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Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitäts-Störung
Bericht
Impressum:
Eigentümer, Herausgeber und Verleger:
Bundesministerium für Gesundheit, Radetzkystraße 2, 1030 Wien
Coverfoto:
PhotoAlto
Internet:
www.bmg.gv.at
Alle Rechte vorbehalten, jede Verwertung (auch auszugsweise) ist ohne schriftliche Zustimmung
des Medieninhabers unzulässig. Irrtümer, Druck- und Satzfehler vorbehalten.
Inhaltsverzeichnis
1. MITGLIEDER DER ARBEITSGRUPPE ............................................................................................... 5
2. PROBLEMDARSTELLUNG .............................................................................................................. 6
3. ÄTIOLOGIE.................................................................................................................................... 6
4. EPIDEMIOLOGIE ........................................................................................................................... 6
6. BEHANDLUNG ............................................................................................................................ 13
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AD(H)S – Bericht
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AD(H)S – Bericht
Univ.-Prof. Dr. Gabriele Fischer; Univ.-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Wien,
Mitglied des OSR
gabriele.fischer@meduniwien.ac.at
priv. Doz. Dr. Luise Poustka; Zentralinstitut für seelische Gesundheit- Mannheim
luise.poustka@zi-mannheim.de
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AD(H)S – Bericht
2. Problemdarstellung
Aufgrund der steigenden Verordnungszahlen von Methylphenidat sowie Atomoxetin zur
Behandlung von Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitäts-Störung AD(H)S wurden seitens des
Obersten Sanitätsrates die Mitglieder des OSR, Frau Univ.-Prof. Dr. Gabriele Fischer und Frau Mag.
Ulla Konrad, beauftragt, diese Problematik mit Unterstützung einer Expertengruppe
(Arbeitsgruppe AD(H)S) näher zu beleuchten und Lösungsvorschläge zu erarbeiten.
3. Ätiologie
AD(H)S ist eine phänomenologische Diagnose des Verhaltens. Für die Entstehung des
Krankheitsbildes wird eine multifaktorielle Genese verantwortlich gemacht, wobei eine genetisch-
biologische, eine psychodynamische und eine soziogene Ebene zu beachten ist.
Belastende psychosoziale Bedingungen gelten allein zwar nicht als primäre Ursache von AD(H)S,
sind allerdings für die Aufrechterhaltung der Erkrankung bedeutsam, da vor allem inkonsistentes
Erziehungsverhalten die Störung nachteilig beeinflussen kann (Hackenberg, B. et al., 2012).
Weitere Risikofaktoren in Bezug auf die Eltern stellen dar: geringer Ausbildungsgrad, niedriger
sozio-ökonomischer Status, Alkoholprobleme und Alleinerziehende (Bundesärztekammer, 2005).
4. Epidemiologie
Für Österreich liegt keine umfassende epidemiologische Studie zu AD(H)S im Kindes- und
Jugendalter vor.
Rund zwei Drittel der betroffenen Kinder leiden auch als Erwachsene unter AD(H)S.
Etwa 2,5 bis 4,0 Prozent aller Erwachsenen weisen die Diagnose AD(H)S auf (Hackenberg, B. et al.,
2012).
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AD(H)S – Bericht
5.1. Definition
Nach derzeit anerkannter Definition „liegt AD(H)S vor, wenn unaufmerksames und impulsives
Verhalten mit oder ohne deutliche Hyperaktivität ausgeprägt ist, nicht dem Alter und
Entwicklungsstand entspricht und zu Störungen in den sozialen Bezugssystemen, der
Wahrnehmung und im Leistungsbereich von Schule und Beruf führt“ (Leitlinien der Deutschen
Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin sowie der AG AD(H)S der Kinder- u.
Jugendärzte e.V., 2007) bzw. „sind Hyperkinetische Störungen durch ein durchgehendes Muster
von Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität gekennzeichnet, das in einem für den
Entwicklungsstand des Betroffenen abnormen Ausmaß situationsübergreifend auftritt“ (Deutsche
Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a., 2007).
