürchtet zu fallen, aber seine Mutter drängt, es doch zu versuchen.
Es hält die Hand der Mutter fest und geht den Bordstein entlang ohne
zu fallen.

5 Nur das erste Kind verarbeitet vestibuläre Sinnesinformationen rich-


tig, die anderen drei Kinder können diese nicht richtig verarbeiten.
Nur wenigen Menschen ist bewusst, dass es Störungen in der zentra-
len vestibulären Verarbeitung gibt, und dass sie vielen Kindern Pro-
bleme bereiten. Deshalb wird diese Erklärung von Ärzten, Pädagogen
und anderen Fachleuten so selten in Erwägung gezogen. Wir wissen,
dass manche Menschen Störungen im auditiven oder visuellen Sys-
tem haben – und folglich eine schlechte auditive oder visuelle Per-
zeption. Ebenso kann die Störung das vestibuläre System betreffen.
Sie haben vielleicht von Fällen gehört, bei denen eine Störung des
Gleichgewichtssystems zu Gleichgewichtsproblemen oder Schwindel
führt. Das passiert, wenn die Störung das ausgereifte vestibuläre Sys-
tem betrifft, d.h., wenn ein Erwachsener eine Erkrankung hat, die
durch eine Schädigung der Innenohren verursacht ist. Entsteht die
Störung jedoch schon in der Schwangerschaft, während der Geburt
oder in der frühen Kindheit, dann zeigt sich ein anderes Bild.

Beispiel
Beim ersten Kind in unserem Beispiel funktioniert die sensorische In-
tegration normal. Das zweite Kind hat Schwierigkeiten, sein Gleichge-
wicht zu halten. Es verhält sich altersentsprechend und handelt auch
so, aber es hat große Schwierigkeiten mit dem Lesen. Das dritte Kind
ist sprachverzögert und bei manchen Aktivitäten ungeschickt. Das
vierte Kind, das so ängstlich bemüht war, nicht zu fallen, kann zwar
gut lesen, aber es ist gefährdet, emotionale oder Verhaltensprobleme
zu entwickeln.

»Das vestibuläre System hat Der Zusammenhang zwischen diesen Problemen und der Gleich-
Verbindungen zu fast allen Teilen gewichtsverarbeitung ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Und
des Gehirns.« trotzdem hängen alle diese Probleme mit einer schlechten Sinnesver-
arbeitung im vestibulären System zusammen.
Wie kann es sein, dass das vestibuläre System so viele wichtige
Funktionen beeinflusst? Die Erklärung liegt darin, dass das vestibulä-
re System Verbindungen zu fast allen Teilen des Gehirns hat.
Diese Verbindungen haben wir in 7 Kapitel 3 besprochen. Im fol-
genden Abschnitt werden wir diese näher betrachten.
5.1 • Die Organisation des Gleichgewichtssystems
89 5
5.1 Die Organisation des Gleichgewichtssystems

Wenn das vestibuläre System normal funktioniert, erhält das Gehirn


ein Leben lang einen konstanten Zufluss von Schwerkraftempfindun-
gen. Alle anderen Sinneseindrücke überlagern diesen permanenten
Input von den Schwerkraftrezeptoren. Da die Schwerkraftreize also
lebenslang fortlaufend unser Gehirn stimulieren, nehmen wir sie gar
nicht wahr. Dennoch sind diese Sinnesempfindungen, die kontinuier-
lich durch unser Nervensystem fließen, das grundlegende Bezugs-
system für alle anderen Sinneserfahrungen.
Jede Änderung der Kopfposition stimuliert die vestibulären Re- »Von allen Sinnesorganen sind
zeptoren im Gleichgewichtsorgan. Wenn wir den Kopf zur Seite dre- die vestibulären Rezeptoren am
hen oder auf dem Kopf stehen, zieht die Schwerkraft die winzigen empfindlichsten.«
Kalziumkarbonatkristalle von ihrer normalen Position weg, und der
Fluss von Impulsen im vestibulären Nerven verändert sich. Wenn
wir auf und ab hüpfen, bewegen sich auch die Kristalle auf und ab
und lösen damit ein anderes Muster von vestibulären Impulsen aus.
Laufen und Schaukeln bewegt sie in eine andere Richtung und be-
wirkt zudem, dass sich die Flüssigkeit in den Bogengängen aufstaut.
Dies aktiviert die empfindlichen Rezeptoren in den Bogengängen.
Wenn wir uns im Kreis drehen, wird in jedem Ohr einer der drei
Bogengänge stimuliert. Wenn wir etwas berühren, das vibriert, wird
die Vibration auf die Knochen übertragen, und dies stimuliert die
Schwerkraftrezeptoren. Solche Aktivitäten liefern starke vestibuläre
Reize. Beim Stehen, Gehen und Fahren in einem Fahrzeug bewegt
sich der Kopf nur wenig, und der Informationsfluss von den Gleich-
gewichtsrezeptoren ist schwächer.
Von allen Sinnesorganen sind die vestibulären Rezeptoren am
empfindlichsten. Die Natur macht ein Sinnessystem nur dann so
hochempfindlich, wenn dessen Informationen äußerst wichtig für die
Anpassung sind. Die vestibulären Kerne sind »Kommunikationszen-
tren«, die die Gleichgewichtsinformationen mit den Informationen
von Muskeln, Gelenken, Haut, Augen und Ohren verknüpfen. Zudem
verarbeiten sie die Impulse, die von den anderen Teilen des Gehirns
kommen, auch von Hirnstamm, Kleinhirn und Kortex; und sie sen-
den wiederum Impulse an alle Hirnbereiche, von denen sie Impulse
bekommen. Die vestibulären Kerne nehmen ca. in der 9. Schwanger-
schaftswoche ihre Arbeit auf und erzeugen anpassende Reaktionen
auf Gleichgewichtsreize, die durch die Bewegungen der Mutter ent-
stehen.
>> Lange bevor das Gehirn visuelle und auditive Reize ver-
arbeitet, nimmt es Gleichgewichtsreize wahr und reagiert
darauf. Diese vestibuläre Aktivität ist einer der Bausteine,
auf den später die Entwicklung des Sehens und Hörens auf-
bauen kann.

Struktur und Funktion der vestibulären Kerne sind viel komplexer


als der modernste, leistungsfähigste Computer. Selbst im Gehirn ein-
90 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

und desselben Menschen können manche dieser Hirnfunktionen


normal funktionieren und andere Störungen aufweisen.

5.1.1 Modulation

Einer der wichtigsten Prozesse, die sich im Gehirn abspielen, ist die
Modulation der vestibulären Aktivität.
Definition
Unter Modulation verstehen wir einen Prozess, bei dem neuro-
5 nale Aktivität gesteigert oder reduziert wird, damit die Aktivität
nicht überschießt, sondern im Einklang mit allen anderen Funk-
tionen des Nervensystems abläuft.

Alle Funktionen des Gehirns müssen in Einklang zueinander ablau-


fen, damit das Gehirn die besten anpassenden Reaktionen erzeugen
kann.

Beispiel
Der Modulationsprozess ist vergleichbar mit dem Einstellen der Laut-
stärke beim Radio. Wenn die vestibuläre Aktivität zu »laut« ist und die
anderen Teile des Nervensystems stört, werden bestimmte Teile aktiv,
um die vestibuläre Aktivität zu hemmen oder »abzuschalten«. Ist die
Lautstärke der vestibulären Aktivität hingegen zu »leise«, regen man-
che Hirnstrukturen die Aktivität an, so dass sie von den anderen Teilen
des Nervensystems besser genutzt werden kann. Sie würden kein Ra-
dio wollen, dessen Lautstärke man nicht in beide Richtungen regeln
kann. Sowohl Anregung als auch Hemmung sind notwendig, damit die
Aktivität des vestibulären Systems in einem ausgewogenen Verhältnis
zu allen Teilen des Nervensystems bleibt.

Sind die anregenden und hemmenden Kräfte, die auf das vestibu-
läre System einwirken, nicht ausbalanciert, wird die Hirnfunktion
desorganisiert. Die Informationen aus den vestibulären Rezeptoren
werden nicht zu all denjenigen Hirnbereichen geleitet, die sie benöti-
gen. Das Aktivitätsmuster der sensorischen Prozesse entspricht nicht
mehr dem Normalzustand. In manchen Fällen mag das nicht weiter
stören, in anderen kann es jedoch sehr auffällig sein.

5.1.2 Einfluss auf die Augen- und Nackenmuskulatur

Die Augen- und Nackenmuskeln spielen eine wichtige organisieren-


de Rolle für das Gleichgewichtssystem. Reaktionen der Augen- und
Nackenmuskeln gehören zu den ersten sensomotorischen Leistungen
des Säuglings, und sie sind eine Voraussetzung für die sensomotori-
5.1 • Die Organisation des Gleichgewichtssystems
91 5
sche Entwicklung des Körpers (.  Abb. 5.1). Selbst bei Erwachsenen
arbeitet ein großer Teil des sensomotorischen Systems in Koordina-
tion mit Augen und Nacken. Schon wenige Impulse von den Augen
oder vom Nacken können eine ganze Reihe von Muskelkontraktionen
im Körper auslösen.
Kinder mit Lernstörungen oder anderen Alltagsproblemen, die
mit einer schwachen vestibulären Verarbeitung zusammenhängen,
haben oft Schwierigkeiten, mit den Augen einem Objekt zu folgen,
das sich vor ihrem Gesicht bewegt, oder ihre Augen exakt von einer
Stelle zu einer anderen zu bewegen. Ihre Augen bewegen sich ruck-
artig anstatt geschmeidig. Dadurch wird es schwierig, Ball zu spielen,
mit Kreide eine lange Linie zu ziehen oder eine gedruckte Zeile zu
lesen.
>> Das Gleichgewichtssystem muss interpretieren, in welche . Abb. 5.1  Augen- und Nacken-
Richtung unser Kopf (und Körper) schaut, damit wir uns muskeln arbeiten schon früh in der
dem zuwenden können, was wir mit den Augen sehen. Säuglingszeit zusammen, um das
Fundament für die sensomotorische
Entwicklung des Körpers zu legen
Beispiel
Wenn wir etwas sehen, das sich vor unseren Augen bewegt, muss
unser Gehirn erkennen, ob sich das Objekt, unser Kopf oder unser Kör-
per bewegt. Wenn etwas schräg steht oder hängt, muss das Gehirn er-
kennen, ob das Objekt tatsächlich schief ist, oder ob wir unseren Kopf
oder unseren ganzen Körper schief halten. Die Augen bilden nur das
ab, was vor ihnen ist; sie sagen dem Gehirn nicht, warum Dinge so aus-
sehen, wie wir sie sehen.

Die Gleichgewichtsrezeptoren liefen dem Gehirn die Information, ob


der Kopf sich bewegt oder geneigt ist, aber sie liefern keine Informa-
tionen über den ganzen Körper. Damit das Gehirn die Beziehung von
Objekt, Kopf und Körper erkennen kann, müssen die vestibulären
Informationen über Schwerkraft und Bewegung mit den Informatio-
nen von den Muskeln und Gelenken besonders der Augen und des
Nackens verknüpft werden.
Bei vielen Kindern mit sensorischen Verarbeitungsstörungen
werden diese Sinnesinformationen nicht richtig integriert. Obwohl
sie in Sehtests normal abschneiden, laufen sie in Möbel oder verfeh-
len eine Stufe, weil sie diese »nicht gesehen« haben. Sie sehen zwar
das Möbelstück oder die Stufe, aber sie können nicht interpretieren,
wo diese sich in Bezug zu ihrem Körper befinden. Beim Überqueren
der Straße verfehlen sie die Bordsteinkante und verstauchen sich den
Knöchel. Manche Kinder steigen so aus dem Bett, als ob das Bett auf
derselben Höhe wäre wie der Boden. »Ohne gute vestibuläre
Das Gleichgewichtssystem hat auch die Aufgabe, ein stabiles Ge- Mechanismen, die die Augen und
sichtsfeld zu erhalten, so dass die Dinge, die wir sehen, nicht ver- den Kopf stabil halten, ist es für
wischen, wenn wir uns bewegen. Es stimmt die Augen- und Nacken- ein Schulkind sehr schwierig, von
muskeln aufeinander ab, um jede Bewegung des Kopfes oder des der Tafel abzuschreiben.«
92 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

Körpers zu kompensieren. Ein Fotograf macht dasselbe mit seinen


Händen, um zu verhindern, dass das Bild verschwommen wird.
Ohne gute vestibuläre Mechanismen, die die Augen und den Kopf
stabil halten, ist es für ein Schulkind sehr schwierig, von der Tafel ab-
zuschreiben.

Beispiel
Stellen Sie sich vor, Sie wollten fernsehen, und das Bild flimmert; oder
Sie wollten versuchen, in einem fahrenden Auto oder Boot etwas auf-
zuschreiben.

5 In einigen Studien wurde ein Zusammenhang zwischen einer schlech-


ten Augen-Nacken-Kopf-Stabilität und einer Leseschwäche (Dysle-
xie) gefunden.

Nystagmus
Definition
Wenn wir uns mehrmals um die eigene Achse drehen und dann
abstoppen, bewegen sich die Augen hin und her, und die Welt
scheint sich zu drehen. Diese Serie von schnellen Augenbewe-
gungen wird postrotatorischer Nystagmus (PRN) genannt.

Der Nystagmus wird von reflektorischen Kontraktionen der Augen-


muskeln erzeugt, die durch die vestibuläre Stimulation des Drehens
ausgelöst werden.
Die Dauer des postrotatorischen Nystagmus ist eine der besten
einfachen Messmethoden, um zu beurteilen, ob das Gleichgewichts-
system intakt ist, und wie gut es funktioniert. Dieser Test kann von
Therapeutinnen durchgeführt werden, die eine Zusatzausbildung in
sensorisch-integrativer Befundung haben. Das Kind setzt sich auf ein
Drehbrett, und dieses wird gedreht. Nach dem Anhalten werden die
Augen des Kindes beobachtet:
55 Wenn der Nystagmus zu bald aufhört, überhaupt nicht auftritt
oder unregelmäßig ist, bedeutet dies, dass die vestibulären Kerne
des Kindes keinen ausreichenden vestibulären Input bekommen,
oder dass sie diesen Input nicht richtig verarbeiten.
55 Wenn der Nystagmus zu lange andauert, reagiert das Gleich-
gewichtssystem so überschießend, weil es von höheren Zentren
nicht ausreichend gehemmt wird.

In den USA, Australien und Südamerika haben mehrere Studien ge-


zeigt, dass die Dauer des Nystagmus bei mindestens 50% der Kinder
mit Lern- oder Sprachstörungen verkürzt ist. Diese Ergebnisse legen
nahe, dass die vestibuläre Funktion eine entscheidende Rolle für die
5.1 • Die Organisation des Gleichgewichtssystems
93 5
schulischen Leistungen spielt, und dass viele Schulkinder davon be-
troffen sind. Wenn der vestibuläre Input keine ausreichende Wirkung
auf die Augenmuskeln hat, kann man davon ausgehen, dass er den
notwendigen Beitrag zur visuellen und auditiven Wahrnehmung auch
nicht leisten kann. Die Verarbeitung visueller und auditiver Informa-
tionen wird in 7 Kapitel 8 näher behandelt.

5.1.3 Einflüsse auf die Muskeln und den Körper

Die vestibulären Kerne senden elektrische Signale ins Rückenmark;


die sich mit anderen Signalen verbinden und den Muskeln befehlen,
wann und wie sie sich kontrahieren müssen. Diese vestibuläre Kon-
trolle über die Muskulatur läuft völlig unbewusst ab und bildet die
Grundlage für die Muskelaktivitäten, die wir willkürlich initiieren.
Ein konstanter Fluss von aus den vestibulären Kernen gesendeten
Impulsen trägt dazu bei, Muskelspannung zu erzeugen – vor allem
in den Muskeln, die den Körper strecken und in aufrechter Position
halten. Solange das Gleichgewichtssystem eine adäquate Muskelspan-
nung erzeugt, brauchen wir uns nicht zu bemühen oder zu konzent-
rieren, uns gegen die Schwerkraft aufrecht zu halten.
>> Menschen mit einem desorganisierten vestibulären Sys-
tem haben eine schwache Muskelspannung und ermüden
rasch. Dies ist der Grund, warum es vielen Kindern mit vesti-
bulären Verarbeitungsdefiziten schwerfällt, beim Sitzen am
Tisch den Kopf aufrecht zu halten.

Gleichzeitig mit den Befehlen, die über das Rückenmark zu den


Muskeln gehen, werden propriozeptive Signale von den Muskeln
und Gelenken zu den vestibulären Kernen und ins Kleinhirn gelei-
tet. Die vestibulären Kerne und das Kleinhirn tauschen fortwährend
Informationen über sensomotorische Prozesse aus. Die Aufgabe des
Kleinhirns ist es, geschmeidige, ziel- und zeitgenaue Bewegungen zu
generieren. Ein Kind, bei dem die vestibulären Kerne und das Klein-
hirn die propriozeptiven Informationen nicht verarbeiten und inte-
grieren, stolpert häufig und ist tollpatschig beim Spielen. Aus Frus-
tration könnte es mit der Zeit lieber nur herumsitzen und fernsehen
anstatt zu spielen.
>> Wenn ein Kind nicht die Erfahrung macht, im Spiel seinen
ganzen Körper einzusetzen, fehlen ihm die Sinnesinforma-
tionen, die notwendig sind, damit das Gehirn sich als Gan-
zes entwickeln kann. Außerdem fehlen ihm die Erfahrun-
gen, seine Umwelt zu beherrschen, die wiederum für eine
optimale emotionale Entwicklung notwendig sind.
94 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

5.1.4 Halte- und Gleichgewichtsreaktionen

Einige der wichtigsten Funktionen des vestibulären Systems werden


durch nah nebeneinanderliegende Strukturen im Hirnstamm ausge-
führt. Im Hirnstamm befinden sich Nervenzentren, die – mithilfe
anderer Teile des Gehirns – viele unserer anpassenden Reaktionen
steuern, mit denen wir unsere Körperhaltung kontrollieren und unser
Gleichgewicht erhalten. Diese automatischen Muskelkontraktionen
halten unseren Körper auf zwei Füßen im Gleichgewicht, unterstüt-
zen unsere Arme, wenn wir Dinge schieben und ziehen, und stellen
5 unseren Körper so ein, dass unsere Bewegungen geschmeidig sind.
Besonders wichtig ist eine gute Steuerung der Halte- und Gleichge-
wichtsreaktionen, wenn wir auf einem steinigen und holprigen Weg
gehen (. Abb. 5.2), oder wenn wir gestoßen oder gezogen werden.
>> Es gibt drei Arten von Halte- und Gleichgewichtsreaktio-
nen, die bei Kindern mit einer schlechten vestibulären Ver-
. Abb. 5.2  Der Gleichgewichtssinn arbeitung auffällig sind:
arbeitet mit dem Sehsinn und der Tie- 55 Haltungshintergrund,
fensensibilität zusammen, damit auto-
55 Kokontraktion und
matische Halte- und Gleichgewichtsre-
aktionen ausgelöst werden, wenn wir 55 Stützreaktionen der Arme oder Beine.
uns durch den Raum bewegen

Haltungshintergrund
Definition
Wenn wir den Arm nach etwas ausstrecken und greifen oder
einen Gegenstand schieben oder ziehen, stellen sich unser Rumpf
und unsere Beine automatisch so ein, dass sie unseren Armen
eine stabile Ausgangsbasis für ihre Aufgabe bieten. Diese auto-
matische Anpassung wird Haltungshintergrund genannt.

Die Rumpf- und Beinbewegungen geschehen unbewusst, und wir


können uns darauf konzentrieren, was wir mit unseren Armen und
Händen tun. Auch wenn nur die Hände und Arme aktiv sind, muss
das Gehirn den ganzen Körper als Einheit wahrnehmen und bewe-
gen.
Die Anpassung des Haltungshintergrunds ist besonders bei Ak-
tivitäten am Tisch wichtig. Den Lehrerinnen unter den Lesern mag
schon aufgefallen sein, dass Kinder mit einer schlechten Gleichge-
wichtsverarbeitung beim Kopfdrehen oder bei Schreibbewegungen
den Rumpf oft nicht richtig ausrichten. Diese Kinder fallen sogar von
ihrem Stuhl, wenn sie sich anders hinsetzen wollen. Hilft man dem
Kind, sich richtig hinzusetzen, fällt wahrscheinlich auf, dass das Kind
sich schwer oder steif anfühlt. Sein Körper ist nicht frei beweglich,
weil die Bereiche seines Hirnstamms, die den Haltungshintergrund
steuern, keine guten propriozeptiven und vestibulären Informationen
5.1 • Die Organisation des Gleichgewichtssystems
95 5
bekommen. Dies erklärt auch, warum die Bewegungen dieser Kinder
beim Tanzen oder »Himmel und Hölle«-Hüpfen nicht fließend sind.

Kokontraktion
Definition
Die gleichzeitige Anspannung (Kontraktion) der Beuge- und
Streckmuskeln eines Körperteils (Nacken, Arme, Rumpf, Beine
etc.) nennt man Kokontraktion.

Damit wir den Kopf stabil halten und bewegen können, müssen alle
Muskeln im Nacken zusammenarbeiten und sich gleichzeitig an-
spannen. In den Rumpfmuskeln ist Kokontraktion notwendig, um
den Körper zu stabilisieren, etwa wenn wir geschubst oder geschoben
werden (. Abb. 5.3). Und damit wir uns gut bewegen und mit Werk-
zeugen arbeiten können, brauchen wir eine gute Kokontraktion vieler
Muskeln, der des Schultergürtels und der um die Ellbogen-, Hand-
. Abb. 5.3  Die Rumpfmuskeln
und Fingergelenke.
halten den Körper stabil, damit wir die
>> Bei Kindern mit Störungen der vestibulären Verarbeitung Balance halten können und die Hände
frei haben, um mit Spielsachen oder
ist die Kokontraktion meist schwach ausgeprägt; sie neigen
Werkzeugen zu hantieren
dazu, Muskeln abwechselnd anstatt gemeinsam anzuspan-
nen. Dadurch wirken Kopf und Körper instabil und wackelig.

Stützreaktion  Kombinierte vestibuläre und propriozeptive Sinnesin-


formationen warnen das Gehirn vor Verletzungen, wenn wir zu fallen
drohen. Wenn ein Kind mit einem gut organisierten Nervensystem
beim Spielen das Gleichgewicht verliert, erhält sein Gehirn vestibu-
läre und propriozeptive Informationen, dass sich sein Körper dem
Boden nähert. Dadurch wird das Gehirn stimuliert, an die Muskeln
den Befehl zu geben, die Arme auszustrecken. So kann das Kind sich
abstützen und den Fall abfangen.
>> Bei Kindern, die Körper- und Schwerkraftempfindungen
schlecht verarbeiten, wird oft keinerlei Stützreaktion ausge-
löst; daher verletzen sie sich oft.

5.1.5 Zusammenarbeit des vestibulären Systems mit


der Formatio reticularis

In der Mitte des Hirnstamms liegt ein sehr kompliziertes Netz-


werk von Neuronen, Netzkörper oder Formatio reticularis genannt
(7 Kap. 3). Diese Struktur ist verantwortlich für die Regulierung unse-
res Wachheitszustands. Sie sendet aufweckende und anregende Im-
pulse an alle Gehirnanteile.
96 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

>> Ein Großteil der sensorischen Impulse, von denen die


Formatio reticularis aktiviert wird, stammt vom Gleichge-
wichtssystem.

Eine gut eingestellte Aktivität des vestibulären Systems ist wichtig,


damit wir in einem ruhigen Wachzustand bleiben (.  Abb. 5.4). Wir
spüren die beruhigende Wirkung von Gleichgewichtsreizen, wenn
wir z.B. in einem Schaukelstuhl wippen, und die anregende Wirkung,
wenn wir z.B. in einer Hochseilbahn fahren. Das vestibuläre System
trägt ferner dazu bei, dass der Aktivierungszustand des Gehirns aus-
5 balanciert ist. Ein unteraktives Gleichgewichtssystem trägt zu Hyper-
aktivität und Ablenkbarkeit bei, weil die modulierende Wirkung fehlt.

>> In der Sensorischen Integrationstherapie werden vestibu-


läre Aktivitäten eingesetzt, um den Aktivierungszustand
eines Kindes zu beruhigen, anzuregen oder zu organisieren.

. Abb. 5.4  Bewegungsaktivitäten


Bei den urzeitlichen Tieren, die Vorläufer sowohl für den Menschen
sind wichtig, um wach und aufmerk-
sam zu sein als auch die Tiere der Gegenwart waren, war die Formatio reticularis
das Zentrum der sensorischen Integration. Sie vereinte die Funk-
tionen aller Hirnstrukturen zu einer Funktion; dazu stand sie mit
allen Neuronen des Nervensystems in Verbindung. Von überall trafen
Signale ein, und die Signale der Formatio reticularis verbreiteten sich
weitläufig. So konnte eine begrenzte Anzahl von Neuronen viel be-
wirken.
Das Verhalten der Urzeittiere war sehr einfach strukturiert und
auf Überleben ausgerichtet. Um Nahrung zu finden – aber nicht selbst
gefressen zu werden – mussten sie sich gut in ihrer Umwelt orientieren
und effizient bewegen können. Das Gleichgewichtssystem entwickelte
sich früh in der Evolution, um diese anpassenden Verhaltensweisen
zu ermöglichen. Über Jahrmillionen haben sich Gleichgewichtssys-
tem und Formatio reticularis weiterentwickelt, bis der Mensch ent-
standen war. Noch heute existiert in unserem vestibulären System
und unserer Formatio reticularis ein Großteil dieser weitreichenden
Verbindungen wie sie die Urzeittiere hatten.
Evolutionsgeschichtlich waren einfache vestibuläre und retikuläre
Funktionen bereits aktiv, lange bevor sich die Systeme für die Verarbei-
tung von Muskel- und Gelenkinformationen sowie von komplexen
auditiven und visuellen Reizen entwickelten. Diese neueren Systeme
entstanden aus der Formatio reticularis. Das Gleichgewichtssystem
beeinflusste deren Entwicklung maßgeblich, und dieser grundlegende
Einfluss ist bis heute wirksam. Dies ist einer der Gründe, warum sich
eine Behandlung, die auf die Aktivierung des Gleichgewichtssystems
abzielt, auch auf die Sprache und die Lesefertigkeit auswirken kann.
5.1 • Die Organisation des Gleichgewichtssystems
97 5
5.1.6 Interaktionen mit anderen Sinnessystemen

Die meisten Strukturen des Gehirns beeinflussen sich gegenseitig; das


macht die sensorische Integration komplexer als wir uns vorstellen
können. Würden die Sinne allerdings nicht in diesem hohen Maß
interagieren, hätten wir nicht den Verstand entwickelt, der uns über-
haupt über diese Funktionen nachdenken lässt. Möglicherweise hät-
ten wir nicht einmal überlebt.
Als das propriozeptive System sich entwickelte, übernahm es die
Aufgabe, dem Gehirn zu helfen, das vestibuläre System zu modu-
lieren. Die Muskel- und Gelenkempfindungen, die das propriozepti-
ve System aufnimmt und weiterleitet, ermöglichen dem Gehirn, die
Gleichgewichtsinformationen effizient zu nutzen.

Therapie
In der Therapie werden Kinder mit vestibulären Funktions-
störungen oft angeregt, schwere Gegenstände zu schieben, zu
ziehen, hochzuheben und zu transportieren. Bei dieser schweren
Muskelarbeit müssen sich viele Muskeln anspannen, und die
Gelenke werden zusammengedrückt. Die dadurch entstehenden
Sinnesreize bewirken, dass überschießende vestibuläre Aktivität
gehemmt wird.

Die Sinneseindrücke aller Sinnessysteme kommen in den vestibulä-


ren Kernen und in der Formatio reticularis im Hirnstamm zusam-
men. Ein Teil der Signale steigt zum Thalamus – der oberhalb des
Hirnstamms liegt – auf und wird dort weiter integriert. In den Groß-
hirnhälften werden die Signale dann mit den Informationen aus den
Fernsinnen (von Augen und Ohren) zu präzisen Wahrnehmungen
und Assoziationen verknüpft. Damit ist der Prozess der sensorischen
Integration vollendet.
>> Das Gleichgewichtssystem ist eine Schnittstelle zwischen
den Nah- und Fernsinnen.

In der Kindheit erhält die Sehrinde so viele vestibuläre Informatio-


nen, dass eine Entwicklung der visuellen Wahrnehmung ohne die-
se nicht möglich wäre. Weniger bekannt ist, wie die vestibuläre Ak-
tivität die Hörverarbeitung in der Hirnrinde beeinflusst. Aber wir
wissen, dass vestibuläre Aktivität für die auditive Verarbeitung im
Hirnstamm wichtig ist. Hör- und Gleichgewichtssystem liegen ge-
meinsam im knöchernen Innenohr, und Impulse werden in derselben
Nervenbahn zum Hirnstamm geleitet. Sie sind also »Nachbarn«, und
sie »sprechen« miteinander.
98 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

5.1.7 Raumwahrnehmung

Unser Wissen, wo wir uns im Raum befinden, stammt von Gleich-


gewichtsinformationen, die gemeinsam mit tiefensensiblen und vi-
suellen Informationen in der Hirnrinde verarbeitet werden. Diese
kombinierte Information wird zu den motorischen Arealen der Hirn-
rinde weitergeleitet, von wo aus die Bewegungen unseres Körpers und
unser Umgang mit Objekten gesteuert werden.
Vorschulkinder mit einer vestibulären Funktionsstörung können
Schwierigkeiten haben, zwei Papierblätter zusammenzukleben, weil
5 ihr Gehirn die zwei Teile nicht räumlich anordnen kann. Bei älteren
Kindern können sich die Schwierigkeiten darin zeigen, dass sie beim
Schreiben die Buchstaben nicht richtig aufteilen können. Es ist auch
nicht ungewöhnlich für Kinder mit vestibulären Defiziten, dass sie
bei Ballspielen in die falsche Richtung laufen. Manche wollen nicht
in ein Schwimmbecken springen, weil sie nicht abschätzen können,
wie weit sie vom Wasser entfernt sind. Solche Probleme können sehr
frustrierend für die Kinder sein und zu einem schwachen Selbstbe-
wusstsein und unerfreulichen Beziehungen zu anderen Kindern füh-
ren. Schwerer betroffene Kinder wollen möglicherweise nicht alleine
zum Spielen nach draußen gehen, sogar im eigenen Garten können
sie sich verloren fühlen. Ihr Gehirn kann den räumlichen Bezug zwi-
schen Bäumen, Büschen, dem Haus und ihrem eigenen Körper nicht
richtig wahrnehmen. Sie haben Angst davor, sich auf ihrem Heimweg
zu verirren.

Beispiel
Ein Betroffener beschrieb: »Wenn ich auf einem Stuhl saß, hatte ich
manchmal das plötzliche Gefühl, der Stuhl – mit mir darauf – würde
seitlich und in halber Höhe der Wand stehen. Im Auto hatte ich manch-
mal den Eindruck, der Wagen würde auf dem Kopf fahren.«

Eine vestibuläre Störung kann sich auch auf die sozialen Beziehun-
gen auswirken. Für die Betroffenen ist es schwer, einzuschätzen, wie
nahe sie neben anderen Personen stehen; sie wirken dadurch oft
distanzlos. Besonders in einer Menschenansammlung fällt es ihnen
schwer, zu beurteilen, wo genau eine Person steht. Sie können nicht
einschätzen, wie viel Raum sie benötigen, um Personen zu umkreisen
und laufen in die Personen hinein. Ohne die Raumwahrnehmung,
die auf den Sinnesempfindungen von Körper und Schwerkraftsinn
beruht, ist es schwierig, sich den Raum vorzustellen. Die Betroffenen
wissen oft, wie sie selbst irgendwo hinkommen, können es anderen
aber nicht erklären.

Therapie
In der Therapie wird die räumliche Wahrnehmung durch indivi-
duell abgestimmte vestibuläre Aktivitäten verbessert. Die Kinder
5.1 • Die Organisation des Gleichgewichtssystems
99 5

beginnen zu klettern und sich mit der Senkrechten vertraut zu


machen. Kinder, die für das Klettern noch zu unorganisiert sind,
fangen an, die Möbel im Haus zu verschieben, oft zur Bestürzung
der Eltern. Diese Kinder folgen ihrem inneren Antrieb, den Raum
zu erforschen und Erfahrungen über den Bezug ihres Körpers
zum Raum zu sammeln.

5.1.8 Einflüsse auf die emotionale Entwicklung und


das Verhalten

Nur wenigen Menschen ist bewusst, dass auch die Emotionen Funk- »Es gibt eine neurologische Basis
tionen des Nervensystems sind. Es gibt eine neurologische Basis für für jedes Gefühl – Angst, Wut,
jedes Gefühl – Angst, Wut, Trauer, Freude und sogar Liebe. Trauer, Freude und sogar Liebe.«
Das limbische System ist eine Struktur im Großhirn, die Gefüh-
le und Verhalten verbindet. Damit wir emotional ausgeglichen sind,
muss das limbische System gut modulierten Input aus den Sinnessys-
temen erhalten. Versuche haben gezeigt, dass Tiere, die ohne vestibu-
läre Stimulation aufgewachsen sind, später ein feindliches, aggressives
oder zurückgezogenes Verhalten zeigten. Es gibt auch Beweise, dass
bestimmte Formen von Autismus und Schizophrenie mit vestibulären
Störungen zusammenhängen.
>> Eine der elementarsten menschlichen Beziehungen ist
unser Bezug zur Erdanziehungskraft. Dieser Bezug ist noch
ursprünglicher als die Mutter-Kind-Beziehung.

Ist das vestibuläre System gut integriert, so erleben wir Schwerkraftsi-


cherheit – das Vertrauen, dass wir mit beiden Füßen fest auf der Erde
stehen, und dass diese immer ein sicherer Platz ist. Schwerkraftsi-
cherheit ist die Grundlage, auf der wir unsere zwischenmenschlichen
Beziehungen aufbauen.
Kinder verbringen normalerweise viel Zeit damit, Bezug zur
Schwerkraft zu entwickeln. Es beginnt damit, dass das Baby den Kopf
hebt und herausfindet, dass Schwerkraft ihn schwer macht. Mit jeder
neuen Bewegung erlebt es, was die Schwerkraft tut, und was es selbst
tun kann. Es macht die Erfahrung, dass Schwerkraft immer gleich
stark ist und in dieselbe Richtung zieht. Es entdeckt, dass es nichts auf
dieser Welt gibt, das nicht der Schwerkraft unterliegt. Aber indem es
sich an die Bedingungen der Schwerkraft anpasst, kann es schließlich
aufstehen, auf einen Baum klettern und einen Ball in die Luft werfen.
>> Schwerkraftsicherheit ist für die emotionale Gesundheit so
wichtig, dass die Natur uns mit einem starken inneren An-
trieb ausgestattet hat, die Schwerkraft zu erkunden und zu
beherrschen.

Dieser starke innere Antrieb lässt Kinder intuitiv alles tun, um ihr
vestibuläres System zu entwickeln. Immer schon wurden Säuglinge
100 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

gewiegt, um sie zu beruhigen. Die Wiege ist ein Symbol für den Frie-
den und die Geborgenheit der frühen Kindheit. Schaukeln – in einem
Schaukelstuhl oder auf einer Schaukel – reduziert Ängstlichkeit und
emotionalen Aufruhr – egal, ob wir jung oder alt sind. Kinder lieben
Spielplätze und Vergnügungsparks, weil Schaukeln, Rutschen, Wip-
pen, Karussell und Achterbahn sehr intensive Gleichgewichtsreize
bieten. Viele Jugendliche und Erwachsene finden Gefallen am Ski-
fahren, Fliegen, Fallschirmspringen oder Rennfahren, und fast jeder
bewegt sich auf irgendeine Art gern durch den Raum.
Kinder, die in Heimen aufgewachsen sind, und auch Affen, die
5 ohne Mutter aufgewachsen sind, zeigen oft stundenlange stereotype
Schaukelbewegungen.

Therapie
In der Therapie mit sensorisch-integrativem Ansatz schaukeln die
Kinder oft lange auf einem Gerät. Das zeigt, dass sie ein starkes
Bedürfnis nach vestibulären Reizen haben.

Weil Schwerkraftsicherheit so elementar für uns Menschen ist, sehen


wir sie als gegeben an. Aus diesem Grund werden Probleme, die durch
eine Störung der neurologischen Funktionen, die für unsere Schwer-
kraftwahrnehmung verantwortlich sind, auftreten, meist auf irgendei-
ne andere Ursache zurückgeführt. Psychologen verfolgen emotionale
Probleme zurück zu Konflikten in der Kindheit. Manchmal liegt das
Problem allerdings noch weiter zurück: in der schlechten Verarbei-
tung von Gleichgewichtsempfindungen in der Schwangerschaft und
frühen Kindheit.
>> Ist der Bezug des Kindes zur Erde nicht sicher, können sich
auch alle anderen Beziehungen nicht optimal entwickeln.

Selbst die liebevollste Mutter kann ihr Kind nicht »erreichen«, wenn
es sich auf der Erde nicht sicher fühlt. Kindern mit vestibulären Stö-
rungen scheint etwas Grundlegendes zu fehlen, sie wirken »verloren«.
Manche folgen ihrem inneren Antrieb nicht, weil sie sich so fürchten,
dass ihnen etwas zustoßen könnte. So verpassen sie viele sensomoto-
rischen Erfahrungen, die sie jedoch brauchen, um die Bausteine für
reife/s Emotionen und Verhalten entwickeln zu können.

5.1.9 Einflüsse auf die Verdauungsorgane

Jeder, der schon einmal seekrank war, sei es beim Auto- oder Bootfah-
ren, kennt die enge Verbindung des Gleichgewichtssystems mit dem
Verdauungssystem. Sind die Gleichgewichtsreize so intensiv, dass sie
vom Gehirn nicht mehr verarbeitet werden können, werden auch die
Verdauungszentren im Hirnstamm desorganisiert. Dadurch wird der
Transport der Nahrung durch den Verdauungstrakt gestoppt, und
5.1 • Die Organisation des Gleichgewichtssystems
101 5
wir fühlen Übelkeit. Diese Reaktion auf übermäßige Bewegung ist
normal. Tritt sie trotz intensiver Bewegung nicht auf, kann das ein
Zeichen sein, dass das Gleichgewichtssystem die Signale von den In-
nenohren nicht ausreichend verarbeitet.
>> Kinder mit einer schlechten Gleichgewichtsverarbeitung
haben auch häufig Schwierigkeiten mit der Darm- und Bla-
senkontrolle.

5.1.10 Einflüsse auf die Schulleistungen

Lesen, Schreiben und Rechnen sind nicht wirklich »Grundlagen«,


sondern setzen voraus, dass das Gehirn sehr detaillierte Sinnesin-
formationen verarbeitet und für präzise motorische und kognitive
Reaktionen nutzt. Das visuelle System muss die feinen Unterschiede
zwischen den Buchstaben, Ziffern und Satzzeichen erkennen. Eine . Abb. 5.5  Fähigkeiten wie das
gute Raumwahrnehmung ist nötig, damit man den Unterschied zwi- Schreiben sind davon abhängig, wie
genau das Kind die Sinnesinformatio-
schen »41« und »14« oder zwischen »ein« und »nie« sehen kann. Die
nen verarbeiten kann, auch diejenigen
Hirnrinde muss die visuellen Informationen hinsichtlich der Recht- über Position und Bewegung im Raum
schreib- und grammatischen Regeln verarbeiten, die willkürlich und
unregelmäßig sind. Dazu ist die Hirnrinde auf die Zusammenarbeit
all der Hirnbereiche angewiesen, die Sprache, visuelle Wahrnehmung
und Gedächtnis organisieren. Schreiben ist noch komplizierter, weil
das Gehirn zusätzlich die Sinnesempfindungen der Hand verarbeiten
muss. Es muss sie mit Erinnerungen vergleichen, wie sich die Finger
anfühlen sollen, wenn sie schreiben, und dann Bewegungsbefehle zu
den Muskeln schicken, die den Bleistift bewegen.
Keine dieser Hirnleistungen wird gut sein, wenn das Gehirn keine »Kinder mit vestibulären
klaren Informationen über die Bewegung im Raum und die Schwer- Verarbeitungsstörun-
kraft erhält, die es verarbeiten und nutzen kann. Im Gehirn eines Kin- gen … haben keine Möglichkeit,
des mit einer vestibulären Störung sind viele sensomotorische Muster sich zu merken, was ein
desorganisiert. Es hat keine Möglichkeit, sich zu merken, was ein be- bestimmtes Wort bedeutet, oder
stimmtes Wort bedeutet, oder wie man es schreibt. Das Grausamste, wie man es schreibt.«
was man einem zu Kind mit einer Lernstörung sagen kann, ist: »Du
könntest es ja, wenn Du Dich nur richtig bemühen würdest.« Wie
soll ein Kind lesen, wenn es nicht einmal das, was es sieht, mit dem
verknüpfen kann, was es hört? Wie soll es seinen Namen schreiben,
wenn es sich darauf konzentrieren muss, nicht vom Stuhl zu fallen?
>> Sensomotorische Fähigkeiten sind die wirklichen »Grund-
lagen« für das Lernen, und solange diesen nicht mehr Be-
achtung geschenkt wird, wird es weiterhin »Lernstörungen«
geben.

Kinder, die diese Grundlagen im Laufe einer normalen Entwicklung


erworben haben, sind mit 5 oder 6 Jahren oft soweit, dass sie lesen
lernen können; doch eine beachtliche Zahl von Kindern hat diese
Grundlagen aufgrund einer neurologischen Funktionsstörung nicht
102 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

Ryans Geschichte: Das Leben mit einem unterempfindlichen Gleichgewichtssystem


Manche Behinderungen sind offen- scheites Kind«, sagte seine Mutter, der 2. Klasse war. »Er wirkt so intel-
sichtlicher als andere. Einem blin- »daher war ich überrascht, als er ligent, aber ich muss ihn an die ein-
den, tauben oder gelähmten Kind solche Schwierigkeiten mit dem fachsten Dinge erinnern, z.B. dass er
begegnen die Leute im Allgemei- Lesen und Schreiben bekam.« Es sich aufrecht hinsetzt, und dass er
nen mit mehr Verständnis; sie ha- fiel Ryan außerordentlich schwer, darauf achtet, wohin er geht. Sonst
ben eine Ahnung von dem Problem. überkreuzte Linien zu zeichnen, fällt er von seinem Stuhl oder läuft
Es gibt aber auch Behinderungen, und er verdrehte Buchstaben und ständig in Dinge hinein. Die Haus-
die eher unsichtbar sind. Ryan hat Ziffern häufiger als seine Klassen- aufgaben dauern ewig, obwohl er
diese Art von Störung. kameraden. Er schien zwar Rechts- versteht, worum es geht.«
5 Ryan war ein gesunder Säug-
ling und entwickelte sich wie die
händer zu sein, benutzte aber auch
oft seine linke Hand zum Schreiben;
Ryans Mutter waren Begriffe
wie »vestibulär«, »Tiefensensibilität«
anderen Kinder in der Nachbar- und er hatte große Schwierigkeiten und »bilateral« unbekannt. Doch als
schaft und im Kindergarten. Er war zu lernen, wie man mit der Schwer- die Ergotherapeutin diese grund-
sehr aktiv und immer am Herum- kraft schneidet, Fahrrad fährt und legenden Prozesse erklärte, die bei
rennen, Springen oder Schaukeln. Schuhe bindet. Ryan nicht gut funktionierten, war
In der 1. Klasse fiel seiner Lehrerin »Ich verstehe nicht, was mit ihr klar, dass seine Schwierigkeiten
auf, dass er häufig auf dem Tisch Ryan nicht in Ordnung ist!«, sagte zum ersten Mal genau beschrieben
lag oder seinen Kopf in die Hände seine Mutter zu der Ergotherapeu- wurden.
stützte. »Ryan war immer ein ge- tin, der sie ihn vorstellte, als er in

erworben (7 Fallbeispiel: Ryan). Sie trotzdem mit 6 Jahren zum Le-


sen zu zwingen, bringt vorprogrammierten Misserfolg und macht
den Kindern das Leben schwer. Gewöhnlich wehren sie sich, und
dann werden sie als »verhaltensgestört« eingestuft.

5.2 Das unterempfindliche Gleichgewichtssys-


tem

>> Es gibt zwei Arten von Störungen des vestibulären Sys-


tems, die sich tiefgreifend auf das Lernen und Verhalten
auswirken:
55 Das Gehirn reagiert vermindert auf Gleichgewichtsreize,
oder
55 es reagiert übertrieben.

Denken Sie wieder an den Vergleich mit dem Radio. Die Lautstär-
ke kann entweder zu leise oder zu laut eingestellt sein. Wenn die
anregenden und hemmenden Kräfte des Gehirns die vestibuläre
Aktivität nicht regulieren (modulieren), können weder vestibuläre
Informationen noch Informationen aus anderen Sinnessystemen
genutzt werden, um effiziente anpassende Reaktionen zu erzeugen
(.  Abb. 5.6). Mit diesen zwei Arten der Funktionsstörung werden
wir uns nachfolgend beschäftigen.
5.2 • Das unterempfindliche Gleichgewichtssystem
103 5

. Abb. 5.6  Kinder mit einem unterempfindlichen Gleichgewichtssystem lieben


Vergnügungsparks wegen der intensiven Bewegungserfahrungen im Raum

Therapie
Wenn eine Therapeutin mit Zusatzausbildung in Sensorischer
Integration bei einem Kind einen Befund aufnimmt, beobachtet
sie die Reaktionen, die das Gleichgewichtssystem erzeugen sollte.
Am deutlichsten sind die Reaktionen der Augen und des Körpers
zu sehen. Die Reaktion der Augen beim postrotatorischen Nys-
tagmustest ist weitgehend eine pure vestibuläre Funktion. Dauer
und Regelmäßigkeit der reflektorischen Augenbewegungen sind
verlässliche Hinweise, wie gut ein bestimmter Anteil des Gleich-
gewichtssystems funktioniert:
55 Ist der Nystagmus verkürzt oder tritt gar nicht auf, so wissen
wir, dass die vestibulären Impulse mindestens in einer Haupt-
nervenbahn nicht verarbeitet werden. Wahrscheinlich sind
dann auch andere vestibuläre Funktionen beeinträchtigt.
55 Die betroffenen Kinder fühlen sich auch nach minutenlangem
Drehen nicht schwindlig oder unwohl, was ein weiterer Hin-
weis ist, dass die vestibulären Reize nicht die Zentren errei-
chen, die sie erreichen sollten.

Beispiel
Zu Anfang dieses Kapitels haben wir Ihnen vier Kinder vorgestellt,
die eine Bordsteinkante entlanggehen. Das erste Kind verarbeite-
te Gleichgewichtsinformationen normal. Beim zweiten und dritten
Kind reagierte das vestibuläre System nicht ausreichend stark. Nach
Drehbewegungen würden diese beiden Kinder nur einen sehr kurzen
Nystagmus zeigen. Das unterempfindliche Gleichgewichtssystem des
104 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

zweiten Kindes führte zu vestibulär verursachten Problemen der bila-


teralen Integration, die ihm das Lernen und vor allem das Lesen schwer
machten. Beim dritten Kind wirkte sich die vestibuläre Unterempfind-
lichkeit auf die Sprech- und Sprachentwicklung aus.

5.2.1 Was ist eine vestibuär bedingte bilaterale


Integrationsstörung?

Die Symptome einer vestibuär bedingten bilateralen Integrationsstö-


5 rung sind sehr subtil.
>> Die meisten Kinder sind im Vorschulalter nicht auffällig.
Doch in der Schule bekommen sie Schwierigkeiten mit dem
Lesen, Rechnen und anderen schulischen Leistungen.

Psychologinnen, die nicht mit den körperlichen Symptomen von sen-


sorisch-integrativen Störungen vertraut sind, halten die Schwierigkei-
ten dieser Kinder oft für eine Legasthenie oder ein Aufmerksamkeits-
defizit. Andere Fachkräfte meinen sogar, dass bei diesen Kindern gar
keine Störung vorliegt, oder dass ein psychisches Problem vorliegt.
Kinder mit vestibulär bedingten Störungen der bilateralen Integration
sind oft durchschnittlich oder überdurchschnittlich intelligent. War-
um haben sie also Schwierigkeiten in der Schule? Obwohl sie intelli-
gent sind, können sie diese Intelligenz nicht zum Lesen oder Rechnen
nutzen, weil die Bedeutung von Wörtern und Zahlen in ihrem Gehirn
durcheinander gerät. Sonderpädagogische Förderung und Nachhilfe
bewirken bei diesen Kindern meist wenig.
Kinder mit anderen Lernstörungen können diese Angebote nut-
zen, aber wenn ein Problem der vestibulär bedingten bilateralen Inte-
gration vorliegt, werden pädagogische Maßnahmen allein nicht aus-
reichen. Diese Kinder sprechen weitaus besser auf eine Behandlung
an, die auf eine Verbesserung der zugrunde liegenden sensorisch-
integrativen Funktionen ausgerichtet ist. Nach einem Jahr Therapie
können viele dieser Kinder leichter lernen, wenngleich es immer noch
schwierig sein kann. Diese Art der Lernstörung lediglich mit päda-
gogischen Maßnahmen anzugehen, bedeutet, das Pferd von hinten
aufzuzäumen. Diese Kinder brauchen eine spezialisierte Therapie,
kombiniert mit eher traditionellem Unterricht.

Reaktionen der Augenmuskeln und des Halteapparates  Probleme


beim Lesen oder Rechnen sind ein Symptom dieser Hirnfunktions-
störung, ein weiteres ist die verkürzte Dauer des Nystagmus. Wenn
die Augenmuskeln keinen ausreichenden Input bekommen, um nach
wiederholtem Drehen die normalen Nystagmusbewegungen auszu-
führen, hat das Kind auch Schwierigkeiten, mit seinen Augen einem
sich bewegenden Objekt zu folgen und zwischen zwei Punkten hin
und her zu schauen. Kaum jemand bemerkt diese mangelhafte Au-
5.2 • Das unterempfindliche Gleichgewichtssystem
105 5
genfunktion. Therapeutinnen mit einer Zusatzausbildung in Sensori-
scher Integrationstherapie sind speziell dafür ausgebildet.
Die Haltereaktionen können ebenfalls unzulänglich sind. Wenn die
vestibulären Kerne keinen ausreichenden Input erhalten, können sie
nicht genügend Impulse über das Rückenmark zur Streckmuskulatur
des Nackens, der Arme, des Rückens und der Beine schicken. Die be-
troffenen Kinder können beim Sitzen den Kopf nicht aufrecht halten,
und beim Spielen ermüden sie rasch. Falls Ihr Kind solche Probleme
hat, dann lassen Sie es sich einmal auf den Bauch legen und Arme
und Beine vom Boden abheben. Viele Kinder mit einer vestibulär be-
dingten bilateralen Integrationsstörung können diese »Flugzeughal-
tung« nur wenige Sekunden halten. Gelegentlich scheinen die Kinder
gar nicht zu bemerken, dass sie gleich hinfallen werden und machen
keine Anstalten, ihre Balance zurückzugewinnen. Wenn sie hinfallen,
stützen sie sich nicht mit den Armen ab.

Beispiel
In der Therapie lag ein Kind auf einem großen Ball. Als es zu fallen
drohte, sagte ich: »Stütz Dich auf, Du fällst!« Das Kind antwortete: »Ja,
aber in welche Richtung falle ich denn?« und war schon auf dem Bo-
den, bevor ich antworten konnte.

Das Fahrradfahren zu erlernen ist für Kinder mit einer vestibulär ver- »Das Gehirn von Kindern
ursachten bilateralen Integrationsstörung oft schwierig und beängs- mit einem unterempfind-
tigend. Das Kind kann nicht darauf vertrauen, dass es sein Gewicht lichen Gleichgewichtssys-
richtig verlagern und die Kurven um Hindernisse richtig nehmen tem … bekommt nicht die
kann. Im Allgemeinen erleben diese Kinder selten den Glücksmo- »Nahrung«, die sich andere
ment, beim Spielen oder im Sport erfolgreich zu sein. Dadurch ken- Kinder aus Bewegungsspielen
nen sie nicht das Selbstvertrauen und die Zuversicht, das/die andere holen.«
Kinder haben. Vor allem Jungen versuchen oft, ihre Schwächen zu
überspielen, indem sie den Klassenclown spielen und sich fallen las-
sen, um die anderen Kinder zu amüsieren und so zu Anerkennung zu
kommen. Die meisten Kinder mit dieser Störung sind ungeschickt,
doch manche entwickeln altersentsprechende motorische Geschick-
lichkeit. Eine adäquate Koordination garantiert jedoch keine optimale
Lesefähigkeit.

»Schneller, schneller!«  Kinder mit einem unterempfindlichen Gleich-


gewichtssystem verarbeiten nicht genügend vestibuläre Empfindun-
gen, so dass ihr Gehirn nicht die »Nahrung« bekommt, die sich an-
dere Kinder aus Bewegungsspielen holen. Aber auch sie haben den
inneren Antrieb, ihr Gehirn zu entwickeln. Außerdem werden sie
oft nicht schwindlig oder seekrank, auch wenn sie sich sehr intensiv
bewegt haben. Es ist daher wenig überraschend, dass diese Kinder
oft viel länger Karussell oder Achterbahn fahren können als andere
Kinder. In der Therapie wollen sie die Bewegungsgeräte immer noch
höher und schneller »fahren« lassen. Ein Kind, das zum ersten Mal
die Netzschaukel ausprobierte, sagte: »Ich könnte das eine Million
106 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

Jahre lang tun!« Das sagt uns, welch ein enormes Bedürfnis nach
vestibulären Reizen sein Gehirn hatte.

Therapie
In der Therapie bekommen Kinder mit einem unterempfindlichen
Gleichgewichtssystem intensive vestibuläre Reize durch Schau-
keln und Drehen angeboten, um das Gleichgewichtssystem zu
aktivieren. Es sollten aber nur Therapeutinnen, die in Sensorischer
Integrationstherapie ausgebildet sind und das Nervensystem des
Kindes gut kennen, das Kind lange drehen oder schaukeln.
5
!! Eines der gefährlichsten Dinge, die Sie tun können, ist, ein
Kind zu drehen, vor allem, wenn es eine neurologische
Schädigung hat. Drehen kann die Atmung und den Blut-
druck senken und bis zur Bewusstlosigkeit führen. Bei
anfallsgefährdeten Kindern kann das Drehen epileptische
Anfälle auslösen1, so dass in solchen Fällen zusätzliche Vor-
sicht geboten ist.

Bilaterale Integration  Bei Kindern mit einem unterempfindlichen


Gleichgewichtssystem sind die beiden Körperseiten oft schlecht ver-
bunden, so dass die Kinder Schwierigkeiten haben, ihre linke und
rechte Seite zu koordinieren. Richtungsangaben verwirren sie, be-
sonders wenn sie keine Zeit haben, darüber nachzudenken. Wenn Sie
einem betroffenen Kind sagen, es solle sich nach links drehen, kann
es sein, dass es sich nach rechts dreht. Es wird auch Schwierigkeiten
haben, zu tanzen oder eine Trommel zu schlagen, weil seine Hände
und Füße nicht gut zusammenarbeiten und keinen Rhythmus ein-
halten können.
Wenn die Kinder älter werden, übernehmen andere Teile des Ge-
hirns oft kompensatorische Funktionen für die vestibulären Schwä-
chen. Oft legen sie sich kognitive Strategien zurecht, um z.B. den
Unterschied zwischen linker und rechter Körperseite zu erkennen.
Dann kann es so wirken, als könnten sie rechts und links gut unter-
scheiden, doch wenn sie mit einer neuen oder ungewöhnlichen Auf-
gabe konfrontiert sind, haben sie wieder Schwierigkeiten. Der Aus-
gleich durch andere Teile des Gehirns ist nie so effizient wie die na-
türliche Funktion des Hirnbereichs, der für diese Aufgabe vorgesehen
ist.
In 7 Kapitel 4 haben wir besprochen, wie sich die beiden Gehirn-
hälften und Körperseiten auf bestimmte Leistungen spezialisieren.

1 Anm. d. Übersetzerin: Wie heute bekannt ist, löst das Drehen an sich keine
epileptischen Anfälle aus, jedoch können ungünstige Lichtverhältnisse einen
Blitzlichteffekt bewirken, der dann einen Anfall auslösen kann.
5.2 • Das unterempfindliche Gleichgewichtssystem
107 5
>> Ein unterempfindliches Gleichgewichtssystem beeinträch-
tigt die Seitenspezialisierung. Das Kind entwickelt mit
beiden Händen und in beiden Hirnhälften ähnliche Fertig-
keiten.

Das Kind verwendet für feinmotorische Tätigkeiten wie Schreiben


oder Werkzeuggebrauch nicht immer dieselbe Hand, sondern es neigt
dazu, für alles, was sich auf seiner rechten Körperseite befindet, die
rechte Hand einzusetzen, und für alles, was sich auf seiner linken
Körperseite befindet, die linke Hand (d.h., es kreuzt seine Körper-
mitte nicht). Das Kind kann als beidhändig betrachtet werden, aber in
Wirklichkeit ist es mit keiner Hand besonders geschickt. Es kann auch
sein, dass ein Kind linkshändig wird, obwohl es genetisch zur Rechts-
händigkeit veranlagt ist. In dem Fall spezialisieren sich auch seine
beiden Hirnhälften nicht, sondern übernehmen ähnliche Leistungen.
Dadurch arbeiten sie nicht sehr effizient. Auch die Sprachfunktionen
werden in beiden Hemisphären angelegt, aber in keiner sehr gut. Das
kann Schwierigkeiten beim Sprechen, Lesen und Schreiben verursa-
chen. Oft kommt die Sprache verspätet, und die Kinder verstehen viel
mehr als sie ausdrücken können. Wenn die Sprache aber entwickelt
ist, ist sie in der Regel unauffällig.
Die mangelhafte Lateralisation von Leistungen bei Kindern mit
vestibulär bedingten bilateralen Integrationsstörungen lässt anneh-
men, dass die beiden Hirnhälften nicht richtig kommunizieren. Wenn
die Hirnhälften keine Informationen austauschen, können sie auch
nicht auf natürliche, effiziente Weise funktionieren.

5.2.2 Vestibulär bedingte Sprachstörungen

Die sprachliche Kommunikation ist in gewissem Maß ein Ergebnis »Das vestibuläre System spielt
der Entwicklung von sensorisch-integrativen Funktionen. Das vesti- eine wichtige organisierende
buläre System spielt eine wichtige organisierende Rolle für alle Sinnes- Rolle für alle Sinnessysteme.«
systeme. Dadurch trägt es auch zur Entwicklung des Sprachverständ-
nisses und des Sprechens bei. Diese Erkenntnis beruht darauf, dass
sich bei Kindern mit Sprachstörungen, die in ergotherapeutischer
Behandlung mit sensorisch-integrativem Ansatz waren, die Sprache
verbesserte, obwohl die Therapie keine Sprachförderung beinhaltete.
Studien haben gezeigt, dass viele Kinder mit Artikulations- und
Sprachproblemen einen verkürzten postrotatorischen Nystagmus
aufweisen. In einem Zentrum in Illinois testeten Stilwell, Crowe und
McCallum (1978) den Nystagmus von Kindern und verglichen die Er-
gebnisse mit Kindern, die keine sprachlichen Defizite hatten. Sie stell-
ten fest, dass der Nystagmus bei 70% der Kinder mit Sprachstörungen
kürzer war als bei 70% der normal entwickelten Kinder. Am kürzesten
war der Nystagmus bei einer Gruppe von Kindern, die Schwierigkei-
ten mit dem symbolischen Sprachgebrauch und dem Satzbau hatten.
108 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

Beispiel
Von den vier Kindern, die wir zu Beginn des Kapitels vorgestellt haben,
hatte das dritte Kind eine Sprachstörung, die durch ein unterempfind-
liches Gleichgewichtssystem verursacht war.

Es herrscht allgemein Übereinstimmung, dass Funktionen der hö-


heren Hirnabschnitte wie dem Kortex teilweise von niedrigeren sub-
kortikalen Funktionen abhängen. Das Sprachzentrum in der linken
Hirnhälfte (bei Rechtshändern) ist Teil eines größeren Netzwerks, zu
dem auch andere Gebiete der Hirnrinde und subkortikale Integra-
5 tionszentren gehören.
>> Damit Sprache sich entwickeln kann, müssen die höheren
und niedrigeren Zentren im Gehirn ununterbrochen mitei-
nander kommunizieren. Sind aber die vestibuläre Prozesse
in den niedrigeren Zentren gestört, so ist es für die höheren
. Abb. 5.7  Es ist leicht zu beobach-
Bereiche schwer, Sprache zu produzieren.
ten, dass Bewegungserfahrungen Ein-
fluss auf die Lautäußerungen haben. Natürlich können Kinder aus vielen anderen Gründen Sprachschwie-
Selbst Kinder, die nicht viel sprechen,
rigkeiten haben. Wenn sich die Sprache nicht zeitgerecht entwickelt,
geben bei Aktivitäten, bei denen sie
sich bewegen und schaukeln und
sollte der postrotatorische Nystagmus von einer speziell ausgebilde-
springen können, wesentlich mehr ten Therapeutin getestet werden, um zu beurteilen, ob eine senso-
Laute von sich risch-integrative Funktionsstörung vorliegt.
Man kann leicht sehen, dass vestibulärer Input die Lautproduk-
tion anregt. Fast jedes Kind quietscht und schreit auf einer Achter-
bahn, oder wenn es sehr aktiv spielt. Selbst Kinder, die nicht sprechen,
produzieren vermehrt Geräusche, wenn sie starken vestibulären In-
put bekommen (.  Abb.  5.7). Das Gehirn braucht anscheinend ein
gewisses Maß an vestibulärem Input, damit es Laute produziert. Die
Bewegungen im Alltag reichen diesen Kindern nicht aus.

Beispiel
Ich nahm bei einem 6-jährigen Jungen, der als »unkooperativ« galt,
Befund auf. In einem Test sollte er entscheiden, welcher von zwei Tei-
len in ein Loch passt. Er saß einfach da, ohne sich zu bewegen und in
irgendeiner Weise auf das zu reagieren, was ich sagte. Schließlich gab
ich auf und entschied, wenigstens den postrotatorischen Nystagmus
zu testen. Der Junge zeigte nach dem Drehen fast keinen Nystagmus;
aber er stand freiwillig auf, ging zum Tisch und begann zu sprechen
und die Teile zuzuordnen! Nach einigen Minuten hörte er wieder auf
zu arbeiten. Ich drehte ihn noch einmal auf dem Drehbrett, diesmal
etwas stärker. Wieder kehrte er zum Tisch zurück, um die Tests fortzu-
setzen. Diesen Ablauf wiederholten wir mehrere Male, bis er den Test
vollständig gemacht hatte. Dieser Junge konnte offensichtlich nur mit-
arbeiten, wenn sein Gehirn durch ausreichenden vestibulären Input
aktiviert war.
5.2 • Das unterempfindliche Gleichgewichtssystem
109 5

. Abb. 5.8  Checkliste für Probleme bei vestibuär bedingter bilateraler Integrationsstörung

>> Kinder mit Sprech- und Sprachstörungen, die auf einer ves-
tibulären Funktionsstörung gründen, haben in der Regel
auch Schwierigkeiten mit Körperbewegungen und der Be-
wegungsplanung.

Störungen der Bewegungsplanung werden in 7 Kapitel 6 behandelt.


Nicht alle Sprech- und Sprachstörungen hängen mit einer ves-
tibulären Funktionsstörung zusammen. Manche Schwierigkeiten in
der Kommunikation dürften das Ergebnis von Funktionsstörungen
in den Sprachzentren der linken Hirnhälfte sein. Bei dieser Art der
Sprachstörung ist das Problem nicht durch eine schwache sensorische
Integration verursacht, und daher profitieren diese Kinder in der Re-
gel nicht von der Sensorischen Integrationstherapie.
. Abb. 5.8 gibt Ihnen eine Checkliste an die Hand, um Anzeichen
einer vestibuär bedingten bilateralen Integrationsstörung zu erken-
nen.
110 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

Empfehlungen für Eltern

Im Folgenden finden Sie einige Anregungen, wie Sie Ihrem Kind


helfen können, seinen Gleichgewichtssinn zu entwickeln und zu
stärken.
55 Bewegungserfahrungen sind für die Entwicklung Ihres Kin-
des sehr wichtig. Achten Sie darauf, dass Ihr Kind jeden Tag
Gelegenheit hat, zu schaukeln, zu rutschen, zu springen und
andere aktive Bewegungserfahrungen zu machen.
55 Ermuntern Sie Ihr Kind, sich selbst Bewegung zu verschaffen
(z.B. Schwung holen oder treten) anstatt sich von anderen
5 bewegen zu lassen.
55 Nutzen Sie rasche Bewegungsaktivitäten, bei denen sich oft
die Richtung ändert, um Ihr Kind anzuregen und zu aktivie-
ren.
55 Nutzen Sie langsame, rhythmische Bewegungen (z.B. wiegen
oder schwingen), um Ihr Kind zu beruhigen.
55 Beobachten Sie die Reaktionen Ihres Kindes auf Bewegungs-
aktivitäten! So können Sie sehen, welche Bewegungen es
aktivieren, und welche es beruhigen.
55 Drehen oder schaukeln Sie Ihr Kind nicht allzu viel – es gibt
keine vorgeschriebene Zeitdauer. (Dies wird manchmal fälsch-
licherweise von Personen empfohlen, die Dr. Ayres‘ Theorie
nicht verstanden haben.)
55 Lassen Sie Ihr Kind auf dem Bauch liegen (mit Ellbogenstütz),
während es liest, malt oder ein Spiel spielt.
55 Regen Sie ihr Kind zu Aktivitäten an, die Balance erfordern
(z.B. Eislaufen oder Fahrradfahren).
55 B ieten Sie Aktivitäten an, bei denen Ihr Kind beide Körper-
seiten einsetzen muss (z.B. Seilspringen, Schwimmen, Rudern,
ein Musikinstrument spielen).
55 Suchen Sie Aktivitäten aus, bei denen Ihr Kind Augen, Kopf
und Hände koordinieren muss (z.B. Zielwurfspiele, Fangen
und Werfen, Tischtennis, Tennis).

Ihre Therapeutin kann Ihnen Aktivitäten empfehlen, die speziell


für Ihr Kind geeignet sind. Fragen Sie Ihre Therapeutin nach
Ideen, und beobachten Sie die Reaktionen Ihres Kindes auf seine
Erfahrungen.

5.3 Überreaktionen auf Gleichgewichtsreize

Sinnesreize sind »Nahrung« für das Gehirn, aber zu viel des Guten
verursacht auch Probleme. Normalerweise verarbeitet das Gehirn
vestibuläre Informationen und verwendet sie, um eine anpassende
Reaktion zu erzeugen. Damit das Gehirn den vestibulären Input nut-
5.3 • Überreaktionen auf Gleichgewichtsreize
111 5

Seans Geschichte: Das Leben mit Schwerkraftunsicherheit


»Können wir nicht einen anderen schien ihr nun zu anstrengend. Sie sche und den Schaukeln rannten.
Weg gehen? Du weißt doch, dass seufzte und entschied, dass die Schon als Baby hatte er sich nur
ich keine Rolltreppen mag!« Der Schuhe warten mussten. Sie hatte beruhigt, wenn man ihn ganz fest
5-jährige Sean bestand darauf. Für die Angst in Seans Augen gesehen. hielt. Die Babyschaukel hatte nie
heute war dies die letzte Besorgung Aber … war es richtig, dass sie so geholfen. Wohlmeinende Freunde
im Einkaufszentrum. Bis jetzt hatte einfach nachgab? hatten schon zu ihr gesagt, sie sich
Seans Mutter erfolgreich die Wege Auf der Heimfahrt dachte sie von Sean um den Finger wickeln
von Geschäft zu Geschäft zurück- über Seans ständiges Kämpfen mit ließe. Er brauchte für alles eine
gelegt; sie musste weder einen Aktivitäten nach, die mit Bewegung Sonderbehandlung. Hätte sie ihn zu
Aufzug noch Rolltreppen benutzen. zu tun hatten. War es ihre Schuld, Dingen zwingen sollen, die er nicht
Sie wusste aus Erfahrung, dass Sean dass er so ungern auf den Spiel- freiwillig tun wollte? Wäre er dann
sich weigern würde, diese zu betre- platz ging? Er spielte immer nur im aus seinen Abneigungen heraus-
ten. Leider war die Schuhabteilung Sand und schloss sich den anderen gewachsen? Wird er denn jemals
im 3. Stock, und das Treppengehen Kindern nie an, wenn sie zur Rut- herauswachsen?

zen kann, muss es Impulse hemmen, die nicht nützlich sind. Jedoch
ist nicht jedes Gehirn in der Lage, vestibuläre Aktivität zu hemmen
oder modulieren, was dazu führt, dass der Betroffene übertrieben auf
Aktivitäten reagiert, die mit Bewegung oder Änderungen der Kopf-
position verbunden sind.
Kinder, die auf Gleichgewichtsreize überreagieren, haben in der
Regel einen längeren postrotatorischen Nystagmus als Gleichaltrige.
Gelegentlich ist der Nystagmus aber auch durchschnittlich oder so-
gar verkürzt. Man muss bedenken, dass das vestibuläre System viele
Bahnen und viele verschiedene Funktionen hat; bei Kindern mit einer
sensorischen Integrationsstörung können manche aktiv sein, manche
hyperaktiv und andere immer noch durchschnittlich.
>> Es gibt zwei Arten von Überempfindlichkeit gegenüber
vestibulären Reizen:
55 Schwerkraftunsicherheit und
55 Bewegungsüberempfindlichkeit.

Bei Schwerkraftunsicherheit betrifft die Störung diejenigen Bereiche


des Gehirns, die die Signale aus den Schwerkraftrezeptoren modulie-
ren. Der Betroffene erlebt daher bestimmte Kopf- oder Körperposi-
tionen als unangenehm, selbst wenn er sich nicht bewegt. Bei Bewe-
gungsüberempfindlichkeit sind diejenigen Bereiche betroffen, die
die Signale von den Bogengängen verarbeiten. Daher löst Bewegung
im Raum Unbehagen aus.

5.3.1 Schwerkraftunsicherheit

Das  7  Fallbeispiel von Sean beschreibt, wie Schwerkraftunsicherheit


im alltäglichen Leben zum Tragen kommt.
112 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

Extreme Beschleunigung oder die Gefahr, aus hoher Höhe zu fal-


len löst bei fast jedem von uns Angst aus. Manche Menschen reagieren
aber übertrieben ängstlich auf vestibuläre Empfindungen, selbst wenn
keine reale Fallgefahr besteht. Diese Angst hat wenig mit der tatsäch-
lichen Körperlage zu tun; sie wird vielmehr durch einen »Fehler« in
der zentralen vestibulären Verarbeitung ausgelöst. Fachausdrücke für
dieses Problem sind Haltungs- oder Schwerkraftunsicherheit.

Beispiel
Das vierte Kind, das zu Beginn dieses Kapitels vorgestellt wurde, war

5 schwerkraftunsicher. Es hatte Angst, auf der Bordsteinkante entlang-


zugehen, konnte es aber tun, wenn es ermutigt und an der Hand ge-
halten wurde. Seine Balance und Koordination waren besser als bei
den beiden Kindern, die ein unterempfindliches Gleichgewichtssys-
tem hatten. Rein körperlich hätte es die Hand seiner Mutter nicht ge-
braucht. Es hätte allein auf dem Bordstein balancieren können. Es war
. Abb. 5.9  Das Gefühl von Sicherheit sein Gehirn, das nicht wahrnahm, dass es diese Fähigkeit besitzt. Da
kommt daher, dass wir uns sicher
diese Kinder nicht stolpern oder hinfallen, ist es nicht leicht zu sehen,
fühlen, wenn wir uns bewegen oder
die Position wechseln. Kinder mit dass sie ein Problem haben. Schwerkraftunsicherheit wirkt sich nicht
Schwerkraftunsicherheit fühlen sich, auf die schulischen Leistungen aus. Die betroffenen Kinder können
als ob jede Bewegung oder Positions- gute Schüler sein, sofern sie keine anderen neurologischen Probleme
veränderung sie in Gefahr brächte haben.

Kinder mit Schwerkraftunsicherheit erleben jedes Mal Ängste und


Stress, wenn sie in einer ungewohnten Position sind oder versuchen,
eine unbekannte Position einzunehmen. Als besonders bedrohlich
erleben sie es, wenn sie von jemand anderem bewegt werden [An-
merkung der Übersetzerin: z.B. geschoben oder geschubst werden].
Wenn sie im Stehen etwas tun, können sie eventuell nicht einmal
zulassen, dass jemand neben ihnen steht. Sie scheinen zu fürchten,
dass sie überraschend bewegt werden könnten. Schaukeln, Karussells
und andere Spielgeräte, mit denen man sich auf ungewöhnliche Weise
bewegen kann, wirken ebenfalls beängstigend. Wenn sie sich sicher
fühlen, etwa auf dem Schoß ihrer Eltern, dann können sie diese Ak-
tivitäten aber oft tolerieren. Auch schnelles Kurvenfahren mit dem
Auto kann unangenehm für diese Kinder sein.
Kinder mit Schwerkraftunsicherheit verbringen viel Zeit damit,
sich zu ängstigen, dass sie fallen könnten. Sie nehmen beachtliche
Umwege in Kauf, um das zu vermeiden, obwohl sie sowieso selten
hinfallen. Im Gegensatz dazu fallen Kinder mit vestibuär bedingten
bilateralen Integrationsproblemen oft, sind aber deshalb nicht vor-
sichtiger und zeigen normalerweise auch keine emotionalen Reak-
tionen.
5.3 • Überreaktionen auf Gleichgewichtsreize
113 5
Beispiel
Ein schwerkraftunsicheres Mädchen hatte während der Therapie sei-
ne Hände fest auf dem Boden, während seine Beine noch auf einem
wackligen Gerät standen. Statt einfach herunterzukrabbeln rief sie:
»Ich falle, ich falle!«

Eine elementare Bedrohung  Schwerkraftunsichere Kinder fühlen


sich von der Anziehung der Schwerkraft grundlegend bedroht. Es ist
nicht ihre Absicht, aber sie wehren sich, sich zu bewegen. Man kann
ihnen zureden so viel man will, es wird nichts an ihrer Unsicherheit
ändern (.  Abb.  5.9). Es hilft auch nichts, diese Kinder mit Beloh-
nungen zu ermutigen. Ihre Angst ist nicht rational; sie kommt von
Bereichen tief in ihrem Gehirn, auf die Worte und Belohnungen kei-
nen Einfluss haben. Diese Kinder sind in einer schlimmen Lage, und
wenn Erwachsene oder andere Kinder ihre Bedürfnisse ignorieren
und erwarten, dass sie sich bewegen, geht es ihnen nur noch schlech-
ter. Sie fühlen sich am sichersten, wenn sie mit beiden Füßen fest auf
dem Boden stehen. Hüpfen ist sehr bedrohlich für diese Kinder, so
dass manche »springen«, ohne ihre Füße vom Boden anzuheben. Sie
liegen auch nicht gerne auf dem Rücken, außer auf dem Boden oder
im Bett, und verweigern es, sich auf einen Tisch oder eine Liege zu
legen.

