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Vom Glauben „unberührt“?

Nach allen öffentlich bekannten Angaben gehört die Tschechische Republik zu den Ländern
mit der größten Anzahl der Einwohner, die sich zu keinem religiösen Bekenntnis melden. Bei
der Volkszählung 2011 hat nur etwa eine Hälfte das Feld mit der fakultativen Angabe des
„Religionsbekenntnisses“ überhaupt ausgefüllt (54,8%). Nach den Ergebnissen der
Volkszählung bekennen sich 10,9 % der tschechischen Bevölkerung zur katholischen Kirche,
1,3 % zu den restlichen christlichen Kirchen und Kirchengemeinschaften; die Anzahl der
Anhänger anderer Religionen bleibt weiterhin sehr gering (0,2%). Die Möglichkeit „ohne
religiöses Bekenntnisses“ wählten 34,2%; dagegen 6,7% haben sich als „gläubig, ohne
Zugehörigkeit zu irgendeiner Kirche“ bezeichnet. Insgesamt sich 20,7% erklärte als
„religiös“.1
Über die Gründe der Abneigung der tschechischen Bevölkerung von den etablierten
christlichen Kirchen wird ab und zu berichtet. 2 Trotzdem ist die scheinbar radikal erfolgte
Säkularisierung Tschechiens immerhin überraschend und nur mit dem ehemaligen
Ostdeutschland und vielleicht auch Estland vergleichbar. Sie trägt ganz einzigartige Züge
eines „Volksatheismus“, d. h. einer über 4-5 Generationen tradierten negativen Einstellung zu
Kirche als zu einer feindlich fremden (!) Macht und zur Religion als zu einer
„unwissenschaftlich schädlichen“ Lebensdeutung.3
Die Einstellung der Mehrheit der tschechischen Bevölkerung zum Glauben und zu (allen)
Religionen ist sicher einer der Gründe für das Desinteresse der breiten Bevölkerungsschichten
an Religion. Doch es weist viel mehr auf eine echte Ignoranz der Betroffenen, im Sinne eines
totalen Unwissens bezüglich der traditionellen Religionen. Die große Mehrheit der
tschechischen Jugendlichen hat keine Ahnung vom Inhalt der Bibel oder des Koran. Die
Gottesdienste aller Religionen seien für sie nur Rituale aus einer anderen Zeit und Welt, ohne
irgendeinen Bezug zum heutigen Leben. Dadurch werden die Kirchen nur für fragwürdige
Vereine gehalten, die aus der Tradition und aus der Leichtgläubigkeit ihrer Mitglieder
profitieren.
Diese Einstellung ist aber nicht gleichzustellen mit einem „wirklichen Atheismus“, d.h. mit
einer persönlich begründeten Überzeugung über die Nichtigkeit der Religionen. Die
Begegnung mit dem echten Atheisten würde ich – mit Ferdinand Reisinger – für einen
„pastoralen Glücksfall“ halten.4 Aus dieser Sicht her darf man die Halíks Ausführungen über
die „schüchterne Religiosität“ der Tschechen bejahen: Wenn sich ein Tscheche (oder ein
Ostdeutsche) für einen Atheisten erklärt, bedeutet es keineswegs, dass dieser Mensch keinen
Glauben an „etwas über uns“ – im religiösen Sinn – hätte. 5 Doch mein geschätzter Kollege
Halík bewegt sich eher unter den Fragenden, d. h. unter den Menschen, die ihrer Ausbildung
und Lebenserfahrung gemäß die Sinnfrage formulieren und eine Antwort auf diese Frage
suchen. Wenn wir aber die Durchschnittjugend befragen würden, finden wir bei uns – sowie
in fast industriellen Ländern Europas – nur wenige Jugendliche, die sich die Sinnfrage

1
Die Angaben zur Volkszählung: http://www.scitani.cz
2
KAPLÁNEK, Michal, Christentum und Religiosität in Tschechien, in: Diakonia (2004) 129-135.