Für detaillierte Inhalte das Störungsbild betreffend wird auf die gängigen Lehrbücher bzw.
bekannten Diagnoseklassifikationssysteme wie DSM-IV oder ICD-10 verwiesen.
In diesem Papier war es gemeinsames Ziel Kriterien zu definieren, welche für das im ambulanten
Bereich diagnostische und therapeutische Vorgehen als institutionsübergreifender Standard
empfohlen werden können.
Dem Störungsbild der AD(H)S liegt oftmals eine multifaktorielle Genese zugrunde und das Bild
selbst weist keine scharfe und sichere Entität auf. Darüber hinaus gibt es eine Fülle von
Differenzialdiagnosen, welche eine phänomenologisch ähnliche Symptomatik hervorrufen
können. Eine gesicherte Diagnose ist daher nur auf Grundlage einer mehrdimensionalen
Abklärung im Sinne einer multiaxialen Diagnostik zu stellen.
Biologische (somatische)
psychische und
soziale
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AD(H)S – Bericht
Für die ordnende Zusammenschau der erhobenen Befunde sowie der div. diagnostischen Aspekte
der einzelnen involvierten Berufsgruppen und für die sich daraus ableitende Diagnosestellung ist
es sinnvoll im Rahmen eines „Gesamtbehandlungsplans“ eindeutig die Rolle der Fallführung
(„case-manager“) zu definieren. Dieser ist nunmehr der zentrale Befundempfänger sowie
Kommunikator und Koordinator der weiteren Maßnahmen sowohl im interdisziplinären Diskurs
wie auch gegenüber Eltern und betroffenem Kind.
5.2. Durchführung
Für die Diagnose (Anamnese und Durchführung der Testbatterie) und eine therapeutische
Intervention besteht die Notwendigkeit einer genauen Abklärung. Für eine solche ist auf klinisch-
psychologischer Ebene ein Ausmaß von 2-3 x je 2 Stunden zu veranschlagen, für die medizinische
Abklärung ein Zeitaufwand von 1-2 Stunden einzuplanen.
1. Die Grundlage der Diagnostik (aller Altersgruppen) ist das Erheben einer ausführlichen
Anamnese von Eltern und Kind bzw. Jugendlichem im Sinne von:
Familienanamnese
Suchtanamnese
Die Erhebung der Kernsymptomatik mittels standardisierter Fragebögen ist jedoch kein
ausreichendes Instrument um alleine daraus eine Diagnose zu begründen. Ihr Wert liegt v.a. in
der Erfassung von situationsübergreifenden oder variierenden Umfeldbelastungen, in der
Erfassung des jeweiligen Schweregrades einzelner Symptome und Symptomcluster und
dementsprechend vor allem auch im Bereich der Verlaufsbeobachtung.
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AD(H)S – Bericht
Medizinisch:
o Kinderärztlich-interne Untersuchung
Psychologisch:
Pädagogisch:
Diese Zuordnung von Inhalten zu Berufsfeldern ist keineswegs als strenge Grenzziehung zu
verstehen. Die Zuständigkeitsgrenzen der Professionen für einzelne Untersuchungsinhalte sind
vielfach überschneidend. Jede Person möge daher den Teil zur Diagnostik beitragen, in welchem
sie den Zugang zum Kind und das nötige Fachwissen hat.
Form, Methodik und Spektrum der Untersuchungen wie auch die empfohlene Therapie müssen
dem Lebensalter des Kindes entsprechend angepasst werden. In verschiedenen
Entwicklungsphasen sind unterschiedliche Aspekte einer möglichen Symptomentstehung zu
beachten und daher entsprechend altersadäquate diagnostische Instrumente zu verwenden.