Beispiel
Ein 8-jähriges Mädchen wollte nicht über ein Seil steigen, das nur
30 cm über dem Boden gespannt war; stattdessen rutschte es darunter
durch.

Manche Menschen mit Schwerkraftunsicherheit fürchten sich davor,


bergauf oder bergab zu gehen, oder über steinigen oder holprigen Bo-
den. Sie halten sich am Geländer fest, wenn sie Treppenstufen hinauf-
oder hinuntergehen. Sie gehen nicht gerne Bordsteinkanten entlang
und setzen sich nicht auf Fahrzeuge oder Tiere. Auch sich im Sitzen
nach hinten zu lehnen kann sehr bedrohlich sein.
>> Das Problem ist die Überempfindlichkeit gegenüber den
Signalen der Schwerkraftrezeptoren; daher ist die Stellung
des Kopfes entscheidend.

Beispiel
Erwachsene mit Schwerkraftunsicherheit klagen darüber, dass sie ihr
Haus nicht selbst putzen können, weil ihnen unwohl wird, wenn sie
sich nach vorne beugen oder unter ein Möbelstück schauen wollen.
Den Kopf nach unten zu bewegen stimuliert die Schwerkraftrezepto-
ren am stärksten und ist daher besonders bedrohlich für denjenigen,
114 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

der diesen Input nicht modulieren kann. Aus diesem Grund vermei-
den Kinder mit Schwerkraftunsicherheit Purzelbäume und balgen sich
nicht gern.

Viele Kinder brauchen ständig körperliche Unterstützung von ihren


Eltern oder ihrer Therapeutin. Ihre Abneigung, allein zu sein, schränkt
ihre Spielmöglichkeiten ein. Sie berauben sich dadurch vieler Gele-
genheiten zu reifen, die andere Kinder nutzen. Wenn Sie ein schwer-
kraftunsicheres Kind haben, hören Sie möglicherweise von Freunden
und Bekannten, dass Sie überängstlich seien, und dass Sie Ihr Kind
5 eher ermutigen sollten, selbstständig zu werden. Ihre Freunde sagen
das, weil sie nicht erkennen, dass Ihr Kind die grundlegendste aller
Sinnesempfindungen nicht modulieren kann.

Tipp

Das Beste, was Sie für Ihr Kind tun können, ist, seine Bedürfnisse
»Unser Bezug zur Schwerkraft
zu respektieren und es mit allen Mitteln zu unterstützen, sein
ist unsere wichtigste Quelle der
Grundvertrauen allmählich aufzubauen.
Sicherheit.«

Schwerkraftunsichere Kinder fühlen sich, als ob sie bei jeder Körper-


bewegung in den Weltraum fliegen könnten. Schon bei der kleinsten
Bewegung können sie sich desorientiert oder benommen fühlen.

Beispiel
Eine Klientin hatte nach einer Bewegungserfahrung, die den meisten
Menschen überhaupt nicht unangenehm wäre, gesagt: »Ich habe mich
gefühlt, als ob ich die Erde verlassen hätte und nie mehr zurückkom-
men würde!« Es gibt keine größere Bedrohung als diese.

Hat ein Kind keine sicheren Bezug zur Erde, dann werden auch alle
anderen Beziehungen nicht optimal sein. Schwerkraftunsicherheit
wirkt sich auf alle Bereiche des Lebens aus. Andere Menschen er-
kennen die Ängste nicht und halten das Kind für eine »schwierige
Persönlichkeit«. Möglicherweise machen sie das Kind sogar dafür
verantwortlich und bestrafen es für das, was ihm sein Gehirn an-
tut. Andere Kinder nennen es »Feigling«. Die Erwachsenen verstehen
nicht, warum es sich durch Worte nicht beruhigen lässt. Um unter
Menschen zu sein, muss das Kind Ängste auf sich nehmen, die die
anderen nicht kennen und nicht verstehen.
Nicht selten versuchen diese Kinder, ihre Umwelt und andere
Menschen zu manipulieren, um die Ängste zu vermeiden oder zu
reduzieren. Dadurch wirken sie stur und unkooperativ. Als Klein-
kinder haben sie die Erfahrung gemacht, dass die Erwachsenen sie
»herumbewegten«, ohne Rücksicht auf ihr überempfindliches Gleich-
gewichtssystem zu nehmen. Daraus lernten sie, wie sie die Erwach-
senen kontrollieren und von sich fernhalten können. Da die Kinder
5.3 • Überreaktionen auf Gleichgewichtsreize
115 5

. Abb. 5.10  Checkliste für Schwerkraftunsicherheit

nicht vorhersehen können, welche Situationen grauenvoll und welche


unproblematisch sein werden, müssen sie möglichst viele Situationen
kontrollieren. Für Erwachsene ist dies eine unerwünschte Persönlich-
keitseigenschaft; sie möchten selbst die Kontrolle übernehmen und
zwingen die Kinder dazu, ihr manipulatives Verhalten aufzugeben.
Die Lebenssituation der betroffenen Kinder wird dadurch noch un-
erträglicher.

Was ist mit dem Gehirn dieser Kinder nicht in


Ordnung?
Wie bei jeder sensorisch-integrativen Störung können wir nur ver-
muten, was im Inneren des Gehirns dieser Kinder vor sich geht. Wir
glauben, dass die Signale von den Schwerkraftrezeptoren nicht richtig
moduliert werden. Das Gehirn nimmt Schwerkraftempfindungen auf,
solange wir leben; und sie nehmen zu, wenn der Kopf sich aus der
normalen aufrechten Position, die wir gewohnt sind, herausbewegt.
Die Betroffenen können ihre Ängste also reduzieren, indem sie den
Kopf so ruhig wie möglich halten und sicherstellen, dass er in der
116 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

gewohnten Position bleibt. Außerdem müssen sie ihre Füße fest auf
dem Boden stehen lassen, so dass sie wissen, wo sie sich in Bezug zum
Raum befinden.
Das Problem kann zum Teil durch zu schwache propriozeptive
Empfindungen der Muskel- und Gelenkrezeptoren verursacht sein,
die aber gebraucht werden, um die vestibuläre Aktivität zu modu-
lieren. Macht ein Säugling nicht genügend Bewegungserfahrungen,
über die er vestibuläre und propriozeptive Empfindungen integrieren
kann, oder liegt eine neurologische Störung vor, die eine Integration
verhindert, entwickelt das Gehirn nicht die hemmenden Mechanis-
5 men, die die Aktivität des vestibulären Systems modulieren.
Die neurologische Funktionsstörung, die eine Schwerkraftunsi-
cherheit verursacht, wirkt sich nicht direkt auf das schulische Lernen
aus, aber die durch die Ängste entstehende psychische Belastung kann
das tun. Wir sehen Schwerkraftunsicherheit auch oft bei Kindern,
die andere, weitreichendere neurologische Funktionsstörungen ha-
ben, die auch das Lernen betreffen. Diese Störungen machen es den
Betroffenen schwer, sich zu organisieren und auf eine Tätigkeit zu
konzentrieren.
>> Schwerkraftunsichere Menschen sind sehr ängstlich und
können leicht neurotisch werden oder psychische Probleme
bekommen.

Leider werden ihre Ängste von Psychotherapeuten oder Psychologen


häufig so behandelt, als läge eine Persönlichkeits- oder Verhaltensstö-
rung vor und nicht neurologische Funktionsstörungen.

Der Drang, die Schwerkraftunsicherheit zu


überwinden
Jeder Mensch hat den inneren Antrieb, ausreichenden Bezug zur
Schwerkraft herzustellen. Das normal entwickelte Kind folgt diesem
Drang, indem es krabbelt, klettert, springt und in jeder denkbaren
Körperposition spielt. Es sammelt so lange Erfahrungen darüber, was
es selbst tun kann, und was die Schwerkraft tut, bis es schließlich gut
mit der Schwerkraft zurechtkommt. Schwerkraftunsichere Kinder ha-
ben diesen Drang auch, aber ihre ängstlichen Reaktionen verhindern,
dass sie ihn ausleben.

Therapie
In der Therapie mit sensorisch-integrativem Ansatz ist die Umge-
bung so gestaltet, dass die Kinder erfolgreiche Reaktionen ent-
wickeln können. Die Therapeutin weiß, wie sie die Kinder führen
kann, ohne sie zu überfordern. Dadurch gewinnt der innere An-
trieb im Laufe der Therapie fast immer Oberhand und ermöglicht
den Kindern, ihre Unsicherheit weitgehend zu überwinden.
5.3 • Überreaktionen auf Gleichgewichtsreize
117 5
. Abb. 5.10 gibt Ihnen eine Checkliste an die Hand, in der Anzeichen
von Schwerkraftunsicherheit zusammengefasst sind.

Empfehlungen für Eltern

Im Folgenden finden Sie einige Anregungen, wie Sie Ihrem Kind


mit Schwerkraftunsicherheit helfen können. Am wichtigsten
ist, dass Sie sein Problem ernst nehmen und seine Reaktionen
respektieren. Wenn Sie Ihr Kind behandeln, als ob es ungezogen
wäre, werden die Probleme wahrscheinlich zunehmen.
55 Helfen Sie Ihrem Kind, Dinge, die eine Herausforderung sind,
schrittweise anzugehen. Wenn Ihr Kind z.B. Angst vor der
Schaukel hat, setzen Sie es zunächst auf eine Schaukel, bei
der die Füße fest auf dem Boden bleiben können; oder setzen
Sie sich auf die Schaukel und nehmen Sie Ihr Kind auf den
Schoß.
55 Manche Kinder fühlen sich sicherer, wenn Sie Druck auf ihre
Muskeln und Gelenke oder von oben auf ihre Schultern aus-
üben. Wenn Ihr Kind z.B. Angst hat, Treppenstufen zu gehen,
halten Sie es mit sanftem Druck an den Hüften. Das kann ihm
mehr Sicherheit geben als an der Hand gehalten zu werden.
55 Wir tolerieren sanfte Vor- und Rückbewegungen normaler-
weise besser als Drehbewegungen. Lassen Sie Ihr Kind die
Richtung und Geschwindigkeit der Bewegungen bestimmen.

Fragen Sie Ihre Therapeutin nach Empfehlungen für Aktivitäten,


die speziell für Ihr Kind gut wären.
Fragen Sie nach Ideen, und beobachten Sie die Reaktionen
Ihres Kindes auf seine Erfahrungen.

5.3.2 Bewegungsunverträglichkeit

Wenn das Gleichgewichtssystem überreagiert, empfinden die betrof-


fenen Kinder rasche Bewegungen und Drehbewegungen als höchst
unangenehm. Sie haben nicht unbedingt Angst vor der Bewegung,
sondern fühlen sich einfach unwohl. Beim Autofahren wird ihnen
viel häufiger übel als anderen Kindern. Auch wenn sie auf sich be-
wegenden Geräten herumturnen, z.B. auf einem Karussell oder einem
hängenden Therapiegerät auf dem Spielplatz, können sie seekrank
werden. Besonders empfindlichen Kindern wird sogar schon übel,
wenn dem Drehen von anderen Kindern oder Dingen nur zusehen.
Denn dadurch wird ein Augenreflex ausgelöst, der die vestibulären
Kerne stimuliert.
Es liegt nahe, dass die Gehirnanteile, die die Signale aus den Bo-
gengängen modulieren sollen, nicht gut funktionieren. Das Drehen
ist der stärkste Reiz für die Bogengänge, hat aber wenig Wirkung auf
die Schwerkraftrezeptoren. Man könnte meinen, dass Schwerkraft-
118 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems

Sensorische Integration verstehen


Warum hat Bewegung etwas damit zu tun, wie wach wir sind?
Versetzen Sie sich für einen Augenblick in eine Hängematte oder
einen Schaukelstuhl, die/der sachte schaukelt, oder auf eine
Luftmatratze, die im Pool dahintreibt. Wie fühlen Sie sich? Und jetzt stellen Sie sich vor,
dass Sie in einer Hochseilbahn fahren, auf Skiern den Berg hinunterfahren oder in
5 Ihrem Fitnesscenter an einer Aerobic-Stunde teilnehmen. Wie fühlen Sie sich dabei?

Was hat das Gleichgewichtssystem mit den Augen zu tun?


Machen Sie einen Selbstversuch:
Bewegen Sie ein Buch vor Ihren Augen hin und her. Können Sie den Text lesen?
Wenn Sie Ihren Kopf ruhig halten, wird das Gleichgewichtssystem nicht aktiviert und
hilft Ihren Augen daher nicht, das Bild stabil zu halten. Halten Sie jetzt das Buch vor
Ihren Augen ruhig, und bewegen Sie Ihren Kopf hin und her. Wie gelingt es Ihnen nun,
den Text zu lesen? Durch die Kopfbewegung aktivieren Sie Ihr Gleichgewichtssystem,
so dass es Ihren Augen helfen kann, ein stabiles Gesichtsfeld aufrechtzuerhalten.
Auf dieselbe Art hilft das Gleichgewichtssystem auch einem Schulkind, von der Tafel
abzuschreiben, oder nach Ihnen Ausschau zu halten, während es die Rutsche
hinunterrutscht oder auf den Ball zuläuft, den Sie ihm zugeworfen haben.

Warum wirken Höhen und Bewegungen für manche Menschen angsterregend?


Stellen Sie sich vor, wie Sie sich fühlen, wenn Sie am Gipfel des Grand Canyon an einer
Felskante stehen, von wo aus Sie das ganze Tal überblicken. Plötzlich ist eine
Touristengruppe um Sie herum und drängt Sie immer näher an den Abgrund.
Jetzt stellen Sie sich vor, wie es ist, wenn man dieses Gefühl jedes Mal erlebt, wenn
man auf einer Bordsteinkante steht, in einem Aufzug fährt oder auf einer
Hollywoodschaukel sitzt.

. Abb. 5.11  Sensorische Integration verstehen

unsicherheit und Bewegungsunverträglichkeit Hand in Hand gehen.


Das kommt gelegentlich vor, aber nicht immer. Oft ist es schwierig,
die beiden Funktionsstörungen auseinanderzuhalten.
Da der vestibuläre Input der Bewegung das Nervensystem der be-
troffenen Kinder überreizt und ihre Verdauung in Aufruhr versetzt,
ist zu erwarten, dass der postrotatorische Nystagmus verlängert ist.
Dies ist oft der Fall, aber nicht immer. Das Gleichgewichtssystem ist
so komplex, dass verschiedenste Varianten in der Funktion möglich
sind.
5.3 • Überreaktionen auf Gleichgewichtsreize
119 5
Die Bewegungsunverträglichkeit wurde weniger untersucht als
die Schwerkraftunsicherheit. Daher können wir nicht mit Sicherheit
sagen, ob diese sich auf das schulische Lernen und Verhalten auswirkt.

>> Fachleute, die sich mit der Bewegungsunverträglichkeit


beschäftigen, haben allgemein den Eindruck, dass nicht
schulische Leistungen, sondern die emotionale Entwicklung
und das Selbstbewusstsein beeinträchtigt sind.

Im Alltag und in der Schule muss man selten schaukeln oder auf
dem Kopf stehen; daher lassen sich die Probleme ohne große Ein-
schränkungen umgehen. Allerdings kann die neurologische Funk-
tionsstörung, die dafür verantwortlich ist, dass Drehbewegungen so
unangenehm erlebt werden, auch andere Arten von Bewegung leicht
unangenehm machen.
>> Wenn ein Kind keine Freude an Bewegung empfindet, ver-
säumt es viele befriedigende Kindheitserfahrungen und
Gelegenheiten, seine sensorische Integration zu entwickeln.

Es ist normal, dass unsere Toleranz gegenüber Bewegung im Raum


mit zunehmendem Alter abnimmt. Weniger Bewegungsfreude bei
Erwachsenen ist daher kein Zeichen für eine neurologische Funk-
tionstörung.
. Abb. 5.11 gibt uns eine Vorstellung, was sensorische Integration
bedeutet.
Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Dr.  Jane Koomar zu den Themen, die in diesem
Kapitel angesprochen werden, finden Sie in Anhang A.
121 6

Entwicklungsdyspraxie
Wie Kinder neue motorische Fertigkeiten erlernen, und warum manche
Kinder Schwierigkeiten dabei haben

6.1 Bewegungsarten und Bewegungsstörungen – 122


6.1.1 Exakte Bewegungssteuerung – 123
6.1.2 Haltereaktionen – 124
6.1.3 Zentral programmierte Bewegungen – 124
6.1.4 Motorische Fertigkeiten – 125
6.1.5 Bewegungsplanung – 126

6.2 Körperschema und Bewegungsplanung – 128


6.2.1 Das Gedächtnis der Nervenzellen – 129
6.2.2 Wie der Berührungssinn zu Körperschema und Bewegungsplanung
beiträgt – 130
6.2.3 Wie der Kraft- und Stellungssinn (Propriozeption) zu Körperschema
und Bewegungsplanung beiträgt – 133
6.2.4 Wie der Gleichgewichtssinn zu Körperschema und
Bewegungsplanung beiträgt – 136
6.2.5 Internes Feedback – 136
6.2.6 Tun ohne zu denken – 137

6.3 Was ist eine Entwicklungsdyspraxie? – 138


6.3.1 Kennzeichen der Entwicklungsdyspraxie – 139
6.3.2 Auswirkungen von Dyspraxie auf Schulleistungen – 140

6.4 Wie fühlt sich ein Kind mit Dyspraxie? – 141

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
122 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie

»Ohne Bewegung könnten wir Wenn Sie einen Moment innehalten und überlegen, was Menschen
uns nicht versorgen, gehen, alles tun können, wird Ihnen auffallen, dass Sie entweder eine Bewe-
wohin wir wollen, und mit gung machen, oder dass Ihr Tun Bewegung erfordert, um es auszu-
anderen kommunizieren.« drücken; Gedanken z.B. werden durch Bewegung ausgedrückt. Ohne
Bewegung könnten wir uns nicht versorgen, gehen, wohin wir wol-
len, und mit anderen kommunizieren. Es ist kein Wunder, dass ein
Großteil des Gehirns damit beschäftigt ist, körperliche Bewegungen
vorzubereiten.
Bewegung ist sichtbar; daher fällt uns auf, wenn sie schlecht aus-
geführt wird. Da so viele verschiedene Gehirnprozesse an der Bewe-
gung beteiligt sind, können viele verschiedene Störungen im Gehirn
Schwächen der Koordination verursachen.

6 >> Eine Form der Koordinationsstörung, die durch eine senso-


risch-integrative Funktionsstörung verursacht ist, sind De-
fizite der Bewegungsplanung. Diese sensorische Verarbei-
tungsstörung wird Entwicklungsdyspraxie genannt, oder
wenn sie schwerwiegender ist, Apraxie.

In  7  Kapitel 2 haben wir Bewegungsplanung und Praxie – die Fähig-


keit, eine ungewohnte Tätigkeit zu planen und auszuführen – be-
sprochen. Kinder mit Dyspraxie sind langsam und ineffizient, wenn
sie ihre Bewegungen planen. Kinder mit Apraxie können überhaupt
keine ungewohnten Bewegungen planen. Das heißt aber nicht, dass
sie nicht eine durchschnittliche Intelligenz und eine normal funktio-
nierende Muskulatur haben. Das Problem liegt in der Verbindung,
der »Brücke« zwischen dem Gehirn und den Muskeln.
Die Entwicklungsdyspraxie ist eine der häufigsten Ausprägungen
von Störungen der sensorischen Integration bei Kindern mit Lern-
störungen oder anderen mäßigen Entwicklungsverzögerungen. Eine
Entwicklungsdyspraxie ist nicht leicht zu erkennen und zu verstehen.
Wir werden uns daher zunächst andere Arten von Kordinationsstö-
rungen ansehen und diese dann mit der Dyspraxie vergleichen.

6.1 Bewegungsarten und Bewegungsstörungen

Lassen Sie uns als Erstes die fünf Aspekte von Bewegung betrachten
(7 Übersicht 6.1).

Übersicht 6.1. Fünf Aspekte von Bewegung


55 E xakte Steuerung der Bewegung, z.B. beim Aufheben einer
Nadel
55 Haltereaktionen, z.B. von Bauch- in Rückenlage drehen oder
auf einem Fuß balancieren
55 Bewegungsmuster, die im Gehirn vorprogrammiert sind, z.B.
Krabbeln oder Gehen
6.1 • Bewegungsarten und Bewegungsstörungen
123 6

Todds Geschichte: Das Leben mit Entwicklungsdyspraxie


»Ich hasse die Pause!«, schrie Todd Alter wie die Babys in der Nachbar- schien ihm weder zu helfen, wenn
bei seiner Heimkehr aus der Schule, schaft, sich zu drehen, zu krabbeln man es ihm vormachte, noch wenn
während er die Haustür hinter sich und zu gehen. Nach seinem 1. Ge- man ihm Anleitung gab. Todds Un-
zuschlug. »Immer werde ich als burtstag fiel jedoch auf, dass seine geschicklichkeit bei den Alltagsak-
Letzter in eine Mannschaft gewählt, Sprache sich langsamer entwickelte, tivitäten und seine Schwierigkeiten,
und die anderen Jungen sind alle so und er zeigte wenig Interesse, neue bei den Spielen seiner Klassenka-
gemein zu mir.« Freunde zu finden Spielzeuge auszuprobieren und zu meraden miteinbezogen zu werden,
und zu behalten war immer schwie- benutzen. Bei Aktivitäten wie Bilder beides zeigte nun negative Auswir-
rig für Todd, und jetzt, am Ende der ausmalen, Papier schneiden, Fahr- kungen auf sein Selbstbewusstsein
2. Klasse, waren die Jungen noch zeuge benutzen und Ball werfen und seine soziale Stellung unter
weniger bereit, ihn mitspielen zu oder fangen fiel der Kindergärtnerin den Gleichaltrigen.
lassen. seine schwache Feinmotorik auf.
Im 1. Lebensjahr entwickelte Todd Etwas Neues zu erlernen war Todd
sich normal. Er begann im selben immer schwergefallen, und es

55 S pezifische motorische Fertigkeiten, z.B. einen Knoten binden


oder Buchstaben schreiben
55 Bewegungsplanung

6.1.1 Exakte Bewegungssteuerung

Wenn die Neuronen, die die motorischen Signale vom Gehirn zu den
Muskeln weiterleiten, nicht gut funktionieren, erhalten die Muskeln
keinen kontinuierlichen Zustrom von Befehlen und werden sich fah-
rig und unkontrolliert zusammenziehen. Diese choreoathetoiden
Bewegungen treten als Folge von mangelnder Hemmung in den mo-
torischen Nervenbahnen auf.

Beispiel
Unwillkürliche choreoathetoide Bewegungen sind vergleichbar mit
dem Rauschen im Radio, wenn eine Frequenz nicht gut eingestellt ist
– ein zusätzliches Geräusch, das nicht da sein sollte.

Sehr leichte, unwillkürliche, fahrig-zittrige Bewegungen sieht man


bei Kindern mit verschiedenen leichten Entwicklungsverzögerungen,
vor allem dann, wenn das Kind versucht, eine gezielte Bewegung zu
machen, z.B. einen Stift in ein kleines Loch zu stecken. Die Fahrigkeit
führt dazu, dass das Kind noch in einem Alter beim Essen patzt, in
dem die meisten Gleichaltrigen schon sauber essen können. Später
wird das Kind durch die Fahrigkeit entmutigt, zu zeichnen und mit
kleinen Dingen zu spielen. Soweit wir wissen, beeinträchtigt diese
Fahrigkeit die geistigen Fähigkeiten nicht. Aber selbst unauffällige
choreoathetoide Bewegungen haben Auswirkungen auf die Hand-
124 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie

schrift und die sportlichen Leistungen. Diese unwillkürlichen, zittri-


gen Bewegungen sind keine Folge einer sensorischen Integrations-
störung und erfordern einen anderen Behandlungsansatz.

Tipp

Wenn Ihnen als Eltern unwillkürliche, fahrig-zittrige Bewegungen


bei ihrem Kind auffallen, sollten Sie sich einen Termin bei einem
Kinderneurologen (Neuropädiater) geben lassen.

6.1.2 Haltereaktionen
6
Ein sehr wichtiger Aspekt der Koordination ist die Fähigkeit, die Kör-
perposition zu verändern und sich fortzubewegen, ohne das Gleich-
gewicht zu verlieren. Wir müssen auch den Rumpf bewegen und das
Gewicht verlagern, damit die Arme sich frei bewegen können. In den
ersten Wochen nach der Geburt helfen Haltereaktionen dem Säug-
ling, seinen Kopf zu heben, sich zu drehen und auf Hände und Knie
zu kommen. Diese frühen Haltereaktionen legen den Grundstein für
die Gleichgewichtsreaktionen, die sich später entwickeln.
Alle diese Bewegungen hängen von der Integration der motori-
schen Signale und sensorischen Informationen von den Muskeln, Ge-
lenken, dem Gleichgewichtssystem und in geringerem Ausmaß von
der Haut ab.
>> Haltereaktionen sind halbautomatische Reflexe oder Re-
aktionen, über die man nicht nachdenken muss. Sie funktio-
nieren sogar besser, wenn man nicht darüber nachdenkt.

Da Haltereaktionen stark von der sensorischen Verarbeitung abhän-


gen, sind sie bei Kindern mit sensorischen Integrationsstörungen oft
mangelhaft. Auf Störungen der Haltungskontrolle wird in  7  Kapitel 5
genauer eingegangen.

6.1.3 Zentral programmierte Bewegungen

Haben Sie sich jemals gefragt, wie Spinnen ihre 8  Beine so schnell
und gut koordiniert bewegen können? Sie müssen diese Bewegungen
nicht planen, sondern lediglich den Teil ihres Nervensystems »ein-
schalten«, der darauf programmiert ist, das richtige Bewegungsmus-
ter auszuführen.
Auch wir Menschen haben Bewegungsmuster, die in unserem
Zentralnervensystem einprogrammiert sind, wie z.B. Krabbeln und
Gehen. Normalerweise krabbeln Eltern nicht auf dem Boden herum,
um ihrem Kind beizubringen, wie man krabbelt. Die Kinder wissen
von selbst, wie es geht, und werden es tun, sobald ihr Nervensystem
6.1 • Bewegungsarten und Bewegungsstörungen
125 6
soweit gereift ist – vorausgesetzt, sie entwickeln sich normal. Obwohl
Kinder also ein angeborenes Bewegungswissen haben, wie man krab-
belt, müssen sie ihre Bewegungen doch ein wenig planen, wenn sie
das Bewegungsmuster neu lernen.
Das Gehen ist ebenfalls zentral programmiert, das Sprechen hin-
gegen erfordert Bewegungsplanung, es sei denn, das Kind spricht sehr
gut, oder das Gespräch ist sehr einfach. Ein Kind mit guter Praxie (Fä-
higkeit zur Bewegungsplanung) kann zugleich gehen und sprechen.

Beispiel
Die meisten Menschen schaffen es nicht, einen ihnen unbekannten,
komplizierten Knoten zu binden und dabei über etwas anderes zu
sprechen, weil beide Tätigkeiten Bewegungsplanung erfordern, und
das Gehirn nicht gleichzeitig zwei verschiedene Bewegungsplanungs-
prozesse abwickeln kann.

Bei einem Kind, das mit 6 Monaten gut sitzen kann, aber später keine
motorischen Fertigkeiten erlernt, kann man davon ausgehen, dass sei-
ne Haltereaktionen und seine zentrale Programmierung in Ordnung
sind, aber Schwächen in der Bewegungsplanung vorliegen.

Beispiel
Wenn ein Kind zu lernen beginnt, wie es sich auf einen Stuhl setzen
kann, muss es zuerst planen: zu dem Stuhl hingehen, sich umdrehen
und dann den Körper genau richtig auf der Sitzfläche platzieren. Spä-
ter kann es sich auf seine Erinnerung an die Bewegungsbefehle verlas-
sen und muss nicht mehr über jeden Bewegungsschritt nachdenken.

Die meisten Kinder mit Entwicklungsdyspraxie haben keine Schwie-


rigkeiten mit zentral programmierten Bewegungen, weil diese keine
komplexe sensorische Integration erfordern. Probleme, zentral pro-
grammierte Bewegungen auszuführen, sieht man eher bei Kindern
mit Zerebralparese oder anderen schweren Schädigungen in den mo-
torischen Hirnarealen.

6.1.4 Motorische Fertigkeiten

Wir alle haben eine »Bibliothek« (ein Repertoire) von Fertigkeiten, »Eine Fertigkeit ist eine
die wir einsetzen können, wenn wir sie brauchen. Bewegung, die wir anfangs
planen müssen, um sie zu
Definition erlernen. Ist sie einmal erlernt,
Eine Fertigkeit ist eine Bewegung, die wir anfangs planen können wir sie spontan
müssen, um sie zu erlernen. Ist sie einmal erlernt, können wir sie ausführen.«
spontan ausführen.

Wenn ein Kind lernt, seine Schuhe zu binden, muss es sich auf seine
Finger und die Schnürsenkel konzentrieren; diese bewusste Aufmerk-
samkeit macht das Tun zu einer geplanten Bewegung. Nachdem es
126 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie

das Knotenbinden mehrmals erfolgreich geplant und ausgeführt hat,


wird die Erinnerung in seinem Gehirn gespeichert, und die Tätigkeit
wird eine Fertigkeit. Sind Fertigkeiten einmal erlernt, erfordern sie
keine Bewegungsplanung oder bewusste Aufmerksamkeit mehr. Sie
sind in die automatisierten Funktionen des Gehirns integriert, daher
tauchen sie spontan auf (. Abb. 6.1).

Beispiel
Beim Klavierspielen müssen Anfänger ihre volle Konzentration darauf
verwenden, die richtigen Tasten zu finden, während ein geübter Kla-
vierspieler sein Gehirn einfach arbeiten lässt. Sein Gehirn organisiert
die Kontraktionen der Fingermuskeln so automatisch, dass er nicht
einmal die Tasten ansehen oder darüber nachdenken muss, was er
6 eigentlich spielt. Sind die Neurone jahrelang auf das Klavierspielen
ausgerichtet, dann kann diese Fertigkeit so automatisch werden wie
das Gehen.
. Abb. 6.1  Um neue Dinge wie das
Anziehen zu lernen, müssen wir sie so-
lange bewusst planen, bis sie automa-
Fertigkeiten erfordern keine Bewegungsplanung, solange sie unter
tisierte Fertigkeiten werden und keine bekannten Umständen ausgeführt werden. Verändert sich auch nur
Bewegungsplanung mehr erfordern ein kleiner Umstand, müssen wir uns wieder mehr konzentrieren und
unsere Bewegungen kognitiv planen.

Beispiele
44 D ie Pedale des Klaviers sind anders, oder man spielt auf einer
Orgel anstatt wie sonst auf einem Klavier.
44 Wir als Erwachsene haben die Fertigkeit, ein Kleidungsstück zu-
zuknöpfen, völlig automatisiert. Wenn aber die Knöpfe sehr groß
oder ungewöhnlich geformt sind, müssen wir die Bewegung
bewusst planen.
44 Bei den meisten von uns reicht die Fertigkeit, Auto zu fahren nicht
dafür, einen LKW zu fahren. Wir müssten alle unsere Bewegungs-
abläufe wieder neu planen, bis wir mit der Größe des Lastwagens
und der Lage der Pedale vertraut wären.

Da Bewegungsplanung der erste Schritt ist, um motorische Fertig-


keiten zu erlernen, hat das Kind mit Dyspraxie ein eingeschränktes
Repertoire an motorischen Fertigkeiten. Es muss jede Aufgabe immer
wieder neu planen. Es kann sich bestimmte Splitterfertigkeiten an-
trainieren, aber es gewinnt dadurch nicht generell die Fähigkeit, seine
Tätigkeiten zu organisieren (7  Abschn.  4.3.4, »Splitterfertigkeiten«).
Hat das dyspraktische Kind eine Fertigkeit einmal erlernt, kann es sie
unter gewohnten Bedingungen normalerweise gut ausführen.

6.1.5 Bewegungsplanung

Haltereaktionen, zentral programmierte Bewegungen und erlernte


motorische Fertigkeiten müssen wir nicht willentlich ausführen, und
6.1 • Bewegungsarten und Bewegungsstörungen
127 6
sie erfordern auch nicht unsere bewusste Aufmerksamkeit; es genügt,
das Ziel im Kopf zu haben. Geplante Bewegungen hingegen erfordern
Aufmerksamkeit. Nur wenn wir aufmerksam sind, kann das Gehirn
Bewegungsbefehle sowie die Abfolge, in der sie an die Muskeln ge-
schickt werden, planen.

Beispiele
44 W enn ein Baby eine Rassel aufheben, den Löffel in den Mund ste-
cken oder durch eine Tür krabbeln will, muss es diese Bewegun-
gen planen – so lange, bis sie automatisiert und zu motorischen
Fertigkeiten geworden sind. Dann erfordern sie keine Planung
mehr.
44 Kinder im Vorschulalter müssen ihre Bewegungen planen, wenn
sie sich anziehen, Buchstaben schreiben und in ganzen Sätzen
sprechen. Jedes Mal, wenn sie lernen, ein neues Werkzeug einzu-
setzen – auch einen Stift oder ein Messer – müssen sie ihre Bewe-
gungen planen.
44 Erwachsene müssen auf ihre Bewegungsplanung zurückgreifen,
wenn einen neuen Knoten binden lernen, einen neuen Tanz-
schritt lernen oder beruflich eine neue Aufgabe übernehmen.

In gewisser Hinsicht ist Bewegungsplanung die höchste und komple- »In gewisser Hinsicht ist
xeste Leistung, die Kinder erbringen. Bewegungsplanung die höchste
Da Bewegungsplanung bewusste Aufmerksamkeit erfordert, und komplexeste Leistung, die
ist sie eng mit geistigen und intellektuellen Funktionen verbunden. Kinder erbringen.«
Außerdem hängt sie stark von komplexen sensorisch-integrativen
Funktionen im Hirnstamm und in den Großhirnhälften ab. Das Ge-
hirn gibt den Muskeln die Bewegungsbefehle, und die Sinnesempfin-
dungen des Körpers geben dem Gehirn die nötigen Informationen
für diese Befehle.
>> Bewegungsplanung ist die »Brücke« zwischen den senso-
motorischen und den intellektuellen Hirnfunktionen.

Beobachten Sie ein Kind, das zum ersten Mal »Himmel und Hölle«
hüpft oder auf einen Baum klettert, den es noch nicht kennt. Es kon-
zentriert sich auf jede Bewegung und kann sich nicht gleichzeitig auf
etwas anderes konzentrieren. Wenn es abgelenkt wird, muss es mit
dem Klettern pausieren, weil es seine Aufmerksamkeit nicht auf zwei
verschiedene Dingen gleichzeitig richten kann. Wenn sein Gehirn gut
organisiert ist, muss es diese Bewegungen aber nur wenige Male kon-
zentriert planen, um sie zu beherrschen. Kinder lernen schnell und
können ihre Sprünge bald koordinieren und ohne viel Nachdenken
auf den Baum klettern. Dann müssen sie sich nicht mehr auf ihre Be-
wegungen konzentrieren, sondern können mit Freunden sprechen,
während sie hüpfen oder klettern.
Schlechte Bewegungsplanung sei anhand der nachfolgenden Bei-
spiele verdeutlicht.
128 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie

Beispiele
44 I ch forderte ein Mädchen auf, sich auf eine Bank zu legen. Sie
legte ihre Schultern auf die Bank und fragte mich dann: »Was soll
ich jetzt mit meinen Beinen machen?« Ihr Problem war, dass die
Sinnesinformationen von ihren Beinen ihr nicht »sagten«, was sie
mit ihnen tun sollte.
44 Eine junge Frau, die ich aufforderte, sich auf einen Tisch zu legen,
kletterte über einen Stuhl auf den Tisch. Sie stellte sich zuerst auf
den Tisch, und dann erst konnte sie sich hinlegen. Zu Hause konn-
te sie sich in ihr Bett legen, ohne sich zuerst hinzustellen. Aber sie
konnte diesen Bewegungsablauf nicht auf den Tisch übertragen.
Das Sich-ins-Bett-Legen war eine Splitterfertigkeit, die ihr nicht
half, dieselbe Bewegung unter veränderten Bedingungen auszu-
6 führen.
44 Ein anderes Mal sprach ich gerade mit einem Kind, während ein
Junge direkt neben uns mit einem Papprohr, das er mit beiden
Händen festhielt, auf einen hängenden Ball schlug. Er hatte ge-
rade erst gelernt, beide Hände gemeinsam einzusetzen. Er war
ziemlich ungehalten und sagte: »Seid still! Ich arbeite hier!« Er
musste sich so stark auf das Planen der Bewegungen seiner Hän-
de konzentrieren, dass er die Geräusche (unser Gespräch) nicht
tolerieren konnte. Natürlich haben wir seine Bitte ernst genom-
men.

6.2 Körperschema und Bewegungsplanung

Sowohl die Bewegungsplanung als auch automatisierte Fertigkeiten


beruhen auf der Wahrnehmung unseres Körpers – wie er aufgebaut
ist, und wie seine Teile mechanisch zusammenarbeiten. Die Sinnes-
informationen des Körpers müssen zu einem klaren »Bild« über den
Körper zusammengefügt werden. Das Gehirn bezieht seine Informa-
tionen aus diesem inneren sensorischen Bild, um den Körper exakt
zu bewegen. Das sensorische Bild ist im Nervensystem gespeichert.
Es wird auch als neuronales Modell des Körpers bezeichnet. Ver-
wandte Begriffe sind Körperbild, Körperschema oder Körperwahr-
nehmung. [Anmerkung der Übersetzerin: Im deutschsprachigen
Raum passt der Begriff »Körperschema« am besten, deshalb werden
wir ihn hier verwenden.] Damit Sie die Entwicklungsdyspraxie ver-
stehen können, müssen wir uns zunächst ansehen, wie sich unser
Körperschema entwickelt, und wie es für die Bewegungsplanung ein-
gesetzt wird.
6.2 • Körperschema und Bewegungsplanung
129 6
6.2.1 Das Gedächtnis der Nervenzellen

In 7 Kapitel 3 haben wir bereits darüber gesprochen, wie sensorische


Erfahrungen in Gruppen von neuronalen Verbindungen gespeichert
werden. Jedes Mal, wenn ein Signal durch eine Synapse geleitet wird,
verändern sich Struktur und Chemie dieser Synapse, so dass dieselbe
Botschaft in Zukunft leichter passieren kann. Mit anderen Worten:
Wird eine Synapse wiederholt für eine bestimmte sensomotorische
Funktion genutzt, entsteht eine neuronale Erinnerung an diese Funk-
tion.
Ein Neugeborenes hat noch sehr wenige Erinnerungen in seinen »Wenn das Gehirn Bewegungen
Synapsen gespeichert. Aber seine Erfahrungen in der Auseinander- plant, greift es auf das
setzung mit der Welt »füllen« seine Synapsen zunehmend mit senso- Körperschema zurück, so wie wir
motorischen Informationen. Alles, was wir wissen, ist in unserem zu Landkarten greifen, wenn wir
Gehirn in Form von neuronalen Erinnerungen gespeichert: alle Wör- eine Reise planen.«
ter, alle Vorstellungen, jedes Gesicht, das wir kennen, jede Zahlen-
kombination, die wir verwenden, und jede motorische Fertigkeit. Das
Körperschema ist zusammengesetzt aus Erinnerungen an jeden Kör-
perteil und alle Bewegungen, die ein Körperteil jemals ausgeführt hat.
Unser Körperschema besteht aus »Landkarten« von allen Kör-
perteilen, ähnlich einem Weltatlas. Wenn ein Kind sich bewegt und
in Aktion ist, speichert es unzählige sensorische Informationen, ähn-
lich wie die Seefahrer ihre neu entdeckten Länder in der Weltkarte
abbildeten. Je variantenreicher das Kind sich bewegt, desto genauer
werden seine »Körperlandkarten«. Wenn das Gehirn Bewegungen
plant, greift es auf das Körperschema zurück, so wie wir zu Landkar-
ten greifen, wenn wir eine Reise planen. Je genauer die »Landkarten«
sind, desto besser können wir neue, ungewohnte Körperbewegungen
planen und steuern.
Unser Körperschema beinhaltet neuronale Erinnerungen von
allen Teilen des Körpers: über Größe, Gewicht, Grenzen, Lage im
Verhältnis zu anderen Körperteilen und alle Bewegungen, die jemals
ausgeführt wurden. Es schließt auch Erinnerungen an die Umwelt-
bedingungen mit ein: Informationen über die Schwerkraft, die Härte
oder Biegsamkeit von Dingen usw. Aufgrund dieser Informationen
weiß das Gehirn,
55 wie schnell und wie stark sich die Muskeln für eine bestimmte
Tätigkeit kontrahieren müssen,
55 was man mit einem Werkzeug tut oder nicht tut, und
55 ob wir fallen werden, wenn wir uns auf eine bestimmte Art be-
wegen.

Beispiel
Lassen Sie uns das Körperschema mit einem »Autoschema« verglei-
chen. Wenn wir eine Zeit lang ein bestimmtes Auto gefahren sind, ent-
wickeln wir ein gutes »Gefühl« zu dem Auto: zu dessen Größe, wie stark
wir lenken müssen, um eine Kurve zu nehmen, und wie fest wir auf
die Pedale treten müssen. Dieses Wissen gewinnen wir aus unseren Er-
130 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie

fahrungen – dem Sehen und Fühlen, wie das Auto in verschiedensten


Situationen reagiert. Ein guter Fahrer erinnert sich so automatisch an
diese Informationen, dass er nie darüber nachdenken muss. Ein unge-
naues oder falsches »Autoschema« dagegen würde dazu führen, dass
man Unfälle baut. Ähnlich hat das dyspraktische Kind ein hohes Unfall-
risiko, weil sein Körperschema ungenau ist.

6.2.2 Wie der Berührungssinn zu Körperschema und


Bewegungsplanung beiträgt

>> Bei den meisten Kindern mit Entwicklungsdyspraxie ist die


6 taktile Verarbeitung auffällig.

Der Berührungssinn der Kinder ist jedoch nicht betäubt wie nach
einer Spritze beim Zahnarzt. Manchmal ist er sogar besonders emp-
findlich, so dass den betroffenen Kindern normale Berührungen un-
angenehm sind. Diese Art der Störung wird in 7 Kapitel 7 beschrieben.
Am häufigsten drückt sich eine Störung des Berührungssinns
darin aus, dass die Betroffenen nicht genau spüren, wo sie berührt
werden (ungenaue Lokalisation von Berührungsreizen), und dass sie
dem, was sie spüren, keine Bedeutung geben können. Mit anderen
Worten: Die Kinder haben Schwierigkeiten, Dinge, die sie entweder
selbst berühren und ertasten, oder von denen sie berührt werden, zu
erkennen und zu unterscheiden (diskriminieren). Sie spüren, dass
sie berührt werden, aber sie spüren nicht die Stelle, ob z.B. auf dem
Mittel- oder dem Ringfinger. Sie fühlen etwas in ihrer Hand, aber sie
können nicht sagen, ob es eine Münze oder ein Knopf ist.
Warum ist bei sensorischen Integrationsstörungen die taktile
Unterscheidungsfähigkeit (Diskrimination) häufig so schwach ausge-
prägt? Berührungsempfindungen kommen von überall auf der Haut
zum Gehirn und verteilen sich in fast alle Hirnbereiche. Störungen in
diesen Hirnbereichen wirken sich wiederum auf die taktile Verarbei-
tung aus, so dass das Problem bei jedem Kind eine andere Ursache
haben kann.

Wie funktioniert die taktile Diskrimination?


Elektrische Impulse werden von der Haut über das Rückenmark in
den Hirnstamm und in die Großhirnhemisphären geleitet. Auf jeder
Ebene formt sich ein sensorisches Bild, und jede Ebene sendet die
Information an andere Ebenen. Je höher die Ebene, desto genauer ist
die Diskrimination. Irrelevante Informationen werden zunehmend
ausgefiltert, so dass das »Signal« immer klarer wahrgenommen wird.
6.2 • Körperschema und Bewegungsplanung
131 6
Beispiel
Der Prozess ist ähnlich, als würden wir am Radio die Frequenz des Sen-
ders genauer einstellen, um das Rauschen zu reduzieren und einen
klaren Ton zu bekommen.

Nur ein kleiner Teil der taktilen Reize, die unser Gehirn registriert, er-
reicht den Kortex und wird uns bewusst. Normalerweise nehmen wir
die Berührungen nicht bewusst wahr, außer, wenn wir unsere Auf-
merksamkeit auf einen bestimmten Körperteil richten, oder wenn der
Reiz stark genug ist, um uns aufmerksam zu machen. Währenddessen
wird unser taktiles System ununterbrochen von zahllosen anderen
taktilen Reizen aktiviert: vom Druck und von der Bewegung der Luft
und Kleidung oder Möbel, mit denen wir in Berührung kommen.
Die Tatsache, dass wir von den meisten taktilen Reizen gar nichts
wissen, bedeutet nicht, dass sie nicht wichtig sind. Der kontinuierli-
che Zustrom von taktilen Empfindungen ist ungeheuer wichtig, damit
das Gehirn in einem organisierten Zustand bleibt. Wenn dem Gehirn
taktile Reize entzogen werden, wird es sehr schnell desorganisiert.
Wie wir in 7 Kapitel 4 beschrieben haben, war das Gehirn von jungen
Affen, die ohne mütterliche Berührung aufgezogen wurden, und von
Kindern, die in Heimen aufgewachsen waren, äußerst desorganisiert.
Dasselbe Ergebnis zeigte sich bei gesunden Erwachsenen, die eine ge-
wisse Zeit in einer Isolationskammer verbrachten.

Unspezifische und spezifische taktile Reize


Bei der Untersuchung des taktilen Systems stellten Neurowissen-
schaftler fest, dass es viel unspezifischen taktilen Input gibt; er liefert
dem Gehirn keine Informationen, an welcher Körperstelle Berührung
stattfindet, und erfordert auch keine Reaktion. Stattdessen hilft er,
die erregenden und hemmenden Kräfte im Nervensystem im Gleich-
gewicht zu halten. Er »nährt« das Gehirn und hilft ihm, gut zu funk-
tionieren.
Andererseits sind bestimmte taktile Empfindungen, besonders »Schreiben ist ein gutes Beispiel
die der Hände, Finger und des Mundes, sehr spezifisch. Sie gehen für eine Aktivität, bei der
zur höchsten Ebene des Gehirns, dem sensorischen Rindenfeld, das spezifische Tastempfindungen
einen eigenen Abschnitt für jeden Körperteil hat. Dort wird ein sehr eine wichtige Rolle spielen.«
detailliertes Bild von den Empfindungen geformt, so dass wir sehr
exakt reagieren können.
Schreiben ist ein gutes Beispiel für eine Aktivität, bei der spezi-
fische Tastempfindungen eine wichtige Rolle spielen (. Abb. 6.2). Die
Sinneseindrücke der Körperstellen, an denen Stift und Finger sich
berühren, werden vom Gehirn genutzt, um sehr genaue Befehle an
die Fingermuskeln zu senden, die den Stift halten und bewegen. Jede
Tastinformation muss genau die richtige Stelle in der sensorischen
Rinde erreichen, und das Gehirn muss seine Befehle sehr schnell an
genau die richtigen Muskeln schicken. Wenn der Arm oder die Hand
»eingeschlafen« sind, sind die Empfindungen von Haut und Muskeln
so undeutlich, dass das Schreiben sehr erschwert wird. Wenn die ein-
132 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie

. Abb. 6.2  Man denkt gar nicht daran, wie stark wir unseren Berührungssinn
einsetzen, wenn wir unsere Hände geschickt einsetzen, etwa beim Zeichnen und
Schreiben

gehenden Informationen vage sind, sind auch die ausgehenden Be-


fehle vage.

Beispiel
Stellen Sie sich vor, Sie würden mit einem Fausthandschuh schreiben.
Sie würden zwar grob spüren, dass Sie einen Stift halten und den Tisch
berühren, aber die Empfindungen wären diffus und unklar.

So erleben Kinder mit Dyspraxie ihre Welt. Ihre taktilen Informatio-


nen sind vage, und im Ergebnis ist das Körperschema ebenfalls vage.
Die Vorschläge in . Abb. 6.3 können hilfreich sein, um sich in die
Lage eines dyspraktischen Kindes zu versetzen.
6.2 • Körperschema und Bewegungsplanung
133 6

Sensorische Integration verstehen


Diese Vorschläge können Ihnen helfen, einen Eindruck zu bekommen,
wie es ist, mit einem taktilen System zu leben, das keine genauen
Informationen liefert.
• Ziehen Sie Ihre Schuhe aus, setzen Sie sich, und legen Sie Ihre Füße auf einen Stuhl –
so, dass Ihre Zehen nichts berühren. Schließen Sie Ihre Augen und bitten Sie jemanden,
eine Ihrer 3 mittleren Zehen zu berühren. Können Sie sagen, welche Zehe berührt wurde?
Wahrscheinlich nicht so leicht. Es wird Ihnen viel leichter fallen, wenn der Test an Ihren
Fingern gemacht wird. Die meisten Kinder mit Dyspraxie haben bereits Schwierigkeiten,
zu erkennen, welcher Finger berührt wurde.
• Jetzt versuchen Sie, nur die eine Zehe zu bewegen, die berührt wurde. Sie werden es
frustrierend finden, weil das menschliche Gehirn nicht dafür angelegt ist, isolierte
Bewegungen der mittleren Zehen zu steuern. Das Kind mit Dyspraxie erlebt eine ähnliche
Frustration, wenn es versucht, einen einzelnen Finger zu bewegen.
• Versuchen Sie, beim Tischdecken ein Paar dicke Handschuhe zu tragen. Beobachten
Sie sich selbst: Plötzlich müssen Sie darüber nachdenken, wie Sie das Besteck hochheben
können, weil Ihr reduzierter Tastsinn Ihnen nicht hilft, Ihre Hände zu bewegen.
• Überkreuzen Sie Ihre Arme an den Handgelenken so, dass die Handflächen zueinander
schauen. Dann verschränken Sie Ihre Finger und beugen die Ellbogen, damit Sie die Hände
fast unter Ihr Kinn bringen. Lassen Sie nun jemanden auf einen der 6 mittleren Finger
zeigen – aber nicht berühren! Versuchen Sie, genau diesen Finger zu bewegen. Beobachten
Sie, wie Sie denken und sich anstrengen müssen, um den richtigen Finger zu bewegen.
Jetzt soll die Person einen Ihrer Finger berühren. Sie werden feststellen, dass es jetzt viel
einfacher ist, zu wissen, welchen Finger Sie bewegen sollen. Es ist deshalb viel leichter, weil
Sie durch die taktile Information auf das Körperschema von Ihren Händen zurückgreifen
können, um die Bewegung zu planen und auszuführen. Ohne Berührung und mit Blick auf
die ungewohnte Anordnung Ihrer Finger ist das viel schwieriger.

. Abb. 6.3  Sensorische Integration verstehen

6.2.3 Wie der Kraft- und Stellungssinn


(Propriozeption) zu Körperschema und
Bewegungsplanung beiträgt

Auch tiefensensible Informationen von den Muskeln und Gelenken


tragen zu unserem Körperschema bei. Ohne diese Information wüss-
ten wir nicht, wo sich die Teile unseres Körpers befinden, oder wie
sie sich bewegen. Während wir uns bewegen, halten propriozeptive
Informationen unser Körperschema auf dem aktuellen Stand, so dass
das Gehirn die nächste Bewegung richtig planen kann und die rich-
tigen Muskeln sich zur richtigen Zeit anspannen (. Abb. 6.4). Dieser
Sinn wird auch Bewegungssinn genannt, die Fähigkeit zur Wahr-
nehmung Kinästhesie.
134 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie

. Abb. 6.4  Eine gute Bewegungsplanung oder Praxie beruht auf einem klaren
Bewusst-Sein der Körperposition und der Fähigkeit, eine Aktion in Sequenzen
aufzuteilen und diese zeitlich abzustimmen

Beispiel
Stellen Sie sich vor, Sie müssten mit verbundenen Augen eine Tasse
heißen Kaffee trinken. Wie wissen Sie, wo Ihr Mund ist, und wie Sie die
Tasse dorthin bekommen, ohne den Kaffee zu verschütten? Wie wissen
Sie, wie viel Kraft Sie einsetzen müssen, um die Tasse hochzuheben?
Würden Ihnen Ihre Muskeln sagen, dass die Tasse mit Blei gefüllt ist,
dann würden Sie so kraftvoll zugreifen, dass der Kaffee in hohem Bo-
gen durch die Luft schleudern würde.

Sie wissen diese Dinge, weil die Empfindungen Ihrer Muskeln und
Gelenke Ihrem Gehirn sagen, wo Ihr Mund und Ihre Hand sind, wie
schwer die Tasse ist, und wie schnell Sie sich bewegen. Ohne die-
se Information müssten Sie ausprobieren, wie Sie die Tasse von der
Untertasse zum Mund bringen können, und es wäre unsinnig, dafür
heißen Kaffee zu nehmen. Sie würden auch Ihren Mund erst öffnen,
wenn die Tasse an Ihrem Gesicht anstößt, da Sie nicht wüssten, wo die
Tasse sich auf dem Weg zum Mund befindet.

Beispiel
Stellen Sie sich in einem Zimmer gegenüber von einem Lichtschalter
an die Wand. Sehen Sie sich den Schalter an, schließen Sie die Augen,
gehen Sie dann durch das Zimmer zu dem Schalter, und schalten Sie
das Licht an. Dafür müssen Sie propriozeptive und vestibuläre Emp-
6.2 • Körperschema und Bewegungsplanung
135 6
findungen in Ihren Bewegungsplan integrieren, ohne visuelle Infor-
mationen zu Hilfe nehmen zu können. Wahrscheinlich werden Sie den
Schalter nicht ganz genau treffen, aber Sie werden ungefähr wissen,
wie weit Sie gehen müssen, wann Sie Ihre Hand ausstrecken müssen,
in welcher Höhe Sie greifen müssen, und wann Sie langsamer gehen
müssen, um nicht an die Wand zu stoßen.

Propriozeption ist uns normalerweise nicht bewusst, außer wenn wir


darüber nachdenken; wenn sie uns aber nicht zur Verfügung stünde,
wären alle unsere Handlungen schrecklich schwierig. Wie oft haben
Sie eine Schranktür geschlossen ohne hinzusehen? Ihre Bewegungen
wurden von propriozeptiven Signalen und Ihren neuronalen Erinne-
rungen an frühere Erfahrungen gesteuert. Das Leben wäre viel schwe-
rer, wenn wir uns alles ansehen müssten, bevor wir uns bewegen.
Bei vielen Kindern mit Entwicklungsdyspraxie funktioniert der
propriozeptive Sinn schlecht. Ihre propriozeptiven Empfindungen
sind vage und diffus, so dass sie sich mehr auf ihr Sehen verlassen
müssen als andere Kinder. Wenn sie nicht sehen können, sind sie
verloren. Sie wissen kaum, wo ihre Hände und Füße sich befinden.
Sie können nicht wahrnehmen, wie viel Muskelkraft sie einsetzen
müssen, um etwas zu tun. So passiert es oft, dass sie Spielsachen zer-
brechen, über Dinge stolpern und Unfälle haben.

Therapie
Überprüft wird der kinästhetische Sinn bzw. das Nutzen der pro-
priozeptiven Informationen anhand eines Tests.
Auf einem Blatt Papier sind Punkte (»Häuser«) abgebildet. Die
Therapeutin verdeckt die Augen des Kindes mit einem Karton-
schild. Sie führt seinen Finger zum ersten »Haus« und gibt ihm
einige Sekunden Zeit, um die propriozeptive Information über die
Position seines Arms und seiner Hand zu verarbeiten. Dann bringt
sie den Finger wieder an den Ausgangspunkt zurück und fordert
das Kind auf, selbst mit dem Finger zum ersten »Haus« zu gehen.
Wenn das Kind die propriozeptiven Informationen nicht gut ver-
arbeitet hat, wird es bei vielen der 10 Versuche nicht sehr nahe an
das »Haus« herankommen. Die Werte des Kindes werden mit der
Leistung von Gleichaltrigen verglichen, und so kann die Thera-
peutin beurteilen, wie gut das Kind propriozeptive Informationen
verarbeitet.
Wenn die Therapeutin die Hand des Kindes bewegt, merkt sie,
ob der Arm sich leicht führen lässt, oder ob er schwer wirkt und
sich nur gegen Widerstand bewegen lässt. Dies ist ein Zeichen,
dass das Kind Schwierigkeiten hat, Empfindungen aus den Mus-
keln und Gelenken zu verarbeiten. In anderen Situationen kann
auffallen, dass das Kind sich schlaff und schwer wie ein Mehlsack
anfühlt. Es kann z.B. Schwerstarbeit sein, ihm zu helfen, auf ein
Gerät oder ein Klettergerüst zu steigen oder einen Hindernispar-
cours zu durchlaufen. Ebenso kann es vorkommen, dass das Kind,
136 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie

das sich mit dem Bauch auf ein Rollbrett legen will, halb neben
dem Brett liegt, ohne dass es das merkt.

6.2.4 Wie der Gleichgewichtssinn zu Körperschema


und Bewegungsplanung beiträgt

»Sinnesempfindungen über die Sinnesempfindungen über die Schwerkraft und die Bewegung im
Schwerkraft und die Bewegung Raum werden mit propriozeptiven und taktilen Informationen ver-
im Raum werden mit propriozep- knüpft, um das Körperschema zu vervollständigen. Durch die ves-
tiven und taktilen Informationen tibulären Informationen bekommt unsere »Landkarte« vom Körper
verknüpft, um das Körperschema Orientierung im Raum.
6 zu vervollständigen.«
Beispiel
Ein Kartograph kann nicht nur die Länder einzeichnen; er muss auch
die Pole einzeichnen, um einen räumlichen Bezugspunkt herzustellen.

Die propriozeptiven und taktilen »Landkarten« wären nutzlos ohne


die »Landkarten« des Gravitationsfeldes, das auf den Körper einwirkt.
Vestibuläre Informationen sind besonders wichtig, damit wir unsere
Körperbewegungen im Raum steuern können.
Die vestibulären Kerne senden Impulse hinunter ins Rücken-
mark, um die Reaktionen auf die propriozeptiven und taktilen Infor-
mationen mit zu regulieren. Wenn das vestibuläre System die anderen
Sinne nicht derartig reguliert, sind sie weniger effizient. Kinder mit
vestibulären Problemen haben normalerweise auch Defizite in der
propriozeptiven und taktilen Verarbeitung. Um ihre Bewegungspla-
nung zu verbessern, brauchen diese Kinder Aktivitäten, die intensive
vestibuläre, taktile und propriozeptive Erfahrungen bieten, auf die sie
anpassend reagieren müssen. Denn über die anpassenden Reaktionen
werden diese Sinnesempfindungen verarbeitet und geordnet.
Vestibuläre Impulse erzeugen auch die Muskelspannung, die
den Muskeln Grundspannung und Reaktionsbereitschaft verleiht.
Die meisten Kinder mit Entwicklungsdyspraxie haben einen nied-
rigen Muskeltonus, was wiederum das Ausmaß an propriozeptiven
Informationen von den Muskeln an das Gehirn reduziert. Dies ist ein
weiterer Grund, warum wir Kindern helfen müssen, ihr vestibuläres
System und ihre Bewegungsplanung zu entwickeln.

6.2.5 Internes Feedback

Das Gehirn sendet Bewegungsbefehle aus, die die Muskeln veran-


lassen, den Körper zu bewegen und in der Umwelt aktiv zu werden.
Das Gehirn bewirkt also Veränderungen in unserer Umgebung, die
wiederum Sinnesinformationen an das Nervensystem liefern. Dies ist
äußere Rückmeldung (externes Feedback). Oft sehen oder hören wir
6.2 • Körperschema und Bewegungsplanung
137 6
die Ergebnisse unseres Handelns; wir sehen, dass wir ein Buch vom
Tisch geschoben haben, und wir hören es zu Boden fallen. Jedes Mal,
wenn wir aktiv einen Bewegungsbefehl aussenden, überwacht das
Gehirn diesen Befehl und nutzt ihn, um die Sinnesinformationen zu
interpretieren, die sich aus der Bewegung ergeben. Innere Rückmel-
dung (internes Feedback) zeichnet den Bewegungsbefehl im Gehirn
auf, noch bevor er ausgeführt wird (.  Abb.  6.5). Diese Vorabinfor-
mation ist für die Entwicklung der Bewegungsplanung sehr wichtig,
denn externe Rückmeldung kommt zu spät im Gehirn an, um den
Bewegungsplan noch zu ändern.

Therapie
Wenn der Körper passiv bewegt wird, sendet das Gehirn keine
Bewegungsbefehle, so dass es auch keine interne Rückmeldung
gibt. Daher wird in der Therapie von Kindern mit Dyspraxie be-
sonders darauf geachtet, dass sie ihre Bewegungen selbst steu-
ern. Je mehr sie sich aktiv bewegen, desto mehr interne Rückmel-
dung bekommt ihr Gehirn. Aktive, selbst gesteuerte Bewegung ist
der Schlüssel zur Verbesserung der Bewegungsplanung.
. Abb. 6.5  Internes Feedback findet
im Gehirn bereits vor der Aktion statt;
es spielt eine entscheidende Rolle für
das Erlernen der Fähigkeit, Bewe-
6.2.6 Tun ohne zu denken gungsabläufe zu planen

Viele Menschen müssen nicht darüber nachdenken, was sie tun, um


es gut zu tun. Sie legen ihre Gedanken und bewussten Anstrengungen
beiseite und lassen ihr Gehirn automatisch arbeiten (. Abb. 6.6).

Beispiele
44 E ine Kellnerin balanciert Teller und Besteck auf einer Hand ohne
darüber nachzudenken.
44 Als Anfänger versucht man beim Tanzen, über die Schritte nach-
zudenken; aber gut ausführen kann man sie nur, wenn man auf-
hört, sie mit dem Verstand kontrollieren zu wollen.
44 Die Finger einer Näherin bewegen sich wie von allein.

>> Bewegungen kommen automatisch, einfach weil die Auf-


gabe da ist. Dieser Prozess wird als »Im-Fluss-Sein« (Flow)
bezeichnet.

Denken ist nützlich, um zu entscheiden, was man tun soll – aber nicht
sehr nützlich, wenn es darum geht, es tatsächlich zu tun. Anatomie
und Physiologie unserer Muskeln sind viel zu komplex, und die Dinge
geschehen viel zu schnell. Die Informationen in unserem Körper-
schema sind sensorisch und nicht kognitiv. Daher sind sie unserem
bewussten Verstand nicht immer zugänglich. Ein gut funktionieren-
des Gehirn benötigt kein bewusstes Denken, um Sinnesinformatio-
nen zu verarbeiten, in das Körperschema zu integrieren und für die
138 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie

Bewegungsplanung zu nutzen. Denken wirkt sich sogar oft negativ


auf die spontane Verarbeitung von Sinnesinformationen und Bewe-
gungsbefehlen aus.
>> Die automatische Leichtigkeit und Grazie der Bewegung
kann nur auftreten, wenn die sensorische Integration gut
funktioniert.

Ein Mensch kann über viele motorische Fertigkeiten verfügen, und


trotzdem ist seine sensorische Verarbeitung nicht »im Fluss«. Bei dys-
praktischen Kindern ist nichts »im Fluss«. Ihr Körperschema ist so
lückenhaft, dass sie ihre Hände und Füße oft in die falsche Richtung
bewegen und ganz durcheinanderkommen. Sie strengen sich an so
gut sie können, aber ihre Bemühungen sind ohne Erfolg. Eltern und
6 Lehrer sehen, dass sie sich schwer tun, und versuchen, mit Anwei-
sungen und Erklärungen zu helfen. Leider kann ein kognitiver An-
satz nicht die sensorisch-integrativen Probleme dieser Kinder lösen.
Wörter können das Gehirn nicht organisieren.
. Abb. 6.6  Ein gut organisiertes
Gehirn nutzt Sinnesinformationen, um Tipp
ohne viel Nachdenken Aktionen zu
planen. Dies zeigt sich in automatisier- Anstatt das Kind anzuweisen, seinen linken Fuß zu bewegen,
ter Leichtigkeit und einer harmoni- oder ihm zu erklären, was der Fuß tun soll, ist es oft besser, den
schen Bewegung (Mit freundlicher
Fuß einfach zu berühren, ohne ein Wort zu sagen. Sinnesemp-
Genehmigung von Kerstin Kindler)
findungen können dem Kind besser als Worte sagen, wie es sich
bewegen soll.

6.3 Was ist eine Entwicklungsdyspraxie?

Definition
Eine Entwicklungsdyspraxie ist eine Funktionsstörung des Ge-
hirns, die die Verarbeitung von taktilen und manchmal vestibulä-
ren und propriozeptiven Sinnesinformationen behindert und die
Fähigkeit zur Bewegungsplanung beeinträchtigt. Das Wort »ent-
wicklungsbedingt« sagt aus, dass die Störung früh im Leben
beginnt und die Entwicklung beeinflusst.

Wir können eine schlechte sensorische Integration nicht direkt sehen,


aber wir können schlecht koordinierte Bewegungen sehen. Deshalb
könnte man die Dyspraxie für ein Motorikproblem halten, so wie
andere Arten von sensorisch-integrativen Störungen oft für schuli-
sche Lernprobleme gehalten werden. Die Störung selbst kann man
nicht sehen, sichtbar ist nur die körperliche Manifestation. Wenn man
diesen Kindern helfen will, muss man sich immer vor Augen führen,
dass ihr Grundproblem darin besteht, wie ihr Gehirn Sinnesempfin-
dungen verarbeitet.
6.3 • Was ist eine Entwicklungsdyspraxie?
139 6
6.3.1 Kennzeichen der Entwicklungsdyspraxie

Dyspraktische Kinder haben eine schlechte Bewegungsplanung, und


deshalb planen sie jede Bewegung viel zu viel. Wenn sie ein Bewe-
gungsspiel oder einen Sport lernen, müssen sie die Bewegungen im-
mer wieder neu planen, weil sie nicht automatisiert werden. Diese
Kinder wollen lernen und strengen sich sehr an, aber ihr Körpersche-
ma sagt ihnen nicht, wie sie lernen sollen.
Wenn normal entwickelte Kinder auf Dinge stoßen, mit denen sie »Dyspraktische Kinder sind sich
experimentieren und etwas tun können, wissen die meisten sofort, ihres Körpers und dessen, was
was sie tun können. In ein Fass klettern sie hinein und rollen damit er tun kann, wenig bewusst. Sie
herum; auf ein Klettergerüst steigen sie hinauf; aus Bauklötzen bauen erkennen die Gelegenheiten für
sie einen Turm. Manchmal tun sie nicht das, wofür der Hersteller das Spaß nicht.«
Spielzeug konzipiert hat, aber die Kinder kennen ihr eigenes Nerven-
system und wissen, was ihnen Spaß macht.
Dyspraktische Kinder sind sich ihres Körpers und dessen, was er
tun kann, wenig bewusst. Sie erkennen die Gelegenheiten für Spaß
nicht. Sie könnten auch in das Fass steigen, aber dann fällt ihnen nicht
ein, damit zu rollen. Oder sie halten das Fass für einen Abfalleimer
und beachten ihn nicht weiter. Statt mit Dingen zu experimentieren
und sich Spaß zu verschaffen, schieben sie sie lediglich herum oder
stellen sie in Reihen auf. Fässer, Dreiräder, Klettergerüste und andere
große Spielgeräte haben wenig Bedeutung für sie, weil ihr Körper-
schema so schwach entwickelt ist.
Intelligente Kinder mit Dyspraxie beobachten, wie andere Kinder
mit Dingen spielen. Aber selbst wenn sie verstehen, was die anderen
Kinder tun, kann es sein, dass sie nicht planen können, was sie selbst
mit diesem Spielzeug anfangen könnten. In ihrem Drang, mit dem
Objekt etwas zu tun, passiert es oft, dass sie zu fest zupacken und
Dinge kaputt machen. Durch ihre Ungeschicklichkeit sind sie zudem
unfallgefährdet und unordentlich. Manchmal machen sie Spielsachen
auch absichtlich kaputt, um mit ihrer Frustration fertig zu werden.
Diese Kinder haben ein schwaches Selbstbewusstsein.
Ein Kind mit einem schwachen Körperschema hat Schwierigkei-
ten, sich anzuziehen und Verschlüsse zuzumachen. Wie soll es auch
die Kleidungsstücke an seinen Körper anpassen können, wenn es
nicht einmal weiß, wie sein Körper aufgebaut ist? Schnürsenkel zu
binden ist besonders schwierig.
Auch für den Werkzeuggebrauch ist ein genaues, klares Körper-
schema eine wichtige Voraussetzung. Ein Werkzeug ist eigentlich eine
Fortsetzung des Körpers. Stifte sind die gebräuchlichsten Werkzeuge,
und es ist eine häufige Beschwerde von Lehrern, dass Kinder Schwie-
rigkeiten haben, schreiben zu lernen. Gelegentlich beschweren sie
sich auch, dass die Kinder so unordentlich sind, und dass sie lernen
müssen, ordentlicher zu sein. Aber ein Kind kann nicht »lernen«,
ordentlich zu sein, solange es nicht einmal die Sinnesempfindungen
von seinem Körper ordnen kann.
140 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie

Für Eltern ist es oft irreführend, dass ihr Kind sich nicht schwer
getan hat, sitzen und gehen zu lernen. Sie erinnern sich, dass es im
selben Alter wie andere Kinder sitzen und gehen konnte, und jetzt
ohne Probleme zu einem Stuhl gehen und sich hinsetzen kann; also
erwarten sie, dass es sich auch wie jedes andere Kind anzieht und
seine Schuhe bindet.
>> Sitzen und Gehen sind im Nervensystem »vorinstalliert«
und entwickeln sich normalerweise in bestimmten Entwick-
lungsphasen. Aktivitäten wie sich anziehen oder Schuhe
binden sind hingegen erlernte Leistungen, und um sie zu
beherrschen, muss das Kind seine Bewegungen planen.

Manche Eltern können nur schwer verstehen, dass Bewegungspla-


6 nung oder Praxie etwas anderes ist als die Entwicklung motorischer
Leistungen, die bereits vorprogrammiert oder »vorinstalliert« sind.
. Abb. 6.7  Ein kluges Kind mit Sie neigen dazu, zu denken: »Wenn er wirklich will und sich genug
Dyspraxie übt eine Aufgabe – wie z.B. anstrengt, dann kann er es.« Sie scheinen nicht zu bemerken, wie sehr
eine Jacke zuknöpfen – so lange, bis ihr Kind sich schon anstrengt.
sein Gehirn diesen speziellen Bewe-
Auch Splitterfertigkeiten können irreführend für Eltern sein.
gungsbefehl erzeugen kann
Ein kluges Kind mit Dyspraxie übt eine Aufgabe – wie z.B. eine Jacke
zuknöpfen (.  Abb. 6.7) – so lange, bis sein Gehirn diesen speziellen
Bewegungsbefehl erzeugen kann. Doch die generelle Fähigkeit, Be-
wegungen zu planen, hat sich damit nicht verbessert, und so werden
ihm alle anderen Aufgaben weiterhin Schwierigkeiten bereiten. Es ist
nützlich, gewisse Splitterfertigkeiten zu haben, aber sie helfen dem
Gehirn nicht, das Gelernte auf andere Aufgaben zu übertragen.

Beispiel
Ein Kind bemerkte einmal: »Ich kann nicht zur gleichen Zeit tun und
denken; ich muss zuerst denken, dann kann ich es tun.«

Es braucht unheimlich viel Energie, wenn man jede unbekannte


Bewegung durchdenken muss. Wenn dem Kind die spontane Pla-
nungsfähigkeit fehlt, die auf guter sensorischer Integration beruht,
muss es ungeheure geistige Leistungen erbringen, um mit den An-
forderungen zurechtzukommen. Manchen dyspraktischen Kindern
erscheint es einfach nicht lohnend, all ihre Energie aufzuwenden, um
Dinge zu tun, die allen anderen so leicht fallen.

