Sie sind auf Seite 1von 24

~ J.B.

METZLER
II

Sammlung Metzler
Band 290
III

Dagmar Lorenz

Wiener Moderne
2., aktualisierte und überarbeitete Auflage

Verlag J.B. Metzler Stuttgart · Weimar


IV

Der Autor

Dagmar Lorenz, Studium der Sinologie und Germanistik; Promotion über


Jean Améry; arbeitet u.a. als Journalistin, Autorin und Vortragsrednerin. Bei
J.B. Metzler ist erschienen »Journalismus«, SM 337, 2002.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-476-12290-2
ISBN 978-3-476-05082-3 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-05082-3

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede
Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne
Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für
Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2007 Springer-Verlag GmbH Deutschland


Urspr ünglich erschienen bei J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl
Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2007
www.metzlerverlag.de
info@metzlerverlag.de
V

Vorwort zur zweiten Auflage

Die erste Auflage dieses Bandes erschien 1995. Damals konzen-


trierte sich das Interesse der Forschung vorwiegend auf die Fra-
ge, welche Faktoren es waren, die in Wien um 1900 jenes vielbe-
schworene »kreative Milieu« hervorgebracht hatten, das gemeinhin
mit »Moderne« assoziiert wird. Zwölf Jahre später ist festzustellen,
dass sich inzwischen nicht nur eine schier überbordende Vielzahl
von Publikationen und Forschungsprojekten mit dem Thema der
Wiener Moderne auseinandersetzt – auch die Fragestellung, so hat
es den Anschein, hat sich verlagert. Etwas grobschnittartig könnte
man formulieren: Nicht mehr die Innovation – etwa in Bezug auf
die »Neuheiten« sprachlich-literarischer Gestaltung – steht zur Zeit
im Fokus des allgemeinen Interesses, sondern der Rückgriff auf
Traditionen, nicht mehr das literarisierte isolierte »Ich«, sondern
die Konstruktion einer »Identität«, nicht die vielzitierte »Sprach-
krise«, sondern die Poetologie als Bewältigungsstrategie, nicht
»Wien« als geografischer Ort, sondern Wien als Bezugspunkt ei-
ner zentraleuropäischen Moderne – und als eine mit Berlin kon-
kurrenzierende Auffassung von Moderne. Und nicht zuletzt ist es
auch die Frage nach der jeweiligen Funktion, die Moderne-Bilder,
Topoi, Poetologien und Identitätskonstruktionen innerhalb eines
weiter gefassten kulturellen ›Feldes‹ erfüllen, die eine jüngere For-
schung umtreibt.
All dies bot genügend Stoff für eine Neubearbeitung. Dieser
Band ist – wie auch sein Vorgänger – als Einführung konzipiert.
Insofern können natürlich nicht sämtliche Aspekte dieses kom-
plexen Themas abgehandelt werden. Dennoch ist zu hoffen, dass
sich das Büchlein als nützliches Arbeitsinstrument erweist. Wenn
es darüber hinaus noch Anregungen zum Weiterlesen und Weiter-
denken lieferte, wäre sein Zweck vollkommen erfüllt.
VII

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung: Warum Wien? Anmerkungen zu einer


Geographie der Moderne . . . . . . . . . . . . . . 1
Zum Stand der aktuellen Diskussion . . . . . . . . . . 3
Wien und Berlin: Moderne-Konstruktionen
und metropole Mythen . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Wien als gesellschaftlich-kulturelle Gesamtsituation
um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Gesellschaftliche Krisensituation: Politik als Kunst . . . . 19
»Theorien der Relativität« . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Zentren geistigen Austausches, Orte der Wiener
Kreise: Salon und Kaffeehaus . . . . . . . . . . . . . . 28
Das moderne Feuilleton und der Wiener
Pressebetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

2. Realismus, Naturalismus und der ›literarische


Generationenwechsel‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
2.1 Der Gründungsmythos der Wiener Moderne:
Hermann Bahr und seine publizistische Strategie . . 43
2.2 Die junge Literatengeneration Wiens und der
Naturalismus: Die Zeitschriften Moderne Dichtung/
Moderne Rundschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Erster Auftritt von Jung-Wien: Die Ibsen-Feier . . . . . 49
»Viel Beifall, unbedeutender Abend«: Der Verein
›Freie Bühne‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Abschied von den ›Naturalisten‹ . . . . . . . . . . . . . 52
2.3 Die Moderne des Hermann Bahr . . . . . . . . . . . 54
»Seelenstände«: Bahrs Lektüreerfahrungen in Paris . . . . 55
»Überwindung« als Selbstzweck oder Funktionalisierung
des »Moderne«-Begriffs? . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
2.4 Die Rezeption der Literatur des europäischen
»Fin de Siècle« durch die Wiener Moderne . . . . . . 60
Décadence und die Haltung des Dilettanten . . . . . . . 61
Die ästhetizistische Welt der Bezüge . . . . . . . . . . . 64
Anverwandlungen und Umdeutungen . . . . . . . . . . 66
VIII Inhaltsverzeichnis

3. Das »Junge Wien«: Fragestellungen einer


Avantgarde-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Fluch und Erbe des Historismu s . . . . . . . . . . . . 70
Flüchtige Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Ästhetizistische Strategien beim frühen Hofmannsthal . 79
Anatol und seine Gefährten – die einsamen
Erlebens-Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Die Verwandlung des Raumes: Gartenexistenzen . . . 84
Jung-Wiens Versuche der Überwindung
des ästhetizistischen Dilemmas. . . . . . . . . . . . . 86
Exkurs: Der Moderne als Epigone: Felix Dörmann . . . 89
3.1 Organisationsformen der Desorganisierten:
Das Junge Wien als Gruppe . . . . . . . . . . . . 91
›Jung-Wien‹ versus George-Kreis . . . . . . . . . . . . 94
Herkunft der Jung-Wiener: Stereotype und
Zuordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Die ›Modernen‹ und die ›Nervösen‹: Hofmannsthal,
Schnitzler, Andrian, Beer-Hofmann und Salten . . . . . 101
Zeitschriftengründungen im Umkreis von ›Jung-Wien‹ . 106
Das Verlags- und Theaterwesen im Zeichen
›Jung-Wiens‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
3.2 Das »unrettbare Ich« und die Psychologie:
Bewusstseins-Krisen bei Schnitzler,
Hofmannsthal, Andrian und Beer-Hofmann . . . . 111
Mach und ›Jung-Wien‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 112
›Jung-Wien‹ und Sigmund Freud . . . . . . . . . . . 117
Literatur und Psychologie – eine »Wechselwirtschaft« . . 121
Freud und Schnitzler . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
»Literarische Psychologie« oder psychologische Literatur? . 128
Narziss im Garten Österreichs: Identitätsproblematik
bei Leopold von Andrian . . . . . . . . . . . . . . . 133
Das träumende Ich und der Tod: »Mortifikationen«
und Belebungsversuche bei Richard Beer-Hofmann . . 136
Das Ornament als Identitätssersatz und poetisches
Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
Jüdische Identitätskonstruktion oder moderne Aporie? . 143
Leutnant Gustl: ›Die Identität auf der Couch‹ . . . . . . 145
3.3 Die Krise der Rollenspiele:
Geschlechterstereotype und Moderne-Identitäten . 149
Moderne Frau und ›süßes Mädel‹ . . . . . . . . . . . 152
Identitäten im freien Fall von Schein und Eigentlichkeit 156
Mechanismen des Rollenspiels: Experiment, »Proverb«,
barockes Welttheater . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
Inhaltsverzeichnis IX