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AD(H)S – Bericht
Neben der obligaten Untersuchung des allgemeinen Entwicklungs- u. Begabungsprofils sowie der
Exploration der Familiendynamik für jede Altersstufe (siehe oben) ist für Säuglinge und
Kleinkinder schwerpunktmäßig an videogestützte Interaktions- und/oder Bindungsdiagnostik
sowie psychosoziale Stress- u. Traumanamnese; für Vorschulkinder vorrangig an
Bindungsdiagnostik, Beachtung der Peer-Group-Dynamik (inkl. soziale und/oder kognitive Unter-
oder Überforderung im Kindergarten, Geschwisterdynamik, etc.), Diagnostik von SI – Störung
(Sensorische Integrationsstörung, Wahrnehmungsverarbeitungsstörung) sowie (projektive)
Persönlichkeitsdiagnostik; und für Schulkinder: v.a. an Teilleistungsdiagnostik, (projektive)
Persönlichkeitsdiagnostik sowie an soziale und/oder kognitive Unter- oder Überforderung in der
Schule inkl. Gruppendynamik zu denken bzw. entsprechende Verfahren zum Einsatz zu bringen.
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
Schilddrüsenüberfunktion
Eine weitere wesentliche Fragestellung ist die Einordnung einer spezifischen Symptomatik als
komorbide Störung. Nach verschiedenen Untersuchungen ist AD(H)S in bis zu 2/3 der Fälle von
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AD(H)S – Bericht
Aggressive Verhaltensstörung
Kindliche Depression
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
Neben diesem umfassenden Diagnosespektrum auf der Seite des Kindes darf eine häufige - leider
aber auch häufig zu gering beachtete - Dimension als Ursache für ungewöhnliches kindliches
Verhalten nicht übersehen werden: psychosoziale Belastung oder schwere (evtl. chronische)
psychische oder körperliche Erkrankung von Mutter oder Vater oder anderen nahen
Bezugspersonen im Rahmen der Achse 5 des multiaxialen Klassifiktionsschemas. Nach
Beeinträchtigung der psychischen und/oder organischen Gesundheit (wie AD(H)S im
Erwachsenenalter, Angst- oder Zwangserkrankung, Depression, chronische oder
lebensbedrohliche somatische Erkrankung, etc.) und psychosozialen Belastungen (wie Armut,
Arbeitslosigkeit, Streit- oder Krisensituation in der Partnerschaft, etc.) soll im Rahmen der
Anamnese immer gezielt gefragt werden, da eine solche Problematik sonst oftmals nicht bekannt
wird.
Gängige Diagnosemanuale wie DSM IV und ICD-10 berücksichtigen die Möglichkeit einer
Persistenz der AD(H)S Symptomatik bis ins Erwachsenenalter, sind jedoch für die
differentialdiagnostische Abklärung bei erwachsenen Patienten derzeit nur teilweise hilfreich, da
sie die altersassoziierten Veränderungen der klinischen Symptomatik nicht berücksichtigen. Eine
Spezifizierung der Diagnosekriterien für das Erwachsenenalter sind im DSM V zu erwarten (Details
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AD(H)S – Bericht
Erster und zentraler Teil der differential-diagnostischen Abklärung bei Erwachsenen ist eine
komplette psychiatrische Längsschnitt- und Querschnittuntersuchung inkl. eines ausführlichen
AD(H)S-spezifischen diagnostischen Interviews. Speziell zu diesem Zweck stehen mittlerweile
semi-strukturierte Interviews (DIVA-Interview, CAADID-Interview) zur Abklärung aktuell
vorhandener AD(H)S-Symptome und retrospektiver Erhebung von bereits in der Kindheit
vorhandenen AD(H)S-Symptomen zur Verfügung. Weitere wichtige psychiatrische
Abklärungsschritte sind die Erhebung von Fremd- (mit einer dem Patienten nahestehenden
Person, die möglichst auch Auskunft über evtl. AD(H)S-Symptome im Kindesalter geben kann) und
Familienanamnese. Die neuro-psychologische Untersuchung von Exekutivfunktionen,
Konzentration und Aufmerksamkeit/ erhöhter Ablenkbarkeit kann ebenfalls wertvolle
diagnostische Hinweise liefern.