6.3.2 Auswirkungen von Dyspraxie auf


Schulleistungen

Die Tatsache, dass das Gehirn in einem Bereich nicht gut funktio-
niert, legt nahe, dass es auch Schwächen in anderen Bereichen haben
wird. Viele, aber nicht alle Kinder mit Dyspraxie haben Lernproble-
me. Man kann auch mit einer Dyspraxie gut lernen, aber es ist viel
6.4 • Wie fühlt sich ein Kind mit Dyspraxie?
141 6

. Abb. 6.8  Ein Kind mit wenig organisierten taktilen, propriozeptiven und räum-
lichen Informationen kann sich ungeschickt und verwirrt fühlen

schwieriger. Intelligenz hilft, die Störungen zu kompensieren, aber


dies bringt nicht unbedingt ein besseres Selbstwertgefühl mit sich.
Beim frühen schulischen Lernen muss eine Menge an Sinnesin-
formationen – besonders von den Augen und Ohren, aber auch von
den Gleichgewichts-, taktilen und propriozeptiven Rezeptoren – ver-
arbeitet und geordnet werden. Wie wir in  7  Kapitel  8 sehen werden,
ist die visuelle Wahrnehmung zum Teil von Körper- und Schwerkraft-
empfindungen abhängig. Wenn diese sensorischen Systeme nicht gut
funktionieren, wirkt sich das negativ auf die visuelle Wahrnehmung
und das Lesen aus.
Ein schlecht organisiertes Körperschema wirkt sich auf das
Schreiben, Ausmalen und Zeichnen aus. Es bewirkt aber auch, dass
das Kind tollpatschig ist (.  Abb.  6.8) und auf dem Spielplatz nicht
zurechtkommt. Es kann passieren, dass es ausgelacht wird und andere
Kinder nicht mit ihm spielen wollen. Dies führt zu Gefühlen von Un-
fähigkeit und Machtlosigkeit, die das Kind in die Schule mitbringt.

6.4 Wie fühlt sich ein Kind mit Dyspraxie?

Schwierigkeiten in der Bewegungsplanung sind nicht der einzige


sichtbare Ausdruck einer Dyspraxie. Dyspraktische Kinder haben in
vielen Lebenssituationen Schwierigkeiten (. Abb. 6.9).
>> Ein Gehirn, das die Reize aus dem eigenen Körper nicht
verarbeiten kann, kann normalerweise auch die zahlreichen
Sinneseindrücke von der Umwelt – wo viele Menschen oder
Dinge sind – nicht verarbeiten.
142 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie

Die Kinder können die Empfindungen nicht modulieren und werden


leicht mit Reizen »überflutet«. Ihr Nervensystem kommt oft nicht
mit dem Stress zurecht, den andere leicht tolerieren können. Außer-
dem sind die Reaktionen so mangelhaft, dass sie viele Dinge zweimal
machen müssen – und dann das Chaos ordnen müssen, das sie beim
ersten Versuch angerichtet haben.
Das Körperschema der Kinder ist so schlecht, dass sie sich nicht
als körperliches Wesen spüren. Sie haben einen echten Identitätsman-
gel. Aus dieser Unsicherheit, überhaupt zu wissen, wer oder was sie
sind, kann es sein, dass diese Kinder sich davor fürchten, symbolische
Spiele (»tun, als ob«) oder Rollenspiele zu spielen.

Beispiel
6 Ich wollte einem dyspraktischen Mädchen ein Kompliment machen
und sagte, dass sie wie eine Prinzessin aussehe. Sie beklagte sich: »Ich
. Abb. 6.9  Dyspraktische Kinder
bin keine Prinzessin! Ich bin Pamela!«
haben in vielen Lebenssituationen
Schwierigkeiten
Diese schwach ausgeprägte körperliche Identität führt auch zu einem
sehr unsicheren Gefühlsleben. Die Kinder sind in ihrem eigenen
Körper gefesselt. Die Störung im Nervensystem verhindert Persön-
lichkeitsentwicklung, und ihr Verhalten erscheint wenig liebenswert;
und doch brauchen gerade diese Kinder besonders viel Liebe und
Verständnis.
Die meisten von uns, die effizient mit der dinglichen Umwelt
umgehen können, bemerken nicht, wie furchtbar bedrohlich Bewe-
gungsanforderungen für ein Kind sein können, das sie nicht erfüllen
kann oder sehr darum kämpfen muss (. Abb. 6.10). Es ist für das dys-
praktische Kind sehr frustrierend, sich den Endzustand zwar vorstel-
len zu können, aber nicht, was man tun muss, um dahin zu kommen.

Beispiel
Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen vollen Teller vor sich stehen, aber
Ihre beiden Hände sind komplett eingegipst.

Das Kind mit Dyspraxie steckt fest. Nicht nur seine Beziehung zu sich
. Abb. 6.10  Bewegungsanforderun- selbst ist beeinträchtigt, es kann auch keine normalen Beziehungen
gen können für ein Kind, das sie nicht
erfüllen kann, sehr bedrohlich sein
zu seiner Umwelt herstellen. Es hat sehr wenig Kontrolle über sein
Leben und fühlt sich oft kraftlos und unfähig. Manche dyspraktischen
Kinder versuchen zu kompensieren, indem sie andere Kinder oder
Situationen kontrollieren und manipulieren. Manchmal versuchen sie
auch, die Integrität ihres Selbst zu erhalten, indem sie stur und unko-
operativ sind.
Kinder mit Dyspraxie glauben oft, dass jemand anders oder die
dingliche Umwelt dafür verantwortlich ist, dass sie so wenig Kontrolle
über die Dinge haben.
6.4 • Wie fühlt sich ein Kind mit Dyspraxie?
143 6
Beispiel
Die Kinder drücken das so aus: »Die Wand hat mich gestoßen!«, oder
»Du machst meinen Stuhl wackelig!«

Für die Kinder liegt die Ursache für ihre Fehler immer außerhalb,
bei jemand oder etwas anderem. Der Bleistift ist falsch, das Papier
ist falsch. Außerdem sind manche Kinder auch schwerkraftunsicher;
also ist sogar die Erde gegen sie.
Erwachsene stürzen sich oft auf diese frustrierten, unsicheren,
chaotischen Kinder, normalerweise mit guten Absichten. Sie stim-
men ihre Forderungen jedoch auf die Intelligenz und nicht auf die
Bewegungsplanungsfähigkeiten der Kinder ab. Wenn sie sehen, dass
die Kinder einige Splitterfertigkeiten oder vorprogrammierten Bewe-
gungen beherrschen, fordern sie mehr. Sie erwarten, dass die Kinder
mit mehr Druck und Durcheinander zurechtkommen als ihr Nerven-
system verarbeiten kann, und ignorieren ihre zerbrechliche Persön-
lichkeit.
Kinder mit Dyspraxie haben nicht das neurologische Rüstzeug,
um eine Bedrohung ihres Selbst abzuwehren. Schon das geringste
Problem, z.B. ein abgebrochener Bleistift, kann zu dramatischen Re-
aktionen führen. Bringen sie erst einmal den Mut auf, eine Aufgabe
anzugehen, und stoßen dann auf Schwierigkeiten, kann es sein, dass
sie diese Aufgabe nie wieder probieren. Die Unsicherheit der Kinder
nimmt zu, wenn sie bemerken, dass andere Kinder Aufgaben schaf-
fen, an denen sie selbst scheitern. So ist es nicht sehr verwunderlich,
dass dyspraktische Kinder oft negativ, widerwillig und manipulativ
werden.
Dyspraktische Kinder sind oft emotional labil – jetzt noch glück-
lich, im nächsten Augenblick außer sich. Manche Kinder mit Dy-
spraxie versuchen, ein Baby zu bleiben und reagieren babyhaft auf
Anforderungen. Sie haben nicht das neurologische Rüstzeug, um al-
tersgemäß zu handeln. Diese Kinder brauchen oft untypisch lange
elterliche Unterstützung und Fürsorge. Sie brauchen Erwachsene, die
die Welt mit ihren Augen sehen können.

Therapie
Der beste Ansatz für den Umgang mit dyspraktischen Kindern ist
oft, sie vor äußerem Druck oder Versagen zu schützen. Lassen Sie
das Kind seinem inneren Antrieb folgen, solange dieser auf ir-
gendeine Weise konstruktiv ist. Geben Sie Ihrem Kind Zeit, sich in
seinem eigenen Tempo zu entwickeln; es kann sich ohnehin nicht
in einem anderen Tempo entwickeln. Vermeiden Sie Anforderun-
gen, die es als bedrohlich erlebt. Seien Sie verständnisvoll und
bieten Sie ihm Schutz und Herausforderungen auf seinem Niveau.
Aber vor allem, suchen Sie die Hilfe einer Therapeutin, die in Sen-
sorischer Integrationstherapie ausgebildet ist, so dass Sie Ihrem
Kind mit den geeigneten Maßnahmen helfen können.
144 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie

. Abb. 6.11  Entwicklung der Bewegungsplanung

.  Abb. 6.11 gibt eine Übersicht über Tätigkeiten, die Bewegungspla-


nung erfordern.
Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Prof. Sharon A. Cermak zu den Themen dieses Ka-
pitels finden Sie in Anhang A.
145 7

Taktile Abwehr
Der Berührungssinn, und warum manche Kinder empfindlicher
sind als andere

7.1 Die Symptome – 146


7.2 Wie das Kind Berührungen erlebt – 149
7.3 Was geht im Nervensystem vor? – 150
7.4 Was ist falsch gelaufen? – 154

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
146 Kapitel 7 • Taktile Abwehr

In diesem Kapitel konzentrieren wir uns auf eine Störung, die mit
einer Überempfindlichkeit auf Berührungsreize einhergeht. Wir be-
obachten diese negativen Reaktionen von Kindern mit sensorischen
Integrationsstörungen zwar oft bei Berührungsreizen, aber sie treten
auch bei Gerüchen, Geschmäckern, Geräuschen, Licht oder anderen
visuellen Reizen und Bewegung oder Positionswechsel auf. Atypische
Unter- oder Überempfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen wird auch
sensorische Modulationsstörung genannt. Im Folgenden wollen wir
eine Art der sensorischen Modulationsstörung, die taktile Abwehr, be-
schreiben. Die Schwerkraftunsicherheit, die wir in 7 Kapitel 5 bespro-
chen haben, wird im Allgemeinen auch als sensorische Modulations-
störung betrachtet. Manche Kinder sind unter- oder überempfindlich
gegenüber mehreren Sinnesmodalitäten, während andere nur auf eine
Sinnesmodalität überreagieren. Wenn das Gehirn den sensorischen
Input aus einem oder mehreren Sinnessystemen nicht hemmen kann,
stören diese Empfindungen das Kind und verursachen unangepasste
7 Verhaltensweisen. Essen, Parfüm, Reinigungsmittel und andere Che-
mikalien riechen unerträglich intensiv. Die Sirene eines Feuerwehr-
autos, Musik oder andere Kinder sind unerträglich laut. Man muss
genau beobachten, wann das Kind auf diese Empfindungen und nicht
auf etwas anderes, das gleichzeitig geschieht, reagiert.
Taktile Abwehr ist eine subtile, jedoch ernste neuronale Störung.
Man trifft sie häufig bei Kindern mit Lernstörungen, Entwicklungs-
verzögerungen und ernsteren Behinderungen. Kinder mit taktiler
Abwehr sind meist unruhig und ablenkbar. Dies stört Eltern und
Lehrer oft am meisten. Umgekehrt aber haben nicht alle hyperaktiven
und ablenkbaren Kinder eine Störung der taktilen Verarbeitung.
>> Die neuronale Störung, die zur taktilen Abwehr führt, be-
einträchtigt nicht unbedingt das Lernvermögen, aber das
permanente Unbehagen und die untypischen Verhaltens-
weisen können sich auf das Lernen auswirken.

Sehr oft sind diese Kinder emotional unsicher. Offensichtlich lässt die
Modulationsstörung im taktilen System auch die Emotionen leich-
ter überschießen. Taktil abwehrendes Verhalten ist eine Reaktion des
Kindes auf Berührungsempfindungen, aber die emotionalen Über-
reaktionen deuten auf weitreichendere Störungen in seinem Nerven-
system hin.

7.1 Die Symptome

Definition
Unter taktiler Abwehr verstehen wir die Tendenz, auf Berührungsrei-
ze negativ und emotional zu reagieren.
7.1 • Die Symptome
147 7

Nickys Geschichte: Das Leben mit taktiler Abwehr


Nickys Mutter war mit ihrer Geduld glücklich, wenn sie getragen und Rüschensocken tragen, verweigerte
am Ende. Zwar hatte sie immer ge- gewiegt wurde, aber selbst diese dann aber in letzter Minute, dieses
wusst, dass Muttersein kein Honig- Beruhigung war oft nur von kurzer anzuziehen. Manchmal wehrte
lecken war, doch sie hatte nicht Dauer. Von klein auf reagierte sie sie sich dagegen, überhaupt an-
damit gerechnet, dass einfache ungewöhnlich negativ, wenn sie gezogen zu werden. Ihr die Haare
Dinge wie das Anziehen am Morgen gebadet oder auf bestimmte Art zu waschen, zu bürsten oder zu
oder das Bad vor dem Zubettgehen und Weise berührt oder gehalten schneiden war ein Alptraum. Alle
so anstrengend werden würden. wurde. Auch Kleidung, Decken, be- anderen – die Kindergärtnerin, die
Nicky war ein entzückendes stimmte Spielzeuge, Beschaffenheit, Nachbarin, Mütter von anderen
4-jähriges Mädchen, das intelligent Geschmack und Geruch bestimmter Kindergartenkindern, Verwandte
und gesprächig für ihr Alter war. Nahrungsmittel und laute oder und selbst Nickys Vater – meinten,
Ihre bisherige Entwicklung war ungewöhnliche Geräusche lehnte dass die Mutter Nicky »zu sehr
unauffällig, abgesehen davon, dass sie ab. Nickys Mutter gewöhnte verwöhne« und »viel zu viel nach-
sie ein äußerst aktiver Säugling war. sich an, ihre täglichen Aktivitäten gebe«. Sie war unglücklich, dass so
Ihre Mutter hatte sich darauf ein- so zu strukturieren, dass sie nicht viele einfache Dinge das Leben für
gestellt, eine harmonische Zeit mit in Situationen kam, die ihr kleines ihre Tochter so qualvoll machten.
ihrem ersten Kind zu verbringen. Mädchen aufregten. Als Nickys Mutter den Begriff »tak-
Allerdings wurden diese Vorstellun- Als Nicky in den Kindergarten tile Abwehr« hörte, weinte sie vor
gen rasch zerstört, da Nicky ständig kam, war es jeden Tag ein Kampf, Erleichterung, dass das Problem,
schrie und keinen Schlafrhythmus mit ihr aus dem Haus zu kommen. das ihre Tochter so eindeutig hatte,
entwickelte. Nicky schien nur Sie wollte ihr neues Kleid oder ihre einen Namen hatte.

Diese Reaktionen treten nur unter bestimmten Bedingungen auf. Die


meisten von uns reagieren negativ auf widerwärtige Berührungsrei-
ze. Denken Sie an ein Insekt, das Ihnen über den Arm kriecht, oder
an eine überraschende Berührung durch eine Hand. Taktile Empfin-
dungen verursachen Störungen in unserem Nervensystem und lösen
negative/s Emotionen und Verhalten aus.
>> Hemmung ist der neuronale Prozess, bei dem bestimmte
Teile des Nervensystems andere Teile daran hindern, über-
trieben auf sensorischen Input zu reagieren.

Taktile Empfindungen von Kleidung, die den Körper berührt, und »Kinder mit taktiler
Empfindungen von der Haut selbst strömen ununterbrochen auf Abwehr … fühlen sich »unwohl
unser Nervensystem ein. Bei den meisten von uns werden diese Reize in ihrer Haut«, was Unruhe und
unterdrückt und das Nervensystem gehindert, darauf zu reagieren. einen stetigen Bewegungsdrang
Bei Kindern mit taktiler Abwehr ist diese hemmende Aktivität nicht auslöst.«
stark genug. So nimmt es diese und viele andere Empfindungen wahr,
wodurch es sich – im wahrsten Sinn des Wortes – »unwohl in seiner
Haut« fühlt, was Unruhe und einen stetigen Bewegungsdrang auslöst.
Es ist sehr schwierig, in der Schule aufzupassen, wenn Haut und Klei-
dung sich so unangenehm anfühlen, dass man ständig zappeln muss,
um gegen dieses Unbehagen anzukämpfen.
Manche taktil abwehrenden Kinder tragen auch bei warmen Tem-
peraturen lieber lange Ärmel, um ihre Arme bedeckt zu halten. Sie
vermeiden auch, Klebstoff oder Fingerfarbe auf ihre Hände zu be-
kommen oder barfuß im Gras oder Sand zu gehen (.  Abb. 7.1). Sie
148 Kapitel 7 • Taktile Abwehr

werden nicht gern gebadet und spielen auch nicht gern im Wasser,
weil sie angespritzt werden könnten. Wasserspritzer würden ihr Ner-
vensystem überstimulieren. Auch bestimmte Stoffe wie Wolle, man-
che Kunstfasern oder grob gewebte Stoffe können sie als unerträglich
empfinden.
Wenn sie sich besonders sicher und vertraut fühlen, können sie
zärtliche Berührungen tolerieren und sogar genießen. Zu anderen
Zeiten wehren sie sogar die Berührung ihrer Mutter ab. Taktil abweh-
rende Kinder sind in einem ziemlichen Dilemma: Einerseits brauchen
sie mehr Berührung als andere Kinder, andererseits können sie diese
aber nicht modulieren und nutzen, um ihr Nervensystem in einem
ausgeglichenen Zustand zu halten.

Tipp

Eltern von taktil abwehrenden Kindern müssen besonders auf-


7 merksam und verständnisvoll sein. Liebe, Geduld und Verständnis
. Abb. 7.1  Sehr berührungsemp- reichen nicht aus, um die Probleme ihres Kindes zu beseitigen,
findliche Kinder lehnen bestimmte
aber sie helfen. Eine spezifische Therapie hilft noch mehr.
Kleidungsstücke oder Materialien wie
z.B. Klebstoff oder Sand ab
Die Probleme dieser Kinder werden dadurch verschärft, dass sich ihre
Reaktionen auf Berührungen auch auf ihre sozialen Beziehungen
auswirken. Verwandte und Freunde können es persönlich nehmen,
wenn sie sich gegen Umarmungen und Küsse wehren; sie halten das
für ein Zeichen von Ablehnung, auch wenn das Verhalten nicht gegen
sie persönlich gerichtet ist. Die liebevolle Tante, die ihre Zuneigung
zeigen will, indem sie dem Kind durch die Haare streicht, kann das
taktile System des Kindes in Aufruhr versetzen. Selbst ein freund-
licher Arm um die Schultern kann unangenehm sein. Die meisten
taktil abwehrenden Kinder erleben Kitzeln als äußerst unangenehm.
Sie lachen zwar, doch nicht aus Spaß, und am liebsten würden sie
losschlagen.
Diese Kinder haben Schwierigkeiten, mit anderen Kindern zu
spielen, weil diese nicht mitbekommen, wann es genug ist. Spiele wie
Fangen können qualvoll für berührungsüberempfindliche Kinder
sein. Sie reagieren nicht nur auf tatsächliche Berührung, sondern sind
immer in angstvoller Erwartung, dass jemand sie berühren könnte.
Von hinten oder unerwartet berührt zu werden macht die Berüh-
rungserfahrung besonders bedrohlich. Daher provoziert es geradezu
Abwehrreaktionen, wenn man ein taktil abwehrendes Kind in einer
Reihe anstehen lässt. Lehrer interpretieren diese Reaktion meist als
»Verhaltensproblem« oder schlechtes Benehmen, denn sie können
nicht wissen, dass das Kind einen physischen Grund hat, sich so zu
verhalten.
Manche Kinder mit taktiler Abwehr lehnen bestimmte Spielsa-
chen ab, wie kuschelige Stofftiere, die Kinder normalerweise gerne
mögen; aber andere Kinder suchen intensive taktile Reize.
7.2 • Wie das Kind Berührungen erlebt
149 7
Taktile Reize, die sich gut anfühlen, haben eine organisierende
Wirkung auf das Nervensystem und helfen, negative Reaktionen zu
reduzieren. Manche Kinder mit taktiler Abwehr brauchen daher ihre
Kuscheldecke oder ihren Lieblingsteddy und sind während des Fern-
sehens gern in eine Decke eingerollt oder liegen auf einem dicken
Teppich.
!! Versuchen Sie nicht, ein Kind mit taktiler Abwehr dazu zu
bringen, seine negativen Reaktionen zu unterdrücken, in-
dem Sie ihm sagen, dass es sich so nicht benehmen kann.
Das eigentliche Problem zu verleugnen bringt es nicht zum
Verschwinden. Es führt nur dazu, dass das Kind sich schul-
dig fühlt. Das Unbehagen dieser Kinder ist real, und sie
können ihre Reaktionen nicht verhindern.

7.2 Wie das Kind Berührungen erlebt . Abb. 7.2  Kinder, die nur sehr weni-
ge verschiedene Dinge essen, können
Beispiel überempfindlich auf die Beschaffen-
Stellen Sie sich vor, Sie liegen an einem sonnigen Strand. Ihre Augen heit der Nahrung (breiig, klumpig, zäh,
knusprig etc.) reagieren
sind geschlossen, und Sie fühlen, wie die warme Sonne auf Ihre Beine
scheint. Plötzlich streicht jemand mit einem Stab schnell, aber leicht »Kindern mit taktiler Abwehr ist
Ihre Fußsohle auf und ab. Obwohl Ihr Nervensystem eigentlich in einem meist gar nicht bewusst, was sie
entspannten Zustand ist, wird Sie dieser Berührungsreiz wahrschein- genau fühlen, außer dass jemand
lich ärgerlich auffahren lassen, auch wenn er nicht schmerzhaft ist. sie in eine unangenehme und
irritierende Situation bringt.«
Wahrscheinlich würden Sie weniger stark reagieren, wenn die Person
Sie langsam und mit festem Druck berührt hätte. Der Grund ist, dass
schnelle, leichte Berührungsempfindungen das Nervensystem akti-
vieren, aber langsame, feste Tiefdruckempfindungen nicht erregend,
sondern eher beruhigend wirken. Es sind nicht immer intensive Rei-
ze, die negative Reaktionen auslösen (. Abb. 7.2). Dies gilt besonders
für Kinder mit taktiler Abwehr.
>> Kinder mit dieser neuronalen Störung erleben Berührungs-
reize tatsächlich anders als andere Menschen. Was sich für
andere Kinder wunderbar anfühlt, ist für diese Kinder unan-
genehm.

Manche Kinder berichten, dass es sich wie ein Nadelstich, ein Elekt-
roschock oder ein Insektenbiss anfühlt, wenn sie mit einem Stift be-
rührt werden. Viele Berührungen werden als Kitzeln wahrgenom-
men, und obwohl dies ein reflektorisches Kichern auslöst, ist es nicht
angenehm. Noch häufiger ist den Kindern aber gar nicht bewusst,
was sie genau fühlen, außer dass jemand sie in eine unangenehme
und irritierende Situation bringt. Die Störung liegt normalerweise im
Hirnstamm oder in den Großhirnhälften, wo taktile Informationen
unbewusst verarbeitet werden. Deshalb bemerkt das Kind gar nicht,
dass es auf Berührungsreize reagiert. Kinder mit guter Selbstkont-
150 Kapitel 7 • Taktile Abwehr

Sensorische Integration verstehen

• Stellen Sie sich vor, Sie gehen durch eine dunkle Gassee
und meinen zu hören, dass Ihnen jemand folgt. Aber Sie sehen
niemanden. Wie würden Sie sich fühlen, wenn genau dann etwas leicht über Ihren Hals
oder Arm streift? Könnten Sie leicht erkennen, ob es sich um eine Person oder um einen
Busch handelt? Würden Sie eher schnell und abwehrend oder ruhig und besonnen
reagieren?
• Denken Sie daran, wie Sie sich fühlen, wenn viele Mückenstiche Sie plagen, oder
wenn Sie einen kratzigen Pullover oder nasse Socken anhaben, die Sie nicht wechseln
können. Wären Sie unter diesen Bedingungen in Bestform, so dass Sie einem Fachvortrag
zuhören, sich auf ein wichtiges Projekt konzentrieren oder geduldig auf die Fragen eines
7 Kleinkindes antworten könnten?

. Abb. 7.3  Sensorische Integration verstehen

rolle finden oft gesellschaftlich akzeptable Entschuldigungen für ihr


Vermeidungsverhalten. Wenn ihr Gehirn taktilen Empfindungen ent-
kommen muss, sagen sie z.B.: »Ich will einen Schluck Wasser«, oder
»Ich muss auf die Toilette«, oder »Meine Mutter will nicht, dass ich
das tue.« Dabei fühlen sie sich jedoch schlecht, was sie zu Verhaltens-
weisen veranlasst, durch die sich wiederum andere schlecht fühlen.
.  Abb.  7.3 gibt Anregung, sich vorzustellen, wie man selbst bei
unvorhergesehener Berührung oder bei Unwohlsein »in der eigenen
Haut« reagieren würde.

7.3 Was geht im Nervensystem vor?

Für Kinder mit taktiler Abwehr wirken einfache Berührungen auf den
Armen wie eine elementare Bedrohung, gerade so, als ob sie einem
wilden Tier gegenüberstünden. Die natürliche Reaktion auf eine sol-
che Bedrohung ist eine Überlebensreaktion, wie Kampf, Flucht oder
Erstarren.
Die meisten Tiere nehmen Umweltgefahren mit dem Berüh-
rungs-, Geruchs- und Hörsinn wahr. Die Gehirnentwicklung war im-
mer auf das Überleben ausgerichtet. Zu diesem Zweck bildeten sich
bestimmte neuronale Reaktionen aus, die ausgelöst werden, wenn
Sinnesinformationen auf eine Gefahr hinweisen. Diese Reaktionen
aktivieren das ganze Nervensystem zu höchster Wachsamkeit und
versetzen die Muskeln in Bereitschaft zu kämpfen oder zu flüchten.
7.3 • Was geht im Nervensystem vor?
151 7
Diese grundlegenden neuronalen Muster haben sich über Millionen
von Jahren entwickelt, und sie haben sich in den mehreren Tausend
Jahren unserer Zivilisation nicht verändert. Daher reagiert auch der
heutige Mensch auf Gefahr automatisch mit Kampf oder Flucht.
Allerdings bildeten sich im Laufe der Entwicklung des mensch-
lichen Gehirns Mechanismen aus, die die Kampf- oder Fluchtreaktion
hemmen können. An deren Stelle können neue Verarbeitungsprozes-
se stattfinden, über die wir Form und Beschaffenheit von Dingen, die
die Haut berühren, wahrnehmen. Teile des Gehirns hemmen diese
Schutzreaktion und ermöglichen uns, ruhig zu bleiben und uns dar-
auf zu konzentrieren, den Berührungsreiz zu interpretieren.
>> Es ist sinnvoll, zwei Arten von Reaktionen auf taktile Reize
zu unterscheiden:
55 Schutz- oder Abwehrreaktionen, die das Lebewesen vor Ge-
fahren schützen, und
55 diskriminative Reaktionen, die dem Unterscheiden und Er-
kennen des Reizes dienen.

Schutzreaktionen sind einfache automatische Reaktionen, diskrimi-


native Prozesse beinhalten komplexe Verfeinerungen in den Groß-
hirnhälften. Man verwendet automatisch die Reaktion, die man im
Moment braucht.

Beispiel
Berührt man einen heißen Ofen, oder sticht ein Insekt zu, domi-
niert die Abwehrreaktion. Muss man aber den Unterschied zwischen
einem Euro und einem 10-Cent-Stück in der Geldbörse oder zwischen
Baumwolle und Wolle erkennen, verlässt man sich auf diskriminative
Prozesse.

Die Art der Berührung, die wir auf der Haut spüren, bestimmt, ob die
Reaktion abwehrend oder diskriminativ sein wird. Schmerz aktiviert
das Schutzsystem, tiefe Druckempfindungen wirken eher modulie-
rend und hemmend. Wenn Sie sich das Schienbein anschlagen, drü-
cken Sie auf die Stelle und reiben sie, um den Schmerz zu verringern.
Durch das Reiben entstehen taktile Reize, die den Fluss von Schmerz-
impulsen hemmen oder blockieren. Druckempfindungen wirken aus-
gleichend auf überschießende Aktivität des Schutzsystems. Wir krat-
zen einen Mückenstich, weil die tiefen Druckreize das taktile System
daran hindern, Juckreizempfindungen weiterzuleiten. Der Juckreiz
verschwindet, solange wir kratzen, tritt aber wieder auf, wenn wir
damit aufhören.

Therapie
Die Behandlung der taktilen Abwehr beruht auf demselben Prin-
zip: Fester, tiefer Druck hilft, die quälenden taktilen Prozesse zu
modulieren.
152 Kapitel 7 • Taktile Abwehr

Das Gehirn nutzt andere Sinnesmodalitäten – besonders vestibuläre


und propriozeptive – um sowohl die abwehrende als auch die diskri-
minative Reaktion ausgeglichen zu halten. Außerdem helfen die tak-
tilen Empfindungen aller Körperteile in ihrer Gesamtheit, die Weiter-
leitung der taktilen Impulse auszubalancieren. Werden nicht alle ves-
tibulären, taktilen und propriozeptiven Empfindungen des Körpers
integriert, dann sind die beiden Reaktionsweisen auf Berührungen
auch nicht gut ausgewogen.
>> Bei Kindern mit taktiler Abwehr ist die Schutzaktivität zu
stark und die diskriminative Verarbeitung zu schwach aus-
geprägt.Anstatt herauszufinden, was die Empfindungen
bedeuten, reagieren sie mit Kampf oder Flucht.

Im Gesicht liegen besonders viele Tastrezeptoren, die für das Über-


leben sehr wichtig sind. Tiere schützen deshalb besonders ihr Gesicht.
Auch Kinder mit taktiler Abwehr sind im Gesicht besonders abweh-
7 . Abb. 7.4  Im Mund liegen viele
Sinnesrezeptoren, die uns helfen, rend, speziell im Mundbereich (.  Abb. 7.2, 7.4). Dies wird vor allem
Beschaffenheit, Form, Temperatur
dann zum Problem, wenn das Kind zum Zahnarzt muss. Selbst das
und den Geschmack des Essens zu er-
kennen, damit wir dieses richtig kauen Gesicht zu waschen kann eine Tortur sein – sowohl für die Eltern als
und schlucken können auch für das Kind. Bei Kindern unter 3 Jahren ist ein gewisses Maß an
Abwehr normal, aber wenn sich ein älteres Kind gegen einen Wasch-
lappen in seinem Gesicht wehrt, könnte sein Nervensystem nicht aus-
balanciert sein und abwehrend reagieren.
»Viele Kinder mit taktiler Abwehr Viele Kinder mit taktiler Abwehr ertragen es nicht, wenn ihnen
ertragen es nicht, wenn ihnen die Haare gewaschen oder geschnitten werden. Das taktile System,
die Haare gewaschen oder das Berührungsreize von Kopf und Gesicht verarbeitet, unterscheidet
geschnitten werden.« sich anatomisch von dem, das für den übrigen Körper zuständig ist.
Daher kann der Kopf empfindlicher sein als der Körper. Wenn der
Friseur die Haare und die Kopfhaut des Kindes zart berührt, stimu-
liert er damit das Schutzsystem zu überschießenden Reaktionen. Das
kann das Kind so unruhig machen, dass das Haareschneiden prak-
tisch unmöglich wird. Ihr Mitleid sollte aber dem Kind gelten und
nicht dem Friseur. Das Kind erleidet viel mehr, und seine Probleme
enden nicht, wenn es den Friseurstuhl verlässt.

Tipp

Eltern können das Haarewaschen oder -schneiden erleichtern,


indem sie dem Kind vorher die Kopfhaut fest massieren. Der tiefe
Druck kann eine modulierende Wirkung haben, die für die Dauer
des Haarewaschens oder -schneidens anhält.

Das Gehirn interpretiert es unterschiedlich, wenn man sich selbst


berührt, oder wenn man von einer anderen Person berührt wird
(. Abb. 7.5). Man muss sich nicht schützen, wenn man sich selbst be-
rührt. Wir können nur von anderen gekitzelt werden; selbst können
wir uns nicht kitzeln. Taktil abwehrende Kinder können es genießen,
sich selbst mit einer Feder zu berühren, aber es unerträglich finden,
7.3 • Was geht im Nervensystem vor?
153 7

. Abb. 7.5  Das Gehirn interpretiert eigene Berührungen und Berührungen


anderer Personen auf unterschiedliche Art und Weise

wenn ein anderer das macht. Normalerweise sind ihnen die Berüh-
rungen ihrer Mutter am vertrautesten, und am unangenehmsten er-
leben sie Berührungen von Fremden. Damit die Therapie wirksam
sein kann, muss das Kind der Therapeutin vertrauen können und
zulassen, dass es von ihr berührt wird.

Therapie
In der Behandlung nach sensorisch-integrativem Ansatz wer-
den die Spielgeräte mit verschiedenen Stoffen oder Teppichen
überzogen, so dass die Kinder selbst ihre Berührungsrezeptoren
stimulieren, wenn sie sich auf den Geräten bewegen. Da diese
taktilen Empfindungen von Aktionen des eigenen Körpers stam-
men, kann das Nervensystem sie besser integrieren. Die taktile
Abwehr wirkt sich auch auf den inneren Antrieb der Kinder aus.
Auch wenn oft nicht ersichtlich, haben auch diese Kinder den
inneren Drang, Erfahrungen zu sammeln und sich zu entwickeln.
Lassen wir sie ihrem inneren Antrieb folgen und selbst Aktivitäten
auswählen, dann beschäftigen sie sich normalerweise auf eine
Art, die ihrem Nervensystem gut tut.
Es werden auch verschiedenste andere taktile Reize angebo-
ten, um die abwehrenden Reaktionen zu reduzieren – Bürsten,
Tücher, Schwämme, Lotion, Materialwannen mit rohem Reis, Boh-
nen, Maiskörnern oder Sand u.a. – solange das Kind in der Lage
ist, die Empfindungen zu modulieren und zu integrieren. Vestibu-
läre Reize unterstützen die Modulation von taktilen Reizen. Oft
werden unterschiedliche taktile Aktivitäten in Verbindung mit Be-
wegung und Tiefdruck eingesetzt, da diese Empfindungen in ihrer
Gesamtheit dem Kind helfen, sein Nervensystem zu organisieren.
154 Kapitel 7 • Taktile Abwehr

7.4 Was ist falsch gelaufen?

Wie bei anderen sensorisch-integrativen Funktionsstörungen wissen


wir nicht genau, warum sie entstehen. Wir haben keine Hinweise,
wodurch das Problem verursacht wird, und wann es beginnt. In man-
chen Fällen von taktiler Abwehr scheint Sauerstoffmangel während
der Geburt eine Prädisposition für eine Imbalance des taktilen Sys-
tems zu ergeben. Die Kerne, die die taktilen Impulse verarbeiten, sind
zu dieser Zeit sehr verletzlich
Wir wissen auch, dass bei Deprivation, d.h. einem Mangel an be-
ruhigenden taktilen Erfahrungen, das Abwehrverhalten zunimmt.
Jungtiere, die nicht berührt und gepflegt werden, werden später nicht
die Fähigkeit entwickeln, mit Stress zurechtzukommen. Die Affen,
die Harlow ohne tröstliche Berührungserfahrungen aufgezogen hat,
wurden feindselig und gewalttätig und spielten weder mit Menschen
noch mit ihren Artgenossen (Harlow 1958, 1959). Selbst gesunde Er-
7 wachsene, denen man für einige Stunden sämtliche sensorischen Er-
fahrungen entzogen hatte, waren anschließend einige Zeit übermäßig
erreg- und ablenkbar.
Nur sehr wenige Kinder mit sensorischen Integrationsstörungen
sind in derart deprivierten Verhältnissen aufgewachsen, so dass dies
nicht Ursache für die Störung des taktilen Systems sein kann. Statt-
dessen war ihr Gehirn anscheinend nicht in der Lage, die Berüh-
rungsreize, die sie erfahren haben, zu verarbeiten und zu integrieren.
Sie wurden genauso viel umarmt und gestreichelt wie andere Kinder,
aber diese Erfahrungen haben dem Gehirn nicht geholfen, sich zu
entwickeln.

Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Prof. Dr. L. Diane Parham zu den in diesem Kapitel
besprochenen Themen finden Sie in Anhang A.

In . Abb. 7.6 sind typische Auffälligkeiten bei taktiler Abwehr in einer


Checkliste zusammengefasst.

Anregungen für Eltern

Die folgenden Vorschläge sollen Ihnen Ideen geben, wie Sie


Ihrem Kind, das Zeichen von taktiler Abwehr zeigt, helfen können.
Das Beste, das Sie tun können, ist, Ihrem Kind zu bestätigen, dass
sein Problem real ist, und dass Sie seine Reaktionen respektie-
ren. Wenn Sie die Reaktionen unter emotionaler Störung oder
schlechtem Benehmen einordnen, wird sich die Situation wahr-
scheinlich verschlechtern.
55 Leichte, kitzlige Berührungen sind normalerweise irritierender
als fester und gleichmäßiger Druck. Wahrscheinlich kann Ihr
Kind Berührungen mit der ganzen Handfläche besser ertra-
gen als Berührungen mit den Fingerspitzen.
7.4 • Was ist falsch gelaufen?
155 7

. Abb. 7.6  Checkliste für taktile Abwehr

55 I m Kindergarten oder in der Schule wird Ihr Kind sich wohler


fühlen, wenn es in einer Reihe ganz vorne oder hinten stehen
und im Sitzkreis in der 2. Reihe hinter den anderen Kindern
sitzen kann. Erklären Sie den Pädagoginnen, warum es gerade
auf leichte und zufällige Berührungen von Kindern, die an ihm
vorbeigehen, ärgerlich und mit Wutausbrüchen reagieren kann.
55 Fester, gleichmäßiger Druck »übertönt« die unangenehmen
Berührungsempfindungen. Wir tun dies intuitiv, wenn wir
über eine Körperstelle reiben, die schmerzt. Aktivitäten, die
die Überempfindlichkeit reduzieren können, sind z.B. eine fe-
ste Massage oder ein »Sandwich«, bei dem das Kind zwischen
2 Kissen liegt und gedrückt wird.
55 Beobachten Sie bei Kleidung und Spielzeug, auf welche Stoffe
und Materialien – und ferner, auf welche sozialen Situationen
(z.B. durch ein belebtes Einkaufszentrum gehen) Ihr Kind ne-
gativ reagiert. Versuchen Sie, diese irritierenden Situationen
zu vermeiden, solange die Therapie noch nicht gegriffen hat
(z.B. lassen Sie Ihr Kind den Kleiderstoff tragen, den es bevor-
zugt, und vermeiden Sie belebte Orte).
156 Kapitel 7 • Taktile Abwehr

55 V ersuchen Sie, taktile Erfahrungen beim Spielen, Essen und


Baden schrittweise zu steigern. Normalerweise gelingt dies
leichter, wenn das Kind das Spiel selbst wählt – und nicht,
wenn man von ihm verlangt, sich mit neuen und möglicher-
weise bedrohlichen Reizen zu beschäftigen. Zeigen Sie, dass
es Ihnen Spaß macht! Nutzen Sie Ihre Phantasie, und spielen
Sie Rollenspiele. Zwingen Sie das Kind nicht zum Mitmachen.
55 Regen Sie Ihr Kind zu aktiven taktilen Erfahrungen an, aber
überlassen Sie ihm die Kontrolle. Es kann die taktilen Emp-
findungen besser integrieren, wenn es selbst aktiv ist – und
nicht passiv geführt wird.
55 Aktivitäten mit »schwerer Muskelarbeit« bieten Sinnesreize,
die die taktile Empfindlichkeit beruhigen und organisieren,
z.B. eine Einkaufstasche oder den Wäschekorb tragen, einen
schweren Rucksack tragen, Armdrücken, Tauziehen und Sprin-
7 gen (z.B. auf einem Trampolin, Himmel-Hölle, Schnur). Lassen
Sie Ihr Kind bei schweren Tätigkeiten im Haushalt mithelfen!
Sie können diese Aktivitäten gezielt einsetzen, um Ihr Kind zu
beruhigen und zu organisieren.
55 Die Erklärung, dass Ihr Kind Sie nur manipulieren möchte,
oder dass es Ihnen das Leben absichtlich schwer macht, ist zu
simpel. Glauben Sie ihm, wenn es sagt, dass ihm etwas »weh
tut«. Wahrscheinlich erlebt es dies tatsächlich so. Zudem ist
wichtig, Verwandten und Lehrern zu erklären, dass das Kind
nicht negativ reagiert, um Aufmerksamkeit oder Zuneigung
zu bekommen, sondern dass es nicht ertragen kann, berührt
zu werden.

Ihre Therapeutin kann Ihnen weitere taktile Aktivitäten vorschla-


gen, die spezifisch auf Ihr Kind zugeschnitten sind. Fragen Sie Ihre
Therapeutin nach Ideen, und besprechen Sie die Reaktionen Ihres
Kindes auf verschiedene Erfahrungen. Achten Sie immer auf Zei-
chen von Reizüberflutung und Irritiertheit!
157 8

Störungen der visuellen und


auditiven Wahrnehmung
Seh- und Hörwahrnehmung und deren Beziehungc zu Lernen
und Sprache

8.1 Störungen der visuellen Wahrnehmung – 159


8.1.1 Raum- und Formwahrnehmung – 159
8.1.2 Willkürliche Bewegungen – 160
8.1.3 Anpassung durch Evolution – 161
8.1.4 Zwei Arten von visueller Wahrnehmung – 163

8.2 Störungen der zentralen Hörverarbeitung und der


Sprache – 167
8.2.1 Ebenen der Hörverarbeitung – 169

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
158 Kapitel 8 • Störungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung

»Die Entwicklung der Bis vor einigen Jahrzehnten waren Störungen in der visuellen und
Sinnesverarbeitung ist die auditiven Wahrnehmung (Perzeption) sowie der Sprache die Haupt-
Grundlage für Lesen und bereiche, die bei Menschen mit Lern- und Entwicklungsstörungen
Rechnen.« oder anderen neurologischen Störungen untersucht wurden. Viele
Pädagoginnen sehen darin bis heute die Hauptprobleme von Schü-
lern mit Lernproblemen. Auch visuelle Wahrnehmungstests werden
immer noch eingesetzt, obwohl diese Tests viele Lernprobleme nicht
erkennen oder erklären können. Oft wird mit Kindern mit visuel-
len Wahrnehmungsschwächen mit Papier-und-Bleistift-Aufgaben
und puzzleartigen Tischaktivitäten gearbeitet. Dieser Ansatz erreicht
zwar, dass die Kinder bei manchen visuellen Wahrnehmungsaufga-
ben bessere Leistungen erbringen, die grundlegende Fähigkeit, das
visuelle System für das Lesen zu nutzen, verbessert sich jedoch nicht.
Die Entwicklung der Sinnesverarbeitung ist die Grundlage für das
Lesen und Rechnen (.  Abb. 8.1). Die Lehrpläne der Schulen setzen
diese sensorischen Grundlagen, die die Kinder für abstraktere Leis-
tungen oder zumindest für visuelle Wahrnehmungsaufgaben brau-
chen, oft schon voraus. In den USA sind die Schulen zudem einem
8 hohen gesellschaftlichen Druck ausgesetzt, den Kindern das Lesen
. Abb. 8.1   Die Fähigkeit, eine Seite so zu vermitteln, dass sie es leichter lernen. Die Schulen reagieren
zu überfliegen und Formen, Buch- darauf, indem sie bereits in noch jüngerem Alter anfangen, mit den
staben und Zahlen zu unterscheiden, Kindern lesen zu lernen.
ist eine wichtige Grundlage für höhere
Das Gehirn mag bei einigen Kindern schon in der Kindergarten-
Leistungen wie das Lesen
zeit bereit sein zum Lesen, bei anderen aber ist die Fähigkeit, das
gedruckte Wort visuell zu verarbeiten und in gesprochene Sprache
umzusetzen, noch nicht ausreichend entwickelt. Für diese Kinder be-
deuten lange Tischarbeiten, dass sie um Erfahrungen mit ihren Nah-
sinnen (d.h. vestibulär, propriozeptiv und taktil) gebracht werden, die
sie für ihre Entwicklung brauchen.
Vielen Kindern mit unreifen sensorisch-integrativen Funktionen
würde es gut tun, wenn man mit dem Lesen lernen warten würde, bis
sie bessere Voraussetzungen für die visuell-perzeptiven Leistungen
entwickelt haben. Das würde ihnen helfen, schneller und auf lange
Sicht besser lesen zu lernen. Darüber hinaus würde dieser Ansatz eher
zu einem gesunden Selbstwertgefühl beitragen.
>> Visuelle und auditive Verarbeitungsprozesse sind wichtig,
und die Entwicklung von guten Sprachfertigkeiten ist so-
wohl Lehrplanziel in den Schulen als auch Ziel der Therapie
nach dem SI-Ansatz.

Therapie
Sehen, Hören und Sprache tragen wesentlich zu unseren Sozial-
kompetenzen bei. Warum schenken dann Therapeutinnen, die
in Sensorischer Integrationstherapie ausgebildet sind, diesen
8.1 • Störungen der visuellen Wahrnehmung
159 8

Ashleys Geschichte: Das Leben mit einer visuellen Wahrnehmungsstörung


Ashley war ein sehr kreatives Kin- Schreiben so fest aufdrückte. Ihrer wirkten sich auf Ashleys Schul-
dergartenkind. Sie malte gerne auf Lehrerin war bald klar, dass Ashley leistungen aus. In der folgenden
einer Staffelei und machte groß- einer besonderen Förderung be- ergotherapeutischen Behandlung
flächige, bunte Bilder. Sie mochte durfte, weil sie sich mit dem Lesen wurden viele Bewegungserfah-
rungen und schwere Muskelarbeit
auch Musik und sang und tanzte (sie verwechselte oft die Buchsta-
eingebaut, die die Voraussetzungen
gerne. Mit zunehmendem Alter ben) und Rechnen so abmühte.
für die höheren visuellen Wahrneh-
bekam sie jedoch Schwierigkeiten Ashleys ergotherapeutischer
mungsleistungen schaffen sollten.
mit den schulischen Anforderun- Befund ergab neben visuellen
Im Laufe der Therapie fiel Ashley
gen. Mit 7 Jahren konnte sie noch Wahrnehmungsproblemen auch
»die Schule« zunehmend leichter,
Schwächen im Körperbewusstsein
nicht alle Buchstaben schreiben. Es und sowohl ihre Lehrerin als auch
und in der Verarbeitung von Be-
fiel ihr besonders schwer, von der ihre Eltern lernten Strategien, um
wegungsempfindungen. Alle diese
Tafel abzuschreiben. Sie brach auch sie in der Schule und zu Hause zu
sensomotorischen Komponenten
ständig ihren Stift ab, weil sie beim unterstützen.

Funktionen scheinbar so wenig Aufmerksamkeit? Weil sie diese


Fähigkeiten als Endergebnis der grundlegenderen Prozesse der
Hirnfunktion betrachten.
Bei den meisten Kindern mit sensorisch-integrativen Störun- »Bei den meisten Kindern
gen müssen sich zuerst die vestibulären, propriozeptiven und mit sensorisch-integrativen
taktilen Verarbeitungsfunktionen des Gehirns entwickeln. Thera- Störungen müssen sich zuerst
peutisch wird weniger direkt an den visuellen oder auditiven Pro- die vestibulären, propriozeptiven
zessen gearbeitet als vielmehr an den sensomotorischen Grund- und taktilen Verarbeitungsfunk-
lagen, damit sich diese Prozesse optimal entwickeln können. tionen des Gehirns entwickeln.«

8.1 Störungen der visuellen Wahrnehmung

8.1.1 Raum- und Formwahrnehmung

Wir Erwachsenen haben meist vergessen, wie das Sehen für einen
Säugling ist. Als Neugeborenes sehen wir die Dinge nicht mit der Be-
deutung, mit der wir sie heute sehen. Wir lernen sehr schnell, das Ge-
sicht der Mutter zu erkennen, weil wir ihre Gegenwart mit Nahrung
und Trost verbinden. Später bewegen wir uns in ihrer Umgebung und
lernen dabei die physikalische Natur des Raums und von Dingen ken-
nen. Dieses körperliche sensomotorische Wissen wird zunehmend
mit visuellen Informationen verknüpft, wodurch sich unsere visuelle
Raum- und Formwahrnehmung entwickelt.
>> Noch bevor wir überhaupt sehen können, vermittelt uns der
Schwerkraftsinn ein gewisses Raumgefühl.
160 Kapitel 8 • Störungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung

Im Mutterleib sagen uns die Signale der Schwerkraftrezeptoren, wo


oben und unten ist. Die Bewegungen der Mutter stimulieren die Be-
wegungsrezeptoren, uns ein Gefühl für Orientierung und Geschwin-
digkeit zu geben. Mit diesen Informationen »zeichnet« unser Gehirn
die ersten Landkarten von der Umwelt außerhalb des Mutterleibs. Die
Muskel- und Gelenkrezeptoren sind zwar schon bereit, dem Gehirn
Information zu liefern, aber die Enge im Mutterleib verhindert noch
viele Bewegungen, die propriozeptive Empfindungen produzieren
könnten. Nach der Geburt lernen wir dann, uns mit einem viel grö-
ßeren Raum auseinanderzusetzen, in dem wir uns bewegen können
und viel zu sehen und hören bekommen.
>> Bei jeder unserer Handlungen müssen wir immer auch
unsere Stellung im Raum berücksichtigen. Die Fähigkeit,
die räumlichen Dimensionen und die Stellung unseres Kör-
. Abb. 8.2   Die Fähigkeit des Babys, pers im Raum zu erkennen, gewinnen wir durch Erfahrung.
seine Augen zu koordinieren und sie
auf ein Ziel scharfzustellen hilft ihm,
Ein Kind, das nicht gelernt hat, einzuschätzen, wie groß der Raum ist,
ein klares Bild von den Menschen in der es umgibt, und wie es sich in diesem Raum orientieren kann, wird
8 seiner Umgebung zu bekommen auf Schwierigkeiten stoßen, wenn es mit den Dingen in seiner Umge-
bung etwas tun möchte. Am offensichtlichsten werden diese Schwie-
rigkeiten, wenn das Kind sich bemüht, auszumalen, einer Textzeile zu
folgen, einen Ball zu werfen oder sein Zimmer in Ordnung zu halten.
Das Kind kann auch dadurch auffallen, dass es Schwierigkeiten hat,
mit anderen in einer Reihe zu stehen oder Spiele zu spielen. Dass seine
Schwierigkeiten mit einer schlechten räumlichen Wahrnehmung zu-
sammenhängen, ist unter Umständen schwer zu erkennen.
Solange das Gehirn nicht weiß, wo die Erde ist, und ob wir in Be-
wegung sind, ergeben die Dinge, die wir sehen, nicht viel Sinn. Das
Gehirn muss Augen und Kopf stabil halten, damit wir ein scharfes
Bild von der Umgebung bekommen. Es muss auch in der Lage sein,
die Augen zu steuern, wenn sie den Bewegungen von Menschen und
Dingen folgen (.  Abb. 8.2). Jede Störung der Verarbeitung von Sin-
nesempfindungen aus dem vestibulären System, den Augen und dem
Nacken wirkt sich auch auf die visuelle Wahrnehmung aus.

. Abb. 8.3   Die Koordination der Au-


gen-, Kopf- und Handbewegungen ist 8.1.2 Willkürliche Bewegungen
wichtig, um z.B. einen Ball gut werfen
und fangen zu können
Durch anpassende Reaktionen und die Sinnesinformationen, die
dadurch entstehen, lernen wir, den Raum wahrzunehmen und uns
selbst in Bezug zu diesem Raum zu setzen (. Abb. 8.3, Abb. 8.4).
Dr. Richard Held und Dr. Alan Hein machten einige interessante
Versuche, die zeigen, wie wichtig anpassende Reaktionen für die Ent-
wicklung der visuellen Wahrnehmung sind (7 Exkurs).
8.1 • Störungen der visuellen Wahrnehmung
161 8

Exkurs: Die Bedeutung anpassender Reaktionen für die Entwicklung der visuellen Wahrneh-
mung
In einem ihrer Versuche stellten sie weg, wo sie hätten fallen können, Held und Hein experimentier-
neugeborene Kätzchen auf einen und wenn sich ihnen ein Objekt nä- ten auch mit Umkehrbrillen, die die
Apparat in einem Käfig. Eine Grup- herte, blinzelten sie. Die Kätzchen, Welt auf dem Kopf stehen lassen.
pe ging im Käfig umher und zog die sich aktiv bewegten und den Das Gehirn brauchte eine Weile,
den Apparat mit sich, die andere Apparat zogen, entwickelten sich sich auf dieses umgekehrte Bild
Gruppe saß auf dem Apparat und normal, ohne diese Probleme. Pas- einzustellen und die Dinge auch in
wurde durch den Raum gezogen. sive Bewegung und Sehen reichen dieser Stellung mit der »richtigen
Die visuellen Erfahrungen bezüg- nicht aus; nur bei aktiver, selbst Seite oben« zu sehen. Diese An-
lich der Käfigwände waren für gesteuerter Bewegung werden passung fand allerdings nur bei
beide Katzengruppen gleich. Bei visuelle und motorische Prozesse Versuchspersonen statt, die sich
den Kätzchen, die passiv durch den integriert. Als die Kätzchen von dem mit der Umkehrbrille aktiv bewe-
Raum bewegt wurden, entwickelte Apparat befreit wurden, bewegten gen durften und so einen Bezug
sich zwar das Sehvermögen, doch sich diejenigen, die passiv durch zwischen dem Gesehenen und den
sie konnten es nicht nutzen, um ihre den Raum gezogen worden waren, Sinneseindrücken der Bewegung
Bewegungen effektiv zu steuern. Sie normal und entwickelten rasch die herstellen konnten.
platzierten ihre Pfoten nicht richtig, Funktionen, die sie brauchten.
sie gingen nicht von einer Stelle

8.1.3 Anpassung durch Evolution

Seit Jahrmillionen beziehen Tiere sich auf den Raum und die Formen
in der Natur, wenn sie sich bewegen. Die visuelle Wahrnehmung ent-
stand durch die anpassenden Reaktionen, die entscheidend dafür wa-
ren, in dieser natürlichen Umgebung zu überleben. Zum Überleben
gehört es, Nahrung zu finden oder zu fangen und nicht selbst Opfer
von anderen Tieren zu werden.
Für die ersten Wirbeltiere, Fische und Amphibien war die visuelle
Wahrnehmung nicht mehr als die Fähigkeit, Dinge zu sehen, die sich
auf eine bestimmte Weise bewegten.

Beispiel
Ein Frosch kann nur Dinge sehen, die sich entweder wie Fliegen be-
wegen oder wie Tiere, die Frösche fressen. Ein hungriger Frosch igno-
riert alles Unbewegte, selbst wenn es Nahrung ist, und konzentriert . Abb. 8.4   Um sich in der physika-
sich ausschließlich darauf, jedes kleine umherschwirrende Objekt zu lischen Umwelt bewegen zu können,
fangen. integrieren Kinder ihre Sinne für Be-
wegung und Stellung im Raum und für
Berührung mit dem, was sie um sich
Da es keine Notwendigkeit gab, kleine Details an ruhenden Objekten
herum sehen
zu erkennen, blieb dies für Millionen von Jahren die am höchsten ent-
wickelte Art der visuellen Wahrnehmung.
Als Nächstes entwickelte sich die Fähigkeit zur räumlichen Wahr-
nehmung. Sie ermöglichte es Reptilien, sich effizient zu bewegen.
Bei Fischen, Amphibien und Reptilien werden visuelle Informationen
162 Kapitel 8 • Störungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung

fast gänzlich im Hirnstamm verarbeitet, da die Großhirnhemisphären


dieser Tiere sehr klein sind. Wenn eine Eidechse sich bewegt, zeichnet
ein Teil ihres Hirnstamms Bilder von allen Seheindrücken auf. Diese
Information nutzt die Eidechse, so dass sie ihren Weg exakt finden
kann. Sie stößt sich nicht an und kann einem guten Versteck Schutz
vor einem Raubtier finden.
In früher Zeit lebten die Säugetiere auf Bäumen, wo sie die Dinge
in alle Richtungen gut erkennen mussten. Das Leben auf den Bäumen
führte dazu, dass das visuelle System in der weiteren Entwicklung
des Gehirns eine wichtige Rolle einnahm. So haben Primaten wie
Affen, Menschenaffen und Menschen eine höhere Ebene der visuellen
Verarbeitung entwickelt, zu der die Fovea (Zentrum des schärfsten
Sehens auf der Netzhaut) und die Hirnrinde gehören. In der Fovea
finden sich spezielle Rezeptorzellen, die kleine Ausschnitte des Ge-
sichtsfelds herausheben und kleine Details an ruhenden Objekten
unterscheiden können. Die Hirnrinde verarbeitet diese komplizierten
visuellen Details; aber zunächst muss im Hirnstamm und auf niedri-
geren Großhirnebenen das allgemeine sensorische Bild geordnet ver-
8 arbeitet werden.
Während Millionen von Jahren der Evolution bahnten Ganzkör-
perbewegungen und die Integration der vestibulären, taktilen und
propriozeptiven Informationen den Weg für die Entwicklung von
neuronalen Prozessen, mit denen wir kleine Details und symbolische
Bedeutungen analysieren können. Diese neuronalen Mechanismen
für die Wahrnehmung von Details und Symbolen konnten sich nur
auf dem Fundament der älteren und elementareren Prozesse entwi-
ckeln, ähnlich wie ein Haus, das auf einem Fundament erbaut ist. Das
Haus bleibt stehen, wenn das Dach wackelig ist – aber es stürzt ein,
wenn das Fundament nicht sicher ist.

Therapie
Die Sensorische Integrationstherapie basiert auf einem natür-
lichen Ansatz; wir folgen grob dem Weg, den die Natur in der
Evolution der Wirbeltiere gegangen ist. Zuerst wird an den senso-
motorischen Grundlagen gearbeitet und dann an höheren Hirn-
funktionen. Die Hirnfunktion ist für diesen Entwicklungsverlauf
angelegt.

. Abb. 8.5 gibt eine Vorstellung, die hilft, besser verstehen zu können,


wie massiv eine schlechte visuelle Wahrnehmung sich auf die Schul-
leistungen oder das Verhalten auf dem Spielplatz auswirken kann.
8.1 • Störungen der visuellen Wahrnehmung
163 8

Sensorische Integration verstehen


Visuelle Wahrnehmungsstörungen
Stellen Sie sich vor, Sie schauen sich alte Familienvideos an,
die von einem unerfahrenen Kameramann gefilmt wurden. Wenn er
die Kamera durch den Raum bewegte, war das Bild holprig und verwackelt.
Sie müssen sich wirklich sehr konzentrieren, um die wichtigen Szenen zu verfolgen.
So ähnlich fühlen sich viele Kinder mit visuellen Wahrnehmungsschwierigkeiten in der
Schule. Es kann sein, dass sie sich unheimlich stark konzentrieren müssen, um ihren
Blick auf die Tafel zu richten. Wenn man so hart arbeiten muss, um zielgerichtet zu
schauen, ermüdet man rasch; und man übersieht wichtige Details, die notwendig wären,
um den Unterricht vollständig zu verstehen. Außerdem bewegte der Kameramann die
Kamera viel zu schnell von einer Person zur anderen, so dass Sie als Zuschauer nicht folgen
können. Eine ähnliche Erfahrung machen Kinder, die Schwierigkeiten haben, zwischen
der Tafel und dem Heft auf ihrem Tisch hin und her zu schauen. Sie brauchen daher oft
viel länger für Aufgaben, die sie von der Tafel abschreiben müssen, weil sie länger
brauchen, um sich auf ihrer Heftseite und der Tafel zurechtzufinden.

. Abb. 8.5   Sensorische Integration verstehen: Visuelle Wahrnehmungsstörungen

8.1.4 Zwei Arten von visueller Wahrnehmung

>> Der Mensch verarbeitet visuelle Reize im Wesentlichen auf


zwei Ebenen:
55 im Hirnstamm und
55 in den beiden Großhirnhälften.

Im Hirnstamm werden vestibuläre Informationen, Tiefensensibili-


tät von Augen, Nacken und Körper und visuelle Informationen ver-
knüpft und in einem multimodalen Prozess verarbeitet. Die Sinnes-
empfindungen der Nackenmuskeln, die den Kopf aufrecht halten,
sind für diesen Prozess besonders wichtig. Vestibuläre, propriozep-
tive und visuelle Information werden integriert und als »Landkarte«
gespeichert, die wir dann nutzen, wenn wir den Körper im Raum
steuern. Ohne diese innere Landkarte ist es schwierig, zu laufen ohne
gegen Dinge zu stoßen, mit einem Freund Ball zu spielen oder einen
geraden Strich zu ziehen.
164 Kapitel 8 • Störungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung

Nachdem die vestibulären, propriozeptiven und visuellen Emp-


findungen im Hirnstamm zusammengeführt wurden, werden sie an
verschiedene Bereiche im Großhirn weitergeleitet, wo sie noch spe-
zifischer verarbeitet werden. Diese Verarbeitungsprozesse befähigen
uns, einen kleinen Bereich sehr detailliert und in Bezug zum Hinter-
grund sehen zu können – und ferner unsere Augen koordinieren zu
können, wenn wir uns Dinge bewusst ansehen. Die Augenmuskeln
stellen die Fovea genau richtig ein, damit wir die Details von Buch-
staben erkennen können. Werden die vestibulären und propriozepti-
ven Empfindungen nicht derart verarbeitet, dass die Augen sich ge-
schmeidig bewegen lassen, bedeutet das für die Betroffenen großes
Unbehagen, wenn sie ein Buch lesen. Dieses Unbehagen kann man
sich vorstellen, als ob man einen Filmtitel lesen wollte, und der Film
flimmert.
Kommuniziert das visuelle Hirnrindenfeld nicht gut mit dem ves-
tibulären und propriozeptiven System, so ist auch die visuelle Unter-
. Abb. 8.6   Für eine komplexe Aktion
müssen wir beides interpretieren: scheidungsfähigkeit (Diskrimination) schwach. Daher haben Kinder,
das, was wir sehen, und das, was wir die keine genauen Informationen von ihrem Körper erhalten, oft auch
8 ertasten Schwierigkeiten in der visuellen Wahrnehmung. Kinder mit schweren
vestibulären Verarbeitungsstörungen erzielen oft schlechte Ergebnis-
»Kinder, die keine genauen se in visuellen Wahrnehmungstests.
Informationen von ihrem
>> Entscheidend bei der visuellen Verarbeitung ist, dass die
Körper erhalten, haben oft auch
beiden Ebenen zusammenarbeiten.
Schwierigkeiten in der visuellen
Wahrnehmung.« Im Folgenden wird die Zusammenarbeit zwischen Hirnstamm und
Großhirnhälften verdeutlicht. In einer sensorisch-integrativen Be-
handlung kommen viele ähnliche Fälle von sensorischer Interaktion
vor.

Beispiel
Ein Kind ist auf dem Spielplatz und läuft zur Rutsche. In seinem visu-
ellen Hirnrindenfeld existiert bereits ein Bild von der Rutsche, es ist
gespeichert. Die Bedeutung dieses Bilds ist Ergebnis der Prozesse im
Hirnstamm wie auch der höheren Prozesse im Großhirn. Damit das
Kind sich in der richtigen Position vor die Leiter stellt, um hinaufklet-
tern zu können, müssen in seinem Hirnstamm vestibuläre, propriozep-
tive und visuelle Informationen geordnet verarbeitet werden. Das Kind
weiß, dass es ohne Gefahr auf die Leiter steigen kann, weil es schon
auf ähnliche Objekte geklettert ist. Es kann das visuelle Bild der Leiter
zu seinen Erfahrungen über deren Struktur und seinen eigenen sen-
somotorischen Fähigkeiten in Bezug setzen. Es klettert hinauf, ohne
die Orientierung zu verlieren, weil ihm sein Hirnstamm Informationen
darüber liefert, wo es sich im Raum befindet. Mithilfe der verknüpften
visuellen, propriozeptiven und vestibulären Informationen kann es
seinen Körper oben auf der Rutsche in Sitzposition bringen. Es stößt
sich ab und hat Vergnügen an dem vestibulären Reiz.
8.1 • Störungen der visuellen Wahrnehmung
165 8
Kinder mit einer schlechten sensorischen Integration sind oft nicht
begeistert von Rutschen, weil ihr Nervensystem Schwierigkeiten mit
Teil- oder allen Aufgaben hat. Manche Kinder können nicht gut ein-
schätzen, wie hoch die Rutsche ist, und haben deshalb Angst, hinauf-
zuklettern. Andere können auf der Leiter ihren Körper nicht gut steu-
ern, weil ihre propriozeptiven Empfindungen desorganisiert sind. Die
kleine Plattform oben auf der Rutsche kann eine Gefahr für Kinder
mit ungenügenden Halte- und Gleichgewichtsreaktionen sein. Für
Kinder mit Schwerkraftunsicherheit kann sogar eine sehr langsame
Rutsche so wirken, als ob sie von der Erde gleiten würden. Kinder mit
einem unterempfindlichen Gleichgewichtssystem hingegen können
nicht genug davon bekommen, hinunterzurutschen.

Therapie
Die Behandlung von Kindern mit visuellen Wahrnehmungspro-
blemen nach einem sensorisch-integrativen Ansatz muss sowohl
die Verarbeitung auf Hirnstamm- als auch auf Großhirnebene an-
sprechen, die zusammenarbeiten, wenn wir auf vestibuläre, pro-
priozeptive und visuelle Reize reagieren. Besonderes Augenmerk
gilt den Nackenmuskeln, deren propriozeptive Empfindungen
einen wichtigen Beitrag zur visuellen Wahrnehmung liefern. Liegt
das Kind auf den Bauch und hält den Kopf gegen die Schwer-
kraft hoch, werden starke propriozeptive Signale bezüglich der
Muskelanspannung an den Hirnstamm gesendet, die wiederum
zur Verarbeitung von visuellen Informationen beitragen. Auch
die Schwerkraftrezeptoren nehmen Reize auf – allein durch die
Bauchlage, und wenn das Kind sich bewegt. Die hinzukommen-
den vestibulären Empfindungen helfen zusätzlich, das Gesehene
zu interpretieren. Aus diesem Grund werden in der Therapie viele
Aktivitäten durchgeführt, bei denen das Kind auf dem Bauch liegt
und in Bauchlage in Bewegung ist.
Alle therapeutischen Aktivitäten, die die Rezeptoren im
Innenohr, in den Muskeln, Gelenken und in der Haut stimulie-
ren, fördern die visuelle Entwicklung. Verbesserungen sind am
ehesten zu erwarten, wenn die Funktionsstörung im Hirnstamm
lokalisiert ist. Erst wenn die höheren Hirnfunktionen von den
Nahsinnen wirksam unterstützt werden, kann das visuelle Wahr-
nehmen durch Puzzles und Papier-und-Bleistift-Aufgaben geför-
dert werden. Zusätzlich kann man mit einer Orthoptistin zusam-
menarbeiten, die spezialisiert ist, mit Kindern zu trainieren, ihre
Augenmuskeln besser zu steuern.

In .  Abb.  8.7 sind Auffälligkeiten bei visuellen Wahrnehmungsstö-


rungen in einer Checkliste zusammengefasst.
166 Kapitel 8 • Störungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung

. Abb. 8.7   Checkliste für visuelle Wahrnehmungsstörungen


8.2 • Störungen der zentralen Hörverarbeitung und der Sprache
167 8
Anregungen für Eltern

Die folgenden Vorschläge sollen Ihnen Ideen geben, wie Sie


einem Kind helfen können, seine visuelle Wahrnehmungsfähig-
keit zu verbessern.
55 Lassen Sie das Kind mit Bausteinen bauen. Machen Sie ein
Modell vor, oder nennen Sie Dinge (z.B. eine Brücke, einen
Tunnel, eine Kirche, einen Parkplatz), die das Kind nachbauen
kann.
55 Geben Sie dem Kind Puzzles, die seinen Fähigkeiten entspre-
chen. Möglicherweise müssen Sie mit ganz einfachen Holz-
puzzles mit Formen beginnen.
55 Suchbilderbücher helfen Ihrem Kind, visuelle Unterschiede zu
erfassen. Wenn Sie Ihrem Kind ein Bilderbuch vorlesen, lassen
Sie es bestimmte Dinge auf den Bildern heraussuchen.
55 Üben Sie, verschiedene Formen oder Buchstaben auf ver-
schiedene Unterlagen zu zeichnen (z.B. Sand, Ton, Schaum,
Pudding).
55 Spielen Sie mit dem Kind Spiele, die Auge-Hand-Koordination
erfordern (z.B. einen Ball werfen und fangen, einen Ball mit
einem Schläger treffen, Fädel-, Stick- und Klebeaktivitäten).
55 Lassen Sie das Kind auf einer schrägen Fläche (z.B. einem
dicken Ordner) oder auf einer senkrechten Oberfläche (z.B.
einer Tafel) malen, zeichnen oder schreiben, um die Rückmel-
dung aus den Muskeln und Gelenken zu verstärken.
55 Zeichnen Sie für das Kind Labyrinthe, die es mit Buntstiften
oder Spielzeugautos nachfahren kann. Lassen Sie Ihr Kind
selbst ein Labyrinth oder »Straßen« machen, die es nachfah-
ren kann.
55 Achten Sie auf übermäßiges visuelles Reizangebot. Zu viele
visuelle Ablenkungen können Kinder, die auf visuelle Reize
empfindlich sind, durcheinanderbringen.

Ihre Therapeutin kann Ihnen weitere Aktivitäten vorschlagen, die


spezifisch auf Ihr Kind zugeschnitten sind. Fragen Sie sie nach
Ideen, und besprechen Sie die Reaktionen Ihres Kindes auf seine
Erfahrungen.

8.2 Störungen der zentralen Hörverarbeitung und


der Sprache

>> Die Sinnessysteme entwickeln sich in gegenseitiger Abhän-


gigkeit. Das Hörsystem arbeitet eng mit dem vestibulären
System zusammen.

In 7 Kapitel 5 haben wir erwähnt, dass viele Kinder mit Sprach- und
Sprechdefiziten auch Zeichen einer ineffizienten vestibulären Ver-
168 Kapitel 8 • Störungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung

arbeitung zeigen, die an der verkürzten Dauer des vestibulo-okulären


Reflexes (VOR) beim postrotatorischen Nystagmus gemessen werden
kann. Die Verbindungen zum taktilen und propriozeptiven System
sind weniger offensichtlich, aber ebenso wichtig. Wenn eine Störung
mehrere Sinnessysteme betrifft, fällt das oft am deutlichsten beim Hö-
ren auf. Daher ist es unvermeidlich, dass sich Therapeutinnen, die
mit Sensorischer Integrationstherapie arbeiten, auch mit Hör- und
Sprachproblemen beschäftigen, auch wenn Logopädinnen und Au-
diologinnen auf dieses Feld spezialisiert sind.
Das Gehirn hat die Tendenz, als Ganzes zu arbeiten, wobei jeder
Teil des Gehirns mit vielen anderen Teilen kommuniziert. Damit der
Hirnbereich, der für Sprechen und Sprache zuständig ist, gut funktio-
nieren kann, müssen die Verbindungen zu allen anderen – ebenfalls
gut funktionierenden – Hirnbereichen intakt sein, besonders die zu
den sensorischen und motorischen Bereichen.
Wenn das Gehirn als Ganzes gut funktioniert und zusammen-
arbeitet, kann das Kind Bewegungen leicht und effektiv planen, Und
für das Sprechen – und besonders das Erlernen des Sprechens – ist
8 eine sehr komplexe Bewegungsplanung erforderlich:
55 Man muss eine Bewegung nach seinem eigenen inneren Befehl
initiieren.
55 Man muss die Bewegungsabfolge einhalten, damit die einzelnen
Laute ein Wort ergeben.
55 Man muss entscheiden, welches Wort auf welches folgt.
55 Man muss sehr genau Mund, Zunge und Lippen bewegen, um
die Wörter deutlich auszusprechen.

Die Planung der Sprechbewegungen erfordert im Grunde die glei-


chen Prozesse wie die Planung von Körperbewegungen. Deshalb ist
es verständlich, dass bei Kindern mit Sprech- oder Sprachproblemen
oft auch eine Entwicklungsdyspraxie vorliegt. Falls sie nur Schwierig-
keiten mit der Aussprache (Artikulation) haben, kann es sich um eine
orale Apraxie handeln.

Therapie
Es ist logisch, dass bei dyspraktischen Kindern eine Behandlung
zur Verbesserung der sensorischen Integration und Bewegungs-
planung auch zur Entwicklung der Sprache beiträgt. Sie unter-
stützt die Verarbeitung der auditiven Informationen und die
Planung der Sprechbewegungen, weil sie dem Gehirn im Ganzen
hilft, besser zu funktionieren. Ein spezielles Sprach- und Sprech-
training führen Logopädinnen durch.
Da Sprechen und Sprache Ergebnisse der sensorischen Inte-
gration sind, werden sie oft herangezogen, um die Wirksamkeit
der SI-Behandlung zu beurteilen. Auch das Sprachverständnis ist
ein Verhaltensaspekt, der leicht zu messen ist – viel leichter als
8.2 • Störungen der zentralen Hörverarbeitung und der Sprache
169 8

das emotionale Verhalten oder das Selbstbewusstsein, die aber


genauso wichtig sind wie Sprechen und Sprache.

.  Abb. 8.8 gibt eine Anleitung, um besser zu verstehen, welche Aus-


wirkungen auditive Verarbeitungsdefizite für Kinder haben können.

8.2.1 Ebenen der Hörverarbeitung

Wie die visuellen werden auch die auditiven Informationen auf ver-
schiedenen Ebenen verarbeitet. Kerne im Hirnstamm, die wichtige
Zentren für die auditive Verarbeitung sind, verknüpfen den auditiven
Input mit vestibulären, propriozeptiven, taktilen und Vibrationsemp-
findungen. Des Weiteren erhalten die vestibulären Kerne auditiven
Input und koordinieren den Input beider Kernzentren. Die auditive
Verarbeitung auf Hirnstammniveau ist für eine gute Entwicklung der
auditiven Diskrimination ebenso wichtig wie das bei der visuellen
Verarbeitung der Fall ist. Die auditive Verarbeitung im Hirnstamm
schafft die Grundlage für die komplexere Verarbeitung auf höheren
Ebenen, die für Sprache notwendig ist (. Abb. 8.9).

