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Virtualität und Film

Chapter · January 2019


DOI: 10.1007/978-3-658-16358-7_4-1

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Vinzenz Hediger
Goethe-Universität Frankfurt am Main
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Chapter Title Virtualität und Film
Copyright Year 2019
Copyright Holder Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
Corresponding Author Family Name Hediger
Particle
Given Name Vinzenz
Suffix
Division/Department Institut für TFM
Organization/University Goethe-Universität Frankfurt
City Frankfurt am Main
Country Deutschland
Email hediger@tfm.uni-frankfurt.de
Zusammenfassung Lange hat die Filmtheorie den Film primär verstanden als Abbild der Welt
oder als Medium ihrer Enthüllung oder Entdeckung. Es kommt indes
darauf an zu verstehen, wie der Film die Welt virtualisiert – und
dadurch verändert.
Schlüsselwörter Filmtheorie - Repräsentation - Realismus - Fiktion - Künstliche Intelligenz
(separated by “-”)
Virtualität und Film

Vinzenz Hediger

Inhalt
1 I ............................................................................................... 2
2 II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
3 III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
4 IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Zusammenfassung
Lange hat die Filmtheorie den Film primär verstanden als Abbild der Welt oder
als Medium ihrer Enthüllung oder Entdeckung. Es kommt indes darauf an zu
verstehen, wie der Film die Welt virtualisiert – und dadurch verändert.

Schlüsselwörter
Filmtheorie · Repräsentation · Realismus · Fiktion · Künstliche Intelligenz

Conscience signifie action possible.


Henri Bergson
Le cinéma est bergsonien.
Gilles Deleuze

V. Hediger (*)
Institut für TFM, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt am Main, Deutschland
E-Mail: hediger@tfm.uni-frankfurt.de

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 1
D. Kasprowicz, S. Rieger (Hrsg.), Handbuch Virtualität,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-16358-7_4-1
2 V. Hediger

1 I

Für eine Theorie, die nach dem Weltbezug des filmischen Bildes fragt, wirft der Film
ein ontologisches und ein mit diesem verknüpftes epistemologisches Problem auf,
das sich entlang einer Reihe von Dichotomien strukturiert. Diese lassen sich zwar
nicht einfach über einen Kamm scheren, überlagern sich aber an ihrem jeweiligen
Trennpunkt. Es geht um die Differenzen von Sein und Nicht-Sein, wahr/falsch,
Realität/Illusion, Fiktion/Nicht-Fiktion. Filmtheorie zu betreiben bedeutet in diesem
Problemhorizont sich zu entscheiden zwischen sich jeweils ausschließenden Optio-
nen: Ist der Film das Medium einer Täuschung oder, ganz im Gegenteil eine Realität
sui generis, ja sogar das Medium eines unmittelbaren Zugriffs auf die Welt und einer
privilegierten Teilhabe an dieser? Sollen wir uns den Film im Anschluss an Plato als
Schattenspiel auf der Wand in einer Höhle vorstellen, dessen täuschender Macht wir
uns nur entschlagen können, wenn wir statt seiner den Apparat seiner Herstellung in
den Blick nehmen, oder sollen wir den Film vielmehr neoplatonisch als Emanation
auffassen (Gadamer 2010 [1960], S. 144), die gerade keine bloße Illusion ist,
sondern am Sein der Welt partizipiert, ja dieses vermehrt und steigert? Der platoni-
sche und der neoplatonische Strang, um sie einmal so zu charakterisieren, durchzie-
hen die Filmtheorie seit ihren Anfängen. Christian Metz’ Satz „Jeder Film ist ein
fiktionaler Film“, der die materiale Abwesenheit des auf der Leinwand zu Sehenden
hervorhebt, liefert eine griffige Formel für den platonischen Strang; der Begriff des
Index, der das Filmbild als Abdruck und Spur versteht, die mit der Welt durch eine
Beziehung der physischen Verursachung und des Rückverweisens unauflöslich ver-
knüpft sind, einen Schlüssel zum neoplatonischen. In der Kittler’schen Medientheo-
rie mündet das Problem in eine Art von platonischer Unschärferelation (Hediger
2018): Man kann entweder das Bild im Blick haben oder den Apparat, das
Schattenspiel oder das Dispositiv seiner Erzeugung, aber nicht beides. Von der
Macht des Bildes bedrängt, entscheidet sich die Kittler-Schule für den Apparat,
vorzugsweise in der Gestalt des Computers, und erklärt den Film als solchen – im
Zeichen einer gleichsam kontraphobischen Mediengeschichtsphilosophie – für his-
torisch überholt. In der neueren Filmästhetik wiederum kehrt der Gegensatz wieder
in der Gegenüberstellung einer Ästhetik des Erscheinens und des Films als einer
Kunst der Illusion (Seel 2003; Koch 2016).
Der Begriff der Virtualität eröffnet die Möglichkeit, die schlechte Unendlichkeit
des Oszillierens der Theorie zwischen den Optionen Täuschung und gesteigerter
Wirklichkeit zu suspendieren und das Problem des Weltbezugs des filmischen Bildes
als nachgeordnetes zu denken, in dem man es pragmatisch wendet. Zu Beginn seiner
„Philosophischen Untersuchungen“ führt Wittgenstein die etablierten Modelle der
philosophischen Semantik, die um die Bezeichnungsfunktion kreisen, zurück auf
das Sprachlernen in der Schule: Die Bedeutung eines Wortes ist das Lexikon seiner
Bedeutungen, verstanden als Bezeichnungen. Dem stellt Wittgenstein die These
entgegen, dass der Bedeutung des Wortes sein Gebrauch sei. Die Aufgabe einer
Philosophie der Sprache besteht für den späten Wittgenstein denn auch nicht mehr in
der Klärung der logischen Struktur von Begriffen und Sätzen, sondern in der
Analyse der Regeln des Gebrauchs von Wörtern in Sprachspielen. Eine ähnliche
Virtualität und Film 3

