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CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen Bibliothek
Schmidt, Alfred: [Sammlung]
Drei Studien über Materialismus:
Schopenhauer, Horkheimer,
Glücksproblem/Alfred Schmidt. -
Ungekürzte Ausg. - Frankfurt/M,
Berlin, Wien: Ullstein, 1979.
([Ullstein-Bücher] Ullstein-Buch;
Nr. 35017: Ullstein-Materialien)
ISBN 3-548-35017-8
Ullstein Materialien
Inhalt
Einleitung 7
8 9
uns«7 aus. Materialismus, fügt Engels hinzu, ist »einfache Auf- rischen Materialismus, darüber im klaren, daß sich der Mensch
fassung der Natur so, wie sie sich gibt, ohne fremde Zutat«.8 in einer weithin von ihm selbst hervorgebrachten, humanisier-
Es gilt, wie er anderswo sagt, »jede idealistische Schrulle un- ten Dingwelt bewegt. »Naturwissenschaft wie Philosophie«,
barmherzig zum Opfer zu bringen, die sich mit den in ihrem heißt es in der Dialektik der Natur, »haben den Einfluß der
eignen Zusammenhang, und in keinem phantastischen, aufge- Tätigkeit des Menschen auf sein Denken bisher ganz vernach-
faßten Tatsachen nicht in Einklang bringen«9 läßt. - Eine fol- lässigt, sie kennen nur Natur einerseits, Gedanken andrerseits.
genreiche Reduktion des Materialismus auf wissenschaftliche Aber grade die Veränderung der Natur durch den Menschen,
Objektivität; begünstigt freilich auch dadurch, daß Engels be- nicht die Natur als solche allein, ist die wesentlichste und
strebt ist, »dem von der langjährigen Pfaffenverlästerung her nächste Grundlage des menschlichen Denkens, und im Ver-
überkommenen Philistervorurteil gegen den Namen Materia- hältnis, wie der Mensch die Natur verändern lernte, in dem
lismus« 10 keinerlei Zugeständnis zu machen. So berechtigt En- Verhältnis wuchs seine Intelligenz. Die naturalistische Auffas-
gels' Absicht ist, terminologische Klarheit zu schaffen - sie hat sung der Geschichte, ... als ob die Natur ausschließlich auf
auch dazu beigetragen, die im Sinn jeweils herrschender Ideo- den Menschen wirke, die Naturbedingungen überall seine ge-
logie moralisch anstößige, »sensualistische« Komponente ma- schichtliche Entwicklung ausschließlich bedingten, ist daher
terialistischen Denkens, zu der sich seine großen Vertreter bis einseitig und vergißt, daß der Mensch auch auf die Natur zu-
hin zu Feuerbach freimütig bekannten, aus dem Begnff des rückwirkt, sie verändert, sich neue Existenzbedingungen
marxistischen Materialismus zu eliminieren. Was nun die der schafft. Von der ,Natur< Deutschlands zur Zeit, als die Germa-
Natur »fremde« - tunlichst zu beseitigende - »Zutat« betrifft, nen einwanderten, ist verdammt wenig übrig.« 12
so denkt Engels hierbei zunächst an »Ufzuständlichen Blöd- Engels' Erwägungen implizieren mehr, als in die seiner Tradi-
sinn«; Religion und Philosophie, überhaupt die »in der Luft tion verpflichtete Erkenntnistheorie eingegangen ist. Verflüssi-
schwebenden ideologischen Gebiete ... haben ... einen vor- gen, relativieren sie die starre Grenze zwischen »Natur« und
geschichtlichen, von der geschichtlichen Periode vorgefundnen "Gedanke«, gegenständlicher Welt und »menschlichem« (hier
und übernommnen Bestand von ... falschen Vorstellungen positiv aufgenommenem) »Zutun«,B so bleibt jene Grenze in
von der Natur, von der Beschaffenheit des Menschen selbst, der auf Engels sich berufenden, noch immer verbindlichen, ab-
von Geistern, Zauberkräften etc«.l1 Engels spricht hier die auf- bildrealistischen Lehre erhalten, deren Begriff von »Praxis«
klärerische Sprache der evolutionistischen Soziologie und Eth- nicht heranreicht an die weit tragfähigeren, gemeinsam mit
nologie des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Subjekti- Marx erarbeiteten Formulierungen etwa der Deutschen I deo-
ves ist per se vorwissenschaftlich; es.geht um "einfache Auffas- logie.
sung der Natur so, wie sie sich gibt«. Auch Lenins philosophisches Hauptwerk verharrt auf dieser
Andererseits ist sich gerade Engels, als Mitbegründer des histo- Linie. Es bestimmt den Gegensatz von Idealismus und Mate-
7 Engels, Dialektik der Natur, in: Marx/Engels, Werke, Band 20, Berlin 1968, rialismus durch die »Grundfrage der Erkenntnistheorie: Sind
S.469. unsere Empfindungen Abbilder der Körper und Dinge, oder
8 Ibid.
sind die Körper Komplexe unserer Empfindungen?«14 Lenin
9 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philo-
sophie, in: Marx/Engels, Werke, Band 21, Beflin 1962, S. 292. 12 Engels, Dialektik der Natur, I. c., S. 498 (Hervorhebungen von Engels);
10 Ibid., S. 282.
cf. dazu auch S. 466.
JJ Engels an C. Schmidt, Brief vom 27.10.1890, in: Marx/Engels, Ausgewählte J3 Cf. ibid., S. 499.
Briefe, Berlin 1953, S. 509. ,. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1967, S. 175.
10 11
betont, daß der philosophische Materialismus, wie er ihn ver- zeugnis unseres konstituierenden Handelns« 19 ist, und sich
steht, lediglich eine »Eigenschaft« der Materie anzuerkennen hinter der trivialen Tatsache verschanzt, daß wir unsererseits
genötigt ist: »die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, au- ohne jene Welt nicht wären, muß er dogmatisch deren durch-
ßerhalb unseres Bewußtseins zu existieren«.15 Sowenig es sich gängige 'Rationalität verkünden. 20
hier darum handeln kann, die Verdienste des Leninschen Bu- Sehen wir hier davon ab, daß Sartre unterdessen, spätestens
ches zu schmälern, so wichtig scheint doch der Hinweis dar- seit der Kritik der dialektischen Vernunft, einen angemessene-
auf, wie sehr sein gedanklicher Duktus vorgezeichnet ist durch ren Zugang zum Problem der Objektivität gefunden hat. 21
die Art der von ihm bekämpften Schriftsteller. Das schon ,in Richtig an Sartres früheren Vorbehalten gegenüber dem Mate-
Engels, vollends aber in Lenin anzutreffende Pathos wissen- rialismus bleibt jedoch, daß dieser, sofern er in »weltanschau-
schaftlicher Objektivität impliziert, gewollt oder ungewollt, lich« abgerundeter Form auftritt, häufig der Gefahr erliegt, die
den Verzicht auf wesentliche Resultate nicht nur der Geschich- leibhaftige Menschen unmittelbar betreffende, außerphiloso-
te des Marxismus, sondern des Materialismus insgesamt. phische Erfahrung von Materialität zu übersehen. »Dem Idea-
Mit scharfem Blick hat Sartre, als politischer Existentialist, die lismus gegenüber«, sagt Sartre, »auf die erdrückende Wirklich-
Mängel eines Denkens wahrgenommen, das »die Lehre von keit der materiellen Welt hinzuweisen, heißt noch nicht, not-
der Objektivität« 16 vorzuführen verspricht. Der Materialist, wenigerweise ein Materialist zu sein.«22 Was sich nämlich als
sagt Sartre, bildet sich' ein, »seine Subjektivität ... zum Ver- Materialismus ausgibt, ist vielfach keine durchdachte Philoso-
schwinden« zu bringen, indem er sich zum »Gegenstand«, das phie, sondern »die schlechte Laune derjenigen, die körperlich
heißt "Stoff der Wissenschaft«17 erklärt. "Hat er nun aber ein- leiden und die Wirklichkeit des Hungers, der Krankheiten, der
mal die Subjektivität zugunsten des Gegenstandes unterdrückt, Handarbeit und all dessen kennen, was einen Menschen zu un-
so nimmt er für sich - anstatt sich als Ding unter Dingen zu tergraben vermag«.23 Wir sind, ohne uns darüber im Alltag Re-
sehen, hin und her geworfen durch den Wellengang des Alls chenschaft abzulegen, unaufhebbarer Kontingenz ausgeliefert.
