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Christof Heinz
Wien 2007
1
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Inhalt:
Teil A: Sprachwissenschaftliche Grundbegriffe
Teil B: Slavische Sprachen
1. A Einleitung
1.1. Bedeutungen von „Sprache“
1.2. Kommunikationsmodelle
1.2.1. Bestandteile des Kommunikationsprozesses
1.2.2. Kommunikative Funktionen
1.3. Das sprachliche Zeichen
1.3.1. Zeichenmodelle
1.3.2. Arten von Zeichen
1.3.3. Dimensionen des Zeichens
1.4. Sprachwissenschaftliche Teilgebiete
1.4.1. Teilgebiete der sprachlichen Bedeutung: Pragmatik, Semantik und
Lexikologie
1.4.2. Teilgebiete des sprachlichen Ausdrucks: Phonetik / Phonologie,
Morphologie und Syntax
2. A Phonetik
2.1. Phonetik und Phonologie
2.2. Teilgebiete der Phonetik
2.3. Artikulationsorgane
2.4. Einteilung der Laute: Vokale und Konsonanten
2.5. Einteilung der Vokale
2.5.1. Inhärente Merkmale: Vokaldreieck, Labialisierung, Nasalität,
Diphthongierung
2.5.2. Suprasegmentale Merkmale: Quantität, Intonation und Betonung
2.6. Einteilung der Konsonanten
2.6.1. Artikulationsstelle und -modus, Stimmton und Palatalisierung
2
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
3. A Phonologie
3.1. Definition "Phonem"
3.2. Bestimmung von Phonemen
3.3. Der Begriff Allophon
3.3.1. Freie Allophone
3.3.2. Distributionelle Varianten
3.4. Phonembestimmung in den slavischen Sprachen
3.4.1. Phonemcharakter palatalisierter Konsonanten
3.4.2. Beispiele von Allophonie in den slavischen Sprachen
3.5. Neutralisation des Phonemunterschieds
3.6. Überblick über das Phoneminventar slavischer Sprachen
4. A Morphologie
4.1. Definition Morphem
4.2. Ermittlung von Morphemen
4.3. Grammatische und lexikalische Morphologie
4.4. Arten von Morphemen
4.4.1. Wurzeln
4.4.2. Affixe
4.4.3. Endungen
4.5. Allomorphie
4.6. Wortarten
4.6.1. Einteilung der Wortarten
4.6.2. Definitionsmöglichkeiten
4.7. Grammatische Kategorien
4.7.1. Nominale Kategorien
4.7.2. Verbale Kategorien
3
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
6. Syntax
6.1. Definition
6.1.1. Syntax: Definition und Aufgaben
6.1.2. Der Satzbegriff
6.2. Einteilung von Sätzen
6.2.1. Satztypen nach der Struktur
6.2.2. Satztypen nach der Illokution
6.3. Satzglieder
6.3.1. Ermittlung von Satzgliedern
6.3.2. Arten der Zusammengehörigkeit
6.3.2.1. Kongruenz
6.3.2.2. Rektion
6.3.2.3. Adjunktion
6.4. Syntaxtheorien
6.4.1. Traditionelle Grammatik
6.4.2. Generative Grammatik (Konstituentenstruktur)
6.4.3. Valenzgrammatik
6.4.4. Kasusgrammatik: Thematische Rollen
6.4.5. Funktionale Satzperspektive
4
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
I Sprachwissenschaft allgemein
Crystal, David: Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. Übersetzung und Bearbeitung der
deutschen Ausgabe von Stefan Röhrig, Ariane Böckler und Manfred Jansen. Frankfurt
a. M. - New York: Campus, 1995. (interessantes Buch rund um linguistische
Fragestellungen, zum Nachlesen auch für NichtwissenschaftlerInnen)
Ehlich, Konrad et al. [Hg.]: Hochsprachen in Europa: Entstehung, Geltung, Zukunft. Freiburg
2001.
Ernst, Peter: Germanistische Sprachwissenschaft. Wien: Facultas, 2004. (grundlegende
Einführung in die sprachwissenschaftlichen Grundbegriffe, richtet sich in erster Linie an
Germanisten, aber auch von allgemeinem Interesse)
Funkkolleg Sprache. Eine Einführung in die moderne Linguistik. Band I und II. Frankfurt:
Fischer, 1973.
Geier, Manfred: Orientierung Linguistik. Was sie kann, was sie will. Reinbek: Rowohlt. 1998.
Hentschel, Elke – Weydt, Harald: Handbuch der deutschen Grammatik. Berlin, New York: de
Gruyter, 2003.
Hentschel, Gerd (Hg.): Über Muttersprachen und Vaterländer. Frankfurt: Lang, 1997.
(interessanter Sammelband über den Zusammenhang Sprache - Nation und verwandte
Probleme. Darin einige Artikel zu den slavischen Sprachen)
Römer, Christine: Morphologie der deutschen Sprache. Tübingen: UTB, 2006.
Vater, Heinz: Einführung in die Sprachwissenschaft. München: UTB, 1996. (gut lesbare
Einführung in die Allgemeine Sprachwissenschaft mit theoretischem Anspruch, für
SprachwissenschaftlerInnen)
II Slavische Sprachwissenschaft allgemein
Comrie, Bernard – Corbett, Greville G. [Hg.]: The Slavonic Languages. London - New York:
Routledge, 1993 (derzeit bestes Handbuch der slavischen Sprachen, ausführliche
Beschreibungen jeder einzelnen Sprache auf allen linguistischen Ebenen)
Franz, Norbert: Einführung in die slavische Philologie. S. –
Lehfeldt, Werner: Einführung in die Sprachwissenschaft für Slavisten. München: Otto
Sagner, 1996 (am besten zum Thema passendes Einführungsbuch, in erster Linie für
Slavistlnnen bestimmt)
Panzer, Baldur: Die slavischen Sprachen in Gegenwart und Geschichte. Frankfurt a.M.:
Peter Lang, 1991.
Rehder, Peter [Hg.]: Einführung in die slavischen Sprachen. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 1998 (Enthält Charakterisierungen aller lebenden slavischen
Sprachen, darunter auch der Kleinschriftsprachen, sowie des Urslavischen und des
Altkirchenslavischen. Ähnlich Comrie/Corbett, aber auf Deutsch und kürzer)
Townsend, Charles; Janda, Laura: Gemeinslavisch und Slavisch im Vergleich. München
2002.
III Zu den einzelnen slavischen Sprachen:
a) Russisch
Andrews, A.: Russian. SEELRC 2001. Im Netz unter:
http://www.seelrc.org:8080/grammar/mainframe.jsp?nLanguageID=6
5
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Isačenko, A.V.: Die russische Sprache der Gegenwart. Teil I Formenlehre. München 1968.
(Ausführliche, grundlegende Beschreibung der russischen Sprache. Für SlawistInnen,
dennoch gut lesbar)
Lehmann, Volkmar: Linguistik des Russischen. Einführung in die formal-funktionale
Beschreibung. Hamburg 2007. Im Netz unter:
http://www.agoracommsy.uni-hamburg.de/homepage.php?cid=972134&fct=detail
Mulisch, Herbert: Handbuch der russischen Gegenwartssprache. Leipzig – Berlin - München
1993 (Sehr übersichtliche Darstellung der russischen Grammatik, z.T. in tabellarischer
Form).
Panzer, Baldur: Das Russische. Tübingen: UTB, 1991.
b) Polnisch
Bartnicka, B. / Hansen, B. / Klemm, W. / Lehmann, V. / Satkiewicz, H.: Grammatik des
Polnischen. München: Sagner 2004. (Ausführliche Beschreibung der polnischen
Grammatik mit wissenschaftlichem Anspruch)
Feldstein, R. F.: A Concise Polish Grammar. SEELRC 2001. Im Netz unter:
http://www.seelrc.org:8080/grammar/mainframe.jsp?nLanguageID=4
Kotyczka, Josef: Kurze polnische Sprachlehre. Berlin: Volk und Wissen 1976. (Übersichtliche
Kurzgrammatik, vorwiegend in tabellarischer Form)
c) Tschechisch
Janda, L.A. - Townsend, C.E.: Czech. SEELRC 2002. Im Netz unter:
http://www.seelrc.org:8080/grammar/mainframe.jsp?nLanguageID=2
Lommatzsch, Bohdana; Adam, Hana: Kurze tschechische Sprachlehre. Leipzig: Volk und
Wissen 1996. (Übersichtliche Kurzgrammatik, vorwiegend in tabellarischer Form)
Vintr, Josef. Das Tschechische. Hauptzüge seiner Sprachstruktur in Gegenwart und
Geschichte. München: Sagner. 2001. (Derzeit einzige grundlegende Beschreibung der
tschechischen Sprache auf deutsch, vorwiegend für SlavistInnen bestimmt)
Lektüreliste:
• Geier, Manfred: Wie Ferdinand des Saussure die Linguistik begründet hat. In: ders.:
Orientierung Linguistik. Was sie kann, was sie will. Reinbek: Rowohlt, 1998. S. 29-51.
• de Vincenz, Andrzej: Völker, Nationen und Nationalsprachen: Frankreich, Deutschland
und Polen im Zentrum Europas. In: Hentschel, G.(Hg.): Über Muttersprachen und
Vaterländer. Frankfurt/M. 1997.
• Hentschel, Gerd: Rußland, Weißrußland, Ukraine: Sprachen und Staaten der "slavischen
Nachfolge" von Zarenreich und Sowjetunion. In: Hentschel, G.(Hg.): Über Muttersprachen
und Vaterländer. Frankfurt/M. 1997. S. 211-240.
• Hentschel, Gerd: Das Polnische – eine sichere Bastion unter den slavischen
Standardsprachen? In: Ehlich, Konrad, Ossner, Jakob, Stammerjohann, Harro (Hgg.):
Hochsprachen in Europa. Entstehung, Geltung, Zukunft. Freiburg 2001. S. 209-222.
• Berger, Tilman: Tschechen und Slowaken: Zum Scheitern einer gemeinsamen,
tschechoslowakischen Schriftsprache. In: Hentschel, G.(Hg.): Über Muttersprachen und
Vaterländer. Frankfurt/M. 1997. S. 223-240.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Sprachwissenschaft (Linguistik) ist die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der
menschlichen Sprache beschäftigt. Diese stellt den Gegenstand der
wissenschaftlichen Untersuchung dar. Sprachwissenschaftler (Linguisten) versuchen
daher Antworten auf folgende Fragen zu finden:
• Was ist Sprache? Wie kann der Begriff definiert werden? Welche Art von
Phänomenen versteht man darunter? Womit hat sich die Linguistik zu
beschäftigen – und womit nicht?
• Wozu dient Sprache? Wozu brauchen wir Sprache, wie benutzen wir sie?
Welche Funktionen erfüllt sie?
• Wie funktioniert Sprache? Auf welche Art kann Sprache ihre Aufgaben erfüllen
kann? Welche Voraussetzungen sind dazu nötig?
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Um das Arbeitsgebiet der Linguistik abzugrenzen, müssen wir uns erst einmal
darüber verständigen, was unser Untersuchungsgebiet sein soll, d.h. welche
Erscheinungen wir unter dem Begriff „Sprache“ fassen wollen und welche nicht.
Die allgemeinste Definition für Sprache lautet: Sprache ist ein Mittel der
menschlichen Kommunikation auf lautlicher Grundlage.
In der alltagssprachlichen Verwendung werden mit dem Wort „Sprache“ jedoch oft
ganz unterschiedliche Erscheinungen benannt. Vergleichen wir etwa die folgenden
Äußerungen (vgl. dazu auch die Bsp. in Vater: S. xxx)
Wir stellen fest, dass mit dem Wort „Sprache“ folgendes gemeint sein kann:
Die drei Verwendungen, mit denen sich Linguisten befassen, kann man auch
begrifflich unterscheiden:
Der Begriff „langage“ bezeichnet die universale Fähigkeit des Menschen, Sprache zu
verwenden (auch: „Sprachkompetenz“).
Unter „langue“ versteht man die Sprache als ein System von Einheiten, die
untereinander in regelhaften Beziehungen stehen.
Unter „parole“ schließlich versteht man den tatsächlichen Sprachgebrauch, d.h.
konkrete sprachliche Äußerungen, das eigentliche „Sprechen“ (auch: Performanz).
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
SPRACHE
KOMPETENZ PERFORMANZ
Die Unterscheidung langue – parole geht auf Ferdinand de Saussure zurück, den
Begründer der sprachwissenschaftlichen Richtung des Strukturalismus (Anfang des
20. Jahrhunderts). Die Unterscheidng zwischen Kompetenz und Performanz stammt
von Noam Chomsky, dem Begründer des Generativismus in den 1950er Jahren.
(vgl. Ernst 2004: 51)
Mit der Fähigkeit zu sprechen beschäftigen sich Bereiche der Linguistik, die die
körperlichen (physiologischen und neurologischen) und geistigen (psychologischen
und kognitiven) Voraussetzungen für das Beherrschen von Sprache untersuchen.
Diese sind an der Grenze zur Neurophysiologie, zur Gehirnforschung, zur
Kognitionswissenschaft und zur Psychologie angesiedelt. Diese linguistischen
Teildisziplinen nennen sich daher Neurolinguistik, kognitive Linguistik,
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Die Beschäftigung mit der tatsächlichen Verwendung von Sprache und ihrem
Zusammenhang mit der kulturellen und sozialen Umgebung ihrer Verwender bildet
den Übergang von der Linguistik zu Fächern wie Soziologie, Kulturwissenschaft,
Ethnologie, Politologie u.a. Die Soziolinguistik beschäftigt sich mit dem
Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft. Sie untersucht den Zusammenhang
von sozialer Herkunft und Sprachgebrauch. Zur Soziolinguistik gehört u.a. auch die
Dialektologie. Daneben untersucht die Soziolinguistik auch, wie sich der
Sprachgebrauch in verschiedenen Sprechsituationen und -anlässen ändert. Hierin
bildet sie auch den Übergang zur linguistischen Pragmatik, die die Bedingungen für
das Gelingen von sprachlichen Handlungen (Sprechakten) untersucht. Ein relativ
junger Zweig der Sprachwissenschaft ist die Diskursanalyse, die versucht, den
Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Diskurs und Sprachgebrauch zu
erklären und dabei Phänomene wie sprachliche Diskriminierung, den
Zusammenhang zwischen Sprache und Macht, etc. untersucht. Praktische
Anwendung dieser linguistischen Teildisziplinen sind etwa die Stilistik, die
Sprachberatung, die Rhetorik, aber auch Sprachpflege und Sprachpolitik.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
2. Kommunikationsmodelle
Kommen wir nun zur zweiten Frage: „Wozu dient Sprache? Welches sind ihre
Funktionen?“
Die wichtigste Funktion der Sprache ist die kommunikative Funktion, d.h. die
Funktion, Nachrichten zu übermitteln. Sprache ist ein Mittel, mit dessen Hilfe
Kommunikation möglich wird, jedoch nicht das einzige. Es existieren auch
nichtsprachliche Mittel der Kommunikation (man denke etwa an Piktogramme,
Verkehrszeichen, Gesten, usw.) Die Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich
daher nicht nur mit Sprache sondern auch mit nichtsprachlicher Kommunikation
(Film, Bild, Körpersprache, nichtsprachliche Lautäußerungen etc.).
SIGNAL
KODE
Nachricht
sachlicher Kommunikationsinhalt
Abb. 2: Modell der Sprachlichen Kommunikation, nach: Herrlitz, in Funk-Kolleg(1973): 45f. bearbeitet.
Kommunikationsteilnehmer:
An einem Kommunikationsakt sind immer mindestens zwei Individuen beteiligt.
(Selbstgespräche sind daher also keine Kommunikation):
Der Sender: Er setzt die vorsprachliche Information in sprachliche Form um (=
Encodieren) und schickt sie auf den Weg zum Empfänger.
Der Empfänger: Er nimmt die sprachliche Äußerung wahr und verarbeitet sie, d.h. er
setzt das sprachliche Signal wieder in nichtsprachliche Information um (=
Decodieren) und reagiert darauf. Diese Reaktion kann wiederum in einem
Kommunikationsakt bestehen. Daher ist klar, dass die Rollen von Sender und
Empfänger prinzipiell zwischen den beiden Kommunikationsteilnehmern wechseln
können.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Kanal:
Der Kanal verbindet Sender und Empfänger. Damit Sender und Empfänger
Nachrichten austauschen können, muss zwischen beiden eine materielle Verbindung
bestehen. Diese kann unterschiedlicher Art sein: Sie kann aus Schallwellen,
Funkwellen, Lichtwellen, einer elektronischen Verbindung, einem Seil, usw.
bestehen.
Signal:
Das Signal ist eine materielle Veränderung des Kanals. Damit über den Kanal
Nachrichten gesendet werden können, muss dieser veränderbar sein, d.h. er muss
verschiedene Zustände zulassen. Die verschiedenen materiellen Zustände des
Kanals bezeichnet man als Signal, d.h. die charakteristischen Veränderung der
Schallwellen, der Lichtwellen, der Seilspannung, usw.
Medium:
Das Medium ist eine bestimmte konventionalisierte Form von Signalen: man
unterscheidet grundsätzlich zwischen mündlichen und schriftlichen
Kommunikationsmedien. Diese können weiter unterteilt werden in direktes
persönliches Gespräch, Telefongespräch, Briefverkehr, E-mail, Radio, Fernsehen,
Printmedien, Internet usw.
Kode:
Ein Kode ist ein Vorrat an Zeichen, über den sowohl Sender als auch Empfänger
verfügen müssen, um Information austauschen zu können. Jedes Zeichen ist eine
konventionalisierte Verbindung eines Signals (Ausdruck) mit einem Teil der Nachricht
(Inhalt). Der Kode legt also fest, welche Bedeutung die materiellen Veränderungen
des Kanals haben, z.B. bestimmte Kombinationen von Lauten, eine Abfolge von
Lichtblitzen, eine Kolonne von Einsen und Nullen, Straffung und Lockerung des
Seils.
Konnotat:
Das Konnotat ist die über die sachliche Nachricht hinausgehende Information. Im
Gegensatz zum überindividuellen Inhalt des Denotats, ist das Konnotat vom
Erfahrungshintergrund und vom Weltwissen der Kommunikationsteilnehmer
abhängig. Meist verknüpfen die Kommunikationsteilnehmer mit den verwendeten
Zeichen auch individuelle Bedeutungen (Erfahrungen, Empfindungen). Diese mit
Zeichen verbundenen nichtkonventionalisierten Assoziationen, die nennt man
Konnotationen.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Kontakt:
Unter Kontakt versteht man die (meist nicht explizit gemachte) soziale Komponente
der Kommunikation, die aus dem sozialen und emotionalen Verhältnis der beiden
Kommunikationspartner zueinander besteht (etwa ob sie einander bekannt oder
unbekannt, sympathisch oder unsympathisch sind, ob sie gleichberechtigt sind oder
in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, ob die Situation der
Kommunikation symmetrisch oder asymmetrisch ist usw.).
Kontext:
Der Kontext ist die konkrete Situation, in der der Kommunikationsakt stattfindet. Der
Kontext bezieht alle Arten von Umständen ein, die den Kommunikationsprozess
beeinflussen können, die Konsituation (wie Störungen des Kanals, physische und
psychische Voraussetzung der Kommunikationsteilnehmer, wie Müdigkeit,
Unkonzentiertheit, Nervosität) aber auch das Vorher und Nachher der
Kommunikation (den sogenannten Ko-Text).
Abb. 3: Das Bühler’sche Organonmodell, nach: Bühler (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Abb. 4: Erweiterung des Bühlerschen Modells; nach: Roman Jakobson (1960): Linguistik und Poetik
So dient sie als Medium, in dem Wissen erworben und gespeichert wird. Durch
Sprache wird das Verstehen und Verarbeiten von Information erst ermöglicht.
Sprache erfüllt also eine wichtige Funktion im menschlichen Denken, hat also eine
kognitive (epistemische) Funktion.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
3.1 Zeichenmodelle
Wir haben den Kode als einen Vorrat an Zeichen definiert, über den sowohl Sender
als auch Empfänger verfügen müssen, um kommunizieren zu können. Sehen wir uns
nun den Begriff des Zeichens näher an. Mit den Zeichen (auch nichtsprachlichen)
beschäftigt sich eine eigene Wissenschaft, die Semiotik. In der Semiotik versteht
man unter einem Zeichen die Verbindung eines Signals (Ausdruck) mit einem Teil
der Nachricht (Inhalt). Jedes Zeichen vereinigt also zwei Seiten in sich: eine
Ausdrucksseite und eine Inhaltsseite.
Der Ausdruck ist die materielle Seite des Zeichens und hängt vom jeweiligen Kanal
ab: er kann optischer, akustischer oder auch anderer Art sein (etwa in der Art der
Seilspannung bestehen). Beim sprachlichen Zeichen ist der Ausdruck stets eine
Lautverbindung, etwa die Kombination der Laute [b]-[a]-[u]-[m]. Dies gilt auch beim
schriftlichen Gebrauch der Sprache: bei Lautschriften steht die optische Form
stellvertretend für eine Kombination von Lauten. Diese Laute wiederum sind mit
Bedeutung verbunden. Eine direkte Verbindung von optischem Signal und
Bedeutung (etwa eine rote Ampel) ist daher kein sprachliches Zeichen. Doch auch
eine bestimmte Folge von gesprochenen Lauten allein ist für sich betrachtet noch
kein "Zeichen". Dazu wird sie erst, wenn ihr eine bestimmte Bedeutung zugeordnet
ist, hier mit dem Inhalt „Baum“.
Der Inhalt ist die immaterielle Seite des Zeichens, sein Bedeutungsgehalt. Die
sprachliche Bedeutung besteht aus einer gedanklichen Vorstellung: mit der
Lautverbindung [b-a-u-m] ist also nicht notwendigerweise ein bestimmter Baum
gemeint, sondern u.U. alle Bäume bzw. nur das gedankliche Konzept „Baum“ im
allgemeinen.
Ausdruck Inhalt
(materiell) (immateriell)
Bezeichnendes Bezeichnetes
Signifikant Signifikat
signifié signifiant
Zeichenträger Bedeutungsgehalt
Lautkörper Konzept
[b–a–u–m]
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Wenn der Sprecher jedoch über einen ganz bestimmten Baum in der Wirklichkeit
spricht, kommt noch eine dritte Seite des Zeichens hinzu. Dies ist die tatsächliche
Entsprechung der gedanklichen Vorstellung in der außersprachlichen Realität, auf
die sich das Zeichen bezieht. Diese Beziehung zwischen Zeichen und
außersprachlicher Realität nennt man Referenz. Das Zeichen „referiert“ auf etwas in
der Wirklichkeit. Die Entsprechung des sprachlichen Inhalts in der Wirklichkeit nennt
man daher auch den Referenten. Die drei Seiten des Zeichens: sprachlicher
Ausdruck, sprachlicher Inhalt und Referent bilden das semiotische Dreieck.