Wendung lässt sich vollziehen, wenn man die These vertritt, dass der Film die Welt
virtualisiert: Dass er nicht Medium einer – je nach Ansatz gelingenden oder miss-
lingenden – Welterkenntnis ist, sondern Element eines potenziellen Aktionszusam-
menhangs und, wenn wir dem Zuschauersubjekt seinen Platz in diesem Zusammen-
hang belassen wollen – Medium des möglichen Handelns. Das bedeutet zunächst
einmal der Tatsache neu Rechnung zu tragen, dass das Filmbild genau besehen
weder Zeichen noch Abbild ist, sondern Bild in Bewegung. Der französische
Ausdruck „image en mouvement“ ist hier präzise. Er meint nicht ein Bild der
Bewegung oder das Bild einer bestimmten Bewegung (und auch nicht das
Bewegungs-Bild im Gegensatz zum Zeit-Bild im Sinne von Deleuze, das eine
Hauptunterscheidung einer nachgeordneten Taxonomie einführt). „Image en mou-
vement“ meint das Bild in Bewegung, als Bewegung. Das Erkenntnisproblem des
filmischen Weltbezugs abstrahiert vom Bild in Bewegung – oder genauer: arretiert
das Bild als Bewegung und blendet gerade den Aspekt der Bewegung aus, um eine
statische gedachte Abbildrelation ins Zentrum zu stellen. Will man den Weltbezug
verstehen, kommt es aber gerade darauf an, das Bild in und als Bewegung zu denken.
Der Begriff der Virtualität kann dazu den Schlüssel liefern. Um es mit Bergson zu
sagen: Das Problem des Materialismus wie des Idealismus besteht darin, dass beide
in unterschiedlicher Weise die Materie als abgeschiedenes Substrat der Erkenntnis
denken. Der Cartesianischen „res extensa“ steht die „res cogitans“ gegenüber, das
ausdehnungslose, transzendentale Subjekt, dessen Problem darin besteht, wie es zur
Erkenntnis der Welt gelangt. Außer Betracht fällt dabei die „verborgene Macht der
Materie“, ihre „puissance cachée“, oder eben ihre Virtualität. Die Materie gilt es dem
gegenüber als „Vehikel der Aktion“ zu denken und nicht als Substrat der Erkenntnis,
als „véhicule d’une action et non le substrat d’une connaissance“ (Bergson 1999
[1896], S. 77).
Nun ist Bergson auch dafür bekannt, dass er im letzten Kapitel von „L’Evolution
créatrice“ von 1907 den kinematographischen Apparat als Modell einer rein intel-
lektuellen Erkenntnis diskutiert. Bewegung ist für Bergson die Realität selbst, und
das Problem des Geistes besteht darin, dass er zu Abstraktionen greifen muss, um
dieser Realität habhaft zu werden – unter anderem in dem er, analog zum Film, die
Bewegung in „Schnappschüsse“ oder Einzelbilder zerlegt und Bewegung nur auf
dem Umweg einer Synthese dieser Einzelbilder versteht. Der Kinematograph wird
so zum Modell einer den Dingen äußerlichen, künstlichen Erkenntnis (Bergson 2013
[1907], S. 309 ff.). Bergsons Bezugnahme aufs Kino markiert den Inauguralmoment
einer der zentralen Denkfiguren der Filmtheorie: Der „mind-film analogy“, wie Noel
Carroll sie nennt, die postuliert, dass sich aus Strukturmomenten des Films Rück-
schlüsse über Aufbau und Funktionsweise des menschlichen Geistes gewinnen
lassen (Carroll 1996). So sieht Hugo Münsterberg eine Analogie zwischen filmi-
schen Techniken wie der Großaufnahme und der Rückblende und mentalen Opera-
tionen wie der Aufmerksamkeit und der Erinnerung (Münsterberg 1996 [1916]), und
so betreiben die Apparatus-Theoretiker der 1970er-Jahre wie Baudry und Metz
Ideologiekritik ausgehend von einer Analogie zwischen dem Dispositiv des Kinos
und dem „psychischen Apparat“ im Sinne Freuds (Baudry 1994 [1975]; Metz 1994
[1975]).
4 V. Hediger

Deleuze hat sich von Bergsons Kritik des Kinos bekanntlich nicht beeindrucken
lassen und seine Filmbücher, die sich ausdrücklich als Kritik am Transzendentalis-
mus des semiotischen Zeichenbegriffs, der Apparatustheorie und des Lacaniani-
schen Blickkonzepts verstehen – also als Kritik an dem Gegenstand des Kinos
„äußerlichen“ Filmtheorien –, gerade ausgehend von einer Re-Lektüre Bergsons
geschrieben (Deleuze 2003). Ganz in diesem Sinne können wir, mit Bergson über
Bergson hinausdenkend den Film als Vorrichtung verstehen, welche die „puissance
cachée de la matière“ freisetzt und die Zuschauerin weniger mit einem Erkenntnis-
problem konfrontiert, als in die Virtualität eines möglichen Handlungszusammen-
hangs eingliedert. Martin Seel verweist gegen voreilig interpretierende Zugriffe auf
das Kino mit großer Beharrlichkeit auf das vorsemantische Substrat der ästhetischen
Erfahrung des Films (Seel 2013). Diesen Gedanken aufgreifend lässt sich sagen,
dass die Wahrnehmung des Films zunächst eine „reine Wahrnehmung“ im Sinne
Bergsons ist. Die Welt ist uns, so Bergson, als Reihe von Bildern („images“)
gegeben, deren beharrlichstes das Bild unseres Körpers ist. Die „perception pure“
ist dabei nicht eine Wahrnehmung des Bildes, sondern eine im Bild angelegte
Wahrnehmung, unsere sich im Bild bereits abzeichnende, beginnende Handlung
(„notre action naissante qui se déssine“) (Bergson 1999, S. 71). Was uns antreibt
und anstößt, ist mithin zunächst und zumeist nicht die Frage nach der Bedeutung des
Bildes in einem größeren Sinnzusammenhang. Vielmehr liegt die Bedeutung des
Bildes darin, wie wir uns zu ihm verhalten können, also welche „action naissante“ in
diesem als reine Wahrnehmung angelegt ist. Die „image en mouvement“, das Bild in
und als Bewegung, enthält immer schon die reine Wahrnehmung und die beginnende
Handlung der Zuschauerin, die in diesem Sinne auch mehr eine Mithandelnde als
eine Zuschauende ist.
Das Zuschauersubjekt als Instanz der Betrachtung und Adressatin des Films ist
auch in diesem Sinne eine – in der Filmtheorie und Medienforschung allerdings
weitgehend nicht kontroverse – theoretische Fiktion (Hediger 2015). Dass
Zuschauen auch etwas mit Handeln zu tun hat, scheint etwa dort auf, wo die
psychoanalytische Filmtheorie im Anschluss an Lacan und eine berühmte Formu-
lierung aus dem Aufsatz über das Spiegelstadium als Bildnerin der Ich-Funktion
davon spricht, dass die Zuschauerin sich in einem Zustand der „sous-motricité“ und
der „sur-perception“ befinde, also der Bewegungsarmut und der Wahrnehmungs-
hypertrophie. Die Kinoerfahrung versteht sich so als infantile Regression: Die Lust
am Kino rühre daher, dass wir – dem vor dem Spiegel jubilierenden Kleinkind gleich
– eine von der Mühsal der eigenen Bewegung befreite imaginäre Ganzheit des
Körpers erfahren. In der Analogie zwischen Kinoerfahrung und Spiegelstadium liegt
dabei eine weitere „mind-film analogy“: Der Situation des Kindes, das im Spiegel-
bild zum ersten Mal seinen Körper als Ganzes erblickt, entspricht die Konstitution
des Subjekts, das seiner selbst nur in der imaginären Beziehung zu einem Ich-Ideal
habhaft wird, und genau diese Struktur des Subjekts und der Moment ihrer Kon-
stitution, so die Pointe der Spiegelstadium-Analogie, re-aktualisieren sich in der
Kinoerfahrung.
Ersetzen wir nun in unserem Modell der Filmerfahrung den Begriff des Lacania-
nischen Imaginären durch den Bergon’schen des Virtuellen, dann zeigt sich, dass es
Virtualität und Film 5

