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HUGO VON HOFMANNSTHAL

GESAMMELTE WERKE
IN

EINZELAUSGABEN

AUFZEICHNUNGEN

1 959

S.FISCHER VERLAG
HUGO VON HOFMANNSTHAL

AUFZEICHNUNGEN

s^
1 959

S. FISCHER VERLAG
HERAUSGEGEBEN
VON
HERBERT STEINER

© 19S9 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main


Gesamther Stellung: Johannes TVeisbecker, Frankfurt am Main
Printed in Germany
AUFZEICHNUNGEN
BUCH DER FREUNDE
DER Mensch wird in der Welt nur das gewahr, was schon in
ihm Hegt aber er braucht die Welt, um gewahr zu werden, was
;

in ilim liegt; dazu aber sind Tätigkeit und Leiden nötig.

Die Liebe und ihre Umkehrung, der Haß, sind darum das ei-
gentliche Studium des Lebens, weil sie allein aus den andern
Individuen die Konsequenzen ziehen.

Die ahnende Jugend weiß die Welt mit Kräften erfüllt; aber
es kommt ihr nicht bei, welche Rolle in der Welt die Schwäche
in ihren verschiedenen Formen spielt.

In jedem Menschen wohnt eine eigene Unschuld.

Es ist ein entscheidender Unterschied, ob Menschen sich zu


anderen als Zuschauer verhalten können, oder ob sie immer
Mitleidende, Mitfreudige, Mitschuldige sind: diese sind die
eigentlich Lebenden.

Sind wir nicht am ärmsten, wo wir am gesichertsten sind, am


reichsten, wo wir am gefährdetsten sind — kommt es nicht
darauf an, immer aufs neue die Gefährdung aufzusuchen; ist
nicht ein Hauch des Todes und der Verwesung um alle die An-
stalten, in denen das Leben gegen den Mechanismus des Lebens
hintangesetzt wird, den Ämtern, öffenthchen Schulen, dem
gesicherten Funktionieren der Geistlichen usf. ?

Der einzelne Mensch hat als Kind teilgenommen an den Erinne-


rungeii seiner Großeltern, nimmt als Greis teil an den Hoffnun-
gen seiner Enkel; er umspannt fünf Geschlechter oder hundert
bis hundertundzwanzig Jalire.

jNIan ist vielfache Person als vielfacher Schüler.

Erfalirung ist zwiefach zu beurteilen, je nachdem wie sie das


Selbstbewußtsein hebt, inwiefern sie es unterdrückt.

II n'y a rien qui rafraichisse le sang comme d'avoir su eviter de


faire une sottise. La Bruyere

Die meisten Menschen fühlen nicht, sie glauben zu fühlen;


sie glauben nicht, sie glauben, daß sie glauben.
Diderot, Paradoxe sur le comedien

Der höhere Mensch lebt mit allen in Frieden, ohne wie alle zu
handeln. Der niedere handelt genau \Y\e alle und wird mit nie-

mandem fertig. Dem Höheren ist leicht gedient, aber er wird


schwer befriedigt. Der Niedrige fordert schweren Dienst und
ist mit Billigem zufrieden. Konfuzius

Je ne crains que ce que j'estime.


StendJial in der Vorrede zu De V Aniour

Man muß im Ganzen an jemanden glauben, um ihm im Ein-


zelnen walirhaft Zutrauen zu schenken.

Ein gewöhnlicher Verstand ist wie ein schlechter Jagdhund, der


die Fährte eines Gedankens schnell annimmt und schnell wie-
der verliert; ein außerordentlicher Verstand ist wie ein Leit-
hund, der unbeirrbar fest auf der Fährte bleibt, bis er das Le-
bendio-e ereilt hat.

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Les uns disent que non, les autres disoiit (|U(; oiii : o.i inoi je dis
que Olli et que non.
(Sganarelle über eine schwierige medizinische Frage)
Moliere, Le niddecin malere
'h' lui

Es ist in den Menschen ebensoviel unbegreifliche Trägheit, als


schädliche Aktivität zur unrechten Zeit und am unrechten
Punkt. Man schätzt diejenigen als etwras Seltenes, die ruhig und
aufmerksam zuzuhören verstehen ebenso ; selten ist ein w^irk-
licher Leser, am seltensten einer, der seine Nebenmenschen
auf sich wirken läßt, ohne den Eindruck unablässig durch seine
innere Unruhe, Eitelkeit, Selbstsucht zu zerstören, ja zu ver-
nichten.

Die Jugend ist so stark, als sie sich ahnt, und zugleich so zart
und schwrach, als sie sich gebärdet; das ist das Zweideutige an
ihr und das Dämonische.

Gelten lassen ist schwerer, als sich begeistern.

Here lies a proof that wit can never be


,

Defence enough against mortality.


Grabstein der Dichterin Aphra Behn, einer Freundin
von Pope und Dryden, in Wesüninster Abbey

Die Freunde sind nicht viele noch wenige, sondern die hin-
reichende Zahl.

Man kann sechzig Jahre alt geworden sein, ohne zu almen, was
ein Charakter ist. Nichts ist verborgener cds die Dinge, die wir
beständig im Mund führen.

In Er-leben ist em aktivischer Ursinn, wie m Er-reichen, Er-

11
eilen ; aber niemand hört ihn mehr, und wir haben ein reines
Passivum daraus gemacht.

Man überträgt (sagt irgendwo Hebbel) leicht seinen Respekt


für das Element, worin jemand waltet, auf die Person. Er sagt
es in besonderem Bezug auf Adam Müller und Gentz, trifft aber
dabei etwas allgemein Wahres.

Der hundertäugige Argus war ein Mensch ohne Geschäfte, wie


sein Name ausweist. Es ist daher kein Ruhm, daß ein Zuschauer
von einigen Dingen besser urteilen kann, als die sie unter den
Händen haben; und keine Schande für diese, ihre Handgriffe
nach den Beobachtungen eines Müßiggängers zu verbessern.
Hamann an seinen Bruder 1 760

Die wenigsten Leute haben auch nur einen Augenblick ihres


Lebens wirklich gewollt, ebensowenig als geliebt.

Der Bildungsgang ist um so glücklicher, je mehr seine einzelnen


Phasen den Charakter von Erlebnissen annehmen.

Bismarck (damals Gesandter in Paris) ließ dem ihm unbekann-


ten PaulLindau für die gelungene Übersetzung von »desarmer«
durch das neue Wort »abrüsten« seine Hochachtung ausdrük-
ken. Später übersandte er ihm noch eben dafür die Oeuvres de
Frederic le Grand.

Der Töpfer haßt den Töpfer, der Baumeister den Baumeister,


und der Sänger den Sänger.
der Bettler meidet den Bettler
Hesiod

Man hat etwas weniger Freunde, als man annimmt, aber etwas
mehr, als man kennt.

12
Befrachtet mati den Zeitvorlauf, so hält inati schlieniicli in Ik--

zug auf menschliche Beziehungen nichts für un mein;] ich keine :

Umgestaltung, kein ZuriicknehnuMi, kein(Mi S('n)sLvvi(lersj)ruch.


Was alle zusammenhält, der gemeine menschliche /ustatid, {l(;r

sich in alles finden kann, ist bei weitem das Stärkste.

Nicht der Täter wird unrein durch die Tat; nur die Tat durch
den Täter.

Einen Sinn in Kindern auszubilden ist das Wichtigste: den,


wahrzunehmen, daß das Göttliche sich unmittelbar in unserer
Nähe offenbart. Vieles aber, das wir tun und gewähren lassen,
zielt darauf ab, diesen Sinn durch Verhärtung abzutöten.

On ne s'imagine d'ordinaire Piaton et Aristo te qu'avec de gran-


des robes et comme des personnages toujours graves et serieux.
C'etaient d'honnetes gens qui riaient comme les autres avec
leurs amis : et quand ils ont fait leurs lois et leurs traites de poli-
tique g'a ete en se jouant et pour se divertir. C'etait la partie la
moins serieuse de leur vie. La plus philosophe etait de vivre
simplement et tranquillement. Pascal

Alles Behagen am Leben ist auf eine regelmäßige Wiederkehr


der äußeren Dinge gegründet. Der Wechsel von Tag und Nacht,
der Jahreszeiten, der Blüten und Früchte, und was uns sonst

von Epoche zu Epoche entgegentritt, damit wir es genießen


können und sollen, diese sind die eigentlichen Triebfedern des
irdischen Lebens. Je offener wir für diese Genüsse sind, desto
glücklicher fühlen wir uns.
Goethe, Dichtung und Wahrheit, 13. Buch

Wer älter wird, erkennt, daß man beständig schuldig bleibt,


durch alle Lebensverhältnisse und Verkettungen hin; doch

13
wohnt auch in jedem Menschen seine Art von Unschuld; die

ist es, die ihn aufrechthält, er weiß selbst nicht wie.

Daß sie ihre eigene Kraft kennen, das ist das Hinreißende an
den Liebenden.

Situationen sind symbolisch; es ist die Schwäche der jetzigen


Menschen, daß sie sie analytisch behandeln und dadurch das
Zauberische auflösen.

Wodurch Aladdin groß ist, ist sein Wunsch, daß seine Seele
Mark hat zu begehren. Und sollte ich in dieser Hinsicht etwas
gegen ein Meisterstück einwenden, so wäre es, daß nicht stark
und deutlich genug hervortritt, daß Aladdin eine berechtigte
Individualität ist, daß wünschen und wünschen können, dumm-
dreist wünschen, resolut zugreifen, unersättlich begehren eine
Genialität ist, so groß wie eine andere. Man glaubt es vielleicht
nicht, und doch werden in jeder Generation vielleicht nicht
zehn Jünglinge geboren, die diesen blinden Mut, diesen Griff
ins Unendliche haben. Kierkegaard

Mirabeau als Liebender wie als Politiker ist ein großartiger


hinreißender Anblick und wäre eins nicht ohne das andere.

Die Umstände haben weniger Gewalt, uns glücklich oder un-


glücklich zu machen, als man denkt; aber die Vorwegnahme
zukünftiger Umstände in der Phantasie eine ungeheure.

II n'y a rien de violent ä Paris comme ce qui doit etre ephemere.


Balzac

Angewöhnungen sind darum so schwer zu bekämpfen, weil


sich in ihnen die Trägheit, die sonst jedem Tun entgegenwirkt,

14
.

mit oiiiOTU gowisson rliythmisclicn T<ili<rkcits.siiin vcrhinidct

Wir sind so versessen auf Besitz und so ])e<rliiekt ü])er jedes /ei-

chen von AnhänfrÜchkcit, daß wir auch an einem regehnäßig


wiederkehrenden Fieber etwas wie Vergnügen empfinden kön-
nen.

Je näher ein Mensch dem andern kommt, desto weniger ver-


mag er ihn — außer
er sieht ihn mit den Augen der Liebe — in
seinem Treiben folgerichtig und in seinem Irmern konsistent
zu finden, und der andere vergik ihm das. In der Tat ist aber
auch Konsistenz nirgends außer im Produktiven.

Ich kann nur die Oberfläche der Leute auf meine Seite bringen,
ihr Herz erhält man nur mit ihrem sinnlichen Vergnügen —
davon bin ich so überzeugt, als ich lebe.

Lichtenberg, Beobachtungen über den Menschen

Ein Mann, der mit fünfunddreißig stirbt, ist auf jedem Punkt
seines Lebens ein Mann, der mit fünfunddreißig stirbt. Das ist

das, was Goethe die Entelechie nannte. Moritz Heimann

Niemand kennt sich, insofern er nur er selbst und nicht auch


zugleich ein anderer ist. Friedrich Schlegel über Lessing

Menschen in bezug auf Menschen sind bloß immer komisch;


das Tragische entsteht, wenn das Schicksal des Einzelnen, Ein-
samen sich einmischt und hinter den Gegenspielern verbirgt.

Wie gedankenlos ist man gegenüber dem, was andere trifft.

Zum Beispiel das Schicksal eines großen Sängers, der in jungen


Jahren seine Stimme verliert, ist von unausdenkbarer Härte.

15
;;

Er hat besessen, was ihn über alle hinaushob und zugleich allen
angenehm machte. Er verliert es mit einem Schlag, und was
übrigbleibt, ist eine leere Hülse, die vielleicht noch dreißig
oder vierzig Jahre auf der Erde herumspazieren wird.

Die Menschen sind oft die Sklaven ihrer Willkür, auch in sich
selber; aber es ist erstaunlich, wie selten sie ihren Willen anzu-
setzen wissen.

Krankengeschichten, aufgezeichnet von Janet, bringen in Evi-


denz, daß Glaubenskraft abnimmt bei geminderter Willens-
stärke. — Hier liegt die Wurzel des höheren Daseins.

C'est un malheur, que les hommes ne puissent d'ordinaire


posseder aucun talent, sans avoir quelque envie d'abaisser les
autres. S'ils ont la finesse, ils decrient la force; s'ils sont geo-
metres ou physiciens, ils ecrivent contre la poesie et l'eloquence
et les gens du monde qui ne pensent pas que ceux qui ont
excelle dans quelque genre jugent mal d'un autre talent, se
laissent prevenir par leur decisions . Ainsiquand la metaphysi-
que ou l'algebre est ä la mode, ce sont des metaphysiciens et des

algebristes qui fönt la reputation des poetes et des musiciens

ou tout au contraire; l'esprit dominant assujettit les autres ä

son tribunal et la plupart du temps ä ses erreurs.


Vauvenargues

Eine gewisse feinere transzendente Eitelkeit ist ein Element,


ohne das wir nicht leben könnten. Wie ein gekrümmter Spie-
gel malt sie uns ein All, dessen belebende Mitte wir selber
sind; ohne sie, fühlen wir, würden wir uns selber entStürzen
ins Finstere, Weltlose.

I had none but divines to call upon me, to whom I said, if my

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anibitioii could have entered into their narrow liearts, tliey

would not have beeii so luiiiible; or if my dclights had been


oiice tasted by them, they would have not been so precise.
Aus einem Brief des Grafen von Essex,
geschrieben kurz vor seiner Hinrichtung

C'est la profonde ignorance qui mspire le ton dogmatique.

La Bruyere

Gar viele Menschen sind noch jetzt an ihm (Wieland) irre, weil
sie sich vorstellen, der Vielseitige müsse gleichgültig und der
Bewegliche wankelmütig sein. Man bedenkt nicht, daß der
Charakter sich nur durchaus aufs Praktische beziehe. Nur in
dem, was der Mensch tut, zu tun fortfährt, worauf er beharrt,
darin zeigt er Charakter, und in diesem Sinn hat es keinen so

festen, sich selbst immer gleichen Mann gegeben als Wieland.


Goethe

Das Maß des Anstandes liegt bei der Wirklichkeit.

In jedes Menschen Charalcter sitzt etwas, das sich nicht brechen


läßt — das Knochen gebäude des Charakters ; und dieses ändern
wollen, heißt immer, ein Schaf das Apportieren lehren.
Lichtenberg

»Einen gelten lassen« und »an emen glauben« sind Begriffe


getrennter Sphären.

Ohne die Selbstliebe ist kein Leben möglich, auch nicht der
leiseste Entschluß, nichts als Verzweiflung und Starrheit.

Napoleon während der Schlacht von Ligny zu zwei jungen Ge-


neralstabsoffizieren, die hinter ihm lachen und plaudern Soyez :

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donc plus serieux devant tant de braves gens qui s'egorgent.

Jede Generation hätte triftige Gründe, die ihr vorgehende aufs


höchste zu achten ; aber es gehört nicht zur Ökonomie des Le-
bens, daß der nachfolgenden Generation selbst diese Gründe
in einzelnen Individuen ins Bewußtsem treten müßten, ge-
schweige denn im Ganzen.

Tempus divitiae meae, tempus ager meus.


Goethe in einem Brief an Fritz von Stein

Es gibt so viele Arten von Zwanzigjährigen, oder von Fünfzig-


jährigen, als es Arten von Freunden, Liebhabern oder Vätern
gibt.

Le süffisant est celui en qui la pratique de certains details que


Ton honore du nom d'affaires, se trouve jointe äune tres grande
mediocrite d'esprit. La Bruyere

Die Eingebungen der Selbstsucht sind nach innen zu und nach


außen nicht zu verdolmetschen. Es sind Chiffren, für die es
keinen gemeinsamen Schlüssel gibt.

Ein gewisses Maß von Hochmut ist ein nützliches Ingrediens


des Genies.

Menogenes, der Koch des großen Pompejus, sah wie der große
Pompejus selbst aus. Lichtenberg nach Plinius

Es ist mit dem Ruhm ein eigenes Ding. Ein Holz brennt, weil
es Stoff dazu in sich hat, und ein Mensch wird berühmt, weil
der Stoff dazu in ihm vorhanden. Suchen läßt sich der Ruhm
nicht, und alles Jagen danach ist eitel. Es kann sich wohl je-

18
mand durch kluges Benehmen und allerlei kiuisLliche Mittel

eine Art von Namen machen. Fehlt aber dabei das innere Ju-
wel, so ist es eitel und hält nicht auf den andern Tag. Ebenso
ist es mit der Gunst des Volkes. Er — Carl August — suchte sie

nicht und tat den Leuten keineswegs schön; aber das Volk
Hebte ilm, weil es fühlte, daß er ein Herz für sie hatte.

Goethe zu Eckennann

Libertas est : qui pectus purum et firnmm gestitat. Ennius

Was ist das Grundelement der Würde? Naivetät. Das Imponie-


rende ohne Würde ist leicht beängstigend. Napoleon. Jenes:

II n'y a qu'un pas du sublime au ridicule, richtig, aber nur für


ihn; sein Erhabenes war so beschaffen, daß es dem Sturz be-
ständig nah war.

Frauen haben ein zartes Organ, den Ruhm rein aufzunehmen


wie einen Duft des Himmels.

Je trouve plus poli d'admirer que de louer.


Madame de Grignan an Madame de Sevigne

Es ist etwas anderes, ob man eine Haltung, sei es welche immer,


wirklich hat, oder ob man vor anderen oder sogar vor sich sel-
ber sie zu haben vorgibt.

Ein nobler großmütiger Mann, der glaubt, man dürfe nicht


nobel sein, seine Freigebigkeit unterdrückt, alles aus Pflichtge-
fühl, ist wohl denkbar.

Qui nuUi gravis exstiteram, dum vita manebat,


Hac functo aeternam sit mihi terra levis.
Zitat von Moser in den Patriotischen Phantasien

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Eine Art von unablässiger indirekter Anerkennung ist ein In-
grediens, das dem. geselligen Verkehr nie fehlen darf; die
Anerkennung ist schwer zu ertragen: wer uns seine
direkte
Anerkennung direkt äußert, gibt damit zu verstehen, daß er
sich mit uns auf eine Stufe stellt, zumindest in der Lage ist,

uns und unser Verdienst zu überblicken.

He (Captain Blifil) began to treat the opinions of his wife with


that haughtiness and insolence, which none but those who
deserve some contempt themselves can bestow and those only,
who deserve no contempt can bear. H. Fielding

Es ist nur ein geringer und scheinhafter Unterschied zwischen


dem flüchtigen und geringfügigen Ruhm, den ein Schauspie-
ler, und dem »bleibenden Ruhm«, den ein Dichter erwirbt.

Urteil einer alten Frau aus dem Volk über Lessing: Ne, smoket
het he neg, wän he mac süs wat dogt harre! (Nein, geraucht
hat er nicht, wenn er nur sonst was getaugt hätte.)
Carl Julius Weher,
Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen

Autorität über sich erkennen ist ein Zeichen höherer Mensch-


lichkeit.

Un homme partial est expose ä de petites mortifications ; car


comme il est egalement impossible que ceux qu'il favorise vi-

vent toujours heureux ou sages et ceux contre qui il se declare

soient toujours en faute ou malheureux, il nait de lä qu'il lui


arrive souvent de perdre contenance dans le public, ou par le
mauvais succes de ses amis, ou par une nouvelle gloire qu'ac-

quierent ceux qu'il n'aime point. La Bruyere

20
. ;

Die Tch-Siiclitvorfreht sich nicht so sehr du nli Taten, als (hircli

Nicht- Verstehen

In Hinsicht auf den Begriff »Erfahrunfr« gibt es zwei unan-


genehme Sorten von Leuten: die, denen Erfahrung mangch,
und die, welche sich auf Erfahrung zu viel zugute tun.

Altkluge Kinder und unreife Greise sind in gewissen Weltzu-


ständen genug da.

Es ist eine unangenehme, aber notwendige Kunst, die gemei-


nen Menschen durch Kälte von sich abzuhalten. »Nur die Kälte
bändigt den Kot, daß er dir den Fuß nicht beschmutzt«, sagt
ein arabisches Sprichwort.

Es ist nicht genug, nur wahre Dinge zu sprechen es ; ist außer-


dem nötig, nicht alle die zu sagen, welche wahr sind; weil man
nur die Dinge bringen soll, welche zu enthüllen nützlich ist, und
nicht die, welche nur verletzen würden, ohne etw^as zu fruchten
und also wie die erste Regel ist »mit Wahrheit zu sprechen«,
so ist die zweite »mit Diskretion zu sprechen«. Pascal

Wer das Gesellschaftliche anders als symbolisch nimmt, geht


fehl.

Frauen verraten vieles, das sie sonst geheim halten, durch


ihren Anzug, woran nie das Geringste ganz ohne Überlegung
hinzugetan oder weggelassen ist, auch nicht bei der ärmsten
Magd. Daraus müßten sich anfangende Liebhaber, die nicht
wissen, woran sie sind, manches herausfinden.

Die Eitelkeit steckt im Ausgangspunkt ebenso vAe im vorge-


setzten Ziel.

21
Junge Leute tragen im Geistigen oft eine Perücke, aber aus

eigenem Haar.

Valmont: Voilä bien les hommes! tous egalement scelerats


dans leurs projets, ce qu'ils mettent de faiblesse dans l'execu-
tion, ils l'appelent probite.

Das ist das Furchtbare an der Schuld, daß sie der Furcht, dem
größten Übel auf Erden, eine ungeheure Berechtigung unter-
schiebt.

Obgleich in der Empirie fast alles unangenehm auf


Einzelne
mich wirkt, so tut doch das Ganze sehr wohl, wenn man end-
lich zum Bewußtsein seiner eigenen Besonnenheit kommt.
Goethe^ Reise in die Schweiz, 1797

Zola n'etait pas un mechant homme, mais il vivait sous l'in-


fluence des evenements. Cezanne im Gespräch

Partieller Selbsthaß allem Schiefen zugrunde liegend.

Es gibt viele Arten von Liebe, die berühmteste ist nicht die
angenehmste. Rudolf Pannwitz

Allegorie ist ein großes Vehikel, das man nicht verachten soll.

Was Freunde einander wirklich sind, ist eher an einem ge-


tauschten Zauberring und Zauberhorn klar zu machen als

durch Psychologie.

Der Fleischhauer in Kaschau, der an seinem Hochzeitstag sich

so fröhlich, so glücklich fühlt, daß er — bevor er zu seiner Frau


hineingeht — sich den stärksten Ochsen herführen läßt und
ihn kunstgerecht abschlägt, seinen Gefühlen Lauf zu lassen.

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Kann Wühl den Wert des Menschen jemand kennen, (h.T niclit
in derWelt Hitze und Kälte erlitten liat?
Aus dem tiirkisclicn Spiegel des Kjutihi Rund

Allez en avant et la foi vous viendra. D'Alcinbcrt

Es kann einer lange Haare haben, und es tut nichts; aber


Absalom wird immer wieder durch seine Haare umkommen.

Das Unheil, das dich irgendeinmal trifft, kommt aus einer


Stunde, die du versäumt hast. Napoleon

Bedenkt man, daß wiederholte sittliche Spiegelungen das Ver-


gangene nicht allein lebendig erhalten, sondern sogar zu einem
höheren Leben emporsteigern — Goethe

Wirklichkeit ist die fable convenue der Philister.

Es ist etwas in uns, das über und hinter allen Altern ist und
mit allen Altern spielt.

She who is dead and sleepeth in this tomb


Had Rachel's comely face and Leah's fruitful womb,
Sarah 's obedience, Lydia's open heart
And Martha's care and Mary's better part.

Shakespeare, Grahschrift einer Frau

Im Anfang des Lebens ist man am subjektivsten und begreift


am wenigsten die Subjektivität der anderen.

Wer ein allgemein anerkanntes sittliches Verhältnis für seinen

Teil aus der Konvention heraushebt und negiert, auch ohne


diese Negation auszusprechen, erzeugt einen Wirbel, in den er

23
und was ihm in die Nähe kommt, hineingerissen wird.

Die Frauen sind geborene Französinnen, durch ihren Sinn für


das Maß und ihren Hang zum Maßlosen.

Schmeichelhaftes mit Würde kann nur ein Mann in mittleren


Jahren aussprechen.

Eine Art, uns selbst zu erziehen, ist die, daß wir einen Men-
schen, der für uns Autorität hat, herausfordern, sich über einen
Gegenstand zu äußern, über den wir ihn anders urteilend wis-
sen, als wir selber urteilen.

Jede neue Bekanntschaft bewirkt Auseinanderfallen und neue


Integration.

Nichts befriedigt unsere Eitelkeit mehr, als von jemand, dem


wir große Achtung schuldig sind, mit Überzeugung auszu-
sprechen, daß er diese oder jene Sache nicht verstehe.

Die Dummheit des Klugen, die Plumpheit des Feinen: wo


wurzelt sie? In ungezügelter Nachahmungslust.

Snobs lesen die Geschichte der Salons des ancien regime, wie
Kinder Märchen, mit allen fünf Sinnen.

Deutsche bei der Behcindlung der gewöhnlichen zarteren Le-


bensverhältnisse, dem eigentlich Geselligen, schwanken im-
mer zwischen dem Verwahrlosen und dem Verkünsteln.

Wer im Verkehr mit Menschen die Manieren einhält, lebt von


seinen Zinsen, wer sich über sie hinwegsetzt, greift sein Kapi-

tal an.

24
Ein Juncker Mcnscli, auf der Opornslicn^o von einem alten Mann
mehrnial in den Rücken gest()n(Mi,^ri|)t diesein eine dcrix; Olu-
»Was werden Sie sagten, mein Icrr^, nilL der
feige. I ( ireis aus,

»wenn Sie erfahren werden, daß ich bhnd bin!«


Ijcautnarcliais

Die Scham, von seinen eigensten Verhältnissen zu niemand


reden zu wollen,
ist eine Selbstwarnung des Gemütes; in jedes

Geständnis, in jede Darstellung schließt sich leicht die Verzer-


rungein, und aus dem Zartesten, Unsagbaren wird im Hand-

umdrehen das Gemeine.

Aufmerksamkeit und Liebe bedingen einander wechselsei-


tig-

Es ist eine Fiktion, von einer europäischen Aristokratie im all-

gemeinen zu sprechen; in der Tat sind ein österreichischer


Graf, ein preußischer Junker, ein Principe Romano, ein pol-
nischer Edelmann, ein Lord und ein Berner Patrizier höchst
verschiedene Gebilde: aber als Postulat kann und soll man
sehr wohl von einer europäischen Aristokratie sprechen.

Ein junger lonier tritt in Athen in goldgesäumtem Purpur-


gewand auf. Man fragt ihn nach seiner Heimat, und er ant-
wortet: »Ich bin reich.« Athenaios

Die Stärke patrizischer Erzogenheit liegt im Ablehnen.

Anekdote: Die reiche schöne Witwe mit den drei Freiern. In


einer kalten Nacht, als die drei Herren nach einem Souper bei
ihr im Schlitten abfahren, die Frage: Has Lord Peto got his

coat? Womit sie offenbart, welchem sie den Vorzug gibt.

25
Die klassische Musik der Liebe ist in Dur, die romantische in
Moll.

Die moderne Liebe ist schwache Melodie, überinstrumentiert.

In den höheren Formen des Verkehrs, auch in der Ehe, dürfte


nichts als ein Festes, nicht einmal als ein Gegebenes hingenom-
men werden, sondern alles ist das Geschenk jedes einzelnen,
eine Welt umspannenden Augenblickes.

Die Wollust liebt die Mittel, nicht den Zweck.

Die Regeln des Anstandes, richtig verstanden, sind WegAveiser


auch im Geistigen.

Österreichische Bauern, wenn sie höflich und freundlich sein


wollen und im Reden weder das Du noch das Sie recht am
Platz scheint, reden mit »Wir« an. So noch mein Großvater zu

mir als Kind.

De toutes les passions celle qui est la plus inconnue ä nous-


memes, c'est la paresse: eile est la plus ardente et la plus
maligne de toutes, quoique sa violence soit insensible.

La Rochefoucauld

Es gibt nicht zwei Menschen auf der Erde, die nicht durch eine
teuflisch aus gedachte Indiskretion zu Todfeinden gemacht wer-
den könnten.

Der Tröster prahlt leicht.

Das Problem des Familienlebens liegt darin, daß Menschen


von verschiedenem Charakter und verschiedenen Lebensaltern

26
.

durch oiiiegeinoinsainoL(>bonsfiihrunrrallon Icidlicli ihr Recht


werden soll.

Geliebte Menschen smd Skizzen zu möglichen Gemälden.

Es gibt nichts Selteneres in der Welt als Willen; und dennoch


reicht das spärliche Maß von Willen, das den Menschen zuge-
teilt ist, um edle ihre Urteile umzubiegen.

Tous les vices ä la mode passent pour vertus Moliere

Das Gesellschaftliche kann und darf man nur allegorisch neh-


men. Hier läßt sich das ganze Gesellschaftliche der neueren
Zeit (von Lessmg und der Sevigne an) als eine große Mytholo-
gie zusammenfassen.

Es gibt so viele geistige Personen, als es Begegiumgen gibt.

Eine Geliebte aufgeben, zeugt von erlalimter Phcintasie.

Jede neue bedeutende Bekanntschaft zerlegt uns und setzt uns


neu zusammen. Ist sie von der größten Bedeutung, so machen
wir eine Regeneration durch.

Fremde in Athen, nach mehreren mit Plato vertraulich ver-


brachten Tagen, ersuchen diesen, sie nun ja zu seinem Na-
mensvetter, dem berühmten Philosophen, zu führen.

Les plus grandes choses n'ont besoin que d'etre dites simple-

ment, elles se gätent par l'emphase ; il faut dire noblement les


plus petites : elles ne se soutiennent que par l'expression, le ton
et la maniere. La Bruyere

27
Kinder sind dadurch unterhaltend, daß sie leicht zu unterhal-
ten sind.

Es gibt bei höheren Menschen eine fruchtbare Trägheit und eine


unfruchtbare, und sie gehen in einer Region, die sich dem Blick
entzieht, scheinbar ohne deutliche Grenze ineinander über.

Was die Liebe wechselweise fordert, ist plastische Kraft. Dar-


um gibt es in der Liebe wie in der Kunst so viele verunglückte
Entwürfe ohne die zureichende Kraft der Ausführung.

Ce qu'on fait simplement, est simple a faire.

fVladimir Ghika

Gesang ist darum wunderbar, weil er die Bändigung dessen


ist, was sonst reines Organ der Selbstsucht: die menschliche

Stimme.

Eine Frau erträgt es in gewissen Verhältnissen, daß ein Mann


sie von seiner Liebe zu einer andern unterhält, aber es muß
der ganze Akzent auf der Liebe liegen und nicht auf dem Ge-
genstand der Liebe.

Wer sich nach dem Frühling sehnt, darf nicht auf den Nuß-
baum schauen.

Philinen oder Manon Lescauts wird es immer und in allen

Lebenslagen geben; aber die Aspasien sind selten genug; hier


muß zu einer starken weibhchen Natur noch eme besondere
Geistigkeit sich hinzufinden, aber eine solche, die nie auf eigene
Hand agiert, sich vom Spiel der sinnlichen Anziehung nie ent-
fernt, sondern die ganze Welt in dieses Spiel verflicht.

28
Degas, auf die Frage: Pourquoi est-ce qiie vous faites les

femnies si laides, inonsieur Degas? - Les feinines soiit tr^s


laides, iiiadame.

God formed her so, tliat to her husband she


As Eve should all the world of women be.

Sir TliotJias Ovcrbury^


Grabsclirift einer Gattin

Menschen unserer verworrenen Epoche erleben ihr Eigent-


liches in Zwischenerlebnissen, unaufgeklärten Mißverstäind-
nissen, produktiven Zerstreutheiten.

Wer sich erkannt sieht, beginnt zu lieben oder zu hassen.


Rudolf Pannwitz

Der Sinn der Ehe ist wechselseitige Auflösung und Palingene-


Wahre Ehe ist darum nur durch den Tod lösbar, ja eigent-
sie.

Hch auch durch diesen nicht.

Übereinstimmung ohne Sympathie gibt ein widerwärtiges


Verhältnis.

In einem Familienleben sollte durch ein fortwährendes leich-

tes Aussprechen der wichtigsten Bezüge die Atmosphäre be-


ständig aufgehellt werden.

Die Manieren ruhen auf einer doppelten Grundlage : dem an-


dern alle Aufmerksamkeit erweisen, sich selber nicht auf-

drängen.

Wer wollte heftiger der Liebe nachjagen, als der wenig fähig
ist, sie zu empfinden ; er legt in die W^elt den Mangel, der in

29
ihm ist, und beklagt immer aufs neue die mangelhafte Ge-
legenheit.

Die an der Seele Defektuösen kennen vmd wittern einander.

Als man vor Kapellmeister Schwanenberg, einem Freund Sa-


lieris, das Gerücht erwähnte, Mozart sei von den Italienern
vergiftet worden, replizierte S. : »Non ha fatto nullo, per
meritar tal onore.«

Les hommes sont si necessairement fous, que ce serait etre fou


par un autre tour de folie, que de ne pas etre fou.

Pascal

Selbstliebe und Selbsthaß sind die tiefsten von den irdischen


produktiven Kräften.

Andre Chenier, auf dem kleinen Karren zur Guillotine faia-

rend, indem er sich vor die Stirn schlägt: II y avait pourtant


quelque chose lä-dedans.

Marquis de P,, den man zur Restaurationszeit fragte, was er


während der Revolution getan habe : J'ai vecu, monsieur, c'est
bien assez.

Freundschaft und Liebschaft ist ebauche der Ehe, die erste ihrer
geistigen Seite nach, die zw^eite nach der mystischen Seite.

Es gibt solche Vorzüge in uns, die niemals im Resultat einer


Leistung uns selber vor Augen treten, noch auch in der Re-
agenz der Welt uns fühlbar werden; und doch sind es die

wertvollsten, und ihrer be\vußt zu sein, würde den Lauf unse-


res Blutes beschwingen: diese Strahlen aufzufangen und zu-

30
;

rückzugcben ist die zarteste Aufgabe der IhmiikIm liaft.

Des Menschen Alter, von innen gesehen, ist ewige Jugend.

Indem Gedanken hinnehmen und hingeben, kommu-


sie ihre
Menschen wie in den Küssen und Umarmungen
nizieren die
wer einen Gedanken aufnimmt, empfängt nicht etwas, son-
dern jemanden.

Über dem Gedächtnis eines in der Fülle seiner Kraft verstor-


benen Freundes hängt die Seele wie über einem Wasserfall,
stürzt sich immer wieder mit der lebendigen Alasse nach unten,
sieht sie zerstäuben und zu Dunst werden, um wieder zum
Scheitel aufzusteigen und sich aufs neue herabzustürzen.

Es gibt eine Stille des Herbstes bis in die Farben hinein.

Ist nun die Einsamkeit ein Wert in der Welt der Individuali-
tät? An sich nicht, sondern nur noch inmitten der Menschen.
Rudolf Kassner, Zahl und Gesicht

Ce que j'aime le mieux au monde, les feuillages, n'existent


plus et je souffre de tout mon cceur au milieu de ces paysages
de pierre. Charles Louis Philippe

Die Musik verbindet, die Bräuche trennen. Durch die Verbin-


dung entsteht die Freundschaft der Menschen unteremander,
durch die Trennung die Achtung voreinander. Wenn die Mu-
sik zu große Bedeutung erlangt, gibt es Nachlässigkeit. Wenn

die Bräuche zu sehr herrschen, entsteht Entfremdung.


Aus dem Buche Jo-Ki
(dem Buch über die Musik)

51
Der Dichter ist nie in seiner Sache ganz. Der Fachmann
immer. Addison

Freude erfordert mehr Hingabe, mehr Mut als der Schmerz.


Sich der Freude hingeben heißt, genau so weit das unbekannte
Dunkle herausfordern.

Anekdote: Ein Mensch, der eine sehr finstere Jugend hatte


(ich glaube Alphonse Karr). Bei einem Souper mit Freunden
sagt seine Gehebte: Voyez comme ce sourire embeUit Al-
phonse; comme il est jeune, ce sourire. — C'est qu'il a si peu
servi, sagt er.

Im Gesicht von Kindern ist ein Letztes, das nur das Auge des
Vaters oder der Mutter sieht.

Der Tod selbst ist für den, der nachdenkt, nichts so Ernstes wie
die Ehe. JV. S. Landor

Es gehört Glaubenskraft, also Genialität dazu, die dargebrachte


Liebe zu erfassen.

Gegenwart ist die absolute Leidensseite der Existenz — aber nur


ein Provisorium.

Die ganze Seele ist nie beisammen, außer in der Entzückung.

In der außerordentlichsten und einsamsten Art sich zu verhal-


ten und in der erbärmlichsten geheimsten Lage hat jeder Tau-
sende von Gefährten, von denen er nichts ahnt.

J'cdme toutes les choses, mais j'aime surtout ce qui souffre.

D'une belle jeune fille et de sa grand'mere je prefere la

32
:

grand'mere parcequ'elle est vieilk^ qu'elle souffro ot qii'(;lle va

bientöt mourir. Je prefere la gratid'iii6re jxirccque coinrne je tc

le disais, inon coeur s'est liabitue a vivre dans une haute atrno-
sphcre oü il y a surtout de la bonte. II y a eu tout l'^te dernier
une ciieulle qui installait sa chaise en face de inon biireau en-
haut des marches de la rue Frangois Miron, eile chauffait son
pauvre sang froid et son visage et ses cheveux blancs. Uiie fois
sa petite fille est venue pres d'elle, jouer, l'amuser, l'agacer.
Oh mon ami, il fallait voir les gestes de defense de la vieille.

Elle ne riait pas, eile se defendait de ce mouvement avec un


recul de son corps et de ses membres et une crispation de son
visage. C'etait pitoyable. Mon coeur en saignait de tristesse, de
bonte et de bonheur. Charles Louis Philippe

Wenn ein Mensch dahin ist, nimmt er ein Geheimnis mit sich
wie es ihm, gerade ihm — im geistigen Sinn zu leben möglich
gewesen sei.

Wo ist dein Selbst zu finden? Immer in der tiefsten Bezaube-

rung, die du erlitten hast.

Georg Büchner auf dem Totenbett hatte in seinen Delirien ab-


wechselnd revolutionäre Gesichte, dazwischen ließ er mit feier-

licher Stimme vernehmen »Wir haben nicht zu viel,


sich so :

wir haben ihrer zu wenig, denn durch den Schmerz gehen wir
zu Gott ein. Wir sind Tod, Staub und Asche — wie dürfen wir
klagen?«

33
GOTT hat gesagt: Dem, der Gutes tut, vergelte ich es zehnfäl-
und mehr wer Böses tut, den trifft Vergeltung, wenn ich ihm
tig ;

und wer sich mir eine Spanne nähern w411, dem


nicht vergebe ;

komme ich zwölf Ellen entgegen; wer im Schritt zu mir


kommt, zu dem laufe ich; und wer voll Sünde, aber gläubig
vor mir erscheint, vor dem erscheine ich, bereit, ihm zu ver-
geben.

Gott sagte Ich war ein Schatz, den niemand kannte, und wollte
:

bekannt werden. Da schuf ich den Menschen.

Eine Stunde Betrachtung ist besser als ein Jahr Andacht.

Das Streben nach Wissen ist em göttliches Gebot für jeden


Gläubigen wer aber Unwürdigen Wissen
; mitteilt, hängt Per-
len, Edelsteine und Gold Schweinen um den Hals.
Mohammed

Jede wahrhaft große geistige Erscheinung ist übermenschlich


und macht für den, der sich ihr hingibt, alles übrige entbehr-
lich, bis ans Ende der Zeiten; das ist die Wurzel der durch ein
Individuum geoffenbarten Religionen und ihres Anspruches

auf Orthodoxie.

Die wenig Zusammenhang in sich selber fühlen, reden vom


Festhalten an den Ideen. Die Ideen sind aber nichts, woran
man festhalten könnte; sie sind ein Jenseitiges, das sich uns in
höchsten Augenblicken enthüllt und sich Avieder entzieht.

Der Mensch steckt voller Absichten ; er kennt sie nicht, aber


sie sind die geheimen Triebfedern seines Handelns.

Mythisch ist alles Erdichtete, woran du als Lebender Anteil

34
hast. Im Mythischen ist jedes Din^r durch einen DopjM'lsiini,
der sein Gegensinn ist, Tod -- J.ebeii, Sc.hlaiigen-
getragen:
kampf = Liebesiunannung. Darum ist im Mythischen alles im
Gleichgewicht.

als Dichter dann die hmere Landschaft, die die Seele aus
ihrem Zustand vor der Geburt mit. in die Welt bringt, die das
Wesen und die Farbe des Traums bestimmt, des Traumes in
der weitesten Bedeutung, wie überhaupt die heimlichen und
unbe^vußten Richtwege des Geistes, die sein Khma sind, seine

eigentHche Heimat. Nicht etwa nur Phantasiegestaltung von


]\Ieerund Gebirge, Höhle, Park, Urwald, das paradiesisch Ide-
ale der reifenSehnsucht, die Aus- und Zuflucht alles Ungenü-
gens an der Gegenwart ist unter der inneren Landschaft zu
verstehen, vielmehr ist sie der Kristall des wahren Lebens selbst,
der Ort, wo seine Gesetze diktiert werden, und wo sein wirk-
liches Schicksal erzeugt wird, von dem das in der sogenannten
Wirklichkeit sich abspielende vielleicht bloß Spiegelung ist.

Jakob Wassermann

Das Innere eines Menschen wird schheßhch ein in einen harten


Stein getriebenes Labyrmth, von dem er allein den Ausweg ins

Freie zu kennen glaubt, — aber er glaubt nur.

Nicht daß einer alles wisse, kann verlangt werden, sondern daß
er, indem er um eins weiß, um alles \\'isse.

Der Geist sucht das Wirkliche, der Ungeist haftet am Unwirk-


lichen.

So göttlich ist die Welt eingerichtet, daß jeder an seiner Stehe,


an seinem Ort, zu seiner Zeit, alles übrige gleich wägt.
Goetlie

35
In der Gegenwart, die uns umgibt, ist nicht weniger FiJvtives
als in der Vergangenheit, deren Abspiegelung wir Geschichte
nennen. Indem wir das eine Fiktive durch das andere interpre-
tieren, entsteht erst etwas, das der Mühe wert ist.

Das Gute allein ist auf die Dauer beachtenswert.


Immermann

Was ein Ding ist, wäre schwer zu sagen, aber man kann sagen,
daß die Menschen sich darüber einig sind und den Begriff nicht
auf das, was erfaßbar ist, beschränken.

Seinen Kopf nicht anfüllen, sondern stärken. Lichtenberg

Die immer erstaunliche Wirklichkeit springt dort ein, wo ver-


nünftige Not\vendigkeit zur Begründung eines Geschehenen
nicht ausreicht.

Die einzige Gleichheit, die vor dem tiefer eindringenden Blick


besteht, ist die Gleichheit des Gegensätzlichen.

Der Mystiker stellt die Hingabe am höchsten, gleichgültig ob


ans Gute oder ans Böse aber das Böse hat nicht die Kraft der
;

Hinnahme, die hat nur das Gute. Moritz Heimann

Die Gründlichkeit der Welt verschmäht die Maße,


in denen sich der Hang zur Dinglichkeit verrät. .

Theodor D'dubler

Zm denken, daß alle Himmel und Unterwelten aller Religionen


aus dem menschlichen Innern erbaut sind : auf die Kraft der
Projektion nach außen kommt alles an.

36
Der Adler kann niclit vom llachoii IJodeii vvefriTiefroii ; er rniiM
mühselig auf einen Fels oder Baumstnmk liiipien: von dort
aber schwingt er sich zu den Sternen.

Im Bereich der Einbildung ist das Unbekannte allmächtig.


Napoleon

Nicht in der Weltgeschichte, wie die Professoreni)hilosophie es


wähnt, ist Plan und Ganzheit, sondern im Leben des Einzelnen.
Schopenhauer

Alles Geglaubte besteht, und nur dieses.

Si la pauvrete est la m^re des crimes, le defaut d'esprit en est


le pere. La Eruyere

Fünf Schicksale leiten den Menschen: seine geistige Natur,

sein Körper, sein Volk, seine Heimat, die Sprache: sich über
alle fünf zu erheben, ist das Göttliche.

Jeder starke Eindruck bringt Freiheit und Bindung; darum


formen uns unsere Eindrücke.

Es hat keinen Zweck, daß das Individuum sich im Geistigen be-


scheiden stelle; die ganze Mitwelt, alle Vergangenheit in ihr
emgeschlossen, ist genau der Raum, den es braucht, um ganz
zu existieren.

Alles Gelebte schmeckt sonderbar und gräßhch wie Brack-


wasser : Tod und Leben gemischt.

Was Geist ist, erfaßt nur der Bedrängte.

37
Magie ist Weisheit, praktisch geworden. Auch unbewußte
Weisheit kann praktisch werden. (Für gewöhnhch wird nur
das Praktischwerden des Verstandes wahrgenommen.)

Zu jedem Höheren ist Zusammensetzung gefordert. Der höhe-


re Mensch ist die Vereinigung mehrerer Menschen, das höhere
Dichtwerk verlangt, um hervorgebracht zu werden, mehrere
Dichter in einem.

An unseren Gedanken hat der "Wille weit mehr Anteil als der
Verstand.

— wie das Erhabene von Dämmerung und Xacht, wo sich die

Gestalten vereinigen, gar leicht erzeugt wird, so wird es da-


gegen vom Tage verscheucht, der alles sondert und trennt, und
so muß es auch durch jede wachsende Bildung vernichtet wer-
den, wenn es nicht glückhch genug ist, sich zu dem Schönen zu
flüchten und sich innig mit ihm zu vereinigen, wodurch dann
beide gleich unsterbhch und unver^vüsthch sind. GoetJie

Darum sollen ^\'ir Gott anbeten, welcher nur im Geiste, das ist
in dem innersten Grunde des Menschen, verehrt werden kann.

/. B. van Helmont

Aus welcher Ursache auch etwas aus dem Nichtsein in das Sein
übertritt, gleichviel, ein dichterisches Erschaffen findet dabei

alleweil statt. Plato

Eine einzelne Handlung oder Beo-ebenheit interessiert nicht,


weil sie erklärbar oder wahrscheinhch, sondern weil sie wahr
ist. Goethe

Die Möglichkeit, ge^^-isse tiefe Fragen zu stellen, könnte sich in

38
uns ausbilden durch die Aluunifr, daß sio Ix'antwortot worden
konnten, durch Begegnungen, ja die Antizipation von Begeg-
nungen.

Wie viel Kräfte mag es geben, deren Existenz wir nicht einmal
ahnen, weil es keine Beziehung zwischen den Ideen gibt, die
wir durch unsere fünf Sinne erlangen, und denen, welche wir
durch andere Sinne erlangen könnten. Lessing

Die Welt will einen jeden aus ihm selbst herausreißen und wie-
der zu ihm selbst brmgen.

Wissen ist w^enig; im rechten Bezug zu wissen ist viel, im rech-


ten Punkt zu wissen ist alles.

La betise n'est pas d'un cote et l'esprit de l'autre. C'est comme


le vice et la vertu; malin qui les distingue. Flaubert

Gott gibt uns die Seele aber das Genie müssen wir durch Er-
;

ziehung bekommen. Ein Knabe, dessen ganze Seelenkräfte man


soviel als möglich beständig in einerlei Verhältnissen ausbildet
und erweitert, dem man angewöhnt, alles, was er täglich zu
seinem kleinen Wissen hinzulernt, mit dem, was er gestern
bereits wußte, zu vergleichen, den man lehrt, sich ebenso leicht
von dem Besonderen zum Allgemeinen zu erheben, als von
dem Allgemeinen zum Besonderen wieder herabzulassen der :

Knabe wird ein Genie werden oder man kann nichts in der
Welt werden. Lessing

Einer gilt mir für dreißigtausend, doch die Unzähligen für


nichts. Heraklit

Die Menschen werden Dich nicht immer verstehen; und die

39
:

Dir am nächsten zu stehen behaupten, die werden am meisten


Dich verleugnen ich seh in
; die Zukunft, da sie rufen werden
»Steinigt ihn!« Jetzt, wo Deine eigene Begeisterung sich an
Dich schmiegt und Dich bewacht, da wagt sich die Gemeinheit
nicht an Dich. Bettina an Goethe

Der Geist entfaltet seine größte Kraft corps k corps mit dem
Sinnlichen.

Wer die höchste Unwirkhchkeit erfaßt, wird die höchste Wirk-


lichkeit gestalten.

Es muß einen Stern geben, auf dem das vor einem Jahr Ver-
gangene Gegenwart ist, auf einem das vor einem Jahrhundert
Vergangene, auf einem die Zeit der Kreuzzüge und so fort,

alles in einer lückenlosen Kette, so steht dann vor dem Auge


der Ewigkeit alles nebeneinander, wie die Blumen in einem
Garten.

Der Geist besiegt die Materie. Ihre stärkste Waffe im Kampf


mit ihm ist ihre Flüchtigkeit.

Es ist im Innern wesentlich, das nicht zugleich im Äußern


nichts
wahrgenommen wird.

Jede Idee entbindet sich durch ihr contrarium: Königtum in


der Bedrängnis, sei es Friedrich II., sei es Ludwig XVI., jetzt

Geistesgewalt durch das Überwuchten der mihtärischen, tech-


nischen, ökonomischen Materie.

Man kann ein stumpfes und ein feines Gefühl von der Zeit in
sich tragen, so wie ein wirksajnes und ein unvermögendes Ge-
fühl vom Raum.

40
Man muß über das Gefühl der Gegenwart hiiiwegkoinrneii,
wie in der Musik über das Hören der Klangfarben der Instru-
mente.

Eine große Nation bringt zwar immer aufs neue Dichter und
Denker hervor, die ihr geistiges Wesen repräsentieren; aber
die meisten sind Objekte dieses Geisteslebens, nur äußerst
wenige sind Subjekte desselben.

Ein Ding ist eine unausdeutbare Deutbarkeit.

Der geistlose und der geistreiche Gelehrte sind beide gefähr-


lich : der geistlose vermehrt die lastende Materie in der Welt
unter dem Vorwand geistigen Tuns, der Geistreiche opfert
leicht das Oberste dem Niedrigeren auf.

Denke ich mich und was immer Zweites dazu — und war es die

Landkarte von Griechenland — , so sehe ich wie durch ein Fen-


ster in mich hinein.

Starke Phantasie ist konservativ.

Wir haben im ganzen Leben, besonders in der Sphäre des gei-


stigen Verkehrs, die unrichtige Angewohnheit, daß wir den
andern Menschen vieles von dem leihen, was uns eigen ist,

ganz als müßte das so sein. Da sie nun außerdem ihr Eigenes

vor uns erscheinen lassen, so entstehen, indem wir aus beiden


Teilen eine Einheit zu schaffen suchen, eigentlich Monstra,
ähnhch denen, die in einem winkhgen Haus durch den Schein
einer Laterne halb aus Schatten, halb aus wirklichen Ge-
genständen erzeugt w^erden. Es gibt keine nützhchere als auch
schwierigere Operation, als dieses unbewußt Gehehene von der
Erscheinung des anderen wieder abzuziehen. Erst dadurch

41
aber machen wir Menschen aus ihnen — oder kür-
begreifliche
zer ausgedrückt Der Mensch glaubt die Menschen zu verste-
:

hen, wenn er zu einer vermuteten unbegrenzten Analogie mit


seinem Selbst noch einiges diesem Selbst Widersprechende hin-
zu addiert. Es ist Sache der Erfahrung, mit Menschen operieren
zu können, die man sich vom Kern aus verschieden vom eige-
nen Selbst vorzustellen hat.

Rien n'est simple de ce qui s'offre ä l'äme, et l'äme ne s'offre


Jamals simple ä aucun sujet. Pascal

Reifer werden heißt schärfer trennen, mniger verbinden.

Vielleicht die seltsamste Berührung zwischen dem Realen und


dem Irrealen ist das wirkliche Unheil, das falsche Begriffe an-
richten.

Der mittelmäßige Mensch hält zu knapp nach dem richtigen


Gedanken inne daher die vielen Halbwahrheiten in der Welt.
;

Unvergeistigte Gedanklichkeit ist ein ganz guter gesprächswei-


ser Ausdruck für den gegenwärtigen Geisteszustand, wie er in
den zahllosen Broschüren und ephemeren Büchern zutage tritt.

Embryos haben den Umriß von Riesen, aber nicht die Kräfte.

Die Philosophie ist die Richterin eines Zeitalters; es steht

schlimm, wenn sie statt dessen sein Ausdruck ist.

Rudolf Pannwitz

Was ist Kultur? Zu wissen, was einen angeht, und zu wissen,


was einen zu wissen angeht.

42
Toutedebauclio parfuitocibosoui (run piirfait loisir.

luiiuhlairc

Es muß erlaubt sein, sich mit der eifrenen ^eislif^eu Person /.ii ])(•-

schäftigen, wenn eine wirkUche Neugierde den Antrieb bildet.

Das Fremde zu schauen hindert die Fremdheit, das Vertra\ite


zu erkennen verwehrt die Vertrautheit.

Betrachtet man die Wielandsche Auffassung der Antike und


die Nietzschesche nebeneinander, ebenso die von Winckelmann

und von Jacob Burckhardt, so erkennt man, daß wir etwa noch
mehr als die andern Nationen die Antike als einen magischen
Spiegel behandehi, aus dem wir unsere eigene Gestalt in frem-
der, gereinigter Erscheinung zu empfangen hoffen.

Daß wir sie überschätzen, dazu ward die Vergangenheit unse-


rem Gedächtnis einverleibt.

Gegenwart anerkenne dort, wo du in Gestaltung empfängst.

Über Oeser. — Seine Werke gaben immer etwas zu sinnen und


wurden vollständig durch einen Begriff, da sie es der Kunst und
der Ausführung nach nicht sein konnten, Goethe

Das Fragende in den menschlichen Gesichtern ist Geist, die

Behauptungen sind Behauptungen der Materie.

Wie man empfindet, so will man empfunden sein.

Im Höchstvergeistigten noch ist es die Naivetät, das irrational

Körperhafte, wodurch das Geistige Bestand hat.

43
Wir sehen von unsern eigenen Gedanken nur das nächste
Stück, wie die Kurzsichtigen von dem Feldweg vor ihren Au-
gen, nicht aber, wohin er sich am jenseitigen Abhang des Tales
fortsetzt.

Daß der Mund küßt, ißt und redet, sollte für sich allein, die
am Greifbaren haften, darauf bringen, daß wir durchaus dem
Ünbegreifhchen gegenüberstehen.

AVenn man wissen könnte, wie viele homogene Massen [zu


diesen rechnet er die elektrische, die magnetische Materie] die
materielle Welt enthielte, so könnte man auch \vissen, wie
viele Sinne möglich wären. Lessing

Je mehr der Gelehrte oder Denker sich dem Künstler nähert,


ohne ihn doch zu erreichen, ein desto bedenklicheres Phäno-
men ist er.

Die gefälirlichste Sorte von Dummheit ist ein schajfer Ver-


stand.

Der Mensch versteht alles, nur das völlig Einfache nicht.

Grillparzer

Nur zwischen dem Nicht-Seienden gibt es Ähnlichkeiten, dem


Nicht-Menschlichen der Menschen und so fort— das Seiende ist

immer einzig.

Geist ist überAvundene Wirklichkeit. Was sich von der W^irk-


lichkeit absentiert, ist nicht Geist.

Die Einfälle sind wahre Zeugungen des schöpferischen Augen-


bhcks, und sie gleichen ihm, ihrem Vater, von Angesicht und

44
.

Wuchs, ja sio pcrpetuu^nMi sviu, dos völli^r (.,it.s(li\viiii(]cn<'ri,

Andenken.

La ressource de ceiix qui n'imaf^^incnt pas, est de toujours


con ter / a iivcna r^ucs

Generelle Kenntnis ist entfernte Kenntnis, das Wissen besteht


aus Einzelheiten, ebenso wie das Glück. Nur wer auf das ge-
naueste in die Manieren, die Absichten und die Charaktere in
allen ihren Verzweigungen eindringt und sie zu unterscheiden
weiß, ist der emzig weise und vernünftige Mensch, und auf
diese Unterscheidung ist alle Kunst gegründet.
William Blake

Gute Gedanken muß man auch von rückwärts anschauen kön-


nen. Novalis

Perspektivismus : Der Gebrauch, den wir von den Wahrheiten


anderer Zeiten machen, ist ein uneigentlicher, der sein Ana-
logon in der Nach-Descartesschen Mathematik findet.

Um überhaupt nur zu sehen, muß man den Sand aus den


Augen kriegen, den die Gegenwart beständig hineinstreut.

Kant, Fichte und Hegel sind in gewisser Weise der Ausdruck


einer desequilibrierten bürgerlichen Welt.

Nicht: vieles zu kennen, aber: vieles miteinander in Berüh-


rung zu bringen, ist eine Vorstufe des Schöpferischen.

Indem man von der Wirklichkeit irgend etwas Zusammen-


fassendes aussagt, näliert man sie schon dem Traum, vielmehr
der Poesie.

45
Aus lauter Leeren ist die Fülle der menschlichen Existenz auf-

gebaut.

Die besten Augenblicke sind die, in denen sich das Individuum


über seine Situation im Dasein klar wird das Gefühl kann; sich
steigern bis zum Magischen, und es ist ohne alles Selbstsüch-

tige, ohne ein Trachten.

Wer Geist hat, braucht sein Leben lang, sich in seine Elemente
auseinanderzulösen das Genie baut aus diesen eine neue Welt.
;

Wunderbar ist der Übergang im Denken, der es möglich


macht, das für uns individuell Fürchterliche fast freudig zu
betrachten.

Die Ereignisse sind Wellen, die den Geist bedrohen, aber auch
tragen.

Was ist innere Freiheit? Im Einzelnen zugleich das Allgemeine


und Notwendige zu erkennen.

Als der heilige Antonius von Padua vor seinem Ende sah, wie
einer der Brüder ihm die letzte Ölung herbeibrachte, sagte er
lächelnd zu ihm »Damit bin ich schon innen gesalbt.«
:

De la Haye, Vita di S. Antonio

Der Glaube hat nur einen Gegenstand, ebenso der Unglaube.


Beide gehen auf das Ganze.

Serpens nisi serpentem comederit non fit draco.

Daß er sich als Materie zu Höherem fühle, ist das Letzte, was
dem Menschen bleibt, wenn er sich verwirft.

46
Die Tiefe muß man verstecken. Wo? An der Ohorlliiclie.

Die Welt läßt sicli die Niederträclitigen p^efallen, aber nur der
Außerordentliche tut ihr genug. Die dazwischen liahcii einen
schweren Stand und leicht ein böses Gewissen.

Die einfachen Charaktere, nicht die zusammengesetzten, sind


schwer zu verstehen.

Die gefährlichsten unserer Vorurteile herrschen in uns selber


gegen uns selber. Sie aufzulösen ist das Schöpferische.

Die W^irklichkeit steht immer gleich nahe.

Der gefährlichste Gegner der Kraft ist die Schwäche.

Es braucht ein ganzes Leben, um einzusehen, \vie dinglich

— objektiv — sich die Dinge, wie menschlich — subjektiv — die

Menschen verhalten.

Nicht durch den kategorischen Imperativ, den man immer


im Munde führt, hat Kant auf ganze Generationen gewal-
tig gewirkt, sondern durch den Kritizismus, in dem das
Scheue, Weltlose der Deutschen seinen abstrakten Ausdruck
fand.

Die Formen beleben und töten.

Auch dies gehört zur inneren Freiheit; der Jüngling in uns


muß vom Mann hinweggeräumt werden, der Mann vom Greis,
die Jungfrau von der reifen Frau: es ist nur ein Priester im
Heiligtum,

47
. :;

Das Lebendige fließt, aber das Fließende ist nicht die Form des
Lebens Rudolf Pannwitz

Auch um die Unterschiede zwischen uns und andern zu er-

kennen, bedarf es des erhöhten Augenblickes.

Es gibt ein Enthusiastisches aus Schwäche und eines aus Stärke


das erste ist der Sentimentalität verwandt, das andere ist ihr
entge gen gesetzt.

Der Weg des Übermaßes führt zum Palast der Weisheit.


William Blake

Der feste Wille ist die Absicht; bei wem der stark ist, dem ge-
lingt das Streben. Stark aber ist dessen Wille, der auf die Frage
»Wer kann wohl, wenn man vier unermeßliche Zeitfolgen
und hunderttausend Weltalter hindurch in einer Hölle gemar-
tert war, noch hoffen, ein Erwachter zu werden?! —« — »Ich!«
zu erwidern vermag.
Sarasangaho des Sidahatto. XII. Jahrh.

Wer sich des Guten nicht erinnert, hofft nicht. Goethe

Auch im Leid wird der Gläubige wahrhaft an seinem Ort sein,

auch im verzweifelten Augenblick.

Wenn Liebe einen »Zweck« hat, transzendent gesprochen, so


müßte es der sein, daß in ihrer Glut der beständig in innerste
Teile auseinanderfallende Mensch zu einer Einheit zusammen-
geschmolzen wird.

Daß für ihn der Reichtum des sittlich Möghchen in Gestalten,


nicht in Begriffen sich innerHch dai-stelle, dadurch unterschei-

48
.

detsich, der den Tempel der 1311(11111^ Ihm rctcii liat, von dem im
Vorhof Verweilenden.

Seid behutsam in sechs Fällen : Wenn ihr sprecht, sprecht die


Wahrheit; wenn ihr etwas versprecht, haltet
es; bezahlt eure
Schulden; seid keusch in Gedanken und in Werken; meidet
jede Gewalt und; flieht alles Böse.

Möglichst viel schweigen und dabei heiter bleiben.

Unwürdig des Gläubigen ist jedes leere Geschwätz.

Mohammed

Wo der Wille nur erwacht, dort ist schon fast etwas erreicht.

Eine Flaumfeder kann einen Kieselstein rund schleifen, wofern


sie von der Hand der Liebe geführt wird.

Die Seele ist unter allen Giften das stärkste. Novalis

Der Schmerz ist verschiedener Art, je nach dem Willen, ihn


aufzunehmen. Es gibt ein Schmerzempfinden nach oben wie
nach unten.

Schöpfung und Darstellung sind Gegensätze, obwohl meist ver-


bunden ; ihre wahre Einheit ist nur im Kultus
RudolfPannwitz

Die Zeremonie ist das geistige Werk des Körpers.

Durch Glauben wird Leben erst zum Leben, auch in seinen

zartesten Gliedern.

49
Ein Kunstwerk ist eine umständliche und ausgebreitete Hand-
lung, durch die ein Charakter erkennbar wird.

Das Schöne, auch in der Kunst, ist ohne Scham nicht denkbar.

Der Geist kann harmonisch sein und der Körper ohne Mißbil-
dung—und doch ein gewisser Geist des Körpers fehlen.

Alter Wein ist mehr als Greis und gewinnt den Duft wieder,
der auf ihm schwebte, da er weniger war als Kind ungeboren.
:

50
DIE Gegenwart oktroyiert Formen. Diesen Rannkreis zu über-
schreiten und andere Formen zu gewinnen, ist das Scliöjjfc-
rische.

Innerhalb der engsten Schranke, der besondersten Aufgabe ist

mehr Freiheit, als an dem unbegrenzten Unort, den der mo-


derne Sinn sich als Tummelplatz dieser imaginiert.

Geistige Deutsche werden schwer und spät zum eigentlichen


Leben geboren; sie machen dann eine zweite Geburt durch,
an der viele sterben.

Hie libertatem nostri posuere parentes.


Schweizer Inschrift

Der Großstaat ist ui der Geschichte vorhanden zur Erreichung


großer äußerer Zwecke, zur Festhaltung und Sicherung ge-
wisser Kulturen, die sonst untergingen, zur Vorwärtsbringung
passiver Teile der Bevölkerung, welche, als Kleinstaat sich
selbst überlassen, verkümmern würden, zur ruhigen Ausbil-
dung großer kollektiver Kräfte. Jacob Burckhardt

Was den Staat nach innen betrifft, so ist er nicht entstanden


durch Abdikation der individuellen Egoismen, sondern er ist

diese Abdikation, er ist ihre Ausgleichung, so daß möglichst


viele Interessen und Egoismen dauernd ihre Rechnung dabei
finden und zuletzt ihr Dasein mit dem seinigen völlig ver-
flechten. Jacob Burckhardt

Ein Gedanke, auf den man nicht leicht kommt und der doch zu
vielem den Schlüssel gibt, ist dieser: es verberge sich in jeder
Epoche aufs neue unter der Maske des besonders Kraftvollen
das sonderHch Schwache.

51
Die Menschheit gelangt zu Neuschöpfungen unsäglich schwer
und hegt darum die einmal entwickelten Formen als ein hei-
liges Erbstück. Darum knüpfte Cäsar mit gutem Bedacht an
Servius Tullius in ähnlicher Weise an, wie später Karl der
Große an ihn angeknüpft hat und Napoleon an Karl den Großen
wenigstens anzuknüpfen versuchte. Theodor Mommsen

Ein kurzes Siegesfest nur ist der Wahrheit beschieden, zwi-


schen den beiden langen Zeiträumen, wo sie als paradox ver-
dcimmt und als trivial gering geschätzt wird.
Schopenhauer

Wenn die Deutschen jetzt das Geistige in die Politik einbe-

ziehen wollen, so müssen sie vor allem lernen, zwei Begriffe


scharf zu trennen, deren einer sich aufs Nächste, der andere
aufs Höchste bezieht : Zweck und Ziel.

Die Verzweiflung einer Epoche würde sich darin aussprechen,

wenn es ihr nicht mehr der Mühe wert erschiene, sich mit der
Vergcingenheit zu beschäftigen.

In der gegenwärtigen Geistesverwirrung sind Elemente von


jedem deutschen Unsinn seit dem sechzehnten Jahrhundert in
Umlauf.

Es gehört zum glückseligsten Schicksal eines Volkes, eine ein-


zige große und rhythmisch waltende Naturgewalt in der Mitte
des Daseins zu haben. Das war für die alten Ägypter der Nil.
Sie empfingen den Segen und das Brot, die Rechtsbelehrung
und den Lebensrhythmus aus einer milden Hand. Darum
waren sie so heiter-ernst, wie niemand nach ihnen, und über-
wanden Tod und Leben eins durchs andere.

52
;

Vergewaltigung der Natur ist ein starkes lii^rrcdiciis nnscrcr


Kultur seit hundert Jahren.

Der Gegenwart entflieht, wer unter die Bauern geht. Der


Bauer und die Gegenwart liegen in einem gesunden (ewigen
Streit, und über der Natur und den Sternen schwebt eine un-

verwelkliche Zeit, die nichts von der schalen Gegenwart weiß.

Die nationale Mystik ist Bespiegelung des Selbst, in einen


Totem verlegt.

Man weiß ebenso Weniges und Ungenaues von dem Volks-


ganzen, dem man zugehört, als von dem eigenen Leib.

Das Volk übt zeitweise eine Art von Ostrazismus, wenn es ge-

wisse Stände und Klassen zum Gegenstand der Anklage macht


es deutet dabei aber auf eine höhere Wahrheit hin : nur die
Gesamtheit der Produktiven bildet das Volk.

Les institutions perissent par leur victoire. Montesquieu

Alle nationale Politik führt letzten Endes in ein unvermittel-


bares Element, in den Idiotismus, das Wort in seinem Ursinn
verstanden.

Pierre le Grand a marie la Russie ä l'Europe, de lä votre mal-


heur dont voici le gemissement eternel Nee sine : te nee tecum
vivere possum. Joseph de Maistre

Das Vergnügen am Kennenlernen vergangener Zeiten hat


mehr sinnlichen Zusatz, als wir denken würden; es ist damit
wie mit dem Reisen.

53
Die Völker sprechen so verschiedene Sprachen, daß sie einan-
der weder beleidigen noch genugtun können.

Wodurch Völker einander beikommen, ist das Geringste an


ihnen, und dies noch durch einen Zerrspiegel zurückgeworfen.

Griechen machen aus einem kleinen Fonds das meiste, Deut-


sche aus riesigem das wenigste.

Das Anthropozentrische ist auch eine Art von Chauvinis-

Der Witz der Franzosen ist überraschende gefäJlige Art, eine


Wahrheit scharf auszusprechen. Der Deutsche irrt sehr, wenn
er annimmt und behauptet, jener gebe den Witz an Stelle der
Wahrheit, es sei unter dem Witz die Unwahrheit oder nichts
verborgen. So meint es Voltaire in seinen Witzen über Gott
und die Kirche; so ist die Antwort Rodins zu verstehen: die
deutschen Barbaren verführen mit der Kathedrale von Reims
nicht anders als die französischen Restauratoren jahraus, jahr-
ein an allen Kathedralen von Frankreich.

Es ist uns leicht, die plumpe Albernheit einer überlebten Epoche


aus alten Dokumenten, die damals der »Zeit« dienten, ihr hul-
digten, in ihr schwelgten, mit dem ersten Blick zu durchschau-
en und ein schneller Ekel heißt uns den Blick wieder abwen-
;

den. Wie aber wird uns zumute, wenn uns für das Treiben der
Gegenwart plötzlich der Star gestochen und allmählich das
Auge sehend wird, wir die gleiche unbegreifliche Schalheit,
läppische Nichtigkeit und unsägliche Zerfahrenheit in Kraft

erblicken, ja die völlige Identität unserer geistigen Philister


mit den vormärzlichen oder den gelehrten und ungelehrten
Rüpeln des XVIII. — und das Ganze uns wie ein ekles, stagnie-

54
:

rendes Gewässer zu iimn^obcn scheint, ein uiistcrhliclicr Sil iripf",

den kein Mensch jemals trockenlegen wirdi


Nach der Lektüre rinrs Nckrotof^es

Deutsche tun sich viel auf die Tiefe zugute, die nur ein ande-
res Wort ist für nicht realisierte Form. Nach ihnen miiOu; uns
die Natur ohne Haut, als wandelnde Abgründe und Wirljcl
herumgehen lassen.

Der Philosoph — das Wort im antiken Sinn und im Sinn des


achtzehnten Jahrhunderts gebraucht — hat einen guten Stand
sowohl in einer grandiosen als in einer erbärmlichen Epoche
von beiden wird er sich abheben. Aber eine Epoche, die sich
selber annulliert, annulliert auch ihn.

Die Zeiten folgen einander. Was füi die eine eine Errungen-
schaft war, ist für die andere ein schales Selbstverständliches.
Wer seine Zeit nicht erfaßt, hat vei spielt.

Das größte Bedürfnis eines Staates ist das einer mutigen Obrig-
keit. Goethe

Der moralische Sieger ist es, der sich am leichtesten zu Tode


siegt.

Kabinette mögen einander betrügen, politische Maschinen mö-


gen aneinandergerückt werden, bis eine die andere zersprengt.
Nicht so rücken Vaterländer gegeneinander, sie liegen ruhig
nebeneinander und stehen sich als Familien bei. Vaterländer
gegen Vaterländer im Blutkampf ist der ärgste Barbarismus
der menschlichen Sprache. Herder

Jedes Volk besitzt von der Welt so viel, als es sich geistig anzu-

55
;

eignen vermag. Die Deutschen im Mittelalter und das Impe-


rium Romanum.

Was den Staat betrifft, so ist die Form der Regierung von sehr
geringer Bedeutung, obwohl halbgebildete Leute anders den-
ken. Das große Ziel der Staatskunst sollte Dauer sein, indem
sie weit wertvoller ist als Freiheit. Machiavelli

Die modernen Italiener haben vielleicht größere Schwierig-


keiten, sich in ihrem Innern wahrhaft als Nation zusammen-
zufinden, als die Deutschen; sie sind noch gar nicht auf dem
Punkt angelangt, wo sie allgemein das Problematische ihrer
nationalen Existenz erkennen können dazu gehört eine tiefere
;

Reflexion, als deren sie heute fähig wären. Hier wird der ita-
lienische Süden, immer die Heimstätte des philosophischen
Denkens, eine große Rolle zu spielen haben. Es ist kein Zufall
und nichts Geringes, daß die Denker von Thomas von Aquino
und Giordano Bruno an bis auf Giambattista Vico, Galiani und
letztlich Benedetto Croce alle aus dem Süden der Halbinsel

stammen.

Im Nationalen herrscht Idiosynkrasie; jeder glaubt um die


Nation ein Letztes zu wissen, wie er glaubt um sich selber ein
Letztes zu wissen. Würde man ihn aber fragen, was dieses sei,

so würde er antworten wie Augustinus auf die Frage nach dem


Wesen der Zeit : Wenn man mich nicht fragt, so weiß ich es
fragt man mich aber, so weiß ich es nicht.

Das achtzehnte Jahrhundert hatte eine wahre Popularphilo-


sophie, an deren Stelle das neunzehnte einen Hexenbrei aus
allen denkbaren Gedanken und Meinungen gesetzt hat. Aus
diesem wieder das Höhere und für die Epoche Wertvolle zu
destillieren, scheint die Aufgabe zu sein, der sich die gegen-

56
wärtige Generation unterziehen muß.

In früheren Epochen war die sentimentahsche Affektation vor-


herrschend, in den gegenwärtigen ist es die realistische.

Die Antike liat keine pathetischere Figur als Plannibal. Ver-


lassen und verraten von dem Volk, für das er handelte, hat er
es schließlich seinen Todfeinden überlassen müssen, sein Bild
für die Jahrtausende hinzustellen, und ist trotzdem unsterblich
geworden.

En politique les grands createurs ne sont pas ceux qui con-


goivent, ce sont ceux qui executent.
Vandal, JJavenement de Napoleon

Dem Franzosen macht die Eitelkeit die Augen klar und die
Welt deutlich und merkwürdig.
Der Deutsche hat die Eitelkeit nicht dicht an der Haut sitzen,
sondern ein Stück weiter außen, so modifiziert er durch sie die

Dinge, cinstatt sein Verhalten zu ihnen.

Allgegenwart der Vergangenheit zu ahnen ist ein deutscher


Sinn, eine Gabe des latenten großen deutschen Wesens.

Politik ist Kunst des Umgajiges auf höherer Stufe.

Politik ist Verständigung über das Wirkliche.

Jedes Überbleibsel von Kaiser und Reich rührt mich, wo ich es


erblicke. Dieser Staat war doch der einzige, welcher auf ganz
geistigen und friedlichen Grundlagen ruhte. Immerniann

Vieles wird nicht gewagt, weil es schwer erscheint ; vieles er-

57
scheint nur darum schwer, weil es nicht gewagt wird.
Kaunitz

In der Politik muß man nichts für unmöglich halten, indem


|
ein gewagter INIann alles durchsetzen kann. Kaunitz

Der Deutsche hat eine ungeheure Sachlichkeit und ein sehr


geringes Verhältnis zu den Dingen.

Jede Epoche hat ihre eigene Sentimentalität, ihre Art, gewisse


Schichten des Empfindens zu übersteigern. Die Sentimentali-
tät der Gegenwart ist ichsüchtig und lieblos; sie übertreibt

nicht die Liebesge fühle, sondern das Ich-Gefühl.

Die Deutschen haben wenig Begabung für Schauspielkunst,


aber viel Schauspielerei wenig Sinn
; und Geschmack für Rhe-
torik, aber viel Übertreibung; wenig Anlage fürs Soziale, aber
unendlich viele gesellschaftliche Hemmungen.

Die Franzosen setzen das Gesellige, die Welt der Reflexe als

die absolute Wirklichkeit, an der zu zweifeln niemand absurd


genug sein könnte.

Eine Klasse, die im Staat geherrscht hat, muß entweder ver-


nichtet und zum bloßen Schatten ihrer selbst gemacht werden,
oder sie wird schaden.

Der Staat ist eine Allianz der vorangegangenen Generationen


mit den nachfolgenden und umgekehrt. Adam Müller

Die große Folgerichtigkeit in ihrer Geschichte ist der eherne


Sockel, auf dem das Selbstgefühl der Engländer ruht.

58
:

Daß von einem Wesen wie Wagner, im Grund einem Theatra-


liker höchsten Stils, ein Konflikt ausgehen konnte, der die
ganze Kultur durchriß und auch heute nichts weniger als be-
ruhigt ist, zeigt eine große Seite des deutschen Geisteswesens

daß ihnen wie den Griechen im Geistigen die Fächer und Ab-
teilungen nichts gelten.

Die Elemente sind stets die gleichen — woran doch erkennen


wir den Menschen unserer Zeit, den, der um der Zeit willen
unser Genosse ist? Zeitgeist in schönem Sinn.

Ihr Geistigstes haben die Franzosen auf dem Grenzstreifen


zwischen Katholizismus und Ketzertum gegeben.

Hinter den Rücken des Geldwesens zu gelangen, ist vielleicht


der Sinn der moralischen und sogar religiösen Revolution, in
der wir zu stehen scheinen.

Les journaux sont les cimetieres des idees. Proudhon

Es ist hart, sich mit einer herrschenden Gesellschaft herumzu-


schlagen, aber härter, eine nicht vorhandene postulieren zu
müssen.

Es ist allenfalls möglich, zu imaginieren, was vergangene


Epochen in ihr Denken einschlössen, nicht aber, was sie aus-
schlössen.

Die Eitelkeit der Deutschen hat sich bei der Armut des gesell-

schaftlichen Lebens in Selbstgerechtigkeit und Sentimentali-


tät pervertiert.

Ein Wiener spricht den Namen eines ausländischen Malers in

59
der Weise aus, wie er ihn von Gebildeten glaubt gehört zu ha-
ben; er kommt unter Landsleute des Malers, er verbessert
seine Aussprache nach der ihrigen, er kommt v^ieder zurück

unter Wiener und gibt seine richtige Aussprache auf, anbe-


quemt sich der falschen. Das alles halb aus Höflichkeit, halb
aus Unlust, einen Widerstand zu überwinden. Ein Preuße
spricht den Namen falsch ; er kommt unter Leute, die ihn rich-

tig sprechen; wenn er den Unterschied bemerkt, so bleibt er


doch bei seiner Aussprache, und er wird den andern, sooft das
Wort vorkommt, einen ungeduldigen Blick geben, ja vielleicht
wird er sie schulmeistern und betonen, daß er den Namen so
spreche, wie er geschrieben werde, also richtig. Stärke und
Schwäche in einem.

Politik ist Magie. Welcher die Mächte aufzurufen weiß, dem


gehorchen sie.

Wir müssen überhaupt suchen, den Ausdruck »Glück« aus dem


Völkerleben loszuwerden und durch einen andern zu ersetzen,
während wir den Ausdruck »Unglück« beizubehalten haben.
Glück ist ein entweihtes, durch gemeinen Gebrauch abge-
schliffenes Wort. Jacob Burckhardt

Will meine Zeit mich bestreiten,


Ich laß es ruhig geschehen.
Ichkomme aus anderen Zeiten
Und hoffe, in andre zu gehen.
Grillparzer

60
JEDES wirkliche Kunstwerk ist der GruiidriB zuiri einzigen
Tempel auf Erden.

Goethe kann als Grundlage der Bildung eine ganze Kultur er-

setzen.

Wir haben keine neuere Literatur. Wir haben Goethe und An-
sätze.

Es ist das Paradoxon der literarischen Existenz, daß das in der


Zeit stehende Publikum nach anderer Neihrung Verlangen
trägt als das überzeitliche.

Jede Darstellung eines Seienden ist schon Indiskretion ; dieses

primäre vidum durch eine Gegenwirkung, die man nicht an-


ders als religiös nennen kann, zu sühnen, ist der Sinn jeder
höheren Bemühung in der Kunst.

Für den Produzierenden gibt es keine ernstere Prüfung, als zu


erkennen, ob das, was ihn von Schritt zu Schritt nötigt und
warnt, sein wahrer Genius oder die feige Stimme seiner Unzu-
länglichkeiten ist : ob er, indem er die Form gewinnt, seinem
Höchsten oder dem Niedrigsten gehorcht.

Den höchsten dichterischen Produkten wird eine Art von re-


ligiöser Funktion zugebilligt; auf wie verschiedenen Wegen
werden kann, zeigen Goethes symbolische Dich-
dies erreicht

tungen und Dostojewskis Romane.

Malerei verwandelt den Raum in Zeit, Musik die Zeit in Raum.

Die Menschen verlangen, daß ein Dichtwerk sie anspreche, zu


ihnen rede, sich mit ihnen gemein mache. Das tun die höheren

61
Werke der Kunst nicht, ebensowenig als die Natur sich mit
den Menschen gemein macht ; sie ist da und führt den Men-
schen über sich hinaus — wenn er gesammelt und bereit dazu
ist.

Goethe sagt von semen Romanen, ihr Stil sei »höfliche An-
deutung«.

Die dichterische Aufgabe ist Reinigung, Gliederung, Artiku-


lation des Lebensstoffes. Im Leben herrscht das gräßlich
Widersinnige, ein furchtbares Wüten der Materie — als Erb-
lichkeit, innerer Zwang, Dummheit, Bosheit, innerlichste Nie-
dertracht — im
, Geistigen eine Zerfahrenheit, Inkonsistenz bis
ins Unglaubliche — das ist der Augiasstall, der immer wieder

gereinigt und in einen Tempel verwandelt werden will.

Ce qu'il faut, c'est re faire le Poussin sur nature, tout est lä.

CezariTie

Ein Autor, ob er will oder nicht, kämpft immer mit der ganzen
Mitwelt. Er lernt alle Widerstände der Epoche fühlen, aber er
wird bei seinen Lebzeiten nie erfahren, ob die Gewichte, die
ihn zu erdrücken drohten, aus Eisen oder aus Papier waren.

Racine etait un romantique pour les gens de son temps, pour


tous les temps il est classique, c'est a dire parfait. Delacroix

Das Schwierige im Leben ist, daß im Menschen Vernunft und

Leidenschaft zugleich wohnen und er beide in sich, so gut es


geht, übereinbringen muß. Desgleichen ist in der poetischen
Darstellung dies das Schwierige einen schönen Übergang
: vom
Leidenschaftlichen ins Rationelle herzustellen.

62
; ; :

»Daphnis und Chloe«, übersetzt von Courier: Es ist eine be-


wunderungswürdige Tagesklarheit in dieser Darstellung. Sie

ist von der höchsten Milde, aller Schatten wird Reflex. Welcher
Künstler überhaupt das noch verstünde! GoetJie

Niemand ist von Haus aus weniger Psychologe als der Novellist.
Er betrachtet die Charaktere als das Allgemeine und die Si-

tuation als das Besondere.

Formenverwandtschaft: des Desto jewskischen Romans mit der


griechischen Tragödie
des Rechnerischen bei Kleist und bei Poe
der Novalisschen Intuition von Leib-Geist mit der gleichen
Intuition bei Tolstoi und Dostojewski.