[b–a–u–m]
• Ikonische Zeichen:
Die Verbindung von Ausdruck und Inhalt beruht auf äußerer Ähnlichkeit. Der
Ausdruck bildet den Inhalt ab, er macht eine Kopie der außersprachlichen
Realität. Diese Art der Verbindung nennt man bildlich oder ikonisch.
• Indexikalische Zeichen:
Die Verbindung von Ausdruck und Inhalt beruht auf einer inneren
Notwendigkeit: Der Ausdruck ist hier nicht Abbild sondern die notwendige
Folge des Inhalts. Die äußere Form des Zeichens ist somit infolge ihres Inhalts
entstanden, sie verweist daher auf ihn oder indiziert ihn.
• Symbolische Zeichen:
Die Verbindung von Ausdruck und Inhalt ist rein willkürlich festgelegt. Es
besteht weder äußerliche Ähnlichkeit noch innere Notwendigkeit. Im Prinzip
könnte daher für denselben Inhalt auch ein völlig anderer Ausdruck stehen.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Die Verbindung zwischen beiden ist frei wählbar, d.h. arbiträr. Sender und
Empfänger müssen aber diese Verbindung kennen, um miteinander
kommunizieren zu können. Sie müssen sich also auf diese Verbindung
geeinigt haben, die Verbindung ist daher konventionell.
Zeichen, die auf diesem Prinzip beruhen, nennt man symbolische Zeichen
(oder Symbole). Die überwiegende Mehrzahl der sprachlichen Zeichen beruht
auf Konvention. Sprachliche Zeichen sind daher im semiotischen Sinne
Symbole.
Drei Arten von Zeichen
(Charles S. Peirce)
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Abb.8: Dimensionen des Zeichens, nach: Charles Morris (1938): Foundations of a Theory of Signs
Nach diesen 3 Dimensionen des Zeichens kann man auch die drei Hauptgebiete der
Linguistik unterscheiden: Pragmatik, Semantik und Syntaktik.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Pragmatik
Vergleichen wir die Äußerungen "Darf ich dich etwas fragen, Herr Professor?"
Oder die "Ich erkläre euch zu Mann und Frau" (wenn der Sprecher kein Priester oder
Standesbeamter ist). Wir stellen fest, dass diese Äußerungen weder formal noch
inhaltlich „falsch“ sind. Der Fehler besteht eher in der Äußerungssituation, in der
inadäquaten Verwendung von Sprache. Die Äußerungen sind daher nicht „falsch“ im
grammatischen oder im semantischen Sinn, sondern "pragmatisch falsch", d.h. falsch
gebraucht. Die Pragmatik beschäftigt sich also mit dem Zusammenhang von
Sprache und Äußerungssituation. Ein und dieselbe Äußerung kann in einer Situation
angebracht ("richtig") sein, in einer anderen Situation nicht. Dieser Zusammenhang
ist aber nicht willkürlich, sondern unterliegt auch bestimmten Regeln. (Regeln für
Höflichkeit, Sprecherwechsel, Rückfragen, Glückensbedingungen für Sprechakte
etc.…).
Semantik
Betrachten wir Äußerungen wie Chomskys berühmten Satz Colourful green ideas
sleep furiously oder das Gedicht Dunkel war's, der Mond schien helle, als ein Wagen
blitzeschnelle, langsam um die Ecke fuhr, so stellen wir fest, dass auch hier
„grammatisch“ betrachtet alles richtig ist, sofern man unter Grammatik nur den
sprachlichen Ausdruck versteht. Der Fehler besteht jedoch nicht im Ausdruck,
sondern im Inhalt der sprachlichen Äußerung. Sie ist daher nicht "grammatisch
falsch", sondern "semantisch falsch".
Syntaktik:
Lexikon und Grammatik
Die syntaktische Dimension beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen den
Zeichenträgern. Man unterscheidet zwei Arten von Beziehungen: paradigmatische
und syntagmatische Beziehungen. Diese werden zwei Teilbereichen der Sprache
zugeordnet: dem Lexikon und der Grammatik.
Das Lexikon (der Wortschatz) enthält eine offene (unendliche) Menge von
lexikalischen Einheiten. Einheiten des Wortschatzes stehen zueinander in
paradigmatischer Beziehung. Es sind Einheiten, die in einem Satz gegeneinander
ausgetauscht werden können, die an die selbe Stelle gesetzt werden können =
Ersetzungsrelation.
Mit dem Wortschatz der Sprache beschäftigt sich die Lexikologie.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Abb. 10: Sprachliche Ebenen und Teilgebiete der Sprachwissenschaft, nach: Jana Kubišta, Holger Kuße.
Weiterführende Literatur:
21
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
• Nach der Art der Entstehung: natürliche vs. künstliche Sprachen: Natürliche
Sprachen haben sich im Laufe der Geschichte gewissermaßen selbstständig,
weitgehend ohne planende Eingriffe entwickelt. Künstliche Sprachen dagegen
sind willentlich geschaffene und geplante Sprachen (man spricht daher auch von
Plansprachen). Kunstsprachen sind etwa Esperanto, Programmiersprachen wie
Java, C++, aber auch für bestimmte Fächer geschaffene Notationen (etwa in der
Mathematik in der Logik, Musik, Chemie, ...) Aber auch moderne
Standardsprachen sind das Ergebnis von geplanten Eingriffen und daher bis zu
einem gewissen Grad ebenfalls „künstlich“.
• Nach der aktuellen Verwendung: lebende vs. tote Sprachen: Lebende
Sprachen werden in der Gegenwart von mindestens einem Menschen als
Muttersprache gesprochen. Tote Sprachen können zwar noch im Gebrauch sein
(zu bestimmten Funktionen, wie etwa in der Liturgie oder der Wissenschaft)
werden aber im Alltag nicht mehr verwendet und sind niemandes Muttersprache.
Zu den toten Sprachen zählen ausgestorbene Sprachen, wie Hethitisch,
Awestisch, Gotisch, keltische Sprachen wie Cornish und Manx, im Bereich der
slawischen Sprachen etwa das Elb- und Ostseeslavische (Polabisch, Slovinzisch,
22
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
sind. In diesem Fall spricht man von einem „Sprachbund“. Der bekannteste
derartige Fall in Europa ist der sog. „Balkansprachbund“: zu ihm gehören
Sprachen unterschiedlicher Abstammung wie, Rumänisch, Albanisch, Griechisch,
Türkisch, Bulgarisch, Mazedonisch und einige ostserbische Dialekte, die durch
jahrhundertelangen Sprachkontakt eine Reihe von typologischen Phänomenen
gemeinsam haben (etwa einen nachgestellten Artikel, den Modus Narrativ u.a.)
In unserer Betrachtung der slavischen Sprachen wollen wir uns auf zwei
Einteilungskriterien konzentrieren: auf die genetische Einteilung und die
funktionale Einteilung.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Sprachfamilien in Europa
Quelle: Matthew Dryer, http://linguistics.buffalo.edu/people/faculty/dryer/dryer/map.europe.gif
Indoeuropäische Sprachfamilie
Finno-ugrische (uralische) Sprachfamilie
Altaische Sprachfamilie (Turksprachen)
Baskisch
Hemito-semitische Sprachfamilie
25
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Slavische Sprachen
Germanische Sprachen
Romanische Sprachen
Keltische Sprachen
Baltische Sprachen
Griechisch
Albanisch
Nicht-indoeuropäische Sprachen
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Russisch
Kaschubisch
Weißrussisch
Niedersorbisch
Polnisch
Obersorbisch
Westpolessisch
Ukrainisch
Tschechisch
Karpato-Russinisch /
Slovakisch Ruthenisch
Burgenländer
Kroatisch
Banater Bulgarisch
Resianisch Slovenisch
Kroatisch Jugoslavo-
Russinisch
Bosnisch
Serbisch
Bulgarisch
Moliseslawisch
Makedonisch
Ostslavische Sprachen
Westslavische Sprachen
Südslavische Sprachen
Slavische Standardsprachen
Slavische Kleinschriftsprachen (Mikroliteratursprachen)
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
3. Funktionale Einteilung:
Nach funktionalen Kriterien werden Sprachen klassifiziert, je nachdem welche
kommunikationen Funktionen sie in den staatlichen Gebilden, in denen sie
gesprochen werden, erfüllen können Die wichtigste Unterscheidungen ist die
zwischen Standardsprachen und Nichtstandardsprachen. Unter Standardsprachen
versteht man voll funktionsfähige, „ausgebaute“ Sprachen (andere Begriffe sind
Hochsprache, Schriftsprache, Literatursprache). Standardsprachen verfügen über
eine festgelgte Form ihrer schriftlichen Wiedergabe, sie sind in Schreibung und
Aussprache normiert und können in wichtigen offiziellen Funktionen verwendet
werden (z.B. für Verträge, Gesetzestexte, in der Wissenschaft, der Literatur, in den
Massenmedien, usw.).
Als Standardsprachen sind heute die in der Karte auf S. 8 fett gedruckten 12
slavischen Sprachen anerkannt. Sie können heute in den Ländern, in denen sie
gesprochen werden, offizielle Funktionen übernehmen, sind offiziell als
Staatssprache anerkannt, bzw. als Amtssprache zugelassen. Daneben gibt es jedoch
eine Reihe von slavischen Sprachen, für die zwar eine schriftliche Form existiert, die
jedoch nicht in der Funktion von Staats- oder Amtssprachen gebraucht werden,
sondern die lediglich von Minderheiten auf dem Territorium anderer Sprachen
gebraucht werden. Sie werden daher als Kleinschriftsprachen (oder
Mikroliteratursprachen) bezeichnet.
Daneben gibt es eine Gruppe von Sprachen, die in ihrer Geschichte eine gewisse
sprachliche Eigenständigkeit, z.T. sogar eine schritliche Tradition aufwiesen, diese
mittlerweile jedoch verloren haben und daher heute nur noch als Dialekte der sie
umgebenden Standardsprachen betrachtet werden können. Dazu zählen das
Schlesische (oder Lachische), das heute ein polnischer Dialekt ist, das Prekmurische
im Osten Sloweniens, sowie die kroatischen Dialekte Kajkavisch (im Norden
Kroatiens um Zagreb) und Čakavisch (an der dalmatinischen Küste), die früher
eigene Schriftsprachen darstellten.
Schließlich gibt es die bereits erwähnten ausgestorbenen und historischen Sprachen.
Quantitative Einteilung:
Man kann Sprachen nach der Zahl ihrer Sprecher einteilen und gelangt so zu einer
Reihenfolge der am meisten gesprochenen Sprachen. Dabei kann man noch einmal
unterscheiden zwischen muttersprachlichen und fremdsprachlichen Sprechern.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Slavische Sprachen
Standardsprachen
Kleinschriftsprachen (Mikroliteratursprachen)
Resianisch Jugoslavo-Rusinisch
Obersorbisch
Moliseslavisch Karpato-Rusinisch
Niedersorbisch
Burgenländisch-Kroatisch (Ruthenisch)
Kaschubisch
Banater Bulgarisch Westpolessisch
Drawäno-Polabisch
Pomoranisch Altkirchenslavisch
Slovinzisch
31
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
• Lautlehre:
Auf lautlicher Ebene ist für die slavischen Sprachen v.a. das Vorhandensein
sogenannter "weicher" d.h. palataler Konsonanten. Oft ist die Unterscheidung
von weichen (palatalen) und harten (nichtpalatalen) Konsonanten
bedeutungsunterscheidend. Am konsequentesten ausgebaut ist diese Opposition
im Russischen.
32
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
• Regelmäßige Lautwechsel:
Auch im Bereich der regelmäßigen (morphonoloigschen) Lautwechsel weisen die
slavischen Sprachen zahlreiche Gemeinsamkeiten auf. Häufig sind hier v.a.
Konsonantenwechsel, die bei der Bildung von Wortformen ebenso wie bei der
Ableitung neuer Wörter auftreten (bedingt meist durch historische
Palatalisierungen), vgl. tsch.: kniha-knize; russ. крик – кричать; polnisch: ręka –
rączka.
• Grammatische Morphologie:
Die meisten slavischen Sprachen verfügen über großen Formenreichtum der
einzelnen Wortarten. Sie gelten daher als stark flektierende Sprachen, d.h. sie
besitzen viele unterschiedliche grammatische Formen für ein Wort. Dieser
Formenreichtum ist aus dem Indoeuropäischen ererbt, die slavischen Sprachen
haben ihn weitgehend beibehalten und gelten daher als konservierende
Sprachen. Der Formenreichtum wirkt sich in der Vielzahl an Kasusendungen aus
(Ausnahmen sind Bulgarisch und Mazedonisch), aber auch in der Vielzahl von
Deklinations- und Konjugationsklassen. Die slavischen Sprachen gehören dabei
weitgehend dem flektierenden Sprachtyp an, d.h. die Endung drückt mehrere
grammatische Kategorien aus.
• Grammatische Kategorien:
Im Bereich der grammatischen Kategorien verfügen die slavischen Sprachen
gegenüber dem Deutschen über zwei Besdonderheiten:
o Nominale Kategorie der Belebtheit: Die slavischen Sprachen weisen einen
unterschiedlicher Formenbestand bei Bezeichnungen für Lebewesen und
unbelebte Gegenstände auf.
o Verbale Kategorie des Aspekts: Alle slavische Sprachen kennen
verschiedene Wörter (Wortformen) zur Unterscheidung von zeitlicher
Begrenztheit und Unbegrenztheit der Handlung.
• Satzbau:
o Starke Kongruenz zwischen den Satzgliedern: die Form der Wörter zeigt die
Zusammengehörigkeit von Attribut und zugehörigem Substantiv und von
Prädikat und Subjekt an. Als Folge davon können im Tschechischen und
Polnischen die Personalpronomen, wenn sie nicht besonders betont sind,
weggelassen werden (pro-drop), im Russischen kann dagegen die Kopula
(das Verb „sein“) wegfallen.
o Freie Wortstellung: Die Wortstellung ist in den slavischen Sprachen
weitgehend frei, d.h. sie drückt keine syntaktischen Bezüge zwischen den
Wörtern aus (wie etwa die feste Wortstellung des Englischen), sondern ist von
anderen Faktoren (wie Fokussierung, Thematik) bestimmt.
Weiterführende Literatur:
Comrie, Bernard; Corbett, Greville G. [Hg.]: The Slavonic Languages. London - New
York: Routledge, 1993.
Rehder, Peter [Hg.]: Einführung in die slavischen Sprachen. Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998 .
Panzer, Baldur: Die slavischen Sprachen in Gegenwart und Geschichte. Frankfurt
a.M.: Peter Lang, 1991.
Lehfeldt, Werner: Einführung in die Sprachwissenschaft für Slavisten. München: Otto
Sagner, 1996.
33
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Abb. 1: Die drei Teilbereiche der Phonetik (Quelle: Ernst 2004: 32)
Am besten erforscht ist bisher die artikulatorische Phonetik. Mit ihr werden wir uns
hier auch am intensivsten beschäftigen. Die artikulatorische Phonetik spielt eine
wichtige Rolle im Fremdsprachenunterricht. Beim Erlernen einer fremden Sprache ist
man meist auch mit Lauten konfrontiert, die in der Muttersprache nicht vorkommen.
Diese „fremdartigen“ Laute stellen für die Lernenden ein doppeltes Problem dar: zum
einen bei der Produktion der Laute: für das Nachahmen dieser Laute sind
Einstellungen und Bewegungen der Artikulationsorgane notwendig, an die die
Sprechenden aus ihrer Muttersprache nicht gewöhnt sind, und deren Artikulation
ihnen daher schwer fällt. Zum anderen können fremde Laute aber auch bei der
Sprachrezeption Schwierigkeiten bereiten: sie entsprechen nicht den aus der
Muttersprache bekannten „Hörgewohnheiten“ und werden daher oft nicht richtig
identifiziert und mit anderen Lauten verwechselt.
Vergleichen wir den Bestand an deutschen und russischen Phonen, so sehen wir,
dass zwar viele Laute in beiden Sprachen vorkommen (oder zumindest in beiden
Sprachen sehr ähnlich artikuliert werden). Daneben gibt es aber einige Laute, die nur
dem Russischen eigen sind, und daher deutschen Lernenden Schwierigkeiten
bereiten (etwa stimmhaftes sch, der Vokal ы, die palatalisierten Konsonanten).
Umgekehrt treten im Deutschen Laute auf, die das Russische nicht kennt, und die für
russischsprachige Lerner des Deutschen problematisch sind (die Umlaute ö und ü,
sowie der Konsonant h). Im Tschechischen bereiten ebenfalls die palataliserten
Konsonanten (ď, ť, ň), vor allem aber der Konsonant ř Ausspracheprobleme, im
Polnischen neben den palatalen Konsonanten (ć, ś, ź), der Gleitlaut ł und die
Nasalvokale ą und ę.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Lautbestand des
Deutschen Lautbestand des
Russischen
ö h t
n p m
e
ы
d нь
a b л рь
ü
u
r ль
i o щ дь
ж
Здравствуйте!
Dobrý den!
Dzień dobry!
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Die Sprachlaute lassen sich in zwei große Gruppen einteilen: in Vokale und
Konsonanten. Zur Definition von Vokalen und Konsonanten existieren drei
verschiedene Definitionsmöglichkeit: artikulatorisch, akustisch und phonologisch:
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Demgegenüber können auch Vokale unsilbisch werden und gehen dann in den
Bereich der Konsonanten über. Unsilbische Vokale bezeichnet man auch als
Gleitlaute (glides) oder Halbvokale.
Die Grenze zwischen Vokalen und Konsonanten ist also weniger eindeutig als
zunächst angenommen. Man kann zwischen beiden Bereichen einen
Übergangsbereich feststellen.
Man teilt daher die Konsonanten (nach artikulatorischer Definition) noch einmal in
zwei Gruppen:
• Sonoranten sind der akustischen Definition nach Vokale. Sie können u.U.
silbisch werden. Sie kommen nur in einer stimmhaft vor.
• Obstruenten gelten auch nach der akustischen Definition als Konsonanten. Sie
sind immer unsilbisch. Sie können stimmhaft oder stimmlos sein.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
zusammen: der Kieferwinkel ist bei tiefen Vokalen am größten (man spricht daher
auch von „offenen“ oder „breiten“ Vokalen), bei hohen Vokalen am geringsten (man
spricht auch von „engen“ Vokalen).
Nach der Zungenstellung kann man die Vokale in einem sogenannten Vokaldreieck
anordnen. Man spricht von den 5 sogenannten Kardinalvokalen.
Horizontale Zungenstellung
vorne mittel hinten
Vertikale hoch i u
Zungenstellung mittel e o
tief a
Vokaldreieck (Kardinalvokale)
i u
e о
a
Abb. 5: Vokaldreieck
Die 5 Kardinalvokale kommen in vielen Sprachen vor. Manche Sprachen verfügen
darüberhinaus noch über andere Vokale: so ist etwa das deutsche ä ein tiefer
Vorderzungenvokal, das russische ы ein hoher Mittelzungenvokal, das å in
skandinavischen Sprachen ein tiefer Hinterzungenvokal, usw. Einen mittleren
Mittelzungenvokal bezeichnet man als Murmelllaut (oder „Schwa“). Er wird ohne jede
Zungenbewegung erzeugt und tritt oft in unbetonten (reduzierten) Silben auf (etwa in
dt. Vorsilben wie ver-, be- u.ä.). Im Bulgarischen kommt er auch in betonten Silben
vor und wird mit dem Buchstaben ъ bezeichnet. Bezieht man diese Vokale in das
Bild mit ein, so kann man das Vokaldreieck zu einem Vokaltrapez erweitern.
Horizontale Zungenstellung
vorne mittel hinten
Vertikale hoch i russ. ы u
Zungenstellung mittel e „Schwa“ o
tief ä a dunkles å
i ы u
e ъ о
ä a å
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Abb. 5: Vokaltrapez
Dabei ist zu beachten, dass der Übergang zwischen den einzelnen Vokalen fließend
ist. Theoretisch wären daher unendlich feine Abstufungen und damit unendlich viele
Vokale möglich. Zur besseren Unterscheidbarkeit werden jedoch zur
Bedeutungsdifferenzierung v.a die weit voneinander entfernten Vokale gebraucht
(Vokalstreuung). Der stufenlose Übergang zwischen den Vokallauten wird in der
folgenden Abbildung anhand der deutschen Wörter Wild, Welt und Wald
demonstriert:
41
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
i u
dt.: eu
tsch.: ej
tsch.: ou
e о
dt.: ei dt.: au
a
Abb. 7: Tschechische und deutsche Diphthonge im Vokaltrapez
Länge (Quantität):
Die bisher behandelten vokalischen Merkmale verändern stets die klanglichen
Eigenschaften des Lautes selbst, seine Qualität. Das Merkmal Quantität dagegen
verändert die Dauer der Artikulation eines Vokals, dessen Qualität für die Dauer der
Artikulation unverändert bleibt. Entscheidend ist dabei natürlich nicht die absolute,
sondern die relative Artikulationsdauer im Verhältnis zu anderen Vokalen.
Bedeutungsunterscheidung durch Quantität gibt es im Deutschen (vgl .etwa kam –
Kamm; Mus – muss), in den slavischen Sprachen gibt es diese Unterscheidung im
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Tschechischen: ráda „gern (weibl. Form)“ – rada „der Rat“; dál „weiter“ - dal „er gab“,
můžu „ich kann“ – mužů „der Männer (Genitiv Plural)“, daneben auch im
Slovakischen und im Bosnischen / Kroatischen / Serbischen.
Tonhöhe (musikalischer Akzent):
Die Veränderung der physikalischen Eigenschaft Frequenz bewirkt eine Änderung
der Tonhöhe. Auch die Tonhöhe kann im Sprachsystem eine Rolle spielen. Im
Deutschen wird sie v.a. zur Unterscheidung von Satztypen (Fragesatz, Aussagesatz,
Befehlssatz) eingesetzt, zum Ausdruck von Emotion (Überraschung, Empörung,
Nachdruck), oder zur Hervorhebung (Das blaue Auto vs. Das blaue Auto). Den
Tonhöhenverlauf in einer längeren Sequenz von Lauten, etwa einem ganzen Satz
bezeichnet man als Intonation (Satzintonation).
Manche Sprachen nutzen jedoch die Tonhöhe auch zur Unterscheidung von
Wortbedeutungen (= Wortintonation, Silbenintonation), etwa das Chinesische, aber
auch einige skandinavische Sprachen.
