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HUGO VON HOFMANNSTHAL
GESAMMELTE WERKE
IN
EINZELAUSGABEN
AUFZEICHNUNGEN
1 959
S.FISCHER VERLAG
HUGO VON HOFMANNSTHAL
AUFZEICHNUNGEN
s^
1 959
S. FISCHER VERLAG
HERAUSGEGEBEN
VON
HERBERT STEINER
Die Liebe und ihre Umkehrung, der Haß, sind darum das ei-
gentliche Studium des Lebens, weil sie allein aus den andern
Individuen die Konsequenzen ziehen.
Die ahnende Jugend weiß die Welt mit Kräften erfüllt; aber
es kommt ihr nicht bei, welche Rolle in der Welt die Schwäche
in ihren verschiedenen Formen spielt.
Der höhere Mensch lebt mit allen in Frieden, ohne wie alle zu
handeln. Der niedere handelt genau \Y\e alle und wird mit nie-
10
Les uns disent que non, les autres disoiit (|U(; oiii : o.i inoi je dis
que Olli et que non.
(Sganarelle über eine schwierige medizinische Frage)
Moliere, Le niddecin malere
'h' lui
Die Jugend ist so stark, als sie sich ahnt, und zugleich so zart
und schwrach, als sie sich gebärdet; das ist das Zweideutige an
ihr und das Dämonische.
Die Freunde sind nicht viele noch wenige, sondern die hin-
reichende Zahl.
Man kann sechzig Jahre alt geworden sein, ohne zu almen, was
ein Charakter ist. Nichts ist verborgener cds die Dinge, die wir
beständig im Mund führen.
11
eilen ; aber niemand hört ihn mehr, und wir haben ein reines
Passivum daraus gemacht.
Man hat etwas weniger Freunde, als man annimmt, aber etwas
mehr, als man kennt.
12
Befrachtet mati den Zeitvorlauf, so hält inati schlieniicli in Ik--
Nicht der Täter wird unrein durch die Tat; nur die Tat durch
den Täter.
13
wohnt auch in jedem Menschen seine Art von Unschuld; die
Daß sie ihre eigene Kraft kennen, das ist das Hinreißende an
den Liebenden.
Wodurch Aladdin groß ist, ist sein Wunsch, daß seine Seele
Mark hat zu begehren. Und sollte ich in dieser Hinsicht etwas
gegen ein Meisterstück einwenden, so wäre es, daß nicht stark
und deutlich genug hervortritt, daß Aladdin eine berechtigte
Individualität ist, daß wünschen und wünschen können, dumm-
dreist wünschen, resolut zugreifen, unersättlich begehren eine
Genialität ist, so groß wie eine andere. Man glaubt es vielleicht
nicht, und doch werden in jeder Generation vielleicht nicht
zehn Jünglinge geboren, die diesen blinden Mut, diesen Griff
ins Unendliche haben. Kierkegaard
14
.
Wir sind so versessen auf Besitz und so ])e<rliiekt ü])er jedes /ei-
Ich kann nur die Oberfläche der Leute auf meine Seite bringen,
ihr Herz erhält man nur mit ihrem sinnlichen Vergnügen —
davon bin ich so überzeugt, als ich lebe.
Ein Mann, der mit fünfunddreißig stirbt, ist auf jedem Punkt
seines Lebens ein Mann, der mit fünfunddreißig stirbt. Das ist
15
;;
Er hat besessen, was ihn über alle hinaushob und zugleich allen
angenehm machte. Er verliert es mit einem Schlag, und was
übrigbleibt, ist eine leere Hülse, die vielleicht noch dreißig
oder vierzig Jahre auf der Erde herumspazieren wird.
Die Menschen sind oft die Sklaven ihrer Willkür, auch in sich
selber; aber es ist erstaunlich, wie selten sie ihren Willen anzu-
setzen wissen.
16
anibitioii could have entered into their narrow liearts, tliey
La Bruyere
Gar viele Menschen sind noch jetzt an ihm (Wieland) irre, weil
sie sich vorstellen, der Vielseitige müsse gleichgültig und der
Bewegliche wankelmütig sein. Man bedenkt nicht, daß der
Charakter sich nur durchaus aufs Praktische beziehe. Nur in
dem, was der Mensch tut, zu tun fortfährt, worauf er beharrt,
darin zeigt er Charakter, und in diesem Sinn hat es keinen so
Ohne die Selbstliebe ist kein Leben möglich, auch nicht der
leiseste Entschluß, nichts als Verzweiflung und Starrheit.
17
donc plus serieux devant tant de braves gens qui s'egorgent.
Menogenes, der Koch des großen Pompejus, sah wie der große
Pompejus selbst aus. Lichtenberg nach Plinius
Es ist mit dem Ruhm ein eigenes Ding. Ein Holz brennt, weil
es Stoff dazu in sich hat, und ein Mensch wird berühmt, weil
der Stoff dazu in ihm vorhanden. Suchen läßt sich der Ruhm
nicht, und alles Jagen danach ist eitel. Es kann sich wohl je-
18
mand durch kluges Benehmen und allerlei kiuisLliche Mittel
eine Art von Namen machen. Fehlt aber dabei das innere Ju-
wel, so ist es eitel und hält nicht auf den andern Tag. Ebenso
ist es mit der Gunst des Volkes. Er — Carl August — suchte sie
nicht und tat den Leuten keineswegs schön; aber das Volk
Hebte ilm, weil es fühlte, daß er ein Herz für sie hatte.
Goethe zu Eckennann
19
Eine Art von unablässiger indirekter Anerkennung ist ein In-
grediens, das dem. geselligen Verkehr nie fehlen darf; die
Anerkennung ist schwer zu ertragen: wer uns seine
direkte
Anerkennung direkt äußert, gibt damit zu verstehen, daß er
sich mit uns auf eine Stufe stellt, zumindest in der Lage ist,
Urteil einer alten Frau aus dem Volk über Lessing: Ne, smoket
het he neg, wän he mac süs wat dogt harre! (Nein, geraucht
hat er nicht, wenn er nur sonst was getaugt hätte.)
Carl Julius Weher,
Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen
20
. ;
Nicht- Verstehen
21
Junge Leute tragen im Geistigen oft eine Perücke, aber aus
eigenem Haar.
Das ist das Furchtbare an der Schuld, daß sie der Furcht, dem
größten Übel auf Erden, eine ungeheure Berechtigung unter-
schiebt.
Es gibt viele Arten von Liebe, die berühmteste ist nicht die
angenehmste. Rudolf Pannwitz
Allegorie ist ein großes Vehikel, das man nicht verachten soll.
durch Psychologie.
22
Kann Wühl den Wert des Menschen jemand kennen, (h.T niclit
in derWelt Hitze und Kälte erlitten liat?
Aus dem tiirkisclicn Spiegel des Kjutihi Rund
Es ist etwas in uns, das über und hinter allen Altern ist und
mit allen Altern spielt.
23
und was ihm in die Nähe kommt, hineingerissen wird.
Eine Art, uns selbst zu erziehen, ist die, daß wir einen Men-
schen, der für uns Autorität hat, herausfordern, sich über einen
Gegenstand zu äußern, über den wir ihn anders urteilend wis-
sen, als wir selber urteilen.
Snobs lesen die Geschichte der Salons des ancien regime, wie
Kinder Märchen, mit allen fünf Sinnen.
tal an.
24
Ein Juncker Mcnscli, auf der Opornslicn^o von einem alten Mann
mehrnial in den Rücken gest()n(Mi,^ri|)t diesein eine dcrix; Olu-
»Was werden Sie sagten, mein Icrr^, nilL der
feige. I ( ireis aus,
25
Die klassische Musik der Liebe ist in Dur, die romantische in
Moll.
La Rochefoucauld
Es gibt nicht zwei Menschen auf der Erde, die nicht durch eine
teuflisch aus gedachte Indiskretion zu Todfeinden gemacht wer-
den könnten.
26
.
Les plus grandes choses n'ont besoin que d'etre dites simple-
27
Kinder sind dadurch unterhaltend, daß sie leicht zu unterhal-
ten sind.
fVladimir Ghika
Stimme.
Wer sich nach dem Frühling sehnt, darf nicht auf den Nuß-
baum schauen.
28
Degas, auf die Frage: Pourquoi est-ce qiie vous faites les
drängen.
Wer wollte heftiger der Liebe nachjagen, als der wenig fähig
ist, sie zu empfinden ; er legt in die W^elt den Mangel, der in
29
ihm ist, und beklagt immer aufs neue die mangelhafte Ge-
legenheit.
Pascal
Freundschaft und Liebschaft ist ebauche der Ehe, die erste ihrer
geistigen Seite nach, die zw^eite nach der mystischen Seite.
30
;
Ist nun die Einsamkeit ein Wert in der Welt der Individuali-
tät? An sich nicht, sondern nur noch inmitten der Menschen.
Rudolf Kassner, Zahl und Gesicht
51
Der Dichter ist nie in seiner Sache ganz. Der Fachmann
immer. Addison
Im Gesicht von Kindern ist ein Letztes, das nur das Auge des
Vaters oder der Mutter sieht.
Der Tod selbst ist für den, der nachdenkt, nichts so Ernstes wie
die Ehe. JV. S. Landor
32
:
le disais, inon coeur s'est liabitue a vivre dans une haute atrno-
sphcre oü il y a surtout de la bonte. II y a eu tout l'^te dernier
une ciieulle qui installait sa chaise en face de inon biireau en-
haut des marches de la rue Frangois Miron, eile chauffait son
pauvre sang froid et son visage et ses cheveux blancs. Uiie fois
sa petite fille est venue pres d'elle, jouer, l'amuser, l'agacer.
Oh mon ami, il fallait voir les gestes de defense de la vieille.
Wenn ein Mensch dahin ist, nimmt er ein Geheimnis mit sich
wie es ihm, gerade ihm — im geistigen Sinn zu leben möglich
gewesen sei.
wir haben ihrer zu wenig, denn durch den Schmerz gehen wir
zu Gott ein. Wir sind Tod, Staub und Asche — wie dürfen wir
klagen?«
33
GOTT hat gesagt: Dem, der Gutes tut, vergelte ich es zehnfäl-
und mehr wer Böses tut, den trifft Vergeltung, wenn ich ihm
tig ;
Gott sagte Ich war ein Schatz, den niemand kannte, und wollte
:
auf Orthodoxie.
34
hast. Im Mythischen ist jedes Din^r durch einen DopjM'lsiini,
der sein Gegensinn ist, Tod -- J.ebeii, Sc.hlaiigen-
getragen:
kampf = Liebesiunannung. Darum ist im Mythischen alles im
Gleichgewicht.
als Dichter dann die hmere Landschaft, die die Seele aus
ihrem Zustand vor der Geburt mit. in die Welt bringt, die das
Wesen und die Farbe des Traums bestimmt, des Traumes in
der weitesten Bedeutung, wie überhaupt die heimlichen und
unbe^vußten Richtwege des Geistes, die sein Khma sind, seine
Jakob Wassermann
Nicht daß einer alles wisse, kann verlangt werden, sondern daß
er, indem er um eins weiß, um alles \\'isse.
35
In der Gegenwart, die uns umgibt, ist nicht weniger FiJvtives
als in der Vergangenheit, deren Abspiegelung wir Geschichte
nennen. Indem wir das eine Fiktive durch das andere interpre-
tieren, entsteht erst etwas, das der Mühe wert ist.
Was ein Ding ist, wäre schwer zu sagen, aber man kann sagen,
daß die Menschen sich darüber einig sind und den Begriff nicht
auf das, was erfaßbar ist, beschränken.
Theodor D'dubler
36
Der Adler kann niclit vom llachoii IJodeii vvefriTiefroii ; er rniiM
mühselig auf einen Fels oder Baumstnmk liiipien: von dort
aber schwingt er sich zu den Sternen.
sein Körper, sein Volk, seine Heimat, die Sprache: sich über
alle fünf zu erheben, ist das Göttliche.
37
Magie ist Weisheit, praktisch geworden. Auch unbewußte
Weisheit kann praktisch werden. (Für gewöhnhch wird nur
das Praktischwerden des Verstandes wahrgenommen.)
An unseren Gedanken hat der "Wille weit mehr Anteil als der
Verstand.
Darum sollen ^\'ir Gott anbeten, welcher nur im Geiste, das ist
in dem innersten Grunde des Menschen, verehrt werden kann.
/. B. van Helmont
Aus welcher Ursache auch etwas aus dem Nichtsein in das Sein
übertritt, gleichviel, ein dichterisches Erschaffen findet dabei
38
uns ausbilden durch die Aluunifr, daß sio Ix'antwortot worden
konnten, durch Begegnungen, ja die Antizipation von Begeg-
nungen.
Wie viel Kräfte mag es geben, deren Existenz wir nicht einmal
ahnen, weil es keine Beziehung zwischen den Ideen gibt, die
wir durch unsere fünf Sinne erlangen, und denen, welche wir
durch andere Sinne erlangen könnten. Lessing
Die Welt will einen jeden aus ihm selbst herausreißen und wie-
der zu ihm selbst brmgen.
Gott gibt uns die Seele aber das Genie müssen wir durch Er-
;
Knabe wird ein Genie werden oder man kann nichts in der
Welt werden. Lessing
39
:
Der Geist entfaltet seine größte Kraft corps k corps mit dem
Sinnlichen.
Es muß einen Stern geben, auf dem das vor einem Jahr Ver-
gangene Gegenwart ist, auf einem das vor einem Jahrhundert
Vergangene, auf einem die Zeit der Kreuzzüge und so fort,
Man kann ein stumpfes und ein feines Gefühl von der Zeit in
sich tragen, so wie ein wirksajnes und ein unvermögendes Ge-
fühl vom Raum.
40
Man muß über das Gefühl der Gegenwart hiiiwegkoinrneii,
wie in der Musik über das Hören der Klangfarben der Instru-
mente.
Eine große Nation bringt zwar immer aufs neue Dichter und
Denker hervor, die ihr geistiges Wesen repräsentieren; aber
die meisten sind Objekte dieses Geisteslebens, nur äußerst
wenige sind Subjekte desselben.
Denke ich mich und was immer Zweites dazu — und war es die
ganz als müßte das so sein. Da sie nun außerdem ihr Eigenes
41
aber machen wir Menschen aus ihnen — oder kür-
begreifliche
zer ausgedrückt Der Mensch glaubt die Menschen zu verste-
:
Embryos haben den Umriß von Riesen, aber nicht die Kräfte.
Rudolf Pannwitz
42
Toutedebauclio parfuitocibosoui (run piirfait loisir.
luiiuhlairc
Es muß erlaubt sein, sich mit der eifrenen ^eislif^eu Person /.ii ])(•-
und von Jacob Burckhardt, so erkennt man, daß wir etwa noch
mehr als die andern Nationen die Antike als einen magischen
Spiegel behandehi, aus dem wir unsere eigene Gestalt in frem-
der, gereinigter Erscheinung zu empfangen hoffen.
43
Wir sehen von unsern eigenen Gedanken nur das nächste
Stück, wie die Kurzsichtigen von dem Feldweg vor ihren Au-
gen, nicht aber, wohin er sich am jenseitigen Abhang des Tales
fortsetzt.
Daß der Mund küßt, ißt und redet, sollte für sich allein, die
am Greifbaren haften, darauf bringen, daß wir durchaus dem
Ünbegreifhchen gegenüberstehen.
Grillparzer
immer einzig.
44
.
Andenken.
45
Aus lauter Leeren ist die Fülle der menschlichen Existenz auf-
gebaut.
Wer Geist hat, braucht sein Leben lang, sich in seine Elemente
auseinanderzulösen das Genie baut aus diesen eine neue Welt.
;
Die Ereignisse sind Wellen, die den Geist bedrohen, aber auch
tragen.
Als der heilige Antonius von Padua vor seinem Ende sah, wie
einer der Brüder ihm die letzte Ölung herbeibrachte, sagte er
lächelnd zu ihm »Damit bin ich schon innen gesalbt.«
:
Daß er sich als Materie zu Höherem fühle, ist das Letzte, was
dem Menschen bleibt, wenn er sich verwirft.
46
Die Tiefe muß man verstecken. Wo? An der Ohorlliiclie.
Die Welt läßt sicli die Niederträclitigen p^efallen, aber nur der
Außerordentliche tut ihr genug. Die dazwischen liahcii einen
schweren Stand und leicht ein böses Gewissen.
Menschen verhalten.
47
. :;
Das Lebendige fließt, aber das Fließende ist nicht die Form des
Lebens Rudolf Pannwitz
Der feste Wille ist die Absicht; bei wem der stark ist, dem ge-
lingt das Streben. Stark aber ist dessen Wille, der auf die Frage
»Wer kann wohl, wenn man vier unermeßliche Zeitfolgen
und hunderttausend Weltalter hindurch in einer Hölle gemar-
tert war, noch hoffen, ein Erwachter zu werden?! —« — »Ich!«
zu erwidern vermag.
Sarasangaho des Sidahatto. XII. Jahrh.
48
.
detsich, der den Tempel der 1311(11111^ Ihm rctcii liat, von dem im
Vorhof Verweilenden.
Mohammed
Wo der Wille nur erwacht, dort ist schon fast etwas erreicht.
zartesten Gliedern.
49
Ein Kunstwerk ist eine umständliche und ausgebreitete Hand-
lung, durch die ein Charakter erkennbar wird.
Das Schöne, auch in der Kunst, ist ohne Scham nicht denkbar.
Der Geist kann harmonisch sein und der Körper ohne Mißbil-
dung—und doch ein gewisser Geist des Körpers fehlen.
Alter Wein ist mehr als Greis und gewinnt den Duft wieder,
der auf ihm schwebte, da er weniger war als Kind ungeboren.
:
50
DIE Gegenwart oktroyiert Formen. Diesen Rannkreis zu über-
schreiten und andere Formen zu gewinnen, ist das Scliöjjfc-
rische.
Ein Gedanke, auf den man nicht leicht kommt und der doch zu
vielem den Schlüssel gibt, ist dieser: es verberge sich in jeder
Epoche aufs neue unter der Maske des besonders Kraftvollen
das sonderHch Schwache.
51
Die Menschheit gelangt zu Neuschöpfungen unsäglich schwer
und hegt darum die einmal entwickelten Formen als ein hei-
liges Erbstück. Darum knüpfte Cäsar mit gutem Bedacht an
Servius Tullius in ähnlicher Weise an, wie später Karl der
Große an ihn angeknüpft hat und Napoleon an Karl den Großen
wenigstens anzuknüpfen versuchte. Theodor Mommsen
wenn es ihr nicht mehr der Mühe wert erschiene, sich mit der
Vergcingenheit zu beschäftigen.
52
;
Das Volk übt zeitweise eine Art von Ostrazismus, wenn es ge-
53
Die Völker sprechen so verschiedene Sprachen, daß sie einan-
der weder beleidigen noch genugtun können.
den. Wie aber wird uns zumute, wenn uns für das Treiben der
Gegenwart plötzlich der Star gestochen und allmählich das
Auge sehend wird, wir die gleiche unbegreifliche Schalheit,
läppische Nichtigkeit und unsägliche Zerfahrenheit in Kraft
54
:
Deutsche tun sich viel auf die Tiefe zugute, die nur ein ande-
res Wort ist für nicht realisierte Form. Nach ihnen miiOu; uns
die Natur ohne Haut, als wandelnde Abgründe und Wirljcl
herumgehen lassen.
Die Zeiten folgen einander. Was füi die eine eine Errungen-
schaft war, ist für die andere ein schales Selbstverständliches.
Wer seine Zeit nicht erfaßt, hat vei spielt.
Das größte Bedürfnis eines Staates ist das einer mutigen Obrig-
keit. Goethe
Jedes Volk besitzt von der Welt so viel, als es sich geistig anzu-
55
;
Was den Staat betrifft, so ist die Form der Regierung von sehr
geringer Bedeutung, obwohl halbgebildete Leute anders den-
ken. Das große Ziel der Staatskunst sollte Dauer sein, indem
sie weit wertvoller ist als Freiheit. Machiavelli
Reflexion, als deren sie heute fähig wären. Hier wird der ita-
lienische Süden, immer die Heimstätte des philosophischen
Denkens, eine große Rolle zu spielen haben. Es ist kein Zufall
und nichts Geringes, daß die Denker von Thomas von Aquino
und Giordano Bruno an bis auf Giambattista Vico, Galiani und
letztlich Benedetto Croce alle aus dem Süden der Halbinsel
stammen.
56
wärtige Generation unterziehen muß.
Dem Franzosen macht die Eitelkeit die Augen klar und die
Welt deutlich und merkwürdig.
Der Deutsche hat die Eitelkeit nicht dicht an der Haut sitzen,
sondern ein Stück weiter außen, so modifiziert er durch sie die
57
scheint nur darum schwer, weil es nicht gewagt wird.
Kaunitz
Die Franzosen setzen das Gesellige, die Welt der Reflexe als
58
:
daß ihnen wie den Griechen im Geistigen die Fächer und Ab-
teilungen nichts gelten.
Die Eitelkeit der Deutschen hat sich bei der Armut des gesell-
59
der Weise aus, wie er ihn von Gebildeten glaubt gehört zu ha-
ben; er kommt unter Landsleute des Malers, er verbessert
seine Aussprache nach der ihrigen, er kommt v^ieder zurück
60
JEDES wirkliche Kunstwerk ist der GruiidriB zuiri einzigen
Tempel auf Erden.
Goethe kann als Grundlage der Bildung eine ganze Kultur er-
setzen.
Wir haben keine neuere Literatur. Wir haben Goethe und An-
sätze.
61
Werke der Kunst nicht, ebensowenig als die Natur sich mit
den Menschen gemein macht ; sie ist da und führt den Men-
schen über sich hinaus — wenn er gesammelt und bereit dazu
ist.
Goethe sagt von semen Romanen, ihr Stil sei »höfliche An-
deutung«.
Ce qu'il faut, c'est re faire le Poussin sur nature, tout est lä.
CezariTie
Ein Autor, ob er will oder nicht, kämpft immer mit der ganzen
Mitwelt. Er lernt alle Widerstände der Epoche fühlen, aber er
wird bei seinen Lebzeiten nie erfahren, ob die Gewichte, die
ihn zu erdrücken drohten, aus Eisen oder aus Papier waren.
62
; ; :
ist von der höchsten Milde, aller Schatten wird Reflex. Welcher
Künstler überhaupt das noch verstünde! GoetJie
Niemand ist von Haus aus weniger Psychologe als der Novellist.
Er betrachtet die Charaktere als das Allgemeine und die Si-
63
:
Der berühmte Autor lebt nur in einer anderen Form von Un-
gekanntheit, als der Autor, von dem niemand redet.
Stendhal
Die größte Achtung, die ein Autor für sein Publikum haben
kann, ist, daß er niemals bringt, was man erwartet, sondern
64
was er selbst, auf der jedesmaligen Stufe eigener und fremder
Bildung, für recht und nützlich hält. Goethe
Man muß der Natur darin nachstreben, daß sie keine Zwi-
schenglieder, keine Nebensachen, kein Provisorium kennt,
sondern jedes Ding als Hauptsache behandelt.
65
:
Was dem gewöhnhchen Beschauer schon Form ist, das ist dem
Kenner noch Stoff; der echte Kunstgenuß entspringt nur aus
dem hebevoll hingegebenen Vertiefen in das Kunstwerk, dem
Suchen nach seiner geistigsten Form, deren Existenz der ge-
wöhnliche Beschauer höchstens ahnt. Otto Ludwig
66
Auf der höchsten Stufe der Kunst herrscht Nacktheit, Selbst-
Die modernen Maler legen alles auf den Reiz an und der Reiz
;
Daß Goethe nicht gut Griechisch konnte und nie ein echtes
griechisches Bildwerk mit Augen gesehen hat, ist seltsam zu
denken.
Daß sie bei großem Tiefsinn die naive Seele eines Jünglings
malen, macht die Aphorismen von Novalis so bezaubernd.
Was ist Hogarth und alle Karikatur anderes als der Triumph
des Formlosen über die Form? Goethe
67
:
Daß wir ein Wort me Grazie haben, gibt uns die Möglichkeit,
Jede Dichtung, die nicht übertreibt, ist walir, und alles, was
einen dauernden tiefen Eindruck macht, ist nicht übertrieben.
Goethe
68
ist die, daß mein nicht weiß, zu wem man redet. (Früher kannte
man, wenn nicht die Individuen, doch den Kreis, die Klasse
oder Gruppe nach Bildung oder Gesinnung.)
Was gut sein soll, muß immer »gleich« sein, denn »gleich« ist
69
usf., kurz ein geschäftiges Nichts.
selligen Sphäre.
70
Wahre Sprachliebe ist nicht möghch ohne Sprachverleugnung.
treibung entgegenzuwirken.
Die Leute, die nicht schreiben, haben einen Vorzug: sie kom-
promittieren sich nicht. Goethe
Sollte ich zwei Bücher nennen, die, ohne der hohen Poesie an-
zugehören, eine wahre Unerschöpflichkeit des menschlichen
Gehaltes aufweisen, so würde ich sagen: La Bruyeres »Ca-
racteres« und Goethes Autobiographie. Ein drittes wäre der
»Samuel Johnson« von Boswell.
