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Ullstein Materialien

Ullstein Buch Nr. 35017


im Verlag Ullstein GmbH,
Alfred Schmidt
Frankfurt/M - Berlin - Wien

Ungekürzte Ausgabe Drei Studien


Umschlagentwurf: Kurt Weidemann
Alle Rechte vorbehalten
über
Mit freundlicher Genehmigung des
Carl Hanser Verlag München, Wien
Materialismus
© 1977 Carl Hanser Verlag München,
Wien Schopenhauer
Printed in Germany 1979 Horkheimer
Druck und Verarbeitung: Glücksproblem
Mohndruck Graphische Betriebe, GmbH
Gütersloh
ISBN 3548350178

CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen Bibliothek
Schmidt, Alfred: [Sammlung]
Drei Studien über Materialismus:
Schopenhauer, Horkheimer,
Glücksproblem/Alfred Schmidt. -
Ungekürzte Ausg. - Frankfurt/M,
Berlin, Wien: Ullstein, 1979.
([Ullstein-Bücher] Ullstein-Buch;
Nr. 35017: Ullstein-Materialien)
ISBN 3-548-35017-8
Ullstein Materialien
Inhalt

Einleitung 7

Schopenhauer und der Materialismus 21

Die geistige Physiognomie Max Horkheimers 81

Zum Begriff des Glücks in der materialistischen


Philosophie 135
Einleitung

Schopenhauer, Hegels so entschiedener Gegner, werde


in nicht zu billigender Weise meist sehr oberflächlich
von vielen verurteilt, die oft seine Schriften nie gelesen
hätten. Manche seiner Zeitgenossen ... bezeichneten
ihn als Menschenhasser, während er in den Grundge-
danken der Ethik das Gebot ausspricht, in der Wesens-
einheit alles Organischen die Pflicht zu erkennen, we-
der Mensch noch Tier Leiden zu verursachen. Keinem
lebendigen Wesen Unrecht zu tun, bezeichnet er bei
der Hilfsbedürftigkeit alles Bestehenden als einfaches
Gebot der Gerechtigkeit, die zum Mitleid führt, zu
dem Satz: ,Hilf allen, soviel du kannst.< Tiefer ethisch
sozial hätte keine sentimentale Regung das Gebot der
Nächstenliebe verkündet.
Franziska Kugelmann zu Marxens Urteil iiber
Schopenhauer

Die hier vereinigten Studien sind 1974-1977 entstanden. Sie


gehören in den größeren Kontext einer langjährigen, noch un-
abgeschlossenen Beschäftigung des Verfassers mit der Ge-
schichte des Materialismus, die von dessen politischen Ver-
fechtern, zumal in der Bundesrepublik, kaum gebührend be-
achtet wird. - Der den Band eröffnende Versuch über Scho-
penhauer möchte beitragen zur neuerlichen, im besten Sinn
zeitgemäßen Rezeption eines Werks, dessen luzide Sprach ge-
stalt und geistige Unabhängigkeit unbestritten sind. Schopen-
hauers Modernität - davon läßt die Untersuchung sich leiten
- besteht nicht zuletzt in der sachlichen Relevanz seines Den-
kens für eine materialistische, den geschichtlichen Interessen
der Gegenwart verpflichtete Philosophie, die erkenntniskri-
tisch reflektiert und frei ist von mechanistischen Scheuklappen.
Der Autor der Welt als Wille und Vorstellung bildet, ähnlich
übrigens wie Kant, den Schulfall eines Philosophen, der es ge-
stattet, den in marxistischer Literatur vielberufenen »Kampf«
von Idealismus und Materialismus einmal nicht sub specie des
Konflikts zweier »Lager«, sondern innerhalb ein und desselben
Denkzusammenhangs zu studieren. Der Verfasser versucht
7
- indirekt zumindest - nachzuweisen, daß die namentlich von renden Mangel, in der Schmach des Alltags und dem Schrek-
Lukacs verfochtene These, Schopenhauers Denken sei durch- ken der Geschichte«4 keine List der zum Besseren treibenden
weg reaktionär, weil idealistisch, insgeheim unterstellt, daß Vernunft mehr zu erkennen, so bedarf es einer Philosophie,
sich die Alternative Idealismus/Materialismus ausschließlich die eben diese Erfahrung ausspricht.
auf abstrakt-erkenntnistheoretische "Standpunkte« erstreckt.! Die den Band beschließende Abhandlung exponiert einige (oft
Werden jedoch, was historisch wie sachlich angemessener ist, weniger zugängliche) Materialien zum Begriff des Glücks, die
auch metaphysische, moralphilosophische und anthropologi- markanten Stufen der Geschichte des Materialismus entstam-
sche Gesichtspunkte in die Diskussion der in Schopenhauer men. Angesichts der zeitgenössischen Tendenz, letzteren auf
wirksamen, gegensätzlichen Tendenzen eingebracht, so ergibt den trivialisierten, weil nur noch »erkenntnistheoretisch« ver-
sich ein wesentlich reicheres Bild seiner Philosophie. standenen Primat des körperlichen oder gesellschaftlichen
Die zweite Studie, ursprünglich zur Einführung in Horkhei- Seins vor dem Bewußtsein zu reduzieren, erschien es dem Au-
mers aphoristisches Werk geschrieben, versucht die Etappen tor wichtig, die ebenso hedonistische wie pessimistische Di-
der intellektuellen Entwicklung des Begründers der Kritischen mension dieses Verhältnisses herauszuarbeiten. 5 Mit ihr geht
Theorie nachzuzeichnen. Sie behandelt deren Spätphase als auch die Schwierigkeit einher, "Moralisches« auf "Physi-
spannungsvollen (in manchem an die Anfänge erinnernden) schem« zu begründen, sich von Natur belehren zu lassen über
Prozeß, worin Schopenhauersche und Marxsche Denkmotive das sittlich Erstrebenswerte. .
sich aneinander abarbeiten. 2 In dem Maße freilich, wie der
letzte Horkheimer sich genötigt sieht, der ehernen Logik des Erörtern wir noch kurz diejenigen Aspekte materialistischen
Gangs der Geschichte zu mißtrauen, wie er noch in Marx un- Denkens, von denen der Verfasser meint, daß sie, bei aller
aufgehellte Idealismen entdeckt, verringert sich für ihn der Ge- Vielfalt der behandelten Themen, die innere Einheit des vorlie-
gensatz zwischen den analytisch richtigen, haltbaren Momen- genden Buches stiften.
ten der Marxschen Lehre und Schopenhauers Absage an den »Ich habe«, schreibt Sartre in einem berühmten Text der
Weltlauf. Die' "Seele« der Willensmetaphysik, betont Horkhei- Nachkriegszeit, »schon Bekehrungen zum Materialismus gese-
mer, ist "Widerstand".3 Vermag der "nüchterne, auf das Ein- hen: man tritt in ihn ein wie in eine Religion.«6 Ein festes Ge-
zelne und Nächste gerichtete Blick .. " hinter der Oberfläche häuse empfängt den bisher von Zweifeln und Skrupeln Ge-
der sich bekämpfenden. Einzelwillen, in dem stets wiederkeh- plagten; er weiß sich fortan als Glied einer unverbrüchlichen
I Cf, Georg Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1953, S,176ff. Logik der Dinge: breitet sich doch die Natur, wie Engels
- Ernst Bloch dagegen läßt sich von Schopenhauers subjektivem Idealismus schreibt, "als ein ... in den großen Grundzügen erklärtes und
weniger beeindrucken; er zeigt, daß gerade die (vom pauschalen .Irrationalis- begriffenes System von Zusammenhängen und Vorgängen vor
mus.-Verdikt nicht zu treffende) Willensmetaphysik materialistisch erheb-
liche, über die Erkenntnistheorie hinausführende Gehalte aufweist. Cf. Das • Max Harkheimer, Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie, ibid., S. 37.
Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt am Main 5 Einer der wenigen linken Autoren, die sich der lediglich abstrakt-erkennmis-
1972, S. 273ff, theoretischen Fassung des Materialismus widersetzt haben, ist Brecht, der in
Z -Die beiden Philosophen., sagt Horkheimer, »welche die Anfänge der Kriti- den Flüchtlingsgesprächen schreibt: -Die Deutschen haben eine schwache Be-
schen Theorie entscheidend beeinflußt haben, waren Schopenhauer und gabung für den Materialismus. Wo sie ihn haben, machen sie sofort eine Idee
Marx. (Kritische Theorie gestern und heute, in: Gesellschaft im Obergang, draus, ein Materialist ist dann einer, der glaubt"daß die Ideen von den materi-
herausgegeben von Wemer Brede, Frankfurt am Main 1972, S. 162). ellen Zuständen kommen und nicht umgekehrt, und weiter kommt die Mate-
J Max Horkheimer, Schopenhauer und die Gesellschaft, in: Sozialphilosophische rie nicht mehr vor- (Frankfurt am Main 1967, S. 20f.).
Studien, herausgegeben von Wemer Brede, Frankfurt am Main 1972, S. 76. 6 Jean-Paul SarIre, Materialismus und Revolution, Sruttgart 1950>, S. 38.

8 9
uns«7 aus. Materialismus, fügt Engels hinzu, ist »einfache Auf- rischen Materialismus, darüber im klaren, daß sich der Mensch
fassung der Natur so, wie sie sich gibt, ohne fremde Zutat«.8 in einer weithin von ihm selbst hervorgebrachten, humanisier-
Es gilt, wie er anderswo sagt, »jede idealistische Schrulle un- ten Dingwelt bewegt. »Naturwissenschaft wie Philosophie«,
barmherzig zum Opfer zu bringen, die sich mit den in ihrem heißt es in der Dialektik der Natur, »haben den Einfluß der
eignen Zusammenhang, und in keinem phantastischen, aufge- Tätigkeit des Menschen auf sein Denken bisher ganz vernach-
faßten Tatsachen nicht in Einklang bringen«9 läßt. - Eine fol- lässigt, sie kennen nur Natur einerseits, Gedanken andrerseits.
genreiche Reduktion des Materialismus auf wissenschaftliche Aber grade die Veränderung der Natur durch den Menschen,
Objektivität; begünstigt freilich auch dadurch, daß Engels be- nicht die Natur als solche allein, ist die wesentlichste und
strebt ist, »dem von der langjährigen Pfaffenverlästerung her nächste Grundlage des menschlichen Denkens, und im Ver-
überkommenen Philistervorurteil gegen den Namen Materia- hältnis, wie der Mensch die Natur verändern lernte, in dem
lismus« 10 keinerlei Zugeständnis zu machen. So berechtigt En- Verhältnis wuchs seine Intelligenz. Die naturalistische Auffas-
gels' Absicht ist, terminologische Klarheit zu schaffen - sie hat sung der Geschichte, ... als ob die Natur ausschließlich auf
auch dazu beigetragen, die im Sinn jeweils herrschender Ideo- den Menschen wirke, die Naturbedingungen überall seine ge-
logie moralisch anstößige, »sensualistische« Komponente ma- schichtliche Entwicklung ausschließlich bedingten, ist daher
terialistischen Denkens, zu der sich seine großen Vertreter bis einseitig und vergißt, daß der Mensch auch auf die Natur zu-
hin zu Feuerbach freimütig bekannten, aus dem Begnff des rückwirkt, sie verändert, sich neue Existenzbedingungen
marxistischen Materialismus zu eliminieren. Was nun die der schafft. Von der ,Natur< Deutschlands zur Zeit, als die Germa-
Natur »fremde« - tunlichst zu beseitigende - »Zutat« betrifft, nen einwanderten, ist verdammt wenig übrig.« 12
so denkt Engels hierbei zunächst an »Ufzuständlichen Blöd- Engels' Erwägungen implizieren mehr, als in die seiner Tradi-
sinn«; Religion und Philosophie, überhaupt die »in der Luft tion verpflichtete Erkenntnistheorie eingegangen ist. Verflüssi-
schwebenden ideologischen Gebiete ... haben ... einen vor- gen, relativieren sie die starre Grenze zwischen »Natur« und
geschichtlichen, von der geschichtlichen Periode vorgefundnen "Gedanke«, gegenständlicher Welt und »menschlichem« (hier
und übernommnen Bestand von ... falschen Vorstellungen positiv aufgenommenem) »Zutun«,B so bleibt jene Grenze in
von der Natur, von der Beschaffenheit des Menschen selbst, der auf Engels sich berufenden, noch immer verbindlichen, ab-
von Geistern, Zauberkräften etc«.l1 Engels spricht hier die auf- bildrealistischen Lehre erhalten, deren Begriff von »Praxis«
klärerische Sprache der evolutionistischen Soziologie und Eth- nicht heranreicht an die weit tragfähigeren, gemeinsam mit
nologie des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Subjekti- Marx erarbeiteten Formulierungen etwa der Deutschen I deo-
ves ist per se vorwissenschaftlich; es.geht um "einfache Auffas- logie.
sung der Natur so, wie sie sich gibt«. Auch Lenins philosophisches Hauptwerk verharrt auf dieser
Andererseits ist sich gerade Engels, als Mitbegründer des histo- Linie. Es bestimmt den Gegensatz von Idealismus und Mate-
7 Engels, Dialektik der Natur, in: Marx/Engels, Werke, Band 20, Berlin 1968, rialismus durch die »Grundfrage der Erkenntnistheorie: Sind
S.469. unsere Empfindungen Abbilder der Körper und Dinge, oder
8 Ibid.
sind die Körper Komplexe unserer Empfindungen?«14 Lenin
9 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philo-
sophie, in: Marx/Engels, Werke, Band 21, Beflin 1962, S. 292. 12 Engels, Dialektik der Natur, I. c., S. 498 (Hervorhebungen von Engels);
10 Ibid., S. 282.
cf. dazu auch S. 466.
JJ Engels an C. Schmidt, Brief vom 27.10.1890, in: Marx/Engels, Ausgewählte J3 Cf. ibid., S. 499.
Briefe, Berlin 1953, S. 509. ,. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1967, S. 175.
10 11
betont, daß der philosophische Materialismus, wie er ihn ver- zeugnis unseres konstituierenden Handelns« 19 ist, und sich
steht, lediglich eine »Eigenschaft« der Materie anzuerkennen hinter der trivialen Tatsache verschanzt, daß wir unsererseits
genötigt ist: »die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, au- ohne jene Welt nicht wären, muß er dogmatisch deren durch-
ßerhalb unseres Bewußtseins zu existieren«.15 Sowenig es sich gängige 'Rationalität verkünden. 20
hier darum handeln kann, die Verdienste des Leninschen Bu- Sehen wir hier davon ab, daß Sartre unterdessen, spätestens
ches zu schmälern, so wichtig scheint doch der Hinweis dar- seit der Kritik der dialektischen Vernunft, einen angemessene-
auf, wie sehr sein gedanklicher Duktus vorgezeichnet ist durch ren Zugang zum Problem der Objektivität gefunden hat. 21
die Art der von ihm bekämpften Schriftsteller. Das schon ,in Richtig an Sartres früheren Vorbehalten gegenüber dem Mate-
Engels, vollends aber in Lenin anzutreffende Pathos wissen- rialismus bleibt jedoch, daß dieser, sofern er in »weltanschau-
schaftlicher Objektivität impliziert, gewollt oder ungewollt, lich« abgerundeter Form auftritt, häufig der Gefahr erliegt, die
den Verzicht auf wesentliche Resultate nicht nur der Geschich- leibhaftige Menschen unmittelbar betreffende, außerphiloso-
te des Marxismus, sondern des Materialismus insgesamt. phische Erfahrung von Materialität zu übersehen. »Dem Idea-
Mit scharfem Blick hat Sartre, als politischer Existentialist, die lismus gegenüber«, sagt Sartre, »auf die erdrückende Wirklich-
Mängel eines Denkens wahrgenommen, das »die Lehre von keit der materiellen Welt hinzuweisen, heißt noch nicht, not-
der Objektivität« 16 vorzuführen verspricht. Der Materialist, wenigerweise ein Materialist zu sein.«22 Was sich nämlich als
sagt Sartre, bildet sich' ein, »seine Subjektivität ... zum Ver- Materialismus ausgibt, ist vielfach keine durchdachte Philoso-
schwinden« zu bringen, indem er sich zum »Gegenstand«, das phie, sondern »die schlechte Laune derjenigen, die körperlich
heißt "Stoff der Wissenschaft«17 erklärt. "Hat er nun aber ein- leiden und die Wirklichkeit des Hungers, der Krankheiten, der
mal die Subjektivität zugunsten des Gegenstandes unterdrückt, Handarbeit und all dessen kennen, was einen Menschen zu un-
so nimmt er für sich - anstatt sich als Ding unter Dingen zu tergraben vermag«.23 Wir sind, ohne uns darüber im Alltag Re-
sehen, hin und her geworfen durch den Wellengang des Alls chenschaft abzulegen, unaufhebbarer Kontingenz ausgeliefert.
der Natur - eine objektive Sicht in Anspruch und behauptet,
" Ibid.
die Natur, wie sie an sich ist, zu betrachten. Es gibt einen 20 Cf. ibid., S. 15.
Doppelsinn von >Objektivität< - welche bald die Passivität des 21 So heißt es in der Kritik der dialektischen Vernunft: .Die Materie als reine,

betrachteten Objektes bedeutet und bald den absoluten Wert nicht menschliche und anorganische Materie, das heißt nicht an sich, sondern
eines erkennenden Blickes, der aller Schwächen des Subjekti- in jenem Stadium der Praxis, in dem sie sich dem wissenschaftlichen Experi-
ment erschließt, wird durch Exterioritäts-Gesetze regiert. (Reinbek bei Ham-
ven ledig ist. So ergeht sich der Materialist, nachdem er ...
burg 1967, S. 129); cf. auch S. 130, wo Same die Materie als »passiven Motor
sich der reinen objektiven Wahrheit angeglichen hat, in einer der Geschichte. bezeichnet.
Welt von Objekten, die bewohnt ist von Menschen-Objek- 22 Sartre, Materialismus und Revolution, I. c., S. 38.

ten.«18 Da er mit aller Transzendentalphilosophie auch den 23 Ibid. - Sarues Betrachtungsweise taucht schon früh auch in der offiziellen

Gedanken der Marx/Engelsschen Frühschriften verwirft, daß Literatur auf. So heißt es in Theobald Zieglers Buch Die geistigen und sozia-
len Strömungen des Neunzehnten Jahrhunderts (Berlin 1910, S. 329), der »na-
die physische Welt, wie wir sie hier und jetzt vorfinden, »Er- turwissenschaftliche Materialismus« lebe -am kräftigsten in den breiten
Schichten der Arbeiterwelt fort.; er entspreche -ihrer Beschäftigung, der Be-
arbeitung des Stoffes durch die Hand, indem er ihnen die Widerstände und
15 Ibid., S. 260 (Hervorhebungen von Lenin); cf. auch S. 124f. die Gesetze der Materie, mit der sie es tagtäglich zu tun haben, klar und
" Sartre, Materialismus und Revolution, I. c., S. 38 (Hervorhebung von Sanre). deutlich zum Bewußtsein bringt: für den Handarbeiter ist der Materialismus
17 Ibid., S. 13; 14.
in der Tat die einleuchtendste und nächstliegendste wissenschaftliche Weltan-
" Ibid., S. 14.
schauung •.
12
13
Die objektive, von theoretischen Materialisten immer wieder verstehen. Materialistische Kritik am Idealismus ist stets auch
hervorgehobene »Notwendigkeit« wird als solche von Sartre Kritik an Philosophie überhaupt. Das zu vergessen, verriete,
nicht geleugnet. Allein sie »erscheint im Schoße einer ur- wie es in Feuerbachs Spätwerk heißt, »einen höchst beschränk-
sprünglichen Zufälligkeit. Existiert das Weltall, so können ten Gesichtskreis«; wir dürfen anläßlich der Frage Idealismus/
seine Entwicklung und die Aufeinanderfolge seiner Zustände Materialismus nicht »innerhalb der Mauern der Philosophie im
durch Gesetze geregelt sein. Es ist aber nicht notwendig, daß engeren Sinne stehen bleiben«; denn es handelt sich hier um
das Weltall existiert, noch daß es ein Sein überhaupt gibt, und einen »Streit zwischen verschiedenen Facultäten des Menschen
die Zufälligkeit des Weltalls teilt sich allen, sogar den - ein Streit zwischen der medicinischen und philosophischen
notwendigsten Zusammenhängen, jeder besonderen Tatsache Facultät«.29 Oft wird verkannt, »dass der Materialismus, wel-
mit.«24 chen beschränkte Schulphilosophen als eine Missgeburt der
Wenn Sartre ironisch vorschlägt, den scientistischen Materia- neu esten Zeit betrachten und bereits >todtgeschlagen< zu haben
lismus als »die Subjektivität derjenigen« zu betrachten, »die wähnen, schon so lange auf Erden existirt und existiren wird,
sich ihrer Subjektivität schämen«,25 so deshalb, weil er ihn für als es Patienten und Aerzte gab und geben wird; dass daher,
untauglich hält, die Idee der Revolution angemessen zu be- wer die Leiden der Menschheit ins Auge und Herz fasst, noth-
gründen. Zur erkenntnistheoretischen und politischen Unzu- wendig zum Materialisten wird«.30 Primär also ist für Feuer-
länglichkeit gesellt sich eine behavioristische Psychologie, die bach der Materialismus gesetzt mit der physischen Existenz des
außerstande ist, etwas über die - erstmals von Freud unter- Menschen - nicht mit einer denkerischen Entscheidung. Mate-
suchte - Natur im Subjekt auszumachen. 26 So bleiben dem ma- rialismus und Philosophie treten auseinander: »Die Medicin,
terialistischen Objektivismus Erfahrungsgehalte entzogen, die die Pathologie vor Allem ist die ... Quelle des Materialismus.
»materialistisch« sind, ohne in seine Kategorien einzugehen. Und diese Quelle kann leider durch philosophische Gründe
Indem er letztinstanzlich nur die Wissenschaft als verbindliche nicht verstopft werden; denn so lange die Menschen leiden,
Erkenntnisform gelten läßt, paktiert er mit dem (sonst von ihm wenn auch nur Hunger und Durst, und diese Leiden nicht
bekämpften) Positivismus. Dabei ist er, was seine grundsätz- durch idealistische Machtsprüche ... geheilt werden können,
liche Wahrheit nicht schmälern muß, insofern eine Metaphy- so lange werden sie auch, wenn auch wider Wissen und Wil-
sik, als er, mit Engels zu reden, »die Natur als das einzig Wirk- len, Materialisten sein.«3!
liche auffaßt«.27 Sie »existiert unabhängig von aller Philoso- Eine grundlegende, vorphilosophische Einsicht, die es Feuer-
phie«28 - auch von der materialistischen. bach erlaubt, den Materialismus als anthropologisches Prinzip
Damit aber ist eine außerphilosophische Dimension zumal des zu verfechten. Die Medizin, auf die er sich dabei vorzugsweise
vormarxschen Materialismus benannt, deren Tragweite kaum stützt, ist keine »Quelle und Residenz des transcendenten, ...
zu überschätzen ist. Deutlich wird, daß es nicht angeht, den über den Menschen hinausschweifenden, sondern des imma-
Gegensatz der Grundrichtungen lediglich philosophisch zu nenten, im und beim Menschen stehenbleibenden Materialis-
mus. Aber gerade dieser ist der archimedische Standpunkt in
2. Sanre, I. c., S. 70.
dem Streite zwischen Materialismus und Spiritualismus: denn
25 Ibid., S. 38.
2. Ibid., S. 20. - Sanre bezieht sich hier auf Pierre Naville. 2. Ludwig Feuerbach, Sämmtliche Werke, Band X"herausgegeben von Wilhelm
27 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philoso- Bolin und Friedrich Jodl, Stuttgart 1911, S. 159.
phie, I. c., S. 272. 30Ibid.
28 Ibid.
" Ibid., S. 165.
14 15
es handelt sich hier in letzter Instanz nicht um die Theilbarkeit Feuerbach, "kann nun und nimmer den Standpunkt des Le-
oder Untheilbarkeit der Materie, sondern um die Theilbarkeit bens zur Ergänzung entbehren oder ersetzen«.3? Leben, das
oder Untheilbarkeit des Menschen; ... nicht um die Ewigkeit stets Empfinden, Anschauen und Denken umfaßt, ist für Feu-
oder Zeitlichkeit der Materie, sondern um die Ewigkeit oder erbach ein nicht Hinterschreitbares, »absolut Originales ...
Zeitlichkeit des Menschen; nicht um die ausser dem Menschen _ ist in Wahrheit das nur durch sich selbst erkennbare, aber
. .. zerstreute und ausgedehnte, sondern um die in den nicht mystificirte, nicht travestirte Absolute des speculativen
menschlichen Hirnschädel zusammengepresste Materie. Kurz: Philosophen und Theologen«.38 Der »Standpunkt des Lebens«
es handelt sich in diesem Streit ... nur um den Kopf des Men- wird hier verstanden als dessen konkret-gegenständlicher Voll-
schen. Er allein ist, wie der Ursprung, so das Ziel und Ende zug: reale, nicht nur gedachte Einheit des durch Abstraktion
dieses Streites. Sind wir einmal mit der merkwürdigsten und Getrennten. "Die Liebe«, sagt daher Feuerbach, »welche keine
schwierigsten Materie des Hirns im Reinen, so werden wir es blosse ... spiritualistische Phrase .,. ist, die ... wahre,
bald auch mit den anderen Materien, mit der Materie über- menschliche Liebe ist wesentlich pathologische, d. h. von den
haupt sein.«32 materiellen, wirklichen Leiden der Menschheit ergriffene
Der traditionelle, von Feuerbach »transcendent« genannte Ma- Liebe. .., Die wirkliche Liebe weiss nichts von einer von
terialismus will unmittelbar »materielle Fragen« beantworten, Anatomie und Physiologie getrennten oder gar unabhängigen
»die nur ... mittelbar, auf Umwegen, approximativ ans Licht Psychologie.«39 Der wissenschaftlich-theoretische Materialis-
eines möglichen Verständnisses gebracht werden können«.33 So mus ist, anders gesagt, ebenso unentbehrlich wie der Korrek-
ist nur aus den »Erscheinungen des Bewusstseins« selbst zu tur bedürftig. Letztlich bestätigen kann ihn nur eine Instanz
erschließen, was "hinter« diesem liegt. 34 Auszugehen ist zu- außerhalb seiner. - »Feuerbach«, hebt Lenin hervor, »legt die
nächst von der subjektiven Welt und ihren spezifischen Bedin- Ergebnisse der gesamten menschlichen Praxis der Erkenntnis-
gungen. "Wie weit«, fragt Feuerbach, »erstreckt sich das Be- theorie zugrunde.«40
wusstsein - Unzähliges vor und hinter, neben und um uns fällt Es zählt zu den heute fälligen, keineswegs bloß akademischen
ausser das Bewusstsein, als wäre dasselbe nur eine mathemati- Aufgaben, sich über das Verhältnis des Marxismus zu älteren
sche Linie ohne Breite und Tiefe - wie weit der Wille? Das Formen materialistischen Denkens neu zu verständigen. Die
sind Fragen, die erst beantwortet sein müssen, ehe man an die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden läßt sich
organischen ... Processe denkt, die aber die Materialisten sich nicht länger nach dem orthodoxen Schema beantworten, daß
nicht aufwerfen.«35 Feuerbach erinnert sich hier der kruden man diese verabsolutiert und jene auf belanglose ABC-Thesen
Agitationsliteratur der fünfziger Jahre. Aber selbst dort, wo zusammenstreicht. Verläuft Geschichte in antagonistischen
zuvor solche von ihm vermißten Erwägungen angestellt wer- Formen, so gilt dies auch für die Geschichte der Philoso-
den, behalten Anatomie und Physiologie nicht das letzte Wort. phie.
Sie liefern »nur die todte und eben deswegen nicht die ganze Weshalb sollte der übergang vom vormarxschen Materialis-
... Wahrheit«.36 Auch fortgeschrittenste Wissenschaft, betont mus zur Kritik der politischen ökonomie (wenn wir von ihren
sonstigen Quellen hier einmal absehen) in jedem Betracht ein
32 Ibid., S. 165 f.
33 Ibid., S. 307. 37 Ibid.
J4 Ibid. J8 Ibid.
35 Ibid., S. 307f. 3. Ibid., S. 157.
3. Ibid., S. 166. '0 Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, l. c., S. 137.

17
16
Fortschritt sein? Ist wirklich alles am Alten Wertvolle »aufge- fahrung von Materiellem äußert sich gerade dort, wo sie nicht
hoben« im Neuen? Sicher, es gibt dafür Beispiele. Aber auch in philosophisch durchgearbeiteter Form auftritt, als »Kraft
solche, die weniger überzeugen. Zu ihnen gehört Feuerbach. der Natur zum Eingedenken ihrer selbst als hinfälliger«.44 - In
Wir sind deshalb oben kurz auf ihn eingegangen, weil er, stu- diesem Sinn hat Thomas Mann Schopenhauers Pessimismus
diert als Gesamterscheinung, die unabweisbare Frage aufwirft, mit Humanität gleichgesetzt.
ob seine Themen tatsächlich. großenteils erledigt sind, ob er Das Faktum der Kunst verweist auf das dem Begriff einer
von Marx und Engels in jeder Hinsicht überboten wurde.41 »materialistischen Philosophie« innewohnende Paradoxon:
Wer sich freilich heute vor Feuerbach nicht nur ehrerbietig zum Prinzip zu erheben, was als einheitliches, letztes Substrat
verbeugt, sondern versucht, einige seiner Resultate einzubrin- der Wirklichkeit nicht aufweisbar ist: den Stoff, der nur in ei-
gen in aktuelle Debatten, zieht sich sogleich von seiten der Or- ner Vielheit von Stoffen existiert. Dasjenige am Materialismus,
thodoxie den Vorwurf eines »Rückfalls in den Feuerbachianis- was aller Philosophie spottet - das schlechthin Sinnwidrige -,
mus« zu.
wird erfahren in Gedichten Baudelaires, in Gemälden Klin-
Die vorliegenden Studien suchen das Interesse für den älteren gers. 45 Die im Medium nicht des Begriffs, sondern der Sinn-
Materialismus zu beleben, ohne dessen Kenntnis auch die lichkeit sich bewegende Kunst gestaltet das Schöne als »Erin-
Marxsche Theorie unverstanden bleibt. Dabei ist von vornher- nerung an das Glück, das es doch gab und das seine Wieder-
ein klar, daß es verfehlt wäre, sich an wissenschaftsgeschicht- kehr fordert«.46 Gleichwohl, fügt Marcuse 'hinzu, »ist die Welt
lich Veraltetes zu klammem, an das die vormarxschen Autoren. der Kunst durchherrscht vom Tode. Im Widerspruch zur
in Einzelaussagen gebunden sind; muß doch der Materialis- schlechten Existenzphilosophie verschmäht es die Kunst, dem
mus, wie Engels feststellt, mit »jeder epochemachenden Ent- Tod einen Sinn zu geben. Ihr ist der Tod ständiger Zufall,
deckung schon auf naturwissenschaftlichem Gebiet . . . seine ständiges Unheil - Drohung auch in den Augenblicken des
Form ändern«.42 Ohnehin hätte heute eine Rezeption des vor-
marxschen Materialismus sich mehr zu kümmern um dessen
.. Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur III, Frankfurt am Main 1965, S. 29.
eigenartig theoretisch-atheoretischen Doppelcharakter. Was 's Die innere Beziehung der Kunst zum Materialismus ist bisher ungenügend
die philosophische Schwäche vieler materialistischer Ärzte und erörtert. Friedrich Schlegel deutet sie (freilich unter anderen als den hier dis-
Naturforscher der Vergangenheit ausmacht: die Unschärfe ih- kutierten Gesichtspunkten) folgendermaßen an: »Die poetischen Darstellun-
rer (zudem naiv-realistischen) Begriffe, wird häufig dadurch gen des Materialismus haben ... , weil sie dem Wesen dieser Gattung viel
angemessener sind, durchaus den Vorzug vor den philosophischen; die poeti-
kompensiert, daß sie die Bedingtheit, Bedürftigkeit und Todes-
sche Seite desselben steht weit über der philosophischen, und man kann dreist
verfallenheit des Menschen unverblümt aussprechen. Ihre behaupten: der Materialismus neigt sich durchaus mehr zur Poesie als zur
Schriften halten sich, mit Erich Kästner zu reden, ans »hoff- Philosophie; am besten und kräftigsten erscheint und spricht sich die ur-
nungslos Konkrete« unserer ExistenzY Die schneidende Er- sprüngliche Denkart des Materialismus in Poesie aus, weit besser als in allen
Systemen ... Materialismus ist deshalb eigentlich auch nur als Poesie zu dul-
<I Der Verfasser ist dieser Frage nachgegangen in seiner Schrift Emanzipaton'- den; wenn auch die Poesie, die er hervorbringt, nicht gerade die wahre ist, so
sehe Sinnlichkeit. Ludwig Feüerbachs anthropologischer Maten"alismus, Mün- neigt er doch mehr zur wahren Poesie als zur Philosophie, er ist überhaupt
chen 1973.
mit dem Wesen der Poesie verträglicher. (in: Schriften und Fragmente, Stutt-
42 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philoso- gart 1956, S. 204). - Cf. zu diesem wichtigen Thema auch die Studie von Eli-
phie, I. c., S. 278.
sabeth Lenk, Der spn'ngende Narziß. Andre Bretons poetischer Materialismus,
., Cf. zu diesem - oft übersehenen - Aspekt des .vulgär. gescholtenen Materia- München 1971.
lismus Werner Post!Alfred Schmidt, Was ist Materialismus?, München 1975, "" Herbert Marcuse, Die Permanenz der Kunst. Wider eine bestimmte marxisti-
S.lof.
sche ;fsthetik, München 1977, S. 73.
18
19
Glücks, der Beschäftigung, der Tat. Alles Leiden wird in ihr
Krankheit zum Tode - auch wo es heilbar ist.«47 Selbst abge-
Schopenhauer und
schafftes Elend tröstet über den Tod nicht hinweg; er bleibt der Materialismus
»die der Gesellschaft inhärente Negation. Er ist die letzte Erin-
nerung an alle Möglichkeiten, die nicht realisiert wurden, an Da Titel, in denen kaum oder schwer Vereinbares durch das
alles, was gesagt werden konnte und nicht gesagt wurde, an unschuldige Wörtchen »und« verknüpft wird, sich dem - oft
jede Gebärde, jede Zärtlichkeit, die ausblieb. Aber auch an begründeten - Verdacht des Künstlichen, auch Unverbindlichen
jede falsche Toleranz, jedes schnelle Einverständnis mit der aussetzen, scheint es geboten, zunächst kurz zu klären, wie das
Notwendigkeit des Leidens.«4B
Thema: Schopenhauer und der Materialismus hier verstanden
Damit sind einige derjenigen Aspekte zumindest angedeutet, wird. Die folgende Vorerwägung mag zugleich einführen in ein
von denen der Autor meint, daß sie in gegenwärtigen Diskus- wichtiges Kapitel gegenwärtigen Philosophierens. Schopenhauer
sionen über Materialismus stärker zu berücksichtigen wären. verdient es einbezogen zu werden in die aktuelle Diskussion über
Es gilt, Vielfalt und Reichtum der Ebenen seiner Problemati-: Materialismus. Dazu bedarf es sachlicher und unbefangener
sierung wiederzugewinnen. Mancherorts ist nicht einmal das Analyse dessen, was er beizusteuern hat. Seine Philosophie - das
Bewußtsein dieser Aufgabe vorhanden. Interesse für sie zu gehört zu ihrem Reiz - läßt sich unmittelbar weder für noch
wecken, ist der Zweck des vorliegenden Buches. gegen den Materialismus in Anspruch nehmen. Sie ist der Schau-
platz einer lebendigen, letztlich unabgeschlossenen Debatte -
Frankfurt am Main, im Juni 1977 Alfred Schmidt keine fertige Doktrin. In ihr arbeiten sich in eigenartiger Zirkula-
rität und Wechselbeziehung idealistische und materialistische
Tendenzen aneinander ab, und zwar auf instruktive Weise. Ein-
noch keineswegs hinreichend behobener - Mangel alles bisheri-
gen Materialismus besteht darin, daß er erkenntniskritische Fra-
gen, nur weil sie bislang idealistisch behandelt wurden, in ihrem
Sachgehalt unterschätzte, häufig gar ignorierte. An Schopen-
hauer hat gerade heute materialistisches Denken sich zu bewäh-
ren. Es darf hinter das bei ihm Erreichte nicht zurückfallen. Das
gilt, wie gesagt, für die Erkenntnistheorie, aber auch für anthro-
pologische und moralphilosophische Probleme. Gleichwohl
scheint-es wenig sinnvoll, Schopenhauers Positionen lediglich als
archivarischen Bestand zu betrachten. Ein bloßes Referat genügt
nicht. Unbefangenes Philosophieren besteht unter anderem
darin, überkommenes auch dann neu zu durchdenken, wenn es
sich vielfach bewährt hat.
Eine Bemerkung noch zum - durchaus uneinheitlichen - Begriff
des hier vorausgesetzten »zeitgenössischen« Materialismus. Zu
<7 Ibid. (Hervorhebung von Marcuse).
nennen ist einmal der marxistisch-leninistische Materialismus,
.. Ibid., S. 74.
vorgetragen zumeist in gestanzter, verdinglichter Sprache, hand-
20
21
fest politischen Interessen eher verpflichtet als philosophischen. stischen Denkens in der Gegenwart wird klar, daß die Frage nach
Daneben bestehen »inoffizielle« Spielarten marxistischen Den- Schopenhauers Verhältnis zum Materialismus insgesamt mehr
kens, etwa Blochs spekulativer Materialismus, die Sartresche und umfaßt als das Problemfeld: Schopenhauer und der Marxismus.
jugoslawische Praxis-Philosophie, schließlich die Kritische Wenn sich der vorliegende Beitrag gleichwohl darauf be-
Theorie, deren Horkheimersche Gestalt gerade Schopenhauer schränkt, Schopenhauers Lehre an originären Positionen von
wesentliche - und zwargenuin materialistische - Gesichtspunkte Marx und Engels (die ja mit ihren Schülern und Anhängern nicht
verdankt. - Akademisch verbreitet sind ferner die während der verwechselt werden dürfen) sowie an Einsichten »häretischer«
letzten Jahrzehnte in den Vereinigten Staaten entstandenen Marxisten zu messen und umgekehrt, so einmal, um nicht, was
Theorien der »mind-body identity«.! Bemüht, alle Aussagen verwirrend wäre, zugleich auf verschiedenen Ebenen zu argu-
über Mentales in solche über Physisches zu transponieren, versu- mentieren; zum anderen deshalb, weil diese Konfrontation als
chen sie, dem jüngsten Stand der Physik ebenso Rechnung zu die philosophisch ergiebigste erscheint, bringt sie doch Schopen-
tragen wiewissenschaftstheoretischen Einsichten. Wir haben es hauers Denken in verschiedenartigster Brechung vor den
hier mit einem neuen, materialistischen, nicht aber marxistischen Blick.
Frageansatz zu tun. - Dies gilt auch von den zahlreichen (ihre Zum Thema selbst. Es bieten sich der Diskussion drei eng mit-
letztlich materialistische Ausgangsposition nicht oder selten ter- einander verknüpfte Aspekte des Schopenhauerschen Verhält-
minologisch einbekennenden) Versuchen bedeutender Biologen, nisses zum Materialismus an.
eine »Naturgeschichte« der menschlichen Erkenntnis auszuar- 1. Wie bestimmt Schopenhauer das Verhältnis von Idealismus
beiten. 2 und Materialismus, wie die Materie, wie das von Subjekt und
Angesichts dieser - hier nur grob umrissenen - Vielfalt materiali- Objekt? Woran denkt Schopenhauer, wenn er sich des Begriffs
»Materialismus« bedient? Welche Rolle, welches Recht billigt er
. 1Von älteren Darstellungen wäre der von Yervant H. Krikorian herausgegebene
dem materialistischen Denken der Vergangenheit und seiner ei-
Sammelband Naturalism and the Human Spirit, New York 1944 und später,
anzuführen; ferner die von Roy Wood Sellars, V.]. Mc Gill und Marvin Farber genen Gegenwart zu?
'herausgegebene Aufsatzsammlung Philosophy for the Future. The Quest of Mo- 2. Worin bestehen Schopenhauers erkenntniskritische Einwände
dem Materialism, New York 1949. Die jüngsten Entwicklungen reflektieren sich gegen den Materialismus, vorgetragen unter dem Titel einer
in folgenden Schriften, die in Für und Wider als typisch gelten können: Modem »idealistischen Grundansicht« seiner Philosophie? Sodann: In-
Materialism: Readings on Mind-Body Identity, herausgegeben von John
O'Connor, New York 1969; James Feibleman, The New Materialism, The
wieweit lassen sich jene Einwände, gerichtet nicht nur gegen
Hague 1970; Keith Campbell, Body and Mind, New York 1970; Norman einen »vorkritisch« bleibenden Objektivismus, sondern auch
Malcolm, Problems of Mind, New York 1971; einen knappen und kritischen gegen ein mechanistisch beschränktes Naturbild, angesichts
überblick bietet Ian Srzednickis Aufsatz Some Objeaions to Mind-Brain Identi- neuerer Entwicklungen der materialistischen Philosophie wie
ty Theories, in: Philosophia. Philosophical Quarterly of Israel, Band 2, Nr.3,
Ierusalem 1971, S. 205-225. der Wissenschaft noch halten? Anders gefragt: wenn schon ein
, Genannt seien wiederum einige neuere Werke, die den Stand der Diskussion Materialist von Schopenhauer lernen kann, was könnte ein Scho-
charakterisieren: Konrad Lorenz, Die Riickseite des Spiegels. Versuch einer penhauerianer vom modemen Materialismus lernen?
Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München 1973; Bewußtsein. Ein Zen- 3. Wie steht es um den »Materialismus der Sache selbst« in
tralproblem der Wissenschaften, Sammelband, herausgegeben von Hans-Wemer Schopenhauers Denken? Sind nicht- dies,wäre die hier verfoch-
Klement, Baden-Baden 1975; Hoimar v. Ditfurth, Der Geist fiel nicht vom
Himmel. Die Evolution lInseres Bewußtseins, Hamburg 1976; Hans Joachim
tene These - die zahlreichen Materialismen, vielleicht besser:
Bogen, Mensch aus Materie. Werden und Wesen des Homosapiens in biologischer materialistischen Erfahrungsgehalte seines Werks aufs engste
Sicht, München/Zürich 1976. verknüpft mit dem Pessimismus der Willensmetaphysik? Ver-
22 23
weist nicht Schopenhauers Begriff von Metaphysik insofern wie- Mittelalters erwachte. Die Frage nach der Stellung des Denkens
der auf die physische Welt zurück, als der Anstoß zu ihr auf der zum Sein, die übrigens auch in der Scholastik ... ihre große Rolle
Endlichkeit und naturalen Hinfälligkeit des Menschen beruht, gespielt, die Frage: Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die
letztlich auf dem nagenden Bewußtsein des Todes? Natur? - diese Frage spitzte sich, der Kirche gegenüber, dahin
Ehe wir uns dem ersten Punkt zuwenden, sei - um Mißverständ- zu: Hat Gott die Welt erschaffen, oder ist die Welt von Ewigkeit
nisse zu' vermeiden - betont, daß hier unter »Idealismus« und da? Je nachdem diese Frage so oder so beantwortet wurde,
»Materialismus« zunächst keine sittlichen Haltungen verstanden spalteten sich die Philosophen in zwei Lager. Diejenigen, die die
werden, sondern metaphysische Entwürfe, die, mit Heidegger Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten,
zu reden, bestrebt sind, die Frage nach dem Seienden im Ganzen also in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art an-
zu beantworten. Daß gleichwohl - gerade an Schopenhauer läßt nahmen ... , bildeten das Lager des Idealismus. Die andern, die
sich das zeigen - die Option für die eine oder andere Seite die Natur als das Ursprüngliche ansahen, gehören zu den ver-
ethische Konsequenzen hat, wird damit nicht geleugnet. Hier schiedenen Schulen des Materialismus. ,,3 Daneben, führt Engels
geht es lediglich darum, daß wir uns den Blick durch die affektive weiter aus, hat die »Frage nach dem Verhältnis von Denken und
Besetztheit des Wortes »Materialismus« nicht trüben lassen. Sein ... noch eine andre Seite: Wie verhalten sich unsre Gedan-
ken über die ~ns umgebende Welt zu dieser Welt selbst? Ist unser
I Denken imstande, die wirkliche Weh zu erkennen, vermögen
Was den erstgenannten Aspekt betrifft, so ist festzuhalten, daß wir in unsern Vorstellungen und Begriffen ein richtiges Spiegel-
sich Schopenhauer auf der Höhe der Reflexion seines (und auch bild der Wirklichkeit zu erzeugen?« 4 Diese - erkenntnistheoreti-
weithin noch unseres) Jahrhunderts befindet. Ihm ist gegenwär- sche - Seite der von Engels zunächst metaphysisch (oder.ontolo-
tig, was Engels und - ihm folgend - Lenin die »Grundfrage« der gisch) erörterten Alternative Idealismus-Materialismus sollte
Philosophie genannt haben. »Die große Grundfrage aller, spe- sich in der Geschichte des Marxismus als wichtig erweisen. En-
ziell neueren Philosophie«, heißt es in Engels' Schrift über gels übernimmt von Hegel die (freilich auf den Erkenntnispro-
Feuerbach, »ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein. zeß im Sinn durchgängiger Analogie reduzierte) These der
Seit der sehr frühen Zeit, wo die Menschen, noch in gänzlicher »Identität von Denken und Sein« und bekämpft mit ihr Philoso-
Unwissenheit über ihren eigenen Körperbau und angeregt durch phen wie Hume und Kant, welche »die Möglichkeit einer Er-
Traumerscheinungen, auf die Vorstellung kamen, ihr Denken kenntnis der Weh oder doch einer erschöpfenden Erkenntnis
und Empfinden sei nicht eine Tätigkeit ihres Körpers, sondern bestreiten«. 5
einer besonderen, in diesem Körper wohnenden und ihn beim Engels' Ausführungen stammen aus dem Jahre 1886. Erinnern
Tode verlassenden Seele - seit dieser Zeit mußten sie über das wir noch daran, wie sich Fichte, einem von Engels recht verschie-
Verhältnis dieser Seele zur äußern Welt sich Gedanken machen. denen Denker, dasselbe Problem gestellt hat. In seiner 1797
... Die Frage nach dem Verhältnis desDenkens zum Sein, des erschienenen Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre be-
Geistes zur Natur, die höchste Frage der gesamten Philosophie stimmt Fichte die Aufgabe von Philosophie dahingehend, daß sie
hat also, nicht minder als alle Religion, ihre Wurzel in den
bornierten und unwissenden Vorstellungen des Wildheitszu-
stands. Aber in ihrer vollen Schärfe konnte sie erst gestellt wer- } Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philoso-
phie, in: MarxiEngels, Werke, Band 21, Berlin 1962, S. 274; 275.
den, ihre ganze Bedeutung konnte sie erst erlangen, als die euro-
4 Ibid., S. 275.
päische Menschheit aus dem langen Winterschlaf des christlichen 5 Ibid., S. 276.

24
25
den »Grund aller Erfahrung«6 anzugeben hat. Der Philosoph ist,
phie versteht) rein theoretisch zu begründen; denn der "Streit
wie »endliche Vernunftwesen« überhaupt, angewiesen auf Er-
zwischen dem Idealisten und Dogmatiker« ist ihm zufolge »ei-
fahrung, enthält sie doch »den ganzen Stoff seines Denkens«,7
gentlich der, ob der Selbständigkeit des Ich die Selbständigkeit
Allerdings überschreitet er insofern die Schranken des Alltags-
des Dinges, oder umgekehrt, der Selbständigkeit des Dinges, die
verstandes, als er - abstrahierend - »das in der Erfahrung Ver-
des Ich aufgeopfert werden solle«.10 Zwar handelt es sich bei
bundne durch Freiheit des Denkens trennen«8 kann. »In der
Fichtes Alternative zunächst um die »Notwendigkeit des Den-
Erfahrung«, sagt Fichte, »ist das Ding, dasjenige, welches unab-
kens« selbst, »die ... zu der Frage treibt: welches ist der Grund
hängig von unserer Freiheit bestimmt sein, und wonach unsere
der Vorstellungen, oder, was ganz dasselbe heißt, welches ist das
Erkenntnis sich richten soll, und die Intelligenz, welche erken-
ihnen Entsprechende«?l1 Da aber Ich und Ding als selbständige
nen soll, unzertrennlich verbunden. Der Philosoph kann von
Größen bloß im Denken, nicht jedoch realiter, koexistieren kön-
einem von beiden abstrahieren, und er hat dann von der Erfah-
nen und nur »eines ... das Erste, Anfangende, Unabhängige
rung abstrahiert, und über dieselbe sich erhoben. Abstrahiert er
sein«12 kann, bedarf es einer - keineswegs rational begründbaren
von dem ersteren, so behält er eine Intelligenz an sich, das heißt,
- Entscheidung; »denn es ist nicht von Anknüpfung eines Glie-
abstrahiert von ihrem Verhältnis zur Erfahrung; abstrahiert er
des in der Reihe, wohin allein Vernunftgründe reichen, sondern
von dem letzteren, so behält er ein Ding an sich, das heißt,
von dem Anfangen der ganzen Reihe die Rede, welches, als ein
abstrahiert davon, daß es in der Erfahrung vorkommt, als Erklä-
absolut erster Akt, lediglich von der Freiheit des Denkens ab-
rungsgrund der Erfahrung übrig. Das erste Verfahren heißt Idea-
hängt. Er wird daher durch Willkür, und da der Entschluß der
lismus, das zweite Dogmatismus. Es sind ... nur diese beiden
Willkür doch einen Grund haben soll, durch Neigung und Inter-
philosophischen Systeme möglich. Nach dem ersten Systeme
esse bestimmt. Der letzte Grund der Verschiedenheit des Ideali-
sind die von dem Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vor-
sten und Dogmatikers, ist sonach die Verschiedenheit ihres In-
stellungen Produkte der ihnen in der Erklärung vorauszusetzen-
teresses.« 13 Glaubt dieser an die Dinge »um ihrer selbst willen«,
den Intelligenz; nach dem letzteren, Produkte eines ihnen vor-
weiß er sich als ein »nur durch die Objekte getragenes Selbst« 14,
auszusetzenden Dinges an sich . ... Es wird gar nicht geleugnet,
so bedarf jener, in unmittelbarer Selbstgewißheit, keiner ihn
daß es wohl möglich sei, aus Bruchstücken dieser ungleichartigen
stützenden Außenwelt. »Das Ich, das er besitzt, und welches ihn
Systeme ein Ganzes zusammenzuschmelzen, und daß diese in-
interessiert, ... glaubt an seine Selbständigkeit aus Neigung, er
konsequente Arbeit wirklich sehr oft getan worden: aber es wird
ergreift sie mit Affekt.«15
geleugnet, daß bei einem konsequenten Verfahren mehrere als
diese beiden Systeme möglich seien.«9 Engels und Fichte - zwei nach Lehre und geschichtlichem Ort
kaum vergleichbare Autoren - wurden hier mit charakteristi-
Fügen wir dem hinzu, daß Fichte - darin Engels verwandt _ die
schen TextsteIlen vorgeführt, um zu belegen, daß die »höchste
Möglichkeit bestreitet, eine Parteinahrne, sei's für den Idealis-
Frage der gesamten Philosophie«, wie Engels sie nennt, keine
mus, sei's für den Dogmatismus (worunter er unmittelbar das
marxistische Erfindung ist. Jedes einigermaßen konsequente
System Spinozas, im weiteten Sinn die materialistische Philoso-
10 Ibid., S. 18.
, Fichte, Erste lind zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, herausgegeben von
Fritz Medicus, Hamburg 1954, S. 10. ' " Ibid., S. 19.
7 Ibid., S. 12. 11 Ibid.

8 Ibid. IJ Ibid. (Hervorhebungen von Fichte).

14 Ibid., S. 20.
9 Ibid., S. 12; 13 (Hervorhebungen von Fichte).
15 Ibid.
26
27
Denken, vollends das Schopenhauersche, stößt - bei aller tenn i- dualistischer (oder spiritualistischer) Metaphysiken begünstigt.
nologischen Eigenart - auf das nämliche Sachproblem: die Ist 'einmal der einzelne Mensch aufgespalten in einen edleren,
strenge Unterscheidung von Idealismus und Materialismus. Daß überdauernden Teil und einen weniger edlen, hinfälligen, so
sie sich nicht im Erkenntnistheoretischen erschöpft, sondern bietet sich, religiös wie in philosophisch vennittelter Fonn, der-
einen metaphysischen, damit auch ethischen Hintergrund hat, von Engels verworfene - Gedanke einer »Weltschöpfung« von
erhellt aus Fichtes Eintreten für den Idealismus, der ihm zufolge
selbst an.
Freiheit voraussetzt und verbürgt. 16 Jener - auf Kant zurückge- Auch Schopenhauer geht davon aus, daß das »metaphysische
hende - Hintergrund fehlt auch bei Schopenhauer nicht; er ver- Bedürfnis des Menschen« - erörtert wird es im ergänzenden Teil
wirft den krassen Naturalismus als »absolute Physik« und ver- des Hauptwerks - eher mit den empirischen Bedingungen seiner
weist ihr gegenüber auf die metaphysische, für alle gerecht und Existenz gesetzt ist als mit dem (für sich betrachteten) Denk-
gut Denkenden verbindliche überzeugung, daß »die Ordnung vermögen. Der Mensch, sagt Schopenhauer, ist »das großen und
der Natur« nicht »die einzige und absolute Ordnung der kleinen Unfällen, ohne Zahl, täglich und stündlich Preis gegebe-
Dinge«17 ist. - Was das Engelssche Verfahren betrifft, die Frage ne, hülfsbedürftigste Wesen ... , welches daher in beständiger
nach dem genetischen und kognitiven Verhältnis von Geist und Sorge und Furcht zu leben hat«.19 Es ist »das Wissen um den Tod,
Natur nicht allein im Medium abstrakter Begrifflichkeit zu stel- und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der Noth des
len und zu beantworten, sondern stets auch auf praktisch-ge- Lebens, was den stärksten Anstoß ... zu metaphysischen Ausle-
schichtlichem Boden, so ist es Schopenhauer weriiger fremd, als gungen der Welt giebt. Wenn unser Leben endlos und schmerz-
man zunächst vermuten möchte. »Der Mensch«, heißt es im los wäre, würde es vielleicht doch Keinem einfallen zu fragen,
Handschriftlichen Nachlaß, »ist ... ein praktisches Wesen: denn warum die Welt dasei und gerade diese Beschaffenheit habe;
das Primäre in ihm, der WIlle prädominirt über den Intellekt.« 18 sondern eben auch sich Alles von selbst verstehn.«20 Engels'
Dieser ist sekundär. Seine Funktionen stehen, nonnalerweise, im Definition, Materialismus sei die Erklärung der Welt ohne Zuhil-
Dienste des Lebens, das unentwegt danach trachtet, sich zu fenahme eines ihr Vorgängigen und Fremden, gilt - mutatis
erhalten und zu steigern. Selbst die Inhalte von Religion und mutandis - auch für Schopenhauer. »Der ernstlich gemeinte
Metaphysik entspringen nicht bloßer Reflexion, sondern sind Theismus«, heißt es im ersten Teil der Parerga, »setzt nothwen-
»vortheoretisch« gegeben. Wenn Engels betont, die »höchste«, dig voraus, daß man die Welt einteile in Himmel und Erde: auf
das heißt nicht hinterschreitbare »Frage der gesamten Philoso- dieser laufen die Menschen herum; in jenem sitzt der Gott, der sie
phie« habe, »nicht minder als alle Religion, ihre Wurzel in den regiert. Nimmt nun die Astronomie den Himmel weg; so hat sie
... Vorstellungen des Wildheitszustands«, so pflichtet dem den Gott mit weggenommen: sie hat nämlich die Welt so ausge-
Schopenhauer - der Sache nach - ebenso bei wie der grundsätzli- dehnt, daß für den Gott kein Raum übrig bleibt. Aber ein per-
cheren These von Engels, daß die durch das unentrinnbare Fak- sönliches Wesen, wie jeder Gott unumgänglich ist, das keinen
tum des Todes hervorgerufene Verlegenheit das Aufkommen Ort hätte, sondern überall und nirgends wäre, läßt sich bloß
16 Cf. ibid., S. 30ff.
sagen, nicht imaginiren, und darum nicht glauben.«21 Fragwür-
dig ist die Annahme eines Hervorgangs der Welt aus Gott nicht
17 Schopenhauer, Sämtliche Werke, herausgegeben von Arthur Hübscher, Band 3,
Wiesbaden 1949, S. 194. nur angesichts naturwissenschaftlicher ~esultate - sie ist vor
" Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß, herausgegeben von Arthur Hüb-
19 Schopenhauer, Siimtliche Werke, Band 3, I. c., S. 164f.
scher, IU. Band, Frankfurt am Main 1970, S. 578 (Hervorhebungen von Scho-
penhauer). 10 Ibid., S. 17M.
!l Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 5, Wiesbaden 1946, S. 55.
28
29
allem moralisch verwerflich. Die Welt, konzediert Schopen- penhauer »an sich selbst ein so kolossaler Gedanke, . . . daß
hauer, mag einzelwissenschaftlich, obschon nicht restlos, er- außerordentliche Dreistigkeit dazu gehört, den Leuten aufbin-
forschbar sein. Aus sich selbst zu rechtfertigen ist sie nicht. Es den zu wollen, er verstehe sich von selbst« .28 Schopenhauer - das
läßt sich keine »Endursache ihres Daseyns«22 angeben. Wir kön- folgt aus dem Angeführten -lehnt ebenso den allemal optimisti-
nen nicht nachweisen, daß »sie zu ihrem eigenen Vortheil da- schen Pantheismus ab. Die »Hegelsche Weisheit, ... daß die
sei«.23 Zum theoretischen Problem wird sie eben dadurch, daß Welt ein krystallisirter Syllogismus sei«29, ist ihm nicht weniger
sie, »praktisch ausgedrückt, nicht seyn sollte«.24 Aus ihrer meta- verdächtig als Versuche, den Naturlauf theologisch zu verklären.
physischen Beschaffenheit folgt zwingend, daß »nur ein blinder, Auch eine »Natura naturans« - Schopenhauer denkt an seine
kein sehender Wille sich selbst in die Lage versetzen [konnte], in Willensmetaphysik - ist kein sich »unmittelbar von selbst« ver-
der wir uns erblicken. Ein sehender Wille würde vielmehr bald stehender Gott; »denn dem Demokrit, Epikur, Lukrez und sy-
den überschlag gemacht haben, daß das Geschäft die Kosten steme de la nature war die N atura naturata Alles in Allem: und
nicht deckt, indem ein so gewaltiges Streben und Ringen, mit jeder von diesen Männern ist mehr werth als eine Legion Wetter-
Anstrengung aller Kräfte, unter steter Sorge, Angst und Noth, fahnen, deren Philosophie sich nach dem Winde dreht«.30 -
und bei unvermeidlicher Zerstörung jedes individuellen Lebens, Bezeichnend, daß Schopenhauer angesichts konformistischer,
keine Entschädigung findet in dem so errungenen, ephemeren, nach Kants Kritik philosophisch untauglicher Rettungsversuche
unter unseren Händen zu nichts werdenden Daseyn selbst.«25 vage theologisierender Kreise sich bei großen Materialisten im-
Die sich »hinter einem Bollwerk schallender Worte«26 verschan- mer noch in besserer Gesellschaft weiß.
zende Theologie, zumal von Philosophieprofessoren, will- of- Kommen wir jetzt auf Schopenhauers Behandlung dessen zu-
fenbar unberührt vom Elend dieser Welt - nicht von dem Dogma rück, was in der marxistischen Schulsprache die »Grundfrage der
lassen, das Ganze der Dinge sei einem Logischen, einer Intelli- Philosophie« heißt. Wir werden dabei auf Parallelen zu Engels
genz entsprungen. Es gehört zu Schopenhauers Redlichkeit, sich stoßen, die freilich, wenn wir den Blick von den Personen auf die
mit derlei verbalen Künsten nicht abspeisen zu lassen. So bringt Sachen lenken, weniger erstaunlich sind; als es zunächst den
er seine Gegner gerade dadurch in Bedrängnis, daß er ihnen Anschein hat. Hebt Engels hervor, daß jene Grundfrage •• in ihrer
gegenüber am streng traditionellen Gottesbegriff festhä1t: »Ein vollen Schärfe« erst nach dem »langen Winterschlaf des christli-
Gott ist nothwendig ein persönliches Wesen: ein unpersönlicher chen Mittelalters« gestellt werden konnte, so läßt auch Schopen-
Gott ist gar kein Gott, sondern nur ein mißbrauchtes Wort ... hauer seine knappe Geschichte der »Lehre vom Idealen und
Persönliche Wesen aber, d. h. individuell erkennende und wol- Realen« mit Descartes beginnen, mit einer Zeit also, die über die
lende Wesen, sind eine Erscheinung, die uns schlechterdings nur Autorität der Bibel und des Aristoteles hinausgelangt war. »Car-
aus der animalischen Natur bekannt ist und die wir uns als von tesius«, sagt Schopenhauer, »gilt mit Recht für den Vater der
dieser getrennt nicht ein Mal vorstellen können.«27 Daß ein neuern Philosophie, ... weil er zuerst sich das Problem zum
persönliches Geistwesen »Ursprung der Welt« sei, ist für Scho- Bewußtseyn gebracht hat, um welches seitdem alles Philosophie-
ren sich hauptsächlich dreht: das Problem vom Idealen und
12 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c., S. 664.
2J Ibid. Realen, d. h. die Frage, was in unserer Erkenntniß objektiv und
24 Ibid. (Hervorhebung von Schopenhauer). was darin subjektiv sei, also was darin etwaningen, von uns
25 Ibid., S. 665.
28 Ibid., S. 615.
2. Schopenhauer, Der handschnftliche Nachlaß, III. Band, I. c., S. 614 ..
27 Ibid., S. 614 f. ,. Ibid., S. 582 (Hervorhebungen von Schopenhauer).
JO Ibid., S. 614.