Unter den slavischen Sprachen gehören dazu das Bosnische, Kroatische, Serbische
sowie das Slovenische. Sie unterscheiden zwei Arten von Intonation: steigende und
fallende. Im Bosnisch-Kroatisch-Serbischen ist die Tonhöhe darüber hinaus
gekoppelt mit der Quantität. So ergeben sich 4 Kombinationsmöglichkeiten: kurz-
fallend, kurz-steigend, lang- fallend und lang-steigend:
Tonhöhe
steigend fallend
lang á (rúka) â (môre)
Quantität à ( žè na)
kurz ȁ (sȍba)
Sowohl Tonhöhe als auch Quantität können Bedeutungen unterscheiden kann, vgl.
die Wörter grâd (lang-fallend) "Stadt" – grȁd (kurz-fallend) "Hagel" / kȕpiti (kurz
fallend) "sammeln"– kúpiti (lang steigend) "kaufen". Beide Merkmale bleiben jedoch
normalerweise im Schriftbild unbezeichnet (die Akzentzeichen werden nur in
Wörterbüchern, Lehrbüchern, Grammatiken verwendet).
Betonung (Druckakzent, Intensität):
Das Merkmal Betonung ist mit der physikalischen Eigenschaft der Amplitude
gekoppelt. Die betonte Silbe wird mit stärkerer Intensität (größerem Druck)
gesprochen und weist daher gegenüber den umgebenden Silben eine höhere
Lautstärke auf. Man spricht daher auch von „Druckakzent“.
Die slavischen Sprachen kennen unterschiedliche Regelungen zur Verteilung des
Druckakzents (der Betonung) innerhalb des Wortes.
Feste Betonung (fester Akzent):
Bei fester Betonung ist immer dieselbe Silbe innerhalb eines Wortes (oder einer
engen Wortverbindung wie zwischen Präposition und nachfolgendem Substantiv)
betont. Feste Betonung haben die westslavischen Sprachen:
• Tschechisch und Slovakisch: es ist immer die 1. Silbe im Wort betont. Bei der
Kombination Präposition + Substantiv liegt die Betonung auf der Präposition:
na shledanou, do Prahy.
• Polnisch: es ist immer die vorletzte Silbe im Wort betont (Penultimabetonung).
Ausgenommen sind nur einige zusammengesetzte Verbformen im Präteritum
und Konditional (chciałbysmy, chciałbyscie u.ä.)
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Die abschließende Tabelle gibt eine Übersicht über das Auftreten der prosodischen
Merkmale in den slavischen Sprachen:
+ heißt, das betreffende Merkmal tritt auf und kann verschiedene Bedeutungen
unterscheiden
– heißt das betreffende Merkmal tritt nicht auf und unterscheidet keine
Bedeutungen).
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Man kann die Laute auch nach dem Teil der Zunge benennen, der an der
Artikulation beteiligt ist. Die Teile der Zunge sind:
• Zungenspitze (Apex): mit der Zungenspitze gebildete Laute heißen Apikale
oder Vorderzungenlaute.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Behauchung (Aspiration):
Im Deutschen tritt bei stimmlosen Plosiven zusätzlich das Merkmal der Behauchung
auf. P, t und k werden demnach am Wortanfang „behaucht“, d.h. gefolgt von h
ausgesprochen. In den slawischen Sprachen sind diese Laute dagegen unbehaucht.
Stimmlose Konsonanten klingen daher für „deutsche Ohren“ häufig wie stimmhafte
und werden deshalb gerne verwechselt.
Palatalität (Palatalisierung):
In den slavischen Sprachen tritt bei einer Reihe von Konsonanten das Merkmal der
Palatalität auf. Dies bedeutet, dass die Konsonanten in "J-Stellung" ausgesprochen
werden. Die Artikulationsstelle ist also zum harten Gaumen hin verschoben. Man
spricht auch von "Erweichung" der Konsonanten.
Das Russische hat eine beinahe vollständige Palatalitätskorrelation, d.h. fast alle
Konsonanten kommen sowohl nichtpalatalisiert („hart“) oder palatalisiert („weich“)
vor. Die Palatalität des Konsonanten wird graphisch entweder durch das sogenannte
„weiche Zeichen“ ( ь ) oder durch den nachfolgenden Vokalbuchstaben ausgedrückt
(vgl. zur graphischen Wiedergabe palataler Konsonanten genauer: Teil 2B, S. 8ff.
Die Palatalitätskorrelation im Russischen:
nichtpalatalisier
б п м в ф л р д т с з н к г х
te Konsonanten
palatalisierte
б’ п’ м’ в’ ф’ л’ р’ д’ т’ с’ з’ н’ к’ г’ х’
Konsonanten
Außerhalb der Palatalitätskorrelation stehen im Russischen nur 5 Konsonanten:
ш, ж und ц: kommen nur nichtpalatal vor
щ und ч: kommen nur palatal vor
Im Polnischen tritt die Palatalitätskorrelation bei folgenden Konsonanten auf:
• bei l: Hier fungiert der Gleitlaut ł als „harte“ und l als „weiche“ Entsprechung).
• bei den Labialen b, p, m, w und dem Dental n. Sie fehlt lediglich beim r.
• Bei den alveodentalen d, t, s und z sind die „weichen“ Entsprechungen dź, ć, ś
und ź tatsächliche palatale (nicht nur palatalisierte) Laute.
Graphisch wird die Palatalität entweder durch einen Strich über dem Buchstaben
oder durch nachfolgendes i ausgedrückt.
Die Palatalitätskorrelation im Polnischen:
nichtpalatale
b p m w f ł d t n s z k g ch
Konsonanten
palatalisierte
b’ p’ m’ w’ f’ l ń k’ g’ ch’
Konsonanten
palatale
dź ć ś ź
Konsonanten
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Im Tschechischen schließlich tritt die Palatalitätskorrelation nur noch bei den drei
Dentalen d, t und n auf, die palatalisierten Entsprechungen sind ď, ť und ň.
Graphisch wird die Palatalität entweder durch einen Haken („háček“) über dem
Buchstaben oder durch nachfolgendes ě bzw. i / í ausgedrückt.
Die Palatalitätskorrelation im Tschechischen:
nichtpalatale Konsonanten d t n
palatalisierte Konsonanten ď ť ň
Konsonantenschema
Die Tabelle auf der folgenden Seite zeigt die in den slavischen Sprachen
vorkommenden Konsonanten in einer Tabelle (einem sogenannten
Konsonantenschema).
Dabei wird auf der horizontaler Achse die Artikulationsstelle angetragen, wobei
jeweils noch in nichtpalatalisiert (-p) und palatalisiert (+p) unterteilt wird.
Auf der vertikalen Achse ist die Artikulationsart verzeichnet: zunächst die
Obstruenten gefolgt von den Sonoranten und Gleitlauten. Bei den Obstruenten wird
zusätzlich nach dem Merkmal Stimmbeteiligung differenziert. (vgl. eine ähnliche
Konsonantentabelle für das Deutsche bei Ernst 2004:75 bzw. Vater 1994:18)..
Weiterführende Literatur:
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Affrikaten
stimmlos c č č’ ć
stimmhaf
t v v' z z' ž ź h
ś
Frikative ch
stimmlos f f' s s' š ch („ach- ch’
(„ich- Laut”)
Laut”)
stimmhaf
Nasale
t m m' n ň
Sonoranten
stimmhaf
Laterale
t l ľ
stimmhaf
Vibranten
t r r' ř R
Gleitlaute / stimmhaf
Halbvokale t ł j
49
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
1. Schriftsysteme
Exkurs: die historische Entwicklung der kyrillischen Schrift
2. Transliteration und Transkription
3. Sonderzeichen in den lateinischen und kyrillischen Alphabeten:
Diakritika und Ligaturen (Digraphen)
4. Zur Wiedergabe palatalisierter Konsonanten: die Funktion der jotierten
Vokalbuchstaben im Russischen, Polnsichen und Tschechischen
5. Orthografiesysteme: historisches, morphologisches und phonetisches
Prinzip
Slavische Sprachen
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Abb. 2: Verschiedene Versionen der Glagolica, ihre Zahl- und Lautwerte (nur zur Illustration)
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Tschechisch ň, ť, ď ě, ř, ů
Slovakisch á, é, í, ó, ú, ý ľ, ĺ, ŕ, ä, ô
č, š, ž
Kroatisch ć, đ
Slovenisch
Polnisch ć, ń, ś, ź, ż, ł, ą, ę, ó
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Tschechisch
dž
Slovakisch ch
Polnisch dź, dż, cz, sz, szcz, rz
Kroatisch dž, lj, nj
Kyrillische Schrift
Auch innerhalb der slavischen Sprachen, die kyrillisches Alphabet verwenden, gibt
es leichte Abweichungen: in einzelnen Sprachen werden zusätzliche Schriftzeichen
verwendet.
57
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
ј j (vor Vokalen)
љ, њ palatales L, N Serbisch und Mazedonisch
џ stimmhaftes dsch
ђ, ћ palatales D und T Serbisch
ѓ, ќ palatales D und T
Mazedonisch
ѕ stimmhaftes ds
ъ "Schwa-Laut" Bulgarisch
Ukrainisch
ї, є, ґ
i
Weißrussisch ў
Serbisch
ђ, ћ
Mazedonisch ј, љ, њ, џ,
ѓ, ќ, ѕ
Einige wichtige Ausspracheunterschiede:
Auch in den kyrillischen Alphabeten kommen einige Grapheme in mehreren
Sprachen vor, haben aber in den einzelnen Sprachen unterschiedliche Lautwerte.
Diese sind:
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Polnisch:
Im Polnischen zeigt der Buchstabe i die Palatalität des vorausgehenden
Konsonanten an. Dabei wird die Kombination t+i graphisch zu ci die Kombination
d+i graphisch zu dzi.
Steht nur der Buchstabe i allein, so erfüllt er eine Doppelfunktion: er bezeichnet die
Palatalität des vorangehenden Konsonanten und gleichzeitig den Laut [ i ]:
ci = ć + i : cicho
dzi = dź + i : dziśaj
zi = ź + i: zima
si = ś + i : siła
ni = ń + i: niski
Steht der Buchstabe i vor einem anderen Vokal, so bezeichnet er nur die Palatalität
ohne eigenen Lautwert:
cia = ć + a: ciało
dzie = dź + e: dziecko
zie = ź + e: zielony
się = ś + ę
nie = ń + e: nie.
Tschechisch:
Im Tschechischen zeigen die Buchstaben ě und i (í) die Palatalität der
vorangehenden Konsonanten d, t und n an:
dě = ď + e: děti
tě = ť + e: tělo
ně = ň + e: něco
di = ď + i: dítě
ti = ť + i: tisíc
ni = ň + i: nikdo
Nach den Buchstaben b, p, f, v zeigt der Buchstabe ě den Einschub des Phonems "j"
an: běžet [bježеt] pěkný [pjekn’i:], věnovat [vjenovat]. Nach m zeigt der Buchstabe ě
den Einschub des Phonems ň an: město [mňesto]
Die Schreibung von i oder y nach den Buchstaben b, p, f, v, m und nach l, s und z
ist im Tschechischen nurmehr eine rein orthographische Norm, die keinen
Ausspracheunterschied mehr bezeichnet, vgl. bílý - byli, mít - mýt, síla – sýr
5. Orthographiesysteme
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Die Orthographie gibt gleiche Morpheme auf dieselbe Art wieder, auch wenn diese
unterschiedlich gesprochen werden.
Phonetisches Prinzip:
Im Russischen: Schreibung von рас-, вос-, ис- vor stimmlosen Konsonanten:
раскричать, восклицать, исписать; аber: разрешить, возвести, извинить
Phonetische Schreibung von engl./frz. sprachigen Fremdwörtern/Namen: гоган,
уошингтон, u.ä.
Im Tschechischen: Schreibung von Fremdwörtern: v kurzu, univerzita
Im Polnischen: Phonetische Schreibung von z bzw. s: nisky; Vereinheitlichung von s
und z zu einer Präposition.
Vorteile des phonetischen Prinzips ist die genaue Phonem-Graphementsprechung,
die zu Ausspracheerleichterungen führt.
Nachteil ist die große Zahl von notwendigen Graphemen, um die tatsächlichen
phonetischen Unterschiede kennzeichnen zu können. Daneben auch der häufige
graphische Wechsel bei morphologisch zusammengehörigen Wörtern (vgl. etwa die
Schreibung der Stimmtonassimilation im BKS: Srbija aber: srpski).
Morphologisches Prinzip:
Im Russischen: Nichtberücksichtigung der Vokalreduktion in der Schreibung: окно
statt акно; мало statt мала; очень очинь usw. (vgl. dagegen die Schreibung des
Аkanje im Weißrussischen)
Im Tschechischen: keine Assimilation bei Vorsilben z- und s-: sbírat (sprich: zbírat),
zpracovat (sprich: spracovat)
Vorteil des morphologischen Prinzips: Durchsichtigkeit für Wortbildungsprozesse /
Erkennbarkeit von Wurzeln / Morphemen, auch bei Ausspracheänderung
Nachteil: Aussprache weicht in best. Fällen von Schreibung ab
Historisches Prinzip:
im Russischen: Schreibung der Genitivendung –ого trotz Aussprache -ovo
im Polnischen: Differenzierung von rz und ż trotz identischer Aussprache
im Tschechischen: Schreibung von i in Fremdwörtern: titul, diskuse obwohl "harte
Aussprache von d / t. Beihaltung der Differenzierung von i und y in der Schreibung,
obwohl kein Ausspracheunterschied.
Vorteil des historischen Prinzips: Gewöhnung und Tradition bringen Sicherheit
Nachteil: u.U. extremes Auseinanderklaffen von lautlicher und graphischer
Wiedergabe (etwa im Englischen oder Französischen.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Teil 3 A: Phonologie
1. Definition "Phonem"
2. Bestimmung von Phonemen
3. Der Begriff Allophon
3.1. Freie Allophone
3.2. Distributionelle Varianten
4. Phonembestimmung in den slavischen Sprachen
4.1. Phonemcharakter palatalisierter Konsonanten
4.2. Beispiele von Allophonie in den slavischen Sprachen
5. Neutralisation des Phonemunterschieds
6. Überblick über das Phoneminventar slavischer Sprachen
1. Definition „Phonem“
Im Gegensatz zur Phonetik untersucht die Phonologie nicht die beim Sprechen
erzeugten Laute an sich, sondern die ihre Funktion im System der Sprache. Die
Phonologie beschäftigt sich also mit "abstrakten" Eigenschaften der Laute, vor allem
mit ihrem Verhältnis zueinander.
Als "Phoneme" haben die beim Sprechen erzeugten Laute eine bestimmte Funktion
innerhalb des Systems Sprache. In Kapitel 1 A wurde festgestellt, dass bei der
sprachlichen Kommunikation durch Laute bestimmte Inhalte übermittelt werden.
Durch verschiedene Laute werden also auch verschiedene Inhalte übermittelt. Die
einzige Art, in der Sprache einen Unterschied im Inhalt deutlich zu machen, ist
verschiedene Laute zu benutzen. Die Laute haben im System Sprache also eine
ganz wichtige Funktion: sie unterscheiden Bedeutungen. Die Laute, die in der Lage
sind, im Sprachsystem verschiedene Bedeutungen zu unterscheiden, nennt man
PHONEME:
Definition Phonem:
Ein Phonem ist die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit auf der Ebene
des Sprachsystems (langue).
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Beispiel:
Opposition lautliche Umgebung Minimalpaar Bedeutungsveränderung
Baum – Raum ____ aum B–R +
Baum – beim B ____ m Au – Ei +
Baum – Bauch Bau _____ M – Ch +
Als distinktive Merkmale bezeichnet man die artikulatorischen Merkmale, die bei
der Unterscheidung von Phonemen relevant sind. Im ersten Beispiel sind dies etwa
Artikulationsstelle (labial vs. alveolar), Artikulationsart (Plosiv vs. Vibrant) usw.
Zur Ermittlung der distinktiven Merkmale werden Minimalpaare gebildet, die sich nur
durch ein einziges artikulatorisches Merkmal unterscheiden:
Bei Konsonanten sind dies:
• Bach – Dach: Artikulationsort
• Teil – Seil: Artikulationsart
• backen – packen: Stimmbeteiligung
• russ.: рад – ряд: Palatalität
Bei Vokalen sind dies:
• Mond – Mund: vertikale Zungenstellung
• Tochter – Töchter: horizontale Zungenstellung
• Züge – Ziege: Lippenrundung
• Poln.: piszę – pisze: Nasalität
• Tsch.: rada – ráda: Vokalquantität
• Russ.: мукá – мýка: Betonung
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Beispiele im Russischen:
Minimalpaar in Minimalpaar in Lautschrift lautliche Phonem-
russischer Umgebung opposition
Orthographie
рад ряд [r a d] [r' a d] ___ ad r - r'
мать мять [m a t'] [m' a t'] ___ at' m – m'
саду сяду [s a d u] [s' a d u] ___ adu s - s'
лук люк [l u k] [l' u k] ___ uk l – l'
вол вёл [v o l] [v' o l] ___ ol v – v'
вaрит вaрить [v a r ' i t ] [v a r ' i t' ] var'i ___ t – t'
вон вонь [v o n] [v o n'] vo___ n – n'
In all diesen Fällen ist die lautliche Umgebung tatsächlich identisch, da die
Vokalbuchstaben я, ю, ё usw. nur die Palatalität des vorausgehenden Konsonanten
anzeigen. Bedeutungsunterscheidende Funktion hat in bei diesen Minimalpaaren
also nur durch die unterschiedliche Palatalität der Konsonanten. Das Merkmal
Palatalität Nichtpalatalität kann im Russischen also Bedeutungen unterscheiden,
palatale und nichtpalatale Konsonanten sind im Russischen daher verschiedene
Phoneme.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Beispiele im Tschechischen:
Minimalpaar in Minimalpaar in Lautschrift lautliche Phonem-
tschechischer Umgebung opposition
Orthografie
dej děj [d e j] [d' e j] ____ej d–ď
nemá němá [n e m a:] [n' e m a:] ___ emá n–ň
tele těle [t e l e] [t' e l e] ___ ele t–ť
ty ti [t i ] [t' i ] ___ i t–ť
tykat tikat [t i k a t] [t' i k a t] ___ ikat t–ť
dýky díky [d i: k i] [d' i: k i] ___ i:ky d–ď
krásný krásní [k r a: s n i:] [k r a: s n' i:] kras i: n–ň
Auch hier ist die lautliche Umgebung in allen Fällen identisch, da die
Vokalbuchstaben ě und i (bzw. í) lediglich die Palatalität des vorausgehenden
Konsonanten anzeigen. Das Merkmal Palatalität weist also auch im Tschechischen
Phonemcharakter auf, tritt allerdings nur bei den alveolar-dentalen Konsonanten d/ď,
t/ť und n/ň auf.
Beispiele im Polnischen:
Minimalpaar in Minimalpaar in Lautschrift lautliche Phonem-
polnischer Umgebung opposition
Orthografie
pasek piasek [p a s e k] [p’ a s e k] ____ asek p - p‘
syna sina [s i n a] [ś i n a ] ____ ina s-ś
ładny ładni [l a d n i] [l a d n’ i] lad ___ i n-ń
młody młodzi [m ł o d i] [m ł o dź i] mło ___ i d - dź
bogaty bogaci [b o g a t i] [b o g a ć i] boga ___i t-ć
mały mali [m a ł i] [m a l i] ma i ł-l
66
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Wir stellen fest, dass и und ы nie in identischer lautlicher Umgebung auftreten:
o ы: tritt nur nach nichtpalatalen Konsonanten ([b], m, v , t) auf
o и: tritt nur nach palatalen Konsonanten (b', m', v', t') auf
Es gibt also keine lautliche Umgebung, in der sowohl ы als auch и stehen können
und der Ausspracheunterschied bedeutungsunterscheidend wäre. Damit sind die
Phone и und ы lediglich distributionelle Varianten eines Phonems /i/. Dieses wird
jedoch je nach lautlicher Umgebung unterschiedlich realisiert:
o als [ы] nach nichtpalatalebn Konsonanten
o als [и] in allen anderen Positionen: am Wortanfang: играть, nach Vokal
стоит und palatalem Konsonanten: вить
Das bestätigt sich, wenn wir folgende Beispiele betrachten:
• in manchen Fällen wird auch graphisches и wie ы ausgesprochen, und zwar,
wenn es (aus orthographischer Konvention) nach nichtpalatalen (harten)
Konsonanten steht:
o nach den "unpaarigen" harten Konsonanten ж und ш: жизнь, хороший
o Wenn Wörtern, die mit и beginnen, eine Präposition vorausgeht, die auf
harten Konsonanten endet: в институте [v ynst'itut'e] , в Италии [v Ytal'ii],
из Испании [iz Yspan'ii], с интересом [s ynt'ir'esam]
• Bei der Präfigierung wird dies sogar in der Schreibung wiedergegeben, vgl.:
с+играть Æ сыграть; без+имя Æ безымённый
Ähnlich verhält es sich im Polnischen mit den Allophonen i und y: "y" wird im
Polnischen „zentralisiert“ (als ungespanntes "e") ausgesprochen. Es tritt ebenfalls nur
nach nichtpalatalen Konsonanten auf, i dagegen nur nach palatalen.
Bedeutungsunterscheidend ist also wiederum allein die Palatalität der Konsonanten.
Koartikulation / Assimilation:
Wir haben gesehen, dass Phoneme in Abhängigkeit von ihrer lautlichen Umgebung
unterschiedlich realisiert werden können. Der Grund für diese Veränderungen der
Aussprache liegt in der gegenseitigen Beeinflussung zweier benachbarter Laute der
sogenannten Koartikulation. Folgen der Koartikulation können sein.
• die Angleichung der Laute oder ihrer artikulatorischen Eigenschaften sein =
Assimilation.
• Die Differenzierung zweier ähnlicher benachbarter Laute mit dem Ziel der
besseren Unterscheidbarkeit sein = Dissimilation.
Je nach Richtung, in der die Anpassung wirkt unterscheidet man:
• progressive Wirkung: der vorausgehende beeinflusst den nachfolgenden Laut.
• regressive Wirkung: der nachfolgende beeinflusst den vorausgehenden Laut.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
regressive Assimilation:
stimmhaft Î stimmlos vor stimmlosem Konsonanten
Russisch Tschechisch Polnisch
редко prohlídka nadpsuty
procházka zszyć
книжка tužka świeższy
трубка obchod babka
входить dívka wkopać
завтра přestávka
lehký
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Ein Beispiel für die Dissimilation benachbarter Laute ist die Kombination [-gk-] im
Russischen. Durch Stimmtonassimilation träfen zwei identische Laute [-kk-]
aufeinander. Zur besseren Unterscheidbarkeit wird daher beim ersten die
Artikulationsart von plosiv zu frikativ dissimiliert [-chk-].