der Natur - eine objektive Sicht in Anspruch und behauptet,
" Ibid.
die Natur, wie sie an sich ist, zu betrachten. Es gibt einen 20 Cf. ibid., S. 15.
Doppelsinn von >Objektivität< - welche bald die Passivität des 21 So heißt es in der Kritik der dialektischen Vernunft: .Die Materie als reine,
betrachteten Objektes bedeutet und bald den absoluten Wert nicht menschliche und anorganische Materie, das heißt nicht an sich, sondern
eines erkennenden Blickes, der aller Schwächen des Subjekti- in jenem Stadium der Praxis, in dem sie sich dem wissenschaftlichen Experi-
ment erschließt, wird durch Exterioritäts-Gesetze regiert. (Reinbek bei Ham-
ven ledig ist. So ergeht sich der Materialist, nachdem er ...
burg 1967, S. 129); cf. auch S. 130, wo Same die Materie als »passiven Motor
sich der reinen objektiven Wahrheit angeglichen hat, in einer der Geschichte. bezeichnet.
Welt von Objekten, die bewohnt ist von Menschen-Objek- 22 Sartre, Materialismus und Revolution, I. c., S. 38.
ten.«18 Da er mit aller Transzendentalphilosophie auch den 23 Ibid. - Sarues Betrachtungsweise taucht schon früh auch in der offiziellen
Gedanken der Marx/Engelsschen Frühschriften verwirft, daß Literatur auf. So heißt es in Theobald Zieglers Buch Die geistigen und sozia-
len Strömungen des Neunzehnten Jahrhunderts (Berlin 1910, S. 329), der »na-
die physische Welt, wie wir sie hier und jetzt vorfinden, »Er- turwissenschaftliche Materialismus« lebe -am kräftigsten in den breiten
Schichten der Arbeiterwelt fort.; er entspreche -ihrer Beschäftigung, der Be-
arbeitung des Stoffes durch die Hand, indem er ihnen die Widerstände und
15 Ibid., S. 260 (Hervorhebungen von Lenin); cf. auch S. 124f. die Gesetze der Materie, mit der sie es tagtäglich zu tun haben, klar und
" Sartre, Materialismus und Revolution, I. c., S. 38 (Hervorhebung von Sanre). deutlich zum Bewußtsein bringt: für den Handarbeiter ist der Materialismus
17 Ibid., S. 13; 14.
in der Tat die einleuchtendste und nächstliegendste wissenschaftliche Weltan-
" Ibid., S. 14.
schauung •.
12
13
Die objektive, von theoretischen Materialisten immer wieder verstehen. Materialistische Kritik am Idealismus ist stets auch
hervorgehobene »Notwendigkeit« wird als solche von Sartre Kritik an Philosophie überhaupt. Das zu vergessen, verriete,
nicht geleugnet. Allein sie »erscheint im Schoße einer ur- wie es in Feuerbachs Spätwerk heißt, »einen höchst beschränk-
sprünglichen Zufälligkeit. Existiert das Weltall, so können ten Gesichtskreis«; wir dürfen anläßlich der Frage Idealismus/
seine Entwicklung und die Aufeinanderfolge seiner Zustände Materialismus nicht »innerhalb der Mauern der Philosophie im
durch Gesetze geregelt sein. Es ist aber nicht notwendig, daß engeren Sinne stehen bleiben«; denn es handelt sich hier um
das Weltall existiert, noch daß es ein Sein überhaupt gibt, und einen »Streit zwischen verschiedenen Facultäten des Menschen
die Zufälligkeit des Weltalls teilt sich allen, sogar den - ein Streit zwischen der medicinischen und philosophischen
notwendigsten Zusammenhängen, jeder besonderen Tatsache Facultät«.29 Oft wird verkannt, »dass der Materialismus, wel-
mit.«24 chen beschränkte Schulphilosophen als eine Missgeburt der
Wenn Sartre ironisch vorschlägt, den scientistischen Materia- neu esten Zeit betrachten und bereits >todtgeschlagen< zu haben
lismus als »die Subjektivität derjenigen« zu betrachten, »die wähnen, schon so lange auf Erden existirt und existiren wird,
sich ihrer Subjektivität schämen«,25 so deshalb, weil er ihn für als es Patienten und Aerzte gab und geben wird; dass daher,
untauglich hält, die Idee der Revolution angemessen zu be- wer die Leiden der Menschheit ins Auge und Herz fasst, noth-
gründen. Zur erkenntnistheoretischen und politischen Unzu- wendig zum Materialisten wird«.30 Primär also ist für Feuer-
länglichkeit gesellt sich eine behavioristische Psychologie, die bach der Materialismus gesetzt mit der physischen Existenz des
außerstande ist, etwas über die - erstmals von Freud unter- Menschen - nicht mit einer denkerischen Entscheidung. Mate-
suchte - Natur im Subjekt auszumachen. 26 So bleiben dem ma- rialismus und Philosophie treten auseinander: »Die Medicin,
terialistischen Objektivismus Erfahrungsgehalte entzogen, die die Pathologie vor Allem ist die ... Quelle des Materialismus.