30
3\
verschiedenen Dingen, und was uns selber zuzuschreiben sei.«31 bloßen Vorstellung gegeben werden«.34 Es muß deshalb, »weil
Im weiteren schildert Schopenhauer die vorkritisch-abbildreali- doch wir selbst unstreitig real sind, aus dem Innern unsers eige-
stisch gegebene Situation und die mit ihr sogleich einhergehen- nen Wesens die Erkenntniß des Realen ... zu schöpfen seyn«.35
den Schwierigkeiten: »In unserm Kopfe nämlich entstehn, nicht Worin aber besteht in uns dieses nicht diskursiv, sondern intuitiv
auf innern, - etwan von der Willkür, oder dem Gedankenzusam- zu erfassende »Reale«? Es ist dasjenige, was die Identität der
menhange ausgehenden, - folglich auf äußern Anlaß, Bilder. Person ausmacht. Gestiftet wird sie, nach Schopenhauer, weder
Diese Bilder allein sind das uns unmittelbar Bekannte, das Gege- durch den - im Verlauf eines Lebens wandelbaren - Leib noch
bene. Welches Verhältniß mögen sie haben zu Dingen, die völlig d1.lrch die Einheit des Bewußtseins: »Im Herzen steckt der
gesondert und unabhängig von uns existirten und irgendwie Mensch, nicht im Kopf. Zwar sind wir, in Folge unserer Relation
Ursache dieser Bilder würden? Haben wir Gewißheit, daß über- mit der Außenwelt, gewohnt, als unser eigentliches Selbst das
haupt solche Dinge nur dasind? und geben, in diesem Fall, die Subjekt des Erkennens, das erkennende Ich, zu betrachten ...
Bilder uns auch über deren Beschaffenheit Aufschluß? _ Dies ist Dieses ist jedoch . . . bloße Gehirnfunktion und nicht unser
das Problem, und in Folge desselben ist, seit 20d Jahren, das eigenstes Selbst.«36 Fragen wir im Ernst, wie es darum bestellt ist,
Hauptbestreben der Philosophen, das Ideale, d. h. Das, was un- so stoßen wir auf den Willen als einheitlichen Wesenskern; er ist
serer Erkenntniß allein und als solcher angehört, von dem Rea- erkenntnislos, jedoch »unveränderlich, unzerstörbar ... , nicht
len, d. h. dem unabhängig von ihr Vorhandenen, rein zu sondern, physisch, sondern metaphysisch, nicht zur Erscheinung gehörig,
durch einen in der rechten Linie wohlgeführten Schritt, und so sondern das Erscheinende selbst«.3?
das Verhältniß Beider zu einander festzustellen.«32 Andererseits bedarf es immer auch des Physischen, wenn man
Sowenig es sich hier darum handeln kann, Schopenhauers über- darauf abzielt, sich des Metaphysischen zu v;!rsichern. Zwar
legungen aus dem ersten Band der Parerga ausführlich zu kom- werde ich des Willensprimats als einer (auf anderes irredukti-
mentieren - sie enthalten, worauf es uns ankommt, eine klare bIen) Tatsache meines Selbstbewußtseins unmittelbar inne.
Exposition der für die neuzeitliche Philosophie und ihr gegen- Doch ist, wie Schopenhauer betont, diese Erkenntnis des Willens
wärtiges Fortwirken entscheidenden Problematik. Ihre von keineswegs abzulösen von der meines Leibes: »Ich erkenne mei-
Schopenhauer vorgetragene Lösung liegt beschlossen im Titel nen Willen ... nicht als Einheit ... , sondern allein in seinen
seines Hauptwerks. Dieses - Metaphysik und Gnoseologie zu- einzelnen Akten, also in der Zeit, welche die Form der Erschei-
gleich - ist bestrebt, alles Sein und Erkennen auf etwas zurückzu- nung meines Leibes, wie jedes Objekts ist: daher ist der Leib
führen, »worüber hinaus es kein Erklärungsprincip mehr geben Bedingung der Erkenntniß meines Willens«38 oder, anders ge-
kann; weil es das Unmittelbarste und also Letzte ist«.33 Dabei wendet, was anschaulicher Vorstellung sich als Leib darstellt,
folgt Schopenhauer insofern der durch Descartes eröffneten Ent- »nenne ich, sofern ich desselben auf eine ... keiner andern zu
wicklungslinie, als auch er das Selbstbewußtsein für allein gewiß, vergleichende Weise mir bewußt bin, meinen Willen«.39
alles übrige jedoch für problematisch hält. Da wir ein für allemal
dem Umkreis des »Idealen«, das heißt unserer Subjektivität ver- 34 Ibid., S. 20f. (Hervorhebung von Schopenhauer).
haftet sind, kann uns das »absolut Reale, oder das Ding an sich 35 Ibid., S. 21 f.
36 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c., S. 270f. (Hervorhebungvon Scho-
selbst, ... nimmermehr geradezu von außen, auf dem Wege der penhauer). .
JI Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 5, I. c., S. 3. 37Ibid.
32Ibid. 3B Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, Wiesbaden 1949, S. 121.
33 Ibid., S. 20. " Ibid., S. 122.

32 33
Bezogen auf seinen Leib, ist das Subjekt der Erkenntnis empiri-
sches Individuum; es erfährt sich »über sein Wirken und Bewe- Raum und Zeit und Kausalität, ... als Vorstellung dem Idealen
angehört; als das Reale aber allein der Wille übrig bleibt ... Wille
gen auf Motive« sowie »über sein Leiden durch äußere Einwir-
kung« 40 in seinem An-sich. Unter allen möglichen Vorstellungen und Vorstellung allein sind von Grund aus verschieden, sofern sie
ist es nur die seines Leibes, welche ihm dazu verhilft, seiner selbst den letzten Gegensatz in allen Dingen der Welt ausmachen ...
Das vorgestellte Ding und die Vorstellung von ihm ist das Selbe,
als Wille bewußt zu werden, das heißt als etwas, das den Bezirk
aber auch nur das vorgestellte Ding, nicht das Ding an sich selbst:
bloßer Vorstellungen transzendiert. Wird nach der "Realität der
Außenwelt« gefragt, so kann es lediglich darum gehen, ob die dieses ist stets Wille, unter welcher Gestalt auch immer er sich in
der Vorstellung darstellen mag.«44
dem Individuum »nur als Vorstellungen bekanntencObjekte«
zugleich - analog zu seinem Leib - »Erscheinungen des Willens In Schopenhauers Scheidelinie zwischen den Sphären des Idealen
sind«.41 Wir müssen, laut Schopenhauer, annehmen, daß dem so und des Realen reflektiert sich die eigentümlich verwickelte Pro-
ist; anderenfalls wäre das Gespenst des Solipsismus, der rein blemlage seines Philosophierens. Mit Kant hält er an der Distink-
argumentativ kaum widerlegt werden kann, nicht zu bannen. tion von Erscheinung und Ding an sich fest. Sofern er jedoch, im
Was von unserem Leibe gilt: daß wir von ihm zwei gänzlich Einklang mit den (sonst von ihm souverän mißachteten) Vertre-
verschiedene Arten der Erkenntnis besitzen, muß entsprechend tern nachkantisch-spekulativen Denkens, das Ding an sich für
von allen sonstigen Objekten gelten. Wille und Vorstellung sind erkennbar erklärt, überschreitet auch er die kritizistische Grenze
die beiden Letztelernente des Selbstbewußtseins. Soll der _ zu- von Erkenntnis. Dies freilich nicht im Sinn eines schlechten
nächst nur ihm gegebenen - Körperwelt zugleich die »größte uns Widerspruchs. Daß Schopenhauer die Erkennbarkeit des Dinges
an sich mit dessen Getrenntheit von der Erscheinungswelt zu
bekannte Realität« zukommen, so kann sie nur diejenige sein,
»welche für Jeden sein eigener Leib hat: denn der ist Jedem das vereinbaren sucht, beruht auf seiner entschiedenen Absage an ein
Realste«.42 Seine Realität analysierend, stellen wir fest, daß er, positiv Unendliches. Schopenhauer hütet sich, jene Erkennbar-
abgesehen von der vorstellungsmäßigen Seite, Wille ist. >? Wir keit mit der »Vergeistigung« des an sich Erkannten zu erkaufen.
Ihm ist das apologetische, den Weltlauf verklärende Moment
können daher«, schlußfolgert Schopenhauer hieraus, »eine an-
derweitige Realität, um sie der Körperwelt beizulegen, nirgends aller Identitätsphilosophie bewußt. 45 Gleichwohl besteht auch
finden. Wenn also die Körperwelt noch etwas mehr seyn soll, als für Schopenhauer keine unvermittelte Dualität der Bereiche;
bloß unsere Vorstellung, so müssen wir sagen, daß sie ... an sich beide gehören, obzwar ihnen verschiedene Erkenntnisweisen
und ihrem innersten Wesen nach ... Das sei, was wir in uns zugeordnet sind, der nämlichen Welt an. Vorstellung und Wille
selbst unmittelbar als Willen finden.«43 (mit deutlichem Vorrang des letzteren innerhalb der Vermitt-
Hieraus ergibt sich, daß die von Schopenhauer (im Sinn der lung) sind ihre Attribute.
philosophiegeschichtlichen Entwicklung seit Descartes) gefor- Daß Schopenhauer die gemeinhin »materiell« genannte, raum-
derte Demarkationslinie zwischen Realem und Idealem so aus- zeitlich und kausal strukturierte Welt dem »Idealen« zurechnet,
dessen Wesen dagegen: das »Reale« im Willen erblickt, ist in der
fällt, daß »die ganze anschaulich und objektiv sich darstellende
Welt, mit Einschluß des eigenen Leibes eines Jeden, sammt Literatur immer wieder als objektiv-idealistischer Grundzug sei-
ner Lehre verstanden worden. Schopenhauer selbst legt diese
'" Ibid., S. 123.
'1 Ibid., S. 124. .. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 5, I. c., S. 21 (Hervorhebungen von Scho-
" Ibid., S. 125. penhauer). -
" Ihid., S. 125 f. 45 Darin strikter Gegner namentlich HegeIs, spem sich Schopenhauer dagegen, den

Weltkem zu einem Sinnstiftenden zu erheben, ihn gar zu vergotten.


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Interpretation nahe, wenn er sich in seiner naturphilosophischen dem, was Schopenhauer anderswo über den alogischen, blind-
Schrift folgendennaßen äußert: »Die wahre Physiologie ... dranghaften, rast- und ruhelosen Charakter des Willens sagt,
weist das Geistige im Menschen (die Erkenntniß) als Produkt nimmt sich die Rede, auch er sei ein »Geistiges«, zunächst be-
seines Physischen nach; ... aber die wahre Metaphysik belehrt fremdlich aus. Sieht man näher zu, so wird jedoch klar, daß das
uns, daß dieses Physische selbst bloßes Produkt, oder vielmehr von Schopenhauer als Wille bezeichnete »Geistige« keineswegs
Erscheinung, eines Geistigen (des Willens) sei.« 46 Die »materiali- gleichgesetzt werden darf mit dem »Geistigen« als Erkenntnis,
stische« Abhängigkeit des Geistigen von Hirn- und Nervenpro- von dem er zuerst spricht; »Begriffliches« im Hege!schen Sinn ist
zessen wird so ihrerseits zum bloßen Derivat. Verglichen mit dem Willen fremdY Wenn Schopenhauer ihn trotzdem ein
»Geistiges« nennt, so deshalb, weil er nicht »materiell« ist, son-
46 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 4, Wiesbaden 1950, S. 20. _ Die marxisti- dern natura naturans: eine allem dinglich-körperhaft verstande-
sche Orthodoxie hat denn auch seit Lenin Schopenhauers Metaphysik ohne viel
Federlesens dem Idealismus -objektiver .. Spielart zugerechnet. Lenin erwähnt
nen Stoff gegenüber vorrangige, ihn aber durchdringende Ur-
sie polemisch in einem Atemzuge mit der von Fichte und Hegel: -Die Welt ist das oder Naturkraft.
Nicht-Ich, das von unserem Ich geschaffen wurde, sagte Fichte. Die Welt ist die Verdeutlichen wir uns den letzteren Zusammenhang genauer.-
absolute Idee, sagte Hege!. Die Welt ist Wille, sagte Schopenhauer.... Man Die »Realität« des Willens (im Sinn der Demarkationslinie zwi-
müßte blind sein, um in den verschiedenen sprachlichen Verkleidungen nicht den
gleichen idealistischen Kern zu sehen ... In: Materialismus und Empiriokn'tizis- 47 Auf einem anderen Blatt steht die schwierige, hier nicht näher zu erörternde
mus, Berlin 1967, S. 226 (Hervorhebung von Lenin); cf. auch S. 189. T. I. Oiser- Frage, inwieweit Schopenhauers Denken dem HegeIschen näher steht, als ihm
man, ein bekannter Vertreter des sowjetischen Marxismus, gibt den neuesten selbst bewußt war. Max Horkheimer - daran sei erinnert - ist ihr nachgegangen:
Stand der Auseinandersetzungen wie folgt wieder: -Arthur Schopenhauer war _Auch der klassische Idealismus der Nachfolger Kants - darin sind sie Schopen-
wohl der erste idealistische Philosoph, der Bewußtsein und Geist als physiolo- hauer verwandt - hat die Utopie im Grund preisgegeben. Der Gegensatz der
gisch bedingt betrachtet. Er solidarisiert sich in dieser Frage mit der Naturwis- Welt und dessen, was sie sein soll, gilt ihnen als überwunden, wenn er im
senschaft, verbleibt aber auf den Positionen des Idealismus. Das Wesen der Gedanken aufgehoben ist. Nur in der verdünnten Form des vergöttlichten
idealistischen Lösung der Grundfrage der Philosophie besteht nicht unbedingt Subjekts überlebt die Utopie .... Das Ding an sich wird mit dem Subjekt
darin, Bewußtsein, Denken und Geist als primär anzunehmen. Diese Auffassung ineinsgesetzt, doch nicht als Negativum, sondern als das positive Unbedingte .
. . . ist charakteristisch für den rationalistischen Idealismus. Sein Gegenpol inner- Hegel hat es als den lebendigen Begriff gesehen, die unendliche Bewegung, in
halb ein und derselben idealistischen Richtung ist der Irrationalismus. Letzterer welcher der Gegensatz von Sache und Gedanke sich als bedingt erweist. Aber der
lehnt die These vom Primat der Vernunft, des Denkens und des Bewußtseins ab Schopenhauer so verhaßte Hege! ist ihm nicht so fern. Das Leben des Begriffs,
und beweist, daß diese intellektuellen Formen des Geistigen sekundär sind; des HegeIschen Absoluten, ist der Widerspruch, das Negative und der Schmerz.
primär sind nur der Wille, das Unbewußte, der irrationale Elan vital usw. Es Was bei Hegel Begriff heißt, ... ist nichts anderes als das Entstehen und Verge-
wäre deshalb ... ein dogmatisches Ignorieren der wirklichen Tendenzen in der hen dessen, was es begreift.... Der Trost, den sein ,ruchloser Optimismus< zu
Entwicklung des Idealismus, die für ihn charakteristische Deutung des Verhält- spenden vermag) bleibt letzten Endes die Einsicht in die notwendige Verflech-
nisses von Geistigem und Materiellem auf die starre Eingleisigkeit: das Bewußt- tung der Begriffe zum Ganzen) jener brüchigen Einheit, die System heißt. Das
sein (das Denken) ist primär, die Materie (das Sein) ist'sekundär, zu reduzieren. Wiedererkennen der logischen Strukturen in Natur und Menschenwelt, auf das
Die irrationalistische Interpretation des Primären stellt sich nicht selten sowohl es bei HegeI ... ankommt, ist der ästhetischen und philosophischen Kontempla-
zur materialistischen als auch zur idealistischen (rationalistischen) Lösung der tion bei Schopenhauer keineswegs so fern, wie es ihm selbst geschienen hat....
Grundfrage der Philosophie in Gegensatz.« Zu Schopenhauer schreibt Oiserman Die Nuance, um die Schopenhauer in der Auflösung des falschen Trostes weiter
abschließend: .In dieser Konzeption ist kein Gran Materialismus enthalten, geht als Hege!, liegt in seiner Weigerung, die Konsistenz des die Welt umspan-
ungeachtet der ganz bewußten Ausnutzung der bekannten materialistischen nenden Systems und damit die Entwicklung der Menschheit bis zu dem Zustand,
Auffassung... In: Die philosophischen Grundn'chtungen, Berlin 1976, S. 10H.- auf dem solche philosophische Einsicht möglich wird, als Grund dafür anzuer-
Fraglos treffen Oisermans überlegungen einen wichtigen Aspekt sowohl des kennen, das Sein zu vergotten« (Die Aktualität Schopenhauers, in: Zur Kritik der
Schopenhauerschen Selbstverständnisses wie der traditionellen Art der Rezep- instrumentellen Vernunft, herausgegeben von Alfred Schmidt, Frankfurt am
tion seines Werks.
Main 1967, S. 259; 160; 261).
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schen Idealem und Realem) beruht darauf, daß er unabhängig nert, auf »Einheit, Ganzheit, Substanz« und ),Unzerstörbar-
vom menschlichen Erkenntnisapparat und der durch ihn konsti- keit«.50 Bloch kennzeichnet das schwierige N eben- und Ineinan-
tuierten Objektwelt existiert. Dies allerdings nicht in freier der von Kantianismus und nachkantischer Spekulation bei Scho-
Schwebe. Stets ist der Wille relativ auf Materie, die das Band penhauer folgendermaßen: »Wenn das Ding an sich in der
zwischen seiner Welt und der Welt als Vorstellung bildet und Selbsterfahrung, nur unter dem dünnen Schleier der Zeit verbor-
ihm derart zu drastischer Sichtbarkeit verhilft. So sind »Zähne, gen, als Wille erscheint, so erscheint dieser in der äußeren Erfah-
Schlund und Darmkanal ... der objektivirte Hunger; die Geni- rung, mit Zeit, Raum und Kausalität tingiert, als Materie, diffe-
talien der objektivirte Geschlechtstrieb«.48 Vom Willen konkret renziert aber ist diese Materie in den Stufen der Willenswelt, eben
sprechend, ist Schopenhauer unentwegt genötigt, sich auf die in den natürlichen Objektivationen des Willens. «5t Sie bilden
erscheinende Natur (natura naturata) einzulassen. Diese ge-
eine Abfolge, welche, gesteigert zum Organischen, der Materie
winnt so eine Objektivität, die ihr von der phänomenalistischen eine qualitativ neue Funktion verleiht. In Tier und Mensch ist sie
Erkenntnislehre gerade entzogen wird. Materie, sonst Vorder- nicht länger nur Sichtbarkeit des Willens, sondern dessen Mate-
grund und Staffage, gelangt dadurch zu Eigengewicht, daß der rial. Hieraus entwickelt Bloch, der (anders als Schopenhauer, der
Wille, obgleich primär, durchgängig auf sie verwiesen bleibt. dies jedoch nicht durchhalten kann) Materialismus und Meta-
"Was also Schopenhauers andere Seite«, schreibt Bloch, »die physik einander nicht unversöhnbar entgegensetzt, die Konse-
zentrale Willensmetaphysik angeht, da gibt es sehr viel Materia- quenz einer vitalistisch-materialistischen Metaphysik: Materie
lismus, sogar der Intellekt erscheint ... als )Gehirnphänomen<. »wird das Fleisch, das das fressende Tier, als Objektivation des
Die Willenswelt steigt durchaus vom Mechanismus über Che-
mismus, Animalität und dergleichen zum Bewußtsein auf; die 50Ibid., S. 274. - Horkheimer hat die hier von Bloch angeführten Charaktere der
Stufen dieses Aufstiegs aber heißen - ganz ohne Bezug zum Entsprechung von Materie und Wille, insbesondere die Einheit, unter dem
Subjekt - )Objektitäten< oder )Objektivationen< des Willens. Gesichtspunkt eines selbst in Schopenhauer noch enthaltenen .metaphysischen
Hier kehrt auch Materie wieder, eine zweite Maten·e, sozusagen, Optimismus« kritisch untersucht: Die »Anwendung kategorialer Strukturen wie
mein und dein intelligibler Charakter, Anfang und Ende, Schuld und Einheit auf
vom bloßen Kausalitätsschein verschieden. Statt des )bloß For-
eben das Jenseits, vor dem doch die Kategorien versagen, ist ein Traum, selbst
mellen der Vorstellung< wird Materie hier zum Kern der Sache, wenn die Deutung des Inneren aller Wesen nach Analogie der Erfahrung des
statt des abstrakten Begriffs sogar zur Anschauung.«49 eigenen Innern ein wahrlich erhellender Gedanke ist. ... Am deutlichsten tritt
Hüten wir uns jedoch vor Mißverständnissen. Festzuhalten der metaphysische Optimismus Schopenhauers in seiner übernahme des My-
thos der Seelenwanderung hervor, wo nicht bloß ein verschiedenes transzenden-
bleibt nämlich, daß Materie auch hier noch »Sichtbarkeit« des
tes Schicksal der Einzelseelen, sondern die reale Möglichkeit eines erlösenden
Dinges an sich ist - nicht es selbst. Zur Erscheinungswelt ge- Ausgangs für bestimmte unter ihnen behauptet wird. Die Trennung vom Einen
hörig, ist sie deren (subjekteigenen) Formen unterworfen. höre auf. Es gehört ein starker Glaube dazu, die Kategorie der Einheit für
Gleichzeitig aber geht Schopenhauer - darin Metaphysiker nach- weniger scheinhaft zu halten als die der Vielheit, die Projektion des Alleinherr-
kantischen Typs - von der so bestimmten Materie über zum schers für realer als die der Aristokratie oder des Liberalismus. Ist die individua-
tio Resultat subjektiver Vermögen, dann ist die Einheit nicht weniger als die
Willen als dem Ding an sich. Formale Gemeinsamkeiten beider
Vielheit ihr Produkt, und es hängt von historischen Bedingungen ab, was von
(die auf die »Strukturiertheit« auch des Willens verweisen) wer- beiden jeweils vorwiegend hypostasiert und was als bloßer Schein betrachtet
den deutlich; sie beziehen sich, woran Bloch nachdrücklich erin- worden ist« (in: Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung, herausgegeben von
Werner Brede und mit einer Einleitung von Alfred Schmidt, Frankfurt am Main
" Schopenhauer, Siimtliche Werke, Band 2, I. c., S. 129.
1974, S. 186).
49Ernst Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frank-
51 Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, I. c., S. 274
furt am Main 1972, S. 273 f. (Hervorhebungen von Bloch).
(Hervorhebungen von Bloch).
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stärkeren Willens, der gefressenen des schwächeren Willens ent- Hauptwerks, die Materialisten seien zu Recht um den Nachweis
reißt, und um das hier aller Streit geht. . .. Freilich tritt die bemüht, "daß alle Phänomene, auch die geistigen, physisch
unterjochte Materie auch am starken Sieger im Tod wieder her- sind«, nur entgehe ihnen dabei, "daß alles Physische andererseits
vor; dieser macht ... den bloßen Pyrrhussieg der Unterjochung, zugleich ein Metaphysisches ist«56, so tritt - gemäß obigen über-
Assimilation kenntlich. Erst recht aber zeigt sich in dem durch legungen - zu diesem Verhältnis das gerade umgekehrte hinzu.
überwältigung entstandenen Stufen bau die Leerheit des Willens Erschöpft sich nämlich das Sein des Physischen nicht darin, als
selbst: denn da außer ihm nichts existiert, so zerreißt der Wolf, bloßer Vor-Schein des Metaphysischen zu fungieren, erweist es
der das Lamm zerreißt und dessen Materie frißt, allemal sich sich, obschon auf vielfach vermittelte Weise, zugleich als dessen
selbst, in bloßer Entzweiung des Einen Willens. Hier wird die realer Gehalt, so stellt das Metaphysische sich dar als das Physi-
überraschung groß: Materie und Wille rücken endgültig Zusam- sche im Ganzen - gedeutet unter dem Aspekt perennierenden
men; denn es ist eben ja Wille, den der Wille in Gestalt von Leidens.
Materie frißt, immer der gleiche, der Eine Wille, ohne Täuschung
der Vielheit, der verschiedenen Individuationen, wo nicht gar der II
Objektivationen.«52 Untersuchen wir jetzt - überleitend zum zweiten Punkt der
Die zunächst - unter dem Aspekt der Materie als Sichtbarkeit des Diskussion -, was Schopenhauer des näheren unter »Materialis-
Willens - eher formalen Übereinstimmungen jener Sichtbarkeit mus« verstanden hat. Seine Schriften kommen auf die Ansichten
mit dem Willen selbst erweisen sich nunmehr als inhaltlich. seiner Vertreter häufig und an den verschiedensten Stellen zu
Erfolgt ist ein (im Hegelschen Sinn) logischer übergang vom sprechen. Neben schroff ablehnenden finden sich zustimmende
erscheinenden Wesen zur wesentlichen Erscheinung. Der Wille Urteile. Eine bündige, formelhafte Auskunft ist deshalb unmög-
in der Natur wird von dieser -letztlich - ununterscheidbar; die lich, abgesehen davon, daß wir uns bei der hier gebotenen Kürze
»kontemplative Schranke«, sagt Bloch, »zwischen Sichtbarkeit auf wenige Fragen beschränken müssen.
des Willens und dem Inhalt der Sichtbarkeit«53 entfällt. Materie, Bei der umfassenden Gelehrsamkeit Schopenhauers versteht es
einerseits Substrat immer höherer Objektivationen, ist ""der zen- sich von selbst, daß er mit der Geschichte des Materialismus
tral-metaphysischen Hauptsache nach fressender Wille und ge- ebenso vertraut ist wie mit den Methoden und Resultaten neue-
fressene Materie zugleich«.54 Eine Identität, die Schopenhauer rer Naturwissenschaft. Von den antiken Materialisten nennt
im zweiten Band der Parerga selber ausgesprochen hat: "Der Schopenhauer Demokrit, Leukipp, Epikur, auch Lukrez, von
Wille, als das Ding an sich, ist der gemeinsame Stoff aller Wesen, denen der bürgerlichen Neuzeit die pantheisierenden Autoren
das durchgängige Element der Dinge .... In ihm, als solchem, Bruno und Spinoza, schließlich Hobbes und die ihm besonders
sind wir sonach Jedem gleich; sofern Alles und Jedes vom Willen vertrauten Schriftsteller des vorrevolutionären Frankreich, ins-
erfüllt ist und davon strotZt.«55 - Von hier aus gewinnt das (an besondere Holbach und Helvetius. Schopenhauers Anthropolo-
späterer Stelle nochmals zu erörternde) Verhältnis von Physi- gie und Ethik zeugen von ihrem Einfluß. Hochgeschätzt als
schem und Metaphysischem bei Schopenhauer eine weitere, bis- Bahnbrecher einer streng objektiven Betrachtungsweise des In-
lang kaum beachtete Dimension. Heißt es im zweiten Teil des tellekts werden von ihm ferner die Physiologen Cabanis und
" Ibid., S. 275 (Hervorhebungen von Bloch).
Bichat. Was den hierzulande während der fünfziger Jahre laut-
53 Ibid. stark ausgetragenen »Materialismusstreit:< um die Büchner, Vogt
54 Ibid., 5. 275f.

55 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 6, Wiesbaden 1947, S. 634. 5& Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c., S. 194.
40 41
und Moleschott betrifft, so hat Schopenhauer ihn verfolgt und nicht . . . mit der empirisch gegebenen . . . Materie« zu tun
bissig kommentiert. 57 haben, sondern mit einem Produkt bloßer Abstraktion; ihre
Materialismus (wenn wir hier nur den der Neuzeit berücksichti- Materie hat »schlechthin keine andern, als jene mechanischen
gen) ist für Schopenhauer, nach heutiger Terminologie, mechani- Eigenschaften«.61 Sämtlicher ihr wesentlich anhaftender Quali-
scher Materialismus, der - die antike Atomistik erneuernd _ Sein täten entkleidet, bleibt »Materie zurück als das Eigenschaftslose,
mit körperlichem Sein identifiziert. Dieses Sein ist ewig bewegt das caput mortuum der Natur, daraus sich ehrlicherweise nichts
im Sinn bloßer Ortsveränderung und durchweg mathematisch machen läßt«. 62 - Schopenhauer (das verbindet seine Philosophie
bestimmbar. Alles Qualitative: äußere Form des Stoffs, läßt sich mit zeitgenössischen Tendenzen etwa Blochs) ·stellt nun die -
daher auf Quantitatives reduzieren. Es handelt sich hier um freilich für ihn selbst hypothetisch bleibende - überlegung an,
dogmatischen Objektivismus, wie er zu Schopenhauers Zeiten ob nicht ein Materialismus ohne mechanistische Scheuklappen
(die allgemeine Rückbesinnung auf Kant stand noch aus) »das denkbar wäre, der sich an "die wirklich und empirisch gegebene
Ziel und das Ideal aller Naturwissenschaft«58 bildete. Schopen- Materie« hielte, »ausgestattet wie sie ist, mit allen physikalischen,
hauer ist angesichts der öde und Dürre solcher Weltansicht chemischen, elektrischen und auch mit den aus ihr selbst das
sogar bereit, die »Träumereien der Schellingischen Naturphilo- Leben spontan hervortreibenden Eigenschaften«.63 Die solcher-
sophie und ihrer Anhänger« zu verteidigen; waren sie »doch art qualifizierte Materie6 4 wäre die »wahre mater rerum, aus
meistens geistreich, schwunghaft, oder wenigstens witzig«. 59 Die deren dunkelm Schooße alle Erscheinungen und Gestalten sich
Materialisten seiner Zeit hingegen gehen »plump, platt ... und hervorwinden, um einst in ihn zurückzufallen«; so ließe »aus der
täppisch« zu Werke; sie vermögen »keine andere Realität zu vollständig gefaßten und erschöpfend gekannten Materie ... sich
denken ... , als eine gefabelte eigenschaftslose Materie, die dabei schon eine Welt konstruiren ... , deren der Materialismus sich
ein absolutes Objekt ... wäre, und zweitens keine andere Thä- nicht zu schämen brauchte«.65
tigkeit, als Bewegung und Stoß: diese zwei allein sind ihnen Dem ist beizupflichten. Nur wäre damit das strikt »physikalisti-
faßlich, und daß auf sie Alles zurücklaufe, ist ihre Voraussetzung sche« Verfahren aufgegeben; man hätte, wie Schopenhauer mit
a pn'ori: denn sie sind ihr Ding an sich. DiesesZiel zu erreichen«, Recht zu bedenken gibt, »die Quaesita in die Data« verlegt,
fährt Schopenhauer fort, »wird die Lebenskraft auf chemische »indem man angeblich die bloße Materie, wirklich aber alle ...
Kräfte ... und alle Processe der unorganischen Natur auf Me- geheimnißvollen Kräfte der Natur, welche ... mittelst ihrer uns
chanismus, d. h. Stoß und Gegenstoß zurückgeführt. Und so sichtbar werden, als das Gegebene nähme und zum Ausgangs-
wäre dann am Ende die ganze Welt ... bloß ein mechanisches punkt der Ableitungen machte«.66 Was die Materie an höheren
Kunststück, gleich den durch Hebel, Räder und Sand getriebe- Daseinsweisen erst hervorbringen soll, wird ihr von vornherein
nen Spielzeugen, welche ein Bergwerk, oder ländlichen Betrieb zugeschrieben, womit das Problem sich verflüchtigt. 67 Zustande,
darstellen. «60
61 Ibid., S. 358 (Hervorhebung von Schopenhauer).
Schopenhauer bemängelt, daß es die Materialisten »eigentlich gar 62 lbid., S. 360.
63 Ibid. (Hervorhebung von Schopenhauer).

57 Cf. etwa Sämtliche Werke, Band 4, l. c., S. Xf. sowie Sämtliche Werke, Band 3, ... Positiv vertreten wird dieser Begriff von Materie von Bloch, dessen Gewährsleu-
l. c., S. 196, wo Schopenhauer den -Mode-Materialismus« der fünfziger Jahre als te, neben Hege! und den Begründern des Marxismus, unter den neueren Philoso-
-rechte BarbiergeseIIen- und Apotheker-Lehrlings-Philosophie« bezeichnet. phen nicht zufällig Bruno, Parace!sus, Böhme und Schelling sind.
58 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, l. c., S. 33. 65 Schopenhauer, op. cit., S. 360.
59 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, l. c., S. 359. 66 lbid.
'" Ibid., S. 359f. (Hervorhebung von Schopenhauer). 67 Eine Schwierigkeit, die gerade dem marxistischen Materialismus keineswegs

42 43
sagt Schopenhauer, kommt derart »kein eigentlicher Materialis- lich die erkannte Materie, wovon Schopenhauer ausgeht, irre-
mus mehr ... , sondern bloßer Naturalismus, d. h. eine absolute duktibel auf "Aeußerungen der Undurchdringlichkeit, Form,
Physik, welche ... nie die Stelle der Metaphysik ... ausfüllen Kohäsion, Stoßkraft, Trägheit« und »Schwere«69, ist sie ange-
kann, eben weil sie erst nach so vielen Voraussetzungen anhebt, messener gekennzeichnet als» Vehikel der Qualitäten und Na-
also gar nicht ein Mal unternimmt, die Dinge von Grund aus zu turkräfte, welche als ihre Accidenzien auftreten </0, und lassen
erklären. Der bloße Naturalismus ist daher wesentlich auf lauter diese sich auf ein intensives Agens: den Willen zurückführen,
Qualitates occultae basirt, über welche man nie anders hinaus- dann ergibt sich daraus die Lehre von der Materie als seiner
kann, als dadurch, daß man ... die subjektive Erkenntnißguelle »Sichtbarkeit« .
zu Hülfe nimmt, was dann ... auf den ... mühevollen Umweg Was also Schopenhauer am naturwissenschaftlich unterbauten
der Metaphysik führt, indem es die vollständige Analyse des Materialismus der Vergangenheit und noch seiner Gegenwart
Selbstbewußtseyns und des in ihm gegebenen Intellekts und auszusetzen hat, ist zunächst dies, daß dessen Verfechter ein
Willens voraussetzt.«68 unzureichendes Bild der Materie liefern; philosophisch unbe-
Verdeutlichen wir uns nochmals die denkstrategische Rolle des kümmert, übersehen sie, daß Materie »mehr ein metaphysisches,
hier von Schopenhauer hypothetisch angesetzten »Naturalis- als ein bloß physisches Erklärungsprincip der Dinge</! ist. Es
mus« (dem freilich, wie Blochs Studien dartun, philosophiege- offenbart sich hierin die falsche Selbstgenügsamkeit von Gelehr-
schichtlich wichtige Traditionen entsprechen). Er enthält, mo- ten, die den Materialismus als unmittelbare, näherer Begründung
dern ausgedrückt, eine »vitalistische« Kritik am reinen Mechani- nicht bedürftige Konsequenz ihrer Forschungspraxis betrachten.
zismus, die (sosehr sie zunächst gegen Mängel der damaligen Demgegenüber sieht Schopenhauer, für seine Zeit erstaunlich
Naturwissenschaft gerichtet sein mag) das vermittelnde Glied früh, daß der bloß physikalische Materialismus, abgesehen von
darstellt zwischen diesem und der Willensmetaphysik. Ist näm- seiner philosophischen Naivität, sich auch innerwissenschaftlich
fremd ist. So erklän Lenin (im Anschluß an Diderot, Haeckel und andere nicht halten läßt; geht doch »die ganze mechanische und atomi-
Naturforscher): .. Der Materialismus betrachtet ... als das ursprünglich Gegebe- stische Naturansicht ihrem Bankrott entgegen, ur1d die Verthei-
ne die Materie, als das sekundäre - Bewußtsein, Denken, Empfindung; denn die diger derselben haben zu lernen, daß hinter der Natur etwas
Empfindung ist in klar ausgeprägter Form nur mit den höchsten Formen der mehr steckt, als Stoß und Gegenstoß«.72 - In Schopenhauers
Materie (der organischen Materie) verbunden, und in den .Grundsteinen des
Gebäudes der Materie, kann man nur die Existenz einer Fähigkeit, die der
Metaphysik des Willens, der sich »psychisch« wie »energetisch«
Empfindung ähnlich ist, annehmen« (in: Matenalismus und EmpiriokritizismllS, deuten läßt 73 , einer Metaphysik, die ein absolut Reales jenseits
1. c., S. 37; cf. auch S. 85). Lenin sieht sich, mit anderen Wonen, genötigt, eine- •• Ibid., S. 357.
zumindest potentielle - .Empfindungsbegabtheit. schon der anorganischen Ma- 70 Ibid., S. 360 (Hervorhebung von Schopenhauer).
terie vorauszusetzen, wenn anders das Auftreten empfindender Materie kein 71 Ibid., S. 354.
pures Wunder sein soll. Freilich ergibt sich daraus für den Materialismus die 72 Ibid.
Gefahr überzugehen in sein Gegenteil: eine Philosophie der .. Allbeseeltheit«. _ 73 Um die Jahrhundenwende kommen Schopenhauer-Interpretationen auf, die
Daher der in der marxistischen Literatur permanent, häufig mit mühsamen bestrebt sind, die Vereinbarkeit der Willensmetaphysik mit dem damals unter
Distinktionen, gefühne Zweifrontenkrieg gegen .. Hylozoismus« und .. Mechani- Naturforschern noch gängigen Materialismus nachzuweisen. So heißt es in einem
zismus«; cf. dazu etwa das Werk des bulgarischen Philosophen Todor Pawlow, Jugendmanuskript Blochs Ober die Kraft und ihr Wesen aus dem Jahre 1902,
Die Widerspiegelungstheorie, Berlin 1973, S. 70 f... Widerspiegelung« wird hier .Philosophie der Kraft. löse .. alle Stoffe und Elemente in Energie auf wie die
(5. 57) als .. eine Eigenschaft. bestimmt, .. die der gesamten Materie eigentümlich, Naturwissenschaft., sie deute .das Ding an sich als energetischen allgemeinen
ihrem Wesen nach mit der Empfindung verwandt, jedoch nicht mit dieser Willen« (Motto zu Blochs Schrift Philosophische Au/sätze, Frankfun am Main
identisch ist«.
1969). - Erwähnt sei ferner, mehr als Kuriosum, das reichlich apokryphe Buch
" Schopenhauer, op. cit., S. 361 (Hervorhebungen von Schopenhauer). Aether und Wille oder Haeckel und Schopenhauer, Leipzig 1901, von Richard
44 45
von logischem Geist und roher Dinglichkeit zu benennen sucht, den Materialismus, in der Lehre des Leukippos und Demokritos,
setzt sich die historische und sachliche Notwendigkeit eines auftreten, ja, auch später von Zeit zu Zeit sich immer wieder
qualitativ neuen Naturbildes durch. erneuern sehn«.77
Der andere Hauptmangel des traditionellen Materialismus, den Der Materialismus bildet, so betrachtet, eine beständige, prinzi-
Schopenhauer mehrfach und entschieden kritisiert hat, besteht pielle Möglichkeit des menschlichen Geistes; er ist, was seine
darin, daß jener annimmt, die Materie sei »ein schlechthin und erkennmistheoretische Seite betrifft, lebensweltlich bedingt, da-
unbedingt Gegebenes</\ er ist »die Philosophie des bei seiner her relativ berechtigt. Zunächst jedoch ist er für Schopenhauer
Rechnung sich selbst vergessenden Subjekts«.75 Nun ist die An- Gegenstand von Erkenntniskritik. Deren Hauptrnomente sind
nahme einer transsubjektiven Gegenstandswelt, eines Seienden jetzt darzustellen. - Die »Kontroverse über das Reale und
unabhängig vom Denken nichts Abwegiges; sie drängt sich der Ideale« (von ihr war hier bereits die Rede) bezieht sich letztlich
alltäglich-praktischen Erfahrung vorphilosophischen Bewußt- auf die »Existenz der Materie«.78 Ist diese, fragt Schopenhauer,
76
seins auf. Davon läßt auch Schopenhauers erkenntnistheoreti- "bloß in unserer Vorstellung vorhanden, oder ist sie es auch
sche Analyse des Materialismus sich leiten: Das »Ausgehn vom unabhängig davon« ?79 Beide Positionen werden in der bürgerli-
Objektivem, welchem die so deutliche und faßliche äußere An- chen Philosophie des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts
schauung zum Grunde liegt, [ist] ein dem Menschen so natürli- verfochten. Wer »eine an sich existirende Materie annimmt,
cher und sich von selbst anbietender Weg, daß der Naturalismus muß, konsequent, auch Materialist seyn, d. h. sie zum Erklä-
und ... der Materialismus . .. Systeme sind, auf welche die rungsprincip aller Dinge machen. Wer sie hingegen als Ding an
spekulirende Vernunft ... zu allererst gerathenmuß: daher wir sich leugnet, ist eo ipso Idealist. Geradezu und ohne Umweg die
gleich am Anfang der Geschichte der Philosophie den Naturalis- Realität der Materie behauptet hat, unter den Neueren, nur
mus, in den Systemen der Ionischen Philosophen, und darauf Locke: daher hat seine Lehre, unter Condillac's Vermittelung,
Wagner, das Schopenhauers Werk der Haeckel-Gemeinde als .Bibel der moni-
zum Sensualismus und Materialismus der Franzosen geführt.
stischen Religion« (S. 95) empfiehlt. Schopenhauers Lehre, daß die Materie Geradezu und ohne Modifikationen geleugnet hat die Materie
wesentlich Wirken, die objektiv aufgefaßte Kausalität selbst sei, kehrt bei Wag- nur Berkeley. Der durchgeführte Gegensatz ist also Idealismus
ner modifiziert wieder. Er sieht in allen Dingen »nur verschiedene Bewegungs- und Materialismus, in seinen Extremen repräsentirt durch Ber-
formen der U renergie des Aethers., der sich »ausserhalb '!nserer Vorstellung ...
keley und die französischen Materialisten (Holbach).«8o
als ein wirres Knäuel der verschiedenartigsten Bewegungen darstellt« (S. 92;
cf. S. 50). Wagner spricht der »Urenergie«, dem »Aether an sich., von vornher- Derart umreißt Schopenhauer die ihm philosophiegeschichtlich
ein »Strebung und Fühlung« zu (cf. S. 46f.). WagnersSchopenhauer-Interpreta_ vorgezeichnete Ausgangssituation seiner Erwägungen. Systema-
tion, in Haeckels »hylozoistischem« Materialismus ebenso vorgebildet wie in tisch betrachtet, laufen diese auf die Kritik des notwendig zum
Wilhe1m Ostwalds »Energetik., ist hier nicht weiter zu diskutieren. Als Zeit-
symptom ist dieser Rekurs auf den Willensbegriff von einigem Interesse. Die von 77 Schopenhauer, op. cit., S. 361 (Hervorhebungen von Schopenhauer). - Wichtig
Schopenhauer Jahrzehnte vorher vorausgesehene »Krise der Physik. wirft das- in unserem Zusammenhang ist, daß der inhaltlich reichere, weil »hylozoistische«
für Lenins philosophisches Hauptwerk entscheidende _ Problem der »Entstoff- Naturalismus durch einen Materialismus abgelöst wird, der sich wissenschaftli-
lichung., ja, des »Verschwindens« der Materie auf: cher dünkt und, methodisch gesehen, auch ist, ohne indessen die bereits mit
74 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, l. c., S. 357. seiner naturalistischen Vorstufe gesetzten Probleme lösen zu können. Die Na-
75 Ibid., S. 356.
turkräfte und -qualitäten sind für Schopenhauer ohne Annahme eines universel-
76 So schreibt denn auch Lenin: -Die >naive, überzeugung der Menschheit wird len, sie tragenden Willens unerklärbar.
vom Materialismus bewußt zur Grundlage seiner Erkenntnistheorie gemacht« 78 Ibid., S. 14.
(in: Materialismus und Empiriokritizismus, l. c., S.62; Hervorhebung Von 79 Ibid.
Lenin). .
so Ibid., S. 14 f. (Hervorhebungen von Schopenhauer).
46
47
Materialismus führenden Realismus hinaus. Existieren nämlich
Die erkenntnistheoretische »Grundabsurdität« des Materialis-
die Dinge unabhängig von jeglichem Bewußtsein und außerhalb
seiner, so liefert »empirische Anschauung«B' eine an sich beste- mus beruht Schopenhauer zufolge darauf, daß er »ein Objektives
zum letzten Erklärungsgrunde nimmt«B6; aus ihm läßt er »die
hende Struktur der Welt: die Materie und ihre Modifikationen.
Der »Naturlauf« - dies der für Schopenhauer moralisch bedenk- organische Natur und zuletzt das erkennende Subjekt hervorge-
liche Aspekt - wird »absolute und alleinige Weltordnung«.B2 hen«, wohingegen »alles Objektive, schon als solches, durch das
Das, was ist, behält das letzte WOrt'. Eine Konsequenz, der man erkennende Subjekt ... auf mannigfaltige Weise bedingt ist«.87
Alles Stoffliche, gegenständlich Vorhandene, von dem die
durch die »Annahme einer zweiten ... , einer immateriellen Sub-
stanz«B3 beizukommen suchte. Allerdings vergeblich; denn man herkömmlichen Materialisten als einem fundamentum inconcus-
verblieb so innerhalb des Realismus. Der »von Erfahrung, Be- sum auszugehen wähnen, ist - näher untersucht - ein »höchst
mittelbar und bedingterweise Gegebenes«. 88 Diese unaufhebbare
weisen und Begreiflichkeit gleich sehr verlassene Dualismus und
Spiritualismus«B4 wird von Schopenhauer ebenso verworfen wie Relativität der jeweils erfahrenen Gegenstände auf den Erkennt-
der Materialismus (wobei dieser, gegenüber einer Seelenhyposta- nisapparat bedeutet indessen kein Abgleiten in Solipsismus, den
Schopenhauer, ohne ihn ernst zu nehmen, »theoretischen Egois-
se, immer noch mit soliden Tatsachen der Anatomie und Physio-
f!1us«89 nennt. Die vielerörterte »Realität der Außenwelt« ist ihm
logie des Gehirns aufwarten kann). Schopenhauer erinnert an
Spinozas Naturrnonismus, insbesondere aber an Kant, dessen dadurch verbürgt, daß die individuell vorgestellten Objekte zu-
gleich »Erscheinungen eines Willens«9o sind. Im ausdrücklichen
Kritik der rationalen Psychologie umso stichhaltiger ist, als sie
einhergeht mit einer Neubegründung des Idealismus: »Denn mit Gegensatz zum empirischen Idealismus, vertreten etwa durch
die Schottische Schule und Jacobi, der die Außenwelt zur »Glau-
dem Realismus fällt der Materialismus, als dessen Gegengewicht
benssache« herabsetzt, »läßt« der transzendentale Idealismus die
man den Spin'tualismus ersonnen hatte, von selbst weg, indem
»empirische Realität der Welt unangetastet«.91 Er lehrt jedoch,
alsdann die Materie, nebst dem Naturlauf, zur bloßen Erschei-
daß »das empirisch Reale überhaupt ... durch das Subjekt zwie-
nung wird, welche durch den Intellekt bedingt ist, indem sie in
fach bedingt ist: ersdich materiell, oder als Objekt überhaupt,
dessen Vorstellung allein ihr Daseyn hat. Sonach ist gegen den
weil ein objektives Daseyn nur einem Subjekt gegenüber und als
Maten"alismus das ... falsche Rettungsmittel der Spiritualismus,
dessen Vorstellung denkbar ist; zweitens formell, indem die Art
das . . . wahre aber der Jdealismus, der dadurch, daß er die
und Weise der Existenz des Objekts, d. h. des Vorgestelltwerdens
objektive Welt in Abhängigkeit von uns setzt, das nöthige Ge-
(Raum, Zeit, Kausalität) ... im Subjekt prädisponirt ist«.92
gengewicht gibt zu der Abhängigkeit, in welche der Naturlauf
uns von ihr setzt. «B5 Grundgedanken der Erkenntnislehre Schopenhauers, die deren
Nähe zu Kant belegen sollen: Objektivität gründet in Subjektivi-
Bl Ibid., S. 15. tät. Die formale Analogie darf freilich nicht darüber hinwegtäu-
1!2 Ibid., S. 16. - Schopenhauers Urteil über den Materialismus wird von Lenin e schen, daß es sich hier um eine Revision des transzendentalen
contrario bestätigt: -Der Materialist behandelt die Physik als Metaphysik. Ein
,. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, I. c., S. 32 (Hervorhebung von Scho-
bekanntes Argument! Als Metaphysik wird die Anerkennung der objektiven
Realität außerhalb des Menschen bezeichnet: die Spiritualisten stimmen mit den penhauer).
Kantianern und Humeisten in diesen Vorwürfen gegenüber dem Materialismus " rbid., S. 33.
überein. (in: Materialismus und Empiriokritizismus, I. c., S. 278). 88 rbid.

83 Schopenhauer, op. cit., S. 16 (Hervorhebungen von 5chopenhauer). 89 Cf. ibid., S. 124.

8. Ibid. (Hervorhebung von Schopenhauer). 'Xl Ibid.; cf. hierzu auch Sämtliche Werke, Band 3, I. c:, S. 8f.; sowie S.12.

85 rbid. (Hervorhebungen von Schopenhauer). 91 Ibid., S. 9 (Hervorhebung von Schopenhauer).

92 Ibid. (Hervorhebungen von Schopenhauer).


48
49
Denkansatzes von erheblicher Tragweite handelt. 93 Indem Scho- Ist Schopenhauers Willensmetaphysik (wie dies im ersten Ab-
penhauer Kants Kritik der reinen Vernunft umstandslos als» Kri- schnitt der vorliegenden Studie dargetan wird) durchsetzt von
tik der Gehirnfunktionen«94 interpretiert (wobei es wenig ver- Momenten des Materialismus, so lassen sich solche, durchaus
schlägt, daß diese, subjektiv betrachtet, als Funktionen des Intel- zwanglos, auch in seiner Erkenntnislehre nachweisen. Dabei ist
lekts auftreten), sprengt er die Transzendentalphilosophie »von weniger gedacht an die soeben erörterte »anthropologische« Re-
innen«. Konstitutive Subjektivität, bei Kant ein Geistiges: Be- vision Kants. Sie bedeutet zwar, da sie den Boden der transzen-
wußtsein überhaupt, Inbegriff reiner Formen, wird jetzt ein dentalen Logik verläßt, einen Schritt weg vom Idealismus. Dieser
Stück eben jener Welt, deren Objektivität ihren eigenen Leistun- bleibt jedoch bei Schopenhauer insofern ausdrücklich erhalten,
gen allererst entspringen soll. Die »unwandelbare Ordnung der als auch er die »Abhängigkeit« des Objektiven vom Subjektiven
Dinge, welche das Kriterium und den Leitfaden ihrer empiri- lehrt98 ; dessen physiologische Interpretation ändert daran nichts.
schen Realität abgiebt«, geht nach Schopenhauer vom Cerebral- Materialistische Momente im Bereich des Erkenntnistheoreti-
system aus und hat »von diesem allein ihre Kreditive«.95 Dazu schen sind vornehmlich solche des naiven Realismus. Auf sie
paßt die handfeste Sprache, deren sich Schopenhauer bedient, muß es deshalb im folgenden ankommen, so befremdlich sich
wenn er darstellen will, wie es zur intersubjektiv gegebenen das, angesichts der erklärten Realismus-Gegnerschaft des hier
Objektwelt kommt. Alles sinnlich, naiv-realistisch Erlebte ist behandelten Autors, zunächst ausnehmen mag.
ihm zufolge Material, das immer schon durch die »Maschinerie Die Erkenntnistheorie Schopenhauers bildet (wie dies gerade bei
und Fabrikation des Gehirns«?6 hindurchgegangen ist. Dabei bedeutenden Denkern vorkommt, die sich Widersprüchen in der
verhält sich das von den Sinnesorganen Gelieferte zu dem, was Sache stellen) keine bruch lose Einheit; mehrere Tendenzen sto-
die Gehirnfunktion (Raum, Zeit und Kausalität) zum Entstehen ßen in ihr aufeinander. Die ältere Literatur bietet dazu manchen
einer anschaulichen Welt beisteuert, »wie die Masse der Sinnes- nach wie vor brauchbaren Hinweis. Erwähnenswert in unserem
nerven zur Masse des Gehirns, nach Abzug desjenigen .Theiles Kontext ist die sorgfältige Studie von Johannes Volkelt, der in
von dieser, der ... zum eigentlichen Denken . .. verwendet wird »Phänomenalismus«, »Korrelativismus« und »Materialismus«
und daher den Thieren abgeht«.97
Schopenhauers erkenntnistheoretische Hauptmotive erblickt. 99
" Eine (im weitesten Sinn) anthropologische Um interpretation der Kantischen
Freilich sind sie auf diffizile Weise ineinander verwoben. Dem ist
Transzendentalphilosophie, die im vorigen Jahrhundert - verschieden akzentu-
iert - auch von neukantianisierenden Autoren wie Friedrich Albert Lange, hier nicht detailliert nachzugehen. Die folgenden überlegungen
Hermann von Helmholtz und Ludwig Noir'; vertreten wird. In der Gegenwart beschränken sich auf die - allerdings lehrreiche - Zirkularität der
setzt Konrad Lorenz in manchem diese Traditionslinie fort. Argumentation Schopenhauers dort, wo er, entgegen seinem
" Schopenhauer, op. cit., S. 14.
subjektiv-idealistischen Grundansatz, Idealismus und Materia-
95 Ibid., S. 10 (Hervorhebung von Schopenhauer). - Wenn Raum, Zeit und Kausali-
tät bloße Gehirnfunktionen, damit ihrerseits »mundan« sind, dann entsteht das
lismus als gleichberechtigte »Gesichtspunkte«loo gelten läßt.
(in der Literatur immer wieder diskutierte) Problem, mit welchem Recht Scho- »Die Welt ist meine Vorstellung« - mit diesem Satz hebt die
penhauer eigentlich an Kants Terminologie festhält. So sagt er etwa (ibid., S. 22): Schopenhauersche Philosophie an. Er setzt die unmittelbare, mit
»Bei aller transscendentalen Idealität behält die objektive Welt empirische Reali- Descartes beginnende, über den englischen Empirismus zu Kant
tät: das Objekt ist zwar nicht Ding an sich; aber es ist als empirisches Objekt real.
Zwar ist der Raum nur in meinem Kopf; aber empirisch ist mein Kopf im
führende Selbstgewißheit des Denkens voraus und hat, worauf
Raum.«
98 Cf. dazu etwa ibid., S. 17f.
" Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, I. c., S. 33.
·99 Johannes Volkelt, Arthur Schopenhauer. Seine Persönlichkeit, seine Lehre, sein
97 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c., S. 23 (Hervorhebung von Scho-
penhauer). Glaube, Stuttgart 1901; cf. den 6. und 7. Abschnitt.
100 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c.; cf. S. Hf.

so
51
Volkelt verweist, drei verschiedene, unwillkürlich ineinander tors. lOb Zwar steht auch er im Zeichen der »idealistischen Grund-
übergehende Bedeutungen. 101 Einmal drückt jener Satz die ener- ansicht« . Aber man gewinnt doch den Eindruck einer Verschie-
gische Absage an den naiven Realismus aus. Erfahren werden bung des Akzents; der radikale Phänomenalismus tritt zugun-
keine transsubjektiven Dinge, sondern Inhalte des je eigenen sten einer »korrelativistischen« Position zurück. - Daß etwas
Bewußtseins. Dieses ist nicht hinterschreitbar. Eine fundamenta- »unsere Vorstellung« ist, bedeutet für Schopenhauer, wie oben
le, keineswegs aber per se' idealistische Einsicht. Zu ihr könnte ausgeführt, daß es »Objekt für uns, gedacht als Subjekt«, ist. Das
auch naives Denken bekehrt werden. Schopenhauer spitzt sie aber bedeutet, umgekehrt, daß vom Subjekt zu reden nur in
jedoch - darin besteht die zweite, weitergehende Bedeutung seiner Bezogenheit auf ein Objekt sinnvoll ist. Die Kritik des
jenes obersten Satzes - zum erkenntnistheoretischen Subjektivis- Materialismus - Schopenhauer nennt ihn das konsequenteste
mus zu. Aus diesem folgt, jedenfalls für Schopenhauer, daß das »der vom Objekt ausgehenden philosophischen Systeme« - er-
Ding an sich zwar nicht aller, wohl aber diskursiver Erkenntnis weist »die untrennbare gegenseitige Abhängigkeit, bei nicht auf-
verschlossen bleibt. 102 Die dritte Bedeutung nun des Satzes, daß zuhebendem Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt«. 107 Letz-
die Welt meine Vorstellung sei, liegt darin, daß sich die zunächst tere sind Seiten eines in sich entzweiten Ganzen: der Welt als
erkenntniskritische Differenz von Erscheinung und Ding an sich Vorstellung. Nun kehrt die Korrelativität von Subjekt und Ob-
bei Schopenhauer (wie schon vorher bei Kant) als metaphysi- jekt wieder in der von Intellekt und Materie (dem Objekt also,
scher Dualismus entpuppt. »Aus dem Nichtswissen vom Dinge abzüglich subjektiver Konstituentien). Die bisherigen Systeme,
an sich«, sagt Volkelt, »wird ein verneinendes Wissen von ihm: sagt Schopenhauer, haben die Wahrheit mißachtet, »daß der
nämlich das Wissen, daß dem Dinge an sich keine einzige der Intellekt und die Materie Korrelata sind, d. h. Eines nur für das
Eigenschaften der Erscheinungswelt zukomme .... Die skepti- Andere da ist, Beide mit einander stehn und fallen, Eines nur der
sche Beurteilung des Dinges an sich ist in eine metaphysisch-dua- Reflex des Andern ist, ja, daß sie eigentlich Eines und das Selbe
listische hinübergeglitten.« 103 Schopenhauer selbst - auch darin sind, von zwei entgegengesetzten Seiten betrachtet; welches Eine
ist Volkelt beizupflichten - hat fraglos jenen Satz einheitlich ... die Erscheinung des Willens, oder Dinges an sich ist; daß
104
verstanden. Er faßt sich für ihn darin zusammen, daß das mithin Beide sekundär sind: daher der Ursprung der Welt in
Objekt mit den subjektiven Formen seines Gegeben-Seins ver- keinem von Beiden zu suchen ist«. lOB
schwindet. Kant, Schopenhauers Gewährsmann, hat die »deut- Was freilich den letzteren Gedanken betrifft, der sich für Scho-
liche Erkenntniß und ruhige, besonnene Darstellung dieser penhauer zwingend aus dieser Korrelativität von Intellekt und
traumartigen Beschaffenheit der ganzen Welt« 105 verdienstvol- Materie ergibt, so widerstreitet ihm die eigentümliche, anderswo
lerweise zur Basis seiner Philosophie gemacht. pointierte Zwischenstellung der Materie zwischen der Willens-
Demgegenüber findet sich im zweiten Band des Hauptwerks und der Vorstellungswelt. Beide Sphären verbindend und durch-
eine Art erkenntnistheoretischer Selbstkorrektur seines Au- dringend, hat sie größere Affinität zu jener als zu dieser. Scho-
penhauer erinnert an den in seiner naturphilosophischen Schrift
101 Volkelt, ArthurSchopenhauer, I.c.; cf. S. 65; 66; 68f. geführten Nachweis, daß die Materie nicht bloß »Sichtbarkeit
102 Dahingestellt bleibe hier, inwieweit nicht doch in der Willenswelt kategoriale
Bestimmungen der Vorstellungswelt wiederkehren. - Ein Gedanke, den Hork- 1116 Ansätze zu dieser Selbstkorrektur im Sinn dessen, was Volkelt .Korrelativis-
heimers, vor allem aber Blochs Schopenhauer-Interpretation nahelegt. mus- nennt, sind zwar auch im ersten Band der Welt als Wzlle und Vorstellung
103 Volkelt, Arthur Schopenhauer, I. c., S. 68f. (Hervorhebungen von Volkelt). vorhanden. Sie treten jedoch insgesamt weniger h'ervor als im zweiten.
104 Cf. ibid., S. 70. 107 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, l. c., S. 37.
105 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, l. c., S. 497. 108 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, l. c., S. 18.
52 53
des Willens« ist, sondern »zuletzt, in gewissem Sinne, als iden- wie abwegig Fichtes »Ich-Lehre« ist, die »das Objekt vom Sub-
tisch mit dem Willen betrachtet werden kann«.109 Ist der Wille jekt hervorgebracht oder aus diesem herausgesponnen werden
das schlechthin Reale und sind die Dinge wirklich allein durch läßt«.1l5 Die Materie, unausrottbares Substrat der Erscheinun-
die Materie llo , so werden beide hinsichtlich des »Ursprungs der gen, ist irreduktibel auf die Formen, unter denen sie erscheint.
Welt« austauschbar. Auch daran läßt Schopenhauer keinen Das führt uns zurück zur Diskussion des Schopenhauerschen
Zweifel. »Wollen die Herren«, fragt er ironisch, »absolut ein Korrelativismus. Er ist nicht nur formal unanfechtbar, sondern
Absolutum haben; so will ich ihnen eines in die Hand geben, befindet sich auch im Einklang mit der vorstellungs-idealisti-
welches allen Anforderungen an ein Solches viel besser genügt, schen Ausgangsthese; denn zum Gegenstand wird mir etwas
als ihre erfaselten Nebelgestalten: es ist die Materie. Sie ist unent- einzig vermittels des Bewußtseins; und dieses ist vorhanden,
standen und unvergänglich, also wirklich unabhängig und quod sofern es sich auf einen Gegenstand richtet, Bewußtsein von
per se est et per se concipitur: aus ihrem Schooß geht Alles hervor etwas ist. Nun gibt aber Schopenhauer, worauf wiederum Vol-
und Alles in ihn zurück: was kann man von einem Absolutum kelt verweist116 , dem Korrelativismus mitunter eine Wendung,
weiter verlangen ?« 1Il die ihn mit jener Ausgangsthese in Konflikt bringt. Es kommt
Erkenntnistheoretisch bedeutet diese - bis zur Identität gehende zum äquivoken Gebrauch des Subjektbegriffs. Die Korrelativität
- Verwandtschaft von Wille und Materie, daß letztere nicht 'von Subjekt und Objekt bezieht sich einmal auf die beiden, im
länger »als ausschließliches Vorstellungsphäno!TIen«1,12 figuriert; vorstellenden Bewußtsein sich darbietenden Aspekte der Welt;
sie nimmt realistische Züge an. Was, wie Schopenhauer selbst sie ist, wie Volkelt hervorhebt, »von vornherein mit dem Sinn
sagt, »unzerstörbare Grundlage alles Existierenden«113 ist, des- verknüpft, daß das Bewußtsein, der subjektive Boden das der
sen Begriff kann sich unmöglich in einer apriorischen Erkennt- Korrelativität Vorausgesetzte und Obergeordnete ist und dem-
nisform erschöpfen. Dieser Einwand wird auch nicht durch nach eine unvergleichliche Stellung hat«.1l7 Eben diese geht in
Schopenhauers ganz richtige überlegung - ihr hätte'selbst Marx der zweiten, bei Schopenhauer anzutreffenden Auffassung des
mutatis mutandis beigepflichtet - entkräftet, daß »jede empin'sch Subjekts verloren, derzufolge es nur die eine der beiden vom
gegebene Materie, also der Stoff (den unsere heutigen unwissen- Bewußtsein umschlossenen Seiten bildet. Schopenhauer argu-
den Materialisten mit der Materie verwechseln) schon in die mentiert nämlich gelegentlich so, als sei der »subjektiv-idealisti-
Hülle der Formen eingegangen« 114 ist. Es ist abermals Schopen- sche Boden, auf dem allererst der Korrelativismus seine Geltung
hauer, der uns, auch hierin auf Kants Spuren, darüber belehrt, hat, nicht vorhanden«.118 Er begibt sich damit, ohne jedoch die
Korrelativität von Subjekt und Objekt zu leugnen, auf die Ebene
109 Ibid., S. 5\ (eigene Hervorhebung). - Schopenhauer selbst kommt also Interpre- des natürlichen Bewußtseins, das mit einer völlig unabhängig
tationen wie der Blochsehen entgegen. Die von ihm -letztinstanzlieh _ zuge- von ihm existierenden Dingwelt rechnet. Andererseits zögert
standene Identität von Materie und Wille schlösse freilich ein, daß jener im
nämlichen Maße .. Eigenstruktur« zugesprochen werden müßte wie diesem, der
Schopenhauer nicht, innerhalb dieser Korrelativität dem Subjekt
- sich immerhin steigernd, Stufen der Objektivation durchlaufend - nicht wieder jenen ersterwähnten Sinn beizulegen, den es nach vollzo-
absolut chaotisch gedacht werden kann.
110 Cf. ibid., S. 53.
111 Schopenhauer, Siimtliche Werke, Band 2, I. c., S. 574. 115 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, I. c., S. 31.
112 Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, I. c., 116 Volkelt, Arthur Schopenhauer, I.c.; cf. S. 83ff. - Der Autor folgt in einigen
5.276. Punkten dem Gedankengang Volkelts. •
III Schopenhauer, Siimtliche Werke, Band 3, I. c., S. 55. 117 Ibid., S. 84 (Hervorhebungen von Volkelt).
114 Ibid., S. 53 (Hervorhebungen von Schopenhauer). 118 Ibid.