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Zum Abschluss betrachten wir den Phonembestand der drei von uns behandelten
slawischen Sprachen im Überblick:
Wenn wir die Phonembestände der drei slawischen Sprachen vergleichen, so fällt
auf, dass das Russische die meisten Konsonantenphoneme aufweist, gefolgt vom
Polnischen, das Tschechische die wenigsten. Das hat mit der Palatalitätskorrelation
zu tun: im Russischen kommen (bis auf die 7 unpaarigen Konsonanten) alle
Konsonanten als palatale und nichtpalatale Entsprechung vor, die Phonemcharakter
hat. Ähnlich im Polnischen, wo lediglich bei die Palatalitätskorrelation bei r fehlt.
Etwas abweichend ist die Palatalität bei den dentalen Frikativen und Affrikaten (s, z,
c, dz) und bei den dentalen Plosiven (werden stärker palatalisiert: ć, dź). Im
Tschechischen hingegen gibt es die Palatalitätskorrelation nur bei drei Konsonanten:
den Dentalen: d, t und n (ď, ť und ň). Alle anderen Konsonanten kommen nur in
nichtpalataler Form vor.
Umgekehrt verhält es sich bei der Zahl der Vokalphoneme. Hier hat das Russische
mit 5 die wenigsten Phoneme, das Polnische in der Mitte mit 7 Phonemen, die
meisten (11) weist das Tschechische auf. Das hängt mit der Quantitätsopposition
zusammen, die im Tschechischen phonematischen Charakter hat. Alle 5 Vokale
treten im Tschechischen in kurzer und langer Form auf, so dass sich die Zahl der
Vokalphoneme verdoppelt. Im Russischen sind hingegen nur 5 Vokalphoneme zu
unterscheiden, diese treten jedoch in zahlreichen allophonischen Varianten (vgl. и
und ы) auf. Im Polnischen besteht ebenfalls keine Quantitätsopposition, jedoch tritt
hier das Merkmal der Nasalität in phonembildender Funktion auf. Durch die beiden
Nasalvokalphoneme erhöht sich die Zahl der Vokalphoneme auf 7.
70
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Artikulationsstelle mediopalata
bilabial labiodental alveodental alveopalatal velar
l
Artikulations-
art -palatal +palatal -p +p -p +p -p +p +p -p +p
stimmhaft б б' д д' г
Plosive
stimmlos п п' т т' к
stimmhaft
Affrikaten
stimmlos ц ч'
stimmhaft в в' з з' ж й
Frikative
stimmlos ф ф' с с' ш щ' х
Nasale stimmhaft м м' н н'
Laterale stimmhaft л л'
Vibranten stimmhaft р р'
и (ы) у
e о
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
i u
(y)
ę e о ą
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
i í u ú
ou
e é o (ó)
a á
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Teil 3 B: Sprachgeschichte:
75
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
ostslavischen Sprachen dar, die sie von den anderen Sprachgruppen trennen
(sogenannte West-, Ost-, Südslavismen).
Noch später kam es zu Entwicklungen, die in die Zeit nach der Trennung in
Einzelsprachen fallen. Diese sind nur für eine einzelne slavische Sprache
charakteristisch und können als einzelsprachliche Entwicklung gelten.
Die folgende Tabelle gibt einen kurzen Überblick über die historische Entwicklung
vom Indogermanischen bis zu den heutigen slavischen Sprachen. Die Datierungen
sind nur zur groben zeitlichen Einordnung gedacht und stellen keine exakten
historischen Datierungen dar.
Urslavisch
Spätgemeinslavisch
Ukrainisch Slovenisch
Weißrussisch Altkirchenslavisch
11.-15. Jh.
Slovakisch (Altbulgarisch)
Seit dem 11. Jh. 9.-11-Jh.
Altrussisch Ur-und
12.-17.Jh. (wechselnde Alttschechisch
südslavische / Altpolnisch 10.-15. Jh.
kirchenslavische 12.-15. Jh. Mittelbulgarisch
Einflüsse) 12.-14.Jh.
Kajkavische,
16. – Anfang 18.
čakavische und
štokavische Denkmäler
Jh.
Mittel- Mitteltschechisch
polnisch 16.-18. Jh
16.-18. Jh. Mazedonisch
Nationalsprache Mitte 19.- Ende 20.Jh.
18. Jh. bis heute
76
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
77
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Lautgesetze sind Regeln, nach denen die Entwicklung eines Lautes in Abhängigkeit
von seiner Umgebung präzise vorhergesagt werden kann: Lautgesetze werden bei
der Rekonstruktion älterer Sprachstufen aufgestellt und erklären die unterschiedliche
Entwicklung in den einzelnen zweigen.
Lautgesetze haben die allgemeine Form: x > y / a _ b
was soviel bedeutet wie: "X wird zu Y in der Umgebung nach a und vor b"
Zwei Beispiele für Lautgesetze aus der slavischen Sprachgeschichte sind:
k>c/_e „k wird in Position vor e zu c“
s+j>š „s und j verschmelzen in direktem Kontakt zu š“
Das gegenläufige Prinzip ist der sogenannte morphologische Ausgleich. Die
mechanische Befolgung der Lautgesetze führt nämlich häufig dazu, dass innerhalb
eines Paradigmas (d.h. innerhalb des Deklinations- oder Konjugationsmuster eines
Worts) Unregelmäßigkeiten entstehen. Sprachen haben aber die Tendenz zur
Regelmäßigkeit, d.h. zu einem möglichst einheitlichen und durchschaubaren System.
Daher versuchen sie, Unregelmäßigkeiten möglichst zu vermeiden und zu
beseitigen. Ein Beispiel aus dem Deutschen wäre die fortschreitende Tendenz, aus
unregelmäßigen starken Verben regelmäßige schwache Verben zu machen: etwa
fragen – fragte oder backen – backte, wo früher die starken Formen "frug" oder "buk"
auftraten.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Das Tschechische hat prošu durch die regelmäßige Form prosím ersetzt und damit
ein heute einheitliches Konjugationsparadigma.
Infin. prosit
1. Sg prosím
2. Sg. prosíš
3. Sg. prosí
1. Pl. prosíme
2. Pl. prosíte
3. Pl. prosí
Beide morphologischen Ausgleiche führten jedoch dazu, dass die heutigen Formen
руке (russ.) und prosím (tsch.) lauthistorisch nicht mehr korrekt hergeleitet werden
können. Diachron gesehen stellen sie also Unregelmäßigkeiten dar. Die
Wechselwirkung zwischen Lautgesetzen einerseits und morphologischem Ausgleich
andererseits lässt sich in etwa so darstellen:
Lautgesetz
↓
diachron regelmäßig
synchron unregelmäßig Æ morphologischer Ausgleich
↓
synchron regelmäßig
diachron unregelmäßig
79
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
3.1 Palatalisierungen
Unter (historischer) Palatalisierung versteht man die Entwicklung von nichtpalatalen
Lauten zu palatalen, d.h. eine Verschiebung des Artikulationsorts hin zum harten
Gaumen (Palatum). Von der Palatalisierung betroffenen sind die velaren
Konsonanten k, g und ch. Die Verschiebung wird ausgelöst durch die lautliche
Umgebung. Stehen die Velare in direktem Kontakt mit einem vorderer Vokal (e, i, ě,
ę, ь) oder j, so verändern sie aufgrund der Koartikulation - der gemeinsamen
Artikulation zweier im Redefluss unmittelbar aufeinanderfolgener Laute - ihre
Eigenschaften. Die am hinteren Gaumen artikulierten Velare orientieren sich in
Richtung der Vokale, der Artikulationsort wandert vom harten Gaumen (Velum)
allmählich nach vorne, aus velaren Konsonanten werden zunächst palatale, aus
diesen dann später alveopalatale oder alveodentale:
k Æ k' Æ ć Æ č' Æ č Æ c' Æ c;
g Æ g' Æ dź Æ dž' Æ dž (Æ ž) Æ dz' Æ dz (Æ z);
ch Æ ch' Æ ś Æ š' Æ š Æ s' Æ s;
Bei den Plosiven k und g verändert sich darüberhinaus der Artikulationsmodus: aus
dem plosiven k werden die Affrikaten č bzw. c, aus dem plosiven g werden zunächst
auch Affrikaten (dž bzw. dz), die sich dann sogar noch weiter zu reinen Frikativen
entwickeln (ž bzw. z). Lediglich bei der Entwicklung des ch bleibt die frikative
Artikulationsart erhalten.
Die Palatalisierung ist kein rein slavischsprachiges Phänomen. Durch Koartikulation
verursachte Lautveränderungen dieser Art können wir in vielen Sprachen
beobachten, im Deutschen etwa bei Fremdwörtern lateinischen Ursprungs
(Provokation - provozieren) oder in bestimmten Dialekten („Isch liebe disch“).
Im Laufe der historischen Entwicklung des Slavischen gab es drei "Wellen" der
Palatalisierung: man spricht daher von der 1., 2. und 3. Palatalisierung, sowie von
der j-Palatalisierung.
1. Palatalisierung:
Der Vokal steht hinter dem Velar und wirkt nach vorne (regressiv). Das Ergebnis
sind die Alveopalatale č, ž und š.
k Æ č: russ.: рука Æ ручка; tsch.: ruka Æ ručka; poln. ręka Æ rączka
(Auslöser ist in allen Fällen das Verkleinerungssuffix –ьkъ)
g Æ ž: russ.: могу Æ можешь; tsch. mohu Æ můžeš; poln.: mogę Æ możesz
(Auslöser ist hier die Personalendung -eš)
ch Æ š: russ.: сухой Æ сушить; tsch.: suchý Æ sušit; poln.: suchy Æ suszyć
(Auslöser ist hier das verbale Suffix -i-)
80
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
2. Palatalisierung:
Auch hier steht der Vokal steht hinter dem Velar und wirkt nach vorne (regressiv).
Das Ergebnis sind im Unterschied zur ersten Palatalisierung jedoch die
Alveodentale c, z (bzw. dz) und s (bzw. š). Die Ergebnisse der 2.Palatalisierung
sind heute v.a. in der Deklination zu beobachten, v.a. in den Endungen von Dativ
und Lokativ Singular und im Nominativ Plural, da hier die Endungen einen
vorderen Vokal beinhalteten.
• k Æ c: tsch.: ruka Æ v ruce; poln.: ręka Æ w ręce.
• g Æ z / dz: Im Tschechischen wandelte sich später noch g zu h, so dass
heute
die Alternation h zu z auftritt: noha Æ na noze. Im Polnischen tritt die Alternation g
Æ dz auf: noga Î na nodze.
• ch Æ š: (im Westslavischen): tsch.: střecha Æ na střeše; poln.: mucha -
musze. In den südslavischen Sprachen dagegen ch Î s, vgl. BKS: tepih Î
na tepisima.
Das heutige Russische hat die Ergebnisse der zweiten Palatalisierung durch
morphologischen Ausgleich (bis auf wenige Ausnahmen, etwa друг Æ друзья) beseitigt.
Es gab sie jedoch noch im Altrussischen sowie in den anderen ostslavischen Sprachen
Ukrainisch und Weißrussisch.
3. Palatalisierung:
Auslöser sind wieder vordere Vokale, diesmal ist die Wirkungsrichtung jedoch
progressiv, d.h. der auslösende Vokal steht vor dem betreffenden Konsonanten.
Ergebnisse der 3. Palatalisierung sind nur noch in einigen Wörtern, etwa:
отец / otec / ojciec „Vater“ aus *otьkъ
князь / kněz / ksiądz „Fürst bzw. Priester“ aus *knęgъ
всё / všechno / wszystko „alles“ aus *vьcho)
erhalten und nicht mehr im Formbildungs- oder Wortbildungssystem erkennbar.
auslösende betroffener
Richtung Ergebnis Beispiele
r Laut Laut
k č ручка – ručka - rączka
voderer regressiv книжка – knižka – księżka
1. Palatalisierung
Vokal Å g ž
ch š сушить – sušit – suszyć
k c v ruce – w ręce
voderer regessiv g z na noze – na nodze
2. Palatalisierung Å o mouše – o musze
Vokal ch š westsl.
s südsl.
k c отец – otec – ojciec
voderer progressiv g z князь – kněz – ksiądz
3. Palatalisierung Æ всё – všechno – wszystko
Vokal ch s ostsl.
š westsl.
J-Palatalisierung
Von der j-Palatalisierung sind nicht nur die velaren, sondern auch andere
Konsonanten betroffen: die Alveodentale d, t, s, z, die Konsonanten-gruppen kt, gd,
im Russischen zusätzlich die Labiale. Der auslösende Laut j verschmilzt mit dem
vorangehenden Konsonanten und ist daher in den resultierenden Formen nicht mehr
erkennbar. J-Palatalisierungen treten in verschiedenen Formen auf: in der 1.Person
Singular (v.a. bei Verben der i-Konjugation), beim Partizip Passiv, bei der Bildung
von Verbalsubstantiven.
81
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
3.2 Halbvokale
Unter Halbvokalen versteht man extrem kurze (sogenannte "reduzierte") Vokale, die
im Urslavischen noch vorhanden waren, in den modernen slavischen Sprachen
jedoch nicht mehr existiern. Sie wurden entweder zu normalen (sog. "Vollvokalen" =
Hebung der Halbvokale) oder sind verschwunden (= Ausfall der Halbvokale). Dieser
Ausfall der Halbvokale ist für das in allen slavischen Sprachen bekannte Phänomene
der sog. "flüchtigen" Vokale verantwortlich: ein Vokal, der in einer Form vorhanden ist
(z.B. im Nom. Sg. день / den / dzień) fehlt in anderen Formen (etwa im Gen. Sg. дня
/ dne / dnia).
Das Urslavische hatte zwei Halbvokale: einen hinteren („harten“, geschrieben: ъ )
und einen vorderen („weichen“, geschrieben: ь ). Bei der Hebung der Halbvokale
behielten die ostslavischen Sprachen diesen Unterschied bei (der hintere Halbvokal
wurde zu o, der vordere zu e), die westslavischen Sprachen gaben ihn auf (beide
wurden zu e).
Die Entwicklung der Halbvokale hängt von der Position ab, die sie im Wort
innehatten:
• Standen sie an letzter Stelle im Wort oder unmittelbar vor einem Vollvokal,
so kam es zum Ausfall.
• Standen sie jedoch unmittelbar vor einem anderen Halbvokal, so wurden sie
„gehoben“, d.h. sie wurden selbst zu Vollvokalen.
Daher sind heute „flüchtige“ Vokale v.a. in Formen anzutreffen, in denen keine
Endung mehr folgt. Historisch ist die heutige „Nullendung“ aus einem ausgefallenen
Halbvokal entstanden. Der unmittelbar vor ihr stehende Halbvokal wurde deshalb
zum Vollvokal. In anderen Fällen, wo ein Vollvokal in der Endung stand, fiel dagegen
der Halbvokal aus. Einige Beispiele:
82
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
3.3 Liquidametathese
Mit dem Begriff Liquidametathese bezeichnet man die Umstellung (Metathese) der
Kombination Vokal + liquider Konsonanten (R oder L). Dabei tauschten Vokal und
Liquid die Plätze, d.h. aus einer Folge CVLC (consonant – vowel – liquid –
consonant) wurde die Folge CLVC.
Beispiele: melk – mlek; gort – grod; golv – glov; golt – glot, usw.
Diese Umstellung fand in allen slavischen Sprachen statt und unterscheidet sie von
anderen indoeuropäischen Sprachen, die z.T. dieselben Wortwurzeln kennen.
Unterschiedlich verlief jedoch die weitere Entwicklung der Ergebnisse dieser
Umstellung:
• In den südslavischen Sprachen und in der tschechischoslovakischen Gruppe
der westslavischen Sprachen wurde der Vokal danach gedehnt, aus langem o
wurde dabei a: mléko, grad, glav, zlat.
• Im Polnischen blieb der Vokal kurz: mleko, gród, głowa, złoto.
• In den ostslavischen Sprachen, kam es zum sogenannten Volllaut
(Polnoglasie), d.h. es wurde vor dem Liquid ein zusätzlicher Vokal
eingeschoben: moloko, gorod, golova, zoloto.
Beispiele für Ergebnisse der Liquidametathese finden sich in den heutigen
slavischen Sprachen noch zahlreich. Sie treten in verschiedenen Wortarten auf: bei
Substantiven Adjektiven, Verben, sogar bei Präpositionen und Präfixen. Neben der
Lautung konnte sich dabei in der einzelsprachlichen Entwicklung auch die Bedeutung
verschieben (vgl. etwa das Beispiel город „Stadt“ - hrad „Burg“). Das Beispiel der
Entwicklung des historischen Eigennamens Karls des Großen, der in der Bedeutung
83
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
„König“ in allen slavischen Sprachen auftritt, lässt eine historische Datierung der
lautlichen Veränderung zu. Es zeigt, dass dieser Sprachwandelprozess zu Lebzeiten
Karls (d.h. nach dem Jahr 800) noch aktiv gewesen sein muss.
Einige Beispiele:
Beispiele aus
vermutete
anderen
indoeuropäische Russisch Tschechisch Polnisch indoeuropäischen
Form
Sprachen
*melk молоко mléko mleko dt.: Milch, engl.:
milk
*gord город hrad gród dt.: Garten, engl.:
Bedeutung: Stadt Bedeutung: Burg veraltet: Burg garden, frz.:
jardin, lat.: hortus
*chold xолод chlad chłód vgl. dt. kalt
*zolt золото zlato złoto vgl. dt. Gold
*gols голос hlas głos vgl. dt. Hals
*karl король král król vom Eigennamen
Karl, der Große
andere Wortarten:
*kort- короткий krátký krótki vgl. dt. kurz
*mol-ti молоть mlít mleć vgl. dt. mahlen
*perd перед před przed
Im Russischen existiert eine Reihe von Wörtern, die nicht die ostslavische Lautung mit
Volllaut aufweisen, sondern die südslavische Entsprechung mit Liquidametathese und
Dehnung. Diese Wörter entstammen nicht dem (ostslavischen) Russisch, sondern sind aus
dem Südslavischen entlehnt und über das sogenannte Russisch-Kirchenslavische in das
heutige Russische gelangt. Man spricht daher von „Südslavismen“ im heutigen Russischen.
Im modernen Russischen gibt es daher auch Fälle, in denen beide Formen (die ostslavische
und die südslavische) nebeneinander bei demselben Wort vorkommen. Dabei kam es zu
einer Differenzierung der Bedeutung: häufig hat dabei das ostslavische Wort eine
konkretere, die südslavische Entsprechung dagegen eine eher abstrakte Bedeutung, vgl. die
Beispiele:
голова „Kopf“ - глава „(Buch-)Kapitel; Oberhaupt“
переворот „Umsturz“ - преврат „Verwandlung“
Die südslavische Variante findet daneben oft Verwendung bei der Bildung von Städtenamen
und Wortzusammensetzungen:
Städtenamen auf -град: Ленинград, Волгоград - aber: Новгород
Komposita des Typs: хладотехника – "Kühltechnik"
Wissenschaftliche Termini: млечный путь – "Milchstraße"
Politische Begriffe: гласность - „Lautstärke, Öffentlichkeit“
84
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Teil 4 A: Morphologie
1. Definition Morphem
2. Ermittlung von Morphemen
3. Morphemklassen
3.1. Nach der Bedeutung: grammatische und lexikalische Morpheme
3.2. Nach der Position im Wort: Wurzeln, Affixe, Endungen
3.3. Nach Art der Realisierung
3.4. Nach der Distribution: freie und gebundene Morpheme
4. Allomorphie
5. Wortarten
5.1. Einteilung der Wortarten
5.2. Definitionsmöglichkeiten
6. Grammatische Kategorien
6.1. Nominalkategorien
6.2. Verbalkategorien
1. Definition Morphem
In den beiden vorhergendenen Kapiteln haben wir die kleinsten Einheiten untersucht,
in die man sprachliche Äußerungen zerlegen kann, die Laute. In diesem Kapitel
wollen wir die nächsthöhere linguistische Beschreibungsebene betrachten. Welche
ist das? Ist es bereits die Ebene des Wortes? Oder existiert zwischen Laut und Wort
noch eine weitere Beschreibungsebene?
Wir haben gesehen, dass ein Phonem selbst noch keine Bedeutung trägt, sondern
nur zur Unterscheidung von Bedeutungen beitragen kann. Welches sind nun die
kleinsten sprachlichen Einheiten, die selbst Bedeutung tragen?
Fügt man Phoneme zu größeren Einheiten zusammen, so erhält man als
nächstgrößere phonologische (phonotaktische) Einheit die Silbe: Silben müssen als
Silbengipfel immer einen Vokal (oder einen silbischen Konsonanten) aufweisen.
Doch auch Silben müssen noch nicht Träger einer Bedeutung sein.
Betrachten wir etwa in unseren 3 slavsichen Sprachen das Wort für „Schule“
russ. школа, tsch. škola, poln. szkoła
85
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Wir sehen, dass dieses Wort in allen drei Sprachen aus 2 Silben besteht:
russ. шко – ла, tsch. ško – la, poln. szko – ła
Doch keine der beiden Silben verfügt über eine eigene Bedeutung. Die Einteilung in
Silben berücksichtigt also die Bedeutung nicht, sondern folgt rein phonetischen
Überlegungen.
Berücksichtigen wir die Bedeutung bei der Einteilung der Wörter jedoch mit, so
erhalten wir dagegen die Wortbestandteile:
russ. школ – а, tsch. škol – a, poln. szkoł – a
Diese Bestandteile tragen sehr wohl eine eigene Bedeutung: die Bestandteile школ,
škol, szkoł können selbstständig im Text auftreten, als Form des Genitiv Plural. Der
Bestandteil –a hingegen hat die Bedeutung „Nominativ Singular“. Man erhält so also
Wortbestandteile, die selbst Bedeutung tragen. Diese Einheiten bezeichnet man als
Morpheme. Morpheme sind abstrakte Einheiten mit identischer Bedeutung auf
langue-Ebene, ihre konkreten Realisierungen im Text bzw. in der gesprochenen
Äußerung (auf parole-Ebene) nennt man Morphe:
Definition Morphem:
Ein Morphem ist die kleinste bedeutungstragende Einheit auf der Ebene des
Sprachsystems (langue-Ebene).
Morpheme werden in geschweiften Klammern { } geschrieben.
Ein Morph ist dagegen die konkrete Realisierung eines Morphems auf der Ebene des
Textes / der Äußerung (parole-Ebene).
Betrachten Sie dazu die Beispiele auf dieser und der folgenden Seite:
Beispiel 1:
russ.: школа, школы, школе, школу, школой, школ, школам,
школами, школах
tschech.: škola, školy, škole, školu, školo, školou, školy, škol, školám,
školami, školách
poln.: szkoła, szkoły, szkole, szkołę, szkoło, szkołą, szkoły, szkoł,
szkołom, szkołami, szkołach
86
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Beispiel 4:
russ.: хвалю, говорю, варю, читаю, советую, несу
tschech.: chválím, mluvím, vařím, chodím, čistím
poln.: chwalę, mówę, varzę, chodzę, ????