71
Un auteur est un homme qui trouve dans des livres tout ce qui
lui trotte par la tete. Alte Vorrede zum Gil Blas
Goethe ist oder sollte sein der geometrische Ort für den Deut-
schen zur Welt, nicht ein Standpunkt, aber ein Punkt, auf den
bezogen andere Punkte Figuren werden. Rudolf Pannwitz
72
Lebt man hoständig in einer Welt, die stumpf für die Sprache
imd durch das Wort kaum zu erschüttern ist, so gerät man
um so mehr in Gefahr, durch Ausgesprochenes die Einzehien
zu verletzen und sich durch Reden der Verkennung auszu-
setzen.
In jedem Sprach ausdruck ist ein Unnaives, das geht uns leicht
ein, geht aber auch leicht weg wie ein Nebel; und ein Naives,
an dem stoßen wir uns, aber so wie an einem lebenden Leib.
qu'ils ont l'air d'etre ecrits dans un cafe par un joueur de domi-
73
Mensch, der Engel der Geselligkeit, müßte schweigen und
blicken.
Goethe ist nicht der Quell von diesem und jenem in unserer
Wer selbst auf dem Punkte der Existenz steht, um welchen der
Dichter sich spielend dreht,dem können die Gaukeleien der
Poesie, welche aus dem Gebiet der Wahrheit ins Gebiet der
74
Liebe schwankt, nicht genufrtun, weil er es besser weiß, noch
können sie ihn ergötzen, weil er zu nah steht und es vor seinem
Auge kein Ganzes wird.
Goethe an Carl Aiigiist über Egniont
j'ai remarque que tous ceux qui s'en acquittaient le mieux, ont
ete ceux qui depuis ont acquis le plus de reputation dans leurs
emplois. Tant il est vrai qu'au fond l'esprit des affaires et le
wissen nicht, wie sehr bei den neueren Deutschen der zarte
schwebende Begriff durch plumpen Mißbrauch in Diskredit
gekommen ist.
76
Le premier m^rite d'un tableau, c'est d'etre une fete pour
l'ceiL Delacroix
Die Regel nützt nur dem, der sie entbehren kann ; den aber
verdirbt sie, der sich an ihr weise glaubt; jede Regel ist ein
Rätsel, das durch andere Rätsel forthilft. Arnim
76
:
77
;
der Flucht vor dem Ich, die komischen auf der Flucht vor der
Welt.
7S
:
Die Poesie auf ihrer höchsten Stufe zeigt auf ein Etwas hin, auf
dem alles Geschehen ruht und das geheimer ist als Kausalität
daß Hektor und Achilles nicht vorher aufeinandertreffen als zu
dem einen entscheidenden Kampf, das läßt sich nicht begrün-
den ; es läßt sich nur hinstellen.
79
abzutrennen ist, im. Wege einer formlosen, entfernten Hin-
deutung auf eine Form, vermöge welcher jener Gehalt erst
Helden wie eherne Wesen nur durch und für sich existieren.
Die Losung unserer Tage ist Kritik. Weber ist ein kritischer
Komponist. Die Musik ist die einzige Kunst, welche die Neue-
ren erfunden haben. Grillparzer
80
:
Buffon
81
TAGEBUCHBLATT
15. VII. 19
83
Den verschiedenen geistigen Epochen fehlt es immer wieder
und immer in neuer Form am Ernst. Daß das Unernste sich für
ernst nimmt, das ist das Um und Auf jeder neuen Literaten
generation.
84
-
Die Pflanze in uns ists, die mit unsäglichem Grauen und Stau-
nen das Mysterium der Orts Veränderung jedesmal durch-
macht wie einen Tod.
Das geliebte Wesen ist immer nur der Docht in der Liebes
flamme.
Das, was den großen Künstler ausmacht, ist ein großer Wille,
aber ein Wille, der gewollt wird, nicht der will.
85
AUFZEICHNUNGEN UND TAGEBÜCHER
AUS DEM NACHLASS
Mai 1890
Oratorischer naiver Geist
Byron Goethe
erhebt das Individuum erfaßt das Universum
sieht nur eine Seite (Satire) übersiehtdas Ganze (Drama)
heftig plastisch
29. XII. — Wir verstehen nur uns selbst, und an uns selbst nur
89
bels Tagebücher im Gegensatz zu Amiels Journal.)
aber man soll das Gute suchen. Poeta nascituri Dichter und
Nichtdichter scheiden ist gerade so unmöglich wie die sieben
Regenbogenfarben trennen, oder sagen Hier hört das Tier auf
:
und hier fängt die Pflanze an. Was wir »Dichter« nennen, ist
90
nien, stellt inaji gleich wie einem Abgrund gegenüber. Er
dankte mir für ein Gedicht, das ich ihm mit ein paar Blumen
geschickt hatte. Ich suclue ihm flüchtig auseinemderzusetzen,
wie sich in uns jungen Leuten allmählich die Verehrung für
seine Werke gebildet hätte, während uns sein Ncmie, wie der
des Homer, mehr als ein Symbol denn als eines Menschen
Name erschienen sei; wie sich dann allmählich aus dem Mythos
ein greifbares Wesen, eine lebendige Persönlichkeit heraus-
geschält hätte, der wir mit um so größerer Begeisterung unsere
dankbare Verehrung darzubringen bestrebt gewesen wären,
als es uns Jungen in Wien immer an einem Manne gefehlt
habe, den man mehr als achten, zu dem man hinaufblicken
könne. — »Und ist das notwendig? Ich glaube, es ist besser,
seine Individualität auszubilden« — sagte er hastig, wie ableh-
nend. Ich wollte ihn fragen, ob denn jeder sicher sei, eine In-
dividualität, des Ausbildens wert, zu besitzen, stellte ihm aber
lieber vor, daß man uns eben diese Selbsterziehung zum In-
dividuum durch eine und unphilosophische Bildung sehr
tote
erschwere und daß wir in ihm ja den Mann sähen, dem wir
die Kraft zu manchem rühmlichen Entschluß, uns selber vom
Anempfundenen zu befreien, dankten. Er fragte dann nach
verschiedenen äußeren Verhältnissen, riet mir, einen Teil mei-
ner Studienzeit in Berlin zu verbringen, und dankte mir schließ-
lich wirklich herzlich für mein Gedicht und meine freundliche
Gesinnung. Ich glaube nicht, daß wir einander verstanden
haben; meine Antworten sprachen von einem jungen Ge-
schlecht, das ihn als Führer zur Selbstbefreiung verehrt und
dem es vor allem um die innere Klarheit zu tuen ist, während
seine Fragen offenbar auf eine Vereinigung junger Künstler,
denen es nur am Schaffen Hegt, hinzuzielen schienen, die er in
uns zu sehen glaubt.
91
27. IV. — Heute im Cafehaus Hermann Bahr vorgestellt.
92
. -
93
»Der Prophet« (Eine Episode)
Der Prophet
94
:
Will mich Ihr Sinn, der selbst den Weg weiter weiß, mit den
Zügen des Heilenden schmücken: er darf es, wenn er muß,
und er muß, wenn er kann.
Ich hätte Sie gerne gestützt, Ihnen zu danken, daß Sie mir
Tiefen gezeigt haben; aber Sie stehen gern, wo Ihnen schwin-
95
delt, und lieben stolz das Grauen vor inneren Abgründen, die
nur wenige sehen können. Und auch ich kann Heben, was
mich ängstet.
96
Geschwindigkeit des Liclites: der Stern, wo man jetzt gerade
dem Gastmahl des llehogabal zusehen kann
97
Er ist auch angefüllt mit großem Wissen,
Sein Rohr ist voll von Wunder wie die Flöte,
98
Da wirft die Königstochter ihren Ball
Mit schmalen Händen, wenn es Abend wird
Dies alles ist bevor ich schlafen gehe.
99
Ibsensche Menschen sehnen sich nach KünstHchkeit, Kunstver-
klärtheit des Lebens Julian, Hedda.
:
wobei man plötzlich über die ganze Existenz staunt. Das Leben
kommt ihm einen Augenblick vor wie ein Traum, eine Fata
Morgana, eine Sinnestäuschung. Dann erkennt er diesen Phan-
tasmen, an die ihn tiefe Gefühle knüpfen, die höchste aller
100
.
Ästhetismus
Die Grundlage des Ästhetischen ist Sittlichkeit. —
Über geistige Verhältnisse in der neueren Zeit.
101
;
len aus dem blauen Himmel laue duftende Tropfen. Auf der
Landstraße unten wandert das ganze Leben vorbei Schulkin- :
102
:
Für mich das Leben ein Wunder, dessen Formen nocli ohne
Rücksicht auf Inhalt lauter Venerabilia diesem Zustand ent-
;
103
die Schale der Erde unter einem zu Kristall und . .
Victor Hugo empfing alles Vage von seinem Genie, alles Prä-
zise von Shakespeare, der Geschichte und der bildenden Kunst.
Gedicht. — Wonnen des Denkens. Sich los winden aus den Ban-
Naturzustand
Mythische Lebendigkeit, wo für uns starre Allegorien —
Metaphern lebendige Ausgeburten der musikahschen Phan-
tasie —
104
Frevel, Unnatur, Zerreißen der heiligen Nabelschnur dort
empfunden, wo für uns Selbstverständlichkeit, Naivetät —
FlEimmendiebstahl, Flamme vor Regendämonen schützen —
verschiedene Baumindividualitäten
Alles das erzählen in der allegorischen Stundengeschichte die
Möbel dem Menschen, die bauchige Glasflasche, der hoch-
beinige Tisch, aus dem Herzen der Esche geschnitten.
II . . . Magie
Die Erde durchsichtige Gruft— Bäume aufwärtsstrebende Kraft
— Wasser Sehnsucht, Drang.
Die Idee aller Dinge: Auf Wiesen; das Spiel, Verliebtheit,
Melusine, was hn Leben so eingesprengt, durcheinanderge-
sprengt, nichts unedel, aber eins dem andern Hemmung.
Boten Gottes
Die Stunde vorher Sehnsucht des Morgens die nachher An-
: ; :
105
:
Seiende Symbol.
Zustand: als wären meine Pulse geöffnet und leise ranne mein
Blut mit dem Leben hinaus und mischte sich mit dem Blut der
Wiesen, der Bäume, der Bäche.
106
Th jXEv ()ao[xaC£iv rrxoTov v.a\ asYiarov eivai (alter Philosoph)
Verwunderung der Grundakkord erwachender li,pochen
Den Gedanken scharf fassen : wir sind eins mit allem, was ist
zu leben beginnen.
Wir glauben die Seele dieses Wien zu spüren, die vielleicht in
uns zum letzten Male aufbebt; wir waren triumphierend
traurig.
29. IV. — Ich bin ein Dichter, weil ich bildlich erlebe.
107
:
Einige begreifen das Leben aus der Liebe. Andere aus dem
Nachdenken. Ich vielleicht am Traum.
108
der andern schwanger / und bringet eine die andere zum We-
sen / daß also die Ewigkeit in einer immerwährenden Magia
stehet«, Jacob Böhme (Von der Menschwerdung).
Jeder AugenbHck trächtig mit potentiellen neuen Geschöpfen.
Unser Leben gegen das der Antike gehalten die Bereitung der :
Künstler Browning
. . . This world's no blot for us,
Nor blank ; itmeans intensely and means good
,
109
Why care by what meanders we are here
I' the centre of the labyrinth?
»In a Balcony«
und ein Wind, wie im März. »Mein Frühling«, sagte ich vor
mich hin und hatte fast bis zum Weinen das Bewußtsein der
Vergänglichkeit des Lebens.
HO
einem Palast mit zyklopischen Toren wohnt.
In der Mulde oben auf dem Berg kommt die Versuchung des
Lebens über sie.
sucht und das Gefühl der unbefriedigten Gier und das plötz-
liche Erschrecken darüber, daß er sich die Geliebte gar nicht
111
schwermütiger. — Er lernt an der Grauenhaftigkeit des Daseins
alles begreifen, was ihm vom Leben seines Vaters ins Gedächt-
nis kommt.
Immer sehnen sie sich einander wiederzusehen; wie es sich
endlich erfüllt, hat der Wunsch seinen Sinn verloren : sie sind
sich der menschlichen Einsamkeit zu sehr bewußt geworden.
Es ist möghch, daß in dem Gemach des Prinzen Assad eine
wundervolle ornamentale Tapete, das Leben der Tiere des
Waldes darstellend, hängt und daß die beiden so lange ge-
dann dem Heer des Kaisers von China entgegen, vor dem das
flache Land flüchtet.
112
Göding, 30. V. — Prinzen Amgiad und Assad.
I. Der eine: für ihn sind die Wunder des Lebens so durch-
einandergewachsen, daß immer eins dem andern den Mund
verschheßt. Nicht zu bewähigen erscheint es ihm, größer als
Straße vor der Begegnung der beiden Prinzen mit ihrem Groß-
vater, dem Zauberer und Kaiser Timur: die im Leben gefan-
genen Wesen: viele Hunde, die sich balgen, Kinder; etwas
wie die gekreuzigten Löwen in der »Salammbö«, kranke Tiere
(mit ihren besonderen Krankheiten : Dummkoller etc).
(Ob nicht einer der beiden Prinzen stirbt und der andere erst
11. VI. — Der Prinz Amgiad mit der Leiche seines Bruders am
Weg zu Timur. Er muß ein größeres Pferd nehmen, um den
Leichnam zu tragen, Erlebnisse mit diesem Pferd, seine Krank-
heit. — Brüderlichkeit aller Tiere in einer großen Mulde er-
kannt. Gespenstisch sieht er in allen Tieren sich selbst. Auch
die Unterschiede von Klein und Groß werden ihm plötzlich
113
Es ist in dem Buch
der Stolz des Lebens (an der Felswand, oben die Wolken und
Sterne, unten der Mann mit den Urtieren),
die Trunkenheit des Lebens (das Bergabschreiten),
14. VII. — Die Prinzen Amgiad und Assad Ihre Religion (per-
:
Prinzen Amgiad und Assad Kerker lehrt die Zeit : (sie ist nicht
lang noch kurz sondern waTrep Oei), auch den Unwert, das all-
114
zur tiefen Wahrhaftigkeit der inneren Anschauung zu ge-
langen. Diese Frau und der Tod, als Offenbarer des Lebens.
Ihr bewußtes Ich und das traumhafte, das schauspielerische,
wissen voneinander nichts. Die Äußerungen des bewußten
sind spnuighaft, gemein, ohne Zusammenhang, lassen ein
höchst veistümmeltes Weltbild erraten. Sie vermag sich über
nichts zu wundem. Alle Eindrücke fallen und versinken
lautlos wie in tiefem Wasser. Offenbar dringen die Erfah-
rungen in das andere Ich hinüber und kommen dort zu
einem komplexen Ausdruck (ähnlich wie bei musikalischen
Virtuosen). Diese Spaltung des Ich scheint die Daseinsform
des reproduzierenden Genies zu sein. Daher die verächtliche
Bezeichnung »denkender Schauspieler«; das sind schlechte
Dilettanten, denen das Organ fehlt. Vis comica sive tragica,
eine Sache für sich wie ingenium militare oder virtutes
quae ad munera publica gerenda pertinent.
ihm die Krone ; das ist : seine schöne Stadt Arles mit den hohen
115
Mauern und Teichen und viereckigen gepflasterten Dämmen,
mit der großen römischen Arena und sehr vielen schwarzen
Stieren, und der Kirche von St.-Trophime und den Alyscamps,
und die kleinen gelben Häuser in der Nacht mit wachsbleichen
Buhlerinnen hinter kleinen Fenstern in sehr engen Gassen,
und die Gassenecken und Flußufer, an denen die Ahnungen
seiner Kindheit hängen und die lieben Krankheiten: Fieber
116
.
Schau nicht zu starr auf das bunte Gewebe des Lebens, sonst
siehst du die sich kreuzenden Fäden und nicht das Bild, son-
dern bedenk, wie diese Figuren doch zugleich mit dir erregt
werden
Einen, der den Freund verlor, tröstet ein bunter Fisch, grau-
samer als Kinder sind die Geliebten, den Ruhm verkünden
sonderbare junge Menschen in der Nacht, die, gerührt von dem
Tanz, den du den Tänzerinnen beigebracht hast, dunkelnde
Länder aufzuschließen gedenken und nicht mehr zurückzu-
117
kehren (= nur völlig verwandelt), wie eine Schauspielerin
redet die Frau, auf Spiegeln fährt das Schiff des Glückes.
im Leben.
Ein halb Jahr in einem Tierpark, ein halb Jahr in einer Klein-
kinderbe wahranstalt, ein halb Jalir bei einem Blumenzüchter.
— Reisen — dann Missio in saeculum, Wirksamkeit.
Alles dies beginnt erst, nachdem er aus dem gemeinsamen Le-
ben mit Jünglingen entlassen worden ist.
118
Göding, 25. V. — Im Garten Gethsemane. Ganz verlassen sein.
Die Welt der Worte eine Sehe in weit, in sich geschlossen, wie
die der Farben, und der Welt der Phänomene koordiniert. Da-
her keine »Unzulänghchkeit« des Ausdrucks denkbar, es han-
delt sich um ein Transponieren.
119
Blätter vom Trmmphzug gesehen und ein Wichtiges daran ge-
bessert; [im Nachmittag seksam glückhche Jagd, ganz allein;]
und dabei die Größe dieser späten Zeiten gespürt und mich
hinter so vielen sacratissimi antecessores . . . und dann taucht
auf das Bild jenes so ganz anderen Kaisers, des Kaisers der wie
ein glühender Rubin war, der Kern des Reichs, heihg und
schweigend mit priesterlichem Mantel und goldenen Hand-
schuhen, und betete, aus einer feuchten Insel bei Ravenna
betete für alle, und allen mehr sein wollte als ein Hauptmann
des Heeres oder Geschützmeister oder Wissender der Vergan-
genheit, hochmütiger und heihger.
120
Ich sehe zwei Epochen, wie durch offene Säulengänge in einen
Garten und jenseits wieder in einen ganz fremden eine Epoche :
daß ich, von allem Irdischen entbunden, ganz allein die lichte
Göding, am 14. VI. abends. — Kühl, hell und windig. Ich habe
Wein getrunken. Bin dann ein Stück auf der Straße gegen
Mutenitz sehr schnell gegangen. Plötzlich unter einer großen
Pappel stehengeblieben und hinaufgeschaut. Das Haltlose in
mir, dieser Wirbel, eine ganze durcheinanderfliegende Welt,
plötzlich wie mit straff gefangenem Anker an die Ruhe dieses
121
— Idee ein höchst seltsamer Steckling
Herzog von Reichstadt. :
16. VI. — Mutter, Tochter und das Leben (als Vorrede eine
Radierung, den gleichen Gegenstand behandelnd). — Das muß
ausgedrückt werden: wie verzaubert die Dinge werden, die
durch unser Leben gegangen sind, und wie tröstlich und lieb-
122
;
123
grün deliegenden Emotionen (?).
Geschöpfe.
Gabe, das Chaos durch Liebe zu beleben. Chaos als totes dump-
fes Hinlungern der Dinge im Halblicht.
Die Ideen sind vermöge der Realitäten für uns existent ( = für
uns geweckt, entbunden, weil in uns vde Granatapfel all in
124
eins), aber nicht in den Realitäten zu finden.
an sich tief ergreift ihn die Idee der Bewegung (Beispiel wie
; :
125
hineinzuwerfen und abwärts zu treiben. Tief streifende Schwal-
ben. Die Schatten der Laufenden auf dem Wehr. Unsere
Pferde ruhig auf der Wiese.
liegen).
23. VII. — Das Ungeheure des Lebens ist nur durch Zutätig-
keit erträglich zu machen; immer nur betrachtet, lähmt es.
126
.
die traurigen Straßen, die harten Dämme, die Tücke der Pferde
und des eigenen Körpers.
127
:
Betrachtung
Da ich so unsicher bin und die Vergleichung mit der Ver-
gangenheit gleich die Gegenwart durchsichtig macht, da ich
beim Alleinsein mich von den Strahlen der Sterne getroffen
fühle und mich im Dunklen von Muscheln verliere, und unter
vielen fürchte verschlungen zu werden, weil es einen nach
dem andern gelüstet, da ein Wort mich verdüstert wie Rauch
aus Zauberkräutern, meine Gedichte aber unheimlicher sind
als der Wald, offener als ein Schiff, so denk ich Dein und
Deiner.
128
Märchen Die junge Frau und
: die Bauinnymphe
Junge Frau wartet auf ihren Liebsten. Geht ihm entgegen.
Septemberabend mit Mond. Im Wald fürchtet sie sich nicht,
so voll Liebe ist ihr Herz. Klaubt Katzengold auf für ihr Schlaf-
zimmer, vor einem Hund oder einer Lampe würde sie sich
braunes Haar um sich wie ein Zelt. Die junge Frau möchte sie
sich. Im Augenblick ruft die Nixe das hab ich auch!, und wie
:
Hölderlin
Die frühen Gedichte: riesige Jünglinge umgeben ihn: der
Sonnengott, der Fluß, der Gott der Jugend, der Genius der
Kühnheit, Jünglinge, denen Sehnsucht und Bescheidenheit
nicht unbekannt ist, und doch mit so gewaltigen Händen wie
der Wind.
129
Geschöpf der Flamme
Alle sind Ausgeburten der Flamme.
Der Schmetterling: in mir wird die Intensität des kurzen
Lebens und der Gebrechlichkeit zur Farbe.
Schatten ist gleich wie Tod, mein Leben zittert im Licht, Hin-
zucken; ich bin dem Tod so nah, daß dies mich stolz, grausam
und dämonisch macht.
Ungerührt flattere ich von den Lippen der Helena auf die
Wunde des Adonis. Ich liebe im Tod die Flamme über alles.
130
20. VI. 1904
Shelley. — Im Val d'Arno ist der Wasserfall, in dem Shelley
nackt badete, dann wieder herausstieg, Herodot lesen, und wie-
der ins Wasser sprang. — Kurz vor seinem Tod häuften sich bei
Shelley die Gesichte und Erscheinungen. Eines Abends kam
eine Gestalt, in schwarzem Mantel, einen Schleier übers Ge-
sicht, und winkte ihm mit unbeschreiblicher Gewalt, zu folgen.
Dann enthüllte sie sich es war seine eigene Gestalt. Das Ge-
:
17. VII. — »Elektra«. — Der erste Einfall kam mir anfangs Sep-
tember 1901. Ich las damals, um für die »Pompilia« gewisses
zu lernen, den »Richard III.« und die »Elektra« von Sophokles.
Sogleich verwandelte sich die Gestalt dieser Elektra in eine
andere. Auch das sogleich da: daß sie nicht mehr
Ende stand
weiterleben kann, daß,wenn der Streich gefallen ist, ihr Leben
und ihr Eingeweide ihr entstürzen muß, wie der Drohne,
wenn sie die Königin befruchtet hat, mit dem befruchtenden
Stachel zugleich Eingeweide und Leben entstürzen. Die Ver-
wandtschaft und der Gegensatz zu Hamlet waren mir auffal-
lend. Als Stil schwebte mir vor, etwas GegensätzHches zur
»Iphigenie« zu machen, etwas worauf das Wort nicht passe:
»dieses gräcisierende Produkt erschien mir beim erneuten
Lesen verteufelt human« (Goethe an Schiller).
Ich dachte für die »Elektra« an die Sandrock. Anfang Mai 1903
sali ich die Eysoldt im »Nachtasyl« und dann bei einem Früh-
stück. Ich versprach gleich bei diesem Frühstück Reinhardt,
ihm eine »Elektra« für sein Theater und für die Eysoldt zu
131
machen. — In Cortina (Juni) und Grundlsee (Anfang Juli) ver-
132
Novelle enthalten einen nächtlichen Brand in Venedig, ge-
sehen aus dem Haus der Kurtisane Aquilina.
26. VII. — Im August 1902 (während ich an dem Brief des Lord
Chandos schrieb) kam der Stoff mit großer Lebhaftigkeit wie-
der und ich schrieb ein ziemlich genaues Szenarium nieder. —
Ende September 1902 ging ich nach Rom; ich wollte dort
»Das Leben ein Traum« machen. Statt dessen geriet ich, am
15. Tag meines Aufenthaltes, in diesen anderen Stoff, schrieb
den I. Aufzug in etwa 12 Tagen auf der Terrasse des Plotel
133
und Höhle erhabene Stämme,
: dichte Finsternis bildend, drau-
ßen, unten, die Welt.
Die Gruppe der Amphiktyonen, die Jungfrau zur Qual der
Weissagung zwingend, Klage erhebend über den Frevler.
»Pentheus«. Das ganze Szenarium dazu gefunden. In zwei
Aufzügen. Die Handlung hat mit den »Bacchen« des Euripides
nun fast nichts mehr zu tuen. — »Das Leben ein Traum«. Die
entscheidende Wendung gefunden. Zu den »Abenteuern des
Gomez Arias« einiges notiert. Ferner entworfen eine Anzahl
»Briefe des kaiserlichen Verwandten Gallienus«.