»materialistisch« sind, ohne in seine Kategorien einzugehen. Und diese Quelle kann leider durch philosophische Gründe
Indem er letztinstanzlich nur die Wissenschaft als verbindliche nicht verstopft werden; denn so lange die Menschen leiden,
Erkenntnisform gelten läßt, paktiert er mit dem (sonst von ihm wenn auch nur Hunger und Durst, und diese Leiden nicht
bekämpften) Positivismus. Dabei ist er, was seine grundsätz- durch idealistische Machtsprüche ... geheilt werden können,
liche Wahrheit nicht schmälern muß, insofern eine Metaphy- so lange werden sie auch, wenn auch wider Wissen und Wil-
sik, als er, mit Engels zu reden, »die Natur als das einzig Wirk- len, Materialisten sein.«3!
liche auffaßt«.27 Sie »existiert unabhängig von aller Philoso- Eine grundlegende, vorphilosophische Einsicht, die es Feuer-
phie«28 - auch von der materialistischen. bach erlaubt, den Materialismus als anthropologisches Prinzip
Damit aber ist eine außerphilosophische Dimension zumal des zu verfechten. Die Medizin, auf die er sich dabei vorzugsweise
vormarxschen Materialismus benannt, deren Tragweite kaum stützt, ist keine »Quelle und Residenz des transcendenten, ...
zu überschätzen ist. Deutlich wird, daß es nicht angeht, den über den Menschen hinausschweifenden, sondern des imma-
Gegensatz der Grundrichtungen lediglich philosophisch zu nenten, im und beim Menschen stehenbleibenden Materialis-
mus. Aber gerade dieser ist der archimedische Standpunkt in
2. Sanre, I. c., S. 70.
dem Streite zwischen Materialismus und Spiritualismus: denn
25 Ibid., S. 38.
2. Ibid., S. 20. - Sanre bezieht sich hier auf Pierre Naville. 2. Ludwig Feuerbach, Sämmtliche Werke, Band X"herausgegeben von Wilhelm
27 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philoso- Bolin und Friedrich Jodl, Stuttgart 1911, S. 159.
phie, I. c., S. 272. 30Ibid.
28 Ibid.
" Ibid., S. 165.
14 15
es handelt sich hier in letzter Instanz nicht um die Theilbarkeit Feuerbach, "kann nun und nimmer den Standpunkt des Le-
oder Untheilbarkeit der Materie, sondern um die Theilbarkeit bens zur Ergänzung entbehren oder ersetzen«.3? Leben, das
oder Untheilbarkeit des Menschen; ... nicht um die Ewigkeit stets Empfinden, Anschauen und Denken umfaßt, ist für Feu-
oder Zeitlichkeit der Materie, sondern um die Ewigkeit oder erbach ein nicht Hinterschreitbares, »absolut Originales ...
Zeitlichkeit des Menschen; nicht um die ausser dem Menschen _ ist in Wahrheit das nur durch sich selbst erkennbare, aber
. .. zerstreute und ausgedehnte, sondern um die in den nicht mystificirte, nicht travestirte Absolute des speculativen
menschlichen Hirnschädel zusammengepresste Materie. Kurz: Philosophen und Theologen«.38 Der »Standpunkt des Lebens«
es handelt sich in diesem Streit ... nur um den Kopf des Men- wird hier verstanden als dessen konkret-gegenständlicher Voll-
schen. Er allein ist, wie der Ursprung, so das Ziel und Ende zug: reale, nicht nur gedachte Einheit des durch Abstraktion
dieses Streites. Sind wir einmal mit der merkwürdigsten und Getrennten. "Die Liebe«, sagt daher Feuerbach, »welche keine
schwierigsten Materie des Hirns im Reinen, so werden wir es blosse ... spiritualistische Phrase .,. ist, die ... wahre,
bald auch mit den anderen Materien, mit der Materie über- menschliche Liebe ist wesentlich pathologische, d. h. von den
haupt sein.«32 materiellen, wirklichen Leiden der Menschheit ergriffene
Der traditionelle, von Feuerbach »transcendent« genannte Ma- Liebe. .., Die wirkliche Liebe weiss nichts von einer von
terialismus will unmittelbar »materielle Fragen« beantworten, Anatomie und Physiologie getrennten oder gar unabhängigen
»die nur ... mittelbar, auf Umwegen, approximativ ans Licht Psychologie.«39 Der wissenschaftlich-theoretische Materialis-
eines möglichen Verständnisses gebracht werden können«.33 So mus ist, anders gesagt, ebenso unentbehrlich wie der Korrek-
ist nur aus den »Erscheinungen des Bewusstseins« selbst zu tur bedürftig. Letztlich bestätigen kann ihn nur eine Instanz
erschließen, was "hinter« diesem liegt. 34 Auszugehen ist zu- außerhalb seiner. - »Feuerbach«, hebt Lenin hervor, »legt die
nächst von der subjektiven Welt und ihren spezifischen Bedin- Ergebnisse der gesamten menschlichen Praxis der Erkenntnis-
gungen. "Wie weit«, fragt Feuerbach, »erstreckt sich das Be- theorie zugrunde.«40
wusstsein - Unzähliges vor und hinter, neben und um uns fällt Es zählt zu den heute fälligen, keineswegs bloß akademischen
ausser das Bewusstsein, als wäre dasselbe nur eine mathemati- Aufgaben, sich über das Verhältnis des Marxismus zu älteren
sche Linie ohne Breite und Tiefe - wie weit der Wille? Das Formen materialistischen Denkens neu zu verständigen. Die
sind Fragen, die erst beantwortet sein müssen, ehe man an die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden läßt sich
organischen ... Processe denkt, die aber die Materialisten sich nicht länger nach dem orthodoxen Schema beantworten, daß
nicht aufwerfen.«35 Feuerbach erinnert sich hier der kruden man diese verabsolutiert und jene auf belanglose ABC-Thesen
Agitationsliteratur der fünfziger Jahre. Aber selbst dort, wo zusammenstreicht. Verläuft Geschichte in antagonistischen
zuvor solche von ihm vermißten Erwägungen angestellt wer- Formen, so gilt dies auch für die Geschichte der Philoso-
den, behalten Anatomie und Physiologie nicht das letzte Wort. phie.
Sie liefern »nur die todte und eben deswegen nicht die ganze Weshalb sollte der übergang vom vormarxschen Materialis-
... Wahrheit«.36 Auch fortgeschrittenste Wissenschaft, betont mus zur Kritik der politischen ökonomie (wenn wir von ihren
sonstigen Quellen hier einmal absehen) in jedem Betracht ein
32 Ibid., S. 165 f.
33 Ibid., S. 307. 37 Ibid.
J4 Ibid. J8 Ibid.
35 Ibid., S. 307f. 3. Ibid., S. 157.
3. Ibid., S. 166. '0 Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, l. c., S. 137.
17
16
Fortschritt sein? Ist wirklich alles am Alten Wertvolle »aufge- fahrung von Materiellem äußert sich gerade dort, wo sie nicht
hoben« im Neuen? Sicher, es gibt dafür Beispiele. Aber auch in philosophisch durchgearbeiteter Form auftritt, als »Kraft
solche, die weniger überzeugen. Zu ihnen gehört Feuerbach. der Natur zum Eingedenken ihrer selbst als hinfälliger«.44 - In
Wir sind deshalb oben kurz auf ihn eingegangen, weil er, stu- diesem Sinn hat Thomas Mann Schopenhauers Pessimismus
diert als Gesamterscheinung, die unabweisbare Frage aufwirft, mit Humanität gleichgesetzt.
