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WIRTH
ipositas
Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH
ALPRED WIRTH
Epidemiologie, Ätiologie,
Folgekrankheiten, Therapie
Springer
Prof. Dr. med. ALFRED WIRTH
Teutoburger-Wald-Klinik
Teutoburger-Wald-Straße 33
D-49214 Bad Rotbenfelde
ISBN 978-3-662-05604-2
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der
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land vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergü-
tungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2000
Ursprünglich erschienen bei Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 2000
Softcover reprint of the hardcover 2nd edition 2000
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk
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Gedruckt auf säurefreiem Papier SPIN: 10733118 18/3134hs 543210
Für meine liebe Familie
Chris,
Thomy (Graphiken und"Lektorat"),
Matthy (Graphiken)
undNicky
Einleitung ...
Definition und 3
smethoden 13
3.1 Anamnese 13
3.2 Körperliche Untersuchung 14
Epidemiolog 37
4.1 Häufigkeit 37
4.2 Mortalität . 41
4.2.1 Studien mit erhöhter Mortalität 42
4.2.2 Studien ohne erhöhte Mortalität 45
4.2.3 Änderung der Mortalität durch Gewichtsänderung . 45
4.3 Morbidität .. 46
4.4 Lebensqualität 50
4.5 Sozialmedizinische Aspekte 51
4.5.1 Sozialer Status, Ausbildung und Einkommen 51
4.5.2 Vorzeitige Berentung 53
4.6 Kosten . . . . . . . . . 54
5 57
5.1 Genetik . . . . . . . . . . . . 57
5.1.1 Tiermodelle . . . . . . . . . . 57
5.1.2 Genetische Befunde beim Menschen 58
5.1.3 Energieverbrauch . . 61
5.1.4 Genetische Syndrome . . . . . . . . 62
5.2 Energieaufnahme . . . . . . . . . . 64
5.2.1 Neurohumorale Regulation von Hunger und Sättigung 64
5.2.2 Alimentäre Adipositas . . . . . . . . . . . . . 71
5.2.3 Psychosoziale Aspekte der Energieaufnahme 85
5.3 Energieverbrauch . . . . . . . . . . . 93
5.3.1 Komponenten des Energieverbrauchs 94
5.3.2 Methoden zur Erfassung 95
5.3.3 Prädiktaren für Gewichtszunahme 98
5.3.4 Experimentelle Adipositas 106
5.4 Sekundäre Adipositas . . . 108
5.4.1 Krankheiten mit Adipositas 108
5.4.2 Pharmaka mit adipogener Wirkung 111
5.4.3 Lebensstil und Lebensphasen . . . . 114
Fettgewebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
6.1 Methoden zur Beurteilung der Lipogenese und der Lipolyse 116
6.1.1 In-vivo-Methoden 116
6.1.2 In-vitro-Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Inhaltsverzeichnis IX
Sachverzeichnis 339
Abkürzungsverzeichnis
Bei Ärzten und Gesundheitspolitikern spielt nur zusätzliche Kosten. Vermutlich beurtei-
die Adipositas bisher eine untergeordnete len sie, wie viele Laien, die Adipositas vor-
Rolle. Das hängt zum einen mit bestimmten wiegend als kosmetisches Problem. Ungenü-
Wertschätzungen in unserem Gesundheits- gende Kenntnisse über die Krankheitszu-
system zusammen, zum anderen mit der sammenhänge verhindern eine adäquate
Krankheit selbst. Die zunehmende Anzahl Gewichtung. Dieses "Mißverständnis" will
von übergewichtigen und Adipösen wird je- dieses Buch abbauen.
doch, nicht zuletzt wegen der steigenden Ko- Die Therapie ist auch heute noch wie bei
sten, zu einem Umdenken zwingen. Schon fast jeder anderen chronischen Krankheit
jetzt sind ca. 6o/o der Krankheitskosten (ca. schwierig. Sie ist wenig spektakulär, aber
30 Mrd. DM pro Jahr) der Adipositas zuzu- effizient und benötigt eine interdisziplinäre
schreiben. Zusammenarbeit von Ärzten, Ernährungs-
Auch Ärzte tun sich mit der gesundheitli- beraterinneil, Bewegungstherapeuten und
chen Beurteilung der Adipositas schwer. Vie- Psychotherapeuten. Die Adipositas kann ge-
le behandeln vorwiegend die Begleit- und radezu als Beispiel par excellence für eine
Folgekrankheiten und praktizieren damit ei- Krankheit mit organischen sowie psychoso-
ne symptomatische oder palliative Medizin, zialen Ursachen und Auswirkungen gelten,
wo doch eine ursächliche angebracht wäre. die den Therapeuten enorm beansprucht.
Am besten kann dies beim Diabetes-melli- Die häufige Apostrophierung der Behand-
tus-Typ-2 und bei degenerativen Gelenkver- lung als "Abspecken" verrät wenig Fachkom-
änderungen verdeutlicht werden. Die Adipo- petenz und bagatellisiert das gesundheitli-
sitas hat an der Entstehung dieses Diabetes- che Problem. Nicht zuletzt die Entdeckung
typs einen Anteil von ca. 60%; bei etwa 2/3 einer häufig genetischen Verankerung der
aller Diabetiker verschwindet die Krankheit Adipositas schärft unseren Sachverstand da-
mit einer Gewichtsnormalisierung. Wer je- hingehend, daß es sich um einen chroni-
doch die Diskussion über den Diabetes bei schen Zustand handelt, der chronisch be-
uns - auch in Fachkreisen - verfolgt, gewinnt handelt werden muß.
nicht den Eindruck, daß die Adipositas dort Die Betreuung des Adipösen fordert den
als Hauptproblem erkannt wurde. Ähnlich Arzt in vielfaltiger Hinsicht. Zum Verständ-
ist es beim "Kniegelenksverschleiß", der oft nis der Krankheit sind v. a. Kenntnisse des
mit allen möglichen physikalischen Metho- Stoffwechsels, des Endokriniums, der Kar-
den und Injektionen behandelt wird, was diologie und der Psychologie notwendig. Für
wenig nutzt und hohe Kosten verursacht. die Behandlung muß der behandelnde Arzt
Gesundheitspolitiker und Vertreter von Wissen und Fähigkeiten der Ernährungs-
Krankenkassen und Rentenversicherungen physiologie, der Sportmedizin, der Pharma-
sehen in der Behandlung der Adipositas oft kologie und der Psychotherapie besitzen -
2 KAPITEL 1 Einleitung
welche Anforderung! Dieses Profil kontra- sehenswert wäre eine vermehrte Forschung
stiert zu der immer noch gängigen Ansicht, auch in Deutschland, da kulturelle Aspekte
die Adipositas sei medizinisch "einfach". in vieler Hinsicht eine Rolle spielen. Es gibt
In den letzten Jahren gab es eine Fülle von jedoch - trotz 16 Millionen Adipöser - noch
neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht einmal einen medizinischen Lehrstuhl
hinsichtlich der Entstehung der Adipositas, für Adipositas an einer Hochschule oder
ihrer organischen und psychosozialen Fol- Universität in Deutschland; in Schweden,
gen sowie bezüglich der Therapie; diese einem Land mit der Einwohnerzahl Bayerns,
"neue" Sicht will das Buch vermitteln. Wün- gibt es 3.
2 Definition und Klassifikation
Tabelle 2.1. Körpergewicht und BMI ("body mass index") in Augsburg und Umgebung 1989/90 (MONICA-
Projekt; Filipiak et al. 1993)
ausgewertet. Die Tabellen wurden nach Die Ergebnisse der BUILD STUDY (So-
Größe, Alter und Geschlecht erstellt (s. auch ciety of Actuaries 1979) waren für die ME-
Ciba-Geigy 1985). Das Gewicht mit der nied- TROPLITAN LIFE INSURANCE COMPANY
rigsten Mortalität (BMI) lag bei Frauen bei 1983 Anlaß, ihre Empfehlungen zu ändern
21,5 und bei Männern bei 22,0 kg/m 2 • In der (Tabelle 2.2). Im Vergleich zu den Ergebnis-
FRAMINGHAM-Studie bezog man die Mor- sen von 1959 zeigte sich, daß das wünschens-
bidität und Mortalität auf diese Ergebnisse. werte Gewicht bei Männern und Frauen
In einer 26jährigen Beobachtung stiegen etwas höher einzustufen ist.
Morbidität und Mortalität ab 110% des Andres et al. (1985) führten eine Meta-
"Metropolitan relative weight" (MRW) merk- analyse zur Frage mit der geringsten Sterb-
bar an, was einem BMI-Grenzwert von lichkeit durch (Tabelle 2.3). Man sieht, daß
24,4 kg/m 2 entsprach (Hubert et al. 1983). das Idealgewicht, beurteilt nach dem BMI,
80% der Männer und 70% der Frauen über zwischen Frauen und Männern nur gering-
40 Jahre lagen oberhalb dieses Wertes. Die fügig differiert, mit dem Alter jedoch deut-
Daten der METROPOLITAN LIFE INSU- lich zunimmt. In jüngeren Jahren sollte man
RANCE COMPANY von 1959 wurden lange einen BMI von 19-25 kg/m 2 , in mittleren
Zeit für das Gewicht mit der geringsten Jahren einen von 22-27 kg/m 2 und im höhe-
Sterblichkeit herangezogen und werden auch ren Alter einen von 24-29 kg/m 2 anstreben.
heute noch häufig als Referenzwert erwähnt.
Tabelle 2.2. Gewichtstabellen der Metropolitan Life bau. Der Körperbau wurde durch die Breite am El-
Insurance Company 1983. Gewicht mit der gering- lenbogen (Epicondylus medialis - Epicondylus late-
sten Sterblichkeit bei Männern und Frauen in Ab- ralis) ermittelt. (Nach Society of Actuaries 1979)
hängigkeit von der Körpergröße und dem Körper-
Größe ([cm] Männer (!kg) mit Kleidern") Frauen ([kg] mit Kleidern") Größe ([ m)
in Schuhen•) in chuhen•)
Leicht Mittel Schwer Leicht Mille] Schwer
Tabelle 2.3. Empfohlenes Gewicht in Abhängigkeit gen-Indizes, erhöht ist. über viele Jahre gal-
vom Alter. "Body mass index" (BMI) mit der gering- ten die BMI-Kriterien der Surveys NHANES
sten Sterblichkeit bei Männern und Frauen unter-
schiedlichen Alters I und später NHANES II. Männer waren
nach diesen Studien ab einem BMI >27,8
Alter (Jah re) Body-mass-lndex lkglm' ] und Frauen ab einem BMI >27,3 kg/m 2 über-
Bereich Männer' Frauen• gewichtig (deutlicher Anstieg der Morbidi-
tät). Diese Definition stimmt nicht mit Daten
19-24 19-24 21,4 19,5
25-34 20- 25 2 1,6
der FRAMINGHAM STUDY überein, wo-
23,2
35- 44 21-26 22,9 23,4 nach die kardiovaskuläre Morbidität und
45- 54 22-27 25,8 25,2 Mortalität ab einem BMI >24,4 kg/m 2 merk-
55-64 23-28 26,1 26,0
>65 24 - 29 26,6 27,3
lich zunimmt (Hubert et al. 1983). Insbeson-
dere die Ergebnisse der NURSES' HEALTH
Alle Altersklassen 20-25 Männerh (x=22,0) STUDY (Manson et al. 1995) zeigen, daß die
19-26 Frauenh (x= 21,5)
• Nach Andres (1985).
Morbidität ab einem BMI >25 kg/m 2 und die
h Nach Metropolitan Life Insurance Company (1959). Mortalität ab einem BMI >27 kg/m 2 erheb-
lich ansteigt. Die WHO empfiehlt daher in
ihrem neuesten Report INTERNATIONAL
Untergewicht
OBESITY TASK FORCE (IOTF), das Überge-
Bei einem BMI von <18,5 kgfm 2 spricht man wicht ab einem BMI >25 kg/m 2 zu definieren
von Untergewicht (Abb. 2.1). Lange Zeit war (Abb. 2.1; WHO 1997). Diesem Vorschlag
unklar, ob Untergewichtper se die Mortalität sind inzwischen viele Fachgesellschaften
erhöht oder sekundäre Phänomene eine Rol- weltweit gefolgt. Auch die in Deutschland er-
le spielen. Klarheit brachte erst die Nurses' schienenen evidenzbasierten Leitlinien ha-
Health Study 1995 (Manson et al. 1995) mit ben die Empfehlungen des WHO-Reports
der Feststellung, daß die erhöhte Mortalität übernommen (Lauterbach et al. 1998 ?).
bei untergewichtigen Personen auf Zigaret- Der BMI wird folgendermaßen ermittelt:
tenrauchen und Neoplasien zurückzuführen
ist (Abb. 4.4). Untergewicht ist demnach per
se kein krankhafter Zustand. Viele Models
I BMI (kg/m 2 )
Körpergewicht (kg)
= ..,.------2
(Körperlänge (m))
140 50 50 100
95
90
145 40 40 85
80
150
75
30 30 70
155
65
160
60
165 20 20 55
170 50
175 15 15 45
Drehscheiben an, mit deren Hilfe man eben- massebesser als der Broca-Index; man sollte
falls bequem den BMI ermitteln kann. den Broca-Index daher verlassen.
Die Klassifizierung mit dem BMI ist nicht
unproblematisch und unkritisch zu sehen.
Adipositas
Personen mit erhöhtem Körpergewicht auf-
grund einer erhöhten Muskelmasse werden Sie liegt vor, wenn der Anteil des Körperfet-
mit einem "übergewichtigen" BMI oft falsch tes an der Körpermasse erhöht ist. Im Unter-
charakterisiert, da Übergewicht nur über schied zum Übergewicht ist daher die Adi-
Gewicht-Längen-Indizes, nicht jedoch über positas über die Körperfettmasse definiert.
die Körperfettmasse definiert ist. Wer ganz Aufgrund aufwendiger bzw. unzuverlässiger
sicher sein will, ob einem BMI >25 kglm2 Methoden zur Bestimmung der Körperzu-
krankhafte Bedeutung zukommt, sollte zu- sammensetzung wurde bei epidemiologi-
dem den Bauchumfang messen oder Metho- schen Untersuchungen zur Morbidität und
den zur Ermittlung der Körperzusammen- Mortalität nur selten der Körperfettanteil be-
setzung (Kap. 3) anwenden. Übergewichtig stimmt, sondern meist nur Gewicht-Längen-
sind in Deutschland etwas mehr als die Hälf- Indizes herangezogen. Die Ergebnisse zeigen
te der Bevölkerung (Kap. 4). (s. Kap. 4), daß ab einem BMI von >30 kg/m2
Die in Deutschland immer noch übliche die Mortalität deutlich ansteigt (Abb. 4.3,
Methode, mit Hilfe des Broca-Indexes das S. 42 und Abb. 4.4.d, S. 44). Somit besteht
Übergewicht zu charakterisieren, sollte aus eine klinische Notwendigkeit, zwischen
mehreren Gründen aufgegeben werden. Übergewicht und Adipositas zu unterschei-
Zum einen verwenden alle internationalen den; bei der Adipositas will man bezüglich
Veröffentlichungen den BMI. Auch alle Emp- der Therapieindikation auf der ganz siche-
fehlungen bezüglich Therapieindikation und ren Seite sein. Aus diesen Gründen wird als
Behandlung basieren auf dem BMI. Zum an- Limit für den Körperfettanteil bei Frauen
deren korreliert der BMI mit Parametern der > 25% und bei Männern > 20% favorisiert;
Morbidität und Mortalität sowie der Fett- diese Grenze entspricht in der Regel einem
8 KAPITEL 2 Definition und Klassifikation
BMI von >30 kg/m 2 • Für wissenschaftliche wicht > 130 kg - sind fast immer gravie-
Zwecke kann bzw. muß von dieser Definition rende Komorbiditäten vorhanden, die
abgewichen werden, da die Bestimmung des meisten Patienten sind multimorbide. Da
Körperfettanteils von der verwendeten Me- eine konservative Therapie in der Regel
thode abhängt (s. Abschn. 3.1., S. 13). nur bei 1-3% der Patienten das Gewicht
um > 15% reduziert, sollte grundsätzlich
eine operative Therapie erwogen werden.
Ca. 1% der Bevölkerung haben einen BMI
Der BMI ist das Maß zur Klassifizierung der
Adipositas. >40kg/m 2 ·
2.1.2
Einteilung nach Umfangsmessungen:
Bei der Adipositas werden verschiedene Abdominale Adipositas- periphere
Klassen unterschieden. Die Einteilung wurde Adipositas - Risikoklassifizierung
vorwiegend aufgrund therapeutischer Kon- nach dem Taillenumfang
sequenzen wie folgt vorgenommen.
Tail/e-Hüh-Relation (WHR)
• Adipositas: BMI>25<30 kg/m 2 : Man führ-
te diesen Begriff ein, um zu verdeutlichen, Mitte der 80er Jahre setzte sich die Einteilung
daß solche Personen zwar noch nicht mit der Fettverteilung aufgrund von Umfangs-
dem gesundheitlichen Risiko eines Adi- messungen weltweit durch. Schon 1947
pösen behaftet sind, mit großer Wahr- machte Vague (1947) die Entdeckung, daß
scheinlichkeit jedoch eines Tages adipös die androide Fettverteilung mit metaboli-
werden. Diese Annahme kommt nicht von schen Komplikation korrelierte, während
ungefähr, nehmen doch die Menschen in dies bei der gynoiden (weiblichen) Form
Industrieländern innerhalb von 10 Jahren nicht der Fall war. Er differenzierte Personen
im Durchschnitt ca. 5 kg zu. Diese Zunah- mit Hilfe von Umfangs- und Hautfaltendicke-
me reicht oft schon zum übergang in eine messungen und stellte fest, daß die gynoide
manifeste Adipositas. Form häufig zu Wasserretention, Venen-
• Adipositas Grad I: BMI>30<35 kg/m 2 : Bei insuffizienz und Immobilität führt, während
diesem Adipositasgrad ist aufgrund der die androide Form oft mit Hypertonie, Dia-
erheblich gesteigerten Morbidität und betes, Cholelithiasis, Gefäßkrankheiten und
Mortalität eine Behandlungsindikation in koronarer Herzkrankheit vergesellschaftet
jedem Fall gegeben. Zur Anwendung kom- ist. Diese für das heutige Verständnis der
men nichtmedikamentöse Maßnahmen, Adipositas grundlegenden Erkenntnisse
beim Scheitern auch medikamentöse. wurden 1982 von Kissebah (Kissebah et al.
• Adipositas Grad II: BMI >35<40 kg/m 2 : 1982) und 1983 von Krotkiewski (Krot-
Das Gesundheitsrisiko ist bei diesem Zu- kiewski et al. 1983) "wiederentdeckt". Seit-
stand massiv erhöht. Sollte die Basisthe- dem wird in nahezu jeder Publikation zur
rapie einschließlich pharmakologischer Adipositas auf diese Unterscheidung einge-
Intervention versagen und schwerwie- gangen, da sie klinisch bedeutsam ist, wenn-
gende Folgekrankheiten vorliegen, sollte gleich die pathophysiologischen Zusam-
auch eine operative Therapie in Erwä- menhänge nur bruchstückhaft bekannt sind.
gung gezogen werden. Bei der peripheren (gynoiden, gluteal-fe-
• Adipositas Grad III: BMI >40 kg/m 2 : Bei moralen, "lower body obese") Adipositas be-
diesem Grad der Adipositas - es handelt steht eine Fettvermehrung vorwiegend im
sich meist um Personen mit einem Ge- Bereich der Hüften und der Oberschenkel
2.1 Anthropometrische Klassifikation 9
android/viszeral gynoid/femoral
(Abb. 2.3). Sie wurde auch Birnenform ("pe- liegt (s. Abschn. 3.4.11). Auch die pathogene-
ar type") genannt. "Gynoid" drückt aus, daß tisehen Vorstellungen beziehen sich über-
sie häufig bei adipösen Frauen (ca. 85%) vor- wiegend auf die Vermehrung von intraabdo-
kommt, wenngleich sie auch bei Männern minalem Fett. Aus diesem Grund wird heute
(ca. 20%) präsent sein kann. Bei dieser Fett- eher von der abdominalen bzw. viszeralen
verteilungsform sind metabolische Begleit- als von der androiden Form der Adipositas
krankheiten nur geringgradig häufiger an- gesprochen.
zutreffen als bei Normalgewichtigen. Andere Die regionale Fettverteilung läßt sich
Krankheiten, die vorwiegend mit der ver- durch Umfangsmessungen abschätzen. Ist
mehrten statischen Belastung zusammen- das Verhältnis von Taille zu Hüfte ("waist-to-
hängen, wie die Gonarthrose, sind ebenso hip ratio") >0,85 bei Frauen und >1,0 bei
häufig anzutreffen wie bei der abdominalen Männern, spricht man von einer abdomina-
Form. Die Untersuchungstechnik ist in Ab- len/androiden Adipositas; liegen die Quo-
sehn. 3.4.2 beschrieben. tienten darunter, von einer peripheren/gy-
Die abdominale (androide, zentrale, vis- noiden (Abb. 2.1). Bei vielen Adipösen kann
zerale, "upper body obese") Adipositas ist die die Fettverteilung allein durch Inspektion
typische "Stammfettsucht" mit einer Fettver- festgestellt werden.
mehrung im Abdominalbereich (Abb. 2.3).
Sie wird auch Apfelform ("apple type") ge-
Taillenumfang
nannt. Die Bezeichnung "android" kommt
daher, weil diese Form bei ca. 80% der Män- Eine Risikobeurteilung kann auch mit der
ner, aber auch 15% der Frauen anzutreffen alleinigen Bestimmung des Taillenumfanges
ist. Der Begriff "abdominal" drückt aus, daß vorgenommen werden (Abb. 2.1). Der Taillen-
eine Fettvermehrung im Abdomen, weniger umfang ist nicht nur ein Maß für das intra-
subkutan als vielmehr intraabdominal vor- abdominale Fett, sondern auch für die Kör-
10 KAPITEL 2 Definition und Klassifikation
perfettmasse. Letzteres kommt dadurch zu- Reihe von Vorschlägen gemacht. Eine Klassi-
stande, daß der Taillenumfang mit der Kör- fikation in endogene und exogene Ursachen
perlänge nur schwach korreliert; bei Män- ist möglich. Bekannt ist die Einteilung von
nern beträgt der Korrelationskoeffizient 0,19 Bray (1992).
und bei Frauen 0,06 (Lean et al. 1995). Einzelheiten dieser Ursachen sowie deren
In einer holländischen Studie wiesen 15% Diagnostik sind in Abschn. 5.4 besprochen.
der Probanden einen BMI <30 kglm 2 auf,
21% jedoch überschritten Taillenumfänge 2.3
von 88 cm (Frauen) bzw. 102 cm (Männer; Andere Klassifikationen
Lean et al.1998). Da der Taillenumfang stren-
ger mit Adipositas-assoziierten Krankheiten Einteilung noch der Fettzelluloritöt
und Beeinträchtigungen der Lebensqualität
In den 60er Jahren wurde begonnen, bei der
korreliert als der BMI und die WHR, werden
Adipositas aufgrund der Fettzellgröße und
mit ihm mehr Risikopersonen identifiziert.
Fettzellanzahl eine hyperplastische und eine
Wie erwähnt, reflektiert der Taillenumfang
hypertrophe Form zu unterschieden. Eine
beides, Körperfett und abdominale Adiposi-
hypertrophe Adipositas besteht, wenn die
tas. Die Klassifikation nach dem Taillenum-
Fettzellen nur vergrößert (> 130 flm), ihre
fang wird auch von der WHO empfohlen
Anzahl jedoch nicht vermehrt ist. Diese Adi-
(WHO 1997).
positasform beginnt meistens im Erwachse-
nenalter oder nach Schwangerschaften und
2.2
ist häufig mit einer stammbetonten (abdo-
Ätiologische Klassifikation minalen) Adipositas vergesellschaftet. Sie
spricht auf therapeutische Maßnahmen rela-
Hinsichtlich einer Einteilung der Adipositas
tiv gut an.
aufgrundursächlicher Faktoren wurden eine
Eine hyperplastische (hyperzelluläre) Adi-
positas weist einer vermehrte Anzahl
(>60x 109 ) von Fettzellen auf. Sie beginnt
Ätiologische Klassifikation
meist schon in der Kindheit, kann sich aber
der Adipositas (mod. nach Bray 1992)
auch später entwickeln. Eine Adipositas mit
• Genetische Syndrome (unvollständig) einer Vermehrung der Fettzellen ist meist
- Prader- Willi-Syndrom nur dann präsent, wenn das Idealgewicht um
- Bardet-BiedJ-Syndrom > 75% überschritten wird. Eine hyperplasti-
- Ahlström -Syndrom sche Adipositas spricht weniger gut auf eine
• neuroendokrine Adipositas Therapie an, sei es in Form von Energie-
- Hypothyreose restriktion oder vermehrter Aktivität (Björn-
- M. Cushing torp et al. 1975; Björntorp 1976). Die Eintei-
- hypothalami eher Symptomenkom- lung der Adipositas nach der Fettzellularität
plex spielt nicht mehr dieselbe Rolle wie vor 20
- Stein-LeventhaJ-Syndrom Jahren.
- Wachstumshormonmangel
- lnsulinom und Hyperinsulinämie
• iatrogene Adipositas Kindliche Adipositas
- Pharmaka ("childhood-onset obesity")
- hypothalamisehe Operationen
• Überernährung Diese Form tritt typischerweise im 1. Le-
• Inaktivität bensjahr, zwischen dem 4. und 11. Lebens-
jahr sowie in der Pubertät auf (Bray 1992).
2.3 Andere Klassifikationen 11
Physiologische Erklärungen für die Entste- psychosoziale Faktoren eine wichtige Rolle.
hung einer Adipositas in bestimmten Ent- Die kindliche Adipositas hat klinische Be-
wicklungsphasen sind bisher wenig über- deutung, weil sie sich häufig lebenslang aus
zeugend, wenngleich neuere Erkenntnisse physiologischen oder psychosozialen Grün-
hinsichtlich der Fettzellentwicklung Erklä- den fortsetzt (Mossberg 1989). Einzelheiten
rungshilfen bieten. Sicherlich spielen auch sind im Kap. 9 nachzulesen.
3 Untersuchungsmethoden
Allein durch das systematische Abfragen der derung des Patienten liefert oft nicht nur
Gewichtsanamnese kommen oft ursächliche inhaltliche Hinweise für eine Fehlernäh-
Gesichtspunkte wie Fehlernährung im El- rung, sondern auch für eine Eßstörung
ternhaus, Aufgabe einer Sportart, Lebenskri- (Kap. 5.3.2). Heutzutage stehen für diese Auf-
sen (z. B. Gewichtszunahme nach Trennung gabe eine Reihe von Hilfsmitteln zur Ver-
vom Partner) und ein bestimmtes Selbstbild fügung. Die Nahrungsmenge und -art kann
ans Tageslicht. Bestehen Zweifel an der Rich- semiquantitativ mit Hilfe von Protokollen
tigkeit der Angaben, kann man sich Fotos und durch Schilderung typischer Gerichte
aus verschiedenen Lebensphasen zeigen oder der Mahlzeiten im Tagesablauf ("re-
lassen; auch das Aktenstudium kann auf- call") erfaßt werden (s.Abschn. 5.2.2).
klären.
Aktivitätsanamnese
Medikamentenanamnese
Die Erfassung der körperlichen Aktivität
Die Frage nach Pharmaka ist unerläßlich, da wird häufig vergessen, wenngleich evident
eine Reihe von Medikamenten zu einer posi- ist, daß eine Adipositas durch eine positive
tiven Energiebilanz führen. Zu ihnen gehö- Energiebilanz entsteht, wofür auch eine kör-
ren vor allen Dingen Glukokortikoide, Östro- perliche Inaktivität verantwortlich sein
gene, Antidepressiva, Insulin und Sulfonyl- kann. Wie bei der Ernährung machen Adi-
harnstoffe (s. Abschn. 5.4.2). pöse häufig wenig verläßliche Angaben; sie
berichten zuviel Bewegung (Lichtman et al.
1992). Ein Bewegungsprotokoll verbessert
Befinden, Beschwerden und Lebensqualität
die Zuverlässigkeit der Angaben (Abschn.
Eine Adipositas allein macht in der Regel 5.3).
keine Beschwerden, von Belastungsdyspnoe,
eingeschränkter Beweglichkeit und Schwit- 3.2
zen abgesehen; Beschwerden sind fast im- Körperliche Untersuchung
mer durch Folgekrankheiten verursacht. Das
Befinden hingegen ist nahezu bei jedem Die körperliche Untersuchung dient dem
Adipösen beeinträchtigt und sollte gezielt Ausschluß bzw. Nachweis von Komorbiditä-
befragt werden. Adipös wird häufig mit ab- ten sowie einer sekundären Ursache der Adi-
norm gleichgesetzt; die psychosozialen Fol- positas. Auf die körperliche Untersuchung
gen sind oft schwerwiegend. Häufig sind von Komorbiditäten der Adipositas kann
eine Verminderung des Selbstwertgefühls, hier nicht eingegangen werden; zu berück-
Identitätskrisen, Depressivität, Partnerpro- sichtigen sind die Begleit- und Folgekrank-
bleme und soziale Diskriminierung in Beruf, heiten in Abschn. 4.3.
Familie, Nachbarschaft und Bekanntenkreis Bei jeder Adipositas muß man ernsthaft
festzustellen (s. Abschn. 4.4). Fragebögen zur die Frage nach einer sekundären Ursache
Ermittlung der Lebensqualität Adipöser ste- stellen. Eine Hypothyreose fällt oft nicht auf,
hen bisher nicht zur Verfügung. Gebräuchli- da Adipöse ohnehin behäbig und ver-
che wie z. B. der SF 36 erfassen die Probleme langsamt wirken (Tabelle 3.1). Der typische
Adipöser nur sehr unzureichend. Habitus beim M. Cushing (s. Abschn. 5.4.1)
kommt bei einer massiven Adipositas mit-
unter kaum zur Geltung, da die subkutanen
Ernährungsanamnese
Fettmassen das äußere Erscheinungsbild
Hier interessieren sowohl Art und Menge der mehr oder weniger stark verändern. Beide
Nahrung als auch das Eßverhalten. Die Schil- Krankheitsbilder müssen daher immer la-
3.3 Laborchemische und technische Untersuchungen 15
A) Sekundäre Adipositas
l. Hypothyreose Trockene Haut, Myxödem, Kälte- Bei der primären (nicht bei der sekundären und
intoleranz, Schwäche, Obstipation, tertiären) Hypothyreose ist das basale und TRH-
Verlangsamung timulierte TSH erhöht; T , und T, sind erniedrigt
2. M. Cushing Vollmondgesicht, Stammfettsuch I, l. Erhöhte Kortisolspiegel im TagesprofiL
Striae rubrae, Osteoporose, Muskel- 2. Erhöhte Ausscheidung von freiem Kortisol im
schwäche 24 h-Urin.
3. Positiver Dexarnethasonhemmtest
3. Polyzystisches Hirsutismus, Virilisicrung, Ultraschall/Laparoskopie: polyzystische Ovarien;
Ovar-Syndrom Amenorrhö/Dysmenorrhö, erhöhtes LH (relativ zu FSH), Hyperandrogenis-
lnfertilität mus, azyklische Östrogenprodukt ion
4. Hypothalami - Hypothalamus- und Hypophysen- Hypothalamusschädigung durch destruktive
scher Symptomen- insuffiz ien1, Hypogenitalismus, Prozesse: Röntgen, CT, Gonadotropine, STH
komplex Diabetes meUitus, Diabetes insipidus
B) Regionale Adipositas
l. Symmetrische Lokale Fettansammlungen häufig
Lipomatose am Rücken und Oberschenkeln,
manchmal schmerzhaft (M. Decrum)
2. Madelung- Massiver, adipöser Hals. Sonderform
Fetthals der symmetri chen Lipomatose
Tabelle 3.2. Medizinisch-technische Untersuchungen bei Adipositas zum Ausschluß/Nachweis von häufigen
Folgeerkrankungen
Parameter Krankheit
Wasserstoff
Fettgewebe Fett Fett
Kohlenstoff
Weichteil-
gewebe
(nicht- Extrazelluläre
muskulär) Flüssigkeit
Q)
"'"'
Wasser
Cl:)
il
:::2:
Q) :::2:
'Q) u.. ::::a:
.:::C/J u.. u..
Intrazelluläre Sauerstoff u..
.0 Skelett-
Flüssigkeit
li
Q)
3: Muskel
Q)
Cl
l:: IZ-Festbestandt.
Q)
u.. Proteine
Extrazellulare
Modelle
Abb. 3.1. Verschiedene Modelle der Körperzusammensetzung: anatomisch, biochemisch, elementar und me-
tabolisch. FFM fettfreie Masse, ZM Zellmasse, IZ intrazellulär. (Nach Heymsfield et al. 1992)
3.4 Bestimmung der Körperzusammensetzung 19
ne, Glykogen, Knochenmineralien und ande- den. Im folgenden werden 4 Modelle von
re Stoffe gebunden. Fett (Triglyzeride) ist Heymsfield et al. (1992) vorgestellt.
vorwiegend in Adipozyten vorhanden. Der
Fettanteil beträgt bei Schlanken <20o/o bei Elementarmodell
Männern und <25o/o bei Frauen, bei morbid Es erfaßt die Elemente; 6 von ihnen reprä-
Adipösen übersteigt er nicht selten SOo/o. sentieren 99o/o der Gewebeteile (Abb. 3.1).
Fettgewebe besteht intrazellulär aus Trigly- Wenngleich sich heutzutage eine solche Ana-
zeriden, Proteinen und Flüssigkeit, extrazel- lyse, wenn auch aufwendig, durchführen
lulär aus Flüssigkeit, Elektrolyten, Kollagen läßt, bringt sie hinsichtlich des Körperfettes
und Strukturproteinen. Es enthält ca. 80o/o wenig Information, da im Fettgewebe nahe-
Lipide, 15o/o Wasser und So/o Protein. Proteine zu alle Elemente vorhanden sind.
sind im Körper mit 4-15 kg ebenfalls intra-
und extrazellulär vertreten. Im Muskel sind Chemisch-biologisches Modell
vorwiegend kontraktile Aktomyosinprotei- Bei ihm werden 4 Kompartimente unter-
ne, im Bindegewebe Strukturproteine vor- schieden: Fett, Wasser, Proteine und Minera-
handen. Neuerdings ist es möglich, den Pro- lien; die 3 letzten werden als fettfreie Masse
teingehalt über den Körperstickstoff mittels (Magermasse) bezeichnet. In der Adipositas-
Neutronenaktivierung in vivo zu bestim- forschung wird meistens mit einem Zwei-
men. Da der Stickstoffanteil in Proteinen re- kompartimentmodell gearbeitet, wobei zwi-
lativ konstant ist ( 16o/o ), lassen sich damit der schen Fettmasse und fettfreier Masse ("fat
Eiweißgehalt und damit wiederum die Mus- free mass", FFM) unterschieden wird. Bei der
kelmasse relativ verläßlich bestimmen. Ermittlung der einzelnen Kompartimente
Die Mineralien sind vorwiegend im Kno- werden bestimmte Annahmen gemacht, die
chen und im Weichteilgewebe verteilt. Kali- man kennen muß.
um (ca. 140 g) und Chlor sind ausschließlich Es wird angenommen, daß das Gesamt-
im Weichteilgewebe vorhanden, Kalzium (ca. körperwasser ein fixer Anteil (K: Konstante)
1.000 g) hingegen nur im Knochen. Die Ver- der fettfreien Masse ist:
teilung von Kalium ist hier insofern von Gesamtkörperwasser
Wichtigkeit, weil die Bestimmung des Ganz- a) K = 0,732
fettfreie Masse
körperkaliums zur Ermittlung der Fettmasse
herangezogen werden kann (s. S. 26). Gesamtkörperwasser
b) fettfreie Masse
0,732
Modelle der Körperzusammensetzung Die Fettmasse wird aus der Differenz des
Da man eine exakte Bestimmung der Kör- Körpergewichts und der fettfreien Masse
perzusammensetzung nur durch Untersu- ermittelt (Abb. 3.1). Die fettfreie Masse läßt
chung der Leiche erhält, ist man im klini- sich aus dem Gesamtkörperwasser errech-
schen Alltag und bei wissenschaftlichen Un- nen (s. oben). Das Gesamtkörperwasser kann
tersuchungen aufln-vivo-Berechnungen der mit Deuterium, Tritium oder über den elek-
Körperzusammensetzung angewiesen. Alle trischen Widerstand ermittelt werden.
Meßmethoden liefern nur Annäherungswer- Kalium wird gemessen; es befindet sich
te. In den letzten Jahren sind eine ganze Rei- fast ausschließlich in der fettfreien Masse:
he von Modellen entwickelt worden, die zum Gesamtkörperwasser
Verständnis der Körperzusammensetzung a) Kalium
fettfreie Masse
hilfreich sind. Vor- und Nachteile einer Meß-
methode können bei Kenntnis der theoreti- Gesamtkörperkalium
b) fettfreie Masse= - - - - - - -
schen Grundlagen besser abgeschätzt wer- Kalium
20 KAPITEL 3 Untersuchungsmethoden
ist heute bereits, wenn auch sehr aufwendig, Beispiel: Eine Frau wiegt 94 kg bei einer
in vivo möglich. Das Körperwasser läßt sich Größe von 168 cm. BMI = 94 dividiert durch
mit Hilfe von Isotopenverdünnungen (Deu- 1,6822 (= 2,82) = 33,3 kglm2 •
terium, Tritium) und aufgrund des elektri- Mit Hilfe des BMI läßt sich die Körper-
schen Widerstandes relativ zuverlässig mes- fettmasse errechnen. Garrow u. Webster
sen. Eiweiß bzw. Mineralien können mittels (1985) bestimmten bei 286 Frauen und Män-
Neutronenaktivierung von Stickstoff bzw. nern mit Hilfe der Körperdichte, des Körper-
Kalzium ziemlich exakt bestimmt werden. wassers und des Körperkaliums (Standard-
Nur die direkte Messung des Körperfetts be- methoden) die Fettmasse. Aufgrund von Re-
reitet Schwierigkeiten. Sind 3 Kompartimen- gressionsgleichungen stellten sie folgende
I
te bekannt, kann es natürlich aus der Diffe- Formeln zur Bestimmung der Körperfett-
renz zum Körpergewicht errechnet werden. masse auf:
für Frauen
3.4.2 Körperfettmasse =
Anthropometrie (0,713 X BMI- 9,74) X Körpergröße2 [m2 ],
für Männer
Gewicht-Längen-Indizes Körperfettmasse =
(0,715xBMI-12,1) xKörpergröße2 [m2 ].
Broca-Index
Die Methode, die der französische Chirurg Alle anderen Gewicht-Längen-Indizes wie
Broca im letzten Jahrhundert entwickelt hat, der Ponderal-Index, Sheldon-Index oder
wird bis heute in Deutschland noch häufig Rohrer-Indexspielen heutzutage keine Rolle
verwandt. Nach Brocas Formel wird das Nor- mehr.
malgewicht in kg wie folgt berechnet:
Normalgewicht = Körperlänge [cm]-100, Umfangsmessungen
Körpergewicht Von Interesse sind vorwiegend die Messun-
der Broca-Index ist demnach: N al "eh
orm gew~. t gen an Taille und Hüfte; aus beiden kann das
Relativgewicht nach Broca [%]: Taille-Hüft-Verhältnis errechnet werden, die
Körpergewicht x 100 sog. "waist-to-hip ratio" (WHR). Zur Mes-
Normalgewicht sung benötigt man ein nicht dehnbares Maß-
band von mindestens 1,5 m Länge; abgelesen
Bei Frauen wird üblicherweise 10% subtra- wird auf 1,0 cm genau.
hiert. International und in der Wissenschaft- Der Meßvorgang erfolgt am entkleideten
liehen Literatur spielt der Broca-Index keine und stehenden Patienten in leichter Exspira-
Rolle mehr. Der Grund ist darin zu sehen, daß tion. Zur Messung der Taille wird das Maß-
er relativ schlecht mit der Körperfettmasse band mit seitlicher Orientierung zwischen
bei kleinen und großen Personen korreliert. Rippenunter-und Beckenoberrand horizon-
Auch bezüglich der Vorhersagbarkeit von tal um den Patienten gelegt. Dort tastet man
Komorbiditäten ist er dem BMI unterlegen. Weichteile zwischen Knochenstrukturen. Bei
3.4 Bestimmung der Körperzusammensetzung 21
Normalgewichtigen ist diese Linie in der bogene, bewegliche Branchen, deren Enden
Taille etwa in Nabelhöhe. Bei extrem Adipö- etwas verbreitert sind. Bei wissenschaftli-
sen ist der Nabel im Stehen meist tiefer loka- chen Untersuchungen kommen häufig Ca-
lisiert; auch eine Taille ist nicht mehr auszu- liper der Firmen Holtain, Harpenden oder
machen. Am liegenden Patienten wird der Lange zur Anwendung. Diese Markengeräte
Taillenumfang im Durchschnitt um 0,3 cm garantieren einen gleichbleibenden Auflage-
größer und der Hüftumfang um 3,8 cm klei- druck bei allen öffnungsweiten. Die Öffnung
ner gemessen (Williamson et al. 1993). Der der Branchen wird meist auf einer Rundska-
Hüftumfang ist der größte Umfang über dem la abgelesen; inzwischen gibt es auch digitale
Trochanter major. Anzeigen mit und ohne Ausdruck. Der Bran-
Folgende Klassifikation wird von den chendruck sollte auf 10 g!cm 3 justiert sein.
meisten Autoren vorgenommen (Abb. 2.1):
Meßparameter
• abdominale Adipositas: Taille-Hüft-Rela-
Mit Zeigefinger und Daumen (der einen
tion bei Frauen >0,85, bei Männern > 1,0,
Hand) wird eine "Falte", d.h. eine doppelte
• periphere Adipositas: Taille-Hüft-Rela-
Schicht aus Epidermis, darunterliegender
tion bei Frauen <0,85, bei Männern <1,0.
