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IM BLICKPUNKT P O T E N Z I A L E F Ö R D E R N – D I V E R S I T Ä T G E S TA LT E N

Heterogenität als Potenzial nutzen


Möglichkeiten individueller Förderung
in der vollzeitschulischen beruflichen
Bildung

 Wer eine erhöhte Heterogenität an Berufs- Individuelle Förderung als dialogischer


Prozess
kollegs beklagt, muss sich den durchaus be-

rechtigten Einwand gefallen lassen, dass es Die fortwährende Diagnose und Bewertung des indivi-
duellen Lernbedarfs ist zentraler Bestandteil individueller
Lehrkräfte immer schon mit einzigartigen Indi-
Förderung. Basierend auf der Diagnose der Lernvorausset-
viduen in einem spezifischen Entwicklungs- zungen gilt es, individuelle Lernformen und -pläne zu
gestalten, die jeden Schüler und jede Schülerin einbeziehen
stadium zu tun hatten. Diese Tatsache sollte
und die Verschiedenheit in den Fähigkeiten, Interessen und
dennoch nicht die Sicht darauf versperren, Lebenskontexten nicht als Problem, sondern als Potenzial
sehen (vgl. S CHLEICHER 2007, S. 123 f.). Hieran wird bereits
dass Kinder und Jugendliche unter anderen deutlich, dass individuelle Förderung nur als kontinuier-
Bedingungen aufwachsen als noch vor 30 Jah- licher Prozess verstanden werden kann, der – beginnend
mit der Einschulung – den Schulalltag begleitet (vgl.
ren. Individuelle Lebensverläufe werden immer Abb. 1). Die Orientierung am „Lernen im Gleichschritt“
spezifischer, und damit entstehen zunehmend tritt hinter eine Haltung, die die Individualität jeder ein-
zelnen Schülerin bzw. jedes einzelnen Schülers zunächst
heterogenere Lernvoraussetzungen. wahrnimmt, anerkennt und letztlich stärkt. Der Schlüssel
dazu ist eine kontinuierliche Kommunikation und Koope-
Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht die Frage,
ration zwischen den Lernenden und den Lehrenden, aber
wie Schule als Organisation mit Heterogeni- auch unter den Lehrkräften selbst. Die Einbeziehung der
Lernenden fördert dabei nicht nur Eigenverantwortung
tät umgehen und diese als Potenzial nutzen
und Selbstbewusstsein, sondern ermöglicht den Lehrkräf-
kann. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der ten eine präzisere Diagnose des Förderbedarfs. Der gesam-
te Prozess folgt einem häufig geforderten Maßstab von zeit-
Diagnose der Lernausgangslage. Das Konzept
gemäßer Bildung: Verstehen und Verständigung (vgl. VON
wurde im vollzeitschulischen Bildungsgang HENTIG 1996, S. 82 f.).

„Berufsgrundschuljahr“ am Berufskolleg Ahlen Abbildung 1 Phasen individueller Förderung

erprobt. Exemplarisch werden Maßnahmen zur


Individuelle Förderung als Prozess
individuellen Förderung dargestellt.

Lernausgangslage Maßnahmen ergreifen Maßnahmen


feststellen evaluieren

Individuelle Förderung orientiert sich folglich an einer


gezielten Ungleichbehandlung von Ungleichen, wobei die
A L A D I N E L - M A FA A L A N I
Lehrer am Berufskolleg Ahlen, Doktorand Zusammengehörigkeit im Klassenverband gewahrt bleibt.
im Forschungsprojekt „Bildungsaufsteiger“ Es geht also um eine zweigleisige Perspektive: die Verfol-
der Ruhr-Universität Bochum gung individueller Ziele bei gleichzeitiger Wahrung allge-
meiner Bildungsstandards.