54 55
gener Trennung von Korrelativität und subjektivem Idealismus beobachtbaren »Wegwendung des Korrelativismus von seiner
nicht mehr haben kann. idealistischen Grundlage«121 sprechen können. Verdeutlichen
Daher die - der Sache selbst immanente - Widersprüchlichkeit läßt sie sich daran, daß Schopenhauer (wie oben bereits erörtert)
der Schopenhauerschen Erkenntnislehre. In ihr arbeiten sich, die Korrelativität von Subjekt und Objekt häufig durch die von
unausgesprochenermaßen, zwei Denkansätze aneinander ab. Al- Intellekt (»Erkennen«) und Materie ersetzt. Es kommt zur -
les Objektive, sagt Schopenhauer, ist »durch das Subjekt zwie- problematischen - Verknüpfung von Aussagen, die in Wahrheit
fach bedingt ... : erstlich materiell, oder als Objekt überhaupt, verschiedenen Ebenen zuzuordnen sind. So erklärt Schopen-
weil ein objektives Daseyn nur einem Subjekt gegenüber und als hauer: »Der Behauptung, daß das Erkennen Modifikation der
dessen Vorstellung denkbar ist; zweitens formell, indem die Art Materie ist, stellt sich ... immer mit gleichem Recht die umge-
und Welse der Existenz des Objekts, d. h. des Vorgestelltwerdens kehrte entgegen, daß alle Materie nur Modifikation des Erken-
... , vom Subjekt ausgeht«.119 Was hier »formelle« Bedingtheit nens des Subjekts, als Vorstellung desselben ist.«122 An anderer
des Objektiven durch das Subjekt heißt, bezieht sich auf Kants Stelle gar werden, entgegen der entschieden idealistischen Aus-
transzendentale, von Schopenhauer in intellektualisierter Gestalt gangsposition Schopenhauers, Idealismus und Materialismus zu
übernommene Ästhetik. Was dagegen die »materielle« Bedingt- ebenso notwendigen wie beschränkten »Gesichtspunkten«, die
heit des Objektiven durch das Subjekt betrifft, so handelt es sich gleichermaßen zu berücksichtigen sind: »Es ist eben so wahr, daß
hier nur scheinbar um einen einheitlichen Gedanken; denn daß das Erkennende ein Produkt der Materie sei, als daß die Materie
»ein objektives Daseyn nur einem Subjekt gegenüber ... denk- eine bloße Vorstellung des Erkennenden sei: aber es ist auch eben
bar ist«: das einfache Faktum der Wechselbezüglichkeit zweier so einseitig.... Darum eben muß der Behauptung, daß ich eine
Begriffe, enthält keineswegs eo ipso eine Option für den Idealis- bloße Modifikation der Materie sei, gegenüber, diese geltend
mus. Naiver Realismus setzt sich denn auch bei Schopenhauer, gemacht werden, daß alle Materie bloß in meiner Vorstellung
gleichsam naturwüchsig, innerhalb der Korrelation immer wie- existire: und sie hat nicht minder Recht.«123
der durch. Indem freilich Schopenhauer die - metaphysisch vor- Formale Reziprozität von Begriffen täuscht in diesen Sätzen
erst neutrale - Erwägung, ein )~objektives Daseyn« sei »nur Schopenhauers darüber hinweg, daß sie, inhaltlich betrachtet,
einem Subjekt gegenüber ... denkbar«, mit dem (Berkeley ent- Unvereinbares verbinden. Daß das erkennende Bewußtsein, wie
lehnten) Zusatz versieht: »und als dessen Vorstellung«12o, ent- Schopenhauer sich in der Sprache westeuropäischer Aufklärung
steht ein doppelter Schein. Einmal sieht es so aus, als impliziere ausdrückt, »Modifikation«, gar »Produkt« der Materie ist - mit
Korrelativität von Subjekt und Objekt von vornherein dessen welcher Formulierung der Materialismus unwiderruflich vom
idealistische Interpretation; zum anderen wird suggeriert, es Problem zum Bestandteil seiner Philosophie avanciert -, liegt
handle sich bei der »formellen« und »materiellen« Bedingtheit keineswegs auf der nämlichen Ebene wie die umgekehrte Aussa-
des Objektiven durchweg um das nämliche - bedingende _ ge, die Materie sei »Modifikation des Erkennens«, sie existiere
Subjekt.
»bloß in meiner Vorstellung« .124 Der damit benannte Sachverhalt
Schopenhauer selbst hadraglos seine Lehre von der Phänomena-
lität der Körperwelt für primär gehalten. Gleichwohl wird man, 12. Volkelt, Arthur Schopenhauer, 1. c., S. 84f.
mit Volkelt, von einer, zumal im zweiten Teil des Hauptwerks, '22 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, I. c., S. 33 .
•23 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c., S. 15; cf. auch S. 14.
'19 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, 1. c., S. 9 (Hervorhebungen von Scho- 12' Man beachte auch hier Schopenhauers äquivoken Sprachgebrauch. Der Ter-
penhauer).
minus »Modifikation .. wird einmal benutzt, um die empirisch gegebene Abhän-
120 Ibid. (eigene Hervorhebungen).
gigkeit der Denkakte von Him- und Nervenprozessen zu bezeichnen; anderer-
56
57
(sowie seine Problematik) ist zweifelsfrei vorhanden und un- denn nichts erscheint einleuchtender, als daß »mit jenem wech-
überspringbar; er läßt sich jedoch nicht als Wahrheit ausspre- selseitigem unabtrennbaren Haften der subjektiven und der ob-
chen, der gleiches Gewicht zukommt wie dem ersterwähnten, jektiven Hälfte an einander ebensowohl das Vorstellungsdasein
m~terialistischen Sachverhalt: das Sein des erkennenden Geistes der Materie als auch das materielle Dasein der Vorstellung gege-
ist qualitativ anders auf das der Materie bezogen als deren Er- ben ist«.128
kannt-Sein auf ihn. Daß alles Erkennen Funktion der Materie, Tatsächlich aber (darauf war bereits einzugehen) ist mit der
speziell des Gehirns ist, bildet die real-ge~etische (auf die Tierrei- Korrelativität als solcher nichts präjudiziert über die metaphysi-
he zurückverweisende) Seite des hier diskutierten Zusammen- sche Beschaffenheit der Korrelata. Daß die Materie bloße Vor-
hangs. Daß, umgekehrt, unsere (alltäglichen wie wissenschaftli- stellung ist, geht aus ihr so wenig hervor wie, umgekehrt, die
chen) Aussagen über die materielle Weh immer schon unter der These, alles Vorstellen sei Produkt der Materie. 129 Beide Male
Perspektive erkennender Subjektivität stehen (die selbst jener handelt es sich um zusätzliche InterpretationenYo Wenn Scho-
durch sie »vermittelten« Welt angehört), macht die kognitive
Seite des Zusammenhangs von Intellekt und Materie aus. Scho-
128 Volkelt, ibid., S. 86.
penhauers Versuch, ihn (seinem ursprünglichen Programm zu- 12' Cf. ibid. - Mit Recht sagt Volkelt in diesem Zusammenhang: "Der Korrelativis-
liebe) idealistisch zu formulieren, kann sich darauf berufen, daß mus ist eine verhältnismässig gleichgültige und mit allem Möglichen verträg-
die Differenz von Genetischem (oder Ontologischem) und Kog- liche Aussage im Vergleich zu der scharfgeprägten Eigentümlichkeit des Vor-
nitivem jeweils nur innerhalb der Einheit des Kognitiven artiku- stellungsidealismus ...
130 Diese in die Korrelativität erkenntnistheoretischer Grundbegriffe einwan-
lierbar ist. Das gestattet freilich nicht, sie subjektiv-idealistisch
dernden Jnterpretationen verbinden - zum al idealistische - Denker, die sonst
einzuebnen. Dem trägt Schopenhauer insofern Rechnung, als er wenig Gemeinsames haben. So hat Adorno auch bei Hegel die hier anläßlich
seine Erkenntnistheorie zuweilen vergißt, wodurch sich, so Vol- Schopenhauers untersuchte Denkstruktur aufgespürt; sie besteht, wie wir sa-
kelt, der Phänomenalismus »nach der Seite des Materialismus hen, darin, daß sich der Primat des Subjekts gerade in der durchgeführten
.. Vermittlung« von Subjekt und Objekt verbirgt. Materialistische Kritik daran,
hin«125 verschiebt. Unvermerkt wird Materie als bewußtseins-
die abzielt auf den "Vorrang des Objekts«, kann sich, nach Adornos Einsicht,
unabhängiges Sein anerkannt. Das erweckt den Anschein, als nicht durch objektivistische Dekrete aus dem Umkreis vermittelnder Subjekti-
könne man gleichberechtigt von der »Welt im Kopf« und der vität herausbegeben. Sie kann jedoch deren Qualität innerhalb der Vermittlung
» Weh außer dem Kopf« 126 sprechen - damit von zwei gleichbe- insofern neu bestimmen, als sie darauf verweist, daß die wechselseitig vermittel-
rechtigten, einander notwendig ergänzenden »Ausgangspunk- ten Momente einander nicht im nämlichen Sinn bedürfen. "Vermöge der Un-
gleichheit im Begriff der Vermittlung«, schreibt Adorno, "fällt das Subjekt ganz
ten« des Philosophierens. 127 . Indem jedoch Schopenhauer die anders ins Objekt als dieses in jenes. Objekt kann nur durch Subjekt gedacht
Korrelativität von Intellekt und Materie in die - vorweg phäno- werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als Anderes; Subjekt jedoch
menalistisch gedeutete - Korrelativität von Subjekt und Objek~ ist der eigenen Beschaffenheit nach vorweg auch Objekt. Vom Subjekt ist
zurückübersetzt, gewinnt der Idealismus wieder die Oberhand; Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt. ... Nicht
daß Objektivität ein Unmittelbares, daß die Kritik am naiven Realismus zu
vergessen wäre. Vorrang des Objekts bedeutet die fortschreitende qualitative
seits aber soll sich in ihm der wesentliche Gehalt der erkenntnistheoretischen Unterscheidung von in sich Vermitteltem, ein Moment in der Dialektik, nicht
Lehre von der Welt als meiner Vorstellung ausdrücken. Es ist jedoch evident, dieser jenseitig, in ihr aber sich artikulierend« (in: Negative Dialektik, Frank-
daß die Materie nicht ebenso "Modifikation« des Erkennens sein kann wie dieses furt am Main 1966, S. 182; 183; cf. auch S. 124f.). - Freilich hat Adorno, allem
.Modifikation. der Materie.
abhold, was auch nur entfernt nach .. Ontologie« aussieht, darauf verzichtet,
115 Volkelt, Arthur Schopenhauer, 1. c., S. 85 (Hervorhebung von Volkelt). seine Lehre vom ..Vorrang des Objekts« so abz~stützen, wie dies durchaus
I" Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, 1. c., S. 4. möglich ist. Ihm entgeht, daß jener Vorrang des Objekts vor dem Subjekt
127 Volkelt, op. cit.; cf. S. 85 f.
innerhalb der Vermittlung, auf kognitiver Ebene also, nur dann verbindlich
58
59
penhauer bald diese, bald jene Interpretation bevorzugt, wenn in im Rahmen vorausgesetzter Phänomenalität dinglichen Seins,
seinem Werk die philosophischen Grundpositionen llnentwegt materialistische Abhängigkeiten drastischster Art aussprechen.
ineinander übergehen, so liegt das an der Schwierigkeit der Sache Der Begriff einer einfachen, immateriellen und unsterblichen
- nicht an subjektiver Willkür. Seele ist für Schopenhauer widersinnig, weil unverträglich mit
Schopenhauers Erkenntnislehre hat eine komplizierte, letzthin beobachtbaren Tatsachen. »Ich hingegen«, erklärt er, »gehe da-
unaufhebbare Zirkelstruktur. Der Widerstreit ihrer idealisti- von aus, daß ich die vorausgesetzte Einfachheit unseres subjektiv
schen und materialistischen Momente läßt sich nicht dadurch bewußten Wesens, oder des Ichs, aufhe~e, indem ich nachweise,
schlichten, daß man - gewaltsam - diese auf jene oder vice versa daß die Äußerungen, aus welchen man dieselbe folgerte, zwei
IJI
reduziert. Immerhin wird, wie Volkelt bemerkt, Schopenhau- ~ sehr verschiedene Quellen haben, und daß allerdings der Intel-
ers ursprünglicher Phänomenalismus »schon in den grundlegen- lekt physisch bedingt, die 'Funktion eines materiellen Organs ...
den Aufstellungen« abgeschwächt und verunreinigt; es mischt sei,~ ... daß hingegen der Wille an kein specielles Organ g~bun­
sich ihm »eine Neigung zum Matentdismus«132 bei. Dies als den, sondern überall gegenwärtig, überall das eigentlich Bewe-
Folge der von Schopenhauer bald realistisch, bald idealistisch gende und Bildende ... sei, daß er ... das metaphysische Sub-
verstandenen Korrelativität von Subjekt und Objekt, mit wel- strat der gesammten Erscheinung ausmache.«1J5 Halten wir uns
cher der Anschein einhergeht, als hätte »der Phänomenalismus zunächst nur an den Intellekt, so kann er auf zweierlei - einander
seine natürliche Kehrseite am Materialismus«. IJJ notwendig ergänzende - Weisen betrachtet werden: subjektiv
Schopenhauer selbst kümmern die hier diskutierten Probleme und objektiv. Die erstere, von Locke und Kant begründet, geht
wenig. Er vereinbart Erkenntniskritik und Physiologie, Kant vom Bewußtsein aus und schildert, »durch welchen Mechanis-
und Cabanis. Ist »der Raum nur in meinem Kopf« und entspricht mus in demselben die Welt sich darstellt, und wie aus den Mate-
dem empirisch, daß )'mein Kopf im Raum«1J4 ist, so lassen sich, rialien, welche Sinne und Verstand liefern, sie sich darin auf-
geltend zu machen ist, wenn herausgearbeitet wird, daß ihm, auf ontologischer
, baut«. 136 Die objektive, empirische Betrachtungsweise des Intel-
Ebene, ein Vorrang der Materie vor dem Bewußtsein entspricht. Kein Objekt lekts, entwickelt namentlich von französischen Physiologen wie
~ohne Subjekt, gilt im Grunde selbst dann, wenn dem Objekt Präponderanz Cabanis und Bichat, »nimmt die Welt und die darin vorhandenen
zugesprochen wird. Wohl aber ist Materie ohne Bewußtsein denkbar. _ Beide thierischen Wesen als schlechthin gegeben, indem sie von ihnen
.. Vorränge u spiegeln sich ineinander; sie sind, ohne daß die ihnen zugeordneten
ausgeht. Sie ist demnach zunächst zoologisch, anatomisch, phy-
Begriffspaare verwechselt werden dürfen, Momente der einheitlich-materiali-
stischen Theorie. siologisch, und wird erst durch die Verbindung mit jener erstern
131 Große Philosophie gehorcht selten dem Gebot absoluter Widerspruchslosig- und von dem dadurch gewonnenen höhern Standpunkt aus phi-
keit. Häufig genug hat sie ihr Leben an Brüchen und scheinbaren Unvereinbar- losophisch.« 137
keiten. Schopenhauers Lehrgebäude ist für eine materialistische Interpretation Unmittelbar freilich besteht zwischen beiden Betrachtungs-
deshalb so instruktiv, weil sich der von marxistischen Philosophiehistorikern
immer wieder beschworene .. Kampf« von Idealismus und Materialismus in ihm
weisen des Intellekts ein schroffer Gegensatz. Das wird klar,
selbst abspielt. Zwar bleibt er, wie im Haupttext vermerkt, letztlich unge- »wenn man ... sich vergegenwärtigt, daß was die eine als beson-
schlichter. Aber hier gilt, wenn irgendwo, Adornos Won, .. auch nur einge- nenes Denken und lebendiges Anschauen ... zu ihrem Stoffe
schränkt«, sei das idealistische Subjekt .. bereits enanächtigtu (in: Negative macht, für die andere nichts weiter ist, als die physiologische
Dialektik, I. c., S. 182).
132 Volkelt, op. cit., S. 86 (Hervorhebungen von Volkelt).

lJl Ibid., S. 87. - Cf. zu den teils latenten, teils manifesten Materialismen bei J35 Ibid., S. 105 f. (Hervorhebungen von Schopenhaue'f).
Schopenhauer auch S. 88f. und S. 92f.
Ibid., S. 307.
I" Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. C., S. 22.
lJ6

137 Ibid., S. 308.


60 61
Funktion eines Eingeweides, des Gehirns«.138 Es kennzeichnet bilische oder animalische Theil, ein organisches Gebilde, gleich
nun Schopenhauers Grundhaltung, daß er die damit aufgeworfe- allen ihren geringeren Anverwandten, in der schlechtern Behau-
ne Frage nach der spezifischen »Seinsart« des - materiell determi- sung der Köpfe unserer unvernünftigen Brüder, bis zum gering-
nierten - Geistigen nicht weiter verfolgt. Vielmehr akzeptiert er sten, kaum noch apprehendirenden, herab: jedoch ist jene orga-
den von ihm sonst, nämlich erkenntnistheoretisch, so verachte- nische Breimasse das letzte Produkt der Natur, welches alle
ten Materialismus als allgemein-ontologische These, die durch übrigen schon voraussetzt.« 142
positive Wissenschaft bestätigt wird. Die Urschwierigkeit alles Indem Schopenhauer, wie gesagt, die Frage nach dem Verhältnis
Materialismus sei~ dem Altertum: die Erklärung des Bewußt- von Gehirn und Geist, kaum ausgesprochen, sogleich in die
seins aus bewegter Materie, verflüchtigt sich für Schopenhauer weiterreichende, erkenntnistheoretische Frage überführt, inwie-
dadurch, daß er nicht zwischen Geistigem und Materiellem un- fern man es der Materie des Gehirns zutrauen könne, daß sie
terscheidet, sondern zwischen dem primären, metaphysischen gegenständliche Welt: das •• Phänomen aller Phänomene« ermög-
Willen und dem sekundären, physischen Intellekt. 139 Bedingen- licht, entsteht eine Schwierigkeit. Beantwortet man nämlich
des und Bedingtes, Physiologisches und Psychologisches sind diese Frage im Sinn Schopenhauers, so ist damit, was er offenbar
damit - innerhalb ihrer unleugbaren Einheit - nicht mehr als unterstellt, noch nicht geklärt, was es mit dem ursprünglichen
voneinander verschieden bestimmbar; Tatsachenforschung Problem auf sich hat. Die Alternative »zur Hypostase der einfa-
kennt nur das Gehirn und seine Funktionen. Sie bewegt sich im chen Substanz einer immateriellen«, im Gehirn lediglich hausen-
Bereich des - vom metaphysischen Willen abgehobenen _ Physi- den »Seele« 143 liegt nicht unbedingt in der umstandslosen Identi-
s.chen. 140 fikation von Intellekt und Cerebralsystem. 144 Dieses mag noch
Wenn sich daher Schopenhauer mit der Materie beschäftigt, so in
erster Linie unter dem Aspekt seiner eigenen Erkennmistheorie. 14 2 Ibid.
14 3 Ibid.
Aus ihr folgt nämlich, daß man behaupten kann, »die ganze
144 Eine solche Identifikation wird denn auch heure wissenschaftlich nicht mehr
objektive Welt ... sei eigentlich nur eine gewisse Bewegung oder verfochten. - John C. Eccles, der zurZeit mit Kar! R. Popper eine Theorie des
Affektion der Breimasse im Hirnschädek 141 Daraus wiederum Bewußtseins erarbeitet, besteht in seinem Aufsatz Objektivität in den neurobio-
erwächst die Frage: Was »ist dieses Gehirn, dessen Funktion ein logischen Wissenschaften: Der Dialog zwischen Philosophen über das Geist-Ge-
solches Phänomen aller PhärlOmene hervorbringt? Was ist die hirn-Problem darauf, daß wir bei diesem Problem genötigt sind, .. zwei völlig
verschiedene Gruppen von Phänomenen« aufeinander zu beziehen. Es muß
Materie, die zu einer solchen Breimasse raffinirt und potenzirt
ferner .. eine partielle Unabhängigkeit des Geistes von den Gehirnvorgängen
werden kann, daß die Reizung einiger ihrer Partikeln zum bedin- angenommen werden, mit denen er in Wechselwirkung steht«. Schließlich ist
genden Träger des Daseyns einer objektiven Welt wird? .. Wir das .. Rätsel der personalen Existenz« noch immer ungelöst. Worin besteht der
sagen unerschrocken: auch diese Breimasse ist, wie jeder vegeta- .. Ursprung des Selbst«? Wodurch wird .. jeder von uns als ein selbst-bewußtes
Wesen zu einer individuellen, mit einem Gehirn verbundenen Existenz«? In:
IJB Ibid., S. 309. Objektivit;it in den Natllr-und Geisteswissenschaften, herausgegeben von Wer-
13. Cf. ibid., S. 239.
ner Becker und Kurt Hübner, Hamburg 1976, S. 148; 153. -Aus der Sicht eines
140 Auf einem anderen Blan steht, daß sich Schopenhauers metaphysischer Wille - fortgebildeten - dialektischen Materialismus kennzeichnet Bloch, was er die
aus der Sicht Freuds als zwar vorwissenschaftlieh formulierte, jedoch im Kern .. Bewußtseins-Crux« noch der marxistischen Philosophie nennt, folgenderma-
richtige Annahme darstellt, die insofern von Wissenschaft nur graduell ab- ßen: .. Der dialektische Sprung vom Atom zur Zelle, von einem physischen
weicht. Immerhin setzt Schopenhauer (cf. ibid., S.304) den Willen mit der Quantum zu einem organischen Quale ist via Aminosäure nicht schwer nach-
Natur - wenn auch im Sinn von natura naturans - gleich; er ist das »ohne denkbar, aber freilich von der Zelle zum Gedank~n, von einem noch so orga-
Vermittlung des Intellekts Wirkende, Treibende, Schaffende«. nisch gewordenen Quantum zu einem psychisch sich selbst reflektierenden
141 Schopenhauer, ibid., S. 309. Quale schwierig, dergestalt daß, auch wenn man in einem Gehirn umhergehen
62 63
so verfeinert und durchgebildet sein - die quälende Frage, wie Fortpflanzung desselben beruht, bestimmt ist, keineswegs aber,
Empfinden und Denken von einem Stück der Körperwelt "pro- das vom Erkennenden unabhängig vorhandene Wesen an sich
duziert« werden, bleibt offen. Darüber täuscht auch nicht hin- der Dinge und der Welt wiederzugeben«.147 Unser Intellekt-
weg, daß Schopenhauer, auf seine Metaphysik rekurrierend, an- auch darin nimmt Schopenhauer das positivistisch-pragmatisti-
dererseits erklärt: "An sich selbst aber und außerhalb der Vor- sehe Moment in Nietzsches Erkenntnistheorie vorweg - steht
stellung ist auch das Gehirn, wie alles Andere, Wille.«14s - Ein normalerweise im Dienste des Willens: »darauf ist er eingerich-
Satz, der zwar das Rätsel der Eigenart des Bewußtseins nicht löst, tet, mithin von durchaus praktischer Tendenz .... Ein solches,
dafür jedoch, worauf die Monographie von Wolff verweist, "die ausschließlich zu praktischen Zwecken vorhandenes Erkennt-
skeptische Tendenz« der Schopenhauerschen Philosophie bestä- nißvermögen wird, seiner Natur nach, stets nur die Relationen
tigt: »Wenn das Bewußtsein durch ein physisches Organ erzeugt der Dinge zueinander auffassen, nicht aber das eigene Wesen
wird, so muß es durch die Beschaffenheit dieses Organs in sei- derselben.« 148 Es wäre deshalb verfehlt, wollte man den lebens-
nem ganzen Wirken bestimmt sein, und gerade weil der Zusam- dienlichen »Komplex dieser Relationen für das schlechthin ...
menhang zwischen ... der Breimasse im Hirnschädel und dem vorhandene Wesen der Welt, und die Art ... , wie sie sich, nach
durch sie bedingten Bewußtsein . . . unerklärlich ist, besteht den im Gehirn präformirten Gesetzen, nothwendig darstellen,
keinerlei Gewähr dafür, daß unser Erkennen ... uns ein Bild für die ewigen Gesetze des Daseyns aller Dinge halten«.149 Wie.
dessen gibt, was sich tatsächlich außerhalb unseres Geistes ab- der Intellekt, so ist auch die Erkenntnis selbst ein bloßes Derivat
spielt, denn wie alle Organe muß auch das Gehirn auf die Bedürf- der vor ihr und ohne sie bestehenden Welt. Das Erkenntnis erst
nisse des Lebens berechnet sein und erkennt daher, wie es den Ermöglichende: »ihre eigene Basis, kann nicht unmittelbar von
Bedürfnissen des Lebens entspricht.«146 ihr gefaßt werden; wie das Auge nicht sich selbst sehen kann« .150
Dieser - später von Nietzsehe radikalisierte - Gedanke einer Der Intellekt vermittelt nur ein im strengen Sinn oberflächliches,
nicht gelegentlichen, sondern prinzipiellen Unzuverlässigkeit äußerliches Wissen. Wenn es hoch kommt, erfaßt er alles in der
unserer Erkenntnis entspringt, wie Schopenhauer hervorhebt, Natur, nie aber sie selbst; dazu ist er ihr zu sehr verhaftet.
der »objektiven Betrachtung des Intellekts und seines Ur- Ursprung und Beschaffenheit dieser schematisierenden Appara-
sprungs«; sie belehrt darüber, »daß derselbe zur Auffassung der tur verbieten es, unseren jeweiligen Urteilen absolute Wahrheit
Zwecke, auf deren Erreichung das individuelle Leben und die zuzubilligen. 1s1 Schopenhauer nimmt diesen pessimistischen
(später von Nietzsehe erkenntnis-nihilistisch gewendeten)
könnte wie in einer Mühle, man nicht darauf käme, daß hier Gedanken erzeugt Aspekt seiner Lehre sehr ernst; er ist »entmuthigend für die
werden .• Ein nicht-mechanistisches Naturbild hilft über die hier entstehende Metaphysik«, hat aber auch die »tröstliche Seite«, den »unmittel-
Verlegenheit keineswegs automatisch hinweg; »der Sprung von den organi- baren Aussagen der Natur ihre unbedingte Gültigkeit« zu neh-
schen Qualitäten zu denen des Bewußtseins wird auch bei einem Schopenhauer-
men, »in deren Behauptung der eigentliche Naturalismus be-
sehen Lebenskraft-Materialismus nicht geringer als bei einem bloß organisch-
mechanischen, obwohl Schopenhauer kraft des Willens in seiner Materie ... ein steht«.ls2 Zudem vermag es wenigstens das Genie, obwohl nur
anderes Medium zum Licht des Bewußtseins proponiert, als dies im rein quanti-
tativen, total qualitätsfremden mechanischen Materialismus möglich ist. (in: 147 Schopenhauer, op. cir., S. 322.
Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, I. c., S.31lf.; 148 Ibid., S. 323; cf. dazu auch S. 325; 328f.
27M.). 149 Ibid., S. 323.
145 Schopenhauer, op. cit., S. 309 (Hervorhebung von Schopenhauer). 150 Ibid., S. 326.

146 Hans M. Wolff, Arthur Schopenhauer. Hundert Jahre später, Bern 1960, 151 Cf. ibid., S. 327.
S.57. m Ibid., S. 326 (Hervorhebung von Schopenhauer).

64 65
ausnahmsweise, kraft gesteigerter Intelligenz sich der Dienstbar- sucht und aus rein mechanischen Ursachen erklärt«156 wur<~e.
keit des Willens zu entziehen und in seiner Person den »höchsten »Diese ausschließliche Anwendung des Maßstabs der Mechanik
Grad der Objektivität des Erkennens« 153 darzustellen. auf Vorgänge, die chemischer und organischer Natur sind und
Wenden wir uns jetzt der eingangs gestellten Frage zu, wie sich bei denen die mechanischen Gesetze zwar auch gelten, aber von
Schopenhauers Kritik am Materialismus angesichts einer verän- andem, höhern Gesetzen in den Hintergrund gedrängt werden,
derten Problemlage in Wissenschaft und Philosophie ausnimmt. bildet ... eine spezifische, aber ihrer Zeit unvermeidliche Be-
Zunächst ist festzustellen, daß die noch ins neunzehnte J ahrhun- schränktheit des klassischen französischen Materialismus.« 157 Im
dert fallende, den deutschen Idealismus voraussetzende Fortent- Anti-Dühring legt Engels dar, daß sich die Bewegung der Mate-
wicklung des mechanischen zum historisch-dialektischen Mate- rie keineswegs »auf die mechanische Kraft als ihre angebliche
rialismus sich weithin deckt mit Schopenhauers Bemühen um ein Grundform«158 reduziert. Vielmehr »begreift« sie, wie es in der
qualitativ-dynamisches, nicht mechanistisch beschränktes Na- Dialektik der Natur heißt, »als Daseinsweise, als inhärentes At-
turbild. So schreibt Marx bereits in der Heiligen Familie, dem tribut der Materie ... alle im Universum vorgehenden Verände-
ersten gemeinsam mit Engels veröffentlichten Buch: »Unter den rungen und Prozesse in sich, von der bloßen Ortsveränderung
der Materie eingebornen Eigenschaften ist die Bewegung die bis zum Denken«.159 Auf den »übermechanischen Gebieten« -
erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanische und mathe- solche werden von Engels ausdrücklich anerkannt - ist Bewe-
matIsche Bewegung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, gung »auch Qualitätsänderung«.16o Engels vermeidet zwar den
Spannkraft, als Qual - um den Ausdruck Jakob Böhmes zu von Schopenhauer gegen die verabsolutierte Mechanik pole-
gebrauchen - der Materie. Die primitiven Formen der letztem misch ins Spiel gebrachten Begriff der »Lebenskraft«, aber deut-
sind lebendige, individualisierende, ihr inhärente, die spezifi- lich wird doch, daß er die qualitative Eigenart des Lebendigen
schen Unterschiede produzierende Wesenskräfte.«154 Weniger gewahrt wissen will: »Indem die Chemie das Eiweiß erzeugt,
renaissancehaft und romantisch, aber der Sache nach ebenso greift der chemische Prozeß über sich selbst hinaus ... , d. h. er
entschieden, spricht sich der reife Engels in seinen naturphiloso- gelangt in ein umfassenderes Gebiet, das des Organismus. Die
phischen Arbeiten aus. Er verwahrt sich dagegen, daß man den Physiologie ist allerdings die Physik und besonders die Chemie
Materialismus überhaupt verwechselt mit der »verflachten, vul- des lebenden Körpers, aber damit hört sie auch auf, speziell
garisierten Gestalt«, worin der des Aufklärungszeitalters im Chemie zu sein, beschränkt einerseits ihren Umkreis, aber erhebt
neunzehnten Jahrhundert »in den Köpfen von Naturforschern sich auch darin zu einer höheren Potenz.«161
und Ärzten« fortbestand »und in den fünfziger Jahren von Büch- Mit der Kritik am - vormarxschen - Materialismus, dessen Ding
ner, Vogt und Moleschott gereisepredigt wurde«.155 Unter den an sich, ausgestattet allein mit »Stoßkraft«, sonstige Qualitäten
Mängeln der materialistischen Philosophie des achtzehnten Jahr- nur als deren Erscheinung zuläßt l62 , gehen bei Schopenhauer,
hunderts, die von den Vulgarisatoren des neunzehnten keines-
wegs überwunden wurden, nennt Engels an erster Stelle, daß der 15. Ibid, S. 278.
»pflanzliche und tierische Organismus ... nur im groben unter- 157 Ibid.
158 Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (.Anti-Düh-
153 Ibid., S. 331 (Hervorhebung von Schopenhauer). n·ng.), in: Marx/Engels, Werke, Band 20, Berlin 1968, S. 55.
154 Engels/Marx, Die heilige Fam,ilie, in: Marx/Engels, Werke, Band 2, Berlin 1959, 15' Engels, Dialektik der Natur, in: ibid., S. 354.
S. 135 (Hervorhebungen von Marx). 160 Ibid., S. 517.

155 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philoso- ,., Ibid., S. 520.
phie, in: I. c., S. 278; cf. dazu auch S. 280. 161 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c., cf. S. 196.

66 67
wie wir sahen, erkenntnistheoretische Bedenken einher.' Jene den Schultern der vorhergehenden stand, ihre Industrie und
»absolut objektive Welt, außerhalb des Kopfes, unabhängig von ihren Verkehr weiter ausbildete, ihre soziale Ordnung nach den
ihm und vor aller Erkenntniß«, von der die Materialisten (im veränderten Bedürfnissen modifizierte«.169 Diese Präformiert-
Einklang mit dem naiven Bewußtsein) zu reden vorgeben, ist heit der empirischen Welt erstreckt sich auf die »Gegenstände
keine andere als die immer schon »subjektiv erkannte ... der einfachsten ,sinnlichen Gewißheit«<; auch sie sind »nur
Welt«.163 Eine überlegung, die Schopenhauer abermals - sach- durch die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den
lich - mit Marx verbindet. Auch ihm ist bewußt, daß die uns kommerziellen Verkehr gegeben« .170
jeweils erscheinende Wirklichkeit »mit ... großen, vielen und
Das hat - worauf es hier besonders ankommt - Konsequenzen
verschiedenen subjektiven Bedingungen behaftet« 164 ist. Aller-
für das Verständnis der vom alten Materialismus zur unmittelba-
dings werden letztere von Marx nicht, wie bei Schopenhauer ren Grundlage dogmatischer Aussagen erklärten Naturwissen-
erkenntnis-anthropologisch, sondern sozialhistorisch verstan- schaft. Deren »Anschauung«, wenden Marx und Engels gegen
den. "Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus«, heißt es Feuerbach ein, ist hochgradig vermittelt. Sicher gibt es »Geheim-
in Marxens berühmten Thesen über Feuerbach, beruht darauf, nisse, die nur dem Auge des Physikers und Chemikers offenbar
"daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter werden; aber wo wäre ohne Industrie und Handel die N aturwis-
der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht senschaft? Selbst diese >reine< Naturwissenschaft erhält ja ihren
aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjek- Zweck sowohl wie ihr Material erst ... durch sinnliche Tätigkeit
tiv.«165 Marx begrüßt es deshalb, daß die idealistische Philoso- der Menschen. So sehr ist . . . dieses fortwährende sinnliche
phie seit Kant "die tätige Seite« im Gegensatz zum objektivisti- Arbeiten und Schaffen, diese Produktion die Grundlage der
schen Materialismus "entwickelt« 166 hat. Dies freilich um den ganzen sinnlichen Welt, wie sie jetzt existiert, daß, wenn sie auch
Preis einer Entstofflichung des Subjekts; denn der Idealismus nur für ein Jahr unterbrochen würde, Feuerbach eine ungeheure
kennt die "wirkliche, sinnliche Tätigkeit« nicht "als solche«.167 Veränderung nicht nur in der natürlichen Weit vorfinden, son-
Menschliche Tätigkeit im philosophisch umfassenden Sinn von dern auch die ganze Menschenwelt und sein eignes Anschau-
Weltkonstitution ist "gegenständliche Tätigkeit«.168 Ihren Be- ungsvermögen ... sehr bald vermissen würde.«l7l Heben wir
griff entfalten Marx und Engels in der Deutschen Ideologie. Auch hervor, daß Marx und Engels hier von der Gegebenheitsweise
hier gilt die Kritik, soweit sie sich auf Feuerbach bezieht, dessen der jetzt, für und durch die Menschen, bestehenden Gegen-
naivem Realismus. Feuerbach, schreiben die Autoren, "sieht standswelt sprechen - nicht von der Natur überhaupt. Deren
nicht, wie die ihn umgebende sinnliche Welt nicht ein unmittel- »Priorität« 172 bleibt unangetastet. Sie liegt aller Gesellschaft und
bar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, Geschichte voraus. Ihr materialer Bestand wird von menschli-
sondern ... ein geschichtliches Produkt ... , das Resultat der cher Praxis jeweils vorgefunden, geht also in dieser nicht auf.
Tätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen, deren Jede auf Gleichwohl wissen wir von Natur nur insoweit, als sie in unse-
rem menschlichen Horizont erschienen ist. Natur und Geschich-
163 Ibid., S. 11 (Hervorhebungen von Schopenhauer).
te sind keine separat zu behandelnden »Dinge«; der Mensch hat
164 Ibid., S. 4 (Hervorhebung von Schonenhauer).
165 Marx, Thesen über Feuerbach, in: Marx/Engels, Werke, Band 3, Berlin 1962, S. 5
(Hervorhebungen von Marx). 16' Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, in: ibid., S. 43.
166 Ibid. 170 Ibid.
167 Ibid. 171 Ibid., S. 44. - Cf. dazu auch Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre
168 Ibid. (Hervorhebung von Marx). von Marx, Frankfurt am Main 1962, S. 23ff.
172 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, in: ibid., S. 44.
68
69
stets »eine geschichtliche Natur und eine natürliche Geschichte Forschern anerkannt, die mit Marx und Marxismus wenig ge-
vor sich«. 173 Mit seinem - praktischen - Auftreten wird es theo- mein haben. So schreibt Heisenberg in einer Diskussion der
retisch unmöglich, von einer subjektlosen Welt oder einem welt- neuen, durch die Quantenmechanik entstandenen Lage: »Der
losen Subjekt zu sprechen. Das dialektische Salz dieser je anders dogmatische Realismus behauptet, daß es keine sinnvollen Aus-
gearteten Wechselbezüglichkeit besteht darin, daß sie alles abso- sagen über die materielle Welt gibt, die nicht objektivien werden
lut Primäre und absolut Sekundäre ausschließt. 174 können .... Der dogmatische Realismus ist aber, wie wir jetzt
Schopenhauer, dem der Materialismus lediglich als physikalisti- sehen, nicht eine notwendige Voraussetzung für die Naturwis-
sche, dazu erkenntnistheoretisch unbedarfte Verkürzung der senschaft .... Die Naturwissenschaft beschreibt und erklärt die
Wirklichkeit präsent ist, deckt überzeugend auf, was Bloch »die Natur nicht einfach so, wie sie >an sich< ist. Sie ist vielmehr ein
echte Aporie im Materialismus als einem rein mechanischen« Teil des Wechselspiels zwischen der Natur und uns selbst. Sie
nennt, »dessen Welt ... unendlich groß sein will und dabei so beschreibt die Natur, die unserer Fragestellung und unseren
klein ist, daß nicht einmal ein menschlicher Kopf darin Platz Methoden ausgesetzt ist. An diese Möglichkeit konnte Descartes
hat«.175 Freilich kann der Satz' »kein Objekt ohne Subjekt«, von noch nicht denken, aber dadurch wird eine scharfe Trennung
dem Schopenhauer glaubt, er werde für immer allem Materialis- zwischen der Welt und dem Ich unmöglich.«178
mus den Garaus machen 176, dem - recht verstandenen - marxisti- Beschließen wir diesen Abschnitt mit einer weiteren Erwägung
schen Materialismus wenig anhaben. Er kann jenen Satz (der per über das Verhältnis des marxistischen Materialismus zur N atur-
se keine Option für den subjektiven Idealismus enthält) akzeptie- wissenschaft. Marx und Engels haben, nicht anders als Schopen-
ren, ohne aufzuhören, Materialismus zu sein. »Das Sein«, heißt hauer, die lautstarke, aber gedankenarme Agitation der Büchner,
es beim späten Engels, »ist ... überhaupt eine offene Frage von Vogt und Moleschott scharf verurteilt, weil sie einzelwissen-
der Grenze an, wo unser Gesichtskreis aufhört.« 177 Das - trans- schaftliche Aussagen, weltanschaulich aufbereitet, ungerechtfer-
subjektiv anzusetzende - Ding an sich ist nie unmittelbar als tigterweise in den Rang von Letztaussagen erhebt. So bezeichnet
solches thematisch; erkannt wird es einzig in dem Maße, wie es, Engels Büchner als »Dogmatiker des plattesten Abspülicht des
im epochenspezifischen Rahmen gesellschaftlicher Produktions- deutschen Aufklärichts« 179, und Marx rügt im Kapital die »ideo-
verhältnisse erscheinend, zum »Ding für uns« wird. logischen Vorstellungen« der Wortführer des »abstrakt natur-
Auch die naturwissenschaftliche Praxis ist, ob dies nun den wissenschaftlichen Materialismus, der den geschichtlichen Pro-
Gelehrten bewußt wird oder nicht, ihrer jeweiligen Grundform zeß ausschließt«.18o Letzterer Vorwurf trägt einen »kritizisti-
nach ein (freilich vielfach vermitteltes) Moment der allgemein- sehen« Akzent und verbindet insofern, merkwürdig wie dies
praktischen Auseinandersetzung von Mensch und Natur. Auch zunächst klingen mag, den Kantianer Schopenhauer mit den
sie ist auf jenen geschichtlich vorgezeichneten Rahmen verwie- Begründern des historischen Materialismus. Darauf verweisen
sen. Das wird unterdessen, zumindest der Sache nach, auch von Horkheimer und Adorno: »Die Auflösung aller Realität ... in
17) Ibid., S. 43. atomare Partikel, oder was nach dem Stand der Wissenschaft
174 Cf. dazu Engels, Dialektili der Natur, in: Marx/Engels, Werke, Band 20, 1. c., jeweils als letzte Komponenten gilt, ist selbst keineswegs unbe-
5.441. dingt. Nicht unähnlich der Kantischen Lehre, daß alle Erkennt-
175 Bloch, Das Maten'alismusproblem, seine Geschichte und Substanz, 1. c.,
5.273. 178 Werner Heisenberg, Physik und Philosophie, Fral1 kfurt am Main/Berlin 1959,
176 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, 1. c., cf. S. 35. 5.61; 6of.
m Engels, Anti-Diihring, in: Marx/Engels, Werke, Band 20, 1. c., S. 41; cf. dazu 179 Engels, Dialektik der Natur, in: Marx/Engels, Werke, Band 20, l.c., S. 472.
auch S. 508. IBO Marx, Das Kapital, Band I, Berlin 1955, S. 389 (Hervorhebungen von Marx).

70 71
nis auf die Leistung ordnender Funktionen des Subjekts zurück- III
geht, hängt sie bei Marx mit menschlicher, freilich realer gesell- Wenden wir uns abschließend den materialistischen Erfahrungs-
schaftlicher Arbeit zusammen. Damit ist der Naturbegriff des gehalten zu, die sich in Schopenhauers Werk trotz aller Erkennt-
physikalischen Materialismus relativiert. Ihn absolut zu setzen, niskritik durchsetzen. Dabei können wir uns kürzer fassen, da
wäre >vulgär<. Die quantifizierende Vorstellung von Natur, wie einschlägige Gesichtspunkte bereits dargelegt worden sind.
sie in Laboratorien heute herrschen muß, kann nicht unmittelbar Auszugehen ist vom durchgängigen Bestreben Schopenhauers,
dieselbe sein wie der Naturbegriff einer nicht mehr in sich gespal- den Materialismus aus dem emphatischen Begriff von Metaphy-
tenen, in Natur nicht durchaus mehr verstrickten Mensch- sik auszuschließen. Unsere These hingegen lautet, daß ihm dies
heit.«181 Entsprechend ist Schopenhauer bemüht, die »Unhalt- insofern nicht gelingen kann, als die Inhalte seiner eigenen Meta-
barkeit einer absoluten Physik« 182 darzutun, die sich bald gebär- physik ebenso durchgängig auf den Materialismus zurückver-
det, als sei sie selbst Metaphysik, bald so, als mache sie diese weisen. Der Pessimismus in Schopenhauer ist das geheime Bin-
entbehrlich. deglied zwischen Materialismus und Metaphysik. In diesem Sinn
Unbeschadet solcher Parallelen sind Differenzpunkte zu be- heißt es denn auch beim späten Horkheimer: »Der Marxsche
achten. Wohl handelt es sich bei Schopenhauer wie bei Marx und Materialismus, von der idealistischen Selbsttäuschung befreit,
Engels um einen, wenn man so will, »materialisierten« Kritizis- kommt Schopenhauer näher als dem Demokrit.«185 Und anders-
mus. Aber beide Male wird die Konstitutionsfrage verschieden wo schreibt er, seine intellektuelle Entwicklung überblickend:
angegangen. Hier wie dort trägt die alltäglich und wissenschaft- »Der metaphysische Pessimismus, implizites Moment jedes ge-
lich erfahrene Welt immer schon den Stempel des Menschen: sie nuinen materialistischen Denkens, war seit je mir vertraut. Meine
ist »Phänomen«: ein - im Gegensatz zum Ding an sich - von erste Bekanntschaft mit Philosophie verdankt sich dem Werk
Erkenntnis nur relativ Unabhängiges. Schopenhauer, hinsicht- Schopenhauers; die Beziehung zur Lehre von Hegel und Marx,
lich des Raumes, der Zeit und Kausalität entschieden kantia- der Wille zum Verständnis wie zur Veränderung sozialer Realität
nisch, erblickt in ihr ein »Gehirnphänomen«.183 Marx und Engels haben, trotz dem politischen Gegensatz, meine Erfahrung seiner
dagegen, konkret-soziologisch gerichtet, sprechen dem im Me- Philosophie nicht ausgelöscht. Die bessere, die richtige Gesell-
dium geschichtlicher Arbeit erscheinenden Weltmaterial Eigen- schaft ist ein Ziel, das mit der Vorstellung von Schuld sich
bestimmtheit zu. Erkenntnis ist indessen auch für sie kein bloßes verschränkt.«186 Sollte es je, was angesichts des Weltlaufs frag-
Abbild an sich seiender Strukturen, sondern - als Ideelles - »das würdig genug ist, zu jener Gesellschaft kommen, so würden in
im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle«.184 ihr (wie dies Marx zumal in den Ökonomisch-philosophischen
Manuskripten angedeutet hat) »die Menschen ... nicht bloß zu
ihren eigenen Helfern, sondern zu denen der Natur, und schließ-
IBI Max Horkheimerffheodor W. Adorno, Vorbemerkung zu: Alfred Schmidt,
lich würden sie ... , ... an die Kreatur sich verschenkend, sich
Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, L c., S. 7; cf. hierzu ferner Alfred hingebend zugrunde gehen. Aber der Zerfall müßte seine Schat-
Schmidt, Friedrich Albert Lange als Historiker und Kn'tiker des vormarxschen ten vorauswerfen, und so würden sie selbst wieder zu einem ...
Materialismus, Einleitung zu Langes zweibändiger Geschichte des Materialis- primitiveren Zustand zurückkehren. Wie das höhere, edlere In-
mus, Frankfurt am Main 1974, S. X-XXI.
182 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c., S. 195 (Hervorhebung von Scho-
penhauer); cf. auch S. 194. I8S Max Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung, I. c., S. 75f.
18) Ibid., S. 4. 186 Horkheimer, Kritische Theorie, herausgegeben von Alfred Schmidt, Band I,
18. Marx, Das Kapital, Band I, 1. c., S. 18. Frankfurt am Main 1968, S. XIII.
72 73
dividuum eine geringere Widerstandskraft besitzt und dem Tod Metaphysik, die Kants Werk ebenso berücksichtigt wie kritisch
verfällt, muß .auch die Menschheit, sofern sie ihrer Bestimmung überschreitet. Kant hat zunächst das unbezweifelbare Verdienst,
genügt, zerfallen, sie ist selbst Natur.«187 die Untauglichkeit des alten Dogmatismus dargetan zu haben,
Eben diese Erfahrung ist es, die - in metaphysisch höchst belaste- der sich anheischig machte, aus reinen Begriffen unmittelbar und
tem Sinn - Schopenhauers Philosophie durchherrscht. Sie ist die verbindlich über die höchsten Gegenstände des metaphysischen
eines Mannes, der sich nichts vorgaukeln läßt; der lebendige, . Interesses zu urteilen; »daher haben alle seitdem aufgetretenen
anschauliche Erkenntnis hohlen Wortkünsten vorzieht. Nicht dogmatischen Versuche« - Schopenhauer denkt namentlich an
anders als Marx zieht Schopenhauer- erstaunlicherweise in Mar- die Systeme Fichtes, Schellings und Hegels - »ganz andere Wege
xens Sprache - gegen die gigantische »Mystifikation« Hegels zu einschlagen müssen, als die früheren«.19o Schopenhauers eigener
Felde. »Seit Locke«, betont er, »forschten die Philosophen nach Ansatz nun, sein Schritt über Kant hinaus, beruht auf der Kritik
dem Ursprung unsrer Begriffe. Hegel hatte den Einfall die Sache dessen, was er, § I der Prolegomena zitierend, die petitio principii
umzukehren, Alles auf den Kopf zu stellen, nämlich die Begriffe der Kantischen Grundannahme nennt. Sie besteht darin, daß
zum Ursprünglichen, zum Ersten, unmittelbar Gegebenen zu vorweg Metaphysik und Erkenntnis apriori identifiziert werden,
machen, davon man auszugehn habe; wonach sich dann freilich woraus sich dann prompt das Scheitern jener ergibt und die
aus ihnen konstruiren ließ, was man beliebte, um so mehr als Gültigkeit dieser nur für die Erscheinungswelt. Indem Kant
bloße Worte leicht an die Stelle der Begriffe treten. « 188 Schopen- darauf beharrt, »daß Metaphysik ihre Grundbegriffe und
hauer ist strenger Nominalist; die Begriffe entstammen samt und Grundsätze nicht aus der Erfahrung schöpfen dürfe«, unterstellt
sonders der »anschaulichen Vorstellung, welche daher Ur- er insgeheim, »daß nur Das, was wir vor aller Erfahrung wissen,
erkenntniß ist und also bei Untersuchung des Verhältnisses zwi- weiter reichen könne, als mögliche Erfahrung« .191 Schopenhauer
schen dem Idealen und dem Realen allein in Betracht dagegen bestimmt Metaphysik weit bescheidener als »richtige
kommt«.189 Erklärung der Erfahrung im Ganzen«. 192 Für ihn ist völlig unbe-
Gilt es, unsere Begriffe empirisch abzusichern, müssen wir uns wiesen, »daß der Stoff zur Lösung des Räthsels der Welt schlech-
davor hüten, die sinnliche Welt aus bloßen, ihr selbst immer terdings nicht in ihr selbst enthalten seyn könne«; es besteht
schon entstammenden Abstraktionen zu deduzieren, so ergeben daher keinerlei Anlaß, sich, »bei der wichtigsten und schwierig-
sich daraus für Schopenhauer wichtige überlegungen zu einer sten aller Aufgaben, die inhaltsreichsten aller Erkenntnißquellen,
innere und äußere Erfahrung zu verstopfen, um allein mit in-
187 Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung, l. c., S. 75 (eigene Her- haltsleeren Formen zu operiren«.!93 Die empirische Welt ist
vorhebung); cf. auch S. 76. nicht (im schlechten Sinn) spekulativ zu überfliegen, sondern es
.88 Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß, herausgegeben von Arthur Hüb- kommt darauf an, sie gründlich zu erfassen. Das »Ganze der
scher, IV. Band, Erster Teil, Frankfurt am Main 1974, S. 208. - Cf. dazu auch Erfahrung«, sagt Schopenhauer, »gleicht einer Geheim-
die EngeIssche, ähnlich wie Schopenhauer argumentierende Hegel-Kritik: »Bei
Hege! ist ... die in der Natur und Geschichte zutage tretende dialektische
schrift«.194 Metaphysik hat sie zu entziffern. Freilich bringt die
Entwicklung ... nur der Abklatsch der von Ewigkeit her, man weiß nicht wo,
aber jedenfalls unabhängig von jedem denkenden Menschenhirn vor sich gehen- .90 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, l. C., S. 505 f.
den Se!bstbewegung des Begriffs. Diese ideologische Verkehrung galt es zu 19. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, l. C., S. 200 (Hervorhebung von Scho-
beseitigen« (Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen penhauer).
Philosophie, in: Marx/Engels, Werke, Band 21, l. c., S. 292). 19' Ibid., S. 201.
189 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, l. C., S. 215 (Hervorhebung von Scho- .93 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, l. C., S. 506 f.
penhauer). 19' Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, l. C., S. 202.