3.4 Sprachkrise oder neue Poetologie?


Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief« (1902). . . . 163

4. Außenseiter in der Wiener Moderne:


der Kritiker (Karl Kraus) und das Idol
(Peter Altenberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
4.1 Literatur im Zeichen des Ethischen:
Karl Kraus und ›Jung-Wien‹ . . . . . . . . . . . . 169
»Die demolirte Literatur« . . . . . . . . . . . . . . . 172
Ornamentkritik als moralische Haltung . . . . . . . . 176
Ritter einer asketischen Moderne oder Poseur
des Ursprungs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
4.2 Dichtung und Projektion: Peter Altenberg
als Schriftsteller und Idol . . . . . . . . . . . . . . 184
Altenbergs Textformen: Skizze, Prosagedicht, »Extrakt« 188
Moderne Praktiken: Altenberg als Dadaist avant
la lettre? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

5. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
5.1 Werkausgaben und Primärtexte/Dokumente . . . . 195
Briefe, Tagebücher, Erinnerungen . . . . . . . . . . . 198
Dokumente/Primärtexte in Sammelwerken . . . . . . . 198
5.2 Nachschlagewerke, Bibliographien, Periodika
und Buchreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
Bibliographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Buchreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
5.3 Sekundärliteratur
(Sammelbände, Monographien, Aufsätze) . . . . . 202

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
1

1. Einleitung: Warum Wien?


Anmerkungen zu einer Geographie
der Moderne

Was bedeutet eigentlich der Terminus Wiener Moderne ? Hätte sich


dieser Begriff nicht längst als allgemein üblicher Terminus in den
Literatur- und Kulturwissenschaften eingebürgert, so geriete man
angesichts dieser Frage unweigerlich in eine ähnliche Lage wie der
bedauernswerte Lord Chandos des ›Wiener Modernen‹ Hugo von
Hofmannsthal, dem die »mit schlafwandelnder Sicherheit« geäußer-
ten Begriffe und Urteile seiner Umgebung plötzlich »so unbeweisbar,
so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich« erschienen (s. Kap. 3.4).
»Löcherig« allemal ist die Bestimmung des Gegenstandes, den dieser
Band behandelt. So wirft die anfangs gestellte Frage nach dem Titel
des Bandes immer weitere Fragen auf: diejenige nach einer brauch-
baren Definition von ›Moderne‹ etwa, oder die Frage, warum zwar
von einer Wiener Moderne, aber so gut wie nie etwa von einer
Pariser Moderne die Rede ist – obwohl Paris doch unbestritten als
›die‹ herausragende europäische Metropole literarisch-künstlerischer
Moderne-Entwicklungen und Programmatiken gilt. Ob Paris, Wien
oder Berlin: Was die Rede von »der Moderne« in jedem Falle prob-
lematisch erscheinen lässt, ist ihre begriffliche Unschärfe.
In seinem Rückblick auf jene Fragen, die während des zehnjähri-
gen Bestehens des an der Karl-Franzens-Universität Graz eingerich-
teten »Spezialforschungsbereichs Moderne – Wien und Zentraleu-
ropa um 1900« bearbeitet wurden, nennt Moritz Csáky gleich vier
der dort diskutierten Modernekonzepte (Csáky 2004a, 2–10; vgl.
auch Senarclens de Grancy/Uhl 2001). Es ist dies einmal ein Begriff
von Moderne als Prozess, was bedeutet: In Anlehnung an soziolo-
gische, historische und philosophische Perspektiven, wie sie etwa
bei Ulrich Beck, Jürgen Habermas und Zygmunt Baumann auf-
tauchen, wird Moderne als intellektuelles und sozio-ökonomisches
Phänomen im Gefolge von Neuzeit und Aufklärung begriffen. Eine
zweite Definition widmet sich der Moderne als zeitlich abgrenzba-
re Epoche der Jahrzehnte um 1900. Drittens, so Csáky, gelte die
Moderne »als literarisch-künstlerisches Phänomen«. Und schließlich
erwähnt er noch »die Problematisierung von Moderne als reflexives
Konstrukt« (ebd., 2f.).
Letztere Definition fußt gemeinhin auf der Überzeugung, dass
Moderne weder inhaltlich, noch als Epochenbegriff innerhalb der
üblichen germanistischen Periodisierungsschablonen definiert wer-
2 Einleitung: Warum Wien?

den kann (vgl. Zelle 1999, 497ff.). Folgt man etwa Hans Robert
Jauß, so wäre allenfalls von historischen Befunden einer sich ständig
überbietenden Epochenstruktur zu sprechen, deren Eigenart darin
besteht, dass jede »modernité« zur »antiquité« werden muss (Jauß
1989). Dem entsprechend ist für Lothar L. Schneider die Moderne
eine »zirkuläre Figur«, denn:
»Modernität ist kein Sachverhalt, sondern eine Relation, die im Urteil über
das Objekt ein Urteil über das Subjekt impliziert und dabei den Modus ih-
rer Relationierung beschreibt« (Schneider 1999, 235).

Es kennzeichnet indes zugleich Charme und Vertracktheit unseres


Themas, dass sowohl die Definition einer Moderne als Epoche, als
auch die Problematisierung dieser Definition bereits in den Jahren
vor 1900 von den selbsternannten Protagonisten jener Moderne
formuliert wurde. So stellte anno 1888 der Literaturhistoriker Eu-
gen Wolff in einem programmatischen Artikel »die jüngste deutsche
Litteraturströmung« ausdrücklich unter das »Princip der Moderne«
(zit. n. Kiesel 2004, 16), wobei er den Begriff »Die Moderne« in
Analogie zur Antike prägte. Allerdings meinte er damit nicht die
in diesem Band behandelten Wiener Modernen, sondern deren li-
terarische Vorgängergeneration der damals modernsten Schriftsteller
wie Heinrich und Julius Hart, Gerhart Hauptmann, Arno Holz und
Johannes Schlaf, die sich in der Berliner Freien Litterarischen Vereini-
gung »Durch!« zusammengefunden hatten und den Kern der frühna-
turalistischen Bewegung bildeten (vgl. Brauneck/Müller 1987, 58f.).
Doch schon drei Jahre später forderte Hermann Bahr, der uner-
müdliche Propagandist einer noch jüngeren Schriftstellergeneration
in Wien, nicht nur »Die Überwindung des Naturalismus«, sondern
machte damit zugleich »die von ihm propagierte Moderne zum
Konstituens zeitgenössischer Selbstreflexion« (Wunberg 2001, 187).
Bahr, der sich beeilte, nach der (vermeintlichen) Ȇberwindung des
Naturalismus« auch noch die »Überwindung« sämtlicher Nachfolge-
Ismen (Symbolismus, Neuromantik, Impressionismus etc.) auszuru-
fen (s. Kap. 2.1), vertritt für Gotthart Wunberg das ›neue‹ »Moderne-
Konzept [...] eines sich selbst reproduzierenden Systems« (ebd., 205):
»Für Bahr läßt sich die Moderne nur aus einer perpetuierten Überwindung
gewinnen. Was als die Überwindung des Naturalismus beginnt, wird zum
Verfahren gegenüber dem jeweils neu Erreichten überhaupt: der Moder-
ne« (ebd., 206).

