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A. Jean Ayres
Bausteine der
kindlichen
Entwicklung
Sensorische Integration verstehen und anwenden
Das Original in moderner Neuauflage
1 C
Dr. A. Jean Ayres † Mag. Elisabeth Soechting
Torrance, California, SPIELSTUDIO Kindertherapie
USA Oberzellergasse 1/19
1030 Wien
Österreich
email: eso@spielstudio.at
Copyright © 2005 by Western Psychological Services. Translated and reprinted by permission of the publisher,
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schutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen.
Widmung
Diese Jubiläumsausgabe ist Dr. A. Jean Ayres gewidmet. Sie war eine Visionärin:
Ihr Lebenswerk hat weltweit tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben vieler
Familien, und es ist eine Quelle der Inspiration für Generationen von Therapeutin-
nen, die sich bemühen, sensorische Integrationsstörungen zu verstehen und den
Betroffenen zu helfen.
VII
Seit über drei Jahrzehnten hege ich den höchsten Respekt für Dr. Ayres und ihr Lebens-
werk. Ich erinnere mich noch deutlich an meine erste Begegnung mit ihr im Jahr 1973,
als ich gerade Direktorin der Ergotherapieabteilung und -schule am Krankenhaus Penn-
hurst geworden war. In dieser staatlichen Einrichtung in Pennsylvania waren mehr als
1.000 Kinder und Erwachsene mit Entwicklungsbehinderungen untergebracht. Gegen die
Einrichtung war eine Klage wegen »Rechts auf Bildung« erhoben worden. Folgen des Ge-
richtsurteils waren der Ausbau und die Einrichtung einer professionell geführten Ergothe-
rapieabteilung und meine Anstellung, um die Lebensqualität der Bewohner von Pennhurst
zu verbessern.
Nach wenigen Wochen in meiner neuen Position erlebte ich die spannendste Behandlung
in meiner Karriere. Diese Behandlung, die von einem Team äußerst kompetenter Ergothe-
rapeutinnen durchgeführt wurde, führte mich in die Sensorische Integrationstherapie ein.
Ich sah mit eigenen Augen, wie Bewohner, die ein massiv selbstschädigendes und aggres-
sives Verhalten zeigten, nach einer Therapiesitzung ruhiger waren und sich sinnvoller mit
ihrer Umgebung beschäftigten. Ich sah, wie Erwachsene mit schwerwiegenden Entwick-
lungsbehinderungen, die Therapie jahrelang unzugänglich gewesen waren und sozial völlig
isoliert waren, sich in den Therapiesitzungen sensorische Angebote aussuchten. Im Verlauf
der nächsten drei Jahre beobachtete ich, dass die Bewohner nachhaltige Fortschritte in ihrer
Entwicklung machten, die offenbar mit diesem innovativen ergotherapeutischen Behand-
lungsansatz zusammenhingen.
Ich wusste aber auch, dass es nicht reichte, diese positiven Ergebnisse mit eigenen Augen
mitzuerleben. Als Direktorin der Ergotherapieabteilung in Pennhurst war ich entschlossen,
die Wirksamkeit dieser Therapie wissenschaftlich zu überprüfen. Finanzielle Einschränkun-
gen und die Tatsache, dass es keine Mitarbeiterin in der Abteilung gab, die ein Doktorat
(PhD) – und damit die nötigen Forschungskompetenzen hatte, – behinderten unser Vorha-
ben. Es war klar, dass wir auf die Beratung einer Expertin angewiesen waren, um ein gutes
Studiendesign zu entwickeln. Das Team stellte eine Liste möglicher Berater zusammen, auf-
gereiht nach Expertise, Verfügbarkeit und zu erwartenden Kosten. Natürlich stand Dr. Ay-
res als diejenige, die die Therapie begründet und bereits zu deren Wirksamkeit bei Kindern
mit Lernbehinderungen publiziert hatte, an erster Stelle. Allerdings nahmen wir an, dass sie
sowohl finanziell als auch terminlich außerhalb unserer Reichweite lag. Zu unserer Über-
raschung stellte sich jedoch heraus, dass sie von all den Kandidaten, die ich anrief, diejenige
war, die am begeistertsten von unserem Projekt war, und die auch bezüglich ihrer zeitlichen
Ressourcen und ihres Honorars am entgegenkommendsten war. Mein erster Eindruck von
Dr. Ayres war, dass es ihr größtes Anliegen war, die Wissenschaft zu unterstützen und eine
effektivere Therapie zu entwickeln, um die Lebensqualität von Menschen mit Behinderun-
gen und deren Familien zu verbessern.
Dr. Ayres‘ Ankunft in Pennhurst glich dem Empfang der Königinmutter an einem abgele-
genen Ort des British Commonwealth. Obwohl sie nur wenige Tage mit uns arbeitete, war
ich fasziniert von der Genauigkeit ihres klinischen Blicks, ihrer beeindruckenden Fähigkeit,
selbst den schwierigsten Bewohnern zu helfen, neue Herausforderungen zu meistern; ihrem
neurobiologischen Fachwissen und ihrem Wissen über wissenschaftliche Forschung.
VIII Vorwort zur Jubiläumsausgabe
Als Beraterin schenkte sie uns in den Teambesprechungen großzügig ihre Zeit, und sie be-
handelte auch viele Klienten. Sie verwickelte sie in sinnvolle Beschäftigungen, überprüfte
ihre sensorische Verarbeitung und formulierte Behandlungsansätze, die für unser For-
schungsprojekt von Interesse waren. Dr. Ayres war eine Ergotherapeutin, wie ich noch keine
andere gesehen hatte – sie war eine Expertin in der praktischen Arbeit, eine fesselnde Leh-
rerin und eine peinlich genaue Wissenschaftlerin, die einzig und allein von humanitären
Motiven angetrieben wurde.
. Jean Ayres, Ergotherapeutin, Neuropsychologin, Urheberin der Theorie der Sensorischen Integration
In den nächsten 16 Jahren, in denen sich unsere Zusammenarbeit intensivierte, wurden
meine ersten Eindrücke oftmals bestätigt. Da ich in der Nähe Ayres‘ arbeiten wollte, nahm
ich im Jahr 1976 die Stelle als Dozentin an der Abteilung für Ergotherapie (Occupational
Therapy) an der University of Southern California (USC) in Los Angeles an. Ich war ver-
antwortlich, Sensorische Integration zu unterrichten und zu erforschen. Dr. Ayres, die mit-
gewirkt hatte, dass ich diese Stelle bekam, eröffnete gerade ihre private Praxis in Torrance
(Großraum Los Angeles), die AyresClinic; sie arbeitete aber auch als außerordentliche Pro-
fessorin an der USC. Eine meiner ersten Aufgaben war, in enger Zusammenarbeit mit ihr
einen neuen Kurs zu entwickeln, der graduierten Ergotherapeutinnen mit Berufserfahrung
eine intensive Ausbildung in Theorie und Praxis der Sensorischen Integration vermitteln
sollte. Dieser Kurs, der 1977 zum ersten Mal angeboten wurde und bis heute unter dem Na-
men »OT610« läuft, bestand aus 20 Wochenstunden praktischer Übung in der AyresClinic
unter Supervision von Dr. Ayres und 6 Wochenstunden Seminar. Ich war eine der vier er-
fahrenen Therapeutinnen, die sich in den ersten Ausbildungsgang einschrieben. Ohne dass
ich es wusste, war meine Erfahrung als Studentin im OT610 T der Schlüssel für meine ganze
Karriere, in der ich seither Wissenschaft und Praxis kombiniere.
Es war keine leichte Aufgabe, Schülerin von Dr. Ayres zu sein. Es bedeutete, täglich Sta-
pel von wissenschaftlichen Veröffentlichungen durchzuarbeiten, die sie in der Fachbiblio-
thek ihrer Praxis sammelte; ihren detailliert ausgearbeiteten Vorträgen zuzuhören, die sie
handschriftlich auf einem gelben Notizblock vorbereitet hatte; zu beobachten, wie sie mit
unerschütterlicher Einfühlsamkeit und Besorgnis mit den Eltern kommunizierte und mit
unglaublicher Fachkenntnis mit den Kindern arbeitete – aber auch umgekehrt – wenn
wir Befund aufnahmen, mit Adleraugen beobachtet zu werden und zu unseren schrift-
lichen Befund- und Verlaufsberichten ausführliche Rückmeldungen zu erhalten. Ich erin-
nere mich, wie sie erzählte, dass sie wegen eines Kindes eine schlaflose Nacht gehabt und
sich auf neurowissenschaftlicher Grundlage eine optimale Lösung ausgedacht hatte. Meine
IX
Vorwort zur Jubiläumsausgabe
Kolleginnen konnten beobachten, wie sie Therapiegeräte reparierte, entwickelte und gestal-
tete, die individuell auf die sensorischen Bedürfnisse bestimmter Kinder abgestimmt waren.
Und sie verschwendete nicht eine Sekunde, wenn sie unsere wissenschaftlichen und prakti-
schen Fähigkeiten förderte. Sie integrierte immer Forschungsergebnisse in ihre Lehre, und
die therapeutische Praxis immer von ihrem nächsten Forschungsprojekt beeinflusst. Kurz
gesagt: Dr. Ayres ging mit ungeheurem Scharfsinn, Engagement, wissenschaftlicher Kompe-
tenz und Menschlichkeit an ihre Aufgabe als Mentorin und Lehrerin heran.
Warren Bennis, der international anerkannte Experte für Führungskräfte hat darüber ge-
schrieben, dass es zu wenige Menschen gibt, die Originalbeiträge zur amerikanischen
Gesellschaft liefern. Er beschreibt diese Personen als Männer und Frauen, »die mit einer
einzigartigen Stimme sprechen« und zugleich eine unkonventionelle Perspektive mit Au-
thentizität zu bieten haben (Vorwort zu »The Contrarians‘ Guide to Leadership« von
S. Sample (Jossey Bass 2002, San Francisco). Es ist ein Zeichen von Dr. Ayres‘ Genie und
ihrer bedingungslosen Überzeugung, dass ihre Theorie und ihr Behandlungsansatz bei Au-
tismus, Entwicklungs- und Lernbehinderungen nicht nur die Ergotherapie revolutionierten,
sondern auch das Verständnis und die Behandlungsansätze anderer Berufsgruppen beein-
flusst haben. Heute gehen die meisten Ansätze bei Verhaltens- und emotionalen Problemen
bei Kindern davon aus, dass
55 die Sinnesverarbeitung auf subkortikalem Niveau eine Schlüsselrolle für die kindliche
Entwicklung spielt,
55 sensorisch-integrative und vestibulär-zerebelläre Mechanismen einen Einfluss auf das
Lernen haben, und
55 ein fachkundig ausgewähltes Angebot an Sinnesreizen und Herausforderungen in der
physikalischen und räumlichen Umwelt ein kraftvolles Mittel darstellen, um die Alltags-
bewältigung von Kindern und Erwachsenen mit sensorischen Integrationsstörungen zu
verbessern.
Ich erinnere mich lebhaft daran, wie Dr. Ayres das Manuskript für die 1. Auflage dieses Bu-
ches fertig gestellt hatte [Anm. d. Übersetzerin: »Sensory Integration and the Child« 1979].
Alle, die mit der AyresClinic in Verbindung standen, lasen es augenblicklich. Wir wussten,
dass dieses neue Buch an Eltern und Fachleute ohne Kenntnisse in Sensorischer Integration
gerichtet war, und wir waren skeptisch, ob diese komplexe Theorie und Therapie für Laien
verständlich beschrieben werden konnte. Nachdem wir das Buch gelesen hatten, waren wir
von Dr. Ayres‘ Brillanz noch stärker beeindruckt als zuvor. Ohne Frage hatte sie das Unvor-
stellbare geschafft. Es war ein Meisterwerk, wie sie die wichtigsten Vorstellungen der Theo-
rie der Sensorischen Integration und des Behandlungsansatzes in eine gewöhnliche und
verständliche Sprache übersetzt hatte. Das Buch beschrieb klar die Natur von sensorischen
Integrationsstörungen, auf welche Art diese subtilen Probleme den Alltag der betroffenen
Kinder und ihrer Eltern erschwerten, und was getan werden konnte, um ihnen zu helfen.
Und mit diesem Buch erreichte sie auch Erwachsene, die ihr Leben lang mit sensorisch-
integrativen Störungen gekämpft hatten, und die nun besser verstehen konnten, wie es zu
all ihren Schwierigkeiten gekommen war, und wie sie in Zukunft besser damit umgehen
konnten.
Dr. Ayres‘ hat unbestreitbar einen immensen Beitrag geleistet, um die sensorische Grundla-
ge von bestimmten Verhaltens- und emotionalen Problemen bei Kindern zu verstehen; und
ihre professionelle Integrität, mit der sie nach wissenschaftlicher Wahrheit strebte, ist unta-
X Vorwort zur Jubiläumsausgabe
delig und vorbildhaft. Es ist wirklich eine Ehre, das Vorwort für die Jubiläumsausgabe ihres
Buches zu schreiben. Diese Neubearbeitung ist ein Buch für Ergotherapeutinnen und ande-
re Fachkräfte, aber auch für Eltern von Kindern mit sensorisch-integrativen Störungen und
betroffene Erwachsene. Es ist ein Werk von großer Bedeutung, das eine Fülle von Reichtü-
mern zu bieten hat.
Prof. Dr. Florence A. Clark, Professorin und Vorsitzende der Division of Occupational Sci-
ence and Occupational Therapy und Ass. Dekanin der School of Dentistry an der University
of Southern California, Los Angeles; Präsidentin der American Occupational Therapist As-
sociation (AOTA)
April 2004
XI
Dr. A. Jean Ayres begann in den 1950er Jahren die Theorie der Sensorischen Integration zu
entwickeln und leitete daraus Verfahren zur Befundung und Behandlung ab. Mit der Ver-
öffentlichung ihres Buches »Sensory Integration and the Child« (Deutsch: »Bausteine der
kindlichen Entwicklung«) Ende der 1970er Jahre erlangte ihre Arbeit weltweite Bekanntheit.
Obwohl Dr. Ayres eine passionierte Wissenschaftlerin und Lehrerin war, war sie in erster
Linie Ergotherapeutin; sie arbeitete unermüdlich, um den Kindern und Familien zu helfen,
die in ihre Praxis kamen. Immer wieder hörte sie frustrierten Eltern zu, weil sie das Verhal-
ten ihres Kindes nicht verstehen konnten. Diese Eltern waren erleichtert, als die Probleme
ihres Kindes einen Namen bekamen und erklärbar wurden; und sie schöpften Hoffnung,
wenn ihnen ein Therapieplan vorgeschlagen wurde. Dr. Ayres schrieb dieses Buch, um auch
anderen Familien, die nicht in ihre Praxis kommen konnten, diese Erleichterung und Hoff-
nung zuteil werden zu lassen. Ihr Buch richtete sich ebenso an Ärztinnen, Therapeutinnen
und Lehrerinnen, weil Eltern sich oft zuerst an diese Fachkräfte wenden, wenn bei ihrem
Kind Entwicklungs- oder Lernschwierigkeiten auftreten.
Seit der Erstauflage wurden Tausende von Buchexemplaren verkauft, und das Buch ist in
sechs Sprachen übersetzt worden. Die Expertinnen, die die Sensorische Integration durch
Forschung und Lehre weiterentwickeln, und die Therapeutinnen, die Sensorische Integ-
ration praktisch anwenden, schätzen dieses Buch, weil es die Grundprinzipien des SI-An-
satzes verständlich vermittelt. Eltern berichten begeistert, dass dieses Buch das Leben ihres
Kindes verändert hat.
Obwohl das Buch im Laufe der Jahre nichts von seiner Bedeutsamkeit eingebüßt hat, wa-
ren doch manche Eltern von der reinen Textform in der Originalausgabe überfordert. Um
Dr. Ayres‘ Konzept einem möglichst breiten Personenkreis zugänglich zu machen, haben
wir – eine Gruppe von Therapeutinnen aus dem engsten Kreis um Dr. Ayres – diese Neu-
auflage zusammengestellt. Wir haben die wesentlichen Inhalte unverändert übernommen
und einige fachlich anspruchsvollere Abschnitte in einen Anhang gefasst. Zusätzlich haben
wir Checklisten, Fallgeschichten, Tipps für Eltern, wichtige Aussagen und Abbildungen hin-
zugefügt und das Buch in ein modernes, leicht lesbares Layout gebracht.
Wir hoffen, dass diese aktualisierte Jubiläumsausgabe dazu beträgt, dass sich ein weiter Per-
sonenkreis mit Dr. Ayres‘ brillianten Erkenntnissen und praktischen Lösungen vertraut ma-
chen kann.
Danksagung
Die amerikanische Jubiläumsausgabe konnte nur durch das Engagement der Mitglieder des
Pediatric Therapy Networks zustande kommen. Das amerikanische Verlagshaus Western
Psychological Services dankt deshalb insbesondere den folgenden Mitgliedern:
Als Dr. A. Jean Ayres »Sensory Integration and the Child« schrieb, hatte sie ein einfaches
Buch vor Augen, das Eltern helfen sollte, ihre Kinder besser zu verstehen. Sie hatte im-
mer betont, dass das Buch sich auch an Pädagogen und Therapeuten richten solle, weil sie
wusste, dass die klaren Beschreibungen ihrer täglichen Arbeit mit Kindern und Familien
hilfreich sein würden. Ich bezweifle, dass sie sich vorstellen konnte, dass ihr Werk in viele
Sprachen übersetzt und auf der ganzen Welt gelesen werden würde, so wie das bei der Erst-
ausgabe der Fall war. Ich glaube, es hätte sie sogar noch glücklicher gemacht, zu sehen, dass
ihr Buch der Zeit standgehalten hat und auch heute noch so bedeutsam ist, dass diese Neu-
auflage herausgegeben wird. Als wir uns entschieden hatten, in diesem Buch den aktuellen
Forschungsstand und heutige Sichtweise darzustellen, sahen wir, dass die Kernthemen der
SI keiner Überarbeitung bedurften. Vielmehr haben wir zusätzliche Erklärungen, Tipps für
Eltern und Übersichten in das Buch eingefügt, um es für den Leser nachvollziehbar und
greifbar werden zu lassen. Die Übersetzung in die deutsche Sprache ist ein weiteres Zeugnis
für die Bedeutsamkeit von Dr. Ayres‘ Werk und dessen Einfluss auf Kinder, Familien und
Professionelle auf der ganzen Welt.
Dr. Zoe Mailloux, ehem. Forschungsassistentin von Dr. Ayres 1978–1989, Mitautorin des
SIPT
Dezember 2012
XV
Obwohl ich Dr. Ayres nie persönlich kennengelernt habe, ist sie mein größtes berufliches
Vorbild – sie hat mein Berufsverständnis und meine berufliche Entwicklung geprägt wie
kaum ein anderer. Mit ihrem komplexen, wissenschaftlich fundierten, ursachenorientierten
und zutiefst humanistischen Konzept hat sie meine intellektuellen Bedürfnisse voll erfüllt.
Sensorische Integration ist so umfassend wie kein anderes Konzept in der Ergotherapie – ich
möchte sogar sagen: in den Sozialwissenschaften. Auf einzigartige Weise synthetisierte Dr.
Ayres die Erkenntnisse aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen mit der ergotherapeuti-
schen Praxis, und sie spannte den Bogen von der Theorie zur Praxis – von einer standardi-
sierten Befundung über ein komplexes und wissenschaftlich fundiertes klinisches Reasoning
bis zu einem evidenzbasierten und höchst individualisierten Behandlungsansatz. Dr. Ayres‘
Sensorische Integration hat mein Leben so weit beeinflusst, dass ich die letzten zwei Jahre
in Kalifornien gelebt und an der Wiege der SI gearbeitet habe. Die wissenschaftliche Kom-
petenz und Integrität von Dr. Ayres und ihren Nachfolgerinnen kann Ergotherapeutinnen
weltweit als Modell dienen.
Mit meinen Übersetzungen der Fachbücher zur Sensorischen Integration möchte ich die
beste und fundierteste Literatur zur Sensorischen Integration in den deutschsprachigen
Raum bringen. An dieser Stelle möchte ich Dr. Inge Flehmig für ihre Initiative und Voraus-
sicht danken, die sie Anfang der 1980er Jahre bewies, als sie Ayres‘ Erstausgabe ins Deutsche
übersetzte. Ich wünsche mir, dass diese Neuauflage, so wie die vorherige Auflage, als Stan-
dardwerk zur kindlichen Entwicklung einen Stammplatz in jedem Kindergarten, jeder Arzt-
praxis, jeder Therapieabteilung und in der Ausbildung all derjenigen findet, die mit Kindern
zu tun haben.
Dezember 2012
XVII
Inhaltsverzeichnis
Stichwortverzeichnis��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 303
1 I
Sensorische Integration
und das Gehirn
Kapitel 1 Was ist sensorische Integration? – 3
Kapitel 2 Die Entwicklung der sensorischen Integration – 17
Kapitel 3 Das Nervensystem von innen – 37
2 Sensorische Integration und das Gehirn
»Sie werden in diesem Buch eine Manche Störungen wie z.B. Masern, Knochenbrüche oder Fehlsich-
1 neue Sichtweise von Lernen und tigkeit sind offensichtlich, andere jedoch wie Lernschwierigkeiten
Verhalten kennenlernen.« oder Verhaltensauffälligkeiten sind nicht so deutlich sichtbar. Diese
Schwierigkeiten können bei manchen Kindern durch eine schlechte
Verarbeitung von Sinnesinformationen im Gehirn verursacht sein.
Obwohl Störungen der sensorischen Integration nicht direkt zu se-
hen sind, kommen sie doch bei Kindern auf der ganzen Welt vor. Sie
können bewirken, dass selbst hochintelligente Kinder Schwierigkei-
ten haben, in der Schule zu lernen, und dass Kinder mit wunderbaren
Eltern und einer förderlichen Erziehung Verhaltensauffälligkeiten
zeigen.
Da sensorisch-integrative Probleme nicht offensichtlich sind, und
trotzdem so viele Schwierigkeiten verursachen, wollen wir sie hier er-
klären. Nur wenige Menschen befassen sich mit dem Gehirn, und nur
wenige setzen sich mit Begriffen wie »sensorisch« und »Integration«
auseinander. Sensorische Integration läuft bei den meisten von uns
automatisch ab, so dass wir sie für selbstverständlich halten, genauso
wie wir unseren Herzschlag und unsere Verdauung als gegeben an-
sehen. Störungen der sensorisch-integrativen Funktion werden von
Menschen ohne spezielle Ausbildung oft übersehen, sofern sie keine
schwerwiegenden Probleme verursachen. Man könnte annehmen,
dass Ärzte aufgrund ihrer Ausbildung Fachkenntnisse über senso-
rische Integrationsstörungen mitbringen. Allerdings richten Kinder-
ärzte, Allgemeinmediziner und Psychiater das Augenmerk eher auf
andere Aspekte von Gesundheit, Krankheit und Entwicklung und
erkennen nicht immer, dass ein sensorisch-integratives Problem vor-
liegt. Auch Pädagoginnen erkennen die Natur des Problems oft nicht.
Am ehesten sehen die Eltern das Problem, da sie ihre Kinder viel be-
obachten; doch ihnen fehlt die fachliche Kenntnis über das Gehirn,
und sie können sich oft nicht erklären, was in ihren Kindern vorgeht.
Wenn Sie sich bisher das Gehirn nicht als Steuerzentrum all unse-
rer körperlichen und geistigen Aktivitäten vorgestellt haben, werden
Sie in diesem Buch eine neue Sichtweise über Lernen und Verhalten
kennenlernen. Sie werden so manche typisch menschlichen Züge bes-
ser verstehen lernen. Und Sie werden zu den fünf Sinnen, von denen
man normalerweise spricht (Sehen, Hören, Geschmack, Geruch und
Tasten), zwei zusätzliche Sinne hinzufügen können (Gleichgewichts-
und Bewegungssinn). Ist Ihnen der Prozess der sensorischen Integra-
tion erst einmal bewusst, werden Sie erkennen können, ob Ihr Kind
diesbezüglich Probleme hat.
>> Je besser Sie die sensorisch-integrativen Funktionen Ihres
Kindes verstehen, desto eher werden Sie Ihr Kind bei Prob-
lemen unterstützen können und ihm zu einem glückliche-
ren, erfolgreicheren Leben verhelfen können.
1.1 • Bemerkungen zur Sprache in diesem Buch
5 1
1.1 Bemerkungen zur Sprache in diesem Buch
Beispiel
Sie können dieses Buch lesen, weil Lichtwellen die Nervenzellen in
Ihren Augen stimulieren und sensorische Prozesse in Ihrem Gehirn in
Gang setzen. Schallschwingungen, Berührungen auf der Haut, Gerü-
che, Muskelaktivität und Schwerkraft sind weitere Energien, die Sin-
nesempfindungen auslösen.
Beispiel
Ein Kind, das ein Buch liest, hat sowohl eine physische als auch eine
geistige Beziehung zu dem Buch. Die physische Interaktion erfordert,
das Buch gegen die Anziehung der Schwerkraft hochzuhalten, den
Kopf aufrecht zu halten, mit den Augen die Zeilen zu verfolgen und im
Gehirn die schwarzen Zeichen vor dem weißen Hintergrund zu spei-
chern. Die geistige Interaktion besteht darin, diese Zeichen in Silben,
Wörter und Sätze zu übersetzen sowie die inhaltliche Bedeutung der
Sätze zu erfassen.
Definition
Sensorische Integration ist die Verarbeitung von Sinnesinforma-
tionen, damit wir sie nutzen können.
1.2 • Sensorische Integration ist …
7 1
Über unsere Sinne erhalten wir Informationen über die physikali-
schen Bedingungen unseres Körpers und der Umgebung.
Beispiel
Sinnesempfindungen fließen zum Gehirn wie Flüsse, die in einen See
fließen. In jedem Augenblick strömen unzählige sensorische Informa-
tionen in unser Gehirn, nicht nur von den Augen und Ohren, sondern
von jeder Stelle unseres Körpers. Wir haben einen speziellen Sinn, der
die Anziehung der Schwerkraft und die Bewegungen unseres Körpers
in Bezug auf die Erde wahrnimmt.
1.2.1 Verkehrsregeln
Beispiel
Das Gehirn ortet (lokalisiert), sortiert und ordnet die Sinnesempfin-
dungen – vergleichbar einem Verkehrspolizisten, der den Verkehr re-
gelt. Fließen die Sinnesinformationen organisiert und gut integriert,
dann kann das Gehirn die Informationen nutzen, um Wahrnehmung
(Perzeption) und Verhalten zu erzeugen und Erfahrungen abzuspei-
chern (Lernen). Ist der Fluss der Sinnesempfindungen jedoch unorga-
nisiert, so ist das Leben wie ein Verkehrschaos zur Stoßzeit.
Beispiel
1 Es ist allgemein bekannt, dass Nahrung den Körper nährt, aber sie
muss erst verdaut werden. Wir können uns Sinnesreize als »Nahrung
für das Gehirn« vorstellen; sie liefern die Informationen, die das Gehirn
braucht, um den Körper und den Verstand zu steuern. Aber ohne gut
organisierte sensorische Prozesse können die Sinneseindrücke nicht
verdaut werden und das Gehirn nähren.
Beispiel
»Sensorische Integration beginnt Wenn wir eine Orange ansehen, integriert unser Gehirn die Sinnes-
im Mutterleib, sobald das Gehirn empfindungen unserer Augen, so dass wir Farbe und Form erkennen.
des Fötus die Bewegungen der Wenn wir die Orange berühren, werden die Sinnesempfindungen
Mutter wahrnimmt.« unserer Finger und Hände integriert, so dass wir erkennen, dass die
Orange außen fest und innen feucht ist. Wenn unser Gehirn die Sin-
nesempfindungen unserer Nase integriert, wissen wir, dass die Orange
den Geruch einer Zitrusfrucht hat (. Abb. 1.2).
1.2 • Sensorische Integration ist …
9 1
1.2.5 Sensorische Integration im Lebenslauf
Beispiel
Ein Baby sieht eine Rassel und greift danach. Das Hinreichen und Grei-
fen ist eine anpassende Reaktion. Ein nur ungezieltes Bewegen der
Hände wäre dagegen kein anpassendes Verhalten. Eine komplexere
anpassende Reaktion zeigt das Baby, wenn es versteht, dass die Rassel
zu weit weg liegt und es hinkrabbelt.
Für die meisten Erwachsenen ist dies »nur« Spiel. Aber dieses Spiel
1 besteht aus einer Serie von anpassenden Reaktionen, bei denen sen-
sorische Integration stattfindet. Die Entwicklung der sensorisch-in-
tegrativen Fähigkeiten verbessert wiederum deren Organisation und
ermöglicht dem Kind komplexere Leistungen. Ein Kind, das lernt,
organisiert zu spielen und im Spiel neue Fertigkeiten entwickelt, wird
wahrscheinlich auch seine Schularbeiten organisieren und sich den
Herausforderungen im Leben stellen können.
Bis zum Alter von etwa 7 Jahren ist die Aufgabe des Gehirns in erster
Linie die Verarbeitung von Sinnesinformationen. Das Kind nimmt
Dinge wahr, und diese gewinnen direkt aus den Sinneseindrücken
eine Bedeutung. Ein kleines Kind hat nicht viele abstrakte Gedan-
ken oder Ideen über Dinge; es ist hauptsächlich damit beschäftigt,
sie wahrzunehmen und seinen Körper in Bezug zu diesen Sinnes-
eindrücken zu bewegen. Seine anpassenden Reaktionen sind mehr
muskulär oder motorisch als kognitiv oder geistig. Daher werden
die ersten 7 Lebensjahre auch die Phase der sensomotorischen Ent-
wicklung genannt.
»Die Integration von Sinnesinfor- Mit zunehmendem Alter werden die sensomotorischen Aktivi-
mationen, die während der täten teilweise durch geistige und soziale Reaktionen abgelöst.
Bewegung, dem Sprechen Die geistigen und sozialen Funktionen des Gehirns basieren jedoch
und dem Spielen stattfindet, auf der Grundlage der sensomotorischen Prozesse. Das Verarbeiten
ist die Vorarbeit für die und Integrieren von Sinnesinformationen, das während der Bewe-
komplexeren sensorisch-inte- gung, dem Sprechen und dem Spielen stattfindet, ist die Vorarbeit
grativen Leistungen, die für für die komplexeren sensorisch-integrativen Leistungen, die für Le-
Lesen, Schreiben und geordnetes sen, Schreiben und geordnetes Verhalten notwendig sind. Laufen die
Verhalten notwendig sind.« sensomotorischen Prozesse in den ersten 7 Lebensjahren gut organi-
siert ab, wird es dem Kind später leichter fallen, kognitive und soziale
Kompetenzen zu erwerben.
»Spaß ist gewissermaßen »Spaß« ist gewissermaßen der kindliche Ausdruck für sensorische In-
der kindliche Ausdruck für tegration. Es ist befriedigend, Sinneseindrücke einordnen zu können,
sensorische Integration.« und noch mehr, sie mit immer reiferen und komplexeren Reaktionen
beantworten zu können. Dies ist ein wesentlicher Aspekt des Erwach-
senwerdens.
1.3 • Schlechte sensorische Integration ist …
11 1
Der Mensch ist dafür geschaffen, Dinge zu genießen, die die Ent-
wicklung seines Gehirns fördern. Darum suchen wir uns von Natur
aus Sinnesreize, die unserem Gehirn helfen, sich zu organisieren.
Beispiel
Kinder werden gerne hochgehoben, geschaukelt und umarmt, und
sie lieben es, herumzurennen, zu springen und auf Spielplätzen und
am Strand zu spielen. Sie wollen sich bewegen, weil die durch die Be-
wegung gewonnenen Sinneserfahrungen Nahrung für ihr Gehirn sind.
Zur Zeit gibt es kein Verfahren, mit dem die Störung direkt an der Stö-
rungsstelle im Gehirn gemessen werden kann. Darin unterscheidet
sich die sensorische integrative Störung von anderen medizinischen
Störungsbildern. Ein chemisches Ungleichgewicht, Virusinfektionen,
Veränderungen im Blutbild und Gewebepathologien können im La-
bor gemessen werden. Eine zentrale Verarbeitungsstörung hingegen
1.3.2 Frühsymptome
Auch Licht oder Lärm kann diese Kinder irritieren und ablenken.
Wenn man genau beobachtet, kann man die Irritation am Gesichts-
ausdruck des Kindes erkennen.
. Abb. 1.6 gibt uns eine Vorstellung, was sensorische Integration
bedeutet.
1.3.3 Schulschwierigkeiten
Es gibt Kinder, die zu Hause gut zurechtkommen oder zumindest »Beim Lesen, Schreiben und
unauffällig sind, aber mit dem schulischen Lernen große Schwierig- Rechnen … handelt es sich um
keiten haben. Obwohl Pädagogen das Lesen, Schreiben und Rechnen äußerst komplexe Prozesse,
als »Grundlagen« sehen, handelt es sich doch um äußerst komplexe die sich nur auf einem starken
Prozesse, die sich nur auf einem starken Fundament der Verarbeitung Fundament der Verarbeitung
und Integration von Sinnesinformationen entwickeln können. Eine und Integration von Sinnesinfor-
Schwäche der sensorischen Integration, die in der frühen Kindheit mationen entwickeln können.«
»geringfügig« ist, kann bei Schuleintritt eine erhebliche Beeinträch-
tigung werden.
Eltern und Lehrer erwarten von einem Schulkind mehr als von
einem kleineren Kind – nicht nur, dass das Kind verschiedenste neue
Dinge lernen muss, es muss auch mit seinen Klassenkameraden und
14 Kapitel 1 • Was ist sensorische Integration?
1
Sensorische Integration verstehen
Da wir Menschen davon abhängig sind, dass alle unsere Sinne zusammenarbeiten, wird
es rasch unangenehm, wenn wir keine verlässlichen, bekannten Sinnesreize vorfinden.
Wenn uns einzelne Sinne nicht die Informationen liefern können, die wir brauchen,
müssen wir auf Sinnessysteme zurückgreifen, die wir im Normalfall nicht nutzen würden.
Können Sie sich vorstellen, wie es Ihnen in diesem Lagerraum erginge, wo Ihnen alle
vertrauten Sinnesinformationen fehlen, die Ihnen im Alltag helfen, ruhig, organisiert
und sicher zu sein, was zu tun ist?
Beispiel
Ohne gute sensorische Integration ist es schwierig, die Schnürsenkel
zu binden, eine Schere zu halten, mit dem Stift nicht so fest aufzudrü-
cken, dass die Mine abbricht, von einer Aufgabe zur nächsten zu wech-
seln oder auf dem Schulweg die Verkehrszeichen zu erkennen. Das
Kind wird im Turnunterricht gegen Kinder antreten müssen, die weit
besser entwickelte sensomotorische Fähigkeiten haben. Es muss in
einem Raum voller Menschen aufmerksam sein, obwohl es kaum auf-
passen kann, wenn es mit seiner Lehrerin allein ist. Man verlangt, dass
es Dinge möglichst schnell erledigt, für die es Zeit braucht, und dass es
sich zwei Aufträge gleichzeitig merkt (z.B. »Legt die Bücher weg, und
nehmt Eure Stifte heraus!«), obwohl es ihm schon schwer fällt, sich eine
einzelne Anweisung zu merken.
1.3 • Schlechte sensorische Integration ist …
15 1
In der Klasse ist ein solches Kind leicht von Hintergrundgeräuschen,
Licht und der Betriebsamkeit der Mitschüler abgelenkt, vor allem,
wenn sie an unterschiedlichen Aufgaben arbeiten. Sein Gehirn wird
überstimuliert, worauf es mit übermäßiger Aktivität reagiert.
Ein hyperaktives Kind »springt im ganzen Klassenzimmer her-
um« – nicht weil es das so gerne tut, sondern weil sein Gehirn außer
Kontrolle geraten ist. Seine überschießende Aktivität ist eine zwang-
hafte Reaktion auf Sinnesreize, die es weder ausblenden noch ordnen
kann. Das Chaos in seinem Gehirn macht es ihm unmöglich, sich zu
konzentrieren, und so bekommt es den Unterricht nicht mit. Es kann
vorkommen, dass dieses Kind wütend wird oder sogar zuschlägt,
wenn es beim Anstehen unabsichtlich berührt oder geschubst wird.
Seine aggressiven Reaktionen sind aber nicht persönlich gemeint;
sie sind automatische Reaktionen auf Sinnesreize, die die Toleranz
des Kindes übersteigen.
Das Kind kann diese Probleme weder besprechen noch kann es »Jedes Kind mit einer SI-Störung
verstehen, was mit ihm passiert, denn das Problem betrifft Prozesse zeigt eine unterschiedliche
im Gehirn, die unbewusst ablaufen, und die das Kind daher nicht Kombination von Symptomen.«
kontrollieren kann. Es ist nutzlos, das Kind zu ermahnen, sich zu-
sammenzunehmen oder besser zu konzentrieren. Belohnungen wie
Bonbons oder Aufkleber und Strafen machen es für das Gehirn nicht
leichter, die Sinnesinformationen zu organisieren. Wenn Erwachse-
ne Forderungen an das Kind stellen, die es nicht erfüllen kann, ver-
schlimmern sich seine Probleme noch.
Macht das Kind über Jahre solche Erfahrungen, wird ihm be-
wusst, dass es »anders« ist und vielleicht ein Leben lang in bestimm-
ten Bereichen anders sein wird als die anderen. Ohne verständnisvolle
Unterstützung seiner Eltern läuft es Gefahr, sich selbst für dumm oder
schlecht zu halten, vor allem, weil es das von anderen Kindern zu hö-
ren bekommt. Es reicht nicht aus, dem Kind immer wieder mit Wor-
ten zu versichern, dass es nicht dumm oder ein schlechter Mensch ist,
denn Wörter und Gedanken können das Gehirn nicht organisieren.
Sinneserfahrungen und anpassende Reaktionen hingegen helfen
dem Gehirn und stärken zusätzlich das Selbstbewusstsein des Kindes.
Eine sensorische-integrative Funktionsstörung ist eine schwe-
re Belastung für die Betroffenen. Man muss bedenken, dass jedes
Kind mit SI-Störung eine unterschiedliche Kombination von Sym-
ptomen zeigt. Sogar normal entwickelte Kinder können dann und
wann manche dieser Auffälligkeiten zeigen. Erst wenn bei einem Kind
viele dieser Probleme kontinuierlich vorkommen, sollten die Eltern
aufmerksam werden. Wenn Sie vermuten, dass Ihr Kind sensorisch-
integrative Schwächen hat, bringen Sie es zu einer Ergotherapeutin
mit einer Zusatzqualifikation in Ayres’ Sensorischer Integrations-
therapie (7 Kap. 11).
Wenn Sie an alle Erwachsenen denken, die Sie kennen, wird Ihnen
1 auffallen, dass jeder irgendwelche Schwierigkeiten hat, zu lernen und
sich anzupassen. Die meisten von uns sind in der Lage, ohne perfekte
sensorische Integration durchzukommen.
In den ersten 7 Lebensjahren lernt ein Kind, seinen Körper und sei-
ne Umwelt wahrzunehmen, sich aufzurichten und seine Bewegungen
zweckgerichtet einzusetzen. Es erfährt, was verschiedene Geräusche
2 bedeuten und lernt zu sprechen. Anhand von unzähligen Erfahrun-
gen mit Möbelstücken, Kleidung, Schuhen, Essbesteck, Spielsachen,
Stiften, Büchern usw. lernt es mit den physikalischen Gesetzen auf der
Erde und mit anderen Menschen umzugehen.
>> Die Sinne des Kindes nehmen aus allen erlebten Erfah-
rungen Informationen auf, und das Kind muss gute senso-
risch-integrative Fähigkeiten entwickeln, um diese nutzen
und sich sinnvoll mit seiner Umwelt auseinandersetzen zu
können.
Ein Neugeborenes sieht, hört und fühlt seinen Körper, aber es kann
die Eindrücke nicht einordnen, so dass es den meisten keine Bedeu-
tung geben kann. Es kann nicht sagen, wie weit Dinge entfernt sind,
was bestimmte Geräusche bedeuten, welche Form die Dinge in seiner
Hand haben, oder wo sich sein Körper im Raum befindet. Durch Sin-
neserfahrungen lernt das Kind allmählich, die Eindrücke in seinem
Gehirn zu ordnen und findet heraus, was sie bedeuten. Es lernt, seine
Aufmerksamkeit auf bestimmte Sinnesreize zu richten und andere zu
ignorieren. Bewegungen, die im Säuglingsalter unbeholfen und fahrig
2.1 • Grundprinzipien der kindlichen Entwicklung
19 2
waren, werden geschmeidiger und zielgerichteter. Das Kind erlernt
die komplizierten Bewegungen des Sprechens.
Mit der Ordnung der Sinneseindrücke gewinnt das Kind auch zu-
nehmend Kontrolle über seine Emotionen. Es lernt, für längere Zeit-
räume organisiert zu bleiben. Manche Situationen, die einen Säugling
aufregen, sind für ein älteres Kind lehrreich und befriedigend.
Beispiel
Beim Schaukeln passt das Kind seinen Körper an die Schwerkraft und
die Bewegungsreize, die es wahrnimmt, an. Durch die anpassenden
Körperbewegungen kann das Gehirn diese Sinnesinformationen ein-
ordnen.
Niemand kann die anpassende Reaktion für das Kind ausführen; das
kann es nur selbst tun. Glücklicherweise lieben Kinder von Natur aus
Aktivitäten, die sie zu neuen Sinneserfahrungen und zur Entwicklung
von motorischen Funktionen herausfordern. Es macht ihnen Spaß,
Sinneserfahrungen zu integrieren und entsprechend zu reagieren.
20 Kapitel 2 • Die Entwicklung der sensorischen Integration
Beispiel
Beobachten Sie einmal ein Kind beim Fahrradfahren. Sie werden se-
hen, wie sensorische Informationen anpassende Reaktionen auslö-
2 sen, und diese wiederum sensorische Integration bewirken. Um auf
dem Fahrrad die Balance halten zu können, muss das Kind die An-
ziehung der Schwerkraft und die Bewegungen seines Körpers wahr-
nehmen (. Abb. 2.1). Jedes Mal, wenn es die Balance verliert und zu
fallen droht, integriert sein Gehirn die Informationen des Fallens und
produziert eine anpassende Reaktion. In diesem Fall besteht sie dar-
in, das Gewicht zu verlagern bis das Gleichgewicht wiederhergestellt
ist. Macht das Kind diese anpassende Reaktion nicht oder zu langsam,
fällt es vom Fahrrad. Passiert ihm dies wiederholt, weil es keine klaren,
genauen Informationen von seinem Körper- und Schwerkraftsinn be-
kommt, wird es das Fahrradfahren möglicherweise aufgeben.