Therapie
Es wird angenommen, dass Sensorische Integrationstherapie die
Sprech- und Sprachentwicklung fördert, indem sie die Prozesse
auf niedrigeren Ebenen effizienter macht. Wir beobachten oft,
dass verschiedenste Bewegungsaktivitäten Kinder mit einer
Sprachstörung dazu veranlassen, mehr zu lautieren.
Studien an Kindern mit Lernstörungen, die durch zentrale
auditive Verarbeitungs- und Sprachprobleme verursacht waren,
ergaben Folgendes: Eine Behandlung der Kinder mit Schwerpunkt
auf vestibulärer, taktiler und propriozeptiver Reizsetzung und
Bewegungsplanung brachte Verbesserungen im Lesen. Es wurde
nicht direkt an der Sprache gearbeitet. Die Verbesserung der
Hirnstammfunktionen hatte den Großhirnhälften anscheinend
geholfen, besser mit den sprachlichen Anforderungen des Lesens
zurechtzukommen. Mit der Verbesserung der Fähigkeit, Bewe-
gungen zu planen und anpassend zu reagieren verbesserten sich
auch die übergeordneten kognitiven Funktionen.
Wenn ein Kind mit 2½ oder 3 Jahren noch nicht spricht, sollte
es einer Therapeutin mit Ausbildung in Sensorischer Integra-
tionstherapie vorgestellt werden. Ergeben sich Hinweise, dass
Funktionsstörungen auf Hirnstammebene vorliegen, dann ist eine
Behandlung, die auf dieser Ebene ansetzt, sicher der richtige An-
satzpunkt, um die Sprachentwicklung zu fördern. Zusätzlich emp-
fehlen wir, dass Sie in diesem Fall auch eine Logopädin aufsuchen.
170 Kapitel 8 • Störungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung

Sensorische Integration verstehen


Auditive- und Sprachprobleme
Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem lauten Restaurant zum
Abendessen, zusammen mit einer Gruppe von Mitarbeitern oder
Freunden und feiern einen Geburtstag. Ihr Sitzplatz ist am Ende einer
langen Tafel, und Sie hören viele Hintergrundgeräusche (z.B. Gespräche an den anderen
Tischen, das Klirren von Geschirr in der nahe gelegenen Küche). Jemand, der in der Mitte
der Tafel sitzt, erzählt eine lustige Anekdote, aber Sie verstehen nur Bruchstücke davon.
Plötzlich lacht die ganze Gruppe auf, weil das Ende so lustig war, und Sie haben es
verpasst. Es ist unangenehm, sich ausgeschlossen zu fühlen – und noch schwerer, zu
versuchen, sich eingeschlossen zu fühlen, wenn anscheinend alle anderen verstanden
haben, worum es ging.
Diese Erfahrung ist ähnlich dem, was Kinder mit auditiven Wahrnehmungsstörungen
täglich in der Schule erleben. Auch wenn sie sich bemühen, der Lehrerin zuzuhören,
verstehen sie wegen der Geräusche, die vom Spielplatz, dem Flirren der Beleuchtung,
dem Verkehrslärm und dem Wispern der Klassenkameraden kommen, nicht alle
8 Anweisungen. Diese Kinder müssen oft nach visuellen Hinweisen von den Mitschülern
schauen; aber man kann sich vorstellen, dass es unangenehm für sie ist, nicht genau zu
verstehen, was sie tun sollen.

. Abb. 8.8   Sensorische Integration verstehen: Auditive und Sprachprobleme

. Abb. 8.9   Sprache und Kommunikation sind nicht nur vom Hören abhängig,
sondern auch von Berührungen, vom Sehen und von der Interaktion vieler ande-
rer sensorischer, motorischer, Lern- und Verhaltensfunktionen.
8.2 • Störungen der zentralen Hörverarbeitung und der Sprache
171 8

. Abb. 8.10   Checkliste für auditive Wahrnehmungsstörungen

In  .  Abb. 8.10 ist eine Checkliste mit Anzeichen für auditive Wahr-
nehmungsstörungen zusammengestellt.
Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Dr.  Susanne Smith Roley zu den Themen, die in
diesem Kapitel angesprochen werden, finden Sie in Anhang A.
173 9

Kinder mit Autismus


Spezielle sensorisch-integrative Bedürfnisse und Herausforderungen

9.1 Sensorische Verarbeitungsstörungen bei Autismus – 174


9.1.1 »Registrieren« von Sinnesinformationen – 176
9.1.2 Modulieren von Sinnesinformationen – 179
9.1.3 Integrieren von Sinnesinformationen – 180

9.2 Der Wunsch, etwas zu tun – 181


9.2.1 Die »Ich-will-es-tun«-Funktion – 181
9.2.2 Die Entwicklung der Bewegungsplanung – 184

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
174 Kapitel 9 • Kinder mit Autismus

Autismus ist eine Störung des Gehirns. Als sie entdeckt wurde, schien
sie Fachleuten und Eltern unerklärlich. Kinder mit Autismus zeigen
viele Symptome einer abnormalen Sinnesverarbeitung, wie man sie
auch bei anderen Kindern mit sensorisch-integrativen Störungen
sieht, und die Auseinandersetzung mit ihrer Umgebung ist dement-
sprechend beeinträchtigt. Autistische Kinder haben jedoch zusätz-
liche Probleme im sensomotorischen als auch in anderen Bereichen
(. Abb. 9.1).
>> Bezeichnend für Autismus ist, dass die Betroffenen Schwie-
rigkeiten haben, eine Beziehung zu mehr als einer oder
zwei vertrauten Personen herzustellen.

Von Kindern mit Autismus wird oft gesagt, sie seien »in ihrer eigenen
Welt«. Sie wirken oft so, als ob sie nicht wollten, dass sie in dieser Welt
gestört werden. Wenn sie sprechen lernen, sind ihre Ausdrucksmög-
lichkeiten oft beschränkt; es kann sein, dass die Artikulation unauf-
fällig ist, aber die Wörter ungewöhnlich betont werden oder monoton
und papageienartig klingen. Außerdem zeigen Kinder mit Autismus
Emotionen meist nicht so wie andere Kinder. Manche haben schein-
bar eher wenige Emotionen und zeigen weder Liebe noch Furcht,
9 andere haben ein intensives Gefühlsleben, bekommen Wutanfälle,
werden aggressiv und zeigen große Gefühlsschwankungen.

Therapie
In Praxen, die auf Sensorische Integrationstherapie spezialisiert
sind, nimmt die Zahl der Kinder mit Autismus seit Jahren zu. Man-
che autistischen Kinder machen durch diese Behandlung enorme
Fortschritte, andere zeigen nur wenige oder keine Verbesserun-
gen.
Es ist bereits ermutigend, wenn die Therapie kleinste Verän-
derungen in der Organisation des Gehirns dieser Kinder bewirkt –
besonders, weil medikamentöse Behandlungen kaum Hilfe bieten
und Verhaltenstherapien nur das äußere Verhalten des Kindes
kontrollieren, ohne die Bedingungen in seinem Gehirn zu verän-
dern, die dieses Verhalten verursachen.

9.1 Sensorische Verarbeitungsstörungen bei


Autismus

>> Machen Kinder mit Autismus die standardisierten Tests für


sensorisch-integrative Leistungen, zeigen ihre Ergebnisse
oft das Muster einer Dyspraxie.

Autistische Kinder haben Schwierigkeiten, taktile Reize zu lokalisie-


ren, und sie wissen nicht, wo ihre Hände sind, sobald sie sie nicht
mehr sehen können. Sie haben große Schwierigkeiten, ihre Bewe-
9.1 • Sensorische Verarbeitungsstörungen bei Autismus
175 9

Mariannes Geschichte: Das Leben mit Autismus


Marianne war ein hübsches Baby Während ihre Cousine Lisa etwa so gar nicht zu der Situation passten.
mit strahlenden Augen. Sie war tat, als ob sie ihre Puppe fütterte Sie suchte nicht die Nähe anderer
ruhig, und jeder betrachtete ihre El- und wusch, reihte Marianne alle Kinder und schien sich lieber alleine
tern als glücklich, solch ein »pflege- ihre Puppen in einer Reihe neben zu beschäftigen. Bezüglich ihrer
leichtes Baby« zu haben. Marianne ihrem Bett auf. Während andere Kleidung, ihrem Essen, Orten und
drehte sich zur gleichen Zeit wie Kinder begeistert waren über neue Personen wurde sie immer heikler.
andere Kinder, krabbelte und ging, Spielsachen und endlose Ideen hat- Mariannes Mutter fiel auf, dass sie
und schien insgesamt ein normales ten, was sie mit ihnen tun konnten, viele Mühen auf sich nahm, um den
Kleinkind zu sein. Mit 2 Jahren hatte Marianne am liebsten einige Tagesablauf und die Dinge im Haus
begann sie, die ersten Wörter zu wenige vertraute Spielsachen und so zu gestalten, dass Marianne sich
sprechen; und ihre Mutter plante, Dinge, die nicht viele Spielmöglich- nicht aufregte. Im Alter von 3½ Jah-
sie für den Kindergarten anzumel- keiten boten, wie Schnüre und ren wurde bei Marianne Autismus
den. Allerdings begann Marianne in Mullbinden. Marianne wirkte liebe- diagnostiziert. Zunächst war diese
den nächsten Monaten, sich anders voll im Umgang mit ihren Eltern, Nachricht verheerend und ver-
als die Gleichaltrigen zu entwickeln. aber verweigerte die Beziehung wirrend für ihre Eltern. Aber nach
Mariannes Eltern hatten den zu anderen Familienmitgliedern so einiger Zeit stellten sie fest, dass
Eindruck, dass sie zunehmend stark, dass diese glaubten, sie lehne die Diagnose ihnen half, Marianne
weniger sprach als ihre Nichten und sie ab. besser zu verstehen, und die Hilfe
Neffen; und wenn sie sie beobach- Mit 3 Jahren sprach Marianne zu finden, die sie brauchte.
teten, spielte Marianne nicht mit ein paar Sätze, neigte aber dazu,
Spielzeug oder anderen Kindern. sie zu wiederholen, auch wenn sie

. Abb. 9.1  Neben Schwierigkeiten im Verhalten, im Sozialverhalten und in der


Sprachentwicklung zeigen autistische Kinder fast immer Zeichen von gravieren-
den sensorisch-integrativen Funktionsstörungen

gungen zu planen, wenn sie eine ungewohnte Körperposition ein-


nehmen sollen, die ihnen die Testleiterin vormacht. Zwar sind auch
ihre Haltereaktionen nicht sehr gut, aber sie sind meist besser als bei
Kindern mit anderen sensorischen Integrationsstörungen. Dies zeigt,
dass der Hirnstamm propriozeptive und vestibuläre Empfindungen
verarbeitet, die für viele Haltereaktionen erforderlich sind. Auch die
Nervenbahnen, die die Informationen zu den sensorischen Hirnrin-
denbereichen leiten, arbeiten scheinbar normal. Das heißt, das Prob-
176 Kapitel 9 • Kinder mit Autismus

lem muss einen anderen sensorischen Verarbeitungsaspekt betreffen;


ein anderer Teil des Gehirns funktioniert nicht gut.
Bei vielen autistischen Kindern funktioniert die Sinnesverarbei-
tung in drei Bereichen schlecht (7 Übersicht 9.1).

Übersicht 9.1. Funktionsstörungen bei autistischen Kindern


55 S innesreize werden vom Gehirn nicht richtig »registriert“,
so dass die Kinder manchen Dingen keine Aufmerksamkeit
schenken, während sie auf andere übertrieben reagieren.
55 Die Kinder dürften Schwierigkeiten haben, vor allem vesti-
buläre und taktile Empfindungen zu modulieren, so dass sie
schwerkraftunsicher oder taktil abwehrend sein können.
55 Der Teil des Gehirns, der uns dazu bringt, Dinge machen zu
wollen – besonders neue und andersartige – funktioniert
nicht gut. Die Kinder wirken, als hätten sie wenig oder kein
Interesse, Dinge zu tun, die generell als zweckmäßig und ziel-
gerichtet gelten.

9 9.1.1 »Registrieren« von Sinnesinformationen

Beispiel
»Es gibt einen Abschnitt Uns allen ist es sicher schon passiert, dass wir eines Tages in einer Stra-
im Gehirn (im limbischen ße, die wir gut kennen, etwas bemerken, das uns bisher nie aufgefal-
System), der »entscheidet«, len ist. Zuerst fragen wir uns wahrscheinlich, ob dieses Schild oder Ge-
welche Sinnesreize registriert bäude neu ist, und sind überrascht, wenn wir erfahren, dass es schon
werden, so dass wir ihnen lange Zeit dort steht. Unser Gehirn hatte bisher nur nie »entschieden«,
Aufmerksamkeit geben. dass dieses Objekt es wert war, bemerkt zu werden. Wir wissen nor-
Dieser Teil entscheidet auch, malerweise nicht einmal, warum wir gerade jetzt darauf aufmerksam
ob wir auf diese Information wurden. Möglicherweise war irgendetwas an dem Bild des Objekts ein
reagieren.« kleines bisschen anders – vielleicht war das Sonnenlicht anders ein-
gefallen – und dieser winzige Unterschied ließ unser Gehirn das Bild
»registrieren«, das es bisher ignoriert hatte.

Es gibt einen Teil im Gehirn (im limbischen System), der »entschei-


det«, welche Sinnesreize registriert werden, so dass wir ihnen Auf-
merksamkeit geben. Dieser Teil entscheidet auch, ob wir auf diese
Information reagieren. Bei Kindern mit Autismus funktioniert diese
Struktur nicht gut, so dass sie viele Dinge nicht registrieren, die alle
anderen bemerken. Je schlechter dieser Hirnabschnitt funktioniert,
desto schwieriger ist es, autistischen Kindern zu helfen, die Fähigkei-
ten zu entwickeln, die sie für ein aktives Leben brauchen (. Abb. 9.2).
Die Schulglocke oder andere Geräusche können an Kindern mit
Autismus spurlos vorübergehen, und oft registrieren sie nicht ein-
mal, wenn sie angesprochen werden. Zu einem anderen Zeitpunkt
beschließt ihr Gehirn aber, die Informationen wahrzunehmen, und
9.1 • Sensorische Verarbeitungsstörungen bei Autismus
177 9
dann reagieren sie. Manchmal empfinden sie die Geräusche dann lau-
ter als andere Menschen. Wir registrieren ein Geräusch nicht mehr,
wenn es längere Zeit ohne große Veränderung anhält, doch autisti-
sche Kinder können sich nicht an ein andauerndes, gleichbleibendes
Geräusch gewöhnen und blenden es aus. Daher wenden sie solchen
Geräuschen dann mehr Aufmerksamkeit zu. Manchmal sind sie
überempfindlich gegenüber einem Geräusch und unterempfindlich
gegenüber einem anderen.
Kinder mit Autismus scheinen manchmal auch visuell ihre Um-
gebung zu ignorieren. Sie starren durch Leute hindurch und vermei-
den direkten Blickkontakt. Spielsachen schenken sie oft wenig Beach-
tung; dafür entscheidet ihr Gehirn manchmal, irgendeinem winzigen
Detail – wie einem Fleck auf dem Boden – lange konzentrierte Auf-
merksamkeit zu widmen.
>> Das Gehirn von autistischen Kindern hat Schwierigkeiten
zu erkennen, welche visuellen Informationen wichtig und
. Abb. 9.2  Viele autistische Kinder
welche irrelevant sind.
brauchen Hilfe, um ihre Aufmerksam-
Es gibt einen bestimmen visuellen Reiz – bewegte Streifen – der die keit auf Sinnesreize zu richten, die
wichtig sind, um mit der Umwelt in
Aufmerksamkeit fast aller autistischen Kinder erregt. Der Wechsel
Interaktion zu treten
von farbigen und weißen Streifen, die sich vor den Augen bewegen,
aktiviert den optokinetischen Nystagmus, der wiederum die vesti-
bulären Kerne anregt. (Wir haben den postrotatorischen Nystagmus
schon besprochen, der sich durch Auf-und-Ab-Bewegungen der Au-
gen nach vestibulärer Stimulation zeigt. Der optokinetische Nystag-
mus ist eine ähnliche Reaktion auf einen visuellen Reiz.) Wir glauben,
dass die Aktivierung der vestibulären Kerne entscheidend dafür ist,
dass das Gehirn die visuellen Reize registriert und für das Kind be-
deutungsvoll macht.
Autistische Kinder registrieren auch andere Sinnesreize unzu-
verlässig. Wir führten einen Test mit autistischen Kindern durch,
bei dem ein Luftstoß an den Nacken des Kindes geblasen wird. Die
meisten Kinder mit Lernstörungen oder Entwicklungsverzögerungen
finden das unangenehm und ziehen die Schultern hoch oder drehen
sich um, damit sie die Reizquelle sehen können. Viele Kinder mit
Autismus zeigen keinerlei Reaktion auf diesen Luftstoßtest.
Viele Kinder registrieren auch Gerüche nicht und scheinen wenig
Geschmackssinn zu haben. Sie reagieren oft auch nicht, wenn sie
fallen oder sich anstoßen, so als ob sie Schmerz nicht wahrnähmen,
solange dieser nicht sehr intensiv ist. Allerdings sind autistische Kin-
der oft überempfindlich gegenüber der Konsistenz (Beschaffenheit)
von Dingen. Wenn sie klein sind, verweigern sie feste Nahrung, weil
sie deren Konsistenz nicht mögen. Sie reagieren negativ auf Berüh-
rungen von anderen Personen. Bei Kindern mit schwerer Dyspraxie
findet man manchmal dieselben Verarbeitungsprobleme.
178 Kapitel 9 • Kinder mit Autismus

Therapie
Mit einer bestimmten Art von Berührung, nämlich sehr festem
taktilem Druck, erreicht man bei Kindern mit Autismus oft positi-
ve Reaktionen (. Abb. 9.3). Sie genießen es, zwischen zwei Mat-
ten zu liegen und mit einem schweren Objekt – wie einem großen
Kissen – abgerollt zu werden. Manchmal legen sie ihre Hände
unter sehr schwere Dinge und genießen die Druckempfindungen,
die andere Kinder schon als schmerzhaft empfinden würden. Sie
möchten etwas spüren, aber möglicherweise registriert ihr Gehirn
nur sehr starke Reize. Manche Kinder benehmen sich die meiste
Zeit so, als ob sie ein unangenehmes Gefühl in ihren Händen hät-
ten, das durch den tiefen Druck besser wird. Dyspraktische Kinder
mögen festen Berührungsdruck auch oft, aber sie scheinen die
Reize besser zu registrieren als autistische Kinder.
. Abb. 9.3  Großflächiger tiefer Druck
Kinder mit Autismus nehmen die Sinnesempfindungen von
und Aktivitäten wie Schieben, Ziehen,
Springen und Hängen haben oft einen ihren Muskeln und Gelenken besser wahr als die von ihren Au-
beruhigenden Effekt auf autistische gen und Ohren. An Armen und Beinen zu ziehen stimuliert die
Kinder Rezeptoren in den Gelenken und Muskeln. Kinder mit Autismus
strecken der Therapeutin oft ihre Arme und Beine hin, damit sie
daran zieht. Wir nehmen an, dass sie diese Empfindungen als be-
9 friedigend erleben. Wiederum scheint es, dass bei vielen Kindern
mit Autismus das Gehirn nur sehr starke Reize registriert – Reize,
die so stark sind, dass sie anderen unangenehm wären.

Kinder mit Autismus suchen Bewegungsaktivitäten oder lehnen sie


strikt ab (.  Abb.  9.4). Keine dieser beiden Reaktionen ist normal.
Manche Kinder mit Autismus wollen viel und intensive Bewegung
und scheinen viel Vergnügen daran zu haben. Von Bewegungen wie
Drehen oder Schaukeln werden sie meist nicht schwindlig oder see-
krank, so wie dies bei normalen Kindern der Fall ist. Dies legt nahe,
dass ihr Gehirn die vestibulären Reize nicht richtig registriert.
>> Kinder mit Autismus zeigen meist einen verkürzten postrot-
. Abb. 9.4  Viele autistische Kinder atorischen Nystagmus – getestet bei Tageslicht mit offenen
suchen intensive Bewegungsreize Augen.
durch Schaukeln, Drehen, Springen
und Klettern, während andere ängst- So wie bei Kindern mit einer vestibulär-bilateralen Störung deutet
lich auf Bewegung reagieren und die verkürzte Dauer des Nystagmus darauf hin, dass eine wichtige
sich eher von Geräten fernhalten, die Nervenleitbahn für vestibuläre Empfindungen nicht regelrecht funk-
instabil oder zu bewegen sind
tioniert. Wahrscheinlich werden die vestibulären Kerne zu stark ge-
hemmt. Das bedeutet nicht, dass gar keine vestibulären Reize regist-
riert werden. Viele autistische Kinder zeigen neben einem verkürzten
Nystagmus auch Zeichen von Schwerkraftunsicherheit. Diese Art
von vestibulärer Information wird also offenbar registriert, aber dann
schlecht moduliert, so dass das Kind sich sehr unwohl fühlt.
Kinder, die Reize so unzuverlässig registrieren, können ande-
ren Menschen ziemlich kapriziös erscheinen. Wie kann es sein, dass
ihr Gehirn an einem Tag bestimmte Sinnesreize registriert und am
9.1 • Sensorische Verarbeitungsstörungen bei Autismus
179 9
nächsten Tag ähnliche Reize nicht bemerkt? Diese Widersprüchlich-
keit führt dazu, dass Eltern sagen: »Er könnte ja hören, wenn er nur
wollte«, oder »Wieso spielt er so viel mit meinen Schuhen, und für
seine eigenen interessiert er sich überhaupt nicht?«, oder »Wenn er
Eier braten kann, warum deckt er dann nicht den Tisch?« Es mag so
aussehen, als ob das Kind absichtlich stur ist und seinen Eltern das
Leben schwer machen will, aber dies ist normalerweise nicht der Fall.
Kinder mit Autismus haben einfach ein weniger effizientes Gehirn als
die meisten von uns, mit dem sie von Tag zu Tag und von Aufgabe zu
Aufgabe gleichbleibende Leistungen erbringen könnten.

Therapie
Bietet man Kindern mit Autismus die richtigen Reize, sind sie oft
sehr motiviert, diese zu registrieren. In der Sensorischen Integ-
rationstherapie versuchen wir, dem Kind einen Anreiz zu liefern,
damit es Sinnesreize registriert. Dieser Anreiz ist eine innere und
natürliche Belohnung: Das Vergnügen der Bewegung während
der Behandlung hilft, das Kind zu motivieren, und es hilft auch
dem Gehirn, andere Sinnesreize – besonders visuelle – zu ver-
arbeiten. Während oder unmittelbar nach Bewegungsaktivitäten
nehmen autistische Kinder viel mehr Blickkontakt mit der Thera-
peutin auf.

9.1.2 Modulieren von Sinnesinformationen

Darüber hinaus, dass das Gehirn autistischer Kinder Sinnesinforma-


tionen nicht registriert, hat es in manchen Fällen auch Schwierigkei-
ten, Sinnesempfindungen zu modulieren. Dies betrifft besonders ves-
tibuläre und taktile Sinnesempfindungen. Eine beträchtliche Zahl
von Kindern mit Autismus verweigert Bewegung. Sie sind schwer-
kraftunsicher, weil sie die Sinnesempfindungen des vestibulären Sys-
tems nicht modulieren können. Wenn sie allerdings auf dem Schoß
ihrer Eltern wippen, dann genießen sie es oft. Dies zeigt, dass es nicht
immer die Bewegung selbst ist, die das Unbehagen erzeugt, sondern
ein Mangel an »Erdung«. Autistische Kinder scheinen in Bezug zur
Schwerkraft und zum Raum extrem verunsichert zu sein. Sie sind sehr
ängstlich, wenn man versucht, sie kopfüber zu drehen, hochzuheben
oder in eine ihnen unbekannte Position zu bewegen.
>> Wenn ein autistisches Kind schwerkraftunsicher ist, regist-
riert es mindestens eine Art von Sinnesreizen (vestibuläre).
Dies steigert die Chancen, dass eine SI-Therapie Erfolg ha-
ben wird.

Wie bereits erwähnt können die meisten Kinder mit Autismus viele
taktile Reize nicht registrieren, solange diese nicht stark genug sind.
180 Kapitel 9 • Kinder mit Autismus

Wenn sie die Reize registrieren, können sie manchmal auch über-
schießend oder abwehrend reagieren.

9.1.3 Integrieren von Sinnesinformationen

Da Kinder mit Autismus viele Informationen aus ihrer Umgebung


nicht registrieren, können sie diese auch nicht integrieren, um den
sie umgebenden Raum und ihren Bezug zu diesem Raum klar wahr-
zunehmen. Sie brauchen sehr lange, um ein Bild von ihren visuellen
Wahrnehmungen zu speichern; und selbst wenn sie etwas wahr-
nehmen, nehmen sie es möglicherweise nicht gut wahr. Dies erklärt,
warum ein Kind mit Autismus z.B. verweigert, einen neuen Pullover
anzuziehen. Es hat noch kein vertrautes Bild von diesem gespeichert.
Es wird den Pullover bereitwilliger akzeptieren, wenn es ihn öfter
gesehen hat. Bevor man erwartet, dass es ihn anzieht, könnte man
ihm den Pullover für eine Weile um die Schultern legen. Die Sinnes-
empfindungen dieser Berührung vermitteln dem Kind einen umfas-
senderen Eindruck von dem Bild »Pullover«, da es dann nicht allein
auf visuellen Informationen beruht. Jede neue Situation konfrontiert
9 diese Kinder mit einer verwirrenden Vielzahl von unorganisierten –
vor allem visuellen – Sinnesreizen.

Therapie
Langsames Eingewöhnen trifft auch auf die ersten Male in der
Therapie zu. Wahrscheinlich reagiert das Kind zunächst mit Alarm
und Widerstand, bis es mehrere Erfahrungen mit der neuen Um-
gebung gemacht und sie kennengelernt hat – und als vertraut
und sicher erlebt. Manche Kinder haben derartige Schwierigkei-
ten, die räumlichen Elemente in ihrer Umgebung zu registrieren,
dass sie jedes Mal außer sich geraten, wenn zu Hause oder im
Therapieraum irgendetwas verändert wird. Jede Veränderung in
der Anordnung von Dingen verunsichert sie.
Für manche Kinder mit Autismus ist es schon beunruhigend,
wenn ihre Mutter während der Therapiestunde auf einem ande-
ren Platz sitzt. Wir Erwachsenen müssen eine Menge Geduld und
Verständnis aufbringen, um Kindern mit Autismus zu helfen, mit
ihren schlechten Sinneswahrnehmungen zurechtzukommen.

Da autistische Kinder auditive Informationen nicht gut verarbeiten,


entwickeln sie auch sprachliche Begriffe nur unzureichend. Ebenso
können sie kein klares Körperschema entwickeln, weil sie die Sinnes-
informationen von Haut, Muskeln, Gelenken und Gleichgewichtssys-
tem nicht gut registrieren und verarbeiten. Es fehlt ihnen an differen-
zierten neuronalen Modellen von sich selbst als auch von der Welt.
Dies beeinträchtigt natürlich ihre Fähigkeit, mit der Welt zu interagie-
ren. Sie haben Schwierigkeiten, ihre Bewegungen zu planen, weil sie
9.2 • Der Wunsch, etwas zu tun
181 9
ihren Körper und das, was er tut, nicht gut spüren können. Schränkt
die sensorische Verarbeitungsstörung ihre körperlichen und sozialen
Spielmöglichkeiten sehr stark ein, so beeinträchtigt das wahrschein-
lich auch die emotionale Entwicklung dieser Kinder.

9.2 Der Wunsch, etwas zu tun

Beispiel
Vielleicht kennen Sie das Gefühl, sich gerade überhaupt nicht bewe-
gen zu wollen. Wenn der Wecker klingelt und Sie noch sehr schläfrig
sind, oder wenn jemand Sie ruft und Sie nach einem anstrengenden
Tag nur noch Ruhe wollen. Sie wissen, dass Sie aufstehen oder etwas
tun sollten, aber irgendetwas in Ihrem Gehirn bringt Sie dazu, liegen
zu bleiben und die Welt zu ignorieren. Dieses Gefühl, das wir alle hin
und wieder haben, erleben Kinder mit Autismus wahrscheinlich die
meiste Zeit über.

9.2.1 Die »Ich-will-es-tun«-Funktion

>> Es gibt einen Teil des Gehirns, der für den Wunsch verant-
wortlich ist, Verhalten zu initiieren, auf Sinnesreize zu re-
agieren, etwas Neues oder anderes zu tun.

Dieser Teil des Gehirns hat eine belebende Wirkung; er befiehlt den Ȁhnlich wie das System,
Hirnbereichen, die den Muskeln die Bewegungsbefehle schicken: »Tu das Sinnesinformationen
es!« Dieses System arbeitet eng mit dem System zusammen, das Sin- registriert, funktioniert auch
nesreize registriert und die Aufmerksamkeit lenkt. Wenn wir einen das »Ich-will-es-tun«-System
Sinnesreiz erst einmal registriert haben, können wir wählen, ob wir bei Kindern mit Autismus
reagieren (d.h. etwas tun) oder ihn bewusst ignorieren. schlecht.«
Ähnlich wie das System, das Sinnesinformationen registriert,
funktioniert auch das »Ich-will-es-tun«-System bei Kindern mit Au-
tismus schlecht. Man kann nicht sagen, dass sie nichts tun; vielmehr
können sie sich nicht dazu bringen, zweckmäßig und zielgerichtet zu
handeln. Ihr Spiel besteht oft nur aus einfachsten, sich wiederholen-
den Tätigkeiten, z.B. etwas festhalten, Dinge aneinanderreihen oder
drehen. Komplexere Aktivitäten fallen ihnen nicht ein. Macht man ih-
nen eine Handlung vor, wollen sie sie in der Regel nicht nachmachen.
Autistische Kinder haben gewisse Fähigkeiten, mit Spielsachen
zu spielen und sich mit der Umgebung auseinanderzusetzen. Wenn
ihnen genügend Motivation gegeben wird, damit sie ihr »Ich-will-
es-tun«-System »einschalten«, können sie durchaus in der Lage sein,
komplexe Dinge zu tun (z.B. durch einen Hindernisparcours zu ge-
hen, der Bewegungsplanung erfordert). Dieses System ist jedoch die
meiste über Zeit inaktiv, und ihr Gehirn trifft selten den Entschluss,
alles zu tun, was es tun kann.
182 Kapitel 9 • Kinder mit Autismus

. Abb. 9.5  Ein Grund, warum autistische Kinder nicht mit ihrer Umwelt inter-
agieren, liegt möglicherweise darin, dass sie nicht wissen, wie sie die Interaktion
beginnen und weiterführen können

9 Wie das System für das Registrieren von Sinnesinformationen ist


auch das »Ich-will-es-tun«-System bei Kindern mit Autismus eher
unberechenbar. Eine Mutter kann sehr bemüht sein, ihrem autis-
tischen Sprössling eine so einfache Sache wie das Socken anziehen
beizubringen, während das Kind sich benimmt, als ob es das nie ler-
nen würde, oder überhaupt nicht bereit ist, mitzuarbeiten. Es mag
so aussehen, als ob das Kind bewusst gegen die Bemühungen seiner
Mutter arbeitet; aber wahrscheinlicher ist, dass sein Gehirn in diesem
Moment schlicht das »Ich-will-es-tun«-System nicht aktiviert hat. Zu
einem anderen Zeitpunkt kann das Kind seine Socken leicht selbst
anziehen.
>> Der Grund, warum autistische Kinder nicht mit ihrer Um-
gebung interagieren, liegt zum Teil darin, dass sie die Be-
deutung vieler Dinge und der Möglichkeiten, diese zu ver-
wenden, nicht registrieren (. Abb. 9.5).

»Wenn Sie einem Kind mit Um zu wissen, wie man ein Dreirad benutzt, muss man einerseits
Autismus etwas geben, … wird seinen eigenen Körper kennen und wissen, wie er funktioniert, und
sein »Ich-will-es-tun«-System andererseits abstrakt denken können. Wenn man ein Dreirad sieht,
nichts Neues oder anderes tun muss man erkennen, dass es einen Platz zum Sitzen hat, dass die Füße
wollen.« auf die Pedale kommen, und dass man die Pedale willkürlich treten
muss, damit das Dreirad sich bewegt. Ein dermaßen abstraktes Den-
ken ist für Kinder mit Autismus schwer. Wenn sie ein Dreirad sehen,
– selbst wenn sie den visuellen Eindruck gut genug registrieren und
ihm Aufmerksamkeit geben – wird ihnen trotzdem nicht bewusst,
dass das ein Fahrzeug ist, auf dem man sitzen und Spaß haben kann.
Da der »Ich-will-es-tun«-Abschnitt ihres Gehirns nicht gut funktio-
9.2 • Der Wunsch, etwas zu tun
183 9
niert, werden sie sich jeder Person widersetzen, die versucht, sie auf
das Dreirad zu bekommen.
Wenn Sie einem Kind mit Autismus etwas geben, können Sie da-
von ausgehen, dass es wahrscheinlich die motorischen Fähigkeiten
hat, es zu benutzen, aber dass sein »Ich-will-es-tun«-System nichts
Neues oder anderes tun will. Wenn das Kind die Erfahrung schon ge-
macht hat, dass Dreiradfahren Spaß macht, ist es vielleicht eher bereit,
das zu tun, wird aber möglicherweise verweigern, auf einem Rollbrett
zu fahren. Bevor es das will, muss ihm seine Wahrnehmung von dem
Rollbrett vertraut werden. Und dieses Vertrauen entsteht, wenn das
Kind auf dem Rollbrett fährt und über seinen Tast-, Bewegungs- und
propriozeptiven Sinn das Rollbrett sowie die Position und Bewegun-
gen seines eigenen Körpers wahrnimmt. Allein vom Anschauen des
Rollbretts kann es nicht die gleiche Bedeutung ableiten wie seine El-
tern oder andere Kinder.
>> Kinder mit Autismus lernen am besten durch Tun.

Kinder mit Autismus erleben wahrscheinlich nicht das Vergnügen,


das wir von anderen Kindern kennen, wenn sie neue Fahrzeuge oder
Schaukelgeräte ausprobieren. Ihr Gehirn registriert die ungewohnten
Körperempfindungen nicht als angenehm. Oft müssen sie dieselben
Erfahrungen immer wieder machen, bevor sie sie genießen können.

Therapie
In der Therapie nach dem sensorisch-integrativen Ansatz kommt
es oft vor, dass autistische Kinder eine neue Aktivität oder die
Variante einer schon bekannten Aktivität zunächst ablehnen, aber
nach einigen Behandlungssitzungen dabei lächeln und sogar laut
lachen.
Damit überhaupt ein Fortschritt möglich ist, müssen sich die
Therapeutin und die Eltern mit dem Widerstand des Kindes abfin-
den, bis es bereit ist, die therapeutische Aktivität zu akzeptieren.
Meist kann sich die Therapeutin bei autistischen Kindern nicht
wie bei anderen Kindern mit sensorischen Integrationsstörungen
auf deren inneren Antrieb verlassen. Es ist nämlich der innere
Antrieb, der bei Kindern mit Autismus nicht gut funktioniert
(. Abb. 9.6).
Die motorischen Aktivitäten autistischer Kinder können auch
durch eine schwache Modulation der Schwerkraft- oder Bewe-
gungsempfindungen beeinträchtigt sein. Schwerkraftunsicher-
heit führt sicher zu unangenehmen Empfindungen, sofern die
Therapeutin oder die Eltern das Kind nicht mit äußerster Vorsicht
bewegen. Kinder, die vestibuläre Reize nicht modulieren können,
bewegen sich manchmal gar nicht.
Bewegungsarmut ist eines der ersten Symptome, das die
Therapeutin in der Behandlung angehen muss. Bis die vestibulä-
184 Kapitel 9 • Kinder mit Autismus

ren Erfahrungen durch die Therapie erträglicher und angenehmer


werden, ist zu erwarten, dass die Kinder sich allen Bemühungen,
sie zu Bewegungsaktivitäten und Änderungen der Körperposition
zu bewegen, widersetzen.

9.2.2 Die Entwicklung der Bewegungsplanung

Durch die schlechte sensorische Verarbeitung werden autistische


Kinder in vielerlei Hinsicht gehindert, Fähigkeit zur Bewegungspla-
nung zu entwickeln:
55 Die Kinder können mit einem visuellen Objekt nicht einfach
eine Bedeutung verbinden.
55 Sie haben keine zuverlässige innere Landkarte von ihrem Körper,
. Abb. 9.6  Ein wichtiger Aspekt der
auf die sie zur Planung ihrer Bewegungen zurückgreifen können.
Sensorischen Integrationstherapie bei
einem Kind mit Autismus ist der, ihm 55 Sie haben Schwierigkeiten, sich die Anwendungsmöglichkeiten
zu helfen, eine Aktion zu starten und eines Objekts vorzustellen.
die einzelnen Schritte zu planen 55 Sie sind nicht motiviert, sich mit zielgerichteten und zweckmäßi-
gen Aktivitäten zu beschäftigen.
9 55 Sie lehnen neue Aktivitäten oder Varianten bekannter Aktivitä-
ten ab; und wenn sie etwas tun, können sie es oft nicht genießen.

Autistische Kinder handeln weitaus weniger aus reiner Freude am


Tun als normal entwickelte Kinder, deren Gehirn Sinnesempfindun-
gen regelrecht verarbeitet und Handlungen sinngemäß plant.
Da autistische Kinder den angeborenen »Drang zum Tun« nicht
ausleben und scheinbar nicht das gleiche Vergnügen am Tun empfin-
den wie andere Kinder, können sich ihre Fähigkeiten, mit der Um-
gebung zu interagieren, nicht entwickeln. Allerdings erleben viele
autistische Kinder Bewegungsaktivitäten als befriedigend und haben
Spaß daran. Auf den Therapiegeräten bewegen sie sich ausdauernd,
allerdings ohne ihre Interessen oder anpassenden Reaktionen weiter-
zuentwickeln. Selbst wenn sie versuchen, eine Bewegung zu planen,
fällt es ihnen schwer, weil sie eine Art Dyspraxie haben.
Grundlage unseres Verhaltens ist, dass wir Vorstellungen ent-
wickeln, in welchem Bezug wir zu unserer Umgebung stehen. Den
Menschen, die ihre Umwelt nicht zuverlässig und exakt wahrnehmen
oder wirkungsvoll beeinflussen können, fehlen grundlegende Erfah-
rungen, um komplexeres Verhalten zu entwickeln. Obwohl Kinder
mit Autismus über »vorprogrammierte« Bewegungen wie Gehen und
Klettern verfügen und ihre Bewegungen nicht von unkontrollierten
Muskelspasmen behindert werden, wie es bei Zerebralparese der Fall
ist, ist ihre Fähigkeit zu lernen, wie sie ihren Körper anpassend ein-
setzen können, stark beeinträchtigt. Dadurch haben sie in vielen Be-
reichen Schwierigkeiten, unter anderem in der Sprache, Selbststän-
digkeit und im emotionalen Verhalten. Da die Kinder bereits einfache
9.2 • Der Wunsch, etwas zu tun
185 9

. Abb. 9.7  Therapeuten, zusammen mit anderen Fachkräften und Eltern sind
weiterhin dabei, die Sinnesverarbeitung bei Kindern mit Autismus zu verstehen
und zusätzliche Wege zu finden, sie zu »erreichen«

anpassende Bewegungen nicht organisieren können, ist zu erwarten,


dass sie auch mit komplexerem Verhalten Schwierigkeiten haben wer-
den.

Therapie
Ziel der Sensorischen Integrationstherapie bei einem Kind mit Au-
tismus ist es, die sensorische Verarbeitung so weit zu verbessern,
dass das Gehirn mehr Sinnesreize registrieren und modulieren
kann, und dass das Kind zu einfachen anpassenden Reaktionen
angeregt wird, durch die es lernt, sein Verhalten zu organisieren.
Kann die Therapie eine Veränderung herbeiführen, so verän-
dert diese das Leben der Kinder in beachtlichem Maß; zurzeit gibt
es aber keine »Heilung« von Autismus. Durch unsere Erfahrungen
in der Behandlung autistischer Kinder werden wir zunehmend
mehr über deren Sinnesverarbeitung verstehen und zusätzliche
Wege finden, wie wir sie »erreichen« können (. Abb. 9.7). Höchst-
wahrscheinlich werden Sinneserfahrungen ein wichtiger Schwer-
punkt in den Interventionsprogrammen sein.

In . Abb. 9.8 finden Sie Anregungen, um sich in die innere Lage eines


autistischen Kindes hineinversetzen zu können.
Hinweis:
Einen Ex3pertenkommentar von Dr. Margaret L. Bauman zu den in diesem Kapitel
besprochenen Themen finden Sie in Anhang A.
186 Kapitel 9 • Kinder mit Autismus

Sensorische Integration verstehen


• Erinnern Sie sich an eine Situation, in der Sie das, was zu tun
anstand, wirklich nicht tun wollten – vielleicht nach einem
anstrengenden Arbeitstag bei schlechtem Wetter noch einen weiten
Weg nach Hause fahren müssen, oder Ihre Steuererklärung beginnen, für die Sie erst
einmal alle Belege zusammensuchen müssen? Fiel es Ihnen nicht schwer, anzufangen?
Stellen Sie sich jetzt eine Situation vor, die Sie genießen – vielleicht Ihren ersten
Urlaubstag, an dem Sie Dinge tun wollen, auf die Sie sich schon freuen. Vielleicht können
Sie nachempfinden, wie Sie nicht darauf warten konnten, dass diese Dinge endlich
geschehen. Spüren Sie, wie es ist, wenn das „Ich-will-es-tun!“-System in Ihrem Gehirn
aktiv ist? Kinder mit Autismus reagieren auf viele Aktivitäten, die andere Kinder
verlockend und lustig finden, mit einem Gefühl wie es die ersten Beispiele auslösen.
• Überlegen Sie, wie Sie sich fühlen, wenn Sie sich an einem unbekannten Ort verlaufen
haben und sich überhaupt nicht auskennen. Welches Gefühl würde es auslösen, wenn Sie
sich umsehen und nichts und niemanden erkennen? Und dann stellen Sie sich vor, wie
Sie sich fühlen, wenn Sie plötzlich einen guten Freund in der Nähe einer Sehenswürdigkeit
stehen sehen, die Sie jetzt erkennen. Können Sie sich nun vorstellen, warum Kinder mit
9 Autismus immer das Gleiche möchten, wenn ihnen so viel in unserer Welt verwirrend
und unbekannt erscheint?

. Abb. 9.8  Sensorische Integration verstehen


187 III

Was getan werden


kann
Kapitel 10     Befundung und Behandlung – 189
Kapitel 11     Was Eltern tun können – 209
189 10

Befundung und Behandlung


Wie Sensorische Integrationstherapie helfen kann

10.1 Kompetent werden durch Auseinandersetzung mit der


Umwelt – 191
10.2 Therapie nach dem sensorisch-integrativen Ansatz – 193
10.2.1 Die wichtigsten Prinzipien der Therapie – 194
10.2.2 Die Befunderhabung – 195
10.2.3 Fachkundige Auswahl von Sinneserfahrungen – 196
10.2.4 Therapeutische Aktivitäten – 198
10.2.5 Die therapeutische Atmosphäre – 200

10.3 Vergleich: SI-Ansatz versus andere Therapieansätze – 202


10.4 Warum hilft die Sensorische Integrationstherapie? – 205

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
190 Kapitel 10 • Befundung und Behandlung

Wenn in einer Gesellschaft Probleme entstehen, wird es immer auch


den Versuch geben, diese zu lösen. Seit Lern- und Entwicklungs-
störungen bei Kindern zugenommen haben, arbeiten zunehmend
mehr Fachkräfte daran, diese Störungen zu verstehen und Wege zu
finden, um den betroffenen Kindern zu helfen. Die erste Erkenntnis
war, dass die Kinder, bei denen Lern- und Entwicklungsschwächen
festgestellt wurden, oft auch Defizite in der auditiven und visuellen
Wahrnehmung hatten. Weitere Studien zeigten, dass eine schlechte
Integration der Nahsinne, die uns Informationen über Berührungen,
Körperstellung und Bewegung im Raum geben, die Basis für einen
Teil der auditiven und der meisten visuellen Probleme bei Kindern
sind.
Ergotherapie wurde ursprünglich entwickelt, um Patienten mit
motorischen Behinderungen und Verhaltensstörungen zu helfen,
durch anpassende Reaktionen ihre Beeinträchtigungen zu verbes-
sern. Einige Ergotherapeutinnen änderten die Techniken so ab, dass
sie auch bei Kindern mit sensorischen Integrationsstörungen ange-
wendet werden konnten. Begonnen hat dieser Therapieansatz in den
1960er Jahren, mittlerweile wurde er weiterentwickelt und hat zuneh-
mend an Bekanntheit gewonnen. Viele andere Berufsgruppen – u.a.
Physiotherapie, Sprachtherapie, Pädagogik, Psychologie und teilweise
auch die Neuropädiatrie setzen sensorisch-integrative Prinzipien im
Rahmen ihres eigenen Fachbereichs ein. Forschungen haben gezeigt,
10 dass dieser Ansatz bei vielen – aber nicht bei allen – Kindern mit
Lern-, Entwicklungs- und Verhaltensproblemen wirksam ist.
»Eine Behandlung mit dem Dieses Kapitel beschreibt eine Therapie, in der fachkundig aus-
Schwerpunkt »sensorische gewählte therapeutische Sinnesreize und Körpererfahrungen einge-
Erfahrungen und Reaktionen setzt werden, um die sensorische Integration und damit das Lernen,
auf diese Erfahrungen« kann das Verhalten und die Lebensqualität zu verbessern. Es ist wichtig,
Gehirn und Körper oft besser sich bewusst zu machen, dass unsere Umwelt fortlaufend Gelegenhei-
unterstützen, sich optimal zu ten für visuelle, auditive, Geruchs- und Geschmacks-, Schwerkraft-
entwickeln als Medikamente, und auch Berührungserfahrungen bietet. Durch Bewegung erhalten
Psychotherapie oder wir Muskel- und Gelenkinformationen vom Inneren des Körpers
Belohnungen und Strafen.« (. Abb. 10.1). All diese Sinnesempfindungen sowie unsere Reaktionen
auf die Empfindungen bewirken, dass unser Gehirn sich entwickelt.
Eine Behandlung mit dem Schwerpunkt »sensorische Erfahrungen
und Reaktionen auf diese Erfahrungen« kann Gehirn und Körper
oft besser unterstützen, sich optimal zu entwickeln als Medikamente,
Psychotherapie oder Belohnungen und Strafen.
>> Therapie nach den Prinzipien der Sensorischen Integration
ist ein natürlicher Prozess.

»Wenn ein Kind Schwächen in Natürliche Interaktionen in einer für uns typischen Umgebung liefern
der sensorischen Integration hat, die sensorischen Erfahrungen und Gelegenheiten für anpassende Re-
kann ihm diese spezialisierte aktionen, die bei den meisten jüngeren Kindern für die Entwicklung
Therapie helfen, das zu tun, was des Gehirns ausreichen. Das Gehirn ist von Natur aus so angelegt,
es von Natur aus tun würde.« dass es sich durch normale körperliche Aktivitäten entwickelt. Wird
diese natürliche Entwicklung während der Schwangerschaft oder der
10.1 • Kompetent werden durch Auseinandersetzung mit der Umwelt
191 10

. Abb. 10.1  Durch Bewegung erhalten wir Muskel- und Gelenkinformationen


von unserem Körper

ersten Lebensjahre gestört, ist es oft sinnvoll, die Entwicklung mit


natürlichen Mitteln zu fördern. Manche Kinder zeigen im Säuglings-
alter Schwächen in der sensorischen Integration, die sich der frühen
Kindheit durch die natürlichen anpassenden Reaktionen im Wesent-
lichen von selbst ausgleichen. Wenn ein Kind jedoch Schwächen in
der sensorischen Integration hat, die sich zu Hause und durch Spielen
nicht verbessern, kann ihm diese spezialisierte Therapie helfen, das zu
tun, was es von Natur aus tun würde.

10.1 Kompetent werden durch Auseinandersetzung


mit der Umwelt

Noch bis nach dem 2.  Weltkrieg glaubten die meisten Philosophen
und Wissenschaftler, dass die Auseinandersetzung (Interaktion) des
Kindes mit seiner Umgebung keine Wirkung auf seine Intelligenz und
Lernfähigkeit habe. Manche dachten, dass die Lernfähigkeit bereits
vor der Geburt festgelegt sei, und dass niemand seine vorgegebene
Lernkapazität steigern könne. Andere dagegen glaubten, dass das
Kind durch die Ereignisse, die ihm widerfahren, konditioniert werde,
und dass seine eigene Aktivität keinen Einfluss auf diese Konditio-
nierung habe.
Der Schweizer Psychologe Jean Piaget hatte als einer der Ersten
erkannt, dass die Interaktion des Kindes mit seiner Umgebung ent-
scheidend ist für seine Entwicklung. Piaget beobachtete, dass Kinder
einer vorgegebenen Sequenz von Entwicklungsschritten folgen, in-
192 Kapitel 10 • Befundung und Behandlung

nerhalb derer Lernen als Reaktion auf Ereignisse stattfindet. Er hob


hervor, dass Lernen uns nicht einfach »passiert«.
>> Wir schaffen uns unsere Lernerfahrungen selbst, indem wir
auf Ereignisse reagieren.

»Intelligenz ist weitgehend das Manche Verhaltensweisen hängen fast ausschließlich von der Aus-
Ergebnis der Auseinanderset- legung des Nervensystems ab, während andere durch Lernen (Kon-
zung mit der Umgebung.« ditionierung) entstehen, doch größtenteils ist Intelligenz weder vor-
gegeben noch konditioniert. Intelligenz ist weitgehend das Ergebnis
der Auseinandersetzung mit der Umgebung.
Nach Piaget passt das Kind sich an seine Umgebung an und inte-
griert die Umgebung in sein Denken. Dieses gegenseitige Geben und
Nehmen erzeugt eine anpassende Reaktion, die effektiv, fließend und
befriedigend ist. Sowohl Anpassung (Piaget sprach von Adaptation)
als auch Integration (Piaget sprach von Assimilation) machen einen
Teil der Intelligenz aus.
Kinder mit sensorisch-integrativen Funktionsstörungen können
sich nicht effektiv, fließend und befriedigend an verschiedene Um-
gebungen anpassen, weil ihr Gehirn die Prozesse nicht entwickelt
hat, die es braucht, um die Sinnesinformationen einer Umgebung zu
integrieren. Sie benötigen eine sehr spezielle Umgebung, die auf ihr
Nervensystem zugeschnitten ist. Passt die Umgebung, sind auch diese
Kinder in der Lage, Sinnesempfindungen zu integrieren, die sie vor-
10 her nicht verarbeiten konnten.
>> Wenn das Gehirn Gelegenheit bekommt, organisiert es sich
selbst.

Piaget hob hervor, dass Reiz und Reaktion in einem Kreisprozess ab-
laufen (er sprach von Zirkulärreaktion). Ist die Umgebung anregend
und bietet viele Reize, zeigen wir mehr und auch variationsreichere
Reaktionen, über die wir uns wiederum mehr und auch vielfältigere
Sinnesanregungen holen.

Sensorisch-integrativer Ansatz
In der Sensorischen Integrationstherapie lernen Kinder oft wie
nebenbei die eine oder andere Fertigkeit oder Verhaltensweise.
Diese Details sind aber nicht das Ziel. Vielmehr zielt die Therapie
auf körperliche Aktivitäten ab, die Sinneserfahrungen liefern und
anpassende Reaktionen auslösen, die wiederum mehr Sinnes-
empfindungen liefern und noch komplexere anpassende Reak-
tionen auslösen (. Abb. 10.2). Auf diese Weise verbessert sich die
Effizienz der gesamten Hirnfunktion.
10.2 • Therapie nach dem sensorisch-integrativen Ansatz
193 10
10.2 Therapie nach dem sensorisch-integrativen
Ansatz

Warum muss ein Kind überhaupt zu einer Therapie gehen, wenn die
Auseinandersetzung mit der Umgebung die Entwicklung des Gehirns
fördert, und wenn das Gehirn sich ohnehin selbst organisiert, wenn
es Gelegenheiten geboten bekommt? »Behandelt« das Kind sich nicht
selbst, wenn es zu Hause oder auf dem Spielplatz spielt? Wir versu-
chen nun, diese Fragen zu beantworten.
Das normal entwickelte Kind braucht keine Therapie, weil sein
Spiel ihm die Sinneserfahrungen liefert, die sein Gehirn braucht, und
es sinnvoll auf diese Reize reagieren kann. Bei Kindern mit einer sen-
sorischen Integrationsstörung besteht ein neuronales Problem, das
sie die Sinneserfahrungen ihres Spiels nicht verarbeiten und nicht an-
passend darauf reagieren lässt. Damit fehlen ihnen die anpassenden
Reaktionen, die tragend für die Organisation des Gehirns sind. Mit
anderen Worten: Diese Kinder können zwar spielen, aber nicht auf
eine integrierende Art und Weise. Sie brauchen eine Umgebung, die
auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist. Eine solche Umgebung findet
man in der Regel weder zu Hause noch in der Schule.
Unsere Gesellschaft legt mehr Wert auf die sprachliche, schulische . Abb. 10.2  In der Sensorischen
und intellektuelle Entwicklung als auf die Entwicklung der sensomo- Integrationstherapie werden dem
Kind Aktivitäten angeboten, die weder
torischen Grundlagen für diese höheren Leistungen. Fernsehen, Vi-
zu leicht noch zu schwierig, sondern
deos und Computerspiele fesseln Kinder so, dass sie weniger Zeit auf »gerade die richtige Herausforderung«
einer Schaukel und in einem Sandkasten verbringen. Mancherorts sind
wird bereits in der Vorschule erwartet, dass die Kinder zu lesen und »Unsere Gesellschaft legt
zu schreiben beginnen, wo sie doch viel eher Gelegenheiten bräuch- mehr Wert auf die sprachliche,
ten, um ihre grundlegenden sensorischen Funktionen zu verbessern schulische und intellektuelle
– und diese bessere Sinnesverarbeitung würde es den Kindern später Entwicklung als auf die
in der Schule leichter machen, das Lesen und Schreiben zu lernen. Entwicklung der sensomotori-
schen Grundlagen für diese
höheren Leistungen.«

Sensorisch-integrativer Ansatz »Die Therapeutin muss das Kind


Die Therapeutinnen haben neurowissenschaftliches Hintergrund- anregen, locken und motivieren,
wissen. Sie können beurteilen, wie die Sinnessysteme eines Kin- Aktivitäten zu wählen, die die
des funktionieren, und sie können die Umgebung so gestalten, Entwicklung seines Gehirns
dass das Kind sich effizient damit auseinandersetzen kann. Viele fördern.«
Kinder mit sensorischen Verarbeitungsstörungen folgen nicht
ihrem inneren Antrieb, und die Therapeutin muss sie anregen,
locken und motivieren, Aktivitäten zu wählen, die die Entwick-
lung ihres Gehirns fördern. Die Therapeutin kann das Gehirn des
Kindes nicht organisieren; das kann nur das Kind selbst tun; aber
es ist offensichtlich, dass es dazu auf Hilfe angewiesen ist.
194 Kapitel 10 • Befundung und Behandlung

10.2.1 Die wichtigsten Prinzipien der Therapie

»Wenn die Therapeutin ihre In  7  Übersicht 10.1 sind die wichtigsten Prinzipien der Therapie zu-
Aufgabe gut macht und sammengefasst.
Organisation des Nervensystems
stattfindet, sieht es aus, als ob
Übersicht 10.1. Prinzipien der SI-Therapie
das Kind lediglich spielt.«
55 D ie sensorischen Qualitäten von Aktivitäten sind wichtig für
die Entwicklung und das Lernen.
55 Ein Kind muss Sinnesreize gut wahrnehmen und integrieren,
damit es Anforderungen bewältigen und neue Fertigkeiten
lernen kann.
55 Um sensorische Integration im Nervensystem zu fördern, ist
es wichtig, Herausforderungen erfolgreich zu meistern und
neue Fähigkeiten zu erwerben.
55 Mit dem geordneten Verarbeiten von Sinnesinformationen
und erfolgreichen Reaktionen auf Anforderungen verbessert
sich im Allgemeinen auch die Organisation des Verhaltens.
55 Komplexe Fertigkeiten und Muster können sich nur auf dem
Boden gut gefestigter einfacherer Leistungen entwickeln.
55 Je motivierter das Kind ist, von selbst eine Aktivität auszu-
führen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es dabei-
bleibt, bis es diese besser beherrscht.
10 55 Die Therapie findet in spielerischem Rahmen statt, und das
Angebot der therapeutischen Aktivitäten richtet sich nach
den Interessen und Vorlieben des Kindes.
55 Die therapeutischen Aktivitäten werden von der Therapeutin
so gewählt, dass sie »gerade die richtige Herausforderung«
für das Kind bieten.
55 Die Wirksamkeit der Behandlung wird daran gemessen, ob
das Kind Anforderungen, die bisher schwierig oder desorgani-
sierend waren, erfolgreich meistern kann.

>> Grundidee der Sensorischen Integrationstherapie ist es,


Sinnesreize – besonders vom Bewegungssystem (vestibu-
läres System), von den Muskeln und Gelenken (proprio-
zeptives System) und von der Haut (taktiles System) – in der
Form anzubieten und zu dosieren, dass das Kind spontan
anpassend reagiert, wobei es die Sinnesempfindungen
integriert.

Diese Idee bei Kindern mit einer sensorischen Verarbeitungsstörung


umzusetzen erfordert eine kompetente und problemspezifisch quali-
fizierte Therapeutin sowie einen großen Raum mit einer einfachen,
aber spezialisierten Ausstattung. Wenn die Therapeutin ihre Aufgabe
gut macht und das Kind sein Nervensystem organisiert, sieht es aus,
als würde das Kind lediglich spielen. Das Leben ist eben voller Para-
doxien; diese ist eine davon. Die Behandlung ist am wirksamsten,
10.2 • Therapie nach dem sensorisch-integrativen Ansatz
195 10
wenn das Kind seine Handlungen selbst bestimmt, während die The-
rapeutin unauffällig die Umgebung anpasst.
>> Sensorische Integration findet dann statt, wenn das Kind
bestimmte Sinneserfahrungen machen will, und wenn es
eine Aktivität initiiert, um diese Empfindungen zu bekom-
men.

Wenn das Kind eine Aktivität will, ist sein Gehirn normalerweise
in der Lage, die Sinnesinformationen dieser Aktivität zu verarbeiten.
Das Gehirn ist so angelegt, dass es sich die Erfahrungen holt, die es
für seine Entwicklung braucht. Seit den 500 Millionen Jahren unserer
Entwicklungsgeschichte arbeiten die Gehirne von Wirbeltieren nach
diesem Prinzip, und heute noch versucht das Gehirn jedes Kindes,
genau das zu tun.
Kinder mit schwereren Störungen – besonders Kinder mit Au-
tismus – benötigen vermehrt Anleitung und Struktur von außen.
Zuweilen wird deren Selbstbestimmung durch Angst, Feindseligkeit
oder andere Emotionen beeinträchtigt. In dieser Situation hilft die
Therapeutin dem Kind, mit seinen negativen Reaktionen und Emo-
tionen zurechtzukommen, indem sie ihm die Sinnesreize anbietet, die
es braucht, um anpassend zu reagieren und die Reaktionen geordnet
zu verarbeiten. Gegen einen Pappkarton zu schlagen und zu treten
kann sowohl sensomotorischen als auch emotionalen Wert haben.
>> Ziel ist nicht, dem Kind die Aktivität, die es gerade ausführt,
oder andere motorische Fertigkeiten beizubringen, sondern
Ziel ist, dem Kind zu adäquaten körperlichen, emotionalen
und kognitiven Funktionen zu verhelfen.

Wir unterstützen das Kind dabei, seine Lernfähigkeit zu verbessern,


so dass es jede motorische oder kognitive Fertigkeit oder jede Verhal-
tensweise, die es in seinem Leben braucht, erlernen kann. Motorische
Aktivitäten sind wertvoll, weil sie Sinneserfahrungen liefern, die or-
ganisierend auf den Lernprozess wirken – so wie die Körperbewegun-
gen der frühzeitlichen Tiere zur Entwicklung eines Gehirns geführt
haben, das denken und lesen kann.

10.2.2 Die Befunderhabung

Bevor wir ein Kind behandeln, wird ein umfassender Befund auf-
genommen. Zur Beurteilung der sensorischen Verarbeitung und Be-
wegungsplanung setzen die meisten Therapeutinnen bei Kindern im
Alter von 4–9 Jahren die Testbatterie Sensory Integration and Praxis
Tests (SIPT) ein. [Anm. d. Übersetzerin: Die SIPT wurden 1997/98 für
den deutschen Sprachraum pilot-standardisiert.]
>> Die Testbatterie »SIPT« zeigt, wie gut das Kind vestibuläre,
visuelle, taktile und propriozeptive Reize integrieren, seine
196 Kapitel 10 • Befundung und Behandlung

Bewegungen planen, Augen und Hände koordinieren und


Halte- und Augenreaktionen produzieren kann.

Die Therapeutin kann aus den Ergebnissen ablesen, welche Systeme


zu wenig reagieren, und welche überreagieren. Sofern dies nicht an-
dere Fachkräfte getan haben, wird auch die visuelle Wahrnehmung
des Kindes beurteilt, manchmal auch die auditive. Des Weiteren wird
überprüft, ob das Kind eine Händigkeit entwickelt hat und Leistungen
lateralisieren kann.
Auf der Grundlage von standardisierten Tests, Beobachtungen
und Eltern- und Lehrerinterviews stellt die Therapeutin fest, wo das
Problem liegt, und was das Kind braucht:
55 Manche Kinder brauchen in erster Linie Bewegungserfahrungen
(vestibuläre Reize).
55 Andere brauchen während ihrer Bewegungsaktivitäten zusätz-
lich intensive Berührungs- und Muskelempfindungen (taktile
und propriozeptive Reize).
55 Viele müssen lernen, die Sinnesreize, die ihr Gehirn überfluten
und sie hyperaktiv, leicht ablenkbar, abwehrend und/oder unsi-
cher machen, zu modulieren.
55 Alle Kinder mit sensorischen Integrationsstörungen brauchen
Erfahrungen, die anpassende Reaktionen auslösen, aber jedes
Kind muss an einer anderen Art von anpassenden Reaktionen
10 arbeiten.

10.2.3 Fachkundige Auswahl von Sinneserfahrungen

Obwohl die Therapie grundsätzlich kindgesteuert ist, kann die The-


rapeutin bei Bedarf sensorische Erfahrungen initieren, indem sie das
Kind zu den entsprechenden Berührungs-, Bewegungs- oder proprio-
zeptiven Erfahrungen hinführt.

Taktile Informationen   Tastaktivitäten und -empfindungen senden


wichtige elementare Informationen an viele Bereiche im Gehirn. Tak-
tile Informationen können entweder anregend oder hemmend wir-
ken, je nachdem, von welchen Körperteilen sie stammen, und ob es
sich um feine, diffuse Reize oder festen, tiefen Druck handelt.
!! Die Wirkung von Berührungsreizen ist viel kraftvoller als
allgemein angenommen. Deshalb raten wir von passiver
taktiler Stimulation ab.

Tiefer Druck hilft berührungsempfindlichen Kindern, sich zu orga-


nisieren, wenn sie von taktilen Reizen irritiert und hyperaktiv oder
leicht ablenkbar sind. Wir setzen oft Aktivitäten wie den »Hambur-
ger« ein, um tiefen Druck zu geben: Das Kind liegt zwischen 2 Mat-
ten, und die Therapeutin drückt von oben auf das Kind, während sie
so tut, als ob sie Ketchup, Senf, Saucen und alle Arten von Gewürzen
10.2 • Therapie nach dem sensorisch-integrativen Ansatz
197 10
auf den »Hamburger« gibt. Die Kinder kommen meist ruhiger und
besser organisiert aus dem »Hamburger« heraus.
Bei anderen Aktivitäten kann die Therapeutin Druck und Zug auf
die Gelenke geben, um die propriozeptiven Rezeptoren zu stimulie-
ren, z.B. wenn das Kind an einem Trapez hängt (. Abb. 10.3) oder an
einer Kletterwand hochklettert.

Vibration  Eine andere Art, die Sinnesrezeptoren in den Körpergewe-


ben zu stimulieren – besonders jenen, die mit Knochen verbunden
sind – ist Vibration. Sie wird in die Aktivität »eingebaut«, z.B. mittels
handelsüblichen Muskelvibratoren oder dem Vibrationsbrett mit Mo-
tor, auf dem das Kind liegen, sitzen oder stehen kann. Wird Vibration
an den Knochen angesetzt, so werden über Knochenleitung auch Im-
pulse an das Gleichgewichtsorgan geleitet. In  7  Kapitel 3 haben wir
beschrieben, dass die vestibulären und auditiven Rezeptoren aus Sin-
nesorganen entstanden sind, die die prähistorischen Tiere brauchten,
um Wasser- und Bodenvibrationen zu spüren.
!! Vibration muss mit Vorsicht eingesetzt werden, da sie bei
jedem Kind unterschiedlich wirken kann. Dies gilt auch für
andere Arten von sensorischem Input. . Abb. 10.3  Je motivierter ein Kind
ist, umso größer ist die Chance, dass
Vestibuläres System  Ein Schwerpunkt der Behandlung liegt auf dem es Herausforderungen meistert und
Sinnessystem, das Informationen von Bewegungen im Raum und der damit neue Fähigkeiten erwirbt

Schwerkraft verarbeitet – dem vestibulären System. Möglicherweise


ist die Arbeit mit dem vestibulärem Sinnessystem der Grund, warum
SI-Therapie bei Kindern, die von anderen Therapien nicht profitieren
konnten, Wirkung zeigt.
Es ist am besten, das Kind die Reizquellen selbst auswählen zu
lassen, d.h., das Gerät, mit dem es dieses Sinnessystem aktivieren
möchte. Wenn sein Nervensystem »aufgeweckt« werden muss, wählt
das Kind wahrscheinlich ein Gerät, auf dem es sich rasch und in vie-
le Richtungen bewegen kann. Wenn das Kind hingegen vestibuläre
Reize nicht gut verarbeiten kann und für anpassende Reaktionen auf
Hilfe angewiesen ist, wird es zusätzliche Bewegungen eher meiden.
In dem Fall muss die Therapeutin ihm Gelegenheiten für proprio-
zeptiven und taktilen Input bieten, die ihm helfen, die Aktivität seines
Gleichgewichtssystems zu modulieren.
>> Die Reaktionen des Kindes auf sensorischen Input sind in
der Regel ein guter Leitfaden, wie gut das Gehirn die Reize
verarbeitet und integriert.

Die Therapeutin beobachtet jedes Kind genau, um zu sehen, wie die


Sinneserfahrungen wirken. Manchmal tritt die Wirkung nicht un-
mittelbar auf, sondern verzögert. Vestibulärer Input ist besonders
kraftvoll und kann sowohl desorganisierend als auch organisierend
wirken. Er beeinflusst die Atmung und den Herzrhythmus. Ein Kind,
das Gleichgewichtsreize nicht verarbeiten kann, kann desorientiert,
198 Kapitel 10 • Befundung und Behandlung

lethargisch und unorganisiert werden. In extremen Fällen kann das


Kind sogar das Bewusstsein verlieren oder, falls es eine Anfallsnei-
gung hat, einen epileptischen Anfall bekommen1.
!! Eltern, Pädagogen und andere Fachkräfte sollten ein Kind
nie gegen seinen Willen im Raum bewegen, was nichts
anderes bedeutet, als ihm vestibulären Input aufzuzwingen.

Therapeutische Bewegungsaktivitäten (vestibuläre Reize) zur Verbes-


serung der Hirnfunktion sollten ausschließlich von Therapeutinnen
mit einer Zusatzausbildung in Sensorischer Integrationstherapie ein-
gesetzt werden.

10.2.4 Therapeutische Aktivitäten

»Der Antrieb zu handeln muss >> Sensorische Integration findet dann statt, wenn ein Kind
vom Kind selbst kommen, auch spontan eine erfolgreiche anpassende Reaktion auf Sinnes-
wenn es bisher nicht in der Lage informationen plant und ausführt.
war, erfolgreich zu handeln.«
Wie wir am Anfang dieses Kapitels beschrieben haben, muss sich das
»Die Therapie nach den Kind aktiv mit der Umgebung auseinandersetzen, um die Organi-
Prinzipien der Sensorischen sation seines Nervensystems zu verbessern. Der Antrieb zu handeln
Integration ist ganzheitlich muss vom Kind selbst kommen, auch wenn es bisher nicht in der
10 (holistisch); sie bezieht den Lage war, erfolgreich zu handeln. Auch wenn die Entwicklung bisher
ganzen Körper, alle Sinne und schwierig für das Kind war, muss es jeden Entwicklungsschritt selbst
das ganze Gehirn mit ein.« machen. Die Geräte, die wir in der Sensorischen Integrationstherapie
verwenden, wurden speziell entwickelt, um Kinder zu Aktivitäten zu
locken, die dem jungen Gehirn organisierende Sinnesempfindungen
liefern.
Die Therapie nach den Prinzipien der Sensorischen Integration
ist ganzheitlich (holistisch); sie bezieht den ganzen Körper, alle Sinne
und das ganze Gehirn mit ein. Die Muskeln, die für eine anpassende
Körperbewegung zusammenarbeiten, senden eindeutige und geord-
nete Muskel- und Gelenkinformationen an das Gehirn. Ganzkörper-
bewegungen liefern zudem viele vestibuläre Empfindungen, die hel-
fen, die Informationen der anderen Sinnessysteme zu vereinen. Die
Fähigkeit, diese Sinnesempfindungen zu verarbeiten, zu organisie-
ren und adäquat darauf zu reagieren, hilft dem Gehirn, auch andere
Funktionen zu organisieren. Kinder, die in Therapie waren, drücken
das später so aus: »Die Therapie hat mir geholfen, mein Leben zu
meistern« oder »Ich hatte immer viele Pläne und konnte nichts durch-
ziehen; jetzt schaffe ich, was ich mir vornehme.«
Laien sehen oft nur, dass das Kind Spaß hat und sich bewegt.
Die Therapeutin sieht jedoch, wie bestimmte Sinnessysteme aktiviert

1 [Anm. d. Übersetzerin:] Nach aktuellem Wissensstand lösen vestibuläre Reize


per se keine Anfälle aus. Allerdings kann bei ungünstigen Lichtverhältnissen
eine Art Flackerlichteffekt entstehen, der dann Anfälle auslösen kann.
10.2 • Therapie nach dem sensorisch-integrativen Ansatz
199 10
werden, und ob bestimmte Verhaltensweisen auftreten oder nicht.
Sie vergleicht die Reaktionen des Kindes mit den Ergebnissen des
Anfangsbefunds. Aus ihrer schriftlichen Dokumentation und Erin-
nerung weiß sie, welche Fortschritte das Kind in den bisherigen The-
rapiesitzungen gemacht hat. Während sie das Kind beobachtet, ver-
gleicht sie alle Informationen von diesem Kind mit ihren Erfahrun-
gen mit anderen Kindern mit ähnlichen Störungen und mit Artikeln
von Therapeutinnen aus der ganzen Welt und Forschungsartikeln.
>> Es mag so wirken, als würde die Therapeutin lediglich mit
dem Kind spielen, aber in Wirklichkeit leistet sie harte
Arbeit, damit dieses »Spiel« das Nervensystem des Kindes
erreicht.

Therapeutinnen brauchen eine gute Ausbildung, eine Menge Phanta-


sie und Sensibilität für das Kind. Jedes Kind hat andere neurologische
Bedürfnisse, und diese Bedürfnisse verändern sich im Laufe der Zeit.
Daher muss die Therapie verschiedenste Möglichkeiten für sensori-
schen Input und Bewegung bieten. In den Therapieräumen finden
sich Ansammlungen von Geräten, die zum Schaukeln, Drehen, Rol-
len, Klettern, Krabbeln, Fahren und für andere Ganzkörperbewegun-
gen geeignet sind. Es gibt auch viele Dinge, die das Kind aufheben, mit
den Händen erforschen und betätigen und werfen kann. Das wich-
tigste Therapiemittel aber ist der Körper des Kindes.
Wenn das Kind dazu fähig ist, dann sucht es selbst das Gerät aus,
das es benutzen möchte; wenn nicht, bietet die Therapeutin ihm eine
Wahlmöglichkeit an. Nicht alle therapeutischen Maßnahmen können
unterhaltsam gestaltet werden. Manchmal müssen auch langweilige,
herausfordernde und ermüdende oder sorgfältig zu kontrollierende
Dinge gemacht werden. In diesen Fällen muss die Therapeutin Be-
handlungsaktivitäten finden, die das Kind bei der Sache halten und
ihm gleichzeitig helfen, die schwierigen Aktivitäten zu meistern. Mit
passiver Stimulation ist immer Zurückhaltung geboten. Die Thera-
peutin muss wissen, woran sie erkennt, wenn das Kind überreizt ist.
Reizüberflutung tut dem Nervensystem nicht gut, tritt aber in einem
gestörten Nervensystem leicht auf.