Geist und Gestaltung im Kunstwerk beglaubigen einander


wechselseitig.

Das deutsche Publikum


Im Grunde völlig gleichgültig gegen alle Form, und nur voll

unersättlichen Durstes nach Stoff, verlangt auch das feine Pu-


blikum von dem Künstler nichts als interessante Individualität.
Friedrich Schlegel

Es ist heutzutage fast kein anderes Mittel da, auf Menschen zu


w^irkenund im höheren Sinn in der Welt gesellig zu leben, als

eben das Privatgespräch und die Reflexion darin. Solger

Was Ibsen gehindert hat, aus seinen Stoffen Komödien zu


machen, war eine nordisch -protestantische Steifigkeit und Un-
geselligkeit.

Einen Besucher gemahnte der fünfundsechzigj ährige Goethe

63
:

an den Apollo vom Belvedere, an einen Pfau und an die

Ruinen des Heidelberger Schlosses, alles gleichzeitig.

Biedermann, Gespräche mit Goethe

Der berühmte Autor lebt nur in einer anderen Form von Un-
gekanntheit, als der Autor, von dem niemand redet.

Mit den geistigen Hervorbringungen einer Epoche, die hervor-


ragendsten ausgenommen, ist eigentlich noch nichts getan, es
müßte erst etwas getan werden.

Jeder Stoff führt an jedem Punkt ins Unendliche.

Ist nicht die Verzweiflung des gegenwärtigen Zeitalters der


verlorengegangene Glaube an die Form?

Le poete est celui qui emeut : il y a deux manieres d'emouvoir.


Peindre parfaitement des choses capables de donner une tres
petite quantite d'emotion, alors on la leur fait rendre toute : La
Fontaine, peignant la belette ne pouvant sortir du grenier.
Peindre plus ou moins bien une chose capable de donner une
tres grande quantite d'emotion
Voltaire, peignant la position de Merope et ce qu'elle fait dans
la tragedie de ce nom.
Je crois, si je lisais attentivement (et avec ce sentiment du mau-
vais et du faux dans les sentiments tres exerce en poete)
»Merope« et la fable du pauvre bücheron tout charge de ra-
mee, les quinze premiers vers de cette fable me donneraient
beaucoup plus d'emotion que toute la tragedie.

Stendhal

Die größte Achtung, die ein Autor für sein Publikum haben
kann, ist, daß er niemals bringt, was man erwartet, sondern

64
was er selbst, auf der jedesmaligen Stufe eigener und fremder
Bildung, für recht und nützlich hält. Goethe

Grillparzer und Hebbel mußten einander so hart verkennen,


weil sie — beide über der Epoche stehend — zu ihr das entgegen-
gesetzte Verhältnis nahmen. Hebbel, als der nördliche Deut-
sche, wollte sie geistig bewältigen und zur Erfüllung bringen,
Grillparzer, als deutscher Orientale, sich ihr entwinden. Schließ-
lich erschien dem Grillparzer Hebbel bemahe als Journalist,

diesem jener als Dilettant.

Der Künstler gibt im Werk und im Umgang am meisten Ge-


halt, wo er am meisten Form und Nuance gibt.

Man muß der Natur darin nachstreben, daß sie keine Zwi-
schenglieder, keine Nebensachen, kein Provisorium kennt,
sondern jedes Ding als Hauptsache behandelt.

Was man in der dichterischen Darstellung das Plastische nennt,


die eigentliche Gestaltung, hat seine Wurzel in der Gerech-
tigkeit.

Die Eigenschaft, die ein niedriger Literat an einem höheren


am wenigsten zu schätzen weiß, weil er sie gar nicht kennt, ja
nicht zu ahnen vermag : ist die Ausdauer, das eigentliche zähe
Wollen des Höheren.

Im Dilettantismus ist der Keim einer sittlichen Verderbnis,

Der Hauptunterschied zwischen den Menschen im Leben und


den erdichteten Figuren ist dieser, daß die Dichter sich alle Mü-

he kosten lassen, den Figuren Zusammenhang und innere Ein-


heit zu geben, während die Lebenden in der Inkohärenz bis ans

65
:

Äußerste gehen dürfen, da ja die Physis sie zusammenhält.

Was dem gewöhnhchen Beschauer schon Form ist, das ist dem
Kenner noch Stoff; der echte Kunstgenuß entspringt nur aus
dem hebevoll hingegebenen Vertiefen in das Kunstwerk, dem
Suchen nach seiner geistigsten Form, deren Existenz der ge-
wöhnliche Beschauer höchstens ahnt. Otto Ludwig

Grillparzer war der seltsamen Meinung, eine in Prosa verfaßte


Dichtung seinur halb eine Dichtung zu nennen.

Die modernen psychologischen Dichter approfondieren, was


übergangen werden sollte, und nehmen oberflächlich, was tief

genommen werden müßte.

Talent ist nicht Leistung, Glieder sind kein Tanz.

On peut traduire et indiquer les choses les plus subtiles en


appliquant ce vers de Boileau
»D'un mot mis ä sa place enseigna le pouvoir.«
II n'est point besoin du vocabulaire bizarre, complique, nom-
breux et chinois qu'on nous impose aujourd'hui sous le nom
d'ecriture artiste, pour fixer toutes les nuances de la pensee;
mais il faut discerner avec une extreme lucidite toutes les mo-
difications de la valeur d'un mot, suivant la place qu'il occupe.

Ayons moins de noms, de verbes et d'adjectifs au sens presque


insaisissables, mais plus de phrases differentes, diversement
construites, ingenieusement coupees, pleines de sonorites et de
rhytmes savants. Maupassant

Das Geistige eines Kunstwerkes besteht nicht darin, über was


es spricht, sondern zu wem es spricht. Moritz Heimann

66
Auf der höchsten Stufe der Kunst herrscht Nacktheit, Selbst-

entblößung, ihr Gegengewicht ist höchster Fernst, völlige Er-


fülltheit. Wo dieser Zustand interniittiert, ein Auge nach außen
blinzt, ist Schamlosigkeit.

Die modernen Maler legen alles auf den Reiz an und der Reiz
;

ist gerade, was die große Kunst völlig ausschließt.


Müller -Hofmann im Gespräch

Daß Goethe nicht gut Griechisch konnte und nie ein echtes
griechisches Bildwerk mit Augen gesehen hat, ist seltsam zu
denken.

Daß sie bei großem Tiefsinn die naive Seele eines Jünglings
malen, macht die Aphorismen von Novalis so bezaubernd.

Das Schöne kann allein

Der Gegenstand von unsrer Liebe sein.

Die große Kunst ist nur, vom Stoffes abzuscheiden.


TVieland

Elle etait pleine de gräce pour se mettre au lit, pour se des-

habiller. J'aurais voulu qu'un Albane la vit alors, pour la des-

siner. Napoleon über Josephine

L'etude du beau est un duel oü l'artiste crie de frayeur avant


d'etre vaincu. Baudelaire

Was ist Hogarth und alle Karikatur anderes als der Triumph
des Formlosen über die Form? Goethe

Gemalte Phantastereien sind nichts Mögliches; das legitime

67
:

Objekt der höheren malerischen Phantasie ist der menschhche


Körper.

Jedes ausgesprochene Wort supponiert den Hörer, jedes ge-

schriebene den Leser: diesen mitzuschaffen ist der verhüllte,


aber größere Teil der schriftstellerischen Leistung.

Daß wir ein Wort me Grazie haben, gibt uns die Möglichkeit,

dasWort Anmut für die höhere oder strengere Sprache aufzu-


bewaJiren. Die Franzosen haben übrigens auch ihre Fremd-
wörter und drücken mit ihnen sehr schön die Schwebungen
der Bedeutung aus; z.B. inclination neben inclinaison.

Charaktere ohne Handlung sind lahm, Handlungen ohne Cha-


raktere blind.

Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert. Letz-


tesGewahrwerden der Natur mit dem Herzen Novalis. Erstes :

Gewahrwerden des Ökonomischen mit den Augen des Geistes


Immermann.

Das Wort Sehnsucht hörte man früher unter den Deutschen


bis zum Verdruß ;
jetzt ist es seit einigen Dezennien wie ver-
schwunden.

Jede Dichtung, die nicht übertreibt, ist walir, und alles, was
einen dauernden tiefen Eindruck macht, ist nicht übertrieben.
Goethe

Das eigentliche Dichterische hält sich gleich weit vom Herz-


losen und vom Empfindsamen.

Die Schwierigkeit des Schreibens in den heutigen Zeitungen

68
ist die, daß mein nicht weiß, zu wem man redet. (Früher kannte
man, wenn nicht die Individuen, doch den Kreis, die Klasse
oder Gruppe nach Bildung oder Gesinnung.)

Philologen vergessen, daß wir, mit Goethe zu reden, das Urteil


am eigentlichsten durch die Produktionen der Gegenwart zu
schärfen vermögen ; Journalisten wiederum fehlt die Einsicht,

daß nichts Höheres für den Augenblick da ist, noch vom


Augenblick aus erfaßt werden kann, und die weitere, daß
Folge, Stufung, Gliederung alles und die einzelne Erschei-
nung eigentlich nichts ist.

Was gut sein soll, muß immer »gleich« sein, denn »gleich« ist

die göttlichste aller Kategorien und verdient geehrt zu werden,


wie in der Römersprache »ex templo«, weil es der Ausgangs-
punkt des Göttlichen im Leben ist ; was nicht gleich geschieht,
ist von Übel. Kierkegaard

Beim gegenwärtigen Literatur zustand ist durch Konversation


mehr zu erreichen als durch Pubhkation.

Von Goethes Sprüchen in Prosa geht heute vielleicht mehr


Lehrkraft aus als von sämtlichen deutschen Universitäten.

Die meisten Leute, indem sie den sogenannten geistigen Be-


schäftigungen nachgehen, als da sind das Lesen und das Schrei-
ben (nicht das Briefschreiben, sondern das Schreiben als Autor),
tun da gar nicht das, was sie zu tun meinen : denn weder ver-
schönern sie ihre Bildung — Bildung »erweitern«, wie man zu
sagen pflegt, ist ein häßliches Unding — noch schärfen
, sie ihre
Begriffe, noch bereichern sie ihre Erfahrung, sondern sie leisten
nicht mehr und nichts Wesenthcheres als Buben, die am Rand
eines Weihers herumstochern, Steine in trübe Wasser werfen

69
usf., kurz ein geschäftiges Nichts.

Kein Stück der Oberfläche einer Figur kann geschaffen werden,


außer vom innersten Kern aus.

Die Literarhistoriker machen ein ungeheures Wesen aus ge-


wissen Äußerhchkeiten, aber sie übersehen dabei, worauf es

dem einzelnen Künstler im besonderen Fall angekommen ist.

Racine legt alles auf innere Entscheidungen an ; was sollten

ihm da Shakespeares bunte und wechselnde Schauplätze; die


vier Wände eines fürstlichen Gemaches, würdig aber fast kahl,
sind genau bis zum Symbolischen das, was er braucht.

Ein Kunstwerk ist eine umständliche und ausgebreitete Hand-


lung, durch die ein Charaiiter, der des Autors, erkennbar
wird.

Tiefsinn der Sprache, daß sie »eitles« Beginnen ein Beginnen


nennt, dem aus Notwendigkeit die Wirkung versagt bleibt. Sie
weist auf die Wurzel der Eitelkeit, die tiefer liegt als in der ge-

selligen Sphäre.

Merkt man Lessings Stücken nicht an, daß er stets traumlos


schlief und daß er em Spieler war?

La duree n'est promise qu'ä ceux des ecrivains capables d'offrir

aux successives generations des nourritures, car chaque genera-


tion apporte une faim differente. Andre Gide

Novalis' Bemerkung, daß Goethes Betrachtungen des Lichts,


der Verwandlung der Pflanze usw. Bestätigungen sind, daß
auch der vollkommene Lehrvortrag in das Gebiet des Künstlers
gehört.

70
Wahre Sprachliebe ist nicht möghch ohne Sprachverleugnung.

Der gewöhnliche Erzähler erzählt, wie etwas beiläufig gesche-


hen könnte. Der gute Erzähler läßt etwas vor unseren Augen
wie gegenwärtig geschehen. Der Meister erzählt, als geschähe
etwas längst Geschehenes aufs neue.

Flaubert ist ein sehr bedeutender Autor. Vergleicht man ihn


aber mit Goethe oder mit Dostojewski, so erscheint die Ironie
als ein zu sehr vorwaltendes Element seiner Poesie.

Französische Prosa auf ihrer höchsten Stufe ist im Geistigen


sinnlicher und im Sinnlichen geistiger als die deutsche auf

ihrer gegenwärtigen Stufe.

Der gute Geschmack ist die Fähigkeit, fortwährend der Über-

treibung entgegenzuwirken.

Lessingsche Figuren gehen in der Delikatesse bis zur Grobheit,


das ist das Deutsche an ihnen. Eine Figur wie Valmont (in den
»Liaisons dangereuses«) geht im Niederträchtigen bis zur De-
likatesse, das ist Französisch.

Goldoni: dichterische Hand, aber Eingeweide eines Philisters.

Die Leute, die nicht schreiben, haben einen Vorzug: sie kom-
promittieren sich nicht. Goethe

Sollte ich zwei Bücher nennen, die, ohne der hohen Poesie an-
zugehören, eine wahre Unerschöpflichkeit des menschlichen
Gehaltes aufweisen, so würde ich sagen: La Bruyeres »Ca-
racteres« und Goethes Autobiographie. Ein drittes wäre der
»Samuel Johnson« von Boswell.

71
Un auteur est un homme qui trouve dans des livres tout ce qui
lui trotte par la tete. Alte Vorrede zum Gil Blas

In Wielands geistigem Leben in der ersten idealen Phase ist

viel Hölderlinsches, in der zweiten humoristischen Phase viel


Jean Panisches.

Gewaltsames Fortziehen der Verhältnisse zu einer Handlung,


mit der man sich bloß zu spielen erlaubt hatte — (H. v. Kleists
Brief an W. v. Zenge 14. IV. 1805) ist die unwillkürhch
selbstkritische Formel, die auf Kleists eigenes Verhalten und
auf das aller seiner Figuren zielt.

Dichten = feindre = to feign.

Das jetzige Ausmalen von Dichter- und Künstlerleben hat eine


sehr ungesunde Quelle; besser man begnüge sich mit den
Werken, worin z. B. Gluck den Eindruck der Größe und des
ruhigen Stolzes, Haydn den des Glücks und der Herzensgüte
macht. Jacob Burckhardt

Jede Hingabe ans Deskriptive führt zur Übertreibung.

Goethe ist oder sollte sein der geometrische Ort für den Deut-
schen zur Welt, nicht ein Standpunkt, aber ein Punkt, auf den
bezogen andere Punkte Figuren werden. Rudolf Pannwitz

Franzosen bringt die Phraseologie des »Wilhelm Meister« zur


Verzweiflung. Sie finden sie künstlich und gemacht bis zur
Unertr ä glichke it

Ein Buch wie das zweibändige Leben Winckelmanns von Justi


ist darum merkwürdig, weil es vortreffhch ist.

72
Lebt man hoständig in einer Welt, die stumpf für die Sprache
imd durch das Wort kaum zu erschüttern ist, so gerät man
um so mehr in Gefahr, durch Ausgesprochenes die Einzehien
zu verletzen und sich durch Reden der Verkennung auszu-
setzen.

Balzac ist die größte Annäherung des französischen Geistes an


deutsche Denk- und Darstellungsweise, Goethe in der zweiten
Lebenshälfte folgt der entsprechenden umgekehrten Ten-
denz.

Attribut des Genies: de coordonner, d'assembler les rapports,

de les voir plus justes et etendus. Delacroix

Dostojewski ist ein gewaltiger Dichter, aber in Turgenjew ist

die vollkommenste Magie des Künstlerischen.

In jedem Sprach ausdruck ist ein Unnaives, das geht uns leicht
ein, geht aber auch leicht weg wie ein Nebel; und ein Naives,
an dem stoßen wir uns, aber so wie an einem lebenden Leib.

M. Joubert über Le Sage On peut dire des romans de Le Sage


:

qu'ils ont l'air d'etre ecrits dans un cafe par un joueur de domi-

nos en sortant de la comedie.

Das Plastische entsteht nicht durch Schauen, sondern durch


Identifikation.

Die Fragmente des Novalis können geistige heroische Land-


schaften vorstellen, in welchen die Zeit besiegt ist.

Ein Mensch wird um so sprach gewaltiger sein, aus einer je

tieferen Einsamkeit er kommt; umgekehrt, der geselligste

73
Mensch, der Engel der Geselligkeit, müßte schweigen und
blicken.

Goethe ist nicht der Quell von diesem und jenem in unserer

neueren Literatur, sondern er ist ein Bergmassiv, und das


Quellgebiet von all und jedem in ihr.

An Goethe kann man sich bilden, wofern man sich an ihm


nicht verwirrt; an der deutschen Literatur kann man sich

nicht bilden, nur verwirren.

Kein Wort ist unter den Deutschen so außer Gebrauch ge-


kommen wie das Wort »Geschmack«! — es wäre denn von
Hausgerät oder Kleidern die Rede. Und doch nennt der Latei-
ner einen Mann, der zu schmecken versteht, einen Weisen.

Der übelste Stil entsteht, wenn man etwas nachahmt und


gleichzeitig kundgeben will, daß man sich diesem Nachge-
ahmten überlegen fühle.

»Die Palette auffrischen« ist ein guter Ausdruck in der maleri-


schen Kunstsprache.

Certains auteurs, parlant de leurs ouvrages, disent:Mon livre,


mon commentaire, monhistoire, etc. Ils sentent leurs bourgeois,
qui ont pignon sur rue et toujours un »chez moi« ä la bouche.
Ils mieux de dire: Notre livre, notre commentaire,
feraient
notre histoire etc., vu que d'ordinaire il y a plus en cela du bien
d'autrui, que du leur. Pascal

Wer selbst auf dem Punkte der Existenz steht, um welchen der
Dichter sich spielend dreht,dem können die Gaukeleien der
Poesie, welche aus dem Gebiet der Wahrheit ins Gebiet der

74
Liebe schwankt, nicht genufrtun, weil er es besser weiß, noch
können sie ihn ergötzen, weil er zu nah steht und es vor seinem
Auge kein Ganzes wird.
Goethe an Carl Aiigiist über Egniont

J'ai toujours reconnu l'esprit des jeunes gens au detail qu'ils


faisaient d'une piece nouvelle qu'ils venaient d'entendre; et

j'ai remarque que tous ceux qui s'en acquittaient le mieux, ont

ete ceux qui depuis ont acquis le plus de reputation dans leurs
emplois. Tant il est vrai qu'au fond l'esprit des affaires et le

veritable esprit des helles lettres est le meme. Voltaire

Franzosen äußern zuweilen, daß sie uns um ein so vielsagendes


und unübersetzbares AYort wie Sehnsucht beneiden aber ; sie

wissen nicht, wie sehr bei den neueren Deutschen der zarte
schwebende Begriff durch plumpen Mißbrauch in Diskredit
gekommen ist.

Geistreicher und schöner als Sprachkritik wäre ein Versuch,


sich der Sprache auf magische Weise zu entvdnden, wie es in

der Liebe der Fall ist.

Die Mischung des Beschreibenden mit dem Enthusiastischen


gibt ein unleidliches Genre.

Hebbels Gedichte sind eine grandiose Lebenskristallisation. Im


ganzen, nicht im einzelnen, haben sie etwas von der Antike.

Daß wir Deutschen das uns Umgebende als ein Wirkendes —


die »Wirklichkeit« — bezeichnen, die lateinischen Europäer als

die »Dmglichkeit«, zeigt die fundamentale Verschiedenheit


des Geistes, und daß jene und wir in ganz verschiedener Weise
auf dieser Welt zu Hause sind.

76
Le premier m^rite d'un tableau, c'est d'etre une fete pour
l'ceiL Delacroix

Die Natur durchsetzt alles mit dem Geheimnis des Nichtver-


stehens: dieses waltet noch zwischen dem geistigen Produkt
und dem eigenen Erzeuger.

Zu Goethes >NoveUe<: Dort, wo eine hohe Form erreicht ist,


erscheint dem mittelmäßigen Leser der Stoff, das Eigentliche,
verflüchtigt — wo es doch gereinigt ist der kunstgemäße Leser ;

kommt auf seine Rechnung, wie der reine, naive.

In den schlechten Erzählungen erfolgen die Beschwörungen


der Geister mit kunstvollen und besonderen Formeln, in den
besten Berichten mit den einfachsten Elementen der Rede,
einzelnen Wörtern, ja Silben.

Entre autres choses, ce qui fait le grand peintre, c'est la com-


binaison hardie d'accessoires qui augmente l'impression. Les
nuages qui volent dans le meme sens que le cavalier empörte
par son cheval, les plis de son manteau qui s'enveloppent ou
flottent autour des flaues de sa monture. Cette association puis-
sante . . . car qu'est-ce que composer? C'est associer avec puis-
sance. Delacroix

Die Regel nützt nur dem, der sie entbehren kann ; den aber
verdirbt sie, der sich an ihr weise glaubt; jede Regel ist ein
Rätsel, das durch andere Rätsel forthilft. Arnim

Das einzige Dichterische, was ich in Bürgers Darstellung aner-


kenne, ist Leben. Aber Leben ist nur ein Element der Schön-
heit und nicht Schönheit selbst.
August Wilhelm Schlegel

76
:

Wir suchen überall das Unbedingte und finden überall nur


Dince.
't»"
Novalis

Daß wir für zwei so auseinanderklaffende Begriffe, ja Begriffe


verschiedener Ordnung, als wofür die Franzosen einmal chair,
das andreMal viande setzen, das eine Wort Fleisch gebrauchen,
zeugt von einem stumpfen Arbeiten der sinnlichen Phantasie.

Was es auf sich hat, ein Wort in seiner eigentlichen, körper-


haften Verwendung zu hören, das wir immer nur in halb oder
ganz übertragenem Sinn zu hören gewohnt sind, das sieht man
aus dem großen Eindruck, den es auf Goethe machte, als er im
Nibelungenlied auf diesen Vers stieß
Es war der große Siegfried, der aus dem Grase sprang,
Es ragete ihm vom Herzen eine Speerstange lang.

Einem den Rang ablaufen, eigentlich den Rank ablaufen,


heißt auf der Senne des Bogens laufen und dadurch zuvor-
kommen; in die Schanze schlagen, kommt von chance und
heißt, etwas in einem gewagten Spiel einsetzen.

Die Anspielung ist eine niedrige rhetorische Form, welche in


der höheren Rede darum nicht stattfinden kann, weil diese
durch und durch Anspielung auf Un vermittelbares ist.

In Gottfried Keller ist ein beständiger Gebrauch der anmutigen


Ironie, der schließlich ungeduldig macht.

Kann uns die Komödie schmackhaft sein ohne einen Hauch


von Mystizismus?

Von denen, die wirklich ihr Schicksal zur Schauspielerei ge-


drängt hat, sind die heroischen und tragischen Schauspieler auf

77
;

der Flucht vor dem Ich, die komischen auf der Flucht vor der
Welt.

L'avilissement des mots est une de ces bizarreries des moeurs,


qui pour etre expliquee, voudrait des volumes. Ecrivez ä un
avoue en d^homme de loi, vous l'aurez offense tout
le qualifiant

autant que vous offenseriez un negociant en gros de denrees


coloniales, ä qui vous adresseriez ainsi votre lettre :
— Monsieur
un tel, epicier. Un assez grand nombre de gens du monde qui
devi'aient savoir, puisque c'est lä toute leur science, ces deli-

catesses du savoir- vivre, ignorent encore que la qualification

di^homnie de lettres est la plus cruelle injure qu'on puisse faire


ä un auteur. Balzac
So bei uns mit der Bezeichnung Journalist u. a.

Vorzug der französischen Sprache, daß sie von den sinnhchen


Abstractis ungezw-ungen den Plural bilden kann: les fatigues,

les vides, les noirs.

Der Dialekt erlaubt kerne eigene Sprache, aber eine eigene


Stimme.

Das Determinierende an Hebbel, daß er zu wenig von dem


hatte, was die Griechen a-'oco; nannten. Beim Dichter liegt

dies in der Sprache. Das Verhältnis zur Sprache ist angeboren.


Hebbel und Sophokles, polare Gegensätze.

Claudel über den Stil von Baudelaire C'est un extraordinaire


:

melange du style racinien et du style journaliste de son temps.

Es ist Wort aufbringen für


sehr bedeutungsvoll, daß wir kern
»sobre« im lobenden Sinn, ein Wort, das in der Ästhetik der
Franzosen immer wiederkehrt und mit dem größten Ge\\'icht

7S
:

mit »nüchtern« verbindet der Deutsche sehsamerweise keinen


angenehmen Sinn. — Auf Grund dieser Armut im Sprachge-
brauch konnte? dann freihch das Exzentrische, Einmalige er-
bhihen, wie die wunderbare Wortverbinchmg »heihg nüch-
tern« bei Hölderlin.

Nur der das Zarteste schafft, kann das Stärkste schaffen.

Böcklin ist Poussin, vergröbert und sentimentalisiert.

Goethes Bedeutung für die deutsche Literatur ist freilich un-


geheuer; hat er aber eine ähnliche oder überhaupt irgend-
welche Bedeutung für das gegenwärtige deutsche Volk? Wer
getraut sich zu antworten? Die Franzosen sind ein Volk, das
unter seinem geistigen Reiter dahingeht und dem sanften Zü-
geldruck folgt — oder es nimmt einmal die Zügel zwischen die
Kinnladen und geht durch; das deutsche geht hinterm Zügel,
und man weiß nicht, ob überhaupt ein Reiter im Sattel sitzt.

Das Genie bringt Übereinstimmung hervor zwischen der Welt,


in der es lebt, und der Welt, die in ihm lebt.

Goethes Werke verbinden die Geselligkeit mit der Einsamkeit.

Die Poesie auf ihrer höchsten Stufe zeigt auf ein Etwas hin, auf
dem alles Geschehen ruht und das geheimer ist als Kausalität
daß Hektor und Achilles nicht vorher aufeinandertreffen als zu
dem einen entscheidenden Kampf, das läßt sich nicht begrün-
den ; es läßt sich nur hinstellen.

Indem wir ein chinesisches Gedicht in einer englischen oder


deutschen Transkription genießen, empfangen wir einen Ge-
halt, von dem wir wissen, daß er in keiner Weise von der Form

79
abzutrennen ist, im. Wege einer formlosen, entfernten Hin-
deutung auf eine Form, vermöge welcher jener Gehalt erst

existent wird. AVir trinken also einen gespiegelten Wein, m-


dem wir eine gespiegelte Schale an die Lippen führen. Wenn
wir dennoch trunken werden, ist dann nicht die Wirkung, die

wir unter so merkwürdigen Umständen erfahren und welche


wir in die höchste Kategorie setzen, eine solche, die uns durch
das religiöse Organ zugemittelt wird?

Sehr weitführende Bemerkungen von Goethe in den Tagebü-


chern unterm 16. XI. 1808.

Betrachtungen über den Reflex von oben oder außen gegen


das untere und innere der Dichtkunst. Z. E. die Götter im Ho-
mer nur ein Reflex der Helden ; so in den Religionen die an-
thropomorphistischen Reflexe auf unzählige Weise. Doppelte
Welt, die daraus entsteht, die allein Lieblichkeit hat, wie denn
auch die Liebe einen solchen Reflex bildet. Und die Nibelun-
gen so furchtbar, weil es eine Dichtung ohne Reflex ist, und die

Helden wie eherne Wesen nur durch und für sich existieren.

Die bedeutenden Deutschen scheinen immer unter Wasser zu


schwimmen, nur Goethe, wie ein einsamer Delphin, streicht
auf der spiegelnden Oberfläche.

Die Welt hat ihre Unschuld verloren, und ohne Unschuld


schafft und genießt man kein Kunstwerk.

Die Losung unserer Tage ist Kritik. Weber ist ein kritischer
Komponist. Die Musik ist die einzige Kunst, welche die Neue-
ren erfunden haben. Grillparzer

In der Jugend findet man das sogenannte Interessante merk-


würdig, im reiferen Alter das Gute.

80
:

Naturalismus entfernt sich von der Natur, weil er, um die


Oberlläche nachzumachen, das innere Beziehungsreiche, das
eigentliche Mysterium der Natur, vernachlässigen muß.

An einem Kunstwerke höherer Ordnung, ebenso wie beim


organischen Gebilde, ist nicht die einzelne Form das Wunder-
barste, sondern das Hervortreten einer Form aus der anderen.

Tous les rapports dont le style est compose sont autant de


verites aussi utiles et peut-etre plus precieuses pour l'esprit

humain que Celles qui peuvent faire le fond du sujet.

Buffon

Wenn Geister vom höchsten Rang, wie Goethe und Lionardo,


sich herablassen, zu spielen, dann, aber nur dann entstehen
Gebilde wie das Märchen von der Lilie und der Schlange oder
das Gemach mit den verschlungenen Reblauben im Mailänder
Kastell.

Die reinste Poesie ist ein völliges Außer-sich-sein, die vollkom-


menste Prosa ein völliges Zu-sich -kommen. Das letztere ist

vielleicht noch seltener als das erstere.

Nur von dem scheinbar ganz am Tag Liegenden, mit Händen


zu Greifenden kann die hohe Wirkung des Geheimnisses aus-
gehen.

Herrliches Wort von Poussin, am Ende seines Lebens


Je n'ai rien neghge.

81
TAGEBUCHBLATT

15. VII. 19

EIN Bursch trägt ein geschlachtetes Lamm auf dem Rücken


vorbei, dabei fällt mir etwas ein, das mir einmal G. B. erzälilt

hat, der zeitweise Ibsen sehr nahesteuid. »Wir hatten einmal


Lammsbraten gegessen und ich sagte : Das Lamm ist doch das
edelste Wild. Gewiß, antwortete Ibsen. Ich habe einmal daran
gedacht, ein Schauspiel über das Lamm zu schreiben. Ein
Mann ist todkrank; er kann sich nur dann erholen, wenn sein
Man überführt dann frisches Blut aus den
Blut erneuert wird.
Adern eines Lammes zu den seinen, und er genest. Seither
träumt er immer davon, jenes Lamm wiederzusehen, dem er
das Leben schuldet. Er findet es zuletzt in der Gestalt einer

Frau wieder. Er liebt sie. Muß er sie denn nicht lieben?


Nur geschieht es nicht häufig, daß man ein Weib trifft, das ein
Lamm ist.« Es findet sich nicht leicht in allen Werken Ibsens
zusammen etwas so Zartes, außer vielleicht an ein paar Stellen
in »Peer Gynt«.

Goethe zu Benjamin Constant über die katholisierenden Ele-


mente im »Faust«, merkwürdig genug:
et Goethe dit : J'aime mieux que le catholicisme me fasse

du mal que si on m'empechait de m'en servir pour rendre mes


pieces plus interessantes. Um sich mit solcher disinvoltura aus-
zudrücken, muß Goethe das gehabt haben, was er ein anderes
Mal in bezug auf ein recht eigentümliches Gespräch mit Lord
Bristol seinen französischen Tag nannte das heißt, manchmal
;

gab es ihm eine viel freiere und lässigere Haltung, wenn er


sich der fremden Sprache über Geistiges bediente.

83
Den verschiedenen geistigen Epochen fehlt es immer wieder
und immer in neuer Form am Ernst. Daß das Unernste sich für
ernst nimmt, das ist das Um und Auf jeder neuen Literaten
generation.

Im Petronius (»Satirae« Cap. 48) wird von der Sibylle in


Cumae erzählt, sie sei eingeschlossen in eine Glasflasche und
wenn die Knaben ihr zurufen: Was willst du, Sibylle? ant-

wortet sie: Ich will sterben.

Das Wort ist mächtiger als der es spricht.

Eine unwillkommene Botschaft empfängt ihren Dank schnel-


ler als eine willkommene denn Worte gehen nicht
; so schnell

aus dem Mund, als Tränen aus dem Aug schießen.

Etwas merkwürdig Tiefes steht, wo man es vielleicht nicht ver-


muten würde, in einem Gespräch zwischen Frau Flut und Frau
Reich in den »Lustigen Weibern«. — Frau Flut: Was denkt er
von uns? Frau Reich: Ja, das weiß ich nicht! Es entzweit mich
fast mit meiner eigenen Ehrbarkeit ich ; komme mir selbst wie
eine mir unbekannte Person vor; denn gewiß, wäre ihm nicht
eine mir selber unbekannte Seite an mir bekannt, er hätte mich
nie mit solcher Wut geentert.

84
-

AUS EINEM UNGEDRUCKTEN BUCH

DER Mensch ist begierig nach vorgestelken Erlebnissen, aber


er weigert sich, seine gehabten Erlebnisse zu erkennen.

Es handelt sich nicht darum, uns in der Sprache, sondern die


Sprache in uns auszuprägen.

Die Pflanze in uns ists, die mit unsäglichem Grauen und Stau-
nen das Mysterium der Orts Veränderung jedesmal durch-
macht wie einen Tod.

Das geliebte Wesen ist immer nur der Docht in der Liebes
flamme.

Das Geld, die Krankheit, die Zukunft: Verkleidungen des


Nichts.

Das, was den großen Künstler ausmacht, ist ein großer Wille,
aber ein Wille, der gewollt wird, nicht der will.

85
AUFZEICHNUNGEN UND TAGEBÜCHER
AUS DEM NACHLASS
Mai 1890
Oratorischer naiver Geist
Byron Goethe
erhebt das Individuum erfaßt das Universum
sieht nur eine Seite (Satire) übersiehtdas Ganze (Drama)
heftig plastisch

artet in rhetorische Heftigkeit wird flach und kalt


aus

Weihnachten. — Wir gehen auf staubverhüllten Perlen.

29. XII. — Wir verstehen nur uns selbst, und an uns selbst nur

das Gegenwärtige, und auch den gegenwärtigen Gedanken nur


solang als wir ihn denken, als er flüssig ist.

1. I. 1891. — In der Tiefe der Erde gleicht sich Winter- und


Sommerwärme; je tiefer man in das Wesentliche der Kunst
eindringt, desto einheitlicher, unwandelbarer erscheint sie, un-
beschadet des Wandels in ihren Formen.

10. I. — Diese Woche an einem »philosophischen« (aber nicht


didaktischen) Gedicht gearbeitet, das die Idee darstellt, wie
kein Mensch das Leben ertragen könnte, wenn er die Bedin-
gungen, unheilvollen Folgen und grenzenlosen Pflichten, die
jeder Stand, ja die bloße Existenz auferlegen, in ihren fein-
sten Verzweigungen durchschauen könnte.
Ein paar Szenen des I.Aktes von »Anna«.

30. I. — Amieis Versinken in die Unendlichkeit der Ursachen;


verwandt damit das willenlose Hinfluten des modernen Men-
schen in der Empfindung. Demgegenüber Pflicht sich zu be-
schränken, im Schaffen und Denken mit dem Fragmentari-
schen sich zu begnügen, auch das Gefühl zu begrenzen. (Heb-

89
bels Tagebücher im Gegensatz zu Amiels Journal.)

9. II. — Positive Kritik man braucht nichts Schlechtes zu loben,


:

aber man soll das Gute suchen. Poeta nascituri Dichter und
Nichtdichter scheiden ist gerade so unmöglich wie die sieben
Regenbogenfarben trennen, oder sagen Hier hört das Tier auf
:

und hier fängt die Pflanze an. Was wir »Dichter« nennen, ist

etwas willkürlich Abgegrenztes, wie gut und böse, warm und


kalt, groß und klein, billig und teuer; jeder Wechsel in den
Zeitverhältnissen kann da, wie Mikroskop oder Fernrohr, alle

Proportionen verrücken; wo bleibt dann der »Dichter von


Gottes Gnaden«? In der Natur gibt es nichts Festes, Begrenz-
tes, nur Übergänge.

15. III.— Um ein Olympier zu werden, wie Goethe und Victor


Hugo, muß man lang leben; jedes Lebensalter der Nachgebor-
nen muß einen Anknüpfungspunkt im Leben des großen Man-
nes finden, er muß ganz ein Jüngling, ganz ein Mann, ganz
ein Greis gewesen sein, ja der Jüngling, der Mann, der Greis
seines Volkes kat' exochen.

11. IV. — Ibsen-Bankett im Kaiserhof nach den »Kronpräten-


denten«.

18. IV. — Vormittag bei Ibsen. In der falschen Eleganz eines


Hotelzimmers war mir die kleine, hilflose Gestalt mit den be-
zwingenden Augen und der Meisterstirn doppelt rührend. Er
spricht selbst wenig, sehr leise und äußert seine Ansichten
schüchtern, halb fragend, wie einen Vorschlag. Mag sein, daß
dieser Eindruck des Hilflosen und Weltfremden durch seine
Schwerhörigkeit, die er nicht gerne merken läßt, noch ver-
stärkt wird. Er hört aufmerksam, wie prüfend zu, und wenn
man glaubt, mit ein paar gestammelten Phrasen auszukom-

90
nien, stellt inaji gleich wie einem Abgrund gegenüber. Er
dankte mir für ein Gedicht, das ich ihm mit ein paar Blumen
geschickt hatte. Ich suclue ihm flüchtig auseinemderzusetzen,
wie sich in uns jungen Leuten allmählich die Verehrung für
seine Werke gebildet hätte, während uns sein Ncmie, wie der
des Homer, mehr als ein Symbol denn als eines Menschen
Name erschienen sei; wie sich dann allmählich aus dem Mythos
ein greifbares Wesen, eine lebendige Persönlichkeit heraus-
geschält hätte, der wir mit um so größerer Begeisterung unsere
dankbare Verehrung darzubringen bestrebt gewesen wären,
als es uns Jungen in Wien immer an einem Manne gefehlt
habe, den man mehr als achten, zu dem man hinaufblicken
könne. — »Und ist das notwendig? Ich glaube, es ist besser,
seine Individualität auszubilden« — sagte er hastig, wie ableh-
nend. Ich wollte ihn fragen, ob denn jeder sicher sei, eine In-
dividualität, des Ausbildens wert, zu besitzen, stellte ihm aber
lieber vor, daß man uns eben diese Selbsterziehung zum In-
dividuum durch eine und unphilosophische Bildung sehr
tote

erschwere und daß wir in ihm ja den Mann sähen, dem wir
die Kraft zu manchem rühmlichen Entschluß, uns selber vom
Anempfundenen zu befreien, dankten. Er fragte dann nach
verschiedenen äußeren Verhältnissen, riet mir, einen Teil mei-
ner Studienzeit in Berlin zu verbringen, und dankte mir schließ-
lich wirklich herzlich für mein Gedicht und meine freundliche
Gesinnung. Ich glaube nicht, daß wir einander verstanden
haben; meine Antworten sprachen von einem jungen Ge-
schlecht, das ihn als Führer zur Selbstbefreiung verehrt und
dem es vor allem um die innere Klarheit zu tuen ist, während
seine Fragen offenbar auf eine Vereinigung junger Künstler,
denen es nur am Schaffen Hegt, hinzuzielen schienen, die er in
uns zu sehen glaubt.

91
27. IV. — Heute im Cafehaus Hermann Bahr vorgestellt.

5. V. — Wir erscheinen uns selbst als strahlenbrechende Pris-


men, den andern als Sammellinsen (unser Selbst ist für uns
Medium, durch welches wir die Farbe der Dinge zu erkennen
glauben, für die andern etwas Einförmiges, Selbstfärbiges : In-
dividualität ; wir schließen aus dem Eindruck auf die Außen-
welt, die andern aus dem Eindruck, den w^ir empfangen, auf
unsere aufnehmende Substanz).

31. V. — Bei mir ist jetzt der herrschende Gedanke (v6Y](jLa

TTpuravEOGv) die Wirksamkeit des Zufalls, der Tyche (»Sünde des


Lebens«, Ghasele: »In der ärmsten« und »Zufall ist, was«.
Drama der sterbenden Frau, die erkennt, wie frevelhaft zu-
fäüig die verhängnisvollste Verbindung sich schließt).
Ich sehe aber von weitem schon den Ausweg aus dieser Epoche
schimmern, das Jenseits, wo sich der Zufall als Notwendigkeit
darstellt, die überindividuelle Darstellung.

Künstler untereinander verstehen sich nicht als Künstler, son-


dern als Handwerker. (Am Tempel der Kunst trägt die Außen-
seite des Portals die mystischen Zeichen der Schöpfung und
Begeisterung, die Innenseite Winkelmaß, Brille, Zirkel und
Lineal.) Künstler lieben vollendete Kunstwerke nicht so sehr

wie Fragmente, Skizzen, Entwürfe und Studien, weil sie aus


solchen am meisten fürs Handwerk lernen können.

10. VI. — Menschen führen einander durch ihre Seelen wie


Potemkin die Kaiserin Katharina durch Taurien.

13. VI.—Mikrokosmos eine Menagerie von Seelen. Das Wesen


:

des Steines ist Schwere, des Sturmes Bewegung, der Pflanze


Keimen, des Raubtiers Kampf. in uns aber ist aUes zugleich:
. .

92
. -

Schwere und Bewegung, Mordlust und stilles Keimen, Möwen-


flug, Eisenklirren, schwingende Saiten, Blumenseele, Austern
seele, Pantherseele . .

17. VI. — Ingres zu Delacroix: »Le dessin, monsieur, c'est


l'honnetetel«
Ehrliche Poesie ...

Wir haben kein Bewußtsein über den Augenbhck hinaus, weil


jede unserer Seelen nur einen Augenblick lebt. Das Gedächtnis
gehört nur dem Körper : er reproduziert scheinbar das Vergan-
gene, d. h. er erzeugt ein älmliches Neues in der Stimmung.
Mein Ich von gestern geht mich so wenig an wie das Ich
Napoleons oder Goethes.

21. X. — Dichter ein umgekehrter Midas : was er Erstarrtes be-


rührt, erweckt er zum Leben.

16. XII. — Anatole France: Typische Dilettantenbildung mit


der Unausgeglichenheit der herangezogenen Beispiele je nach
zufälliger Vorliebe.

Das Erwachen des Gedächtnisses (Hypermnesie) im Traum, in


Krankheit, Gefahr, in der Sterbestunde.

21. XII. — Stefan George. (Baudelaire, Verlaine, Mallarme,


Poe, Swinburne.) — »Unsere Klassiker waren nur Plastiker des
Stils, noch nicht Maler und Musiker.«

vor^jjia rpuTavsoov: »Der Tod des Tizian«, Episode des großen


Propheten.

93
»Der Prophet« (Eine Episode)

Ende Dezember 1891. — Einen Samstagabend das Gespräch


über die andere Kunst; denselben Abend: »Einem, der vor-
übergeht« am nächsten Morgen »Hymnen«.
; :

Der Besuch am Weihnachtsabend: Tee, das polnische Buch,


»l'Ermitage«. Fingierte Abreise; Gespräche mit Bahr; »Sym-
bolistenstreit«. Stefanstag: » ... an meine Abreise ist vorläufig
nicht zu denken und wann kommen Sie?« Gleichzeitig:

»Soll nun der Mund, der von des Eises Bruch


Zum neuen Reife längst erstarkt im Wehe,
Sich klagend öffaen und nach welchem Spruch
Dem Kinde — unterbrich mich nicht, ich flehe I

Du reichst die Hand, die Segel wehn im Porte,


Es geht in tollen Winden auf ein Riff.
Bedenke dich und sage sanfte Worte
Zum Fremdling, den dein weiter Blick ergriff.«

Inzwischen wachsende Angst; das Bedürfnis, den Abwesenden


zu schmähen.

Der Prophet

In einer Halle hat er mich empfangen,


Die rätselhaft mich ängstet mit Gewalt,
Von süßen Düften widerlich durchwallt.
Da hängen fremde Vögel, bunte Schlangen.
Das Tor fällt zu, des Lebens Laut verhallt,
Der Seele Atmen hemmt ein dumpfes Bangen,
Ein Zaubertrunk hält jeden Sinn befangen
Und alles flüchtet hilflos, ohne Halt.

Er aber ist nicht wie er immer war,


Sein Auge bannt und fremd ist Stirn und Haar.

94
:

Von seinen Worten, den unscheinbar leisen,

Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen,


Er macht die leere Luft beengend kreisen
Und er kann töten, ohne zu berühren.

Jänner 1892. —Montag 4. »Ihr dauerndes Schweigen (Ihr Ver-


gessen schon?) ist mir nicht verständlich. Oder bekamen Sie
meinen Brief nicht? Ich erlaubte mir in Ihre Wohnung zu
gehen, um zu erfahren, ob Sie fort oder in der Stadt sind.« —
Mein ungeschriebener Brief.

Mittwoch 6. der akademische Spaziergang (Schwindgasse);


Samstag: »l'Apres-midi d'un faune«, »Pilgerfahrten«, Bitte
um ein Rendezvous für Sonntag; Sonntag 7. der übergebene
Brief.

Meine Antwort. (??)


Was kann ich Ihnen sagen? was darf ich erwidern, der Ihr Be-
kenntnis, ein Bekennen vor sich hin und für sich selbst, ver-
nommen, ein zufällig aufgefangenes mehr denn Gabe und
Geschenk.
Und ich? was kann ich geben als mich selbst. Mein Wesen gießt
den Wein des jungen Lebens aus.
Wer nehmen kann, nimmt.
Ich glaube, daß ein Mensch dem andern sehr viel sein kann
Leuchte, Schlüssel, Saat, Gift. Aber ich sehe keine Schuld und
kein Verdienst, und was kann der Wille dort helfen, wo Tyche
rätselhaft wirkt?
Ihre große Krise soll enden, weil sie es will.

Will mich Ihr Sinn, der selbst den Weg weiter weiß, mit den
Zügen des Heilenden schmücken: er darf es, wenn er muß,
und er muß, wenn er kann.
Ich hätte Sie gerne gestützt, Ihnen zu danken, daß Sie mir
Tiefen gezeigt haben; aber Sie stehen gern, wo Ihnen schwin-

95
delt, und lieben stolz das Grauen vor inneren Abgründen, die
nur wenige sehen können. Und auch ich kann Heben, was

mich ängstet.

20.— 27. II. — Eleonora Düse (Fedora, Nora, Kameliendame)


ihre Legende machen (sie mit dem Ahasveros -Mythus ver-
weben) ; sie kann einem fremd und doch Sinn und Seele eines
ganzen Lebens sein
sie heimlich begleiten: aus dem Theater im Mond auf den
Corso von Sevilla, auf die Piazzetta in Venedig, auf das Meeres-
ufer hinaustreten
die Frau, die eine Anzahl ihrer Gebärden ins Leben hinüber-
trüge . .

In ein Exemplar von »Gestern« 16.11. 1892


Gedanken sind Äpfel am Baume,
Für keinen Bestimmten bestimmt.
Und doch gehören sie schließlich

Dem einen, der sie nimmt.

20. III. — In Balzac Ansätze zur Jules Verne' sehen Romantik


der Wissenschaft.

Bewegung, Welle ist Leben. Das Festland, die starren Inseln


der toten Dinge, welche vor dem Anschlagen fragender Wel-
len immer kleiner werden.

Leute, die etwas zu fingieren gewohnt sind, verheimlichen es


aus einer Art Scham, wenn es ihnen wirklich begegnet.

Die Griechen Goethes. Die Griechen von Nietzsche. Die Grie-


chen von Chenier.

96
Geschwindigkeit des Liclites: der Stern, wo man jetzt gerade
dem Gastmahl des llehogabal zusehen kann

Prolog zu einer phantastischen Komödie.


Die Hexe, die mit dem Fürsten Cantacuzeno von Sparta nach
Irland fliegt (Insel des Erne Sees) und jeden Abend von Teu-
feln vor ihm Theater spielen läßt. Wie er den Namen Gottes
ausspricht, zerstäubt das Theater. (Tomaso Tomasi bei Bülow,
»Italienische Novellen«).

11. III. nachts. — Hofmann hat ein paar Klingersche Radierun-


gen aus Berlin. Beim Nachhausgehen Gedanke der Einwir-
kung durch uns hindurch webt
; das Sein sein ungeheures Ge-
webe. Ihm kommt es darauf an, daß Dinge sind, daß Ideen
sich offenbaren.
Der chinesische Glockenbaum (»Siesta« von Klinger), Sym-
bol für Gottweiß was, wirkt in meiner Seele wie die Geisterhand
im versperrten Zimmer und macht geheimnisvolle Schrift-
zeichen, die weiß Gott welche Geister einmal aus dem Busch
rufen.

Garten des Lebens, in dem alle gegenwärtigen und zukünftigen


Mitspieler versammelt. Auf der Mauer sitzt der Tod.

24.-25. VII. [92?] — die kleinen Quellen die (offenen) bebenden


Adern des Gartens, die Sonne, die klein und golden übers
Dach klettert zwischen dem Rauchfang und den dunklen Blät-
tern der Eberesche durch, der Wald voll schwebender Lichter
und Schatten, abends mein kühles weißes Bett und draußen
die blaue Sternennacht, das Atmen der Kerzen in der lauen
Luft, mein Stock und die Bücher: Dante und Homer, darin
die sieben göttlichen Tugenden mit frommen Kinderstimmen

lateinisch singen und die Nausikaa Ball spielt

97
Er ist auch angefüllt mit großem Wissen,
Sein Rohr ist voll von Wunder wie die Flöte,

Denn Tag in sich gesogen.


er hat einen
Er sah die Morgensonne klein und golden —
Ertrinken könnte sie in einem Eimer —
Hinüberklettern zwischen First und Rauchfang
Und sah sie sinken und mit Glut und Blinken
Im Untergang die halbe Welt erfüllen.
Die wundervolle Ferne, die zu denken,
Zu denken daß sie da ist, schon ein Traum ist,

Ein königlicherTraum, indes die Kerzen


So schauern und mit kleinem Mund aus Flammen
Lautlos den Duft der Dunkelheit verzehren.
Den kühl gewordnen Duft des Sonnentages
(Der Sommerblumen und der kleinen Wasser,
Der offnen Adern die im Garten beben)
Ein königlicher Traum, ein tiefes Wunder,

Das uns beim Sonnenuntergang durchblitzt.


Dies Denken an das Dasein großer Ferne.
So voll von Wundern ist das ganze Leben,
Nur also dicht verwachsen ineinander.
Daß eins des andern Mund und Augen zudeckt.
Wo aber eines einen Mund bekommt.
Da offenbart es, wie verwunschne Bäume,
Wenn eine Wunde ihnen Stimme gibt.
So eine namenlose Wunderwelt
Als nur in jenen Zauberbüchern wohnt,
Darinnen an der Paradiesestür
Die Tugenden mit frommen Kinderstimmen
Zu drei und vieren auf lateinisch singen
Und niederschauen auf das lichte Meer
Mit vielen Inseln, eine aber heißt.
Die mit dem Duft die blaue, Scheria,

98
Da wirft die Königstochter ihren Ball
Mit schmalen Händen, wenn es Abend wird
Dies alles ist bevor ich schlafen gehe.

Dies alles ist bevor ich sclilafen gehe.


Groß ist die Nacht, das schauerliche Dunkel
Will durch die kleinen Fenster wehn und wandern
In einem stummen Strom wie durch das Leere.
Die Kerzen haben Angst und leuchten bebend.
Doch draußen starren schw^arze Riesentannen
Zu unserm Schutz empor und wehren ab
Den ungeheuren Schwärm von großen Pfauen,
Die mit den dunkelblauen Schweifen lautlos
Herniederschweben wollen, die gestirnten,
Herniederdringen wollen durch das Dunkel.
Doch zu des kühlen Bettes Füßen liegt
Mein Stock und bebt als ob er trunken wäre
Und angefüllt mit Zauberei und Kühnheit.

1893. — Abraham a Santa Clara, »Merks Wien«. »Die Gestalt


des Todes bildet er zu einer gleichsam menschlichen Persön-
Hchkeit aus und steigert den Charakter kalt lächelnder und
verachtungsvoller Ironie zu dramatischer Lebendigkeit. Hierin
freilich hatten ihm die Totentänze vorgearbeitet.« (W. Scherer)

[zur Ibsen-Studie] Am stärksten, beiläufig gesagt, der Sug-


gestionsapparat in der »Frau vom Meere«, w^o das unheimliche
Meer, das Erschrecken, das Lautlose, mit dem sich alles voll-

zieht, die Angst vor einem Unabwendbaren, das Stehen unter


einem lähmenden Bann ganz die eigentliche Lebensangst, das

»Medusenhafte des Lebens« im Maeterlinckschen Stil über


uns wirft, viel mehr als das was gesagt wird.

99
Ibsensche Menschen sehnen sich nach KünstHchkeit, Kunstver-
klärtheit des Lebens Julian, Hedda.
:

»Bacchen« des Euripides zu erneuern.

Bacchus hat schmachtendes Aussehen, weibliche Züge, rote


Lippen wie eine giftige Blume (Beschreibung des Schlangen-
dämons La Nochosch in der Pantomime Richards).

9. IV. — »Tor und Tod«. Beim Vorübergehen dieser lebendi-


gen Toten hat er die Wallung von Schwindel, das öauiiassiv,

wobei man plötzlich über die ganze Existenz staunt. Das Leben
kommt ihm einen Augenblick vor wie ein Traum, eine Fata
Morgana, eine Sinnestäuschung. Dann erkennt er diesen Phan-
tasmen, an die ihn tiefe Gefühle knüpfen, die höchste aller

wirklichen Realitäten zu. (Lösung des absoluten Idealismus.)

Mai. — Jens Peter Jacobsen.


Was er zuerst dargestellt hat: das Doppeltsehen, gleichzeitig
real und stilisiert.

In den alten psychologischen Romanen (»Werther«, »Adol-


phe«, »Manon Lescaut«) wird der Inhalt des Seelenlebens
Form davon, psychiatrisch genau
dargestellt, bei Jacobsen die

beobachtet; das Sichdurchkreuzen, das Aufflackern und Ab-


irren der Gedanken, die Unlogik, das Brodeln und Wallen der
Seele.

Der schnelle Ekel, das Verwelken und Glanzloswerden der


Dinge, die Farbenfreude und Farbensehnsucht — neuropathi-
scher Idealismus.

Er schildert eigentlich unschilderbare Dinge, Mächte. Alter,


wo man aufhört, zu glauben, daß es noch rückständige Offen-
barungen gibt; dieses Alter bricht nicht immer heftig herein.

100
.

es überkriecht einen nianchmal unmerklich. Das ist auch eines


der Probleme, die sich mitten im Leben drohend aufrichten.

Im »Werther« wird das Gefühl des Helden in den Vorder-


grund gerückt, bei Shakespeare seme Leidenschaften, hier seine
Phantasie und Sensibilität, in gewissen englischen Romanen
das moralisierende Bewußtsein, das Gewissen bei Ibsen.

Hat Shakespeare je eine Figur von verschiedenen Beobach-


tern ganz verschieden (ungerecht) charakterisieren lassen?

Von allen Seeleneigenschaften die, die wir der Pflanze am


leichtesten zuschreiben können, sind: Phantasie (stilles Träu-
men und Sehnen) und Sensibilität (Zusammenschauern, Sich-
Ausdehnen, Sich-Zuneigen, Sich-Ranken).
Das Pflanzenhafte: Lyhnes Starren in den goldenen Roggen
in seltsamer vegetativer Ergriffenheit.

Die versäumten Dinge . .

Szene aus »Peer Gynt«, wo ihn die ungedachten Gedanken,


die ungesprochenen Worte, die ungeweinten Tränen, die ver-
säumten Werke vor\vur fsvoll umschweben.

Ästhetismus
Die Grundlage des Ästhetischen ist Sittlichkeit. —
Über geistige Verhältnisse in der neueren Zeit.

Shaftesbury — Voltaire Periode der Überschätzung des Ver-


standes. 1830-1880 Victor Hugo - Zola Periode der Über-
schätzung der Sinne. — Wie entwickelt sich Lebens- und Welt-
gefühl? Der Sinn junger Leute auf das Abstralae gerichtet.
Die übrigen im Gemeinen, ohne Bewußtsein ihrer Seele.

Prosagedicht. — Liebende, die einander nicht angehören, ver-

101
;

bindet ein metaphysisches Band. Sie sind Vater und Mutter


eines ungebornen Kindes.

die nicht Geliebte, die im Traum als kleines Mädchen zurück-


kommt, unsäglich reizend

Poe. — Es ist sehr sonderbar, wenn einer in so starren Dingen


das Bild seiner Vision der Welt findet, da doch im Dasein alles

gleitet und fließt. Und es ist selber charakteristisch.

20. VI. — Für mich Bedürfnis nach lebendiger Tatsächlichkeit


:

drängt zum Volksliedton, zum Drama.

Alle Fabeln und alle Naturphänomene um uns sind verschleier-


ter Ausdruck der Wahrheit, darum so verwandt.

Wien : als großes verfallenes Felsennest paradiesische Ruinen


;

Stadt mit wenigen Wachen.

»Landstraße des Lebens«


Der Garten auf einem Hügel. Terrasse schroff abfallend . Dar-
unter Landstraße. Da wirft der launische Wind sich manchmal
hinunter und reißt Arme voll Blüten mit und Bienen und
Rosenkäfer und Duft von Flieder, Jasmin und Goldregen. Er
selbst kreist weiter über den Fluß hin über ferne Wiesen und
Pappelalleen und Dörfer; er hat sein Nest in einer hohen al-
ten Kastanie. Außer dem Wind wohnt nur die Liebe in dem
Garten.
Gewitter das die Liebe unter dem Baum verträumt, dann fal-

len aus dem blauen Himmel laue duftende Tropfen. Auf der
Landstraße unten wandert das ganze Leben vorbei Schulkin- :

der, Studenten, die singen, mit ihren Hunden, junge Mädchen,


der Tod führt in einem einspännigen Zeiselwagen einen alten

102
:

Plerrn, Ilaiuhverksburschen, vornehme Reisende zu Pferde,


Bettler, das Glück inkognito.
Auf den Wegen Tauben.

Für mich das Leben ein Wunder, dessen Formen nocli ohne
Rücksicht auf Inhalt lauter Venerabilia diesem Zustand ent-
;

springen solche Darstellungen des reinen Sinnenlebens, der


Seelenverfassungen, wie meine Prosagedichte.

6.x. — Gespräch mit Josef in Döbling.


Eine vorwegnehmende Seele, welche in den hundert anderen
Seelen immer \A'ie eine Sehnsucht nach einer im Traum ver-
lebten Vergangenheit erweckt.
»Warum bemächtigt sich des Ivindersinns« etc.

Hebbel und E. Th. A. Hoffmann. — Als der tiefsinnige Bauern-


knabe Hebbel in die Literatur kam, empfing er aus den Hän-
den der Romantiker, eingeschlossen in eine Zauberlaterne, ein
eigentümlich verdichtetes und verzerrtes Weltbild.

so gehen wir umher in dieser Stadt,


die Kronenwächter des versunknen Reichs,
letzte Wissende, letzte Träger eines adeligen Bluts.

November. — Bahr. — Einfluß des Verkehrs mit Schauspielern


Stimmung machen, durch Regie einen Charakter herausbrin-
gen, angewandt auf das reale Leben.

Bahr spielt mit den Weltanschauungen der IVIenschen wie die

Meerkatzen in der Hexenküche mit der gläsernen Welt.

Darstellung bei Richard. — Es ist für Augenblicke, als würde

103
die Schale der Erde unter einem zu Kristall und . .

Victor Hugo empfing alles Vage von seinem Genie, alles Prä-
zise von Shakespeare, der Geschichte und der bildenden Kunst.

Gedicht. — Wonnen des Denkens. Sich los winden aus den Ban-

den der Begriffe. (Carlyle: Durch Nichtdenken hören wir auf,


uns über das Leben zu wundern. Um uns herum starr gewor-
den und jeden unsrer Begriffe wie in eine Schale einschließend,
liegt eine Rinde von Überlieferungen, Hörensagen, bloßen
Worten. Der Riese Jean Paul, der Macht hat, den Banden des
Hörensagens zu entkommen.) Und dann das Bilden neuer Be-
griffe, mächtiger vielbeschwörender Zauberworte, deren letz-

tes, einfachstes Gott weiß, Gott ist.

vor^ixaTTpuravsOGv. Man wird am Kothurn nicht größer. Alle


Weisheit der Welt macht die Seele nicht reicher.

Dezember. — Zwei heilige Arbeiten das Auflösen und das Bil-


:

den von Begriffen; letzteres heißt einen Zauber üben, Gott


näherwerden, — Dienst des Orpheus.

Innerer Vorgang Sich für einen Buddha, allmächtigen Träu-


:

mer, Weltträger, Kosmophoros halten. Da steigt leise Angst


um das Leben einer geliebten Person auf und bringt das außen
Waltende, das Überindividuelle zur Geltung. Freilich kommt
die Erwägung: Auch was sich da ängstet, ist nur mein Hirn. —

Aber immerhin bleiben ahnungsvolle Zweifel.

Naturzustand
Mythische Lebendigkeit, wo für uns starre Allegorien —
Metaphern lebendige Ausgeburten der musikahschen Phan-
tasie —

104
Frevel, Unnatur, Zerreißen der heiligen Nabelschnur dort
empfunden, wo für uns Selbstverständlichkeit, Naivetät —
FlEimmendiebstahl, Flamme vor Regendämonen schützen —
verschiedene Baumindividualitäten
Alles das erzählen in der allegorischen Stundengeschichte die
Möbel dem Menschen, die bauchige Glasflasche, der hoch-
beinige Tisch, aus dem Herzen der Esche geschnitten.

II . . . Magie
Die Erde durchsichtige Gruft— Bäume aufwärtsstrebende Kraft
— Wasser Sehnsucht, Drang.
Die Idee aller Dinge: Auf Wiesen; das Spiel, Verliebtheit,
Melusine, was hn Leben so eingesprengt, durcheinanderge-
sprengt, nichts unedel, aber eins dem andern Hemmung.

Boten Gottes
Die Stunde vorher Sehnsucht des Morgens die nachher An-
: ; :

betung der Schönheit, tiefer Sinn der Möbel, Bergbecken hält


See etc.

Was aus eigenstem Holz ist, kennt man am wenigsten.


Schichten aufeinander in der Menschenseele. Eine verdeckt die
andere, zuweilen klarer Bhck hinunter, telegraphische Verbin-
dung. Fühlen der Einheit von Krone bis Wurzel.
Uns graut vor der Erde, aus der wir kommen, und sehnen uns
doch hinein zurück.

Worte sind versiegelte Gefängnisse des göttlichen Pneuma,


der Wahrheit.
Anbetung eines eidolon, Sinnbildes, das einmal
Götzendienst,
Menschen lebendig war, Mirakel gewirkt hat, durch-
für einen
flammende Offenbarung des göttlichen Geheimnisses der Welt
gewesen ist; solche eidola sind die Begriffe der Sprache. Sie sind
für gewöhnhch nicht heiliger als Götzenbilder, nicht wahrhaf-

105
:

tiger »reich« als eine vergrabene Urne, nicht wahrhaftiger


»stark« als ein vergrabenes Schwert.
Alles was ist, ist, Sein und Bedeuten ist eins, folghch ist alles

Seiende Symbol.

17. XII. -L}T:isches

Landstraße des Lebens


verschiedengestaltete Bäume reden lassen
Kerze ausblasen = den flirrenden Schleier der Maja weg-
werfen und ins dunkle wesenlose Meer tauchen
großer Mensch — großer Baum, in dessen Schatten wir aus-
ruhen
auf seine eigene Seele hinabschauen wie auf den geheimnis-
vollen unerreichbaren Grund eines tiefen durchsichtigen Sees
hinuntertauchen. Lebensluft verlassen

Der tragische Grundmythos: die in Individuen zerstückelte


Welt sehnt sich nach Einheit, Dionysos Zagreus \vill wieder-
geboren werden.

Zustand: als wären meine Pulse geöffnet und leise ranne mein
Blut mit dem Leben hinaus und mischte sich mit dem Blut der
Wiesen, der Bäume, der Bäche.

4. I. 94. — »Der Tor und der Tod«.


Worin hegt eigentUch die Heilung? — Daß der Tod das erste
wahrhaftige Ding ist, das ihm begegnet, das erste Ding, dessen
tiefe Wahrhaftigkeit er zu fassen imstande ist. Ein Ende aller

Lügen, Relativitäten und Gaukelspiele. Davon strahlt dann


auf aUes andere Verklärung aus.

Grundstimmung der »Alkestis«: das unsäghch Wundervolle


des Lebens

106
Th jXEv ()ao[xaC£iv rrxoTov v.a\ asYiarov eivai (alter Philosoph)
Verwunderung der Grundakkord erwachender li,pochen

Wir sind mit unsrem Ich von Vor-zehn-Jahren nicht näher,


unmittelbarer eins als mit dem Leib unserer Mutter.
Ewige physische Kontinuität.

Den Gedanken scharf fassen : wir sind eins mit allem, was ist

und was je war, kein Nebending, von nichts ausgeschlossen.

Februar. — Billroth, Mensch in großem Stil; Arzt der Renais-


sance; Gartenmusik für seinen Tod bei Brahms bestellt; er
wußte, was ihm die Dinge waren, als : Segelwind, schöne Land-
schaft, Musik, Philosophie, schöne Frauen, Wein, der Tod; aus
ganzem Holz geschnitten.

23. IV. mit Poldy in der Abenddämmerung in Schönbrunn.


Zwei Alleen, sternförmig ausgehend: in der linken fast Dun-
kelheit, auf dunklem Gewölk ein blasser Regenbogen ; in der
rechten heller metallisch blauer, leise grüner Himmel, mit
matt silbernen Wolken und über Wipfeln purpurn unterge-
hender Sonne. In diesen zwei Alleen zweierlei Epochen, zweier-
lei Schicksale.

Dann in einem andern Teil des Gartens: fast ununterbroche-


ner Vogelgesang schwarze Kiefern, die beim langen Anschauen
;

zu leben beginnen.
Wir glauben die Seele dieses Wien zu spüren, die vielleicht in
uns zum letzten Male aufbebt; wir waren triumphierend
traurig.

29. IV. — Ich bin ein Dichter, weil ich bildlich erlebe.

Das Leben erobern, mit dem Leben fertig werden, in sich

107
:

fertig werden, den Dingen ihre Seele abgewinnen, in ihre


Blutwärme untertauchen, aus ihnen mit den naiven Augen
ihrer Liebe herausschauen das : ist zugleich alle Poesie (TroiTjai;).

Juni. — Meine Jugend


wie wenn einer aus so starken Träumen erwacht, daß sie ihm
noch immer in den Sinnen liegen daher dieser seltsame Man-;

gel an Unmittelbarkeit. Diese unglaubliche Tätigkeit der anti-


zipierenden Phantasie (in der »Idylle« ausgedrückt).

Einige begreifen das Leben aus der Liebe. Andere aus dem
Nachdenken. Ich vielleicht am Traum.

Juni. — Englischer Ästhetismus als Element unserer Kultur.


I. Erstes Entgegentreten : als Sonderbarkeit, wohl etwa Affek-
tation, Kostümtragen etc. IL Oscar Wilde, »Intentions«: star-

ker narkotischer Zauber, sophistisch verführerisch, unelegant


paradoxal, Reaktion gegen englischen Utilitarismus III. Ruskin, .

Madox Brown, Rossetti, Burne- Jones — die tiefen Zu-


Pater,
sammenhänge mit Seelenleben; das Ganze als Versuch einer
inneren Kultur

W. Pater. — Sein und Bedeuten. Die Seele der Dinge, etwas


das aus den Dingen uns mit Liebesblick anschaut, mit einem
Ausdruck über allen Worten.

12. X. — Venezianischer Garne val. — Der Abend bei der Tini,


die Wallfahrer, Bettler (kleines Mädel und Bettler und die
Mama und Bettler); die Aquariumatmosphäre des Lebens:
nichts fest, alles an den Rändern magisch, ineinander lebendig
überrinnend, alles in der Luft, dem Geist Gottes.
Dieses W^ort darüber : nu je eine Gestalt nach der
»so lüstert
andern / und von der begehrenden Lust wird eine Gestalt von

108
der andern schwanger / und bringet eine die andere zum We-
sen / daß also die Ewigkeit in einer immerwährenden Magia
stehet«, Jacob Böhme (Von der Menschwerdung).
Jeder AugenbHck trächtig mit potentiellen neuen Geschöpfen.

Unser Leben gegen das der Antike gehalten die Bereitung der :

Speisen verhüllt, die Arme haben wenig zu tuen, wie Gäste in


unseren Gärten, unsern Lauben, schwer mit einem Einzelnen
zu reden, so erfüllt seinen Kopf das Ungeheuere, zerrt an ihm
die Welt mit Flug von vielerlei Vögeln, er hat keinen klaren
Gedanken wie ein Betrunkener. Aber dafür ungeheuere Syn-
these den fernen Meeren nicht wahrhaft fern, eigentlich von
:

nichts wahrhaft geschieden: die Entfernung Fiktion, das Vor-


beigleiten an Weingärten, Landstraßen, ärmlichen Flußufern,
Schluchten, Hochtälern, wieder meernahen Ebenen — schwer,
in dieser Verworrenheit ein reines und leichtes Lied zu hören.
Nur das Gold lieben sie noch wie früher stark, von vielen Din-
gen ist kaum der Name geblieben wie der Name einer fremd-
artigen Blume.

Künstler Browning
. . . This world's no blot for us,
Nor blank ; itmeans intensely and means good
,

To find its meaning is my meat and drink.

Cleon der Dichter sagt


I stand, myself. Refer this to the gods

Whose gift alone it is! which, shall I dare


(All pride apart) upon the absurd pretext
That such a gift by chance lay in my hand,
Discourse of Hghtly or depreciate?

explain not, let this be.


This is life's height. You and I —

109
Why care by what meanders we are here
I' the centre of the labyrinth?
»In a Balcony«

26. XI. - Viel Stalldienst. Um 4 Uhr früh aufstehen. Die Dra-


goner und die Pferde wie tot im Stroh schlafend.

Heute wcir im Kasernhof Schnee, dann taute es und war Kot

und ein Wind, wie im März. »Mein Frühling«, sagte ich vor
mich hin und hatte fast bis zum Weinen das Bewußtsein der
Vergänglichkeit des Lebens.

Geschichte von den Prinzen Amgiad und Assad

[1893?] Assad, »Tausendundeine Nacht«. Zwillingsbrüder,


der eine vor dem andern verborgen, die sich unter dem
Zwang ihrer Entwicklung entgegenstreben.

Dezember 1894 exhaustless East!

Ersteigen des Berges. — Sie fühlen den Tod um sie schweben,


schicksalgemäß aus ihres Vaters Zorn hervorgewachsen, was
ihnen eine großartige Ahnung des Daseins gibt.
Später haben sie Tage von Verzagtheit und Kleinheit.
Zuerst gehen sie stumm und schauen in die Landschaft.

Dann erst fangen sie \vie Trunkene zu reden an.


Das Ersteigen des großen Berges. Vorgefühl des Daseins.
Warum gehen sie eigentlich da drüber? Schicksal. Wo du
sterben sollst, dahin tragen dich deine Füße. Ist das Haus erst

fertig, so kommt auch der Tod.


Auf der Höhe des Berges Versuchung des Lebens.
Ost und West! Indien, Sindbad — die Worte, Namen der Län-
der und Meere wie Lichter herüberglühend
Sirenen: Einem Fürsten dienen, der traurig und kühn ist, in

HO
einem Palast mit zyklopischen Toren wohnt.
In der Mulde oben auf dem Berg kommt die Versuchung des
Lebens über sie.

Auf dem Berg Assad schläft in einer Spalte, im Halbschlaf mit


:

zuckenden Lippen und gekrümmten Fingern denkt er an


Amethysten, an den verlockenden grauen Palast in der Nacht,
an Sitzen im Garten und auf eine Geliebte Warten die Sehn- :

sucht und das Gefühl der unbefriedigten Gier und das plötz-
liche Erschrecken darüber, daß er sich die Geliebte gar nicht

vorstellen kann, wirft ihn beinahe hinunter, denn er sitzt wie


in der hohen Hinterwand auf der Flußseite des Palastes über
der Regenrinne in der Mauer eingelassene hockende Greifen.
In das Erwarten der Geliebten und Murmeln »vita et dulcedo
mea« mischt sich doch auch eine Ahnung von der Sterilität
dieses Erwartens, eine Art Verliebtheit in sich selber, ganymed-
narcissoshaft. Etwas ähnliches empfindet er jetzt gegen den
schlafenden Bruder.
Amgiad liebt Bostane nur, weil er sich intensiv mit ihr beschäf-
tigt; das muß ja dazu führen. Er liebt die menschliche Seele
in ihr.
Auf dem Berg. — Jeder seiner Schönheit unbewußt, der andere
einmal der Schönheit des Schlafenden bewußt.
In dem Garten der Königin Morgane ahnt Amgiad die eigene
Schönheit.
Wie das Schicksal ihn wieder faßt, dadurch daß er in den Gar-
ten der Königin Morgane hinausgeht.
Dem einen Prinzen kommen die Feueranbeter gar nicht wie
Menschen vor, sondern gleichnishaft als scheinbar Erlebende.

[3. IL 95. — Amgiad versteht die Sprache der Feueranbeter


nie ganz. Für ihn sehen sie sich alle unheimlich ähnlich und
haben ungeheuer stark das Gleichnishafte des Daseins.]
Assad ist durch Jahre mit dem Suchen des Bruders ausgefüllt,
dabei lebt er das Leben, baut, richtet, und wird älter und

111
schwermütiger. — Er lernt an der Grauenhaftigkeit des Daseins
alles begreifen, was ihm vom Leben seines Vaters ins Gedächt-
nis kommt.
Immer sehnen sie sich einander wiederzusehen; wie es sich

endlich erfüllt, hat der Wunsch seinen Sinn verloren : sie sind
sich der menschlichen Einsamkeit zu sehr bewußt geworden.
Es ist möghch, daß in dem Gemach des Prinzen Assad eine
wundervolle ornamentale Tapete, das Leben der Tiere des
Waldes darstellend, hängt und daß die beiden so lange ge-

trennten Brüder von diesem Kunstwerk reden, statt von vielen


Einderen Dingen, teils aus allzugroßer Ergriffenheit, teils auch
weil sie verlernt haben, im Reden eine Erleichterung des Da-
seins zu suchen.
Amgiad und Assad. Bilder ohne feste Gliederung.
Am Ende sind sie sehr stark und groß, weil sie so viele traurige
Dinge erduldet haben; so wie mächtige Zauberer gehen sie

dann dem Heer des Kaisers von China entgegen, vor dem das
flache Land flüchtet.

Ende. Der König, ihr Vater, wälzt ein furchtbares Kriegsheer


gegen das Land der Feueranbeter. Einer der Prinzen reitet

ihm entgegen: sie erkennen sich nicht sogleich. Der Prinz


führt den alten König in einen viereckigen Garten, durch des
Gitterstäbe alle Großen und Hauptleute hereinstarren. Dort
redet der Sohn zu dem Vater solche Dinge, daß dieser weint,
ein Grab ausschaufelt, seine Krone und seinen Mantel hinein-
legt und sich magnitudine vitae oppressus selbst hineinlegen
will, vor seinem Sohn kniet er nieder. — Die Großen und
Hauptleute verscunmeln sich, weil sie nicht wissen, ob ihr
König diesen Fremden mit eigener Hand töten wird oder be-
wirten.
[3. IL 95. — Die Begegnung mit dem alten König ist in einer
verlassenen Königsstadt, wo riesige bemalte Götter vor den
vergoldeten öden Palästen stehen.]

112
Göding, 30. V. — Prinzen Amgiad und Assad.
I. Der eine: für ihn sind die Wunder des Lebens so durch-
einandergewachsen, daß immer eins dem andern den Mund
verschheßt. Nicht zu bewähigen erscheint es ihm, größer als

man begreifen kann. Er hat die Gabe des Lebens. Ruhm,


Kraft, Macht, effort bedeuten ihm, aber auch Hingabe, Einge-
zogenheit. Es ist dieser, der die vielen Abenteuer hat.
II. Der andere : er sieht das Leben fortwährend harmonisch,
aber wie hinter einer Glasscheibe, unerreichbar: das »gerade
Ich«, Tu-f/avüj ojv, kann er mit dem Fall der Ereignisse nicht

vereinigen. Fortwährend verwirrt ihn, daß dieselben Aben-


teuer in der Vorstellung und in der Realität so gar nicht zu-
sanmienzuhängen scheinen, seine Seele ist nicht ganz im Ha-
des befangen, er sieht gleichsam mit einem halben Auge übers
Leben hinaus, wie einer der träumt und dem die reale Welt
hineinspielt, weil er nicht tief genug schläft.

Straße vor der Begegnung der beiden Prinzen mit ihrem Groß-
vater, dem Zauberer und Kaiser Timur: die im Leben gefan-
genen Wesen: viele Hunde, die sich balgen, Kinder; etwas
wie die gekreuzigten Löwen in der »Salammbö«, kranke Tiere
(mit ihren besonderen Krankheiten : Dummkoller etc).

(Ob nicht einer der beiden Prinzen stirbt und der andere erst

den Bruder begräbt und dann zum Kaiser Timur, seinem


Großvater, reitet.)

11. VI. — Der Prinz Amgiad mit der Leiche seines Bruders am
Weg zu Timur. Er muß ein größeres Pferd nehmen, um den
Leichnam zu tragen, Erlebnisse mit diesem Pferd, seine Krank-
heit. — Brüderlichkeit aller Tiere in einer großen Mulde er-
kannt. Gespenstisch sieht er in allen Tieren sich selbst. Auch
die Unterschiede von Klein und Groß werden ihm plötzlich

sehr nichtig (die riesige Maulwurfsgrille von Th. Th. Heine).


Bruder Sonne! (untergehende Sonne).

113
Es ist in dem Buch
der Stolz des Lebens (an der Felswand, oben die Wolken und
Sterne, unten der Mann mit den Urtieren),
die Trunkenheit des Lebens (das Bergabschreiten),

die Schwere des Lebens (in der Gefangenschaft),


das Trügerische des Lebens (Eintritt in die Stadt),
das Kernlose des Lebens (Zusammentreffen der zwei Brüder),
das Traurige des Lebens (Amgiad überlebend),
das Große des Lebens (der alte Kaiser demütigt sich).

14. VII. — Die Prinzen Amgiad und Assad Ihre Religion (per-
:

sisch vor Zoroaser) verbietet, eines der Elemente (Luft, Erde,


Wasser, Feuer) zu verunreinigen. Scham als das Gute kat*

exochen. — [5. II. — Die Feueranbeter, die einander alle gleich-

sehen und wie einen Ton haben.]


Das in einer Böcklinischen Situation herausbringen. Sommer-
abend; auf der Jagd badend. Die Heiligkeit der Körper, der
umwehenden Luft des umtauschenden Wassers.
Die Brüder. — Sie weinen über die Landschaft: riesige Ter-
rassen, Werkleute, Perlen- und Fischhändler, blühende Gär-
ten, Öl und Wein getragen, Kinder, Schiffe, Reiter. Im Weinen
sehen sie beide ihrer mädchenhaften Mutter sehr ähnlich.
Auf der Mulde am Berg: im Hintergrund wie Riesenschiffe
am Horizont schwankend die Taten Alexander des Großen.
Das Hinunterlaufen Amgiads über Steintreppen mit fliegen-

dem Haar als Kosmophoros.

Prinzen Amgiad und Assad Kerker lehrt die Zeit : (sie ist nicht
lang noch kurz sondern waTrep Oei), auch den Unwert, das all-

mähliche Ersterben der Phantasie.

30. XII. 94. - Nachts Schnee, im Cafe Arthur - Über den


kommt jetzt das Leben. Er redet über seine Geliebte, die
Adele Sandrock. Wie diese Frau für ihn notwendig war, um

114
zur tiefen Wahrhaftigkeit der inneren Anschauung zu ge-
langen. Diese Frau und der Tod, als Offenbarer des Lebens.
Ihr bewußtes Ich und das traumhafte, das schauspielerische,
wissen voneinander nichts. Die Äußerungen des bewußten
sind spnuighaft, gemein, ohne Zusammenhang, lassen ein
höchst veistümmeltes Weltbild erraten. Sie vermag sich über
nichts zu wundem. Alle Eindrücke fallen und versinken
lautlos wie in tiefem Wasser. Offenbar dringen die Erfah-
rungen in das andere Ich hinüber und kommen dort zu
einem komplexen Ausdruck (ähnlich wie bei musikalischen
Virtuosen). Diese Spaltung des Ich scheint die Daseinsform
des reproduzierenden Genies zu sein. Daher die verächtliche
Bezeichnung »denkender Schauspieler«; das sind schlechte
Dilettanten, denen das Organ fehlt. Vis comica sive tragica,
eine Sache für sich wie ingenium militare oder virtutes
quae ad munera publica gerenda pertinent.

[Dezember 94?] — Garten des Lebens. — Schon beim Eintritt


dunkeltes, am Ende verwirren sich in der gelben Dämmerung

die Gesichter so sehr, daß es Angst macht. In einer kahlen Ecke


ein Rudel Frauen, die aussehen und leise anrufen mit aller

sehnsüchtigen Bitternis des Versäumten. Mit diesem Gefühl


tritt er hinaus. Die Tür fällt hinter ihm zu, er steht an dem
schwarzen Wassergraben, jenseits sitzt der Tod und wirft ihm
mit einem Blick die unnennbare Angst ins Herz. Alles versinkt

hinter ihm, er weiß aber nicht, ob er in das Wasser hinein muß


oder anders sterben.
In seiner Todesangst ist ihm, als könnte er das ganze Leben
wieder von sich geben in einem Ballen. — Trotzdem eine kühne
Grabschrift.

Jänner 1895. — König Cophetua: aus der lässigen Hand fällt

ihm die Krone ; das ist : seine schöne Stadt Arles mit den hohen

115
Mauern und Teichen und viereckigen gepflasterten Dämmen,
mit der großen römischen Arena und sehr vielen schwarzen
Stieren, und der Kirche von St.-Trophime und den Alyscamps,
und die kleinen gelben Häuser in der Nacht mit wachsbleichen
Buhlerinnen hinter kleinen Fenstern in sehr engen Gassen,
und die Gassenecken und Flußufer, an denen die Ahnungen
seiner Kindheit hängen und die lieben Krankheiten: Fieber

und Schüttelfrost, und die lieben Flüsse in der Ferne zwischen


Steinbergen unter schwarz und gelbem Abendhimmel, und
alle ohne Grund geliebten Statuen und Fernsichten vom Turm
der Arena, und Ahnungen fremder Leiden — alles das fäUt von
ihm und läßt ihn ganz einsam.
Dieses Gefühl des Ganz-einsam-Seins, vom eigenen vergan-
genen Leben verlassen, habe ich in einer Nacht, wo ich Dienst

hatte, in dem fahlen weiten Kasernhof sehr stark gehabt. Alles


war fort. Vorher im Halbschlaf das winselnde kleine Kind und
die monoton brüllenden Husaren.

7. I. 95. — Ein hoher erregter Zustand. Von allen Seiten strö-


men in Wellen die Elemente des kugelförmigen Daseins ein.