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Endlichkeit unserer Natur es m.it sich, daß dieses sauere Geschäft Schopenhauers - materiale - Metaphysik bietet Raum für Ein-
»nur innerhalb gewisser Schranken« vonstatten geht; wir gelan- sichten, für welche die akademischen Idealismen wenig Neugier
gen zum »richtigen Verständniß der W.elt ... , ohne jedoch eine bekunden. Sie entlarvt, was Nietzsehe, in vielem sein Schüler, das
abgeschlossene und alle ferneren Probleme aufhebende Erklä- Menschlich-Allzumenschliche genannt hat. Mit großem Mate-
rung ihres Daseyns zu erreichen«.195 ~ rialismus, der sich nicht in einer simplen Abbildlehre erschöpft,
Schopenhauer sieht sein Unternehmen gleich weit entfernt von sondern auf Eros und Thanatos versteht, teilt sie urbane Skepsis,
der »Allwissenheitslehre« rationalistischer Dogmatik und der auch gütiges Verstehen. Wo immer Materialismus positiv-»welt-
»Verzweiflung«, die mit Kants Kritik einhergeht. l96 Er hält sich- anschaulichem« Anspruch entsagt, nähert er sich der Schopen-
darin ein im strengen Sinn moderner, antitheologischer Denker- hauers ehen Philosophie, wird er, wie diese, Einsicht ins Sinn-
an die in sich ruhende Immanenz dieser Welt. Ihr Wesenskern widrige, vielfältig Bedingte und Brüchige unserer Existenz. Das
fällt zwar nicht mit der unmittelbaren Weise ihres Erscheinens schließt den Willen nicht aus, inmitten alles malum metaphysi-
zusammen. Aber ebensowenig ist er ein »ens extramundanum,,; cum, das malum physicum: abschaffbares Leiden energisch zu
erkannt wird er einzig vermittels der Erkenntnis seiner »Bezie- bekämpfen. Insgesamt freilich wohnt materialistischer Philoso-
hungen zur Erscheinung selbst«.197 Wohl überschreitet Meta- phie, die etwas taugt, ein pessimistisches Moment inne. So rühmt
physik die Natur, indem sie »zu dem in oder hinter ihr Verborge- Schopenhauer an Voltaire, sein Denken sei »von der überwiegen-
nen«198 vorstößt. Sie tut dies jedoch, ohne den universellen Na- den Größe des Uebels und vom Jammer des Daseyns ... tief
turzusammenhang zu verlassen. Schopenhauer - das macht sei- durchdrungen«; und er nennt außerdem an Voltairesehen Resul-
ne Schwierigkeit aus - hält einerseits an der kritizistischen Diffe- taten den Gedanken der »strengen Necessitation der Willens-
renz von Erscheinung und Ding an sich fest lind verflüssigt sie akte« sowie die (von Locke übernommene) Vermutung, daß »das
andererseits (wodurch er in die Nähe der sonst von ihm befehde- Denkende auch materiell seyn könne«.2oo Beide Resultate hängen
ten nachkantisch-spekulativen Dialektiker gerät). »Ich lasse«, er- unmittelbar mit dem Pessimismus zusammen. Sind geistige
klärt Schopenhauer, »Kants Lehre bestehn, daß die Welt der Funktionen materiell determiniert und dadurch begrenzt, so
Erfahrung bloße Erscheinung sei ... : aber ich füge hinzu, daß leuchtet auch Schopenhauers These ein, »der Intellekt« sei »ur-
sie, gerade als Erscheinung, die Manifestation Desjenigen ist, sprünglich nicht bestimmt ... , uns über das Wesen der Dinge zu
was erscheint, und nenne es mit ihm das Ding an sich. Dieses belehren«20I; er ist Werkzeug, grobes Mittel zur Orientierung im
muß daher sein Wesen und seinen Charakter in der Erfahrungs- unaufhörlichen Kampf ums nackte überleben.
welt ausdrücken, mithin solcher aus ihm herauszudeuten seyn, Das unausrottbar »Naturgeschichtliche« unseres Daseins: die
und zwar aus dem Stoff, nicht aus der bloßen Form der Erfah- höchst profane Unterlage aller Geschichte wird letztlich von
rung. Demnach ist Philosophie ... das richtige, universelle Ver- Schopenhauer genauso beurteilt wie von Marx. Dieser bezeich-
ständniß der Erfahrung selbst, die wahre Auslegung ihres Sinnes net im Kapital den Arbeitsprozeß, die »Aneignung des Natürli-
und Gehaltes. Dieser ist das Metaphysische, ... das in die Er- chen für menschliche Bedürfnisse«, als »allgemeine Bedingung
scheinung bloß Gekleidete und in ihre Formen Verhüllte.«199 des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur«; sie ist »ewige
Naturbedingung des menschlichen Lebens und daherunabhän-
195 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2. L c., S. 507. gig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesell-
1% Cf. ibid.
197 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, L c., S. 203.
198 Ibid. 200 Ibid., S. 671; 672.
199 Ibid., S. 204 (Hervorhebung von Schopenhauer). 201 Ibid., S. 195 (eigene Hervorhebung).

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schaftsfonnen gleich gemeinsam<<.202 Marx spricht in seinem ist weithin eine Funktion unserer Animalität: unserer Gesund-
Hauptwerk ferner von den unseren materiellen Verhältnissen heit, Ernährung und sonstigen Lebensweise. Auch hier geht es
"entquellenden geistigen Vorstellungen<<.203 Auch darin steckt um höchst alltägliche, aber unentbehrliche Tatbestände. Pessi-
fraglos ein Pessimistisches: die der Hinfälligkeit seiner Basis mismus, der - so gesehen - in metaphysischen Materialismus
entsprechende Ohnmacht des Geistes. Engels hat darauf (wenn- einmündet, besagt, daß der Wesenskern des Menschen nicht
gleich, wie aus dem Kontext erhellt, ganz ohne Absicht) deutli- Intellekt, sondern Wille ist, der sich im unersättlichen "Drang
cher noch verwiesen. Er schreibt: "Sind unsre juristischen, philo- zum Daseyn und Wohlseyn<<208 äußert. Anders als dem Tier ist
sophischen und religiösen Vorstellungen die nähern oder ent- uns jedoch die - mit dem Glück der Einsicht verbundene -
ferntern Sprößlinge der in einer gegebnen Gesellschaft herr- Aufgabe zuteil geworden, uns genau Rechenschaft abzulegen
schenden ökonomischen Verhältnisse, so können diese Vorstel- über die essentielle Beschaffenheit der Welt. Gelingt uns dies, ist
lungen sich nicht auf die Dauer halten, nachdem die ökonomi- der absolute Bann des bloß Stofflichen gebrochen.
schen Verhältnisse sich gründlich geändert. «204
Ist der systemhaft verhärtete Materialismus absolut gesetzte
Physik, so bedarf es - nach der in Schopenhauers Werk zentralen
Reflexion - einer Metaphysik, welche die Ansprüche physischer
Welterklärung nicht sowohl bestreitet als relativiert. Indem frei-
lich für Schopenhauer die Basis jener Metaphysik nicht in den
Formen reinen Denkens besteht, sondern in dem unmittelbar
leiblich, sodann gesellschaftlich-geschichtlich erfahrenen Welt-
inhalt selbst, verringert sich der Abstand zwischen seiner Philo-
sophie und einem - aufgeklärten, nicht scientistisch beschränk-
ten ~ Materialismus. Das wird, in der Sache, von Schopenhauer
selbst insofern anerkannt, als er das "metaphysische Bedürfniß«
des Menschen wesentlich auf die "Endlichkeit alles Daseyns«
und die "Vergeblichkeit alles Strebens«205 zurückführt; es folgt
"dem physischen auf dem Fuße«.206 Es ist das "Wissen um den
Tod, und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der
Noth des Lebens, was den stärksten Anstoß ... zu metaphysi-
schen Auslegungen der Welt giebt«.207 Was wir Glück nennen,

202 Marx, Das Kapital, Band I, I. c., S. 192.


203 Ibid., S. 389.
20< Engels, Einleitung zur englischen Ausgabe der .Entwicklung des Sozialismus
von der Utopie zur Wissenschaft., in: Marx/Engels, Werke, Band 22, Berlin
1963, S. 310.
20S Schopenhauer, Werke, Band 3, I. c., S. 176.
206 Ibid., S. 177.
207 Ibid., S. 176f. 208 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 4, I. c., S. 196.

78 79
Die geistige Physiognomie Max Horkheimers

Im unendlichen Raum zahllose leuchtende


Kugeln, um jede von welchen etwan ein Dutzend
kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig
heiß, mit erstarrter kalter Rinde überzogen sind,
auf der ein Schimmelüberzug lebende und erken-
nende Wesen erzeugt hat: - dies ist die empirische
Wahrheit, das Reale, die Welt.
Arthur Schopenhauer

Biographischen und denkgeschichtlichen Periodisierungen haf-


tet leicht etwas Willkürliches an. Dennoch sind sie, behutsam
vorgenommen, ein unentbehrliches Hilfsmittel des Historikers.
Das gilt zum al dann, wenn es dieser, wie im Fall Max Horkhei-
mers, mit einem höchst komplexen Lebenswerk zu tun hat,
dessen wirkliche - nicht standpunkthaft fixierbare - Intentionen
sich dem heutigen Leser zunächst verschließen. Deutlich lassen
sich in Horkheimers geistiger Biographie sechs Etappen unter-
scheiden. - Die erste fällt mit den während des Ersten Weltkriegs
entstandenen Novellen und Tagebuchblättern zusammen, die
inzwischen unter dem Titel Aus der Pubertät veröffentlicht wur-
den. 1 Moralischer Protest gegen gesellschaftliches Unrecht, uto-
pische Sehnsucht nach dem Besseren und pessimistische Meta-
physik, .eingedenk der letztlichen Vergeblichkeit alles menschli-
chen Tuns, stehen in diesen erstaunlichen Versuchen des jungen
Mannes unversöhnt nebeneinander. Sie sind, wie Horkheimer im
fortgeschrittenen Alter betont hat, gespeist vom "Willen zur
Wahrheit und zum richtigen Leben«; sittlich-religiöse Imperati-
ve erscheinen hier »als die unmittelbar den Einzelnen bestim-
menden oder von ihm negierten Motive«. 2 An wissenschaftlicher
Erkenntnis der gesellschaftlichen Realität - geeignet, seine rebel-
lischen Gedanken zu nuancieren - fehlt es dem jungen Horkhei-
mer. Er verficht »unbedingte ... Treue zu einem Glauben«};
1 Herausgegeben und mit einem Nachwort von Alfred Schmidt, München 1974.

, Ibid., Vorwort, S. 7.
3 Ibid.

81
durch seine Novellen geht der schmerzliche Riß von Ideal und rend dieser Zeit steht er unter dem Einfluß seines Frankfurter
Wirklichkeit: sie schildern das gnadenlose Schicksal kompro- Lehrers Hans Cornelius, bei dem er 1922 mit der Dissertation
mißloserTugend »in dieser Welt«.4 Verstricktheit des Menschen Zur Antinomie der teleologischen Urteilskraft promoviert. 1925
in ewige Natur und unbeirrter Kampf gegen zeitliches Unrecht erfolgt die Habilitation mit der Arbeit Kants Kritik der Urteils-
bilden schon damals Hauptmomente seines Denkens. So uner- kraft als Bindeglied zwischen theor~tischer und praktischer Phi-
läßlich es für ihn ist, daß die »Ungerechtigkeit der Verteilung der losophie. Cornelius, ursprünglich Schüler von Mach und Avena-
Güter« beseitigt werde, so fragt er sich doch zugleich, ob nicht rius, bezeichnet die »erkenntnistheoretische Klärung des Welt-
selbst die »Erfüllung der kühnsten Utopien« die »große Qual« bildes und die Beseitigung der metaphysischen Scheinprobleme«
unberührt ließe, »weil der Kern des Lebens ... Qual ~nd Sterben als »erste Forderung des philosophischen Klarheitsbedürfnis-
ist«5 j ob nicht die »übersinnliche Bedeutung« selbst »menschen- ses«.10 In seiner »transzendentalen Systematik« verbinden sich
freundlicher, mitleidiger Tat«6 problematisch wird, ist der psychologisch-sensualistische Elemente mit Kantischen. Hork-
»Welt- und Höllenapparat«7 einmal durchschaut. heimers genaue, ihm nützliche Kenntnis der (teilweise vom Neu-
Man sieht: Horkheimers Jugendschriften nehmen, ausgehend kantianismus schwer ablösbaren) positivistischen Erkenntnis-
von Schopenhauers (streckenweise radikalisierter) Willensmeta- theorien, seine antidogmatische, Kants Verdienste bewahrende
physik, wesentliche Züge seiner späteren Konzeption vorweg. Grundhaltung bilden sich in dieser Zeit heraus. Allerdings wird
»Der metaphysische Pessimismus«, erklärt Horkheimer denn er schon früh an der Frankfurter Universitätsphilosophie irre.
auch rückblickend 1968, »war seit je mir vertraut. Meine erste Ihn bewegen vor allem inhaltlich-metaphysische Fragen. So
Bekanntschaft mit Philosophie verdankt sich dem Werk Scho- schreibt er im November 1921 seiner späteren Frau: »Nicht
penhauersj die Beziehung zur Lehre von Hegel und Marx, der formale Erkenntnisgesetze, die im Grunde genommen höchst
Wille zum Verständnis wie zur Veränderung sozialer Realität unwichtig sind, sondern materielle Aussagen über unser Leben
haberi, trotz dem politischen Gegensatz, meine Erfahrung seiner und seinen Sinn haben wir zu suchen.«l1
Philosophie nicht ausgelöscht.«B Marxsche und Schopenhauer- Während seiner Privatdozentur, 1926-1930, gelingt es Horkhei-
sche Denkmotive - diese stehen fürs malum metaphysicum, jene mer, die akademischen Eierschalen abzustreifen und den für ihn
fürs malum physicum - arbeiten sich in der Kritischen Theorie künftig verbindlichen Begriff von Philosophie zu entwickeln.
auf allen ihren Stufen aneinander ab, weil die •• richtige Gesell- Gekennzeichnet ist diese dritte Phase durch den entschiedenen
schaft« stets auch »ein Ziel« ist, »das mit der Vorstellung von übergang zum Marxismus (dessen Sprengkraft er sich freilich
Schuld sich verschränkt« 9 - nicht nur mit der eines wissenschaft- bereits an den revolutionären Ereignissen der Nachkriegszeit
lich beherrschbaren Gesamtprozesses. vergegenwärtigt hatte). Die Radikalität des von Horkheimer
Die Studien- und Assistentenjahre Horkheimers (1919-1925) inzwischen erreichten Bewußtseins reflektiert sich in dem erst
bilden die zweite Stufe seiner intellektuellen Entwicklung. Wäh- 1934 in der Schweiz unter d~m Pseudonym Heinrich Regius
veröffentlichten Aphorismen-Band Dämmerung, der - wenig-
4 Ibid., S. 8. stens hierzulande - in den späten sechziger Jahren eine wichtige
5 Ibid., S. 165.
Rolle bei der politischen Selbstverständigung studentischer Pro-
, Ibid., S. 337.
7 Ibid., S. 349.
testgruppen spielte. Die »gelegentlichen Notizen«, wie Horkhei-
8 Max Horkheimer, Kritische Theorie, herausgegeben von Alfred Schmidt, Band I,
Frankfurt am Main 1968, S. XIII. 10 Hans Comelius, Einleitllng in die Philosophie, Leipzig und Berlin 1921, S. VI.
, Ibid.
11 Unveröffentlicht, Horkheimer-Archiv.
82 83
mer, allzu bescheiden, seine Schrift bezeichnet; leiten in Wahr- menschlicher Gedanke, »der mit denen, die ihn fassen, stirbt und
heit über zu den Kategorien der Kritischen Theorie. Untersu~ verweht«.17 Wir sind es, die ebenso aus Furcht und Mißtrauen
chen wir zunächst einige Nervenpunkte dieses 1926-1931 ent- wie aus Hoffnung darauf verfallen, den zahllosen übeln der
standenen Buches. sinnlich erfahrbaren Welt eine ewige, absolut gute und gerechte
Von Anbeginn bewegt sich Horkheimers Denken - was selten Instanz entgegenzusetzen. Wann immer unsere Aussagen das
verstanden wird - im Medium einer doppelten Frontstellung: Bedingte, zeitlich Befristete überschreiten, sind sie »gleich be-
gegen »sinngebende«, dogmatisch verkündete Metaphysik und rechtigt oder gleich unberechtigt«.18 Die dem unbestechlichen
gegen begriffsfeindlichen Positivismus, der jeglichen übers Hier Blick offenkundige »Sinnlosigkeit der Welt« geht für Horkhei-
und Jetzt hinausreichenden Sinn abstrakt verneint. Sowenig der mer namentlich daraus hervor, daß der Differenz eines moralisch
Gedanke im unmittelbaren Nutzeffekt aufgeht, so wenig gibt es guten von einem moralisch schlechten Leben keine überzeitliche
für Horkheimer einen reinen, der materiellen Realität enthobe- Symbolkraft zukommt; sie »straft die Metaphysik, d. h. ihre
nen Erkenntnistrieb. Wer vorgibt, einem »interesselosen Streben sinnvolle Deutung Lügen«. Das freilich irritiert »nur den ... ,
nach Wahrheit« zu folgen, unterliegt einer ideologisch aufberei- welcher aus Furcht vor irgendeinem Herrn und nicht aus Mitleid
teten »philosophische[n] Täuschung«.12 Ein »um des Denkens mit den Menschen ein menschliches Leben führt«.19
willen« betriebenes Denken hat »seinen Sinn, Mittel zur Verbes- All dies spricht Horkheimer ohne Zynismus aus: als »traurige
serung menschlicher Verhältnisse zu sein, verloren«.13 Zudem Erkenntnis«.2o Nur soweit es den Menschen - radikal endlichen
widerstreitet jenes »Streben nach Wahrheit« insofern dem eige- Wesen - gelingt, konkrete Vernunft in ihrer geschichtlichen Welt
nen Anspruch, als »es an ihre Stelle notwendig ein Phantom, die durchzusetzen, bleibt diese kein »Spiel blinder Natur«.21 Dem
absolute, d. h. die überirdische Wahrheit setzen muß«.14 materiellen Universum freilich sind unsere Ängste und Nöte,
Wenn Horkheimer - was prima lacie befremden mag - immer unser ephemeres Glück schlechthin äußerlich. »Güte« oder »Ge-
wieder betont, »Metaphysik« sei unmöglich, so versteht er dar- rechtigkeit« wohnen dem Weltall nicht inne: es ist »dumpf und
unter den Inbegriff theologischer, auch rationalistischer Ansprü- erbarmUrigslos«.22 - Die Menschheit ist allein.
che, positiv über ein Absolutes zu urteilen. Wohl sind, umge- Erwägungen, die Horkheimers Materialismus mit der Philoso-
kehrt, »Aussagen über die Zufälligkeit, Endlichkeit, Sinnlosig- phie Schopenhauers verbinden. Wohl verwirft dieser aus er-
keit der sichtbaren Welt möglich«.J5 Aber Horkheimer weigert kenntnis kritischen und ethischen Gründen den als »absolute
sich, mit Kants Ideenlehre das selbst noch »in solchen Negatio- Physik«23 auftretenden Materialismus. Aber er vermag dessen
nen ... fungierende Kriterium der Notwendigkeit, Unendlich- (zunächst von ihm entschieden behauptete) Unvereinbarkeit mit
keit und Sinnhaftigkeit ... als Bürge der Existenz des Ewigen im metaphysischem Denken insofern nicht durchzuhalten, als er
menschlichen Gemüt«16 zu interpretieren. Jenes Kriterium _ Kant vorwirft, Metaphysik und Erkenntnis apriori voreilig iden-
davon ist nichts abzumarkten - bleibt ein menschlich-allzu- tifiziert zu haben: »Dazu hätte man ... beweisen müssen, daß
17 Ibid.
12 Dämmerung, jetzt in: Max Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämme- 18 Ibid., S. 335.
mng, herausgegeben von Werner Brede, Einleitung von Alfred Schmidt, Frank- " Ibid.
furt am Main 1974, S. 272; 273. 20 Ibid., S. 334.
lJ Ibid., S. 273. " Ibid., S. 336.
H Ibid. 22 Ibid.

15 Ibid., S. 334. 2J Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Sämtliche Werke,heraus-
,. Ibid. gegeben von Arthur Hübscher, Band 3, Wiesbaden 1949, 5.195.

84 85
der Stoff zur Lösung des Räthsels der Welt schlechterdings nicht was die Menschen quält«.30 Was die offiziellen Philosophen oder
in ihr selbst enthalten seyn könne, sondern nur außerhalb der GeisteswissenschaftIer »über Geist, Kosmos, Gott, Sein, Freiheit
Welt zu suchen sei, in etwas, dahin man nur am Leitfaden jener ... , ... über Kunst, Stil, Persönlichkeit, Gestalt, Epoche, ja über
uns apriori bewußten Formen gelangen könne. So lange aber Geschichte und Gesellschaft« berichten, ist unanfechtbar objek-
Dies nicht bewiesen ist, haben wir keinen Grund, uns, bei der tiv; »Leid oder gar Empörung über das Unrecht oder Mitleid mit
wichtigsten und schwierigsten aller Aufgaben, die inhaltsreich- den Opfern«31 sind ihnen fremd. Was die um überzeitliche Sach-
sten aller Erkenntnisquellen, innere und äußere Erfahrung, zu lichkeit bemühten Metaphysiker als das wahre Wesen des Seien-
verstopfen, um allein mit inhaltsleeren Formen zu operiren.«24 den ausgeben, ist offenbar »so geartet, daß man es erforschen und
Entsprechend handfest fällt aus, was Schopenhauer die »Entzif- in seinem Anblick leben kann, ohne in Empörung gegen das
ferung der Welt«25 nennt. So unterstreicht er (ganz wie die gro- , bestehende Gesellschaftssystem zu geraten. Der Weise, der den
ßen Materialisten der französischen Aufklärung) die kreatürliche Kern der Dinge schaut, kann zwar aus dieser Schau alle mögli-
Hinfälligkeit und Mangelsituation des Menschen. Ihr - nicht chen philosophischen, wissenschaftlichen und ethischen Konse-
etwa einem autonomen Erkenntnisdrang - entspringt Schopen- quenzen ziehen, ... aber der Blick für die Klassenverhältnisse
hauer zufolge »das Bedürfniß einer Metaphysik«.26 Anima! me- wird wenig geschärft. Ja, die Tatsache, daß man unter den vor-
taphysicum ist der Mensch nur, weil er zuvor anima! physicum handenen Klassenverhältnissen diesen Aufschwung zum Ewigen
ist: »Ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod, und neben nehmen kann, bildet je mehr eine gewisse Rechtfertigung der
diesem die Betrachtung des Leidens und der Noth des Lebens, Verhältnisse, als der Metaphysiker diesem Aufschwung absolu-
was den stärksten Anstoß ... zu metaphysischen Auslegungen ten Wert zuerkennt.«32 Er erhebt die Menschen über die Niede-
der Welt giebt. Wenn unser Leben endlos und schmerzlos wäre, rungen des Alltags, gewährt ihnen Zugang zu einer höheren, der
würde es vielleicht doch Keinem einfallen zu fragen, warum die bloß empirischen vorgeordneten Wirklichkeit und verhilft ihnen
Welt dasei und gerade diese Beschaffenheit habe.«27 derart, inmitten des Bestehenden, zur wahren Bestimmung.
Aus Schopenhauers Perspektive ist denn auch genauer zu verste- Es gibt jedoch keinen einheitlich-geistigen, die empirische,
hen, was es mit Horkheimers schroffer Absage an »Metaphysik« raumzeitlich bestimmte Wirklichkeit, sei's die des Menschen
auf sich hat: sie ist ihrerseits metaphysisch - materialistische oder die der Natur, tragenden, erzeugenden oder sinnstiftend
Einsicht in die physische Bedingtheit und Gebrechlichkeit alles überwölbenden Grund. Darin faßt sich die marxistische Kritik
Menschlichen. 28 Die Themen amtlicher Metaphysik dagegen de- zusammen, die Horkheimer in der Dämmerung an den ontolo-
maskieren sich bereits durch die »Fragestellung« und den »mehr gisch wiedererstandenen Metaphysiken der zwanziger Jahre übt.
oder weniger gepflegte[n] Ton ihrer Behandlung«.29 Man merkt Deren Vertreter, obenan Heidegger, tendieren dazu, umgangs-
sogleich, daß ihre Verfechter kaum »von dem beeindruckt sind, sprachliche, der Lebenspraxis entstammende Begriffe - in ent-
stofflichter Form - aufzunehmen. Ihres geschichtlichen, jeweils
24 Ibid., Band 2, S. 506f. überprüfbaren Gehalts ledig, erhalten sie die - ideologische -
2' Ibid., Band 3, S. 204. Würde fachmännisch ermittelter Bestimmungen der condition
26 Ibid.,.S. 176. humaine.33 Horkheimer durchschaut schon damals die apologe-
27 Ibid., S. 176f.
" Cf. hierzu auch meinen Aufsatz Adomo - ein Philosoph des realen Humanismus, 30 Ibid., S. 263.
in: Theodor W. Adomozum Gedlichtnis, herausgegeben von HermannSchwep- 31 Ibid., S. 352f.
penhäuser, Frankfurt am Main 1971, insbesondere S. 67-75. 32 Ibid., S. 263.

" Max Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmemng, l. c., S. 352. 3J Als blanken Hohn auf die namenlosen, sehr empirisch verursachten Leiden der

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tische Rolle der offiziellen Philosophen, die »lieber ein System ... herauszudeuten seyn ... aus dem Stoff, nicht aus der bloßen
der Werte als eines der Unwerte aufstellen, " . lieber ,vom Form der Erfahrung. Demnach ist ... Philosophie ... das richti-
Menschen überhaupt< als von den Menschen im besonderen, ge, universelle Verständniß der Erfahrung selbst, die wahre Aus-
vom Sein schlechthin als von ihrem eigenen Sein handeln«.34 Sie legung ... ihres Gehaltes. Dieser ist das Metaphysische, ... das
sperren sich gegen die Wahrheit, daß »ihr Geschwätz ... vom in die Erscheinung bloß Gekleidete und in ihre Formen
,Ewigen<<< zum ideologischen Mörtel gehört, der das »Haus der Verhüllte. <Y - Beachten wir, daß auch der Materialist Marx, bei
gegenwärtigen Menschheit« zusammenhält, wie Horkheimer es politisch gegensätzlichen Intentionen, sowenig wie Schopenhau-
im Aphorismus ,Der Wolkenkratzer< eindringlich beschreibt: er die »Wirklichkeit« naiv-realistisch hinnimmt. Er bezeichnet
»Dieses Haus, dessen Keller ein Schlachthof und dessen Dach sie ausdrücklich als "Erscheinungswelt«.3B Wissenschaftliches
eine Kathedrale ist, gewährt in der Tat aus den Fenstern der Verhalten besteht ihm zufolge darin, die »Oberfläche der Er-
oberen Stockwerke eine schöne Aussicht auf den gestirnten scheinung«39 zu durchdringen; es muß "durch den Schein hin-
Himme1.«35 Sosehr Horkheimer das »scheußliche Gespenster- durch das innere Wesen und die innere Gestalt« des kapitalisti-
reich«36 der bürgerlichen Metaphysik jener Jahre verachtet, so schen Gesamtprozesses »erkennen«.40
sehr hält er fest an der Idee einer vernünftig eingerichteten Dieser durchaus sachliche, nicht nur auf formaler Analogie beru-
Menschheit. Sie verbindet ihn, wenn auch in eigentümlich gebro- hende Zusammenhang von Schopenhauer und Marx ist hier her-
chener Weise, mit dem Denkzusammenhang des deutschen Idea- vorzuheben, weil er, ohne daß dies unmittelbar deutlich würde,
lismus. Dieser versieht ihn mit einem materialeren Begriff von in Horkheimers Philosophie eingegangen ist. Er erstreckt sich
Philosophie als der damals zeitgenössischen. Sein Gewährsmann übers Erkenntniskritische hinaus auch aufs Metaphysische und
Schopenhauer, Kantianer und Kant-Kritiker zugleich, besteht Moralische. Beide Denker lehren die Bewußtlosigkeit und Blind-
(nicht anders als der von ihm grimmig befehdete Hegel) darauf, heit des Weltlaufs. Marx freilich, darin Kant verpflichtet, be-
daß »die Welt ..., gerade als Erscheinung, die Manifestation schränkt diesen negativen Zustand auf die - wie er hofft - revolu-
Desjenigen ist, was erscheint«: des Dinges an sich. »Dieses muß tionär beendbare "Vorgeschichte« der Menschheit; seine Theo-
daher sein Wesen ... in der Erfahrungswelt ausdrücken, mithin rie zielt darauf ab, daß human vergesellschaftete Individuen »ihre
Geschichte selbst machen«, und zwar »mit Gesamtwillen nach
Unteren mußte Horkheimer es empfinden, wenn er 1929, dem Jahr der Welt-
einem Gesamtplan«Y Der weit skeptischere Schopenhauer da-
wirtschaftskrise in Heideggers Sein und Zeit auf folgende (sich auch noch radikal
dünkende) Definition stieß: .Die Einheit der transzendentalen Struktur der gegen sieht im historischen Prozeß "stets nur das Selbe wieder-
innersten Bedürftigkeit des Daseins im Menschen hat die Benennung .Sorge< holt, unter anderen Namen und in anderm Gewande«: jeder
erhalten« (Cf. ibid., S. 320). - Nietzsehe, dem Horkheimer Entscheidendes ver- fortschrittsgläubige Versuch, die »Weltgeschichte als ein plan-
dankt, hat in der Götzendämmerung (Stuttgart 1954, S. 96) die .Idiosynkrasie.
der idealistischen Philosophen gerügt, die darin besteht, .. das Letzte und das 37 Schopenhauer, Sämtliche Werke. Band 3, 1. c., S. 204.
Erste zu verwechseln. Sie setzen Das, was am Ende kommt-leider! denn es sollte J8 Man<. Das Kapital. Band Irr, Berlin 1953, S. 67.
gar nicht kommen! - die .höchsten Begriffe<, das heißt die allgemeinsten, die 39 Ibid., S. 63.
leersten Begriffe, den letzten Rauch der verdunstenden Realität an den Anfang als '0 Ibid., S. 194. - .. Sozialforschung., schreibt Horkheimer im Anschluß an Man<,
Anfang. Es ist dies wieder nur der Ausdruck ihrer Art zu verehren: das Höhere .. erstrebt Erkenntnis des gesamtgesellschafrlichen Verlaufs und setzt daher vor-
darf nicht aus dem Niederen wachsen. darf überhaupt nicht gewachsen sein ... aus, daß unter der chaotischen Oberfläche der Ereignisse eine dem Begriff
Die Herkunft aus etwas anderem gilt als ... Wert-Anzweiflung .• zugängliche Struktur wirkender Mächte zu erkennen sei. (Zeitschrift für Sozial-
" Notizen . .. und Dämmerung, 1. c., S. 288. forschung. Jahrgang I, Leipzig 1932, Doppelheft 112, S. I).
35 Ibid.
" Engels an Heinz Starkenburg, Brief vom 25.1. 1894, in: Marx/Engels, Ausge-
36 Ibid., 296.
wählte Briefe. Berlin 1953, S. 560.
88 89
mäßiges Ganzes zu fassen«42, ist verwerflic~er Hegelianismus. nen ableiten, nicht aus sich selbst oder aus der Luft a la
Damit verzichtet Schopenhauer auf einheitliche Geschichtstheo- Hegel.«46
rie überhaupt :- nicht nur auf metaphysische. Der Annahme Sätze, die Schopenhauer fraglos unterschrieben hätte. Auf einem
überindividueller Strukturen und Tendenzen begegnet er mit anderen Blatt steht, daß die Begründer des Marxismus, anders als
unüberwindlichem Mißtrauen: »Selbst das Allgemeinste in der der Willensmetaphysiker, bei jener (polemisch ,gewonnenen,
Geschichte ist an sich selbst doch nur ein Einzelnes und Indivi- noch feuerbachianisch getönten) »Basis« nicht Sfrhenblieben,
duelles, nämlich ein langer Zeitabschnitt, oder eine Hauptbege- sondern sie zur ökonomischen, entwicklungs gesetzlichen Basis
benheit: zu diesen verhält sich daher das Besondere, wie der der Sozialgeschichte erweiterten. Eine konkret-klassenmäßige
Theil zum Ganzen, nicht aber wie der Fall zur Regel; wie dies Betrachtungsweise, die - wie gesagt - in der Dämmerung durch-
hingegen in allen eigentlichen Wissenschaften Statt hat, weil sie weg erreicht ist. Dadurch freilich, daß Horkheimer den histori-
Begriffe, nicht bloße Thatsachen überliefern.«43 schen Materialismus von vornherein aus einem Schopenhauer-
Freilich - und davon geht Horkheimer aus - genügt es nicht, den schen Blickwinkel rezipiert, bleibt er davor bewahrt, »die« Ge-
offenkundigen Mangel dieser rein narrativen Interpretation der schichte pantheistisch zu verklären: sie ist keine selbsttätige,
Geschichte bloß zu tadeln, die deren Gang auf eine Summe teleologisch sich entfaltende SubstanzY Die von Marx entdeck-
einzelner Geschehnisse reduziert. In Schopenhauers Beharren ten ökonomischen Gesetze besagen nach Horkheimer lediglich,
darauf, daß Historiographie es mit dem »schlechthin Einzelnen daß die »Ele!l1ente« des Sozialismus »in gewisser Weise im Kapi-
und Individuellen« 44 zu tun hat, steckt nämlich zugleich materia- talismus vorhanden sind«: als objektive »Tendenzen«.48 Dabei
listischer Protest gegen konformistische Metaphysiken, die indi- ist das »Erfahrungsmaterial, auf Grund dessen wir annehmen,
viduelles Leiden entschärfen oder gar verklären, indem sie es in daß die Tendenzen sich wirklich durchsetzen, ... sehr gering«. 49
die - vermeintlich sinnvolle - Totalität des Geschichtsverlaufs Horkheimer hält jedoch wenig von der weisen Skepsis jener, die
eingliedern. Demgegenüber - das bezeugen die Anfänge gerade Marx ehrerbietig als neutrales Bildungsgut in die Geschichte der
von Marx und Engels - besteht der philosophische wie politische Philosophie »einordnen«. Indem er zu »auch so einem Philoso-
Ubergang zum Materialismus zunächst einmal darin, wolkige
Universalien zu kritisieren und sich der realen Nöte »des wirkli- 46 Engels an Marx, Brief vom 19. 11. 1844, in: MarxiEngels, Werke, Band 27, Berlin
chen individuellen Menschen«45 anzunehmen. »Wir müssen«, 1963, S. 12.
47 Dieses Motiv wird wichtiger noch auf den späteren Stufen der Horkheimerschen
schreibt Engels 1844 an Marx, »vom Ich, vom empirischen,
Entwicklung. So heißt es in den (1930 erschienenen) Anfängen der bürgerlichen
leibhaftigen Individuum ausgehen, um ... uns von da aus zu Geschichtsphilosophie mi~ deutlich antihegelschem Akzent: .. Die vollständig
,dem Menschen< zu erheben. ,Der Mensch< ist immer eine Spuk- gelungene Erklärung, die durchgeführte Erkenntnis der Notwendigkeit eines
gestalt, solange er nicht an dem empirischen Menschen seine geschichtlichen Ereignisses, kann für uhs, die wir handeln, zum Mittel werden,
Basis hat. Kurz, wir müssen vom ... Materialismus ausgehen, Vernunft in die Geschichte hineinzubringen; aber die Geschichte hat keine
Vernunft, >an siehe betrachtet, ist keine wie immer geartete ~Wesenhei[c, weder
wenn unsre Gedanken und namentlich unser ,Mensch< etwas .Geist<, dem wir uns zu beugen hätten, noch Macht, sondern eine begriffliche
Wahres sein sollen; wir müssen das Allgemeine vom Einzel- Zusammenfassung von Ereignissen, die sich aus dem gesellschaftlichen Lebens-
prozeß der Menschen ergeben. Von der ,Geschichte< wird niemand ins Leben
gerufen oder getötet, sie stellt weder Aufgaben noch löst sie solche. Die panthei-
42 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c., S. 507; S. 505. stische Verselbständigung der Geschichte zu einem.einheitlichen substanziellen
4) Ibid., S. 503. Wesen ist nichts als dogmatische Metaphysik« (Frankfurt am Main 1971, S. 69) .
... Ibid., S. 502. 48 Notizen . .. "nd Dämmerung, I. c., S. 251.
"Marx/Engels, Die heilige Familie, in: Werke, Band 2, Berlin 1959, S. 7. 49 Ibid.
90 91
phen« wird, büßt seine Lehre ihre sachliche und - für Horkhei- Farbe des Relativismus, Historismus, Soziologismus anzu-
mer noch wichtiger - moralische Verbindlichkeit ein. Denn die schmieren«.54 Der materialistischen Dialektik abhold, setzen sie
an sich richtige »Feststellung, daß aus der marxistischen Theo- »das Relativieren oder das Fragen überhaupt«55 absolut. Derart
rie der Sozialismus nicht >folgt<, auch wenn er ... wünschens- genügen die realpolitischen Ideologen nicht einmal dem eigenen
wert sein sollte, wirkt« - skeptisch vorgetragen - »als wissen- positivistischen Credo, es komme darauf an, die Tatsachen nüch-
schaftliche lind moralische Begründung des Kapitalismus«.5o tern anzuerkennen: auch ihre Erkenntnis verfällt schlechtem
Für Horkheimer indessen ergibt sich hieraus keine Resigna- Relativismus. Die Reformisten treten »unparteiisch und illu-
tion, sondern das kämpferische »Bekenntnis zur Praxis, deren sionslos«56 auf. Aber ihre »Liebe zum >Konkreten«<, muß un-
die Theorie bedarf«. »Marx«, so schreibt er damals noch, »hat glücklich bleiben; denn es erschließt sich »nur dem aus der Praxis
das Gesetz der herrschenden unmenschlichen Ordnung aufge- entspringenden Interesse«, das gesellschaftliche Ganze zu än-
deckt und die Hebel gezeigt, die man ansetzen muß, um eine dern. Ihr Begriff des Konkreten geht auf im »Stoff, mit dem sie
menschlichere zu schaffen.«51 ihre Schematismen füllen, er wird bei ihnen nicht durch die
Was die Skepsis betrifft, so ist sie Ausdruck eines akademischen, bewußte Parteinahme im geschichtlichen Kampf, über dem sie
in selbstgenügsamer Kontemplation verharrenden Denkens. Ihr vielmehr zu schweben glauben, organisiert«.57 Umgekehrt be-
Gegenteil, betont Horkheimer, ist nicht wiederum eine theoreti- kennen sich die kommunistischen Theore.tiker zwar zu den mar-
sche Haltung - das optimistisch verkündete Dogma -, sondern xistischen Prinzipien, aber diese nehmen in ihren Schriften keine
der Vollzug der geschichtlichen Praxis selbst. - Bloße Heilsge- »durch die Menge des theoretisch verarbeiteten Stoffs ... zeitge-
wißheit hat bürgerlicher Skepsis nichts voraus: »Die Illusion des mäße Gestalt an, sondern werden undialektisch festgehalteq.«.58
naturnotwendigen Eintritts der sozialistischen Ordnung gefähr- Entsprechend doktrinär fällt die kommunistische Politik aus. Sie
det aas richtige Handeln kaum weniger als der skeptische Un- setzt sich vielfach über reale Gegebenheiten hinweg und »er-
glaube ... Die sozialistische Gesellschaftsordnung ... ist histo- schöpft sich ... in erfolglosen Befehlen und moralischer Zu-
risch möglich; verwirklicht wird sie aber nicht von einer der rechtweisung der Ungehorsamen und Treulosen«.59 Leeren Ka-
Geschichte immanenten Logik, sondern von den an der Theorie tegorien hier steht begriffslose Stoffhuberei dort gegenüber. Die
geschulten, zum Bessern entschlossenen Menschen, oder über- politische Ohnmacht und Spaltung der deutschen Arbeiterklasse
haupt nicht.«52 reflektiert sich theoretisch darin, daß die »beiden Momente der
In diesem Kontext stehen auch Horkheimers prinzipielle über- dialektischen Methode: Tatsachenerkenntnis und Klarheit über
legungen zur proletarischen Politik der zwanziger Jahre. Den das Grundsätzliche;<60, voneinander isoliert sind. Geradezu pro-
reformistischen Sozialdemokraten wirft er vor, sie hätten »das
Wissen um die Unmöglichkeit einer wirksamen Verbesserung 54 Ibid.
der menschlichen Verhältnisse auf kapitalistischem Boden verlo- 55 Ibid.
56 Ibid., S. 285.
ren«Y Soweit sie spezifisch theoretische Arbeit nicht völlig ver-
57 Ibid.
werfen, neigen sie dazu, »alle bestimmten Begriffe und Ansich- " Ibid., S. 283.
ten ... zu diskreditieren ... und alles mit der gleichen grauen " Ibid.
60 Ibid., S. 285. - Es sei daran erinnert, daß die hier auf politischer Ebene erörterte,
50 Ibid., S. 252. ebenso produktive wie spannungsvolle Einheit von theoretisch-kategorialer Ar-
51 Ibid.
beit und empirischem Studium für die spätere Kritische Theorie insgesamt
" Ibid., S. 253; cf. hierzu auch S. 323. verbindlich geblieben ist. Die auf »die gegenwärtige menschliche Wirklichkeit«
53 Ibid., S. 284.
abzielende »Sozialforschung«, schreibt Horkheimer 1932 im Vorwort zur ersten
92 93
phetisch klingt Horkheimers Urteil über die damalige kommuni- d. h. sie verweisen häufig . . . bloß auf die Autorität. In der
stische Orthodoxie, wenn er etwa schreibt, die Treue zur mate- überzeugung, die ganze Wahrheit für sich zu haben, nehmen sie
rialistischen Lehre drohe »zum geist- und inhaltlosen Buchsta- es mit den einzelnen Wahrheiten nicht so genau und bringen ihre
ben- und Personenkult« zu verkümmern, sofern »nicht bald eine besserwissenden Gegner mit moralischer, notfalls auch mit phy-
radikale Wendung«61 eintrete. Die »Erkenntnis der wirklichen sischer Gewalt zur Räson.«65
Welt« aber, den »materialistische[n] Inhalt«, sieht er zu dieser Bei alledem weiß Horkheimer, wie wenig damit getan ist, ange-
Zeit »im Besitz jener, welche dem Marxismus untreu geworden sichts dieses Zustands der Arbeiterbewegung nur an den guten
sind«.62Da sie die weltgeschichtliche Perspektive verloren ha- Willen der Beteiligten zu appellieren. Er ist objektiv vermittelt.
ben, stumpft ihre Erkenntnis zur (im Hegelschen Sinn) abstrak- Daß die unmittelbar am Sozialismus Interessierten und diejeni-
ten Faktizität ab; »ohne das materialistische Prinzip werden die gen, die - potentiell wenigstens - über die zu seiner Herbeifüh-
. Tatsachen zu blinden Zeichen ... oder ... geraten ... in den rung notwendigen - theoretischen und politischen - Qualitäten
Bereich der das geistige Leben beherrschenden ideologischen verfügen, sich auf zwei einander bekämpfende Gruppen des
Mächte«.63
Proletariats verteilen, liegt daran, daß »der Typus des tätigen
Politisch drückt sich dieses - letztlich ökonomisch bedingte _ Arbeiters ... nicht mehr kennzeichnend [ist] für die, weIche am
Nebeneinander von begriffslosem Inhalt und inhaltslosem Be- dringendsten einer Änderung bedürfen. Es vereinigt vielmehr
griff darin aus, daß die einen zwar das Bestehende als schlecht eine bestimmte untere Schicht der Arbeiterklasse . . . immer
erkennen, es ihnen aber an Wissen fehlt; »die Revolution prak- ausschließlicher das übel und die Unruhe des Bestehenden in
tisch und theoretisch vorzubereiten«, während den anderen, sich. Diese ... am dringendsten an der Revolution interessierten
weIche über die erforderlichen Kenntnisse verfügen, die grundle- Arbeitslosen besitzen aber nicht wie das Proletariat der Vor-
gende Erfahrung von der »dringenden Notwendigkeit der Ände- kriegszeit die Bildungsfähigkeit und Organisierbarkeit, das Klas-
rung«64 abgeht. Daher haben die Sozialdemokraten, wie Hork- senbewußtsein und die Zuverlässigkeit der in der Regel ... in
heimer schließlich die Weimarer Situation der Linksparteien be- den kapitalistischen Betrieb Eingegliederten.«66
urteilt, wenn sie miteinander diskutieren, »viel zuviele Gründe. Horkheimers soziologische Notizen zu den Weimarer Linkspar-
Sie berücksichtigen peinlich genau alle Umstände, erweisen da- teien sind in doppelter Hinsicht wichtig. Einmal belehren sie
durch der Wahrheit und Objektivität eine Reverenz und beschä- über den - prekären ~ politischen Ort auch der späteren Kriti-
men ihre unwissenden Gegner durch die Vielfältigkeit der Ge- schen Theorie, zum anderen - das ist der umfassendere Aspekt-
sichtspunkte. Die Kommunisten haben viel zuwenig Gründe, darüber, daß Sozialismus für Horkheimer von Anbeginn keine
Frage der Sozialtechnik, sondern wesentlich eine sittliche Idee
Nummer seiner Zeitschrift (I. c., s. IrI), »wird ... zusammenfassender Begriffs-
ist. Wie sich ein Gelehrter zu der geschichtlichen Aufgabe stellt,
bildungen ... nicht entraten können, aber im Gegensatz zu breiten Strömungen
der gegenwänigen Metaphysik schließen ihre Kategorien die weitere Aufhellung die Klassengesellschaft durch eine gerechtere Ordnung zu erset-
und berechtigten Widerspruch durch die empirische Forschung nicht aus. So- zen, bezeichnet »den Grad seiner Moralität«.67 Die »Verwirkli-
wenig übergreifende begriffliche Zusammenfassungen bei der wissenschaftlichen chung des Sozialismus« ist für Horkheimer geradezu die
Arbeit zu entbehren sind, dürfen sie diese doch nirgends abschließend vorweg-
nehmen und sich an die Stelle der zu lösenden Probleme setzen.« 65 Ibid.
61 Notizen . .. und Dämmerung, I. c., S. 285.
"·Ibid. 66 Ibid., S. 282; cf. zu Horkbeimers soziologischer Einschätzung der Arbeiter-
63 Ibid.
bewegung der zwanziger Jahre auch die Monographie Max Horkheimer von
Helmut Gumnior und Rudolf Ringguth, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 4off.
.. Ibid., S. 286.
67 Notizen . .. und Dlimmerung, l. c., S. 252.
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»Form«, welche die Moral »in der Gegenwart angenommen mer unterstreicht - "zur primitivsten intellektuellen Klarheit
hat«68, ohne daß deshalb die analytische Bedeutung des wissen- und Wahrhaftigkeit des modernen Menschen«, völlig frei zu sein
schaftlichen Materialismus geschmälert würde. Um das gesell- vom »Glauben an die Existenz einer von der Geschichte unab-
schaftlich Wünschenswerte zu erreichen, bedürfen die revolutio- hängigen und sie doch bestimmenden Macht,/l, so sind die
nären Kräfte genauen Studiums der ökonomischen Verhältnisse. Menschen auf sich selbst angewiesen. Wenn etwas sie motivieren
Nicht deren Selbstlauf freilich, sondern allein die durchdachte kann, solidarisch zu handeln, Partei zu ergreifen für ihre besseren
Aktion der heute Leidenden kann den besseren Zustand her- Möglichkeiten, dann die Tatsache ihrer Verlassenheit. Sie verbin-
beiführen: »die ihr Sein selbst regelnde, rational organisierte det in Horkheimers Denken Schopenhauer mit Marx, den meta-
sozialistische Gesellschaft«.69 Der frühe Horkheimer ist von der physischen Materialismus mit dem ökonomischen. Auch die
objektiven Möglichkeit überzeugt, die Fremdherrschaft des Ka~ humane Praxis hat keinen absoluten, über Raum und Zeit hin-
pitals zu brechen und die vereinigten Individuen zu den Herren ausreichenden Sinn. 72 - Ein spezielles Merkmal des frühen
ihres Schicksals zu machen: "Wenn die Menschen ihren gesell- Aphorismen-Bandes ist noch zu erwähnen: die in ihm waltende
schaftlichen Lebensprozeß bewußt in die Hand nähmen und an Methode. Sie ist insofern hegelianisch, als sie das Allgemeine im
die Stelle des Kampfes kapitalistischer Konzerne eine klassenlose besonderen Inhalt aufsucht und darstellt. Horkheimer begnügt
und planmäßig geleitete Wirtschaft setzten, dann könnten auch sich nicht damit, den überkommenen Lehrgehalt des Marxismus
die Wirkungen des Produktionsprozesses auf ... ihre Beziehun- bloß kommentierend vorzutragen. Er folgt darin Marx selbst, bei
gen überschaut und reguliert werden.,/o dem es heißt, die »wahre Theorie« müsse »innerhalb konkreter
Der Rekurs auf den letztlich moralischen Kern des Horkheimer- Zustände und an bestehenden Verhältnissen klargemacht und
schen Sozialismus lenkt unseren Blick abermals auf dessen (von entwickelt werden«.73 Die "Zustände« und »Verhältnisse«, mit
Interpreten kaum wahrgenommenen) negativ-metaphysischen denen Horkheimer es zu tun hat, sind die des vorfaschistischen
Hintergrund. Bleibt das materielle Universum taub für mensch- Deutschland. Zu ihnen gehören - überbauhaft - auch Begriffe
liches Hoffen und Leiden und gehört es vollends - wie Horkhei- wie »Metaphysik, Charakter, Moral, Persönlichkeit und Wert
des Menschen«, auf die seine Notizen sich »immer wieder kri-
68 Ibid.

" Ibid., S. 270. 71 Notizen . .. und Dämmerung, l. c., S. 286.


70 Ibid., S. 269. - Horkheimer sieht hier (was auch seiner späteren Entwicklung " Ein für Horkheimers Philosophie insgesamt zentraler Gedanke. - "Der Schüler
entspricht) die Marxsche Theorie näher bei Kant, als gemeinhin zugegeben wird. der Aufklärung., schreibt Horkheimer 1935 in seinen Bemerkungen zur philoso-
Gerechrfertigt wird diese Interpretation zumal durch die kleinen geschichtsphi- phischen Anthropologie, " ... ist davon überzeugt, daß auch die zukünftigen
losophischen Schriften. So kennzeichnet Kant in der Idee zu einer allgemeinen Geschlechter, für die er kämpft, unwiderruflich vergänglich sind und am Ende
Geschichte in weltbürgerlicher Absicht den bisherigen - unbeherrschten - Stufen- immer das Nichts über die Freude siegt. ... Es mag als herrliches Ziel erscheinen,
gang der Geschichte ähnlich wie Marx und Engels: "Da die Menschen ... nicht daß die Menschen auf dieser Erde eine Zeitlang glücklicher und weiser leben als
bloß instinktmäßig, wie Tiere, und doch auch nicht, wie vernünftige Weltbürger, unter den blutigen und verdummenden Verhältnissen, die das Ende gesellschaft-
nach einem verabredeten Plane verfahren: so scheint keine planmäßige Geschich- licher Lebensformen zu kennzeichnen pflegen. Aber schließlich werden ... auch
te ... von ihnen möglich zu·sein. Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht jene späteren Generationen untergegangen sein, und die Erde wird ... ihre Bahn
erwehren, wenn man ihr Tun und Lassen auf der Weltbühne aufgestellt sieht; fortsetzen ... Es gibt eine Redeweise, welche hier von Skepsis und Nihilismus
und, bei hin und wieder anscheinender Weisheit im einzelnen doch endlich alles spricht; in Wirklichkeit beginnt das aufrichtige Bewußtsein und Handeln gerade
im großen aus Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und dort, wo sich diese einfache Wahrheit durchsetzt und festgehalten wird. (in:
Zerstörungssucht zusammengewebt findet« (in: Was ist Aufklärung? Aufsätze Kritische Theorie, Band I, l. c., S. 208).
zur Geschichte und Philosophie, herausgegeben und eingeleitet von Jürgen 73 Marx an Dagobert Oppenheim, Brief vom 25. 8. 1842, in: Marx/Engels, Werke,

Zehbe, Göttingen 1967, S. 41). Band 27, l. 0., S. 409.

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tisch« beziehen und die, bei aller thematischen Vielfalt, eine bestreitet er biologisch vorgegebene Anlagen. Zahlreiche »Reak-
gewisse »Einheitlichkeit«?4 des Buches konstituieren. Freilich tionsnuancen« haften uns seit der Geburt an. »Aber der Hori-
geht es Horkheimer weniger um die (fachphilosophisch neutral zont, der jedem von uns durch seine Funktion in der Gesellschaft
bleibende) Zergliederung jener Begriffe als darum, sie hinsicht- vorgezeichnet ist, die Struktur der Grundinteressen, die uns
lich ihrer gesellschaftlichen Genesis und Funktion zu untersu- durch unser Schicksal von Kindheit an aufgeprägt wird, läßt
chen. Dabei fällt einiges ab zur Soziologie namentlich der geistes- sicher nur in den seltensten Fällen eine relativ ungebrochene
wissenschaftlichen Gelehrtenzunft dieser Periode, die den Mar- Entfaltung jener individuellen Anlagen zu. Diese Chance besteht
xismus teils vornehm totschwieg, teils akademisch einzugliedern um so mehr, je höher die soziale Schicht ist, in der einer das Licht
suchte.
der Welt erblickt.... Die Lust an billigen Vergnügungen, der
Daneben enthält der Band Stücke anderer Art. Man könnte sie bornierte Hang an kleinlichem Besitz, das hohle Gespräch über
Beiträge zu einer mate;ialistischen Analytik des A1ltagslebens eigene Angelegenheiten, die komische Eitelkeit und Empfind-
nennen. Ihr Verfahren ist das jener »zarten Empirie«, von der samkeit, kurz die ganze Armseligkeit der gedrückten Existenz
Goethe in seinen Maximen und Reflexionen schreibt, sie mache brauchen sich dort nicht vorzdinden, wo die Macht dem Men-
sich »mit dem Gegenstand innigst identisch« und werde »da- schen einen Inhalt gibt und ihn entwickelt.<.?? - Horkheimer
durch zur eigentlichen Theorie«/5 Wird diese, wovon Horkhei- verfügt schon in der Dämmerung über ein erstaunliches Senso-
mer überzeugt ist, nicht durch die offizielle Bedeutsamkeit ihrer rium für Soziales; er weist - kritisch - nach, wie sich die Tausch-
Objekte geadelt, sondern durch wahre Einsicht, so kann solche gesellschaft noch in den Bezirken der Innerlichkeit fortsetzt, wie
auch im soziographischen, genau beobachteten Detail stecken. sie einwandert in die subtilsten Verästelungen einer Freundschaft
Das Mienenspiel eines Mannes, der in Gegenwart eines anderen oder Liebe. Die Menschen sind komplizierte Echo-Apparate; die
telefoniert, ist dann nicht weniger aufschlußreich für gesamtge- - zum Guten oder Schlechten - zurückspiegeln, was ihnen in der
sellschaftliche Tendenzen als ein Gespräch im Salon oder der Welt widerfährt.
Argwohn eines Hotelportiers, der ein allzu reichliches Trinkgeld Die Jahrzehnte von 1930 bis 1950 umfassen diejenigen beiden
erhält. Horkheimers durchgängiges Thema ist »die Abhängigkeit Etappen der Entwicklung Horkheimers, die sein Bild wie das der
der psychischen Reaktionen und der Bildung des Charakters« von ihm begründeten Kritischen Theorie im Bewußtsein einer
der Individuen von ihrer »materiellen Situation«.76 Keineswegs breiteren öffentlichkeit geprägt haben. Die eine - sie kann als
74 Notizen . .. und Dämmerung, 1. c., S. 224. vierte Etappe gelten - reicht von 1930, dem Jahr seiner Berufung
75 Goethes Werke, Band XII, Hamburger Ausgabe, 1967", S. 435. auf den eigens für ihn geschaffenen Frankfurter sozialphiloso-
76 Notizen . .. und Dämmemng, 1. c., S. 264. - Die Kunst mikrologischer Beobach-
phischen Lehrstuhl, bis 1940, dem Jahr seiner Übersiedlung von
tung verbindet Horkheimer mit Benjamins Einbahnstraße, Blochs Erbschaft
dieser Zeit und Adornos Minima Moralia. In der älteren deutschen Soziologie
New York nach Kalifornien. In diese ungemein produktive Zeit
nehmen Simmels kulturkritische Essays manche Züge der Horkheimerschen fallen so wichtige Studien wie die Anfänge der bürgerlichen
Methode vorweg, die freilich in der ZeitschnJt für Sozia/forschung in wesentlich Geschichtsphilosophie (1930), Hegel und das Problem der Meta-
durchgearbeiteterer Form "vorliegt. Wird die »wirkliche Geschichte., heißt es physik (1932), zuerst erschienen in der Festschrift für Griinberg,
hier, »mit ihren vielfältigen, die Individuen übergreifenden Strukturen. aner-
vor allem aber die großen Essays der Zeitschrift für Sozia/for-
kannt und nicht, »wie es der Existenzphilosophie entspräche .. , als ein »Abgelei-
tetes, Sekundäres. betrachtet, so »verwandelt sich die Lehre vom Sein im Men- schung, von denen hier nur Materialismus und Metaphysik
schen ebenso wie jede Art philosophischer Anthropologie ... in die Psychologie (1933), Maten·alismus und Moral (1933), Bemerkungen zur phi-
der in einer bestimmten Geschichtsepoche lebenden Menschen. (Geschichte und
Psychologie, in: Kritische Theorie, Band I, I. c., S. 11).
77 Notizen . .. ,md Dämmerung, I. c., S. 264f. und Anmerkung.
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losophischen Anthropologie (1935), Egoismus und Freiheitsbewe- von Gesellschaft und Psychologie«81 wi~klich ins Zentrum der
gung (1936) sowie die programmatische Arbeit Traditionelle und Theorie. Primär freilich bleibt dabei der ökonomisch-soziale
kritische Theorie (1937) genannt seien. Ausgehend vom Gedan- Druck: Freuds »Lebensnot«. Es geht nicht an, gesellschaftliche
ken einer - empirisch unterbauten - »Sozialphilosophie« gelangt Antagonismen dadurch abzuschwächen, daß »man sie unvermit-
Horkheimer in dieser Zeit zu einem spezifischen Begriff von telt auf den Menschen, auf bloß inwendige Vorgänge redu-
»Sozialforschung« und von diesem schließlich zur schulbilden- ziert«.82 jener Druck aber - darin konkretisiert Freud die Marx-
den Kritischen Theorie. sche Lehre - pflanzt sich »in sozialpsychologischen unbewußten
Demgegenüber ist das jahrzehnt von 1940 bis 1950, die Kriegs- Prozessen« fort, »welche die Menschen dazu bringen«, ihn »auch
und Nachkriegszeit, gekennzeichnet einerseits durch inhaltlich~ noch zur eigenen Sache zu machen und den Verlust der Freiheit
soziologische Studien über rassistische und ethnozentrische in Kauf zu nehmen«.83
Vorurteile, Ideologien und Verhaltensweisen, andererseits durch Mit der energischen Aufnahme Freudscher Einsichten in die
negativ-geschichtsphilosophische Arbeiten wie Vernunft und (damit weniger starr vertretbare) materialistische Geschichtsauf-
Selbsterhaltung (1942) sowie, beide 1947 veröffentlicht, Eclipse fassung geht in Horkheimers Denken während seiner kaliforni-
of Reason und die (gemeinsam mit Adorno geschriebene) Dia- schen jahre zweierlei einher: die rigorose Kritik spätkapitalisti-
lektik der Aufklärung. Setzt Horkheimer noch während der scher Massenkultur und - sofern diese unter dem Diktat refle-
dreißiger jahre - bei aller Distanz zur kommunistischen Partei- xionsloser Selbsterhaltung steht - eine gewisse, die Eigenständig-
politik - die Kritische Theorie mit dem Lehrgebäude des »dialek- keit von Philosophie betreffende Korrektur an Marx. - Sicher:
tischen Materialismus« gleich 78 , weiß er sich damals noch in auch in den großen Traktaten der dreißiger jahre betont Hork-
einem theoriegeschichtlich verbürgten Rahmen 79 , so erweist sich heim er, daß marxistische Gesellschaftslehre »über das Erbe des
ihm dieser während der fünften Etappe seines Wirkens als unzu- deutschen Idealismus hinaus das der Philosophie schlechthin«
länglich. Angesichts des »Widerspruch[s] zwischen den hand- bewahrt; »sie ist nicht irgendeine Forschungshypothese, die im
greiflichen Interessen der Massen und der faschistischen Politik herrschenden Betrieb ihren Nutzen erweist, sondern ein unab-
... , für die sie sich enthusiastisch einspannen«8o lassen, wird es lösbares Moment der historischen Anstrengung, eine Welt zu
unabdingbar, die Kritische Theorie durch psychoanalytische Ka- schaffen, die den Bedürfnissen und Kräften der Menschen
tegorien anzureichern. Nicht, daß Freud vorher in Horkheimers genügt. Bei aller Wechselwirkung zwischen der kritischen Theo-
Kreis vernachlässigt worden wäre. Schon die erste Nummer der rie und den Fachwissenschaften ... zielt sie nirgends bloß auf
Zeitschrift für Sozialforschung enthält einen. größeren Artikel Vermehrung des Wissens als solchen ab, sondern auf die Emanzi-
von Fromm über Methode und Aufgabe einer »analytischen pation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen ... Im
Sozialpsychologie«. Aber erst jetzt rückt die »Wechselwirkung Unterschied zum Betrieb der modernen Fachwissenschaft ist ...
die kritische Theorie ... auch als Kritik der Okonomie philoso-
78 CL dazu Kritische Theorie, Band I, I. c., S. 150; 268; und Band 11, I. c., S. 196,257.
phisch geblieben: ihren Inhalt bildet der Umschlag der die Wirt-
,., »Weil die materialistische Wi~senschaft«, schreibt Horkheimer 1933 durchaus im schaft durchherrschenden Begriffe in ihr Gegenteil, des gerech-
Sinn Lenins, .von ... Zielen nirgends absieht, trägt sie nicht den Charakter ten Tauschs in die Vertiefung der sozialen Ungerechtigkeit, der
scheinbarer Unparteilichkeit, sondern ist bewußt akzentuiert. Ihr kommt es
nicht so sehr auf Originalität als darauf an, die theoretische Erfahrung weiterzu-
führen, die ... schon gemacht ist- (in: Kritische Theorie, Band I, I. c., S. 108f.). BI Ibid.
80 Max Horkheimer und Theodor W. Adomo, Vorrede zu: Freud in der Gegen- 82 Ibid., s. x.
wart, Frankfurt am Main 1957, S. IX. 8J Ibid., S. IX.

