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Philosophie 409

Individuums" ein rassenhaftes internationales Recht, aber kein klassen-


haftes Staatsrecht, weil dieses sich auf ein Privatrecht reduziere. Ein
offenbarer Widerspruch! Denn wie kann man einen "Begriff" rationali-
sieren? Entweder sind "Mystik" und "Romantik" rationale Begriffe und
dann nicht rationalisierungsbedürftig. Oder sie sind keine Begriffe und
müssen aus der Rechtswissenschaft ausscheiden. Gerade wenn man damit
einverstanden ist, daß der Rechtsbegriff "un point fixe au milieu du tour-
billon soeial" sein müsse, bleibt die Behauptung unverständlich, daß die
Rechtswissenschaft von der Rechtsphilosophie "nicht zu trennen" sei.
Verf. gerät eben in die Klemme, die er bei den Gegnern von rechts (Hauriou
.und Renard) und von links (Duguit und Lacroix) zu beseitigen sucht: die
Verwechslung von wissenschaftlichem Begriff und philosophischem Postulat
zwingt ihn zur willkürlichen Reduzierung der Sozialwissenschaft auf die
Rechtswissenschaft_ M. Tazerout (La Roche, Yon).

lUarcuse, Herbert, H egels Ontologie und die Grundlegung einer


Theorie der Geschichtlichkeit. Vittorio Klostermann. Frank/urta. M.
1932. (367 S.; RM. 15.-)
Marcuses Unternehmen, gerichtet auf den system-tragenden "Seinsent-
wurf" Hegels, wird gefördert durch dessen eigene philosophische Vorgeschichte.
Seit Diltheys Forschungen und der Nohlschen Ausgabe der theologischen
Jugendschriften ist kein Zweifel an der Priorität des Lebensbegriffes bei
Hegel als des zugleich einheitlichen und sich entzweienden, daran die.
dialektische Umdeutung der Kantischen Subjekt-Objekt-Problematik erst
als systematische Ausprägung der philosophischen Grunderfahrung sich
anschließt. M. nun sucht diesen Lebensbegriff herauszulösen aus dem Bereich
von Faktizität, in welchem er gewonnen ist, und als "Sinn" nicht sowohl
des Seienden als von Sein selbst zu erfassen, der als reine Möglichkeit
aller Faktizität vorgeordnet, ob auch notwendig auf existierendes Seiendes
verwiesen ist. "Der Grundsinn von Sein, der den Ansatz des Seinsbe-
griffes bestimmt, ist die ursprüngliche Einhei t der Gegensätze von ,Sub-
jektivität' und ,Objektivität' .. _IndemdieseEinheit von Hegel als einigende
Einheit gefaßt und als das Geschehen des Seienden selbst begriffen wird,
wird die Bewegtheit als Grundcharakter des Seins erkannt" (S. 5);
darum Hegel nicht mehr wie üblich auf den bereits verdinglichten, faktischen
"Geist" interpretiert, wie er die späten materialen Systemausführungen
beherrscht, sondern auf den "vollen Seinsbegriff des Lebens" (S. 7)_
Als dessen "eigentlichstes Sein" wird verstanden "das begreifende Sein:
der ,Begriff'" (S. 6); "wissende Bewegtheit". - Das Buch gliedert sich
in die ontologische Interpretation von Sein als wissender Bewegtheit und
den Fundierungsversuch einer existentialen Theorie der "Geschichtlichkeit".
Diese möchte schließlich die Verwandlung der ontologischen Ausgangsfragen
Hegels in Deutungen der Faktizität nicht bloß bezeichnen, sondern aus
der Problematik der "Phänomenologie" verständlich machen: als "Verwandlung
des Lebensbegriffs in den Seinsbegriff des Geistes" und als "Verwandlung
der wissenden Bewegtheit in die Bewegtheit des absoluten Wissens".
Damit scheint M. von Heideggers publiker Lehrmeinung, die er sonst mit der
Strenge des Schülers vertritt, entscheidend abzuweichen: er tendiert vom
410 Besprechungen