87
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
3. Morphemklassen
3.1 Nach Art der Bedeurung: Grammatische und lexikalische Morpheme
(Formbildung und Wortbildung)
Nachdem wir auf durch Segmentierung die Grenzen der Morpheme festgestellt
haben, können wir die gefundenen Morpheme in einem nächsten Schritt
klassifizieren, d.h. nach ihren Eigenschaften in Klassen einteilen.
Das wichtigste Einteilungskriterium ist dabei die Art der Bedeutung, die die
Morpheme in die Gesamtbedeutung des Wortes einbringen.
Sehen wir uns die Art der Veränderung der Bedeutung an in unseren Beispielen
an:
o Im Beispiel 1 blieb der Ausdruck школ / škol / szkoł konstant, es änderte sich
nur das Wortende. Auch der Inhalt "Schule" blieb gleich, lediglich die zusätzliche
Bedeutungen "Kasus" bzw. "Numerus" wurden geändert.
o Im Beispiel 3. blieben der Teil хвал / chvál / chwal und der Inhalt „loben“
konstant, nur die zusätzliche Information „Person“ und „Numerus“ wurde
verändert.
Diese Art von Veränderungen, bei denen sich die lexikalische Grundbedeutung
verändert, nennen wir Wortbildung oder Derivation. Dabei entstehen neue Wörter,
die einen eigenen Eintrag im Lexikon haben und daher verschiedene Lexeme
darstellen.
88
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Formbildung Wortbildung
grammatische Morphologie lexikalische Morphologie
= Flexion = Derivation
• kein eigener Wörterbucheintrag • eigener Wörterbucheintrag
• "Form" eines Wortes • neues Wort (Lexem) mit eigenen
Formen
• grammatische Bedeutung ändert sich • lexikalische Bedeutung ändert sich
• grammatische Morpheme (Endungen, • lexikalische Morpheme (Wurzeln,
Affixe) Affixe)
• geschlossene Klasse: Es kommen • offene Klasse: es können neue
keine neuen Einheiten hinzu, die Einheiten hinzukommen, die Anzahl
Anzahl grammatischer Morpheme ist lexikalischer Morpheme ist daher
begrenzt, und kann vollständig prinzipiell unbegrenzt, und kann nicht
aufgezählt werden. vollständig aufgezählt werden.
89
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Affix:
lexikalische
Zusatzbedeutung
Endung:
grammatikalische Wurzel:
Zusatzbedeutung lexikalische
Kernbedeutung
90
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Morphemklassen im Überblick
91
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Sprachen etwa das imperfektive Futur (буду писать / budu psát / będę pisał) im
Tschechischen auch einige Vergangenheitsformen (psal jsem, psal jsi, psali jsme,
psali jste). Im Gegensatz dazu nennt man die Bildung grammatischer Formen mit
Hilfe gebundener Morpheme (Endungen und Affixe) „synthetische Bildung“.
4. Allomorphie
In Kapitel 4.1 haben wir ein Morphem als die kleinste bedeutungstragende Einheit
definiert. Ein Morphem ist eine abstrakte Einheit des Sprachsystems, das auf der
Ebene der parole (der konkreten Äußerung, des konkreten Texts) als Morph realisiert
ist. Nun kann es jedoch sein, dass die Morphe sich in ihrer lautlichen Gestalt
unterscheiden, obwohl sie dieselbe Bedeutung tragen. In diesem Fall sprechen wir
von Allomorphie: als Allomorphe bezeichnen wir verschiedene lautliche
Realisierungen eines Morphems mit identischer Bedeutung.
Definition Allomorph:
Allomorphe sind verschiedenen lautliche Realisierungen eines Morphems, die
dieselbe Bedeutung tragen.
Allomorphie kann auf verschiedene Weise zustande kommen:
• aufgrund von Allophonie
• aufgrund der historischen Entwicklung
• aufgrund des grammatischen Systems
• durch Suppletion
Für diese Arten der Allomorphie wollen wir im folgenden einige Beispiele anführen.
92
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Das russische Wurzelmorphem hat die Morphe отец und отц-, das tschechische die
Morphe otec, otc und otč, das polnische die Morphe ojciec, ojc und ojcz. Diese sind
Allomorphe desselben Wurzelmorphems. Alle Morphe tragen dieselbe Bedeutung („Vater“),
sie sind phonetisch ähnlich (Fehlen des -e-) und komplementär distribuiert: das Allomorph
отец tritt vor Nullendung auf, das Allomorph отц- vor einer lautlich realisierten Endung.
Historisch ist für die Allomorphie in der synchronen Betrachtung das Phänomen des Ausfalls
bzw. der Hebung der Halbvokale verantwortlich.
Beispiel 2: russ. мочь, tsch. moci / moct, poln. moc „können“
Russisch Tschechisch Polnisch
y,/ ут moh / můž u / оu ę/ą
мог mog
Ø / ла / ли moh l / la / li ł / ła / li / ły
мож ешь / ет / můž eš / e / moż esz / e /
ем / ете eme / ete emy / ecie
мочь -Ø moc t/i moc i
Das Wurzelmorphem hat die Allomorphe мог/мож/мочь im Russischen, moh/můž/moc im
Tschechischen und mog/moż/moc im Polnischen.
Beispiel 3: tsch. kniha „Buch“, poln. ręka „Hand“
Tschechisch Polnisch
knih a ręk a
kniz e ręc e
rąk Ø
Das tschechische Wurzelmorphem hat die Morphe knih und kniz, das polnische die Morphe
ręk und ręc.
Diese Form der Allomorphie ist sehr häufig bei grammatischen Morphemen, v.a. bei
Endungsmorphemen zu beobachten. Damit wird das Phänomen beschrieben, dass
eine grammatische Bedeutung durch eine Reihe verschiedener Endungen
ausgedrückt werden kann. Da diese jedoch alle dieselbe Bedeutung haben, können
sie als Allomorphe eines Endungsmorphems aufgefasst werden. Die Auswahl der
Allomorphe dient dann zur Unterscheidung verschiedener grammatischer
Paradigmen (Deklinations- bzw. Konjugationsmuster).
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Beispiele:
Russisch: Instrumental Singular der femininen Deklination:
книгой (neutrale Variante) книгою (veraltete, buchsprachlich / poetisch).
Tschechisch: Lokativ Singular der Maskulina:
na papíru (neutral) / na papíře (regional bzw. buchsprachlich);
1.Person Singular der Verben auf -ovat:
děkuji (neutral bis leicht schriftsprachlich) / děkuju (etwas
umgangssprachlichere Form).
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
5 Wortarten
Wir haben festgestellt, dass die Formen eines Wortes die grammatische Bedeutung
verändern. Die Art der Information, die von grammatischen Morpheme in die
Gesamtbedeutung des Wortes eingebracht wird, ist jedoch von der jeweiligen
Wortart abhängig. So ist der Unterschied zwischen den Wortformen škola – školy ein
anderer als zwischen den Wortformen mluvím – mluvíš.
Betrachten wir daher zunächst genauer den Begriff der Wortart.
5.1 Definitionsmöglichkeiten für Wortart
Der Begriff der Wortart scheint intuitiv klar zu sein und hat in der Geschichte der
Sprachwissenschaft eine lange Tradition. Bei genauerem Hinsehen ist die Einteilung
des Wortschatzes in Wortarten jedoch weit problematischer als es zunächst scheint.
Die Einteilung der Wörter in Wortarten stellt eine Art der Klassifizeirung des
Wortschatzes dar. Wichtig ist bei der Klassifizierung, dass alle Mitglieder einer
Wortart über gemeinsame Eigenschaften verfügen, über die die Nichtmitglieder nicht
verfügen. D.h. die Definition der Wortarten muss einerseits für alle Mitglieder gültig
(inklusiv) sein, darf andererseits jedoch nicht auf Mitglieder anderer Wortarten
zutreffen (exklusiv). Dies ist bei der klassischen Einteilung der Wortarten vielfach
nicht der Fall.
Überlegen wir, nach welchen Kriterien, Wörter einer bestimmten Wortart zugeordnet
werden können. Dies kann einmal ihre Bedeutung sein, d.h. alle Mitglieder verfügen
über eine gemeinsame (notwendigerweise sehr abstrakte) Grundbedeutung (=
semantische Definition). Das Kriterium für die Einteilung in Wortarten kann aber auch
die Funktion sein, die die Wörter im Satz ausfüllen (= syntaktische Definition).
Schließlich gibt es die Möglichkeit, Wortarten nach den Formen einzuteilen, die ihre
Mitglieder bilden können (= morphologische Definition).
Wir sehen bereits, dass bei der traditionellen Einteilung der Wortarten diese drei
Kriterien häufig vermischt werden. Die Einteilung der Wortarten ist also nicht immer
inklusiv (trifft auf alle Mitglieder zu) und auch nicht immer exklusiv (trifft nur auf
Mitglieder zu). So gehören zu den Substantiven etwa auch Abstrakta (Bläue, das
Schreiben), die nach der semantischen Definition nicht dazu gehören dürften. Nach
der morphologischen Definition dagegen gehören auch Adjektive, Pronomen und
Numeralien zu den Substantiven, da sie ebenfalls nach Kasus, Genus und Numerus
abwandelbar sind.
95
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
96
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Durch die Kreuzung beider Kriterien erhält man folgende Einteilung der Wortarten:
flektierend nichtflektierend
Substantiv
Adjektiv
autosemantisch Adverb
Zahlwort
Verb
Präposition
Konjunktion
synsemantisch Pronomen
Partikel
Interjektion
Substantiv:
Zu den Substantiven gehören Bezeichnungen für Personen oder Dinge (Konkreta),
für Gruppen von Personen oder Dingen (Kollektiva), aber auch für abstrakte
Vorstellungen (Abstrakta). Innerhalb der Konkreta unterscheidet man zwischen
Bezeichnungen für eine Klasse von Personen oder Dingen (Appellativa) und
Bezeichnungen für bestimmte Einzelpersonen oder -dinge (Eigennamen, Propria).
Adjektiv:
Zu den Adjektiven gehören Bezeichnungen für Eigenschaften (Qualitätsadjektive),
aber auch Wörter, die nur eine Relation zwischen zwei Dingen zum Ausdruck
bringen (Beziehungsadjektive).
Pronomen:
Zu den Pronomen gehören eine Reihe verschiedener Untergruppen:
Personalpronomen vertreten ein Substantiv im Satz, Possessivpronomen zeigen
Besitzverhältnisse an. Daneben existieren eine Reihe anderer Untergruppen u.a.
Demonstrativpronomen, Interrogativpronomen (Fragepronomen), Relativpronomen,
Distributivpronomen,…
Zahlwort (Numerale):
Das Zahlwort ist eine rein semantisch definierte Wortart. Innerhalb der Zahlwörter
unterscheidet man Kardinalzahlen (Quantitäten) und Ordinalzahlen (Reihenfolgen),
daneben existieren Multiplikations-, Distributions-, Bruchzahlwörter. Außerdem
97
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
jeden, dva,..., sto один, два, ..., сто jeden, dwa, ...sto
první, druhý первый, второй pierwszy, drugi
kolik, mnoho сколько, много ilu, dużo
Verb:
Zu den Verben gehören Bezeichnungen für Ereignisse, Prozesse und Zustände, sie
können willentlich beabsichtigte Handlungen und Tätigkeiten, oder unwillkürlich
ablaufende Ereignisse und Vorgänge beschreiben.
Prädikativ:
Im Russischen, aber auch in anderen slavischen Sprachen existiert eine kleine
Gruppe von Wörtern, die keiner der oben genannten Wortarten zugeordnet werden
kann. Sie treten meist im Prädikat auf, werden jedoch im Gegensatz zum Verb nicht
flektiert. Meist bringen sie in die Satzbedeutung eine modale Komponente ein. Man
hat diese Gruppe von Wörtern in eine eigene Klasse eingeordnet, die man
„Prädikativa“ nennt.
Adverb:
Es existieren zwei große Untergruppen: Qualitätsadverbien sind meist von Adjektiven
abgeleitet und steigerbar. Umstandsadverbien geben Begleitumstände der Handlung
an und können in Orts-, Richtungs-, Zeit- und Gradationsadverbien eingeteilt werden.
Präposition:
Präpositionen stehen vor einer Nominalgruppe (Substantiv mit Attributen) und
erfordern einen bestimmten Fall (regierend). Nach ihrer Form kann man einfache
(primäre) und zusammengesetzte (abgeleitete, sekundäre) Präpositionen
unterscheiden, nach der Bedeutung räumliche, zeitliche und abstrakte Präpositionen.
Konjunktionen:
Konjunktionen verbinden Wörter, Satzteile oder Sätze zu größeren Einheiten. Nach
dem Verhältnis der verbundenen Teile unterscheidet man koordinierende und
subordinierende, nach der Form einfache und zusammengesetzte Konjunktionen.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Schaltwort (Partikel):
Partikeln bringen in die Äußerungsbedeutung des gesamten Satzes eine zusätzliche
(pragmatische oder diskurssteuernde) Bedeutung ein. Durch die Verwendung von
Partikeln signalisiert der Sprecher dem Hörer, wie die Äußerung zu interpretieren ist.
ale, sice, totiž, přece, přece ведь, разве, неужели ale, właśnie, więć
jenom
Interjektion:
Interjektionen sind Emotionswörter oder Ausrufe. Sie stehen außerhalb des
Satzverbunds und dienen meist der Expression. Oft weisen sie eine für die jeweilige
Sprache untypische phonologische Form auf.
no, hele, viď ну, ой, пока, увы, вот no, ach, hej
Artikel:
Artikel ist eine Wortart, die in den meisten slavischen Sprachen nicht vorkommt. Im
deutschen ist der Artikel eine rein grammatische Wortart: an ihr werden die
Nominalkategorien Genus, Kasus und Numerus formal ausgedrückt, während die
Substantive selbst häufig unverändert bleiben. Die Wahl des Artikels dient zum
Ausdruck der Kategorie Bestimmtheit (Definitheit).
6 Grammatikalische Kategorien:
Genus, Kasus und Numerus werden von den Wortarten Substantiv, Adjektiv,
Pronomen und Numerale ausgedrückt. Diese Wortarten fasst man unter dem
Überbegriff Nomen (oder nominale Wortarten) zusammen. Genus, Kasus und
Numerus gelten daher als nominale Kategorien. Die Abwandlung nach nominalen
Kategorien nennt man Deklination.
Die Kategorien Person, Tempus, Modus, Aspekt und Genus verbie werden von der
Wortart Verb ausgedrückt. Sie gelten daher als verbale Kategorien (oder
Verbalkategorien). Die Abwandlung nach Verbalkategorien nennt man Konjugation.
99
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
6.1 Nominalkategorien
Numerus:
книга - книги
kniha – knihy
księżka - księżki
Ausdruckskategorie:
2 Glieder: Singular und Plural (in manchen Sprachen auch: Dual)
Inhaltskategorie:
Die Kategorie Numerus drückt die Anzahl der am Geschehen Beteiligten aus.
Bedingung für das Auftreten der Kategorie ist die Zählbarkeit des bezeichneten
Gegenstandes. Daher kann bei nicht zählbaren Substantiven der Plural fehlen.
Defektive Glieder: Singularia tantum und Pluralia tantum.
Kasus:
книга – книги – книге – книгу – книгой – в книге
kniha – knihy – knize – knihu – knihou – v knize
księżka – księżki – księżce – księżkię – ksieżką – w księżce
Ausdruckskategorie:
morphologische Kasus: Russisch: 6 Glieder; Polnisch und Tschechisch: 7 Glieder:
Nominativ, Akkusativ, Genitiv, Dativ, Lokativ (Präpositiv), Instrumental;
Tschechisch und Polnisch zusätzlich: Vokativ
Inhaltskategorie:
100
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Die Kategorie Kasus drückt die Beziehungen zwischen den Beteiligten im Satz aus.
Kasus ist daher eine syntaktische Kategorie. Durch den Kasus werden bestimmte
"Rollen" im Satz unterschieden. Die Bedeutungen der Kasus sind sehr abstrakt, und
können daher auch nur äußerst vage angegeben werden (vgl. dazu die
semantischen Satzglieder im Teil Syntax 6A Kapitel 4.4) Die hier angegebenen
Kasusbedeutungen sind daher stark verallgemeinernd und decken selbstverständlich
nicht alle Verwendungen der Kasus ab:
Nominativ: Subjektkasus; Nennkasus: bloßes Nennen / Existenz
Akkusativ: Objektkasus: Ziel / direkt Betroffener einer Handlung
Genitiv: Entfernung, Teilung, Abwesenheit, Besitz: nur teilweises Betroffensein
von der Handlung
Dativ: Indirekt von der Handlung Betroffener (Adressat, Wahrnehmende/r)
Instrumental: Instrument, Verursacher, Grund, Auslöser für die Handlung
Präpositiv: drückt äußere Umstände der Handlung (Raum-, Zeitrahmen) aus.
Vokativ: eigener Fall für die Anrede: keine syntaktische Beziehung zu anderen
Beiteiligten im Satz, sondern zu den Beteiligten an der Sprechsituation)
(im Deutschen und Russischen immer mit dem Nominativ identisch)
Genus:
отец – мать – животное / стол – книга - окно
otec – matka – dítě / stůl – kniha – okno
ojciec – matka – dziecko / stoł – księżka - okno
Ausdruckskategorie:
3 Glieder: Maskulinum, Femininum und Neutrum
Inhaltskategorie:
Beim Substantiv ist Genus eine rein "klassifikatorische" Kategorie. Jedes Substantiv
weist zwar ein grammatisches Genus auf, dieses kann jedoch im Rahmen der
Formbildung nicht geändert werden. Eine Änderung des Genus bei Substantiven
stellt bereits Wortbildungsvorgang dar (vgl. im Wortbildungsteil 5A, Kapitel 1.3.2).
Das Genus der Substantive dient jedoch zur Einteilung in Deklinationsklassen (man
spricht daher in den slavischen Sprachen von Genusflexion).
Beim Adjektiv und Pronomen (sowie bei einigen Verbformen) ist die Kategorie Genus
dagegen eine Kongruenzkategorie: sie bringt die Zusammengehörigkeit von
Substantiv und Attribut (bzw. Subjekt und Prädikat) zum Ausdruck. Die Kategorie
Genus drückt hier also rein grammatische Eigenschaft aus.
Ein direkter Zusammenhang zwischen grammatischem Genus und biologischem
Geschlecht (Sexus) kann nur bei Bezeichnungen für Personen angenommen
werden. Auch hier gibt es jedoch zahlreiche Abweichungen.
101
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
In anderen Fällen ist der Ausdruck der Belebtheit jedoch von Sprache zu Sprache
unterschiedlich.
Russisch:
unterscheidet nach dieser Kategorie auch die Form des Akkusativ Plural und das bei
Substantiven aller drei Genera:
Я знаю этих студентов / этих студенток / этих лиц.
Tschechisch:
unterscheidet nach dieser Kategorie im Singular der maskulinen Substantive neben
dem Akkusativ auch die Formen des Genitiv, Dativ und Lokativ:
u doktora – u kiosku / k doktorovi – ke kiosku / o doktorovi – o kiosku
Im Plural sind die Formen des Nominativ nach Belebtheit unterschieden:
To jsou doktoři, obchodníci – to jsou reproduktory, chodníky
Polnisch: verfügt im Plural über ein sogenanntes "Personlagenus", d.h. von der
Unterscheidung sind nur Bezeichnungen für männliche Personen betroffen.
Unterschieden werden die Formen des Nominativ und Akkusativ Plural:
Inhaltskategorie:
Die Unterschiede im Ausdruck sind von der lexikalischen Semantik der betroffenen
Substantive abhängig.Nach der Belebtheit unterscheidet man individuell
handlungsfähige von nicht individuell handlungsfähigen Beteiligten (daher verwendet
man statt des traditionellen Begriffs „Belebtheit“ in neuerer Zeit auch
"Individualagentivität"). Von der Kategorie sind v.a. Bezeichnungen für Menschen,
Tiere, höhere und mythologische Wesen erfasst, nicht jedoch Bezeichnungen für
Pflanzen und Gruppen von Lebewesen (Kollektiva).
Bestimmtheit (Definitheit):
ein Lehrer – der Lehrer
Die Bestimmtheit ist eine nominale Kategorie, die das Deutsche aufweist. In den
slavischen Sprachen ist sie normalerweise nicht grammatikalisiert. Die Bedeutung
der Kategorie muss daher durch andere (lexikalische oder syntaktische) Mittel
ausgedrückt werden.
Ausnahmen sind das Bulgarische und das Mazedonische, die über einen bestimmten
Artikel verfügen. Dieser tritt jedoch nicht als eigenes Wort auf, sondern wird an das
entsprechende Substantiv angehängt, vgl. мъж – ein Mann мъжът – der Mann жена
– eine Frau жената - die Frau дете – ein Kind детето – das Kind.
Komparation:
новый – более нобый / новее – самый новый / новейший
nový – novější - nejnovější
nowy – nowszy - najnowszy
Ausdruckskategorien:
3 Glieder: Positiv, Komparativ, Superlativ
Inhaltskategorien:
Die Kategorie Komparation drückt das Ausmaß der Eigenschaft im Vergleich mit
anderen Entitäten aus (= relativer Grad der Eigenschaft).
Komparativ: Vergleich zwischen zwei Entitäten
Superlativ: Vergleich zwischen allen Entitäten einer Klasse
102
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
6.2 Verbalkategorien:
Person:
работаю – работаешь - работает
pracuji – pracuješ – pracuje
pracuję – pracujesz - pracuje
Ausdruckskategorie:
3 Glieder: Formen der 1., 2. und 3. Person
Inhaltskategorie:
Die Kategorie Person drückt das Verhältnis der Verbalhandlung zu den Beteiligten an
der Sprechsituation aus:
1. Person: der Sprecher ist am erzählten Geschehen beteiligt
2. Person: der Hörer ist am erzählten Geschehen beteiligt
3. Person: weder Sprecher noch Hörer sin am erzählten Geschehen beteiligt
Numerus:
работаю - работаем
pracuji – pracujeme
pracuję - pracujemy
Ausdruckskategorie:
2 Glieder: Singular und Plural
Inhaltskategorie:
Der Numerus wie beim Substantiv die Anzahl der am erzählten Geschehen
Beteiligten aus. Als Verbalkategorie ist der Numerus eine Kongruenzkategorie, da er
stets mit dem Numerus des Satzsubjekts übereinstimmt.
