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David Volgger
1. Einleitung
Die Segensworte Gottes in Gen 9,1-7 gehören zur Sintfluterzählung
Gen 6,5-9,17 und damit zum Pentateuch (Gen 1 – Dtn 34), der in jüdisch-
christlicher Tradition der Person “Mose” zugeschrieben wird. Die historisch-
kritische Exegese hat zahlreiche Spannungen und Wiederholungen nicht nur
im Pentateuch, sondern auch in Gen 6,5-9,17 ausfindig gemacht und danach
gefragt, was diese Textbeobachtungen für die Entstehung des Textes bedeu-
ten. Es hat sich als vernünftig herausgestellt, von mehreren ursprünglich vo-
neinander unabhängigen Quellen oder Traditionen auszugehen, die erst im
Nachhinein von einem Herausgeber zusammengestellt worden sind.
Im konkreten Fall der Sintfluterzählung scheint heute weitgehend
Konsens darüber zu bestehen, dass die Abschnitte Gen 6,9-22; 7,6-
7.11.13-16.17a*.18-21; 8,1.2a.3b-5.13a.14-19; 9,1-17 der Priesterschrift
(P) zuzurechnen sind. Dissens bereitet hingegen die Einschätzung der
restlichen Abschnitte und deren Beziehung zur priesterschriftlichen
Sintfluterzählung. Jan Christian Gertz unterscheidet diesbezüglich drei
Erklärungsmodelle in der exegetischen Diskussion1:
1) Zwei ursprünglich unabhängige Versionen der Sintfluterzählung
wurden von einem Herausgeber zusammengefügt.
2) Eine nicht-priesterschriftliche Sintfluterzählung wurde von priester-
schriftlichen Herausgebern angereichert.
3) Eine priesterschriftliche Grundschrift wurde von nicht-priester-
schriftlichen Herausgebern angereichert.
1
Vgl. Gertz, “Source Criticism in the Primeval History of Genesis”, 172-173.
Alle drei Modelle gehen davon aus, dass ein bzw. mehrere Her-
ausgeber einen bzw. mehrere bereits vorliegende Texte wortwörtlich in
ihre eigene Textkomposition aufgenommen haben. Im Endtext finden
sich demnach nicht nur mündliche, sondern auch schriftliche Traditio-
nen. Mit Blick auf heutige Methoden der Textproduktion könnte man
insbesondere bezüglich Modell 2 und 3 sagen: Die biblischen Heraus-
geber haben zitiert, ohne ihre Zitate kenntlich zu machen. Wer auf diese
Weise eine schriftliche Tradition in seinen eigenen Text aufnimmt, gibt
zu erkennen, dass er diese Tradition nicht nur inhaltlich, sondern auch
literarisch grundsätzlich akzeptiert. Charakteristisch an den biblischen
Herausgebern ist allerdings, dass sie Spannungen und Wiederholungen
in ihrem Endtext stehen gelassen haben, während Autoren mündliche
oder schriftliche Traditionen tendenziell gemäß ihrer eigenen Diktion
kohärent in ihren Endtext einfließen hätten lassen.
Die drei Textentstehungsmodelle von Gertz sprechen zwar nur von
Herausgeber bzw. Herausgebern, setzen aber meiner Meinung nach auch
ein gewisses Verständnis von Autor bzw. Autorenschaft voraus. Modell
1 spricht von einem Herausgeber, der sein Textprodukt aus zwei von
einander unabhängigen Versionen der Sintfluterzählung zusammenge-
setzt hätte. Gemäß der vorangehenden Unterscheidung von Herausgeber
und Autor müssen die beiden Versionen jedoch von zwei unterschied-
lichen Autoren (bzw. Autorengruppen) stammen, ansonsten wäre die
Textentstehung mit weiteren Vorstufen und Herausgebern plausibel zu
machen.
Modell 2 geht von einer nicht-priesterschriftlichen Fluterzählung
als Vorstufe aus. Diese Vorstufe müsste meines Erachtens als Werk ei-
nes Autors qualifiziert werden. Das Endprodukt wäre allerdings eine
priesterschriftliche Entfaltung dieser Vorstufe. In diesem Fall stellt sich
die Frage, wie die Rolle des priesterschriftlichen Textproduzenten zu
beurteilen wäre. Gemäß der Logik von Modell 2 hat dieser nicht nur als
Herausgeber auf schriftliche vorliegende Traditionen zurückgegriffen
(vgl. Modell 1), sondern ist darüber hinaus auch als Autor wirksam
geworden, weil er seine eigene priesterschriftliche Tradition im End-
text eingefügt hat. Ist diese Hypothese tatsächlich plausibel? Warum
sollte ein priesterschriftlicher Autor eine ihm vorliegende schriftliche
Tradition nicht im Duktus seiner eigenen Diktion in seinen endgül-
tigen Text einbauen, sondern stattdessen Spannungen und Wiederho-
lungen in Kauf nehmen? Läuft dieses Modell nicht auf einen internen
Widerspruch der historisch-kritischen Quellenrekonstruktion hinaus?
2
Vgl. Gertz, “Source Criticism in the Primeval History of Genesis”, 171-178.
3
Vgl. z.B. Fishbane, Biblical Interpretation in Ancient Israel, 318-321 oder Ska,
“The Story of the Flood”, 2.
4
Zur Verwendung des Schemas “Gott segnet ( )ברךN.N.” vgl. Scharbert, “,”ברך בּ ְָרכָה
826-827: Es fällt auf, dass (S. 826) “die Vorstellung, Gott spreche eine Segensformel, nur
selten, zumeist in späten Texten zu belegen ist […] Ein Segnen Gottes mit Worten kennt
P in Gen 1,22.28; 5,2 und 9,1, wo Gott Lebewesen bzw. den Menschen segnet, und 35,9
und 48,3, wo Jakob gesegnet wird, und zwar mit stereotypen Formeln wie „Seid fruchtbar
und vermehret euch“ bzw. „Ich mache fruchtbar und vermehre deinen Samen“ oder dgl.”
1,28(-30) segnet Gott die Menschen im Plural, was sich wohl auf die
männliche und weibliche Realisierung des Menschen bezieht (vgl. 1,27:
“ זכר ונקבה ברא אתםmännlich und weiblich schuf er sie”), in 9,1(-7) hinge-
gen nur Noach und seine (drei) Söhne, d.h. die männlichen Repräsentan-
ten der nachsintflutlichen Menschheit, die gemeinsam mit ihren Frauen
und allen Lebewesen die Sintflut in der Arche überlebt haben. Diesbe-
züglich ist zu beachten, dass nicht nur Gen 9,1, sondern die gesamte
Sintfluterzählung Gen 6,5-9,17 die Rolle eines Mannes, nämlich Noachs
hervorhebt. Dennoch ist davon auszugehen, dass der Autor von 9,1-7
auch die Frauen als Adressatinnen inkludiert hat, denn ohne sie konnten
sich die Männer nicht vermehren (vgl. 9,1.7). Diese inklusive Redeweise
ist bereits aus der Genealogie in Gen 5,2 (P) bekannt5.
Insgesamt fällt auf, dass alle drei priesterschriftlichen Texte Gen
1,26-27; 5,1-2 und 9,1 zunächst von Adam oder Noach (und seinen Söh-
nen) sprechen und erst im Nachsatz die Geschlechterdifferenz “männ-
lich-weiblich” hinzufügen bzw. implizit miteinschließen. Kann man dar-
aus folgern, dass dieser Zusatz eine sekundäre Ergänzung zur ursprüngli-
chen Priesterschrift darstellt? Verdankt er sich etwa einem Text wie Gen
2,4b-24, in dem die Erschaffung der Menschheit geschlechterspezifisch
unterschieden wird: Zunächst die Erschaffung Adams, anschließend die
Erschaffung seiner Frau6? Jedenfalls ist zu beachten, dass Gen 2,4b-24
nicht von “männlich” und “weiblich” spricht, sondern von “Mann” und
“Frau” (vgl. 2,23-24). Was die Erschaffung der Menschheit in Gen 1 und
Gen 2 betrifft, empfiehlt es sich also, von zwei unterschiedlichen Quel-
len auszugehen, die jeweils in eigener Diktion die Geschlechterdifferenz
thematisiert haben7. Erst in einem weiteren Schritt scheint ein Herausge-
ber die beiden Quellen zusammengefügt zu haben.