Faszie und dem subkutanen Fettgewebe ab-
Nach neueren Vorstellungen genügt zur gehoben und mit der Zange (in der anderen
Klassifizierung der Fettverteilung auch die Hand) gemessen. Erfaßt wird somit vorwie-
alleinige Messung des Taillenumfanges. Eine gend die subkutane Fettschicht, deren Dicke
abdominale Adipositas besteht bei folgen- von der Körperregion abhängt. Weit verbrei-
den Umfängen (Abb. 2.1): tet sind die 4 Meßpunkte nach Durnin u. Wo-
mersley (1974): über dem M. triceps (Rück-
• Frauen: >80 cm geringgradig;
seite des Oberarms zwischen Olekranon und
>88 cm deutlich,
Akromion), über dem M. biceps (Vorderseite
• Männer: >94 cm geringgradig;
des Oberarms zwischen Ellenbeuge und
> 102 cm deutlich.
Akromion), subskapular (lateraler unterer
Skapulawinkel) und suprailiakal (über der
Hautfaltendickemessung
Crista iliaca in der mittleren Axillarlinie).
Gerät Wichtig dabei ist, die Hautfalte über dem
Gemessen wird mit einer Meßzange, auch Trizeps und Bizeps in der langen Achse der
Caliper genannt (Abb. 3.2). Sie besitzt 2 ge- Extremität, suprailiakal horizontal und sub-
skapular 45 o zur Vertikalen abzuheben. zu- zu untersuchenden Gewebes. Diese kann bis
sätzliche Messungen an anderen Körperstel- zu 40% variieren. Besonders kompressibel
len, z. B. am Abdomen, Oberschenkel, Unter- sind die suprailiakale Region und die Stelle
schenkel, an der vorderen Axillarlinie usw. am Oberarm (Kuczmarski et al. 1987).
sind möglich.
Mit der Hautfaltendickemessung wird die Anwendungsbereiche
subkutane Fettmasse erfaßt, die ca. 75% der Die Caliper-Methode ist die am weitesten
Gesamtkörperfettmasse ausmacht. Aus der verbreitete Methode zur Bestimmung der
Summe mehrerer Hautfaltendicken läßt sich Körperfettmasse. Da der Geräteaufwand mi-
die Fettmasse abschätzen (Durnin u. Wo- nimal ist, ist die Hautfaltendickemessung für
mersley 1974). Die Angaben sind alters- und Feldversuche geradezu prädestiniert. Sie
geschlechtspezifisch (Tabelle 3.3). Werden kann in der Klinik, der Praxis und bei wis-
Meßstellen am Arm mit denen am Stamm senschaftlichen Untersuchungen gleicher-
kombiniert, lassen sich Aussagen über die maßen eingesetzt werden; in vielen großen
Fettverteilung machen. Untersuchungs-Surveys kam sie zur Anwen-
dung. Gut geeignet ist sie bei Kindern. Bei ca.
Genauigkeit 2/3 aller Adipösen kann jedoch die Hautfalte
An der Meßzange erfolgt die Ablesung auf subskapular und suprailiakal nicht korrekt
1 mm genau. Der Fehler wird bei gleichem abgehoben werden, am Abdomen trifft das
Untersucher mit viel Erfahrung relativ ge- sogar für die meisten zu.
ring mit 3-6% angegeben, was etwa 2-4 kg
Körperfett entspricht; bei verschiedenen Sagittaler abdominaler Durchmesser
Untersuchern beträgt der Variationskoeffizi- Die Messung der abdominalen Tiefe ("sagit-
ent 10-20% (Garrow 1988; van der Kooy u. tal abdominal depth",SAD) ist inzwischen
Seideli 1993). Gefordert werden an jeder wegen der Einfachheit weit verbreitet (Sjö-
Körperstelle 3 sukzessive Messungen. Das ström 1991). Beim auf dem Rücken liegen-
Hauptproblem liegt in der Kompression des den Patienten wird in Höhe von 14 (über der
Tabelle 3.3. Relatives Körperfett (o/o) bei Männern und Frauen unterschiedlichen Alters. Die Hautfaltendicke
ist die Summe aus 4 Messungen (Bizeps, Trizeps, subskapular, suprailiakal). (Nach Durnin u. Womersley 1974)
Crista iliaca) bei leichter Exspiration die Di- mit 0,9 g/cm 3 und die der fettfreien Körper-
stanz zur Unterlage gemessen. Die Liege soll- masse mit 1,1 g/cm 3 konstant ist. Der Dichte-
te wenig komprimierbar sein. Die Bestim- wert der fettfreien Masse variiert nur leicht
mung wird mit Hilfe einer Meßvorrichtung hinsichtlich Alter, Geschlecht, Rasse und
am Untersuchungstisch, einer Schublehre Trainingszustand (Garrow 1988). Nach Er-
oder einem Caliper durchführt. Die Korrela- mittlung der Dichte läßt sich das relative
tion der Abdominaltiefe mit der durch CT Körperfett nach der Formel von Siri (1956)
ermittelten viszeralen Fettfläche wird sehr berechnen:
unterschiedlich mit r-Werten zwischen 0,46 4,95 g/cm
und 0,96 angegeben (van der Kooy u. Seideli Körperfett (%) = -4,5
Dichte (Q)
1993). Sjöström (1991) und Tornaghi et al.
(1994) fanden in aufwendigen Untersuchun-
Die Körpermasse läßt sich einfach und prä-
gen einen Korrelationskoeffizienten von 0,74
zise durch Wägung bestimmen. Das Körper-
bzw.0,89.
volumen hingegen kann mit verschiedenen
Der Fehler für die Bestimmung der Fett-
Methoden hinreichend ermittelt werden:
masse wird mit ca. 1Oo/o, der für die fettfreie
Masse mit ca. 20% im Vergleich zum CT an- Die Messung der reinen Wasserverdrän-
gegeben. In der Baltimore Longitudinal Stu- gung wird aufgrund der hohen Meßunsi-
dy on Aging (Seidell et al. 1994) wurde ge- cherheit nur noch selten praktiziert.
zeigt, daß der sagittale Diameter ein besserer Häufiger kommt die Volumenermittlung
Prädiktor für die Gesamtsterblichkeit als nach dem Prinzip des Arehirnedes zur An-
auch für die Sterblichkeit aufgrund einer wendung. Hierbei wird der Proband
koronaren Herzkrankheit ist als das Gewicht zunächst in Luft und dann völlig unter
bzw. der BMI. Wasser gewogen. Bei dieser "Unterwasser-
Die anthropometrische Bestimmung des wägung" müssen die Gasvolumina im Re-
sagittalen abdominalen Diameters ist ein spirations- und Gastrointestinaltrakt be-
Maß für die viszerale Fettmasse. Diese Größe stimmt bzw. geschätzt werden. Das Resi-
korreliert gut mit dem computertomogra- dualvolumen kann durch "Einwaschen"
phisch ermittelten sagittalen Durchmesser mit Helium oder durch "Auswaschen" des
(r=0,8-0,9) und mit kardiovaskulären Risi- Stickstoffs in der Lunge bestimmt wer-
kofaktoren und der Mortalität (s. Abschn. den. Für den Gastrointestinalbereich wer-
3.4.11). den gewöhnlich 100 ml Gas veranschlagt.
• In Ulm wurde eine Volumenmeßanlage
nach Grundvorstellungen von Irsigler et
3.4.3 al. (1975) entwickelt, die die Bestimmung
Dichtemessung (Densitometrie) des gasfreien Körpervolumens durch eine
Kombination von Verdrängungsmessung
Meßprinzip und Anwendung der Zustandsgleichung
Aus der Körpermasse und dem Körpervolu- der Gase erlaubt (Wenzel 1998). Dieses
men wird die Körperdichte nach folgender Verfahren ("Ulmer Faß') wird im folgen-
Gleichung ermittelt: den kurz beschrieben.
.. .. r-"p_e_rm_a_s_s_e..:._(m--'-)
d. h ( ) _K_o_
Korper IC te Q =
Körpervolumen (v) Meßvorgang ("Ulmer Faß")
Das Kernstück der Volumenmeßanlage ist
Aus der Körperdichte kann auf das Körper- ein Faß aus Edelstahl, das durch einen
fett geschlossen werden. Angenommen wird Deckel mit einer Plexiglashaube vakuum-
dabei, daß die Dichte von menschlichem Fett dicht verschlossen werden kann (Abb. 3.3).
24 KAPITEL 3 Untersuchungsmethoden
Genauigkeit
Bei Mehrfachmessungen mittels der Unter-
wasserwägung bewegt sich die Meßgenauig-
keit um ±0,002-0,007 g!cm 3 • Die Meßunsi-
cherheit wird durch die schwierige Erfas-
sung de~ Gasvolumina sowie durch Bewe-
gungen des Probanden im Wasser verur-
sacht. Mit dem "Ulmer Faß" wird eine Meß-
genauigkeit von ± 70 cm 3 für die Einzel-
messung erreicht. Das macht eine Unsicher-
heit bei einem 100 kg schweren Menschen
hinsichtlich der Körperfettmasse von ± 325 g
aus (Wenzel1998).
Anwendbarkeit
Die Densitometrie ist - je nach Verfahrens-
art - mehr oder weniger belastend für den
Abb. 3.3. Meßapparatur zur Dichtemessung ("Ulmer Probanden. Sie erfordert einen sehr hohen
Faß"); Einzelheiten s. Text. (Foto: Dr. Wenzel) Aufwand hinsichtlich Meßapparatur und
Zeit; sie ist damit wissenschaftlichen Fra-
gestellungen vorbehalten. Die Densitometrie
Zur Volumenmessung wird das "Ulmer Faß" wird häufig als Referenzmethode ("goldener
zunächst mit Wasser bis zu einer bestimm- Standard") für andere Methoden herangezo-
ten Höhe gefüllt. Auf diese Weise ist das gen. Die Berechnung der Körperfettmasse
oberhalb der Wasseroberfläche befindliche aufgrund der Dichte wird von einigen Auto-
Haubenleervolumen exakt bestimmbar. Da- ren kritisch gesehen (Rochew u. Chumlea
nach wird dem Faß eine meßbare Wasser- 1992), da insbesondere die Dichte der fett-
menge entnommen, wodurch das Gasvolu- freien Masse Schwankungen unterliegen
men im geschlossenen Faß vor Einstieg des kann. Diese Unsicherheit läßt sich weitge-
Probanden bekannt ist. Die entnommene hend beseitigen, wenn die Densitometrie mit
Wassermenge wird so gewählt, daß der Was- einer Methode zur Bestimmung des Körper-
serpegel dem Probanden - nach Einstieg ins wassers (z.B. D2 0) oder/und zur Messung
Faß - im Halsbereich zu liegen kommt. Dann der Knochenmasse (z. B. DXA) kombiniert
wird das Faß vakuumdicht verschlossen. Das wird. Dadurch kann ein Mehrkompartment-
gesamte im Faß verbleibende und im Men- modell zur Ermittlung der Körperzusam-
schen vorhandene Restgasvolumen wird in mensetzung angewandt werden.
einem Unterdruckversuch unter Anwendung
der Zustandsgleichung der Gase bestimmt.
Das gasfreie Körpervolumen des Probanden
ergibt sich aus der Differenz des Gasvolu-
3.4 Bestimmung der Körperzusammensetzung 25
Meßprinzip Meßvorgang
Die BIA-Methode mißt den elektrischen Zwei Elektroden werden an einem Fuß ange-
Wechselstromwiderstand im Körper. Übli- legt; die distale Elektrode über den Zehen-
cherweise wird ein Wechselstrom mit50kHz wurzeln II und III und die proximale an der
und einer Stromstärke von 800 f.lA an den Vorderseite in Höhe der tibialen und fibula-
Körper angelegt. Ströme mit niederen Fre- ren Malleoie (Abb. 3.4). Die anderen beiden
quenzen (<5 kHz) durchdringen die Zell- Elektroden werden an der gleichseitigen
membranen aufgrund ihrer kapazitativen Hand plaziert, distal über den Fingerwurzeln
Eigenschaften nicht; gemessen wird damit in Verlängerung des Mittelfingers, proximal
nur extrazelluläres Wasser. Ströme mit höhe- in Höhe der ulnaren und radialen Malleole.
ren Frequenzen (>50kHz) durchdringen- je Der Elektrodenabstand soll jeweils minde-
höher die Frequenz desto besser - Zellmem- stens eine Handbreite betragen. Der Strom-
branen und erfassen vorwiegend das Ge- eintritt erfolgt am Fuß, der Spannungsabfall
samtkörperwasser. Fett ist arm an Flüssig- tritt an den Handelektroden auf. Die Strom-
keit und Elektrolyten und hat daher einen leitung ist zum Volumen und zur Länge des
hohen elektrischen Widerstand. Die fettfreie zu untersuchenden Objektes linear. Die Be-
Masse (Magermasse) enthält dagegen relativ ziehung Körpergröße 2 /Widerstand zur Be-
viel Flüssigkeit; der angelegte Strom fließt stimmung der fettfreien Masse korreliert gut
daher hauptsächlich durch die fettfreie Kör- mit Standardmethoden (Lukasi 1992).
permasse. Der Wassergehalt ist bei Gesun- Heutzutage werden tetrapolare Meßan-
den ziemlich unabhängig vom Alter und ordnungen bipolaren gegenüber bevorzugt,
vom Geschlecht; er ist umgekehrt proportio- da sich der Eintrittswiderstand auf diese
nal zum Widerstand. Der elektrische Wider- Weise verringern läßt. Gemessen werden 2
stand hängt auch von der Körpertemperatur Größen: der Wechselstromwiderstand (fl)
und der Körpergeometrie ab. Die genannten und die Phasenverschiebung des Stroms zur
Prinzipien erklären, weshalb die Messung in Spannung (Phasenwinkel a). Aus diesen
einem gut temperierten Raum, nach Ent- Meßgrößen lassen sich die Resistance und
die Reactance ermitteln. Die Resistance ent- nicht mehr (Segal et al. 1985b). Der Fehler
spricht dem induktiven Widerstand und ist bei Wiederholungsmessungen an verschie-
zum Wasservolumen und Elektrolytgehalt denen Tagen liegt zwischen 0,5 und 1,Oo/o, der
weitgehend linear (Lukasi 1992) Die Reac- Variationskoeffizient beträgt ca. 2% (Lukasi
tance spiegelt den kapazitativen Widerstand 1992). Problematisch ist möglicherweise die
wider und entsteht durch Zellmembranen, Messung bei Änderung der Körpergewichts
die wie Kondensatoren wirken; sie ist pro- unter einer Reduktionskost (Deurenberg
portional zum Zellvolumen. (1989) sowie bei anderen Zuständen mit Än-
Zwischen der Impedanz (Z) und der Resi- derung der Körperhydratation (z. B. Öde-
stance (R) sowie der Reactance (Xe) besteht men). Bei Änderung des Gewichtes von
folgende Beziehung: 1,2 kg!Woche zeigte sich jedoch eine gute
I Z 2 = R2 + Xc2 Übereinstimmung mit der Deuteriumver-
dünnungsmethode (r=0,97; Kushner 1990).
In letzter Zeit sind auch Multifrequenztech-
niken entwickelt worden. Ob diese der bishe-
rigen Technik überlegen sind und zwischen Die Impedanzmethode ist für klinische Zwecke
Gesamtkörper- und extrazellulärem Wasser gut geeignet.
unterscheiden können, wird sich zeigen
(Jebb u. Elia 1993).
Meßgrößen Anwendungsbereich
Da der Strom vorwiegend durch Flüssigkei- Die BIA-Methode kann inzwischen als
ten in der fettfreien Masse fließt, wird im we- etabliert gelten (Fischer 1991). Ein breiter
sentlichen das Körperwasser erfaßt. In den Anwendungsbereich ist gerechtfertigt, weil
vergangeneo Jahren sind eine Reihe Formeln die Methode relativ genau, reproduzierbar,
aufgrund von Regressionsgleichungen ent- schnell, angenehm und preisgünstig ist; das
wickelt worden, mit deren Hilfe sich die fett- Gerät (Preis ca. 2.000-10.000 DM) ist tragbar.
freie Masse und Fettmasse errechnen lassen. Die Methode kann auch bei Kindern pro-
Durch Einbeziehung der Reactance kann die blemlos angewendet werden. Im Unterschied
Körperzellmasse ermittelt werden; die fett- zur Hautfaltendickemessung ist sie bei allen
freie Körpermasse kann damit in eine intra- Patienten anwendbar, auch bei extrem Adi-
und extrazelluläre Komponente unterteilt pösen. Ob man mit der Impedanzmethode
werden (Abb. 3.1). Kommerzielle Geräte die Körperzellmasse ("body cell mass",
drucken gewöhnlich in Absolut- und Rela- BCM) bei Adipösen valide bestimmen kann,
tivwerten das Körperwasser, die fettfreie ist noch nicht gesichert. Es gibt zwar Ver-
Masse und die Fettmasse aus, manche zu- gleichsuntersuchungen mit der Bestimmung
sätzlich die Körperzellmasse und die extra- des Ganzkörperkaliums (s. unten), die eine
zelluläre Masse. gute übereinstimmung zeigen; 97% des Ka-
lium befindet sich intrazellulär und reflek-
Genauigkeit tiert daher die Zellmasse verläßlich. Die Stu-
Vor allem Lukasi (1992) und Segal et al. dien wurden allerdings an Gesunden, Nie-
(1985b) haben sich um die Validität dieser renkranken bzw. HIV-Infizierten und nicht
Methode bemüht. Verglichen mit der Densi- an Adipösen vor und nach Gewichtsreduk-
tometrie fanden sie Korrelationen zwischen tion durchgeführt. Die Bestimmung der Kör-
0,91 und 0,95 hinsichtlich des Körperfettes. perzellmasse bzw. des Verhältnisses der Ex-
Einige Formeln unterschätzen den Fettan- trazellulärmasse/Körperzellmasse zur Beur-
teil bei deutlich Adipösen; neuere angeblich teilung einer Mangelernährung unter einer
3.4 Bestimmung der Körperzusammensetzung 27
kann. Die DXA-Methode findet daher auch men zu Ergebnissen, die nur um 4o/o differie-
bei der Bestimmung der Fettverteilung und ren. Verglichen mit der Densitometrie liegt
der Ermittlung der intraabdominalen Fett- die Korrelation hinsichtlich der fettfreien
masse Verwendung (Kap. 3.4.11). Nachteilig Masse bei r =0,95.
hingegen ist die, wenn auch mit ca. 1 mR ge-
ringe Strahlenbelastung. Anwendungsbereich
Die Methode wird ausschließlich zu For-
schungszwecken benutzt. Sie gilt als die be-
3.4.6
ste zur Bestimmung des Körperwassers. Tri-
lsotopenverdünnungsmethoden
tium ist wegen der Radioaktivität einge-
schränkt einsetzbar.
Ganzkörperwasser
(Deuterium, Tritium, 18-Sauerstoff)
Ganzkörperkalium
Meßprinzip
Zur Bestimmung des Körperwassers bieten Meßprinzip
sich Substanzen an, die sich ausschließlich Ein winziger Teil des Kaliums im menschli-
im Wasser verteilen. Die Verdünnung der chen Körper, nämlich 0,012%, ist radioaktiv
Testsubstanzen ist proportional dem Vertei- und stammt von dem natürlichen Isotop 40 K.
lungsvolumen. Üblicherweise werden Deute- Die ausgesandten y-Strahlen mit 1,46 keV
rium (D 2 0; stabiles, schweres Isotop von können in einem sog. Ganzkörperzähler er-
Wasserstoff}, 18-Sauerstoff (H 2 18 0; stabiles, faßt werden. Die Detektoren bestehen entwe-
schweres Isotop von Sauerstoff) oder Tri- der aus einen flüssigen Szintillator oder kri-
tium eH 2 0; radioaktives Isotop von Wasser- stallinen Elementen. Um die Umgebungs-
stoff) verwendet. Die Substanzen werden ge- strahlung zu minimieren, ist das Gerät von
wöhnlich oral verabreicht. Aliquots könnten einem Mantel aus Stahl und Blei umgeben.
im Plasma, Urin oder Speichel bestimmt Der Patient wird zur Messung auf einer Liege
werden. Deuterium kann mit Hilfe der Gas- in den Ganzkörperzähler geschoben; die
chromatographie, der Infrarotabsorption Meßzeit beträgt 30-60 min (Jebb u. Elia 1993).
oder der Massenspektrometrie bestimmt
werden, 18-Sauerstoff nur mit der letzteren Meßparameter
Methode. Tritium läßt sich einfach aufgrund Gemessen wird Kalium, das vorwiegend in
der Radioaktivität in einem Szintillations- der fettfreien Masse vorhanden ist; 97o/o be-
zähler messen (Schoeller 1992}. findet sich intrazellulär. Da der Kaliumgehalt
relativ konstant ist, läßt sich daraus die fett-
Meßparameter freie Masse errechnen: bei Frauen sind es
Gemessen wird die Verteilung des Isotops im 60 mmol!kg und bei Männern 66 mmol!kg
Körperwasser. Da der Wassergehalt der fett- (Garrow 1988}.
freien Masse mit 73% relativ konstant ist,
können daraus die fettfreie Masse und aus Genauigkeit
der Differenz zum Körpergewicht das Kör- Die Messung ist mit einem Fehler von ca. 3o/o
perfett errechnet werden. Nicht verwendbar ziemlich präzise. Ein Problem ist jedoch die
ist die Messung bei akuter Diuretikatherapie Kalibrierung, da ein Teil der Strahlung von
oder Krankheitszuständen mit Ödembildung. 40 K vom Körper selbst absorbiert wird. Eine
Kalibrierung mit geeigneten Phantomen ist
Genauigkeit daher notwendig. Beeinflussen Krankheiten
Der Meßfehler bei wiederholten Messungen oder Interventionen den Kaliumgehalt des
liegt um 2%. Verschiedene Untersucher kom- Körpers, ist die Messung unzuverlässig.
3.4 Bestimmung der Körperzusammensetzung 29
die Fläche errechnen, bei Anfertigung meh- sischen magnetischen Eigenschaften richten
rerer Schnitte das Volumen. sich entsprechend dem magnetischen Feld
aus. Werden die Radiowellen unterbrochen,
Meßparameter kehrt der Kern in seine ursprüngliche Posi-
Mit dem er läßt sich Fett anatomisch erfas- tion zurück und emittiert zuvor absorbierte
sen, sowohl das subkutane als auch das vis- Energie. Diese Emission wird von einem De-
zerale. Dazu erfolgen Schnitte in Höhe von tektor erfaßt. Die generierten Bilder sind
L 3 -L4 bzw. L4 -L5 (etwa Nabelhöhe). Soll die ähnlich dem er-Bild. Die Präzision ist je-
Gesamtkörperfettmasse abgeschätzt werden, doch mit einem Variationskoeffizienten von
sind multiple Scans erforderlich. 5-7o/o deutlich geringer; die Untersuchungs-
dauer beträgt bei einer Schnittebene 20 min.
Genauigkeit Von Vorteil ist die fehlende Strahlenbela-
Das er hat mit einem Variationskoeffizien- stung, nachteilig sind zudem die sehr hohen
ten von 1o/o eine sehr gute Präzision (van der Kosten.
Kooy u. Seideli 1993). Problematisch ist die
Unterscheidung von retroperitonealem und
3.4.11
intraperitonealem (omental, mesenterisch)
Bestimmung der viszeralen Fettmasse
Fett, da sich das Peritoneum nicht darstellt.
Auch die Streustrahlung an Knochen kann
Computertomographie (CT)
ein Problem sein. "Multiple scans" sind ei-
und Kernspintomographie (NMR)
nem "single scan" zur Ermittlung der intra-
abdominalen Fettmasse überlegen (Heyms- Beide Methoden sind derzeit der goldene
field et al. 1992; Sjöström 1991). Standard zur quantitativen Erfassung des
viszeralen Fettes (s. oben). Hinsichtlich der
Anwendbarkeit Bildqualität ist das er dem NMR überlegen.
Das er ist äußerst präzise, jedoch teuer in Aufgrund der hohen Kosten (er und NMR)
der Anwendung und mit Strahlenbelastung und der Strahlenbelastung (CT) sind sie wis-
verbunden; Kinder und Schwangere können senschaftlichen Fragestellungen vorbehal-
daher nicht untersucht werden. Ein "single ten. Von der Planimetrierung der Fettflächen
scan" dauert 10 s, "multiple scans" können erhält man über Annäherungsformeln die
mehr als 1 h in Anspruch nehmen. Subkuta- viszerale Fettmasse in g oder cm3 • Genauer
nes Fett läßt sich klar vom viszeralen unter- ist die quantitative Bestimmung, wenn Scans
scheiden; letzteres setzt sich aus omentalem, in mehreren Ebenen durchgeführt werden
viszeralem und retroperitonealem Fett zu- (Heymsfield et al. 1992).
sammen (Abb. 3.6). Zur Ermittlung der viszeralen Fettmasse
kann auch nur der sagittale abdominale
Durchmesser bestimmt werden. Nach einer
Mit der Computertomographie (Cl) läßt sich er-basierten Studie von Sjöström (1991)
das viszerale Fett am besten bestimmen. lassen sich durch Messung des Gewichts, der
Größe und des sagittalen abdominalen
Durchmessers die gesamte, subkutane und
viszerale Fettmasse sowie die fettfreie Kör-
Bei der Kernspintomographie (NMR, "nucle- permasse nach folgenden Formeln errech-
ar magnetic resonance", oft auch "magnetic nen:
resonance imaging", MRI genannt) wird der
Körper einem magnetischen Feld und Ra-
diofrequenzen ausgesetzt. Kerne mit intrin-
I Gesamtfettmasse [I)
bei Frauen = 1,6l x W/H - 38,3,
bei Männern = 1,36 x W/H - 42,0,
3.4 Bestimmung der Körperzusammensetzung 33
Tabelle 3.4. Vor- und Nachteile verschiedener Me- sehr gut, +gut, +/- vertretbar, - nachteilig. (Nach
thoden zur Bestimmung der Körperzusammenset- Deurenberg u. Schutz 1995)
zung unter Gewichtsreduktion.+++ exzellent, ++
Kadaver-Analyse +++
Neutronenaktivierung +++ ++ ++
Densitometrie ++ + ++ +I-
Verdünnungsmethode ++ +I- (- ) + +
''"K-Methodc ++ ++ ++
"Dual-energy X-ray absorptiometry" (DXA) ++ ++ ++
Computertomographie (CT) ++(+) ++ ++
Kernspintomographie (NMR) ++ +(+) +
Anthropometrie + +++ ++ +
Infrarotspektrometrie + ++ ++ +(+)
Ultraschallmessung + ++ ++ ++
Bioelektrische Impedanz + + +++ +++
Kreatinine/N -Methyl-Histidin-Exdretion + ++
der Körperflüssigkeit In den meisten me- stimmung des Stickstoffs, verglichen (Ta-
thodischen Studien zur Körperzusammen- belle 3.5). 12 Frauen mit einem BMI von
setzung unter Gewichtsabnahme wurden 22,2-43,3 kg/m 2 wurden vor und 3-5,5 Wo-
meist 2 oder 3 Methoden miteinander vergli- chen nach einer Gewichtsreduktion mit
chen. Beim Swansea Trial (Ryde et al. 1993) Hilfe einer Formuladiät ("Cambridge Diet")
wurden jedoch zur Ermittlung der fettfreien untersucht. Die Diät wies 405 kcal/Tag auf
Masse (FFM) 8 verschiedene Methoden ein- und enthielt als Hauptnährstoffe 42 g Eiweiß,
gesetzt und mit der Neutronenaktivierung, 8 g Fett und 44,1 g Kohlenhydrate; die Ge-
einer ziemlich genauen Methode zur Be- wichtsabnahme betrug im Mittel16 kg.
Tabelle 3.5. FFM-Abnahme durch Reduktionskost: sehe Impedanzanalyse, TRIM "tissue resonance im-
verschiedene Techniken. Änderung der fettfreien pedance measurement"; TBW ("total body water",
Körpermasse (FFM) durch Gewichtsreduktion mit Gesamtkörperwasser); HF Hautfaltendicke; IRI "in-
Hilfe einer Formuladiät (Cambridge Diet) über frared interactance"; TBK ("total body potassium",
4-5 Wochen. Bestimmung mit verschiedenen Me- Gesamtkörperkalium). (Swansea Trial, Ryde et al.
thoden. NAA Neutronenaktivierung; BIA bioelektri- 1993)
Häufigkeit in nationalen
Die Adipositas bietet einfache epidemiologi-
Untersuchungs-Surveys
sche Untersuchungsmöglichkeiten, da es
sich um einen Zustand handelt, der häufig Neuere Daten zur Häufigkeit von Überge-
vorkommt und sich unkompliziert erfassen wicht und Adipositas in Deutschland stam-
läßt. Verläßlich sind allerdings nur Untersu- men aus 4 Surveys, die hinsichtlich der un-
chungen, in denen die Probanden auch wirk- tersuchten Kohorte nicht ganz identisch wa-
lich gemessen und gewogen wurden; Selbst- ren: der Deutschen Herz-Kreislauf-Präven-
angaben von Patienten aufgrund von Befra- tionsstudie (DHP), der Untersuchung zur
gungen sind nur begrenzt verwertbar. Da das Verbreitung ernährungsabhängiger Gesund-
Körpergewicht kulturellen Einflüssen unter- heitsrisiken (VERA), dem MONICA-Projekt
liegt, ist man für wissenschaftliche Untersu- und der European Prospective Investigation
chungen und die Ausarbeitung von Thera- into Cancer and Nutrition (EPIC).
pieregimes für einheimische Patienten auf
einheimische Studien angewiesen. Angaben DHP-Studie
aus dem Ausland dienen vorwiegend dem Sie wurde in den Jahren 1984-1986 in 200
internationalen Vergleich. Epidemiologische Orten in der Bundesrepublik und Westberlin
Daten tragen auch zur Erkenntnis von ätio- an 4700 Personen im Alter zwischen 25 und
logischen Fragestellungen bei. 69 Jahren durchgeführt (Bergmann et al.
1989). Nachuntersuchungen erfolgten in den
Jahren 1987-1989 und 1990-1991 (Hoff-
meister et al. 1994). Der durchschnittliche
BMI betrug 1990 im Mittel bei Männern
38 KAPITEL 4 Epidemiologie
Tabelle 4.1. Obergewicht und Adipositas in der Deutschen Herz-Kreislauf- Präventions tudie (DHP) mit
Trenddarstellung. (Nach Bergmannet al. 1989; Hoffmeisteret al. 1994)
26,8 kg/m 2 und bei Frauen 26,2 kg/m 2 • Insge- 25- bis 64jährige und 1989/1990 3.893 25- bis
samt 67% der Bevölkerung überschritten ei- 74jährige Männer und Frauen untersucht
nen BMI von 24 kg/m 2 , 51% waren präadipös (Filipiak 1993). In der Untersuchung von
(BMI >24<30 kg/m 2 ) und 18% waren adipös 1989/1990 hatten die Männer einen durch-
(BMI >30 kg/m 2 ; Tabelle 4.1). In der Zeit von schnittlichen BMI von 26,9 kg/m 2 und die
1985-1990 nahm der BMI bei Männern um Frauen von 26,0 kg/m 2 • Hinsichtlich der Al-
0,3 kg/m 2 und bei Frauen um 0,4 kg/m 2 zu; tersverteilung gab es geschlechtsspezifische
die Zunahme war vorwiegend bei jüngeren Unterschiede. In den jüngeren Altersgrup-
Personen feststellbar (Hoffmeister et al.l994). pen waren die Männer adipöser als die
Frauen; bei den Älteren war das Verhältnis
MONICA-Projekt (Monitoring umgekehrt (Abb. 4.1). Zu einem ähnlichen
of International Trends and Determinants Ergebnis kam man auch in der VERA-Studie
in Cardiovascular Disease) (s. unten). Bei den Frauen gab es nicht in der
In Augsburg und 2 benachbarten Landkrei- geburtsfähigen Altersklasse einen Gewichts-
sen wurden in den Jahren 1984/1985 3.980 sprung, sondern zwischen dem 40. und 50.
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24-34 35-44 45-54 55-64 65-74 24-34 35-44 45-54 55-64 65-74
Alter (Jahre) Alter (Jahre)
Abb. 4.1. Häufigkeit der Adipositas (BMI > 30 kg!m2 ) nern und Frauen in Abhängigkeit vom Alter (24- bis
bei einer repräsentativen Untersuchung in Augsburg 74jährige; aus Filipiak et al. 1993)
und 2 benachbarten Landkreisen 1989/1990 bei Män-
4.1 Häufigkeit 39
80 g Alkohol pro Tag einen von 27,9 auf. Bei unter dem in den USA mit 27,5 kg/m 2 • Auf-
Frauen konnte diese Beziehung nicht nach- fallend ist, daß in Ländern mit geringem
gewiesen werden. Fettverzehr wie China, Japan und Australien
Bekannt ist auch, daß Rauchen einen Ein- ein niedriger BMI festzustellen ist. Auch für
fluß auf das Gewicht hat. Die Ergebnisse der weite Teile Afrikas und Asiens trifft das zu, es
VERA- und DHP-Studie sind in dieser Hin- sei denn, es bestehen besondere ethnische
sicht übereinstimmend. Bei den Männern Eßgewohnheiten und Gesundheitsideale
haben die Ex-Raucher das höchste Gewicht; (z. B. Zimbabwe). Das höchste Gewicht ha-
der BMI beträgt bei ihnen 27,2 im Vergleich ben die Einwohner Samoas in Polynesien
zu 26,7 kg/m 2 der Nichtraucher und Raucher mit einer Prävalenz der Adipositas bei Män-
(DHP-Studie). In der VERA-Studie fand nern von 50o/o und bei Frauen von 68o/o
man, daß der Prozentsatz der Adipösen bei (World Health Organisation 1997). Wie bei
den Ex-Rauchern 18o/o, bei den Rauchern den nationalen Studien zeigt sich auch inter-
und Nichtrauchern hingegen nur 11 und national, daß das Gewicht mit zunehmen-
14o/o beträgt. Bei den Frauen ergibt sich ein dem Alter ansteigt und zwischen dem 50.
etwas anderes Bild. Bei ihnen haben die und 60. Lebensjahr wieder abnimmt. Nach
Nichtraucherinnen das höchste und die Rau- Daten der FRAMINGHAM-Studie ist die Ge-
cherinnen das niedrigste Gewicht ( 19 vs. 9o/o wichtsabnahme mit zunehmendem Alter bei
adipös in der VERA-Studie). In den letzten Männern um 5-10 Jahre früher feststellbar
Jahren wurden auch die Mechanismen für als bei Frauen (Epstein u. Higgins 1992). Die
den "gewichtssenkenden" Effekt des Rau- Gründe für diese Abnahme der Prävalenz
chens teilweise eruiert. Nikotin stimuliert sind unklar. Möglicherweise ist die Über-
die postprandiale Thermogenese, steigert sterblichkeit der Adipösen, die natürlich
den Grundumsatz und hemmt die Lipopro- auch eine Übersterblichkeit schon im mittle-
teinlipase (Walker et al. 1992). Abgesehen ren Alter bedeutet, für dieses Phänomen ver-
davon haben Raucher ein schlechteres Ge- antwortlich.
schmacksempfinden und häufiger Gastritis, Frauen sind im Durchschnitt stärker
was zu vermindertem Appetit und zur Ge- übergewichtig, wenn man den BMI als Be-
wichtsabnahme führt (s. Abschn. 5.4.3). messungsgrundlage nimmt. In den USA gibt
es unter den Jüngeren (20-34 Jahre) bei den
Häufigkeit im internationalen Vergleich Weißen mehr Adipöse als bei den Schwarzen,
bei den 35- bis 54jährigen ist das Verhältnis
Die besten Daten zum Körpergewicht sind umgekehrt, und nach dem 55. Lebensjahr
dem weltweiten MONICA-Projekt zu ent- gibt es keine Unterschiede hinsichtlich der
nehmen. Insgesamt 48 Populationen wurden Rasse (Epstein u. Higgins 1992).
in den Jahren 1983 bis 1986 untersucht; Die Zunahme von übergewicht und Adi-
neuere Ergebnisse sollen in Kürze präsen- positas in den letzten 100 Jahren kann man
tiert werden. Übergewicht und Adipositas überzeugend in den Aufzeichnungen von
manifestieren sich vorwiegend in den Indu- Militärärzten nachlesen. Ein amerikanischer
strienationen. 50- 75o/o der Erwachsenen im Rekrut mit der Größe von 173 cm wog 1863
Alter von 35 bis 64 Jahren waren 1983 bis 67 kg, 1962 jedoch 76 kg (+ 13o/o; Bray 1985).
1986 übergewichtig oder adipös. Im interna- Ähnlich dürfte die Entwicklung auch in
tionalen Vergleich nimmt Deutschland eine Deutschland in den letzten 100 Jahren gewe-
obere Position ein; dies trifft sowohl für den sen sein - eine gesundheitspolitische Her-
BMI als auch für die Häufigkeit der Adiposi- ausforderung.
tas (Abb. 4.2) zu. Der mittlere BMI liegt in
Deutschland mit 26,5 kg/m 2 nur noch knapp
4.2 Mortalität 41
0 20 40 60 80 100
BMI
0,8 1,2 1,6 Broca
Körpennasse-lndex fBMI(kgfm2)]und Broca-lndex
4.2 Mortalität 43
90o/o erhöhte Sterblichkeit. Hauptursache für 1994 starben insgesamt 1.028 Personen. Da
die exzessive Mortalität war v. a. die Arterio- nur Personen mit einem BMI >25 kg/m 2 ein-
sklerose, aber auch Karzinome und Krank- geschlossen wurden und diese die Klinik
heiten des Gastrointestinaltraktes spielten aufsuchten, ist die untersuchte Population
eine nicht unerhebliche Rolle (Tabelle 4.2). nicht repräsentativ. Die Mortalitätsdaten
In der letzten Auswertung von 1998 (Stevens wurden daher mit einer Referenzpopulation
et al. 1998) wurde insbesondere der Alters- aus Nordrhein-Westfalen verglichen. Die Be-
aspekt unter kontrollierteren Bedingungen ziehung zwischen dem Adipositasgrad und
näher untersucht. Eingeschlossen wurden der Sterblichkeit war bei Männern höher als
nur Männer (62.116) und Frauen (262.019), bei Frauen. Bei Personen mit einem BMI
die kein Gewicht abnehmen wollten oder Ge- >25<32 kg/m 2 war die Mortalität nur bei
wicht abnahmen und keinen Hinweis für ei- Männern (relatives Risiko 1,31) erhöht, nicht
ne Arteriosklerose hatten. Bis zum Alter von jedoch bei Frauen. Stieg der BMI auf
74 nahm mit steigendem BMI die Gesamt- >36<40 kg/m 2 an, war die Sterblichkeit bei
und kardiovaskuläre Mortalität zu; in höhe- Männern 1,92fach und bei Frauen 1,27fach
rem Lebensalter konnte dieser Zusammen- im Vergleich zur Referenzgruppe erhöht. Ab
hang nicht mehr festgestellt werden. Bei einem BMI von 40 kg/m 2 war sie 3,05fach
jüngeren Personen war die Assoziation deut- bzw. 2,31fach gesteigert. Diese Daten weisen
lich höher als bei älteren. Ein um 50o/o erhöh- der Adipositas ein geringeres Mortalitätsri-
tes Sterblichkeitsrisiko für kardiovaskuläre siko zu als die meisten epidemiologischen
Krankheiten war bei Männern schon bei Untersuchungen. Möglicherweise ist die Dif-
einem BMI von 25,3 kglm 2 und bei Frauen ferenz durch die Selektion und relativ kleine
von 26,5 kg/m 2 im Vergleich zu Gleichge- Probandenzahl dieser Population zu erklä-
schlechtlichen mit einem BMI von 21 kg/m 2 ren.
vorhanden. Bei extrem Adipösen kamen Drenick et al.
Zu etwas anderen Ergebnissen kam man (1980) zu ganz anderen Ergebnissen. Sie ver-
in der DÜSSELDORF OBESITY MORTALITY folgten 200 morbid adipöse Männer mit ei-
STUDY (DOMS), einer Kohortenstudie mit nem durchschnittlichen Gewicht von 144 kg
1591 Männern und 4602 Frauen, die durch- über 7,5 Jahre. Die Exzeßmortalität war um
schnittlich 8,2 Jahre seit 1961 beobachtet so ausgeprägter, je jünger die Männer waren:
wurden (Bender et al. 1997). In der Zeit bis bei den 25- bis 34jährigen betrug sie 1.200%,
Tabelle 4.2. Erhöhung der Gesamt- und kardiovas- gleich wurde ein Mann mit BMI von 21 kglm2
kulären Mortalität in Abhängigkeit vom Alter in der (178 cm, 67 kg) und eine Frau mit einem BMI von
American Cancer Society's Cancer Prevention Study 21 kglm 2 (163 cm, 56 kg) herangezogen. (Aus Stevens
I bei 62.116 Männern und 262.019 Frauen. Zum Ver- et al. 1998)
Alter (Jahre) 20% Zunahme 50% Zunahme
aber auch bei den 55- bis 64jährigen war sie ziehung (Abb. 4.4b,c). In Abbildung 4.4d
noch um das Doppelte erhöht. Hier handelte sind nur die kardievaskulären Todesfälle er-
es sich um eine klinische und nicht um eine faßt. Bereits bei einem BMI von 25-27 kg/m2
epidemiologische Studie. ist die Sterblichkeit um 60% erhöht, ab ei-
Alle diese genannten Studien zeigen mehr nem BMI >32 kglm2 gar um 400%. Betrach-
oder weniger ausgeprägt eine Zunahme der tet man nur die Sterblichkeit aufgrund einer
Mortalität bei niedrigem Körpergewicht koronaren Herzkrankheit, sind es bei einem
bzw. BMI, was zu einer J- oder U-f6rmigen BMI >32 kglm2 580%.
graphischen Beziehung führt (Abb. 4.3). Eine Nicht nur das Körpergewicht und die
Erklärung für dieses Phänomen konnte in WHR korrelieren mit der Mortalität, son-
der NURSES' HEALTH STUDY (Manson et dern auch der abdominale sagittale Diame-
al.1995) gegeben werden. Betrachtet man al- ter als Maß für die viszerale Fettmasse (s. Ab-
le Fälle, erhält man eine J-f6rmige Darstel- sehn. 3.4.11). In der BALTIMORE LONGI-
lung (Abb. 4.4 a). Werden die Raucherinnen TUDINAL STUDY ON AGING (Seidell et al.
und solche, die in den ersten 4 Jahren star- 1994), eine 27jährige Beobachtung an Män-
ben, eliminiert, ergibt sich eine lineare Be- nern im Alter von 18 bis 98 Jahren, war der
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Abb. 4.4 a-d. Beziehung zwischen dem BMI und der Die Daten entstammen der Nurses' Health Study
Gesamtmortalität bei allen Frauen (a), ohne Rauche- (Manson et al. 1995), einer 16jährigen Untersuchung
rinnen (b), ohne solche, die in den ersten 4 Jahren an 115.195 Krankschwestern im Alter von 30-55 Jah-
der Beobachtung starben (c) sowie die Sterblichkeit ren bei Aufnahme in die Studie
allein aufgrundvon Herz-Kreislauf-Krankheiten (d).