An dieser Konzeption aber, so Wunberg, »partizipieren wir noch


heute« (ebd.). Es ist diese neuartige (und weder an einen Antike-
Anmerkungen zu einer Geographie der Moderne 3

noch an einen Entwicklungsbegriff gebundene) Moderne-Konzep-


tion, die, nach Wunberg, neben der »Einsicht in die historische
Diskontinuität« (ebd.) und dem »Verlust politischer Makrostruktu-
ren und Identifikationsmöglichkeiten« (ebd., 203) den eigentlichen
›Moderne-Charakter‹ der Wiener Moderne ausmacht.

Zum Stand der aktuellen Diskussion

Wunbergs Bestimmung des ›Moderne‹-Begriffes ist Teil einer Dis-


kussion, die in vollem Umfang erst in den 1980er Jahren einsetzte
und keineswegs zufällig mit den damaligen Debatten um Moderne
und Postmoderne einherging.
»Es scheint in manchem, als hätten die Wiener Modernen einige der großen
Themen der heutigen Postmoderne bereits vorweggenommen: den Siegeszug
und die Krise des Individualismus [...], die rückwärtsgewandte Sehnsucht
nach Mythologien, die die Gesellschaft zu erneuern vermögen [...]. Es zählt
dazu die Infragestellung der wissenschaftlichen und technischen Vernunft
[...] sowie allgemein das Nachdenken über die Stellung der modernen Kunst
zwischen Demokratisierung und elitärem Prinzip«,

erklärt Jacques Le Rider in seinem 1990 in deutscher Übersetzung


erschienenen Buch über die Wiener Moderne, das im Originaltitel
mit: Modernité viennoise et crises de l’identité überschrieben ist (Le Ri-
der 1990, 35f.). In der gesteigerten Wahrnehmungsfähigkeit, welche
die Künstler und Schriftsteller im Wien der Jahre um 1900 für die
Krisen eines beschleunigten Modernisierungsprozesses entwickelten,
erblickt Jacques Le Rider ein »verstecktes postmodernes Potential«.
Und er zitiert zustimmend Jean-François Lyotard, der im Pessimis-
mus der Wiener Modernen die Desillusionierung der eigenen Ge-
neration im Hinblick auf die »große Erzählung« wiederzuerkennen
glaubt (ebd. 1990, 38). Ausdruck dieses identifikatorischen Inter-
esses war nicht nur die Tatsache, dass mit Beginn der 1980er Jahre
eine verstärkte Forschungstätigkeit zum Thema der Wiener Moderne
einsetzte. Auch die zahlreichen wissenschaftlichen Symposien, aber
auch die populären Ausstellungen der 1980er Jahre in Wien und
Paris zum Thema ›Wien um 1900‹ sind dafür Belege. Jacques Le
Rider setzt den Beginn dieser Aktivitäten in Westeuropa mit dem
Jahre 1975 an, als eine Sondernummer der Zeitschrift Critique sich
des Themas Wien – Geburt eines Jahrhunderts (Nr. 339/340) an-
nahm, und bezeichnet die im Jahr 1986 organisierte Ausstellung
Wien 1880–1938. Die fröhliche Apokalypse im Pariser Centre Pompi-
dou als ihren vorläufigen Höhepunkt (Le Rider 1990, 9).
4 Einleitung: Warum Wien?

Spätestens seit der – erst 1984 in deutscher Sprache erschie-


nenen – Studie von Allan Janik und Stephen Toulmin über das
Wien Wittgensteins (Janik/Toulmin, dt. Erstaufl. 1984) zeichnete
sich auch in der deutschen Literaturwissenschaft ein Wandel in der
Wahrnehmung der Wiener Modernen ab. Hatte man in der For-
schung der 1960er und 1970er Jahre noch bevorzugt von der Li-
teratur ›Jung-Wiens‹, dem literarischen Impressionismus, Symbolis-
mus, oder Jugendstil gesprochen – wobei man einzelne Autoren wie
Schnitzler und Hofmannsthal je nach Belieben im Universum der
europäischen Dekadenz- und Ästhetizismus-Literatur verortete: an-
gesiedelt irgendwo zwischen Oscar Wilde und Gabriele d’Annunzio,
dem frühen Thomas Mann und Frank Wedekind, Rainer Maria
Rilke und Stefan George (vgl. z.B. Bauer 1977; Kreuzer 1975; J.M.
Fischer 1978; Rasch 1977) – so bürgerte es sich nun ein, die Wie-
ner Moderne als Gesamtheit jener geistig-kulturellen Strömungen
zu betrachten, die sich in den Jahren und Jahrzehnten um 1900
bemerkbar machten. Dabei ist festzustellen, dass die oben skizzier-
te Problematik des Epochenbegriffs ›Moderne‹ in der Forschung
zwar vielfach diskutiert wird, doch in vielen Fällen auf eine Datie-
rung bestimmter Phänomene, die der Moderne zugeordnet werden,
nicht verzichtet wird (vgl. auch Schwarz 2001, 35ff.). Die zeitlichen
Markierungen bewegen sich – je nach Blickwinkel des Verfassers
– beispielsweise zwischen 1870 und 1920 (vgl. Zeman 1989, 2),
1890 und 1914 (Shedel 2001, 101), 1890 und 1910 (Wunberg
2001, 187; Wunberg/Braakenburg 1981). Offenbar empfehlen sie
sich als brauchbare Hilfskonstruktionen – und als ein solch provi-
sorisches Gerüst möge auch die an Gotthart Wunberg orientierte
Datierung des Zeitraums von 1890 bis etwa 1910, auf die sich die
Darstellung im vorliegenden Band konzentriert, verstanden werden.
Dass die komplexen Entstehungs- und Wirkungszusammenhänge
der Wiener Moderne-Tendenzen dennoch eher als Elemente eines
Prozesses (der auch in unsere Gegenwart weist), denn als historisch
abgegrenzte Epoche aufzufassen sind, wie Moritz Csáky vorschlägt
(Csáky 2004b, 23), steht dabei außer Frage.
Im Gegensatz zur älteren Forschung, die ihre Themen noch in-
nerhalb der Grenzen des jeweiligen geisteswissenschaftlichen Faches
(Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft) abgehandelt hatte, pflegt
die neuere Forschung eine »synthetisierende Betrachtungsweise«
(Sprengel/Streim 1998, 14), die Bezüge vielfältiger, häufig auch
überraschender Art zwischen literarischen und außerliterarischen
(politischen, naturwissenschaftlich-technischen, popularkulturel-
len, philosophischen, ökonomischen etc.) Tendenzen im Wien um
1900 herstellt: ein Vorgehen, das vielfältige Erkenntnisgewinne ver-
Anmerkungen zu einer Geographie der Moderne 5