134
Rodann, 30. IX. — Zwei Vorfälle ans dem »Seelen«kreise, der
nm den Dichter Peter Altenberg gruppiert ist.
Anfang 1904 ging es A. psychisch und pekuniär sehr schlecht.
Es wurde in einem Haus des Kreises eine Versammlung der
Freunde einberufen, um zu beraten, wie ihm zu helfen wäre.
A. selbst, in einem Fauteuil, etwas abseits der anderen, aber im
gleichen Zimmer, wohnt der Beratung bei. Er verdeckt das Ge-
sicht mit der Hand .»Ich bin ein Bettler und ein Sterbender«,
murmelt er vor sich hin, »was wollt ihr von mir? Laßt mich
ruhig sterben. « Verschiedene erheben sich und bringen Anträge
vor, wie für seine Gesundheit und sein Auskommen zu sorgen
wäre. Er winkt ab, dann wieder, zitternd im Fieber, scheint er
gar nichts zu achten. Da steht die hübscheste Frau des Kreises
auf: die junge zarte Frau X. »Ich liebe A. mehr als ihr alle«,
sagt sie, »ich liebe seine Seele und die Gebärden seiner Seele.
hören. Er zwingt sie, ihrem Mann alles zu sagen und von die-
sem die Freiheit zu fordern. Ihr gefällt die »Szene« die sich dar-
135
aus machen läßt, sie gesteht dem Mann alles ein, verlangt, er
und später einmal vielleicht der dritte oder vierte Liebhaber der
Frau werden.« — Darauf geht der Bursch nach Hause und er-
schießt sich.
11. X. — Was war der Tod des Antinous? Gab er sich dem Ge-
liebten zum Opfer, um einer aufs höchste getriebenen Schau-
spielerei durch den Tod Wahrheit zu erzwingen? Glaubte er,
136
I
.
ner Teekanne auf dem Gesims des alten bemalten Ofens ; die
Stiche an den Wänden die Reihen; der Bücher nebeneinander
in ihren verschiedenen Einbänden; ich kann mir manchmal
wünschen, sie zu vermehren, ein Zimmer einzurichten mit
Empiremöbeln, viel Porzellan und guten Stichen, oder die in
der Familie verstreuten alten Bilder zurückzukaufen, und vieles
dergleichen in meiner Hand zu vereinigen : aber . .
tert über Berge, fährt auf Fähren durch Seen, alles rinnt ab. —
Hier in dieser Landschaft, die aussieht, als hat ein allmächtiger
137
.
Wir vermöchten wohl aus uns selbst den reinsten Inhalt unse-
rer Zeit hervorzubringen, denn der scheinbare Inhalt einer
Zeit ist nur eine Fratze, ein verzogenes Bild — so die romanti-
sche und die Philisterzeit 1810-30 — während Goethes , Geist
rein und groß atmet.
Zuerst erlebt man alles naiv, man trägt den Priestermantel als
Über Farbe: davon, daß die Richtigkeit der Valeurs alles ist,
und dies ein Welt-Ganzes, genau wie das in Worten Festzu-
legende. Bleistiftstriche so wie Worte Hineinschneiden in den
:
138
Das Schöne an Deutschland: daß hier noch Wege von Allem
zu Allem führen. Man kann nie wissen, von welchem Punkt
aus die Welt aus den Angeln gehoben werden wird: Ineinander-
gehen von Ästhetik und Moral, Neurologie (die wieder als See-
lenzustand von Kant deszendiert), Stil und Lebensführung.
nur das, er meint also das und das; — falsch das Definitive;
— falsch alle bilhgen Antithesen wie »Kunst« und »Leben«,
Ästhet und Gegenteil von Ästhet. Richtig, die Kunstwerke als
IL 1905. — Bahr erzählt aus einem Gespräch mit der Düse. Sie
haßt Wagner aus dem Briefwechsel mit Mathilde Wesendonck.
»Da nennt er sich Tristan und sie Isolde. Aber Tristan ist ge-
storben, gestorben und Wagner hat weitergelebt und aus dem
139
. «
Tristan eine Oper gemacht und die Oper aufführen lassen, und
ist dagesessen und hat sich ins Notizbuch geschrieben: Tan-
tieme für Tristan 300 Thaler und wieder 300 Thaler« . .
140
.
es muß noch ein ganz klein bißchen Zimt hinein ... so bei der
23. IX. 05. — Reichtum. — Einen Park haben mit vielfach ver-
zweigten Teichen, Wasserstraßen ganz überwölbt von Bäumen,
und schwarzen Schwänen,
Inseln, so dicht bevölkert mit weißen
und Pelikanen wie die graugrünen Wässer
rosigen Flamingos
wimmeln von alten dunklen und schimmernden Fischen.
(ähnlich der Park von Rothschild in Ferrieres)
Die Bibliothek eines Dichters müßte z.B. ein Buch über Gei-
genbau und eines über Geigenspiel enthalten, damit er die
Gruppe von Ausdrücken, die das Bilden des Tones und die
darin enthaltenen Reichtümer und Verschiedenheiten offen-
141
. :
142
. «
Agaue, die Mutter des Pentheus. Stets litt ihre Seele darunter,
daß das Opfertier (das Pferd, das sie alle Jahre auf dem Grab
ihres Mannes opferte) gezwiuigen stirbt: sie lechzt nach dein
Opfer, dessen Darbringung zugleich eine Huldigung für das
bezeichnete Opfer wäre, worin dieses den Tod hinnähme aus
der Hand des Hierophanten wie einen Triumph
Die erste Szene zwischen Pentheus, seiner Mutter und ihren
Frauen spielt in der schwersten Stunde des Mittags.
»Figuren«, die wir schaffen, sind wie Taucher, die wir in den
Meeresabgrund hinablassen, sind magische Figuren, die uns
die Kreise der Geisterwelt aufschließen.
143
.
Der Leser: Ich gebe mich hini wie er mich mitreißt, Tambur-
laine,wie er auf den gekrümmten Bajazet steigt, sich in den
Thron wirft von dem Nacken des Getretenen aus, wie er einen
Akt Purpur trägt, dann Schwarz, wie er seine beiden Könige
peitscht . . . Ich werde Peele, ich werde — nein, ich
sie alle lesen,
Affinität. —
I. Ich sehe den vor mir, der ein unübertreffhcher Leser für ge-
wisse Bücher war, ein Virtuos des Lesens, wie A. ein Virtuos
auf der Flöte ist und N. auf Oboe d'amour.
IL Wenn ich nicht irre, kannte ich einmal den Leser aus Lei-
denschaft. Er wohnte schlecht, aber Stöße von Büchern lagen
um ihn, und sie gehörten ihm. Er berechnete, was er beim An-
tiquar für das ersparte ärztliche Honorar kaufen könnte.
Der Leser Er hat unglaubliche Träume, ganz unrealisierbare,
:
144
25. VII. — L'ame de riiuinaiiite cree la legende — das gilt von
der Gegenwart wie von abgelebten Zeiten.
Je weniger gesellig ein Volk noch ist, desto mehr wird es sich
145
steht, verheimlicht er durchaus jene andere wahre Beziehung,
er gerät mit einem geistig merkwürdigen, unglückhch ange-
legten Mädchen in eine Art Brautschaft, an deren Bestand aber
diese selbst wieder im Innersten zu glauben nicht die Kraft
146
Dorfes: zu ihm kommen, wenn die Zeit z\im Schnitt ist, über
hundert junge Mädel und Bursche, das Korn schneiden, wo-
für er den Zigeuner mit einem Stück Leuid ablohnt, indes der
Zigeuner von der Dorfjugend mit diesem Arbeitstag für das
sonntägliche Aufspielen zum Tanz entschädigt wird.
Hier muß sie erleben, daß das Kind ihr im Kloster erkrankt
und nach wenig Tagen stirbt. Der Mann macht dem Kind eine
Leichenfeier »wie einer Gräfin«.
147
:
Der Bauer pflügt mit zwei Kühen ein stemiges steiles unergie-
biges Feld. Damit die Kühe einen geraden Strich gehn, läuft
links und rechts je eine erbärmliche Weibsgestalt mit einem
Stecken : auf der einen Seite die alte Mutter des Bauern, mit
wilden Strähnen weißen Haares, dürren braunen Armen; auf
der anderen Seite, halbnackt, mit nackten Oberschenkeln, be-
hängt mit Lumpen, immerfort schwätzend und lachend, rast-
los vom Schweif der Kuh zum Kopf und wieder zurück sprin-
gend, eine schwachsinnige Halbschwester. Der Bauer flucht,
sooft ihm der Pflug einen Stein aufreißt, und wirft Steine nach
den zwei Weibern. Diese drei Geschöpfe bewohnen allein den
Hof.
148
Herbst von irgendwo hereinzubrechen schien, gingen wunder-
bar ineinander über. Zuerst setzte sich das Gefühl: es wird
Herbst, in die großartigste Situation um. Es war in ahaischer
fen. Ich bin nahe, wo farbige Ivnechte das Hauptgezelt des Pa-
triarchen abbrechen: die Zeltgurten aus Leder sind das kunst-
reichste schönste Geflecht, das mir je vor Augen gekommen.
Dann ist ein Hinabsteigen vorbei, doch bin ich allein herab-
gestiegen und befinde mich unterhalb des gewaltigen Gebirges
in der wunderbarsten Umgebung. Es ist der Markusplatz, doch
in einen hohen sonnigen Buchenwald umgewandelt; die Ge-
bäude sind zertrümmert, aber ihr Ruin ist strahlend und fröh-
lich; zwischen den Buchen stehen Brunnen, Trümmer von
Säulen; die Trümmer der Markuskirche sind hinter mir, wer-
fen aber goldene und blaue Lichter durch das Ganze, und das
Ganze gehört mir.
(Dieses Halbtraumes halbwillkürliche Fortsetzung: Ich bin in
Venedig in einem Hotel und mir zugleich der Nachbarschaft
dieses Buchenwaldes, dieser fröhlichen Trümmerstätte bewußt.
Da rauscht es wie Wipfel und Wellen zugleich und endlich
bringen tausende murmelnde Wellen in der Morgensonne aus
sich das unzerstörte steinerne schimmernde Venedig hervor
und ich weiß : sie haben es wieder zusammengefügt.)
11. IX., Lueg. — Das Folgende ging mir heute früh durch den
Kopf und ist vielleicht dem Prolog zum »Abenteurer« = ( »Er-
innerung schöner Tage«) einzufügen:
Es ist doch unberechenbar viel, einer südlischeren sinnlicheren
Welt anzugehören als die eigentlichen Deutschen. Emen Kuß,
der einen weiblichen Leib von obenher wie eine Rute biegt, ja
fast umwirft, nicht als etwas tief Fremdes, fast Unheimliches
zu empfinden.
149
Rodaun, 24. IX. — Ich arbeite an dem Vortrag »Der Dichter
und diese Zeit«. In den »Briefen zur ästhetischen Erziehung
des Menschengeschlechtes« finde ich die Überschrift dazu »Ich :
L X. — Das Gehen von Kindern. Die Art, wie sie ein Zimmer
betreten. Es Hegt die Erwartung unbegrenzter Möglichkeiten
darin.
150
»The whole man miist move at once« — schön und wahr. Gäbe
es nicht für bedeutende produktive Menschen noch eine ge-
heimnisvollere gleichwahre Möglichkeit: Getrennt marschie-
ren und vereinigt schlagen?
151
:
152
sehen Platz hatten, die sich mindestens mit der Phantasie in zahl-
lose Existenzen mischte. Meine Mutter konnte an Leuten, die
sie nur dem Namen nach und aus Erzählungen kannte, einen
unglaublichen Anteil nehmen: fremde Schicksale kormtcn bei
ihrer geheimnisvoll erregbaren Natur die scliönste Lebhaftig-
keit in ihr entfesseln und die schwersten Verdüsterungen ver-
ursachen. Wie mein Vater aus seinem Amt die Verhältnisse von
zahllosen Menschen, Gutsherren, Finanzleuten, Agenten, Geld-
juden, Beamten, Politikern in sich herumträgt und soviel Wider-
sprechendes ebenso scharf auffaßt als mit Humor sich gefallen
10. X. 06
Ich will auf diesen Blättern aufschreiben die Menschen und
ihre Schicksale, die Vollkommenheiten, die Erfüllungen, die
Ausgleichungen. Menschen, die vom hohen Dichter als voll-
153
« :
Hier ist sie, sie steht beim Kanzler Müller 25. XI. 1823 : »Einst
befragt, warum seine Messen so fröhlich und fast lustig? ant-
wortete Haydn: weil, wenn ich den lieben Gott denke, ich im-
mer so unbeschreiblich froh werde. — Als ich dies Goethen er-
154
vor Gladiolen rot ins Blänlichc, eine fast blau, eine stark ge-
schwungene, sich über den Rand lehnend, rosa, fast weiß. Zwi-
schen ihnen sind zarte rispige Montbretien, feuerfarb. Links
hängt aus dem Gefäß (das selbst die Farben herbstlicher Blät-
ter hat und braune Schnecken als Henkel) ein tiefgrüner Efeu-
zweig, rechts eine gelbrote Ranke von wildem Wein, im Her-
zen des Buketts ist das einzige Weiß, eine üppige Traube von
Tuberosen. — Wie weit ist dieses üppige, gegens Elfenbein
Wie wenig weiß ich vom Leben des Tiers Wo sind überall die !
alten Bäume hin? die Buchen, die Tannen, die Fichten, alles
ist sechzig] ährig, höchstens achtzigjährig. Wo sind die alten
Bäume? Alles zu Brennholz und Bauholz verbraucht für die
einzelnen Höfe, die spärlichen Dörfer, die paar Städte? Es muß
doch so sein.
Wie wir aus der Natur nehmen wie Robinson aus dem ange-
:
155
treiben wirs ungeheuerlich, impfen die Todeskranldieiten auf
Tiere zu Tausenden; das Hermelin, der Zobel, der Reiher sind
fast ausgemordet, das Indische Meer hat fast keine Perlen mehr.
20. Nov. — Über die wahre Kunst des Lesens: ihre wcihre
Grundlage wäre Charakterologie. Sie setzt Reife voraus.
Die Ruth Saint-Denis ist die sensibelste Person, die ich kenne,
und dies unter der Kontrolle des klarsten Verstandes. Der An-
blick von Prag war ihr unerträglich durch den finsteren katho-
lischen Geist, der daraus spricht, und sie fuhr in vierzehn Tagen
156
nur einmal für eine Stunde aus. — Gestern, im Park von Scliön-
brunn, wollte sie auf die öden, gefän<:jinshaften groli(!ii Vor-
stadthäuser, die man in der Perne sieht, keinen Augenblick
hinsehen. — Ihre vollständige Ablehnung Swinburnes, weil in
seiner Poesie, wie sie sagt, der Fluß des Daseins unterbrochen
ist, den zu fühlen ihre ganze Seligkeit ist. — Ihre Erklärung,
warum sie trotzdem die erstarrten Dinge liebt: Edelsteine,
157
:
— ich nicht; also schändet der Hund mein Leben, wofern ich es
nicht seinem Tod identisch mache. So wird sie gezwungen, ilire
158
:
schwanger ist, wird ihm ein Kind gebären, — das scheint ihm
die Rettung, der Ausweg. Da läßt sie sich von einem zwei-
felhaften Arzt das Kind abtreiben. Auch dieser Samen ver-
geudet.
Ich gestalte mir das Szenarium eines ähnlichen Stückes (es ist
ist darauf gestellt, daß sie von dem, der sie umarmt, verlangen
muß, daß er mehr als ein Mensch ist, und ihm nie verzeihen
kann, daß er nur ein Mensch ist. Es hätte sie ein Gott, ein All-
umfasser, umarmen müssen (Motiv der Alkmene, doch scheint
mir Kleist es nicht klar gefaßt zu haben). — Szene nachts z%vi-
schen ihr und der Erscheinung des Ninus, ihres ersten Mannes
der Tote erscheint ihr gegenüber, der Unersättlichen, Gieri-
gen, als der Besitzende.
159
der zweideutige Arzt eine große Rolle. Es ist ein Arzt, der es
zu nichts gebracht hat, weil er alles mit zweideutigem Blick
ansieht. Man könnte sagen, er haßt die Menschen. Er ist es,
schaftlicher Art. Das Wort vom Kampf ums Dasein kann einem
jungen Menschen, m dessen Seele es fällt, den Blick, mit dem
er das Tierreich gewahren soll, von innen heraus beirren und
vergiften. Wie anders wirken geheime Gesetze, jenes große
Gesetz durchkreuzend, auf die Seele em, wie sie indem wun-
dervollen Gespräch sich offenbaren, das Goethe mit Eckermann
über die Vögel führt und worin Eckermann seine Beobachtun-
gen entwickelt über das Brüten untergeschobener Jungen, ja
das Füttern von fremden Jungen durch solche Ältere, die sie
nicht gebrütet haben. — (Dies, da es sich um die Gefährlich-
keit von Schlagworten handelt, anschließend an den Dialog
über Sentenzen, Maximen etc.)
St. Moritz, August 1908. - Gladys D. Sie ist jetzt etwa 25. Ist
160
ich je gesehen habe. Ihre Augen wie blaues Feuer. Ilire Kühn-
heit, gelegenthch auch Frechheit im Sprechen, ist womöglich
noch gewachsen. Sie hat immer unter fünfund/Avanzig Men-
schen die alleinige Führung des Gesprächs schmeichelt, insul-
;
Anekdote : Einer steigt einen Berg hinauf, freut sich auf die
Aussicht vom Gipfel. Bei der letzten Wendung des Weges sieht
er, daß die kleine Felsklippe, die den Gipfel bildet, ganz von
Menschen besetzt ist: alte und junge Männer, Frauen, Halb-
erwachsene. Er sieht die ganze Gesellschaft mit lebhaften Ge-
bärden sich gegenseitig das Panorama zeigen, die Namen der
Berge nennen und im Genuß der Gegend schwelgen. Vor Ekel
vor dem trivialen Geschwätz, das er wird hören müssen, ist er
nahe daran, umzukehren. Immerhin klettert er hinauf, mischt
sich unter sie: es bleibt bei der gleichen Lebhaftigkeit alles
161
: . ;
162
Mai 191 1. — Napoleon auf dein Krankenbett: »Zu denken, daß
es mich jetzt mehr Anspannung meiner Willenskraft kostet,
meine Augenlider aufzubringen, als damals, eine Schlacht zu
schlagen.«
1 7. VI. 11. — Die Erinnerung an die Düse fixiert sich mehr und
mehr: es ist die an die tragische Tänzerin. Der Blick auf die
Türklinke, die Lövborgs Hand berührt hat, als er für immer
fortging; das Abwerfen des vom Gesicht als Frau
Schleiers
vom Meer; in der »Kameliendame« bei dem »Lo giuro« das
Fuiden der Mitte.
27. VI. — Ein Mann starb jetzt, der vor sechs Jahren vom Blitz
165
.
zu ihm, fragt ihn: »Was liest du?« Der Mann sieht auf, fragt
zurück: »Warum du mich?« Der Offizier fragt: »Wie
störst
164
:
Homer
Die Figur des Odysseus. Hier ist aus der Analyse dieser Figur
der Begriff des Heros abzuleiten, der sich von der viel greif-
bareren, Dürerischen Kontur des germanischen Helden sehr
unterscheidet. Er ist keineswegs ein shakespearischer Charak-
ter ; er ist weder durch sozialen Rang noch durch das Ambiente
seiner Person, noch durch das Alter eines reifen Mannes irgend
bedingt. Er taugt für die Arbeit eines Ruderknechtes und Jä-
gers ebenso wie in die Situation eines gefangenen Sklaven,
eines Liebhabers, eines bescheidenen Gastes, eines Händlers,
eines Lügners... (Ankunft in Ithaka: Szene mit der als Hirt
verkleideten Athene) — Was ihm dennoch den Schwerpunkt
gibt, ihn zusammenhält, ist keineswegs Würde im mittelalter-
lichen Sinn, sondern ein viel Dämonischeres, eine Materie den
Göttern verwandt, — so sind die Korai aus dem Perserschutt der
Akropolis den Göttinnen wesensverwandt.
Die Welt die Erwähnung Athens in Gesang VII (Athene
: fliegt
165
Sterben Ernst ist, wird wütend, schießt noch zweimal auf sie,
bearbeitet sie mitdem Säbel, daß sie sich blutend vor ihm ins
Dickicht rettet. Nun knüpft er den Hosenträger wieder zusam-
men und hängt sich abermals auf. Sie hat sich indessen bis zu
einem Bauernhaus geschleppt, bringt Leute auf die Beine, führt
sie zu jener Stelle im Wald zurück, findet den Alann schon blau,
aber noch lebend, schneidet ihn ^\'ieder ab und bringt ihn mit
Hilfe der Leute zum Leben zurück. Was für Menschen!
Aussee, den 13. Juli 1912. — Im Wald, unterm Lesen von Bet-
tinens Briefen: Silvia. Sie kennt das Schlechte an den Men-
schen recht wohl, läßt es aber so hingehen und gibt sich mit den
Leuten ab. Dies Verhalten von ihr, wie Rudolf es gewahr wird,
macht ihn irre an ihr.
166
;
meldet ihm etwas, das ihn verdrießt, inzwischen hat man die
dritte Feder herbeigebracht. »Ei was!« ruft der König, inzwi-
schen zornig geworden, »der verdammte Jude soll sich schrei-
ben, wie ihn's die Vorschrift heißt!« und wirft das Gesuch
zu den übrigen. — Ähnlich die Mutter Anton Reisers, die den
Knaben, als der Vater ihn ungerecht schlägt, diesem mit Gewalt
unter zornigem Weinen und Streiten entreißen will, aber weil
dies nicht gelingt, dann gleichfalls auf das Kind losschlägt.
die Quittung über 500 Rubel, die dein Mann dir aus Amerika
schickt. Du wirst sie unterschreiben.« Sie ahnt Böses, will zu-
erst das Geld sehen, sieht an seinem Blick, wie ers meint,
fürchtet sich, weint, gibt die Unterschrift. »Wegen deiner
Sanftmütigkeit«, sagt er jetzt, »habe ich zwar Mitleid mit dir,
167
die Schlinge mit den Händen, beugt sich dabei weit vor, die
Hände sind in der Schlinge gefangen, der Stuhl kippt um, der
Strick hat sich unlösHch zusammengezogen, reißt ihm die Ar-
me nach oben, er hängt in ohnmächtiger Wut, wird besin-
nungslos, bleibt die ganze Nacht so, die gefesselte Frau drei
Schritte von ihm, — bis am nächsten Morgen Leute beide finden.
1912. -Gedanke:
das allmähliche Eingeschränktwerden. Wunsch und Glaube,
die ganze Welt zu sehen, auf nichts zu verzichten, allmählich
nur die schon geliebten Landschaften wiederzusehen — bang,
als gelte es Lichter zu behüten, immer wieder anzuzünden. So
mit den Menschen die Freunde erhalten
: : mit den Freunden
das geheimnisvolle Wesen, das von je zwei Menschen ausgeht,
am Leben erhalten.
1. II. 15. — Fürstin Y. Sah sie einmal in einer Soiree bei T.,
wollte sie immer besuchen, versäumte es immer; sie war viel
krank, nun ist sie völlig verändert, ist böse geworden, schlägt
ihre Leute, will die Kinder nicht sehen. Sie liebt, seit Jahren,
ihren Arzt, einen gewöhnlichen Menschen, der mit einer X.
(Schwester der Fürstin S.) verheiratet ist, hielt diese Liebe ge-
heim, auch vor ihm. Ihr Aufleuchten, wenn von ihm die Rede
war, ihr Fragen, ob man ihn gesehen, — ob mit seiner Frau, —
ob er glückhch ausgesehen habe usf., verriet sie für emige
168
wenige Menschen. — Sie hatte den schönsten Gang, den zar-
7. III. 13. — Ein Tauber, der nur hört, wenn ein Diener, den
er zu diesem Zweck mit sich führt, die große Trommel schlägt.
169
Zeitaltern an und muß imnier von einem zum andern fliegen,
über ein Meer oder einen Meeresarm. Hier sind in der Luft
Netze gespannt. Ich fliege, gerate in Gewölk, die Namen:
Antonius! Lepidus! blitzen mir entgegen (wie Feldgeschrei),
— da bin ich schon gegen das Netz geprallt, stürze tief hin-
170
nett, mittelgroß, hat ein ovales, ernstes, aber durchaus nicht
leidendes Gesiebt, eine unvergeßliche Haltung der Schultern,
wunderschöne Hände. Der Schreiber und der andere Beamte
treten in ein Fenster, kehren uns absichtlich den Rücken. Ein
Blick genügt, um einander zu sagen, wie es steht. Sie tut einen
halben Schritt, wie um in meine Arme zu fallen, — blitzschnell
sagen wir uns beide und verstehen es ohne ein Wort, daß wir
uns jetzt nicht umarmen dürfen, ohne völlig und unrettbar
die Fassung zu verlieren ein Augenblick, in
; dem sich unsere
Blicke verschränken, enthält wirklich und wahrhaftig den In-
halt von Jahren, dann winkt sie dem Schreiber und geht ihm
voran den Korridor zurück. Ich fühle, daß ich ihr nicht nach-
sehen kann, drehe mich gegen das Fenster, durch das die grelle
Sonne hereinscheint.
befand sich ein Betschemel. Über dem einen war zu lesen »Der
Tugend«, über dem anderen »Der Verirrung«, — es war also
jedem nach Pflicht und Gewissen seine Stelle angezeigt.