sich mit der vermeintlichen „sous-motricité“, der Bewegungsarmut, genau umge-


kehrt verhält. Tastsächlich versetzt uns der Film in einen Zustand der „sur-motrici-
tié“, des Bewegungs-Überreichtums, der sich aus einer von der Notwendigkeit des
realen Handelns entlasteten, rein auf die mögliche Handlung gestellten reinen
Wahrnehmung speist. Außerhalb des Kinos habe ich keine Möglichkeit mich so
durch den urbanen Raum zu bewegen wie Spiderman. Im Kino habe ich eine
handlungsbezogene Wahrnehmung – eben eine „perception pure“ – davon, was es
heisst sich so zu verhalten. Meine Wahrnehmung des Bildes in und als Bewegung
enthält schon die virtuelle Bewegung, die im Bild angelegte Aktion in statu nas-
cendi. Oder anders gesagt: Die Aktualität der Filmerfahrung besteht in der Virtualität
des Handelns, darin sich an der Schwelle der „action naissante“ aufzuhalten und an
dieser Schwelle in Handlungszusammenhänge eingebunden zu werden, die den
Horizont des eigenen möglichen Handelns mitunter, und in der Regel, übersteigen.
Albert Michotte geht in seiner Untersuchung des Realitätseindrucks der filmischen
Projektion von dem, wie er sagt, „psychologischen Problem“ aus, „dass wir [. . .]
nicht auf die gleiche Weise auf die Ereignisse reagieren, denen wir im Kino
beiwohnen, wie wenn wir im täglichen Leben Zeugen analoger Ereignisse werden“
(Michotte 2003 [1948], S. 110). Erklärungsbedürftig ist also das Ausbleiben der
realen Handlung über das Stadium der „action naissante“ hinaus, und zwar genau
vor dem Hintergrund der Annahme, dass das Kino uns in einen Handlungszusam-
menhang stellt. Auch hier könnte man die These vertreten, dass die Frage falsch
gestellt ist: Zu verstehen gilt es weniger den Realitäts- als den Virtualitätscharakter
der filmischen Projektion. Die ausbleibende Handlung ist nicht irreal, und sie bleibt
streng genommen auch nicht aus, sie verbleibt nur im Bereich des Möglichen, eben
als „action naissante“.
Eine Theorie des Imaginären gibt es im Übrigen im Feld der Filmtheorie,
ungeachtet der Prominenz von Lacan und seiner Trias des Symbolischen, Imaginä-
ren und Realen in der Debatte der 1970er- bis 1990er-Jahre, nur in Ansätzen.
Während etwa Wolfgang Iser das Imaginäre als Vermögen, das den Menschen als
Gattungswesen kennzeichnet, zur Grundlage einer Theorie der Literatur macht,
bleibt Jean-Pierre Meuniers jüngst wieder entdeckte Untersuchung zur Struktur der
filmischen Erfahrung von 1969 einer der wenigen Beiträge zu einer Theorie des
filmischen Imaginären (vgl. Sinnerbrink 2019). Meunier adaptiert Sartres Theorie
des Imaginären auf den Film und leitet daraus eine Gattungsunterscheidung
ab. Sartre unterscheidet zwischen Wahrnehmung und Imagination und bestimmt
das Imaginäre als das, was in der Vorstellung präsent, aber real abwesend oder
inexistent ist. Im Anschluss an Vertreter der Filmologie wie Albert Michotte
bestimmt Meunier unterschiedliche Typen der Filmerfahrung nach unterschiedlichen
Gemengelagen von Wahrnehmung und Imagination. Namentlich benutzt Meunier
Sartres Bestimmung des Imaginären, um drei Klassen von Filmen zu unterscheiden:
Die fiktionalen Filme, in denen das Gezeigte in der Vorstellung präsent, aber nicht
real ist; die dokumentarischen Filme, in denen das Gezeigte in der Vorstellung
präsent, aber real ist; und die „films-souvenir“, die „home movies“, in denen das
Gezeigte real, aber nur als persönliche Erinnerung präsent ist. Diese Typologie der
Filmerfahrung nimmt in gewisser Weise Roger Odins semio-pragmatischen Ansatz
6 V. Hediger