. Abb. 2.1 Um auf einem Fahrrad Weitere anpassende Reaktionen sind nötig, um das Fahrrad zu
die Balance halten zu können, muss lenken, damit es dorthin fährt, wohin das Kind will. Damit das Kind
ein Kind den Zug der Schwerkraft und
weiß, wo es sich in Bezug zu einem Baum befindet, muss sein Gehirn
seine eigenen Körperbewegungen
wahrnehmen können visuelle Informationen mit Sinnesempfindungen aus dem Körper und
Gleichgewichtsorgan abstimmen. Dann muss es diese sensorischen
Informationen nutzen, um einen Weg um den Baum herum zu pla-
nen. Je schneller das Fahrrad fährt, desto stärker sind die sensorischen
Reize, und desto genauer müssen die anpassenden Reaktionen sein.
Fährt das Kind gegen den Baum, bedeutet dies, dass sein Gehirn die
Sinnesinformationen nicht oder nicht schnell genug verarbeiten konn-
te. Steigt das Kind nach einer erfolgreichen Fahrt vom Rad, so ist sein
Gehirn um die Erfahrungen mit der Schwerkraft, den räumlichen Be-
ziehungen zwischen seinem Körper und der Umwelt und mit seinen
Bewegungen reicher, so dass ihm das Fahrradfahren mit jedem Mal
leichter fallen wird. Auf diese Art entwickelt sich die sensorische In-
tegration.
»Jedes Kind hat einen starken Jedes Kind hat einen starken inneren Antrieb, seine sensorisch-inte-
inneren Antrieb, seine sensorisch- grativen Fähigkeiten zu entwickeln. Man muss ihm nicht sagen, dass
integrativen Fähigkeiten zu es krabbeln, sich aufrichten oder gehen soll; die Natur treibt das Kind
entwickeln.« von selbst dazu an. Achten Sie darauf, wie ein Kind seine Umgebung
nach Gelegenheiten absucht, sich weiterzuentwickeln, und wie es
sich bemüht und anstrengt, bis es eine Tätigkeit gemeistert hat. Ohne
diesen inneren Antrieb, Sinnesreize zu integrieren, wären wir alle in
unserer Entwicklung stehengeblieben. Da dieser innere Antrieb so
stark ist, erscheint uns die sensomotorische Entwicklung so selbstver-
ständlich. Sie passiert automatisch von Natur aus.
2.2 • Die Entwicklungsstufen
21 2
2.1.3 Entwicklungsbausteine
Im Entwicklungsverlauf nutzt das Kind jede Aktivität, um »Baustei- »Das Kind nutzt jede Aktivität,
ne« zu entwickeln, auf denen komplexere und reifere Entwicklungs- um ‚Bausteine’ zu entwickeln,
schritte aufbauen können. Ständig kombiniert es einzelne Funktio- auf denen komplexere und
nen, um daraus höhere Leistungen zu entwickeln. Es übt eine Aktivi- reifere Entwicklungsschritte
tät immer wieder, bis es jeden sensorischen und motorischen Teil da- aufbauen können.«
von beherrscht. Manchmal geht das Kind einen Schritt zurück, bevor
es etwas Neues beginnt und übt einen früheren Entwicklungsschritt.
Beispiel
Die Bausteine, die zum freien Gehen führen, sind nicht schwer zu er-
kennen: Das Kind muss den Kopf aufrecht halten können, bevor es frei
sitzen und auf allen Vieren krabbeln kann. Erst dann kann es sich auf-
richten und auf zwei Beinen gehen.
Die Sinne entwickeln sich ebenso in Form von Bausteinen, auch wenn
diese schwieriger zu erkennen sind. Am frühesten entwickeln sich
die Sinnessysteme, die Informationen über den eigenen Körper und
seinen Bezug zur Schwerkraft liefern (Nahsinne). Auf diesen Baustei-
nen können dann die Sinnessysteme für das Sehen und Hören auf-
bauen, die Informationen über die Umwelt liefern (Fernsinne). Die
visuell-perzeptiven Leistungen, die für das Lesen erforderlich sind,
sind das Endprodukt von vielen Bausteinen, die sich während der
sensomotorischen Aktivitäten in der frühen Kindheit und Vorschul-
zeit aneinanderreihen. Dasselbe gilt für alle kognitiven Leistungen,
für das Verhalten und das emotionale Wachstum; sie alle bauen auf
einem sensomotorischen Fundament auf.
Sehsinn Der Sehsinn des 1-monatigen Säuglings ist noch nicht gut
organisiert, obwohl er bereits das Gesicht seiner Mutter und andere
bedeutungsvolle Reize erkennen kann. Der Säugling sieht noch un-
scharf, und er kann komplexe Formen oder Farbkontraste noch nicht
unterscheiden. Er nimmt Gefahren durch Bewegung oder Berührung
wahr, aber nicht durch Sehen. Ein erster Schritt der Entwicklung des
Sehens ist es, wenn der Säugling lernt, einem sich bewegenden Objekt
oder einer Person mit den Augen und dann mit dem Kopf zu folgen.
Diese anpassende Reaktion erfordert, dass das Gehirn Informatio-
nen von den Augen- und Nackenmuskeln mit Informationen über
Schwerkraft und Bewegung aus dem Gleichgewichtsorgan integriert.
>> Ein Baby ist aufmerksam und glücklich, wenn es Menschen,
Tiere oder Spielsachen in Bewegung sieht und seine Fähig-
keit, sie mit den Augen zu verfolgen, üben kann.
Hörsinn Das 1-monatige Kind reagiert auf den Klang einer Rassel
oder Glocke und auf die menschliche Stimme, obwohl es noch nicht
versteht, was diese Geräusche bedeuten. Es wendet seinen Kopf dem
Geräusch zu oder lächelt. Auf Geräusche zu reagieren ist der erste
Baustein der Sprachentwicklung. Der Säugling macht auch kleine,
kehlige Laute. Die Sinnesreize, die dabei durch die Muskelkontrak-
tionen in der Kehle entstehen, tragen dazu bei, die Sprachzentren im
Gehirn zu entwickeln.
2.2 • Die Entwicklungsstufen
25 2
Geruchs- und Geschmackssinn Ein weiterer Sinn, der bereits zum
Zeitpunkt der Geburt gut entwickelt ist, ist der Geruchssinn. Er spielt
in den ersten Lebensmonaten eine wichtige Rolle. Wie der Gleich-
gewichts- und der Tastsinn prägte sich dieser Sinn bereits früh in der
Evolution von den Tieren aus, aus denen der Mensch sich entwickelt
hat. Der Geruchssinn verbessert sich im Laufe der Kindheit nicht
mehr, so wie etwa der Seh- und der Hörsinn.
Der junge Säugling hat auch schon einen gut ausgeprägten Ge-
schmackssinn. Das Saugen ist eine anpassende Reaktion, die durch
Geschmacks- und Geruchsreize ausgelöst wird. Der Saugreflex ist
normalerweise bei der Geburt vorhanden.
Der 1-monatige Säugling verfügt bereits über eine beträchtliche
Anzahl von anpassenden Reaktionen auf Sinnesreize, besonders auf
Empfindungen seines eigenen Körpers und des Schwerkraftsinns.
Viele dieser frühen Reaktionen sind bereits vorgeburtlich im Nerven-
system angelegt und werden durch Schwerkraft-, Bewegungs- und
Berührungsreize ausgelöst. Ohne die Integration, die während dieser
einfachen sensomotorischen Aktivitäten stattfindet, wäre eine gute
Entwicklung im späteren Leben unmöglich.
. Abb. 2.3 Das 3-monatige Kind hat den Drang, seinen Kopf und Oberkörper so
anzuheben, dass es seine Umwelt sehen und erforschen kann
Aufrichtung Wenn man bedenkt, wie stark und beständig die Erd-
anziehung ist, wird klar, wie viel inneren Antrieb das Kind haben
muss, um in nur einem Jahr eine aufrecht stehende Position zu errei-
chen. Nachdem es gelernt hat, mit seinen Nackenmuskeln den Kopf
aufrecht zu halten, setzt es die obere Rücken- und Armmuskulatur
ein, um in Bauchlage die Brust vom Boden abzuheben. Der Drang
des Säuglings, den oberen Rumpf anzuheben, wird hauptsächlich von
Schwerkraftreizen verursacht, die das Gehirn dazu stimulieren, die
Rückenstreckmuskeln zu aktivieren. Das Kind lernt, mit guter Kopf-
kontrolle aufrecht zu sitzen, wenn es im unteren Rücken etwas unter-
stützt wird. Ein gewisses Maß an Herausforderung ist für jede Art
von Lernen notwendig: Würde man den ganzen Rücken unterstützen,
wäre die Herausforderung genommen, andererseits wäre das Sitzen
ohne Unterstützung in diesem Alter noch eine zu große Anforderung.
Greifen Bei einem 3-monatigen Säugling sind die Hände die meiste
Zeit über offen. Er greift nach Gegenständen und Personen, doch fehlt
ihm noch die nötige Auge-Hand-Koordination, um dosiert danach
zu reichen. Diese Feinbewegung findet er allmählich heraus, indem
er die Informationen aus seinem Körper mit den Seheindrücken zu-
sammenbringt (integriert).
2.2 • Die Entwicklungsstufen
27 2
In diesem Alter setzt das Kind Daumen und Zeigefinger noch
nicht zum Greifen ein, sondern hält Dinge mit drei Fingern und der
Handfläche fest. Auf diese einfache Weise ergreift es eine Rassel, wäh-
rend sein Tastsinn Informationen an das Gehirn sendet, die umge-
setzt dazu beitragen, dass es sie festhalten kann. Da das Greifen im-
mer noch eine automatische Reaktion auf den Berührungsreiz in der
Handfläche ist, kann das Kind die Rassel nicht willkürlich loslassen.
In den nächsten Monaten wird das Kind dann die Tast-, Kraft- und
Stellungssinnempfindungen seiner Hände integrieren und so einen
immer geschickteren Zangengriff mit Daumen und Zeigefinger ent-
wickeln.
. Abb. 2.4 Mit rund 6 Monaten streckt sich das Baby automatisch gegen die
Schwerkraft und orientiert seinen Kopf und seinen Körper im Raum
zu tun, die es planen muss. Für jede neue Spielaktivität ist mehr Be-
wegungsplanung und mehr sensorische Integration nötig. Das Kind
kann jetzt auch für kurze Zeit frei sitzen, ohne umzufallen. Die auto-
matischen muskulären Reaktionen, die es aufrecht halten, werden
von den Schwerkraft-, Bewegungs- und Seheindrücken gesteuert.
>> Kann das Gehirn die Informationen von Schwerkraft-, Be-
wegungs- und Sehsinn nicht gut integrieren, hat das Kind
Schwierigkeiten zu sitzen und versucht es möglicherweise
erst gar nicht.
Finger und Augen (Visuomotorik) Das Kind kann nun Daumen und
Zeigefinger für den Zangen- oder Pinzettengriff benutzen, um kleine
Dinge aufzuheben oder an einer Schnur zu ziehen. Es steckt seinen
Zeigefinger gerne in Löcher. Die Tastempfindungen und die Informa-
30 Kapitel 2 • Die Entwicklung der sensorischen Integration
In dieser Periode verändert sich der Bezug des Kindes zur Erde und
zum Raum um seinen Körper sehr stark. Es kann nun über länge-
re Distanzen krabbeln und erkundet eine immer größer werdende
Umgebung. Sein Nervensystem wird durch die vielen Sinnesemp-
findungen der Muskulatur, die seinen Kopf und Körper gegen die
Schwerkraft halten, der Knochen, die sein Gewicht tragen, und von
der Schwerkraft stimuliert. Diese Sinneserfahrungen helfen dem
Kind, seine beiden Körperseiten zu koordinieren, seine Bewegungen
zu planen und visuelle Wahrnehmung zu entwickeln. Das Kind ver-
2.2 • Die Entwicklungsstufen
31 2
bringt viel Zeit damit, sich Dinge einfach anzusehen und herauszu-
finden, was sie sind. Je vielfältiger die Erfahrungen, die es bei seinen
Erkundungen macht, desto mehr übt es sich, Sinnesinformationen zu
verarbeiten und für anpassende Reaktionen zu nutzen.
Wörter Das Kind versteht nun recht viel von dem, was seine Eltern
sagen; und selbst kann es schon einige einfache Wörter wie »Mama« . Abb. 2.7 Eines der größten Er-
oder »Dada« sagen. Es scheint, dass die durch die Körperbewegungen eignisse der frühen Kindheit ist das
freie Stehen und Gehen. Das Kind
erlebten Sinneserfahrungen Bereiche des Gehirns stimulieren, die an
überwindet die Schwerkraft – eine
der Lautbildung beteiligt sind. großartige Leistung, die sein Selbstver-
trauen stärkt
Die »Landkarten« des Körpers Kinder in diesem Alter lieben es, her-
umzutoben, zu schaukeln und Huckepack getragen zu werden. Diese
Aktivitäten liefern viele Sinnesempfindungen vom eigenen Körper
und den Schwerkraftrezeptoren im Innenohr. Sie vermitteln dem
Kind, wie die Erdanziehung funktioniert, wie sich seine Körperteile
bewegen und zusammenspielen, was sie nicht tun können, was sich
gut anfühlt, und was weh tut oder unangenehm ist. Alle diese Sinnes-
informationen formen im Gehirn ein inneres sensorisches Bild vom
2.2 • Die Entwicklungsstufen
33 2
Körper. Wir bezeichnen es als Körperschema. Um das Körperschema
besser zu verstehen, kann man es sich wie einen Weltatlas vorstellen,
mit Karten von jeder Gegend der Welt. Mit jeder Bewegung und Er-
fahrung über deren Folgen fügt das Kind die »Landkarten« seines
Körpers zusammen. Sein Gehirn speichert unzählige Informationen,
auf die es später zurückgreift, um die Bewegungen des Körpers zu
steuern.
Klettern Kinder haben einen inneren Antrieb, den Raum nicht nur in
der horizontalen, sondern auch in der vertikalen Ebene zu erkunden.
Noch bevor sie gehen können, klettern sie an Gegenständen hoch.
Um klettern zu können muss das Kind die Schwerkraft- und Bewe-
gungsempfindungen gut verarbeiten. Schon während des Kletterns
integriert es diese Informationen mit den Sinneseindrücken des Kör- . Abb. 2.9 Im 2. Lebensjahr nimmt
das Kind sich selbst wahr und entwi-
pers und der Augen. Klettern erfordert sensomotorische Intelligenz
ckelt ein Unabhängigkeitsgefühl
und ist ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der visuellen Raum-
wahrnehmung.
Zweijährige lernen auch, Anweisungen und Aufträge zu verstehen
und zu befolgen. Die meisten Kinder lernen in diesem Lebensjahr,
zahlreiche Wörter auszusprechen; bei anderen findet der Sprachent-
wicklungsschub erst im 3. Lebensjahr statt.
Gefühl für das eigene Selbst Erfährt sich das Kind über seine Körper-
empfindungen als selbständiges und kompetentes Individuum – se-
parat und sich unterscheidend von seiner Mutter und allen anderen
Menschen und Dingen – dann ist es auf dem besten Weg zu einem
gesunden Selbstbewusstsein. Das Gefühl für das eigene »Selbst« ent-
wickeln ist eine wichtige Aufgabe auf dem Weg zum 2. Geburtstag.
>> Das Kind nimmt sich als eigene Person wahr, weil es seinen
Körper als ein physisches Ganzes fühlt und sich selbststän-
dig bewegen kann.
Das Kind kann sein Leben nur soweit selbst bestimmen, wie seine
Körperwahrnehmung ihm erlaubt, sich frei und effizient zu bewegen.
Sein Leben besteht weiterhin hauptsächlich aus Spüren und Bewegen,
2 Essen und Schlafen und den Beziehungen innerhalb seiner Familie.
>> Die Integration von Sinneseindrücken schafft die Grundlage
für gute zwischenmenschliche Beziehungen. Verhält sich
ein Kind im Umgang mit anderen Menschen auffällig, so
kann dies mit Schwierigkeiten zusammenhängen, die Sin-
nesreize zu verarbeiten.
Obwohl das Kind nun die ersten Schritte in Richtung einer selbst-
ständigen Persönlichkeit gemeistert hat, hat es noch einen langen Weg
vor sich, bis es unabhängig ist. Es braucht noch eine Menge Unter-
stützung, Ermutigung und Trost. Viel davon bekommt es, wenn es
umarmt und festgehalten, gewiegt, geknuddelt und liebkost wird. Be-
ruhigende Sinneserfahrungen wirken integrierend und helfen einem
aus der Fassung geratenen Kind, sich wieder zu organisieren.
Piaget nahm an, dass das menschliche Gehirn nicht dazu geschaffen
ist, Abstraktionen zu verarbeiten, bevor es nicht konkrete Kenntnis
vom Körper und von der Welt mit ihren physischen Kräften hat. Es
ist einfach notwendig, sich 7 oder 8 Jahre lang zu bewegen und zu
spielen, damit die sensomotorische Intelligenz sich entwickeln kann
– als Grundlage für die weitere intellektuelle, soziale und persönliche
Entwicklung.
Aber manchmal läuft die Entwicklung nicht so ab, wie die Natur
es vorgesehen hat. Wir können nicht sagen, warum das so ist, aber wir
erkennen, wenn Kinder Schwierigkeiten haben, Sinnesinformationen
zu verarbeiten und zu integrieren. Wir können die Natur zwar nicht
ersetzen und alles in Ordnung bringen, aber wir können einiges tun,
um dem Kind zu helfen, sich besser zu organisieren. Dies verdanken
wir dem Umstand, dass Kinder ihrem inneren Antrieb zu sensori-
scher Integration folgen. Je besser Sie Ihr Kind beobachten, desto bes-
ser werden Sie ihm helfen können.
Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Dr. Susan Knox zu den Punkten, die in diesem
Kapitel angesprochen werden, finden Sie in Anhang A.
37 3
»Im Lernen und Verhalten Verhalten und Lernen sind der sichtbare Ausdruck der unsichtbaren
wird sichtbar, wie das Aktivität des Gehirns. Im Lernen und Verhalten wird sichtbar, wie
Gehirn Sinnesinformationen Sinnesinformationen verarbeitet werden. Um die sensorische Integ-
verarbeitet.« ration besser zu verstehen, muss man die Struktur und Funktionen
des Nervensystems kennen. In diesem Kapitel erklären wir die neuro-
nalen Prozesse, die dafür verantwortlich sind, dass Ihr Kind lernt und
3 bestimmte Verhaltensweisen zeigt. Im ersten Teil beschreiben wir die
Struktur und die Funktionen des Gehirns, im zweiten Teil beschäf-
tigen wir uns mit den Sinnessystemen und ihrer Bedeutung für die
Entwicklung.
. Abb. 3.1 a-c Wenn das Gehirn als Ganzes und ausbalanciert arbeitet, sind die Körperbewegungen sehr adaptiert, das
Lernen fällt leicht, und soziales Verhalten ist eine natürliche Sache
Wir werden nun die Strukturen und Funktionen des Gehirns detail-
lierter betrachten. . Abb. 3.2 zeigt die Teile des Gehirns, die wir in
diesem Abschnitt behandeln werden.
Die Nervenzelle
Nervenzellen oder Neurone sind die Leistungsträger des Nervensys- »Schätzungen zufolge breitet
tems. Durchschnittlich hat man etwa 12 Milliarden (12.000.000.000) sich ein Impuls in einer einzigen
Neurone. Diese Zahl, die fast das Doppelte der Erdbevölkerung aus- Sekunde über bis zu einer
macht, lässt erahnen, wie komplex neuronale Funktionen sind. Million Nervenzellen in vielen
Jedes Neuron besteht aus einem Zellkörper und einer Faser, verschiedenen Gebieten des
die sich in viele kleinere Fasern verzweigt (. Abb. 3.3). Manche der Gehirns aus.«
40 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen
»Wenn Sie Ihr Kind beobachten, Stellen Sie sich vor, wie ungeheuer komplex die innere Welt Ihres
wie es übt, seine Schnürsenkel Gehirns ist, während Sie dieses Buch lesen. Und wenn Sie Ihr Kind
zu binden, dann denken Sie beobachten, wie es übt, seine Schnürsenkel zu binden, oder wie es auf
an die unzähligen elektrischen einer Geburtstagsfeier »überdreht« wird, dann denken Sie an die un-
Impulse, die für diese Aktivität zähligen elektrischen Impulse, die dafür verantwortlich sind.
verantwortlich sind.«
Nervenbahnen und Kerne
Viele Neurone sind in langen dünnen Bündeln zusammengefasst,
den sogenannten Nervenbahnen. Die meisten Nervenbahnen leiten
nur eine Art von Sinnesinformation oder motorischen Impulsen von
3.1 • Wie unser Gehirn arbeitet
41 3
einem Ort im Nervensystem zu einem anderen, nur manche sind für
mehrere Arten von Reizen (Sinnesmodalitäten) zuständig. Ähnlich
wie Telefonleitungen, die jedes Gespräch einzeln übertragen, stellt
dieser geordnete Verlauf der Nervenbahnen sicher, dass die Infor-
mationen nicht durcheinanderkommen. Wir haben separate Nerven-
bahnen für visuelle Impulse, Geräusche, Gerüche usw.
Kerne sind Anhäufungen von Nervenzellen, die als eine Art
Schnittstelle von sensorischen oder motorischen Informationen
funktionieren. Sie nehmen die sensorischen Impulse auf, ordnen sie
neu, verfeinern die Information und bringen sie in Bezug zu anderen
Informationen. Visuelle Informationen von der Netzhaut z.B. passie-
ren auf ihrem Weg zum Großhirn Kerne im Hirnstamm (. Abb. 3.4),
in denen sie neu geordnet, verfeinert und mit anderen Sinnesinfor-
mationen abgestimmt werden; dann erst werden die integrierten Bot- . Abb. 3.4 Hirnstamm, Rückenmark
schaften an die Areale in den Großhirnhemisphären weitergeleitet
(. Abb. 3.6). Dort werden die Informationen noch detaillierter aufbe-
reitet und an motorische und andere Zentren weitergeleitet, die dann
die Reaktion vorbereiten und veranlassen. An jeder Stelle werden vie-
le Arten von Informationen zu einer immer umfassenderen Botschaft
zusammengestellt.
Das Rückenmark
Das Rückenmark enthält zahlreiche Nervenbahnen: Bahnen, die die
sensorischen Informationen zum Gehirn leiten, und Bahnen, die die
motorischen Befehle zu den Nerven in den Körper bringen, die dann
diese Befehle an die Muskeln und Organe weitertragen (. Abb. 3.4).
Zu einem Teil dient die absteigende Aktivität im Rückenmark der Hal-
tungs- und Bewegungskontrolle, zum anderen werden die Funktionen
der inneren Organe reguliert. Eine geringfügige Verarbeitung von Sin-
nesinformationen erfolgt bereits im Rückenmark, der Großteil findet
im Gehirn statt. Das Gehirn ist besser für die sensorische Integration
geeignet, da die Neurone im Gehirn die meisten Verbindungen haben.
>> Sensorische integrative Funktionsstörungen betreffen das
Gehirn und nicht das Rückenmark.
Der Hirnstamm
Der Hirnstamm ist eine kegelförmige Ansammlung von Neuronen,
die in Höhe der Ohren liegt (. Abb. 3.4). Die sensorischen Bahnen des
Rückenmarks setzen sich im Hirnstamm fort, und zusätzlich enthält
der Hirnstamm viele wichtige und komplexe Kerne. In vielen Kernen
kommen die Impulse von zwei oder mehreren Sinnesmodalitäten zu-
sammen. Es ist der Hirnstamm, wo die vielen Sinneseindrücke einer
Orange (wie in 7 Kap. 2 beschrieben) zur ganzheitlichen Wahrneh-
mung der Orange verschmelzen. Die meisten Hirnstammaktivitäten
sind automatisch, d.h., sie finden ohne unsere Absicht statt, und ohne
dass wir darüber nachdenken.
Der Mittelpunkt des Hirnstamms wird von einer Gruppe von
Neuronen und Kernen gebildet, die netzartig miteinander verbunden
42 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen
Die Hirnrinde
Die äußere Schicht der Hirnhälften wird Hirnrinde (lat. Kortex)
genannt. Die Hirnrinde des menschlichen Gehirns ist hoch spezia-
lisiert; es gibt eigene Bereiche (sogenannte Felder) für die visuelle
Wahrnehmung, die Interpretation von Umgebungsgeräuschen, das
Sprachverständnis, große Bereiche für die Interpretation von Körper-
empfindungen und mehrere Bereiche für die willkürliche Kontrolle
von Körper- und Augenbewegungen. Die Areale, in denen die Kör-
perempfindungen verarbeitet und willkürliche Bewegungen gesteu-
ert werden, sind in einzelne Abschnitte unterteilt: Jeder Abschnitt
ist einem Körperteil zugeordnet. Dabei sind die Abschnitte für die
Finger, Hände und Sprachmuskeln viel größer angelegt als diejenigen
für die anderen Körperteile.
>> Eine besonders wichtige Funktion der Hirnrinde ist es, präzi-
se und komplizierte Handbewegungen wahrzunehmen und
zu steuern, z.B. Essbesteck oder einen Stift benutzen, oder
zu sprechen.
44 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen
Beispiel
Tastet ein Kind ein Puzzleteilchen ab, werden die taktilen Empfindun-
gen seiner Finger zunächst im Hirnstamm verarbeitet. Die Details wer-
den dann im somatosensorischen Feld der Hirnrinde erkannt und in
den Assoziationsfeldern mit anderen Puzzleteilchen verglichen. Das
Kind braucht diesen umfassenden sensorischen Input, damit sein
Gehirn eine Entscheidung treffen kann, wohin dieses Puzzleteilchen
passt.
Weil die kortikalen Gebiete so wichtig für die höchste Ebene der sen-
sorischen Verarbeitung sind, zu der auch die bewusste Wahrnehmung
gehört, werden Wahrnehmungs- oder Lernstörungen oft für korti-
kale Probleme gehalten. Doch die neurowissenschaftliche Forschung
hat gezeigt, dass die niedrigeren Hirnebenen eine wesentlich wich-
tigere Rolle spielen. Die »höhere« kortikale Verarbeitung ist näm-
lich abhängig von der sensorischen Verarbeitung auf den niedrigeren
Ebenen. Wenn der Kortex nicht gut funktioniert, ist es leicht möglich,
dass bereits auf niedrigeren Ebenen ein Problem besteht.
zz Seitenspezialisierung
Die beiden Hirnhälften haben unterschiedliche Funktionen und
Arbeitsweisen, jede Hemisphäre ist auf bestimmte Funktionen spezia-
lisiert. Diese Seitenspezialisierung wird auch Lateralisation genannt,
abgeleitet vom lateinischen Wort für »Seite«. Unter Wissenschaftlern,
die sich mit Sprach- und Lernproblemen beschäftigen, ist der Prozess
der Lateralisation seit Jahrzehnten ein Diskussionsthema. Die Seiten-
spezialisierung ist noch nicht umfassend verstanden.
3.2 • Wie das Gehirn Informationen verarbeitet
45 3
Die sensorischen und motorischen Funktionen sind bereits in der
frühen Kindheit lateralisiert. Auf ihrem Weg zum Großhirn kreuzt
ein Großteil der sensorischen und motorischen Bahnen in Höhe des
Hirnstamms auf die andere Körperseite, d.h., die Impulse von der
rechten Körperseite kommen in der linken Hemisphäre an und wer-
den dort in den Kontrollzentren für die rechte Körperseite verarbeitet,
und die sensorische Verarbeitung und motorische Steuerung der lin-
ken Körperseite findet in der rechten Hemisphäre statt.
Jede Hirnhälfte ist auf bestimmte Funktionen spezialisiert. Bei
Rechtshändern übernimmt die linke Hirnhälfte die Steuerung der
Feinmotorik (z.B. Schreiben), deshalb schreiben sie mit der rech-
ten Hand. Auch für die Sprachproduktion ist die linke Hirnhälfte
zuständig, während die rechte auf die räumlichen Aspekte von visu-
ellen und taktilen Eindrücken spezialisiert ist. Bei manchen Links-
händern sind die Hirnhälften genauso spezialisiert wie bei Rechts-
händern, bei anderen ist die Seitenspezialisierung umgekehrt. An
komplexen Funktionen sind immer beide Hirnhälften beteiligt, und
sie müssen gut zusammenarbeiten.
Eine gute Spezialisierung der Funktionen führt normalerweise zu
einer Steigerung und Effizienz der Gesamtleistung der Hirnfunktion,
während ein schlechtes Spezialisiert-Sein oft Auswirkungen auf die
Sprachentwicklung und das schulische Lernen hat. Eine gute Late-
ralisation steht wahrscheinlich für ein normales Wachstum und eine
ungestörte Reifung des Gehirns. Eine ungenügende Lateralisation
kann durch verschiedenste Störungen der Hirnfunktion verursacht
werden.
Die detaillierte räumliche Wahrnehmung, Sprechen und Sprache
sowie das kognitive Denken sind die kompliziertesten Funktionen
unseres Gehirns. Sie erfordern exakte Arbeitsabläufe in beiden Hirn-
hälften. Die beiden Hemisphären können aber nur gut zusammen-
arbeiten, wenn der Hirnstamm gut funktioniert. Bei den meisten
Menschen arbeiten die beiden Hirnhälften automatisch koordiniert
zusammen, ohne dass es ihnen bewusst ist.
>> Eine ungenügende Koordination der beiden Großhirnhälf-
ten kann bei Kindern und auch Erwachsenen zu Beeinträch-
tigungen im Lernen und Verhalten führen.
Beispiel
Stellen Sie sich vor, Sie kommen mit den Fingern an einen heißen Ofen.
Die Hitze aktiviert die taktilen Rezeptoren in Ihrer Haut, die Schmerz-
impulse erzeugen. Diese werden über die sensorischen Nervenbahnen
von Ihrer Hand über Ihren Arm zum Rückenmark geleitet. Dort enden
sie und setzen in dem mikroskopisch kleinen Spalt zur nächsten Ner-
venfaser – in der Synapse – einen chemischen Botenstoff frei. Dieser
Botenstoff trägt die elektrische Energie dann zu einer Gruppe von
motorischen Nervenzellen, und die Motoneurone leiten einen Bewe-
gungsimpuls zu den Muskeln in Arm, Hand oder Fingern. Dieser Bewe-
gungsbefehl bewirkt, dass sich die Muskeln derart kontrahieren, dass
Sie Ihre Hand vom Ofen wegziehen.
Der Reflexbogen, über den Sie Ihre Hand von der Schmerzquelle
weggezogen haben, läuft nur über wenige Synapsen; bei komplexen
Erfahrungen, die Bewegungskoordination, Emotionen und Gedan-
ken umfassen, müssen dagegen viele Neurone über unzählige Synap-
sen kommunizieren. Die Schmerzimpulse, die durch den heißen Ofen
ausgelöst wurden, stimulieren nicht nur die Motoneurone, sondern
werden über Synapsen im Rückenmark bis zum Hirnstamm geleitet.
Von dort verteilen sich die Impulse über verschiedene Synapsen auf
zahlreiche Neurone und aktivieren viele Bereiche des Gehirns. Dies
bewirkt, dass Ihnen der Schmerz bewusst wird, dass Sie emotional re-
agieren, dass Sie eine willkürliche Aktion durchführen (z.B. den Ofen
ausschalten), dass Ihnen Gedanken und Erinnerungen kommen und
Sie kognitive Entscheidungen treffen (z.B. niemals mehr einen heißen
Ofen zu berühren).
Jede neuronale Botschaft breitet sich im Bruchteil einer Sekunde
über Tausende oder Millionen von Synapsen aus. An jeder Erfahrung
und Aktivität im Leben ist ein unendlich komplexes Netzwerk von
Neuronen und Synapsen beteiligt (. Abb. 3.9). Um die richtige Wahr-
nehmung oder ein sinnvolles Verhalten zu produzieren, müssen die
Impulse in den richtigen Bahnen laufen. Löst ein sensorischer Reiz
keine entsprechende Wahrnehmung oder kein anpassendes Verhalten
aus, sagt das aus, dass Signale irgendwo im Nervensystem nicht über
die richtigen Synapsen weitergeleitet werden. Sie gehen im Netzwerk
verloren (. Abb. 3.8).
In einer Synapse kommen viele Impulse aus den verschiedenen
Bereichen des Körpers und des Gehirns an, sie mischen sich, und sie
alle beeinflussen die elektrische und chemische Energie innerhalb der
48 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen
Synapse. Damit aber ein Signal eine Synapse überqueren kann und
in einen anderen Teil des Nervensystems weitergeleitet wird, muss
es eine gewisse elektrische Stärke haben oder durch andere Impulse
verstärkt werden.
Beispiel
Signale von den vestibulären Kernen bahnen motorische Befehle im
Rückenmark, um die Muskelspannung und Körperhaltung aufrecht-
zuerhalten. Gleichzeitig wird die Aktivität der vestibulären Kerne aber
von Signalen aus dem Kleinhirn gehemmt. Diese Hemmung ist not-
wendig, um eine überschießende vestibuläre Aktivität zu verhindern.
Jeder sensorische und motorische Prozess beinhaltet ein komplexes
Zusammenspiel von bahnenden und hemmenden Kräften, um die
wesentlichen Informationen weiterzuleiten und unwesentliche zu
unterdrücken. Ohne ausreichende Hemmung würden sich sämtliche
sensorischen Impulse wie ein Lauffeuer im Nervensystem ausbreiten
und zu völliger Reizüberflutung führen, so dass wir nicht mehr zu einer
sinnvollen Handlung fähig wären.
Beispiel
Die Bogengänge liefern im Grunde dieselbe Information wie ein Na-
vigationsgerät in einem Flugzeug oder Raumschiff. Ginge es kaputt,
würde man nicht wissen, in welche Richtung man sich bewegen muss,
und bei einer Richtungsänderung würde man sehr schnell die Orien-
Das Nervensystem beginnt zu lernen, lange bevor ein Kind in die »Ein großer Teil der
Schule kommt. Dort kommen schulische Fächer hinzu; aber schon Lernfähigkeit von Kindern
seit der Zeit im Mutterleib entwickelt das Gehirn die Grundlagen für beruht auf der Fähigkeit,
die Fähigkeit zu lernen. Ein Großteil dieser Lernfähigkeit beruht auf sensorische Informationen zu
der Fähigkeit, sensorische Informationen zu integrieren. integrieren.«
Bereits zum Zeitpunkt der Geburt kann das Gehirn grundlegen-
de taktile, vestibuläre und propriozeptive Informationen integrieren.
Daher kann ein Neugeborenes auf Reize reagieren, wie in 7 Kapitel 2
beschrieben. Ferner haben wir in diesem Kapitel dargestellt, für
welche Leistungen das menschliche Nervensystem angelegt ist; im
Folgenden werden wir erläutern, wie sich die Hirnfunktion eines
Kindes entwickelt. Niemand kann genau sagen, wie das Lernen im
Gehirn stattfindet, aber manche Dinge sind allgemein bekannt.
Je häufiger ein Muskel benutzt wird, desto stärker wird er. Wenn er
nicht benutzt wird, wird er schwach. Dasselbe gilt für die Synapsen im
Zentralnervensystem: Je häufiger man sie benutzt, desto stärker und
effizienter werden sie. Eine Synapse wird durch häufige Aktivierung
durchlässiger; bleibt sie ungenutzt, lässt sie sich schwerer aktivieren.
Jedes Mal, wenn ein Signal eine Synapse überquert, verändern sich
die Neurone und Synapsen derart, dass es für ähnliche Botschaften
zukünftig leichter wird, diese Synapse zu überqueren. Mit jeder Wie-
derholung eines sensorischen oder motorischen Prozesses ist also
weniger Energie erforderlich, diesen auszuführen. Genau das passiert
gleichzeitig in Tausenden oder Millionen von Synapsen, wenn wir
eine Telefonnummer auswendig lernen oder eine motorische Fertig-
keit üben. Durch die wiederholte Aktivierung der Synapsen können
wir uns schließlich die Nummer merken oder die Bewegung leichter
und schließlich ganz automatisch ausführen.
58 Kapitel 3 • Das Nervensystem von innen
Beispiel
Ein Kind hat Schwierigkeiten lesen zu lernen, wenn seine Sinnessys-
teme ihm nicht helfen, die Zeichen auf der Buchseite zu verarbeiten.
Je besser seine sensorischen Systeme zusammenarbeiten, desto mehr
kann es lernen, und desto leichter wird es ihm fallen. Lernen beginnt
mit der Schwerkraft und dem Körper. Die Lernerfahrungen, die das
Kind macht, wenn es aufrecht sitzt, eine Rassel schüttelt, Stufen hin-
untergeht oder einen Stift hält, entwickeln die Fähigkeit des Gehirns,
noch komplexere Dinge zu lernen. Diese Lernfähigkeit, die sich auf der
sensomotorischen Ebene entwickelt hat, ermöglicht dem Kind später,
ohne Schwierigkeiten zwei Zahlen zusammenzuzählen, einen Satz zu
schreiben oder Freunde zu finden.
Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Dr. Susan Knox zu den Punkten, die in diesem Kapi-
tel angesprochen werden, finden Sie in Anhang A.
61 II
Störungen der
sensorischen Integration
Kapitel 4 Was sind sensorische Integrationsstörungen? – 63
Kapitel 5 Störungen des Gleichgewichtssystems – 87
Kapitel 6 Entwicklungsdyspraxie – 121
Kapitel 7 Taktile Abwehr – 145
Kapitel 8 Störungen der visuellen und auditiven
Wahrnehmung – 157
Kapitel 9 Kinder mit Autismus – 173
63 4
Eine Störung der sensorischen Integration ist für das Gehirn das
Gleiche wie eine Magenverstimmung für den Verdauungstrakt. Der
Begriff »Störung« bedeutet »nicht richtig funktionieren«, d.h., das
Gehirn arbeitet nicht optimal. »Sensorisch« bedeutet, dass die Funk-
tionsstörung des Gehirns vor allem die Sinnessysteme betrifft. Das
Gehirn der Betroffenen verarbeitet und ordnet die eingehenden Sin-
4 nesinformationen nicht in dem Maße, dass sie gute, genaue Informa-
tionen über sich selbst und ihre Umwelt erhalten. Wenn das Gehirn
die Informationen der Sinnesorgane nicht gut verarbeitet, kann es
folglich auch das Verhalten nicht gut kontrollieren und steuern. Ohne
gute Integration von Sinnesinformationen ist auch das Lernen be-
einträchtigt; die Betroffenen fühlen sich unwohl in ihrer Haut und
kommen oft nicht mit Alltagsanforderungen und Stress zurecht.
Beispiel
Wir können uns das Gehirn als Großstadt vorstellen; die Nervenimpul-
se sind der Verkehr auf den Straßen dieser Stadt. Eine gute sensori-
sche Verarbeitung ermöglicht allen Impulsen, ungestört zu fließen und
ihren Zielort rasch zu erreichen. Eine sensorische Integrationsstörung
bewirkt eine Art »Stau« im Gehirn. Manche Sinnesinformationen blei-
ben im Verkehrsstau stecken, so dass bestimmte Gehirnareale nicht
die Informationen bekommen, die sie brauchen, um ihre Funktion re-
gelrecht zu erfüllen.
»Wenn das Gehirn die Andere Begriffe für dieses Problem sind »sensorische Verarbeitungs-
Sinnesinformationen nicht gut störung«, »zentrale Verarbeitungsstörung« oder »sensorisch-integra-
verarbeitet, kann es folglich tive Funktionsstörung«. Sind Sie schon einmal zur Stoßzeit in einem
auch das Verhalten nicht gut Verkehrsstau stecken geblieben? Dann können Sie sich ungefähr vor-
kontrollieren und steuern.« stellen, was diese Störung bedeutet.
Unfälle oder Erkrankungen, die eindeutige Hirnschädigungen zur
Folge haben, bewirken normalerweise, dass das Gehirn Sinnesreize
nicht mehr richtig verarbeitet kann. Bei den meisten Kindern mit
sensorischen Integrationsstörungen liegt aber wahrscheinlich keine
organische Schädigung des Gehirns vor.
Beispiel
Eine Magenverstimmung bedeutet nicht, dass der Magen oder Darm
geschädigt sein muss; vielmehr können diese Organe die Nahrung
nicht richtig verarbeiten. Ebenso bedeutet ein Stau nicht, dass die Stra-
ßen beschädigt sind.
Definition
Intelligenz ist die Fähigkeit, Beziehungen in der physikalischen
Umwelt oder zwischen Gedanken und Ideen herzustellen.
66 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?
. Abb. 4.3 Schwierigkeiten, ruhig und aufrecht zu sitzen können ein Zeichen
für eine sensorische Integrationsstörung sein
Beispiel
Von den Eltern hört man oft: »Wenn er einmal daran denkt, seinen Pull-
over mitzunehmen, vergisst er dafür sein Pausenbrot – und wenn er an
das Pausenbrot denkt, vergisst er seine Bücher!« oder »Sie bekommt es
einfach nicht auf die Reihe!«
Das Kind gerät leicht aus der Balance und stolpert oft. Der Stift fällt
ihm häufiger aus der Hand als anderen Kindern. Manche Kinder fal-
len sogar von ihrem Stuhl, weil sie nicht genau spüren, wo sie sich auf
der Sitzfläche befinden. Die Ursache für diese Ungeschicklichkeit ist
oft eine schlechte Verarbeitung der Sinnesempfindungen über den
eigenen Körper und die Schwerkraft. Es muss jedoch ausgeschlossen
werden, dass andere neurologische Störungen die Ursache sind.
>> Unreifes Spielverhalten ist generell ein frühes Zeichen
einer sensorischen Integrationsstörung. Ein Kind, das nicht
mit Bausteinen baut, mit Spielzeug hantiert oder Puzzles
zusammensetzt, hat wahrscheinlich Probleme, Sinnesinfor-
mationen zu integrieren.
Sie von einem betroffenen Kind die Aussage: »Ich weiß, was Sie wol-
len, aber ich kann es nicht hinschreiben.«
Kinder mit sensorischen Integrationsstörungen haben generell
Schwierigkeiten, den sie umgebenden Raum wahrzunehmen. Sie lau-
fen in Leute oder Gegenstände, weil sie nicht einschätzen können, wo
die Objekte sich im Raum befinden, und wo ihr eigener Körper sich
befindet. Sie sind buchstäblich »lost in space« (im Raum verloren).
In der Schule kann dies zu Schwierigkeiten beim Abschreiben von
4 der Tafel führen. Das Kind hat schon Schwierigkeiten mit dem Raum
zwischen ihm und der Tafel, und noch mehr Schwierigkeiten, die
Abstände zwischen den Buchstaben richtig zu verteilen. Seine Buch-
staben haben keine einheitliche Größe und sind schief und krumm.