Modus:
работаю – работал бы – работай
pracuji – pracoval bych – pracuj
pracuję – pracowałbym - pracuj
Ausdruckskategorie:
4 (5) Glieder: Indikativ, Konjuktiv, Imperativ, Infinitiv, (Renarrativ)
Inhaltskategorie:
Die Kategorie Modus drückt das Verhältnis des erzählten Ereignisses zur Realität
aus.
Indikativ: das erzählte Ereignis wird als real präsentiert
Konjunktiv: das erzählte Ereignis wird als nicht real (möglich, еrwünscht oder
unmöglich / irreal) präsentiert.
Imperativ: das erzählte Ereignis wird als nicht real, aber seine Ausführung als
erwünscht präsentiert.
103
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Infinitiv: bloße Nennung der Handlung: lässt das Verhältnis zur Realität
unausgedrückt.
Renarrativ: im Bulgarischen gibt es darüberhinaus einen Modus für die
Nichtaugenzeugenschaft (Renarrativ). Er drückt aus, dass der Sprecher das erzählte
Ereignis aus „dritter Hand“ erfahren hat, und lässt den Wahrheitsgehalt des Erzählten
unausgedrückt, ähnlich dem Deutschen Konjunktiv in der indirekten Rede: „Die
Arbeitslosigkeit sei im vergangenen Quartal merklich zurückgegangen, so Müntefering.“
Tempus:
Bei der Kategorie Tempus können zwei Unterkategorien unterschieden werden:
Absolutes und relatives Tempus:
Absolutes Tempus:
работаю – работал – буду работать
pracuji – pracoval jsem – budu pracovat
рracuję – pracowałem – bedzię pracować
Ausdruckskategorie:
3 Glieder: Präsens, Präteritum, Futur
Inhaltskategorie:
Das absolute Tempus drückt das Verhältnis zwischen dem Zeitpunkt des erzählten
Ereignisses (= Ereigniszeitpunkt) und dem Zeitpunkt des Erzählens selbst ( =
Sprechzeitpunkt) aus.
Präsens: das erzählte Ereignis findet zum Sprechzeitpunkt statt = Gleichzeitigkeit
von Ereigniszeitpunkt und Sprechzeitpunkt.
Präteritum: das erzählte Ereignis hat zum Sprechzeitpunkt bereits stattgefunden =
Vorzeitigkeit des Ereigniszeitpunkt zum Sprechzeitpunkt.
Futur: das erzählte Ereignis wird zum Sprechzeitpunkt erst noch stattfinden =
Nachzeitigkeit des Ereigniszeitpunkts zum Sprechzeitpunkt.
104
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
In den ost- und westslavischen Sprachen ist nur die Kategorie des absoluten
Tempus grammatisch ausgedrückt. Daher haben diese slavischen Sprachen auch
nur drei Zeitformen: Gegenwart, Vergangenheit und Futur. Die Bedeutungen der
relativen Tempora werden dagegen durch die Verbindung der Kategorien Tempus
und Aspekt ausgedrückt.
Aspekt:
Я писал письмо. – Я написал письмо.
Psal jsem dopis. – Napsal jsem dopis.
Pisałem list. – Napisałem list.
Ausdruckskategorie:
2 Glieder: imperfektiver und perfektiver Aspekt.
Bildung der Aspektpartner :
Die Bildung der Aspektformen kann auf zweierlei Art geschehen. Das Grundschema
sieht so aus:
• Verben ohne Präfix und Suffix (Simplicia) sind meistens imperfektiv:
писать / psát / pisać: "schreiben"
• Perfektivierung durch Präfigierung:
Von diesen bildet man den perfektiven Aspektpartner, indem man ein Präfix
anfügt. Das Präfix ändert hier nur die grammatische Kategorie Aspekt, nicht
jedoch die lexikalische Bedeutung (= grammatisches Präfix):
написать / napsat / napisać: "schreiben"
• In vielen Fällen bewirkt jedoch das Präfix nicht nur eine Änderung des Aspekts,
sondern gleichzeitig auch der lexikalischen Bedeutung:
дописать / dopsat / dopisać: "fertigschreiben"
• Imperfektivierung durch Suffigierung):
Zu diesen neu entstandenen perfektiven Verben bildet man den imperfektiven
Aspektpartner, in dem man ein Suffix anfügt:
дописывать / dopisovat / dopisować: "fertigschreiben"
einfaches Verb
präfigiertes Verb suffigiertes Verb
(Simplex)
Aspekt Imperfektiv perfektiv imperfektiv
grammatisches
писать написать
Präfix
psát napsat
на-
pisać napisać
na-
lexikalisches
дописать дописывать
Präfix
dopsat dopisovat
до-
dopisać dopisywać
do-
105
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Regel Ausnahmen
perfektive einfache Verben:
einfaches Verb дать, взять, купить, пасть, лечь
= imperfektiv dát, vzít, koupit, říct, hodit
dać, kupić, wziąć
imperfektive präfigierte Verben:
Präfigierung macht perfektiv
зависеть, принадлежать
(Perfektvierung)
záležet, předpokládat
zależeć, należeć
perfektivierendes Suffix :
Suffigierung macht imperfektiv -нуть
(Imperfektivierung) -nout
-nąć
Inhaltskategorie:
Die grammatische Kategorie Aspekt ist im Deutschen nicht grammatikalisiert und
bereitet daher beim Erlernen slavischer Sprachen große Schwierigkeiten.
Welche Bedeutung hat nun die Kategorie Aspekt? Im Gegensatz zum Tempus bringt
der Aspekt nicht das Verhältnis zwischen zwei Ereignissen (erzähltes Ereignis –
Sprechzeitpunkt) zum Ausdruck, sondern den zeitlichen Ablauf innerhalb des
erzählten Ereignisses selbst. Der Aspekt sagt etwas darüber aus, ob das erzählte
Ereignis zeitlich begrenzt ist oder nicht, und ob das Ereignis eine zeitliche
Ausdehnung hat oder nicht.
Dabei sagt der perfektive Aspekt explizit aus, dass das erzählte Ereignis zeitlich
begrenzt ist. Diese Begrenzung kann auftreten:
• Wenn das Ereignis einmalig ist und zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet.
• Wenn das Ereignis bereits vollendet (abgeschlossen) ist und ein Resultat hat.
• Wenn das Ereignis gar keine Dauer hat, also punktuell (oder momentan) ist.
• Wenn das Ereignis am Anfang oder am Ende (oder beidseitig) begrenzt ist
• Wenn zwei Handlungen im perfektiven Aspekt stehen, so bedeutet dies, dass sie
nacheinander stattfinden.
• In Kombination mit dem imperfektiven Aspekt bezeichnet der perfektive Aspekt
stets das neu eintretende Ereignis.
Der imperfektive Aspekt sagt demgegenüber Ereignisse aus, die entweder keine
zeitliche Begrenzung haben, oder bei denen die zeitliche Begrenzung keine Rolle
spielt. Daher kann der imperfektive Aspekt aussagen:
• einen gerade ablaufenden Vorgang, einen Prozess, eine Entwicklung.
• wiederholte, gewöhnliche, immer wiederkehrende Ereignisse.
• Zustände, immer gültige, unveränderliche Tatsachen.
• das bloße Nennen (Konstatieren) der Handlung.
• Wenn zwei Handlungen im imperfektiven Aspekt stehen, so bedeutet dies, dass
sie gleichzeitig ablaufen.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
• In Kombination mit dem perfektiven Aspekt drückt der imperfektive Aspekt immer
die bereist laufende Hintergrundhandlung aus.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Genus verbi
Кдо-нибудь написал письмо. Письмо написано.
Někdo napsal dopis. Dopis je napsan.
Kdoś napisał list. List jest napisan.
Ausdruckskategorie:
2 (oder 3) Glieder: Aktiv, Passiv, (Medium)
Inhaltskategorie:
Die Kategorie Genus verbi (oder Diathese) drückt das Verhältnis zwischen dem
grammatischen Subjekt des Satzes (meist im Nominativ) und dem Ausführenden der
Handlung (Agens) aus.
Das Aktiv drückt aus, dass es sich beim syntaktischen Subjekt ubd dem
Ausführenden der Handlung (Agens) um ein und dieselbe Entität (Person oder
Gegenstand) handelt (Subjekt und Agens sind „koreferent“).
Das Passiv drückt im Gegensatz dazu aus dass Subjekt und Ausführender der
Handlung nicht identisch sind. Das Subjekt kann u.U. der Betroffene der Handlung
(Patiens) sein. Der Agens kann damit im Satz eliminiert werden.
Eine dritte Form (das Medium) sagt nichts über die Verteilung der Handlungsrollen
im Satz aus. Zum Medium werden sogenannte „unpersönliche“ oder reflexive
Konstruktionen gerechnet, wie:
russ.: говорилось об этом,
tsch.: mluvilo se o tom,
dt. Man hat darüber gesprochen.
Substantiv
Audruckskategorie Inhaltskategorie
Kategorie
(Glieder) (Bedeutung)
gibt die Zahl der Beteiligten an:
Numerus Singular, Plural, (Dual)
eine(r), zwei, mehrere
Nominativ, Genitiv, Dativ, gibt die "Rolle" an, die in der
Akkusativ Handlung eingenommen wird:
Kasus
Instrumental, Präpositiv (Lokativ), Ausführender, Betroffener,
Vokativ Instrument, Ort, …
teilt die Beteiligten nach ihrem
Genus Maskulinum, Femininum, Neutrum
grammatischen Geschlecht ein:
teilt die Beteiligten nach Belebtheit
Belebtheit belebt (Personalgenus), unbelebt
(Handlungsfähigkeit) ein:
identifiziert die am Geschehen
Bestimmtheit bestimmt, unbestimmt
Beteiligten
Adjektiv
108
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Verbum
109
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Periodisierung:
1. Altostslavische Periode: 9.-13. Jh.
2. Altrussische Periode: 14.-17. Jh.
3. Beginn der neurussischen Literatursprache: ab dem 18. Jh.
1169 Zerstörung Kievs durch Andrej Bogoljubskij: Ende der Kiever Rus'
Aufstieg anderer Fürstentümer (v.a. Vladimir und Suzdal')
Zersplitterung in Teilfürstentümer
1240-1380: Tatarenherrschaft in Russland
Dies hat die politische Trennung der ostslavischen Völker zur Folge: Russland
(mit Ausnahme des äußersten Nordwestens um Novgorod und Pskov) gehört
110
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
1.3. Neurussisch (ab 18. Jahrhundert, vollständige entwickelt zu Beginn des 19.
Jahrhunderts)
18. Jahrhundert
Petrinische Reformen (Peter der Große)
Entlehnungen, Übersetzung aus westeuropäischen Sprachen in "allgemeines
Russisch"
Orthographiereform
gescheiterter Reformversuch (des Schriftstellers)Tredjakovskijs
Schaffung einer "gepflegten" russischen Aussprachenorm, orientiert an der
Umgangssprache des russischen Adels
Lomonosov: Theorie der 3 Stile
Zuordnung verschiedener Stilebenen zu verschiedenen literarischen Genres:
• hoher Stil: Oden, Heldenpoeme, Tragödien = vorwiegend Kirchenslavisch
• mittlerer Stil: Theaterstücke, Briefe, wissenschaftliche Abhandlungen =
Mischung aus kirchenslavischen und ostslavischen Elementen: Basis für
russische Literatursprache
• niederer Stil: Prosa, Komödien, Satiren = vorwiegend Ostslavisch
Karamzin: "novyj slog"
Verwendung von kirchenslavischen und oststlavischen Elementen:
nicht nach Genres sondern nach stilistischer Funktion: stilistische Differenzierung /
Bevorzugung der Umgangssprache / Schaffung von Neologismen
Æ Gegenbewegung: Šiškov: konservative Orientierung an Kirchenslavisch /
Aufrechterhaltung der Diglossie; Sprachpurismus
111
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Eckert, Rainer - Crome, Emilia - Fleckenstein, Christa: Geschichte der russischen Sprache.
Leipzig 1983.
112
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Periodisierung:
Polnische Teilungen im 18. Jh.: der Verlust der politischen Einheit führt zum Verlust
der Standardsprachenfunktionen des Polnischen. Hinwendung des polnischen Adels
zum Französischen: Sprachverfall
113
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Abb.: Dialektale Gliederung des polnischen Sprachraums; Quelle: Comrie – Corbett 1993: 755.
114
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Urtschechisch
924-1306 Herrschaft der Přemysliden
Belege für das Urtschechische beschränken sich vorwiegend auf
Namensmaterial:
tschechischsprachige Namen in der lateinischen Kosmas-Chronik (Anang 12.
Jh.) sowie in Verstorbenenverzeichnissen. Appellativa v.a. in Glossen zu
lateinischen Texten
3.2. Alttschechisch
im 13. Jh. Beginn der alttschechischen Literatur;
Entstehung religiöser Literatur (Legenden) und Dichtung (in Chroniken)
ab 1310 Herrschaft der Luxemburger
14. Jh. Blütezeit der alttschechischen (auch weltlichen) Literatur:
1348 Gründung der Prager Universität: Unterrichtssprachen Latein und Tschechisch
Alttschechisch umfasst ein weites Spektrum literarischen Schaffens (Vorbild
des Deutschen): Dalimilchronik, Fürstenspiegel, Verssatiren, Lyrik, Fabeln,
Oster- und Passionsspiele
Anfänge tschechischer Prosa; wissenschafltiche und juristische Texte
funktionelle Vielfalt: stabiles und einheitliches Sprachsystem (Hochsprache)
Ende 14. Jh.: Hussitische Zeit:
sprachreformerische Tätigkeit von Jan Hus (1370-1415): reformiert das
Schriftsystem; führt diakritische Zeichen ein
Hussitische Bewegung drängt Einfluss des Latein und des Deutschen zurück:
wachsende Bedeutung der tschechischen Schrift auch für niedere Stände
(Demokratisierung der Hochsprache)
1419-36 Hussitenkriege; Hussitenliteratur: religiöse Literatur und Lieder
3.3 Mitteltschechisch
Humanistische Periode: Beginn philologischen Interesses an der tschechischen
Sprache
115
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
3.4. Neutschechisch
Anfang 19.Jh. Nationale Wiedergeburt (národní obrození)
Wiederentdeckung des Tschechischen zunächst aus philologischem Interesse
Anfänge einer neutschechischen Literatur: Romantik: Karel Hynek Mácha
Josef Jungmann (erstes tschechisches Wörterbuch)
Josef Dobrovský: tschechische Grammatik auf der Grundlage der Králicer
Bibel (1580): sprachliche Entwicklung vom 17.-19. Jahrhundert ignoriert:
Æ Zweiteilung des Tschechischen in:
archaisierende Schriftsprache (spisovná čeština) und weiterentwickelte
Umgangssprache auf Grundlage des mittelböhmischen Dialekts (obecná
čeština und regionale Varianten): bis heute aufrechterhaltene Diglossie
19. Jahrhundert: Epoche des Sprachpurismus: v.a. Säuberung von Germanismen
Abb.: Dialektale Gliederung des tschechischen Sprachraums; Quelle: Comrie – Corbett 1993:528.
116
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
1. Wortbildung
1.1. Onomasiologie und Semasiologie
1.2. Möglichkeiten zur Wortschatzerweiterung
1.3. Zentrale Begriffe der Wortbildung
1.3.1. Formale Einteilung der Wortbildunsverfahren
1.3.2. Semantische Einteilung der Wortbildungsverfahren
1.3.3. Beispiele für Wortbildungsverfahren
1.4. Entlehnung
1.4.1. Unterscheidung Lehnwort / Fremdwort
1.4.2. Begriffe Entlehnung, Lehnbedeutung, Lehnübersetzung
2. Lexikologie
2.1. Einteilung des Wortschatzes
2.2. Inhaltliche Beziehungen zwischen Lexemen
2.2.1. Homonymie, Polysemie
2.2.2. Synonymie, Antonymie
2.2.3. Hyponymie
1. Wortbildung
In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit dem Wortschatz und seiner
Erweiterung. Die Lehre vom Wortschatz heißt Lexikologie. Mit der Erweiterung des
Wortschatzes beschäftigt sich die Wortbildungslehre. Die Wortbildungslehre ist der
Teil der Morphologie, der sich mit den lexikalischen Morphemen beschäftigt
(lexikalische Morphologie). Da die Bildung neuer Wörter jedoch zur Erweiterung des
Wortschatzes beiträgt, ist die Wortbildungslehre auch Teil der Lexikologie. Sie bildet
also den Übergangsbereich zwischen (grammatischer) Morphologie und Lexikologie
und stellt so ein Verbindungsglied zwischen Grammatik und Wortschatz einer
Sprache dar.
117
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
„Was bedeutet das?“. Den Vorgang der Zuordnung eines Begriffs zu einer
gegebenen Bezeichnung nennt man Bedeutung
Definitionen:
Begriff Bezeichnung
Onomasiologische Fragestellung:
"Wie nennt man ... ?" = Benennung стол
stůl
stół
Semasiologische Fragestellung:
"Was bedeutet … ?" = Bedeutung
118
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
neue Wörter sind jedoch selten, sie treten etwa bei der Benennung von neuen
Marken-, oder Produktnamen (wie Fenjala, sebamed, Zafira, tesa u.ä.) auf. Meist
sind jedoch auch bei diesen bereits bestimmte Assoziationen vorhanden, ja oft
sogar erwünscht.
• Wortbildung (i.e.S.)
Die eigentliche Wortbildung ist die Ableitung neuer Wörter auf der Basis von
bereits vorhandenen Wörtern. Sie geschieht mit Hilfe eigensprachlicher Mittel,
wie etwa durch Anfügen von lexikalischen Morphemen ( = Derivation), durch die
Kombination von Wurzeln (Komposition und Phraseologisierung) oder durch
Abkürzung vorhandener Wörter (Abbreviation). Genauer zur Wortbildung i.e.S.
siehe unter 1.3.
• Entlehnung
Unter Entlehnung versteht man die Übernahme von Bezeichnungen aus
anderen Sprachen. Dabei werden v.a. lautliche und begriffliche Übernahmen
unterschieden. Genauer zur Entlehnung siehe unter 1.4.
• Bedeutungsveränderung
Eine Möglichkeit zur Wortschatzerweiterung ist die Bedeutungsveränderung.
Dabei wird die lautliche Gestalt eines vorhandenen Wortes beibehalten, diese
lautliche Gestalt erhält aber eine neue (zusätzliche) Bedeutung. Zur
Systematisierung der Bedeutungsveränderung siehe genauer unter Punkt 2.2.
Wortschatzerweiterung
(Neologismen)
Wir befassen uns im Folgenden nun näher mit der Wortbildung, der Entlehung
und (im Rahmen der Lexikologie) mit der Bedeutungsveränderung.
Unter dem Begriff Wortbildung versteht man die Ableitung neuer Wörter (lexikalischer
Einheiten / Lexeme) auf der Grundlage bereits vorhandener Wörter. Die auf diese Art
neu gebildeten Wörter verfügen über einen eigenen Bestand an grammatischen
Formen (Paradigma) und erhalten einen eigenen Eintrag im Wörterbuch (Lemma).
An jedem Wortbildungsvorgang sind stets zwei Wörter beteiligt: das Ausgangswort
(Derivand) und das neu gebildete Wort (Derivat). Im unten genannten Beispiel ist
kniha der Derivand, knížka hingegen das Derivat.
119
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
kniha knížka
Das Derivat kann jedoch erneut Ausgangspunkt für eine weitere Ableitung sein. In
diesem Fall spricht man von einer Wortbildungskette. Vgl. etwa im Tschechischen:
kniha Î knížka Î knížečka. Das Wort knížka ist hier im Verhältnis zu kniha das
Derivat, im Verhältnis zu knížečka jedoch Derivand.
Wortbildungskette:
Derivat = Derivand für erneute Ableitung
Im Prozess der Wortbildung kann der Fall auftreten, dass ein Wort den
Ausgangspunkt für mehrere Wortbildungsvorgänge darstellt. Man spricht in diesem
Fall von einem Wortbildungsnest. In unserem Beispiel ist kniha der Ausgangspunkt
für insgesamt 5 Wortbildungsvorgänge: Die von ihm abgeleiteten Derivate sind
knížka, knihovna, knihář, knihovat.
Wortbildungsnest
Derivand
= Ausgangspunkt für mehrere Ableitungen
knihovat
knižní
knihář
120
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Motivation:
Die Bedeutung abgeleiteter Wörter kann man als "motiviert" bezeichnen, da man sie
aus der Bedeutung der einzelnen Morpheme erschließen kann. Demgegenüber
gelten Wörter, bei denen ein „Erschließen“ der Bedeutung synchron nicht mehr
möglich ist (etwa bei Wörtern, die nur aus – unabgeleiteten – Wurzeln bestehen,
aber auch bei Fremdwörtern) als „unmotiviert". Ihre Bedeutung kann synchon und
innersprachlich nicht mehr hergeleitet werden. Zur Erklärung ihrer Bedeutung sind
daher entweder sprachhistorische oder fremdsprachliche Kenntnisse nötig. Der
Bereich der Sprachwissenschaft, der sich mit der Erklärung von unmotivierten
(„verhüllten“) Bedeutungen beschäftigt, ist die Etymologie.
Ein Beispiel für Motivation:
Die Bedeutung des tschechischen Wortes knihovna ist durch die Bedeutungen der
Wurzel knih- und des Suffixes –ovn(a) motiviert. Kennt man die Bedeutung beider
Morpheme, so kann man sich die Bedeutung „Ort, an dem es Bücher gibt“
erschließen. Ähnlich ist die Motivation des deutschen Wortes Bücherei. Nicht so
hingegen beim russischen библиотека oder beim englischen library. Zu diesen gibt
es kein eigensprachliches Wort, von dem es abgeleitet ist. Diese Wörter sind also
innersprachlich unmotiviert, ihre Bedeutung ist verhüllt und kann nur durch
Kenntnisse des Griechischen bzw. Lateinischen erklärt werden.
Produktivität:
Wortbildungsmuster können produktiv sein, d.h. mit ihrer Hilfe können gegenwärtig
noch immer neue Wörter gebildet werden. Andere Wortbildungsmuster dagegen
können zwar am Bestand der Sprache noch nachgewiesen werden (es gibt mehrere
parallel gebildete Beispiele), es kommen jedoch keine auf diese Art gebildeten neuen
Wörter mehr hinzu. Diese Wortbildungsmuster nennt man unproduktiv.
Produktiv sind in den slavischen Sprachen etwa die Ableitungen mit den Suffixen –tel
/ -тель / - ciel für Ausführende der Handlung oder -nost, -ность, -ność für Abstrakta,
die Eigenschaften bezeichnen. Unproduktiv sind dagegen im Tschechischen Suffixe
wie –och: es existieren zwar mehrere Beispiele (černoch , běloch), doch es können
keine weiteren Wörter mehr nach diesem Muster gebildet werden. Im Russichen
etwa –уха, im Deutschen –nis.