Aktäon. Der Krieg der Japaner tritt wimmelnd nahe: Einige,


die in einem Obstgarten lagern. Tote auf einem öden Schlacht-
feld auf einer Felsenlehne. Gruppen die sich am Flußufer um-
zingeln. Zwei Freunde: ein Jüngling, ein zweiter, fast ein
Knabe. Tiere: Wüstenmäuse mit großen Ohren und kindi-
schen altklugen Augen. Elche.
Die Holländer vernichten die königlichen Geschlechter auf
Batavia.

Die Ideallandschaft: tiefer Fluß zwischen steilen Uferhängen,


auf denen Städte, Weingärten, Landstraßen: das Leben.

der Dichter: 6 raixßio;

116
.

Samstag 16. II. — Es ist und in


kein Schlaf so starr und tief
keinen leuchtet der Traum so unreell und traumhaft hinein,
wie zuweilen ins Leben das Leben selbst heute in einem Glas
:

kalten Wassers die aufgelöste Glut von Granatkernen, dann


der verschneite Schwarzenberggarten mit seinen wesenlosen
Erinnerungen an Mainachmittage, daraus sprach sehr stark
dieses große-Rätselhafte des Lebens, daß alle Dinge für sich

sind und doch voll Beziehung aufeinander,

Venezianer Bilder. Diese Idee : daß die Farben an sich nichts

sind sondern nur Medien für die Offenbarung des durchgehen-


den Lichtes. (So auch die Menschen nichts in se.)

(das bezieht sich auf den Winter 1894—95)

Poldys Buch. Das Buch über die eleusinischen Mysterien von


Taylor. »Das Märchen der 672. Nacht«. Herrschaft des Nar-
cissos, des heiligen Sebastian, der Prinzen Amgiad und Assad.

vorjjxataTTpuTaveuovTa: die Schönheit der Seelen, die heilige


Schönheit der Jugend, die höchste der Kinder, bei denen die
Seele noch nicht tief und schwer in der uXr] steckt.

ruunt animae, ruunt


Die Menschen suchen ihre Seele und finden dafür das Leben.

Schau nicht zu starr auf das bunte Gewebe des Lebens, sonst
siehst du die sich kreuzenden Fäden und nicht das Bild, son-

dern bedenk, wie diese Figuren doch zugleich mit dir erregt
werden

Einen, der den Freund verlor, tröstet ein bunter Fisch, grau-
samer als Kinder sind die Geliebten, den Ruhm verkünden
sonderbare junge Menschen in der Nacht, die, gerührt von dem
Tanz, den du den Tänzerinnen beigebracht hast, dunkelnde
Länder aufzuschließen gedenken und nicht mehr zurückzu-

117
kehren (= nur völlig verwandelt), wie eine Schauspielerin
redet die Frau, auf Spiegeln fährt das Schiff des Glückes.

4. V. — AUes Erniedrifi-ende und das Vornehmmachende heoft

im Leben.

5. V. — Leben eines Dichters. Eine Art Ordensregel.

Ein halb Jahr in einem Tierpark, ein halb Jahr in einer Klein-
kinderbe wahranstalt, ein halb Jalir bei einem Blumenzüchter.
— Reisen — dann Missio in saeculum, Wirksamkeit.
Alles dies beginnt erst, nachdem er aus dem gemeinsamen Le-
ben mit Jünglingen entlassen worden ist.

»Garten der Erkenntnis« eine ganze Stadt vom Standpunkt


I
:

eines einzelnen als Erlebnismöglichkeit gefaßt.

Das deutsche Narcissusbuch. — Es sind wundervolle Augen-


bhcke wo sich eine ganze Generation in verschiedenen Län-
dern im gleichen S}mibol findet. Dieses drückt einen vorüber-
gehenden Zustand aus: plötzhch wurde das Traumhafte des
Weltzustandes erkannt (ähnhche Stimmung findet sich bei
d'Annunzio), man gab sich Rechenschaft über was man im
das,

äußeren Leben fortwährend gesucht hatte. Man war einen


Moment lang nicht imstand, sich mystisch in ein Ding zu ver-
heben, die Dichter legten ihre Kronen ab und besannen sich
nur darauf, daß sie Jünglinge waren. Es gibt in Gesprächen
solche Augenbhcke: alle sehen sich mit trunkenem Einver-
ständnis an, etwas über ahe Worte Großes wässen sie gemein-
sam. Es gibt solche Augenbhcke in großen Gruppen von trun-
kenen Menschen. Warum nicht in der ganzen Generation.

Göding, 19. V. — Kaiser Maximilian. Der tätige Kaiser hat eine


Vision des untätigen (Otto III.).

118
Göding, 25. V. — Im Garten Gethsemane. Ganz verlassen sein.

Ganz unzugänglich diese Schlafenden.

Göding, 28. V. — R. Browning


Das Verhältnis der dramatis personae von Browning zu denen
von Shakespeare ähnlich dem von radierten Figuren zu Fi-
guren eines Gemäldes. An diesen ist jeder Punkt definiert, an
jenen der Phantasie viel auszuführen überlassen. Die bei
Shakespeare absolute Menschen, bei Browning mehr das Rela-
tive, eine bestimmte Gebärde, die Durchkreuzung der Schick-
salslmien, ein Abenteuer. Browning arbeitet ohne definierten
Hintergrund, Shakespeare nie, zumindest hat er einen phan-
tastisch definierten.

Die Welt der Worte eine Sehe in weit, in sich geschlossen, wie
die der Farben, und der Welt der Phänomene koordiniert. Da-
her keine »Unzulänghchkeit« des Ausdrucks denkbar, es han-
delt sich um ein Transponieren.

28. V. — Poesie (Malerei) mit Worten (Farben) ausdrücken,


:

was sich im Leben in tausend anderen Medien komplex äußert.


Das Leben transponieren. Daher der photographierte Dialog
so falsch wie in ein Bild eingesetzte Edelsteine.

Göding, 30. V. — Kaiser Maximihan reitet:


Es ist gut so. Birken am Abendhimmel, Türme der rebeUischen
Stadt. In der weiten dunkelnden Ferne, unsichtbar, mein Inns-
bruck, mein Wien, meine Türkenkriege, meine Papstkrone.
Heute ein gutes Tagwerk. Gut die Reiter aus den Hohlwegen
alle gleichzeitig herausgeschwenkt, gut drei Geschütze, selbst-

gegossene, gestellt und gerichtet; mit sieben Hauptleuten


meines Heeres in ihren sieben Sprachen gesprochen und immer
die Art des Volkes, meiner Völker, durchgefülilt ; drei neue

119
Blätter vom Trmmphzug gesehen und ein Wichtiges daran ge-
bessert; [im Nachmittag seksam glückhche Jagd, ganz allein;]

und dabei die Größe dieser späten Zeiten gespürt und mich
hinter so vielen sacratissimi antecessores . . . und dann taucht
auf das Bild jenes so ganz anderen Kaisers, des Kaisers der wie
ein glühender Rubin war, der Kern des Reichs, heihg und
schweigend mit priesterlichem Mantel und goldenen Hand-
schuhen, und betete, aus einer feuchten Insel bei Ravenna
betete für alle, und allen mehr sein wollte als ein Hauptmann
des Heeres oder Geschützmeister oder Wissender der Vergan-
genheit, hochmütiger und heihger.

Wien, 5. VI. — Problem kat' exochen des Browning: einen


denkenden Menschen (Künstler, Weltintriganten, Philoso-
phen, Arzt) als ästhetische Einheit, bestimmte Farben- und
Tonvaleur erfassen.

Theophr. Paracelsus über den geheimnisvollen Regenten un-


seres Lebens »unser Geist, der nicht in uns wohnet und seinen
:

Stuhl in die oberen Sterne setzt«.


das wahre Ich, das große Ich
Die wirklichen Vorgänge des transzendenten Weltlaufes sind
über unsere Phantasie hinausgehend und werden durch die
kühnsten Bilder in ein unzulänghch banales Medium hinun-
tergezogen.

il faut glisser ne pas appuyer la vie

Großes Freskobild: der übermäßige Tiefsinn im Erforschen


der Weltgesetze
wahrhaft König sein zu woUen
eine Frau wahrheift besitzen zu wollen.

120
Ich sehe zwei Epochen, wie durch offene Säulengänge in einen
Garten und jenseits wieder in einen ganz fremden eine Epoche :

wo ich Angst habe, durch das Leben dem großen kosmischen


Ahnen entrissen zu werden, die zweite wo mir davor grauen
wird, für kosmisches Schweben das dunkle heiße Leben zu
verlassen. Ängstlich fragt auch Dante: »wann wird das sein,

daß ich, von allem Irdischen entbunden, ganz allein die lichte

stunune Stiege gehe«. Persephoneia, »Der Tor und der Tod«.

Wien, 6. VI. — Gedanke. Eine Novelle, deren Held sich sucht,


jenes große Ich, »das nicht in uns wohnet und seinen Stuhl
in die oberen Sterne setzt« ; eine Geschichte, die ihren Schwer-
punkt in der transzendentalen Welt hätte. Ekstatische Mo-
mente der Erhöhung (Ergreifen des Genius), Momente der
Verlassenheit, auch ein Beschleichen und ahnendes Schauen,
wie Aktäon durch die Büsche die Schönheit der Göttin be-
schleicht.

[8. VI.] — Sehr große Depression. Abends Spaziergang im Wald,


Birken, schwarzes Wasser, Sumpfgräser, alles tot, ich mir sel-

ber so nichts, so unheimlich. Alles Leben von mir gefallen.

Göding, am 14. VI. abends. — Kühl, hell und windig. Ich habe
Wein getrunken. Bin dann ein Stück auf der Straße gegen
Mutenitz sehr schnell gegangen. Plötzlich unter einer großen
Pappel stehengeblieben und hinaufgeschaut. Das Haltlose in
mir, dieser Wirbel, eine ganze durcheinanderfliegende Welt,
plötzlich wie mit straff gefangenem Anker an die Ruhe dieses

Baumes gebunden, der riesig in das dunkle Blau schweigend


hineinwächst. Dieser Baum ist für mein Leben etwas Unver-
lierbares. In mir der Kosmos, lebendigen und
alle Säfte aller

totenDinge höchst individuell schwingend, ebenso in dem


Baum.

121
— Idee ein höchst seltsamer Steckling
Herzog von Reichstadt. :

aus dem Stamm des Cäsaren, des Komödianten, des Renais-


sancemenschen, dem Räume Österreich aufgepfropft, um daran
melancholisch und schön abzusterben. Wenn er Ball spielt,
Blumen gießt, ausfährt und in der Ferne die Sonne untergeht,
oder etwas Glorreiches sich rührt, dieses innerliche »ga me
regardel«

16. VI. — Mutter, Tochter und das Leben (als Vorrede eine
Radierung, den gleichen Gegenstand behandelnd). — Das muß
ausgedrückt werden: wie verzaubert die Dinge werden, die
durch unser Leben gegangen sind, und wie tröstlich und lieb-

lich die unberührten sind.

22. VI. — Nachtübung. Der Dragoner Schmidt stärker als ich.

Das Benehmen der Pferde in der Nacht.


23. um 5 Uhr früh nach Wien. Nur die Eltern. Um halb 8 Uhr
abends zurück. Sonnenuntergang. (Im Halbschlaf und großer
aufgeregter Müdigkeit eine Täuschung, als ob mehrere Son-
nenuntergänge nacheinander gewesen wären, an verschie-
denen Stellen des westlichen Horizontes.) Eine Landschaft voll

Traurigkeit, zuunterst ein Steinbruch mit Geleise, darauf ein


verlassener Lastzug. Oberhalb ein Karrenweg. Zuoberst am
Rand des Hanges eine Linie von Apfelbäumen. An den Dra-
goner Schmidt gedacht. Eine phantastische Komödie, des Star-
ken und des Schwachen, Verträumten, dem Unmittelbarkeit
fehlt und der zuletzt doch quasi der Stärkere bleibt.

Göding, 4. VII. — Gedanke der Un Vergänglichkeit alles Ge-


wesenen in einer größeren Komposition auszudrücken.
Dem Stern ein längst gewesenes heute gegenwärtig
dem Kind ein Märchen quasi
dem Ergriffenen die Spuren Michelangelos in der Sistina

122
;

eine Stadt als ein unendlich komplex Fortlebendes


plane tare loquuntur
infans loquitur
urbs quaedam aut ipsissima loquitur
poeta loquitur

Göding, 7. VII. — Scheinen — früher: »formal« erleben; Reiz


des Theaters.
Bedeuten — später: durchsetzen; dynastischer Sinn.

Göding, 8. VII. — Unsere Epoche eine entsagende, ablehnende.


Große Forderungen, denen wir nicht nachkommen, in der
Ferne. Über das Wohinaus eine allgemeine Unklarheit. Kein
Gegenwartssinn. Verlogenheit, resultiert zumeist aus dem fort-
gesetzten ehrerbietigen Gebrauch von Begriffen, denen eine
lebendige Achtung versagt ist. Eine entmutigende Literatur.
1860—90 in Frankreich zersetzend, in Deutschland formal kon-
servativ, dadurch halb wahr, demoralisierend, in England zu
scharfes Auseinandergehen, paradox und verdorben.

Göding, 9. VII. — (ältere Gedanken mitverflochten)


Ästhetismus I
Große Anfänge, jetzige Depravation. — Ein Kreislauf, sich

wechselseitig steigernd, befruchtend- verderblich, zwischen


England — Belgien — Frankreich. — Künste neigen sich ein-

ander zu, entfernen sich vom Publikum, verderben schwä-


chere Talente, welche die Emotion beim Genießen zum Nach-
produzieren treibt. Ähnlicher Zustand in Deutschland seit

1890. — Die erste Wirkung von England (Rossetti) ; anderseits


Gautier (holländische Maler, drapierte farbige Antike usw.)
Swinburne ein Höhepunkt; jetzt das Raffinement der jungen
halben Talente. — Pater, schon morbide Ausschreitung der Kri-
tik, dieses Verfolgen in die vagen, dem Kunstschaffen zu-

123
grün deliegenden Emotionen (?).

Weiterer Ausblick: Wenn die Denkenden sich so verträumen,


empfängt die Menge nichts, denn das Raffinement dringt nicht
nieder, es bleibt nichts davon übrig. Hinter solchen Genera-
tionen folgen ganz leere Generationen, hinter großen efforts
große innere Sicherheit, leicht herb und ablehnend, starke
(tragische) Atmosphäre. —
Ästhetismus II
Welt der Khnopff, Mallarme, lüsterne unheimliche Heilig-
tümer, Tempel aus Steinen, Gold und lebendigen weißen Kör-
pern; eine Dämonologie, leichtfertig zusammengeknüpft aus
spontanen Eindrücken und fremden Symbolen. Das nackte
helle Rot und die Nackenlinie assyrischer Königinnen. Aber
All-in-einem, ein großes traumhaftes Zusammennehmen aller

Geschöpfe.

Göding, 12. VII. — Inhalt einer kurzen Zeit. Gewitter, dunkel,

Staub im Wind, inden Bäumen wie Gießbäche, wie ein Furcht-


bares das näher kommt und heraustreten wird. In den Heu-
kegel knien, dahinter Wolken das Ungeheuere, rechts und
links gepeitschte Bäume wie davor fliehend, hinten die ruhige
Landschaft traumhaft fern. Dann nach der Berauschung um-
kehren, den Heukegel verweht fahlgelber Wind, ich geh in
die traumhaft regungslose Allee hinein: ein neuer Lebensab-
schnitt, ein ungeheures Hinter-sich-lassen.

14. VII. — Lebensweg; führt zu immer stärkerer Magie.


Magie Fähigkeit, Verhältnisse mit Zauberblick zu ergreifen,
:

Gabe, das Chaos durch Liebe zu beleben. Chaos als totes dump-
fes Hinlungern der Dinge im Halblicht.

Die Ideen sind vermöge der Realitäten für uns existent ( = für
uns geweckt, entbunden, weil in uns vde Granatapfel all in

124
eins), aber nicht in den Realitäten zu finden.

Lebensweg. Steigerung der Magie darstellen. Auf der höchsten


Terrasse eritis sicut Deus, fähig aus allem etwas zu machen,
denn für Gott, der die Welt ist, ist keine Bildung schlechter
Stoff. Dies so ausdrücken: der so weit Gestiegene greift mit
Fingern in die Erde, wie durch Wasser, Wasser aber ballt sich

ihm wie Kristall, Fernes zieht er heran (Menschen und Tiere


durch eine Allee heran), schwebt in der Luft Früchten zu, liegt

im Rasen wie am Rücken schwimmend Vergangenes zieht er;

an sich tief ergreift ihn die Idee der Bewegung (Beispiel wie
; :

die Schlange links, der Engel rechts gegeneinander harmonie-


ren auf dem Sündenfallsbild von Michelangelo, solche Visionen
hat er fortwährend), auch fortwährend enthüllen ihm seine
eigenen Bewegungen ihre großen Architypen.
Als Einleitung halbwacher Morgentraum mit undeutlich be-
wußter Wohnung: in einem Lusthaus im Wald quer über den
Rasenweg, bei offenem Fenster, zu ebener Erde oder auf einer ;

kleinen Insel in der Bucht, dahinter die Ungeheuern Berge,


oder auf der höchsten Terrasse über den Wipfeln der niederen,
unter der der See liegt.

Ein Traum von großen Magiern — darunter Pereira, Grotthuss


Augen wie merkwürdige lebendige
verklärt, ihr Lächeln, ihre

pulsierende fühlende Edelsteine. Der eine Magier zieht die


anderen Verklärten heran und freut sich an ihren Gesichtern,
ihren Fingern, ihren Nüstern.

19. VII. — Bad in der March. — Die ruhigste Landschaft, durch


bläuliche Hügel und Pappelalleen begrenzt. Der Fluß in die
Wiese eingeschnitten. Über die steilen Ufer schauen weiße
Ziegen, steht der goldene Dunst. Am Ufer nackt flußaufwärts
laufen, riesige hölzerne Reifen rollend, um sich mit ihnen

125
hineinzuwerfen und abwärts zu treiben. Tief streifende Schwal-
ben. Die Schatten der Laufenden auf dem Wehr. Unsere
Pferde ruhig auf der Wiese.

Worte — Tahsmane — Engel und Boten Gottes.


Solche Talismane läßt der Zauber garten des Lebens zurück,
sie haben Kraft über die Welt.

Die Vokale (ihre individuelle Intonation nach der Stimmung)


sind große Dämonen.
Die Talismane sind die Ideen der Dinge : sie liegen in den Wor-
ten, Gebärden, die wir unbeobachtet in die Nacht werfen, ge-
wissen Bildern, die wir anstarren (sehr blasse Infantinnen mit
roten Haaren, stechenden ängstlichen Augen, deren feine be-
ringte Finger hilflos auf dem steifen starrseidenen Reifrock

liegen).

Wir leben in einem abgeleiteten Zustand. Alles die Nach-


schwingungen eines primären erhöhten Daseins. Bilder, Worte,
Bücher, Altäre, Landschaften: Talismane unseres Verlangens,
die unserer Seele ihr erhöhtes Selbst verkleidet vorspiegeln.

Hominem amare : sicut qui velit fontem amplexu retinere.

23. VII. — Das Ungeheure des Lebens ist nur durch Zutätig-
keit erträglich zu machen; immer nur betrachtet, lähmt es.

26. VII. — Unheimlich: ein Quell, der zu seinen Anfängen


zurückgeht, ein kinderloser Mann, der sein Leben in seine
Eltern eingießen will.

1. VIII. — Im Leben gefangen sein.

Die Elemente. Der beschwerliche Staub, die mühseligen Steine,

126
.

die traurigen Straßen, die harten Dämme, die Tücke der Pferde
und des eigenen Körpers.

Leben und sich ausleben nur im Kampf mit den widerstreben-


den Mächten. So lehrt mich mein Pferd den Wert des Ver-
mögens, der Unabhängigkeit. Sehnsucht, Haß, Demütigung. .

sind die Einstellungen des seelischen Augapfels zum Erkennen


der eigenen Lage im universellen Koordinatensystem und des
Verhältnisses zu den anderen Geschöpfen. Vorher geht man in

Gedanken leichtfertig mit den Wesen um wie mit Marionetten.


(Scheinhaftes Leben.)

Göding, 2. VIII. — »Wilhelm Meisters Lehrjahre«.


Zwei große Epochen: die schweifende, die absichtliche; erstere
gebraucht in einer dumpfen Antizipation die späteren termini
im voraus .
— Erstere hat etwas von Kinderkomödie ; leichtfer-

tiger Gebrauch der Worte Glück, Ich, Menschen. — Leicht-


fertige Opposition, allmähliche Einsicht in den Wert des Be-
stehenden. — Der Übergang bei mir Edgar, Militärjahr, neue
Berufswahl. — Das gutmütige Suchen (Wilhelm Meister), das
schlechte, sterile Suchen (Tini?). — L. für mich in der ersten
Epoche eine Vorahnung der zweiten.
Form das Erhaltende; Welt = in Formen gefangenes, ge-
rettetes Chaos.

Sommer 95. — Dialog über die Funktion des Dichters in der


Ökonomie des Ganzen.

Hatzenbach, 5. IX. — Das


Widerspiel vom »Wilhelm Meister«
sind die Romane, worin sich unreife Menschen leichtfertig
»ausleben«. — Von diesem Buch aus erscheint die Trennung
zwischen Denken und Zutätigkeit aufgehoben.

127
:

1899. - Gedicht der Muscheln


Wir sind allein im Dunklen, ihr habt oben Lippen, gerollte
Blätter, verschlungene Hände mit rosigem Blut und bläuhchen
Adern, wir sind allein und können uns nicht berühren.
Wir leben uns aus, unser Schicksal ist, dem Wogen zu wider-
stehen. So werden wir und Triumph und Qual färbt uns, wie
der Reflex des Herbstes und der Sonne die obern Wellen.

Betrachtung
Da ich so unsicher bin und die Vergleichung mit der Ver-
gangenheit gleich die Gegenwart durchsichtig macht, da ich
beim Alleinsein mich von den Strahlen der Sterne getroffen
fühle und mich im Dunklen von Muscheln verliere, und unter
vielen fürchte verschlungen zu werden, weil es einen nach
dem andern gelüstet, da ein Wort mich verdüstert wie Rauch
aus Zauberkräutern, meine Gedichte aber unheimlicher sind
als der Wald, offener als ein Schiff, so denk ich Dein und
Deiner.

Ein gutes Kunstwerk muß in seinem Innern die tiefe Stille

des Tempels haben, in der die Geheimnisse des Lebens sich

offenbaren: aber aus seinen hundert ehernen Toren muß es

den Leser unmittelbar ins Leben entlassen.

Jüngling und die Spinne


Unter den Weisheiten und Geständnissen der Spinne dieses

eine wahre Braut ist zu erkennen daran, daß es nicht ihre


Stimme, nicht ihr Lächeln, nicht ihre Küsse sind, was das
Höchste ist, sondern die von ihr ausgehende essentia, die dich
in Zeiten großer Abwesenheit badet, so daß du in der Braut
ihrer Welt traumweis lebst.

128
Märchen Die junge Frau und
: die Bauinnymphe
Junge Frau wartet auf ihren Liebsten. Geht ihm entgegen.
Septemberabend mit Mond. Im Wald fürchtet sie sich nicht,

so voll Liebe ist ihr Herz. Klaubt Katzengold auf für ihr Schlaf-
zimmer, vor einem Hund oder einer Lampe würde sie sich

schämen, aber so etwas Dämmernd-schimmerndes im Zim-


mer, das lebt doch und vermehrt so die Lust und das Glück.
Aus der Waldblöße tritt die Baumnymphe. Sie hat ihr langes

braunes Haar um sich wie ein Zelt. Die junge Frau möchte sie

nach Haus locken, ihren kleinen Garten zu beseelen, ihrem


Glück zu dienen.
Die Nymphe fragt: wie redet er zu dir, wenn ihr beieinan-
der liegt? Frau: das sag ich nicht, kaum zu denken trau ich
mirs, mir kommt das schon schamlos vor. Doch denkt sie es in

sich. Im Augenblick ruft die Nixe das hab ich auch!, und wie
:

ein Echo schallt aus dem Gebüsch der klagende, verlangende


Schrei eines Wcddvogels.
Schließlich sagt sie der Nixe Sachen, die die Nixe nicht hat,
da stößt sich die den Kopf an den Baum und fällt tot ins Moos.

Alkestis des Euripides


Allegorischer Sinn: junge Ideale schvmiden uns aus dem
Sinn wie Tote, dann bringt sie ein starker genialer Gott aus
den Armen des Todes zurück und legt sie vor uns hin wir sind
;

bewegt, die Fremde scheint uns an eine geliebte Tote zu er-


innern und wir können nicht fassen, daß sie es selbst ist.

Hölderlin
Die frühen Gedichte: riesige Jünglinge umgeben ihn: der
Sonnengott, der Fluß, der Gott der Jugend, der Genius der
Kühnheit, Jünglinge, denen Sehnsucht und Bescheidenheit
nicht unbekannt ist, und doch mit so gewaltigen Händen wie
der Wind.

129
Geschöpf der Flamme
Alle sind Ausgeburten der Flamme.
Der Schmetterling: in mir wird die Intensität des kurzen
Lebens und der Gebrechlichkeit zur Farbe.
Schatten ist gleich wie Tod, mein Leben zittert im Licht, Hin-
zucken; ich bin dem Tod so nah, daß dies mich stolz, grausam
und dämonisch macht.
Ungerührt flattere ich von den Lippen der Helena auf die

Wunde des Adonis. Ich liebe im Tod die Flamme über alles.

1901. - Über »Maß für Maß«.


Sensibilität eines älteren Dichters so verfeinert, daß er, über-
füllt mit Erfahrung, die intimsten Relationen zwischen sich

berührenden Dingen aufs äußerste zu spüren imstande ist.

In der Tat weist dieses Stück eine so verwirrende Fülle von


Relationen, entstanden durch die luxuriöse Verschlingung aller
Fäden, auf.
Was für Kombinationen: Lucio-Isabella. Herzog-Kerkermei-
ster. Mariana-Isabella.
Und das ganze auf eine gröbere Stickerei aufgestickt.
Wieviel Landschaft das Lied — der Tod —

130
20. VI. 1904
Shelley. — Im Val d'Arno ist der Wasserfall, in dem Shelley
nackt badete, dann wieder herausstieg, Herodot lesen, und wie-
der ins Wasser sprang. — Kurz vor seinem Tod häuften sich bei
Shelley die Gesichte und Erscheinungen. Eines Abends kam
eine Gestalt, in schwarzem Mantel, einen Schleier übers Ge-
sicht, und winkte ihm mit unbeschreiblicher Gewalt, zu folgen.
Dann enthüllte sie sich es war seine eigene Gestalt. Das Ge-
:

sicht nahm einen bösen Ausdruck an : Siete soddisfatto . . . sag-


ten die Lippen der Erscheinung. Dann ging sie hinaus. — Ein
anderes Mal sah er, eingeschlummert, das Meer vor sich : aus
der dunklen drohenden Flut hob sich Byrons verstorbene kleine
Tochter AUegretta, winkte ihm zu, klatschte m die kleinen
Hände und tauchte wieder unter.

17. VII. — »Elektra«. — Der erste Einfall kam mir anfangs Sep-
tember 1901. Ich las damals, um für die »Pompilia« gewisses
zu lernen, den »Richard III.« und die »Elektra« von Sophokles.
Sogleich verwandelte sich die Gestalt dieser Elektra in eine
andere. Auch das sogleich da: daß sie nicht mehr
Ende stand
weiterleben kann, daß,wenn der Streich gefallen ist, ihr Leben
und ihr Eingeweide ihr entstürzen muß, wie der Drohne,
wenn sie die Königin befruchtet hat, mit dem befruchtenden
Stachel zugleich Eingeweide und Leben entstürzen. Die Ver-
wandtschaft und der Gegensatz zu Hamlet waren mir auffal-
lend. Als Stil schwebte mir vor, etwas GegensätzHches zur
»Iphigenie« zu machen, etwas worauf das Wort nicht passe:
»dieses gräcisierende Produkt erschien mir beim erneuten
Lesen verteufelt human« (Goethe an Schiller).

Ich dachte für die »Elektra« an die Sandrock. Anfang Mai 1903
sali ich die Eysoldt im »Nachtasyl« und dann bei einem Früh-
stück. Ich versprach gleich bei diesem Frühstück Reinhardt,
ihm eine »Elektra« für sein Theater und für die Eysoldt zu

131
machen. — In Cortina (Juni) und Grundlsee (Anfang Juli) ver-

suchte ich ernstiich anzufangen. Es kam aber fast nichts zu-


stande. Erst in Rodaun, Ende Juh bis gegen 18. August, ent-
stand das meiste. Es war aber ein Arbeiten mit unsicherer, fast
immer matter Stimmung. Ende August fuhr ich nach Weimar,
las dort Keßler einiges daraus vor. Im halben September wurde
dann das Ganze notdürftig fertig, Teile des Schlusses und der
Klytämnestra-Szene noch unterm Abschreiben hineingeflickt.
— Schnitzler und einige andere, so wie die meisten Leute vom
Theater, waren unsicher darüber, ob die Eysoldt die Rolle
spielen könne. — Den 30. Oktober war die erste Aufführung im
Kleinen Theater. — Den Erfolg bemerkte man erst am darauf-
folgenden Abend, im Deutschen Theater bei der Erstauf-
als

führung von »Rose Bernd« von Hauptmann vielfach gesagt


wurde, der gestrige Abend hätte für die meisten Leute den
heutigen totgeschlagen.

»Das gerettete Venedig«. — Im Sommer 1901 las ich »Venice


preserved« von Otway, übrigens nicht zum erstenmal. Beim
Spazierengehen im Wald kam mir der Gedanke, eine Novelle
aus dem Stoff zu machen. Sie sollte enthalten: die Jugendge-
schichte von Jaffier und Belvidera (wie er, halb als Pflegesohn,
als der Sohn einer entfernt Verwandten im Haus des Priuli auf-
wuchs wie; sich zwischen den beiden eine unschuldige Jugend-
liebe entspann und sie Wie Belvide-
anfingen, sich zu küssen.
ra nach dem Tod und schwor, lieber
ihrer Mutter das bereute
sollte eine giftige Schlange sie berühren, als seine Lippen. Wie

den Tag nach diesem Schwur, im Garten der Villa am Brenta-


Kanal, eine Schlange unter der Steinbank hervorschießt und
ihren Zcdm in Belvideras herabhängende linke Hand drückt.
Wie Jaffier dazukommt, sich über die Hand stürzt und die
Wunde aussaugt, Belvidera darin den Wink des Himmels sieht,
sie dürfe, ja sie müsse ihm ganz gehören). Ferner soUte die

132
Novelle enthalten einen nächtlichen Brand in Venedig, ge-
sehen aus dem Haus der Kurtisane Aquilina.

26. VII. — Im August 1902 (während ich an dem Brief des Lord
Chandos schrieb) kam der Stoff mit großer Lebhaftigkeit wie-
der und ich schrieb ein ziemlich genaues Szenarium nieder. —
Ende September 1902 ging ich nach Rom; ich wollte dort
»Das Leben ein Traum« machen. Statt dessen geriet ich, am
15. Tag meines Aufenthaltes, in diesen anderen Stoff, schrieb
den I. Aufzug in etwa 12 Tagen auf der Terrasse des Plotel

Hassler (Trinitä dei Monti) mußte wegen Mamas Operation


;

nach Wien zurück, von dort den 2. November nach Venedig.


Schrieb dort 2.-11. November den IL Aufzug, 15.-19. einen
Teil des III., fuhr wegen großer Kälte nach Rodaun zurück,
begann die Arbeit wieder Ende November, vollendete ein paar
Tage nach Weihnachten den V. Akt. — 6. Jänner 1903 las ich
das Stück vor. — Sogleich ergab sich die Notwendigkeit einiger
Veränderungen: msbes. IL und III. Aufzug. Frühjahr, Som-
mer, Herbst, Winter kam nicht viel davon zustande. (November
1903 hatte ich Brcdim das Stück bruchstückweise vorgelesen,
mit Erzählung des zu Verändernden.) Mai 1904 vor der Reise
nach Hollajid machte ich die Veränderungen des I. Aufzuges,
in der Fusch 15. VII. — 30. VII. die viel einschneidenderen von
II und IIL Die Reinschrift vollendet in Aussee am Ramgut
den 8. VIII 1904. — Zum erstenmal aufgeführt am Lessing-
theater in Berlin, den 21. Jänner 1905, mit geringem Erfolg.

1904. Aufenthalt in Fusch. — Folgende Arbeiten und Pläne be-


schäftigten mich Tagen aufsteigend wie leuchtende
in diesen
Wolkenmseln hinter den Bergen her, aus dem Abgrund der
Halbvergessenheit.
Das »gerettete Venedig« wurde den 25. VII. beendigt.
»Orest in Delphi«. Den Stil des Ganzen mehr gesehen. Wald

133
und Höhle erhabene Stämme,
: dichte Finsternis bildend, drau-
ßen, unten, die Welt.
Die Gruppe der Amphiktyonen, die Jungfrau zur Qual der
Weissagung zwingend, Klage erhebend über den Frevler.
»Pentheus«. Das ganze Szenarium dazu gefunden. In zwei
Aufzügen. Die Handlung hat mit den »Bacchen« des Euripides
nun fast nichts mehr zu tuen. — »Das Leben ein Traum«. Die
entscheidende Wendung gefunden. Zu den »Abenteuern des
Gomez Arias« einiges notiert. Ferner entworfen eine Anzahl
»Briefe des kaiserlichen Verwandten Gallienus«.

Freitag 29. VII. nachmittags bis Sajnstag 30. VII. nachmittags


schöne 24 Stunden im Hotel Europe, Salzburg, mit Bahr, dem
ich alle Arbeiten und Stoffe erzähle.
Sonntag 3 1 bei stralilendem Wetter mit der Lokalbahn nach
.

St. Lorenz; von dort zu Rad nach Mondsee, wo ich frühstücke.


Von dort nach Fürberg. Hier vor dem Essen ein wundervolles
Bad aus einer Schiffhütte. Riesige weichgeformte WoLkeninseLn
segeln ganz niedrig unter dem glühenden Himmel hin, ver-
dunkehi für Augenblicke den See, kühlen die Luft, eine herr-
liche Stunde. Dann esse ich und fahre weiter in großer Glut
über Lueg zur Fähre, St. Wolfgang, gehe einen Augenbhck in
die kühle schöne alte Kirche, dann nach Ischl, von da per Bahn
nach Aussee.
Vom 2. August — 25. August das Sommerleben auf dem Ram-
gut. Es ist der wundervolle regenlose Sommer, wie vielleicht
seit Jahrhunderten keiner da war. Im unteren Land ist furcht-
bare Dürre. Täghch sind in allen Ländern große Brände von
Dörfern und Wäldern. Auch der berühmte Wald von Fontaine-
bleau brennt zum größten Teil. Aus der Elbe und andern fast

vertrockneten Flüssen steigen die »Hungersteine«. Einer trägt


die Jahreszahl 1484 und die Inschrift: »Wenn ihr mich sehen
werdet, werdet ihr weinen.«

134
Rodann, 30. IX. — Zwei Vorfälle ans dem »Seelen«kreise, der
nm den Dichter Peter Altenberg gruppiert ist.
Anfang 1904 ging es A. psychisch und pekuniär sehr schlecht.
Es wurde in einem Haus des Kreises eine Versammlung der
Freunde einberufen, um zu beraten, wie ihm zu helfen wäre.
A. selbst, in einem Fauteuil, etwas abseits der anderen, aber im
gleichen Zimmer, wohnt der Beratung bei. Er verdeckt das Ge-
sicht mit der Hand .»Ich bin ein Bettler und ein Sterbender«,
murmelt er vor sich hin, »was wollt ihr von mir? Laßt mich
ruhig sterben. « Verschiedene erheben sich und bringen Anträge
vor, wie für seine Gesundheit und sein Auskommen zu sorgen
wäre. Er winkt ab, dann wieder, zitternd im Fieber, scheint er
gar nichts zu achten. Da steht die hübscheste Frau des Kreises
auf: die junge zarte Frau X. »Ich liebe A. mehr als ihr alle«,
sagt sie, »ich liebe seine Seele und die Gebärden seiner Seele.

Und ich weiß nichts Schöneres, als ihn so sterben zu sehen, in


einem Winkel, mit einer dürftigen Decke zugedeckt. O rührt
nicht an das Wunder dieses Sterbens. Pauvre Lelian! wer wollte
ihn um die Schönheit seines Endes bringen?« — Da schnellt A.
wütend aus seinem Fauteuil auf: »Dumme Gans«, schreit er sie
an, »verfluchte dumme Gans! ich will nicht sterben! ich will
leben! ich will ein warmes Zimmer und einen Gasofen, einen
amerikanischen Schaukelstuhl, eine Rente, Orange Jam, Kraft-
suppe, Filets mignon; ich will leben!« —
Die Frau X. ist bildhübsch, blond, zart; hat einen entzücken-
den Augenaufschlag und eine unvergleichliche Art, hingebend
zuzuhören. Sie kokettiert schamlos, aber mit jedem nur bis an
eiae gewisse Grenze. In diese verliebt sich unglücklicherweise
der fünfzehn] ährige Gymnasiast Y., ein ungewöhnlich begabter
und leidenschaftlicher junger Mensch. Die Frau geht mit ihm
so weit, daß er sich sagen muß, sie wünsche, ihm allein zu ge-

hören. Er zwingt sie, ihrem Mann alles zu sagen und von die-
sem die Freiheit zu fordern. Ihr gefällt die »Szene« die sich dar-

135
aus machen läßt, sie gesteht dem Mann alles ein, verlangt, er

solle sie mit dem Burschen fortlassen.Der Mann schlägt ihrs


ab, lacht sie aus. Sie ist sogleich umgestimmt, schreibt an den
Burschen einen Abschiedsbrief, gibt ihm seine Freiheit zurück.
Der Bursch, völlig zerstört, ratlos, läuft mit dem Brief in der
Hand zu A., den er aufs höchste verehrt: »Was soll ich tuen?«
A. erwidert ihm: »Was Sie tuen sollten? Sich erschießen. Was
Sie tuen werden? Weiterleben. Ruhig. Weil Sie ebenso feig
sind wie ich, so feig wie die ganze Generation, innerlich aus-
gehöhlt, ein Lügner, wie ich. Deshalb werden Sie weiterleben

und später einmal vielleicht der dritte oder vierte Liebhaber der
Frau werden.« — Darauf geht der Bursch nach Hause und er-
schießt sich.

Von gewissen Existenzen unserer Zeit (für welche ein Beispiel


deranmaßende Edelmann) kann man sagen, daß in ihnen nicht
sie selbst, sondern ihre verstorbenen Vorfahren wdrksam sind:
aus ihnen kommen Reden und Gebärden Verstorbener heraus,
wie die Reden und Gebärden der Rolle aus einem Schauspieler.

11. X. — Was war der Tod des Antinous? Gab er sich dem Ge-
liebten zum Opfer, um einer aufs höchste getriebenen Schau-
spielerei durch den Tod Wahrheit zu erzwingen? Glaubte er,

daß die Lüge, wenn zum Äußersten


sie bis getrieben wird,
eine Falltür auftut ins Jenseits — der Lüge?
»Und sinkt mein Kahn, sinkt er zu neuen Meeren.«

Paradoxon des Schauspielers. — Die Düse kann heute nur mehr


sich selbst spielen, d.h. sie spielt in jeder Rolle die durch Liebe
und Leiden wnndervoll gewordene reife Frau, d.h. sie bringt
nun jede Rolle ins Allgemeine.

23. X. — Aufeinanderfolgende Generationen. — Die zärtliche

136

I
.

Liebe meines väterlichen Großvaters zu seinen kleinen Besitz-


tümern den : Bildern, die er auf dem Mailänder Markt zusam-
mengekauft hatte, chinesischen Vasen, alten Stoffen, Schnitze-

reien, dem ganzen Inhalt des Glaskastens. Er war der Erwerber


dieses ganzen Gewebes von Gefühlen, Begierden, Zärtlichkei-
ten, Behaglichkeiten. Mein Vater erbte dieses Ganze und trug
es in sich noch verschönert durch die Erinnerung an seinen
Vater. Er ging abends in der Wohnung auf und ab, hob die
Lampe zu dem und jenem Bild, ließ die tiefen Farbentöne auf-
leuchten, den alten geschnitzten Ralimen flimmern; stand in
der Tür und sah auf den Glaskasten hin, durch dessen gebo-
gene Scheiben von Marienglas die kleinen Dinge aus Porzellan
und Email, die Ketten und Dosen ihre Reflexe warfen. In mir
ist dies alles auch, zum zweitenmal vererbt: ich kann zuweilen
die Dinge mit dieser Zärtlichkeit ansehen im: die Blattpflanzen
Grün und ihre Schatten auf der blaßgelben
Stiegenhaus, ihr
getünchten Wand und darüber die Töne der gedunkelten alten
Familienporträts in ihren verjährten Rahmen ; die kleine Meiß-

ner Teekanne auf dem Gesims des alten bemalten Ofens ; die
Stiche an den Wänden die Reihen; der Bücher nebeneinander
in ihren verschiedenen Einbänden; ich kann mir manchmal
wünschen, sie zu vermehren, ein Zimmer einzurichten mit
Empiremöbeln, viel Porzellan und guten Stichen, oder die in
der Familie verstreuten alten Bilder zurückzukaufen, und vieles
dergleichen in meiner Hand zu vereinigen : aber . .

Benvenuto Cellini. Es ist schön, dieses Buch hier zu lesen. Es


stellt dar die Einsamkeit des Arbeitenden. Ihm kann nichts ge-
schehen, auch im Gefängnis nicht. Aus ihm heraus quellen Vi-
sionen, die aus der Materie seiner Kunst sind. Er trägt sich, das

Futteral für Goldschmieds Visionen, durch dick und dünn, klet-

tert über Berge, fährt auf Fähren durch Seen, alles rinnt ab. —
Hier in dieser Landschaft, die aussieht, als hat ein allmächtiger

137
.

Goldschmied sie geschaffen: die getriebenen Berge, das Meer


wie ein Schild, die Bäume aus Bronze, — dieses Buch treibt die

aus dieser Landschaft quellenden Erregungen in die Höhe vde


einen zerschäumenden Springquell und fängt sie in porphyre-
ner Schale wieder auf.

Wir vermöchten wohl aus uns selbst den reinsten Inhalt unse-
rer Zeit hervorzubringen, denn der scheinbare Inhalt einer
Zeit ist nur eine Fratze, ein verzogenes Bild — so die romanti-
sche und die Philisterzeit 1810-30 — während Goethes , Geist
rein und groß atmet.

Zuerst erlebt man alles naiv, man trägt den Priestermantel als

wärs ein Regenkleid dann ahnt ; man überall Symbol.

Auszuruhen vermag die Seele nur im Gleichnis dann klmgt


:

Mirandas Wort süß wie Glocken herüber.

Takt. Es könnte sein, daß einem Autor gerade das am meisten


übelgenommen wird, daß er Takt hat. Jedes Pathos, selbst das
der Zudringlichkeit, wird geehrt, jede sich brüstende Schwäche,
— aber das Ausbiegen, das analog der wohlerzogenen Dame . .

Subalternen Naturen verzerrt sich ihr Selbstbewußtsein, wenn


sie es an den Tag treten lassen, sogleich : es wirkt als Anmaßung.

Über Farbe: davon, daß die Richtigkeit der Valeurs alles ist,
und dies ein Welt-Ganzes, genau wie das in Worten Festzu-
legende. Bleistiftstriche so wie Worte Hineinschneiden in den
:

Raum, um dem Nichts ein Gesicht zu geben. Das grenzenlos


Relative der Farbe : jede Farbe existiert nur durch ihre Nach-
barschaft.

138
Das Schöne an Deutschland: daß hier noch Wege von Allem
zu Allem führen. Man kann nie wissen, von welchem Punkt
aus die Welt aus den Angeln gehoben werden wird: Ineinander-
gehen von Ästhetik und Moral, Neurologie (die wieder als See-
lenzustand von Kant deszendiert), Stil und Lebensführung.

Über Kritik.Wir wollen nicht die Grenze ziehen zwischen


Schaffenden und Nicht-Schaffenden. Wir wollen über die Kri-
tik sprechen, die auch aus dem Mund der Schaffenden hervor-
geht, und wollen der Kritik nichts vorwerfen als Mangel an
Scharfsinn.
Falsch: jedes Kunstwerk als definitiv anzusehen, immer zu
sagen Er hat das aufgegeben, er wendet sich jenem zu, er sieht
:

nur das, er meint also das und das; — falsch das Definitive;
— falsch alle bilhgen Antithesen wie »Kunst« und »Leben«,
Ästhet und Gegenteil von Ästhet. Richtig, die Kunstwerke als

fortlaufende Emanationen einer Persönlichkeit ansehen, als

»heures«, Beleuchtungen, die eine Seele auf die Welt wirft


(Wort von Courbet) ; — richtig, jeden Übergang und insbeson-
dere alle unterirdischen Übergänge für möglich zu halten; —
richtig, das Bestreben nach individuellem Stil zu begreifen als

die einzige Möglichkeit, sich ewig zu fühlen; — richtig: die

Produktion als eine dunkle Angelegenheit zvdschen dem Ein-


zelnen und dem verworrenen Dasein anzusehen; — richtig:
alle Künstler als Bringer von Harmonie zu sehen und die un-

geheuren Abstufungen der Begabung zu genießen wie das


Spiel der sich brechenden Meereswellen, ohne jede einzelne
mit Namen nennen zu wollen. Venedig, 24. X. 04

IL 1905. — Bahr erzählt aus einem Gespräch mit der Düse. Sie
haßt Wagner aus dem Briefwechsel mit Mathilde Wesendonck.
»Da nennt er sich Tristan und sie Isolde. Aber Tristan ist ge-
storben, gestorben und Wagner hat weitergelebt und aus dem

139
. «

Tristan eine Oper gemacht und die Oper aufführen lassen, und
ist dagesessen und hat sich ins Notizbuch geschrieben: Tan-
tieme für Tristan 300 Thaler und wieder 300 Thaler« . .

Welcher gräßliche Drang in ihr, sich selbst zu verwunden, zu


demütigen, zu beschmutzen, der sie das so sagen, so sehen macht.

9. II. — Edgar im Krankenhaus. Er liest jetzt und denkt und


träumt viel. Manchmal sind seine halbwachen Träume (er fie-
bert fast unaufhörlich) von einer fast schmerzenden Schönheit.
Manchmal kommen gewisse Träume und gewisse Begebenhei-
ten seines Lebens immer wieder, als wollten sie eine Botschaft
anbringen und könnten sich ihrer nicht deutlich entledigen.
So diese Erinnerung: Er ist als Kadett auf der »Saida«, die im
Hafen von Bombay liegt. Er hat Wache auf Deck. Er geht auf
und nieder und atmet den Duft der Gärten, den der Landwind
herüberträgt. Vorher waren indische Händler an Bord, mit de-
mütigen Gebärden und Anreden voll wunderbarer Übertreibun-
gen. Er ist nicht schläfrig, auch nicht schlaftrunken, sondern
ganz wach. Er geht rasch auf und ab, mit rhythmischer Rasch-
heit. Und er weiß: er ist ein Prinz, und seine Kadetten] acke,
dieser Dienst, dieses Da-wachen-Müssen, alles dies ist nur ein
Schein und wird sich gleich auflösen. Gleich wird der Deck-
offizier, der dort steht mit seiner Schärpe, auf ihn zugehn und
die entscheidenden Worte sagen »Hoheit,: die Zeit ist um . . .

13. IV. 05. — Wachsende Schamhaftigkeit. — Wie ich ganz jung


war, konnte ich meinen Eltern ein erregtes Gedicht, ganz frisch
entstanden, vorlesen, nicht nur vor mehreren Menschen (das

ist leichter), sondern meiner Mutter allein, oder meinem Vater


allein oder beiden zusammen. Jetzt vermöchte ichs nicht.

Leben. — Ich war im drübern Garten, der ganz verwildert, und


dachte Vielleicht einmal werde ich diesen Garten pflegen, diese
:

140
.

Bäume rein und gesund halten, schöne Beete graben lassen.


Dann wird mem Vater und meine Mutter tot sein und — wenn
auch meine Kinder dnsein werden — wird mir sein, als täte ich
dies ins Leere. Was man im Schatten seiner Eltern tut, ist wie
ein Pfeil, den man in die Ewigkeit abschießt, — was man unter
den Augen seiner Kinder tut, wie ein Pfeil zum Spielen, ab-
geschossen, und gleich fällt er wieder kraftlos nieder.

R. Schröder. — Die Dichter sind die einzig Religiösen unserer


Epoche: sie halten sich an das, woran sie zu glauben vermö-
gen. Ferner ist ihnen die überwältigende Masse ein Anlaß zu
Erhebungen. —
Der innere Wohllaut, dem der Schmuck eine Befleckung wäre.

Sinnlichkeit. — Es gibt keine größere, alles durchdringendere


Sinnlichkeit als die Kierkegaards. Wie in einem solchen Gleich-
nis:

Wie die kunstverständige Köchin bei einem Gerichte, in dem


vorher eine Menge Zutaten miteinander gemischt sind, sagt:

es muß noch ein ganz klein bißchen Zimt hinein ... so bei der

Leitung des Ganzen . . (»Buch des Richters« S. 99)

23. IX. 05. — Reichtum. — Einen Park haben mit vielfach ver-
zweigten Teichen, Wasserstraßen ganz überwölbt von Bäumen,
und schwarzen Schwänen,
Inseln, so dicht bevölkert mit weißen
und Pelikanen wie die graugrünen Wässer
rosigen Flamingos
wimmeln von alten dunklen und schimmernden Fischen.
(ähnlich der Park von Rothschild in Ferrieres)

Die Bibliothek eines Dichters müßte z.B. ein Buch über Gei-
genbau und eines über Geigenspiel enthalten, damit er die
Gruppe von Ausdrücken, die das Bilden des Tones und die
darin enthaltenen Reichtümer und Verschiedenheiten offen-

141
. :

baren, sich daraus aneignen könnte. Ebenso Bücher über Bau-


kunst, Forst^virtschaft, über das Leben der Tiere, Ferner über
das stumme Leben der Gesteine und Erze, alle die reichen
Worte über das, wie sie einander durchwachsen, wie Kristalle
anschießen, sich bilden und entbilden.

IX. 05. — Weltzustand. — Während ich hier in Lueg am Rande


des Waldes über dem leuchtenden See sitze und schreibe, er-
eignet sich in der Welt dieses : In Venezuela läßt der Diktator
Castro in den überfüllten Gefängnissen erwürgen und zu Tode
martern die Leiche eines Verbrechers bleibt an den lebenden
:

jungen Obersten X. so lange angekettet, bis der Oberst wahn-

Baku schießen seit acht Tagen die Armenier und


sinnig wird. In
Tartaren aufeinander, werfen Frauen und Kinder in die Flam-
men der Häuser, das Ganze erleuchten auf Meilen die roten
Riesenflammen der brennenden Petroleumlager. In irgend-
einem skandinavischen Gefängnis sitzt zugleich der ungeheuere
zwanzigfache Mörder Nordlund und zermalmt die Riesenkräfte
seines Willens an der stumpfen leeren Kerkermauer, die er an-
stiert. Und die Gefängnisse! die unschuldig Verurteilten! und
die sogenannten Schuldigen! und die Armenviertel von Lon-
don und New York . .

30. X. — Temps paniques (»Legende des siecles«) — eine ver-


sunkene große Zeit.

»L'absence des geants attriste les lions«

— das ist ein großer französischer Vers. — Dagegen halten


»Nichtinsel dich, mit leichter Hügelkette
Europens letztem Bergast angeknüpft.«

1. XL — Einer tötet eine Geliebte nach der anderen, immer


weil sie zwischen ihm und der Liebe steht. (Semiramis?)

142
. «

Agaue, die Mutter des Pentheus. Stets litt ihre Seele darunter,
daß das Opfertier (das Pferd, das sie alle Jahre auf dem Grab
ihres Mannes opferte) gezwiuigen stirbt: sie lechzt nach dein
Opfer, dessen Darbringung zugleich eine Huldigung für das
bezeichnete Opfer wäre, worin dieses den Tod hinnähme aus
der Hand des Hierophanten wie einen Triumph
Die erste Szene zwischen Pentheus, seiner Mutter und ihren
Frauen spielt in der schwersten Stunde des Mittags.

Otto Ludwig war ein Kontrapunktiker ohne Musik, (Die Ro-


mantiker eher Musiker ohne Kontrapunkt.)

Das kluge Kind: »Kannst du einen Stern anrühren?« fragt


man es. »Ja«, sagt es, neigt sich und berührt die Erde.

Der stärkste Begriff des endenden 18. Jahrhunderts war der


Begriff: Tugend.

8. VI. 06. — Für


das Leben und für den Tod kann man sich die
Lenden gürten. Aber das ist das Unfaßbare, daß sie beide zu-
gleich da sind.

»Figuren«, die wir schaffen, sind wie Taucher, die wir in den
Meeresabgrund hinablassen, sind magische Figuren, die uns
die Kreise der Geisterwelt aufschließen.

5. VIT. — »Warum liest du hier, statt nur zu schauen, zu

schlummern und vor dich hin zu träumen?« — »Dieses Buch


treibt die aus dieser Landschaft quellenden Erregungen in die

Höhe wie einen Springquell und fängt sie wieder auf.

Der Leser (Winterphantasie). — I. Der Leser der Gedichte.


IL Der Leser der vielen Bücher. III. Der Leser im Grünen.

143
.

Der Leser der vielen Bücher. Schlußstimmung Es : ist nahe


daran, daß sich ihm. etwas Unsagbares auftut, über dem Rand
des Horizonts zwischen Schlafen und Wachen: er liest und
liest, und die Schmerzen, die Verworrenheiten der Figuren be-
rühren nur die Tasten seiner Seele ... Es gibt Momente, wo
ihm ahnt, daß alles was ihn drückt, sein Fleisch, seine Bedrückt-
heit, seine Eltern, seine Epoche, seine Widersprüche, daß das
alles sich ins wenden kann ... er ahnt eine Verfas-
Glorreiche
sung, in der er nie mehr nach einem Buch greifen würde, so in
seinem Gleichgewicht würde er sein, so alles in sich selber
tragen, — da trübt sich wieder die innere Helle, der trockene
Durst quillt auf, und wie der Krebskranke nach dem Taschen-
spiegel, wie der Greis nach den Spielkarten, wie der Wollüstige
nach den Brüsten (- wie Richard Wagner nach der Betätigung
im äußeren Leben — siehe Briefwechsel Wesendonck) — greift

er wieder nach den Büchern . .

Der Leser: Ich gebe mich hini wie er mich mitreißt, Tambur-
laine,wie er auf den gekrümmten Bajazet steigt, sich in den
Thron wirft von dem Nacken des Getretenen aus, wie er einen
Akt Purpur trägt, dann Schwarz, wie er seine beiden Könige
peitscht . . . Ich werde Peele, ich werde — nein, ich
sie alle lesen,

werde morgen Frank Wedekind — Wedekind — Edward,


lesen.

der im Kot steht und zertrampelt wird — es ist eine gewisse


:

Affinität. —
I. Ich sehe den vor mir, der ein unübertreffhcher Leser für ge-
wisse Bücher war, ein Virtuos des Lesens, wie A. ein Virtuos
auf der Flöte ist und N. auf Oboe d'amour.
IL Wenn ich nicht irre, kannte ich einmal den Leser aus Lei-
denschaft. Er wohnte schlecht, aber Stöße von Büchern lagen
um ihn, und sie gehörten ihm. Er berechnete, was er beim An-
tiquar für das ersparte ärztliche Honorar kaufen könnte.
Der Leser Er hat unglaubliche Träume, ganz unrealisierbare,
:

unaussprecliliche die Harmonie von alledem zu finden.


:

144
25. VII. — L'ame de riiuinaiiite cree la legende — das gilt von
der Gegenwart wie von abgelebten Zeiten.

Je weniger gesellig ein Volk noch ist, desto mehr wird es sich

zu der Spraclie anders verhalten, als sich die geselligen Völker


zu ihr verhalten: die von ihr einen gleichsam selbstverständ-
hchen Gebrauch machen ; es wird auf früher Stufe ein magi-
sches, auf später ein kritisches Verhältnis zur Sprache haben. —
Inwiefern die Chinesen zugleich ein geselliges und ein reh-
giöses Volk sind, und ihr Verhältnis zu ihrer Sprache.

Lueg, 20. VIII. — Gegenüber der eigentümlichen Trennung,


Feindseligkeit von Dichten und Leben, die Ibsen vielmals aus-
spricht, jene uns näherstehende Auffassung zu setzen, wie in
einem Brief Immermann sie ausspricht
Ist Dichten etwas anderes als Leben in höchster Potenz. —
(Und weiß man beim Leben, wo es hinaus will?)

21. VIII. — Stoff zu einer Novelle. — Ein armes Mädchen ergibt


sich einem Mann, dessen ganzes Leben sie auszufüllen glaubt.
Unerfahren und leichtgläubig, genügen ihr die spärlichen Aus-
künfte über den Gebrauch, den er vom größten Teil des Tages,
getrennt von ihr, macht. Eines Abends wird sie gebeten, eine
Freundin vomTheater abzuholen, sieht den Geliebten die Stiege
herunterkommen, eine Frau am Arm. Er ist verheiratet, war
es schon die ganze Zeit, schon als er sie kennenlernte, sie ver-
führte.
(Variante : Ein Mann verheimlicht vor einer an Stand und Er-
ziehung, nicht aber an Seele, unter ihm stehenden Geliebten
sein Schicksal, das aber nur ein eingebildetes Schicksal ist, un-
ter dessen Last er dahinkeucht, dessen überspannte Beziehun-
gen ihm jeden Augenblick zusammenzubrechen drohen. Den
Menschen, mit denen er in diesen künstlichen Beziehungen

145
steht, verheimlicht er durchaus jene andere wahre Beziehung,
er gerät mit einem geistig merkwürdigen, unglückhch ange-
legten Mädchen in eine Art Brautschaft, an deren Bestand aber
diese selbst wieder im Innersten zu glauben nicht die Kraft

hat. Diese Verhältnisse, welche nur in der Luft, nicht in der


Erde wurzeln, machen ihn immer unglücklicher. Vorsätzlich
und nicht unschuldig hat er sich selbst zur Gesellschaft des
Sisyphus und der Danaiden verurteilt. Indessen hat seine Ge-
liebte jenes andere Verliältnis entdeckt, ist darüber fast zu-

grunde gegangen, — hat sich wie ein verwundetes Tier seinen


Nachstellungen entzogen. Er findet sie wieder in einem neuen
Verhältnis. Nun wird ihm offenbart, was er verloren hat. Er
muß sie, nicht ohne Verschulden und Kampf, zurückge-
winnen.)
Sie lebt, nach überstandener Verzweiflung, ganz für das Kind.
Indessen ist sie Köchin, dann Kindermädchen bei X. Zurück-
gekehrt, indes das Kind unter guter Aufsicht war, lernt sie das
Gewerbe einer Hebamme, unterzieht sich den Prüfungen. In-
dessen hat sich ihr, fast noch mehr dem Kinde als ihr, ein Mann
genähert, der, obwohl von gutem Aussehen, ihr unter ihrem
Stand erscheint, besonders wenn sie ihn mit dem ersten ver-
gleicht. Obwohl in städtischem Dienst zeitweilig, aber in die-

sem unzufrieden und fremd, ist er ein Bauer. Dieses Verhältnis


führt zur Ehe. Für ihn ist sie die Wienerin, die Welterfahrene,
ja selbst die Energischere. Er führt sie in seine Heimat; sie

findet die Mutter, die Schwägerinnen, hübsche Cousinen, im


Dorf eine ausgebreitete Liebes- und Gaster ei- Wirtschaft. Eine
Cousine, die im Haus wohnt, hat die Gewohnheit, den Bauer
mittags und abends zu küssen. Wenn gebraten oder gebacken
worden ist, so muß das halbe Dorf daran beteiligt werden. Un-
ter den fremden Bräuchen, der fremden Sprache fühlt sie sich

halbverloren. Die Tochter, nun schon vierzehnjährig, kommt


in eine vornehme Klosterschule. Iwan ist der größte Bauer des

146
Dorfes: zu ihm kommen, wenn die Zeit z\im Schnitt ist, über
hundert junge Mädel und Bursche, das Korn schneiden, wo-
für er den Zigeuner mit einem Stück Leuid ablohnt, indes der
Zigeuner von der Dorfjugend mit diesem Arbeitstag für das
sonntägliche Aufspielen zum Tanz entschädigt wird.
Hier muß sie erleben, daß das Kind ihr im Kloster erkrankt
und nach wenig Tagen stirbt. Der Mann macht dem Kind eine
Leichenfeier »wie einer Gräfin«.

In den Schriften Stifters alle Fremdworte vermieden.

Rodin sagt über die birmanischen Tänzerinnen : »Ihre Bewe-


gungen sind richtig. Ich kann das nicht weiter erklären. Eine fal-
sche Bewegung ist dasselbe was ein falscher Ton in der Musik
ist. Und fast alle Bewegungen, die man sieht, sind falsch.«

(Desgleichen die ungeheuere Seltenheit wirklich richtig ge-


zeichneter Gemüts- und Seelenbewegung in Romanen. Fast
alles forciert. Hier die unvergleichliche Richtigkeit und Strenge
Goethescher Zeichnung, nur durch große Aufmerksaml^eit zu
erfassen. Ein aufmerksames Lesen seltenste Kunst.)

IL IX. — Leichtgläubigkeit der Leute in unseren niedern Stän-


den. — Ein Hochstapler erwirbt von einer Geheimratswitwe für
ein Darlehen die Mitteilung über geheimnisvolle, niemandem
bekannte, höchsten Ertrag verheißende metallische Lager in
Montenegro. Er bewegt sich auf Grund dieser Kenntnis als

»Bergwerksbesitzer«, gründet in vielen Städten Filialen, deren


Leiter Kaution stellen müssen. So zieht er einen jungen Mann
in Stuttgart an sich, der darüber in eine schwierige Lage gegen-
über seinem Vater gerät. Um diesen lästigen Kompagnon los-

zuwerden, rät der Schwindler Klemm dem jungen Menschen,


sich eines scheinbar verzweifelten, aber sicheren Mittels dem
Vater gegenüber zu bedienen. Es gäbe an der linken Brustseite

147
:

eine Stelle, wo man sich eine Wunde mit scheinbar höchster


Gefahr aber in Wirklichkeit ungefährlich beibringen könne —
das werde seinen Eindruck auf den Vater nicht verfehlen. Der
junge Mcinn — tuts und bricht zwar nicht tot aber lebensge-
fährlich verletzt zusammen. Indessen hat sich Klemm nach
einer anderen Stadt verzogen, wo er zahlreichen Mädchen und
Wirtinnen gefährlich wird.

Der Bauer pflügt mit zwei Kühen ein stemiges steiles unergie-
biges Feld. Damit die Kühe einen geraden Strich gehn, läuft
links und rechts je eine erbärmliche Weibsgestalt mit einem
Stecken : auf der einen Seite die alte Mutter des Bauern, mit
wilden Strähnen weißen Haares, dürren braunen Armen; auf
der anderen Seite, halbnackt, mit nackten Oberschenkeln, be-
hängt mit Lumpen, immerfort schwätzend und lachend, rast-

los vom Schweif der Kuh zum Kopf und wieder zurück sprin-
gend, eine schwachsinnige Halbschwester. Der Bauer flucht,
sooft ihm der Pflug einen Stein aufreißt, und wirft Steine nach
den zwei Weibern. Diese drei Geschöpfe bewohnen allein den
Hof.

Der Mensch wandelt immer zwischen zwei Unendlichkeiten


dessen was sein könnte und dessen was ist, was er besitzt und
zugleich nicht besitzt — denn muß nicht selbst eine genossene
Stunde, ein geliebtes Gesicht, eine betretene Landschaft in
ihm wieder hervorgerufen werden durch fremde innere oder
äußere Gewalt, damit er sich ihrer erfreue.

Meinen Phantasiebildern wohnt, selbst höchst traumhaften,


etwas Aneignendes an, ein Vor- oder Nachgefühl von Besitz,
selbst wo es sich um Landschaft handelt.

Die Halbträume einer unruhigen stürmischen Nacht, worin der

148
Herbst von irgendwo hereinzubrechen schien, gingen wunder-
bar ineinander über. Zuerst setzte sich das Gefühl: es wird
Herbst, in die großartigste Situation um. Es war in ahaischer

Hochebene, felsumrandeten riesigen Triften, der ungeheuerste


patriarchalische Herdenbesitz im Aufbruch nach unten begrif-

fen. Ich bin nahe, wo farbige Ivnechte das Hauptgezelt des Pa-
triarchen abbrechen: die Zeltgurten aus Leder sind das kunst-
reichste schönste Geflecht, das mir je vor Augen gekommen.
Dann ist ein Hinabsteigen vorbei, doch bin ich allein herab-
gestiegen und befinde mich unterhalb des gewaltigen Gebirges
in der wunderbarsten Umgebung. Es ist der Markusplatz, doch
in einen hohen sonnigen Buchenwald umgewandelt; die Ge-
bäude sind zertrümmert, aber ihr Ruin ist strahlend und fröh-
lich; zwischen den Buchen stehen Brunnen, Trümmer von
Säulen; die Trümmer der Markuskirche sind hinter mir, wer-
fen aber goldene und blaue Lichter durch das Ganze, und das
Ganze gehört mir.
(Dieses Halbtraumes halbwillkürliche Fortsetzung: Ich bin in
Venedig in einem Hotel und mir zugleich der Nachbarschaft
dieses Buchenwaldes, dieser fröhlichen Trümmerstätte bewußt.
Da rauscht es wie Wipfel und Wellen zugleich und endlich
bringen tausende murmelnde Wellen in der Morgensonne aus
sich das unzerstörte steinerne schimmernde Venedig hervor
und ich weiß : sie haben es wieder zusammengefügt.)

11. IX., Lueg. — Das Folgende ging mir heute früh durch den
Kopf und ist vielleicht dem Prolog zum »Abenteurer« = ( »Er-
innerung schöner Tage«) einzufügen:
Es ist doch unberechenbar viel, einer südlischeren sinnlicheren
Welt anzugehören als die eigentlichen Deutschen. Emen Kuß,
der einen weiblichen Leib von obenher wie eine Rute biegt, ja
fast umwirft, nicht als etwas tief Fremdes, fast Unheimliches
zu empfinden.

149
Rodaun, 24. IX. — Ich arbeite an dem Vortrag »Der Dichter
und diese Zeit«. In den »Briefen zur ästhetischen Erziehung
des Menschengeschlechtes« finde ich die Überschrift dazu »Ich :

möchte nicht gern in einem andern Jahrhundert leben und für


ein anderes gearbeitet haben. Man ist ebensogut Zeitbürger, als
man Staatsbürger ist.«

30. IX. — Den Empedokles oder eine emdere sizilianische Figur


aus jener Zeit furchtbarsten Wechsels (jäheste Schicksalsstürze
müßte ich zum Gegen-
der Tyrannen, der Städte, der Staaten)
stand eines Dramas machen, wenn mir je der immer gegen-
wärtige Gedanke der Vergänglichkeit mit besonders entsetz-
licher Gewalt ins Leben träte.

1. X. — Schema der »Rodauner Anfänge«:


das erste Gespräch : Lionardo oder über die Kunstsprache und
Sprache der Wissenschaft —
das zweite: Das »Jahr der Seele« oder Kunst und Leben (Ab-
grenzung unserer Epoche gegen die Romantiker) —
das dritte : Ottilie oder die Realisierung des Höchsten.
mit Rudolf Schröder, im Sommer 1906

L X. — Das Gehen von Kindern. Die Art, wie sie ein Zimmer
betreten. Es Hegt die Erwartung unbegrenzter Möglichkeiten
darin.

Die Wege der Menschen. — Ein Gefajigener, Festgehaltener,


der in schlaflosen Nächten überdächte, wie alle Menschen un-
aufhörlich in Bewegung sind, auf eine Stadt zu, in der Stadt
auf ein Haus, auf ein Gesicht zu, wieder hinweg, euien neuen
Weg und so fort ohne Ende. Die Wege der Menschen müßten
im Kopf dieses Schlaflosen seltsame Figuren bilden, aus ver-
schlungenen verkreuzten in sich zurückkehrenden Linien.

150
»The whole man miist move at once« — schön und wahr. Gäbe
es nicht für bedeutende produktive Menschen noch eine ge-
heimnisvollere gleichwahre Möglichkeit: Getrennt marschie-
ren und vereinigt schlagen?

Hauptfehler der massenhaft getriebenen mittelmäßigen Kritik


unserer Epoche, daß ihr das eigentliche Kritische fehlt, näm-
lich die Fähigkeit, die Elemente, aus denen die Kunstwerke zu-
sammengesetzt sind, sondernd zu erkennen. Das Bedürfnis der
Zeit greift nach vielem und amalgamiert sich aus jedem nur be-
sondere Stoffe. Der Kritiker, der hier sich äußert, ohne zu zer-
legen, geht immer fehl.

1. X. 06. — Leben. — Die wahre Lebenskunst lernt man erst in

reiferem Alter noch nicht einmal ausüben, sondern nur ahnen.


Das Heben der Lebensinhalte aus der dumpfen Materie in die
Sphäre der höheren reineren Bewußtheit. Dies kann sich auf
jeden unscheinbarsten Moment des Lebens beziehen. Man kann
jeden von ihnen gleichsam in seinem anderen Zustand, seinem
eigentlichen Weltzusammenhange wie einen Rubin aufglühen
sehen. Wie Ottilie in den »Wahlverwandtschaften« ihren Edu-
ard vor sich sieht: in einem mäßig erhellten Räume bildhaft
und doch lebendig sich bewegen, so müßte man sich selbst und
seine Umgebenden erblicken können und die Gegenwart zu
diesem abgeschiedenen mäßig erhellten, ohne Schmuck unsäg-
lich schönen Raum erheben. Wie dies mit dem sittlichen Han-

deln verknüpft ist, — diesen Weg zu finden, ihn immer wieder


zu wandeln, darin liegt die eigentliche Kunst des Lebens. Auch
die entferntesten Schicksale, die fremdesten Lebensäußerun-
gen müßte man in diesem Medium erblicken können, wodurch
sie sich auf ein zusammengefaßtes und völlig beruhigtes Ich
bezögen. Denn nur die in der Liebe gesammelte Seele bringt
einen solchen verklärten Raum hervor.

151
:

8. X. — (Den »Phantasus« zu lesen angefangen: der »Blonde


Eckbert«.) Das Grausige tritt mit Tieck zum ersten Male als
bewußtes Kunstelement auf. Nachzudenken über das chemi-
sche Verhältnis, in welchem die vollkommene Sinnlichkeit zum
Grausigen steht. Mir ahnt, daß sie es auflöst. Dies klarmachen.
Nachlesen Tieck, E. Th. A. Hoffmann, das Buch der Huch über
Ausbreitung und Verfall der Romantik.
Der Lebenspunkt der Geschichte vom blonden Eckbert ist sein
Ausruf: In welcher entsetzlichen Einsamkeit habe ich mein
Leben verbracht.

10. X. — Sonderbarer endlos wiederholter Vorwurf meinen er-


sten Produkten gegenüber, daß sie aus einer egoistischen, ästhe-
tischen Einsamkeit, einer unmenschhchen, der Sympathie baren
Natur hervorgehen. In »Gestern« und »Tor und Tod« handelt
es sich eben gerade um das Finden eines höheren Verhältnisses
zu den Menschen. Man muß diese Gedichte so oberflächlich als

möghch auffassen, um das nicht herauszufühlen. Es wäre auch


sonderbar, wenn es mir an Verhältnis zu den Menschen fehlen
solke. Das Gefährliche und Verwirrende meiner Jugend war,
daß zu viele solche Verhältnisse da waren, zu subtile, und ihre
Objekte zum Teil Menschen, die irrationale Brüche waren.
Meine Phantasie und mein Gemüt waren in Gefahr, sich an den
fremden Existenzen, mit denen sie sich beladen hatten, zu über-
heben, wie Fohlen, wenn sie zu früh vor den Pflug gespannt
werden.
Auch wüßte ich nicht, woher mir das menschenfeindliche Ele-
ment gekommen sein sollte. Meine beiden Großväter, der No-
tar und der Seidenfabrikant, waren, jeder nach seiner Art, recht-

liche, gesellige, in allen menschlichen Verhältnissen heimische


Männer. Meine Großmütter waren zwei merkwürdige Frauen
die italienische die Urbanität selber, und die deutsche eine Frau,
in deren Kopf die Privatverhältnisse von Tausenden von Men-

152
sehen Platz hatten, die sich mindestens mit der Phantasie in zahl-
lose Existenzen mischte. Meine Mutter konnte an Leuten, die
sie nur dem Namen nach und aus Erzählungen kannte, einen
unglaublichen Anteil nehmen: fremde Schicksale kormtcn bei
ihrer geheimnisvoll erregbaren Natur die scliönste Lebhaftig-
keit in ihr entfesseln und die schwersten Verdüsterungen ver-
ursachen. Wie mein Vater aus seinem Amt die Verhältnisse von
zahllosen Menschen, Gutsherren, Finanzleuten, Agenten, Geld-
juden, Beamten, Politikern in sich herumträgt und soviel Wider-
sprechendes ebenso scharf auffaßt als mit Humor sich gefallen

läßt, ist unvergleichlich,und dazu ist noch seine liebste Lektüre


das Lesen von Memoiren, Selbstbiographien, historischen Cha-
rakteristiken, von denen er jährlich seine zweihundert Bände
hinter sich bringt, so daß er die Porträts von soviel Menschen
vielleicht in sich trägt wie Browning oder Dickens, —wo soll

da der Einsame, Weltscheue herkommen?

10. X. 06
Ich will auf diesen Blättern aufschreiben die Menschen und
ihre Schicksale, die Vollkommenheiten, die Erfüllungen, die
Ausgleichungen. Menschen, die vom hohen Dichter als voll-

kommene lebendige Wesen geschaffen sind, sollen mir gleich


sein mit den Menschen, die mir begegnet sind oder von denen
ich durch andere Menschen oder aus der Zeitung oder aus Bü-
chern erfahre.
Eduard (der Baron aus den »Wahlverwandtschaften«) erfüllt

sich, da er der Geliebten, vom Schicksal ihm Verflochtenen,


nachsterben will: zunächst scheint es ihm nicht gegeben zu
sein, und er sagt sich, daß auch zu einem solchen Tode, wie
Ottiliens, Genialität gehöre, — aber es ist ihm doch gegeben und

und wird mit seiner Vorausgegangenen vereinigt.


er stirbt
Musiker und Freund Goethes, hatte die Vollkom-
Zelter, der

menheit der Empfindung. Wenn er eine Sonate von Haydn

153
« :

spielte, schienen ihm die Finger länger und empfindungsstärker


zu werden, sein Auge wurde größer, sein Mund ging anders
auf und zu. Von ihm wird noch vieles aufzuschreiben sein, auch
die Anekdote von Haydn, die er Goethe erzählt und wobei
diesem die Tränen über die Wangen laufen, — sobald ich sie
finde.

Hier ist sie, sie steht beim Kanzler Müller 25. XI. 1823 : »Einst
befragt, warum seine Messen so fröhlich und fast lustig? ant-

wortete Haydn: weil, wenn ich den lieben Gott denke, ich im-
mer so unbeschreiblich froh werde. — Als ich dies Goethen er-

zählte, liefen ihm die hellen Tränen die Wangen hinab.«


Tiecks Vollkommenheit war sein Lesen eigener und fremder
Werke. Er las in Weimar den »Clavigo« so, daß niemand wagte
aufzustehen und die Kerzen zu putzen.
Ich finde dies Wort in den »Geheimnissen« von Goethe
»Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,
Befreit der Mensch sich, der sich über^^dndet.
[In späterer Schrift] Auf diesem Gedanken ist eigentlich
die »Frau ohne Schatten« aufgebaut.
Aber wiederum nur Auserwählten gegeben, den Punkt
dies ist

zu betreten, wo die Prüfung über sie kommt. Es sind Stufen


und Grade der Einweihung auch hierin. Aber der einfache
Mensch, der eines ganzen Herzens ist, kann im innersten Kreise
der Geweihten stehen und ahnt es nicht.

1906. — Blumen. — Im Mai hatten wir im Garten viel Tulpen.


Wir stellten zusammen in eine große Vase weißen gefüllten
Flieder, dazwischen Vergißmeinnicht, blaßrosa Tulpen und
weiße Narzissen. — Im Juni nach der Taufe hatten wir schöne
Vasen mit spanischer Iris, bräunlich und tiefblau, mit Akelei
und gestreiftem Bmsengras. — Im Oktober die letzten starken
Farben: große Dahhen, eine samtartig rotbraun, fast schwarz,
eine tiefviolett, dazu hellere braunrot. Aus diesen steigen her-

154
vor Gladiolen rot ins Blänlichc, eine fast blau, eine stark ge-
schwungene, sich über den Rand lehnend, rosa, fast weiß. Zwi-
schen ihnen sind zarte rispige Montbretien, feuerfarb. Links
hängt aus dem Gefäß (das selbst die Farben herbstlicher Blät-
ter hat und braune Schnecken als Henkel) ein tiefgrüner Efeu-
zweig, rechts eine gelbrote Ranke von wildem Wein, im Her-
zen des Buketts ist das einzige Weiß, eine üppige Traube von
Tuberosen. — Wie weit ist dieses üppige, gegens Elfenbein

gehende Weiß von dem unberührten Weiß jener Narzissen


und des Flieders im Mai. Und damals wäre es keinem einge-
fallen, ein Grün als Farbe zu den Blumen zu fügen. Nur über-
wunden, blaß streifig war esim Innern mancher weißen Tul-
penblüten; jetzt ist das dunkle leidenschaftliche Grün dieses
Efeuzweiges fast die ergreifendste Farbe unter allen.
Große Callablüten mit der großen gelblichroten Blütendolde,
Imantophyllum, Flieder weiß und lila, und blaßrosa gefüllte
Tulpen; zunächst dem Imantophyllum hellgelbe Tulpen.

12. X. — Natur und Menschen. — Das Nächste entgeht uns.

Wie wenig weiß ich vom Leben des Tiers Wo sind überall die !

alten Bäume hin? die Buchen, die Tannen, die Fichten, alles
ist sechzig] ährig, höchstens achtzigjährig. Wo sind die alten
Bäume? Alles zu Brennholz und Bauholz verbraucht für die
einzelnen Höfe, die spärlichen Dörfer, die paar Städte? Es muß
doch so sein.

Wie wir aus der Natur nehmen wie Robinson aus dem ange-
:

schwemmten Wrack nahm, was er brauchen konnte. Aus der


Erde das Metall und machen ein Hörn daraus, aus dem Stein
den Kristall und brauchen seine harte Gewalt für die Schwä-
che unserer Augen, von einem Baum die Rinde gegens Fieber.
Ein Künstler sucht sich den rosigen Ton für seine kleinen Fi-
guren aus dem Flußbett. Wie einfach wars früher, — jetzt be-

155
treiben wirs ungeheuerlich, impfen die Todeskranldieiten auf
Tiere zu Tausenden; das Hermelin, der Zobel, der Reiher sind
fast ausgemordet, das Indische Meer hat fast keine Perlen mehr.

20. Nov. — Über die wahre Kunst des Lesens: ihre wcihre
Grundlage wäre Charakterologie. Sie setzt Reife voraus.

23. XI. — Ein Aufsatz: Vorschlag, den Namen Romantik außer


Gebrauch zu setzen. (Motivierung: Mit dem Worte Romantik
haben die Dichter jener Epoche sich selbst eine Atmosphäre
suggeriert, worin aber das worauf es einzig ankommt, das Ein-
zelne, Nie-wiederkehrende, das Besonderste verschleiert wird.
Das Vage, Unzulängliche, in allen Gleiche, das Unbestimmte,
das worüber sich viele verständigen konnten, drängt sich vor
und verschleiert die Idee jedes Einzelnen.)

Jänner 1907. — Über das öffentliche Sprechen. Schwierigkeiten


insbesondere für den Deutschen.

17. L 07. — Ich versuche hier aufzuzeichnen die Beobachtun-


gen, die dahin führen sollen, zu erkennen, wie dem mensch-
lichen Tun und Leiden immer ein Eigentliches zugrunde
liegt, das selten erkannt wird; z.B. in meinem Vortrag »Der
Dichter und diese Zeit« versuche ich das auszuführen wie die :

Dichter um ihrer selbst willen, um einer geheimen seelischen


Lust willen dichten und nicht um dessen willen, was sie her-
vorbringen wollen, noch um des Ranges willen, den sie da-
durch einnehmen können.

Die Ruth Saint-Denis ist die sensibelste Person, die ich kenne,

und dies unter der Kontrolle des klarsten Verstandes. Der An-
blick von Prag war ihr unerträglich durch den finsteren katho-
lischen Geist, der daraus spricht, und sie fuhr in vierzehn Tagen

156
nur einmal für eine Stunde aus. — Gestern, im Park von Scliön-
brunn, wollte sie auf die öden, gefän<:jinshaften groli(!ii Vor-
stadthäuser, die man in der Perne sieht, keinen Augenblick
hinsehen. — Ihre vollständige Ablehnung Swinburnes, weil in
seiner Poesie, wie sie sagt, der Fluß des Daseins unterbrochen
ist, den zu fühlen ihre ganze Seligkeit ist. — Ihre Erklärung,
warum sie trotzdem die erstarrten Dinge liebt: Edelsteine,

Prunkgewänder, ist mir entfallen.

29. 1. 07.— Über das Schöpferische : »Wo immer Gedanken das


Fliehende zum Stehen bringen, das Ungestaltete gestalten, da
ist Ideenbildung.« (Chamberlain über Kant.)
Ein platonischer Terminus: yIvsji; si; ohaiav : Erzeugung zum
Sem.

Februar 07. — Einsamkeit. — Indem ich an Rudolf Borchardt


schreiben wdll, setze ich mir vor, ihm von der Einsamkeit zu
sprechen, von welcher ich mich und meine Arbeiten umgeben
fühle. Dies könnte klingen wie Heuchelei, aber es wird mir zu-
gleich klar: daß es wirklich verschiedene Einsamkeiten gibt,
ja daß einem jedem Freund gegenüber eine neue Einsamkeit
innewird, deren schwarze Gewässer eben von dem Licht dieses
neuen Leuchtturmes bestrichen werden.

Februar 1 907. — Individualität. —Vorgestern zum Tee bei Marie


Taxis mit Franz Liechtenstein, dem früheren Botschafter in
Petersburg. Die Fürstin erzälilte (sehr gut) von dem Buch eines
amerikanischen Arztes, »Dissociations of a personality«, das
ich mir gleich kommen lassen will.

Es scheint der wahre Inhalt ganzer Schicksale, ihre Individua-


lität gewissermaßen krampfhaft festzuhalten. So verstehe ich
Kriemhilds Leben nach Siegfrieds Tod (bis an ihren Tod nach

157
:

vollzogener Rache) : Hund ist ihm nachgestorben,


sie sagt, sein

— ich nicht; also schändet der Hund mein Leben, wofern ich es
nicht seinem Tod identisch mache. So wird sie gezwungen, ilire

Individualität mit Zähnen und Krallen festzuhalten.