Das Wortpaar “männlich – weiblich” kommt allerdings nicht nur in
der priesterschriftlichen Tradition vor, sondern auch in der nicht-priester-
schriftlichen. Die beiden Verse Gen 7,3 und 7,9, die allgemein als nicht-
priesterschriftlich eingeschätzt werden, sprechen nämlich von männli-
5
Vgl. v.a. Gen 5,2: “Männlich und weiblich schuf er sie; und er segnete sie und er
nannte ihren Namen `Adam´ אדםam Tag ihrer Schöpfung.”
6
So z.B. Krüger, “Genesis 1:1-2:3 and the Development of the Pentateuch”, 137.
7
Dies schließt allerdings nicht aus, dass die priesterschriftliche Schule erst mit Blick
auf eine Tradition wie Gen 2,4b-24 die Geschlechterdifferenz der Menschen explizit be-
rücksichtigt habe. Entscheidend ist, dass dieser Traditionszuwachs auf die Tradenten von
P und nicht auf andere Tradenten zurückgeht.
chen und weiblichen Tieren (vgl. auch P: 6,19 und 7,16)8. Sollen 7,3
und 7,9 als sekundäre Hinzufügungen zur priesterschriftlichen Tradition
beurteilt werden, wobei die priesterschriftliche Tradition als Spender
für das Wortpaar “männlich – weiblich” fungiert habe9 ? Eine derartige
Erklärung würde allerdings die ursprüngliche Erklärungskraft der Quel-
lenscheidung in der Sintfluterzählung schwächen, weil der (nicht-pries-
terschriftliche) Herausgeber zugleich auch Autor und damit Teil einer
von der Priesterschrift unterschiedenen Tradition sein müsste. Von daher
finde ich es angemessener, von zwei unterschiedlichen Traditionen aus-
zugehen, in denen unabhängig voneinander die Geschlechterdifferenz
z.T. auch mit identischer Wortwahl thematisiert worden ist. Ein Heraus-
geber, der weder der einen noch der anderen Tradition zugerechnet wer-
den kann, habe diese beiden Quellen schlussendlich zusammengestellt.
Die menschlichen Adressaten des göttlichen Segens in 1,28 und des
nachsintflutlichen Segens in 9,1 unterscheiden sich zudem hinsichtlich
ihrer Stellung in der (biblischen Schöpfungs- und Ur-) Geschichte: Die
ersten von Gott erschaffenen Menschen kommen in Gen 1 nur als Hörer
des Wortes Gottes in den Blick. Ob und wie die Menschen das Wort Got-
tes in die Tat umsetzen, lässt die erste Schöpfungserzählung noch offen.
Noach wird hingegen als Nachfahre Adams, Sets usw. erinnert (vgl. Gen
5). Er hat das Wort Gottes nicht nur gehört, sondern auch in die Tat um-
gesetzt (vgl. z.B.: Gen 6,22; 7,5). Deshalb ist er mit seiner Familie und
allen Lebewesen in der Arche vor der Sintflut gerettet worden. In Gen
9,1-7 vernimmt Noach also von neuem ein Wort Gottes, das als Segen
wirksam werden soll.
Die Einleitung in Gen 9,1 kennzeichnet jedenfalls den gesamten In-
halt der anschließenden Rede als Segen Gottes. Da Gott der Ursprung
des Segens ist und der Segen allen nachsintflutlichen Menschen gilt,
drückt der Segen zugleich die bestimmende Kraft bzw. Herrschaft Got-
tes über alle Menschen aus. Noach ist dabei der einzige Bezugspunkt
dieses Segens, weil er zuvor auf das Wort Gottes gehört und deshalb aus
der Sintflut gerettet worden ist. Noach und in weiterer Folge auch seine
Söhne sind dazu ausersehen, allen nachsintflutlichen Menschen die Herr-
8
Es fällt auf, dass die Geschlechterdifferenz bei den Tieren weder in der priester-
schriftlichen (vgl. Gen 1,20-25) noch in der nicht-priesterschriftlichen (vgl. Gen 2,19-20)
Schöpfungserzählung eine Rolle spielt.
9
Man kann die Reihenfolge der Textgenese auch vertauschen, wenn man den pries-
terschriftlichen Tradenten als Endredaktor ansetzt (vgl. Modell 2).
Der göttliche Segen beginnt in 9,1 mit der Aufforderung: פרו ורבו
“ ומלאו את־הארץSeid fruchtbar und vermehrt euch und erfüllt die Erde!”
Mit denselben Worten hat sich Gott bereits in 1,28 (P) an die von ihm als
männlich und weiblich erschaffenen Menschen gewandt. Der biblische
Autor betont diesbezüglich also die Kontinuität zwischen dem Anfang
der Schöpfung und dem Neuanfang nach der Sintflut.
In beiden Fällen fordert Gott die Menschen zum Handeln auf. Sie
müssen der göttlichen Aufforderung nachkommen und diese in die Tat
umsetzen. Nur so kann sich das Ziel des göttlichen Segens verwirklichen.
Dass die Menschen in der Vermehrung und Bevölkerung der Erde einen
zu erreichenden Wert und damit einen Grund für ihr konkretes Handeln
erkennen können, hängt wohl damit zusammen, dass Gott selbst die ersten
Menschen erschaffen hat, allerdings nicht alle Menschen, die notwendig
wären, um die gesamte Erde zu bevölkern. Um dieses Ziel zu erreichen,
müssen auch die Menschen — sowohl die ersten Geschöpfe (vgl. 1, 26-27
P) als auch die Überlebenden der Sintflut (vgl. 9,1) — aktiv werden.
Die göttliche Segenshandlung (vgl. 1,28 und 9,1) bringt zum Aus-
druck, dass der göttliche Plan mit den Menschen Erfolg haben wird. Soll-
ten sich auch einzelne Menschen verweigern, können sie dennoch nicht
verhindern, dass der Segen in Erfüllung geht. Der göttliche Auftrag an
die Menschen: “Seid fruchtbar, usw.!” ist nämlich auf das Engste mit der
göttlichen Aussage: “Ich mache euch fruchtbar, usw.!” verbunden. Gött-
liches und menschliches Handeln ist dabei voneinander zu unterschei-
den, beides ist aber auf ein gemeinsames Ziel hin ausgerichtet.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob das göttliche Ziel
den Menschen “von außen”, d.h. von Gott, auferlegt worden ist, ohne dass
die Menschen “von innen”, d.h. aus eigenem Antrieb, dahin tendiert hät-
ten. Der Inhalt der ersten Schöpfungserzählung in Gen 1 legt auf diese
Frage eher eine negative Antwort nahe: Erstens deutet die Erschaffung der
Menschheit als männlich und weiblich auf ihre Mitwirkung bei der eigenen
Vermehrung hin. Die Menschen sind deshalb bereits auf Grund ihrer Schöp-
fungskonstitution auf die Zeugung neuen Lebens ausgerichtet. Zweitens
lässt sich die Tatsache, dass alle göttlichen Schöpfungsansagen in Gen 1 mit
dem Resultat des göttlichen Schöpfungshandelns übereinstimmen, auch auf
den göttlichen Vermehrungsauftrag übertragen, so dass dieser mit der gött-
lichen Schöpfungsrealität der Menschen übereinstimmen muss, sowohl was
die organische Konstitution als auch was die innere Neigung diesbezüglich
betrifft. Wenn sich also Mann und Frau vermehren, folgen sie nicht einem
von außen auferlegten göttlichen Befehl, der ihnen fremd wäre. Sie realisie-
ren vielmehr genau das, wozu sie als Geschöpfe Gottes — unter anderem —
bestimmt sind10. Der göttliche Segen bringt dabei zum Ausdruck, dass das
gemeinsame Handeln von Mann und Frau, insofern es auf ihre Vermehrung
und die Bevölkerung der Erde zielt, immer schon im göttlichen Schöpfungs-
handeln seinen Ermöglichungsgrund hat.