Sie wissen nicht, womit sie als Erstes beginnen sollen, und wie lange je-
der Schritt dauern wird. Wenn sie unterbrochen werden, vergessen sie
meist, was sie gerade getan haben. Es gibt Tage, an denen sie sich über-
haupt nicht konzentrieren können und keine Aufgabe zu Ende bringen.
Was braucht ein Kind, um diesen Stand zu erreichen? Und was ist bei
Kindern schief gelaufen, die nicht dorthin gelangen? Die Antworten
auf diese Fragen werden klar, wenn wir uns die vielen Prozesse an-
76 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?
Kinder, bei denen diese drei Nahsinne nicht gut funktionieren, reagie-
ren untypisch auf ihre Umwelt. Manche ziehen sich zurück, sind sehr
ruhig und bemühen sich, anderen zu gefallen. Andere sind hyperaktiv
und reagieren auf alles, was sie sehen oder hören. Aber die visuellen
und auditiven Reize sind nicht das Problem. Das Kind ist hyperaktiv,
80 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?
Definition
Unter Bewegungsplanung verstehen wir den sensorischen Pro-
zess, uns an eine unbekannte Aufgabe anzupassen und zu lernen,
diese Aufgabe automatisch auszuführen.
Der Schlüssel für gutes Planen einer Bewegung ist ein gutes Körper-
schema mit genauen taktilen, propriozeptiven und vestibulären Infor-
mationen. Ein Kind, das keine gute »Landkarte« von seinem Körper
hat, kann ungewohnte Bewegungen nicht planen und braucht lange,
um sie zu erlernen. Bis es soweit ist, hat es viele schlecht geplante
4.3 • Der integrative Prozess
81 4
Bewegungen ausgeführt. Das Kind wird Schwierigkeiten haben, mit
Spielsachen zu spielen und sie oft kaputt machen. Es macht das nicht
absichtlich, sondern es spürt nicht, wie es mit den Sachen umgehen
muss, so dass es zu fest drückt oder zieht.
Wie gut das Gehirn eines Kindes organisiert ist, kann man an sei-
ner Aufmerksamkeitsspanne und seinem Aktivitätsgrad beobach-
ten. Wenn Empfindungen außer Kontrolle sind, kann das Kind sich
nicht konzentrieren oder bei einer Aktivität bleiben. Auditive und
visuelle Reize lenken es ab und regen es auf. Dies geschieht normaler-
weise, wenn das Gehirn Empfindungen des Körpers und Schwerkraft-
sinns nicht richtig verarbeitet.
Definition
Visuelle Wahrnehmung bedeutet, dass wir das Gesehene richtig
interpretieren können.
82 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?
>> Das Gehirn ist so angelegt, dass es als Ganzes arbeitet, und
nur auf diese Art funktioniert es optimal. Wenn die Informa-
tionen nur eines einzigen Sinns undeutlich sind, leidet das
Endergebnis.
. Abb. 4.7 Wir integrieren Informationen von beiden Körperseiten, z.B. von
beiden Ohren, beiden Augen und beiden Hirnhälften – um uns mit der Welt aus-
einandersetzen zu können
»Bis zum Schuleintritt sollte Bis zum Schuleintritt sollte ein Kind die vier Stadien der sensorisch-
ein Kind die vier Stadien integrativen Entwicklung durchlaufen haben, weil es zu diesem Zeit-
der sensorisch-integrativen punkt die Endergebnisse der sensorischen Integration braucht. Die
Entwicklung durchlaufen Fähigkeit, sich zu organisieren und zu konzentrieren ist wichtig, da
haben.« das Kind jetzt mit immer mehr Personen und Dingen umgehen muss.
4.3 • Der integrative Prozess
85 4
Kann das Gehirn die Sinnesinformationen nicht organisieren, wird
es auch nicht in der Lage sein, Buchstaben und Zahlen zu ordnen.
Selbstbewusstsein, Selbstbeherrschung und Selbstvertrauen sind ent-
scheidend in Beziehungen mit anderen Menschen, aber sie entstehen
nicht ohne viele sensorische und andere neuronale Integrationspro-
zesse.
>> Kinder, bei denen Integrationsstadien lückenhaft und un-
vollständig entwickelt sind, bevor sie in die Schule kom-
men, werden auch in ihren schulischen Leistungen und in
anderen Lebensbereichen Lücken und Schwächen haben.
Bei manchen Kindern werden die Schwächen geringfügig sein, bei »Die meisten Kinder verhalten
anderen gravierend; bei manchen kommen sie auf die eine Art zum sich nicht mit Absicht so, aber
Ausdruck, bei anderen auf eine andere Art. Es gibt Erwachsene, die wenn sie von der Umwelt als
»der Schule« die Schuld geben und meinen, der Unterricht sei nicht »schlimme Kinder« behandelt
gut. Oft – allzu oft – betrachten sie die Schwierigkeiten als Verhaltens- werden, dann werden sie
probleme und bestrafen das Kind. Die meisten Menschen sehen nur sich tatsächlich bald mit
die Endergebnisse der schlechten sensorischen Integration: dass das Absicht den Erwachsenen
Kind aggressiv oder schüchtern ist, dass seine Aktivität überschießend widersetzen.«
oder ziellos ist, dass es Dinge vergisst oder in sie hineinläuft, dass es
nicht lesen, schreiben oder zwei Zahlen zusammenzählen kann. Sie
denken, das Kind mache sich einen Spaß daraus oder wolle provozie-
ren oder sei einfach »denkfaul«. Versucht man allerdings, schlechtes
Verhalten zu stoppen und zwingt das Kind, sich zu konzentrieren,
bringt man es nur noch mehr durcheinander. Die meisten Kinder
verhalten sich nicht mit Absicht so, aber wenn sie von der Umwelt als
»schlimme Kinder« behandelt werden, dann werden sie sich tatsäch-
lich bald mit Absicht den Erwachsenen widersetzen.
Splitterfertigkeiten
Unsere Gesellschaft verlangt von Kindern, dass sie bestimmte Leis-
tungen erbringen, auch wenn sie die sensorisch-integrativen Voraus-
setzungen für diese Leistungen noch gar nicht erreicht haben. Je äl-
ter das Kind mit einer sensorischen Integrationsstörung wird, desto
mehr Splitterfertigkeiten eignet es sich an, damit es seine schwache
sensorische Verarbeitung kompensieren kann. Eine Splitterfertigkeit
ist, ein Stück auf dem Klavier zu spielen, ohne eigentlich Klavier spie-
len zu können. Wenn im Gehirn eines Kindes keine natürliche Inter-
aktion von Sinnesinformationen stattfindet, durch die es lernen kann,
seine Schuhe zu binden, dann wird es den Knoten als Splitterfertigkeit
trainieren. Natürlich ist es einfacher, durch sensorische Integration zu
lernen; und jede Lernerfahrung hilft dem Gehirn, viele andere Dinge
zu lernen.
>> Eine Splitterfertigkeit zu erlernen erfordert viel Anstren-
gung und Konzentration und hilft dem Kind in anderen
Bereichen seines Lebens nicht weiter.
86 Kapitel 4 • Was sind sensorische Integrationsstörungen?
Störungen des
Gleichgewichtssystems
Wie der Gleichgewichtssinn zur Entwicklung beiträgt
Beispiel
Stellen Sie sich vier Kinder vor, die auf einer schmalen Bordsteinkante
balancieren. Das erste Kind geht anmutig zwei- oder dreimal die Kan-
te entlang, und es macht ihm sichtlich Spaß. Das zweite Kind tut sich
schwer, die Balance zu halten und tritt mehrmals neben den Bordstein.
Das dritte Kind marschiert ohne jede Grazie; es sieht seine Mutter an
und sagt etwas, aber sehr undeutlich. Das vierte Kind ist sehr ängstlich
und fürchtet zu fallen, aber seine Mutter drängt, es doch zu versuchen.
Es hält die Hand der Mutter fest und geht den Bordstein entlang ohne
zu fallen.
Beispiel
Beim ersten Kind in unserem Beispiel funktioniert die sensorische In-
tegration normal. Das zweite Kind hat Schwierigkeiten, sein Gleichge-
wicht zu halten. Es verhält sich altersentsprechend und handelt auch
so, aber es hat große Schwierigkeiten mit dem Lesen. Das dritte Kind
ist sprachverzögert und bei manchen Aktivitäten ungeschickt. Das
vierte Kind, das so ängstlich bemüht war, nicht zu fallen, kann zwar
gut lesen, aber es ist gefährdet, emotionale oder Verhaltensprobleme
zu entwickeln.
»Das vestibuläre System hat Der Zusammenhang zwischen diesen Problemen und der Gleich-
Verbindungen zu fast allen Teilen gewichtsverarbeitung ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Und
des Gehirns.« trotzdem hängen alle diese Probleme mit einer schlechten Sinnesver-
arbeitung im vestibulären System zusammen.
Wie kann es sein, dass das vestibuläre System so viele wichtige
Funktionen beeinflusst? Die Erklärung liegt darin, dass das vestibulä-
re System Verbindungen zu fast allen Teilen des Gehirns hat.
Diese Verbindungen haben wir in 7 Kapitel 3 besprochen. Im fol-
genden Abschnitt werden wir diese näher betrachten.
5.1 • Die Organisation des Gleichgewichtssystems
89 5
5.1 Die Organisation des Gleichgewichtssystems
5.1.1 Modulation
Einer der wichtigsten Prozesse, die sich im Gehirn abspielen, ist die
Modulation der vestibulären Aktivität.
Definition
Unter Modulation verstehen wir einen Prozess, bei dem neuro-
5 nale Aktivität gesteigert oder reduziert wird, damit die Aktivität
nicht überschießt, sondern im Einklang mit allen anderen Funk-
tionen des Nervensystems abläuft.
Beispiel
Der Modulationsprozess ist vergleichbar mit dem Einstellen der Laut-
stärke beim Radio. Wenn die vestibuläre Aktivität zu »laut« ist und die
anderen Teile des Nervensystems stört, werden bestimmte Teile aktiv,
um die vestibuläre Aktivität zu hemmen oder »abzuschalten«. Ist die
Lautstärke der vestibulären Aktivität hingegen zu »leise«, regen man-
che Hirnstrukturen die Aktivität an, so dass sie von den anderen Teilen
des Nervensystems besser genutzt werden kann. Sie würden kein Ra-
dio wollen, dessen Lautstärke man nicht in beide Richtungen regeln
kann. Sowohl Anregung als auch Hemmung sind notwendig, damit die
Aktivität des vestibulären Systems in einem ausgewogenen Verhältnis
zu allen Teilen des Nervensystems bleibt.
Sind die anregenden und hemmenden Kräfte, die auf das vestibu-
läre System einwirken, nicht ausbalanciert, wird die Hirnfunktion
desorganisiert. Die Informationen aus den vestibulären Rezeptoren
werden nicht zu all denjenigen Hirnbereichen geleitet, die sie benöti-
gen. Das Aktivitätsmuster der sensorischen Prozesse entspricht nicht
mehr dem Normalzustand. In manchen Fällen mag das nicht weiter
stören, in anderen kann es jedoch sehr auffällig sein.
Beispiel
Stellen Sie sich vor, Sie wollten fernsehen, und das Bild flimmert; oder
Sie wollten versuchen, in einem fahrenden Auto oder Boot etwas auf-
zuschreiben.
Nystagmus
Definition
Wenn wir uns mehrmals um die eigene Achse drehen und dann
abstoppen, bewegen sich die Augen hin und her, und die Welt
scheint sich zu drehen. Diese Serie von schnellen Augenbewe-
gungen wird postrotatorischer Nystagmus (PRN) genannt.
Haltungshintergrund
Definition
Wenn wir den Arm nach etwas ausstrecken und greifen oder
einen Gegenstand schieben oder ziehen, stellen sich unser Rumpf
und unsere Beine automatisch so ein, dass sie unseren Armen
eine stabile Ausgangsbasis für ihre Aufgabe bieten. Diese auto-
matische Anpassung wird Haltungshintergrund genannt.
Kokontraktion
Definition
Die gleichzeitige Anspannung (Kontraktion) der Beuge- und
Streckmuskeln eines Körperteils (Nacken, Arme, Rumpf, Beine
etc.) nennt man Kokontraktion.
Damit wir den Kopf stabil halten und bewegen können, müssen alle
Muskeln im Nacken zusammenarbeiten und sich gleichzeitig an-
spannen. In den Rumpfmuskeln ist Kokontraktion notwendig, um
den Körper zu stabilisieren, etwa wenn wir geschubst oder geschoben
werden (. Abb. 5.3). Und damit wir uns gut bewegen und mit Werk-
zeugen arbeiten können, brauchen wir eine gute Kokontraktion vieler
Muskeln, der des Schultergürtels und der um die Ellbogen-, Hand-
. Abb. 5.3 Die Rumpfmuskeln
und Fingergelenke.
halten den Körper stabil, damit wir die
>> Bei Kindern mit Störungen der vestibulären Verarbeitung Balance halten können und die Hände
frei haben, um mit Spielsachen oder
ist die Kokontraktion meist schwach ausgeprägt; sie neigen
Werkzeugen zu hantieren
dazu, Muskeln abwechselnd anstatt gemeinsam anzuspan-
nen. Dadurch wirken Kopf und Körper instabil und wackelig.
Therapie
In der Therapie werden Kinder mit vestibulären Funktions-
störungen oft angeregt, schwere Gegenstände zu schieben, zu
ziehen, hochzuheben und zu transportieren. Bei dieser schweren
Muskelarbeit müssen sich viele Muskeln anspannen, und die
Gelenke werden zusammengedrückt. Die dadurch entstehenden
Sinnesreize bewirken, dass überschießende vestibuläre Aktivität
gehemmt wird.
5.1.7 Raumwahrnehmung
Beispiel
Ein Betroffener beschrieb: »Wenn ich auf einem Stuhl saß, hatte ich
manchmal das plötzliche Gefühl, der Stuhl – mit mir darauf – würde
seitlich und in halber Höhe der Wand stehen. Im Auto hatte ich manch-
mal den Eindruck, der Wagen würde auf dem Kopf fahren.«
Eine vestibuläre Störung kann sich auch auf die sozialen Beziehun-
gen auswirken. Für die Betroffenen ist es schwer, einzuschätzen, wie
nahe sie neben anderen Personen stehen; sie wirken dadurch oft
distanzlos. Besonders in einer Menschenansammlung fällt es ihnen
schwer, zu beurteilen, wo genau eine Person steht. Sie können nicht
einschätzen, wie viel Raum sie benötigen, um Personen zu umkreisen
und laufen in die Personen hinein. Ohne die Raumwahrnehmung,
die auf den Sinnesempfindungen von Körper und Schwerkraftsinn
beruht, ist es schwierig, sich den Raum vorzustellen. Die Betroffenen
wissen oft, wie sie selbst irgendwo hinkommen, können es anderen
aber nicht erklären.
Therapie
In der Therapie wird die räumliche Wahrnehmung durch indivi-
duell abgestimmte vestibuläre Aktivitäten verbessert. Die Kinder
5.1 • Die Organisation des Gleichgewichtssystems
99 5
Nur wenigen Menschen ist bewusst, dass auch die Emotionen Funk- »Es gibt eine neurologische Basis
tionen des Nervensystems sind. Es gibt eine neurologische Basis für für jedes Gefühl – Angst, Wut,
jedes Gefühl – Angst, Wut, Trauer, Freude und sogar Liebe. Trauer, Freude und sogar Liebe.«
Das limbische System ist eine Struktur im Großhirn, die Gefüh-
le und Verhalten verbindet. Damit wir emotional ausgeglichen sind,
muss das limbische System gut modulierten Input aus den Sinnessys-
temen erhalten. Versuche haben gezeigt, dass Tiere, die ohne vestibu-
läre Stimulation aufgewachsen sind, später ein feindliches, aggressives
oder zurückgezogenes Verhalten zeigten. Es gibt auch Beweise, dass
bestimmte Formen von Autismus und Schizophrenie mit vestibulären
Störungen zusammenhängen.
>> Eine der elementarsten menschlichen Beziehungen ist
unser Bezug zur Erdanziehungskraft. Dieser Bezug ist noch
ursprünglicher als die Mutter-Kind-Beziehung.
Dieser starke innere Antrieb lässt Kinder intuitiv alles tun, um ihr
vestibuläres System zu entwickeln. Immer schon wurden Säuglinge
100 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems
gewiegt, um sie zu beruhigen. Die Wiege ist ein Symbol für den Frie-
den und die Geborgenheit der frühen Kindheit. Schaukeln – in einem
Schaukelstuhl oder auf einer Schaukel – reduziert Ängstlichkeit und
emotionalen Aufruhr – egal, ob wir jung oder alt sind. Kinder lieben
Spielplätze und Vergnügungsparks, weil Schaukeln, Rutschen, Wip-
pen, Karussell und Achterbahn sehr intensive Gleichgewichtsreize
bieten. Viele Jugendliche und Erwachsene finden Gefallen am Ski-
fahren, Fliegen, Fallschirmspringen oder Rennfahren, und fast jeder
bewegt sich auf irgendeine Art gern durch den Raum.
Kinder, die in Heimen aufgewachsen sind, und auch Affen, die
5 ohne Mutter aufgewachsen sind, zeigen oft stundenlange stereotype
Schaukelbewegungen.
Therapie
In der Therapie mit sensorisch-integrativem Ansatz schaukeln die
Kinder oft lange auf einem Gerät. Das zeigt, dass sie ein starkes
Bedürfnis nach vestibulären Reizen haben.
Selbst die liebevollste Mutter kann ihr Kind nicht »erreichen«, wenn
es sich auf der Erde nicht sicher fühlt. Kindern mit vestibulären Stö-
rungen scheint etwas Grundlegendes zu fehlen, sie wirken »verloren«.
Manche folgen ihrem inneren Antrieb nicht, weil sie sich so fürchten,
dass ihnen etwas zustoßen könnte. So verpassen sie viele sensomoto-
rischen Erfahrungen, die sie jedoch brauchen, um die Bausteine für
reife/s Emotionen und Verhalten entwickeln zu können.
Jeder, der schon einmal seekrank war, sei es beim Auto- oder Bootfah-
ren, kennt die enge Verbindung des Gleichgewichtssystems mit dem
Verdauungssystem. Sind die Gleichgewichtsreize so intensiv, dass sie
vom Gehirn nicht mehr verarbeitet werden können, werden auch die
Verdauungszentren im Hirnstamm desorganisiert. Dadurch wird der
Transport der Nahrung durch den Verdauungstrakt gestoppt, und
5.1 • Die Organisation des Gleichgewichtssystems
101 5
wir fühlen Übelkeit. Diese Reaktion auf übermäßige Bewegung ist
normal. Tritt sie trotz intensiver Bewegung nicht auf, kann das ein
Zeichen sein, dass das Gleichgewichtssystem die Signale von den In-
nenohren nicht ausreichend verarbeitet.
>> Kinder mit einer schlechten Gleichgewichtsverarbeitung
haben auch häufig Schwierigkeiten mit der Darm- und Bla-
senkontrolle.
Denken Sie wieder an den Vergleich mit dem Radio. Die Lautstär-
ke kann entweder zu leise oder zu laut eingestellt sein. Wenn die
anregenden und hemmenden Kräfte des Gehirns die vestibuläre
Aktivität nicht regulieren (modulieren), können weder vestibuläre
Informationen noch Informationen aus anderen Sinnessystemen
genutzt werden, um effiziente anpassende Reaktionen zu erzeugen
(. Abb. 5.6). Mit diesen zwei Arten der Funktionsstörung werden
wir uns nachfolgend beschäftigen.
5.2 • Das unterempfindliche Gleichgewichtssystem
103 5
Therapie
Wenn eine Therapeutin mit Zusatzausbildung in Sensorischer
Integration bei einem Kind einen Befund aufnimmt, beobachtet
sie die Reaktionen, die das Gleichgewichtssystem erzeugen sollte.
Am deutlichsten sind die Reaktionen der Augen und des Körpers
zu sehen. Die Reaktion der Augen beim postrotatorischen Nys-
tagmustest ist weitgehend eine pure vestibuläre Funktion. Dauer
und Regelmäßigkeit der reflektorischen Augenbewegungen sind
verlässliche Hinweise, wie gut ein bestimmter Anteil des Gleich-
gewichtssystems funktioniert:
55 Ist der Nystagmus verkürzt oder tritt gar nicht auf, so wissen
wir, dass die vestibulären Impulse mindestens in einer Haupt-
nervenbahn nicht verarbeitet werden. Wahrscheinlich sind
dann auch andere vestibuläre Funktionen beeinträchtigt.
55 Die betroffenen Kinder fühlen sich auch nach minutenlangem
Drehen nicht schwindlig oder unwohl, was ein weiterer Hin-
weis ist, dass die vestibulären Reize nicht die Zentren errei-
chen, die sie erreichen sollten.
Beispiel
Zu Anfang dieses Kapitels haben wir Ihnen vier Kinder vorgestellt,
die eine Bordsteinkante entlanggehen. Das erste Kind verarbeite-
te Gleichgewichtsinformationen normal. Beim zweiten und dritten
Kind reagierte das vestibuläre System nicht ausreichend stark. Nach
Drehbewegungen würden diese beiden Kinder nur einen sehr kurzen
Nystagmus zeigen. Das unterempfindliche Gleichgewichtssystem des
104 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems
Beispiel
In der Therapie lag ein Kind auf einem großen Ball. Als es zu fallen
drohte, sagte ich: »Stütz Dich auf, Du fällst!« Das Kind antwortete: »Ja,
aber in welche Richtung falle ich denn?« und war schon auf dem Bo-
den, bevor ich antworten konnte.
Das Fahrradfahren zu erlernen ist für Kinder mit einer vestibulär ver- »Das Gehirn von Kindern
ursachten bilateralen Integrationsstörung oft schwierig und beängs- mit einem unterempfind-
tigend. Das Kind kann nicht darauf vertrauen, dass es sein Gewicht lichen Gleichgewichtssys-
richtig verlagern und die Kurven um Hindernisse richtig nehmen tem … bekommt nicht die
kann. Im Allgemeinen erleben diese Kinder selten den Glücksmo- »Nahrung«, die sich andere
ment, beim Spielen oder im Sport erfolgreich zu sein. Dadurch ken- Kinder aus Bewegungsspielen
nen sie nicht das Selbstvertrauen und die Zuversicht, das/die andere holen.«
Kinder haben. Vor allem Jungen versuchen oft, ihre Schwächen zu
überspielen, indem sie den Klassenclown spielen und sich fallen las-
sen, um die anderen Kinder zu amüsieren und so zu Anerkennung zu
kommen. Die meisten Kinder mit dieser Störung sind ungeschickt,
doch manche entwickeln altersentsprechende motorische Geschick-
lichkeit. Eine adäquate Koordination garantiert jedoch keine optimale
Lesefähigkeit.
Jahre lang tun!« Das sagt uns, welch ein enormes Bedürfnis nach
vestibulären Reizen sein Gehirn hatte.
Therapie
In der Therapie bekommen Kinder mit einem unterempfindlichen
Gleichgewichtssystem intensive vestibuläre Reize durch Schau-
keln und Drehen angeboten, um das Gleichgewichtssystem zu
aktivieren. Es sollten aber nur Therapeutinnen, die in Sensorischer
Integrationstherapie ausgebildet sind und das Nervensystem des
Kindes gut kennen, das Kind lange drehen oder schaukeln.
5
!! Eines der gefährlichsten Dinge, die Sie tun können, ist, ein
Kind zu drehen, vor allem, wenn es eine neurologische
Schädigung hat. Drehen kann die Atmung und den Blut-
druck senken und bis zur Bewusstlosigkeit führen. Bei
anfallsgefährdeten Kindern kann das Drehen epileptische
Anfälle auslösen1, so dass in solchen Fällen zusätzliche Vor-
sicht geboten ist.
1 Anm. d. Übersetzerin: Wie heute bekannt ist, löst das Drehen an sich keine
epileptischen Anfälle aus, jedoch können ungünstige Lichtverhältnisse einen
Blitzlichteffekt bewirken, der dann einen Anfall auslösen kann.
5.2 • Das unterempfindliche Gleichgewichtssystem
107 5
>> Ein unterempfindliches Gleichgewichtssystem beeinträch-
tigt die Seitenspezialisierung. Das Kind entwickelt mit
beiden Händen und in beiden Hirnhälften ähnliche Fertig-
keiten.
Die sprachliche Kommunikation ist in gewissem Maß ein Ergebnis »Das vestibuläre System spielt
der Entwicklung von sensorisch-integrativen Funktionen. Das vesti- eine wichtige organisierende
buläre System spielt eine wichtige organisierende Rolle für alle Sinnes- Rolle für alle Sinnessysteme.«
systeme. Dadurch trägt es auch zur Entwicklung des Sprachverständ-
nisses und des Sprechens bei. Diese Erkenntnis beruht darauf, dass
sich bei Kindern mit Sprachstörungen, die in ergotherapeutischer
Behandlung mit sensorisch-integrativem Ansatz waren, die Sprache
verbesserte, obwohl die Therapie keine Sprachförderung beinhaltete.
Studien haben gezeigt, dass viele Kinder mit Artikulations- und
Sprachproblemen einen verkürzten postrotatorischen Nystagmus
aufweisen. In einem Zentrum in Illinois testeten Stilwell, Crowe und
McCallum (1978) den Nystagmus von Kindern und verglichen die Er-
gebnisse mit Kindern, die keine sprachlichen Defizite hatten. Sie stell-
ten fest, dass der Nystagmus bei 70% der Kinder mit Sprachstörungen
kürzer war als bei 70% der normal entwickelten Kinder. Am kürzesten
war der Nystagmus bei einer Gruppe von Kindern, die Schwierigkei-
ten mit dem symbolischen Sprachgebrauch und dem Satzbau hatten.
108 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems
Beispiel
Von den vier Kindern, die wir zu Beginn des Kapitels vorgestellt haben,
hatte das dritte Kind eine Sprachstörung, die durch ein unterempfind-
liches Gleichgewichtssystem verursacht war.
Beispiel
Ich nahm bei einem 6-jährigen Jungen, der als »unkooperativ« galt,
Befund auf. In einem Test sollte er entscheiden, welcher von zwei Tei-
len in ein Loch passt. Er saß einfach da, ohne sich zu bewegen und in
irgendeiner Weise auf das zu reagieren, was ich sagte. Schließlich gab
ich auf und entschied, wenigstens den postrotatorischen Nystagmus
zu testen. Der Junge zeigte nach dem Drehen fast keinen Nystagmus;
aber er stand freiwillig auf, ging zum Tisch und begann zu sprechen
und die Teile zuzuordnen! Nach einigen Minuten hörte er wieder auf
zu arbeiten. Ich drehte ihn noch einmal auf dem Drehbrett, diesmal
etwas stärker. Wieder kehrte er zum Tisch zurück, um die Tests fortzu-
setzen. Diesen Ablauf wiederholten wir mehrere Male, bis er den Test
vollständig gemacht hatte. Dieser Junge konnte offensichtlich nur mit-
arbeiten, wenn sein Gehirn durch ausreichenden vestibulären Input
aktiviert war.
5.2 • Das unterempfindliche Gleichgewichtssystem
109 5
. Abb. 5.8 Checkliste für Probleme bei vestibuär bedingter bilateraler Integrationsstörung
>> Kinder mit Sprech- und Sprachstörungen, die auf einer ves-
tibulären Funktionsstörung gründen, haben in der Regel
auch Schwierigkeiten mit Körperbewegungen und der Be-
wegungsplanung.
Sinnesreize sind »Nahrung« für das Gehirn, aber zu viel des Guten
verursacht auch Probleme. Normalerweise verarbeitet das Gehirn
vestibuläre Informationen und verwendet sie, um eine anpassende
Reaktion zu erzeugen. Damit das Gehirn den vestibulären Input nut-
5.3 • Überreaktionen auf Gleichgewichtsreize
111 5
zen kann, muss es Impulse hemmen, die nicht nützlich sind. Jedoch
ist nicht jedes Gehirn in der Lage, vestibuläre Aktivität zu hemmen
oder modulieren, was dazu führt, dass der Betroffene übertrieben auf
Aktivitäten reagiert, die mit Bewegung oder Änderungen der Kopf-
position verbunden sind.
Kinder, die auf Gleichgewichtsreize überreagieren, haben in der
Regel einen längeren postrotatorischen Nystagmus als Gleichaltrige.
Gelegentlich ist der Nystagmus aber auch durchschnittlich oder so-
gar verkürzt. Man muss bedenken, dass das vestibuläre System viele
Bahnen und viele verschiedene Funktionen hat; bei Kindern mit einer
sensorischen Integrationsstörung können manche aktiv sein, manche
hyperaktiv und andere immer noch durchschnittlich.
>> Es gibt zwei Arten von Überempfindlichkeit gegenüber
vestibulären Reizen:
55 Schwerkraftunsicherheit und
55 Bewegungsüberempfindlichkeit.
5.3.1 Schwerkraftunsicherheit
Beispiel
Das vierte Kind, das zu Beginn dieses Kapitels vorgestellt wurde, war
Beispiel
Ein 8-jähriges Mädchen wollte nicht über ein Seil steigen, das nur
30 cm über dem Boden gespannt war; stattdessen rutschte es darunter
durch.
Beispiel
Erwachsene mit Schwerkraftunsicherheit klagen darüber, dass sie ihr
Haus nicht selbst putzen können, weil ihnen unwohl wird, wenn sie
sich nach vorne beugen oder unter ein Möbelstück schauen wollen.
Den Kopf nach unten zu bewegen stimuliert die Schwerkraftrezepto-
ren am stärksten und ist daher besonders bedrohlich für denjenigen,
114 Kapitel 5 • Störungen des Gleichgewichtssystems
der diesen Input nicht modulieren kann. Aus diesem Grund vermei-
den Kinder mit Schwerkraftunsicherheit Purzelbäume und balgen sich
nicht gern.
Tipp
Das Beste, was Sie für Ihr Kind tun können, ist, seine Bedürfnisse
»Unser Bezug zur Schwerkraft
zu respektieren und es mit allen Mitteln zu unterstützen, sein
ist unsere wichtigste Quelle der
Grundvertrauen allmählich aufzubauen.
Sicherheit.«
Beispiel
Eine Klientin hatte nach einer Bewegungserfahrung, die den meisten
Menschen überhaupt nicht unangenehm wäre, gesagt: »Ich habe mich
gefühlt, als ob ich die Erde verlassen hätte und nie mehr zurückkom-
men würde!« Es gibt keine größere Bedrohung als diese.
Hat ein Kind keine sicheren Bezug zur Erde, dann werden auch alle
anderen Beziehungen nicht optimal sein. Schwerkraftunsicherheit
wirkt sich auf alle Bereiche des Lebens aus. Andere Menschen er-
kennen die Ängste nicht und halten das Kind für eine »schwierige
Persönlichkeit«. Möglicherweise machen sie das Kind sogar dafür
verantwortlich und bestrafen es für das, was ihm sein Gehirn an-
tut. Andere Kinder nennen es »Feigling«. Die Erwachsenen verstehen
nicht, warum es sich durch Worte nicht beruhigen lässt. Um unter
Menschen zu sein, muss das Kind Ängste auf sich nehmen, die die
anderen nicht kennen und nicht verstehen.
Nicht selten versuchen diese Kinder, ihre Umwelt und andere
Menschen zu manipulieren, um die Ängste zu vermeiden oder zu
reduzieren. Dadurch wirken sie stur und unkooperativ. Als Klein-
kinder haben sie die Erfahrung gemacht, dass die Erwachsenen sie
»herumbewegten«, ohne Rücksicht auf ihr überempfindliches Gleich-
gewichtssystem zu nehmen. Daraus lernten sie, wie sie die Erwach-
senen kontrollieren und von sich fernhalten können. Da die Kinder
5.3 • Überreaktionen auf Gleichgewichtsreize
115 5
gewohnten Position bleibt. Außerdem müssen sie ihre Füße fest auf
dem Boden stehen lassen, so dass sie wissen, wo sie sich in Bezug zum
Raum befinden.
Das Problem kann zum Teil durch zu schwache propriozeptive
Empfindungen der Muskel- und Gelenkrezeptoren verursacht sein,
die aber gebraucht werden, um die vestibuläre Aktivität zu modu-
lieren. Macht ein Säugling nicht genügend Bewegungserfahrungen,
über die er vestibuläre und propriozeptive Empfindungen integrieren
kann, oder liegt eine neurologische Störung vor, die eine Integration
verhindert, entwickelt das Gehirn nicht die hemmenden Mechanis-
5 men, die die Aktivität des vestibulären Systems modulieren.
Die neurologische Funktionsstörung, die eine Schwerkraftunsi-
cherheit verursacht, wirkt sich nicht direkt auf das schulische Lernen
aus, aber die durch die Ängste entstehende psychische Belastung kann
das tun. Wir sehen Schwerkraftunsicherheit auch oft bei Kindern,
die andere, weitreichendere neurologische Funktionsstörungen ha-
ben, die auch das Lernen betreffen. Diese Störungen machen es den
Betroffenen schwer, sich zu organisieren und auf eine Tätigkeit zu
konzentrieren.
>> Schwerkraftunsichere Menschen sind sehr ängstlich und
können leicht neurotisch werden oder psychische Probleme
bekommen.
Therapie
In der Therapie mit sensorisch-integrativem Ansatz ist die Umge-
bung so gestaltet, dass die Kinder erfolgreiche Reaktionen ent-
wickeln können. Die Therapeutin weiß, wie sie die Kinder führen
kann, ohne sie zu überfordern. Dadurch gewinnt der innere An-
trieb im Laufe der Therapie fast immer Oberhand und ermöglicht
den Kindern, ihre Unsicherheit weitgehend zu überwinden.
5.3 • Überreaktionen auf Gleichgewichtsreize
117 5
. Abb. 5.10 gibt Ihnen eine Checkliste an die Hand, in der Anzeichen
von Schwerkraftunsicherheit zusammengefasst sind.
5.3.2 Bewegungsunverträglichkeit
Im Alltag und in der Schule muss man selten schaukeln oder auf
dem Kopf stehen; daher lassen sich die Probleme ohne große Ein-
schränkungen umgehen. Allerdings kann die neurologische Funk-
tionsstörung, die dafür verantwortlich ist, dass Drehbewegungen so
unangenehm erlebt werden, auch andere Arten von Bewegung leicht
unangenehm machen.
>> Wenn ein Kind keine Freude an Bewegung empfindet, ver-
säumt es viele befriedigende Kindheitserfahrungen und
Gelegenheiten, seine sensorische Integration zu entwickeln.
Entwicklungsdyspraxie
Wie Kinder neue motorische Fertigkeiten erlernen, und warum manche
Kinder Schwierigkeiten dabei haben
»Ohne Bewegung könnten wir Wenn Sie einen Moment innehalten und überlegen, was Menschen
uns nicht versorgen, gehen, alles tun können, wird Ihnen auffallen, dass Sie entweder eine Bewe-
wohin wir wollen, und mit gung machen, oder dass Ihr Tun Bewegung erfordert, um es auszu-
anderen kommunizieren.« drücken; Gedanken z.B. werden durch Bewegung ausgedrückt. Ohne
Bewegung könnten wir uns nicht versorgen, gehen, wohin wir wol-
len, und mit anderen kommunizieren. Es ist kein Wunder, dass ein
Großteil des Gehirns damit beschäftigt ist, körperliche Bewegungen
vorzubereiten.
Bewegung ist sichtbar; daher fällt uns auf, wenn sie schlecht aus-
geführt wird. Da so viele verschiedene Gehirnprozesse an der Bewe-
gung beteiligt sind, können viele verschiedene Störungen im Gehirn
Schwächen der Koordination verursachen.
Lassen Sie uns als Erstes die fünf Aspekte von Bewegung betrachten
(7 Übersicht 6.1).
Wenn die Neuronen, die die motorischen Signale vom Gehirn zu den
Muskeln weiterleiten, nicht gut funktionieren, erhalten die Muskeln
keinen kontinuierlichen Zustrom von Befehlen und werden sich fah-
rig und unkontrolliert zusammenziehen. Diese choreoathetoiden
Bewegungen treten als Folge von mangelnder Hemmung in den mo-
torischen Nervenbahnen auf.
Beispiel
Unwillkürliche choreoathetoide Bewegungen sind vergleichbar mit
dem Rauschen im Radio, wenn eine Frequenz nicht gut eingestellt ist
– ein zusätzliches Geräusch, das nicht da sein sollte.
Tipp
6.1.2 Haltereaktionen
6
Ein sehr wichtiger Aspekt der Koordination ist die Fähigkeit, die Kör-
perposition zu verändern und sich fortzubewegen, ohne das Gleich-
gewicht zu verlieren. Wir müssen auch den Rumpf bewegen und das
Gewicht verlagern, damit die Arme sich frei bewegen können. In den
ersten Wochen nach der Geburt helfen Haltereaktionen dem Säug-
ling, seinen Kopf zu heben, sich zu drehen und auf Hände und Knie
zu kommen. Diese frühen Haltereaktionen legen den Grundstein für
die Gleichgewichtsreaktionen, die sich später entwickeln.
Alle diese Bewegungen hängen von der Integration der motori-
schen Signale und sensorischen Informationen von den Muskeln, Ge-
lenken, dem Gleichgewichtssystem und in geringerem Ausmaß von
der Haut ab.
>> Haltereaktionen sind halbautomatische Reflexe oder Re-
aktionen, über die man nicht nachdenken muss. Sie funktio-
nieren sogar besser, wenn man nicht darüber nachdenkt.
Haben Sie sich jemals gefragt, wie Spinnen ihre 8 Beine so schnell
und gut koordiniert bewegen können? Sie müssen diese Bewegungen
nicht planen, sondern lediglich den Teil ihres Nervensystems »ein-
schalten«, der darauf programmiert ist, das richtige Bewegungsmus-
ter auszuführen.
Auch wir Menschen haben Bewegungsmuster, die in unserem
Zentralnervensystem einprogrammiert sind, wie z.B. Krabbeln und
Gehen. Normalerweise krabbeln Eltern nicht auf dem Boden herum,
um ihrem Kind beizubringen, wie man krabbelt. Die Kinder wissen
von selbst, wie es geht, und werden es tun, sobald ihr Nervensystem
6.1 • Bewegungsarten und Bewegungsstörungen
125 6
soweit gereift ist – vorausgesetzt, sie entwickeln sich normal. Obwohl
Kinder also ein angeborenes Bewegungswissen haben, wie man krab-
belt, müssen sie ihre Bewegungen doch ein wenig planen, wenn sie
das Bewegungsmuster neu lernen.
Das Gehen ist ebenfalls zentral programmiert, das Sprechen hin-
gegen erfordert Bewegungsplanung, es sei denn, das Kind spricht sehr
gut, oder das Gespräch ist sehr einfach. Ein Kind mit guter Praxie (Fä-
higkeit zur Bewegungsplanung) kann zugleich gehen und sprechen.
Beispiel
Die meisten Menschen schaffen es nicht, einen ihnen unbekannten,
komplizierten Knoten zu binden und dabei über etwas anderes zu
sprechen, weil beide Tätigkeiten Bewegungsplanung erfordern, und
das Gehirn nicht gleichzeitig zwei verschiedene Bewegungsplanungs-
prozesse abwickeln kann.
Bei einem Kind, das mit 6 Monaten gut sitzen kann, aber später keine
motorischen Fertigkeiten erlernt, kann man davon ausgehen, dass sei-
ne Haltereaktionen und seine zentrale Programmierung in Ordnung
sind, aber Schwächen in der Bewegungsplanung vorliegen.
Beispiel
Wenn ein Kind zu lernen beginnt, wie es sich auf einen Stuhl setzen
kann, muss es zuerst planen: zu dem Stuhl hingehen, sich umdrehen
und dann den Körper genau richtig auf der Sitzfläche platzieren. Spä-
ter kann es sich auf seine Erinnerung an die Bewegungsbefehle verlas-
sen und muss nicht mehr über jeden Bewegungsschritt nachdenken.
Wir alle haben eine »Bibliothek« (ein Repertoire) von Fertigkeiten, »Eine Fertigkeit ist eine
die wir einsetzen können, wenn wir sie brauchen. Bewegung, die wir anfangs
planen müssen, um sie zu
Definition erlernen. Ist sie einmal erlernt,
Eine Fertigkeit ist eine Bewegung, die wir anfangs planen können wir sie spontan
müssen, um sie zu erlernen. Ist sie einmal erlernt, können wir sie ausführen.«
spontan ausführen.
Wenn ein Kind lernt, seine Schuhe zu binden, muss es sich auf seine
Finger und die Schnürsenkel konzentrieren; diese bewusste Aufmerk-
samkeit macht das Tun zu einer geplanten Bewegung. Nachdem es
126 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie
Beispiel
Beim Klavierspielen müssen Anfänger ihre volle Konzentration darauf
verwenden, die richtigen Tasten zu finden, während ein geübter Kla-
vierspieler sein Gehirn einfach arbeiten lässt. Sein Gehirn organisiert
die Kontraktionen der Fingermuskeln so automatisch, dass er nicht
einmal die Tasten ansehen oder darüber nachdenken muss, was er
6 eigentlich spielt. Sind die Neurone jahrelang auf das Klavierspielen
ausgerichtet, dann kann diese Fertigkeit so automatisch werden wie
das Gehen.
. Abb. 6.1 Um neue Dinge wie das
Anziehen zu lernen, müssen wir sie so-
lange bewusst planen, bis sie automa-
Fertigkeiten erfordern keine Bewegungsplanung, solange sie unter
tisierte Fertigkeiten werden und keine bekannten Umständen ausgeführt werden. Verändert sich auch nur
Bewegungsplanung mehr erfordern ein kleiner Umstand, müssen wir uns wieder mehr konzentrieren und
unsere Bewegungen kognitiv planen.
Beispiele
44 D ie Pedale des Klaviers sind anders, oder man spielt auf einer
Orgel anstatt wie sonst auf einem Klavier.
44 Wir als Erwachsene haben die Fertigkeit, ein Kleidungsstück zu-
zuknöpfen, völlig automatisiert. Wenn aber die Knöpfe sehr groß
oder ungewöhnlich geformt sind, müssen wir die Bewegung
bewusst planen.
44 Bei den meisten von uns reicht die Fertigkeit, Auto zu fahren nicht
dafür, einen LKW zu fahren. Wir müssten alle unsere Bewegungs-
abläufe wieder neu planen, bis wir mit der Größe des Lastwagens
und der Lage der Pedale vertraut wären.
6.1.5 Bewegungsplanung
Beispiele
44 W enn ein Baby eine Rassel aufheben, den Löffel in den Mund ste-
cken oder durch eine Tür krabbeln will, muss es diese Bewegun-
gen planen – so lange, bis sie automatisiert und zu motorischen
Fertigkeiten geworden sind. Dann erfordern sie keine Planung
mehr.