Jede Trennung ist schon Allegorie. Auch das Gegeneinander-


stellen von Oedipus und Kreon ist Allegorie. Der Tod ist mit-
ten im Leben.

März 07. — Über einer sexualpsychologischen Abhandlung finde


ich eine Stelle aus den Upanischads, die den ganzen Inhalt von
meinem »Dominik Hein tls letzter Tag« ausdrückt »Diese Welt :

war am Anfcing der Atman einzig und allein. Er begehrte: I


>Möge ich ein Weib haben! möge ich mich fortpflanzen! möge
ich Reichtum haben! möge ich ein Werk vollbrmgen!< soweit
nämHch reicht das Begehren.«

März 07. — Lese jetzt (aufmerksam gemacht durch Harry Keß-


ler) das Leben der Julie de l'Espinasse und ihre Briefe. Merk-
würdige Situation ihrer ersten Jugend. Sie war die illegitime,
aber im Haus aufgezogene Tochter einer Gräfin d'Albon. Der
Vater, Graf de Vichy, heiratete später die Tochter der Gräfin
d'Albon, also Juliens Schwester. Im Hause dieser Schwester
und des Schwagers, der ihr Vater war, lebte sie dann mehrere
Jalire. Es waren diese Schwester und vor allen dieser Schwa-
ger, welche sich aus Erbteilungs gründen ihrer Legitimierung
aufs heftigste widersetzten und sie verhindert hatten.

Selbstkritische Dialoge. Gespräch über den »Dominic Heintl«


Der Motiven] äger durchblickt die Verwendung von »Jeder-
mann« fürs Szenarium, gelegentlich »Volpone«, verwebt mit
dem Motiv »Dr. Jekyll and Mr. Hyde«. — Der Anerkennende
findet, das alles sei organisiert, es sei ihm jenes Kriterium des

158
:

mysteriösen »Lebens« zuzusprechen.

Jänner 08. — Verscliwendung. — Inhaltsangabe eines Dramas


von Granvillc Barker in der »Schaubühne«. Ein Mensch, der
erkennt, daß er seine Kräfte vergeudet hat an unsichere Unter- :

nehmungen, an und Dummheit der Menschen


die Feigheit
etc. zum Schluß rechnet er darauf, seine Geliebte, die von ihm
;

schwanger ist, wird ihm ein Kind gebären, — das scheint ihm
die Rettung, der Ausweg. Da läßt sie sich von einem zwei-
felhaften Arzt das Kind abtreiben. Auch dieser Samen ver-
geudet.
Ich gestalte mir das Szenarium eines ähnlichen Stückes (es ist

eine Art Gegenstück zu »D. Heintl«). — Im I. Aufzug eine Art


Gastmahl des Timon von Athen. Man erkennt, daß er zuviel
von seiner Kraft hergibt. Der Egoismus und die Mattherzig-
keit sind um ihn gruppiert. — Die Geliebte : eine völlig unbe-
wußte Komödiantin, sie hat ein Engelsgesicht, aber den Cha-
rakter Kreons. Sie begeht den Mord an dem Kind mit einer
finsteren Großartigkeit. Sie glaubt des Geliebten wahrsteslnter-
esse zu vertreten.

20. I. 08. — Semiramis. — Die Grundidee (ich sehe sie klarer

nach einem Gespräch gestern abend mit Beer-Hofmann) : Sie

ist darauf gestellt, daß sie von dem, der sie umarmt, verlangen
muß, daß er mehr als ein Mensch ist, und ihm nie verzeihen
kann, daß er nur ein Mensch ist. Es hätte sie ein Gott, ein All-
umfasser, umarmen müssen (Motiv der Alkmene, doch scheint
mir Kleist es nicht klar gefaßt zu haben). — Szene nachts z%vi-

schen ihr und der Erscheinung des Ninus, ihres ersten Mannes
der Tote erscheint ihr gegenüber, der Unersättlichen, Gieri-
gen, als der Besitzende.

Jänner 1908. — In meinem Stück »Der Verschwender« spielt

159
der zweideutige Arzt eine große Rolle. Es ist ein Arzt, der es
zu nichts gebracht hat, weil er alles mit zweideutigem Blick
ansieht. Man könnte sagen, er haßt die Menschen. Er ist es,

der die verbotene Operation vornimmt. Er telefoniert aus dem


Krankenzimmer der Sterbenden an den Verschwender. Der
Verschwender ist hier nahe daran, sich den Tod geben zu wol-
len. Er erinnert sich eines Arztes, der wohl imstande wäre, ihm

Gift zu verschaffen. Er erinnert sich des Gesichtes. Indem tritt

dieser Arzt herein: es ist haben sich einmal am


derselbe, sie
Sterbebett eines Selbstmörders gesehen. - Der Arzt (eingeste-
hend, daß die Geliebte an der Operation gestorben ist) : Der
Tod ist ein ebensolches Mysterum, wie die Liebe. Man kann
sich in die Süßigkeit dieses ganz persönlichen Mysteriums ver-
tiefen. Wenn schon Ästhet, dann ist dies doch der einzige
verlockende Gegenstand.

Zu den Gegenständen, die in den »Rodauner Anfängen« be-


handelt werden sollen Gefährlichkeit der Schlagworte wissen-
:

schaftlicher Art. Das Wort vom Kampf ums Dasein kann einem
jungen Menschen, m dessen Seele es fällt, den Blick, mit dem
er das Tierreich gewahren soll, von innen heraus beirren und
vergiften. Wie anders wirken geheime Gesetze, jenes große
Gesetz durchkreuzend, auf die Seele em, wie sie indem wun-
dervollen Gespräch sich offenbaren, das Goethe mit Eckermann
über die Vögel führt und worin Eckermann seine Beobachtun-
gen entwickelt über das Brüten untergeschobener Jungen, ja

das Füttern von fremden Jungen durch solche Ältere, die sie
nicht gebrütet haben. — (Dies, da es sich um die Gefährlich-
keit von Schlagworten handelt, anschließend an den Dialog
über Sentenzen, Maximen etc.)

St. Moritz, August 1908. - Gladys D. Sie ist jetzt etwa 25. Ist

und bleibt immer in gewissem Sinn die glänzendste Person, die

160
ich je gesehen habe. Ihre Augen wie blaues Feuer. Ilire Kühn-
heit, gelegenthch auch Frechheit im Sprechen, ist womöglich
noch gewachsen. Sie hat immer unter fünfund/Avanzig Men-
schen die alleinige Führung des Gesprächs schmeichelt, insul-
;

tiert, durchdringt. Die Raschheit und Elastizität ihres Geistes


ist erstaunlich. Sie hat manchmal etwas von einem lasziven

jungen Gott in Mädchenkleidern. Über H. N. sagte sie (sehr


richtig) : Das ist eine Frau, die in bewundernswerter Weise ihre
Individualität wahrt, ohne den Mund aufzumachen. — Eine
ihrer Repliken, als ihre Mutter sie mitten in einer schon ange-
fangenen Geschichte unterbricht: »Maman, on etouffe bien un
nouveau-ne, mais on n'etouffe pas un adolescent« (— eigentlich
shakespearisch).

Addison über den Abstand zwischen seinen Fähigkeiten, wenn


er sie redend auszugeben gezwungen ist oder wenn er sie
schreibend ausgibt: »Ich habe nicht mehr als 9 pence in der
Tasche, aber ich vermag sehr wohl einen Scheck auf 1000
Pfund auszustehen.«

Anekdote : Einer steigt einen Berg hinauf, freut sich auf die
Aussicht vom Gipfel. Bei der letzten Wendung des Weges sieht

er, daß die kleine Felsklippe, die den Gipfel bildet, ganz von
Menschen besetzt ist: alte und junge Männer, Frauen, Halb-
erwachsene. Er sieht die ganze Gesellschaft mit lebhaften Ge-
bärden sich gegenseitig das Panorama zeigen, die Namen der
Berge nennen und im Genuß der Gegend schwelgen. Vor Ekel
vor dem trivialen Geschwätz, das er wird hören müssen, ist er
nahe daran, umzukehren. Immerhin klettert er hinauf, mischt
sich unter sie: es bleibt bei der gleichen Lebhaftigkeit alles

mäuschenstill: es sind Taubstumme.

April 1909. — Alte Redensart »Fran^ais plus que homme au

161
: . ;

venir, moins que femme a la retraite« (zitiert in Houssaye


»Waterloo«). — Auf dem Plateau des Mont St- Jean (Waterloo)
benutzt ein französischer Infanterist eine Zeitlang den Körper
eines schwerverwundeten englischen Offiziers als Deckung,
hinter der liegend er schießt, bis er seine letzte Patrone ver-
schossen hat. Zwischendurch plaudert er lebhaft mit dem Ver-
wundeten. Schließlich sagt er: »Adieu, mon ami, vous pouvez
etre content: nous filons.«

»Si jeunesse savait, — si vieillesse pouvait!«


(Memoiren des poln. Obersten Chlapowski)

Juni 1909. — Träumte eine Reihe von Aphorismen, die ich


gedruckt vor mir sah. Das letzte, unterste in der Reihe, zuletzt
abgelesene konnte ich mir im Aufwachen gerade noch merken
es hieß
Manieren. Wer im Verkehr mit Menschen die Manieren ein-
hält, lebt von seinen Zinsen, wer sich über sie hinwegsetzt,
greift sein Kapital an.

(erster Einfall oder beiläufig so 5. VII. 1912)


26. II. 1911 Die Frau ohne Schatten
phantast. Oper.
Smeraldine — Arlekin.
Sie will schön bleiben. Er täppisch und gut. Sie gibt ihr Kind
her, einer als Fischhändlerin verkleideten bösen Fee. (Der
Schatten als Zugabe.) Die Kaiserin, einer Fee Tochter, hat ihr
Kind verloren. Des Kindes Seele für sie in Vögeln, Blumen.
Man verschafft ihr das fremde Kind. Schließlich gibt sie es der
rechten Mutter zurück. — Wer sich überwindet . .

Eine Szene, wo die beiden Frauen einander gegenüberstehen,


durch ein Wasser getrennt.
Das Fackelschiff der Kaiserin-Fee. — Salomons Urteil.

162
Mai 191 1. — Napoleon auf dein Krankenbett: »Zu denken, daß
es mich jetzt mehr Anspannung meiner Willenskraft kostet,
meine Augenlider aufzubringen, als damals, eine Schlacht zu
schlagen.«

1 7. VI. 11. — Die Erinnerung an die Düse fixiert sich mehr und
mehr: es ist die an die tragische Tänzerin. Der Blick auf die
Türklinke, die Lövborgs Hand berührt hat, als er für immer
fortging; das Abwerfen des vom Gesicht als Frau
Schleiers
vom Meer; in der »Kameliendame« bei dem »Lo giuro« das
Fuiden der Mitte.

17. VI. — Viel und lebhaft an Ingres gedacht. Insbesondere an


die Odalisken, die liegende und die sitzende, den Homer, an
Thetis bei Zeus, an das Bain turcund die Angelique. Die Süßig-
keit seiner Linie, die bezaubernde Sinnlichkeit dieses Malers,
der für akademisch und kalt gilt.

27. VI. — Ein Mann starb jetzt, der vor sechs Jahren vom Blitz

getroffen wairde, seit damals war er herzkrank, litt an Angst-


gefühlen bei jedem Gewitter, jetzt starb er, während ein Ge-
witter heraufzog.

Ein Jüngling wird Kartäuser, weil seinen Freund, mit dem er


Hand m Hand unter einem großen Baum gestanden hat, der
Blitz erschlägt. (»Anton Reiser«)

Juni 1911. — Ein Chinese. P. Z. erzählte, ihm habe ein deut-


scher Offizier, der die » Strafexpedition« durch China, nach
dem Boxeraufstand, mitmachte, das Folgende erzählt: Der Of-
fizier sieht eine Reihe von Männern, zum Tod verurteilt
die
sind, auf einem Feld aufgestellt. Der Henker mit dem Schwert
verrichtet seine Arbeit an einem nach dem andern. Keinen

165
.

brauchen die Gehilfen des Henkers zu binden oder auch nur zu


hahen wie; ihn kommt, stellt sich jeder mit gespreizten
es ein

Beinen, die Hände oberm Knie aufgestemmt, und neigt den


Nacken nach vorne, ihn dem Schwert anbietend. Einer der
letzten in der Reihe, an den es noch lange nicht kommt, liest
mit tiefer Aufmerksamkeit in einem Buch. Der Offizier reitet

zu ihm, fragt ihn: »Was liest du?« Der Mann sieht auf, fragt
zurück: »Warum du mich?« Der Offizier fragt: »Wie
störst

kannst du Der Mann sagt: »Ich weiß, jede ge-


jetzt lesen?«

lesene Zeile ist Gewinn.« Der Offizier reitet zu dem General,


der die Exekution anbefohlen hat, und bittet so Icinge, bis er
den Mann freibekommt, reitet zurück mit dem schriftlichen
Freilassungsbefehl, weist ihn dem, der die Exekution kom-
mandiert, vor und darf hin und den Mann aus der Reihe aus-
treten lassen. Sagt ihm: »Du bist begnadigt, kannst gehen.«
Der Mann klappt das Buch zu, sieht ihm scharf in die Augen
und sagt: »Du hast recht getan. Deine Seele wird von dieser
Stunde großen Gewinn haben« — nickt ihm zu und geht quer-
feldein.

»An appreciation« als Kunstwort für eine Form des Essays, —


eine »Anerkennung«, schöner Terminus, ins Deutsche ohne
Preziosität nicht zu übersetzen.

26. VII. 1911. — Der Schwermütige — der Fröhliche (ähnlich


jenen beiden schönen Gedichten von Milton). Der Schwermü-
tige bittet, es möge ihm jenes »millenarische« Gefühl verblei-
ben, das »Andere«, Dunkle immer nahe, immer Alles in Einem
zu fühlen, er antizipiert die Todesstunde: an tiefen Wassern,
beim Besuch von Unglücklichen. — Der Fröhliche wünscht, es
möge sich ihm immer Eines vors Andere stellen. Eines sich
durchs Andere abdämpfen. Eines sich dem Anderen substitu-
ieren. — Wie man nichts halten kann . ,

164
:

Homer
Die Figur des Odysseus. Hier ist aus der Analyse dieser Figur
der Begriff des Heros abzuleiten, der sich von der viel greif-
bareren, Dürerischen Kontur des germanischen Helden sehr
unterscheidet. Er ist keineswegs ein shakespearischer Charak-
ter ; er ist weder durch sozialen Rang noch durch das Ambiente
seiner Person, noch durch das Alter eines reifen Mannes irgend
bedingt. Er taugt für die Arbeit eines Ruderknechtes und Jä-
gers ebenso wie in die Situation eines gefangenen Sklaven,
eines Liebhabers, eines bescheidenen Gastes, eines Händlers,
eines Lügners... (Ankunft in Ithaka: Szene mit der als Hirt
verkleideten Athene) — Was ihm dennoch den Schwerpunkt
gibt, ihn zusammenhält, ist keineswegs Würde im mittelalter-
lichen Sinn, sondern ein viel Dämonischeres, eine Materie den
Göttern verwandt, — so sind die Korai aus dem Perserschutt der
Akropolis den Göttinnen wesensverwandt.
Die Welt die Erwähnung Athens in Gesang VII (Athene
: fliegt

nach der Erechtheusstadt) — Struktur des Gedichtes : das Auf-


hören knapp und jäh, indes durch die Weissagung des Teiresias
in XI ein wunderbarer Ausblick auf das milde heroische Le-
bensende. — Die sieben Jahre bei der Kalypso als eine geheim-
nisvoll hieratisch behandelte Leere, wie gewisse Flächen der
archaischen Statuen. — Die Totenwelt : das höchst Un-Danteske.

8. Juli 1912. — Auf der Rückfcdirt von Oslawan in der Zeitung


gelesen ein Feldwebel-Rechnungsführer eines Infanterieregi-
:

mentes macht mit seiner Geliebten einen mehrtägigen Aus-


flug. Eines Abends sind sie ohne Geld, streifen die Nacht im
Wald herum, strömendem Regen, angetrunken
bei : bei Tages-
grauen beschließen sie, zusammen zu sterben. Er gibt einen
Schuß auf sie ab, sieht sie fallen, hängt sich an seinem Hosen-
träger auf; sie ist nur ver\vundet, der Schmerz macht sie nüch-
tern, sie sprmgt hin, schneidet ihn ab. Er, dem es mit dem

165
Sterben Ernst ist, wird wütend, schießt noch zweimal auf sie,

bearbeitet sie mitdem Säbel, daß sie sich blutend vor ihm ins
Dickicht rettet. Nun knüpft er den Hosenträger wieder zusam-
men und hängt sich abermals auf. Sie hat sich indessen bis zu
einem Bauernhaus geschleppt, bringt Leute auf die Beine, führt
sie zu jener Stelle im Wald zurück, findet den Alann schon blau,
aber noch lebend, schneidet ihn ^\'ieder ab und bringt ihn mit
Hilfe der Leute zum Leben zurück. Was für Menschen!

Aussee, den 13. Juli 1912. — Im Wald, unterm Lesen von Bet-
tinens Briefen: Silvia. Sie kennt das Schlechte an den Men-
schen recht wohl, läßt es aber so hingehen und gibt sich mit den
Leuten ab. Dies Verhalten von ihr, wie Rudolf es gewahr wird,
macht ihn irre an ihr.

Aussee, 25. VIL 12. — Der arme blinde Infanteriehauptmann,


der sich nicht erschießt trotz seiner quälenden Leiden, um der
Familie seine Besoldung zu erhalten, — und O. H.-H., der,
wenn er sich im Garten aufdecken läßt und mit seiner Frau
Forellen ißt, einen Schirm aus Blumen anrichtet, damit ihn
seine Taglöhner nicht essen sehen.

Die Anekdote von Friedrich Willielm IV. (bei Varnhagen,


Tagebücher III), wie der König das Gesuch eines geachteten
jüdischen Landarztes zu Gesicht bekommt, der bittet, seinen
Namen so weiterschreiben zu dürfen, wie er ihn zu schreiben
gewohnt ist (wogegen die Kommission ihm eine ältere Schreib-

art, deutlicher jüdisch, aufzwingen wüll). Der König, unter-


richtet über die Verdienste des Mannes, in einer großmütigen
Wallung, will sogleich dem Gesuch die Genehmigung beifügen,
seine Feder ist unbrauchbar, er wirft sie weg, verlangt eine an-
dere, die ihm gebracht wird. Die neue Feder paßt ihm wieder-
um nicht. Indessen tritt ein Rat zum Vortrag ein, ein Adjutant

166
;

meldet ihm etwas, das ihn verdrießt, inzwischen hat man die
dritte Feder herbeigebracht. »Ei was!« ruft der König, inzwi-
schen zornig geworden, »der verdammte Jude soll sich schrei-

ben, wie ihn's die Vorschrift heißt!« und wirft das Gesuch
zu den übrigen. — Ähnlich die Mutter Anton Reisers, die den
Knaben, als der Vater ihn ungerecht schlägt, diesem mit Gewalt
unter zornigem Weinen und Streiten entreißen will, aber weil
dies nicht gelingt, dann gleichfalls auf das Kind losschlägt.

München, 6. X. 1912. — Die Bewegung eines kleinen Kindes,


das gegen den Arm seines Gespielen schlägt, weil dieser Arm
ihn geschlagen, — und die Schläge zwischen Asien und Europa,
Xerxes und Alexander, Rom und die Parther, die Kreuzzüge
und die Eroberung von Byzanz durch die Türken, — es ist ein
Gleiches darin.

München, Oktober 1912. — Zeitungsnotiz aus Rußland. Der


Postmeister eines Dorfes kommt zu einer armen Frau, die mit
ihren drei kleinen Kindern abseits des Dorfes wohnt. »Hier ist

die Quittung über 500 Rubel, die dein Mann dir aus Amerika
schickt. Du wirst sie unterschreiben.« Sie ahnt Böses, will zu-
erst das Geld sehen, sieht an seinem Blick, wie ers meint,
fürchtet sich, weint, gibt die Unterschrift. »Wegen deiner
Sanftmütigkeit«, sagt er jetzt, »habe ich zwar Mitleid mit dir,

aber sterben mußt du, denn du könntest mich verraten. Doch


werde ich dich eines schnellen unblutigen Todes sterben lassen
ich habe Messer und Strick zu mir gesteckt, das böse blutige
Messer soll dich nicht töten, sondern der feste, glatte Strick dir
schnell hinüberhelfen.« Er fesselt die Frau, knebelt ihr den
Mund, die Kinder sind stumm vor Angst, er befestigt den
Strick an einem Balken der Zimmerdecke, seift ihn ein. »Jetzt
probiere ich, ob die Schlinge schnell und glatt zuläuft, das tu
ich aus Mitleid mit dir.« Er steigt auf einen Stuhl und probiert

167
die Schlinge mit den Händen, beugt sich dabei weit vor, die
Hände sind in der Schlinge gefangen, der Stuhl kippt um, der
Strick hat sich unlösHch zusammengezogen, reißt ihm die Ar-
me nach oben, er hängt in ohnmächtiger Wut, wird besin-
nungslos, bleibt die ganze Nacht so, die gefesselte Frau drei
Schritte von ihm, — bis am nächsten Morgen Leute beide finden.

Memoiren des Schauspielers Christ. — Seine Frau sah öfters im


Traum Leute tot, die die gleiche Nacht wirklich starben in
genau der gleichen Stellung und Umgebung, als sie sie ge-
sehen hatte. So einen Musiker (in Petersburg), den sie tot auf
der Erde liegen sah, das Gesicht mit einem weißen Tuch um-
bunden, ein wenig Stroh unterm Kopf, in einem rot tapezier-
ten Zimmer.

1912. -Gedanke:
das allmähliche Eingeschränktwerden. Wunsch und Glaube,
die ganze Welt zu sehen, auf nichts zu verzichten, allmählich
nur die schon geliebten Landschaften wiederzusehen — bang,
als gelte es Lichter zu behüten, immer wieder anzuzünden. So
mit den Menschen die Freunde erhalten
: : mit den Freunden
das geheimnisvolle Wesen, das von je zwei Menschen ausgeht,
am Leben erhalten.

1. II. 15. — Fürstin Y. Sah sie einmal in einer Soiree bei T.,
wollte sie immer besuchen, versäumte es immer; sie war viel

krank, nun ist sie völlig verändert, ist böse geworden, schlägt
ihre Leute, will die Kinder nicht sehen. Sie liebt, seit Jahren,
ihren Arzt, einen gewöhnlichen Menschen, der mit einer X.
(Schwester der Fürstin S.) verheiratet ist, hielt diese Liebe ge-
heim, auch vor ihm. Ihr Aufleuchten, wenn von ihm die Rede
war, ihr Fragen, ob man ihn gesehen, — ob mit seiner Frau, —
ob er glückhch ausgesehen habe usf., verriet sie für emige

168
wenige Menschen. — Sie hatte den schönsten Gang, den zar-

testen, schwebendsten, scheuesten, — so woUte sie an dem Er-


lebnis, an dem Geständnis, an der Preisgabe vorbeigehen, das
hätte sie vielleicht können, in ein Kloster, — aber das Kloster
war kein Ziel für ihre Geistesart, sie saß da, trank Tee, brütete
vor sich hin, las in den Reden Buddhas, brütete immer über
diesem: wie man aji dem, was da steht, vorbeikommen könne,
— nun ist sie einer völlig gerechten Krankheit verfallen. Sie
war von einer leidenden Schönheit, eine Stirn wie die Düse,
eine weiße Strähne im dunklen Haar, ein unsagbar scheuer
Blick.

7. III. 13. — Ein Tauber, der nur hört, wenn ein Diener, den
er zu diesem Zweck mit sich führt, die große Trommel schlägt.

Komödie, — zwei miteinander verwandte Charaktere verknüp-


fend: den durch Zu viel- Wollen zerstreuten Frauenjäger und
eine ihm ähnliche Figur in der intellektuellen anstatt der sen-
suellen Sphäre.

Semmering, 1. IV. 1914. — In letzter Zeit fiel mir die Ähnlich-


keit zwischen Heinrich von Kleist und E. Poe auf, in ihren
Aufsätzen, dem Gebrauch, den sie von ihrem (dichterischen)
Scharfsinn in Hinblick auf das Leben machen.

Die Einschränkung der Möglichkeiten des Individuums durch


die engeren Grenzen des Volksgeistes ein Shakespeare aus den
:

Bulgaren, den Rumänen hervorgehend ist nicht denkbar, kaum


aus den Dänen oder Norwegern. Durch ein Individuum wie
Walt Whitman dokumentiert sich die nordamerikanische Na-
tion und ihre Größe.

Mir träumte diesen Winter, ich gehöre zwei verschiedenen

169
Zeitaltern an und muß imnier von einem zum andern fliegen,

über ein Meer oder einen Meeresarm. Hier sind in der Luft
Netze gespannt. Ich fliege, gerate in Gewölk, die Namen:
Antonius! Lepidus! blitzen mir entgegen (wie Feldgeschrei),
— da bin ich schon gegen das Netz geprallt, stürze tief hin-

unter, finde mich unten zusammen mit Meerestieren, Krabben,


Langusten, die gleich mir gefangen sind. Die Fischer greifen
nach uns.

Im Herbst in München träumte mir, ich trete aus meinem


Schlafzimmer auf den großen Korridor des Hauses, früher
Palast oder Amtsgebäude, jetzt improvisiertes Gefängnis der
Französischen Revolution, das ich bewohne, — und bin inir be-
wußt, daß dies der letzte Tag meines Lebens ist : ich bin zum
Tode verurteilt. Der Korridor ist groß, luftig, an jedem zwei-
ten Fenster steht ein Schreibtisch; die Schreiber sind mit der
Erledigung von Todesurteilen und dem, was damit zusammen-
hängt, eifrig beschäftigt. Ich fühle mich wohl, frei und ohne
Beklommenheit, und weiß, daß mich dieses Gefühl bis zum
letzten Augenblick nicht verlassen wird. Ein Beamter tritt auf
mich zu, fragt mich in halb geschäftsmäßigem Ton etwas, das
ich durch ein Nicken becintworte. Er verajilaßt, daß jemand von
einem Schreibtisch aufsteht, jemanden zu holen, damit mein
Wunsch erfüllt werde. Inzwischen gewinne ich — ohne daß ein
Spiegel da ist — irgendwie einen vollen Blick über meine Er-
scheinung, die mit meinem wirklichen Aussehen keine Über-
einstimmung hat: ich sehe mich über mittelgroß, ziemlich
beleibt, kraftvoll, in einem langen braunen Rock; den Mann,
der heute am frühen Nachmittag sterben wird, — sehe ihn ohne
Wehmut, mit völlig freiem Gemüt. Nun kommt der Schreiber
zurück: hinter ihm meine Frau. Es ist ein Wesen, dessen Ge-
sicht ich nie gesehen habe, doch im Traum mir so vertraut, wie
nur die Frau, mit der man zehn Jalire gelebt hat. Sie ist brü-

170
nett, mittelgroß, hat ein ovales, ernstes, aber durchaus nicht
leidendes Gesiebt, eine unvergeßliche Haltung der Schultern,
wunderschöne Hände. Der Schreiber und der andere Beamte
treten in ein Fenster, kehren uns absichtlich den Rücken. Ein
Blick genügt, um einander zu sagen, wie es steht. Sie tut einen
halben Schritt, wie um in meine Arme zu fallen, — blitzschnell
sagen wir uns beide und verstehen es ohne ein Wort, daß wir
uns jetzt nicht umarmen dürfen, ohne völlig und unrettbar
die Fassung zu verlieren ein Augenblick, in
; dem sich unsere
Blicke verschränken, enthält wirklich und wahrhaftig den In-
halt von Jahren, dann winkt sie dem Schreiber und geht ihm
voran den Korridor zurück. Ich fühle, daß ich ihr nicht nach-
sehen kann, drehe mich gegen das Fenster, durch das die grelle
Sonne hereinscheint.

Liebenswürdige Schwäche. — Die Fürstin Lichnowsky geb.


Thun (Memoiren der Gräfin Lulu Thürheim) pflegte zu ihren
Freundinnen zu sagen »Erzählt mir
: nichts, was ich nicht wei-
tersagen darf; wenn ich zu einem Kranken komme, den ich
unterhalten muß, so steh ich nicht dafür ein, daß ich diskret
sein kann.«

2. XI. 1914. — DieSchlacht in Westflajidern dauert an. InPolen


ist seit gestern eine neue Schlacht im Gange, in Galizien und
Bukowina halten die Unsern stand, in Serbien ist unser An-
griff im Fortschreiten. Gestern hat die Türkei im Schwarzen
Meer die Feindseligkeiten gegen Rußland begonnen.

Immermanns »Reise Journal« (worin ich abends blättere) : Vor


Hildesheim stand ein Kruzifix am Wege und rechts und links

befand sich ein Betschemel. Über dem einen war zu lesen »Der
Tugend«, über dem anderen »Der Verirrung«, — es war also
jedem nach Pflicht und Gewissen seine Stelle angezeigt.

171
Seit Kriegsbeginn (26. Juli) habe ich, soviel ich mich erinnern
kann, noch nicht geträumt.

In der geschichtlichen Darstellung ist nur das Detail eigentlich


interessant; die Geschichte der Schlacht von Waterloo auf
500 Seiten (Houssaye), die des 18. Brumaire auf doppelt so
vielen (Vandal).

10. III. 1915. - Physiognomie. - Cicero Tuscul. IV. 37. »Als


in einer Gesellschaft Zopyrus, welcher aus dem Äußeren die
Natur jedes Menschen zu erkennen behauptete, dem Sokrates
viele Fehler zuschrieb, vmrde er von den Anwesenden, welche
jene Fehler des Sokrates nicht kannten, verspottet, von Sokra-
tes selbst aber unterstützt, da dieser bekannte, daß er von Na-
tur zu denselben geneigt sei, diese Neigung aber überwunden
habe.« (zitiert bei Hamann »Magie und sokratische Denkwür-
digkeiten«)

Kritikund Kritiklosigkeit im Aufnehmen einer Nachricht.


Der Mensch ist eine Aufnahmestation, als solche qualitativ be-
stimmt.

Die Säule. — Ein Sandkorn — und Glaube, und die Welt der
Griechen ist da. Gerade aus dem Sandkorn ist sie aufzurich-
ten, — nicht aus einem Klumpen Lehm. Das Sandkorn und die
Luft, ein Sandkorn zu einem Sandkorn: das sind Burgen,
Akropoleis, — unten Sklaven, getürmt alles durch Saitenklang,
Maß, alles Einschließen, wahre Synthese— wunderbares Be-
harren in der Welt — trotz allem Möglichen was die Welt noch

enthalten könne wahre Unsterblichkeit, wahre ewdge Ge-


genwart.
Korai: die Idee des Zirkularen in ihrem beängstigenden und
belebenden Aspekt.

172
Ad Aufsatz »Ihre Gräber«: Kraft ist Glaube. Das alhniihliche
Hervortreten des Glaubens im Individuum, unbewußter Glau-
be. — Die Gräber ihre letzten Häuser. — An den Grä})ern
stehend: die Stärkung des Geistigen in der Welt.

Über geistige Bildung und ihr Verhältnis zur Seele daß neue :

Aufgaben erst erkannt werden müssen — daß das sittliche Er-


lebnis Schritt halten muß mit der geistigen Bereicherung.

Zum Festspiel: Wer glaubt, dem wird die Welt anders: das
Wasser trägt wie eine Brücke, das Feste wird durchsichtig, die
stummen Tiere sprechen, die Einsamkeit ist voll Stimmen. —

Krakau, 1. VI. — Glaube: »Im tiefsten Gewölbe schläft die


Einheit der wirkenden Kräfte: sie schafft den Kronjuwelen
Kraft, sie darf sie enthüllen ; ihr Wesen, nur in Krisen hervor-
zutreten. Ihre Göttlichkeit: unmittelbare Sendung vom höch-
sten Thron nur ; ich vermag sie hier zu halten ; mehr als irdi-

sche Kraft umwittert sie.«

Das Problem des Seins und Werdens. In »Gestern«, »Tor und


Tod« das Sein als Beharrendes dem Wechsel entgegengestellt.
Wendung des Problems in der »Elektra« Treue: = Hingabe. —
Antithese : Kreon — Oedipus — wer ist fällig zur Hingabe.

(Für den Madteser [in »Andreas«])


Beständige Wiedergeburt aus sich selber, Bestand durch Ver-
wandlung.

19. VI. 1915. - Ein gcinz eigenartiges »Familienfest« der Santa!

(Nordindien) besteht darin, daß sich einmal im Jahre die ganze


Familie in ihrem eigenen Hause einschließt, jeder einzelne
sich die Ohren mit Werg verstopft, so daß kein Laut zu ihm

173
dringen kann, und auf ein gegebenes Zeichen alle, Vater, Mut-
ter, Söhne, Töchter, Schwestern, Vettern, Onkel und Tanten,
einander die gröbsten und gemeinsten Schimpfworte zurufen,
die ihre Erfindungskraft nur aufzubringen vermag. Keins ver-
mag natürlich zu verstehen, was das andere sagt. Man schreit

so laut und so lange, bis man vor Erschöpfung anhalten muß.


Über den Ursprung dieser sonderbaren Gewohnheit, die be-

reits auf ein hohes Alter zurückblicken soll, vermögen die

Santal nichts Näheres anzugeben.


(Buschan »Die Sitten der Völker«)

Mors illi Venus est, sola est in morte voluptas.


Ut possit nasci, appetit ante mori,

Ipsa sibi proles suus est pater et suus heres


Nutrix ipsa sui, semper alumna sibi.

Ipsa quidem, sed non eadem, quia et ipsa nee ipsa est

Aeternam vitam mortis adepto bono.


Lanctantius de Ave Phoenice

Eine der schlimmsten Erfahrungen des reiferen Alters ist die,

daß man niemanden vorwärtsbringen kann, außer sich selbst.

Wenn das Haus durchsichtig wird, gehören die Sterne mit


zum Fest.

November 1915. — Takt. — Der Mangel an Takt bei den Deut-


schen. Mutmaßliche Ursachen. Fehlen des Sinnes für Form.
Schiller: Die Deutschen sind nur moralisch zu rühren, nicht
ästhetisch. (Fundamentaler Unterschied vom Österreicher.)

Großer Ernst dieser Fragen jetzt. Die ungeschickten Versuche


die Neutralen zu beeinflussen. Hölderlins Gedichte als rüh-
rende Geständnisse. Die Figur des deutschen Musikers in

174
Balzacs »Cousin l'oiis«. l.)r(Mni<;jiihrigcr Krio^. Schröders Ge-
dichte.

1916. — immer an zu viele


Eine Figur: ein Mensch, der sich
hergibt, sich vielen zuliebe aufgibt und moralisch verloren
wäre, wenn die anderen sich zusanmientäten und kollationieren
würden. Eine bis zur Narrheit eifersüchtige Frau müßte die
Triebfeder dieser Komödie sein. Diese könnte den Namen
haben »Ein Wort zuviel«, der mir vor Jahren einmal einfiel.

Analogie zwischen »Tor und Tod« und Andrians »Garten der


Erkenntnis« (beide 1893-94 entstanden) in einem der Wieder-
:

geburtsprozeß klar projiziert, im anderen ein verfehlter sol-


cher Prozeß. — In bezug auf beide Werke die Wirklichkeit steht
:

immer gleich nahe.

16. IV. 1916


Den »Depit amoureux« von Moliere wieder gelesen. Das ist

von einem Glanz und einer Frische, die unglaublich sind.

Gleich im I. Akt die Szene der beiden Liebhaber, deren jeder

sich für den Begünstigten halten muß. Alle Szenen der beiden
ist dieses Stück, von dem ich gelesen
Lakaien. Ich glaube, es
Hugo daran die wunderbar farbige Diktion
habe, daß Victor
und den Schwung der Alexandriner hervorhebt. Wirklich ist
der Vers, bei derselben Prägnanz und Schlagkraft, vielleicht in
keinem späteren Stück so farbig und funkelnd in den Wendun-
gen. Es ist diese unsägliche Verve, die jedem, auch den halb-
improvisierten Stücken von Moliere einen so unerreichbaren
Rang gibt, dieselbe Qualität, die mich vor zwei Monaten in
Berlin an den »Fächeux« so begeisterte. Sich unterhalten, von
Szene zu Szene, nur so kann ein Lustspiel entstehen.

17. IV. — Den »Joueur« des Regnard gelesen, nicht zum

175
erstenmal. Nach dem Moliere ist er von einer unleidlichen
Trockenheit und, im Detail, Gewöhnlichkeit; nicht nur die
Szene, das morceau, sondern vor allem die einzelne Replik,
der einzelne Vers stehen so unvergleichlich hinter demMoliere
zurück. Es scheint mir auch sehr fraglich, ob der Spieler als

solcher überhaupt eine mögliche Charakterfigur, geschweige


denn komische Figur. Die eigentliche Betätigung des Spielers
ist doch das Spielen und das was dabei in ihm vorgeht; dieses

aber ist ebenso undarstellbar als z. B. der hysterische Anfall bei


der Hysterischen. — Ein ähnlicher Einwand läßt sich gegen den
»Zerstreuten« machen, die Zerstreutheit scheint mir mehr das
reizvolle Ingrediens einer komischen Figur als das eigentliche
Substrat für eine solche bilden zu können. Der Zerstreute,
wenn er nur immer zerstreut und nichts als zerstreut ist, gleicht
zu sehr einem Geistesgestörten (oder Zerrütteten) und ist der
Gegenstand ganz anderer Gefühle als der Lächerlichkeit. Die
Zerstreutheit kann ein guter Zusatz sein, womit man eine ge-
wisse durch die Situation herbeigeführte Zerrüttung einer
geistig schwachen oder leidenschaftlichen Figur gut und ko-
misch zum Ausdruck bringen kann.
Die Nebenfiguren sind nicht gut, hier der ewig tanzende und
pfeifende Chevalier, dort (im »Joueur«) der gaunerhafte Mar-
quis mit seinem Refrain.
Überhaupt muß man Regnard studieren, um zu erkennen,
wie übervortrefflich in allem und jedem Moliere ist.

Regnards Stärke war die poetische Posse, wie »Les folies

amoureuses« hier ; ist er von unübertrefflicher Verve und einer


reizenden Anmut. (Siehe über dieses Stück Stendhal Tage-
buch 1800-1805.) — Lessing scheint von Regnard nur die ei-

gentlichen Charakterkomödien gekannt zu haben.


Schwach, daß die meisten Züge von Zerstreutheit anekdotisch
erzählt anstatt in die Handlung gebracht sind. Sonderbar, daß
er die Figur des zerstreuten Menalque bei La Bruyere nicht

176
besser benutzt liat. (Er hat sie zwar sichtlich benutzt, aber

nicht gut.) — Dieser Zerstreute ist entweder gar zu zahm oder


gar zu absurd. Überhaupt ist Regnard in der regehnäßigen
Komödie ziendich schwach, dagegen in der phantastischen
Farce sehr gut. — In Akt II schickt der Zerstreute seinen Diener
weg, Degen und Handschuhe suchen, die er beide bei sich hat
(die Handschuhe wohl im Gürtel). Der Diener läßt sich weg-
schicken, kommt wieder und bemerkt dann erst, daß Leandre
beides bei sich hat. Durch diesen Zug ist alles aufgehoben, der
Diener ebenso zerstreut wie der Herr. Nein, hier wie im
»Spieler«, Regnard hat kein Geschick, eine Handlung zu füh-
ren, die Figuren kommen und gehen
absichtlich, und es ist

eine matte, aus Geistesschwäche stammende Absichtlichkeit,


nicht wie bei Meliere eine witzige. — Der Diener hat übrigens
— und nicht nur gegen seinen Herrn — eine unbegreifliche
Insolenz.

Im Mai gelesen: »Les fourberies de Scapin«, »Amphitryon«,


»Tartuffe«, »Le Misanthrope«, »L'Ecole des Maris«.
Diese fourberies de Scapin sind recht gewöhnliche Gauner-
streiche, es scheint mir eines der mindest inspirierten Stücke
von Meliere. Gut ist die Szene des Alten mit dem berühmten
»Que diable allait-il faire dans cette galere?«
»Amphitr3'on«. — Ist der »Tartuffe« das stärkste, der »Misan-
throp« das edelste, die »Schule der Frauen« das lustigste und
die »Heirat wider Willen« das philosophischste von Molieres
Stücken, so ist der »Amphitryon« sicherlich das anmutigste.
Es ist eine Verve darin in den rein komischen Szenen (den
Verwechslungsszenen), die ohnegleichen ist, in den Szenen
aber, die das Sentimentale streifen, ein Glanz des Ausdrucks,
eine Kunst der iVndeutung, eine schwebende Zartheit, die für
mein Gefühl alles hinter sich läßt, was das 18. Jahrhundert
auf diesem Gebiet hervorgebracht hat. Mit unvergleichüchem

177
Takt ist die Schluß wendung gebracht, con disinvoltura (wie

meine Großmutter gerne sagte) und doch ohne Frechheit,


vollkommen aus der Zeit, höfisch, und doch untadelhaft. Denkt
man sich Ähnliches aus dem 18., so bekommt es daneben etwas
leise Äffisches, auch Bübisches, die Grazie wird mievrerie, die
zarte Weltweisheit allzu bewußte Altklugheit usf.

Die Vortrefflichkeit von Dichtern und Schriftstellern wie Me-


liere, La Fontaine, La Bruyere, Boileau, Sevigne ist für den
Deutschen (unserer Zeit) nicht in die Augen springend; man
muß sie sich klarmachen, und dazu gehört Freiheit von Vor-
urteil und Anmaßung.
Gespräch über Moliere mit Andrian, Warschau, Juli 1916:
Nicht in den Gestalten liegt bei Moliere das Eigentliche, son-
dern in den Relationen. Das Verhältnis von Freund zu Freund,
vom Verehrer zur Geliebten, vom Pedanten zu seinem Publi-
kum, vom vernünftigen Mann zum Schrullenhaften, dies ist
mit einer Komplettheit und einem Reichtum der Skala dar-
gestellt, worein man sich vertiefen muß, um urteilen und nach
Gebühr bewoindern zu können.

Juli 16. — Ich bin allein und beginne Verschiedenes auf eigene
Hand, das eigentlich durch Übereinstimmung aller in einer

Generation unternommen werden sollte : das Repertorium der


deutschen Bühne neu wiederaufzubauen, die dramatische Mu-
sik auf ein anderes Gebiet zu führen. Der geistige Zusammen-
hang in diesen Versuchen wird von wenigen erkannt.

Dichterische Aufgabe: Reinigung, Gliederung. Artikulation.


Im Leben so oft das gräßlich Widersinnige, furchtbares Wüten
der Materie, als Erblichkeit, innerer Zwang, Dummheit— Bos-
heit, innerer Nihilismus.

1916. — Ein alter Schurke, w^enn man ihm ins Gesicht un-

178
mäßig schmeichelt, sclilagt die Augen nieder imd sieht dann
aus wie ein junges Madchen.

Aussee, Ende Juli 16. — Stellt man sich die gleiche Szene wech-
selweise in dramatischer und in erzählender Form behandelt
vor, so ergeben sich die merkwürdigsten Unterschiede hin-
sichtlich dessen, was im Betragen der Figuren in der einen
Form möglich, ja reizvoll, in der anderen Form ganz und gar
unmöglich ist. In der Erzählung können sich reizende Inkonse-
quenzen finden, die im Dramatischen unmöglich sind und die
Form glattweg aufheben würden. (Das gleiche Verhältnis sehr
schlagend zwischen der Komödie und dem komischen Roman.)

Ende Juli 1916. — »Wilhelm Meisters Wanderjahre«. — Die


Interessen, für die der Autor unseren Geist in Bewegung set-

zen will, sind ganz geistig, von der abstraktesten (»entsagen-


den«) Art. Das Ganze aber hat, in den Erzählungen und auch
sonst, eine Fülle von Ingredienzien aus der Sphäre des Sinnlich-
Vitalen, die das eigentliche Gebiet der Poesie bildet, als da
sind: Landleben, Herrschaftliches; Wohlleben, Bequemlich-
keit; merkantiles und industrielles Aufblühen (wir fühlen, daß
wir in diesen Dingen an einem Anfang stehen) Leben junger;

Mädchen, ihre Selbständigkeit, Hausfräulichkeit Brautstand; ;

Fremde, schnell ins Vertrauen gezogene, Hausgäste Vater und ;

Sohn als Vertraute und Rivalen ; kostbare und kunstvolle Hand-


arbeit, Toilettekünste; gemeinsames Lesen, Musizieren, Kahn-
fahrten, Schlittschuhlaufen, usf. usf. — Schwächer aber die
Teile, wo auch das Sinnfällige systematisiert und schematisiert
erscheint, im letzten Drittel. Immerhin aber ist möglich, daß
in alledem, auch in der Zusammenfügung der Teile weit Tie-
feres steckt, als ich zu erfassen imstand bin.

Inwiefern jede literarische Betätigung als eine soziale Hand-

179
lung aufzufassen, ein Ermutigen, Besänftigen, Aufdecken, Zu-
decken, Hinweisen, Abweisen, Verbinden, Auseinanderhalten
wessen? — Der menschlichen Willenskräfte durch das Medium
des Geistes. (Unter Willenskräften die aktuellen sowie die po-
tentiellen verstanden.)

Dichterische Gestalten sind wie lebende Wesen: in welchem


Punkt du sie triffst nicht fest, sondern spielend über unend-
licher Tiefe.

Jedes höhere Streben ist, noch außerhalb vom Selbst zu er-


scheinen : sei es durch Taten, sei es durch Werke.

VIII. 1916. — Der »Don Juan« nimmt für mich unter den
Moliereschen Komödien eine Stelle ganz für sich ein. Er scheint
mir mit einer besonderen, dunkleren Farbenskala gemalt als

alle anderen. Er ist viel weniger ein Stück als die anderen, eher
eine dialogisierte Novelle. (Vielleicht war die spanische Vor-

lage eine Novelle, kein Drama — ist das möglich?) — Akt III:

Frappeuit die Art, wie Sganarelle seinen Herrn zu einem Rede-


duell herausfordert (»car cet habit me donne de l'esprit, et je

me sens en humeur de disputer contre vous«): das Publikum


will die komische Figur disputieren, Witze machen hören. Das
Gcinze aber großartig angewendet, um das Innere Don Juans
zu enthüllen. So gesehen, bekommt die Konvention durch ihn
geradezu etwas sehr Imposantes, was durch keine subtilere,
motivierte Herbeiführung gerade dieses Gespräches zu er-
reichen gewesen wäre. — Schön (und ganz entgegen dem 18.),

wie der gesunde Menschenverstand, in Sganarelle verkörpert,


für Gott und gegen die Arithmetik plädiert; von einer reizen-
den Schelmerei dann wieder, wie er mitten im Fluß seiner
Argumente abbricht mit »oh dame! interrompez-moi donc si

vous voulez. Je ne saurais disputer, si l'on ne m'interrompt«.

180
Ebenso genial, wie er dann fortfährt und durch ein richtiges
lazzi (sein Auf-die-Nase-Fallen) die scliönste und richtigste

Argumentation unterbricht.
Es wäre der Mühe wert, alle die Figuren, die Moli^re nut dem
Namen Sganarelle genannt hat, nebeneinanderzustellen und
zu prüfen, wieweit nicht doch eine Art von Einheit darin
steckt. (In dieser Figur ist das gallische Element, das Anti-
germanische verkörpert ohne jeden Zweifel, das gleiche, das
am Ende Figaro heißt und die Revolution einleitet.)

Die Aufeinanderfolge der Szenen des 3. Aufzuges (die Dispu-


tation zwischen Don Juan und Sganarelle, die Episode des
Bettlers, die Episode mit den Räubern und den Brüdern Elvi-
rens und die Einladung der Statue) ist das schönste Beispiel
für das Phantastische mit ganz scharfem Kontur, ohne jede
Romantik.
Was man von Moliere lernen kann, ist das Reinhalten der ein-
zelnen Szene. (Vieles andere kann man bewundern, ohne es

ihm ablernen zu können.)

ad Moliere. Die Arbeiten »zweiten Ranges«: »Si l'on croit


qu'il y ait beaucoup plus d'hommes capables de faire >Pour-

ceaugnac< que >le Misanthrope<, on se trompe.« (Diderot.)

29. VI. 17. — Claudel. Höchst eigentümliche Prosa. Er zügelt


gleichsam durch das scharfe Abstraktum, durch den terminus
technicus den Schwung des Satzes, hält das Überströmende
im Zaum, ja das Hinströmende, durch ein plötzliches Gefrie-
renmachen.
idem. Les Muses. »O mon äme! le poeme n'est point fait de
ces lettres que je plantecomme des clous, mais du blanc qui
reste sur le papier«. (Hier ist jene Vorstellung des Leeren, die
mich verfolgt.)

»II est de certaines sensations delicieuses dont le vague n'exclut

181
:,

pas Fintensite, et il n'est pas de pointe plus aceree que Tlnfini.«


(Baudelaire.)

Das indianische Drama »Die Opferung des Gefangenen« ist

die Zeremonie des Marterpfahls ins Poetische erhoben.

Aussee, 15. VII. 17. — Erfahrung ist zweifach zu beurteilen —


inwiefern sie das Selbstbe\^alßtsein hebt, inwiefern es nieder-
drückt.

Aussee, Juli 17. — Die Gesellschaft in einer Komödie behan-


deln, wie Poussin die Landschaft behandelt hat.

Die Ausschwingung des komödienhaften Anschauens führt


zur Karikatur.

Zwei Stufen der Subjektivität. Des höheren Subjektiven ist

erst eine von der Erfahrung durchtränkte Produktivität fähig.

21. VII. — Pvealismus in der neueren französischen Literatur;


Balzac: die Straßen und Häuser. Der mystische Charakter der
Dinge bei Flaubert. Übergewalt der Dinge in der »Salammbö«
der Zai'mph.

1917. — Volk. — Das Volk wie die Gesellschaft muß immer


wieder postuliert werden. — Der Begriff des Volkes ist schat-
tenhafter geworden, weil sein rechter Gegensatz fehlt: von
Großen, vv^ie im 17. oder 18., können wir nicht sprechen, und
die Reichen sind ein erbärmlicher Gegensatz. — Und doch ist

derName Volk nicht hinfällig: die Menschen, unter denen


man sich gewöhnlich bewegt, mögen aus dem Volk hervor-
gegangen sein, aber sie sind nicht Volk. —
Triffst du auf Men-

schen, unter welchen dir das Leben ein ganz anderes Schwer-

182
gewicht zu haben scheint, welche im Ertragen des Schweren
das gewöhnhche Mcnschenlos sehen, die das Ärgste mit ruhi-

ger Fassung hinnehmen, sich auch über den Tod keine über-
triebenenund aufgeregten Gedanken machen, bei denen das
Wort näher beim Gefühl, der Gedanke näher bei der Hand-
lung zu sitzen scheint, deren Urteil dich Punkt für Punkt über
die Wirklichkeit belehren, deren Mangel an Dialektik dich
überraschen, dann aber tiefsinniger als du vorher warst machen

wird, in deren Umkreis dir das Geschehen in der Welt minder


verworren und selbst das Leiden sinnvoller erscheinen wird,
in deren Gesellschaft dich vor dir selbst zu behaupten, dir mit-
zutun schwerer sein wird als ihre Zuneigung zu gewinnen, die

dich durch ihre Leichtgläubigkeit öfter lächeln machen und


durch ihre ungelernte Vornehmheit zuweilen beschämen wer-
den— unter denen du zu Hause und fremd zugleich eine Art
Heimweh nach einem Zustand des Geistes empfindest, der dir
v/ohl nicht fremd aber so unzugänglich ist als das verlorene
Paradies, so wisse: du bist unterm Volk.

Gegenstand des Nachdenkens. Es gibt strenggenommen keinen


Gegenstand des Nachdenkens, denn der Gegenstand wird von
der inneren Verfassung jedesmal neu statuiert und ist jedesmal
die ganze Welt. (Insofern ist der menschliche Geist ein »schaf-

fender Spiegel«.)

Beschreibung des Unmöglichen. Die wunderbarsten poeti-


schen Sätze sind solche, die mit einer großen physischen Be-
stimmtheit und Deutlichkeit etwas physisch Unmögliches be-
schreibend hinstellen : sie sind wahrhaftige Schöpfungen durch
das Wort. — Hier ist ein solcher Satz aus den Paralipomena zu
den »Lehrlingen von Sais« : »Lange währte seine Reise. Die
Mühseligkeiten waren groß. Endlich begegnete er einem Quell
und Blumen, die einen Weg für eine Geisterfanülie bereiteten.«

183
Der Gedanke, daß alles Zukünftige schon daliegt, wie die
Nymphe im Bade läßt man das Wasser ab, so tritt die Gestalt
:

hervor.

Zum »Wilhelm Meister«. — Der Lehrbrief: Zusammenhang


dessen, was in einzelnen Momenten der Einsicht gewonnen
wurde.

Jede Gewohnheit wird ihre Anhänger haben, bei denen sie für
gerecht gilt — während sie vor der Idee niemals bestehen wird.

28. VII. — Frauen und aufmerksam im


forschen lange Spiegel,
Männer forschen lange und aufmerksam in Büchern; das Ziel
ist das gleiche : sich schöner werden zu sehen.

Arnims »Kronen wach ter«. — Es ist dies eines der tiefstdurch-

dachten Kunstwerke. — Eine -wundervolle indirekte Charak-


teristik: kein Haschen nach dem Umriß, dem relief. Der Autor
scheint allein um den Fluß der Vorgänge, die Verwebung der
Situationen besorgt, und die Figuren malen sich, indem sie in

den schnell wechselnden Situationen sich ganz individuell ver-


halten : so trägt Berthold das Bürgerliche scheinbar ganz wohl,
und handelt doch unbürgerlich, es zieht ihn in die andere Welt,
mit der eigenen ist er ohne Kontalu, er tut Dinge so als ob sein
Blut aus ihm heraus handelte (das Projekt, die Stadt reichs-

unmittelbar zu machen) ; so ist Apollonias schwankendes Ver-


halten von höchster Kunst, so ist Anna mit kaum merklichen
Strichen gezeichnet, wo sie in der Lebensluft existiert; durch
Unterlassungen mehr als durch Handlungen ist sie dargestellt.
— Mit höchster Kunst das Handeln der Kronen wach ter ideal und
zugleich fast grotesk gemalt: in der Tat so wirken alte Kräfte
in der Zeit. Kaiser Max als Figur. Episoden: Herzog Ulrich,
Doktor Faust. — Aber: Fehlen des eigentlichen Mittelpunkts.

184

i
20. VIII. 17. — Was ein Moderner anstreben und gewinnen
könnte, wenn er Moliere studiert, übersetzt und allenfalls be-

arbeitet, ergibt sich am besten aus folgender Analogie: wie


Proust in seinen »Erinnerungen an Manet« erzählt, machte
Manet, als er die »Petits ca valiers« im Louvre kopierte, die
man dem Velazquez zuschreibt, die Bemerkung : »Gottlob, das
ist reinliche Arbeit, das verekelt einem gründlich allen Misch-
masch und alle Saucen.« Er fügte hinzu: »Alles was unnötig
ist, ist mir ein Greuel; aber die Schwierigkeit ist, nur das zu
sehen, was notwendig ist. Die Sudelküche der Malerei hat uns
verdorben. Wie kann man sich davon freimachen? Wer wird
uns von den verhaßten Zwischentönen befreien, uns die Ein-
fachheit und Helligkeit wieder schenken?«
ad Moliere : »Es gehört zur logischen Rhetorik die Opposition
des Einfachen, Natürlichen und Populären gegen das Zusam-
mengesetzte, Künstliche und Individuelle.« (Novalis.)

Im »Misanthrope« ist der ganze Dialog Kritik, von Anfang bis


zu Ende : Alceste kritisiert Celimene, oder Philin the kritisiert
Alceste, oder dieser ihn, oder Alceste die Höflinge oder einen
einzelnen Höfling, oder diese (mit Celimene) kritisieren Ab-
wesende, oder Alceste kritisiert sie wegen dieser Kritik; oder
Eliante kritisiert Alcestes Liebe zu Celimene, oder dieser selbst
kritisiert seine Liebe ; Arsinoe kommt um Celimene zu kriti-

sieren, und diese gibt ihr ihre Kritik zurück usf. usf.
Kritik ist nur eine der Formen des Indirekten.
In der Situation Molieres zwischen der hohen und der niede-
ren Komödie ist ein immer wiederkehrender Zustand ausge-
prägt.
Die zarte gebrochene Linie im »Don Juan«. Das Ganze
durch den Geist zusammengehalten. Das Romantische in der
Anlage völlig unromantisch dargestellt. — »Tasso« und »Der
Misanthrop« zwischen Komödie und Tragödie.

185
Molieres einzige Tochter, nicht hübsch, aber klug. Die Mutter
will sie im Kloster lassen, sie widerstrebt, läßt sich von einem
Herrn Rachel de Montalant entführen. Ihr Wort: »J'ai quinze

eins et demi, mais n'en dites rien ä maman.«

Lessing ist in der Komödie ein Meister des Indirekten. Die


Handlung in der »Minna« wird nur dadurch möglich, daß er
die Hauptfiguren fast beständig auseinanderhält und alles, was
zwischen ihnen liegt, zum Reflex macht, durch die Neben-
personen .

Moliere. — Die Finten: das beiderseitige Geständnis (jeder


meint etwas anderes — Reispiel in den »Mitschuldigen«), das
Gespräch gereizter Liebender geht bis zu einem Punkt, von

wo es sich dann zum Gegenteil wendet. — Parallelismus der


Dienstboten. Der Monolog als fingierter Dialog. Die coups de
scene der commedia dell'arte. — Was man von Moliere lernen
kann, ist die Reinheit der Szenenführung.

Stoff: Ein Mann, ein harter undurchsichtiger Mensch, haust


mit einer Frau, die eine dissoziierte Person ist. Ihre veränder-
ten »Zustände« läßt er hervortreten, je nach seinen finsteren,
grüblerischen und bis ans Dämonische gehenden Launen.

18. VIII. — Lessing: sein eigener Charakter im Tempelherrn,


im Odoardo Galotti, im Teilheim, auch im Mellefont.

XII. 17. — Zur Komödie Sollte man nicht sagen, daß die »Mit-
:

schuldigen« aus dem gleichen Fonds geschöpft sind wie die


Komödien von Reaumarchais ?

I. 18. — Der neidische Literat. Man würde denken, er liest mit


Fanatismus die Werke dessen, den er angreift, den er beneidet.

186
Er liest sie, würde man denken, um sich darüber zu erheben,
um ihre Schwächen auszulühlen, um ihre Spannweite nacli-
zurechnen. Keine Spur von alledem, denn es fehlt ihm an Auf-
merksamkeit, welche eine Vorstufe der Liebe ist. Er ist ein
Komplice jener Welt, in welcher die Menschen die Unermeß-
lichkeit ihrer Anzahl zur Entschuldigung für ihre Verworren-
heit nehmen.

VII, 18. — Die heilige Theresa stand am Küchenfeuer und war


im Begriffe, Fische in Öl auszubacken, als sie den Zustand der
visionären Ergriffenheit sich Einnähen fühlte : sie gab sich dem
Zustand hin, aber nur insoweit, daß ihr darüber die Fische in
der Pfanne nicht verkamen. (Baumann »L'immole«.)

Inneres Sehen. Zitat aus Galton »Inquiries into human faculty


and its development« bei Bahr »Expressionismus«: »Es ergab
sich, daß manche mit dem Auge des Geistes mehr sehen, als

das Auge des Leibes jemals sehen kann; das geistige Bild ent-
hält zuweilen mehr, als ein sinnliches jemals enthalten kann.
Sie können nämlich mit dem Auge des Geistes auf einmal
sehen, was sie sonst bloß nacheinander sehen: sie sehen mit
dem Auge des Geistes alle vier Seiten des Würfels, eine ganze
Kugel auf einen Blick. Sie sehen also mit dem Auge des Geistes
sozusagen rundherum. Ja das geht so weit, daß manche mit
dem Auge des Geistes sogar sich selbst erblicken können und
imstande sind, sich in ihrem Zimmer mit Frau und Kind bei
Tischund dabei auch noch was an der Wand hinter ihrem
Rücken hängt zusammen zu sehen.«

VII. 18. — Hat man je daran gedacht, daß »Leonce und Lena«
von Büchner eine höchst eigentümliche Transkription der
Mussetschen poetischen Komödie ist, so wie diese der Shake-
speareschen?

187
Erkenntnis der Bedeutung Louis' XIV. Ob es sich um das eige-
ne oder fremde Völker handelt schließlich wird das Urteil des
:

Einzelnen und der vox populi übereinstimmen.

VIII. 18. — Theaterdekorationen sind allegorisch, epische


Schauplätze reaJ und symbolisch.

X. 18. — Calderon. — Dieses Trauerspiel »Drei Vergeltungen


in einer« hat mir einen sehr großen dauernden Eindruck ge-
macht. Don Lope der Jüngere,Edelmann und Räuber, ganz
hart und scharf konturiert; solche Männer, durchaus männ-
lich, hat nur das spanische Theater. Der Mann bei Shakespeare
ist mehr Naturwesen, aber dieses Scharfe, Starke, essentiell

Männliche haben nur diese spanischen Figuren. Wunderbar


solche Szenen wie die zwischen Don Mendo und Dona Beatriz
bei ihrer AViederbegegnung, wo beide mit verdeckten Worten
auf etwas hindeuten, das sie sich auszusprechen scheuen. Ei-
gentliche höchste Kunst des Dialogs, die Shakespeare nicht
kennt. Die Szene der Violante knapp vor dem schrecklichen
scharf abschneidenden Ende, ganz musikreif, unsäglich schön.

X. 18. — »Gil Perez der Galicianer«. Englisch gelesen in der


Übersetzung von Fitzgerald. (Blankverse, dazwischen Prosa
beim Gracioso.) Keines der guten Stücke, was den Bau betrifft.

Aber wieder eine solche wunderbare Mannsfigur. Die Haupt-


szene, wo Gil Perez den gegen ihn instruierenden Oberrichter
in seiner Amtsstube überfällt und aus den Akten ein ihn be-
lastendes falsches Zeugnis herausreißt, unübertrefflich, ganz in
der Art wie die besten Szenen des »Richter von ZaJamea« —
auch im inneren Gehalt verwandt. In solchen Glanzszenen ist

der Dialog von einer Knappheit und metallischen Kraft wie


nichts bei Shaltespeare.

188
X. 18. — »Das Liebchen desGomezArias«.Nach siebzehn Jahren
lese ich dieses Stiiclv wieder. VjS hatte mir eine selir starke Er-
innerung hinterlassen, die der erste Akt mir nicht rechtfertigt.
— Alles in allem macht es mir nicht so großen Eindruck als ich

erwartet hätte. Doch wäre eine wirkungsvolle Bearbeitung


durchaus nötig. (Ich muß damals Notizen gemacht haben, er-
innere mich einzelner Züge.) — Grandios ist die Verruchtheit

des Gomez Arias, dieses Küssen und Verkaufen, wie Judas.


Schön, wie die Ballade durchschimmert, von der eine Strophe
gesungen wird. Auch die große Vorwurfsrede der Dorotea,
balladenartig, mit ihrem Refrain »Senor Gomez Arias, Meinen
:

Jammer sieh! Laß mich nicht gefangen In Benamegi!« Eine


Figur wie Gomez Arias streift ans Tierhafte, an die Wolfs-
oder Bärenmaske. Großartig dann der contraposto am Schluß:
die Königin, stärker als ihr Geschlecht, die Schwäche des Ge-
schlechtes an dem Frevler rächend.

XL 18. — »Der Verborgene und die Verkappte«. Dies ist eines


der berühmtesten von den Lustspielen. Ich konnte keine Qua-
lität darin finden, die an »Dame Kobold« heranreichen würde.
Zu viel Verkleidung, zu viele Verstecke.

»Stille Wasser sind tief« (»Guardate del agua mansa«) gelesen


in der englischen Übersetzung von Fitzgerald. Einige hübsche,
sehr lebendige Lustspielszenen, das Ganze ist aber eine Ge-
legenheitsarbeit, den Mittelpunkt bildet die Beschreibung des
Einzuges der Königin, die wechselweise den Figuren in den
Mund gelegt ist. (Der Einzug war 1649, das Stück muß aus
dem gleichen Jahr sein; die Königin ist Dona Maria Ana de
Austria, vierzehn Jahre alt, Tochter Kaiser Ferdinands III.)

Eine sehr gute Landjunker-Figur, Don Torribio. Hübsch der


Gegensatz zwischen der lebhaften koketten Schwester und der
anderen, scheinbar stillen, die sich nicht demaskiert, aber keck

189
;

handelt, davon der Titel.

Aus und zu dem Buch derTausendundemen Nacht, — in emem


Gedicht »von guten und schlechten Tagen« :

»und Leichen steigen und schwimmen einher auf der Ober-


fläche der Flut, — während Perlen liegen, beleuchtet kaum von
des Meeresgrundes blassem Schein«
aus dem Vers eines Fischers, der Unglück hat:
». . . nicht Geschaffenen klage es wäre der : Ruf — um Erbarmen
an den, der erbarmungslos . . .«

I. 19. — Lessing, — wodurch »interessant«? was Deutsche sonst


nicht sind. Wodurch reizt er zum Nachdenken, zum Beob-
achten? "Wodurch ^\'ird gerade sein gewöhnliches nüchternes
Leben interessant? Man möchte sagen etwas Russisches. :
— Hat
er je eine Landschaft auch nur gesehen? Das Rastlose — Gegen-
satz zum Russischen. Spieler, Spekulant. Die letzte Zeit und
der Tod. Unendhch »sobre«. — Die Arbeiten: keine Kluft zwi-
schen der Intention und der Materie. Der ganze Mensch in
allem. Weniger gewollte Haltung als Goethe. »Gar keine
Schwelgerei.« Gar kein dandysme (ä la Stendhal und Meri-
mee). Kälte — aber welcher Art? Seine »Wahrheit«. Was aller

Schriftstellerei zugrunde liegt. — Was heißt dies : »^vir sind da« ?

I. 19. — Zu weit ins Innere Unmitteilbarkeit des Individuums,


:

Idios3'nkrasie ; zu weit ins Äußere Gemeinheit, Trivialität. In


:

der Mitte liegt das Alitteilbare, Mitteilens werte.

III. 19. — Ist der Dichter nicht ein Täter, den wir durchs
SchlüsseUoch belauschen?

III. 19. — Eine gute Erzählung hat den magischen Goldgrund,


der noch mehr ist als der blaue Hintergrund der Ferne.

190
Problematisches Verhältnis der Franzosen zu ihren drei großen
Dichtern des 19. Jedirhunderts : Balzac, Hugo (namentlich dem
Dramatiker) und Flaubert. Durchaus problematisch auch das
Verhältnis zu Chateaubriand, und nicht ganz unproblematisch
das zu Stendhal. Dagegen Baudelaire als Verbindung mit dem

klassischen Geist neuerdings empfunden.

IV. 19. — Ancien regime Die Antwort, die Herr von Bougain-
:

ville dem Marineminister Berrien gab, der, wegen der allge-


mein schlechten Lage, der Kolonie Kanada die erbetene Hilfe
versagte mit den Worten »Monsieur, quand la maison brüle,
:

on ne s'occupe pas des ecuries« — »On ne vous dira pas,

Monsieur«, antwortete Bougainville, »que vous parlez comme


un cheval.« Nur ein Edelmann des ancien regime und ein
Franzose des 18. konnte diese Antwort geben, oder ein Athener
des 4. Jahrhunderts. (bei Villers, Briefe I)

Die Anekdoten des Chamfort sind reizend, aber daß er sie alle

aufschreiben konnte, degradiert ihn.

IV. 19. — Die nackten Ideen kann man nicht prästieren; das
Höhere der Welt wird nur an den Individuen faßlich und an
den Ordnungen unter den Menschen.

Betrachtet man das 18. Jahrhundert als das Jugendalter des


jetzigen Deutschen, so war es eine gefährliche Jugend, sie war
eingeengt und schal und angetan, das Selbstgefühl zu unter-
graben und den Geist am Leben zu desinteressieren, ja aus dem
Leben wegzuschrecken. Der »Anton Reiser«, Jung-Stilling,
Winckelmanns und Lessings Leben sind ihre traurigen Doku-
mente, »Werther« und »Wilhelm Meister« ihr verklärtes Ab-
bild in einem Zauberspiegel.

191
IV, 19. — Notizbuch: Aphorismen in Gruppen. Studien, dar-
unter: ad me ipsum. Anekdoten. — In den Studien: über die
Komödie, insbesondere Mohere, Lessing.

V. 19. — Alles Gelebte ist in der Erinnerung von einer Sonder-


barkeit, die dem Traum nahekommt; seine Wiederannähe-
rung zieht an und stößt ab, — in ihr mischt sich Tod und Leben
wie süßes und salziges Wasser an der Mündung der Flüsse.

Goethes naturwissenschaftliche Schriften sind wahrhaftige Pa-


lingenesie der Sprache.

Ferleiten, Juli 19. — »Die reine Opernform, welche vielleicht


die günstigste aller dramatischen bleibt...« (Goethe »Tag-
und Jahreshefte« 1789) —
Goethe (gelegentlich »Hermann
und Dorothea« 1797) an Meyer: »Der Gegenstand ist äußerst I
glücklich, ein Sujet wie man es in seinem Leben vielleicht
nicht zweimal findet, wie denn überhaupt die Gegenstände zu
wahren Kunstwerken seltner gefunden werden als man denkt,
deswegen auch die Alten beständig sich nur in einem gewissen
Kreis bewegen.«

28. XL 19. — In Novalis ist Romemtik, also beginnendes 19.

Jahrhundert. Es ist darin aber auch der zarteste Blütenstaub


des 18., im Moment des Verwehens.

Der Grundzug in Novalis' Fragmenten ist ein ins Höchste ge-


hobener Genußtrieb.

Aus »Wilhelm Meisters Wanderjahren« Schöne Situationen: :

sogleich in bedeutende Gespräche und eine bedeutende Si-


tuation verwickelt aufgeweckt aus
; einem bedeutenden Traum
zum Anschauen des Sternhimmels, — die Möglichkeiten des

192
Märchens erreicht durch Syiitliose des Lebens.

XII. 19. — Es ist dem Menschen gegeben, daß er sich auf das
Leben und auf den Tod einstellen kann beides ; in einem zu
müssen, das ist das Schwere und Bemühende.

Ob die Deutschen im Ganzen die geistigen Dinge zu ernst


nehmen oder zu wenig ernst, das bleibt eine offene Frage.

XII. 19. — Verwandtschaft des Claudeischen Dramas mit dem


von Hebbel insofern : es den Geschichtsprozeß in seinen unauf-
löslichen Elementen darstellen will.

Der Familienzug in den Gedanken ein und desselben Men-


schen, seien sie auf noch so Verschiedenes gerichtet.

27. I. 20. — »Gil Blas« von Le Sage; Vorrede zu einer älteren


Ausgabe, welche verschiedene interessante Urteile über Le
Sage enthält. Ja, die Franzosen, die Spanier, die Engländer,
alle Andern haben, was wir nicht haben eine : literarische Tra-

dition, eine Entwicklung des Urteils von einer Generation


zur anderen, kurz eine wirkliche Literatur. Wir haben nur
Ansätze und immer wieder Ansätze, freilich sind sie oft genialer
als die Werke der Andern, aber zum Werk oder gar zur Kette

von Werken kommt es bei uns höchst selten. Eine literarische


Erscheinung wie Novalis und ihr Wert, der in einem gewissen
Betracht unschätzbar ist, ist einem Nicht-Deutschen gar nicht
klarzumachen. Er ist mehr das Ingrediens einer potentiellen
etwa zu realisierenden Literatur als das Bestandstück einer
wirklichen.

15. IL — Naivetät. Jedermann beurteilt ein Phänomen; ein


Anderer widerspricht ihm mit guten Argumenten, findet aber

193
wenig Beachtung. Die Zeit vergeht, Jedermann kommt von
seinerMeinung zurück und sieht das Objekt so, wie früher sein
Gegner es gesehen hatte. Diesem gegenüber gebraucht er jetzt

con disinvoltura dessen eigene Argumente und überhört es


oder würde es mit Unlust aufnehmen, wenn man ihn dessen
zu erinnern versuchte.

III. 20. — Shakespeares »Juhus Caesar« und Otways »Geret-


tetes Venedig« behandeln den gleichen Gegenstand: Freund-
schaft zwischen Männern, und den tragischen Punkt darin:
den Konflikt zwischen der höheren Selbstbehauptung und den
Forderungen der Freundschaft Shakespeare bringt
; dies in die

höchste Schicht, Otway läßt es in einer dumpferen gröberen


Sphäre, aber auch sein Stück hat etwas Unsterbliches in sich.

Die Antike ist ein umigekehrter Antäus ;


je höher die Zeit sie

über ihren Mutterboden emporgehoben hat, desto gew^altiger


wurde sie.

X. 20. — Die Heimat stirbt auf Reisen.


(Chinesisches Sprichwort)

I. 21. — Liebe ist trajice: Welt höheren Instinktes.

VIII. 21. — Das Individuum ist unaussprechlich. Was sich aus-

spricht, geht schon ins Allgemeine über, ist nicht mehr im


strengen Sinne individuell. Sprache und Individuum heben
sich gegenseitig auf.

Aussee, X. 21. — Den verschiedenen literarischen Epochen


immer wieder und immer in neuer Form am
fehlt es Ernst.
Daß das Unernste sich für ernst nimmt und gibt, das ist das
Um und Auf jeder neuen Literatengeneration.

194
Bei menschliclien Beziehungen ist zweierlei zu fürchten : daß
in ihnen vom Kern her das GewoHte oder von der Peripherie
her die Vernachlässigung sich geltend mache.

Tiere haben mit dem Menschen das Werk gemeinsam, aber


die Rede und die Tat, diese beiden Magieen sind dem Men-
schen vorbehalten.

Versichert sein, daß das, was man zu machen fähig ist, nie
vorher von einem andern Wesen kann gemacht worden sein
und erst von uns aus der Wirklichkeit angehören wird, das ist

das Fundament des produktiven Handelns so in der Kunst als


im Leben.

Buch der Freunde Disposition


Geist
Von der Sprache / Nationen /
Von den Menschen / Vom Leben und den Lebensaltern /
Gesellschaft / Freundschaft und Liebe
Gelehrte / Philologen / Sprache / Stil

Die Künste /

Zur Literatur. Goethe. »Wilhelm Meisters Lehrjahre«


Lessing Moliere
ad me ipsum

195
Nicht das Leuchtende durch Furcht verdunkeln, nicht dem
wunderbaren Vogel die Flügel binden I

Mut ist das innere Licht in jedem Märchen, darum ist die Kai-
serin so leuchtend und mutig — und wirft sich, wo ihr schau-
dert, mit erhobenen Flügeln, wie ein Schwan, dem Fremden
und Geheimnisvollen entgegen.
Fremd und geheimnisvoll sind solche Nächte, wie alle Ge-
schenke des Himmels, aber darum sind sie heilig, und sie durch-
leben ist ein heiliger Dienst — in dem darf man nicht zittern.
Das Erschütternde ist da, der dunkle schauerlich süße Abgrund
ist da — aber du darfst nicht hineinstürzen — seine Nähe ist nur
eine Heiligung mehr.
Alles ist und schön — jede Sekunde küsse die Augen und
heilig :

und dann laß sie alles in sich trinken, das Oben und das
heilige sie
Unten und die wunderbare Mitte, die süßen bewegten Arme
und die süßen ruhenden Brüste, die Lippen und das Haar.
Verbirg nichts — wo das Verbergen ist, da ist die Hast und die
Glut der Jagd, da ist der Kaiser und der tödliche Pfeil und die
Gazelle ; wo alles sich darbringt, da ist die nächtliche Feier, der
Tempel und die Sterne.
Gib dich sanft und festlich, du Süße, und erschüttere den, der
selig wird durch dich, mit deinen zarten Händen — wie du eine
Harfe erschütterst — dann
, ist die Erschütterung von dir ge-

nommen, und was du empfängst, ist die Musik. — Zittere nicht,


denn was wird aus dem Tempel, wenn die Priesterin zittert!
Wirf dich in den Abgrund, aber nur weil unten die goldene
Treppe ist, die zu den Sternen führt.
Sei die süße Herrinund nicht das scheue Mädchen, — gieß dich
aus in Augen, Hände und Mund, behalte nichts von dir in dir,
dann wirst du leicht sein und schweben, Zauberin auf ihrem
Zauberbette — Ver wandlerin, selber verwandelt, unfindbar
allen außer dem einen, den du verzauberst.
den 27. X. 19

196
Die Tänzerin trug ein kurzgeschürztes Gewand und das Haar
hinaufgenoninien Arme, Beine und Hals waren nackt, und
; sie

glich einem von Jugend berauschten Pein, einem vor Sehn-


sucht schwermütigen jungen Gott oder einem von allen Ge-
räuschen des Waldes geängstigten Mädchen. Wellenhaft glitt

sie aus einer Gestalt in die andere, und das Zerfließen, das
Hinübergleiten war nicht minder schön, als die horchenden,
die fliehenden, die geduckten, die mänadischen, die erstarrten
Gestalten. Wer nur die in sich gekauerte Nymphe sah, eine

einzige abwehrende Linie des Rückens, des emgstvoU wegge-


wandten Halses, die furchtsam zur Notwehr gespreizten Fin-
ger, und nun auf die, die das Auge noch vor sich sah, den Sa-
tjrr, den flötenspielenden, einspringen sah, ein wildes Sichhin-
auswerfen aus dem Raum, den wider den Verfolgenden trun-
ken zurückgeworfenen Kopf, die fröhlich rhythmisch empor-
geworfenen Kniee: dem war, als drehte er die schönste der
antiken Vasen in entzückten Händen. 19 2 S (?)

197
Mittlere Geister — das sind die eigentlich sogenannten Geist-
reichen—bewegen die Zeitideen, ohne sie zu beherrschen.

Der junge Mensch erleidet seine starken Eindrücke, der reife


verhält sich hervorbringend zu ihnen.

Gipfel des »Wissens« auf einem gewissen Gebiet ist ein ge-
wisses Stadium der Unwissenheit, Halbwissenheit. Schwächere
Epochen, den Grundlagen des »Wissens« näher dringend, lösen
alles wieder auf.

Eines Menschen Leben beschreiben wollen, heißt sich ihm —


mindestens — gleichstellen.

Feuerluft, innen mitten zwischen brennenden Scheitern, sieht


aus wie kristallklares, in sich bewegtes Wasser.

Paradoxie unserer Kultur. — Die Franzosen tragen die Pyra-


mide ihrer geistigen Kultur alle zugleich, indem die Basis auf

ihren Köpfen aufruht, wir tragen die unsrige jeder einzeln mit
der Spitze auf seinem Kopf stehend.

Gleichnisse. — Ein jedes menschliche, ja jeder Teil eines Tuns


ist ein Ganzes: indem man es bezeichnet, zerschlägt maxi es,

macht es zum Bestandteil einer Maschine; ja selbst durch un-


ser bloßes Leben wirken wir in dieser Weise zerstörend. (Die
Weisheit der sinnlichen Wollust ist das Nicht-Unterdrücken.)
Im Gleichnis kommt das »Glied« des Denkens zum Eigen-
leben, und es wird ein Teil von dem Raub, den das Sprache
gewordene Denken am Leben begeht, diesem rückerstattet.
Die Metaphern bei Shakespeaje gehören nicht zum mimischen
Ausdruck, noch zur Mitteilung: sie sind ein Drittes.
Gleichnisse: Ihr Zweck, das durch die Sprache Berührte, aber

198
nicht zentral Berührte zu versühnen ; das aus seiner Ruhe
Aufgestörte hart neben dem zvveckhaf't Angerührten zu be-
gütigen; dem Unteilbaren Reverenz zu erweisen.

Sprache ist unter anderm auch Umgang mit den Worten ; hier
liegt der x\bgrund im Sprachgebrauch zwischen den Deutschen
und Franzosen. — Der magische Grundsatz pars pro toto in
den Gleichnissen wirksam.

Begegnungen. — Die zartesten Individuen: jede Beziehung


zwischen zwei Menschen ist ein Individuum, ein Daimonion.
Manchmal heftet ein solches einen unbeschreiblichen Blick
auf uns aus dem Dunkel, manchmal ein unbestimmtes aber
tränenüberströmtes Gesicht, manchmal fühlen wir eines sich
von uns entfernen wie durch einen langen düsteren Korridor.
Sie haben Erinnerungen, die wir nicht teilen, und ihr Wille
ist meist stärker als unser bewoißter Wille.

Gedanke eines Alternden, daß aus der aufsteigenden Genera-


tion ihm, wofern er es erlebe, der entscheidende Aufschluß
über ihn selber zuteil werden könnte.

Geistige Haltung. — Es liegt ein Geheimnis des hohen Stils in

dem, was nicht erwähnt wird. Darin, daß er so vieles nicht zu


sehen geruht, tritt die große Haltung eines Autors hervor. In-
dem er mit den W^eltmächten und Scheinmächten zum Kampfe
antritt, wählt er sein Kampffeld, und in dieser Wahl, durch die
er gleichzeitig die Ordnung des Kampfes (wie eines Tanzes) an
sich reißt, tritt seine Souveränität, seine eigentliche virtü her-

vor. Indem Euripides Denk- und Gefühlsformen seine Schran-


ken öffnet, deren Existenz von einem Äschylos implicite ver-
worfen wird, vollzieht sich der jäheste Absturz vom großen
Stil, der je da war. — Wer den großen Stil eines Dante oder

199
auch eines Raffael erahnen will, vergegenwärtige sich die
Zweifels- und Seh wache weiten, die Schein- und Schreckens-
mächte, welche durch das erfüllte Dasein jener Gemälde und
Gebilde als nicht-existierend statuiert werden. Dies ist die rei-
nigende und aufbauende Gewalt, die von den Werken des
hohen Stiles ausgeht, und in diesem Sinn verstehe man Mö-
llere als einen Meister des hohen Stiles auch noch in seinen
Possen — und begreife, welcher Gehalt noch von diesen ausgeht.

Zu jenem Gedanken von der Vernachlässigung des Niedrigen,


das den hohen Stil ausmacht »Bin: ich als Ritter vielleicht ver-
Töne zu kennen und zu unterscheiden, welche
pflichtet, die

von Walkmühlen herrühren und welche nicht?« Don Quixote

In der Gegenwart ist immer jenes verborgen, durch dessen


Hervortreten alles anders werden könnte das : ist ein schwindel-
erregender Gedanke, aber ein trostvoller.

Das vergangene Geschehen (Geschichte) erscheint als ein Ge-


genwärtiges, wenn alle Umstände (alle Züge der Gestalt) er-
faßt, d.h. vergegenwärtigt werden.

Was uns zur Betrachtung der Vergangenheit treibt, ist die


Ähnlichkeit des Gewesenen mit unserem Leben, welche ein
Irgendwie-Eins-Sein ist. Durch Erfassung dieser Identität kön-
nen wir uns selbst in die reinste Region, den Tod, versetzen.

Das Leben ist restlose Vereinigung des Unvereinbaren.