Angststörungen
Schlafstörungen
Geschlechterdifferenzen:
Während AD(H)S im Kindesalter international deutlich seltener bei Mädchen als Buben
diagnostiziert wird (Geschlechterverhältnis Mädchen zu Buben ca. 1:5), verändert sich diese Ratio
auf ein Verhältnis von 1:1 bei erwachsenen AD(H)S PatientInnen. Dabei spielen vermutlich u.a.
folgende Faktoren eine Rolle:
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AD(H)S – Bericht
Das Symptomspektrum dürfte bei Mädchen eher in den Bereich der internalisierenden
Symptome (Unaufmerksamkeit, erhöhte Ablenkbarkeit) verschoben sein.
6. Behandlung
Analog zum mehrdimensionalen Ansatz der Diagnostik ist auch die Behandlung umfassend d.h.
unter Einbeziehen aller drei o.g. Dimensionen zu gestalten.
Die Effektivität der kognitiven Verhaltenstherapie ist vielfach repliziert. Im Rahmen der
individuellen Indikationsstellung sind auch psychodynamische Methoden der Psychotherapie
anzuwenden.
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AD(H)S – Bericht
6.3.1.1. THOP
Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Verhalten (Döpfner, M.
et al., 2007). Das Eltern-Kind-Programm für Kinder von 7-12 Jahren besteht aus 21
Behandlungsbausteinen, in denen die familienzentrierte und die kindzentrierte Intervention
miteinander verknüpft werden. Die 21 Therapiebausteine umfassen folgende Themen:
Die ersten vier Bausteine dienen der Problemdefinition, der Entwicklung eines Störungskonzeptes
und der Behandlungsplanung. Im zweiten Themenabschnitt steht die Förderung positiver Eltern-
Kind-Interaktionen und der Eltern-Kind-Beziehung im Vordergrund. Die Einheiten des dritten
Themenkomplexes sollen den Eltern helfen, oppositionelles und impulsives Verhalten durch
pädagogische Maßnahmen besser zu bewältigen. Sie lernen ihrem Kind wirkungsvolle
Aufforderungen zu geben, sich bei angemessenem Verhalten des Kindes ihm positiv zuzuwenden
und bei problematischem Verhalten angemessene negative Konsequenzen zu setzen.
Das Spieltraining dient bei Vorschulkindern zur Verbesserung der Spielintensität und Spiel-
produktivität. Zur Förderung von reflexivem, planvollem Arbeitsverhalten wird das Selbst-
instruktionstraining eingeübt. Maßnahmen die zur Verminderung von Problemen während der
Hausaufgabenzeit und auf die Übertragung der Interventionen auf außerfamiliäre Situationen
zielen, werden in weiteren Bausteinen erarbeitet. Abschließend wird besprochen, wie in der
Zukunft Probleme alleine bewältigt werden können.
6.3.1.2. PEP
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AD(H)S – Bericht
6.3.1.3. ATTENTIONER
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AD(H)S – Bericht
6.3.3. Medikamentöse Behandlung (für Kinder > 6 Jahre, darunter nur in Ausnahmefällen)
Für den Großteil hyperkinetischer Kinder ist eine nicht-medikamentöse Intervention die Methode
der ersten Wahl. Sollte es durch diese Maßnahmen nicht zu einem ausreichenden Erfolg kommen,
ist in der Abfolge der therapeutischen Angebote als vierter Schritt auch eine medikamentöse
Therapie zu erwägen.
Vor einer medikamentösen Behandlung des AD(H)S sind folgende Abklärungen erforderlich:
gezielte Frage nach Tics oder Anfallsleiden sowie kardialen Vorerkrankungen oder
Belastungen in der Familie (EEG oder EKG bei spezifischer Fragestellung)
Es sollte im Rahmen aller diagnostischen und therapeutischen Schritte, besonders aber zu Beginn
und im Verlauf einer medikamentösen Therapie eine Selbstverständlichkeit sein auch mit dem
Kind altersadäquat befragende und aufklärende Gespräche zu führen (warum es kommt, wie
seine Problemsicht ist, ob und was es selbst verändern will, weshalb es ein Medikament nehmen
soll, welche Wirkung und Nebenwirkung dieses evtl. haben kann, etc.). Diese Verantwortung ist
nicht an die Eltern delegierbar.