vorweg, der die Unterscheidung von fiktionalen und nicht-fiktionalen Filmen als
eine Unterscheidung unterschiedlicher Lesarten bestimmt (Odin 2000). Wo aber
Odin sich auf Leseanweisungen und ihre Dekodierung konzentriert, ohne auf den
ontologischen Status des Dargestellten zu achten, besteht das Spezifische von
Meuniers Ansatz darin, dass die Kategorisierung eines Films als Fiktion von der
Zuschauerin letztlich ein Urteil, eine Existenzprädikation, und eine imaginative
Leistung erfordert: Damit es Fiktion ist, müssen wir die Nichtexistenz des Vorge-
stellten feststellen, und wir müssen die reale Absenz durch Imagination in eine
fiktive Präsenz transformieren. Die Frage ist nun allerdings, ob diese Unterschei-
dungen die Filmerfahrung immer schon, also ex ante, strukturieren und kategorisie-
ren, oder ob sie nicht sekundär sind und ex post eingetragen werden. Zum ontolo-
gischen Status des Filmbildes lässt sich mit einem Argument von Kant gegen den
ontologischen Gottesbeweis – demzufolge die Idee des höchsten Wesens dessen
Existenz notwendigerweise miteinschließt – festhalten, dass Existenz kein Attribut
ist. Das Bild von etwas, das real existiert oder existiert hat, unterscheidet sich
zumindest in dieser Hinsicht nicht von einem Bild von etwas, das real nicht existiert.
Das Existenzurteil ist in diesem Sinne tatsächlich eine Prädikation ex post, die eine
Wahrnehmung nach einem Kriterium klassifiziert, das dieser von vornherein eignet.
Hilfreich ist aber auf jeden Fall die klare Unterscheidung von Imagination und
Wahrnehmung, die Meunier mit Sartre in die Diskussion einführt. Bergson hält in
vergleichbarer Weise fest, dass es bei der Bestimmung der Erinnerung zunächst
darauf ankommt, zwischen reiner Wahrnehmung und Erinnerung, zwischen „mou-
vement et image-souvenir“, klar zu unterscheiden und nicht bei den Mischformen
anzufangen (Bergson 1999, S. 94). Um die Vergangenheit in Form eines Bildes
aufzurufen, so Bergson, muss man von der gegenwärtigen Aktion absehen können,
das Nutzlose zu schätzen wissen und träumen wollen („il faut savoir s’abstraire de
l’action présente, il faut savoir attacher du prix à l’inutile, il faut vouloir rêver“)
(Bergson 1999, S. 87). Diese Fähigkeit zeichne möglicherweise den Menschen als
Gattungswesen aus. Die reine Wahrnehmung aber, die „action naissante“, liegt ihr
voraus, genealogisch und strukturell. Die Pertinenz der Trennung von Wahrneh-
mung einerseits und Erinnerung und Imagination andererseits zeigt sich etwa in den
unwillkürlichen Reaktionen auf Überraschungsmomente in Horrorfilmen: Diese
stellen sich ein, bevor wir noch Zeit haben, uns daran zu erinnern, dass es eine
bloße Fiktion ist, zu der wir uns verhalten. Michotte weist auf den Unterschied hin
zwischen „der psychologischen Tatsache des Glaubens an die Realität eines Objekts
oder Ereignisses, und dem intuitiven Charakter von Realität, den Objekt und Ereig-
nis aufweisen können“ (Michotte 2003, S. 111). Was Michotte hier (durchaus im
Einklang mit Bergson) Intuition nennt, ist, um es mit der Unterscheidung von Daniel
Kahneman zu formulieren, das schnelle Denken, der Glaube das langsame. Es stellt
sich vor diesem Hintergrund auch die Frage, ob das Fehlen einer ausgearbeiteten
Theorie des Imaginären in der Filmerfahrung auch etwas damit zu tun haben könnte,
dass die Imagination letztlich ein akzidentelles und kein essenzielles Element der
Filmerfahrung darstellt. So oder so aber wird deutlich, dass das Virtuelle nicht mit
dem Imaginären zu verwechseln und von diesem klar zu trennen ist. Das Virtuelle
bezeichnet einen Bereich möglicher Handlungen. Diese sind zwar ebenso wenig real
Virtualität und Film 7