3
Die langjährige Streiterei der Präsidentenkanzlei mit dem Erzbistum Prag um die Eigentumsrechte an den
Veitsdom wurde von einem Teil der Intellektuellen (z. B. Z. Mahler) und der Bevölkerung als ein Rechtstreit
zwischen dem „tschechischen Volk“ und der katholischen Kirche wahrgenommen und medial verbreitet. Die
Parole von einem „unüberwindbaren Widerspruch“ zwischen der Wissenschaft und Religion wurde als offizielle
Ideologie in der Zeit des Kommunismus unterrichtet, doch verbreitet war sie unter den „fortschrittlichen“
Intellektuellen, insb. unter den gegenkirchlich gesinnten Lehrern seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts.
4
Ferdinand Reisinger – Professor der Gesellschaftslehre auf der KTU Linz beschäftigte sich mit dem Dialog
zwischen Christen und Marxisten.
5
Vgl. z. B. HALÍK, Tomáš, Geduld mit Gott. Freiburg 2010.
und/oder Gottesfrage bewusst stellen und reflektieren. Sind daher die restlichen (nicht nur
jungen) Menschen „religiös unmusikalisch“?6

Die Unerreichbaren
Hans Jürgen Fraas bezeichnete 1990 einen Teil der Jugendlichen – nach ihrem Verhältnis zur
Religion – „unerreichbar“.7 Doch wer sind diese Unerreichbaren heute und wie stellt sich die
katholische Kirche zu ihnen? Im Folgenden versuchen wir diese Fragestellungen näher
anzugehen.
Die Unerreichbarkeit von breiten Bevölkerungsschichten für die Kirchen Europas hat
verschieden Gründe. Vereinfacht dürfen wir die Gründe in drei Bereichen suchen: Im
Alltagsleben und einer sinkenden Relevanz des Religiösen im Alltag der Mittelschicht der
Wohlstandsgesellschaften; in den vielen Religionen und Weltanschauungen mit ihren
Widersprüchen und mit den Machtideologien und den von ihnen geerbten Vorurteilen.
Seit der deutschen Säkularisierung anfangs des 19. Jahrhunderts haben die Deutschen seinen
Wohlstand mehr und mehr vom Staat – und nicht von der Kirche und sogar vom „Himmel“ –
erwartet. Aufgrund der Aufklärung und die Verbreitung des Glaubens an die Kraft der
Vernunft begann dieser Trend in ganzem Europa zu wachsen. Als der wirtschaftliche Aufstieg
der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts die Konsumorientierung der Gesellschaften
ermöglichte und sogar forderte, haben viele Europäer und Nordamerikaner den Wohlstand als
sein Lebensziel und -inhalt gestellt, nicht selten auch unter dem Eindruck der Enttäuschung
über die nationalistische und sozialistische Ideologien, sowie über die Kirchen, die ihren
Glauben, auf ähnliche Art und Weise wie die Politiker die Ideologien, verteidigten.
Das Ende der Ideologien und der postmoderne religiöse Pluralismus der letzten Jahrzehnte
verursachten eine existenzielle Unsicherheit vieler unseren Zeitgenossen. Während in der
Moderne eignete sich jeder reflektierter Mensch ein relativ stabiles Welt- und Selbstbild ein,
die seine Identität ausmachte, Menschen von heute leben in einer „fließenden Modernität“, 8 in
der sie sich mehrere personale Identitäten gleichzeitig bilden und zwischen ihnen hin und her
fließen. Das ist der zweite Motiv der Unerreichbarkeit für die Kirche(n): Unsicherheit und
mangelnde Bereitschaft zur Bindung und Entscheidung, unter den konkurrierenden
Sinnangeboten. Die davon betroffenen Menschen wandern unter verschiedenen Sinnanbietern
hin und her oder sie resignieren darauf und flüchten davon.