Die Behandlung kann meist ausreichend erfolgreich ambulant durchgeführt werden. Eine
teilstationäre oder stationäre Therapie kann in folgenden Fällen indiziert sein:
bei mangelnden Ressourcen in der Familie oder im Kindergarten bzw. in der Schule oder
bei besonders ungünstigen psychosozialen Bedingungen;
Ein gut funktionierendes und mit adäquaten personellen und infrastrukturellen Ressourcen
ausgestattetes Netzwerk ist unabdingbar für die Diagnostik und Behandlung von AD(H)S bzw.
Kindern u. Jugendlichen mit hyperaktivem Verhalten!
Aufgabe dieses Netzwerkes aller mit dem Kind befassten Professionen ist es einen integrativen
Behandlungsplan zu erstellen und diesen in regelmäßigen Abständen gemeinsam mit Eltern und
Kind zu evaluieren. Die dafür nötigen Versorgungsstrukturen weiter auszubauen und noch
bestehende Versorgungslücken zu schließen, bleibt ein wesentliches Ziel im Bereich der Kinder-
und Jugendmedizin in Österreich.
Der 2010 in Deutschland erstellte Health Technology Report zum Thema AD(H)S im
Erwachsenenalter (Benkert et al., 2010) hält zur Frage der frühzeitigen Intervention folgendes
fest:
„Ein früher Beginn einer (medikamentösen) Behandlung der AD(H)S ist gesundheitsökonomisch
und –politisch höchst relevant aufgrund:
Frühzeitige Diagnostik und adäquate Therapie unter Einbeziehung aller o.g. therapeutischen
Möglichkeiten von Kindern und Jugendlichen mit AD(HS) hat daher vor allem auch unter dem
Aspekt der Prophylaxe späterer Komplikationen und Folgeschäden erhebliche Bedeutung für die
Betroffenen selbst, aber auch für die Gesellschaft im Sinne der Vermeidung von Folgekosten
(Benkert et al., 2010), (Nutt et al., 2007).
Hierzu sollten alle Arzneimittelstärken aller Anbieter gleichermaßen im Sinne einer ungestörten
medikamentösen Therapie ohne erzwungenen Präparatewechsel oder Mehrfacheinnahmen
verschreibbar sein.
Die Behandlung der AD(H)S beim Erwachsenen fußt auf vier Säulen:
4. medikamentöse Therapie
Für die medikamentöse Behandlung der AD(H)S bei Erwachsenen liegen mittlerweile ebenfalls
zahlreiche kontrollierte klinische Studien für Stimulantien (Methylphenidat, z.B. Concerta®,
Ritalin®, Ritalin LA®, Medikinet®) und Atomoxetin (Strattera®) vor. In Österreich ist derzeit jedoch
kein Medikament zur Behandlung der AD(H)S im Erwachsenenalter zugelassen. Die
Weiterverordnung von Atomoxetin und Methylphenidat bei Erwachsenen ist zugelassen, wenn
die medikamentöse Therapie vor dem 18. Lebensjahr begonnen wurde.
Die Behandlung der AD(H)S im Erwachsenenalter wird maßgeblich vom Vorliegen psychiatrischer
Begleiterkrankungen (affektive Störungen, Angsterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen,
Suchterkrankungen, etc.) und deren Schweregrad beeinflusst und erfordert eine Hierarchisierung
der klinischen (Behandlungs-)Notwendigkeiten bzw. individuell abgestimmte
Kombinationstherapien.
Zur Behandlung der AD(H)S ist in jedem Lebensalter ein multimodales Therapiekonzept indiziert,
das beispielsweise Psychoedukation, störungs-spezifische Psychotherapie und medikamentöse
Therapieoptionen umfasst.
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AD(H)S – Bericht
7.1. Hintergrund
Nach einer Anfrage des Bundesministeriums für Gesundheit beim Hauptverband der
österreichischen Sozialversicherungsträger und in Folge bei den Sozialversicherungsträgern
wurden patientenbezogene aggregierte Daten zur medikamentösen Versorgung mit Präparaten,
die die Wirkstoffe Methylphenidat bzw. Atomoxetin enthalten, zur Verfügung gestellt.