4.2 Mortalität 45
sagittale Diameter ein besserer Prädiktor für Ein weiteres Problem ist die
die Gesamtsterblichkeit und die Mortalität 5) frühe Sterblichkeit von Personen, die in
aufgrund einer koronaren Herzkrankheit als solche Studien aufgenommen werden.
der BMI oder die WHR. Die Mortalität war in Diese leiden oft unter malignen Erkran-
beiden oberen Tertilen um das 2- bis 4,5fa- kungen und gehören - wie die Raucher -
che im Vergleich zur unteren Tertile erhöht. meist den unteren Gewichtsklassen an;
sie sollten daher bei Auswertungen elimi-
4.2.2 niert werden.
Studien ohne erhöhte Mortalität
Nicht wenige Surveys haben Patienten mit
Zirka 40% aller Untersuchungen zur Morta- 6) adipositas-assoziierten Krankheiten wie
lität und dem Körpergewicht zeigen keine Hypertonie, Dyslipidämie und Diabetes
positive Korrelation zwischen diesen beiden mellitus von vornherein ausgeschlossen
Größen. Sjöström (1993) analysierte insge- (z. B. Los Angeles Heart Study, Stockholm
samt 40 Studien, in denen 51 Kohorten un- Prospective Study). Das führt zu einer
tersucht worden waren. Er fand, daß Unter- Verzerrung der Resultate, da gerade bei
suchungen mit solchen Personen häufig eine Adipositas
besteht.
1) einem kleinen Kollektiv ( <20.000 Perso-
nen), Ein Hauptproblem bei fast allen bisherigen
2) kurzer Beobachtungsdauer ( <5 Jahre) und Studien ist, daß aufgrund der
3) vorwiegend jüngeren Personen (<40 Jah-
7) Erfassung von Gewicht-Längen-Indizes
re) üblicherweise keinen positiven Zu-
definitionsgemäß das Übergewicht und
sammenhang zwischen Gewicht und
nicht die Adipositas untersucht wurde;
Sterblichkeit fanden.
künftige Studien werden sich mit der
In der BUILD STUDY (Society of Actuaries Fettverteilung befassen.
1979) z. B. betrug nach einer Beobachtungs-
zeit von 1-5 Jahren das relative Mortalitäts- 4.2.3
risiko für Männer 1,06 (nicht signifikant), Änderung der Mortalität
nach 16-22 Jahren hingegen 1,31. durch Gewichtsänderung
Viele Untersuchungen wurden
Bisher gibt es keine verläßlichen Daten einer
4) nicht hinsichtlich des Rauchens kontrol- experimentellen Studie zur Beeinflussung
liert. Die Effekte des Raueheus wurden in der Mortalität sowohl bei Gewichtszunahme
Relation zum Körpergewicht besonders als auch bei Gewichtsabnahme. Zu erwarten
in der AMERICAN CANCER STUDY sind sie bezüglich einer Gewichtsreduktion
(Lew 1985) und der NURSES' HEALTH von der SWEDISH OBESE STUDY (SOS).
STUDY (Manson et al. 1995) herausgear- Man muß daher zur Beurteilung dieser Fra-
beitet. Dabei wurde festgestellt, daß die gen auf epidemiologische Ergebnisse zu-
überhöhte Sterblichkeit in den unteren rückgreifen.
Gewichtsklassen (Abb. 4.4) v. a. auf den Anfang der 90er Jahre kam aufgrund
Nikotinkonsum zurückzuführen ist. Stu- mehrerer Veröffentlichungen eine Diskus-
dien, in denen diese Unterscheidung nicht sion auf, ob eine Gewichtsabnahme die
vorgenommen wurde, nehmen aufgrund Sterblichkeit möglicherweise erhöhe. Basis
des Vorliegens anderer Krankheiten eine für diese Diskussion war vor allem ein
hohe Mortalität bei einem BMI <20 kg/m 2 32jähriges Follow up der FRAMINGHAM
an. STUDY, die bei Gewichtsschwankungen
46 KAPITEL 4 Epidemiologie
("weight fluctuations" bzw. "weight cycling") Größere Daten stehen aus der CANCER
eine Zunahme der Mortalität zeigte; das Ri- PREVENTION STUDY I zur Verfügung
siko war für Männer größer als für Frauen (Williamson et al. 1995). Dort wurden 43.457
(Lissner et al. 1991). Da bei der Auswertung Frauen im Alter zwischen 40 und 65 Jahren
nicht zwischen beabsichtigter und unbeab- eingeschlossen. Der Fragebogen erlaubte die
sichtigter Gewichtsabnahme unterschieden Unterscheidung einer beabsichtigten von ei-
werden konnte, bestand die Möglichkeit, daß ner nicht beabsichtigten Gewichtsabnahme.
Patienten aufgrundvon konsumierenden Er- Frauen, die rauchten und in den ersten 3 Jah-
krankungen Gewicht verloren, was natürlich ren starben, wurden von der Studie elimi-
die Sterblichkeit erhöht. niert. Lagen adipositas-assoziierte Krank-
heiten (KHK, Apoplex, Diabetes, Hypertonie
usw.) vor, verringerte eine Gewichtsreduk-
Gewichtsabnahme und Mortalität
tion die Mortalität erheblich: Gesamtmorta-
Eine Kohortenstudie, durchgeführt an 1985 lität um 20%, Tumormortalität um 40-50%
und 1986 verstorbenen 263 Typ-2-Diabeti- und Diabetesmortalität um 30-40% (Abb.
kern, zeigte eine Lebensverlängerung durch 4.5). Die Reduktion der Mortalität war bei
Gewichtsabnahme (Lean et al. 1990). Dia- einer Dauer der Gewichtsreduktion von
betiker, die in den ersten 12 Monaten nach <1 Jahr nachweisbar. Bei Frauen ohne adipo-
Diagnosestellung starben, wurden von der sitasbedingte Krankheiten wurden Gesamt-
Auswertung eliminiert. Eine Gewichtsab- mortalität und Mortalität aufgrund von kar-
nahme von 1 kg verlängerte die Lebenser- diovaskulären oder tumorbedingten Er-
wartung um ca. 3-4 Monate, eine Abnahme krankungen um ca. 25% vermindert, wenn
von 10 kg um ca. 35%, ein Ausmaß, das Typ- sie >9,1 kg abnahmen. Eine geringe Ge-
2-Diabetiker von Nichtdiabetikern unter- wichtsabnahme hingegen erhöhte die Sterb-
scheidet. lichkeit.
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Gesamt- Herz-Kreislauf- Bösartige Diabetes-assoz. Adiposltas-assoz.
mortalltät krankheilen Neubildungen Krankheiten Karzinome
Abb. 4.5. Änderung der Mortalität durch mäßige, be- Gesamtmortalität war hauptsächlich auf eine Re-
absichtigte Gewichtsabnahme (<9,1 kg) bei 15.069 duktion der tumorbedingten Sterblichkeit zurückzu-
Frauen der AMERICAN CANCER PREVENTION führen.
STUDY I (Williamson et al. 1995). Die Abnahme der
4.3 Morbidität 47
PrävaiEmz (%)
a) Männer
(n = 17.434)
60
50
40
Prävalenz (%)
b) Frauen
(n= 8.033)
Abb. 4.6 a, b. Beziehung zwischen dem BMI und kardiavaskulären Risikofaktoren bei Männern (a) und Frau-
en (b }. PROCAM-Studie. (Nach Assmann u. Schulte 1992}
Frauen (BMI <25 kg!m2 ) nur in 8% einen er- Ursache für die Exzeßmortalität sind - oft
höhten Blutdruck aufweisen, sind Präadipö- mehrfache - kardiovaskuläre Risikofaktoren.
se bereits 2mal und Adipöse 6mal häufiger In der DHP-STUDIE (Deutsche Herz-
davon betroffen. 74% aller Schlanken und Kreislauf-Präventionsstudie) wurden nicht
Normalgewichtigen hatten überhaupt kei- nur kardiovaskuläre Risikofaktoren, son-
nen Risikofaktor, während dieser Prozent- dern noch andere Krankheiten der Adiposi-
satz bei den Übergewichtigen nur 38% be- tas erfaßt (Hoffmeister 1993; Tabelle 4.1,4.3).
trug und bei den Adipösen auf 22% zurück- Wenngleich es sich um Selbstangaben der
ging (Abb. 4.7). Adipöse hatten 3mal häufi- Befragten handelt, sind die Daten weitge-
ger 2 und mehr Risikofaktoren im Vergleich hend valide, da bei einem Teilkollektiv eine
zu Normalgewichtigen. Zwischen Männern Untersuchung erfolgte; die Angaben in Ta-
und Frauen war weder in bezug auf die ein- belle 4.3 erwiesen sich dabei als verläßlich.
zelnen Risikofaktoren noch hinsichtlich de- Man sieht, daß nicht nur die kardiovasku-
ren Häufung ein Unterschied festgestellt lären Risikofaktoren einschließlich arterio-
worden. sklerotischer Erkrankungen mit steigendem
4.3 Morbidität 49
a)
Prävalenz (%] Mllnner (n ~ 17 434)
100
19,9
80
60
40
20
0
<=20 20,1 · 25,0 25,1. 27,5 27,6· 30,0 >30
BMI (kg/m 2 ]
B 2: 2 Risikofaktoren mll Risikofaktor D kein Risikofaktor
00
60
40
20
0
<= 20 20,1 - 25,0 25,1. 27,5 27,6 - 30,0 > 30
BMI [kg/m 2 ]
• 2: 2 Risikofaktoren mll Risikofaktor D kein Risikofaktor
Abb. 4.7 a, b. Summierte Risikofaktoren in Abhängigkeit vom Körpergewicht bei Männern ( a) und Frauen (b );
PROCAM-Studie. (Nach Assmann u . Schulte 1992)
Tabelle 4.3. BMI und relative Krankheitsrisiken (kontrolliert für Alter). Nationaler Untersuchungssurvey der
DHP 1991. (Nach Hoffmeister 1993)
0 4
~
"(ij
~
3
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Q)
.2:
iii 2
äi
0::
~Ö)
>102 cm ~'li
94-102 cm v$'
0 <94 cm lü<;f
·~
"''li
Abb. 4.8. Abhängigkeit von Komorbiditäten und körperlicher Funktionsfähigkeit vom Taillenumfang bei
5.887 Männern der MORGEN-Study. (Aus Lean et al. 1998)
4.5 Sozialmedizinische Aspekte 51
Bücken, Knien und Gelenkigkeit. Viele Adi- auch ihrer sozialen Funktionsfähigkeit stär-
pöse können aufgrunddieser Einschränkun- ker beeinträchtigt als Männer (Abb. 4.9). In
gen bestimmte Berufe nicht mehr ausüben, allen Skalenbezeichnungen schnitten die
werden aufgrunddessen arbeitslos und fin- Präadipösen und noch deutlicher die Adi-
den keine neue Anstellung. Kommen adipo- pösen schlechter ab als die Normalgewich-
sitasbedingte Krankheiten mit Organschä- tigen.
den hinzu, kann die Palette der körperlichen
Beschwerden lang sein. Aber schon die Kör- 4.5
perfülle allein mit verdickter Unterhautfett- Sozialmedizinische Aspekte
schiebt bereitet Luftnot bei Belastung,
Schwitzen und Geruchsbelästigung für an- Der sozioökonomische Status sowie Einstel-
dere. Eine verminderte soziale Funktions- lungen und Normen haben in nahezu allen
fähigkeit läßt sich nur teilweise durch die Kulturen einen Einfluß auf als Körpergewicht.
körperlichen Nachteile erklären; hier spielen Mit dem übergang einer Gesellschaft von der
psychische Faktoren und die Reaktion der Agrar- zur Industriegesellschaft ergeben sich
Umwelt eine erhebliche Rolle (Kap. 4.5). z. B. erhebliche Änderungen im Körperge-
Durch gestörte Identifikation mit dem Kör- wicht. Die Abhängigkeit des Gewichtes von
per und fortlaufende Kränkung durch die sozialen, kulturellen und ökonomischen Fak-
Umwelt kommt es zur Verminderung des toren zeigt aber auch, daß die Adipositas von
Selbstwertgefühls mit der Folge eines sozia- Umweltfaktoren und nicht nur von geneti-
len Rückzugs; nicht selten werden Adipöse schen und persönlichen Faktoren bestimmt
depressiv und ängstlich. Daß sie dadurch wird. Die Sozialmedizin liefert somit nicht
Funktionen in Familie, Beruf und Gesell- nur epidemiologische Daten, sondern auch
schaft nur noch unzureichend wahrnehmen Erkenntnisse zur Ätiologie und Therapie.
können, ist evident.
In Deutschland wurde die Lebensqualität 4.5.1
Adipöser bisher unzureichend untersucht. Sozialer Status, Ausbildung und Einkommen
Bei einer repräsentativen Erhebung an 1.932
Personen im Alter ab 14 Jahren verwendete Viele kulturelle Zeugnisse insbesondere der
man den SF 36-Fragebogen (Schneideret al. Malerei und Literatur belegen, daß noch im
1998). Frauen waren aufgrundihres überge- letzten Jahrhundert auch in Deutschland
wichts hinsichtlich ihrer körperlichen als "Wohlbeleibtheit" oft mit "Wohlsituiertheit"
(%)
0 BMI24-30
Abb. 4.9. Lebensqualität und Körpergewicht. Eine die Beeinträchtigungen war bei Frauen größer als bei
repräsentative Umfrage bei 1.932 Personen ab 14 Männem (Schneider et al. 1998). Die prozentualen
Jahren erfaßte mit dem SF 36 Skalen sowohl der kör- Ändemngen beziehen sich auf normalgewichtige
perlichen als auch der sozialen Funktionsfähigkeit; Frauen (BMI <24 kg/m2 )
52 KAPITEL 4 Epidemiologie
einherging. Diese Situation hat sich in für das Körpergewicht, wenngleich auch hier
Deutschland schon vor Jahrzehnten völlig geschlechtsspezifische Unterschiede bestan-
geändert; eine Zäsur brachte nur der 2. Welt- den. Insbesondere getrennt lebende oder ge-
krieg. schiedene Frauen waren nur halb so häufig
Die Untersuchungen von Goldblatt et al. adipös wie allein oder mit einem Partner le-
( 1965) waren Anfang der 60er Jahre eine Pio- bende. Bei Männern hingegen fiel auf, daß
nierleistung. Sie fanden, daß Frauen mit ei- insbesondere solche mit einer Partnerin, ver-
nem niedrigen sozioökonomischen Status heiratet oder nicht, am häufigsten adipös wa-
6mal häufiger adipös waren als Frauen der ren.
Oberschicht. Bei Männern zeigte sich ledig- Eine umfassende Studie in den USA be-
lich ein doppelter Unterschied. Änderten legt auf geradezu erschreckende Weise, wel-
Frauen den Sozialstatus nach "unten", nahm che sozioökonomische Folgen Übergewicht
die Adipositashäufigkeit von 17 auf 22% zu, für junge Erwachsene und Heranwachsende
änderten sie ihn nach "oben" fiel sie auf haben kann. 10.039 Personen im Alter von
12%. Bei Männern waren diese Veränderun- 16-24 Jahren beiderlei Geschlechts wurden
gen durch soziale Mobilität geringer. untersucht. Lag das Gewicht >95. Perzentile,
wurde ein übergewicht angenommen (Gort-
maker et al.1993). Nach 7 Jahren zeigte sich,
daß insbesondere junge übergewichtige
Übergewkht ist vorwiegend ein Problem
der sozialen Unterschicht. Frauen von ihrer Körperstatur erhebliche
Nachteile hatten. Weniger als die Hälfte von
ihnen hatte inzwischen das College abge-
schlossen, ihr Einkommen war um 40%
Das MONICA-PROJEKT zeigt, daß in niedriger, und geheiratet hatten nur halb so
Deutschland der soziale Status ähnliche Aus- viele wie normalgewichtige Frauen. Bei den
wirkungen auf das Gewicht wie in anderen Männern hatten 20% weniger geheiratet,
Industriestaaten hat: je niedriger die soziale aber auch ihr Einkommen war um 15% nied-
Schicht, desto höher das Gewicht (Tabelle 4.4, riger, und nicht einmal halb so viele hatten,
Filipiak et al. 1993). Besonders deutlich war verglichen mit Normalgewichtigen, das Col-
dieser Trend bei Frauen vorhanden; solche mit lege erfolgreich beendet. Möglicherweise
Hauptschulbildung waren 4mal häufiger adi- sind diese Ergebnisse auch auf deutsche Ver-
pös als solche mit Abitur oder vergleichbarem hältnisse übertragbar. Die Untersuchung
Schulabschluß. Diese Untersuchung belegte zeigt mit erschreckender Deutlichkeit, daß
u. a. auch die Bedeutung des Familienstandes übergewicht in jungen Jahren erhebliche so-
Tabelle 4.4. Zusammenhang von Schulbildung, Familienstand sowie Geschlecht mit Adipositas im Alter von
25-64 Jahren (BMI >30 kglm2 ). MONICA-Studie. (GSF-Bericht 1993)
Adipöse
Schulabschluß Hauptschule 18 19
Mitderer Schulabschluß 10 13
Abitur oder Hochschule 4 9
Familienstand AUeinlebend 15 II
Verheiratet/Partner 15 17
Getrennt oder geschieden 7 10
4.5 Sozialmedizinische Aspekte 53
ziale Nachteile in einem Ausmaß mit sich kerungsquerschnitten ("Survey"), zeigt sich
bringen kann, wie man das bisher nicht ver- auch hier eine Häufigkeitszunahme der Adi-
mutet hatte. Geht man davon aus, daß Intelli- positas (Broca-Index >1,2) mit zunehmen-
genz und Fleiß unabhängig vom Gewicht dem Alter. Während bei den 25- bis 35jähri-
sind, erklärt nur die Diskriminierung die ge- gen die Häufigkeit noch bei 10-15% lag, war
nannten Phänomene. sie bei den 50- bis 60jährigen bei 30-40%, al-
so 3mal häufiger. Männer, die eine Heilbe-
handlung beantragten, wiesen eine Adiposi-
tas in 19,5o/o und solche, die eine Rente bean-
Psychosoziale Nachteile sind für Übergewich-
tragten, in 23,5o/o der Fälle auf. Frauen mit
tige oft gravierender als organische Krank-
heiten.
Heilbehandlungsantrag waren zu 31,8o/o adi-
pös und solche mit Rentenantrag in 55,1 o/o.
Vergleicht man diese Ergebnisse mit der
DHP-Studie (Tabelle 4.1), stellt man bei An-
Der hier gezeigte Zusammenhang ist heute trägen für Rehabilitationsmaßnahmen eine
durchgängig in nahezu allen westlichen Ge- doppelte und für Rentenanträge eine 3fache
sellschaften zu finden. Die Gründe hierfür Adipositashäufigkeit fest (Abb. 4.10).
dürften im Schönheitsideal und Laienwissen Es verwundert daher nicht, daß auch die
hinsichtlich der Gesundheitsrisiken bei Über- Begleitkrankheiten gehäuft auftraten. Davon
gewicht und Adipositas liegen. Die Tatsache, imponieren insbesondere die Herz-Kreis-
daß bei Frauen soziale Aspekte einen stärke- lauf-Krankheiten einschließlich der Arterio-
ren Einfluß auf das Gewicht haben als bei sklerose und die Krankheiten am Bewe-
Männern, belegt, daß sie hinsichtlich des gungsapparat Insbesondere bei der Hyper-
Aussehens bzw. des "body image" offensieht- tonie ist die Adipositashäufigkeit 3- bis 4fach
lieh einem stärkeren Druck ausgesetzt sind. und bei der Arthrose und den Wirbelsäulen-
Lediglich in einigen wirtschaftlich unterent- leiden 2- bis 3fach häufiger als in der Nor-
wickelten Ländern Afrikas und Asiens haben malbevölkerung (Abb. 4.10). Das Risiko der
Angehörige höherer Sozialschichten im Berufs- und Erwerbsunfähigkeit lag bei Adi-
Durchschnitt ein höheres Gewicht; verläßli- pösen etwa doppelt so hoch wie bei Normal-
che Daten dazu liegen insbesondere aus In- gewichtigen. Diese Daten lassen vermuten,
dien und China vor. daß die Adipositas einer der wichtigsten
Risikofaktoren für eine vorzeitige Berentung
4.5.2 ist, bei Arbeiterrentenversicherten mögli-
Vorzeitige Berentung cherweise die wichtigste.
In Finnland wurden konkrete Daten an
Die gesundheitspolitische Bedeutung der 51.522 "Invaliden" erhoben (Rissanen et al.
Adipositas wird nicht nur hinsichtlich Krank- 1991). Es zeigte sich, daß Männer mit einem
heiten, sondern auch in bezug auf Rehabili- BMI >30 kg/m 2 ein 2fach und Frauen ein
tationsmaßnahmen und vorzeitiger Beren- 1,5fach größeres Risiko hatten, aufgrundvon
tung deutlich. Hierzu liegen ausführliche Da- Behinderungen vorzeitig berentet zu wer-
ten vor, die von der Landesversicherungsan- den. Die Berentung wurde vorwiegend
stalt (LVA) Württemberg 1972 veröffentlicht durch Herz-Kreislauf-Krankheiten und Er-
wurden (Verband Deutscher Rentenversiche- krankungen des Bewegungsapparates verur-
rer, Gercke 1972). In den Jahren 1965/1966 sacht.
wurden jeweils 10.000 Akten zu Heilbehand- Trotz dieser eindeutigen Ergebnisse, die
lungen und Rentenanträgen ausgewertet. die Bedeutung der Adipositas für die Rehabi-
Ähnlich wie bei der Untersuchung von Bevöl- litation und die vorzeitige Berentung bele-
54 KAPITEL 4 Epidemiologie
80
~
~
~ 70
Berufsunfähigkeit D
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1/l 6264
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20 8_!V21k_!fi!!IQ!-
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0 Herz-
Hypertonie Arthrose WS-
insuffizienz Syndrome
Chronischer Cerebrai- Osteo-
Herzinfarkt sklerose chondrose
Abb. 4.1 0. Häufigkeit der Adipositas bei Berufs- und Rentenversicherer, Gercke 1972). Der Bevölkerungs-
Erwerbsunfähigkeit bei verschiedenen Krankheiten. durchschnitt einer Adipositas wurde aufgrund der
Untersuchung der LVA Baden (Verband Deutscher nationalen Surveys mit lSo/o angenommen
gen, wird auch heute noch eine Rehabilitati- findlichkeit und Lebensqualität erklärt (ca.
onsmaßnahme beim Vorliegen einer Adipo- 30 Mio. Präadipöse und 18 Mio. Adipöse in
sitas nicht gewährt, wie die Bundesversiche- Deutschland). Die vom Gesundheitsministe-
rungsanstalt für Angestellte (BfA) in ihren rium jährlich veröffentlichten Kosten über
Richtlinien ausführt. Rehabilitationsmaßnah- ernährungsbedingte Krankheiten berück-
men werden nur dann "genehmigt", wenn sichtigen den Aspekt der Adipositas ungenü-
Folgekrankheiten der Adipositas vorliegen. gend, so daß hierzu keine fundierten Aussa-
Bezeichnenderweise gilt diese Regelung für gen gemacht werden können. Das Manko
andere Krankheiten nicht, die ebenfalls pri- liegt darin, daß nur Folgekrankheiten der
mär ohne Organschäden und Funktionsbe- Adipositas aufgeführt werden, nicht jedoch
einträchtigungen einhergehen, wie Fettstoff- die Adipositas selbst. Die Auswertung von
wechselstörungen, Hypertonie, Diabetes Krankenakten läßt ebenfalls keine diesbe-
mellitus usw. Auch hier zeigt sich, daß der zügliche Analyse zu, da die Diagnose "Adipo-
Stellenwert der Adipositas hinsichtlich Ge- sitas" nur ganz selten explizit genannt wird.
sundheitsschäden im Vergleich zu anderen Kosten entstehen zum einen durch die In-
Krankheiten minder schwer eingeschätzt anspruchnahme medizinischer Leistungen
wird. und zum anderen durch krankheitsbedingte
Arbeitsausfälle, sie lassen sich wie folgt klas-
4.6 sifizieren:
Kosten
• Direkte Kosten (Ressourcenverbrauch):
Die hohen Kosten im Gesundheitswesen Sie stehen in unmittelbarem Zusammen-
werden vorwiegend durch die große Anzahl hang mit der Krankheit aufgrund diagno-
der Präadipösen,Adipösen und deren erhöh- stischer, therapeutischer, präventiver und
te Morbidität sowie Einschränkung der Be- rehabilitativer Maßnahmen.
4.6 Kosten 55
Tabelle 4.5. Kosten der Adipositas in den USA 1990. (Nach Coldlitz 1992)
Antei l der Adipositas Direkte Kosten Indirekte Kosten
[%[ (Mrd. DM) (Mrd. DM)
• Indirekte Kosten (Ressourcenverlust): Ar- adipösen 14- bis 29jährigen innerhalb von 12
beitsunfähigkeit, vorzeitige Berentung Monaten den Arzt aufsuchten, waren es bei
und vorzeitiger Tod mindern die Res- den Normalgewichtigen nur 4o/o.
sourcen einer Gesellschaft. Die umfassendsten Daten zu direkten und
• Intangible Kosten: Psychische und soziale indirekten Kosten stammen aus den USA aus
Auswirkungen einer Krankheit, vermin- dem Jahr 1990 (Coldlitz et al. 1990; Tabel-
derte Lebensqualität, Befindlichkeitsstö- le 4.5). überträgt man die geschätzten Ko-
rungen und Schmerzen verursachen Ko- sten auf die Bundesrepublik mit einer ähnli-
sten beim Betroffenen und dessen Ange- chen Prävalenz der Adipositas, so belaufen
hörigen. sich die Gesundheitskosten pro Jahr auf ca.
30 Mrd. DM zuzüglich Kosten für vorzeitige
Über die Inanspruchnahme von Allgemein- Berentung. Nicht eingerechnet sind zudem
ärzten gibt es in Deutschland aufgrund einer ökonomische Defizite, die einer Gesellschaft
Infratestumfrage bei 5.000 Personen im Jahr entstehen, weil Adipöse im Durchschnitt
1994 verläßliche Angaben (Schneider et al. eine schlechtere Ausbildung erhalten und
1996). Die Inanspruchnahme stieg mit zu- körperliche als auch psychosoziale Probleme
nehmendem BMI, bei Jüngeren war eine Ge- erleiden, die zwar die berufliche Leistungs-
wichtsabhängigkeit deutlicher gegeben als fähigkeit mindern, sich jedoch nicht in Form
bei Älteren (Abb. 4.11). Während 16o/o der von Krankheitstagen oder anderen Größen
20
10
0
14 · 29 Jahre 30 - 49 Jahre >50 Jahre
Infratest: n =5000
56 KAPITEL 4 Epidemiologie
manifestieren bzw. erfassen lassen (intan- um ca. 25% und für die Hypertonie um ca.
gible Kosten). 18% gesenkt.
Die Kosten für die einzelnen adipositas-
assoziierten Krankheiten wurden in der
Weise geschätzt (Coldlitz et al. 1990), daß FAZIT
zunächst die Häufigkeit der Adipositas bei • In Deutschland ist jeder 2. Erwachsene
einer bestimmten Krankheit aufgrund von übergewichtig und jeder 5. adipös-
Metaanalysen ermittelt und danach - eben- • Das Durchschnittsgewicht der Deut-
falls aufgrund veröffentlichter Daten - der schen hat auch in den letzten Jahren
Anteil der Adipositas an der Entstehung die- weiter zugenommen.
ser Krankheit in die Berechnung eingesetzt • International liegt Deutschland hin-
wurde (attributales Risiko). Am Beispiel von sichtlich des Körpergewichtes mit an
kardiavaskulären Krankheiten soll dies er- der Spitze.
klärt werden: Die direkten Kosten für kar- • Ein länger bestehendes vermehrtes
diovaskuläre Krankheiten betrugen in den Gewicht geht in der Regel mit vielerlei
USA 259 Mrd. DM; 27% dieser Patienten wa- Krankheiten einher, nicht nur mit kar-
ren adipös, bei diesen Adipösen waren wie- diovaskulären.
derum die Herz-Kreislauf-Krankheiten zu • Adipöse haben ein deutlich erhöhtes
70% der Adipositas zuzuschreiben; ergibt: Sterblichkeitsrisiko; es steigt bereits
259 X 0,27 X 0,7 =50 Mrd. DM. ab einem BMI >27 kglm 2 deutlich, ab
einem BMI >32 kglm 2 ist es mehrfach
erhöht.
Die Adipositas ist die kostenträchtigste Einzel-
• Die Lebensqualität ist oft erheblich
ursache für Krankheiten (übertrifft Rauchen). eingeschränkt; es kann sowohl die
Sie kostet auch mehr als die koronare Herz- körperliche als auch die soziale Funk-
krankheit. tionsfähigkeit betroffen sein.
• Die Adipositas hat negative psychische
Auswirkungen hinsichtlich des Selbst-
wertgefühls und der Zufriedenheit.
Aufgrund der Daten der NURSES' HEALTH • Die Adipositas hat negative soziale
STUDY und anderer Studien wurden in den Auswirkungen in der Schule, bei der
USA Kostenvergleiche mit anderen Krank- Ausbildung, im Beruf und bei der
heitsursachen bzw. Krankheiten angestellt. Partnersuche.
Bei einem prävalenzbasierten Vergleich kam • Adipöse werden etwa doppelt so häu-
man zu dem Schluß, daß der ökonomische fig vorzeitig berentet wie Normalge-
Verlust durch die Adipositas ähnlich wie der wichtige.
durch Diabetes mellitus ist, jedoch 1,25mal • Die Inanspruchnahme von Allgemein-
größer als der durch die koronare Herz- ärzten ist etwa doppelt so hoch wie bei
krankheit und 2,7mal größer als der durch Normalgewichtigen.
Hypertonie (Wolf 1997). Durch 10% Ge- • Die Adipositas verursacht enorme Ko-
wichtsverlust werden die Kosten für den sten: ca. 6% aller Krankheitskosten.
Diabetes mellitus um ca. 33%, für Arthrosen
5 Ätiologie
tagonisierung von Melanozyten stimulieren- zeptor, der bei Patienten mit homozygoten
dem Hormon (MSH) und Melanocortin 1 Veränderungen zu Adipositas, Störungen
(MC-1) hinsichtlich Mechanismen der Ge- der Pubertätsentwicklung und verminderter
wichtsregulation und der Insulinsekretion Sekretion von Wachstumshormonen und
wirkt. TSH führte (Clement et al. 1998}. Bei 4 Pa-
Bei der fat!fat-Maus besteht eine Adiposi- tienten wurde eine Proll5Gln-Mutation im
tas und eine Hyperproinsulinämie, da ein Proliferations-Aktivator-Rezeptor y2 (PPARy)
Prohormon prozessierendes Enzym, die gefunden; das mutante Gen akzellerierte die
Carboxypeptidase E fehlt.. Differenzierung von Adipozyten im Tierver-
Die Adipositas bei Tubby-Mäusen geht such. Es wird daher angenommen, daß die-
mit Adipositas, einer retinalen Degenera- ser Defekt die Adipositas erklärt (Ristow et
tion, Hörverlust und Insulinresistenz einher. al. 1998).
Der Phänotypus ähnelt dem Bardet-Biedl- Kandidatengene für die Adipositas sind
Syndrom bzw. dem Alström-Syndrom beim zudem das Gen für Proopiomelanocortin
Menschen (Abschn. 5.1.6). (POMC}, welches die Glukokortikoidpro-
duktion regelt sowie das Gen für das Gluko-
kinase regulierende Protein (GCKR), das die
5.1 .2
Glykolyse beeinflußt. Auch ein Polymorphis-
Genetische Befunde beim Menschen
mus des "uncoupling protein" (UCP 1-3)
Gens sowie des ß3 -Rezeptor-Gens spielen bei
Molekulargenetische Befunde
der Gewichtsentwicklung eine Rolle (Fume-
beim Menschen
ron et al. 1996).
Adipositasgene lassen sich beim Menschen
nur schwer identifizieren, da die Körperfett-
masse auch durch Umwelteinflüsse beein- Die Adipositas ist eine polygenetische Erkran·
flußt wird. Als Kandidatengene kommen kung, wobei die Umwelt einen erheblichen Ein-
vorwiegend solche in Frage, die in mutierter fluß auf die Ausprägung des Phänotyps hat.
Form beim Tier eine Adipositas bedingen.
Bei Assoziationsuntersuchungen vergleicht
man genetisch Adipöse mit nichtadipösen
Formalgenetische Befunde
Kontrollpersonen. Geeignet sind auch Fami-
beim Menschen
lienuntersuchungen auf eine Kopplung, d. h.
die Vererbung eines spezifischen Allels in ei- Beim Menschen kommen wissenschaftlich
ner Familie. Schließlich kann man Genom- hinsichtlich der Vererbung 3 Modelle zur
Screens durchführen, um systematisch adi- Anwendung: Familienuntersuchung, Adop-
positas-relevante chromosomale Regionen tionsstudien und Zwillingsforschung.
zu suchen.
Im Jahr 1997 fand Montague bei 2 extrem Familienuntersuchung
adipösen Kindern blutsverwandter Eltern Bereits 1923legte Davenport (1923) die erste
niedrige Leptinspiegel (s. auch Abschn. Familienuntersuchung vor. Nachteilig wirkt
6.4.2). Die Kinder wiesen homozygote Mu- sich bei Familienstudien aus, daß zwischen
tationen im Codon 133 des Leptingens auf Genetik und Umwelt nicht unterschieden
(Montague et al. 1997}. 1998 entdeckte Stro- werden kann. Da das Umfeld ähnlich ist,
bel eine Leptinmutation bei einer türkischen wird die Vererblichkeit überschätzt. Fami-
Familie, die eine extreme Adipositas und lienstudien können daher nur ein erster
Amenorrhoe bewirkte. Im gleichen Jahr be- Schritt zur Erforschung von Erbfaktoren
schrieb Clement einen defekten Leptinre- sein.
5.1 Genetik 59
28
Ibklloglsche Eltern I Adopthfebn•
26
tJ> Vater
2 ~ Mutter;JJ
22
Abb. 5.1. Körpergewicht von 540 Adoptierten 30-50 Jahre nach der Adoption (4 Gewichtsklassen) in Abhän-
gigkeit vom BMI der biologischen oder Adoptiveltern. (Mod. Nach Stunkard et al. 1986)
geringgradige Gewichtskorrelation ( r = 0, 1), das viszerale Fett ergab sich sogar ein Unter-
die beim Älterwerden verschwand (Sörensen schiedsfaktor von 6 (r=0,7; Abb. 5.2). Die
et al. 1993). In der IOWA-Study (Price et al. Studie zeigte aber auch, daß die Zunahme an
1987) mit 357 jungen Adoptierten war, ähn- Körpergewicht, Fettmasse und Hautfalten-
lich wie bei der dänischen Adoptivstudie dicke mit der Zunahme an viszeralem Fett
(Stunkard et al. 1986), nur eine Korrelation nicht korrelierte; aus Veränderungen dieser
zu den biologischen Eltern gefunden wor-
den, insbesondere zur Mutter.
so~--------------------~
Zwilling A
NE
Körperfettmasse und viszerales Fett
~
r =0 ,72
Die oben erwähnten Studien zeigten bereits, :: 40
daß hinsichtlich der Körperfettmasse die Cl>
Größen kann daher nicht unmittelbar auf geführt und stammen vorwiegend aus der
Veränderungen der viszeralen Fettmasse ge- Arbeitsgruppe von Bouchard (1991, 1992}.
schlossen werden. Untersucht wurden alle Komponenten des
Energieverbrauchs: Grundumsatz, Thermo-
genese und körperliche Aktivität.
Das subkutane Fett wird zu ca. 40% und das
viszerale Fett zu ca. 50% vererbt. Grundumsatz
Was den Grundumsatz betrifft, hatten Bo-
gardus et al. (1986) an 130 Indianern aus 54
Familien mit Hilfe der indirekten Kalorie-
In der HERITAGE-Family-Study wurden 86 metrie beeindruckend gezeigt, daß die Vari-
Familien mittels Densitometrie und Compu- anz des Grundumsatzes zwischen den Fami-
tertomographie untersucht (Rice et al. 1997}. lien 4mal so groß war wie innerhalb der Fa-
Die viszerale Fettmasse streute innerhalb milien (s. Abschn. 5.3.3). In Familienstudien
der Familien erheblich, noch deutlicher je- und in Zwillingsuntersuchungen konnte ein
doch zwischen den Familien (Abb. 5.3). Die genetischer Effekt von etwa 40% ausgemacht
Vererblichkeit wurde mit 47% errechnet, sie werden (Bouchard 1993}. Erklärt werden
hatte einen ähnlichen Anteil wie Alter und kann diese Tatsache möglicherweise durch
Geschlecht (52%). Zu ähnlichen Ergebnissen die bei Adipösen veränderte Muskelfaserzu-
kam man in anderen Untersuchungen. sammensetzung. Wade et al. (1990} fanden
eine inverse Korrelation zwischen Körperfett
5.1.3 und langsamen (Typ-I-}Muskelfasern, die
Energieverbrauch eine hohe Mitochondriendichte und damit
eine hohe oxidative Kapazität aufweisen. Je
Zum Energieverbrauch liegen nicht sehr geringer der Prozentsatz von langsamen
viele Untersuchungen vor. Sie wurden aus- Muskelfasern, desto geringer ist auch der
nahmslos erst in den letzten Jahren durch- Grundumsatz. Wahrscheinlich gibt es weite-
300
Q)
.<::: Alter, Geschlecht (Regression) = 52%
u
Maximale Vererblichkeit =47%
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u:::z- 250
_.,
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"C 0
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·50
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90
Familien (gelistet nach Mittelwert)
Abb. 5.3. Viszerale Fettmasse ( computertomographisch ermittelt von einzelnen Familienmitgliedern in 86 Fa-
milien. Die Vererblichkeit betrug 47%. (Aus Rice et al. 1997)
62 KAPITEL 5 Ätiologie
Körperliche Aktivität
Die spontane körperliche Aktivität scheint Zu jeder Untersuchung eines Adipösen gehört
genetisch beeinflußt zu sein. Oben wurde die der Ausschluß eines genetischen Syndroms.
Studie mit Neugeborenen und Säuglingen
erwähnt, die eine verminderte Aktivität bei
denjenigen ausmachte, die innerhalb eines
Prader-Willi-Syndrom
Jahres eine vermehrte Gewichtszunahme
hatten (Abschn. 5.1.2; Roberts et al. 1988). Es wurde erst 1956 von Prader, Labhart und
Untersucht man die Aktivität mit Hilfe eines Willi beschrieben (Tabelle 5.2). Die Häufig-
Protokolls und vergleicht die Probanden mit keit wird mit 1:5.000-10.000 angegeben
den Eltern bzw. dem Zwilling, kommt man (Dietz 1992). Bereits die Neugeborenen be-
auf einen Vererbungsgrad von 25-30% reiten wegen einer ausgeprägten Hypotonie
(Bouchard 1992). Selbst der Energiever- mit Trinkschwierigkeiten Probleme. Später
brauch bei submaximaler Belastung scheint sind es eher Verhaltensprobleme wie Eigen-
genetischen Einflüssen unterworfen zu sein, sinn und Impulsivität (bei Oligophrenie),
bei geringer Belastung deutlicher als bei was zu Schwierigkeiten in Familie und Um-
stärkerer. Zu diesen Ergebnissen kam man gebung führen kann. Sehr auffällig ist auch
bei mono- und dizygoten Zwillingen unter das Eßverhalten, das oft durch die Aufnahme
Ergometerbelastung (Bouchard 1992). von riesigen Nahrungsmengen unterschied-
Tabelle 5.1. Korrelation von Grundumsatz und Thermogenese bei Eltern/Kindern sowie di- und monozygoten
Zwillingen. (Nach Bouchard 1992)
Iiehster Art (auch Tierfutter) gekennzeichnet apnoesyndrom soll für 30% der Mortalität
ist. Fast alle Betroffenen sind adipös, in der verantwortlich sein (Dietz 1992).
Regel mit abdominaler Fettanhäufung. Die Die Therapie hat multidisziplinär zu er-
Frauen haben meistens keinen normalen folgen. In Kindheit und Jugend geht es v. a.