171
Seit Kriegsbeginn (26. Juli) habe ich, soviel ich mich erinnern
kann, noch nicht geträumt.
Die Säule. — Ein Sandkorn — und Glaube, und die Welt der
Griechen ist da. Gerade aus dem Sandkorn ist sie aufzurich-
ten, — nicht aus einem Klumpen Lehm. Das Sandkorn und die
Luft, ein Sandkorn zu einem Sandkorn: das sind Burgen,
Akropoleis, — unten Sklaven, getürmt alles durch Saitenklang,
Maß, alles Einschließen, wahre Synthese— wunderbares Be-
harren in der Welt — trotz allem Möglichen was die Welt noch
172
Ad Aufsatz »Ihre Gräber«: Kraft ist Glaube. Das alhniihliche
Hervortreten des Glaubens im Individuum, unbewußter Glau-
be. — Die Gräber ihre letzten Häuser. — An den Grä})ern
stehend: die Stärkung des Geistigen in der Welt.
Über geistige Bildung und ihr Verhältnis zur Seele daß neue :
Zum Festspiel: Wer glaubt, dem wird die Welt anders: das
Wasser trägt wie eine Brücke, das Feste wird durchsichtig, die
stummen Tiere sprechen, die Einsamkeit ist voll Stimmen. —
173
dringen kann, und auf ein gegebenes Zeichen alle, Vater, Mut-
ter, Söhne, Töchter, Schwestern, Vettern, Onkel und Tanten,
einander die gröbsten und gemeinsten Schimpfworte zurufen,
die ihre Erfindungskraft nur aufzubringen vermag. Keins ver-
mag natürlich zu verstehen, was das andere sagt. Man schreit
Ipsa quidem, sed non eadem, quia et ipsa nee ipsa est
174
Balzacs »Cousin l'oiis«. l.)r(Mni<;jiihrigcr Krio^. Schröders Ge-
dichte.
sich für den Begünstigten halten muß. Alle Szenen der beiden
ist dieses Stück, von dem ich gelesen
Lakaien. Ich glaube, es
Hugo daran die wunderbar farbige Diktion
habe, daß Victor
und den Schwung der Alexandriner hervorhebt. Wirklich ist
der Vers, bei derselben Prägnanz und Schlagkraft, vielleicht in
keinem späteren Stück so farbig und funkelnd in den Wendun-
gen. Es ist diese unsägliche Verve, die jedem, auch den halb-
improvisierten Stücken von Moliere einen so unerreichbaren
Rang gibt, dieselbe Qualität, die mich vor zwei Monaten in
Berlin an den »Fächeux« so begeisterte. Sich unterhalten, von
Szene zu Szene, nur so kann ein Lustspiel entstehen.
175
erstenmal. Nach dem Moliere ist er von einer unleidlichen
Trockenheit und, im Detail, Gewöhnlichkeit; nicht nur die
Szene, das morceau, sondern vor allem die einzelne Replik,
der einzelne Vers stehen so unvergleichlich hinter demMoliere
zurück. Es scheint mir auch sehr fraglich, ob der Spieler als
176
besser benutzt liat. (Er hat sie zwar sichtlich benutzt, aber
177
Takt ist die Schluß wendung gebracht, con disinvoltura (wie
Juli 16. — Ich bin allein und beginne Verschiedenes auf eigene
Hand, das eigentlich durch Übereinstimmung aller in einer
1916. — Ein alter Schurke, w^enn man ihm ins Gesicht un-
178
mäßig schmeichelt, sclilagt die Augen nieder imd sieht dann
aus wie ein junges Madchen.
Aussee, Ende Juli 16. — Stellt man sich die gleiche Szene wech-
selweise in dramatischer und in erzählender Form behandelt
vor, so ergeben sich die merkwürdigsten Unterschiede hin-
sichtlich dessen, was im Betragen der Figuren in der einen
Form möglich, ja reizvoll, in der anderen Form ganz und gar
unmöglich ist. In der Erzählung können sich reizende Inkonse-
quenzen finden, die im Dramatischen unmöglich sind und die
Form glattweg aufheben würden. (Das gleiche Verhältnis sehr
schlagend zwischen der Komödie und dem komischen Roman.)
179
lung aufzufassen, ein Ermutigen, Besänftigen, Aufdecken, Zu-
decken, Hinweisen, Abweisen, Verbinden, Auseinanderhalten
wessen? — Der menschlichen Willenskräfte durch das Medium
des Geistes. (Unter Willenskräften die aktuellen sowie die po-
tentiellen verstanden.)
VIII. 1916. — Der »Don Juan« nimmt für mich unter den
Moliereschen Komödien eine Stelle ganz für sich ein. Er scheint
mir mit einer besonderen, dunkleren Farbenskala gemalt als
alle anderen. Er ist viel weniger ein Stück als die anderen, eher
eine dialogisierte Novelle. (Vielleicht war die spanische Vor-
lage eine Novelle, kein Drama — ist das möglich?) — Akt III:
180
Ebenso genial, wie er dann fortfährt und durch ein richtiges
lazzi (sein Auf-die-Nase-Fallen) die scliönste und richtigste
Argumentation unterbricht.
Es wäre der Mühe wert, alle die Figuren, die Moli^re nut dem
Namen Sganarelle genannt hat, nebeneinanderzustellen und
zu prüfen, wieweit nicht doch eine Art von Einheit darin
steckt. (In dieser Figur ist das gallische Element, das Anti-
germanische verkörpert ohne jeden Zweifel, das gleiche, das
am Ende Figaro heißt und die Revolution einleitet.)
181
:,
schen, unter welchen dir das Leben ein ganz anderes Schwer-
182
gewicht zu haben scheint, welche im Ertragen des Schweren
das gewöhnhche Mcnschenlos sehen, die das Ärgste mit ruhi-
ger Fassung hinnehmen, sich auch über den Tod keine über-
triebenenund aufgeregten Gedanken machen, bei denen das
Wort näher beim Gefühl, der Gedanke näher bei der Hand-
lung zu sitzen scheint, deren Urteil dich Punkt für Punkt über
die Wirklichkeit belehren, deren Mangel an Dialektik dich
überraschen, dann aber tiefsinniger als du vorher warst machen
fender Spiegel«.)
183
Der Gedanke, daß alles Zukünftige schon daliegt, wie die
Nymphe im Bade läßt man das Wasser ab, so tritt die Gestalt
:
hervor.
Jede Gewohnheit wird ihre Anhänger haben, bei denen sie für
gerecht gilt — während sie vor der Idee niemals bestehen wird.
184
i
20. VIII. 17. — Was ein Moderner anstreben und gewinnen
könnte, wenn er Moliere studiert, übersetzt und allenfalls be-
sieren, und diese gibt ihr ihre Kritik zurück usf. usf.
Kritik ist nur eine der Formen des Indirekten.
In der Situation Molieres zwischen der hohen und der niede-
ren Komödie ist ein immer wiederkehrender Zustand ausge-
prägt.
Die zarte gebrochene Linie im »Don Juan«. Das Ganze
durch den Geist zusammengehalten. Das Romantische in der
Anlage völlig unromantisch dargestellt. — »Tasso« und »Der
Misanthrop« zwischen Komödie und Tragödie.
185
Molieres einzige Tochter, nicht hübsch, aber klug. Die Mutter
will sie im Kloster lassen, sie widerstrebt, läßt sich von einem
Herrn Rachel de Montalant entführen. Ihr Wort: »J'ai quinze
XII. 17. — Zur Komödie Sollte man nicht sagen, daß die »Mit-
:
186
Er liest sie, würde man denken, um sich darüber zu erheben,
um ihre Schwächen auszulühlen, um ihre Spannweite nacli-
zurechnen. Keine Spur von alledem, denn es fehlt ihm an Auf-
merksamkeit, welche eine Vorstufe der Liebe ist. Er ist ein
Komplice jener Welt, in welcher die Menschen die Unermeß-
lichkeit ihrer Anzahl zur Entschuldigung für ihre Verworren-
heit nehmen.
das Auge des Leibes jemals sehen kann; das geistige Bild ent-
hält zuweilen mehr, als ein sinnliches jemals enthalten kann.
Sie können nämlich mit dem Auge des Geistes auf einmal
sehen, was sie sonst bloß nacheinander sehen: sie sehen mit
dem Auge des Geistes alle vier Seiten des Würfels, eine ganze
Kugel auf einen Blick. Sie sehen also mit dem Auge des Geistes
sozusagen rundherum. Ja das geht so weit, daß manche mit
dem Auge des Geistes sogar sich selbst erblicken können und
imstande sind, sich in ihrem Zimmer mit Frau und Kind bei
Tischund dabei auch noch was an der Wand hinter ihrem
Rücken hängt zusammen zu sehen.«
VII. 18. — Hat man je daran gedacht, daß »Leonce und Lena«
von Büchner eine höchst eigentümliche Transkription der
Mussetschen poetischen Komödie ist, so wie diese der Shake-
speareschen?
187
Erkenntnis der Bedeutung Louis' XIV. Ob es sich um das eige-
ne oder fremde Völker handelt schließlich wird das Urteil des
:
188
X. 18. — »Das Liebchen desGomezArias«.Nach siebzehn Jahren
lese ich dieses Stiiclv wieder. VjS hatte mir eine selir starke Er-
innerung hinterlassen, die der erste Akt mir nicht rechtfertigt.
— Alles in allem macht es mir nicht so großen Eindruck als ich
189
;
III. 19. — Ist der Dichter nicht ein Täter, den wir durchs
SchlüsseUoch belauschen?
190
Problematisches Verhältnis der Franzosen zu ihren drei großen
Dichtern des 19. Jedirhunderts : Balzac, Hugo (namentlich dem
Dramatiker) und Flaubert. Durchaus problematisch auch das
Verhältnis zu Chateaubriand, und nicht ganz unproblematisch
das zu Stendhal. Dagegen Baudelaire als Verbindung mit dem
IV. 19. — Ancien regime Die Antwort, die Herr von Bougain-
:
Die Anekdoten des Chamfort sind reizend, aber daß er sie alle
IV. 19. — Die nackten Ideen kann man nicht prästieren; das
Höhere der Welt wird nur an den Individuen faßlich und an
den Ordnungen unter den Menschen.
191
IV, 19. — Notizbuch: Aphorismen in Gruppen. Studien, dar-
unter: ad me ipsum. Anekdoten. — In den Studien: über die
Komödie, insbesondere Mohere, Lessing.
192
Märchens erreicht durch Syiitliose des Lebens.
XII. 19. — Es ist dem Menschen gegeben, daß er sich auf das
Leben und auf den Tod einstellen kann beides ; in einem zu
müssen, das ist das Schwere und Bemühende.
193
wenig Beachtung. Die Zeit vergeht, Jedermann kommt von
seinerMeinung zurück und sieht das Objekt so, wie früher sein
Gegner es gesehen hatte. Diesem gegenüber gebraucht er jetzt
194
Bei menschliclien Beziehungen ist zweierlei zu fürchten : daß
in ihnen vom Kern her das GewoHte oder von der Peripherie
her die Vernachlässigung sich geltend mache.
Versichert sein, daß das, was man zu machen fähig ist, nie
vorher von einem andern Wesen kann gemacht worden sein
und erst von uns aus der Wirklichkeit angehören wird, das ist
Die Künste /
195
Nicht das Leuchtende durch Furcht verdunkeln, nicht dem
wunderbaren Vogel die Flügel binden I
Mut ist das innere Licht in jedem Märchen, darum ist die Kai-
serin so leuchtend und mutig — und wirft sich, wo ihr schau-
dert, mit erhobenen Flügeln, wie ein Schwan, dem Fremden
und Geheimnisvollen entgegen.
Fremd und geheimnisvoll sind solche Nächte, wie alle Ge-
schenke des Himmels, aber darum sind sie heilig, und sie durch-
leben ist ein heiliger Dienst — in dem darf man nicht zittern.
Das Erschütternde ist da, der dunkle schauerlich süße Abgrund
ist da — aber du darfst nicht hineinstürzen — seine Nähe ist nur
eine Heiligung mehr.
Alles ist und schön — jede Sekunde küsse die Augen und
heilig :
und dann laß sie alles in sich trinken, das Oben und das
heilige sie
Unten und die wunderbare Mitte, die süßen bewegten Arme
und die süßen ruhenden Brüste, die Lippen und das Haar.
Verbirg nichts — wo das Verbergen ist, da ist die Hast und die
Glut der Jagd, da ist der Kaiser und der tödliche Pfeil und die
Gazelle ; wo alles sich darbringt, da ist die nächtliche Feier, der
Tempel und die Sterne.
Gib dich sanft und festlich, du Süße, und erschüttere den, der
selig wird durch dich, mit deinen zarten Händen — wie du eine
Harfe erschütterst — dann
, ist die Erschütterung von dir ge-
196
Die Tänzerin trug ein kurzgeschürztes Gewand und das Haar
hinaufgenoninien Arme, Beine und Hals waren nackt, und
; sie
sie aus einer Gestalt in die andere, und das Zerfließen, das
Hinübergleiten war nicht minder schön, als die horchenden,
die fliehenden, die geduckten, die mänadischen, die erstarrten
Gestalten. Wer nur die in sich gekauerte Nymphe sah, eine
197
Mittlere Geister — das sind die eigentlich sogenannten Geist-
reichen—bewegen die Zeitideen, ohne sie zu beherrschen.
Gipfel des »Wissens« auf einem gewissen Gebiet ist ein ge-
wisses Stadium der Unwissenheit, Halbwissenheit. Schwächere
Epochen, den Grundlagen des »Wissens« näher dringend, lösen
alles wieder auf.
ihren Köpfen aufruht, wir tragen die unsrige jeder einzeln mit
der Spitze auf seinem Kopf stehend.
198
nicht zentral Berührte zu versühnen ; das aus seiner Ruhe
Aufgestörte hart neben dem zvveckhaf't Angerührten zu be-
gütigen; dem Unteilbaren Reverenz zu erweisen.
Sprache ist unter anderm auch Umgang mit den Worten ; hier
liegt der x\bgrund im Sprachgebrauch zwischen den Deutschen
und Franzosen. — Der magische Grundsatz pars pro toto in
den Gleichnissen wirksam.
199
auch eines Raffael erahnen will, vergegenwärtige sich die
Zweifels- und Seh wache weiten, die Schein- und Schreckens-
mächte, welche durch das erfüllte Dasein jener Gemälde und
Gebilde als nicht-existierend statuiert werden. Dies ist die rei-
nigende und aufbauende Gewalt, die von den Werken des
hohen Stiles ausgeht, und in diesem Sinn verstehe man Mö-
llere als einen Meister des hohen Stiles auch noch in seinen
Possen — und begreife, welcher Gehalt noch von diesen ausgeht.
200
Das Drama verträgt ebensowenig die nackte Tatliandluiig als
die nur auf die Macht des Wortes g(}stellten Szenen, — wovon es
Meine antiken Stücke haben es alle drei mit der Auflösung des
Individualbe griffes zu tun. In der »Elektra« wird das Indivi-
duum in der empirischen Weise aufgelöst, indem eben der In-
halt seines Lebens es von innen her zersprengt, wie das sich zu
Eis umbildende W'asser einen irdenen Krug. Elektra ist nicht
mehr Elektra, weil sie eben ganz und gar Elektra zu sein sich
von mir und meiner Arbeit, weil Direktheit das Element des
Künstlers ist, und weil man, gezwungen in einer solchen Art
an sich zu denken, eine Belebung empfängt. Man kommt dem
eigenen Geheimnis näher. — Jeder schafft sich das Instrument
seiner Kunst selbst, indem er von Eindrücken und Halluzina-
tionen ausgeht, die dem Eros unterstehen, und damit das von
201
überliefertem verbindet, was er erfassen kann. Es schafft im-
mer eine Pluralität Landschaft, Zeitgeist, Volksgeist. Ich habe
:
Eine Figur
Im Labyrinth eines Märchens von Tausendundeine Nacht oder
im Labyrinth einer Großstadt wie London eine Figur zeigen,
die weder gut noch böse ist, — aber überall war. Nichts hat sie
gelebt, ist bei den Hungernden wie bei den Prassenden dabei
gewesen, bei den Gemarterten wie bei den Marterern, bei den
Anarchisten wie bei den Gaunern dabeigesessen, — aber dies
bildet ihre eine Wesenheit: die Wege und die Begegnungen,
die Gabe, sich leicht zu machen. Sie ist viel älter als sie aus-
sieht.
Dies drückt sich so aus, daß sie vermutet, es sei ihr ein Teil
klinge daher wie ein zersprungenes Glas. Sie ist jetzt die Ge-
liebte eines sehr reichen Menschen, der hofft, wenn er vermit-
202
:
zitiert, teilweise suclit sie auch die Orte wieder auf, findet alles
grenzenlos.
203
düng der deutschen Poesie durch die Berührung.
204
Die Bedeutung einer Generation für die naclifolgende: sie
Die Jugend, die das Lösewort des Rätsels bringt: die nächst-
jüngeren. — Alles liegt an der Endsituation.
Das Geheimnis der Verbundenheit ist Todesgemeinschaft, —
Kampfgemeinschaft: wir haben zusammen einen Kampf aus-
zukämpfen, dessen bitteren Ernst wir jetzt erst fühlen, dennoch
ist die Schlacht nicht abgebrochen, noch sind wir im Spiel, und
zwar bedrohter als die Jüngeren, leidensfähiger, also vollkom-
mener kühnerer und vitalerer Synthesen fähig, haben zusam-
;
205
Bedürfnis gehabt hatte, welche von den Ihren zu sprechen,
daß ich schon einen gebeten hatte und daß ich in Marokko
diesem Bedürfnis nachgegeben hatte. Ich versuchte mir dies
viel scheint ihm die Welt noch außer ihm zu enthalten, und
dem, welcher beinahe verzweifelt ist über die Verantwortung,
— für das Absurde, so provisorisch das
die er trägt für alles,
Absurde? Z^^äschen dem — und dem, da sie beide fast mit jedem
gleichen AVort das Verschiedene bezeichnen? Wie also kann ich
mich als Iliren Kameraden bezeichnen, ohne zu betrügen (saus
tricher)?
Das Leben ist erfüllt von der Rigidität der Altersstufen, von
einer Art Chau\'inismus (die Alten: juvenis, vir, senex). Das
Betonen, das Geltend machen, fast als Kriegsinstrument, der
geheime Neid, der vigor. Aber darunter hegt ein Anderes, die
Der enge Begriff des Lebensalters wie der der Nation kann er-
weitert werden jedes Lebensalter ist Gegenwart, ist also Alles,
:
was uns gegeben ist, und muß zum Ganzen ausgeweitet wer-
206
:
den. Dies ist eine der Größen Goethes und sein ensei^neinent
207
:
1927. -Dichter.
Zentral dieses: Kompensation — das harmonische Fühlen im
Gegensatz — vereinigen — Doppelgewichtigkeit — Nacht und
Tag — Beharren und Schöpfung — Historisches und Unhistori-
sches — Sein und Werden ausgleichen — auch Arm und Reich —
Heutig und Vergangen — werten und entwerten der Worte.—
Kompensation sogar zwischen dem Genauen und Ungenauen.
Hölderlin ist furchtbar deutlich — und zugleich allgemeiner als
ein minder hoher Geist sich fassen würde.
208
25. Juni 1929. — Zu den subtilen kritischen Arlxnten von
Charles Du Bos.
Mit den Gedanken ist es wie mit den Melodien, es gibt die
Li Prosa dichten ist darum schwer, weil sich bis ins Atom
hinein der Enthusiasmus und die ratio vermählen müssen.
ihr an, daß Myriaden geistiger Zeichen eben erst in sie zer-
fallen waren.
209
7. März 1913. — Stürbe ich demnächst, so würde mir vielleicht
betreten zu haben.
210
AD ME IPSUM
H. V. H. eine Interpretation
primitivo desiderabat.
Gregorius Nyssenus
Vita Mosis
213
: :
214
Im »Bergwerk« Versuch wieder hinüberzugelangen.
Im »Tizian« Atmosphäre jener höclisten Weh.
Im »Wehtheater« jeder dieser Glückhchen irgendwie noch
:
215
Bild das Zeichen darf nicht aus der Prae-existenz in die
Existenz hinübergenommen werden. Analog das Verschulden
oder der bedenkliche Zustand der Frau des Schmieds in der
»Idylle«.
den.
Das Thema in »Gestern« frevelhaft gebracht. An-
drea ist schicksaJlos. Begriff des Schicksals.
216
: :
Der Weg zum Leben und z\i den Menschen durchs Opfer
zwei Mythen: Alkcstis und Ödipus.
Das Opfer als Selbst-aufgabe. (Diese liegt schon im
Übergang vom einen zum anderen Moment.)
Der Weg zum Sozialen als Weg zum höheren Selbst: der nicht-
mystische Weg.
a) durch die Tat b) durch das Werk
c) durch das Kind
Fällt das Wesen aus jener Totalität (Praeexistenz Schicksallosig-
keit) heraus, so ist es in Gefahr, sich zu verlieren, zu verirren
es sucht das zu ilim Gehörige, Entscheidende, das Äquivalent:
im »Abenteurer« ist die Lösung ironisch angedeutet (das Werk
und das Kind).
a) die Verwandlung im Tun. Tun ist sich aufgeben.
(Das Verhältnis der Elektra zur Tat freilich mit Ironie behan-
delt. Elektra-Hamlet.) Das Entscheidende liegt nicht in der
Tat sondern m der Treue. Identität von Treue und Schicksal.
Zugrunde liegt dieser Vers aus »Tor und Tod« »Ich: will die
Treue lernen die der Halt von allem Leben ist.« Das Motiv der
Treue ironisch im »weißen Fächer«.
Innerstes: die Unbegreiflichkeit des Tuns. Die Un-
begreiflichkeit der Zeit: eigentliche Antinomie von
Sein und Werden. Elektra— Chrysothemis
Variation: Ariadne— Zerbinetta.
217
Der AVeg zum Leben (und zum Sozialen) durch das Werk und
das Kind.
contraposto der beiden Motive im »Abenteurer«. Der
schicksallos gewordene Vater und Autor. Die ironi-
218
:
219
Ad me ipsum
(mit Hinblick auf die »Frau ohne Schatten« und die Arbeit
von Meli darüber)
(abFrühhng 1916)
ha ich lerne!«
Das Leben als Verwirrendes (Märchen [der 672. Nacht])
»Was frommt das alles uns und diese Spiele
die wir doch groß und eivig^ einsam sind
was frommts dergleichen viel gesehen haben«
*in der Prae-existenz.
220
:
Brunnen«)
es nuii3 sich einstellen als richtige SchicksalserfüHuiig, nicht
Elektra ^pfi^
Auf dem Weg, das Schicksal zu suchen: das Vorspielhafte, der
Ödipus -Tragödie, auch des »Bergwerks« »Tod des Tizian«
221
in »Sobeide« zuerst, in »Ariadne« wieder mit der Ehe in Ver-
bindung gebracht.
(NB. Tyche immer als ein unerträgHcher Dämon;
sie: »verworrener Traum entsteigt der dunklen Schwelle
und Glück ist alles, Stunde Wind und Welle«
Tyche = die Welt die das Individuum von sich entfernen will
um es zu sich zu bringen
Letzte gesteigerte Formung davon : der Efrit im Märchen von
der »Frau ohne Schatten«)
222
Bergwerk von Falun« | gemeinsam: Analyse der dichteri-
So steht im Prolog zum »Tod des Tizian« der Page mit bewuß-
ter Herausforderung seinem tiefen Selbst, dem Dichter, gegen-
über. Der Jüngling Tarquinius steht fragend, Cesarino kritisch
und erfüllend zu seinem Spiegelbild. Der Abenteurer ist An-
drea der Wechselnde, ist Harlekin.
[Blake] (siehe Kassner über Blake in dem Buch über die eng-
lischen Künstler)
Der Dichter, aus jener höchsten Welt (deren Bote der Tod)
herausgefallen.
223
:
[Einzelnotizen]
Bedeutung des Abends. (Der Mann des Abends.) Der Abend als
224
Das Suchen nach dem Bleibenden Entscheidenden
dies unter dem Jiegriii Schicksal, das man versäumen könne.
Fällt das Wesen aus jener Sphäre der Totalität (Praeexistenz)
heraus so ist es in Gefahr sich zu verlieren zu verirren, es suclit
zum Sein
Die Liebe geht aufs Gemze: »Ein-Wesen ists« — aber er ent-
zückt sich doch am ganzen Flusse, Flusse des Daseins
Das höhere Leben aus der Steigerung seiner selbst als das
225
. : : :
226
Das Über -ich
»Warum bemächtigt sich des Kindersinns
So hohe Ahnung von den Lebensdingen
Daß dann die Dinge wenn sie wirkhcli sind
Nur schale Schauer des Erinnerns bringen?«
Von den Antinomien des Daseins wird diese oder jene zur
Achse der geistigen Existenz.