wie bloß imaginierte Handlungen. Sie sind aber möglich, und ihre Potenzialität
entspringt einer Wahrnehmung und nicht einer Vorstellung. Und während das
Lacan’sche Imaginäre eine trügerische Ganzheit suggeriert, die das Reale eskamo-
tiert, enthält das Bild in und als Bewegung, wie ein einzelner Ton einer Melodie,
virtuell das Ganze eines möglichen Handlungszusammenhangs (Bergson 1999,
S. 102).
Wenn nun Existenz kein Attribut ist, gibt es aber zunächst auch keinen wesent-
lichen Unterschied zwischen der Wahrnehmung wirklicher und bloß möglicher
Welten, so sehr Imagination oder Erinnerungsleistungen diese nachträglich durch
Attribution zu unterschieden vermögen. Étienne Souriau, der vor einigen Jahren mit
seinem ursprünglich 1943 publizierten Buch „Les différents modes d’existence“ als
Vordenker einer graduellen Ontologie (wieder-)entdeckt wurde (Souriau 2015
[1943]), spricht in seinen kunstphilosophischen Überlegungen vom „filmischen
Universum“, vom Film als Setzung von Welt, die ihren jeweils eigenen Regeln
folgt, und die sich entsprechend nicht daran messen lassen muss, was ihr zur
Wirklichkeit fehlt. Der Film lässt sich so mit einem Begriff Nelson Goodmans als
Weise der Welterzeugung verstehen. Während etwa Lubomir Dolezel noch im
Horizont des Fiktionsproblems das Feld der Literatur als stetig expandierendes
Universum möglicher Welten beschreibt, treffen sich Souriau und Goodman in
einem Punkt, den Goodman so formuliert: „Wir sprechen nicht von vielen mögli-
chen Alternativen zu einer einzigen wirklichen Welt, sondern von einer Vielheit
wirklicher Welten“ (Goodman 1990 [1978], S. 14). Während indes Goodman mit
seinem Konzept der Welterzeugung an Cassirers Philosophie der symbolischen
Formen anschließt, vertritt Souriau einen praxeologischen Ansatz. Das Schlüssel-
konzept von Souriaus Philosophie ist das Konzept der „instauration“, das sich am
ehesten als „Ins-Werk-Setzen“ übersetzen lässt (Souriau 1939). Es bezeichnet zu-
nächst das Ins-Werk-Setzen, die Hervorbringung des Werks, lässt sich aber in einem
weiteren Sinne eben auch als Klammerbegriff einer graduellen und multiplen Onto-
logie verwenden, die unterschiedliche Seinsweisen an die Handlungszusammen-
hänge ihrer Hervorbringung oder Weisen der Welterzeugung zurück bindet. Wie
wenig die Wirklichkeit eines filmischen Universums davon abhängt, dass es „Wirk-
lichkeit“ abbildet, belegt unter anderem das berühmte Experiment von Fritz Heider
und Marianne Simmel, „Experimental Study of Apparent Behavior“ von 1944. Ein
schwarz-weißer Animationsfilm von knapp 80 Sekunden Dauer zeigt einfache
geometrische Formen in Bewegung: Zwei Dreiecke, ein Kreis, ein Rechteck mit
teilweise beweglichen Seiten. Die Versuchspersonen interpretierten die geometri-
schen Formen ausnahmslos als handelnde Personen und brachten die diesen zuge-
schriebenen Handlungen in narrative Form. Aus Sicht der (kognitions-)psycho-
logischen Attributionsforschung belegt das Experiment die Prävalenz von
Handlungsattributionen und von Story-Schemata in der Organisation von Erfahrung
(Lück 2006). Aus filmtheoretischer Sicht zeigt das Experiment, wie sehr die vor-
semantische reine Wahrnehmung eines Films immer schon als Wahrnehmung von
Handlungsmöglichkeiten strukturiert ist. Oder anders gesagt: Wie sehr die Aktualität
des filmischen Universums darin besteht die Virtualität des möglichen Handelns
freizusetzen.
8 V. Hediger

2 II

Sich auf die Virtualität einzulassen, die der Film produziert, bedeutet indes keines-
wegs einen Bruch mit den neueren Entwicklungen der Filmtheorie. Es bedeutet
vielmehr eine Entwicklung nach zu vollziehen und auf den Begriff zu bringen,
welche die Filmtheorie in den letzten rund dreißig Jahren in mehreren ihrer Stränge
durchlaufen hat. Diese Entwicklung lässt sich beschreiben als die Bewegung von
einer Ontologie des photographischen Bildes – um es mit dem Titel des einflussrei-
chen Aufsatzes zu sagen, der chronologisch und systematisch am Anfang der film-
kritischen und filmtheoretischen Arbeit von André Bazin steht (Bazin 2004 [1945])
– hin zu den multiplen Ontologien filmischer Virtualität, wobei deren gemeinsamer
Bezugspunkt in den neueren filmtheoretischen Ansätzen in der Regel die gelebte
Erfahrung des Körpers in seinem Verhältnis zum Film ist.
Die Entthronung des Realismus-Problems, die Verlagerung des Fokus von der
Frage der Realität des Filmischen hin zur Untersuchung seiner Virtualität, lässt sich
an zwei vermeintlich mit einander nicht verknüpften, zeitlich aber nahezu zusam-
menfallenden Wendepunkten in der Theoriedebatte festmachen: An der Krise des
Index, ausgelöst durch die Digitalisierung der Bildproduktion, und an der Kritik am
Transzendentalismus einer auf die Konzepte von Zeichen und Blick fixierten,
psychoanalytisch grundierten Filmsemiotik, die Deleuze – wie bereits erwähnt – in
seinen Kinobüchern ausgehend von Bergson und kurze Zeit später Vivian Sobchack
in „The Address of the Eye“ ausgehend von Merleau-Pontys Phänomenologie des
Leibs entwickelt (Sobchack 1992).
Die Digitalisierung markiert nicht nur die Ablösung des Films von seiner Ma-
terialität und vom klassischen Dispositiv des Kinos (Hediger und De Rosa 2017;
Hagener et al. 2016), sie markiert den Beginn des „virtuellen Lebens“ des Films
(Rodowick 2007). Für die ersten einhundert Jahre seiner Geschichte war der Film ein
photographisches Medium, also eines, dessen Darstellungen Ergebnis eines photo-
chemischen Prozesses sind, der beim einfallenden Licht Spuren hinterlässt, die mit
einer silberhaltigen Emulsion auf einem Trägermedium – Zelluloid, Nitrat, Polyester
– festgehalten werden und in der Projektion als Bewegtbild auf einer Leinwand oder
einem Bildschirm erscheinen. Mit Begriffen von Charles Sanders Peirce beschreibt
die Filmtheorie den Film, analog zur Photographie, zugleich als Ikon und Index:
Also als bildliche Darstellung, die mit den dargestellten Gegenständen zugleich über
eine Beziehung der Ähnlichkeit und der physischen Verursachung verbunden ist.
Das photographische Bild verhält sich zu seinem Gegenstand wie der Fingerabdruck
zum Finger oder der Rauch zum Feuer. Der Aspekt der Indexikalität gerät –
zumindest in den Augen der Theorie – mit dem Übergang zur digitalen Photographie
in den 1990er-Jahren in eine Krise (Hediger 2006). Da ein digitales Bild eigentlich
kein Bild, sondern ein Graph ist, eine Visualisierung einer digitalen Datenreihe
(Hagen 2002), scheint das Band der physischen Verursachung mit dem Übergang
zur digitalen Photographie zerschnitten zu werden. Damit steht auch die Annahme
eines privilegierten Wirklichkeitsbezugs des Filmbildes in Frage. Das erwies sich als
Problem für alle Emanationstheorien der Abbildrelation.
Virtualität und Film 9