Diese Netzpublikation wurde bei der Deutschen BWP 1/ 2009 11


Nationalbibliothek angemeldet und archiviert.
URN: urn:nbn:de:0035-bwp-09111-4
IM BLICKPUNKT

Phase 1: Lernausgangslage feststellen Erscheinung tritt, als Individuum wahrgenommen,


akzeptiert und wertgeschätzt fühlt. Das Zwischen-
Jedes Fördern beginnt mit dem Diagnostizieren. Die Dia- menschliche muss bei jedem Bemühen um individuelle
gnose selbst basiert auf Beobachtungen und Hypothesen Förderung im Vordergrund stehen (vgl. Hessisches Kul-
(vgl. H ORSTKEMPER 2006, S. 4). Ziel ist es, jene Beobach- tusministerium 2007, S. 16). Daher ist es von größter
tungen und Hypothesen, welche Lehrkräfte immer – in der Bedeutung, dass das Gespräch inhaltlich und atmo-
Regel implizit – machen, zu beschreiben, also zu explizie- sphärisch offen gestaltet wird, um den jeweiligen per-
ren, und somit für andere zugänglich und kommunizierbar sönlichen Bedürfnissen Rechnung zu tragen.
zu machen. Denn verschiedene Lehrkräfte können das Ver- • Das Gespräch soll Informationen über die Schülerin bzw.
halten einer Schülerin bzw. eines Schülers auf unter- den Schüler liefern, insbesondere bezüglich individuel-
schiedliche Weise einschätzen, was einerseits auf unter- ler Besonderheiten des sozialen Umfelds, der Stärken und
schiedliche Beobachtungskriterien und Interpretationen Schwächen, des Selbstbildes und der Ressourcen, aber
der Lehrenden, andererseits auf tatsächlich divergierendes auch im Hinblick auf schulische Erfahrungen.
Verhalten der Schülerin bzw. des Schülers zurückzuführen • Die Lernenden sollen ihre Ziele formulieren. Dabei ist
ist. Durch kooperatives Diagnostizieren (u. a. mittels es ihnen selbst überlassen, ob sich diese Ziele auf die
einheitlicher Beobachtungskriterien und gemeinsamen selbst formulierten Schwächen oder Stärken beziehen.
Interpretierens) können Wertungsfehler vermieden oder Insbesondere bei Schülerinnen und Schülern mit nega-
abweichende Beobachtungen erkannt werden. Eine Lern- tivem Selbstkonzept empfiehlt es sich, im Gespräch die
standserhebung, die Selbsteinschätzung der Lernenden, individuellen Ressourcen zu betonen.
Fördergespräche mit Zielvereinbarungen, Beobachtungen
der Lehrkräfte und ein strukturierter Austausch zwischen Das Gespräch ist somit der erste große Schritt zur Ent-
den Lehrkräften sind Elemente, die die Konzeption und wicklung verbindlicher Zielvereinbarungen zwischen der
Evaluation von Fördermaßnahmen unterstützen sollen Schülerin bzw. dem Schüler und den Lehrkräften (und ggf.
(vgl. Abb. 2). Eine solche gezielte Diagnose der individuel- den Eltern). Die Ergebnisse des Lernstandstests, der Selbst-
len Lernentwicklung bedarf einer Strukturierung und Fixie- beobachtung und insbesondere des Fördergesprächs wer-
rung, um sowohl der Beliebigkeit als auch dem Vergessen den durch die Klassenleitung den Fachlehrkräften auf dem
entgegenzuwirken. Um eine sorgfältige Beobachtung und Beobachtungsbogen zur Verfügung gestellt. Ein solcher
daran anschließend eine systematische Förderung zu Beobachtungsbogen liegt für alle Schüler/-innen vor. Nach
gewährleisten, werden alle Schritte schriftlich dokumen- einem zuvor festgelegten Zeitraum werden die Beobach-
tiert und allen Beteiligten transparent gemacht. tungen der Lehrkräfte zusammengetragen.