Beide bereits erwähnten Typen von Unerreichbaren sind für nahezu ganze Europa
bezeichnend. Doch in einigen postkommunistischen Ländern werden viele Menschen zu
allem Religiösen von vorne herein negativ eingestellt. Sie wurden in einer Tradition erzogen,
die alles Religiöse für einen Unsinn erklärte. Wer sollte sich in einer Gesellschaft für Religion
interessieren, die jede religiöse Äußerung und jede öffentlichen Ausdruck des persönlichen
Glaubens als ein Verhaftenssein an die kirchliche Ideologie oder sogar eine Irrationalität
disqualifizierte? – Nur diejenigen, die gleichzeitig über genug Informationen, eine hohe
Motivation und eine innere Stärke verfügen, haben Chance, den Weg in eine etablierte Kirche
zu finden.9
Trotz diesem eingedeuteten Entwurf einer Typologie der „Unerreichbaren“, bleibt für alle
Typen von dieser Gruppe eines gemeinsam: Es handelt sich um Menschen, die mit den
etablierten Religionen offensichtlich nichts zu tun haben wollen. Diese Tatsache provoziert
eine Anfrage an die Theologie: Was verbindet Christen mit diesen Menschen und auf welcher
Ebene ist ein Dialog mit ihnen sinnvoll?
6
Ein bekanntes Gleichnis vom Soziologen Max Weber (1864-1920).
7
FRAAS, Hans-Jürgen, Die Religiosität des Menschen. Ein Grundriß der Religionspsychologie, Göttingen 1990,
258 nn.
8
Vgl. BAUMAN, Zygmund, Flüchtige Moderne. Frankfurt am Main 2003.
9
Vgl. KAPLÁNEK, Michal. Warum Erwachsene Christen werden? Motive der Erwachsenentaufe in
Tschechien. In Diakonia 39(2008)4, 276-283.
Das Verhältnis der Christen zu den „Distanzierten“
Die gegenseitigen Einstellungen der bekennenden Christen und der von der katholischen
Kirche Distanzierten – oder sogar alles Religiöse Ablehnenden – hat eine schwierige
Entwicklung hinter sich. In der Zeit der aufgebrochenen Aufklärung distanzierte sich von der
Kirche eigentlich nur ein Teil der Eliten. Der Großteil der Bevölkerung blieb an die
Kirche(n)10 traditionell angebunden, vielleicht mit einer Ausnahme der Situation in der
Frankreich nach 1789, wo die Distanz der Bürger gegenüber der Kirche mit Gewalt angestrebt
und zum Teil durchgesetzt wurde.
Erst mit der Verbreitung der sozialistischen Bewegung kam es zu einem bisher unbekannten
Phänomen: eine breite Schicht der Gesellschaft, nämlich die Arbeiterklasse, zeigte immer
weniger Interesse am Kirchenleben und stattdessen wurde sie von den „neuen Propheten“ des
Klassenkampfes in die sozialistische Bewegung involviert. Der Kirche des 19. Jahrhunderts
wird mit Recht vorgeworfen, sie stand zu viel in der Verbindung mit dem Adel, dass sie die
Demokratie fürchtete und auf die sozialen Probleme der Arbeiterschaft mit einer fatalen
Verspätung reagierte.11
Die Kirchenleitung, sowie viele Gläubige des ganzen 19. und der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts interpretierten Säkularisierungsprozess als einen politischen und
philosophischen Kampf der liberalen sowie den linken Demokraten gegen den Katholizismus.
Diese einseitige Interpretation führte in der Pastoral zum sog. Säkularisierungsparadigma; in
der Politik dagegen zum Entstehen vom „politischen Katholizismus“, der sich auf die
christlichdemokratischen sowie christlichsozialen Parteien stützte. Das
Säkularisierungsparadigma führte im 19. Jahrhundert einerseits zur Verbreitung von
katholischen Institutionen jeder Art, andererseits aber zur faktischen Isolierung der Kirche in
ihre eigene Kultur. Diese Situation war für einen Dialog zwischen Christen und modernen
Atheisten nicht günstig. Der Dialog – wenn er überhaupt zu Stande kam – hatte fast
ausschließlich einen polemischen Charakter. Durch den angekommenen Verlust der
politischen Macht der Kirche wurden die Christen bei diesem Dialog immer mehr in eine
verteidigende Position der Apologetik hineingezwungen.