44 Kinder im Vorschulalter müssen ihre Bewegungen planen, wenn
sie sich anziehen, Buchstaben schreiben und in ganzen Sätzen
sprechen. Jedes Mal, wenn sie lernen, ein neues Werkzeug einzu-
setzen – auch einen Stift oder ein Messer – müssen sie ihre Bewe-
gungen planen.
44 Erwachsene müssen auf ihre Bewegungsplanung zurückgreifen,
wenn einen neuen Knoten binden lernen, einen neuen Tanz-
schritt lernen oder beruflich eine neue Aufgabe übernehmen.
In gewisser Hinsicht ist Bewegungsplanung die höchste und komple- »In gewisser Hinsicht ist
xeste Leistung, die Kinder erbringen. Bewegungsplanung die höchste
Da Bewegungsplanung bewusste Aufmerksamkeit erfordert, und komplexeste Leistung, die
ist sie eng mit geistigen und intellektuellen Funktionen verbunden. Kinder erbringen.«
Außerdem hängt sie stark von komplexen sensorisch-integrativen
Funktionen im Hirnstamm und in den Großhirnhälften ab. Das Ge-
hirn gibt den Muskeln die Bewegungsbefehle, und die Sinnesempfin-
dungen des Körpers geben dem Gehirn die nötigen Informationen
für diese Befehle.
>> Bewegungsplanung ist die »Brücke« zwischen den senso-
motorischen und den intellektuellen Hirnfunktionen.
Beobachten Sie ein Kind, das zum ersten Mal »Himmel und Hölle«
hüpft oder auf einen Baum klettert, den es noch nicht kennt. Es kon-
zentriert sich auf jede Bewegung und kann sich nicht gleichzeitig auf
etwas anderes konzentrieren. Wenn es abgelenkt wird, muss es mit
dem Klettern pausieren, weil es seine Aufmerksamkeit nicht auf zwei
verschiedene Dingen gleichzeitig richten kann. Wenn sein Gehirn gut
organisiert ist, muss es diese Bewegungen aber nur wenige Male kon-
zentriert planen, um sie zu beherrschen. Kinder lernen schnell und
können ihre Sprünge bald koordinieren und ohne viel Nachdenken
auf den Baum klettern. Dann müssen sie sich nicht mehr auf ihre Be-
wegungen konzentrieren, sondern können mit Freunden sprechen,
während sie hüpfen oder klettern.
Schlechte Bewegungsplanung sei anhand der nachfolgenden Bei-
spiele verdeutlicht.
128 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie
Beispiele
44 I ch forderte ein Mädchen auf, sich auf eine Bank zu legen. Sie
legte ihre Schultern auf die Bank und fragte mich dann: »Was soll
ich jetzt mit meinen Beinen machen?« Ihr Problem war, dass die
Sinnesinformationen von ihren Beinen ihr nicht »sagten«, was sie
mit ihnen tun sollte.
44 Eine junge Frau, die ich aufforderte, sich auf einen Tisch zu legen,
kletterte über einen Stuhl auf den Tisch. Sie stellte sich zuerst auf
den Tisch, und dann erst konnte sie sich hinlegen. Zu Hause konn-
te sie sich in ihr Bett legen, ohne sich zuerst hinzustellen. Aber sie
konnte diesen Bewegungsablauf nicht auf den Tisch übertragen.
Das Sich-ins-Bett-Legen war eine Splitterfertigkeit, die ihr nicht
half, dieselbe Bewegung unter veränderten Bedingungen auszu-
6 führen.
44 Ein anderes Mal sprach ich gerade mit einem Kind, während ein
Junge direkt neben uns mit einem Papprohr, das er mit beiden
Händen festhielt, auf einen hängenden Ball schlug. Er hatte ge-
rade erst gelernt, beide Hände gemeinsam einzusetzen. Er war
ziemlich ungehalten und sagte: »Seid still! Ich arbeite hier!« Er
musste sich so stark auf das Planen der Bewegungen seiner Hän-
de konzentrieren, dass er die Geräusche (unser Gespräch) nicht
tolerieren konnte. Natürlich haben wir seine Bitte ernst genom-
men.
Beispiel
Lassen Sie uns das Körperschema mit einem »Autoschema« verglei-
chen. Wenn wir eine Zeit lang ein bestimmtes Auto gefahren sind, ent-
wickeln wir ein gutes »Gefühl« zu dem Auto: zu dessen Größe, wie stark
wir lenken müssen, um eine Kurve zu nehmen, und wie fest wir auf
die Pedale treten müssen. Dieses Wissen gewinnen wir aus unseren Er-
130 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie
Der Berührungssinn der Kinder ist jedoch nicht betäubt wie nach
einer Spritze beim Zahnarzt. Manchmal ist er sogar besonders emp-
findlich, so dass den betroffenen Kindern normale Berührungen un-
angenehm sind. Diese Art der Störung wird in 7 Kapitel 7 beschrieben.
Am häufigsten drückt sich eine Störung des Berührungssinns
darin aus, dass die Betroffenen nicht genau spüren, wo sie berührt
werden (ungenaue Lokalisation von Berührungsreizen), und dass sie
dem, was sie spüren, keine Bedeutung geben können. Mit anderen
Worten: Die Kinder haben Schwierigkeiten, Dinge, die sie entweder
selbst berühren und ertasten, oder von denen sie berührt werden, zu
erkennen und zu unterscheiden (diskriminieren). Sie spüren, dass
sie berührt werden, aber sie spüren nicht die Stelle, ob z.B. auf dem
Mittel- oder dem Ringfinger. Sie fühlen etwas in ihrer Hand, aber sie
können nicht sagen, ob es eine Münze oder ein Knopf ist.
Warum ist bei sensorischen Integrationsstörungen die taktile
Unterscheidungsfähigkeit (Diskrimination) häufig so schwach ausge-
prägt? Berührungsempfindungen kommen von überall auf der Haut
zum Gehirn und verteilen sich in fast alle Hirnbereiche. Störungen in
diesen Hirnbereichen wirken sich wiederum auf die taktile Verarbei-
tung aus, so dass das Problem bei jedem Kind eine andere Ursache
haben kann.
Nur ein kleiner Teil der taktilen Reize, die unser Gehirn registriert, er-
reicht den Kortex und wird uns bewusst. Normalerweise nehmen wir
die Berührungen nicht bewusst wahr, außer, wenn wir unsere Auf-
merksamkeit auf einen bestimmten Körperteil richten, oder wenn der
Reiz stark genug ist, um uns aufmerksam zu machen. Währenddessen
wird unser taktiles System ununterbrochen von zahllosen anderen
taktilen Reizen aktiviert: vom Druck und von der Bewegung der Luft
und Kleidung oder Möbel, mit denen wir in Berührung kommen.
Die Tatsache, dass wir von den meisten taktilen Reizen gar nichts
wissen, bedeutet nicht, dass sie nicht wichtig sind. Der kontinuierli-
che Zustrom von taktilen Empfindungen ist ungeheuer wichtig, damit
das Gehirn in einem organisierten Zustand bleibt. Wenn dem Gehirn
taktile Reize entzogen werden, wird es sehr schnell desorganisiert.
Wie wir in 7 Kapitel 4 beschrieben haben, war das Gehirn von jungen
Affen, die ohne mütterliche Berührung aufgezogen wurden, und von
Kindern, die in Heimen aufgewachsen waren, äußerst desorganisiert.
Dasselbe Ergebnis zeigte sich bei gesunden Erwachsenen, die eine ge-
wisse Zeit in einer Isolationskammer verbrachten.
. Abb. 6.2 Man denkt gar nicht daran, wie stark wir unseren Berührungssinn
einsetzen, wenn wir unsere Hände geschickt einsetzen, etwa beim Zeichnen und
Schreiben
Beispiel
Stellen Sie sich vor, Sie würden mit einem Fausthandschuh schreiben.
Sie würden zwar grob spüren, dass Sie einen Stift halten und den Tisch
berühren, aber die Empfindungen wären diffus und unklar.
. Abb. 6.4 Eine gute Bewegungsplanung oder Praxie beruht auf einem klaren
Bewusst-Sein der Körperposition und der Fähigkeit, eine Aktion in Sequenzen
aufzuteilen und diese zeitlich abzustimmen
Beispiel
Stellen Sie sich vor, Sie müssten mit verbundenen Augen eine Tasse
heißen Kaffee trinken. Wie wissen Sie, wo Ihr Mund ist, und wie Sie die
Tasse dorthin bekommen, ohne den Kaffee zu verschütten? Wie wissen
Sie, wie viel Kraft Sie einsetzen müssen, um die Tasse hochzuheben?
Würden Ihnen Ihre Muskeln sagen, dass die Tasse mit Blei gefüllt ist,
dann würden Sie so kraftvoll zugreifen, dass der Kaffee in hohem Bo-
gen durch die Luft schleudern würde.
Sie wissen diese Dinge, weil die Empfindungen Ihrer Muskeln und
Gelenke Ihrem Gehirn sagen, wo Ihr Mund und Ihre Hand sind, wie
schwer die Tasse ist, und wie schnell Sie sich bewegen. Ohne die-
se Information müssten Sie ausprobieren, wie Sie die Tasse von der
Untertasse zum Mund bringen können, und es wäre unsinnig, dafür
heißen Kaffee zu nehmen. Sie würden auch Ihren Mund erst öffnen,
wenn die Tasse an Ihrem Gesicht anstößt, da Sie nicht wüssten, wo die
Tasse sich auf dem Weg zum Mund befindet.
Beispiel
Stellen Sie sich in einem Zimmer gegenüber von einem Lichtschalter
an die Wand. Sehen Sie sich den Schalter an, schließen Sie die Augen,
gehen Sie dann durch das Zimmer zu dem Schalter, und schalten Sie
das Licht an. Dafür müssen Sie propriozeptive und vestibuläre Emp-
6.2 • Körperschema und Bewegungsplanung
135 6
findungen in Ihren Bewegungsplan integrieren, ohne visuelle Infor-
mationen zu Hilfe nehmen zu können. Wahrscheinlich werden Sie den
Schalter nicht ganz genau treffen, aber Sie werden ungefähr wissen,
wie weit Sie gehen müssen, wann Sie Ihre Hand ausstrecken müssen,
in welcher Höhe Sie greifen müssen, und wann Sie langsamer gehen
müssen, um nicht an die Wand zu stoßen.
Therapie
Überprüft wird der kinästhetische Sinn bzw. das Nutzen der pro-
priozeptiven Informationen anhand eines Tests.
Auf einem Blatt Papier sind Punkte (»Häuser«) abgebildet. Die
Therapeutin verdeckt die Augen des Kindes mit einem Karton-
schild. Sie führt seinen Finger zum ersten »Haus« und gibt ihm
einige Sekunden Zeit, um die propriozeptive Information über die
Position seines Arms und seiner Hand zu verarbeiten. Dann bringt
sie den Finger wieder an den Ausgangspunkt zurück und fordert
das Kind auf, selbst mit dem Finger zum ersten »Haus« zu gehen.
Wenn das Kind die propriozeptiven Informationen nicht gut ver-
arbeitet hat, wird es bei vielen der 10 Versuche nicht sehr nahe an
das »Haus« herankommen. Die Werte des Kindes werden mit der
Leistung von Gleichaltrigen verglichen, und so kann die Thera-
peutin beurteilen, wie gut das Kind propriozeptive Informationen
verarbeitet.
Wenn die Therapeutin die Hand des Kindes bewegt, merkt sie,
ob der Arm sich leicht führen lässt, oder ob er schwer wirkt und
sich nur gegen Widerstand bewegen lässt. Dies ist ein Zeichen,
dass das Kind Schwierigkeiten hat, Empfindungen aus den Mus-
keln und Gelenken zu verarbeiten. In anderen Situationen kann
auffallen, dass das Kind sich schlaff und schwer wie ein Mehlsack
anfühlt. Es kann z.B. Schwerstarbeit sein, ihm zu helfen, auf ein
Gerät oder ein Klettergerüst zu steigen oder einen Hindernispar-
cours zu durchlaufen. Ebenso kann es vorkommen, dass das Kind,
136 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie
das sich mit dem Bauch auf ein Rollbrett legen will, halb neben
dem Brett liegt, ohne dass es das merkt.
»Sinnesempfindungen über die Sinnesempfindungen über die Schwerkraft und die Bewegung im
Schwerkraft und die Bewegung Raum werden mit propriozeptiven und taktilen Informationen ver-
im Raum werden mit propriozep- knüpft, um das Körperschema zu vervollständigen. Durch die ves-
tiven und taktilen Informationen tibulären Informationen bekommt unsere »Landkarte« vom Körper
verknüpft, um das Körperschema Orientierung im Raum.
6 zu vervollständigen.«
Beispiel
Ein Kartograph kann nicht nur die Länder einzeichnen; er muss auch
die Pole einzeichnen, um einen räumlichen Bezugspunkt herzustellen.
Therapie
Wenn der Körper passiv bewegt wird, sendet das Gehirn keine
Bewegungsbefehle, so dass es auch keine interne Rückmeldung
gibt. Daher wird in der Therapie von Kindern mit Dyspraxie be-
sonders darauf geachtet, dass sie ihre Bewegungen selbst steu-
ern. Je mehr sie sich aktiv bewegen, desto mehr interne Rückmel-
dung bekommt ihr Gehirn. Aktive, selbst gesteuerte Bewegung ist
der Schlüssel zur Verbesserung der Bewegungsplanung.
. Abb. 6.5 Internes Feedback findet
im Gehirn bereits vor der Aktion statt;
es spielt eine entscheidende Rolle für
das Erlernen der Fähigkeit, Bewe-
6.2.6 Tun ohne zu denken gungsabläufe zu planen
Beispiele
44 E ine Kellnerin balanciert Teller und Besteck auf einer Hand ohne
darüber nachzudenken.
44 Als Anfänger versucht man beim Tanzen, über die Schritte nach-
zudenken; aber gut ausführen kann man sie nur, wenn man auf-
hört, sie mit dem Verstand kontrollieren zu wollen.
44 Die Finger einer Näherin bewegen sich wie von allein.
Denken ist nützlich, um zu entscheiden, was man tun soll – aber nicht
sehr nützlich, wenn es darum geht, es tatsächlich zu tun. Anatomie
und Physiologie unserer Muskeln sind viel zu komplex, und die Dinge
geschehen viel zu schnell. Die Informationen in unserem Körper-
schema sind sensorisch und nicht kognitiv. Daher sind sie unserem
bewussten Verstand nicht immer zugänglich. Ein gut funktionieren-
des Gehirn benötigt kein bewusstes Denken, um Sinnesinformatio-
nen zu verarbeiten, in das Körperschema zu integrieren und für die
138 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie
Definition
Eine Entwicklungsdyspraxie ist eine Funktionsstörung des Ge-
hirns, die die Verarbeitung von taktilen und manchmal vestibulä-
ren und propriozeptiven Sinnesinformationen behindert und die
Fähigkeit zur Bewegungsplanung beeinträchtigt. Das Wort »ent-
wicklungsbedingt« sagt aus, dass die Störung früh im Leben
beginnt und die Entwicklung beeinflusst.
Für Eltern ist es oft irreführend, dass ihr Kind sich nicht schwer
getan hat, sitzen und gehen zu lernen. Sie erinnern sich, dass es im
selben Alter wie andere Kinder sitzen und gehen konnte, und jetzt
ohne Probleme zu einem Stuhl gehen und sich hinsetzen kann; also
erwarten sie, dass es sich auch wie jedes andere Kind anzieht und
seine Schuhe bindet.
>> Sitzen und Gehen sind im Nervensystem »vorinstalliert«
und entwickeln sich normalerweise in bestimmten Entwick-
lungsphasen. Aktivitäten wie sich anziehen oder Schuhe
binden sind hingegen erlernte Leistungen, und um sie zu
beherrschen, muss das Kind seine Bewegungen planen.
Beispiel
Ein Kind bemerkte einmal: »Ich kann nicht zur gleichen Zeit tun und
denken; ich muss zuerst denken, dann kann ich es tun.«
Die Tatsache, dass das Gehirn in einem Bereich nicht gut funktio-
niert, legt nahe, dass es auch Schwächen in anderen Bereichen haben
wird. Viele, aber nicht alle Kinder mit Dyspraxie haben Lernproble-
me. Man kann auch mit einer Dyspraxie gut lernen, aber es ist viel
6.4 • Wie fühlt sich ein Kind mit Dyspraxie?
141 6
. Abb. 6.8 Ein Kind mit wenig organisierten taktilen, propriozeptiven und räum-
lichen Informationen kann sich ungeschickt und verwirrt fühlen
Beispiel
6 Ich wollte einem dyspraktischen Mädchen ein Kompliment machen
und sagte, dass sie wie eine Prinzessin aussehe. Sie beklagte sich: »Ich
. Abb. 6.9 Dyspraktische Kinder
bin keine Prinzessin! Ich bin Pamela!«
haben in vielen Lebenssituationen
Schwierigkeiten
Diese schwach ausgeprägte körperliche Identität führt auch zu einem
sehr unsicheren Gefühlsleben. Die Kinder sind in ihrem eigenen
Körper gefesselt. Die Störung im Nervensystem verhindert Persön-
lichkeitsentwicklung, und ihr Verhalten erscheint wenig liebenswert;
und doch brauchen gerade diese Kinder besonders viel Liebe und
Verständnis.
Die meisten von uns, die effizient mit der dinglichen Umwelt
umgehen können, bemerken nicht, wie furchtbar bedrohlich Bewe-
gungsanforderungen für ein Kind sein können, das sie nicht erfüllen
kann oder sehr darum kämpfen muss (. Abb. 6.10). Es ist für das dys-
praktische Kind sehr frustrierend, sich den Endzustand zwar vorstel-
len zu können, aber nicht, was man tun muss, um dahin zu kommen.
Beispiel
Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen vollen Teller vor sich stehen, aber
Ihre beiden Hände sind komplett eingegipst.
Das Kind mit Dyspraxie steckt fest. Nicht nur seine Beziehung zu sich
. Abb. 6.10 Bewegungsanforderun- selbst ist beeinträchtigt, es kann auch keine normalen Beziehungen
gen können für ein Kind, das sie nicht
erfüllen kann, sehr bedrohlich sein
zu seiner Umwelt herstellen. Es hat sehr wenig Kontrolle über sein
Leben und fühlt sich oft kraftlos und unfähig. Manche dyspraktischen
Kinder versuchen zu kompensieren, indem sie andere Kinder oder
Situationen kontrollieren und manipulieren. Manchmal versuchen sie
auch, die Integrität ihres Selbst zu erhalten, indem sie stur und unko-
operativ sind.
Kinder mit Dyspraxie glauben oft, dass jemand anders oder die
dingliche Umwelt dafür verantwortlich ist, dass sie so wenig Kontrolle
über die Dinge haben.
6.4 • Wie fühlt sich ein Kind mit Dyspraxie?
143 6
Beispiel
Die Kinder drücken das so aus: »Die Wand hat mich gestoßen!«, oder
»Du machst meinen Stuhl wackelig!«
Für die Kinder liegt die Ursache für ihre Fehler immer außerhalb,
bei jemand oder etwas anderem. Der Bleistift ist falsch, das Papier
ist falsch. Außerdem sind manche Kinder auch schwerkraftunsicher;
also ist sogar die Erde gegen sie.
Erwachsene stürzen sich oft auf diese frustrierten, unsicheren,
chaotischen Kinder, normalerweise mit guten Absichten. Sie stim-
men ihre Forderungen jedoch auf die Intelligenz und nicht auf die
Bewegungsplanungsfähigkeiten der Kinder ab. Wenn sie sehen, dass
die Kinder einige Splitterfertigkeiten oder vorprogrammierten Bewe-
gungen beherrschen, fordern sie mehr. Sie erwarten, dass die Kinder
mit mehr Druck und Durcheinander zurechtkommen als ihr Nerven-
system verarbeiten kann, und ignorieren ihre zerbrechliche Persön-
lichkeit.
Kinder mit Dyspraxie haben nicht das neurologische Rüstzeug,
um eine Bedrohung ihres Selbst abzuwehren. Schon das geringste
Problem, z.B. ein abgebrochener Bleistift, kann zu dramatischen Re-
aktionen führen. Bringen sie erst einmal den Mut auf, eine Aufgabe
anzugehen, und stoßen dann auf Schwierigkeiten, kann es sein, dass
sie diese Aufgabe nie wieder probieren. Die Unsicherheit der Kinder
nimmt zu, wenn sie bemerken, dass andere Kinder Aufgaben schaf-
fen, an denen sie selbst scheitern. So ist es nicht sehr verwunderlich,
dass dyspraktische Kinder oft negativ, widerwillig und manipulativ
werden.
Dyspraktische Kinder sind oft emotional labil – jetzt noch glück-
lich, im nächsten Augenblick außer sich. Manche Kinder mit Dy-
spraxie versuchen, ein Baby zu bleiben und reagieren babyhaft auf
Anforderungen. Sie haben nicht das neurologische Rüstzeug, um al-
tersgemäß zu handeln. Diese Kinder brauchen oft untypisch lange
elterliche Unterstützung und Fürsorge. Sie brauchen Erwachsene, die
die Welt mit ihren Augen sehen können.
Therapie
Der beste Ansatz für den Umgang mit dyspraktischen Kindern ist
oft, sie vor äußerem Druck oder Versagen zu schützen. Lassen Sie
das Kind seinem inneren Antrieb folgen, solange dieser auf ir-
gendeine Weise konstruktiv ist. Geben Sie Ihrem Kind Zeit, sich in
seinem eigenen Tempo zu entwickeln; es kann sich ohnehin nicht
in einem anderen Tempo entwickeln. Vermeiden Sie Anforderun-
gen, die es als bedrohlich erlebt. Seien Sie verständnisvoll und
bieten Sie ihm Schutz und Herausforderungen auf seinem Niveau.
Aber vor allem, suchen Sie die Hilfe einer Therapeutin, die in Sen-
sorischer Integrationstherapie ausgebildet ist, so dass Sie Ihrem
Kind mit den geeigneten Maßnahmen helfen können.
144 Kapitel 6 • Entwicklungsdyspraxie
Taktile Abwehr
Der Berührungssinn, und warum manche Kinder empfindlicher
sind als andere
In diesem Kapitel konzentrieren wir uns auf eine Störung, die mit
einer Überempfindlichkeit auf Berührungsreize einhergeht. Wir be-
obachten diese negativen Reaktionen von Kindern mit sensorischen
Integrationsstörungen zwar oft bei Berührungsreizen, aber sie treten
auch bei Gerüchen, Geschmäckern, Geräuschen, Licht oder anderen
visuellen Reizen und Bewegung oder Positionswechsel auf. Atypische
Unter- oder Überempfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen wird auch
sensorische Modulationsstörung genannt. Im Folgenden wollen wir
eine Art der sensorischen Modulationsstörung, die taktile Abwehr, be-
schreiben. Die Schwerkraftunsicherheit, die wir in 7 Kapitel 5 bespro-
chen haben, wird im Allgemeinen auch als sensorische Modulations-
störung betrachtet. Manche Kinder sind unter- oder überempfindlich
gegenüber mehreren Sinnesmodalitäten, während andere nur auf eine
Sinnesmodalität überreagieren. Wenn das Gehirn den sensorischen
Input aus einem oder mehreren Sinnessystemen nicht hemmen kann,
stören diese Empfindungen das Kind und verursachen unangepasste
7 Verhaltensweisen. Essen, Parfüm, Reinigungsmittel und andere Che-
mikalien riechen unerträglich intensiv. Die Sirene eines Feuerwehr-
autos, Musik oder andere Kinder sind unerträglich laut. Man muss
genau beobachten, wann das Kind auf diese Empfindungen und nicht
auf etwas anderes, das gleichzeitig geschieht, reagiert.
Taktile Abwehr ist eine subtile, jedoch ernste neuronale Störung.
Man trifft sie häufig bei Kindern mit Lernstörungen, Entwicklungs-
verzögerungen und ernsteren Behinderungen. Kinder mit taktiler
Abwehr sind meist unruhig und ablenkbar. Dies stört Eltern und
Lehrer oft am meisten. Umgekehrt aber haben nicht alle hyperaktiven
und ablenkbaren Kinder eine Störung der taktilen Verarbeitung.
>> Die neuronale Störung, die zur taktilen Abwehr führt, be-
einträchtigt nicht unbedingt das Lernvermögen, aber das
permanente Unbehagen und die untypischen Verhaltens-
weisen können sich auf das Lernen auswirken.
Sehr oft sind diese Kinder emotional unsicher. Offensichtlich lässt die
Modulationsstörung im taktilen System auch die Emotionen leich-
ter überschießen. Taktil abwehrendes Verhalten ist eine Reaktion des
Kindes auf Berührungsempfindungen, aber die emotionalen Über-
reaktionen deuten auf weitreichendere Störungen in seinem Nerven-
system hin.
Definition
Unter taktiler Abwehr verstehen wir die Tendenz, auf Berührungsrei-
ze negativ und emotional zu reagieren.
7.1 • Die Symptome
147 7
Taktile Empfindungen von Kleidung, die den Körper berührt, und »Kinder mit taktiler
Empfindungen von der Haut selbst strömen ununterbrochen auf Abwehr … fühlen sich »unwohl
unser Nervensystem ein. Bei den meisten von uns werden diese Reize in ihrer Haut«, was Unruhe und
unterdrückt und das Nervensystem gehindert, darauf zu reagieren. einen stetigen Bewegungsdrang
Bei Kindern mit taktiler Abwehr ist diese hemmende Aktivität nicht auslöst.«
stark genug. So nimmt es diese und viele andere Empfindungen wahr,
wodurch es sich – im wahrsten Sinn des Wortes – »unwohl in seiner
Haut« fühlt, was Unruhe und einen stetigen Bewegungsdrang auslöst.
Es ist sehr schwierig, in der Schule aufzupassen, wenn Haut und Klei-
dung sich so unangenehm anfühlen, dass man ständig zappeln muss,
um gegen dieses Unbehagen anzukämpfen.
Manche taktil abwehrenden Kinder tragen auch bei warmen Tem-
peraturen lieber lange Ärmel, um ihre Arme bedeckt zu halten. Sie
vermeiden auch, Klebstoff oder Fingerfarbe auf ihre Hände zu be-
kommen oder barfuß im Gras oder Sand zu gehen (. Abb. 7.1). Sie
148 Kapitel 7 • Taktile Abwehr
werden nicht gern gebadet und spielen auch nicht gern im Wasser,
weil sie angespritzt werden könnten. Wasserspritzer würden ihr Ner-
vensystem überstimulieren. Auch bestimmte Stoffe wie Wolle, man-
che Kunstfasern oder grob gewebte Stoffe können sie als unerträglich
empfinden.
Wenn sie sich besonders sicher und vertraut fühlen, können sie
zärtliche Berührungen tolerieren und sogar genießen. Zu anderen
Zeiten wehren sie sogar die Berührung ihrer Mutter ab. Taktil abweh-
rende Kinder sind in einem ziemlichen Dilemma: Einerseits brauchen
sie mehr Berührung als andere Kinder, andererseits können sie diese
aber nicht modulieren und nutzen, um ihr Nervensystem in einem
ausgeglichenen Zustand zu halten.
Tipp
7.2 Wie das Kind Berührungen erlebt . Abb. 7.2 Kinder, die nur sehr weni-
ge verschiedene Dinge essen, können
Beispiel überempfindlich auf die Beschaffen-
Stellen Sie sich vor, Sie liegen an einem sonnigen Strand. Ihre Augen heit der Nahrung (breiig, klumpig, zäh,
knusprig etc.) reagieren
sind geschlossen, und Sie fühlen, wie die warme Sonne auf Ihre Beine
scheint. Plötzlich streicht jemand mit einem Stab schnell, aber leicht »Kindern mit taktiler Abwehr ist
Ihre Fußsohle auf und ab. Obwohl Ihr Nervensystem eigentlich in einem meist gar nicht bewusst, was sie
entspannten Zustand ist, wird Sie dieser Berührungsreiz wahrschein- genau fühlen, außer dass jemand
lich ärgerlich auffahren lassen, auch wenn er nicht schmerzhaft ist. sie in eine unangenehme und
irritierende Situation bringt.«
Wahrscheinlich würden Sie weniger stark reagieren, wenn die Person
Sie langsam und mit festem Druck berührt hätte. Der Grund ist, dass
schnelle, leichte Berührungsempfindungen das Nervensystem akti-
vieren, aber langsame, feste Tiefdruckempfindungen nicht erregend,
sondern eher beruhigend wirken. Es sind nicht immer intensive Rei-
ze, die negative Reaktionen auslösen (. Abb. 7.2). Dies gilt besonders
für Kinder mit taktiler Abwehr.
>> Kinder mit dieser neuronalen Störung erleben Berührungs-
reize tatsächlich anders als andere Menschen. Was sich für
andere Kinder wunderbar anfühlt, ist für diese Kinder unan-
genehm.
Manche Kinder berichten, dass es sich wie ein Nadelstich, ein Elekt-
roschock oder ein Insektenbiss anfühlt, wenn sie mit einem Stift be-
rührt werden. Viele Berührungen werden als Kitzeln wahrgenom-
men, und obwohl dies ein reflektorisches Kichern auslöst, ist es nicht
angenehm. Noch häufiger ist den Kindern aber gar nicht bewusst,
was sie genau fühlen, außer dass jemand sie in eine unangenehme
und irritierende Situation bringt. Die Störung liegt normalerweise im
Hirnstamm oder in den Großhirnhälften, wo taktile Informationen
unbewusst verarbeitet werden. Deshalb bemerkt das Kind gar nicht,
dass es auf Berührungsreize reagiert. Kinder mit guter Selbstkont-
150 Kapitel 7 • Taktile Abwehr
• Stellen Sie sich vor, Sie gehen durch eine dunkle Gassee
und meinen zu hören, dass Ihnen jemand folgt. Aber Sie sehen
niemanden. Wie würden Sie sich fühlen, wenn genau dann etwas leicht über Ihren Hals
oder Arm streift? Könnten Sie leicht erkennen, ob es sich um eine Person oder um einen
Busch handelt? Würden Sie eher schnell und abwehrend oder ruhig und besonnen
reagieren?
• Denken Sie daran, wie Sie sich fühlen, wenn viele Mückenstiche Sie plagen, oder
wenn Sie einen kratzigen Pullover oder nasse Socken anhaben, die Sie nicht wechseln
können. Wären Sie unter diesen Bedingungen in Bestform, so dass Sie einem Fachvortrag
zuhören, sich auf ein wichtiges Projekt konzentrieren oder geduldig auf die Fragen eines
7 Kleinkindes antworten könnten?
Für Kinder mit taktiler Abwehr wirken einfache Berührungen auf den
Armen wie eine elementare Bedrohung, gerade so, als ob sie einem
wilden Tier gegenüberstünden. Die natürliche Reaktion auf eine sol-
che Bedrohung ist eine Überlebensreaktion, wie Kampf, Flucht oder
Erstarren.
Die meisten Tiere nehmen Umweltgefahren mit dem Berüh-
rungs-, Geruchs- und Hörsinn wahr. Die Gehirnentwicklung war im-
mer auf das Überleben ausgerichtet. Zu diesem Zweck bildeten sich
bestimmte neuronale Reaktionen aus, die ausgelöst werden, wenn
Sinnesinformationen auf eine Gefahr hinweisen. Diese Reaktionen
aktivieren das ganze Nervensystem zu höchster Wachsamkeit und
versetzen die Muskeln in Bereitschaft zu kämpfen oder zu flüchten.
7.3 • Was geht im Nervensystem vor?
151 7
Diese grundlegenden neuronalen Muster haben sich über Millionen
von Jahren entwickelt, und sie haben sich in den mehreren Tausend
Jahren unserer Zivilisation nicht verändert. Daher reagiert auch der
heutige Mensch auf Gefahr automatisch mit Kampf oder Flucht.
Allerdings bildeten sich im Laufe der Entwicklung des mensch-
lichen Gehirns Mechanismen aus, die die Kampf- oder Fluchtreaktion
hemmen können. An deren Stelle können neue Verarbeitungsprozes-
se stattfinden, über die wir Form und Beschaffenheit von Dingen, die
die Haut berühren, wahrnehmen. Teile des Gehirns hemmen diese
Schutzreaktion und ermöglichen uns, ruhig zu bleiben und uns dar-
auf zu konzentrieren, den Berührungsreiz zu interpretieren.
>> Es ist sinnvoll, zwei Arten von Reaktionen auf taktile Reize
zu unterscheiden:
55 Schutz- oder Abwehrreaktionen, die das Lebewesen vor Ge-
fahren schützen, und
55 diskriminative Reaktionen, die dem Unterscheiden und Er-
kennen des Reizes dienen.
Beispiel
Berührt man einen heißen Ofen, oder sticht ein Insekt zu, domi-
niert die Abwehrreaktion. Muss man aber den Unterschied zwischen
einem Euro und einem 10-Cent-Stück in der Geldbörse oder zwischen
Baumwolle und Wolle erkennen, verlässt man sich auf diskriminative
Prozesse.
Die Art der Berührung, die wir auf der Haut spüren, bestimmt, ob die
Reaktion abwehrend oder diskriminativ sein wird. Schmerz aktiviert
das Schutzsystem, tiefe Druckempfindungen wirken eher modulie-
rend und hemmend. Wenn Sie sich das Schienbein anschlagen, drü-
cken Sie auf die Stelle und reiben sie, um den Schmerz zu verringern.
Durch das Reiben entstehen taktile Reize, die den Fluss von Schmerz-
impulsen hemmen oder blockieren. Druckempfindungen wirken aus-
gleichend auf überschießende Aktivität des Schutzsystems. Wir krat-
zen einen Mückenstich, weil die tiefen Druckreize das taktile System
daran hindern, Juckreizempfindungen weiterzuleiten. Der Juckreiz
verschwindet, solange wir kratzen, tritt aber wieder auf, wenn wir
damit aufhören.
Therapie
Die Behandlung der taktilen Abwehr beruht auf demselben Prin-
zip: Fester, tiefer Druck hilft, die quälenden taktilen Prozesse zu
modulieren.
152 Kapitel 7 • Taktile Abwehr
Tipp
wenn ein anderer das macht. Normalerweise sind ihnen die Berüh-
rungen ihrer Mutter am vertrautesten, und am unangenehmsten er-
leben sie Berührungen von Fremden. Damit die Therapie wirksam
sein kann, muss das Kind der Therapeutin vertrauen können und
zulassen, dass es von ihr berührt wird.
Therapie
In der Behandlung nach sensorisch-integrativem Ansatz wer-
den die Spielgeräte mit verschiedenen Stoffen oder Teppichen
überzogen, so dass die Kinder selbst ihre Berührungsrezeptoren
stimulieren, wenn sie sich auf den Geräten bewegen. Da diese
taktilen Empfindungen von Aktionen des eigenen Körpers stam-
men, kann das Nervensystem sie besser integrieren. Die taktile
Abwehr wirkt sich auch auf den inneren Antrieb der Kinder aus.
Auch wenn oft nicht ersichtlich, haben auch diese Kinder den
inneren Drang, Erfahrungen zu sammeln und sich zu entwickeln.
Lassen wir sie ihrem inneren Antrieb folgen und selbst Aktivitäten
auswählen, dann beschäftigen sie sich normalerweise auf eine
Art, die ihrem Nervensystem gut tut.
Es werden auch verschiedenste andere taktile Reize angebo-
ten, um die abwehrenden Reaktionen zu reduzieren – Bürsten,
Tücher, Schwämme, Lotion, Materialwannen mit rohem Reis, Boh-
nen, Maiskörnern oder Sand u.a. – solange das Kind in der Lage
ist, die Empfindungen zu modulieren und zu integrieren. Vestibu-
läre Reize unterstützen die Modulation von taktilen Reizen. Oft
werden unterschiedliche taktile Aktivitäten in Verbindung mit Be-
wegung und Tiefdruck eingesetzt, da diese Empfindungen in ihrer
Gesamtheit dem Kind helfen, sein Nervensystem zu organisieren.
154 Kapitel 7 • Taktile Abwehr
Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Prof. Dr. L. Diane Parham zu den in diesem Kapitel
besprochenen Themen finden Sie in Anhang A.
»Die Entwicklung der Bis vor einigen Jahrzehnten waren Störungen in der visuellen und
Sinnesverarbeitung ist die auditiven Wahrnehmung (Perzeption) sowie der Sprache die Haupt-
Grundlage für Lesen und bereiche, die bei Menschen mit Lern- und Entwicklungsstörungen
Rechnen.« oder anderen neurologischen Störungen untersucht wurden. Viele
Pädagoginnen sehen darin bis heute die Hauptprobleme von Schü-
lern mit Lernproblemen. Auch visuelle Wahrnehmungstests werden
immer noch eingesetzt, obwohl diese Tests viele Lernprobleme nicht
erkennen oder erklären können. Oft wird mit Kindern mit visuel-
len Wahrnehmungsschwächen mit Papier-und-Bleistift-Aufgaben
und puzzleartigen Tischaktivitäten gearbeitet. Dieser Ansatz erreicht
zwar, dass die Kinder bei manchen visuellen Wahrnehmungsaufga-
ben bessere Leistungen erbringen, die grundlegende Fähigkeit, das
visuelle System für das Lesen zu nutzen, verbessert sich jedoch nicht.
Die Entwicklung der Sinnesverarbeitung ist die Grundlage für das
Lesen und Rechnen (. Abb. 8.1). Die Lehrpläne der Schulen setzen
diese sensorischen Grundlagen, die die Kinder für abstraktere Leis-
tungen oder zumindest für visuelle Wahrnehmungsaufgaben brau-
chen, oft schon voraus. In den USA sind die Schulen zudem einem
8 hohen gesellschaftlichen Druck ausgesetzt, den Kindern das Lesen
. Abb. 8.1 Die Fähigkeit, eine Seite so zu vermitteln, dass sie es leichter lernen. Die Schulen reagieren
zu überfliegen und Formen, Buch- darauf, indem sie bereits in noch jüngerem Alter anfangen, mit den
staben und Zahlen zu unterscheiden, Kindern lesen zu lernen.
ist eine wichtige Grundlage für höhere
Das Gehirn mag bei einigen Kindern schon in der Kindergarten-
Leistungen wie das Lesen
zeit bereit sein zum Lesen, bei anderen aber ist die Fähigkeit, das
gedruckte Wort visuell zu verarbeiten und in gesprochene Sprache
umzusetzen, noch nicht ausreichend entwickelt. Für diese Kinder be-
deuten lange Tischarbeiten, dass sie um Erfahrungen mit ihren Nah-
sinnen (d.h. vestibulär, propriozeptiv und taktil) gebracht werden, die
sie für ihre Entwicklung brauchen.
Vielen Kindern mit unreifen sensorisch-integrativen Funktionen
würde es gut tun, wenn man mit dem Lesen lernen warten würde, bis
sie bessere Voraussetzungen für die visuell-perzeptiven Leistungen
entwickelt haben. Das würde ihnen helfen, schneller und auf lange
Sicht besser lesen zu lernen. Darüber hinaus würde dieser Ansatz eher
zu einem gesunden Selbstwertgefühl beitragen.
>> Visuelle und auditive Verarbeitungsprozesse sind wichtig,
und die Entwicklung von guten Sprachfertigkeiten ist so-
wohl Lehrplanziel in den Schulen als auch Ziel der Therapie
nach dem SI-Ansatz.
Therapie
Sehen, Hören und Sprache tragen wesentlich zu unseren Sozial-
kompetenzen bei. Warum schenken dann Therapeutinnen, die
in Sensorischer Integrationstherapie ausgebildet sind, diesen
8.1 • Störungen der visuellen Wahrnehmung
159 8
Wir Erwachsenen haben meist vergessen, wie das Sehen für einen
Säugling ist. Als Neugeborenes sehen wir die Dinge nicht mit der Be-
deutung, mit der wir sie heute sehen. Wir lernen sehr schnell, das Ge-
sicht der Mutter zu erkennen, weil wir ihre Gegenwart mit Nahrung
und Trost verbinden. Später bewegen wir uns in ihrer Umgebung und
lernen dabei die physikalische Natur des Raums und von Dingen ken-
nen. Dieses körperliche sensomotorische Wissen wird zunehmend
mit visuellen Informationen verknüpft, wodurch sich unsere visuelle
Raum- und Formwahrnehmung entwickelt.
>> Noch bevor wir überhaupt sehen können, vermittelt uns der
Schwerkraftsinn ein gewisses Raumgefühl.
160 Kapitel 8 • Störungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung
Exkurs: Die Bedeutung anpassender Reaktionen für die Entwicklung der visuellen Wahrneh-
mung
In einem ihrer Versuche stellten sie weg, wo sie hätten fallen können, Held und Hein experimentier-
neugeborene Kätzchen auf einen und wenn sich ihnen ein Objekt nä- ten auch mit Umkehrbrillen, die die
Apparat in einem Käfig. Eine Grup- herte, blinzelten sie. Die Kätzchen, Welt auf dem Kopf stehen lassen.
pe ging im Käfig umher und zog die sich aktiv bewegten und den Das Gehirn brauchte eine Weile,
den Apparat mit sich, die andere Apparat zogen, entwickelten sich sich auf dieses umgekehrte Bild
Gruppe saß auf dem Apparat und normal, ohne diese Probleme. Pas- einzustellen und die Dinge auch in
wurde durch den Raum gezogen. sive Bewegung und Sehen reichen dieser Stellung mit der »richtigen
Die visuellen Erfahrungen bezüg- nicht aus; nur bei aktiver, selbst Seite oben« zu sehen. Diese An-
lich der Käfigwände waren für gesteuerter Bewegung werden passung fand allerdings nur bei
beide Katzengruppen gleich. Bei visuelle und motorische Prozesse Versuchspersonen statt, die sich
den Kätzchen, die passiv durch den integriert. Als die Kätzchen von dem mit der Umkehrbrille aktiv bewe-
Raum bewegt wurden, entwickelte Apparat befreit wurden, bewegten gen durften und so einen Bezug
sich zwar das Sehvermögen, doch sich diejenigen, die passiv durch zwischen dem Gesehenen und den
sie konnten es nicht nutzen, um ihre den Raum gezogen worden waren, Sinneseindrücken der Bewegung
Bewegungen effektiv zu steuern. Sie normal und entwickelten rasch die herstellen konnten.
platzierten ihre Pfoten nicht richtig, Funktionen, die sie brauchten.
sie gingen nicht von einer Stelle
Seit Jahrmillionen beziehen Tiere sich auf den Raum und die Formen
in der Natur, wenn sie sich bewegen. Die visuelle Wahrnehmung ent-
stand durch die anpassenden Reaktionen, die entscheidend dafür wa-
ren, in dieser natürlichen Umgebung zu überleben. Zum Überleben
gehört es, Nahrung zu finden oder zu fangen und nicht selbst Opfer
von anderen Tieren zu werden.