Um den Fehler, der durch die nicht verfügbaren Daten einzelner Sozialversicherungsträger für die
Jahre 2008 und 2011 und die Überlagerung durch die Mehrfachversicherung der betroffenen
Patienten (in der Regel Kinder) zu eliminieren, wurden alle Abfragen nach Exklusion der Daten der
BVA, SVA und VAEB wiederholt.
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AD(H)S – Bericht
7.3. Analysenergebnisse
Die Analyse inkludiert die Daten von 13.699 Patienten, die zwischen 2008 und 2011 mit dem
Wirkstoff Methylphenidat oder Atomoxetin auf Kosten eines Sozialversicherungsträgers versorgt
wurden. Davon haben 1.012 Patienten = 7,4 % bei mehreren Sozialversicherungsträgern AD(H)S-
Medikamente bezogen. Durch die Verfügbarkeit pseudonymisierter Daten konnte eine
fehlerhafte Darstellung einer Mehrfachzählung von identen Patienten vermieden werden.
Bei alleiniger Berücksichtigung der Daten der GKK + SVB erhielten ein Medikament im Jahr
Aus dem Verhältnis der Patientenzahlen von 2009 und 2010 mit/ohne Berücksichtigung der Daten
von BVA, SVA, VAEB ergibt sich, dass hochgerechnet 2011 zwischen 8.233 und 8.265 Patienten
therapiert wurden.
Tabelle 1: Personen, die auf Kosten eines SV-Trägers mit Methylphenidat bzw. Atomoxetin versorgt wurden,
gegliedert nach Alter und Geschlecht
Tabelle 2: Personen, die im Jahr 2011 auf Kosten eines SV-Trägers mit Methylphenidat bzw. Atomoxetin versorgt
wurden
450
400
350
Anzahl
300
250
200
150
100
50
0
1 11 21 31 41 51 über 60
Alter
Tabelle 3: Personen, die auf Kosten eines SV-Trägers mit Methylphenidat bzw. Atomoxetin versorgt wurden,
gegliedert nach Altersdekaden
51-60 Jahre 1% 5%
Quelle: Erhebung der Versorgungsdaten, Reichardt, BGKK 2012
über 60 Jahre 1% 3%
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AD(H)S – Bericht
Tabelle 4: Personen, die auf Kosten eines SV-Trägers mit Methylphenidat bzw. Atomoxetin versorgt wurden,
geschlechtsspezifische Gliederung im Vergleich zum Vorjahr
Patientenentwicklung
Jahrestrend m w
2009-2010 + 8% + 15%
2010-2011 - 1% + 4%
Anzahl der medikamentös versorgten Patienten in Bezug auf die Gesamtbevölkerung in den
Altersgruppen 1-10 bzw. 11-20 Jahre für das Jahr 2010:
Tabelle 5: Personen, die auf Kosten eines SV-Trägers mit Methylphenidat bzw. Atomoxetin versorgt wurden, in Bezug
auf die Zahl der Gesamtbevölkerung in den Altersgruppen 1-10 bzw. 11-20 Jahre für das Jahr 2010
Altersdekade Altersdekade
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AD(H)S – Bericht
7.4. Diskussion
Datengrundlage
Die Erhebung entspricht de facto einer Vollerhebung für Österreich im niedergelassenen Bereich
und enthält die Abrechnungsdaten von über 98 % der Einwohner. Nicht inkludiert in die Analyse
sind die Versicherten der Betriebskrankenkassen mit ca. 50.000 Versicherten, die Versicherten der
Krankenfürsorgeanstalten und die Nichtversicherten.
Patientenanzahl
Die Patientenzahlen zeigen mit 20 % im Jahr 2009 einen ungewöhnlich hohen Anstieg, der sich in
den Folgejahren abflacht. Dies könnte mit der Aufnahme der retardierten Formen von Ritalin in
den Erstattungskodex im Jahr 2009 zusammenhängen, unter der Annahme, dass mit der
Markteinführung ein verstärktes Marketing des Anbieters verbunden war.