Abbildung 2 Teilprozesse der Diagnose von Lernausgangslagen


TYPISCHE LERNAUSGANGSLAGEN IM BERUFSGRUND-
SCHULJAHR
Lernausgangslage feststellen
Den gegenwärtigen Lern- und Entwicklungsstand wahrnehmen und beschreiben Exemplarisch werden die Ergebnisse der Beobachtungs-
phase einer für den Bildungsgang Berufsgrundschuljahr
Lernstands- Selbsteinschätzung
Fördergespräch
Beobachtung typischen Lerngruppe skizziert. Daran anschließend wird
erhebung der Lernenden der Lehrkräfte
das weitere Vorgehen für zwei Lernende ausführlicher dar-
Dokumentation gestellt.
Die Klasse setzt sich aus fünf Schülerinnen und 15 Schü-
Selbstbeobachtungs- Beobachtungsbogen
Lernstandstest Protokollbogen lern zusammen, zwölf von ihnen mit Migrationshinter-
bogen der Lehrkräfte
grund. Die kulturelle Vielfalt der Lernenden ist genauso
unterschiedlich wie ihre Sprachkompetenz. Die Her-
kunftsländer liegen in süd- und osteuropäischen, in euro-
Der zentrale Bestandteil dieser Phase ist das Fördergespräch. asiatischen sowie nordafrikanischen Gebieten. Von den
Dieses Gespräch ist durch wenige Leitfragen strukturiert zwölf Schülerinnen und Schülern mit Migrationshinter-
und orientiert sich an den Schülerinnen und Schülern. grund sind drei nicht in Deutschland geboren.
Die Ergebnisse des Lernstandstests sowie des Selbstbeob- Die Lernenden sind zwischen 17 und 24 Jahre alt und kom-
achtungsbogens dienen der Lehrkraft zur spezifischen Vor- men hauptsächlich von Haupt-, Real- und Gesamtschulen
bereitung auf jedes Einzelgespräch. Der Dialog erfüllt fol- – in seltenen Fällen von Gymnasien bzw. Förderschulen.
gende Funktionen: Etwa ein Drittel der Klasse hat mindestens einmal ein
• Zunächst einmal leistet dieses Interesse an der einzelnen Schuljahr wiederholen müssen. Die Erfahrungen mit Lehr-
Schülerin bzw. am einzelnen Schüler einen großen Bei- kräften sind ebenso unterschiedlich wie die generelle
trag dafür, dass sich die Schülerin bzw. der Schüler, die/ Haltung gegenüber der Schule. Daraus lassen sich auch
der in der Regel lediglich als Teil des Klassensatzes in ganz unterschiedliche Fehlzeiten erklären.