Tipp

Wir raten den Eltern und Pädagoginnen, Kinder nicht passiv zu


stimulieren und keine neuen Aktivitäten mit starken Sinnesreizen
einzuführen, ohne sich mit einer Ergotherapeutin abzusprechen,
die auf Sensorische Integrationstherapie spezialisiert ist.
200 Kapitel 10 • Befundung und Behandlung

10.2.5 Die therapeutische Atmosphäre

Eines der Behandlungsziele ist es, die Selbststeuerung des Kindes


zu stärken, damit es selbstbestimmter leben kann. Pädagogik und
Erziehung sind meist von außen gesteuert; das muss wohl meist so
sein. Aber Kinder müssen auch die Fähigkeit zur Selbststeuerung und
Selbstbestimmung in ihren Beziehungen zur physikalischen Umwelt
und zu anderen Menschen entwickeln.
>> Selbstvertrauen basiert auf der Fähigkeit, über sich selbst
zu bestimmen.

Die Entwicklung der Selbstbestimmung beginnt im 2.  und 3.  Le-


bensjahr, wenn das Kind erkennt, dass es selbst und seine Mutter
separate Wesen sind, und dass es selbst etwas beherrscht. Wie wir
in  7  Kapitel  2 gesehen haben, kann das Kind in diesem Alter frei
gehen, ein bisschen klettern, bauen und Dinge in der dinglichen und
sozialen Umwelt verändern. Das Kind kann von seiner Mutter weg-
laufen und »Nein, nein« rufen. Je besser das Nervensystem des Kindes
integriert ist, desto unabhängiger wird es sein.

Selbstvertrauen gewinnen  Viele Kinder mit sensorisch-integrativen


Problemen haben kein großes Selbstvertrauen. Es ist schwer, sich
gut zu fühlen, wenn es einem nicht gut geht. Durch die Funktionsstö-
10 rung sind sie in vielen Bereichen auch weniger kompetent als Gleich-
altrige. Schon als kleines Kind fällt ihnen auf, dass sie nicht dasselbe
können wie ihre Freunde, und dass sie im Vergleich immer schlecht
abschneiden. Aus dieser Situation heraus entstehen Unterlegenheits-
gefühle, Frustration und das Gefühl, äußeren Kräften ausgeliefert und
ein Versager zu sein. Viele jugendliche Straftäter sind mit solchen Ge-
fühlen aufgewachsen.
Manchmal kommen Kinder zur Therapie, die Angst haben vor al-
lem, außer vielleicht den allereinfachsten Aktivitäten. Sie haben auch
Angst vor Dingen, zu denen sie leicht in der Lage wären. Sie wollen
ihre Schwächen nicht zeigen. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass
sie den Erwartungen oft nicht entsprechen können und kritisiert wer-
den, und sie fürchten, dass die Therapeutin dasselbe tun wird. Diese
Ängste bringen manche Kinder dazu, ihren inneren Antrieb zu unter-
drücken und Aktivitäten, die ihre sensomotorische Entwicklung för-
dern würden, zu meiden. Wenn dies der Fall ist, muss die Therapeutin
sich Zeit nehmen, um diesen Widerstand zu überwinden. Sie muss
dem Kind helfen, Vertrauen in sie und die therapeutische Umgebung
zu gewinnen. Da nur das Kind selbst sein Gehirn organisieren kann,
muss die Therapeutin seinen inneren Antrieb hervorlocken, indem
sie ihm Herausforderungen anbietet, die Erfolgserlebnisse garantie-
ren.
Die Aktivitäten, die im Therapieraum zur Verfügung stehen, müs-
sen alle auf die sensorisch-integrativen Bedürfnisse und die Fähig-
keiten des Kindes abgestimmt sein. Sie müssen verlockend sein – und
10.2 • Therapie nach dem sensorisch-integrativen Ansatz
201 10
nicht bedrohlich, da das Kind ohnehin ängstlich ist. Die Therapeutin
ist da, um dem Kind zu helfen, sich vestibuläre, propriozeptive und
taktile Erfahrungen zu holen und anpassende Reaktionen zu produ-
zieren, die reifer sind als jemals zuvor.
Wenn die Umgebung das Wachstum des Kindes optimal fördert,
wird es die Behandlung lustig finden und gerne zur Therapie kom-
men. Seine Begeisterung für die therapeutischen Aktivitäten steigt,
je mehr versteckte Fähigkeiten es entdeckt (. Abb. 10.4), und je mehr
Erfolgserlebnisse ihm sein immer besser organisiertes Nervensystem
ermöglicht. Sein Enthusiasmus zeigt der Therapeutin, dass sich sein
Gehirn in der Therapie holen kann, was es für seine Entwicklung
braucht.
Bei Kindern mit einem gut funktionierenden Nervensystem se-
hen wir diese Begeisterung fast immer, wenn sie frei spielen. Sie haben
Vergnügen daran, sich mit den Herausforderungen der Schwerkraft,
Bewegung und Bewegungsplanung auseinanderzusetzen. Auch Er-
wachsene erfahren dieses Hochgefühl, wenn sie ihrem inneren Drang
nach Sinneserfahrungen und Bewegung folgen. Einige spüren die-
se Freude erst bei sehr intensiven vestibulären und propriozeptiven
Reizen, und so klettern sie Felswände hinauf, springen mit dem Fall-
schirm oder werden Rennfahrer. Anderen genügen bereits die dezen-
teren Sinnesreize beim Tanzen, Schwimmen oder Joggen.

Konstruktives Erkunden  Fast alle Kinder haben den inneren Drang,


ihre sensorische Integration zu entwickeln, aber dieser ist oft unter . Abb. 10.4  Die Begeisterung des
dem Gefühl von Unzulänglichkeit und Versagen verschüttet. Viel Kindes wächst, je mehr versteckte
Fähigkeiten es entdeckt
Geschick und Phantasie sind nötig, damit wir diesen Kindern eine
spielerische, nicht bedrohliche Umgebung bieten können, in der sie »Bei Kindern mit einem gut
ihr eigenes Wachstum steuern können. Es erfordert auch Mut, das funktionierenden Nervensystem
Kind scheinbar Zeit damit vergeuden zu lassen, auszuprobieren und sehen wir diese Begeisterung
viele Anläufe zu nehmen, seinen eigenen Weg zu finden. Erst wenn fast immer, wenn sie frei
das Kind selbst nicht weiterkommt, greift die Therapeutin helfend spielen.«
ein, und unterstützt es, Dinge zu tun, die es alleine noch nicht kann.
Die Therapeutin ist bestrebt, ein Gleichgewicht zwischen Struk-
tur und Freiheit zu schaffen, das dem Kind konstruktives Erkunden
ermöglicht. Es ist nicht einfach, dieses Gleichgewicht zu halten. Freies
Spielen fördert nicht automatisch die sensorische Integration. Wenn
das so wäre, würden viele Kinder mit sensorischen Verarbeitungs-
störungen ihre Probleme selbst lösen. Aber auch zu viel Struktur ver-
hindert Entwicklung und Wachstum.
Mit diesem Ausgleichen von Struktur und Freiheit unterstützt »Oft bemerken die Eltern als
die Therapeutin das Kind, die Funktion seines Gehirns zu verbes- erste Veränderung, dass ihr Kind
sern sowie Selbstbestimmung zu entwickeln. Das Kind hat so viel mehr Selbstvertrauen oder eine
Kontrolle über die Therapie, wie es bewältigen kann, solange seine positivere Einstellung zu sich
Aktivitäten therapeutischen Wert haben. Die Therapeutin macht die selbst zeigt.«
Umgebung passend, während das Kind seine eigenen Handlungen
steuert (. Abb. 10.5). Oft bemerken die Eltern mit erste Veränderung,
dass ihr Kind mehr Selbstvertrauen oder eine positivere Einstellung
202 Kapitel 10 • Befundung und Behandlung

zu sich selbst zeigt. Das Kind hat mehr Kontrolle über sein Leben, weil
sein Nervensystem besser funktioniert.

Den inneren Signalen folgen   Kinder mit sensorisch-integrativen


Funktionsstörungen wählen oft solche Aktivitäten aus, die ihnen ex-
akt die Sinneserfahrungen und motorischen Anforderungen bieten,
die sie brauchen, damit sie den sensorischen Input verarbeiten kön-
nen. Neurowissenschaftler haben gezeigt, dass Tiere und Menschen
aufgrund innerer Signale der Situation entsprechend handeln, auch
wenn ihnen diese Signale überhaupt nicht bewusst sind.

Beispiel
Wenn einem Tier bestimmte Vitamine fehlen, frisst es Nahrungsmittel,
die diese Vitamine enthalten, auch wenn sie gar nicht zu seiner natür-
lichen Ernährung gehören. Hat es genügend Vitamine aufgenommen,
kann es seine ursprüngliche Ernährungsweise wieder aufnehmen.
. Abb. 10.5  Kinder haben Vergnügen
Tiere haben weder ein Verständnis für Ernährung noch stellen sie ihre
daran, sich mit den Herausforderungen
der Schwerkraft, Bewegung und Bewe- Nahrung bewusst zusammen, aber ihr Körper teilt ihnen mit, was und
gungsplanung auseinanderzusetzen wie viel sie essen sollen.

In der Therapie folgen die Kinder ebenfalls inneren Signalen. Ihre


Handlungen haben einen Zweck, auch wenn sie denken, dass sie nur
spielen. Oft entwickeln sie die »Bausteine« für ihre weitere Entwick-
10 lung. Die Therapiestunden folgen keinem festen Programm; sie vari-
ieren von Kind zu Kind, und bei jedem Kind ist jede Therapiestunde
anders als die vorhergehende.
In einem  7  Fallbeispiel wird beschrieben, was ein Junge, Felix, in
einer Therapiestunde tun wollte. Ich hätte es nicht besser auswählen
können. Und hätte ich es getan, wäre er wahrscheinlich mit weniger
Begeisterung bei der Sache gewesen und hätte deshalb weniger ge-
schafft.

10.3 Vergleich: SI-Ansatz versus andere


Therapieansätze

»Die Sensorische Integrations- Die Sensorische Integrationstherapie ist ein Spezialgebiet der Ergo-
therapie ist ein Spezialgebiet der therapie (Anm. d. Übersetzerin: im Englischen »Occupational The-
Ergotherapie.« rapy«) – eines Fachbereichs, für den es wichtig ist, menschliches Ver-
halten unter einem neurobiologischen Gesichtspunkt zu verstehen.
»Ergo« kommt aus dem Griechischen und bedeutet Beschäftigung,
Arbeit oder Werk. Ergotherapeutinnen helfen ihren Klienten, sinn-
volle und zweckorientierte Aktivitäten auszuführen. In der Sensori-
schen Integrationstherapie sind die meisten Aktivitäten sinnvoll, weil
das Kind sie tut, um ein Ziel zu erreichen.
10.3 • Vergleich: SI-Ansatz versus andere Therapieansätze
203 10

Felix’ Therapiestunde
Der Schulbezirk hatte bei Felix eine die Beugemuskeln an der Vordersei- des Netzhockeys und die Drehreize
Lernstörung festgestellt. In der te des Körpers und des Halses stark des Helikopters wunderbar. Vom
ergotherapeutischen Befundung anspannen. Diese Muskelaktivität »Wal« aus sah Felix zu seiner Thera-
seiner sensorisch-integrativen Funk- war das genaue Gegenstück zur vor- peutin hin und sprach mit ihr. Dies
tionen zeigte Felix Zeichen einer herigen Muskelaktivität in Bauchla- erforderte, dass er sein Blickfeld sta-
vestibulären Verarbeitungsstörung. ge, wo die Streckmuskulatur an der bil hielt, weil er seine Augen auf ein
Als Erstes wollte Felix mit seiner Körperrückseite den Körper und den feststehendes Ziel richten musste,
Therapeutin »Netzhockey« spielen. Kopf gegen die Schwerkraft hoch- während sich sein Körper ungefähr
Dabei mussten beide – Felix und halten musste. Felix‘ innerer Antrieb einen Meter auf und ab bewegte.
die Therapeutin – auf dem Bauch in hatte ihn dazu gebracht, zwei Akti- Damit hatte Felix seinem Gehirn
einer Netzhängematte liegen, die vitäten auszusuchen – Netzhockey anscheinend so viel vestibulären
etwa 3 Meter voneinander entfernt und Helikopterfliegen – die sich Input verschafft, wie es verarbeiten
an Deckenhaken aufgehängt waren. dadurch, dass sie völlig unterschied- konnte, und er beschloss, etwas zu
Die Hängematten waren so einge- liche Gleichgewichts- und Muskelre- bauen. Er legte Matten über ein klei-
stellt, dass beide sich mit den Hän- zeptoren aktivierten, hervorragend nes Klettergerüst. Für diese Aktivität
den vom Boden abstoßen konnten. ergänzten und so eine abgerundete musste er den visuellen Raum er-
Mit »Hockeyschlägern« aus Plastik Wirkung erzielten. kunden, und der intensive vestibu-
schossen sie sich einen weichen Ball Die Helikopterschaukel liefert läre und propriozeptive Input hatte
zu. Meist hielten sie ihn flach auf sehr intensive vestibuläre Reize. sein Gehirn zweifellos dafür vorbe-
dem Boden, manchmal ließen sie Felix brauchte offenbar viel davon, reitet, visuelle Informationen gut zu
ihn von den Wänden abprallen. Um denn er blieb 10 Minuten lang auf verarbeiten. Felix versteckte sich in
den Ball zu erreichen, mussten sie in dem Gerät. Dann wollte er mit seinem Bauwerk und sprang dann
verschiedene Richtungen schwin- der Spielboje spielen, einem ei- mit einem lauten »Buh!« hervor.
gen oder Kurven machen. Diese förmigen Plastikobjekt, durch das Versteckspiele sind ein typisches
Bewegungen lieferten eine enorme 2 ca. 5 Meter lange Seile laufen. Auf Stadium in der Normalentwicklung.
Vielfalt an Gleichgewichtsreizen. diesen Seilen schießen zwei Partner Bei Therapiekindern zeigen diese
Wegen seiner schwachen Reaktio- die »Boje« hin und her, indem sie im Spiele, dass die Gleichgewichtsreize
nen auf vestibuläre Reize wurde richtigen Moment die Arme ausstre- besser verarbeitet werden und die
Felix‘ Kopf immer schwerer und sein cken. Felix hielt die beiden Seile an Kinder zunehmend räumlichem
Nacken müde, aber das spannende einem Ende fest, seine Therapeutin Bezug herstellen können. Das Ver-
Spiel hielt ihn bei der Sache. Die am anderen Ende. Während sie ko- steckspiel gibt dem Kind ein Gefühl
starke Anspannung seiner Nacken- ordiniert Hände und Arme zur Seite der Kontrolle über den Raum und
muskeln, die notwendig war, damit strecken mussten, um die Boje zum über andere Menschen. Kinder
er seinen Kopf gegen die Schwer- anderen zu schicken, mussten sie erreichen das Stadium des Versteck-
kraft hochhalten konnte, erzeugte auch ihre Augen auf das sich bewe- spielens von selbst, ohne dass es
intensiven propriozeptiven Input, gende Objekt und somit abwech- ihnen vorgemacht oder beigebracht
ebenso wie die Bewegungen seiner selnd auf nah und fern einstellen. werden muss. Manchmal strapazie-
Augen, wenn er mit dem Blick dem Wie viele Kinder mit verkürztem ren sie damit die Geduld der Er-
Ball folgen musste. Die Kombina- Nystagmus hatte Felix Schwierig- wachsenen, die sich der Bedeutung
tion von vestibulären und proprio- keiten, seine beiden Körperseiten dieses Spiels für die Entwicklung der
zeptiven Sinnesempfindungen half und seine Augen gut zu koordinie- Identität des Kindes gar nicht be-
Felix, mit dem Schläger auf den ren. Nachdem er sein Gehirn aber wusst sind. Versteckspiel ist gewiss
Ball zu zielen. Sein Hirnstamm und mit dem starken vestibulären Input keine therapeutische Aktivität, die
seine Großhirnhälften arbeiteten in der Helikopterschaukel »vor- einen Beobachter sehr beeindru-
zusammen, um die vestibulären, bereitet« hatte, konnte er nun die cken könnte, aber sie gibt dem Kind,
propriozeptiven und visuellen Reize Eindrücke der Boje und seine Be- was es braucht.
zu verarbeiten und zu integrieren. wegungen effektiver verarbeiten als Felix‘ schulische Leistungen
Als Nächstes wollte Felix mit sonst. Als Nächstes wählte Felix die verbesserten sich im Laufe der
einem anderen Kind in der »Heliko- »Walschaukel«, ein Sitzpolster auf Therapie rasch. Er zeigte schon
pterschaukel« fliegen. Dieses Gerät einem quer durch den Raum ge- nach ein paar Monaten deutliche
ist so benannt, weil zwei Kinder in spannten Gummiseil. Man sitzt auf Fortschritte. Das ist schneller als bei
Schlingen sitzen und wie der Pro- dem Polster, wobei die Füße Boden- Kindern, bei denen sich die Störung
peller eines Hubschraubers im Kreis kontakt haben. Dann stößt man sich auch auf emotionale Funktionen
herumwirbeln. Die durch die Dre- mit den Füßen von der Matte ab, so auswirkt – und dadurch verhindert,
hung erzeugte Fliehkraft stimulierte dass es hopst, als ob man auf dem dass sie ihre sensorische Integration
Felix‘ Schwerkraftrezeptoren auf Rücken eines Wals durch die Wellen entwickeln. Felix machte so rasche
eine andere Art als es das Schaukeln reitet. Diese Aktivität lieferte Felix Fortschritte, weil er einen starken
im Netz getan hatte. Um seinen vertikale Gleichgewichtsreize. Die inneren Antrieb hatte, sich die Reize
Kopf und seinen Körper gegen diese senkrechte Bewegung ergänzte die zu suchen, die sein Gehirn brauchte,
Kraft aufrechtzuhalten, musste Felix waagerechten Gleichgewichtsreize und seinen inneren Signalen folgte.
204 Kapitel 10 • Befundung und Behandlung

>> Wenn Sinnesempfindungen nicht regelrecht verarbeitet


werden können, ist aktives Tun im Rahmen von zielgerich-
teten und zweckorientierten körperlichen Aktivitäten – an-
statt darüber nachzudenken oder zu sprechen – die beste
Art, um unsere menschlichen Fähigkeiten zu verbessern.

Neben der Ergotherapie wird das Konzept der Sensorischen Integra-


tion auch in der Ausbildung von Physiotherapeutinnen, Logopädin-
nen, Pädagoginnen, Psychologinnen und Kinderärztinnen gelehrt.
Im folgenden Abschnitt vergleichen wir einige gebräuchliche Thera-
pieansätze mit der Sensorischen Integrationstherapie.

Psychotherapie oder psychologische Beratung (Counseling)   Im


Gegensatz zur klassischen Psychotherapie versucht man in der SI-
Therapie, dem Kind zu helfen, die Anforderungen seines Lebens zu
bewältigen, indem die Funktionsfähigkeit seines Gehirns gefördert
wird. Psychotherapie oder Counseling beschäftigt sich normalerweise
damit, zwischenmenschliche Beziehungen zu analysieren und darü-
ber zu sprechen, warum Menschen so handeln, wie sie es eben tun.
Wenn das Problem darin liegt, dass das Gehirn sensorische Anregung
und anpassende Bewegungen braucht, werden Gespräche über die
Probleme des Kindes seine Entwicklung nicht sehr fördern. Später
allerdings kann das eine gute Methode sein, um rückblickend die
10 eigene Situation vom intellektuellen und emotionalen Standpunkt aus
zu verstehen.
>> Der sensorisch-integrative Ansatz und Psychotherapie ha-
ben einige Gemeinsamkeiten. In beiden Fällen muss der
Klient die Arbeit selbst machen, während die Therapeutin
durch ihr Beisein diese Arbeit möglich macht.

Bei beiden Therapieformen gibt es Zeiten, wo Klienten »Zeit ver-


schwenden« und nicht viel Fortschritt zu sehen ist. Da man aber nur
durch eigene Erfahrung und Anstrengung wachsen und sich weiter-
entwickeln kann, wird jeder Wachstumsprozess schnellere und lang-
samere Phasen haben. Das ist das Beste, was jeder geben kann.

Spieltherapie   Innerhalb der Psychotherapie gibt es einen Ansatz für


Kinder, die »Spieltherapie«. Da Sensorische Integrationstherapie wie
Spiel aussieht, könnte man sie für eine Art Spieltherapie halten. Das ist
sie aber nicht. Psychotherapeutinnen beschäftigen sich normalerwei-
se nicht damit, welche Wirkung ihre Arbeit auf das Gehirn des Kindes
hat, und sie sind nicht darin ausgebildet, die Sinnesverarbeitung zu
fördern. Spieltherapie ist vielmehr ein psychodynamischer Ansatz;
die Therapeutin versucht, das Kind bestimmte emotionale und sozia-
le Erfahrungen ausleben zu lassen. Sensorische Integrationstherapie
beschäftigt sich insofern mit emotionalem und sozialem Wachstum,
als sie beides als Endergebnis von grundlegenden sensorisch-integra-
tiven Prozessen sieht.
10.4 • Warum hilft die Sensorische Integrationstherapie?
205 10
Psychomotorische Ansätze   Sensorische Integrationstherapie hat
nicht zum Ziel, dem Kind perzeptive oder motorische Fertigkeiten
beizubringen, etwa »Himmel und Hölle« zu spielen oder einen Pur-
zelbaum zu machen. Es ist zwar gut, bestimmte motorische Fertigkei-
ten zu beherrschen, aber sie verbessern kaum allgemeinere Lern- und
Verhaltensprobleme des Kindes.

Pädagogik   Lehrerinnen sind dazu ausgebildet, das Kind intellektuell


– über den Verstand – anzusprechen, und berücksichtigen die neuro-
logischen Grundlagen für diese intellektuellen Leistungen normaler-
weise nicht. Deshalb sind die meisten Aufgaben in der Schule nur für
Kinder mit guten sensorisch-integrativen Funktionen geeignet, über-
fordern aber Kinder mit sensorisch-integrativen Störungen.
>> Die Schule beschäftigt sich damit, »was« ein Kind lernt,
die Sensorische Integrationstherapie damit, »wie« es lernt,
oder »warum« es etwas nicht lernt [übernommen aus dem
Original].

Die Eltern von Kindern mit sensorischen Verarbeitungsstörungen


können aus einem breiten Spektrum von pädagogischen und thera-
peutischen Ansätzen auswählen. Sie fühlen sich häufig überfordert,
sich für eine Therapie zu entscheiden, weil es schwierig für sie ist, zu
beurteilen, worin die verschiedenen Therapien sich unterscheiden.
Dieses Kapitel, in dem wir die Grundprinzipien der Sensorischen In-
tegrationstherapie beschrieben haben, soll Eltern helfen, zu beurtei-
len, ob die SI-Therapie neben anderen Therapien – die entweder vor-
geschlagen wurden oder bereits wahrgenommen werden – ergänzend
und unterstützend wirken kann oder im Widerspruch dazu steht.

10.4 Warum hilft die Sensorische


Integrationstherapie?

Die Forschungsergebnisse in Anhang B helfen, diese Frage zu beant-


worten. Hier möchten wir noch einige Bemerkungen zu Kindern mit
Lern- und Entwicklungsproblemen einfügen. Das Gehirn – besonders
das junge Gehirn – ist formbar und verändert sich von Natur aus. Mit
zunehmender Hirnreifung geht etwas von dieser Flexibilität verloren.
Solange das Kind noch in dem Alter (unter 2 Jahren) ist, in dem sich
neue Verbindungen zwischen den Neuronen entwickeln, kann eine
Therapie diesen Prozess der Neubildung von Synapsen unterstützen.
Wenn das Kind älter ist, scheint eine Therapie die Übertragung von
Signalen von einem Neuron zum nächsten zu erleichtern, so dass
die Botschaften leichter und effektiver fließen können. Wenn zu viele
hemmende Einflüsse im Gehirn vorherrschen, kann sensorischer In-
put diese hemmenden Prozesse außer Kraft setzen. Wenn das Kind
überreagiert, helfen bestimmte Sinnesreize und anpassende Reaktio-
nen, die Aktivität in den bestehenden Verbindungsstellen (Synapsen)
zu modulieren.
206 Kapitel 10 • Befundung und Behandlung

. Abb. 10.6  a, b Die Sensorische Integrationstherapie wirkt deshalb, weil die


Therapeutin eine sensorisch anregende Umgebung gestaltet, wodurch auf unter-
haltsame Art Fähigkeiten und Leistungen angebahnt werden können

SI-Therapie funktioniert, weil das Gehirn so angelegt ist, dass


10 Funktionen, die im Leben eingesetzt werden, sich auch am besten
entwickeln. Und SI-Therapie funktioniert, weil die therapeutische
Umgebung so gestaltet ist, dass es für das Kind ein Vergnügen ist,
seine Sinnesverarbeitung auf die beste und reifteste Art zu nutzen
(.  Abb. 10.6). Sie funktioniert, weil fast jeder Mensch einen inneren
Drang hat, »neue« Sinnesinformationen zu integrieren. Die Therapie
legt einfach den Weg frei für einen Prozess, der weder natürlich ge-
schehen konnte noch durch das Kind selbst oder durch seine Eltern.
Es gibt einige Kinder, bei denen SI-Therapie nicht hilft, auch
wenn ihr Problem eine Lernstörung oder eine sensorische Ver-
arbeitungsstörung ist. In manchen Fällen handelt es sich um derart
schwerwiegende Störungen, dass uns das Wissen noch fehlt, wie man
diese Probleme am besten behandelt. Manchmal können wir die Art
der Störung nicht exakt genug feststellen, um einen wirksamen The-
rapieplan für das Kind aufzustellen. Und bei manchen Kindern sind
Hirnbereiche betroffen, die wenig mit der Verarbeitung von Sinnes-
informationen zu tun haben. Diese Kinder können von anderen The-
rapieansätzen mehr profitieren.
Das 7 Fallbeispiel erzählt von einem Jungen, Robert, von den Er-
fahrungen, die er in der Therapie machen konnte, und deren Auswir-
kungen auf seine Lernleistungen.

Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Prof. Dr. Erna Imperatore Blanche zu den in diesem
Kapitel besprochenen Themen finden Sie in Anhang A.
10.4 • Warum hilft die Sensorische Integrationstherapie?
207 10

Roberts Therapie
Robert war 8 Jahre und 11 Monate risch-integratives Defizit im Gleich- Wie so oft, wenn sich das Ner-
alt, als er zum ersten Mal zu einer gewichtssystem lag. Ein vestibuläre vensystem eines Jungen besser
sensorisch-integrativen Befund- Verarbeitungsproblem führte zu organisiert, wollte Robert seine
erhebung vorgestellt wurde. Robert seinen Lernproblemen und seinen neuentdeckten Fähigkeiten da-
war in der 4. Klasse, aber im Lesen Schwierigkeiten in der Bewegungs- durch zeigen, dass er beeindrucken-
entsprach er einem Erstklässler. Im planung, der Auge-Hand-Koordina- de Dinge in der Umwelt bewirken
Rechtschreiben und Rechnen war tion, der visuellen Wahrnehmung konnte. Er schwang sich an einem
er auf dem Stand der 2. Klasse. Weil und der Sprachentwicklung. Außer- von der Decke hängenden, lianen-
seine Leistungen in einem Intel- dem bewirkten die vestibulären artigen Seil durch den Therapie-
ligenztest ganz durchschnittlich Empfindungen, die sein Gehirn raum und stieß dabei eine große
waren, kam Robert in eine spezielle nicht richtig verarbeiten konnte, Kartonrolle um, die mit viel Lärm zu
Klasse für Kinder mit Lernbehinde- dass er hyperaktiv, leicht ablenkbar Boden krachte. Die Erfahrung, dass
rungen. und taktil abwehrend war. er ein so großes Objekt zu Fall brin-
Ergebnisse der Befunderhebung Behandlung gen konnte, gab ihm das Gefühl, ein
Robert wurde mit Instrumenten für Glücklicherweise zeigte Robert »toller Kerl« zu sein. Und das war
sensorisch-integrative Leistungen, ein großes Bedürfnis nach Bewe- eine der wichtigen Erfahrungen, die
sprachliche Leistungen und Schul- gungsaktivitäten, die vestibuläre Robert brauchte. Die Therapiesitu-
leistungen getestet. Sein postrot- Reize boten, denn diese brauchte ation gab Robert die Gelegenheit,
atorischer Nystagmus war verkürzt. er am meisten. Er verbrachte viele dieses Stadium der »Kraftmeierei«
Er hatte Schwierigkeiten, mit ge- Stunden auf einer Schaukel, die an zu durchlaufen. Daheim oder in der
schlossenen Augen auf einem Bein einem einzelnen Gummiseil auf- Schule wäre das unmöglich gewe-
zu stehen, obwohl seine Halte- und gehängt war, so dass er auf und sen. Zur gleichen Zeit entwickelte
Gleichgewichtsreaktionen im All- ab, aber auch vor und zurück und Robert einen großen Ordnungssinn
gemeinen nicht besonders auffällig rundherum schaukeln konnte. und half bereitwillig mit, den Thera-
waren. Er konnte die meisten Spiel- Wenn ich nicht gelernt hätte, auf pieraum aufzuräumen. Es schien, als
platzaktivitäten durchführen, ohne den inneren Antrieb und die Selbst- ob er die neue Ordnung in seinem
sich dabei schlecht zu fühlen, zeigte steuerung der Kinder zu vertrauen, Gehirn auch auf den Therapieraum
aber in den Tests Schwierigkeiten hätte ich ihm nicht so viel Zeit mit übertragen wollte.
in der Bewegungsplanung. Er hatte ein- und derselben Sache zubringen Ergebnisse der Therapie
keine Schwierigkeiten, »blind« zu lassen. Von Zeit zu Zeit hatte ich Ein Jahr nach der Ersttestung
erkennen, welcher Finger berührt das Gefühl, dass ich vielleicht doch wurden einige Tests wiederholt.
wurde, und »blind« zu wissen, wo eingreifen und mehr Variation in Während dieses Jahres hatte Robert
seine Hände sich im Raum be- die Therapie bringen sollte; aber ich etwa 6 Monate lang 2½ Stunden
finden. Allerdings hatte er große beließ es dabei, dass ihn sein inne- Therapie pro Woche erhalten. Er
Schwierigkeiten, Tastreize zu unter- rer Antrieb leitete. Robert würde zur zeigte deutliche Verbesserungen
scheiden (diskriminieren), und er rechten Zeit etwas anderes wählen. in den Sprach- und visuellen Wahr-
konnte manchmal nicht erkennen, Nach 4 oder 5 Monaten begann er, nehmungstests. Sein postrotatori-
ob er ein Quadrat oder ein Drei- auf alles zu klettern, was verfüg- scher Nystagmus hatte sich nicht
eck in der Hand hielt. Auch seine bar war, und hinunterzuspringen. verändert. (Dieses Ergebnis wurde
visuelle Raum- und Formwahrneh- Offensichtlich hatte Robert sich aber nicht so interpretiert, dass sich
mung war schwach für sein Alter. durch das Schaukeln genug vesti- das vestibuläre System nicht ver-
Außerdem war er hyperaktiv, leicht bulären Input geholt, um Bahnen bessert hätte. Infolge der intensiven
ablenkbar und taktil abwehrend. zu vielen Teilen seines Gehirns zu vestibulären Stimulation wirken
Roberts Ergebnisse in den öffnen. Beim Klettern benutzte er natürliche und normale hemmende
auditiven Wahrnehmungs- und diese neuen Bahnen, und er konnte Faktoren auf den Nystagmus.) Im
Sprachtests lagen ebenfalls für sein sich mehr mit den Dingen in seiner Lesen hatte er die typische Leis-
Alter und seine Intelligenz unter- Umgebung auseinanderzusetzen. tung eines Viertklässlers erreicht.
halb der Norm. Er hatte beträcht- Einige Male verletzte er sich bei- Damit hatte er in nur 1 Jahr mehr
liche Schwierigkeiten zu verstehen, nahe, weil sein neuentdeckter als 3 Jahre aufgeholt. Auch in der
was ihm gesagt wurde, besonders Wunsch, seine sensomotorischen Rechtschreibung hatte er 1½ Jahre
wenn es Hintergrundgeräusche Fähigkeiten auf die Probe zu stellen, aufgeholt und entsprach nun einem
gab. Ein anderer Test zeigte, dass seine Bewegungsplanungsfähigkei- Viertklässler zu Beginn des Schul-
seine beiden Hirnhälften Sprache ten überstieg. Die Bahnen, die der jahres. Im Rechnen hatte er fast
gleich gut verarbeiteten. Auch seine vestibuläre Input geöffnet hatte, 1 Jahr aufgeholt und war nun auf
Hände waren fast gleich geschickt, ermöglichten Robert auch, leichter dem Stand der 3. Klasse. Insgesamt
wobei keine besonders gut war. lesen zu lernen. Noch bevor die hat die Therapie Roberts Lernfähig-
Von diesen Tests und klinischen Therapie beendet war, wurde Ro- keit entscheidend verbessert, be-
Beobachtungen leiteten wir ab, bert in eine Regelklasse versetzt. sonders das Lesen betreffend.
dass Roberts grundlegendes senso-
209 11

Was Eltern tun können


Wie Eltern ihren Kindern mit sensorisch-integrativen Problemen helfen
können

11.1 Das Problem erkennen – 210


11.2 Helfen Sie Ihrem Kind, sich in seiner Haut wohl zu fühlen – 213
11.2.1 Ein körperliches Problem – 213
11.2.2 Emotionale Krisen vorhersehen – 214
11.2.3 Besser als Bestrafung – 215
11.2.4 Erziehungsmaßnahmen – 215
11.2.5 Erwartungen – 216
11.2.6 Das Gute hervorheben – 217

11.3 Die Umgebung verändern – 217


11.3.1 Struktur – 218
11.3.2 Die taktile Umgebung – 218
11.3.3 Vestibuläre und propriozeptive Erfahrungen – 219
11.3.4 Geräusche und Gerüche – 220
11.3.5 Die Warnzeichen – 221

11.4 Helfen Sie Ihrem Kind zu spielen – 221


11.5 Suchen Sie professionelle Hilfe – 227

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
210 Kapitel 11 • Was Eltern tun können

Die Bedeutung der Kindererziehung wird stark unterschätzt. Wenn


Eltern ihrem Kind bei Lern- oder Verhaltensproblemen helfen, seine
sensorische Integration zu verbessern, können sie damit mehr als
jede andere Person das Leben ihres Kindes verändern (.  Abb. 11.1).
Ein Kind, dessen Eltern seine Entwicklung nicht verstehen und unter-
stützen, wird Schwierigkeit haben und wahrscheinlich unglücklich
sein. Doch mit dem Verständnis und der Unterstützung ihrer Eltern
können die meisten Kinder mit einer nicht zu schweren sensorischen
Integrationsstörung ein sinnvolles und befriedigendes Leben führen.
Die Prinzipien und Ideen in diesem Kapitel können bei jedem
Kind angewandt werden. Jedes Kind kann seine Hirnfunktionen noch
verbessern. Bei Kindern mit schwerwiegenden neurologischen Pro-
blemen können die Fortschritte langsam sein, aber auch den Eltern
dieser Kinder können die Vorschläge in diesem Kapitel helfen, deren
Entwicklung zu unterstützen und sich um deren Bedürfnisse zu küm-
mern. Die fünf wichtigen Dinge, die Eltern für ihr Kind tun können,
sind in 7 Übersicht 11.1 zusammengefasst.

Übersicht 11.1. Fünf wichtige Dinge, die Eltern tun können


55 Das Problem erkennen, damit sie wissen, was ihr Kind braucht.
55 Ihrem Kind helfen, sich gut zu fühlen.
55 Die Umwelt des Kindes fördernd gestalten.
55 Ihrem Kind helfen, spielen zu lernen.
55 Professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

11
11.1 Das Problem erkennen

Mütter wissen normalerweise, wenn mit ihrem Kind etwas nicht in


Ordnung ist. Wenn sie nicht genau sagen können, was anders ist,
kann es schwierig sein, der Kinderärztin das Problem zu erklären. Oft
reden Mütter sich selbst ein, dass alles in Ordnung ist, aber sie fragen
sich doch, warum ihr Kind so viele Schwierigkeiten im Leben hat.
Wenn sie mehrere Kinder haben, dann bemerken sie oft, dass dieses
Kind sich anders entwickelt als seine Geschwister. So kann auffallen,
dass es unruhiger ist oder mehr quengelt, viele Dinge nicht toleriert
oder sich nicht beruhigen kann.
Leichte Probleme der Sinnesverarbeitung sind besonders schwer
zu erkennen. Die Entwicklung des Kindes scheint oft völlig typisch
– außer seinen ungewöhnlichen Schwierigkeiten mit Schularbeiten
– so dass niemand auf die Idee kommt, dass bei diesem Kind eine Stö-
rung der Hirnfunktion vorliegen könnte. Wenn Ihr Kind intelligent
genug ist, aber trotzdem mit den Anforderungen des Kindergartens
oder der 1. Klasse überfordert ist, sollten Sie sofort professionelle Hilfe
suchen (.  Abb.  11.2). Kinder entwickeln sich in unterschiedlichem
Tempo, aber Sie erweisen ihm einen schlechten Dienst, wenn Sie war-
11.1 • Das Problem erkennen
211 11
ten und denken, dass Ihr Kind schon aus seinen Problemen heraus-
wachsen wird.
>> Die Behandlung ist am wirksamsten, wenn das Gehirn des
Kindes jung und formbar ist. Es ist nicht sinnvoll zu warten,
bis das Kind älter ist und dann in geringerem Maß von der
Therapie profitiert.

>> Wenn eine sensorisch-integrative Funktionsstörung fest-


gestellt wurde, reichen pädagogische Maßnahmen oder
Nachhilfe für das Kind nicht aus, weil es nicht dazu erzogen
werden kann, Dinge zu machen, zu denen sein Gehirn nicht
fähig ist.

Wenn ein Kind mit einer Lernstörung zu früh in die Schule kommt,
oder die Schule zu hohe Anforderungen stellt, vergleicht es sich mit
den anderen Kindern und entwickelt das Gefühl, minderwertig zu
sein. Sie können die Entwicklung Ihres Kindes bei einer leichten sen-
sorischen Integrationsstörung z.B. dadurch unterstützen, dass Sie es . Abb. 11.1  Eltern können mehr als
jede andere Person das Leben ihres
in einen Kindergarten geben, in dem die Kindergärtnerinnen senso-
Kindes verändern, wenn sie ihm helfen,
motorische Entwicklung schätzen und fördern und das individuelle bessere sensorisch-integrative Fähig-
Entwicklungstempo berücksichtigen. Manchmal hilft es auch, den keiten zu entwickeln
Schulanfang um ein Jahr zu verschieben und das Kind noch weiter
in den Kindergarten oder in eine Vorschulklasse gehen zu lassen. In
einem Jahr wird es dann besser im Unterricht mitkommen.
Wenn man die Störung frühzeitig in den Griff bekommt, gibt man
dem Kind bessere Chancen, die Auswirkungen der Störung auf sein
Leben gering zu halten. Ein frühes Erkennen hilft der Familie auf je-
den Fall, das Verhalten des Kindes richtig zu interpretieren, so dass sie
ihm das nötige Verständnis, die Anerkennung und die Struktur geben
kann, die es braucht. Wenn Ihr Kind in seiner Entwicklung verzögert
ist, ziehen Sie nicht voreilig den Schluss, dass es eine Störung hat; bie-
ten Sie ihm stattdessen Gelegenheiten, seine sensorisch-integrativen
Funktionen zu entwickeln.

Tipp

Bemühen Sie sich, Ihr Kind nicht zu Dingen zu drängen, für die
es noch nicht bereit ist; geben Sie ihm lieber Gelegenheiten und
Anregung, Dinge zu tun, die sein Gehirn verarbeiten kann. . Abb. 11.2  Eltern handeln klug,
wenn sie bei den ersten Anzeichen
einer Störung eine Fachkraft aufsuchen
Einer der häufigsten Fehler, der heute noch immer von Fachleuten
gemacht wird, ist anzunehmen, dass Verhaltensprobleme korrigiert
werden können, ohne die zugrunde liegenden neurologischen Prob-
leme zu berücksichtigen:
55 Die Psychotherapeutin versucht, an den Beziehungen in der
Familie zu arbeiten;
55 der pädagogische Beratungsdienst regt das Kind an, Denk- und
Entscheidungsmuster zu ändern; und
212 Kapitel 11 • Was Eltern tun können

55 d
 ie Verhaltenstherapeutin versucht, das Kind zu bestimmten
Verhaltensweisen zu konditionieren.

Jeder dieser Ansätze kann zu bestimmten Zeiten passen, aber sie sind
bei einem Kind mit einer sensorischen Verarbeitungsstörung mög-
licherweise nicht von dauerhaftem Erfolg, weil die schlechte senso-
rische Integration des Kindes immer wieder Problemverhalten ver-
ursacht. Es ist nicht genug, nur die Familiendynamik, kognitive Pro-
zesse oder bestimmte Verhaltensweisen zu verändern.
>> Therapeutinnen, die in Sensorischer Integrationstherapie
ausgebildet sind, helfen dem Kind, funktionierende senso-
motorische Grundlagen zu entwickeln. Danach nehmen die
Verhaltensprobleme oft »von selbst« ab.

Niemand lebt ohne Stress und Anforderungen. Niemandem gelingt


alles perfekt. Aber für Menschen, deren Gehirn nicht gut funktio-
niert, sind die Herausforderungen des Alltagslebens noch schwieri-
ger. Kinder mit sensorischen Integrationsstörungen können unter
Umständen schwer Beziehungen herstellen, wenn die anderen ihre
unreifen sensomotorischen Grundlagen nicht erkennen und ihnen
nicht entgegenkommen. Das Problem kann den Eindruck erwecken,
als sei es »psychisch« verursacht, aber die Psyche wird vom Gehirn
reguliert. Es ist also zweckmäßiger, erst an soliden sensomotorischen
Grundlagen zu arbeiten, bevor man psychotherapeutisch an überge-
ordneten psychischen Problemen ansetzt.
11 »Wenn ein Kind sich schlecht Es ist leicht, störendes Verhalten zu erkennen, aber schwierig,
benimmt, kann sein Verhalten die neurologischen Einflüsse zu erkennen, die diesem Verhalten zu-
eine Reaktion auf gewöhnliche grunde liegen. Wenn ein Kind sich schlecht benimmt, muss man sich
Sinnesreize sein, die das Kind bewusst sein, dass sein Verhalten eine Reaktion auf gewöhnliche Sin-
nicht richtig verarbeitet.« nesreize sein kann, die das Kind nicht richtig verarbeitet. Wenn es
Sinnesinformationen nicht verarbeiten kann, kann es auch sein Ver-
halten nicht organisieren. Daher können Lern- und Verhaltensstö-
rungen auch bei Kindern mit guten familiären Beziehungen auftreten.
Eine Verzögerung der Sprachentwicklung kann ein weiterer
Hinweis auf eine sensorische Integrationsstörung sein. Die Sprache
hängt von vielen sensomotorischen Funktionen ab und ist immer
mitbetroffen, wenn ein anderer Teil des Gehirns nicht gut funktio-
niert. Die Fähigkeit, Wörter auszusprechen, hängt vor allem mit dem
vestibulären System und dem Gehör zusammen.
>> Das wichtigste Ziel dieses Buches ist es, Eltern zu helfen,
sensorisch-integrative Probleme zu erkennen. Ärzte sind
mit diesen subtilen Problemen nicht immer vertraut. Wenn
Sie vermuten, dass Ihr Kind eine sensorische Integrations-
störung hat, dann wenden Sie sich an eine Ergotherapeutin,
die auf diesem Gebiet spezialisiert ist.
11.2 • Helfen Sie Ihrem Kind, sich in seiner Haut wohl zu fühlen
213 11
11.2 Helfen Sie Ihrem Kind, sich in seiner Haut wohl
zu fühlen

Für Kinder mit sensorisch-integrativen Funktionsstörungen sind vie-


le Alltagserfahrungen eine größere Herausforderung als für normal
entwickelte Kinder. Deshalb haben viele Kinder weniger Vertrauen
in ihre eigenen Leistungen, vor allem in den Bereichen, in denen sie
kämpfen (. Abb. 11.3).
>> Vor allem drei Dinge tragen zu einem negativen Selbstbild
bei:
55 die Hirnfunktion,
55 Erfahrungen von Frustration und Unzulänglichkeit, wenn
das Kind etwas nicht schafft, und
55 negative Reaktionen der Umgebung.

Eltern können die letzten beiden Punkte ziemlich stark beeinflussen


– sie können negative Reaktionen anderer und Erlebnisse verhin-
. Abb. 11.3  Ein Kind erlebt Frustra-
dern, die zum Scheitern verurteilt sind und ihr Kind nur frustrieren
tion und Unzulänglichkeit, wenn es
würden. etwas nicht schafft. Es verliert das Ver-
trauen in die eigenen Fähigkeiten

»Eltern können viel tun … um


11.2.1 Ein körperliches Problem
Frustrationen und das Gefühl
von Unzulänglichkeit zu
Als Erstes muss man verstehen, dass das Problem des Kindes ein
vermeiden.«
physisches ist – es beruht auf der Aktivität der elektrischen Impulse
und biochemischen Stoffe in seinem Gehirn. Lernstörungen und Ver-
haltensprobleme aufgrund von sensorischen Verarbeitungsstörungen
sind ein körperliches Problem – ebenso wie ein gebrochenes Bein
oder Masern.
Wenn man an Masern erkrankt ist, fühlt man sich nicht so gut wie
gewöhnlich; man ist eher reizbar und schlecht gelaunt, und insgesamt
ein wenig angenehmer Zeitgenosse. Dinge, die normalerweise kein
Problem sind, gelingen nicht, weil das physische Problem »Masern«
die Leistungen beeinträchtigt. Aber sobald jemand Masern hat, wird
ihm die Umwelt mit Rücksicht und Verständnis entgegenkommen
und ihm seinen Alltag erleichtern. Eine ähnliche Haltung sollte die
Umwelt einem Kind mit sensorisch-integrativen Problemen ent-
gegenbringen.

Tipp

Auch wenn Sie das Verhalten des Kindes nicht gutheißen – zer-
stören Sie nicht sein Bild von sich selbst und sein Selbstvertrauen
durch Missbilligung.

Machen Sie Ihrem Kind klar, dass die Leute in seiner Umgebung be-
stimmte Verhaltensweisen nicht mögen, aber dass dies nicht bedeutet,
dass niemand das Kind als Person mag. Erklären Sie ihm auch, welche
214 Kapitel 11 • Was Eltern tun können

Verhaltensweisen gesellschaftlich akzeptabel sind, und unterstützen


Sie es, diese umzusetzen.
Wenn einem Kind übel wird und es auf dem Wohnzimmerteppich
erbricht, sagen Sie wahrscheinlich: »Nächstes Mal versuche, schnell
ins Badezimmer zu kommen!«, aber Sie würden es nicht bestrafen
oder ihm das Gefühl geben, es müsse sich dafür schämen. Genauso
wenig sollten Kinder wegen ihrer motorischen Ungeschicklichkeit,
ihren Schwierigkeiten, lesen oder schreiben zu lernen oder ihre Blase
zu kontrollieren, bestraft werden oder vermittelt bekommen, dass sie
sich dafür schämen müssten. Diese Kinder brauchen besonders viel
Liebe, Fürsorge und Akzeptanz von ihren Eltern – mehr als die Kin-
der, die keine solchen Probleme haben.
>> Kinder mit sensorisch-integrativen Problemen brauchen
eine Welt voller emotionaler Unterstützung, damit sie zu
liebenswerten Menschen heranwachsen können.

Es ist äußerst schwierig, verständnisvoll und einfühlsam zu sein, wenn


ein Kind sich störend, stur, unkooperativ, gemein oder feindselig ver-
hält. Das fordert die Geduld der nachsichtigsten Eltern heraus – es
erfordert mehr Geduld, als man von Eltern erwarten kann. Wie geht
man mit solchen Verhaltensweisen um? Oft hilft es, das Verhalten und
die Veranlagung des Kindes leichter zu akzeptieren, wenn man sich
bewusst macht, dass das Kind ein körperliches Problem hat – wenn
es auch nicht sichtbar ist. Sie können es trotzdem lieben, und es wird
sie lieben. Wie ihr Kind sich fühlt, spiegelt zum Teil wider, welche
11 Gefühle Sie Ihrem Kind gegenüber haben.

11.2.2 Emotionale Krisen vorhersehen

Das Nervensystem Ihres Kindes ist nicht so stabil wie bei anderen
Kindern. Dadurch ist es emotional labil und »zerbrechlich«. Zu viel
Anregung – Bewegung, Menschen, Durcheinander, Veränderung von
Plänen, Lärm, Anforderungen, eine Erkrankung – kann dazu führen,
dass es die Kontrolle über seine Gefühle verliert. Taktil überempfind-
lichen und schwerkraftunsicheren Kindern passiert dies besonders
leicht.

Tipp

Lernen Sie, die Vorzeichen eines Ausbruchs zu erkennen.

»Sie können Ihrem Kind zu Geburtstagsfeiern sind für manche Kinder die anstrengendsten Akti-
einem guten Selbstvertrau- vitäten. Wenn Sie ahnen, dass Ihr Kind mit bestimmten Reizen nicht
en verhelfen, indem Sie zurechtkommen wird, gehen Sie mit ihm in einen anderen Raum oder
Situationen vermeiden, die sein reduzieren Sie die Umgebungsreize. Kinder geraten nicht aus Vergnü-
Nervensystem überwältigen gen außer sich. Wutausbrüche stärken das Selbstvertrauen nicht, son-
könnten.« dern beschädigen es. Sie können Ihrem Kind zu einem guten Selbst-
11.2 • Helfen Sie Ihrem Kind, sich in seiner Haut wohl zu fühlen
215 11
vertrauen verhelfen, indem Sie Situationen vermeiden, die sein Ner-
vensystem überwältigen könnten. Sie können ihm helfen, indem Sie
selbst ruhig bleiben. Sie sind ein entscheidender Teil der Umwelt Ihres
Kindes, und Ihre Gefühlslage wirkt sich auf sein Nervensystem aus.

11.2.3 Besser als Bestrafung

Wenn Ihr Kind die Geduld oder die Selbstbeherrschung verliert,


schädigt Bestrafung sein Selbstbild sogar noch mehr. Das Kind fühlt
sich ohnehin schlecht, weil es die Kontrolle verloren hat; durch eine
Bestrafung fühlt es sich auch noch schuldig und bloßgestellt.
>> Anstatt Strafe braucht das Kind Hilfe, sich wieder zu sam-
meln.

Ein ruhiger Ort wie sein eigenes Zimmer, abseits von aller Aufregung,
hilft am besten. Wenn Ihr Kind desorganisiert wird, denken Sie daran, . Abb. 11.4  Aktivitäten im Freien
dass dies damit zusammenhängt, wie sein Gehirn Informationen ver- liefern propriozeptiven Input, der
arbeitet, und denken Sie nicht an Bestrafung. beruhigend auf das Nervensystem des
Kindes wirkt
Tipp

Überlegen Sie, wie Sie die Sinnesreize in der Umgebung verän-


dern können, damit das Gehirn Ihres Kindes sie besser verarbei-
ten kann.

Als Erstes reduzieren Sie die Reizüberflutung, und als Zweites bieten
Sie ihrem Kind Sinnesreize, die eine organisierende Wirkung haben.
Ein Plüschtier, die Kuscheldecke oder ein Lieblingskissen kann Ihrem
Kind helfen, sich zu beruhigen. Bei manchen Kindern wirkt es noch
besser, wenn man sie fest umarmt und im Arm hält. Auch in einem
Schaukelstuhl zu schaukeln, kann helfen. Für kleinere Kinder kann
ein lauwarmes Bad beruhigend sein. Sie helfen dem Gehirn auch, sich
zu organisieren, wenn Sie den Rücken des Kindes langsam und gleich-
mäßig von oben nach unten abstreichen. [Anm. d. Übersetzerin: Bei
vielen Kindern hat sich eine Malerwalze als wirksam erwiesen.] Strei-
chen Sie nicht gegen die Haarwuchsrichtung (von unten nach oben),
denn das kann unangenehm sein und alarmierend wirken. Aktivi-
täten im Freien liefern propriozeptiven Input, der beruhigend auf das
Nervensystem des Kindes wirkt – besonders wenn das Wetter kühl ist,
da kühle Luft den Fluss von den Hautimpulsen moduliert und Hyper-
aktivität reduzieren kann (. Abb. 11.4).

11.2.4 Erziehungsmaßnahmen

Die oben genannten Vorschläge bedeuten nicht, dass Sie Ihr Kind
nicht erziehen sollen.
216 Kapitel 11 • Was Eltern tun können

>> Jedes Kind muss zu bestimmten Zeiten Grenzen aufgezeigt


bekommen und zurechtgewiesen werden.

»Damit Erziehungsmaßnahmen Grundprinzipien der Erziehung – wie gutes Verhalten belohnen und
wirksam sind, müssen sie dem bei schlechtem Benehmen Privilegien wegnehmen (z.B. Fernsehver-
Gehirn des Kindes Ordnung bot) – haben auch bei Kindern mit sensorischen Integrationsstörun-
geben anstatt es durcheinander- gen ihre Berechtigung. Lassen Sie sich nicht von Ihrem Kind in Dis-
zubringen.« kussionen über Ihre Erziehungsmaßnahmen verwickeln. Sagen Sie
ihm einfach, was und warum Sie so handeln. Seien Sie konsequent!
Sobald Sie die Entscheidung getroffen haben, dass Ihr Kind etwas
tun muss oder nicht tun darf, halten Sie sich daran. Denken Sie lie-
ber zweimal nach, bevor Sie »Nein« sagen. Damit Erziehungsmaß-
nahmen wirksam sind, müssen sie dem Gehirn des Kindes Ordnung
geben anstatt es durcheinanderzubringen. Deshalb müssen Sie konse-
quent eine Linie verfolgen, sich darüber im Klaren sein, was Sie tun,
und sensibel sein für die Auswirkungen, die Ihre Maßnahmen auf das
Gehirn Ihres Kindes haben.

11.2.5 Erwartungen

Eltern können durch überhöhte Erwartungen, denen das Kind nicht


gerecht werden kann, dessen Selbstvertrauen schwächen. Da wir die
sensorisch-integrative Funktionsstörung nicht sehen können, verges-
sen wir leicht, dass das Kind eine Behinderung hat und weniger gute
11 Leistungen erbringen kann als andere Kinder.

Tipp

Überprüfen Sie immer wieder, ob Ihre Erwartungen an Ihr Kind


seinen persönlichen Fähigkeiten – entsprechend seiner Hirnfunk-
tion – entsprechen.

Wenn ein Mensch blind ist, erwarten wir nicht von ihm, dass er sieht,
und wir kritisieren ihn auch nicht dafür, dass er nicht sieht. Wenn
ein Kind sehen kann, erwarten wir automatisch, dass nicht gegen
Dinge stößt. Leider erhalten Kinder mit einer Störung der visuellen
Raum- und Formwahrnehmung, obwohl sie sehen können, nicht die
richtigen Informationen aus dem, was sie sehen. Sie sehen zwar den
Stuhl, aber sie laufen dagegen. Da ihnen das aber nicht immer passiert
und sie es vermeiden können, wenn sie sich besonders konzentrieren,
meint die Umwelt, dass diese Kinder ermahnt werden müssen, wenn
sie gegen Gegenstände oder Personen stoßen. Einfühlsamer wäre es,
das Kind daran zu erinnern, dass es genau hinsehen muss, wohin es
geht. Wenn es gegen etwas stößt, reicht ein lässiges »Oops«. Wir müs-
sen diesen Kindern nicht sagen, dass sie nicht gegen Dinge laufen sol-
len; sie wissen es schon. Was ein Kind braucht, sind unterstützende
Äußerungen, die ihm sagen, dass Sie wissen, was es erlebt, und dass
Sie auf seiner Seite sind.
11.3 • Die Umgebung verändern
217 11
Beispiele
Unterstützende Äußerungen:
55 Für Kinder, die gegen Gegenstände stoßen: »Es kann wirklich
schwierig sein, nicht gegen Dinge zu laufen, nicht wahr?«
55 Für dyspraktische Kinder, wenn sie Spielsachen kaputt machen:
»Ja, manchmal ist es schwer, herauszufinden, wie man mit diesen
Spielsachen spielen kann.«
55 Für schwerkraftunsichere Kinder, wenn sie verweigern, mit den
anderen Kindern zu spielen: »Ich weiß, Du würdest gerne mitspie-
len, aber es macht Dir irgendwie Angst.«
55 Für taktil abwehrende Kinder, wenn sie wütend werden, weil sie
berührt wurden: »Ich weiß, dass das unangenehm für Dich ist.«

11.2.6 Das Gute hervorheben

Sie können das Selbstvertrauen Ihres Kindes fördern, indem Sie die »Sie können das Selbstvertrauen
positiven Dinge, die es tut, bemerken und erwähnen. Damit verstär- Ihres Kindes fördern, indem Sie
ken Sie sein gutes Verhalten und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, die positiven Dinge, die es tut,
dass Ihr Kind dieses Verhalten wiederholt. Selbst wenn es nichts Be- bemerken und erwähnen.«
sonderes ist, wofür Sie Ihr Kind loben, vermitteln Sie Ihrem Kind
damit ein viel besseres Selbstwertgefühl.

Tipp

Eine gute allgemeine Richtlinie ist, Positives zu betonen und Ne-


gatives zu ignorieren.

Selbst ein Kind mit starken Verhaltensauffälligkeiten macht einige


gute Dinge. Achten Sie bewusst darauf, ihm zu sagen, dass Sie sich
darüber freuen. Dadurch helfen Sie Ihrem Kind, zu erkennen, dass
es sich richtig verhalten kann. Ein Kind mit sensorisch-integrativen
Problemen, das von seinen Eltern akzeptiert und unterstützt wird,
wird sein Leben auf seine Art meistern. Ein Kind mit den gleichen
Problemen, dessen Eltern sein Problem nicht erkennen und es wegen
der Symptome kritisieren, wird ein Leben lang kämpfen.

11.3 Die Umgebung verändern

Wie die Eltern das Leben zu Hause gestalten, wirkt sich auf die Ent-
wicklung aller Kinder aus. Sinnesreize des Familienalltags bombar-
dieren das Gehirn der Kinder Tag für Tag, wohingegen der sensori-
sche Input in der Therapie nur wenige Stunden pro Woche ausmacht.
Daher ist es naheliegend, dass die Behandlung umso wirksamer sein
wird, wenn das Kind die übrige Zeit in einer wohlorganisierten Um-
gebung verbringen kann.
218 Kapitel 11 • Was Eltern tun können

11.3.1 Struktur

»Eines der besten Dinge, Struktur in der Umgebung kann einem instabilen Gehirn zu mehr
die Eltern für ältere Kinder Stabilität verhelfen. Ein geordnetes Leben und Heim fördert auch
tun können, ist ihnen eine gute Organisation unseres Gehirns. Organisation schließt zeit-
beizubringen, wie sie ihre Zeit liche und räumliche Ordnung ein. Jede Aktivität hat ihre Zeit, und
einteilen und ihre Sachen in jeder Moment hat seine Aktivität. Jeder Gegenstand hat seinen Platz,
Ordnung halten. Dies hilft an dem er sich meist befindet. Eines der besten Dinge, die Eltern
diesen Kindern, ihr schlecht für ältere Kinder tun können, ist, ihnen beizubringen, wie sie ihre
organisiertes Nervensystem zu Zeit einteilen und ihre Sachen in Ordnung halten. Dies hilft diesen
kompensieren.« Kindern, ihr schlecht organisiertes Nervensystem zu kompensieren.
Gute Organisation ist eine Form der Selbstdisziplin, und Kinder mit
sensorisch-integrativen Problemen müssen Selbstdisziplin lernen, da
sie sich in der Regel nicht auf natürliche Weise von selbst entwickelt.

11.3.2 Die taktile Umgebung

Kommt die Außenwelt mit der Haut des Kindes in Berührung, so


kann das starke Auswirkungen auf sein Nervensystem haben, sowohl
im negativen als auch im positiven Sinn.

Tipp

Respektieren Sie die Reaktion Ihres Kindes auf Sinnesreize.

11
Denken Sie daran, dass jeder Mensch Sinnesreize anders wahrnimmt.
Was für Sie eine angenehme Berührung ist, kann für Ihr Kind höchst
unangenehm sein. Möglicherweise empfindet es Berührungen von
Ihnen als angenehm, aber Berührungen von anderen Personen lösen
abwehrende Reaktionen aus. Kleidungsstücke, die Sie weich finden,
können für Ihr Kind kratzig sein. Plüschtiere können manchen Kin-
dern genau die richtigen Berührungserfahrungen liefern, aber für
andere Kinder sehr unangenehm sein. Manche Kinder beruhigt es,
wenn man ihnen nach dem Waschen die Arme und das Gesicht mit
dem Handtuch mehrmals langsam und fest abreibt, aber bei anderen
zeigt dies keine Wirkung.
Ein dunkler Tunnel aus Stoff oder aus Decken ist ein hervorragen-
der Rückzugsort, in den das Kind hineinkriechen kann, wenn ihm
die Umgebungsreize zu viel werden. Achten Sie darauf, dass es genü-
gend Luft zum Atmen bekommt. Das Kind kann sich auch beruhigen-
de Berührungs- und Druckreize verschaffen, indem es sich in einen
weichen Bettüberwurf einrollt. Der beruhigende Effekt von Wickel-
kissen und Kuscheldecken beruht darauf, dass über Berührungsreize
an vielen Körperstellen die Integration des Nervensystems gefördert
wird. Kleine Kinder halten sich noch nicht an soziale Regeln, was Be-
rührungen betrifft. Dadurch sind ihre körperlichen Reaktionen eine
gute Orientierungshilfe, welche taktilen Reize ihrem Nervensystem
guttun und welche nicht.
11.3 • Die Umgebung verändern
219 11
Tipp

Beobachten Sie Ihr Kind einfach, und hören Sie ihm zu.

Negative Reaktionen sind ein Anhaltspunkt dafür, dass das Kind »Erinnern Sie Ihre Verwandten
zusätzliche organisierende taktile Reize braucht. Anstatt glatter Bett- daran, dass es nicht persönlich
wäsche könnten Sie ihm Bettwäsche aus Frottee oder Seersucker und gemeint ist, wenn Ihr Kind
einen Frotteeschlafanzug geben. Dies könnte ihm die noch nötigen Zärtlichkeiten ablehnt.«
Berührungsempfindungen liefern, um die Aktivität des Nervensys-
tems auszubalancieren. Wenn Ihr Kind sich bereits mit einem Hand-
tuch eingewickelt hat, und dies nicht ausreicht, hilft es vielleicht, noch
ein zusätzliches Kissen neben es zu legen. Sie können Ihrem Kind vor
dem Zubettgehen auch eine leichte Rückenmassage geben. Nach dem
Bad reiben Sie es ausgiebig mit einem Handtuch trocken. Beobachten
Sie immer seine Reaktionen; sobald es einen Reiz nicht mag, respek-
tieren Sie sein Bedürfnis.
Erinnern Sie Ihre Verwandten daran, dass es nicht persönlich
gemeint ist, wenn Ihr Kind Zärtlichkeiten ablehnt; es ist vielmehr
Ausdruck davon, dass sein Nervensystem nicht in der Lage ist, diese
Empfindungen als angenehm wahrzunehmen. Seine Reaktionen auf
Umarmungen sind gleich, ungeachtet der Person, die es berührt. Soll-
te Ihr Kind automatisch zuschlagen, wenn jemand es zufällig berührt,
erklären Sie, dass es eine automatische Reaktion sei, die das Kind
nicht kontrollieren könne. Nichtsdestotrotz halten Sie Ihr Kind dazu
an, sich in einer derartigen Situation zu entschuldigen.

11.3.3 Vestibuläre und propriozeptive Erfahrungen

Ebenso wie auf Berührungen reagieren Kinder auch auf Gleichge-


wichtsreize sehr unterschiedlich. Manche lieben sie; manche tun es
nicht. Aktivitäten, bei denen das Kind Gleichgewichtsreizen ausge-
setzt wird, die es nicht modulieren oder tolerieren kann, helfen sei-
nem Nervensystem nicht, sich zu entwickeln; sie können im Gegenteil
seine emotionale Entwicklung schädigen.
Manche Erwachsenen glauben, es müsse jedem Kind Freude be-
reiten, wenn sie es in die Luft werfen oder kopfüber halten. Nachdem
Sie dieses Buch gelesen haben, denken sie vielleicht sogar, dass es
Therapie sei. Für Kinder mit Schwerkraftunsicherheit können diese
Erfahrungen jedoch reine Qual bedeuten. Bereits in einem Schaukel-
stuhl zu schaukeln kann an die Toleranzgrenze dieser Kinder gehen.
Manche Kinder fühlen sich nur wohl dabei, wenn sie den Kopf in
einer bestimmten Position halten; andere wollen nicht auf dem Bauch
liegen und schlafen nur in Rückenlage.

Tipp

Beobachten Sie Ihr Kind, wenn es spielt.


220 Kapitel 11 • Was Eltern tun können

Falls Ihnen ungewöhnliche Reaktionen auf Gleichgewichtsreize auf-


fallen, suchen Sie professionelle Hilfe bei einer Ergotherapeutin mit
einer anerkannten Qualifikation in Sensorischer Integrationstherapie.
Sucht Ihr Kind intensive Gleichgewichtserfahrungen, dann ge-
stalten Sie die Umgebung so, dass es sich ausgiebig bewegen kann
(. Abb. 11.5). Aktivitäten wie Laufen, Springen, Klettern in freier Natur
und Spielen auf Spielgeräten, die viel Körpereinsatz zulassen, wirken
ausgleichend auf sein Gehirn. Lassen Sie Ihr Kind im Haushalt mit-
helfen, Dinge hochzuheben, zu tragen oder zu schieben. Diese Tätig-
keiten liefern ihm den gewünschten propriozeptiven Input. Denken
Sie daran, dass körperliche Aktivität mehr bringt als Muskelaufbau;
sie bietet Sinnesinformationen und fordert anpassende Reaktionen,
die Ordnung in das Gehirn bringen (. Abb. 11.6).
Wir haben an anderer Stelle gesagt, dass der Bezug des Kindes zur
Schwerkraft noch wichtiger sei als die Beziehung zu den Eltern. Das
bedeutet nicht, dass die Eltern nicht eine sehr wichtige Rolle spie-
len. Zu den Aufgaben der Eltern gehört es, das Kind zu unterstützen,
einen sicheren Bezug zur Schwerkraft zu entwickeln. Wenn sie es
. Abb. 11.5  Wenn ein Kind intensive hochheben, umhertragen, in den Armen wiegen und in eine Wie-
Gleichgewichts- und Bewegungserfah-
ge, einen Kinderwagen oder eine Babyschaukel geben, verschaffen
rungen sucht, ist es wichtig, die Um-
gebung so zu gestalten, dass solche Sie ihrem Baby die ersten Erfahrungen mit der Schwerkraft. Wenn
Aktivitäten ermöglicht werden das Kind älter wird, erweitern Sie diese Erfahrungen um Schaukeln
auf dem Spielplatz, Ponyreiten, Schwimmen, Bergwanderungen und
Urlaub am Strand. Oft sind gerade die Kinder, die eine Abneigung
gegen diese Aktivitäten haben oder rasch ermüden, diejenigen die
11 diese Erfahrungen am meisten brauchen. Drängen Sie Ihr Kind nie zu
diesen Aktivitäten, da es sein Gehirn selbst organisieren muss. Aber
bieten Sie sie an, und machen Sie sie für Ihr Kind passend. Wenn es
mit Ihren Angeboten nicht zurechtkommt, dann lassen Sie es seinen
eigenen Weg finden, wie es sein Gehirn anregen möchte.

11.3.4 Geräusche und Gerüche

Manche Kinder sind überempfindlich gegenüber den Geräuschen


oder Gerüchen, die im Haus auftreten.
Geräusche, die das Kind nicht modulieren kann, können sehr
lästig sein und seine Aufmerksamkeit stören. Das Schreien von an-
deren Kindern beim Spielen oder das Weinen eines Babys kann sehr
irritierend sein. Für viele dieser Kinder sind die Sirenen von Einsatz-
. Abb. 11.6  Körperliche Aktivitäten fahrzeugen unerträglich.
machen mehr als nur Muskeln aufzu-
bauen: Sie bieten auch Sinnesempfin- Tipp
dungen und erfordern Reaktionen, die
das Nervensystem organisieren Wenn Sie merken, dass Ihr Kind sich offensichtlich unbehaglich
fühlt, versuchen Sie, die Ursache herauszufinden.

Einfache Dinge – wie das Fenster schließen oder mit dem Kind in
einen anderen Raum gehen – können schon helfen. Bemühen Sie sich
11.4 • Helfen Sie Ihrem Kind zu spielen
221 11
auch, Ihre eigene Stimme zu dämpfen, so dass sie Ihr Kind nicht über-
erregt. Wenn Sie flüstern anstatt laut zu sprechen, können Sie dazu
beitragen, dass sein Nervensystem sich beruhigt.
Auch Gerüche, die weder Erwachsene noch andere Kinder stören,
können für Kinder, die einen überempfindlichen Geruchssinn haben,
quälend sein. Es können die Gerüche von Lebensmitteln, Parfüms,
Reinigungsmitteln, der Toilette, Autoabgasen und vielen anderen
Quellen sein. Selbst wegen eines dezenten Körpergeruchs, den nur
Ihr Kind bemerkt, kann es bestimmte Personen ablehnen.

Tipp

Das Wichtigste, was Sie als Eltern machen können, ist, sich be-
wusst zu machen, dass Ihr Kind Dinge einfach anders wahrnimmt.

In einem gewissen Ausmaß können Sie es vor überwältigenden Emp-


findungen bewahren, aber Sie können natürlich nicht jedes Geräusch
und jeden Geruch in der Umwelt kontrollieren.

11.3.5 Die Warnzeichen

Ihr Kind gibt Ihnen Warnzeichen, wenn es von Ihnen oder von et-
was in der Umgebung überfordert wird. Warnzeichen sind, wenn Ihr
Kind unorganisiert und hyperaktiv wird, oder wenn es außer sich
gerät. Es kann auch sein, dass es feindselig und aggressiv wird oder
sich zurückzieht und zu weinen beginnt. Für Außenstehende mag das
einfach »starrsinnig« wirken.
>> Aufmerksame Eltern erkennen die Warnzeichen und ändern
die Situation, bevor sie eskalieren kann. Manchmal ändern
sie intuitiv die Situation, bevor die Zeichen überhaupt auf-
treten.

11.4 Helfen Sie Ihrem Kind zu spielen

In der Gesellschaft wird unterschätzt, wie wichtig das Spielen für die »In der Gesellschaft wird
kindliche Entwicklung ist. Viele Erwachsenen betrachten das Spielen unterschätzt, wie wichtig
als reine Unterhaltung oder Albernheit, weil die meisten Kinder kei- das Spielen für die kindliche
ne Hilfe brauchen, spielen zu lernen, und weil man nicht sieht, wie Entwicklung ist.«
das Gehirn sich entwickelt, wenn Kinder spielen. Aber in den Vor-
schuljahren ist das Spielen für die Entwicklung von Kindern ebenso
wichtig wie später die Schularbeiten. Eltern wissen oft, wie sie mit
ihren normal entwickelten Kindern spielen können, aber viele haben
Schwierigkeiten, mit einem Kind zu spielen, das eine Entwicklungs-
oder neurologische Störung hat.
Eltern meinen oft, ihr Kind sei nicht an anderen Spielen interes-
siert ist, weil es immer nur mit bestimmten Dingen spielt. Allerdings
222 Kapitel 11 • Was Eltern tun können

haben Kinder, die sich nicht für die typischen Spiele der Gleichaltri-
gen interessieren, mit großer Wahrscheinlichkeit Probleme, zu denen
in der Regel auch sensorische Verarbeitungsstörungen gehören. Das
Spielverhalten von dyspraktischen Kindern ist sehr eingeschränkt,
weil sie Schwierigkeiten haben, ihre Bewegungen bei neuen Anforde-
rungen zu planen. Deshalb bleiben sie bei einfachen und vertrauten
Spielen. Kinder mit vestibulären Störungen werden von ihrer unsi-
cheren Haltung oder von ihren Ängsten bei Bewegungen, die sie nicht
modulieren können, beim Spielen behindert. Taktil abwehrende Kin-
der lehnen es oft ab, mit anderen Kindern zu spielen, weil sie den Kör-
perkontakt vermeiden wollen, der dabei zustande kommt. Manchen
Kindern mit einer schlechten Sinnesverarbeitung ist es einfach pein-
lich, wenn andere Kinder ihre Ungeschicklichkeit sehen, und andere
können ihr Verhalten nicht gut genug organisieren, um zielgerichtet
zu spielen.
>> Das Wesentliche ist, dass im Spielen der innere Antrieb des
Kindes zum Ausdruck kommt, sich als sensomotorisches
Wesen zu fühlen und weiterzuentwickeln.

Das Endergebnis des Spiels – etwa ein Turm aus Bausteinen oder
die Zahl von Sprüngen über das Springseil – ist nicht von Bedeutung.
Wichtig ist vielmehr, dass das Kind seinem inneren Antrieb folgt,
durch körperliche Aktivitäten seine Umwelt und seinen Körper zu
beherrschen. Körperliche Aktivitäten liefern Sinneserfahrungen und
anpassende Reaktionen, die wiederum dazu beitragen, das Gehirn
11 zu organisieren. Die sichtbaren Ergebnisse des Spiels können für Er-
wachsene wenig beeindruckend sein, aber für das Kind bedeuten sie
einen Erfolg in seinem eigenen Wachstumsprozess.
Im Spiel bekommen Kinder Sinnesreize von ihrem Körper und
von der Schwerkraft, die sowohl für ihre motorische als auch emotio-
nale Entwicklung wichtig sind (. Abb. 11.7).
>> Es sind die Sinneserfahrungen, die Aktivitäten zum Vergnü-
gen werden lassen.