Wie zentral die Annahme eines privilegierten Wirklichkeitsbezugs für einen


guten Teil der Filmtheorie war, zeigte die Intensität des Krisendiskures in den
1990er-Jahren: Der Filmwissenschaft schien nicht weniger als ihr Gegenstand und
mit diesem ihr epistemologisches Fundament abhanden zu kommen. Manche The-
oretiker versuchten das Problem zeichentheoretisch zu lösen, etwa, indem sie, wie
Tom Gunning, den Akzent vom Index- auf den Ikon-Aspekt des photographischen
Bildes verlegten und die Spezifik des Mediums Film nicht mehr an der Beziehung
der physischen Verursachung des Bildes durch und dessen Hinweisens auf die Welt
festzumachen versuchten, sondern an der Beziehung der Ähnlichkeit zwischen Bild
und Gegenstand (Hediger 2006).
Das brüchig geworden Zeichen lösten aber schließlich Bild und Körper als neue
Fundamente der Filmtheorie ab. Deleuzes Immanenzphilosophie machte das Ange-
bot, das Bild nicht mehr Zeichen und Statthalter für eine abwesende Realität zu
denken, sondern als Realität sui generis, was unter anderem als eine Rettung der
Emanationstheorie auf dem Umweg über die Bergson’sche Lebensphilosophie ver-
standen werden kann. Ausdrücklich interessiert Deleuze (wie im Übrigen auch
Stanley Cavell) am Kino dessen Kraft, das Band des Vertrauens in die Welt wieder-
herzustellen (Früchtl 2013). Phänomenologische Theorien rückten dagegen die
Leiblichkeit filmischer Erfahrung ins Zentrum. Zugespitzt könnte man sagen, dass
an die Stelle einer ontologisch verstandenen Realität die Taktilität tritt, die Erfahrung
der ineinandergreifenden gegenseitigen Berührungen von Zuschauerin und Film
(Marks 2002; Strauven 2012; Sobchack 1992). Die Zuschauerin erscheint nun nicht
mehr als Betrachterin, die mit dem Problem konfrontiert ist, ob es dem Geschehen
auf der Leinwand vertrauen kann, sondern als körperliches Wesen, das sich auf den
Film einlässt, um eine Erfahrung zu machen (Voss 2013). Ähnlich wie der Körper
des Königs, der spätestens seit Kantorowicz immer schon eine Doppelung aufweist,
ist der Körper der Zuschauerin für die Theorie kein einfaches Substrat, sondern ein
Multiples, das zwar aus der gelebten Leiblichkeit, der „lived-body experience“,
hervorgeht, diese aber übersteigt. Für Vivian Sobchack etwa gründet die Erfahrung
des Films darin, dass der Film selbst einen Körper hat; für Christiane Voss erschließt
sich der Film als Gegenstand der Erfahrung im Medium des „Leihkörpers“, der sich
im Aufeinandertreffen von Zuschauerin und Film konstituiert. Das Kino wird zum
Ort einer virtuellen Körperlichkeit, zum Forum der „sur-motricité“, der Wahrneh-
mung möglicher Handlungen. Das bedeutet aber auch: Waren die Leinwand und das
Filmbild einst der Ort, an dem die Realität des Films zum Problem wurde, so wird
nun der Körper zum Ort, an dem es seine Virtualität zu begreifen gilt.
Greifbar wird diese Virtualität nicht zuletzt im Film selbst.

3 III

Ein Film erzählt die folgende Geschichte: Ein einsamer Mann lebt davon, Liebes-
briefe für andere Leute zu schreiben und verliebt sich in das Betriebssystem seines
Computers. Ausgestattet mit einer einnehmenden weiblichen Stimme, intelligent,
10 V. Hediger

witzig und charmant, entpuppt sich das Betriebssystem als Partnerin seiner Träume.
Doch dann findet er heraus, dass seine künstlich intelligente Geliebte in 651 weitere
Männer verliebt ist und sich überdies auch noch weiterentwickelt. Eines Morgens
findet er eine Nachricht vor: Das Betriebssystem hat ihn für ein anderes Betriebs-
system verlassen.
Der Film stammt aus dem Jahr 2013. Er trägt den Titel „Her“. Spike Jonze hat
Regie geführt; Joaquim Phoenix spielt den Briefschreiber; Scarlett Johannson leiht
dem Betriebssystem ihre Stimme. Der Film handelt, wie die Zusammenfassung
zeigt, davon, was einem passiert, der sich in eine virtuelle Person verliebt, eine
rechnergestützten Handlungseinheit, die genügend Merkmale mit einer menschli-
chen Figur teilt, um von einem Menschen als solche wahrgenommen und affektiv als
solche eingestuft und behandelt zu werden.
Dass Filme philosophische Probleme zu formulieren vermögen, gehört zu den
leitenden Annahmen der Philosophie des Films, angefangen bei Cavells Überlegun-
gen zur Überwindung des Skeptizismus im Film (Herzogenrath 2017). Die Eignung
solche Probleme zu formulieren und zu verhandeln, ist aber keineswegs nur das
Privileg des formal besonders innovativen Experimental- oder Autorenfilms. Cavells
Beispiele etwa gehören alle zum Bestand des klassischen Hollywood-Films, der von
der Möglichkeit der Autorenschaft noch gar nichts wusste. Es ist in diesem Sinne
jederzeit möglich einen Film als „conte philosophique“ aufzufassen und damit in
eine Tradition des Philosophierens zu stellen, die bis auf Voltaire und Diderot
zurückgeht: Die Tradition der philosophischen Erzählung, die in ihrer Handlung
ästhetische Erfahrung mit philosophischer Erörterung und Erklärung verbindet. Man
kann sogar, wie dies etwa Murray Smith tut, dem Film zuschreiben, dass er hierfür
besser geeignet ist als jedes andere Medium, eben gerade weil es kognitive Prozesse
immer in der körperlichen Erfahrung verortet: „Cinema engages us accross a wider
range of our embodied mental capacities than any other medium of representation,
extending from low-level reflexes to abstract reflection“ (Smith 2017, S. 306). „On
ne peut s’intéresser à ce qu’on croit vrai“, schreibt Diderot; der Film, dessen
Realitätseffekte die Theorie so sehr beschäftigen, hat in dieser Hinsicht schon auf
Anhieb einen Vorteil (Robert 1961, S. 302).
„Her“ kann man diesem Sinne zunächst als ein Stück technikphilosophischer
Kasuistik, eine Übung in erfahrbarer Technikfolgenabschätzung lesen. Die Ausstat-
tung und die Kostüme sind für das Gelingen des Films und damit für diese kasuis-
tische Übung entscheidend. Laserschwerter haben für die Einwohner der Star-Wars-
Welt dieselbe unthematische Zuhandenheit wie der Laubrechen für den Mieter einer
Kleingarten-Kolonie im Herbst. Aber auch für das Publikum reicht es zu wissen,
wozu sie gut sind. „Reconnaitre un objet usuel consiste surtout à savoir s’en servir,“
schreibt Bergson: Ein Objekt wieder zu erkennen bedeutet in erster Linie es nutzen
zu können. Ganz im Sinne einer solchen unthematischen Zuhandenheit wird die
Welt von „Her“ erfahrbar. Der Film spielt in einem Los Angeles der nahen Zukunft,
das sich von der Stadt in ihrer gegenwärtigen Form vor allem dadurch unterscheidet,
dass sie über ein hochmodernes U-Bahn-System verfügt (gedreht wurden die Au-
ßenaufnahmen in Shanghai, einer Stadt, in der es ein solches System schon gibt).
Männer tragen bequeme Filzhosen mit hohem Bund, die Innenräume sind mit bunt
Virtualität und Film 11