Die nächsten Angehörigen sehen vom Verhalten eines Men-


schen zur Welt die Intentionen, die meist das reinere sind; die
Fernerstehenden sehen die Realisation, wo sich dann vieles

Unreine, ja Böse einmischt.

200
Das Drama verträgt ebensowenig die nackte Tatliandluiig als

die nur auf die Macht des Wortes g(}stellten Szenen, — wovon es

sich eigenthch nährt, das sind Szenen, wo das, was handhmgs-


niäßig nicht unwichtig, Ghed einer sich steigernden Entwick-
lung ist, stark durchs Medium der beteiligten Figuren reflektiert
wird. Je stärker die momentane Handlung, desto mehr drängt
sie die Figuren in die allgemein giltige, darum triviale Situation,

in welcher sich alle Menschen befinden, wenn ihnen zufällig


dieses begegnete. Die stärkste Handlung beschränkt die Figu-
ren auf Interjektionen.

Meine antiken Stücke haben es alle drei mit der Auflösung des
Individualbe griffes zu tun. In der »Elektra« wird das Indivi-
duum in der empirischen Weise aufgelöst, indem eben der In-
halt seines Lebens es von innen her zersprengt, wie das sich zu
Eis umbildende W'asser einen irdenen Krug. Elektra ist nicht
mehr Elektra, weil sie eben ganz und gar Elektra zu sein sich

weihte. Das Individuum kann nur schemenhaft dort bestehen


bleiben, wo ein Kompromiß zwischen dem Gemeinen und dem
Individuellen geschlossen wird.

Das »W^elttheater« ist ein Mysterium oder eine große Allego-


rie. Jede der europäischen Literaturen hat diese Epoche gehabt,
aber bei uns ist sie am längsten lebendig gebheben. Die Fackel
war nur einen Augenblick zur Erde gefallen und ich habe sie

noch glimmend aufnehmen können. Es ist kein Arrangement,


neu und alt: so alle meine Sachen. — Ich spreche direkt
es ist

von mir und meiner Arbeit, weil Direktheit das Element des
Künstlers ist, und weil man, gezwungen in einer solchen Art
an sich zu denken, eine Belebung empfängt. Man kommt dem
eigenen Geheimnis näher. — Jeder schafft sich das Instrument
seiner Kunst selbst, indem er von Eindrücken und Halluzina-
tionen ausgeht, die dem Eros unterstehen, und damit das von

201
überliefertem verbindet, was er erfassen kann. Es schafft im-
mer eine Pluralität Landschaft, Zeitgeist, Volksgeist. Ich habe
:

mich immer um das Ausdrucksmateried alter Meister geküm-


mert (Kombination von Elementen, Tradition: Cezanne hat
eine Rebekka von Delacroix noch einmal gemalt).
Das Neue ist die Gestalt des Bettlers. Der aktive Bettler anstatt
des passiven. Eine Zeitgestalt, die Drohung des Chaos. So »The
Hairy Ape« eine optimistische Antwort, — meine Antwort war
nicht pessimistisch sondern religiös. Wie der Bettler die Axt
hebt, rührt ihn die Liebe an. Umschwung: Saulus-Paulus auf
der Bühne im Drama unmöglich, derlei vielleicht Mysterium.
(Expressionismus: Umschwünge ohne Liebe.) — (Reaktion der
Verschiedenen auf dieses dramatische Problem Franzosen auf :

die Epidermis, die Skandinaven christlich, die Eingeborenen


und die Amerikaner nedv synthetisch.)

Eine Figur
Im Labyrinth eines Märchens von Tausendundeine Nacht oder
im Labyrinth einer Großstadt wie London eine Figur zeigen,
die weder gut noch böse ist, — aber überall war. Nichts hat sie

gelebt, ist bei den Hungernden wie bei den Prassenden dabei
gewesen, bei den Gemarterten wie bei den Marterern, bei den
Anarchisten wie bei den Gaunern dabeigesessen, — aber dies
bildet ihre eine Wesenheit: die Wege und die Begegnungen,
die Gabe, sich leicht zu machen. Sie ist viel älter als sie aus-

sieht.

Dies drückt sich so aus, daß sie vermutet, es sei ihr ein Teil

ihrer selbst abhanden gekommen, sie sei nicht mehr intakt,

klinge daher wie ein zersprungenes Glas. Sie ist jetzt die Ge-
liebte eines sehr reichen Menschen, der hofft, wenn er vermit-

telst ungeheurer Geldopfer und einer genialen Detektivagen-


tur sie durch ihre früheren Abenteuer zurückverfolge, werde
er sie wieder »zusammenbrmgen«.

202
:

Sie kann iiiclit in alle früheren Milieus zuriickgefiilirt werden,


aber es werden die Liel)liaber (Gauner, 1 lochstapler, Anarcliist)

zitiert, teilweise suclit sie auch die Orte wieder auf, findet alles

verändert, nichts mehr suggestiv, — nur Furcht hat sie fast

grenzenlos.

Die meisten Schriftsteller erfüllen den letzten Wunsch einer


Epoche, wo diese schon einen neuen hat.

Gelegentlich der Selbstbiographie von B. Croce

Wir tragen von den anderen Nationen leicht ein Zerrbild in


uns aus oberflächlichen Begegnungen, schlecht verstandenen
:

Euidrücken, Vorurteilen und Halberkenntnissen, — die Berüh-


rung mit einem klaren Geist führt uns in das Eigentliche einer
fremden Nation, ein gereinigtes Gebiet, worin die widerspre-
chenden Eigenschaften — so hier das bürgerlich Bescheidene
mit dem ausdauernd Lateinischen, klug Erfahrenen — zu einer
Harmonie verbunden sind.

Moden sind bevorzugte Übertreibungen. Welche Idee einer


von sich selber in sich trägt, davon hängt alles ab. Aber: »je
crois que le genie depend en grande partie de nos passions«
(Vauvenargues).

1924. — Chinesische Gedichte.


Das Höhere, niemals Zeitgebundene. Dies in der Kunst nur
gespiegelt — darum kann solche Kunst auch in Übertragung zu
uns sprechen.
Die Kunstmittel, welche aufgezählt werden, zum Teil bei uns
auch vorhanden. Anklang, Obertöne ; soziale Bedingtheit in der
Wortwahl.

Über chinesische Gedichte und die Möglichkeit einer Umbil-

203
düng der deutschen Poesie durch die Berührung.

Prosa des Dichters enthält ein beständiges Anderswo. Sein Ob-


jekt ist nie das vorhegende Objekt, sondern die ganze Weh. Wie
evoziert er das Ganze?

Brief an einen Gleichaltrigen

Losung der Älter- Werdenden


Wenige erfassen. Verbin-
: das
dung zwischen Volk und Oberen. Noch einmal alle Vergangen-
heit an uns heranreißen als Lebenspyramide.
Was uns auf unsere Zeit weist, ist die Unfähigkeit, an der Ge-
selligkeit der früheren Lebenden teilzunehmen, mit ihnen Ge-
meinschaft zu pflegen ; vdr geben ihnen nicht die wahre Auf-
merksamkeit.
Darum das leidenschaftliche Hinwenden zur Sprache, die eine
Kirche aus der Nation macht.
Unser eigenthches Geheimnis war unsere Haltung im Leben,
die Perspektive unserer Äußerungen, — damit waren wir Vor-
läufer, Vorfühler.

Unser letztes Wort, — haben wir es gesagt? steht es nicht noch


unausgesprochen zwischen den Zeilen unserer Werke? ver-
knüpft es uns nicht noch später Kommenden? Unsere Welt, —
haben wir sie geschaffen? unsere Perspektiven, — sind sie er-
kannt? (»Alle Werte, die das Arbeitsethos des 19. Jahrhunderts
unterdrückte, treten wieder in ihr Recht und in unser Leben,
das Spiel, die Freude, die Ironie, das Heldentum und die Hei-
Hgkeit.« E. R. Curtius.) So ist auch in dem System von Wert-
setzungen, das den modernen Menschen ausmacht, ein neuer
Wert — das Leben selbst — aufgetaucht.
Der Europäer steht allein da, ohne lebende Tote am seiner Seite.

— Das Problem der »Zeit« als des geistigen Lebensraumes.


Wenn man zurückdenkt, werden die Lidividuen größer her-
vortretend, — die »Zeit« unvdchtiger.

204
Die Bedeutung einer Generation für die naclifolgende: sie

übergibt ihr die Welt durch Wortäußerungen, welche aber


Lebens gebärden sind. Die Verantwortlichkeit: wieweit man
zur Geltung selbst gekommen ist, dafür ist man verantwort-
lich.

Die Jugend, die das Lösewort des Rätsels bringt: die nächst-
jüngeren. — Alles liegt an der Endsituation.
Das Geheimnis der Verbundenheit ist Todesgemeinschaft, —
Kampfgemeinschaft: wir haben zusammen einen Kampf aus-
zukämpfen, dessen bitteren Ernst wir jetzt erst fühlen, dennoch
ist die Schlacht nicht abgebrochen, noch sind wir im Spiel, und
zwar bedrohter als die Jüngeren, leidensfähiger, also vollkom-
mener kühnerer und vitalerer Synthesen fähig, haben zusam-
;

men abzutreten, zusammen Rechenschaft zu geben. Wir lebten


wie auf einem Zweige, — aber war nicht der Einsamste, der
Brüderlichste nur vielleicht nicht skeptisch genug?
Das stärkere Achten auf einander, jetzt da die Entscheidungs-
stunde kommt. Man versteht ein Wort, das einer einmal ausge-
sprochen hat: es war alles ausgesprochen, Feuer genug, um
Granit zu schmelzen, — aber vielleicht war es vergeblich: in
diesem Gefühl wenden wir uns zu denen, welche die Fackel
aus unserer Hand nehmen.

Über Goethe oder über die Lebensalter


(Anrede an die Normaliens, Paris 1925)
Quand il me fut propose de venir vous causer j'etais bien decide
ä ne pas vous faire de Conference . . . wie könnte ich Sie be-
grüßen: als dei Fremde und Gast Ihrer Kultur? cds der Ange-
hörige einer anderen Kultur? — aber dies schien mir den beson-
deren Verhältnissen keine Rechnung zu tragen, und nicht der
Einmaligkeit der Begegnung. Demnach als der Ältere, als der
Angehörige eines früheren Geschlechtes, — hier aber fühlte ich
etwas Unwaiires, dagegen die Wahrheit lag darin, daß ich das

205
Bedürfnis gehabt hatte, welche von den Ihren zu sprechen,
daß ich schon einen gebeten hatte und daß ich in Marokko
diesem Bedürfnis nachgegeben hatte. Ich versuchte mir dies

Bedürfnis zu legitimieren und dachte an Goethe und sein


Verhältnis zu den Lebensaltem.
'Welche Kameradschaft ist möglich z\\'ischen dem, der an-
kommt, und dem, der beinahe schon abreist, dem, welcher so
\'iele schöne Anfänge um sich sieht, und dem, der so viele Ent-

täuschungen erlebt hat? dem, welcher beinahe sorglos ist, so

viel scheint ihm die Welt noch außer ihm zu enthalten, und
dem, welcher beinahe verzweifelt ist über die Verantwortung,
— für das Absurde, so provisorisch das
die er trägt für alles,
Absurde? Z^^äschen dem — und dem, da sie beide fast mit jedem
gleichen AVort das Verschiedene bezeichnen? Wie also kann ich
mich als Iliren Kameraden bezeichnen, ohne zu betrügen (saus
tricher)?

Das Leben ist erfüllt von der Rigidität der Altersstufen, von
einer Art Chau\'inismus (die Alten: juvenis, vir, senex). Das
Betonen, das Geltend machen, fast als Kriegsinstrument, der
geheime Neid, der vigor. Aber darunter hegt ein Anderes, die

Ahnung, daß wir nicht gebunden sind. Aber auch im mittleren


xVlter: hier liegen mehrere Alter nahe, wir sind in Gefahr, uns
zu verhören, und wir smd nahe daran, zu fragen : schaffen \vir
unser Alter nicht? sind die Altersstufen nicht Produkte unse-
rer Phantasie? Idealbilder? schöpferische Hierogh^hen? —
Goethes ambivalente Lehre hierin, vom Knabenmärchen zum
»Faust II«. Sein Verkehr mit Kindern ; l'art d'etre grand-pere,
das ewige Lernen.
Also daliinter jenes Wiesen, das das Ende mit dem Anfang ver-
binden will: » Tr,v äp/V'' ~^ 'if^t'- rooTäya'. «.

Der enge Begriff des Lebensalters wie der der Nation kann er-
weitert werden jedes Lebensalter ist Gegenwart, ist also Alles,
:

was uns gegeben ist, und muß zum Ganzen ausgeweitet wer-

206
:

den. Dies ist eine der Größen Goethes und sein ensei^neinent

vor allem. Es gibt einen Nationalismus der Altc^rsstufeii und


eine Universalität, Humanität. In jedem Alter berühren sich
mehrere und die Menschlichkeit realisiert sich in ihrem har-
monischen Gleichgewicht (»Familie bilden mit sich selbst« —
Novalis ; »l'uncmimite en soi-meme« — Gide).
Je desire vous parier d'une presence, presque d'une omnipr^-
sence . . . vermöge welcher Art, das Leben zu nehmen, ver-
mochte Goethe die Lebensalter zu überwinden? — Abgrund:
symbolische Darstellung. Demgegenüber die lateinische Re-
präsentation der Lebensalter Cicero de senectute (anklingend
:

daß jede Geschichte nur Geschichte der Gegenwart sei). Sym-


bolische Haltung Goethes eigenen Lebensaltern gegenüber:
Knabenmärchen, mit Zwanzig »Werther«, Vierzig Rom, Mann
von Fünfzig, »Westöstlicher Divan« Sechzig, »Faust II« Acht-
zig. Durchbrechung andrerseits: »Trilogie der Leidenschaft«,
Heraufrufen des Werther das Alterslose. Andererseits Lust
; am
Lernen, Goethe und der Bogen des Baschkiren.
S}rmbolische Behandlung der Welt durch alte Künstler : Tizian,
Hokusai. Tizian behandelt den Samt symbolisch. Symbolische
Behandlung durch das Kind große Präsenz der Welt : liegt bei-

den zugrunde, Ahnung der Essenz (Allonäon von Kroton).


Er steht nicht auf dem Punkt, auf dem..., sondern er steht
irgendwo, von wo aus der betreffende Punkt dominiert wird.
Gegenüber dem Technischen teils annehmende, teils ableh-
nende Haltung (Zeitungswesen, Verkehrsmittel).
Diesen Gedanken auszudrücken: Goethe habe in einer dem
Dämon des Formlosen anheimgegebenen, aber des Enthusias-
mus fähigen Nation es nach dem Sturm der Jugend für seine
Aufgabe erkannt, die Nation zu den Formen zu führen, welche
aus der Erkenntnis der Gesetze ableitbar sind. Der notwendige
Weg dazu war die völlige Beherrschung, eine Art virtü im
Sinne Machiavells — und das denkbar uneitelste Verhalten.

207
:

Als Moralist Verhältnis zwischen Traum und Realität. »Faust«


:

und »Wahlverwandtschaften« das Gesetz des Individuums, —


:

mein Gesetz die Begegnung mit ihm auf naturwissenschaft-


;

lichem Gebiet, auf ästhetischem, politischem Gebiet (Met-


ternich), auf dem Gebiet der Literatur in den literarischen
Formen. Einfluß des »Faust« als Form: Byron etc. (aber dies

vielleicht nur ein zeitgebundener Aspekt des »Faust«). Auf re-

zeptivem Gebiet: Antike, Orient, Parsi.

Es war ein großer Geist, in welchem das Gefühl der Verantwor-


tung mit der Weite der Herrschsucht in völliger Übereinstim-

mung war, — der irdischeste Geist eines unirdischen Volkes


er wollte Ordnung in sich und darum Ordnung in der Welt,

die er als einen untrennbaren Annex des Ich empfand.


Die Haltung des geistigen Imperators in der äußersten Zart-
heit ausgebildet.

1927. -Dichter.
Zentral dieses: Kompensation — das harmonische Fühlen im
Gegensatz — vereinigen — Doppelgewichtigkeit — Nacht und
Tag — Beharren und Schöpfung — Historisches und Unhistori-
sches — Sein und Werden ausgleichen — auch Arm und Reich —
Heutig und Vergangen — werten und entwerten der Worte.—
Kompensation sogar zwischen dem Genauen und Ungenauen.
Hölderlin ist furchtbar deutlich — und zugleich allgemeiner als
ein minder hoher Geist sich fassen würde.

Funktion der Dichter: das Heranbringen fremder Welten, um


durch neue Ingredienzien dem Nationalgeist größere Mächtig-
keit seiner selbst zu geben. (So rissen die Romantiker Vergan-
genheit als Idealbilder ins Volksbewußtsein herein.)
Goethes Orientalism. Chateaubriand, die Romantiker für
christhche Kunst.

208
25. Juni 1929. — Zu den subtilen kritischen Arlxnten von
Charles Du Bos.

Der erstaunlichen Einsamkeit der Dinge steht das entgegen:

daß sich zwischen zwei Wesenheiten durch ihren Kontakt eine


neue entwickelt wie zwischen inir und dieser Art Literatur-
kritik.

Mit den Gedanken ist es wie mit den Melodien, es gibt die

kurzen, geringen — und die langen, schönen; die besten aber

sind wie Kugelblitze und enthalten die Welt im ganzen.

Genie haben heißt teilhaftig sein der Unvernunft des Kosmos.

Sich den eigentlich wirksamen Gehalt der W^issenschaften


aneignen wollen, ohne einen adäquaten Fortschritt in der
Lebensweisheit gemacht zu haben, ist so verkehrt, als wollte

man Stiefel auf den bloßen Fuß anziehen.


Hier liegt die Rechtfertigung der ästhetischen Erziehung: sie

vermittelt das Geistige (so auch die Frömmigkeit).


Das fließende Medium zwischen den Erkenntnissen ist der
Gegenstand der ästhetischen Erziehung.

Li Prosa dichten ist darum schwer, weil sich bis ins Atom
hinein der Enthusiasmus und die ratio vermählen müssen.

Im Halbschlaf. Ein Kistchen halbvoll mit Asche. Man sagt


mir: das ist Goethes verbrannter Roman, der dritte, schönste.

Die hellgraue lockere Asche sah eigentümlich aus man kannte :

ihr an, daß Myriaden geistiger Zeichen eben erst in sie zer-

fallen waren.

209
7. März 1913. — Stürbe ich demnächst, so würde mir vielleicht

leid tun, ein großes schönes Bauernhaus, freiliegend auf einem


Hügel, wenn man von Ischl gegen Strobl fährt rechts, niemals

betreten zu haben.

210
AD ME IPSUM
H. V. H. eine Interpretation

Quocirca supremae pulchritudinis ama-


tor quod jam vidcrat tamqiiain imaginem
eins quod non viderat credens, ipso frui

primitivo desiderabat.
Gregorius Nyssenus
Vita Mosis

(cf. Andrian »Garten der Erkenntnis«)

Praeexistenz. Glorreicher, aber gefährlicher Zustand.


ihre Qualitäten: frühe Weisheit / Claudio, Andrea — ironisch:
junge Witwer
»Ballade des äußern Lebens«; »Erlebnis«.
Angehöriger einer höchsten Auserlesenheit /Kaiser—Aben-
Welt millenarische Anklänge
: teurer — Zauberer — Weiser
(abgedankter Kaiser) — Dich-
Versuch diesen erhöhten Zu- ter — Kind — Wahnsinniger
stand zu wahren durch Sup- Geistige Souveränität : sieht
position des quasi-Gestorben- die Welt von oben
seins. Nachteil: sieht nur Totalitä-
ten / sie: »Kleines Weltthea-
Das Über-ich »und mein Teil
: ter« : »Ein Wesen ists, daran
ist mehr« etc. Das Ich als wir uns entzücken.« Das Ge-
Universum. / genmotiv auftauchend aber
fast nur ironisch : denn er wen-
det sich gleich wieder dem
Ganzen Fluß zu. Gabe sich zu

vervielfältigen : die Spiege-


lungen. (Es emanieren glei-

213
: :

che Wesen aus ihnen : im Pro-


log zu »Tizians Tod«. Kaiser
und Page. usf.).

Bangen und Sehnsucht diesen Zustand zu verlassen : auf wel-


chem Weg?
Verknüpfung mit dem Leben. Durchdringen aus der
Praeexistenz zur Existenz.
Vor-thema. Die Süßigkeit der Verschuldung, die Lust daran
»ihr führt ins Leben uns hinein
ihr laßt den Armen schuldig werden
dann überlaßt ihr ihn der Pein« / »WiVIe ister«
So schon im »Tor und Tod«. Deuthch in »Der Jüngling und die
Spinne«. Hier jene Zeile: »Die Welt besitzt sich selber, ha,
ich lerne.«

Ambivalenter Sinn der »Verschuldung«


Halb verlorener Zustand der
Praeexistenz
Bängliche Seite der noch un-
vollkommenen Verknüpfung
mit der Welt.

Analogie mit Blakes Mystik.


Der Dichter, aus jener höchsten Welt, deren Bote der Tod,
herausgefallen
(Er, der Liebhaber der höchsten Schönheit, hielt was
er schon gesehen hatte nur für ein Abbild dessen, was
er noch nicht gesehen hatte und begehrte dieses selbst,
das Urbild, zu genießen. Greg v Nyssa)

In »Kaiser und Hexe« Versuch diese Welt wieder zusammen-


zustellen.

214
Im »Bergwerk« Versuch wieder hinüberzugelangen.
Im »Tizian« Atmosphäre jener höclisten Weh.
Im »Wehtheater« jeder dieser Glückhchen irgendwie noch
:

Angehöriger der höchsten Weh, am vollsten teilhaftig der


W^cihnsinnige

Ambivalenter Zustand zwischen Prae-existenz und Verschul-


dung.
Die Bedeutung des Namens Claudio für den »Toren« (von
claudere) Zugleich der Name des bösen Stiefvaters im »Ham-
let«. (Ist Claudio nicht ein Stiefvater seines besseren Selbst?)
Im »Tor und Tod« bezieht die Selbstanklage sich auf die
schwankende Zugehörigkeit zum Reich des Ewigen und des
Vergänglichen, auf die Unfähigkeit jeden einzelnen Augen-
blick durch den Überschwang ins Reich des Ewigen zu heben?!

Die Intro-version als Weg in die Existenz. (Der mystische Weg.)


a) Chandos-brief. Die Situation des Mystikers ohne Mystik.
dazu zuviel »Weltfrömmigkeit«.
der Anstand des Schweigens als Resultat.
b) andere Versuche der Introversion.
»Wer sich der Introversion unterzieht« (= der Auserwählte,
zum Opfer bestimmte. Gekrönte, wie Ödipus, auch Elektra,
oder der Kaiser, desgleichen Elis Fröbom) »gelangt an einen
Punkt, wo sich zwei Wege trennen« (Bild des Abgrundes, des
Scheideweges). »Die Gefalir wird augenfällig, indem der Held
zumeist einen scheinbar ganz kleinen Fehltritt tut und dann
unerhörter Mühen bedarf, um diesen einzigen kleinen Fehler
gutzumachen. Noch ein unrechter und alles wäre ver-
Schritt,

loren gewesen.« (»Kaiser und Hexe«) Versuch des Kaisers, sich


gegen den jungen Kämmerer über diesen scheinbar gcinz klei-

nen Fehltritt zu äußern. Er besteht in einer Verfehlung gegen


die Wort-magie. Die magische Herrschaft über das Wort das

215
Bild das Zeichen darf nicht aus der Prae-existenz in die
Existenz hinübergenommen werden. Analog das Verschulden
oder der bedenkliche Zustand der Frau des Schmieds in der
»Idylle«.

Der ambivalente Zustand zwischen Prae-existenz und Leben.


kommen (zu
Das Zu-sich-selber der höhern Existenz zurück-
kommen) auf direktem Wege
Dies Grundmotiv deutlich im »Traum von großer
Magie«.
ebenso : »der tiefe Brunnen weiß es wohl« — wobei
der tiefe Brunnen als das eigene Ich.
In »Kaiser und Hexe« durch : ein Zusammenkommen der hö-
hern Elemente.
wenn sie sich vereinigen, ist die Hexe überwunden
und erlöst. (Die Hexe versinnbildet einen zweideu-
tigen und schrecklichen Zwischenzustand) »Tor
und Tod«.
Auch hier läuft es auf eine Geisterstunde hinaus.
Die Momente der Erhöhung in dem Brief des Lord
Chandos.
Hiezu: das Kommen zu sich selber variiert mit den verschie-
densten Vorzeichen : »Erlebnis« — das Erblicken seiner selbst —
»Vor Tag« (zurückkehren ins eigne Zimmer) Erblicken seiner
selbst doppelgängerhaft mit wohlwollendem oder ironischem
Blick (Der Dichter und der Page. Cesarino Tarquinius.)
Variiertes Grundthema das Ich als Sein und das Ich als Wer-
:

den.
Das Thema in »Gestern« frevelhaft gebracht. An-
drea ist schicksaJlos. Begriff des Schicksals.

»Sobeide«: Entwicklung aus jener Zeile in »Ge-


stern«. »Es ist vielleicht mein Schicksal das da
stirbt.«

216
: :

Das Unhcfriodigende in der »Sobcide«: der Schick-


salsbegriff ist unzulänglich erfaßt.

Der Weg zum Leben und z\i den Menschen durchs Opfer
zwei Mythen: Alkcstis und Ödipus.
Das Opfer als Selbst-aufgabe. (Diese liegt schon im
Übergang vom einen zum anderen Moment.)

Der Weg zum Sozialen als Weg zum höheren Selbst: der nicht-

mystische Weg.
a) durch die Tat b) durch das Werk
c) durch das Kind
Fällt das Wesen aus jener Totalität (Praeexistenz Schicksallosig-
keit) heraus, so ist es in Gefahr, sich zu verlieren, zu verirren
es sucht das zu ilim Gehörige, Entscheidende, das Äquivalent:
im »Abenteurer« ist die Lösung ironisch angedeutet (das Werk
und das Kind).
a) die Verwandlung im Tun. Tun ist sich aufgeben.

Das Alkestis- und Ödipus-Thema sublimiert in der »Elektra«.

(Das Verhältnis der Elektra zur Tat freilich mit Ironie behan-
delt. Elektra-Hamlet.) Das Entscheidende liegt nicht in der
Tat sondern m der Treue. Identität von Treue und Schicksal.
Zugrunde liegt dieser Vers aus »Tor und Tod« »Ich: will die

Treue lernen die der Halt von allem Leben ist.« Das Motiv der
Treue ironisch im »weißen Fächer«.
Innerstes: die Unbegreiflichkeit des Tuns. Die Un-
begreiflichkeit der Zeit: eigentliche Antinomie von
Sein und Werden. Elektra— Chrysothemis
Variation: Ariadne— Zerbinetta.

Verwandlung. — aber jenseits des Lebens: Ariadne. Wieder-


geburt.

217
Der AVeg zum Leben (und zum Sozialen) durch das Werk und
das Kind.
contraposto der beiden Motive im »Abenteurer«. Der
schicksallos gewordene Vater und Autor. Die ironi-

schen Verse darüber aus Vittorias Mund (Harlekin als

Spiegelung dieser Figuren.)


Suchen nach dem schicksalvollen Vater.
Der Schicksal volle Bräutigam: Bacchus. Kreuzung
mythischer Motive. Die gegenseitige Verwandlung.
Das allomatische Element.
»Die Frau ohne Schatten« Triumph des Allomatischen. Alle-
:

gorie des Sozialen.


Kreuzung zweier Hauptmotive Erfassung : des Schick-
salsbegriffes (Schicksal auf sich nehmen oder fliehen*
und: Sich läutern = sich verwandeln.
*Sobeide iterum. »Tyche«. Das Motiv schon
in »Tor und Tod«. (»Verworrner Traum
entsteigt der dunklen Schwelle— und Glück
ist alles: Stunde Wind und Welle«)
Tyche: die Welt, die das Individuum von
sich entfernen will, um es zu sich zu bringen.

Vereinigung und Verknüpfung sämtlicher Motive in der »Frau


ohne Schatten«
Die Färberin und der Färber, zusammen Träger des Schick-
salsmotives. vorgezeichnet in der »Sobeide« (Situation der
Färberin zwischen Gatte und Efrit wie dort zwischen Gatte
und Ganem.)
Die Kaiserin und der Kaiser vereinigen in sich die Motive der
Schicksalfindung durch Auf-sich-nehmen des Fluches
zugleich das Gewahr-werden der Mitwelt als gleichberechtigt
(wie am Schluß von »Kaiser und Hexe«)
ferner die Umkehrung der Motive von »Kaiser und Hexe« und

218
:

»Bergwerk« : einem Dämon wird hinaufgeläu-


die Liebe zu

tert zur Liebe zu einem menschlichen Wesen, anstatt zu dieser


in Anthithese zu stehen.
Für beide Gruppen wird die Erlösung durch die Un geborenen
— aber in magischem Sinn — statuiert

zugleich sind diese Ungebornen die erhöhten Spiegelbilder


ihrer Eltern
diese kommen also zu sich selber, indem die Kinder zu ihnen
kommen.

(Das Motiv des Zu-sich-selber-kommens in den Jugendwerken)


möge hier nachgewiesen werden, um den Schluß mit dem An-
fang zu verbinden.

In den Gedichten: »Erlebnis«, das Erblicken seiner selbst —


»Vor Tag« : Zurückkehren ins eigne Zimmer als Doppelgän-
ger. Desgleichen »Tod des Tizian« : der Page und das Bild, der
Page und der Dichter einander wechselweise spiegelnd Cesa- ;

rino den Abenteurer spiegelnd über den Abgrund der Zeit


hinweg.
Nochmals hier das Grundpro- als dämonische Mächte, wel-
blem che über die Seele verfügen
wollen
Das Über-ich gerechtfertigt als Gener ations-
(dem Sein Untertan) kette (die Wächter die Unge-
über die Zeit erhaben kul- : borenen, ihre Rede) wofern
minierend im magischen es im Individuum dem Wer-
Augenblick den seinen Tribut zollt: sich

der Zeit Untertan macht.

219
Ad me ipsum
(mit Hinblick auf die »Frau ohne Schatten« und die Arbeit
von Meli darüber)
(abFrühhng 1916)

Jugend Grundgefühl ein banger: Stolz


Weltbesitz und Weisheitszustand des Alters
Claudio / »Frau im Fenster« / Das gesteigerte Ich des Sterben-
den oder zum Tode Bestimmten

Bedrohung dieses (erhöhten) Zustandes durch ein Etwas von


außen her
Eros / Welt / die Welt als Dunkles Drohendes Ver-
schlungenes empfunden.
Märchen vom Kaufmannssohn
Ahnende Belehrung: »Die Welt besitzt sich selber,

ha ich lerne!«
Das Leben als Verwirrendes (Märchen [der 672. Nacht])
»Was frommt das alles uns und diese Spiele
die wir doch groß und eivig^ einsam sind
was frommts dergleichen viel gesehen haben«
*in der Prae-existenz.

Die Süßigkeit der Verschuldung: weil sie Verknüpfung mit


dem Leben, Durch-dringen zum Sein ist.

die Lust daran anstatt des Grauens davor.


So schon in »Tor und Tod«
Deutlich in »Der Jüngling und die Spinne«
am deutlichsten in der Gestalt der Kaiserin (»Frau
ohne Schatten«)

Zielgedanke Das höhere Leben


: muß die Steigerung des Selbst

sein, empfangen durch das Drauf-kommen aufs Richtige, aufs

220
:

Eigentliclie (Symbol: »Traum von großer Magie« / »Der tiefe

Brunnen«)
es nuii3 sich einstellen als richtige SchicksalserfüHuiig, nicht

als Traum oder Trance.


Kreuzung zweier Hauptmotive: Sein Schicksal auf sich neh-
men mit
Sich läutern = sich verwandeln
Sich wandeln ( = sein Schicksal suchen) im Twi (Tun ist Sich-
aufgeben)
Ödipus — Gegenfigur Kreon
:

Elektra ^pfi^
Auf dem Weg, das Schicksal zu suchen: das Vorspielhafte, der
Ödipus -Tragödie, auch des »Bergwerks« »Tod des Tizian«

Ringen um den klaren Schicksalsbegriff: Inhalt der Sobeide


(Berührung mit der bürgerlichen Welt)

Der Abenteurer, jener die Totalität umfassende, umarmende


Geist — in die Sphäre des Lebens gefallen : der Zeitund den
verändernden Gewalten ausgeliefert. Sein Spiegelbild hierin
der Musiker : beide fortlebend in der Auswirkung ihres höch-
sten Augenblickes : im Werk, im Kind. (Ironie daß beide mit
dem Werk und mit dem Ivind nichts mehr anzufangen wissen)

Die Kette von Motiven welche die Auseinandersetzung mit


Daimon-Tyche und Ananke enthalten, angeklungen schon in
»Gestern« (Angst vor dem Versäumen des Schicksals) — im
»Abenteurer« schon dem Mysterium der Ehe und Zeugung
nahegebracht

in der »Elektra« zum Äußersten entwickelt als Motiv der


Treue (Treue bis über den Tod hinaus im »Weißen Fächer«
aber ironisch behandelt)

221
in »Sobeide« zuerst, in »Ariadne« wieder mit der Ehe in Ver-
bindung gebracht.
(NB. Tyche immer als ein unerträgHcher Dämon;
sie: »verworrener Traum entsteigt der dunklen Schwelle
und Glück ist alles, Stunde Wind und Welle«
Tyche = die Welt die das Individuum von sich entfernen will
um es zu sich zu bringen
Letzte gesteigerte Formung davon : der Efrit im Märchen von
der »Frau ohne Schatten«)

Hinzutretendes Flauptmotiv : (mit welchem die Auflösung er-


folgt)

mit dem Sich-verwandeln das Verwandeln eines An-


dern
Verknüpfung mit der Welt durch Verknüpfung zweier Indivi-
duen
der Abenteurer bringt das IMotiv zuerst ironisch
der Abenteurer verwandelt Vittoria
Ariadnes Verwandlung durch Bacchus / verstärkendes Gegen-
motiv: sein Nicht- verwandelt- werden durch Circo, wodurch
erst seine Auserwählung ihm selber be^vußt wird. Circo, wie
Zerbinetta, ist der Weltdämon, Tyche, ein Element gleich dem
Efrit.

Höchste Auswirkung des Motives die Verbundenheit von Kai-


:

ser und Kaiserin im Schicksal (Fluch und Erlösung); analog


verbunden sind Iphigenie und Orest im Mythos.

Grundthema: Sich selbst finden. So im »Tor und Tod«.

Analogie zwischen Ödipus und Elektra. wo ist die Offen-

barung des Höchsten?

222
Bergwerk von Falun« | gemeinsam: Analyse der dichteri-

»Kaiser und Hexe« J


sehen Existenz.

in »Gestern« redet eigentlich: »the imp of the perverse«


[Poe.] Eine frühe Stimme, welche jenes andere: »Tor und
Tod« herausfordern will.

So steht im Prolog zum »Tod des Tizian« der Page mit bewuß-
ter Herausforderung seinem tiefen Selbst, dem Dichter, gegen-
über. Der Jüngling Tarquinius steht fragend, Cesarino kritisch
und erfüllend zu seinem Spiegelbild. Der Abenteurer ist An-
drea der Wechselnde, ist Harlekin.

In »Kaiser und Hexe« ein Zusammenkommen aller Elemente


des Höhern wenn
: sie sich vereinigen, ist die Hexe überwun-
den und erlöst. Hier die Figur der Gattin seltsam und wichtig.
Auch hier läuft es auf eine Geisterstunde hinaus. Auch dieser
Kaiser ein junger Verheirateter (wie im »weißen Fächer«)
Der Wahnsinnige eine Form der erreichten Vollkommenheit,

[Blake] (siehe Kassner über Blake in dem Buch über die eng-
lischen Künstler)

Der Dichter, aus jener höchsten Welt (deren Bote der Tod)
herausgefallen.

Im »Abenteurer« jener Geist, in die Sphäre des Lebens ge-


fallen, ein anderer »State«. Der Musiker sein Spiegelbild.
Der reinste State der Wahnsinnige, wovon die andern »Glück-
lichen« nur unvollkommene Spiegelungen.

223
:

[Einzelnotizen]

Bedeutung des Abends. (Der Mann des Abends.) Der Abend als

Erfüllung: etwas millenarisches. Im »Tor und Tod« vorzeitiger


Abend.
»Madonna Dianora« die Ausdeutung des offenstehenden
Fensters am Abend (mit dem dunklen Zimmer dahinter)
»und dennoch sagt der viel der Abend sagt,
ein Wort daraus Tiefsinn und Schwermut quillt
wie schwerer Honig aus den hohlen Waben «

Den Hesperos lassen die Alten alles zusammenführen was die


Eos trennt (Fr Sapph 95 Catull 59, 20 ff), der den Küchlein die
Mutter, allen Wipfeln die Ruh wiederbringt, Demetrius de
elocutione 141, er erglänzt der Sappho als mildester schönster
aller Silbersterne am Himmelszelt Bachofen, S. 344

Jugendfiguren, Träger dieser Jugend-seelenverfassung : Clau-


dio — der Page — der junge — Gianino (was ist das für ein
Kaiser
Jüngling der da ausruft »das Leben man kann es haben und
:

doch sein vergessen«? was für merkwürdige Zustände!) — die


jungen Witw^er im »weißen Fächer« —
Der Kaiser Porphyrogenitus — Kreon — der Kaiser der südöst-
lichen Inseln.

Zustand dieser Jugend


antizipierter Weltbesitz, Weisheitszustand des Alters
Bedrohung durch den Eros

Eine fruchtbare [?] Vorwegnahme auch des »Wunders« im


eigenen Leben.
Hierin eine Haltung der ganzen Epoche
Es ist doch auch die echt jugendliche, almende Vorwegnahme.

224
Das Suchen nach dem Bleibenden Entscheidenden
dies unter dem Jiegriii Schicksal, das man versäumen könne.
Fällt das Wesen aus jener Sphäre der Totalität (Praeexistenz)
heraus so ist es in Gefahr sich zu verlieren zu verirren, es suclit

das ihm Gehörige, Entscheidende: im »Abenteurer« ist die


Lösung ironisch angedeutet : Weib, Kind
Grundproblem Verknüpfung mit dem Leben = Durchdringen
:

zum Sein
Die Liebe geht aufs Gemze: »Ein-Wesen ists« — aber er ent-
zückt sich doch am ganzen Flusse, Flusse des Daseins
Das höhere Leben aus der Steigerung seiner selbst als das

Draufkommen aufs Eigentliche (»Traum von Großer Magie«,


»tiefe Brunnen«) empfangen, auch als richtige Schicksalser-

füllung nicht als Traum oder Trance.


Kreon erhofft Verwandlung König werden
:

Leben als Verwirrendes — und das zu gewinnende


»Was frommt das alles uns
und diese Spiele
in der Praeexistenz
Da wir doch groß und ewig
einsam sind

Nicht pessimistisch Was frommts dergleichen viel


gesehen haben?
[Kleines] »Welttheater«
Bekehrung zur Einheit: »Ein-Wesen ists daran wir uns ent-
zücken«
einzeln : Gärtner an der Gleichheit der Menschen und Pflan-
zen, Mädchen an der Form die alles durch Entfernung an-
niinmt, Dichter an der Figur des Geschauten Lebens.
auf Totalitäten.
Alles geht
demgegenüber schwer zum Einzelnen durchzudringen.
Die Wiedergeburt eines neuen genießen aus der Höhle der
Schmerzen Ariadne-Elektra.

225
. : : :

Der Weg zum Sozialen: durch das Opfer — Ödipus Alkestis —


ist Weg gangbar.
der
Der Weg zum Sozialen als Weg zu sich selbst
»ich will die Treue lernen«
Elektra- Ariadne
Der Weg zum Sozialen durch das Werk und das Kind.
Das erreichte Soziale: die Komödien.

es ist selten etwas weniger verstanden worden als daß in dem


Liedchen des Bacchus nicht nur eine Lebenssituation sondern
eine ganze Lebensgeschichte darin steckt — daß er durch dieses
Erlebnis gleichwertig neben Ariadne tritt. Das Entgegenkom-
men der mythischen Motive
Vorgeschichte des Bacchus, (Semelemotiv)

Gehalt Übergang von der Prae-existenz zur Existenz dies


: : ist

in jedem Übergang jedem Tun. Das Tun setzt den Übergang


aus dem Bewußten zum Unbewußten voraus.
Die Schwierigkeit der Tat für Elektra.
Grundproblem Werden und Sein
:

(wie sie einander in den Zwilhngsbrüdersonetten Schröders als

dämon. kosmische Gewalten gegenübergestellt sind)

als dämonische Mächte welche über die Seele verfügen wol-


len
(das Sein als Unterbewußtsein Allgegenwart)
Das Wunder verbindet beide

Das Über-ich (der Magier des »Traumes«, der Wahnsinnige,


der Bergmann) auch erfaßt als Generationskette : der Dichter
im Vorspiel für Puppen
Claudios Hindeutung: »Hohles Bild von einem vollem Sein«
auch Kreon ringt um solch ein Schicksal

226
Das Über -ich
»Warum bemächtigt sich des Kindersinns
So hohe Ahnung von den Lebensdingen
Daß dann die Dinge wenn sie wirkhcli sind
Nur schale Schauer des Erinnerns bringen?«

»Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens


SchlankeFlamme oder schmale Leier«

Das Plastische gegenüber dem Visuellen


im Handwerker
im »Bergwerk« Relation zur Bergkönigin die außer-
halb der Zeit steht
im »Traum von großer Magie«
in Kopai [Korai] (Griechische Reise: »die Statuen«)
— »der tiefe Brunnen«

Von den Antinomien des Daseins wird diese oder jene zur
Achse der geistigen Existenz.

Hieher: jenes Jugenderlebnis (16— 22tes Jahr etwa) daß alles

gegenwärtige Schöne in der Natur nur auf ein ganz unerreich-


bares Früheres hinzudeuten schien.
vergl. hiezu das Zitat aus Gregor von Nyssa, Moses-Leben bei
Burdach S. 400.

Im »Tor und Tod« bezieht die Selbstanklage sich nicht viel-


leicht auf die Zugehörigkeit zum Reich des Vergänglichen —
auf die Unfähigkeit, jeden einzelnen Augenblick — oder mehr
als einzelne Augenblicke — durch den Überschwang ins Ewige
zu heben.

Der Terminus Spiegel in »Tor Die Bedeutung des Namens

227
und Tod« Claudio. Die Selbstabspiegelung
der Madonna Dianora.
Spiegelung des Pagen
Kaiser im Kämmerer gespiegelt,
Abenteurer im Cesarino.

Kopai Das unheimliche Vergessen von AugenbHck zu x\ugen-


bhck.
»Kaiser und Hexe«. Das Stammelnde, Insuffiziente im Ge-
ständnis des Kaisers.

Die Schemata der frühen Klugheit: Page, Tarquinius Moran-


din, die jungen Leute im »weißen Fächer«, junge Witwer.

La presence de l'univers
das Ich der Sterbenden
(»Tor und Tod«; »Frau im Fenster«, sie! schon be-
vor sie tödlich bedroht ist)

Das Ich als Spiegel des Ganzen aber mehr als Spiegel:
der Wahnsinnige

zwei Antinomien waren zu lösen, die der vergehenden Zeit


und der Dauer — und die der Einsamkeit und der Gemein-
schaft. Ohne Glauben an die Ewigkeit ist kein wahrhaftes Le-

ben möghch.
In dieser Zeile in »Tor und Tod«
»Ich will die Treue lernen die der Halt von allem Leben ist «

war das Entscheidende ausgesprochen.

Das Schöne
Herausreißen aus der Natur Dürer-Rembrandtisch
so in den »Geschwistern« von Goethe

228
:

Aufmerksamkeit auf Spiegel und Spiegelungen


»der Flüsse Dunkelwerden
begrenzt den Hirtentag«

ein Weg mit vielen Teichen

zu dem Begriff des Reflexes (der wechselseitigen Spiegelung in


meinen Gedichten und Dramen)
Goethe in den Tagebüchern unterm 16 XI 1808. Betrachtun-
gen über den Reflex von oben oder außen gegen das Untere
und Innere der Dichtkunst; z. E. die Götter im Homer nur ein
Reflex der Helden ; so in den Religionen die anthropomorphi-
schen Reflexe auf unzählige Weise. Doppelte Welt, die daraus
entsteht, die allein Lieblichkeit hat, wie denn auch die Liebe

einen solchen Reflex bildet. Und die Nibelungen so furchtbar,

weil es eine Dichtung ohne Reflex ist, und die Helden wie
eherne Wesen nur durch und für sich existieren.

»Frau ohne Schatten« Fluch oder Lösung.


Die Verbundenheit von Kaiser und Kaiserin im Schicksal (ana-
log Iphigenie und Orest)

Jedermann Heintl — der Aspekt der letzten Stunde als Steige-

rung Tizian Girondins Frau im Fenster


»die Vorwegnahme des möglichen Schicksals, die zugleich Auf-
hebung und Überwindung des Gegenwärtigen sein kann«
(Gundolf):
Hojfnung (oder Furcht)
Der Tod als eine Art Furcht = Hoffnungsdämon,
»allegorische Dämonen« Gundolf

ad »die schwebend unbeschwerten«


: usf.

desgleichen

229
»Nichts ist hier — nur aufzufliegen
ist ein Ort an jedem Ort«
Der Sinn der Weh ist Lösung. Nichts läßt sich im Weltlichen
Welt ist Werkstätte ist Ort der Gestaltung, Erinne-
befestigen.
rung, Wechsel, ist um der Fülle der Schönheit der Liebe willen
usf.

»Kaiser und Hexe«


Was bedeutet das, könnte man fragen, worauf der Kaiser in
dem Gespräch mit dem jungen Kämmerer diesen warnend
hinweist? Um welche Versündigung gegen das Höhere oder
um welches Vergehen handelt es sich da? —
In der Biographie von Clemens Brentano (auch von Bettina)
finden sich manche Hindeutungen auf Ähnliches, wodurch
man per analogiam den Schlüssel zu obigem finden kann.
Es handelt sich um ein Zu- viel im Reden, ein Übertreiben —
und in diesem Zu-viel ist eine Spaltung — ein Teil des Ich be-
geht was der andere nicht will — es ist dies Quer-hindurch-
schauen durch die übertriebene bizarre witzige Rede, die der
»Zweite« in uns hält (Clemens Brentano). Er überläßt manch-
mal »seine Worte« (sagt er selbst) »ihrer inneren lebendigen
Selbständigkeit und
Rede wirtschaftet dann auf ihre eigene
die

Hand munter drauf los, während meine Seele in der Angst,


Trauer und Sehnsucht liegt«. Es ist die Gefahr der »Aufwal-
lung, der kein Tun folgt«.

»Mäuse, Raubtiere, Diebe, Buhler, Flüchtende« nennt er ein-


mal die Worte, die ihm »mit seinen Empfindungen aus dem
Maul laufen«. Die seelische Situation ist die des jungen, inner-
lich ungefestigten Wesens, das mit sich selbst noch nicht genug

hat, sich den Menschen, die er liebt oder gewinnen will, »hin-
wirft bis zur Würdelosigkeit«. Es ist, nach der Einsamkeit der
Praeexistenz, die leidenschaftliche Vorwegnahme des Sozialen,
bis zum Frevelhaften, auch ein Verwischen der Grenze zwi-

230
sehen Phantasie und Wirkliclikcit also Lüge.
Bei Figuren wie den Brentanos war das ein Lebe nszus tan d,
hier ist es einniahg, eine der Facetten des liarlen und scliarf-

geschnittenen Steines. — Es zielt auf die Rede als soziales VAc-

ment, als — und so führen Fäden von hier


das soziale Element
zurück zu Claudio, nach vorne zu dem Lord Chandos des »Brie-
fes« und zu dem »Schwierigen«.

251
:

n
[1917?]
Zur Darstellung meines Lebens
I. Kindheit: bis zum zehnten Lebensjahr. Vorfahren Stadt,
Landschaft. — Dann die ersten Irrtümer und Komplika-
tionen, aber das Kind noch bleibend.
IL Jünglingszeit. Die Kindheit als Spiegelung der Sehnsucht.
Alles Vorbereitung, Hindeutung. Die Welt nahe und fern.
Frühe Berühmtheit. Hermann Bahr, George. Das frühere
Wien. Ahnung eines nicht mehr vorhandenen Zustandes.
Ahnung der Welt: Antike, Orient, Geschichte. Die dunk-
len Zeiten. Furcht. Richard B[eer]-H[ofmann]. Verhältnis
zu Frauen: jenes »Adolphe« — derwenn er geheiratet
hätte vielleicht ein vortrefflicher Ehemann gewesen wä-
re. Versuch alles zu gruppieren. Andrian, Bui [Georg Fran-
ckenstein] — endet mit 1899 — Produktivesbis zum

»Abenteurer«. Was war mir Italien — ja was war mir alles


dies? Das Spiegelnde scheinbar Un teilnehmende Frau :

V. W[ertheimstein] im Innersten betroffen und belastet.


III. Gegenwart (etwa 1912—1917) Krise des Mannesalters.
Wahrhaftige Bedeutung auch des früher Besessenen Bo- :

denhausen Schröder Pannwitz

1917
Grabschrift des Dichters. — Jugendstadium: Magie. Varese.
Später Gestaltung. Ferner: Aufbewahrung. Erkenntnis der
Zusammenhänge. Sich leichter fühlen. Ahnung des Höheren
kaum mehr ausdrückbar Wölkchen sich auflösend.
:

[»Frau ohne Schatten«] Hindeutung auf Höheres, Entselb-


stetes innerhalb der Ehe in den letzten Stellen zu vier am
Schluß der Oper. Eine aphoristische Ethik.

252
: :

Neubouorn, 9. VIII. 21
»und dennoch sagt der viel, der >Abond< sagt« — das Gleiche ent-
wickeU in der dramatischen Parabel von »Leben ein Traum«
Scientia creaturae in comparatione scientiae creatoris quodam-
modo vesperascit. S. Augustinus

Avissee, 15. IX. 21

Der Einzelne und die Epoche als Mythos gesehen


sie : das was in der Epoche seit Kant an verändertem Weltgefühl
lebt irgendwie gespiegelt im Sigismund

Ohne Taten und Leiden der Individuen entsteht kein Mythos


daher bedurfte es der Vorgänge seit 1914, damit die Mächte
sich zum Mythos gestalten.

M}thenbildung ist wie Kristallisation in der gesättigten Salz-


lösung es wird dann
: im entscheidenden Augenblick alles my-
thisch, so wie das Hündchen zu den Füßen des Ritters.

bei Berufung zum Dichter


darüber, was diese 15 Gedichte enthalten: keine Liebesge-
dichte, ein Gewahrwerden seiner Selbst, einen magischen Ton

Die Sprache
Über George. Einzige Berührung mit ihm beim Lesen der
»Hymnen« »Pilgerfahrten«. Die Spitze mit der sich das Un-
endliche in die Seele gräbt — Über Borchardt
Über den Wiener Dialekt. Das Schöne davon: das Maßvolle.
Gewebe gegangen — die Geschichte ist arm.
Alles in dieses
Der Dichter: er kommt nie zurecht und gerade dadurch
kommt er zurecht (so mein Versuch, mit »Die beiden Götter«
das dem Augenblick Gemäße zu sagen).

235
Der Dichter und die Frager
Gibt es eine deutsche Literatur? geht es auf- oder abwärts? ist

alles umsonst? Ach! Ach!

Über Moliere und daß die Deutschen ihn nicht verstehen und
warum.
So die Erklärung Tartuffes an Elmire : »Ah! pour etre devot je
n'en suis pas moins homme«.
a-t-on souvent exprime autant en si peu de mots — suggere
tant de choses avec autant de sobriete . . .

hiezu die Stelle über den Stil von Renan daß er en-dega de
: sa

pensee bleibe

III. 22
Als junger Mensch sah ich die Einheit der Welt, das Religiöse,
in ihrer Schönheit; die vielfältige Schönheit aller Wesen er-

griff mich, die Kontraste, und daß alle doch auf einander Be-
zug hatten. Später war es das Einzelne und die hinter der
schönen Einheit wirksamen Kräfte, das ich darzustellen mich
gedrungen fühlte, aber von dem Gefühl der Einheit ließ ich
nie ab. (Auch dort wo Kontraste dargestellt sind, in der mitt-
leren Periode, wie die heroische Elektra und die nur weibliche
Chrysothemis, oder der starke Pierre und der schwache Jaffier,

kam es mir immer darauf an, daß sie mitsammen eine Einheit
bildeten, recht eigentlich eins waren.)

Ramsau, 30. VII. 23


»ad me ipsum«, neu konzipiert in numerierten Abschnitten,
wovon im Folgenden einige angedeutet.

Wenn unsere Epoche eine des Untergangs sein soll . . . wie


vieles ist doch noch da, unverbraucht, in ursprünglicher Rein-
heit. Es muß gedacht werden, daß auch das untergehende Rom

234
voll solcher intakter Lebenskeime war— und daß es ein Schick-
sal gibt, ein von außen Herantretendes. — Mit diesem Gedan-
ken sind wir schon dort wo man sich über alles erheben kann.

Es suid mir Menschen entgegengetreten, aufweiche die Natur


einige ihrer größten Gaben gehäuft hatte. Es waren wahrhaft
imperatorische Naturen — und ihr Geschick hat sie fallen lassen.
Schon das müßte einen auf ewig skeptisch machen.

Über das Besinnungslose früher produktiver Epochen.

Über die Wahl des Dichterberufes. Ein Mensch sitzt im Wald,


schreibt 21 Gedichte. Er malt Gestalten hin, der Augenblick
nimmt sie und sein Schicksal ist entschieden. Aber er
auf: steht
erst am Anfang eines harten Weges.

Über den Zusammenhang meiner Arbeiten

Einer der größten Vorteile den das Selbstgefühl dem Künstler


gibt, ist der, sich seinen geistigen Umgang zu wählen ohne an
die Zeit gebunden zu sein.

Das In-sich-Gebundene des Dichters, in dieser Form. — N. ist


ein Mensch des geistigen Bereiches, aber er ist kein Mann von
Geist. Er rührt an die größten Dinge und sie besitzen ihn nicht.
Er hat in einem Augenblick das Weltall zu Gebot, im anderen
fast nichts. Er scheint Menschen zu verstehen — aber er muß
sich gestehen, daß er sie fast nicht versteht. Er ist unerfahrener
als seine ICinder — seine Dialektik ist nichts wert. Entwickelt er
sich? kaum. — Seine Eitelkeit ist nicht sehr groß — aber seine
Empfindlichkeit desto größer. Er ist da und nicht da. Er ist ein
Dichter. Ferner: er fürchtet den Tod nicht, eher das Leben. —
Er gleicht dem Zerstreuten, der abends in sein Haus kommt.

235
es nicht erkennt: verhält er sich so zur Epoche? Er kommt im
Maskenkleid zu einem Begräbnis.
C[arl] B[urckhardt]s Wort vom Raum in der Zeit für Gewisses,
und für Anderes nicht.

Über das Lustspiel

1926
»A man can neither be insulted nor praised.«

Ni l'objet propre de la poesie, ni les methodes pour le joindre


n'etant elucides, ceux qui les connaissent s'en taisant, ceux qui
les ignorent en dissertant, toute nettete sur ces questions de-
meure individuelle. Paul Valery, »Variete«

Begegnung. George.

Bildung. Das Theater. Burgtheater und Vorstadt. Die Einheit


im Schauspieler. Reflexe in dem Knaben: den Stil des Racine
mit dem der »Ahnfrau« verschmelzen zu wollen. (Die »Ahn-
frau« sehr wohl als volksmäßig erkannt.)
Feste : Praterfahrt / Fronleichnam / Kaiserliche Begräbnisse

Jene nur geahmten, nie betretenen Kontinente.


Zusammenhang von Bild Wort und Schrift. — Jene geplanten
»Rodauner Anfänge«. Über die Kunstsprache und die Mathe-
matik (anknüpfend an Lionardo).

Geheimnisse: der Zeichendeuter. Die Doch-nicht-Halluzina-


tionen. Die Erkenntnis jeder Erscheinung als gut oder böse,
um 1890—91. Alles kommt darauf an, welchen Rang man die- I
sen Dingen gibt.

236

I
Freunde: Auflösung und Neu-geburt durch solche Beziehun-
gen.

Formidable Einheit des Werkes.

Die tlieatralischen Formen auch die minder strengen.


:

Das Biographische des oeuvre der Verschwender-Typus — der


:

Walmsmnige — der Abenteurer — der Schwierige —

Im »Schwierigen« Andeutung des Verhältnisses zwischen


Phantasie gestalten und der Realität. Das Soziale — perspekti-
visch behandelt.

Zeitpunkt 1892. Frühe Einflüsse: Edgar Poe — Baudelaire —


Verlaine — Mallarme (Georges Kopie des »Apres -midi d'un
faune«). Zeitgeist: das Musikhafte
ferner: Novalis — die englischen Dichter, besonders Keats.

IX. 26
Das Suchen nach der möglichen — notwendigen Tat. (Die Tat
der Pagen Alexanders war Hysterie — die der Elektra geht aus
einer Art Besessenheit hervor.) Die mögliche Tat geht aus dem
Wesensgrund, aus dem Geschick hervor.

»Kaiser und Hexe« was


: es mit dem Stoff auf sich hat mit der
Schuld für die Frau. Die Tragweite damals nicht erkannt. Für
solche Bekenntnisse müßte erst eine Sprache ganz einfach er-
funden werden.

I. XL 26
Es sind einige herangetreten, meine Biographie schreiben zu
dürfen. Ein sehr sonderbares Ansinnen. Es ist zu vermuten,

237
daß sie nicht erfaßt haben, um was es sich handelt. Es handelt
sich, den Geist der Epoche und den des Individuums zu be-
schwören und sie beide auseinanderzulösen. Die Hexe von
Endor ist schließlich erschöpft und halbtot.

Die Anekdoten — die Aufenthaltsorte — die Begegnungen —


die Einflüsse. Unfähigkeit, das rein geistige Abenteuer zu er-

fassen.
Wer eine Biographie macht, stellt sich gleich. Die Biographen
können nur erfassen was sie mit ihm (und vielen anderen) ge-
mein haben.
Der Anfang ist pure Magie Praeexistenz. :

Die substantiae secundae das Theaterstück


:
— das Trauerspiel.

Ahnung der Regeln. Ahnung, daß hier von der Gesamtheit


etwas gewollt und gesucht -wird.

Die Offenbarungen, durch die Ausübung der Dichtkunst emp-


fangen.
Die Augenblicke der Macht.

Die soziale Seite der Dichtkunst: die Verbindungen. (Anfang:


Aber geht es um Selbstgenuß —?...) Der Trieb und Zwang,
alles nachzufühlen. — Die Verbindungen innerhalb der Kunst-
sphäre: z. B. mit Shakespeare, mit Calderon.

Das Bekenntnishafte: in »Kaiser und Hexe«.

Auch diese Seiten selbst sind Bekenntnis. Und für wen schreibe
ich sie — für wen dürfte ich sie ohne Eitelkeit schreiben? Auch
hier bedarf es einer Geisterbeschwörung: empirische Begeg-
nungen müssen vergeistigt werden.

238
5. XL 26
Haltung: soziale — österreichisclio (der »feine kluge Wiener«).
Anschluß an eine Tradition. Absichtliche Mittelbarkeit. (Hal-
tung des »Schwierigen« in einer nuancenlosen Welt.) Diffe-
renz mit George kommt hier zur Sprache.
Innerhalb des deutschen Ganzen.
Zur geistigen Gegenwart: Zur Tradition:
Zum Planetarischen zum Göttlichen
: : katholische Umwelt
zu sich selber: wie faßt man sich selbst

und das Göttliche in sich auf?


Zartes Geheimnis. Arielhaft: dienend —
Befreiung erhoffend. (Der »Wahnsinni-
ge« im »Welttheater«.) — Tiefere Ge-
heimnisse der Kaiser
: im Märchen sowie
in »Kaiser und Hexe«.
Diesem zugrunde wie man: die Optik eines Lebenskreises mit
der des andern überfliegen muß —
Zur deutschen Geschichte frühe Lektüre der Quellen. Gefühl
:

der Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich ungebro-


chen. So auch gegen Italien (hier auch durch Blut zugehörig) —

10. XL 26
Hochmut als innerster Schutz um den Kern.Wort Valerys von
der notwendigen Beigabe des Hochmuts beim höheren Geisti-
gen.

Das Gefühl konzentrischer Verantwortungen.


Das Gleichnisweise in alledem. Ein Spiel — das Auftauchen
einer neuen Figur, die dadurch entstehende Konstellation
könnte alles verändern. So nahm Napoleon Goethen eine große
Last ab. Die Unmöglichkeit sich aus diesem planetarischen
Spiel herauszuziehen. Ähnlich jetzt das Auftauchen Hölder-
lins.

239
;
:

ad »Turm« : der Vater oder das Bestehende — der Gouverneur


:

das Belehrende — der Empörer das Drohende der Materie :

Sigismund der Mensch von dem der Vater sich Fortsetzung er-
:

wartet der ihn unerwartet fortsetzt und sich selbst


: im Kinder-
könig fortsetzt.

II en est de notre esprit comme de notre chair ce qu'ils sentent


:

de plus important, ils l'enveloppent de mystere, ils se le ca-

chent ä eux-memes ; ils le designent et le defendent par cette


profondeur oü ils le placent. Tout ce qui compte est bien voile

les temoins et les documents l'obscurcissent; les actes et les


Oeuvres sont faits expressement pour le travestir. Valery

12. XL 26
Das Mythische. Der Abenteurer eine mythische Figur. Des-
gleichen Ariadne. Das Mythische in höherer Sphäre realisiert in
»Helena«. Aristie Menelas : als Vertreter des Abendlandes. (In
der Türkei: Menelas -Hahnrei.) — Ausgleich zwischen Orient
und Abendland (vgl. Bachofens Interpretation der »Aeneis«).

»Kaiser und Hexe« reines Bekenntnis.

Ad me ipsum (bezüglich der Jugendwerke) 1927


Imaginärer Brief an C. B.

Ihr Brief hat mich gerührt — es hat mich gerührt wie vieles

Sie fühlen, erkennen — und daß Sie dies Jugendoeuvre ein so

berühmtes als unverstandenes nennen. Es scheint mir wirklich


so. Ich staune, wie man es hat ein Zeugnis des l'art pour l'art

nennen können — wie man hat den Bekenntnischarakter, das


furchtbar Autobiographische daran übersehen können —

Gefahr, daß das Ego die Liebe verlerne ästhetisch gesprochen, :

240
daß die Form erstarre. (Pigenot.) — Ich verließ jede Form be-
vor sie erstarrte.

»Gestern«, »Tor mid Tod« Gefahr der Isoliertheit, des


: selbsti-

schen Erstarrens, der Überhebung.


»Tor und Tod« sowie »Kaiser und Hexe« ermangeln einer
wirklichen Interpretation.
Die Versündigung in »Kaiser und Hexe« ist das Abschweifen
der Phantasie, das Antizipieren, das Nicht-sich-Halten am
engen Gegebenen — das Amalgamieren fremder Erfahrung
(die "Worte sind Harpyen)

In »Tor und Tod« : eine solche Stelle ^vie : »Ich füg mich so,

daß Gut und Böse über mich Gewalt . . . « heißt : Gut und Böse
hat keine Gewalt ich glaube
: sie nicht, weil ich sie nicht vom
vitalen Urgrund des Erlebnisses her empfangen habe. (Sic et

Tochter des Töpfers.) Das gleiche im »Tod des Tizian« bezüg-


lich Erfahrung.
Im »Bergwerk« ist jenes gewaltig Hinüberziehende (das die
Seele dem Leben entfremdet) erst wirklich gestaltet das Reich :

der AYorte worin alles Gegenwart. — Das Ganze drückt den


Versuch der Seele aus, der Zeit zu entfliehen in das Überzeit-
liche. Worte reißen das Einzelne aus dem Strom des Vergehens,
vergegenwärtigen = verewigen es. Die magische (nur selten
gefährliche) Gewalt der W^orte auf ein für diese Gewalt emp-
fängliches Ivindergemüt.

Ringen um das Notwendige : das was Hölderlin das Schickliche


nennt.

Das Heilige (to ojiov)

Gleichnis jener Praeexistenz. — Homunculus — das alles über-

241
schauendste, fast unbegrenzte Wesen — das umherspäht, seine
ihm bestimmte Enge zu finden. (Schließlich zerschellt es an
der Galatea Throne, zerrinnt endgültig ins Unendliche.

IX. 27
»... ihre Popularität, ihre Art, fremde Naturen anzunehmen
und sich ihnen mitzuteilen. . .« (Brief Hölderlins vom 2. XII.
1802) — diesen Begriff auf mich anzuwenden.

X. 27
Bildung zart zu behandeln.
Ein Minimum von verbalem Gedächtnis.
Geschichte-Mythos Bachofen.
Ortsgefühl: Versuch des Umfassens. Symbohsche Haltung.
Das Umspannen weiter Zeiträume.
Buckle -Gibbon. — Die Nachfolge Roms in Österreich als leben-
dig (Riegl, ^Yickhoff).

H. V. H.
Ein Versuch nach Gesprächen

»Der Turm«. Darzustellen das eigentlich Erbarmungslose


unserer "Wirklichkeit, in welche die Seele, aus einem dunklen
mythischen Bereich, hineingerät. Anzuknüpfen: jener Begriff
der Praeexistenz.

»Helena« das beweisen was sonst


: als bewiesen angenommen
^vird.

Nationale Aufgabe: Begriff der Mitte der Nation. Äußerungen


über George, Pann\\'itz und andere (Gegenwart und Ge-
schichte). Soziale Haltung.

Figur. Charakter. Das: Verbirg dein Leben. Autobiographi-


sches überall: »Kaiser und Hexe«, Märchen, »Schwierige«.

242
.

»Turm«.
Rahinen, novelleiiartig. Reise.

IX. 28
Autobiographisches

Frühe Einwirkung jenes Bildes Kaiser MaximiUan spricht mit


:

acht Hauptleuten in ihren Sprachen.


Beschäftigung mit der Geschichte. Früh (14—17) Buckle Ideen :

und Geschehnisse in ihrem Zusammenhang. Daneben zu den


Quellen gehen: die »Monumenta Germaniae«, Gibbon, Dun-
cker »Geschichte des Altertums«. Wattenbach »Deutschlands
Geschichtsquellen«.
Bedeutung von Byzanz — hieran anknüpfend dichterische
Pläne.
Neu-aufnahme dieser Bestrebungen. Die Begegnung mit
Dilthey.
Die Begegnung mit George. Unausgesprochener Gegensatz.
Das Österreichische. Natürliche Verbindung mit dem Theater.
Begegnung mit Schröder. Übereinstimmung.
»Rodauner Anfänge« — gemeint als eine Rückführung der
wissenschaftlichen Kunstsprache
Die Unternehmungen der Bremer Presse.
Salzburger Festspiele. Theater überhaupt Burg/ Berlin
:
/ Rein-
hardt / Oper.
Hinwendung auf das unmittelbar Notwendige. Die Münchener
Rede. Die Beziehung zu Universitäten.
Das Phänomen Berlin.
Das Phänomen Tolstoi, seit etwa 1891 (»Kreutzersonate«).

Stadien

Versuch, gewisse Momente des eigenen Lebens darzustellen.

243
Verschiedene Momente meines Lebens auffangen und vor
allem zeigen, was im Schatten ist. Das Lebendige, das Wahre
in dem aufweisen was schweigt. Z. B. Epoche der Freundschaft
mit Poldy (»Kaufmannssohn« »Garten der Erkenntnis«; vgl.

hiezu das zwölf Jahre spätere Buch »Verwirrungen des Zög-


lings Törless«). Das Hauptproblem dieser sehr merkwürdigen
Epoche liegt darin, daß Poldy vollständig (ich weniger voll-

ständig, sondern ausweichend, indem ich eine Art Doppelleben


führte) das Reale übersah : er suchte das Wesen der Dinge zu
spüren — das andere Gesicht der Dinge beachtete er nicht, er
wollte es absichtlich nicht hea.ch.ten, für nichts ansehen (ähnlich
kann der Zögling Törless das Gesicht der Dinge, wenn sie ferne
sind, und das andere, wenn sie hart an uns sind, nicht über-
einbringen).

Eine andere Phase! zu kristallisieren in einem Erlebnis einer


Sommernacht in Unterach. Das Haben und Nicht-Haben des
Sinnlichen.

Das Kind. Theater. »Die Afrikanerin«.

Der einsame Knabe. Fusch 1888. Gerade die widerhaarigen


Züge beachten, die scheinbar nicht ins Bild wollen, die ganz
kleinen Details, die der Erinnerung entschlüpfen wollen, ihnen
nachgehen; auch den sonderbarsten Assoziationen unermüd-
lich nachgehen.

244
ANDENKEN
EBERHARD VON BODENHAUSENS
1

I
FJuc. Seine starke Ehrliebe. Ausgleich dieser mit dvAu Ge-
rechtigkeitsgefühl.
Worin er Ehre sieht. Allmähliche Überwindung der Über-
schätzung von Standes- und Amtsehre. (Student, Offizier, Be-
amter.)
Zarteste Empfindlichkeit für die Nuance des Unehrenhaften.
Berührung mit so vielen Sphären. — Er setzt immer mit einer
höchsten Ehrung ein dann wägt er, ob das Individuum dieser
:

Ehre wert sei.

Der zweifelhafte Kreis neuer großstädtischer Existenzen ; sol-

che Individuen wie Harden. Rathenau. Der Kaiser. — Solche


Figuren wie Pannwitz. Gefühl, was er solchen Menschen
schuldig sei:
Bedeutung der Ehre im deutschen Leben. »Verbrecher aus
verlorener Ehre«. Die Ehre in der »Geschichte vom braven
Casperl«, m »Zwischen Himmel und Erde«, in »Maria Magda-
lena«.
Was vermag ihm als Gereiften noch die Ehre zu mehren?
Anerkennung innerhalb der industriellen Tätigkeit.
Große Entschiedenheit dann ist der Mann eben ein Schuft.
:

Jähes Brechen mit Menschen, aber Ringen mit seinem Ge-

R[odaun] 11. VII. 28


Anfang (an dritter Stelle)
Ich versuche das Bild dieses Mannes zu entwerfen, weniger
in der Hoffnung, es zu einem lebendigen zu machen — dem
steht viel entgegen vor allem meine mangelnde Kraft — als ,

um darauf hinzudeuten, daß es einen solchen Menschen über-


haupt gegeben habe.
(Welche Hindeutung nur für die, die ihn gekannt haben, völlig
faßlich.)

Dann auch aus emem noch bescheideneren und noch wesent-

247
:

licheren Grunde. Man nimmt den Zeitgeist, das Gesicht der


Zeit als etwas Gegebenes : aber nur in den Charcikteren finden
wir den wahren Gehah der Zeit. Und den Sinn ihrer Konstel-
lationen, ja die Individuen finden den höchsten Sinn nur in
andern Individuen ich bin : vielleicht durch diese Freundschaft
zu mir selbst gekoromen.
Oder tiefer und allgemeiner gesprochen
ein sittHch hohes Individuum schaift neue Bindungen — und
in unkonventionellen Bahnen. Von ihm aus war ein anderes
Deutschlajid da — und eine neue Möglichkeit.
Hohe Empfindlichkeit, höchste Forderung an sich selbst — da-
bei völlige Uneitelkeit.
Höchst unromantisch, und überhaupt unsentimental. Rasch-
heit des Durchschauens eines Leer-gewordenen — großartige
Resignation.
Sentimentalität höchstens im Schwernehmen: durch die
Schwere des gütigen eigenen Handelns wollte er die Schwere
des erlittenen Druckes aufwiegen.
So kommt Calvin in Rousseau wieder.

Allgemeines.
»Nicht allein Gesichtszüge sind bezeichnend für den Charak-
ter; Stand, Gewohnheit, Besitztümer, Kleider, alles modifi-

ziert, alles verhüllt ihn.« Goethe.


Welche Zeitimpulse waren in diesem Individuum mächtig? —
durch die er Mitschuldiger alles Geschehens wurde. — Ja wir
alle sind es — aber unsere Richter müssen erst auferstehen.
Eine Generation muß der andern wesenhaft gegenübertreten
— dann werden aus den Richtern Brüder und die Arbeit der
Nation stellt sich in der Zeitfolge her.
zum Anfang (II)
Epoche. Was bedeutet es: ein solcher Mensch drückt den Ge-
halt seiner Epoche aus? — was bedeutet es demgegenüber, ob er

248
.

Briefe oder Werke hinterläßt, in denen sein Wesen erkennbar


bleibt? Uns ist ein Stück Zeit zum Durchleben gegeben das ist :

die dritte Bedingung unseres Daseins — die erste ist das Indivi-

duum Leib-Geist, die zweite die Zugehörigkeit, — Was bedeu-


tet demgegenüber das Überzeitliclie — die Tradition — ?

Wesen und Tun. Er meinte, man müsse alles mit ganzer Hin-
gabe tun — mit ganzer Hingabe aber auch alles tun können.
Dies führte ihn von der Verwaltungskarriere zur Industrie.
Zugleich wollte er zur Kunst ein dienend souveränes Verhält-
nis festhalten.

Das Primäre, eine sinnlich geistige Liebe zum Schönen: zum


Reiz der Frauen — zum Schmuck.
Andererseits ausgehend vom Männlichen : das Haus — der Gar-
ten — das Grab. So das Ausbauen der Industrie, das Einbeziehen
der Landschaft, die Härte im Annektieren. Auftraggeber für
Architekten.
Wunderbar leicht Überlegenheit über Ideologien.
Höchster Wille zum Guten, Schönen — es zu erfassen im Objekt
(in Mädi als Mutterschaft)
Gefühl der Scham beim Anhören eines Sternheimschen Stückes
— Zugleich Gefühl der Schuld — ob diese Scham begründet.
Ungeheures Mitleben.

Das Aufsuchen der Stellung bei Krupp (als der wichtigsten,


nicht der repräsentativsten Sphäre), Brief von 1906 über die
Schwierigkeit für ihn.
die Stellung führt unmittelbar auf das Problem des Antagonism
mit England.
Er lebte in einem Europa das nicht mehr ist.

249
.

Moment des Todes. Sogar unsere menschlichen Qualitäten,


deren Wertung traditionell gesichert schien, sind problema-
tisch geworden — es Umwertung viel radikalerer
hat hier eine
Art stattgefunden als dievorgenommen hat.
Nietzsche
Selbst die ästhetischen Wertungen sind im Fundament erschüt-
tert darunter aber erhebt sich aus dem Schutt das Bleibende —
:

wenngleich es sich nur als das Prekäre fühlt. —


Wir können ganze Literaturen durchlesen ohne etwas zu fin-

den, das in uns vollkommen widerklingt.


»Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage« — alles noch Bestehen-
de hat das Vorzeichen des Als-ob mit Ausnahme des Geldes.

Moment seines Todes und das dann Heremgebrochene (in sei-

ner Familie und in der Welt) — Ähnlichkeit dieses Momentes


mit dem eisigen Schrecken wenn Dampfer unter-
ein großer
geht — all diese Maschinen für nichts sind von einem
: dies alles

der Passagiere mit kaltem Blut wahrgenommen — und all die


Sorgen, Hoffnungen, Kombinationen dieser tausend Passagiere
jäh auf Null reduziert —
diesen Gehalt der Katastrophe aufzufassen (wovor die Meisten
durch glückliche Beschränktheit bewahrtgeblieben sind), diese

Niobe -Situation zu erleben wäre er wohl fähig gewesen.


Vielleicht hätte er jenseits wieder Land erblickt: sein Blick

auf Amerika war hoffnungsvoll, nicht befremdet. Sein Blick


hätte China erfaßt — er wäre der Entwicklung seines Sohnes

gefolgt...
Aber die leisures eines Zurückgezogenen wären ihm schwer-
lich offengestanden :und linke Presse, die Parteien —
die rechte

die Wmterfeldts —
die neue Generation, die Versöhnung mit
Frankreich — die Fehlenden (wie Seckendorff und Marwitz) —
mehr als alles der Geist, der Hauch der Zeit . .

Bodenhausen gehörte einem andern Europa an: neues Ver-

250
:

hältnis zu Amerika, zu China, zu Afrika.


Er kannte noch: The Ideals of the East.

Schwierigkeit einer substantiellen Haltung diesen Phänome-


nen gegenüber— hier alles über Goethe hinaus — trotzdem die
iVnmerkungen zum »Westöstlichen Divan« höchst adäcjuat.

18. IX. 27
Seine Zweifel an Gottim Anfang des Krieges.
Die Frage Dostojewskis wegen des zu Tod gequälten Tieres.
»Als diese Frage, nur in anderer Form, Mill in seinen alten Ta-
gen in den Kopf kajn, erklärte er, er sei eher anzunehmen be-
reit, daß Gott nicht ganz allmächtig sei, als daß mit seinem
Willen und Einverständnis derartig entsetzHche Dinge auf Er-
den geschähen.
[W.l James äußerte sich noch schärfer
Er würde einen solchen Gott unter keinen Umständen für
einen Gott anerkennen. — Wenn sich ein Mensch finden sollte,

der wie Abraham selbst das Messer über seinem Kind erhöbe,
so kann kein Zweifel mehr bestehen, er hat die Vernunft ver-
leugnet und handelt in einem Anfall von Wahnsinn. Solcher
Art waren alle Propheten. Gott befahl Hesekiel, Menschenun-
rat zu. essen, und Hesekiel gehorchte und aß.«
Leo Schestow: »Tolstoi«.

Die Todesbereitschaft Bodenhausens:


»Ich würde 24 Stunden, oder vielleicht 2 Tage brauchen, mich
umzustellen.«
Das Gewicht, das dieser Ausdruck umstellen bei ihm hat. Das
gleiche Gewicht, mit dem er eine uneinig auseinandergehende
Konferenz wieder umstellte.

Die Seelenverfassung, die dieser Todesbereitschaft zugrunde


liegt. Der Nicht-Glaube — auch an den Positivismus. Hier (wie

251
beim Agnostizismus meines Vaters) ergibt sich die furchtbare
Bedingtheit des Individuums durch die Zeit, auch in bezug auf
diese letzten überzeithchen Dinge. Für ihn war kein Pietismus,
kein Ausweg in die Mystik.

Die Rolle, welche die Verzweiflung auch in diesem Leben


spielt. Das Hinüberwerfen der Schuld von sich auf das Ganze,
auf die Ordnung.
So jene Worte über Gott im ersten Kriegsjahr. Aber es wird
kein eigentlich religiöses Erlebnis daraus, kein »sich verloren
fühlen« k la Tolstoi — sondern ein Weiterarbeiten. Er kauft in
diesen Jahren Teppiche, chinesische Gefäße, Schmuck, Wein.
Er pflanzt 10000 Kirschbäume.
Gerade hier liegt das Deutsche in seinem Verhalten, das schwer
zu erkennende leicht mißdeutete.
Eine stoische Haltung.
Carior diis homo quam sibi. (Devise Bachofens in seiner letzten
Lebenszeit.)
Die Situation im Moment des Todes. Die Veränderung der
Hauptstadt. Das Nicht-vorw^ärtskommen solcher Erscheinun-
gen wie Pannwitz — das Vergebliche in alledem.
Er hatte sterben sehen — das Vergebliche auch solcher
Opfer. —
Die Schwindelepoche —
Die Diskreditierung der Universitäten vorher: der Friedens-
schluß — die zerspaltene Nation — Aber alles Untergehende hat
etwas Edles — schlimmer wäre das Weiterbestehende zu ertra-
gen gewesen das sture Fortarbeiten
:
— die Arrangements —

Die ungeheure Auflösung auch der Vergangenheit.


Die Revision von 1870, von 1813. —

252
11. X. 28
Anfang
Zu Ende XIX zu Anfang XX begegnete Männern aller Sphä-
ren ein Mann — der starken Einfluß übte. Seine Beziehungen
waren die verschiedenartigsten. Einigen begegnete er als Ade-
liger — der in der Industrie war — andern als Industrieller — der
Güter besaß. Politikern als politische Kraft — Künstlern als

Geist. Finanzleuten als Finanzmann. Der eigentliche Welt-


mann fehlte — aber es war ein Mann von großer Welt da. Die
Begegnung war immer handelnd, eingreifend. Er veränderte
Existenzen. Als Vorsitzender. Als Berater. Als Gutsherr.
Der Augenblick des vorzeitigen Todes konzentrierte diese
Teilnahmen. Es Avurde eine Einheit in der trauernden Vision.
Erinnerung an die Verschiedenheit seiner Funktionen und
Möglichkeiten. Die vieles umgreifende tiefe Wesensart konnte
gealmt werden. Aber der Augenblick war furchtbar. In die all-

gemeine Auflösung wurde auch dieses entstehende Bild hinein-

gerissen — wie alles Geistige Höhere.

Übergang auf die erhaltenden Freunde. Was ihnen diese

Freundschaft im tiefsten — was überhaupt Freundschaft im


tiefsten bedeutet. —
In solchen Charakteren wird die wahre Tendenz, der tiefere
Gehalt der Epoche erfaßt.
Deutsche Einsamkeit.
Ein schönes Wort von Kohnstamm »Manchmal : muß ich mich
wundern, daß ich es so schwier mit Menschen habe — die nicht
meine Patienten sind.« Brief vom 25. X. 1916.
War Leben eine untragbare Last geworden?
das
Unbeschreibliche Liebe zum Schönen und Ehrfurcht vor der
Kunst, bei völliger klarer Schätzung der Künstler.
Das Denken an solche Menschen wie er war ermöglicht das

253
höhere Dasein.
— »ein Weiser in der Tat« —
Prozeß der inneren Läuterung, ganz bewußt. Das innere Ver-
brennen. Das Fertigwerden mit etwas, auf einem Spaziergang.
24 Stunden um sich auf den Tod zu bereiten.

Das Auf-sich-nehmen von Pflichtenkreisen, zur Prüfung und


Läuterung der Kräfte. Aufsuchen des Lebendigsten.
Berührungen: Mit Forstpersonal, Waldarbeitern, Kutschern,
Pastoren als Gutsherr.
mit Gelehrten, Museumsdirektoren, als Kunsthistoriker (Va-
lentiner),

mit Verwaltungsbeamten als Beamter und Großgrundbesitzer,


mit Fabrikdirektoren, Beamter als Direktor,
mit Diplomaten, Hochadeligen, hohen Beamten als Standes-
genosse,
mit Ärzten und Kranken als Patient,

mit Künstlern, Dichtern, Schriftstellern, Redakteuren als Auf-


nehmender und Unterstützender,
mit Bankleuten, großen Faiseurs usf. als leitender Mann, mit
Amerikanern, Holländern, Belgiern als Verhandelnder.
Ehrgeiz, Standesstolz usf. —
allmählich alles aufgehoben — Erfassung des Begriffes der wah-
ren Ehre. Zugleich seine tatsächliche Macht auf dem letzten

Punkt. Der Begriff des Edlen.

