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Harmonisierung in Europa –
Realität oder Utopie?

Robin Duval Eine Perspektive des British Board of Filmclassification (BBFC)

Auch ich war auf der Konferenz in Norwegen dards für das Kino? Der offensichtliche Grund
und wünschte, wir hätten Zeit gehabt, Erik Wal- ist, dass die E U -Kommission diese Idee unter-
landers exzellente Rede zu diskutieren (sowie stützt. Es ist ihre Aufgabe, eine Harmonisierung
andere Beiträge auf der sehr guten Konferenz). in allen Bereichen zu fördern, in denen es ihr
Ich hoffe, wir können auf der für 2003 geplan- möglich ist, und wir sollten das nicht kritisie-
ten Konferenz in Berlin zumindest auf einiges ren. Aber ich denke, dass in diesem Fall die Ini-
zurückkommen. Bis dahin könnten die folgen- tiative nicht mit der Realität in Einklang ge-
den Gedanken von einigem Interesse sein. bracht werden kann.

Wie Erik Wallander, so bin auch ich ein Befür- Das gängige Argument ist, dass die Digitalisie-
worter der jährlichen Konferenzen. Wie er bin rung der Medien und die Medienkonvergenz in
ich der Meinung, sie sollten weiterhin unsere der Zukunft – aus technischen und ökonomi-
Konferenzen bleiben und nicht zu E U -Veran- schen Gründen – zwangsweise eine Harmoni-
staltungen mutieren, auf denen nur geredet sierung zur Folge haben werden. Deshalb sollen
und nicht gehandelt wird. Aber ich meine, wir wir selbst uns ernsthaft bemühen und sicher-
sollten darüber nachdenken, zwei altgediente stellen, dass die Harmonisierung so gut wie
Brüsseler Beamte einzuladen: Ich glaube, sie möglich umgesetzt werde. Ich stimme zu, dass
könnten eine Menge lernen. Auch stimme ich wir die Initiative ergreifen müssen. Doch müs-
mit Erik Wallander überein, dass wichtigere sen wir meiner Meinung nach gleichzeitig sehr
Probleme vor uns liegen als die Harmonisie- deutlich machen, warum eine Harmonisierung
rung. Wir müssen gegenseitig unsere Methoden im Kinobereich mit ziemlicher Sicherheit aus
betrachten und daraus lernen. Wir müssen ge- kultureller und ökonomischer Sicht zum Schei-
meinsam herausfinden, auf welchen Gegeben- tern verurteilt ist.
heiten unser jeweiliges Engagement für den
Jugendschutz beruht und aus welchen Beweg- Zunächst ist das „Digitalisierungs“-Argument
gründen wir ihn betreiben. Wir müssen verste- eine klassische Verwechslung von technischer

„Das ‚Digitalisierungs‘-Argument ist eine klassische Verwechslung von technischer Konvergenz und Verhaltenskonvergenz.“

hen, warum einige von uns stärker von diesen Konvergenz und Verhaltenskonvergenz. Es
Gegebenheiten betroffen sind als andere, wir wird dabei ignoriert, wie die Menschen heute
müssen den Wert untersuchen, den die Konsu- tatsächlich ihr Leben gestalten. Hier wird ein
menteninformation hat. Auch müssen wir Ant- Lebensstil beschrieben und vorausgesetzt, den
worten auf die Fragen finden, warum und wie es so seit Jahren nicht mehr gibt: Die Zeiten ge-
wir den Konsumenten informieren. hören der Vergangenheit an, als sich die ganze
Familie noch um das gute alte Radio gruppier-
Aber warum sprechen wir jetzt über eine eu- te. Denn auch das Internet wird in Zukunft als
ropäische Harmonisierung mit Kontrollstan- zentrale Unterhaltungsquelle meiner Ansicht

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nach nicht von jedermann genutzt werden. Ich