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freien Wirtschaft in die Herrschaft des Monopols ... Es handelt Deren Rückbezug aber zur marxistischen ökonomik ist unter-
sich hier ... um die geschichtliche Bewegung der Epoche, die dessen in seinem Denken merklich abgeblaßt. Philosophie, die
zum Abschluß kommen soll.«84 dadurch ein höheres Maß an Eigenständigkeit gewinnt, als ihr
Das eigentlich Philosophische an der Marxschen Lehre erblickt der ursprünglich Marxsche Kontext einräumt, soll »verhindern,
Horkheimer zu dieser Zeit in keinem besonderen, von einzelwis- daß die Menschen sich an jene ... Verhaltensweisen verlieren,
senschaftlichen Inhalten völlig verschiedenen Objekt, sondern welche die Gesellschaft in ihrer jetzigen Organisation ihnen
darin, daß »die Erkenntnis des historischen Verlaufs des Gan- eingibt«.90 Entsprechend heißt es in der Dialektik der Aufklä-
zen« ihr »treibende[s] Motiv«85 ist. Daß es einen solch struktu- rung, einer vollends philosophischen Schrift: »Das Bestehende
rierten, begrifflich erfaßbaren Verlauf gibt, der einen geschicht- zwingt die Menschen nicht bloß durch physische Gewalt und
lich höheren Zustand herbeiführt, wird damals, prinzipiell je- materielle Interessen, sondern durch übermächtige Suggestion.
denfalls, von Horkheimer noch festgehalten. In der materialisti- Philosophie ist nicht Synthese, Grundwissenschaft oder Dach-
schen Einheit von Wissenschaft und Philosophie kommt jener- wissenschaft, sondern die Anstrengung, der Suggestion zu wi-
unbeschadet der Absage an bloß deskriptiven Empirismus - derstehen, die Entschlossenheit zur intellektuellen und wirkli-
letztlich doch der Vorrang ZU. 86 Philosophie ist für Horkheimer chen Freiheit.«91
in dieser Periode nichts in sich Bestimmtes, sondern - wie bei Eine nähere Diskussion der zwischen 1930 und 1950 entstande-
92
Marx selbst - Moment der Kritik der politischen ökonomie. 87 nen Schriften Horkheimers erübrigt sich hier ; sie war nur
Einen anderen Stellenwert (das wurde bereits angedeutet) bean- diesem Artikel (cf. ibid.) die umstands lose Reduktion von Philosophie auf So-
. sprucht dagegen die Philosophie im späteren Denken Hotkhei- ziologie als Spezialwissenschaft: .. Die stereotype Anwendung des Ideologie-
mers. Ohne je ausdrücklich mit den Prämissen und Resultaten begriffs auf jedes Denkgebilde beruht letztlich auf der Vorstellung, daß es keine
des Marxschen Kapitals zu brechen, mißtraut er immer mehr philosophische und damit überhaupt keine Wahrheit für die Menschen gebe, daß
alles Denken ,seinsgebunden. sei .... Solche Einstellung gegenüber philosophi-
auch einer materialistisch konzipierten Stufenfolge der Weltge- schen Ideen schließt nicht etwa ihre objektive Prüfung ein; sie ... beschränkt
schichte. Solange diese, schreibt er 1942, »ihren logischen Gang sich auf ihre mehr oder weniger komplizierte Zuordnung zu einer gesellschaftli-
geht, erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung nicht«. 88 Sie bleibt chen Gruppe.« Weit entfernt davon, die »gesellschaftliche Funktion der Philoso-
unbeherrschtes Schicksal. Angesichts schwindender Chancen phie« zu klären, hat Wissenssoziologie »vielmehr ihrerseits eine solche: dem in
die Zukunft weisenden Denken die Courage abzukaufen, seine praktische Ten-
politisch eingreifender Praxis sowie wachsender Ohnmacht des
denz zu unterbinden«.
Einzelnen gegenüber den kollektiven Mächten ändert sich we- '0 Ibid. _ Die bei Horkheimer Ende der dreißiger Jahre einsetzende Neueinschät-
sentlich, was Horkheimer 1940 in einem Aufsatz gleichen Titels zung des Status von Philosophie dürfte sich auch darin niedergeschlagen haben,
die »gesellschaftliche Funktion der Philosophie« nennt. Diese daß die Zeitschrift für Sozia/forschung in ihren letzten, englischsprachigen Num-
besteht zwar nach wie vor in der »Kritik des Bestehenden«.89 mern unter dem TitelStudies in Philosophy and Soeial Seience erschien.
" Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frank-
furt am Main 1969, S. 260.
B4 Max Horkheimer, Kritische Theorie, Band II, 1. c., S. 193 f.; S. 195. 92 Ausführlicher dargestellt wird das Horkheimersche Denken dieser Zeit in fol-
85 Ibid., S. 195. . genden Arbeiten: Gian Enrico Rusconi, La teoria critica della soeieta, Bologna
86 Cf. dazu Horkheimers Vorwort zum ersten Heft der Zeitschrift für Sozia/for- 1968; Martin Jay, The Dialectical Imagination. A History ofthe Frankfurt School
schung, 1. c., s. I-III. and the Institute of Soeial Research 192]-1950, Bostonfforonto 1973 (deutsche
87 Cf. Max Horkheimer, Kritische Theon·e, Band II, 1. c., S. 194; S. 270. Ausgabe: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des
B8 Max Horkheimer, Autoritärer Staat, in: Gesellschaft im Obergang, herausgege- Instituts für Sozia/forschung 1923-1950, Frankfurt am Main 1976); Alfred
ben von Wemer Brede, Frankfurt am Main 1972, S. 34. Schmidt, Zur Idee der Kritischen Theorie. Elemente der Philosophie Max Hork-
" Kritische Theon·e, Band II, 1. c., S. 304. - Entschieden verwirft Horkheimer in heimeTS, München 1974.

102 103
insoweit aufzunehmen, als sie zum besseren Verständnis der sprochene Erwartung, wenigstens die demokratischen Völker
1950 bis 1969 entstandenen Notizen beiträgt, die sein spätes würden nach ihrem Waffensieg über die Barbarei »die Prinzipien
Denken kennzeichnen. Auf ihren philosophischen Gehalt ist der Humanität, in deren Namen die Opfer des Krieges gebracht
jetzt einzugehen. - Vergegenwärtigen wir uns zunächst die poli- wurden, ausarbeiten und in Praxis überführen«94, erfüllt sich
tisch-zeitgeschichtlichen und geistigen BediI1gungen, unter nicht. Schon damals ist ihm die Problematik modernen Fort-
denen sie niedergeschrieben wurden. Die wichtigsten Lebensda- schritts bewußt, die nach Kriegsende sein großes geschichtsphi-
ten dieses Zeitabschnitts sind rasch genannt. 1950 nimmt das losophisches Thema werden sollte: »Deutlich scheint, selbst mit
Frankfurter Institut unter Horkheimer, der von Los AngeIes der Erweiterung des Denk- und Handlungshorizonts durch das
nach Deutschland zurückgekehrt ist, seine Arbeit wieder auf, ein technische Wissen, die Autonomie des Einzelsubjekts, sein
Jahr später in einem neuen Gebäude. 1951 bis 1953 wirkt Hork- Vennögen, dem anwachsenden Apparat der Massenmanipula-
heim er als Rektor der Frankfurter Universität, von 1954 bis 1959 tion zu widerstehen, die Kraft seiner Phantasie, sein unabhängi-
als Gastprofessor an der University of Chicago. Seine Emeritie- ges Urteil zurückzugehen ... Der Fortschritt droht das Ziel
rung erfolgt 1959. Er verläßt Frankfurt und lebt bis zu seinem zunichte zu machen, das er verwirklichen soll - die Idee des
Tode in Montagnola im Tessin. - Die politische Situation, die Menschen.«95
Horkheimer bei seiner Rückkehr vorfindet, ist die eines (bis weit In Anbetracht dessen wird die - sozialphilosophisch begründete
in die sechziger Jahre) entschieden restaurativen Nachkriegs- _ soziologische Forschung und Lehre zu dem (verglichen mit
deutschland, das - wiederbewaffnet und eingegliedert ins atlanti- dem älteren Ansatz) bescheideneren Versuch, die tiefgreifenden
sche Bündnis - schon aus geographischen Gründen zum wichtig- anthropologischen Veränderungen zu erfassen und die Indivi-
sten Schauplatz des Kalten Krieges wird. Dem Westen steht in duen zu wappnen gegen wahnhaftes, vorurteilsvolles Denken
jenen Jahren schärfster Konfrontation eine aggressiv-stalinisti- und Verhalten. Sie trägt so zur Mündigkeit politisch aufgeklärter
sche Ideologie und Militännacht gegenüber. Der schon während Menschen bei, die eine gerechtere, vernünftig eingerichtete Welt
der nationalsozialistischen Zeit brutal unterdrückte Marxismus anstreben. Dazu aber bedarf es, wie Horkheimer 1951 anläßlich
steIlt sich erheblichen Bevölkerungsteilen (einschließlich der or- der Wiedereröffnung des Frankfurter Instituts abermals unter-
ganisierten Arbeiterschaft), die ihn mit dem russischen System streicht, der »Verbindung großer Gesichtspunkte mit verant-
gleichsetzen, weiterhin als indiskutabel dar. wortlicher strenger Arbeit im einzelnen«.96 Verweilen wir etwas
Unter diesen Umständen kann es sich für den Kreis um Horkhei- bei Horkheimers programmatischen Ideen, die den Geist wider-
mer nicht länger darum handeln, auf der (bereits vorher prekä- spiegeln, in dem er seine akademische Tätigkeit im Deutschland
ren, jetzt aber voIlends fragwürdig werdenden) Einheit von kriti- der fünfziger Jahre aufnimmt. »Wir sehen in der Sozialwissen-
scher Analyse und revolutionärem Handeln zu beharren. Der schaft«, heißt es hier, »ein Element jenes aktuellen Humanismus,
geschichtliche Ort von Theorie hat sich geändert; unmittelbarer mit dessen Entfaltung die Frage nach der Zukunft der Mensch-
Nutzeffekt macht sie .verdächtig. »Aktion um der Aktion wil- heit heute verbunden ist .... Der Student moderner Soziologie
len«, schreibt Horkheimer 1946, »ist dem Denken um des Den- erfährt die Gründe für die Meinung der anderen, für das unter-
. kens wiIlen keineswegs überlegen.«93 Seine im selben Jahr ausge-
94 Ibid., S. 13.
95Ibid.
96 Institut für Sozialjorschung an der Johann Woljgang Goethe-Universität Frank-
9' Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (übersetzung von:
Edipse of Reason), herausgegeben von Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1967, furt am Main. Ein Bericht über die Feier seiner Wiedereröffnung, seine Geschich-
5.14. te und seine Arbeiten, Frankfurt am Main 1952, S. 11.

104 105
schiedene Verhalten der anderen Nation und Religion und Poli- heute und 1972 Bemerkungen zu Schopenhauers Denken im
tik. Echte Liberalität ist ein Produkt der Einsicht. Wer soziolo- Verhältnis zu Wissenschaft und Religion. 99 Schopenhauers
gisch gebildet ist, neigt wenig dazu, sich von einem totalitären Größe erblickt Horkheimer - gerade als Soziologe - in seinem
Propagandaapparat gegen den Rest der Welt verblenden zu las- strengen »Nominalismus gegenüber der Gesellschaft« .100 Wie
sen. .. . Gesellschaftliche Einsicht ist aber ... nicht mit ... •• in der Natur«, heißt es in der Welt als Wille und Vorstellung,
Relativismus zu verwechseln ... Seit je hat der Geist, dem es »nur die Species real, die genera bloße Abstraktionen sind, so
wirklich um ... das Ganze ging, den Fluß, die Verstrickung und sind im Menschengeschlecht nur die Individuen und ihr Lebens-
Bedingtheit der endlichen Momente ... erforscht.... Wenn ich lauf real, die Völker und ihr Leben bloße Abstraktionen«.101
von den großen Gesichtspunkten gesprochen habe, die mit der Schopenhauer verwirft den Mythos der Nation, das gewalttätige,
Einzelarbeit sich verbinden müssen, so meine ich, daß in ... der den Einzelnen mißachtende Kollektiv. Jenem, seinem Glücks-
soziologischen Haltung ... immer eine Intention steckt, die die verlangen und Leiden, gilt das unbeirrbare Interesse der Scho-
Gesellschaft, wie sie ist, transzendiert .... Eine gewisse kritische penhauerschen Philosophie, obwohl (und gerade weil) sie ande-
Haltung ... gehört sozusagen zum Beruf des Theoretikers der rerseits lehrt, daß wir dem Schleier der Maja unterliegen: Raum
Gesellschaft, und eben dieses Kritische, das aus dem Positivsten, und Zeit, die das principium individuationis bilden, sind subjek-
was es gibt, der Hoffnung, fließt, macht den Soziologen unpopu- tiv; sie gehören nicht dem Ding an sich an, weshalb sich die
lär. Den Studenten dazu zu erziehen, diese Spannung zum Beste- Vielheit der rastlos umgetriebenen Menschen (wie der Dinge
henden ... zu ertragen, ihn im echten Sinn sozial zu m;;tchen - überhaupt) als leerer Schein erweist. Was Schopenhauer erkennt-
was einschließt, daß er auch ertragen können muß, allein zu niskritisch-metaphysisch ausspricht: die Nichtigkeit des Indivi-
stehen - ist vielleicht das ... letzte Ziel der Bildung, wie wir sie duums, wird Horkheimer zufolge vom jüngsten Gang der Ge-
auffassen. « 97 schichte ratifiziert: »Was in der gegenwärtigen Periode sich er-
Gesichtspunkte, die für Horkheimer verbindlich bleiben. Ver- eignet, der Rückgang sozialer Bedeutung des Einzelnen, seine
mehrt und modifiziert werden sie, zumal während der sechziger zunehmende Ersetzbarkeit, ist nach Schopenhauers Philosophie
Jahre, durch ein wichtiges Moment, das seine Spätphilosophie konsequent; jedenfalls wird die Lehre von der Verkehrtheit der
zurückbezieht auf die frühen Novellen und Tagebuchblätter: die Angst vor dem Tod, der Eitelkeit des Daseins menschlichen Ichs,
ausdrückliche Aufnahme Schopenhauers in die Kritische Theo-
rie. Vorher ist die Willensmetaphysik - als ein Stück westeuro- .. -Die Schopenhimer-Vonräge«, schreibt Arthur Hübscher, »haben im Gesamt-
päischer Aufklärung - in Horkheimers Schriften gleichsam un- werk Horkheimers keine episodische Stelle, sie sind ... Zeugnisse einer entschie-
tergründig präsent. 98 Jetzt dagegen widmet er ihr eine Reihe denen ... Fortführung von Ansätzen, die in seinen frühen Veröffentlichungen
positiver, auf Vorträge zurückgehender Studien. 1955 erscheint zu finden sind .... Das Spätwerk Horkheimers steht im Zeichen nüchterner
Entlarvung einer Wirklichkeit, der weder mit utopischen Fonschrittshoffnun-
Schopenhauer und die Gesellschaft, 1961 Die Aktualität Scho-
gen noch mit der Flucht in kraftlos gewordene Traditionen beizukommen ist-
penhauers, 1967 Religion und Philosophie, 1971 Pessimismus (55. Schopenhauer-Jahrbuch für das Jahr 1974, herausgegeben von Arthur Hüb-
scher, Frankfurt, S. 88). - Cf. zur Rolle Schopenhauers in Horkheimers Philoso-
97 Ibid., S. 10; S. 11; S. 12. phie auch Wemer Post, Kritische Theorie und metaphysischer Pessimismus. Zum
'B Das gilt vor allem für die Art ihrer Rezeption des Marxschen Materialismus Spätwerk Max Horkheimers, München 1971.
(cf. dazu meine Studie Zur Idee der Kritischen Theorie, l. c., S. 45f.). - Daß sich 100 Max Horkheimer, Sozialphilosophische Studien~ herausgegeben von Wemer

Horkheimer im übrigen darüber im klaren ist, daß Schopenhauer sein .Rentner- Brede, Frankfurt am Main 1972, S.72.
dasein ... weidlich ideologisch verklärte., geht aus der Dämmerung hervor 101 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Sämtliche Werke, Band 3,

(cf. Notizen . .. und Dämmerung, l. c., S. 352). l. c., S. 505 f.

106 107
dadurch bestätigt.... Seit Schopenhauer hat der Pessimismus Schlecht wird den in jener Solidarität Tätigen nicht als absolute
durch die soziale Entwicklung noch weitere Gründe gefunden. Wahrheit gelten. Der Relativität des eigenen Urteils, soweit es
Das Schicksal des Einzelnen, das im Leben wie im Tode ein nicht auf Feststellung von Fakten sich beschränkt, sind sie sich
höchst wichtiges Thema der Philosophie, und erst recht der stets bewußt.«I04
Theologie, gebildet hatte, verliert nicht nur im Jenseits, sondern Von dieser bescheidenen, aber humanen Perspektive: analytisch
in der schlichten Wirklichkeit seine Bedeutung. Je rationaler, je an Marx, metaphysisch an Schopenhauer orientiert und beide
gerechter die Gesellschaft funktioniert, desto mehr ist jeder er- überschreitend, hat eine präzise Interpretation der - häufig miß-
setzbar, desto weniger differenziert ist seine Individualität. Die verstandenen - Spätphilosophie Horkheimers auszugehen. Sie
innere Logik der Geschichte weist nicht bloß auf Abschaffung ist kein unvermittelter Bruch mit den vorangehenden Stufen
der Klassenunterschiede, sondern auch der Unterschiede zwi- seines Denkens, eher deren dialektische Aufhebung. Beunruhigt
schen den durchs Kollektiv bestimmten Einzelnen.«102 von dem - wahrlich begründbaren - Zweifel, »ob nicht das Reich
Was unterdessen geschehen ist, würde in Horkheimers Optik der Freiheit, einmal verwirklicht, sich notwendig als sein Gegen-
einen weit radikaleren Pessimismus als den Schopenhauers recht- teil, die Automatisierung der Gesellschaft wie des menschlichen
fertigen. Der (christlichem Glauben verwandte) Trost seiner Phi- Verhaltens, erweisen müßte«, versucht Horkheimer, die heutige
losophie, die Rückkehr jener, die ihren egoistischen, blind vita- Weltlage »im Bewußtsein solchen Zwiespalts zu reflektieren,
len Drang verneinen, in die unterschiedslose Einheit des Welt- ohne den Gedanken an das Andre preiszugeben«.los
willens sei »eine Art Erlösung« 103, ist noch zu affirmativ. »Einzig Das fraglos aufschlußreichste Dokument der Horkheimerschen
bleibt« - darin besteht der Grundgedanke des späten Horkhei- Spätphilosophie bilden die erwähnten Notizen 1950 bis 1969. Sie
mer - »die durch den Fortschritt selbst gefährdete Sehnsucht, die enthalten ein sachlich N eues - keine Nachlese oder bloße Ergän-
den vom Elend der Vergangenheit, dem Unrecht der Gegenwart zung der älteren oder gleichzeitig entstandenen, bereits publi-
und der Aussicht auf eine des geistigen Sinns entbehrende Zu- zierteq Schriften. 106 Obwohl sie nach Inhalt und Sprachgestik in
kunft wissenden Menschen gemeinsam ist. Sie könnte ... eine
Solidarität begründen, die, in undogmatischer Weise, theologi- 104 Ibid.
sche Momente in sich enthält. Mit ihrer letztlich negativen Hal- 105 Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, I. c., S. 9. - »Kriti-
sches Denken«, heißt es im nämlichen Geist in der Neuausgabe der Dialektik
tung verbände sich, was ... als >Kritische Theorie< bekannt ist.
der Aufklärung (I. c., S. IX), »das auch vor dem Fortschritt nicht innehält,
Die durch ihre Sehnsucht Verbundenen vermöchten über ein verlangt heute Parteinahme für die Residuen von Freiheit, für Tendenzen zur
Absolutes, Intelligibles, über Gott und Erlösung nichts auszusa- realen Humanität, selbst wenn sie angesichts des großen historischen Zuges
gen, das Wissen .. , nicht als absolute Wahrheit zu verkünden, ohnmächtig scheinen.«
jedoch ... zu bezeichnen, was im Angesicht des, wenn auch 106 Daß die Notizen, unbeschadet ihrer Eigenständigkeit, nebenher auch geeignet
sind, die schon veröffentlichten Aufsätze und Interviews, vor allem der letzten
teuer zu bezahlenden so doch notwendigen Fortschritts, zwecks Lebensphase Horkheimers, zu erhellen, bleibt unbestritten. Erinnert sei (abge-
Minderung des Leidens' zu verändern oder zu bewahren ist. Mit sehen von den wichtigen, oben genannten Schopenhauer-Vorträgen) an folgen-
theoretischem Pessimismus könnte eine ... Praxis sich verbin- de, vom Leser noch hinzuzuziehende Publikationen, die wesentlich in den
den, die, des universalen Schlechten eingedenk, das Mögliche Umkreis des Spätwerks fallen: Die Vorträge und Aufzeichnungen von Teil 11
des unter dem Titel Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (I. c.) erschienenen
trotz allem zu verbessern sucht. Ihr eigenes Urteil über Gut und
Buches; ferner die beiden von Wemer Brede heraus$egebenen Bände Sozialphi-
losophische Studien und Gesellschaft im Obergang, Frankfurt am Main 1972, die
102 Max Horkheimer, Sozialphilosophische Studien,I. c., S. 149; 142. Aufsätze, Reden und Vorträge der Jahre 1930-1972 vereinigen; schließlich der
103 Ibid., S. 143. Aufsatz Die Zeitgemäßheit der Philosophie Schopenhauers in der Neuen Ziir-

108 109
manchem an die auf eine "dialektische Anthropologie« abzielen- lauf zu widerstehen. Das rechtfertigt aber keineswegs Bestrebun-
den Aufzeichnungen und Entwürfe im letzten Teil der Dialektik gen, sie zu einem fertigen, schlicht referierbaren »Standpunkt«
der Aufklärung anknüpfen 107, offenbart sich hier eine qualitativ zu verfestigen. Was Horkheimers essayistische Arbeiten stets
andere, bisher gleichsam subkutane Schicht des Horkheimer- herVorgehoben haben: daß der Erkenntnisprozeß prinzipiell un-
sehen Werks. Unwillkürlich kommt einem beim Lesen der N oti- abschließbar ist und Wahrheit einen Zeitkern hat; daß weder
zen Nietzsches Satz aus Jenseits von Gut und Böse in den Sinn, Objekt noch Subjekt der Erkenntnis einheitlich-geistig struktu-
jede kodifizierte Philosophie sei notwendig »Vordergrunds-Phi- riert sind: all diese Momente kehren eigenartig verschärft - auch
losophie«, verberge stets »auch eine Philosophie«: eine »umfäng- durch die aphoristische Form - in diesen Aufzeichnungen
lichere, fremdere, reichere Welt«, einen »Abgrund hinter jedem wieder.
Grunde, unter jeder ,Begründung«<.108 In der Tat nehmen sich Gnadenlos kritisch, versagen sich Horkheimers Notizen jede
im Licht der Notizen allgemein rezipierte Stücke der Philosophie Arglosigkeit. Es gehört zu der von ihnen erreichten Stufe des
Horkheimers, die man - abermals mit Nietzsehe gesprochen - Bewußtseins, daß ihr Autor, anderswo noch bereit, dem Akt des
für seine »letzten und eigentlichen« Ansichten hielt, einigerma- Philosophierens einige geschichtliche Substantialität zuzubilli-
ßen vordergründig aus. Neben den während der fünfziger und gen, jetzt weit skeptischer urteilt. Philosophie, wie »tief oder
sechziger Jahre veröffentlichten Schriften vertraute Horkheimer gewitzigt« sie sei, klingt »ein wenig albern«. Selbst Nietzsehe
- was jetzt zutage tritt - seinen Notizbüchern Gedanken an, gelingt es nicht, dem zu entgehen. »Was ihm am System verdäch-
deren Bestimmtheit und Radikalität ihresgleichen suchen. Nir- tig erschien«, schreibt Horkheimer, »haftet auch seinen eigenen
gendwo opfert Horkheimer die Genauigkeit philosophischen Gedanken noch an. Die ... elegante Verhaltenheit ... bewahrt
Ausdrucks stilistischer Glätte. Lieber noch nimmt er Sprödhei~ ihn ... nicht davor, so viel Unbeherrschtheit zu zeigen, daß er
ten und syntaktische Schwierigkeiten in Kauf. Seine Aphorismen über Gott und Welt und seine Schmerzen redet. Der Weltmann
sind keine leicht verdauliche Kost; sie bedürfen geduldiger und hält sich an Golf, vom Geschäft redet er selten, und Philosophie
sorgsamer Lektüre. ist ... schon auf dem Weg, zur Weltdeutung für Mittelständler
Wenn im folgenden versucht wird, in die inhaltliche Diskussion zu werden und schließlich in den Buden der Volksfeste anzulan-
der Notizen einzutreten, so kann es sich beim Reichtum der gen, wie die Astrologie. Wenn es um die Wahrheit geht, ist ...
Motive allenfalls darum handeln, ihren Ort im Horkheimerschen jedes Wort ... redselige Klage, stets unangebracht.«I09
Gesamtwerk nach Identität und Differenz zu bezeichnen; weni- Kein Wunder, daß moderne Philosophen häufig versucht sind,
ge Fingerzeige müssen dabei genügen. Abgerundete Systematik der »gesunden Wissenschaft« nachzueifern, »bietet doch ihr Be-
wäre verfehlt. Wohl werden Horkheimers Reflexionen durch die trieb mit den festen, dem Beherrschungszweck angepaßten Maß-
gemeinsame Tendenz zusammengehalten, dem negativen Welt- stäben ... verlockende Sicherheit«; in der wissenschaftlichen
Welt bringen »Ingeniosität, Fleiß und Gesundheit Erfolg«IIO,
cher Zeitung, Ausgabe vom 21.3.1971, S. 5lf.; sowie die beiden Interview- während Philosophie dem Verdacht ausgesetzt bleibt, bloße Pri-
Bände Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen (mit Helmut Gumnior), Ham- vatmeinung zu sein. Ihre Schwäche besteht darin, daß sie - Erbin
burg 1970, und Verwaltete Welt? (mit Otmar Hersehe), Zürich 1970. der theologischen Idee ewiger Seligkeit - auf Wahrheit abzielt,
107 Max Horkheimer und Theodor W. Adomo, Dialektik der Aufklärung, I. c.,
»die nicht nur keinem Zweck im handfesten Sinn, sondern nicht
S. 7; cf. insgesamt S. 218ff. - Den Texten der Dämmerung ähneln die Notizen
darin, daß auch sie in einer für Horkheimer spezifischen Weise gesellschaftliche
Einzelbeobachtungen mit philosophischen Reflexionen verbinden. 109 Notizen . .. lind Dämmemng, I. c., S. 10.
108 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, StUttgart 1953, S. 227. 110 Ibid., S. 12.

110 111
einmal der Ordnung und Verfügbarkeit erworbenen Wissens Philosophie hat, im HegeIschen Sinn, ihre Substantialität einge-
dient«.111 Auch auf die Kraft bestimmter Negation, der die Dia- büßt. Das ahnen junge Menschen, die »schon zu sehr mit techni-
lektik der Aufklärung noch vertraut, ist kein Verlaß. Hegel hat scher Erfahrung gesättigt« sind, »um in Philosophie mehr als eine
recht, wenn er sagt, »ein negierter Gedanke« werde zum »inhä- sympathische Illusion ... zu verspüren«.118 Leere Skepsis frei-
rierenden Moment eines ... reicheren geistigen _Gebildes«1I2. lich ist so wenig hilfreich wie religiöse Positivität: »Es gibt eine
Vermag dieses jedoch sich an der geschichtlich-sozialen Wirk- andere Konsequenz: das Schweigen. Was immer gesagt wird, ist
lichkeit nicht auszuweisen, so besteht keinerlei Gewähr, »daß es nicht gesagt, denn der es vernehmen soll, der Nichtendliche,
mehr sei als der ursprünglich negierte Gedanke selbst«.113 Wie vernimmt es nicht. Die Menschen, zu denen wir sprechen, sind
Adornos Negative Dialektik bezweifelt auch der späte Horkhei- bloß Gegenstände, die wir in Bewegung setzen, mit Worten wie
mer, daß die Negation der Negation automatisch ein Positives mit Armen, Waffen und Maschinen. Philosophie ... sieht vom
ergibt. Was bleibt, ist ihm zufolge »die Einsicht in die Ohnmacht Sprecher und Hörer ab und setzt sich selber absolut ... Sprache,
alles Geistigen, dem die Macht zu wenig ist - das ist die Wahrheit, die Wahrheit sein will, ist plapperndes Schweigen ... Deshalb ist
und an dieser Stelle berühren sich Materialismus und ernsthafte nichts wahr. Nicht einmal, daß wir in der Nacht sind, ist wahr,
Theologie. Und deshalb sind die wahren Philosophen heute nicht einmal, daß es nicht wahr ist ... und das Aufspreizen der
gegen die Philosophie.« 114 Aber - beeilt Horkheimer sich hinzu- Verneinung und Versagung zur Philosophie, ... der logische
zufügen - selbst diese Einsicht ist als solche eitel; es sei denn, sie Positivismus, der aus der Not eine mathematische Tugend
gilt als real verifizierbare Feststellung: »Dann ist sie Erkenntnis macht, lebt vom Scheine dessen, das zu leugnen ihr einziger
so gut wie das Gravitationsgesetz.«lI5 Inhalt ist.« 119
Philosophie, die im Zeitalter des deutschen Idealismus ihren Formulierungen, die sich mit den exponiertesten Stellen im Werk
höchsten Ehrgeiz darin sah, öffentlich und welthaltig zu sein, die Nietzsches messen können. Auf sie war zunächst zu verweisen,
großen geschichtlichen Interessen einer aufsteigenden Klasse auf um keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, in welchem
ihren objektiven Begriff zu bringen, fühlt sich heute wieder, wie Maße Horkheimers Spätwerk - ohne deshalb scientistisch oder
der junge Marx die nachklassischen Denker des Altertums inter- kirchlich-theologisch abzudanken - den Akt und geschichtli-
pretiert, angezogen vom »Lampenlicht des Privaten«, das der chen Ort gegenwärtigen Philosophierens problematisiert.
»Nachtschmetterling« aufsucht, »wenn die allgemeine Sonne un- Gleichwohl enthalten die Notizen-in großartigem Widerspruch
tergegangen ist«.116 - »Wir treten«, sagt Horkheimer, »im Unter- zu seinen grundsätzlichen Erwägungen - eine Fülle einzelner,
gang dieser Zivilisation, in die Phase ein, in der dem zeitgemäßen philosophisch weitertreibender Gedanken. Ihnen wenden wir
Philosophieren nur die Privatsphäre bleibt: Lust und Unlust uns jetzt zu.
abschätzen, wie die römischen Stoiker, Kyniker, Kyrenaiker. Kritik am Positivismus bezieht sich bei Horkheimer nie bloß auf
Mit den Systemen ist es aus, ja mit allen großen Gedanken.«117 die Verabsolutierung der im vorgegebenen sozialen Rahmen gel-
111 Ibid., S. 86. tenden wissenschaftlichen Methodik, sondern ebensosehr auf
112 Ibid. das alltägliche, jenem Rahmen verhaftete Bewußtsein der Men-
IIJ Ibid. schen. Die Notizen leiten die spezifische Gestalt des westlichen
11< Ibid.
Positivismus nach dem Zweiten Weltkrieg aus einer längerfristi-
115Ibid.
116 He/te zur epikureischen, stoischen und skeptischen Philosophie, in: Marx/Engels,
Werke, Ergänzungsband, Schriften bis 1844. Erster Teil, Berlin 1968, S. 218. 118 Ibid., S. 122.
117 Notizen . .., I. c., S. 71. "' Ibid., S. 123; cf. dazu auch S. 213.

112 113
gen Konjunktur ab, welche Herrschende wie Arbeiter auf das sein müsse. Die Theologie sagt: am Ende steht die Gerechtigkeit,
Bestehende vereidigte; philosophisch beflügelte Phantasie wird der Positivismus: es wird besser und besser. So finden sich beide
damit kraftlos. Die radikalen Intellektuellen erweisen sich als mit dem Bestehenden ab.«124 Wer dagegen, dialektisch argumen-
»Wegweiser, die im Dunkel ihre Schutzbefohlenen längst verlo- tierend, die geschichtliche, was allemal heißt: subjektive Vermit-
ren haben und sich einreden, das liege an jenen«. uODabei stammt teltheit des Tatsächlichen hervorhebt, »nimmt« - ungewollt alt-
das allerorts festzustellende »Genügen an dem, was ist, ... nicht modisch - »die Theologie ernst zu einer Zeit, da deren eigene
bloß aus dem lahmen Willen, sondern« - mehr noch - »aus dem Anhänger - auch hier zusammen mit den Positivisten - die
Gefühl, daß dahinter nichts mehr kommt, wenigstens nichts, das Religion als Element der funktionierenden Wirtschaft still-
von einem selbst abhängt«.121 Mit dem unwiderruflichen Ende schweigend durchschaut haben«.125
europäisch bestimmter Geschichte wird der Positivismus _ Breiten Raum widmet Horkheimer dem durch Religion und
gleichviel, wie gründlich seine innertheoretische Kritik ausfällt _ Theologie bezeichneten Problemkreis. Ein Aspekt seiner Spät-
zur immanenten »Wahrheit« des Zeitalters: »Alle Begriffe, die philosophie, der erhebliche Mißverständnisse und Polemiken
sich nicht auf Fakten reduzieren lassen, sind bedeutungslos.« 122 veranlaßte. Zeitgenössischem Bewußtsein, welchem der Atheis-
·Damit ist weniger ein beschränktes Denken als die Realität ge- mus, den zu verfechten einmal unbeschreiblichen Mut erforder-
troffen, deren Widerschein es ist. te, zur simplen Selbstverständlichkeit geworden ist, mo"chten
Was die marxistisch übliche Polemik gegen fetischisierte Tatsa- Horkheimers - überaus vorsichtige - Erwägungen sensationell
chen betrifft: das Beharren auf der historisch-gesellschaftlichen erscheinen. Beflissene Publizistik stellte die Situation so dar, als
Vermitteltheit menschlicher oder außermenschlicher Befunde, habe der Begründer der Kritischen Theorie sein Lebenswerk an
so erinnert Horkheimer mit Recht daran, wie wenig dem fortge- positive Religiosität verraten. Demgegenüber sind die Notizen
schrittensten (sich nicht einmal mehr so nennenden) Positivis- (besser als mündliche Auskünfte des späten Horkheimer) geeig-
mus daran liegt, »die >facts< im ontologischen Sinn als ursprüng- net, wenn nicht den heiklen Punkt zu klären, so doch die gröb-
lich auszugeben, ... er versteht sich als Hilfswissenschaft und sten Fehlurteile zu entkräften.
läßt die absolute Wahrheit dort, wo Nietzsche sie hingeworfen Horkheimers Religionskritik läßt das Schema gängiger Aufklä-
hat« .123 Bedenklich am Positivismus ist weniger sein Wahrheits- rung insofern hinter sich, als sie - absehend von der These,
moment, das Funktionieren des falschen Weltzustands angemes- Religionen seien Herrschaftsinstrumente - argwöhnt, daß jene
sen auszudrücken. Sein wirklich gravierender Mangel ist es, sich »als Gängelbänder ursprünglich schon gemeint waren«.126 Den
eben darin wohl und bestätigt zu fühlen, sich - wie Horkheimer unbefangenen Betrachter jedenfalls »überrascht ... der tiefe
sagt - ȟber sich selbst nicht aufzuregen, sondern im stillen mit Pragmatismus im Kern der Weltreligionen, die Illusionslosig-
der Theologie die überzeugung zu teilen, daß man eben positiv keit, die - bei aller Verschiedenheit der Legenden und kultischen
Apparaturen - die Weltreligionen zu Gebilden macht, die sich
120 Ibid., S. 124. zum Verwechseln ähnlich sind. Im Grunde sind sie alle schon so
121 Ibid., S. 117. - Horkheimer begegnet sich hier mit einer metaphysischen These synthetisch, gekünstelt, manipulatorisch wie die kitschigen Sek-
Adornos in der Negativen Dialektik (Frankfun am Main 1966, S. 389), welche ten a la Christian Science.«127 - Daß heute auch der »ehrlichste
den Nachweis der theoretischen Unwahrheit des Positivismus abhängig denkt
davon, daß ein qualitativer Wandel eintritt: »Nur wenn, was ist, sich ändern '14 Ibid.
läßt, ist das, was ist, nicht alles ... 125 Ibid.; cf. zur theoretischen Kritik des Positivismus auch S. 101-103.
122 Notizen .. ., I. c., 5.116; 5.117; cf. hierzu auch S. 203. 126 Ibid., S. 16.
123 Ibid., S. 99. 127 Ibid.

114 115
Anhänger die Religion pragmatisch nimmt« 128, bestätigt Hork- träglich sich geschichtlich ausgewiesen, etwa wie das Totem, das
heimers Verdacht. überhöhte Bild des Tiers in der Bewältigung der Tiere.« 131
Andererseits enthalten die Notizen erstaunliche Sätze wie diese: Man sieht: Horkheimers Verhältnis zum Theologischen ist weit
»Ich traure dem Aberglauben vom Jenseits nach, weil die Gesell- komplexer, gebrochener, als häufig angenommen wird. Er macht
schaft, die ohne ihn auskommt, mit jedem Schritt, mit dem sie sich nichts vor hinsichtlich der wissenschaftlichen wie lebens-
dem Paradies auf Erden näherrückt, von dem Traum sich ent- praktischen Fragwürdigkeit, ja Unhaltbarkeit der - streng welt-
fernt, der die Erde erträglich macht. Im Genuß, im emphatischen feindlich verstandenen - theologischen Tradition, spricht jedoch
Sinn war die Erinnerung ans Paradies noch gegenwärtig.«129 - zugleich - weder schönfärberisch noch zynisch - die nihilisti-
Auch darin seinem Freunde Adorno verbunden, zieht Horkhei- schen Konsequenzen der Massenkultur aus. Wer (wenn auch
mer die alte, heute von gewitzigten Geistlichen supranaturali- noch so distanziert von Kirchlichem) an jener Tradition festhält,
stisch gescholtene, in Wahrheit der Sehnsucht nach stofflich muß HorkheiIFer zufolge »die Aufrichtigkeit besitzen, den Ge-
erfülltem Glück nähere Dogmatik der modernen, oft- hohleren gensatz solcher Treue nicht bloß zur Wissenschaft, sondern zum
Theologie vor. So hat sich, kraft der (wie immer problemati- realitätsgerechten Denken schlechthin einzugestehen«.132
schen) Vorstellung, die Seele sei unsterblich, in der Geschichte Das erklärt die an Nietzsches Freund Overbeck gemahnende
Europas »über das Christentum der Gedanke der absoluten Be- Schroffheit, mit der Horkheimer jedes kompromißlerische
deutung des einzelnen Menschen durchgesetzt .... Aus der Idee Bündnis der Theologie mit der infamen Welt anprangert. Daher
des ewigen Gottes folgte das ewige Schicksal jedes seiner Kinder. auch seine Kritik an modernen - völlig geschichtswidrigen -
Daß die Konsequenz auch wirklich ins Bewußtsein trat, ... liegt Versuchen, Religion als »ein Festes«133 zu konservieren, wobei
an ... der freilich vom Christentum nicht ganz loszulösenden man voraussetzt, man könne ohne weiteres zu ihr »zurückkeh-
spezifisch europäischen ... Technik ... und Ökonomie, die das ren«. An der heute zumeist als Mittel sozialer Kontrolle benutz-
frei wirtschaftende Subjekt in Gestalt des Unternehmers und die ten Religion »wird offenbar, was einmal in ihr war, die Sehnsucht
... bürgerliche Form der Gesellschaft hervorbrachte.«13o Mit nach dem Anderen, an dem das Diesseits sich als das Schlechte
dem übergang vom liberalistischen zum monopolistischen Zeit- erwies«,134 Sicher: früh schon tendierte Religion als etablierte
alter verb laßt der ursprünglich christliche Gedanke von der Macht dazu, den »ihr innewohnenden Widerspruc\1« zum Beste-
unendlichen Bedeutsamkeit des Einzelnen. Er wird, wie die bür- henden zu entschärfen. Aber sie »mußte ihn ... zugleich bewah-
gerliche Kultur insgesamt, liquidiert, nicht - im Sinn von Marx- ren, bis er als Theismus und Atheismus der Aufklärung die
dialektisch im geschichtlich Höheren aufgehoben. Dieses Gestalt der Religion, abstreifte und einer anderen Form gesell-
bestünde, nach Horkheimer, in einem Bewußtsein, »das unter schaftlichen Lebens zur Existenz verhalf. Der Widerspruch
Realisierung der Vergänglichkeit des individuellen Subjekts an zielte, bedingt durch die Natur ... , doch über ... Natur hinaus,
dessen Einzigkeit festhielte und eine Gesellschaft entfaltete, in auf die gerechte ... Ordnung; daß die vorhandene schlechtere
der trotz seiner Nichtigkeit der Einzelne den Zweck des Ganzen ihn als berechtigten erweckte und ihm zugleich die Erfüllung
bildete, dem zu dienen eben darum für ihn sinnvoll wäre. Dann
hätte die Exaltation des Individuums im Mythos der Seele nach-
\JI Ibid., S. 11 O.
132 Ibid., S. 212; cf. dazu auch S. 131, wo es heißt: »Die Weltraumraketen lassen das
12" Ibid. Reich der Seligen nicht ungestört... -
12. Ibid., S. 191. 133 Ibid., S. 132.

!JO Ibid., S. 109 f. m Ibid., S. 131.


117
116
versagte, gab ihm ... produktive Kraft. Diese Kraft ist im We- ... , daß das Sein zugleich gut sei«.!38 Selbst Marx, obwohl
sten erlahmt.... Anstatt die. Aufklärung, in welche ... Religion Atheist und Gegner Hegels, steht noch im Bann geschichtstheo-
übergegangen war, mit vollem Bewußtsein durchzuführen, die logischer Prämissen. Das geheime »Apriori seines Denkens« ist
trügerische Freiheit der Revolution zur Gerechtigkeit voranzu- »die Einheit von theoretischer Einsicht und ihrer politischen
treiben, hat die westliche Gesellschaft resigniert. Die Rückkehr Anwendung - oder vielmehr die· Gewißheit der Anwendbar-
zur Religion meint nicht, daß sie wieder an den Himmel glaubt, keit«.139 Weniger denn je des glücklichen Ausgangs der histori-
sondern daß es ihr zur besseren Einrichtung der Erde an Glauben schen Dialektik: realer Versöhnung der Menschen mit ihrer und
gebricht, daß sie nichts mehr will als sich selbst. Sich in ein der äußeren Natur sicher, scheint uns »die ganze Anstrengung
Höheres zu verwandeln, . .. überhaupt sich selbst in einem des Denkens« vergeblich. »Damit aber« - das ist Horkheimers
Anderen zu wollen, diese Substanz der Religion hat die Gesell- kantianische Pointe - »sind wir dem Begriff der verfemten
schaft verloren.« 135 - Die opportunistische, auf bloßes überwin- >unendlichen Aufgabe< verdächtig nahegerückt. Hätte Hegel« -
tern abzielende Theologie, radikalem Jenseitsglauben ebenso 50 fragt er - »vielleicht nur mit dem Gewaltstreich jener ,Hypo-

entfremdet wie einer realen geschichtlichen, sie transformieren- these< seine Folgerichtigkeit erkauft, so daß am Ende das ehrliche
den Aufgabe, muß vergehen. Es scheint, als sei die Stunde ihrer >Postulat< und die regulative Idee unserer Lage angemessenere
Bewahrung durch Negation endgültig versäumt. Ausdrücke wären als der mit sich versöhnte Begriff?«140
Freilich (das verbindet sie abermals mit Adornos Spätwerk) sind überhaupt spielt Kant (weniger als Vorläufer Fichtes und Hegels
die Notizen auch des Begriffs der Dialektik - selbst der materiali- denn als Verfechter einer »kritizistischen« Grenze von Erkennt-
stischen - keineswegs mehr sicher. Alle Dialektik, sagt Horkhei- nis) eine wichtige Rolle in Horkheimers Notizen. Diese lösen
mer, beruht auf einem »einzigen, fundamentalen Widerspruch«, sich vielfach vom deutsch-spekulativen Hintergrund seiner mitt-
womit »jeder bestimmte Widerspruch im Gang der Entwick- leren Schriften und betonen skeptisch-erkenntniskritische und
lung« zur »Gestalt dieses . . . entscheidenden Widerspruchs« naturalistische Momente der westeuropäischen Aufklärung.\41
wird. - »Es ist der zwischen Wahrheit und Erfüllung.« 136 Nicht Was die damit einhergehende Interpretation Kants betrifft, so.
allein die innerhalb des Hegelschen Horizonts diskutierbaren konkretisiert sie frühere Versuche Horkheimers, den Grundge-
Fragen sind letztlich bezogen auf diesen Widerspruch. Auch der danken des transzendentalen Idealismus: die »Abhängigkeit« der
für Horkheimers Aufsätze der dreißiger Jahre 50 entscheidende Form des vom individuellen Bewußtsein objektiv Erfahrenen
Differenzpunkt von Idealismus und Materialismus: die Abge- von überindividueller Subjektivität materialistisch zu dechiffrie-
schlossenheit oder Unabgeschlossenheit des dialektischen Pro- ren. 142 Dabei sind zwei - auch im Horkheimerschen Spätwerk
zesses, erscheint ihm jetzt problematisch. Hegels gesamtes Sy-
IJ' Ibid.
stem soll - als Denkvollzug - die Frage beantworten, ob »das
!l9 Ibid.
Absolute mit dem Ziel der Sehnsucht aller Wesen, das Gute mit 140 Ibid.; cf. dazu auch S. 154.
der Utopie zusammenstimme«Y7 Im Grunde ist sie identitäts- 141 Beide Aspekte: der spekulativ-dialektische wie der skeptisch-aufklärerische,
philosophisch vorentschieden; »das Hegelsche System geht von arbeiten sich freilich in Horkheimers Philosophie seit seinem übergang zum
der«- christlichen - »Hypothese aus, daß die Versöhnung gewiß Marxismus aneinander ab. Für das überwiegen des letzteren Aspekts im Spät-
werk spricht zumal die häufige Diskussion Schopenhauers und Nietzsches in
JJ5 Ibid., S. 131; S. 132; cf. hierzu auch den wichtigen Aphorismus ,Was ist Reli- den Notizen. - »Die deutsche Aufklärung., sagt Horkheimer, »heißt ... Engels
gion?<, S. 92f. und Marx. Rückwirkend empfängt von ihnen her ~och Kant seinen besonderen
ll6 Ibid., S. 16; S. 17. Platz in der Gesellschaft der europäischen Emanzipation. (ibid., S. 49).
137 Ibid., S. 17. 142 Die wichtigsten Belegstellen dazu finden sich in der Dialektik der Aufklärung,

119
118
nicht völlig miteinander verträgliche - Weisen solcher Kant-In- zeichnet. Fortentwickelt wird diese Tendenz vom "physiologi-
terpretation zu unterscheiden. Anthropologisch gerichtet, geben schen« Neukantianismus Helmholtz' und Langes, dessen Ge-
beide die »Reinheit« des Transzendentalen auf. Kants Kritizis- schichte des Materialismus stark auf Nietzsches erkenntnistheo-
mus stellt sich· so als noch abstrakte, empirischer Korrektur retische überlegungen einwirkte.
bedürftige Vorstufe einer materialistischen Konstitutionslehre »Der Kantische reine Verstand«, schreibt Horkheimer in den
dar. Diese zielt darauf ab, den Gedanken »subjektiver« Vermit- frühen sechziger Jahren, »gleicht einer Maschinerie. Er enthält
teltheit der Welt des naiven Realismus gegen seine ursprünglich die Formen, die das Subjekt dem Material aufprägt, gleichsam die
idealistische Fassung durchzuhalten. Sie sucht den materialisti- Kästen und Fangarme für das Rohmaterial. Mechanistischer als
schen Inhalt einer idealistisch gewonnenen Einsicht zu retten. 143 sein Bild vom Werden der Natur ist auch das des physikalischen
Die beiden Versionen, in denen die revidierte Konstitutionslehre Materialismus nicht. Als eine Art produktiver Apparatur ist die
in Horkheimers Notizen auftaucht, haben eine ins neunzehnte transzendentale Apperzeption . . . unermüdlich tätig, die ...
Jahrhundert zurückreichende Vorgeschichte. Die eine - ihre feste Welt der Erscheinungen herzustellen, in der die empirische
Begründer sind Marx und Engels - übersetzt die den gegebenen Vorstellung ... sich orientieren kann. Das Subjekt, wie sehr
Stoff formierenden, eine kohärente Gegenstandswelt hervor- Kant sich bemüht, es rein von allem Inhalt zu fassen, gleicht dem
bringenden Leistungen der transzendentalen Apparatur bei Kant arbeitenden Menschen, dem Bürger, der sich ... der Maschinerie
in solche historisch bestimmter, gesamtgesellschaftlicher Ar- bedient.... Kants Schwanken, inwieweit das reine, überindivi-
beit. 144 Die andere Version betont mehr den (im weiteren Sinn) duelle Bewußtsein oder das psychologische Ich durch Wahrneh-
naturgeschichtlichen Aspekt des gesellschaftlich vermittelten mung, Erinnerung und Identifikation sich selbst und seine ge-
Gattungsprozesses. Sie beginnt mit Schopenhauer, der Kant mit genständliche Welt zustande bringen soll ... , gründet in der
Cabanis, einem Haupt der französischen »Ideologen«-Schule, widersprüchlichen Natur der Sache ... Das Subjekt ist ... zu-
verbindet und die Vorstellungswelt als »Hirnphänomen« be- gleich das Individuum und die Gesellschaft, die empirische For-
schung und der reine Begriff.« »Der Konzeption der transzen-
l. c., S. 132f. und S. 197f.; ferner in den Aufsätzen Kants Philosophie und die
Aufklärung und Die Aktualität Schopenhauers; beide in: Zur Kritik der instru- dentalen Apperzeption mit ihren Vermögen und Behältern, so-
mentellen Vernunft, I. c., S. 209; s. 254f. zusagen die Zentrale des Verstandes, hat die Leitung der Manu-
143 Cf. zur allgemeinen Problematik einer materialistisch angesetzten Konstitu- faktur, der Unternehmung zum Vorbild gedient. Mittels des
tionslehre den Artikel ,Praxis< des Verfassers in Band II des Handbuchsphiloso-
Verstandes wird aus dem Fließen von Empfindungen ein begriff-
phischer Grundbegriffe, herausgegeben von Hermann Krings, Hans Michael
Baumgartner und Christoph Wild, München 1973, S. 1107-1138; sowie seine lich Festes hergestellt, wie die Ware im Betrieb.«145 - In diesem
Einleitung Friedrich Albert Lange als Historiker und Kritiker des vormarxschen (schopenhauerisch vorgeprägten) Horizont stehen Horkheimers
Materialismus zu Langes Geschichte des Materialismus, Frankfurt am Main Erwägungen zu Kant in den Notizen. Betrachten wir sie zu-
1974, S. X-XX. nächst nach ihrer gesellschaftstheoretischen Seite. Einer ins So-
1<. Dabei ist freilich nicht zu vergessen, daß die marxistische »Materialisierung des
Transzendentalen« Feuerbachs Anthropologismus (in dessen Kritik sie sich
ziologische übersetzten Vernunftkritik, sagt Horkheimer, käme
ebenso bewährt wie herausbiidet) insofern voraussetzt, als Feuerbachs emphati- es auf den Nachweis an, daß »die bearbeitenden Faktoren, der
sche Lehre von der Leiblichkeit des menschlichen Gattungswesens die verschie- Mechanismus, der aus dem Material die ,einheitliche< Erfahrung
denen Subjektbegriffe des deutschen Idealismus gewissermaßen entsubjekti- macht, anstatt in den reinen Formen der Anschauung und des
viert, ohne daß er ihre Funktion, -Welt« zu entwerfen, einfach durchstreicht.
Verstandes im soziale'l Schematismus besteht«.146 Der Aufbau
Das ermöglicht Marxens Idee »gegenständlicher Tätigkeit«. - Cf. hierzu auch
meine Schrift Emanzipatonsche Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologi- ,<5 Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, I. c., S. 209; S. 254f.
scher Materialzsmus, München 1973, insbesondere S. 107-127. 14' Notizen . .. , I. c., S. 5.