Regelzyklus, oft anovulatorische Zyklen; darum, eine adäquate Nahrungsaufnahme
Schwangerschaften sind selten. Die Männer zu gewährleisten. Später steht mehr das ge-
weisen in 80% einen Kryptorchismus auf, die störte Eßverhalten im Vordergrund, wobei
Hoden sind infantil (wenn überhaupt an- übliche psychotherapeutische Ansätze ins-
gelegt), ebenso der Penis. Bei beiden Ge- besondere wegen der Minderbegabung we-
schlechtern sind die sekundären Ge- nig hilfreich sind. Viele Autoren berichten
schlechtsmerkmale nur rudimentär vorhan- von guten Erfolgen mit Formuladiäten, an-
den. Hjnzu kommen Strabismus, kleine Hän- dere wiederum plädieren für eine Unterbrin-
de und Füße, mandelförmige Augen und bei gung in einem Heim oder einer Wohnge-
jedem zweiten Betroffenen eine Skoliose. meinschaft, da hier eine befriedigende Er-
Aufgrund der geringen Muskelmasse sind nährung gewährleistet sei. Eine operative
auch der Grundumsatz und der Gesamtener- Intervention wird kontrovers diskutiert.
gieverbrauch reduziert. 20% entwickeln ei- Ein Gen in der für das Syndrom kriti-
nen Diabetes Typ II, ein obstruktives Schlaf- schen Chromosomenregion 15q 11-13 wur-
64 KAPITEL 5 Ätiologie
Tabelle 5.3. Beeinflussung der Nahrungsaufnahme genauf die Nahrungspräferenz (i Steigerung bzw. -l-
durch Neurotransmitter und Hormone in verschie- Reduktion der Nahrungsaufnahme)
denen Regionen des Hypothalamus und Auswirkun-
fekt wird über a 1 -Rezeptoren, nicht jedoch zentration von Tryptophan erhöht und da-
über a 2 -Rezeptoren und ß-Rezeptoren ver- mit die Syntheserate von Serotonin. Eiweiß
mittelt. Hypothalamisehe Injektionen führ- hingegen erhöhte den Spiegel von Tyrosin,
en zu einer vermehrten Futteraufnahme vor- einem Vorläufer von Dopamin. Nach diesen
nehmlich in Form von Kohlenhydraten auch Vorstellungen liegt eine Selbstregulation der
bei Anwesenheit von Eiweiß. Zudem erhöht Proteinaufnahme vor: Eiweiß in der Nah-
sich die Plasmakonzentration von Kortison, rung erhöht die Dopaminkonzentration im
Glukose und Vasopressin, der Energiever- Hypothalamus; eine erhöhte Dopaminakti-
brauch wird vermindert. Diese Mechanis- vität wiederum bremst den Eiweißkonsum.
men tragen synergistisch zu einer Erhöhung
der Energievorräte bei. Seroton in
Stimuliert wird das Noradrenalinsystem Von diesem Hirnmonoamin ist bekannt, daß
durch Streß, körperliche Aktivität, Futterent- es einen inhibitorischen Effekt auf die Nah-
zug und während der Wachzyklen. Anatomi- rungsaufnahme hat (Tabelle 5.3). Aufgrund
sche und biochemische Manipulationen, die dieser Eigenschaft ist es in den letzten Jahren
die Nahrungsaufnahme stimulieren, wie Lä- intensiv beforscht worden. Serotonin (5-Hy-
sionen im medialen Hypothalamus, 2-De- droxy-Tryptamin) wirkt nahrungsdepresso-
oxyglukose oder ß- Endorphin, vermindern risch in allen 3 Hypothalamuskernen. Die
die Sympathikusaktivität gemessen an Nor- Wirkung von Serotonin wird durch 4 ver-
adrenalinspiegeln. Umgekehrt führen Inter- schiedene Rezeptoren und deren Subtypen
ventionen wie Läsionen am lateralen Hypo- vermittelt. Die anorektischen Effekte sind an
thalamus und Amphetamine aufgrund einer den 5-HT 18- und 5-HTIC-Rezeptor gekop-
Zunahme der sympathischen Aktivität zur pelt, nicht an den 5-HT 1 A-Rezeptor, der die
Futterrestriktion. Es scheint demnach ein Nahrungsaufnahme über eine Hemmung
Feedback-Mechanismus zu existieren, wobei von Serotonin stimuliert. Beim Menschen
eine erhöhte Sympathikusaktivität zur Nah- wird vermutet, daß die hypophage Wirkung
rungssteigerungführt (Bray 1989). über den 5-HT 10 -Rezeptor zustandekommt;
5HT 18-Rezeptoren fehlen (Garattini et al.
Dopamin 1986).
Im Unterschied zu Noradrenalin wirkt Do-
pamin vorwiegend außerhalb des medialen
Hypothalamus in dessen lateralen Anteilen. Seroton in entfaltet eine anorektische Wirkung
Durch Injektionen wird die Aufnahme von an spezifischen Rezeptoren im Hypothalamus.
Eiweiß und Fett nahezu selektiv reduziert,
die von Kohlenhydraten nicht. Es besteht
demnach ein Zusammenhang zwischen der
Nahrungsaufnahme und der Dopaminkon- Durch Nahrungsaufnahme wird die Hirn-
zentration. konzentration von Serotonin in der Regel re-
Wurtman u. Fernstrom (1976) haben in duziert, besonders durch eine proteinreiche
spektakulären Versuchen herausgefunden, Kost. Kohlenhydratreiche Mahlzeiten, nicht
daß die Zufuhr von spezifischen Hauptnähr- jedoch proteinreiche, verstärken die Aufnah-
stoffen die Serumspiegel der Aminosäuren me und Synthese von Hirntryptophan, dem
Tyrosin und Tryptophan verändern; diese wichtigsten Regulator in diesem System. Die
Aminosäuren wiederum sind Präkursoren unt~rschiedlichen Auswirkungen von Koh-
von Dopamin und Serotonin. überzeugend lenhydraten und Eiweiß sind durch die Art
konnten sie darstellen, daß der bevorzugte und Weise bestimmt, wie Tryptophan vom
Konsum von Kohlenhydraten die Serumkon- Blut ins Gehirn transportiert wird. Die zu-
5.2 Energieaufnahme 69
--------------------spät---.
- - Sättigung-----+ +-------------"Sattheit"------------+
("satiation") ("satiety")
Abb. 5.5. Komponenten der Sättigungskaskade. Die lange die Zeitspanne zwischen den Mahlzeiten ist
Nahrungsaufnahme sistiert, wenn eine Sättigung (Sattheit), hängt von einer Reihe von Prozessen ab.
vorwiegend durch sensorische Reize eintritt. Wie (Mod. Nach Blundelll989)
70 KAPITEL 5 Ätiologie
Acetyl-CoA-Carboxylase in der Leber und ist wahrscheinlich nur das Ausmaß der Fül-
im Fettgewebe wird erhöht (Rohner-Jeanre- lung, nicht jedoch der Inhalt des Magens ent-
naud 1995). Die Expression von NPYmRNA scheidend. Die hypothalamisehe CCK-Frei-
wird durch Insulin und Glukokortikoide setzung kann durch eine elektrische Stimu-
stimuliert und durch Leptin und Östrogene lation des Vagus nachgeahmt und durch eine
gehemmt. bilaterale zervikale Vagotomie verhindert
werden (Schick 1995). Diese Befunde spre-
Galan in chen dafür, daß hypothalamisches CCK eine
Ähnlich wie NPY stimuliert auch Galanin die Rolle bei der Beendigung der Nahrungsauf-
Nahrungsaufnahme; bei hypothalamisehen nahme spielt.
Injektionen kommt es zu einer bevorzugten
Aufnahme von Kohlenhydraten, später auch
zu Fett (Tabelle 5.3). Galanin ist weniger Cholezystokinin hemmt wahrscheinlich über
wirksam als NPY. eine Magendehnung und Stimulation afferen-
ter Vagusfasern die Nahrungsaufnahme als
Cholezystokinin (CCK) hypothalamischer Neurotransmitter.
Bereits 1973 wurde von Gibbs die Ent-
deckung gemacht, daß CCK den Hunger ver-
mindert; es ist inzwischen das am besten un-
tersuchte intestinale Hormon. CCK vermit- Leptin
telt seine Wirkung entweder als zentralner- Bei intrazerebroventrikulärer oder systemi-
vöser Neurotransmitter oder als intestinales scher Injektion hemmt Leptin beim Tier die
Hormon. Hormonelles CCK wird von endo- Nahrungsaufnahme. Ob dieser Effekt direkt
krinen Mukosazellen des oberen Dünn- oder indirekt vermittelt wird, ist unklar
darms durch Gallen- und Pankreassaft, Öl- (Rohner-Jeanrenaud 1995). Bekannt ist, daß
säure, Eiweiß (Kasein) und Trypsininhibitor Leptin die Expression von NPY mRNA sup-
freigesetzt. Eine periphere Applikation von primiert bzw. die appetitsteigernde Wirkung
CCK hemmt in verschiedenen Spezies die blockiert. Transgene Mäuse ohne NPY zei-
Nahrungaufnahme; beim Menschen ist die- gen allerdings die gleichen Effekte, was auf
ser Effekt jedoch nur in pharmakologisch eine nicht-NPY-vermittelte Wirkung hin-
hohen CCK-Dosierungen nachweisbar. In weist (s. auch Abschn. 6.4.2).
physiologischen Dosen hat CCK nämlich
keinen Einfluß auf die Nahrungsaufnahme, Glukagon-like Peptid 1 (GLP-1)
wie Schick und Schusdziarra (1993) zeigen GLP-1, eine Komponente vom Präglukagon,
konnte. Ein zentraler sättigender Effekt von ist nicht nur ein Hormon, sondern auch ein
zirkulierendem CCK ist unwahrscheinlich, Neurotransmitter. Durch intrazerebrale In-
da hormonelles CCK die Blut-Hirn-Schranke jektion konnten Schicket al. (1994) erstmals
nicht passieren kann. Peripheres CCK verzö- zeigen, daß die Nahrungsaufnahme bei Rat-
gert jedoch die Magenentleerung. ten supprimiert wird. Der Effekt wird sowohl
Die hemmende Wirkung auf die Nah- in lateralen als auch in medialen Teilen des
rungsaufnahme wird vom zentralen CCK Hypothalamus vermittelt.
vorwiegend als Neurotransmitter bewerk-
stelligt. Durch eine gastrale Distension mit Corticotropin-releasing-Faktor (CRF)
Aktivierung von Mechanorezeptoren wer- Neben der Bedeutung in der Hypophysen-
den afferente Vagusfasern aktiviert, die zu Nebennieren-Achse spielt CRF auch eine
einer Freisetzung von CCK in Neuronen des Rolle bei der Hunger-Sättigung-Regelung.
lateralen Hypothalamus führen. Als Stimulus Bei Injektion in den zerebralen Ventrikel
5.2 Energieaufnahme 71
nimmt die sympathische Aktivität zu; das die quantitative Erfassung der Nahrungsauf-
zeigt sich durch einen Anstieg der Herzfre- nahme keine einfache Prozedur ist.
quenz, des Blutdrucks sowie der Plasmakon- Die Nahrungsaufnahme ist ziemlich iden-
zentration von Glukose, freien Fettsäuren, tisch mit der verwerteten Nahrungsmenge,
Glukagon und Kortison (Rohner-Jeanrenaud da nur ca. 5% der aufgenommenen Nah-
1995). Die Thermogenese wird stimuliert rungsenergie über den Stuhl ausgeschieden
und die Sekretion von Magensaft sowie die wird (Garrow 1988). Dieser Prozentsatz un-
Magenentleerung verzögert. Die Nahrungs- terliegt keinen großen individuellen Schwan-
aufnahme und das Körpergewicht nehmen kungen. Er ist weit niedriger als viele Men-
ab. schen annehmen, und entzieht der Diskus-
sion über "bessere Verdauung" oder "bessere
Aldosteron und Angiotensin Stoffwechselverwertung" weitgehend den
Aldosteron hingegen stimuliert die Nah- wissenschaftlichen Boden.
rungsaufnahme. Angiotensin kontrolliert in Methoden zur Erfassung der Nahrungs-
Kombination mit Aldosteron den Appetit auf aufnahme wurden für experimentelle und
Salz und den Durst.Angiotensin ist demnach alltägliche Situationen entwickelt. Das For-
nicht nur ein Hormon mit kardiavaskulärer schungsinteresse richtet sich verständlicher-
Wirkung, sondern auch ein Neurotrans- weise vorwiegend auf die Erhebung unter
mitter. Alltagsbedingungen, da die Nahrungsauf-
nahme wie kaum ein anderes Verhalten in
Somatostatin und Gastrin den Tagesablauf eingebunden und von viel-
Diese beiden gastralen Hormone haben fältigen Gegebenheiten beeinflußt wird.
beim Menschen keinen Einfluß auf die Nah-
rungsaufnahme, auch nicht in supraphysio-
Methoden zur Erhebung
logischen Dosen nach Studien von Schusd-
der Nahrungsaufnahme
ziarra (1992).
Eine Erfassung der Nahrungsaufnahme wird
5.2.2 mit unterschiedlichem Ziel durchgeführt.
Alimentäre Adipositas Für epidemiologische Zwecke, die Landwirt-
schaft, Lebensmittelindustrie, Politik usw.
Die übliche Vorstellung von der Genese der werden globale Methoden angewandt, die
Adipositas zielt v. a. auf die ernährungsbe- die Produktion und den Verkauf von Nah-
dingte Adipositas. Viele Menschen glauben rungsmitteln betreffen. Die Energieaufnah-
oder meinen beobachtet zu haben, daß me im Verlauf über Jahre wird häufig über
Adipöse eine erhöhte Quantität an Nah- den Verkauf von Nahrungsmitteln errechnet.
rungsmitteln oder solche mit hohem Ener- Man kennt etwa den prozentualen Anteil an
giegehalt zu sich nehmen. Für das Kollektiv nichtverzehrten Nahrungsmitteln (beim Sa-
der übergewichtigen trifft das global zu, im lat anders als bei Schokolade) und kann so
Einzelfall jedoch häufig nicht. Ob Adipöse die pro Kopf und Tag verzehrte Nahrungs-
bestimmte Nahrungsmittel im Vergleich zu menge abschätzen. Diese Methoden werden
Normalgewichtigen bevorzugen, ist hinge- nachfolgend nicht besprochen. Hier interes-
gen nach wie vor Gegenstand von wissen- sieren nur die für die individuelle Nahrungs-
schaftlichen Untersuchungen. Die Schwie- aufnahme entwickelten Methoden. Grund-
rigkeit der Beurteilung der Nahrungsauf- sätzlich gibt es 4 verschiedene Möglichkei-
nahme liegt in der Methodik der Erhebung. ten, die Nahrungsaufnahme quantitativ zu
Auch ohne wissenschaftlich fundierte Kennt- erfassen: Wiegen, Beobachten, Dokumentie-
nisse kann man sich gut vorstellen, daß v. a. ren und Befragen.
72 KAPITEL 5 Ätiologie
Tabelle 5.5. Food-frequency-Tabelle zur Ermittlung einzelnen Felder gibt die Beurteilung wieder: ge-
der qualitativen und semiquantitativen Nahrungs- wünscht/häufiger; seltener; meiden (nicht abgebil-
aufnahme. Der Patient kreuzt die Häufigkeit von det). Der Patient erhält ein Formular ohne die Bewer-
Nahrungsmitteln an. Eine farbliehe Unierlegung der tung (abgebildet)
Die mangelnde Zuverlässigkeit der Er- wickelt hatte. Energieaufnahme und Ener-
nährungserhebung bei Adipösen wurde erst gieverbrauch halten sich die Waage, wenn
evident, als man eine verläßliche Methode ein Proband im Zustand der Gewichtskon-
zur Messung des Energieverbrauchs ent- stanz ist; man muß nur den Energiever-
5.2 Energieaufnahme 77
12000
ü
u:::, 10000
c~
:::J~
CI>.S:::
Eu
.s::::::J
8000
c 2
c.o
'SQ; 6000
c >
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!21!21 4000
CD Cl>
c c
ww
2000
0
PRENTICE LICHTMAN
Tabellen, wenngleich sie nur semiquantitati- Wasser. Diese Methode hat zudem den Vor-
ve Angaben liefern und nur Rückschlüsse auf teil, daß sie unter Alltagsbedingungen ambu-
bevorzugte und gemiedene Nahrungsmittel lant durchgeführt werden kann (s. Abschn.
erlauben; diese Information reicht jedoch 5.3.2). Der große Aufwand und die hohen
für eine Ernährungsberatung in der Regel Kosten begrenzen die Methode allerdings
aus. auf wissenschaftliche Fragestellungen.
ein erhöhtes Volumen zu einer verstärkten benund vice versa. Wenn die Sättigung vor-
Dehnung der Magenwand und zur Induktion wiegend vom Gewicht und weniger vom
von nervalen und hormonellen Prozessen Energiegehalt abhängt - wie oben erwähnt -
mit beschleunigter Sättigung. Wird ein be- bedeutet dies, daß Nahrungsmittel mit einer
stimmtes Volumen als "preload" verabreicht, geringen Energiedichte wenig sättigen und
sind Unterschiede hinsichtlich der Sättigung umgekehrt. Blundell (1993) hat in einer Ver-
festzustellen. Ein Wasser-Preload führt zu suchsreihe Nahrungsmittel mit wenig Fett
einem geringfügigen Sättigungszuwachs. und viel Kohlenhydraten bis zu solchen mit
Werden Suppen mit 300 ml verabreicht und viel Fett und wenig Kohlenhydraten angebo-
Testmahlzeiten 15 min später angeboten, ten. Von den letzteren nahmen die Proban-
wird ein Reduktionseffekt von etwa 25% er- den weit mehr Energie zu sich, was für einen
reicht (Pudel1982). geringen Sättigungseffekt fettreicher Speisen
Bei vielen Versuchen wurden Probanden spricht. Die Adipösen aßen freiwillig etwa
Nahrungsmengen mit unterschiedlichem doppelt so viel Fett wie Kohlenhydrate
Gewicht und Energiegehalt vorgesetzt. In der (Energieprozent). Würden Adipöse Nah-
Regel war es eine ballaststoffreiche/fettarme rungsmittel mit geringer Energiedichte be-
und eine fettreiche/ballaststoffarme Kost. vorzugen, könnten sie eine Gewichtsab-
Die konsumierten Mengen hingen im we- nahme von ca. 20% erreichen (Strain et al.
sentlichen vom Gewicht ab. 1992).
Energiegehalt
Pudel (1978) bot Adipösen am Food-dispen- Adipöse konsumieren bevorzugt Nahrungs-
ser Trinkmengen mit unterschiedlichem En- mittel mit hoher Energiedichte.
ergiegehalt an. Mit einem Trinkröhrchen
konnte Nahrung kontinuierlich ad libitum
entnommen werden. Bei Erhöhung der
Energiedichte um 100% stieg die durch- Schmackhaftigkeit
schnittliche Energieaufnahme bei Normal- Die Schmackhaftigkeit, d. h. Gefallen und
gewichtigen um 46%, bei Adipösen um 99%. Genuß an einer Mahlzeit, werden durch den
Er schloß aus seinen Beobachtungen, daß Geschmack, das Aroma, die Beschaffenheit
"Veränderungen der Kalorienkonzentration und die Temperatur einer Mahlzeit be-
- zumindest in den Bereichen zwischen stimmt. Die Schmackhaftigkeit hat Auswir-
0,5 kcal und 2 kcal!ml - subjektiv von den kungen auf die Auswahl der Nahrungsmittel,
Probanden nicht bemerkt werden". die Eßmenge, die Häufigkeit der Kaubewe-
gungen, die Dauer des Eßvorgangs, die An-
zahl der Bissen und die Dauer des Kauens
Die konsumierte Nahrungsmenge hängt im
(Rodin 1992). Viele Studien weisen darauf
wesentlichen vom Gewicht und nicht von der hin, daß Adipöse mehr Freude und Genuß
Energie ab. beim Essen haben und die Mahlzeit später
beenden als Normalgewichtige (Rodin
1992), was auf eine genetische Prädisposi-
tion hinweist. Bietet man Probanden ver-
Energiedichte schiedene Speisen mit steigendem Zucker-
Darunter versteht man den Quotienten aus gehalt an, beobachtet man schon bei mitt-
Energiegehalt und Gewicht der Nahrung. leren Konzentrationen eine Abnahme der
Eine hohe Dichte ist durch Fett, Ballast- Schmackhaftigkeit, während bei fetten Spei-
stoffarmut und geringen Wassergehalt gege- sen der Geschmacksgipfel erst bei sehr
80 KAPITEL 5 Ätiologie
gulation hat, ist bereits 1953 von Mayer mehr Fett (Glinsman et al.1986).Adipöse be-
( 1953) formuliert worden. Er ging davon aus, vorzugen jedoch nicht nur die Geschmacks-
daß Zucker für die kurzzeitige ("glucostatic richtung "Fett", sondern auch "Zucker"
control") und Fett für die langfristige ("li- (Drewnowski 1987). Sowohl Monosaccha-
postatic control") Regulation verantwortlich ride (Glukose, Fruktose), Oligosaccharide
sei. Für die glukostatische Theorie spricht, (z. B. Maltodextrine) als auch komplexe Koh-
daß - bei Nahrungsangebot ad libitum - ein lenhydrate verringern den Hunger; letztere
Abfall des Blutzuckers vor Mahlzeiten zu haben einen etwas größeren sättigenden
beobachten ist. Injiziert man Glukagon, was Effekt (Cotton 1994).
die arteriovenöse Glukosedifferenz erhöht, Mit der Frage, wie Kohlenhydrate Hunger,
nimmt der Hunger ab. Zudem hat man im Sättigung und Nahrungsaufnahme beein-
ventromedialen Hypothalamus, dem Sätti- flussen, hat sich besonders die Arbeitsgrup-
gungszentrum, Glukoserezeptoren gefunden pe von Blundell befaßt. 18 Männer nahmen 4
(van Itallie 1990). Es gibt aber auch Hinwei- verschiedene Mittagessen zu sich, die viel
se, die dieser Hypothese widersprechen: i. v. (947 kcal) und wenig (535 kcal) Energie ent-
applizierte Glukose reduziert nicht die Nah- hielten und jeweils kohlenhydrat(Sucrose)-
rungsaufnahme; viele Zustände mit verän- reich oder fettreich waren. Nach einem ener-
derten arteriovenösen Glukosedifferenzen giereichen Mittagessen wurden in der Folge-
korrelieren nicht mit der Sättigung, dem zeit weniger Snacks und andere Speisen ge-
Hunger oder der Nahrungsaufnahme. gessen als nach einem energiearmen Essen,
Epidemiologische Studien zeigen, daß der was nicht verwundert (Abb. 5.7). War das
Zuckerkonsum bei Adipösen geringer ist als Mittagessen kohlenhydratreich/fettarm, wur-
bei Normalgewichtigen; Adipöse essen v. a. de in der nachfolgenden Zeit weniger Ener-
Kalorienarmes Kalorienreiches
1200 Mittagessen (535 Kcal) - - Mittagessen (947 Kcal)
1000
800
600
400
200
0
KH- reich fettreich KH ·reich fettreich
Abb. S. 7. Energieaufnahme in Form von Snacks nach war. Man sieht, daß- unabhängig vom Energiegehalt
einem energiearmen (535 kcal) Mittagessen bzw. ei- des Mittagessens- nach einer KH-reichen Mahlzeit
nem energiereichen (947 kcaVTag) Mittagessen, das weniger Snacks und andere Speisen verzehrt werden
jeweils kohlenhydratreich (KH-reich) oder fettreich als nach einer fettreichen. (Nach Green et al. 1994)
82 KAPITEL 5 Ätiologie
gie aufgenommen; dieser Effekt konnte so- thalamus bis zur Sättigung stimuliert wurde,
wohl nach einem energiereichen als nach ei- setzen die Nahrungsaufnahme fort, wenn
nem energiearmen Mittagsmahl beobachtet anderes Futter vorgesetzt wurde.
werden. "Variatio delectat" gilt hinsichtlich der
Nahrungsaufnahme auch beim Menschen.
Eine Fortsetzung der Nahrungsaufnahme
Bezüglich der Sättigung gibt es eine Hierarchie kann sowohl durch orosensorische als auch
(in absteigender Reihenfolge): Eiweiß - Koh- durch visuelle Reize erreicht werden. Es muß
lenhydrate - Fett. auch kein Nachtisch sein; auch für Hauptge-
richte wurde dieser Effekt nachgewiesen.
Möglicherweise sprechen Adipöse auf Ab-
wechslung der Mahlzeiten besser an als Nor-
Süßstoffe malgewichtige (Rodin 1992). Doch auch das
Süßstoffe werden von Patienten genommen Umgekehrte gilt: monotones Essen reduziert
und/oder von Ärzten empfohlen, um Zucker die Nahrungsaufnahme; dieses Prinzip wur-
geschmacklich - ohne deren Energiegehalt - de auch schon erfolgreich zur Gewichtsre-
zu imitieren. Wenn bekannt ist, daß Men- duktion eingesetzt (Cabanac u. Rabe 1976).
schen süße Speisen gern essen und Süßes die Bedenken sollte man auch, daß die Ange-
Schmackhaftigkeit steigert, kann vermutet botsvielfalt von Nahrungsmitteln in Indu-
werden, daß Süßstoffe wie Saccharin, Cycla- strieländern und deren nahezu uneinge-
mat oder Aspartam die Nahrungsaufnahme schränkte Verfügbarkeit hinsichtlich Ort
stimulieren. Bei Ratten scheint dies auch der und Zeit zur gesteigerten Nahrungsaufnah-
Fall zu sein. Viele Arbeitsgruppen konnten me "verführt".
zeigen, daß insbesondere Aspartam zu ge-
steigerter Nahrungsaufnahme führt, auch
wenn es unter Umgehung orosensorischer Essen und Eßverhalten werden sowohl durch
Einflüsse direkt in den Magen gegeben wird die Umwelt als auch genetisch determiniert.
(Elizalde u. Sclafani 1990). Eine Diskussion
kam allerdings 1986 auf, als die Arbeitsgrup-
pe von Blundell und Hili über vermehrten
Hunger nach Aspartam berichtete. In den
Energiezufuhr in den letzten Jahrzehnten
meisten Studien konnte man jedoch nicht
feststellen, daß Aspartam die Nahrungsauf- Wenn die Menschen in Industrienationen
nahme steigert. Der Gebrauch von Süßstof- immer übergewichtiger werden, ist zu ver-
fen führt auch nicht zur Adipositas (Rolls muten, daß sie immer mehr Nahrungsener-
1993 ). Süßstoffe können daher zur Gewichts- gie zu sich nehmen. Diese Vermutung bedarf
abnahme empfohlen werden. einer kritischen überprüfung, da neuere
Veröffentlichungen diese Annahme nur teil-
Abwechslung - Monotonie weise stützen. Für Deutschland gibt es dies-
Je mehr Sorten Futter Ratten angeboten wer- bezüglich keine verläßlichen Daten. In Groß-
den, desto mehr fressen sie. Selbst wenn sie britannien hat das Ministerium für Land-
sich an einer Futtersorte sattgefressen ha- wirtschaft, Ernährung und Fischerei 1992
ben, fressen sie weiter, wenn ein Futter mit Ergebnisse zum Lebensmittelverbrauch in
einem anderen Geschmack, jedoch gleicher den letzten 40 Jahren veröffentlicht (Mini-
Zusammensetzung der Hauptnährstoffe, an- stery of Agriculture, Fisheries and Foods
geboten wird (Rodin 1992).Affen,deren Fut- 1994). Demzufolge stieg der Lebensmittel-
teraufnahme neuronal im lateralen Hypo- verbrauch von 1950 bis 1970 um etwa 15%
5.2 Energieaufnahme 83
an. Danach fiel er bis 1990 um ca. 25o/o ab; er sto niedriger der BMI. Bei 200.000 überge-
lag zu Beginn der 90er Jahre ca. lOo/o niedri- wichtigen Männern und Frauen war der BMI
ger als nach dem 2. Weltkrieg. mit dem Fettgehalt der Kost positiv und dem
In der gleichen Erhebung wurde auch der Kohlenhydratgehalt negativ korreliert (Pu-
Fett- und Kohlenhydratverbrauch unter- del u. Westenhöfer 1992). Spektakuläre Er-
sucht. Wie in Abb. 5.8 ersichtlich, stieg der gebnisse lieferte eine Untersuchung in
Fettverbrauch bis etwa 1980 an; parallel dazu Schottland an 11.626 Frauen und Männern,
nahm der Kohlenhydratverbrauch ab. Der deren Nahrungsaufnahme mit einer Food-
Trend zu eher abnehmendem Fettkonsum frequency- Tabelle erfaßt wurde. Man stellte
wird auch durch andere Untersuchungen ge- nicht nur fest, daß Probanden mit einem ho-
stützt. hen Fettkonsum ein höheres Gewicht hatten,
Auf einer Podiumsdiskussion anläßtich sondern daß die umgekehrte Beziehung bei
des Internationalen Adipositas Kongresses der Zuckeraufnahme festzustellen war (Bal-
in Toronto 1994 kam man zu dem Schluß, ton-Smith u. Woodward 1994; Abb. 5.9). Die
daß die zunehmende Prävalenz der Adiposi- Kohlenhydrataufnahme wurde differenziert
tas in den letzten Jahren kaum alimentär zu erfaßt, so daß der Konsum an Stärke und
erklären ist, auch nicht durch eine Verände- verschiedenen Zuckern separat ermittelt
rung der Kohlenhydrat-Fett-Relation. Viel- werden konnte. Erstaunlich war zudem, daß
mehr läßt sich der mittlere Anstieg des Kör- eine hohe Kohlenhydrat-Fett-Relation unab-
pergewichts weltweit durch eine verringerte hängig von der Energieaufnahme den BMI
körperliche Aktivität erklären, wenngleich erklärte.
es für diese These kaum fundierte Daten gibt. Von experimentellen Studien weiß man,
daß bei kohlenhydratreicher Ernährung die
Kohlenhydratoxidation stimuliert wird; sie
Bedeutung der Kohlenhydrat-Fett-Relation
beträgt bei jungen Männern maximal ca.
Viele Untersuchungen in den letzten Jahren 500 g/Tag (Acheson et al.1988). Wird die Oxi-
zeigen, daß das Körpergewicht mit der Nah- dationskapazität überschritten, wird ver-
rungsrelation von Kohlenhydraten zu Fett mehrt Glykogen gespeichert, zudem werden
zusammenhängt: je höher der Quotient, de- Fettsäuren aus Glukose synthetisiert.
60-r------------------- -----------------------,
~
~
Q)
E 50
Kohlenhydrate
-
~
ro
c
:::1
ro
Q)
"2> 40
Q)
c Fett
w
30
1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000
Jahr
Abb. 5.8. Relativer Energieverzehr an Kohlenhydraten und Fett in den letzten 40 Jahren in Großbritannien
nach einer Erhebung des Ministeriums für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung ( 1992)
84 KAPITEL 5 Ätiologie
1,2
~
-9 + Kontrollen (n=9)
c::: -o- Post-Adipöse (n=9)
i
:!2
0,9
><
0
.,!.
I!! 0,6
--- -?
"tl
>-
.c
c:::
Gl
:c 0,3
--
~
~
u. 0
20 30 LijEIOd-Energie (%) 50
Abb. 5.1 0. Beeinflussung der Fett -/Kohlenhydrat- der Fettaufnahme weniger Fett als Normalgewichti-
Oxidation durch Änderung der Fett-/Kohlenhydrat- ge. (Nach Astrup et al. 1994)
Aufnahme. Postadipöses oxidieren mit zunehmen-
5.2 Energieaufnahme 85
sie beide einen unterschiedlichen wissen- Mahlzeiten um so länger, je größer die vor-
schaftlichen Schwerpunkt haben, kamen sie ausgegangenen Essensportionen waren (Ro-
überraschend zu einem ähnlichen Ergebnis: din 1992). Solche physiologischen Regelme-
Die Initiierung der Adipositas sei üblicher- chanismen werden natürlich in einer Gesell-
weise nicht durch eine vermehrte Nahrungs- schaft mit rigiden Zeitvorgaben laufend ver-
aufnahme erklärbar. Vielmehr spiele zu die- letzt. Nicht zuletzt führen auch bestimmte
sem Zeitpunkt ein erniedrigter Grundum- Ereignisse wie Urlaub, Wochenende, Feier-
satz, eine verminderte Thermogenese oder lichkeiten usw. zur erhöhten Energieaufnah-
eine reduzierte körperliche Aktivität die me. Solche Gelegenheiten sind meistens
Hauptrolle. Um ein erhöhtes Gewicht zu hal- durch eine verminderte kognitive Kontrolle
ten, müsse auch die Energiezufuhr zuneh- und hohe soziale Akzeptanz gekennzeichnet.
men. Steige beim Adipösen das Gewicht wei- Weitere psychosoziale Aspekte s. unten.
ter an, sei dies in erster Linie auf eine weitere
Erhöhung der Energiezufuhr zurückzu- Einstellung zum Essen
führen. Schon mit Verlassen des eigenen Landes
wird jedem deutlich, daß Ernährung und
Eßverhalten auch ökologisch und sozial be-
5.2.3
stimmt werden; jedes Land hat eine eigene
Psychosoziale Aspekte
Eßkultur. Es liegen Welten zwischen einem
der Energieaufnahme
Kantinenessen in Deutschland und einem
Hochzeitsmahl in der Türkei, und es gibt
Soziokulturelle Faktoren
deutliche Unterschiede zwischen der Mit-
Betrachtet man das Körpergewicht transkul- tagsmahlzeit eines Franzosen und der eines
turell, wird die Bedeutung der Kultur und Schweden. Essen hängt vom Land, vom An-
der Lebensumstände für die Entstehung der laß, von der Kultur, vom Ambiente, der Ver-
Adipositas evident. Japaner wiegen z. B. we- fügbarkeit von Lebensmitteln, den Kochfer-
niger als US-Japaner. Innerhalb westlicher tigkeiten, der Tischgesellschaft und schließ-
Gesellschaften hängt das Körpergewicht vor- lich auch von den Kosten ab.
wiegend mit der sozialen Schicht zusammen Essen hat etwas mit der Funktion der
(s. Abschn. 4.4). Hier wirkt sich insbesondere Nahrungsaufnahme zu tun. Während in frü-
der soziale Druck in der Ober- und Mit- heren Zeiten mit Essen vorwiegend der
telschiebt wegen eines vorherrschenden Zweck verfolgt wurde, die Körperarbeit und
schlanken Schönheitsideals aus; nicht unbe- damit das überleben zu sichern, ist dieser
dingt positiv, betrachtet man die zunehmen- Aspekt in den Industrienationen in den Hin-
de Häufigkeit von Eßgestörten, insbesondere tergrund getreten. Dementsprechend ist
von Mädchen und jungen Frauen, in der ge- auch die Wertschätzung von Lebensmitteln
hobenen Sozialschicht (Pudel1982). im Rückzug begriffen. Lebensmitteln ist
Zu einer gesteigerten Nahrungsaufnahme heutzutage kaum anzusehen, woher sie kom-
kann es auch kommen, wenn relativ fixe Eß- men und wie sie produziert wurden; ihre
zeiten vorgegeben und eingehalten werden. Identität ging zumindest teilweise verloren.
Denkbar ist, daß dann auch häufig ohne we- Mit zunehmender Verstädterung und abneh-
sentlichen Hunger gegessen wird, nur weil mender Kenntnis von der landwirtschaftli-
die Essenszeit gekommen ist. In dieser Hin- chen Produktion fehlt mehr und mehr der
sicht ist die untere Sozialschicht rigider als direkte Bezug zum Lebensmittel. Vermittelt
die obere. Essen Probanden über Wochen in wird dieser heute fast nur noch indirekt
einer Umgebung ohne zeitliche Orientie- durch Werbung in den Medien.
rung, sind die Zeitabstände zwischen den
86 KAPITEL 5 Ätiologie
Feindseligkeit begegnen (Wadden u. Stun- ten. Es gibt viele Befragungen, die zeigen,
kard 1993; Wooley 1987). Betroffen sind v.a. daß Ärger, Konflikte, Arbeit, Prüfungen,
Frauen in der Ober- und Mittelschicht. Diese Lärm, aber auch Einsamkeit, Langeweile und
Einstellung spiegelt das Vorurteil und die Trauer die Nahrungsaufnahme erhöhen.
Diskriminierung wider, die Adipöse oft ge- Offensichtlich führen solche Situationen zu
nug in ihrem Leben erfahren haben. Doch einer Ausschaltung der kognitiven Eßkon-
nicht alle Adipösen denken und fühlen so. Es trolle; denkbar ist natürlich auch, daß hor-
gibt nicht wenige, wie viele weiß man nicht monelle Veränderungen das Hunger-Sätti-
genau, die emotional stabil sind und auch gung-Zentrum im Hypothalamus beeinflus-
keine Minderwertigkeitsgefühle wegen ihrer sen. Pudel (1982) hat im Eßlabor den Einfluß
Körperfülle haben. von Streß am "food dispenser" in mehreren
Kinder beurteilen sich selbst hinsichtlich Studien ausführlich untersucht. Er konnte, je
ihres Gewichts häufig unrealistisch. Kinder nach Stressor, erhebliche hyper- und hypo-
im Alter von 6-10 Jahren nehmen immerhin phage Reaktionen beobachten.
von 87o/o aller adipösen Altersgenossen an,
deren Gewicht sei richtig. Befragt man hin-
Persönlichkeitsmerkmale
gegen Jugendliche in der Pubertät, stellt man
erschreckenderweise fest, daß sich viele für Viele Laien und auch "Fachleute" sind davon
übergewichtig halten, obwohl dies objektiv überzeugt, daß Adipöse - Kinder wie Er-
nicht zutrifft. Diese Einstellung haben wachsene - spezifische Persönlichkeitszüge
hauptsächlich Mädchen (43%), weniger Jun- aufweisen. Nicht wenige gehen sogar davon
gen (8o/o; Tienboon et al. 1994). 69o/o der aus, daß Adipöse abnorm oder neurotisch
Mädchen hatten bereits versucht, abzuneh- seien; sie plazieren den Adipösen in die Ecke
men und alle (!), unabhängig vom aktuellen der Psychopathologie. Die wissenschaftliche
Gewicht, wollten abnehmen. Eklatant ist of- Basis für diese Annahme ist in den letzten
fensichtlich eine häufig unrealistische Ein- Jahren erheblich geschrumpft und kaum
stellung zum eigenen Gewicht und bei noch existent. Der Grund ist in psycho-
Mädchen die generelle Absicht, abzuneh- diagnostischen Ergebnissen zu sehen. Die
men. Die Beurteilung des Gewichtes durch Kehrtwende, auffälliges Verhalten bei Adipö-
die Mütter ist zwar in der Tendenz genauer, sen nicht mehr als Ursache, sondern als Fol-
aber immer noch erheblich unrealistisch, ge des Übergewichtsaufgrund von Diskrimi-
wenn man ihnen Bildvorlagen unterbreitet, nierungen zu sehen, beschreiben Stunkard
nach denen sie ihr Kind einstufen sollen und Wadden (1992) wie folgt:"From viewing
(Chome et al. 1984). psychopathology as a cause of obesity, we
now see it as a result - of living in a society
that derogates obesity and obese persons".
Moore et al. (1962) untersuchten 1.660
Fast alle Mädchen wollen - ob adipös oder
Personen und fanden nur bei 3 von 9 Varia-
norma lgewichtig - in der Pubertät abnehmen.
blen eine leichte Abweichung: bei Unreife,
Argwohn und Starrheit. Spätere Untersu-
chungen mit dem Freiburger Persönlich-
keitsinventar (FPI) von Diehl u. Paul (1985)
StreB
sowie mit dem Minnesota Multiphasic Per-
Sätze wie "Ärger schlägt auf den Magen" und sonality Inventory (MMPI; Wadden u. Stun-
"die Liebe geht durch den Magen" versinn- kard 1993) ergaben entweder keine Unter-
bildlichen den Einfluß von Stressoren ne- schiede zu Normalgewichtigen oder nur
gativer und positiver Art auf das Eßverhal- leichte Skalenerhöhungen bei den Merk-
5.2 Energieaufnahme 89
malen Hypochondrie, Hysterie und Impul- daraus, daß er einem Adipösen grundsätz-
sivität. lich wie einem Normalgewichtigen gegen-
überzutreten hat, ein Verhalten, das bei uns
keineswegs gängig ist.
Adipöse sind psychisch grundsätzlich nicht
mehr und nicht weniger auffällig als Normal-
Abnormes Essen
gewichtige.
Die Tatsache, daß Adipöse nicht mehr und
nicht weniger von der Norm abweichende
Persönlichkeitszüge haben als Normalge-
Viele Untersuchungen zur Persönlichkeit wichtige, bedeutet nicht, daß ihr Eßverhalten
wurden in klinischen Settings durchgeführt keine Besonderheiten aufweisen kann. Die
und beinhalten daher das Problem der Se- im folgenden beschriebenen abnormen Eß-
lektion. Dieser Vorwurf wird insbesondere charakteristika sind Symptome, die häufig
der Tiefenpsychologie gemacht, die Eßstö- keine psychopathologische Relevanz haben,
rungen auf eine orale Fixierung in der libi- jedoch auch Ausdruck einer psychischen
dinös geprägten Entwicklungsphase zurück- Krankheit sein können (Abb. 5.12).
führt. Die Mehrzahl der Psychotherapeuten
ist sich inzwischen jedoch einig, daß Adipö- Naschen ("nibbling")
se üblicherweise keine "spezifische" Persön- Darunter versteht man die häufige Aufnah-
lichkeitsstörung aufweisen und daher die me von kleinen Nahrungsmittelmengen
Psychogenese der Adipositas irrelevant sei. ohne Hunger und ohne Eßwunsch ("snak-
Das schließt natürlich nicht aus, daß Adipöse king"). Gegessen wird aus Freude am Essen.
Persönlichkeitsstörungen, selbstverständlich Es handelt sich meist um leicht verfügbare
auch Eßstörungen, haben können (s. unten). und gut schmeckende Nahrungsmittel.
Für den Adipositastherapeuten resultiert
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' . ' : ;-. .:, "ll' ~ l ll ~ t :· ="I I
I --- -- . --
• Entwicklung • sozialer Status
• Selbstvertrauen • Beruf
• emotionaler Status • ethnische Zugehörigkeit
Abb. 5.12. Obergang von Symptomen des abnormen Essens zu klinischen Syndromen. (Nach Basdevant et al.
1993)
90 KAPITEL 5 Ätiologie
rung beginnt in der Regel bei Jugendlichen Während des Essens nimmt die Appetenz
und wird häufig durch inadäquate Diäten ge- (zum Essen) vermindert ab bzw. die Aversion
triggert; Frauen sind etwa 9mal häufiger be- (gegen das Essen) tritt verzögert auf, was zur
troffen als Männer. Charakteristisch ist ein Hyperphagie führt. Streß führt zu gesteiger-
übersteigertes Interesse an der Figur und ei- ter Nahrungsaufnahme.
ne zwanghafte Beschäftigung mit dem eige- Sein Schüler Nisbett (1972) stellte den
nen Gewicht und mit Nahrungsmitteln. Um Hunger in den Vordergrund seiner Überle-
das Gewicht zu senken bzw. unter Kontrolle gungen. Adipöse würden durch eine Reduk-
zu halten, werden nach Möglichkeit alle be- tionskost ein Körpergewicht unterhalb ihres
kannten Methoden zur Gewichtsreduktion "set points" haben. Durch Unterschreiten
einschließlich selbstinduziertem postpran- des biologisch vorgegebenen Gewichts sei
dialern Erbrechen eingesetzt. Die meisten der Mensch in einem chronischen Zustand
Bulimiker sind nicht adipös. der Unterernährung, was mit Hunger ein-
hergehe.