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Die familiären Lebenssituationen liegen ebenfalls weit aus- bereits sehr früh diese unterschiedlichen Lernausgangsla-
einander. Zwei Schülerinnen sind selbst Mütter und muss- gen berücksichtigt werden können. Es erscheint sinnvoll,
ten ihre Schullaufbahn aufgrund von Schwangerschaft und die Möglichkeiten, Heterogenität zur Gestaltung von Lern-
Erziehungsjahr für zwei Jahre unterbrechen. Einige leben prozessen zu nutzen, exemplarisch zu skizzieren. Hierfür
bei nur einem Elternteil, viele Eltern sind von Langzeit- wird die lernförderliche Einbeziehung verschiedener Beson-
arbeitslosigkeit betroffen, andere leben in „normalen“ Ver- derheiten und Fähigkeiten an zwei Lernenden vorgestellt
hältnissen. Insgesamt geben zehn Lernende an, die einzi- und davon ausgehend das weitere Vorgehen beschrieben
gen in ihrem Haushalt zu sein, die morgens aufstehen. (vgl. Kasten).
Hingegen werden vier andere täglich von den Eltern zur
Schule gebracht und auch wieder abgeholt. Drei Schüler
arbeiten mehrmals pro Woche nach der Schule in familien- Phase 2: Maßnahmen ergreifen
eigenen Betrieben. Die monatlich zur Verfügung stehenden
Einkünfte (hauptsächlich Taschengeld) liegen zwischen Nach der Diagnose müssen Maßnahmen ergriffen werden,
30 und 250 Euro. Ebenso unterschiedlich sind die Lernen- die im Idealfall auf drei Ebenen wirken. Dabei wird darauf
den bezüglich Körperpflege und Kleidung. geachtet, dass jeder Schritt im Einvernehmen mit den betei-
ligten Schülerinnen und Schülern geplant und durchge-
Von großer Bedeutung für die Förderung von Schülerinnen führt wird.
und Schülern ist das Motiv des Schulbesuchs. Die Fülle an
Beweggründen reicht von erzielbaren Transferzahlungen 1. Klassenunterricht: In der Unterrichtsgestaltung können
(u. a. Kindergeld) bis zur stringenten Verfolgung eines die Fähigkeiten, Ängste und Vorerfahrungen der Schüler/
bestimmten beruflichen Ziels. Dementsprechend ergibt der -innen durch alle Lehrkräfte berücksichtigt werden. In Be-
Blick auf das Arbeits- und Sozialverhalten sowie auf die Lei- zug auf Anastasia bedeutet dies, dass sie nicht unfreiwillig
stungsbereitschaft kein einheitliches Bild. Einige Schüle- aufgefordert wird, etwas vorzutragen. Rüdiger hat betont,
rinnen und Schüler wurden schon sehr früh von der Mehr- dass er nichts vorlesen oder für andere sichtbar aufschrei-
heit der Lernenden ausgegrenzt. ben möchte. Beide verpflichten sich im Gegenzug, mit
Insgesamt ist bemerkenswert, dass sich die Selbsteinschät- Unterstützung der Lehrkräfte an ihren Zielen zu arbeiten.
zungen der Lernenden in Bezug auf ihr Verhalten sowie auf
ihre Stärken und Schwächen weitgehend mit der Beurtei- 2. Lernteams: Auf Vorschlag der Klassenleitung bilden bei-
lung der Lehrkräfte decken. spielsweise Anastasia und Rüdiger ein Lernteam. Sie arbei-
ten kontinuierlich zusammen und lernen voneinander.
All diese Informationen lagen bereits nach wenigen Wenn ein Plakat entworfen werden soll, dann schreibt es
Wochen vor. Dadurch kann gewährleistet werden, dass Anastasia, Rüdiger stellt es vor. Sie arbeiten gemeinsam an
ihren Schwächen – Ziel ist, dass in einer schriftlich festge-
Anastasia ist eine 20-jährige russischstämmige Mutter, die nach einer haltenen Zeit diese Arbeitsteilung umgedreht werden kann.
zweijährigen Pause ihre Schullaufbahn fortsetzt. Sie lebt seit acht Jah- Gleichzeitig bauen beide ihre Stärken weiter aus und erhal-
ren in Deutschland und beherrscht dennoch die deutsche Sprache in ten regelmäßig positive Feedbacks. Sie sind füreinander die
Wort und Schrift überdurchschnittlich gut. Sie ist außergewöhnlich
zuverlässig, ordentlich, hilfsbereit und ehrgeizig. Ihre Schwächen liegen
primären Ansprechpartner und sind gemeinsam verant-
im Bereich Mathematik. Sie hat Prüfungsangst und große Hemmungen, wortlich für ihre Zielerreichung. Diese kooperative, dezen-
einen Vortrag zu halten bzw. einen Wortbeitrag zu geben. trale Lernform entlastet nach einiger Zeit die Lehrkräfte
Rüdiger ist 18 Jahre alt und zeichnet sich durch überdurchschnittliche und ermöglicht Freiräume zur fokussierten persönlichen
Fähigkeiten im Bereich Mathematik aus. Allerdings hat er auffällige Beratung einzelner Schülerinnen und Schüler (vgl. SEIFRIED
Lese- und Schreibprobleme sowie Schwierigkeiten, sich über längere
Zeit zu konzentrieren. Nach eigenen Angaben sind in seinem Haus-
2005, S. 248).
halt weniger als zehn Bücher vorhanden – überwiegend alte Schul-
bücher. Er hat effektive Strategien entwickelt, seine Schwächen zu 3. Selbstreflexion: Bezogen auf fachliche Schwächen kann
verbergen, u. a. meidet er die Zusammenarbeit mit anderen und ist häu-
von den Lernenden ein Lerntagebuch geführt werden. Die-
fig unkooperativ. Rüdiger ist mehrmals durch diskriminierende Äuße-
rungen gegenüber Ausländern und Frauen aufgefallen. ses Instrument fördert individualisiertes Lernen und ermög-
Anastasia und Rüdiger haben aber auch eine Reihe von Gemeinsam-
licht Selbstorganisations- und Reflexionsprozesse. Dadurch
keiten: Ihre Eltern sind von Arbeitslosigkeit betroffen, beide streben das kann ferner die Berufsorientierung der Lernenden unter-
Fachabitur an und haben noch keine konkreten Berufsvorstellungen. stützt werden. Gleichzeitig dient es den Lehrenden als Ori-
Bei beiden kann ein negatives Selbstkonzept vermutet werden: Sie
entierungshilfe bei der Bewertung des Förderbedarfs und
geben an, dass sie immer das Gefühl hatten, dass ihre Schwächen in
der Schule überbetont wurden, und glauben selbst nicht daran, dass bei der Beurteilung von Fördermaßnahmen. Bei Anastasia
sie mit ihren Stärken etwas erreichen können. Die konkrete Heraus- geht es darum, langsam und aufeinander aufbauend Fähig-
forderung in beiden Fällen ist die lernförderliche Zusammenführung der
keiten im Bereich Mathematik zu entwickeln. Die Förde-
jeweiligen Stärken und Schwächen mit dem Ziel einer Stärkung beider
Persönlichkeiten. rung der Lese- und Schreibfähigkeit steht im Mittelpunkt
des Lerntagebuchs von Rüdiger. Beide bekommen syste-