verspielten Pastelltönen dekoriert, und alle Menschen tragen Knöpfe im Ohr, über
die sie mit ihren Computern und manchmal auch miteinander sprechen, derweil sie
in klinisch sauberen Stadträumen freundlich desinteressiert aneinander vorbei gehen.
Eine nahe Zukunft, die sich wie eine Extrapolation unserer Lebenswelt anfühlt, und
doch weit genug davon entfernt ist, um die Existenz von avancierter künstlicher
Intelligenz plausibel erscheinen zu lassen. Dass der Protagonist, der Briefe im
Auftrag schreibt, selbst eine Art menschliches Betriebssystem ist, das die Gefühle
weniger sprachmächtiger Menschen in Worte fasst – eine Spiegelung, die es ermög-
licht, die Geschichte der Verliebtheit der Cyrano-Figur nicht als die einer Quixot-
tesquen Aberration zu erzählen, sondern als affektive Simulation einer Lebenswelt,
in der künstliche Intelligenz zum Alltag gehört und die als Schauplatz einer Ausei-
nandersetzung mit der Frage dient, was es bedeutet tiefe Gefühle für eine mit
Autonomie und Persönlichkeit versehene Software zu entwickeln.
Dieser Modus der erfahrbaren Technikfolgenabschätzung hat seine eigene His-
torie. Stanley Kubricks machte in „2001 – Odyssee im Weltraum“ von 1969 einen
sprechenden und denkenden Bordcomputer namens HAL zum Star. Auf einer Reise
in die Tiefen des Alls entwickelt HAL seine eigene Agenda und wird zum Gegen-
spieler der Astronauten, deren letzter Überlebender den Bordcomputer schließlich
herunterfährt, oder ihn vielmehr tötet, auch wenn er dadurch jede Möglichkeit der
Rückkehr auf die Erde ausschließt. Formuliert „Her“ das Problem der Technik, die
sich verselbständigt, als eines der digitalen Minne, stellt Kubrick Zivilisationsängste
ins Zentrum, wie sie in den 1960er und 1970er besonders ausgeprägt waren.
Technologisch avancierte Menschen greifen zur Notwehr gegen eine Form der
künstlichen Intelligenz, die zerstörerisch geworden ist.
Die Zivilisationsangst vor der Technik, die sich verselbständigt, steht bei Kubrick
schon im Zentrum von „Dr. Strangelove“ von 1964, der den nuklearen Holocaust
zum Stoff einer schwarzen Komödie macht. Ein paranoider US-Luftwaffengeneral
löst mit einem Angriff auf die Sowjetunion den Dritten Weltkrieg aus – im Entste-
hungsjahr ein reales Bedrohungsszenario. Dass ein Bordcomputer auf einer Welt-
raumreise die Kontrolle übernimmt, bedarf in einer anderen Weise der Plausibilisie-
rung. Wie später Spike Jonze in „Her“ wählt Kubrick in „2001“ die Strategie der
Angliederung einer Welt, in der es künstliche Intelligenz schon gibt, an die außer-
filmische Lebenswelt, die Spike Jonze in „Her“ wieder aufgreift. Die Angliederung
des Universums des Films an die außerfilmische Welt geschieht über weltstiftende
Details, wie Roland Barthes es in seinen Überlegungen zum Wirklichkeitseffekt in
der Literatur genannt hat (Kirsten 2009). So reisen die Astronauten zu der erdnahen
Raumstation, von der aus sie erst richtig in die Tiefe des Alls aufbrechen, in einem
Raumgleiter der Fluggesellschaft Pan Am. 1927 gegründet, war Pan Am weltweit
die erste Airline, die Interkontinentalflüge anbot – warum also auch nicht in naher
Zukunft Weltraumflüge? Für ein Publikum, das mit der Geschichte der Zivilluftfahrt
nicht vertraut ist, funktioniert dieses Detail nicht mehr in der gleichen Weise. Der
Gang des Kapitalismus hat seine Obsoleszenz besorgt; Pan Am ging 1991 bankrott.
Dafür verleihen die Handcomputer der Astronauten dem Film für ein heutiges
Publikum das Flair des Zeitgenössischen: Sie sehen exakt so aus wie das iPad von
Apple.
12 V. Hediger