Der Beginn der göttlichen Segensrede in Gen 9,1 ordnet somit die
Dominanz- bzw. Herrschaftsverhältnisse zwischen Gott und Mensch
auf folgende Weise: Gott steht als Schöpfer allen Geschöpfen und da-
mit auch den Menschen gegenüber. Die göttliche Dominanz gegenüber
Noach und seinen Söhnen liegt darin begründet, dass Gott sie zu konkre-
ten Handlungen ermächtigt, die in seinem Schöpfungshandeln begründet
sind und mit seinen Zielvorstellungen übereinstimmen. Das gemeinsame
Handeln von Mann und Frau zielt auf neues, zahlreiches menschliches
Leben, ohne dabei das Leben der anderen zu gefährden. Durch die Se-
genshandlung versichert Gott den nachsintflutlichen Menschen Noach
und seinen Söhnen, dass sie Erfolg haben werden, wenn sie seinen Auf-
trag in die Tat umsetzen und sich vermehren und die Erde bevölkern.
Die Segensermächtigung von 9,1 wird fast wortwörtlich in 9,7 wie-
derholt: “Und ihr: Seid fruchtbar und vermehrt euch (und) wimmelt auf
der Erde und vermehrt euch auf ihr!” 11. Da die beiden Verse 9,1 und 9,7
den gesamten Abschnitt 9,1-7 rahmen, empfiehlt es sich, auch die restli-
Dies gilt auch analog für die Tiere, die von Gott gesegnet werden; vgl. Gen 1,22.
10
Gen 9,7: ואתם פרו ורבו שרצו בארץ ורבו־בה. Die Phrase “ ומלאו את־הארץund erfüllt die
11
Erde!” in Gen 9,1 wird durch die Phrase (“ שרצו בארץund) wimmelt auf der Erde!” er-
setzt. Sie ist bereits in Gen 8,17 im göttlichen Segen für die Tiere verwendet worden. Die
Phrase “ ורבו־בהund vermehrt euch auf ihr!” am Ende von Gen 9,7 wird meist mit Blick
auf die LXX Lesart durch “ ורדו־בהund herrscht über sie!” ersetzt. Vgl. dazu Stipp, “Do-
minium terrae”, 81. In 9,7 wird somit auch der Herrschaftsauftrag von Gen 1,26.28 er-
neuert. Interessant ist allerdings, dass das Verb רדהin Gen 1,(26[vgl. aber: 28.)]ובכל־הארץ
nur die Herrschaft über die Tiere ausdrückt.
der einen, sondern auch um die damit einhergehende Bedrohung für die
anderen.
Gen 1,28 hat die Über- und Unterordnung von Mensch und Tier
noch ganz allgemein bestimmt: “und herrscht ורדוüber die Fische im
Meer und über die Vögel am Himmel und über alle Tiere, die sich über
der Erde (dem Land) regen!” Welche konkreten menschlichen Handlun-
gen mit dem Verb רדהgemeint sind, verrät der nähere Kontext nicht
explizit12. Es geht dabei wohl um all diejenigen Handlungen, die mit
einem göttlichen Mandat übereinstimmen können. Zusätzlich gilt, dass
die erste Schöpfungserzählung noch nichts von gewalttätigen Konflikten
unter den Lebewesen erzählt. Das göttliche Wort ergeht an eine quasi
geschichtslose Schöpfung, die uneingeschränkt in Ordnung ist, was Gen
1,31 am Ende der Erschaffung von Himmel und Erde (noch einmal) un-
terstreicht: “Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe: sehr
gut (war es).” Dieses Urteil muss somit auch für die göttliche Segens-
handlung in 1,28 zutreffen, in der Gott die Menschen ermächtigt, über
die Tiere zu herrschen.
Die Sintfluterzählung hat dagegen die konkrete Geschichte der Le-
bewesen mit ihren Gewalttaten im Blick. Gott reagiert darauf und be-
schließt, die Erde durch eine Flut zu verderben. Er begründet diesen Ent-
schluss damit, dass die Lebewesen aus Fleisch, d.h. die Menschen und
Tiere13, verdorben waren und verdorben gehandelt haben (Gen 6,11b.12
P): “Und die Erde wurde voll mit Gewalt. Und Gott sah die Erde an, und
siehe, sie war verdorben, denn alles Fleisch handelte verdorben in Bezug
auf seinen Weg auf der Erde.”
Während sich Gen 9,1 also noch wortwörtlich auf die göttliche Se-
gensrede in 1,28 bezieht, ist das für 9,2-3 nicht mehr der Fall. Neu an
9,2-3 ist die Reflexion zum Dominanzverhältnis von Mensch und Tier:
Nach 9,2 sollen sich Furcht und Schrecken vor den Menschen auf alle
Tiere der Erde und alle Vögel des Himmels legen. Nach 9,3 wird den
Menschen außerdem “alles, was sich regt, was lebendig ist”, zur Nah-
rung übergeben.
Wie sind diese neuen Bestimmungen zum Dominanzverhältnis von
Mensch und Tier gegenüber Gen 1,28-30 zu beurteilen? Um darauf zu
antworten, muss zunächst an die göttliche Rede in Gen 1,28-30 erinnert
Aus erzähllogischen Gründen sind die Wassertiere nicht unmittelbar von der Sint-
13
flut betroffen.
werden. Gen 1,28-30 gliedert sich in zwei Unterabschnitte, wobei der erste
(1,28) die Dominanzverhältnisse zwischen Gott, Mensch, Tier und Erde
ganz allgemein darlegt und der zweite (1,29-30) die Nahrung für Mensch
und Tier bestimmt. Was die Dominanzverhältnisse betrifft, ist klar, dass
Gott an oberster Stelle steht. Zugleich überträgt er den Menschen Herr-
schaft, indem er ihnen in 1,28 die Vollmacht zuspricht, sich zu vermehren,
sich die Erde zu unterwerfen ( )כבשund über alle Tiere zu herrschen ()רדה14.
Die Menschen sollen demzufolge sowohl über die Erde als auch über die
Tiere dominieren. Gen 1,28 lässt dabei noch offen, welche Handlungen
mit dem Verb “unterwerfen” konkret gemeint sein könnten.
Im zweiten Unterabschnitt, der in Gen 1,29 noch einmal als Rede
eingeleitet wird, übergibt Gott zunächst den Menschen “alle Pflanzen mit
Samen auf der ganzen Oberfläche der Erde (des Bodens) und alle Bäu-
me, in denen Früchte mit Samen sind” zur Nahrung (1,29) und sodann
“allen Tieren des Feldes, allen Vögeln des Himmels und allem, was sich
auf der Erde regt, was Lebensatem in sich hat, alle grünen Pflanzen zur
Nahrung” (1,30). In unserem Zusammenhang interessiert nicht, dass der
Nahrungstisch der Menschen ausführlicher beschrieben wird als der der
Tiere, woraus noch nicht unbedingt folgt, dass dieser auch reichhaltiger
sein müsste15. Vielmehr interessiert, wie der Text die pflanzliche Nah-
rung für die Menschen beschreibt: Gen 1,29 spricht gleich zweimal vom
“Samen”, und zwar zunächst vom Samen, der in der Nähe des Bodens
wächst (“alle Pflanzen mit Samen auf der ganzen Oberfläche der Erde /
des Bodens”), und sodann vom Samen, der auf den Bäumen und daher in
einem gewissen Abstand vom Boden wächst. Für unsere Überlegungen
ist von Bedeutung, was mit den Bäumen oder Pflanzen bei der Nahrungs-
aufnahme geschieht: Wenn Menschen z.B. Früchte von einem Baum
pflücken, wird der Baum nicht zerstört. Er wird in der nächsten Saison
— sofern bestimmte Voraussetzungen wie guter Boden, Regen, Bestäu-
bung usw. gegeben sind — wieder Früchte hervorbringen. Ähnliches gilt
auch für die Feldpflanzen und Kräuter, die den Menschen als Nahrung
dienen. Sie werden — unter günstigen Bedingungen — immer wieder
nachwachsen. Die Menschen, die die Nahrungsvorschrift von 1,29 be-
achten, werden ihre Nahrungsgrundlage, d.h. die Wurzeln der Feld- und
Baumfrüchte, also nicht zerstören.