ob seine Themen tatsächlich. großenteils erledigt sind, ob er Das Faktum der Kunst verweist auf das dem Begriff einer
von Marx und Engels in jeder Hinsicht überboten wurde.41 »materialistischen Philosophie« innewohnende Paradoxon:
Wer sich freilich heute vor Feuerbach nicht nur ehrerbietig zum Prinzip zu erheben, was als einheitliches, letztes Substrat
verbeugt, sondern versucht, einige seiner Resultate einzubrin- der Wirklichkeit nicht aufweisbar ist: den Stoff, der nur in ei-
gen in aktuelle Debatten, zieht sich sogleich von seiten der Or- ner Vielheit von Stoffen existiert. Dasjenige am Materialismus,
thodoxie den Vorwurf eines »Rückfalls in den Feuerbachianis- was aller Philosophie spottet - das schlechthin Sinnwidrige -,
mus« zu.
wird erfahren in Gedichten Baudelaires, in Gemälden Klin-
Die vorliegenden Studien suchen das Interesse für den älteren gers. 45 Die im Medium nicht des Begriffs, sondern der Sinn-
Materialismus zu beleben, ohne dessen Kenntnis auch die lichkeit sich bewegende Kunst gestaltet das Schöne als »Erin-
Marxsche Theorie unverstanden bleibt. Dabei ist von vornher- nerung an das Glück, das es doch gab und das seine Wieder-
ein klar, daß es verfehlt wäre, sich an wissenschaftsgeschicht- kehr fordert«.46 Gleichwohl, fügt Marcuse 'hinzu, »ist die Welt
lich Veraltetes zu klammem, an das die vormarxschen Autoren. der Kunst durchherrscht vom Tode. Im Widerspruch zur
in Einzelaussagen gebunden sind; muß doch der Materialis- schlechten Existenzphilosophie verschmäht es die Kunst, dem
mus, wie Engels feststellt, mit »jeder epochemachenden Ent- Tod einen Sinn zu geben. Ihr ist der Tod ständiger Zufall,
deckung schon auf naturwissenschaftlichem Gebiet . . . seine ständiges Unheil - Drohung auch in den Augenblicken des
Form ändern«.42 Ohnehin hätte heute eine Rezeption des vor-
marxschen Materialismus sich mehr zu kümmern um dessen
.. Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur III, Frankfurt am Main 1965, S. 29.
eigenartig theoretisch-atheoretischen Doppelcharakter. Was 's Die innere Beziehung der Kunst zum Materialismus ist bisher ungenügend
die philosophische Schwäche vieler materialistischer Ärzte und erörtert. Friedrich Schlegel deutet sie (freilich unter anderen als den hier dis-
Naturforscher der Vergangenheit ausmacht: die Unschärfe ih- kutierten Gesichtspunkten) folgendermaßen an: »Die poetischen Darstellun-
rer (zudem naiv-realistischen) Begriffe, wird häufig dadurch gen des Materialismus haben ... , weil sie dem Wesen dieser Gattung viel
angemessener sind, durchaus den Vorzug vor den philosophischen; die poeti-
kompensiert, daß sie die Bedingtheit, Bedürftigkeit und Todes-
sche Seite desselben steht weit über der philosophischen, und man kann dreist
verfallenheit des Menschen unverblümt aussprechen. Ihre behaupten: der Materialismus neigt sich durchaus mehr zur Poesie als zur
Schriften halten sich, mit Erich Kästner zu reden, ans »hoff- Philosophie; am besten und kräftigsten erscheint und spricht sich die ur-
nungslos Konkrete« unserer ExistenzY Die schneidende Er- sprüngliche Denkart des Materialismus in Poesie aus, weit besser als in allen
Systemen ... Materialismus ist deshalb eigentlich auch nur als Poesie zu dul-
<I Der Verfasser ist dieser Frage nachgegangen in seiner Schrift Emanzipaton'- den; wenn auch die Poesie, die er hervorbringt, nicht gerade die wahre ist, so
sehe Sinnlichkeit. Ludwig Feüerbachs anthropologischer Maten"alismus, Mün- neigt er doch mehr zur wahren Poesie als zur Philosophie, er ist überhaupt
chen 1973.
mit dem Wesen der Poesie verträglicher. (in: Schriften und Fragmente, Stutt-
42 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philoso- gart 1956, S. 204). - Cf. zu diesem wichtigen Thema auch die Studie von Eli-
phie, I. c., S. 278.
sabeth Lenk, Der spn'ngende Narziß. Andre Bretons poetischer Materialismus,
., Cf. zu diesem - oft übersehenen - Aspekt des .vulgär. gescholtenen Materia- München 1971.
lismus Werner Post!Alfred Schmidt, Was ist Materialismus?, München 1975, "" Herbert Marcuse, Die Permanenz der Kunst. Wider eine bestimmte marxisti-
S.lof.
sche ;fsthetik, München 1977, S. 73.
18
19
Glücks, der Beschäftigung, der Tat. Alles Leiden wird in ihr
Krankheit zum Tode - auch wo es heilbar ist.«47 Selbst abge-
Schopenhauer und
schafftes Elend tröstet über den Tod nicht hinweg; er bleibt der Materialismus
»die der Gesellschaft inhärente Negation. Er ist die letzte Erin-
nerung an alle Möglichkeiten, die nicht realisiert wurden, an Da Titel, in denen kaum oder schwer Vereinbares durch das
alles, was gesagt werden konnte und nicht gesagt wurde, an unschuldige Wörtchen »und« verknüpft wird, sich dem - oft
jede Gebärde, jede Zärtlichkeit, die ausblieb. Aber auch an begründeten - Verdacht des Künstlichen, auch Unverbindlichen
jede falsche Toleranz, jedes schnelle Einverständnis mit der aussetzen, scheint es geboten, zunächst kurz zu klären, wie das
Notwendigkeit des Leidens.«4B
Thema: Schopenhauer und der Materialismus hier verstanden
Damit sind einige derjenigen Aspekte zumindest angedeutet, wird. Die folgende Vorerwägung mag zugleich einführen in ein
von denen der Autor meint, daß sie in gegenwärtigen Diskus- wichtiges Kapitel gegenwärtigen Philosophierens. Schopenhauer
sionen über Materialismus stärker zu berücksichtigen wären. verdient es einbezogen zu werden in die aktuelle Diskussion über
Es gilt, Vielfalt und Reichtum der Ebenen seiner Problemati-: Materialismus. Dazu bedarf es sachlicher und unbefangener
sierung wiederzugewinnen. Mancherorts ist nicht einmal das Analyse dessen, was er beizusteuern hat. Seine Philosophie - das
Bewußtsein dieser Aufgabe vorhanden. Interesse für sie zu gehört zu ihrem Reiz - läßt sich unmittelbar weder für noch
wecken, ist der Zweck des vorliegenden Buches. gegen den Materialismus in Anspruch nehmen. Sie ist der Schau-
platz einer lebendigen, letztlich unabgeschlossenen Debatte -
Frankfurt am Main, im Juni 1977 Alfred Schmidt keine fertige Doktrin. In ihr arbeiten sich in eigenartiger Zirkula-
rität und Wechselbeziehung idealistische und materialistische
Tendenzen aneinander ab, und zwar auf instruktive Weise. Ein-
noch keineswegs hinreichend behobener - Mangel alles bisheri-
gen Materialismus besteht darin, daß er erkenntniskritische Fra-
gen, nur weil sie bislang idealistisch behandelt wurden, in ihrem
Sachgehalt unterschätzte, häufig gar ignorierte. An Schopen-
hauer hat gerade heute materialistisches Denken sich zu bewäh-
ren. Es darf hinter das bei ihm Erreichte nicht zurückfallen. Das
gilt, wie gesagt, für die Erkenntnistheorie, aber auch für anthro-
pologische und moralphilosophische Probleme. Gleichwohl
scheint-es wenig sinnvoll, Schopenhauers Positionen lediglich als
archivarischen Bestand zu betrachten. Ein bloßes Referat genügt
nicht. Unbefangenes Philosophieren besteht unter anderem
darin, überkommenes auch dann neu zu durchdenken, wenn es
sich vielfach bewährt hat.