121
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Wortbildung
(formale Einteilung)
Derivation:
Bei der Derivation ist stets ein Wurzelmorphem vorhanden. Die Ableitung geschieht
mit Hilfe von lexikalischen Affixen. Je nach Art der verwendeten Affixe unterscheidet
man: Präfigierung, Suffigierung, Postfigierung bzw. Extrafigierung, Zirkumfigierung,
daneben auch Desuffigierung und Konversion.
• Präfigierung:
Charakteristisch für die Präfigierung ist, dass die Wortart des Derivanden stets
erhalten bleibt. Auch die lexikalische Grundbedeutung bleibt meist unverändert,
das Präfix bringt meist eine spezialisierende Bedeutungskomponente ein. (Urwald
= eine bestimmte Art von Wald; abschreiben= eine bestimmte Art zu schreiben).
Präfigierung tritt am häufigsten bei Verben auf, seltener bei Substantiven oder
Adjektiven. Beispiele für Präfigierung:
russ.: говорить – договорить; лес – пралес; полезный - бесполезный
tsch.: mluvit – domluvit; les – prales; krásný – překrásný
poln.: prosić – przepraszać; las – pralas;
• Suffigierung:
Bei der Suffigierung kann die Wortart erhalten bleiben, sie kann sich aber auch
ändern. Die Änderung der Bedeutung durch das Suffix ist meist weitgehender als
bei der Präfigierung. Durch Suffixe werden häufig auch lautliche Veränderungen
an der Wurzel (Allomorphie) ausgelöst:
russ.: книга – книжка; студент – студентка; учить – чуитель;
скорый – скорость; сухой – сушить; сухой – сохнуть
tsch.: kniha – knížka; student – studentka; učit – učitel;
rychlý – rychlost; suchý – sušit; starý – stárnout
poln.: ręka – rączka; student – studentka; nauczyć – nauczyciel;
szybki – szykość; suchi – suszyć;
• Postfigierung / Extrafigierung:
Tritt meist bei Verben auf und hat dort die Bedeutung der Reflexivität
(Selbstbezüglichkeit oder Gegenseitigkeit) der Handlung.
russ.: мыть - мыться
tsch.: učit – učit se
poln.: uczyć - uczyć się
122
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
• Zirkumfigierung:
Kombination aus Präfigierung und Suffigierung (auch Präsuffigierung genannt)
oder Präfigierung und Zirkumfigierung (oder Extrafigierung). Tritt meist bei der
Ableitung von Verben auf.
Beispiele:
Präsuffigierung:
tschech.: nemocný „krank“ Î onemocnět „erkranken“
Prä- und Postfigierung:
russ.: звонить „anrufen“ Î дозвониться „telefonisch erreichen“
Prä- und Extrafigierung:
tschech.: jíst „essen“ Î najíst se „sich satt essen“
• Desuffigierung:
Von Desuffigierung wird gesprochen, wenn der Derivand über ein Suffix verfügt,
das Derivat durch Weglassen des Suffixes gebildet ist. Desuffigierung tritt häufig
bei der Ableitung von Substantiven auf der Basis von Verben auf. Logisch setzt
das deverbale Substantiv das Verb voraus, so dass man nicht von einer
Suffigierung des Substantivs ausgehen kann:
Beispiele: dt.: spielen – Spiel ; tanzen – Tanz; jagen - Jagd
russ.: игать - игра
tsch.: honit – hon; lovit – lov
• Konversion:
Von Konversion spricht man, wenn zwischen Derivand und Derivat keine formale
Veränderung festzustellen ist, beide Wörter jedoch unterschiedlichen Wortarten
angehören. Konversion bezeichnet also den Wechsel der Wortart ohne formale
Kennzeichnung. Beispiele sind:
tsch.: ticho (Adv.) Î ticho (Subst.)
cestující (Adj.) Î cestující (Subst.)
russ. вечером (Subst. Instr. Sg.) Î вечером (Adv.)
engl.: love (Verb) Î love (Subst.)
deutsch: gehen (Verb) Î Gehen (Subst.)
Komposition:
• Komposita und Zweiwort-Lexeme
Im Gegensatz zur Derivation sind bei der Komposition mindestens zwei
Wurzelmorpheme im Spiel, die miteinander zu einem Wort verbunden werden. Das
auf diese Art entstandene Wort nennt man Kompositum. Im Deutschen ist die
Komposition das häufigste und produktivste Wortbildungsmittel. In den slavischen
Sprachen entsprechen deutschen Komposita dagegen häufig Kombinationen aus
Adjektiv + Substantiv, vgl.:
Dt. Lesesaal russ. читальный сал
Dt. Waschmaschine russ. стиральная машина
Dt. Fahrplan tsch. jízdní řád
Dt. Schreibtisch tsch. psací stůl
Dt. Schuljahr tsch. školní rok usw.
Dabei ist zum einen zu beachten, dass die Adjektive in diesen Verbindungen keine
andere Bedeutung haben, als erster Teil eines Kompositums zu sein. Die Bedeutung
von читальный, стиральная, jízdní, psací, školní kann also im Deutschen nur
schwer wiedergegeben werden. Die Bezeichnung für diese Art von Adjektiva, die
keine Qualitäten („schulisch“) sondern nur Beziehungen („Schul-„) zum Inhalt haben,
lautet Beziehungsadjektiva. Ferner ist zu beachten, dass die oben genannten
123
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
124
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Abbreviation / Abkürzung:
Bei der Abkürzung oder Abbrevation werden vorhandene Wörter gekürzt. Die
Ergebnisse der Abbreviation sind Kurzwörter oder Abkürzungen. Sie lassen sich wie
folgt einteilen:
• Buchstabenwörter (Inititalwörter):
Sind aus den Anfangsbuchstaben der Grundwörter zusammengesetzt. Sie
können nach der Aussprache unterteilt werden in
Initialbuchstabentyp (Buchstaben werden einzeln gesprochen): USA, SPD,
FCKW, ADAC; russ.: РФ (Российская Федерация), США,…
Initiallauttyp (Buchstaben werden als Wort gesprochen): Uno, Bafög;
Vor allem letztere können in den slavischen Sprachen oft als neues Wort
interpretiert und somit auch dekliniert werden, vgl. tsch.: Nato: vstup do Nata.
Russ.: вуз (высшее учебное заведение): в вузе.
• Kopfwörter:
Bei Kopfwörtern bleibt nur der Anfang des vollen Wortes (der „Kopf“) erhalten. Die
Abkürzung erfolgt dabei nach dem Silben- nicht nach dem Morphemprinzip.
Beispiele im Deutschen: Promi, Uni, Prof, Demo, Dis, Habil; tsch.: bezva, bájo
• Silbenwörter:
Von mehreren Wörtern werden nur die jeweiligen Anfangssilben kombiniert:
dt.: Azubi, Kripo, Kuwi, Моped,…
Im Russischen vor allem in der Sowjetzeit sehr produktiver Wortbildungstyp:
колхоз (коллективное хозяйство), гаспром (газовая промышленность),
универмаг (универсальный магаузин), комсомол (коммунистическая союз
молодёжи) …
• Univerbisierung:
Aus einem Zweiwortlexem wird – meist mit Hilfe von Suffix – eine
Einwortbenennung gebildet:
russ. стиральная машина Æ стиралька
tsch. smažený sýr Æ smažák
svařené víno Î svařák
nákladní vůz Î náklaďák
• Wortmischung / Blending:
zwei Wörter verschmelzen zu einem Wort (von jedem Ausgangswort sind nur
Teile vorhanden): Infotainment, Cooltour, smog (Í smoke + fog)
• Kombination verschiedener formaler Wortbildungsmuster
Komposition + Derivation:
tsch. hora + lézt + Suffix –ec: horolezec
Abbrevation + Derivation:
tsch. CD + Suffix -čko: CD-čko
russ.: комсомол – комсомольский
125
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Wortbildung
(semantische Einteilung)
126
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Modifikation:
Modifikationen erweitern den Wortinhalt des Derivanden um genau eine zusätzliche
Bedeutungskomponente (ein Sem). Sie bringen keine komplexe, sondern lediglich
eine spezialisierende Zusatzbedeutung in den Wortinhalt ein. Sie sind immer
wortarterhaltend. Die Bedeutungskomponente kann bestehen:
• im natürlichen Geschlecht des Bezeichneten: učitel Æ učitelka: „Lehrer“ +
Bedeutungskomponente "weiblich" = Motion (oder Movierung).
• in der Anzahl der Bezeichneten (ein einzelner Vertreter Æ eine Gruppe
Gleichartiger): učitel Æ učitelství: „Lehrer“ + Bedeutung "eine Gruppe von X" =
Kollektivierung
• in der Größe des Bezeichneten: kniha Æ knížka: „Buch“ + Bedeutung "klein" =
Deminutiva.
Transposition:
Bei der Transposition wird der Wortinhalt des Derivanden beibehalten, jedoch im
Rahmen einer anderen Wortart ausgedrückt. Transposition ist daher immer
wortartüberschreitend:
Bsp: Adjektiv – Substantiv. teplý – teplota
красивый – красота
Verb – Substantiv: mluvit – mluvení
читать - чтение
Substantiv – Adjektiv: škola – školní
железо - железный
Substantiv – Verb: telefon – telefonovat
совет – советовать
1.4. Entlehnung
1.4.1 Unterscheidung Lehnwort / Fremdwort
Von Entlehnung spricht man, wenn eine Lücke im Wortschatz nicht durch
eigensprachliche Mittel, sondern durch die Übernahme aus einer anderen Sprache
geschlossen wird. An einem Entlehnungsprozess sind also stets 2 Sprachen
beteiligt: die Sprache, aus der entlehnt wird (Gebersprache) und die aufnehmende
Sprache (Nehmersprache). Entlehnt werden können prinzipiell sprachliche Einheiten
auf allen Ebenen: Wörter, aber auch Morpheme, Phoneme, syntaktische
Konstruktionen. Entlehnung ist die auffälligste Folge von Sprachkontakt, d.h. der
gegenseitigen Beeinflussung zweier Sprache durch (räumliche) Nähe.
Übernahmen aus anderen Sprachen sind im System der Nehmersprache zunächst
Fremdwörter. Diese weichen in ihrer phonetischen und morphologischen Gestalt
deutlich vom eigensprachlichen Wortschatz ab und werden von den Sprechern der
Nehmersprache als fremd empfunden. Im Laufe des Entlehnungsprozesses kann es
jedoch allmählich zu einer Angleichung an das phonologische und morphologische
System der Nehmersprache kommen. Als Ergebnis dieses Prozesses wird das
entlehnte Wort von den Sprechern der entlehnenden Sprache nicht mehr als fremd
empfunden wird. Seine fremdsprachliche Herkunft ist für den sprachwissenschaftlich
nicht geschulten Sprecher nicht ohne weiteres erkennbar. In diesem Stadium der
Entlehnung spricht man von Lehnwörtern. Der Lehnwortschatz, d.h. der Teil des
Wortschatzes, der aus anderen Sprachen übernommen ist, ist z.T. sehr alt und hat
daher einen jahrhundertelangen Angleichungsprozess durchlaufen. Die Herkunft
eines Wortes ist daher heute oft nicht mehr eindeutig erkennbar und daher
127
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Gegenstand einer eigenen Disziplin. Die Lehre von der Herkunft der Wörter nennt
man Etymologie.
Entlehnung kann auf drei unterschiedliche Weisen vonstatten gehen:
• Wird aus der Gebersprache sowohl die lautliche Gestalt als auch die damit
verbundene Bedeutung entlehnt so spricht man von lautlicher Übernahme (oder
Lehnwort i.e.S.)
• Wird aus der Gebersprache sowohl die Bedeutung als auch die morphematische
Struktur übernommen, diese aber mit eigensprachlichen Mitteln ausgedrückt, so
spricht man von Lehnübersetzung.
• Schließlich kann es geschehen, dass aus der Gebersprache nur der Begriff
entlehnt wird, dieser aber mit einem eigensprachlichen Wort verbunden wird. Hier
spricht man von Lehnbedeutung.
Entlehnung
Auch die Art der Adaption an das orthographische System kann in verschiedenen Sprachen
unterschiedlich sein. Man unterscheidet phonetische und orthographische Übernahmen:
• phonetische Übernahme: das Wort wird in der fremdsprachigen Lautung
übernommen, die Schreibung wird angepasst, vgl. russ. футбол Í engl. football; dt.
Schal Í engl. shawl
• orthographische Übernahme: das Wort wird in der fremdsprachigen Schreibung
übernommen, die Aussprache wird angepasst, vgl. tsch. fotbal [fodbal], dt. Pullover
Lehnübersetzung:
Wiedergabe der Bedeutung mit eigensprachlichen Mitteln. Dabei wird das
übernommene Wort in seine Bestandteile zerlegt und diese einzeln in die
Nehmersprache übertragen, man spricht daher auch von „Glied-für-Glied
Übersetzung oder Calquierung.
Bsp.: engl. computer (von to compute „rechnen“): tsch. počítač (zu počítat), frz.
ordinateur, dt. Rechner.
128
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Lehnbedeutung
Ein bestehendes Wort erhält eine neue Bedeutung, die aus einer anderen Sprache
übernommen ist:
Tsch. myš / russ.: мышка: entlehnte Bedeutung: Computermaus
Tsch.: paměť: „Gedächtnis“ entlehnte Bedeutung: Speicher (Computer)
129
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
2. Lexikologie
Lexikologie ist der Teil der Sprachwissenschaft, der sich mit dem Wortschatz
beschäftigt. Sie untersucht die Strukturen innerhalb des Wortschatzes und die
regelmäßigen Beziehungen zwischen den lexikalischen Einheiten.
130
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Inhalt 1
Ausdruck
gedankliche Verbindung
Inhalt 2
Polysemie:
Zwischen beiden sprachlichen Bedeutungen besteht ein gedanklicher
Zusammenhang. Polysemie ist das Ergebnis einer Bedeutungsübertragung. Diese
Übertragung ist synchron noch erkennbar. Für die Bedeutungsübertragung existieren
verschiedene Möglichkeiten:
• Metaphorische Übertragung: beruht auf der äußeren (optischen, akustischen,
o.ä.) Ähnlichkeit der beiden außersprachlichen Referenten. Beide weisen eine
gemeinsame Eigenschaft (Form, Farbe, Größe, etc.)
Beispiele für metaphorische Übertragung:
russ. конь1: Lebewesen / конь2: Schachfigur
dt.: Birne1: Obstsorte / Birne2: umgspr. f. Kopf
• Metonymische Übertragung: beruht auf einem gedanklichen Zusammanhang
zwischen beiden Bedeutungen: diese kann räumliche oder zeitliche Nähe aber
auch eine kausale oder materielle Verbindung zwischen den beiden Referenten
sein.
Beispiele für metonymische Übertragungen:
Handlung – Ort der Handlung:
dt.: Bad1: Prozedur, Handlung (ein Bad nehmen) / Bad2: Ort, an dem Bad1 stattfindet.
ähnlich: Gang, Reparatur (das Auto ist in der Reparatur)
Tätigkeit – Produkt der Tätigkeit:
tsch. psaní1:Tätigkeit „Schreiben“ / psaní2: Produkt des Schreibens (Schriftstück)
Material – Erzeugnis aus Material:
Leder1: Material / Leder2: Ding, das aus dem Material besteht (Fußball)
131
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Glas1: Material / Glas2: Gefäß, das aus Glas1 besteht / Glas3: Inhalt von Glas2 (ein
Glas Wein).
Beim Übersetzen in Fremsprachen ist Polysemie u.U. problematisch, da Polysemien einer
Sprache in anderen Sprachen oft differenziert sind: so ist etwa nur die Polysemie von Glas2
und Glas3 auch im Russischen (стакан вина) und im Tschechischen (sklenice vína) existent,
während die Polysemie von Glas1 und Glas2 in beiden Sprachen differenziert ist (скло -
стакан; sklo - sklenice).
Weitere Möglichkeiten von polysemen Bedeutungen:
• Synekdoche: Teil-Ganzes-Beziehung
• Bedeutungserweiterung / Bedeutungsverengung: besteht in der Veränderung des
Umfangs der Bedeutung, d.h. der Anzahl der möglichen Referenten.
• Bedeutungsverschlechterung / Bedeutungsverbesserung: besteht in der Veränderung
des konnotativen Gehalts der Bedeutung. Diese kann negative aber auch positive
Wendungen erfahren. Eine starke Bedeutungsverschlechterung kann bis hin zur
Tabuisierung führen
• Apellativisierung / Deapellativisierung: besteht im Wechsel von Eigennamen und
Gattungsnamen.
Homonymie:
Homonyme sind sprachliche Ausdrücke, denen zwei oder mehrere Inhalte
zugeordnet sind, ohne dass eine gedankliche Verbindung zwischen diesen besteht.
Homonymie: ein Ausdruck - mehrere Inhalte
Inhalt 1
Ausdruck
keine
Verbindung
Inhalt 2
Synonymie
Bei Synonymie tritt das umgekehrte Verhältnis von Ausdruck und Inhalt auf. Einer
sprachlichen Bedeutung sind mehrere sprachliche Ausdrücke zugeordnet. Das
Verhältnis der beiden sprachlichen Ausdrücken zueinander kann unterschiedlich
sein.
132
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Ausdruck 1
Inhalt
Ausdruck 2
Antonmymie
Als Antonyme bezeichnet man zwei sprachliche Ausdrücke, deren Bedeutungen in
gegensätzlichem Verhältnis zueinander bestehen.
Man unterscheidet mehrere Arten von Antonymie:
polare Antonymie: die beiden Glieder der Antonymie stellen zwei Extrempunkte
(Pole) auf einer Achse (einem Kontinuum) dar, auf dem beliebig viele
Zwischenstufen denkbar sind: hoch - tief, teuer -billg, reich - arm
exklusive Antonymie: die beiden Glieder der Antonymie stehen im Verhältnis des
gegenseitigen Ausschlusses: nützlich - nutzlos, frei - besetzt
komplementäre Antonymie: die beiden Glieder stehen im Verhältnis der
gegenseitigen Ergänzung: Bruder - Schwester; Start - Ziel;
Hyponymie – Hyperonymie
Verhältnis: Unterbegriff – Oberbegriff
= logisches Verhältnis der Inklusion: ein Ausdruck schließt den anderen mit ein
133
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Bsp.: Pferd – Schimmel: Jeder Schimmel ist ein Pferd, aber nicht umgekehrt.
Die Bedeutung von "Schimmel" schließt die Bedeutung von „Pferd“ logisch mit ein.
Semanalyse:
Eine Analyse der Bedeutungen listet die einzelnen Bedeutungsbestandteile eines
sprachlichen Begriffs auf. Die kleinsten Bedeutungsbestandteile nennt man Seme.
Eine vollständige Aufzählung der Seme eines Begriffs nennt man Semanalyse. Die
Tabelle zeigt eine vergleichende Semananalyse verschiedener Begriffe in
tabellarischer Form: dabei bedeutet + Vorhandensein des Merkmals, – Abwesenheit
des Merkmals, 0 Irrelevanz (Nichtanwendbarkeit des Merkmals).
Farbe weiß
erwachsen
Lebewese
individuell
weiblich
konkret
tierisch
Seme
Pferd
Größe – 0 0 0 0 0 0 0
Stein – + – 0 0 0 0 0
Herde + – + + 0 0 0 0
Tier + + + + 0 0 0 0
Kuh + + + + – 0 0 0
Pferd + + + + + 0 0 0
Schimmel + + + + + + 0 0
Fohlen + + + + + 0 – 0
Hengst + + + + + 0 + –
Stute + + + + + 0 + +
134
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Teil 6 A: Syntax
1. Definition
1.1. Syntax: Definition und Aufgaben
1.2. Der Satzbegriff
3. Satzglieder
3.1. Ermittlung von Satzgliedern
3.2. Arten der Zusammengehörigkeit
3.2.1. Kongruenz
3.2.2. Rektion
3.2.3. Adjunktion
4. Syntaxtheorien
4.1. Traditionelle Grammatik
4.2. Generative Grammatik (Konstituentenstruktur)
4.3. Valenzgrammatik
4.4. Kasusgrammatik: Thematische Rollen
4.5. Funktionale Satzperspektive
(aktuelle Gliederung oder Thema/Rhema-Gliederung)
1. Definition
1.1. Definition: Syntax
Die Syntax ist der Teil der Sprachwissenschaft, der über die Ebene des Wortes
hinausgeht und sich mit der Verbindung von Wörtern zu größeren Einheiten
beschäftigt bis hin zur Ebene des Satzes. Syntax wird daher auch als Satzlehre
bezeichnet. Gegenstand der Syntax sind jedoch nicht nur Sätze, sondern jedliche
Verbindungen von zwei oder mehreren Wörtern (Syntagmen).
Durch die Syntax erfahren wir, wie lexikalische Einheiten (Wörter) zu größeren
Einheiten kombiniert werden können. Aufgaben der Syntax sind daher:
• Einteilung der Sätze in Klassen mit gleichen Eigenschaften ein (Satztypen)
• Festlegen der richtigen Reihenfolge der Elemente im Satz (Wortfolge)
• Einteilen von richtigen und falsche Sätze sind (Grammatikalität von Sätzen)
• Aufzeigen von Strukturen innerhalb des Satzes:
o Aufteilen der Sätze in ihre Bestandteile (Satzglieder)
o Beschreibung der Beziehungen zwischen den Elementen
Im (amerikanischen) Strukturalismus galt der Satz als die höchste grammatisch
beschreibbare Ebene der Grammatik. In der heutigen Linguistik gibt es jedoch auch
Teilgebiete, die sich mit den satzüberschreitenden Regelmäßigkeiten beschäftigen.
Diese sind die Textlinguistik (oder Textsyntax)
135
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Die scheinbar einfache Frage „Was ist ein Satz?“ ist – ähnlich wie die Frage nach
dem Wort – schwer zu beantworten. Die Definitionen sind abhängig von den
verwendeten Kriterien und kommen daher zu unterschiedlichen Ergebnissen. Einige
Satzdefinitionen seien hier angeführt:
• formale Definition: Satz = alles was mehr als ein Wort enthält.
• graphische Definition: Satz = was zwischen zwei Punkten steht.
• phonetische Defintion: Satz = was zwischen zwei Sprechpausen zu hören ist und
eine typische Satzmelodie (Intonationsverlauf) hat.
• morphologische Definition: Satz = alles, was ein finites Verb enthält.
• semantische Definition: Satz = alles, was ein eine Aussage enthält.