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AD(H)S – Bericht
Die folgende Grafik zeigt die Summe der Verordnungen (VO) von Methylphenidat oder
Atomoxetin durch Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner (AM) bzw. Fachärzte und
Fachärztinnen (FA) im Jahr 2010 aufgegliedert nach Alterskohorten:
Tabellen 8 und 9: Verordnungen von Methylphenidat bzw. Atomoxetin durch Allgemeinmedizinerin bzw. Fachärztin
im Jahr 2010 aufgegliedert nach Alterskohorten
0-4 Jahre 14 24
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AD(H)S – Bericht
Medikinet 5, 10, 20 mg -
MEDICE-DE/01 SG national 08.02.2007
Tabletten
1
Suchtgift
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AD(H)S – Bericht
Fachwissen in der Behandlung von AD(H)S verfügt. Eine Diagnose sollte gemäß der DSM-IV-
Kriterien oder ICD-10-Klassifikation erfolgen.
8.2. Marktdaten
Methylphenidat:
Die Abgabemengen von Methylphenidat weisen in den Jahren 2009 bis 2011 steigende Tendenz
auf. Marktführend ist hier Ritalin. Bemerkenswert ist insbesondere der Trend zur Verordnung der
höheren Dosierungsformen.
Atomoxetin:
8.3. Fallmeldungen
Dem Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) liegen im Mai 2012 insgesamt 6
Fallmeldungen zu Ritalin-hältigen Arzneispezialiäten aus Österreich vor. Betroffen waren Kinder
und Jugendliche im Alter zwischen 10 und 19 Jahren. Alle Reaktionen waren als erwartet gemäß
Fachinformation einzustufen.
Im Zusammenhang mit der Anwendung von Atomoxetin liegen insgesamt 28 Fallmeldungen vor.
Betroffen waren Patienten im Alter zwischen 7 und 55 Jahren. Lediglich 2 dieser Fälle waren als
unerwartet gemäß Fachinformation einzustufen: Es handelte sich um periphere
Durchblutungsstörungen, die ambulant therapiert wurden. Der Ausgang wurde als komplette
Erholung berichtet.
In Relation zu den steigenden Verordnungs- bzw. Abgabemengen ist die Fallzahl für beide
Wirkstoffe vergleichbar gering und über den Zeitraum 2009 bis 2011 fallend.
8.4. Zusammenfassung
Aus den dem Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) gemäß Arzneimittelgesetz
und Pharmakovigilanzverordnung zur Kenntnis gebrachten unerwünschten Wirkungen von
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AD(H)S – Bericht
Methylphenidat und Atomoxetin lässt sich derzeit kein Sicherheitssignal ableiten, das akute
regulatorische Maßnahmen erfordern würde, die Fach- und Gebrauchsinformationen aller
Präparate entsprechen dem europäischen Standard.
Ein qualitätsvoller Umgang durch z.B. regelmäßige Evaluation des Therapieverlaufs ist auch im
Laufe der langfristigen Weiterbehandlung unabdingbar.
Weiters wäre ein Fokus auf die Bewusstseins- und Fortbildung der Ärzteschaft auch im Hinblick
auf AD(H)S Patienten im Erwachsenenalter zu legen.
Eine gezielte und spezifische Information der von der Thematik betroffenen Berufsgruppen über
Häufigkeit und Therapie von AD(H)S wird empfohlen.
Für Gruppen mit speziellen Risikofaktoren soll eine zielgerichtete Prävention mit speziellen
Therapiezugängen erfolgen.
Die Empfehlungen stellen einen Beitrag zur Umsetzung der Kindergesundheitsstrategie des
Bundes dar und werden mit den dort gesetzten Maßnahmen verknüpft.
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AD(H)S – Bericht
10. Abkürzungsregister
AID 2 Adaptives Intelligenz Diagnostikum 2
AM Allgemeinmediziner
CAT Kinder-Apperzeptions-Test
DISYPS Diagnostik-System für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-
10 und DSM-IV
FA Facharzt
FAST Familiensystemtest
FWI-Test Farbe-Wort-Interferenztest
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AD(H)S – Bericht
KVT Konzentrations-Verlaufs-Test
SET Satzergänzungstest
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AD(H)S – Bericht
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