Eine Bemerkung noch zum - durchaus uneinheitlichen - Begriff
des hier vorausgesetzten »zeitgenössischen« Materialismus. Zu
<7 Ibid. (Hervorhebung von Marcuse).
nennen ist einmal der marxistisch-leninistische Materialismus,
.. Ibid., S. 74.
vorgetragen zumeist in gestanzter, verdinglichter Sprache, hand-
20
21
fest politischen Interessen eher verpflichtet als philosophischen. stischen Denkens in der Gegenwart wird klar, daß die Frage nach
Daneben bestehen »inoffizielle« Spielarten marxistischen Den- Schopenhauers Verhältnis zum Materialismus insgesamt mehr
kens, etwa Blochs spekulativer Materialismus, die Sartresche und umfaßt als das Problemfeld: Schopenhauer und der Marxismus.
jugoslawische Praxis-Philosophie, schließlich die Kritische Wenn sich der vorliegende Beitrag gleichwohl darauf be-
Theorie, deren Horkheimersche Gestalt gerade Schopenhauer schränkt, Schopenhauers Lehre an originären Positionen von
wesentliche - und zwargenuin materialistische - Gesichtspunkte Marx und Engels (die ja mit ihren Schülern und Anhängern nicht
verdankt. - Akademisch verbreitet sind ferner die während der verwechselt werden dürfen) sowie an Einsichten »häretischer«
letzten Jahrzehnte in den Vereinigten Staaten entstandenen Marxisten zu messen und umgekehrt, so einmal, um nicht, was
Theorien der »mind-body identity«.! Bemüht, alle Aussagen verwirrend wäre, zugleich auf verschiedenen Ebenen zu argu-
über Mentales in solche über Physisches zu transponieren, versu- mentieren; zum anderen deshalb, weil diese Konfrontation als
chen sie, dem jüngsten Stand der Physik ebenso Rechnung zu die philosophisch ergiebigste erscheint, bringt sie doch Schopen-
tragen wiewissenschaftstheoretischen Einsichten. Wir haben es hauers Denken in verschiedenartigster Brechung vor den
hier mit einem neuen, materialistischen, nicht aber marxistischen Blick.
Frageansatz zu tun. - Dies gilt auch von den zahlreichen (ihre Zum Thema selbst. Es bieten sich der Diskussion drei eng mit-
letztlich materialistische Ausgangsposition nicht oder selten ter- einander verknüpfte Aspekte des Schopenhauerschen Verhält-
minologisch einbekennenden) Versuchen bedeutender Biologen, nisses zum Materialismus an.
eine »Naturgeschichte« der menschlichen Erkenntnis auszuar- 1. Wie bestimmt Schopenhauer das Verhältnis von Idealismus
beiten. 2 und Materialismus, wie die Materie, wie das von Subjekt und
Angesichts dieser - hier nur grob umrissenen - Vielfalt materiali- Objekt? Woran denkt Schopenhauer, wenn er sich des Begriffs
»Materialismus« bedient? Welche Rolle, welches Recht billigt er
. 1Von älteren Darstellungen wäre der von Yervant H. Krikorian herausgegebene
dem materialistischen Denken der Vergangenheit und seiner ei-
Sammelband Naturalism and the Human Spirit, New York 1944 und später,
anzuführen; ferner die von Roy Wood Sellars, V.]. Mc Gill und Marvin Farber genen Gegenwart zu?
'herausgegebene Aufsatzsammlung Philosophy for the Future. The Quest of Mo- 2. Worin bestehen Schopenhauers erkenntniskritische Einwände
dem Materialism, New York 1949. Die jüngsten Entwicklungen reflektieren sich gegen den Materialismus, vorgetragen unter dem Titel einer
in folgenden Schriften, die in Für und Wider als typisch gelten können: Modem »idealistischen Grundansicht« seiner Philosophie? Sodann: In-
Materialism: Readings on Mind-Body Identity, herausgegeben von John
O'Connor, New York 1969; James Feibleman, The New Materialism, The
wieweit lassen sich jene Einwände, gerichtet nicht nur gegen
Hague 1970; Keith Campbell, Body and Mind, New York 1970; Norman einen »vorkritisch« bleibenden Objektivismus, sondern auch
Malcolm, Problems of Mind, New York 1971; einen knappen und kritischen gegen ein mechanistisch beschränktes Naturbild, angesichts
überblick bietet Ian Srzednickis Aufsatz Some Objeaions to Mind-Brain Identi- neuerer Entwicklungen der materialistischen Philosophie wie
ty Theories, in: Philosophia. Philosophical Quarterly of Israel, Band 2, Nr.3,
Ierusalem 1971, S. 205-225. der Wissenschaft noch halten? Anders gefragt: wenn schon ein
, Genannt seien wiederum einige neuere Werke, die den Stand der Diskussion Materialist von Schopenhauer lernen kann, was könnte ein Scho-
charakterisieren: Konrad Lorenz, Die Riickseite des Spiegels. Versuch einer penhauerianer vom modemen Materialismus lernen?
Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München 1973; Bewußtsein. Ein Zen- 3. Wie steht es um den »Materialismus der Sache selbst« in
tralproblem der Wissenschaften, Sammelband, herausgegeben von Hans-Wemer Schopenhauers Denken? Sind nicht- dies,wäre die hier verfoch-
Klement, Baden-Baden 1975; Hoimar v. Ditfurth, Der Geist fiel nicht vom
Himmel. Die Evolution lInseres Bewußtseins, Hamburg 1976; Hans Joachim
tene These - die zahlreichen Materialismen, vielleicht besser:
Bogen, Mensch aus Materie. Werden und Wesen des Homosapiens in biologischer materialistischen Erfahrungsgehalte seines Werks aufs engste
Sicht, München/Zürich 1976. verknüpft mit dem Pessimismus der Willensmetaphysik? Ver-
22 23
weist nicht Schopenhauers Begriff von Metaphysik insofern wie- Mittelalters erwachte. Die Frage nach der Stellung des Denkens
der auf die physische Welt zurück, als der Anstoß zu ihr auf der zum Sein, die übrigens auch in der Scholastik ... ihre große Rolle
Endlichkeit und naturalen Hinfälligkeit des Menschen beruht, gespielt, die Frage: Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die
letztlich auf dem nagenden Bewußtsein des Todes? Natur? - diese Frage spitzte sich, der Kirche gegenüber, dahin
Ehe wir uns dem ersten Punkt zuwenden, sei - um Mißverständ- zu: Hat Gott die Welt erschaffen, oder ist die Welt von Ewigkeit
nisse zu' vermeiden - betont, daß hier unter »Idealismus« und da? Je nachdem diese Frage so oder so beantwortet wurde,
»Materialismus« zunächst keine sittlichen Haltungen verstanden spalteten sich die Philosophen in zwei Lager. Diejenigen, die die
werden, sondern metaphysische Entwürfe, die, mit Heidegger Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten,
zu reden, bestrebt sind, die Frage nach dem Seienden im Ganzen also in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art an-
zu beantworten. Daß gleichwohl - gerade an Schopenhauer läßt nahmen ... , bildeten das Lager des Idealismus. Die andern, die
sich das zeigen - die Option für die eine oder andere Seite die Natur als das Ursprüngliche ansahen, gehören zu den ver-
ethische Konsequenzen hat, wird damit nicht geleugnet. Hier schiedenen Schulen des Materialismus. ,,3 Daneben, führt Engels
geht es lediglich darum, daß wir uns den Blick durch die affektive weiter aus, hat die »Frage nach dem Verhältnis von Denken und
Besetztheit des Wortes »Materialismus« nicht trüben lassen. Sein ... noch eine andre Seite: Wie verhalten sich unsre Gedan-
ken über die ~ns umgebende Welt zu dieser Welt selbst? Ist unser
I Denken imstande, die wirkliche Weh zu erkennen, vermögen
Was den erstgenannten Aspekt betrifft, so ist festzuhalten, daß wir in unsern Vorstellungen und Begriffen ein richtiges Spiegel-
sich Schopenhauer auf der Höhe der Reflexion seines (und auch bild der Wirklichkeit zu erzeugen?« 4 Diese - erkenntnistheoreti-
weithin noch unseres) Jahrhunderts befindet. Ihm ist gegenwär- sche - Seite der von Engels zunächst metaphysisch (oder.ontolo-
tig, was Engels und - ihm folgend - Lenin die »Grundfrage« der gisch) erörterten Alternative Idealismus-Materialismus sollte
Philosophie genannt haben. »Die große Grundfrage aller, spe- sich in der Geschichte des Marxismus als wichtig erweisen. En-
ziell neueren Philosophie«, heißt es in Engels' Schrift über gels übernimmt von Hegel die (freilich auf den Erkenntnispro-
Feuerbach, »ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein. zeß im Sinn durchgängiger Analogie reduzierte) These der
Seit der sehr frühen Zeit, wo die Menschen, noch in gänzlicher »Identität von Denken und Sein« und bekämpft mit ihr Philoso-
Unwissenheit über ihren eigenen Körperbau und angeregt durch phen wie Hume und Kant, welche »die Möglichkeit einer Er-
Traumerscheinungen, auf die Vorstellung kamen, ihr Denken kenntnis der Weh oder doch einer erschöpfenden Erkenntnis
und Empfinden sei nicht eine Tätigkeit ihres Körpers, sondern bestreiten«. 5
einer besonderen, in diesem Körper wohnenden und ihn beim Engels' Ausführungen stammen aus dem Jahre 1886. Erinnern
Tode verlassenden Seele - seit dieser Zeit mußten sie über das wir noch daran, wie sich Fichte, einem von Engels recht verschie-
Verhältnis dieser Seele zur äußern Welt sich Gedanken machen. denen Denker, dasselbe Problem gestellt hat. In seiner 1797
... Die Frage nach dem Verhältnis desDenkens zum Sein, des erschienenen Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre be-
Geistes zur Natur, die höchste Frage der gesamten Philosophie stimmt Fichte die Aufgabe von Philosophie dahingehend, daß sie
hat also, nicht minder als alle Religion, ihre Wurzel in den
bornierten und unwissenden Vorstellungen des Wildheitszu-
stands. Aber in ihrer vollen Schärfe konnte sie erst gestellt wer- } Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philoso-
phie, in: MarxiEngels, Werke, Band 21, Berlin 1962, S. 274; 275.
den, ihre ganze Bedeutung konnte sie erst erlangen, als die euro-
4 Ibid., S. 275.
päische Menschheit aus dem langen Winterschlaf des christlichen 5 Ibid., S. 276.
24
25
den »Grund aller Erfahrung«6 anzugeben hat. Der Philosoph ist,
phie versteht) rein theoretisch zu begründen; denn der "Streit
wie »endliche Vernunftwesen« überhaupt, angewiesen auf Er-
zwischen dem Idealisten und Dogmatiker« ist ihm zufolge »ei-
fahrung, enthält sie doch »den ganzen Stoff seines Denkens«,7
gentlich der, ob der Selbständigkeit des Ich die Selbständigkeit
Allerdings überschreitet er insofern die Schranken des Alltags-
des Dinges, oder umgekehrt, der Selbständigkeit des Dinges, die
verstandes, als er - abstrahierend - »das in der Erfahrung Ver-
des Ich aufgeopfert werden solle«.10 Zwar handelt es sich bei
bundne durch Freiheit des Denkens trennen«8 kann. »In der
Fichtes Alternative zunächst um die »Notwendigkeit des Den-
Erfahrung«, sagt Fichte, »ist das Ding, dasjenige, welches unab-
kens« selbst, »die ... zu der Frage treibt: welches ist der Grund
hängig von unserer Freiheit bestimmt sein, und wonach unsere
der Vorstellungen, oder, was ganz dasselbe heißt, welches ist das
Erkenntnis sich richten soll, und die Intelligenz, welche erken-
ihnen Entsprechende«?l1 Da aber Ich und Ding als selbständige
nen soll, unzertrennlich verbunden. Der Philosoph kann von
Größen bloß im Denken, nicht jedoch realiter, koexistieren kön-
einem von beiden abstrahieren, und er hat dann von der Erfah-
nen und nur »eines ... das Erste, Anfangende, Unabhängige
rung abstrahiert, und über dieselbe sich erhoben. Abstrahiert er
sein«12 kann, bedarf es einer - keineswegs rational begründbaren
von dem ersteren, so behält er eine Intelligenz an sich, das heißt,
- Entscheidung; »denn es ist nicht von Anknüpfung eines Glie-
abstrahiert von ihrem Verhältnis zur Erfahrung; abstrahiert er
des in der Reihe, wohin allein Vernunftgründe reichen, sondern
von dem letzteren, so behält er ein Ding an sich, das heißt,
von dem Anfangen der ganzen Reihe die Rede, welches, als ein
abstrahiert davon, daß es in der Erfahrung vorkommt, als Erklä-
absolut erster Akt, lediglich von der Freiheit des Denkens ab-
rungsgrund der Erfahrung übrig. Das erste Verfahren heißt Idea-
hängt. Er wird daher durch Willkür, und da der Entschluß der
lismus, das zweite Dogmatismus. Es sind ... nur diese beiden
Willkür doch einen Grund haben soll, durch Neigung und Inter-
philosophischen Systeme möglich. Nach dem ersten Systeme
esse bestimmt. Der letzte Grund der Verschiedenheit des Ideali-
sind die von dem Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vor-
sten und Dogmatikers, ist sonach die Verschiedenheit ihres In-
stellungen Produkte der ihnen in der Erklärung vorauszusetzen-
teresses.« 13 Glaubt dieser an die Dinge »um ihrer selbst willen«,
den Intelligenz; nach dem letzteren, Produkte eines ihnen vor-
weiß er sich als ein »nur durch die Objekte getragenes Selbst« 14,
auszusetzenden Dinges an sich . ... Es wird gar nicht geleugnet,
so bedarf jener, in unmittelbarer Selbstgewißheit, keiner ihn
daß es wohl möglich sei, aus Bruchstücken dieser ungleichartigen
stützenden Außenwelt. »Das Ich, das er besitzt, und welches ihn
Systeme ein Ganzes zusammenzuschmelzen, und daß diese in-
interessiert, ... glaubt an seine Selbständigkeit aus Neigung, er
konsequente Arbeit wirklich sehr oft getan worden: aber es wird
ergreift sie mit Affekt.«15
geleugnet, daß bei einem konsequenten Verfahren mehrere als
diese beiden Systeme möglich seien.«9 Engels und Fichte - zwei nach Lehre und geschichtlichem Ort