Ein weiterer Schüler Schachters, Herman,
Bulimia nervosa führte 1975 den Begriff des "restrained
eating" ein. Adipöse halten ihr Gewicht, in-
• Wiederholte Episoden von Eßanfallen
dem sie sich beim Essen ständig zügeln und
• Kontrollverlust hinsichtlich des Essens
unter Kontrolle haben. Einen experimentel-
• Zur Gewichtsabnahme werden selbst-
len Ansatz für diese Theorie fand er in einer
induziertes Erbrechen, Laxanzien, Di-
sog. Preload-Untersuchung. Probanden wur-
uretika, Diäten, Fasten und ausgepräg-
de als Testmahlzeit ein Milchshake serviert;
te körperliche Belastungen praktiziert
• Mindestens 2 Eßanfälle pro Woche danach erhielten sie als "Geschmackstest"
über 3 Monate Eiscreme. Personen mit ungezügeltem Eß-
• Oberinteresse an Figur und Körper- verhalten verhielten sich so, wie man es
gewicht erwartete; sie aßen danach weniger. Proban-
den mit gezügelten Eßverhalten hingegen
aßen nach der Testmahlzeit mehr Eiscreme!
Dieses paradoxe Verhalten wurde von Her-
man als Enthemmung bzw. Gegenregulation
Gezügeltes Eßverho/ten {"restroined eoting")
("disinhibition") bezeichnet und in der Fol-
Neben den veränderten Vorstellungen zur gezeit mehrfach bestätigt (Herman u. Mack
Psychopathologie gehört das Konzept des 1975).
gezügelten Eßverhaltens zu den wesentli-
chen Neuheiten hinsichtlich psychischer Enthemmung ("disinhibition ")
Aspekte der Adipositas. Als Krankheit wird Als Erklärung für den vermehrten Konsum
es bisher von den meisten Experten nicht von Eiscreme im oben erwähnten Experi-
eingestuft. ment wird eine Enthemmung der kognitiven
Kontrolle angenommen. Die gezügelten Es-
Entwicklung des Begriffs ser nahmen nach dem Milchshake offen-
Die Vorstellung vom gezügelten Essen geht sichtlich an, daß sie danach ihren Appetit
auf Schachter (1968) zurück. Seiner Theorie nicht zügeln müssen; die Eiscreme wurde ja
zufolge ist das Eßverhalten Adipöser außen- nicht als Speise, sondern als Geschmackstest
reizgesteuert (Externalitätshypothese). Um- angekündigt. Eine Enthemmung der kogniti-
welteinflüsse bestimmen im wesentlichen ven Kontrolle kann bei gezügelten Essern
Hunger, Appetit und Sättigung; Adipöse sind durch verschiedene experimentelle Manipu-
für Außenreize besonders empfänglich. lationen induziert werden.
92 KAPITEL 5 Ätiologie
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gieverbrauch beträgt beim Erwachsenen • Genetik
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55-70% (Abb. 5.13). Er wird im wesentlichen , Trainings- E
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vom Alter, Geschlecht, der fettfreien Körper- " c.
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masse (Muskelmasse) und genetischen Vor- (5 0
GI
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aussetzungen bestimmt.
Abb. 5.13. Komponenten des Energieverbrauchs des
Thermogenese Menschen sowie deren Determinanten und Metho-
den zur Erfassung. (Mod. nach Ravussin u. Swinburn
Darunter versteht man den Mehrverbrauch 1993) SMR = "sleeping metabolic rate" BMR = "basic
an Energie (über dem Grundumsatz) durch metabolic rate"
5.3 Energieverbrauch 95
dung im Urin ermittelt werden. Da Eiweiß • Im Labor ist heute der Douglas-Sack weit-
im Durchschnitt 16o/o Stickstoff enthält, kann gehend von der belüfteten Haube ("venti-
der Eiweißumsatz errechnet werden. lated hood") abgelöst worden. In diesem
System läßt sich der Gas-Flow durch
Offene und geschlossene Systeme Pumpen exakt regeln, und Gasproben
können jederzeit entnommen werden. In
Zur Messung der Gasmengen sind unter-
Verbindung mit kleinen Douglas-Säcken
schiedliche Systeme entwickelt worden.
ist auch ein ambulanter Einsatz möglich.
Beim geschlossenen System wird Luft aus ei-
Andere Systeme wie das Max-Planck-Re-
nem Reservoir inhaliert und dorthin wieder
spirationsmeter, das COSMED KrSystem,
abgegeben. Heute werden ausschließlich of-
der Deltatry Metabolie Monitor oder der
fene Systeme verwendet, bei denen Außen-
Oxylog kommen bei speziellen Fragestel-
luft eingeatmet wird. Gemessen wird die
lungen zur Anwendung (Murgatroyd et al.
ventilierte Luftmenge sowie der Gehalt von
1993).
0 2 und C0 2 in der Ein- und Ausatmungsluft.
• Aufwendige Studien wurden in den letz-
Die Kollektion der Ausatmungsluft kann je-
ten Jahren mit der Ganzkörperrespira-
doch sehr unterschiedlich erfolgen:
tionskammer ("whole body chamber")
Der Douglas-Sack wurde früher häufig durchgeführt. Es handelt sich um einen
verwendet. Durch ein mit Ventilen verse- Raum, in dem gerade genügend Platz für
henes Mundstück wird die Luft so gelei- einen Stuhl bzw. ein Bett, ein Ergometer
tet, daß die Ausatmungsluft in einem und Gerätschaften zur Messung des Ener-
100-200 1 fassenden Sack aufgefangen gieverbrauchs vorhanden ist (Abb. 5.14).
wird; die Bestimmung der Gasmengen ist Der Proband bewegt sich frei, die körper-
problemlos möglich. Der Vorteil dieser liche Aktivität kann mit Infrarotsensoren
Methode ist die ambulante Anwendbar- erfaßt werden. Der Gasaustausch wird an
keit. der ein- und auströmenden Luft erfaßt.
Meßluft Frischluft
Respirationskammer
Nahrung
0
2 Kllma-
tlsle-
co2 ~-t.zo rung
~ N(Urln)
Wärme
.. ________ _
Kontinuierliche
physikallsehe
Kontlnulerll'c: : - - - - -
Registrierung
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- -------~@~ ~©©~
Gasanalyse • Luftdurchstrom __ !Rl@
• Saueratoff • Temperatur
- Kohlendioxid
- Luftdruck EU
~------------~·--
Lu_~
_•_u_c_h_te_____y ~--------~
Meßsystem Prozeßrechner
Abb. 5.14. Respirationskammer zur Messung verschiedener Komponenten des Energieverbrauchs; zur Verfü-
gung gestellt von Steiniger
5.3 Energieverbrauch 97
Körpergewicht, sondern die Muskelmasse Gewichtsreduktion. Auch hier stellt sich ein
ist. Sie sind ebenfalls zur individuellen Bera- neues Gleichgewicht von Energieaufnahme
tung nicht geeignet. und Energieverbrauch ein. Hat z. B. ein Pa-
tient Gewicht abgenommen und hält dieses
5.3.3 Gewicht, ist das ein Beweis für seine Compli-
Prädiktoren für Gewichtszunahme ance- nicht für seine Incompliance! Der Ver-
lust von 10 kg erniedrigt den Energiever-
Das klassische Konzept der Energiebilanz brauch um ca. 300 kcal/Tag. Dieses Energie-
kam in den letzten Jahren ins Wanken. Alpert defizit bringt der Patient auf, sonst würde er
(1990) führte die sog. dynamische Gleichung wieder an Gewicht zunehmen.
(Rate der Änderung der Energiereser-
ven = Rate der Energieaufnahme - Rate des
Erniedrigter Grundumsatz
Energieverbrauchs) ein. Er legte überzeu-
gend dar, daß eine Änderung der Energie- Zahlreiche Studien zeigen übereinstim-
reserven limitiert und zeitabhängig ist. Nach mend, daß der Grundumsatz positiv mit der
dieser Vorstellung führt z. B. eine Positivie- fettfreien Körpermasse (FFM) korreliert {Je-
rung der Energiebilanz nur zu einer mini- quier u. Schulz 1988). Adipöse haben nicht
malen Gewichtszunahme, weil gleichzeitig nur eine vermehrte Fettmasse, sondern auch
die Muskelmasse zunimmt, die Thermoge- eine größere absolute FFM; bei 10 kg Ge-
nese erhöht wird und bei körperlicher Akti- wichtszunahme sind ca. 3 kg der Muskelmas-
vität mehr Gewicht bewegt wird, was den se zuzuschreiben. Demzufolge ist auch ihr
Energieverbrauch steigert. Es stellt sich ein Grundumsatz erhöht (Abb. 5.15). Wird der
neues Energiegleichgewicht bei gering er- Grundumsatz auf das kg FFM bezogen, er-
höhter Energiezufuhr, höherem Energiever- gibt sich zwischen Adipösen und Normalge-
brauch und größerer Energiereserve ein. wichtigen jedoch kein Unterschied; er be-
Nimmt ein Individuum deutlich an Gewicht trägt ca. 30 kcal/kg FFM/Tag. Dies weist dar-
zu, muß eine größere Energieimbalanz vor- auf hin, daß der Energiestoffwechsel des
liegen und dieser Zustand chronisch andau- Adipösen nicht gestört ist; sein erhöhter
ern. Bei allen Überlegungen zur Gewichtszu- Energieverbrauch ist lediglich durch eine
nahme spielt diese "dynamic equation" eine vermehrte stoffwechselaktive Masse (Ske-
bedeutende Rolle. Das Umgekehrte gilt bei lettmuskel) verursacht. Der Anteil des Fett-
0
50 60 70 80 90 100 110 120 130
Körpergewicht {kg)
5.3 Energieverbrauch 99
gewebes am Energieverbrauch ist mit 4% und das Alter die wichtigsten Determinan-
minimal (Hallgren et al. 1989) Daraus folgt, ten des Grundumsatzes sind; sie erklärten
daß Adipöse bei Gewichtskonstanz im 83% der Varianz. Die Unterschiede zwischen
Durchschnitt auch eine höhere Energieauf- den Familien waren 4mal so groß wie inner-
nahme haben. halb der Familien, was auf eine genetische
Der Grundumsatz geht mit zunehmen- Disposition (11% der Varianz) hinweist
dem Alter zurück. Verschiedene Studien (Abb. 5.20). In einer Folgestudie, von Ravus-
zeigten, daß ab dem 20. Lebensjahr pro Le- sin et al. (1988) veröffentlicht, konnte die
bensjahrzehnt ein Rückgang um ca. 2% zu gleiche Arbeitsgruppe an 126 Pima-India-
verzeichnen ist (Keys et al. 1987). Die ver- nern zeigen, daß ein niedriger Grundumsatz
minderte Muskelmasse ist bei Älteren haupt- langfristig zur Gewichtszunahme führt. Sie
verantwortlich für den Abfall des Grundum- bestimmten den Grundumsatz in einer Re-
satzes. Ältere und alte Menschen müssen da- spirationskammer und teilten die Proban-
her weniger essen als in jüngeren Jahren, um den in 3 Gruppen ein: solche mit einem ho-
eine Gewichtszunahme zu verhindern. hen (>1.798 kcal/Tag), mittleren (>1.706<
Frauen haben einen geringeren Grund- 1.797 kcal!Tag) und niedrigen Grundumsatz
umsatz als Männer. Die Differenz beträgt ab- ( < 1.705 kcal/Tag) und verfolgten das Ge-
solut ca. 200 kcal/Tag. Der Geschlechtsunter- wicht über 4 Jahre (Abb. 5.16). Diejeni-
schied wird hauptsächlich der geringeren gen mit einem niedrigen Grundumsatz nah-
Muskelmasse, aber auch der geringeren men 8mal häufiger mehr Gewicht(+ 10 kg)
Stoffwechselaktivität zugeschrieben (Ravus- zu als solche mit einem hohen. Die Ge-
sin u. Swinburn 1993). wichtsänderung korrelierte signifikant (r =
Ob körperliche Inaktivität den Grundum- -0,39) mit dem Grundumsatz. Der Grund-
satz senkt, ist bis heute nicht ganz geklärt. umsatz pro kg fettfreier Masse erklärte 40%
Die meisten Studien sprechen für einen ver- der Gewichtsänderung. Die Gruppe mit nied-
minderten Grundumsatz, selbst wenn er hin- rigem Grundumsatz "normalisierte" ihn von
sichtlich der fettfreien Masse korrigiert 1.694 auf 1.813 kcal/Tag mit ansteigendem
wird. Körperliche Aktivität ist in den mei- Gewicht.
sten Untersuchungen negativ mit der Adipo-
sitas korreliert (s. Abschn. 8.3 ).
An 130 Männern und Frauen aus 54 Fa- Ein erniedrigter Grundumsatz führt häufig
milien bestätigten Bogardus et al. ( 1986), daß langfristig zur Gewichtszunahme.
die fettfreie Körpermasse, das Geschlecht
r-
und Gewichtzunahme von 35
10 kg innerhalb von 4 Jahren a; niedriger GU
bei 126 Personen mit niedri- E 30
gern, mittlerem und hohem
Grundumsatz (GU). (Mod.
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nach Ravussin et al. 1988)
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0 2 3 4 (Jahre)
100 KAPITEL 5 Ätiologie
Mit abnehmendem Körpergewicht sinkt der ist. Dieser Effekt ist oft nicht nachweisbar,
Grundumsatz aufgrund einer verminderten kommt aber deutlich zum Ausdruck, wenn
fettfreien Masse (s. Abschn. 8.3.1; Abb. 8.14). Probanden mit der gleichen fettfreien Kör-
permasse verglichen werden (Segal et al.
1985a; Abb. 5.17); die Körperzusammenset-
Reduzierte Thermogenese
zung spielt offensichtlich eine größere Rolle
Der Frage, ob bei Adipösen eine verminderte als das Körpergewicht bzw. der BMI. Der De-
Thermogenese vorliegt, wurde intensiv nach- fekt liegt aufgrund ihrer Untersuchungen in
gegangen, da man in diesem Energieanteil einer gestörten nichtoxidativen Glukosever-
eine ursächliche Komponente der Adipositas wertung (Umwandlung zu Glykogen). Durch
vermutete. Untersucht wurde in mehr als 50 eine körperliche Belastung kann diese
Studien die durch Nahrung, körperliche Be- Störung beseitigt werden (Segal1994).
lastung und Noradrenalin stimulierte Ther- Ravussin et al. ( 1983) kommen ebenfalls
mogenese, z. T. auch nach Gewichtsreduk- aufgrund einer hyperinsulinämischen Glu-
tion. Zur Anwendung kam meistens die indi- kose-Clamp-Studie, gekoppelt mit indirekter
rekte Kalorimetrie. Kalorimetrie, zu dem Schluß, daß die gluko-
seinduzierte Thermogenese bei Adipösen,
Nahrungsinduzierte Thermogenese insbesondere bei glukoseintoleranten oder
("thermic effect offood': TEF diabetischen Patienten, aufgrund einer ge-
oder "thermic effect of a meal': TEM) störten nichtoxidativen Glukoseverwertung
Segal et al. (Segal u. Gutin 1983; Segal et al. reduziert ist. Eine verminderte Thermoge-
1985a, b; Segal 1994) zeigten in mehreren nese bedeutet eine Positivierung der Ener-
Untersuchungsreihen, daß die Thermogene- giebilanz. Noack (1993) schätzt, daß diese
se bei Adipösen nach Nahrungsaufnahme im Störung bei jedem 4. Adipösen zutrifft.
Vergleich zu Normalgewichtigen vermindert
400 400
c
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§.
GI 350 350
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80 ;•woa.lic:h I•
"*'"'k:h r • -0.83
r • -0,55
Gewichtszunahme bei Säuglingen (Roberts
et al. 1988), Kindern (Griffiths et al. 1990)
80
.· ·,~.,·:
und Erwachsenen (Ravussin et al.1988; Zur-
.. ·..·~ '.:· . .-
~ , ..., • ."t • lo et al. 1992) einhergeht.
:·\~.'
....
40
~ 30 .....
~~.\·.: Zur Erfassung der Bewegung sollten kör-
f zo
"':' ::.~.
•• ' . J ...... ~ perliche Aktivität und Sport erfaßt werden .
lll:
10
•
:~ .. ... ·.:
•I •' •• •,: • • ~ ••••
. . ., -- Dies kann mit einem Bewegungsprotokoll
geschehen (Tabelle 5.6).
0 4---~----~--~~--T-~~
0.00 0.04 0.08 0.1 2 0.16 0.20
Nicht· basaler Energieverbrauch" (MJ · kg·1· d·1) Insulinresistenz
Abb. 5.18. Nichtbasaler Energieverbrauch (körperli- In Glukose-Insulin-Clamp-Studien mit simul-
che Aktivität + Thermogenese) gemessen mit dop- taner Glukose- und Insulininfusion konnte
pelt markiertem Wasser und indirekter Kalorime-
trie. Da die Thermogenese nur ca. 8% der Energie- klar gezeigt werden, daß die .Insulinresi-
verbrauches ausmacht, repräsentiert der nichtbasale stenz auch mit einer verminderten Wärme-
Energieverbrauch vorwiegend die körperliche Akti- bildung einhergeht. Ravussin et al. ( 1983)
vität. (Metaanalyse von Schulz u. Schoeller 1994)
verglichen verschiedene Personengruppen
mit unterschiedlicher Insulinresistenz. Die
Bewiesen ist mit diesen Querschnittstu- Thermogenese war invers mit der Insulin-
dien natürlich nicht, daß eine verminderte resistenz und positiv mit der Glykogenbil-
Aktivität Ursache für die Gewichtszunahme dung korreliert. Wird die Insulinresistenz
ist - sie kann auch die Folge sein. Geeigneter durch hohe Insulinspiegel überwunden, ist
sind daher Longitudinalstudien. Die weni- auch hinsichtlich der Thermogenese kein
gen bisher vorliegenden Veröffentlichungen Unterschied zwischen beiden Gruppen mehr
zeigen übereinstimmend, daß eine niedrige feststellbar (Jequier u. Schulz 1988). Durch
körperliche Aktivität langfristig mit einer Gewichtsreduktion nimmt die Wärmebil-
Tabelle 5.6. Protokoll zur Dokumentation und Erfassung der körperlichen Aktivität
Patient: - ----- - - -- -- - -- - - - -
Bewegungsportokoll für die Woche von bis - - - -- -- -
Bitte tragen Sie ein, wie lange Sie diese Sportarten oder körperliche Betätigungen pro Wochenlag ausgeübt
haben (in Minuten)
200
112
100
"0 22
Energie
<II 0
u
:.: Eiw e iß
<J
64
100
200
198
Abb. 5.19. Energieverbrauch und Oxidation der Hauptnährstoffe unter ß-Blockade (Propanolol160 mg!Tag)
über 2 Wochen; Messung in der Respirationskammer. (Nach Acheson et al. 1988)
2400 2400
...... 2300 2300
:g Bereich
ns 2200 zwischen
2200
u Familien
~ 2100 2100
~
t/)
2000 Gruppen-Mittel
2000
:5 1900 ..... :!: ....... 1900
;::)
c 1800 1800
z
;::)
1700 1700
a:
(!)
1600 1600
1500 1500
Abb. 5.20. Grundumsatz bei 130 Angehörigen von 54 repräsentieren Familienmitglieder mit dem niedrig-
Familien. Die vertikalen Balken stellen jeweils eine sten bzw. dem höchsten Energieverbrauch. (Mod.
Familie dar; das obere und untere Ende des Balkens nach Bogardus et al. 1986)
(Wirth et al. 1981a). Eine verminderte Ener- Durch Stimulation der hepatischen Gluko-
gieaufnahme begünstigt die periphere Um- neogenese kommt es zudem zur Hypergly-
wandlung von T4 in T3 und reverse T3 ; die kämie mit konsekutiver Hyperinsulinämie,
T3 -Spiegel fallen leicht ab. Unter Reduktions- was die Kortisolbildung weiter erhöhen
kost kann es daher zu divergierenden und kann.
damit zu verwirrenden Ergebnissen in der
Diagnostik kommen, wobei die TSH-Be-
Polyzystisches Ovar-Syndrom:
stimmung (Screening) in Richtung Hyper-
PCOS (Stein-Leventho/-Syndrom)
thyreose weist und die Schilddrüsenhor-
monbestimmung (Nachweis) eher eine Hy- Definition
pothyreose anzeigt. Das Syndrom, bereits 1935 mit der Konstel-
lation von Hirsutismus (70%), Amenorrhoe
(SO%), Infertilität (70%) und großen skle-
Morbus Cushing
rosierten, zystischen Ovarien beschrieben,
Ähnlich wie bei der Hypothyreose kann die wurde in der Folgezeit näher untersucht.
Diagnose oft klinisch nicht gestellt werden. Hormonell ist es charakterisiert durch:
Bei geringstem klinischem Verdacht, wobei
• erhöhte Plasmakonzentration von luteini-
die Striae rubrae und die trockene Haut bei
sierendem Hormon (LH),
Adipösen noch am ehesten pathognomo-
• erhöhte Androgene ( vorwiegend Testo-
nisch sind, sollte ein Dexamethasonhemm-
steron),
test durchgeführt werden. Nach einer mor-
e erniedrigtes sex hormone binding globu-
gendlichen Blutentnahme werden dem Pa-
lin (SHBG),
tienten abends 2 mg Dexamethason oral ver-
• Hyperinsulinämie bei Insulinresistenz.
abreicht. Die supprimierte Kortisolkonzen-
tration im Plasma am folgenden Morgen Zystische Ovarien werden laparoskopisch
muß bei <4 ~g/Tag liegen. oder sonographisch diagnostiziert. Die ge-
Kortisol begünstigt die Lipogenese (Fett- nannten Symptome sind nicht obligat, son-
neubildung) auf 3fache Weise: dern nur fakultativ, was die Diagnose er-
schweren kann (Dunaif et al. 1991; Givens
• über eine Stimulation der Fettsäuresyn-
1992). Bei Frauen mit Hirsutismus besteht
these in der Leber,
eine positive Korrelation der Androgene mit
• eine Aktivierung der Lipoproteinlipase
der WHR, sie weisen auch häufiger eine Hy-
und
pertriglyzeridämie und einen hohen Blut-
• eine Steigerung der Glukoneogenese.
druck auf, wie Hauner et al. (1987) zeigen
Zum anderen wirkt Kortisol auf die Lipolyse konnte.
(Fettabbau): es reduziert die lipolytische Ka-
pazität. Beide Mechanismen, die stimulierte Hormonelle Veränderungen
Lipogenese und die reduzierte Lipolyse, Die Hauptveränderung ist in der erhöhten
tragen zu einer erhöhten Fettmasse bei. Zu ovariellen Produktion von Androgenen zu
einer Akkumulation von viszeralem Fett sehen. In den Thekazellen der Ovarien wird
kommt es möglicherweise deshalb, weil im Progesteron zu 17Alpha-Hydroprogesteron
intraabdominalen Fettgewebe mehr Korti- und dann zu Androstendion, vermittelt
sonrezeptoren vorhanden sind und höhere durch das Cytochrom P450cl7a, umgewan-
mRNS-Konzentrationen gemessen wurden delt. In den gleichen Zellen werden die An-
als im subkutanen Fettgewebe (Rebuffe-Scri- drostendione zu Testosteron konvertiert.
ve et al. 1990; näheres über Regulationsme- Beim Vorliegen von polyzystischen Ovarien
chanismen im Fettgewebe s. Abschn. 6.3). ist die P45cl7a-Aktivität erhöht, was die Hy-
110 KAPITEL 5 Ätiologie
doch von Noradrenalin und Dopamin. Die bildung, was falschlieherweise eine Zunah-
Substanz induziert nicht eine Zunahme, son- me an Körperfett vortäuschen kann. Unter
dern eine Abnahme des Gewichts vorwie- langfristiger Lithiumtherapie kann auch ei-
gend durch Appetithemmung. Sie wird da- ne milde Hypothyreose auftreten, die eben-
her auch zur antiadipösen Therapie verwen- falls für die Gewichtszunahme in Frage
det (s.Abschn. 8.5.2). kommt.
MAO-Hemmer wie Tranylcypromin (z.B.
Parnate) verstärken den Appetit. Die Ge-
Hormone
wichtszunahmen bei langfristiger Therapie
betragen etwa 5 kg. Insulin
Seit langem ist bekannt, daß Insulin eine
anabole Wirkung hat und eine Vermehrung
Neuroleptika
des Körperfetts induziert. Klinisch kommt
Die antipsychotische Wirkung von Neu- daher Insulin zusammen mit Glukose als
roleptika beruht auf der Blockierung von Infusion bei kachektischen Patienten zur
Dopaminrezeptoren. Sie besitzen jedoch Anwendung. Insulin fördert über zentrale
ebenfalls eine Affinität für andere Rezepto- Mechanismen eine Nahrungspräferenz für
ren wie a-adrenerge Rezeptoren, Histamin- Kohlenhydrate und verursacht eine höhere
rezeptoren, Acetylcholinrezeptoren; einige Trinkmenge. Es sind jedoch auch periphere
hemmen die neuronale Wiederaufnahme Mechanismen bekannt, die die Gewichtszu-
von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin. nahme erklären können.
Chlorpromazin, in Deutschland nicht Von Insulin stimulierte Mechanismen:
mehr im Handel, führt zur stärksten Ge-
• Fettsäuresynthese in der Leber,
wichtszunahme. Schizophrene mit einer
• Bildung von VLD-Lipoproteinen in der
12wöchigen Therapie haben 3-4 kg zuge-
Leber,
nommen. Thioridazin wird ähnlich be-
• Aktivität der Lipoproteinlipase im Fettge-
schrieben (Tabelle 5.6). Ein Wechsel zu
webe,
Neuroleptika mit geringerer adipogener
• Veresterung von Fettsäuren zu Triglyzeri-
Wirkung reduziert das Gewicht (Bernstein
den in Adipozyten.
1992). Der geringe adipogene Effekt von Ha-
• Hemmung der Lipolyse
loperidol ist möglicherweise auf die fehlende
Blockierung von zentralen Serotoninrezep- In einer lOjährigen Beobachtung der UNI-
toren zurückzuführen. TED KINGDOM PROSPEKTIVE DIABETES
STUDY kam es unter Insulintherapie zu ei-
ner mittleren Gewichtszunahme von 5,2 kg.
Eine Reihe von Pharmaka - auch Hormone-
Unter Metformin, das ähnlich positive Stoff-
führen zur Gewichtszunahme. wechselwirkungen zeigte, blieb das Gewicht
unverändert (UKPDS 1998).
Kortisol
Vendsborg et al. ( 1976) beobachteten 70 ma- Durch exogen (Hyperkortisolismus) oder
nische Patienten 2-6 Jahre lang. 45 von ihnen endogen (Morbus Cushing) erhöhte Korti-
hatten im Mittel 10 kg zugenommen. Man solkonzentrationen im Plasma kommt es zur
nimmt an, daß durch die Reduktion von Adipositas, typischerweise zur abdominalen
Serotoninrezeptoren im Gehirn eine Appe- Form mit rundlichem Gesicht, Striae rubrae,
titsteigerung und damit eine Gewichtszu- Muskelschwäche usw. (s. oben). Kortison sti-
nahme erfolgt. Lithium führt u. a. zur Ödem- muliert die Lipogenese, indem durch eine
5.4 Sekundäre Adipositas 113
1. stimulierte Glukoneogenese vermehrt deutlich ist das bei Frauen mit polyzysti-
Glukose und durch eine schen Ovarien (Stein-Leventhal-Syndrom)
2. aktivierte Lipoproteinlipase vermehrt und Hirsutismus (s. oben). Androgene be-
Fettsäuren aus Lipoproteinen zur Verfü- dingen vorwiegend eine Zunahme der abdo-
gung gestellt werden. Zum anderen wird minalen bzw. viszeralen Fettmasse. Adipöse
die Lipolyse in Fettzellen gehemmt, da Männer hingegen, insbesondere solche mit
Glukokortikoide die vermehrtem viszeralem Fett, haben ernied-
3. Dichte von ß-Rezeptoren erhöhen und die rigte Androgenspiegel (Abb. 7.48; Tabelle
4. antilipolytische Aktivität von Insulin ver- 7.9); bei ihnen wird die hormonelle Substitu-
mindern. tion erwogen (Marin et al. 1992a, b; s. Ab-
sehn. 8.5.5).
Beides, eine stimulierte Lipogenese und eine
gehemmte Lipolyse, trägt zur Vergrößerung
Weitere Pharmaka
von Fettzellen und damit zur Vermehrung
der Fettmasse bei (Björntorp 1994). Im intra- Sulfonylharnstoffe
abdominalen Fettgewebe sind im Vergleich Sulfonylharnstoffe haben über die vermehr-
zum subkutanen die Anzahl von Glukokorti- te Sekretion von Insulin einen adipogenen
koidrezeptoren vermehrt und die mRNS- Effekt. In der UNITED KINGDOM PROS-
Spiegel erhöht (Rebuffe-Scrive et al. 1990). PECTIVE DIABETES STUDY nahmen Pa-
tienten innerhalb von 10 Jahren 5,2 kg unter
Kontrazeptiva Glibenclamid zu; unter Metformin änderte
Ethinyl-Östradiol reduziert dosisabhängig sich das Gewicht nicht (UKPDS 33 1998).
die Fettoxidation (O'Sullivan et al. 1995).
Fettsäuren werden dadurch vermehrt hepa- Thiazolidindione
tisch verstoffwechselt, was zum einen zu ei- Die "Insulinsensitizer" vermitteln die Wir-
ner Hypertriglyzeridämie und zum anderen kung durch Bindung an Zellkernrezeptoren,
zu einer intrahepatischen Triglyzeridakku- den Peroxisomen Proliferations-Aktivator-
mulation führen kann. Frauen nehmen unter Rezeptor y (PPARy). PPARy stimuliert die
oralen Kontrazeptiva an Gewicht zu. Sowohl Umwandlung von Präadipozyten in reife
Ausmaß der Gewichtszunahme als auch Zu- Adipozyten. Auf diese Weise wird die Fett-
nahme an Ödemflüssigkeit und Körperfett zellmasse vermehrt.
sind bisher unzureichend dokumentiert.
ß-Blocker
Östrogene ß-Blocker hemmen die Lipolyse aufgrund
Anders ist die Situation bei Östrogenen zur ihres Einflusses auf die ß-adrenergen Re-
Hormonersatztherapie. Östrogene zur Sub- zeptoren (s. Abschn. 6.3.1), reduzieren den
stitution (z. B. Menopause, nach Ovarekto- Ruheenergieumsatz, die fakultative Thermo-
mie) erhöhen das Gewicht wahrscheinlich genese und vermindern die Fettoxidation
nicht. In der Healthy Women Study (Meilahn (s. Abschn. 5.3.3). Diese Effekte erklären die
et al.1994) konnte in der Menopause zwar ei- Gewichtszunahme. Möglicherweise ist die
ne Gewichtszunahme festgestellt werden; sie Zunahme der Fettmasse auch dafür verant-
übertraf jedoch die altersbedingte Zunahme wortlich, daß ß-Blocker einen negativen Ein-
nicht. fluß auf den Kohlenhydrat- und Fettstoff-
wechsel haben, insbesondere bei vorhande-
Androgene ner Insulinresistenz bzw. metabolischem
Testosteron und Androstendion sind mit Syndrom (Wirth u. Krone 1993a). Belegt ist
dem Körpergewicht korreliert. Besonders die Gewichtszunahme in klinischen Studien
114 KAPITEL 5 Ätiologie
a 2 -Agonisten
Diese Pharmaka (z. B. Clonidin) stimulieren Menopause
- wie Noradrenalin - über a 2 - Rezeptoren im
Verschiedene epidemiologische Studien zei-
ventromedialen Hypothalamus und im
gen, daß der BMI bei Männern vor dem 50.
Nucleus paraventricularis die Nahrungs-
Lebensjahr höher ist als bei Frauen; nach
aufnahme. Schlüssige klinische Studien, die
dem 50. Lebensjahr ist eine Umkehr festzu-
eine Gewichtszunahme belegen, liegen nicht
stellen (s. Abschn. 4.1). Zudem ist festzustel-
vor.
len, daß Frauen mit Beginn der Menopause
eine deutliche Zunahme des Taillenumfan-
5.4.3
ges aufweisen und vermehrt Fett intraabdo-
Lebensstil und Lebensphasen
minal und an der oberen Körperhälfte anset-
zen. Ob die Zunahme an Körperfett hormo-
Aufgabe des Rauchens
nell bedingt ist oder andere Ursachen hat,
Neuere Untersuchungen sprechen dafür, daß wird immer noch kontrovers diskutiert.
das Rauchen den Energieverbrauch erhöht;
betroffen sind davon der Grundumsatz FAZIT
(Hofstetter et al. 1986) und die nahrungsin-
duzierte Thermogenese (Walker et al. 1992). • Bei jedem Adipösen sollte eine sekun-
Der Energieverbrauch ist tags und nachts däre Ursache ausgeschlossen werden;
gleichermaßen um ca. 10o/o erhöht; vermehr- dies ist v. a. für die Therapie wichtig.
te Aktivität besteht nicht. Ursächlich kommt • Obligatorisch sind der Ausschluß ei-
wahrscheinlich eine erhöhte sympathische ner Hypothyreose, eines M. Cushing
Aktivität in Frage, da die Herzfrequenz be- und eines genetischen Syndroms.
schleunigt und im 24-h-Urin die Katechol- • Bei androgen adipösen Frauen sollte
amine erhöht sind. Bei Aufgabe des Rau- man an ein polyzystisches Ovar-Syn-
chens kommt es zu einem Gewichtsanstieg; drom denken.
er beträgt bei Frauen durchschnittlich 5 kg, • Östrogene zur Antikonzeption erhö-
bei Männern 4 kg (Flegal et al. 1995). Die Ge- hen das Gewicht, nicht jedoch solche
wichtszunahme ist besonders in den ersten zur Substitution (z. B. Menopause).
Monaten ausgeprägt, jedoch über viele Jahre • Pharmaka können zur Adipositas füh-
hinweg feststellbar. Abgesehen von einem ren; es handelt sich vorwiegend um:
Abfall des Energieverbrauchs, einer Ände- Antidepressiva, euroleptika, Korti-
rung des Geschmacksinns und einem Rück- son, Antikonzeptiva, SuJfonylharnstof-
gang von gastralen Beschwerden ·spielt auch fe, Insulin und ß-Blocker.
ein Anstieg der Lipoproteinlipaseaktivität • Das Aufgeben des Rauchens erhöht
mit verstärkter Fettbildung eine Rolle (Brun- das Gewicht.
zell et al. 1980). Die durch Gewichtszunahme • Frauen nehmen aus bisher ungeklär-
induzierten Gesundheitsrisiken sind im Ver- ten Gründen um das 50. Lebensjahr
gleich zu den durch die Aufgabe des Rau- vermehrt Gewicht zu.
chens gewonnenen zu vernachlässigen.
6 Fettgewebe
suchtes Organ. Bedingt durch den Gegen- kompartiment einen Pool mit Anschluß aller
stand der Forschung befassen sich heute Körperorgane darstellt, ergeben sich nur
nicht nur Mediziner, sondern auch Bioche- indirekte Hinweise auf die Funktion des
miker, Physiologen, Molekularbiologen und Fettgewebes. Üblich ist die Bestimmung von
Genetiker - oft als Team in einem For- freiem Glyzerin zur Beurteilung der Lipoly-
schungszentrum - mit dem Fettgewebe. Die se. Nimmt man die freien Fettsäuren (FFS)
Forschungsergebnisse sind daher in der Re- als Maß für die Lipolyse, ergeben sich meh-
gel wissenschaftlich anspruchsvoll und für rere Probleme. Fettsäuren werden nach der
einen diesbezüglich wenig Versierten oft hydrolytischen Spaltung aus Triglyzeriden
schwer verständlich. Sinn des folgenden Ka- nicht nur in den Blutstrom abgegeben, son-
pitels kann es daher nur sein, dem klinisch dern können in der Fettzelle zu Triglyzeri-
Tätigen Informationen über das Fettgewebe den reverestert werden. Dieser Anteil beträgt
zu vermitteln. immerhin 5-20%; unter Kohlenhydratstimu-
lation kann dies sogar ein Mehrfaches sein
(Coppack 1994). Zum anderen werden Tri-
6.1
glyzeride nicht komplett gespalten; das mo-
Methoden zur Beurteilung
lare Verhältnis von FFS zu Glyzerin ist dann
der Lipogenese und der Lipolyse
<3. Verläßlichere Ergebnisse sind zu erwar-
ten, wenn man den Einstrom ("appearance")
6.1.1
und das Verschwinden ("disappearance")
ln-vivo-Methoden
von Substanzen aus dem Blutstrom mißt,
was durch radioaktive Markierung (Isotope)
Plasma
gelingt. Mit kinetischen Modellen lassen sich
Substanzen, die vom Fettgewebe aufgenom- das Verteilungsvolumen und daraus dann
men bzw. abgegeben werden, können im die Produktion ("turnover") sowie die Ver-
Blutstrom gemessen werden. Da das Blut- schwindungsrate ("clearance") errechnen.
Abb. 6.1. Vorrichtung zur Mikrodialyse im Fettgewe- (Zufuhr) vorgenommen werden. Links: doppellumig,
be. Damit können In-situ-Untersuchungen am Fett- rechts: einlumig. (Aus Arner 1993b)
gewebe mit experimenteller Änderung im Perfusat
6.1 Methoden zur Beurteilung der Lipogenese und der Lipolyse 117
Abb. 6.2. Mikroskopisches Bild von durch Kollagenase isolierten Fettzellen (Adipozyten). (Von Hauner zur
Verfügung gestellt)
FETTGEWEBE LEBER
I' QLUTGEFÄSS~ I'
Aminosäuren
' .J
Acyi-Giycerin-3-P
~ Chylomikronen Veresterung zu
Phosphatidsöure
~ Triglyceriden
Diacyl-xiVcerin (endopl. Relikulumj
I
I Triacyi-Giycerin I
,_ Glycerin ....-''-. FS FFS
Glycerin
J. Beta-
Oxidation -+Keton-
(Mitochondrienl körper
-......... ,./
Abb. 6.3. Stoffwechselwege hinsichtlich der Lipogenese und der Lipolyse im Fettgewebe, der Leber und im
Blutstrom. PS Fettsäuren, FFS freie Fettsäuren, LPL Lipoproteinlipase, VLDL "very low density Iipoprotein"
Wenngleich die Enzymsysteme zur Fett- (Björntorp u. Smith 1976). Fettsäuren, die
Säuresynthese im Fettgewebe vorhanden sind, zur Veresterung in das Fettgewebe aufge-
geht man heute davon aus, daß die zur Vereste- nommen werden, kommen daher haupt-
rung im Fettgewebe benötigten Fettsäuren sächlich aus dem Blutstrom, entweder in
vorwiegend aus der Leber stammen (Abb. 6.3 ). Form von FFS oder in Lipoproteinen. Fettge-
Die de-novo-Fettsäuresynthese nimmt zwar mit webe nimmt, wie die Leber und die Muskula-
der Fettzellgröße zu; dennoch hat sie im Fett- tur, FFS in Abhängigkeit von der Serumkon-
gewebe selbst bei morbid Adipösen nur einen zentration auf (Shapiro et al. 1957). Bedeut-
marginalen Anteil (Björntorp u. Smith 1976). samer jedoch ist die Aufnahme durch Hy-
Die Fettsäuresynthese läßt sich in vieler drolyse von triglyzeridreichen Lipoprotei-
Hinsicht stimulieren. Insulin bewirkt dies in nen wie Chylomikronen und VLD-Lipopro-
mehrfacher Hinsicht, auch Kortison und teinen, katalysiert durch das Enzym Lipo-
eine Kälteexposition stimulieren die Neu- proteinlipase (LPL; Abb. 6.3). LPL wird im
bildung von Fettsäuren. Eine Luxuszufuhr an endoplasmatischen Retikulum von Adipo-
Kohlenhydraten bewirkt eine verstärkte zyten in inaktiver Form synthetisiert, im
NADPH-Produktion über den Pentosephos- Golgi-Apparat durch Glykosylierung akti-
phatzyklus und steigert damit die Fettsäure- viert und in Vesikeln zum Kapillarendothel
synthese. Hemmen läßt sich die Fettsäure- transportiert, wo es im Blut zirkulierende
synthese analog durch alimentäre Kohlenhy- Lipoproteine hydrolisiert.
drateinschränkung sowie durch Katechola-
mine, Glukagon, Angiotensin und Vasopres-
sin (Hems 1977).
Die Lipoproteinlipase (LPL) ist wahrscheinlich
das Schlüsselenzym der Lipogenese.
6.2.2
Lipoproteinlipase
Wie oben ausgeführt, ist die de-novo-Syn- Die LPL steht unter genetischer Kontrolle.
these von Fettsäuren im Fettgewebe gering Das Gen für das humane LPL wurde klo-
120 KAPITEL 6 Fettgewebe
niert, auch spezifische Antikörper gegen LPL Adipösen die LPL-Aktivität weit weniger an-
wurden entwickelt. Die LPL wird nicht nur steigt als bei Normalgewichtigen. Bei adipö-
durch Glykosilierung und Apo C II, sondern sen Typ-li-Diabetikern ist der Effekt noch
auch durch Heparin aktiviert; diesen Effekt ausgeprägter (Eckel et al. 1995).
kann man sich auch bei der Aktivitätsbe- Die LPL wird durch folgende Substanzen
stimmung der LPL zunutze machen. stimuliert: Insulin scheint die dominierende
Wenngleich die Hauptversorgung des Rolle zu spielen. Aber auch Kortison, Adeno-
Fettgewebes mit Fettsäuren über die LPL re- sin und Nahrungsaufnahme (v. a. kohlenhy-
guliert wird, ist dennoch die Frage offen, ob dratreiche) steigern die Enzymwirkung. Ge-
diesem metabolischen Schritt eine Schlüssel- hemmt wird die Aktivität durch Katechola-
funktion ("rate limiting step") zukommt, wie mine, Zytokine (TNF-a, Interleukin 6) und
früher angenommen wurde. Inzwischen gibt Nahrungsrestriktion sowie körperliches
es viele Studien, die keine oder nur eine Training.
schwache Korrelation zwischen Serumkon-
zentrationen bzw. Aufnahmeraten von Tri- 6.2.3
glyzeriden einerseits und der Aktivität bzw. Bildung von Depottriglyzeriden
der mRNS der LPL andererseits zeigen. Auch
der genetische Defekt eines Lipoproteinlipa- Triglyzeride, die Depotform von Fetten in
semangels geht nicht mit einer verminderten Adipozyten, werden aus Glyzerin (3wertiger
Fettmasse einher (Olivecrona u. Bengtsson- Alkohol) und Fettsäuren verestert (Abb. 6.3).