14
Zu den beiden Verben כבשund רדהvgl. Stipp, “Dominium terrae”, 56-79.
15
Vgl. dazu Volgger, Und dann wirst du gewiss sterben, 9-14.
Die Verse 1,28 und 1,29 lassen zwar offen, ob die beiden menschli-
chen Handlungen “Unterwerfen der Erde” und “Essen von Pflanzen- und
Baumfrüchten” unmittelbar miteinander zu tun haben. In beiden Fällen
ist aber ein Dominanzgefälle zwischen den Menschen einerseits und der
Erde bzw. den Feld- und Baumfrüchten andererseits vorausgesetzt, so
dass die göttliche Nahrungsvorschrift (vgl. 1,29) durchaus als konkretes
Beispiel für die Unterwerfung der Erde durch die Menschen (vgl. 1,28)
gelten kann. Die beiden Handlungen “Unterwerfen” und “Essen” unter-
scheiden sich dabei in der Extension ihres semantischen Bedeutungsfel-
des, d.h. in der Menge der Handlungen, die das Verb bezeichnen kann16:
Während “Essen von pflanzlicher Nahrung” unter den Begriff “Unter-
werfen (der Erde)” fällt, geht der Begriff “Unterwerfen (der Erde)” über
den Begriff “Essen” hinaus. Wenn ein Mensch sich die Erde unterwirft,
bedeutet das nicht nur, dass er Pflanzen- und Baumfrüchte genießt, son-
dern z.B. auch, dass er Pflanzen und Bäume hegt und pflegt17.
Gen 1,29 setzt also zwei Schöpfungsrealitäten, nämlich die Men-
schen auf der einen und die Pflanzen bzw. Bäume auf der anderen Seite,
zueinander in Beziehung und legt zwischen ihnen ein klares Dominanz-
verhältnis fest: Die Menschen sollen über alle Pflanzen und Bäume der
Erde dominieren, indem sie z.B. davon essen. Dabei werden sie keine
ursprüngliche göttliche Schöpfungsrealität bleibend zerstören, weil die
genießbaren Früchte immer wieder nachwachsen. Dass Menschen und
Tiere essen sollen, muss Gott den Lebewesen nicht erst von außen anord-
nen, es ist ihnen mit ihrer Erschaffung bereits mitgegeben18.
Was die Beziehung der Menschen zu den Tieren angeht, fällt auf,
dass Gen 1,28 zwar von der Dominanz der Menschen über die Tiere
spricht (vgl. “ רדהherrschen”; vgl. 1,26), dafür aber kein konkretes Bei-
spiel anführt. Genau das geschieht in 9,2-3. Die beiden Verse schwei-
gen zur Dominanz der Menschen über die Erde (vgl. 1,28: “ וכבשהund
16
Die rabbinische Diskussion setzt die beiden Handlungen “Herrschen (über die Tie-
re)” und “Essen” (bzw. “Arbeiten”) zueinander in Relation; vgl. dazu die Aussage im
babylonischen Talmud, Sanhedrin 59b: “Man wandte ein: Herrscht über die Fische im
Meere; doch wohl hinsichtlich des Essens!? – Nein, hinsichtlich der Arbeit”.
17
Einen Hinweis darauf findet sich allerdings nur in der zweiten nicht-priesterschrift-
lichen Schöpfungserzählung in Gen 2,5.15 und 3,23. — Soweit aus Gen 1-9 erkennbar
ist, nehmen nur von Gott erschaffene Lebewesen Nahrung zu sich. Gott selbst bedarf da-
gegen keiner Nahrung und kann deshalb auch keinen Nutzen aus der Nahrungsvorschrift
von 1,29 ziehen.
18
Vgl. den Vermehrungsauftrag in Gen 1,28!
19
Auch die nicht-priesterschriftliche Sintfluterzählung problematisiert auf ihre Weise
die Vernichtung einer Schöpfungsrealität: Wenn Noach ein Tier von den “nicht reinen”
Tieren, von denen nur ein einziges Paar in die Arche gekommen ist (vgl. Gen 7,2), als
Brandopfer dargebracht hätte (vgl. Gen 8,20), hätte er diese Tierart endgültig vom Erd-
boden vertilgt. Gott hätte diese Tierart von neuem erschaffen müssen.
von Gen 9,2-3 als Segen für Noach und seine Söhne müssen also folgen-
de Voraussetzungen beachtet werden:
(1) Alle Lebewesen, d.h. alle Menschen und Tiere, nehmen Nahrung
zu sich.
(2) Die Dominanz der Menschen sowohl über die Tiere als auch
über die Erde ist integraler Bestandteil der Segensaussage in 1,28.
(3) Der Genuss von Feld- und Baumfrüchten durch Menschen und
Tiere in 1,29-30 ist ein konkretes Beispiel für die Dominanz der Lebewe-
sen über die Früchte der Erde.
(4) In Folge von Aussage (2) und (3) kann auch der Genuss von
Tieren durch die Menschen als Beispiel für die Dominanz der Menschen
über die Tiere interpretiert werden. Angesichts dieser Folgerung sind
Furcht und Schrecken der Tiere vor den Menschen in 9,2 ein angemesse-
ner Schutzmechanismus, den Gott den Tieren mitgegeben hat.
Die beiden Verse Gen 9,2-3 lösen allerdings noch nicht die Span-
nung zwischen der Herrschaft, die die Menschen zu Recht über die Tiere
ausüben, wenn sie davon essen, und die Herrschaft, die die Menschen zu
Unrecht über die Tiere ausüben könnten, wenn sie dabei die Herrschaft
Gottes über das Leben der Tiere verdunkeln würden. Auf diese Span-
nung wird der folgende Vers Gen 9,4 antworten.
Stimmt man der bisherigen Textinterpretation zu, ergibt sich bereits
ein erster Hinweis auf die kontextuelle Einbettung von Gen 9,4 im Text-
gefüge von Gen 9,1-4: Der Vers Gen 9,4 kann demnach nicht als späte-
rer halachischer Zusatz zu Gen 9,1-3 beurteilt werden, er ist vielmehr
eine notwendige Aussage in der Argumentation der priesterschriftlichen
Tradition, der zufolge erst im Zusammenhang mit der Sintfluterzählung
— unter bestimmten Bedingungen — tierische Nahrung den Menschen
erlaubt wird20.
20
Die Priesterschrift kennt somit keine Urgeschichte, in der nur vegetarische Nahrung
für die Menschen erlaubt gewesen wäre. Sie unterscheidet aber eine Phase, in der die
vegetarische Nahrung von allem Anfang an unproblematisch war, während dies für die
tierische Nahrung erst ab Gen 9,1-7 — unter ganz bestimmten Bedingungen — zutrifft.
Der Genuss von Tieren scheint zu Beginn nicht prinzipiell ausgeschlossen zu sein, hat
aber in der konkreten Handhabung zu widergöttlicher Gewalt geführt und wurde erst mit
dem göttlichen Wort in Gen 9,2-4 allen Menschen erlaubt.
5. Das Verbot der Dominanz der Menschen über die Tiere: Gen 9,4
In Gen 9,4 schränkt Gott den Genuss von Tieren ein: אך־בשר בנפשו
דמו לא תאכלו. Benno Jacob übersetzt diesen Vers folgendermaßen: “Nur ein
Fleisch mit seiner Seele, sein Blut sollt ihr nicht essen!”21. Man könnte die
Phrase דמוauch als Apposition zur Phrase נפשוinterpretieren und dement-
sprechend übersetzen: “Nur Fleisch ( )בשרin / mit seinem Leben(sprinzip)
()בנפשו, seinem Blut ( )דמוesst ihr nicht / dürft ihr nicht essen!” Dies ist für
die Interpretation von Gen 9,1-4 allerdings nicht weiter von Belang. Um
die Aussageabsicht von Gen 9,4 genau zu erfassen, muss zunächst die Be-
deutung der Begriffe נפש, בשרund דםgeklärt werden.