Laufen, Drehen, Bücken, Tasten, Schieben, Ziehen, Rollen, Krabbeln,


Gehen, Springen usw. liefern ungeheure Mengen an vestibulären,
propriozeptiven und taktilen Sinneserfahrungen. Dies ist einer der
Gründe, warum Kinder spielen. Junge Menschen brauchen sehr viele
von diesen Körpererfahrungen, Erwachsene brauchen nicht mehr so
viele. Je mehr ein Kind erkundet, desto mehr werden seine Sinne an-
geregt, und desto komplexer werden seine anpassenden Reaktionen.
Und je variantenreicher sein Spielverhalten, desto mehr trägt das Spiel
zu seiner Entwicklung bei.
>> Spielen trägt ganz entscheidend zur Entwicklung der Fähig-
keit bei, Bewegungen zu planen (. Abb. 11.8, 11.9).

Wenn Kinder spielen, bewegen sie ihre Körperteile auf unzähli-


ge Weise. Die Empfindungen von diesen Bewegungen werden in
11.4 • Helfen Sie Ihrem Kind zu spielen
223 11

. Abb. 11.8  Im Garten oder Park gibt


es viele Gelegenheiten für ein Kind,
. Abb. 11.7  Spielen ist wichtig, damit das Kind die Fähigkeit entwickeln kann, zu durch Klettern oder Verstecken Bewe-
planen und zu organisieren gungsplanung zu entwickeln

die sensorischen »Landkarten« des Körperschemas eingespeichert.


Durch Ganzkörperbewegungen erfahren sie, in welchem Bezug sie
zum umgebenden Raum stehen, und durch Hantieren mit kleinen
Spielzeugen lernen sie, ihre Hände und Finger geschickt zu benutzen.
Im Spiel entwickeln sich Fähigkeiten. Vielleicht brauchen sie diese Fä-
higkeiten erst später im Leben, aber wer als Kind nicht richtig spielen
kann, wird auch später nicht viele Fähigkeiten entwickeln.

Tipp

Beobachten Sie Ihr Kind genau, wenn es spielt. Versuchen Sie, zu


erkennen, welche Bedeutung das, was es tut, für Ihr Kind hat.

Wenn Ihr Kind mit Freude bei der Sache ist, kann diese Freude von
einer sensomotorischen Erfahrung kommen, die sein Gehirn braucht.
Freuen Sie sich mit ihm. Zeigen Sie ihm, dass Sie sich freuen, wenn
es sich Herausforderungen sucht, bei denen es seinen Körper und
seine Umgebung meistern kann, auch wenn es dabei schmutzig wird
oder sich weh tut. Das ist unvermeidlich, wenn Ihr Kind sich immer
höheren Anforderungen stellt, um immer reifere Bewegungen und
Handlungen zu entwickeln.
Wenn Ihr Kind im Spiel hingegen überdreht, traurig oder feind-
selig wird, denken Sie daran, dass diese Gefühle daher kommen, dass
seine sensomotorische Verarbeitung nicht mitgekommen ist. Sie ha-
ben die Situation vielleicht gar nicht bemerkt, aber für Ihr Kind war
es ein deutlicher Dämpfer. Solche Erfahrungen können ein Kind ab-
halten, neue Erfahrungen zu machen, oder aber sie können Schritte
zu Kompetenz sein. Wenn Sie Ihrem Kind viel emotionale Unterstüt-
224 Kapitel 11 • Was Eltern tun können

. Abb. 11.9  Parks, Spielplätze, öffentliche Schwimmbäder und Ausflüge in die


Natur bieten viele anregende Sinneserfahrungen

zung geben, und nicht versuchen zu kontrollieren, was es tut, wird es


die Aufgabe wahrscheinlich so lange probieren, bis es sie beherrscht.
Ihr Kind wünscht sich, dass Sie sein Problem anerkennen; nicht auf
die Art, dass Sie sagen: »So musst du das tun; jetzt mach es«, sondern
11 auf diese Art: »Ich weiß, dass du das schaffst, und wenn du mich
brauchst, helfe ich Dir gern, so gut ich kann.«
Denken Sie daran, dass Spiel in erster Linie vom inneren Antrieb
des Kindes gesteuert wird. Wenn Sie es zum Spielen drängen, wird
der Gewinn daraus eingeschränkt sein. Schaffen Sie stattdessen einen
geeigneten Rahmen, und machen Sie Ihrem Kind jeden Schritt vor,
bis es ihn selbst tun kann. Erklären Sie die Tätigkeit nicht über den
Verstand, mit Worten, sondern machen Sie es selbst vor. [Ergänzung
d. Übersetzerin: Oder führen Sie die Hände oder den Körper Ihres
Kindes durch die Aktivität, so dass es die körperliche Erfahrung spü-
ren kann.] Machen Sie positive Bemerkungen, die es bestärken, dass
es etwas schaffen kann; betonen Sie, was es gut macht, und ignorieren
Sie, was es nicht so gut macht. Mit Phantasie können Sie das Interesse
Ihres Kindes wach halten, damit es die nötige Ausdauer aufbringt,
es wieder und wieder zu versuchen. Ein Berg Sand kann »die große
Wüste« sein; und wenn Ihr Kind Löcher gräbt, kann es einen »Schatz
suchen«. Setzen Sie Ihre Phantasie ein, und Ihr Kind wird mehr von
seinem Spiel haben!
Erwarten Sie von Ihrem Kind nicht Dinge, die es nicht tun kann.
Durch überhöhte Erwartungen, die es nicht erfüllen kann, wird es
sich unfähig fühlen. Damit würden Sie den Wert des Spiels zerstören.
Eltern von Kindern mit sensorisch-integrativen Funktionsstörungen
tendieren generell dazu, ihren Kindern Spielsachen und Aktivitäten
11.4 • Helfen Sie Ihrem Kind zu spielen
225 11
anzubieten, die zu kompliziert sind. Wenn Kinder bestimmte Spiele
ablehnen, übersteigen sie möglicherweise ihre sensomotorischen Fä-
higkeiten. Probieren Sie etwas Einfacheres aus. Es ist schon richtig:
Oft ist es am schwersten, an die einfachen Dinge zu denken.
Wenn Sie mit einem normal entwickelten Kind Ball spielen,
können Sie erwarten, dass es im Verlauf des Spiels den Ball immer
geschickter fängt, oder zumindest gleichbleibend gut. Kinder lernen
durch Übung und behalten einmal erlernte Fertigkeiten normaler-
weise, weil sie ihr Gehirn in einem organisierten Zustand halten kön-
nen. Gehen Sie nicht mit denselben Erwartungen in ein Ballspiel mit
einem Kind, das sensorische Integrationsstörungen hat. Durch die
Unzuverlässigkeit der sensomotorischen Verarbeitung sind auch die
Leistungen Ihres Kindes unbeständig. Es kann sich eine Zeit lang –
einige Minuten oder Tage – verbessern, und dann plötzlich wieder
zurückfallen.

Tipp

Seien Sie geduldig und lassen Sie Ihr Kind herumstolpern, zur
falschen Zeit nach dem Ball greifen und diesen in die falsche
Richtung werfen.

Ihr Kind braucht diese Erfahrungen, um zu lernen, und es wird leich-


ter lernen, wenn Sie geduldig sind. Helfen Sie ihm auch zu lernen,
was es besser machen kann. Solange Ihr Kind mit Spaß dabei ist –
selbst wenn es nicht toll fängt oder wirft – entwickelt sein Gehirn
wahrscheinlich die »Bausteine«, aus denen sich Ballspielen zusam-
mensetzt. Ihre Aufgabe ist es, Ihr Kind bei jedem Schritt des Weges
zu unterstützen.
>> Kinder brauchen keine teuren Spielsachen, um gut spielen
zu können.

Die besten Spielsachen sind diejenigen, bei denen nicht vorgegeben »Spielsachen sollten vor allem
ist, wie man sie verwenden muss. Dafür lassen sie viele verschiede- Gelegenheit bieten, Phantasie
ne Verwendungsmöglichkeiten zu, so dass das Kind seine Phanta- und Kreativität einzusetzen.«
sie und Kreativität einsetzen muss, um sein eigenes Spiel zu entwi-
ckeln. Kinder spielen meist lieber mit Dingen wie einem alten Löffel,
einem Leintuch oder anderen Haushaltsartikeln. Löffel und Leintuch
unterstützen die sensorische Integration Ihres Kindes sogar besser
als teures Spielzeug. Spielsachen sollten vor allem Gelegenheit bieten,
Phantasie und Kreativität einzusetzen. Wenn Kinder ihre Spielsachen
erkunden, sollen sie nicht fürchten müssen, sie kaputt zu machen.
Leere Pappkartons und Plastikflaschen, Reifen und Schläuche,
lange Seile, Kochgeschirr, Schaumstoffteile, Kissen und andere Dinge,
die im Haus herumliegen, bieten wertvolle Spielmöglichkeiten. Ma-
chen Sie sich keine Gedanken darüber, was das Kind damit anstellen
wird; es wird sich etwas ausdenken.
226 Kapitel 11 • Was Eltern tun können

Sandhaufen sind großartig; Schneiden Sie eine Plastikwaschmit-


telflasche auf, so dass Ihr Kind sie als Schaufel benutzen kann. Wasser
und Sand sind eine gute Kombination. Matsch lässt sich gut schaufeln;
man kann auch Löcher graben, Berge daraus machen und Tunnel
durchgraben, und dann kann das Kind Spielzeugautos darüberfahren
lassen. In Sand oder Erde zu graben bietet starke propriozeptive und
taktile Reize. Es ist den Aufwand wert.
Aus einer oder zwei zusammengerollten Decken können Sie eine
schöne Rolle für Ihr Kind machen. Es wird ihm Spaß machen, einfach
darüber zu rollen. Bauen Sie einen Hindernisparcours für Ihr Kind,
durch den es kriechen, krabbeln, klettern, hinaufsteigen, rückwärts-
gehen, hüpfen und abspringen muss. Tauschen Sie die Hindernisse
nach jedem erfolgreichen Durchgang aus, so dass Ihr Kind neue an-
passende Reaktionen entwickeln muss. Auch durch Herumbalgen er-
fährt man intensive Berührungs- und propriozeptive Empfindungen
von den starken Kontraktionen der Muskeln.
»Alte« Spiele, die Kinder schon seit Jahrhunderten spielen, för-
dern die sensorische Integration besonders gut. Beim Versteckspiel
werden Raumwahrnehmung und Körperschema entwickelt, da das
Kind einen Platz finden muss, der groß genug ist, um seinen Körper
zu verbergen. »Himmel und Hölle« oder »Tempelhüpfen« fördern
Gleichgewichtsreaktionen und Bewegungsplanung. Ballspielen för-
dert das Zusammenspiel von Augen und Händen.

Tipp

11 Wenn Sie Spielzeug kaufen, suchen Sie etwas aus, das Ihr Kind
anregt, seinen ganzen Körper zu bewegen oder Dinge, die es mit
seinen Händen bearbeiten muss.

Ein Dreirad, ein Schubkarren, ein Springseil, eine Rutsche, eine


Schaukel, ein Schaukelpferd, ein Klettergerüst, Bausteine, Puzzles,
Bastelmaterial, Legosteine usw. bieten diese Möglichkeit. Spielsachen,
die auf Knopfdruck funktionieren oder lediglich herumgezogen wer-
den – wie ein Plüschhund auf Rädern – bieten kaum Sinnesanregung
und Anforderungen an anpassendes Verhalten. Die besten Spielsa-
chen sind diejenigen, bei denen nicht vorgegeben ist, wie man sie
verwenden muss. Dafür lassen sie viele verschiedene Verwendungs-
möglichkeiten zu, so dass das Kind seine Phantasie verwenden muss,
um sein eigenes Spiel zu entwickeln.
Ein Schaukelgerüst im Garten bietet grundlegende Sinneserfah-
rungen, und Spielplatzgeräte liefern sogar noch stärkere vestibuläre
und propriozeptive Reize. Wenn Sie mit Ihrem Kind auf den Spiel-
platz gehen, bedenken Sie, dass es auf das Schaukeln, Wippen, Rut-
schen oder Drehen unter- oder überreagieren kann, oder wechselnde
Reaktionen zeigt.
11.5 • Suchen Sie professionelle Hilfe
227 11
Tipp

Unterstützen Sie Ihr Kind, seinen inneren Antrieb auf den Geräten
auszuleben. Wenn Ihr Kind sich nicht gut schützen kann, achten
Sie auch darauf, dass andere Kinder nicht zu wild mit ihm spielen.

Neben den Reaktionen Ihres Kindes auf die Reize müssen Sie auch
seine Sicherheit im Auge behalten. Gehen Sie immer davon aus, dass
ein Kind mit sensorischen Verarbeitungsstörungen unfallgefährdet
ist, wenngleich manche Kinder das durch übertriebene Vorsicht kom-
pensieren. Ein Kind mit sensorischen Defiziten braucht mehr Schutz
als andere Kinder, weil es nicht alle Sinnesinformationen verarbeiten
kann, die notwendig wären, um sich selbst zu schützen. Achten Sie
auf Objekte, an denen es sich schneiden oder verletzen kann, und auf
Dinge, in die es hineinlaufen oder von denen es fallen kann; halten
Sie es von diesen Gefahrenquellen fern oder halten Sie die Gefahren-
quellen von ihrem Kind fern, oder unterstützen Sie es, aufzupassen,
dass es sich nicht verletzt. Stellen Sie sich vor, es hätte einen Unfall.
Fragen Sie sich, wo und wie das wahrscheinlich passieren würde, und
ergreifen Sie die entsprechenden Vorsorgemaßnahmen.
Es ist unvermeidlich, dass ein Kind sich anstößt und blaue Fle-
cken hat. Das ist in Ordnung, wenn sie als Begleiterscheinungen von
Erfolgserlebnissen auftreten. Machen Sie kein großes Aufsehen wegen
kleinerer Verletzungen, solange sie Ihr Kind nicht beim Spielen be-
hindern. Kinder, die taktil abwehrend sind, reagieren oft übertrieben
auf geringfügige Hautverletzungen. Wenn ihr Kind sich so fest an-
stößt, dass es weint, nehmen Sie es auf den Arm und wiegen Sie es,
oder geben Sie ihm auf andere Art emotionale Unterstützung, und
lassen Sie es dann zu seinem Spiel zurückgehen. Zeigen Sie Ihrem
Kind, dass Schnitte und Kratzer keine Katastrophe sind. Machen Sie
ihm klar, dass sein Körper belastbar ist und wieder heilt.
>> Das Gefühl von Vertrauen und Sicherheit in seinen eigenen
Körper ist die Grundlage für eine gute Hirnfunktion.

11.5 Suchen Sie professionelle Hilfe

Wenn Sie vermuten, dass Ihr Kind sensorische Integrationsprobleme


hat, sollten Sie Ihre Kinderärztin oder die Lehrerinnen Ihres Kindes
darauf ansprechen. Möglicherweise sind diese Fachkräfte mit diesem
Problem vertraut und können Sie an die richtigen Stellen weiterleiten.
Außerdem bietet sich ihnen die Gelegenheit, Ihnen von ihren Eindrü-
cken zu erzählen. Wenn sie aber nichts von sensorischen Integrations-
störungen wissen, oder wenn Sie Ihnen raten, einfach abzuwarten,
müssen Sie sich an anderer Stelle Hilfe suchen (. Abb. 11.10).
Ein guter Anfang ist es, eine qualifizierte Ergotherapeutin
zu finden. Wenden Sie sich am besten an den Berufsverband der
228 Kapitel 11 • Was Eltern tun können

. Abb. 11.10  Wenn Ihr Kind Anzeichen einer sensorischen Verarbeitungsstörung


zeigt, suchen Sie so früh wie möglich Hilfe

Ergotherapeutinnen oder an die Organisation für Sensorische Inte-


gration in Ihrem Land (7  Abschnitt »So finden Sie eine ausgebildete
Therapeutin«). Empfehlungen für Ergotherapeutinnen mit SI-Quali-
fikation können Sie auch in der Ergotherapieabteilung eines Zent-
11 rums für Entwicklungsdiagnostik, einer Kinderklinik oder einer so-
zialpädiatrischen Klinik bekommen.

Tipp

Warten Sie nicht zu lange ab! Wenn Ihr Kind wirklich eine sensori-
sche Verarbeitungsstörung hat, ist nicht zu erwarten, dass es sich
»auswächst«.

Selbst wenn ein Kind mit sensorischen Integrationsproblemen Wege


findet, seine Schwächen zu verstecken und zu kompensieren, so dass
seine Probleme kaum auffallen, bleibt die Störung in seinem Gehirn
bestehen und wird ihm sein Leben schwierig machen.
Wenn Ihr Kind Schwierigkeiten im Kindergarten oder in der
Schule hat, warten Sie nicht, bis sich bei ihm der Gedanke festmacht,
ein Versager zu sein, oder bis die Lehrerinnen Ihnen mitteilen, dass
Ihr Kind eine Lernstörung hat. Sobald ein Kind von sich selbst denkt,
dass es nicht lernen kann, wird es sich auch emotional blockieren.
Seine negativen Gedanken und Gefühle über sich selbst werden ihm
das Lernen zusätzlich erschweren und vielleicht sogar zu einer Per-
sönlichkeitsstörung führen.
11.5 • Suchen Sie professionelle Hilfe
229 11

. Abb. 11.11  Je jünger das Kind ist, desto flexibler und leichter ist sein Gehirn zu beeinflussen

>> Es ist am besten, eine sensorisch-integrative Behandlung


zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu beginnen.

Je jünger das Kind ist, desto flexibler und leichter ist sein Gehirn zu »Alles, was in der frühen
beeinflussen. Alles, was in der frühen Kindheit getan werden kann, Kindheit getan werden kann,
um dem Gehirn zu helfen, sich zu entwickeln, verbessert die Voraus- um dem Gehirn zu helfen, sich
setzungen des Kindes, in späteren Jahren besser mit dem Lernen und zu entwickeln, verbessert die
emotionalen Anforderungen zurechtzukommen (. Abb. 11.11). Voraussetzungen des Kindes,
Lehrerinnen, Sportlehrerinnen oder auch Bewegungstrainerin- in späteren Jahren besser mit
nen haben zwar eine Ausbildung, die sie befähigt, Kindern Fertigkei- dem Lernen und emotionalen
ten beizubringen, aber sie haben nicht notwendigerweise eine hirn- Anforderungen zurechtzukom-
funktionsspezifische Ausbildung. Wenn Sie denken, dass Ihr Kind men.«
sensorisch-integrative Probleme hat, klären Sie seine Lehrerinnen am
besten über sensorische Integration auf und sagen ihnen, was sie von
Ihrem Kind erwarten können. Eine Lehrerin kann ihre Aufgabe bes-
ser machen, wenn sie weiß, dass ein Schüler ein spezielles Problem
hat, gegen das er nichts tun kann. Wenn Ihr Kind Lernprobleme hat,
kann die Schule wahrscheinlich Unterstützung anbieten.
>> Bei Kindern, die Lernschwierigkeiten und sensorische Inte-
grationsprobleme haben, ist es am effektivsten, wenn die
Therapeutin und die Lehrerinnen zusammenarbeiten.

Eltern sind für die Gesundheit und die Ausbildung ihres Kindes ver-
antwortlich. Sie müssen sich darum kümmern, dass ärztliche Be-
handlungen, die Schule, Förderprogramme und Therapie aufeinander
abgestimmt sind. Je mehr sie über die einzelne Maßnahme wissen,
desto besser können sie alles koordinieren und zu Hause weiterfüh-
ren. Sensorische Integrationstherapie ist ein relativ junges Angebot,
230 Kapitel 11 • Was Eltern tun können

Wie Sie eine qualifizierte Therapeutin finden


Eltern wissen am besten, wann ihr eine fundierte Zusatzausbildung sollte mindestens ein Grund-
Kind spezielle Hilfe braucht. Doch innerhalb eines therapeutischen stufenzertifikat oder ein Zerti-
wenn es schwierig ist, das Problem Grundberufs. Zögern Sie nicht, eine fikat der Komplettausbildung
zu sehen oder zu benennen, oder Fachkraft, die Sensorische Integra- in Sensorischer Integrations-
wenn sie oft auf Unverständnis tionstherapie anbietet, nach den therapie nach Ayres vorweisen
stoßen, zögern sie manchmal lange, folgenden Standardqualifikationen können.
bis sie sich auf die Suche nach der zu fragen: 44 Praktische Erfahrung von
richtigen Hilfe machen. 44 Universitätsabschluss (Diplom, mindestens 3–4 Monaten unter
Die meisten Ergotherapeu- Bachelor oder Master) in Ergo- der Supervision einer erfahre-
tinnen, die mit Kindern arbeiten, therapie (für spezielle motori- nen Mentorin. Die Therapeutin
haben eine Zusatzausbildung in sche oder sprachliche Proble- sollte in der Lage sein, zu be-
Sensorischer Integrationstherapie. me auch in Physiotherapie oder schreiben, wie viel Praxiserfah-
Einige Prinzipien der SI-Theorie, Logopädie). Sensorische Integ- rung sie in Sensorischer Integ-
SI-Befundung und SI-Behandlung rationstherapie wird von diesen rationstherapie bei bestimmten
werden im Allgemeinen bereits in Berufsgruppen angeboten, es Personengruppen (z.B. Kinder,
der Grundausbildung der Ergothe- gibt keine explizite Berufsaus- psychiatrische Patienten) hat.
rapeutinnen unterrichtet. Physio- bildung für Sensorische Integ- 44 Nachweise über Weiterbil-
therapeutinnen und Logopädinnen ration. [Ergänzung d. Überset- dungen. Durch die stets neuen
dagegen hören oft nichts von zerin: Pädagoginnen setzen oft Erkenntnisse der Forschung
sensorisch-integrativen Prinzipien. die Prinzipien der Sensorischen erweitern sich auch die theo-
Obwohl zunehmend mehr Kinder- Integration in Gruppen um, retischen Grundlagen der
gärtnerinnen, Lehrerinnen, Psycho- haben jedoch keine Berech- Sensorischen Integration, was
loginnen und Ärztinnen sensorisch- tigung, als »Therapeutinnen« Einfluss auf die Befundung und
integrative Funktionsstörungen oder in freier Praxis tätig zu Behandlung hat. Eine Thera-
erkennen, haben die meisten dieser sein. Eltern sollten darauf peutin, die mit Sensorischer
Fachkräfte kaum theoretische achten, dass SI-Therapeutinnen Integrationstherapie arbeitet,
Kenntnisse über die sensorische In- einen medizinisch-therapeuti- sollte Nachweise von aktuellen

11 tegration [Anm. d. Übersetzerin: vor


allem keine Ausbildung in Senso-
schen Grundberuf haben.]
44 Postgraduale Zusatzausbil-
Weiterbildungen vorlegen
können.
rischer Integrationstherapie, ohne dung, die Kurse zur Theorie
die keine qualifizierte Behandlung der Sensorischen Integration, (Aus »Sensory Integration: Answers
möglich ist]. Die Voraussetzung, um SI-Befunderhebung und SI-Be- for Parents« [S. 14–15] von G. Cole-
eine fachkundige Befunderhebung handlung im Umfang von min- man, Z. Mailloux und S. Smith Roley
und ursachenorientierte Behand- destens 150 Stunden enthält 2004, Santa Rosa, CA: Crestport
lung durchführen zu können, ist (Grundstufe). Die Therapeutin Press. Nachdruck mit Erlaubnis)

obwohl Kinder von Natur aus immer ihren Prinzipien gefolgt sind.
Neue Ideen sind in den traditionellen Berufsfeldern oft nicht gerne
gesehen und werden eventuell zurückgewiesen, bis sie – manchmal
sogar über mehrere Generationen – eingeführt sind. Ihr Kind kann
nicht so lange warten.
Wir haben dieses Buch geschrieben, um Ihnen als Eltern zu hel-
fen, sich Ihre eigene Meinung zu bilden – Ihnen, die als Eltern dafür
verantwortlich sind, dass Ihr Kind die besten Entwicklungsmöglich-
keiten erhält.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine Ergotherapeutin zu
finden, die ausgebildet ist, sensorisch-integrative Leistungen (SIPT)
11.5 • Suchen Sie professionelle Hilfe
231 11

Brandons Geschichte: Die Fortsetzung von Teil I


Brandons Eltern erlebten es als sehr um die Therapie zu unterstützen, zuerst ohne Leistungsdruck einen
entlastend, jemanden gefunden zu die in einer spezialisierten ergo- Schwimmkurs mitmachen sollte.
haben, der ihnen erklären konnte, therapeutischen Praxis stattfand. Als sie das Schwimmbad verließen,
warum Brandon beim Fußball- oder Mithilfe von Brandons Ergothera- waren Brandon und seine Eltern
Baseballspielen solche Schwierig- peutin konnten sie bald beurteilen, optimistisch, dass er endlich einen
keiten hatte. Die Ergebnisse von welche Aktivitäten für Brandon eine Sport gefunden hatte, der ihm
Brandons ergotherapeutischer Herausforderung darstellten. Nach Spaß machen würde. Brandon hatte
Befundung ergaben, dass Brandon mehreren Monaten Therapie hörten immer noch einige Schwierigkeiten,
Informationen aus dem proprio- sie begeistert, dass Brandon interes- aber durch die Therapie und seine
zeptiven und dem Gleichgewichts- siert war, in einen Schwimmverein verständnisvollen Eltern, die sich
sinn nicht so gut verarbeitete wie einzutreten. Gemeinsam »schnup- bemühten, ihm zu helfen, hatte er
andere 7-Jährige. Nun konnten sie perte die Familie in ein Schwimm- nun den Weg zu einem befriedi-
verstehen, warum Brandon alle training rein«. Brandon sah, dass genderen und produktiveren Leben
Aktivitäten schwer fielen, die Ba- die Kinder Techniken übten, die er eingeschlagen. Brandon wandert
lance, Kraftdosierung und die Ko- schon beherrschte. Allerdings hatte einer erfreulichen Zukunft ent-
ordination von beiden Körperseiten er Angst, dass sie viel schneller gegen (. Abb. 11.12).
erforderten. schwimmen könnten als er. Nach
Brandons Eltern wollten wis- einem Gespräch mit der Trainerin
sen, was sie zu Hause tun konnten, vereinbarten sie, dass Brandon

zu testen und zu interpretieren, und eine sensorisch-integrative Be-


handlung durchzuführen. Die Sensory Integration and Praxis Tests
(SIPT) sind eine Testbatterie, die einzige, die spezifisch sensorisch-
integrative Leistungen abfragt.
Auf der Website der Gesellschaft für Sensorische Integration in
Österreich (GSIÖ e.V.) finden Sie unter www.sensorische-integration.
org, »Therapeutensuche« eine Auflistung der Therapeutinnen in Ös-
terreich, die bei der GSIÖ eine Ausbildung absolviert haben. Diese
Therapeutinnen haben entweder eine Grund- oder eine Komplett-
ausbildung nach dem GSIÖ-Curriculum abgeschlossen, das sich am
Originalcurriculum von Ayres und der University of Southern Cali-
fornia (USC) orientiert und von Lehrbeauftragten der USC durch-
geführt wird; oder sie haben direkt an der USC eine mehrmonatige
universitäre Ausbildung in Ayres’ Sensory Integration absolviert.
Für Deutschland können Sie den Deutschen Verband der Ergo-
therapeuten (DVE) kontaktieren und für die Schweiz den Ergother-
apeutInnenverband Schweiz (EVS).
Zusammenfassend sind in  7  Übersicht  11.2 nochmals alle Ein-
richtungen genannt, an die Sie sich wenden können, um nach einer
Therapeutin zu fragen, die in Sensorischer Integrationstherapie aus-
gebildet ist. Wenn Sie im Internet die Suchwörter »Sensorische In-
tegration«  +  Ayres +  Therapie eingeben, werden Sie auf zusätzliche
Ressourcen stoßen.
232 Kapitel 11 • Was Eltern tun können

Übersicht 11.2. Informationsmöglichkeiten für Eltern


55 Einrichtung für Kindertherapie
55 Ergotherapieabteilung einer Kinderklinik
55 Berufsverband der Ergotherapeutinnen:
–– für Österreich ErgoAustria (www.ergoaustria.org)
–– für Deutschland DVE (www.dve.info)
–– für die Schweiz EVS (www.ergotherapie.ch)
55 Gesellschaft für Sensorische Integration in Österreich
(GSIÖ e.V.) (www.sensorische-integration.org)
55 Ausbildungsstätte für Ergotherapie
55 Elternselbsthilfegruppen

Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Brian Erwin und Christine Hunsicker zu Themen,
die in diesem Kapitel behandelt wurden, finden Sie in Anhang A.

. Abb. 11.12  Brandon nach mehreren


Monaten Therapie

11
233

Anhang A
Kommentare zu den Kapiteln

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
234 Anhang A

Wir haben Expertinnen gebeten, zu jedem Kapitel von Ayres‘ Ori-


ginalarbeit einen Kommentar zu schreiben, in dem die Themen des
Kapitels diskutiert und aus historischer und heutiger Sicht betrach-
tet werden. Diese Kommentare sind Zeugnis für den überdauernden
Einfluss, den das Buch »Sensory Integration and the Child« (im Deut-
schen »Bausteine der kindlichen Entwicklung«) auf die Forschung,
Ausbildung und Praxis der Ergotherapie bis heute hat.

Kapitel 1: Was ist sensorische Integration?

Dr.Mary Schneider, Professorin an der University of Wisconsin, Madison/


USA

Seit der Erstveröffentlichung im Jahr 1979 gab es zahlreiche Studien,


die Ayres‘ Überzeugung, dass sensomotorische Funktionen die Basis
für das spätere Lernen sind, bestätigt haben. Obwohl das Buch in
den 1970er Jahren geschrieben wurde, ist der Inhalt bis heute absolut
relevant und gut verständlich.
Im 1.  Kapitel gibt Ayres einen umfassenden Überblick über die
sensorische Integration, und wie grundlegend sensorische Integra-
tion das Lernen, das Verhalten und die Emotionen beeinflusst. Ayres
war eine Pionierin auf einem Gebiet, das man heute als affektive
Neurowissenschaften bezeichnet, und das sich mit den Gehirn-
mechanismen beschäftigt, die den Emotionen zugrunde liegen. Mit
exzellentem klinischen Blick erkannte Ayres, dass Defizite in der sen-
sorischen Integration tiefgreifende Auswirkungen auf die emotionale
Regulation eines Kindes haben können. Es ist tatsächlich so, dass die
Bedeutung der sensorischen Integration und der Emotionen nicht
unterschätzt werden darf.
Ayres war eine der Ersten, die die Idee der Regulation oder Inte-
gration auf die Hirnfunktionen übertrug, die Verhalten und Emo-
tionen beeinflussen. In diesem Buch liefert sie eine klare und leicht
verständliche Beschreibung des Kindes mit Regulationsstörungen. In
ihren frühen Arbeiten drückte sie die innovative Idee aus, dass Vor-
gänge im Gehirn negatives Verhalten verursachen, für das das Kind
nichts kann. Vielmehr ist es durch einen Mangel an inhibitorischer
(hemmender) Kontrolle im Gehirn verursacht.
>> Heute
Aktuelle Forschungsergebnisse legen nahe, dass die chemi-
sche Balance der fronto-striatalen Schleife, die mit der inhi-
bitorischen Kontrolle zu tun hat, verändert ist.

Diese Ergebnisse unterstützen Ayres‘ Beobachtung, dass Kinder mit


sensorisch-integrativen Störungen Schwierigkeiten haben, irrelevante
Informationen zu unterdrücken, damit Informationen, die wichtig
sind, besser verarbeitet werden können.
235
Anhang A

Ayres wusste auch um die Bedeutsamkeit der sozialen Kompe-


tenz – Freundschaften zu schließen und zu erhalten.

>> Heute
Aktuelle Studien haben gezeigt: Eines der Hauptthemen der
Eltern von Kindern mit sensorischen Integrationsstörungen
sind deren Schwierigkeiten, normal mit anderen Kindern
zu spielen und integriert zu sein, z.B. bei Geburtstagsfeiern
und Einladungen.

Zunehmend mehr Kinder haben soziale Schwierigkeiten, besonders


diejenigen, bei denen eine Autismus-Spektrum-Störung diagnosti-
ziert wurde. Aufgrund der intensiven Forschung ist heute allgemein
anerkannt, dass die Grundlagen des Autismus mit schlechter senso-
rischer Integration zusammenhängen, speziell mit Defiziten in der
Regulation, Imitation und Praxie.
Bei immer mehr Kindern werden sensorische Verarbeitungs-
störungen erkannt. Studien haben die weite Verbreitung von sen-
sorisch-integrativen Störungen bei Kindern bestätigt. Etwa 30% der
Kinder mit Entwicklungsbehinderungen (Baranak et al. 1997) und
etwa 5–10% der Kinder ohne Behinderung (McIntosh et al. 1999) wei-
sen sensorische Integrationsstörungen auf. In einer Studie mit über
10.000  Kindern, die mit dem Sensory Integration and Praxis Tests
(SIPT; Mulligan 1996, 1998, 2000) getestet worden waren, bestätig-
te Mulligan (1998) die Störungsmuster, die Ayres beschrieben hatte
(Ayres 1989).
>> Heute
Die neuere Tierforschung hat gezeigt, dass entweder Stress
der Mutter oder Chemikalien, die sie während der Schwan-
gerschaft zu sich nimmt, beim Jungtier zu einer schwachen
sensorischen Verarbeitung führen können. Beide Faktoren
können also dazu beitragen, dass diese Störungen bei Kin-
dern häufiger auftreten.

Seit dem Erscheinen dieses Buch haben sich die Techniken der bild-
gebenden Verfahren, mit denen wir einen Blick in das Gehirn werfen
können, rasant entwickelt. Daher verstehen wir nun besser, wie die
zugrunde liegenden Gehirnmechanismen mit Leistungen zusam-
menhängen. Ayres erkannte die Ängste, die mit einer schlechten sen-
sorischen Integration einhergehen.
>> Heute
Heutige wissenschaftliche Studien zeigen, dass sensorische
Integrationsstörungen von einem erhöhten Stresshormon-
spiegel begleitet sind.

Studien mit Affen haben gezeigt, dass bei Störungen der sensorischen
Verarbeitung auch die Neurotransmitter oder die biochemischen
Systeme, die die Kommunikation der Nervenzellen untereinander
beeinflussen, verändert sind. In der Zukunft werden uns diese Unter-
236 Anhang A

suchungsmöglichkeiten helfen, sensorische Verarbeitungsstörungen


besser zu diagnostizieren. Vielleicht kann man anhand dieser Werte
bald auch bei jüngeren Kindern eine Diagnose stellen und wirksam
eingreifen, bevor das Kind in die Schule geht, – da die frühe Inter-
vention allgemein für wichtig gehalten wird. Eine frühe Intervention
würde einen Unterschied für das Leben dieser Kinder und ihrer Fa-
milien machen.

Literatur

Ayres AJ (1989) Sensory Integration and Praxis Tests (SIPT): Manual. Western Psy-
chological Services, Los Angeles
Baranek GT, Foster LG, Berkson G (1997) Sensory defensiveness in persons with
developmental disabilities. Occupational Therapy Journal of Research
17(3):173–185
McIntosh DN, Miller LJ, Shyu V, Hagerman R (1999) Sensory modulation disruption,
electrodermal responses, and functional behaviors. Developmental Medicine
and Child Neurology 41:608–615
Mulligan S (1996) An analysis of score patterns of children with attention disorders
on the Sensory Integration and Praxis Tests. American Journal of Occupatio-
nal Therapy 49:619–627
Mulligan S (1998) Patterns of sensory integration dysfunction: A confirmatory
factor analysis. American Journal of Occupational Therapy 52:819–828
Mulligan S (2000) Cluster analysis of scores of children on the Sensory Integration
and Praxis Tests. Occupational Therapy Journal of Research 20(4):256–270

 apitel 2: Die Entwicklung der sensorischen


K
Integration

Dr. Susan Knox, Direktorin emerita, Therapy in Action, Los Angeles

Zu der Zeit, als Dr. Ayres die theoretischen Grundlagen der senso-


rischen Integration entwickelte, arbeiteten die Ergotherapeutinnen
meist nach einem entwicklungsorientierten Modell. Dr.  Ayres war
eine Entwicklungstheoretikerin – sie stellte einen Zusammenhang
zwischen Entwicklung und Hirnfunktion her. Sie analysierte das
kindliche Verhalten aus der Entwicklungsperspektive und meinte,
dass die ersten 7 Lebensjahre für die Verarbeitung von Sinneserfah-
rungen im Nervensystem entscheidend seien. Sie meinte auch, dass
Therapie in diesen frühen Jahren am wirksamsten sei. Die aktuelle
pädagogische Forschung unterstützt die Idee, dass eine frühe Inter-
vention den Entwicklungsverlauf in mehreren Bereichen entschei-
dend beeinflusst.
>> Heute
Durch Forschungen zur Neuroplastizität wissen wir, dass
die frühe Entwicklung zwar wichtig ist, aber dass das Gehirn
sich auch im Erwachsenenalter noch entwickelt.
237
Anhang A

Aus dieser Erkenntnis lässt sich ableiten, dass SI während der gesam-
ten Lebensspanne und bei Personen mit verschiedenen Diagnosen
und Schwierigkeiten eingesetzt werden kann.
Dr. Ayres beschrieb die Entwicklung und Organisation des Zen-
tralnervensystems in einem hierarchischen Modell, betonte aber zu-
gleich, dass eine interaktive und ganzheitliche Sichtweise der Hirn-
funktion wichtig sei.

>> Heute
Das Konzept der dynamischen Interaktion zwischen Ent-
wicklung und Hirnfunktion ist höchst zeitgemäß. Es passt
zur gegenwärtigen Sicht des kindlichen Verhaltens, in der
Menschen als offene Systeme betrachtet werden, die durch
Interaktion ihre Umgebung beeinflussen und wiederum von
ihr beeinflusst werden.

Des Weiteren beschrieb Dr. Ayres, wie das Nervensystem durch an-


passende Reaktionen organisiert wird, das heißt: »eine Reaktion,
bei der die Person mit ihrem Körper und der Umgebung auf eine
kreative oder zweckmäßige Art umgeht«. Zu einer Zeit, in der Ent-
wicklung als linearer und automatischer Prozess betrachtet wurde,
erkannte sie, wie wichtig die Interaktionen des Kindes mit seiner
Umgebung sind; und sie betonte, dass durch diese Interaktionen
anpassende Reaktionen gefördert würden, die wiederum Ausdruck
einer gelungenen Integration von Sinnesinformationen seien. Wenn
die anpassenden Reaktionen komplexer werden, geschieht Entwick-
lung.
>> Heute
Gegenwärtige systemische Modelle der Entwicklung zeigen,
dass selbst die Genetik Umwelteinflüssen unterworfen ist,
und dass die Fähigkeit eines Kindes, sich einer ständig ver-
ändernden Umgebung anzupassen, ein Schlüssel zum Er-
folg ist, wenn es darum geht, Herausforderungen und Stress
im Leben zu bewältigen.

Dr. Ayres betonte, wie wichtig der innere Antrieb sei, Herausfor-
derungen zu suchen und zu meistern, und dass dies am besten im
Spiel geschieht. Spiel ist eine der Hauptbeschäftigungen von Kindern.
Sensorische Integration entwickelt sich durch Spielerfahrungen und
führt zu einem besser organisierten Spielverhalten. Dieses Prinzip hat
starke Auswirkungen auf die Entwicklung der heutigen Kinder. Als
der SIPT in den 1980er Jahren standardisiert wurde, stellte Dr. Ayres
bestürzt fest, dass die Normwerte in vielen Tests niedriger waren als in
der Vorgängerversion. Sie hielt dies für den Ausdruck von abnehmen-
der körperlicher Betätigung der Kinder. Dies ist im 21. Jahrhundert
noch offensichtlicher geworden.
238 Anhang A

>> Heute
In unserer heutigen Gesellschaft geht die Tendenz dahin,
dass Kinder weniger Zeit und Raum zum Spielen haben und
weniger aktiv sind, dafür aber mehr Zeit vor dem Fernseher
oder Computer verbringen.

In den USA streichen Schulbezirke wegen des akademischen Leis-


tungsdrucks zunehmend die spielerischen Teile des Schultags wie
Pausen, Turnen, Sport und Kunsterziehung. Dieser Wandel von kör-
perlicher Aktivität zu sitzenden Aktivitäten trägt zu motorischen
Entwicklungsverzögerungen und zunehmender Fettleibigkeit bei
Kindern bei (Playing for Keeps, www.playingforkeeps.org). Da den
Kindern die Gelegenheiten fehlen, ihre Motorik durch aktives Enga-
gement in ihrer natürlichen Umgebung herauszufordern, steigt die
Anzahl derer, die wegen sensorisch-integrativer Probleme und Ent-
wicklungsverzögerungen zur Ergotherapie überwiesen werden.
Spiel ist für Kinder und Erwachsene eine entscheidende Grund-
lage, ein gesundes, glückliches und produktives Leben führen zu kön-
nen. Eltern und Fachleute haben die wichtige Aufgabe, sich für Spiel
und andere gesunde Aktivitäten für Kinder einzusetzen. Jede Familie
sollte bewusst Zeit für aktives und interaktives Spiel in den Tages-
ablauf der Kinder einbauen. Organisierte Sport- und andere Aktivi-
täten können zwar lustig sein, aber sie ersetzen nicht das weniger
strukturierte Freispiel, das die Kreativität und komplexere anpassen-
de Reaktionen fördert.
Zu Dr. Ayres‘ wichtigsten Beiträgen gehört zweifelsohne, dass sie
die wichtige Rolle, die Sinnesempfindungen und Gelegenheiten, die
Umgebung zu beherrschen für die Entwicklung spielen, erkannte und
ihre Arbeit darauf aufbaute. Die Förderung der sensorischen Integ-
ration als Grundstein für lebenslang erfolgreiche und befriedigende
Beschäftigungen muss ein wichtiges Ziel für jeden sein, der sich mit
dem Wachstum, der Entwicklung und dem Wohlbefinden von Kin-
dern beschäftigt.

Kapitel 3: Das Nervensystem von innen

Dr. Shelly J. Lane, Professorin und Vorsitzende der Abteilung für Ergothe-
rapie an der Virginia Commonwealth University

In ihren ersten Überlegungen zur Theorie der Sensorischen Integra-


tion verband Dr. Ayres die Gehirnforschung mit der Verhaltensfor-
schung. Für sich allein betrachtet reichte keiner der beiden Bereiche
als Erklärungsmodell für die Behandlung von Kindern mit Lern- und
Verhaltensproblemen aus, doch in Kombination stellen sie uns ein
kraftvolles Werkzeug zur Verfügung – ein Modell, das die Behand-
lung leitet.
Da es in der Theorie der Sensorischen Integration um die Funk-
tionen und Funktionsstörungen des Nervensystems geht, verlangt
239
Anhang A

Dr. Ayres, dass wir uns mit dem Zentralnervensystem auseinander-


setzen. Dieses System mit seinen verschiedenen Strukturen ist derart
komplex, dass Dr. Ayres forderte, dass jeder, der an der Sensorischen
Integration interessiert ist, zumindest ein Grundverständnis für den
Aufbau und die Arbeitsweise des Nervensystems haben muss. Dieses
Thema präsentiert sie wortgewandt in 7 Kapitel 3.
Dr.  Ayres lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Grundstruktu-
ren und Funktionen des Nervensystems, doch ihre Beschreibung
ist mehr als eine »einfache Tour durch diese Begriffe«. Jede Beschrei-
bung führt zu einer Interpretation, wie Gehirn und Verhalten zu-
sammenhängen. Dr. Ayres präsentiert in diesem Kapitel ihre Theorie,
wo sensorisch-integrative Prozesse im Gehirn stattfinden, und wie
es sich im Verhalten ausdrückt, wenn diese Prozesse desorganisiert
sind. So lernen wir, dass die Formatio reticularis in der Lage ist, ein
situationsgemäßes Erregungsniveau zu erhalten; wir lernen die Sin-
nessysteme kennen, und wie sie dazu beitragen, dass wir uns mit der
Umwelt auseinandersetzen können; wir verstehen, wie komplex die
Hirnrinde (Kortex) ist, und welche Rolle sie bei der Interpretation der
Sinnesinformationen und der Planung von anpassenden Reaktionen
spielt. Und am Ende wissen wir mehr darüber, welche Grundlagen
die Hirnstrukturen und -funktionen für das Lernen und Verhalten
schaffen. Des Weiteren beschreibt Dr. Ayres ihre Vorstellungen, wie
Wahrnehmungs- und Lernstörungen durch gestörte Funktionen der
Strukturen des Zentralnervensystems und der Verbindungen zwi-
schen den Strukturen entstehen können.
>> Heute
Mittlerweile haben zahlreiche Wissenschaftler viele der von
Dr. Ayres beschriebenen Zusammenhänge zwischen Gehirn
und Verhalten bestätigt.

Jüngere Studien haben unser Verständnis des Zusammenspiels von


Gehirn und Verhalten vertieft, indem sie die neurochemischen und
neurophysiologischen Zusammenhänge zwischen Verhalten und
Zentralnervensystem untersuchten. Diese Arbeiten bringen die
Arbeit von Dr. Ayres einen Schritt weiter, denn sie liefern Erklärungs-
modelle, worauf gute Funktionen basieren, und was die Grundlagen
für Funktionsstörungen sein könnten.
In anderen Veröffentlichungen forderte Dr.  Ayres die Leser auf,
zu lernen und zu forschen, um eine eigene Interpretation der Zu-
sammenhänge zu entwickeln, weil diese nicht immer sofort sichtbar
sind. In diesem Buch jedoch hat Dr. Ayres eine Erklärung für den Le-
ser eingeflochten, sie legt die Zusammenhänge zwischen Gehirn und
Verhalten dar. Dr. Ayres war sehr interessiert, ihre Theorie der Sen-
sorischen Integration auf der klinischen Neurobiologie aufzubauen.
Deshalb war sie überzeugt, dass wir so viel wie möglich über das Zen-
tralnervensystem und seine Funktionsweise wissen müssen. »Je mehr
der Leser dieses Buch hinterfragt, desto mehr Gewinn wird er daraus
haben« (Ayres 1972). Einen Teil von Dr. Ayres‘ Literaturrecherche zur
240 Anhang A

neurobiologischen Fachliteratur, der ursprünglich in  7  Kapitel 3 ein-


gefügt war, finden Sie jetzt in Anhang B. Dies ist ein guter Ausgangs-
punkt für alle, die mehr lernen wollen.

 apitel 4: Was ist eine sensorische


K
Integrationsstörung?

Dr. Anita C. Bundy, Professorin und Vorsitzende der School of Occupation


and Leisure Sciences, University of Sydney

Die Einleitungssätze dieses Kapitels spiegeln die Realitätsbezogenheit


von Dr. Ayres wider, wenn sie sensorische Integrationsstörungen mit
einem Stau vergleicht und uns später hilft, sie von ähnlichen Störun-
gen zu unterscheiden. Ayres‘ Feststellung, dass wir weniger darüber
wissen, wodurch sensorische Verarbeitungsstörungen verursacht sind
als darüber, wie wir damit umgehen können, gilt heute immer noch
– trotz neuerer Versuche, deren Ursprung besser zu verstehen. Auch
Ayres‘ Feststellung, dass SI-Störungen sich auf vielfältige Weise zeigen
können, gilt bis heute; seit andere Wissenschaftlerinnen mit Befun-
dungsverfahren forschen, wird es sogar eher komplizierter.
Ayres‘ wahres Genie zeigt sich am deutlichsten darin, wie sie die
Theorie der Sensorischen Integration in ein einfaches Schema – »Von
den Sinnen zu den Leistungen« – verpacken konnte. Ihr Diagramm
enthält Hypothesen über die Beziehung zwischen den Sinnen und den
Funktionsebenen, die an der sensorischen Integration mitbeteiligt
sind – vom Gleichgewicht bis zum Selbstbewusstsein. Ayres schrieb
in einer Zeit, als Neurowissenschaftler das Gehirn als ein hierarchi-
sches Organ betrachteten; daher bezog sie sich ebenfalls auf »höhere«
und »niedrigere« Hirnzentren. Doch das Diagramm organisierte sie
horizontal anstatt vertikal. Wir wissen nicht, ob sie das bewusst oder
intuitiv getan hat; auf jeden Fall ist das Schema »Von den Sinnen zu
den Leistungen« dadurch aktuell geblieben.
>> Heute
Heute geht man davon aus, dass das Gehirn heterarchisch
organisiert ist. Das heißt, die Hirnstrukturen und -funktio-
nen sind nicht nur von oben nach unten (»top-down«) aktiv,
sondern sie sind gleichzeitig aktiv und beeinflussen sich
gegenseitig.

Das Schöne an Ayres‘ Diagramm ist, dass es die hypothetisch an-


genommenen Beziehungen, die die SI-Theorie ausmachen, darstellt.
Auf diese Weise hat Ayres uns ein Fenster zu bestimmten Hirnfunk-
tionen geöffnet, auf die wir vom Verhalten rückschließen können.
Trotz seines Wertes hat das Schema auch Einschränkungen: Man
kann es nur von links nach rechts lesen, und nicht umgekehrt. Das
heißt, bei einem Kind mit geringem Selbstvertrauen oder schlechter
Konzentration kann man nicht automatisch davon ausgehen, dass
241
Anhang A

diese Schwierigkeiten mit einer schlechten sensorischen Integration


zusammenhängen. Viele Kinder haben wenig Selbstvertrauen oder
eine schwache Konzentration. Diejenigen, bei denen die Ursache in
einer sensorischen Integrationsstörung liegt, haben auch Schwierig-
keiten, die direkter mit der zentralen Informationsverarbeitung der
Sinnesreize zusammenhängen (z.B. schwache Haltung, Unbehagen
bei Berührungen) – das sind Funktionen, die sich im Diagramm
mehr links befinden. Für Eltern und Lehrerinnen, die mit einem sol-
chen Kind zu tun haben, ist es schwierig zu beurteilen, ob SI-The-
rapie ihm helfen wird. Das ist keine leichte Aufgabe, weil in Ayres‘
Worten »die Schwächen (von Kindern mit sensorischer Integrations-
störung) sich manchmal auf eine Art, manchmal auf eine andere Art
ausdrücken«.
Vom Lesen einer Beschreibung bis hin zur richtigen Anlaufstelle
kann es ein Riesenschritt sein, doch Expertinnen halten es mit für den
größten Nutzen der SI-Theorie, das unerklärliche Verhalten des Kin-
des auf neue Weise zu verstehen. Wenn Eltern und Lehrerinnen ihre
Sichtweise vom Verhalten des Kindes verändern, eröffnen sich neue
Strategien, wie sie mit dem Kind arbeiten können. Die Theorie der
Sensorischen Integration bietet uns eine neue Perspektive, Kinder
verstehen zu können. Dies ist ein wichtiger Teil des Vermächtnisses,
das uns Dr. Ayres hinterlassen hat.

Kapitel 5: Störungen des vestibulären Systems

Dr. Jane A. Koomar, Direktorin der Occupational Therapy Associates


Watertown, Massachusetts

A. Jean Ayres wirkte als Pionierin bei der Entdeckung der Rolle des
Gleichgewichtssystems für die menschliche Entwicklung und – was
möglicherweise noch bemerkenswerter ist – bei der Entwicklung
von Beurteilungsverfahren und Behandlungsstrategien für vestibu-
läre Verarbeitungsstörungen, die zu Lern- und Verhaltensproblemen
führen. Sie erfand viele verschiedene Therapieschaukeln und -geräte,
mit denen man im Rahmen einer spielerischen Aktivität alle Teile
des vestibulären Systems für die optimale Dauer mit dem optimalen
Reiztyp versorgen kann. Als eines der am frühesten entwickelten Sin-
nessysteme bildet das Gleichgewichtssystem die Grundlage für die
Entwicklung aller anderen Sinnessysteme. Es hat also eine Schlüssel-
rolle in der sensorischen Integration.
Bei ihrem genauen Review der neurobiologischen Forschung ent-
deckte Dr. Ayres, dass das vestibuläre System in der frühen Entwick-
lung eine wichtige Rolle spielt. Bereits in der 22. Schwangerschaftswo-
che haben die vestibulären Rezeptoren ihre endgültige Größe erreicht,
wodurch das Kind den konstanten Zustrom von Gleichgewichtsreizen
durch seine eigenen Bewegungen und durch die Bewegungen der
Mutter wahrnehmen kann. Am stärksten werden die schwerkraft-
242 Anhang A

empfindlichen Rezeptoren in den letzten 2 Schwangerschaftsmonaten


stimuliert, wenn der Fötus kopfüber auf die Geburt wartet.
Von der frühen Säuglingszeit an erfreuen sich Kinder daran, im
Raum bewegt zu werden; sie haben einen inneren Antrieb, sich zu
bewegen – zunächst gewiegt und umhergetragen zu werden, dann zu
krabbeln und zu gehen und schließlich zu rennen, zu springen und
zu klettern. Kinder haben Spaß am Schaukeln, und später erkunden
sie alle Bewegungsmöglichkeiten, die die Geräte auf Spielplätzen und
in Vergnügungsparks bieten. Alle diese Erfahrungen sind von Natur
aus sehr vergnüglich, weil häufige, intensive vestibuläre Erfahrungen
dazu beitragen, die Grundlagen für Haltungs-, Augen- und räumliche
Fähigkeiten zu entwickeln. Auch wenn es für vorzugsweise sitzende
Erwachsene anstrengend sein kann, dem Bewegungsdrang der Kin-
der nachzukommen, brauchen sie genügend Platz, um klettern, hoch
schaukeln und herunter- und hinaufspringen zu können. Diese Aktivi-
täten sind Hauptbestandteil der Alltagsbeschäftigungen von Kindern.
In diesem Kapitel beschreibt Dr.  Ayres, wie eng das vestibulä-
re System mit dem propriozeptiven, visuellen und auditiven System
zusammenhängt und zur Entwicklung von Haltung, Motorik, Spra-
che und sozialer Kompetenz beiträgt. Sie zeigt, welche tiefgreifenden
Auswirkungen eine zentrale Störung der vestibulären Verarbeitung
auf diese Systeme hat, – die zu Problemen der Haltungs- und Au-
genkontrolle und zu schwacher statischer und dynamischer Balance
führt. Außerdem können sich direkt aus unerkannten und unbehan-
delten vestibulären Störungen Depressionen, Ängste, Phobien und
Panik entwickeln. Wenn man den Beitrag des vestibulären Systems
für das körperliche und seelische Wohl versteht, sieht man die Arbeit
mit Kindern und Erwachsenen mit diesen Schwierigkeiten in einem
neuen Licht.
Mehrere Jahrzehnte lang konnten Therapeutinnen und Familien
bei Kindern und Erwachsenen, deren vestibulär basierte Probleme
ergotherapeutisch nach dem Ansatz der Sensorischen Integrations-
therapie behandelt wurden, wesentliche Verbesserungen beobachten.
Je mehr wir über die Arbeit mit vestibulären Verarbeitungsproble-
men verstehen, desto besser können wir den SI-Ansatz mit ande-
ren Methoden kombinieren. Wir sehen auch, dass das Wissen über
Sensorische Integration über die Ergotherapie hinaus geht und von
anderen Fachleuten wie z.B. Physiotherapeutinnen, Psychiaterinnen,
Psychologinnen und Sprachtherapeutinnen genutzt wird. Als Ergo-
therapeutinnen teilen wir Ayres‘ Sichtweise des vestibulären Systems
mit all diesen Berufsgruppen, um die verschiedenen Behandlungsfel-
der zu stärken und zu bereichern und Integration im wahrsten Sinn
des Wortes zu betreiben.
Obwohl viel Zeit vergangen ist, erhellen Dr. Ayres‘ leidenschaft-
lichen Erklärungen zur Bedeutung des vestibulären Systems für die
frühe Entwicklung und dessen Rolle für das emotionale Wohlbefin-
den weiterhin unser Denken. Wie oft auch immer man ihre eindring-
lichen Beschreibungen liest, sie liefern jedes Mal von Neuem anre-
243
Anhang A

gende Einblicke in die elementare Rolle des vestibulären Systems in


unserem Leben.

Kapitel 6: Entwicklungsdyspraxie

Dr. Sharon A. Cermak, Professorin am Department of Occupational Sci-


ence and Therapy an der University of Southern California, Los Angeles

Es ist immer wieder aufschlussreich, die Arbeiten von Dr. Ayres zu


lesen. Ihre Erkenntnisse sind erstaunlich. Dr.  Ayres revolutionierte
unser Verständnis von Kindern mit motorischen Koordinationsstö-
rungen.Sie beschrieb eine Form von Koordinationsproblemen, die
durch Schwierigkeiten im Planen von Bewegungen charakterisiert
ist; und sie beschrieb diese Störung nicht primär als motorisches Pro-
blem, sondern vielmehr als Folge von Störungen der sensorischen
Verarbeitung. Sie behauptete, dass das eigentliche Problem in der Art
liegt, wie das Gehirn Sinnesreize verarbeitet. Ayres betonte, dass die
Dyspraxie zwar an motorischen Schwierigkeiten sichtbar wird, aber
dass das Problem »mehr als nur ein rein motorisches ist«. Ayres be-
schrieb Praxie als Bindeglied zwischen Verstand und Motorik. Neuro-
psychologen verwenden dafür den Ausdruck »Aktion«.
Ayres beschrieb den wichtigen Unterschied zwischen den ver-
schiedenen Formen von motorischen Problemen: Planung, Hal-
tungskontrolle und zentral programmierte. Sie betonte, dass der Kon-
text wichtig ist – ein Konzept, das jetzt durchgängig in der ergothera-
peutischen Fachliteratur zu finden ist. Ayres wies darauf hin, dass in
bekannten Situationen nur wenig Bewegungsplanung erforderlich ist,
dass sich dieselbe Aufgabe unter neuen Umständen aber verändert.
Sie beschrieb auch die Schwierigkeit, zu verallgemeinern, die Kinder
mit Schwächen der Bewegungsplanung haben, und die Bedeutung
der Organisation. Diese Aspekte gehen weit über motorische Aktio-
nen hinaus.
Bezogen auf die Arbeiten von Gubbay (1975) und seinen Vorgän-
gern (Walton et al. 1962) entwickelte Dr.  Ayres das Körperschema
und dessen Zusammenhang mit Bewegungsplanung weiter. Wie-
der stellte sie eine völlig neue Sichtweise dieser Störung vor. Ayres
unterschied unspezifische taktile Reize, die eine Weckreaktion be-
wirken (erregend/hemmend) und mit der Modulation zusammen-
hängen, und spezifische taktile Reize für die taktile Diskrimination,
die wiederum für die Entwicklung des Körperschemas wichtig ist. Sie
beschrieb, wie taktile, kinästhetische, propriozeptive und vestibuläre
Sinnesverarbeitung zur Bewegungsplanung beiträgt.
Ayres war immer sehr einfühlsam mit Kindern, und sie bemühte
sich, sie wirklich zu verstehen. Ich kann mich erinnern, wie sie da-
stand, mit der Hand am Kinn, und sagte: »Ich wüsste gern, wie es sich
anfühlt, dieses Kind zu sein.« Sie betonte, wie wichtig es sei, sich in
244 Anhang A

das Kind hineinzuversetzen und zu verstehen, was es bedeutet, das


Leben dieses Kindes zu leben. Milton Mayeroff (1971) sagte:

» Ich kann eine andere Person nur dann betreuen, wenn ich in der
Lage bin, sie und ihre Welt so zu verstehen, als ob ich darin lebte. Ich
muss ihre Welt mit ihren Augen sehen können, und wie sie ihre Welt
selbst sieht. Statt als Außenstehender die Person anzusehen, muss
ich mit ihr in ihrer Welt sein. Ich muss in ihre Welt ‚eintreten‘, um von
innen zu spüren, wie ihr Leben für sie ist, was sie erreichen möchte,
und wo sie sich noch entwickeln muss. (Mayeroff 1971)  «
Diese Aussage beschreibt den Kern von Dr. Ayres‘ Denken. Aus ihrer
klinischen Erfahrung lieferte sie ausgezeichnete Beispiele, wie sich
das Leben mit einer Bewegungsplanungsstörung anfühlt. Ayres be-
schrieb einige zentrale Behandlungsprinzipien, die auch heute noch
Gültigkeit haben (Blanche 2001; Kimball 2002; Koomar 2002; Reeves
u. Cermak 2002). Dazu gehört ein verstärktes taktil-kinästhetisches,
vestibuläres und propriozeptives Reizangebot, um das Körperbe-
wusstsein zu verbessern, und die Wichtigkeit der selbstgesteuerten
Aktivität.
Ayres betonte, dass für effiziente Leistungen kein Denken notwen-
dig sei, und dass sich Denken sogar nachteilig auf das Tun auswirken
könne. Als Konsequenz empfahl Ayres, Sprache möglichst sparsam
einzusetzen, wenn man Kindern helfen wolle, ihre Bewegungspla-
nung zu entwickeln.
>> Heute
Heute wissen wir durch Studien von Missiuna (2001) und
Chen et al. (2003), dass sprachlich-kognitive Strategien sehr
wirksam sein können, um Kindern mit entwicklungsbeding-
ten Koordinationsstörungen zu helfen, bestimmte Fertig-
keiten zu erlernen.

Nach Ayres‘ Ansicht war es jedoch notwendig, Fertigkeiten von einer


kognitiven Basis auf eine sensomotorische zu übertragen, damit
man effizient handeln kann. Dies ist eine wichtige Auffassung. Ay-
res erkannte richtig, dass es sich negativ auf effiziente und geschick-
te Ausführung von Tätigkeiten auswirkt, wenn man übermäßig von
kognitiven Strategien abhängig ist, oder wenn man sich nur auf sei-
nen Verstand verlässt. Stellen Sie sich einen Skifahrer vor, der ständig
denken muss: »Wenn ich eine Kurve mache, muss mein Körper zum
Tal schauen und die Schultern gerade sein«, »Ich muss den Talski
belasten«, »Wenn ich mich drehe, muss ich mein Gewicht verlagern«
und »Meine Stöcke müssen vor mir sein«.
Den heute in der kognitiven Psychologie gebräuchlichen Begriff
»Affordanzen(Angebots- oder Aufforderungscharakter) benutzte
Dr. Ayres noch nicht«, sie wies aber darauf hin, dass Kinder mit Ent-
wicklungsdyspraxie nicht die Nutzungsmöglichkeiten erkennen,
die Objekte bieten. Sie betonte, wie wichtig es in der Therapie sei, die
245
Anhang A

Kinder beim Vorbereiten der Geräte mitarbeiten zu lassen: Einer-


seits bekommen sie intensiven Input durch die schwere Muskelarbeit,
andererseits lernen die Kinder die Eigenschaften und Nutzungsmög-
lichkeiten der Geräte kennen.
>> Heute
Wie kürzlich von May-Benson (2001) festgestellt, entspricht
dieser Ansatz der Handlungsanregung der Auffassung von
Gibson (1982), die wiederum mit der motorischen Kontroll-
theorie und der dynamischen Systemtheorie in Einklang ist
(Giuffrida 2001).

Ayres hob hervor, dass ein Zusammenhang zwischen erfolgreichen


Handlungen, Beziehungen zu Gleichaltrigen und dem Selbstbewusst-
sein besteht. Höchst einfühlsam beschreibt sie den emotionalen Zu-
stand, den eine Störung der Bewegungsplanung mit sich bringt, und
versucht, sich in das betroffene Kind hineinzuversetzen. Sie fragte
sich: »Wie fühlt es sich an, ein dyspraktisches Kind zu sein?« Sie er-
kannte, dass emotionale Verwundbarkeit eine neurologische Stö-
rung ist, wenn sie sagt: »Es kann sein, dass das Nervensystem nicht in
der Lage ist, so wie andere mit Stress zurechtzukommen.«
>> Heute
In der aktuellen Fachliteratur wird die Komorbidität von Ent-
wicklungsstörungen hervorgehoben (Cermak et al. 2002).

Ayres erkannte diese bereits. Sie stellte fest, dass »die Tatsache, dass
das Gehirn eine Funktion nicht gut ausführt, nahelegt, dass es ver-
schiedene andere Funktionen auch nicht gut ausführen kann«. Wir
wissen, dass Dyspraxie zwar isoliert auftreten kann, meist aber mit
anderen Problemen wie Lernstörungen, Aufmerksamkeitsdefizit oder
sensorischen Modulationsstörungen einhergeht. Im Rückblick wird
Ayres‘ Werk als ein Meilenstein auf dem Weg zum Verständnis von
Entwicklungsdyspraxie angesehen.

Literatur

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Roley SS, Blanche EI, Schaaf RC (eds) Understanding the nature of sensory
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diverse populations. Therapy Skill Builders, San Antonio, TX; pp 133–162
246 Anhang A

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Blanche EI, Schaaf RC (eds) Understanding the nature of sensory integration
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Mayeroff M (1971) On caring. Harper & Row, New York
Missiuna C (ed) (2001) Children with developmental coordination disorder: Strate-
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S (eds) Sensory integration: Theory and practice. F. A. Davis, Philadelphia;
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Walton JN, Ellis E, Court SDM (1962) Clumsy children: Developmental apraxia and
agnosia. Brain 85:603–612

Kapitel 7: Taktile Abwehr

Dr. Diane Parham, Direktorin des Health Sciences Center der School of
Medicine, Department of Pediatrics, Occupational Therapy Graduate
Program an der University of New Mexico

Ayres war die Erste, die eine Auffälligkeit erkannte, die sie »taktile
Abwehr« nannte. Dies war einer ihrer wichtigsten Beiträge zum Fach-
gebiet der Kindesentwicklung. Die Störung war ihr in den 1960er
Jahren zum ersten Mal während ihrer Arbeit an Tests zur taktilen
Wahrnehmung aufgefallen.
>> Heute
Heute wird die Auffälligkeit der »taktilen Abwehr« von
Fachleuten in vielen verschiedenen Fachdisziplinen als ein
Faktor anerkannt, der zu kindlichen Verhaltensproblemen
führen kann.

Gemeinsam mit dem vestibulären System entwickelt sich das taktile


System bereits sehr früh. Ayres weist in diesem Kapitel darauf hin,
dass es zwei Arten von Reaktionen auf taktile Informationen gibt,
die Schutz- oder Abwehrreaktion und die erkennende Reaktion oder
Diskrimination:
55 Schutzreaktionen werden auch als Vermeidungsreaktionen be-
zeichnet: Man flüchtet vor einem Berührungsreiz, der eine mög-
liche Gefahr signalisiert, oder vermeidet ihn.
55 Diskrimination ist mehr eine Reaktion, bei der man sich mit
dem Reiz auseinandersetzt: Wir suchen aktiv nach Tastinfor-
mationen und nutzen sie, um die Umgebung zu erkunden oder
gezielte Bewegungen auszuführen.
247
Anhang A

Sowohl Abwehrreaktionen als auch Diskrimination geschehen schon,


bevor ein Baby geboren wird. Die ersten Reaktionen auf taktile Reize
im Mutterleib sind abwehrend: Der sehr junge Fötus dreht sich von
einer Berührung im Gesicht weg. Mit zunehmender Reifung beginnt
er aber, diskriminative Berührung zu nutzen, um seine Hand zum
Mund zu bringen. Ultraschallbilder zeigen, dass manche Babys schon
viel an ihrem Daumen lutschen, bevor sie auf die Welt kommen. Wird
der Mund des Neugeborenen leicht berührt, wendet es sich diesem
taktilen Reiz zu. Das Kind nutzt diese elementare diskriminative Be-
rührung, um aktiv mit dem Mund nach der Brustwarze zu suchen.
Eine von Ayres‘ wichtigsten Erkenntnissen war, dass der Schutz-
anteil des taktilen Systems bei einem Teil der Kinder mit Lern- und
Verhaltensproblemen einen übermäßig starken Einfluss auf das Ver-
halten hat. Wenn dies der Fall ist, erlebt das Kind viele taktile Er-
fahrungen nicht als interessant und angenehm, sondern als störend,
unangenehm und irritierend. Obwohl Kinder mit taktiler Abwehr zu
gewissen Zeiten Berührungsempfindungen auch genießen können,
wehren sie viele taktile Erfahrungen häufiger und vehementer ab als
die meisten Kinder. Da die Kinder dadurch Aktivitäten vermeiden,
die die motorischen Fähigkeiten fördern, kann sich die taktile Abwehr
nachteilig auf die Entwicklung des Bewegungsgeschicks auswirken,
besonders des Handgeschicks. Soziale Probleme sind verbreitet unter
diesen Kindern, weil das Spielen mit anderen Kindern ein hohes Risi-
ko birgt, von anderen unabsichtlich oder als Teil eines Spiels berührt
zu werden. Manche Kinder mit taktiler Abwehr werden fälschlicher-
weise für aggressiv gehalten, weil sie manchmal reflexartig zuschla-
gen, wenn jemand sie unerwartet berührt.
Eine andere wesentliche Erkenntnis von Ayres war, dass fester,
tiefer Druck auf die Haut bei taktil abwehrenden Kindern in der Re-
gel entspannend wirkt. Tiefer Druck hat generell eine beruhigende
Wirkung. (Denken Sie daran, wie viele Menschen eine Massage als
entspannend und beruhigend erleben.) Ergotherapeutinnen setzen
verschiedene Techniken ein, um Kindern, die von taktilen Empfin-
dungen überwältigt oder irritiert sind, tiefen Druck zu bieten.

Beispiel
Beim »Sandwich«-Spiel liegt das Kind mitten auf einer Matratze, einem
großen Kissen oder einer Turnmatte. Die Therapeutin legt eine ande-
re Matratze auf das Kind, so dass es zwischen den beiden Matratzen,
Kissen oder Matten eingezwängt ist. Nun machen die Therapeutin und
das Kind so, als ob sie Gewürze auf das Sandwich geben. Die Therapeu-
tin drückt dabei fest von oben auf das »Sandwich«. Der Druck wird so
dosiert, dass es keine Verletzungen wie blaue Flecken gibt, und dass
das Kind diesen als angenehm, vergnüglich oder lindernd erlebt. Tiefer
Druck entsteht auch, indem das Kind mit einer festen Knetmasse han-
tiert, mit seinen Hände auf einem Teppich ein Bild reibt, fest umarmt
wird oder eine Gewichtsweste trägt. Sitzt das Kind, kann die Therapeu-
tin auch mit ihren Händen festen Druck auf die Schultern geben.
248 Anhang A

Viele Kinder mit taktiler Abwehr versuchen, sich wegen der entspan-
nenden Wirkung selbst feste Druckempfindungen zu verschaffen. Ich
kenne viele Kinder mit taktiler Abwehr, die sich an der Hautstelle,
an der sie gerade berührt wurden, fest reiben oder drücken, oder
die sich auf den Boden fallen lassen oder gegen Dinge werfen, um
großflächigen Druck auf ihrer Haut zu spüren. Dr. Temple Grandin
(1992), eine Expertin für Viehzucht, mit einer eigenen Geschichte von
Autismus und schwerwiegender taktiler Abwehr entwickelte für sich
selbst eine pneumatische»Umarmungsmaschine« (»hugmachine«).
Damit konnte sie sich selbstständig tiefen Druck verschaffen, wenn
sie sich überwältigt fühlte. Studien zur Wirkung der »hugmachine«
und anderer Methoden für die Versorgung mit taktilem tiefen Druck
(z.B. Gewichtswesten) bestätigen, dass diese Art von Sinneserfahrung
im Allgemeinen eine beruhigende Wirkung hat.
Eine dritte zentrale Erkenntnis von Ayres, auf die ich hinweisen
möchte, war ihre Annahme, dass die Abwehr nicht nur im taktilen
System, sondern auch in anderen Sinnessystemen existiert (z.B. im
Gehör- oder Geruchssinn). Kinder mit auditiver Abwehr können
auf normale Geräusche, die die meisten von uns nicht stören, mit
starkem Stress reagieren und sich die Ohren zuhalten. Bei einer Per-
son können mehrere Systeme abwehrend sein. Die Ergotherapeutin
Dr. Grace Baranek fand bei Kindern mit Entwicklungsbehinderungen
einschließlich Autismus eine Häufung von auditiver und taktiler Ab-
wehr (Baranek et al. 1997). Eine andere Ergotherapeutin, Dr.  Lucy
Miller, vermutete, dass sensorische Modulationsstörungen (SMD)
mit Abwehr in einem oder mehreren Sinnessystemen auch ohne an-
dere Lern- oder Entwicklungsstörungen vorkommen. Sie entwickelte
ein Forschungsprogramm, bei dem die physiologischen Reaktionen
(wie Puls oder elektrischer Hautwiderstand) von Kindern mit sen-
sorischer Abwehr gemessen werden, wenn sie mit bestimmten Sin-
nesreizen konfrontiert werden (z.B. mit einer leichten Berührung im
Gesicht oder der Stuhl, auf dem sie gerade sitzen, kippt unerwartet
nach hinten) (Miller et al. 2001).
Ayres‘ Konzept der sensorischen Abwehr gilt für Menschen jeden
Alters, die gewöhnliche Sinnesreize als unangenehm und überwälti-
gend erleben.
>> Heute
Ayres’ Vorstellungen über sensorische Abwehr wurden in
das vom National Center for Infants, Toddlers, and Families
aufgestellte interdisziplinäre Diagnosesystem für Säuglinge
und Kleinkinder mit in die Kategorie »Regulationsstörun-
gen« aufgenommen (Zero To Three 1994).