spricht, doch auch Schwächen erkennen lässt, »weil unterschiedliche


Phänomene mit dem Begriff der Modernität identifiziert« werden
(ebd.).
Dieses Problem wird auch in der anglo-amerikanischen For-
schung sichtbar, in der die Zusammenschau der heterogenen Ten-
denzen in Wien um 1900 eine weitaus längere Tradition hat.
So zeigte William M. Johnston in seiner umfangreichen öster-
reichischen Kultur- und Geistesgeschichte (1972, dt. 1974), dass
das Spezifikum der Wiener Moderne sich bestimmt im durchaus
konfliktreichen Aufeinanderprallen moderner und gegenmoderner
Strömungen in Kunst, Literatur, Politik und Gesellschaft. Es ist
dieser, von Emil Brix als ›Ambivalenztheorie‹ bezeichnete Interpre-
tationsansatz, der die Diskussion um die Wiener Moderne vor allem
in den 1990er Jahren in vielfachen Varianten prägte (vgl. Brix 1990,
139f.) – und doch zugleich die Schwierigkeiten markiert, die sich
unweigerlich dann ergeben, will man das Geflecht widersprüchlicher
Tendenzen in einem übergreifenden Erklärungsmuster begrifflich
fassen. An Beispielen hierfür mangelt es nicht: Zur gleichen Zeit,
da Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl als avantgardistische Gestaltung
des modernen inneren Monologs erschien, veröffentlicht ein Peter
Rosegger seine Heimatromane, die übrigens ausgerechnet den Mo-
dernisten Hermann Bahr begeistern (Die Entdeckung der Provinz,
1901, in: Wunberg/Braakenburg 1981, 206–224). Karl Kraus, Be-
wunderer des ›asketischen Modernen‹ und Secessionskritikers Alfred
Loos und des durchaus am Wiener Feuilletonismus geschulten Peter
Altenberg, widmet seine publizistische Arbeit dem Kampf gegen das
moderne Feuilleton und sorgt für die Popularisierung der antise-
mitischen und frauenfeindlichen Polemiken eines Otto Weininger
(s. Kap. 3.3). Verbirgt sich dahinter eine rhetorische Strategie (vgl.
Reitter 2003, sowie Kap. 4.), oder die Bestätigung folgender These,
die Rainer Metzger im Hinblick auf die Kritik am architektonischen
»Backwerk« der Secessionisten in einem opulent bebilderten Sam-
melband zu Wien um 1900 vertritt?
»Das Wien um 1900 ist weniger die Addition einzelner, origineller oder gar
genialer Positionen, als die Kumulation der Egozentriken in einer Dauerbe-
wegung des Dementierens. Am Anfang mag ja [...] das Backwerk gestanden
sein. Am Ende aber stand die Radikallösung der Eiferer, Puristen, Rigoris-
ten. Der kulturhistorische Topos ›Wien um 1900‹, der etwa die Jahre von
1880 bis 1920 umfasst, bedeutet zweifellos beides;« (Metzger 2005, 20).

Zweites Beispiel: Die akademiefeindlichen Wiener Secessionisten er-


öffnen im Jahr 1898 ihr neues Domizil, das, auf städtischem Bau-
grund errichtet, wegen seiner ungewohnten architektonischen Form
6 Einleitung: Warum Wien?

von kulturkonservativen Kreisen heftig angefeindet wird. Gleich-


wohl ist bei der Eröffnung ausgerechnet Kaiser Franz Joseph zuge-
gen, dessen Geschmack in Dingen der bildenden Kunst auf dem
Niveau gemalter Bauernhaus-Idyllen rangiert (vgl. Hutter 1985).
Zeugt dies »von einer bezeichnenden Komplizenschaft gediegener
Traditionalität mit der Speerspitze der Avanciertheit«, wie der Kunst-
historiker Rainer Metzger meint (Metzger 2005, 28), oder bezeich-
net solche »Gleichzeitigkeit moderner und antimoderner Tenden-
zen« (Bobinac/Schmidt-Dengler 2002, 341) gar »die Geburt der
Antimoderne aus dem Geist der Suche nach dem Österreichischen«
(Rossbacher 1990, 62)? Die Aufzählung der Ambivalenzen – der
Begriff wird in Anlehnung an die Psychoanalyse von Norbert Leser
im Kontext der Wiener Moderne gebraucht (Leser 1986, 38f.) –
ließe sich jedenfalls beliebig fortsetzen. Dass im Kontext einer als
geistig-kulturelles Gesamtphänomen aufgefassten Wiener Moderne
die Geistes- und Rezeptionsstile – jedenfalls im Urteil späterer In-
terpreten und ihrer unterschiedlichen Auffassungen von Moderne
– zwischen Traditionalismus, Avantgardismus oder Gegenmoderne
oszillieren (vgl. auch Rossbacher 1992; Zeman 1989), hat das Be-
dürfnis der Forschung nach immer neuen Erklärungsansätzen ent-
stehen lassen. So vertritt etwa Allan Janik – in der Tradition der
oben erwähnten postmodernen Deutung – die These vom »criti-
cal modernism« (Janik 1990, 156): Nicht in den kompromisslosen
Avantgarde-Bewegungen in Kunst und Literatur (wie sie etwa in
Paris formuliert wurden), sondern in der kritischen Rezeption von
Moderne bestehe das Spezifische der Wiener Moderne. Auf den ge-
wissermaßen modernekritischen Sonderweg Wiens rekurriert auch
Rudolf Haller, indem er von einer »österreichischen Philosophie«
spricht (Haller 1986).
Einen umfassend angelegten Erklärungsansatz bietet auch Carl
E. Schorske bereits Anfang der 1960er Jahre: Er stellt die vor al-
lem in der anglo-amerikanischen Forschung einflussreiche These
auf, dass der Kultur der Wiener Moderne eine Surrogatfunkti-
on zukomme. Sie sei entstanden aus dem Empfinden einer frus-
trierten jüngeren Generation von Bürgersöhnen, der in der Spät-
zeit des Habsburgerreiches die politischen und gesellschaftlichen
Handlungsmöglichkeiten genommen wurde (Schorske, dt. Ausg.
1982). Da diese Generation erleben musste, dass der politische Li-
beralismus ihrer Vätergeneration zusehends zurückgedrängt wurde,
flüchtete sie sich in den ahistorischen und apolitischen Tempel der
Kunst und des Ästhetizismus.
In seiner Einleitung zu einem Sammelband mit dem programma-
tischen Titel Rethinking Vienna hat Steven Beller darauf hingewie-
Anmerkungen zu einer Geographie der Moderne 7

sen, wie sehr diese sogenannte Schorske-These ihrer Entstehungszeit


verhaftet war, entsprach sie doch der resignativen Stimmung unter
den amerikanischen Intellektuellen der McCarthy-Ära:
»The Schorskean vision of retreat from politics into culture was not at all
that dissimilar from the concept of an »antipolitics«, which sought to escape
the ideological politics of both East and West« (Beller 2001, 6).