Für die ersten Wirbeltiere, Fische und Amphibien war die visuelle
Wahrnehmung nicht mehr als die Fähigkeit, Dinge zu sehen, die sich
auf eine bestimmte Weise bewegten.
Beispiel
Ein Frosch kann nur Dinge sehen, die sich entweder wie Fliegen be-
wegen oder wie Tiere, die Frösche fressen. Ein hungriger Frosch igno-
riert alles Unbewegte, selbst wenn es Nahrung ist, und konzentriert . Abb. 8.4 Um sich in der physika-
sich ausschließlich darauf, jedes kleine umherschwirrende Objekt zu lischen Umwelt bewegen zu können,
fangen. integrieren Kinder ihre Sinne für Be-
wegung und Stellung im Raum und für
Berührung mit dem, was sie um sich
Da es keine Notwendigkeit gab, kleine Details an ruhenden Objekten
herum sehen
zu erkennen, blieb dies für Millionen von Jahren die am höchsten ent-
wickelte Art der visuellen Wahrnehmung.
Als Nächstes entwickelte sich die Fähigkeit zur räumlichen Wahr-
nehmung. Sie ermöglichte es Reptilien, sich effizient zu bewegen.
Bei Fischen, Amphibien und Reptilien werden visuelle Informationen
162 Kapitel 8 • Störungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung
Therapie
Die Sensorische Integrationstherapie basiert auf einem natür-
lichen Ansatz; wir folgen grob dem Weg, den die Natur in der
Evolution der Wirbeltiere gegangen ist. Zuerst wird an den senso-
motorischen Grundlagen gearbeitet und dann an höheren Hirn-
funktionen. Die Hirnfunktion ist für diesen Entwicklungsverlauf
angelegt.
Beispiel
Ein Kind ist auf dem Spielplatz und läuft zur Rutsche. In seinem visu-
ellen Hirnrindenfeld existiert bereits ein Bild von der Rutsche, es ist
gespeichert. Die Bedeutung dieses Bilds ist Ergebnis der Prozesse im
Hirnstamm wie auch der höheren Prozesse im Großhirn. Damit das
Kind sich in der richtigen Position vor die Leiter stellt, um hinaufklet-
tern zu können, müssen in seinem Hirnstamm vestibuläre, propriozep-
tive und visuelle Informationen geordnet verarbeitet werden. Das Kind
weiß, dass es ohne Gefahr auf die Leiter steigen kann, weil es schon
auf ähnliche Objekte geklettert ist. Es kann das visuelle Bild der Leiter
zu seinen Erfahrungen über deren Struktur und seinen eigenen sen-
somotorischen Fähigkeiten in Bezug setzen. Es klettert hinauf, ohne
die Orientierung zu verlieren, weil ihm sein Hirnstamm Informationen
darüber liefert, wo es sich im Raum befindet. Mithilfe der verknüpften
visuellen, propriozeptiven und vestibulären Informationen kann es
seinen Körper oben auf der Rutsche in Sitzposition bringen. Es stößt
sich ab und hat Vergnügen an dem vestibulären Reiz.
8.1 • Störungen der visuellen Wahrnehmung
165 8
Kinder mit einer schlechten sensorischen Integration sind oft nicht
begeistert von Rutschen, weil ihr Nervensystem Schwierigkeiten mit
Teil- oder allen Aufgaben hat. Manche Kinder können nicht gut ein-
schätzen, wie hoch die Rutsche ist, und haben deshalb Angst, hinauf-
zuklettern. Andere können auf der Leiter ihren Körper nicht gut steu-
ern, weil ihre propriozeptiven Empfindungen desorganisiert sind. Die
kleine Plattform oben auf der Rutsche kann eine Gefahr für Kinder
mit ungenügenden Halte- und Gleichgewichtsreaktionen sein. Für
Kinder mit Schwerkraftunsicherheit kann sogar eine sehr langsame
Rutsche so wirken, als ob sie von der Erde gleiten würden. Kinder mit
einem unterempfindlichen Gleichgewichtssystem hingegen können
nicht genug davon bekommen, hinunterzurutschen.
Therapie
Die Behandlung von Kindern mit visuellen Wahrnehmungspro-
blemen nach einem sensorisch-integrativen Ansatz muss sowohl
die Verarbeitung auf Hirnstamm- als auch auf Großhirnebene an-
sprechen, die zusammenarbeiten, wenn wir auf vestibuläre, pro-
priozeptive und visuelle Reize reagieren. Besonderes Augenmerk
gilt den Nackenmuskeln, deren propriozeptive Empfindungen
einen wichtigen Beitrag zur visuellen Wahrnehmung liefern. Liegt
das Kind auf den Bauch und hält den Kopf gegen die Schwer-
kraft hoch, werden starke propriozeptive Signale bezüglich der
Muskelanspannung an den Hirnstamm gesendet, die wiederum
zur Verarbeitung von visuellen Informationen beitragen. Auch
die Schwerkraftrezeptoren nehmen Reize auf – allein durch die
Bauchlage, und wenn das Kind sich bewegt. Die hinzukommen-
den vestibulären Empfindungen helfen zusätzlich, das Gesehene
zu interpretieren. Aus diesem Grund werden in der Therapie viele
Aktivitäten durchgeführt, bei denen das Kind auf dem Bauch liegt
und in Bauchlage in Bewegung ist.
Alle therapeutischen Aktivitäten, die die Rezeptoren im
Innenohr, in den Muskeln, Gelenken und in der Haut stimulie-
ren, fördern die visuelle Entwicklung. Verbesserungen sind am
ehesten zu erwarten, wenn die Funktionsstörung im Hirnstamm
lokalisiert ist. Erst wenn die höheren Hirnfunktionen von den
Nahsinnen wirksam unterstützt werden, kann das visuelle Wahr-
nehmen durch Puzzles und Papier-und-Bleistift-Aufgaben geför-
dert werden. Zusätzlich kann man mit einer Orthoptistin zusam-
menarbeiten, die spezialisiert ist, mit Kindern zu trainieren, ihre
Augenmuskeln besser zu steuern.
In 7 Kapitel 5 haben wir erwähnt, dass viele Kinder mit Sprach- und
Sprechdefiziten auch Zeichen einer ineffizienten vestibulären Ver-
168 Kapitel 8 • Störungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung
Therapie
Es ist logisch, dass bei dyspraktischen Kindern eine Behandlung
zur Verbesserung der sensorischen Integration und Bewegungs-
planung auch zur Entwicklung der Sprache beiträgt. Sie unter-
stützt die Verarbeitung der auditiven Informationen und die
Planung der Sprechbewegungen, weil sie dem Gehirn im Ganzen
hilft, besser zu funktionieren. Ein spezielles Sprach- und Sprech-
training führen Logopädinnen durch.
Da Sprechen und Sprache Ergebnisse der sensorischen Inte-
gration sind, werden sie oft herangezogen, um die Wirksamkeit
der SI-Behandlung zu beurteilen. Auch das Sprachverständnis ist
ein Verhaltensaspekt, der leicht zu messen ist – viel leichter als
8.2 • Störungen der zentralen Hörverarbeitung und der Sprache
169 8
Wie die visuellen werden auch die auditiven Informationen auf ver-
schiedenen Ebenen verarbeitet. Kerne im Hirnstamm, die wichtige
Zentren für die auditive Verarbeitung sind, verknüpfen den auditiven
Input mit vestibulären, propriozeptiven, taktilen und Vibrationsemp-
findungen. Des Weiteren erhalten die vestibulären Kerne auditiven
Input und koordinieren den Input beider Kernzentren. Die auditive
Verarbeitung auf Hirnstammniveau ist für eine gute Entwicklung der
auditiven Diskrimination ebenso wichtig wie das bei der visuellen
Verarbeitung der Fall ist. Die auditive Verarbeitung im Hirnstamm
schafft die Grundlage für die komplexere Verarbeitung auf höheren
Ebenen, die für Sprache notwendig ist (. Abb. 8.9).
Therapie
Es wird angenommen, dass Sensorische Integrationstherapie die
Sprech- und Sprachentwicklung fördert, indem sie die Prozesse
auf niedrigeren Ebenen effizienter macht. Wir beobachten oft,
dass verschiedenste Bewegungsaktivitäten Kinder mit einer
Sprachstörung dazu veranlassen, mehr zu lautieren.
Studien an Kindern mit Lernstörungen, die durch zentrale
auditive Verarbeitungs- und Sprachprobleme verursacht waren,
ergaben Folgendes: Eine Behandlung der Kinder mit Schwerpunkt
auf vestibulärer, taktiler und propriozeptiver Reizsetzung und
Bewegungsplanung brachte Verbesserungen im Lesen. Es wurde
nicht direkt an der Sprache gearbeitet. Die Verbesserung der
Hirnstammfunktionen hatte den Großhirnhälften anscheinend
geholfen, besser mit den sprachlichen Anforderungen des Lesens
zurechtzukommen. Mit der Verbesserung der Fähigkeit, Bewe-
gungen zu planen und anpassend zu reagieren verbesserten sich
auch die übergeordneten kognitiven Funktionen.
Wenn ein Kind mit 2½ oder 3 Jahren noch nicht spricht, sollte
es einer Therapeutin mit Ausbildung in Sensorischer Integra-
tionstherapie vorgestellt werden. Ergeben sich Hinweise, dass
Funktionsstörungen auf Hirnstammebene vorliegen, dann ist eine
Behandlung, die auf dieser Ebene ansetzt, sicher der richtige An-
satzpunkt, um die Sprachentwicklung zu fördern. Zusätzlich emp-
fehlen wir, dass Sie in diesem Fall auch eine Logopädin aufsuchen.
170 Kapitel 8 • Störungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung
. Abb. 8.9 Sprache und Kommunikation sind nicht nur vom Hören abhängig,
sondern auch von Berührungen, vom Sehen und von der Interaktion vieler ande-
rer sensorischer, motorischer, Lern- und Verhaltensfunktionen.
8.2 • Störungen der zentralen Hörverarbeitung und der Sprache
171 8
In . Abb. 8.10 ist eine Checkliste mit Anzeichen für auditive Wahr-
nehmungsstörungen zusammengestellt.
Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Dr. Susanne Smith Roley zu den Themen, die in
diesem Kapitel angesprochen werden, finden Sie in Anhang A.
173 9
Autismus ist eine Störung des Gehirns. Als sie entdeckt wurde, schien
sie Fachleuten und Eltern unerklärlich. Kinder mit Autismus zeigen
viele Symptome einer abnormalen Sinnesverarbeitung, wie man sie
auch bei anderen Kindern mit sensorisch-integrativen Störungen
sieht, und die Auseinandersetzung mit ihrer Umgebung ist dement-
sprechend beeinträchtigt. Autistische Kinder haben jedoch zusätz-
liche Probleme im sensomotorischen als auch in anderen Bereichen
(. Abb. 9.1).
>> Bezeichnend für Autismus ist, dass die Betroffenen Schwie-
rigkeiten haben, eine Beziehung zu mehr als einer oder
zwei vertrauten Personen herzustellen.
Von Kindern mit Autismus wird oft gesagt, sie seien »in ihrer eigenen
Welt«. Sie wirken oft so, als ob sie nicht wollten, dass sie in dieser Welt
gestört werden. Wenn sie sprechen lernen, sind ihre Ausdrucksmög-
lichkeiten oft beschränkt; es kann sein, dass die Artikulation unauf-
fällig ist, aber die Wörter ungewöhnlich betont werden oder monoton
und papageienartig klingen. Außerdem zeigen Kinder mit Autismus
Emotionen meist nicht so wie andere Kinder. Manche haben schein-
bar eher wenige Emotionen und zeigen weder Liebe noch Furcht,
9 andere haben ein intensives Gefühlsleben, bekommen Wutanfälle,
werden aggressiv und zeigen große Gefühlsschwankungen.
Therapie
In Praxen, die auf Sensorische Integrationstherapie spezialisiert
sind, nimmt die Zahl der Kinder mit Autismus seit Jahren zu. Man-
che autistischen Kinder machen durch diese Behandlung enorme
Fortschritte, andere zeigen nur wenige oder keine Verbesserun-
gen.
Es ist bereits ermutigend, wenn die Therapie kleinste Verän-
derungen in der Organisation des Gehirns dieser Kinder bewirkt –
besonders, weil medikamentöse Behandlungen kaum Hilfe bieten
und Verhaltenstherapien nur das äußere Verhalten des Kindes
kontrollieren, ohne die Bedingungen in seinem Gehirn zu verän-
dern, die dieses Verhalten verursachen.
Beispiel
»Es gibt einen Abschnitt Uns allen ist es sicher schon passiert, dass wir eines Tages in einer Stra-
im Gehirn (im limbischen ße, die wir gut kennen, etwas bemerken, das uns bisher nie aufgefal-
System), der »entscheidet«, len ist. Zuerst fragen wir uns wahrscheinlich, ob dieses Schild oder Ge-
welche Sinnesreize registriert bäude neu ist, und sind überrascht, wenn wir erfahren, dass es schon
werden, so dass wir ihnen lange Zeit dort steht. Unser Gehirn hatte bisher nur nie »entschieden«,
Aufmerksamkeit geben. dass dieses Objekt es wert war, bemerkt zu werden. Wir wissen nor-
Dieser Teil entscheidet auch, malerweise nicht einmal, warum wir gerade jetzt darauf aufmerksam
ob wir auf diese Information wurden. Möglicherweise war irgendetwas an dem Bild des Objekts ein
reagieren.« kleines bisschen anders – vielleicht war das Sonnenlicht anders ein-
gefallen – und dieser winzige Unterschied ließ unser Gehirn das Bild
»registrieren«, das es bisher ignoriert hatte.
Therapie
Mit einer bestimmten Art von Berührung, nämlich sehr festem
taktilem Druck, erreicht man bei Kindern mit Autismus oft positi-
ve Reaktionen (. Abb. 9.3). Sie genießen es, zwischen zwei Mat-
ten zu liegen und mit einem schweren Objekt – wie einem großen
Kissen – abgerollt zu werden. Manchmal legen sie ihre Hände
unter sehr schwere Dinge und genießen die Druckempfindungen,
die andere Kinder schon als schmerzhaft empfinden würden. Sie
möchten etwas spüren, aber möglicherweise registriert ihr Gehirn
nur sehr starke Reize. Manche Kinder benehmen sich die meiste
Zeit so, als ob sie ein unangenehmes Gefühl in ihren Händen hät-
ten, das durch den tiefen Druck besser wird. Dyspraktische Kinder
mögen festen Berührungsdruck auch oft, aber sie scheinen die
Reize besser zu registrieren als autistische Kinder.
. Abb. 9.3 Großflächiger tiefer Druck
Kinder mit Autismus nehmen die Sinnesempfindungen von
und Aktivitäten wie Schieben, Ziehen,
Springen und Hängen haben oft einen ihren Muskeln und Gelenken besser wahr als die von ihren Au-
beruhigenden Effekt auf autistische gen und Ohren. An Armen und Beinen zu ziehen stimuliert die
Kinder Rezeptoren in den Gelenken und Muskeln. Kinder mit Autismus
strecken der Therapeutin oft ihre Arme und Beine hin, damit sie
daran zieht. Wir nehmen an, dass sie diese Empfindungen als be-
9 friedigend erleben. Wiederum scheint es, dass bei vielen Kindern
mit Autismus das Gehirn nur sehr starke Reize registriert – Reize,
die so stark sind, dass sie anderen unangenehm wären.
Therapie
Bietet man Kindern mit Autismus die richtigen Reize, sind sie oft
sehr motiviert, diese zu registrieren. In der Sensorischen Integ-
rationstherapie versuchen wir, dem Kind einen Anreiz zu liefern,
damit es Sinnesreize registriert. Dieser Anreiz ist eine innere und
natürliche Belohnung: Das Vergnügen der Bewegung während
der Behandlung hilft, das Kind zu motivieren, und es hilft auch
dem Gehirn, andere Sinnesreize – besonders visuelle – zu ver-
arbeiten. Während oder unmittelbar nach Bewegungsaktivitäten
nehmen autistische Kinder viel mehr Blickkontakt mit der Thera-
peutin auf.
Wie bereits erwähnt können die meisten Kinder mit Autismus viele
taktile Reize nicht registrieren, solange diese nicht stark genug sind.
180 Kapitel 9 • Kinder mit Autismus
Wenn sie die Reize registrieren, können sie manchmal auch über-
schießend oder abwehrend reagieren.
Therapie
Langsames Eingewöhnen trifft auch auf die ersten Male in der
Therapie zu. Wahrscheinlich reagiert das Kind zunächst mit Alarm
und Widerstand, bis es mehrere Erfahrungen mit der neuen Um-
gebung gemacht und sie kennengelernt hat – und als vertraut
und sicher erlebt. Manche Kinder haben derartige Schwierigkei-
ten, die räumlichen Elemente in ihrer Umgebung zu registrieren,
dass sie jedes Mal außer sich geraten, wenn zu Hause oder im
Therapieraum irgendetwas verändert wird. Jede Veränderung in
der Anordnung von Dingen verunsichert sie.
Für manche Kinder mit Autismus ist es schon beunruhigend,
wenn ihre Mutter während der Therapiestunde auf einem ande-
ren Platz sitzt. Wir Erwachsenen müssen eine Menge Geduld und
Verständnis aufbringen, um Kindern mit Autismus zu helfen, mit
ihren schlechten Sinneswahrnehmungen zurechtzukommen.
Beispiel
Vielleicht kennen Sie das Gefühl, sich gerade überhaupt nicht bewe-
gen zu wollen. Wenn der Wecker klingelt und Sie noch sehr schläfrig
sind, oder wenn jemand Sie ruft und Sie nach einem anstrengenden
Tag nur noch Ruhe wollen. Sie wissen, dass Sie aufstehen oder etwas
tun sollten, aber irgendetwas in Ihrem Gehirn bringt Sie dazu, liegen
zu bleiben und die Welt zu ignorieren. Dieses Gefühl, das wir alle hin
und wieder haben, erleben Kinder mit Autismus wahrscheinlich die
meiste Zeit über.
>> Es gibt einen Teil des Gehirns, der für den Wunsch verant-
wortlich ist, Verhalten zu initiieren, auf Sinnesreize zu re-
agieren, etwas Neues oder anderes zu tun.
Dieser Teil des Gehirns hat eine belebende Wirkung; er befiehlt den Ȁhnlich wie das System,
Hirnbereichen, die den Muskeln die Bewegungsbefehle schicken: »Tu das Sinnesinformationen
es!« Dieses System arbeitet eng mit dem System zusammen, das Sin- registriert, funktioniert auch
nesreize registriert und die Aufmerksamkeit lenkt. Wenn wir einen das »Ich-will-es-tun«-System
Sinnesreiz erst einmal registriert haben, können wir wählen, ob wir bei Kindern mit Autismus
reagieren (d.h. etwas tun) oder ihn bewusst ignorieren. schlecht.«
Ähnlich wie das System, das Sinnesinformationen registriert,
funktioniert auch das »Ich-will-es-tun«-System bei Kindern mit Au-
tismus schlecht. Man kann nicht sagen, dass sie nichts tun; vielmehr
können sie sich nicht dazu bringen, zweckmäßig und zielgerichtet zu
handeln. Ihr Spiel besteht oft nur aus einfachsten, sich wiederholen-
den Tätigkeiten, z.B. etwas festhalten, Dinge aneinanderreihen oder
drehen. Komplexere Aktivitäten fallen ihnen nicht ein. Macht man ih-
nen eine Handlung vor, wollen sie sie in der Regel nicht nachmachen.
Autistische Kinder haben gewisse Fähigkeiten, mit Spielsachen
zu spielen und sich mit der Umgebung auseinanderzusetzen. Wenn
ihnen genügend Motivation gegeben wird, damit sie ihr »Ich-will-
es-tun«-System »einschalten«, können sie durchaus in der Lage sein,
komplexe Dinge zu tun (z.B. durch einen Hindernisparcours zu ge-
hen, der Bewegungsplanung erfordert). Dieses System ist jedoch die
meiste über Zeit inaktiv, und ihr Gehirn trifft selten den Entschluss,
alles zu tun, was es tun kann.
182 Kapitel 9 • Kinder mit Autismus
. Abb. 9.5 Ein Grund, warum autistische Kinder nicht mit ihrer Umwelt inter-
agieren, liegt möglicherweise darin, dass sie nicht wissen, wie sie die Interaktion
beginnen und weiterführen können
»Wenn Sie einem Kind mit Um zu wissen, wie man ein Dreirad benutzt, muss man einerseits
Autismus etwas geben, … wird seinen eigenen Körper kennen und wissen, wie er funktioniert, und
sein »Ich-will-es-tun«-System andererseits abstrakt denken können. Wenn man ein Dreirad sieht,
nichts Neues oder anderes tun muss man erkennen, dass es einen Platz zum Sitzen hat, dass die Füße
wollen.« auf die Pedale kommen, und dass man die Pedale willkürlich treten
muss, damit das Dreirad sich bewegt. Ein dermaßen abstraktes Den-
ken ist für Kinder mit Autismus schwer. Wenn sie ein Dreirad sehen,
– selbst wenn sie den visuellen Eindruck gut genug registrieren und
ihm Aufmerksamkeit geben – wird ihnen trotzdem nicht bewusst,
dass das ein Fahrzeug ist, auf dem man sitzen und Spaß haben kann.
Da der »Ich-will-es-tun«-Abschnitt ihres Gehirns nicht gut funktio-
9.2 • Der Wunsch, etwas zu tun
183 9
niert, werden sie sich jeder Person widersetzen, die versucht, sie auf
das Dreirad zu bekommen.
Wenn Sie einem Kind mit Autismus etwas geben, können Sie da-
von ausgehen, dass es wahrscheinlich die motorischen Fähigkeiten
hat, es zu benutzen, aber dass sein »Ich-will-es-tun«-System nichts
Neues oder anderes tun will. Wenn das Kind die Erfahrung schon ge-
macht hat, dass Dreiradfahren Spaß macht, ist es vielleicht eher bereit,
das zu tun, wird aber möglicherweise verweigern, auf einem Rollbrett
zu fahren. Bevor es das will, muss ihm seine Wahrnehmung von dem
Rollbrett vertraut werden. Und dieses Vertrauen entsteht, wenn das
Kind auf dem Rollbrett fährt und über seinen Tast-, Bewegungs- und
propriozeptiven Sinn das Rollbrett sowie die Position und Bewegun-
gen seines eigenen Körpers wahrnimmt. Allein vom Anschauen des
Rollbretts kann es nicht die gleiche Bedeutung ableiten wie seine El-
tern oder andere Kinder.
>> Kinder mit Autismus lernen am besten durch Tun.
Therapie
In der Therapie nach dem sensorisch-integrativen Ansatz kommt
es oft vor, dass autistische Kinder eine neue Aktivität oder die
Variante einer schon bekannten Aktivität zunächst ablehnen, aber
nach einigen Behandlungssitzungen dabei lächeln und sogar laut
lachen.
Damit überhaupt ein Fortschritt möglich ist, müssen sich die
Therapeutin und die Eltern mit dem Widerstand des Kindes abfin-
den, bis es bereit ist, die therapeutische Aktivität zu akzeptieren.
Meist kann sich die Therapeutin bei autistischen Kindern nicht
wie bei anderen Kindern mit sensorischen Integrationsstörungen
auf deren inneren Antrieb verlassen. Es ist nämlich der innere
Antrieb, der bei Kindern mit Autismus nicht gut funktioniert
(. Abb. 9.6).
Die motorischen Aktivitäten autistischer Kinder können auch
durch eine schwache Modulation der Schwerkraft- oder Bewe-
gungsempfindungen beeinträchtigt sein. Schwerkraftunsicher-
heit führt sicher zu unangenehmen Empfindungen, sofern die
Therapeutin oder die Eltern das Kind nicht mit äußerster Vorsicht
bewegen. Kinder, die vestibuläre Reize nicht modulieren können,
bewegen sich manchmal gar nicht.
Bewegungsarmut ist eines der ersten Symptome, das die
Therapeutin in der Behandlung angehen muss. Bis die vestibulä-
184 Kapitel 9 • Kinder mit Autismus
. Abb. 9.7 Therapeuten, zusammen mit anderen Fachkräften und Eltern sind
weiterhin dabei, die Sinnesverarbeitung bei Kindern mit Autismus zu verstehen
und zusätzliche Wege zu finden, sie zu »erreichen«
Therapie
Ziel der Sensorischen Integrationstherapie bei einem Kind mit Au-
tismus ist es, die sensorische Verarbeitung so weit zu verbessern,
dass das Gehirn mehr Sinnesreize registrieren und modulieren
kann, und dass das Kind zu einfachen anpassenden Reaktionen
angeregt wird, durch die es lernt, sein Verhalten zu organisieren.
Kann die Therapie eine Veränderung herbeiführen, so verän-
dert diese das Leben der Kinder in beachtlichem Maß; zurzeit gibt
es aber keine »Heilung« von Autismus. Durch unsere Erfahrungen
in der Behandlung autistischer Kinder werden wir zunehmend
mehr über deren Sinnesverarbeitung verstehen und zusätzliche
Wege finden, wie wir sie »erreichen« können (. Abb. 9.7). Höchst-
wahrscheinlich werden Sinneserfahrungen ein wichtiger Schwer-
punkt in den Interventionsprogrammen sein.
»Wenn ein Kind Schwächen in Natürliche Interaktionen in einer für uns typischen Umgebung liefern
der sensorischen Integration hat, die sensorischen Erfahrungen und Gelegenheiten für anpassende Re-
kann ihm diese spezialisierte aktionen, die bei den meisten jüngeren Kindern für die Entwicklung
Therapie helfen, das zu tun, was des Gehirns ausreichen. Das Gehirn ist von Natur aus so angelegt,
es von Natur aus tun würde.« dass es sich durch normale körperliche Aktivitäten entwickelt. Wird
diese natürliche Entwicklung während der Schwangerschaft oder der
10.1 • Kompetent werden durch Auseinandersetzung mit der Umwelt
191 10
Noch bis nach dem 2. Weltkrieg glaubten die meisten Philosophen
und Wissenschaftler, dass die Auseinandersetzung (Interaktion) des
Kindes mit seiner Umgebung keine Wirkung auf seine Intelligenz und
Lernfähigkeit habe. Manche dachten, dass die Lernfähigkeit bereits
vor der Geburt festgelegt sei, und dass niemand seine vorgegebene
Lernkapazität steigern könne. Andere dagegen glaubten, dass das
Kind durch die Ereignisse, die ihm widerfahren, konditioniert werde,
und dass seine eigene Aktivität keinen Einfluss auf diese Konditio-
nierung habe.
Der Schweizer Psychologe Jean Piaget hatte als einer der Ersten
erkannt, dass die Interaktion des Kindes mit seiner Umgebung ent-
scheidend ist für seine Entwicklung. Piaget beobachtete, dass Kinder
einer vorgegebenen Sequenz von Entwicklungsschritten folgen, in-
192 Kapitel 10 • Befundung und Behandlung
»Intelligenz ist weitgehend das Manche Verhaltensweisen hängen fast ausschließlich von der Aus-
Ergebnis der Auseinanderset- legung des Nervensystems ab, während andere durch Lernen (Kon-
zung mit der Umgebung.« ditionierung) entstehen, doch größtenteils ist Intelligenz weder vor-
gegeben noch konditioniert. Intelligenz ist weitgehend das Ergebnis
der Auseinandersetzung mit der Umgebung.
Nach Piaget passt das Kind sich an seine Umgebung an und inte-
griert die Umgebung in sein Denken. Dieses gegenseitige Geben und
Nehmen erzeugt eine anpassende Reaktion, die effektiv, fließend und
befriedigend ist. Sowohl Anpassung (Piaget sprach von Adaptation)
als auch Integration (Piaget sprach von Assimilation) machen einen
Teil der Intelligenz aus.
Kinder mit sensorisch-integrativen Funktionsstörungen können
sich nicht effektiv, fließend und befriedigend an verschiedene Um-
gebungen anpassen, weil ihr Gehirn die Prozesse nicht entwickelt
hat, die es braucht, um die Sinnesinformationen einer Umgebung zu
integrieren. Sie benötigen eine sehr spezielle Umgebung, die auf ihr
Nervensystem zugeschnitten ist. Passt die Umgebung, sind auch diese
Kinder in der Lage, Sinnesempfindungen zu integrieren, die sie vor-
10 her nicht verarbeiten konnten.
>> Wenn das Gehirn Gelegenheit bekommt, organisiert es sich
selbst.
Piaget hob hervor, dass Reiz und Reaktion in einem Kreisprozess ab-
laufen (er sprach von Zirkulärreaktion). Ist die Umgebung anregend
und bietet viele Reize, zeigen wir mehr und auch variationsreichere
Reaktionen, über die wir uns wiederum mehr und auch vielfältigere
Sinnesanregungen holen.
Sensorisch-integrativer Ansatz
In der Sensorischen Integrationstherapie lernen Kinder oft wie
nebenbei die eine oder andere Fertigkeit oder Verhaltensweise.
Diese Details sind aber nicht das Ziel. Vielmehr zielt die Therapie
auf körperliche Aktivitäten ab, die Sinneserfahrungen liefern und
anpassende Reaktionen auslösen, die wiederum mehr Sinnes-
empfindungen liefern und noch komplexere anpassende Reak-
tionen auslösen (. Abb. 10.2). Auf diese Weise verbessert sich die
Effizienz der gesamten Hirnfunktion.
10.2 • Therapie nach dem sensorisch-integrativen Ansatz
193 10
10.2 Therapie nach dem sensorisch-integrativen
Ansatz
Warum muss ein Kind überhaupt zu einer Therapie gehen, wenn die
Auseinandersetzung mit der Umgebung die Entwicklung des Gehirns
fördert, und wenn das Gehirn sich ohnehin selbst organisiert, wenn
es Gelegenheiten geboten bekommt? »Behandelt« das Kind sich nicht
selbst, wenn es zu Hause oder auf dem Spielplatz spielt? Wir versu-
chen nun, diese Fragen zu beantworten.
Das normal entwickelte Kind braucht keine Therapie, weil sein
Spiel ihm die Sinneserfahrungen liefert, die sein Gehirn braucht, und
es sinnvoll auf diese Reize reagieren kann. Bei Kindern mit einer sen-
sorischen Integrationsstörung besteht ein neuronales Problem, das
sie die Sinneserfahrungen ihres Spiels nicht verarbeiten und nicht an-
passend darauf reagieren lässt. Damit fehlen ihnen die anpassenden
Reaktionen, die tragend für die Organisation des Gehirns sind. Mit
anderen Worten: Diese Kinder können zwar spielen, aber nicht auf
eine integrierende Art und Weise. Sie brauchen eine Umgebung, die
auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist. Eine solche Umgebung findet
man in der Regel weder zu Hause noch in der Schule.
Unsere Gesellschaft legt mehr Wert auf die sprachliche, schulische . Abb. 10.2 In der Sensorischen
und intellektuelle Entwicklung als auf die Entwicklung der sensomo- Integrationstherapie werden dem
Kind Aktivitäten angeboten, die weder
torischen Grundlagen für diese höheren Leistungen. Fernsehen, Vi-
zu leicht noch zu schwierig, sondern
deos und Computerspiele fesseln Kinder so, dass sie weniger Zeit auf »gerade die richtige Herausforderung«
einer Schaukel und in einem Sandkasten verbringen. Mancherorts sind
wird bereits in der Vorschule erwartet, dass die Kinder zu lesen und »Unsere Gesellschaft legt
zu schreiben beginnen, wo sie doch viel eher Gelegenheiten bräuch- mehr Wert auf die sprachliche,
ten, um ihre grundlegenden sensorischen Funktionen zu verbessern schulische und intellektuelle
– und diese bessere Sinnesverarbeitung würde es den Kindern später Entwicklung als auf die
in der Schule leichter machen, das Lesen und Schreiben zu lernen. Entwicklung der sensomotori-
schen Grundlagen für diese
höheren Leistungen.«
»Wenn die Therapeutin ihre In 7 Übersicht 10.1 sind die wichtigsten Prinzipien der Therapie zu-
Aufgabe gut macht und sammengefasst.
Organisation des Nervensystems
stattfindet, sieht es aus, als ob
Übersicht 10.1. Prinzipien der SI-Therapie
das Kind lediglich spielt.«
55 D ie sensorischen Qualitäten von Aktivitäten sind wichtig für
die Entwicklung und das Lernen.
55 Ein Kind muss Sinnesreize gut wahrnehmen und integrieren,
damit es Anforderungen bewältigen und neue Fertigkeiten
lernen kann.
55 Um sensorische Integration im Nervensystem zu fördern, ist
es wichtig, Herausforderungen erfolgreich zu meistern und
neue Fähigkeiten zu erwerben.
55 Mit dem geordneten Verarbeiten von Sinnesinformationen
und erfolgreichen Reaktionen auf Anforderungen verbessert
sich im Allgemeinen auch die Organisation des Verhaltens.
55 Komplexe Fertigkeiten und Muster können sich nur auf dem
Boden gut gefestigter einfacherer Leistungen entwickeln.
55 Je motivierter das Kind ist, von selbst eine Aktivität auszu-
führen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es dabei-
bleibt, bis es diese besser beherrscht.
10 55 Die Therapie findet in spielerischem Rahmen statt, und das
Angebot der therapeutischen Aktivitäten richtet sich nach
den Interessen und Vorlieben des Kindes.
55 Die therapeutischen Aktivitäten werden von der Therapeutin
so gewählt, dass sie »gerade die richtige Herausforderung«
für das Kind bieten.
55 Die Wirksamkeit der Behandlung wird daran gemessen, ob
das Kind Anforderungen, die bisher schwierig oder desorgani-
sierend waren, erfolgreich meistern kann.
Wenn das Kind eine Aktivität will, ist sein Gehirn normalerweise
in der Lage, die Sinnesinformationen dieser Aktivität zu verarbeiten.
Das Gehirn ist so angelegt, dass es sich die Erfahrungen holt, die es
für seine Entwicklung braucht. Seit den 500 Millionen Jahren unserer
Entwicklungsgeschichte arbeiten die Gehirne von Wirbeltieren nach
diesem Prinzip, und heute noch versucht das Gehirn jedes Kindes,
genau das zu tun.
Kinder mit schwereren Störungen – besonders Kinder mit Au-
tismus – benötigen vermehrt Anleitung und Struktur von außen.
Zuweilen wird deren Selbstbestimmung durch Angst, Feindseligkeit
oder andere Emotionen beeinträchtigt. In dieser Situation hilft die
Therapeutin dem Kind, mit seinen negativen Reaktionen und Emo-
tionen zurechtzukommen, indem sie ihm die Sinnesreize anbietet, die
es braucht, um anpassend zu reagieren und die Reaktionen geordnet
zu verarbeiten. Gegen einen Pappkarton zu schlagen und zu treten
kann sowohl sensomotorischen als auch emotionalen Wert haben.
>> Ziel ist nicht, dem Kind die Aktivität, die es gerade ausführt,
oder andere motorische Fertigkeiten beizubringen, sondern
Ziel ist, dem Kind zu adäquaten körperlichen, emotionalen
und kognitiven Funktionen zu verhelfen.
Bevor wir ein Kind behandeln, wird ein umfassender Befund auf-
genommen. Zur Beurteilung der sensorischen Verarbeitung und Be-
wegungsplanung setzen die meisten Therapeutinnen bei Kindern im
Alter von 4–9 Jahren die Testbatterie Sensory Integration and Praxis
Tests (SIPT) ein. [Anm. d. Übersetzerin: Die SIPT wurden 1997/98 für
den deutschen Sprachraum pilot-standardisiert.]
>> Die Testbatterie »SIPT« zeigt, wie gut das Kind vestibuläre,
visuelle, taktile und propriozeptive Reize integrieren, seine
196 Kapitel 10 • Befundung und Behandlung
»Der Antrieb zu handeln muss >> Sensorische Integration findet dann statt, wenn ein Kind
vom Kind selbst kommen, auch spontan eine erfolgreiche anpassende Reaktion auf Sinnes-
wenn es bisher nicht in der Lage informationen plant und ausführt.
war, erfolgreich zu handeln.«
Wie wir am Anfang dieses Kapitels beschrieben haben, muss sich das
»Die Therapie nach den Kind aktiv mit der Umgebung auseinandersetzen, um die Organi-
Prinzipien der Sensorischen sation seines Nervensystems zu verbessern. Der Antrieb zu handeln
Integration ist ganzheitlich muss vom Kind selbst kommen, auch wenn es bisher nicht in der
10 (holistisch); sie bezieht den Lage war, erfolgreich zu handeln. Auch wenn die Entwicklung bisher
ganzen Körper, alle Sinne und schwierig für das Kind war, muss es jeden Entwicklungsschritt selbst
das ganze Gehirn mit ein.« machen. Die Geräte, die wir in der Sensorischen Integrationstherapie
verwenden, wurden speziell entwickelt, um Kinder zu Aktivitäten zu
locken, die dem jungen Gehirn organisierende Sinnesempfindungen
liefern.
Die Therapie nach den Prinzipien der Sensorischen Integration
ist ganzheitlich (holistisch); sie bezieht den ganzen Körper, alle Sinne
und das ganze Gehirn mit ein. Die Muskeln, die für eine anpassende
Körperbewegung zusammenarbeiten, senden eindeutige und geord-
nete Muskel- und Gelenkinformationen an das Gehirn. Ganzkörper-
bewegungen liefern zudem viele vestibuläre Empfindungen, die hel-
fen, die Informationen der anderen Sinnessysteme zu vereinen. Die
Fähigkeit, diese Sinnesempfindungen zu verarbeiten, zu organisie-
ren und adäquat darauf zu reagieren, hilft dem Gehirn, auch andere
Funktionen zu organisieren. Kinder, die in Therapie waren, drücken
das später so aus: »Die Therapie hat mir geholfen, mein Leben zu
meistern« oder »Ich hatte immer viele Pläne und konnte nichts durch-
ziehen; jetzt schaffe ich, was ich mir vornehme.«
Laien sehen oft nur, dass das Kind Spaß hat und sich bewegt.
Die Therapeutin sieht jedoch, wie bestimmte Sinnessysteme aktiviert
Tipp
zu sich selbst zeigt. Das Kind hat mehr Kontrolle über sein Leben, weil
sein Nervensystem besser funktioniert.
Beispiel
Wenn einem Tier bestimmte Vitamine fehlen, frisst es Nahrungsmittel,
die diese Vitamine enthalten, auch wenn sie gar nicht zu seiner natür-
lichen Ernährung gehören. Hat es genügend Vitamine aufgenommen,
kann es seine ursprüngliche Ernährungsweise wieder aufnehmen.
. Abb. 10.5 Kinder haben Vergnügen
Tiere haben weder ein Verständnis für Ernährung noch stellen sie ihre
daran, sich mit den Herausforderungen
der Schwerkraft, Bewegung und Bewe- Nahrung bewusst zusammen, aber ihr Körper teilt ihnen mit, was und
gungsplanung auseinanderzusetzen wie viel sie essen sollen.
»Die Sensorische Integrations- Die Sensorische Integrationstherapie ist ein Spezialgebiet der Ergo-
therapie ist ein Spezialgebiet der therapie (Anm. d. Übersetzerin: im Englischen »Occupational The-
Ergotherapie.« rapy«) – eines Fachbereichs, für den es wichtig ist, menschliches Ver-
halten unter einem neurobiologischen Gesichtspunkt zu verstehen.
»Ergo« kommt aus dem Griechischen und bedeutet Beschäftigung,
Arbeit oder Werk. Ergotherapeutinnen helfen ihren Klienten, sinn-
volle und zweckorientierte Aktivitäten auszuführen. In der Sensori-
schen Integrationstherapie sind die meisten Aktivitäten sinnvoll, weil
das Kind sie tut, um ein Ziel zu erreichen.
10.3 • Vergleich: SI-Ansatz versus andere Therapieansätze
203 10
Felix’ Therapiestunde
Der Schulbezirk hatte bei Felix eine die Beugemuskeln an der Vordersei- des Netzhockeys und die Drehreize
Lernstörung festgestellt. In der te des Körpers und des Halses stark des Helikopters wunderbar. Vom
ergotherapeutischen Befundung anspannen. Diese Muskelaktivität »Wal« aus sah Felix zu seiner Thera-
seiner sensorisch-integrativen Funk- war das genaue Gegenstück zur vor- peutin hin und sprach mit ihr. Dies
tionen zeigte Felix Zeichen einer herigen Muskelaktivität in Bauchla- erforderte, dass er sein Blickfeld sta-
vestibulären Verarbeitungsstörung. ge, wo die Streckmuskulatur an der bil hielt, weil er seine Augen auf ein
Als Erstes wollte Felix mit seiner Körperrückseite den Körper und den feststehendes Ziel richten musste,
Therapeutin »Netzhockey« spielen. Kopf gegen die Schwerkraft hoch- während sich sein Körper ungefähr
Dabei mussten beide – Felix und halten musste. Felix‘ innerer Antrieb einen Meter auf und ab bewegte.
die Therapeutin – auf dem Bauch in hatte ihn dazu gebracht, zwei Akti- Damit hatte Felix seinem Gehirn
einer Netzhängematte liegen, die vitäten auszusuchen – Netzhockey anscheinend so viel vestibulären
etwa 3 Meter voneinander entfernt und Helikopterfliegen – die sich Input verschafft, wie es verarbeiten
an Deckenhaken aufgehängt waren. dadurch, dass sie völlig unterschied- konnte, und er beschloss, etwas zu
Die Hängematten waren so einge- liche Gleichgewichts- und Muskelre- bauen. Er legte Matten über ein klei-
stellt, dass beide sich mit den Hän- zeptoren aktivierten, hervorragend nes Klettergerüst. Für diese Aktivität
den vom Boden abstoßen konnten. ergänzten und so eine abgerundete musste er den visuellen Raum er-
Mit »Hockeyschlägern« aus Plastik Wirkung erzielten. kunden, und der intensive vestibu-
schossen sie sich einen weichen Ball Die Helikopterschaukel liefert läre und propriozeptive Input hatte
zu. Meist hielten sie ihn flach auf sehr intensive vestibuläre Reize. sein Gehirn zweifellos dafür vorbe-
dem Boden, manchmal ließen sie Felix brauchte offenbar viel davon, reitet, visuelle Informationen gut zu
ihn von den Wänden abprallen. Um denn er blieb 10 Minuten lang auf verarbeiten. Felix versteckte sich in
den Ball zu erreichen, mussten sie in dem Gerät. Dann wollte er mit seinem Bauwerk und sprang dann
verschiedene Richtungen schwin- der Spielboje spielen, einem ei- mit einem lauten »Buh!« hervor.
gen oder Kurven machen. Diese förmigen Plastikobjekt, durch das Versteckspiele sind ein typisches
Bewegungen lieferten eine enorme 2 ca. 5 Meter lange Seile laufen. Auf Stadium in der Normalentwicklung.