227
und Tod« Claudio. Die Selbstabspiegelung
der Madonna Dianora.
Spiegelung des Pagen
Kaiser im Kämmerer gespiegelt,
Abenteurer im Cesarino.
La presence de l'univers
das Ich der Sterbenden
(»Tor und Tod«; »Frau im Fenster«, sie! schon be-
vor sie tödlich bedroht ist)
Das Ich als Spiegel des Ganzen aber mehr als Spiegel:
der Wahnsinnige
ben möghch.
In dieser Zeile in »Tor und Tod«
»Ich will die Treue lernen die der Halt von allem Leben ist «
Das Schöne
Herausreißen aus der Natur Dürer-Rembrandtisch
so in den »Geschwistern« von Goethe
228
:
weil es eine Dichtung ohne Reflex ist, und die Helden wie
eherne Wesen nur durch und für sich existieren.
desgleichen
229
»Nichts ist hier — nur aufzufliegen
ist ein Ort an jedem Ort«
Der Sinn der Weh ist Lösung. Nichts läßt sich im Weltlichen
Welt ist Werkstätte ist Ort der Gestaltung, Erinne-
befestigen.
rung, Wechsel, ist um der Fülle der Schönheit der Liebe willen
usf.
hat, sich den Menschen, die er liebt oder gewinnen will, »hin-
wirft bis zur Würdelosigkeit«. Es ist, nach der Einsamkeit der
Praeexistenz, die leidenschaftliche Vorwegnahme des Sozialen,
bis zum Frevelhaften, auch ein Verwischen der Grenze zwi-
230
sehen Phantasie und Wirkliclikcit also Lüge.
Bei Figuren wie den Brentanos war das ein Lebe nszus tan d,
hier ist es einniahg, eine der Facetten des liarlen und scliarf-
251
:
n
[1917?]
Zur Darstellung meines Lebens
I. Kindheit: bis zum zehnten Lebensjahr. Vorfahren Stadt,
Landschaft. — Dann die ersten Irrtümer und Komplika-
tionen, aber das Kind noch bleibend.
IL Jünglingszeit. Die Kindheit als Spiegelung der Sehnsucht.
Alles Vorbereitung, Hindeutung. Die Welt nahe und fern.
Frühe Berühmtheit. Hermann Bahr, George. Das frühere
Wien. Ahnung eines nicht mehr vorhandenen Zustandes.
Ahnung der Welt: Antike, Orient, Geschichte. Die dunk-
len Zeiten. Furcht. Richard B[eer]-H[ofmann]. Verhältnis
zu Frauen: jenes »Adolphe« — derwenn er geheiratet
hätte vielleicht ein vortrefflicher Ehemann gewesen wä-
re. Versuch alles zu gruppieren. Andrian, Bui [Georg Fran-
ckenstein] — endet mit 1899 — Produktivesbis zum
1917
Grabschrift des Dichters. — Jugendstadium: Magie. Varese.
Später Gestaltung. Ferner: Aufbewahrung. Erkenntnis der
Zusammenhänge. Sich leichter fühlen. Ahnung des Höheren
kaum mehr ausdrückbar Wölkchen sich auflösend.
:
252
: :
Neubouorn, 9. VIII. 21
»und dennoch sagt der viel, der >Abond< sagt« — das Gleiche ent-
wickeU in der dramatischen Parabel von »Leben ein Traum«
Scientia creaturae in comparatione scientiae creatoris quodam-
modo vesperascit. S. Augustinus
Die Sprache
Über George. Einzige Berührung mit ihm beim Lesen der
»Hymnen« »Pilgerfahrten«. Die Spitze mit der sich das Un-
endliche in die Seele gräbt — Über Borchardt
Über den Wiener Dialekt. Das Schöne davon: das Maßvolle.
Gewebe gegangen — die Geschichte ist arm.
Alles in dieses
Der Dichter: er kommt nie zurecht und gerade dadurch
kommt er zurecht (so mein Versuch, mit »Die beiden Götter«
das dem Augenblick Gemäße zu sagen).
235
Der Dichter und die Frager
Gibt es eine deutsche Literatur? geht es auf- oder abwärts? ist
Über Moliere und daß die Deutschen ihn nicht verstehen und
warum.
So die Erklärung Tartuffes an Elmire : »Ah! pour etre devot je
n'en suis pas moins homme«.
a-t-on souvent exprime autant en si peu de mots — suggere
tant de choses avec autant de sobriete . . .
hiezu die Stelle über den Stil von Renan daß er en-dega de
: sa
pensee bleibe
III. 22
Als junger Mensch sah ich die Einheit der Welt, das Religiöse,
in ihrer Schönheit; die vielfältige Schönheit aller Wesen er-
griff mich, die Kontraste, und daß alle doch auf einander Be-
zug hatten. Später war es das Einzelne und die hinter der
schönen Einheit wirksamen Kräfte, das ich darzustellen mich
gedrungen fühlte, aber von dem Gefühl der Einheit ließ ich
nie ab. (Auch dort wo Kontraste dargestellt sind, in der mitt-
leren Periode, wie die heroische Elektra und die nur weibliche
Chrysothemis, oder der starke Pierre und der schwache Jaffier,
kam es mir immer darauf an, daß sie mitsammen eine Einheit
bildeten, recht eigentlich eins waren.)
234
voll solcher intakter Lebenskeime war— und daß es ein Schick-
sal gibt, ein von außen Herantretendes. — Mit diesem Gedan-
ken sind wir schon dort wo man sich über alles erheben kann.
235
es nicht erkennt: verhält er sich so zur Epoche? Er kommt im
Maskenkleid zu einem Begräbnis.
C[arl] B[urckhardt]s Wort vom Raum in der Zeit für Gewisses,
und für Anderes nicht.
1926
»A man can neither be insulted nor praised.«
Begegnung. George.
236
I
Freunde: Auflösung und Neu-geburt durch solche Beziehun-
gen.
IX. 26
Das Suchen nach der möglichen — notwendigen Tat. (Die Tat
der Pagen Alexanders war Hysterie — die der Elektra geht aus
einer Art Besessenheit hervor.) Die mögliche Tat geht aus dem
Wesensgrund, aus dem Geschick hervor.
I. XL 26
Es sind einige herangetreten, meine Biographie schreiben zu
dürfen. Ein sehr sonderbares Ansinnen. Es ist zu vermuten,
237
daß sie nicht erfaßt haben, um was es sich handelt. Es handelt
sich, den Geist der Epoche und den des Individuums zu be-
schwören und sie beide auseinanderzulösen. Die Hexe von
Endor ist schließlich erschöpft und halbtot.
fassen.
Wer eine Biographie macht, stellt sich gleich. Die Biographen
können nur erfassen was sie mit ihm (und vielen anderen) ge-
mein haben.
Der Anfang ist pure Magie Praeexistenz. :
Auch diese Seiten selbst sind Bekenntnis. Und für wen schreibe
ich sie — für wen dürfte ich sie ohne Eitelkeit schreiben? Auch
hier bedarf es einer Geisterbeschwörung: empirische Begeg-
nungen müssen vergeistigt werden.
238
5. XL 26
Haltung: soziale — österreichisclio (der »feine kluge Wiener«).
Anschluß an eine Tradition. Absichtliche Mittelbarkeit. (Hal-
tung des »Schwierigen« in einer nuancenlosen Welt.) Diffe-
renz mit George kommt hier zur Sprache.
Innerhalb des deutschen Ganzen.
Zur geistigen Gegenwart: Zur Tradition:
Zum Planetarischen zum Göttlichen
: : katholische Umwelt
zu sich selber: wie faßt man sich selbst
10. XL 26
Hochmut als innerster Schutz um den Kern.Wort Valerys von
der notwendigen Beigabe des Hochmuts beim höheren Geisti-
gen.
239
;
:
Sigismund der Mensch von dem der Vater sich Fortsetzung er-
:
12. XL 26
Das Mythische. Der Abenteurer eine mythische Figur. Des-
gleichen Ariadne. Das Mythische in höherer Sphäre realisiert in
»Helena«. Aristie Menelas : als Vertreter des Abendlandes. (In
der Türkei: Menelas -Hahnrei.) — Ausgleich zwischen Orient
und Abendland (vgl. Bachofens Interpretation der »Aeneis«).
Ihr Brief hat mich gerührt — es hat mich gerührt wie vieles
240
daß die Form erstarre. (Pigenot.) — Ich verließ jede Form be-
vor sie erstarrte.
In »Tor und Tod« : eine solche Stelle ^vie : »Ich füg mich so,
daß Gut und Böse über mich Gewalt . . . « heißt : Gut und Böse
hat keine Gewalt ich glaube
: sie nicht, weil ich sie nicht vom
vitalen Urgrund des Erlebnisses her empfangen habe. (Sic et
241
schauendste, fast unbegrenzte Wesen — das umherspäht, seine
ihm bestimmte Enge zu finden. (Schließlich zerschellt es an
der Galatea Throne, zerrinnt endgültig ins Unendliche.
IX. 27
»... ihre Popularität, ihre Art, fremde Naturen anzunehmen
und sich ihnen mitzuteilen. . .« (Brief Hölderlins vom 2. XII.
1802) — diesen Begriff auf mich anzuwenden.
X. 27
Bildung zart zu behandeln.
Ein Minimum von verbalem Gedächtnis.
Geschichte-Mythos Bachofen.
Ortsgefühl: Versuch des Umfassens. Symbohsche Haltung.
Das Umspannen weiter Zeiträume.
Buckle -Gibbon. — Die Nachfolge Roms in Österreich als leben-
dig (Riegl, ^Yickhoff).
H. V. H.
Ein Versuch nach Gesprächen
242
.
»Turm«.
Rahinen, novelleiiartig. Reise.
IX. 28
Autobiographisches
Stadien
243
Verschiedene Momente meines Lebens auffangen und vor
allem zeigen, was im Schatten ist. Das Lebendige, das Wahre
in dem aufweisen was schweigt. Z. B. Epoche der Freundschaft
mit Poldy (»Kaufmannssohn« »Garten der Erkenntnis«; vgl.
244
ANDENKEN
EBERHARD VON BODENHAUSENS
1
I
FJuc. Seine starke Ehrliebe. Ausgleich dieser mit dvAu Ge-
rechtigkeitsgefühl.
Worin er Ehre sieht. Allmähliche Überwindung der Über-
schätzung von Standes- und Amtsehre. (Student, Offizier, Be-
amter.)
Zarteste Empfindlichkeit für die Nuance des Unehrenhaften.
Berührung mit so vielen Sphären. — Er setzt immer mit einer
höchsten Ehrung ein dann wägt er, ob das Individuum dieser
:
247
:
Allgemeines.
»Nicht allein Gesichtszüge sind bezeichnend für den Charak-
ter; Stand, Gewohnheit, Besitztümer, Kleider, alles modifi-
248
.
die dritte Bedingung unseres Daseins — die erste ist das Indivi-
Wesen und Tun. Er meinte, man müsse alles mit ganzer Hin-
gabe tun — mit ganzer Hingabe aber auch alles tun können.
Dies führte ihn von der Verwaltungskarriere zur Industrie.
Zugleich wollte er zur Kunst ein dienend souveränes Verhält-
nis festhalten.
249
.
gefolgt...
Aber die leisures eines Zurückgezogenen wären ihm schwer-
lich offengestanden :und linke Presse, die Parteien —
die rechte
die Wmterfeldts —
die neue Generation, die Versöhnung mit
Frankreich — die Fehlenden (wie Seckendorff und Marwitz) —
mehr als alles der Geist, der Hauch der Zeit . .
250
:
18. IX. 27
Seine Zweifel an Gottim Anfang des Krieges.
Die Frage Dostojewskis wegen des zu Tod gequälten Tieres.
»Als diese Frage, nur in anderer Form, Mill in seinen alten Ta-
gen in den Kopf kajn, erklärte er, er sei eher anzunehmen be-
reit, daß Gott nicht ganz allmächtig sei, als daß mit seinem
Willen und Einverständnis derartig entsetzHche Dinge auf Er-
den geschähen.
[W.l James äußerte sich noch schärfer
Er würde einen solchen Gott unter keinen Umständen für
einen Gott anerkennen. — Wenn sich ein Mensch finden sollte,
der wie Abraham selbst das Messer über seinem Kind erhöbe,
so kann kein Zweifel mehr bestehen, er hat die Vernunft ver-
leugnet und handelt in einem Anfall von Wahnsinn. Solcher
Art waren alle Propheten. Gott befahl Hesekiel, Menschenun-
rat zu. essen, und Hesekiel gehorchte und aß.«
Leo Schestow: »Tolstoi«.
251
beim Agnostizismus meines Vaters) ergibt sich die furchtbare
Bedingtheit des Individuums durch die Zeit, auch in bezug auf
diese letzten überzeithchen Dinge. Für ihn war kein Pietismus,
kein Ausweg in die Mystik.
252
11. X. 28
Anfang
Zu Ende XIX zu Anfang XX begegnete Männern aller Sphä-
ren ein Mann — der starken Einfluß übte. Seine Beziehungen
waren die verschiedenartigsten. Einigen begegnete er als Ade-
liger — der in der Industrie war — andern als Industrieller — der
Güter besaß. Politikern als politische Kraft — Künstlern als
253
höhere Dasein.
— »ein Weiser in der Tat« —
Prozeß der inneren Läuterung, ganz bewußt. Das innere Ver-
brennen. Das Fertigwerden mit etwas, auf einem Spaziergang.
24 Stunden um sich auf den Tod zu bereiten.
26. VII. 28
Fragen : inwieweit war er ein Aufnehmen der — inwieweit
ein geschlossener ablehnender Mensch? Welche Kraft zu be-
harren hatten seine Vorurteile und worauf stützten sie sich, um
diese Kraft zu haben?
Worin ruhte er aus?
254
Funktion von Goethes tiefsten Andentun f^on und symbolisclien
Haltungen für solche Individuen.
Sein Aufnehmendes: die Strenge des Kon fron tierens jeder
geistigen Erscheinung (wenn er ihr das Jwlie Kriterium zu-
erkannte) mit dem eigenen Wollen und Vollbringen; die Bereit-
schaft zur Demut. Unbedingtes Verhältnis zum Schöpferi-
schen.
Solche Erscheinungen konstituieren keinesfalls eine Auflö-
sungsepoche. Sie gehören dem festen Kern der Nation an.
Wie er innerlich durchdrungen war, daß das tiefere Leben
von einerlei Art ist.
255
26 VII 28 in Bezug auf diese Darstellung,
aus: Ortega y Gasset »Geschichte als Wissenschaft«.
»Mein Leben ist Stück eines Ganzen, einer höheren Realität als
es selbei, sofern es in der Isolierung genommen wird, wie der
Psychologe es zu nehmen pflegt. Ein Einzeldasein ist eine Ab-
straktion , erst im Zusammenleben gewinnt es seine Ganzheit.
Begreife ich aber das Leben als Leben der Gemeinschaft, so er-
Die Epoche: too serious (wie Sterne von den Franzosen sagt),
256
: :
VII 28
Zum einleitenden Abschnitt
inwiefern die Mitlebenden vorzüglich — die früheren Genera-
tionen nur indirekt — uns zur Erreichung unseres geistigen
Lebenszieles (über welches die Stimme des Gewissens uns un-
zweideutig aufklärt) zugewiesen sind. Wir haben ganz andere
Wege, Lebende zu verstehen — als Tote.
Gipfel: politische Aspiration.
Die rastlose Vereinigung des Unvereinbaren, die das Leben ist.
III. 28
Düstere Kindheit. Dauernder Druck davon ausgehend. Der
257
Vater. Tante Amalie. Die Schwester. Druck des protestanti-
schen unfreien Wekbildes. Die vielen Dinge, die man leisten
28. IX.
Seine Alt von Machtbegier. Zugleich fast eine Selbstaufopfe-
rung.
Güte — Fähigkeit zur Härte (dies entzieht sich dem Blick).
258
Rechtzeitigkeit seines Todes, in An])(>trarlit des nun II(;r(;iri-
breclienden.
Er wäre dem materiellen Zusammenbruch gewachsen ge-
wesen.
Seine Elastizität hätte die ungeheure Umstellung aller Begriffe
und Ordnungen, die Ironisierung alles für hoch Gehaltenen,
die moralischen Rückwirkungen der Reue über Verfehltes viel-
leicht vertragen. —
Das Zweifelhaftwerden des durch Bücher Überlieferten über-
haupt — die absolute Deshumanisierung.
Das eigentlich Religiöse in ihm wäre wohl der Verzweiflung
ausgewichen —
aber es kann ein taedium vitae hervorgehen aus dem Flachen
das nach oben kommt.
Aus der Gedächtnislosigkeit, aus dem Hinaufströmen der
Grundsuppe, aus der Unmöglichkeit der Zusammenfassung —
das sich vielleicht bis zum freiwilligen Tode verstärkt hätte.
259
.
worden wäre.
260
: :
verwehrt sei — ist aber mit dieser Seele alles gesagt? Hier liegt
es : nicht Seelenwanderung — aber wir sind nur ein Teil von
etwas, das in uns lebt, aber nicht nur in uns — wir sind v^de einer
in einer wandernden Schar — dies »Cherub und großer Herr :
ist unser Geist« — und auch die Gesinnung die Schröder in den
261
:
Geistiger Verkehr.
Goethe / Stifter / Ranke — W. v. Polenz, einige wenige Zeitge-
nossen.
Den Vers für sein Grab wählte er sich selbst.
2. VTII. 28
Güte. (Sterne)
Sein Urteil bezog sich auf Totalitäten.
Dazu gehört schneller Blick, die innere Waage, rassige Sicher-
262
: :
263
BRIEFE UND AUFSÄTZE
FÜR AMERIKANISCHE ZEITSCHRIFTEN
I
WIENER BRIEF
schen Situation, der Kampf dieser Stadt um ihren Rang als die
künstlerische und geistige Hauptstadt Südosteuropas, der Kampf,
den sie in der Sekunde selbst des Zusammenbruches mit der
Sicherheit, mit der eine bedrohte Kreatur auf ihre letzten Re-
serven zurückgreift, aufgenommen hat und den sie ohne jeden
Zweifel siegreich durchführt. Wien war seit dem Ende des
18. Jahrhunderts — ja man kann, wenn man will, diese Supre-
matie noch um achtzig Jahre zurückdatieren — nicht nur das
theatralische Zentrum Deutschlands, und vermöge der dyna-
stischen Zusammenhänge beinahe auch Italiens, sondern es
hatte als Theaterstadt innerhalb der zivilisierten Welt über-
haupt nur eine Rivalin : Paris. Wenn ich vom Theater spreche,
als der eigentlichen Stärke des Wiener künstlerischen Lebens
— das ja nie mit dem geistigen Leben ganz eins ist, so wenig als
Literatur oder Poesie eins ist mit der Bühne — so scheide ich
,
267
Österreicher wie bei den Kelten oder bei den Griechen, werden
diese Trennungen hinfälHg; denn eine Form des lebendigen
Theaters geht in die andere über, ein Genre geht aus dem
anderen hervor. Wenn aber die Wurzel dieser Begabung beim
keltischen Stamm mehr im Musikalisch-Mystischen, im Be-
wegtwerden durch den Rhythmus und durch das Geheimnis,
im Sehnsüchtigen und Visionären liegt, — und wenn anderer-
seits bei den Griechen eine leidenschaftlich-geniale Neigung
zur plastisch-körperlichen Darstellung der Ideen ein Drama
entstehen ließ, das beinahe mit der Plastik verwandt so war ist,
268
Melodram, und es ist, unter anderni, niclils niorkwürdiger, als
sind. Aber sie hängen nur mit einer Seite desselben zusammen,
mit dem Konversationsstück, wie es im Burgtheater, dem be-
rühmten kaiserlichen Theater, das in einem Annex der kaiser-
269
misch ter, vielleicht etwas pompöser, aber doch sehr anmutiger
und nuancenreicher gesellschaftlicher Darstellungsstil, und die-
ser hat ohne Zweifel auf Schnitzlers werdende dramatische Form
270
Motive das Triebwerk seiner größeren nnd kleineren Stücke zu-
sammengestellt, und darin, gerade im Aufbau und im Antrieb
dieser kleinen, aber sehr subtilen Maschinen war er mehr
Künstler, geistreicher und klüger, als die meisten deutschen
Theaterautoren der letzten hundert Jahre — das Entscheiden-
de aber und das internationalen Wert Gebende liegt nicht in
diesen struktiven Elementen, sondern im Dialog, der immer
lebendig, in einer sehr künstlichen Weise scheinbar natürlich
und absichtslos dahinfließt und in welchem die Figuren ein-
ander gegenseitig analysieren und oft sehr tiefe Untergründe
des Denkens und Fühlens bloßlegen, während das Gespräch
fortläuft, als ob es nur um seiner selbst willen da wäre, d. h.
um sowohl die Personen auf der Bühne aJs die im Zuschauer-
raum zu amüsieren. Es geschieht um dieser Qualitäten willen
vor allem, daß man öfter Schnitzler mit Bernard Shaw zusam-
mengestellt hat, aber es smd zwei grundverschiedene Geister
und Temperamente. Das im oberflächlichen Sinn Verbindende
ist, daß sie sich beide der Ironie als eines Lieblingswerkzeuges
bedienen, aber darin treffen sie mit vielen anderen Männern
von Geist zusammen, so vor allem mit dem platonischen So-
krates, den man unbedingt unter den Vätern der ironischen
Komödie aufzählen muß ;
gewisse von den Dialogen des Piaton
sind in der Tat kleine geistreiche Komödien, Sokrates die Haupt-
figur, der wirkliche Farceur in ihnen, und die antike literari-
271
der Handlung selber herrscht, wie m der historischen Farce
»Der grüne Kakadu«, die ein kleines Meisterwerk ist und nicht
leicht übertroffen werden wird, oder in einigen andern seiner
einaktigen Stücke.
Arzt und Sohn eines Arztes, also Beobachter und Skeptiker
von Beruf, ein Kind der obern Bourgeoisie und des endenden
19. Jahrhunderts, einer skeptischen, beobachtenden und »hi-
storischen« Epoche, nicht ohne innere Affinitäten mit fran-
zösischem Wesen und der Kultur des 18. Jahrhunderts, wäre
es fast ein Wunder, wenn dieser große und erfolgreiche
Theaterautor nicht auch ein bedeutender Novellist wäre denn ;
272
sehen Seite. Auch sozial hat er nicht die ganze Breite des so
eigentümUchen und sehr breiten und komplexen Wiener ge-
sellschaftlichen Lebens vor Augen gebracht; einerseits die Ari-
273
ber, Koch oder Sesselträger. Wenn ich mich des »Essay on
Theatre« erinnere, womit W. B. Yeats vor nun zwanzig oder
mehr Jaliren in Gemeinschaft mit Lady Gregory und J. M.
ken <, oder vondem >Liebespaar, das auf der Fahrt nach Ame-
rika umgekommen ist<. — Wir müssen«, fährt er fort, »ein
Theater für uns selber schaffen und für unsere Freunde, sowie
für einige einfache Leute, die vermöge ihrer reinen Einfalt zu
erfassen vermögen, was wir durch GelehrsEimkeit und Gedan-
kenarbeit begreifen.« In Wien hat es tatsächlich eine völlige
schroffe Trennung zwischen dem Theater der Gebildeten
und dem der Ungebildeten nie gegeben, — und was die Ein-
heit herstellte, war der allgemeine Sinn für die schauspiele-
rische Leistung und die allgemein verbreitete musikalische
Begabung. Jedermann vermochte die Kunst des Schauspielers
bis in die Nuance hinein zu genießen und zu beurteilen, und
dies ebensogut auf dem heroischen Gebiet als auf dem niedrig-
charakteristischen oder burlesk-komischen; ebenso wie jeder-
mann die Melodie einer Arie nachsingen und den Rhythmus
eines Walzers nach tanzen konnte, ohne sich von dieser Bega-
274
bung auch nur Rechenschaft zu geben. Im Schauspieler, im
Sänger, in der Tänzerin floß alles Interesse an der theatrali-
schen Darbietung zusammen : so wurde der »König Lear« und
der »Faust« vom Schauspieler aus begriffen, so wie der »Don
Juan« vom Sänger aus und von der Melodie aus, eine Panto-
mime von der Fanny Elßler, der Taglioni oder der Wiesenthal
aus begriffen wurde ; und darum war in Wien das Theater seit
dreihundert Jahren oder länger (denn eigentlich mündet das
mittelalterliche Theater mit seinen burlesken »Interludes«
und musikalischen feierHchen Momenten ganz direkt in die
Oper des 17. und in das volkstümliche Theater des 18. Jahr-
hunderts) eine Sache der Allgemeinheit, so wie in Paris noch
heute, — während es in England dies zu sein seit den Tagen
Jacobs I. aufgehört hat, in Amerika es zu sein nie anfangen
konnte, und beides aus dem gleichen Grunde dem : religiösen.
sphäre paßt niemand besser als Max Reinhardt, und es ist hohe
Zeit, daß er hierher zurückkehrt. Ich sage »zurückkehrt«, dar-
um weil Wien sowohl seine Geburtsstadt als die tatsächliche
Wurzel aller seiner Produktion ist, wenngleich er fünfzehn
oder zwanzig Jahre lang — er ist heute ein Mann von achtund-
275
vierzig — die führenden Theater von Berlin geleitet und sich
276
liehen Zusammenleben der Schauspieler, die eine Art von ^q-
heimer Brüderschaft bildeten und, iln-e biirgerliclie oder indi-
viduelle Existenz völlig aufgehen lassend in der künstlerischen,
in die Proben selber, in das Ausbalancieren jeder Tonstärke
und jeder Kopfneigung oder Handbewegung eine wirkliche
religiöse Intensität legten.