Einige der in dem erwähnten Band versammelten Aufsätze zeigen,


dass der aus der Zeitstimmung der 1950er Jahre heraus entwickelte
Erklärungsansatz Schorskes sich als recht fragile Konstruktion er-
weist, wenn man dessen behauptete Voraussetzungen (beispielsweise
die These vom ohnmächtigen Liberalismus und dessen Fundamen-
talopposition zu den neuen um 1900 sich formierenden natio-
nalistischen Bewegungen) einer kritischen Prüfung unterzieht (vgl.
dazu den klärenden Aufsatz von Pieter M. Judson in: Beller 2001,
57–79; vgl. aber auch Spector 1998, 691–710). Nichtsdestoweni-
ger sucht ihr Herausgeber zumindest die von Schorske formulierte
These vom Entfremdungsprozess – und dem daraus resultierenden
Krisenempfinden – des liberalen Wiener Bürgertums um die Jahr-
hundertwende zu retten – indem er diese These auf das jüdische
Bürgertum anwendet:
»The idea of an alienated cultural elite of an alienated liberal bourgeoisie
makes perfect sense when we see that a large, indeed predominant part oft
the educated sector of such a class would have been Jewish – in Vienna. [...]
To that extent »Schorske’s Vienna« is identical with »Schnitzler’s Vienna«,
the world of anxiety-ridden Jewish individuals, whose lives have been cast
adrift by the failure of liberalism to produce the enlightened society prom-
ised by the ideology of emancipation, and who are confronted with the need
to respond to an antisemitic reality any way they can« (Beller 2001, 19).

Die Fokussierung auf den Aspekt des »Viennese Jewish modernism«


(A.E. Gillman 1997, 437) charakterisiert – neben der Thematisie-
rung der Konzepte von Geschlecht/gender/Weiblichkeit, sowie der
Rolle schreibender Frauen in Wien um 1900 (vgl. dazu Spreitzer
1999 und Kap. 3.3) – einen gewichtigen Teil der neueren Forschung
im Kontext der ›Jewish Studies‹ (vgl. z.B. Mittelmann/Wallas 2001;
Wallas 2002; Fraiman-Morris 2005; Herzog 1999; Janik in: Beller
2001, 27–56; Reitter 1999; Beller 1993; Rozenblit 1989), ja fast
wäre man versucht, von einem ›ethnic turn‹ zu sprechen: Als »discip-
line in itself« bezeichnet jedenfalls Allan Janik »the study of Vienna’s
Jews« (Janik in: Beller 2001, 28). In diesem Zusammenhang taucht
immer wieder die sogenannte Marginalisierungsthese auf (vgl. Kiesel
2004, 81f.), die in etwa wie folgt lautet: Die Kultur der Moderne
8 Einleitung: Warum Wien?

bzw. die der Moderne-Kritik wurde nicht zufällig in hohem Maße


gerade von jüdischen Intellektuellen geprägt: Letztere hatten die
jüdische Tradition aufgegeben, ohne dass sie jedoch innerhalb der
Mehrheitsgesellschaft als selbstverständliche und gleichberechtigte
Mitglieder akzeptiert wurden – zumal sich um die Jahrhundertwen-
de ein moderner Antisemitismus zu formieren begann. Dieses »dop-
pelte Gefühl des Ausgegrenztseins« (Lovenstein, n. Kiesel 2004, 81)
förderte nicht nur eine andere (eben auch relativierende) Sichtweise
auf herkömmliche Traditionen, sondern auch das Bestreben, geisti-
ge Neuerungen auf Gebieten zu schaffen, in denen herkömmliche
Hemmnisse bedeutungslos waren.
Hingegen verweist etwa Zygmunt Baumann auf den »Assimi-
lierungsdruck der Moderne« (Baumann 1992, 197), der jüdische
Intellektuelle in den Zustand der Heimatlosigkeit gezwungen habe
und sie daher in ganz besonderem Maße befähigte, mit dem Wissen
um Ambivalenzen zu leben, bzw. wesentliche Beiträge zur Kritik der
Moderne zu leisten – und damit gewissermaßen zu Vorläufern der
Postmoderne zu werden (Baumann 1992). Jacques Le Rider sieht im
›Wiener Ästhetizismus‹ eine radikale Ausprägung »des Programms
»Bildung und Kultur««, in das sich bereits das jüdisch-liberale Bür-
gertum nach dem Zusammenbruch des österreichischen Liberalis-
mus geflüchtet habe (Le Rider 1985, 213). Die Wiener Spielart des
l’art pour l’art betrachtet er als eine Reaktion jüdischer Intellektu-
eller auf den Verlust sozialer Identifikations- und Integrationsmög-
lichkeiten und »auf eine schwer erträgliche Marginalisierung durch
den allseitigen Antisemitismus« (ebd.).
So plausibel all diese Ansätze anmuten, wenn man sie im Ein-
zelfall (etwa im Hinblick auf ein konkretes literarisches Werk, auf
bestimmte darin verwendete Topoi etc.) untersucht, so problema-
tisch erscheinen sie zuweilen, wenn sie verallgemeinernd auf ›die
Wiener Modernen‹ oder ›den Ästhetizismus‹ angewandt werden.
Letzteren etwa pauschalisierend als ›jüdisches Spezifikum‹ zu be-
handeln, hieße nicht nur, die gesamtkulturelle Situation in Europa
um 1900 sowie die durchaus unterschiedlichen Identitätskonzepte
der jeweiligen, durch unterschiedliche Herkunftsbiografien gepräg-
ten Autoren, Künstler und Intellektuellen zu ignorieren, sondern
– wenn auch ungewollt – gewisse diskriminierende Stereotype der
zeitgenössischen Polemik gegen verunsichernde Aspekte der Mo-
derne zu übernehmen (vgl. dazu Kap. 3.). Wie Andreas Herzog in
seinem Aufsatz über die »Perspektiven neuerer Forschung« ausführt,
sind bei der Analyse der einzelnen Problemfelder wie etwa »Iden-
titätskrise«, »Selbstbewusstsein« oder »Antisemitismus« die »jeweili-
gen Kommunikationskontexte, Intentionen, Wirkungen, sowie die
Anmerkungen zu einer Geographie der Moderne 9

möglichen und tatsächlichen politischen Funktionalisierungen [...]