Der Begriff “ בשרFleisch” wird auf unterschiedliche Weise auf kon-
krete, reale Entitäten bezogen: Zum einen bezeichnet בשרein Lebewesen
in seiner Gesamtheit, sei es Mensch oder Tier, zum anderen lediglich
einen Teil des Lebewesens, nämlich sein Fleisch, das im Fall von Tie-
ren — unter bestimmten Bedingungen — gegessen werden darf. In der
Sintfluterzählung Gen 6,5-9,17 bezeichnet der Begriff “ בשרFleisch” v.a.
das (vergängliche) Lebewesen, insofern es aus Fleisch besteht. Vor der
Sintflut hat Gott nämlich auf alle Lebewesen, d.h. auf alle Menschen und
Tiere geschaut und erkannt (Gen 6,12 P): “Und siehe, sie (die Erde) war
verdorben, denn alles Fleisch ( )כל־בשרhandelte verdorben in Bezug auf
seinen Weg auf der Erde”22. In Gen 9,15 (P) weitet Gott seinen Bund mit
Noach und seinen Söhnen auf ( כל־נפש חיה בכל־בשרvgl. auch 9,16 P) aus.
Demnach sind auch die Tiere, d.h. “jedes Lebewesen eines Tieres mit al-
lem Fleisch” Bundespartner Gottes23. In Gen 9,17 entspricht (…) כל־בשר
der Phrase כל־נפש חיה בכל־בשר, so dass die Begriffe “ נפשLeben(sprin-
zip)” und “ בשרFleisch” strukturell ähnlich funktionieren. Für Gen 9,4
ist allerdings zu beachten, dass der Begriff “ בשרFleisch” auf die Tiere
beschränkt werden muss (vgl. auch Gen 6,19 P; 7,15-16 P).
Der Begriff נפשbezeichnet zum einen ganz konkret die Kehle eines
Lebewesens oder das Lebewesen als solches und zum anderen das eher
abstrakte Lebensprinzip oder die “Seele” eines Lebewesens. Im letzteren
21
B. Jacob, Das erste Buch der Tora. Genesis übersetzt und erklärt (Berlin 1934) 243.
22
Zur Phrase “alles Fleisch” vgl. noch Gen 9,11.15-17.
23
Die Phrase נפש חיהbezieht sich nach Milgrom, Leviticus 1-16, 712 in P auf die Tiere
[vgl. Gen 1,20.21.24.30; 9,10.12.15.16; Lev 11,10.46; vgl. auch Ez 47,9 und Gen 2,19
(J)]; nur in Gen 2,7 (J) bezieht sich die Phrase auf den Menschen.
Fall bleibt der Bezug zum konkreten Lebewesen allerdings stets erhalten.
In Gen 9,4 geht es vor allem um die Bedeutung: נפשals Lebensprinzip.
Der Begriff דםmeint eine konkrete Flüssigkeit, die im Organismus
eines Lebewesens zirkuliert oder im Fall einer — mitunter tödlichen —
Verletzung aus diesem hervortritt. In Gen 9,4 steht דםin einer Apposition
zu נפשund funktioniert daher vergleichbar damit: Das Blut — wie die
Kehle — als Träger oder Zeichen des Lebens.
Das Verbot in Gen 9,4 untersagt also dem Menschen, ein Tier zu
genießen, wenn es sich dabei um einen lebendigen Organismus mit Le-
bensprinzip und Blut handelt. Kein Mensch darf sich eines Tieres mit
seinem Lebensprinzip bemächtigen. Eine derartige Handlung wäre wohl
nichts anderes als eine Gewalttat (vgl. 6,11.13 P), die von neuem geahn-
det werden müsste.
Wenn Gott in Gen 9,4 den Menschen verbietet, “Fleisch mit / in sei-
nem Lebensprinzip, seinem Blut” zu essen, nimmt er die Erlaubnis von
9,2-3 nicht einfach wieder zurück. Er entzieht aber den Menschen, wenn
sie sich von Tieren ernähren, die Herrschaft über das Lebensprinzip der
Tiere. Dies geschieht dadurch, dass das Lebensprinzip mit einem kon-
kreten Teil des Organismus, dem Blut, in gewisser Weise gleichgesetzt
wird, so dass der Genuss des Lebens(prinzips) konkret verboten werden
kann24. Auf diese Weise behält Gott die Herrschaft über das Leben der
Tiere und kann dafür Rechenschaft fordern, wenn sich Menschen dar-
über zu Unrecht Herrschaft aneignen. Die anschließenden Verse 9,5-6
werden die unerlaubte Herrschaft der Menschen und Tiere über das Blut
bzw. das Leben der Menschen thematisieren und dabei Gott als alleini-
gen Herrscher hervorheben.
Für die priesterschriftliche Urgeschichte in Gen 1-9* ergibt sich so-
mit folgendes Bild: Gott hat die Menschen dazu ermächtigt, über die
Pflanzen, Bäume und Tiere zu dominieren, indem sie unter anderem da-
von essen. Problematisch sind dabei Handlungen, die die Existenz ande-
rer Geschöpfe gefährden: Beim Genuss von Feld- und Baumfrüchten ist
die Rede vom Vernichten oder Töten überflüssig, weil der Verzehr der
Früchte normalerweise nicht zur Vernichtung der göttlichen Geschöpfe,
Die Aussagen in Gen 9,2-4 lassen dabei offen, was die Menschen konkret tun müs-
24
sen, um die Tiere als Nahrung genießen zu können, ohne das göttliche Schöpfungsziel
zu verletzen. Der Hinweis auf das Leben(sprinzip) und das Blut in 9,4 deutet lediglich
an, welche Elemente in der weiteren Reflexion zu diesem Thema von Bedeutung sein
werden. Diese Reflexion steht in 9,4 aber noch aus.
d.h. der Pflanzen oder Bäume führt25. Beim Genuss von Tieren kann es
hingegen zur (unrechtmäßigen) Vernichtung des Lebens von göttlichen
Geschöpfen durch die Menschen kommen. Gen 9,4 verbietet daher den
Menschen, “Fleisch mit / in seinem Lebensprinzip, seinem Blut” zu es-
sen bzw. ein Stück von einem lebenden Tier abzuschneiden, um davon
zu essen26.
Berücksichtigt man, dass Gen 9,2-4 Teil eines göttlichen Segens
ist, lassen sich die Verse dahingehend interpretieren, dass Gott die noa-
chidischen Menschen dazu ermächtigt, Tiere zu essen, ohne dabei Herr-
schaft über das Leben der Tiere auszuüben. Die Tötung von Tieren kann
also niemals Ziel menschlichen Handelns sein, sondern immer nur Mit-
tel, um ein ganz bestimmtes Ziel, nämlich den Verzehr von Tierfleisch,
zu erreichen. Gen 9,4 spricht allerdings nicht explizit vom Töten oder
Schächten der Tiere, sondern allein vom Verbot, “Fleisch in / mit seinem
Lebensprinzip, seinem Blut” zu essen, wodurch verhindert werden soll,
dass Menschen sich zu Unrecht anmaßen, über das Leben der Tiere zu
25
Dieser Sachverhalt könnte auch erklären, warum Pflanzen und Bäume — im Ge-
gensatz zu Tieren und Menschen — nicht (explizit) als “lebendig” charakterisiert werden.
Für die Reflexion zum Genuss von Pflanzen- und Baumfrüchten ist allerdings relevant,
dass die Schöpfungserzählung Gen 1,1-2,4a, in der die Menschen noch keine Geschichte
haben, mit der Schöpfungserzählung Gen 2,4b-2,25 (bzw. -3,24), in der die Menschen
eine Geschichte haben, verbunden ist: Nach Gen 2,16-17 darf der Mensch von allen Bäu-
men essen – bis auf den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Die Rechtsfolge “Tod”
bzw. “Entfernung aus dem Paradies, vom Baum des Lebens” macht deutlich, dass auch
der Genuss der Feld- und Baumfrüchte von einem Verbot begleitet wird. Das Verbot soll
den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf und damit die Dominanz des Schöp-
fers über seine Geschöpfe, insbesondere über den Mann und seine Frau, klarstellen. Vgl.
dazu Volgger, Und dann wirst du gewiss sterben, 9-14.