120 121
des Kantischen Werks ließe sich im übrigen beibehalten: »Die kenntnisvermögens, mittelst welcher die Phantasmagorie der ob-
transzendentale Ästhetik hätte von der materiellen Produktion jektiven Welt zu Stande kommt, auseinanderlegte und stückwei-
zu handeln, die den Menschen die Welt unmittelbar strukturiert: se vorzeigte«.151 Aus dieser Perspektive leuchtet ein, daß Hork-
aus ihr gehen die herrschaftsmäßigen Wahrnehmungsweisen im heimer Kants kritisches Unternehmen als »Ideologienlehre«, das
allgemeinen und speziellen hervor, ferner alles, was Marx den heißt »Analyse notwendigen Scheins« 152 deutet. Was Kant selbst
notwendigen Schein nennt. Die transzendentale Analytik wären von der transzendentalen Dialektik sagt (er nennt sie »Logik des
die Medien der gesellschaftlichen Intellektualität von der Schule Scheins«), gilt ebensosehr von der transzendentalen Ästhetik
bis zum Kino. Die Sphäre der Vernunft aber die Tendenz zur und Analytik; denn das sinnliche, raum-zeitlich präformierte
Anpassung der Gesellschaft an immer höhere Stufen - was Hegel Material wird von den Kategorien des reinen Verstandes »zu der
die List der Vernunft nennt.«147 Das hat, wie Horkheimer an- Welt verarbeitet, die wir für die von uns unabhängige reale
derswo zeigt, Konsequenzen für den Begriff der Tatsachen, wie halten«.153 Daß wir die Erscheinung als Ding an sich betrachten,
ihn Natur- und Sozialwissenschaft im gesellschaftlich abgesteck- ist freilich nicht nur logisch, sondern auch gesellschaftlich not-
ten Rahmen verwenden. Ihm gegenüber verhält die empirische, wendig. Dafür spricht, daß Kant zunächst die »synthetische
den Naturforschern nacheifernde Soziologie sich erkenntnis- Arbeit des Gemüts als die ... in jedem einzelnen Ich wirkende
theoretisch naiv; sie verabsolutiert in ihren »facts« eine »bis ins Aktivität bestimmt«154; darin reflektiert sich ein gesamtgesell-
kleinste bedingte ... Sehweise, alle die bewußten und unbewuß- schaftlicher Zustand, der - mit Engels gesprochen - »auf der
ten Interessen, durch die die Welt gegliedert wird«.148 Theorie Bewußtlosigkeit der Beteiligten beruht« 155, die - für sich bewußt
darf sich jedoch in der Systematik abstrakt bleibender Tatsachen handelnd - mit ähnlichen Kräften ausgestattet sind, denen jedoch
nicht erschöpfen. Im strengen Sinn kommt sie erst dadurch ihre gemeinsam erzeugte Wirklichkeit als ein Fremdes, weil Un-
zustande; daß sich die Wissenschaften über die - strukturierend- beherrschtes entgegentritt.
in ihr Material stets schon eingegangenen Momente Rechen- Marx hat im Kapital, im vielerörterten Abschnitt über den »Fe-
schaft ablegen. Horkheimer denkt dabei wiederum ans Grund- tischcharakter der Ware und sein Geheimnis«, Kants - und Scho-
schema »der jeweils gängigen Wahrnehmungsweise« und an die penhauers - Lehre vom notwendigen Schein auf materielle Füße
Funktion des gesellschaftlichen Intellekts, eine subjektiv gege- gestellt. Seine Waren analytik löst ein, was es mit Schopenhauers
l56
bene »phänomenale Welt möglicher Erfahrungszusammen- "Phantasmagorie der objektiven Welt« auf sich hat. Die not-
hänge«J49 zu stiften. Wollte Kant übergeschichtliche, mit der
menschlichen Gattung als solcher gesetzte Konstituentien von 15' Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Sämtliche Werke, Band 2,
Erfahrung herausarbeiten: »Formen jeder denkbaren intersub- I. c., S. 497; cf. hierzu auch S. 496, wo es heißt, Kam habe nachgewiesen, daß
jektiven Realität«15o, so kommt es einer marxistischen Konstitu- "diese sichtbare Welt, in der wir sind, ein hervorgerufener Zauber« ist, "ein
bestandloser, an sich wesenloser Schein, ... ein Etwas, davon es gleich falsch
tionslehre auf epochenspezifische Unterschiede an.
und gleich wahr ist, zu sagen, daß es sei, als daß es nicht sei •.
Das große Verdienst Kants, heißt es in Schopenhauers Haupt- 152 Notizen . .. , I. c., S. 135.
werk, besteht darin, daß er »die ganze Maschinerie unseres Er- m Ibid.
154 Ibid.
155 Cf. Marx, Das Kapital, Band I, Berlin 1955, S. 81. - Cf. hierzu auch Horkhei-
147 Ibid. mers Aphorismus ,über Theorie und Praxis<, in: Notizen, I. c., S. 182.
'" Ibid., S. 51. 156 Insofern hat Horkheimer recht, wenn er (ibid., S. 7Sf.) sagt: "Der Marxsche
149 Ibid. Materialismus, von der idealistischen Selbsttäuschung befreit, kommt Schopen-
,so Ibid. hauer näher als dem Demokrit.« - Hinzu kommt ein (bisher kaum beachteter)

122 123
wendige Verkehrung von erscheinender und an sich seiender Verhältnisse der Privatarbeiter sachlich verschleiert, statt sie zu
Wirklichkeit bringt Marx auf den Begriff eines - epochal be- offenbaren« .159
grenzten - Quid pro quo. Es besteht ihm zufolge darin, daß die Diskutieren wir jetzt Horkheimers zweite, weniger spezifisch
Warenform »den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere gesellschaftliche als (im weiteren Sinn) naturalistische Kant-In-
ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeits- terpretation. Sie liegt, wie bemerkt, auf der Linie Schopenhauers,
produkte selbst, als . . . Natureigenschaften dieser Dinge zu- Langes und Nietzsches. Nicht zufällig knüpfen die Notizen in
rückspiegelt .... Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Ver- diesem Betracht an die Aufzeichnung ,Zur Kritik der
hältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasma- Geschichtsphilosophie< in der Dialektik der Aufklärung an, wo
gorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.« 157 Ein es heißt: »Das Gehirnorgan, die menschliche Intelligenz, ist
»gegenständlicher«, nicht aufs unmittelbare Bewußtsein der In- handfest genug, um eine reguläre Epoche der Erdgeschichte zu
dividuen zurückführbarer »Schein«158; er gründet - ohne durch bilden. Die Menschengattung einschließlich ihrer Maschinen,
bloße Einsicht zu verschwinden - darin, daß die alltäglich erleb- Chemikalien, Organisationskräfte - und warum sollte man diese
te, »fertige Form ... der Warenwelt ... den gesellschaftlichen nicht zu ihr zählen wie die Zähne zum Bären, da sie doch dem
Charakter der Privatarbeiten und daher die gesellschaftlichen gleichen Zweck dienen und nur besser funktionieren - ist in
dieser Epoche le dernier cri der Anpassung .... Eine philosophi-
sche Konstruktion der Weltgeschichte hätte zu zeigen, wie sich
geschichtlicher Zusammenhang zwischen der - von Kant inspirierten - Scho- trotz aller Umwege und Widerstände die konsequente Natur-
penhauerschen und der Marxschen Ideologiekritik ... Man erkennt«, sagt Scho-
herrschaft immer entschiedener durchsetzt und alles Inner-
penhauer, .. nichts ... vollkommen, als bis man darum herumgekommen und
... von der andern Seite zum Ausgangspunkt zurückgelangr ist. Daher muß menschliche integriert.«16o - überlegungen, die von Marx her
man, ... nicht bloß, wie Kant gethan, vom Intellekt zur Erkenntnis der Welt gesehen insofern sinnvoll sind, als er sich - übrigens noch im
gehen, sondern auch ... von der als vorhanden genommenen Welt zum Intel- Kapital- weigert, die »menschliche Natur im allgemeinen« und
lekt. Dann wird diese, im weitem Sinn, physiologische Betrachtung zur Ergän- die »in jeder Epoche historisch modifizierte Menschennatur« 161
zung jener ideologischen, wie die Franzosen sagen, richtiger transzendentalen«
(Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Werke, Band 3,!. c., S. 329). Schopen-
einfach ineinander aufgehen zu lassen. Dem entspricht seine
hauer übersieht hier, daß er selbst, Kanrs transzendentalen Ansatz mit Hilfe von (keineswegs nur methodisch zu verstehende) Unterscheidung
Cabanis' Rapports du physique et du moral de l'homme materialisierend, von der »allgemeinen Natur des Arbeitsprozesses« und seiner spezi-
vornherein nicht vom reinen Intellekt, sondern von der Hirnfunktion zur Welt fisch kapitalistischen Gestalt. 162 Marx sieht also die objektive
übergeht, was ihm den umgekehrten Weg allererst gestattet. Er ist .. Ideologe.
(sich auch im Nebeneinander zweier Typen materialistischer
im Sinn der spätaufklärerischen Schule und Ideologiekritiker in einem Marx
antizipierenden Sinn. - Was Horkheimers Einsicl'lt in die Nähe des Marxschen Konstitutionslehren abzeichnende) Möglichkeit, den menschli-
Materialismus zu Schopenhauer betrifft, so wird sie erhärtet durch erstaunliche chen Weltbild-Apparat abstrakt-gattungsmäßig oder in seiner
Parallelen in der jeweiligen Kritik an Hege!. Wie Marx spricht Schopenhauer geschichtlich vermittelten Besonderheit zu untersuchen. Dage-
von Hegels .. Mystifikation«, die nach ihm in folgendem besteht: .. Seit Locke
forschten die Philosophen nach dem Ursprung unsrer Begriffe. Hegel hatte den
Einfall die Sache umzukehren, alles auf den Kopf zu stellen, nämlich die Begriffe 159 Ibid., S. 81. _ Ähnlich wie Schopenhauer spricht Marx bei der Kennzeichnung
zum Ursprünglichen, zum Ersten, unmittelbar Gegebenen zu machen davon des objektiven Scheins von .. Mystizismus«, .. Zauber« und .. Spuk«; cf. ibid.,
man auszugehen habe; wonach sich dann freilich ... aus ihnen konstruiren ließ S.82.
was man beliebte_ (Der handschriftliche Nachlaß, IV. Band; ErsterTeil, heraus- 160 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Di:tlektik der Aufklämng, I. c.,
gegeben von Arthur Hübscher, Frankfurt am Main 1974, S. 208). S. 234; S. 235.
"7 Marx, Das Kapital, Band I, !. c., S. 77; S. 78. 161 Marx, Das Kapital, Band I, !. c., S. 640.
"8 Ibid.; cf. S. 80. 162 Ibid.; cf. S. 185-194 und S. 177f.
125
124
gen lehrt er - darin der Dialektik verpflichtet - in der Deutschen abänderliche verkehren: daß menschliche Geschichte bis heute
Ideologie, daß Natur (einschließlich der menschlichen) und Ge- blinde Naturgeschichte war; daß sich (worauf Horkheimers Kri-
schichte (einschließlich der natürlichen) keine »zwei voneinan- tik der Geschichtsphilosophie in der Dialektik der Aufklärung
der getrennte[n] >Dinge«< sind: die Menschen haben stets »eine hinauswill) in gesamtgesellschaftlich unbewältigter Herrschaft
geschichtliche Natur und eine natürliche Geschichte vor sich«, über Natur mehr und mehr die Herrschaft der Natur reprodu-
und "die vielberühmte >Einheit des Menschen mit der Natur< ziert, die zu brechen einmal der Sinn von Zivilisation war - eben
[hat] in der Industrie von jeher bestanden und in jeder Epoche je dies steht bei den Begründern des Marxismus zur Kritik. Engels
nach der geringeren oder größeren Entwicklung der Industrie nennt es in einem Brief an Lange »die höchste Blamage für die
anders bestanden«.163 - Ungeschlichtete (vielleicht materiali- moderne bürgerliche Entwicklung ... , es noch nicht über die
stisch unschlichtbare) Brüche der Marxschen Lehre, auf die, ökonomischen Formen des Tierreichs hinausgebracht« 166 zu
systematisch gesehen, Horkheimers Schwanken zwischen einer haben.
historisch-gesellschaftlichen und einer biologisch-pragmatisti- Hier nun setzen Horkheimers Bedenken ein. Sein Spätwerk
schen Reformulierung der Kantischen Konstitutionsfragen zu- fragt, ähnlich wie das von Marcuse, ob es überhaupt glücken
rückgehen mag. könne, die fatale Verstricktheit der Menschen in Natur zu been-
Nun gehört es zu den wichtigsten Einsichten des dialektischen den, wie sie der Logik ihrer wissenschaftlich-technisch gesteuer-
Materialismus, daß die bisherige Geschichte - Marx nennt sie ten Gesellschaft entspringt. Hat dort, wo man revolutionär über
»Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft«164 - »nach Art die bürgerliche Welt hinausgegangen ist, ein qualitativer oder nur
eines Naturprozesses« ablief, daher »wesentlich denselben Be- ein gradueller Wandel stattgefunden? Ist irgendwo heute das
wegungsgesetzen unterworfen« war. Den »Konflikten vieler geschichtliche Kontinuum von Herrschaft durchbrachen?
Einzelwillen« entspringend, bildete ihr jeweiliges Ergebnis »das Zeichnet sich die historische Möglichkeit ab, einen neuen, nicht
Produkt einer, als Ganzes, bewußtlos und willenlos wirkenden mehr instrumentalis tisch festgelegten, sondern menschheitlich
Macht«.165 Was die Sozialdarwinisten zynisch ins Positive, Un- finalisierten Entwurf von »Welt« gegenständlich-praktisch
durchzusetzen? Oder ist zu befürchten, daß die zeitlich befriste-
'63 Marx/Engels, Die del/tsche Ideologie, in: Werke, Band 3, Berlin 1962, S. 43; ten ökonomischen Gesetze, auf die der Marxismus bislang, mit
cf. dazu auch S. 38, wo die Autoren die »Summe von Produktionskräften, Recht, sein theoretisches Hauptaugenmerk gerichtet hat, sich als
Kapitalien und sozialen Verkehrsformen, die jedes Individuum und jede Gene-
ration als etwas Gegebenes vorlindet«, als den »reale[n] Grund dessen« bezeich- oberflächliche Modifikationen jener Gesetze erweisen, von
nen, »was sich die Philosophen als ,Substanz< und ,Wesen des Menschen, denen Engels selbst sagt, daß sie »für alle bisherige Geschichte
vorgestellt ... haben«. Hier ist, mit Hege! zu reden, das Besondere das Leben Gültigkeit hatten«, weil sie» Verhältnisse« ausdrücken, »die allen
des Allgemeinen. Anders stellen sich die Dinge auf S. 21 dar, wo .die körper-. auf Klassenherrschaft und Klassenausbeutung beruhenden Ge-
liche Organisation« der Individuen und ihr .. dadurch gegebenes Verhältnis zur
sellschaftszuständen gemeinsam sind« ?167 - Fallen Allgemeines
übrigen Natur« der-subjektiv wie objektiv- .. modifizienen. Natur einigerma-
ßen abstrakt (wie vollends im Kapital) einander gegenübergestellt werden. und Besonderes derart auseinander, wie dies das Marxsche Kapi-
'64 Marx, ZI/r Kritik der politischen ökonomie, Berlin 1951, S. 14. tal an wichtigen Stellen nahelegt, die Geschichte als bloße Super-
'65 Engels an JosephBloch, Brief vom 21.122. 9. 1890, in: Marx/Engels, AusgewiiM- struktur eines Geschichtslosen zu betrachten scheinen, dann
te Bn"eje, Berlin 1953, S. 503. - Eine Kritik an der Blindheit und schlechten
Naturhaftigkeit bisheriger Geschichte, die - obzwar metaphysisch verkleidet-
ähnlich von Schopenhauers Willenslehre ausgesprochen wird. Cf. dazu die '66 Engels an Friedrich Albert Lange, Brief vom 29.3.1865, in: Marx/Engels,
Dissenation von Heinz Maus, Kritik am juste-miliel/. Eine sozialphilosophische Ausgewählte Briefe, l. c., S. 202 f.
Studie, Bottrop in Westfalen 1940. '" Ibid.

126 127
nähert sich - analytisch richtig bleibend - die Marxsche Theorie nungs-immanent bleibt: er beruht auf »denselben Kategorien ...
Schopenhauers Pessimismus, der dem welthistorischen Verlauf wie die Erscheinung schlechthin, nur, daß die empirischen Aus-
nur ein Idem, sed aliterabzugewinnen vermag. sagen biologisch-pragmatische Funktionen erfüllen, die spekula-
Hiervon geht der späte Horkheimer aus. Seine Notizen zeugen tiven jedoch - und die Beziehung des Relativen zum Absoluten
von der bedrückenden, heute allerorten erfahrbaren Identität schlechthin ist bereits spekulativ - bei genauer Besinnung als ...
von - negativer - Ontologie und positivistischer Unmittelbar- irreal ... sich erweisen«.172 Unkritisch wird Kant überall dort,
keit, aber auch von dem »Impuls, daß es anders werden soll, daß wo er - das eigene Verbot mißachtend - die »Erscheinung ...
der Bann gebrochen wird und es sich zum Rechten wendet«.168 nicht als abhängig von anthropologischen Prozessen und daher
An Kant allerdings, um auf ihn zurückzuk()mmen, wird deut- pragmatisch, sondern in ihrer Beziehung zu einem von Erschei-
lich, daß »Sehnsucht nach dem, was der instrumentellen Ver- nung Verschiedenen, Jenseitigen ... darstellen will«.173
nunft der Wissenschaft sich entzieht«, sich selbst dann durch Wenn bei Horkheimer Kants apriorische Strukturen der Subjek-
Wissenschaft nicht stillen oder gar überwinden läßt, wenn diese tivität in handfest anthropologischer Form wiederkehren, so
»als Metawissenschaft« 169 auftritt. Indem Kants Transzendental- handelt es sich nicht um eine »vergröbernde« - innerphiloso-
philosophie die erscheinende, dem Menschen vertraute Welt als phisch diskutierbare - Interpretation, sondern um eine gesell-
»Ordnungsprodukt menschlich-intellektueller Funktionen« be- schaftliche Einsicht. Die neu este Geschichte belehrt drastisch
trachtet, »ist er mit Hume, das heißt letzten Endes mit dem über die Inkonsistenz und Brüchigkeit dessen, was im bürgerli-
Positivismus, einig«: 170 Entscheidend wurde jedoch für Kant die chen Zeitalter Selbstbewußtsein, Geist und durchgebildete Indi-
Absicht, dadurch über Hume hinauszugelangen, daß er »Er- vidualität hieß. Das einmal substantiell gedachte Ich entpuppt
scheinung als Erscheinung des Wahren, des Intelligiblen erklärte, sich zusehends als Funktion, die vielleicht, wie schon Nietzsehe
als ein Relatives, das von dem Absoluten zeuge«.171 Dabei über- vermutete, künftig durch einen »vollkommenen Automatis-
sieht er, Horkheimer zufolge, daß auch dieser Gedanke erschei- mus«174 verdrängt wird. Ist das »nicht-empirische Ich« inzwi-
'" Notizen . .. , I. c., S. 92.
schen zur »Hypothese« geschrumpft, so stellt sich »das empiri-
,.9 Ibid., S. 217. - Die hierin beschlossene Absage an die vulgär-evolutionistische sche« illusions loser Analyse als »gesellschaftlich bedingte, von
Vorstellung, das qualitativ Andere werde ohne unser Zutun aus der immanenten jedem Individuum stets wieder hervorzubringende, stets gefähr-
Logik des Bisherigen hervorgehen, verbindet Horkheimers Denken insgeheim dete Leistung im Daseinskampf« dar. »Ihr Sinn besteht aus-
mit Nietzsches Idee des übermenschen. Es mag wissenschaftlicher Instrumente
schließlich darin, dem Menschen, der sonst wie andere Tiere auf
bedürfen, das »Reich der Freiheit. herbeizuführen: dadurch wird es selbst noch
lange kein »wissenschaftlicher. Begriff. - .Seitdem der Glaube aufgehört hat.,
Instinkt und augenblicklichen Eindruck angewiesen wäre, die
schreibt Nietzsche, .daß ein Gott die Schicksale der Welt leite ... , müssen die Erfahrungen seiner Zivilisation wie des eigenen Lebens, die der
Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen .• Gattung noch nicht einverleibt und vererbbar sind, zur Verfü-
Dem geschichtlichen Stufen gang gegenüber ist Mißtrauen angebracht. "Aber gung zu stellen. Es bildet eine Art psychologischen Verdauungs-
die Menschen. heißt es weiter bei Nietzsche, "können mit Bewußtsein'beschlie-
organs. Seine Funktion betrifft die Selbstbehauptung in der Na-
ßen, sich zu einer neuen Kultur fortzuentwickeln, während sie sich früher
unbewußt und zufällig entwickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für tur, mittelbar die Einrichtung gesellschaftlichen Zusammenwir-
die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung kens zu diesem Zweck.«175
schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten ... Diese neue ... Kultur
tötet ... auch das Mißtrauen gegen den Fortschritt - er ist möglich. (Menschli- In Ibid., S. 21M.; cf. hierzu auch S. 209.
ches, Allzumenschliches, Stuttgart 1954, S. 38). 173 Ibid., S. 217.
170 Notizen . .. ,1. c., S. 216. 17' Nietzsche, Werke, Band XVI, Leipzig 1922, S. 35.
171 Ibid. 175 Notizen . .. , I. c., S. 196f.; cf. zur Frage des Ichs auch S. 213f. undS. 4sf.sowie

128 129
Im Augenblick ihres geschichtlichen Untergangs pflegt sich das einen völlig technisierten Zustand herbeiführt, bei dem jedoch-
Wesen einer Sache zu offenbaren. Im gegenwärtigen Zeitalter ganz wie es Marx vorschwebte - Natur derart unterjocht wird,
tritt zutage, in welch hohem Maß humane Qualitäten sich gesell- daß »der Mangel und damit die Notwendigkeit der Herrschaft
schaftlichen Widerständen und Mängeln verdankten; verschwin- von Menschen über Menschen verschwindet«.18o Man mag die-
den diese (was freilich wünschenswert genug ist), so verlieren sen Fortschritt unter dem Aspekt seines hohen Preises als Re-
auch jene ihre reale Bedeutung. Marx und Engels, unterstreicht gression beklagen. Doch solche Kritik, betont Horkheimer, »ist
Horkheimer, »waren im Grunde Idealisten und glaubten an die ruchlos, solange es noch ein Leid gibt, das durch den Fortschritt
Selbstverwirklichung des absoluten Subjekts«.176 Deshalb konzi- behoben werden kann«.181 - überhaupt wäre es verfehlt, Hork-
piert ihre Lehre den totalen Menschen der klassenlosen Gesell- heimers Theorie des heute sich vollziehenden übergangs zur
schaft am Bild - hinüberzurettender - bürgerlicher Errungen- verwalteten Welt als laudatio temporis acti zu deuten. Er weiß,
schaften. Unbeachtet bleibt dabei die Frage, ob diese, abgelöst daß Kultur und Geist, wie sie einst blühten, zugleich insofern ein
von ihrer - geschichtlich begrenzten - raison d'etre, überhaupt Unwahres anhaftete, als sie auf der entwürdigenden Arbeit der
Bestand haben. Denkbar, daß selbst Freiheit (ihr substantieller meisten Menschen beruhten.
Begriff ist gewonnen an der bürgerlichen von 1789) kein »Ende« Die Notizen sind Horkheimers geistiges Vermächtnis. Sie müs-
an sich ist, »sondern ein vorübergehendes Mittel in der Anpas- sen jenes umfassende Werk ersetzen, von dem er während seiner
sung der Tierrasse Mensch an die Bedingungen ihrer Exi- letzten Lebensjahre wiederholt sprach, das zu schreiben ihm der
stenz«.I77 Tod verwehrte. Um so wichtiger ist für jeden an der Kritischen
Dabei ist Horkheimer sich darüber im klaren, daß der unab- Theorie und ihrem Schicksal Interessierten das Studium der hier
wendbare Schwund individueller Freiheit mit tendenziell zuneh- niedergelegten Einsichten. Sie enthalten, gleich beachtlich in
mender Gleichheit der menschlichen Lebensbedingungen ein- dem, was sie von seinen älteren Arbeiten trennt, wie in dem, was
hergeht. Der zwar wahnhafte, zugleich aber »Geist, soweit er sie mit ihnen verbindet, die Substanz der Horkheimerschen Spät-
vom Verstand als Werkzeug sich unterschied« 178, allein ermögli- philosophie. Ihr Grundzug (was immer politisch Enttäuschte
chende »Glaube des Einzelnen an sich selbst« wird im strengen oder beflissene Theologen in den letzten Jahren geäußert haben
Sinn unproduktiv und erweist sich als vergängliches Moment des mögen) ist entschieden materialistisch. Freilich handelt es sich
»bürgerlichen Emanzipationsprozesses« wie der »Wahrheit«.179 hier um einen unserer ideologiesüchtigen Zeit wenig zuträgli-
Dafür sieht Horkheimer eine objektive Logik am Werk, die chen, alles andere als weltanschaulich-affirmativen Materialis-
mus. Getragen ist er von der unabweislichen Erfahrung nicht nur
die Kritik des subjektiv-idealistischen Ansatzes der Schopenhauerschen Philo- der gesellschaftlichen, sondern auch (und vor allem) kosmischen
sophie auf S. 29 f. - Zur politisch-ökonomischen Analyse des hypostasierten Nichtigkeit des Individuums: »Angesichts der neuesten Astro-
Selbstbewußtseins cf. S. 195. nomie, nach der die Erde nicht bloß keinem Mittelpunkt - und
176 Ibid., S. 153.
was wäre das schon -, sondern eher dem blitzschnell verglühen-
m Ibid.; cf. hierzu auch S. 215f.; S. 106ff. und S. 95, wo es heißt: .. Die Gesellschaft
etabliert sich als die Naturraubrasse, die sie immer war, nur künftig mit dem den Funken in einer Atomexplosion vergleichbar ist, erscheint
entsprechenden Selbstbewußtsein - als solche organisiert ... die Zentrierung des Erlebens ums eigene Ich pure Idiotie.« 182
178 Ibid., S. 215.
Dabei verschlägt es wenig, daß - rein faktisch - unsere bewußten
179 Ibid., S. 113. - .. Das Bewußtsein .. , schreibt Horkheimer hierzu (ibid., S. 118),

.. kehrt zu sich selbst als zum Organ der Auseinandersetzung mit der Natur, zur IRO Ibid., S. 215.
Befriedigung physischer Bedürfnisse als zur spezifischen Waffe der Menschen- 181 Ibid., S. 137.
rasse zurück ... « 182 Ibid., S. 29.
131
130
Vorstellungen stets aufs Ich bezogen sind. Es geht Horkheimer er hinter die hedonistische Komponente des traditionellen (in
vielmehr um die Frage, welchen Sinn es habe, »meine Gefühle, diesem Punkt mitunter vulgären) Materialismus setzt. Das relati-
Aspirationen, mein Weltverständnis, mein Glück und Unglück, ve Recht, ihn abzulehnen, wird angesichts einer Gesellschaft
Ehre und Schande davon abhängig zu machen, was dem Empfin- offenbar, die »überall neben der Macht nur an den Lebensstan-
dungs- und Atomkomplex, der meine Namenmarke trägt, in der dard denkt ... Wahr ist, daß ein Satter den Hungrigen, dem es
Mikro-Wuselwelt zustößt, die menschliche Gesellschaft schlecht geht und der leben will, nicht einen Materialisten schel-
heißt«.l8J Gleich abwegig, sagt Horkheimer, wäre es anzuneh- ten darf. Die Frage ist, ob dort, wo schon genug zu einem
men, »die Erde sei nicht etwa der Mittelpunkt unseres Sonnensy- passablen Leben vorhanden ist, das Prinzip, es müsse immer
stems, sondern ... das Zentrum des Universums schlechthin«. 184 besser und besser werden, nicht gefährliche Torheit ist.« 188 - Was
Dagegen, fährt er fort, kommt auch Schopenhauers berühmter, ist bei aller Güterfülle gewonnen, wenn das autonome Subjekt
subjektiv-idealistischer Einwand nicht an~ »das erkennende Sub- zum »romantischen Begriff«189 wird?
jekt« sei »Bedingung der Vorstellung des Universums«, die Welt Das führt uns zurück zum gesellschafts theoretischen Aspekt des
sei »meine Vorstellung«.185 Horkheimer kritisiert Schopenhau- Horkheimerschen Materialismus. Dessen Kritik am technischen
ers Erkenntnistheorie streng immanent. Gehen wir von der je Fortschritt »denunziert die Auflösung des Geistes und der Seele,
eigenen Vorstellung aus, so zeigt sich, wie absurd es ist, ihre den Sieg der Rationalität, ohne ihn schlicht zu verneinen«.190
objektiven Inhalte in gerade demjenigen fundieren zu wollen, Sosehr sich Horkheimer hütet, ein Rezept anzubieten - er inter-
was - wiederum im nämlichen Bewußtsein - als ephemer durch- pretiert die Falschheit jenes Fortschritts weithin als Ausdruck
schaubar ist: »Denn das Subjekt der Erkenntnis, dem mein Indi- der nach wie vor widerspruchsvollen Produktionsweise. Von
viduum in derselben Nichtigkeit erscheint wie alle anderen, hat einer überholtheit der marxistischen Krisentheorie kann keine
eben diese Nichtigkeit und Relativität in seine Reflexionen ein- Rede sein: »Eben die Elemente der Konjunktur, durch die die
zusetzen - und nach der Wahrheit sich zu richten, nicht nach Krise hintangehalten wird, die Kriegswirtschaft im Frieden, die
dem Zufall, daß es mit diesem Individuum gerade verbunden Leistungen für die berühmten Unterentwickelten, in Wahrheit
ist.« 186 ein weiteres Moment der Kriegswirtschaft, vor allem aber die
Horkheimers später Materialismus ist negativ. Er reflektiert ein >blühende< Freizeit, verschleiern nicht bloß die sich ausbreitende
Zeitalter, in dem es so aussieht, als wolle die menschliche Gat- Krankheit der Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Form, son-
tting (ein emphatischer Begriff in Feuerbachs und Marxens Spra- dern sind ihre Symptome.« 191 - Horkheimer besteht auf der
che) den erbärmlichen »Status einer besonders geschickten, raffi- analytischen Kraft der Marxschen Kategorien der Kritik der
nierten Tierrasse« 187 erreichen. Daher auch das Fragezeichen, das politischen ökonomie, denen die »sogenannte Wirtschaftswis-
senschaft ... nichts an die Seite zu stellen«192 hat. Was ihm an
183Ibid.
Marx, der »eine höchst vernünftige Grundlage des Verständnis-
,,, Ibid.
185Ibid. ses gesellschaftlicher Entwicklung«193 geliefert hat, problema-
186 Ibid. - Die hier von Horkheimer erreichte Erkenntnisstufe verzichtet, wie die
von Adomos Negativer Dialektik, völlig auf den Gedanken konstitutiver Sub- 188 Ibid., S. 156.
jektivität, wie er - allerdings materialisiert - an anderen Stellen des Bandes 18. Ibid., S. 197.
vorkommt. Freilich ist der Materialismus für einen logizistischen Idealismus 190 Ibid., 5.218.

selbst in dieser Form unannehmbar. 19' Ibid., S. 193.


187 Ibid., S. 215f.; cf. hierzu auch den Aphorismus ,Der Fluch der Endlichkeit< auf m lbid., S. 207; cf. auch S. 27.
S.10M. '93 lbid., S. 207.

132 133
tisch erscheint, ist dessen geschichtsphilosophischer Optimis- Zum Begriff des Glücks
mus: die Annahme, der - fraglos heraufziehende - nachkapitali- in der materialistischen Philosophie
stische Zustand werde soziale Gleichheit mit vollentfalteter indi-
vidueller Freiheit versöhnen. Ein Zweifel der sich in Horkhei-
mers Begriff der verwalteten Welt ausdrückt. Wer heute die Kaum einer Frage ist so schwer beizukommen wie der, was
»richtige Gesellschaft« anstrebt, muß in »seine Kritik der beste- Glück sei. Wird sie philosophisch gestellt, so verschärfen sich die
henden ... die Treue zu der Freiheit« aufnehmen, »die es zu schon im alltäglichen, anspruchsloseren Gespräch regelmäßig
bewahren ... gilt«.194 auftauchenden Schwierigkeiten, und es scheint, als gerieten wir
Philosophie befindet sich in der Gegenwart in einer Art Rück- vollends in eine Zone heilloser Beliebigkeit und Relativität. Die
zugsgefecht. Sie nimmt beim Stand der Geschichte notwendig Geschichte der. Philosophie weist, prima vista, auch in dieser
Züge des Utopischen und Verstiegenen an. Der Philosoph sieht Frage eine verwirrende Vielfalt von einander widerstreitenden
sich auf »allgemeine Formulierungen, wie die Kantischen vom Ansichten und Interpretationen auf. Angesichts ihrer möchte
Endziel der weltbürgerlichen Geschichte zurückverwiesen«. 195 man kapitulieren. »Glück«: das ist zunächst ein umgangssprach-
Unmittelbar brauchbare Parolen aufzustellen, die dem schlecht- liches Wort - kein eindeutiger, streng wissenschaftlich bestimm-
pragmatischen Geist des Bestehenden nichts voraushätten, ist barer Begriff; es bezeichnet einerseits ein jeweils qualitativ Erleb-
nicht ihre Aufgabe. Der Einzelne, vollends der philosophieren- tes, psychische, als positiv empfundene Zustände von Individu-
de, kann wenig ausrichten; »er vermag jedoch in Theorie und en, andererseits diejenigen - ideellen oder materiellen - Güter,
Praxis in die Entwicklung kritisch einzugreifen, indem er durch mit deren Besitz solche Zustände einherzugehen pflegen.
zeitgemäße Methoden zur Bildung unzeitgemäßer Kollektive Der geläufigen Vorstellung, Glück sei, was jeder - nach Maßgabe
beiträgt, die den Einzelnen ... zu bewahren vermögen«.1% seiner realen Möglichkeiten wie seiner speziellen Anlagen und
Der letzte Aphorismus der Notizen trägt den Titel )Für den Bedürfnisse - dafür hält, vermag denn auch die große idealisti-
Nonkonformismus<. Er könnte über dem Lebenswerk eines sche Philosophie nur wenig hinzuzufügen. Daher ihre häufige
wahrhaft europäischen Denkers stehen - wie Nietzsche und Skepsis, wenn sie auf das Glück zu sprechen kommt. Was so
Thomas Mann den Begriff geprägt haben. An Horkheimer kann genannt wird, ist selten dauerhaft; es entbehrt intersubjektiver
die Gegenwart lernen, daß der Kampf um das Bessere ohne Verbindlichkeit, moralischer und metaphysischer Substantiali-
Selbstbetrug oder Lüge zu führen ist. Er ist ein Philosoph des tät. Hegel etwa verwirft den »Standpunkt des Glücks« als be-
langen Atems, ein Feind rascher, weil ideologisch bleibender schränkt; dieser ist philosophisch unzuständig, weil »dem abso-
Lösungen. Auch denjenigen redet er nicht nach dem Munde, die luten, allgemeinen Wesen« entgegengesetzt. »Glücklich«, sagt
ihm politisch nahestehen. In Horkheimers geistiger Existenz hat HegeI, »ist derjenige, welcher sein Daseyn seinem besonderen
sich die Idee des unabhängig urteilenden, aufgeklärten Subjekts Charakter, Wollen und Willkür angemessen hat und so in seinem
noch einmal verkörpert. Was ihn kennzeichnet, ist die Fähigkeit Daseyn sich selbst genießt.«1 Soweit die Individuen nur nach
zur unbestechlichen Kritik auch der eigenen Ideen, denen er Glück streben, spielt sich ihr Tun für Hegel »außerhalb des
gleichwohl die Treue gehalten hat. Theaters und der Sphäre der Weltgeschichte«2 ab; denn diese-

'94 Ibid., S. 206; hierzu auch S. 210 und S. 212. , Hege!, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Sämtliche Werke,
'95 Ibid., S. 79; cf. dazu auch S. 6 I. herausgegeben von Hermann Glockner, Band 11, Stuttgan 1961, S. 56.
'96 Ibid., S. 219. 2 Ibid., S. 58.

135
134
Tätigkeit des Allgemeinen - »ist nicht der Boden des Glücks. Die ihres Lebens erkennen lassen, was sie vom Leben fordern, in ihm
Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.«3 erreichen wollen. Die Antwort darauf«, erklärt Freud gemäß der
Ähnlich urteilt Nietzsehe, den man nicht ohne weiteres dem materialistischen, seit dem Altertum sich durchhaltenden Tradi-
idealistischen Lager wird zurechnen können. »Der Gesichts- tion, »ist kaum zu verfehlen; sie streben nach dem Glück, sie
punkt des Glücks«, betont er, ist »schädlich für die Wissen- wollen glücklich werden und so bleiben. Dies Streben ... will
schaft«4, die sich bloßen Wünschbarkeiten versagen muß. Was einerseits die Abwesenheit von Schmerz und Unlust, anderer-
gemeinhin als Glück gilt, ist »erbärmliches Behagen«, gänzlich seits das Erleben starker Lustgefühle. Im engeren Wortsinne
ungeeignet, »das Dasein selber« - metaphysisch - zu »rechtferti- wird ,Glück< nur auf das letztere bezogen.</ Dementsprechend
gen«.5 Zarathustra trachtet nicht nach fadem Glück, sondern schlagen die Menschen nach Freud zwei Richtungen ein, sei's
nach seinem Werk. Der "letzte Mensch«, von Nietzsehe als daß sie dieses, sei's daß sie jenes Ziel vornehmlich oder aus-
~erächtlichster Widersacher der Idee des übermenschen geschil- schließlich zu verwirklichen suchen. Freilich - das verleiht der
dert, »hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die psychoanalytischen Theorie ihre pessimistische Note - ist dieses
Nacht« und »ehrt« dabei, wie Nietzsehe spöttisch hinzufügt, »Programm des Lustprinzips«8 mit den Anforderungen der Rea-
»die Gesundheit«. - »,Wir haben das Glück erfunden< - sagen die lität an die Individuen kaum zu vereinbaren. Es ist, so Freud,
letzten Menschen und blinzeln.«6 Gleichwohl hält Nietzsehe am »überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls wi-
Gedanken einer künftigen, höheren Kultur fest, die keines fal- derstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch
schen, ideologisch verbrämten Glücks mehr bedarf. Soweit >glücklich< sei, ist im Plan der ,schöpfung< nicht enthalten. Was
Glück im emphatischen Sinn unter den bestehenden Verhältnis- man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzli-
sen überhaupt möglich ist, entspringt es Nietzsche zufolge dem chen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist ... nur
Kampf um jene andere, zugleich natürlichere und kultiviertere als episodisches Phänomen möglich.«9 Sind derart unsere
Kultur. In ihrem Namen verwirft der dionysische Philosoph die Glücksmöglichkeiten schon durch die Beschaffenheit unseres
hohlen Sekuritäten der Gründerzeit. Die Vorstellung, daß die psychischen Apparats eingeengt, so werden sie es noch mehr
Natur, gar der Kulturzustand als solcher, dem menschlichen durch die der gegenständlichen Welt. Freud nennt drei Quellen
Glücksstreben abträglich sei, bleibt dem Utopisten Nietzsehe menschlichen Leidens: »die übermacht der Natur, die Hinfällig-
fremd. keit unseres eigenen Körpers und die Unzulänglichkeit der Ein-
Demgegenüber vertritt Freud, auch er ein zum Materialismus richtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in
tendierender Denker, die resignative These vom vielleicht zu Familie, Staat und Gesellschaft regeln«.10 Was die physisch be-
lindernden, letztlich unaufhebbaren »Unbehagen in der Kultur«. dingten Einbußen an Glück betrifft, so müssen sich die Men-
Als entschiedener Religionskritiker läßt Freud die Frage nach schen, wenn auch widerwillig, in sie schicken. Sie finden sich
einem transzendenten »Zweck des menschlichen Lebens« beisei- damit ab, daß sie die äußere Natur nie völlig werden unterjochen
te und wendet sich »der anspruchsloseren Frage zu, was die können; ihr »Organismus, selbst ein Stück dieser Natur, wird
Menschen selbst durch ihr Verhalten als Zweck und Absicht immer ein vergängliches, in Anpassung und Leistung beschränk-

J Ibid., S. 56. 7 Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Gesammelte Werke, Band XIV, Lon-
, Nietzsehe, Die Unschuld des Werdens, Band II, herausgegeben von Alfred don 1948, S. 433 f.
Baeumler, Swttgart 1956, S. 276. B Ibid., S. 434.
5 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Wiesbaden o. J., S. 11.
• Ibid.
• Ibid., S. 15. IQ Ibid., S. 444; cf. auch S. 434.
137
136
tes Gebilde bleiben «.11 Anders dagegen steht es mit der »sozialen sehen HandeIns, »gegenständlicherTätigkeit« 15, gerade nicht der
Leidensquelle«Y Da die Institutionen von den Menschen selbst materialistischen, sondern der neueren, idealistischen Tradi-
hervorgebracht werden, ist uneinsichtig, weshalb sie nur bevor- tion.
rechteten Gruppen »Schutz und Wohltat« 13 bieten sollten. Frei- Unbeschadet solcher überschneidungen lassen sich hinsichtlich
lich wird Freud, obwohl keineswegs reaktionär eingestellt, auch der Glücksfrage im Materialismus, der im Zentrum dieses Bei-
hinsichtlich historisch-gesellschaftlich erzeugter übel den Ver- trags steht, gewisse Konstanten angeben. So tendieren die mei-
dacht nicht los, »es könnte auch hier ein Stück der unbesiegbaren sten Materialisten dazu, sinnliches Glück dem der Einsicht -
Natur dahinterstecken, diesmal unserer eigenen psychischen Be- ohne es zu bestreiten - voranzustellen, Leiden primär als physi-
schaffenheit«.14 sches Leiden zu bestimmen. Jeder Materialismus hat, ausgespro-
Die angeführten Äußerungen so entgegengesetzter Denker wie chenermaßen oder nicht, eine triebnaturalistisch-sensualistische
Hegel, Nietzsche und Freud über das Glück verdeutlichen die Basis. Daß, mit Nietzsches Zarathustra gesprochen, alle Lust
eingangs erwähnte Schwierigkeit, sich in dieser Frage philoso- Ewigkeit will und doch dahinschwindet, ist für Materialisten
phisch zu orientieren. Idealismus und Materialismus, den beiden kein Anlaß, Lust als solche abzuwerten, gar zu verpönen. Sie
philosophischen Grundrichtungen, können eindeutige, ab- stehen den Nöten der alltäglichen Lebenswelt näher als die Idea-
strakt-fixierbare POsitionen hinsichtlich des Glücksproblems listen und begründen ihre Philosophie aus nicht-philosophi-
nicht zugesprochen werden. In bei den Lagern gibt' es Verkünder schen Sachverhalten. Eben darin besteht, was Feuerbach - ein
und Verächter des Glücks: Denker, die menschliche Erfüllung bedeutender Gewährsmann - das antischolastische, sensualisti-
im Genuß und solche, die sie im weisen Verzicht erblicken. Je sche Prinzip genannt hat. Alles Lebendige, sagt er, »will ...
nach dem Stand der Geschichte fallen idealistische und materiali- glücklich sein: denn nur Glückseligsein ist Sein im Sinne eines
stische Antworten verschieden aus. Vertrauen und Zweifel, was lebenden, empfindenden, wollenden Wesens, ist gewolltes, ge-
die Glücksfähigkeit der menschlichen Natur betrifft, sind nicht liebtes Sein .... Wille ist Glückseligkeitswille.... Der Glück-
ein für allemal diesem oder jenem Lager zuzuordnen. Anthropo- seligkeitstrieb ist der Ur- und Grundtrieb alles dessen, ... was ist
logische Skeptiker und Dogmatiker gibt es unter Idealisten wie und sein will ... Glückseligkeit - das Substantivum von glück-
Materialisten. Was dabei das Fortschrittlichere ist, läßt sich nicht selig, welches ... nur ein verstärktes >glücklich< ist ... , ist aber
allein anhand <;fes jeweils Gelehrten ermitteln. Es bedarf einer nichts anderes als der gesunde, normale Zustand eines Wesens,
weiterführenden Analyse des zeitgeschichtlich-gesellschaftli_ · . . der Zustand, wo ein Wesen die zu seinem individuellen,
chen Kontexts. Häufig vertauschen sich auch Positionen. Innere charakteristischen Wesen und Leben gehörigen Bedürfnisse oder
Ausgeglichenheit etwa und Ruhe, den antiken Materialisten Triebe ungehindert befriedigen kann und wirklich befriedigt....
noch erstrebenswert, nehmen in Marxens Augen ideologische Jeder Trieb ist ein Glückseligkeitstrieb, ... auch im Menschen,
Züge an. Der modeme Materialismus, orientiert an umwälzen- und kann daher ihn so einnehmen, daß ihm die Befriedigung
der Praxis, beargwöhnt ein auf Innerlichkeit beschränktes desselben für die ... ganze Glückseligkeit gilt; denn jeder Ge-
Glück. Dabei entstammt das spezifisch Marxsche Pathos prakti- genstand, ... wonach er einen Trieb empfindet, ist, wiefern er
· .. die Begierde nach ihm stillt, ein den Menschen Beglückendes
II Ibid., S. 444. · .. Die allererste Bedingung des Willens ist daher die Empfin-
11 Ibid.
" Ibid., S. 445.
15 Cf. dazu die Marxschen Thesen über Feuerbach, in: Marx/Engels, Werke, Band
14 Ibid., cf. auch S. 472.
3, Berlin 1962, S. 5-7.
138 139
dung. Wo keine Empfindung, da ist. .. kein U ebel; wo aber kein hier gegen Versuche, den Materialismus als Philosophie dadurch
Uebel, da ist auch ... kein Trieb, ... sich des Uebels zu erweh- zu diffamieren, daß man ihn mit liederlichem Lebenswandel
ren, kein Wille .... Widerwille gegen Noth und Pein ... ist ... gleichsetzt. Andererseits sind »asketische Ideale«, wie Nietzsche
der Wille, womit ein empfindendes Wesen sein Dasein beginnt sie genannt hat, den Materialisten meist verdächtig; sie bleiben
und erhält.«16 der Erde treu und bekennen sich, ohne zu zögern, zum sinnli-
Glück ist für den Materialisten vormarxschen Typs nur in dem chen Glück. Allerdings wissen sie dabei wohl zu unterscheiden
beschlossen, was vom Individuum - im weitesten Sinn -lustvoll zwischen gröberen, das heißt elementareren, und feineren, abge-
empfunden wird, handle es sich dabei, wie im Hedonismus des leiteteren Bedürfnissen und Genüssen. Dabei haben erstere den-
Aristipp, um einzelne, verschieden intensive Lüste oder, wie bei genetischen - Vorrang. »Der Anfang der Existenz«, sagt Feuer-
Epikur, um die Glückseligkeit des ganzen Lebens. Seit dem bach, »ist ... die Ernährung, die Nahrung also der Anfang der
Altertum reduzieren die materialistischen Denker Ethik auf Weisheit.«19 Zu ihr gehört es, so lehren die Materialisten seit
Physik, worunter sie die Lehre vom körperlichen Sein verstehen. Epikur, sich eine Lust dann zu versagen, wenn diese eine größere
Wie sie dieses aus mechanisch bewegten Atomen ableiten, so Unlust nach sich zieht.
erklären sie die Individuen zum Zweck alles Handelns. Unser- Was die Sinnlichkeit als Grundlage des Glücks betrifft, so haben
wie immer vergeistigtes - Gefühl ist der verläßlichste Maßstab, neuere, über die beschränkt-mechanistische Betrachtungsweise
wonach wir Ubel und Güter beurteilen können. Lust wird als hinausgehende Materialisten die qualitative Differenz nicht nur
unbedingtes Gut von sämtlichen Lebewesen angestrebt, Unlust, zwischen dem tierischen und dem menschlichen Perzeptions-
Schmerz als unbedingtes Ubel gemieden. 17 - Leibliches Wohlbe- apparat hervorgehoben, sondern auch, innerhalb der menschli-
finden ist letztlich die Basis des seelischen. chen Sphäre, die zwischen den rohen und den gebildeten, das
Gleichwohl wäre es falsch, den wegen seiner metaphysisch-er- heißt kulturgeschichtlich vermittelten Sinnen. Zu nennen ist
kennmistheoretischen Grundannahmen ohnehin verrufenen abermals Feuerbach (und der junge, ihm darin folgende Marx).
Materialismus so zu interpretieren, als sei er sogenannter höherer »Der Mensch«, schreibt Feuerbach, »unterscheidet sich nur da-
Ziele bar und laufe auf die Praxis gröbsten Genusses hinaus. Ein durch von den Tieren, daß er der lebendige Superlativ des Sen-
altes Vorurteil, das noch Engels bekämpfen mußte. »Der Phili- sualismus, das allersinnlichste und allerempfindlichste Wesen
ster«, schreibt er, »versteht unter Materialismus Fressen, Saufen, ... ist. Er hat die Sinne mit dem Tier gemein, aber nur in ihm
Augenlust, Fleischeslust und hoffärtiges Wesen, Geldgier, Geiz, wird die Sinnenempfindung aus einem relativen, den niedern
Habsucht, Profitmacherei und Börsenschwindel, kurz alle die Lebenszwecken untergeordneten Wesen ein absolutes Wesen,
schmierigen Laster, denen er selbst im stillen frönt; und unter Selbstzweck, Selbstgenuß.... Nur dadurch ... ist der Mensch
Idealismus den Glauben an Tugend, allgemeine Menschenliebe Mensch, daß er ... ein absoluter Sensualist ist, daß ernicht dieses
und überhaupt eine >bessere Welt<.« 18 Mit Recht verwahrt er sich oder jenes Sinnliche, daß alles Sinnliche, daß die Welt, das
Unendliche, und zwar rein um seiner selbst, d. h. um des ästheti-
"Feuerbach, Zur Ethik: Der Eudämonismus, in: Sämmtliche Werke, herausgege- schen Genusses willen, Gegenstand seiner Sinne ... ist.«20 Hier-
ben von Wilhelm BolinlFriedrich Jodl, Band X, Stuttgart 1911, S. 230; 231 aus folgt für Feuerbach, daß die dem universell-sinnlichen und
(Hervorhebungen von Feuerbach).
17 Cf. zur Lust-Unlust-Lehre des antiken Materialismus Eduard Zeller, Grundriß 19 Feuerbach, Die Naturwissenschaft und die Revolution, in: Gesammelte Werke,
der Geschichte der griechischen Philosophie, Leipzig 1920, S. 287ff. herausgegeben von Wemer Schuffenhauer, Band 10, Berlin 1971, S. 359.
18 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philoso- 20 Feuerbach, Wider den Dualismus von Leib lind Seele, Fleisch lind Geist, ibid.,

phie, in: Marx/Engels, Ausgewählte Schn/ten, Band II, Berlin 1966, S. 346. S. 143f. (Hervorhebungen von Feuerbach).

140 141
insofern geIStigen Wesen des Menschen widersprechenden zur Ideologie des Bestehenden: der durch Natur und gesell-
Denkweisen und Institutionen verderblich sind. Daher sein schaftliche Zustände erzwungene Triebverzicht gewinnt eine fal-
Postulat: »WoIIt ihr die Menschen bessern, so macht sie glück- sche Weihe.
lich; woIIt ihr sie aber glücklich machen, so geht an die QueIIen Kant hat unmißverständlich ausgesprochen, daß sich unsere An-
aIIes Glücks ... - an die Sinne. Die Verneinung der Sinne ist die nahme einer »inteIIigiblen« (oder »moralischen«) Ordnung nur
Quelle aller Verrücktheit und Bosheit und Krankheit im Men- auf der Hoffnung des Menschen begründen läßt. AIIes Hoffen,
schenleben, die Bejahung der Sinne die QueIIe der physischen, sagt er, »geht auf GlÜckseligkeit«.22 Der Schluß, »daß etwas sei
moralischen und theoretischen Gesundheit.«21 (was den letzten möglichen Zweck bestimmt), weil etwas gesche-
Soviel zum allgemeinen, historisch sich durchhaltenden Hori- hen 50//«23, ist Kant zufolge unausweichlich. Sofern er jedoch, so
zont, worin »Glück« als Fragestellung des' Materialismus auf- lautet Horkheimers kritischer Einwand, »diese Hoffnung ...
taucht. Andererseits sind Brüche und Diskontinuitäten nicht zu nicht bloß konstatiert, sondern philosophisch unterbaut hat,
übersehen. Die Geschichte des Materialismus sperrt sich gegen näherte sich seine ursprünglich aufklärerische Vernunftanalyse
die Konstruktion eines einheitlichen Problemzusammenhangs. beträchtlich dem von ihm bekämpften System einer dogmati-
Ihr fehlt ein rein theoretisches, die Jahrhunderte überdauerndes schen Metaphysik«.24
Thema. Im Zentrum materialistischen Denkens stehen jeweils Nährt derart das bis zum Tode enttäuschte individuelle Glücks-
handfest-gesellschaftliche, historisch zu bewältigende Aufgaben. verlangen letztlich nur eine - problematisch bleibende - Hoff-
In ihnen ist auch vorgezeichnet, was die verschiedenen Materiali- nung, so zielt die materialistische Philosophie darauf ab, die »das
sten zum Glücksproblem beisteuern. Als Erklärung der Welt aus Unglück bedingenden Verhältnisse«25 zu verändern. Ihre Ge-
sich selbst, als die (freilich je nach den Zeiturnständen anders zu schichte durchläuft, unter diesem Aspekt betrachtet, drei Stufen,
bewertende) These, dingliches Sein sei das letzthin Wirkliche die hier zu erörtern sind.
und Wahre, tritt der Materialismus höchst nüchtern an die Angesichts des bescheidenen Standes der ökonomischen Pro-
Glücksfrage heran. Vermag der Idealismus, darin theologisch duktivkräfte sind die Materialisten des Altertums darauf verwie-
befangen, auf ein Transzendentes, sei es auch nur als sittliche sen, geeignete Lebenspraktiken auszubilden. »Ataraxia«, Seelen-
Forderung, nicht zu verzichten, so denken seine materialisti- ruhe, Heiterkeit des Gemüts, Umgang im kleinen Freundeskreis,
schen Gegner welt-immanent. Sie rechnen mit keinem schlecht- beschaulich-genügsame Lebensführung - so lauten die
hin verbindlichen, uns vorgegebenen »Sinn« des Weltganzen Auskünfte in einer bedrohlichen, vom einzelnen real nicht zu
oder auch nur der menschlichen Geschichte. Bemißt »Sinn« sich meisternden Weltlage. Diese Denker suchen, wie es in der Marx-
einzig danach, inwieweit es endlichen, vielfach bedingten Men- schen Dissertation über Demokrit und Epikur heißt, das »Lam-
schen gelungen ist, Vernunft in ihre sozialen Verhältnisse zu penlicht des Privaten« auf; nicht »der Ideologie und der leeren
bringen, so stellt sich auch die Glücksfrage von vornherein an- Hypothesen hat unser Leben not, sondern des, daß wir ohne
ders. Das Leben der meisten Menschen verläuft in fader Durch-
schnittlichkeit. Viele leiden unter dem Mißverhältnis von Erfolg
und Aufwand. Die Hoffnung, der irdische Gang der Dinge sei 12 Kant, Kritik der reinen Vernunft, herausgegeben von Raymund Schmidt, Leipzig
1944, S. 819 (Hervorhebungen von Kant).
kein Letztes, ist daher legitim, obgleich materialistisch erklärbar.
1) Ibid.

Wird solche Hoffnung theologisch abgestützt, so wird sie leicht 24 Max Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, in: Zeitschrift für Sozialfor-

sch/mg, Jahrgang I1/1933, Reprint München 1970, S. 13.


21 Ibid., S. 144. 25 Ibid.

142 143
Verwirrung leben«.26 - Demgegenüber ist der Materialismus des 4. »Die Atome sind unendlich an Zahl und von unendlicher
neuzeitlichen, aufsteigenden Bürgertums kämpferisch und pio- Verschiedenheit der Form. In ewiger Fallbewegung durch den
nierhaft; er ist bestrebt, unsere Naturerkenntnis zu erweitern, unendlichen Raum prallen die größeren, welche schneller fal-
uns - wie Descartes sagt - zu »mahres et possesseurs de la nature« len, auf die kleineren; die dadurch entstehenden Seitenbewe-
zu machen. Ihm geht es um Herrschaftswissen. Hinsichtlich der gungen und Wirbel sind der Anfang der Weltbildung. U nzäh-
Glücksfrage entwickelt er eine politisch, auch ökonomisch wirk- lige Welten bilden sich und vergehen wieder nebeneinander
same Anthropologie des Eigennutzes und individueller Selbst- wie nacheinander.«30
erhaltung. - Der Marxsche Materialismus bildet insofern eine 5. »Die Verschiedenheit aller Dinge rührt her von der Verschie-
dritte, abschließende Stufe, als er - der Sache nach - die Frage denheit ihrer Atome an Zahl, Größe, Gestalt und Ordnung;
nach der Objektivität des Glücks aufwirft. Da die grundlegende eine qualitative Verschiedenheit der Atome findet nicht statt.
Problematik der menschlichen Situation seit dem neunzehnten Die Atome haben keine >inneren Zustände<; sie wirken aufein-
Jahrhundert an die gesamtgesellschaftliche Struktur geknüpft ist, ander nur durch Druck und StOß.«3l
begnügt sich Marx nicht mit Techniken seelischer Beschwichti- 6. »Die Seele besteht aus feinen, glatten und runden Atomen,
gung, auch nicht mit dem Programm einer Entfesselung der gleich denen des Feuers. Diese Atome sind die beweglichsten,
Produktivkräfte vermitteIs privater Initiative - sein historischer und durch ihre Bewegung, die den ganzen Körper durch-
Materialismus wird Kritik der politischen Ökonomie. dringt, werden die Lebenserscheinungen hervorgebracht.«32
Wenden wir uns kurz den Spielarten des antiken Eudämonismus Ein mechanistisches Weltbild von großartiger Geschlossenheit.
zu. Mit streng materialistischer Weltansicht sind sie oft locker Auch das Seelisch-Geistige ist hier eine Art Stoff, der freilich
und keineswegs ausschließlich verbunden. In durchdachter nicht nur im Menschen vorkommt, sondern sich - dies ein animi-
Form - als Atomistik - tritt der Materialismus zunächst bei stischer Rest in Demokrit - im gesamten Universum verteilt und
Leukipp und Demokrit auf, dann bei Epikur und Lukrez. Um- die Lebenserscheinungen bedingt. Insofern kennt Demokrit ei-
reißen wir, dem Standardwerk Langes folgend, seine Lehre in nen (freilich gemilderten) Dualismus von Leib und Seele, der sich
einigen, Demokrit zugeschriebenen Thesen: auch auf seine Ethik auswirkt. 33 Unsere erste Sorge hat nach
1. »Aus Nichts wird Nichts; nichts, was ist, kann vernichtet Demokrit der Seele zu gelten; sie ist das Wesentliche am Men-
werden. Alle Veränderung ist nur Verbindung und Trennung schen, der Körper ihr Gefäß oder Werkzeug. Glück wohnt in der
von Teilen. «27 Seele. Dennoch fügt sich Demokrits Moralphilosophie insofern
2. »Nichts geschieht zufällig, sondern alles aus einem Grunde seinem materialistischen Denkzusammenhang ein, als i.hr aprio-
und mit Notwendigkeit.«28 ristische Prinzipien fehlen. Sie ist Lehre von praktischen, zu
3. »Nichts existiert, als die Atome und der leere Raum, alles individueller Glückseligkeit führenden Wegen. Höchstes Gut ist
andre ist Meinung.«29 »Euthymie«, »Wohlgemutheit« oder »heitere Seelenruhe«. Er-
reicht wird sie durch das rechte Maß in Lust und Unlust, Genuß
"Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, in:
und Verzicht: »Den Menschen wird Wohlgemutheit zuteil durch
Marx/Engels, Werke, Ergänzungsband, Schriften bis 1844, Erster Teil, Berlin Mäßigung der Lust und des Lebens Ebenmaß (Symmetrie). Man-
1968, S. 218; S. 300.
27 Friedrich Alben Lange, Geschichte des Materialismus, herausgegeben von Alfred lOIbid.,S.19f.
Schmidt, Band I, Frankfun am Main 1974, S. 15. JI Ibid., S. 2l.
" Ibid., S. 16. J2 Ibid., S. 22.
29 Ibid., S. 18. 11 Cf. dazu ibid., S. 22ff.

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gel und überfluß dagegen pflegen umzuschlagen und große Be- Naturerkenntnis.«37 - Derart hängt bei Epikur, deutlicher noch
wegungen in der Seele hervorzurufen. Die in großem Pendel- als in der älteren Atomistik, das moralische Verhalten des einzel-
schlag sich bewegenden Seelen sind weder wohlbeständig noch nen so von der Physik ab wie, umgekehrt, diese moralisch moti-
wohlgemut.«34 Demokrit unterscheidet vergänglichen und blei- viert ist. Physis und Moral treten nicht auseinander. Glückliches
benden Genuß. Letzterer ist das eigentlich Erstrebenswerte: ist »naturgemäßes« Leben.
»Am besten für den Menschen ist, das Leben so viel wie möglich Auf den folgerichtigen Begriff eines »ethischen Materialismus«
wohlgemut und so wenig wie möglich vergrämt zu verbringen! stoßen wir im Altertum freilich erst in spezifisch anthropologi-
Dies könnte aber geschehen, wenn man nicht am Vergänglichen schen Denkschulen: bei der Sophistik und Kyrenaik. »Es ist
seine Lust findet. - ... Die großen Freuden stammen von der darunter«, so erläutert ihn Lange, »eine Sittenlehre zu verstehen,
Betrachtung der Werke, die schön sind.,,35 welche das sittliche Handeln des Menschen aus den einzelnen
Einsicht in das von uns schlechthin Unabhängig~ begründet die Regungen seines Gemüts erwachsen läßt und welche das Ziel des
Ethik des atomistischen Materialismus. Ist einmal die eherne Handelns nicht durch eine unbedingt gebietende Idee bestimmt,
Notwendigkeit des Naturlaufs erkannt, so folgt daraus für den sondern durch das Streben nach einem erwünschten Zustande.
einzelnen weise Resignation hinsichtlich der Veränderbarkeit Eine solche Ethik kann man materialistisch nennen, weil sie, wie
des Ganzen, Gerechtigkeit, Güte und Milde gegenüber seines- der theoretische Materialismus, vom Stoffausgeht, im Gegensatz
gleichen. Unerschrocken, in stoischer Ruhe, müssen wir dem zur Form; nur daß hier nicht der Stoff der äußeren Körper, auch
Tod ins Auge sehen. Wir werden nach seinem Eintreten weder nicht die Empfindungsqualität des theoretischen. Bewußtseins
bestraft noch belohnt. »Der Tod«, sagt Epikur, »ist für uns ein gemeint ist, sondern der Elementarstoff des praktischen Verhal-
Nichts, denn was der Auflösung verfiel, besitzt keine Empfin- tens, die Triebe und das Gefühl der Lust und Unlust.«38
dung mehr. Was aber keine Empfindung mehr hat, das kümmert Erklärt die Atomistik, darin entschieden metaphysisch gerichtet,
uns nicht.«36 Individuelles Fortleben nach dem Tode ist unmög- kleinste, quantitativ bestimmte Stoff teilchen für das streng Ob-
lich; übrig bleibt von uns eine zerstreute Mannigfaltigkeit von jektive, wahrhaft Seiende, so leitet der Sophist Protagoras das -
Atomen, Baumaterial für andere Organismen. Freude kann völ- praktisch-alltäglich verstandene - Bewußtsein nicht aus der
lig llnbeschwert nur derjenige genießen, der Naturerkenntnis Dingwelt ab, sondern aus d~n Empfindungen. Hinter diesen mag
besitzt. And.ernfalls wird man, wie Epikur betont, »die Furcht, jene als vermittelnde »Materie« stehen. Allein sie ist derart unbe-
die uns beim Fragen nach den letzten Dingen beschleicht, un- stimmt, nach Heraklits Einsicht ewigem Wechsel und Fluß un-
möglich los ... und [muß] daher argwöhnen ... , es könne an terworfen, daß sie nur sein kann, was sie jeweils für uns ist: ein
dem, was die Göttermythen ... berichten, doch etwas Wahres Schein. Der damit ernst machende Sensualismus des Protagoras
sein.... Wenn die Furcht vor den Naturerscheinungen, die lehrt: »Aller Dinge Maß ist der Mensch, des Seienden für sein
Besorgnis, der Tod habe für uns vielleicht doch etwas zu bedeu-
ten, und die Unkenntnis über die Grenzen der Schmerzen und ]7 Ibid., S. 54.
Begierden uns nicht beu'nruhigten, dann brauchten wir keine 3R Lange, I. c., . 371. (Hervorhebungen von Lange). - Eine treffende Definition des
Materialismus in der Ethik, die nur hinsichtlich seiner neuzeitlichen Spielart
insofern leichter Korrektur bedarf, als sich dessen ethische Konsequenzen gerade
J< Zitiert nach: Walther Kranz, Die griechische Philosophie, München 1971, S. 69. dadurch ergaben, daß seine Vertreter von Diderot bis Feuerbach den Lockeschen
]5 Ibid. Sensualism~s erkenntnistheoretisch radikalisierten und dabei die kognitive Rolle
36 Epikur, Philosophie der Freude. herausgegeben von Johannes Mewaldt, Stuttgart dessen erfaßten, was Lange den .. Elementarstoff des pralttischen Verhaltens«
1949, S. 51. nennt.