Binnenkirchlich führte diese Situation aber zu einer inneren Läuterung und Reifung der
Kirche: seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigte sich immer mehr, dass die Kirche nicht
mehr auf den lehrenden Klerus und das zuhörende Volk aufzuteilen sei. Von den 20er bis zu
50er Jahren des 20. Jahrhunderts gewann der Gedanke des Laienapostolats an Bedeutung.
Nach dem 2. Weltkrieg zeigte sich, dass die Volkskirche in vielen Nationen einer tiefen
Erneuerung bedarf. Die Kirchenlehre und -praxis wurde von breiten Gesellschaftsschichten
nicht mehr für relevant gehalten. In der westlichen Welt entstand der „praktische Atheismus“,
außerdem erklärten sich viele auch in den sog. christlichen Ländern als Atheisten oder nicht
Religiöse. Die Theologie musste sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Mehrheit
der Weltbevölkerung nicht christlich war; zugleich aber wuchs die Überzeugung über den
universalen Heilswillen Gottes. Dieses Problem hat damals Karl Rahner kreativ aufgegriffen
und als Lösung hatte er den Begriff der „anonymen Christen“ vorgeschlagen, der später zu
vielen Diskussionen führte.
Am Zweiten Vatikanischen Konzil kam zu einer offenen Reflexion der Lage und der Aufgabe
der Kirche in der modernen Welt. Die Strategie der Päpste (Johannes XXIII., Paul VI.) und
der Mehrheit der Konzilsväter war eindeutig: Wenn die katholische Kirche ihre Sendung in
der modernen Welt wahrnehmen will, muss sie suchen, was Christen mit allen Menschen
10
Die Distanz gegenüber des organisierten Christentum bezog sich mehr oder weniger auf alle Kirchen, aber in
Tschechien war (und ist) die katholische Kirche die größte. Aus diesem Grund beziehen wir uns bei den
Ausführungen eher auf die Situation und Entwicklung in der katholischen Kirche.
11
Die erste Sozialenzyklika Leos XIII. „Rerum novarum“ erschien erst 1891, d.h. mehr als 40 Jahre nach dem
marxschen „Kommunistischen Manifest“.
„guten Willens“ verbindet und nicht so sehr die Unterschiede betonen, die doch immer
waren, sind und auch in Zukunft zu bestehen bleiben.
Diese Strategie wurde auf einem tiefen Glauben an die vorausgehende Gnade Gottes
aufgebaut, die in den Herzen aller Menschen wirken möge, unabhängig von ihrer aktuellen
Glaubensbekenntnis und Weltanschauung. Aus dieser Überzeugung heraus kann man auch die
Entstehung der vier – aus gewisser Sicht – wichtigsten Konzilsdokumente erklären: Vom
Dekret Unitatis redintegratio vom 21. 11. 1964 über die Erklärungen Nostra aetate und
Dignitatis humanae bis zur Pastoralkonstitution Gaudium et spes vom 7. 12. 1965. Dass die
letztgenannten Konzilstexte einen Umbruch bedeuteten, zeigte sich indirekt an der Anzahl der
ablehnenden Stimmen der Konzilsväter bei den Abstimmungen.12
Der Zusammenhang zwischen dem Verhältnis der Kirche zur Welt von heute mit den
Verhältnissen der Kirche zu den Christen anderer Bekenntnisse, zu Nichtchristen und zu
Nichtglaubenden lässt uns verstehen, warum der Erfurter Theologe und Philosophe Eberhard
Tiefensee vom drei Arten des Ökumenismus spricht:13
 Ökumene unter den Christen
 Ökumene als die gegenseitige Achtung verschiedener Religionen untereinander und
ihrer Zusammenarbeit
 Ökumene als die gegenseitige Achtung und Zusammenarbeit der Christen und
Nichtchristen in einer säkularisierten Gesellschaft.
