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- Ralph Tharayil | M.A. Geschichte und Theorie der Wissenschaft und Technik | Sommersemster 2021
Blumenberg konstatiert zunächst, dass der Abwurf der Atombombe, der Nazi-
Deutschland durch die Kapitulation im Mai 1945 wohl nur knapp entgangen
war, gerade nicht als Weltgeschehen wahrgenommen wurde:
"Die weltweite Entfernung und innere Fremdheit des Schauspiels macht das
Ereignis selbst zu etwas für uns Unwirklichem, wie einem exotischen Mythus
Zugehörigen."2
Und obwohl Politik und Wissenschaft die Atomkraft schon früh als
moralisches Problem erkennen, kann der moralischen Frage laut Blumenberg
nur begegnet werden, indem der Eintritt ins Nuklearzeitalter mit der
Weltwirklichkeit abgeglichen und ihr Wirklichkeitsbezug analysiert wird.
Die Wirklichkeit besteht für Blumenberg aus drei Schichten, die zunächst
aufgefächert werden müssen, um "die revolutionierende Welttatsache des
[atomaren] Handelns" überhaupt moralphilosophisch untersuchen zu können:
1 Hans Blumenberg: Schriften zur Technik. Bernd Stiegler / Alexander Schmitz (Hg.)
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. S. 7-16 & 54-56.
2 ebd. S.2
1
die Schicht der elementaren Natur, die Schicht der technischen Gebilde und
die Schicht der Mittel der Macht.
Mit der Schicht der elementaren Natur meint Blumenberg das "Reich des
Atominnerns", das Reich des Unsichtbaren, das sich der kausalen
Determination entzieht.
Hier sei ein kleiner Exkurs zu Blumenbergs Text Vom Unbehagen in der Natur
erlaubt, in dem er diese Schicht der elementaren Natur am Begriff des
Unbehagens erweiternd exemplifiziert.
"Der große Komet hat uns enttäuscht." 4, heißt es dort. Dabei hätte dieser
Komet die Erde treffen, oder zumindest streifen sollen. Doch er hat sich,
entgegen der astronomischen Berechnungen, nicht sichtbar gemacht und
eine unvorhergesehene Flugbahn eingeschlagen.
Wir glauben zu wissen, wie der Komet sich kosmisch verhält, weil
astronomische Berechnungen seine Existenz und seine Flugbahn
legitimieren. Das „geheime Unbehagen“5, das der Mensch in sich trägt, wenn
es um sein Verhältnis zur Natur geht, bietet laut Blumenberg das
3 ebd. S.8
4 ebd. S.54
5 ebd. S.55
2
„plausibelsten Sprachmittel“ 6 , um der egestas verborum entgegenzuwirken,
welche die Sphäre der Technizität innewohnt.
Dieses Sprachmittel des Unbehagens kann auf die Schicht der elementaren
Natur übersetzt werden.
Während die klassische Physik noch auf der "totalen Berechenbarkeit der
Natur" gründete, eröffnet die von Max Planck ins Feld geführte
Quantentheorie ein neues Verhältnis von Mensch und Natur: Das Reich der
Atome und Moleküle löste eine "elementare Unsicherheit"7 aus, da sie aus für
den Menschen unsichtbaren Prozessen besteht, die sich in einer Unterwelt
der Natur abspielen und die Begriffe Ursache und Wirkung oder
Berechenbarkeit und Unberechenbarkeit disproportional zueinander stehen
lassen, oder anders: Mit dem Auftreten der theoretischen Physik wird dem
Menschen das Erfassen der natürlichen und technischen Welt nicht mehr
übersichtlich in Formeln und Berechnungen zur Verfügung gestellt.
Die Schicht der elementaren Natur ist nach Blumenberg also als
unterweltliche Elementarschicht der Natur zu verstehen, deren Unbehagen
sich aus dem Paradox der prognostischen Unsicherheit der exakten
Wissenschaften und der unsichtbar-sichtbaren atomaren Zerstörungskraft
speisen und das Verhältnis von Menschen und exakter Natur-Wissenschaft
mit einer "unterweltlichen Gesetzesfeindlichkeit", wie Blumenberg sie nennt,
immer wieder vor das moralphilosophische Problem der Verantwortung
stellen
6 ebd. S. 215
7 ebd. S. 55
3
Die zweite Schicht – die Schicht der technischen Gebilde
In der Schicht der technischen Gebilde wird das Verhältnis zwischen Mensch
und Produktionsmaschine, also die Abhängigkeit des technischen Produktes
vom menschlichen Handwerk, laut Blumenberg, neu kalibriert:
"[Das technische Produkt] tritt aus seinem Dienstverhältnis heraus und stellt
umgekehrt den Menschen als Techniker, Unternehmer und Arbeiter in seinen
Dienst, ja es diktiert der ganzen menschlichen Gesellschaft Bedürfnisse und
Zwecke auf[.]"8
Der Impuls für Neuerungen oder Entwicklungen ist demnach nicht mehr beim
Menschen begründet. Vielmehr wird der anthropologische Aspekt der
Entwicklung, also die Erzeugung des Produkts durch des Menschen, durch
die Differenzierung und Aufspaltung des moderner Planungs-und
Fertigungsprozesses sowie auf Funktion ausgelegte wirtschaftliche Strukturen
redundant. Die zunehmende Autonomie der technischen Gebilde steht konträr
zur Endlichkeit von Rohstoffen und menschlichen Arbeitskraft.
"Die Freimachung der atomaren Energien legt diese Schranken nieder; die
Quellen der technischen Erzeugung scheinen plötzlich ins Unerschöpfliche
gesteigert und jeder Anpassung an die Erfordernisse eines ungehemmten
Progresses fähig zu sein."9
Das Machtmittel des Politikers steht, laut Blumenberg, dem Ethos des
Wissenschaftlers gegenüber und nur an der feinen Linie zwischen Politik und
Wissenschaft können in dieser dritten Wirklichkeitsschicht moralische
Ansprüche gestellt werden.
8 ebd. S. 10f.
9 ebd. S. 11
4
Blumenberg führt zum Ende des Artikels den Begriff der Kultur und die
Theologie ins Feld – beide zielen darauf ab, den Menschen, also den
anthropologischen Aspekt im Machtgefüge zwischen Technik und Natur
genauer zu analysieren:
„Die Krise des Kulturbegriffs verschiebt sich damit von der bloßen
Verfügbarmachung oder Gestaltung äußerer Natur weg auf die Beherrschung
der menschlichen Natur selbst in all ihren Dimensionen.“10
Die vom Kulturbegriff abgeleitete Frage nach der Beherrschung der Natur,
bezieht Blumenberg in seinem Artikel also nicht bloß auf die Natur, sondern
meint damit auch die Beherrschung des Lebendigen und Geistigen, also die
Beherrschung des Menschlichen selbst.
Fazit
Besonders die Analyse der Schicht der technischen Gebilde zeigt, wie
Blumenberg vermeidet die Technik zu dämonisieren. Stattdessen stellt er die
anthropologische Konstante „Mensch“ und den technischen Progress in
10 ebd. S 15
5
Relation: „Erst in dem sich das technische Gebilde der Leidenschaft und
Verführbarkeit des Menschen anbietet, gewinnt es so etwas wie Dämonie.“11
Es überrascht nicht, dass der Artikel nicht mit einer klaren Stellungnahme
endet, sondern vielmehr eine mögliche, wenn auch überraschende Alternative
für die Relation zwischen Mensch, Natur und Technik skizziert:
11 ebd. S. 11
12 ebd. S. 15