Weitere Forschung ist erforderlich, um zum einen besser zu verste-


hen, wie diese Störung mit anderen Diagnosen bei Kindern und Er-
wachsenen zusammenhängt, und zum anderen herauszufinden, wie
man diesen Menschen, die durch die Sinneserfahrungen, die sie täg-
lich bombardieren, so unter Stress geraten, am besten helfen kann,.
249
Anhang A

Literatur

Ayres AJ (1964) Tactile functions: Their relation to hyperactive and perceptual


motor behavior. American Journal of Occupational Therapy 18:6–11
Baranek GT, Foster LG, Berkson G (1997) Sensory defensiveness in persons with de-
velopmental disabilities. Occupational Therapy Journal of Research 17:173–185
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effects of deep pressure on children with autism: A pilot study evaluating the
efficacy of Grandin’s Hug Machine. American Journal of Occupational Therapy
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task and self-stimulatory behaviors in preschoolers with pervasive develop-
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modulation: Performance of children with Fragile X syndrome, autistic
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Zisserman L (1992) The effects of deep pressure on self-stimulating behaviors in
a child with autism and other disabilities. American Journal of Occupational
Therapy 46:547–551

 apitel 8: Störungen der visuellen und auditiven


K
Wahrnehmung

Dr. Susanne Smith Roley, Projektleiterin an der University of Southern


California, Los Angeles

Dr. Ayres war eine der ersten perzeptiv-motorischen Theoretikerin-


nen in den 1960er Jahren, die die Bedeutung des Sehens und Hörens
für das Lernen betonten. Ihre Theorie öffnete Ergotherapeutinnen die
Türen in die Schulen für Kinder, die keine geistigen oder motorischen
Behinderungen hatten, sondern Lernstörungen. In ihren frühen
Arbeiten untersuchte Dr.  Ayres systematisch die visuelle Wahrneh-
250 Anhang A

mung, indem sie ihre visuellen Wahrnehmungstests einsetzte. Mittels


dieser Tests wurden verschiedene Fähigkeiten beurteilt, die die Ver-
arbeitung von visuellen Informationen erfordern (z.B. sich vorstellen,
wie eine Form aussieht, wenn sie umgedreht ist; Formen finden, die in
einem Wirrwarr von anderen Formen abgebildet sind; oder Formen
ohne Hinschauen ertasten und auf einem Bild zeigen). Zwar lieferten
diese Tests mehr Information als reine Sehschärfetests, aber Ayres
merkte bald, dass diese Tests funktionelle visuelle Prozesse – wie
wir sie z.B. nutzen, um sozialen Blickkontakt herzustellen, zu lesen
und zu schreiben – nur eingeschränkt vorhersagen konnten. Zugleich
untersuchte sie die funktionellen Hörprozesse, die über das reine
Hören hinausgehen, um Geräusche zu lokalisieren, zu identifizieren
und in einer lauten Umgebung einer Reihe von Anweisungen folgen
zu können.
Eines der Hauptthemen der Theorie der Sensorischen Integration,
das sich aus ihren sehr frühen Arbeiten herauskristallisierte, war, dass
die Integration von körpernahen Sinnesinformationen eine Voraus-
setzung dafür ist, dass sich die Fernsinne Sehen und Hören gut entwi-
ckeln und effizient eingesetzt werden können. Tatsächlich erfordern
die kognitiven Prozesse der visuellen und auditiven Wahrnehmung,
dass wir uns mit den Dingen in der Umgebung auseinandergesetzt
haben. Nur dadurch ist es uns möglich, durch einen bloßen Blick oder
das Hören eines Geräuschs Rückschlüsse zu ziehen:
55 auf Material, Gewicht, Größe, Form und den Abstand des Ob-
jekts,
55 wie lange wir brauchen werden, um das Objekt zu erreichen, und
55 wie viel Muskelkraft wir einsetzen müssen, um es zu ergreifen.

All das wissen wir, weil wir als Säuglinge mit Dingen klopften, darauf
kauten und sie wegwarfen. Wir erlebten die Welt durch Berühren,
Schmecken, Riechen und Bewegen und entwickelten in diesem Tun
auditive und visuelle »Landkarten«. Wir verdanken es diesen ganz-
heitlichen Informationen von allen unseren Sinnen, dass wir planen
und organisieren können, wo und wie wir die Dinge und Menschen
in unserer Umgebung erforschen, und dass wir mit ihnen umgehen
können.
Die Integration der Empfindungen des eigenen Körpers, die uns
darüber informieren, wo unser Körper im Raum ist, und wo andere
Menschen und Dinge sind, ist eine entscheidende Grundlage für jeg-
liche Handlung. Mit genauen sensorischen »Landkarten«, einem gro-
ßen Repertoire an Handlungsplänen und einer genauen motorischen
Steuerung kann der Körper sich harmonisch bewegen und interagie-
ren. Bei Erwachsenen funktionieren die Nahsinne automatisch. Se-
hen und Hören sind dadurch frei, um unsere Interaktionen zu leiten
und kognitiv über unsere Welt zu lernen.
Dass dieses Kapitel eher kurz ist, ist kein Zufall. Dr.  Ayres in-
vestierte wesentlich mehr in die Erkärung, wie die »versteckten Sin-
nessysteme“ zur kindlichen Entwicklung beitragen, weil die elemen-
251
Anhang A

tareren Sinnessysteme der Berührung, Bewegung und Schwerkraft


weniger bekannt sind als das Sehen und Hören. Dies trifft auch heute
noch zu. Therapeutinnen, die nach sensorisch-integrativen Prinzipi-
en arbeiten, scheinen wenig Zeit für die Förderung der visuellen und
auditiven Perzeption aufzuwenden. Tatsächlich tun sie das sehr wohl,
indem sie die sensomotorischen Grundlagen für die Integration der
visuellen und auditiven Wahrnehmung verbessern.

Kapitel 9: Kinder mit Autismus

Dr. Margaret L. Bauman, Professorin für klinische Neurologie an der Har-


vard Medical School und Direktorin der Autismusforschungseinrichtung,
Boston

Wenn man Dr. Ayres‘ Beschreibung des autistischen Kindes und ihre


Interpretation der möglichen neurobiologischen Ursachen für die
Symptome liest, wird rasch klar, dass sie ihrer Zeit weit voraus war. Sie
hat dieses Kapitel im Jahr 1979 geschrieben, 5 Jahre bevor überhaupt
erstmals ein Artikel über konkrete neuroanatomische Abnormitäten
im autistischen Gehirn veröffentlicht wurde.
In den frühen Beschreibungen von Autismus fehlen meist die mo-
torischen Beeinträchtigungen als Teil der Störung. Doch Dr. Ayres
beschrieb Auffälligkeiten in der Bewegungsplanung (Dyspraxie) als
ein wesentliches Merkmal dieser Kinder. Sie beschrieb auch die atypi-
sche Modulation der Sinnesverarbeitung, die schwache Haltungskon-
trolle, die positive Wirkung von tiefem Druck, abnormale vestibuläre
Reaktionen und Schwierigkeiten, Sinnesinformationen zu integrie-
ren. Weiterhin erwähnte sie, dass das limbische System wichtig ist, um
Sinnesreize zu registrieren, und dass dieses System bei autistischen
Kindern »nicht gut arbeitet«.
>> Heute
Heute wissen wir, dass viele von Dr. Ayres‘ Beobachtungen
und frühen Hypothesen richtig waren.

Studien zeigten, dass das limbische System, das eine wichtige Rolle
für das Lernen, das Gedächtnis, die Emotionen und das Verhalten
spielt, im Gehirn autistischer Kinder abnormal ist. Dieses System ist
auch am Verknüpfungslernen (assoziativen Lernen) beteiligt. Es ist
wichtig für die Integration der Informationen von allen Sinnen und
für deren Generalisierung, die zur Entwicklung höherer kognitiver
Leistungen und des abstrakten Denkens führt.
Auch im Kleinhirn und in den zerebellären Netzwerken des au-
tistischen Gehirns wurden Abnormitäten gefunden. Die Forschung
hat die Erkenntnis gebracht, dass das Kleinhirn viele kognitive und
affektive Funktionen des Gehirns moduliert. Außerdem wurde nach-
gewiesen, dass die Brücke (Pons) im Hirnstamm das Kleinhirn mit
dem Parietallappen im Kortex verbindet. Dies könnte das biologische
252 Anhang A

Substrat für die Dyspraxie vieler Autisten sein. Während die vestibu-
lären Kerne im Hirnstamm autistischer Kinder im Vergleich zu einer
Kontrollgruppe normal zu sein scheinen, ist die hintere Kleinhirnrin-
de, mit der diese direkt kommunizieren, höchst auffällig. Dies könnte
die vestibuläre Funktionsstörung bei Autismus erklären.
Die zukünftige Forschung wird sich mit einer noch detaillierteren
Analyse der neuronalen Systeme im Gehirn beschäftigen. Obwohl es
erwiesen ist, dass Störungen im limbischen System und Kleinhirn mit
Autismus verursachen, wurden auch im Hirnstamm und in verschie-
denen Regionen der Hirnrinde Abnormitäten gefunden. Es gibt auch
erste Nachweise für Abnormitäten des Myelins, die gravierende Aus-
wirkungen auf die Informationsverarbeitung haben könnten. Studien
bezüglich der Biochemie des Immunsystems haben gezeigt, dass im
Gehirn autistischer Kinder eine Funktionsstörung mehrerer Neuro-
transmittersysteme vorliegt, zu denen Serotonin, Acetylcholin und
Gamma-Aminobuttersäure (GABA) gehören. Zweifellos gibt es noch
mehr davon. Die Zusammenhänge zwischen diesen Erkenntnissen,
den morphologischen Hirnbefunden und den klinischen Merkmalen
der Patienten werden gegenwärtig und in Zukunft näher erforscht.
Es ist bekannt, dass Autismus eine starke genetische Komponente
hat. Bislang wurden zwar keine bestimmten Gene identifiziert, aber
es wird angenommen, dass mehrere Chromosomen mit Autismus zu-
sammenzuhängen. Von speziellem Interesse ist Chromosom 15, das
auch am Prader-Willis-Syndrom und am Angelman-Syndrom be-
teiligt ist, die beide autistische Merkmale aufweisen. Außerdem ist
bekannt, dass dieses Chromosom mit mehreren GABA-Vorstufen
assoziiert ist – einem Neurotransmittersystem, das erwiesenermaßen
bei Autismus abnormal ist.
Dr. Ayres war eine unglaublich kluge Beobachterin des mensch-
lichen Verhaltens und der neurologischen Entwicklung. Ihre Überle-
gungen zu den klinischen Merkmalen von Autismus, die teilweise erst
heute in der Medizin und in der Forschung aufgezeigt werden, waren
eine Pionierleistung. Es ist es sicher wert, sich mit Dr. Ayres‘ frühen
Beobachtungen und Artikeln auseinanderzusetzen. Wir alle können
viel von ihr lernen.

Kapitel 10: Befundung und Behandlung

Dr. Erna Imperatore Blanche, Professorin am Department of Occupational


Science and Therapy an der University of Southern California, Los Ange-
les, und Miteigentümerin vonTherapy West, Los Angeles

Wenn man Dr. Ayres‘ Kapitel zur Behandlung liest, wird der Pionier-
geist ihrer Sichtweisen und der innovative Stil ihrer Therapie spürbar
– sie richtet ihr Augenmerk auf die Fähigkeit des Kindes, sein ihm
eigenes Leben zu führen – nicht nur in Bezug auf die Ergotherapie,
sondern auch auf die Wissenschaft von der Beschäftigung (Occu-
253
Anhang A

pational Science). Ayres‘ Sicht des Kindes ging über das unmittelbare
Hier und Jetzt hinaus. Für sie war das Kind aktiv an der Konstruktion
eines sinnerfüllten Lebens beteiligt.
>> Heute
Die Gestaltung eines sinnvollen Lebens ist ein Kernkonzept
der Occupational Science.

Ein Kind dazu zu bringen, sein Leben selbst zu gestalten, beginnt


damit, seine innere Motivation anzusprechen – durch etwas, das für
alle Kinder Bedeutung hat – das Spiel. Im Jahr 1979 waren Ayres‘
Ideen teilweise intuitiv und konnten auf wenig wissenschaftliche Be-
weisführung zurückgreifen; in den letzten 25 Jahren wurden ihre Vor-
stellungen jedoch zum Inbegriff guter therapeutischer Praxis, die von
den Forschungsergebnissen aus den Bereichen der Neuroplastizität,
der motorischen Kontrolle, des Bewegungslernens, der sensorischen
Verarbeitung und der Occupational Science getragen werden.
>> Heute
Die ergotharapeutische Praxis bezieht sich heute noch
größtenteils auf Ayres‘ originale Ideen.

In diesem Kapitel hebt Ayres 5 Behandlungsaspekte hervor,


55 die Bedeutung der natürlichen Umgebung in der Normalent-
wicklung und im Behandlungsprozess,
55 die fachgerechte und genaue Befunderhebung der Störung des
Kindes,
55 die Bedeutung einer anregenden sensorischen Umgebung,
55 die Förderung von Aktivitäten, die eine Herausforderung bieten,
die anpassende Reaktionen auslöst, und
55 die Gestaltung einer Atmosphäre, die Selbststeuerung, Selbst-
kontrolle und Vergnügen am Tun fördert, so dass das Kind sich
zunehmend »besser in seinem Leben steuern« kann.

Für die Befunderhebung wurden neue, verfeinerte Verfahren entwi-


ckelt, anhand derer die funktionellen Schwierigkeiten des Kindes und
deren Zusammenhang mit seiner sensorischen Integration genauer
erfasst werden können. Eine andere Forschungslinie konzentriert
sich auf das Wesen des sensorischen Inputs und setzt physiologische
Messungen ein, um die Schwierigkeiten der Kinder besser einordnen
zu können, damit Therapeutinnen die notwendigen Reize systemati-
scher anbieten können.
Ayres betont, dass sensorische Integration in der Normalentwick-
lung »völlig natürlich« sei. Sie erklärt, wie die natürliche Auseinander-
setzung mit einer alltäglichen Umgebung Kindern die notwendigen
Herausforderungen und Anregungen bietet, um sich entwickeln zu
können. Im Gegensatz dazu brauchen Kinder mit sensorisch-integ-
rativen Störungen oft eine spezielle Umgebung, die »ihnen hilft, das
zu tun, was natürlich ist«. Mit dieser Aussage, dass die Behandlung in
einer Umgebung stattfinden solle, die der natürlichen Umwelt nach-
254 Anhang A

empfunden ist, gab Ayres vor, dass Therapeutinnen die Umgebung


an die Bedürfnisse der Kinder anzupassen haben. Auch ihre Idee von
der »Aktivität, die der Herausforderung entspricht«, wird heute noch
von Therapeutinnen umgesetzt, die herausfinden wollen, welche Ak-
tivität die richtige Herausforderung für das jeweilige Kind ist. Ayres‘
Beschreibung einer »Atmosphäre«, die Selbststeuerung und -kont-
rolle fördert und Vergnügen macht, bringt mehrere Aspekte der Be-
handlung ans Tageslicht. Sein Leben selbst zu steuern ist das Endziel
der Behandlung, und die Gestaltung der sozialen und physikalischen
Umgebung des Kindes im Rahmen des Spiels ist dafür wichtig.
Forschungsthemen, die helfen, Ayres‘ Konzepte besser zu verste-
hen, sind u.a. die Erforschung von therapeutischen Beziehungen, die
die Beteiligung (Partizipation) des Kindes fördern, oder Forschungen
zu der Frage, was ein spontaner Ausdruck von Spiel ist. Die Aus-
stattung des Therapieraums ist ebenso Teil der Atmosphäre, die zum
einen eine spielerische Umgebung gestaltet und zum anderen die
Schwierigkeiten des Kindes herausfordert. Viele von Ayres‘ ursprüng-
lichen Therapiegeräten werden auch heute noch verwendet.
Ich möchte mit einer persönlichen Anmerkung schließen. Beim
Lesen dieses Kapitels erinnerte ich mich an eines von Ayres‘ Ver-
mächtnissen an die nachfolgenden Generationen: die Begeisterung
über Forschungsergebnisse aus den Grundwissenschaften und die
Interpretation, dass diese die Therapie unterstützen und Optimismus
für die weitere Entwicklung der Praxis aufkommen lassen. Ayres‘ an
eine Gruppe damals junger Therapeutinnen gerichteten Worte ver-
deutlichen diese Punkte. Sie sagte, dass sie die jungen Therapeutinnen
beneide, weil sie so viele aufregende wissenschaftliche Erkenntnisse
miterleben würden, und dass sie erwarte, dass diese Erkenntnisse auf-
regende Auswirkungen auf die SI-Therapie haben werden. Mit dieser
Feststellung prägte sie diesen Therapeutinnen den Wunsch ein, in die
Forschung zu gehen, und den Optimismus, dass diese Forschung die
Zukunft der SI-Therapie positiv beeinflussen würde. Ihre Voraussage
war richtig. Möglicherweise hat sie aber nie zu träumen gewagt, dass
die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse viele ihrer Prinzipien,
die sie vor über 25 Jahren aufgestellt hat, untermauern und stärken
würden.

Kapitel 11: Was Eltern tun können

Brian Erwin und Christine Hunsicker, Nachlassverwalter des Franklin B.


Baker/A. Jean Ayres Trusts

Aus der Perspektive von Eltern drückt sich die Bedeutung von A. Jean
Ayres‘ Werk am besten in der folgenden Aussage aus: »Wenn eine
Therapeutin ihre Aufgabe gut macht und das Kind sein Nervensys-
tem organisiert, sieht es so aus, als ob das Kind lediglich spielt. Das
Leben ist voll von Paradoxien; dies ist eine davon.« Als Eltern können
255
Anhang A

wir unseren Kindern am besten helfen, wenn wir diese Paradoxie


akzeptieren.

Beispiel
Wir können uns noch erinnern, als wir einmal mit unserer Tochter, die
damals ein Kleinkind war, eine Treppe hinauf- und hinuntergingen,
bis wir aufgaben, weil wir nicht mehr konnten. Unsere Tante Jean, die
hervorragende Ergotherapeutin, beobachtete dies und tadelte uns in
ihrer sanften Redensart: »Das Verhalten Eurer Tochter sagt Euch, dass
das Treppensteigen für ihre Entwicklung jetzt äußerst wichtig ist.« So
zurechtgewiesen fanden wir doch wieder die Energie, unsere Kleine zu
unterstützen, die Treppen noch unzählige Male hinauf- und hinunter-
zugehen, bis sie zeigte, dass sie genug hatte.

Ayres wies darauf hin, dass alle Menschen den Drang haben, sich
»ganz« zu fühlen. Was wir als »Spiel« bezeichnen, ist in Wirklich-
keit der unersättliche Drang des Kindes, sich mit seinem Körper und
seiner Wahrnehmung in der Welt zu erfahren. Statt das Spiel als verlo-
rene Zeit zu betrachten, in der das Kind sich davor drückt, zu lernen,
sollten wir das Spiel als wichtige und notwendige Aktivität anerken-
nen, die dem Kind hilft, sein ganzes Gehirn zu integrieren, so dass es
leichter die Fähigkeiten und Fertigkeiten erwirbt, die ein voll entwi-
ckelter Erwachsener braucht. Wie Ayres sagt, »erweitert das Spiel die
Kompetenzen. Möglicherweise braucht das Kind diese Fähigkeiten
erst später im Leben, aber wenn es als Kind nicht spielen kann, wird
es später nicht viele Kompetenzen entwickeln.« Das Problem ist nicht,
dass unser Kind spielt, sondern dass wir den wahren Wert des Spiels
nicht verstehen.
Was alle Eltern gemeinsam haben, ist, dass sie keine Ausbildung
und kein Diplom in Kindererziehung haben. Wir sind per Definition
Amateure. Oft, wenn wir das Gefühl haben, dass wir in der Entwick-
lung unseres Kindes überfordert sind, greifen wir zu Erziehungsrat-
gebern, die Rezeptcharakter haben, z.B.: Mit 3 Jahren muss ich mei-
nem Kind dieses und jenes zu essen geben, es dorthin bringen und
diese und jene Dinge mit ihm tun. Diese Ansätze (Programme oder
»Protokolle«), die logisch und in einer strikten Abfolge aufgebaut
sind, machen die Erziehung scheinbar leichter, weil wir unsere eigene
Unerfahrenheit durch das Wissen eines anderen ersetzen können. Bei
manchen Kindern wirken diese Rezepte; bei anderen nicht.

Beispiel
Eines unserer Kinder schien geradezu überwältigt. Wir konnten ihre
Probleme nicht benennen, und die Erziehungsratgeber brachten uns
nicht weiter. Ayres hatte einen Namen für die versteckten Probleme,
die unserer Tochter das Leben so schwer machten: sensorische Integ-
rationsstörung. Wir stellten fest, dass es uns nicht zu guten Eltern eines
Kindes mit einer gestörten sensorischen Integration machte, wenn wir
versuchten, zu kontrollieren, was sie tat. Vielmehr ging es darum, ihr
256 Anhang A

Spiel zu fördern, und sie das tun zu lassen, was sie am meisten brauch-
te. Am meisten halfen wir unserem Kind, sein Gehirn besser zu integ-
rieren, als wir es am wenigsten kontrollierten.
Jeden Abend bauten wir »Fernandos Zirkus« auf. So nannten wir
die Sammlung von Rollbrett, Rampe, Plattform, großen aufgeblasenen
Bällen und anderen Dingen, die unser Wohnzimmer füllten. Unsere
Tochter war der Star des Zirkus und führte ihr Können der Reihe nach
auf allen Geräten vor. Wir applaudierten heftig und spornten sie zu
noch größeren Mutproben an. Sie lachte, und wir lachten. Während
dieser täglichen Aufführungen verstand niemand von uns, dass dieses
Spiel ein wichtiger Beitrag zur Therapie war. Wir waren nur eine Tochter
und ihre Eltern, die spielten.

Es kann nicht genug betont werden, dass es bei der Sensorischen In-
tegrationstherapie darum geht, die Funktionen des Gehirns zu in-
tegrieren, im Gegensatz zu einer Behandlung der Symptome eines
schlecht integrierten Gehirns, die sich als Lernstörungen oder Ver-
haltensprobleme zeigen können. So wie die Therapeutin Ihres Kindes
am effektivsten arbeitet, wenn sie ihrem Einfühlungsvermögen nach-
geht und »spürt«, was Ihr Kind braucht, tragen auch wir als Eltern am
meisten zu seiner Gesundheit und seinem Wohlbefinden bei, wenn
wir die Bewegungen, Interessen und Aktivitäten fördern, die das Kind
sich am meisten wünscht und tatsächlich braucht.
Sensorische Integration ist ein nicht im Voraus planbarer, in-
tuitiver Umgang mit dem Kind, der in der Behandlung durch eine
Therapeutin unterstützt wird, die in Sensorischer Integrationsthera-
pie ausgebildet ist. Eine Therapeutin setzt die SI-Prinzipien am wir-
kungsvollsten um, wenn sie nicht nach einem Rezept oder Programm
(»Protokoll«) vorgeht. Mit Empathie fühlt sie sich in das Kind ein
und lässt es sich mit seinen eigenen momentanen Bedürfnissen iden-
tifizieren. Aktivitäten, die das Kind unter der sanften Führung der
Therapeutin ausgesucht hat, sind die beste Therapie.
Wir laden Sie nun ein, herauszufinden, ob die Ursache für die
Probleme Ihres Kindes eine sensorische Integrationsstörung ist. Eine
detaillierte Befunderhebung durch eine qualifizierte Therapeutin mit
fundierten Sachkenntnissen in Sensorischer Integrationstherapie
kann Ihnen die nötigen Informationen geben, ob eine Therapie zu
empfehlen ist, und wie die Aktivitäten zu Hause an die Bedürfnisse
des Kindes angepasst werden können. Ayres meint: »Wenn Eltern
ihrem Kind mit Lern- oder Verhaltensproblemen helfen, seine sen-
sorische Integration zu verbessern, können sie damit mehr als jeder
andere sein Leben verändern.« So haben Sie auch eine wunderbare
Entschuldigung dafür, dass Sie »einfach« mit Ihrem Kind spielen und
Erinnerungen schaffen, die Ihnen ein Leben lang erhalten bleiben, so
wie bei uns.
257

Anhang B
Literaturübersichten

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
258 Anhang B

In der Originalversion empfahl Dr. Ayres in den 7 Kapiteln 3, 4 und 10


weiterführende Literatur, um ihre Konzepte nachvollziehbar zu ma-
chen. Seit dem Erscheinen der 1.  Auflage dieses Buches (englische
Ausgabe) 1979 hat die Forschung in den Bereichen Neurobiologie,
Psychologie, Pädagogik, Medizin wie auch in den therapeutischen
Disziplinen große Fortschritte gemacht. In diesem Buch geben wir
Dr.  Ayres‘ originale Literaturempfehlungen weiter; sie könnten für
diejenigen Leser interessant sein, die wissen möchten, auf welcher
wissenschaftlichen Grundlage Dr. Ayres ihre Theorien und Konzepte
aufgebaut hat. Leser, die an aktuelleren Forschungsergebnissen inte-
ressiert sind, empfehlen wir, die wissenschaftliche Fachliteratur zu
durchforsten. [Anm. d. Übersetzerin: Damit sind peer-reviewte Fach-
journale gemeint. Interessierte Laien oder Studenten finden diese am
einfachsten über Google Scholar.]

Die Evolution des Nervensystems

Das Gehirn ist eine Struktur, die von Wissenschaftlern schwer zu


untersuchen ist. Es ist in Knochen eingeschlossen und für Experi-
mente an Menschen nicht zugänglich. Das Gehirn wird größtenteils
an niedrigeren Tieren erforscht. Obwohl das menschliche Gehirn sich
in einigen Strukturen und Funktionen vom Gehirn niedriger Tiere
unterscheidet, gibt es viele grundlegende Ähnlichkeiten.
Das menschliche Gehirn ist das Produkt einer 500 Millionen Jah-
re andauernden Evolution der Wirbeltiere. Wirbeltiere sind Tiere mit
einem Rückgrat, wie Fische, Hunde, Affen und Menschen. Alle Wir-
beltiere haben ein Zentralnervensystem – Rückenmark und Gehirn
– in dem Sinnesempfindungen zusammenkommen und Reaktionen
produziert werden. Ein wirbelloses Tier ist z.B. eine Qualle, die zwar
Nervenzellen hat, aber kein Zentralnervensystem. Diese Tiere haben
nur eine geringe Kapazität, Empfindungen zu integrieren. Ihre Ner-
venzellen sind in einem Nervennetz über den ganzen Körper verteilt.
Wenn die Qualle von etwas berührt wird, breiten sich die Empfindun-
gen gleichmäßig über das ganze Netz aus, was bewirkt, dass die Qualle
sich zusammenzieht. Die ersten Wirbeltiere waren primitive Fische;
sie hatten sehr einfache zentrale Nervenstrukturen, die einige wenige
Empfindungen integrieren konnten. Diese primitiven Fische waren
die Vorfahren der heutigen Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und
Säugetiere.
Die Strukturen und Funktionen des Gehirns, die sich als Ers-
tes entwickelten, haben sich nicht sehr verändert, allerdings kamen
zu den Ursprungselementen neue Strukturen und Funktionen hin-
zu. Die älteren Teile des Gehirns funktionieren heute in ähnlicher
Weise wie bei unseren Vorfahren vor Millionen von Jahren. In der
Entstehungsgeschichte hat jedes einzelne Gehirn nach bestimmten,
zeitlosen Prinzipien funktioniert. Wenn wir uns diese Prinzipien an-
schauen, können wir die Funktion unseres heutigen Gehirns besser
259
Anhang B

verstehen, und wir erfahren, wie sich das Nervensystem unserer Kin-
der entwickelt.

Die anpassende Reaktion

Als das Tierreich entstand, überlebten diejenigen Tiere, die sich er-
folgreich an die Natur anpassen konnten, und sie gaben ihre Gene an
ihren Nachwuchs weiter. Tiere, die nicht anpassend auf die Anfor-
derungen der Umwelt reagierten, starben aus. Im Tierreich bedeutet
»Anpassung« die Fähigkeit, den Körper und die Umgebung wahrzu-
nehmen, diese Sinnesinformationen genau zu interpretieren und die
richtigen motorischen Reaktionen auszuführen, um Nahrung zu be-
kommen; zu vermeiden, selbst Nahrung für andere Tiere zu werden,
und mit den harschen Bedingungen der Natur zurechtzukommen.
In der Entstehungsgeschichte gab es viele Perioden, in denen die
Tiere sich in einer Umwelt zurechtfinden mussten, in der Nahrung
knapp war, Feinde zahlreich und die Natur harsch. Nur die Tiere, die
gute sensomotorische Funktionen hatten, konnten sich an diese Be-
dingungen anpassen und überlebten.
Bei den frühen Tieren – vor etwa 100 Millionen Jahren – bestand
das Gehirn hauptsächlich aus dem Hirnstamm und (einem) sehr
rudimentären Kleinhirn und Hirnhälften. Diese Tiere waren nur zu
sensorischen und motorischen Funktionen fähig – ähnlich unseren
heutigen Fischen und Eidechsen. Damit diese Tiere in ihren Um-
weltbedingungen überleben konnten, mussten ihre sensorischen und
motorischen Funktionen in einen einheitlichen und ausgewogenen
Prozess integriert werden. Der Hirnstamm des Menschen verarbeitet
immer noch annähernd die gleichen sensorischen und motorischen
Funktionen wie der Hirnstamm der frühen Tiere.

Funktionsebenen

Das früheste Nervensystem bei den Wirbeltieren war nicht viel mehr
als ein Rückenmark. Mit der Zeit entstanden am vorderen Teil des
Rückenmarks neue Strukturen. Die neuen, »höheren« Strukturen
übten dieselben Funktionen aus wie die älteren, jedoch auf eine kom-
plexere Art. Ein simples Rückenmark kann auf eine Berührung mit
einer Körperbewegung reagieren, aber die Reaktion ist großräumig
und undifferenziert. Der Hirnstamm kann diese Aufgabe – die Be-
rührung zu interpretieren und darauf zu reagieren – besser machen,
aber am besten führt die Hirnrinde diese Aufgabe aus. Sie kann die
genaueste Interpretation liefern und eine Reaktion produzieren, so-
fern der Hirnstamm die Sinnesinformationen gut verarbeitet und
weitergeleitet hat. Jede neu entstandene Struktur blieb also in ihrer
Funktion ein bisschen von den älteren Strukturen und Funktionen
abhängig. Ein Geschäft folgt demselben Prinzip, wenn es eine Zweig-
260 Anhang B

stelle eröffnet. Das neue Büro ist abhängig von dem älteren, einge-
führten Betrieb. Die Hirnrinde entstand aus den niedrigeren Ebenen
der Großhirnhälften, daher hängen die kortikalen Prozesse von den
Abläufen in den niedrigeren Hirnhälften und im Hirnstamm ab. In
der Hirnrinde können sich keine genauen taktilen, visuellen und au-
ditiven Wahrnehmungen entwickeln, solange sich die grundlegen-
dere taktile, visuelle und auditive Verarbeitung im Hirnstamm nicht
entwickelt hat.

Die Sinnessysteme

Die Art und Weise, wie die Sinnessysteme entstanden sind, beein-
flusst deren Entwicklung und Funktion beim heutigen Menschen.
Die Evolution des Gehirns ist ein 500 Millionen Jahre andauernder
Prozess des Verbesserns der Verbindungen zwischen den Sinnessyste-
men. Beim Menschen kommunizieren alle Sinnessysteme miteinan-
der, und sie arbeiten weitaus vernetzter zusammen als uns bewusst ist.
In der Pädagogik wird manchmal versucht, das visuelle und auditive
System unabhängig von den anderen Sinnen zu fördern. Lehrerinnen
und Eltern können diesen Fehler ausgleichen, indem sie den Kindern
ermöglichen, so viele taktile, vestibuläre und propriozeptive Erfah-
rungen zu machen, wie sie wollen und brauchen.

Die Evolution des Berührungssinns  Bereits Einzeller wie Amöben


reagieren auf Berührung. Die primitiven Tiere hatten drei Körper-
zellschichten. Aus der äußeren Schicht entwickelten sich das Nerven-
system und die Haut. Der menschliche Embryo folgt diesem Ent-
wicklungsmuster: Wenige Wochen nach der Konzeption besteht der
Embryo ebenfalls aus drei Zellschichten, und aus der äußeren Schicht
bilden sich Nervensystem und Haut. Da also das Nervensystem und
die Haut denselben Ursprung haben, spielen taktile Empfindungen
eine elementare Rolle für die Organisation des Nervensystems. Be-
rührungsempfindungen fließen überall im ganzen Nervensystem und
beeinflussen jeden neuronalen Prozess. Das erklärt, warum das taktile
System bei den meisten Hirnfunktionsstörungen mitbeteiligt ist.
Für Jahrmillionen war der Berührungssinn ein wichtiges Hilfs-
mittel, um Gefahren zu erkennen. Berührungsreize – ausgenommen
diejenigen, wenn das Tier sich selbst berührt oder die Mutter ihr Jun-
ges – hatten den Sinn, das Tier auf eine Kampf- oder Fluchtreaktion
vorzubereiten, um sich zu schützen. Anhand der Berührungsinfor-
mationen konnte das Tier auch erkennen, ob der Boden unter seinen
Füßen ein sicherer Ort war. Die Berührungsempfindungen im Mund
sagten dem Tier, was es kaute, und wie man die Nahrung im Mund
bewegt. Viele dieser taktilen Informationen wurden bereits im Hirn-
stamm verarbeitet.
Auch die späteren höheren Tiere brauchten detaillierte Informa-
tionen von der Haut, damit sie Dinge spüren und manipulieren konn-
261
Anhang B

ten, mit ihren Pfoten Löcher in den Boden graben und auf Bäume
klettern konnten. Da diese Fähigkeiten überlebensnotwendig waren,
entwickelten sich Nervenbahnen, die präzisere taktile Informatio-
nen leiten konnten, und Bereiche in den Hirnhälften, in denen diese
Informationen verarbeitet wurden. Mit der Weiterentwicklung des
taktilen Systems entwickelte sich zunehmend auch die Fähigkeit der
Tastwahrnehmung, wodurch es den Affen und frühen Menschen
möglich wurde, einfache Werkzeuge effektiv einzusetzen.

Berührung und Emotionen  In der Entstehungsgeschichte bildete sich


eine Verbindung zwischen dem Berührungssystem und den emotio-
nalen und sozialen Funktionen aus. Dr.  Harry F.  Harlow und Kol-
legen (Universität von Wisconsin, 1959) verdeutlichten dies anhand
von Studien mit Affenjungen. Neugeborene Affen wurden von ihren
Müttern getrennt und von einer künstlichen »Mutter« aufgezogen.
Die eine Gruppe hatte ein Drahtgestell als »Mutter«, die andere ein
mit Frottee überzogenes Gestell. Harlow stellte fest, dass die Affen
auf die »Frotteemutter« kletterten, sie umarmten und sich anklam-
merten wie bei einer echten Mutter. Sie entwickelten eine emotio-
nale Bindung zu ihrer künstlichen »Mutter«. Die Berührungen mit
dem Frotteestoff konnten ihnen Sicherheit vermittelten und sie be-
ruhigen, wenn sie bei den Erkundungen ihrer Umgebung ängstlich
wurden. Die Affen mit der »Drahtmutter« konnten diese emotionale
Bindung und das Gefühl der Sicherheit nicht entwickeln, selbst wenn
die »Drahtmutter« eine Milchflasche hielt. Die Berührungen dieser
»Mutter« waren ihnen unangenehm und konnten die emotionalen
Bedürfnisse der Affenbabys nicht befriedigen. Aus seinen Beobach-
tungen schlussfolgerte Harlow, dass angenehme Berührungsempfin-
dungen ein entscheidender Faktor für die gefühlsmäßige Beziehung
zwischen der Mutter und ihrem Nachwuchs sind.
Harlows Schlussfolgerungen scheinen für alle, besonders für die
höher entwickelten Säugetiere zu gelten, die nach der Geburt von der
Versorgung der Eltern abhängig sind. Die Natur hat den mensch-
lichen Nachwuchs für eine sehr lange Zeit von der Mutter abhängig
gemacht; und während dieser Zeit brauchen die Kinder viele Berüh-
rungserfahrungen, um die emotionale Sicherheit zu entwickeln, die
für ihre spätere Unabhängigkeit nötig ist. Mütter wissen seit jeher,
dass ein Baby sich beruhigen lässt, wenn man es festhält und strei-
chelt. Diejenigen, die wenig über das Gehirn und sensorische Integra-
tion wissen, raten Müttern, ihre Kinder weinen zu lassen, um sie nicht
zu verwöhnen und zu stark an sich zu binden. Viel wahrscheinlicher
ist es aber, dass es dem Baby hilft, sich zu entwickeln, wenn man es
festhält und berührt, und dass es dadurch die emotionalen Prozesse
seines Gehirns organisiert. So wird es zu einem unabhängigen Er-
wachsenen.

Die Evolution des Gleichgewichts- und Hörsinns   Alle Lebewesen –


sowohl Pflanzen als auch Tiere – müssen sich auf die Erdanziehungs-
262 Anhang B

kraft einstellen. Die Schwerkraft ist die konstanteste und universellste


Kraft in unserem Leben. Die Entstehungsgeschichte ist gekennzeich-
net durch den ungeheuren Drang, die Schwerkraft zu beherrschen.
Höhepunkt dieses Drangs ist unsere aufrechte Haltung. Selbst bei be-
stimmten Meerestieren können wir diesen Antrieb sehen. Sie geben
Sandkörner in ein Loch in ihrem Kopf, damit sie die Anziehung der
Schwerkraft spüren können und sich orientieren, wo oben ist.
Das Gleichgewichtssystem entstand als Erstes bei den Fischen,
für die es notwendig war, rasch und effizient zu schwimmen. Dieses
frühe vestibuläre System war so funktionstauglich, dass es bei den
Amphibien, Reptilien, Vögeln und Säugetieren bis heute fast unverän-
dert geblieben ist. Verändert haben sich nur die Verbindungen zu den
Motoneuronen, um allen Lebewesen eine artgerechte Fortbewegung
zu ermöglichen. Die Sinnesfunktionen des vestibulären Systems des
Fisches waren jedoch so ideal, dass dieses System auch an Land, in
den Bäumen und in der Luft beibehalten wurde. Kein anderes Sinnes-
system hat eine derart lange Lebensgeschichte. Die urzeitlichen Fi-
sche hatten seitlich am Kopf haarähnliche Rezeptorzellen, die sie über
die umgebenden Wellen im Wasser informierten; diese konnten Ge-
fahr bedeuten. Membranen bildeten sich aus, die die Rezeptorzellen
umschlossen, und aus denen die Bogengänge, die Schwerkraft- und
die Hörrezeptoren entstanden. Durch die Bewegungen des Fisches
wurde die Flüssigkeit in den Aussackungen und Bogengängen be-
wegt, wodurch die haarförmigen Rezeptorzellen stimuliert wurden.
So konnte der Fisch seine eigenen Bewegungen im Wasser spüren.
Als sich die Nachkommen der frühen Fische an das Leben an
Land anpassten, entstanden aus den primitiven Schwerkraftrezep-
toren die Hörrezeptoren. Beide, der Gleichgewichts- und der Hör-
sinn, waren ursprünglich mehr ein Vibrationssinn. Harvey Sarnat
und Martin Netsky (1974) haben die Evolution dieses Vibrationssinns
verfolgt. Sie wiesen darauf hin, dass die ersten Landtiere mit dem
Kopf den Boden berührten, so dass sich die Bodenvibrationen auf
die Schädelknochen übertrugen. Der Mensch hat bis heute die Fä-
higkeit, Bodenvibrationen zu »hören«. (Wahrscheinlich haben Sie im
Film schon einmal gesehen, wie Cowboys oder Indianer den Boden
abhorchen, um zu hören, ob sich Pferde nähern.) Bei den Amphibien
hat der Kopf keinen Bodenkontakt mehr. Sie entwickelten in ihren
Vorderbeinen ein System, das die Bodenvibrationen zum Gleichge-
wichtsorgan leitete. Die Fähigkeit, Bewegungen in der nahen Um-
gebung wahrzunehmen, war für das Überleben so wichtig, dass die
Natur immer neue Wege fand, diese Informationen zum Innenohr
zu leiten. Die Vorderbeine der Säugetiere und Vögel waren nicht ge-
eignet, um Informationen vom Boden aufzunehmen. Also passte sich
ein Teil der Vibrationsrezeptoren an und nahm Vibrationen aus der
Luft auf.
Sind Verbindungen im Nervensystem erst einmal hergestellt, so
verschwinden sie selten wieder vollständig; vielmehr passen sie sich
an andere Nutzungsmöglichkeiten an. Die heutigen Wirbeltiere und
263
Anhang B

selbst wir Menschen nutzen diese alten neuronalen Verbindungen,


aber den Großteil der verfeinerten Sinnesverarbeitung haben jüngere,
höhere Verbindungen im Gehirn übernommen. Das Gehör steht also
immer noch in enger Verbindung zum Gleichgewichtssystem, und
beide Systeme reagieren auf Vibration. In der Sensorischen Integra-
tionstherapie wird das vestibuläre System durch Bewegung oder Vib-
ration angeregt, damit sich Hör- und Sprachverarbeitung verbessern.
Wahrscheinlich finden die Verbesserungen in den alten neuronalen
Verbindungen zwischen Gleichgewichts- und Hörsinn statt.

Die Evolution des Sehsinns  Schon bei den ersten Wirbeltieren be-
stand eine enge Verbindung zwischen dem Gleichgewichts- und dem
visuellen System. Bei Fischen und Amphibien reagiert das visuelle
System nur auf Bewegungen. Jeder Angler weiß, dass der Köder sich
bewegen muss, damit der Fisch ihn bemerkt. Insekten bewegen sich
normalerweise, und so entwickelten Frösche nie die Fähigkeit, ru-
hende Objekte gut zu sehen. Stiere werden in Wirklichkeit nicht vom
roten Umhang des Stierkämpfers angezogen; sie sind nur an dessen
Bewegung interessiert. Sogar Katzen und Hunde sehen eher etwas,
das sich bewegt. Das vestibuläre System muss gut funktionieren, um
die Augen auf einem sich bewegenden Objekt zu halten. Dies funktio-
niert sogar, wenn das Tier selbst sich bewegt. Die Wahrnehmung der
Bewegung eines Objekts ist eine der ältesten Funktionen des Gehirns.
Sie ist abhängig von der sensorischen Verarbeitung im Hirnstamm.
Die Fähigkeit, ein kleines, unbewegtes Objekt zu sehen, ent-
stand erst viel später, mit der Entwicklung der Großhirnhälften, und
hängt von einer guten Sinnesverarbeitung im Großhirn ab. Wie bei
allen anderen sensomotorischen Funktionen kann die Kontrolle im
Großhirn sich nur dann gut entwickeln, wenn auch die Kontrolle im
Hirnstamm funktioniert. Manche Kinder fahren mit ihrem Finger
die Zeilen entlang, wenn sie lesen lernen. Sie tun das, weil es ih-
nen leichter fällt, dem sich bewegenden Finger zu folgen als statische
Buchstaben zu fixieren. An diesem Beispiel ist gut zu erkennen, wie
der innere Antrieb das Kind dazu bringt, sein Gehirn selbst derart zu
stimulieren, dass es besser funktionieren kann. Das Sehen ist unser
wichtigstes Hilfsmittel, um uns in Bezug zum Raum zu erleben, aber
das vestibuläre, propriozeptive und taktile System müssen zur Ent-
wicklung und Funktion des Sehsinns beitragen.

Die Evolution von anpassenden Reaktionen  Durch anpassende Re-


aktionen organisieren Wirbeltiere ihre Schwerkraft- und Körper-
empfindungen. Die grundlegendste und überdauerndste anpassende
Reaktion war es, in Bauchlage zu kommen. Aus der Bauchlage hat
sich die Fortbewegung entwickelt, und aus dieser Position haben die
Tiere sich aufgerichtet, erst auf vier Beine und dann auf zwei Bei-
ne. Die Bauchlage schützt auch die weichen Körperteile vor Gefahr.
Wenn Sie ein Tier auf den Rücken drehen, wird sein Nackenstellref-
lex aktiv, und es wird wieder in die Bauchlage zurückwollen. Da die
264 Anhang B

Gleichgewichtsrezeptoren in den drei Raumebenen angeordnet sind,


bestimmt die Kopfposition, welche Rezeptoren stimuliert werden.
Alle Wirbeltiere schwimmen, liegen, gehen oder fliegen mit dem Ge-
sicht zum Boden. Dies könnte der Grund sein, warum Bauchlage die
Gleichgewichtsreize liefert, die die sensomotorische Entwicklung för-
dern. Daher ist die Bauchlage für eine normale sensorisch-integrative
Entwicklung sehr wichtig.
Nachdem die Amphibien das Wasser verlassen hatten, mussten sie
an Land kriechen. Durch Reflexe, die von der Schwerkraft ausgelöst
wurden, hoben sie zuerst den Kopf und dann den oberen Rumpf.
Dann half das vestibuläre System, die Gliedmaßen beider Körper-
seiten zu koordinieren. Die Amphibien, die am erfolgreichsten kro-
chen, entwickelten sich zu Reptilien. Wenn Sie beobachten, wie flink
eine Eidechse sich fortbewegt, wird Ihnen auffallen, wie perfekt ihre
Gliedmaßen und ihr Rumpf oganisiert sind. Sarnat und Netsky (1974)
meinen, dass fast ausschließlich das Gleichgewichtssystem und die
vestibulo-spinalen Bahnen der Eidechse dafür verantwortlich sind.
Da Säugetiere längere Beine haben und komplexere Bewegungen
entwickeln, senden ihre Muskeln und Gelenke auch komplexere pro-
priozeptive Informationen zum Gehirn. Daher entwickelte sich das
propriozeptive System erst nach dem taktilen und dem vestibulären
System. Es hat keine weitreichenden Verbindungen zu den anderen
Sinnessystemen; das propriozeptive System hat spezifischere Funk-
tionen.
Die ersten Säugetiere lebten auf Bäumen, wo Sehen und Hören
sehr wichtig waren, um Nahrung zu finden und anderen Tieren aus
dem Weg zu gehen; also begannen das visuelle und das auditive Sys-
tem, sich entsprechend zu entwickeln. Parallel passten sich das vesti-
buläre und das propriozeptive System an das Hinauf- und Hinabklet-
tern und das Balancieren auf schlanken Gliedmaßen an. Das Leben
auf den Bäumen löste viele wichtige Anpassungsreaktionen und viel
sensorische Integration aus. Aus diesem Grund klettern Kinder so
gerne.
Primitive Reptilien – wie die heutigen Eidechsen – können ihre
Pfoten nicht zusammenbringen. Die ersten Säugetiere – wie unse-
re heutigen Eichhörnchen – können zwar die Vorderpfoten zusam-
menbringen, aber nicht mit einer Pfote auf die andere Körperseite
hinübergreifen. Erst die Affen lernten, die Mittellinie des Körpers
zu kreuzen. Mit dieser verbesserten Greiffunktion konnten sie den
Anforderungen ihrer Umgebung besser entsprechen. Aktivitäten wie
Ziehen und Schieben, Dinge aufheben und tragen sowie das Hängen
an den Ästen halfen zu überleben, so dass die Gene, die diese Fähig-
keiten ermöglichten, von einer Generation zur nächsten weitergege-
ben wurden.
Als die Hand mit zunehmender Entwicklung genauere Informa-
tionen an das Gehirn sandte, lernten die Affen, primitive Werkzeuge
zu gebrauchen. Das Sehen wurde für das Überleben noch wichtiger,
weil es keine vorprogrammierten Reflexe dafür gab, wie man einen
265
Anhang B

Stab verwenden muss, um ein Loch zu graben. Der Affe musste das
Gewicht des Werkzeugs in seiner Hand spüren und seine Balance
halten, wenn er es benutzte; auf diese Weise wurden die visuellen
Informationen vom Stab mit vestibulären und propriozeptiven Infor-
mationen vom Körper integriert.
Die detaillierten Informationen, die beim Hantieren mit Objek-
ten an die Hirnrinde gesendet wurden, bewirkten, dass sich in der
Hirnrinde ausgedehnte Bereiche entwickelten, in denen diese Infor-
mationen verarbeitet wurden, und die diese komplexeren Handfer-
tigkeiten steuerten. Nach vielen Jahren des Werkzeuggebrauchs ent-
wickelten die frühen Menschen als Antwort auf die zunehmenden
Sinnesempfindungen von den Händen einen Daumen, der den Fin-
gern gegenübergestellt war. Grundlage der Greiftechnik waren gut
abgestimmte Bewegungen von Daumen und Fingern. Die Zunahme
an Sinnesinformationen und die Fähigkeit zu komplexeren Anpas-
sungsreaktionen löste im Weiteren die Entstehung der sensorischen
und motorischen Hirnrinde aus.

Literatur

Harlow HF (1958) The nature of love. American Psychologist 13:673–685


Harlow HF (1959) Love in infant monkeys. Scientific American 200:68–74
Sarnat HB, Netsky MG (1974) Evolution of the nervous system. Oxford University
Press, New York

 odurch sind sensorisch-integrative


W
Funktionsstörungen verursacht?

Das Gehirn ist bei der Geburt verwundbar, und manche Neugeborene
bekommen nicht genügend Sauerstoff. Dr.  W.  F.  Windle (1969) hat
in seinen Versuchen mit Affen einen ähnlichen Sauerstoffmangel bei
deren Geburt verursacht. Die Affen zeigten Zeichen einer schwachen
Sinnesverarbeitung, obwohl sie später normal wirkten. Bei der Autop-
sie der Gehirne dieser Affen fand Windle Schädigungen in den Hirn-
bereichen, die die auditiven und taktilen Reize verarbeiten. Aufgrund
dieser Erkenntnisse und anderer Forschungsprojekte hat sich die
Meinung durchgesetzt, dass die Häufigkeit von minimalen Hirnfunk-
tionsstörungen durch natürliche Geburten reduziert werden könnte.
Im obigen Abschnitt haben wir Harlows Versuche mit einer
»Draht«- bzw. »Stoffmutter« beschrieben. Die Jungen, die mit der
»Drahtmutter« aufgezogen wurden, bekamen die für ihre emotionale
Reifung notwendigen angenehmen Berührungsreize nicht. Sie zeig-
ten später schwerwiegende Störungen und reizsuchendes Verhalten
– ähnlich wie Kinder, die in Heimen aufgewachsen sind.
Dr. Seymour Levine stellte fest, dass Ratten, die in ihren ersten Le-
benswochen nicht berührt und gepflegt werden, nicht die hormona-
266 Anhang B

len Reaktionen entwickeln, die bei Stress eine organisierte Hirnaktivi-


tät aufrechterhalten. Diese Ratten fürchteten sich in einer neuen Um-
gebung und erkundeten diese nicht, und sie reagierten übertrieben
auf nicht vertraute Situationen. Wie bei Harlows Affen scheint das
Problem dadurch verursacht, dass sie zu einer Zeit, in der das Gehirn
taktile Reize braucht, um sich richtig zu entwickeln, nicht genügend
Berührungserfahrungen machen konnten. Die Ratten wurden auch
nie hochgehoben oder bewegt, daher hat wahrscheinlich der Mangel
an Gleichgewichtsanregungen genauso geschadet. Dr.  W.  A.  Mason
und G. Berkson (1975) machten ähnliche Versuche wie Harlow. Zu-
dem verglichen sie eine »Mutter«, die ihre Jungen wiegte und schau-
kelte, mit einer ganz ähnlichen, die sich nicht bewegte, sondern fest
stand. Die jungen Affen, die von der statischen »Mutter« aufgezogen
wurden, entwickelten abnormale Verhaltensmuster; diese zeigten sich
nicht bei den Affen, die bewegt wurden.
Dr. W. R. Thompson und R. Melzack (McGill Universität, 1956)
zogen Terrier in Einzelkäfigen auf, aus denen die Hunde nicht nach
draußen sehen konnten. Als die Hunde 7–10 Monate alt waren, vergli-
chen die Forscher sie mit ihren Geschwistern, die normal aufgewach-
sen waren. Sie hielten beiden Hundegruppen fremde Objekte hin.
Die normalen Hunde liefen einfach davon, während die deprivierten
Hunde unorganisiert herumsprangen und in ihrer Aufregung sogar
in das Objekt hineinliefen. In anderen Situationen benahmen sie sich
wild und ziellos. Sie hatten Schwierigkeiten, sich an Veränderungen
anzupassen und zweckmäßige Aktivitäten auszuführen. Sie konnten
sich nicht merken, wo ihr Futternapf stand, fanden nicht den Weg
durch ein Labyrinth und hatten kein gutes Sozialverhalten. Diese
Hunde kamen mit einem normalen Gehirn auf die Welt, doch durch
den Mangel an Sinnesanregungen und anpassenden Reaktionen (De-
privation) hatten sie wenige Chancen, sich zu entwickeln.

Literatur

Levine S (1960) Stimulation in infancy. Scientific American 202:80–86


Mason WA, Berkson G (1975) Effects of maternal mobility on the development of
rocking and other behaviors in rhesus monkeys: A study with artificial mot-
hers. Developmental Psychobiology 8:197–211
Thompson WR, Melzack R (1956) Early environment. Scientific American 194:38–42
Windle WF (1969) Brain damage by asphyxia at birth. Scientific American 221:76–84

Umweltanregungen und das normale Gehirn

In den letzten 15  Jahren haben Neurowissenschaftler gezeigt, dass


Struktur, Chemie und Funktion des Gehirns tatsächlich durch Inter-
aktionen mit der Umwelt verbessert werden. Die meisten Studien
wurden an Laborratten gemacht. Das Gehirn einer Ratte ist zwar viel
einfacher als unser Gehirn, aber die grundlegenden Prozesse der Sy-
267
Anhang B

napsenbildung (wie in  7  Kapitel 3 beschrieben) sind gleich, und das


Gehirn einer Ratte hat ebenfalls den inneren Antrieb, sich zu entwi-
ckeln. Geben die Neurowissenschaftler dem Gehirn einer Ratte dem-
entsprechend mehr Gelegenheiten, entwickelt es sich besser.
Die Pioniere dieses Forschungszweigs waren Dr. Mark Rosenzweig
und seine Kollegen (University of California in Berkeley, 1976). Ihnen
war aufgefallen auf, dass der italienische Anatom Michele Gaetano
Malacarne bereits im 18. Jahrhundert ähnliche Versuche gemacht und
festgestellt hatte, dass Hunde und Vögel, die lange Zeit dressiert wor-
den waren, mehr Falten im Kleinhirn aufwiesen als ihre Geschwister,
die nicht trainiert worden waren. Nach seinen Erkenntnissen wird
durch die Sinnesanregung im Training die natürliche Entwicklung
des Gehirns gefördert. Bis in die 1950er Jahre gab es allerdings keine
Methode, um Änderungen in der Zellstruktur des Gehirns nach Sin-
neserfahrungen zu messen.
In den Experimenten von Rosenzweig und Mitarbeitern verbrach-
te die eine Rattengruppe eine gewisse Zeit in einer »anregenden Um-
gebung«, die andere Gruppe in einer »anregungsarmen Umgebung«:
55 Die »anregende Umgebung« war ein Käfig, in dem es eine Viel-
zahl von Betätigungsmöglichkeiten gab: auf Leitern klettern, im
Laufrad laufen, über die Borsten einer Bürste gehen, ein Laby-
rinth erkunden; die Ratten wurden auch im Käfig von Menschen
hochgehoben.
55 Die »anregungsarme Umgebung« war ein leerer Käfig ohne ves-
tibuläre, taktile oder propriozeptive Anregungen.

Nach einiger Zeit wurden die Ratten getötet und ihre Gehirne ana-
lysiert. Rosenzweig und seine Kollegen wie auch viele andere Wis-
senschaftler haben viele Variationen dieses Versuchs ausgetestet. Die
Ergebnisse waren meist ähnlich: Die Hirnrinde der Ratten aus der
anregenden Umgebung war schwerer; sie enthielt zum einen mehr
Chemikalien, die das Gehirn gesund halten, zum anderen mehr
Neurotransmitter, die die Übertragung der Signale an den Synapsen
fördern; und die Ratten hatten mehr Verbindungen zwischen den
Neuronen. Dies zeigte, dass die Ratten dieser Gruppe eine größere
Kapazität hatten, um Sinnesreize zu verarbeiten und Sinnesinforma-
tionen zu nutzen. Beide Rattengruppen wurden auch motorisch ge-
testet. In den meisten Tests waren die Ratten aus der anregenden Um-
gebung beim Erlernen und Ausführen einer Aufgabe erfolgreicher.
Die Ratten mussten nicht ständig in anregender Umgebung sein,
um einen Nutzen zu haben. Rosenzweig und seine Kollegen stellten
fest, dass täglich 2 Stunden über einen Zeitraum von 1 Monat genüg-
ten, um signifikante Veränderungen im Gehirn einer Ratte zu produ-
zieren. Verbesserungen traten in jedem Alter auf, vermehrt jedoch bei
den Jungtieren. Ähnliche Studien mit Hunden und Affen brachten
dieselben Ergebnisse.
In der Wissenschaft setzt sich die Idee, dass Auseinandersetzung
mit der Umwelt die Hirnfunktion verbessert, nun langsam durch. Es
268 Anhang B

reicht nicht aus, sich die anregende Umgebung lediglich anzuschauen.


Die Ratten mussten diese Umgebung mit ihren Sinnen und durch
eigene Bewegung erleben. Die Forscher konnten das Gehirn der Rat-
ten nicht dazu bringen, besser zu werden; die Ratten mussten es selbst
tun. In der Therapie ist es genauso. Das Kind muss sein Gehirn selbst
organisieren.
Zur Wirkung der Umweltinteraktion auf das normale mensch-
liche Gehirn gibt es weniger Studien. Natürlich hat niemand vor, die
Rattenversuche mit Menschen zu wiederholen. Die bisherigen Arbei-
ten haben gezeigt, dass menschliche Säuglinge ebenso gut reagieren
wie die Jungtiere. Dr.  David Clark und seine Kollegen (Ohio State
University, 1977) stellten fest, dass vestibuläre Reize sowohl normalen
Kindern als auch Kindern mit neurologischen Problemen helfen, bes-
sere motorische Fähigkeiten zu entwickeln. Dr. Claudette Gregg und
Kollegen (Stanford Universität, 1976) fanden heraus, dass es Säug-
lingen hilft, mit den Augen ein sich bewegendes Objekt zu verfolgen,
wenn man sie schaukelt oder an einem Schnuller saugen lässt.
Dr.  J.  McVicker Hunt (1976) analysierte zahlreiche Studien, in
denen untersucht wurde, wie die Umwelt auf die Entwicklung von
Menschenkindern wirkt. Sein Fazit war, dass sich »intellektuelle
Kompetenz aus ungefilterten Gelegenheiten, Objekte zu erkunden,
damit zu hantieren und Fragen zu stellen entwickelt. Mütter, die ihr
Kind gut förderten, gestalteten die Umgebung so, dass viele Dinge
zum Hantieren und Betätigen, viele visuell detailreiche Objekte, Gele-
genheiten zum Klettern und motorischen Explorieren und eine große
Auswahl an Dingen zum Ansehen verfügbar waren.« McVicker Hunt
ging davon aus, dass eine solche Umgebung den Intelligenzquotienten
eines Kindes erheblich steigern kann.

 ie anregende Umgebung als therapeutische


D
Maßnahme

Vestibuläre Stimulation von Frühgeborenen  Im Mutterleib erfährt das


Kind viel Bewegung. Die Bewegungen der Mutter wiegen das Kind
9 Monate lang. Babys, die zu früh zur Welt kommen, entwickeln sich
oft nicht so gut, weil sie noch nicht richtig auf das Leben außerhalb
des Mutterleibs vorbereitet sind. Zahlreiche Forscher haben festge-
stellt, dass die Anregung des Gleichgewichts- und Berührungssinns
vielen frühgeborenen Kindern half, ihre Entwicklungsrückstände
aufzuholen.
Dr. Mary Neal (Krankenpflegeschule der University of Maryland,
1968) stattete den Brutkasten mit einer Hängematte aus und ließ die
Frühgeborenen 3-mal täglich für eine ½ Stunde schaukeln. Dr. Neal
stellte fest, dass sich Muskeltonus, Kopfbewegungen, Greifen und Zie-
hen sowie die auditiven und visuellen Reaktionen bei diesen Babys
schneller entwickelten als bei nicht geschaukelten Babys. Sie nahmen
auch rascher an Gewicht zu.
269
Anhang B

Andere setzten Wasserbetten ein, um Frühgeborenen zusätzliche


vestibuläre Stimulation anzubieten. Diese Säuglinge zeigten Verbesse-
rungen in der Bewegungskoordination und beim Saugen, eine regel-
mäßigere Atmung und raschere Gewichtszunahme. Sie könnten nun
fragen: Warum soll Schaukeln in einer Hängematte oder auf einem
Wasserbett zu solchen weitreichenden Verbesserungen führen? Ober-
flächlich betrachtet hat vestibuläre Anregung wenig mit dem Körper-
gewicht oder der Atmung zu tun. Jedoch »bereiten« vestibuläre Emp-
findungen tief im Inneren des Gehirns das Nervensystem vor und
vereinen seine Funktionen. Bei Frühgeborenen ist Gewichtszunahme
immer ein Zeichen, dass das Nervensystem viele Grundfunktionen
gut erfüllt.
Dr.  Ruth Rice (1977) ließ Mütter 1  Monat lang ihre frühgebore-
nen Säuglinge 4-mal täglich für 15 Minuten streicheln, massieren und
knuddeln, nachdem sie vom Krankenhaus entlassen worden waren.
Die Kinder einer Kontrollgruppe wurden nicht so behandelt. Die Ba-
bys, die diese zusätzliche Sinnesanregung erhalten hatten, nahmen
mehr an Gewicht zu und zeigten eine bessere neurologische und
geistige Entwicklung als die Frühgeborenen in der Kontrollgruppe.
Andere Studien haben gezeigt, dass Frühgeborene durch sensorische
Anregung reif geborene Kinder in der Entwicklung einholen und
manchmal sogar überholen können.
Dr. Jerry White und Richard Labarba (1976) stellten zudem fest,
dass Frühgeborene mehr essen und besser zunehmen, wenn sie taktile
und vestibuläre Anregung erhalten. Dr. Marlene Kramer et al. (1975)
fanden heraus, dass zusätzliche taktile Stimulation das Sozialverhal-
ten frühgeborener Babys fördert.

Sensorische Anregung bei Hirnschädigung  Versuche mit Tieren ha-


ben gezeigt, dass eine anregende Umgebung dem Gehirn hilft, nach
einer neurologischen Schädigung gesunde Funktionen wiederherzu-
stellen und zu entwickeln. Die geschädigten Neurone müssen benutzt
werden, um sich wieder zu erholen. So wie in der Normalentwicklung
geschieht Erholung von einer Verletzung in dem Maße, wie das ver-
letzte Organ eingesetzt wird. Ist das visuelle System geschädigt, so ist
visuelle Anregung notwendig, damit das Sehen sich erholen kann.
Betrifft die Schädigung die Hirnanteile, die Geräusche verarbeiten,
so braucht das Gehirn Hörerfahrungen, um seine Hörfunktionen neu
zu organisieren. Zugleich haben vestibuläre und taktile Erfahrungen
positive Auswirkungen auf das ganze Nervensystem.
Dr.  Roger Walsh (Stanford University) und Robert Cummins
(University of Queensland) gaben 1976 eine Übersicht über eine gro-
ße Anzahl von Studien zur therapeutischen Umgebung heraus. Sie
stellten fest, dass die aktive körperliche Interaktion mit der senso-
rischen Umgebung der entscheidende Faktor für die Erholung ist.
Wenn Versuchspersonen die Sinnesanregungen nur passiv erhielten,
erholte ihr Gehirn sich nicht. Der Klient muss »seine eigene Reiz-
quelle« sein. Das Gehirn muss seine Erholung selbst steuern, indem es
270 Anhang B

sich an Reize anpasst und sich selbst mehr Reize verschafft. Niemand
anders kann das für den Klienten tun. Dasselbe gilt für die Therapie
von Kindern mit sensorischen Integrationsstörungen.

Literatur

Clark DL, Kreutzberg JR, Chee FKW (1977) Vestibular stimulation influence on
motor development in infants. Science 196(4295):1228–1229
Gregg CL, Haffner ME, Korner AF (1976) The relative efficacy of vestibular-proprio-
ceptive stimulation and the upright position in enhancing visual pursuits in
neonates. Child Development 47:309–314
Harlow HF (1959) Love in infant monkeys. Scientific American 200:68–74
Harlow HF (1958) The nature of love. American Psychologist 13:673–685
Hunt JM (1976) Environmental programming to foster competence and prevent
mental retardation in infancy. In: Walsh RN, Greenough WT (eds) Environment
as therapy for brain dysfunction. Plenum Press, New York
Kramer M, Chamorro I, Green D, Knudtson F (1975) Extra tactile stimulation of the
premature infant. Nursing Research 24:324–334
Neal M (1968) Vestibular stimulation and developmental behavior of the small
premature infant. Nursing Research Report 3:1–5
Rice RD (1977) Neurophysiological development in premature infants following
stimulation. Developmental Psychology 13:69–76
Rosenzweig MR (1976) Effects of environment on brain and behavior in animals.
In: Schopler E, Reichler RJ (eds) Psychopathology and child development.
Plenum Press, New York
Walsh RN, Cummins RA (1976) Neural responses to therapeutic environments. In:
Walsh RN, Greenough WT (eds) Environment as therapy for brain dysfunction.
Plenum Press, New York
White JL, Labarba RC (1976) The effects of tactile and kinesthetic stimulation on
neonatal development in the premature infant. Developmental Psychobiolo-
gy 9:569–577
271

Anhang C
Therapeutische Ausstattung

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
272 Anhang C

Die folgende Beschreibung von zwei Therapiegeräten fand sich im


Original in 7 Kapitel 10. Wir präsentieren sie hier für Leser, die mehr
darüber wissen wollen, wie Dr. Ayres sich die Verwendung der The-
rapiegeräte in der Behandlung vorstellte. Es kommen sowohl selbst
gefertigte als auch handelsübliche Materialien zum Einsatz. Thera-
peutinnen, die nach dem sensorisch-integrativen Ansatz ausgebildet
sind, analysieren jedes Mal die Möglichkeiten, wie sie die Geräte nut-
zen können, um individuell die Herausforderungen und Probleme
jedes Kindes anzusprechen.

Spezielle Therapiegeräte der SI-Therapie

Wir werden zwei Geräte analysieren, die standardmäßig in der SI-The-


rapie eingesetzt werden. Sie wirken beide einfach, und doch wurden
sie speziell entwickelt, um bestimmte Sinnessysteme anzuregen und
bestimmte Reaktionen auf diese Reize auszulösen. Die Reaktionen
sind oft frühkindliche Bewegungsmuster. Diese Muster sind not-
wendig, damit die komplexeren Reaktionen, die wir später von den
Kindern erwarten, auf einem starken Fundament aufbauen können.

Das Rollbrett

Ein Rollbrett besteht aus einer Fläche aus Holz (oder einem anderen
Material), an der vier Räder montiert sind, die frei rollen und sich in
jede Richtung drehen können. . Abb. 1 zeigt, wie das Rollbrett benutzt
wird. Das Brett ist groß genug, um den mittleren Rumpf des Kindes
zu unterstützen, während sein Kopf, sein oberer Brustkorb und seine
Beine über den Rand hinaus stehen. Oft ist das Rollbrett mit einem
Teppich oder Schaumstoff bezogen, damit man bequem darauf liegen
kann.
Normalerweise benutzen die Kinder das Rollbrett in Bauchlage.
Sie fahren auf dem Boden oder eine Rampe hinunter und strecken die
Körperenden gegen die Schwerkraft. Eine flotte Rollbrettfahrt ist eine
gewisse Herausforderung und ein Riesenspaß.
Die Bauchlage ist die Position, in der normale Säuglinge viele
Halte- und Bewegungsreaktionen entwickeln, die zum Stehen, Ge-
hen und anderen erwachsenen sensomotorischen Leistungen führen.
Mit 4–6 Monaten strecken sich Säuglinge in der Bauchlage gegen die
Schwerkraft – ein entscheidender Schritt in der Entwicklung der sen-
sorischen Integration. Die Fähigkeit, diese Flugzeugposition ohne
Anstrengung zu halten, ist eine klinische Beobachtung, mit der Thera-
peutinnen die Funktion des Gleichgewichtssystems überprüfen. Die
Kräfte, die einem Säugling ermöglichen, sich zu entwickeln, wirken
auch noch bei älteren Kindern. Daher lassen wir die Kinder in der Be-
handlung viele Aktivitäten in Bauchlage tun. Glücklicherweise spie-
len die meisten Kinder gerne in dieser Position.
273
Anhang C

. Abb. 1  Das Rollbrett

Die Bauchlage regt bestimmte Schwerkraftrezeptoren an. Fährt


das Kind die Rampe hinunter, werden durch die Beschleunigung wie-
der andere Schwerkraft- und Bogengangsrezeptoren aktiviert. Beim
Übergang von der Rampe zum ebenen Boden entsteht eine Flut von
vestibulären Informationen, die die Bahnen zu vielen Teilen des Ner-
vensystems aktivieren. Dieser starke Input aktiviert wiederum Refle-
xe, die das Kind zuvor nicht entwickelt hatte. Diese Reflexe halten den
Kopf und die Beine gegen die Anziehung der Schwerkraft hoch. Die
Kontraktion im Nacken und die Bewegung der Augen, die dem Ge-
schehen folgen, senden propriozeptive Impulse an den Hirnstamm,
wo sie mit dem vestibulären Input interagieren. Die Integration dieser
sensorischen Zuflüsse ist sehr hilfreich für die Augenmuskeln und er-
leichtert die visuelle Wahrnehmung.
Diese Impulse sind besonders wichtig, um sensorische und mo-
torische Prozesse im Hirnstamm zu organisieren. Der Hirnstamm
liefert wichtige Informationen über den Bezug des Körpers zum
Raum. Dazu gehört es auch, zu erkennen, wo sich ein Objekt oder ein
Geräusch in Bezug zu uns selbst befindet, damit wir unsere Hand-
lungen auf diese Sinnesinformation abstimmen können. Wenn sich
die visuellen und auditiven Prozesse im Hirnstamm nicht gut mit der
Verarbeitung der Körper- und Schwerkraftempfindungen verbinden,
werden sie sich auch in den Großhirnhälften nicht gut entwickeln.
Die Ganzkörperbewegungen auf dem Rollbrett sowie der Zufluss
und die Verarbeitung der Sinnesinformationen, die mit diesen Be-
wegungen einhergehen, bilden die Grundlage für die höheren Hirn-
leistungen wie Sprache und Lesen. Ganzkörperbewegungen schaffen
274 Anhang C

auch eine Grundlage für die Hand- und Fingerbewegungen, wie sie
für das Schreiben und den Werkzeuggebrauch erforderlich sind.
Kinder mit einer guten sensorischen Integration fahren harmo-
nisch und ohne große Anstrengung mit dem Rollbrett, weil ihnen
die Sinnesempfindungen helfen, ihren Körper gestreckt zu halten.
Kinder mit einem unterempfindlichen Gleichgewichtssystem las-
sen den Kopf hängen und die Füße am Boden schleifen. Sie müssen
sich sehr anstrengen und ermüden rasch, genauso wie sie sich bei
Schularbeiten anstrengen müssen und dadurch rasch ermüden. Für
Kinder mit einem überempfindlichen Gleichgewichtssystem kann
es erschreckend sein, die Rampe hinunterzufahren. Dyspraktische
Kinder haben Schwierigkeiten, ihren Körper auf der Liegefläche zu
positionieren und rutschen leicht vom Rollbrett ab.
Das Rollbrett bietet Sinnesreize und löst motorische Reaktionen
aus, die man im Sitzen oder Stehen nicht erzielen kann. Wenn das
Kind diese Empfindungen und Reaktionen zunehmend beherrscht,
lernt sein Gehirn, wie es sensorische Aktivität moduliert, und ent-
wickelt ein genaueres Körperschema. Zum Glück macht Rollbrettfah-
ren Spaß, denn eine einzelne Fahrt bewirkt noch nicht viel in einem
unorganisierten Nervensystem. Diese Kinder brauchen viele, viele
Fahrten: Einerseits sollen die neuralen Verbindungen zwischen dem
vestibulären System und all den Stellen, an denen Gleichgewichts-
impulse benötigt werden, gestärkt werden; andererseits sollen die
bahnenden und hemmenden Kräfte, die an diesen Verbindungsstel-
len aktiv sind, neu geordnet werden. Die Therapeutin kann das Kind
zu weiteren Fahrten animieren, indem sie ein Stück vor der Rampe
einen Turm (z.B. aus Pappkartons) aufbaut, den das Kind umfahren
kann. Das Kind fühlt sich stark, wenn es den Turm umstößt, und es
macht die Erfahrung, in seiner Umwelt etwas bewirken zu können.
[Anm.  d.  Übersetzerin: Dieser spezielle Aspekt des Selbstbewusst-
seins wird heute als »Selbsteffizienz« bezeichnet.]. Diese Erfahrungen
möchte und braucht jedes Kind.
Wenn das Kind die Herausforderung, die Rampe hinunterzufah-
ren, gemeistert hat und diese Neuheit beginnt nachzulassen, stellen
wir ihm andere Herausforderungen, die komplexere sensorische In-
tegration und anpassende Reaktionen (einschließlich Bewegungspla-
nung) erfordern. Die Therapeutin kann z.B. einen Tunnel aufbauen,
durch den das Kind mit dem Rollbrett durchfährt, oder einen Ball an
einem Seil von der Decke hängen lassen, auf den das Kind schlagen
muss, wenn es vorbeifährt. Schauen allein reicht nicht aus, um diese
Aufgaben durchzuführen; der vestibuläre Input durch das Rollbrett-
fahren hilft, den Tunnel oder den Ball in Bezug zum eigenen Körper
wahrzunehmen.
Bei einem normalen Kind verknüpft das Gehirn die vestibulären,
propriozeptiven und taktilen Empfindungen, so dass das Kind spü-
ren kann, wie es etwas machen muss. Wenn diese Integration nicht
oder zu langsam geschieht, spürt das Kind nicht, wohin es fährt, oder
wie es das Rollbrett steuern kann. Dadurch trifft es den Ball nicht
275
Anhang C

oder stößt gegen den Tunnel. Durch oftmalige Wiederholung dieser


Rollbrettaktivitäten bekommt sein Gehirn Sinnesinformationen von
jedem Körperteil. Diese Empfindungen und die Bewegungsbefehle
werden im Gehirn gespeichert und tragen zu einem immer detaillier-
ter werdenden Körperschema bei. Die internen sensorischen »Land-
karten«, die sich auf dem Rollbrett entwickeln, helfen dem Kind zu
Hause und in der Schule, seine Bewegungen zu planen. Eine verbes-
serte sensorische Integration bewirkt auch, dass die Bereiche des Ner-
vensystems besser funktionieren, die die Gedanken und Emotionen
organisieren. Außerdem fühlt es sich aufgrund der Erfolgserlebnisse
einfach wohler in seiner Haut.
Vestibuläre und propriozeptive Reize, die beim Rollbrettfahren
entstehen, helfen taktil überempfindlichen Kindern, ihr Berüh-
rungssystem zu regulieren. Sie reduzieren Hyperaktivität und berei-
ten das Gehirn für zielgerichtete und zweckmäßige Aktivitäten vor.
Nach einer Aktivität mit dem Rollbrett sind die Kinder oft für einige
Zeit ruhiger und konzentrierter.
Für Eltern kann es schwierig sein, zu glauben, dass Rollbrettfah-
ren ihrem Kind wirklich hilft, besser zu sprechen, zu lesen oder sich . Abb. 2  Die Rollenschaukel
besser zu verhalten. Oberflächlich betrachtet scheint es offensichtlich,
dass nur Sprachtherapie, Leseförderung oder mehr Disziplin helfen.
Das Gehirn ist jedoch so komplex, dass die inneren Abläufe nie offen-
sichtlich sind. Wenn das Kind schlecht spricht, liest oder sich schlecht
verhält, weil das Gehirn nicht gut funktioniert, ergibt es durchaus
Sinn, die Grundlagen zu verbessern, damit das Gehirn besser arbei-
ten kann. Wenn das Kind nach einer ausgiebigen und guten Therapie
noch immer Schwierigkeiten hat, dann ist es angebracht, es mit einer
Lernförderung zu unterstützen.