26. VII. 28
Fragen : inwieweit war er ein Aufnehmen der — inwieweit
ein geschlossener ablehnender Mensch? Welche Kraft zu be-
harren hatten seine Vorurteile und worauf stützten sie sich, um
diese Kraft zu haben?
Worin ruhte er aus?

254
Funktion von Goethes tiefsten Andentun f^on und symbolisclien
Haltungen für solche Individuen.
Sein Aufnehmendes: die Strenge des Kon fron tierens jeder
geistigen Erscheinung (wenn er ihr das Jwlie Kriterium zu-
erkannte) mit dem eigenen Wollen und Vollbringen; die Bereit-
schaft zur Demut. Unbedingtes Verhältnis zum Schöpferi-
schen.
Solche Erscheinungen konstituieren keinesfalls eine Auflö-
sungsepoche. Sie gehören dem festen Kern der Nation an.
Wie er innerlich durchdrungen war, daß das tiefere Leben
von einerlei Art ist.

Sein mutiges und gefaßtes Dasein innerhalb der Zerklüftung


des Lebens — völlig un verzweifelt — aber müde : die Liebe zum
Grab, das Kreisen der Gedanken ums Grab.

Er war gefühlvoll, aber ganz frei von Sentimentalität.


Hierzu aus Wilbur L. Gross
: : »The life and times of L. Sterne«.
»Sein [Sternes] >Sentimentalismus< ist bis zu einem gewissen
Grade auch der unsere. Der seine freilich spielte nur auf der
Oberfläche, wälarend der unsere sich in die Tiefen des Unter-
bewußtseins verkrochen hat. Das heißt Sterne belustigte sich
:

an übertriebenem oder an falscher Stelle auftretendem Gefühl,


wobei er sich über diese Übertriebenheit oder Mißleitung klar
war. In das heutige Drama und den heutigen Roman dagegen
ist dieser Sentimentalismus ein verwoben, ohne daß wir uns
dessen bewußt sind. Wittern wir aber sein Vorhandensein, so

tun wir, als ob er nicht da wäre — was eine Heuchelei be-


deutet.«
»Er sieht das Große groß, das Kleine klein.«
Zu: Urteil. Hierin liegt die Fälligkeit ganze Lebenslagen zu
überblicken, und von einem Vielerlei schnell die Summe zu
ziehen. So sein Strich-drunter-machen — nichts mehr erwarten
von einem Freund.

255
26 VII 28 in Bezug auf diese Darstellung,
aus: Ortega y Gasset »Geschichte als Wissenschaft«.
»Mein Leben ist Stück eines Ganzen, einer höheren Realität als
es selbei, sofern es in der Isolierung genommen wird, wie der
Psychologe es zu nehmen pflegt. Ein Einzeldasein ist eine Ab-
straktion , erst im Zusammenleben gewinnt es seine Ganzheit.
Begreife ich aber das Leben als Leben der Gemeinschaft, so er-

hebe ich mich über den Standpunkt meiner individuellen Exi-


stenz, in dessen immanenter Sphäre sich alles auf mich als den
Mittelpunkt bezieht. Das in ter subjektive Zusammenleben ist

die erste Transzendenz jenseits des Unmittelbaren, Psychologi-


schen. — Denn der Komplex aus Ich und Du führt eine eigene
Existenz nach neuen Gesetzen, mit individueller Struktur. Aber
dies intersubjektive Dasein und jedes seiner individuellen Ele-

mente findet sich wieder einem dritten Organismus gegenüber:


dem anonymen Leben, das weder individuell, noch interindi-
viduell, sondern Kollektivleben ist. Wir sind eher soziologische
als psychische Wesen.«
Sein Urteil immer frei, nie politisiert, immer politisch.
Ehrung — welche Art Ehrung ihm widerfahren konnte. Immer
kritisches Verhalten. Ehrung durch die Arbeitsgenossen. Eh-

rung durch Untergebene. — Welche Ehre ihm tatsächlich wi-


derfahren ist durch viele Einzelne : nicht vergessen zu werden.
— Kraft der Selbstüberwindung. Das Verbrennen.

Die Epoche: too serious (wie Sterne von den Franzosen sagt),

Affektation des Über-ernstes.


Urteil, immer wach über jede Replik, jede Gebärde, jeden
Witz; über zarte unmerkliche Handlungen.
Lebenslust und Lust, das Leben auf sich zu nehmen.
Höhepunkt die Heidelberger Jahre. Aufsichnehmen der kunst-
historischen Aufgabe wie nebenbei.

256
: :

Es niviß das und das getan werden.

Seine Eigenschaften zarter als die traditionellen Tugenden und


Laster — aber nicht weniger tief begründet. Das Einfache,
Elementarische in ihm ausfinden.
Kraft des Behagens. Der Wein, in solchenMomenten.
Höchste Liebe für Witz, Freiheit, Schönheit. Das Zu-viel des
Auf-sich-nehmens. Nicht mehr Ertragen von Musik.

VII 28
Zum einleitenden Abschnitt
inwiefern die Mitlebenden vorzüglich — die früheren Genera-
tionen nur indirekt — uns zur Erreichung unseres geistigen
Lebenszieles (über welches die Stimme des Gewissens uns un-
zweideutig aufklärt) zugewiesen sind. Wir haben ganz andere
Wege, Lebende zu verstehen — als Tote.
Gipfel: politische Aspiration.
Die rastlose Vereinigung des Unvereinbaren, die das Leben ist.

— Seine Interessensphäre: das Machtleben der Nation — die


Wahrung des Standes — die soziale Gerechtigkeit — die Werte
der anderen Nationen — die Reinheit der Sprache
Großer Sinn für Kollektivitäten.
Das Gebiet der Künste. Die Freude des Auges, Sinn für Tanz —
Musik (Haydn »Schöpfung«), öffentliches Bauwesen.
Das Gebiet der Religion (der hohen Sittlichkeit).

Lektüre historische Bildung.


:

Seine Erkenntnis, daß sein politischer Standpunkt nicht vor-


handen — nur der geometrische Ort dafür. All sein Tun ein
Abtragen für nicht gewährte politische Tätigkeit.

III. 28
Düstere Kindheit. Dauernder Druck davon ausgehend. Der

257
Vater. Tante Amalie. Die Schwester. Druck des protestanti-
schen unfreien Wekbildes. Die vielen Dinge, die man leisten

muß. Die unfrohen Gegebenheiten. Versuch sich eine andere


Welt aufzubauen.
Das Auf-sich-nehmen der Familien gründun g. Wunsch nach
Nachkommen. Die Anmut und Grazie in der Ehe.

28. IX.
Seine Alt von Machtbegier. Zugleich fast eine Selbstaufopfe-

rung.
Güte — Fähigkeit zur Härte (dies entzieht sich dem Blick).

Erotik — Freundschaft — Geist.


Verhältnis zum Kunstwerk. Demut. Stolz. Empfindüchkeit.
Unterscheidungsvermögen eine Hauptkraft;
Fähigkeit die Rangordnung zu erkennen.
Wie dachte er über das Wichtigste : Woher die Autorität über
die Massen kommen soll.

Sein Verschwinden, bevor das Tragische der Epoche hervor-


tritt.

Parallel-Dasem mit einer Figur wie Max Weber. Nicht-


Begegnung.
Bei ihm gab eines dem andern Raum : er lebte s3rnibolisch.
Todesbereitschaft. Einkäufe für das Haus. Pflanzen von Kirsch-
bäumen. Bestellung des Kellers — Sorge für das Grab.
Gespräch, immer nur in kurzen Pausen. Last der Arbeit.
Seine Haltung manchmal gleich der des Kungtse, der sich gegen
Angreifer durch Gesang rettet.

Wie ertrug er die Widersprüche: vermöge des Übergeord-


neten, Gemeinsamen, Nicht-Seienden. So las er Goethe. Ver-
worrenheit — Übertreibung — Furcht verhindert das Erlebnis.
Brief: »Ich habe nach dem 3ten Akt Macbeth das Theater
verlassen müssen, weil es mich zu stark angriff.«
ebenso: »Schöpfung«.

258
Rechtzeitigkeit seines Todes, in An])(>trarlit des nun II(;r(;iri-

breclienden.
Er wäre dem materiellen Zusammenbruch gewachsen ge-
wesen.
Seine Elastizität hätte die ungeheure Umstellung aller Begriffe
und Ordnungen, die Ironisierung alles für hoch Gehaltenen,
die moralischen Rückwirkungen der Reue über Verfehltes viel-

leicht vertragen. —
Das Zweifelhaftwerden des durch Bücher Überlieferten über-
haupt — die absolute Deshumanisierung.
Das eigentlich Religiöse in ihm wäre wohl der Verzweiflung
ausgewichen —
aber es kann ein taedium vitae hervorgehen aus dem Flachen
das nach oben kommt.
Aus der Gedächtnislosigkeit, aus dem Hinaufströmen der
Grundsuppe, aus der Unmöglichkeit der Zusammenfassung —
das sich vielleicht bis zum freiwilligen Tode verstärkt hätte.

Denn hier ist eine Abwesenheit des Tröstenden, wie keine


Epoche sie gekannt hat. —
Aber sein Blick auf diese Dinge wäre grandios gerecht ge-
wesen.

Familiensinn. Der Vater. Die Tante. Die Schwester. Der Sohn.

Religion. Theismus. Schwankend geworden mit dem Kriege.


Verhältnis zu Zeitgenossen, sehr warm; Relationen wie zu
Kohnstamm; andererseits zu Pannwitz. — Die Freunde. —
Sein Zutrauen zum Gehalt der Nation eigentlich unerschüt-
terbar. Aber Geringschätzung des öffentlichen Stiles.
Politiker. Verhältnis zu Österreich. Verhältnis zum Monarchen.
Qualitätssinn: Angewandt auf jede Situation; jede Lebens-
äußerung.

259
.

Es war in gewissen Momenten gleich denkbar, daß er head-


master einer Schule, Nachfolger Bodes oder Reichskanzler ge-

worden wäre.

Sinnliche Empfänglichkeit. Sinn für Form.


Warum wurde er keine öffentliche Figur? Soll das Höchste
zeitweise von privaten Figuren gelebt werden. Was wissen wir
vom Gehalt des von uns gelebten Zeitraumes wirklich??
Der Übergang aus einem geistigen Beruf in einen nicht gei-
stigen. (Heidelberg — Krupp.)
Gedanke an Schulgründung. Exkurs über den Deutschen als
Lehrer. Exkurs über die zugrundehegenden Erwägungen und
Einsichten, um so großen, tiefgehenden Verzicht vor sich sel-

ber zu rechtfertigen. Den Geist nicht gesondert von der Macht


erblicken woUen.
Die Macht dort erkennen wo sie ist.

Scharfer Blick auf den Zustand der herrschenden Gruppe, und


deren Verhältnis zum ökonomisch Mächtigen.
Es gibt keine Monarchen mehr. — Sich dem erwählten Herrn
unbedingt geben.
Problem der Durchgeistigung der Macht. —
Seine Stufung: die Firma, die Industrie, das Vaterland. Sein
Annexionismus
»Das Becken von Briey brauchen wir eben.«
War aber diese Haltung sein Letztes?

Der Moment des Todes.


Die Erschütterung der pietas — für ihn der voll pietas war.
Exkurs Es : ist das höchste Geheimnis der Freundschaft — daß
man durch sie in eine Kollektivität genommen wird. Unzwei-
felhaft sind die Ränder unserer Individualität nicht scharf um-

260
: :

rissen — immer ruht der Mensch in Gemeinschaften aus, die


höchsten sind die reUgiösen. —
Seelenverfassung (vernnulicho) im letzten Lebensstadhim.
Ahnendes Bewnßtsein des Kommenden. Ahnung, über die kon-
kreten Geschehnisse hinaus, einer annahenden geistigen Krise
— so\\'ie einer Synthese, die Geist, Kraft und Stoff vereinigt.

Die Ahnung des Perspektivismus (wonach alles, auch das letzte

geistige, zeitbedingt) — und als Gegenausschlag des Seelen-


pendels die Ahnung, es gebe Dinge, von denen die Seele wisse,
ohne sie berühren zu können — es gebe Küsten welche dieser
Kahn nie erreichen werde — man habe Gedankenkontinente
ahnend angerührt, die zu betreten dieser individuellen Seele

verwehrt sei — ist aber mit dieser Seele alles gesagt? Hier liegt
es : nicht Seelenwanderung — aber wir sind nur ein Teil von
etwas, das in uns lebt, aber nicht nur in uns — wir sind v^de einer
in einer wandernden Schar — dies »Cherub und großer Herr :

ist unser Geist« — und auch die Gesinnung die Schröder in den

geistlichen Gedichten ausspricht.


Indem ^vir teilhaben, und je gewaltiger wir teilhaben (z.B.
an dem Geist Vergils ^vie Schröder) — so weit w^erden wir auch
Teil jenes Lebenden Höheren : eines höheren Europa.
So ist auch das tiefste in der geistigen Freundschaft.
Bei Dilthey muß in Bezug auf [ . . .
]

»Gung-Du Dsi fragte den Mong Dsi und sprach :

Es sind doch alle in gleicher Weise Menschen. Wie kommts,


daß manche große Alenschen sind und manche kleine?
Mong Dsi sprach
Wer dem Großen in sich folgt wird groß ; wer dem Kleinen in

sich folgt, wird klein.


Jener sprach
Es sind doch alle in gleicher Weise Menschen. Wie kommt es,
daß manche dem Großen in sich folgen und manche dem
Kleinen?

261
:

Mong Dsi sprach


Die Sinne des Gehörs und des Gesichts werden ohne das Den-
ken von dem SinnHchen uninachtet.
Das Gemüt ist der Sitz des Denkens. Wenn es denkt so erfüllt

es seine Aufgabe, wenn es nicht denkt, so erfüllt es sie nicht.«

Geistiger Verkehr.
Goethe / Stifter / Ranke — W. v. Polenz, einige wenige Zeitge-
nossen.
Den Vers für sein Grab wählte er sich selbst.

Seine Überzeugung von der Einheit des Ganzen wenn Ver-


:

zerrungen in der Sprache, die gleichen im Fühlen und Werten,


die gleichen am Hof.
Ebenso die Einheitlichkeit der Aufgabe : seiner und des Mon-
archen, und des rodenden Arbeiters, und des Bergmanns.
Für ihn war das durch Wortübertreibung zerrissene Ganze
eins.

2. VTII. 28
Güte. (Sterne)
Sein Urteil bezog sich auf Totalitäten.
Dazu gehört schneller Blick, die innere Waage, rassige Sicher-

heit, etwas Führerhaftes.


In einer ganz kleinen symbolischen Sache steckt oft alles,

und the bulk wird dadurch annulliert. So funktionierte er bei


geschäftlichen Entscheidungen.
Ich muß mich deutlich machen, wir urteilen immerfort über
ge\\ässe Seiten — Intelligenz, Brauchbarkeit —

Seine Teilnahme am Geistigen.


Goethe,

262
: :

George / Schröder / Die Liebe für meine Arbeiten /


Historische Bildung: Burckhardt, Ranke, der »Loyola« von
Gothein.
erwähnen Dilthey / Burdach
hier :
/ Hölderhn
Was ihm diese Dinge waren.
Eigenschaften
Gedächtnis / Aufmerksamkeit (schnelle präzise Waage) / Sen-
sibilität (doch Un übertriebenheit) / Aufrichtigkeit
Pflichtgefühl:
alle Bilder wissen / alle Kruppschen Zahlenverzeichnisse / Pann-
witz auf sich nehmen / Beamte versorgen.
Selbstkritik
wie war es mit der Härte? / Härte gegen sich / Erkenntnis der
Notwendigkeit der Härte —
Seine Existenz war ein Optimum innerhalb einer gewissen
Welt.
Musterhaft innerhalb dieser Ordnung.
»Wer etwas wirken will und keinen Erfolg hat, der suche den
Grund bei sich selber.«
Was war in seinen Augen Leistung
Geläuterter Begriff von Erfolg.
Das Sittliche nicht beiseite geworfen.

Lieblinge: Goethe, Stifter, Tschuangtse.

263
BRIEFE UND AUFSÄTZE
FÜR AMERIKANISCHE ZEITSCHRIFTEN
I
WIENER BRIEF

Wien, im April 1922

ES gibt vieles, wovon ich, indem ich einen Wiener Brief


schreibe, den Lesern des »Dial« zu sprechen Lust hätte, denn
es laufen viele subtile geistige Fäden von hier aus so nach Osten
als nach Westen, aber ich glaube, daß ich zuerst von dem Wich-
tigsten sprechen muß, von dem was ich the rriain current unse-
res künstlerischen Lebens nennen möchte, und das ist zweifel-

los, nach dem Zusammenbruch einer tausendjährigen politi-

schen Situation, der Kampf dieser Stadt um ihren Rang als die
künstlerische und geistige Hauptstadt Südosteuropas, der Kampf,
den sie in der Sekunde selbst des Zusammenbruches mit der
Sicherheit, mit der eine bedrohte Kreatur auf ihre letzten Re-
serven zurückgreift, aufgenommen hat und den sie ohne jeden
Zweifel siegreich durchführt. Wien war seit dem Ende des
18. Jahrhunderts — ja man kann, wenn man will, diese Supre-
matie noch um achtzig Jahre zurückdatieren — nicht nur das
theatralische Zentrum Deutschlands, und vermöge der dyna-
stischen Zusammenhänge beinahe auch Italiens, sondern es
hatte als Theaterstadt innerhalb der zivilisierten Welt über-
haupt nur eine Rivalin : Paris. Wenn ich vom Theater spreche,
als der eigentlichen Stärke des Wiener künstlerischen Lebens
— das ja nie mit dem geistigen Leben ganz eins ist, so wenig als
Literatur oder Poesie eins ist mit der Bühne — so scheide ich
,

nicht die Oper, das lyrische Drama, vom rezitierenden Schau-


spiel, noch trenne ich das höhere Theater vom niedrigeren. Alle
diese Trennungen und Distinktionen sind künstlich, schmek-
ken nach der Literaturgeschichte und der doktrinären Ästhe-
tik. Wo ein wirklicher Theatersinn, ein Etwas von theatrali-
scher Genialität über ein ganzes Volk ausgestreut ist, so beim

267
Österreicher wie bei den Kelten oder bei den Griechen, werden
diese Trennungen hinfälHg; denn eine Form des lebendigen
Theaters geht in die andere über, ein Genre geht aus dem
anderen hervor. Wenn aber die Wurzel dieser Begabung beim
keltischen Stamm mehr im Musikalisch-Mystischen, im Be-
wegtwerden durch den Rhythmus und durch das Geheimnis,
im Sehnsüchtigen und Visionären liegt, — und wenn anderer-
seits bei den Griechen eine leidenschaftlich-geniale Neigung
zur plastisch-körperlichen Darstellung der Ideen ein Drama
entstehen ließ, das beinahe mit der Plastik verwandt so war ist,

es beim Österreicher eine zweifache Wurzel, aus der dieses


ganze Theaterwesen hervorschoß die geselhge Begabung und
:

die musikalische. Der Österreicher hat unendlich viel mehr ge-


selligen Sinn als der nördliche Deutsche, mehr Sinn für das,
was zwischen den Menschen liegt, ein unvergleichhch feineres
Gefühl für die Nuance. Er hat angeborenen Teikt, und es ist

kein Zufall, daß dieses Wort zugleich in der musikalischen und


m der sozialen Sprache Verwendung findet. Lafcadio Hearn hat
es als ein Wunder an sozialer Differenziertheit hervorgehoben,
daß er, wenn eine japanische Frau an seiner Gartentür vor-
überginge, an den Nuancen ihrer Sprache erkennen würde,
welcher sozialen Schicht sie angehört, und daß es sich dabei

nicht um zwei oder drei, sondern um zwölf oder vierzehn von-


einander deutlich differenzierte Schichten handeln würde. Ganz
dasselbe ist für und der immer sehr wache und
Wien zu sagen,
Nuancen hat der Bühne
schnelle Sinn des Publikums für diese
einen großen Reichtum gegeben denn die mimischen Diffe-
:

renziertheiten der Stände gehen Hand in Hand mit den sprach-


lichen, und es gibt keine bessere Erziehung für den Schauspie-
ler als ein für Gebärden und das was sie sozial bedeuten sehr
empfindliches, waches Publikum. In der Schauspielkunst floß
dieszusammen mit der musikalischen Begabung, im Walzer
und im Couplet lebte sich dasselbe aus wie in der Farce und im

268
Melodram, und es ist, unter anderni, niclils niorkwürdiger, als

daß hier an einer bestimmten Stelle Europas etwas sozusagen


allgemein Menschliches entstehen konnte wie die Wiener Ope-
rette, das sich von Wien bis San Francisco und von Stockholm
bis Buenos Aires allen so verschiedenen Menschen einschmei-
chelte wie etwas Selbstverständliches, und das man nirgend zu
adaptieren brauchte, weil es überall wie zuhause erschien.

Ich kann unmöglich vom Wiener Theater reden, ohne gleich


zunächst auf Arthur Schnitzler zu kommen, der im nächsten
Monat (Mai) seinen sechzigsten Geburtstag feiert und der eben-
so in Deutschland als auf dem übrigen Kontinent, Rußland

eingeschlossen, als der repräsentative dramatische Autor Wiens


seit langem angesehen ist, und dessen Werke in den letzten

JaJiren durch die tausend manchmal engen und gewundenen


Röhrchen und Kanäle, durch welche solche geistigen Trans-
fusionen bewerkstelligt werden, in Amerika einzudringen im
Begriff sind.
Schnitzlers Theaterstücke sind natürlich ebensosehr ein Pro-
dukt des Wiener Theaterlebens als sie ein wichtiger Teil davon

sind. Aber sie hängen nur mit einer Seite desselben zusammen,
mit dem Konversationsstück, wie es im Burgtheater, dem be-
rühmten kaiserlichen Theater, das in einem Annex der kaiser-

lichen Burg selbst untergebracht war, gepflegt ^vurde. Gerade


in den Dezennien zwischen 1860 und 1890, in die Schnitzlers

Jugend — für jeden produktiven Menschen das entscheidende


x\lter — fällt, war das Konversationsstück an dieser Bühne auf
seiner Höhe ; ich meine, auf seiner schauspielerischen Höhe es
:

bestand an dieser Bühne, die damals über alle deutschen eine


unbezweifelte Suprematie behauptete und zu der sich die Co-

medie Frangaise in dem Verhältnis einer oft ausgesprochenen


Schwesternschaft fühlte, ein ganz bestimmter, aus den Um-
gangsnuancen der Aristokratie und des oberen Bürgertums ge-

269
misch ter, vielleicht etwas pompöser, aber doch sehr anmutiger
und nuancenreicher gesellschaftlicher Darstellungsstil, und die-
ser hat ohne Zweifel auf Schnitzlers werdende dramatische Form

einen gewissen Einfluß gehabt; nicht nur dieser Stil selbst,

sondern auch der Canevas, auf dem er aufbrodiert war; näm-


lich die französischen Gesellschaftsstücke jener Dezennien, von
Dumas fils, Sardou, auch noch Augier und Scribe — die gleichen
Stücke, welche auch auf Ibsens früheste Technik einen ent-
scheidenden Einfluß geübt haben, davon die Spur sich nie ganz
verwischt hat. Vielleicht könnte man diesen Einfluß bei Schnitz-
ler nicht nur in der Technik seiner größeren Stücke nachwei-
sen — wogegen die kleineren vielleicht manches jenen winzigen
Theaterstückchen zu verdanken haben, späten Nachkommen
der »mimes« des Herondas und des Sophron, wie sie, aus der
Feder Henri Lavedans, Abel Hermants, Courtelines und man-
cher anderen, in den Spalten der damaligen französischen Wo-
chenblätter, vor allem des »Gil Blas illustre«, so um 1880 und
1890 herum, erschienen — , sondern ein Fortwirken dieser At-
mosphäre des Pariser Theaters offenbart sich vielleicht auch in
der Vorliebe, mit der Schnitzler das Problem der Ehe, oder ge-
radezu des Ehebruchs, in die Mitte seiner größeren Dramen
gestellt hat. — Das andere Hauptmotiv seiner theatralischen
Produktion dagegen ist ganz wienerisch und drückt unver-
kennbar die leidenschaftliche Vorliebe fürs Theater aus, in der

sich in Wien hundertfünfzig oder zweihundert Jahre lang alle


Stände, vom Fürsten bis zum Fiakerkutscher, fanden und ver-
standen: ich meine das »Theater« als Symbol, das »Theater«,
welches alle Lebenden, indem sie sich voreinander zur Schau
stellen, einander wechselweise bereiten, die Komödie der Wor-
te, der Gebärden und der sozialen Handlungen, die großen und
kleinen Szenen, mit denen man einandei in derLiebschaft wie im
Salon oder in der Politik aufwartet . . . Aus alledem hat Schnitz-
ler in den geistreichsten Kombinationen und Permutationen der

270
Motive das Triebwerk seiner größeren nnd kleineren Stücke zu-
sammengestellt, und darin, gerade im Aufbau und im Antrieb
dieser kleinen, aber sehr subtilen Maschinen war er mehr
Künstler, geistreicher und klüger, als die meisten deutschen
Theaterautoren der letzten hundert Jahre — das Entscheiden-
de aber und das internationalen Wert Gebende liegt nicht in
diesen struktiven Elementen, sondern im Dialog, der immer
lebendig, in einer sehr künstlichen Weise scheinbar natürlich
und absichtslos dahinfließt und in welchem die Figuren ein-
ander gegenseitig analysieren und oft sehr tiefe Untergründe
des Denkens und Fühlens bloßlegen, während das Gespräch
fortläuft, als ob es nur um seiner selbst willen da wäre, d. h.
um sowohl die Personen auf der Bühne aJs die im Zuschauer-
raum zu amüsieren. Es geschieht um dieser Qualitäten willen
vor allem, daß man öfter Schnitzler mit Bernard Shaw zusam-
mengestellt hat, aber es smd zwei grundverschiedene Geister
und Temperamente. Das im oberflächlichen Sinn Verbindende
ist, daß sie sich beide der Ironie als eines Lieblingswerkzeuges
bedienen, aber darin treffen sie mit vielen anderen Männern
von Geist zusammen, so vor allem mit dem platonischen So-
krates, den man unbedingt unter den Vätern der ironischen
Komödie aufzählen muß ;
gewisse von den Dialogen des Piaton
sind in der Tat kleine geistreiche Komödien, Sokrates die Haupt-
figur, der wirkliche Farceur in ihnen, und die antike literari-

sche Tradition, w^elche viele Fabehi aber viele indirekte Wahr-


heiten enthält, läßt ja Piaton mit den Possen des Sophron unter
seinem Kopfldssen sterben. Die Virtuosität dieser skeptischen
Ironie ist das Besondere und Starke an Schnitzlers Komödien,
und wenn ich es sagen darf, so scheinen mir diejenigen seiner
Stücke die besten, in welchen diese Ironie nicht nur in den
Dialog gelegt ist — wie er dies bei allen seinen ernsten Stücken
auch tut, deren Genre sich gelegentlich der comedie larmoyante
nähert — , sondern bei denen die Ironie auch in der Gestaltung

271
der Handlung selber herrscht, wie m der historischen Farce
»Der grüne Kakadu«, die ein kleines Meisterwerk ist und nicht
leicht übertroffen werden wird, oder in einigen andern seiner
einaktigen Stücke.
Arzt und Sohn eines Arztes, also Beobachter und Skeptiker
von Beruf, ein Kind der obern Bourgeoisie und des endenden
19. Jahrhunderts, einer skeptischen, beobachtenden und »hi-
storischen« Epoche, nicht ohne innere Affinitäten mit fran-
zösischem Wesen und der Kultur des 18. Jahrhunderts, wäre
es fast ein Wunder, wenn dieser große und erfolgreiche
Theaterautor nicht auch ein bedeutender Novellist wäre denn ;

in der Tat sind sich nie zwei Kunstformen nähergestanden


als das psychologische Theater und die psychologische Novelle
der letzten Generation. Er ist es wirklich; er ist ein Erzähler
wie wenige, und nicht eigentlich in der kurzen Erzählung
— in der Form, in welcher Maupassant und Kipling solche
Meister waren — noch auch im Roman, sondern in der Erzäh-
lung mittlerer Länge erscheint er mir unter den Zeitgenossen
fast ohne Rivalen. Es geht eine eigentümlich bezwingende
Kraft in diesen Arbeiten rein von dem Vortrag aus; sie sind
spannend und fesselnd im äußersten Maß, und das durch eine
Kunst, die das Prädikat sobre verdient, das man einem deut-
schen Autor so selten verleihen kann aber auch unter den Er-
;

zählungen scheinen mir die die allerstärksten, an welchen der


Ironie — die bei ihm nie ohne einen Stich von Melancholie ist —
der herrschende Anteil gegönnt ist: wie jene bezaubernde, zu-
gleich traurige und komische Geschichte, welche »Das Schick-
sal des Freiherrn von Leisenbogh« aufzeichnet.
Ich muß aber von Schnitzler zu meinem eigentlichen Haupt-
thema, dem Wiener Theater, zurückkehren. Ich habe es ge-
sagt, daß Schnitzlers Stücke nur mit einer Seite des Wiener
Theaterlebens zusammenhängen : dem Konversationsstück, und
vielleicht mit einer mehr europäischen als spezifisch wieneri-

272
sehen Seite. Auch sozial hat er nicht die ganze Breite des so
eigentümUchen und sehr breiten und komplexen Wiener ge-
sellschaftlichen Lebens vor Augen gebracht; einerseits die Ari-

stokratie und andererseits das eigentliche Volk, ja sogar der


Kleinbürgerstand sind nur in gelegentlichen ironischenTypen
hingestellt die eigentliche
; Welt seiner Stücke ist die Welt eines
bestimmten gebildeten, oder, um es richtiger zu sagen, intel-

lektuellen Bürgertums: ausgesprochene Intellektuelle, Künst-


ler, Musiker, Ärzte, oder wohlhabende junge Männer einer
nicht ganz determinierten sozialen Atmosphäre und ihre Frauen ,

oder vorübergehenden Lebensgefährtinnen sind die Figuren,


die wechselweise ihr inneres Leben, ihre Aspirationen, Egois-
men und Resignationen entschleiern, und die Sprache, in der
sie es tun, ist, bis auf einzelne mehr scherzhafteAusnahmen,
eine sehr gebildete, scharf pointierte, an Reflexen und geist-
reichen Formeln reiche Sprache dieser bestimmten sozialen
Gruppe — ich möchte nicht sagen »Clique«, denn diesemWort
haftet der deprecative Sinn an, aber das Wort »Schichte« oder
»Stand« wäre zu weitgreifend : es handelt sich um eine ganz
bestimmte soziale Nuance und mentale Nuance zugleich — , die
sehr charakteristisch bleiben wird für die Zeit zwischen 1890
und dem großen Krieg, und die man vielleicht später einmal
kurzweg die Schnitzlersche Welt nennen wird, wie man eine
gewisse Gesellschaft der Louis Philippe-Zeit, die nie genau so
in der Realität existiert hat, die Balzacsche Welt nennen muß.

Ich komme aber jetzt auf die breite Hauptströmung der


Wiener theatralischen Tradition zurück, deren Stärke eben
darin lag, daß sie kein soziales Element ausschloß und eine
Welt in allen Farben des Regenbogens aufrollte, die wie die
Welt Shakespeares oder Calderons den König, das oberste Ele-
ment, ja über ihn hinaus den Heiligen, den Engel oder die Fee
ebenso in sich faßte wie den burlesken Handwerker, Eseltrei-

273
ber, Koch oder Sesselträger. Wenn ich mich des »Essay on
Theatre« erinnere, womit W. B. Yeats vor nun zwanzig oder
mehr Jaliren in Gemeinschaft mit Lady Gregory und J. M.

Synge die Grundhnien für die Irish National Dramatic Com-


pany zog, und wie er sich Mühe nimmt, den Gedanken eines
Theaters für Ungebildete, d. i. für solche, die ein Schauspiel
mit der sinnlich empfänghchen Phantasie und nicht mit der
InteUigenz aufnehmen, überhaupt faßlich zu machen, so
springt mir die Größe unseres Besitzes in die Augen, daß war
seit Jahrhunderten ein volkstümliches Theater besessen haben.
Ich setze einige Zeilen aus dem schönen Dokument von Yeats
hierher, die das entscheidende Licht über diesen Punkt ver-
breiten werden. »Das Publikum des Sophokles und Shake-
speares undCalderons sind dem ähnlich gewesen, wie ich es in

irischen Hütten gesehen habe, gälischen Liedern lauschend,


Liedern von >einem alten Dichter, der seine Sünde erzählt <,
oder von >den fünf jungen Männern, die letztes Jah.r ertrun-

ken <, oder vondem >Liebespaar, das auf der Fahrt nach Ame-
rika umgekommen ist<. — Wir müssen«, fährt er fort, »ein
Theater für uns selber schaffen und für unsere Freunde, sowie
für einige einfache Leute, die vermöge ihrer reinen Einfalt zu
erfassen vermögen, was wir durch GelehrsEimkeit und Gedan-
kenarbeit begreifen.« In Wien hat es tatsächlich eine völlige
schroffe Trennung zwischen dem Theater der Gebildeten
und dem der Ungebildeten nie gegeben, — und was die Ein-
heit herstellte, war der allgemeine Sinn für die schauspiele-
rische Leistung und die allgemein verbreitete musikalische
Begabung. Jedermann vermochte die Kunst des Schauspielers
bis in die Nuance hinein zu genießen und zu beurteilen, und

dies ebensogut auf dem heroischen Gebiet als auf dem niedrig-
charakteristischen oder burlesk-komischen; ebenso wie jeder-
mann die Melodie einer Arie nachsingen und den Rhythmus
eines Walzers nach tanzen konnte, ohne sich von dieser Bega-

274
bung auch nur Rechenschaft zu geben. Im Schauspieler, im
Sänger, in der Tänzerin floß alles Interesse an der theatrali-
schen Darbietung zusammen : so wurde der »König Lear« und
der »Faust« vom Schauspieler aus begriffen, so wie der »Don
Juan« vom Sänger aus und von der Melodie aus, eine Panto-
mime von der Fanny Elßler, der Taglioni oder der Wiesenthal
aus begriffen wurde ; und darum war in Wien das Theater seit
dreihundert Jahren oder länger (denn eigentlich mündet das
mittelalterliche Theater mit seinen burlesken »Interludes«
und musikalischen feierHchen Momenten ganz direkt in die
Oper des 17. und in das volkstümliche Theater des 18. Jahr-
hunderts) eine Sache der Allgemeinheit, so wie in Paris noch
heute, — während es in England dies zu sein seit den Tagen
Jacobs I. aufgehört hat, in Amerika es zu sein nie anfangen
konnte, und beides aus dem gleichen Grunde dem : religiösen.

(Ich meine jene grundverschiedene Auffassung des Theaters


als Institution, wie sie im römischen Katholizismus einerseits,
im Puritanismus andererseits begründet ist.)

In die Wiener Theateratmosphäre, die keine schroffen Tren-


nungen der Genres kennt und niemals von literarischen, son-

dern immer von rein theatralischen, mimischen Sternen re-


giert wurde — vielleicht kann eine repräsentative Persönlich-
keit wie Marie Jeritza, die soeben innerhalb einer Saison, ja am
ersten Abend ihres Auftretens das New Yorker Publikum er-
obert hat, und zwar ebensosehr als Schauspielerin wie als
Sängerin, am besten illustrieren, was ich damit meine, wenn
ich immer wieder den Darsteller, das mimische Element, als
das Zentrum unseres Theaters bezeichne — in diese Atmo- ,

sphäre paßt niemand besser als Max Reinhardt, und es ist hohe
Zeit, daß er hierher zurückkehrt. Ich sage »zurückkehrt«, dar-
um weil Wien sowohl seine Geburtsstadt als die tatsächliche
Wurzel aller seiner Produktion ist, wenngleich er fünfzehn
oder zwanzig Jahre lang — er ist heute ein Mann von achtund-

275
vierzig — die führenden Theater von Berlin geleitet und sich

im ganzen übrigen Europa beinahe mehr betätigt hat als in


Wien. Er gehört zu diesen seltensten Figuren: den wirklich
schöpferischen Theaterdirektoren, und maji kann seinesglei-
chen, wenn man gleich alle europäischen Länder und die
Spanne eines Jahrhunderts zuscimmenfaßt, beinahe an den
Fingern einer Hand her unter zählen. Man hat um, für unsere
Epoche, mit Antoine, dem Schöpfer des Theätre libre, und mit
Stanislawski, dem Gründer und unvergleichlichen Regisseur
des Moskauer Künstlerischen Theaters, zusammengestellt, und
es sind dies in der Tat die drei Namen, die verdienen, an der
Stirnseite des modernen europäischen Theaters mit goldenen
Buchstaben eingegraben zu werden. — In einer gewissen Di-
stanz könnte man ihnen vielleicht den von Diaghilew beifü-
gen, der aus dem Russischen Ballett das gemacht hat, was es
durch zehn Jahre für Europa war: eine Augenweide und ein
Sammelpunkt der Kräfte für alles, was im Malerisch-Dekora-
tivenund im Musikalisch-Rhythmischen zugleich neu, kühn
und reizvoll war, und auch etwa den von Granville Barker,
wenngleich dessen theatralisches Experiment nie die Kraft und
Reichweite der Vollbringungen der drei andern erreicht hat,
die ich zuerst genannt habe. Max Reinhardt steht vielleicht in
einer Beziehung hinter Stanislawski zurück, in der einen, in
welcher Stanislawskis Theater überhaupt unerreicht in der
Welt war: die Vollendung des Zusammenspiels, die Überein-
stimmung der schauspielerischen Valeurs und Contrevaleurs in
einer Zartheit und Richtigkeit wie in einer Landschaft von
Cezanne — eine Übereinstimmung, wie sie nur aus dem russi-
schen Wesen hervorgehen kann, das voll Sensibilität und
Einfühlungskraft in die Nuance des andern, des Mitspielers,
ist — sowie aus hunderten von Proben ohne jede Rücksicht auf
Zeit und Kosten (auch dies gestattet nur Moskau und kein
anderer Punkt Europas und Amerikas) und einem ganz klöster-
,

276
liehen Zusammenleben der Schauspieler, die eine Art von ^q-
heimer Brüderschaft bildeten und, iln-e biirgerliclie oder indi-
viduelle Existenz völlig aufgehen lassend in der künstlerischen,
in die Proben selber, in das Ausbalancieren jeder Tonstärke
und jeder Kopfneigung oder Handbewegung eine wirkliche
religiöse Intensität legten.

Aber Reinhardt übertrifft ohne Frage die beiden anderen


großen Theaterchefs, die ich mit ihm genannt habe. Ein Viel-
seitigkeit und an immer sich erneuernder produktiver Kraft.
Seine Phantasie entzündet sich ebenso leicht am »Tasso« und
am »Misanthrope« als an einem Shakespeareschen Lustspiel;
ebenso leicht an den gespenstischen Stücken der letzten Epoche
Strindbergs als an einem Wedekind oder Tschechow; aber er
ist auch bereit, sie an einer Travestie wie Meilhac-Offenbachs
»Orpheus in der Unterwelt« sich entzünden zu lassen, und es

ist eine erstaunliche theatrahsche Spannweite, wenn man einem


Regisseur zumuten kann, daß er ebenso den letzten Akt des
»König Lear« aus seinen eigensten Elementen aufbauen wird
oder ein in einen Cancan ausklingendes Finale von Offenbach.
Reinhardt kehrt, v^e gesagt, nach Wien zurück, d. h. er wird
vom nächsten Herbst an zunächst einige Monate jedes Jahres
in W^ien spielen, und zwar im ehemaligen kaiserlichen Redou-
tensaal. Das Repertoire, das er für die erste Stagione gewählt
hat — und das einem kleinen und intimen Theater, wie dieser
Saal es bietet, angepaßt ist — , zeigt, indem es die Vielseitigkeit

seines theatraUschen Geschmackes ausdrückt, zugleich auch,


wie sehr dieser Geschmack mit den älteren Traditionen des
Wiener Theaters übereinstimmt. Es wird den »Clavigo« von
Goethe bringen, ein Lustspiel von Moliere, »Die Schule der
Frauen«, einen Gozzi, und zwar im Stil der commedia dell'arte
mit den »Masken«, d. h. den komischen Figuren Pantalone,
Truffaldino usf., für deren Rollen der Text nicht festgelegt ist,

sondern vom Schauspieler improvisiert wird, — von Modernen

277
eines der Schauspiele von Tschechow, und, glaube ich, ein

Lustspiel von mir, »Der Schwierige«. — Ich


bin in der Tat an
allen diesen Menschen und Unternehmungen, sowohl an Rein-
hardts Theater als an dem meisten von dem, was Richard
Strauss macht, sehr nahe beteihgt, aber ich glaube, das ist kein

Grund, daß ich Zeremonien machen müßte, sondern nur ein


Grund, daß ich mit aller Freiheit und authentisch über alle

diese Dinge sprechen kann. —


Richard Strauss ist, wie Sie wissen, seit drei Jahren Direktor
der Wiener großen Oper. Er führt diese Direktion zusammen
mit Franz Schalk, einem der ernstesten und kultiviertesten
kontinentalen Musiker und Chefs d'orchestre, der aber als

eigentlicher ständiger Leiter dieses großen Institutes zu ge-


wissenhaft ist, um viel ins Ausland dirigieren zu gehen — mit
einziger Ausnahme von Rom, wo er alle JaJire ein paar Kon-
zerte im Augusteo dirigiert—, und darum im weiteren Ausland,
auch in Amerika, einen viel weniger bekannten Namen trägt
als viele, die an Solidität des musikalischen Könnens weit unter
ihm stehen. Strauss hat sich für seine Tätigkeit an der Wiener
Oper — die wie Berlin, München und Dresden ein Repertoire-
Institut nach älterem europäischen Stil ist und das ganze Werk

Richard W^agners fest auf ihrem Repertoire hat, daneben aber


die meisten der Werke Mozarts, ständig Werke von Gluck,
Weber, Meyerbeer, Rossini, sehr viele von Verdi, natürlich
»Carmen«, und »Margarete« von Gounod, und vieles von Mo-
dernen, so gut Pfitzner und Debussy als Puccini — , aus diesem
ganzen ungeheuren Repertoire hat sich Strauss ein besonderes

Gebiet herausgeschnitten, dem er sich vor allem widmet: die


Opern Mozarts, für die er nicht nur ein unübertrefflicher Di-
rigent ist, sondern auch ein sehr feinfühliger und geschickter
Regisseur — und seine eigenen Opern, die hier sämtlich auf
dem Repertoire sind. Zu diesen hat er in der letzten Zeit das
Ballett gefügt, »Josephslegende«, das er für die Truppe des

278
Herrn von Diaglülow f^escliriolxMi hatte mid das von diosor,

mit Fokin als Choreo^raplion \uid ßaksL als Malor, kurz vor
dem großen Kriege — die letzte Londoner Aufführung war am
1. oder 2. August 1914! — in Paris und London herausgebracht
worden war. Diaghilew (wie weit scheinen heute jene Maitage
des Jahres 1913, als man im Crillon in Paris beieinandersaß
und diese Dinge und tausend andere Pläne für Pantomimen,
Ballette und andere dumh ^/iow;^ besprach!) hatte mich gebeten,
ein Sujet zu finden für eine Ballett-Pantomime ziemlich ernst-
hafter Art, das Strauss Gelegenheit zu einer großlinigen eini-
germaßen dekorativen Musik gäbe, und bei dessen Behandlung
die Talente von Strauss, Bakst und Fokin — der damals noch
sein Ballettmeister war — sich gut vereinigen würden. Mir war
ziemlich bald klar, daß ich ein biblisches Sujet wählen würde
— ich schwankte nur zwischen dem alten David mit dem Weib
des Urias und dem jungen Joseph mit der Frau des Potiphar,
und der Gedemke an Nijinsky ließ dann die zweite Waagschale
tiefer sinken — und auch daß ich dieses aus der pathetischen

und psychologischen Sphäre herausnehmen und ins Phanta-


stische und Dekorative hinüberrücken würde, indem ich Ko-

stüme der Spätrenaissance, also Tintoretto oder Paolo Veronese,

vorschriebe. Ich halte, mit Swinburne und Aubrey Beardsley,


den Anachronism für ein kostbares Element der Kunst später
Zeiten, und wenn ich auch weiß, daß die Maler des endenden
17. Jahrhunderts aus Naivetät ihre biblischen Figuren in das
Kostüm der eigenen Zeit steckten und daß wir, wenn wir das
Gleiche tun, alles andere eher als naiv in unserem Handeln
sind, so scheint es mir doch unendlich reizvoller und wichtiger,
daß bei einem theatralischen Kunstwerk gewisse innere Über-
einstimmungen erzielt werden, als daß man dem historisch
gebildeten Spießbürger im Parterre genugtut. Und eine solche
innere Übereinstimmung herrscht tatsächlich zwischen der
Musik von Richard Strauß, der in sehr deutlicher Weise der

279
pompöse letzte Ausdruck einer großen Musilcepoche ist, und
der Malerei jener Venezianer, die auch ihrerseits ein pompöses
überreifes Finale einer ganz großen Zeit darstellen. Es war
nicht gerade vor einem Veronese, aber vor einem Solimena,
also vor einem der größten Maler des XVII., worin jenes
Element der Überreife noch akzentuierter hervortritt, daß
Strauss mir einmal (ich weiß das Bild, in der Galerie des

Grafen Harrach in Wien, wohl der schönste Solimena, der


existiert, ich weiß die Jahreszeit : es war ein noch herber Vor-
frühlingstag, in den wir dann hinaustraten, aber ich weiß nicht
im entferntesten mehr das Jahr jenes Gespräches), nachdem er
lange vor dem Bild gestanden war — er hat sehr viel Sinn für
Malerei und Architektur und der alte feindsehge Gegensatz des
deutschen Musikers zur »Augenkunst« scheint in ihm, wie cha-
rakteristisch ist das für ihn, aufgehoben, ja in Liebe verkehrt—,

sagte: »Ist das nicht wie meine Salome? Sehr schön und
kontrastreich, aber ein bißchen tiZ^erinstrumentiert!« Jeden-
falls hat diese innere Übereinstimmung (zu der vielleicht noch
eine zweite, noch geheimere Harmonie kommt: die Wiener
Atmosphäre mit ihren prunkvollen Palästen hat zu keiner
Epoche soviel Affinität als zu der pompösen und repräsentativen
des Barock) dem Werk etwas Farbig-Sonores und Repräsenta-
tives gegeben — repräsentativ im gleichen Sinn, wie etwa Stra-
winskys »Sacre du Printemps« für polar entgegengesetzte
Stimmungen und Kräfte in der europäischen Kunst im höch-
sten Grade repräsentativ ist — , das sehr viel Kraft über das
Publikum ausübt und hier wie in den anderen Hauptstädten
zu einem sehr großen Erfolg geführt hat.

280
ZWEITER BRIEF AUS WIEN

JEDE große Stadt hat ihren doppelten Aspekt darin, daß sie je
nach dem BHck, den man auf sie wirft, als eine Stätte der Ge-
selligkeit und als eine Stätte der Einsamkeit erscheint. Ja viel-
leicht ist der Hintergrund der Einsamkeit des modernen Men-
schen gcinz unbedingt die sehr große Stadt, so wie der wilde
Wald der Plintergrund der Einsamkeit für den mittelalter-
lichen Menschen war. Wien, das wie Pciris eine sehr geseUige
Stadt hat immer, wie Paris, große imd merkwürdige Ein-
ist,

same gehabt. Sie war nie geselliger als um 1815, als die Souve-

räne und Diplomaten Europas, die schönsten Frauen und besten


Sänger und Virtuosen sich versammelten, um sich gemeinsam
darüber zu freuen, daß Europa von dem beschwerlichen Genie
befreit war, das man soeben nach der ungeselligen Insel Elba
transportiert hatte — aber für unseren um ein Jahrhundert ge-
alterten Blick ist das lärmende Wien von damals vor allem der
Hintergrund einer titanischen und schwermütigen Einsam-
keit: der Beethovens, der außerhalb all dieses Gewühles sich

mit schweren Schritten hinbewegte, irgendwo in einer Vor-


stadtgasse hauste wie ein alternder grauer Löwe in seiner
Höhle, neunundzwanzigmal in zwanzig Jahren diese Wohnun-
gen wechselte, und schheßhch, wenn man ihn gefunden hatte
und vor ihm stand, doch so weit weg und unerreichbar war wie
zuvor.
Aber auch das spätere 19. Jahrhundert und das unsrige
haben solche Einsame gekannt, und sie werden nie aufhören,
hier zu existieren imd in einer gewissen Art die eigenthchen
Genießer dieser Stadt zu sein. Sie wohnen gerne an den
Rändern der Stadt, dort wo man sehr schnell in den Bereich

281
der Weinhügel und kleinen Feldwege hinaustritt, aber nicht

in den Villenvierteln und »Cottages«, die den westlichen und


südlichenRand der schönen Stadt hie und da etwas trivialer
und allgemein -europäischer gemacht haben, sondern in ge-
wissen unprätentiösen stillen Gassen der Peripherie, deren
Häuser meist aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammen
und von kleinen Beamten, Professoren, besseren Handwer-
kern und bescheidenen Fabrikanten bewohnt sind, unauf-
fällige Existenzen in unauffälligen Häusern. Unter diese un-
auffälligen Existenzen waren immer auch sehr merkwürdige
Individuen gemischt, Intellektuelle von sehr hohem Rang, die
aber nichts mit den ambulanten Intellektuellen der Zeitungs-
und Theater- und Kaffeehaussphäre (das Kaffeehaus vertritt
in Österreich wie in Italien zu einem sehr großen Teil den Klub)
zu tun hatten — ,
ja kaum sogar mit der Sphäre der Universi-
tät oder der anderen höheren Schulen und Akademien. Ich
rede von geistigen Arbeitern der Sorte, über die Voltaire ein so
schönes Wort gesagt hat: »Les gens de lettres, qui ont rendu
le plus de Services au petit nombre d'etres pensans repandus
dans le monde, sont les lettres isoles, les vrais savans, renfermes
dans leur cabinet, qui n'ont ni argumente sur les bancs de
l'universite ni dit les choses ä moitie dans les academies: et
ceux-lä ont presque toujours ete persecutes.«
Die Verfolgung solcher Individuen, welche zu Voltaires Zeit
von der geistlichen Behörde oder dem Minister des absoluten
Souveräns ausging, hat in unseren demokratischen Zeiten eine
neue Form angenommen : die der absoluten und konsequenten
Nichtbeachtung für ein Dezennium oder für mehrere Dezen-
nien oder auf Lebenszeit. Es ist wunderbar, daß diese Strafe
nie über mittelmäßige, innerlich gemischte und problematische
Künstler oder Denker verhängt wird, sondern daß sie in ihrer
vollen Härte ausschließlich ganz ungewöhnliche Individuen
und sehr hohe und reine Leistungen trifft. —

282
Vor sechs Jahren, im Oktober 1915, starb in einer dieser un-
auffälligenWohnungen ein sehr unauffälliges Individuum,
Karl Eugen Neumann er starb an seinem weder von ihm noch
;

von irgend jemand beachteten fünfzigsten Geburtstage. Er


war ohne jeden Zweifel unter den Lebenden der größte Orien-
talist der deutschen Nation, und seine Leistung, die rhythmisch
und geistig vollkommene Übertragung sämtlicher kanonischer
Schriften des Buddhismus, vor allem sämtlicher Reden Buddhos
nach der großen, mittleren und kleineren Sammlung des Pra-
krit-Textes, war ohne jeden Zweifel eine der für die deutsche
Nation folge reichsten kulturellen Taten, die innerhalb unserer
Generation getan wurden. Denn die deutsche Kultur besaß
nicht das, was die englische und amerikanische in der Samm-
lung der »Sacred Books of the East« besitzt: einen unerschöpf-
lichen Thesaurus der orientalischen Weisheit. Aber in bezug
auf dies eine Objekt: die Buddho-Reden, und in Hinsicht auf
die sprachliche Bedeutung, welche diese Übersetzung durch
ihre Geistigkeit und ihre rh3rthmische Identität mit dem Ori-
ginal für die eigene Nation, ich meine für die deutsche, besitzt,
glaube ich sagen zu dürfen, daß keine einzelne der Übersetzun-
gen, welche in der imposanten Reihe der »Sacred Books« zu-
sammengestellt sind, ihr in ihrer Bedeutung für die anglo-
amerikanische Kultur mutatis mutandis gleichkommt. K. E.
Neumann publizierte die einzelnen Bände seiner Übersetzun-
gen in einem Zeitraum von zwanzig Jahren. Er unterbrach
seine unablässige Arbeit, welche sowohl die Arbeit des Gelehr-
ten als die des Dichters — ich meine des Sprachkünstlers — war,
nur zweimal zum Zweck einer Reise nach Ceylon er besuchte ;

die entlegensten Klöster, um die Texte der heiligen Bücher zu


vergleichen und im Gespräch mit den sinhalesischen Mönchen
über gewisse dunkle oder zweideutige Textstellen ins Klare zu
kommen. Oft galt eine Reise von Tagen der Aufklärung eines
einzigen Wortes; und nicht sehr selten endete das Gespräch

283
mit dem Inder damit, daß Neum.ann auf seiner Interpretation
der Stelle beharrte und daß der autochthone Interpret eine Be-
lehrung empfing, statt eine zu geben. — Das Publikum verhielt
sich diesen Übersetzungen gegenüber gleichgiltig ; die Fach-
männer von den Universitäten mißgünstig ; es waren die Arbei-
ten eines einsamen Privatgelehrten, der keiner Universität,
keiner Akademie, keiner gelehrten Koterie angehörte der Ver- ;

leger schließlich wurde sehr kalt gegen seinen Autor, dessen


Publikationen in fünfundzwanzig Jahren meist nicht einmal
die zweite Auflage erreichten. (Im vergangenen Jahr, fünf
Jahre nach dem Tod des Verfassers, wurden von einer vom
Verleger veranstalteten und vom treuesten Freund des Toten
besorgten Taschenausgabe der »mittleren Sammlung« der Re-
den innerhalb weniger Wochen vierzigtausend Exemplare ab-
gesetzt.) Auf den guten Willen des Verlegers, einen neuen
Band des unabsetzbaren Werkes herauszugeben, mußte Neu-
majin oft mehrere Jahre warten diese Zeit benützte er, um die
;

Anmerkungen, welche jedem Textband nachfolgten, zu ver-


mehren und zu verdichten. Er verwob diese Anmerkungen zu
einem dichten Kokon, dessen abgesponnener Faden tausend
Meilen lang wäre. Tausend geistreiche Analogien zu der be-
treffenden Textstelle sind eingewoben, Zitate aus den Neu-
platonikern, den Mystikern des Mittelalters und des 17. Jahr-
hunderts, geistreiche Hindeutungen auf Gebilde der Archi-
tektur und des Folklore das
; Ganze gleicht dem Vortrage eines
P3rthagoras oder eines Pico della Mirandola; und sein Stil

ist das beste Deutsch, das vielleicht seit Schopenhauer von


einem deutschen Gelehrten geschrieben wurde. Denn diesem
Typus, dem Typus des eruditus gehört er zu, nicht dem des
freien Denkers und glänzenden, subjektiven Stilisten wie
Nietzsche. — Sein Tod, wie gesagt, wurde von der Öffentlich-
keit ebensowenig bemerkt wie sein Leben. Als er schon ein
halbes Jahr lang unter der Erde lag, trafen noch hie und da

284
Briefe auswärtiger Korrespondenten ein; darunter einer von
einer großen deutsclicn Zeitung, worin der Redakteur Herrn
K. E. Neuniann aufforderte, der Zeitung eilig den Nekrolog
für einen eben verstorbenen berühmten skandinavischen
Orientalisten einzusenden. Der bekümmerte Freund, der den
Nachlaß ordnete und die Briefe in Empfang nalim, war ge-
zwungen, mit einem etwas bitteren Scherz zu cintworten, in-

dem er den Redakteur aufforderte, doch vor dem Nekrolog auf


den Dänen in seinem Blatt den bis jetzt versäumten Nekrolog
des lajigjährigen Mitarbeiters K. E. Neumann zu bringen. —
Mit einem so großen Maß von Verkennung, als sie K. E. Neu-
mann bei seinen Lebzeiten zuteil wurde, vermag die Unge-
kanntheit Rudolf Kassners nicht zu rivalisieren. Denn dieser
geistreiche und originelle Philosoph — das Wort hier im wei-
teren Sinn genommen, so wie das 18. Jahrhundert und wie
die Antike es gebrauchte — kann immerhin auf eine sehr treue,
wenn auch nicht sehr breite Schar von Lesern zählen, die
keines seiner Bücher ungelesen lassen würde. Es sind Bücher
von einer inneren Eleganz, die in einer gewissen Weise an
die Antike erinnert; lauter dünne konzise Bände, in einem
scheinbar leichten und mondänen Stil geschrieben, die aber,
wenn man sie ganz, d. h. bis in die Tiefe, zu lesen versteht,
einen ungewöhnlichen Gehalt ergeben, und aus denen sich
ein höchst konsequentes und bedeutendes Oeuvre aufbaut.
Kassner debütierte vor beinahe fünfundzwanzig Jahren mit
einem Band, der Essays über die englischen Dichter und
Künstler des 19. Jahrhunderts enthielt. Blake, Shelley, Keats,
D. G. Rossetti, Swinburne, Browning war je ein Kapitel
W. Morris undE. Burne-Jones und
gev^dmet, eines behandelte
ineinem besonderen Kapitel war alles das, was der Verfasser
den »Traum vom Mittelalter« nannte, vereinigt. Dieses Buch
war weit mehr als eine noch so geistreiche und gründliche Mo-
nographie. Es war der Grundriß zu einer ganz neuen univer-

285
salen Ästhetik, ein starkes Glied in der Kette der intereuro-
päischen Verständigung und wechselweisen Anziehung — das
Wort nicht politisch, sondern geistig gemeint — die das letzte ,

Dezennium des 19. Jahrhunderts charakterisiert, und die


erste Ankündigung einer neuen literarischen Persönlichkeit.

Daß diese Persönlichkeit nicht leicht einzureihen und zu


klassifizieren sein würde, war vom ersten Augenblick an fühl-
bar, und vielleicht war es diese Schwierigkeit unter anderen,
welche bewirkt hat, daß Kassner bis heute, bei einer ziemlich
großen Berühmtheit seines Namens, ein Schriftsteller von
außerordentlicher Unpopularität geblieben ist.

Das Buch war von einer ungewöhnlichen Geistigkeit; ein


typisches erstes Buch, wie es sehr junge und bedeutende Men-
schen schreiben Kassner war damals nicht viel über fünfund-
;

zwanzig Jahre aJt. Der Geist einiger großer Engländer, Iren


und Amerikaner ist in dem Buch deutlich fühlbar: der von
W. Pater sowohl als der von O. Wilde ; der Einfluß Emersons
ist nicht zu verkennen, noch der von De Quincey und von W.
S. Landor — vor allem aber, beinahe natürhcherweise, ist der
von Piaton fast allmächtig. Dabei aber bleibt es ein sehr per-

sönliches Buch. Der Autor war sich mit dem Scharfblick der
Jugend vollkommen klar, wie eigenartig und wie isoliert seine
geistige Situation im damaligen Mitteleuropa war. Er erkannte,

daß er in unserer Zeit kaum an irgendeine Gruppe, an irgend-


einen geistigen Typus sich vollkommen anschließen konnte.
Aber er wußte auch, daß die Platonisten der antiken Welt, die
Skeptiker der ausgehenden Renaissance und die Moralisten
des XVIII. seine geistigen
, Ahnen waren, und in einer Vor-
rede, die heute ebenso glänzend geblieben ist als sie damals er-
schien, umschreibt er seine Funktion — die des »Kritikers« —
und seine geistige Situation mit einer unvergleichlichen
Schärfe. »Er — der >Kritiker< — ist der Philosoph ohne System,
der Dichter ohne Reim, der einsamste Gesellschaftsmensch,

286
der Aristokrat ohne Wappen, der Boheme ohne Ahenteuei. Er
besitzt viel Liebe und wenig Maclit, sehr viel Stolz und keine
Diener. Er hat das feinste Gehör und vermag keine Saite zu
rühren. Er wreiß alles, und kann gewöhnlich nichts. Er ist ta-
lentlos und bleibt eigentlich immer unerwidert. Ihn definiert
das, was er nicht besitzt, und seine Grenzen findet er immer

in andern. — Er ist ein Hamlet, dem nicht einmal ein Vater er-
mordet wurde. Aus seinem Glück wissen die anderen nichts zu
machen; sein Schmerz erscheint ihnen nicht praktisch — er
aber liebt das Leben um der Kunst anderer willen und ihre
Kunst um seines eigenen Lebens willen. Ihre Gedanken und
Themen sind ihm ganz gleichgiltig, er sieht nur auf ihre Spiele
und Bewegungen. Die ganze Welt ist ihm eine große Form,
Gedanken den Inhalt
für die er in seinen bei sich führt. In
seinen seligsten Augenblicken ist es ihm, als schaukeln die Le-
bensformen der andern auf seinen Gedanken wie Boote auf den
Wellen des Meeres.«
Dies war zugleich eine Selbstcharakteristik und ein Pro-
gramm, Ankündigung einer Person und die Vorwegnahme
die
eines Werkes. Heute liegt dieses Werk vor uns, vielleicht noch
nicht abgeschlossen, aber sehr organisch und sehr bedeutungs-
voll. Kassner ist durchaus der Kritiker höchster Ordnung ge-

blieben, der »platonische« Kritiker, als den er sich angekün-


digt hatte. Sein Ziel war, in jedem produktiven Individuum
die Identität zu erkennen, die absolute Einheit zv^schen den
angewandten Kunstmitteln und dem innersten Kern der künst-
lerischen Person, oder zwischen Geist und Schicksal der histori-
schen Person, jene Einheit, die man mit einem anderen Wort
auch den Stil oder die geistige Physiognomie, oder die Chiffre
einesMenschen nennen kann. Aber seine produktive Neugierde
ging noch weiter. Sie richtete sich nicht nur auf die Gedichte,
die Romane und die Bekenntnisse merkwürdiger Individuen,
sondern auch auf die Gesichter und Gestalten, auf die Länder

287
und auf die geistige Physiognomie der Kollektivitäten: auf das,
was man Geist einer Epoche oder Geist eines Volkes nennen
kann. Seine Neugierde wandte sich vom Westen nach Osten,
und das kleine Buch, das er »Der indische Gedanke« betitelte,

ist gewiß das Subtilste und Konziseste an Erkenntnis, das ein


Mitteleuropäer, und vielleicht ein Europäer überhaupt, je über
indisches Geisteswesen geschrieben hat. Es ist Kassners Stärke,
daß er keine Sache als ein Detail und als der Beachtung nicht
wert ansieht und daß er das Heterogenste blitzartig zusammen-
zusehen vermag; sein bei aller Subjektivität doch bescheidener
und strenger Geist gleicht hierin, vde der aller originellen
Denker, dem Geist der Natur selber, die keine Haupt- und
Nebensachen kennt und die Scheidung zwischen Außen und
Innen verwarft. Es erscheint beinahe selbstverständlich, daß
ein Mann wie Kassner am Anfang seiner Laufbalm Piaton
übersetzte und daß er jetzt, in seiner Reife, bei der Physiogno-
mik landet. Der Gegenstand seiner letzten Bücher ist durchaus
Physiognomik; aber keineswegs in der zugleich beschränkten
und pedantischen Weise des 18. Jahrhundeits, sondern in
emer Weise, die ganz nur ihm gehört und die zwischen dem
Systematischen und dem Fragmentarischen oder Aphori-
stischen mitten inne steht. Das neueste seiner Bücher, »Die
Grundlagen der Physiognomik«, enthält sehr geistreiche und
tiefe Wahrheiten über Mund und Auge, über Ohr und Kinn,
über den Gegensatz von Nacken und Gesicht, vom Hinten und
Vorn der menschlichen Gestalt, geht von da (ohne im gering-
sten unvermittelte Sprünge zu raachen) zu den geheimnis-
Ruhe und der Bewegung in den mensch-
volleren Begriffen der
hchen Gesichtern, zum Gegensatz z^'vischen dem antiken und

modernen Gesicht, zu den Gegensatzpaaren Schein und We-


sen, Kunst und Wirkhchkeit — kurz, es ist ihm hier die Mor-
phologie die SchweUe, um ins Bereich der wahrhaft universa-
len oder philosophischen Weltbetrachtung einzutreten. —

288
Meine amerikanischen Leser werden überrascht sein, wenn
ich an die Namen dieser isoUerten geistigen Individuen jetzt
den von Dr. Freud anschließe, der seit einigen Jahren über
beide Hemisphären berühmt und dessen psychanalytische
ist

Theorien, von hunderten von Schülern übernommen und zum


Teil weitergebildet, eine Art von Weltmacht geworden sind.
Aber der Ruhm, in geistigen Dingen, ist ein bloßes Akzidens,
und sehr oft ein Produkt des Zufalls. Jedenfalls empfängt die
geistige Existenz ihr Profil nicht von ihm, sondern höchstens
die Beleuchtung ihres Profils. Vor zwanzig Jahren war Dr.
Freud in Wien in gleicher Weise ein interessanter und unauf-
fälliger Privatmann wie Rudolf Kassner oder Karl Eugen Neu-
mann, mit denen beiden er übrigens beiläufig im gleichen
Alter stand. Innerlich aber war er damals ganz dasselbe, was er
heute ist in ihm lebte eine Intuition, die ihm zu einem großen
:

Komplex der geheimsten und verschwiegensten Vorgänge —


nicht nur im Individuum, sondern auch in der menschlichen
Gemeinschaft — den Schlüssel gab, einen Schlüssel, den vor
ihm niemand so bewußt in der Hand gehabt hatte — mit Aus-
nahme der Dichter. Den Dichtern aber, die sehr wohl und zu
allen Zeiten diesen Schlüssel in Händen gehabt hatten, war es

vom Gesetz ihrer Natur aus nicht gegeben, ja es war ihnen


geradezu verwehrt, von ihm einen anderen Gebrauch zu
machen als einen priesterlichen, durchaus verschleierten, eso-
terischen. — Um auf Dr. Freud zurückzukommen, der von dem
Schlüssel in seinenHänden dann mit der Kühnheit und fanati-
schen Entschlossenheit des Erfinders und Entdeckers einen hin-
reichend exoterischen Gebrauch gemacht hat, so war damals,
vor zwanzig Jahren etwa, als er an einen geistreichen und tief-
gehenden Gedanken seines Freundes, des Dr. Breuer, eines
Wiener praktischen Arztes, erstaunhche und höchst folgen-
reiche Thesen anknüpfte, in ihm die entscheidende erste Däm-
merung jenes Erkenntnishchtes, das er seitdem in einer scharf-

289
sinnigen Terminologie wie in einer Laterne mit scharfgeschlif-
fenen Konvexgläsern eingefangen und nacheinander auf die
verschiedensten Gebiete des Daseins gerichtet hat; eine Proze-
dur, welcher wir unteranderem die merkwürdigen Bücher über
dieDeutung der Träume, über die psychopathologischen Phä-
nomene des alltäglichen Lebens, und jene vielberufene folgen-
reiche Sexualtheorie verdanken, nicht zu vergessen gewisser
cinderer Schriften, in welchen das Licht dieser gleichen Laterne
sich auf die Phänomene der Urzeit, auf
die Märchen und My-
then, oder auf die Urformen menschlicher Gemeinschaft rich-
tet, wie die Abhandlung über die Begriffe Totem und Tabu.

Sein neues Buch, das vor mir liegt, hat die »Psychologie der
Masse« zum Gegenstand. — Das Buch von Le Bon, »La psycho-
logie des foules«, ist seit einer Reihe von Jahren berühmt. In
der letzten Zeit haben sich eine Reihe von englischen Gelehr-
ten mit dem gleichen Thema beschäftigt, und es ist kein Zwei-
fel, daß der Krieg sie dazu getrieben hat.Denn in ihm hat der
Begriff der organisierten Masse in einer imerhörten und völhg
I
sinnfälhgen Weise über den des Individuums triumphiert, den
wir seit der Renaissance als den Drehpunkt unseres europä-
ischen Denkens anzusehen oder stillschweigend immer voraus-
zusetzen gewohnt waren. Es ist also nichts natürlicher, als daß,
als Reflex eines neuen Fühlbarwerdens der Problematik dieser
Dinge, Untersuchungen entstehen mußten wie McDougalls
»The Group Mind« oder Trotters »Instincts of the Herd in
Peace ajid War«, das in London im zweiten oder dritten Kriegs-
jahr erschienen ist. Die Analyse der Werke dieser Vorgänger
ist das, womit Dr. Freud sein neues Werk beginnt; er läßt
ihnen allen Gerechtigkeit widerfahren und äußert eine beson-
ders große Achtung für die hohen deskriptiven Qualitäten
des Le Bonschen Buches, das er in dieser Beziehung, der
deskriptiven, unerreicht nennt. Dr. Freud zieht dann mit der
Schärfe und Konzision, die ihm eignet, aus diesen Theorien

290
den innersten Kern und findet ihn, trotz einer wechselnden
Terminologie, in dem Begriff der Suggestion gegeben. Denn
auch die Formel, womit McDougall das Hauptphänomen der
Massenbildung: das unbedingte Mitfortgerissenwerden der
Individuen, erklärt — aus dem von ihm so genannten »prin-
ciple of direct induction of emotion by way of the primitive
sympathetic response« — auch diese Formel kommt »um den
,

NachaJimung und der Ansteckung, also um den der


Begriff der
Suggestion« nicht herum. Somit scheinen alle diese Interpre-
tationen der Masse auf diesen einen Begriff, den der Sugge-
stion, als auf ein nicht reduzierbares Urphänomen, eine Grund-
tatsache des menschlichen Seelenlebens hinzuführen. Hier nun
setzt in Dr. Freuds Geist ein alter Widerstand ein, eine mehr
als dreißigjährige Auflehnung dagegen, daß die Suggestion,
mit der man alles erklären will, selbst der Erklärung entzogen
sein soll. Die Blendlaterne, deren Licht so viele Phänomene
durchdrang, sollte ihren Strahl hier von einem harten, festen
und dunklen Begriff zurückgeschlagen finden? Und nun, nach
einem »dreißigjährigen Fernhalten von dem Rätsel der Sug-
gestion«, nach einer so langen entschlossenen Abstinenz von
einem letzten Eindringen in die »Bedingungen, unter denen
sich Beeinflussungen ohne zureichende logische Begründung
herstellen« — ergibt sich der Entschluß, auch zur Interpreta-
tion dieser Phänomene den Begriff der Libido anzuwenden,
der in Freuds Lehre von den Psychoneurosen eine so große
Rolle spielt.
Der Ausdruck Libido ist — wie Freuds ganzes Werk ihn uns
kennen gelehrt hat — die Bezeichnung für die »als quantitative
Größe betrachtete — wenn auch derzeit nicht meßbare — Ener-
gie solcher Triebe, welche mit all dem zu tun haben, was man
als Liebe zusammenfassen kann«. Es ist der ungeheure nach
oben und unten unbegrenzte Begriff, den uns die Sprache in
dem Wort »Liebe« übermittelt. Es ist die Liebe, von der der

291
Apostel im Korintherbrief redet, und der Eros des Piaton, ein
Wort, ein Begriff. In ihm ist alles vereinigt, und nichts ab-
getrennt: weder die Selbstliebe, noch die Eltern- und Kin-
desliebe, auch nicht die Freundschaft und die allgemeine
Menschenliebe, auch nicht die Hingebung an konkrete Gegen-
stände und an Der Terminus aus der Affekti-
abstrakte Ideen.
vitätslehre, der unter Dr. Freuds Händen ein so mächtiger
Hebel geworden ist, und das e\vige schwebende Wort der
Sprache sie sind identisch aber vielleicht ist der Abgrund der
: :

Welt zAvischen ihnen ausgespannt. Denn der Terminus der


Lehre strebt danach, sich in Quantität, in ^Meßbarkeit aufzu-
lösen, und das Wort der Sprache steht in ewig unberühr barem
magischem Gebrauch. Den Gedankengängen eines eigensin-
nigen und starken Gehirnes folgend, einen ganz bestimmten
mit zäher Energie ins Gestein gehauenen Weg, Schächte imd
Gänge auf und ab, treten ^vir plötzhch an einer unerwarteten
Stelle ins Freie, und vor uns schlägt sich der gestirnte Himmel

der Sprache auf. Die romantischen Denker nannten die Natur


den chaoswäits gesehenen Menschen — ist nicht die Sprache
der Mensch, gottwärts gesehen? —
Es ist sehr e\ädent, daß die Erkenntnisse des Dr. Freud und
der Gebrauch, den er von ihnen macht, kurz, daß seine und
seiner Schüler ganze geistige Haltung in einer besonderen
Weise zu unserer Zeit gehören. Es wohnt ihnen — ohne daß wdr
über ilire absolute Bedeutung heute ein Urteil abgeben könn-
ten — etwas von dem inne, was wir hohe xAktualität nennen
müssen, das Wort in keinem niedrigen Sinn gebraucht. Schwie-
riger erscheint es, festzustellen, ob sie an irgendeinem Ort der
europäisch-amerikanischen Kulturwelt hätten ans Licht tre-
ten können, oder ob Wien dafür der prädestinierte Punkt war.
Ich für meinen Teil bin nicht geneigt, irgendeinen Faktor
dieses geistigen Phänomens für zufällig zu nehmen, weder den
örtHchen noch den geistigen noch einen, der die Beschaffen-

292
heit modifiziert. Ich finde es nicht zufällige, daß K. E. Neumann
sein unbeachtetes Leben hier führte und beschloß denn Wien ;

ist die alte porta Orientis für Europa. Noch finde ich es anders
als sehr übereinstimmend, sehr richtig, daß Dr. Freuds Theo-
rien von hier aus ihren Weg über die Welt nehmen — ganz
ebenso wie die leichten, etwas trivialen, aber biegsamen und
einschmeichelnden Operettenmelodien, mit denen sie doch so
denkbar wenig zu schaffen haben. Wien ist die Stadt der euro-
päischen Musik: sie ist die porta Orientis auch für jenen ge-
heimnisvollen inneren Orient, das Reich des Unbewußten. Dr.
Freuds Interpretationen und Hypothesen sind die Exkursionen
des bevrußten Zeitgeistes an die Küsten dieses Reiches. Ich
habe in meinem ersten Brief zu sagen versucht, wie sehr mir
das Grundelement der österreichischen Musik mit dem Grund-
element der menschlichen Existenz hier zusammenzuhängen
scheint: mit dem, was die französische Sprache als sociable be-
zeichnet, und was die Besonderheit des österreichischen gegen-
über dem deutschenWesen ausmacht. Nichts aber hängt mit
dem Sozialen und Soziablen so eng zusammen wie die Psycho-
logie, die nichts anderes ist als die systematische Anwendung
der sozialen Gaben. Gefühl für den andern, Aufmerksamkeit
auf seine zarteren Regungen und eine gewisse Fähigkeit zur
Identifikation, woraus das entspringt, was unerlernbar: der
Takt. Nichts scheint mir natürlicher, als von hier aus den Weg
zu finden um zu verstehen, daß man der deutschen Wissen-
schaftlichkeit gelegenthch den Vorwurf gemacht hat, sie lasse es

an Psychologie fehlen, und daß sich umgekehrt auf diesem Ge-


biet, der Psychologie, soviel Kontakt zwischen einem Wiener
Forschungsherd und den westeuropäischen, wie vor allem der
Pariser, Schulen ergibt. — Die innere Kraft, die wir genius loci

nennen mögen, ist auf vielerlei W^eise wirksam, und es ist an-

ziehend, ihre sehr verschiedenen Äußerungsweisen aufeinan-


der zu beziehen.

293
DRITTER BRIEF AUS WIEN

DIE im August statt


diesjährigen Salzburger Festspiele fanden
und dauerten drei Wochen. Man im Salzburger städti-
spielte

schen Theater vier Werke von Mozart: »Don Juan«, die »Ent-
führung aus dem Serail«, »Figaros Hochzeit« und »Cosi fan
tutte«, mit der Besetzung und dem unvergleichlichen Orche-
ster der Wiener Oper, ergänzt durch einige Sänger und Sänge-

rinnen aus Deutschland. Gleichzeitig spielte man an vierzehn


Abenden nacheinander in einer Kirche, die der Erzbischof von
Salzburg zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt hatte, ein
geistliches Schauspiel, ein Mysterium, oder wie man es nennen

will, von mir, »Das Salzburger Große Welttheater«. Die Opern

wurden geleitet von Richard Strauss und Franz Schalk. Der


Regisseur des »Großen Welttheaters« war Max Reinhardt.

Ich bin diesmal durch die Umstände gezwnngen, in meinem


Brief an die Leser des »Dial« viel von einer eigenen Arbeit zu
sprechen, und ich werde es mit Vergnügen und in einer sehr
direkten Weise tun, um so mehr, als sie wahrscheinlich dieses
Stück in der Inszenierung von Reinhardt binnen kurzem auf
einer der großen Bühnen von New York sehen werden.
Jeder Mensch weiß, daß es unter den siebzig oder achtzig
geistlichen Schauspielen — »au tos sacramentales« — von Cal-
deron eines gibt, das den Namen führt »Das große Weltthea-
ter«. Ich habe in einer enghschen Zeitung gelesen, meine Ar-
beit wäre ein arrangement Werkes von Calderon. Ich
dieses

finde den Ausdruck nicht ganz entsprechend — er wurde auch,


soviel ich weiß, nur von einem vereinzelten Referenten ge-

braucht — , aber es kommt auch nicht auf Ausdrücke an, son-

294
(lern auf das zarte und schwer wägbare Verhältnis der Kunst-
werke untereinander. Ich habe der liuchausgabe des »Welt-
theaters« einige Zeilen vorangesetzt, die sich auf dieses Ver-
hältnis beziehen. Hier sind sie: »Daß es ein geistliches Schau-
spiel von Calderon gibt mit Namen >Das grofie Welttheater <,
weiß alle Welt. Von diesem ist hier die das Ganze tragende Meta-
pher entlehnt daß die Welt ein Schaugerüst aufbaut, worauf
:

die Menschen in iliren ihnen von Gott zugeteilten Rollen das


Spiel des Lebens aufführen ; ferner der Titel dieses Spiels und
die Namen der sechs Gestalten, durch welche die Menschheit
vorgestellt wird, sonst nichts. Diese Bestandteile aber eignen
nicht dem großen spanischen Dichter als seine Erfindung, son-
dern gehören zu dem Schatz von Mythen und Allegorien, die
das Mittelalter ausgeformt und den späteren Jahrhunderten
Übermacht hat.« Die sechs Figuren, durch welche die Mensch-
heit vorgestellt wird, smd: der König, der Reiche, der Bauer,
der Bettler, die Weisheit und die Schönheit. Die Weisheit ist

eine Nonne, die Schönheit eine Hofdame. Sie sehen, dies geht
in seiner naiven Gebundenheit sogar noch weiter zurück als

auf das 17. Jahrhundert Calderons. Diese Gestalten, jede für


sich in einer Nischeumgeben von gotischem Rankenwerk,
gehören zu der Welt, die uns auf den flämischen und nord-
französischen Tapisserien des 15. entgegentritt. Das Welt-
theater ist ein Mysterium oder eine theatralische Allegorie. Es
ist dies eine sehr alte dramatische Form, die in allen europä-
ischen Literaturen ihre große Epoche gehabt hat : im England
der vor-shakespearischen Zeit ebenso wie in Frankreich, bevor
dieses seine Literatur ganz den Nachahmern der Antike aus-
lieferte — aber bei uns zumindest ist diese alte Form nie ganz
abgestorben. Man hat im katholischen südUchen Deutschland
und in Österreich bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts
ein volkstümliches Theater besessen, dessen Gegenstände
ebensooft aus der Bibel als aus dem alten Allegorienschatz der

295
Mysterien gezogen waren, — und Oberammergau mit seinen
Passionsspielen ist nur ein Überbleibsel dieser naiven thea-
tralischen Welt, sozusagen das letzte Spitzchen eines versun-
kenen Inselkontinentes. Erst der mit der Französischen Re-
volution über ganz Europa wehende Geist des Rationalismus
hat diese alten Kunstübungen weggeweht; ich habe ganz be-
wußt in dieser Arbeit und in einer früheren — in meiner dra-
matischen Version des uralten und allgemein-europäischen
»Jedermann «-Stoffes — diese Fackel aufgenommen, die hier
bei uns dem Boden lag, und ich glaube,
noch glimmend auf
daß mir dabei — wie es bei dem scheinbar bloß instinktiven
Handeln des Künstlers immer geht — eine verborgene Plurah-
tät die Hand geführt hat.
Das Neue, das ich zu dem überkommenen Stoff hinzugefügt

habe, liegt in der Gestalt des Bettlers. Dieser ist bei mir die
Hauptfigur des Spieles und steht als ein Einzelner allen den
Andern gegenüber. An die Stelle des passiven resignierten
Bettlers der alten Mysterien, des »Armen« aus dem Evange-
lium, der von selbst, durch sein bloßes Schicksal zur Seligkeit
auserwählt ist, in diesem Leben aber eigentlich nur ein Objekt
ist, an welchem die Anderen geprüft werden, habe ich den akti-

ven Bettler gestellt, den Ausgeschlossenen, Enterbten, der


seinen Platz unter denen begehrt, die geerbt haben, also eine
Gestalt, wie sie mit solcher Deutlichkeit vielleicht nur im ge-
genwärtigen Augenblick gesehen werden konnte die Drohung :

des Chaos an die geordnete Welt. — Unter den vielen Ameri-


kanern aller Stände, die ich m Salzburg kennenzulernen das
Vergnügen hatte, nannten mir einige gerade in bezug auf diese
Gestalt den Namen von Eugene O'Neill. Ich habe seitdem »The
Hairy Ape« gelesen und ich finde wirklich eine gewisse Ana-
logie zwischen der Figur meines Bettlers und der jenes un-
glücklichen Heizers, des Ausgeschlossenen aus der geordneten
Welt, mit seiner an die Nerven rührenden Sehnsucht irgend- :

296
wohin zu goliörcii (to belang). — Die Fr;i<i;e, die goslellt wird,
ist in beiden Dramen in ganz großen Unn-issen die gleiche. I'Ls

ist die drohende oder höhnende Frage des Chaos an die »Ord-
nung« — und die Antwort, die O'Neill auf sie gibt, ist sozusagen
eine optimistische, vom Standpunkt der Gesellschaft aus, aber
mit einer Beimengung gräßlicher Ironie, indem er seinen
armen Bettler im Käfig des Gorilla den Frieden des Todes fin-
den läßt und endlich den Ort, wo er »hingehört«. Die gleiche
Frage, in allen Tonarten gestellt und variiert, ist der ganze
Inhalt des Expressionismus m allen Ländern — oder, wenn man
will, nicht Inhalt, sondern vorwärtstreibender Gärstoff: aber
der Expressionismus nimmt in seiner Fragestellung schon eine
Antwort vorweg, und zwar die entgegengesetzte als die von
O'Neill gegebene. Also vom Standpunkt dessen, was wir Welt
oder Gesellschaft nennen müssen, die pessimistische. Meine
Antwort war nicht optimistisch, aber auch nicht pessimistisch,
sondern dichterisch oder religiös. Ich lasse den enterbten Bett-
ler die Axt erheben gegen das Ganze, das ihm gegenübersteht:
König und reicher Mann, Bauer — der bei uns den gesicherten
konservativen kleinen Besitz bedeutet — und
Schönheit und
fromme Weisheit: also gegen alle und alles. Und es ist aus der
Situation und den vorher gewechselten Reden evident, daß er,
wenn er zuschlagen wird, stärker sein wird als sie alle und daß
das Gebäude einer tausendjährigen Weltordnung — wirklich
genau so alt ist ja die Synthese aus Christentum und halbrö-

misch halbgermanischer Rechtsordnung, in der wir hausen —


unter seinen Axthieben zusammenstürzen wird. Aber im glei-

chen Augenblick, wo er den Arm mit der Axt hebt, lasse ich

die Weisheit — unter deren Maske ich versucht habe, die An-
deutung alles dessen zu vereinigen, was wir an Hohem, Un-
selbstischem, Gott-Gleichem in uns tragen, sei es nun aus reli-
giöser oder aus profaner Tradition — ihre Hände zum Gebet er-
heben nicht für ihre eigene Rettung, an die sie nicht mehr

297
glaubt, noch für die Rettung der Welt, von deren Würdigkeit
gerettet zu werden sie nicht überzeugt ist, sondern für ihn,
gerade für ihn, den Zerstörer, im gleichen Augenblick,
und das
wo er das Werkzeug des Todes direkt über ihrem eigenen Haupt
schwingt und im Begriff ist, es niedersausen zu lassen. Was nun
in ihm erfolgt, liegt allerdings außerhalb des Gebietes des
eigentlich dramatisch Möglichen und konnte nicht in einem
gewöhnlichen Theaterstück, sondern nur in einem Mysterium
gewagt werden. Es geht etwas in ihm vor, das einem blitz-

schnellen trance gleicht: eine Wandlung, ein vollkommener


Umschwung. Indem sie für ihn betet, läßt er die Axt sinken
und fällt auf die Knie. Der trance, der ihn gefaßt hat, war so
vollständig, daß er nicht mehr weiß, ob er zugeschlagen hat
oder nicht. Erst die Weisheit selber und Engelsstimmen von
oben müssen ihm sagen, daß er die ungeheure Tat nicht be-
gangen hat, — aber sie singen es ihm in der Form zu, daß sie
ihn ahnen lassen, ebendieses Nicht-Tun sei die große entschei-
dende Tat seines Lebens : es sei wieder im Niederfahren eines
Blitzes aus einem Saulus ein Paulus geworden. In der Tat ist

er auf eine andere Ebene gekommen, eine Ebene, wo die Ver-

teilung der Macht und der Glücksgüter ihm als eine gleich-
giltige Sache erscheint. Er ist mit einem Schlag ein Weiser ge-
worden, oder ein Christ, oder ein Erleuchteter, oder wie man es

nennen will. Er kehrt dieser ganzen Welt den Rücken und


geht in den Wald, in den ewigen Wald, Heimat der Weisen
und der Eremiten, — und wie er am Schluß \Ariederkehrt, nach-
demin märchenhafter Weise, angedeutet durch eine Art von ge-
spenstischem Totentanz aller Figuren, das Vergehen des Lebens
illustriert wurde, — wie er, sage ich, am Ende wiederkommt,
um gleich allen andern in sein Grab zu gehen, ist er eine Art von
heiligem Eremiten, mit einem langen weißen Bart und durch-
dringenden, nicht mehr irdischen Augen, genau gleich dem
Gesicht von Walt Whitman auf seinen letzten Photographien.