(vgl. auch die noch zahlreicheren Satzdefinitionen bei Hentschel-Weydt 2003: 333)
Es ist klar, dass sich diese Definitionen gegenseitig widersprechen und sich zu jeder
Definition Gegenbeispiele finden lassen. Wir stellen daher fest, dass der
nichtterminologische Gebrauch des „Satz“ unscharf ist, und für die Zwecke der
linguistischen Untersuchung präzisiert werden muss. Man muss sich also bei der
Untersuchung von Sätzen darüber im klaren sein, ob man von einem
orthographischen, phonetischen, morphologischen oder semantischen Satz ausgeht.
Einige Satzdefinitionen werden der besseren Unterscheidbarkeit durch eigene
Benennungen ersetzt:
• Die Verbindung von mindestens zwei Wörtern zu einer größeren Einheit nennt
man Syntagma. Syntagmen sind Gegenstand der formalen oder Morphosyntax.
• Das durch den Satz zum Ausdruck Gebrachte, die Satzbedeutung, nennt man
Proposition. Propositionen sind Gegenstand der Satzsemantik oder Semosyntax.
Die ersten beiden Sätze unterscheiden sich von den zweiten beiden dadurch, dass
sie nur eine Aussage (und auch nur ein finites Verb) beinhalten. Wir können nach
diesem Strukturprinzip – ein oder mehrere Aussagen / Prädikate - einfache von
zusammengesetzten Sätzen unterscheiden.
Vergleichen wir die beiden einfachen Sätze, so stellen wir fest, dass der zweite von
ihnen „überflüssiges“, zum Verständnis der Aussage nicht unbedingt notwendiges
Material enthält. Vom ersten Satz hingegen kann nichts weggelassen werden, ohne
das Verständnis zu gefährden. Man spricht in diesem Fall, wenn ein Satz nur
unbedingt notwendige Information enthält, von einem Kernsatz, im zweiten Fall,
wenn weitere Information vorhanden ist von einem erweiterter Satz.
136
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
In der gesprochenen Rede können jedoch auch von einem Kernsatz u.U. Teile
weggelassen werden, wenn sie aus dem Ko-Text (dem vorher Gesagten) oder dem
Kontext (der nichtsprachlichen Situation), klar genug hervorgehen. So können etwa
die Sätze
verständlich sein, wenn sie etwa im Dialog auf die Fragen: „Warum ging Andrea nach
Hause?“ oder „Wer ist müde?“ antworten. In diesen Fällen spricht man von
unvollständigen Sätzen oder Ellipsen. Diese sind nur in einem gegebenen Kontext
verständlich, in kontextfreier Verwendung ist ihr kommunikativer Wert beeinträchtigt.
Vergleichen wir nun die beiden zusammengesetzten Sätze. Sie enthalten beide zwei
Teilsätze und damit zwei Aussagen.
Im ersten Satz ist das Verhältnis der beiden Teilsätze nichthierarchisch. Beide
Aussagen werden gleichberechtigt nebeneinander gestellt. Man spricht in diesem
Fall von einer koordinierenden Satzverbindung oder Parataxe.
Im zweiten Fall ist das Verhältnis der beiden Teilsätze dagegen hierarchisch. Ein
Teilsatz ist dem anderen übergeordnet (Hauptsatz), der andere dagegen
untergeordnet (Nebensatz). Man spricht in diesem Fall von einem Satzgefüge, einer
subordinierenden Satzverbindung oder Hypotaxe. Dabei ist zu beachten, dass der
untergeordnete Teilsatz innerhalb der übergeordneten Satzstruktur als Satzglied (in
diesem Fall als Adverbialbestimmung) fungiert. Untergeordnete Strukturen innerhalb
eines Satzgefüges werden daher auch als „eingebettete Sätze“ bezeichnen.
Übersicht über die Satztypen nach der Struktur:
Sätze
137
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
so stellen wir fest, dass sie alle eine inhaltliche Gemeinsamkeit aufweisen: sie haben
die Tatsache, dass Peter ein Buch liest, zum Gegenstand. Diese Tatsache wird zwar
auf unterschiedliche Art kommunikativ eingesetzt. Dennoch ist das „Thema“ der
Äußerung immer dasselbe. Man spricht in diesen Fällen von einer identischen
Proposition. Die Gemeinsamkeit aller Sätze ist der logische Inhalt, „dass Peter ein
Buch liest“. Dies kann man auch als logisches Kalkül notieren in der Form:
Sätze
3. Satzglieder
Zwischen den Ebenen des Worts und des Satzes lässt sich noch eine weitere
Beschreibungsebene feststellen, die Ebene der Satzglieder. Im Folgenden werden
wir feststellen, wie man Satzglieder ermittelt und welche Arten der Beziehungen
zwischen den Satzgliedern und Wörtern bestehen können.
138
Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
• Weglassprobe (Elimination):
Innerhalb von zusammengehörigen Teilen können bestimmte Wörter weggelassen
werden, ohne dass der Satz dadurch der Satz ungrammatisch wird.
Mein Freund Peter liest schon lange ein neues Buch im hellen Wohnzimmer.
Peter liest ein Buch im Wohnzimmer.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
3.2.2 Rektion
Von Rektion spricht man, wenn ein Satzteil die Forme eines anderen Satzteils
bestimmt, wobei aber keine Übereinstimmung zwischen beiden Satzgliedern
bestehen muss.
Rektion tritt v.a. bei Verben auf: das Verb bestimmt dabei die Form (Kasus) des
Objekts:
* Студент читает новoй книге / новой книгой профессора.
* Student čte nové knize / novou knihou profesora.
* Student czyta nowej księżce / nową księżką profesora.
Daneben können aber vereinzelt auch Substantive und Adjektive abhängige
Satzglieder regieren, z. B. das Interesse an Politik / er ist an Politik interessiert.
3.2.3 Adjunktion
Von Adjunktion spricht man, wenn die syntaktische Zusammengehörigkeit nicht
durch ein äußeres (morphologisches) Signal zum Ausdruck kommt. Beispiele für
Adjunktion sind:
• die Adverbiale: liest gerade, liest schön,….
• das Genitivattribut:
книгa профессора
kniha profesora
księżka profesora
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
4. Syntaxtheorien
Zur Beschreibung der Satzstruktur existieren eine große Zahl von verschiedenen
Theorien, die hier ausführlich darzustellen weder möglich noch erforderlich ist. Wir
beschränken uns hier auf drei Hauptrichtungen, deren Grundzüge und wichtigste
Unterschiede wir kennenlernen wollen. Zur Vertiefung der hier beschriebenen
Grundzüge sei das Kapitel „Syntaxmodelle“ in Hentschel / Weydt: Handbuch der
deutschen Grammatik (S. 444ff.) empfohlen.
Die drei hier kurz erläuterten Syntaxmodelle sind:
• traditionelle Grammatik
• Konstituentenstrukturgrammatik
• Valenzgrammatik
Daneben wollen wir uns auch mit drei weiteren Syntaxmodellen befassen, die einen
etwas anderen Schwerpunkt haben und jeweils eine anderen Beschreibungsebene
innerhalb des Satzes thematisieren:
• Kasusgrammatik
• Aktuelle Satzperspektive
• Funktionelle Grammatik
In der traditionellen Grammatik (oder Schulgrammatik) wird der Satz in die aus der
klassischen (lateinischen) Grammatik bekannten Satzglieder zerlegt. Die Satzglieder
bestehen typischer Weise aus bestimmten Wortarten, werden durch Fragen
bestimmt und nach ihrer Funktion im Satz benannt.
Die aus der traditionellen Grammatik bekannten Satzglieder sind:
• Subjekt: Das Subjekt wir mit der Frage „Wer?“ oder „Was?“ bestimmt. Es wird
i.d.R. durch ein Nomen (Substantiv oder Pronomen) im Nominativ vertreten.
Im Satz übernimmt es die Rolle des Ausführenden der Handlung.
• Prädikat: Das Prädikat wird mit der Frage „Was geschieht?“ bestimmt. Es
wird fast immer durch ein finites Verb vertreten. Es erfüllt im Satz die Rolle der
Handlung selbst.
• Objekt: Das Objekt wird durch die Frage „Wen?“ oder „Was?“ bestimmt. Es
wird somit durch ein Nomen (Substantiv oder Pronomen) im Akkusativ
vertreten und erfüllt im Satz die Rolle des von der Handlung direkt
Betroffenen. Für die Rolle des nur indirekt von der Handlung Betroffenen
existiert daneben das Satzglied des indirektem Objekts, das durch andere
Fallfragen („wem?“) bestimmt werden kann.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Überblick über die Satzglieder der traditionellen Grammatik und ihre Bestimmung:
Satzglied Frage ausgefüllt von: Beispiel
Substantiven,
Wer oder was tut Pronomen im
Subjekt Peter liest ein Buch.
etwas? Nominativ
Verb im Infinitiv
Prädikat Was geschieht? finite Verben Peter liest ein Buch.
Substantive,
direktes Wen oder was betrifft
Pronomen im Peter liest ein Buch.
Objekt die Handlung?
Akkusativ
Objekt Wen betrifft die Substantive,
indirektes Handlung indirekt: Pronomen in Peter gab das Buch
Objekt Wem oder andere obliquen Kasus seiner Schwester.
Fragewörter
Peter las das Buch
Adverbien,
Adverbialbestimmu Wann, wo, wie geht gestern im
Substantive in
ng die Handlung vor sich Wohnzimmer sehr
Präpositionalkasus
aufmerksam.
Was für ein?
Adjektive, Partizipien Mein guter Freund
Attribut Wie ist ein anderes
liest ein neues Buch
Satzglied beschaffen?
Mein Freund Peter
Sonderform des
Apposition Substantive liest den Roman
Attributs: Apposition)
Moby Dick.
Substantiven oder
Peter ist mein
Prädikative Adjektiven im
Wer oder wie ist…? Freund.
Ergänzung Prädikat (=
Das Buch ist dick.
Prädikatsnomen)
Nachteil der traditionellen Grammatik ist, dass die Satzglieder nicht nach eindeutigen
Kriterien bestimmt sind. Da sie semantische (funktionelle) mit formalen
(morphologischen) Kriterien vermischt, treten häufig Widersprüche und
Inkonsistenzen bei der Satzgliedbestimmung auf. Auch wird der Unterschied
zwischen der syntaktischen Kategorie Satzglied und der morphologischen Kategorie
Wortart dadurch verwischt. Daher wird in moderneren Syntaxmodellen meist eine
Trennung von semantischen und formalen Satzgliedern vorgenommen. In der
Konstituentenstrukturgrammatik und ihren Nachfolgern (generative Grammatik)
erfolgt sogar zunächst eine rein formale Betrachtung, die die Semantik gänzlich
außen vor lässt. In der Valenzgrammatik wird dagegen eine Trennung in
syntaktische und semantische Valenz vorgenommen.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Eine Reihe von Syntaxtheorien beruht auf dem Prinzip der Konstituentenstruktur. Die
älteste ist die vom amerikanischen Strukturalisten Bloomfield entwickelte
Phrasenstrukturgrammatik. Auf dieser beruht die in den 1960er Jahren von Noam
Chomsky entwickelte Generative Transformationsgrammatik. Diese begründete die
Generativistik, eine sehr einflussreiche Schule innerhalb der modernen Linguistik, auf
der eine ganze Reihe anderer Syntaxtheorien (u.a. Kasusgrammatik, X-Bar-Theorie,
Optimalitätstheorie, generative Semantik, Head Driven Phrase Structure Grammar /
HDPSG u.v.m.) basieren. Die Basis dieser Theorie lässt sich wie folgt beschreiben:
Jede Einheit lässt sich in kleinere Bestandteile (Konstituenten) zerlegen. Jedes
Segment ist damit Teil eines größeren Elements. Inhalt der Grammatik sind die
Regeln zur Verbindung bzw. Zerlegung der Einheiten. Damit ist gewissermaßen jede
Grammatik Syntax, da die Regeln zur Zerlegung und Kombination von Konstituenten
auf allen Ebenen anwendbar ist.
Die Grammatik lässt dabei zwei Richtungen der Betrachtung zu: Analyseregeln
dienen zur Zerlegung (Analyse) von Sätzen. Sie verfolgt daher die Richtung: Ganzes
Æ Teil. Die Generierungsregeln dagegen dienen zur Erzeugung (Synthese) von
Sätzen. Sie verfolgen somit die Richtung: Teil Æ Ganzes. Aufgrund dieser Regeln
können also auch Sätze erzeugt („generiert“) werden (daher „generative
Grammatik“).
Chomsky ging davon aus, dass jedem Menschen eine solche Fähigkeit (Kompetenz)
zur Erzeugung von Sätzen (eine sog. Universalgrammatik) angeboren ist. Die Regeln
der Universalgrammatik erzeugen dabei nicht gleich Sätze, sondern zunächst
abstrakte Satzstrukturen, die sogenannte Tiefenstruktur. Jede konkrete Äußerung
besitzt jedoch eine Oberflächenstruktur, der eine Tiefenstruktur zugrunde liegt. Die
Umsetzung von der Tiefen- zur Oberflächenstruktur nennt Chomsky Transformation.
Erst auf der Oberflächenstruktur treten Unterschiede zwischen den Einzelsprachen
auf, daher sind nur die Tranformationsregeln einzelsprachlich verschieden. Zur
Erzeugung der tatsächlichen Äußerung (Performanz) ist schließlich noch die
Auffüllung der Struktur mit Elementen aus dem Wortschatz notwendig.
Sprache besteht im generativistischen Modell aus den beiden Modulen Grammatik +
Wortschatz. Die Grammatik enthält dabei Anweisungen (Regeln) für die Zerlegung.
Die höchste Kategorie ist dabei ein Satz (S). Dieser kann in seine unmittelbaren
(nächstkleineren) Bestandteile (immidiate constituents, IC) zerlegt werden, etwa eine
Nominalphrase (NP) und eine Verbalphrase (VP). Diese können wiederum in
kleinere Einheiten zerlegt werden usw. Falls keine weitere Zerlegung mehr möglich
ist spricht man von sogenannten „terminalen“ Symbolen, die die Wortart des
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Zunächst wird durch schrittweise Anwendung der Regeln die Struktur erzeugt,
danach werden für die terminalen Symbole Elemente aus dem Wortschatz eingesetzt
und daraus der Satz Студент читает новую книгу generiert.
Grammatik Wortschatz:
S Æ NP + VP N = {студент, книгу}
NP Æ N V = {читает}
VP Æ V + NP A = {новую}
NP Æ ADJ + N
Als Baumnotation:
VP
NP
NP
V
N
ADJ N
читает новую
Студент книгу
čte novou
Student knihu
czyta nową
Student książkę
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
sie selbst erfordern (selegieren). Damit ist die Kontextfreiheit der generativen
Grammatik jedoch bereits eingeschränkt.
Warum ist die Beschreibung der Satzstruktur dennoch wichtig? Da zwischen
Oberflächen- und Tiefenstruktur keine 1:1- Entsprechung besteht, kann eine
Tiefenstruktur auf der Oberflächenstruktur mehrere verschiedene Entsprechungen
haben. Eine Oberflächenstruktur kann somit auch auf verschiedene Tiefenstrukturen
zurückgeführt werden. In der Tiefenstruktur hinterlassen Elemente Spuren, die auf
der Oberflächenstruktur nicht mehr erscheinen. Erst die Strukturanalyse macht dann
klar, welche Bedeutung tatsächlich auftritt.
Daher spielt die Konstituentenstruktur (IC-) Grammatik heute eine wesentliche Rolle
v.a. in der Computerlinguistik (etwa bei automatischen Übersetzungsprogrammen
u.ä.), vgl. etwa die Einführung in die Head Driven Phrase Structure Grammar von
Müller 2007.
читает
čte
czyta
студент книгу
student knihu
student książkę
новую
novou
nową
Ein grammatikalisch richtiger Satz entsteht dann, wenn alle vom Verb benötigten
freien Plätze gefüllt sind. Dabei ist es wichtig, eine Unterscheidung in notwendige
Glieder (Aktanten) und nicht notwendige Glieder (freie Ergänzungen) zu treffen.
Freie Ergänzungen können auch weggelassen werden, Aktantenstellen hingegen
müssen besetzt sein.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Ein Verb kann neben einem „reinen“ Kasus auch eine Verbindung aus Präposition
und Kasus (sog. Präpositionalkasus) erfordern. So erfordert etwa das deutsche Verb
„sich interessieren“ zwei Ergänzungen eine im Nominativ + die Präposition für + ein
Substantiv im Akkusativ. Ähnlich tsch. zajímat se: Nominativ + Präposition o +
Substantiv im Akkusativ; russ. нуждаться: Nominativ + Präposition v + Substantiv im
Präpositiv.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Valenz
syntaktische Valenz
gibt die Zahl der gibt die syntaktische gibt die semantischen
Aktanten an Form der Aktanten an Eigenschaften der Aktanten an
Mit der Valenztheorie lassen sich Unterschiede in der Valenz zwischen den
Einzelsprachen sehr übersichtlich und leicht erlernbar darstellen. Die Valenztheorie
hatte daher v.a. im Bereich des Fremdsprachenunterrichts großen Einfluss und wird
häufig bei der Erstellung von Lehrbüchern verwendet.
Im folgenden geben wir ein Beispiel für die überblicksartige Darstellung der
Valenzunterschiede im Deutschen, Tschechischen und Russischen:
erwarten: N + A дождаться: N + G
očekávat: N + A
Eva erwartet die Ankunft des Ирина дожидалась приезда
Eva očekává příjezd vlaku.
Zuges. поезда.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
dosáhnout / dosahovat: N +
erreichen: N + A достигать / достичь: N + G
G
Peter erreichte das Ziel. Пётр достиг цели.
Petr dosáhl cíli.
4.4. Kasusgrammatik
Die Kasusgrammatik wurde Ende der 1960er Jahre von Charles Fillmore auf der
Grundlage der Generativen Transformationsgrammatik entwickelt. Sie erweitert diese
jedoch um einen semantischen Aspekt, indem sie den einzelnen Terminalsymbolen
nicht nur strukturelle, sondern auch semantische Rollen zuweist. Fillmore übernimmt
von Chomsky das Modell der Oberflächen- und Tiefenstruktur und unterscheidet
demnach zwischen Oberflächenkasus und Tiefenkasus.
Unter Oberflächenkasus versteht er die traditionellen morphologischen (bzw.
syntaktischen Kasusformen). Als Tiefenkasus (oder semantische Kasus) versteht er
die semantischen Rollen, die Satzglieder im Satz übernehmen können. Die Zahl der
semantischen Kasus ist umstritten (einige Forscher nehmen z.T. bis zu 40
semantische Kasusrollen an).
Die wichtigsten semantischen Kasus sind:
• Agens: Rolle des willentlichen Ausführender einer Handlung, daher
notwendigerweise belebt:
Peter schreibt einen Brief. Eva studiert Betriebswirtschaft. Der Hund läuft davon.
• Force (cause, Kausator): nichtwillentlicher Verursacher (Ursache, Quelle) einer
Handlung: in der Regel unbelebt, kann aber auch der belebte Verursacher einer
unwillentlichen Handlung sein:
Der Wind stößt die Tür auf. Das Wetter macht mir Kopfschmerzen. Peter verhakt sich mit
dem Ärmel an der Türklinke.
• Goal (object): von der Handlung betroffenes (unbelebtes) Objekt:
Eva bekommt ein Geschenk. Das Haus stürzt ein.
Oft nochmals unterteilt in:
o Patiens: von der Handlung direkt betroffener (belebt):
Der Arzt untersucht Peter.
o Effiziens: durch die Handlung hervorgebrachtes Objekt:
Peter schreibt ein Buch.
o Affiziens: bereits vor der Handlung existentes, aber durch die Handlung
verändertes Objekt:
Eva streicht den Zaun gelb an.
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
Thema Rhema
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Skriptum: Einführung in die slavische Sprachwissenschaft
dabei folgende Reihenfolge: der Satz beginnt mit dem Thema (dem Gegebenen,
Bekannten), das Rhema (die Neuinformation) folgt am Ende des Satzes.
Nur in emotionale stark markierten (expressiven) Sätzen gilt die umgekehrte
Reihenfolge: das Rhema steht am Anfang, das Thema folgt danach.
Unmarkierte (neutrale) Reihenfolge Markierte (expressive) Reihenfolge
Thema – Rhema Rhema – Thema
Das Fahrrad gehört Sylvia. Sylvia gehört das Fahrrad.
Funktionale Grammatik
Unter dem Begriff „funktionale Grammatik“ werden eine Reihe von z.T. stark
verschiedenen Syntaxtheorien verstanden, die den Aspekt der kommunikativen
Funktion der Aussage in den Vordergrund stellen. Viele von ihnen zeichnen sich
jedoch durch eine Zusammenfassung von Elementen der Valenzgrammatik, der
Kasusgrammatik und der aktueller Satzgliederung aus, so v.a. in der funktionalen
Grammatik von Halliday.
Diese unterscheidet drei Arten von Subjekten:
• Grammatisches (syntaktisches) Subjekt: Nomen im Nominativ, das in Kongruenz
zum Prädikat steht. = N
• Semantisches (logisches) Subjekt: Agens / Force: Ausführender / Verursacher
der Handlung. = A
• Thematisches (informationelles, kommunikatives) Subjekt: Das, wovon die Rede
ist, neue Information, Rhema. = R
Diese 3 Subjekte können im Satz in einem Satzglied zusammenfallen, sie können
aber auch auf unterschiedliche Satzglieder verteilt sein, vgl. die folgenden Beispiele
mit der identischen Proposition SCHENKEN (Peter, Buch, Eva). Dabei steht N für
das grammatische Subjekt (Nominativ), A für das semantische Subjekt (Agens) und
R für das thematische Subjekt (Rhema):
Verhältnis der
aktueller Kontext Beispielssatz
3 „Subjekte“
„Wer schenkt Eva das Buch?“ „Peter schenkt Eva das Buch.“ N=A=R
N=A
„Wem schenkt Peter das Buch?“ „Peter schenkt das Buch Eva.“
R
„Wer hat das Buch von Peter „Das Buch von Peter hat Eva N=R
geschenkt bekommen?“ geschenkt bekommen.“ A
„Von wem hat Eva das Buch „Eva hat das Buch von Peter A=R
geschenkt bekommen?“ geschenkt bekommen.“ N
N=A
Was schenkt Peter Eva? „Peter schenkt Eva ein Buch.“
R
N
Was hat Eva von Peter geschenkt „Eva hat von Peter ein Buch
bekommen? geschenkt bekommen?“
A
R
Literatur:
Ernst, Peter: Germanistische Sprachwissenschaft. S. 122-171.
Grepl, Miroslav – Karlík, Petr: Skladba spisovné češtiny. Olomouc, 1998.
Halliday, M.A.K.: An Introduction to Functional Grammar. London 1985.
Hentschel, Elke – Weydt, Harald: Handbuch der deutschen Grammatik. 3. Auflage. Berlin,
New York 2003. S. 444-477.
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