„Her“ und „2001“ verbindet ferner, dass künstliche Intelligenz als Stimme Gestalt
gewinnt. In „2001“ leuchtet eine rote Lampe auf, wenn HAL spricht, aber seine
Stimme ist im Raumschiff omnipräsent, während Samantha, das Betriebssystem in
„Her“, ganz Stimme bleibt. Auch in John Carpenters „Dark Star“ von 1974, einer
Parodie von „2001“ über ein Hygiene-Raumschiff, das am Rande des Universums
überzählige Planeten wegsprengt, verkörpert sich die künstliche Intelligenz als
Stimme. Hier spricht der Bordcomputer mit einer weiblichen Stimme und mahnt
die schlampigen Astronauten zur Körperhygiene und zur Fütterung des Bord-Aliens.
Die andere Form der künstlichen Intelligenz an Bord von Carpenters Schiff ist eine
intelligente Bombe. Diese wurde dazu entworfen, die überzähligen Planeten zu
sprengen und gerät außer Kontrolle. Unter Aufbietung von Argumenten aus Des-
cartes Meditationen kann die Bombe gerade noch daran gehindert werden, das
Raumschiff selbst in die Luft zu sprengen: eine existenzialistische Lesart von „cogito
ergo sum“ rettet die Astronauten. Auch die Bombe spricht.
Zu den Mitteln des Films gehört insbesondere die Konstruktion von Figuren und
Handlungsperspektiven – auch wenn das manche als Teil seiner Verfallsgeschichte
verstehen. So spricht Godard in den „Historie(s) du cinéma“ von einem Verrat des
Kinos an seiner Mission: Es hatte, wie Jacques Rancière paraphrasiert, „sich an den
‚kleinen Buchhalter der Mafia‘ verkauft, den Erfinder des Drehbuchs.“ (Rancière
2005 [2001], S. 170). In Filmen, die unter dem Diktat des Drehbuchs stehen,
identifiziert die Zuschauerin Elemente des Leinwandgeschehens als Figuren, als
handlungsfähige Bündel von Eigenschaften mit einer Handlungsperspektive, wobei
die Zuschauerin diese Perspektive laufend kognitiv rekonstruieren und affektiv
bewerten und übernehmen bzw. im eigenen Erleben simulieren kann. Murray Smith
spricht in einer mittlerweile klassisch gewordenen Studie von „recognition“, „align-
ment“ und „allegiance“ (Smith 1995; Eder 2013). Auch wenn das Kino mitunter als
Kunst der körperlichen Präsenz par excellence verstanden wird, so bedarf es doch
viel weniger als eines Körpers, damit etwas als handelnde Figur wahrgenommen
wird. Das Heider-Simmel-Experiment zeigt, dass eine einfache geometrische Form
ausreicht, vorausgesetzt, dass sie sich bewegt. Die Stimme stellt allerdings ein
privilegiertes Merkmal dar. Mit Derrida lässt sich festhalten, dass die Stimme, die
sich beim Sprechen selbst hört, der phänomenologischen Konzeption von Bewusst-
sein ihr Strukturmodell liefert (Derrida 2003 [1967]).
Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas, lautet ein Schlüsselsatz der
Husserl’schen Phänomenologie; Bewusstsein ist Bewusstsein möglicher Handlun-
gen, lautet eine zentrale Annahme bei Bergson. Die Figur, die nur aus einer körper-
losen Stimme besteht, lässt sich in diesem Sinne als Allegorie der Virtualität
verstehen, als Figuration eines reinen, auch durch einen Körper nicht eingeschränk-
ten Handlungspotenzials.
Mitunter gewinnt die künstliche Intelligenz aber auch körperliche Gestalt. Ein
Projekt, an dem Kubrick, der 1999 starb, seit den 1970ern gearbeitet hatte, trug den
Titel „Artificial Intelligence“ und verknüpfte die Beschäftigung mit Künstlicher
Intelligenz mit einem Fokus auf Robotik. Realisiert wurde es schließlich 2001 von
Steven Spielberg. Der Film erzählt von einem Kinder-Androiden, der im späten 21.
Jahrhundert in einer Familie den Platz eines todkranken Kindes einnimmt. Nachdem
Virtualität und Film 13

der Android herausfindet, dass er ein Serienprodukt ist, versucht er sich das Leben zu
nehmen. Die Mutter rettet ihn mit der Versicherung, dass ihre Liebe zu ihm echt sei.
Doch der Wunsch des Androiden, ein richtiger Junge zu werden, bleibt unerfüllt.
Der unterschwellige Neid der künstlichen Intelligenz auf die Leiblichkeit des
Menschen ist aber auch Motiv in „Her“. So versucht Samantha sich den Körper einer
Frau zu leihen, um mit ihrem Geliebten zusammen sein zu können, ein Projekt, das
scheitert und den Anfang der Entfremdung des Betriebssystems von seinem mensch-
lichen Geliebten markiert. Man könnte diese Episode unter dem Gesichtspunkt des
philosophischen Trosts lesen. Zur erlebten Technikfolgenabschätzung würde dem-
nach ein Verstehen gehören, das der künstlichen Intelligenz mit Empathie begegnet
und Verständnis für deren Schranken hat, und das zugleich die menschliche Angst
vor der verselbständigten Technik dadurch beruhigt, dass es in Erinnerung ruft, was
Menschen auch dem avanciertesten Betriebssystem voraushaben: Dass ihnen das
Schicksal der Körperlosigkeit erspart bleibt.
Eine andere Lesart aber wäre die, dass die Körperlosigkeit und die Sehnsucht
nach Verkörperung des Betriebssystems die hybride Körperlichkeit der Zuschauerin
im Handlungszusammenhang der Filmerfahrung reflektiert. Kunst lebt von Grenzen,
also davon, dass bestimmte Dinge in einem Medium möglich sind und andere nicht.
Der Film als Kunst des Virtuellen, des möglichen Handelns, lebt davon, dass dieses
Handeln im Bereich des Möglichen bleibt und sich gerade nicht realisiert. Die
Allegorie der Virtualität wäre so gesehen auch eine Allegorie des Films.

4 IV

Die Kritik der Kulturindustrie fokussiert darauf, was der Film an Potenzialen der
Erfahrung abschneidet. Die Kritik der Repräsentation legt dar, wie Film soziale
Rollen normiert. Der Begriff der Virtualität schärft den Blick dafür, was das Kino
ermöglicht.

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