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matische Unterstützung von Lehrkräften, aber auch von- Die Arbeit mit dem Lerntagebuch wurde von einigen Ler-
einander. In regelmäßigen Abständen verfassen die Lernen- nenden intensiv – auch außerhalb des Unterrichts – durch-
den einen kurzen Aufsatz, in dem sie über ihre Lernent- geführt. Durch die Reflexion des Lernprozesses konnten sie
wicklung berichten. ihren Lernfortschritt nachvollziehen und effizientere Lern-
Klassenunterricht, kooperative Lernformen und Selbstre- strategien entwickeln. Dadurch konnten sie an ihrem
flexionsprozesse begleiten parallel den Schultag, wenn Selbstkonzept arbeiten, was ihr Selbstvertrauen und ihre
möglich werden Verknüpfungen zwischen den Ebenen Selbstständigkeit deutlich förderte.
angestrebt (vgl. VO ß 2005, S. 57).
Das insgesamt positive Fazit muss um einige Einschrän-
kungen ergänzt werden. Die Diagnose des Lernstandes war
Phase 3: Maßnahmen evaluieren der bisherige Schwerpunkt der Bemühungen und wurde für
alle Schüler/-innen durchgeführt. Konkrete Fördermaß-
Durch ein zweites Fördergespräch mit jeder Schülerin bzw. nahmen konnten jedoch (noch) nicht für alle Lernenden
jedem Schüler und einer Beurteilung der Lernentwicklung umgesetzt werden. In der Prozessoptimierung liegt die
durch die Lehrkräfte werden die Fördermaßnahmen eva- zukünftige organisatorische Herausforderung. Allerdings ist
luiert (vgl. Abb. 3). Daraufhin können neue Ziele formuliert ebenso festzustellen, dass nicht alle Schüler/-innen mit die-
oder bereits dokumentierte nachjustiert werden. ser Vorgehensweise erreicht werden können. Ein Mindest-
maß an Eigeninitiative ist Grundvoraussetzung für den
Abbildung 3 Teilprozesse der Evaluation von Fördermaßnahmen Lernerfolg. Hohe Fehlzeiten und Schulabbrüche sind nicht
selten Hindernisse dafür, ein vollständig positives Ergeb-
Prüfen nis zu ziehen. Die äußeren Rahmenbedingungen (Schü-
Maßnahmen evaluieren und weiterführende Ziele formulieren ler-Lehrer-Relation, zeitliche Belastung der Lehrkräfte etc.)
erschweren die intensive Arbeit mit einzelnen Lernenden
Neue Ziele Prozess- zusätzlich. Das Förderkonzept ist noch in der Entwick-
Fördergespräch II Lehrerbeurteilung
formulieren optimierung
lungsphase und bedarf noch weiterer Bearbeitung.
Dokumentation