26
Die an dieser Stelle vorgeschlagene Exegese von Gen 9,4 kann auch mit der rab-
binischen Auslegung des noachidischen Verbots von Gen 9,4 in Einklang gebracht wer-
den. Nach dem babylonischen Talmud, Sanhedrin 56a.b, ist den Menschen verboten, ein
Glied von einem lebenden Tier zu genießen. Damit ist ein Stück Fleisch gemeint, das
von einem lebenden Tier abgeschnitten wird. Insofern in diesem Tier das Blut zirkuliert,
ist auch das Blut von einem lebenden Tier verboten. Die Menschen dürfen also zum
Zweck der Nahrungsaufnahme von einem Tier mit Leben und Blut nicht einfach etwas
abtrennen. – Die vorgeschlagene Interpretation von Gen 9,4 entspricht auch der griechi-
schen Übersetzung, insofern das “Blut” (αἷμα) nicht direktes Objekt des Verbs “essen”
(φαγεῖν) ist, sondern mit der Präposition ἐν konstruiert wird: πλὴν κρέας ἐν αἵματι ψυχῆς
οὐ φάγεσθε “Nur Fleisch im Blut des Lebens esst ihr nicht!” Die lateinische Texttradition
verkürzt schließlich auf: excepto quod carnem cum sanguine non comedetis “ausgenom-
men, dass ihr Fleisch mit Blut nicht esst”.
herrschen. Im Segen von Gen 9,2-4 unterstreicht Gott also die Möglich-
keit, dass Menschen sich auch von Tieren ernähren dürfen, ohne dabei
Herrschaft über deren Lebensprinzip auszuüben. Das Lebensprinzip der
Tiere bleibt damit unter der Domäne Gottes.
Das Verbot, Tiere samt ihrem Blut bzw. Lebensprinzip zu genießen,
kommt im Pentateuch noch in zwei anderen Quellen vor: Zum einen in
H (vgl. Lev 17,10-12.14 und 19,26)27 und zum anderen in D (vgl. Dtn
12,16.23-25 und 15,23). In beiden Fällen taucht das Verbot im Zusam-
menhang mit zentralen Opfervorschriften der jeweiligen Gesetzeskor-
pora auf28. Diese Beobachtung legt die Annahme nahe, dass H und D,
von denen weder eine Ur- noch eine Patriarchengeschichte überliefert
ist, die ihnen vorausliegende Tradition vom Blutverbot v.a. an strukturell
paralleler Stelle, nämlich am Beginn ihrer Gesetzeskorpora im Kontext
ihrer Opfergesetzgebung (Lev 17 und Dtn 12) eingebaut haben. Wenn
man auch eine gewisse Vertrautheit von D mit H und ev. auch von H
mit D voraussetzen darf, empfiehlt es sich dennoch, von zwei getrenn-
ten Traditionen auszugehen, die erst sekundär von einem Herausgeber
zusammengefügt worden sind. Das archaische Verbot, Blut zu genießen,
findet sich somit in drei unterschiedlichen Traditionen des Pentateuch:
In P schützt das Verbot alle Menschen davor, beim Genuss von Tieren
zu Unrecht Gewalt über die Tiere auszuüben. In H und D funktioniert
das Verbot im Zusammenhang einer komplexen Opfergesetzgebung, die
für die Israeliten (und Menschen, die in ihrem Einflussbereich leben,)
Gültigkeit beansprucht.
Abschließend stellt sich noch die Frage, ob die priesterschriftlichen
Opfergesetze zum Verbot von Blutgenuss vollkommen schweigen? Da-
rauf lässt sich eine zweifache Antwort geben: Erstens: Das Verbot von
Blutgenuss ist in allen Opfergesetzen von P vorausgesetzt. Das noachidi-
sche Verbot gilt also auch für die Israeliten unter der Weisung vom Berg
Sinai. Und zweitens: Das Blutverbot kommt ausdrücklich in zwei Ver-
sen im Kontext des priesterschriftlichen Opfersystems von Lev 1-7 vor,
nämlich in Lev 3,17 und 7,26-27. Es fällt dabei auf, dass das Verbot von
Blutgenuss in beiden Passagen an das Verbot von Fettgenuss (“Fett” )חלב
von prinzipiell opferbaren Tieren (vgl. Rind, Schaf oder Ziege in Lev
Zu den beiden Versen Lev 3,17 und 7,26-27 vgl. weiter unten! Zum schwierigen
27
29
Vgl. Milgrom, Leviticus 1-16, 214-216 zu Lev 3,16b-17 und s. 426-429 zu Lev
7,22-29a.
30
Um Schelamim-Opfer geht es in Lev 3,1-17 und 7,11-36 17,5; auch Lev 17,5 spricht
von Schelamim-Opfern. Vgl. noch die Ausführungen von Milgrom, Leviticus 17-22, auf
den Seiten 1472-79. In diesem Zusammenhang unterscheidet er auch die Konzeption von
Schelamim-Opfern in P und H auf Seite 1478: “ […] H has innovated a new function for
the šĕlāmîm, which differs radically from that of P. Rather than being another kind of P’s
šĕlāmîm of joy, H’s šĕlāmîm is an expiatory sacrifice—ransoming (kpr) the offerer for
the sin of murder by slaughtering the sacrificed animal. H´s innovation is not without
some precedent. P ordains that the non-Israelite commits murder if he does not drain the
slain animal of its blood (Gen 9:4). H extends this notion to the Israelite and revises it: to
ransom the Israelite from the charge of murder, for taking the life of the animal, he must
drain the animal´s blood on a sanctuary altar—that is, offer the animal as a šĕlāmîm.”
6. Das Verbot der Dominanz der Menschen und Tiere über die Men-
schen: Gen 9,5-6
Gen 9,5-6 lenkt die Aufmerksamkeit auf Menschen, deren Blut von
anderen Menschen oder Tieren vergossen worden ist:
Gen 9,5-6
5
וְאְַך אֶת־דִּ ְמכֶם ְלנַפְשׁ ֹתֵ יכֶם אֶדְ ר ֹשׁ ִמיּ ַד כָּל־ ַחיּ ָה5 Aber dagegen euer Blut ( – )דמכםfür
אֶדְ ְרשֶׁנּוּ וּ ִמיּ ַד הָאָדָ ם ִמיּ ַד אִישׁ אָחִיו אֶדְ ר ֹשׁ אֶת־eure Lebenseinheiten ( )לנפשתיכםsuche
נֶפֶשׁ הָאָדָ ם׃ich (( )אדרשes): Von allen Lebewesen
(d.h. von allen Tieren: )כל־חיהsuche
ich (es) und vom Menschen; von je-
dem Mann seines Bruders suche ich
das Leben ( )נפשdes Menschen.
6
שּׁפְֵך כִּי ְבּ ֶצלֶם
ָ ִ שֹׁפְֵך דַּ ם הָאָדָ ם בָּאָדָ ם דָּ מֹו י6 Wer das Blut des (eines) Menschen
אֱֹלהִים ָעשָׂה אֶת־הָאָדָ ם׃vergießt, durch / für den Menschen
wird sein Blut vergossen, denn nach
dem Bild Gottes hat er den Menschen
erschaffen.
Es trifft zwar zu, dass Gen 9,4(-6) gegenüber Gen 1,26-28 eine Überarbeitung dar-
32
stellt (vgl. Fishbane, Biblical Interpretation in Ancient Israel, 319-320 unterscheidet da-
bei 9,4-5 als “basic reworking”, 9,6a als “secondary element” und 9,6b als “return to the
language of Gen 1”, allerdings mit einer ganz neuen Funktion. Vgl. dazu weiter unten im
Zusammenhang mit dem Konzept “Bild Gottes”!) – Die Überarbeitung in Gen 9,4(-6)
scheint aber — zumindest in wesentlichen Teilen — durch die priesterschriftliche Sint-
fluterzählung bedingt zu sein und kann deshalb nicht als sekundärer Zusatz interpretiert
werden, der in P auch fehlen könnte. Eine “bedingungslose” Erlaubnis, Tiere zu essen
(vgl. Gen 9,2-3) und damit Gewalt über sie auszuüben, entspricht wohl kaum der Logik
der priesterschriftlichen Sintfluterzählung.