"Sinn von Sein" zur Erschließung des Seienden; von Fundamentalontologie


zur Geschichtsphilosophie; von Geschichtlichkeit zur Geschichte. Das macht
die Bedeutung des Werkes aus und eröffnet es zugleich der Kritik. Wenn M.
so weit geht, nicht sowohl mehr bloß die Möglichkeit des Faktischseins
ontologisch auszulegen als vielmehr die Möglichkeit der Auslegung faktischen
Seins aus der ontologischen Struktur herzuleiten, wäre konsequent zu er·
wägen: warum überhaupt philosophisch die "ontologische" Frage der In·
terpretation der realen geschichtlichen Fakten noch vorausgeht, während
doch M. den Bruch zwischen Faktizität und Ontologie schließen möchte.
Ist die konstitutive "Ganzheit" selber vorfaktische, ontologische Grund·
struktur oder weist sie auf historisch bestimmte Faktizität zurück: das
gleiche "Subjekt", in dem M. nicht umsonst das "eigentlichste Sein" der
Hegelschen Bewegtheit sieht? Dann schlüge die Frage nach dem Hegeischen
Sinn von Sein als Möglichkeit um in die nach dem Sinn von Subjektivität
als Wirklichkeit. Und hat nicht gerade die "Ganzheit" des Hegeischen
Entwurfs als eine des "Systems" dengeschichtlich.faktischen Anspruch
absoluter Subjektivität zur Voraussetzung 1 Deutet nicht der Fundierungs.
anspruch der neuen Ontologie eben als Anspruch auf "Ganzheit" seinem
Wahrheitsgehalt nach zurück auf den Idealismus und damit einen
innergeschichtlichen, auf bestimmte Pragmatik bezogenen philosophischen
"Standpunkt" ?
Theodor Wiesengrund.Adorno (Frankfurt a. M.).

Nltzschke, Helnz, Die Geschicht8philosophie Lorenz flon Steins. Ein


Beitrag zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. R. Oldenbourg.
München u. BerUn 1932. (145 S.; RM. 6.-)
Die Leipziger Dissertation aus der Freyer-Schule gibt eine systematische
Darstellung der Geschichtsphilosophie von Lorenz von Stein, der neben
Marx mit Recht der Begründer der deutschen Soziologie genannt wird.
Fern einer gegenwärtig verbreiteten Formalsoziologie ist seine Gesellschafts-
wissenschaft gleichzeitig universale Geschichtsphilosophie. Dies zeigt
deutlich N. in seinem Hauptteil über die materielle Geschichtsphilosophie
bei Stein, die nach Troeltschs Schematik im Anschluß an seine formale
Geschichtslogik ausführlich behandelt wird. Der Verf. untersucht u. 8.
Steins philosophische Anthropologie, seine Philosophie der Arbeit, die
historischen Triebkräfte (Geschichte als "Bewegung der Interessen"), die
Gesetze der Geschichte, Geschichte und Gesellschaft, Geschichte und Staat.
Vor allem die Analyse der Realisierung der geschichtlich-gesellschaftlichen
Neuordnung bei Stein beleuchtet sein eigentümliches Schwanken zwischen
Realismus und Idealismus. In einem zweiten Teil wird die geistesgeschicht.
liche ,Stellung und die innere Entwicklung' Steins untersucht, wofür N.
drei tpochen feststellt (bis 1841 Hegel-Einfluß, bis 1851 Einwirkung des
positivistischen Westens, schließlich Annäherung an romantisch-konser-
vative Denkhaltung).
N. führt über Grünfelds bisher beste Analyse von Persönlichkeit und
Werk Lorenz von Steins. ein gutes Stück hinaus und gibt eine wertvolle
Grundlegung einer geistesgeschichtlichen Biographie. Die gewissenhafte
und umsichtige Studie, gewinnt darüber hinaus Bedeutung dadurch, daß

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