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Sein, des Nichtseienden für sein Nichtsein.«39 Hieraus ergibt eine, die durch glatte und sanfte und eine, die durch rauhe,
sich, daß entgegengesetzte Urteile gleich wahr sind: dann näm- stürmische Bewegung entsteht; jene ist Lust, diese Unlust. Da
lich, wenn sie von zwei verschiedenen Individuen ausgesprochen sinnliche Lust intensiver empfunden wird als geistige, ist für
werden. Wenn Protagoras vom »Menschen« als dem Maß aller Aristipp, wie es materialistischem Denken entspricht, körper-
Dinge spricht, so ist nicht der Mensch als Gattungswesen ge- liche Lust geistiger vorzuziehen, körperlicher Schmerz ärger als
meint, sondern jedes Individuum in jeder einzelnen Situation. seelischer. Angestrebt wird von dieser Philosophie kein "un-
Von unseren jeweiligen Empfindungen hängt ab, wie uns die lustfreier Gesamtzustand«, sondern "die positive, und zwar die
Dinge erscheinen. Das letztinstanzlieh Gegebene ist dieser einzelne, gegenwärtige Lust«.44 Allerdings geziemt es dem.Wei-
Schein. Derart verbindet sich in Protagoras ein, modern gespro- sen, jede, auch die schlechte Lage zu nutzen, widrigen Verhält-
chen, "phänomenalistisches« Weltbild, wie es eher idealistisch nissen Lust abzugewinnen. Entscheidend für Aristipp ist, daß
verfochten wird, mit materialistischen Tendenzen in der Ethik40, man sich bei aller Lebensfreude nicht vom Genuß beherrschen
betrachtet er doch Lust als entscheidenden Beweggrund mensch- läßt. Wichtig an der Hedonik bis hin zum Marxschen Materialis-
lichen Handelns. Freilich zögert Protagoras, offen relativistisch, mus - darauf verweist Bloch, der ihre sozialutopische Dimension
alles und jedes gutzuheißen. Es gibt Menschen, denen Schlechtes herauspräpariert, - ist der Gedanke, der "natürliche menschliche
und Verderbliches und solche, denen Gutes und Edles Lust Zustand« sei nicht kynische "Bedürfnislosigkeit«, sondern "un-
bereitet.41 begrenzte, kluge Genußfähigkeit«. - »Freiheit«, sagt Bloch, "er-
Die Hedonik des schon erwähnten Aristipp ist in Protagoras' schien bei den Hedonikern . . . als Wein für alle, soweit sie
Homo-mensura-Satz angelegt. Aristipp gilt als Sokratiker. So- Menschen sind und nicht Sklaven. Die Lustfreiheit war demo-
krates selbst findet das höchste Glück in der Tugend und diese in kratisch, trotz des schrankenlosen Egoismus; denn das Glück
objektiver Erkenntnis. Sokratisch gefärbt ist Aristipps Lehre wurde wiederum als großzügig gedacht als Leben und Lebenlas-
insofern, als auch sie - abzielend freilich auf ein mit sinnlichem sen; mit höflich-guten Manieren.«45
Genuß identifiziertes Glück - die Bedeutung der Einsicht her- Die antike Philosophie, einschließlich ihrer materialistischen Sy-
vorhebt. Selbstbeherrschung und Besonnenheit sind nicht an steme, enthält ein passiv-betrachterisches Moment, das auch die
sich wertvoll, sondern deshalb, weil nur sie den Menschen ge- Scholastik der Kirchenjahrhunderte überdauert. Glück und
nußfähig machen und erhalten. In diesem Sinn ist auch für Ari- Kontemplation bleiben aufeinander bezogen. Demgegenüber
stipp allein der Weise glücklichY Sicher, lehrt Aristipp, sind wir steht das bürgerlich-neuzeitliche Denken im Dienst von Wissen-
einzig unserer subjektiven, hic et nunc gegebenen Empfindun- schaft und Technik. Es reflektiert und beflügelt ein rasches
gen, die daher alleiniger Kanon unseres Verhaltens sind. Es gibt, Wachstum der ökonomischen Produktivkräfte in Westeuropa.
abgesehen von der "hinsichtlich Lust und Unlust indifferenten Philosophie verändert ihre gesellschaftliche Funktion. Sie wird,
Bewegungslosigkeit«43, zwei Grundweisen des Empfindens: mit Hobbes, dem großen Materialisten des siebzehnten Jahrhun-
39 Zitiert nach: Zeller, I. c., S. 96. derts, zu reden, "rationelle Erkenntnis der Wirkungen oder Er-
40 Eine eigenartige Kombination idealistischer und materialistischer Gesichtspunk- scheinungen aus ihren bekannten Ursachen oder erzeugenden
te, die in der neueren Philosophie bei Schopenhauer und besonders Nietzsche Gründen und umgekehrt der möglichen erzeugenden Gründe
wiederkehrt. aus den bekannten Wirkungen«.46 Ihre "größte Bedeutung«,
41 Cf. Lange, I. c., S. 34.

42 Cf. ibid., S. 35. 44 Ibid. (Hervorhebungen von überweg).


43 Friedrich überweg, Die Philosophie des Altertums, herausgegeben von Karl 45 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Band 2, Berlin 1955, S. 44; 45.
Prächter, Berlin 1926, S. 171. 4. Hobbes, Lehre vom Körper, Leipzig 1949, S. 6.

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fährt Hobbes fort, »liegt ... darin, daß wir die voraus geschauten oder Spinoza, dessen Ethik den conatus sese conservandi zur
Wirkungen zu unserm Vorteil nutzen und auf Grund unserer ersten und einzigen Grundlage von virtus erklärt. 5o Man denke
Erkenntnis nach Maß unserer Kräfte und ... Tüchtigkeit ab- ferner an Autoren wie De La Rochefoucauld, dessen Maximen
sichtlich zur Förderung des menschlichen Lebens herbeiführen und Reflexionen die höfische Welt seiner Zeit mit großem
können. Denn die bloße überwindung von Schwierigkeiten oder Scharfsinn als ·»Reich der Eigenliebe«51 entlarven. Man denke
Entdeckungen verborgener Wahrheiten sind nicht so großer schließlich an das Credo der klassischen Nationalökonomie, das
Mühe, wie sie für die Philosophie aufzuwenden ist, wert; und aus der Theorie der ethischen Gefühle von Adam Smith hervor-
vollends brauchte niemand seine Weisheit anderen mitzuteilen, gegangen ist. »Jeder Mensch«, heißt es hier, "ist, wie die Stoiker
wofern er damit ... nichts zu erreichen hofft. Wissenschaft dient zu sagen pflegten, in erster Linie ... seiner eigenen Obsorge
nur der Macht! Die Theorie ... dient nur der Konstruktion! Und empfohlen; und sicherlich ist jeder Mensch ... geschickter und
alle Spekulation geht am Ende auf eine Handlung oder Leistung geeigneter, für sich selbst zu sorgen als für irgendeinen anderen.
aus.«47 Unter »rationeller Erkenntnis« versteht Hobbes »Be- Jedermann fühlt seine eigene Lust oder Unlust viel lebhafter als
rechnung«.48 Sie zielt ab auf Herrschaft. Wirklichkeit und kör- die eines anderen. Die ersteren sind ursprüngliche Empfindun-
perliches, das heißt mathematisierbares Sein sind identisch. gen, die letzteren sind reflektierte oder sympathetische Bilder
Souverän geworden, »verhält« der Mensch sich jetzt, wie Marx jener Empfindungeri. Die ersteren sind, wie man sagen könnte,
sagt, »von vornherein zur Natur, der ersten Quelle aller Arbeits- das wirkliche Ding, die letzteren sein Schatten.«52 Smith verkün-
mittel und -gegenstände, als Eigentümer«, behandelt er sie »als det einen aufgeklärten, daher verfeinerten Egoismus. Zuneigung
ihm gehörig«.49 - Glück besteht im Triumph über reale Wider- ist »eingewurzelte, gewohnheitsmäßige Sympathie«; sie ent-
stände. springt der »Weisheit der Natur«.53 Jeder trägt, individuelles
Diesem nüchtern-pragmatischen Geist moderner Wissenschaft Glück anstrebend, ob bewußt oder unbewußt, zum Glück seiner
und Produktion entspricht das anthropologische Grundvoka- Mitmenschen bei. Dem anderen beizustehen, liegt im wohl ver-
bular des bürgerlichen Zeitalters, das auch den Schlüssel liefert standenen Interesse eines jeden: »Die Natur, welche den Men-
zu dessen Vorstellungen vom Glück. Wie sieht dieses Grundvo- schen ... Güte gegenüber Seinesgleichen eingepflanzt hat, die
kabular aus? Auffällig ist die monotone Wiederkehr von Katego- für die Glückseligkeit der Menschen so notwendig ist, bewirkt
rien wie »Selbsterhaltung«, »Interesse« und» Egoismus«, die sich es, daß jedermann von demjenigen, dem er selbst Güte erwiesen
als solche ewiger Natur darstellen, zugleich aber wesentliche hat, wiederum Güte empfängt.«54 Das selfish system des Libera-
Züge der aufkommenden Gesellschaft freier Konkurrenz wider- lismus, wie es dann Ricardo nennt, soll Harmonie des gesell-
spiegeln. In ihr ist der einzelne, das atomistische, punktuelle Ich schaftlichen Ganzen verbürgen. Ein aufklärerischer Glaube, der
als Konzentrationspunkt von Interessen bestimmt. Zwar kennt sich - spekulativ gewendet - noch in Hegels Geschichtsphiloso-
schon das Altertum, wie wir sahen, hedonistische Lehren und die phie durchsetzt. Auch in ihr werden Interessen und Leidenschaf-
Scholastik den appetitus naturalis als Triebfeder menschlichen
50 Spinoza, Die Ethik!Schriften! Briefe, herausgegeben von Friedrich Bülow,
Handelns wie des Lebendigen überhaupt. Aber erst seit der Stuttgart 1955, cf. S. 212.
Renaissance rucken solche Kategorien wirklich ins Zentrum der " Fran~ois de la Rochefoucauld, Maximen lind Reflexionen, Stuttgart und Baden-
Diskussion. Man denke an Machiavelli, Montaigne, Hobbes Baden 1948, cf. S. 3.
51 Adam Smith, Theorie der ethischen Gefiihle, herausgegeben von Walther Eck-
47 Ibid., S. 9.
stein, II. Band, Leipzig 1926, S. 371 f.
48 Ibid., S. 6.
" Ibid., S. 373 .
.. Marx, Kritik des Gothaer Programms, Berlin 1955, 5.17. " Ibid., S. 382 f.
150 151
ten der Individuen, Gruppen und Nationen zur - unmittelbar Menschen als rein egoistisch gedacht werden«, das heißt »als
wenigstens - entscheidenden Triebkraft. Wesen, welche ihre Sonderinteressen mit Vollkommenheit
Langes berühmtes Werk verfolgt, in höchst instruktiver Weise, wahrzunehmen wissen, ohne je durch anderweitige Empfindun-
das Fortwirken des »ethischen Materialismus« der Antike in den gen gehindert zu werden«.58 Daß der homo oeconomicus, eine an
ökonomischen Lehren des Bürgertums; er findet in ihnen »nur sich heuristisch brauchbare Fiktion, »unter dem Einfluß eines
den Spiegel gesellschaftlicher Zustände«; den »ethischen Mate- ungeheuren Vorwaltens der materiellen Interessen« mit der ob-
rialismus« bilden sie zu einer »Dogmatik« aus, die Epikur und jektiven Wirklichkeit verwechselt wird - darin erblickt Lange
Aristipp entschieden überbietet: »An die Stelle der Lust hat die den »Materialismus auf dem volkswirtschaftlichen Gebiete«.59
Neuzeit den Egoismus gesetzt, und während die philosophischen Die politische ökonomie - daran wird der inzwischen eingetre-
Materialisten in ihrer Ethik schwanken, entwickelte sich mit der tene Wandel deutlich - ist durchaus »praktisch« orientiert, je-
Volkswirtschaft eine besondere Theorie des Egoismus, die mehr doch nicht im griechischen Sinn. Es geht hier weniger um »das
als irgendein andres Element der Neuzeit den Charakter des rüstige Handeln nach sittlichen und politischen Motiven« als
Materialismus trägt. «55 Dessen ethische Version setzt sich unter darum, »alle wahren Zwecke des Handelns in den Interessen des
Gewerbetreibenden und Kaufleuten ebenso durch wie seine Individuums zu suchen. Der >praktische< Gesichtspunkt in der
theoretische unter Naturforschern und Medizinern. Volkswirtschaft ist derjenige eines Mannes, dem seine eignen
Um auf Adam Smith zurückzukommen: Schon seine Moraltheo- Interessen obenan stehen, und der deshalb bei allen andern Indi-
rie gestattet, daß jedes Individuum seine Kräfte aufs äußerste viduen dasselbe voraussetzt. Das große Interesse dieser Periode
anspannt, sofern dabei kein Unrecht geschieht, ein Minimum an ist aber nicht mehr, wie im Altertum, der unmittelbare Genuß,
Sympathie gewahrt bleibt; in seiner Lehre vom Reichtum der sondern die Kapitalbildung.«6o
Nationen wird darüber hinaus »das Axiom aufgestellt, daß jeder, Kulturgeschichtlich betrachtet, geht der neuzeitliche Materialis-
indem er seinem eigenen Vorteil nachjagt, zugleich den ... des mus von den Engländern über zu den Franzosen und von diesen
Ganzen befördert«.56 Der Staat - das ist gegen reglementierende zu den Deutschen. »Die Franzosen«, schreibt Marx, »begaben
Eingriffe des Absolutismus gerichtet - soll sich aus diesem den englischen Materialismus mit Esprit, mit Fleisch und Blut,
Kampf der Interessen möglichst heraushalten. Der Mechanismus mit Beredsamkeit. Sie verleihen ihm das noch fehlende Tempera-
von Angebot und Nachfrage, bei Adam Smith wichtig, aber kein ment und die Grazie. Sie zivilisieren ihn.«61 Das achtzehnte
Absolutum, wird für seine Nachfolger, die Ideologen des rigoro- Jahrhundert bringt in Frankreich bedeutende, die Ideen der Auf-
sen Manchestertums, oberstes Prinzip. Sie »verwechselten«, wie klärung zu Ende denkende Materialisten hervor. Ihr Beitrag zum
Lange kritisch hervorhebt, »die Regeln des Marktes mit den Glücksproblem ist beachtlich. Dabei ist freilich zu berücksichti-
Regeln des Lebens, ja mit den Grundgesetzen der menschlichen gen, daß das Thema insgesamt zur damaligen Atmosphäre ge-
Natur«.57 Das erlaubt es zwar, die ökonomischen Fragen wissen- hört. Robert Mauzi, dem wir das wohl umfassendste Werk über
schaftlich zu behandeln, aber doch um den Preis einer erhebli- die Idee des Glücks in der französischen Aufklärung verdanken,
chen Simplifikation. Sie besteht Lange zufolge darin, »daß die spricht von etwa fünfzig Schriften jener Zeit, die unter dem Titel

" Ibid. (Hervorhebungen von Lange).


55 Lange, Geschichte des Materialismus, Band 2, Frankfurt am Main 1974, S. 897 59 Ibid., S. 899 (Hervorhebungen von Lange).
(Hervorhebungen von Lange). 60 Ibid., S. 899f. (Hervorhebungen von Lange).
56 Ibid., S. 898. 61 Marx/Engels, Die heilige Familie, in: Werke, Band 2, Berlin 1959, S. 137 (Her-
57Ibid. vorhebung von Marx).

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Essai sur le bonheur oder Traite du bonheur erschienen sind. 62 als dieses physische Wesen, betrachtet unter einem bestimmten
Vergessen wir nicht, daß »Glück« im achtzehnten Jahrhundert Gesichtspunkt, das heißt, in bezug auf einige seiner Wirkungs-
zum statuierten Recht wird und damit zur Parole politischen arten, die durch seinen besonderen Körperbau bedingt sind.
Kampfs gegen die herrschenden Mächte. Streben nach Glück: Doch ist dieser Körperbau nicht das Werk der Natur? Sind die
the pursuit 0/ happiness zählt denn auch in der Präambel der Bewegungen ... , deren sie fähig ist, nicht physischer Art? Seine
amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 zu sichtbaren Handlungen, ebenso wie die unsichtbaren - in seinem
den unalienable rights aller Menschen. Das weltgeschichtlich Inneren erzeugten - Bewegungen, die von seinem Willen oder
Neue hieran sieht Sternberger in drei Elementen: im Glücksrecht von seinem Denken herrühren, sind ... natürliche Wirkungen,
als solchem, in der Allgemeinheit des Anspruchs sowie der ent- notwendige Folgen seines eigentümlichen Mechanismus und der
schiedenen Diesseitigkeit des Erstrebten. 63 Antriebe, die er von ihn umgebenden Dingen erhält.«66 Der -
Aggressiv verfochten wird dieses Recht von bekannten Materia- idealistisch verabsolutierte - Unterschied zwischen dem »physi-
listen wie La Mettrie, Diderot, Holbach und Helvetius, was schen« und dem »moralischen« Menschen weicht der Einsicht,
freilich »aus der praktischen Gestaltung des damaligen französi- daß dieser der nach »physischen Ursachen« handelnde Mensch
schen Lebens«64 zu erklären ist. Man bewegt sich in einer Gesell- ist, »die zu erkennen unsere Vorurteile uns hindern«, jener dage-
schaft, in der spiritualistische Metaphysik, wie Marx sagt, »allen gen der »durch den Antrieb von Ursachen« handelnde, »die
Kredit«65 verloren hat. - Wenden wir uns zunächst einer begriff- unsere Sinne uns erkennen lassen«.67
lichen Unterscheidung zu, die für das Verständnis der neueren Hieraus folgt Holbachs Theorie des Glücks. Es ist gesteigerte,
Glückstheorien unerläßlich ist. Es ist die zwischen dem »physi- weil durch Reflexion vermittelte Natur. Glück, »nach dem un-
schen« und dem »moralischen« Menschen. Unter dem Morali- aufhörlich zu streben uns unsere eigene Natur zwingt«68, wird
schen ist dabei nicht, wie deutscher Sprachgebrauch seit Kant herbeigeführt durch »Kunst«, die freilich selbst »Natur« ist:
nahelegen könnte, das Sittliche im Sinn strikter, ums eigene diejenige nämlich, die »durch von ihr selbst geschaffene Werk-
Wohlergehen unbekümmerter Pflichterfüllung zu verstehen. zeuge wirkt«. 69 Mit dem rousseauistischen bon sauvage hat Hol-
Vielmehr bezeichnet der Terminus im Französischen, auch Eng- bach wenig im Sinn. »Der wilde Mensch,<, schreibt er, »ist ...
lischen, den sozialpsychischen Habitus eines Menschen, seine unfähig, auf seine Glückseligkeit bedacht zu sein. Der gesittete
geistige Verfassung etwa in dem Sinn, wie von der »Moral der Mensch ist derjenige, dem die Erfahrung und das gesellschaft-
Truppe« gesprochen wird. »Moralisten« sind in der westlichen liche Leben die Möglichkeit geben, die Natur für sein eigenes
Literatur keine Sittenprediger, sondern weltkundige, lebens- Glück zu nutzen .... Der glückliche Mensch ist derjenige, der
erfahrene Autoren. Le monde moral ist die menschlich-soziale die Wohltaten der Natur zu genießen weiß; der unglückliche
Wirklichkeit. Sie wird von den Materialisten in ihrer durchgängi- Mensch ist ... unfähig ... , ihre Wohltaten zu nutzen.</o
gen Abhängigkeit von der »physischen Welt« studiert. Begrenztheit und Veränderlichkeit unserer natürlichen Kräfte
»Der Mensch«, schreibt Holbach im System der Natur, »ist ein bringen es mit sich, daß wir nicht unentwegt glücklich sein
rein physisches Wesen; der moralische Mensch ist nichts anderes
66 Paul Thiry d'Holbach, System der Natur oder von den Gesetzen der physischen
61 Robert Mauzi, L'Idee du Bonheur au XVllI' siede, Paris 1960, cf. S. 9. und der moralischen Welt, Berlin 1960, S. 11 f.
63 Dolf Sternberger, Wandlungen des Glücksanspruchs in der Neuzeit, in: Anatomie 67 Ibid., S. 13.
des Glücks, herausgegeben von Herbert Kundler, Köln 1971, cf. S. 24f. 68 Ibid., S. 12.
64 Marx/Engels, Die heilige Familie, I. c., S. 134. •• Ibid.
65Ibid. 70 Ibid., S. 13.

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können. Dinge, die uns früher ansprachen, mißfallen uns heute. auf dem Pfad der Tugend, wenn er durch wahre Ideen sein Glück
Sind aber die nämlichen Gegenstände außerstande, ein Individu- in einem Verhalten erblickt, das ... ihn selbst für die anderen zu
um dauernd glücklich zu machen, »so ist leicht einzusehen, daß einem Gegenstand ihres Interesses macht. Die Moral wäre eine
... ein und dasselbe Glück nicht allen angemessen sein kann. nutzlose Wissenschaft, wenn sie den Menschen nicht zeigte, daß
Wesen, die ... durch unendlich viele physische oder moralische ihr größtes Interesse darin besteht, tugendhaft zu sein .... Tu-
Umstände unterschiedlich modifiziert worden sind, müssen ... gend ist nur die Kunst, durch Förderung der Glückseligkeit
sehr unterschiedliche Begriffe vom Glück haben .... Das Glück anderer sich selbst glücklich zu machen.«74
jedes Menschen ergibt sich aus dem Verhältnis seines natürlichen Holbachs Ethik ist getragen von Ernst und Menschenliebe. Sie
Körperbaus zu den Umständen, zu den Gewohnheiten und zu versucht, wenigstens ansatzweise, den abstrakten Standpunkt
den wahren oder falschen Ideen, die ihn modifiziert haben. Da individuell begrenzten Glücks zu überschreiten, indem sie poin-
dieser Körperbau und diese Umstände niemals die gleichen sind, tiert, was die Menschen als gesellschaftliche Wesen einander
ergibt sich, daß ... sich niemand zum Richter darüber aufwerfen schulden. Klarer noch in dieser Frage spricht das Werk des
darf, was die Glückseligkeit seines Mitmenschen ausmachen Helvetius sich aus. »Auf einer verlassenen Insel geboren«, heißt
kann.</l - Gle~chwohl gebietet es Holbachs Moralphilosophie, es in der Schrift Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und
anderen zu nützen, das heißt zu ihrem Glück beizutragen. 72 seiner Erziehung, »mir selbst überlassen, lebe ich ohne Laster
»Die >Idee< «, betont Marx, »blamierte sich immer, soweit sie von und Tugend. Ich kann dort weder die eine noch das andere
dem >Interesse< unterschieden war. </3 - Das Zeitalter der Aufklä- zeigen. Was muß man also unter den Worten tugendhaft und
rung verhilft dem historischen Materialismus zur Einsicht in das lasterhaft verstehen? Die der Gesellschaft nützlichen und schäd-
interessehafte, das heißt nicht völlig logisierbare Moment des lichen Handlungen. Diese einfache und klare Idee ist ... jeder
ökonomischen Unterbaus. Interessen sind Holbach zufolge ... schwülstigen Deklamation über die Tugend vorzuziehen.</5
Ideen, die sich die Menschen vom Glück machen; sie beziehen Es ist Helverius zufolge sinnlos, Moral bloß zu predigen. Viel-
sich auf diejenigen Gegenstände, mit denen die Menschen ihr mehr gilt es, die Gesellschaft so zu organisieren, daß sie es ihren
Wohlergehen verbinden. Wenn er behauptet, »das Interesse sei Gliedern gestattet, das Gemeininteresse zu achten. Sittenverfall
die einzige Triebkraft der menschlichen Handlungen", so will er zeugt davon, daß öffentliches und privates Interesse unvereinbar
sagen, »daß jeder Mensch auf eigene Art das Glück ... erstrebt geworden sind. »Die Menschen«, schreibt Helvetius in seinem
und ... seine gesamte Verhaltensweise darauf ausrichtet, es zu Werk Vom Geist, »sind nicht bös, aber ihren Interessen unter-
erlangen. Unter dieser Voraussetzung kann kein Mensch interes- worfen. Man muß also nicht über die Bösartigkeit der Menschen
selos genannt werden. Man legt diese Bezeichnung nur demjeni- klagen, sondern über die Unwissenheit der Gesetzgeber, welche
gen bei, dessen Triebkräfte wir nicht kennen oder dessen Inter- das besondere Interesse immer in Gegensatz gegen das allgemei-
esse wir billigen .... Es gehört zum Wesen des Menschen, sich ne Interesse gestellt haben .... Die Moral ist nur eine frivole
selbst zu lieben, sich erhalten zu wollen und nach einer glückli- Wissenschaft, wenn man sie nicht mit der Politik und Gesetzge-
chen Existenz zu suchen. So ist das Interesse ... die einzige bung vereint .... Man kann die großen Reformen nur dadurch
Triebkraft all seiner Handlungen; ... er geht sicheren Schritts
74 Holbach, l. c., S. 231 f.; S. 233; 234. - Cf. hierzu auch die Arbeit von Hartmut
Neuendorff, Der Begriff des Interesses. Eine Studie Zu den Gesellschaftstheorien
7' Ibid., S. 23i. von Hobbes, Smith und Marx, Frankfurt am Main 1973.
72 Ibid., cf. S. 229. 75 Zitiert nach: G. W. Plechanow, Beiträge zur Geschichte des Materialismus, Ber-
73 Marx/Engels, Die heilige Familie, l. c., S. 85. lin 1957, S. 80.

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bewerkstelligen, daß man die stupide Verehrung der Völker für bringt.«80 Es ist dies, wie gesagt, das körperlich vermittelte, mit
die alten Gesetze und Gewohnheiten schwächt.</6 individuellem Glücksstreben identische Interesse. - Helvetius ist
Verweilen wir noch etwas beim Begriff persönlichen Interesses insofern der folgerichtigste Materialist seiner Zeit, als er - Nietz-
oder der Selbstliebe (amour-propre), von dem Helvetius - wie sches »Genealogie der Moral« den Weg bahnend - die heikle
alle großen Materialisten seines Jahrhunderts - ausgeht. Zu- Frage nach dem Ursprung moralischen Urteilens aufgeworfen
nächst ist ein häufig geäußertes Mißverständnis abzuwehren. Es hat. 8l
handelt sich hier nicht um ein sittliches Gebot, gar eine feichtfer- Diderot (um seine Position hinsichtlich des Glücksproblems
tige Parole, sondern um ein methodisches Prinzip. Das Vorwal- wenigstens zu streifen) hegt bereits Zweifel, was die - liberali-
ten individueller Interessen ist für Helvetius eine »wissenschaft- stisch unterstellte - Möglichkeit betrifft, besonderes und allge-
liche Tatsache«.77 In ihr drückt sich aus, was er »die einzige meines Wohlergehen ohne weiteres miteinander zu vereinbaren.
Ursache unserer Handlungen, unserer Gedanken, unserer Lei- Er erkennt deshalb ein vom natürlichen Sein - zunächst - unter-
denschaften und unserer Soziabilität« nennt: »die physische schiedenes Sollen an. Wer die »Vorteile« der Gesellschaft ge-
Empfindungsfähigkeit«.78 Moral (im weiteren wie engeren Sinn) nießt, sagt er in der Enzyklopädie, »hat Pflichten zu erfüllen,
ist deren abgeleiteter Modus. Konsequent sensualistisch verwirft Gesetze zu befolgen, die Eigenliebe der anderen zu schonen«.82
Helvetius jegliche Annahme einer spirituellen Seelensubstanz. Letztere fällt keineswegs automatisch mit dem Gemeinwohl zu-
Was seelischer Schmerz oder geistiges Vergnügen genannt wird, sammen; das Ethische, kann man sagen, erlangt bei Diderot
geht auf physischen Schmerz oder ein' physisches Vergnügen insgesamt eine gewisse Autonomie. »Handle so«, lautet sein
zurück. »Der Mensch«, betont Helvetius, »kann also nur zwei Imperativ, »daß alle deine Handlungen auf deine Selbsterhaltung
Arten von Vergnügen und Schmerzen empfinden; zum einen und auf die Erhaltung der anderen abzielen: das ist der Ruf der
physische Lust und Unlust, zum anderen die Schmerzen und Natur; aber sei vor allem ein rechtschaffener Mensch. Es gibt
Vergnügen, die er zu erwarten hat oder an die er sich erinnert.</9 keine Wahl zwischen der Existenz und der Tugend.«83 Die »Ei-
Hieraus ergibt sich die Aufgabe des Philosophen. Sein primärer genliebe« freilich - darin folgt Diderot, in manchem umsichtiger
Gegenstand ist das Glück der Menschen: »Dies Glück hängt ab als Helvetius, den materialistischen Tendenzen seiner Zeit - »ist
von den Gesetzen, unter denen sie leben, und von der Erziehung, eine notwendige Wirkung unseres Körperbaus, unseres In-
die sie erhalten. Die Vervollkommnung der Gesetze und der stinkts, unserer Empfindungen, unserer Reflexionen: ein Prin-
Erziehung setzt zunächst die Kenntnis des Gemüts, des mensch- zip, das auf unsere Erhaltung abzielt und den Absichten der
lichen Geistes ... voraus, ferner die Kenntnis der Hindernisse, Natur entspricht, das also im Naturzustande eher tugendhaft als
die sich dem Fortschritt in den Wissenschaften von der Moral,
der Politik und der Erziehung entgegenstellen .... Der Philo- 80 rbid., S. 35.
BI Cf. hierzu Plechanow, 1. c., S. 82 f. - über die erkenntnistheoretische Unzuläng-
soph muß also bis zu dem einfachen Prinzip vordringen, das die lichkeit des Prinzips: "Penser, c'est sentir- ist hier nicht zu befinden; sie ist
geistigen Fähigkeiten und Leidenschaften der Menschen hervor- offensichtlich. Unsere Darstellung zielt ab auf den sozialgeschichtlichen Rah-
men, in dem es auftritt und politische Brisanz gewinnt. Die Reduktion des
76 Zitiert nach: Marx/Engels, Die heilige Familie, 1. c., S. 140. gesamten psychisch-kognitiven Apparats des Menschen auf -sensibilite physi-
77 Plechanow, 1. c., S. 82. ql/e- und -memoire- hängt mit antikirchlich-klassenmäßigen Bestrebungen des
78 Claude Adrien Helvetius, Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und französischen Bürgertums vor 1789 zusammen.
seiner Erziehung, herausgegeben von Günther Mensching, Frankfurt am Main 82 Denis Diderot, Enzyklopädie. Philosophische und politische Texte alls der ,Ency-
1972, S. 105. dopedie" herausgegeben von Theodor Lücke, München 1969, S. 305.
79 rbid., S. 106f. 8J rbid., S. 253 (Hervorhebungen von Diderot).

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lasterhaft wäre«. 84 - Die unser wahres Glück ausmachenden, aufs Glückstheorien der Aufklärung um eine wichtige Nuance berei-
soziale Ganz~ gerichteten Handlungen sind für Diderot nicht chert. Letzte Einsicht bleibt uns verschlossen. Doch genügt das
schon dadurch entwertet, daß ~ie - in letzter Instanz - unserer uns Zugängliche. Es ist nicht einmal ausgemacht, ob wir ur-
Selbstliebe entspringen. sprünglich zur Weisheit bestimmt sind. Vielleicht ist Wissen-
Auch im Werk des Arztes La Mettrie, des wohl verrufensten schaft nur durch eine Art Mißbrauch unserer organischen Fähig-
Materialisten neuerer Zeit, vereinigen sich mechanistische und keiten entstanden. Die Natur jedenfalls, erklärt La Mettrie, hat
sensualistische Motive. Prägnant dargestellt sind sie in der Schrift uns geschaffen, damit wir glücklich werden. Das Glück des
L 'Homme machine, auf die wir uns hier beschränken. Die Denk- Menschen aber beruht zunächst weniger auf seiner Bildung als
funktion ist La Mettrie zufolge durchaus vereinbar mit hochor- auf seiner körperlichen Sensibilität. Jener bedarf es freilich, um
ganisierter Materie; sie ist, so scheint es, eine ihrer Eigenschaften glücksfeindliche Vorurteile zu zerstören. Insofern genießt der
wie Elektrizität, Bewegungsvermögen, Undurchdringlichkeit Gebildete substantielleres Glück als der Unwissende. Daher
und Ausdehnung. 85 »Nur groben Augen«, sagt er, »welche die auch die wichtige Rolle der Erziehung bei La Mettrie. Sie ist -
Materie in ihren großartigsten Hervorbringungen verkennen, außer unserer physischen Beschaffenheit - unsere wichtigste
stellt sie sich als etwas Niedriges dar.«86 Dabei trägt La Mettrie Glücksquelle. 90
den Materialismus keineswegs fanatisch und unduldsam vor; er Auf den letzten Seiten der Schrift L'Homme machine faßt La
ist lediglich die plausiblere, weil mit exakter Naturforschung Mettrie die wesentlichen Konsequenzen seines Materialismus für
verträglichere Hypothese. Auch sie läßt Fragen offen. Wohl die individuelle Lebensgestaltung - mit deutlichem Anklang an
»gelangt man über eine Reihe von Beobachtungen und Wahrhei- antike Vorbilder - bündig zusammen. Dabei geht er, wie er-
ten dazu, mit der Materie die bewundernswerte Eigenschaft des wähnt, davon aus, daß unser Glück durch unsere Unwissenheit
Denkens zu verbinden«. Aber »man kann die Bande zwischen in metaphysischen Dingen nicht etwa geschmälert wird, sondern
ihnen nicht sehen, weil uns das Substrat dieses Attributs in von ihr abhängt. »Wer so denkt«, sagt er, »wird weise, gerecht
seinem Wesen unbekannt ist«.87 überhaupt ist hinsichtlich sol- und mit seinem Los zufrieden sein, daher glücklich. Er wird den
cher Fragen Vorsicht geboten. Bei all unserem Wissen bleibt ein Tod erwarten, ohne ihn zu fürchten oder herbeizuwünschen; das
großes Ignoramus. Wie die Insekten zu beschränkt sind, die Leben zärtlich liebend, wird er kaum verstehen, wie Verdruß ein
Metamorphosen der Natur zu erfassen, so letztlich auch die Herz an dieser lustvollen Stätte verdüstern kann; vollen Respekts
Menschen: »Was wissen wir mehr von unserem Schicksal, was für die Natur, voller Anerkennung, Anhänglichkeit und Zärt-
von unserem Ursprung ? Unterwerfen wir uns also einer unüber- lichkeit angesichts ... der Wohltaten, die sie ihm erwiesen hat,
windlichen Unwissenheit, von der unser Glück abhängt.«88 kurzum glücklich, sie zu empfinden, dem reizenden Schauspiel
Ein urbaner - keineswegs nur auf den damaligen Wissens stand des Universums beizuwohnen, wird er sie gewiß niemals in sich
zurückführbarer - Agnostizismus 89, mit dem La Mettrie die
haupt besteht, und was die Körper von sich aus sind .. (I. c., S. 304). Und Holbach
.. Ibid., S. 305. fordert den Menschen auf, sich davon zu überzeugen, .. daß es für die Bewohner
'5 Julien-Offray de La Memie, L'Homme machine, Paris 1966, cf. S. 150. dieser Erde sehr wichtig ist, gerecht, wohltätig und friedliebend zu sein, und daß
.. Ibid., S. 156 (eigene übersetzung). nichts belangloser ist, als über Dinge nachzudenken, die der Vernunft unzugäng-
" Ibid., S. 158 (eigene übersetzung). lich sind. (I. c., S. 7). - In La Mettrie zeichnet sich bereits ab, was Nietzsehe die
" Ibid., S. 159 (eigene übersetzung). _souveräne Unwissenheit. des modemen wissenschaftlichen Geistes nennen
" Spuren davon finden sich auch bei Diderot und Holbach. So sagt Diderot, daß wird (Der Wille zur Macht, Stuttgart 1952, cf. S. 416).
»wir nicht die geringste Ahnung haben, worin die Wesenheit der Materie über- 90 Cf. zu La Mettries hedonistischer Ethik auch Lange, Band 1, I. c., S. 367ff.

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oder anderen zerstören. Was sage ich! Voller Menschlichkeit die politische Brutalität und Despotie an den Menschen stellen.
wird er sie noch in seinen Feinden lieben .... Er wird die Bösen Ich verstehe unter Egoismus den ... metaphysischen, d. h. im
bedauern, ohne sie zu hassen; sie sind in seinen Augen nur Wesen des Menschen ohne Wissen und Willen begründeten Ego-
häßliche Menschen .... Daher wird der Materialist, überzeugt, ismus, den Egoismus, ... der selbst im Organismus in der Aneig-
daß er nur eine Maschine oder ein Tier ist, was auch seine nung der assimilierbaren, der Ausscheidung der nicht assimilier-
Eitelkeit dagegen vorbringen mag, niemals seinesgleichen miß- baren Stoffe liegt. Ich verstehe unter Egoismus die Liebe des
handeln; ... dem allen Lebewesen auferlegten Naturgesetz fol- Menschen ... zum menschlichen Wesen, die Liebe, welche der
gend, will er keinem anderen zufügen, was er nicht will, daß es Anstoß zu Befriedigung und Ausbildung aller der Triebe und
ihm angetan werde.«9\ Anlagen ist, ohne deren Befriedigung und Ausbildung er kein
Feuerbachs Philosophie, die reifste Form des vormarxschen Ma- wahrer, vollendeter Mensch ist und sein kann; ich verstehe unter
terialismus, nimmt - auf dem von Schelling und Hegel erreichten ... Egoismus die Liebe des Individuums ... zu sich selbst nur
Boden eines an gegenständlichen Qualitäten orientierten Den- insofern, als jede Liebe eines Gegenstandes, eines Wesens eine
kens - wesentliche Ergebnisse der hier erörterten Franzosen auf indirekte Selbstliebe; denn ich kann ... nur lieben, was meinem
und entwickelt sie weiter. So legt er, im Sinn seines humanisti- Ideal, meinem Gefühl, meinem Wesen entspricht. Kurz, ich
schen Anthropologismus, großen Wert auf den Unterschied verstehe unter Egoismus jenen Selbsterhaltungstrieb, kraft des-
zwischen dem »vulgären« und dem »metaphysischen« Begriff sen der Mensch nicht sich, seinen Verstand, seinen Sinn, seinen
des Egoismus. Religiöse Kulte haben Feuerbach zufolge »einen Leib ... aufopfert. « 95
humanen oder egoistischen Grund«, sobald sie zu »einer nen- Soweit Feuerbach über den Sensualismus der französischen Ma-
nenswerten Erscheinung der Religionsgeschichte«92 werden. terialisten hinausgeht, geschieht dies auf zwei Ebenen: auf der
»Egoismus« ist hier ein konkret-allgemeines, dabei antitheologi- einer (Nietzsche vorwegnehmenden) Lebensmetaphysik und auf
sches Prinzip. Gemeint ist kein gewöhnlicher, moralischer Ego- der einer - moralisch inspirierten - Geschichtsphilosophie. Was
ismus, nicht der eines Menschen, »der bei allem, was er tut, selbst die erstere Ebene betrifft, so sagt Feuerbach: »Leben heißt ande-
scheinbar für andere, nur seinen Vorteil im Auge hat«.93 Solcher re Wesen als Mittel zu seinem Besten verwenden, ... heißt ein
Egoismus ist »das charakteristische Merkmal des Philisters und sich nur auf sich selbst beziehendes, absolutes Wesen sein. Leben
Bourgeois, ... das direkte Gegenteil aller Rücksichtslosigkeit im ist Egoismus. Wer keinen Egoismus will, der will, daß kein Leben
Denken und Handeln, aller Begeisterung, aller Genialität, aller sei.«96 Erscheint Selbstliebe hier mit menschlicher, ja biologi-
Liebe«.94 Kalt berechnendes, auf Utilität bedachtes Verhalten scher Existenz überhaupt gesetzt, so versucht Feuerbach auf der
wird von Feuerbach abgelehnt. »Ich verstehe unter Egoismus«, zweiten Diskussionsebene, diese Kategorie geschichtlich zu
heißt es in den Heidelberger Vorlesungen, »das seiner Natur und konkretisieren. Deutlich wird dabei, daß der - von partikulären
... seiner Vernunft gemäße Sich-selbst-Geltendmachen, Sich- Egoismen abgegrenzte - gattungsmäßige Egoismus oder Selbst-
selbst-Behaupten des Menschen gegenüber allen unnatürlichen erhaltungstrieb: der »Trieb der Triebe«97 nicht im Deskriptiven
Forderungen, die die ... religiöse und spekulative Phantastik, aufgeht; er ist normativ gedacht, enthält das Moment des Sollens:
., La Mettrie, l.c., S. 159ff.
95 Ibid., S. 60 f. (Hervorhebungen von Feuerbach) .
•2 Feuerbach, Vorlemngen über das Wesen der Religion, in: Gesammelte Werke, % Feuerbach, Ergänzungen und Erläuterungen zum» Wesen der Religion<, in:
Band 6, Berlin 1967, S. 60 (Hervorhebung von Feuerbach). Gesammelte Werke, Band 10,1. c., S. 82 (Hervorhebungen von Feuerbach).
9J Ibid.
97 Feuerbach, Ober Spiritualismus und Matenalismus, besonders in Beziehung auf
.. Ibid.
die Willensfreiheit, in: Sämmtliche Werke, Band X,1. c., S. 108.
162
163
eine Utopie des auf seine Erhaltung bedachten »Selbst«. Feuer- den Dünkel einer patrizischen Minorität ans Licht der geschicht-
bach sieht, anders gesagt, ein, daß die liberalistische Maxime des lichen Zelebrität hervortreten. So ... wird auch der Egoismus
wohlverstandenen Egoismus das Gemeinwohl nicht automatisch der jetzt unterdrückten ... Menschheit zu seinem Recht kom-
verbürgt. Das Moralische kann sich im Physischen, sofern es als men und eine neue Geschichtsperiode begründen.«lol
ein abschlußhaft Gegebenes gilt, nicht erschöpfen. »Die Philoso- Die eudämonistischen Ethiken des bürgerlichen Materialismus
phen«, schreibt selbst der Naturforscher Darwin, »nahmen frü- einschließlich des Feuerbachschen sind gekennzeichnet durch
her an, die Grundlage der Moralität sei eine Art Selbstsucht; in kompromißlose Diesseitigkeit. Sie verzichten auf theologische
neuerer Zeit jedoch ist hauptsächlich das ,Prinzip des größten Sanktion oder (im Sinn Kants) vernünftige Ableitung dessen, was
Glücks«< - gemeint ist das der größten Zahl- »in den Vorder- sein soll. Ihr höchstes, sie bei allen Unterschieden verbindendes
grund gestellt worden. Es ist aber richtiger, von dem letzteren Prinzip ist die universelle Natur. Ihr schreiben sie normative
Prinzip als vom Maßstab statt vom Beweggrund des Handelns zu Kraft zu. »Der Mensch«, lautet der erste Satz des Holbachschen
sprechen.«98 - Sein und Sollen dürfen weder vermengt noch Hauptwerks, »ist nur darum unglücklich, weil er die Natur
unmittelbar gleichgesetzt werden. verkennt.«102 Er muß die Trugbilder und Vorurteile zerstören,
Feuerbach wird, wie gesagt, der sich hier ergebenden Schwierig- die ihn vom »einfachen Wege des Wahren abbrachten«; es gilt,
keiten inne. Daher sein Versuch, den Egoismus so universell zu »gegen die übel, welche die Schwärmerei über uns gebracht hat,
fassen, daß er »ebensoviel Arten und Gattungen in sich begreift, Heilmittel aus der Natur zu schöpfen«; 103 Diese befindet sich,
als es überhaupt Arten und Gattungen des menschlichen Wesens prinzipiell jedenfalls, im Einklang mit der Moral. »Die Tugend«,
gibt«.99 Dieses jedoch ist kein schieres Datum; es entfaltet sich in führt Holbach aus Cicero an, »ist ... nichts anderes, als die in
der Geschichte, die Feuerbach als ,)Menschwerdung der sich vollkommene und zum höchsten emporgeführte Natur.«104
Menschheit« 100 interpretiert. Entscheidend dabei ist der Glaube, Und er beschließt die Schrift bezeichnenderweise mit dem )Ab-
daß »das Gute ... in der menschlichen Natur, ... selbst im riß des Gesetzbuches der Natur<, worin er, eigentümlich präro-
menschlichen Egoismus [liegt]; das Gute«, unterstreicht Feuer- mantisch, über die stoische Einheit von Physis und Moral noch
bach, »[entspricht] dem Egoismus aller Menschen ... , das Böse hinausgeht. Hier heißt es: »0 Natur, Beherrscherin aller Dinge,
... dem Egoismus einzelner Menschenklassen, folglich nur auf und ihr, deren angebetete Töchter : Tugend, Vernunft, Wahrheit!
Kosten anderer, ... aber der Egoismus aller, oder auch zunächst seid auf ewig unsere einzigen Gottheiten ... Zeige uns denn, 0
nur der Majorität, ist immer mächtiger als der Egoismus der Natur, was der Mensch tun muß, um das Glück zu erlangen,
Minorität. Man werfe ... einen Blick in die Geschichte!. Wo nach dem du ihn streben läßt.... Verbannt den Irrtum, die
beginnt ... eine neue Epoche? überall nur da, wo gegen den Bösartigkeit, die Verwirrung aus unseren Geistern; laßt an ihrer
exklusiven Egoismus einer Nation oder Kaste eine unterdrückte Stelle die Wissenschaft, die Güte, die Heiterkeit regieren ... .
Masse oder Mehrheit ihren wohl berechtigten Egoismus geltend flößt dem intelligenten Wesen Mut ein; gebt ihm Energie, .. .
macht, wo Menschen oder ganze Nationen aus dem verächtli- damit es sich zu befreien wage, um glücklich und frei und immer
chen Dunkel des Proletariats durch den Sieg über den anmaßen- nur euren Gesetzen untertan zu sein ... ; lehrt es, sich der Not-
9. Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen, Leipzig 1949, S. 127. _ Darwin
spielt hier auf den Utilitarismus John Stuart Mills an. 101 Ibid., S. 345.
99 Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, 1. c., S. 341. 102 Holbach, System der Natur, 1. c., S. 5.
100 Feuerbach, Nachgelassene Aphorismen, in: Sämmtliche Werke, Band X, I.c., 103 Ibid.
5.313.
10< Ibid., S. 13; cf. auch S. 6.
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wendigkeit zu unterwerfen; führt es ohne Ängste dem Ende aller und Schopenhauers (freilich ihrerseits belastete) Weigerung,
Dinge entgegen.«I05 Moral auf Gegebenheiten des mundus sensibilis zu be-
Ein Begriff von Natur, der für das französische achtzehnte Jahr- gründen. lOB
hundert insgesamt charakteristisch ist. Die instruktive, seine po- Diltheys Weltanschauungslehre, die sämtliche Typen metaphy-
litische Sprengkraft untersuchende Studie Schaberts erinnert sischer Systeme zu erfassen sucht, geht davon aus, daß letztere
daran, daß zwischen 1732 und 1784 dreizehn wichtige Werke in die nämliche "Struktur« aufweisen; es handelt sich ihr zufolge
Frankreich erschienen sind, die das Wort nature im Titel füh- allemal darum, daß "auf der Grundlage eines Weltbildes die
ren. I06 Am klarsten freilich treten die inneren Schwierigkeiten Fragen nach Bedeutung und Sinn der Welt entschieden und
dieses verbreiteten Naturkultus dort hervor, wo Natur zum hieraus Ideal, höchstes Gut, oberste Grundsätze für die Le-
Absolutum wird: bei den Materialisten. Holbach etwa - das . bensführung abgeleitet werden«.lo9 Das gilt von den Varianten
belegen die angeführten Stellen - möchte moderner Wissenschaft
ebenso genügen wie der vor- oder außerwissenschaftlichen Sehn-
anläßlich Holbachs, den älteren Gedanken der Kritischen Theorie wieder auf,
sucht nach einer unwandelbaren Richtschnur. Der sich zum daß der Materialismus, recht verstanden, nicht mit idealistischer Metaphysik
System verfestigende Atheismus bedarf, nicht anders als die darin wetteifert, daß er seinerseits mit einer höchsten Wesenheit aufwartet,
Theologie, eines absolut Ersten. Daher Holbachs - befremdlich welche das Dasein und die sittlichen, in ihm erforderlich werdenden Entschei-
anthropomorphe - Redeweise, Natur gebiete, dies zu tun, jenes dungen determiniert. »Die materialistische These«, heißt es in Horkheimers
Aufsatz Materialismus und Metaphysik, »schließt ... solche Folgerungen aus.
zu lassen, sie leite uns, spreche zu uns. Die »abstrakte Allgemein-
Das Prinzip, welches sie als Wirklichkeit bezeichnet, taugt nicht zur Normge-
heit« solcher Natur, die moralisches Verhalten begründen soll, bung. Die Materie ist an sich selbst sinnlos, aus ihren Qualitäten folgt keine
ist jedoch, nach Horkheimers Einsicht, »nicht bestimmter als Maxime für die Lebensgestaltung: weder im Sinn eines Gebots noch eines
selbst der Deus absconditus des Protestantismus, das Glücksver- Musterbilds. Nicht als ob ihre genaue Kenntnis für den Handelnden ohne
sprechen im Diesseits so problematisch wie die höchst ungewisse Vorteil wär·e: der Materialist wird sich je nach seinen Zielen der Struktur der
Wirklichkeit aufs eingehendste zu versichern trachten, aber obgleich diese Ziele
Seligkeit. Der Naturalismus setzt, wie die theologische Doktrin, im gesellschaftlichen Gesamtprozeß immer auch durch die jeweilige wissen-
der er zuwiderläuft, das Beständigste und Mächtigste gleichsam schaftliche Erkenntnis der Wirklichkeit wie überhaupt durch den Stand der
selbstverstäridlich mit dem Höchsten, Liebenswertesten in eins. Produktivkräfte mitbedingt sind, folgen sie doch nicht aus der Wissenschaft.
In ihrer Angst vor dem Tod wenden die Menschen dem hyposta- Die Erkenntnis ... steht zwar in Wechselwirkung mit den Handlungen der
Menschen, sie ist an der Gestaltung der ... Wirklichkeit beteiligt, liefert aber
sierten Wunschbild, dem Einen, Ewigen, Unsterblichen gehor-
nicht Vorbilder, Maximen, Anweisungen für ein wahrhaftes Leben, sondern
sam als herrschaftlicher Macht sich zu. Der antike Materialismus Mittel dazu und ist daher nicht Aufschwung, sondern Theorie« (in: Zeitschrift
war noch geneigt, es bei der Vielheit der Atome zu belassen, der für Sozia/forschung, Jahrgang II/1933, l. c., S. 9).
Naturfetischismus läßt, wie Pantheismus, Ontologie und Theo- 108 Immerhin betont Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, es gelte so

logie, die große Einheit sprechen .... Natur jedoch vermöchte zu handeln, daß die Menschheit in der eigenen Person wie in der aller anderen
.. jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel. gebraucht werde (in:
einzig das Recht des Stärkeren und die Selbsterhaltung zu lehren, Werke, Band VII, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1956,
nicht etwa Freiheit und Ger~chtigkeit.«lo7 - Daher auch Kants S. 61). Daß letzteres - auch bei gutem Willen - unentwegt vorkommt (und
vorkommen muß), ist ihm durchaus geläufig. Auch Schopenhauer setzt sich der
105 Ibid., S. 558; 559. Schwierigkeit aus, nachweisen zu müssen, daß sittliche Akte, bei ihm solche des
106 Tilo Schabert, Natllr und Revolution. Untersuchungen zum politischen Denken Mitleids, von jeglichem Egoismus frei sind. Cf. dazu meine Schrift Emanzipato-
im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts, München 1969, cf. S. 17 f. rische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, Mün-
107 Max Horkheimer, Zur Kritik der instTllmentellen Vernunft, herausgegebe~ von chen 1973, S. 207-212.
Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1967, S. 223. - Horkheimer nimmt hier, 109 Wilhelm Dilthey, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den

166 167
des Idealismus, nicht aber vom Materialismus. Wohl kennt des- Mit der Glücksproblematik sind diese Erwägungen insofern ver-
sen Geschichte - wie wir an Holbach zeigten - ehrgeizige Versu- bunden, als sie nicht nur die Absage an eine metaphysisch be-
che, den Schattenriß des Universums nachzuzeichnen oder, mit gründete Moral implizieren, sondern auch den Gedanken, »daß
Dilthey gesprochen, »eine vollständige Auflösung des Lebens- das Streben der Menschen nach ihrem Glück als ... natürliche,
~ätsels zu geben«.l1O Analysiert man sie jedoch näher, so zeigt keiner Rechdertigung bedürftige Tatsache anzuerkennen sei«. 114
sich, »daß die inhaltliche Fassung der materialistischen Theorie Das hier und jetzt Genossene ist nicht schon dadurch entwertet,
diese einheitliche Struktur sprengt«.111 Ein Sachverhalt, der von daß ihm keine ewige Bedeutung beigemessen werden kann.
manchen Materialisten nicht reflektiert worden ist; denn zu- Glück entzieht sich jeder Letztbegründung.
nächst muß das materialistische wie jedes Denken danach stre- Horkheimer sieht den traditionellen Materialismus aus der Per-
ben, Einheit des Mannigfaltigen zu stiften. Andererseits wird es spektive seiner Interpretation des marxistischen. So richtig es ist,
eben damit der besonderen Beschaffenheit seiner Objekte nicht daß die materialistisch vertretenen Inhalte ihrer Systematisierung
gerecht. Es macht die Paradoxie »materialistischen Philosophie- spotten, so häufig stoßen wir, gerade im Siede des Lumieres, auf
rens« aus, daß es zum Prinzip erhebt, was - seinem denkunab- ein abgerundeteres Weltbild, als dies materialistisch zulässig ist.
hängigen Inhalt nach - dazu am wenigsten geeignet ist: den Stoff, Es gehört zum Selbstmißverständnis solcher Schriftsteller wie
den es als einheitliches Weltsubstrat gar nicht gibt, sondern nur Helvetius und Holbach, daß sie, ungebrochen optimistisch, von
als qualitativ und quantitativ bestimmte Vielheit von Stoffen. der naturgegebenen Güte und Glücksfähigkeit der Menschen
Zwar geht die metaphysische These von der alleinigen Wirklich- ausgehen. Daher ihre Tendenz, Natur als das umfassende Ganze
keit der Materie und ihrer Bewegung durch die gesamte Ge- zu verehren, dem wir Einsicht auch in sittliche Normen verdan-
schichte des Materialismus hindurch, aber sie bildet nicht deren ken. ll5 Daß diese Natur stets auch Negatives einschließt, uns
einheitliches, rein philosophisches Thema, sondern bedeutet, je' fühlbar begrenzt, bleibt den wissenschaftlich beflissenen Aufklä-
nach den geschichtlichen Tageskämpfen, höchst Verschiedenes. rern zwar nicht verborgen - man denke an La Mettries ärztliche
Zudem spielen solche auf das Weltganze sich beziehenden Sätze Zynismen -, tritt jedoch insgesamt in ihrer Anthropologie zu-
in der materialistischen Tradition eine andere Rolle als in der rück. Unbefangen verknüpfen sie Freiheit als praktisches Ziel
idealistischen. Die Materialisten erblicken in ihnen »den allge- mit theoretischem Determinismus.
meinsten und leersten Abzug aus ihren Erfahrungen, keineswegs Demgegenüber ist den materialistischen (oder doch materiali-
ein Gesetz für ihr Handeln«. 112 Werden für die meisten Idealisten stisch relevanten) Theorien des neunzehnten Jahrhunderts anzu-
theoretische Ergebnisse »um so bedeutsamer und folgenschwe-' merken, daß sie wesentlich als »existentielle Einsprache« (Kier-
rer, je allgemeiner, umfassender, abschließender, prinzipieller sie kegaard) gegen Hegels panlogistisches System entstanden sind.
sind«, so hängt für die Materialisten »der Grad, in dem allgemei- »Die geschloßne Stufenfolge der Begriffsentwicklung«, bemerkt
ne Gesichtspunkte für eine Handlung ausschlaggebend werden, Engels, »gehört bei Hegel zum System, zum Vergänglichen.«116
... jeweils von der konkreten Situation des Handelnden ab«.I1J- Die Wirklichkeit zeigt Brüche und Diskontinuitäten; sie wider-
setzt sich spekulativer Dialektik. »Regel, Ordnung und Form«
metaphysischen Systemen, in: Gesammelte Schn/ten, VIII. Band, Stuttgartl der erscheinenden Welt, heißt es in Schellings Freiheitsschrift,
Göttingen 1968, S. 82.
II°Ibid. ,I< Ibid., S. 31; cf. auch S. 32f.
115 Cf. Holbach, I. c., S. 11 f.
'" Max Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, I. c., S. 7.
112 Ibid., S. 9 f. 116 Engels an Conrad Schmidt, Brief vom 4.2. 1892, in: Marx/Engels, Werke, Band
113 Ibid., S. 10; cf. auch S. 31. 38, Berlin 1968, S. 269 (Hervorhebung von Engels). .