277
eines der Schauspiele von Tschechow, und, glaube ich, ein
278
Herrn von Diaglülow f^escliriolxMi hatte mid das von diosor,
mit Fokin als Choreo^raplion \uid ßaksL als Malor, kurz vor
dem großen Kriege — die letzte Londoner Aufführung war am
1. oder 2. August 1914! — in Paris und London herausgebracht
worden war. Diaghilew (wie weit scheinen heute jene Maitage
des Jahres 1913, als man im Crillon in Paris beieinandersaß
und diese Dinge und tausend andere Pläne für Pantomimen,
Ballette und andere dumh ^/iow;^ besprach!) hatte mich gebeten,
ein Sujet zu finden für eine Ballett-Pantomime ziemlich ernst-
hafter Art, das Strauss Gelegenheit zu einer großlinigen eini-
germaßen dekorativen Musik gäbe, und bei dessen Behandlung
die Talente von Strauss, Bakst und Fokin — der damals noch
sein Ballettmeister war — sich gut vereinigen würden. Mir war
ziemlich bald klar, daß ich ein biblisches Sujet wählen würde
— ich schwankte nur zwischen dem alten David mit dem Weib
des Urias und dem jungen Joseph mit der Frau des Potiphar,
und der Gedemke an Nijinsky ließ dann die zweite Waagschale
tiefer sinken — und auch daß ich dieses aus der pathetischen
279
pompöse letzte Ausdruck einer großen Musilcepoche ist, und
der Malerei jener Venezianer, die auch ihrerseits ein pompöses
überreifes Finale einer ganz großen Zeit darstellen. Es war
nicht gerade vor einem Veronese, aber vor einem Solimena,
also vor einem der größten Maler des XVII., worin jenes
Element der Überreife noch akzentuierter hervortritt, daß
Strauss mir einmal (ich weiß das Bild, in der Galerie des
sagte: »Ist das nicht wie meine Salome? Sehr schön und
kontrastreich, aber ein bißchen tiZ^erinstrumentiert!« Jeden-
falls hat diese innere Übereinstimmung (zu der vielleicht noch
eine zweite, noch geheimere Harmonie kommt: die Wiener
Atmosphäre mit ihren prunkvollen Palästen hat zu keiner
Epoche soviel Affinität als zu der pompösen und repräsentativen
des Barock) dem Werk etwas Farbig-Sonores und Repräsenta-
tives gegeben — repräsentativ im gleichen Sinn, wie etwa Stra-
winskys »Sacre du Printemps« für polar entgegengesetzte
Stimmungen und Kräfte in der europäischen Kunst im höch-
sten Grade repräsentativ ist — , das sehr viel Kraft über das
Publikum ausübt und hier wie in den anderen Hauptstädten
zu einem sehr großen Erfolg geführt hat.
280
ZWEITER BRIEF AUS WIEN
JEDE große Stadt hat ihren doppelten Aspekt darin, daß sie je
nach dem BHck, den man auf sie wirft, als eine Stätte der Ge-
selligkeit und als eine Stätte der Einsamkeit erscheint. Ja viel-
leicht ist der Hintergrund der Einsamkeit des modernen Men-
schen gcinz unbedingt die sehr große Stadt, so wie der wilde
Wald der Plintergrund der Einsamkeit für den mittelalter-
lichen Menschen war. Wien, das wie Pciris eine sehr geseUige
Stadt hat immer, wie Paris, große imd merkwürdige Ein-
ist,
same gehabt. Sie war nie geselliger als um 1815, als die Souve-
281
der Weinhügel und kleinen Feldwege hinaustritt, aber nicht
282
Vor sechs Jahren, im Oktober 1915, starb in einer dieser un-
auffälligenWohnungen ein sehr unauffälliges Individuum,
Karl Eugen Neumann er starb an seinem weder von ihm noch
;
283
mit dem Inder damit, daß Neum.ann auf seiner Interpretation
der Stelle beharrte und daß der autochthone Interpret eine Be-
lehrung empfing, statt eine zu geben. — Das Publikum verhielt
sich diesen Übersetzungen gegenüber gleichgiltig ; die Fach-
männer von den Universitäten mißgünstig ; es waren die Arbei-
ten eines einsamen Privatgelehrten, der keiner Universität,
keiner Akademie, keiner gelehrten Koterie angehörte der Ver- ;
284
Briefe auswärtiger Korrespondenten ein; darunter einer von
einer großen deutsclicn Zeitung, worin der Redakteur Herrn
K. E. Neuniann aufforderte, der Zeitung eilig den Nekrolog
für einen eben verstorbenen berühmten skandinavischen
Orientalisten einzusenden. Der bekümmerte Freund, der den
Nachlaß ordnete und die Briefe in Empfang nalim, war ge-
zwungen, mit einem etwas bitteren Scherz zu cintworten, in-
285
salen Ästhetik, ein starkes Glied in der Kette der intereuro-
päischen Verständigung und wechselweisen Anziehung — das
Wort nicht politisch, sondern geistig gemeint — die das letzte ,
sönliches Buch. Der Autor war sich mit dem Scharfblick der
Jugend vollkommen klar, wie eigenartig und wie isoliert seine
geistige Situation im damaligen Mitteleuropa war. Er erkannte,
286
der Aristokrat ohne Wappen, der Boheme ohne Ahenteuei. Er
besitzt viel Liebe und wenig Maclit, sehr viel Stolz und keine
Diener. Er hat das feinste Gehör und vermag keine Saite zu
rühren. Er wreiß alles, und kann gewöhnlich nichts. Er ist ta-
lentlos und bleibt eigentlich immer unerwidert. Ihn definiert
das, was er nicht besitzt, und seine Grenzen findet er immer
in andern. — Er ist ein Hamlet, dem nicht einmal ein Vater er-
mordet wurde. Aus seinem Glück wissen die anderen nichts zu
machen; sein Schmerz erscheint ihnen nicht praktisch — er
aber liebt das Leben um der Kunst anderer willen und ihre
Kunst um seines eigenen Lebens willen. Ihre Gedanken und
Themen sind ihm ganz gleichgiltig, er sieht nur auf ihre Spiele
und Bewegungen. Die ganze Welt ist ihm eine große Form,
Gedanken den Inhalt
für die er in seinen bei sich führt. In
seinen seligsten Augenblicken ist es ihm, als schaukeln die Le-
bensformen der andern auf seinen Gedanken wie Boote auf den
Wellen des Meeres.«
Dies war zugleich eine Selbstcharakteristik und ein Pro-
gramm, Ankündigung einer Person und die Vorwegnahme
die
eines Werkes. Heute liegt dieses Werk vor uns, vielleicht noch
nicht abgeschlossen, aber sehr organisch und sehr bedeutungs-
voll. Kassner ist durchaus der Kritiker höchster Ordnung ge-
287
und auf die geistige Physiognomie der Kollektivitäten: auf das,
was man Geist einer Epoche oder Geist eines Volkes nennen
kann. Seine Neugierde wandte sich vom Westen nach Osten,
und das kleine Buch, das er »Der indische Gedanke« betitelte,
288
Meine amerikanischen Leser werden überrascht sein, wenn
ich an die Namen dieser isoUerten geistigen Individuen jetzt
den von Dr. Freud anschließe, der seit einigen Jahren über
beide Hemisphären berühmt und dessen psychanalytische
ist
289
sinnigen Terminologie wie in einer Laterne mit scharfgeschlif-
fenen Konvexgläsern eingefangen und nacheinander auf die
verschiedensten Gebiete des Daseins gerichtet hat; eine Proze-
dur, welcher wir unteranderem die merkwürdigen Bücher über
dieDeutung der Träume, über die psychopathologischen Phä-
nomene des alltäglichen Lebens, und jene vielberufene folgen-
reiche Sexualtheorie verdanken, nicht zu vergessen gewisser
cinderer Schriften, in welchen das Licht dieser gleichen Laterne
sich auf die Phänomene der Urzeit, auf
die Märchen und My-
then, oder auf die Urformen menschlicher Gemeinschaft rich-
tet, wie die Abhandlung über die Begriffe Totem und Tabu.
Sein neues Buch, das vor mir liegt, hat die »Psychologie der
Masse« zum Gegenstand. — Das Buch von Le Bon, »La psycho-
logie des foules«, ist seit einer Reihe von Jahren berühmt. In
der letzten Zeit haben sich eine Reihe von englischen Gelehr-
ten mit dem gleichen Thema beschäftigt, und es ist kein Zwei-
fel, daß der Krieg sie dazu getrieben hat.Denn in ihm hat der
Begriff der organisierten Masse in einer imerhörten und völhg
I
sinnfälhgen Weise über den des Individuums triumphiert, den
wir seit der Renaissance als den Drehpunkt unseres europä-
ischen Denkens anzusehen oder stillschweigend immer voraus-
zusetzen gewohnt waren. Es ist also nichts natürlicher, als daß,
als Reflex eines neuen Fühlbarwerdens der Problematik dieser
Dinge, Untersuchungen entstehen mußten wie McDougalls
»The Group Mind« oder Trotters »Instincts of the Herd in
Peace ajid War«, das in London im zweiten oder dritten Kriegs-
jahr erschienen ist. Die Analyse der Werke dieser Vorgänger
ist das, womit Dr. Freud sein neues Werk beginnt; er läßt
ihnen allen Gerechtigkeit widerfahren und äußert eine beson-
ders große Achtung für die hohen deskriptiven Qualitäten
des Le Bonschen Buches, das er in dieser Beziehung, der
deskriptiven, unerreicht nennt. Dr. Freud zieht dann mit der
Schärfe und Konzision, die ihm eignet, aus diesen Theorien
290
den innersten Kern und findet ihn, trotz einer wechselnden
Terminologie, in dem Begriff der Suggestion gegeben. Denn
auch die Formel, womit McDougall das Hauptphänomen der
Massenbildung: das unbedingte Mitfortgerissenwerden der
Individuen, erklärt — aus dem von ihm so genannten »prin-
ciple of direct induction of emotion by way of the primitive
sympathetic response« — auch diese Formel kommt »um den
,
291
Apostel im Korintherbrief redet, und der Eros des Piaton, ein
Wort, ein Begriff. In ihm ist alles vereinigt, und nichts ab-
getrennt: weder die Selbstliebe, noch die Eltern- und Kin-
desliebe, auch nicht die Freundschaft und die allgemeine
Menschenliebe, auch nicht die Hingebung an konkrete Gegen-
stände und an Der Terminus aus der Affekti-
abstrakte Ideen.
vitätslehre, der unter Dr. Freuds Händen ein so mächtiger
Hebel geworden ist, und das e\vige schwebende Wort der
Sprache sie sind identisch aber vielleicht ist der Abgrund der
: :
292
heit modifiziert. Ich finde es nicht zufällige, daß K. E. Neumann
sein unbeachtetes Leben hier führte und beschloß denn Wien ;
ist die alte porta Orientis für Europa. Noch finde ich es anders
als sehr übereinstimmend, sehr richtig, daß Dr. Freuds Theo-
rien von hier aus ihren Weg über die Welt nehmen — ganz
ebenso wie die leichten, etwas trivialen, aber biegsamen und
einschmeichelnden Operettenmelodien, mit denen sie doch so
denkbar wenig zu schaffen haben. Wien ist die Stadt der euro-
päischen Musik: sie ist die porta Orientis auch für jenen ge-
heimnisvollen inneren Orient, das Reich des Unbewußten. Dr.
Freuds Interpretationen und Hypothesen sind die Exkursionen
des bevrußten Zeitgeistes an die Küsten dieses Reiches. Ich
habe in meinem ersten Brief zu sagen versucht, wie sehr mir
das Grundelement der österreichischen Musik mit dem Grund-
element der menschlichen Existenz hier zusammenzuhängen
scheint: mit dem, was die französische Sprache als sociable be-
zeichnet, und was die Besonderheit des österreichischen gegen-
über dem deutschenWesen ausmacht. Nichts aber hängt mit
dem Sozialen und Soziablen so eng zusammen wie die Psycho-
logie, die nichts anderes ist als die systematische Anwendung
der sozialen Gaben. Gefühl für den andern, Aufmerksamkeit
auf seine zarteren Regungen und eine gewisse Fähigkeit zur
Identifikation, woraus das entspringt, was unerlernbar: der
Takt. Nichts scheint mir natürlicher, als von hier aus den Weg
zu finden um zu verstehen, daß man der deutschen Wissen-
schaftlichkeit gelegenthch den Vorwurf gemacht hat, sie lasse es
nennen mögen, ist auf vielerlei W^eise wirksam, und es ist an-
293
DRITTER BRIEF AUS WIEN
schen Theater vier Werke von Mozart: »Don Juan«, die »Ent-
führung aus dem Serail«, »Figaros Hochzeit« und »Cosi fan
tutte«, mit der Besetzung und dem unvergleichlichen Orche-
ster der Wiener Oper, ergänzt durch einige Sänger und Sänge-
294
(lern auf das zarte und schwer wägbare Verhältnis der Kunst-
werke untereinander. Ich habe der liuchausgabe des »Welt-
theaters« einige Zeilen vorangesetzt, die sich auf dieses Ver-
hältnis beziehen. Hier sind sie: »Daß es ein geistliches Schau-
spiel von Calderon gibt mit Namen >Das grofie Welttheater <,
weiß alle Welt. Von diesem ist hier die das Ganze tragende Meta-
pher entlehnt daß die Welt ein Schaugerüst aufbaut, worauf
:
eine Nonne, die Schönheit eine Hofdame. Sie sehen, dies geht
in seiner naiven Gebundenheit sogar noch weiter zurück als
295
Mysterien gezogen waren, — und Oberammergau mit seinen
Passionsspielen ist nur ein Überbleibsel dieser naiven thea-
tralischen Welt, sozusagen das letzte Spitzchen eines versun-
kenen Inselkontinentes. Erst der mit der Französischen Re-
volution über ganz Europa wehende Geist des Rationalismus
hat diese alten Kunstübungen weggeweht; ich habe ganz be-
wußt in dieser Arbeit und in einer früheren — in meiner dra-
matischen Version des uralten und allgemein-europäischen
»Jedermann «-Stoffes — diese Fackel aufgenommen, die hier
bei uns dem Boden lag, und ich glaube,
noch glimmend auf
daß mir dabei — wie es bei dem scheinbar bloß instinktiven
Handeln des Künstlers immer geht — eine verborgene Plurah-
tät die Hand geführt hat.
Das Neue, das ich zu dem überkommenen Stoff hinzugefügt
habe, liegt in der Gestalt des Bettlers. Dieser ist bei mir die
Hauptfigur des Spieles und steht als ein Einzelner allen den
Andern gegenüber. An die Stelle des passiven resignierten
Bettlers der alten Mysterien, des »Armen« aus dem Evange-
lium, der von selbst, durch sein bloßes Schicksal zur Seligkeit
auserwählt ist, in diesem Leben aber eigentlich nur ein Objekt
ist, an welchem die Anderen geprüft werden, habe ich den akti-
296
wohin zu goliörcii (to belang). — Die Fr;i<i;e, die goslellt wird,
ist in beiden Dramen in ganz großen Unn-issen die gleiche. I'Ls
ist die drohende oder höhnende Frage des Chaos an die »Ord-
nung« — und die Antwort, die O'Neill auf sie gibt, ist sozusagen
eine optimistische, vom Standpunkt der Gesellschaft aus, aber
mit einer Beimengung gräßlicher Ironie, indem er seinen
armen Bettler im Käfig des Gorilla den Frieden des Todes fin-
den läßt und endlich den Ort, wo er »hingehört«. Die gleiche
Frage, in allen Tonarten gestellt und variiert, ist der ganze
Inhalt des Expressionismus m allen Ländern — oder, wenn man
will, nicht Inhalt, sondern vorwärtstreibender Gärstoff: aber
der Expressionismus nimmt in seiner Fragestellung schon eine
Antwort vorweg, und zwar die entgegengesetzte als die von
O'Neill gegebene. Also vom Standpunkt dessen, was wir Welt
oder Gesellschaft nennen müssen, die pessimistische. Meine
Antwort war nicht optimistisch, aber auch nicht pessimistisch,
sondern dichterisch oder religiös. Ich lasse den enterbten Bett-
ler die Axt erheben gegen das Ganze, das ihm gegenübersteht:
König und reicher Mann, Bauer — der bei uns den gesicherten
konservativen kleinen Besitz bedeutet — und
Schönheit und
fromme Weisheit: also gegen alle und alles. Und es ist aus der
Situation und den vorher gewechselten Reden evident, daß er,
wenn er zuschlagen wird, stärker sein wird als sie alle und daß
das Gebäude einer tausendjährigen Weltordnung — wirklich
genau so alt ist ja die Synthese aus Christentum und halbrö-
chen Augenblick, wo er den Arm mit der Axt hebt, lasse ich
die Weisheit — unter deren Maske ich versucht habe, die An-
deutung alles dessen zu vereinigen, was wir an Hohem, Un-
selbstischem, Gott-Gleichem in uns tragen, sei es nun aus reli-
giöser oder aus profaner Tradition — ihre Hände zum Gebet er-
heben nicht für ihre eigene Rettung, an die sie nicht mehr
297
glaubt, noch für die Rettung der Welt, von deren Würdigkeit
gerettet zu werden sie nicht überzeugt ist, sondern für ihn,
gerade für ihn, den Zerstörer, im gleichen Augenblick,
und das
wo er das Werkzeug des Todes direkt über ihrem eigenen Haupt
schwingt und im Begriff ist, es niedersausen zu lassen. Was nun
in ihm erfolgt, liegt allerdings außerhalb des Gebietes des
eigentlich dramatisch Möglichen und konnte nicht in einem
gewöhnlichen Theaterstück, sondern nur in einem Mysterium
gewagt werden. Es geht etwas in ihm vor, das einem blitz-
teilung der Macht und der Glücksgüter ihm als eine gleich-
giltige Sache erscheint. Er ist mit einem Schlag ein Weiser ge-
worden, oder ein Christ, oder ein Erleuchteter, oder wie man es
298
-
299
liehen Alpenstädte, Priester und Klosterfrauen zwischen den
Amerikanern, den Skandinaviern, den Franzosen und Berli-
nern. Das Verdienst, diesen außerordentlichen Wirrwarr in-
kohärenter Individuen und Denkarten zu einem Publikum
ja zu einem vollkommen einheitlichen
amalgamiert zu haben,
und wahrhaft naiven Publikum, das sich in fast kindlicher
Weise »nehmen ließ«, liegt ganz bei der Inszenierung Rein-
hardts. Seine mise-en-scene war ganz der Ausdruck der Reife,
zu der dieser erste europäische Regisseur sich in den letzten
Jahren entwickelt hat: sie gab wenige Akzente, diese aber von
außerordenthcher Kraft, und sie hielt das ganze, ohne Pause
weit über zwei Stunden dauernde Spiel durch die große rhyth-
mische Kraft, mit der diese Akzente gegeneinander abgewogen
und im Verlauf des Spieles verteilt waren, so zusammen, daß
niemand eine Länge fühlte und das Ganze eigentlich atemlos
angehört wurde. Ein starkes rhythmisches Vermögen ist die
wesentliche Auswirkung des Kreativen in diesem großen Re-
gisseur; sein ungewöhnliches Raumgefühl ist nur das natür-
liche Korrelat dazu denn das Rhythmische
: ist der Versuch, die
Zeit so zu erfassen und zu gliedern wie den Raum. Die Aus-
einandersetzung mit dem Raum war in diesen fünfundzwanzig
Jahren, seit Reinhardt als Bühnenchef arbeitet, die eigenthche
Mitte seines Tuns. Und in dieser Tendenz, den Raum als
500
!;
spieler unserer Epoche zielt alles darauf, daß die Figur, die er
schafft, zwischen W^irklichkeit und Traum stehe, immer genau
zwischen beiden, in einem zweideutigen Licht, welches auf die
Wirklichkeit den Reflex des Traumes, auf den Traum ein
Etwas von Wirklichkeit wirft. Es besteht für mich kein Zwei-
fel, daß auch hier wieder in wunderlicher Verkettung des Spä-
ten mit dem Frühen etwas in unserem Phantasieleben an das
501
,
302
burger Großen Welttlieater« zurüek. Die mise-en-scene Rein-
hardts war liöclist einfach und bestand in nichts, als daß die;
Kirclie bis zu einer bestimmten Höhe mit einem Stoff von sehr
303
Tolstoi und hat in dieser Gefühlswelt sozusagen Wurzeln ge-
schlagen, — so umwehte auch seinen Bettler etwas Russisches,
und das Gespenst des Bolschewismus stand sehr deutlich hinter
seinen außerordentlichen, sparsamen und unvergeßlichen Ge-
bärden, seine Stimme Timbre ist,
aber, in der ein italienischer
304
VIERTER BRIEF AN »THE DIAL«
305
Amerikaner eher nach der vor etwa einem Jahr begründeten
ausgezeichneten Revue greifen wird, welche es sich zur Auf-
gabe gemacht hat, das Verständnis für auswärtige Pohtik in
den Vereinigten Staaten zu propagieren und deren leitender
Geist, wenn ich nicht irre, Professor Coolidge von Boston ist,
für den amerikanischen Sinn, der ganz auf die Gegenwart ge-
stellt ist und aus dieser Einstellung soviel momentane Stärke
zieht. Aber ich fürchte, trotzdem wird der Amerikaner, ich
meine denjenigen, der irgendwie die Hand an den Hebel sei-
306
-
307
lieh alle jene Individuen magisch an sich zu ziehen beginnt,
welche auf irgendeinem Gebiet Träger des europäischen Kunst-
und Geisteslebens sind. Es macht für mich dabei nicht einmal
einen großen Unterschied, ob diese Individuen Bergson oder
France oder Chaliapin, ob sie Reinhardt und Stanislawski oder
Anna Pawlowa, EUy Ney oder Marie Jeritza heißen und ob die
Subtilitäten von Worten und Sätzen, welche geistige Ahnungen
tragen, das Medium dieser von Europäern ausströmenden Ein-
wirkung bilden, oder die Schwebungen einer Stimme, die
Töne eines Instrumentes oder die Gebärden, durch welche ein
beseelter menschlicher Körper das Ungreifbare offenbart. Auch
vernachlässige ich durchaus und mit Willen jetzt die ziemlich
äußerlich und oberflächlich scheinenden Formen, in denen sich
diese Resorption vollzieht, und den zunächst nur gedankenlos
auf Zerstreuung gerichteten Sinn der Publikumsschichten,
welche die Aufnehmenden dieser geistigen Einflüsse sind. Aber
es kann niemandem, der auf diese Dinge hinsieht, die Analogie
zwischen dieser Situation entgehen und der Situation, die mit
dem letzten Jalirhundert der römischen Republik anfing und
den Geist aller darauffolgenden Jahrhunderte bestimmte —
welche Analogie man natürlich, ebensowenig als irgendeine an-
dere, plump ausbeuten darf: ich meine die Invasion des jun-
gen römischen Machtzentrums durch den graeculus histrio, den
griechischen Sophisten, den griechischen Künstler, die griechi-
sche Tänzerin. Mit ihnen ziehen Piaton und seine Träume,
Ägypten und seine Geheimnisse, es ziehen Persien, Babylon
und Syrien, Zoroaster, Mithras und schließlich das Evange-
lium ein. Die Oberfläche der Gesellschaft, auf welche sich
diese Invasion fürs erste ergießt, ist freilich auch nur die Schicht
der reichen Leute, der Zerstreuung Suchenden, der Blasierten
und Neugierigen; aber der Geist ist das subtilste aller Gifte,
und binnen einem Jahrhundert war Rom ausgehöhlt, und an
der Stelle einer verhältnismäßig jungen und naiven, halb-
308
bäurischen Zivilisation hauste die mächtigste und folfron-
reichste Vermischung von Geistern und Kchgionen, welche die
Welt je gesehen hat. Denn eine solche geistige Infusion dringt
blitzschnell in die Blutbahnen und Lymphgefäße, und ich
glaube, daß die Vereinigten Staaten in ihren dunklen Tiefen
eines werdenden Elemente bergen, die präde-
Voll^es alle jene
ihn als die Klimax der ihm durch vier oder fünf JaJirzehnte vor-
ausgegangenen materiellen und geistigen Entwicklungen, ja
delns, sage ich, erfolgte eine völlige Relaxation der Nerven und
des Willens, ein Zurücksinken in die melancholische Apathie
309
oder in die Sensualität; Artzybaschew hat in einigen seiner
Romane, die eine vorübergehende Berühmtheit erfahren haben,
diese Zustände geschildert. Wenn ich das Resultat der großen
Katastrophe von 1918 auf die jüngeren Deutschen in einem
Wort zusammenfassen sollte, so Mräre es genau der Gegenbe-
griff von Relaxation nämlich äußerste Anspannung, Anspan-
:
Freiheit und der der Entwicklung, durch den mein alle Myste-
rien des Daseins mehr verschleiert als erklärt hatte, wurden
verlassen. Der Begriff der Autorität erhob sich um so höher
510
lind reiner, als alle aktuellen Trauer der Autorität frofallen
311
zur Gesamtheit der vorhandenen jungen Männer aufstellen zu
wollen, wäre müßig und frivol, doch glaube ich, daß die Zahl
dieser von einer neuen und nicht dogmatisierten, aber beben-
den und pulsierenden Religiosität erfüllten Menschen eine sehr
große ist daß sie alle Schichten der Nation durchsetzen und an
;
dann noch bis über das Jahr 1840 fortlebte ; also ein Zeitgenosse
312
Zoitungen füllt; von Dingen aucli, die sich ganz äußerlich und
greifbar auswirken, indem von den Werken dieses bei seinen
Lebzeiten fast vergessenen, vor fünfzig Jahren kaum mehr dem
Namen nach gekannten Dichters eine Ausgabe nach der ande-
ren an zahllosen Punkten der deutschen Welt herausgebracht
und begierig vom Publikum aufgcnominen wird. Fremden zu
sagen, was einen längstverstorbenen lyrischen Dichter, dessen
Hymnen und Elegien von wunderbarer rh^-thmischer Gewalt,
aber dabei sprachlich sehr schwer, ja stellenweise wirklich dun-
kel sind, mit einem Schlag zum Führer einer ganzen schick-
salvollen Generation machen kann, so daß sie nach einem
Stupor von ein paar Jahren sich in ihm zusammenfindet, aus
ihm ihr Höchstes aufzubauen unternimmt, ist nicht leicht, und
ich muß mich mit emigen Andeutungen begnügen. Merkwür-
dig genug ist es aber, zu denken, daß besonders die Strophen
seiner letzten, vom Wahnsinn schon beschatteten produktiven
Jahre, die jahrzehntelang für schlechthm unverständlich, ja
einfach für sinnlose Produkte eines Wahnsinnigen galten, jetzt
wirklich verstanden werden, und zwar nicht von Einzelnen
sondern von Vielen, und daß ein unendlicher Gehalt sich von
diesen sibyllinischen Blättern in die Herzen ergießt und ein
solcher, der genau als einzig möglicher Trost für die gegen-
wärtige Stunde und Lage erscheint. Was ihn zum Führersym-
bol für eine tragische Stunde ganz besonders geeignet macht,
ist dies : er war eine tragische Gestalt, und dazu von wunder-
barer Reinheit; verkannt, ja völlig verschmäht von der Welt
seiner Zeitgenossen, geschlagen vom Schicksal auf jedem seiner
Wege, völlig einsam und dabei völlig gut bleibend, ja — wie die
edle Harfe — jedem Schlag mit immer reineren höheren Klän-
gen erwidernd. Damit ist aber nur das Pathetische erklärt, das
von seiner Gestalt ausstrahlt, und nicht das Geistige. Er war
aber, ganz abgesehen von all dem was ihn zu einer rührenden
poetischen oder, wennmanwill, mythischen Gestalt macht, eine
313
:
314
mit tief christlichen Reo^riffen und Intuitionen, der Ätlier und
Bacchos mit Christus. So sieht die Generation der Lebenden
ihre geheimste Sehnsucht, den Kern ilires rehi^iösen Traumes,
von diesem geheimnisvollen Führer schon vorgelebt. Sein
Stern strcdilt über ihrer geistigen Welt, und für den Augen-
blick ist diese Gestalt gemäß dem Willen der Sterne dem Her-
zen nälier und über die Herzen gewaltiger als selbst die gewal-
tige und immer tröstliche Erscheinung Goethes.