298
-

Ich hoffe, daß diese suminarische Iiilialtsangabe ungefähr


die Konturen des Stückes anzeigt, und erkennen läßt, wie es

aus alten und neuen Elementen zusammengesetzt ist. Diese


Arbeitsweise erscheint mir als die natürliche und ich sehe nicht,
daß von den Meistern des dramatischen Gebietes je viel anders
gearbeitet worden sei; ja selbst die antiken Tragiker, die uns
als ein Anfang aus dem Nichts erscheinen könnten, haben in
dieser Weise noch Vorausliegendes in ilir Werk einbezogen. Es
ist das das wahrhaft Großartige an der Gegenwart, daß so viele
Vergangenheiten in ihr als lebendige magische Existenzen
drinliegen, und das scheint mir das eigentliche Schicksal des
Künstlers : sich selber als den Ausdruck einer in weite Vergan-
genheit zurückführenden Pluralität zu fühlen — neben jener
Pluralität in die Breite, jener planetarischen Kontemporane
ität, deren Ausdruck bei Whitman so genial ist — und sich dann
das Instrument seiner Kunst selbst zu schaffen, indem er von
den Eindrücken und Halluzinationen ausgeht, die zum Ge-
heimnis des Individuums gehören, und damit das vom Über-
lieferten verbindet, was er erfassen kann.
Ich kann nicht sagen, daß das Publikum an diesen vierzehn
Abenden irgendwelche Mühe hatte, sich von diesem religiösen
oder allegorischen Spiel gefangennehmen zu lassen, oder daß
das Spiel Mühe hatte, die Gemüter dieser Menschen zu über-
wältigen. Alles ging, ohne daß man daran zu denken brauchte
wie es sich vollzog. Und doch war es das denkbar bunteste Pu-
blikum — nicht nur daß wir, zum erstenmal seit dem Krieg,
wieder an einer Stelle von Mitteleuropa eine völlig inter-
nationale Zuhörerschaft vor uns hatten, sondern auch die Teile,
welche zu unseren eigenen Nationen gehörten, ich meine die
deutschen und die österreichischen Elemente unter den Zu-
hörern, waren sozial sehr bunt gemischt: neben den »neuen
Reichen« saßen sehr viele einfache Menschen aus dem Volk,
Bauern und Bäuerinnen, die Kleinbürger unserer kleinen länd-

299
liehen Alpenstädte, Priester und Klosterfrauen zwischen den
Amerikanern, den Skandinaviern, den Franzosen und Berli-
nern. Das Verdienst, diesen außerordentlichen Wirrwarr in-
kohärenter Individuen und Denkarten zu einem Publikum
ja zu einem vollkommen einheitlichen
amalgamiert zu haben,
und wahrhaft naiven Publikum, das sich in fast kindlicher
Weise »nehmen ließ«, liegt ganz bei der Inszenierung Rein-
hardts. Seine mise-en-scene war ganz der Ausdruck der Reife,
zu der dieser erste europäische Regisseur sich in den letzten
Jahren entwickelt hat: sie gab wenige Akzente, diese aber von
außerordenthcher Kraft, und sie hielt das ganze, ohne Pause
weit über zwei Stunden dauernde Spiel durch die große rhyth-
mische Kraft, mit der diese Akzente gegeneinander abgewogen
und im Verlauf des Spieles verteilt waren, so zusammen, daß
niemand eine Länge fühlte und das Ganze eigentlich atemlos
angehört wurde. Ein starkes rhythmisches Vermögen ist die
wesentliche Auswirkung des Kreativen in diesem großen Re-
gisseur; sein ungewöhnliches Raumgefühl ist nur das natür-
liche Korrelat dazu denn das Rhythmische
: ist der Versuch, die
Zeit so zu erfassen und zu gliedern wie den Raum. Die Aus-
einandersetzung mit dem Raum war in diesen fünfundzwanzig
Jahren, seit Reinhardt als Bühnenchef arbeitet, die eigenthche
Mitte seines Tuns. Und in dieser Tendenz, den Raum als

ein neuartiges Ausdrucksmaterial zu gewinnen, ist er der rich-


tige Schauspieler-Regisseur, Anführer und Vertreter seiner
ganzen Schauspielergeneration. Denn die modernen europä-
ischen Schauspieler — und ich bin sicher, die amerikanischen

ebenso, wofern sie wirklich repräsentative Schauspieler unserer


Epoche sind — sind Interpreten unseres neuen seelischen Ver-
haltens zum Raum. Darum steht ihr Eigentliches, das Mimi-
sche — wovon das gesprochene Wort nur ein Bestandteil — in
einer geheimnisvollen Affinität zu den Tendenzen der moder-
nen Malerei. (Der Schauspieler der früheren Generation — ich

500
!;

will sie kurzweg die Wagner-Generation nennen — stand im


gleichen Verhältnis zur Musik.) Treten wir vor ein europäisches
Stück Malerei dieser Generation, etwa vor eine Leinwand von
Kokoschka, so stehen die Figuren so im Raum, wie wir sie auf
keinem anderen Bild irgendeiner früheren Generation ange-
ordnet sehen schwer von Haß oder von Liebe, wie mit Elek-
:

trizität geladen — in einer gleichsam luftarmen Atmosphäre


ein Mensch sinkt wie ein Phantom in die Tiefe des Bildes, ein

anderer fährt uns wie ein strohgelber Blitz entgegen, atemlos


und zorngeschwellt. Vollkommene Identität mit dem gepreß-
ten und vehementen Nebeneinander und Gegeneinander der
Figuren, wie es Reinhardt für ein Interieur von Strindberg
vorschwebt, bevölkert mit Menschen, die sich hassen, sich vor-
einander fürchten und gleichsam mit dem Gesicht in einer
fahlen Wirklichkeit, mit dem Rücken in einem Traum stehen
Dies alles, wovon ich hier spreche, ist aber nur ein Teil eines
viel allgemeineren und komplexeren geistigen Geschehens.
Wir sind ohne Zweifel auf dem mühsamen Wege, uns eine
neue Wirklichkeit zu schaffen, und diese Schöpfung geht nur
durch den vollkommenen Zweifel an der Realität, also durch
den Traum hindurch. Aber niemand ist sensibler für diese
geistigen Geheimnisse einer Epoche, niemand ist ein empfind-
licheres Instrument für solche geistige Wettemmschläge und
Epochenumschwünge als der Schauspieler. Im Schauspieler
früherer Epochen zielte alles auf heroische Größe oder auf
Wirklichkeit, oder was man für Wirklichkeit nahm im Schau-
;

spieler unserer Epoche zielt alles darauf, daß die Figur, die er
schafft, zwischen W^irklichkeit und Traum stehe, immer genau
zwischen beiden, in einem zweideutigen Licht, welches auf die
Wirklichkeit den Reflex des Traumes, auf den Traum ein
Etwas von Wirklichkeit wirft. Es besteht für mich kein Zwei-
fel, daß auch hier wieder in wunderlicher Verkettung des Spä-
ten mit dem Frühen etwas in unserem Phantasieleben an das

501
,

Phantasieleben der Naturvölker anklingt. Nichts scheint mir


mit der Unheimlichkeit, die vom großen modernen Schauspie-
ler in solchen Momenten ausgeht, so völlig identisch als der
folgende Zug aus dem Leben einer primitiven Völkerschaft,
den ein Missionar uns überliefert hat. »Im Bereich der Vor-
stellung, daß Menschen Tiere werden, wenn sie deren Fell
anziehen: Tiger, Bär, Wolf usf.« (welches Schulbeispiel für
die Verwandlung des Schauspielers, sobald er sich verkleidet,
schminkt etc. !) — »im Bereich dieser Vorstellung ist bei den
Abiponas alles mehr der Vernunft und Logik
mystisch, nichts
unterworfen. Sie kümmern sich nicht mehr darum, ob der
Mensch, um Tiger zu werden, aufhört, Mensch zu sein, und
dann, um wieder Mensch zu werden, aufhört, Tiger zu sein.

Was sie interessiert, ist die wunderbare mystische Eigenschaft,


die diese Individuen unter gewissen Bedingungen zugleich an
der Natur des Menschen und des Tigers teilhaben läßt und sie
midigedessen furchtbarer macht als die Menschen, die immer
nur Menschen, und die Tiger, die immer nur Tiger sind.«
Ganz genau so, wie der Verkleidete, der zwischen Mensch und
Tiger steht, die Abiponas fasziniert, so daß sie ihm unterliegen
wie hilflose Kinder, — sie, die sich vor einem wirklichen Men-
schen nicht fürchten, und einen wirklichen Tiger, wenn er
ihnen begegnet, mit Bogen und Streitaxt mutig angreifen —
so fasziniert und überwältigt uns am großen modernen Schau-

spieler, daß er — hierin viel geheimnisvoller und furchtbarer

als Banquos oder des alten Hamlet Geist — zweien Räumen,

dem des Traumes imd dem der Wirklichkeit, zugleich ange-


hört, und daß man nie wissen kann, wann er anfcLngt, in dem
einen, und wann er aufhört, in dem andern Raum zu sein.
Ich sage noch schnell, daß ich das obige Zitat einem inter-
essanten Buch des Professors an der Sorbonne, Herrn Levy-
Bruhl (»Les fonctions mentales dans les societes inferieures«)
verdanke, und kehre nach dieser Abschweifung zum »Salz-

302
burger Großen Welttlieater« zurüek. Die mise-en-scene Rein-
hardts war liöclist einfach und bestand in nichts, als daß die;

Kirclie bis zu einer bestimmten Höhe mit einem Stoff von sehr

schönem Scharlachrot behangen war, aber er holte aus der un-


gewöhnlichen Situation, in einer Kirche spielen zu dürfen, das
ist in einem Raum, dessen Höhe die Höhe einer normalen
Bühne ums Dreifache übertrifft, einige Effekte heraus, die ganz
selbstverständlich schienen, aber von denen, die gegenwärtig
waren, nicht leicht werden vergessen werden: ich meine ins-

besondere die Momente, in denen die warnenden oder trösten-


den Zurufe der Engel von irgendeinem unwahrscheinlich hohen
inneren Balkon der Kirchenkuppel herunterfielen und die Ge-
stalten dieser Engel wirklich nicht von der Erde aufwärts, son-
dern aus einer viel höheren Region abwärtsfliegend an diese
Stelle gekommen zu sein schienen. Der stärkste oder, wenn
man will, vehementeste Moment des Ganzen war jener Toten-
tanz, der dem Hinwelken und Abschiednehmen der sechs alle-

gorischen Figuren vorausging, ungefähr gerade am Beginn des


letzten Drittels des Stückes, den er nur von einer Trommel be-
gleiten ließ, aber in einem Rhythmus, der einen feierlichen
Schrecken durch die Versammlung verbreitete und in dieser
ein dumpfes Aufseufzen vieler Menschen hervorrief, von ande-
rer und stärkerer Art, glaube ich, als je ein profanes Theater
auslösen würde.
und war außerordenthch und von
Moissi spielte den Bettler
merkwürdig zu diesem
einer Internationalität der Gebärde, die
so zusammengemischten Publikum paßte, obwohl die Gestalt
selbst, so international sie ihrer symbolischen Natur nach ist,

doch vielleicht vertragen hätte, in einer bestimmteren Art als

eine deutsche oder österreichische Gestalt gezeichnet zu wer-


den. Aber Moissi ist seiner Herkunft nach ein Albaner, seiner
Erziehung nach Italiener, seiner theatralischen Kultur nach
halb Deutscher halb Russe, denn er spielt nichts lieber als

303
Tolstoi und hat in dieser Gefühlswelt sozusagen Wurzeln ge-
schlagen, — so umwehte auch seinen Bettler etwas Russisches,
und das Gespenst des Bolschewismus stand sehr deutlich hinter
seinen außerordentlichen, sparsamen und unvergeßlichen Ge-
bärden, seine Stimme Timbre ist,
aber, in der ein italienischer

ließ ihn die Zeilen gelegentlich in einer wunderbaren Weise

behandeln, die unvergleichlich passend war zu der marmornen


1
Kirche, in der so viel vom italienischen katholischen Geist der
vergangenen Jahrhunderte sich ausdrückte.

Das Publikum, das sich zu diesem theatralischen Fest zu-


sammengefunden hatte, enthielt mehr verstehende und sen-
sible Personen aus allen Ländern, als man seit diesen letzten
Jahren irgendwo beisammen gesehen hatte. Es war in einer
gewissen Weise die erste Wiedererstehung des Europa von
früher, mit einer sehr starken, sehr fühlbaren amerikanischen
Beimischung. Engländer waren relativ wenige gekommen;
aber es war eine Freude, unsere Mozartopern vor einem so
außerordentlichen englischen Mozartfreund aufzuführen, wie
es Herr Lowes Dickinson, der politische Philosoph der Univer-
sität Cambridge, ist. Von Paris hatte Herr Gemier im letzten

Moment nicht kommen können, während wir Herrn Fahre,


den Administrator der Comedie Frangaise, und Herrn Hebertot,
den sehr künstlerischen Direktor des Theätre des Champs Ely-
sees, unter unseren Gästen begrüßen konnten. Aber Gemier

sandte an Reinhardt und an mich eine sehr schöne Depesche,


dann zu einem offenen Brief umgearbeitet hat, zu einem
die er
wahren Manifest künstlerischer Internationalität, worin er den
festen Entschluß aussprach, mit dem deutschen Theater in ein
Verhältnis wechselweiser Kollaboration zu treten, und welches,
durch die Pariser Presse veröffentlicht, der Gegenstand starker
chauvinistischer Angriffe, aber einer sehr gewichtigen Zustim-
mung von der anderen Seite geworden ist.

304
VIERTER BRIEF AN »THE DIAL«

ICH möchte in diesem Brief an die Leser des »Dial« nicht


über österreichische kulturelle oder künstlerische Dinge spre-
chen, sondern einen anderen Augenpunkt einnehmen und von
diesem aus eine andere, weitere geistige Ebene zu überblicken
trachten ; dieser Augenpunkt wird aber immer der eines Öster-
reichers bleiben, d. h. eines Individuums, das der deutschen
Sprach- und Geistesgemeinschaft angehört, ohne aber jener
im Jcdire 1871 begründeten und im Weltkriege gedemütigten
großen politischen Entität, dem Deutschen Reich, zuzugehö-
ren. Es ist vielleicht gut, amerikanischen Lesern, die mit sehr
großen und simplen, deutlich konturierten politischen und
wirtschaftlichen Einheiten zu operieren gewohnt sind, in Er-

innerung zu bringen, daß es außerhalb des Deutschen Reiches,


aber in Europa, viele Millionen Deutscher gibt, die an dem
eigen thchen und letzten Geschick ihrer Nation — ich meine da-
mit nicht das politische, sondern das geheime geistige Ge-
schick, wie es sich schließhch im Wandel der Sprache nieder-
schlägt — einen vollen Anteil tragen : das sind die deutschen
Schweizer — und sie bilden den an Zahl stärksten Teil der
Schweizerischen Konföderation — die Österreicher , und die Mil-
lionen von Deutschen, die im Tschechoslowakischen Staat in-
korporiert sind, nicht zu reden von den kleineren, aber noch
immer sehr beträch thchen Minoritäten, die in den anderen
osteuropäischen Staaten, und auch in Frankreich, sich vorfin-
den. Nun könnte es scheinen, es wäre nicht der Mühe wert,
amerikanische Köpfe mit diesen Komplikationen und inner-
europäischen Details zu beschweren, um so weniger, wenn
man nicht Pohtiker ist, und daß der allenfalls dafür interessierte

305
Amerikaner eher nach der vor etwa einem Jahr begründeten
ausgezeichneten Revue greifen wird, welche es sich zur Auf-
gabe gemacht hat, das Verständnis für auswärtige Pohtik in
den Vereinigten Staaten zu propagieren und deren leitender
Geist, wenn ich nicht irre, Professor Coolidge von Boston ist,

als zu dem »Dial«. Aber es hängen in diesem alten und kom-


plizierten Europa die geistigen, die geschichtlichen und die
pohtischen Dinge aufs engste und unlöslichste zusammen, und
eben aus ihrem verwirrenden, aber im geheimen höchst folge-

richtigen Ineinanderspiel entsteht jenes Mysterium, das ich,


ein meteorologisches Phänomen ins Geistige wendend, das ge-
samteuropäische Wetter nennen möchte, das genau wie das
physikalische Wetter seine Maxima und Minima, seine Stürme
und Windstillen, seine nebeligen Verdunkelungen und Stok-
kungen kennt, und dessen Gewitter und Wetterstürze die eu-
ropäischen Kriege und Revolutionen sind. Für dieses Wetter
aber, fürchte ich, müssen die Amerikaner notgedrungen sich
interessieren, weil es irgendwie anfangen wird, nicht ein euro-
päisches und ein amerikanisches Wetter, jedes für sich, sondern
nur ein planetarisches Gesamtwetter zu geben. Und ich fürchte,
um diese Meteorologie zu verstehen, müssen sie mehr und
mehr in dem schwierigen Buch unserer, der europäischen,
geistigen Existenz zu lesen lernen. Nun enthält dieses Buch
freihch unendlich vieles, das auf Vergangenheit anspielt, ja
Vergangenheit und Gegenwart scheinen auf den Seiten dieses
Buches kaum voneinander zu trennen sehr zurückschreckend
;

für den amerikanischen Sinn, der ganz auf die Gegenwart ge-
stellt ist und aus dieser Einstellung soviel momentane Stärke
zieht. Aber ich fürchte, trotzdem wird der Amerikaner, ich
meine denjenigen, der irgendwie die Hand an den Hebel sei-

ender und werdender geistiger Kräfte bringen will, um die

und schwierigen Buches nicht herum-


Entzifferung dieses alten
kommen und zwar nicht die lauwarme Pietät wird sein An-
:

306
-

trieb sein, welche er der europäischen Geisteslage darum schul-


det, weil sie immerhin als geschichtlich-geistige Vergangen-
heit, als Voraussetzung, hinter seinem eigenen Dasein liegt,

sondern ein viel stärkerer und fieberhafterer Impuls wird ihn


treiben : es wird in ihm, eines nicht fernen Tages, mit der
akuten Schärfe eines einsetzenden Fiebers, mit der Verlockung
eines Traumes und der Beklemmung eines Alpdruckes, das
Bewußtsein erwachen, daß alle diese europäischen Dinge gar
nicht abgeschlossene Vergangenheit sind, sondern lebendige
und gärende Gegenwart, in deren Gärung allerdings unendlich
viel Vergangenheit mitgärt, und daß diese europäische Gegen-
wart zugleich seine amerikanische geistige Zukunft ist, der er
sich persönlich so wenig entziehen kann und der er seinen
großen jungen und meerumgürteten Kontinent so wenig ent-
ziehen kann, daß vielmehr alle im Landschafts- und Rassen-
geschick dieses jungen Kontinents als potentiell schlummern-
den Möglichkeiten und Katastrophen nicht durch andere Ent-
zündungen als durch die Zündstoffe dieser europäischen Gei-
steszukunft werden entbunden werden. Von einer solchen
Auswirkung gerade des geistigen, also geheimen Europa auf
das geistige, also geheime Amerika — ich rede von Vorgängen,
die sich auf einer ganz anderen Ebene vollziehen als die ver-
hältnismäßig harmlosen wirtschaftlichen Krisen und die bei-
nahe albernen und inhaltlosen Hin- und Herstöße der laufen-
den Politik — befinden wir uns auf der Vorstufe, deren Sym-
ptome da und dort schon sichtbar werden, aber freilich einen
unendhch harmlosen und beinahe, im Verhältnis zu so großen
Welt-Zukunfts-Dingen, frivolen Anschein haben. Ich meine
die allmähliche Durchdringung des amerikanischen Phantasie
lebens mit den subtilen und tiefwirkenden Traum-Toxinen
der europäischen Phantasie, wie sie sich dadurch vollzieht, daß
zunächst New York, Hauptstadt der Welt, wie es in einem ge-
wissen Sinn durch den Krieg nun einmal geworden ist, allmäh-

307
lieh alle jene Individuen magisch an sich zu ziehen beginnt,
welche auf irgendeinem Gebiet Träger des europäischen Kunst-
und Geisteslebens sind. Es macht für mich dabei nicht einmal
einen großen Unterschied, ob diese Individuen Bergson oder
France oder Chaliapin, ob sie Reinhardt und Stanislawski oder
Anna Pawlowa, EUy Ney oder Marie Jeritza heißen und ob die
Subtilitäten von Worten und Sätzen, welche geistige Ahnungen
tragen, das Medium dieser von Europäern ausströmenden Ein-
wirkung bilden, oder die Schwebungen einer Stimme, die
Töne eines Instrumentes oder die Gebärden, durch welche ein
beseelter menschlicher Körper das Ungreifbare offenbart. Auch
vernachlässige ich durchaus und mit Willen jetzt die ziemlich
äußerlich und oberflächlich scheinenden Formen, in denen sich
diese Resorption vollzieht, und den zunächst nur gedankenlos
auf Zerstreuung gerichteten Sinn der Publikumsschichten,
welche die Aufnehmenden dieser geistigen Einflüsse sind. Aber
es kann niemandem, der auf diese Dinge hinsieht, die Analogie
zwischen dieser Situation entgehen und der Situation, die mit
dem letzten Jalirhundert der römischen Republik anfing und
den Geist aller darauffolgenden Jahrhunderte bestimmte —
welche Analogie man natürlich, ebensowenig als irgendeine an-
dere, plump ausbeuten darf: ich meine die Invasion des jun-
gen römischen Machtzentrums durch den graeculus histrio, den
griechischen Sophisten, den griechischen Künstler, die griechi-
sche Tänzerin. Mit ihnen ziehen Piaton und seine Träume,
Ägypten und seine Geheimnisse, es ziehen Persien, Babylon
und Syrien, Zoroaster, Mithras und schließlich das Evange-
lium ein. Die Oberfläche der Gesellschaft, auf welche sich

diese Invasion fürs erste ergießt, ist freilich auch nur die Schicht
der reichen Leute, der Zerstreuung Suchenden, der Blasierten
und Neugierigen; aber der Geist ist das subtilste aller Gifte,
und binnen einem Jahrhundert war Rom ausgehöhlt, und an
der Stelle einer verhältnismäßig jungen und naiven, halb-

308
bäurischen Zivilisation hauste die mächtigste und folfron-
reichste Vermischung von Geistern und Kchgionen, welche die
Welt je gesehen hat. Denn eine solche geistige Infusion dringt
blitzschnell in die Blutbahnen und Lymphgefäße, und ich
glaube, daß die Vereinigten Staaten in ihren dunklen Tiefen
eines werdenden Elemente bergen, die präde-
Voll^es alle jene

stiniert sind, bei der Berührung mit so ungeheuren Fermenten,


wie die europäische Geistigkeit sie enthält, ganz erstaunliche
neue Spannungen, besonders religiöser, vielleicht auch künst-
lerischer Art, anzunehmen.
Dies vorausgeschickt, versuche ich, in ganz groben Strichen
den inneren Aspekt des geistigen Deutschland nach der Kata-
strophe des Krieges und des den Krieg fortsetzenden Friedens
zu umreißen, vor allem den geistigen Zustand und die Haltung
der Jugend, auf die in solchen Wendepunkten alles ankommt.
Diese jungen Menschen sehen in dem Krieg kein um-
scharf
rissenes einzelnes historisches Ereignis, sondern sie betrachten

ihn als die Klimax der ihm durch vier oder fünf JaJirzehnte vor-
ausgegangenen materiellen und geistigen Entwicklungen, ja

als das Resultat und die symbolische, sozusagen bildhafte Aus-


wirkung des ganzen neunzehnten Jahrhunderts. Ihre innere
Verfassung nach einer solchen Katastrophe ist jedenfalls völlig

verschieden von der der russischen jungen Männer und Frauen,


als sie sich nach dem Zusammenbruch des ersten russischen
Revolutionsversuches der Jahre 1906/07 in einer ungefähr
ähnlichen Situation sahen. Bei den jungen Russen erfolgte da-
mals nach einer kurzen, sehr starken Anspannung — denn die

damalige Revolution war eine liberale, von der geistigen ober-


sten Schicht getragene und wurde schließlich vom Zarismus
mit Hilfe des unteren Volkes, gerade der heutigen bolschewi-
stischen Massen, erstickt — nach einer kurzen Spanne des Han-
,

delns, sage ich, erfolgte eine völlige Relaxation der Nerven und
des Willens, ein Zurücksinken in die melancholische Apathie

309
oder in die Sensualität; Artzybaschew hat in einigen seiner
Romane, die eine vorübergehende Berühmtheit erfahren haben,
diese Zustände geschildert. Wenn ich das Resultat der großen
Katastrophe von 1918 auf die jüngeren Deutschen in einem
Wort zusammenfassen sollte, so Mräre es genau der Gegenbe-
griff von Relaxation nämlich äußerste Anspannung, Anspan-
:

nung weitem Maß freilich auch im politischen Sinn —


in sehr
aber ich möchte das Rein-Politische hier durchaus beiseite
lassen — Anspannung des Geistigen also, Anspannung aller
,

geistigen Forderungen, Anspannung des Verantwortlichkeits-


gefühles und Anspannung des Bewußtseins und des Welt- und
Schicksalsgefühles auf eine erstaunliche Weite. Es liegt, trotz
aller scheinbaren Welt-Zugewandtheit, im deutschen Volk et-

was Schlaffes und Träumerisches ; und es bedarf außerordent-


licher und finsterer Situationen, um zu einer solchen Anspan-
nung getrieben zu werden. In diesen Momenten aber ist es

außerordentlicher Kühnheiten fähig, solcher Kühnheiten, daß


ihre Gebärde, von weitem angesehen, der Gebärde des Ver-
zweifelten, ja des Selbstmörders gleicht — und deren geheimes
Resultat doch vielleicht eine völlige und erstaunliche Wieder-
geburt sein wird.
Diese junge Generation findet sich auf den Trümmern einer
Welt nicht nur
: die politische Welt ist ihr ein Trümmerhaufen,
sondern auch die geistig- wissenschaftliche. Der Rationalismus,
in welchem das neunzehnte JaJirhundert sein Weltbild unzer-

störbar für alle Zeiten organisiert glaubte, ist zusammengefal-


len. Es war die erste große Gebärde der jungen Generation,
daß sie den Rationalismus entthronte und ihn dem Irrationalen
subordinierte. Die Begriffe, denen das neunzehnte Jahrhundert
vor allen gehuldigt hatte der der schrankenlosen individuellen
:

Freiheit und der der Entwicklung, durch den mein alle Myste-
rien des Daseins mehr verschleiert als erklärt hatte, wurden
verlassen. Der Begriff der Autorität erhob sich um so höher

510
lind reiner, als alle aktuellen Trauer der Autorität frofallen

waren: um dem Autoritätsben^rilT im Fühlen und Denken —


denn mau ringt, wenn man jung ist, durchaus um eine Syn-
these von Fühlen und Denken — eine möglichst feste Fundie-
rung zu geben, ging man so tief wie möglich: man legte alles
erlittene Unglück, die tragischen Unbegreiflichkeiten des histo-
rischen Geschehens, dem man unterlegen war, die Ahnung
eigener Verfehlungen — nicui legte dies alles mit in den Grund-
stein des neuen Glaubens man suchte den Begriff Schicksal so
:

tief als möglich zu erfassen. Vorwärtsgetrieben und zusammen-


gehalten von dem Drang, in einer doppelten, politischen und
geistigen, Katastrophe etwas wie Ordnung und Sinn zu er-

bhcken und zu neuen Bindungen aller Dinge zu kommen, gab


man sich zw^ei Strömungen des Denkens und Fühlens hin:
einer mehr christlichen oder mystischen, das Zusammenströ-
men aller Dinge in Gott erkennenden, sozusagen über dem
Rationalen schwebenden, und einer mehr antik, ja orientalisch
heidnischen, welche von der grandiosen Erfassung des sinn-
lichen Lebens her zum Begriff des Schicksalhaften gelangt, und
die gleichsam unterhalb des Rationalen in dunklem Bett da-
hinströmt. Nicht aber so, als ob beide Richtungen einander
ausgeschlossen hätten vielmehr gingen sie ineinander über, so
:

wie vor fast zweitausend Jahren beide Richtungen: ein zum


Geist aufstrebendes Heidentum und ein sich der Heidenwelt
zuneigendes Juden-Christentum, wirklich und zu ungeheurer
Folge ineinander übergegangen sind. Diese weder rein spiri-
tualistische noch rein vitahstische Geisteslage, welche auch
von den das neunzehnte Jalirhundert durch waltenden Kate-
gorien des Optimismus und Pessimismus nicht mehr erreicht
wird, weil sie sich sozusagen auf einer neuen Ebene auswirkt,
hält die Seelen aller derjenigen in Bann, welche innerhalb einer
Generation zählen und von deren Durchdringen das geistige
Geschick abhängt. Das numerische Verhältnis dieser Individuen

311
zur Gesamtheit der vorhandenen jungen Männer aufstellen zu
wollen, wäre müßig und frivol, doch glaube ich, daß die Zahl
dieser von einer neuen und nicht dogmatisierten, aber beben-
den und pulsierenden Religiosität erfüllten Menschen eine sehr
große ist daß sie alle Schichten der Nation durchsetzen und an
;

allen Punkten der deutschsprechenden Länder sich zu kleinen

Konventikeln zusammenschließen. Es ist dies ein Zustand so-

zusagen vormessianischer Religiosität, und er hat sich auch


einen Führer oder Vorläufer des Führers heraufbeschworen,
nicht in Gestalt eines Menschen von Fleisch und Blut, sondern
in der Gestalt eines Toten, eines durch fast hundert JaJire von
der Nation fast vergessenen geistig hohen Individuums, dessen
geistige Präsenz und Gewalt über die sich um ihn scharende
jetzige Generation eine so große und besondere ist, daß man

auch hier fast eher von einem religiösen Phänomen sprechen


möchte als von einem bloß literarischen. Dieser durch den
Drang einer ganzen Generation aus dem Grabe Gerufene,
Wiedergeborene ist der Dichter Friedrich Hölderlin. Es muß
für Menschen, die stark in den Begriff der aktuellen Gegenwart
eingesponnen sind, befremdlich sein zu denken, daß eine Gene-
ration lebender Menschen ihr höchstes Denken um die Gestalt
eines Jünglings kreisen läßt, der vor aiiderthcdb Jahrhunderten
(1770) geboren wurde und ungefähr 1803 oder 1804 aus dieser
Welt entschwand nicht durch den Tod, sondern durch einen
:

fast schicksalhaften Wahnsinn, von dessen Wolke umhüllt er

dann noch bis über das Jahr 1840 fortlebte ; also ein Zeitgenosse

Shelleys etwa, heraufbeschworen vom Glauben und Willen


einer ganzen Generation, um in einer der unheimlichsten La-
gen der Geschichte als das Symbol des Führers zu gelten. Und
doch spreche ich von Dingen, die äußerst real sind, in vielen

Tausenden von Köpfen jedenfalls weit mehr Realität haben,

als alles was zwischen Ministern und Ministern, Parteiführern


und Parteiführern vorgeht und die ephemeren Spalten der

312
Zoitungen füllt; von Dingen aucli, die sich ganz äußerlich und
greifbar auswirken, indem von den Werken dieses bei seinen
Lebzeiten fast vergessenen, vor fünfzig Jahren kaum mehr dem
Namen nach gekannten Dichters eine Ausgabe nach der ande-
ren an zahllosen Punkten der deutschen Welt herausgebracht
und begierig vom Publikum aufgcnominen wird. Fremden zu
sagen, was einen längstverstorbenen lyrischen Dichter, dessen
Hymnen und Elegien von wunderbarer rh^-thmischer Gewalt,
aber dabei sprachlich sehr schwer, ja stellenweise wirklich dun-
kel sind, mit einem Schlag zum Führer einer ganzen schick-
salvollen Generation machen kann, so daß sie nach einem
Stupor von ein paar Jahren sich in ihm zusammenfindet, aus
ihm ihr Höchstes aufzubauen unternimmt, ist nicht leicht, und
ich muß mich mit emigen Andeutungen begnügen. Merkwür-
dig genug ist es aber, zu denken, daß besonders die Strophen
seiner letzten, vom Wahnsinn schon beschatteten produktiven
Jahre, die jahrzehntelang für schlechthm unverständlich, ja
einfach für sinnlose Produkte eines Wahnsinnigen galten, jetzt
wirklich verstanden werden, und zwar nicht von Einzelnen
sondern von Vielen, und daß ein unendlicher Gehalt sich von
diesen sibyllinischen Blättern in die Herzen ergießt und ein
solcher, der genau als einzig möglicher Trost für die gegen-
wärtige Stunde und Lage erscheint. Was ihn zum Führersym-
bol für eine tragische Stunde ganz besonders geeignet macht,
ist dies : er war eine tragische Gestalt, und dazu von wunder-
barer Reinheit; verkannt, ja völlig verschmäht von der Welt
seiner Zeitgenossen, geschlagen vom Schicksal auf jedem seiner
Wege, völlig einsam und dabei völlig gut bleibend, ja — wie die
edle Harfe — jedem Schlag mit immer reineren höheren Klän-
gen erwidernd. Damit ist aber nur das Pathetische erklärt, das
von seiner Gestalt ausstrahlt, und nicht das Geistige. Er war
aber, ganz abgesehen von all dem was ihn zu einer rührenden
poetischen oder, wennmanwill, mythischen Gestalt macht, eine

313
:

ganz große geistige Potenz. Von einem erbarmungslosen, übri-


gens echt deutschen Schicksal in sein eigenes Innere zurück-
getrieben, baute er sich die Welt in seinem Inneren auf, aber
durchaus nicht, wie die nach ihm lebenden Romantiker, eine
Welt des zerfließenden, der Musik verwandten Traumes, —
sondern eine Welt der kristallklaren Vision, in welcher alle
geistigen, sittlichen und historischen Mächte der Wirkhchkeit
ihren Platz hatten, aber nicht kalt und verstandesmäßig an-
geschaut, noch auch mit romantischem Blick, sondern mit
einem mythenschaffenden oder religiösen Auge. Je grausamer
und verworrener die wirkliche W^elt ihn umfing, so gewaltiger
mühte sich seine Seele, in sich eine alle Gewalten der Welt um-
fassende und alle miteinander versöhnende Vision aufzubauen.
UnwillkürHch kommt mir, indem ich für aiiglo-amerikanische
Leser das Bild dieser geisterhaften und gewaltigen Erscheinung
hinzuschreiben versuche, der Xame William Blake m den Smn,
und in der Tat besteht eine Analogie für den, der ins Tiefere
der geistigen Erscheinungen zu gehen vermag. — Jedenfalls
vollzog Hölderlin, einer reinen und dämonisch starken Intuition
sich hingebend, in sich eine Synthese der großen historischen
Vergangenheit, auf der unsere geistige Existenz ruht, und in
dieser Synthese die feierliche Vereinigung der beiden geistigen
Haupttendenzen, die ich oben als religionsbildende Komplexe
im Bewußtsein dieser jetzt lebenden Generation bezeichnete
er ergriff mit ganzer Seele das Griechentum, aber gerade indem
er es ganz ergriff und darin lebte, machte er auch, am Ende seines
Lebens, jene Evolution durch, die sich im Griechentum selbst

vollzogen hat, wenn wir durch Piaton ein Licht durchschim-


mern sehen, das kein anderes ist als das des Christentums. Die-
sen jugendhchen und nicht dogmatisierten Geist des Christen-
tums ergriff er, ohne sozusagen den Geist des Christentums
ganz zu verlassen die großen heidnischen Begriffe des Schick-
:

sals und der Götter leben in seiner poetischen Welt zusammen

314
mit tief christlichen Reo^riffen und Intuitionen, der Ätlier und
Bacchos mit Christus. So sieht die Generation der Lebenden
ihre geheimste Sehnsucht, den Kern ilires rehi^iösen Traumes,
von diesem geheimnisvollen Führer schon vorgelebt. Sein
Stern strcdilt über ihrer geistigen Welt, und für den Augen-
blick ist diese Gestalt gemäß dem Willen der Sterne dem Her-
zen nälier und über die Herzen gewaltiger als selbst die gewal-
tige und immer tröstliche Erscheinung Goethes.

315
FÜNFTER BRIEF AN »THE DIAL«

TVien, im März 1924

VON allem, was sich seit meinem letzten Brief an »The Dial«
hier auf künstlerischem Gebiet ereignet hat und wert wäre,
nach Westen gemeldet zu werden, scheint mir das Beträcht-
lichste das Auftreten eines neuen lyrischen Dichters, Richard
Billinger, dessen Besonderheit darin liegt, daß er ein österrei-

chischer Bauemsohn ist und daß seine Gedichte sich auf den
Gefühls- und Vorstellungskreis dieses Standes beschränken, im
Ausdruck dieser Motivenwelt aber eine so große Kraft und so
starke Originalität bezeigen, daß sie durchaus als »hohe Litera-
tur« anzusehen sind. Vielleicht muß ich aber mit wenigen
Worten zu sagen versuchen, v^as das ist: ein österreichischer
Bauer. Der Film, welcher zwischen den so verschiedenen Wel-
ten der Erde vermittelt und sie alle durch das geheimnisvolle
Gefühl der Kontemporaneität zusammenhält, hat dem ameri-
kanischen Farmer gezeigt, was ein russischer Mujik, und dem
russischen Mujik, was ein amerikanischer Farmer ist. Der
Bauer, der das Hügelland und die Berggelände der österreichi-
schen Alpen bewohnt — und untere Österreich,
also das obere

das Salzburgerland, Tirol, Steiermark und Kärnten — ist nun ,

ungefäJir gleich weit entfernt von dem Farmer und demMujik.


Insofern er durchaus ein Zeitgenosse ist, mit dem vollen, durch
den Krieg noch sehr erweiterten Bewußtsein seiner Epoche;
insofern er sehr wohl seine politische und kulturelle Bedeutung
kennt und sich der parlamentarischen Maschine mit voller

Sicherheit zu bedienen weiß, gleicht er wohl mehr dem Far-


mer. Das, was ihn doch immerhin auch wieder mit demMujik
verbindet, ist das sehr Simple und Althergebrachte seiner Le-
bensführung, und der große Umstand, daß sein Verhältnis zum

316
Erdboden, zu seinem Stück Erde, doch bei weitem mehr noch
ein rehgiüses, beinahe mystisches ist als ein bloß kommerzielles
oder industrielles. Die Geräte, die ihn umgeben, und ganz so-

wohl die Arbeitsgeräte als die Möbel seines Hauses, haben seit

einem halben JaJirtausend ihre Form kaum gewechselt. Das


Ehebett, die Feuerstelle stehen an der gleichen Stelle, die ihnen
der Grundriß des Hauses seit dem Mittelalter anweist. Dort,
wo sie zur Zeit der Hohenstaufen und der frühen Habsburger
gehangen haben, hängen die Sensen und die Äxte an der glei-
;

chen Stelle, wo es seit der Erfindung der Buchdruckerkunst ge-


legen hat, liegt das Gebetbuch in einem uralten Schrank, viel-
;

leicht noch in einer uralten Truhe, liegen und hängen die


Festtagskleider, und sie sind nach Schnitt und Farbe die glei-
chen, in denen die Vorfafiren die Befreiung des Landes von der
Türkennot oder von der großen Pest des Jahres 1677 gefeiert
haben. Das Wort »konservativ«, von solchen Existenzen ge-
braucht, hat noch einen ganz anderen Sinn als den dünnen,
papierenen, den wir in der pohtischen Phraseologie damit ver-
binden.
Es ist nur natürhch, daß aus dieser Schicht, von Generation
zu Generation, sehr viele Künstler hervorgetreten sind. Denn
das künstlerische Phänomen tritt eben dort ins Leben, wo aus
einer langen Reihe von Geschlechtern, in deren geschlossenem
Dasein die Bilder für alles Bedeutende sehr fest und stark ge-
worden sind, ein Einzehier in die freie Atmosphäre der Welt
hinaustritt und sich dieser in ihm aufgespeicherten Bilder mit
freier Bewußtheit bedient. Auch in unserer Generation sind
von den drei bedeutenden Künstlern, welche Österreich inner-
halb der Malergilde Europas gestellt, zweie von solcher bäuer-
lichen Herkunft: Anton Faistauer und Franz Wiegele, und nur
einer, der vorläufig berühmteste von ihnen, Kokoschka, ist ein
Wiener. Ergreift die künstlerische Begabung, welche sich in

all diesen einsamen Tälern aufspeichert, den geheimnisvollen

317
inneren Sinn — anstatt sich durch die Hand im Pinsel oder im
Messer des Holzschnitzers zu entladen — und entsteht ein Dich-
ter, so entfaltet und hält sich sein Talent gewöhnlich in der
Schicht des Dialektes, welche der Erde nah und gleichsam für
ihre allnächtliche Belebung, ihren Tau, noch erreichbar ist;

denn bei uns in Europa ist ja der Dialekt nicht die vernach-
lässigte und verderbte, häßlich gewordene Sprache der Ober-
schicht, sondern es ist der uralte Naturlaut, aus dem sich die

Sprache der Gebildeten immer neue Belebung holt.


In diesem Falle aber, im Falle dieses jungen und über-
raschenden Bauern dichters Richard Billinger, ist es das Schrift-
Deutsch, die hohe Sprache der Literatur, in welcher mit einer
genialen Sicherheit Dinge ausgesprochen und Bilder hervorge-
rufen werden, die völlig jener bäuerlichen vergleichsweise
kindlichen Motivenwelt angehören. Die Sprache selbst, deren
Behandlung ja das Alpha und Omega der Dichtkunst ist, ge-
winnt dadurch eine naive leuchtende Frische und, wo es sein

muß, eine finstere und beinahe brutale Härte, die ohneglei-


chen ist. — Ich bin betrübt, zu erkennen, wie ohnmächtig der
Versuch ist, einen Bericht über lyrische Poesie zu geben. Vor
mir liegt einer der beiden dünnen Bände von Billingers Ge-
dichten, ich schlage eines derselben auf und sehe, daß es eben-
so meines Versuches spottet, seine Schönheit darzulegen, als es

des Versuches einer Übersetzung spotten würde. Das Gedicht


heißt »Der Mondsüchtige«. Es hat genau jene mittlere Länge,
welche einer starken lyrischen Inspiration ansteht — jene, die

Edgar Poe liebte, er, der das Geheimnis der lyrischen Schön-
heit gekannt hat wie wenige. Es hat acht vierzeihge gereimte
Strophen. Der Rh}^hmus, Hebungen und Sen-
das Spiel der
kungen, ist ohne kunstmäßige Besonderheit: naiv, und fast
eintönig. Aber eben diese naive Eintönigkeit hat eine unver-
gleichliche Kraft, eben jenes Seltsame, Schaurige zu malen, das
gemalt werden soll: den trance eines Bauernkindes, das in der

318
Vollinondnaclit aus seiiKMu Bett steigt, in sein Hemd fahrt utul
auf dem Scliindeldach herumwandelt. Das eigentlich Wunder-
bare aber liegt in der aus diesen Kindesaugen, die der irance
aufreißt, heraus erblickten Welt — und im Doppelten dieser
Vision: einmal dem engen, im Nachtwind ächzenden Haus,
in dem alles bedrohlich und unheimlich ist : unheimlich lauert
der Ofen mit seiner verlodernden Glut ;
gespenstisch steht der
Eßtisch da und fängt an, in der nächtlichen Stille, sich selber
zur Mahlzeit aufzudecken : ein zerbrochener Teller, ein schar-
tiges Messer, verspießte Gabeln, ein schimmliger Brotlaib —
und keine Hand, die dies herbringt der Tisch selber tuts
: — und
dann, von dem hchtgebadeten Dach, das Freie, die unheim-
liche und herrliche Vision der Mondnacht: die zärtlich gur-
rende Taube, die klagende Eule der schleichende Nebel überm
;

Acker; das fast singende Grün der Wiesen (im stärksten Mond
ist ja der Rasen nicht schwarz, sondern wdeder grün) ;und das
Kirchturmkreuz, das mit einer betenden Inbrunst in den Him-
mel steigt — endlich der Nachbar unten, der angstvoll zu dem
nachtwandelnden Kind heraufstarrt, dann rennt, die Leute
holt — und über dem allen das Kind, ungreifbar, laufend und
hüpfend auf den Schindeln, die seinen Fuß küssen und es tra-

gen wie der Boden von Gottes Freudensaal.

Sie haben indessen Reinhardt drüben gehabt und haben


eine Seite seines vielseitigen Wesens auf sich wirken lassen. Da
er durchaus nicht der Mensch des vereinzelten Experimentes
ist, durchaus nicht der Mensch, der Laune oder Zufall über sein
künstlerisches Dasein regieren läßt, sondern ein sehr planvolles
und in seinem Denken und Tun beharrliches Individuum, so
werden Sie ihn ohne Zweifel von jetzt an öfter dort sehen, und
werden verschiedene andere Seiten von ihm kennenlernen. In
der Zwischenzeit aber wird er immer wieder hierher zurück-
kehren und hier ein Unternehmen weiterführen, das er zu

319
inaugurieren im Begriffe steht: das Theater in der Josefstadt
(Josefstadt ist ein Stadtteil in Wien und das dort befindliche
Theater ein intimes Theater für etwa achthundert Personen,
erbaut vor etwa hundert Jahren, und seitdem ohne Unterbre-
chung im Betriebe) — oder um es genau mit dem Titel zu be-
zeichnen, den er selbst dafür gewählt hat: »Das Theater der
Schauspieler in der Josefstadt, unter der Leitung von Max
Reinhardt«. Während Amerika vor allem als pro-
Sie ihn in
ducer größten Stiles gesehen haben, als den Regisseur der Mas-
sen, als den Rhythmiker des Raumes und des Lichts, will er
hier vor allem in einer Eigenschaft wirken, die nicht weniger
wichtig ist als jene andere und die vielleicht für das Theater
seines eigenen Landes die bedeutsamere und folgenreichere
ist: als der Entdecker und Erzieher neuer Schauspieler. Eine
ganze Schauspielergeneration ist in diesen zwanzig JaJiren aus
seinen Händen hervorgegangen. Einen Teil von diesen hat er
auch an das Josefstädter Theater berufen und sie werden ab-
wechselnd hier erscheinen : Werner Krauss so gut als Moissi,
Pallenberg so gut als Eugen IQöpfer. Unzweifelhaft wird er sie
vor neue Aufgaben stellen und wird Möglichkeiten an ihnen
entdecken und ans Licht bringen, die ihnen selber bisher nicht
ganz bewußt waren. Er war es, der zuerst aus dem stärksten
Komiker der mitteleuropäischen Bühne, aus Pallenberg, jene
Akzente herausgelockt hat, die nicht nur ans Tragische strei-
fen, sondern tief in dieses hineinreichen; und ich weiß es, daß
er mit Ungeduld darauf wartet, Alexander Moissi, dem stärksten
Hamlet und König Ödipus der neueren Bühne, eme Aufgabe
zu stellen, die ganz ins Bereich der Komödie gehört, freilich der
hohen, von einer tragischen Ironie umwitterten Komödie ich :

meine die Gestalt des Hjalmar Ekdal in Ibsens »Wildente«.


Aber wenn ich ihn richtig kenne, so gibt es eine Aufgabe, die
ihn noch mehr locken wird als die, aus so bewährtem, ge-
schmiedetem Stahl neue Funken von einer bisher unbekannten

320
Farbe sprühen zu lassen: es ist die, neue Talente zu wecken
und zu bilden, ja aus allen möglichen Lebenssphären junge
Frauen und Männer heranzuziehen und aus ihnen Schauspieler
zu machen, oder den Schauspieler, der in ihnen schläft ohne
daß sie es wissen, zu ihrem eigenen Staunen ans Licht treten
zu lassen. Die beiden Experimente, dieihm beim »Mirakel« so
erstaunlich gelungen zu sein scheinen — das mit Lady Diana
Mannersund das mit Ihrer jungen Landsmännin Miß Pinchot -,
werden ihn nicht ruhen lassen, und wenn das Glück, das je-
der produktive Mensch in seiner Sphäre bis zu einem gewissen
Grad kommandieren muß, ihn nicht im Stich läßt, so wird aus
dem kleinen Haus in der Josefstadt noch einmal eine neue
Generation merkwürdiger Schauspieler hervorgehen, deren
Namen in zehn Jaliren berühmt sein werden. Es ist eine gute
Stelle für ein solches Experiment, dieses kleine Haus ; es ist ge-

baut wie ein Geigenkasten und fähig, jeder kleinen Nuance


eines guten Schauspielers, ja dem Lächeln oder der zarten Um-
florung der Stimme durch eine innere Träne ihre volle Reso-
nanz zu geben und es ist viel gutes Theater gespielt worden
;

seit jenem Tage vor mehr denn hundert Jahren, als Beethoven

zur feierlichen Eröffnung ebendieses Schauspielhauses seine


Ouvertüre »Die Weihe des Hauses« schrieb und sie selber diri-

gierte.An demselben Dirigentenpult wird nun Richard Strauss


erscheinen — den eine vie 1jährige künstlerische Freundschaft
mit Reinhardt verbindet — und es war zuerst geplant, daß er
,

ebenjene Ouvertüre nach hundert Jahren zum zweiten Mal er-


klingen lassen sollte, aber vielleicht wird an Stelle der Beetho-
venschen eine leichte und heitere Mozartsche Symphonie ge-
wählt werden, um den vollkommenen Einklang herzustellen
mit der leichten und heiteren Komödie, die man für den Eröff-
nungsabend gewählt hat der Farce »Ein Diener zweier Her-
:

ren« von Goldoni, mit den venezianischen »maschere« des acht-


zehnten Jahrhunderts Truffaldino, Pantalone, Smeraldina
: usf.

321
Indem Reinhardt seine Saison mit einer Komödie dieser Art
eröffnet, in welcher das Stück fast nichts und der Schauspie-
ler eigentlich alles ist, wiederholt er in einer noch deutliche-
ren Weise die Andeutung, die er schon durch den Titel sei-

ner neuen Theaterunternehmung gegeben hat: daß er eine


Art von »Theater der Sozietäre« gründen will und durchaus
nicht das Theater eines großen egoistischen Regisseurs. Diese
bunte, in Wien seit fünf Generationen sehr eingewurzelte
Form der Komödie, das was Sie formal comedy nennen, wird in
seinem Repertoire einen bedeutenden Platz einnehmen, aber
keineswegs einen überwdegenden. Es werden auf diesen ersten
Abend drei andere Abende folgen, und diese vier Abende zu-
sammen werden die \'ier Hauptrichtungen repräsentieren, in
welchen er das Repertoire dieses Theaters ausbauen will der :

zweite Abend bringt »Kabale und Liebe«, eines von Schillers


Jugenddramen, also den Stil des älteren hohen Pathos; der
dritte ein Lustspiel von mir, durch welches er die Linie des
modernen Gesellschaftsstückes repräsentiert, der vierte das
»Traumspiel« von Strindberg, als Repräsentanten des mo-
dernen phantastischen Stückes. — Was er von diesem Theater
ausschließt, sind alle Stücke, deren Format und Dynamik in
Widerspruch zu einem intimen Haus steht: also »Julius Cäsar«

oder »König Lear«, oder Mysterien wie »Das große Welt-


theater«. — Er hat mir die Liste der Stücke gezeigt, die er für
die nächsten achtzehn Monate er^vorben hat, und ich kann sa-

gen, es ist eine sehr weitherzige Liste. Sie enthält Stücke von
Galsworthy, Sutton Vane und A. A. Milne, ferner »Aimer«
von Paul Geraldy, und »Maitre de son coeur« jenes interessan-
ten Paul Raynal, dessen »Tombeau sous l'Arc de Triomphe«
in Paris so viel Widerstreit hervorgerufen hat; einige Rus-

sen, unter denen natürlich Tschechow; »Anna Christie« von

Eugene O'Neill — dies von Lebenden, ungerechnet die Toten


von Shakespeare bis Strindberg. Von lebenden Autoren deut-

522
scher Sprache sehe ich außer mehreren Arbeiten von mir zu-
nächst nur ein Stück eingetragen : das »Apostelspiel« des jün-
geren österreichischen Dichters Max Meli, eine Arbeit, an der
alles besonders und eigentümlich ist und der ich einen sehr

großen Erfolg vorhersage.


Reinhardt hat natürlich mit seinen hiesigen Freunden über-
legt, ob er die sehr ernsten Absichten die er mit seiner Wiener
^

Theatergründung verfolgt und die sich sowohl auf ein höheres


und dabei geistig geschlossenes Repertoire als auf einen vom
Berliner Realismus abgewandten, sehr zarten und intimen Stil

des Theaterspiels beziehen, am ersten Abend gleichsam offiziell


aussprechen lassen sollte, und ich hatte schon, auf seine Bitte,
die Feder angesetzt zu einer Art von szenischem Prolog. Ich
wollte aus jedem der vier Stücke, die ich oben aufzählte und
die vier verschiedene Genres repräsentieren, eine Figur auf-
treten und durch den Mund dieser vier Figuren einiges sowohl
von grundsätzlicher Bedeutung sagen als auch das Bewußtsein
des ernsten theater geschichtlichen Momentes aussprechen las-

sen. Denn es ist dieser Moment, wo Reinhardt nach Österreich


zurückkehrt, von wo seine ganze Kunst ausgeht (er ist doch in
den dreiundzwanzig Jahren, seitdem er als Theaterdirektor
wirkt, inWien immer nur als Gast aufgetreten, und diesmal
zum ersten Mal tritt er im eigenen Haus, als Wiener Theater-
Aber ein Prolog dieser Art, der natur-
direktor, vor die W^iener).
gemäß sehr ernste Dinge hätte mit einem gewissen Gewicht
und einer gewissen Feierlichkeit aussprechen müssen, schien
uns zu der leichten Atmosphäre der commedia dell'arte, wel-

cher der erste Abend gehört, nicht zu passen. So verzichteten


wir darauf, ein höheres Programm expressis verbis zu ent-
falten und Versprechungen zu machen, und einigten uns auf
ein leichtes szenisches Vorspiel, eine bloße Begrüßung vor dem

Vorhang, die, wie alles in der Komödie selbst, den Charakter


der Improvisation haben wird. Auch diese Form gestattet uns,

525
.

in einer bescheidenen Weise das Besondere der Situation aus-


zusprechen: die Eröffnung eines neuen Theaters mit hohen —
aber durchaus nur theatermäßigen, nicht hterarischen — Zielen
in einem alten Gebäude, in dieser ahen Theaterstadt. Aber das
Ganze ist in den Mund der Schauspieler gelegt, Truffaldino —
die lustige Person der Komödie — führt das große Wort, und
der ganze Spaß drängt sich in den kurzen Moment zwischen
dem Aufhören und dem Beginn des wirklichen
der Symphonie
Stückes. Kaum haben Strauss und seine Musiker ihre Pulte ge-
räumt und das Orchester — welches auf der Bühne errichtet ist
— verlassen, so schiebt sich Truffaldino zwischen den Kulissen
hervor. Die arideren Schauspieler wollen ihn von der Bühne
ziehen, der Inspizient winkt ihm zu verschwinden, — er aber . .

Aber hier haben Sie, statt daß ich eine Improvisation, die
nicht mehr Gewalt hat als eine Seifenblase, zerstöre, indem ich

sie mit den Fingern anfasse, den ungefähren Text der ganzen
Szene. Sie werden die ersten und einzigen sein, ihn zu lesen —
da er hier durchaus nicht gedruckt, sondern nur an diesem
ersten Abend ganz im Charakter einer wirldichen Improvisa-
tion gespielt werden wird.

524
MAX REINHARDT

EIN produktiver Mensch ist solch eine erstaunUche Einheit I

Nur darum ist es scliwer, über ihn zu sprechen weil man, um :

ein Phänomen zu interpretieren, das Einheitliche für den Mo-


ment auseinanderlegen muß, wde bei einem physikalischen
Experiment. — Betrachtet man aber andererseits die Wirkun-
gen eines solchen Menschen, der seit fünfzehn Jahren unstrei-
tig dem europäischen Theaterleben den stärksten Impuls gibt,
und immer \vieder einen neuen, und sieht man zu, wie viele
Federn und Zungen sein Handeln in Bewegung setzt, und auf
wie vielerlei Weise, so ist es reizvoll, vom Äußerlichen auf das
Geheimere und Gesetzmäßige einer solchen Wirksamkeit zu-
rückzugehen, und die fruchtbare dichtgedrängte Einheitlich-
keit des Kraftzentrums zu erkennen, von dem diese elektri-
schen Schläge ausgehen, deren Vibrationen bis an die Grenzen
Europas und bis über den Ozean gefühlt werden.
Dieses Zentrum ist die Seele eines genialen Schauspielers,
der seine schauspielerische Vision nicht durch seinen eigenen
Körper, sondern durch die Körper anderer auszudrücken ge-
zwungen ist. Der künstlerische Typus, von dem ich spreche, ist
jenem anderen eigentümlich gemischten Genie, das wir den
dramatischen Dichter nennen, nächstverwandt. Denn auch
der dramatische Dichter ist beinahe ein Schauspieler, und je

mehr er das eine ist, desto vollständiger ist er das andere ; was
er schafft, ist ein Gewebe aus Schicksalen und Gestalten, aber
er bewirkt diese Schöpfung dadurch, daß er ineinandergreifen-
de Rollen und Verkettungen fruchtbarer, d.h. wirksajner schau-
spielerischer Momente halluziniert; was das kreative Genie
dann noch GöttHches hinzutut, das ist eben das Geheimnis des

325
kreativen Genies. Ich weiß sehr wohl, daß ich mit obigen Wor-
ten nicht das kreative Genie von Shakespeare und MoHere um-
schreibe, wohl aber ihre besondere Schicksalslage und die Form,
unter der das Dichterische aus ihnen hervortritt, in ihrer un-
geheuren Unterschiedenheit von der Form, unter der aus einem
Shelley oder Whitman der Strom ihrer flutenden h}Tnnischen
Gedcinken oder aus einem Richardson oder Balzac das Gespinst
ihrer epischen Erfindungen hervortritt. Zu dem geborenen
dramatischen Dichter nun ist der geborene Schauspieldirektor,
der geborene große producer^ im Verhältnis der Zwillingsbrü-
derschaft; aber seine Situation ist noch sonderbarer, und die
Behinderung des Schicksals, wodurch ihm das, was er sein soll,

zu sein fürs erste verwehrt wird — wie damit die produktive


Kraft sich aufstaue und einen Springbrunn bilde — , ist noch
eigensinniger. Wenn die Situation des dramatischen Dichters

die ist: daß seine Visionen des Weltinhaltes mimische sind,

solche, wie sie der Schauspieler durch die Verwandlungen sei-

nes Körpers ausdrückt — daß ihm zugleich der Körper versagt


ist, um die Fülle seiner Visionen auszudrücken — und daß ihm
dafür in der sprachlichen Begabung das Mittel gegeben ist, ein
hundertfacher Schauspieler zu sein und die begabten Körper cin-
derer zur Realisierung seiner Visionen zu zwingen — , so ist die

Situation des genialen proditcers noch um eine Stufe höher ins


Bizarre hinaufgerückt. Denn ihm ist auch die Sprache als un-
mittelbares Material zur Kreation noch versagt, und wie der
Dramatiker die lebenden — und auch die um Jahrhunderte nach
ihm lebenden — Schauspieler zwingt, seine Visionen zu verkör-
pern, so realisiert der producer seine persönliche und eigen-
willige Vision, indem er sich auch der dramatischen Dichter
noch als eines Werkzeuges bedient — gleichsam als eines Lei-
tungsnetzes von Intentionen, durch welche er seine noch stär-
kern Intentionen hindurchschickt.
Diderot hat »Le paradoxe du comedien« geschrieben, bei

326
weitem das größere Paradoxon ist aber di(^se Situation des pottt
producer. Denn der Platz, den er innerhall) des tlicjatralisclien

Apparates einnehmen muß, vun seine Wirkuiif^^ zu entfalt(Mi,


ist an einer Stelle, die, mit nüchternem Auge betrachtet, über-
haupt keinen leeren Raum bietet. Die Stelle, welche der Ka-
pellmeister einnimmt, zwischen dem Komponisten der Sym-
phonie, dessen zarteste Absichten ja deutlich genug in den
Noten niedergelegt sind, und den ausführenden Musikern, ist

eine ähnliche — hier wie dort handelt es sich um interpretie-


rende Begabung, die in seltenen Fällen bis zur produktiven
Geniahtät gesteigert werden kann, und tatsächlich ist es mög-

lich, Menschen wie Reinhardt und Stanislawski mit


solche
Niki seh oder mit Toscanini zu vergleichen. Aber der Kapell-
meister ist doch nur ein Schatten des producers. Wenn man ein
Jahrfünft oder gar ein Jahrzehnt von Reinhardts künstlerischer
Tätigkeit überblickt, so ergibt sich ein Reichtum des kreativen
Handelns und eine Nicht-Behindertheit durch irgendeine Gren-
ze des Stiles, die etwas Unheimliches hat. Innerhalb einer sol-

chen Lebens- oder Arbeitsepoche war das Objekt seiner Inter-


pretation die halbe dramatische Weltliteratur. Shakespeare in
seinen finstersten Tragödien und Shakespeare in seinen zarte-
sten Komödien, die »Orestie« des Äschylos und die »Lysistrata«

des Aristophanes Meliere ;und Goldoni und Gozzi; Goethe und


Schiller aber nicht weniger Strindberg und Tolstoi Tschechow
; ;

neben ICiiut Hamsun und Gorki neben Tristan Bernard eine ;

Operette, ein Ballett neben einem finsteren, von Problematik


starrenden Jugendwerk eines deutschen Zeitgenossen wie ist . . .

es möglich, alle diese Dinge nebeneinander auf die Bühne zu

bringen, ihnen keine Gewalt anzutun, jedem sein eigenstes


Leben zu lassen und doch jedem in einer höchst geheimen Blut-
transfusion etwas unverkennbar Reinhardtsches mitzugeben?
Dies streift an Hexerei. Aber jede kreative Begabung ist eben
ein Phänomen, über das zu staunen man nicht aufhören wür-

327
de, wenn nicht ein ungeheures Maß von Trägheit das Erstau-
nende, Schwingende in uns nach einer Weile wieder zur Ruhe
brächte.
Der Schlüssel, dieses Phänomen zu verstehen, liegt hierin:
der dramatische Text ist etwas Inkomplettes, und zwar um so

inkompletter, je größer der dramatische Dichter ist. Schiller,

auf der Höhe seines Lebens, schreibt einmal hin: er sehe ein,
daß der wahre Dramatiker sehr viel arbeiten, aber immer nur
Skizzen verfertigen sollte, — aber er traue sich nicht genug
Talent zu, um in dieser Weise zu arbeiten. Nichts ist wunder-
barer als, mit etwas gereiftem Blick, bei den größten Dramati-
kern der neueren Welt, bei Shakespeare und bei Calderon, zu
erkennen, wie sehr alles, was sie gearbeitet haben, bei aller
magischen Komplettheit doch den Charakter der Skizze bei-

behält, wie sehr sie es verstanden haben, frei zu lassen, das


Letzte, ja auch das Vorletzte nicht zu geben. Hierin liegt der
entschiedenste Unterschied zwischen dem dramatischen und
dem epischen Schaffen. Ein Stück wie der »Macbeth« hat etwa
zwanzigtausend Worte; ein Roman wie »Clarissa Harlowe«
oder »David Copperfield« vielleicht eine Million. Trotzdem ist

die Vision der Welt und des Geschickes, die der »Macbeth«
übermittelt, kerne weniger reiche noch weniger vollständige.
Wer würde zu behaupten wagen, »Hamlet« habe weniger In-
halt als der »Don Quixote« oder die »Odyssee«, der »Mis-
anthrope« weniger als die »Princesse de Cleves«? — Aber der
Romanschreiber geht darauf aus, mit seinen Worten das Ganze
zu geben, und die Phantasie seiner Leser, wie schon die Phan-
tasie der Zuhörer des antiken Rhapsoden, bleibt rein aufneh-
mend und passiv. Aber der Dramatiker hätte sein Spiel schon
verloren, wenn es ihm nicht gelänge, die Zuschauer ebenso wie
die Schauspieler zu seinem mittätigen Werkzeug zu machen;
nicht umsonst sind die Zuschauer eines Schauspieles Nachkom-
men des ursprünglichsten Chores, einer tanzenden und singen-

328
den Schar, die den Protaironisten, den «geopferten ITc^ros, um-
gab, mit ilim litt und jubelte; ja die Zuschauer sind niemals
etwas anderes als dieser erweiterte Chor, also Mitspieler und
Halluzinierte. Darum sollte im Drama alles im Zustande der
Andeutung bleiben, denn die vibrierende Phantasie des Mit-
spielers darf man nicht binden, wie man die Phantasie des
ruhigen Zuhörers nicht freilassen darf. Das Letzte noch muß
im Roman mit Worten gegeben sein. Daher die Ausmalung der
Gemütsvorgänge sowie des äußeren Schauplatzes, die Fülle und
Genauigkeit aller äußeren und inneren Angaben. Im Drama
wird das Letzte halluziniert — von der Phantasie des mitver-
flochtenen Zuschauers (dies, in Parenthese, ist jene aristoteli-
sche Reinigung der Seele durch Furcht und Mitleid) — und,

alles, was der Dichter und seine Gehilfen, der Regisseur, der
Maler, der Beleuchter und der Schauspieler, darbieten, ist

nur eine Kette von Andeutungen, Reizen, jene Halluzination


hervorzurufen und die Qualität genau zu bestimmen. Die Mit-
tel aber, vermöge welcher dieses ganze System von Andeutun-
gen und Reizen hergestellt wird, mehr als beim
sind, weit

Romanschreiber, dem nur das Wort zur Verfügung steht, der


Wirklichkeit angehörig. Der sich bewegende ausdrucksvolle
Leib des Tänzer-Schauspielers oder Sängers, aus dessen Mund
— in völliger Einheit mit seiner Gebärde — das mimische Wort
hervorgeht; die gebaute, bemalte, von wechsehidem Licht er-
leuchtete Bühne mit ihrem Praktikabeln,ein wirklicher Raum,
so wirklich als der, indem wir uns bewegen — diese Wirklich-
keiten, die hier edle zusammen einer höchsten Un Wirklichkeit
dienen sollen, bedürfen immer einer sehr starken Hand, um
sie zusammenzuhalten. Dies ist die eigentliche Funktion des
producers in allen diesen Elementen den Willen zur Ganzheit,
;

zum dienenden Beieinander innerhalb eines Organismus, zu


Denn wie alle Elemente — auch gleich den Elementen
erhalten.
des menschhchen Körpers, die ja nur auf unsern Tod warten,

329
um nach allen Richtungen auseinanderzulaufen — wollen diese
Elemente des Theaters sich immer wieder voneinander eman-
zipieren. Die Emanzipation des Schauspielers, das ist das leere,
für einen Virtuosen geschriebene Rollenstück, oder endlich die
commedia delF arte : der Weg, den das volkstümliche Theater
des siebzehnten Jahrhunderts gegangen ist. Die Emanzipation
des Malers, das ist Gordon Craig: the dumb show, die Panto-
mime, der festliche Aufzug an Stelle des dramatischen Ganzen.
Der Clown, der körperliche Komiker, hat sich schon längst von
seiner Zwillingshälfte, dem komischen Schauspieler, emanzi-
piert: zu Shakespeares Zeit waren noch beide beisammen. —
Reinhardt liebt alle diese sinnlichen Elemente des Theaters un-
säglich. Er will ihrer keines entbehren, und er hat eine eiserne
Hand, um sie zusammenzuhalten. Er braucht sie alle, um sich
ihrer im entscheidenden Moment zu bedienen den : verzauber-
ten Leib des großen Schauspielers ebenso wie die Grimasse des
Clowns und die Zaubereien des Malers. Aber er unterordnet sie

unerbittlich dem Höheren, dem Ganzen.


Ihm ist das Schauspielerische der Schlüssel der Welt; und
wenn man genau zusieht, wird man erkennen, daß er, in der
richtigen genialen Hand, wirklich ein Schlüssel ist, der alle

Dinge aufsperrt und der gegenüber den größten und den


kleinsten Phänomenen nicht versagt: eine junge Katze, die
spielt, eine Seelandschaft mit hängenden Weiden, die ihre
Zweige sehnsüchtig gegen die unruhigen Wellen sinken lassen,

oder die Vorgänge der Französischen Revolution . . . alle drei

sind durch die mimische Intuition zu erfassen. Man könnte


versucht sein zu sagen, daß dieser Schlüssel nur die leibliche
Seite, die Erscheinung aufschließt, und nicht die geistige Sei-
te oder die Essenz; aber ich glaube, wir haben diese Unter-
scheidung zwischen Außen und Innen, zwischen Kern und
Schale, von uns abgetan, und sie mit anderen Dualismen bei
den hinter uns liegenden Jahrhunderten Hegenlassen. Es

330
schwebt in der Tat über jedem Ding, über jedem Ereignis ein
Etwas, das sich sozusagen darstellen will und sich von dem
Ding um, über dem Ding schwebend, dessen Existenz erst
lost,

zu krönen und zu vollenden. Die deutsche Sprache hat für die-


ses Schwebende ein schwebendes und vieldeutiges Wort Stim- :

mung. McQi kann von der »Stimmung« einer Beethoven sehen


Sonate sprechen, und von der Stimmung eines Gebäudes; von
der Stimmung, die über einer historischen Epoche, über einem
gewissen Abschnitt unseres Lebens, über einer Jahreszeit, über
einer Stunde des Tages, einer gewissen Witterung, oder über
einer gewissen Szene eines Trauerspieles liegt. Je sensibler der
betrachtende Mensch ist, desto deutlicher und vielfältiger wird
für ihn der durchsichtige Schatten dieser Stimmung, in wel-
cher die eigenthche Essenz der einzelnen Dinge über ihnen
selber zu schweben scheint, auf allen Dingen und Menschen,
auf den Momenten und Begegnungen, den Orten und den
Augenblicken liegen. Die tausendfach nuancierte Stimmung ist
eigentlich das, wodurch, wenn sie ins Leben gerufen wird, die
Andeutung des Dramatikers sich zur wahren Lebensatmo-
sphäre verdichtet. In dieser Kunst von : Drama zu Drama und
innerhalb des Dramas von Szene zu Szene die ganze Gewalt der
Stimmung zu fühlen und sie ans Licht zu ziehen, durch einen
wunderbar wechselnden Rhythmus das wechselnde Spiel der
Stimmungen in die Zuschauer zu schicken wie mit unzähligen
befiederten Pfeilen, deren jeder das Mark ritzt und seinen Zau-
bersaft in die geheimsten Adern flößt, ist Reinhardt groß, und
— so groß auch Stanislawski ist — eigentlich unvergleichlich
durch den Umfang seiner Intuition, durch die fast schranken-
lose Möglichkeit, die seine Phantasie besitzt, von dramatischen
Gebilden jeder Art zu produktiver Wirksamkeit bewegt zu
werden. Auch dort, wo der Raum für den Regisseur sehr schmal
erscheint durch die Strenge und Geschlossenheit des dramati-
schen Textes, oder dort, wo kaum überhaupt ein würdiger

531
I

Raum für ihn frei zu sein scheint, wie bei einer Operette, ver-
steht sein elastischer Geist sich in diesen Raum zusammenzu-
ziehen und aus ihm hervortretend sich auszudehnen und das
theatrahsche Ganze zu einer Lebendigkeit und Vollständigkeit
zu heben, von der man in dem einen wie dem anderen Fall
überrascht ist. Er kennt, wenn er an eine Arbeit herantritt,
keinen Unterschied des Ranges zwischen der einen und der
anderen; er wird einer Operette und einer Pantomime nicht
sparsamer vom Seinigen zuteilen als einem Shakespeare oder
Schiller. Er wird immer mit Verschwendung geben, und sein
einziger Zügel wird das Axiom sein, das ich ihn einmal habe
aussprechen hören: Damit ein Theaterstück zu seiner letzten,
vollständigsten Wirkung komme, muß der Dichter dem Regis-
seur freien Raum lassen, der Regisseur dem Schauspieler, der
I
Schauspieler aber dem Zuschauer: in dessen Gemüt erst darf

sich das Wechselspiel der Wirkungen vollenden.

332
REINHARDT BEI DER ARBEIT

MAN hat in allen Sprachen unendlich viel über Reiiiliardt ge-


schrieben, aber das Wesentliche ist einfach. Reinhardts Kraft
im Zentrum des Komplexes »Theater«. Den auf einen
sitzt

Theatermann eindringenden Massen: des Poetischen, des Mi-


mischen, des Rhythmischen, des Maschinellen, des Admini-
strativen, setzt er die Massen seiner Kräfte entgegen und macht
sichzum Eroberer des theatralischen Ganzen, wie in hundert
Jahren kaum einer auftritt.
Er ist heute eine durchaus internationale Figur; und ich
glaube, diese Internationalität des Ruhmes und der Wirkung
hat ihre Wurzel darin, daß er aus dem österreichisch-deutschen
Theaterv^esen hervorgegangen ist. Denn dieses ruht auf einer
Internationalität, einer allseitigen Empfänglichkeit, welche das
direkte Erbe des universal-europäischen Geistes der drei ver-
gangenen Jahrhunderte ist: ich meine des sechzehnten, sieb-

zehnten und achtzehnten. Das Repertoire der deutschen ernst-


haften Bühne — und sowohl der Oper als des Schauspiels — um-
faßt nämlich wirklich die dramatische Weltliteratur: die Oper
von Gluck oder von Mozart steht als ein lebendiger ständiger
Besitz neben der von Wagner, von Verdi oder von Berlioz;

ebenso stehen auf der Schauspielbühne Sophokles, Calderon


oder Moliere — von — im täg-
Shakespeare nicht zu sprechen
neben Goethe
lichen Repertoire und Schiller, neben Bernard
Shaw, Hauptmann, Ibsen oder Tolstoi. Ich sage: von Shake-
speare nicht zu sprechen: denn das Jahrbuch der Deutschen
Shakespeare-Gesellschaft weist in seiner Statistik manchmal
bis dreitausend jährlicher Shakespeare-Aufführungen nach,
und diese entstehen nicht etwa dadurch, daß ein Theater in

333
Berlin oder Wien eines von Shakespeares Stücken in langen
Serien herunterspielt, sondern sie verteilen sich über das ganze
deutsche Sprachbereich: denn das Theater in Basel oder in
Innsbruck hat keine geringeren Ambitionen als das in Kassel
oder in Königsberg oder in Wiesbaden — und wer in Geschäften
oder als Tourist ein Jahr lang kreuz und quer durch die deut-
schen Länder reist und dabei die Anschlagzettel der Theater
beachtet, dem könnte das Erstaunliche begegnen, daß er mit
Ausnahme vielleicht von »Cymbeline« oder von den »Edel-
leuten von Verona« — und von einem Teil der »Historien«,
etwa »Heinrich VI.« — den ganzen Shakespeare auf der Bühne
sieht, nicht etwa nur, was man die Hauptwerke zu nennen

pflegt, sondern ohne Zweifel auch »Maß für Maß«, »Troilus


und Cressida« oder »König Johann« oder »Heinrich VIII.«.
Dieses die dramatische Produktion aller Zeiten und Länder
umfassende Repertoire ist die Stärke und der Stolz des deut-
schen Theaters; es erhält sich nun durch weit mehr als ein
Jahrhundert und ist ein Vermächtnis unserer großen Dichter
zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts, vor allen Goethes, und
auch der starke Nationalismus in manchen Momenten des
neunzehnten, oder im jetzigen Augenblick, haben an dem uni-
versellen Geist der deutschen Bühne nichts wesentliches ver-
ändert. Alle Schichten der Nation: die kleinen deutschen Sou-
veräne, welche oft mit großen Opfern ihre Hoftheater erhiel-
ten, die Universitäten und gelehrten Korporationen, der im
Durchschnitt sehr hochgebildete Mittelstand, welcher durch
hundertfünfzig Jahre das Publikum dieser Theater bildete, die
Journalisten bei aller Verschiedenheit der politischen und so-

zialen Gesinnung, sind sich darin einig, diesen internationalen

und überzeitHchen Charakter des »hohen Repertoires« zu er-


halten,und es müßte eine furchtbare Zerstörung des ganzen
gebildeten Publikums, zu dem heute in Deutschland nicht nur
die bürgerliche Klasse, sondern auch die organisierte Arbeiter-

554
Schaft gehört, stattfinden, bevor sicli dies verändern kcinnte.
Auf diesen im Laufe von sechs Gene-
geistigen Tendenzen, die
rationen der Nation in Fleisch und lUut gegangen sind, ruht
der Stolz der deutschen Bühne und ihr nicht unberechtigter
Anspruch, in gewisser Beziehung als die erste in Europa ange-
sehen zu werden. Nicht ebenso hoch vermag ich die eigentlich
schauspielerische Begabung der Nation anzusehen. In dieser
Beziehung sind die Russen ohne jeden Zweifel stärker als die

Deutschen, und neben die Russen möchte ich die Italiener


stellen, wenn ich mich an das schauspielerische Genie höchsten
Ranges erinnere, wie es sich von Generation zu Generation im-
mer aufs neue in einem Rossi oder Salvini, einer Ristori oder
einer Düse verkörpert. Das französische Theater, oder richtiger
gesagt: das Pariser Theater, ist unübertrefflich im Gesell-
schaftsstück, in der Revue, in der Farce. In diesem Theater
spiegelt Paris sich selber wie in einem Spiegel aus tausend an-
einandergefügten Prismen. Aber es ist in seinem Repertoire
ein enges Theater, gebunden an den Geist dieser einen Stadt
und an den einen Moment: die unmittelbare Gegenwart: dies
ist seine Stärke und seine Schwäche. Das englische Theater hat

eine glorreiche Vergangenheit; wunderbar zu denken, daß es

den größten Theaterdichter aller Zeiten, Shakespeare, und fast

zweihundert Jahre später den, wie es scheint, größten Schau-


spieler aller Zeiten, Garrick, hervorgebracht hat. Heute ist es

ein Patient, an dessen Krankenbett sich sehr kluge, erfahrene


Ärzte, wie Bemard Shaw, Granville Barker und Galsworthy,
vergeblich bemühen. Was auf der englischen Bühne Höheres
versucht wird — und es wird sehr Hohes und Schönes immer
wieder versucht : man denke nur an die kurze Theaterführung
Granville Barkers oder an ein glänzendes Phänomen wie Gor-
don Craig, den genialen Maler- Regisseur — , was auf der eng-
lischen Bühne, sage ich. Hohes versucht wird, ist wie ins Was-
ser geschrieben : der breite Strom treibt weiter, und die Schrift

535
löst sich auf. Das, was Höheres versucht wird, ist immer wieder
die Sache einer kleinen Minorität: ein paar Schriftsteller, ein
paar Maler, ein paar reiche Männer, oder ein weiblicher Mäzen
wie Lady Cunard, vereinigen sich und starten eine theatra-
lische Darbietung von sehr hohem Niveau und großer Beson-
derheit; das Ereignis macht eine gewisse Sensation, die aber
wieder nicht über den Kreis einer Minorität hinausgeht; und
das große Publikum, also die Nation, bleibt für die Befriedi-
gung ihrer theatralischen Bedürfnisse angewiesen auf Unter-
nehmer, die rein kommerzielle Gesichtspunkte haben, und
welche das Publikum dadurch immer tiefer in seinem Ge-
schmack sinken lassen, daß sie sich von ihm führen lassen, an-

statt ihm zu diktieren.