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glaube, dass die kulturelle Zukunft eher mit
Vielfalt zu tun haben wird. Im 21. Jahrhundert
wollen die Leute raus. Sie wollen reisen, in Klubs
gehen, ein Ereignis aus ihrer Unterhaltung ma-
chen. Je besser es ihnen geht und je mehr Me-
dien ihnen zugänglich sind, desto stärker su-
chen sie die Vielfalt, desto mehr trennen sich ih-
re Wege. Das Letzte, was sie auch heute schon
tun wollen, ist zu Hause zu sitzen. Deshalb ist es
nicht überraschend, dass die Zuschauerzahlen
in den Kinos steigen. In Großbritannien haben
sich die Zuschauerzahlen in 15 Jahren verdrei-
facht: Mitte der 80er Jahre gingen 50 Millionen
Menschen ins Kino, dieses Jahr werden es wahr-
scheinlich mehr als 150 Millionen sein. Die glei-
che Entwicklung zeigt sich auf dem Video-
markt. Die Leute kaufen und mieten mehr und
mehr Videos. Gleichzeitig wird weniger Fernse- funktionieren, weil es mit Wim Bekkers einen
hen geguckt, Spielfilme eingeschlossen. Und exzellenten Leiter hat. Aber es funktioniert
natürlich ist die „Internet-Blase“ geplatzt. auch deshalb gut, weil Videospiele sehr an
transnationale Bestimmungen angepasst sind.
Und wenn Harmonisierung kulturelle Annähe- Hier gibt es kein Problem mit kultureller Regio-
rung bringen würde, wäre es das, was wir wirk- nalität – fast alle Videospiele werden von inter-
lich wollen? Die kulturellen Differenzen zwi- nationalen Firmen hergestellt und sprechen die
schen uns, die von großem Wert sind, um uns gleiche Sprache. Es gibt keine kulturellen oder
klar zu machen, wer wir sind, drücken sich in reglementierenden Vielschichtigkeiten: 95 %
unseren unterschiedlichen Sprachen aus und der Videospiele werden nur aufgrund von Ge-
werden durch sie unterstützt. Wenn wir harmo- walt klassifiziert. Man muss nur Kästchen für
nisieren und uns annähern, würde eine Spra- Gewalt, Sex, Drogen usw. ankreuzen – und eine
che, „amerikanisches Englisch“, mit Sicherheit Klassifizierung ist erledigt. Die komplexeren
dominieren. Keine der einzelnen auf Landes- Merkmale – wie z. B.: Wen spricht man an, wer
sprache basierenden Industrien in Europa fühlt sich angesprochen, wie sind die Zusam-
könnte außerhalb ihrer nationalen Grenzen menhänge, welchen Effekt löst ein Film aus
konkurrieren. In Großbritannien beispielswei- usw. – sind ziemlich nebensächlich für die Be-
se gibt es schon heute nur noch in 1 % der Kinos wertung von Videospielen, doch diese Dinge
Filme in nicht englischer Sprache. Tatsächlich müssen viele von uns beachten, wenn sie einen
wäre es unausweichlich, dass eine Filmindus- Film klassifizieren.
trie Europa bzw. die Welt dominieren würde:
Hollywood. Hollywood wäre begeistert von ei- Ich habe auch noch in Erinnerung, dass sich die
nem harmonisierenden, reglementierenden harmonisierten Eurokriterien für Videospiele
System, das ihm den Weg ebnen würde, um al- nach dem Land mit den restriktivsten Standards
les aus Europa zu verdrängen – mit Ausnahme richten mussten, um zu einer Übereinstimmung
dessen, was in Los Angeles produziert wird. der teilhabenden Länder zu kommen. Übertra-
Heute hätten sie gern eine einzige DV D -Matrix, gen auf das Kino würde das bedeuten, dass alle
morgen wäre es eine einzige digitale Matrix für Länder sich nach den notorisch restriktiven bri-
digitales Kino. Das würde ihnen helfen, die Pi- tischen Sprachkriterien richten müssten. Natür-
raten im Internet und anderswo außer Gefecht lich ist es nicht einfach nur so, dass die Franzo-
zu setzen. Die Vereinheitlichung würde außer- sen sehr liberal und die Briten sehr beschrän-
dem ihre Kosten erheblich senken und Holly- kend sind. American Pie (USA 1999) bekam in Anmerkung:

wood so in Europa dominanter machen als je Schweden und Dänemark keine Altersbegren- 1
zuvor. Unsere verschiedenen nationalen Indus- zung, wurde jedoch in Spanien „ab 18 Jahren“ Nederlands Instituut voor
de Classificatie van Audio-
trien, die Filme in verschiedenen Sprachen freigegeben; Drei Engel für Charlie (USA /D visuele Media
herstellen, würden noch stärker unter Druck 2000) war in Spanien ohne Altersbegrenzung
geraten. Würden sie das tatsächlich überleben? zu sehen, in Norwegen und Großbritannien erst
„ab 15“; Behind Enemy Lines (USA 2001) lief in
Das N I CA M -Modell für Videospiele ist sehr in- Frankreich ohne Altersbegrenzung, aber in
teressant.1 Es wird für Videospiele sehr gut Deutschland erst frei „ab 16“ – und so weiter.