Gen 9,5 ist durch die beiden Begriffe “Blut” (=( דמSg.); “ דמכםeuer
Blut”) und “Leben(sprinzip)” ( ;נפשvgl. auch “ נפשתיכםeure Lebensein-
heiten”) mit dem vorangehenden Vers 9,4 verbunden. Inhaltlich geht es
in 9,5 aber nicht mehr um Tiere, sondern um Menschen, d.h. um deren
Blut und Leben. Dabei wendet sich Gott zu Beginn von 9,5 mit Hilfe der
beiden Possessivpronomen der 2. Ps. Pl. direkt an Noach und seine Söh-
ne. Der Sache nach drückt 9,5 ein Verbot aus und kann diesbezüglich mit
9,4 verglichen werden. In 9,5 wird Menschen und Tieren verboten, einen
Menschen durch eine Bluttat zu töten. Das Verbot setzt aber zugleich
voraus, dass mit Menschen und Tieren zu rechnen ist, die dieses Ver-
bot missachten und sich damit zu Unrecht Macht über andere Menschen
anmaßen. Gegen diese Anmaßung will Gott (als Sprecher in 1. Ps. Sg.)
auftreten und “das Blut eines jeden Opfers suchen” 33. Klaus Koch erklärt
diese Wendung mit Hilfe der Vorstellung von der Blutrache: Demzufolge
mache sich “ein Angehöriger der durch den Verlust des Toten geschä-
digten Gemeinschaft auf den Weg, das Blut seines Verwandten bei dem
Mörder „zu suchen‟, an dem es […] haftet, und es wieder der eigenen
Gemeinschaft zuzuführen, es jedenfalls aus der Botmäßigkeit eines frem-
den Menschen, in der es sich jetzt befindet, zu befreien” 34. Wenn Gen
9,5 davon spricht, dass Gott das Blut eines menschlichen Gewaltopfers
sucht, heißt das, dass er selbst das Blut des Opfers aus der vermeintli-
chen Machtsphäre des Gewalttäters befreit. Gott stellt auf diese Weise
die ursprünglichen Dominanzverhältnisse wieder her, indem er das Le-
ben des Gewaltopfers unter seine Domäne zurückkehren lässt. Auf diese
Weise wird eine vermeintlich “endgültige” Herrschaft von Menschen
oder Tieren über andere Menschen unmöglich. Gott versichert in Gen
9,5 den Adressaten seines Segens, das Leben eines jeden menschlichen
Gewaltopfers zu suchen und aus der Fremdherrschaft zu befreien.
Gen 9,6 scheint die Aussage von 9,5 in Form eines Rechtssatzes zu
reformulieren: Der Rechtssatz setzt sich aus einem relevanten Rechtsfall
(“wer das Blut des (eines) Menschen vergießt”), einer entsprechenden
Rechtsfolge (“durch / für das Blut des Menschen wird sein Blut vergos-
sen”) und einer Rechtsbegründung (“denn nach dem Bild Gottes hat er
den Menschen erschaffen”) zusammen. Die Phrase שפך דםbezeichnet im
33
Auch die LXX und die Vulgata übersetzen mit “suchen”: LXX: ἐκζητέω; Vg.: re-
quiram.
34
Koch, “Der Spruch „Sein Blut bleibe auf seinem Haupt‟ ”, 409-410.
Vgl. Milgrom, Leviticus 1-16, 710 nennt neben Gen 9,6 und Num 35,33 (P) noch
35
se” 37. Das heißt: Den Täter trifft nicht nur infolge der bösen Tat Un-
heil, die böse Tat selbst ist schon sein Unheil. Es bedarf folglich keines
funktionierenden Gerichtswesens, um das Vergehen festzustellen und die
entsprechende Strafe zu verhängen. Alles liegt vielmehr in der Gewalt
Gottes, der Noach und seine Söhne segnet, indem er ihnen zusichert, das
vergossene Menschenblut zu suchen, so dass der Täter von seiner Bluttat
eingeholt wird. Der Sprechakt, der all das wirksam werden lässt, ist der
göttliche Segen: “Gott segnete […] und sprach […]” (Gen 9,1)38.
Am Ende von Gen 9,6 begründet Gott sein wirkmächtiges Segens-
wort zum Schutz des menschlichen Lebens: Jedem Menschen39 gebührt
in der Schöpfung eine Sonderstellung, weil er als einziges Geschöpf nach
dem “Bild Gottes” erschaffen ist und so die Spitze der göttlichen Do-
minanz innerhalb der Schöpfung repräsentiert40. Zugleich ist aber Gott
37
Koch, “Der Spruch „Sein Blut bleibe auf seinem Haupt‟ ”, 401.
38
Ähnlich verhält es sich mit dem Fluch Gottes; zum Begriff “Fluch” vgl. Speyer,
“Fluch”, 1160-1288.
39
Gen 9,5-6 spricht allein vom “Adam” אדםund unterscheidet nicht zwischen “männ-
lich” und “weiblich”. Der Kontext lässt aber nicht daran zweifeln, dass mit Adam männ-
liche und weibliche Repräsentanten der Menschheit gemeint sind.
40
Das Konzept “Bild Gottes” kommt in Gen 1,26-27; 5,1-2 und 9,6 vor. Dass der
Mensch – als männlich und weiblich – “Bild Gottes” ist, hat nach Gen 1,26-27 mit seiner
speziellen Erschaffung durch Gott zu tun (vgl. auch 5,1-2). Die Sonderstellung des Men-
schen in der Schöpfung wird mit seiner Vormachtstellung über die Erde und die Tiere
verbunden (vgl. 1,26.28) und durch die Erlaubnis, Feld- und Baumfrüchte (vgl. 1,29)
bzw. Tierfleisch (vgl. 9,2-4) zu genießen, konkretisiert. Gen 5,3 hält zudem fest, dass
Adam nach “seinem Bild” einen Sohn gezeugt habe. Das Bildsein des neuen Geschöpfs
dürfte dabei mit der “Erschaffung” durch Adam und der männlichen Gestalt Seths zu
tun haben. Gen 9,6 hebt schließlich hervor, dass auch derjenige Mensch, dessen Blut
vergossen worden ist, “Bild Gottes” ist. Das Konzept “Bild Gottes” scheint in 9,6 die
unveräußerliche Vormachtstellung eines jeden Menschen in der Schöpfung zu unterstrei-
chen. Gott steht dafür ein, dass kein Lebewesen diese Ordnung außer Kraft setzt. Jeder
Herrschaftsanspruch eines Menschen kann somit nur von Gott und dessen Herrschaft
abgeleitet werden. – Zur Funktion des Konzepts Bild Gottes in Gen 9,6 vgl. Fishbane,
Biblical Interpretation in Ancient Israel, 320: “It functions not solely to explain why
God will restore human blood (to a clan) when humans have been killed by animals,
but also to explain the prohibition of manslaughter and the inevitable legal retribution.
Whoever kills another person will be killed, states the text, because mankind has been
created in the image of God.” – Über den Horizont von P in Gen 1-9* hinaus gilt zudem:
Die Vormachtstellung des Menschen in der Schöpfung kann niemals zur kultischen Ver-
ehrung eines Mitmenschen als “Bild Gottes” führen (vgl. dazu den König oder die Kö-
nigin in altorientalischen Kulturen), weil jeder Mensch gleichermaßen “Bild Gottes” ist
und dadurch unmittelbar auf Gott bezogen bleibt. Kultische Verehrung gebührt folglich
der Garant dafür, dass kein Lebewesen über einen anderen Menschen
endgültig herrscht, indem er dessen Blut vergießt. Gott “sucht” nämlich
das Blut der Gewaltopfer und befreit sie aus jeglicher Dominanz durch
andere Lebewesen. Der Mensch kann deshalb nur die unzerstörbare Le-
bens- und Schöpfungskraft Gottes in dieser Welt repräsentieren.