Das Wort οικουμενη setzt nämlich eine Gemeinschaft der Menschen die miteinander leben,
voraus. Wenn wir die Überzeugung des Gaudium et spes, Art. 1, halten, nach dem gibt es
„nichts wahrhaft Menschliches“ das nicht in den Herzen von Christen nicht „räsoniert“, 14
verstehen uns Christen als Teil der Gesellschaft, des gemeinsamen Hauses (der οικια), in dem
alle ihre Sorgen gemeinsam tragen, und wo jeder seinen Platz und seine Aufgabe hat,
einschließlich der Christen.
Fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanum dürfen wir eine weitere Bilanz des bestehenden
Dialogs mit den von der Kirche Distanzierten ziehen. Wenn wir den Dialog auf der Ebene der
Weltpolitik bilanzieren, dürfen wir mit einer Genugtuung sagen: die Stimme der Kirche und
der Päpste wird in der Welt von heute gehört und die Kirche und ihre Vertreter beobachten
sehr genau die sozialen, politischen und kulturellen Probleme der ganzen Menschheit – und
nicht nur der Christen. Ebenso auf der Ebene der religiösen Praxis und der Zusammenarbeit
an den karitativen Projekten kam zu einer Annährung, nicht nur unter den Christen sondern
auch in der Beziehung zu anderen Religionen.
Eine ziemlich andere Entwicklung bezog sich an die Lehre der Kirche und ein lehramtliches
Dialog. Im ökumenischen Dialog mit anderen christlichen Kirchen wurden zwar einige Ziele
schon erreicht (gegenseitige Anerkennung der Taufe, entgegenkommende Regelungen der
Mischehen, Erklärung der Katholiken und der Evangelischen über die Rechtfertigung usw.).
Auf dieser Ebene zeigte sich eine abgrenzende Strategie Johannes Pauls II. und Benedikts
XVI., die in manchen Einzelheiten im Widerspruch zur Strategie der Konzilspäpste stand.
Trotz diesen Ausführungen bleibt eine wesentliche Frage immer noch offen: Gibt es einen
echten Dialog der Christen mit denen, die sich um den Glauben und die Kirche überhaupt

12
Während die meisten Konzilstexte nahezu einstimmig abgestimmt worden sind, die Erklärungen Nostra
aetate, Dignitatis humanae, sowie die Konstutution Gaudium et spes bei den Abstimmungen auf einen
Widerstand stoßen. Für Nostra aetate stimmte 96%, für Dignitatis humanae 96,7% und für Gaudium et spes
96,6% der anwesenden Konzilsväter.
13
Vgl. TIEFENSEE, Eberhard, Glaubensvermittlung in radikal säkularen Kontexten, in: Theologisch-praktische
Quartalschrift 156(2008)150-158.
14
GS 1 (lat.): „… nihilque vere humanum invenitur, qoud in corde eorum non resonet. …“ (Vgl.
HÜNNERMANN, Peter (Hrsg.), Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete,
Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe. Freiburg/Basel/Wien, Herder 2004, 593).
nicht interessieren? Ist ein solcher Dialog überhaupt möglich, wenn ein Dialog das Interesse
an Gesprächen auf allen beiden Seiten voraussetzt?

Der faktische Dialog in Tschechien


Im Zusammenleben und -arbeiten der Christen und Nichtchristen findet ein „faktischer
Dialog“ unter beiden Weltanschauungen statt. Er läuft sogar auf mehreren Ebenen. Am
meisten ist er bei der Suche nach dem gesellschaftlichen Konsens über wichtige Fragen der
Ethik und Politik erkennbar. Doch dieser Dialog hat eine Voraussetzung: die Christen dürfen
sich bei den Gesprächen nicht auf die Autorität Gottes oder der Kirche berufen und zugleich
müssen sie die Pluralität der Ansätze voll respektieren. Sie müssen ihre Argumente auf der
Basis der gesellschaftlich akzeptierten Grundwerte aufbauen. Dies ist aber mit dem
steigenden Pluralismus und politischen Liberalismus immer schwieriger: Die bisher für
selbstverständlich gehaltene Grundsätze werden heute bezweifelt oder sogar programmatisch
abgelehnt.