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dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß "im Grunde« noch ... des Willens oder der Kraft ... steht. Dem Logischen ... ist
immer "das Regellose« liegt, "als könnte es einmal wieder durch- die Intensität ebenso fremd wie die Qualität, und es ist der
brechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form fundamentale Irrtum des Panlogismus, sein Prinzip mit ... Kraft
das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses und Macht auszustatten, anstatt sich mit der List der Idee zu
zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an den Dingen die begnügen, die eine andere Macht in ihren Dienst nimmt.«122-
unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, Derart trägt Eduard von Hartmann ungewollt dazu bei, den
was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen Materialismus der extensiven Quantität durch den der intensiven
läßt, sondern ewig im Grunde bleibt. Aus diesem Verstandlosen Qualität zu ergänzen.
ist im eigentlichen Sinne der Verstand geboren.«117 Ein dem Natur verliert, gesehen aus dieser Perspektive, den Charakter des
Erkennen Vorangehendes, das weder dingliches noch logisches Eindeutigen, Positiven. Sie erweist sich als ein in sich Entzweites.
Sein ist, sondern "ein Ur- und Grundwollen, das sich selbst zu Deshalb das eigenartige Ineinander von Affirmation und Kritik
etwas macht und der Grund und die Basis aller Wesenheit ist«.llB in den materialistischen Theorien. 123 ,>Die Sinnlichkeit«, sagt
Dieses Dunkle, Irrationale" wirkt auch im Menschen; er be- Feuerbach, »ist die Quelle der Lust, aber sie ist auch die Quelle
kommt es nie ganz in den Griff, kann mithin, wie Schelling sagt, der Schmerzen, der Leiden, der Krankheite~, der besten Gegen-
"seine Selbstheit nie zum vollkommnen Aktus erheben«.1l9 So mittel gegen ... ausgelassene Lust«, weshalb, »wer die Leiden
erklärt sich die "allem endlichen Leben anklebende Traurigkeit der Menschheit ins Auge und Herz faßt, nothwendig zum Mate-
... Daher der Schleier der Schwermut, der über die ganze Natur rialisten wird ... Die Medicin, die Pathologie vor Allem, ist die
ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörbare Melancholie alles ... Quelle des Materialismus. Und diese Quelle kann leider
Lebens.«12o
durch philosophische Gründe nicht verstopft werden; denn so
Die Welt enthält, mit Bloch zu reden, ein daßhaft-intensives lange noch ... Menschen leiden, wenn auch nur Hunger und
Moment. Das Prinzip der Intensität, sagt der von Schelling und Durst, und diese Leiden nicht ... durch kategorische Imperative
Schopenhauer beeinflußte Eduard von Hartmann, ist der Inbe- geheilt werden können, so lange werden sie ... , wenn auch wider
griff von Alogischem: von "Wollen (Streben, Kraft, Initiative)« Wissen und Willen, Materialisten sc:!in.«124 Feuerbach verweist
und "Empfinden (Lust und Unlust, Gefühl)«.121 Worauf es ihm hier auf den unausrottbar pessimistischen Aspekt jedes genuinen
ankommt, ist die Einsicht, daß »Intensität nur in Wollen und Materialismus. "Wo Welt ist«, sagt er", "da ist Materie, und wo
Empfinden zur Erscheinung gelangt, aber in nichts weiterem Materie, da ist Druck und Stoß, Raum und Zeit, Schranke und
sonst . . . Insbesondere das andere Prinzip, das Logische, die Notwendigkeit.«125 Mit unseren Genüssen ist Bedürfnis, mit
Idee, die Vorstellung, zeigt nichts von Intensität. Durch diesen diesem aber »Materie, d. i. Not, Leidenschaft, Abhängigkeit,
Gegensatz zum Vorstellen wird die Einheit von Wollen und
Empfinden zu einer . . . unabweislichen. Das Nichtintensive
steht auf Seiten der logischen Idee, wie das Intensive auf Seiten 122 Ibid.
l2J Der Materialismus, sagt Horkheimer, hat stets .zwei Seiten. : »Toleranz - da
alles sein muß, wie es ist. - Protest dagegen, daß alles so ist, wie es sein muß .• (in:
I17 ScheIJing, Ober das Wesen der menschlichen Freiheit, StUttgart 1968, S. 72; Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland, herausgege-
cf. auch S. 118.
118 Ibid., S. 102.
ben von Wemer Brede, Frankfurt am Main 1974 S. 40).
11. Ibid., S. 119.
124 Feuerbach, Ober Spiritualismus und Materialismus, /zesonders in Beziehung auf
120 Ibid. die Willensfreiheit, I.c., S. 151; 159; 165.
125 Feuerbach, Das Wesen des Christentums, herausgegeben von Wemer Schuffen-
121 Eduard von Hartmann, Kategon"enlehre, Leipzig 1896, S. 67.
hauer, Band I, Ber/in 1956, S. 184.
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171
Unseligkeit verbunden«. 126 Andererseits sind Lust und Materie Glück als ein wesentlich Negatives bestimmt; es kann keine
untrennbar; jene ist »sozusagen die Freude der Maten'e an sich »dauernde Befriedigung und Beglückung« sein, sondern erlöst
selbst, die sich selbst betätigende Materie. Jede Freude ist Selbst- jeweils nur »von einem Schmerz ... , auf welchen entweder ein
betätigung, jede Lust Kraftäußerung, Energie.«127 Es handelt neuer Schmerz, oder auch languor, leeres Sehnen oder Langewei-
sich hier um einen der Natur innewohnenden, unaufgelösten le folgen muß«.13I Unmittelbar gegeben ist stets ein bestimmter
Widerspruch. Passivität und Aktivität bilden in ihr eine negative Mangel. Genuß dagegen wird nur indirekt erkannt: »durch Erin-
Einheit: »Wo keine Grenze, ... keine Not, da ist auch keine nerung an das vorhergegangene Leiden und Entbehren, welches
Qualität, keine Energie ... Nur was leiden kann, verdient zu bei seinem Eintritt aufhörte. Daher kommt es«, sagt Schopen-
existieren. . . . Ein Wesen ohne Leiden ist . . . ein Wesen ohne hauer, »daß wir der Güter und Vortheile, die wir wirklich besit-
Sinnlichkeit, ohne Materie« 128, mithin ohne reale Existenz. _ Was zen, gar nicht recht inne werden, noch sie schätzen, sondern
Glück ermöglicht, ist ebensosehr dasjenige, was Glück schmä- nicht anders meinen, als eben es müsse so seyn: denn sie beglük-
lert, ja zerstört. Die »Negation des Lebens«, heißt es bei Engels, ken immer nur negativ, Leiden abhaltend. Erst nachdem wir sie
ist »wesentlich im Leben selbst enthalten«; denken können wir es verloren haben, wird uns ihr Werth fühlbar: denn ... das Leiden
nur »mit Beziehung auf sein notwendiges Resultat, das stets im ist das Positive, sich unmittelbar Ankündigende. Daher auch
Keim in ihm liegt, den Tod .... Leben heißt Sterben.« 129 freut uns die Erinnerung überstandener Noth ... , weil solche
An diese pessimistische Seite des Materialismus ist angesichts der das einzige Mittel die gegenwärtigen Güter zu genießen ist.« 132
Leichtfertigkeit zu erinnern, mit der heute sich mancher, aus Die Negativität jedes Glücks, seine geringe Differenz zu dem
politischen Gründen, zu ihm bekennt. übersehen wird dabei gemeinhin als Unglück Empfundenen, die Erfahrung des Sinn-
sein metaphysischer Erfahrungsgehalt. Krankheit, Alter und widrigen am Weltlauf - all das trägt nach Schopenhauer zum
Tod lassen sich nicht weltanschaulich aufbereiten wie irgendwel- metaphysischen Bedürfnis des Menschen bei. Den Ausschlag
che natur- oder sozialwissenschaftlichen Ergebnisse. Materiali- aber gibt das nur ihm eigentümliche »Wissen um den Tod«,
stische Erkenntnis darf nicht zurückschrecken vor der »absolu- wodurch er recht eigentlich zum »animal metaphysicum,,133
ten Sterblichkeit, dem ihr Unerträglichen, vor dem sie sich zum wird. Sosehr freilich Metaphysik bei Schopenhauer darauf ab-
absolut Gleichgültigen wird«.130
zielt, den als »absolute Physik«134 sich darstellenden Materialis-
Eine Hinfälligkeit letzter Instanz, die sich abzeichnet und fort- mus zu relativieren, so sehr verbleibt sie in dessen Umkreis. Das
erbt in der des Glücks. Schopenhauer hat, wie später Freud, metaphysische Bedürfnis »folgt«, wie Schopenhauer betont,
»dem physischen auf dem Fuße« und entspringt der empirischen
126 Ibid., Band 11, S. 498 (Hervorhebungen von Feuerbach).
127 Ibid., S. 488 (Hervorhebungen von Feuerbach).
Einsicht in die »Endlichkeit alles Daseyns«.135 Wohl überschrei-
128 Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie, in: Kleine philosophi-
sche Schriften, herausgegeben von Max Gustav Lange, Leipzig 1950, S. 66; 67
111 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Erster Band, in: Sämtliche
(Hervorhebungen von Feuerbach).
Werke, herausgegeben von Arthur Hübscher, Band 2, Wiesbaden 1949, S. 377
12. E;gels, Dialektik der Natur, in: Marx/Engels: Werke, Band 20, Berlin 1968,
S. 554 (Hervorhebung VOn Engels). (Hervorhebung von Schopenhauer).
132 Ibid.
130 Theodor W. Adomo, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966, S. 391 f. _
1JJ Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zweiter Band, in: Sämtliche
Cf. zu dieser negativ-metaphysischen Seite materialistischen Denkens auch
Werke, Band 3, I. c., S. 176 (Hervorhebung von Schopenhauer); cf. zu Schopen-
meinen Aufsatz Adomo - ein Philosoph des realen Humanismus, in: Theodor
hauers Anthropologie auch S. 164 f.
W Adomo zum Gedächtnis, herausgegeben von Herrnann Schweppenhäuser,
1J4 Ibid., cf. S. 195.
Frankfurt am Main 1971, insbesondere S. 67-71.
135 Ibid., S. 177; 176.

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tet Metaphysik die erscheinende Natur, indem sie »zu dem in Vorstellungen im gesellschaftlichen Bewußtsein des neunzehn-
oder hinter ihr Verborgenen«: zum Weltkern vorstößt. Aber sie ten Jahrhunderts fort. Nicht nur in der Agitationsliteratur der
betrachtet ihn »nicht unabhängig von aller Erscheinung« 136, son- Büchner, Vogt und Moleschott, sondern auch und vor allem in
dern bleibt, gerade als Wesenserkenntnis, deren Interpretation. der Dichtung. »Wir wollen auf Erden glücklich sein« - so lautet
Was Kant Ding an sich nennt, ist für den - darin spekulativen _ Heines vormärzliche, linkshegelianisch gefärbte Parole. Das
Nachkantianer Schopenhauer insofern erschließbar, als es sich in Recht auf Glück soll allgemein gelten141 und bezieht sich aufs
der empirischen Welt selbst manifestiert; »herauszudeuten« ist rein Diesseitige. »Darin«, unterstreicht Theobald Ziegler,
es deshalb »aus dem Stoff, nicht aus der bloßen Form« 137 von »berührt sich der Feuerbachsche Anthropologismus mit dem
Erfahrung. Diese ist, angemessen interpretiert, zugleich das Me- Realismus des jungen Deutschland, das der Sinnlichkeit, dem
taphysische.
Fleisch, überhaupt ... der Weltwirklichkeit wieder zu ihrem
Der so (unbeschadet seiner »idealistischen Grundansicht«) in Rechte verhelfen und sie gegen alles Asketische schützen wollte;
Schopenhauers Willenslehre hineinspielende Materialismus ist für diese Rehabilitationstendenzen schuf Feuerbach die philoso-
bezüglich der Glücksfrage resignativ; er geht, stoisch, davon aus, phische Unterlage.«142 Wobei, wäre hinzuzufügen, in den politi-
daß unser Leiden dem - prinzipiell unaufhebbaren - "Mißver- schen Kämpfen der vierziger Jahre lediglich die affirmative Seite
hältniß zwischen unseren Wünschen und dem Weltlauf«138 ent- seiner Philosophie wirksam wurde. Lukics spricht denn auch
stammt, in den wir uns folglich schicken müssen. 139 Der - viel- von Tönen »einer bedingungslosen, sensualistisch-materialisti-
deutige - Einklang von Mensch und Natur ist hier anders akzen- schen Begeisterung«143 Heines für den revolutionären Sozialis-
tuiert als bei den Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts; der mus, den Marx zu jener Zeit lapidar »die Wahrheit des Dies-
•• Drang zum Daseyn und Wohlseyn«, die »Haupt- und Grund- seits« 144 nennt. Heine sieht sie wesentlich verkörpert in »Zucker-
triebfeder im Menschen«140, ist schlechthin antimoralisch: Phy- erbsen für jedermann«; sind diese reichlich vorhanden, so kann
sis und Moral gehören unversöhnbaren Sphären an. man den christlichen Himmel getrost den »Engeln und den
Während die pessimistischen, willensmetaphysischen Denker _ Spatzen«145 überlassen.·- Ähnlich ist, noch in unserem Jahrhun-
aus heutiger Sicht - vielfach Elemente einer weiterführenden dert, die Haltung Brechts. Auch ihm löst sich, »ganz von selbst«,
Kritik (und Korrektur) des älteren, naturwissenschaftlichenMa- das »Glücksproblem« in der Zeile: »Nur wer im Wohlstand lebt,
terialismus (einschließlich seiner Ethik) liefern, leben dessen lebt angenehm«.l46

136 Ibid., S. 203.


137 Ibid., S. 204.
141 Ein Postulat, das in der faktischen Universalisierungmenschlicher Beziehungen
138 Ibid., S. 173.
im kapitalistischen Zeitalter gründet.
139 Das stoische Ideal, sagt Schopenhauer (ibid., S. 174), ist .kein glücklicher Zu- 1<2 Theobald Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen des XIX. Jahrhun-
stand, sondern nur das gelassene Ertragen der Leiden, die man als unvermeidlich
derts, Berlin 1910, S. 204.
vorhergesehn hat. Doch liegt Geistesgröße und Würde darin, daß man schwei- 143 Georg Lukacs, Heinrich Heine als nationaler Dichter, in: Deutsche Realisten des
gend ... das Unvermeidliche trägt, in melancholischer Ruhe, sich gleich blei-
19. Jahrhunderts, Berlin 1953, S. 110.
bend, während Andere vom Jubel zur Verzweiflung und von dieser zu jenem 14' Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx/En-
übergehn.« Dennoch ist die stoische Moral, bar jedes transzendenten Zwecks,
gels, Werke, Band I, Berlin 1957, cf. S. 379.
für Schopenhauer eine Abart des Eudämonismus, die an die Fragestellung seiner 145 Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, in: Sämtliche Schriften, herausgege-
Erlösungslehr~ nicht heranreicht.
ben von Klaus Briegleb, Band 4, München 1971, cf. S. 578.
140 Schopenhauer, Preisschrift über die Grundldge der Moral, in: Sämtliche Werke,
146 Bertolt Brecht, Die Ballade vom angenehmen Leben, in: Hundert Gedichte,
Band 4, L c., S. 196.
Berlin 1958, S. 13.
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175
Den meisten. Menschen dieser Erde fehlt es noch immer am sie sitzen gleichsam weniger fest. Kahle Physis setzt sich durch.
Notwendigsten. Es ist deshalb verwerflich, einem Hungernden Offenbar haben die modernen Sozialutopisten, seit Rousseau alle
niedrigen Materialismus und mangelndes Verständnis für die übel Institutionen anlastend, die Plastizität und Veränderbarkeit
sogenannten »höheren Werte« vorzuwerfen. Andererseits hat der menschlichen Natur überschätzt. Umgekehrt rügt Marx mit
sich selbst dort, wo längst die Blöße bedeckt ist, die Würde nicht Recht die ungeschichtliche, damit ideologische Betrachtungs-
von selbst ergeben. Der krasse, die Lebenspraxis der fortge- weise des »gemeinen Bürgerverstandes« 149 seiner Zeit. So »unter-
schrittenen Industrieländer des heutigen Westens beherrschende stellt« Benthams Utilitarismus »den modernen Spießbürger, spe-
Materialismus dürfte seine geschichtlich produktiven Zeiten ziell den englischen . .. >als den Normalmenschen. Was diesem
schon hinter sich haben. Das massenhaft verbreitete Glück von Kauz von Normalmenschen und seiner Welt nützlich, ist an und
der Stange ist überaus fragwürdig. Ihm entspricht ein Kultus des für sich nützlich. An diesem Maßstab beurteilt er dann Vergan-
Lebensstandards, der die Anbetung nackter Macht seitens der genheit, Gegenwart und Zukunft.«150 Ebensowenig haltbar i~t
Herrschenden oft noch übertrifft. Mußte man vor kurzem noch, freilich ein schrankenloser Relativismus. Sicher variiert Glück im
wenn fetischisierter Geist gegen den »Materialismus« der be- Bewußtsein der Menschen nach Alter, Geschlecht, körperlichem
gehrlichenMenge ausgespielt wurde, sich zu eben diesem Vor- Befinden und Glücksfähigkeit, die sich kultivierten Sinnen: der
wurf bekennen, so steht man heute einer komplexeren Situation durch Reflexion gebrochenen Natur verdankt. Daß zum al geisti-
gegenüber. Das gilt insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses ge Bildung eines Individuums nach ihrem Grad wie ihren Inhal-
natürlicher und sozialer Determinanten des Glücks. Die geläufi- ten historisch-klassenmäßig bedingt ist, leuchtet unmittelbar ein.
ge Redeweise, Geld allein mache nicht glücklich, hat einiges für Dennoch ist solche Relativität objektiver zu verstehen, als dies
sich. Zwar rechnet auch Schopenhauer, darin sehr nüchtern, ein gemeinhin geschieht. Es gibt gesamtgesellschaftliche Rahmenbe-
»sorgenfreies Auskommen« unter die unerläßlichen Vorausset- dingungen (zu ihnen zählt auch der Stand medizinischer Ein-
zungen von Glück. Wesentlicher ist ihm aber die Gesundheit, ist sicht), die in einem gegebenen, längerfristigen Zeitabschnitt
doch »unsere animalische Natur ... die Basis unsers Wesens und deutlich umreißen, was die meisten Menschen als Glück oder
folglich ... unsers GlÜcks«.J47 Andererseits sind Krankheiten Unglück empfinden. Vollends tritt der spezifisch geschichtliche
häufig genug wirtschaftlich bedingt und wirken sich, je nach der Faktor zurück, wenn wir von den zarten Verästelungen des
finanziellen Lage des Betreffenden, recht verschieden aus. Dabei Moralischen übergehen zum Physischen. 151
ist es freilich, was schon Marx wußte, schwierig auseinanderzu-
149 Ibid.
halten> was der »menschliche[n] Natur im allgemeinen« und was 150 Ibid., S. 640f. (Hervorhebungen von Marx). - Ähnlich argumentieren die Be-
der »in jeder Epoche historisch modifiziertern] Menschenna- gründer des Marxismus schon in der Deutschen Ideologie gegen den "abstrak-
tur« 148 zugeschrieben werden muß. Allgemeines und Besonderes ten« Menschen Feuerbachs. Die Frage wurde in der marxistischen Diskussion
sind hier unentwirrbar ineinander verwoben. Ersteres (als vorge- immer wieder erörtert. Bloch etwa, der den Menschen als "ziemlich umfängli-
ches Triebwesen« betrachtet, hält sich (gegenüber Freud) an die "Selbsterhal-
schichtliche Bedingung aller Geschichte) ist »historistisch« un- tung .. als "verläßlichsten Grundtrieb .. , wobei er entschieden auf die "geschicht-
auflösbare Natur. Menschliche Extremsituationen zeigen, wie liche Begrenztheit .. , den "geschichtlichen Wandel der Triebe, auch des Selbst-
rasch ihre soziokulturellen überformungen abgebaut werden: erhaltungstriebs .. , verweist (Das Prinzip Hoffnung, Band 1, Berlin 1954, S. 60f.,
78f.; 80f.).
151 Andererseits - daran zeigt sich abermals die dialektischeYertracktheit der Frage
147 Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, in: Sämtliche Werke, Band 5, - betont Marx, wie sehr Sozialgeschichte selbst in physiologische Sachverhalte
Wiesbaden 1946, S. 377. hineinragt: "Hunger ist Hunger, aber Hunger, der sich durch gekochtes, mit
14. Marx, Das Kapital, Band I, Berlin 1955, S. 640. Gabel und Messer gegeßnes Fleisch befriedigt, ist ein andrer Hunger, als der

176 177
Wenn wir jetzt versuchen, den Ort des Glücks innerhalb der ... gerichtet, so daß von den Lebensbedingungen dieser Indivi-
Lehre von Marx anzugeben (er hat es als isolierte Kategorie nicht duen abstrahiert und die Genußtheorie dadurch in eine fade und
behandelt), so ist zu berücksichtigen, daß Marx auch in dieser heuchlerische Moraldoktrin verwandelt wurde .... Der Zusam-
Frage - kritisch - an grundlegende, vom deutschen Idealismus menhang des Genießens der Individuen jeder Zeit mit den Klas-
erreichte Einsichten anknüpft. Daraus ergibt sich, worauf Mar- senverhälmissen ... , in denen sie leben, die Borniertheit des
cuse nachdrücklich verwiesen hat, eine entschiedene Distanz der bisherigen, außer dem wirklichen Lebensinhalt der Individuen
materialistischen Dialektik zum antiken wie neuzeitlichen He- und zu ihm in Gegensatz stehenden Genießens ... , konnte
donismus. 152 »Die Philosophie des Genusses«, schreiben Marx natürlich erst aufgedeckt werden, als die Produktions- und Ver-
und Engels in der Deutschen Ideologie, »war nie etwas andres als kehrsbedingungen der bisherigen Welt kritisiert werden konn-
die geistreiche Sprache gewisser zum Genuß privilegierter gesell- ten, d. h. als der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat
schaftlicher Kreise. Abgesehen davon, daß die Weise und der ... sozialistische Anschauungen erzeugt hatte. Damit war aller
Inhalt ihres Genießens stets durch die ganze Gestalt der übrigen Moral, sei sie Moral der Askese oder des Genusses, der Stab
Gesellschaft bedingt war und an allen ihren Widersprüchen litt, gebrochen.« 153
wurde diese Philosophie zur reinen Phrase, sobald sie einen Durchschaut wird hier das ideologische Moment der Reduktion
allgemeinen Charakter in Anspruch nahm ... Sie sank ... herab von Glück auf Genuß. Sofern jedoch der Hedonismus, was ihm
zur erbaulichen Moralpredigt, zur sophistischen Beschönigung Marcuse attestiert, »materialistischen Protest«, ein »sonst ver-
der vorhandenen Gesellschaft, oder sie schlug in ihr Gegenteil femtes Stück menschlicher Befreiung« 154 enthält, ist er sachlich
um, indem sie ... unfreiwillige Askese für Genuß erklärte. Die mit der Marxschen Theorie verbunden. Es gelingt ihm freilich
Philosophie des Genusses kam auf ... mit ... der Umwandlung nicht, vorzustoßen zum Begriff einer konkret-gesellschaftlichen
des feudalen Landadels in den lebenslustigen und verschwende- Objektivität des Glücks. »Dem Hedonismus«, betont Marcuse,
rischen Hofadel unter der absoluten Monarchie. Bei diesem Adel »bleibt das Glück ein ausschließend Subjektives; das besondere
hat sie noch mehr die Gestalt unmittelbarer naiver Lebensan- Interesse des einzelnen wird so, wie es ist, als das wahre Interesse
schauung ... Zur eigentlichen Philosophie wird sie erst unter behauptet und gegen jede Allgemeinheit gerechtfertigt.« Darin
den Händen einiger Schriftsteller der revolutionären Bourgeoi- drückt sich weniger ein theoretisch korrigierbarer Mangel aus als
sie, die einerseits an der Bildung und Lebensweise des Hofadels die historische "Gebundenheit« der hedonistischen Philosophie
teilnahmen und andererseits die auf den allgemeineren Bedin- »an den Individualismus der Konkurrenz«. Ihr »Glücks begriff
gungen der Bourgeoisie beruhende allgemeinere Anschauungs- kann nur durch die Abstraktion von der Allgemeinheit gewon-
weise dieser Klasse teilten. Sie wurde deshalb von beiden Klas- nen werden«.155 Die Hedonisten sind außerstande, über ihren
sen, obwohl von ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus, ak- Relativismus hinauszugelangen und das Glücksproblem gesamt-
zeptiert. War beim Adel diese Sprache noch ganz auf den Stand gesellschaftlich: unter der Kategorie objektiver Wahrheit zu be-
und die Lebensbedingungen des Standes beschränkt, so wurde trachten.
sie von der Bourgeoisie verallgemeinert und an jedes Individuum Demgegenüber haben Kant und Hegel, zunächst mit Recht, das
Beschränkte, ja Widervernünftige an diesem Begriff von Glück
rohes Fleisch mit Hilfe von Hand, Nagel und Zahn verschlingt .. (Zur Kritik der
politischen Okonomie, Berlin 1951, S. 246). .53 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie. Berlin 1953, S. 441; 442 (Hervorhebung
'52 Cf. hierzu Herbert Marcuses lehrreiche Studie Zur Kritik des Hedonismus, in: von Marx und Engels). '
Zeitschrift für Sozialjorschung, Jahrgang VII/1938, Reprint München 1970, .51 Marcuse, I. c., S. 57.
S.55-87. 155 Ibid., S. 61.

178 179
hervorgehoben, der das Individuum mitsamt seiner - bürgerlich dieser ... Geschäftsführer des Weltgeistes ... , so ist es kein
vorgeprägten - Vereinzelung und Zufälligkeit hypostasiert. An- glückliches gewesen. Zum ruhigen Genusse kamen sie nicht, ihr
dererseits enthält ihre Idee vernünftiger Allgemeinheit nicht nur ganzes Leben war Arbeit und Mühe, ihre ganze Natur war nur
die Kritik daran, sondern insofern die völlige "Opferung des ihre Leidenschaft. Ist der Zweck 'erreicht, so fallen sie, die leeren
Individuums«, als dieses in jene Allgemeinheit bloß »als vernünf- Hülsen des Kernes, ab.«160 Soweit der weltgeschichtliche Pro-
tiges Wesen eingehen sollte und nicht mit der empirischen Man- zeß, nach seiner subjektiven Seite betrachtet, »in Gestalt des
nigfaltigkeit seiner Bedürfnisse und Fähigkeiten«. 156 Glück - das Naturwesens, des Naturwillens« auftritt: als Bedürfnis, Trieb,
ist ein Grundzug der Kantischen Moralphilosophie - ist mit Leidenschaft und partikuläres Interesse, ist die damit einherge-
Willkür und Beliebigkeit behaftet; es widerspricht dem obersten hende,»unermeßliche Masse von ... Thätigkeiten« bloßes In-
Prinzip menschlichen Handelns: »Worin nämlich jeder seine strument und Mittel »des Weltgeistes, seinen Zweck zu vollbrin-
Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf ... sein besonde~es gen, ihn zum Bewußtseyn zu erheben und zu verwirklichen: und
Gefühl der Lust und Unlust an, und selbst in einem und demsel- dieser ist nur ... zu sich selbst zu kommen, und sich als Wirk-
ben Subjekt auf die Verschiedenheit der Bedürfnisse, nach den lichkeit anzuschauen«.161 Entscheidend für Hegel bleibt, wie
Abänderungen dieses Gefühls, und ein subjektiv notwendiges gesagt, daß sich der »reine letzte Zweck der Geschichte« nicht im
Gesetz (als Naturgesetz) ist also objektiv ein gar zufälliges prak- unmittelbaren »Inhalt des Bedürfnisses und Interesses« des Indi-
tisches Prinzip, das ... niemals ein Gesetz abgeben kann, weil es viduums erschöpft; »und indem dieses bewußtlos darüber ist«,
... nicht auf die Form der Gesetzmäßigkeit, sondern lediglich setzt sich das »Allgemeine~< dennoch in seinen »besonderen
auf die Materie ankommt, nämlich ob und wie viel Vergnügen ich Zwecken« 162 durch. Hegel vergleicht dieses im einzelnen bewuß-
in der Befolgung des Gesetzes zu erwarten habe.«157 Ein Bruch te, hinsichtlich des - jeweiligen - Gesamtresultats dagegen unbe-
zwischen individuellem Glück und allgemeiner Vernunft, der wußte Erzeugen von Geschichte mit einem Hausbau, bei dem
auch die Geschichtskonstruktion Hegels durchherrscht. Es ist verschiedene Materialien, »ihrer Natur gemäß« verwendet, bei-
ihm zufolge die »tiefe Aufgabe der Metaphysik«, im vollen Be- tragen »zu einem Product, wodurch sie beschränkt werden«.163
wußtsein dieses Bruchs (und ohne ihn abzumildern) die »Verei- Indem sich die individuellen Leidenschaften und Zielsetzungen
nigung des Allgemeinen, an und für sich seyenden überhaupt, aneinander abarbeiten (wie dies der ökonomischen Lehre des
und des Einzelnen, ... Subjectiven« am »Gange der Weltge- Liberalismus entspricht), »bringen« sie »das Gebäude der
schichte selbst« 158 darzutun. Deren Studium ergibt freilich, daß menschlichen Gesellschaft hervor, worin sie dem Rechte, der
die »Perioden des Glücks« nur »leere Blätter in ihr« sind: »Peri- Ordnung die Gewalt gegen sich verschafft haben«.164
oden der Zusammenstimmung, des fehlenden Gegensatzes«.159 Das Allgemeine - darin terminiert Hegels Geschichtsphiloso-
öffentliche, geschichtsbewegende Wirksamkeit und Glück phie - betätigt und entfaltet sich vermittels der Negation des
schließen einander aus. Letzteres bleibt eine Sache des »welthi- Besonderen; es ist.diesem immanent und transzendent: »Nicht
storischen Individuen«, wie Hegel sie nennt, weithin versagten die allgemeine Idee ist es, welche sich in Gegensatz und Kampf
Privatlebens. »Werfen wir .... einen Blick auf das Schicksal ... begiebt; sie hält sich ... unbeschädigt im Hintergrund. Das

156 Ibid., S. 55. 160 Ibid., S. 61.


157 Kam, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke, Band VII, Wiesbaden 1956, 161 Ibid., S. 54.
S. 133 f. (Hervorhebungen von Kam). 162 Ibid., S. 54f.

IS8 Hege!, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, I. c., S. 55; S. 54. 16l Ibid., S. 56.
15. Ibid., S. 56. '''' Ibid. (Hervorhebung von Hege!).

180 181
ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften gramm - allein die historische Vernunft des Abstrakt-Allgemei-
für sich wirken läßt, wobei das, was durch sie sich in Existenz nen gelten läßt. Und doch zeichnet sich in Hegels Polemik gegen
setzt, einbüßt und Schaden leidet .... Das Particulare ist mei- den Eudämonismus die - auch materialistisch erhebliche - Ein-
stens zu gering gegen das Allgemeine: die Individuen werden sicht ab, daß menschliches Glück mehr sein sollte als »persön-
aufgeopfert und preisgegeben.« 165 Wohl gesteht Hegel dem Indi- liche Zufriedenheit; es weist seinem eigenen Anspruch nach über
viduum, dessen Glück dem »Reiche der Zufälligkeit« 166 überant- . .. blosse Subjektivität hinaus«.172 Marx bekämpft daher an
wortet ist, sofern seine Handlungen dem weltgeschichtlichen Hege! weniger, daß er vernünftige, geschichtlich vorhandene
Gesamtzweck entsprechen, an ihm partizipieren, eine gewisse Allgemeinheit bloßen Velleitäten einzelner entgegensetzt. Was
Würde zu. Er denkt dabei an die »einfache Region ... der er beanstandet, ist dies, daß die im Medium des spekulativen
subjectiven Freiheit«, den »Heerd des Wollens, Entschließens Begriffs verharrende Dialektik von Besonderem und Allgemei-
und Tuns«, den »abstracte[n] Inhalt des Gewissens«: sie bleiben nem sich dazu hergibt, eine repressive, das Individuum mißach-
dem »lauten Lärm der Weltgeschichte«167 entzogen. »Im Allge- tende Wirklichkeit zu rechtfertigen. Dabei ist ihm ebenso klar
meinen«, beeilt er sich jedoch hinzuzufügen, »ist aber ... festzu- wie Hegel, daß der bisherige Geschichtsverlauf sich mit eherner
halten, daß was in der Welt als Edles und Herrliches berechtigt Objektivität gegenüber seinen Akteuren, den Individuen und
ist, auch ein Höheres über sich hat. Das Recht des Weltgeistes Gruppen, durchgesetzt hat. Nur bewertet Marx diesen Sachver-
geht über alle besonderen Berechtigungen.« 168 Hegel billigt denn halt völlig anders. Hegels Konzeption des unaufhaltsamen,
auch »substantielles Leben« dem Individuum nur in dem Maße durch die Köpfe der Menschen hindurch- und gleichzeitig über
zu, wie es »das Wesentliche selbst zum Zwecke seines Daseyns sie hinweggehenden »Weltgeistes« ist für Marx kein bloß philo-
hat«.169 Jenes aber ist der Staat: das sittliche Ganze, in dem allein sophischer (deshalb wiederum philosophisch korrigierbarer) Irr-
»positive Wirklichkeit und Befriedigung«17o individueller Frei- tum, sondern wahrer Ausdruck eines falschen, aufzuhebenden
heit angetroffen werden. Im Staat sind, nach Hegels Dekret, »der Zustands; sie verklärt den noch immer unbeherrschten, blind-
objective und subjective Wille ... ausgesöhnt und ein und das- naturwüchsigen Verlauf der Geschichte. Der »menschliche Fort-
selbe ungetrübte Ganze«. Dessen »Sittlichkeit«, betont er, ist schritt«, sagt Marx, glich bis heute »jenem scheußlichen heidni-
nicht neuzeitlich zu verstehen, das heißt als »die moralische, die schen Götzen ... , der den Nektar nur aus den Schädeln Erschla-
reflectierte, wobei ... eigne überzeugung waltet«, sondern als gener trinken wollte« .173 Daß überhaupt Fortschritt, obschon im
»die wahre und antike«, die »darin wurzelt, daß Jeder in seiner Gegensatz zu individuellem Glücksverlangen, stattgefunden hat
Pflicht steht« .171 - davon ist Marx überzeugt. Die allgemeine, sich historisch Bahn
Ein fragwürdiger Idealismus, der das Glück der Individuen zu brechende Vernunft hat »immer existiert«, weshalb auch der
einem Unwirklichen herabsetzt und - entgegen seinem Pro- Gesellschaftskritiker Marx zufolge »aus den eigenen Formen der
existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen
165 Ibid., S. 63 (Hervorhebungen von Hegel). und ihren Endzweck entwickeln« kann. »Er unterstellt«, anders
I ..Ibid.
gesagt, »überall die Vernunft als realisiert. Er gerät aber ebenso
"7 Ibid., S. 68.
'" Ibid., S. 68 f.·
überall in den Widerspruch seiner ideellen Bestimmung mit sei-
16. Ibid., S. 70.
17°Ibid.
172 Marcuse, I. c., S. 56.
171 Ibid., S. 71. - Cf. hierzu auch die Studie von Kar! Heinz Haag, Philosophischer 173 Marx, Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien. in: Marxl
I dealismlls, Frankfurt am Main 1967, S. 38 f. Engels Allsgewählte Schriften. Band I. Berlin 1966, S. 330.
182 183
nen realen Voraussetzungen.« 174 Diese belehren darüber, daß die gegen die moderne Welt, wo die Produktion als Zweck des
in ihnen existierende Vernunft noch nicht »in der vernünftigen Menschen und der Reichtum als Zweck der Produktion er-
Form«175 vorliegt. Es mag angehen, davon zu sprechen, daß sich scheint.«179 Marx zeigt jedoch, daß gleichwohl ein potentiell
die weltgeschichtliche Vernunft, unbekümmert um menschli- tiefgreifender, freizusetzender Fortschritt stattgefunden hat: »In
ches Leiden, durchsetzt. Das »allgemeine Glück« ist jedoch, wie fact ... , wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird,
Marcuse anmerkt, »eine sinnlose Phrase«, sofern es »getrennt« was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch
gedacht wird »von dem Glück der Individuen«.176 erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse,
Damit ist Marxens doppelte Frontstellung gegen den Hedonis- Produktivkräfte ... der Individuen? Die volle Entwicklung der
mus und dessen idealistische Kritiker bezeichnet. Hypostasieren menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der soge-
diese eine vernünftige Allgemeinheit unter Abstraktion von den nannten Natur sowohl, wie seiner eignen Natur? Das absolute
besonderen Bedürfnissen und Anlagen der Menschen, so will Herausarbeiten . . . aller menschlichen Kräfte als ... Selbst-
jener, was nur seine Ohnmacht offenbart, mit »der Idee des zweck ... ?«180 Seiner Warenform entkleidet, wäre der gesell-
Glücks ... die Entfaltung und Befriedigung des Individuums als schaftliche Reichtum ein transparentes Ganzes »in der absoluten
Ziel innerhalb einer anarchischen und elenden Realität festhal- Bewegung des Werdens« 181; er ginge hervor aus dem von selbst-
ten«.177 Beide Konzeptionen waren in der bisherigen Geschichte bewußten, assoziierten Individuen beherrschten Lebens-
unvereinbar. prozeß.
Einheit und Differenz von »existierender« und »vernünftiger In den Kategorien der bürgerlichen ökonomie dagegen stellt
Form« der Vernunft bilden denn auch das unter dem Aspekt der sich »diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfrem-
Glücksfrage entscheidende Thema der Marxschen Kritik der dung« dar, »die Niederreißung aller bestimmten einseitigen
politischen ökonomie. Die Vorarbeiten zum Kapital enthaltep Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äu-
dazu wesentliche, bislang kaum beachtete Gedanken. Marx un- ßeren Zweck. Daher erscheint einerseits die kindische alte Welt
tersucht hier den Widerspruch, der dem Reichtum in der entfal- als das Höhere. Andrerseits ist sie es in alledem, wo geschloßne
teten bürgerlichen Gesellschaft innewohnt. Jener ist »einerseits Gestalt ... und gegebne Begrenzung gesucht wird. Sie ist Befrie-
... verwirklicht in Sachen, materiellen Produkten, denen der digung auf einem bornierten Standpunkt; während das Moderne
Mensch als Subjekt gegenübersteht; andrerseits als Wert ist er unbefriedigt läßt, oder wo es in sich befriedigt erscheint, gemein
bloßes Kommando über fremde Arbeit . . . In allen Formen ist.« 182 Marx begreift die entschieden zivilisatorische Rolle des
erscheint er in dinglicher Gestalt, sei es Sache, sei es Verhältnis neuzeitlichen Kapitalverhältnisses; er sieht jedoch auch, daß
vermittelst der Sache, die außer und zufällig neben dem Individu- seine »universelle Tendenz« zugleich gezügelt wird durch seine
um liegt.«178 Umgekehrt wird dieses zum Moment anonymer »besondre Beschränktheit«.183 Allseitigem Wachstum menschli-
Prozesse herabgesetzt. »So scheint die alte Anschauung, wo der cher Mittel und Möglichkeiten entspricht - negativ - »ein System
Mensch ... als Zweck der Produktion erscheint, erhaben zu sein der allgemeinen ... Nützlichkeit, als dessen Träger die Wissen-
schaft ... so gut erscheint, wie alle physischen und geistigen
m Marx, Briefe aus den -Deutsch-Französischen Jahrbiichern-, in: Marx/Engels,
Werke, Band 1, I. c., S. 345 (Hervorhebung von Marx). 179 Ibid.
175 Ibid. IBO Ibid.
176 Marcuse, I. c., S. 61. 181 Ibid.
177 Ibid. 182 Ibid., S. 387f. (Hervorhebung von Marx).
178 Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen ökonomie, Berlin 1953, S. 387. 1B3 Ibid., S. 314.

184 185
Eigenschaften, während nichts als An-sieh-Höheres, Für-sich- ökonomen, dessen "sentimentale Gegner« übersehen, daß
selbst-Berechtigtes ... außer diesem Zirkel der gesellschaftli- "Produktion um der Produktion halber nichts heißt ... als ...
chen Produktion und Austauschs erscheint«.184 Die Marxsche- Entwicklung des. Reichtums der menschlichen Natur als Selbst-
von Hegel inspirierte - Utopie besteht in der Hoffnung, es werde zweck. Stellt man ... das Wohl der einzelnen diesem Zweck
den Menschen gelingen, aus diesem Zirkel herauszutreten: den gegenüber, so behauptet man, daß die Entwicklung der Gattung
Widerspruch zwischen der bürgerlich beschränkten Form gesell- aufgehalten werden muß, um das Wohl der einzelnen zu sichern
schaftlichen Reichtums und seinem - totalen - "Begriff«, seiner ... Daß diese Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch,
"innerlichen Allgemeinheit«185 geschichtlich zu lösen. Die uni- obgleich sie sich zunächst auf Kosten der Mehrzahl der Men-
verselle, dem Kapital innewohnende Dynamik, betont Marx, schenindividuen und ganzer Menschenklassen macht, schließlich
»findet Schranken an seiner eignen Natur, die ... zu seiner diesen Antagonismus durchbricht und zusammenfällt mit der
Aufhebung durch es selbst hintreiben«.186 Entwicklung des einzelnen Individuums, daß also die höhere
Die dialektische Wahrheit der Geschichte besteht für die Marx- Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen
sehe Theorie darin, daß die - zunächst - kapitalistisch vermittelte Prozeß erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden,
Universalität der menschlichen Wesenskräfte sich als ein "An- wird nicht verstanden.« 190
sich-Höheres«, "Für-sich-selbst-Berechtigtes« erweist; daß, an- Verschweigen wir nicht, daß diese Sätze, so aufschlußreich sie für
ders gesagt, die "gegensätzliche Form« der gesellschaftlichen das Verständnis der letzten Intentionen Marxens sind, wesent-
Evolution die "realen Bedingungen ihrer eignen Aufhebung«187 liche Fragen offenlassen. Sie zeugen von der Zwiespältigkeit der
schafft. Bisher war für den Fortschritt - "das Herausarbeiten der Marxschen Beziehung zu Hege!. Dessen Geschichtsphilosophie
Produktivkräfte, des allgemeinen Reichtums« und" Wissens« - bleibt zumal für den reifen Marx verbindlicher, als man ange-
der Preis zu zahlen, "daß das arbeitende Individuum selbst sich sichts der heftigen Hegel-Kritik im Frühwerk annehmen
entäußert; zu den aus ihm herausgearbeiteten nicht als den Be- möchte .. Der bisherige Geschichtsverlauf war unvermeidlich,
dingungen seines eignen, sondern fremden Reichtums und seiner weil notwendig. Den (materialistisch immerhin berechtigten)
eignen Armut sich verhält«.188 Darin drückt sich jedoch keine Zweifel daran zählt Marx souverän - wie schon sein idealistischer
ewige Notwendigkeit aus. Marx pflichtet deshalb in den Theo- Lehrmeister - zu den "erbaulichen Betrachtungen«, deren "Un-
rien über den Mehrwert Ricardo bei, wenn dieser (ehrlich über- fruchtbarkeit« 191 auf der Hand liegt. Freilich trennt ihn von
zeugt von der Unübertrefflichkeit kapitalistischer Produktions- Hegels fragwürdigem, jeder Utopie abholdem Realismus ein
weise) die »Produktion um der Produktion halber« wie über- wichtiger Gedanke. Die "höhere Entwicklung der Individuali-
haupt die "Entwicklung der Produktivkräfte« zum "Grundprin- tät« wird zwar "durch einen historischen Prozeß erkauft ... ,
zip«189 seines Denkens erhebt. Marx verteidigt den englischen worin die Individuen geopfert werden«; denn die "Vorteile der
Gattung« setzen sich zunächst "auf Kosten der Vorteile von
'84 Ibid., S. 313 (Hervorhebungen von Marx). Individuen«l92 durch. Dabei muß es jedoch nicht bleiben. Marx
lB5 Ibid., S. 181. - Cf. hierzu auch Wenier Post/AlfredSchmidt, Was ist Materialis- ist - im Gegensatz zu Hegel - nicht von vornherein auf das
mus?, München 1975, S. 87-93. Allgemeine als die substantiellere, alles Einzelne letztlich in sich
186 Marx, Grundrisse der Kn'tik der Politischen Okonomie,l.c., S. 313f.
187 Ibid., S. 440.

'BS Ibid. (Hervorhebungen von Marx). '90 Ibid., S. 11 (Hervorhebungen von Marx).
'89 Marx, Theorien über den Mehrwert, in: Marx/Engels, Werke, Band 26.2,Berlin ,n Ibid.
1967, S. 111; 110. 192 Ibid.

186 187
auflösende Wirklichkeit vereidigt. Seine Geschichtskonzeption strakten« Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts, daß er
unterstellt, daß der» Konflikt der individuell-sinnlichen Existenz sich damit begnügt, »dem Menschen ... statt des christlichen
mit der Ganungsexistenz des Menschen«193 in absehbarer Zu- Gottes die Natur ... als Absolutes«198 entgegenzustellen, so
kunft aufgehoben wird. Marx verwirft zwar die idealistische ergänzt Marx ihn (in der Sprache Hegels) dahingehend, daß
Abgeschlossenheit der Hegelschen Dialektik, hält aber an ihr solcher »Naturidolatrie« in der bürgerlichen Praxis ein rück-
selbst insofern fest, als er annimmt, daß die »Entwicklung ... der sichtsloser Herrschaftswille entspricht: »Die Natur wird ... rein
Gattung Mensch, obgleich sie ... zunächst auf Kosten der ... Gegenstand für den Menschen, rein Sache der Nützlichkeit; hört
Menschenindividuen« stattfindet, »schließlich diesen Antago- auf als Macht für sich anerkannt zu werden; und die theoretische
nismus durchbricht und zusammenfällt mit der Entwicklung des Erkenntnis ihrer selbständigen Gesetze erscheint ... nur als List,
einzelnen Individuums«. Marx schwebt, mit anderen Worten, um sie ... menschlichen Bedürfnissen, sei es als Gegenstand des
ein gesellschaftlicher Zustand vor, der allgemeine Vernunft Konsums, sei es als Mittel der Produktion zu unterwerfen.« 199
(Wachstum der Produktivkräfte, Herrschaft über Natur, ratio- Demgegenüber zeichnen sich bei Marx Umrisse eines qualitativ
nale Organisation der menschlichen Lebensverhältnisse) mit den neuen - für sein Verständnis der Glücksproblematik entschei-
besonderen Glücksansprüchen der Individuen versöhnt. 194 denden - Begriffs menschlicher Praxis ab. Soll diese künftig auch
Diese sollen von jener nicht länger »überlistet« werden. - Glück in ihrer Urform: als materielle Produktion Wesenszüge freien,
ist konkrete Freiheit; sein Begriff wird in der Marxschen Theo- künstlerischen Gestaltens annehmen, so ist dies für Marx nur
rie, so versteht sie Marcuse, »Teil der allgemeinen, objektiven dadurch möglich, »daß 1) ihr gesellschaftlicher Charakter gesetzt
Wahrheit, die für alle Individuen gilt, sofern ihrer aller Interesse ist, 2) daß sie wissenschaftlichen Charakters, zugleich allgemeine
darin aufgehoben ist«.195 Arbeit ist, nicht Anstrengung des Menschen als bestimmt dres-
In Marx vereinigt sich das bürgerliche Pathos seines Jahrhun- sierter Naturkraft, sondern als Subjekt, das in dem Produktions-
derts: die Entfesselung der Produktivkräfte mit der humanisti- prozeß nicht in bloß natürlicher, naturwüchsiger Form, sondern
schen Idee einer »menschliche[ n] Kraftentwicklung, die sich als als Naturkräfte regelnde Tätigkeit erscheint«.2°O Wohl wäre
Selbstzweck gilt«. 196 Eben dies unterscheidet seine Lehre von der selbst unter solchen Bedingungen das »Maß der Arbeit ... äu-
positivistischen Sozialreligion des Ingenieurs, wie sie der Saint- ßerlich gegeben ... durch den zu erreichenden Zweck« und die
Simonismus vor ihm entworfen hat. Das von ihm und Engels ins zu überwindenden >>Hindernisse<<.201 Aber »diese überwindung
Auge gefaßte Ziel einer »Versöhnung der Menschheit mit der von Hindernissen« ist für Marx, auch darin ein Geistesverwand-
Natur und mit sich selbst« 197 ist gleichweit entfernt vom (häufig ter Nietzsches, »an sich Betätigung der Freiheit«. Zu ihr gehört-
naiven) Naturkultus der Aufklärer wie davon, Natur unter dem das ist geschichtsphilosophisch entscheidend -, daß »die äußren
Aspekt bloßer Utilität zu betrachten. Kritisiert Engels am »ab- Zwecke den Schein bloß äußrer Naturnotwendigkeit abgestreift
erhalten und als Zwecke, die das Individuum selbst erst setzt,
19J Marx, ZurJudenfrage, in: Marx/EngeIs, Werke, Band I, I. c., S. 377. gesetzt werden - also als Selbstverwirklichung, Vergegenständli-
19< Cf. dazu auch Marcuse, I. c., s. 6L chung des Subjekts, daher reale Freiheit«.202
195 Ibid., S. 80; cf. auch S. 73.

196 Marx, Das Kapital, Band III, Berlin 1953, S. 874. 19. Engels, Umrisse einer Kritik der Nationalökonomie, I. c., S. 500.
197 Engels, Umrisse einer Kn·tik der Nationalökonomie, in: MarxlEngels, Werke, 199 Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, I. C,. S. 313.
. Band 1, I. c., S. 505. - Cf. zur Marxschen Utopie meine Schrift Der Begriff der 200 Ibid., S. 505; cf. dazu auch s. 592f.
Natur in der Lehre von Marx. überarbeitete, ergänzte und mit einem Posts.crip- 201 Ibid., S. 505.
turn versehene Neuausgabe, Frankfurt am Main/Köln 1971, 5.129-167. 202 Ibid.

188 189
Solcher Praxis entspräche auch ein qualitativ neuer Objekt-Be- etwas als Subjekt. «205 Feuerbach spricht hier allerdings vom "ab-
zug, dem »naturalisierten« Menschen eine »humanisierte« Na- strakten« Denken, wie er es am Idealismus bemängelt. Seine
tur. Marx begreift, daß das gegenständliche Sein in der Moderne naturalistische Anthropologie (der zwar das geschichtliche Mo-
immer mehr unter das Diktat selbstherrlicher Subjektivität gerät; ment nicht völlig fehlt) orientiert sich primär an einem - aus
es wird schließlich nur noch unter dem Aspekt verfügender und Marxscher Perspektive selbst noch "abstrakten« - Wesen des
verwertender Administration betrachtet. Allerdings bezahlen Menschen. Dieser unterscheidet sich qualitativ vom Tier: durch
die Menschen ihre Herrschaft über Natur mit Entfremdung im "Universalität«, "Unbeschränktheit« und "Freiheit«.206 Und
subjektiven wie objektiven Sinn. Die Marxsche Theorie lehrt nun "diese Freiheit«, erklärt Feuerbach, "existiert nicht etwa in einem
nicht, es sei wünschenswert, die Ergebnisse dieses (zugleich zivi- besonderen Vermögen, dem Willen, ebensowenig diese Univer-
lisatorisch notwendigen) Prozesses zu widerrufen. Aber sie kon- salität in einem besonderen Vermögen der De~kkraft, der Ver-
zipiert eine Form gesellschaftlicher Arbeit, welche Natur aneig- nunft - diese Freiheit, diese Universalität erstreckt sich über sein
net, sich mit ihr vermittelt, ohne sie dabei zu denaturieren. Die ganzes Wesen«.207 Wollen wir es philosophisch bestimmen, so
Welt der unentfremdeten Artefakte, so wird man Marxens - brauchen wir die Sphäre der Sinnlichkeit nicht zu verlassen: »Die
romantisch getönten - Gedanken deuten müssen, verlängert die tierischen Sinne sind wohl schärfer als die menschlichen, aber nur
Reihe der durch die unendliche Produktivität der Natur hervor- in Beziehung auf bestimmte, mit den Bedürfnissen des Tieres in
gebrachten Gebilde. Indem Natur derart zum »realen Leib«203 notwendigem Zusammenhang stehenden Dinge, und sie sind
des Menschen wird, soll sie zugleich dahin gelangen, wohin sie schärfer eben wegen dieser Determination ... Der Mensch hat
von sich aus will. Ein veränderter Objekt-Bezug soll der Natur nicht den Geruch eines Jagdhundes ... ; aber nur weil sein Ge-
zu Ausdruck und Sprache verhelfen. ruch ein ... freier, gegen besondere Gerüche indifferenter Sinn
Marx rettet hier, ausgehend von Feuerbach, das Wahrheitsmo- ist. Wo sich aber ein Sinn erhebt über die Schranken der Partiku-
ment an der antiken und mittelalterlichen Ineinssetzung von larität und seine Gebundenheit an das Bedürfnis, da erhebt er
Glück und Kontemplation. Daß im schauenden, die Dinge ruhig sich zu selbständiger, zu theoretischer Bedeutung und Würde:-
betrachtenden Menschen anzutreffen ist, was zugleich den universeller Sinn ist Verstand, universelle Sinnlichkeit Geistig-
glücklichen Menschen ausmachrZ04 , ist ein Motiv noch des Feuer- keit. Selbst die untersten Sinne, Geruch und Geschmack, erhe-
bachschen Sensualismus. Paradoxerweise sollte die mit ihm ver- ben sich im Menschen zu geistigen, zu wissenschaftlichen
bundene Abstinenz gegenüber der bestehenden Praxis zum Fer- Akten.«208
ment der Theorie einer künftigen werden. Darüber belehren Marx nimmt Fel.lerbachs Kategorie der spezifisch menschlichen
Marxens Okonomisch-philosophische Manuskripte von 1844. Bei Universalität auf, indem er sie korrigiert: Universalität bezeich-
Feuerbach heißt es: "Im Denken bin ich absolutes Subjekt, ich net eher eine weltgeschichtliche Möglichkeit und Aufgabe als
lasse alles nur gelten als Objekt ... von mir, dem Denkenden, bin einen überzeitlich-anthropologischen Befund. Solange die allsei-
intolerant; in der Sinnentätigkeit dagegen bin ich liberal, ... lasse tige Vergegenständlichung des menschlichen Wesens im -Pro-
den Gegenstand sein, was ich selher bin - Subjekt, wirkliches, duktionsprozeß (der bei Feuerbach außer Betracht bleibt) unter
sich selbst betätigendes Wesen. Nur ... Anschauung gibt mir
205 Feuerbach, Grllndsätze der Philosophie der Zukunft, in: Kleine philosophische
Schriften, Leipzig 1950, S. 131 (Hervorhebungen von Feuerbach).
206 Ibid., S. 166. .
203 Cf. ibid., S. 440; cf. auch S. 388. 207 Ibid. (Hervorhebungen von Feuerbach).
204 Cf. dazu Josef Pieper, Glück lind Kontemplation, München 1962, S. 104. 208 Ibid. (Hervorhebungen von Feuerbach).

190 191
der gesellschaftlichen Fonn der Entfremdung stattfindet, solange subjektiv als objektiv, geworden sind. Das Auge ist zum mensch-
die Menschen »ihre eigne Wirklichkeit nicht als Sein für sich, lichen Auge geworden, wie sein Gegenstand zu einem gesell-
sondern als bloßes Sein für andres«209 erfahren, bleiben sie be- schaftlichen, ... vom Menschen für den Menschen herrühren-
schränkt in ihrem Verhältnis zueinander und zu den Dingen. Ihr den Gegenstand geworden ist.«215 Und er fährt - Feuerbachs
umfassenderes, gemeinschaftliches Interesse bildet »als solches« Sensualismus weiterentwickelnd - fort: »Die Sinne sind daher
kein »Motiv« ihres Handelns; es »existiert sozusagen nur hinter unmittelbar in ihrer Praxis Theoretiker geworden. Sie verhalten
dem Rücken der in sich reflektierten Einzelinteressen« : als die sich zu der Sache um der Sache willen, aber die Sache selbst ist ein
»Allseitigkeit des selbstsüchtigen Interesses«.210 Was für Feuer- gegenständliches menschliches Verhalten zu sich selbst und zum
bach anthropologisch verbürgt ist: die Totalität des menschli- Menschen und umgekehrt. Das Bedürfnis oder der Genuß haben
chen Wesens, steht für Marx noch aus. In der bürgerlichen darum ihre egoistische Natur und die Natur ihre bloße Nützlich-
Gesellschaft geschieht »die sinnliche Aneignung ... der mensch- keit verloren, indem der Nutzen zum menschlichen Nutzen ge-
lichen Werke« nicht »für und durch den Menschen«211, den Marx worden ist.«216 Feuerbachs anschauender Materialismus, heißt es
als künftig »reichen, all- und tiefsinnigen Menschen« be- dann in den berühmten Thesen von 1845, »betrachtet ... nur das
stimm~12, sondern »nur im Sinne des unmittelbaren, einseitigen theoretische Verhalten als das echt menschliche«; die Praxis
Genusses . .. , im Sinne des Besitzens, ... des Habens«.213 Bloße bleibt unterbestimmt, weil sie von Feuerbach in ihrer bis jetzt
Brauchbarkeit der Dinge tritt an die Stelle ihrer konkreten, le- vorherrschenden, oberflächlich-kommerziellen »Erscheinungs-
bendigen Erfahrung. Der junge Marx entwirft demgegenüber die fonn gefaßt und fixiert wird«.217 Für Feuerbach ist »theoretische
(von seinem reifen Werk bestätigte) Idee eines höheren Typs Anschauung ... ursprünglich ... ästhetische, die Ästhetik die
aneignender Praxis, welche die Transformation des gegenständli- prima philosophia«.218 Dieser Gedanke kehrt, wie wir sahen, in
chen Sei~s damit vereinbart, daß dieses - in vennenschlichter Marxens Konzeption einer» theoretischen« Praxis der Sinne wie-
Gestalt - für sich fortbesteht. Unentfremdeter Arbeitläge es, mit der, welche Natur ausreden läßt, sich zu ihr um ihrer selbst
Benjamin gesprochen, fern, »die Natur auszubeuten«; sie wäre willen verhält. Die praktisch - als »menschlich-sinnliche Tätig-
imstande, »von den Schöpfungen sie zu entbinden, die als mög- keit« - begriffene »Sinnlichkeit«219 enthält Kontemplation als
liche in ihrem Schoße schlummern«.214 Unter diesem Aspekt ist Medium von Glück.
die von Marx geforderte »Aufhebung des Privateigentums« zu Beschließen wir diese Studie mit einem geschichtsphilosophi-
beurteilen; sie ist für ihn keine bloß bürokratische Maßnahme, schen Ausblick. Marx - das wurde deutlich - baut auf die Spreng-
sondern die »vollständige Emanzipation aller menschlichen kraft der historischen Dialektik; in ihm wirkt Hegels Glaube an
Sinne und Eigenschaften; aber sie ist diese Emanzipation grade die Vernunft in der Geschichte fort. Nietzsche, auf den ersten
dadurch, daß diese Sinne und Eigenschaften menschlich, sowohl Blick Marxens säkularer Gegner, verfolgt in Wahrheit ein ähnli-

209 Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Okonomie, I. c., S. 358. 215 Marx, Okonomisch-philosophische Manuskripte, I. C., S. 540 (Hervorhebungen
210 Ibid., S. 912; cf. dazu auch S. 156. von Marx).
211 Marx, Okonomisch-philosophische Manuskripte, in: MarxiEngels, Werke, Er- 216 Ibid. (Hervorhebungen von Marx).
gänzungsband, Erster Teil, I. c., S. 539 (Hervorhebungen von Marx). 217 Marx, Thesen über Feuerbach, in: MarxiEngels: Ausgewählte Schriften, Band II,
212 Ibid., S. 542 (Hervorhebungen von Marx). I.c., S. 370.
m Ibid., S. 539 (Hervorhebungen von Marx). 218 Feuerbach, Das Wesen des Christentums; Band I, I. c.", s. 187f. (Hervorhebung
214 Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, in: Schriften, herausgegeben von Feuerbach).
von Theodor W. Adomo, Band 1, Frankfurt am Main 1955, S. 501. 219 Ibid., S. 371.

192 193
ches, wenn nicht das gleiche Ziel. Nur tritt bei ihm, als gerade mie - den ideologischen Trug am Liberalismus. Er vermutet, daß
heute wesentliches Korrektiv, das Moment der Entscheidung es mit dem von nun an erforderlichen »überblick über die Be-
hinzu, das weltgeschichtlich erarbeitete Potential in moralischer dürfnisse der Menschheit« nicht unbedingt verträglich sein wird,
Absicht zu aktualisieren: als Beherrschung der Naturbeherr- »daß alle Menschen gleich handeln«.224 Vielleicht sind künftig
schung - nicht im Sinn uferlosen Wachstums, rastloser Expan- »im Interesse ökumenischer Ziele ... spezielle, ... unter Um-
sion. Nietzsehe fehlt das (für Marx streckenweise doch charakte- ständen sogar böse Aufgaben zu stellen«.225 Wie dem auch sei-
ristische) Vertrauen, technologische Rationalität werde per se der Gedanke einer solchen, die menschlichen Verhältnisse in
zum Besseren führen, ihre negative Seite verlieren. Es ist für planetarischem Umfang gestaltenden »Gesamtregierung«226 ist
Nietzsehe, dessen Analyse des bisherigen Geschichtsverlaufs der schwerlich in Kategorien bloßer Machbarkeit zu verwirklichen.
Marxschen zutiefst verwandt ist, »voreilig und fast unsinnig, zu Vielmehr bedarf es, soll die Menschheit dabei nicht zugrunde
glauben, daß der Fortschritt notwendig erfolgen müsse«.220 gehen, einer »alle bisherigen Grade übersteigende[ n] Kenntnis
Denkbar ist jedoch, daß »die Menschen mit Bewußtsein beschlie- der Bedingungen der Kultur«; sie muß den - im neuen Sinn -
ßen, sich zu einer neuen Kultur fortzuentwickeln, während sie »wissenschaftliche[ n] Maßstab für ökumenische Ziele«227 liefern.
sich früher unbewußt und zufällig entwickelten: sie können jetzt Nietzsehe ist sich der Größe, ja Ungeheuerlichkeit dieser Aufga-
bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre be bewußt. Sein »übermensch« ist so wenig ein bloßes Produkt
Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als der biologischen Evolution wie Marxens »totaler Mensch« ein
Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte der Menschen über- Produkt der sozialen. Beiden Denkern geht es (sosehr Marx
haupt gegeneinander abwägen und einsetzen. Diese neue bewuß- insgesamt dem Hegelianismus verhaftet bleibt) um eine autono-
te Kultur tötet die alte, welche als Ganzes angeschaut ein unbe- me Tat: Der Mensch soll das Dunkel der Naturgeschichte verlas-
wußtes Tier- und Pflanzenleben geführt hat; sie tötet auch das sen, den Kampf ums Dasein zum freien Wettkampf idealisieren,
Mißtrauen gegen den Fortschritt - er ist möglich.«221 Herr werden seiner eigenen Kräfte gegenüber der Natur. - Glück
Die neue »Weltmoral« - sie ist die des übermenschen -löst die wäre die verwirklichte Idee der Menschheit.
»Privatmoral« des Christentums oder Kants (dem Nietzsehe
freilich in diesem Punkt nicht völlig gerecht wird) insofern ab, als
sie davon ausgeht, daß »die Menschen selber sich ökumenische,
die ganze Erde umspannende Ziele stellen«.222 Die ältere, von
Nietzsehe verworfene Moral unterstellt, jeder wisse von vorn-
herein, »bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit
wohlfahre ... ; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, vor-
aussetzend, daß die allgemeine Harmonie sich nach eingebornen
Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben müsse«. 223
Nietzsehe durchschaut - wie die Kritik der politischen Okono-

220 Nietzsche, Menschliches, Allzllmenschliches, Stuttgan 1954, S. 38 (Hervorhe- 224 Ibid.


bung von Nietzsche). lli Ibid.
221 Ibid. (Hervorhebungen von Nietzsche). 226 Ibid.
222 Ibid. 227 Ibid. (Hervorhebungen von Nietzsche). - Es ist in diesem Zusammenhang an
lli Ibid., S. 39 (Hervorhebung von Nietzsche). Nietzsches Begriff einer .. fröhlichen Wissenschaft .. zu erinnern.

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Drucknachweise:

Schopenhauer und der Materialismus, erschienen in: 58. Schopenhauer-


Jahrbuch fürdasJahr1977, herausgegeben von Arthur Hübscher, Frank-
furt am Main 1977.

Die gezstzge Physiognomie Max Horkheimers, Einleitung zu: Max


Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung, herausgegeben
von Werner Brede, Frankfurt am Main 1974.

Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, in: Was ist
Glück? Ein Symposion, mit einem Nachwort von Ulrich Hommes,
München 1976. Bitte beachten Sie
die folgenden Seiten:

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