äußerst differenziert zu betrachten« (Herzog 1999).
Kein Erklärungsmodell, sondern vielmehr eine interdisziplinäre
Vielfalt unterschiedlicher Forschungsperspektiven spiegeln die zahl-
reichen Publikationen wider, die im Zuge des an der Universität
Graz von 1995 bis Ende Januar 2005 geförderten Projekts SFB
Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900 entstanden (z.B. die
Buchreihe Studien zur Moderne, die fünfbändige Hermann Bahr-
Tagebuchedition, mehrere Sammelbände). Das Projekt widmete sich
zunächst dem »bis dahin kaum beachtete(n) gesamtregionalen Kon-
text der Wiener Moderne« (Csáky 2004a), so etwa den Wechselwir-
kungen und Austauschprozessen zwischen den urbanen Zentren der
Region, zwischen Wien, Zagreb, Ljubljana oder Graz – und zwar
durchaus im Hinblick auf globale Tendenzen in unserer Gegenwart:
»In der »hybriden Kultur« Wiens und im »komplexen kulturellen
System« Zentraleuropas«, so Moritz Csáky, ließen sich »schon in
den Jahrzehnten um 1900 Prozesse nachweisen, die um 2000 von
globaler Relevanz werden sollten« (ebd., 5). Für das Entstehen der
(Wiener) Moderne sei vor allem die ethnisch-kulturelle, sprachliche
und religiöse Pluralität der Region von nachhaltiger Bedeutung ge-
wesen. Zugleich aber war, nach Csáky, diese heterogene Situation
gekennzeichnet durch die Konstitution einer »von übergreifenden
Elementen, Symbolen und Codes beherrschte(n) Kommunikations-
form, eine(r) »Sprache«, die eine Verständigungsweise innerhalb von
kulturellen Differenzen ermöglichte« (ebd., 4).
Eine Forschungsperspektive, die dieses spezifische Spannungsfeld
von multipolaren, bzw. Mehrfachidentitäten im Kosmos der Habs-
burgermonarchie mit den Fragestellungen einer geamteuropäischen
urbanen Moderne (Krisenbewusstsein, lebensweltliche Fragmentie-
rung, Veränderungen der Wahrnehmung, Erfahrungen historischer
und individualbiografischer Diskontinuität etc.) verknüpft, bietet
– so scheint es – den Vorteil, die unterschiedlichsten und einander
widersprechendsten Aspekte des Themas integrieren zu können, oh-
ne die Schwächen eines totalisierenden Erklärungsmodells in Kauf
nehmen zu müssen. Gleichwohl kann die Frage, worin gerade das
Besondere der Wiener Moderne bestehe, nur dann vollständig be-
antwortet werden, wenn auch die Historie ihrer Vermittlung durch
die Zeitgenossen selbst berücksichtigt wird.
10 Einleitung: Warum Wien?

Wien und Berlin: Moderne-Konstruktionen


und metropole Mythen

»Denn Wien ist nicht das, was man im gewöhnlichen Wortsinne eine »mo-
derne Stadt« nennt. [...] Die Seele der Stadt liegt anderswo. Im Uralten und
Abseits-Verborgenen« (Servaes o.J., 5).
Dies schrieb der Schriftsteller Franz Servaes um 1908 in seinem
Wien-Buch, das sich als eine Art von Kultur- und Mentalitäts-
Baedecker präsentiert und in der Form fiktionaler Briefe an eine
Freundin in Berlin verfasst ist. Servaes, der zeitweise u.a. als The-
aterkritiker der Vossischen Zeitung in Berlin gelebt hatte und 1904
– als Nachfolger von Theodor Herzl – die Feuilleton-Redaktion
der Neuen Freien Presse übernahm, zählte zu jenen einflussreichen
Kulturpublizisten, die ihrer Mit- und Nachwelt ein Städtebild von
Wien um 1900 vermittelten, das maßgeblich als Gegenbild zu Berlin
konzipiert war. In dieser polarisierenden Sicht erscheint Berlin als
die eigentlich moderne, das heißt: durch Industrialisierung, Massen-
tendenzen und kämpferische Debatten charakterisierte Großstadt.
Wien hingegen wird als ein über Jahrhunderte gewachsenes Kunst-
werk geschildert, als Stadt kleinmeisterlicher Tradition, des schönen
sinnlichen Scheins, »angefüllt« mit einer »Atmosphäre von Weiblich-
keit« (ebd., 97) und seelenvollem Interieur. In einem solch musealen
Idyll darf ein Hugo von Hofmannsthal allenfalls als überkultivierter
Ästhet gelten, dessen Werke lediglich »abgeleitet«, doch keineswegs
»kulturschöpferisch« seien (ebd., 76).
Dass derartige Stereotype nicht zuletzt auf einer auch politisch
motivierten publizistischen Strategie beruhen, zeigen die Autoren
Peter Sprengel und Gregor Streim in ihrer verdienstvollen Studie
zur Berliner und Wiener Moderne (1998): Die Genese des polari-
sierenden Wahrnehmungsschemas ›Berlin contra Wien‹ führen sie
auf Hermann Bahr und dessen strategisches Interesse zurück, eine
originär Wiener Moderne (die Bahr allerdings im Gegensatz zu Ser-
vaes als künstlerische Avantgarde verstanden wissen will) als ästhe-
tisch-programmatische Einheit in direkter Abgrenzung von Berlin
und zugleich im Hinblick auf die Rezeption durch die intellektuelle
Öffentlichkeit Berlins zu definieren (ebd., 86; vgl. auch Kap. 2.1).
Und noch in den Deutungen der jüngeren Forschung wirken, nach
Sprengel und Streim, die von Hermann Bahr geprägten Paradig-
men fort. Während man die Berliner Moderne vorwiegend unter
dem Aspekt der technischen und sozialen Modernisierung und deren
Auswirkungen auf das geistige Leben analysiert, so wird – seit den
Arbeiten von Carl E. Schorske – die Wiener Moderne unter dem
»Paradigma der Irrationalität gedeutet« (ebd., 15). Wien gilt gleich-
Anmerkungen zu einer Geographie der Moderne 11

sam als der natürliche Geburtsort der Psychologie, der Entdeckung


des Unbewussten und des Bruchs mit dem rationalen Menschenbild.
Und auch Gotthart Wunberg interpretiert die Wiener Moderne als
»Absetzung der Wiener gegen den Berliner Naturalismus« (Wun-
berg 2001, 187). Hat sich da die Forschung allzu vertrauensselig
auf die interessegeleitete Darstellung führender Wiener Publizisten
verlassen (vgl. auch Kap. 2.)? Andererseits: Ist eine eindeutige Un-
terscheidung zwischen den realen Austauschbeziehungen unter den
Wiener und Berliner Modernen und ihrer jeweiligen medialen Ver-
mittlung, wie sie Sprengel/Streim fordern (1998, 20), überhaupt in
allen Fällen möglich?
Die Frage en détail zu untersuchen, würde den Rahmen dieses
Bandes sprengen. Dass es allerdings unzulässig wäre, die ›Natura-
lismus-Frage‹ zu einem endgültigen Bruch zwischen den Berliner
und Wiener Avantgardisten zu stilisieren, bestätigen allein schon
die Fakten.
Mit Recht rühmt etwa die Forschung das ›kreative Milieu‹ in
Wien um 1900 (vgl. (Berner/Brix/Mantl 1986, 11). Schließlich ar-
beiteten und kommunizierten in den Jahren um 1900, neben Hu-
go von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Peter Altenberg, Richard
Beer-Hofmann und Karl Kraus, um nur die prominenten Namen
zu nennen, der Kraus-Verehrer Gustav Mahler ebenso, wie der jun-
ge Arnold Schönberg. Hermann Bahr organisierte nicht nur den
literarischen Kreis des ›Jungen Wien‹, sondern machte sich auch
zum Fürsprecher der Secessionisten um Gustav Klimt. Karl Kraus
betätigte sich nicht nur als publizistischer Förderer des Architekten
Adolf Loos, sondern vermittelte ihm auch manche Auftragsarbeit.
Jahre vorher hatte der Physiker Ernst Mach seine erkenntniskriti-
schen Thesen zur Analyse der Empfindungen (1885) formuliert, die
um die Jahrhundertwende ihre Entsprechung in der Behandlung
des ›Identitätsproblems‹ u.a. bei Bahr und Hofmannsthal fanden.
Der Journalist und Schriftsteller Theodor Herzl publizierte im Jahr
1896 sein Buch Der Judenstaat, während der jüdische Schriftstel-
ler Otto Weininger mit seinem antisemitischen und frauenfeind-
lichen Pamphlet Geschlecht und Charakter im Jahr 1903 Furore
machte. Die Kommunikation zwischen einzelnen Persönlichkeiten
und den durch sie repräsentierten Positionen gestaltete sich derart
intensiv, dass selbst in Fällen, wo zwei potentielle Gesprächspart-
ner sich bewusst der Auseinandersetzung miteinander verweiger-
ten, eine Kommunikation durch das jeweilige Werk stattfand, wie
etwa im Verhältnis zwischen dem Arzt und Schriftsteller Arthur
Schnitzler und dem Arzt Sigmund Freud zu beobachten ist (s. Kap.
3.2).
12 Einleitung: Warum Wien?