kaum vergleichbare Autoren - wurden hier mit charakteristi-
Fügen wir dem hinzu, daß Fichte - darin Engels verwandt _ die
schen TextsteIlen vorgeführt, um zu belegen, daß die »höchste
Möglichkeit bestreitet, eine Parteinahrne, sei's für den Idealis-
Frage der gesamten Philosophie«, wie Engels sie nennt, keine
mus, sei's für den Dogmatismus (worunter er unmittelbar das
marxistische Erfindung ist. Jedes einigermaßen konsequente
System Spinozas, im weiteten Sinn die materialistische Philoso-
10 Ibid., S. 18.
, Fichte, Erste lind zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, herausgegeben von
Fritz Medicus, Hamburg 1954, S. 10. ' " Ibid., S. 19.
7 Ibid., S. 12. 11 Ibid.
14 Ibid., S. 20.
9 Ibid., S. 12; 13 (Hervorhebungen von Fichte).
15 Ibid.
26
27
Denken, vollends das Schopenhauersche, stößt - bei aller tenn i- dualistischer (oder spiritualistischer) Metaphysiken begünstigt.
nologischen Eigenart - auf das nämliche Sachproblem: die Ist 'einmal der einzelne Mensch aufgespalten in einen edleren,
strenge Unterscheidung von Idealismus und Materialismus. Daß überdauernden Teil und einen weniger edlen, hinfälligen, so
sie sich nicht im Erkenntnistheoretischen erschöpft, sondern bietet sich, religiös wie in philosophisch vennittelter Fonn, der-
einen metaphysischen, damit auch ethischen Hintergrund hat, von Engels verworfene - Gedanke einer »Weltschöpfung« von
erhellt aus Fichtes Eintreten für den Idealismus, der ihm zufolge
selbst an.
Freiheit voraussetzt und verbürgt. 16 Jener - auf Kant zurückge- Auch Schopenhauer geht davon aus, daß das »metaphysische
hende - Hintergrund fehlt auch bei Schopenhauer nicht; er ver- Bedürfnis des Menschen« - erörtert wird es im ergänzenden Teil
wirft den krassen Naturalismus als »absolute Physik« und ver- des Hauptwerks - eher mit den empirischen Bedingungen seiner
weist ihr gegenüber auf die metaphysische, für alle gerecht und Existenz gesetzt ist als mit dem (für sich betrachteten) Denk-
gut Denkenden verbindliche überzeugung, daß »die Ordnung vermögen. Der Mensch, sagt Schopenhauer, ist »das großen und
der Natur« nicht »die einzige und absolute Ordnung der kleinen Unfällen, ohne Zahl, täglich und stündlich Preis gegebe-
Dinge«17 ist. - Was das Engelssche Verfahren betrifft, die Frage ne, hülfsbedürftigste Wesen ... , welches daher in beständiger
nach dem genetischen und kognitiven Verhältnis von Geist und Sorge und Furcht zu leben hat«.19 Es ist »das Wissen um den Tod,
Natur nicht allein im Medium abstrakter Begrifflichkeit zu stel- und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der Noth des
len und zu beantworten, sondern stets auch auf praktisch-ge- Lebens, was den stärksten Anstoß ... zu metaphysischen Ausle-
schichtlichem Boden, so ist es Schopenhauer weriiger fremd, als gungen der Welt giebt. Wenn unser Leben endlos und schmerz-
man zunächst vermuten möchte. »Der Mensch«, heißt es im los wäre, würde es vielleicht doch Keinem einfallen zu fragen,
Handschriftlichen Nachlaß, »ist ... ein praktisches Wesen: denn warum die Welt dasei und gerade diese Beschaffenheit habe;
das Primäre in ihm, der WIlle prädominirt über den Intellekt.« 18 sondern eben auch sich Alles von selbst verstehn.«20 Engels'
Dieser ist sekundär. Seine Funktionen stehen, nonnalerweise, im Definition, Materialismus sei die Erklärung der Welt ohne Zuhil-
Dienste des Lebens, das unentwegt danach trachtet, sich zu fenahme eines ihr Vorgängigen und Fremden, gilt - mutatis
erhalten und zu steigern. Selbst die Inhalte von Religion und mutandis - auch für Schopenhauer. »Der ernstlich gemeinte
Metaphysik entspringen nicht bloßer Reflexion, sondern sind Theismus«, heißt es im ersten Teil der Parerga, »setzt nothwen-
»vortheoretisch« gegeben. Wenn Engels betont, die »höchste«, dig voraus, daß man die Welt einteile in Himmel und Erde: auf
das heißt nicht hinterschreitbare »Frage der gesamten Philoso- dieser laufen die Menschen herum; in jenem sitzt der Gott, der sie
phie« habe, »nicht minder als alle Religion, ihre Wurzel in den regiert. Nimmt nun die Astronomie den Himmel weg; so hat sie
... Vorstellungen des Wildheitszustands«, so pflichtet dem den Gott mit weggenommen: sie hat nämlich die Welt so ausge-
Schopenhauer - der Sache nach - ebenso bei wie der grundsätzli- dehnt, daß für den Gott kein Raum übrig bleibt. Aber ein per-
cheren These von Engels, daß die durch das unentrinnbare Fak- sönliches Wesen, wie jeder Gott unumgänglich ist, das keinen
tum des Todes hervorgerufene Verlegenheit das Aufkommen Ort hätte, sondern überall und nirgends wäre, läßt sich bloß
16 Cf. ibid., S. 30ff.
sagen, nicht imaginiren, und darum nicht glauben.«21 Fragwür-
dig ist die Annahme eines Hervorgangs der Welt aus Gott nicht
17 Schopenhauer, Sämtliche Werke, herausgegeben von Arthur Hübscher, Band 3,
Wiesbaden 1949, S. 194. nur angesichts naturwissenschaftlicher ~esultate - sie ist vor
" Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß, herausgegeben von Arthur Hüb-
19 Schopenhauer, Siimtliche Werke, Band 3, I. c., S. 164f.
scher, IU. Band, Frankfurt am Main 1970, S. 578 (Hervorhebungen von Scho-
penhauer). 10 Ibid., S. 17M.
!l Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 5, Wiesbaden 1946, S. 55.