Olivecrona 1990). Die Fettsäuren stammen, wie oben erwähnt,
Bei Adipösen ist die LPL-Aktivität erhöht, nur zu einem geringen Teil aus der de-novo-
sie korreliert auch mit der Fettzellgröße Synthese, sondern v. a. aus der hydrolyti-
(Björntorp u. Smith 1976). Die Aktivität ist schen Spaltung von triglyzeridreichen Lipo-
sowohl pro Fettzelle als auch bezogen auf proteinen. Das Glyzerin wird aus dem glyko-
das Gramm Fettgewebe erhöht. Regionale lytischen Abbau von Glukose zur Verfügung
Unterschiede bestehen, oft in Abhängigkeit gestellt.
von weiteren Faktoren. Intraabdominales Der erste Schritt ist die Phosphorylierung
Fett hat eine höhere LPL-Aktivität als subku- von Glyzerin zu Glyzerin-3-Phosphat. Ko-
tanes. Bei Männern gibt es im subkutanen schinsky u. Gries ( 1971) konnten zeigen, daß
Fett keine Unterschiede zwischen dem femo- das Enzym, die a-Glyzerokinase, im Fettge-
ralen und abdominalen Fett. Bei Frauen hin- webe, wenn auch mit geringer Aktivität, vor-
gegen ist vor der Menopause die Aktivität im handen ist. Durch Anlagerung von 2 akti-
femoralen Depotfett höher als nach der vierten Fettsäuren (Acyl-CoA) wird Phos-
Menopause. In der Schwangerschaft ist die phatidsäure gebildet. Diese wird durch das
LPL-Aktivität gesteigert, nach der Geburt Enzym Phosphatid-Phosphohydrolase zu ei-
und während der Stillzeit ist sie erniedrigt nem Diacylglyzerid hydrolysiert. Die letzte
(Rebuffe-Scrive et al. 1985). Die Adaptation Reaktion, die Bildung eines Triacylglyzerids
erscheint physiologisch sinnvoll, da während durch erneute Anlagerung von Acyl-CoA,
der Schwangerschaft die Fettakkumulation wird durch das Enzym Diacyl-Acyltransfera-
(femoral) begünstigt wird und in der Still- se katalysiert. über das Schlüsselenzym für
zeit das Depot als Substratlieferant genutzt diese im endoplasmatischen Retikulum ab-
werden kann. laufenden Reaktionsschritte herrscht noch
Da Insulin einer der Hauptregulatoren Unklarheit. Die Fettsäureveresterung wird
der LPL-Aktivität ist, ist bei der Insulinre- stimuliert durch Insulin, Adenosin, cAMP
sistenz eine Adaptation zu erwarten. Unter sowie durch Nahrungsaufnahme. Sie wird
einem Glukose-Clamp zeigte sich, daß bei gehemmt durch Glukagon und Katecholami-
6.3 Lipolyse 121
ne sowie durch Fasten und körperliches FFS - einfach, verläßlich und mit hoher
Training. Bestimmt wird die Triglyzeridsyn- Empfindlichkeit zu messen sind. Von den
these in der Regel mit markierter Glukose Endprodukten der Lipolyse sind die FFS von
(14C-Glukose). besonderer Bedeutung, da sie im Gesamt-
organismus eine große Rolle spielen, ins-
besondere im Hinblick auf die Insulinre-
uAcylation stimulating protein" (ASP)
sistenz bzw. das metabolische Syndrom
In den letzten Jahren ging man von der Vor- (s.Abschn. 7.1).
stellung aus, daß die Generierung von FFS
durch die LPL der Schlüsselschritt der Lipo- 6.3.1
genese sei. Insulin spiele die dominierende Adrenerge Regulation
Rolle, indem es nicht nur durch seine poten-
te antilipolytische Wirkung die Plasmaspie- Die Lipolyse steht vorwiegend unter hormo-
gel von FFS weitgehend determiniere, son- neller Kontrolle und wird vom zyklischen
dern auch die LPL-Aktivität und den Gluko- Adenosinmonophosphat (cAMP) reguliert.
setransport in die Fettzelle. Hormone mit Wirkung auf die Lipolyse ha-
Dieses Konzept wurde durch die Isolie- ben spezifische Rezeptoren in der Adipo-
rung des die Acylierung (Anlagerung von zytenmembran (Abb. 6.4). Adrenerge Rezep-
Fettsäuren) stimulierenden Proteins (ASP) toren wurden bereits 1948 von Ahlquist in a-
durch Cianflone et al. (1989) in Frage gestellt. und ß-Rezeptoren unterteilt. Heute unter-
ASP wird von reifen Adipozyten in das scheidet man insgesamt 5 verschiedene Re-
Serum abgegeben. ASP entspricht chemisch zeptoren: ßn ß2- und ßr sowie a1- und ar
C3adesArg, einem Complementfaktor. Rezeptoren. Eine Stimulierung der Lipolyse
C3adesArg entsteht aus C3-Complement, erfolgt über ß1- und ß2-Rezeptoren, eine
welches den Faktor B und D (Adipsin) zur Hemmung über a 2-Rezeptoren.
Bildung von C3a benötigt, das zu C3adesArg Die lipolysestimulierenden Hormone
abgebaut wird. Ein Zellrezeptor wurde bis- werden an einen spezifischen Rezeptor (ßi>
her nicht identifiziert. ASP stimuliert die ß2' ß3) gebunden. Dieser ist mit einem stimu-
Aufnahme und Veresterung von Fettsäuren lierenden Guanosintriphosphat( GTP)-Pro-
in Triglyzeride sowie die Triglyzeridsynthese tein (Gs) verknüpft und aktiviert die mem-
via Diacylglyzerin. Zudem steigert es die brangebundene Adenylatzyklase. Die Adeny-
Translokation von Glukosetransportern zur latzyklase generiert cAMP aus ATP. cAMP
Zelloberfläche. Alle Lipoproteine, am stärk- aktiviert eine cAMP-abhängige Proteinkina-
sten Chylomikronen, begünstigen die Pro- se (Proteinkinase A). Diese Kinase phos-
duktion von ASP (Cianflone 1997). ASP ist phoryliert und aktiviert einen Serinrest der
im Plasma Adipöser erhöht, es nimmt unter "hormone sensitive Iipase" (HSL), welche
einer hypokalorischen Kost bzw. beim Fa- die Depottriglyzeride in Glyzerin und FFS
sten ab (Cianflone et al. 1995). hydrolysiert (Lafontan 1993; Arner 1993;
Kather 1995). Hormone mit hemmender
6.3 Wirkung werden an a 2-Rezeptoren gebun-
Lipolyse den. Es erfolgt eine Aktivierung inhibitori-
scher GTP-Proteine (Gi) mit Hemmung der
Im Unterschied zur Lipogenese, insbesonde- Adenylatzyklase und der cAMP-Produktion
re der Triglyzeridsynthese, ist die Lipolyse in (Abb. 6.4). a 2-Rezeptoren vermitteln ihre
den letzten 40 Jahren intensiv untersucht Wirkung auch über eine Modulation der
worden. Dies mag v. a. damit zusammenhän- PDE mit Hemmung der HSL. acRezeptoren
gen, daß die Endprodukte - Glyzerin und sind für die Lipolyse ohne Bedeutung. Sie sti-
122 KAPITEL 6 Fettgewebe
Proteinkinose A
~
Hormonsensitive Lipase - Triglyceride
II''.
FFS
Abb. 6.4. Schematische Darstellung der Regulation der Lipolyse beim Menschen. I Stimulation; Hemmung. Er-
klärung und Abkürzungen s. Text. (Mod. nach Lafontan 1993)
mulieren die Glykogenolyse und die Pyru- zifisch an adrenerge Rezeptoren, wodurch in
vat-Dehydrogenase sowie die Thermogene- den letzten Jahrzehnten eine Charakterisie-
se; letzteres ist v. a. im braunen Fettgewebe rung gelang (Tabelle 6.1). Durch spezifische
von Bedeutung. Beeinflussung der Rezeptoren kann die Li-
polyse nicht nur im basalen, sondern auch
6.3.2 im stimulierten oder gehemmten Zustand
Regulatoren untersucht werden.
Katechotamine sind die potentesten Sti-
Katecholamine mulatoren der Lipolyse. Die Beobachtung,
Die Katechotamine Adrenalin und Norad- daß sie auch inhibitorische Wirkungen über
renalin werden sowohl an ß- als auch an a 2 - a 2 -Rezeptoren haben, mag zunächst verwir-
Rezeptoren gebunden; die stimulierende ren. Noradrenalin z. B. kann diese duale Wir-
Wirkung (ß,) überwiegt gewöhnlich die kung konzentrationsabhängig bewerkstelli-
hemmende (a 2 ) . Eine Reihe von pharmako- gen. Bei niedrigen Konzentrationen werden
logischen Substanzen binden ebenfalls spe- vorwiegend a 2 -Rezeptoren aktiviert, was in
Tabelle 6.1. Pharmaka zur Untersuchung von adrenergen Rezeptoren im Fettgewebe. Über ß-Rezeptoren wird
eine Stimulation, über !X 2 -Rezeptoren eine Hemmung der Lipolyse bewirkt. (Liste nach Lafontan u. Barlan
( 1993 ); unvollständig)
lerdings erst bei manifester Thyreotoxikose ben ohne Änderung der maximalen Höhe,
nachweisen. Die Hypothyreose geht mit ei- spricht man von einer Änderung der Sensiti-
ner verminderten Anzahl von ß-Rezeptoren vität. Ist umgekehrt nur die maximale Höhe
sowie erhöhten Gi-Proteinen und höherer verändert, liegt eine geänderte Antwort
PDE-Aktivität einher; die katecholaminsti- ("responsiveness") vor.
mulierte Lipolyse ist reduziert (Lafontan u. Die Lipolyse hängt sehr eng mit der Fett-
Berlan 1993). TSH ist vorwiegend bei Kin- zellgröße zusammen. Faulhaber et al. (1969)
dern ein lipolytisches Hormon (Arner 1993). zeigten zuerst, daß sowohl die basale als
auch die katecholaminstimulierte Lipolyse
Wachstumshormon (GH) mit der Fettzellgröße korreliert (Abb. 6.5).
GH erhöht die durch ß-Agonisten vermittel- Östman et al. (1975) wiesen erstmals diesen
te Stimulation der Lipolyse. Auch eine er- Zusammenhang für die antilipolytische Wir-
höhte Anzahl von ß-Rezeptoren wurde nach- kung von Insulin nach. Bezieht man jedoch
gewiesen. Möglicherweise spielen diese Ef- die Lipolyserate auf das Fettgewicht, stellt
fekte in StreBsituationen eine Rolle. Bei der man keinen Unterschied zwischen großen
Akromegalie konnte bisher allerdings keine und kleinen Adipozyten fest. Auch Unter-
Stimulation der Lipolyse gezeigt werden. schiede zwischen Adipösen und Normalge-
wichtigen lassen sich durch die unterschied-
Acipimox und Nikotinsäure liche Fettzellgröße erklären (Gries et al.
Diese Pharmaka wirken antilipolytisch, in- 1972; Björntorp u. Smith 1976; Arner 1988).
dem sie u. a. die Affmität von ß-Rezeptoren Hinsichtlich der Sensitivität und "respon-
für Katecholamme herabsetzen. Der damit siveness" bestehen zwischen Fettzellen un-
verbundene verminderte Ausstrom von FFS terschiedlicher Größe keine Unterschiede.
kann therapeutisch beim metabolischen Diese Aussage trifft für die katecholaminsti-
Syndrom genutzt werden, bei dem man ho-
hen FFS-Spiegeln (Hyperlipidazidämie) eine
wichtige Rolle bei der Entstehung des Diabe- •
tes mellitus, von Dyslipidämien und der Hy- 40
pertonie zuspricht. Durch Senkung der FFS- •
Spiegel werden auch die Triglyzeridspiegel
•
.s:.
N
gesenkt.
c:
.!! 30
6.3.3 ~
,_
Regulation bei Adipositas .....
0
0
0 10 20 30 40 50
Maximale Llpolyse-Rate ( JUIIOI/10 7 cells)
6.4.1 Laktat
Substrate und Enzyme
Durch Verwertung von Glukose in der Fett-
zelle entsteht zu etwa 50% Laktat. Mittels Mi-
Freie Fettsäuren (FFS) und freies Glyzerin
krodialyse und Fettgewebskatheterisierung
Aus der lipolytischen Spaltung von Triglyze- wurde eine Laktatproduktion des Fettgewe-
riden entstehen Fettsäuren und Glyzerin. Im bes gesichert. Der Anteil des Fettgewebes an
Plasma werden FFS an Eiweiß gebunden der Gesamtlaktatproduktion wird - je nach
6.4 Das Fettgewebe als stoffwechselaktives Organ 127
Ausmaß des Fettgewebsanteils auf 5-15% be eine bisher nicht geahnte Rolle im Bereich
geschätzt (Fried u. Russell1998). Laktat kann der Immunantwort zu.
in der Leber wieder zu Glukose synthetisiert
werden (Cori-Zyklus). 6.4.2
Hormone und Zytokine
Cholesterin-Ester-Transferprotein (CETP)
und Apolipoprotein E (Apo E)
Die Vermutung, daß Hormone des Fettgewe-
bes die Körperfettmasse regulieren, wurde
CETP stimuliert den Transfer von schon im letzten Jahrhundert geäußert. In
sog. Parabioseexperimenten zeigte Hervey
a) Cholesterin-Estern von HDL in VLDL
bereits 1959, daß der Hypothalamus peri-
und von
phere Signale des Körpers zur Gewichtsre-
b) Triglyzeriden von VLDL in HDL.
duktion erhalten müsse. Der Blutkreislauf
CETP-Serumkonzentrationen sind mit der von Tieren wurde operativ verbunden. Die
Körperfettmasse positiv und dem Verhältnis operierten Tiere fraßen weniger und ver-
von viszeralen/subkutanen Fett negativ kor- loren Körperfett, wenn der ventromediale
reliert. Durch eine Reduktionskost wird die Hypothalamus, das Sättigungszentrum, des
Konzentration von CETP-mRNA im Fettge- Operationspartners zerstört wurde. Er po-
webe verringert. Es wird vermutet, daß bei stulierte einen "Lipostaten", der in periphere
Adipösen die vermehrte Produktion von und zentrale Mechanismen zur Regulation
CETP zu niedrigen HDL-Cholesterinspie- des Fettgewebes involviert ist.
geln bei Adipösen beiträgt, eine typische
Dyslipidämie bei Adipösen, insbesondere
Leptin
bei gleichzeitigem metabolischen Syndrom.
In Stromazellen wird auch Apo E synthe- Leptin (gr. leptos: dünn) entspricht einem
tisiert, dessen Verbleib und Funktion noch solchen Lipostaten. Seit der Entdeckung des
unklar sind. Gens und des Genprodukts Leptin durch
die Arbeitsgruppe von Friedman 1994
Acy/ation-Stimulation-Protein (ASP)
(Zhang et al. 1994) und des Leptinrezeptors
undAdipsin
durch Tartaglia ein Jahr später sind (Tar-
taglia 1995) Hunderte von Publikationen er-
Wie in Kap. 6.2.3 ausgeführt, stimuliert ASP schienen.
die Formation von Triglyzeriden im Fettge-
webe (Cianflone et al.1989).ASP ist identisch Charakterisierung
mit dem Komplementfaktor C3adesArg. ASP Zhang gelang 1994 die Klonierung und Se-
stimuliert wie Insulin die Triglyzeridsyn- quenzierung des ob-Gens bei der adipösen
these und hemmt die Lipolyse; zudem för- homozygoten ob/ob-Maus mit einem geneti-
dert es die Reveresterung in FS. Vom produ- schen Defekt (Punktmutation; Zhang 1994).
zierten ASP verbleibt der Hauptanteil im Kurze Zeit später erfolgte die Klonierung ei-
Adipozyten, was auf eine parakrine Rolle nes humanen homologen Gens, dessen Ami-
von ASP in der Regulation des Fettgewebes nosäuren zu 30o/o mit denen der ob-Maus
hinweist. Ein weiterer Komplementfaktor ist identisch waren. Das ob-Gen ist auf dem
Adipsin, das mit Komplement D identisch Chromosom 7 lokalisiert. Die 4,5 kb-mRNA
ist. Im Unterschied zu ASP nimmt die Adip- kodiert ein 18 kDa-Protein, welches mikro-
sinproduktion mit zunehmender Fettzell- somal verändert als Leptin (16 kDa) sezer-
größe nicht zu. Mit der Produktion von niert wird.
Komplementfaktoren kommt dem Fettgewe-
128 KAPITEL 6 Fettgewebe
[--Insulin
N'hmog
- Kortikosteroide
I r J
M
e
I
a
b
I
-STH 0
[TRHt
GnRHt I
- Zytokine NPY.f. i
-
- Estrogene s
---0-+ + Energieaufnahme m
t Energieverbrauch u
Leptin
]
-0-+
~·;~,f. w~'~'"
[ -Insulin
[- '"""
- sympathische
Aktivität - Glukoseverwertung ,f.
- Thiazolidinedion - Hämatopoese t
- 13,-Rezeptor- - Induktion der Pubertät
Agonist - Reproduktionsfunktion t
Abb. 6.7. Regulation und Wirkungen von Leptin zentral (Hypothalamus) und peripher
CETP= Cholesterin-
Ester
Transfer
Subst<ate [ Protein
PAI-1= Plasminogen
Aktivator
lnhibitor-1
ASP= acylation
stimulating
Enzyme protein
Proteine TNFa= Tumor
Nekrose
Faktor
Alpha
IL-1 = lnterleukin-1
11-6 bzw. -6
Apo-E Apolipoprotein E
Abb. 6.8. Synthese und Sekretion von Substraten, Enzymen, Proteinen, Zytokinen und Hormonen des Fettge-
webes
c
trächtliche 28% und ist äußerlich als "Baby- ~
Qi
speck" unübersehbar. In der Folgezeit nimmt ~
die relative Fettmasse bis zu Beginn der Pu- ,f 100
bertät wieder ab und steigt im Durchschnitt
ab dem 10. Lebensjahr bei Mädchen und ab
dem 15. Lebensjahr bei Jungen bis zum Er- n=12
wachsenenalter wieder an. Auch zu Beginn
II 111 Erwachsene
der Pubertät erfolgt, wie im 1. Lebensjahr,
eine bevorzugte Neubildung von Fettzellen, Abb. 6.9. Anzahl von neu gebildeten Fettzellen in
wenngleich die Fähigkeit zur Neubildung Kulturen aus subkutanem Fettgewebe in Abhängig-
keit vom Alter (Gruppe 1: 0-1 Jahr, Gruppe II:
von Fettzellen bis in das höhere Alter erhal- 1,5-5,5 Jahre, Gruppe III: 7-11 Jahre, Erwachsene
ten bleibt (Wabitsch 1995, Abb. 6.9). Ab der 19-58 Jahre). (Nach Wabitsch 1995)
132 KAPITEL 6 Fettgewebe
/!7 Adipoblast
(unipotent)
nicht
identifizierbar
~ !
0
LPL
Präadipozyt IGF - 1
. (ohne Lipide
FS - Transport
frOhe Marker)
u.a.
! ~
Glut 4
Enzyme der
G
unreifer Adipozyt Lipogenese und
(mit Lipiden. frühe der Lipolyse,
und späte Marker) verschiedene
Rezepto ren
u.a.
~ ~
0 Reifer Adipozyt
(mit Lipiden . frOhe. späte
und sehr späte Marker)
cxrRezeptoren
Ad ipsin. Leptin
u.a.
-
>
0
"2 sinnvoll erscheinen (s. Abschn. 8.2.2,
Q)
5 20
c:
Q)
N
"Außenseiterdiäten").
<>
~ 4 16
0
U)
u..
u.. c. Basale Lipolyse
5. Zahllose Studien haben gezeigt, daß die ba-
0
E
5.
3 12 .
Q)
c
sale Lipolyse im katabolen Zustand um das
§ ::!: 2- bis 3fache erhöht ist. Die Ursache hierfür
> 2 8 ...
-' ist nicht ganz klar. Möglicherweise ist die
::< -'
Aktivität von Lipolysehemmern wie Insulin,
~
-' 4 Adenosin und Phosphodiesterase reduziert
~
(Arner 1988).
0 0
vor nach vor noch Stimulierung der Lipolyse
Gewlchlsabnahme Gewlchlsabnahme Bei Stimulationen mit Katechotaminen zeigt
Abb. 6.11. Aktivität (links) und Expression (rechts) sich ein eigenartiger Effekt. Es konnte näm-
von LPL vor Gewichtsabnahme und bei stabilem Ge- lich nicht nachgewiesen werden, daß die Li-
wicht nach einer Phase der Gewichtsreduktion. Un- polyserate durch Noradrenalin und Adrena-
tersucht wurden 9 Adipöse (Durchschnittsgewicht
136 kg); die Gewichtsabnahme betrug durchschnitt- lin im fastenden Zustand - über die bereits
lich 36 kg. (Nach Kern et al. 1990) erhöhte basale Lipolyse hinaus - weiter er-
höht werden kann. Im Gegenteil, es kann
sogar eine über ar Rezeptoren vermittelte
Auch das "acylation stimulating protein" hemmende Wirkung auftreten (Kather et al.
(ASP) wurde während des Fastens unter- 1985).
sucht (s. Abschn. 6.2.3). Es fiel um 46o/o und
hatte nach 2 Wochen eine ähnliche Serum- Hemmung der Lipolyse
konzentration wie bei Kontrollpersonen Oben wurde erwähnt, daß Katechotamine im
(Cianflone et al. 1995). katabolen Zustand - über a 2 -Rezeptoren -
eine solche Hemmung ausüben, daß die
6.6.2 Stimulation über ß-Rezeptoren übertroffen
Lipolyse werden kann. Auch die Insulinsensitivität
hinsichtlich der Lipolysehemmung ist mög-
Mißt man FFS und Glyzerin im Serum unter licherweise unter Reduktionskost und beim
einer hypokalorischen Kost oder beim Fa- Fasten vermindert, wodurch die Spaltung
sten, stellt man einen doppelten oder 3fa- von Triglyzeriden erleichtert wird; es sind
chen Konzentrationsanstieg fest. Dies ist jedoch auch gegensinnige Veränderungen
offensichtlich Ausdruck einer vermehrten beobachtet worden (Arner 1988).
Mobilisation von Triglyzeriden aus den Fett- Einig sind sich fast alle auf diesem Ge-
depots. Die stimulierte Lipolyse ist zur Auf- biet arbeitenden Experten, daß unter Re-
rechterhaltuns der Energieversorgung not- duktionskost und Fasten die Lipolyserate
wendig, weil die Glykogenvorräte mit durch Reduktion der Hemmung und nicht
200-500 g nur einige Stunden reichen. Eine durch Steigerung der Stimulation beschleu-
sog. ketogene Diät (z. B. Atkin) begünstigt nigtist
6.7 Bewegungstherapie 135
kung-Kurve nach rechts (Zunahme der Sen- suchung, daß die Lipolyse unter Belastung
sitivität) und eine höhere maximale Antwort von ß-adrenergen Mechanismen moduliert
("responsiveness") fest (Abb. 6.12). Erstmals wird. Diese Beobachtung kann auch erklä-
wurde das 1964 von Parizkova u. Stankova ren, weshalb trainierte Personen eine gerin-
(1964) beschrieben. gere WHR aufweisen.
6.8
Trainierte Personen haben u. a. deshalb eine Braunes Fettgewebe
geringere Fettmasse, weil die lipolyse bei jeder
Belastung stimuliert wird und das Fettgewebe Das Fettgewebe des Menschen besteht nicht
auf Stimuli - auch in Ruhe- besser anspricht. nur aus weißem Fettgewebe (bisher bespro-
chen), sondern auch- zumindest beim Neu-
geborenen und beim Kind - aus braunem.
Der Anteil ist jedoch beim Erwachsenen
Arner et al. (1990) belasteten Frauen und äußerst gering. Lediglich perirenal und rudi-
Männer über 30 min. und bestimmten die mentär auch abdominal, zervikal, axillär und
Lipolyse in situ mittels der Mikrodialyse (s. interskapulär findet sich braunes Fettgewebe
oben) im subkutanen abdominalen und glu- (Tabelle 6.2). Die Bezeichnung "braunes"
tealen Fett. Die Lipolyserate war im abdomi- Fettgewebe entspricht dem makroskopi-
nalen Fett ausgeprägter als im glutealen und schen Eindruck. Im Unterschied zum weißen
bei Frauen deutlicher als bei Männern. Die Fettgewebe weist braunes nämlich viele Blut-
belastungsinduzierte Lipolyse konnte durch gefäße auf; auch sympathische Nervenfasern
ß-Antagonisten (Propanolol) gehemmt wer- sind zahlreicher vertreten. In einer braunen
den; a-Blocker (Phentolamin) waren inef- Fettzelle befinden sich mehrere Fettvakuo-
fektiv. Zudem schloß man aus dieser Unter- len, und auch die Mitochondrien sind zahl-
reicher und größer.
Tabelle 6.2. Unterscheidungsmerkmale von braunem und weißem Fettgewebe. (In Anlehnung an Hamann u.
Matthaei 1995)
Koppelung von Oxidation und Energ iev erbrauch Entkoppelung von Oxidation und Energieverbrauch
ADP +Pi
~
ATP + Hp NADH
A NAD NADH ~ NAD
~ ~
Oehydrogenasen Oehydrogenasen
(&· Oxidation, Citrat-Zyklus) (&· OxldaUon, Citrat-Zyklus)
Abb. 6.13. Braunes Fettgewebe: Kopplung und Ent- toxidation (ATP-Bildung). Das Entkoppelungspro-
kopplung (bei Stimulation durch das sympathische tein ("uncoupling protein", UCP-l) trägt erheblich
Nervensystem) von Wärmeproduktion und Substra- zur Thermogenese bei (Erklärungs. Text)
Die genannten Mechanismen machen forscht ist, bleibt unklar, welche Rolle sie bei
deutlich, daß ßrRezeptoren eine wichtige der Thermogenese und damit der Ätiologie
Rolle bei der Wärmeproduktion spielen. Da der Adipositas spielen. Bisher entwickelte
Erwachsene nur rudimentär braunes Fettge- ßrRezeptoragonisten vermindern nur beim
webe aufweisen und die Bedeutung von ßr Nagetier merklich das Gewicht.
Rezeptoren im weißen Fettgewebe kaum er-
7 Assoziierte Krankheiten
über die pathogenetischen Zusammen- Cluster vorkommen (Wirth 1993b; Abb. 7.1).
hänge zwischen Adipositas und Herz-Kreis- Das MTS ist nicht selten; ca. 20% der Bevöl-
lauf-Krankheiten existieren wegen der Kom- kerung sind von ihm betroffen.
plexität nur teilweise klare Vorstellungen.
Wie führt eine erhöhte Körperfettmasse zu
Pathogenetisches Merkmal
kardiovaskulären Problemen? Weshalb ist
v. a. das Vorhandensein von intraabdomina- Die pathogenetische Gemeinsamkeit des
lem Fett gesundheitsschädlich? Es ist unmit- metabolischen Syndroms, das "missing link",
telbar einsichtig, daß das Fett an sich wohl ist die Insulinresistenz. Verfeinerte Metho-
keine gesundheitlichen Schäden bewirkt, den zur Messung der Insulinsensitivität lie-
sondern daß sie über eine Kaskade von Er- ßen erkennen, daß bei den erwähnten Stoff-
eignissen zu erklären sind. Daran beteiligt wechselkrankheiten eine verminderte Insu-
sind sowohl hämodynamische als auch me- linwirksamkeit besteht. Zuletzt hat man das
tabolisch-endokrinologische Faktoren. Mitte der 80er Jahre bei der Hypertonie veri-
fiziert, wenngleich Dieterle et al. schon 1967
bei Hypertonikern eine Glukoseintoleranz
7.1
und Hyperinsulinämie feststellten. Dieses
Metabolisches Syndrom Syndrom wird auch "Syndrom X" genannt
(Reaven 1988), was zu Mißverständnissen
7.1.1
führt, da diese Bezeichnung schon seit langer
Definition und Pathogenese
Zeit für eine mikrovaskuläre Durchblu-
tungsstörung des Herzens verwendet wird.
Koinzidenz von Stoffwechselkrankheiten
Jahnke verwendete bereits 1969 den Begriff
Unter dem metabolischen Syndrom versteht "metabolisches Syndrom", Mehnert sprach
man eine Krankheitsentität aus folgenden vor Jahren schon vom "Wohlstandssyndrom"
Gesundheitsstörungen: und Kaplan (1989) aufgrundder Gefahr von
arteriosklerotischen Folgekrankheiten von
• abdominale Adipositas,
einem "deadly quartet".
• Typ-2-Diabetes,
Ursachen des metabolischen Syndroms
• Dyslipidämie,
sind einerseits genetische Faktoren und an-
• Störungen der Hämostase,
dererseits Faktoren, die mit unserem Le-
• Hypertonie,
bensstil zusammenhängen: fettreiche Er-
• Hyperandrogenämie.
nährung, Bewegungsmangel, Alkohol, Niko-
Zwischen diesen einzelnen Krankheiten be- tin und Streß (Abb. 7.1). Ein "metabolisches
steht eine hohe Koinzidenz, so daß man Syndromgen" wurde bisher nicht entdeckt,
schon lange nach einem gemeinsamen pa- es gibt jedoch genetisch beeinflußte Fakto-
thogenetischen Merkmal suchte. Während ren der Insulinresistenz, die zur Ausprägung
z. B. eine Hypertonie bei 15-20% der Bevöl- des Phänotyps "metabolisches Syndrom"
kerung vorkommt, ist sie bei der abdomina- beitragen (s. unten). Beim metabolischen
len Adipositas und beim Typ-2-Diabetes bei Syndrom besteht in etwa 80% eine Adiposi-
jedem 2. Patienten anzutreffen. Ein Diabetes tas; ein metabolisches Syndrom ohne Adipo-
ist bei Hypertonikern doppelt so häufig wie sitas ist selten.
bei Normotonikern und eine Dyslipidämie
wiederum bei Diabetikern 3mal so häufig
wie in der Normalbevölkerung. Diese Dar- Pathogenetisches Merkmal des metabolischen
stellung zeigt, daß die einzelnen Krankhei- Syndroms ist die lnsulinresistenz.
ten des metabolischen Syndroms häufig als
7.1 Metabolisches Syndrom 143
GENETIK V E R H A L T E N
Ursachen
I Primär-
l
Fohlo la.-eullflo•l Allcoi>OI SII'KO prävention
etnlhrung 1 ma..... 1 Rauchen
Stoffwechsel-
krankheiten
Adipositas lDiabe~p~ellltus1 Dysllpidämie l Hyperton ie I Störung der
H mostase Sekundär-
prävention
!
Metabolisches Syndrom
+
Organ- Koronare Herzkrankhalt I Apoplex I peri phere art. Versehlu n krankhelt
Tertiär-
schäden prävention
A t • 0 s k e r o s e
Abb. 7.1. Metabolisches Syndrom: Ursachen, metabolische Folgen, Stoffwechselkrankheiten und Organ-
schäden
Bei der Ausprägung des Metabolischen Syn- rere Ursachen, die v. a. durch eine "substrate
droms sind einige Organe besonders betei- competition" zwischen Glukose und FFS be-
ligt, deren Rolle im folgenden besprochen dingt sind (Brunetti u. Bolli 1992).
wird. Auch hier haben Randle et al. wesentlich
zum Verständnis der involvierten Mechanis-
men beigetragen (1963). Ein vermehrtes An-
Leber
gebot von FFS inhibiert einige Enzyme der
Die Leber, das zentrale Stoffwechselorgan, Glykolyse:
trägt zur Entstehung des MTS erheblich bei.
• Eine beschleunigte Oxidation von FFS be-
Viele Experten gehen davon aus, daß erhöh-
wirkt - wie in der Leber - eine Akkumu-
te Konzentrationen von FFS für die Genese
lation von Acetyl-CoA, einem potenten
des metabolischen Syndroms eine große
Inhibitor der Pyruvat-Dehydrogenase.
Rolle spielen. Bei Adipösen sind die Serum-
• Eine erhöhte Oxidationsrate von FFS ver-
konzentrationen von FFS erhöht, die Um-
mehrt NAD/NADH, wodurch der Krebs-
satzrate ist gesteigert; besonders ausgeprägt
zyklus gehemmt wird.
ist das bei der abdominalen Adipositas {Jen-
• Das führt zur Akkumulation von Citrat,
sen et al. 1989). FFS hemmen die hepatische
einem Inhibitor der Phosphofruktokina-
Insulinbindung, -extraktion und -degrada-
se. Diese Veränderungen haben zur Folge,
tion (Svedberg et al. 1990, 1991). Somit wird
daß Glukose über die Glykolyse vermin-
weniger des vom Pankreas sezernierten In-
dert oxidiert wird.
sulins hepatisch entnommen; es resultiert
• Die Folge davon ist die Anhäufung von
eine periphere Hyperinsulinämie. Zudem
Glukose-6-Phosphat, einem potenten In-
besteht eine beschleunigte hepatische Glu-
hibitor der Hexokinase, und der
koseproduktion durch vermehrte Glukoneo-
• Uridin-Diphosphoglukose, einem Sub-
genese; das führt direkt zur Hyperglykämie.
strat für die Glykogensynthese.
Ursache hierfür ist zum einen die vermehrte
Produktion von sog. Präkursoren der Gluko- Die erwähnten Mechanismen erklären, wie
se wie Laktat und Aminosäuren (Bonadonna über ein vermehrtes Angebot von FFS die
u. DeFronzo 1993). Zum anderen bedingen Glukoseoxidation und Glykogensynthese ge-
hohe Serumkonzentrationen von FFS eine hemmt werden (Bonadonna u. DeFronzo
hohe Oxidationsrate, was zur intrazellulären 1993).
Vermehrung von Acetyl-CoA führt. Acetyl- Differenzierte Studien zur Glukosever-
CoA stimuliert die Pyruvat-Carboxylase, ein wertung bei abdominal Adipösen (Pedersen
Enzym, das die Glukoneogenese aus Präkur- et al. 1993) und Diabetikern (Shulman et al.
soren einleitet. Diese Stoffwechselsituation 1990) zeigten, daß die Glukoseverschwinde-
wurde vor mehr als 30 Jahren erstmals be- rate nur zum geringen Teil aufgrund einer
schrieben und ist Teil des Randle-Zyklus verminderten Oxidation, sondern haupt-
(Randle et al.1963). Schließlich wurde nach- sächlich durch nichtoxidative Mechanismen,
gewiesen, daß FFS mit dem Insulinrezeptor d. h. die Glykogensynthese, gestört ist. Felber
an Hepatozyten interagieren und die Bin- et al. {1987) fanden, daß die gestörte Glyko-
dung sowie die Wirkung von Insulin beein- gensynthese direkt mit der Lipidoxidation
trächtigen {Svedberget al.1990). zusammenhängt. Sie fanden eine positive
Korrelation zwischen der Lipidoxidation
und der Körperfettmasse (Felber 1992). Die
Skelettmuskel
vermehrt oxidierten Lipide bei Adipösen
Die Insulinresistenz der Muskulatur, die entstammen weniger den im Plasma verfüg-
70-80% der Glukose metabolisiert, hat meh- baren FFS, sondern vielmehr den von intra-
7.1 Metabolisches Syndrom 145
Effekte vermitteln kann. Die Tyrosinkinase- rigte HDL2-Cholesterin erklären (s. Abschn.
aktivität ist bei Adipösen und Typ-2-Dia- 7.3). Die erhöhte hepatische FFS-Aufnahme
betikern ebenfalls erniedrigt (Caro et al. führt auch zur erhöhten Sekretion von Apo-
1987), ein Zustand, dem Bedeutung hinsicht- lipoprotein B; da gleichzeitig auch die De-
lich der Insulinwirkung zugemessen wird. gradation vermindert ist, ist die Serumkon-
Zudem ist die Expression und insulinstimu- zentration erhöht (Depres u. Marette 1994).
lierte Translokation von GLUT4 zur Plasma- Die Hyperinsulinämie steigert ebenfalls -
membran im Tiermodell mit Insulinresi- wie die erhöhten FFS - die Bildung von VLD-
stenz gestört (Depres u. Marette 1994). Ob Lipoproteinen. Beim Metabolischen Syn-
Letzteres auch für den Menschen zutrifft, ist drom ist zudem die Zusammensetzung der
noch umstritten. Lipoproteine verändert, insbesondere trifft
das für das LDL zu (sog. "small dense" LDL;
Kap. 7.3.2). Was den Fettstoffwechsel betrifft,
7.1.3
sind damit die typischen Veränderungen
Auswirkungen der vermehrten Fettmasse
beim Metabolischen Syndrom erklärbar:
und der Insulinresistenz
Hypertriglyzeridämie, erniedrigtes HOL-
Cholesterin sowie leicht erhöhtes LOL-Cho-
Lipidstörungen
Iesterin und Apolipoprotein B.
Verschiedene mit dem metabolischen Syn-
drom vergesellschaftete Fettstoffwechselstö-
Hyperinsulinämie
rungen sind mit erhöhten FFS-Konzentra-
tionen erklärbar. FFS werden konzentra- Für die Entstehung einer Hyperinsulinämie
tionsabhängig in die Leber aufgenommen sind FFS in 2facher Hinsicht verantwortlich
und dort in VLD-Lipoproteine ("very low (Abb. 7.2). FFS vermindern konzentrations-
density") eingebaut; die Folge davon ist eine abhängig die Insulinaufnahme und -degra-
Hypertriglyzeridämie. über eine Hemmung dation in der Leber (Svedberg et al.1991).An
der Lipoproteinlipase läßt sich das ernied- isolierten Hepatozyten wurde zudem nach-
Vererbung Lebensstil
abdominale Fettmasset
+
abdominale Li polyse t
+
Freie Fettsäuren
1
periphere Insulinsekretion
Insulinspiegel t
Hyperinsulinämie •~---'
+
sympathische Aktivität t
+
7.2
Diabetes mellitus Diabetes mellitus
Von allen mit der Adipositas assoziierten In Deutschland gibt es ca. 4 Millionen Typ-2-
Krankheiten ist der Zusammenhang mit Diabetiker, etwa 80% von ihnen sind adipös
dem Diabetes am eklatantesten. Dies trifft (Mehnert 1984a, b).Jeder 2.Mann undjede 3.
7.2 Diabetes rnellitus 149
100
n=114281 Krankenschwestern
follow up: 14 Jahre
Alter: 30-55 Jahre
0 80
~
Ul
0:: 60
-
Ul
Q)
> 40
C'll
Q)
0:: 20
0
1-'),.'),. '),.'!:'),.":> '),."$'~ '),.~rV -o-!:1,.~ '),.~""" """:?>"" ":>"$'":>~
BMI (kg/m 2 )
Abb. 7.4. Risiko für Neuerkrankungsrate hinsichtlich eines Diabetes rnellitus in der NURSES' HEALTH STU-
DY in Abhängigkeit vorn Körpergewicht innerhalb von 14 Jahren. (Colditz et al. 1995)
150 KAPITEL 7 Assoziierte Krankheiten
400 400
300
.!: 200
3tJ)
c 100
venöse Blut zu (Abb. 7.5 unten). Die ubi- Insulinresistenz und Insulinsekretion
quitär präsente Hyperinsulinämie bei abdo-
minaler Fettverteilung ging mit einer gestei- Heutzutage sind sich nahezu alle Stoffwech-
gerter (hepatischen) Glukoseproduktion selexperten einig, daß das Bindeglied zwi-
und einer verminderten (muskulären) Glu- schen Adipositas und Diabetes mellitus vor-
koseutilisation einher (Abb. 7.6). Die Ar- wiegend in der Insulinresistenz zu sehen ist;
beitsgruppe kam daher zu dem Schluß, daß bereits 1962 hatten Rabinowitz u. Zierler an
eine abdominale ("upper body obese") Adi- Unterarmen von Adipösen eine verminderte
positas zu einer Insulinresistenz insulinstimulierte Glukoseaufnahme festge-
stellt (Rabinowitz u. Zierler 1962). Die Insu-
• in der Leber mit verminderter Insulinex-
linresistenz betrifft sowohl die Glukosepro-
traktion und gesteigerter Glukosepro-
duktion als auch die Glukoseverwertung
duktion und
(Abb. 7.7).
• im Skelettmuskel zu verminderter Insu-
Doch nicht nur die Insulinwirkung ist bei
linsensitivität und reduzierter maximaler
Adipösen häufig gestört, sondern auch die
Insulinwirkung hinsichtlich der Glukose-
Insulinsekretion. Adipöse weisen oft eine
verwertung führt.
verminderte Insulinsekretion auf einen Glu-
kosereiz hin auf, wobei vor allem die frühe
Die Adipositas, insbesondere die abdominale
Phase der Insulinsekretion betroffen ist. (Po-
Form, geht häufig mit einer Insulinresistenz lonsky et al. 1996). Je deutlicher eine inad-
hinsichtlich der Glukoseproduktion und äquate Insulinsekretion auftritt, desto insuf-
Glukoseverwertung einher. fizienter kann die Insulinresistenz kompen-
siert werden.
7.2 Diabetes mellitus 151
;:;-- 600
.§
.s 500
E
. [ 400
c
.Q 300
(\'j
~ 200
"5
$ 100
0
-"
:::J
(5
10 100 1000 10000 10 100 1000
Abb. 7.6. Glukoseproduktion (links) und Glukose- Normalgewichtigen sowie Adipösen mit abdomina-
utilisation (rechts) während eines Glukose-Clamps ler und peripherer Adipositas. (Aus Peiris et al. 1986)
mit unterschiedlichen Insulinkonzentrationen bei
60
50
40
30
20
10
0
1:
.!