Individuelles
Letztlich ist hervorzuheben, dass individuelle Förderung
Protokollbogen Protokollbogen Konferenzbeschluss
Lerntagebuch eine gewisse Geisteshaltung erfordert, die statt Defiziten
und Problemen die Potenziale von Heterogenität in den
Vordergrund stellt (vgl. S CHLEICHER 2007, S. 124; S OLZBA -
CHER 2008, S. 40; VOß 2005, S. 53). Die Rolle der Lehrenden
verschiebt sich zunehmend in Richtung einer individuel-
Individuelle Förderung benötigt len Lernbegleitung und -beratung. Eine Organisationsstruk-
individuelle Lernbegleitung tur, die dialogisches und kooperatives Arbeiten in der Schule
fördert, kann diesen Wandel nachhaltig unterstützen. 
Die Tatsache, dass die Lernenden zunächst verhalten,
distanziert und passiv auf diese Maßnahmen reagieren, soll-
te nicht dazu führen, den Prozess voreilig in Frage zu stel- Literatur
len. Die Betrachtung der Ergebnisse nach einem Halbjahr
HENTIG, H. von: Bildung – Ein Essay. München 1996
zeigt, dass das beschriebene Vorgehen bemerkenswerte
HESSISCHES KULTUSMINISTERIUM: Individuelle Lernpläne und kompetenzori-
Potenziale zum Vorschein bringen kann. Die zuvor eher entiertes Unterrichten – Berichte aus der Praxis der Sekundarstufe I.
passive Rolle der Schüler/-innen änderte sich im Laufe der Wiesbaden 2007
Zeit mehrheitlich hin zu einer fordernden und aktiven Hal- HORSTKEMPER, M.: „Fördern heißt diagnostizieren“. In: BECKER, G. u. a.
(Hrsg.): Diagnostizieren und Fördern. Stärken entdecken – Können ent-
tung. Lernerfolge und Zielerreichung wurden – in unter-
wickeln. Seelze 2006, S. 4–7
schiedlichem Tempo – festgestellt. Zusätzlich konnten Vor- SCHLEICHER, A.: Individuelle Förderung. In: Schule NRW – Das Amtsblatt
urteile einiger Lernender bzw. Vorbehalten gegenüber des Ministeriums für Schule und Weiterbildung, 59 (2007) 3, S. 122–127
anderen Lernenden abgeschwächt werden. Das Arbeits- SEIFRIED, J.: Lernmotivation in lehrer- und schülerzentrierten Unterrichts-
und Sozialverhalten sowie das Lernklima wurden deutlich sequenzen – Analyse des Unterrichtserlebens mit Hilfe von Selbstberichts-
und Videodaten. In: GONON, P. u. a. (Hrsg.): Kompetenz, Kognition und
verbessert. neue Konzepte der beruflichen Bildung. Wiesbaden 2005, S. 237–252
Am Beispiel von Rüdiger kann der Lernfortschritt greifbar SOLZBACHER, C.: Was denken Lehrerinnen und Lehrer über individuelle
beschrieben werden. Er hat bereits nach drei Monaten das Förderung? Eine Studie zu Positionen von Lehrkräften in der Sekundar-
stufe I und Konsequenzen für Schulentwicklungsarbeit. In: Pädagogik 60
erste Mal ein ganzes Buch gelesen. Er arbeitete auch in sei-
(2008) 3, S. 38–42
ner Freizeit zielstrebig mit Arbeitsblättern und später mit
VOß, R: Unterrichten ohne Belehrung. Kontextsteuerung, individuelle
einem E-Learning-Programm. Seine Lese- und Schreibfähig- Lernbegleitung, Perspektivwechsel. In: VOß, R. (Hrsg.): Unterricht aus
keit konnte sichtbar verbessert werden. konstruktivistischer Sicht. Weinheim 2005, S. 40–62

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