Doch dieses kreative Milieu hat zunächst nicht bewirkt, dass


etwa die Autoren des ›Jungen Wien‹ von einem breiteren, kultur-
beflissenen Publikum in Wien unvoreingenommen begrüßt wur-
den. Ihre Werke erschienen meist in Leipziger oder Berliner Verla-
gen. Dramen aus den 1890er Jahren von Schnitzler, Hofmannsthal
und Felix Dörmann wurden, sofern man sie überhaupt an Wiener
Theatern aufführte, von Kritik und Publikum zunächst eher ab-
lehnend kommentiert (J.M. Fischer 1978, 37; Rieckmann 1985,
145ff.; Castle 1937, 2071f.). Und es war Otto Brahm, Theaterkri-
tiker und späterer Direktor des Deutschen Theaters in Berlin, der
zum Förderer Arthur Schnitzlers wurde und 1898 Hofmannsthals
Drama Die Frau im Fenster zur Uraufführung brachte. Dass die
jungen Wiener Autoren den Kontakt mit Berliner Zeitschriften
suchten, war sicherlich auch in der Tatsache begründet, dass es
Anfang der 1890er Jahre in Wien so gut wie keine Zeitschrif-
ten gab, die ihnen ein Forum auf Dauer hätten bieten können (s.
Kap. 2.2; 3.1). Nichtsdestoweniger bleibt die Tatsache bestehen,
dass die Kommunikation zwischen den Schriftstellern in beiden
deutschsprachigen Moderne-Metropolen nicht abbrach und man
die jeweiligen Tendenzen und Programmatiken sehr genau regis-
trierte. Peter Sprengel und Gregor Streim machen zu Recht darauf
aufmerksam, dass beim Rückblick auf die Wiener und Berliner
Moderne die Eigen- und Fremdstilisierungen, die publizistischen
Strategien und Interessenlagen der jeweiligen zeitgenössischen Ak-
teure zu berücksichtigen sind (Sprengel/Streim 1998).
Vorläufig ist festzustellen: Die Vielfalt jener Faktoren, die das
kreative Gesamtmilieu Wiens charakterisiert, lässt eine reduktionis-
tische Betrachtungsweise, die auf monokausalen Erklärungsmustern
beruht, als unzulässige Perspektiven-Verkürzung erscheinen. Doch
erfordert auch die Darstellung des scheinbar Disparaten ein Mini-
mum an kausaler Kohärenz. Dem Dilemma ist allenfalls mit der
Beschränkung auf ausschnitthafte Wiedergabe beizukommen. Das
Schwergewicht dieser Darstellung liegt daher eindeutig im litera-
rischen Bereich, wobei insbesondere jene Literatur berücksichtigt
wird, die unter der Signatur ›Jung-Wien‹ firmiert. Es sollen Bezü-
ge aufgezeigt werden zwischen einer bestimmten Art von Literatur,
den spezifisch modernen Problemlagen einer europäischen Moderne,
der entstehenden Psychoanalyse, der erkenntnistheoretischen Phy-
sik, bestimmten Geistes-Tendenzen und der Publizistik. Sichtbar
werden diese Bezüge anhand konkreter Einzelbeispiele, die gleich-
sam als Mosaiksteine fungieren in einem Ganzen, das, weil es sich
nie lückenlos erschließen wird, lediglich als hypothetisch gedacht
werden kann.
Anmerkungen zu einer Geographie der Moderne 13

Letzteres gilt auch für die folgende Skizzierung der gesellschaft-


lich-kulturellen Gesamtsituation in Wien um 1900: Sie umreißt den
Bedingungsrahmen, in dem literarisches Leben sich entfaltete. Der
Blick auf die sozio-kulturellen Tendenzen die sich in den Jahren vor
1900 im damaligen Habsburgerreich bemerkbar machten, empfiehlt
sich jedoch schon deshalb, weil diese Tendenzen teilweise Eingang
in die Sprechweise und Metaphorik einzelner literarischer Texte fan-
den. So spricht Michael Worbs in seiner Studie aus 1980er Jahren
von dem spezifisch »kakanischen Entstehungszusammenhang« der
Psychoanalyse und ihrer literarischen Doppelgänger (Worbs 1983).
Auf der anderen Seite gilt jedoch genauso: Die (literarische) Wiener
Moderne kann nicht isoliert von jenen gesamteuropäischen Tenden-
zen um 1900 betrachtet werden, die im vorliegenden Band nur kur-
sorisch behandelt werden können. Aber: »Erst deren Verknüpfung
mit eigenen regionalen kulturellen Codes trug zu der für sie spe-
zifischen, unverwechselbaren kulturellen Konfiguration bei« (Csáky
2004b, 33).

Wien als gesellschaftlich-kulturelle Gesamtsituation um 1900

Robert Musil, dessen Novelle Die Verwirrungen des Zöglings Törleß


im Jahr 1906 erschien, sollte in seinem späteren Roman Der Mann
ohne Eigenschaften, die politische Gesamtlage des Habsburgerreiches,
von ihm als »Kakanien« bezeichnet, als Groteske beschreiben:
»Es nannte sich schriftlich Österreichisch-Ungarische Monarchie und ließ
sich mündlich Österreich rufen; mit einem Namen also, den es mit feier-
lichem Staatsschwur abgelegt hatte, aber in allen Gefühlsangelegenheiten
beibehielt, zum Zeichen, daß Gefühle ebenso wichtig sind wie Staatsrecht
und Vorschriften nicht den wirklichen Lebensernst bedeuten. Es war seiner
Verfassung nach liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal re-
giert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich,
aber nicht alle waren eben Bürger. Man hatte ein Parlament, welches so
gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, daß man es gewöhnlich
geschlossen hielt; aber man hatte auch einen Notstandsparagraphen, mit
dessen Hilfe man ohne Parlament auskam, und jedesmal, wenn alles sich
schon über den Absolutismus freute, ordnete die Krone an, daß nun doch
wieder parlamentarisch regiert werden müsse. Solcher Geschehnisse gab es
viele in diesem Staat, und zu ihnen gehörten auch jene nationalen Kämpfe
[...]. Sie waren so heftig, daß die Staatsmaschine mehrmals im Jahr stockte
und stillstand, aber in den Zwischenzeiten und Staatspausen kam man aus-
gezeichnet miteinander aus und tat, als ob nichts geschehen wäre« (Musil,
hg.v. A. Frisé 1978, 33).
14 Einleitung: Warum Wien?