Gen 9,5-6 fügt sich somit in die Gesamtaussage des göttlichen Se-
gens in Gen 9,1-7 bestens ein: Demnach ist die rechte Schöpfungsord-
nung in der freien und souveränen Dominanz des Schöpfers über alle
seine Geschöpfe begründet. Die göttliche Dominanz wird in Gen 9,1 als
lebensspendender Segen für alle Menschen thematisiert. Zu diesem gött-
lichen Segen gehört auch, dass Gott den Menschen Tiere zur Nahrung
übergibt (vgl. 9,2-3). Dabei dürfen die Menschen aber keine Macht über
das Leben der von Gott erschaffenen und gesegneten Tiere ausüben (vgl.
9,4). Schließlich sichert Gott den Menschen noch zu, das Blut eines je-
den menschlichen Gewaltopfers in die lebensspendende göttliche Ge-
meinschaft zurückzuführen (vgl. 9,5-6)41.
nur Gott allein — und zwar von jedem Menschen. — Eine andere Ebene der Reflexion
stellen die alttestamentlichen Aussagen zu den Götterbildern bzw. zum Verbot ihrer Ver-
ehrung dar. Götterbilder werden im AT (meist in polemischen Abschnitten) als Artefakte
der Menschen und nicht als Geschöpfe Gottes beurteilt. Die Reflexion zu den Götterbil-
dern (im AT) kommt allerdings mit der Reflexion zum “Bild Gottes” (in P in Gen 1-9*)
darin überein, dass weder einem von Menschenhand gemachten Gottesbild noch einem
nach dem “Bild Gottes” erschaffenen Menschen kultische Verehrung zukommt. In den
beiden interessanten Untersuchungen zum “Bild Gottes” und zu den “Götterbildern” in
altorientalischen Texten und im AT von Schellenberg (“Humankind as the ʻImage of
Godʼ ”, 97-115) und Lux (“Das Bild Gottes und die Götterbilder”, 133-157) wird der
Aspekt der kultischen Verehrung bzw. der Unmöglichkeit derselben — meines Erachtens
— nicht gebührend berücksichtigt. – Zur Präsenz der Vorstellung vom “Bild Gottes” in
Gen 2–3 vgl. z.B. MaCdonald, “A Text in Search of Context”, 3-16.
41
Nach den bisherigen Überlegungen ist in Gen 9,1-6 weder vom Töten oder Schäch-
ten der Tiere noch von der Bestrafung eines Lebewesens, ob Mensch oder Tier, auf Grund
einer begangenen Bluttat die Rede. Das schließt aber nicht aus, dass Gott in weiterer
Folge die Regeln für die erlaubte oder unerlaubte Tötung von Tieren und Menschen
präzisiert und bestimmte Menschen mit der Vollstreckung göttlicher Todesurteile beauf-
tragt: Zum rituellen Schlachten der Tiere vgl. Milgrom, Leviticus 1-16, 713-718; zur
Todesstrafe im AT vgl. Hieke, “Das Alte Testament und die Todesstrafe”, 349-374; zu
den Karet-Sätzen im AT vgl. insbesondere Milgrom, Leviticus 1-16, 457-460. Die rab-
binische Reflexion sieht nach dem babylonischen Talmud, Sanhedrin 49b (Mischna 6,1)
vier Todesarten vor: “Vier Todesarten sind dem Gerichte übergeben worden: Steinigung,
Verbrennung, Enthauptung und Erdrosselung; R. Shimon sagt: Verbrennung, Steinigung,
Erdrosselung und Enthauptung. […]” Offensichtlich geht die Rechtsfolge “es wird sein
7. Zusammenfassung
Der Abschnitt Gen 9,1-7 gehört insgesamt zur priesterschriftlichen
Sintfluterzählung. Die Textanalyse gewinnt nicht an Erklärungswert, wenn
man einzelne Aussagen (z.B. 9,4 oder Teile von 9,5-6) als spätere Zusätze
ausscheidet. Es empfiehlt sich vielmehr, alle sieben Verse als göttlichen
Segen im priesterschriftlichen Erzählzusammenhang auszulegen.
Dass Noach und seine Söhne gesegnet sind, wenn Gott sie mit ih-
ren Frauen dazu ermächtigt, sich zu vermehren und auf diese Weise die
Erde zu bevölkern (vgl. Gen 9,1.7), leuchtet sogleich ein. Es ist klar, dass
Mann und Frau gemeinsam mitwirken müssen, um Leben zu vermehren,
das exakt dem Schöpfungshandeln Gottes entspricht (vgl. Gen 1,26-27).
Dennoch scheint die Adressatenangabe von Gen 9,1 insbesondere die
Männer mit der Initiative der Vermehrung menschlichen Lebens zu be-
trauen. Da Gott sich mit seinem Segen für die Vermehrung menschlichen
Lebens auf der Erde verbürgt, dürfen die nachsintflutlichen Menschen
darauf bauen, dass sich dieses Ziel sicher einstellen wird.
Blut vergossen” nicht direkt in die rabbinische Reflexion ein. Dies hat wohl damit zu tun,
dass die Reflexion im Abschnitt Sanhedrin — im Gegensatz zu Gen 9,1-7 — von einer
ausgeprägten Rechtspflege mit Gerichtsverfahren, Zeugenbefragungen, Gerichtshöfen
usw. ausgeht.
42
Das Nomen אישkommt in 4,1 vor, das Nomen אחin 4,2 (u.ö. in 4,8(2x).9(2x).10.11).
Gott segnet die Menschen außerdem mit Nahrung, wozu er ihnen nicht
nur die Feld- und Baumfrüchte, sondern auch die Tiere übergibt, freilich
nicht ohne vorher die Tiere mit Schrecken und Furcht vor den Menschen
ausgestattet zu haben, nachdem Gewalttaten in der Schöpfung aufgetreten
sind (vgl. Gen 9,2-3). Alle Menschen müssen etwas essen, um zu überle-
ben. Besteht die Nahrung in Feld- und Baumfrüchten, ist der Eingriff in
die Schöpfung nicht grundsätzlich problematisch, weil die Bäume und die
grünen Kräuter dabei nicht prinzipiell in Mitleidenschaft gezogen werden.
Problematisch ist allerdings der Genuss von Tieren, weil die Menschen
dabei Gefahr laufen, den göttlichen Herrschaftsauftrag über die Tiere (vgl.
Gen 1,26.28) als menschenzentrierte Gewaltherrschaft über das Leben der
Tiere misszuverstehen. Davor behütet Gott die Menschen, indem er ih-
nen verbietet, “Fleisch mit seinem Leben(sprinzip), seinem Blut” zu essen
(vgl. Gen 9,4). Der Segen Gottes übt diesbezüglich eine Schutzfunktion
für alle Menschen aus, damit sie das Leben(sprinzip) der Tiere unberührt
lassen und die tierische Nahrung aus der Hand Gottes in Einklang mit sei-
ner Schöpfungstätigkeit empfangen.
Zudem versichert Gott den Menschen, dass er ihr Blut “suchen”,
das heißt: aus jeglicher Fremdherrschaft befreien und es in die ursprüng-
liche lebensspendende Gemeinschaft mit ihm zurückbringen wird. Jeder
Mensch, der Opfer einer Bluttat geworden ist, darf sich dieses göttlichen
Schutzes sicher sein. Damit ist auch die göttliche Zusage verbunden,
dass jede Bluttat auf den Täter, sei es Mensch oder Tier, zurückfällt. Als
Motiv für die Sorge um den Menschen und sein Leben führt Gott die
Ebenbildlichkeit des Menschen an (vgl. Gen 9,5-6).
Das göttliche Segenswort in Gen 9,1-7 könnte man abschließend als
die geschichtliche Gestalt des ursprünglichen göttlichen Segenswortes
in Gen 1,28-30 bezeichnen: In Gen 1,28-30 segnet Gott alle von ihm
erschaffenen Menschen. Diese müssen aber erst noch handeln. In Gen
9,1-7 segnet Gott dagegen alle Menschen, die eine ganz bestimmte Ge-
schichte mit Gewalttaten und Sintflut hinter sich haben und einen indivi-
duellen Namen tragen, nämlich Noach und seine Söhne (d.h. Sem, Ham
und Jafet; vgl. Gen 6,10; 7,13 und 9,18 samt Frauen).
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