Reinhardt hat in den zwcinzig Jahren, seit er Direktor eines
oder mehrerer Theater ist, nie einen Augenblick lang aufge-
hört, dem Publikum seinen Geschmack zu diktieren und ge- :

rade diesem Umstand verdankt er heute die ungeheure Autori-


tät, die er in Europa bei der großen Masse genau so besitzt wie
bei den Künstlern und den Ästheten. Er hat in diesen zwanzig
Jcüiren unzählige Stücke von Autoren aller Nationen auf die
Bühne gebracht; aber ich getraue mich zu sagen, daß bei der
Wahl keines einzigen davon etwas anderes entscheidend war
als sein persönlicher Geschmack und die Lust, gerade dieses
Stück in gerade diesem Augenblick zu spielen, ein beinahe na-
iver, kindlicher Impuls seiner Phantasie. Diese Seite seines We-
sens ist es, die ihn in so erstaunlicher Weise davor bewahrt,
sich zu wiederholen, oder »Routinier« zu werden: er greift

nach jedem neuen Stück Arbeit wie ein Kind nach einem neuen
Spielzeug mit der ganzen
: Unbekümmertheit eines Phantasten,
der — bevor er die Zuschauer bezaubert — vor allem sich selbst
bezaubern will, und für kein Wesen, das ich kenne, hat der
Doppelsinn des Wortes »spielen« — auf die theatralische Kunst
angewcUidt — so sehr seine tiefe Bedeutung bewalirt wie für ihn.

336
Aber seine Phantasie ist sehr anspriiclisvoll ; weit anspriirlis-
voller als die der meisten Menschen. Um sie zu belVie(hf(en,
braucht er als Unterlage für sein »Spiel« die theatralische Er-
findung eines großen Dramatikers oder mindestens eines sehr
merkwürdigen modernen Autors, der irgendeine Seite der Exi-
stenz in besonderer Weise spiegelt. Und um diese Erfindung in
das volle dramatische Leben zu tauchen, das seine Ansprüche
erst befriedigt, braucht er eine große Skala schauspielerischer
Individualitäten, genau so wie ein großer Maler auf seiner Pa-
lette einen großen Reichtum von Tonwerten braucht — er
braucht den Maler, den Musiker, den Maschinenmeister, den
Beleuchter, den Choreographen — braucht und verbraucht sie

in einem ganz anderen Maße als irgendein anderer Theater-


chef, steigert sie durch seine Forderungen weit über die Gren-
zen ihrer Kräfte — er braucht und verbraucht, um es kurz zu
sagen, alle Personen, alle Erfindungen, alle Talente, alle Ideen,
alle Nervenkräfte, alle Intelligenzen, die in seiner Reichweite
— und sein Arm reicht weit — auftauchen und dem Theater
dienen wollen oder in den Dienst dieser Institution hineinge-
zogen werden können aber er verbraucht alle diese Materialien
;

und Existenzen nur so, wie er auch unbekümmert seine eigene


Existenz verbraucht damit sein Theater existiere, ein Theater,
:

das genau den Ansprüchen seiner Phantasie gehorche, die in

jedem Augenblick wechseln und immer ein Höchstes an Glanz,


Harmonie und Intensität verlangen. Denn er ist nicht Unter-
nehmer, nicht Gründer, nicht Dramaturg, nicht einmal Bahn-
brecher oder Avantgardist, ebensowenig Geldmensch oder
Machtmensch als Ideenmensch oder Systematiker: er ist ein
Visionär, und ein solcher, der seine Visionen realisieren will,
und als solcher aber ein Ordner und ein Kraftmensch wie
wenige.
Nie hat sich jemand weniger gebunden gefühlt durch die
nationalen und zeitlichen Grenzen als er : und hierin folgt er

357
ganz der großen Tradition des österreichisch-deutschen Thea-
ters. Er ist, als Individuum, so voll Lebenskraft, daß er alles,

auch das sehr Entfernte oder der Zeit nach sehr Entlegene, nur
als ein Stück Leben zu sehen vermag. Er sieht nichts historisch,
sondern edles unmittelbar — und alles mit der Phantasie des
Theatermenschen. Eine fremde künstlerische Persönlichkeit,
eine fremde Zivilisation, eine ferne Epoche — diese Schranken
existieren für ihn nicht. Lady Diana Manners, oder Maria
Carmi aus Florenz oder Fräulein Darvas aus Budapest : er sieht
eine schöne Frau, eine Gestalt mit der Möglichkeit großer Ge-
bärden, ein schönes Gesicht mit der Möglichkeit einer gewissen
Ausdrucksskala —und er eignet sich diese Möglichkeiten an. Er
hat viel von Gordon Craig genommen, diesem einsamen Vor-
läufer, dessen Traum wa.T, die Bühne durch das wechselnde

Licht zu regieren, und »an ever shifting maze of colour, form


and motion« zu schaffen er hat von ihm genommen, aber nur,
;

um aus dem Genommenen etwas Neues, Stärkeres, dem wirk-


lichen Theater Gemäßeres zu machen ; er hat immer, wenn er
nahm, mehr gegeben als genommen. Er hat von der japani-
schen Bühne gewisse Dinge genommen und von der antiken
Bühne gewisse Dinge er verdankt den Zeremonien und Auf-
;

zügen der katholischen Kirche viel ; Venedig, das traumhafteste


und theatralischeste historische oder architektonische Gebilde,
das es auf der Welt gibt, hat seine Phantasie unendlich, und
immer aufs neue, befruchtet. Er wird in keinem Gebirgsdorf
einen volkstümlichen Aufzug und in keinem Museum ein Bild
sehen, ohne etwas dadurch für seine Phantasie zu gewinnen, —
aber das, was er aus all dem macht, ist ganz einheitlich, ganz
persönlich und, wie es scheint, unerschöpflich.
Ich erinnere mich genau seines Aufstieges und der Jahire,

die ihn auseinem »interessanten jungen Theaterdirektor« zum


ersten Theaterchef Deutschlands machten. (Am Anfang dieses
Aufstieges war er sechsundzwanzig Jahre alt.) Es waren drei

338
:

Etappen, in denen er sich zuerst die sichere Stellung innerhall)


seines eigenen Theaters, dann die erste Stellung in Berlin, daini
die erste in Deutschland eroberte. Die erste war die Auffüh-
rung des »Nachtasyl« von Gorki, also ein »realistisches« Dra-
ma. Das, womit Reinhardt der Aufführung ihr Außerordent-
liches gab, war zunächst die Besetzung: das Stück, das sehr

viele Rollen enthält und darunter fast keine große Rolle, war

mit lauter ausgezeichneten Schauspielern besetzt, von denen


zwei Drittel neue, vonihm gefundene Menschen waren. Das
Zusammenspiel war außerordentlich, und besonders fühlte
man — zum ersten Mal — was man von da an so oft fühlen sollte
einen ordnenden rhythmischen Instinkt hinter dem Ganzen,
der den einzelnen Momenten des Spiels eine wunderbare Ab-
stufung von Schnell und Langsam und vom Pianissimo bis zum
Fortissimo gab. Im Ganzen war es eine Aufführung, deren
Qualität mit dem, was zur gleichen Zeit und nachher Stanis-
lawski machte, nahe verwandt war. Die nächste Etappe aber
war der »Sommernachtstraum«; eine völlig andere Welt tat

sich auf. Während sich im »Nachtasyl« eine völlig richtige


schauspielerische Nuance an die andere geschlossen hatte, schien
hier das Schauspielerische beinahe nebensächlich so sehr war :

alles beschwingt, tanzend, der Musik angenähert. Die dritte


Etappe war der »König Ödipus« von Sophokles, und damit
wieder eine völlig andere Welt, ein völlig neuer Stil der Regie
und so gewaltig auch in der Wirkung, daß diese Vorstellung,
zuerst in einer riesigen Ausstellungshalle in München heraus-
gebracht,dcom durch zwei Jahre über aUe deutschen Städte,
dann nach Skandinavien und Holland, nach Polen und Ruß-
land ging. Unmöglich, an diesen drei Vorstellungen, mit drei
so höchst verschiedenen Dichterwerken als Grundlage — aus
den verschiedensten Epochen und Zivilisationen! — etwas wie
ein »Genre Reinhardt« zu konstatieren: es sei denn in der

außerordentlichen Kraft, jeder dieser so verschiedenartigen

339
Darbietungen ihren eigenen Rhythmus zu geben und durch
diesen Rliythmus jede zu einer organischen, leidenschaftlich
bewegten Einheit zu machen — eine Einheit, die ihnen der
Dichter natürhch verheben hat, die aber auf der Bühne mit
solcher Macht fühlbar zu machen nur dem ungewöhnlichsten
Regisseur gelingt.
Reinhardts Stärke ist dieses : er erfaßt mit der tiefsten Seele
die fließende Bewegung, die jedem Drama innewohnt, und hat
einen genialen Instinkt für die inneren Veränderungen in die-
ser Bewegung, die man dem Zuschauer fühlbar machen muß,
um ihn durch einen rhythmischen Zauber in eine Art trance
zu bringen; hierin ist seine Tätigkeit der eines Kapellmeisters
verwandt. Daran aber schließt sich das Zweite : er erfaßt das
dargestellte Drama, den Raum, in dem es dargestellt wird,

und die Gesamtheit der Zuhörer als die drei Komponenten einer
Einheit; und diese drei Komponenten beständig in der Hand
zu behalten, um die Einheit zwischen ihnen immer lebendig
zu bewahren, das ist es, worauf er die ganze nicht gewöhnhche
Macht seines Willens richtet. Ihm vollendet sich der Prozeß der
theatrahschen Darbietung nicht auf der Bühne, sondern in der
Phantasie des Zuschauers, und als das stärkste Mittel, die Phan-
tasie des Zuschauers in die Gewalt zu bekommen, betrachtet er
den Raum, in welchem er Theater spielt. Daher sein beständi-
ges Wechseln der Räume, in denen er spielt, wovon in zehn-
tausend Zeitungen so viel geredet wird und welches von so

vielen Nicht- Verstehenden als ein Bedürfnis nach Sensation


ausgelegt wird. Tatsächlich ist es nie der Gedanke an den äuße-
ren Eindruck, der ihn bei seinen Handlungen leitet, sondern
ein rastloses Suchen nach den Bedingungen, unter welchen
eine bestimmte Vision sich realisieren läßt. Zu diesen aber ge-
hört für ihn der Raum im höchsten Grad : wie ein Raum die

Zuhörer umschließt und zur Einheit zusammenfaßt, ob feier-

hch durch seine Höhe, wie eine Kirche, oder feierlich durch

340
seine Weite, wie das antike Theater, ob geheimnisvoll und an
eine Grotte erinnernd, oder freudig vind gemütlich wie ein Ge-
sellschaftssaal, alle diese Dinge sind durch iMonate und oft
Jahre der Gegenstand seiner Träume und ; seine Träume wer-
den schließlich immer realisiert. Er hatte in Berlin zuerst ein
Theater von gewöhnlichem Umfang unddarm Komö-
spielte

dien und Tragödien, moderne Stücke und Kostümstücke. Nach


zwei Jahren hatte er statt des einen Theaters drei außer dem, :

worin er angefangen hatte, noch em ganz großes, und als drittes

ein ganz kleines, ohneLogen und ohne Galerie, einfach und


elegant wde ein Pullman Gar, mit Lederfauteuils für dreihun-
dert Zuhörer, und die Wände ganz ohne Ornament, nur mit
einer schönen Holzverkleidung das was ; ihm vorschwebte war
ein Haus, das dem Gehäuse einer Violine so ähnlich wie mög-
lich war, und — wie die Violine — geeignet, die allerzartesten
Vibrationen zu empfangen und nachbeben zu lassen. Es war
das berühmte Kammer spie Ihaus, in dem er dann alle Stücke
spielte, die auf Intimität der Wirkung, auf Wirkung durch das
geistreiche, das witzige oder das ergreifende JVort besonders

gestellt smd also Bernard Shaw und Wilde, aber auch Maeter-
:

linck oder Knut Hamsun, manches von Goethe, und vor allem
die geisterhaften Stücke aus der letzten Periode Strindbergs.
Seitdem hat er ungefähr in jeder Art von Raum gespielt, den
man sich vorstellen kann. In einem Zirkus ; in einem mit Go-
belins behängten Saal der verlassenen Kaiserburg in Wien im
;

Freien vor der Fassade der Kathedrale von Salzburg einmal in ;

einer katholischen Kirche, und verschiedene Male in Ausstel-


lungshallen, mit einem Fassungsraum bis zu achtzigtausend,
wie die Rotunde in Wien. Man darf nicht vergessen, daß er ein
Meister in der Beherrschung des Lichtes ist; und vermittelst
des Lichtes und der Schatten ist es möglich, einen Raum zu
verwandeln. Als Reinhardt in der Olympia Hall in London das
»Miracle« zum ersten Mal herausbrachte — in einem Gebäude,

341
das für die Abhaltung von Automobilausstellungen und von
Sportfesten erbaut war — hatte er
, die Kühnheit, die zwanzig-
oder dreißigtausend Zuschauer nicht ads eine Masse zu behan-
debi, vor deren Augen er die Dekoration, eine mittelalterliche
Kirche, aufbaute: sondern er nahm diese Zuschauermasse als

Mitspielende in die Kirche hinein, in eine Kirche, deren Wände


er zum Teil aus wirklichem Baumaterial, zum Teil aber aus un-
geheueren Schattenmassen in die Ausstellungshalle hineinge-
während der ganze Raum, der nun diese zuschauen-
stellt hatte,

den Zehn tausende und die Tausende von Mitspielern einschloß,


sein magisches, traumhaftes Licht aus einem gotischen runden
Glasfenster erhielt, das in einer ungeheuren Höhe über der
finsteren Masse schwebte und, wenn ich nicht irre, den drei-
fachen Durchmesser der berühmten »Rose«, des Rundfensters
von Notre-Dame, — Als er vor drei Jahren in Salzburg
hatte.
auf dem dem Dom meine neue Fassung des uralten
Platz vor
Everymcin -Themas spielte, tönten die Rufe, welche aus dem
Mund von unsichtbaren Geistern dringen und Jedermann an
seinen nalien Tod mahnen sollen, nicht nur aus der Kirche her-
vor, vor deren Fassade das Spielgerüst aufgerichtet war, son-

dern sie tönten — während Dämmerung sich über die fünftau-


send Zuseher breitete — von allen Kirchtürmen der Stadt, und
einer dieser Rufer war auf dem höchsten Turm einer hoch
über der Stadt gebauten mittelalterhchen Burg aufgestellt, und
sein Ruf, klagend und geisterhaft, fiel — etwa fünf Sekunden
später als alle anderen — zugleich mit den ersten Strahlen des
aufgehenden Mondes kalt und fremd aus solcher Höhe auf die
Herzen der Zuschauer herunter.
Aber er ist durchaus nicht darauf beschränkt, immer mit
riesigen Dimensionen und riesigen Mengen zu operieren. Was
ihn fasziniert, ist nicht das nach seinen Proportionen Große,
sondern das im Verhältnis zur vorliegenden Aufgabe Richtige.
Er stellt sich immer neue Aufgaben und diese verlangen zur

342
Durchführung immer andere Mittel. Aber er läßt auch die er-
folgreichen Mittel nie stärker werden als er selber ist. (Wenn
eines arbeitenden Menschen Mittel stärker werden als er, ent-
steht die Routine, die das Gespenst der Produktivität ist.) Rr
weicht jedem System aus. Nie hat er sich für irgendein deko-
ratives Schema entschieden. Er hat manchmal mit ganz rea-
listischen Dekorationen gespielt, wo es ihm dem realistischen
Charakter des Stückes angemessen schien. Andererseits hat er
sich oft die größte Mühe gegeben und die berühmtesten Maler
zu Rat gezogen in einem Fall, wo jeder andere Theaterdirektor
gewöhnliche Möbel in eine gewöhnliche Zimmerdekoration ge-
stellt hätte : so erinnere ich mich z. B. an die Dekoration für
Ibsens »Gespenster«, welche er mit Hilfe des berühmten nor-
wegischen Malers Edvard Munch geschaffen hatte, der eigens
um dieses Zimmer zu schaffen für Wochen nach Berlin kom-
men mußte. Es war ein mittelgroßes Zimmer, eine Art Salon
im Geschmack der 1850er Jahre; aber die Zusammenstellung
der Farben und auch die Form der Möbel atmete einen Geist
der Schwere, der Traurigkeit und des Verhängnisses, der den
Geist dieser modernen Schicksalstragödie in sich hielt, wie eine
tragische Ouvertüre die Motive einer Oper in sich hält. Er hat
in gewissen Fällen eine große aufsteigende Treppe — zu einem
Palast oder Tempel führend — zur Hauptsache der Dekoration
gemacht, B. im »König Ödipus« aber er hat auch aus diesem
z. ;

Einfall nie ein System gemacht; wogegen andere Regisseure,


wie z. B. Gemier, diese Treppe von ihm übernommen haben
und von diesem Dekorationsschema durch Jahre nicht losge-
kommen sind. Er hat den »Sommernachtstraum« vor Jahren
in einer Dekoration gespielt, in welcher die Bäume des Waldes
plastisch, also der Wirklichkeit völlig angenähert waren und
der Waldboden aus einem festen Teppich von hohem Gras be-
stand, in welchem die liebenden Paare oder Titania und ihr

verzauberter Liebhaber so realistisch lagerten, wie junge Lie-

343
-

bespaare aus der Großstadt lagern, wenn sie ins Freie gefahren
[sind] und eine Waldwiese erreicht haben. Aber er hat mir vor
weniger als einem Jahr gesagt, daß er daran denke, demnächst
in Wien den »Sommernachtstraum« wieder zu spielen, aber
sozusagen ohne Dekorationen, auf einer leeren Bühne, nur vor
einer grünen, einen Wald darstellenden Tapisserie. Interpre-
tiert man diesen Ausspruch, so ergibt sich dies : er hat die sel-
tene produktive Kraft, sich auch von seinen eigenen früheren
Einfällen, selbst den erfolgreichsten, wieder unabhängig zu
machen, und er wird so wenig der Sklave des Apparates, daß er
mehr und mehr darauf hinarbeitet, alles was man Apparat
nennt von sich zu werfen. Aber ich sehe keine Grenzen für
seine Fähigkeit, aus jeder neuen Situation neue theatralische
Möglichkeiten zu ziehen. Wäre er zufällig während des Krieges
gefangengenommen worden und, wie so viele Künstler der
kämpfenden Nationen, genötigt gewesen, Jahre in einem
Kriegsgefangenenlager, beispielsweise in Sibirien, zu verbrin-
gen, so zweifle ich nicht, daß er in diesem Gefangenenlager
nicht nur außerordentliche Theatervorstellungen organisiert
hätte, sondern, was mehr ist: er hätte genau aus den Umstän-
den und Beschränkungen des Ortes, aus der traurigen und be-
sonderen Situation völlig unerwartete Hilfsmittel für die Phan-
tasie heranzuziehen vermocht, und hätte vielleicht am Rande
der Mandschurei oder an dem Ufer des Amur, zwischen Stachel-
drähten, mit dem Ausblick auf eine Militär baracke, und mit
einer Besetzung, gemischt aus gefangenen Europäern, Sibiria-
ken und Chinesen, eine unvergeßliche Vorstellung des »König
Lear« gegeben, mit der asiatischen Steppe anstatt der »Heide«,
und einem hölzernen Truppenspital als Hintergrund, dem er
durch irgend etwas den glaubhaften Charakter einer Königs
bürg gegeben hätte.
Vor einem Jahr ergab es sich, daß wir durch die Güte und
Kunstliebe des Erzbischofs von Salzburg die Erlaubnis bekamen,

344
:

mein »Großes Welttheater« in einer Salzburpjer katholischen


Kirche aufzuführen, ein Ereignis, das seit dem scchz(,']niten

Jaln-hundert nicht stattgefunden hatte (und chis sich ü})rigens


für dieses Mysterienspiel auf protestantischem engliscliem Bo-
den wiederholen wird denn der Bischof von Leeds hat kürz-
:

lich die gleiche Erlaubnis, dieses geistliche Spiel aufzuführen,


einer Gruppe von Künstlern und Schauspielern für die Haupt-
kirche von Leeds erteilt). Die Kirche, in der wir spielten, ist das
Werk eines großen Architekten des achtzehnten Jahrhur^rlerts.
Sie ist im Stil des Palladio gebaut, als ein feierlicher und präcli-

tiger Palast, in dem Gottes Altar steht. Ihr Inneres ist sehr
prunkvoll und freudig; obwohl durchaus mit spiegelndem far-

bigem Marmor bekleidet und mit weißen in Nischen stehenden


Marmorstatuen geschmückt, empfängt sie ihre Stimmung, die
emer Haydnschen S}''Tnphonie verwandt ist, nicht hauptsäch-
lich durch den Glanz ihres Materials, sondern durch die Har-
monie ihrer Formen, die geistige Schönheit des Verhältnisses,
in der eine riesige und doch leicht scheinende Kuppel auf dem
säulengestützten Mittelschiff aufruht. Manche der Kirchen,
welche die Spanier in dem auf die Eroberung folgenden JaJir-

hundert in Mexico gebaut haben, geben einen guten Begriff,

um was für eine Art von Gebäude es sich handelt. Der Hoch-
altar war verhangen und ein Behang von der gleichen Farbe
scharlachrot — die kirchliche Farbe der Märtyrer — , lief bis zu
einer Höhe von fünf oder sechs Metern rings um die Kirche.
Mit dem gleichen Stoff war das einfache Gerüst bekleidet, wel-
ches Reinhardt für das Spiel entworfen hatte: nichts als ein
Podium, in der ganzen Breite der Kirche, vor dem Hochaltar;
nächst dem Altar war es höher, eine Art Oberbühne von dort ;

stieg man über fünf Stufen auf die niedrigere vordere Bühne
herab. Alle Nebenaltäre waren verhangen; das Scharlach des
Behanges und der Marmorton der Wände waren die einzigen

Farben, welche Reinhardt hatte bestehen lassen. Aber außer-

545
ordentlich war die Wirkung, welche er aus der feierlichen und
ungewohnten Höhe eines solchen Raumes gezogen hatte: die
Worte, sei es der Strenge, sei es derGnade und des Trostes,
welche die Engel in verschiedenen Augenblicken des Spieles
unter die handelnden Menschen zu werfen haben, ertönten von
ganz oben, aus kleinen Loggien, die der Baumeister im Bereich
der Kuppel angebracht hatte; und es schien wirklich wahr-
scheinlicher, daß die weißen beflügelten Gestalten, die plötz-

hch von dort oben herunter sprachen, vom Himmel herabge-


flogen wären, als daß sie von unten — aus einem so prosaischen
Bereich wie den Schauspielergarderoben — dorthin gelangt
seien. In der Tat hatten einige dieser Loggien und Nischen gar
kerne Zugänge, oder diese Zugänge waren, als überflüssig, im
Lauf der Zeit vermauert worden und ; die Schauspieler waren,
gleich Matrosen, auf Strickleitern zu ihren Standorten gelangt.
Ein gewisser Moment dieses Spieles war einer der stärksten
aus allen Inszenierungen, welche Reinhardt je gemacht hat, ja

er war so stark, im Dämmer der Kirche zusam-


daß durch die

mengepreßte große Zuschauerschar ein mit Seufzern und halb-


lauten Ausrufen der Erschütterung gemischtes Zittern lief und
man einen Augenblick lang befürchten konnte, der Eindruck
werde stärker sein als die Nerven der Zuschauer. Dieser Mo-
ment war der, wo der Tod die einzelnen Figuren, welche zu-
sammen das »Welttheater« vorstellen — der König und der
Bettler, der reiche Mann und der Bauer, die Schönheit und die

Nonne — nacheinander
, abholt, um sie von der Bühne zu füh-
ren : Reinhardt hatte dieses Abholen zu einem Tanz des Todes
mit jedem einzelnen seiner Opfer und wie für an-
gestaltet,

dere Momente des Spieles aus der Räumhchkeit der Kirche,


so hatte er für diesen Moment aus der Körperlichkeit des Dar-
stellers die überxcLschendsten Vorteile gezogen. Der Darsteller
des Todes, ein Schauspieler von sehr schlankem Körperbau und
außerordentlichen mimischen Qualitäten, dazu ein vollkom-

\
346
mener Gymnast, war während des ganzes Spieles, un])ewef^lich
wie eine Statue, auf einer hohen, mit dem Schar lachstolT über-
spannten Säule gestanden. Man hätte ihn und einen in gleicher
Höhe ihm gegenüber postierten Engel ebensogut für figiirale
Teile der Kirchenarchitektur als für Mitspieler halten können.
Jetzt, im Augenblick da Gott ihm befehlen läßt, m die Hand-
lung einzugreifen, verläßt er sein hohes Postament, indem er
auf einer unsichtbaren, unter dem Scharlachstoff verborgenen
Leiter, lautlos, wie mit Spinnenbeinen, herabsteigt. Zugleich
trommelt er, mit zwei langen Knochen als Trommelschlegeln,
auf einer unsichtbaren — d. h. nicht vorhandenen — Trommel
einen Rliythmus, der allen Zuhörern durch Mark und Bein
geht. (Unnötig, zu sagen, daß dieser furchtbare Rh3^hmus tat-
sächlich von Pauken und Gongs auf der Orgelgalerie ausge-
führt wird jeder der Zuhörer
;
würde schwören, er gehe von der
nicht vorhandenen kleinen Trommel aus, die am Gürtel des
Todes befestigt ist.) Immerfort diesen Rh}^hmus wirbehid,
nähert er sich mit Schritten von unheimlicher Grazie (es ist ein
sehr schön gewachsener Mensch, in Schwarz, in der Tracht
eines spanischen Kavaliers) der ersten der Figuren, die er abzu-
rufen hat: dem König. Nach rückwärts schreitend, die leeren
Augenhöhlen auf den König geheftet, zwingt er durch die Ge-
walt dieses getrommelten Rhythmus diesen, vom Thron herab-
zusteigen und ilim Schritt für Schritt nachzufolgen. Aber die
Gewalt dieses Trommeins ist eine solche, daß von ihr der König
gleichsam gerissen und geworfen %\'ird : er schreitet nicht mehr
wie ein lebender Mensch, der von einem Instrument geführt
wird, sondern es ist so, als säße seine Seele nicht mehr in ihm,

sondern in diesen Trommelschlegeln. Wie eine in Drähten


hängende Puppe, deren Glieder schleudern, kommt der König
hinter dem Trommler her und stößt dazu die Verse, die er zu
sagen hat, gleichsam mechanisch hervor. So führt ihn der Tod
gegen die Zuschauer vor, dann wirft er ihn — i mm er durch

347
seinTrommeln — jäh herum und führt ihn an seinen Standort
zurück. Dann höh der Tod die nächste Figur: den Reichen
oder die Schönheit, und tut den gleichen Gajig nach vorwärts
und zurück wieder mit ihr, und so nacheinander mit allen
sechs Gestalten. Und während dieser sechsmaligen Wieder-
holung der gleichen unheimlichen Tanzfigur saßen die Zu-
schauer wie gebannt und festgeschraubt, und jener mittel-
alterliche Schrei »Timor mortis me conturbat« schien in jeder
Kehle aufzusteigen und in jeder Kehle steckenzubleiben.
So weit kann die Kraft eines Regisseurs gehen, wenn er das
starke, durch die Sinne bis in die Tiefe des Herzens greifende
mimische Motiv zu erfinden und im richtigen Moment einzu-
setzen weiß.
Ich habe eine einzige Sache hier skizziert einen starken
; Mo-
ment aus einer seiner Inszenierungen. Und Reinhardt hat in
seinem Leben weit über hundert Inszenierungen gemacht und
zu jeder ein dickes Regiebuch verfaßt, das immer drei- und
viermal so viele Worte enthält als das Stück selbst. Jedes dieser
Regiebücher zeichnet für jede einzelne Szene des Stückes und
für jede Zeile des Textes die wechselnde Lautstärke vor, jede
einzelne Pause und ihre musikalische und pathetische Bedeu-
tung; desgleichen alle Wechsel der Lichtstärke und der Fär-
bungen, die das Bühnenlicht annimmt, um mit dem Wechsel
der Stimmung völlig übereinzustimmen; alle jene die Hand-
lung begleitenden Geräusche, vom unterirdischen Rollen und
Hauchen des Windes bis zur vollen Musik, in deren aller
leisen
Verwendung Reinhardt besonders reich ist; endlich jede Ge-
bärde jedes einzelnen der Mitspielenden bis zum geringsten
Statisten, und alles, was zu dieser Gebärde gehört: die Körper-
lichkeit des Schauspielers, die er nach seinem festen Phantasie-
bild aus der ungeheuren Masse von Schauspielern, die er im
Gedächtnis trägt, heraussucht, das Kostüm und endlich das Re-
quisit. Nie wird in einer seiner Inszenierungen eine schöne Da-

348
nie einen Handspiegel in die Hand nehmen, über dessen Form
er nicht eingehend nachgedacht hätte; und ich habe ihn auf
einem Stück Papier zehn Entwürfe für dieForm der Streitaxt
machen sehen, welche er in Macbeths Iland gibt, als dieser
seinen Gang zu Hekate und den Hexen antritt: es war genau
die unheimliche Waffe, die ein mutiger Mann in einer ver-

zweifelten Lage an sich nimmt, um seinen Leib gegen Angriffe


aller Art, und gingen sie auch nicht von irdischen Wesen aus,

zu sichern.
Reinhardt ist der vollkommene Visionär der Bühne und
; er
weiß, daß es in einem Traum oder einer Vision nichts Gleich-
giltiges und Nebensächliches gibt; dies ist die große Stärke

seiner Inszenierungen: nichts, auch nicht das Geringste, ist in

ihnen mit geringerer Aufmerksamkeit und mit einem gerin-


geren Aufwand von Kraft und Phantasie behandelt, als womit
andere Regisseure das behandeln, was sie für die Hauptsache
halten.

349
1
I

i
ENTWÜRFE
MUTTER UND TOCHTER

Figuren zu einer ungeschriebenen Komödie

Der Kammerdiener immerfort seinen großen Schmerz, sei-


:

ne tief aufregenden Schicksale als etwas Subalternes emp-


findend.
Dem schlechten, teuflischen verstorbenen Grafen, der Grä-
fin, seiner Geliebten, der jungen Gräfin, seiner Tochter, so
gebunden gegenüberstehend. Dabei erhält er das ziemlich be-
drohte Vermögen. Die Gräfin seit der Beziehung zu dem jun-
gen Musiker nicht ohne einen Hang zur Phantasterei und Ver-
schwendung. Des Kammerdieners Haltung gegen das ]\Iäd-

chen durchaus die des vertrauten Dieners, niemals etwas von


Autorität, außer der, die ihm seine Treue im Haus gibt.

II

Der Musiker: hat etwas Parvenühaftes, wenn er über Kir-


chenmusik spricht und über den Eindruck, den er dcimit auf
den Hof usf. erzielen will. Er ist kein Künstler. Er hat einen
erstaunlichen Willen, ihm ist vor allem um den Erfolg zu
tun.
Was die Mutter verführt hat, ist eine gewisse jugendhche
Härte in seinem Wesen. Er ist gleich neidisch, eifersüchtig,
bedacht, wen er kann zu demütigen. Ist imstand, der Mutter
ihren alternden Hals vorzuwerfen. Die Mutter ist ein Ge-
schöpf mit grauendem Haar, voU Güte und Süßigkeit, wie
jetzt die Düse. Sie wird von dem angezogen, der Macht hat, sie

recht zu quälen.
III

Die Tochter: aus einer Erziehungsanstalt der großen Welt


mit einer vollkommen christlich -höfischen, sehr hochgespann-

353
ten Weltanschauung zurückgekehrt. Verfängt sich in die Liebe
zu dem Musiker am meisten dadurch, daß sie ihre Mutter ihm
gegenüber äußerst verändert, fast demütig sieht. Sie gibt sich

der einmal eingestandenen Liebesempfindung und ihren Kon-


sequenzen mit derselben rücksichtslosen Energie hin wie früher
dem Hochmut.
Die Gräfin Abbe Sonnleithner
Marie Therese Netterl
Xaver, der Kammerdiener Fohleutner i Bauern
Herr Castelli, der Musiker Zehetner | aus dem Dorf

IV
L Akt. Mutter bringt, um sich das Zusammensein zu er-

leichtern (vor dem Kammerdiener zu maskieren), den Musiker


in immer größere Intimität mit der Tochter. Sie speisen jetzt

zu drei. Die Tochter (zu dem Musiker hingezogen parallel zur


Mutter) hochmütig, voll Bewunderung der Mutter, erfährt im
IL Akt, daß der Diener ihr Vater ist. Nun bricht ihre ganze
aristokratische Weltanschauung zusammen (sie hat immer sehr
viel von dem toten Vater phantasiert), und sie entschließt sich,
der Mutter alles zu gestehen. Die Mutter erfährt hieraus das
falsche Spiel des Musikers und entläßt diesen aus dem Schloß.
Die Tochter nimmt das sehr schwer, findet, sie ist zu weit ge-
gangen (hat sich von diesem Menschen vor dem Kcimmer-
diener küssen lassen) : sie muß dem Musiker gehören. Mutter:
Das ist unmöglich. Tochter: Wieso unmöghch? Da ich ja
meinem Blut nach nicht von ihm getrennt bin? Da muß ihr
die Mutter eingestehen, daß sie selbst etwas mit dem Musiker
gehabt hat. Schlußszene Gräfin und Kammerdiener, sich ganz
:

aussprechend an dem Bett der Tochter. Diese sehg: Papa!


Mama! beide umarmend.
1899

354
: .

DIVERTISSEMENT

Spieldauer 50 bis 40 Minuten.


Ohne Kostüm (d. h. Kostüm der Gegenwart, mit Ausnahme
einiger Phantasiekostüme). — Keine Dekoration. Alles vor
einem grauen Vorhang, so wie der Carnaval von Schumaim.
(Dadurch leichte Beweglichkeit des Ganzen : man könnte ein
Gastspielensemble bilden, es herumschicken.)
Absicht (entsprechend dem Wunsch des Komponisten) Ge- :

legenheit, für wirkliche Tänze pas de deux, pas de quatre und


:

kleine Ensembles, sowohl heiteren wie elegischen als grotesken


Tanzcharakters
Der geistige Inhalt des Ganzen, wodurch es zur poetischen

Einheit zusammengehalten wird : es stellt die innere Welt des


Knaben dar, des ganz jungen Menschen (etwa 15 Jahre), und
zwar sowohl die Welt der Wirklichkeit, die ihn noch schlecht
behandelt, ihm Kränkungen zufügt usf. und damit gemischt ,

die Welt der Phantasie (der Lektüre), die ihn tröstet. —


Figuren
Der Knabe (Hauptfigur) Das junge Mädchen
Der junge Mann, deren Verehrer
Die junge Frau Deren Mann
das sind die Figuren der Wirklichkeit.
Ferner die Figuren der Phantasie : Robinson und sein Freitag,
Schillers Räuber (5 oder 6 Grotesktänzer in schwarzen Män-
teln), Briseis, die schöne Sklavin des Achilles, und ihre Mit-
Sklavinnen, eine kleine Schaj von reizenden Mädchen.
Die Handlung einfach sich abrollend in kleinen, scharf von-

einander abgehobenen Tanzszenen, wie Schumanns Carnaval,


ungefähr wie folgt:

355
Der Kjiabe allein. Robinson und Freitag umtanzen ihn. Aber
sie verlocken ihn nicht mehr.
Der Kjiabe und das junge Mädchen, sie kokettiert mit ihm,
läßt ihn aber stehen und fliegt ihrem um fünf Jahre älteren
Verehrer zu: Walzer ä trois.

Die junge Frau kokettiert auch mit ihm — kokettiert aber zu-
gleich auch mit dem Verehrer des jungen Mädchens, den sie

diesem abspenstig macht. — Eheman-


Solo des eifersüchtigen
nes. — Der Ehemann tröstet das junge Mädchen. Der Knabe
ist Zeuge dieser entsetzlichen, für ihn fast unbegreiflichen
Kreuzungen
Dazwischen immer flüchtet seine Phantasie zu Schillers »Räu-
bern« und der Ilias: zu der schönen Briseis.

Die Räuber umgeben ihn, tragen den vor Liebesgram Ent-


schlummerten über die Bühne: grotesker Trauermarsch.
Szene mit Briseis und ihren Gefährtinnen: elegisch, valse
noble.
Die einzelnen Szenen kurz, scharf chcirakterisiert, jede ein

Musikstück für sich: etwa 7 bis 9 moments musicaux, jede


zu 4 bis 5 Minuten.
Die Figuren scharf charakterisiert: Der Knabe — Pierrot, der

Freund des jungen Mädchens — Harlekin, der Ehemann


Sganarelle.
1920

356
.

ESSEX UND SEIN RICHTER

Schließer: Mylord, Ihr habt Besuch. — Essex: Ich habe gesagt,


du sollst mich mir selber überlassen. Ich empfange niemein-
den. — Schließer: Das ist einer Eurer Richter; er fragt nicht
danach, ob Ihr empfangt.
Der Richter Ihr müßt einsam : sein, Mylord ... — Essex: Meint
Ihr? Wie könnet Ihr das beurteilen? Vielleicht ist Julius Cäsar
bei mir. Wie kann Euresgleichen über meinesgleichen zu Ge-
richt sitzen? Wie ist das möglich? — Der Mann: Das ist mög-
lich, und um Euch das zu Gemüt zu führen, bin ich zu Euch

gekommen, — Essex: Ihr seid Puritaner? — Der Mann: Lassen


wir das beiseite. Ich wälile Euren Kampfplatz und Eure Waf-
fen. Sonne und W^ind soll gerecht zwischen uns geteilt sein.
Essex: Ungeeignete Richter, durch Zufall über mich gesetzt:
meine pairs auf den europäischen Thronen. — Richter: Dein
Dämon macht ein Ende, dein Über-Ich. Das habe ich durch
Einfühlung erkannt, und Lord Bacon noch früher.
Essex Nichts von dem, was in mir vorging, vermagst du und
:

deinesgleichen zu beurteilen. kommt dem Men- — Richter: Es


schen vielleicht die Gabe der Einfühlung zu Hilfe. — Essex:
Ihr habt mich Aufrührer, Rebell genannt, — das sind leere
Worte, . . . was hast du somit mit mir zu schaffen?
Der Mann Ich : befragte mich und andere kann der Herr zum
:

Tode verurteilt werden? — ich erhielt die Antwort wie Gott es


:

wendet I je nachdem es in die Brust des Menschen gelegt ist. —


Essex: Alles Zufall... — Mann: So höre ich Euch gern. Ihr
kommt mir schön. Aber heute seid Ihr verurteilt. Ich sitze

Euch hier gegenüber . .

Der Mann Die Gerechtigkeit pah —


:
;
es gibt Gerechtigkeit in

357
Menschen, nicht außerhalb. Es ist alles Unrecht. — Aber Ihr
Euch besiegtgeben. Ich bin nicht gekommen, Euch auf
sollt

den Tod vorzubereiten, sondern damit Ihr aus gereinigten


Augen vom Schafott herunter auf die Welt seht. — Essex: —
mein Ruhm ... — Der Mann Ihr habt keinen Ruhm. Ihr seid
:

ein kleines Gerede im Munde der Leute, so viel wie ein be-
kannter Straßendieb oder ein Prediger. — Essex, — Cäsars
Ruhm entgegenhaltend. — Der Mann : Euch bleiben vielleicht

noch zehntausend Atemzüge. Ihr solltet ihrer nicht ein halbes


Hundert an so leere Dinge verschwenden.
Der Mann Ihr : entschlüpft mir nicht. Ihr werdet mir bei der
Stange bleiben. — Essex: Sollte nicht jeder Richter zittern,
wenn er bedenkt, er selber hätte können ... — Der Mann Das :

sind flache Gedanken, laßt die zwischen einem Schinderhannes


und seinem Dorfrichter abgehandelt werden. Um meine Mine
auffliegen zu machen, bevor sie Euch die Häuser niederlegt,
müßt Ihr tiefer graben. Euch hat der Staat in unsere Gewalt
gegeben, der gleiche connexus, aus dem Ihr Eure Ansprüche
und Selbstverherrlichungen — Essex: Ich habe den
schöpft.

Staat gelenkt, ich habe die europäische Politik beeinflußt. — Der


Mann : Alles das sind leere Wortschälle. Das damit Bezeichnete
ist nicht mehr als die Gänge in einem Ameishaufen.
Der Mann : Spielt Ihr Eure verlorene Schachpartie nochmals
durch? Sie wollte sich nicht gewinnen lassen. Das Leben...
Alles saugt uns an das Ende an. — Ihr seid auf- und niederge-
gangen. Ihr würdet Euch nicht fürchten, zu schlafen, aber Ihr
fürchtet Euch, niederzuliegen. Es ist nicht Angst, das Euch er-

füllt, aber eine maßlose Ungeduld. Ich bin gekommen, sie

Euch zu stillen. Alle Eure Gaben quälen Euch, da sie Euch


hier nicht hinaushelfen, weder die Gewandtheit, noch die
Kühnheit, noch die Beliebtheit. Wenn andere in der Schlacht
mehr taten als Ihr, so achtetet Ihr es nicht: Ihr wäret der Ge-
neral, — das war Euer Schicksal. Genug, wenn Euer Pferd die

358
Hufe hob, wo ein Sterbender \ci^. Ob Ihr srlmldi^ oder un-
schuldig seid, ja was Ihr gewollt und nicht gewollt habt, und
was Ihr, wenn Ihr das erste erreicht hättet, weiter würdet ge-
wollt haben, — das ist Euch so verschlossen, wie den Richtern
Euer Denken. — Essex prahlt mit seinen großen Gedanken, —
mit der Megalopsychia. — Der Mann Ihr habt nie einen gro- :

ßen Gedanken gehabt, glaubt mir das — !

Die Argumente des Richters daß er bei der stärkeren Partei


:

sei; daß Essex nie einen großen Gedanken gehabt habe. Seine
Andeutung, was das sei, ein großer Gedanke: der Grundge-
danke des Gründers der Quäkersekte könne groß genannt wer-
den. Sein (des Sprechers) großer Gedanke sei die Notwendig-
keit im Ablauf des Schicksals. Ein großer Gedanke erfüllt den
Genius und feit ihn gegen alles außer gegen sein Schicksal.
Der den Richter erfüllende Gedanke der Notwendigkeit. Jenen
Gesichtspunkt wiedergewinnen, den ich in Aussee in diesem
Herbst bei der Betrachtung der Leargestalt hatte er : ist nichts
als die Hieroglyphe seines Schicksals und er wird erst durch das,
was ihm als ein (scheinbar) Zukünftiges droht. So wirkt der
Richter als Geburtshelfer zum Tode. »Ich sah Euch öfter und
da sah ich Eure Zukunft und wollte Euch als Geburtshelfer
dienen.«
Amor fati : es hcindelt sich nicht um Versöhnen mit dem Schick-
sal, sondern das Schicksal Lieben, Ihr habt Eure Abenteuer ge-
liebt, nicht Euer Schicksal. Hier erst ist Eure Stunde. Ich nahm
mir Euch in das einzige Verhältnis zu treten, in das ein
vor, zu
Mann zu einem Mann treten kann, es sei denn das der soldati-
schen Unterordnung, — aber ich rede von einem Verhältnis, in
welchem beide alle ihre Kräfte ins Spiel bringen.
Staunender Blick Essex' auf das andere Wesen, das so in sein
Leben eingreift: wie kommt der zu mir? was bringt dich mir
so nahe? — Von einem bestimmten Moment sagen sie sich Du.
Essex umarmt den Richter.

359
.

Konklusion: Dieser bedeutet ihm mehr als Verwandte,


Freunde, Anhänger, — selbst als solche, die sich für ihn töten
ließen. Dieser bringt ihn zu sich selbst.
Essex die Ereignisse von außen gesehen
: ; man muß lernen sie
anders sehen: eine Kruste muß zerbrechen. Wer hat Euch zu
meinem Arzte gemacht? Das ist die tiefste Frage . .

Der Mann Die anderen waren schwankend,


: ich entschied. Ich
suchte jeden einzelnen auf. Oft ging ich den Weg wieder rück-
wärts, wenn es nicht die rechte Stunde war. Manchmal war
einer uns einen Augenblick lang in der richtigen Verfassung. —
Essex: Was hattest du als letztes Ziel vor Augen?
Führender Gedanke : es ist immer noch was verborgen. Häut-
chen unter Häutchen, nur muß man ein feines Messer mit
einer sicheren Hand führen. — Essex: Die Namen weiß ich
nicht, aber die Gesichter gut. Dieser war ein Schotte. Dieser
hatte etwas Fremdes in seinem Gesicht, etwas Dumpfes und
Schwaches. — il etait admirablement dispose ä mourir.
Der Mann lehnt selbst die gewisse teleologische Konstruktion
ab, wonach eine Fügung kommen muß, weil wir ohne sie nicht

das hätten, was wir, weil wir es haben, für das ansehen, was
wir haben mußten (Hegels Geschichtsauffassung).
Geistig schwer ist das Geschehen zu tragen, nicht daß das Ge-
müt zerbräche, sondern die Fakultät, welche zu entbinden und
zu urteilen gewohnt ist. — Es handelt sich nicht um große
Dinge.
Das »Scheinbare« und das »Unscheinbare«: das »Wirkliche«.
— Das Tao : in seiner Weise die Wahrheit aus den Schöffen aus-
zuhorchen, gewaltlos.
Abschied: ich gehe jetzt nachtmalilen. — Meine Söhne — Euer
Sohn ; mein ältester Sohn liebt mich nicht ... — Essex winkt
ihm ab; er entfernt sich wortlos.
1925 (?)

360
BRIEFE UND BEITRÄGE
Antwort auf die Umfrage des »Svenska Daghladet«

[ Übersetzt von Friedrich StieveJ

Rodaun bei Wien, den 20. Mai [1915]

Sehr geehrter Herr ChefredacteurI


Die Fragen, die bei Ihnen und Ihren Landsleuten Beun-
ruhigung und Besorgnis hervorgerufen haben, müssen für
mich als deutschen Österreicher von noch größerem Gewicht
sem, und ihre Beantwortung — ganz gleich ob vor der Öffent-
lichkeit oder vor dem eigenen Gemüt — muß mich noch ernster
beschäftigen als vielleicht irgendeinen der anderen europä-
ischen Dichter oder Gelehrten, den Sie befragt haben. Denn
wenn die übrigen national geschlossenen Staaten sich für be-
rechtigt halten können, den Begriff Europa hinter sich zu wer-
fen und in harter Selbstgenügsamkeit zu verharren, so ist das
für mein Land vollkommen unmöglich. Österreichs Sendung,
ein die ich glaube und für die in diesen Monaten von unseren

Völkern im Verein mit dem ungarischen Volk ein ungeheures


Blutopfer gebracht wird, ist eine europäische Wie könnten wir
:

es ertragen, uns jenes Europa, von dem wir unsere tausend-


jährige Sendung empfangen haben und das sie uns ständig er-
neuem muß, woanders wir nicht selbst erstarren und sterben
wollten, als etwas geistig und sittlich nicht mehr Bestehendes
zu denken? Österreich braucht mehr als alle anderen ein Euro-
pa — ist es doch selbst ein Europa im Kleinen. Für uns noch
mehr als für die anderen hat dieser Krieg auch eine geistige
Bedeutung, die uns nicht weniger stark ergreift als die von
allen erlebte furchtbare materielle Kraft dessen, was geschieht.
Wir haben in diesem Jahre gelernt, ganz anders als vorher auf
Dinge einzugehen, viel schwerer
die Innenseite der pohtischen
das Problem der Verantwortung gegenüber den Völkern zu

563
empfinden, die gemeinsam mit uns um Europas wegen und
im Einklang mit Europas uraltem Willen in der Einheit dieses
Reiches zusammengeschlossen sind.
Es wäre möglich, daß die Gedanken, die sich bei uns aus die-
ser ernsten Selbstprüfung letzten Endes ergeben, in gewissem
Sinn auch die Antwort auf die Frage enthalten, die Sie, hoch-
verehrter Herr, im Namen Ihrer großen Zeitung an mich ge-
richtet haben. Denn es will uns scheinen, daß auf diesen Krieg,
wie er auch enden mag, sowohl hier bei uns wie in ganz Europa
eine neue geistige Orientierung folgen muß. Ein so giganti-

sches Ereignis wie dieser Krieg kann nichts anderes als der
Abschluß einer ganzen Epoche sein, deren tiefste Tendenzen es

zusammenfaßt und in grandioser Dissonanz zum Ausdruck


bringt. Was wdr erleben, gleicht einem Bergsturz, der Europa
unter sich begräbt. Und dennoch wird dies Ereignis auch ein-
mal — aus der Ferne betrachtet — seinen Platz in der Geschichte
der Kultur einnehmen. Es scheint mir, daß wir jetzt das Ende
einer Entwicklung erreicht haben müssen, deren Anfänge mit
der Französischen Revolution sowie mit den Höhepunkten des
deutschen Geisteslebens in den Jahrzehnten um 1800 ver-
knüpft sind, einer Entwicklung, die besonders nach den vier-
ziger Jahren immer gewichtiger und stärker im Seelen- und
Gefühlsleben der Völker wurde. Damals, vor mehr als achtzig
Jahren, gab unser großer österreichischer Dichter Grillparzer,
dessen Geist von der Humanität des ausgehenden achtzehnten
Jahrhunderts geformt war, in seinen Notizen folgende harte
ChcLTcikteristik des zu jener Zeit mächtig anwachsenden neuen
Geistes : »Von Humanität — durch Nationalität — zur Bestia-
lität«. Er hätte sich bitter ablehnend gegen all das verhalten,
was seitdem geschehen ist, und dessen gewaltsamsten und
großartigsten Ausbruch wir jetzt erlebt haben, er hätte darin
nichts anderes erblickt als Dunkel im Vergleich zum Licht
des achtzehnten Jahrhunderts, der Zeit Rousseaus und Schil-

364
lers, Kaiits und Goethes, aus der seine RilduriG; hervorge-
gangen war. Wir vermögen nicht auf gleiclie Weise zu ur-
teilen. Wir ahnen, daß Weg gegangen werden nnißte
dieser
und daß die geistige Welt, indem Europa ihn ging, durch Ele-
mente bereichert wurde, deren Kostbarkeit der »Ilumanus«
des achtzehnten Jahrhunderts weder erfassen noch erraten
konnte. Und zugleich aJinen wir, daß sich in der jetzigen Kata-
strophe gewisse Tendenzen innerhalb der materiellen Zivili-
sation, die das neunzehnte Jahrhundert uns vererbt hat, wie
eine brandende Woge brechen und sich dadurch auflösen ; diese
materielle Zivilisation wird sich zweifellos weiter entwickeln,
aber — das dürfen wir hoffen — gewissermaßen unter einem
anderen Stern und mit der Möglichkeit, sich selbst zu über-
winden. All das sind verschiedene Aspekte einer gewaltigen
geistigen Umwälzung, an die ich ebenso fest glaube, wie ich sie
erhoffe, und es scheint mir, daß nach diesem Krieg die Erde
für die Saat eines neuen Europa umgepflügt werden muß. Das
gemeinsam Durchlittene — denn Leiden wenn auch in Gestalt
von Handlung ist ja etwas allen Nationen Gemeinsames — wird
bei den Völkern und ihren wirklichen Führern, die für mich
nicht mit den scheinbaren augenblicklichen Führern identisch
sind, Kräfte befreit haben, angesichts derer der Verstand bloß

eine Scheinmacht ist. Geist und geistiges Leiden werden wie-


der möglich sein und in der europäischen Geschichte existie-
ren, wo sie scheinbar aufgehört haben, bestimmende Mächte
zu sein. Die Aufgabe scheint mir nicht darin zu bestehen, das
Europa der letzten Jahrzehnte mit seinen halbgelähmten Flü-
geln wiederherzustellen, obwohl auch für diesen Versuch in
allen Ländern, nicht zum mindesten in Ihrer Heimat, starke
und wertvolle Kräfte zur Verfügung stehen würden, sondern
ich meine, die Aufgabe müsse höher gefaßt werden. Es kommt
darauf an, daß eine neue Autorität erstehe, daß diese Autorität
nicht in administrativen Formen verkörpert werde, sondern

365
;

in rein geistigen, in Übereinstimmung mit dem Wiedererwa-


chen des religiösen Empfindens mid dem latenten Bedürfnis
der Massen nach Verehrung; daß der Begriff Masse, dieser im
jetzigen Kriege und während der Jahrzehnte vorher furcht-
barste und gefährlichste Begriff, überwunden und ein für alle-
mal durch den hohen Begriff Volk ersetzt werde, den dieser
Krieg uns wieder offenbart hat — wenigstens uns in Österreich-
Ungarn und den Deutschen, aber, wie ich glaube, auch den
Franzosen daß Völker und Führer wieder gegenseitig für ein-
;

ander Autoritäten werden in dem geistigen Sinn, der während


der letzten Jahrzehnte verlorenging, und daß sich ein neues,
mit ungealmter Sch^^Tlngk^aft begabtes Europa aus dem selbst-
entfachten Brand erheben möge.
Es vrird auf diesem Wege Übergänge, Verwicklungen und
Schwierigkeiten von noch nicht übersehbarem Ausmaß geben
aber niemand wird bei der Entstehung des neuen Europa auf
so fruchtbare Weise mithelfen können wde die jetzigen Neu-
tralen,und unter ihnen niemand mit so viel Autorität wie die
drei nordischen Länder, auf Grund ihrer Rasse, ihrer allseiti-
gen Verbindungen und geistig gereiften unverbrauchten Le-
benskraft.
Empfangen Sie, hochverehrter Herr, den Ausdruck aufrich-
tiger Dankbarkeit dafür, daß Sie mir Gelegenheit gegeben
haben, an dieser Stelle Dinge auszusprechen, die mir am
Herzen liegen.
Ihr aufrichtig ergebener
Hofmannsthal

366
Idee einer durchaus selbständigen und dem Sclieingcschmack
einer EpocJie widerstrebenden Monats sehr ift

I. Oberer leitender Gedanke


Durchaus entgegen dem Zeitgeist, der negiert wird. Keine
Jagd nach dem ungreifbaren Momentcinen ; der Begriff des
Aktuellen als unvorhanden betrachtet.
Entgegen allen anderen Revuen, die durch eine hungrig ins

Unendliche fortrasende Linie versinnlicht werden können, ist

die gesuchte Form hier der Kreis. Rliythmische Wiederkehr


in jedem Sinne: in der beschränkten Zahl der Mitarbeiter, in

den Formen und geistigen Komplexen, die hingestellt — nicht


behandelt — werden wollen.
Nicht haschen nach einer chimärischen Entwicklung, sondern
Hinw^eis auf geistigen Besitz. Ein höheres Soziales, eine gei-
stige deutsche Gesellschaft darin supponiert. (Im Sozialen und
Geistigen schafft man durch das was man voraussetzt, nur der
unglückliche deutsche Schulmeistergeist meint zu schaffen,
indem er belehrt.)
Das Zentrum des Kreises der Herausgeber; ihm zunächst ein
kleinerer mitleitender Kreis : Rudolf Borchardt, R. A. Schrö-
der, Rudolf Pannwitz. Weiterhui von lebenden Deutschen:
Ricarda Huch, Werfel, H. v. Keyserling; Kassner; Leopold
Andrian, Max Meli. Gelegentlich: Josef Nadler, der große Ge-
schichtsschreiber der deutschen Landschaften und Stämme.
E. V. Kahler, Rilke, Göring.
Von Ausländern: die bedeutenden reingesinnten Engländer:
Gilbert Murray, Lowes Dickinson, Granville Barker.
Von Franzosen: Claudel, Gide, Suares, Ri viere, Gheon; der
Kreis der Nouvelle revue frangaise.
Noch der Schweizer Carl J. Burckhardt und der Tessiner E.
Gagliardi.

367
;

II. Inhalt und Anordnung


Das zu Gebende alles in den Formen: Drama, Gedicht, No-
velle, Brief, Lebensdarstellung, Rede, Aphorisma. Die alles

verschlingende Unform: das Essay — bleibt ausgeschlossen.


Keine Kritik — es sei denn, sie werde wie in seltensten Fällen
zum Kunstwerk (Solgers Kritik der »Wahlverwandtschaften«,
die Goethen so erfreulich war; hier überhaupt musterhaftes
Älteres Grimm, J. Burckhardt).
: J.

Übersetzungen und Um-schreibungen, wo in ihnen sprach-


liche Schöpfung: Beispiele: K. E. Neumanns Buddho-reden

Borchardts Dante.
An Stelle des Essays der alles vermischt und verflacht, rhyth-
misch wiederkehrende Untersuchungen, gleichsam Unterhal-
tungen, wobei auch die Toten zu Worte kommen; beispiels-

weise: Bezweifelung und Verteidigung der deutschen Spra-


che, mit den erleuchtenden Beiträgen von Goethe, Schopen-
hauer, J. Grimm und anderen.
Die Formen rhythmisch wiederkehrend; ein Beispiel hiefür
der Brief: Heft I enthielte einen minder bekannten höchst
bedeutenden Brief von Goethe (etwa den letzten an Auguste
Stolberg); Heft II einen Brief von Charles Louis Philippe,
Heft IV oder V einen von der Bettina; weiterhin: aus den
»lettres d'un soldat«; aus den in den Papyri gefundenen
spätgriechischen Briefen, aus Hebbels Briefen usf. usf.
Der Begriff der Welt-literatur gewonnen durch das zarte und
diskrete Nebeneinander. Belehrung durch Hindeutung, Be-
reicherung durch die Belebung auch des Alten.
Nochmals: angestrebt \\drd: das Musterhafte, das Belebte, das

Zusammengehaltene.

III. Das Äußere doch nicht Äußerliche


Mäßig dicke Hefte auf gutem Papier, nicht eng gedruckt;
nicht überfüllt. (Alle deutschen Revuen sind überfüllt.) Eine

368
schölle Antiqua, in zwei, vielleicht in drei Größen. Keine
wohlfeile Zeitschrift, aber keine Preise für snobs. Der Preis
so kalkuliert, daß mit 1500— 1800 vSubskribenten — die durch
sehr sorgfältige Werbung zu suchen — das Auslangen gefun-
den wird. Diese Subskribenten als geschlossenen Kreis, als

Gesellschaft betrachten und auf sie wirken.


(Vorschwebender Preis etwa 200 Mark per Jahr.)

[Ins Gästebuch des Lesezirkels Hottingen]

Der patrizische Geist ist stark im Ablehnen, der demokratische


stark im Aufnehmen; möge in den alten Schweizer Städten
noch lange beides einander das Gleichgewicht halten.
Zürich, XII. 1920

Brief an Max Pirker

Rodaun, 18. April 1921


Zur Vorarbeit für »H. als Theaterdichter« folgendes: Das
Grundthema beiläufig so : ein dichterisch begabtes Individuum
tritt hervor, betätigt sich subjektiv, individuell, in dramatisch-
lyrischen Formen. Er ist aber Wiener und allmählich üben die
Kräfte des Bodens ihre Wirkung, ziehen ihn zu den traditionel-
len Formen hinüber. Er sucht die Formen zu erfüllen, zugleich
kcmn er nicht umhin, seine dichterische Subjektivität zu be-
haupten, doch ordnet sich diese den Formen unter. Zu frucht-
barer Lektüre als Vorarbeit bedarf es klarer Übersicht und
Einteilung der Epochen oder »Manieren« des Dichters.
Erste vorwiegend lyrisch-subjektive Epoche: das Jugend-
oeuvre bis zirka 1899. Die eigentliche Lyrik, inklusive des

369
:

und eigenthch
>Kleinen Welttheaters <. Hier schon dramatische
theatralische Elemente. Die Reihe der kleinen Dramen: >Ge-
stern<, >Tor und der Tod<, >Tod des Tizian < (1891—1893);

>Hochzeit der Sobeide< (1897), >Weißer Fächer< (1897), >Kaiser


und Hexe< (1897), >Abenteurer und die Sängerin < (1898),
>Bergwerk von Falun<. Abschluß dieser Epoche 1899.
Die zweite Epoche : der Anschluß an große Form gesucht
>Elektra< (1903), >Das gerettete Venedig < (1902), >Oedipus und
die Sphinx< (als Teil einer >Oedipus<-Trilogie, geplant 1906).
Erster Vorversuch Antik-Mythisches neu zu gestalten ist

>AU^estis< (1893).

Die dritte Epoche, worin die Erfüllung traditioneller theatra-


lischer Forderung deutlich als Ziel hervortritt: seit 1907 etwa.
a) >Jedermann< (1904—1911) anzuschließen innerhalb des Ge-
samtoeuvie: einerseits an >Tor und der Tod<, anderseits an
>Kleines Welttheater <, >Xenodoxus, Doktor von Paris <, >Rad-
städter Ger ichts spiel <.
b) Die Reihe der phantastisch-märchenhaften Dramen. An-
knüpfend an >Bergwerk von Falun<. Gehört aus den >Rodau-
ner Nachträgen < die Fragmente einer Raimund-Transkrip-
tion hieher: das Märchenhafte mit Hinzutreten des Volks-
tümlichen. >Frau ohne Schatten < (1912—1914). >Turm<.
Mystisch. Siebzehntes Jahrhundert.
c) Die Reihe der Lustspiele: >Gestern< als Embryo des poeti-
sierten Gesellschaftslustspiels; >Der Abenteurer und die
Sängerin <, desgleichen auf höherem Niveau. Erster Ver-
such >Silvia im , Stern' < (1907), unvollendet, pubHziert im
Jahrbuch >Hesperus<. Sodann >Cristinas Heimreise < (1908
-1909), >Rosenkavalier< (1910); >D er Schwierige < (1920).
Dazwischen Pläne und Entwürfe zahlreichst. 1916 >Die
Lästigen <, gespielt als Meliere, tatsächlich ganz frei. 1915
der Rahmen zur >Ariadne<, rein lustspielmäßig. Die ganze
>Ariadne< 1912.

370
[Hommage ä Jacques Rivihre]

Lorsque, il y a doiize ou treize ans, son essai sur Ingres me


tomba sous les yeux, je sus que desorinais je reliendrais son
nom et que je lirais tout ce qui serait signe de ce nom. Par ce
seul essai il m'avait tout acquis ^ lui. Je savais que je me trouvais
en presence d'un chef, d'un ami inconnu, d'un compagnon
avec lequel je pouvais dialoguer en esprit sur les arts ; mais je

ne savais pas que rhomme dont je m'etais forme ce jugement


etait si jeune, beaucoup plus jeune que moi, et qu'une aussi

grande sürete, une flexibilite si humaine n'etaient pas l'effet de


Tage mür, mais bien celui de dons exceptionnels. J'avais ä faire

ä. une miethode critique en art qui se distinguait nettement de


Celle des epoques precedentes. Et j'etais frappe de voir combien,
depuis le temps oü Diderot ecrivait sur Grenze, et Baudelaire

sur Delacroix, en ce domaine de l'expression litteraire ce qui


n'etait que senti et pergu s'etait, si j'ose dire, spiritualise — ä
quel point s'interpenetraient l'intellectuel et le sensible.

A mesure que je prenais contact avec ses travaux, sa fagon


une ceuvre d'art me pajaissait toujours davantage
d'interpreter
emaner d'une personnalite heureuse et harmonieuse, teile
d'ailleurs qu'elle se traduisait en son mode d'ecrire tout parti-

culierement sympathique. II ne juge pas, il n'enseigne pas, il

ne decompose pas; il assiste ä la naissance spirituelle d'un


poeme, d'une ceuvre d'art, d'un tableau, cette naissance spiri-

tuelle qui se refait toujours devant les yeux de celui qui sait

voir; il suit la ligne qui nait, il sejourne volontiers ä l'interieur


du labjrrinthe, et il le quitte serein: pendant tout le temps il

avait tenu en mains le fil d' Ariane. Lorsqu'on reflechit sur ce


qu'il nous a dit d'une ceuvre d'art et sur la fagon dont il nous
l'a communique, il semble qu'il ait, dans chaque cas, dit tout
d'une fois, ainsi que dans une ceuvre d'art tout existe simul-
tan ement.

371
:

Aujourd'hui, apres tant d'annees, je revois pour la premiere


fois cet essai sur Ingres reuni ä d'autres. Et c'est le livre d'un
mort. Apres ces cinnees d'une Separation complete, j'aurais
aime par-dessus tout ä faire sa connaissance ;
j'eusse recherche

son entretien. A present c'est tout juste si j'arrive avec ces

quelques mots ä rendre hommage ä la memoire d'un disparu.

[Die besten BücJier des Jahres (1926)]

Mit Vergnügen nenne ich Ihnen sechs sehr verschiedenarti-


ge Bücher, die mir im Verlauf der letzten Monate großen Ein-
druck gemacht haben
1. Die unvergleichlichen drei Vorträge Karl Vosslers: »Die
romanischen Kulturen und der deutsche Geist«. Ein walires
Muster von Weltbhck, poHtischer Reife und einer zur höch-
sten Urbanität geläuterten, wieder ganz leicht und weltläufig
gewordenen tiefen Gelehrsamkeit. (Erschienen in Form eines
dünnen Buches im Verlag der Bremer Presse.)
2. Aus der schönen Publikationsreihe »Der Weltkreis« (Ver-
lag der Universität Erlangen) »Die Briefe des kaiserliclien Ge-
sandten Busbeck aus dem Konstantinopel des XVI. Jahrhun-
derts«.

3. »Das Lebensbild Max Webers von seiner Gattin« (Verlag


J. C. Mohr, Tübingen). Die gehaltvolle Darstellung eines
hohen geistigen Lebens.
4. Von den außerordenthchen Erzälilungen /. Conrads die
außerordenthchste, »Jugend«., mir seit Jaliren bekannt, aber
in einer schönen deutschen Übersetzung aufs neue wirksajn
wie nur je. (S. Fischer Verlag.)
5. Aus dem gleichen Verlag Frank Harris: »Mein Leben«.
6. Carl J. Burckhardt: »Kleinasiatische Reise«, der Bericht

372
über eine im Jahre 1923 im Auftrage des Roten Kreuzes
durchgeführte Mission, der in höchst eigentümhchcr Weise
den hohen Europäismus einer heraufziehenden Generation
zum Ausdruck bringt. (Verlag der Bremer Presse.)

[Das beste Buch des Jahres 1927]

Ich nenne Ihnen gern fünf Bücher, denen ich nachhaltiges


Vergnügen und auch wohl mehr als das zu verdanken habe.
1. Die außerordentliche Darstellung der Gestalt des Hohen-
staufen-Kaisers »Friedrich IL« von Kantor owicz.
2. Die Sammlung »Die Volkslieder der Slaven« von Paul Eis-
ner, ein Buch von kaum auszuschöpfendem Inhalt, zugleich
eine überaus hohe Übersetzungsleistung.
3. Die wahrhaft schöne Erzählung »Jesus im Böhmerwald«
von Robert Michel.
4. Den interessanten Roman eines jungen Autors : » Torstenson«
von Meisel.
5. Franz Werfeis neue Novellen »Geheimnis eines Menschen«.

[Welches war das Lieblingshuch Ihrer Knabenjahre?]

Meine Lieblingsbücher in der Knabenzeit waren einige Erzäh-


lungen von Wörishöffer (»Robert der Schiffsjunge«, »Onnen
Visser«) — und ein Buch »Kaiser, König und Papst«, dessen Ver-
fasser ich vergessen habe.

373
ANMERKUNGEN

Den ersten Teil dieses Bandes und einige der kleinen Bei-
träge hat Hofmannsthal selbst veröffentlicht. Die Briefe und
Aufsätze für Amerika sind u. W. bisher nur in englischer
Sprache erschienen — mit Ausnahme von Teilen des Berichts
über das »Welttheater«. Der Nachruf auf Riviere, den früh-
verstorbenen Herausgeber der »NouveUe Revue Frangaise«,
\\airde wohl französisch geschrieben. Von der Antwort an die
Stockholmer Zeitung (von der damals Absätze rückübersetzt
erschienen) hat sich bis auf die ersten Zeilen der Handschrift
nichts erhalten; sie erscheint hier in deutscher Übersetzung
von Friedrich Stieve.

Unser Band versucht die bisherigen Veröffentlichungen aus


den Aufzeichnungen und (unregelmäßig geführten) Tage-
büchern zeithch zu ordnen — ohne Gewähr für die Reihenfolge
im einzelnen leisten zu können. Viele von ihnen sind undatiert.
Sie reichen von 1890, Hofmannsthals siebzehntem Lebensjahr,
bis zu seinem Tod, 1929, und beginnen mit Schulheften voll
Entwürfen, Exzerpten, Geschichtstabellen, Mathematikauf-
gaben später sind
; es \ielfach Zettel oder lose Bogen ; sie enden
mit Worten über Charles Du Bos (vgl. den Brief an diesen v.

15. 6. 1929, »Neue Zürcher Zeitung« 11. 7. 59).

S. 89, 10. 1. 91 : das Gedicht »Sünde des Lebens«


S. 90, 9. IL : Die Scheidung von Dichter und Nichtdichter
hat Hofmannsthal abgelehnt; so noch in der Ansprache auf
dem Salzburger Kritiker-Kongreß in seinen letzten Jahren.
S. 92, 31. V. : »Zufall ist . . . «, unvollendetes Ghasel
S. 94, Dez.: »L'Ermitage«, Zeitschrift der Symbolisten. —

375
»Soll nun der Mund«, Gedicht Stefan Georges (1897 im »Jahr
der Seele«)
S. 97, 1892: Prolog — vgl. »Kaiser und Hexe«
1 1 . III. — Hofmann : Richard Beer-Hofmann
S. 100, 1895: »Bacchen«: s. unsere S. 134, 143 und »Pen-
theus«, Dramen III

S. 103, 6. X. — »Warum bemächtigt sich« : »Tor und Tod«


(s.'S. 227)
S. 107, 23. IV. 94: Poldy: Leopold Andrian
S. 108, 12. X.: vgl. »Das kleine Welttheater«: »Ein Wesen
immer gelüstet es nach dem andern«
S. 109, 1894: »This world's«, aus »Fra Filippo Lippi«
S. 110 ff., 1894/95: »Die Geschichte von den Prinzen« war
dem Dichter früh vertraut aus »Dalziel's Illustrierte Tausend
und Eine Nacht« (vgl. »Wir hatten dieses Buch in Händen«,
»Prosa II«) — An Else Bruckmann-Cantacuzene, 26. 12. 1894:
»Wenn ich kann, werd ich eine schöne Geschichte von zwei
Prinzen, dem Leben und dem Tod aus >1001 Nacht in Ter- <

zinen schreiben.« An Hermann Bahr, 28. 7. 1895: »Denn der


Lebensweg führt eigentlich zu immer stärkerer Magie, wie das
in den Prinzen Amgiad und Assad so schön ist. Denn schließ-
lich in einem welligen, gelbbraunen Land werden ihnen

eine Menge häßlicher Hunde und kranker Pferde höchst


wunderbar, ja auch der Unterschied von Groß und Klein ver-
nichtigt sich, über die Seele breitet sich eine Maulwurfsgrille
so intensiv aus wie die langsam untergehende brüderhche
Sonne.« (Vgl. unsere S. 113 u. 117)
S. 117, 1895: Poldys Buch: »Der Garten der Erkenntnis«
S. 118ff. : »Narcissusbuch«, der Anfang des nicht erhaltenen
Aufsatzes über Andrians Buch (vgl. Brief aji Andrian, Oster-
montag 95)
S. 118 f., 19. u. 30. V.: vgl. »Ad me ipsum«, unsere S. 245
S. 120: Paracelsus, vgl. »Traum von großer Magie«. —

376
Ob Hofmaimstlaal die Stelle aus Schopenhauer kannte?
S. 125, Juli: Pereira, Grotthuss, Regimentskameraden
S. 128 ff., 1899: Muscheln, Flamme: Keime zu Gedichten,
wie »Jüngling und Spinne« und »Märchen« Keime zu Idyllen
S. 131, 17. VII. 04: »Pompilia«: unvollendetes Drama
S. 133, 26. VII. : — »Das Leben ein Traum« s. »Dramen III«
S. 136, 11. X. : »Und sinkt mein Kahn«, Vers des amerikani-
schen Dichters W. E. Channing (vgl. »Ariadne«, »Prosa III)«
S. 139: »Das Schöne« und »Über Kritik« — zu einem Pro-
grammentwurf »Diese Zeitschrift«

S. 140, 9. II. 05: der Schiffsleutnant Edgar Karg, frühver-


storbener Freund Hofmannsthals
S. 142, 30. X. : »Nichtinsel dich«, aus »Faust II«
S. 142, 1. XI. 05, u. S. 159, 20. 1. 08: s. »Dramen III«
S. 144, Juli 06: »Tamburlaine« von Marlowe; Peele, elisa-
bethinischer Dramatiker
S. 147, 06: Rodin, s. über die St. Denis, »Prosall«
S. 157, Feb. 07: Ruch von Morton Prince, vgl. R. Alewyns
Andreas -Aufsatz (»Über Hugo von Hofmannsthal«, Göttingen
1958)
S. 158, März 07: »Heintl«, unvollendetes Drama. — L'Espi-
nasse, ein Keim zu »Silvia«, »Lustspiele II«
S. 165, 172, 227: Korai, s. »Die Statuen«, »Prosa III«
S. 182, 1917: Hofmannsthal hat Stuckens »Opferung des
Gefangenen« in die »Neuen deutschen Reiträge« aufgenommen
S. 201, »Welttheater«: vgl. Rrief III an »The Dial«

Wir verweisen auf die Seiten von Walther Rrecht zu dem von
ihm herausgegebenen Teil I des »Ad me ipsum« (Hochstift-
Jahrbuch 1930) und die Notiz in der »Neuen Rundschau«
1954, für die Rlätter über Rodenhausen auf den Rriefwechsel
mit diesem (Diederichs 1953) und den mit Rorchardt (Fischer
1954).

377
Hofmannsthals Versuch einer Selbsterklärung und -dar-
stellung, 1916 begonnen, von da ab immer neu ansetzend,
erst »Ad me ipsum«, »Mich selbst betreffend«, überschrieben,

später vielleicht auch als Brief geplant, liegt nur in Entwürfen


vor — in vielfach einander überschneidenden und kreuzenden
Andeutungen und Schlüsselworten. Eine endgültige Ordnung
läßt sich kaum herstellen, denn diese Blätter sind zu vielfach
aufeinander bezogen. Was sie enthalten, ist nicht systematisch
zu fassen. Wie sie vorliegen, sind sie eines der wertvollsten und
eigentümlichsten dichterischen Selbstzeugnisse.
Manche von Hofmannsthals Gestalten und Motiven tauchen
inihnen auf, von Andrea in »Gestern« bis zum Sigismund im
»Turm«, von der Tochter des Töpfers in der »Idylle«, den Fi-
guren des »Kleinen Welttheaters« (den »GlückHchen«), den
Witwern im »Weißen Fächer«, dem »Kämmerer« (»Pa-
gen«) Tarquinius bis zum Efrit in der »Frau ohne Schatten«,
von diesem Märchen zurück zu dem vom Kaufmannssohn.
Geplante Dichtungen werden erwähnt: die »Girondins«, die
Pagen Alexanders (»Dramen I«), »Die beiden Götter« (»Dra-
men III«), »Dominik Heintl« ; Orte, Eindrücke, Begegnungen,
Bücher: Die Fusch seiner Knabenzeit, Varese, wo »Die Frau
im Fenster« und »Das kleine Welttheater« entstanden, Meyer-
beers Oper »Die Afrikanerin«, die Abschrift von Mallarmes
»Faune«, die George für ihn angefertigt hatte, und Andrians
»Garten der Erkenntnis« ; die alte Freundin seiner Frühzeit,
Josephine von Wertheimstein Buckles »Geschichte der Zivih-
;

sation«, Benjamin Constants »Adolphe«, die Kunsthistoriker

der Wiener Schule, Wickhoff und Riegl, aus späteren Jahren


Musils »Zögling Törless« und der Freund Hell in graths, Ludwig
von Pigenot; Worte, die ihm bedeutend waren Addisons »Ein :

Mcinn kann weder gelobt noch herabgesetzt werden«, oder das


Baudelaires von der »Speerspitze des Unendlichen« Eine Stelle, .

»Wer sich der Introversion... verloren gewesen« (S. 215), ist

378
Zitat aus Herbert Silberers »Probleme clor Mystik iiiul iliror

Symbolik«.
S. 218ff. : allomatisch, auf andere (oder: wechselseitig) wir-
kend
S. 220: »Die Welt besitzt«, aus »Der Jüngling und die
Spinne«.— S. 224: »das Leben, man kann«, »Tod desTizian«,—
S. 225: »Ein Wesen ists«, Der Fremde im »Kleinen Welt-
theater«. — S. 229 f.: »Der Flüsse Dunkelwerden« und »Die
schwebend unbeschwerten«, in »Den Erben«. — S. 230:
»Nichts ist hier«, in der Oper »Die Frau ohne Schatten«. —
S. 240: Aristie = Würde. -
S. 252 das Manuskript sagt irrtümlich »Er hatte Max Weber
: :

sterben sehen«.
S. 253: O.Kohnstarrmi, Psychiater
S. 261 : »Cherub . . .«, aus »Ein Traum von großer Magie«
S. 324: Der Josefstädter Prolog (»Lustspiele IV«) erschien
dann doch in deutschen Zeitungen.

Die Entwürfe und kleinen Beiträge sollen in späteren Auf-


lagen unserer Bände zeitlich eingereiht werden.
Das »Divertissement« verdanken wir WiUi Schuh. Vgl. den
Brief an Strauss vom 21. I. 20.
»Essex und sein Richter« : Entwurf eines imaginären Ge-
sprächs.
Das Programm einer Monatsschrift, wohl von 1920, trägt
den Vermerk: »nur für einige Freunde«, und deutet voraus
auf die »Neuen deutschen Beiträge«.
Max Pirker plante eine Schrift über Hofmannsthal.
Der letzte Beitrag war die Antwort auf eine Rundfrage der
»Literarischen Welt«. — Der Verfasser der Hohenstaufen-
Erzählung war Richard Roth.

579
BIBLIOGRAPHIE

Buch der Freunde. Insel- Verlag 1922; (um unsere S. 198-200


vermehrt) 1929. (Einzelne Reflexionen in Zeitschriften,
u. a. »Marsyas«, 1917-22.)
Tagebuchblatt. Frauenzimmeralmanach auf 1923. Rikola, Wien
1922.
Aus einem ungedruckten Buch. »Tage-Buch« 1925.
Aufzeichnungen und Tagebücher. »Corona« 1934-43; Stefan
George und Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel Küp- ;

per 1938 (unsere S. 94-96); »Neue Rundschau« 1945;


Maximilian-Gesellschaft, Stammtischblätter, Berlin 1926
(unsere S. 197); »Botteghe oscure« 1956.
Ad me ipsum. Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1930
und »Corona« 1942; beides (ergänzt) »Neue Rundschau«
1954.
Andenken Eberhard von Bodenhausens. Eberhard von Boden-
hausen, Diederichs 1955.
Fienna Letters (I-V). »The Dial«, New York 1922-24. - Brief
III (deutsch) z. T. in »Festspiele in Salzburg«, Bermann-
Fischer 1938, 1952.
Reinhardt as an International Force. »Hearst's International«,
New York 1924. - Reinhardt as an Actor. »The Free-
man«, New York 1923. - Beides in: Max Reinhardt and
his Theatre, ed. by Oliver M. Saylor, New York 1924.
Mutter und Tochter. »Neue Rundschau« 1929.
Divertissement. W. Schuh, Ein Ballet-Szenarium, »Neue Zürcher
Zeitung« 1944; Strauss-Hofmannsthal Briefwechsel, At-
lantis 1955.

Essex und sein Richter. Dramatische Entwürfe aus dem Nach-


laß, Johannes-Presse, Wien 1936.

380
fHu^o von Hofmannsthal orti krigct och kulturrn.J »Svonska
Dagbladet« 1915. (Teildruck, rückübcrsct/At : »Berliner
Tageblatt« 1915.)
Idee einer Monatsschrift. »Corona« 1943. R. Adolpli, liil)lioplüle

Profile I, Pattloch, Aschaffenburg 1958.

[Das goldene Buch des Lesezirkels Hottingen. J »Neiie Zürcher


Zeitung« 1932, [Ein kostbares Gästebuch] 1938.
Brief an Dr. Max Pirker. »Neue Freie Presse« 1930.

[Hommage ä Jacques Riviere.J »Nouvelle Revue Frangaise«


1925.

[Die besten Bücher des Jahr es. J »Tage-Buch« 1926.


[Das Buch des Jahres 1927. J »Tage-Buch« 1927.
beste

[»Welches war das Lieblingsbuch Ihrer Knabenjahre?«] »Lite-


rarische Welt« 1929.

581
'

^ achwort des Herausgebers


o

Unsere Ausgabe der Werke Hofmannsthals ( 1 8 74 —1 929) ver-


einigt alle von ihm selbst oder aus dem Xachlciß mitgeteilten
Dichtungen und Schriften. Nicht aufgenommen sind die Li-
bretti des »Rosenkavalier« und der »Ägyptischen Helena«
— Kürzimgen der Buchfassimgen — Bühnenmanuskripte
. (so

die zwei des »Abenteurers«), Stellen aus Handschriften zu


»Silvia«, »Cristina«, »Andreas«, zum »Turm«, wie R. Ale-
wyn und M. Stern sie kürzhch mitgeteilt haben. Zwei Äuße-
rungen des Dichters über den Schauspieler A. v. Sonnenthal
und über Claudel haben sich noch nicht gefunden. vDie Auf-
sätze »Musik«, »Lockung der Weite« u. a. m. waren, mit
neuen Überschriften, anderen Arbeiten Hofmannsthals ent-
nommen.)
Unsere Ausgabe sammelt zum ersten Mal ein weitzerstreu-
tes, schwer übersehbares Werk und zeigt, wie es sich entfaltet.

Sie versucht, vor allem in den sechs Bänden, die bisher in Neu-

auflagen vorhegen, den Text von Fehlem zu reinigen.


Für manche Einzelheiten verweisen wir auf unseren Bericht
»Zur Hofmaimsthal- Ausgabe I« (Verlag Paul Haupt. Bern
1959).
H.St.

582
INHALT

Buch der Freunde 7


Tagebuchblatt 83
Aus einem ungedruckten Buch 85
Aufzeichnungen und Tagebücher aus dem Nachlaß 87
1890-1895 89
1899-1901 128
1904-1921 151
Nicht das Leuchtende ... 196
Die Tänzerin ... 197
1922-1929 198
Ad me ipsum 211
Andenken Eberhard von Bodenhausens 245
Briefe und Aufsätze für amerikanische Zeitschriften 265
Wiener Brief 267
Zweiter Brief aus Wien 281
Dritter Brief aus Wien 294
Vierter Brief an »The Dial« 305
Fünfter Brief an »The Dial« 316
Max Reinhardt 325
Reinhardt bei der Arbeit 333
Entwürfe 351
Mutter und Tochter 353
Divertissement 355
Essex und sein Richter 357
Briefe und Beiträge 361
Antwort auf die Umfrage des »Svenska Dagbladet« 363
Idee einer Monatsschrift 367
[Ins Gästebuch des Lesezirkels Hottingen] 369
Brief an Max Pirker 569
[Jacques Ri viere] 371
[Die besten Bücher des Jahres] 372
[Das beste Buch des Jahres 1927] 373
[Welches war das Lieblingsbuch Ihrer Knabenjahre?] 373

Anmerkungen 375
Bibliographie 380
Nachwort des Herausgebers 382

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