Vielfalt an Gleichgewichtsreizen. diesen Seilen schießen zwei Partner Bei Therapiekindern zeigen diese
Wegen seiner schwachen Reaktio- die »Boje« hin und her, indem sie im Spiele, dass die Gleichgewichtsreize
nen auf vestibuläre Reize wurde richtigen Moment die Arme ausstre- besser verarbeitet werden und die
Felix‘ Kopf immer schwerer und sein cken. Felix hielt die beiden Seile an Kinder zunehmend räumlichem
Nacken müde, aber das spannende einem Ende fest, seine Therapeutin Bezug herstellen können. Das Ver-
Spiel hielt ihn bei der Sache. Die am anderen Ende. Während sie ko- steckspiel gibt dem Kind ein Gefühl
starke Anspannung seiner Nacken- ordiniert Hände und Arme zur Seite der Kontrolle über den Raum und
muskeln, die notwendig war, damit strecken mussten, um die Boje zum über andere Menschen. Kinder
er seinen Kopf gegen die Schwer- anderen zu schicken, mussten sie erreichen das Stadium des Versteck-
kraft hochhalten konnte, erzeugte auch ihre Augen auf das sich bewe- spielens von selbst, ohne dass es
intensiven propriozeptiven Input, gende Objekt und somit abwech- ihnen vorgemacht oder beigebracht
ebenso wie die Bewegungen seiner selnd auf nah und fern einstellen. werden muss. Manchmal strapazie-
Augen, wenn er mit dem Blick dem Wie viele Kinder mit verkürztem ren sie damit die Geduld der Er-
Ball folgen musste. Die Kombina- Nystagmus hatte Felix Schwierig- wachsenen, die sich der Bedeutung
tion von vestibulären und proprio- keiten, seine beiden Körperseiten dieses Spiels für die Entwicklung der
zeptiven Sinnesempfindungen half und seine Augen gut zu koordinie- Identität des Kindes gar nicht be-
Felix, mit dem Schläger auf den ren. Nachdem er sein Gehirn aber wusst sind. Versteckspiel ist gewiss
Ball zu zielen. Sein Hirnstamm und mit dem starken vestibulären Input keine therapeutische Aktivität, die
seine Großhirnhälften arbeiteten in der Helikopterschaukel »vor- einen Beobachter sehr beeindru-
zusammen, um die vestibulären, bereitet« hatte, konnte er nun die cken könnte, aber sie gibt dem Kind,
propriozeptiven und visuellen Reize Eindrücke der Boje und seine Be- was es braucht.
zu verarbeiten und zu integrieren. wegungen effektiver verarbeiten als Felix‘ schulische Leistungen
Als Nächstes wollte Felix mit sonst. Als Nächstes wählte Felix die verbesserten sich im Laufe der
einem anderen Kind in der »Heliko- »Walschaukel«, ein Sitzpolster auf Therapie rasch. Er zeigte schon
pterschaukel« fliegen. Dieses Gerät einem quer durch den Raum ge- nach ein paar Monaten deutliche
ist so benannt, weil zwei Kinder in spannten Gummiseil. Man sitzt auf Fortschritte. Das ist schneller als bei
Schlingen sitzen und wie der Pro- dem Polster, wobei die Füße Boden- Kindern, bei denen sich die Störung
peller eines Hubschraubers im Kreis kontakt haben. Dann stößt man sich auch auf emotionale Funktionen
herumwirbeln. Die durch die Dre- mit den Füßen von der Matte ab, so auswirkt – und dadurch verhindert,
hung erzeugte Fliehkraft stimulierte dass es hopst, als ob man auf dem dass sie ihre sensorische Integration
Felix‘ Schwerkraftrezeptoren auf Rücken eines Wals durch die Wellen entwickeln. Felix machte so rasche
eine andere Art als es das Schaukeln reitet. Diese Aktivität lieferte Felix Fortschritte, weil er einen starken
im Netz getan hatte. Um seinen vertikale Gleichgewichtsreize. Die inneren Antrieb hatte, sich die Reize
Kopf und seinen Körper gegen diese senkrechte Bewegung ergänzte die zu suchen, die sein Gehirn brauchte,
Kraft aufrechtzuhalten, musste Felix waagerechten Gleichgewichtsreize und seinen inneren Signalen folgte.
204 Kapitel 10 • Befundung und Behandlung
Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Prof. Dr. Erna Imperatore Blanche zu den in diesem
Kapitel besprochenen Themen finden Sie in Anhang A.
10.4 • Warum hilft die Sensorische Integrationstherapie?
207 10
Roberts Therapie
Robert war 8 Jahre und 11 Monate risch-integratives Defizit im Gleich- Wie so oft, wenn sich das Ner-
alt, als er zum ersten Mal zu einer gewichtssystem lag. Ein vestibuläre vensystem eines Jungen besser
sensorisch-integrativen Befund- Verarbeitungsproblem führte zu organisiert, wollte Robert seine
erhebung vorgestellt wurde. Robert seinen Lernproblemen und seinen neuentdeckten Fähigkeiten da-
war in der 4. Klasse, aber im Lesen Schwierigkeiten in der Bewegungs- durch zeigen, dass er beeindrucken-
entsprach er einem Erstklässler. Im planung, der Auge-Hand-Koordina- de Dinge in der Umwelt bewirken
Rechtschreiben und Rechnen war tion, der visuellen Wahrnehmung konnte. Er schwang sich an einem
er auf dem Stand der 2. Klasse. Weil und der Sprachentwicklung. Außer- von der Decke hängenden, lianen-
seine Leistungen in einem Intel- dem bewirkten die vestibulären artigen Seil durch den Therapie-
ligenztest ganz durchschnittlich Empfindungen, die sein Gehirn raum und stieß dabei eine große
waren, kam Robert in eine spezielle nicht richtig verarbeiten konnte, Kartonrolle um, die mit viel Lärm zu
Klasse für Kinder mit Lernbehinde- dass er hyperaktiv, leicht ablenkbar Boden krachte. Die Erfahrung, dass
rungen. und taktil abwehrend war. er ein so großes Objekt zu Fall brin-
Ergebnisse der Befunderhebung Behandlung gen konnte, gab ihm das Gefühl, ein
Robert wurde mit Instrumenten für Glücklicherweise zeigte Robert »toller Kerl« zu sein. Und das war
sensorisch-integrative Leistungen, ein großes Bedürfnis nach Bewe- eine der wichtigen Erfahrungen, die
sprachliche Leistungen und Schul- gungsaktivitäten, die vestibuläre Robert brauchte. Die Therapiesitu-
leistungen getestet. Sein postrot- Reize boten, denn diese brauchte ation gab Robert die Gelegenheit,
atorischer Nystagmus war verkürzt. er am meisten. Er verbrachte viele dieses Stadium der »Kraftmeierei«
Er hatte Schwierigkeiten, mit ge- Stunden auf einer Schaukel, die an zu durchlaufen. Daheim oder in der
schlossenen Augen auf einem Bein einem einzelnen Gummiseil auf- Schule wäre das unmöglich gewe-
zu stehen, obwohl seine Halte- und gehängt war, so dass er auf und sen. Zur gleichen Zeit entwickelte
Gleichgewichtsreaktionen im All- ab, aber auch vor und zurück und Robert einen großen Ordnungssinn
gemeinen nicht besonders auffällig rundherum schaukeln konnte. und half bereitwillig mit, den Thera-
waren. Er konnte die meisten Spiel- Wenn ich nicht gelernt hätte, auf pieraum aufzuräumen. Es schien, als
platzaktivitäten durchführen, ohne den inneren Antrieb und die Selbst- ob er die neue Ordnung in seinem
sich dabei schlecht zu fühlen, zeigte steuerung der Kinder zu vertrauen, Gehirn auch auf den Therapieraum
aber in den Tests Schwierigkeiten hätte ich ihm nicht so viel Zeit mit übertragen wollte.
in der Bewegungsplanung. Er hatte ein- und derselben Sache zubringen Ergebnisse der Therapie
keine Schwierigkeiten, »blind« zu lassen. Von Zeit zu Zeit hatte ich Ein Jahr nach der Ersttestung
erkennen, welcher Finger berührt das Gefühl, dass ich vielleicht doch wurden einige Tests wiederholt.
wurde, und »blind« zu wissen, wo eingreifen und mehr Variation in Während dieses Jahres hatte Robert
seine Hände sich im Raum be- die Therapie bringen sollte; aber ich etwa 6 Monate lang 2½ Stunden
finden. Allerdings hatte er große beließ es dabei, dass ihn sein inne- Therapie pro Woche erhalten. Er
Schwierigkeiten, Tastreize zu unter- rer Antrieb leitete. Robert würde zur zeigte deutliche Verbesserungen
scheiden (diskriminieren), und er rechten Zeit etwas anderes wählen. in den Sprach- und visuellen Wahr-
konnte manchmal nicht erkennen, Nach 4 oder 5 Monaten begann er, nehmungstests. Sein postrotatori-
ob er ein Quadrat oder ein Drei- auf alles zu klettern, was verfüg- scher Nystagmus hatte sich nicht
eck in der Hand hielt. Auch seine bar war, und hinunterzuspringen. verändert. (Dieses Ergebnis wurde
visuelle Raum- und Formwahrneh- Offensichtlich hatte Robert sich aber nicht so interpretiert, dass sich
mung war schwach für sein Alter. durch das Schaukeln genug vesti- das vestibuläre System nicht ver-
Außerdem war er hyperaktiv, leicht bulären Input geholt, um Bahnen bessert hätte. Infolge der intensiven
ablenkbar und taktil abwehrend. zu vielen Teilen seines Gehirns zu vestibulären Stimulation wirken
Roberts Ergebnisse in den öffnen. Beim Klettern benutzte er natürliche und normale hemmende
auditiven Wahrnehmungs- und diese neuen Bahnen, und er konnte Faktoren auf den Nystagmus.) Im
Sprachtests lagen ebenfalls für sein sich mehr mit den Dingen in seiner Lesen hatte er die typische Leis-
Alter und seine Intelligenz unter- Umgebung auseinanderzusetzen. tung eines Viertklässlers erreicht.
halb der Norm. Er hatte beträcht- Einige Male verletzte er sich bei- Damit hatte er in nur 1 Jahr mehr
liche Schwierigkeiten zu verstehen, nahe, weil sein neuentdeckter als 3 Jahre aufgeholt. Auch in der
was ihm gesagt wurde, besonders Wunsch, seine sensomotorischen Rechtschreibung hatte er 1½ Jahre
wenn es Hintergrundgeräusche Fähigkeiten auf die Probe zu stellen, aufgeholt und entsprach nun einem
gab. Ein anderer Test zeigte, dass seine Bewegungsplanungsfähigkei- Viertklässler zu Beginn des Schul-
seine beiden Hirnhälften Sprache ten überstieg. Die Bahnen, die der jahres. Im Rechnen hatte er fast
gleich gut verarbeiteten. Auch seine vestibuläre Input geöffnet hatte, 1 Jahr aufgeholt und war nun auf
Hände waren fast gleich geschickt, ermöglichten Robert auch, leichter dem Stand der 3. Klasse. Insgesamt
wobei keine besonders gut war. lesen zu lernen. Noch bevor die hat die Therapie Roberts Lernfähig-
Von diesen Tests und klinischen Therapie beendet war, wurde Ro- keit entscheidend verbessert, be-
Beobachtungen leiteten wir ab, bert in eine Regelklasse versetzt. sonders das Lesen betreffend.
dass Roberts grundlegendes senso-
209 11
11
11.1 Das Problem erkennen
Wenn ein Kind mit einer Lernstörung zu früh in die Schule kommt,
oder die Schule zu hohe Anforderungen stellt, vergleicht es sich mit
den anderen Kindern und entwickelt das Gefühl, minderwertig zu
sein. Sie können die Entwicklung Ihres Kindes bei einer leichten sen-
sorischen Integrationsstörung z.B. dadurch unterstützen, dass Sie es . Abb. 11.1 Eltern können mehr als
jede andere Person das Leben ihres
in einen Kindergarten geben, in dem die Kindergärtnerinnen senso-
Kindes verändern, wenn sie ihm helfen,
motorische Entwicklung schätzen und fördern und das individuelle bessere sensorisch-integrative Fähig-
Entwicklungstempo berücksichtigen. Manchmal hilft es auch, den keiten zu entwickeln
Schulanfang um ein Jahr zu verschieben und das Kind noch weiter
in den Kindergarten oder in eine Vorschulklasse gehen zu lassen. In
einem Jahr wird es dann besser im Unterricht mitkommen.
Wenn man die Störung frühzeitig in den Griff bekommt, gibt man
dem Kind bessere Chancen, die Auswirkungen der Störung auf sein
Leben gering zu halten. Ein frühes Erkennen hilft der Familie auf je-
den Fall, das Verhalten des Kindes richtig zu interpretieren, so dass sie
ihm das nötige Verständnis, die Anerkennung und die Struktur geben
kann, die es braucht. Wenn Ihr Kind in seiner Entwicklung verzögert
ist, ziehen Sie nicht voreilig den Schluss, dass es eine Störung hat; bie-
ten Sie ihm stattdessen Gelegenheiten, seine sensorisch-integrativen
Funktionen zu entwickeln.
Tipp
Bemühen Sie sich, Ihr Kind nicht zu Dingen zu drängen, für die
es noch nicht bereit ist; geben Sie ihm lieber Gelegenheiten und
Anregung, Dinge zu tun, die sein Gehirn verarbeiten kann. . Abb. 11.2 Eltern handeln klug,
wenn sie bei den ersten Anzeichen
einer Störung eine Fachkraft aufsuchen
Einer der häufigsten Fehler, der heute noch immer von Fachleuten
gemacht wird, ist anzunehmen, dass Verhaltensprobleme korrigiert
werden können, ohne die zugrunde liegenden neurologischen Prob-
leme zu berücksichtigen:
55 Die Psychotherapeutin versucht, an den Beziehungen in der
Familie zu arbeiten;
55 der pädagogische Beratungsdienst regt das Kind an, Denk- und
Entscheidungsmuster zu ändern; und
212 Kapitel 11 • Was Eltern tun können
55 d
ie Verhaltenstherapeutin versucht, das Kind zu bestimmten
Verhaltensweisen zu konditionieren.
Jeder dieser Ansätze kann zu bestimmten Zeiten passen, aber sie sind
bei einem Kind mit einer sensorischen Verarbeitungsstörung mög-
licherweise nicht von dauerhaftem Erfolg, weil die schlechte senso-
rische Integration des Kindes immer wieder Problemverhalten ver-
ursacht. Es ist nicht genug, nur die Familiendynamik, kognitive Pro-
zesse oder bestimmte Verhaltensweisen zu verändern.
>> Therapeutinnen, die in Sensorischer Integrationstherapie
ausgebildet sind, helfen dem Kind, funktionierende senso-
motorische Grundlagen zu entwickeln. Danach nehmen die
Verhaltensprobleme oft »von selbst« ab.
Tipp
Auch wenn Sie das Verhalten des Kindes nicht gutheißen – zer-
stören Sie nicht sein Bild von sich selbst und sein Selbstvertrauen
durch Missbilligung.
Machen Sie Ihrem Kind klar, dass die Leute in seiner Umgebung be-
stimmte Verhaltensweisen nicht mögen, aber dass dies nicht bedeutet,
dass niemand das Kind als Person mag. Erklären Sie ihm auch, welche
214 Kapitel 11 • Was Eltern tun können
Das Nervensystem Ihres Kindes ist nicht so stabil wie bei anderen
Kindern. Dadurch ist es emotional labil und »zerbrechlich«. Zu viel
Anregung – Bewegung, Menschen, Durcheinander, Veränderung von
Plänen, Lärm, Anforderungen, eine Erkrankung – kann dazu führen,
dass es die Kontrolle über seine Gefühle verliert. Taktil überempfind-
lichen und schwerkraftunsicheren Kindern passiert dies besonders
leicht.
Tipp
»Sie können Ihrem Kind zu Geburtstagsfeiern sind für manche Kinder die anstrengendsten Akti-
einem guten Selbstvertrau- vitäten. Wenn Sie ahnen, dass Ihr Kind mit bestimmten Reizen nicht
en verhelfen, indem Sie zurechtkommen wird, gehen Sie mit ihm in einen anderen Raum oder
Situationen vermeiden, die sein reduzieren Sie die Umgebungsreize. Kinder geraten nicht aus Vergnü-
Nervensystem überwältigen gen außer sich. Wutausbrüche stärken das Selbstvertrauen nicht, son-
könnten.« dern beschädigen es. Sie können Ihrem Kind zu einem guten Selbst-
11.2 • Helfen Sie Ihrem Kind, sich in seiner Haut wohl zu fühlen
215 11
vertrauen verhelfen, indem Sie Situationen vermeiden, die sein Ner-
vensystem überwältigen könnten. Sie können ihm helfen, indem Sie
selbst ruhig bleiben. Sie sind ein entscheidender Teil der Umwelt Ihres
Kindes, und Ihre Gefühlslage wirkt sich auf sein Nervensystem aus.
Ein ruhiger Ort wie sein eigenes Zimmer, abseits von aller Aufregung,
hilft am besten. Wenn Ihr Kind desorganisiert wird, denken Sie daran, . Abb. 11.4 Aktivitäten im Freien
dass dies damit zusammenhängt, wie sein Gehirn Informationen ver- liefern propriozeptiven Input, der
arbeitet, und denken Sie nicht an Bestrafung. beruhigend auf das Nervensystem des
Kindes wirkt
Tipp
Als Erstes reduzieren Sie die Reizüberflutung, und als Zweites bieten
Sie ihrem Kind Sinnesreize, die eine organisierende Wirkung haben.
Ein Plüschtier, die Kuscheldecke oder ein Lieblingskissen kann Ihrem
Kind helfen, sich zu beruhigen. Bei manchen Kindern wirkt es noch
besser, wenn man sie fest umarmt und im Arm hält. Auch in einem
Schaukelstuhl zu schaukeln, kann helfen. Für kleinere Kinder kann
ein lauwarmes Bad beruhigend sein. Sie helfen dem Gehirn auch, sich
zu organisieren, wenn Sie den Rücken des Kindes langsam und gleich-
mäßig von oben nach unten abstreichen. [Anm. d. Übersetzerin: Bei
vielen Kindern hat sich eine Malerwalze als wirksam erwiesen.] Strei-
chen Sie nicht gegen die Haarwuchsrichtung (von unten nach oben),
denn das kann unangenehm sein und alarmierend wirken. Aktivi-
täten im Freien liefern propriozeptiven Input, der beruhigend auf das
Nervensystem des Kindes wirkt – besonders wenn das Wetter kühl ist,
da kühle Luft den Fluss von den Hautimpulsen moduliert und Hyper-
aktivität reduzieren kann (. Abb. 11.4).
11.2.4 Erziehungsmaßnahmen
Die oben genannten Vorschläge bedeuten nicht, dass Sie Ihr Kind
nicht erziehen sollen.
216 Kapitel 11 • Was Eltern tun können
»Damit Erziehungsmaßnahmen Grundprinzipien der Erziehung – wie gutes Verhalten belohnen und
wirksam sind, müssen sie dem bei schlechtem Benehmen Privilegien wegnehmen (z.B. Fernsehver-
Gehirn des Kindes Ordnung bot) – haben auch bei Kindern mit sensorischen Integrationsstörun-
geben anstatt es durcheinander- gen ihre Berechtigung. Lassen Sie sich nicht von Ihrem Kind in Dis-
zubringen.« kussionen über Ihre Erziehungsmaßnahmen verwickeln. Sagen Sie
ihm einfach, was und warum Sie so handeln. Seien Sie konsequent!
Sobald Sie die Entscheidung getroffen haben, dass Ihr Kind etwas
tun muss oder nicht tun darf, halten Sie sich daran. Denken Sie lie-
ber zweimal nach, bevor Sie »Nein« sagen. Damit Erziehungsmaß-
nahmen wirksam sind, müssen sie dem Gehirn des Kindes Ordnung
geben anstatt es durcheinanderzubringen. Deshalb müssen Sie konse-
quent eine Linie verfolgen, sich darüber im Klaren sein, was Sie tun,
und sensibel sein für die Auswirkungen, die Ihre Maßnahmen auf das
Gehirn Ihres Kindes haben.
11.2.5 Erwartungen
Tipp
Wenn ein Mensch blind ist, erwarten wir nicht von ihm, dass er sieht,
und wir kritisieren ihn auch nicht dafür, dass er nicht sieht. Wenn
ein Kind sehen kann, erwarten wir automatisch, dass nicht gegen
Dinge stößt. Leider erhalten Kinder mit einer Störung der visuellen
Raum- und Formwahrnehmung, obwohl sie sehen können, nicht die
richtigen Informationen aus dem, was sie sehen. Sie sehen zwar den
Stuhl, aber sie laufen dagegen. Da ihnen das aber nicht immer passiert
und sie es vermeiden können, wenn sie sich besonders konzentrieren,
meint die Umwelt, dass diese Kinder ermahnt werden müssen, wenn
sie gegen Gegenstände oder Personen stoßen. Einfühlsamer wäre es,
das Kind daran zu erinnern, dass es genau hinsehen muss, wohin es
geht. Wenn es gegen etwas stößt, reicht ein lässiges »Oops«. Wir müs-
sen diesen Kindern nicht sagen, dass sie nicht gegen Dinge laufen sol-
len; sie wissen es schon. Was ein Kind braucht, sind unterstützende
Äußerungen, die ihm sagen, dass Sie wissen, was es erlebt, und dass
Sie auf seiner Seite sind.
11.3 • Die Umgebung verändern
217 11
Beispiele
Unterstützende Äußerungen:
55 Für Kinder, die gegen Gegenstände stoßen: »Es kann wirklich
schwierig sein, nicht gegen Dinge zu laufen, nicht wahr?«
55 Für dyspraktische Kinder, wenn sie Spielsachen kaputt machen:
»Ja, manchmal ist es schwer, herauszufinden, wie man mit diesen
Spielsachen spielen kann.«
55 Für schwerkraftunsichere Kinder, wenn sie verweigern, mit den
anderen Kindern zu spielen: »Ich weiß, Du würdest gerne mitspie-
len, aber es macht Dir irgendwie Angst.«
55 Für taktil abwehrende Kinder, wenn sie wütend werden, weil sie
berührt wurden: »Ich weiß, dass das unangenehm für Dich ist.«
Sie können das Selbstvertrauen Ihres Kindes fördern, indem Sie die »Sie können das Selbstvertrauen
positiven Dinge, die es tut, bemerken und erwähnen. Damit verstär- Ihres Kindes fördern, indem Sie
ken Sie sein gutes Verhalten und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, die positiven Dinge, die es tut,
dass Ihr Kind dieses Verhalten wiederholt. Selbst wenn es nichts Be- bemerken und erwähnen.«
sonderes ist, wofür Sie Ihr Kind loben, vermitteln Sie Ihrem Kind
damit ein viel besseres Selbstwertgefühl.
Tipp
Wie die Eltern das Leben zu Hause gestalten, wirkt sich auf die Ent-
wicklung aller Kinder aus. Sinnesreize des Familienalltags bombar-
dieren das Gehirn der Kinder Tag für Tag, wohingegen der sensori-
sche Input in der Therapie nur wenige Stunden pro Woche ausmacht.
Daher ist es naheliegend, dass die Behandlung umso wirksamer sein
wird, wenn das Kind die übrige Zeit in einer wohlorganisierten Um-
gebung verbringen kann.
218 Kapitel 11 • Was Eltern tun können
11.3.1 Struktur
»Eines der besten Dinge, Struktur in der Umgebung kann einem instabilen Gehirn zu mehr
die Eltern für ältere Kinder Stabilität verhelfen. Ein geordnetes Leben und Heim fördert auch
tun können, ist ihnen eine gute Organisation unseres Gehirns. Organisation schließt zeit-
beizubringen, wie sie ihre Zeit liche und räumliche Ordnung ein. Jede Aktivität hat ihre Zeit, und
einteilen und ihre Sachen in jeder Moment hat seine Aktivität. Jeder Gegenstand hat seinen Platz,
Ordnung halten. Dies hilft an dem er sich meist befindet. Eines der besten Dinge, die Eltern
diesen Kindern, ihr schlecht für ältere Kinder tun können, ist, ihnen beizubringen, wie sie ihre
organisiertes Nervensystem zu Zeit einteilen und ihre Sachen in Ordnung halten. Dies hilft diesen
kompensieren.« Kindern, ihr schlecht organisiertes Nervensystem zu kompensieren.
Gute Organisation ist eine Form der Selbstdisziplin, und Kinder mit
sensorisch-integrativen Problemen müssen Selbstdisziplin lernen, da
sie sich in der Regel nicht auf natürliche Weise von selbst entwickelt.
Tipp
11
Denken Sie daran, dass jeder Mensch Sinnesreize anders wahrnimmt.
Was für Sie eine angenehme Berührung ist, kann für Ihr Kind höchst
unangenehm sein. Möglicherweise empfindet es Berührungen von
Ihnen als angenehm, aber Berührungen von anderen Personen lösen
abwehrende Reaktionen aus. Kleidungsstücke, die Sie weich finden,
können für Ihr Kind kratzig sein. Plüschtiere können manchen Kin-
dern genau die richtigen Berührungserfahrungen liefern, aber für
andere Kinder sehr unangenehm sein. Manche Kinder beruhigt es,
wenn man ihnen nach dem Waschen die Arme und das Gesicht mit
dem Handtuch mehrmals langsam und fest abreibt, aber bei anderen
zeigt dies keine Wirkung.
Ein dunkler Tunnel aus Stoff oder aus Decken ist ein hervorragen-
der Rückzugsort, in den das Kind hineinkriechen kann, wenn ihm
die Umgebungsreize zu viel werden. Achten Sie darauf, dass es genü-
gend Luft zum Atmen bekommt. Das Kind kann sich auch beruhigen-
de Berührungs- und Druckreize verschaffen, indem es sich in einen
weichen Bettüberwurf einrollt. Der beruhigende Effekt von Wickel-
kissen und Kuscheldecken beruht darauf, dass über Berührungsreize
an vielen Körperstellen die Integration des Nervensystems gefördert
wird. Kleine Kinder halten sich noch nicht an soziale Regeln, was Be-
rührungen betrifft. Dadurch sind ihre körperlichen Reaktionen eine
gute Orientierungshilfe, welche taktilen Reize ihrem Nervensystem
guttun und welche nicht.
11.3 • Die Umgebung verändern
219 11
Tipp
Beobachten Sie Ihr Kind einfach, und hören Sie ihm zu.
Negative Reaktionen sind ein Anhaltspunkt dafür, dass das Kind »Erinnern Sie Ihre Verwandten
zusätzliche organisierende taktile Reize braucht. Anstatt glatter Bett- daran, dass es nicht persönlich
wäsche könnten Sie ihm Bettwäsche aus Frottee oder Seersucker und gemeint ist, wenn Ihr Kind
einen Frotteeschlafanzug geben. Dies könnte ihm die noch nötigen Zärtlichkeiten ablehnt.«
Berührungsempfindungen liefern, um die Aktivität des Nervensys-
tems auszubalancieren. Wenn Ihr Kind sich bereits mit einem Hand-
tuch eingewickelt hat, und dies nicht ausreicht, hilft es vielleicht, noch
ein zusätzliches Kissen neben es zu legen. Sie können Ihrem Kind vor
dem Zubettgehen auch eine leichte Rückenmassage geben. Nach dem
Bad reiben Sie es ausgiebig mit einem Handtuch trocken. Beobachten
Sie immer seine Reaktionen; sobald es einen Reiz nicht mag, respek-
tieren Sie sein Bedürfnis.
Erinnern Sie Ihre Verwandten daran, dass es nicht persönlich
gemeint ist, wenn Ihr Kind Zärtlichkeiten ablehnt; es ist vielmehr
Ausdruck davon, dass sein Nervensystem nicht in der Lage ist, diese
Empfindungen als angenehm wahrzunehmen. Seine Reaktionen auf
Umarmungen sind gleich, ungeachtet der Person, die es berührt. Soll-
te Ihr Kind automatisch zuschlagen, wenn jemand es zufällig berührt,
erklären Sie, dass es eine automatische Reaktion sei, die das Kind
nicht kontrollieren könne. Nichtsdestotrotz halten Sie Ihr Kind dazu
an, sich in einer derartigen Situation zu entschuldigen.
Tipp
Einfache Dinge – wie das Fenster schließen oder mit dem Kind in
einen anderen Raum gehen – können schon helfen. Bemühen Sie sich
11.4 • Helfen Sie Ihrem Kind zu spielen
221 11
auch, Ihre eigene Stimme zu dämpfen, so dass sie Ihr Kind nicht über-
erregt. Wenn Sie flüstern anstatt laut zu sprechen, können Sie dazu
beitragen, dass sein Nervensystem sich beruhigt.
Auch Gerüche, die weder Erwachsene noch andere Kinder stören,
können für Kinder, die einen überempfindlichen Geruchssinn haben,
quälend sein. Es können die Gerüche von Lebensmitteln, Parfüms,
Reinigungsmitteln, der Toilette, Autoabgasen und vielen anderen
Quellen sein. Selbst wegen eines dezenten Körpergeruchs, den nur
Ihr Kind bemerkt, kann es bestimmte Personen ablehnen.
Tipp
Das Wichtigste, was Sie als Eltern machen können, ist, sich be-
wusst zu machen, dass Ihr Kind Dinge einfach anders wahrnimmt.
Ihr Kind gibt Ihnen Warnzeichen, wenn es von Ihnen oder von et-
was in der Umgebung überfordert wird. Warnzeichen sind, wenn Ihr
Kind unorganisiert und hyperaktiv wird, oder wenn es außer sich
gerät. Es kann auch sein, dass es feindselig und aggressiv wird oder
sich zurückzieht und zu weinen beginnt. Für Außenstehende mag das
einfach »starrsinnig« wirken.
>> Aufmerksame Eltern erkennen die Warnzeichen und ändern
die Situation, bevor sie eskalieren kann. Manchmal ändern
sie intuitiv die Situation, bevor die Zeichen überhaupt auf-
treten.
In der Gesellschaft wird unterschätzt, wie wichtig das Spielen für die »In der Gesellschaft wird
kindliche Entwicklung ist. Viele Erwachsenen betrachten das Spielen unterschätzt, wie wichtig
als reine Unterhaltung oder Albernheit, weil die meisten Kinder kei- das Spielen für die kindliche
ne Hilfe brauchen, spielen zu lernen, und weil man nicht sieht, wie Entwicklung ist.«
das Gehirn sich entwickelt, wenn Kinder spielen. Aber in den Vor-
schuljahren ist das Spielen für die Entwicklung von Kindern ebenso
wichtig wie später die Schularbeiten. Eltern wissen oft, wie sie mit
ihren normal entwickelten Kindern spielen können, aber viele haben
Schwierigkeiten, mit einem Kind zu spielen, das eine Entwicklungs-
oder neurologische Störung hat.
Eltern meinen oft, ihr Kind sei nicht an anderen Spielen interes-
siert ist, weil es immer nur mit bestimmten Dingen spielt. Allerdings
222 Kapitel 11 • Was Eltern tun können
haben Kinder, die sich nicht für die typischen Spiele der Gleichaltri-
gen interessieren, mit großer Wahrscheinlichkeit Probleme, zu denen
in der Regel auch sensorische Verarbeitungsstörungen gehören. Das
Spielverhalten von dyspraktischen Kindern ist sehr eingeschränkt,
weil sie Schwierigkeiten haben, ihre Bewegungen bei neuen Anforde-
rungen zu planen. Deshalb bleiben sie bei einfachen und vertrauten
Spielen. Kinder mit vestibulären Störungen werden von ihrer unsi-
cheren Haltung oder von ihren Ängsten bei Bewegungen, die sie nicht
modulieren können, beim Spielen behindert. Taktil abwehrende Kin-
der lehnen es oft ab, mit anderen Kindern zu spielen, weil sie den Kör-
perkontakt vermeiden wollen, der dabei zustande kommt. Manchen
Kindern mit einer schlechten Sinnesverarbeitung ist es einfach pein-
lich, wenn andere Kinder ihre Ungeschicklichkeit sehen, und andere
können ihr Verhalten nicht gut genug organisieren, um zielgerichtet
zu spielen.
>> Das Wesentliche ist, dass im Spielen der innere Antrieb des
Kindes zum Ausdruck kommt, sich als sensomotorisches
Wesen zu fühlen und weiterzuentwickeln.
Das Endergebnis des Spiels – etwa ein Turm aus Bausteinen oder
die Zahl von Sprüngen über das Springseil – ist nicht von Bedeutung.
Wichtig ist vielmehr, dass das Kind seinem inneren Antrieb folgt,
durch körperliche Aktivitäten seine Umwelt und seinen Körper zu
beherrschen. Körperliche Aktivitäten liefern Sinneserfahrungen und
anpassende Reaktionen, die wiederum dazu beitragen, das Gehirn
11 zu organisieren. Die sichtbaren Ergebnisse des Spiels können für Er-
wachsene wenig beeindruckend sein, aber für das Kind bedeuten sie
einen Erfolg in seinem eigenen Wachstumsprozess.
Im Spiel bekommen Kinder Sinnesreize von ihrem Körper und
von der Schwerkraft, die sowohl für ihre motorische als auch emotio-
nale Entwicklung wichtig sind (. Abb. 11.7).
>> Es sind die Sinneserfahrungen, die Aktivitäten zum Vergnü-
gen werden lassen.
Tipp
Wenn Ihr Kind mit Freude bei der Sache ist, kann diese Freude von
einer sensomotorischen Erfahrung kommen, die sein Gehirn braucht.
Freuen Sie sich mit ihm. Zeigen Sie ihm, dass Sie sich freuen, wenn
es sich Herausforderungen sucht, bei denen es seinen Körper und
seine Umgebung meistern kann, auch wenn es dabei schmutzig wird
oder sich weh tut. Das ist unvermeidlich, wenn Ihr Kind sich immer
höheren Anforderungen stellt, um immer reifere Bewegungen und
Handlungen zu entwickeln.
Wenn Ihr Kind im Spiel hingegen überdreht, traurig oder feind-
selig wird, denken Sie daran, dass diese Gefühle daher kommen, dass
seine sensomotorische Verarbeitung nicht mitgekommen ist. Sie ha-
ben die Situation vielleicht gar nicht bemerkt, aber für Ihr Kind war
es ein deutlicher Dämpfer. Solche Erfahrungen können ein Kind ab-
halten, neue Erfahrungen zu machen, oder aber sie können Schritte
zu Kompetenz sein. Wenn Sie Ihrem Kind viel emotionale Unterstüt-
224 Kapitel 11 • Was Eltern tun können
Tipp
Seien Sie geduldig und lassen Sie Ihr Kind herumstolpern, zur
falschen Zeit nach dem Ball greifen und diesen in die falsche
Richtung werfen.
Die besten Spielsachen sind diejenigen, bei denen nicht vorgegeben »Spielsachen sollten vor allem
ist, wie man sie verwenden muss. Dafür lassen sie viele verschiede- Gelegenheit bieten, Phantasie
ne Verwendungsmöglichkeiten zu, so dass das Kind seine Phanta- und Kreativität einzusetzen.«
sie und Kreativität einsetzen muss, um sein eigenes Spiel zu entwi-
ckeln. Kinder spielen meist lieber mit Dingen wie einem alten Löffel,
einem Leintuch oder anderen Haushaltsartikeln. Löffel und Leintuch
unterstützen die sensorische Integration Ihres Kindes sogar besser
als teures Spielzeug. Spielsachen sollten vor allem Gelegenheit bieten,
Phantasie und Kreativität einzusetzen. Wenn Kinder ihre Spielsachen
erkunden, sollen sie nicht fürchten müssen, sie kaputt zu machen.
Leere Pappkartons und Plastikflaschen, Reifen und Schläuche,
lange Seile, Kochgeschirr, Schaumstoffteile, Kissen und andere Dinge,
die im Haus herumliegen, bieten wertvolle Spielmöglichkeiten. Ma-
chen Sie sich keine Gedanken darüber, was das Kind damit anstellen
wird; es wird sich etwas ausdenken.
226 Kapitel 11 • Was Eltern tun können
Tipp
11 Wenn Sie Spielzeug kaufen, suchen Sie etwas aus, das Ihr Kind
anregt, seinen ganzen Körper zu bewegen oder Dinge, die es mit
seinen Händen bearbeiten muss.
Unterstützen Sie Ihr Kind, seinen inneren Antrieb auf den Geräten
auszuleben. Wenn Ihr Kind sich nicht gut schützen kann, achten
Sie auch darauf, dass andere Kinder nicht zu wild mit ihm spielen.
Neben den Reaktionen Ihres Kindes auf die Reize müssen Sie auch
seine Sicherheit im Auge behalten. Gehen Sie immer davon aus, dass
ein Kind mit sensorischen Verarbeitungsstörungen unfallgefährdet
ist, wenngleich manche Kinder das durch übertriebene Vorsicht kom-
pensieren. Ein Kind mit sensorischen Defiziten braucht mehr Schutz
als andere Kinder, weil es nicht alle Sinnesinformationen verarbeiten
kann, die notwendig wären, um sich selbst zu schützen. Achten Sie
auf Objekte, an denen es sich schneiden oder verletzen kann, und auf
Dinge, in die es hineinlaufen oder von denen es fallen kann; halten
Sie es von diesen Gefahrenquellen fern oder halten Sie die Gefahren-
quellen von ihrem Kind fern, oder unterstützen Sie es, aufzupassen,
dass es sich nicht verletzt. Stellen Sie sich vor, es hätte einen Unfall.
Fragen Sie sich, wo und wie das wahrscheinlich passieren würde, und
ergreifen Sie die entsprechenden Vorsorgemaßnahmen.
Es ist unvermeidlich, dass ein Kind sich anstößt und blaue Fle-
cken hat. Das ist in Ordnung, wenn sie als Begleiterscheinungen von
Erfolgserlebnissen auftreten. Machen Sie kein großes Aufsehen wegen
kleinerer Verletzungen, solange sie Ihr Kind nicht beim Spielen be-
hindern. Kinder, die taktil abwehrend sind, reagieren oft übertrieben
auf geringfügige Hautverletzungen. Wenn ihr Kind sich so fest an-
stößt, dass es weint, nehmen Sie es auf den Arm und wiegen Sie es,
oder geben Sie ihm auf andere Art emotionale Unterstützung, und
lassen Sie es dann zu seinem Spiel zurückgehen. Zeigen Sie Ihrem
Kind, dass Schnitte und Kratzer keine Katastrophe sind. Machen Sie
ihm klar, dass sein Körper belastbar ist und wieder heilt.
>> Das Gefühl von Vertrauen und Sicherheit in seinen eigenen
Körper ist die Grundlage für eine gute Hirnfunktion.
Tipp
Warten Sie nicht zu lange ab! Wenn Ihr Kind wirklich eine sensori-
sche Verarbeitungsstörung hat, ist nicht zu erwarten, dass es sich
»auswächst«.
. Abb. 11.11 Je jünger das Kind ist, desto flexibler und leichter ist sein Gehirn zu beeinflussen
Je jünger das Kind ist, desto flexibler und leichter ist sein Gehirn zu »Alles, was in der frühen
beeinflussen. Alles, was in der frühen Kindheit getan werden kann, Kindheit getan werden kann,
um dem Gehirn zu helfen, sich zu entwickeln, verbessert die Voraus- um dem Gehirn zu helfen, sich
setzungen des Kindes, in späteren Jahren besser mit dem Lernen und zu entwickeln, verbessert die
emotionalen Anforderungen zurechtzukommen (. Abb. 11.11). Voraussetzungen des Kindes,
Lehrerinnen, Sportlehrerinnen oder auch Bewegungstrainerin- in späteren Jahren besser mit
nen haben zwar eine Ausbildung, die sie befähigt, Kindern Fertigkei- dem Lernen und emotionalen
ten beizubringen, aber sie haben nicht notwendigerweise eine hirn- Anforderungen zurechtzukom-
funktionsspezifische Ausbildung. Wenn Sie denken, dass Ihr Kind men.«
sensorisch-integrative Probleme hat, klären Sie seine Lehrerinnen am
besten über sensorische Integration auf und sagen ihnen, was sie von
Ihrem Kind erwarten können. Eine Lehrerin kann ihre Aufgabe bes-
ser machen, wenn sie weiß, dass ein Schüler ein spezielles Problem
hat, gegen das er nichts tun kann. Wenn Ihr Kind Lernprobleme hat,
kann die Schule wahrscheinlich Unterstützung anbieten.
>> Bei Kindern, die Lernschwierigkeiten und sensorische Inte-
grationsprobleme haben, ist es am effektivsten, wenn die
Therapeutin und die Lehrerinnen zusammenarbeiten.
Eltern sind für die Gesundheit und die Ausbildung ihres Kindes ver-
antwortlich. Sie müssen sich darum kümmern, dass ärztliche Be-
handlungen, die Schule, Förderprogramme und Therapie aufeinander
abgestimmt sind. Je mehr sie über die einzelne Maßnahme wissen,
desto besser können sie alles koordinieren und zu Hause weiterfüh-
ren. Sensorische Integrationstherapie ist ein relativ junges Angebot,
230 Kapitel 11 • Was Eltern tun können
obwohl Kinder von Natur aus immer ihren Prinzipien gefolgt sind.
Neue Ideen sind in den traditionellen Berufsfeldern oft nicht gerne
gesehen und werden eventuell zurückgewiesen, bis sie – manchmal
sogar über mehrere Generationen – eingeführt sind. Ihr Kind kann
nicht so lange warten.
Wir haben dieses Buch geschrieben, um Ihnen als Eltern zu hel-
fen, sich Ihre eigene Meinung zu bilden – Ihnen, die als Eltern dafür
verantwortlich sind, dass Ihr Kind die besten Entwicklungsmöglich-
keiten erhält.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine Ergotherapeutin zu
finden, die ausgebildet ist, sensorisch-integrative Leistungen (SIPT)
11.5 • Suchen Sie professionelle Hilfe
231 11
Hinweis:
Einen Expertenkommentar von Brian Erwin und Christine Hunsicker zu Themen,
die in diesem Kapitel behandelt wurden, finden Sie in Anhang A.
11
233
Anhang A
Kommentare zu den Kapiteln
>> Heute
Aktuelle Studien haben gezeigt: Eines der Hauptthemen der
Eltern von Kindern mit sensorischen Integrationsstörungen
sind deren Schwierigkeiten, normal mit anderen Kindern
zu spielen und integriert zu sein, z.B. bei Geburtstagsfeiern
und Einladungen.
Seit dem Erscheinen dieses Buch haben sich die Techniken der bild-
gebenden Verfahren, mit denen wir einen Blick in das Gehirn werfen
können, rasant entwickelt. Daher verstehen wir nun besser, wie die
zugrunde liegenden Gehirnmechanismen mit Leistungen zusam-
menhängen. Ayres erkannte die Ängste, die mit einer schlechten sen-
sorischen Integration einhergehen.