315
FÜNFTER BRIEF AN »THE DIAL«
VON allem, was sich seit meinem letzten Brief an »The Dial«
hier auf künstlerischem Gebiet ereignet hat und wert wäre,
nach Westen gemeldet zu werden, scheint mir das Beträcht-
lichste das Auftreten eines neuen lyrischen Dichters, Richard
Billinger, dessen Besonderheit darin liegt, daß er ein österrei-
chischer Bauemsohn ist und daß seine Gedichte sich auf den
Gefühls- und Vorstellungskreis dieses Standes beschränken, im
Ausdruck dieser Motivenwelt aber eine so große Kraft und so
starke Originalität bezeigen, daß sie durchaus als »hohe Litera-
tur« anzusehen sind. Vielleicht muß ich aber mit wenigen
Worten zu sagen versuchen, v^as das ist: ein österreichischer
Bauer. Der Film, welcher zwischen den so verschiedenen Wel-
ten der Erde vermittelt und sie alle durch das geheimnisvolle
Gefühl der Kontemporaneität zusammenhält, hat dem ameri-
kanischen Farmer gezeigt, was ein russischer Mujik, und dem
russischen Mujik, was ein amerikanischer Farmer ist. Der
Bauer, der das Hügelland und die Berggelände der österreichi-
schen Alpen bewohnt — und untere Österreich,
also das obere
316
Erdboden, zu seinem Stück Erde, doch bei weitem mehr noch
ein rehgiüses, beinahe mystisches ist als ein bloß kommerzielles
oder industrielles. Die Geräte, die ihn umgeben, und ganz so-
wohl die Arbeitsgeräte als die Möbel seines Hauses, haben seit
317
inneren Sinn — anstatt sich durch die Hand im Pinsel oder im
Messer des Holzschnitzers zu entladen — und entsteht ein Dich-
ter, so entfaltet und hält sich sein Talent gewöhnlich in der
Schicht des Dialektes, welche der Erde nah und gleichsam für
ihre allnächtliche Belebung, ihren Tau, noch erreichbar ist;
denn bei uns in Europa ist ja der Dialekt nicht die vernach-
lässigte und verderbte, häßlich gewordene Sprache der Ober-
schicht, sondern es ist der uralte Naturlaut, aus dem sich die
Edgar Poe liebte, er, der das Geheimnis der lyrischen Schön-
heit gekannt hat wie wenige. Es hat acht vierzeihge gereimte
Strophen. Der Rh}^hmus, Hebungen und Sen-
das Spiel der
kungen, ist ohne kunstmäßige Besonderheit: naiv, und fast
eintönig. Aber eben diese naive Eintönigkeit hat eine unver-
gleichliche Kraft, eben jenes Seltsame, Schaurige zu malen, das
gemalt werden soll: den trance eines Bauernkindes, das in der
318
Vollinondnaclit aus seiiKMu Bett steigt, in sein Hemd fahrt utul
auf dem Scliindeldach herumwandelt. Das eigentlich Wunder-
bare aber liegt in der aus diesen Kindesaugen, die der irance
aufreißt, heraus erblickten Welt — und im Doppelten dieser
Vision: einmal dem engen, im Nachtwind ächzenden Haus,
in dem alles bedrohlich und unheimlich ist : unheimlich lauert
der Ofen mit seiner verlodernden Glut ;
gespenstisch steht der
Eßtisch da und fängt an, in der nächtlichen Stille, sich selber
zur Mahlzeit aufzudecken : ein zerbrochener Teller, ein schar-
tiges Messer, verspießte Gabeln, ein schimmliger Brotlaib —
und keine Hand, die dies herbringt der Tisch selber tuts
: — und
dann, von dem hchtgebadeten Dach, das Freie, die unheim-
liche und herrliche Vision der Mondnacht: die zärtlich gur-
rende Taube, die klagende Eule der schleichende Nebel überm
;
Acker; das fast singende Grün der Wiesen (im stärksten Mond
ist ja der Rasen nicht schwarz, sondern wdeder grün) ;und das
Kirchturmkreuz, das mit einer betenden Inbrunst in den Him-
mel steigt — endlich der Nachbar unten, der angstvoll zu dem
nachtwandelnden Kind heraufstarrt, dann rennt, die Leute
holt — und über dem allen das Kind, ungreifbar, laufend und
hüpfend auf den Schindeln, die seinen Fuß küssen und es tra-
319
inaugurieren im Begriffe steht: das Theater in der Josefstadt
(Josefstadt ist ein Stadtteil in Wien und das dort befindliche
Theater ein intimes Theater für etwa achthundert Personen,
erbaut vor etwa hundert Jahren, und seitdem ohne Unterbre-
chung im Betriebe) — oder um es genau mit dem Titel zu be-
zeichnen, den er selbst dafür gewählt hat: »Das Theater der
Schauspieler in der Josefstadt, unter der Leitung von Max
Reinhardt«. Während Amerika vor allem als pro-
Sie ihn in
ducer größten Stiles gesehen haben, als den Regisseur der Mas-
sen, als den Rhythmiker des Raumes und des Lichts, will er
hier vor allem in einer Eigenschaft wirken, die nicht weniger
wichtig ist als jene andere und die vielleicht für das Theater
seines eigenen Landes die bedeutsamere und folgenreichere
ist: als der Entdecker und Erzieher neuer Schauspieler. Eine
ganze Schauspielergeneration ist in diesen zwanzig JaJiren aus
seinen Händen hervorgegangen. Einen Teil von diesen hat er
auch an das Josefstädter Theater berufen und sie werden ab-
wechselnd hier erscheinen : Werner Krauss so gut als Moissi,
Pallenberg so gut als Eugen IQöpfer. Unzweifelhaft wird er sie
vor neue Aufgaben stellen und wird Möglichkeiten an ihnen
entdecken und ans Licht bringen, die ihnen selber bisher nicht
ganz bewußt waren. Er war es, der zuerst aus dem stärksten
Komiker der mitteleuropäischen Bühne, aus Pallenberg, jene
Akzente herausgelockt hat, die nicht nur ans Tragische strei-
fen, sondern tief in dieses hineinreichen; und ich weiß es, daß
er mit Ungeduld darauf wartet, Alexander Moissi, dem stärksten
Hamlet und König Ödipus der neueren Bühne, eme Aufgabe
zu stellen, die ganz ins Bereich der Komödie gehört, freilich der
hohen, von einer tragischen Ironie umwitterten Komödie ich :
320
Farbe sprühen zu lassen: es ist die, neue Talente zu wecken
und zu bilden, ja aus allen möglichen Lebenssphären junge
Frauen und Männer heranzuziehen und aus ihnen Schauspieler
zu machen, oder den Schauspieler, der in ihnen schläft ohne
daß sie es wissen, zu ihrem eigenen Staunen ans Licht treten
zu lassen. Die beiden Experimente, dieihm beim »Mirakel« so
erstaunlich gelungen zu sein scheinen — das mit Lady Diana
Mannersund das mit Ihrer jungen Landsmännin Miß Pinchot -,
werden ihn nicht ruhen lassen, und wenn das Glück, das je-
der produktive Mensch in seiner Sphäre bis zu einem gewissen
Grad kommandieren muß, ihn nicht im Stich läßt, so wird aus
dem kleinen Haus in der Josefstadt noch einmal eine neue
Generation merkwürdiger Schauspieler hervorgehen, deren
Namen in zehn Jaliren berühmt sein werden. Es ist eine gute
Stelle für ein solches Experiment, dieses kleine Haus ; es ist ge-
seit jenem Tage vor mehr denn hundert Jahren, als Beethoven
321
Indem Reinhardt seine Saison mit einer Komödie dieser Art
eröffnet, in welcher das Stück fast nichts und der Schauspie-
ler eigentlich alles ist, wiederholt er in einer noch deutliche-
ren Weise die Andeutung, die er schon durch den Titel sei-
gen, es ist eine sehr weitherzige Liste. Sie enthält Stücke von
Galsworthy, Sutton Vane und A. A. Milne, ferner »Aimer«
von Paul Geraldy, und »Maitre de son coeur« jenes interessan-
ten Paul Raynal, dessen »Tombeau sous l'Arc de Triomphe«
in Paris so viel Widerstreit hervorgerufen hat; einige Rus-
522
scher Sprache sehe ich außer mehreren Arbeiten von mir zu-
nächst nur ein Stück eingetragen : das »Apostelspiel« des jün-
geren österreichischen Dichters Max Meli, eine Arbeit, an der
alles besonders und eigentümlich ist und der ich einen sehr
525
.
Aber hier haben Sie, statt daß ich eine Improvisation, die
nicht mehr Gewalt hat als eine Seifenblase, zerstöre, indem ich
sie mit den Fingern anfasse, den ungefähren Text der ganzen
Szene. Sie werden die ersten und einzigen sein, ihn zu lesen —
da er hier durchaus nicht gedruckt, sondern nur an diesem
ersten Abend ganz im Charakter einer wirldichen Improvisa-
tion gespielt werden wird.
524
MAX REINHARDT
mehr er das eine ist, desto vollständiger ist er das andere ; was
er schafft, ist ein Gewebe aus Schicksalen und Gestalten, aber
er bewirkt diese Schöpfung dadurch, daß er ineinandergreifen-
de Rollen und Verkettungen fruchtbarer, d.h. wirksajner schau-
spielerischer Momente halluziniert; was das kreative Genie
dann noch GöttHches hinzutut, das ist eben das Geheimnis des
325
kreativen Genies. Ich weiß sehr wohl, daß ich mit obigen Wor-
ten nicht das kreative Genie von Shakespeare und MoHere um-
schreibe, wohl aber ihre besondere Schicksalslage und die Form,
unter der das Dichterische aus ihnen hervortritt, in ihrer un-
geheuren Unterschiedenheit von der Form, unter der aus einem
Shelley oder Whitman der Strom ihrer flutenden h}Tnnischen
Gedcinken oder aus einem Richardson oder Balzac das Gespinst
ihrer epischen Erfindungen hervortritt. Zu dem geborenen
dramatischen Dichter nun ist der geborene Schauspieldirektor,
der geborene große producer^ im Verhältnis der Zwillingsbrü-
derschaft; aber seine Situation ist noch sonderbarer, und die
Behinderung des Schicksals, wodurch ihm das, was er sein soll,
326
weitem das größere Paradoxon ist aber di(^se Situation des pottt
producer. Denn der Platz, den er innerhall) des tlicjatralisclien
327
de, wenn nicht ein ungeheures Maß von Trägheit das Erstau-
nende, Schwingende in uns nach einer Weile wieder zur Ruhe
brächte.
Der Schlüssel, dieses Phänomen zu verstehen, liegt hierin:
der dramatische Text ist etwas Inkomplettes, und zwar um so
auf der Höhe seines Lebens, schreibt einmal hin: er sehe ein,
daß der wahre Dramatiker sehr viel arbeiten, aber immer nur
Skizzen verfertigen sollte, — aber er traue sich nicht genug
Talent zu, um in dieser Weise zu arbeiten. Nichts ist wunder-
barer als, mit etwas gereiftem Blick, bei den größten Dramati-
kern der neueren Welt, bei Shakespeare und bei Calderon, zu
erkennen, wie sehr alles, was sie gearbeitet haben, bei aller
magischen Komplettheit doch den Charakter der Skizze bei-
die Vision der Welt und des Geschickes, die der »Macbeth«
übermittelt, kerne weniger reiche noch weniger vollständige.
Wer würde zu behaupten wagen, »Hamlet« habe weniger In-
halt als der »Don Quixote« oder die »Odyssee«, der »Mis-
anthrope« weniger als die »Princesse de Cleves«? — Aber der
Romanschreiber geht darauf aus, mit seinen Worten das Ganze
zu geben, und die Phantasie seiner Leser, wie schon die Phan-
tasie der Zuhörer des antiken Rhapsoden, bleibt rein aufneh-
mend und passiv. Aber der Dramatiker hätte sein Spiel schon
verloren, wenn es ihm nicht gelänge, die Zuschauer ebenso wie
die Schauspieler zu seinem mittätigen Werkzeug zu machen;
nicht umsonst sind die Zuschauer eines Schauspieles Nachkom-
men des ursprünglichsten Chores, einer tanzenden und singen-
328
den Schar, die den Protaironisten, den «geopferten ITc^ros, um-
gab, mit ilim litt und jubelte; ja die Zuschauer sind niemals
etwas anderes als dieser erweiterte Chor, also Mitspieler und
Halluzinierte. Darum sollte im Drama alles im Zustande der
Andeutung bleiben, denn die vibrierende Phantasie des Mit-
spielers darf man nicht binden, wie man die Phantasie des
ruhigen Zuhörers nicht freilassen darf. Das Letzte noch muß
im Roman mit Worten gegeben sein. Daher die Ausmalung der
Gemütsvorgänge sowie des äußeren Schauplatzes, die Fülle und
Genauigkeit aller äußeren und inneren Angaben. Im Drama
wird das Letzte halluziniert — von der Phantasie des mitver-
flochtenen Zuschauers (dies, in Parenthese, ist jene aristoteli-
sche Reinigung der Seele durch Furcht und Mitleid) — und,
alles, was der Dichter und seine Gehilfen, der Regisseur, der
Maler, der Beleuchter und der Schauspieler, darbieten, ist
329
um nach allen Richtungen auseinanderzulaufen — wollen diese
Elemente des Theaters sich immer wieder voneinander eman-
zipieren. Die Emanzipation des Schauspielers, das ist das leere,
für einen Virtuosen geschriebene Rollenstück, oder endlich die
commedia delF arte : der Weg, den das volkstümliche Theater
des siebzehnten Jahrhunderts gegangen ist. Die Emanzipation
des Malers, das ist Gordon Craig: the dumb show, die Panto-
mime, der festliche Aufzug an Stelle des dramatischen Ganzen.
Der Clown, der körperliche Komiker, hat sich schon längst von
seiner Zwillingshälfte, dem komischen Schauspieler, emanzi-
piert: zu Shakespeares Zeit waren noch beide beisammen. —
Reinhardt liebt alle diese sinnlichen Elemente des Theaters un-
säglich. Er will ihrer keines entbehren, und er hat eine eiserne
Hand, um sie zusammenzuhalten. Er braucht sie alle, um sich
ihrer im entscheidenden Moment zu bedienen den : verzauber-
ten Leib des großen Schauspielers ebenso wie die Grimasse des
Clowns und die Zaubereien des Malers. Aber er unterordnet sie
330
schwebt in der Tat über jedem Ding, über jedem Ereignis ein
Etwas, das sich sozusagen darstellen will und sich von dem
Ding um, über dem Ding schwebend, dessen Existenz erst
lost,
531
I
Raum für ihn frei zu sein scheint, wie bei einer Operette, ver-
steht sein elastischer Geist sich in diesen Raum zusammenzu-
ziehen und aus ihm hervortretend sich auszudehnen und das
theatrahsche Ganze zu einer Lebendigkeit und Vollständigkeit
zu heben, von der man in dem einen wie dem anderen Fall
überrascht ist. Er kennt, wenn er an eine Arbeit herantritt,
keinen Unterschied des Ranges zwischen der einen und der
anderen; er wird einer Operette und einer Pantomime nicht
sparsamer vom Seinigen zuteilen als einem Shakespeare oder
Schiller. Er wird immer mit Verschwendung geben, und sein
einziger Zügel wird das Axiom sein, das ich ihn einmal habe
aussprechen hören: Damit ein Theaterstück zu seiner letzten,
vollständigsten Wirkung komme, muß der Dichter dem Regis-
seur freien Raum lassen, der Regisseur dem Schauspieler, der
I
Schauspieler aber dem Zuschauer: in dessen Gemüt erst darf
332
REINHARDT BEI DER ARBEIT
333
Berlin oder Wien eines von Shakespeares Stücken in langen
Serien herunterspielt, sondern sie verteilen sich über das ganze
deutsche Sprachbereich: denn das Theater in Basel oder in
Innsbruck hat keine geringeren Ambitionen als das in Kassel
oder in Königsberg oder in Wiesbaden — und wer in Geschäften
oder als Tourist ein Jahr lang kreuz und quer durch die deut-
schen Länder reist und dabei die Anschlagzettel der Theater
beachtet, dem könnte das Erstaunliche begegnen, daß er mit
Ausnahme vielleicht von »Cymbeline« oder von den »Edel-
leuten von Verona« — und von einem Teil der »Historien«,
etwa »Heinrich VI.« — den ganzen Shakespeare auf der Bühne
sieht, nicht etwa nur, was man die Hauptwerke zu nennen
554
Schaft gehört, stattfinden, bevor sicli dies verändern kcinnte.
Auf diesen im Laufe von sechs Gene-
geistigen Tendenzen, die
rationen der Nation in Fleisch und lUut gegangen sind, ruht
der Stolz der deutschen Bühne und ihr nicht unberechtigter
Anspruch, in gewisser Beziehung als die erste in Europa ange-
sehen zu werden. Nicht ebenso hoch vermag ich die eigentlich
schauspielerische Begabung der Nation anzusehen. In dieser
Beziehung sind die Russen ohne jeden Zweifel stärker als die
535
löst sich auf. Das, was Höheres versucht wird, ist immer wieder
die Sache einer kleinen Minorität: ein paar Schriftsteller, ein
paar Maler, ein paar reiche Männer, oder ein weiblicher Mäzen
wie Lady Cunard, vereinigen sich und starten eine theatra-
lische Darbietung von sehr hohem Niveau und großer Beson-
derheit; das Ereignis macht eine gewisse Sensation, die aber
wieder nicht über den Kreis einer Minorität hinausgeht; und
das große Publikum, also die Nation, bleibt für die Befriedi-
gung ihrer theatralischen Bedürfnisse angewiesen auf Unter-
nehmer, die rein kommerzielle Gesichtspunkte haben, und
welche das Publikum dadurch immer tiefer in seinem Ge-
schmack sinken lassen, daß sie sich von ihm führen lassen, an-
nach jedem neuen Stück Arbeit wie ein Kind nach einem neuen
Spielzeug mit der ganzen
: Unbekümmertheit eines Phantasten,
der — bevor er die Zuschauer bezaubert — vor allem sich selbst
bezaubern will, und für kein Wesen, das ich kenne, hat der
Doppelsinn des Wortes »spielen« — auf die theatralische Kunst
angewcUidt — so sehr seine tiefe Bedeutung bewalirt wie für ihn.
336
Aber seine Phantasie ist sehr anspriiclisvoll ; weit anspriirlis-
voller als die der meisten Menschen. Um sie zu belVie(hf(en,
braucht er als Unterlage für sein »Spiel« die theatralische Er-
findung eines großen Dramatikers oder mindestens eines sehr
merkwürdigen modernen Autors, der irgendeine Seite der Exi-
stenz in besonderer Weise spiegelt. Und um diese Erfindung in
das volle dramatische Leben zu tauchen, das seine Ansprüche
erst befriedigt, braucht er eine große Skala schauspielerischer
Individualitäten, genau so wie ein großer Maler auf seiner Pa-
lette einen großen Reichtum von Tonwerten braucht — er
braucht den Maler, den Musiker, den Maschinenmeister, den
Beleuchter, den Choreographen — braucht und verbraucht sie
357
ganz der großen Tradition des österreichisch-deutschen Thea-
ters. Er ist, als Individuum, so voll Lebenskraft, daß er alles,
auch das sehr Entfernte oder der Zeit nach sehr Entlegene, nur
als ein Stück Leben zu sehen vermag. Er sieht nichts historisch,
sondern edles unmittelbar — und alles mit der Phantasie des
Theatermenschen. Eine fremde künstlerische Persönlichkeit,
eine fremde Zivilisation, eine ferne Epoche — diese Schranken
existieren für ihn nicht. Lady Diana Manners, oder Maria
Carmi aus Florenz oder Fräulein Darvas aus Budapest : er sieht
eine schöne Frau, eine Gestalt mit der Möglichkeit großer Ge-
bärden, ein schönes Gesicht mit der Möglichkeit einer gewissen
Ausdrucksskala —und er eignet sich diese Möglichkeiten an. Er
hat viel von Gordon Craig genommen, diesem einsamen Vor-
läufer, dessen Traum wa.T, die Bühne durch das wechselnde
338
:
viele Rollen enthält und darunter fast keine große Rolle, war
339
Darbietungen ihren eigenen Rhythmus zu geben und durch
diesen Rliythmus jede zu einer organischen, leidenschaftlich
bewegten Einheit zu machen — eine Einheit, die ihnen der
Dichter natürhch verheben hat, die aber auf der Bühne mit
solcher Macht fühlbar zu machen nur dem ungewöhnlichsten
Regisseur gelingt.