Ein Beispiel dafür bildet das von der Europäischen Kommission vorbereitete Europäisches
Portfolio für Jugendarbeiter und -leiter.15 Es handelt sich um ein praktisches Handbuch für
die Selbstevaluierung der Jugendarbeiter und Jugendleiter in den NGOs. Das Dokument
präsentiert Kompetenzen, die Jugendarbeiter und Jugendleiter haben und bei den
Jugendlichen fördern sollen. Doch alle Werte, die das Handbuch beinhaltet, beziehen sich auf
die Kommunikationsvermögen, auf die Konfliktverarbeitung oder -verbeugung,
Informationsübergabe usw., nicht aber auf irgendwelche konkret positiv formulierte Werte,
wie z. B. Familie, Treue, Gerechtigkeit, Wahrheit, Arbeit usw.
Überall, wo ein faktisches Zusammenleben und eine Zusammenarbeit der Christen und der
Distanzierten geschehen, findet auch der faktische Dialog statt, auch wenn bei ihm kein Wort
über den Glauben bzw. Nichtglauben fällt.

Chancen für ein vertieftes Dialog der Christen mit den Distanzierten in der Erziehung
Das Problem der Mehrheit der Jugend (nach dem Schulze’s Erlebnisgesellschaft handelt sich
in Deutschland um ein „Unterhaltungsmilieu“) 16 besteht nicht in der Ablehnung eines Dialogs
mit Christen, sondern eher um einen Mangel an kritischen Denken und Reflexionsvermögen.
Viele Jugendliche interessieren sich nur für ihren nächsten Freundeskreis, nicht aber für die
Politik des Staates oder für die Weltpolitik. Wenn wir das Desinteresse Jugendlicher für die
Gesellschaft noch mit den weiterlebenden und durch die aktuellen Ereignisse wieder
geweckten Vorurteile der Kirche gegenüber in Verbindung setzen, ist es verständlich, dass ein
explizites Dialog über die Sinn- oder Glaubensfrage bei Jugendlichen nur selten vorkommt.
Der erste Schritt die zum Ermöglichen des Dialogs der Kirche mit breiten
Bevölkerungsschichten ist die Erziehung zum kritischen Denken. Dabei geht es nicht nur um
intellektuelle Kompetenzen, sondern um eine Einstellung (auch ein Mensch mit einem relativ
geringen IQ, aber mit einer höheren sozialen Intelligenz ist fähig zu hinterfragen, besonders in
Fragen der Beziehungen oder der persönlichen Eigenschaften).
Die europäischen sowie die nationalen Bildungsprogramme rechnen mit einer Erziehung zur
kritischen Denkweise. Doch die Methodik von diesem ist noch wenig entwickelt. Es gibt
verschiedene Ansätze (Partizipation, Animation, Philosophieren mit Kindern), die einige
Wege zu diesem Ziel zeigen. Sie brauchen aber eine weitere Entwicklung und noch mehr eine
breite gesellschaftliche und kirchliche Annahme. Gesellschaft und Kirche soll die Erziehung
zum kritischen Denken als Priorität setzen. In den Gesellschaften ist es – zumindest auf dem
Papier – schon geschehen. Wie weit ist diese Entwicklung in der Kirche, das ist eine andere
Frage. Sicher dürfen wir in den Ländern mit einer längeren demokratischen Tradition mit
15
Ein Dokument der Europäischen Kommission vom 2007 (www.coe.int)
16
Vgl. SCHULZE, Gerhard, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt 2003.
einer positiveren Einstellung zu diesem Thema rechnen, als in den Gesellschaften, wo noch
Reste der autoritären Mentalität der früheren Regime wiederfinden. Doch die kirchliche
Pastoral und ihre erzieherische Institutionen sollen die Entscheidung treffen: Wir wollen
Jugendliche nicht mehr zur Anpassung erziehen, sondern zum kritischen Denken und zur
reifen Entscheidungsfreiheit.

Michal Kaplánek

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