:
~
j
Q
•
E
..
z:
c
,;j
80
60
40
20
0
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45
Abb. 7.8. Insulinkonzentration nüchtern (oben) und der Insulinsekretion; die anfängliche Hyperinsulin-
nach Glukosestimulation (unten) bei Adipösen in ämie geht in eine Hypoinsulinämie über. (Nach Fel-
Abhängigkeit von der Dauer der Adipositas. Nach ca. ber 1992)
20 Jahren beobachtet man eine deutliche Abnahme
Personen- Relatives
* adjustiert für Alter und BM I ; n = 114281 Jahre Risiko*
> 20,0 kg 5 921 0,13
Gewichtsabnahme 11,0- 19,9 kg 22493 0,23
5,0 - 10,9 kg 73645 0,54
Abb. 7.9. Änderung der Diabetesinzidenz innerhalb (Colditz et al. 1995). Gewichtszunahmen erhöhen
von 14 Jahren durch Gewichtsänderung in der und Gewichtsabnahmen erniedrigen die Neuerkran-
NURSES' HEALTH STUDY bei 114.281 Frauen im kungsrate
Alter von 30-55 Jahren bei Einschluß in die Studie
Hatten sie jedoch >20 kg zugenommen, war I wurde durch eine moderate Gewichtsab-
das Risiko, diabetisch zu werden, gar nahme um bis zu 9,1 kg eine Abnahme der
12,3fach erhöht. Nahm hingegen das Ge- Sterblichkeit von 30-40o/o beobachtet (Wil-
wicht moderat um 5-11 kg ab, halbierte sich liamson et al. 1995; Abschn. 4.2). Lean redu-
das Diabetesrisiko; wer > 20 kg abnahm, zierte bei 263 Typ-2-Diabetikern mit einem
konnte es sogar auf 1/8 reduzieren. mittleren Alter von 65 Jahren das Gewicht.
Durch Gewichtsreduktion kann man je- Die Lebenserwartung nahm um so mehr zu,
doch nicht nur das Diabetesrisiko mindern, je ausgiebiger das Gewicht reduziert wurde
sondern auch die Diabetesmortalität sen- (Abb. 7.10). 1 kg Gewichtsabnahme verlän-
ken. In der CANCER PREVENTION STUDY gerte das Leben um 3-4 Monate.
18
n=263 Frauen u.
:;;: Aller; 0 65 Jahre
c:
::J BMI: ,. 28,0 kglm'
.9- 16
·m~
N!!!
E.c
Ql ro 14
-c3
.OQl
('01/l
Olo
c: c: 12
::Jg'
t·-
roC
~>
Ql Ql 10
"'"0
c:
Ql
.c
Ql 8
...J
0 2 4 6 8 10 12 14 16
Abb. 7.1 0. Zunahme der Lebenserwartung durch Ge- glichen mit einer zu erwartenden Oberlebenszeit bei
wichtsabnahme bei adipösen Typ-2 Diabetikern mit Gewichtskonstanz von 8 Jahren) wurde mit der Ge-
einem durchschnittlichen Alter von 65 Jahren bei wichtsreduktion im ersten Behandlungsjahr in Be-
Einschluß in die Studie. Die Lebenserwartung (ver- ziehung gesetzt. (Lean et al. 1990)
154 KAPITEL 7 Assoziierte Krankheiten
Glukoseproduktion
100
Eine Hyperglykämie bei Typ-2-Diabetikern
ist nicht nur durch eine gestörte periphere
Glukoseaufnahme, sondern auch durch eine 0
gesteigerte hepatische Glukosebildung be- vor Normal-
dingt (s. oben). Eine Reduktionskost, noch Reduktionskost personen
ausgeprägter totales Fasten, reduziert die Abb. 7.11. Insulinsensitivität hinsichtlich der peri-
Glukoseproduktion in der Leber. Eine Ge- pheren Glukoseaufnahme (euglykämischer Clamp)
wichtsreduktion von 17 kg war mit einer Ab- bei adipösen Patienten mit nichtinsulinabhängigem
Diabetes mellitus vor und nach Gewichtsabnahme.
nahme von 37o/o nüchtern und unter Insu- (Nach Henry et al. 1986)
lininfusion von 80o/o verbunden (Abb. 7.12;
Henry et al. 1986).
150
Eine Reduktionskost verbessert alle Parameter ........,......
p < 0,01
Bewegungstherapie
Plasmainsulin
Björntorp et al. (1970) waren die ersten, die
eine trainingsbedingte Senkung des Insulin-
spiegels bei Adipösen um ca. 50% zeigten
400
(Abb. 7.13) Diese Beobachtung erregte schon
damals Aufsehen, da man hinter hohen In-
1300
sulinkonzentrationen eine Insulinresistenz
vermutete. In der Folgezeit eruierte man Me- .5 200
steigerten peripheren Clearance ist (Wirth et Abb. 7.13. Glukose (oben) und Insulin (unten) bei
al. 1980b); für die verminderte Clearance intravenöser Glukosebelastung vor (gestrichelt) und
wiederum ist vorwiegend die Leber verant- nach (durchgezogen) körperlichem Training ohne
Gewichtsreduktion. (Wirth 1987a)
wortlich, die bei Normalpersonen ca. 50%
des sezernierten Insulins extrahiert und de-
gradiert (Wirth et al. 1982). Die trainings- größeren Prozentsatz an Glukose aufnimmt.
induzierte periphere Hypoinsulinämie ist Bei Adipösen ist die Insulinresistenz haupt-
sowohl durch eine verminderte Sekretion sächlich in der Muskulatur lokalisiert; auch
auch durch eine beschleunigte Clearance zu die Trainingseffekte manifestieren sich eben-
erklären (Wirth et al.1981b). falls vorwiegend hier (Wirth 1987a).
s
Cl
10
10,1
- vor Training
nach Training
gigen (IOD) Diabetikern. (Nach
Koivisto et al. 1986) .s., 8
.,..e
c: 8 15,6 5,8
~0 4
""'Ci"
2
0
Kontrollen Adipöse NiDD IDD
n•8 n•7 n•6 n•9
linsensitivität lassen vermuten, daß regel- tesinzidenz um 15%, bei sportlich sehr Akti-
mäßige Muskelarbeit einen protektiven Ef- ven wurde das Risiko sogar um 50% gesenkt.
fekt auf die Entstehung des Diabetes hat. In-
zwischen wurde das in mehreren Studien Behandlung des manifesten Diabetes
nachgewiesen. Eine Untersuchung an 5.990 Da eine Bewegungstherapie ähnliche - wenn
Universitätsabsolventen mit 14jähriger Be- auch quantitativ geringere - Auswirkungen
obachtung ergab eine deutliche Senkung der auf den Kohlenhydratstoffwechsel wie eine
Neuerkrankungsrate bei körperlich Aktiven Reduktionskost hat, sollte sie integrativer
(Helmrich 1991;Abb. 7.16}. Dieser Effekt war Bestandteil der Therapie bei jedem Diabeti-
unabhängig vom Körpergewicht, der fami- ker sein, falls keine Kontraindikationen be-
liären Disposition, dem Blutdruck und dem stehen (Wirth 1994b). Durch ein 8wöchiges
Alter nachweisbar. Ein Energieverbrauch Training konnte bei 24 adipösen Typ-2-Dia-
von 1.000 kcal!Woche reduzierte die Diabe- betikern das HbA 1 signifikant gesenkt und
-
~
CD
0,7
0,6
* -
'ii
~
200
160
*
~ 0,5 Cl
* s::::
*
~ 0,4 * ~ 120
a.. a..
0,3
s:::: s:::: 80
.!! 0,2 .!!
'äi 'äi
.s:: .s::
s:::: s:::: 40
jjj 0,1 jjj
0 0
UT T UT T UT T UT T UT T
Kontrollen NlOOM Jüngere Kontrollen NI DOM
Abb. 7.15. Glukosetransporter im Plasma (GLUT4 Normalpersonen vor und nach einem 9wöchigen
Protein) und im M. vastus lateralis (GLUT4 mRNS) Ausdauertrainingvon ca. 6-30 min pro Woche. (Aus
bei Typ-2-Diabetikern sowie jüngeren und älteren Dela et al. 1994)
158 KAPITEL 7 Assoziierte Krankheiten
0,5 '
4
GI
Cl)
8,5 0
3
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5
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~
~
Cl)
u
2 c
c( ~
..c ns
Cl)
J:
ö
,j,
Cl)
0
"":I
0 5
vor nach vor nach vor nach vor nach
Kontrollen trainiert Kontrollen trainiert
Abb. 7.17. Abnahme von HbA 1 und Zunahme der Glukoseclearance durch ein 8wöchiges Ausdauertraining bei
24 Typ-2-Diabetikern mit einem BMI von 30 kglm 2 • Das Gewicht nahm um 1,7 kg ab. (Aus Mourier et al. 1997)
7.3 Fettstoffwechselstörungen 159
30
mit geringer Dichte sowie hohem Triglyze-
ridgehalt (60-70%) und wenig Cholesterin
(ca. 10%) sowie Proteinen (ca. 10%). Zur Er-
20
innerung: Triglyzeride gelangen ins Plasma
~
0
Cl
entweder über die Lymphe in Form von Chy-
E 10 lomikronen (exogen) oder aus der Leber als
0
0 VLD-Lipoproteine (endogen); die Regula-
N
A tion dieser Lipoproteine ist verschieden. Bei
w 0 I D•ill 0 I D+ill 0 I D•ill 0 I D•ill
der Adipositas ist die Sekretion von VLD-Li-
c
0: poproteinen gesteigert und deren Abbau re-
w
I I
20
N (%) duziert (Robertson et al. 1973; Krone et al.
FRAU EN
~ 1993). Erklärt wird die erhöhte VLDL-Pro-
(!)
0: 11
duktion v. a. durch ein vermehrtes Sub-
1- 10 stratangebot von freien Fettsäuren und Glu-
kose in der Portalvene sowie eine gesteigerte
Fettsäuresynthese (s. 6.2.1).
0
Adipositas 0 I D+W 0 I D+W 0 I D+W 0 I D+W
Jahre 20-29 30-39 40-49 50-59
Eine abdominale Ad ipositas geht häufig mit
Adipositas: Grad 0 =BMI <25; I = >25 <30; D + ID => 30kg/m 1 erhöhten Triglyzeridwerten und niedrigem
HOL-Cholesterin einher.
Abb. 7.18. Häufigkeit der Hypertriglyzeridämie
(>200 mg %) bei Frauen und Männern mit unter-
schiedlichem Körpergewicht. Adipositasgrad 0: BMI
<25, 1: BMI 25-30, II + III: BMI >30 kg/m2 • (Nach As-
smann u. Schulte 1992) 40
(%)
";/!. lQ
rin <35 mg o/o) etwa 3mal häufiger als bei Cl
E
Frauen. Ein erniedrigtes HOL-Cholesterin trat lt) 20
C')
bei Adipösen ca. 3mal häufiger als bei Normal- V
gewichtigen auf; der Adipositaseffekt war z 10
I FRAU EN I
VALENCE STUDY (GRIPS) an 5.790 Män- 0 20
~ (%)
nern, wenngleich die Prävalenzdaten mit dem
BMI weniger deutlich korreliert waren (Cre- ...J
c
mer et al. 1997). J: 10
7.3.2
Lipide, Lipoproteine und Apolipoproteine
Adipositas 0 ! D+W 0 I D+ill o I D•W 0 I D+ill
Triglyzeride und VLD-Lipoproteine Jahre 20·29 30-39 40-49 50-59
0
0
1ii
CD
0
• 0
..c: 0,4
..• • • ••
• •
0 0 0
~ ... o
~
c 'b 0
8 Cb
e 88o00
Oe •
:I: 0 8
0
0,7 0,8 0,9 1,0 1,1
Waist-to-Hip Ratio (Taille-Hüft-Relation)
162 KAPITEL 7 Assoziierte Krankheiten
-
1 : 1 I' • 1o .._
l:J2
,' .. , '
o freie Androgene t
1 o Glukokortikoide
o Insulinwirkung
t
.j.
o Insulinwirkung .j.
0 VLDL - Synthese t (subkutan und viszeral)
0 Glukoseaufnahme .j.
0 ApoB - Synthese t o Adipozytengröße t
0 ApoB - Degradation .j. 0 Lipolyse t o Fettsäureaufnahme .j.
HTGL - Aktivität t
~
0
n_su_li_
.__o_l_ tio_n_ __:_.j._j +-- freie Fettsäuren t (Portalvene)
·n_ext_ra_k_
l 1
Jc_
o Insulin t LPL-Aktivität.j. , HTGL-Aktivitätt [ 0 LDL-TG-Gehalt t
VLDL - Größe t LDL-Größe .j.
-::>
0 0
Abb. 7.2L Synopsis der Zusammenhänge zwischen stof~echsel e~g _verknül:'ft un~ regulieren Lipide
abdominaler Adipositas und Fettstoffwechsel. Fett- und Lipoproteme m der Z1rkulat10n. Näheres s. Text.
gewebe, Leber und Muskulatur sind im Intermediär- (Nach Despn!s 1991; Despn!s u. Marelle 1994)
Analyse, bei der Apo- und Lipoproteine nicht Plasma, aber auch in verschiedenen Gewe-
nur zum BMI und der Gesamtkörperfett- ben wie z. B. im Fettgewebe messen (s. 6.2.2);
masse, sondern auch zur WHR und zur vis- nach Heparininjektion erfolgt eine Aus-
zeralen Fettmasse (CT-Bestimmung) in Be- schwemmung ins Plasma. Die LPL trägt we-
ziehung gesetzt wurden. Apo- und Lipopro- sentlich zur Höhe der Triglyzeridkonzentra-
teine waren zwar nicht mit der Gesamtkör- tion im Plasma bei. Abgesehen davon ist es
perfettmasse und dem BMI, wohl aber mit das"rate limiting enzyme" für die Lipogene-
der viszeralen Fettmasse korreliert. Das Apo se im Fettgewebe (Abb. 6.3). Richelsen et al.
A-I hatte einen Korrelationskoeffizienten (1993) fanden, daß die basale LPL-Aktivität
von -0,30, für HDL-A-I/LDL-B wurde 0,29 im Skelettmuskel bei adipösen Frauen nega-
ermittelt. Frauen mit gleicher Gesamt- aber tiv mit dem BMI und der WHR korreliert
unterschiedlicher viszeraler Fettmasse un- war. Zu den Triglyzeriden bestand eben-
terschieden sich ebenfalls deutlich. Er schloß falls eine negative (r=-0,48) und zum
daraus, daß für Apo- und Lipoproteine die HDL-Cholesterin eine positive Korrelation
Fettverteilung und die viszerale Fettmasse (r=0,58).
unabhängig vom Ausmaß der Adipositas Die hepatische Triglyzeridlipase (HTGL)
entscheidend sind. hat verschiedene Funktionen, die letztlich
Apo B-1 00 ist das einzige Apolipoprotein noch nicht ganz geklärt sind. Die HTGL ist
der LDL; Apo B-48 ist das aminoterminale bei der Umwandlung von Lipoproteinen be-
Ende des Apo B-100. Inzwischen ist erwie- teiligt. Bei Adipösen ist die Aktivität dieses
sen, daß Apo B nicht nur für die Resorption Enzyms gesteigert (Cominacini et al. 1993;
von Lipiden aus der Nahrung und die Sekre- Despres u. Marette 1994); es ist positiv mit
tion von Triglyzeriden erforderlich ist, son- dem BMI korreliert. Aufgrund einer oralen
dern auch als Ligand (Apo B-100) für den Glukosebelastung mit Insulinbestimmung
LDL-Rezeptor. Schließlich spielt ApoBauch gelangten Cominacini et al. (1993) zu der
eine Rolle als Kofaktor bei der LCAT-Reak- Schlußfolgerung, daß die Insulinresistenz
tion. Personen mit hohem Apo B-Gehalt wei- verantwortlich für diese Adaptation sei.
sen häufiger arteriosklerotische Krankhei- Die Lecithin-Cholesteryl-Acyl-Transferase
ten auf als solche mit niedrigem. (LCAT) katalysiert Cholesterinester. Der
Bei Adipositas ist das Apo B, ähnlich dem wichtigste Kofaktor für diese Reaktion ist
LDL-Cholesterin, gewöhnlich leicht erhöht das Apo A-1. LCAT spielt eine wichtige Rolle
(Despres 1991). Abdominal Adipöse haben bei der Konversion von HDL3 zu HDL2 • Bei
etwas höhere Apo B-Konzentrationen als pe- Adipösen ist die LCAT-Aktivität erniedrigt
ripher Adipöse (91 vs. 78 mg %). (Despres 1991). Erklärt wird damit das er-
niedrigte HDLrCholesterin.
7.3.3 Cholesterin-Ester-Transfer-Protein (CETP)
Enzyme des Fettstoffwechsels wird vom Fettgewebe produziert (s. Abschn.
(LPL, HTGL, LCAT, CETP) 6.4.1). Es wird vermutet, daß die vermehrte
Produktion zu niedrigen HDL-Cholesterin-
Die Regulation der Lipide und Lipoproteine spiegeln bei Adipösen beiträgt.
unterliegt weitgehend einer enzymatischen
Steuerung; die Enzyme sind im Plasma, zell- 7.3.4
ständig oder intrazellulär, lokalisiert. Synopsis: Fettstoffwechselstörungen
Die Lipoproteinlipase (LPL) katalysiert und abdominale Adipositas
den Abbau von triglyzeridreichen Lipopro-
teinen (Chylomikronen, VLD-Lipoprotei- Die abdominale (viszerale) Adipositas geht
nen). Es läßt sich im basalen Zustand im in der Regel mit einer Insulinresistenz ein-
7.3 Fettstoffwechselstörungen 165
her. Es besteht eine vergrößerte und lipoly- was die Atherogenese begünstigt; zudem
tisch aktivierte abdominale (subkutan und werden sie bevorzugt oxidiert. HDL2 wird
viszeral) Fettmasse; die insulininduzierte aber auch vermindert gebildet, weil die En-
Hemmung der Lipolyse ist vermindert (Abb. zyme LPL und LCAT weniger aktiv sind, das
7.21). Daraus resultiert ein erhöhter Aus- Fettgewebe CETP produziert und HDL an
strom von freien Fettsäuren (FFS) aus diesen Fettzellen gebunden und somit der Zirkula-
Fettdepots in das Splanchnikusgebiet und tion entzogen werden.
schließlich in die Leber. Die vermehrte hepa-
tische Aufnahme von FFS hat eine erhöhte
7.3.5
Produktion von VLDL sowie Apo B und ei-
Therapie
nen verminderten Abbau von Apo B zur Fol-
ge. Die reduzierte Insulinextraktion und die
Reduktionskost
Insulinresistenz führen zur Hyperinsulin-
ämie und zur gesteigerten Glukoneogenese. Veränderungen von Lipiden unter einer Re-
Aufgrund der beschleunigten VLDL-Synthe- duktionskost sind ähnlich umfassend doku-
se und der verminderten LPL-Aktivität ent- mentiert und wissenschaftlich geklärt wie
steht eine Hypertriglyzeridämie. Dieses Phä- die des Kohlenhydratstoffwechsels. Lipid-
nomen trägt zum gesteigerten Austausch konzentrationen können durch alimentäre
von Triglyzeriden und Cholesterinestern un- Maßnahmen ohne Gewichtsreduktion oft
ter den einzelnen Lipoproteinen bei, was zu nur geringfügig verändert werden; das hat in
triglyzeridreichen LDL- und HOL-Partikeln Anbetracht potenter Lipidsenker bei vielen
führt. Ärzten zu einer Geringschätzung der Ernäh-
Triglyzeridreiche Lipoproteine sind be- rungsumstellung schlechthin geführt. Ist
vorzugte Substrate für die HTGL; es resultie- eine Gewichtsreduktion möglich, sehen die
ren kleine, dichte LDL-Partikel und weniger quantitativen Veränderung jedoch ganz an-
HDL 2 • Sog."small dense LDL" werden ver- ders aus. Beim Vorliegen einer Dyslipidämie
mindert an LDL-Rezeptoren gebunden und in Kombination mit Übergewicht und Adi-
damit langsamer aus der Zirkulation elimi- positas sollte daher die Gewichtsreduktion
niert und bevorzugt in Gefäßen abgelagert, die erste Maßnahme sein; Lipidsenker sind
Tabelle 7.1. Kardiovaskuläre Risikofaktoren vor und Signifikante Differenzen (* p<0,05, ** p<0,01).
nach einer 4wöchigen Therapie mit Reduktionskost (Wirth et al. 1989)
(700 kcal) bzw. Reduktionskost +Training ( 1 h/Tag).
Reduktionsko t (R) Red ukt ion kost+ Trai ning (R+T) R vs.
R+
vor nach Ände- vor nach Ände-
Therap ie Therapie rung Therap ie Therapie rung
meist nur bei familiären oder anderen For- gen. Liegen jedoch bei Frauen und Männern
men des Fettstoffwechsels notwendig. gleiche Gewichtsreduktionen vor, verschwin-
det die Geschlechtsdifferenz (Wirth 1995c).
Gesamt- und LDL-Cholesterin
Wird das Körpergewicht mit Hilfe einer Re- Triglyzeride
duktionskost um 10 kg vermindert, was in Die meisten Autoren berichten, daß die pro-
vielen Studien mit ca. 4wöchiger Dauer der zentualen Veränderungen bei den Triglyzeri-
Fall war, sinken Gesamt- und LDL-Choleste- den im Vergleich zu anderen Lipiden am
rin um 25-30% (Tabelle 7.1; Wechsler 1981b; deutlichsten sind (Tabelle 7.1); ein Abfall auf
Wirth 1986b). Die Verwendung von Formel- etwa die Hälfte der Ausgangskonzentration
diäten beinhaltet eine extreme Fettreduk- ist nicht selten (Friedman et al. 1982). Nicht
tion, der Einsatz von Mischkost meist nicht nur die Konzentration der VLD-Triglyzeride
nur eine Fettreduktion, sondern auch eine nimmt ab, sondern der Triglyzeridgehalt
Fettmodifikation. Versucht man durch un- aller Lipoproteine (Wechsler et al. 1981b).
terschiedliche Diätformen den spezifischen Ebenso wie beim Cholesterin ist die diätbe-
Effekt des Energiedefizits zu eruieren, dingte Senkung der Serumkonzentration
kommt man zu dem Schluß, daß der Ge- von der Ausgangskonzentration abhängig
wichtsverlust einen Anteil von etwa 50-70% (Tabelle 7.2; Olefsky et al. 1974). Wie bei je-
am Abfall vom Gesamt- und LDL-Choleste- dem Serumbestandteil, kann die Adaptation
rin hat (Leenen et al. 1993). durch eine Änderung der Sekretion oder der
Elimination bedingt sein. Einig ist man sich
HDL-Cholesterin dahingehend, daß beim Fasten oder unter
Veränderungen des HOL-Cholesterins unter einer Reduktionskost v. a. die hepatische
einer Reduktionskost waren lange Zeit ver- Triglyzeridproduktion vermindert ist (Abb.
wirrend und widersprüchlich berichtet wor- 7.22). Auch die Elimination von Triglyzeri-
den, bis man einen hipbasischen Verlauf aus- den wurde mit Hilfe eines Fetttoleranztests
machte. Beim Fasten oder unter einer hypo- unter i.v. -Gabe von Intralipid untersucht; so-
kalorischen Kost mit einem Energiedefizit wohl Fasten als auch eine Reduktionskost
von etwa > 1000 kcal/Tag fällt das HOL-Cho- verbessern diese (Huttunen et al. 1975, Wirth
lesterin ab (Tabelle 7.1). In der Phase der Ge- et al. 1985b).
wichtskonstanz (Friedman et al. 1982; Wing
u. Jeffrey 1995) oder bei geringem Energie- Lipoproteinlipase
defizit hingegen steigt es an (Wood et al. Für die beschleunigte Elimination von Tri-
1988). Oft wurde beobachtet, daß Frauen und glyzeriden nach Gewichtsreduktion ist die
Männer divergierende Veränderungen zei- Lipoproteinlipase verantwortlich. Die En-
Tabelle 7.2. Abnahme von Triglyzeriden und Ge- dämie vor und nach einer 4monatigen Reduktions-
samtcholesterin in Abhängigkeit der Ausgangskon- kost; Gewichtsabnahme 11 kg. (Nach Olefsky et al.
zentration bei 36 Patienten mit und ohne Hyperlipi- 1974)
-
.c
~
Cl
Cl
18
16
Analog zur Abnahme des LDL-Cholester-
ins nimmt auch das Apoprotein B ab. Ähn-
lich verhält es sich mit dem Apoprotein Al
E 14 und dem HOL-Cholesterin.
..
c::
0
.:.::
::I
12
10 Bewegungstherapie
"...
0
II.
8 Durch ein Training lassen sich Lipide, Lipo-
proteine und Apoproteine günstig beeinflus-
6 sen; die Effekte sind vergleichbar mit denen
.
(,!)
1- 4 bei Nichtadipösen.47 mäßig adipöse Männer
...J mit einem Gesamtcholesterin <8,28 mmol/1
Q 2
...J und Triglyzeriden <5,65 mmol/1 joggten
> 0 1 Jahr lang 15-19 km pro Woche. Danach
Abb. 7.22. Abnahme der Triglyzeridproduktion der waren die Triglyzeride signifikant ernied-
Leber bei 36 adipösen nichtinsulinpflichtigen Diabe- rigt und das HDL 2 - sowie das HDL 3 -Cho-
tikern nach einer Gewichtsreduktion von 11 kg inner- lesterin deutlich erhöht. Die Lipidverände-
halb von 2-10 Monaten. (Nach Olefsky et al. 1974)
rungen waren hinsichtlich Art und Ausmaß
vergleichbar mit denen einer hypokalori-
zymaktivität in einzelnen Geweben wurde schen Kost; diese reduzierte in der gleichen
früher unterschiedlich berichtet (Huttunen Zeit das Gewicht um 7,8 kg (Wood et al.
et al. 1975}. Neuerdings ist man sich weit- 1988).
gehend einig, daß durch Gewichtsreduktion
eine gesteigerte Expression und Aktivität der
LPL sowohl im Fettgewebe als auch im Plas- Die Lipidveränderungen bei Adipositas lassen
ma (nach Heparininjektion) vorliegt (Ecke! sich durch eine Gewichtsreduktion fast immer
u. Yost 1987; Kernet al. 1990). Das hat nicht beseitigen; optimal ist eine Kombination aus
nur eine verstärkte Klärung des Serums von Reduktionskost plus Ausdauertraining.
triglyzeridreichen Lipoproteinen zur Folge,
sondern auch deren beschleunigten Einbau
in das Fettgewebe mit Erschwernis der Ge-
wichtsreduktion (s. Abschn. 6.6.1). Adipösen sollte man aufgrund ihrer redu-
zierten Mobilität zur Behandlung ihrer FeH-
Freie Fettsäuren und freies Glyzerin stoffwechselstörung nicht ein Ausdauertrai-
Bedingt durch das Energiedefizit und den ning allein, sondern immer kombiniert mit
beschleunigten Abbau von Depotfettrigly- einer Reduktionskost empfehlen. Behandelt
zeriden zur Gewährleistung der Energiever- man Adipöse mit Diät plus Training, sieht
sorgung sind im Serum auch die Spaltpro- man deutlichere Auswirkungen. Insbesonde-
dukte freie Fettsäuren und freies Glyzerin re stellt man fest, daß unter dieser Therapie
erhöht. Ob es sich hierbei um einen wün- auch das Gesamtcholesterin und LOL-Cho-
schenswerten oder gesundheitsgefährden- Iesterin um 20-30% abfallen (Ratzmann et
den Zustand handelt, ist bisher nicht beur- al. 1981; Wirth et al. 1986b; Tabelle 7.1). Das
teilbar. Ketogene (kohlenhydratarme) Kost- HOL-Cholesterin fällt üblicherweise bei
formen führen aufgrundder drastischen Ab- unterkalorischer Ernährung ab; bei gleich-
nahme des Insulins und der dadurch weitge- zeitigem Training bleibt es auch bei rascher
hend ungehinderten Lipolyse zu erhöhten Gewichtsreduktion konstant (Wirth et al.
Plasmaspiegeln beider Substrate. 1989b}. Bei längerer Behandlung steigt das
168 KAPITEL 7 Assoziierte Krankheiten
20
16
~
BMl > 26 kg/m 2
.~c: .s::
....,
0
Cl CD c 12
·~ 0c:
w ~
Q) ~
c 0
0 8
'2 0
~ ä 4
0
normaleTG entweder hohe TG sowohl hohe TG
normales HDL-C oder nledr. HDL-C als auch niedr. HDL-C
• Gemflbrozil D Placebo
Abb. 7.24. Reduktion von kardialen Ereignissen bei + niedriges HOL-Cholesterin) reduzierte Gemfibro-
Personen mit einem BMI >26 kglm2 in der HELSIN- zil (Fibrat) die kardialen Ereignisse auf ein Viertel.
KI HEART STUDY. Beim Vorliegen eines metaboli- (Aus Tenkanen et al. 1995)
schen Syndroms (Adipositas+ Hypertriglyzeridämie
7.4 Gerinnung 169
IWHR I Männer I
-:c-- ---
460 460
:c
440 440
C) 420 C) 420
.§. 400 .§. 400
1: 1:
Cl) 380 Cl) 380
C) C)
0 360 0 360
1: 1:
·;:: 340 ·;:: 340
.Cl .Cl 25 ·«Jahre
ii: 320 ii: 320
300 300
<0. 90 0.90..0.99 >1.00 <24 24·29.9 >30 kglm'
gynoid android schlank übergewichtig adipös
Abb. 7.25. Relation des Fibrinogenspiegels zur WHR bei Männern (links) und zum BMI bei Frauen (rechts) im
MONICA-Projekt Augsburg. (Nach Krobot 1992)
7.4 Gerinnung 171
FAZIT
Relatives Risiko
0
<23 23-25.9 26- 28.9 29-31.9 32•
BMI (kg/m 2 )
Abb. 7 .26. Hypertonierisiko (relatives) bei 111.686 Frauen der Nurses' Health Study im Alter von 30-55 Jahren
in Abhängigkeit vom BMI. (Nach Colditz 1992)
7.5 Adipöse Hypertonie und Kardiomyopathie bei Adipositas 173
Ventrikels sowie des Schlagvolumens be- Die Adipositas führt häufig zur linksven-
dingt eine"Verschiebung" auf der FRANK- trikulären Dilatation und Hypertrophie -
STARLING-Kurve nach rechts, was langfri- auch ohne Hypertonie.
stig häufig zu einer Dilatation führt; das
linksventrikuläre enddiastolische Volumen 7.5.2
nimmt zu und damit die "preload". Eine Ex- Hämodynamische, morphologische
pansion des linksventrikulären Volumens und funktionelle Adaptationen
wiederum erhöht den "wallstress" und die
Kontraktilität. Hämodynamische Anpassungen
Bei lang andauernder Adipositas ist der
periphere Widerstand meist erhöht; mögli- Adipöse haben nicht nur eine größere Fett-
cherweise sind kardiale Adaptationen mit masse, sondern auch mehr Skelettmuskula-
endokrin-metabolischer Auswirkung dafür tur. Erhöht sich das Körpergewicht um 10 kg,
verantwortlich. Die Folge davon ist eine Er- nimmt die Muskelmasse um ca. 3 kg zu. Die-
höhung des Blutdrucks, der "afterload". Wie se Adaptation führt, da die zusätzliche Zell-
bei der Hypertonie ist die kardiovaskuläre masse mit Sauerstoff versorgt werden muß
Reserve durch eine Zunahme der Muskel- und die arteriovenöse Sauerstoffdifferenz
masse gewährleistet; es hat sich eine Hyper- unverändert bleibt, zu einer Erhöhung der
trophie ausgebildet. Im Unterschied zur hy- Gesamtkörperhämoglobinmasse und damit
pertensiven Herzkrankheit ist jedoch das des Blutvolumens; das intravaskuläre Volu-
Verhältnis von Wandstärke zum Ventrikel- men expandiert (Tabelle 7.4). Das vermehrte
durchmesser nicht erhöht. Was die Häufig- Blutangebot steigert die Füllung des Ventri-
keit der LV-Hypertrophie betrifft, kann man kels und erhöht die Vorlast ("preload"); über
davon ausgehen, daß bei mehr als 50% aller den STARLING-Mechanismus wird das
Adipösen eine Hypertrophie besteht, wenn Schlagvolumen gesteigert. Da Adipöse einen
sie mehr als 50% Übergewicht haben (Ale- erhöhten Sympathikotonus und damit eine
xander 1991). leicht gesteigerte Herzfrequenz haben,
Tabelle 7.4. Hämodynamische, morphologische und b:lw. erheblich erhöht, J, gelegentlich bzw. leicht, H
funktionelle Adaptationen bei Adipösen und Hyper- oft bzw. mäßig, J.H häufig bzw. erheblich erniedrigt.
tonikern sowie Adipösen mit Hypertonie. I gele- LV linker Ventrikel, R V rechter Ventrikel
gentlich bzw. leicht, II oft bzw. mäßig, 111 häufig
Herzfrequenz i i
Blutvolumen ii ii
Schlagvolumen ii ii
Herzminutenvolumen ii ii
Widerstand im großen Kreislauf .1.-i (i) i
Widerstand im kleinen Kreislauf i i
Blutdruck ii iii
Linker Vorhof vergrößert i i
Linker Ventrikel vergrößert i ii
LV systolische Funktion .J. .J, .J..J.
LV diastolische Funktion .J..J. u. .J..J..J.
LV Muskelmasse i (exzentrisch) i (konzentrisch) i i (hybrid)
Rechter Ventrikel vergrößert i ii
RV Funktion .J. .J.
176 KAPITEL 7 Assoziierte Krankheiten
nimmt das Herzminutenvolumen aufgrund diese Veränderungen Ursache für die Sym-
beider veränderter Mechanismen zu. Steigt ptomatik waren. Heute wissen wir, daß die
das Körpergewicht um das Doppelte bis zu Beginn dieses Jahrhunderts häufig dia-
Dreifache an, werden Blutvolumen und gnostizierte und in vielen Büchern noch oft
Herzminutenvolumen verdoppelt (Alexan- erwähnte Lipomatosis cordis mit fettiger
der 1991). Unter körperlicher Belastung sind Myokardinfiltration und Umwandlung des
die genannten Veränderungen im Vergleich interstitiellen Bindegewebes in Fettgewebe
zu Normalgewichtigen deutlicher als in Ru- nur bei ca. 3% der Adipösen vorkommt.
he. Schlagvolumenindex und Cardiac Index Häufiger hingegen wird eine Hypertro-
sind bei Adipösen jedoch normal. phie mit oder ohne Dilatation des linken,
Das erhöhte Herzminutenvolumen führt manchmal auch des rechten Ventrikels beob-
in der Regel nicht zu einer Hypertonie, da achtet. Warnes u. Roberts (1984) sezierten 12
der systemische Gefäßwiderstand erniedrigt massiv Adipöse mit mehr als 136 kg und fan-
oder normal ist. Besteht die Adipositas über den eine Hypertrophie bei allen Herzen (Ge-
mehrere Jahre, nimmt der Gefäßwiderstand wicht 380-990 g). Verdickt waren die Wände
bei vielen Patienten zu; es manifestiert sich sowohl des linken als auch des rechten Ven-
eine Hypertonie. Als widerstandserhöhende trikels. Eine Dilatation des rechten Ventrikels
Mechanismen werden diskutiert: war in allen Fällen, eine Dilatation des linken
bei 11 Herzen nachweisbar. Diese Beobach-
• erhöhte sympathische Aktivität,
tungen sind inzwischen vielfach bestätigt
• gesteigerte Ansprechbarkeit auf Insulin,
worden.
• Hypoventilation,
Das vermehrte Blutvolumen und die kon-
• Hypoxie.
sekutive Steigerung des Herzminutenvolu-
Nicht nur der periphere Blutdruck kann bei mens führt zu strukturellen Veränderungen.
Adipösen erhöht sein, sondern auch der pul- Die vermehrte linksventrikuläre Füllung be-
monalarterielle Druck. DeDiviitis et al. wirkt eine Ventrikeldilatation und erhöht die
(1981) fanden mittels Rechts- und Linkska- Wandspannung. Diese Anpassung stimuliert
theterisierung bei Adipösen eine leichte Er- mit der Zeit eine Hypertrophie, wodurch die
höhung des pulmonalarteriellen und pulmo- LVM erhöht und die Wandspannung wieder
nalkapillären sowie des linksventrikulären normalisiert wird (Abb. 7.28b ). Bei alleiniger
enddiastolischen Druckes. Der pulmonale Adipositas entwickelt sich üblicherweise ei-
Gefäßwiderstand und der maximale LV ne exzentrische LVH; besteht gleichzeitig ei-
dP/dt waren unauffällig. ne Hypertonie, kann es primär zu einer kon-
zentrischen oder exzentrischen Hypertro-
phie kommen (Gottdiener et al. 1994). Der
Herzmorphologie
vermehrten Myokardmasse liegt eine Hyper-
Bereits vor über 60 Jahren haben Smith u. trophie der Myozyten, nicht eine Vermeh-
Willius ( 1933) von der Mayo Clinic in einer rung des intrakardialen Fettes oder intersti-
sorgfältigen Studie bei 136 Adipösen mit tiellen fibrösen Gewebes zugrunde (Duflou
einem durchschnittlichen Übergewicht von et al.1995). Mit zunehmender Dauer der Adi-
32 kg gravierende klinische Symptome fest- positas wird die Entstehung einer exzentri-
gestellt; 9 von ihnen litten offensichtlich an schen Hypertrophie wahrscheinlicher. Die-
einer Herzinsuffizienz. Autoptisch fanden ses Endstadium geht dann oft mit einer
die Autoren bei 95% exzessiv epikardiales Herzinsuffizienz einher.
Fett, das z. T. in den rechten Ventrikel pene- Je nach Ausmaß und Dauer der Adipo-
trierte. Bei vielen sahen sie eine fettige Infil- sitas können sämtliche Herzhöhlen dilatiert
tration des Myokards und schlossen, daß sein: der linke Vorhof ( 10-40%, der linke
7.5 Adipöse Hypertonie und Kardiomyopathie bei Adipositas 177
Herzfunktion
Die Adipositas - mit und ohne Hypertonie - Dopplerechokardiographisch kann man ei-
kann sowohl die systolische als auch die dia- nen gestörten transmitralen Fluß feststellen.
stolische Funktion beeinträchtigen. Insbe- Bei normotensiven Adipösen ist die frühe
sondere bei extremer Adipositas, selten bei maximale Füllungszeit und das E/A-Verhält-
moderatem Übergewicht, ist die systolische nis negativ (r =- 0,93 bzw. -0,90 ) und die E-
Funktion beeinträchtigt. In Studien wurde Dezellerationshalbzeit positiv (r=0,83) mit
die systolische Funktion anband der Verkür- dem BMI korreliert. Die isovolumetrische
zungsfraktion bzw. der Ejektionsfraktion Relaxationszeit (IVRT) und die Präejekti-
mittels Echokardiographie, Radionuklidven- onsphase nehmen mit zunehmendem Ge-
trikulographie oder Angiographie beurteilt. wicht ebenfalls zu (Stoddard et al. 1992; Al-
Diese Parameter sind sämtlich negativ mit pert et al. 1995). Wahrscheinlich ist die IVRT
dem BMI und der Dauer der Adipositas kor- ein sensitiverer Index für die diastolische
reliert (DeDiviitis et al. 1981; Licata et al. Funktion bei Adipösen als die Füllungsge-
1991). Liegt gleichzeitig eine LVH vor, sind schwindigkeiten.
Funktionsbeeinträchtigungen bis zur mani-
festen Herzinsuffizienz häufiger. Besteht eine
Renale Hämodynamik
extreme Adipositas 25 Jahre lang, beträgt die
Wahrscheinlichkeit einer Herzinsuffizienz Neuere Untersuchungen sprechen dafür, daß
93% (Abb. 7.29; Alpert et al. 1997). Unter Be- auch die renale Funktion und Hämodyna-
lastung nimmt bei gesunden Probanden die mik bei der adipositas-assoziierten Hyper-
Ejektionsfraktion zu, bei adipösen Patienten tonie verändert ist. Beim Vergleich von 64
mit erhöhter LVM nimmt sie jedoch ab; die Adipösen mit 20 Schlanken wurde festge-
kardiale Reserve von Adipösen ist erniedrigt stellt, daß der effektive renale Plasma- und
(Alpert et al. 1991). Blutfluß (Tc-99 m DTPA und !131 Hippur)
Häufiger als die systolische ist die diasto- besonders bei den zentral Adipösen ernied-
lische Funktion bei Adipösen beeinträchtigt. rigt und die Plasmareninaktivität erhöht war
178 KAPITEL 7 Assoziierte Krankheiten
(Scaglione et al. 1995). Der renale vaskuläre ist wahrscheinlich auch das Renin-Angioten-
Widerstand war bei Adipösen mit abdomi- sin-Aldosteron-System. Stellen sich weitere
naler Fettakkumulation jedoch höher als bei Krankheiten wie ein Schlafapnoesyndrom
peripherer Fettverteilung oder bei schlanken oder ein Diabetes ein, spielen zusätzliche
Personen. Durch eine multiple Regressions- Mechanismen eine pathogenetische Rolle.
analyse konnte gezeigt werden, daß der rena-
le vaskuläre Widerstand mit der WHR und
Insulinresistenz und Hyperinsulinämie
Plasmareninaktivität korrelierte, nicht je-
doch mit Insulin und dem Schlagvolumen. Bereits in den 60er Jahren äußerte Dieterle et
Die glomeruläre Filtrationsrate und die Fil- al. ( 1967} die Vermutung, daß die Hypertonie
trationsfraktion waren durch die Adipositas mit einer Hyperinsulinämie vergesellschaf-
unbeeinflußt. Die Autoren schlossen aus die- tet ist. Erst 1987 haben Ferrannini et al.
ser Untersuchung, daß möglicherweise be- (1987} den Beweis für eine Insulinresistenz
reits in einem frühen Stadium der adiposita- mit konsekutiver Hyperinsulinämie er-
sinduzierten Hypertonie renale Mechanis- bracht. Folgende insulinvermittelte Mecha-
men eine Rolle spielen. nismen erklären die Hypertonie:
• erhöhte Natriumretention,
7.5.3
• Natrium- und Kalziumakkumulation,
Pathogenese der adipositas-assoziierten
• Änderung der Gefäßstruktur und -funk-
Hypertonie
tion,
• erhöhtes Herzminutenvolumen
Der exakte Mechanismus, weshalb etwa je-
(Abb. 7.30).
der 2. Adipöse eine Hypertonie im Laufe sei-
nes Lebens entwickelt, ist unklar. Man geht Dieses Konzept wurde mehrfach in Frage ge-
davon aus, daß vor allem die Insulinresistenz stellt, da ein Insulinom üblicherweise nicht
mit konsekutiver Hyperinsulinämie und Sti- zu einer Hypertonie führt, die akute Applika-
mulation des sympathischen Nervensystems tion von Insulin beim Hund eine Blutdruck-
eine wesentliche Rolle spielt. Von Wichtigkeit senkung bewirkt und die Langzeitwirkung
Abdominale Adipositas
Insulinresistenz
+
glatten Muskelzellen mulation Herzminuten-
"'
volumen
"'
Lumeneinenguno Erhöhte Empfindlichkeit
für pressorische Effekte
Flüssigkeits-
expanslon
Abb. 7.30. Insulinvermittelte Mechanismen der Entstehung einer Hypertonie bei abdominaler Adipositas bzw.
einer Insulinresistenz
7.5 Adipöse Hypertonie und Kardiomyopathie bei Adipositas 179
von Insulin weitgehend unbekannt ist (Hall der Nachweis, daß die Insulinresistenz bei
et al. 1992, 1994). adipösen Hypertonikern noch deutlicher
ausgeprägt ist als bei normalgewichtigen
Plasmainsulin Personen mit Bluthochdruck (Pollare et al.