Reinhardts Stärke ist dieses : er erfaßt mit der tiefsten Seele
die fließende Bewegung, die jedem Drama innewohnt, und hat
einen genialen Instinkt für die inneren Veränderungen in die-
ser Bewegung, die man dem Zuschauer fühlbar machen muß,
um ihn durch einen rhythmischen Zauber in eine Art trance
zu bringen; hierin ist seine Tätigkeit der eines Kapellmeisters
verwandt. Daran aber schließt sich das Zweite : er erfaßt das
dargestellte Drama, den Raum, in dem es dargestellt wird,
und die Gesamtheit der Zuhörer als die drei Komponenten einer
Einheit; und diese drei Komponenten beständig in der Hand
zu behalten, um die Einheit zwischen ihnen immer lebendig
zu bewahren, das ist es, worauf er die ganze nicht gewöhnhche
Macht seines Willens richtet. Ihm vollendet sich der Prozeß der
theatrahschen Darbietung nicht auf der Bühne, sondern in der
Phantasie des Zuschauers, und als das stärkste Mittel, die Phan-
tasie des Zuschauers in die Gewalt zu bekommen, betrachtet er
den Raum, in welchem er Theater spielt. Daher sein beständi-
ges Wechseln der Räume, in denen er spielt, wovon in zehn-
tausend Zeitungen so viel geredet wird und welches von so
hch durch seine Höhe, wie eine Kirche, oder feierlich durch
340
seine Weite, wie das antike Theater, ob geheimnisvoll und an
eine Grotte erinnernd, oder freudig vind gemütlich wie ein Ge-
sellschaftssaal, alle diese Dinge sind durch iMonate und oft
Jahre der Gegenstand seiner Träume und ; seine Träume wer-
den schließlich immer realisiert. Er hatte in Berlin zuerst ein
Theater von gewöhnlichem Umfang unddarm Komö-
spielte
gestellt smd also Bernard Shaw und Wilde, aber auch Maeter-
:
linck oder Knut Hamsun, manches von Goethe, und vor allem
die geisterhaften Stücke aus der letzten Periode Strindbergs.
Seitdem hat er ungefähr in jeder Art von Raum gespielt, den
man sich vorstellen kann. In einem Zirkus ; in einem mit Go-
belins behängten Saal der verlassenen Kaiserburg in Wien im
;
341
das für die Abhaltung von Automobilausstellungen und von
Sportfesten erbaut war — hatte er
, die Kühnheit, die zwanzig-
oder dreißigtausend Zuschauer nicht ads eine Masse zu behan-
debi, vor deren Augen er die Dekoration, eine mittelalterliche
Kirche, aufbaute: sondern er nahm diese Zuschauermasse als
342
Durchführung immer andere Mittel. Aber er läßt auch die er-
folgreichen Mittel nie stärker werden als er selber ist. (Wenn
eines arbeitenden Menschen Mittel stärker werden als er, ent-
steht die Routine, die das Gespenst der Produktivität ist.) Rr
weicht jedem System aus. Nie hat er sich für irgendein deko-
ratives Schema entschieden. Er hat manchmal mit ganz rea-
listischen Dekorationen gespielt, wo es ihm dem realistischen
Charakter des Stückes angemessen schien. Andererseits hat er
sich oft die größte Mühe gegeben und die berühmtesten Maler
zu Rat gezogen in einem Fall, wo jeder andere Theaterdirektor
gewöhnliche Möbel in eine gewöhnliche Zimmerdekoration ge-
stellt hätte : so erinnere ich mich z. B. an die Dekoration für
Ibsens »Gespenster«, welche er mit Hilfe des berühmten nor-
wegischen Malers Edvard Munch geschaffen hatte, der eigens
um dieses Zimmer zu schaffen für Wochen nach Berlin kom-
men mußte. Es war ein mittelgroßes Zimmer, eine Art Salon
im Geschmack der 1850er Jahre; aber die Zusammenstellung
der Farben und auch die Form der Möbel atmete einen Geist
der Schwere, der Traurigkeit und des Verhängnisses, der den
Geist dieser modernen Schicksalstragödie in sich hielt, wie eine
tragische Ouvertüre die Motive einer Oper in sich hält. Er hat
in gewissen Fällen eine große aufsteigende Treppe — zu einem
Palast oder Tempel führend — zur Hauptsache der Dekoration
gemacht, B. im »König Ödipus« aber er hat auch aus diesem
z. ;
343
-
bespaare aus der Großstadt lagern, wenn sie ins Freie gefahren
[sind] und eine Waldwiese erreicht haben. Aber er hat mir vor
weniger als einem Jahr gesagt, daß er daran denke, demnächst
in Wien den »Sommernachtstraum« wieder zu spielen, aber
sozusagen ohne Dekorationen, auf einer leeren Bühne, nur vor
einer grünen, einen Wald darstellenden Tapisserie. Interpre-
tiert man diesen Ausspruch, so ergibt sich dies : er hat die sel-
tene produktive Kraft, sich auch von seinen eigenen früheren
Einfällen, selbst den erfolgreichsten, wieder unabhängig zu
machen, und er wird so wenig der Sklave des Apparates, daß er
mehr und mehr darauf hinarbeitet, alles was man Apparat
nennt von sich zu werfen. Aber ich sehe keine Grenzen für
seine Fähigkeit, aus jeder neuen Situation neue theatralische
Möglichkeiten zu ziehen. Wäre er zufällig während des Krieges
gefangengenommen worden und, wie so viele Künstler der
kämpfenden Nationen, genötigt gewesen, Jahre in einem
Kriegsgefangenenlager, beispielsweise in Sibirien, zu verbrin-
gen, so zweifle ich nicht, daß er in diesem Gefangenenlager
nicht nur außerordentliche Theatervorstellungen organisiert
hätte, sondern, was mehr ist: er hätte genau aus den Umstän-
den und Beschränkungen des Ortes, aus der traurigen und be-
sonderen Situation völlig unerwartete Hilfsmittel für die Phan-
tasie heranzuziehen vermocht, und hätte vielleicht am Rande
der Mandschurei oder an dem Ufer des Amur, zwischen Stachel-
drähten, mit dem Ausblick auf eine Militär baracke, und mit
einer Besetzung, gemischt aus gefangenen Europäern, Sibiria-
ken und Chinesen, eine unvergeßliche Vorstellung des »König
Lear« gegeben, mit der asiatischen Steppe anstatt der »Heide«,
und einem hölzernen Truppenspital als Hintergrund, dem er
durch irgend etwas den glaubhaften Charakter einer Königs
bürg gegeben hätte.
Vor einem Jahr ergab es sich, daß wir durch die Güte und
Kunstliebe des Erzbischofs von Salzburg die Erlaubnis bekamen,
344
:
tiger Palast, in dem Gottes Altar steht. Ihr Inneres ist sehr
prunkvoll und freudig; obwohl durchaus mit spiegelndem far-
um was für eine Art von Gebäude es sich handelt. Der Hoch-
altar war verhangen und ein Behang von der gleichen Farbe
scharlachrot — die kirchliche Farbe der Märtyrer — , lief bis zu
einer Höhe von fünf oder sechs Metern rings um die Kirche.
Mit dem gleichen Stoff war das einfache Gerüst bekleidet, wel-
ches Reinhardt für das Spiel entworfen hatte: nichts als ein
Podium, in der ganzen Breite der Kirche, vor dem Hochaltar;
nächst dem Altar war es höher, eine Art Oberbühne von dort ;
stieg man über fünf Stufen auf die niedrigere vordere Bühne
herab. Alle Nebenaltäre waren verhangen; das Scharlach des
Behanges und der Marmorton der Wände waren die einzigen
545
ordentlich war die Wirkung, welche er aus der feierlichen und
ungewohnten Höhe eines solchen Raumes gezogen hatte: die
Worte, sei es der Strenge, sei es derGnade und des Trostes,
welche die Engel in verschiedenen Augenblicken des Spieles
unter die handelnden Menschen zu werfen haben, ertönten von
ganz oben, aus kleinen Loggien, die der Baumeister im Bereich
der Kuppel angebracht hatte; und es schien wirklich wahr-
scheinlicher, daß die weißen beflügelten Gestalten, die plötz-
Nonne — nacheinander
, abholt, um sie von der Bühne zu füh-
ren : Reinhardt hatte dieses Abholen zu einem Tanz des Todes
mit jedem einzelnen seiner Opfer und wie für an-
gestaltet,
\
346
mener Gymnast, war während des ganzes Spieles, un])ewef^lich
wie eine Statue, auf einer hohen, mit dem Schar lachstolT über-
spannten Säule gestanden. Man hätte ihn und einen in gleicher
Höhe ihm gegenüber postierten Engel ebensogut für figiirale
Teile der Kirchenarchitektur als für Mitspieler halten können.
Jetzt, im Augenblick da Gott ihm befehlen läßt, m die Hand-
lung einzugreifen, verläßt er sein hohes Postament, indem er
auf einer unsichtbaren, unter dem Scharlachstoff verborgenen
Leiter, lautlos, wie mit Spinnenbeinen, herabsteigt. Zugleich
trommelt er, mit zwei langen Knochen als Trommelschlegeln,
auf einer unsichtbaren — d. h. nicht vorhandenen — Trommel
einen Rliythmus, der allen Zuhörern durch Mark und Bein
geht. (Unnötig, zu sagen, daß dieser furchtbare Rh3^hmus tat-
sächlich von Pauken und Gongs auf der Orgelgalerie ausge-
führt wird jeder der Zuhörer
;
würde schwören, er gehe von der
nicht vorhandenen kleinen Trommel aus, die am Gürtel des
Todes befestigt ist.) Immerfort diesen Rh}^hmus wirbehid,
nähert er sich mit Schritten von unheimlicher Grazie (es ist ein
sehr schön gewachsener Mensch, in Schwarz, in der Tracht
eines spanischen Kavaliers) der ersten der Figuren, die er abzu-
rufen hat: dem König. Nach rückwärts schreitend, die leeren
Augenhöhlen auf den König geheftet, zwingt er durch die Ge-
walt dieses getrommelten Rhythmus diesen, vom Thron herab-
zusteigen und ilim Schritt für Schritt nachzufolgen. Aber die
Gewalt dieses Trommeins ist eine solche, daß von ihr der König
gleichsam gerissen und geworfen %\'ird : er schreitet nicht mehr
wie ein lebender Mensch, der von einem Instrument geführt
wird, sondern es ist so, als säße seine Seele nicht mehr in ihm,
347
seinTrommeln — jäh herum und führt ihn an seinen Standort
zurück. Dann höh der Tod die nächste Figur: den Reichen
oder die Schönheit, und tut den gleichen Gajig nach vorwärts
und zurück wieder mit ihr, und so nacheinander mit allen
sechs Gestalten. Und während dieser sechsmaligen Wieder-
holung der gleichen unheimlichen Tanzfigur saßen die Zu-
schauer wie gebannt und festgeschraubt, und jener mittel-
alterliche Schrei »Timor mortis me conturbat« schien in jeder
Kehle aufzusteigen und in jeder Kehle steckenzubleiben.
So weit kann die Kraft eines Regisseurs gehen, wenn er das
starke, durch die Sinne bis in die Tiefe des Herzens greifende
mimische Motiv zu erfinden und im richtigen Moment einzu-
setzen weiß.
Ich habe eine einzige Sache hier skizziert einen starken
; Mo-
ment aus einer seiner Inszenierungen. Und Reinhardt hat in
seinem Leben weit über hundert Inszenierungen gemacht und
zu jeder ein dickes Regiebuch verfaßt, das immer drei- und
viermal so viele Worte enthält als das Stück selbst. Jedes dieser
Regiebücher zeichnet für jede einzelne Szene des Stückes und
für jede Zeile des Textes die wechselnde Lautstärke vor, jede
einzelne Pause und ihre musikalische und pathetische Bedeu-
tung; desgleichen alle Wechsel der Lichtstärke und der Fär-
bungen, die das Bühnenlicht annimmt, um mit dem Wechsel
der Stimmung völlig übereinzustimmen; alle jene die Hand-
lung begleitenden Geräusche, vom unterirdischen Rollen und
Hauchen des Windes bis zur vollen Musik, in deren aller
leisen
Verwendung Reinhardt besonders reich ist; endlich jede Ge-
bärde jedes einzelnen der Mitspielenden bis zum geringsten
Statisten, und alles, was zu dieser Gebärde gehört: die Körper-
lichkeit des Schauspielers, die er nach seinem festen Phantasie-
bild aus der ungeheuren Masse von Schauspielern, die er im
Gedächtnis trägt, heraussucht, das Kostüm und endlich das Re-
quisit. Nie wird in einer seiner Inszenierungen eine schöne Da-
348
nie einen Handspiegel in die Hand nehmen, über dessen Form
er nicht eingehend nachgedacht hätte; und ich habe ihn auf
einem Stück Papier zehn Entwürfe für dieForm der Streitaxt
machen sehen, welche er in Macbeths Iland gibt, als dieser
seinen Gang zu Hekate und den Hexen antritt: es war genau
die unheimliche Waffe, die ein mutiger Mann in einer ver-
zu sichern.
Reinhardt ist der vollkommene Visionär der Bühne und
; er
weiß, daß es in einem Traum oder einer Vision nichts Gleich-
giltiges und Nebensächliches gibt; dies ist die große Stärke
349
1
I
i
ENTWÜRFE
MUTTER UND TOCHTER
II
recht zu quälen.
III
353
ten Weltanschauung zurückgekehrt. Verfängt sich in die Liebe
zu dem Musiker am meisten dadurch, daß sie ihre Mutter ihm
gegenüber äußerst verändert, fast demütig sieht. Sie gibt sich
IV
L Akt. Mutter bringt, um sich das Zusammensein zu er-
354
: .
DIVERTISSEMENT
355
Der Kjiabe allein. Robinson und Freitag umtanzen ihn. Aber
sie verlocken ihn nicht mehr.
Der Kjiabe und das junge Mädchen, sie kokettiert mit ihm,
läßt ihn aber stehen und fliegt ihrem um fünf Jahre älteren
Verehrer zu: Walzer ä trois.
Die junge Frau kokettiert auch mit ihm — kokettiert aber zu-
gleich auch mit dem Verehrer des jungen Mädchens, den sie
356
.
357
Menschen, nicht außerhalb. Es ist alles Unrecht. — Aber Ihr
Euch besiegtgeben. Ich bin nicht gekommen, Euch auf
sollt
ein kleines Gerede im Munde der Leute, so viel wie ein be-
kannter Straßendieb oder ein Prediger. — Essex, — Cäsars
Ruhm entgegenhaltend. — Der Mann : Euch bleiben vielleicht
358
Hufe hob, wo ein Sterbender \ci^. Ob Ihr srlmldi^ oder un-
schuldig seid, ja was Ihr gewollt und nicht gewollt habt, und
was Ihr, wenn Ihr das erste erreicht hättet, weiter würdet ge-
wollt haben, — das ist Euch so verschlossen, wie den Richtern
Euer Denken. — Essex prahlt mit seinen großen Gedanken, —
mit der Megalopsychia. — Der Mann Ihr habt nie einen gro- :
sei; daß Essex nie einen großen Gedanken gehabt habe. Seine
Andeutung, was das sei, ein großer Gedanke: der Grundge-
danke des Gründers der Quäkersekte könne groß genannt wer-
den. Sein (des Sprechers) großer Gedanke sei die Notwendig-
keit im Ablauf des Schicksals. Ein großer Gedanke erfüllt den
Genius und feit ihn gegen alles außer gegen sein Schicksal.
Der den Richter erfüllende Gedanke der Notwendigkeit. Jenen
Gesichtspunkt wiedergewinnen, den ich in Aussee in diesem
Herbst bei der Betrachtung der Leargestalt hatte er : ist nichts
als die Hieroglyphe seines Schicksals und er wird erst durch das,
was ihm als ein (scheinbar) Zukünftiges droht. So wirkt der
Richter als Geburtshelfer zum Tode. »Ich sah Euch öfter und
da sah ich Eure Zukunft und wollte Euch als Geburtshelfer
dienen.«
Amor fati : es hcindelt sich nicht um Versöhnen mit dem Schick-
sal, sondern das Schicksal Lieben, Ihr habt Eure Abenteuer ge-
liebt, nicht Euer Schicksal. Hier erst ist Eure Stunde. Ich nahm
mir Euch in das einzige Verhältnis zu treten, in das ein
vor, zu
Mann zu einem Mann treten kann, es sei denn das der soldati-
schen Unterordnung, — aber ich rede von einem Verhältnis, in
welchem beide alle ihre Kräfte ins Spiel bringen.
Staunender Blick Essex' auf das andere Wesen, das so in sein
Leben eingreift: wie kommt der zu mir? was bringt dich mir
so nahe? — Von einem bestimmten Moment sagen sie sich Du.
Essex umarmt den Richter.
359
.
das hätten, was wir, weil wir es haben, für das ansehen, was
wir haben mußten (Hegels Geschichtsauffassung).
Geistig schwer ist das Geschehen zu tragen, nicht daß das Ge-
müt zerbräche, sondern die Fakultät, welche zu entbinden und
zu urteilen gewohnt ist. — Es handelt sich nicht um große
Dinge.
Das »Scheinbare« und das »Unscheinbare«: das »Wirkliche«.
— Das Tao : in seiner Weise die Wahrheit aus den Schöffen aus-
zuhorchen, gewaltlos.
Abschied: ich gehe jetzt nachtmalilen. — Meine Söhne — Euer
Sohn ; mein ältester Sohn liebt mich nicht ... — Essex winkt
ihm ab; er entfernt sich wortlos.
1925 (?)
360
BRIEFE UND BEITRÄGE
Antwort auf die Umfrage des »Svenska Daghladet«
563
empfinden, die gemeinsam mit uns um Europas wegen und
im Einklang mit Europas uraltem Willen in der Einheit dieses
Reiches zusammengeschlossen sind.
Es wäre möglich, daß die Gedanken, die sich bei uns aus die-
ser ernsten Selbstprüfung letzten Endes ergeben, in gewissem
Sinn auch die Antwort auf die Frage enthalten, die Sie, hoch-
verehrter Herr, im Namen Ihrer großen Zeitung an mich ge-
richtet haben. Denn es will uns scheinen, daß auf diesen Krieg,
wie er auch enden mag, sowohl hier bei uns wie in ganz Europa
eine neue geistige Orientierung folgen muß. Ein so giganti-
sches Ereignis wie dieser Krieg kann nichts anderes als der
Abschluß einer ganzen Epoche sein, deren tiefste Tendenzen es
364
lers, Kaiits und Goethes, aus der seine RilduriG; hervorge-
gangen war. Wir vermögen nicht auf gleiclie Weise zu ur-
teilen. Wir ahnen, daß Weg gegangen werden nnißte
dieser
und daß die geistige Welt, indem Europa ihn ging, durch Ele-
mente bereichert wurde, deren Kostbarkeit der »Ilumanus«
des achtzehnten Jahrhunderts weder erfassen noch erraten
konnte. Und zugleich aJinen wir, daß sich in der jetzigen Kata-
strophe gewisse Tendenzen innerhalb der materiellen Zivili-
sation, die das neunzehnte Jahrhundert uns vererbt hat, wie
eine brandende Woge brechen und sich dadurch auflösen ; diese
materielle Zivilisation wird sich zweifellos weiter entwickeln,
aber — das dürfen wir hoffen — gewissermaßen unter einem
anderen Stern und mit der Möglichkeit, sich selbst zu über-
winden. All das sind verschiedene Aspekte einer gewaltigen
geistigen Umwälzung, an die ich ebenso fest glaube, wie ich sie
erhoffe, und es scheint mir, daß nach diesem Krieg die Erde
für die Saat eines neuen Europa umgepflügt werden muß. Das
gemeinsam Durchlittene — denn Leiden wenn auch in Gestalt
von Handlung ist ja etwas allen Nationen Gemeinsames — wird
bei den Völkern und ihren wirklichen Führern, die für mich
nicht mit den scheinbaren augenblicklichen Führern identisch
sind, Kräfte befreit haben, angesichts derer der Verstand bloß
365
;
366
Idee einer durchaus selbständigen und dem Sclieingcschmack
einer EpocJie widerstrebenden Monats sehr ift
367
;
Borchardts Dante.
An Stelle des Essays der alles vermischt und verflacht, rhyth-
misch wiederkehrende Untersuchungen, gleichsam Unterhal-
tungen, wobei auch die Toten zu Worte kommen; beispiels-
Zusammengehaltene.
368
schölle Antiqua, in zwei, vielleicht in drei Größen. Keine
wohlfeile Zeitschrift, aber keine Preise für snobs. Der Preis
so kalkuliert, daß mit 1500— 1800 vSubskribenten — die durch
sehr sorgfältige Werbung zu suchen — das Auslangen gefun-
den wird. Diese Subskribenten als geschlossenen Kreis, als
369
:
und eigenthch
>Kleinen Welttheaters <. Hier schon dramatische
theatralische Elemente. Die Reihe der kleinen Dramen: >Ge-
stern<, >Tor und der Tod<, >Tod des Tizian < (1891—1893);
>AU^estis< (1893).
370
[Hommage ä Jacques Rivihre]
tuelle qui se refait toujours devant les yeux de celui qui sait
371
:
372
über eine im Jahre 1923 im Auftrage des Roten Kreuzes
durchgeführte Mission, der in höchst eigentümhchcr Weise
den hohen Europäismus einer heraufziehenden Generation
zum Ausdruck bringt. (Verlag der Bremer Presse.)
373
ANMERKUNGEN
Den ersten Teil dieses Bandes und einige der kleinen Bei-
träge hat Hofmannsthal selbst veröffentlicht. Die Briefe und
Aufsätze für Amerika sind u. W. bisher nur in englischer
Sprache erschienen — mit Ausnahme von Teilen des Berichts
über das »Welttheater«. Der Nachruf auf Riviere, den früh-
verstorbenen Herausgeber der »NouveUe Revue Frangaise«,
\\airde wohl französisch geschrieben. Von der Antwort an die
Stockholmer Zeitung (von der damals Absätze rückübersetzt
erschienen) hat sich bis auf die ersten Zeilen der Handschrift
nichts erhalten; sie erscheint hier in deutscher Übersetzung
von Friedrich Stieve.
375
»Soll nun der Mund«, Gedicht Stefan Georges (1897 im »Jahr
der Seele«)
S. 97, 1892: Prolog — vgl. »Kaiser und Hexe«
1 1 . III. — Hofmann : Richard Beer-Hofmann
S. 100, 1895: »Bacchen«: s. unsere S. 134, 143 und »Pen-
theus«, Dramen III
376
Ob Hofmaimstlaal die Stelle aus Schopenhauer kannte?
S. 125, Juli: Pereira, Grotthuss, Regimentskameraden
S. 128 ff., 1899: Muscheln, Flamme: Keime zu Gedichten,
wie »Jüngling und Spinne« und »Märchen« Keime zu Idyllen
S. 131, 17. VII. 04: »Pompilia«: unvollendetes Drama
S. 133, 26. VII. : — »Das Leben ein Traum« s. »Dramen III«
S. 136, 11. X. : »Und sinkt mein Kahn«, Vers des amerikani-
schen Dichters W. E. Channing (vgl. »Ariadne«, »Prosa III)«
S. 139: »Das Schöne« und »Über Kritik« — zu einem Pro-
grammentwurf »Diese Zeitschrift«
Wir verweisen auf die Seiten von Walther Rrecht zu dem von
ihm herausgegebenen Teil I des »Ad me ipsum« (Hochstift-
Jahrbuch 1930) und die Notiz in der »Neuen Rundschau«
1954, für die Rlätter über Rodenhausen auf den Rriefwechsel
mit diesem (Diederichs 1953) und den mit Rorchardt (Fischer
1954).
377
Hofmannsthals Versuch einer Selbsterklärung und -dar-
stellung, 1916 begonnen, von da ab immer neu ansetzend,
erst »Ad me ipsum«, »Mich selbst betreffend«, überschrieben,
378
Zitat aus Herbert Silberers »Probleme clor Mystik iiiul iliror
Symbolik«.
S. 218ff. : allomatisch, auf andere (oder: wechselseitig) wir-
kend
S. 220: »Die Welt besitzt«, aus »Der Jüngling und die
Spinne«.— S. 224: »das Leben, man kann«, »Tod desTizian«,—
S. 225: »Ein Wesen ists«, Der Fremde im »Kleinen Welt-
theater«. — S. 229 f.: »Der Flüsse Dunkelwerden« und »Die
schwebend unbeschwerten«, in »Den Erben«. — S. 230:
»Nichts ist hier«, in der Oper »Die Frau ohne Schatten«. —
S. 240: Aristie = Würde. -
S. 252 das Manuskript sagt irrtümlich »Er hatte Max Weber
: :
sterben sehen«.
S. 253: O.Kohnstarrmi, Psychiater
S. 261 : »Cherub . . .«, aus »Ein Traum von großer Magie«
S. 324: Der Josefstädter Prolog (»Lustspiele IV«) erschien
dann doch in deutschen Zeitungen.
579
BIBLIOGRAPHIE
380
fHu^o von Hofmannsthal orti krigct och kulturrn.J »Svonska
Dagbladet« 1915. (Teildruck, rückübcrsct/At : »Berliner
Tageblatt« 1915.)
Idee einer Monatsschrift. »Corona« 1943. R. Adolpli, liil)lioplüle
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'
Sie versucht, vor allem in den sechs Bänden, die bisher in Neu-
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INHALT
Anmerkungen 375
Bibliographie 380
Nachwort des Herausgebers 382