>> Heute
Heutige wissenschaftliche Studien zeigen, dass sensorische
Integrationsstörungen von einem erhöhten Stresshormon-
spiegel begleitet sind.
Studien mit Affen haben gezeigt, dass bei Störungen der sensorischen
Verarbeitung auch die Neurotransmitter oder die biochemischen
Systeme, die die Kommunikation der Nervenzellen untereinander
beeinflussen, verändert sind. In der Zukunft werden uns diese Unter-
236 Anhang A
Literatur
Ayres AJ (1989) Sensory Integration and Praxis Tests (SIPT): Manual. Western Psy-
chological Services, Los Angeles
Baranek GT, Foster LG, Berkson G (1997) Sensory defensiveness in persons with
developmental disabilities. Occupational Therapy Journal of Research
17(3):173–185
McIntosh DN, Miller LJ, Shyu V, Hagerman R (1999) Sensory modulation disruption,
electrodermal responses, and functional behaviors. Developmental Medicine
and Child Neurology 41:608–615
Mulligan S (1996) An analysis of score patterns of children with attention disorders
on the Sensory Integration and Praxis Tests. American Journal of Occupatio-
nal Therapy 49:619–627
Mulligan S (1998) Patterns of sensory integration dysfunction: A confirmatory
factor analysis. American Journal of Occupational Therapy 52:819–828
Mulligan S (2000) Cluster analysis of scores of children on the Sensory Integration
and Praxis Tests. Occupational Therapy Journal of Research 20(4):256–270
Aus dieser Erkenntnis lässt sich ableiten, dass SI während der gesam-
ten Lebensspanne und bei Personen mit verschiedenen Diagnosen
und Schwierigkeiten eingesetzt werden kann.
Dr. Ayres beschrieb die Entwicklung und Organisation des Zen-
tralnervensystems in einem hierarchischen Modell, betonte aber zu-
gleich, dass eine interaktive und ganzheitliche Sichtweise der Hirn-
funktion wichtig sei.
>> Heute
Das Konzept der dynamischen Interaktion zwischen Ent-
wicklung und Hirnfunktion ist höchst zeitgemäß. Es passt
zur gegenwärtigen Sicht des kindlichen Verhaltens, in der
Menschen als offene Systeme betrachtet werden, die durch
Interaktion ihre Umgebung beeinflussen und wiederum von
ihr beeinflusst werden.
Dr. Ayres betonte, wie wichtig der innere Antrieb sei, Herausfor-
derungen zu suchen und zu meistern, und dass dies am besten im
Spiel geschieht. Spiel ist eine der Hauptbeschäftigungen von Kindern.
Sensorische Integration entwickelt sich durch Spielerfahrungen und
führt zu einem besser organisierten Spielverhalten. Dieses Prinzip hat
starke Auswirkungen auf die Entwicklung der heutigen Kinder. Als
der SIPT in den 1980er Jahren standardisiert wurde, stellte Dr. Ayres
bestürzt fest, dass die Normwerte in vielen Tests niedriger waren als in
der Vorgängerversion. Sie hielt dies für den Ausdruck von abnehmen-
der körperlicher Betätigung der Kinder. Dies ist im 21. Jahrhundert
noch offensichtlicher geworden.
238 Anhang A
>> Heute
In unserer heutigen Gesellschaft geht die Tendenz dahin,
dass Kinder weniger Zeit und Raum zum Spielen haben und
weniger aktiv sind, dafür aber mehr Zeit vor dem Fernseher
oder Computer verbringen.
Dr. Shelly J. Lane, Professorin und Vorsitzende der Abteilung für Ergothe-
rapie an der Virginia Commonwealth University
A. Jean Ayres wirkte als Pionierin bei der Entdeckung der Rolle des
Gleichgewichtssystems für die menschliche Entwicklung und – was
möglicherweise noch bemerkenswerter ist – bei der Entwicklung
von Beurteilungsverfahren und Behandlungsstrategien für vestibu-
läre Verarbeitungsstörungen, die zu Lern- und Verhaltensproblemen
führen. Sie erfand viele verschiedene Therapieschaukeln und -geräte,
mit denen man im Rahmen einer spielerischen Aktivität alle Teile
des vestibulären Systems für die optimale Dauer mit dem optimalen
Reiztyp versorgen kann. Als eines der am frühesten entwickelten Sin-
nessysteme bildet das Gleichgewichtssystem die Grundlage für die
Entwicklung aller anderen Sinnessysteme. Es hat also eine Schlüssel-
rolle in der sensorischen Integration.
Bei ihrem genauen Review der neurobiologischen Forschung ent-
deckte Dr. Ayres, dass das vestibuläre System in der frühen Entwick-
lung eine wichtige Rolle spielt. Bereits in der 22. Schwangerschaftswo-
che haben die vestibulären Rezeptoren ihre endgültige Größe erreicht,
wodurch das Kind den konstanten Zustrom von Gleichgewichtsreizen
durch seine eigenen Bewegungen und durch die Bewegungen der
Mutter wahrnehmen kann. Am stärksten werden die schwerkraft-
242 Anhang A
Kapitel 6: Entwicklungsdyspraxie
» Ich kann eine andere Person nur dann betreuen, wenn ich in der
Lage bin, sie und ihre Welt so zu verstehen, als ob ich darin lebte. Ich
muss ihre Welt mit ihren Augen sehen können, und wie sie ihre Welt
selbst sieht. Statt als Außenstehender die Person anzusehen, muss
ich mit ihr in ihrer Welt sein. Ich muss in ihre Welt ‚eintreten‘, um von
innen zu spüren, wie ihr Leben für sie ist, was sie erreichen möchte,
und wo sie sich noch entwickeln muss. (Mayeroff 1971) «
Diese Aussage beschreibt den Kern von Dr. Ayres‘ Denken. Aus ihrer
klinischen Erfahrung lieferte sie ausgezeichnete Beispiele, wie sich
das Leben mit einer Bewegungsplanungsstörung anfühlt. Ayres be-
schrieb einige zentrale Behandlungsprinzipien, die auch heute noch
Gültigkeit haben (Blanche 2001; Kimball 2002; Koomar 2002; Reeves
u. Cermak 2002). Dazu gehört ein verstärktes taktil-kinästhetisches,
vestibuläres und propriozeptives Reizangebot, um das Körperbe-
wusstsein zu verbessern, und die Wichtigkeit der selbstgesteuerten
Aktivität.
Ayres betonte, dass für effiziente Leistungen kein Denken notwen-
dig sei, und dass sich Denken sogar nachteilig auf das Tun auswirken
könne. Als Konsequenz empfahl Ayres, Sprache möglichst sparsam
einzusetzen, wenn man Kindern helfen wolle, ihre Bewegungspla-
nung zu entwickeln.
>> Heute
Heute wissen wir durch Studien von Missiuna (2001) und
Chen et al. (2003), dass sprachlich-kognitive Strategien sehr
wirksam sein können, um Kindern mit entwicklungsbeding-
ten Koordinationsstörungen zu helfen, bestimmte Fertig-
keiten zu erlernen.
Ayres erkannte diese bereits. Sie stellte fest, dass »die Tatsache, dass
das Gehirn eine Funktion nicht gut ausführt, nahelegt, dass es ver-
schiedene andere Funktionen auch nicht gut ausführen kann«. Wir
wissen, dass Dyspraxie zwar isoliert auftreten kann, meist aber mit
anderen Problemen wie Lernstörungen, Aufmerksamkeitsdefizit oder
sensorischen Modulationsstörungen einhergeht. Im Rückblick wird
Ayres‘ Werk als ein Meilenstein auf dem Weg zum Verständnis von
Entwicklungsdyspraxie angesehen.
Literatur
Blanche EI (2001) The evolution of the concept of praxis in sensory integration. In:
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integration with diverse populations. Therapy Skill Builders, San Antonio, TX;
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Dr. Diane Parham, Direktorin des Health Sciences Center der School of
Medicine, Department of Pediatrics, Occupational Therapy Graduate
Program an der University of New Mexico
Ayres war die Erste, die eine Auffälligkeit erkannte, die sie »taktile
Abwehr« nannte. Dies war einer ihrer wichtigsten Beiträge zum Fach-
gebiet der Kindesentwicklung. Die Störung war ihr in den 1960er
Jahren zum ersten Mal während ihrer Arbeit an Tests zur taktilen
Wahrnehmung aufgefallen.
>> Heute
Heute wird die Auffälligkeit der »taktilen Abwehr« von
Fachleuten in vielen verschiedenen Fachdisziplinen als ein
Faktor anerkannt, der zu kindlichen Verhaltensproblemen
führen kann.
Beispiel
Beim »Sandwich«-Spiel liegt das Kind mitten auf einer Matratze, einem
großen Kissen oder einer Turnmatte. Die Therapeutin legt eine ande-
re Matratze auf das Kind, so dass es zwischen den beiden Matratzen,
Kissen oder Matten eingezwängt ist. Nun machen die Therapeutin und
das Kind so, als ob sie Gewürze auf das Sandwich geben. Die Therapeu-
tin drückt dabei fest von oben auf das »Sandwich«. Der Druck wird so
dosiert, dass es keine Verletzungen wie blaue Flecken gibt, und dass
das Kind diesen als angenehm, vergnüglich oder lindernd erlebt. Tiefer
Druck entsteht auch, indem das Kind mit einer festen Knetmasse han-
tiert, mit seinen Hände auf einem Teppich ein Bild reibt, fest umarmt
wird oder eine Gewichtsweste trägt. Sitzt das Kind, kann die Therapeu-
tin auch mit ihren Händen festen Druck auf die Schultern geben.
248 Anhang A
Viele Kinder mit taktiler Abwehr versuchen, sich wegen der entspan-
nenden Wirkung selbst feste Druckempfindungen zu verschaffen. Ich
kenne viele Kinder mit taktiler Abwehr, die sich an der Hautstelle,
an der sie gerade berührt wurden, fest reiben oder drücken, oder
die sich auf den Boden fallen lassen oder gegen Dinge werfen, um
großflächigen Druck auf ihrer Haut zu spüren. Dr. Temple Grandin
(1992), eine Expertin für Viehzucht, mit einer eigenen Geschichte von
Autismus und schwerwiegender taktiler Abwehr entwickelte für sich
selbst eine pneumatische»Umarmungsmaschine« (»hugmachine«).
Damit konnte sie sich selbstständig tiefen Druck verschaffen, wenn
sie sich überwältigt fühlte. Studien zur Wirkung der »hugmachine«
und anderer Methoden für die Versorgung mit taktilem tiefen Druck
(z.B. Gewichtswesten) bestätigen, dass diese Art von Sinneserfahrung
im Allgemeinen eine beruhigende Wirkung hat.
Eine dritte zentrale Erkenntnis von Ayres, auf die ich hinweisen
möchte, war ihre Annahme, dass die Abwehr nicht nur im taktilen
System, sondern auch in anderen Sinnessystemen existiert (z.B. im
Gehör- oder Geruchssinn). Kinder mit auditiver Abwehr können
auf normale Geräusche, die die meisten von uns nicht stören, mit
starkem Stress reagieren und sich die Ohren zuhalten. Bei einer Per-
son können mehrere Systeme abwehrend sein. Die Ergotherapeutin
Dr. Grace Baranek fand bei Kindern mit Entwicklungsbehinderungen
einschließlich Autismus eine Häufung von auditiver und taktiler Ab-
wehr (Baranek et al. 1997). Eine andere Ergotherapeutin, Dr. Lucy
Miller, vermutete, dass sensorische Modulationsstörungen (SMD)
mit Abwehr in einem oder mehreren Sinnessystemen auch ohne an-
dere Lern- oder Entwicklungsstörungen vorkommen. Sie entwickelte
ein Forschungsprogramm, bei dem die physiologischen Reaktionen
(wie Puls oder elektrischer Hautwiderstand) von Kindern mit sen-
sorischer Abwehr gemessen werden, wenn sie mit bestimmten Sin-
nesreizen konfrontiert werden (z.B. mit einer leichten Berührung im
Gesicht oder der Stuhl, auf dem sie gerade sitzen, kippt unerwartet
nach hinten) (Miller et al. 2001).
Ayres‘ Konzept der sensorischen Abwehr gilt für Menschen jeden
Alters, die gewöhnliche Sinnesreize als unangenehm und überwälti-
gend erleben.
>> Heute
Ayres’ Vorstellungen über sensorische Abwehr wurden in
das vom National Center for Infants, Toddlers, and Families
aufgestellte interdisziplinäre Diagnosesystem für Säuglinge
und Kleinkinder mit in die Kategorie »Regulationsstörun-
gen« aufgenommen (Zero To Three 1994).
Literatur
All das wissen wir, weil wir als Säuglinge mit Dingen klopften, darauf
kauten und sie wegwarfen. Wir erlebten die Welt durch Berühren,
Schmecken, Riechen und Bewegen und entwickelten in diesem Tun
auditive und visuelle »Landkarten«. Wir verdanken es diesen ganz-
heitlichen Informationen von allen unseren Sinnen, dass wir planen
und organisieren können, wo und wie wir die Dinge und Menschen
in unserer Umgebung erforschen, und dass wir mit ihnen umgehen
können.
Die Integration der Empfindungen des eigenen Körpers, die uns
darüber informieren, wo unser Körper im Raum ist, und wo andere
Menschen und Dinge sind, ist eine entscheidende Grundlage für jeg-
liche Handlung. Mit genauen sensorischen »Landkarten«, einem gro-
ßen Repertoire an Handlungsplänen und einer genauen motorischen
Steuerung kann der Körper sich harmonisch bewegen und interagie-
ren. Bei Erwachsenen funktionieren die Nahsinne automatisch. Se-
hen und Hören sind dadurch frei, um unsere Interaktionen zu leiten
und kognitiv über unsere Welt zu lernen.
Dass dieses Kapitel eher kurz ist, ist kein Zufall. Dr. Ayres in-
vestierte wesentlich mehr in die Erkärung, wie die »versteckten Sin-
nessysteme“ zur kindlichen Entwicklung beitragen, weil die elemen-
251
Anhang A
Studien zeigten, dass das limbische System, das eine wichtige Rolle
für das Lernen, das Gedächtnis, die Emotionen und das Verhalten
spielt, im Gehirn autistischer Kinder abnormal ist. Dieses System ist
auch am Verknüpfungslernen (assoziativen Lernen) beteiligt. Es ist
wichtig für die Integration der Informationen von allen Sinnen und
für deren Generalisierung, die zur Entwicklung höherer kognitiver
Leistungen und des abstrakten Denkens führt.
Auch im Kleinhirn und in den zerebellären Netzwerken des au-
tistischen Gehirns wurden Abnormitäten gefunden. Die Forschung
hat die Erkenntnis gebracht, dass das Kleinhirn viele kognitive und
affektive Funktionen des Gehirns moduliert. Außerdem wurde nach-
gewiesen, dass die Brücke (Pons) im Hirnstamm das Kleinhirn mit
dem Parietallappen im Kortex verbindet. Dies könnte das biologische
252 Anhang A
Substrat für die Dyspraxie vieler Autisten sein. Während die vestibu-
lären Kerne im Hirnstamm autistischer Kinder im Vergleich zu einer
Kontrollgruppe normal zu sein scheinen, ist die hintere Kleinhirnrin-
de, mit der diese direkt kommunizieren, höchst auffällig. Dies könnte
die vestibuläre Funktionsstörung bei Autismus erklären.
Die zukünftige Forschung wird sich mit einer noch detaillierteren
Analyse der neuronalen Systeme im Gehirn beschäftigen. Obwohl es
erwiesen ist, dass Störungen im limbischen System und Kleinhirn mit
Autismus verursachen, wurden auch im Hirnstamm und in verschie-
denen Regionen der Hirnrinde Abnormitäten gefunden. Es gibt auch
erste Nachweise für Abnormitäten des Myelins, die gravierende Aus-
wirkungen auf die Informationsverarbeitung haben könnten. Studien
bezüglich der Biochemie des Immunsystems haben gezeigt, dass im
Gehirn autistischer Kinder eine Funktionsstörung mehrerer Neuro-
transmittersysteme vorliegt, zu denen Serotonin, Acetylcholin und
Gamma-Aminobuttersäure (GABA) gehören. Zweifellos gibt es noch
mehr davon. Die Zusammenhänge zwischen diesen Erkenntnissen,
den morphologischen Hirnbefunden und den klinischen Merkmalen
der Patienten werden gegenwärtig und in Zukunft näher erforscht.
Es ist bekannt, dass Autismus eine starke genetische Komponente
hat. Bislang wurden zwar keine bestimmten Gene identifiziert, aber
es wird angenommen, dass mehrere Chromosomen mit Autismus zu-
sammenzuhängen. Von speziellem Interesse ist Chromosom 15, das
auch am Prader-Willis-Syndrom und am Angelman-Syndrom be-
teiligt ist, die beide autistische Merkmale aufweisen. Außerdem ist
bekannt, dass dieses Chromosom mit mehreren GABA-Vorstufen
assoziiert ist – einem Neurotransmittersystem, das erwiesenermaßen
bei Autismus abnormal ist.
Dr. Ayres war eine unglaublich kluge Beobachterin des mensch-
lichen Verhaltens und der neurologischen Entwicklung. Ihre Überle-
gungen zu den klinischen Merkmalen von Autismus, die teilweise erst
heute in der Medizin und in der Forschung aufgezeigt werden, waren
eine Pionierleistung. Es ist es sicher wert, sich mit Dr. Ayres‘ frühen
Beobachtungen und Artikeln auseinanderzusetzen. Wir alle können
viel von ihr lernen.
Wenn man Dr. Ayres‘ Kapitel zur Behandlung liest, wird der Pionier-
geist ihrer Sichtweisen und der innovative Stil ihrer Therapie spürbar
– sie richtet ihr Augenmerk auf die Fähigkeit des Kindes, sein ihm
eigenes Leben zu führen – nicht nur in Bezug auf die Ergotherapie,
sondern auch auf die Wissenschaft von der Beschäftigung (Occu-
253
Anhang A
pational Science). Ayres‘ Sicht des Kindes ging über das unmittelbare
Hier und Jetzt hinaus. Für sie war das Kind aktiv an der Konstruktion
eines sinnerfüllten Lebens beteiligt.
>> Heute
Die Gestaltung eines sinnvollen Lebens ist ein Kernkonzept
der Occupational Science.
Aus der Perspektive von Eltern drückt sich die Bedeutung von A. Jean
Ayres‘ Werk am besten in der folgenden Aussage aus: »Wenn eine
Therapeutin ihre Aufgabe gut macht und das Kind sein Nervensys-
tem organisiert, sieht es so aus, als ob das Kind lediglich spielt. Das
Leben ist voll von Paradoxien; dies ist eine davon.« Als Eltern können
255
Anhang A
Beispiel
Wir können uns noch erinnern, als wir einmal mit unserer Tochter, die
damals ein Kleinkind war, eine Treppe hinauf- und hinuntergingen,
bis wir aufgaben, weil wir nicht mehr konnten. Unsere Tante Jean, die
hervorragende Ergotherapeutin, beobachtete dies und tadelte uns in
ihrer sanften Redensart: »Das Verhalten Eurer Tochter sagt Euch, dass
das Treppensteigen für ihre Entwicklung jetzt äußerst wichtig ist.« So
zurechtgewiesen fanden wir doch wieder die Energie, unsere Kleine zu
unterstützen, die Treppen noch unzählige Male hinauf- und hinunter-
zugehen, bis sie zeigte, dass sie genug hatte.
Ayres wies darauf hin, dass alle Menschen den Drang haben, sich
»ganz« zu fühlen. Was wir als »Spiel« bezeichnen, ist in Wirklich-
keit der unersättliche Drang des Kindes, sich mit seinem Körper und
seiner Wahrnehmung in der Welt zu erfahren. Statt das Spiel als verlo-
rene Zeit zu betrachten, in der das Kind sich davor drückt, zu lernen,
sollten wir das Spiel als wichtige und notwendige Aktivität anerken-
nen, die dem Kind hilft, sein ganzes Gehirn zu integrieren, so dass es
leichter die Fähigkeiten und Fertigkeiten erwirbt, die ein voll entwi-
ckelter Erwachsener braucht. Wie Ayres sagt, »erweitert das Spiel die
Kompetenzen. Möglicherweise braucht das Kind diese Fähigkeiten
erst später im Leben, aber wenn es als Kind nicht spielen kann, wird
es später nicht viele Kompetenzen entwickeln.« Das Problem ist nicht,
dass unser Kind spielt, sondern dass wir den wahren Wert des Spiels
nicht verstehen.
Was alle Eltern gemeinsam haben, ist, dass sie keine Ausbildung
und kein Diplom in Kindererziehung haben. Wir sind per Definition
Amateure. Oft, wenn wir das Gefühl haben, dass wir in der Entwick-
lung unseres Kindes überfordert sind, greifen wir zu Erziehungsrat-
gebern, die Rezeptcharakter haben, z.B.: Mit 3 Jahren muss ich mei-
nem Kind dieses und jenes zu essen geben, es dorthin bringen und
diese und jene Dinge mit ihm tun. Diese Ansätze (Programme oder
»Protokolle«), die logisch und in einer strikten Abfolge aufgebaut
sind, machen die Erziehung scheinbar leichter, weil wir unsere eigene
Unerfahrenheit durch das Wissen eines anderen ersetzen können. Bei
manchen Kindern wirken diese Rezepte; bei anderen nicht.
Beispiel
Eines unserer Kinder schien geradezu überwältigt. Wir konnten ihre
Probleme nicht benennen, und die Erziehungsratgeber brachten uns
nicht weiter. Ayres hatte einen Namen für die versteckten Probleme,
die unserer Tochter das Leben so schwer machten: sensorische Integ-
rationsstörung. Wir stellten fest, dass es uns nicht zu guten Eltern eines
Kindes mit einer gestörten sensorischen Integration machte, wenn wir
versuchten, zu kontrollieren, was sie tat. Vielmehr ging es darum, ihr
256 Anhang A
Spiel zu fördern, und sie das tun zu lassen, was sie am meisten brauch-
te. Am meisten halfen wir unserem Kind, sein Gehirn besser zu integ-
rieren, als wir es am wenigsten kontrollierten.
Jeden Abend bauten wir »Fernandos Zirkus« auf. So nannten wir
die Sammlung von Rollbrett, Rampe, Plattform, großen aufgeblasenen
Bällen und anderen Dingen, die unser Wohnzimmer füllten. Unsere
Tochter war der Star des Zirkus und führte ihr Können der Reihe nach
auf allen Geräten vor. Wir applaudierten heftig und spornten sie zu
noch größeren Mutproben an. Sie lachte, und wir lachten. Während
dieser täglichen Aufführungen verstand niemand von uns, dass dieses
Spiel ein wichtiger Beitrag zur Therapie war. Wir waren nur eine Tochter
und ihre Eltern, die spielten.
Es kann nicht genug betont werden, dass es bei der Sensorischen In-
tegrationstherapie darum geht, die Funktionen des Gehirns zu in-
tegrieren, im Gegensatz zu einer Behandlung der Symptome eines
schlecht integrierten Gehirns, die sich als Lernstörungen oder Ver-
haltensprobleme zeigen können. So wie die Therapeutin Ihres Kindes
am effektivsten arbeitet, wenn sie ihrem Einfühlungsvermögen nach-
geht und »spürt«, was Ihr Kind braucht, tragen auch wir als Eltern am
meisten zu seiner Gesundheit und seinem Wohlbefinden bei, wenn
wir die Bewegungen, Interessen und Aktivitäten fördern, die das Kind
sich am meisten wünscht und tatsächlich braucht.
Sensorische Integration ist ein nicht im Voraus planbarer, in-
tuitiver Umgang mit dem Kind, der in der Behandlung durch eine
Therapeutin unterstützt wird, die in Sensorischer Integrationsthera-
pie ausgebildet ist. Eine Therapeutin setzt die SI-Prinzipien am wir-
kungsvollsten um, wenn sie nicht nach einem Rezept oder Programm
(»Protokoll«) vorgeht. Mit Empathie fühlt sie sich in das Kind ein
und lässt es sich mit seinen eigenen momentanen Bedürfnissen iden-
tifizieren. Aktivitäten, die das Kind unter der sanften Führung der
Therapeutin ausgesucht hat, sind die beste Therapie.
Wir laden Sie nun ein, herauszufinden, ob die Ursache für die
Probleme Ihres Kindes eine sensorische Integrationsstörung ist. Eine
detaillierte Befunderhebung durch eine qualifizierte Therapeutin mit
fundierten Sachkenntnissen in Sensorischer Integrationstherapie
kann Ihnen die nötigen Informationen geben, ob eine Therapie zu
empfehlen ist, und wie die Aktivitäten zu Hause an die Bedürfnisse
des Kindes angepasst werden können. Ayres meint: »Wenn Eltern
ihrem Kind mit Lern- oder Verhaltensproblemen helfen, seine sen-
sorische Integration zu verbessern, können sie damit mehr als jeder
andere sein Leben verändern.« So haben Sie auch eine wunderbare
Entschuldigung dafür, dass Sie »einfach« mit Ihrem Kind spielen und
Erinnerungen schaffen, die Ihnen ein Leben lang erhalten bleiben, so
wie bei uns.
257
Anhang B
Literaturübersichten
verstehen, und wir erfahren, wie sich das Nervensystem unserer Kin-
der entwickelt.
Als das Tierreich entstand, überlebten diejenigen Tiere, die sich er-
folgreich an die Natur anpassen konnten, und sie gaben ihre Gene an
ihren Nachwuchs weiter. Tiere, die nicht anpassend auf die Anfor-
derungen der Umwelt reagierten, starben aus. Im Tierreich bedeutet
»Anpassung« die Fähigkeit, den Körper und die Umgebung wahrzu-
nehmen, diese Sinnesinformationen genau zu interpretieren und die
richtigen motorischen Reaktionen auszuführen, um Nahrung zu be-
kommen; zu vermeiden, selbst Nahrung für andere Tiere zu werden,
und mit den harschen Bedingungen der Natur zurechtzukommen.
In der Entstehungsgeschichte gab es viele Perioden, in denen die
Tiere sich in einer Umwelt zurechtfinden mussten, in der Nahrung
knapp war, Feinde zahlreich und die Natur harsch. Nur die Tiere, die
gute sensomotorische Funktionen hatten, konnten sich an diese Be-
dingungen anpassen und überlebten.
Bei den frühen Tieren – vor etwa 100 Millionen Jahren – bestand
das Gehirn hauptsächlich aus dem Hirnstamm und (einem) sehr
rudimentären Kleinhirn und Hirnhälften. Diese Tiere waren nur zu
sensorischen und motorischen Funktionen fähig – ähnlich unseren
heutigen Fischen und Eidechsen. Damit diese Tiere in ihren Um-
weltbedingungen überleben konnten, mussten ihre sensorischen und
motorischen Funktionen in einen einheitlichen und ausgewogenen
Prozess integriert werden. Der Hirnstamm des Menschen verarbeitet
immer noch annähernd die gleichen sensorischen und motorischen
Funktionen wie der Hirnstamm der frühen Tiere.
Funktionsebenen
Das früheste Nervensystem bei den Wirbeltieren war nicht viel mehr
als ein Rückenmark. Mit der Zeit entstanden am vorderen Teil des
Rückenmarks neue Strukturen. Die neuen, »höheren« Strukturen
übten dieselben Funktionen aus wie die älteren, jedoch auf eine kom-
plexere Art. Ein simples Rückenmark kann auf eine Berührung mit
einer Körperbewegung reagieren, aber die Reaktion ist großräumig
und undifferenziert. Der Hirnstamm kann diese Aufgabe – die Be-
rührung zu interpretieren und darauf zu reagieren – besser machen,
aber am besten führt die Hirnrinde diese Aufgabe aus. Sie kann die
genaueste Interpretation liefern und eine Reaktion produzieren, so-
fern der Hirnstamm die Sinnesinformationen gut verarbeitet und
weitergeleitet hat. Jede neu entstandene Struktur blieb also in ihrer
Funktion ein bisschen von den älteren Strukturen und Funktionen
abhängig. Ein Geschäft folgt demselben Prinzip, wenn es eine Zweig-
260 Anhang B
stelle eröffnet. Das neue Büro ist abhängig von dem älteren, einge-
führten Betrieb. Die Hirnrinde entstand aus den niedrigeren Ebenen
der Großhirnhälften, daher hängen die kortikalen Prozesse von den
Abläufen in den niedrigeren Hirnhälften und im Hirnstamm ab. In
der Hirnrinde können sich keine genauen taktilen, visuellen und au-
ditiven Wahrnehmungen entwickeln, solange sich die grundlegen-
dere taktile, visuelle und auditive Verarbeitung im Hirnstamm nicht
entwickelt hat.
Die Sinnessysteme
Die Art und Weise, wie die Sinnessysteme entstanden sind, beein-
flusst deren Entwicklung und Funktion beim heutigen Menschen.
Die Evolution des Gehirns ist ein 500 Millionen Jahre andauernder
Prozess des Verbesserns der Verbindungen zwischen den Sinnessyste-
men. Beim Menschen kommunizieren alle Sinnessysteme miteinan-
der, und sie arbeiten weitaus vernetzter zusammen als uns bewusst ist.
In der Pädagogik wird manchmal versucht, das visuelle und auditive
System unabhängig von den anderen Sinnen zu fördern. Lehrerinnen
und Eltern können diesen Fehler ausgleichen, indem sie den Kindern
ermöglichen, so viele taktile, vestibuläre und propriozeptive Erfah-
rungen zu machen, wie sie wollen und brauchen.
ten, mit ihren Pfoten Löcher in den Boden graben und auf Bäume
klettern konnten. Da diese Fähigkeiten überlebensnotwendig waren,
entwickelten sich Nervenbahnen, die präzisere taktile Informatio-
nen leiten konnten, und Bereiche in den Hirnhälften, in denen diese
Informationen verarbeitet wurden. Mit der Weiterentwicklung des
taktilen Systems entwickelte sich zunehmend auch die Fähigkeit der
Tastwahrnehmung, wodurch es den Affen und frühen Menschen
möglich wurde, einfache Werkzeuge effektiv einzusetzen.
Die Evolution des Sehsinns Schon bei den ersten Wirbeltieren be-
stand eine enge Verbindung zwischen dem Gleichgewichts- und dem
visuellen System. Bei Fischen und Amphibien reagiert das visuelle
System nur auf Bewegungen. Jeder Angler weiß, dass der Köder sich
bewegen muss, damit der Fisch ihn bemerkt. Insekten bewegen sich
normalerweise, und so entwickelten Frösche nie die Fähigkeit, ru-
hende Objekte gut zu sehen. Stiere werden in Wirklichkeit nicht vom
roten Umhang des Stierkämpfers angezogen; sie sind nur an dessen
Bewegung interessiert. Sogar Katzen und Hunde sehen eher etwas,
das sich bewegt. Das vestibuläre System muss gut funktionieren, um
die Augen auf einem sich bewegenden Objekt zu halten. Dies funktio-
niert sogar, wenn das Tier selbst sich bewegt. Die Wahrnehmung der
Bewegung eines Objekts ist eine der ältesten Funktionen des Gehirns.
Sie ist abhängig von der sensorischen Verarbeitung im Hirnstamm.
Die Fähigkeit, ein kleines, unbewegtes Objekt zu sehen, ent-
stand erst viel später, mit der Entwicklung der Großhirnhälften, und
hängt von einer guten Sinnesverarbeitung im Großhirn ab. Wie bei
allen anderen sensomotorischen Funktionen kann die Kontrolle im
Großhirn sich nur dann gut entwickeln, wenn auch die Kontrolle im
Hirnstamm funktioniert. Manche Kinder fahren mit ihrem Finger
die Zeilen entlang, wenn sie lesen lernen. Sie tun das, weil es ih-
nen leichter fällt, dem sich bewegenden Finger zu folgen als statische
Buchstaben zu fixieren. An diesem Beispiel ist gut zu erkennen, wie
der innere Antrieb das Kind dazu bringt, sein Gehirn selbst derart zu
stimulieren, dass es besser funktionieren kann. Das Sehen ist unser
wichtigstes Hilfsmittel, um uns in Bezug zum Raum zu erleben, aber
das vestibuläre, propriozeptive und taktile System müssen zur Ent-
wicklung und Funktion des Sehsinns beitragen.
Stab verwenden muss, um ein Loch zu graben. Der Affe musste das
Gewicht des Werkzeugs in seiner Hand spüren und seine Balance
halten, wenn er es benutzte; auf diese Weise wurden die visuellen
Informationen vom Stab mit vestibulären und propriozeptiven Infor-
mationen vom Körper integriert.
Die detaillierten Informationen, die beim Hantieren mit Objek-
ten an die Hirnrinde gesendet wurden, bewirkten, dass sich in der
Hirnrinde ausgedehnte Bereiche entwickelten, in denen diese Infor-
mationen verarbeitet wurden, und die diese komplexeren Handfer-
tigkeiten steuerten. Nach vielen Jahren des Werkzeuggebrauchs ent-
wickelten die frühen Menschen als Antwort auf die zunehmenden
Sinnesempfindungen von den Händen einen Daumen, der den Fin-
gern gegenübergestellt war. Grundlage der Greiftechnik waren gut
abgestimmte Bewegungen von Daumen und Fingern. Die Zunahme
an Sinnesinformationen und die Fähigkeit zu komplexeren Anpas-
sungsreaktionen löste im Weiteren die Entstehung der sensorischen
und motorischen Hirnrinde aus.
Literatur
Das Gehirn ist bei der Geburt verwundbar, und manche Neugeborene
bekommen nicht genügend Sauerstoff. Dr. W. F. Windle (1969) hat
in seinen Versuchen mit Affen einen ähnlichen Sauerstoffmangel bei
deren Geburt verursacht. Die Affen zeigten Zeichen einer schwachen
Sinnesverarbeitung, obwohl sie später normal wirkten. Bei der Autop-
sie der Gehirne dieser Affen fand Windle Schädigungen in den Hirn-
bereichen, die die auditiven und taktilen Reize verarbeiten. Aufgrund
dieser Erkenntnisse und anderer Forschungsprojekte hat sich die
Meinung durchgesetzt, dass die Häufigkeit von minimalen Hirnfunk-
tionsstörungen durch natürliche Geburten reduziert werden könnte.
Im obigen Abschnitt haben wir Harlows Versuche mit einer
»Draht«- bzw. »Stoffmutter« beschrieben. Die Jungen, die mit der
»Drahtmutter« aufgezogen wurden, bekamen die für ihre emotionale
Reifung notwendigen angenehmen Berührungsreize nicht. Sie zeig-
ten später schwerwiegende Störungen und reizsuchendes Verhalten
– ähnlich wie Kinder, die in Heimen aufgewachsen sind.
Dr. Seymour Levine stellte fest, dass Ratten, die in ihren ersten Le-
benswochen nicht berührt und gepflegt werden, nicht die hormona-
266 Anhang B
Literatur
Nach einiger Zeit wurden die Ratten getötet und ihre Gehirne ana-
lysiert. Rosenzweig und seine Kollegen wie auch viele andere Wis-
senschaftler haben viele Variationen dieses Versuchs ausgetestet. Die
Ergebnisse waren meist ähnlich: Die Hirnrinde der Ratten aus der
anregenden Umgebung war schwerer; sie enthielt zum einen mehr
Chemikalien, die das Gehirn gesund halten, zum anderen mehr
Neurotransmitter, die die Übertragung der Signale an den Synapsen
fördern; und die Ratten hatten mehr Verbindungen zwischen den
Neuronen. Dies zeigte, dass die Ratten dieser Gruppe eine größere
Kapazität hatten, um Sinnesreize zu verarbeiten und Sinnesinforma-
tionen zu nutzen. Beide Rattengruppen wurden auch motorisch ge-
testet. In den meisten Tests waren die Ratten aus der anregenden Um-
gebung beim Erlernen und Ausführen einer Aufgabe erfolgreicher.
Die Ratten mussten nicht ständig in anregender Umgebung sein,
um einen Nutzen zu haben. Rosenzweig und seine Kollegen stellten
fest, dass täglich 2 Stunden über einen Zeitraum von 1 Monat genüg-
ten, um signifikante Veränderungen im Gehirn einer Ratte zu produ-
zieren. Verbesserungen traten in jedem Alter auf, vermehrt jedoch bei
den Jungtieren. Ähnliche Studien mit Hunden und Affen brachten
dieselben Ergebnisse.
In der Wissenschaft setzt sich die Idee, dass Auseinandersetzung
mit der Umwelt die Hirnfunktion verbessert, nun langsam durch. Es
268 Anhang B
sich an Reize anpasst und sich selbst mehr Reize verschafft. Niemand
anders kann das für den Klienten tun. Dasselbe gilt für die Therapie
von Kindern mit sensorischen Integrationsstörungen.
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271
Anhang C
Therapeutische Ausstattung
Das Rollbrett
Ein Rollbrett besteht aus einer Fläche aus Holz (oder einem anderen
Material), an der vier Räder montiert sind, die frei rollen und sich in
jede Richtung drehen können. . Abb. 1 zeigt, wie das Rollbrett benutzt
wird. Das Brett ist groß genug, um den mittleren Rumpf des Kindes
zu unterstützen, während sein Kopf, sein oberer Brustkorb und seine
Beine über den Rand hinaus stehen. Oft ist das Rollbrett mit einem
Teppich oder Schaumstoff bezogen, damit man bequem darauf liegen
kann.
Normalerweise benutzen die Kinder das Rollbrett in Bauchlage.
Sie fahren auf dem Boden oder eine Rampe hinunter und strecken die
Körperenden gegen die Schwerkraft. Eine flotte Rollbrettfahrt ist eine
gewisse Herausforderung und ein Riesenspaß.
Die Bauchlage ist die Position, in der normale Säuglinge viele
Halte- und Bewegungsreaktionen entwickeln, die zum Stehen, Ge-
hen und anderen erwachsenen sensomotorischen Leistungen führen.
Mit 4–6 Monaten strecken sich Säuglinge in der Bauchlage gegen die
Schwerkraft – ein entscheidender Schritt in der Entwicklung der sen-
sorischen Integration. Die Fähigkeit, diese Flugzeugposition ohne
Anstrengung zu halten, ist eine klinische Beobachtung, mit der Thera-
peutinnen die Funktion des Gleichgewichtssystems überprüfen. Die
Kräfte, die einem Säugling ermöglichen, sich zu entwickeln, wirken
auch noch bei älteren Kindern. Daher lassen wir die Kinder in der Be-
handlung viele Aktivitäten in Bauchlage tun. Glücklicherweise spie-
len die meisten Kinder gerne in dieser Position.
273
Anhang C
auch eine Grundlage für die Hand- und Fingerbewegungen, wie sie
für das Schreiben und den Werkzeuggebrauch erforderlich sind.
Kinder mit einer guten sensorischen Integration fahren harmo-
nisch und ohne große Anstrengung mit dem Rollbrett, weil ihnen
die Sinnesempfindungen helfen, ihren Körper gestreckt zu halten.
Kinder mit einem unterempfindlichen Gleichgewichtssystem las-
sen den Kopf hängen und die Füße am Boden schleifen. Sie müssen
sich sehr anstrengen und ermüden rasch, genauso wie sie sich bei
Schularbeiten anstrengen müssen und dadurch rasch ermüden. Für
Kinder mit einem überempfindlichen Gleichgewichtssystem kann
es erschreckend sein, die Rampe hinunterzufahren. Dyspraktische
Kinder haben Schwierigkeiten, ihren Körper auf der Liegefläche zu
positionieren und rutschen leicht vom Rollbrett ab.
Das Rollbrett bietet Sinnesreize und löst motorische Reaktionen
aus, die man im Sitzen oder Stehen nicht erzielen kann. Wenn das
Kind diese Empfindungen und Reaktionen zunehmend beherrscht,
lernt sein Gehirn, wie es sensorische Aktivität moduliert, und ent-
wickelt ein genaueres Körperschema. Zum Glück macht Rollbrettfah-
ren Spaß, denn eine einzelne Fahrt bewirkt noch nicht viel in einem
unorganisierten Nervensystem. Diese Kinder brauchen viele, viele
Fahrten: Einerseits sollen die neuralen Verbindungen zwischen dem
vestibulären System und all den Stellen, an denen Gleichgewichts-
impulse benötigt werden, gestärkt werden; andererseits sollen die
bahnenden und hemmenden Kräfte, die an diesen Verbindungsstel-
len aktiv sind, neu geordnet werden. Die Therapeutin kann das Kind
zu weiteren Fahrten animieren, indem sie ein Stück vor der Rampe
einen Turm (z.B. aus Pappkartons) aufbaut, den das Kind umfahren
kann. Das Kind fühlt sich stark, wenn es den Turm umstößt, und es
macht die Erfahrung, in seiner Umwelt etwas bewirken zu können.
[Anm. d. Übersetzerin: Dieser spezielle Aspekt des Selbstbewusst-
seins wird heute als »Selbsteffizienz« bezeichnet.]. Diese Erfahrungen
möchte und braucht jedes Kind.
Wenn das Kind die Herausforderung, die Rampe hinunterzufah-
ren, gemeistert hat und diese Neuheit beginnt nachzulassen, stellen
wir ihm andere Herausforderungen, die komplexere sensorische In-
tegration und anpassende Reaktionen (einschließlich Bewegungspla-
nung) erfordern. Die Therapeutin kann z.B. einen Tunnel aufbauen,
durch den das Kind mit dem Rollbrett durchfährt, oder einen Ball an
einem Seil von der Decke hängen lassen, auf den das Kind schlagen
muss, wenn es vorbeifährt. Schauen allein reicht nicht aus, um diese
Aufgaben durchzuführen; der vestibuläre Input durch das Rollbrett-
fahren hilft, den Tunnel oder den Ball in Bezug zum eigenen Körper
wahrzunehmen.
Bei einem normalen Kind verknüpft das Gehirn die vestibulären,
propriozeptiven und taktilen Empfindungen, so dass das Kind spü-
ren kann, wie es etwas machen muss. Wenn diese Integration nicht
oder zu langsam geschieht, spürt das Kind nicht, wohin es fährt, oder
wie es das Rollbrett steuern kann. Dadurch trifft es den Ball nicht
275
Anhang C
Die Rollenschaukel
Die Rollenschaukel hat einen festen Kern, der mit Schaumstoff und
einer Stoffhülle bezogen ist. Sie ist etwa 1½ Meter lang und hat einen
Umfang von knapp 1 Meter. An beiden Enden der Rolle sind Seile, mit
denen die Schaukel aufgehängt werden kann (. Abb. 2). Die Kinder
legen sich entweder mit dem Bauch auf die Schaukel und umklam-
mern die Rolle mit Armen und Beinen, oder sie sitzen im Reitsitz
darauf. Sie können mit den Seilen selbst Schwung holen, oder die
Therapeutin gibt ihnen Schwung.