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Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen, dass ich So wie die Dinge zur Zeit stehen, sind wir alle
nicht glaube, dass jemand von uns Unrecht hat- wenigstens national unabhängig. Sogar das
te. Wir klassifizieren richtig, in Übereinstim- B B F C , welches ursprünglich eine Selbstkon-
mung mit unseren nationalen Erwartungen, da trolle der Industrie war (und 1912 von den Stu-
bin ich mir ziemlich sicher. Diese Erwartungen dios gegründet wurde), ist in der Praxis unab-
werden erhalten bleiben. Ich würde sogar die hängig und nicht Gegenstand des Einflusses der
britische Position hinsichtlich der Sprache in Industrie – weder international noch sonst in
Schutz nehmen – auf Grundlage dessen, dass irgendeiner Form. Unsere reglementierende
die meisten anstößigen Wörter unsere sind, Kommission besteht aus Managern aus dem Teil
welche durch eine andere „Sprachdistanz“ der Filmindustrie, der kein direktes Interesse an
nicht entschärft werden würden. Die englisch den Klassifizierungsentscheidungen hat: den La-
sprechenden Amerikaner sind natürlich ebenso boratorien, Einrichtungsfirmen, Ausstattungs-
sensibel wie die Briten… herstellern usw. Produzenten, Verleiher und
Vorführer, die ein Interesse an unseren Klassifi-
Wendeten wir das N I CA M -Modell auf das Kino zierungsentscheidungen haben, sind von einer
an, dann würde mir die Tatsache, dass dies ein Mitgliedschaft in unserer Kommission ausge-
Modell der Selbstkontrolle ist, die meisten Sor- schlossen – und das aus gutem Grund. Die ein-
gen bereiten. Das bedeutet letztendlich, dass es zigen Kriterien, die wir anwenden können, sind
von der Industrie beherrscht wird, der es dient. das Gesetz, die Abwägung möglicher Schäden
Die Interactive Software Federation of Europe bei Minderjährigen (sowie bei Erwachsenen)
(I S F E) , die von der N I CA M verwaltet wird, ist und die Akzeptanz der Öffentlichkeit.
dominiert von Sony, Nintendo, Microsoft und
anderen multinationalen Firmen. Das ist natür- Natürlich versuche ich zu provozieren. Ich hof-
lich das bekannte amerikanische Modell, wel- fe, das ist erwünscht. Uns stehen auch andere
ches auch von der Motion Picture Association of Modelle zur Verfügung, die genauso gut sind
America (M PA A) angenommen wurde, die das wie N I CA M . Das Problem ist bei allen, dass Re-
amerikanische Kino reglementiert. Was das für glementierungen tendenziell Hollywood zu-
das europäische Kino bedeutet, ist offensicht- gute kämen (sie machen Hollywood die Arbeit
lich. Ein ähnliches Kinosystem hier würde von einfacher, aber das gilt nicht unbedingt für nicht
Sony, Rupert Murdochs Fox, Warners, Disney, englische Arbeiten). Außerdem führen alle An-
Buena Vista usw. kontrolliert. Zweifellos wür- sätze zu einer restriktiveren Praxis, weil der Ver-
den nationale Prüfer weiterhin ihre Gehälter such gemacht werden soll, sämtliche Politiker
kassieren – allerdings würden sie nach Euro- und die unterschiedlichen Öffentlichkeiten zu-
harmonisierten Standards prüfen, die für Holly- frieden zu stellen. Es kann sein, dass wir uns un-
wood akzeptabel wären (wenigstens könnten terschiedliche Modelle ansehen müssen. Eines
wir uns dann von all den Differenzen verab- könnte einen Weg nach vorn weisen, den wir al-
schieden, die wir mit den Hollywood-Studios le akzeptieren würden. Aber ich bleibe sehr
haben, wenn sie wollen, dass wir unsere Krite- skeptisch.
rien herabsetzen, so dass sie das größtmögliche
Publikum erreichen können). Robin Duval ist Direktor des British Board
of Filmclassification (BBFC).

Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt.


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