So skurril die Schilderung sich ausnimmt: die von Musil genannten


widersprechenden Tendenzen waren charakteristische Einzelzüge der
Habsburgermonarchie im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Seit
dem Ausgleich mit Ungarn (1867) existierten faktisch zwei weit-
gehend selbständige Staaten – Österreich und Ungarn – innerhalb
eines Reiches. Daneben gab es die mittelalterlich-feudal definierten
Kronländer und es gab die Nationalitäten innerhalb der Reichsgren-
zen, die Tschechen, Slowaken, Slowenen, Ruthenen in Österreich,
die Serben und die Rumänen in Ungarn. Nicht weniger als 15 eth-
nische Gruppen, 12 Hauptsprachen, 5 Religionen und mindestens
5 eigenständige kulturelle Traditionen (Brix 1990, 136) umfasste
dieses Gebilde, an dessen Spitze ein habsburgischer Kaiser stand,
der, gewissermaßen erstarrt in einem Netz archaischer Hofkonven-
tionen, zusehends den Kontakt mit den gesellschaftlichen Realitäten
seiner Zeit verlor.
Divergierende soziale, wirtschaftliche, juristische (!) und kulturel-
le Entwicklungen sorgten für ein latentes Spannungsgefüge zwischen
den einzelnen Nationalitäten untereinander, sowie mit der Zentral-
macht, die immer weniger in der Lage war, die jeweiligen nationalen
Autonomiebestrebungen kontrollieren zu können (Rumpler 1991).
Doch zugleich stellten sich die Beziehungen der einzelnen Teile des
Gesamtstaates zueinander als derart komplex und ineinander verwo-
ben dar, dass gerade solche Heterogenität das übernationale Selbst-
verständnis der Donaumonarchie prägte. Die Methodik, welche die
kulturwissenschaftliche Richtung der ›Postcolonial Studies‹ bietet,
mag sich – nach Csáky, Feichtinger, Karoshi und Munz – bei der
Analyse der Differenzen, Mehrdeutigkeiten und Vielfachcodierun-
gen im habsburgischen Vielvölkerstaat als hilfreich erweisen (die-
selben 2004c, 13–43).
Im Zusammenhang mit der Herausbildung der geistig-kultu-
rellen Moderne ist insbesondere erwähnenswert, dass ihre heraus-
ragenden Persönlichkeiten einer Generation angehörten, die ihre
Bildungsgrundlagen dem klassischen Bildungsprogramm des grün-
derzeitlichen Gymnasiums ebenso verdankte (vgl. dazu Leitner
1999, 267–293; Rinofner-Kreidl 1998), wie dem spezifischen äs-
thetisch-kulturellen Milieu im Wien jener Jahre. Ob der aus be-
scheidenen Sozialverhältnissen stammende Sigmund Freud (geb.
1856) oder Arthur Schnitzler (geb. 1862), Sohn des angesehenen
Universitätsprofessors und Chefarztes der Wiener Poliklinik, Johann
Schnitzler, ja selbst die Jüngeren, wie der Großbürgerssohn Hugo
von Hofmannsthal (geb. 1874) oder der aus einer adligen Künst-
ler- und Gelehrtenfamilie stammende Leopold Andrian (geb. 1875
als Leopold Reichsfreiherr von Andrian-Werburg) – sie alle wurden
Anmerkungen zu einer Geographie der Moderne 15

gewissermaßen hineingeboren in eine politische und wirtschaftliche


Aufschwungsperiode, die – obwohl im Vergleich zum übrigen Eu-
ropa verzögert – in den 1860er Jahren ein liberal orientiertes Bür-
gertum entstehen ließ.
Der verlorene Krieg gegen Preußen (1866) provozierte eine Hal-
tung außenpolitischer Zurückgezogenheit, eine Konzentration auf
die eigene wirtschaftliche, mithin aber auch kulturelle Entwicklung,
die Carl Schorske als kompensatorische Reaktion gegen das preu-
ßische Berlin interpretiert (Schorske 1982). Im Zuge der Nieder-
lage gegen Preußen und des sich abzeichnenden wirtschaftlichen
Aufschwungs gelangte die Deutsch-Liberale Verfassungspartei an
die Regierung. Sie stellte zwischen 1867 und 1878 die Kabinette.
Freilich beruhte ihre politische Macht nicht auf der eigenen Stär-
ke, sondern auf der Schwäche der altadelig-klerikalen Kräfte. Die
gesellschaftliche Grundlage des Industrie- und Handelsbürgertums
blieb verhältnismäßig ungefestigt, beruhte sie doch in einem weitge-
hend agrarisch geprägten Großreich auf den deutsch-österreichisch-
jüdischen Unternehmer- und Kaufmannsschichten, die lediglich in
den städtischen Zentren des Habsburger Vielvölkerstaates an Bedeu-
tung gewannen. Im städtischen Zentrum des Habsburgerreiches par
excellence, in Wien also, bewirkte der wirtschaftliche Aufschwung
eine Modernisierung, die das soziale Gefüge der alten Kaiserstadt
in den folgenden Jahrzehnten verändern sollte.
In augenfälliger Weise bildete sich etwa die Verschiebung des
Sozialgefüges ab in der topographischen Struktur der alten Habs-
burgerhauptstadt Wien. Zu dem von barock-katholisierender Kul-
tur geprägten altösterreichischen Hochadel und der kaiserlichen
Verwaltungsbürokratie drängte sich bald eine Schicht von wirt-
schaftsstarken Emporkömmlingen, die sich den Ideen eines wissen-
schaftsgläubigen Liberalismus verpflichtet fühlte. Bereits ab 1857
hatte man mit dem Abriss der alten Festungswälle Wiens begon-
nen (Lichtenberger 1970, 17f.) – und damit scheinbar eine städ-
tebauliche Neuordnung initiiert, wie sie in anderen europäischen
Hauptstädten (etwa Paris) mit dem Bau schnurgerade angelegter
Avenuen und Boulevards vollzogen wurde. Der städtebauliche Neu-
entwurf in Wien entpuppte sich jedoch – etwa im Vergleich zu Pa-
ris – nicht nur als weitaus weniger radikale Umgestaltung, er war
offenbar auch mit anderen programmatischen Absichten verknüpft.
An die Stelle der alten Wälle trat die Ringstraße, deren charak-
teristische Gestalt für Rüdiger Görner eine Moderne bezeichnet,
die »den Durchbruch ins Zirkulare« »vollzog« und den »Fortschritt
als Kreisbewegung« »wagte«, wobei – ebenfalls im Gegensatz zu
Paris – das labyrinthische Gewirr der alten Wohnviertel im Inne-

Das könnte Ihnen auch gefallen