Die Rollenschaukel

Die Rollenschaukel hat einen festen Kern, der mit Schaumstoff und
einer Stoffhülle bezogen ist. Sie ist etwa 1½ Meter lang und hat einen
Umfang von knapp 1 Meter. An beiden Enden der Rolle sind Seile, mit
denen die Schaukel aufgehängt werden kann (.  Abb. 2). Die Kinder
legen sich entweder mit dem Bauch auf die Schaukel und umklam-
mern die Rolle mit Armen und Beinen, oder sie sitzen im Reitsitz
darauf. Sie können mit den Seilen selbst Schwung holen, oder die
Therapeutin gibt ihnen Schwung.
Sich in Bauchlage an die Unterseite der Rolle rutschen zu lassen
und daran zu hängen (wie ein Faultier), erfordert ein gutes Beuge-
muster. Beugung (Flexion) ist die Fähigkeit, die Arme und Beine an-
zuwinkeln. Das Beugemuster ist im Nervensystem tief verankert.
Sichtbar wird die Bedeutung bei Babyaffen, die sich beugen müssen,
um sich an ihre Mutter anzuklammern. Anklammern ist die erste
Ganzkörperbewegung, die ein Säugling macht, und sie liefert viele
Bausteine für die Entwicklung sensomotorischer Funktionen. Bei
276 Anhang C

Kindern mit Entwicklungsdyspraxie ist das Beugemuster nicht gut


entwickelt. Wenn sie sich an die Rollenschaukel klammern, holen sie
damit einige grundlegende Entwicklungsschritte nach, und sie wer-
den leichter die Fähigkeit entwickeln, Bewegungen zu planen. Das
Beugemuster hängt besonders von der Integration von Berührungs-,
Gleichgewichts- und propriozeptiven Informationen ab.
Durch das Umfassen der Rolle erhält das Kind viele Reize: taktile
Reize von der Rollenoberfläche und starke propriozeptive Reize von
den Gelenken und Muskeln, die sich kontrahieren, damit es sich auf
der Rolle halten kann, und vestibuläre Reize durch das Schaukeln. Die
Aufregung, die vom limbischen System und der Formatio reticularis
produziert wird, hilft dem Kind, sich weiter festzuklammern, wäh-
rend die Rollenschaukel durch die Luft fliegt. Therapeutin und Kind
können spielen, dass die Rollenschaukel ein Wildpferd ist, ein Boot
auf hohen Wellen oder ein Ritt auf dem Rücken eines Wals. Manche
Kinder wollen das Gefühl haben, die Herausforderung zu meistern,
und sie wollen schneller geschaukelt werden, damit sie herausfinden
können, wie lange sie es schaffen, an der Rolle zu hängen.
Auf der Rollenschaukel wie auf einem Pferd zu reiten fördert die
Halte- und Gleichgewichtsreaktionen. Wenn das Kind sich bei einer
Aktivität nicht selbst steuern kann, hilft ihm die Therapeutin, bis sein
Gehirn besser organisiert ist. Sie kann sich mit dem Kind auf die Rolle
setzen und spielen, dass sie »zwei Cowboys sind, die nach Mexiko rei-
ten«, oder eine andere aufregende Geschichte. In dieser Position kann
die Therapeutin die Schaukel bewegen und das Kind an den Hüften
halten, damit es nicht hinunterfällt. Die Bewegung der Rollenschau-
kel fordert Gleichgewichtsreaktionen heraus. Der vestibuläre Input
macht es für das Kind leichter, diese Reaktionen zu entwickeln. Die
Therapeutin beobachtet und spürt aufmerksam, wie gut das Kind sein
Gleichgewicht halten kann. Sobald seine Gleichgewichtsreaktionen
besser werden, lässt sie nach, das Kind an den Hüften zu kontrollie-
ren, bis das Kind die volle Kontrolle übernimmt. Das Kind muss die
Selbstständigkeit schrittweise lernen und braucht im richtigen Mo-
ment das richtige Maß an Unterstützung.
Bei Kindern, die sicher auf der Rollenschaukel sitzen können,
kann die Therapeutin die Schaukel in alle Richtungen bewegen, um
möglichst viele vestibuläre Rezeptoren zu aktivieren. Wenn das Kind
Halte- oder Gleichgewichtsreaktionen entwickeln soll, darf man es
nicht so stark schaukeln, dass hinunterfällt. Für dieses Kind wäre Fal-
len keine anpassende Reaktion, und es würde seinem Gehirn nicht
helfen, irgendeine Funktion zu verbessern. Es muss Erfahrungen
machen, dass sein Körper korrekt arbeitet, und dass es die Situation
meistert. Andererseits wollen manche Kinder auf den Boden fallen
und den tiefen Druck und die emotionale Aufregung spüren, wenn
sie auf den Matten landen. Wenn Stürze die Entwicklung des Gehirns
fördern, dann bereiten wir die Umgebung so vor, dass das Kind ohne
Verletzungen von der Schaukel abstürzen kann.
277
Anhang C

Die Rollenschaukel kann auch zur Verbesserung der Bewegungs-


planung verwendet werden. Die Therapeutin verstreut Schaumgum-
miteile als »Fische« auf den Matten, die den Boden unter und um die
Rollenschaukel abdecken. Dann schaukelt sie das Kind, das »irgend-
wie« an der Rolle hängt und zum Boden greift, um die »Fische« zu
fangen. Die taktilen, propriozeptiven und vestibulären Informationen
helfen dem Kind, seine Bewegungen bei diesem »Angelausflug« zu
planen. Der Spaß an dieser Aktivität regt den inneren Antrieb an, der
so wichtig für die neuronale Organisation ist.
279

Anhang D
Fragen von Eltern – und die Antworten

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
280 Anhang D

Was ist sensorische Integration?  Sensorische Integration (SI) ist die


Verarbeitung von Sinnesinformationen, damit wir sie nutzen kön-
nen. Sensorische Integration ist beides, eine Theorie und ein Bezugs-
rahmen, innerhalb derer Prinzipien für die Behandlung entwickelt
wurden. Schwerpunkt der SI-Theorie ist die neurobiologische Fähig-
keit, Sinnesinformationen zu verarbeiten und zu integrieren, und wie
diese Fähigkeit das sinnvolle Handeln in vielen verschiedenen Um-
gebungen unterstützt. Durch die derzeitigen Forschungen wird die
SI-Theorie ständig verfeinert und bestätigt.

Warum hat mein Kind solche Schwierigkeiten während einer Mahl-


zeit auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben oder überhaupt still zu sitzen? 
Therapeutinnen beobachten oft, dass Kinder mit Schwächen der ves-
tibulär-propriozeptiven Verarbeitung Schwierigkeiten haben, sich
gegen die Schwerkraft aufrecht zu halten. Die Kinder tun sich leich-
ter, wenn sie regelmäßig Bewegungspausen einlegen dürfen, oder
wenn sie auf einer instabilen Unterlage wie einem Ball sitzen dürfen,
so dass sie sich beim Sitzen bewegen können. Auch wenn es un-
logisch scheint, dass ein müdes Kind sich körperlich betätigen soll,
funktioniert es.

Warum möchte mein Kind seine Hausaufgaben nicht machen? Wir ha-
ben viel an seiner Handschrift gearbeitet, so dass das Schreiben jetzt
kein Problem mehr ist, aber dafür vergisst es, welche Aufgaben es hat,
hat nie seine Dinge beisammen und muss sich sehr anstrengen, um
mit allen Arbeiten fertig zu werden  Es kann sein, dass Ihr Kind Pro-
bleme mit der Praxie oder Bewegungsplanung hat. Wenn Ihr Kind
normale Bewegungsfertigkeiten hat, aber Hilfe braucht, um sich zu
organisieren, kann das darauf zurückzuführen sein, dass es Schwä-
chen hat, die Aufgabe zu planen, in einzelne Schritte aufzuteilen und
sich vorzustellen, wie man sie durchführt. Sobald es die Struktur be-
kommt, schafft es die Aufgabe, allerdings oft nur schrittweise. Es ist
anstrengend, seinen Alltag auf diese Weise zu bewältigen, und die
Kinder sind oft schnell erschöpft. Behandlungsstrategien helfen dem
Kind, sich Handlungsabläufe vorzustellen, die erforderlichen Mate-
rialien und Schritte zu ordnen (sequenzieren) und den Plan erfolg-
reich umzusetzen.

Warum ist mein Kind das einzige, das auf dem Spielplatz auf dem
Schoß sitzt, anstatt mit den anderen Kindern herumzulaufen?  Mögli-
cherweise fühlt sich Ihr Kind unsicher, wenn es sich im Raum bewegt,
oder es kann seine Bewegungen nicht gut genug organisieren, um sich
auf die raschen und unvorhersehbaren Veränderungen im Verhalten
anderer Kinder oder der Spielplatzgeräte anzupassen. Es ist wichtig,
dass Sie als Eltern Ihrem Kind die nötige Unterstützung geben, damit
es sich sicher fühlt, während es seine Spielerfahrungen mit Rutschen,
Schaukeln, Ball- und Fangenspielen mit anderen Kindern macht.
281
Anhang D

Warum sind meinem Kind Socken oder neue Kleidungsstücke so un-


angenehm? Warum versetzt Haarewaschen/-schneiden mein Kind in
Aufregung?  Ihr Kind kann besonders empfindlich gegenüber Berüh-
rungen sein, so dass es bestimmte Materialien und Berührungser-
fahrungen wirklich als unangenehm oder sogar schmerzhaft erlebt.
Meistens ziehen die Kinder sich zurück, aber wenn sie den Eindruck
haben, dass ihnen jemand weh tut – selbst wenn es unabsichtlich
ist – kann es vorkommen, dass sie ausrasten. Als Vorbeugung ist es
sehr wichtig, das Kind auf die Berührung vorzubereiten und ihm zu
sagen, wie die Berührung sein wird. Es wird auch helfen, wenn Sie Ihr
Kind bequeme Kleidung tragen lassen. Geben Sie ihm einen Spiegel,
wenn seine Haare gewaschen oder geschnitten werden, damit es se-
hen kann, was passiert.

Warum wird mein Kind so frustriert und bringt schlechte Leistungen,


wo es doch intelligent und wirklich bemüht und arbeitsam ist?  Mit
Willenskraft kann man kaum ausgleichen, was das Nervensystem
nicht leicht und automatisch macht. Manche Kinder wenden all ihre
Energie auf, um in der Schule mitzukommen; und sobald sie zu Hause
angekommen sind und sich sicher fühlen, bekommen sie einen Wut-
ausbruch. Sie brauchten den ganzen Tag lang ihre Energie dafür, ihre
Balance zu erhalten, sich gegen die Schwerkraft durchzusetzen, ihre
Augen zu bewegen und daran zu denken, was als Nächstes kommt.
Daher haben sie weniger Energie für andere Dinge, wie aufzupassen,
was gerade gesagt wird, oder wo sie ihren Pullover oder ihr Pausen-
brot hingelegt haben. Diese Leistungen sollten keine bewusste An-
strengung und Willenskraft erfordern.
Natürlich ist Willenskraft eine gute Eigenschaft, aber sie kann die
Sinnesverarbeitung nicht ersetzen. Sensorische Integration macht
viele Dinge leichter, weil wir sie automatisieren und uns nicht mehr
darauf konzentrieren müssen – wie aufrecht zu sitzen oder einen Stift
richtig zu halten. Mit einer guten sensorischen Integration kann das
Kind sich auf mehrere Dinge gleichzeitig konzentrieren, anstatt im-
mer nur darauf, was unmittelbar mit seinem Körper geschieht. Es
kann schon helfen, sich anzustrengen, doch es löst das eigentliche
Problem nicht. Intelligenz ist auch nicht genug. Viele Kinder lesen
besser als in ihrem Alter erwartet wird, aber sie können die Verschlüs-
se an ihrer Kleidung nicht zumachen und keinen Ball fangen. Diese
Schwierigkeiten fallen auch anderen Kindern auf, so dass sie nicht nur
zu sensomotorischen, sondern auch zu sozialen Problemen führen.

Wie weiß ich, ob mein Kind eine sensorische Integrationsstörung


hat?  Als Eltern müssen Sie die Hilfe von Fachkräften suchen, die
eine abgeschlossene Zusatzausbildung in Sensorischer Integrations-
therapie haben und sensorisch-integrative Defizite genau erkennen
können. Untypische Reaktionen auf Sinnesreize – entweder eine in-
tensive Reizsuche oder aber Vermeidung – sind oft die Hauptmerk-
male dieser versteckten Störung. Manche Kinder haben aber derart
282 Anhang D

subtile Lern- und Verhaltensprobleme, dass sie unentdeckt bleiben


und falsch interpretiert werden können. Den Ursachen dieser Schwie-
rigkeiten können sensorische Integrationsstörungen zugrunde liegen.

Haben Kinder mit einer Diagnose aus dem autistischen Spektrum (ein-
schließlich Asperger Syndrom und tief greifende Entwicklungsstörun-
gen) sensorische Integrationsstörungen?  Die meisten Kinder mit
dieser Diagnose zeigen ungewöhnliche Reaktionen auf Sinnesreize
oder eine schlechte Sinnesverarbeitung. Zurzeit sind Störungen der
Sinnesverarbeitung aber kein definierendes Merkmal dieser Diagno-
sen. Für Kinder, die untypische sensorische Reaktionen zeigen – wie
wenig Bewusstsein für bestimmte Reize (z.B. hohe Schmerztoleranz),
Überempfindlichkeiten auf bestimmte Reize (z.B. Berührungen oder
Geräusche), verlangsamte oder fehlerhafte Verarbeitung von Sinnes-
informationen (besonders in der Körper- und Raumwahrnehmung) –
ist eine Befunderhebung und Behandlung aus sensorisch-integrativer
Perspektive angezeigt.
Kinder mit diesen Diagnosen haben zusätzliche Probleme, die
nicht allein durch die sensorische Verarbeitungsstörung erklärt wer-
den können. Sie profitieren oft von einem multidisziplinären Ansatz,
zu dem Sonderpädagogik, Ergotherapie, Logopädie, soziales Kompe-
tenztraining, biomedizinische und verhaltenstherapeutische Behand-
lungen gehören.

Warum sind die Mahlzeiten mit meinem Kind so anstrengend?  Für


chaotische Mahlzeiten können verschiedene Faktoren verantwort-
lich sein. Ihr Kind kann ungewöhnlich empfindlich auf Geruch, Ge-
schmack und Beschaffenheit des Essens reagieren. Dadurch kann es
Kochgerüche kaum ertragen und isst auch nur sehr ausgewählte Nah-
rungsmittel, die sich in seinem Mund angenehm anfühlen. Manche
Kinder patzen, weil sie entweder nicht merken, dass sie etwas ver-
schütten, oder weil sie nicht mit Besteck umgehen können. Es kann
sein, dass sie quengeln und Schwierigkeiten haben, am Tisch sitzen zu
bleiben. Diese Schwierigkeiten nehmen normalerweise zu, wenn Sie
im Restaurant essen, oder wenn Ihr Kind müde oder hungrig ist. Ver-
suchen Sie, Ihrem Kind eine kleine Pause mit einem gesunden Imbiss
und Gelegenheit zur Bewegung anzubieten, bevor Sie das Essen vor-
bereiten oder sich zu Tisch setzen.
Die Therapie hilft Kindern mit diesen Problemen, eine Umwelt
mit vielen Sinneserfahrungen einschließlich Gerüchen und Aromen
zu tolerieren, ihre feinmotorischen Fähigkeiten zu verbessern und
ihre Ausdauer im Sitzen zu steigern. Diese Fähigkeiten erleichtern
den Kindern viele wichtige Alltagsbeschäftigungen.

Wodurch sind sensorische Integrationsstörungen verursacht?  Die


Ursachen dieser Störung sind unbekannt, obwohl verschiedene Fak-
toren wie schlechte Ernährung, Chemikalien in Lebensmitteln oder
in der Luft, Probleme bei der Geburt oder eine genetische Veranla-
283
Anhang D

gung die Entwicklung eines Kindes gefährden und zu Problemen in


der sensorischen Integration führen können. Gesellschaftliche Trends
können sensorisch-integrative Probleme verschlimmern, z.B. wenn
Kinder mehr Zeit vor dem Fernseher oder Computer verbringen und
weniger Freiräume haben, wo sie gefahrlos erkunden, rennen, klettern
und springen können. Eine saubere Umwelt mit reichlichen Gelegen-
heiten für körperliches Spiel kann zwar keine sensorisch-integrativen
Probleme verhindern, fördert aber die Entwicklung des Kindes.

Was ist das Besondere der Sensorischen Integrationstherapie?  Es


kommt auf die Ergebnisse der fachkundigen Befunderhebung aus
sensorisch-integrativer Perspektive an, ob SI-Strategien nützlich sein
können. Wird eine Sensorische Integrationstherapie empfohlen, so
wird diese von einer Ergotherapeutin mit SI-Weiterbildung durchge-
führt, gelegentlich auch von einer Physiotherapeutin oder Logopädin
mit SI-Weiterbildung. Die Behandlung ist spielerisch, kindzentriert
und zielt speziell darauf ab, grundlegende Sinneserfahrungen durch
Berührung und Bewegung zu vermitteln, die dem Kind helfen, seine
eigenen Handlungen in Bezug zu den Menschen in seiner Umgebung
zu planen. Dafür ist eine spezielle Ausstattung der Therapieräume
notwendig, die dem Kind die Möglichkeit bietet, gefahrlos zu erfah-
ren, wie sich sein Körper durch den Raum bewegt, und die Materia-
lien und Geräte mit körperlichem Einsatz für immer schwierigere
Herausforderungen vorzubereiten.

Bietet unser Schaukelgerüst im Garten oder der Spielplatz nicht dassel-


be?  Ihr Kind hat Glück, dass ihm diese Geräte zur Verfügung stehen,
aber es gibt einen großen Unterschied zwischen dem, was Ihr Kind
zu Hause tut, und dem, was es in der Therapie tut. Zu Hause macht
es Dinge, die es alleine kann, und sie bringen es ein bisschen weiter.
Bei den meisten Kindern sind diese Erfahrungen für ihre Entwick-
lung ausreichend. Bei Kindern mit einer sensorischen Integrations-
störung beeinträchtigt die schlechte Sinnesverarbeitung ihre Fähig-
keit, genau zu wissen, wo und wie sich ihr Körper bewegt, und wie
man mit anderen Kindern spielt. Die Therapeutin hilft dem Kind,
im Spiel die Sinnesinformationen geordnet zu verarbeiten, größere
Risiken einzugehen und seine Fähigkeiten zu verbessern. Bieten Sie
Ihrem Kind aber auf jeden Fall viele Gelegenheiten zum Schaukeln
und Klettern!

Warum wirkt es, als ob mein Kind in der Therapie einfach spielt an-
statt zu arbeiten?  In der Therapie machen die Kinder viele Dinge,
die ihnen taktile, vestibuläre und propriozeptive Sinneserfahrungen
liefern. Diese Sinneserfahrungen kommen in jedem normalen Spiel
vor. Kinder mit sensorischen Verarbeitungsstörungen brauchen oft
intensivere oder weniger intensive Sinneserfahrungen als im gewöhn-
lichen Spiel. Wären die Kinder in der Lage, sich ganz von sich aus
durch gewöhnliches Spielen normal zu entwickeln, dann bräuchten
284 Anhang D

sie keine Therapie. In der Behandlung hilft ihnen die Therapeutin,


sich auf eine Art und Weise mit der Umwelt auseinanderzusetzen, die
die Funktion ihres Gehirns verbessert.
Die Therapeutin weiß bei jedem Kind, das sie behandelt, welche
sensorischen und motorischen Funktionen schwach entwickelt sind.
Sie versucht, das Kind mit Aktivitäten zu beschäftigen, die seine Be-
dürfnisse erfüllen, und die ihm anpassende Reaktionen abverlangen,
die ihm sein Leben erleichtern werden. Würde sie die therapeutischen
Aktivitäten nicht spielerisch gestalten, wären die Kinder nicht mit
dem Enthusiasmus dabei, der notwendig ist, damit die Behandlung
wirksam ist. Niemand kann das Gehirn eines Kindes für das Kind
organisieren. Das muss es selbst tun. Das kann es aber nur, wenn es
sich sinnvoll beschäftigt – mit etwas, das es als Spiel empfindet. Es
ist eine hervorragende Leistung der Therapeutin, wenn sie es schafft,
dass die Behandlung natürlich und spielerisch aussieht. Für Sie sieht
es wie Spiel aus, aber tatsächlich arbeiten sowohl die Therapeutin als
auch das Kind sehr hart. Alle Aktivitäten haben einen Zweck und sind
auf ein Ziel gerichtet. Und das oberste Ziel ist die Selbstentwicklung
oder Selbstorganisation des Kindes.

Was ist Selbstorganisation oder Verhaltensorganisation?  Ein Kind


mit einer guten Selbst- oder Verhaltensorganisation kann sich eine
Zeitlang auf eine konstruktive Art selbst beschäftigen. Zeichen für
eine schlechte Selbstorganisation sind, wenn das Kind eine Sache be-
ginnt und dann sofort zu etwas anderem wechselt; wenn sein Spiel
nicht zweckmäßig und zielgerichtet (produktiv oder konstruktiv) ist,
oder wenn es Bausteine wirft anstatt damit zu bauen. Kinder, die stän-
dig Überwachung und Unterstützung brauchen, haben wahrschein-
lich keine gute Selbstorganisation oder Selbstregulation. Sie brauchen
laufend Anregungen, Anleitung und die Anwesenheit eines Erwach-
senen, der ihre Aktivitäten für sie strukturiert, Übergänge zwischen
verschiedenen Aktivitäten schafft und weiß, wie und wann man mit
anderen kommuniziert. Wenn Kinder die nötigen Voraussetzungen
haben, lernen sie im Spiel – vor allem in sozialen Spielen – ihr Ver-
halten zu organisieren.

Wenn Sie mit sensorisch-integrativen Strategien den inneren An-


trieb des Kindes hervorlocken, heißt das, dass das Kind die Kontrol-
le hat?  Zur Kunst der Therapeutin gehört es, Anforderungen zu
finden, die für das Kind sowohl therapeutisch als auch vergnüglich
sind. Aktivitäten, die die sensorischen Bedürfnisse des Kindes abde-
cken und das Kind motivieren, sich immer mehr anzustrengen, sind
aus therapeutischer Sicht ideal. Das Kind »arbeitet« sich zu seinem
eigenen inneren Antrieb zur Entwicklung hin. Die Therapeutin baut
die Fähigkeiten des Kindes schrittweise auf, indem sie gerade so viel
Struktur anbietet wie nötig, damit das Kind die Aktivität erfolgreich
durchführen kann. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ziellos he-
285
Anhang D

rumrennen ist nicht dasselbe wie seinem inneren Antrieb folgen, weil
es keine organisierende Wirkung auf das Gehirn des Kindes hat.

Kann die sensorisch-integrative Ergotherapie eine medikamentöse


Behandlung bei Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen er-
setzen?  Die Strategien der Sensorischen Integrationstherapie bieten
einen natürlichen, medikamentenfreien Weg, diese Probleme zu be-
handeln. Ein guter Austausch zwischen allen Fachkräften, die mit
Ihrem Kind arbeiten, ist wesentlich, um zu bestimmen, ob Ihr Kind
eine oder mehrere Therapien braucht, und ob ärztliche Maßnahmen
wie Medikamente, Nahrungsmittelergänzungen, eine spezielle Diät
oder eine Allergiebehandlung angezeigt sind.

Wachsen die Kinder nicht aus diesen Problemen heraus?  Nein. Kin-
der mit sensorischen Integrationstörungen wachsen nicht aus ihren
Problemen heraus. Mit viel Übung und Anstrengung können sie
Splitterfertigkeiten« (7  Kap. 4) erwerben, mit denen sie ihre Schwä-
chen in der Sinnesverarbeitung kompensieren können und dadurch
die Störung verdecken. Kinder mit schlechten Halte- und Augenre-
aktionen können schon lernen, Basketball zu spielen und zu schrei-
ben, aber sie müssen dabei gegen große, grundlegende Schwierig-
keiten ankämpfen. Splitterfertigkeiten zu erlernen ist der schwierige
Weg, mit den Problemen umzugehen, und lässt den Kindern weniger
Energie für andere Dinge. Das kann so weit gehen, dass betroffe-
ne Kinder Aktivitäten ablehnen, die anderen Spaß machen, einfach
weil sie ihnen zu schwer fallen. In der Therapie versuchen wir, die
Grundlagen zu verbessern, so dass dem Kind die darauf aufbauenden
Funktionen leichter fallen. Dies ist möglich, wenn sein Gehirn besser
integriert ist.

Warum muss ich mein Kind jedes zweite Mal schreiend aus dem Super-
markt oder dem Restaurant tragen?  Wahrscheinlich funktioniert das
Nervensystem Ihres Kindes nicht so gut wie bei den meisten ande-
ren Kindern. Die Therapie ist oft sehr wirksam, wenn es darum geht,
dass die Kinder bei Ausflügen in einer Gruppe mitmachen können.
Durch die direkte Arbeit mit dem Kind, den Informationsaustausch
mit der Familie und gemeinsam erarbeitete Strategien kann der Fa-
milienalltag leichter bewältigt werden – wie z.B. Besorgungen ohne
Drama zu erledigen. Das macht das Leben für die ganze Familie
leichter.

Wie kann ich meinem Kind helfen, damit es besser mit anderen zu-
rechtkommt?  Das Wichtigste, das Sie für Ihr Kind tun können, ist,
es spüren zu lassen, dass Sie es lieben und akzeptieren – so wie es ist.
Wenn das Kind sich zu Hause geliebt und angenommen fühlt, kann
es ein Gefühl des Selbstvertrauens entwickeln. Dieses Selbstvertrauen
hilft ihm mehr als irgendetwas anderes, Beziehungen zu Gleichalt-
rigen herzustellen und mit dem Leben im Allgemeinen zurechtzu-
286 Anhang D

kommen. Wenn Ihr Kind gerade einen schlechten Tag hat, tun Sie
nicht, als ob nichts wäre. Erkennen Sie an, dass es sich schlecht fühlt,
und suchen Sie so sachlich wie möglich eine Aktivität, die Ihrem Kind
Erfolgserlebnisse bringt.
Manche Kinder profitieren von einem speziellen sozialen Kompe-
tenztraining, in dem konkrete Strategien vermittelt werden, wie man
kommuniziert und miteinander umgeht. Diese Strategien können
den Kindern helfen, subtile und häufig unbewusste soziale Verhal-
tensweisen und Strategien zu erlernen, die sie einsetzen können, um
Freundschaften zu schließen und zu erhalten.

Welche Spielsachen sind für mein Kind besonders geeignet?  Geeig-


net sind große Dinge wie Rutsche, Schaukel, Wippe, Stelzen, Fahr-
rad, Leiterwagen, Klettergerüst und Trampolin wie auch spezielle
Geräte, die Sie in der Ergotherapie kennenlernen, wie Schaukeln aus
einem Reifenschlauch oder einer elastischen Hängematte, Matratzen,
Kissen oder ein Tunnel. Zu Hause bieten sich Bausteine und ande-
re Konstruktionsmaterialien an. Spielsachen, mit denen man nichts
aktiv tun kann, sind die schlechteste Wahl. Dinge, die die Phantasie
anregen – wie Verkleidungen und Handpuppen – sind wunderbar.
Je einfacher ein Spielzeug ist, desto mehr Möglichkeiten bietet es,
auf verschiedenste Art damit zu spielen. Die besten Spielsachen sind
oft Haushaltsartikel oder selbst hergestellte Dinge aus preisgünstigen
Materialien.

Wie kann ich mein Kind dazu bringen, weniger fernzusehen und auf
dem Computer zu spielen? Das sind die einzigen Möglichkeiten, wie
ich es beschäftigen kann, um selbst etwas erledigen zu können  Mit
dem Computer umgehen zu können, kann für die Zukunft des Kin-
des durchaus nützlich sein. Leider geht die Zeit, die Ihr Kind am
Computer verbringt, auf Kosten der Zeit, die es mit aktivem senso-
motorischen Spiel verbringen kann. Aktives Spiel ist sehr wichtig für
die kindliche Entwicklung, und ein Kind braucht mehr Spiel als Com-
puterkenntnisse. Das Geheimnis liegt darin, Maß zu halten. Mögli-
cherweise funktioniert das nur über Verhandlungen mit Ihrem Kind,
wie viel Zeit es mit welcher Aktivität verbringt. Für eine ½ Stunde
am Computer muss das Kind auch eine ½ Stunde draußen spielen
und schauen, wie es sich selbst unterhalten kann – mit körperlichen
Aktivitäten, mit Gymnastik, damit, seine Kraft- und Ausdauerleis-
tungen zu steigern, mit sensomotorischen Aktivitäten mit anderen
Kindern oder damit, soziale Kontakte einzugehen. Wenn Sie die Zeit
gut einteilen, könnte Ihr Kind – nachdem es gerade noch eine Weile
auf dem Trampolin herumgehüpft ist –nun am Computer spielen,
während Sie das Abendessen zubereiten oder einen wichtigen Tele-
fonanruf erledigen.

Was können wir zu Hause tun?  Zuerst müssen Sie die Probleme Ihres
Kindes verstehen. Denken Sie sich sensorische Strategien aus, die
287
Anhang D

vergnüglich sind und erwünschtes Verhalten fördern. Schaffen Sie


Gelegenheiten für sensomotorisches Spiel. Das kann erfordern, dass
Sie Möbel verschieben und Matratzen, große Kissen und Bohnen-
oder Kirschkernsäckchen vorbereiten. Sie können auch ein Reck in
einem Türrahmen montieren. [Anm. d. Übersetzerin: Türrecks gibt
es in Kombination mit einer Schaukel, einem Trapez oder Ringen
zu kaufen.] In der Badewanne können Sie Ihrem Kind verschiedene
taktile Spielsachen geben, wie Bürsten, Malseifen und kleine Dosen
und Fläschchen, mit denen es Wasser ausgießen und umleeren kann.
Strukturen und Routinen ein, die Ihrem Kind Sicherheit geben.
Zusätzlich können Sie Ihrem Kind Übersicht und Vorhersehbarkeit
durch Übersichts- oder Ablaufpläne (z.B. einen Tages- oder Wochen-
plan) geben, in die Sie laufende und einmalige Ereignisse in Wörtern
oder Bildern darstellen. Lassen Sie Ihr Kind vor und nach der Mahl-
zeit und vor den Hausaufgaben eine Bewegungspause machen. Stellen
Sie sicher, dass Ihr Kind eine hochwertige, ausgewogene Ernährung
und ausreichend Schlaf bekommt.
Um das Kind zu beruhigen, wenn es angespannt und aufgeregt
ist, können Sie ihm unter der Kleidung Kompressionskleidung anzie-
hen [Anm. d. Übersetzerin: z.B. als Medizinprodukt aus der Verbren-
nungsrehabilitation erhältlich, Surf- oder Tauchanzüge aus Neopren;
eng anliegende, elastische Gymnastikbekleidung; enge Leggings oder
enge Badebekleidung]. Es kann auch beruhigend wirken, wenn Sie
Ihrem Kind für die Nacht einen lockeren Seidenpyjama anziehen,
oder wenn Sie es in eine elastische Decke einwickeln anstatt es mit
einer normalen Bettdecke zuzudecken. Bei manchen Kindern wirkt
Flanellbettwäsche beruhigend.
Schenken Sie Ihrem Kind viel Aufmerksamkeit, vor allem in posi-
tivem Zusammenhang! Umarmen Sie es liebevoll, schenken Sie ihm
ein Lächeln, massieren Sie seinen Rücken, und verwöhnen Sie es mit
all den liebevollen Gesten, die Eltern ganz natürlich einsetzen.

Was kann man im Kindergarten und in der Schule tun?  Kinder ge-
deihen am besten, wenn ein Gleichgewicht zwischen Struktur und
Freiheit herrscht. Stellen Sie sicher, dass die Pädagoginnen Ihres Kin-
des seine sensorische Integrationsstörung versteht. Ihre Therapeutin
sollte mit den Pädagoginnen zusammenarbeiten. Dadurch können
förderliche Aktivitäten in den Kindergarten- oder Schulalltag inte-
griert werden, sei es vor Unterrichtsbeginn, beim Anstellen in einer
Zweierreihe, auf dem Spielplatz, während der Mahlzeiten und auf
dem Weg von einem Raum zum anderen oder zum Bus. Viele Kinder
brauchen sensorische Pausen, um ihre Aufmerksamkeit aufrechtzu-
erhalten. Die Therapeutin verfügt über ein Repertoire von Ideen und
Strategien, die Ihr Kind anwenden kann, um seine Leistungsfähigkeit
zu steigern, ohne den Unterricht zu stören.

Was kann ich tun, um meinem Kind einen guten Start zu ermögli-
chen?  Sie können in dem Moment beginnen, in dem Sie wissen,
288 Anhang D

dass Sie schwanger sind. Reduzieren Sie Stress, und nehmen Sie nur
gesunde und natürliche Nahrung zu sich. Geben Sie auf sich selbst
Acht. Setzen Sie sich in einen Schaukelstuhl, wenn Sie Gelegenheit
haben. Schaukeln ist in jedem Lebensalter eine angenehme Art, sich
zu entspannen und das Gleichgewichtssystem anzuregen. In der
Schwangerschaft kann es einerseits eine besonders gute Entspan-
nung sein, andererseits auch eine Vorsorgemaßnahme für Ihr Kind.
Auch klassische Musik kann sowohl für Sie als auch für Ihr unge-
borenes Kind beruhigend wirken. Lange Spaziergänge, frische Luft
und Entspannungsmassagen tun Mutter und Kind gut. Auch wenn
diese Vorschläge angesichts Ihres vollen Terminkalenders wie eine
Illusion klingen mögen, sollten Sie sich jeden Tag ein paar Minuten
dafür Zeit nehmen. Mit der Zeit werden Ihnen diese gesundheits-
fördernden, sensorisch-integrativen Strategien dann zur Gewohn-
heit werden.

Glossar

Im Folgenden finden Sie die Definitionen von Begriffen, die in diesem


Buch verwendet werden. In Klammern ist das Kapitel angegeben, in
dem der Begriff genauer erklärt ist. [Anm. d. Übersetzerin: Für die
deutsche Ausgabe wurden die Begriffserklärungen etwas erweitert.
An den eckigen Klammern können Sie erkennen, welche Begriffe der
englischen Originalversion hinzugefügt wurden.]

zz Begriffserklärung
Afferenzen
Vom Körper zum Gehirn aufsteigende neuronale Signale. Afferente
Signale sind sensorische Informationen.

Alltagsbewältigung
Aus ergotherapeutischer Sicht umfasst die Alltagsbewältigung sinn-
volle und zweckmäßige Beschäftigungen aus den Bereichen Selbst-
versorgung, Ausbildung und Arbeit, Spiel und Freizeit, Erholung und
soziale Partizipation.

Anpassende Reaktion
Eine Aktion, mit der wir angemessen und erfolgreich auf eine An-
forderung der Umwelt reagieren. Anpassende Reaktionen erfordern
eine gute Verarbeitung von Sinnesinformationen und fördern die sen-
sorisch-integrative Entwicklung. (1, 2)

Aphasie
Die Unfähigkeit zu sprechen, und manchmal auch Schwierigkeiten,
gesprochene oder geschriebene Sprache zu verstehen.
289
Anhang D

Apraxie
Eine Schwäche der Praxie oder Bewegungsplanung. Bei Kindern be-
einträchtigt eine Störung der sensorischen Integration die Fähigkeit,
unbekannte Aufgaben zu planen und auszuführen.

Auditiv
Das Gehör betreffend. (3)

Ausbildung in Sensorischer Integrationstherapie


Siehe SI-Ausbildung.

Autismus
Diagnose, wenn Kinder Auffälligkeiten im Sozialverhalten zeigen,
die charakterisiert sind durch: Beeinträchtigungen des nonverbalen
Verhaltens; Schwierigkeiten, Beziehungen zu Gleichaltrigen zu entwi-
ckeln; teilen kaum Interessen und Erfolge mit anderen; wenig sozia-
le oder emotionale Reziprozität (Wechselseitigkeit). Typischerweise
liegen Kommunikationsdefizite vor: Ausbleiben oder Verzögerungen
der gesprochenen Sprache; deutliche Beeinträchtigungen in der Fä-
higkeit, ein Gespräch zu führen; stereotyper oder repetitiver Sprach-
gebrauch. Altersgemäßes, spontanes soziales Imitationsspiel, »Tun als
ob«-Spiele und Rollenspiele bleiben aus. Diese Verhaltensweisen sind
Ausdruck einer neurologischen Störung, bei der die Fähigkeit des
Kindes, sich in Bezug zu anderen Menschen, Dingen und Ereignissen
wahrzunehmen, beeinträchtigt ist. (9)

Bahnung
Ein neuronaler Prozess, der die Weiterleitung von Impulsen oder Sig-
nalen erleichtert bzw. verstärkt. Bahnung ist das Gegenteil von Hem-
mung. (3)

Bewegungsplanung
Die Fähigkeit des Gehirns, sich neue Bewegungen und Handlungen
auszudenken, den Ablauf zu planen und zu organisieren und die
Handlung auszuführen. Bewegungsplanung ist ein Bestandteil von
Praxie. (6)

Bilaterale Integration
Die Zusammenarbeit der beiden Hirnhälften. Für Ayres fand der bi-
laterale Informationsaustausch bereits in den vestibulären Kernen auf
Hirnstammniveau statt. Eine gute bilaterale Integration zeigt sich in
der Koordination beider Körperseiten, der Entwicklung der Händig-
keit und dem Bewusstsein für rechts und links.

Diskrimination, sensorische
Die Fähigkeit, verschiedene Aspekte eines Sinnesreizes zu erkennen,
sowohl innerhalb einer Sinnesmodalität (z.B. leichte Berührung, Be-
290 Anhang D

schaffenheit und tiefer Druck durch das taktile System) als auch von
verschiedenen Sinnesmodalitäten (z.B. Geruch und Geschmack oder
Sehen und Hören).

[Distal]
Vom Körpermittelpunkt entfernt, z.B. sind Fingergelenke distale Ge-
lenke.

Dyspraxie
Schwache Praxie oder Bewegungsplanung. Diese Störung ist weniger
schwerwiegend als eine Apraxie. Mit der Diagnose der entwicklungs-
bedingten Koordinationsstörung verwandt. (6)

[Efferenzen]
Vom Gehirn weggehende Nervenbahnen zur Körperperipherie. Effe-
rente neuronale Signale sind Bewegungsbefehle.

Entwicklungsbedingte Koordinationsstörung
Eine Diagnose für schlecht geplante, koordinierte und ausgeführte
Bewegungen. [Anm. d. Übersetzerin: Im deutschsprachigen Diagno-
sekatalog ICD-10 unter dem Code F82.0 »Umschriebene Entwick-
lungsstörung motorischer Funktionen« (UEMF) klassifiziert.]

Ergotherapie
Schulmedizinisch anerkannter, paramedizinischer Beruf, der Men-
schen jedes Alters und mit unterschiedlichsten Störungen hilft, mög-
lichst selbstständig und zufriedenstellend den Alltag zu bewältigen.
In der Ergotherapie werden zielgerichtete und zweckmäßige Aktivi-
täten eingesetzt, um dem Klienten zu helfen, anpassende Reaktionen
zu entwickeln, die zu einer Verbesserung der Funktion des Nerven-
systems führen. Dadurch können die Klienten ihr Leben umfassen-
der und aktiver meistern und an der Gesellschaft partizipieren. An-
erkannte Ausbildungen erfolgen an Fachhochschulen und schließen
mit einem Bachelor ab. In englischsprachigen Ländern »Occupatio-
nal Therapy«. Organisiert in der World Federation of Occupational
Therapists (WFOT). (10)

Extension
Streckung. Beim Streckmuster des ganzen Körpers streckt das Kind
in Bauchlage den Nacken, den Rücken, die Arme und die Beine gegen
die Schwerkraft nach oben.

Flexion
Beugung. Beim Beugemuster des ganzen Körpers beugt das Kind in
Rückenlage den Nacken, den Rumpf, die Hüften, die Knie und die
Arme.
291
Anhang D

Formatio reticularis
es der komplexesten und am stärksten vernetzten Teile des Gehirns.
Jedes sensorische System sendet Impulse an das netzförmige Innere,
das dann Impulse an die anderen Hirnbereiche sendet. (3)

Großhirnhälften
Siehe Hirnhälften.

[Gustatorisch]
Den Geschmackssinn betreffend.

Haltungskontrolle oder Haltungshintergrund


Die subtilen, spontanen Anpassungsreaktionen des Körpers, die den
Rumpf stabil halten, damit wir die Extremitäten (Arme und Beine)
bewegen können, um z.B. nach einem entfernt liegenden Objekt zu
greifen. Die Haltungsanpassung ist abhängig von einer guten Integra-
tion der vestibulären und propriozeptiven Informationen. (5)

[Handdominanz]
Siehe Händigkeit.

[Handpräferenz]
Die Hand, die das Kind spontan für eine Aktivität bevorzugt. Oft be-
vorzugen Kinder für unterschiedliche Aktivitäten wie z.B. Schreiben
und Werfen nicht dieselbe Hand.

[Händigkeit]
Seitenspezialisierung der Hände und Entwicklung einer bevorzugten
Hand für bestimmte Funktionen. Händigkeit ist ein Ausdruck der
Funktionsspezialisierung der Hirnhälften.

Hemisphären
Siehe Hirnhälften.

Hemmung
Ein neuronaler Prozess, der die Weiterleitung an bestimmten Synap-
sen blockiert, so dass einige Impulse unterdrückt werden. Hemmung
ist ein notwendiger Prozess, der eine wichtige Funktion für die Regu-
lierung der Gehirnaktivität inne hat: Sie verhindert überschießende
neuronale Aktivität. Anders als im psychologischen Zusammenhang
hat der Begriff »Hemmung« im neurologischen Zusammenhang kei-
nerlei negative Bedeutung. (3)

Hirnhälften
Die zwei großen, halbkugelförmigen Anteile des Großhirns, die ober-
halb und um den Hirnstamm liegen. Die Verarbeitung der Sinnesin-
formationen, die auf niedrigeren Ebenen begonnen hat, wird in den
292 Anhang D

Hirnhälften fortgesetzt, damit das Gehirn willkürliche Bewegungen


und bewusstes Verhalten produzieren kann. (3)

Hirnnerven
Die Nerven, die direkt vom Kopf und Gesicht in das Gehirn ziehen
(das heißt, die nicht durch das Rückenmark gehen).

Hirnrinde
Die äußere Schicht der Großhirnhälften. Sie schließt Bereiche für die
sehr genaue sensorische Verarbeitung besonders von visuellen und
auditiven Details und Körperempfindungen ein. Sie führt auch ab-
sichtliche Körperbewegungen und Sprache aus. Sie beschäftigt sich
mit Gedanken, geistigen Auswertungen und Zielen. (3)

Hirnstamm
Der niedrigste und elementarste Teil des Gehirns. Der Hirnstamm
enthält Kerne, die die Funktionen der inneren Organe, den Erre-
gungszustand des ganzen Nervensystems und die elementare senso-
motorische Verarbeitung regulieren. (3)

Hyper-
Über-: z.B. hyperaktiv (überaktiv), hyperton (zu hohe Muskelspan-
nung).

Hypo-
Unter-: z.B. hypoaktiv (unteraktiv), hypoton (zu niedrige Muskel-
spannung).

Input, sensorischer
Zustrom von elektrischen Impulsen, die von den Rezeptoren im Kör-
per zum Rückenmark und Gehirn fließen. (3)

Integrieren
Zu einem übergeordneten Ganzen zusammenschließen, in ein grö-
ßeres Ganzes eingliedern, vereinheitlichen, einbeziehen, einfügen
(Duden).

Kleinhirn
Der Teil des Gehirns, der an der Rückseite des Hirnstamms liegt,
und in dem propriozeptive und vestibuläre Informationen verarbeitet
werden, um die Körperbewegungen genau abzustimmen. Das Klein-
hirn verarbeitet auch Informationen von allen anderen Sinnesmodali-
täten. (3)

Körperschema
Die Wahrnehmung des eigenen Körpers, die in sensorischen »Land-
karten« des Körpers im Gehirn gespeichert wird. Wird auch Kör-
293
Anhang D

perwahrnehmung, Körperbild oder neuronales Modell des Körpers


genannt. (2, 4, 6)

Kokontraktion
Die gleichzeitige Anspannung aller Muskeln (d.h. der Beuger und
Strecker), die über ein Gelenk ziehen, um das Gelenk zu stabilisieren.

Kortex
Siehe Hirnrinde.

Kerne
Nervenkerne. Eine Ansammlung von Nervenzellen, die sensorische
und motorische Aktivität organisieren und integrieren. Auf gewisse
Weise sind sie die »Geschäftszentren« für die Hirnfunktion. (3)

Labyrinth
Die komplexe knöcherne Struktur des Innenohrs, die sowohl die
Gleichgewichts- als auch die Hörrezeptoren enthält. (3)

Lateralisation
Die Tendenz des Gehirns, mit je einer Hirnhälfte bestimmte Funk-
tionen besser auszuführen. Bei den meisten Menschen spezialisiert
sich die rechte Hirnhälfte darauf, räumliche und musikalische Muster
zu verarbeiten, und die linke Hirnhälfte auf sprachliche und logische
Prozesse. (3)

Lernen
Eine Veränderung der neuronalen Funktion als Folge von Erfahrung.
(1, 2, 3, 10)

Lernstörung
Schwierigkeiten bei schulischen Leistungen wie Lesen, Schreiben und
Rechnen, die nicht auf eine Seh- oder Hörbehinderung oder auf eine
geistige Behinderung zurückzuführen sind. (1)

Limbisches System
In den Hirnhälften gelegene Struktur aus mehreren Anteilen, die ge-
fühlsmäßiges Verhalten und emotionale Reaktionen auf Sinnesreize
steuern. Das limbische System erhält und verarbeitet Sinnesreize aller
Sinnessysteme. (3)

Lokomotion
Fortbewegung. Bewegung des Körpers von einer Stelle zu einer an-
deren.

Modalität
Sinnesmodalität. Eine Art von Sinnesreiz oder ein Reiz aus einem be-
stimmten Sinnessystem (z.B. taktil).
294 Anhang D

Modulation
Der Prozess, über den das Gehirn seine Aktivität selbst reguliert.
Modulation ergibt sich aus dem Zusammenspiel von anregenden
(bahnenden) Mechanismen, durch die neuronale Botschaften wei-
tergeleitet und verstärkt werden, um eine verstärkte Wahrnehmung
oder Antwort zu produzieren, und hemmenden (inhibierenden) Me-
chanismen, um überschießende oder irrelevante Aktivität zu redu-
zieren. (3)

Motoneuron
Bestimmter Typ von Nervenzellen im Rückenmark, die Bewegungs-
befehle vom Gehirn erhalten und an die Muskeln weiterleiten.

Motorisch
Die Körperbewegung oder Haltung betreffend.

Nahsinne
Jene Sinne, die uns Informationen über unseren Körper liefern – im
Gegensatz zu den Fernsinnen, die uns Informationen über eine Reiz-
quelle außerhalb unseres Körpers geben. Zu den Nahsinnen gehören
der Berührungssinn (taktil), der Kraft- und Bewegungssinn (Proprio-
zeption) und der Gleichgewichtssinn (vestibulär).

Nervenbahn
Ein langes Bündel von Nervenfasern, in denen sensorische Informa-
tionen oder motorische Botschaften von einer Stelle im Nervensystem
zu einer anderen geleitet werden. (3)

Nervensystem
Im ganzen Körper verteiltes System von Nervenzellen und Nerven-
bahnen. Besteht aus dem peripheren (im Körper) und dem zentralen
(Rückenmark und Gehirn) Nervensystem.

Neuron
Nervenzelle, Leistungsträger des Nervensystems. Ein Neuron besteht
aus einem Zellkörper mit Verbindungsstellen zu anderen Neuronen,
um Nervenimpulse empfangen und weiterleiten zu können, und einer
Nervenfaser, die elektrische Impulse leiten kann. (3)

Netzkörper
Siehe Formatio reticularis.

Nystagmus
Eine Serie von reflexartigen, automatischen Augenbewegungen, die
durch verschiedene Bedingungen ausgelöst werden können, unter
anderem durch einen abrupten Stopp nach einer längeren Drehung
des Kopfes um die eigene Achse. Diese Art von Nystagmus wird
295
Anhang D

postrotatorischer Nystagmus genannt. Dauer und Regelmäßigkeit


des Nystagmus sind Hinweise auf die Funktion des Gleichgewichts-
systems. (5)

Obere Extremität
Die Arme.

[Olfaktorisch]
Den Geruchssinn betreffend.

Perzeption
Siehe Wahrnehmung.

Postural
Die Haltung betreffend.

Praxie  Die Fähigkeit, sich eine neue oder andersartige Aktivität aus-
zudenken, zu planen und zu sequenzieren.

Propriozeption
Aus dem Lateinischen für »eigen«. Sinnessystem, das Informationen
aus den Muskeln und Gelenken verarbeitet. Propriozeptive Empfin-
dungen informieren das Gehirn, wann und wie die Muskeln sich zu-
sammenziehen oder dehnen, und wann und wie die Gelenke gebeugt,
gestreckt, gestaucht oder gedehnt werden. Durch diese Informationen
weiß das Gehirn, wo jeder Körperteil sich befindet, und wie er sich
bewegt.(3, 6)

Propriozeptiv
Die Propriozeption (Tiefensensibilität) betreffend.

[Proximal]
Nahe dem Körpermittelpunkt, z.B. sind die Hüft- und Schultergelen-
ke proximale Gelenke.

Reflex
Eine angeborene und automatische Reaktion auf einen Sinnesreiz.
Wir haben Reflexe, um einen Körperteil rasch von einer Schmerz-
quelle zurückzuziehen, bei überraschenden Reizen zu erstarren, und
um Kopf und Körper bei vestibulärem Input zu strecken. Es gibt noch
viele andere Reflexe. (2, 3)

Registrieren von Sinnesreizen


Wenn das Zentralnervensystem einen Sinnesreiz bemerkt (ist abhän-
gig von der Intensität des Reizes und der Empfindlichkeit des Gehirns
[der Reizschwelle]). Dass ein Reiz registriert wird, ist der Ausgangs-
punkt dafür, dass er verarbeitet werden kann.
296 Anhang D

[Reizschwelle]
Empfindlichkeit des Zentralnervensystems. Ist die Reizschwelle nied-
rig, werden schon leichte Reize wahrgenommen; ist sie hoch, müssen
die Reize intensiv sein, damit sie bemerkt werden. Die Reizschwelle
ist bei jedem Menschen verschieden und verändert sich unter be-
stimmten Bedingungen (z.B. ist sie niedriger, wenn wir angespannt
und nervös sind, und dadurch sind wir »reizbarer«).

Rezeptor
Eine Zelle oder Gruppe von Zellen, die empfindlich ist für eine Form
von sensorischer Energie (z.B. Licht, Temperatur). Rezeptoren ver-
wandeln diese Energie in elektrische Impulse und senden sie über
Nervenbahnen zum Rückenmark oder Gehirn. (3)

Schwerkraftunsicherheit
Übermäßige Sorge und Verzweiflung, verursacht durch eine unzu-
längliche Modulation oder Hemmung von Empfindungen, die entste-
hen, wenn die Schwerkraftrezeptoren des vestibulären Systems durch
eine Kopfposition oder -bewegung stimuliert werden. (5)

Schutzreaktion
Siehe Stützreaktion.

Stützreaktion
Reflexartiges Strecken der Arme, um bei einem Sturz den Körper (vor
allem den Kopf und das Gesicht) zu schützen. (5)

Sensorische Integration
Die Verarbeitung von Sinnesinformationen, damit wir sie nutzen
können. »Nutzen« kann sich beziehen auf die Wahrnehmung des
Körpers oder der Welt, eine anpassende Reaktion, einen Lernprozess
oder die Entwicklung einer neuronalen Funktion. Durch sensorische
Integration arbeiten die vielen Anteile des Nervensystems zusammen,
so dass wir uns effektivund zufriedenstellend mit der Umwelt ausein-
andersetzen und auf sie einwirken können.

SIPT
Sensory Integration and Praxis Tests. Eine Testbatterie von 17 Unter-
tests, die von Dr. Ayres entwickelt und 1989 bei Western Psychological
Services veröffentliche wurde, um die sensorisch-integrativen Leis-
tungen zu beurteilen und eine sensorische Integrationsstörung fest-
zustellen. Die Vorgängerversion SCSIT (Southern California Sensory
Integration Tests) wurde vom SIPT abgelöst und hat dadurch ihre
Gültigkeit verloren. [Anm. d. Übersetzerin: Der SIPT wurde an 2.000
nordamerikanischen Kindern normiert und ist im deutschensprachi-
gen Raum durch eine Pilot-Standardisierung (Söchting 1998) an über
100 Kindern gültig.
297
Anhang D

Sensorisch-integrative Defizite
Probleme in einem oder mehreren Bereichen der sensorischen Inte-
gration und Praxie.

Sensorische Integrationsstörung
Eine Unregelmäßigkeit oder Störung der Hirnfunktion, die es schwie-
rig macht, Sinnesinformationen zu integrieren. Sensorische Integra-
tionsstörungen sind die Grundlage vieler – aber nicht aller – Lern-
störungen. (4)

Sensorische Integrationstherapie (SI-Therapie)


Ein Behandlungsansatz mit Schwerpunkt auf Sinneserfahrungen, die
den neurologischen Bedürfnissen des Kindes entsprechen, und an-
passenden Reaktionen. Behandlungsaktivitäten sind in der Regel Be-
wegungen mit dem ganzen Körper, die die Nahsinne ansprechen und
Informationen über Bewegung im Raum (vestibulär), Muskelspan-
nung und Gelenksstellung (propriozeptiv) sowie Berührung und
Druck (taktil) liefern. Tischaktivitäten, Sprach- oder Leseübungen
und Training von perzeptiven oder motorischen Fertigkeiten gehö-
ren nicht zur SI-Therapie. Das Ziel der SI-Therapie ist, die Fähigkeit
des Gehirns zu verbessern, Sinnesinformationen zu verarbeiten und
zu organisieren. (10)

Sensorische Verarbeitung
Sinnesverarbeitung. Die Methode und Art der Wahrnehmung von
Empfindungen und die Übertragung durch das Zentralnervensystem.

[Sequenzieren]
Die Schritte eines Ablaufs planen und eine Bewegungsabfolge geord-
net ausführen.

Spezialisierung von Hirnfunktionen


Der Prozess, in dem ein Teil des Gehirns lernt, einzelne Funktionen
immer effizienter auszuführen. Die meisten spezialisierten Funktio-
nen sind lateralisiert. Das heißt, eine Hirnhälfte hat sich auf die Funk-
tion spezialisiert und führt sie besser aus als die andere. (4)

SI-Ausbildung
Postgraduale Zusatzausbildung für Ergotherapeutinnen in der Theo-
rie der Sensorischen Integration nach Ayres (Ayres Sensory Integra-
tion→) und der Befundung und Behandlung nach diesen Prinzipien.
Orientiert sich weltweit am 3-monatigen Universitätskurs im Rah-
men des Masterstudiums in Ergotherapie, der von Dr. Ayres an der
University of Southern California eingeführt wurde und bis heute
angeboten wird. Die Zertifizierung für die Durchführung und Inter-
pretation des SIPT ist in manchen Ländern Teil der Grundausbildung,
in anderen Teil der Aufbaustufe. Das Ausbildungszertifikat (Grund-
und Aufbaustufe) wird von nationalen SI-Organisationen ausgestellt;
298 Anhang D

bescheinigt wird, dass die Therapeutin an den Kursen teilgenommen


und die erforderlichen Leistungen erbracht hat. Eine Weiterbildung,
um auf dem aktuellen Stand zu bleiben und das Wissen zu vertiefen,
liegt in der Eigenverantwortung der Therapeutin. Therapeutinnen im
deutschsprachigen Raum, die eine Ausbildung in Ayres‘ Sensorischer
Integrationstherapie absolviert haben, finden Sie für Österreich auf
der Website der Gesellschaft für Sensorische Integration in Österreich
(GSIÖ; www.sensorische-integration.org), für Deutschland über den
Deutschen Verband der Ergotherapeuten (DVE; www.dve.info/ver-
band/si-leitungsteam) und für die Schweiz über den Schweizer Ergot-
herapeutInnenverband (EVS; www.ergotherapie.ch).

Störung der bilateralen Integration und des Sequenzierens


Siehe vestibulär bedingte bilaterale Integrationsstörung.

Synapse
Verbindungsstelle zwischen zwei Neuronen. Eine elektrochemische
»Brücke«, durch die ein Nervenimpuls von einem Neuron zum
nächsten übertragen wird. Neuronale Impulse müssen auf ihrem Weg
vom Rezeptor durch das Zentralnervensystem normalerweise viele
Synapsen überqueren. Jede Synapse trägt zur Verarbeitung der Sin-
nesinformation bei. (3)

Taktil
Hautberührungen betreffend. (3, 7)

Taktile Abwehr
Eine sensorisch-integrative Funktionsstörung, bei der Berührungen
übermäßige emotionale Reaktionen, Hyperaktivität und andere Ver-
haltensprobleme verursachen. (7)

Tiefensensibilität
Siehe Propriozeption.

Überempfindlichkeit, sensorische
Eine Störung der sensorischen Modulation, bei der der Betroffene
durch gewöhnliche Sinnesreize überwältigt wird und abwehrend re-
agiert oder sich zurückzieht; oft von starken negativen Emotionen
(Wutausbrüchen) und vegetativen Reaktionen begleitet.

Unterempfindlichkeit, sensorische
Ausbleibende, verzögerte oder schwache Reaktion auf normale Sin-
nesinformationen aufgrund einer schlechten sensorischen Verarbei-
tung. Probleme in der sensorischen Modulation oder Diskrimination
führen zu unzulänglichen Wahrnehmungsleistungen (Perzeption).

Untere Extremität
Die Beine.
299
Anhang D

Vestibulär bedingte bilaterale Integrationsstörung


Eine sensorisch-integrative Funktionsstörung, die durch ein unter-
empfindliches Gleichgewichtssystem verursacht ist. Kennzeichen
sind der verkürzte Nystagmus, die schwache Integration der beiden
Körperseiten und Schwierigkeiten, lesen oder rechnen zu lernen.
Wird auch als »Störung der bilateralen Integration und des Sequen-
zierens« bezeichnet. (5)

Vestibulärer Nerv (Nervus vestibularis)


Der 8. Hirnnerv, der vestibuläre Empfindungen von den Schwerkraft-
rezeptoren und Bogengängen zu den vestibulären Kernen leitet. (3)

Vestibuläre Kerne (Vestibulariskerne)


Eine paarig angelegte Zellansammlung im Hirnstamm, die vestibulä-
re Informationen verarbeitet und sie an andere Zentren weiterleitet,
die dann eine Reaktion auf den Gleichgewichtsreiz auslösen. Diese
komplexen »Geschäftszentren« integrieren den vestibulären Input
mit Input aus anderen Sinnessystemen. (3, 5)

Vestibuläre Rezeptoren
Die Sinnesorgane, die die Anziehung der Schwerkraft und die Be-
wegungen des Kopfes im Raum wahrnehmen. Sie befinden sich im
Labyrinth des Innenohrs. Die Schwerkraftrezeptoren befinden sich in
winzigen, sackartigen Ausstülpungen und die Bewegungsrezeptoren
in den Bogengängen. (3, 5)

Vestibulär-spinale Bahnen
Die Nervenbahnen, die die Signale von den Vestibulariskernen zu den
Motoneuronen im Rückenmark senden. Vestibulär-spinale Botschaf-
ten tragen zur Regulierung des Muskeltonus, der aufrechten Haltung
und der Streckung der Gelenke bei.

Vestibuläres System
Gleichgewichtssystem. Das Sinnessystem, das Veränderungen der
Kopfposition in Bezug zur Schwerkraft und beschleunigter Bewegung
wahrnimmt. (3, 5)

Visuell
Das Sehen betreffend.

Wahrnehmung
Perzeption. Die Interpretation von Sinnesinformationen; die Be-
deutung, die das Gehirn einem Sinnesreiz gibt. Sinnesinformationen
oder Empfindungen sind objektiv; die Wahrnehmung ist subjektiv. (3)

Zentrale Hörverarbeitung
Die Übertragung von Hörinformationen im Gehirn, durch die es uns
möglich ist, die Geräusche, die wir hören, zu interpretieren.
300 Anhang D

Zentrale Programmierung
Neuronale Funktionen, die vorgeburtlich in unserem Nervensystem
angelegt sind und ausreifen, aber nicht erlernt werden müssen. Krab-
beln auf allen Vieren und Gehen sind Beispiele für zentral program-
mierte Bewegungen. (6)

Zentralnervensystem
Rückenmark und Gehirn

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Stichwortverzeichnis

A. J. Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung,


DOI 10.1007/978-3-642-30177-3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
304 Stichwortverzeichnis

A Bewegungen 
–– choreoathetoide  123
––
––
des Gleichgewichtssinns  261
des Hörsinns  261
Ablenkbarkeit  71, 196 –– Fertigkeiten  125 –– des Nervensystems  258
Affordanzen  244 –– geplante  125 –– des Sehsinns  263
Aktivitätsgrad  81 –– Kleinkind  32 –– des taktilen Sinns  260
Angelman-Syndrom  252 –– zentral programmierte  124
Ängste  112, 114, 235 Bewegungsplanung  80, 126, 243,
–– Therapie  200 280
Anpassende Reaktionen  9, 19, 259
–– bei Autismus  184
–– bei Autismus  184
–– beim Sprechen  168
F
–– Haltung  94 Fahrradfahren  105
–– Defizite  122
Anpassung  192 Feedback  136
–– Entwicklung  184
–– durch Evolution  161 Flugzeughaltung  28
–– im Spiel  222
Apraxie  122 Flugzeugposition  272
–– Säugling  30
–– orale  168 Formatio reticularis  42, 95
Bewegungssteuerung  123
Arbeitsverhalten  73 Formwahrnehmung  159
Bewegungsstörungen  122
Artikulation  81 Fortbewegung 
Bewegungsunverträglichkeit  117
Assoziationsfelder  44 –– Säugling  29
Bewusstseinszustand  38
Auditive Wahrnehmung  158 Fovea  162, 164
Bilaterale Integrationsstörung  104
–– bei Autismus  176 Früherkennung  210
Bilaterale Koordination 
–– Störungen  167 Frühgeborene  269
–– Schwächen  80
Auditives System  51 Funktion  5
Bogengänge  54
Auffälligkeiten  32, 65 –– Ich will es tun  181
–– bei auditiven Wahrnehmungs- Funktionsspezialisierung  83
störungen  171
–– bei Schwerkraftunsicherheit  117
–– bei taktiler Abwehr  154
D
–– bei visuellen Wahrnehmungs- Deprivation  68, 154
–– sensorische  68
G
störungen  165 Gefühl für das eigene Selbst  33
Aufmerksamkeit  81, 127, 176 Diskrimination 
Gehirn  38
Auge-Hand-Koordination  27, –– taktile  130
–– Funktionen  38
76, 82 Dokumentation  199
Geistige Behinderung  65
Augenbewegungen  78 Druck, tiefer  178, 196
Gene  9
Augendominanz  84 Dyspraxie  138
Geruchssinn  52
Autismus  174, 195, 235 –– bei Autismus  177
–– Chromosom 15  252 –– Säugling  25

E Geschmackssinn  52
–– bei Autismus  177
Emotionale Sicherheit  76 –– Säugling  25
B Emotionen  19, 38, 53, 195
–– bei Autismus  174
Gleichgewichtsorgan 
–– Funktion  89
Bahnung  48
Balance  79, 94 –– bei Berührung  261 Gleichgewichtsreaktionen  94
Befundaufnahme  195 –– bei Dyspraxie  143 Gleichgewichtsreize  54
–– Anfangsbefund  199 –– emotionale Krisen  214 –– Überreaktionen  110
Berührung  149 Entwicklungsdyspraxie  121, 125, Gleichgewichtssinn  54, 87
–– diskriminative Reaktionen  151 138, 168 –– Säugling  22
–– emotionale Entwicklung  77 –– Kennzeichen  139 –– und Körperschema  136
–– Schutzreaktionen  151 Entwicklungsstörungen  65 Gleichgewichtssystem  57, 87
Berührungsempfindlichkeit  196 Ergotherapeutin  227, 230 –– Organisation  89
Berührungssinn  52, 145 Ergotherapie  190, 202 –– unterempfindliches  102
–– Kind  35 Erwartungen, überhöhte  216, 224 Großhirn 
–– Kleinkind  32 Erziehung  210, 215 –– Hirnhälften  38, 41, 43, 107
–– Säugling  21 –– konsequente  216 Grundvertrauen  79
–– und Körperschema  130 Evolution  Gustatorischer Sinn  52
Bestrafung  215 –– der anpassenden Reaktio-
nen  263
Stichwortverzeichnis
305 A–S

H Legasthenie  67
Lernen  P
Haltereaktionen  79, 94, 124 –– bei Dyspraxie  140 Perzeption  8, 158
Haltungshintergrund  94 –– schulisches  13 Physikalische Umwelt  6
Händigkeit  45, 83 Lernfähigkeit  77, 195 Piaget, Jean  35, 191
Handlungen  82 Lernstörungen  4, 13, 65, 91, 101, 211 Prader-Willis-Syndrom  252
Hemmung  48, 147 Lesen  10, 73, 158 Praxie  122, 243, 280
Hirnrinde  43 Leseschwäche  92, 104 Professionelle Hilfe  227
Hirnschädigung  269 Limbisches System  43, 99, 176 Propriozeption  53
Hirnstamm  38, 41, 53, 55, 94 Linkshänder  45 –– und Körperschema  133
Hirnstammkerne  41 Luftstoßtest  177 Psychologen  104
Hörsinn  51
–– Säugling  24
Hörverarbeitung  169
Hyperaktivität  13, 15, 70, 196
M R
Mahlzeiten  282 Räumliche Wahrnehmung  45, 55
Minderwertigkeitsgefühle  211 –– Säugling  29

I Mittellinienkreuzung  107
Modulation  48, 90
Raumwahrnehmung  74, 98, 101,
159
Identität  142 –– bei Autismus  179 –– bei Autismus  180
Innerer Antrieb  20, 34, 105, 193, 222 Motorische Meilensteine  12 Rechenschwäche  104
Innerer Drang  201 Muskelspannung  72, 79, 93, 136 Rechnen  73
Integration  5 Mutter-Kind-Beziehung  77 Rechtshänder  45
Intelligenz  65, 192 Regelkreis  40
–– sensomotorische  33, 35 Reizüberflutung  156
Interaktion  191 Reizverarbeitung  50
–– geistige  6
–– mit der Umwelt  268
N Retina  51
Rezeptoren  38
–– physische  6 Nackenstellreflex  29 Rindenfelder  44
–– sensorische  164 Nervenbahnen  40, 45 –– somatosensorisches  44
Nervensystem  5, 38 –– visuelles  44
–– autonomes Nervensystem  56 Rollbrett  272
–– Zentralnervensystem  5 Rollenschaukel  275
K Nervenzellen  39
Netzkörper  42
Rückenmark  41

Kinästhesie  133 Netzwerk  40, 108


Kindliche Entwicklung  18 Neuronale Prozesse  5
–– Bausteine  21
–– Entwicklungsstufen  21
Neuronales Modell  128
Neurone  38 S
Kleinhirn  38, 43, 55, 93 –– Gedächtnis  129 Schreiben  10, 73, 101
Kokontraktion  95 –– Motoneurone  38, 39 Schulprobleme  13, 71, 73, 74
Kompetenz  191, 223 –– sensorische  38 Schwerkraft  54, 79, 99
Konditionierung  192 Neuropädiater  65 Schwerkraftsicherheit  79, 100
Koordination  45, 73 Neurotransmitter  235 Schwerkraftsinn  159
Koordinationsstörungen  122, 243 Nystagmus  104 Schwerkraftunsicherheit  111
Körperschema  33, 76, 80, 83, 128, –– optokinetischer  177 –– bei Autismus  179
129, 138, 223, 243 –– postrotatorischer  92 Seekrankheit  55, 100
–– bei Autismus  180 Sehsinn  51
Kortex  43 –– Säugling  24
Kraft- und Stellungssinn  Seitenspezialisierung  44, 83
–– Säugling  23
Kraftsinn  53
O Selbstbeherrschung  77
Selbstbestimmung 
Occupational Science  253 –– Entwicklung  200
Olfaktorischer Sinn  52 Selbstbewusstsein  33, 77, 98
Ordnung  18 Selbstbild 
L Organisation  18
–– Selbstorganisation  284
–– negatives  213
Selbstorganisation des Gehirns  48
Lateralisation  44, 107 –– Verhaltensorganisation  284
306 Stichwortverzeichnis

Selbststeuerung  200 –– Spielverhalten  222 –– Störungen  159


Selbstvertrauen  31, 77, 105, 213, Spielsachen  177, 225, 286 Visuelles System  51
217, 285 Spielverhalten  12, 73 Visuomotorik 
–– Therapie  200 Splitterfertigkeiten  85, 140 –– Säugling  29
Sensomotorische Entwicklung  10 Sprachentwicklung  72, 81 Viszeraler Sinn  56
Sensomotorische Grundlagen  193, –– bei Autismus  180
212 –– Säugling  30
Sensorische Integration  6 –– verzögerte  13
–– Entwicklung  17
–– schlechte  11
Spracherkennung  52
Sprachfunktionen  107
W
Weckzentren  42, 53
Sensorische Integrationsstö- Sprachstörungen  167
Werkzeuggebrauch  35, 139
rung  63 –– vestibulär bedingte  107
–– Befundaufnahme  11 Sprechen  45
–– Diagnostik  11 Stabiles Gesichtsfeld  91

Z
–– Frühsymptome  12 Stellungssinn  53
–– Symptome  70 Stress  72, 112, 212
–– Ursachen  68 Struktur  195, 201, 218 Zerebralparese  125
Sensorische Integrationsthera- Stützreaktionen  95
pie  58 Synapsen  46, 129
–– Geräte  198, 199, 272 –– Entwicklung  48
–– Grundidee  194
–– Prinzipien  194
–– Standardqualifikationen  230
–– Wirksamkeit  194
–– Zusatzausbildung  12, 105, 230
T
Taktile Reize 
Sensorische Verarbeitung  10
–– spezifische  131
Sensorische Verarbeitungsstö-
–– unspezifische  131
rung  64, 193
Taktiler Input 
Sensorisch-integrative Funktions-
–– Therapie  196
störungen 
Taktiler Sinn  52
–– Ursachen  265
Tastsinn  52
Sensory Integration and Praxis
Therapeutische Aktivitäten  198
Tests 
Therapeutische Atmosphäre  200
–– SIPT  235
–– anregende Umgebung  268
Sensory Integration and Praxis
Tiefensensibilität  53, 133
Tests (SIPT)  195, 231
Tonischer Nackenreflex  24
Sinne  4, 260
Überforderung 
–– Fernsinne  21
–– Warnzeichen  221
–– Nahsinne  21, 76, 79, 81, 158
Sinnesempfindungen  5, 8
Sinnesinformationen 

V
–– integrieren  57, 180
–– modulieren  179
–– registrieren  176 Verhaltensstörungen  4, 66, 71
Sinnesorgane  38, 50 Vestibuläre Rezeptoren 
Sinnesreize  –– Funktion  89
–– Bedeutung  50 Vestibuläre Störung  98
Sinnessysteme  50 Vestibulärer Input 
Soziale Beziehungen  98, 148 –– Therapie  197
Soziales Kompetenztraining  286 Vestibulärer Sinn  54
Sozialverhalten  285 Vestibulariskerne  43
Spaß  10, 198 Vestibulo-okulärer Reflex  168
Spätentwickler  68 Vibration  197
Spiel  10, 181, 201, 224 Visuelle Wahrnehmung  76, 81, 158
–– Förderung  221 –– bei Autismus  180
–– Säugling  31 –– im Großhirn  164
–– Sinneserfahrungen  222 –– im Hirnstamm  163

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