Umfassende Daten über Plasmainsulin und 1990). Vergleicht man Normalgewichtige mit
Blutdruck liegen in der SAN ANTONIO hypertensiven Adipösen, stellt man eine Re-
HEART STUDY (Mitchell et al. 1990) vor. duktion der Glukoseverwertung um 41%
2.930 Männerund Frauen wurden hinsicht- fest. Zwischen dem systolischen Blutdruck
lich kardiovaskulärer Risikofaktoren ge- und der Glukoseverwertung ergab sich eine
screent, u. a. wurde eine orale Glukosebela- Korrelation von r =- 0,42.
stung herbeigeführt. Eine Hyperinsulinämie Die Insulinresistenz ist auch mit der
wurde angenommen, wenn die Insulinkon- linksventrikulären Muskelmasse verknüpft.
zentration nüchtern >30 flU/ml und 2 h Sasson et al. (1993) untersuchten 40 normo-
postprandial >200 f.LU/mllag. Personen mit tensive Adipöse echokardiographisch und
einer Hyperinsulinämie wiesen doppelt so mittels i. v.-Glukosebelastung. Parameter des
häufig eine Hypertonie auf wie solche mit Insulins und der Glukoseverwertung korre-
einer Normoinsulinämie. 80% der Adipösen lierten positiv mit der LV-Masse (Abb. 7.31).
hatten eine Glukoseintoleranz und 67% der
Hypertensiven waren sowohl adipös als auch Natriumretention
diabetisch. Zu einem ähnlichen Ergebnis Es ist seit langem bekannt, daß der Gesamt-
kommt man mit Hilfe einer i.v.-Glukosebela- körpernatriumgehalt bei Diabetikern und
stung. Poilare et al. ( 1990) verglichen 3 Grup- Adipösen erhöht ist. Zudem weiß man seit
pen: normotensiv-normalgewichtige, hyper- Jahrzehnten, daß die Zufuhr von Kohlenhy-
tensiv-normalgewichtige und hypertensiv- draten zu einer Natriumretention führt; Fa-
adipöse. Die hypertensiv-adipöse Gruppe sten vermindert den Natriumgehalt und
hatte die höchsten basalen und glukosesti- senkt den Blutdruck. Auch bei Diabetikern
mulierten Insulinspiegel, aber auch die hy- im Insulinmangelzustand kommt es zu einer
pertensiv-normalgewichtige Gruppe hatte Natriumflut Es ist das Verdienst von Defron-
erhöhte Insulinkonzentrationen im Ver- zo u. Ferrannini (1991), die renalen Wirkun-
gleich zur normotensiv-normalgewichtigen. gen von Insulin eruiert und Insulin in den
Mittelpunkt dieser Adaptation gestellt zu ha-
ben (Abb. 7.30). Insulininfusionen führen zu
Die chronische Hyperinsulinämie trägt über meh- einer verstärkten Rückresorption im dista-
rere Mechanismen wesentlich zur Hypertonie bei. len Nierentubulus und damit zu einer Na-
triumretention mit Volumenexpansion und
konsekutiver Hypertonie.
--
150
E
C)
Q)
~ 100
-
.....
(!)
Q)
~ 50
ro
::2:
I
:::i
0 Insulin Insulin Insulin K Wert
(nüchtern) (90 Min.) (Integration)
ist eine Vasokonstriktion mit Erhöhung des mitogene Wirkung. Es stimuliert die Prolife-
peripheren Widerstandes und Blutdruckan- ration von glatten Muskelzellen; die Wirkung
stieg (DeFronzo u. Ferrannini 1991). ist dosisabhängig (Pfeifle u. Ditschuneit
Die Na+-K+-ATPase ist ein insulinregu- 1981). Dieser Effekt wird möglicherweise
liertes Enzym und bewirkt den Ausstrom über den "insulin-like growth factor" (IGF-1)
von Natrium aus der Zelle im Austausch mit vermittelt; IGF-1-Rezeptoren sind in Blutge-
Kalium im Verhältnis 3:2. Bei Insulinresi- fäßen nachgewiesen. IGF-1 erhöht den Ge-
stenz kommt es zu einer intrazellulären Na- halt von DNS, Kollagen, Protein und die An-
triumakkumulation (Weidmann u. Ferrari zahl von Monozyten (DeFronzon Ferrannini
1991). Insulin stimuliert auch den Na+-H+- 1991). Eine Rolle spielt wahrscheinlich auch
Gegentransport. Diese Regulation unterliegt der"platelet derived growth factor" (PDGF;
nicht der Insulinresistenz, so daß eine Hy- Müller-Wielandet al.1990).
perinsulinämie zu einer intrazellulären Na- Möglicherweise liegt bei Adipösen auch
triumakkumulation und zu einer Alkalose eine endotheliale Dysfunktion vor. Kürzlich
führt (DeFronzo u. Ferrannini 1991). Eine wurde gezeigt, daß das Plasmaendothelin bei
Alkalose erhöht die Kontraktilität der glatten Adipösen erhöht ist und mit dem mittleren
Muskelzellen und stimuliert das Wachstum Blutdruck korreliert (r=0,48; Parrinello et
in Gefäßwandzellen. Zu einer intrazellulären al. 1996).
Kalziumanhäufung kommt es, da Insulin die
Ca2 +-Mg2 +-ATPase hemmt.
Bei der Entstehung der adipösen Hypertonie
Gefäßstruktur und Gefäßfunktion spielen nicht nur hämodynamische, sondern
Insulin begünstigt die Hypertrophie der Ge- auch metabolische Faktoren eine Rolle.
fäßwand mit Lumeneinengung durch seine
7.5 Adipöse Hypertonie und Kardiamyopathie bei Adipositas 181
r Abdominal~Adipositas ~
(RAAS)
Wiederholt ist gezeigt worden, daß bei Adi-
p?sen eine Stimulation des RAAS vorliegt;
d1eses Phänomen ist bei abdominal Adipö-
Thermo-
genese
r----~
+-0-- .I NAHRUNG 1. --{!)-+ lns.ulin- sen besonders ausgeprägt und hängt mögli-
Resistenz
cherweise mit der Hyperinsulinämie oder
\ _ Sympa:.
Nervensystem
~ +
:per-
lnsulinämie
.J mit einem erniedrigten renalen Blutfluß zu-
sammen (Scaglione et al. 1995). Unter Ge-
wichtsreduktion kommt es zu einem Abfall
tt
I der Reninaktivität sowie der Plasmakonzen-
f
Gefäße
t tration von Aldosteron; dieser Effekt ist
möglicherweise durch die verminderte sym-
t
Herz Nieren
pathische Aktivität verursacht (Daly u.
Vaso-
t
Herzminu-
t
Na'-
Landsberg 1991).
Das Fettgewebe ist neben der Leber die
konstriktion tenvolumen Retention Hauptquelle für die Produktion und Sekre-
tion von Angiotensinogen; die Expression
wird nutritiv reguliert. Im Fettgewebe wird
Blutdruck
Angiotensinogen in das aktive Angioten-
sin-11 transformiert (Löffler 1997). Einzel-
!.
Abb. .32. SJ?llpathisches Nervensystem: Zusam- heiten sind in Abschn. 6.4.2 dargestellt.
Il!enhange z~schen Nahrungsaufnahme, Insulinre-
sist~nz, Hyp~rmsulinämie, Thermogenese und Herz-
Kreislauf-Wirkungen.+ Stimulation;- Hemmung
182 KAPITEL 7 Assozüerte Krankheiten
95
90 ~
:Eu
85 ·~ 85
(!)
80 ~~~LLLL~~LL~~~~~
Baseline 1 5 10 15 Follow·up
Behandlungsdauer (Wochen) Behandlungsdauer (Wochen)
Abb. 7.33. Abnahme des Blutdrucks unter einer 4monatigen Reduktionskost bei Patienten mit (rechts) und
...
ohne (links) Diätcompliance. (Aus Schotte u. Stunkard 1990)
-30
•
-0.6 -0.3 0
6. viszerales I subkutanes Fett
reduktionnimmt die bei Adipösen häufig er- tionskost ab. Die Abnahme der Reninakti-
höhte Salzempfindlichkeit ab (Rocchini et al. vität ist positiv mit der Gewichtsabnahme
1989). korreliert (r=0,58), sie sinkt auf etwa die
Hälfte der Ausgangskonzentration (Tuck et
Insulin al. 1981).
Unter einer Reduktionskost sinken die Plas- Viele Autoren gehen heute davon aus, daß
mainsulinspiegel aufgrund einer besseren die hormonelle Adaptation unter Reduk-
Insulinwirksamkeit (s. Abschn. 7.2.3). übli- tionskost mit Besserung bzw. Beseitigung
cherweise geht die Konzentration auf etwa der Hyperinsulinämie, des Hyperaldostero-
die Hälfte des Ausgangswerts zurück. Das nismus und Dämpfung der sympathischen
Verschwinden der häufig bestehenden Hy- Aktivität die Hauptmechanismen der Blut-
perinsulinämie hat Auswirkungen auf die drucksenkung sind.
Empfindlichkeit der Gefäßwand für presso-
rische Effekte, über eine Dämpfung des sym- Größenabnahme von Herzkavitäten
pathischen Nervensystems werden zudem Eine Gewichtsabnahme führt zu einer deut-
der Gefäßtonus und das Herzminutenvolu- lichen Verbesserung verschiedener kardialer
men herabgesetzt (s. oben). Funktionsparameter. Nach einer vertikalen
Gastroplastik haben Alpert et al. (1985) mas-
Sympathische Aktivität siv Adipöse nach einer Gewichtsabnahme
Bei unterkalorischer Ernährung und beim von 135 auf 79 kg echokardiographisch un-
Fasten sinken die Noradrenalinspiegel, wie tersucht. Die LV-Dimensionen nahmen deut-
schon Landsberg u.a. Young (1985) in den lich ab, und die Verkürzungsfraktion verbes-
70er Jahren gezeigt haben. Die Dämpfung serte sich von 22 auf 31%. Der linksventri-
der sympathischen Aktivität erklärt nicht kuläre Durchmesser nahm endsystolisch von
nur die Blutdrucksenkung, sondern auch die 3,7 auf 3,2 cm und enddiastolisch von 5,4 auf
Abnahme der Herzfrequenz unter Reduk- 4,9 cm ab. War der linke Ventrikel vor der
tionskost. Therapie dilatiert, was bei 38% der Patienten
der Fall war, verringerten sich die Diameter
Renin-Angiotensin-Aldosteron-System von 4,7 auf 3,5 cm bzw. von 6,0 auf 5,1 cm.
Die Aldosteronkonzentration im Plasma und Der endsystolische Durchmesser nimmt un-
die Reninaktivität nehmen unter Reduk- ter einer Reduktionskost meist mehr ab als
7.5 Adipöse Hypertonie und Kardiamyopathie bei Adipositas 185
der enddiastolische, auch wenn primär keine kürzungsfraktion ein (Alpert et al. 1997).
Dilatation besteht. Die Verringerung der LV- Nach Gewichtsreduktion von 9,6 kg findet
Durchmesser ist mit der Gewichtsabnahme man bei Adipösen eine Zunahme der Ejek-
korreliert, nicht jedoch mit der Abnahme des tionsfraktion mittels Radionuklidventriku-
Blutdrucks. Dies legt die Vermutung nahe, lographie unter Belastung, was vor der The-
daß nicht die Afterload-Reduktion für diese rapie nicht feststellbar war (DasGupta et al.
Veränderung verantwortlich ist, sondern an- 1992).
dere Mechanismen in Frage kommen (z. B. Die diastolische Funktion bessert sich un-
metabolische). Liegt eine Pumpschwäche ter Gewichtsreduktion deutlicher als die sy-
vor, ist die Abnahme des endsystolischen stolische. Eine Abnahme des Körpergewichts
Diameters in der Regel wesentlich ausge- um 35% durch Gastroplastik reduzierte die
prägter als die Veränderung des enddia- E-Dezelerationszeit und das E/A-Verhältnis
stolischen; die Folge davon ist eine Zunah- erheblich (Alpert et al. 1997). Ebenso nimmt
me der Verkürzungsfraktion (Alpert et al. die isovolumetrische Relaxationszeit ab
1985). (Wirth u. Kanel1999) .
Tabelle 7.5. Änderung von linksventrikulären Para- Reduktionskost oder Metoprolol (** signifikante
metern bei adipösen Jugendlichen mit einer Hyper- therapiebedingte Differenz von p >0,002). (Nach
tonie vor und nach einer 2lwöchigen Therapie mit MacMahon et al. 1986)
Reduktionskost Metoprolol
( 1.000 kcai!Tag) (2mal100 mg!Tag)
rechnete sich eine Reduktion der Muskel- druckreduktion zu erwarten. Eine Gewichts-
masse um 20%. Änderungen der kardialen reduktion von 9 kg reduzierte den systoli-
Parameter waren mit Änderungen des Kör- schen Blutdruck um 14, den diastolischen
pergewichts, nicht jedoch mit denen des um 4 mmHg. Wurde gleichzeitig ein Aus-
Blutdrucks korreliert. Diese Beobachtung dauertraining durchgeführt, sank der systo-
legt den Schluß nahe, daß für die Abnahme lische Blutdruck um 17 und der diastolische
der LVM nicht die Abnahme der Afterload um 11 mm Hg.
hauptverantwortlich ist, sondern vermutlich
andere Mechanismen (z.B. Insulin, PGF-I). Belastungsblutdruck
Man kann davon ausgehen, daß eine Ge- Klinische Bedeutung hat nicht nur der Blut-
wichtsabnahme von 10 kg die LV-Muskel- druck in Ruhe, sondern auch der bei körper-
masse um ca. 40 g reduziert. licher und psychischer Belastung. Erfolgt
eine Belastung auf dem Fahrradergometer,
zeigt sich insbesondere bei kombinierter Re-
Durch Gewichtsreduktion sinkt nicht nur der duktionskost-Trainings-Therapie eine Ab-
Blutdruck, auch die linksventrikuläre nahme des Blutdrucks; bei 100 W für Frauen
Hypertrophie bildet sich zurück. und 150 W für Männer war der systolische
Blutdruck um 39 mmHg reduziert (Wirth et
al. 1986b; Abb. 7.35}. Auch das sog. Doppel-
produkt aus Herzfrequenz und systolischem
Blutdruck - ein Maß für den myokardialen
Bewegungstherapie
0 2 - Verbrauch - war nach Reduktionskost +
Ruheblutdruck Training um 22% niedriger, bei alleiniger Re-
Da ein körperliches Training, insbesondere duktionskost trat keine Änderung ein.
ein Ausdauertraining, eine ähnliche Wir- Wenngleich der Blutdruck unter Reduk-
kung auf die Insulinresistenz wie eine Re- tionskost bzw. Reduktionskost + Training
duktionskost (Koivisto et al. 1986; Wirth sinkt, tritt keine Dysregulation im Sinne
1985a) hat, ist bei kombinierter Therapie ei- einer Orthostase im Stehversuch auf (Wirth
ne additive Wirkung hinsichtlich der Blut- et al. 1986b ).
RR
1mm Hg )
240 240
200 200
160
....
~
160
·*····....:: .-::::::.*
120 120
• · · ·· · YOf'her
80 80
3
II . sl.
300 Kcal./ d .
Abb. 7.35. Abnahme des systolischen Blutdrucks bei fahrradergometrischer Belastung (Stufentest) unter einer
4wöchigen Reduktionskost ohne (links) und mit (rechts) Ausdauertraining. (Wirth et al. 1986b)
7.5 Adipöse Hypertonie und Kardiomyopathie bei Adipositase 187
Reduktionskost
Reduktionskost +Training
0.42 0.42
0.40 0.40
0.38 0.38
0.36 0.36
lii0.34 lii 0.34
~ 0.32 ~0.32
fb
0.30
0.28
a: 0.30
~0.28
4. 0.26
0.24 .... 0.26
0.24
0.22 0.22
0.20 0.20
0.18 0.18
0 4 Wochen 0 4 Wochen
PEP = Präejektionsperiode LVET = Linksventrikuläre Austreibungszeit
Abb. 7.36. Herzfunktion, beurteilt anhand der systo- ner Reduktionskost (800 kcaVTag) bzw. in Kombina-
lischen Zeitintervalle PEP/L VET bei Adipösen mit ei- tion mit einem Ausdauertraining. PEP Präejektions-
ner Grenzwert- bzw. Belastungshypertonie vor und periode, L VET linksventrikulär Austreibungszeit.
nach einer 4wöchigen Gewichtsreduktion mittels ei- (Aus Wirth u. Kröger 1995b)
Abb. 7.37. Linksventrikuläre Muskelmasse (LVM, tionskost (800 kcal!Tag, links) bzw. Reduktionskost
Echokardiographie) bei Adipösen mit einer Grenz- plus Ausdauertraining (rechts). (Aus Wirth u. Kröger
wert- bzw. Belastungshypertonie vor und nach einer 1995b)
4wöchigen Gewichtsreduktion mittels einer Reduk-
oder verschlimmern die Insulinresistenz. ter ß-Blocker deutlicher (24/18 mmHg) als
Wünschenswert wäre ein Pharmakon, das unter dem Kalziumantagonisten (18/10 mm-
nicht nur den Blutdruck senkt, sondern auch Hg). Diesen Unterschied kann man sich phy-
die Insulinresistenz verbessert. siologisch erklären. Adipöse haben, hämo-
dynamisch betrachtet, einen erhöhten Blut-
Diuretika druck aufgrund eines erhöhten Herzminu-
Insbesondere Thiazide haben negative Aus- tenvolumens bei gleichzeitig erniedrigtem
wirkungen hinsichtlich der Insulinresistenz. peripheren Widerstand. ß-Blocker senken
Poilare (Pollare et al. 1988a) führte nach den kardialen Antrieb, Kalziumantagonisten
4monatiger Behandlung mit 40 mg Hydro- senken den ohnehin oft erniedrigten Wider-
chlorothiazid eine Clamp-Studie durch und stand in der Peripherie.
stellte fest, daß die insulinstimulierte Gluko- ß-Blocker mit als auch ohne intrinsische
seaufnahme um 11 o/o reduziert und die Plas- Aktivität verschlechtern die Insulinwirkung
maspiegel von Insulin als Ausdruck einer zu- (Tabelle 7.6). Eine 6wöchige Behandlung mit
nehmenden Insulinresistenz um 31 o/o erhöht 2mal tgl. 100 mg Metoprolol und 2mal tgl.
waren. Was die Lipide betrifft, werden vor- 25 mg Atenolol reduzierte die periphere Glu-
wiegend die Triglyzeride und das HDL-Cho- koseaufnahme um 20o/o bzw. 13%, die basalen
lesterin negativ beeinflußt (Krone u. Nägele Insulin- und Glukosespiegel waren erhöht,
1988a). Indapamid hat keine negativen me- ebenso das HbA1 • Die Triglyzeride in der VLD-
tabolischen Auswirkungen. und LDL-Fraktion waren erhöht und HDL-
Cholesterin erniedrigt (Pollare 1989). ß-Blok-
ß-Blocker ker mit vasodilatierender Wirkung wie Celi-
Sehrnieder (1993) behandelte 42 adipöse Hy- prolol und Nevibolol zeigen diese negativen
pertoniker über 6 Wochen entweder mit 2mal Auswirkungen nicht. Hinzu kommt, daß ß-
tgl. 50-100 mg Metoprolol oder 2mal tgl. Blocker zur Gewichtszunahmeaufgrund meh-
2,5-5 mg Isradipin. Der Blutdruck sank un- rerer Mechanismen führen (s.Abschn. 5.4.2).
7.5 Adipöse Hypertonie und Kardiamyopathie bei Adipositas 189
Tabelle 7.6. Effekte verschiedener antihypertensiver Therapien auf kardiavaskuläre Risikofaktoren. ++ sehr
guter Effekt, +guter Effekt, ±kein Effekt, - negativer Effekt)
Blutdruck + + + + + + +
Glukosetoleranz - (+) ± (+) + ++
Plasmainsulin (+) ± (+) + ++
Insulinresistenz + ± + ++ ++
HOL-Cholesterin - + ± ± ± +
Triglyzeride + ± ± ++ ++
LD L-Cholesterin - ± (+) ± ± + +
Linksventrikuläre
Hypertrophie ± + + + + ++ ++
Körperliche
Leistungsfähigkeit± ± ± ± (- ) +
500
Männer 440
Frauen
cQ)
c
0 400
l!!
Q)
a..
0
0 300
0
N
cQ)
"·;:; 200
..5
~ 100
::E:
~
Relatives Gewicht(%)
Abb. 7.38. Inzidenz (Neuerkrankungsrate) der koro- 26jährigen Verlaufsbeobachtung der FRAMING-
naren Herzkrankheit in Abhängigkeit vom Körper- HAM-Studie. {Mod. nach Hubert et al. 1983)
gewicht und Alter bei Frauen und Männern in einer
192 KAPITEL 7 Assoziierte Krankheiten
nachweisbar. Was die erwähnten anderen Ri- um Frauen mit einem Gewicht in einem nor-
sikofaktoren betraf, so stieg die KHK-Inzi- malen Bereich handelte, nicht um extrem
denz mit zunehmendem Gewicht besonders Adipöse. Aufgrund der großen Studienpopu-
deutlich bei den Rauchern und den Diabeti- lation (115.818) konnte errechnet werden,
kern an. Tabelle 7.7listet alle bisherigen Stu- daß durch 1 kg Gewichtszunahme das KHK-
dien auf, in denen das Körpergewicht als un- Risiko um 3,1 o/o steigt. Betrachtet man die
abhängiger Risikofaktor ausgemacht wurde Gesamtinzidenz für ein KHK über alle Ge-
(Wolfram 1990). wichtsklassen, hatte das Übergewicht einen
Anteil von 37% an der Entwicklung einer
Koronarsklerose, bei Frauen mit einem BMI
Faktoren der Adipositas
>29 kg/m 2 betrug der Anteil des Überge-
bei koronarer Herzkrankheit
wichts gar 72%. Diese und andere Daten ha-
Gewichtsänderung ben die American Heart Association 1998
Eine Therapiestudie zur Prävention oder Be- veranlaßt, der Adipositas ein Risikopotential
handlung der KHK mit Hilfe einer Reduk- wie einer Fettstoffwechselstörung oder dem
tionskost liegt nicht vor. Will man Effekte der Rauchen zuzuschreiben (American Heart
Gewichtsänderung beurteilen, ist man daher Association 1998).
auf epidemiologische Untersuchungen ange-
wiesen. Die NURSES' HEALTH STUDY zeigt,
daß eine Gewichtszunahme von 5-8 kg seit Die Adipositas ist ein kardievaskulärer Risiko·
dem 18. Lebensjahr innerhalb von 14 Jahren faktorgleichbedeutend einer Hyperchole-
das KHK-Risiko um 64% erhöht. Frauen, die sterinämie und dem Zigarettenrauchen (AHA).
> 11 kg zugenommen hatten, verdoppelten
ihr Koronarrisiko (Abb. 7.39; Willet et al.
1995). Das Risiko für die Entwicklung einer
KHK war um so höher, je höher der BMI im Geschlecht
18. Lebensjahr lag. Diese Zahlen sind vor In der FRAMINGHAM-Studie konnte auf-
allem deshalb besorgniserregend, da es sich grund der langen Beobachtungszeit ein Ver-
Abb. 7.39. Änderung des Risikos für die Entstehung höherem Gewicht nahm das Koronarrisiko deutli-
einer koronaren Herzkrankheit in der NURSES' cher zu als bei solchen mit niedrigerem Gewicht.
HEALTH STUDY im "normalen" Gewichtsbereich (Aus Willet et al. 1995)
innerhalb von 14 Jahren. Bei Krankenschwestern mit
Tabelle 7.7. Epidemiologische Untersuchungen, deren Ergebnisse die Adipositas als unabhängigen Risikofaktor ausweisen. U Untersuchungen, F Fragebogen.
(Nach Wolfram 1990)
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194 KAPITEL 7 Assoziierte Krankheiten
gleich hinsichtlich der Abhängigkeit vom sentlich: sie lag bis ins höhere Alter bei ei-
Geschlecht gemacht werden (Hubert et al. nem BMI zwischen 21 und 25 kg/m 2 •
1983). Wenngleich die Inzidenz der KHK bei Von Bedeutung ist auch der altersmäßige
Männern etwa doppelt so hoch lag wie bei Beginn der Adipositas. Beginnt das Überge-
Frauen, war die Abhängigkeit vom Gewicht wicht in der Kindheit und Jugend, wirkt sich
bei Frauen stärker ausgeprägt als bei Män- das auf die Entstehung einer Koronarsklero-
nern; das traf sowohl für die <50jährigen als se erheblich aus. Hinzu kommt, daß ein ho-
auch für die >50jährigen zu (Abb. 7.38). Bei hes Gewicht in frühen Lebensjahren eine
jüngeren Frauen war die Inzidenz der KHK lange Dauer der Adipositas beinhaltet; es
und des Herzinfarktes bei Adipösen im Ver- wundert daher nicht, daß gerade bei solchen
gleich zu den Schlanken um das 2- bis 3fache Personen Organschäden besonders häufig
erhöht; bei Männern betrug die Differenz auftreten. Im "follow up" der RARWARD
"nur" knapp das Doppelte. GROWTH STUDY (Must et al. 1992) kam
In der NORWEGIAN EXPERIENCE das deutlich zum Ausdruck. 508 Jugendliche
(Waaler 1984) war die positive Korrelation im Alter zwischen 13 und 18 Jahren wurden
zwischen Gewicht und KHK ebenfalls nach- 1922-1935 in die Studie aufgenommen; nach
weisbar, der Zusammenhang bei Männern 55 Jahren erfolgte die Nachuntersuchung.
und Frauen ähnlich. Bei einer Adipositas mit Übergewicht in der Jugend war ein wesent-
einem BMI von 37 kg/m 2 war bei beiden Ge- lich wichtigerer Risikofaktor als Über-
schlechtern die KHK-Rate gut verdoppelt. gewicht im Erwachsenenalter. Das traf für
Die Adipositas ist nicht nur ein unabhän- kardiovaskuläre Krankheiten bei beiden Ge-
giger kardiovaskulärer Risikofaktor, sondern schlechtern zu.
auch die Ursache für eine Reihe anderer Risi-
kofaktoren. Hospitalisationsmortalität
Das Körpergewicht hat auch einen Einfluß
Alter auf den Verlauf des Herzinfarktes (Hoit
Neben dem Geschlecht ist auch das Alter 1987). 1760 Patienten mit einem akuten
ausschlaggebend dafür, ob sich aufgrund Herzinfarkt wurden entsprechend dem Ge-
von Übergewicht und Adipositas eine KHK wicht in normal, übergewichtig und adipös
entwickelt. Umfassende Daten dazu stellte die eingeteilt. Bei den >65jährigen betrug die
NORWEGIAN EXPERIENCE mit 1717513 Sterblichkeit 30% bei Adipösen, 13% bei
Personen zur Verfügung. Im Unterschied zu Übergewichtigen und 17% bei Normalge-
anderen Studien wurden Personen mit sehr wichtigen; bei den Jüngeren konnte dieser
unterschiedlichem Alter (15-90 Jahre) unter- Zusammenhang nicht nachgewiesen wer-
sucht. Im Beobachtungszeitraum von 10 Jah- den. In anderen Studien hingegen war die
ren starben 176.574 Personen. Die U-förmi- Hospitalisationsmortalität nicht vom Ge-
gen Kurven flachten ab dem 70. Lebensjahr wicht abhängig (Hubert et al. 1983).
erheblich ab; ab dem 80. Lebensjahr war we-
der bei Männern noch bei Frauen eine Bezie- Insulin
hung zwischen Gewicht und Sterblichkeit Epidemiologische Studien zeigen, daß mit
nachweisbar; das traf auch für den Herz- zunehmender Plasmainsulinkonzentration
infarkt und den plötzlichen Herztod zu. Die das Risiko für einen Herzinfarkt steigt. In
Abflachung der Kurven und die mangelnde der PARIS PROSPEKTIVE STUDY, einer Un-
Korrelation kann durch die übersterblich- tersuchung an 6.903 Beamten im Alter von
keit der Adipösen bedingt sein. Die niedrig- 43-54 Jahren und 15jähriger Beobachtungs-
ste Sterblichkeit bzw. Infarktrate hinsichtlich zeit, konnte dies überzeugend gezeigt wer-
des Gewichtes verschob sich jedoch unwe- den (Abb. 7.40).
7.6 Koronare, zerebrale und periphere Arteriosklerose 195
100 ~Töd
~-~I.~H~e-n~ln~~-~
--e-:-----------------------------------,
n = 108 n = 150 n = 190
Abb. 7.41. Inzidenz der koronaren Herzkrankheit in ne dünne Hautfalte liegt bei peripherer Adipositas,
Abhängigkeit vom Körpergewicht und der Fettver- eine dicke Hautfalte liegt bei zentraler Adipositas
teilung (subskapuläre Hautfaltendickemessung). Ei- vor. (Nach Donahue et al. 1987)
7.6 Koronare, zerebrale und periphere Arteriosklerose 197
bestätigten auch das nicht. Als man jedoch nen mittleren Alters, daß die sonographisch
damit begann, beim Studiendesign auf die gemessene Wanddicke am deutlichsten mit
Fettverteilung zu achten, kam man zu valide- der WHR korreliert war, ausgeprägter als mit
ren Ergebnissen (Abb. 7.42). Sie stammen dem BMI, dem Diabetes mellitus oder der
v. a. von der GÖTEBORG-Studie, in der Män- körperlichen Inaktivität (Folsom et al. 1994).
ner (Larsson 1984) und Frauen (Lapidus
1984) unter mehreren Aspekten mehrfach 7.6.3
nachuntersucht wurden. Bei der 18,5jährigen Periphere arterielle Verschlußkrankheit
Beobachtung von 792 Männern, 1913 gebo-
ren, erlitten 57 (7,2%) einen Apoplex. Die Adipöse weisen häufiger periphere Durch-
Schlaganfallrate stand klar mit dem Taille- blutungsstörungen (AVK) auf als Nicht-Adi-
Hüft-Verhältnis in Beziehung. Männer mit pöse. Dieser Unterschied ist durch begleiten-
abdominaler Adipositas erlitten mehr als de kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Dia-
doppelt so häufig einen Apoplex wie schlan- betes, Dyslipidämie und Hypertonie erklär-
ke Männer mit peripherer Fettverteilung. Ei- bar (Vogelberg 1975). Auch in anderen Un-
ne Multivarianzanalyse charakterisierte die tersuchungen konnte die Adipositas nicht als
Fettverteilung neben dem Blutdruck, dem eigenständiger Risikofaktor für die arterielle
Fibrinogen und einem Schlaganfall mütterli- Verschlußkrankheit ausgemacht werden (Hu-
cherseits als zerebrovaskulären Risikofaktor; bert et al. 1983). Diese Ergebnisse weisen -
für das Cholesterin, den Hämatokrit, die wie verschiedene andere Phänome - darauf
Glukose, das Rauchen, die KHK und den hin, daß das arterielle Strombett in den Ex-
BMI allein traf das nicht zu (Welin 1987). tremitäten etwas anderen pathophysiologi-
Auch die Wanddicke der A. carotis ist mit schen Mechanismen unterworfen ist als das
der WHR deutlich assoziiert. In der ATHE- kardiale und zerebrovaskuläre. Ob abdomi-
ROSCLEROSIS RISK IN COMMUNITIES nal Adipöse eine Präferenz für die AVK zei-
STUDY (ARIC) zeigte sich bei 158800 Perso- gen, ist nicht untersucht.
7.6.4
Besonderheiten der Diagnostik
bei kardiovaskulären Erkrankungen
Elektrokardiographie
Das EKG liefert bei Adipositas nicht sehr
häufig klinische Ergebnisse. Wegen der Ein-
fachheit und generellen Verfügbarkeit sollte
jedoch routinemäßig eine elektrokardiogra-
phische Untersuchung mit den üblichen Ex-
tremitäten- und Brustwandableitungen er-
folgen. Auf folgendes sollte man achten
(Frank et al. 1986; Drenick u. Fischer 1988):
• Rhythmus: Vorhofflimmern ist sehr sel-
ten, wenn auch häufiger als bei Normal-
personen.
Abb. 7.42. Apoplexrate in Abhängigkeit vom BMI • Ventrikuläre Extrasystolie: Ventrikuläre
und der Taille-Hüft-Relation in der GOTEBORG-
Studie bei 792 Männern innerhalb von 13 Jahren. Ektopien kommen v. a. beim dilatierten
(Aus Larsson et al. 1984) und/oder hypertrophierten Herz vor, ins-
198 KAPITEL 7 Assoziierte Krankheiten
Echokordiogrophie D-Mode
Die Dopplertechnik erlaubt eine Messung
Jeder Adipöse sollte bei jahrelangem Über-
der linksventrikulären Füllung, indem Flow-
gewicht echokardiographiert werden. Die
C~arakteristika über der Mitralklappe be-
linksventrikuläre Dilatation verläuft zu Be-
stimmt werden. Insbesondere das Verhältnis
ginn oft ohne Symptomatik. Besteht eine
der frühen (E) zur späten (A) Füllung (EtA-
Dyspnoe, wird dieses Symptom meistens der
Quotient) kann zugunsten der A-Füllung
ver~ehrten Körperfülle und nicht einer sy-
verschoben sein (Alpert et al. 1995). Von Be-
stohschen oder diastolischen Funktions-
deutung ist auch die isovolumetrische Rela-
störung zugeschrieben. Die linksventriku-
xationszeit, die sich durch simultane Anlo-
lä~e Hypertrophie (LVH) wirkt sich progno-
tung der Mitral- und Aortenklappe oder
stisch ungünstig aus und kann auch ohne
Ausmessung des Dopplersignals bestimmen
Hypertonie vorkommen. Eine LVH besteht
läßt. Insbesondere bei gleichzeitig bestehen-
bei einem Drittel der Adipösen, besteht eine
der Hypertrophie sind Parameter der diasto-
Hypertonie, ist eine LVH doppelt so häufig
präsent (Abb. 7.27). Die verstärkte subkutane lischen Funktion pathologisch.
Fettschicht verhindert oft eine befriedigende
Abbildung der intrakardialen Strukturen. Es Röntgenthorax
sollten daher nur niedrigfrequente Schall-
Eine Röntgenuntersuchung des Herzens in
köpfe mit 2,5 MHz - oder noch besser
konventioneller Technik hat in Anbetracht
2,0 MHz - zum Einsatz kommen. Damit ge-
der Echokardiographie erheblich an Bedeu-
lingt zumindest bei 90% der Patienten eine
tung verloren; man sollte sie zur Primärdia-
brauchbare Darstellung. Bei unbefriedigen-
gnostik daher nicht durchführen. Die rönt-
der transthorakaler Anlotung und dringen-
genologische Herzvolumenbestimmung ist
der Indikation wird man die transösopha-
durch die Ultraschalltechniken obsolet ge-
geale Echokardiographie anwenden.
worden. Nur bei unverwertbaren echokar-
diographischen Bildern, was bei der extre-
men Adipositas nicht selten der Fall ist, wird
200 KAPITEL 7 Assoziierte Krankheiten
7.7 "'
~
-~
Gastrointestinale Erkrankungen Qj 2
a:
Gastrointestinale Erkrankungen sind im
Vergleich zu kardiovaskulären und metabo-
lischen weniger von Interesse, wenn auch 0
<20 20 22 24 27 29 32 >32
nicht seltener - zumindest was die Gallen- Body mass Index (kg/m')
steinhäufigkeit und die Fettleber betrifft. Die
anderen Krankheiten wie Pankreatitis, Ob- Abb. 7.43. Häufigkeit von symptomatischen Gallen-
steinen in Abhängigkeit vom Körpergewicht (BMI)
stipation und Hernien sind von untergeord- bei 88 837 OS-amerikanischen Krankenschwestern.
neter Bedeutung. (Nach Maclure 1989)
7.7 Gastrointestinale Erkrankungen 201
(Gries et al. 1976; Hanefeld et al. 1968; van Hat sich zudem ein Diabetes mit Insulin-
Steenbergen u. Lanckmans 1995). Bei abdo- mangel eingestellt, liegen mehrfach erhöhte
minal Adipösen ist die Verfettung häufiger Serumkonzentrationen von freien Fettsäu-
und ausgeprägter als bei peripher Adipösen ren vor. Da die Aufnahme von freien Fettsäu-
(Kral1993). Unter Gewichtsreduktion bildet ren in die Leber konzentrationsabhängig ist,
sich die Fettleber zurück. kann es zu einer "Überflutung" mit Fettsäu-
Erhöhte Enzymaktivitäten der Transami- ren mit verstärkter Veresterung kommen;
nasen, y-GT, der alkalischen Phosphatase die Kapazität für die Oxidation ist nämlich
und eine erhöhte Serumkonzentration des begrenzt.
Bilirubins können auf eine Fettleberhepatitis Diskutiert wird, ob eine Verfettung der
hinweisen; dies ist bei Adipösen selten der Leber nicht zur Insulinresistenz beiträgt. Die
Fall. Eine Umwandlung einer Fettleber in Leber hat einen erheblichen Anteil an der In-
eine Fibrose oder Zirrhose kommt selten vor sulinclearance und regelt damit die Plasma-
(van Steenbergen u. Lanckmans 1995). konzentration. Ein hoher Triglyzeridgehalt
In der Fettleber findet man eine vermehr- bzw. eine Verfettung reduziert die Insulin-
te Ablagerung vorwiegend von Triglyzeriden clearance und trägt damit zur Hyperinsu-
als "droplets" in Leberparenchymzellen. Fett- linämie bei. Dieser Mechanismus ist mögli-
säuren können zum einen in der Leber selbst cherweise unabhängig vom Körperfettgehalt
synthetisiert werden. Sie können auch vom und der Fettverteilung (Goto et al. 1995).
Plasma aufgenommen werden; dorthin ge-
langen sie entweder postprandial in Chylo-
mikronen oder werden aus Triglyzeriden aus 7.7.4
dem Fettgewebe freigesetzt (Lipolyse). In der Verschiedene Krankheiten
Leber unterliegt das Schicksal der Fettsäuren
einer fein abgestimmten Regulation. Sie kön- Obstipation
nen entweder in den Mitochondrien zur ATP- Nicht nur Patienten mit Hypothyreose und
Gewinnung oxidiert oder im endoplasmati- sekundärer Adipositas, sondern auch primär
schen Retikulum zu Triglyzeriden verestert Adipöse leiden häufiger unter Obstipation
werden. Die "Wegrichtung" hängt von vielen als Normalgewichtige; in der DÜSSELDORF
Faktoren ab, v. a. von hormonellen. STUDIE (Gries et al. 1976) waren es 34%. Ob
Eine bevorzugte Veresterung und damit für dieses Symptom nur mechanische Grün-
Akkumulation von Triglyzeriden mit Ausbil- de (z. B. viszerales Fett) oder auch endokrin-
dung einer Fettleber kann folgende Ursa- metabolische in Frage kommen, ist unge-
chen haben: klärt.
vermehrte hepatische Synthese von
Fettsäuren und Veresterung zu Triglyzeri- Intraabdominaler Druck
den; das ist häufig bei Zuständen von Hy- Der intraabdominale Druck, gemessen als
peralimentation der Fall (s. Abschn. 6.2), Druck in der Harnblase, ist bei extrem
• verminderte Oxidation von Fettsäuren z. Adipösen im Vergleich zu Normalgewichti-
B. durch Äthanol oder Östrogene, gen deutlich erhöht (18 vs. 7 cm H2 0). Da der
• verminderte Abgabe von Fettsäuren in Harnblasendruck auch mit bestimmten adi-
Form von "very low density Iipoproteins" positas-assoziierten Komorbiditäten wie In-
(VLDL) an das Plasma z.B. durch Äthanol, guinalhernien, Veneninsuffizienz, StreBin-
vermehrte Freisetzung von Fettsäuren aus kontinenz und gastroösophagealem Reflux
dem Fettgewebe, was bei Adipositas, ins- korreliert, wird vermutet, daß der gesteigerte
besondere der abdominalen Form, der intraabdominale Druck pathogenetisch eine
Fall ist. Rolle spielt (Sugerman et al. 1997).
7.8 Respiratorisches System 203
Adipösen ein erhöhtes pulmonales Blutvolu- Form unterbleibt eine Aktivierung der Mus-
men aufgrundeines generell höheren Blut- kelgruppen, die das Offenhalten des Pharynx
volumens (s. 7.5.2) vorliegt. Diese Adaptatio- bewerkstelligen. Bei der zentralen Form be-
nen führen zu vermehrter rechts- und links- steht eine fehlende Aktivierung sämtlicher
ventrikulärer Herzarbeit. für die Atmung relevanten Muskelgruppen.