Sich in Bauchlage an die Unterseite der Rolle rutschen zu lassen
und daran zu hängen (wie ein Faultier), erfordert ein gutes Beuge-
muster. Beugung (Flexion) ist die Fähigkeit, die Arme und Beine an-
zuwinkeln. Das Beugemuster ist im Nervensystem tief verankert.
Sichtbar wird die Bedeutung bei Babyaffen, die sich beugen müssen,
um sich an ihre Mutter anzuklammern. Anklammern ist die erste
Ganzkörperbewegung, die ein Säugling macht, und sie liefert viele
Bausteine für die Entwicklung sensomotorischer Funktionen. Bei
276 Anhang C
Anhang D
Fragen von Eltern – und die Antworten
Warum möchte mein Kind seine Hausaufgaben nicht machen? Wir ha-
ben viel an seiner Handschrift gearbeitet, so dass das Schreiben jetzt
kein Problem mehr ist, aber dafür vergisst es, welche Aufgaben es hat,
hat nie seine Dinge beisammen und muss sich sehr anstrengen, um
mit allen Arbeiten fertig zu werden Es kann sein, dass Ihr Kind Pro-
bleme mit der Praxie oder Bewegungsplanung hat. Wenn Ihr Kind
normale Bewegungsfertigkeiten hat, aber Hilfe braucht, um sich zu
organisieren, kann das darauf zurückzuführen sein, dass es Schwä-
chen hat, die Aufgabe zu planen, in einzelne Schritte aufzuteilen und
sich vorzustellen, wie man sie durchführt. Sobald es die Struktur be-
kommt, schafft es die Aufgabe, allerdings oft nur schrittweise. Es ist
anstrengend, seinen Alltag auf diese Weise zu bewältigen, und die
Kinder sind oft schnell erschöpft. Behandlungsstrategien helfen dem
Kind, sich Handlungsabläufe vorzustellen, die erforderlichen Mate-
rialien und Schritte zu ordnen (sequenzieren) und den Plan erfolg-
reich umzusetzen.
Warum ist mein Kind das einzige, das auf dem Spielplatz auf dem
Schoß sitzt, anstatt mit den anderen Kindern herumzulaufen? Mögli-
cherweise fühlt sich Ihr Kind unsicher, wenn es sich im Raum bewegt,
oder es kann seine Bewegungen nicht gut genug organisieren, um sich
auf die raschen und unvorhersehbaren Veränderungen im Verhalten
anderer Kinder oder der Spielplatzgeräte anzupassen. Es ist wichtig,
dass Sie als Eltern Ihrem Kind die nötige Unterstützung geben, damit
es sich sicher fühlt, während es seine Spielerfahrungen mit Rutschen,
Schaukeln, Ball- und Fangenspielen mit anderen Kindern macht.
281
Anhang D
Haben Kinder mit einer Diagnose aus dem autistischen Spektrum (ein-
schließlich Asperger Syndrom und tief greifende Entwicklungsstörun-
gen) sensorische Integrationsstörungen? Die meisten Kinder mit
dieser Diagnose zeigen ungewöhnliche Reaktionen auf Sinnesreize
oder eine schlechte Sinnesverarbeitung. Zurzeit sind Störungen der
Sinnesverarbeitung aber kein definierendes Merkmal dieser Diagno-
sen. Für Kinder, die untypische sensorische Reaktionen zeigen – wie
wenig Bewusstsein für bestimmte Reize (z.B. hohe Schmerztoleranz),
Überempfindlichkeiten auf bestimmte Reize (z.B. Berührungen oder
Geräusche), verlangsamte oder fehlerhafte Verarbeitung von Sinnes-
informationen (besonders in der Körper- und Raumwahrnehmung) –
ist eine Befunderhebung und Behandlung aus sensorisch-integrativer
Perspektive angezeigt.
Kinder mit diesen Diagnosen haben zusätzliche Probleme, die
nicht allein durch die sensorische Verarbeitungsstörung erklärt wer-
den können. Sie profitieren oft von einem multidisziplinären Ansatz,
zu dem Sonderpädagogik, Ergotherapie, Logopädie, soziales Kompe-
tenztraining, biomedizinische und verhaltenstherapeutische Behand-
lungen gehören.
Warum wirkt es, als ob mein Kind in der Therapie einfach spielt an-
statt zu arbeiten? In der Therapie machen die Kinder viele Dinge,
die ihnen taktile, vestibuläre und propriozeptive Sinneserfahrungen
liefern. Diese Sinneserfahrungen kommen in jedem normalen Spiel
vor. Kinder mit sensorischen Verarbeitungsstörungen brauchen oft
intensivere oder weniger intensive Sinneserfahrungen als im gewöhn-
lichen Spiel. Wären die Kinder in der Lage, sich ganz von sich aus
durch gewöhnliches Spielen normal zu entwickeln, dann bräuchten
284 Anhang D
rumrennen ist nicht dasselbe wie seinem inneren Antrieb folgen, weil
es keine organisierende Wirkung auf das Gehirn des Kindes hat.
Wachsen die Kinder nicht aus diesen Problemen heraus? Nein. Kin-
der mit sensorischen Integrationstörungen wachsen nicht aus ihren
Problemen heraus. Mit viel Übung und Anstrengung können sie
Splitterfertigkeiten« (7 Kap. 4) erwerben, mit denen sie ihre Schwä-
chen in der Sinnesverarbeitung kompensieren können und dadurch
die Störung verdecken. Kinder mit schlechten Halte- und Augenre-
aktionen können schon lernen, Basketball zu spielen und zu schrei-
ben, aber sie müssen dabei gegen große, grundlegende Schwierig-
keiten ankämpfen. Splitterfertigkeiten zu erlernen ist der schwierige
Weg, mit den Problemen umzugehen, und lässt den Kindern weniger
Energie für andere Dinge. Das kann so weit gehen, dass betroffe-
ne Kinder Aktivitäten ablehnen, die anderen Spaß machen, einfach
weil sie ihnen zu schwer fallen. In der Therapie versuchen wir, die
Grundlagen zu verbessern, so dass dem Kind die darauf aufbauenden
Funktionen leichter fallen. Dies ist möglich, wenn sein Gehirn besser
integriert ist.
Warum muss ich mein Kind jedes zweite Mal schreiend aus dem Super-
markt oder dem Restaurant tragen? Wahrscheinlich funktioniert das
Nervensystem Ihres Kindes nicht so gut wie bei den meisten ande-
ren Kindern. Die Therapie ist oft sehr wirksam, wenn es darum geht,
dass die Kinder bei Ausflügen in einer Gruppe mitmachen können.
Durch die direkte Arbeit mit dem Kind, den Informationsaustausch
mit der Familie und gemeinsam erarbeitete Strategien kann der Fa-
milienalltag leichter bewältigt werden – wie z.B. Besorgungen ohne
Drama zu erledigen. Das macht das Leben für die ganze Familie
leichter.
Wie kann ich meinem Kind helfen, damit es besser mit anderen zu-
rechtkommt? Das Wichtigste, das Sie für Ihr Kind tun können, ist,
es spüren zu lassen, dass Sie es lieben und akzeptieren – so wie es ist.
Wenn das Kind sich zu Hause geliebt und angenommen fühlt, kann
es ein Gefühl des Selbstvertrauens entwickeln. Dieses Selbstvertrauen
hilft ihm mehr als irgendetwas anderes, Beziehungen zu Gleichalt-
rigen herzustellen und mit dem Leben im Allgemeinen zurechtzu-
286 Anhang D
kommen. Wenn Ihr Kind gerade einen schlechten Tag hat, tun Sie
nicht, als ob nichts wäre. Erkennen Sie an, dass es sich schlecht fühlt,
und suchen Sie so sachlich wie möglich eine Aktivität, die Ihrem Kind
Erfolgserlebnisse bringt.
Manche Kinder profitieren von einem speziellen sozialen Kompe-
tenztraining, in dem konkrete Strategien vermittelt werden, wie man
kommuniziert und miteinander umgeht. Diese Strategien können
den Kindern helfen, subtile und häufig unbewusste soziale Verhal-
tensweisen und Strategien zu erlernen, die sie einsetzen können, um
Freundschaften zu schließen und zu erhalten.
Wie kann ich mein Kind dazu bringen, weniger fernzusehen und auf
dem Computer zu spielen? Das sind die einzigen Möglichkeiten, wie
ich es beschäftigen kann, um selbst etwas erledigen zu können Mit
dem Computer umgehen zu können, kann für die Zukunft des Kin-
des durchaus nützlich sein. Leider geht die Zeit, die Ihr Kind am
Computer verbringt, auf Kosten der Zeit, die es mit aktivem senso-
motorischen Spiel verbringen kann. Aktives Spiel ist sehr wichtig für
die kindliche Entwicklung, und ein Kind braucht mehr Spiel als Com-
puterkenntnisse. Das Geheimnis liegt darin, Maß zu halten. Mögli-
cherweise funktioniert das nur über Verhandlungen mit Ihrem Kind,
wie viel Zeit es mit welcher Aktivität verbringt. Für eine ½ Stunde
am Computer muss das Kind auch eine ½ Stunde draußen spielen
und schauen, wie es sich selbst unterhalten kann – mit körperlichen
Aktivitäten, mit Gymnastik, damit, seine Kraft- und Ausdauerleis-
tungen zu steigern, mit sensomotorischen Aktivitäten mit anderen
Kindern oder damit, soziale Kontakte einzugehen. Wenn Sie die Zeit
gut einteilen, könnte Ihr Kind – nachdem es gerade noch eine Weile
auf dem Trampolin herumgehüpft ist –nun am Computer spielen,
während Sie das Abendessen zubereiten oder einen wichtigen Tele-
fonanruf erledigen.
Was können wir zu Hause tun? Zuerst müssen Sie die Probleme Ihres
Kindes verstehen. Denken Sie sich sensorische Strategien aus, die
287
Anhang D
Was kann man im Kindergarten und in der Schule tun? Kinder ge-
deihen am besten, wenn ein Gleichgewicht zwischen Struktur und
Freiheit herrscht. Stellen Sie sicher, dass die Pädagoginnen Ihres Kin-
des seine sensorische Integrationsstörung versteht. Ihre Therapeutin
sollte mit den Pädagoginnen zusammenarbeiten. Dadurch können
förderliche Aktivitäten in den Kindergarten- oder Schulalltag inte-
griert werden, sei es vor Unterrichtsbeginn, beim Anstellen in einer
Zweierreihe, auf dem Spielplatz, während der Mahlzeiten und auf
dem Weg von einem Raum zum anderen oder zum Bus. Viele Kinder
brauchen sensorische Pausen, um ihre Aufmerksamkeit aufrechtzu-
erhalten. Die Therapeutin verfügt über ein Repertoire von Ideen und
Strategien, die Ihr Kind anwenden kann, um seine Leistungsfähigkeit
zu steigern, ohne den Unterricht zu stören.
Was kann ich tun, um meinem Kind einen guten Start zu ermögli-
chen? Sie können in dem Moment beginnen, in dem Sie wissen,
288 Anhang D
dass Sie schwanger sind. Reduzieren Sie Stress, und nehmen Sie nur
gesunde und natürliche Nahrung zu sich. Geben Sie auf sich selbst
Acht. Setzen Sie sich in einen Schaukelstuhl, wenn Sie Gelegenheit
haben. Schaukeln ist in jedem Lebensalter eine angenehme Art, sich
zu entspannen und das Gleichgewichtssystem anzuregen. In der
Schwangerschaft kann es einerseits eine besonders gute Entspan-
nung sein, andererseits auch eine Vorsorgemaßnahme für Ihr Kind.
Auch klassische Musik kann sowohl für Sie als auch für Ihr unge-
borenes Kind beruhigend wirken. Lange Spaziergänge, frische Luft
und Entspannungsmassagen tun Mutter und Kind gut. Auch wenn
diese Vorschläge angesichts Ihres vollen Terminkalenders wie eine
Illusion klingen mögen, sollten Sie sich jeden Tag ein paar Minuten
dafür Zeit nehmen. Mit der Zeit werden Ihnen diese gesundheits-
fördernden, sensorisch-integrativen Strategien dann zur Gewohn-
heit werden.
Glossar
zz Begriffserklärung
Afferenzen
Vom Körper zum Gehirn aufsteigende neuronale Signale. Afferente
Signale sind sensorische Informationen.
Alltagsbewältigung
Aus ergotherapeutischer Sicht umfasst die Alltagsbewältigung sinn-
volle und zweckmäßige Beschäftigungen aus den Bereichen Selbst-
versorgung, Ausbildung und Arbeit, Spiel und Freizeit, Erholung und
soziale Partizipation.
Anpassende Reaktion
Eine Aktion, mit der wir angemessen und erfolgreich auf eine An-
forderung der Umwelt reagieren. Anpassende Reaktionen erfordern
eine gute Verarbeitung von Sinnesinformationen und fördern die sen-
sorisch-integrative Entwicklung. (1, 2)
Aphasie
Die Unfähigkeit zu sprechen, und manchmal auch Schwierigkeiten,
gesprochene oder geschriebene Sprache zu verstehen.
289
Anhang D
Apraxie
Eine Schwäche der Praxie oder Bewegungsplanung. Bei Kindern be-
einträchtigt eine Störung der sensorischen Integration die Fähigkeit,
unbekannte Aufgaben zu planen und auszuführen.
Auditiv
Das Gehör betreffend. (3)
Autismus
Diagnose, wenn Kinder Auffälligkeiten im Sozialverhalten zeigen,
die charakterisiert sind durch: Beeinträchtigungen des nonverbalen
Verhaltens; Schwierigkeiten, Beziehungen zu Gleichaltrigen zu entwi-
ckeln; teilen kaum Interessen und Erfolge mit anderen; wenig sozia-
le oder emotionale Reziprozität (Wechselseitigkeit). Typischerweise
liegen Kommunikationsdefizite vor: Ausbleiben oder Verzögerungen
der gesprochenen Sprache; deutliche Beeinträchtigungen in der Fä-
higkeit, ein Gespräch zu führen; stereotyper oder repetitiver Sprach-
gebrauch. Altersgemäßes, spontanes soziales Imitationsspiel, »Tun als
ob«-Spiele und Rollenspiele bleiben aus. Diese Verhaltensweisen sind
Ausdruck einer neurologischen Störung, bei der die Fähigkeit des
Kindes, sich in Bezug zu anderen Menschen, Dingen und Ereignissen
wahrzunehmen, beeinträchtigt ist. (9)
Bahnung
Ein neuronaler Prozess, der die Weiterleitung von Impulsen oder Sig-
nalen erleichtert bzw. verstärkt. Bahnung ist das Gegenteil von Hem-
mung. (3)
Bewegungsplanung
Die Fähigkeit des Gehirns, sich neue Bewegungen und Handlungen
auszudenken, den Ablauf zu planen und zu organisieren und die
Handlung auszuführen. Bewegungsplanung ist ein Bestandteil von
Praxie. (6)
Bilaterale Integration
Die Zusammenarbeit der beiden Hirnhälften. Für Ayres fand der bi-
laterale Informationsaustausch bereits in den vestibulären Kernen auf
Hirnstammniveau statt. Eine gute bilaterale Integration zeigt sich in
der Koordination beider Körperseiten, der Entwicklung der Händig-
keit und dem Bewusstsein für rechts und links.
Diskrimination, sensorische
Die Fähigkeit, verschiedene Aspekte eines Sinnesreizes zu erkennen,
sowohl innerhalb einer Sinnesmodalität (z.B. leichte Berührung, Be-
290 Anhang D
schaffenheit und tiefer Druck durch das taktile System) als auch von
verschiedenen Sinnesmodalitäten (z.B. Geruch und Geschmack oder
Sehen und Hören).
[Distal]
Vom Körpermittelpunkt entfernt, z.B. sind Fingergelenke distale Ge-
lenke.
Dyspraxie
Schwache Praxie oder Bewegungsplanung. Diese Störung ist weniger
schwerwiegend als eine Apraxie. Mit der Diagnose der entwicklungs-
bedingten Koordinationsstörung verwandt. (6)
[Efferenzen]
Vom Gehirn weggehende Nervenbahnen zur Körperperipherie. Effe-
rente neuronale Signale sind Bewegungsbefehle.
Entwicklungsbedingte Koordinationsstörung
Eine Diagnose für schlecht geplante, koordinierte und ausgeführte
Bewegungen. [Anm. d. Übersetzerin: Im deutschsprachigen Diagno-
sekatalog ICD-10 unter dem Code F82.0 »Umschriebene Entwick-
lungsstörung motorischer Funktionen« (UEMF) klassifiziert.]
Ergotherapie
Schulmedizinisch anerkannter, paramedizinischer Beruf, der Men-
schen jedes Alters und mit unterschiedlichsten Störungen hilft, mög-
lichst selbstständig und zufriedenstellend den Alltag zu bewältigen.
In der Ergotherapie werden zielgerichtete und zweckmäßige Aktivi-
täten eingesetzt, um dem Klienten zu helfen, anpassende Reaktionen
zu entwickeln, die zu einer Verbesserung der Funktion des Nerven-
systems führen. Dadurch können die Klienten ihr Leben umfassen-
der und aktiver meistern und an der Gesellschaft partizipieren. An-
erkannte Ausbildungen erfolgen an Fachhochschulen und schließen
mit einem Bachelor ab. In englischsprachigen Ländern »Occupatio-
nal Therapy«. Organisiert in der World Federation of Occupational
Therapists (WFOT). (10)
Extension
Streckung. Beim Streckmuster des ganzen Körpers streckt das Kind
in Bauchlage den Nacken, den Rücken, die Arme und die Beine gegen
die Schwerkraft nach oben.
Flexion
Beugung. Beim Beugemuster des ganzen Körpers beugt das Kind in
Rückenlage den Nacken, den Rumpf, die Hüften, die Knie und die
Arme.
291
Anhang D
Formatio reticularis
es der komplexesten und am stärksten vernetzten Teile des Gehirns.
Jedes sensorische System sendet Impulse an das netzförmige Innere,
das dann Impulse an die anderen Hirnbereiche sendet. (3)
Großhirnhälften
Siehe Hirnhälften.
[Gustatorisch]
Den Geschmackssinn betreffend.
[Handdominanz]
Siehe Händigkeit.
[Handpräferenz]
Die Hand, die das Kind spontan für eine Aktivität bevorzugt. Oft be-
vorzugen Kinder für unterschiedliche Aktivitäten wie z.B. Schreiben
und Werfen nicht dieselbe Hand.
[Händigkeit]
Seitenspezialisierung der Hände und Entwicklung einer bevorzugten
Hand für bestimmte Funktionen. Händigkeit ist ein Ausdruck der
Funktionsspezialisierung der Hirnhälften.
Hemisphären
Siehe Hirnhälften.
Hemmung
Ein neuronaler Prozess, der die Weiterleitung an bestimmten Synap-
sen blockiert, so dass einige Impulse unterdrückt werden. Hemmung
ist ein notwendiger Prozess, der eine wichtige Funktion für die Regu-
lierung der Gehirnaktivität inne hat: Sie verhindert überschießende
neuronale Aktivität. Anders als im psychologischen Zusammenhang
hat der Begriff »Hemmung« im neurologischen Zusammenhang kei-
nerlei negative Bedeutung. (3)
Hirnhälften
Die zwei großen, halbkugelförmigen Anteile des Großhirns, die ober-
halb und um den Hirnstamm liegen. Die Verarbeitung der Sinnesin-
formationen, die auf niedrigeren Ebenen begonnen hat, wird in den
292 Anhang D
Hirnnerven
Die Nerven, die direkt vom Kopf und Gesicht in das Gehirn ziehen
(das heißt, die nicht durch das Rückenmark gehen).
Hirnrinde
Die äußere Schicht der Großhirnhälften. Sie schließt Bereiche für die
sehr genaue sensorische Verarbeitung besonders von visuellen und
auditiven Details und Körperempfindungen ein. Sie führt auch ab-
sichtliche Körperbewegungen und Sprache aus. Sie beschäftigt sich
mit Gedanken, geistigen Auswertungen und Zielen. (3)
Hirnstamm
Der niedrigste und elementarste Teil des Gehirns. Der Hirnstamm
enthält Kerne, die die Funktionen der inneren Organe, den Erre-
gungszustand des ganzen Nervensystems und die elementare senso-
motorische Verarbeitung regulieren. (3)
Hyper-
Über-: z.B. hyperaktiv (überaktiv), hyperton (zu hohe Muskelspan-
nung).
Hypo-
Unter-: z.B. hypoaktiv (unteraktiv), hypoton (zu niedrige Muskel-
spannung).
Input, sensorischer
Zustrom von elektrischen Impulsen, die von den Rezeptoren im Kör-
per zum Rückenmark und Gehirn fließen. (3)
Integrieren
Zu einem übergeordneten Ganzen zusammenschließen, in ein grö-
ßeres Ganzes eingliedern, vereinheitlichen, einbeziehen, einfügen
(Duden).
Kleinhirn
Der Teil des Gehirns, der an der Rückseite des Hirnstamms liegt,
und in dem propriozeptive und vestibuläre Informationen verarbeitet
werden, um die Körperbewegungen genau abzustimmen. Das Klein-
hirn verarbeitet auch Informationen von allen anderen Sinnesmodali-
täten. (3)
Körperschema
Die Wahrnehmung des eigenen Körpers, die in sensorischen »Land-
karten« des Körpers im Gehirn gespeichert wird. Wird auch Kör-
293
Anhang D
Kokontraktion
Die gleichzeitige Anspannung aller Muskeln (d.h. der Beuger und
Strecker), die über ein Gelenk ziehen, um das Gelenk zu stabilisieren.
Kortex
Siehe Hirnrinde.
Kerne
Nervenkerne. Eine Ansammlung von Nervenzellen, die sensorische
und motorische Aktivität organisieren und integrieren. Auf gewisse
Weise sind sie die »Geschäftszentren« für die Hirnfunktion. (3)
Labyrinth
Die komplexe knöcherne Struktur des Innenohrs, die sowohl die
Gleichgewichts- als auch die Hörrezeptoren enthält. (3)
Lateralisation
Die Tendenz des Gehirns, mit je einer Hirnhälfte bestimmte Funk-
tionen besser auszuführen. Bei den meisten Menschen spezialisiert
sich die rechte Hirnhälfte darauf, räumliche und musikalische Muster
zu verarbeiten, und die linke Hirnhälfte auf sprachliche und logische
Prozesse. (3)
Lernen
Eine Veränderung der neuronalen Funktion als Folge von Erfahrung.
(1, 2, 3, 10)
Lernstörung
Schwierigkeiten bei schulischen Leistungen wie Lesen, Schreiben und
Rechnen, die nicht auf eine Seh- oder Hörbehinderung oder auf eine
geistige Behinderung zurückzuführen sind. (1)
Limbisches System
In den Hirnhälften gelegene Struktur aus mehreren Anteilen, die ge-
fühlsmäßiges Verhalten und emotionale Reaktionen auf Sinnesreize
steuern. Das limbische System erhält und verarbeitet Sinnesreize aller
Sinnessysteme. (3)
Lokomotion
Fortbewegung. Bewegung des Körpers von einer Stelle zu einer an-
deren.
Modalität
Sinnesmodalität. Eine Art von Sinnesreiz oder ein Reiz aus einem be-
stimmten Sinnessystem (z.B. taktil).
294 Anhang D
Modulation
Der Prozess, über den das Gehirn seine Aktivität selbst reguliert.
Modulation ergibt sich aus dem Zusammenspiel von anregenden
(bahnenden) Mechanismen, durch die neuronale Botschaften wei-
tergeleitet und verstärkt werden, um eine verstärkte Wahrnehmung
oder Antwort zu produzieren, und hemmenden (inhibierenden) Me-
chanismen, um überschießende oder irrelevante Aktivität zu redu-
zieren. (3)
Motoneuron
Bestimmter Typ von Nervenzellen im Rückenmark, die Bewegungs-
befehle vom Gehirn erhalten und an die Muskeln weiterleiten.
Motorisch
Die Körperbewegung oder Haltung betreffend.
Nahsinne
Jene Sinne, die uns Informationen über unseren Körper liefern – im
Gegensatz zu den Fernsinnen, die uns Informationen über eine Reiz-
quelle außerhalb unseres Körpers geben. Zu den Nahsinnen gehören
der Berührungssinn (taktil), der Kraft- und Bewegungssinn (Proprio-
zeption) und der Gleichgewichtssinn (vestibulär).
Nervenbahn
Ein langes Bündel von Nervenfasern, in denen sensorische Informa-
tionen oder motorische Botschaften von einer Stelle im Nervensystem
zu einer anderen geleitet werden. (3)
Nervensystem
Im ganzen Körper verteiltes System von Nervenzellen und Nerven-
bahnen. Besteht aus dem peripheren (im Körper) und dem zentralen
(Rückenmark und Gehirn) Nervensystem.
Neuron
Nervenzelle, Leistungsträger des Nervensystems. Ein Neuron besteht
aus einem Zellkörper mit Verbindungsstellen zu anderen Neuronen,
um Nervenimpulse empfangen und weiterleiten zu können, und einer
Nervenfaser, die elektrische Impulse leiten kann. (3)
Netzkörper
Siehe Formatio reticularis.
Nystagmus
Eine Serie von reflexartigen, automatischen Augenbewegungen, die
durch verschiedene Bedingungen ausgelöst werden können, unter
anderem durch einen abrupten Stopp nach einer längeren Drehung
des Kopfes um die eigene Achse. Diese Art von Nystagmus wird
295
Anhang D
Obere Extremität
Die Arme.
[Olfaktorisch]
Den Geruchssinn betreffend.
Perzeption
Siehe Wahrnehmung.
Postural
Die Haltung betreffend.
Praxie Die Fähigkeit, sich eine neue oder andersartige Aktivität aus-
zudenken, zu planen und zu sequenzieren.
Propriozeption
Aus dem Lateinischen für »eigen«. Sinnessystem, das Informationen
aus den Muskeln und Gelenken verarbeitet. Propriozeptive Empfin-
dungen informieren das Gehirn, wann und wie die Muskeln sich zu-
sammenziehen oder dehnen, und wann und wie die Gelenke gebeugt,
gestreckt, gestaucht oder gedehnt werden. Durch diese Informationen
weiß das Gehirn, wo jeder Körperteil sich befindet, und wie er sich
bewegt.(3, 6)
Propriozeptiv
Die Propriozeption (Tiefensensibilität) betreffend.
[Proximal]
Nahe dem Körpermittelpunkt, z.B. sind die Hüft- und Schultergelen-
ke proximale Gelenke.
Reflex
Eine angeborene und automatische Reaktion auf einen Sinnesreiz.
Wir haben Reflexe, um einen Körperteil rasch von einer Schmerz-
quelle zurückzuziehen, bei überraschenden Reizen zu erstarren, und
um Kopf und Körper bei vestibulärem Input zu strecken. Es gibt noch
viele andere Reflexe. (2, 3)
[Reizschwelle]
Empfindlichkeit des Zentralnervensystems. Ist die Reizschwelle nied-
rig, werden schon leichte Reize wahrgenommen; ist sie hoch, müssen
die Reize intensiv sein, damit sie bemerkt werden. Die Reizschwelle
ist bei jedem Menschen verschieden und verändert sich unter be-
stimmten Bedingungen (z.B. ist sie niedriger, wenn wir angespannt
und nervös sind, und dadurch sind wir »reizbarer«).
Rezeptor
Eine Zelle oder Gruppe von Zellen, die empfindlich ist für eine Form
von sensorischer Energie (z.B. Licht, Temperatur). Rezeptoren ver-
wandeln diese Energie in elektrische Impulse und senden sie über
Nervenbahnen zum Rückenmark oder Gehirn. (3)
Schwerkraftunsicherheit
Übermäßige Sorge und Verzweiflung, verursacht durch eine unzu-
längliche Modulation oder Hemmung von Empfindungen, die entste-
hen, wenn die Schwerkraftrezeptoren des vestibulären Systems durch
eine Kopfposition oder -bewegung stimuliert werden. (5)
Schutzreaktion
Siehe Stützreaktion.
Stützreaktion
Reflexartiges Strecken der Arme, um bei einem Sturz den Körper (vor
allem den Kopf und das Gesicht) zu schützen. (5)
Sensorische Integration
Die Verarbeitung von Sinnesinformationen, damit wir sie nutzen
können. »Nutzen« kann sich beziehen auf die Wahrnehmung des
Körpers oder der Welt, eine anpassende Reaktion, einen Lernprozess
oder die Entwicklung einer neuronalen Funktion. Durch sensorische
Integration arbeiten die vielen Anteile des Nervensystems zusammen,
so dass wir uns effektivund zufriedenstellend mit der Umwelt ausein-
andersetzen und auf sie einwirken können.
SIPT
Sensory Integration and Praxis Tests. Eine Testbatterie von 17 Unter-
tests, die von Dr. Ayres entwickelt und 1989 bei Western Psychological
Services veröffentliche wurde, um die sensorisch-integrativen Leis-
tungen zu beurteilen und eine sensorische Integrationsstörung fest-
zustellen. Die Vorgängerversion SCSIT (Southern California Sensory
Integration Tests) wurde vom SIPT abgelöst und hat dadurch ihre
Gültigkeit verloren. [Anm. d. Übersetzerin: Der SIPT wurde an 2.000
nordamerikanischen Kindern normiert und ist im deutschensprachi-
gen Raum durch eine Pilot-Standardisierung (Söchting 1998) an über
100 Kindern gültig.
297
Anhang D
Sensorisch-integrative Defizite
Probleme in einem oder mehreren Bereichen der sensorischen Inte-
gration und Praxie.
Sensorische Integrationsstörung
Eine Unregelmäßigkeit oder Störung der Hirnfunktion, die es schwie-
rig macht, Sinnesinformationen zu integrieren. Sensorische Integra-
tionsstörungen sind die Grundlage vieler – aber nicht aller – Lern-
störungen. (4)
Sensorische Verarbeitung
Sinnesverarbeitung. Die Methode und Art der Wahrnehmung von
Empfindungen und die Übertragung durch das Zentralnervensystem.
[Sequenzieren]
Die Schritte eines Ablaufs planen und eine Bewegungsabfolge geord-
net ausführen.
SI-Ausbildung
Postgraduale Zusatzausbildung für Ergotherapeutinnen in der Theo-
rie der Sensorischen Integration nach Ayres (Ayres Sensory Integra-
tion→) und der Befundung und Behandlung nach diesen Prinzipien.
Orientiert sich weltweit am 3-monatigen Universitätskurs im Rah-
men des Masterstudiums in Ergotherapie, der von Dr. Ayres an der
University of Southern California eingeführt wurde und bis heute
angeboten wird. Die Zertifizierung für die Durchführung und Inter-
pretation des SIPT ist in manchen Ländern Teil der Grundausbildung,
in anderen Teil der Aufbaustufe. Das Ausbildungszertifikat (Grund-
und Aufbaustufe) wird von nationalen SI-Organisationen ausgestellt;
298 Anhang D
Synapse
Verbindungsstelle zwischen zwei Neuronen. Eine elektrochemische
»Brücke«, durch die ein Nervenimpuls von einem Neuron zum
nächsten übertragen wird. Neuronale Impulse müssen auf ihrem Weg
vom Rezeptor durch das Zentralnervensystem normalerweise viele
Synapsen überqueren. Jede Synapse trägt zur Verarbeitung der Sin-
nesinformation bei. (3)
Taktil
Hautberührungen betreffend. (3, 7)
Taktile Abwehr
Eine sensorisch-integrative Funktionsstörung, bei der Berührungen
übermäßige emotionale Reaktionen, Hyperaktivität und andere Ver-
haltensprobleme verursachen. (7)
Tiefensensibilität
Siehe Propriozeption.
Überempfindlichkeit, sensorische
Eine Störung der sensorischen Modulation, bei der der Betroffene
durch gewöhnliche Sinnesreize überwältigt wird und abwehrend re-
agiert oder sich zurückzieht; oft von starken negativen Emotionen
(Wutausbrüchen) und vegetativen Reaktionen begleitet.
Unterempfindlichkeit, sensorische
Ausbleibende, verzögerte oder schwache Reaktion auf normale Sin-
nesinformationen aufgrund einer schlechten sensorischen Verarbei-
tung. Probleme in der sensorischen Modulation oder Diskrimination
führen zu unzulänglichen Wahrnehmungsleistungen (Perzeption).
Untere Extremität
Die Beine.
299
Anhang D
Vestibuläre Rezeptoren
Die Sinnesorgane, die die Anziehung der Schwerkraft und die Be-
wegungen des Kopfes im Raum wahrnehmen. Sie befinden sich im
Labyrinth des Innenohrs. Die Schwerkraftrezeptoren befinden sich in
winzigen, sackartigen Ausstülpungen und die Bewegungsrezeptoren
in den Bogengängen. (3, 5)
Vestibulär-spinale Bahnen
Die Nervenbahnen, die die Signale von den Vestibulariskernen zu den
Motoneuronen im Rückenmark senden. Vestibulär-spinale Botschaf-
ten tragen zur Regulierung des Muskeltonus, der aufrechten Haltung
und der Streckung der Gelenke bei.
Vestibuläres System
Gleichgewichtssystem. Das Sinnessystem, das Veränderungen der
Kopfposition in Bezug zur Schwerkraft und beschleunigter Bewegung
wahrnimmt. (3, 5)
Visuell
Das Sehen betreffend.
Wahrnehmung
Perzeption. Die Interpretation von Sinnesinformationen; die Be-
deutung, die das Gehirn einem Sinnesreiz gibt. Sinnesinformationen
oder Empfindungen sind objektiv; die Wahrnehmung ist subjektiv. (3)
Zentrale Hörverarbeitung
Die Übertragung von Hörinformationen im Gehirn, durch die es uns
möglich ist, die Geräusche, die wir hören, zu interpretieren.
300 Anhang D
Zentrale Programmierung
Neuronale Funktionen, die vorgeburtlich in unserem Nervensystem
angelegt sind und ausreifen, aber nicht erlernt werden müssen. Krab-
beln auf allen Vieren und Gehen sind Beispiele für zentral program-
mierte Bewegungen. (6)
Zentralnervensystem
Rückenmark und Gehirn
Literatur
Weiterführende Literatur
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303
Stichwortverzeichnis
A Bewegungen
–– choreoathetoide 123
––
––
des Gleichgewichtssinns 261
des Hörsinns 261
Ablenkbarkeit 71, 196 –– Fertigkeiten 125 –– des Nervensystems 258
Affordanzen 244 –– geplante 125 –– des Sehsinns 263
Aktivitätsgrad 81 –– Kleinkind 32 –– des taktilen Sinns 260
Angelman-Syndrom 252 –– zentral programmierte 124
Ängste 112, 114, 235 Bewegungsplanung 80, 126, 243,
–– Therapie 200 280
Anpassende Reaktionen 9, 19, 259
–– bei Autismus 184
–– bei Autismus 184
–– beim Sprechen 168
F
–– Haltung 94 Fahrradfahren 105
–– Defizite 122
Anpassung 192 Feedback 136
–– Entwicklung 184
–– durch Evolution 161 Flugzeughaltung 28
–– im Spiel 222
Apraxie 122 Flugzeugposition 272
–– Säugling 30
–– orale 168 Formatio reticularis 42, 95
Bewegungssteuerung 123
Arbeitsverhalten 73 Formwahrnehmung 159
Bewegungsstörungen 122
Artikulation 81 Fortbewegung
Bewegungsunverträglichkeit 117
Assoziationsfelder 44 –– Säugling 29
Bewusstseinszustand 38
Auditive Wahrnehmung 158 Fovea 162, 164
Bilaterale Integrationsstörung 104
–– bei Autismus 176 Früherkennung 210
Bilaterale Koordination
–– Störungen 167 Frühgeborene 269
–– Schwächen 80
Auditives System 51 Funktion 5
Bogengänge 54
Auffälligkeiten 32, 65 –– Ich will es tun 181
–– bei auditiven Wahrnehmungs- Funktionsspezialisierung 83
störungen 171
–– bei Schwerkraftunsicherheit 117
–– bei taktiler Abwehr 154
D
–– bei visuellen Wahrnehmungs- Deprivation 68, 154
–– sensorische 68
G
störungen 165 Gefühl für das eigene Selbst 33
Aufmerksamkeit 81, 127, 176 Diskrimination
Gehirn 38
Auge-Hand-Koordination 27, –– taktile 130
–– Funktionen 38
76, 82 Dokumentation 199
Geistige Behinderung 65
Augenbewegungen 78 Druck, tiefer 178, 196
Gene 9
Augendominanz 84 Dyspraxie 138
Geruchssinn 52
Autismus 174, 195, 235 –– bei Autismus 177
–– Chromosom 15 252 –– Säugling 25
E Geschmackssinn 52
–– bei Autismus 177
Emotionale Sicherheit 76 –– Säugling 25
B Emotionen 19, 38, 53, 195
–– bei Autismus 174
Gleichgewichtsorgan
–– Funktion 89
Bahnung 48
Balance 79, 94 –– bei Berührung 261 Gleichgewichtsreaktionen 94
Befundaufnahme 195 –– bei Dyspraxie 143 Gleichgewichtsreize 54
–– Anfangsbefund 199 –– emotionale Krisen 214 –– Überreaktionen 110
Berührung 149 Entwicklungsdyspraxie 121, 125, Gleichgewichtssinn 54, 87
–– diskriminative Reaktionen 151 138, 168 –– Säugling 22
–– emotionale Entwicklung 77 –– Kennzeichen 139 –– und Körperschema 136
–– Schutzreaktionen 151 Entwicklungsstörungen 65 Gleichgewichtssystem 57, 87
Berührungsempfindlichkeit 196 Ergotherapeutin 227, 230 –– Organisation 89
Berührungssinn 52, 145 Ergotherapie 190, 202 –– unterempfindliches 102
–– Kind 35 Erwartungen, überhöhte 216, 224 Großhirn
–– Kleinkind 32 Erziehung 210, 215 –– Hirnhälften 38, 41, 43, 107
–– Säugling 21 –– konsequente 216 Grundvertrauen 79
–– und Körperschema 130 Evolution Gustatorischer Sinn 52
Bestrafung 215 –– der anpassenden Reaktio-
nen 263
Stichwortverzeichnis
305 A–S
H Legasthenie 67
Lernen P
Haltereaktionen 79, 94, 124 –– bei Dyspraxie 140 Perzeption 8, 158
Haltungshintergrund 94 –– schulisches 13 Physikalische Umwelt 6
Händigkeit 45, 83 Lernfähigkeit 77, 195 Piaget, Jean 35, 191
Handlungen 82 Lernstörungen 4, 13, 65, 91, 101, 211 Prader-Willis-Syndrom 252
Hemmung 48, 147 Lesen 10, 73, 158 Praxie 122, 243, 280
Hirnrinde 43 Leseschwäche 92, 104 Professionelle Hilfe 227
Hirnschädigung 269 Limbisches System 43, 99, 176 Propriozeption 53
Hirnstamm 38, 41, 53, 55, 94 Linkshänder 45 –– und Körperschema 133
Hirnstammkerne 41 Luftstoßtest 177 Psychologen 104
Hörsinn 51
–– Säugling 24
Hörverarbeitung 169
Hyperaktivität 13, 15, 70, 196
M R
Mahlzeiten 282 Räumliche Wahrnehmung 45, 55
Minderwertigkeitsgefühle 211 –– Säugling 29
I Mittellinienkreuzung 107
Modulation 48, 90
Raumwahrnehmung 74, 98, 101,
159
Identität 142 –– bei Autismus 179 –– bei Autismus 180
Innerer Antrieb 20, 34, 105, 193, 222 Motorische Meilensteine 12 Rechenschwäche 104
Innerer Drang 201 Muskelspannung 72, 79, 93, 136 Rechnen 73
Integration 5 Mutter-Kind-Beziehung 77 Rechtshänder 45
Intelligenz 65, 192 Regelkreis 40
–– sensomotorische 33, 35 Reizüberflutung 156
Interaktion 191 Reizverarbeitung 50
–– geistige 6
–– mit der Umwelt 268
N Retina 51
Rezeptoren 38
–– physische 6 Nackenstellreflex 29 Rindenfelder 44
–– sensorische 164 Nervenbahnen 40, 45 –– somatosensorisches 44
Nervensystem 5, 38 –– visuelles 44
–– autonomes Nervensystem 56 Rollbrett 272
–– Zentralnervensystem 5 Rollenschaukel 275
K Nervenzellen 39
Netzkörper 42
Rückenmark 41
Z
–– Frühsymptome 12 Stellungssinn 53
–– Symptome 70 Stress 72, 112, 212
–– Ursachen 68 Struktur 195, 201, 218 Zerebralparese 125
Sensorische Integrationsthera- Stützreaktionen 95
pie 58 Synapsen 46, 129
–– Geräte 198, 199, 272 –– Entwicklung 48
–– Grundidee 194
–– Prinzipien 194
–– Standardqualifikationen 230
–– Wirksamkeit 194
–– Zusatzausbildung 12, 105, 230
T
Taktile Reize
Sensorische Verarbeitung 10
–– spezifische 131
Sensorische Verarbeitungsstö-
–– unspezifische 131
rung 64, 193
Taktiler Input
Sensorisch-integrative Funktions-
–– Therapie 196
störungen
Taktiler Sinn 52
–– Ursachen 265
Tastsinn 52
Sensory Integration and Praxis
Therapeutische Aktivitäten 198
Tests
Therapeutische Atmosphäre 200
–– SIPT 235
–– anregende Umgebung 268
Sensory Integration and Praxis
Tiefensensibilität 53, 133
Tests (SIPT) 195, 231
Tonischer Nackenreflex 24
Sinne 4, 260
Überforderung
–– Fernsinne 21
–– Warnzeichen 221
–– Nahsinne 21, 76, 79, 81, 158
Sinnesempfindungen 5, 8
Sinnesinformationen
V
–– integrieren 57, 180
–– modulieren 179
–– registrieren 176 Verhaltensstörungen 4, 66, 71
Sinnesorgane 38, 50 Vestibuläre Rezeptoren
Sinnesreize –– Funktion 89
–– Bedeutung 50 Vestibuläre Störung 98
Sinnessysteme 50 Vestibulärer Input
Soziale Beziehungen 98, 148 –– Therapie 197
Soziales Kompetenztraining 286 Vestibulärer Sinn 54
Sozialverhalten 285 Vestibulariskerne 43
Spaß 10, 198 Vestibulo-okulärer Reflex 168
Spätentwickler 68 Vibration 197
Spiel 10, 181, 201, 224 Visuelle Wahrnehmung 76, 81, 158
–– Förderung 221 –– bei Autismus 180
–– Säugling 31 –– im Großhirn 164
–– Sinneserfahrungen 222 –– im Hirnstamm 163