28
29
allem moralisch verwerflich. Die Welt, konzediert Schopen- penhauer »an sich selbst ein so kolossaler Gedanke, . . . daß
hauer, mag einzelwissenschaftlich, obschon nicht restlos, er- außerordentliche Dreistigkeit dazu gehört, den Leuten aufbin-
forschbar sein. Aus sich selbst zu rechtfertigen ist sie nicht. Es den zu wollen, er verstehe sich von selbst« .28 Schopenhauer - das
läßt sich keine »Endursache ihres Daseyns«22 angeben. Wir kön- folgt aus dem Angeführten -lehnt ebenso den allemal optimisti-
nen nicht nachweisen, daß »sie zu ihrem eigenen Vortheil da- schen Pantheismus ab. Die »Hegelsche Weisheit, ... daß die
sei«.23 Zum theoretischen Problem wird sie eben dadurch, daß Welt ein krystallisirter Syllogismus sei«29, ist ihm nicht weniger
sie, »praktisch ausgedrückt, nicht seyn sollte«.24 Aus ihrer meta- verdächtig als Versuche, den Naturlauf theologisch zu verklären.
physischen Beschaffenheit folgt zwingend, daß »nur ein blinder, Auch eine »Natura naturans« - Schopenhauer denkt an seine
kein sehender Wille sich selbst in die Lage versetzen [konnte], in Willensmetaphysik - ist kein sich »unmittelbar von selbst« ver-
der wir uns erblicken. Ein sehender Wille würde vielmehr bald stehender Gott; »denn dem Demokrit, Epikur, Lukrez und sy-
den überschlag gemacht haben, daß das Geschäft die Kosten steme de la nature war die N atura naturata Alles in Allem: und
nicht deckt, indem ein so gewaltiges Streben und Ringen, mit jeder von diesen Männern ist mehr werth als eine Legion Wetter-
Anstrengung aller Kräfte, unter steter Sorge, Angst und Noth, fahnen, deren Philosophie sich nach dem Winde dreht«.30 -
und bei unvermeidlicher Zerstörung jedes individuellen Lebens, Bezeichnend, daß Schopenhauer angesichts konformistischer,
keine Entschädigung findet in dem so errungenen, ephemeren, nach Kants Kritik philosophisch untauglicher Rettungsversuche
unter unseren Händen zu nichts werdenden Daseyn selbst.«25 vage theologisierender Kreise sich bei großen Materialisten im-
Die sich »hinter einem Bollwerk schallender Worte«26 verschan- mer noch in besserer Gesellschaft weiß.
zende Theologie, zumal von Philosophieprofessoren, will- of- Kommen wir jetzt auf Schopenhauers Behandlung dessen zu-
fenbar unberührt vom Elend dieser Welt - nicht von dem Dogma rück, was in der marxistischen Schulsprache die »Grundfrage der
lassen, das Ganze der Dinge sei einem Logischen, einer Intelli- Philosophie« heißt. Wir werden dabei auf Parallelen zu Engels
genz entsprungen. Es gehört zu Schopenhauers Redlichkeit, sich stoßen, die freilich, wenn wir den Blick von den Personen auf die
mit derlei verbalen Künsten nicht abspeisen zu lassen. So bringt Sachen lenken, weniger erstaunlich sind; als es zunächst den
er seine Gegner gerade dadurch in Bedrängnis, daß er ihnen Anschein hat. Hebt Engels hervor, daß jene Grundfrage •• in ihrer
gegenüber am streng traditionellen Gottesbegriff festhä1t: »Ein vollen Schärfe« erst nach dem »langen Winterschlaf des christli-
Gott ist nothwendig ein persönliches Wesen: ein unpersönlicher chen Mittelalters« gestellt werden konnte, so läßt auch Schopen-
Gott ist gar kein Gott, sondern nur ein mißbrauchtes Wort ... hauer seine knappe Geschichte der »Lehre vom Idealen und
Persönliche Wesen aber, d. h. individuell erkennende und wol- Realen« mit Descartes beginnen, mit einer Zeit also, die über die
lende Wesen, sind eine Erscheinung, die uns schlechterdings nur Autorität der Bibel und des Aristoteles hinausgelangt war. »Car-
aus der animalischen Natur bekannt ist und die wir uns als von tesius«, sagt Schopenhauer, »gilt mit Recht für den Vater der
dieser getrennt nicht ein Mal vorstellen können.«27 Daß ein neuern Philosophie, ... weil er zuerst sich das Problem zum
persönliches Geistwesen »Ursprung der Welt« sei, ist für Scho- Bewußtseyn gebracht hat, um welches seitdem alles Philosophie-
ren sich hauptsächlich dreht: das Problem vom Idealen und
12 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c., S. 664.
2J Ibid. Realen, d. h. die Frage, was in unserer Erkenntniß objektiv und
24 Ibid. (Hervorhebung von Schopenhauer). was darin subjektiv sei, also was darin etwaningen, von uns
25 Ibid., S. 665.
28 Ibid., S. 615.
2. Schopenhauer, Der handschnftliche Nachlaß, III. Band, I. c., S. 614 ..
27 Ibid., S. 614 f. ,. Ibid., S. 582 (Hervorhebungen von Schopenhauer).
JO Ibid., S. 614.
30
3\
verschiedenen Dingen, und was uns selber zuzuschreiben sei.«31 bloßen Vorstellung gegeben werden«.34 Es muß deshalb, »weil
Im weiteren schildert Schopenhauer die vorkritisch-abbildreali- doch wir selbst unstreitig real sind, aus dem Innern unsers eige-
stisch gegebene Situation und die mit ihr sogleich einhergehen- nen Wesens die Erkenntniß des Realen ... zu schöpfen seyn«.35
den Schwierigkeiten: »In unserm Kopfe nämlich entstehn, nicht Worin aber besteht in uns dieses nicht diskursiv, sondern intuitiv
auf innern, - etwan von der Willkür, oder dem Gedankenzusam- zu erfassende »Reale«? Es ist dasjenige, was die Identität der
menhange ausgehenden, - folglich auf äußern Anlaß, Bilder. Person ausmacht. Gestiftet wird sie, nach Schopenhauer, weder
Diese Bilder allein sind das uns unmittelbar Bekannte, das Gege- durch den - im Verlauf eines Lebens wandelbaren - Leib noch
bene. Welches Verhältniß mögen sie haben zu Dingen, die völlig d1.lrch die Einheit des Bewußtseins: »Im Herzen steckt der
gesondert und unabhängig von uns existirten und irgendwie Mensch, nicht im Kopf. Zwar sind wir, in Folge unserer Relation
Ursache dieser Bilder würden? Haben wir Gewißheit, daß über- mit der Außenwelt, gewohnt, als unser eigentliches Selbst das
haupt solche Dinge nur dasind? und geben, in diesem Fall, die Subjekt des Erkennens, das erkennende Ich, zu betrachten ...
Bilder uns auch über deren Beschaffenheit Aufschluß? _ Dies ist Dieses ist jedoch . . . bloße Gehirnfunktion und nicht unser
das Problem, und in Folge desselben ist, seit 20d Jahren, das eigenstes Selbst.«36 Fragen wir im Ernst, wie es darum bestellt ist,
Hauptbestreben der Philosophen, das Ideale, d. h. Das, was un- so stoßen wir auf den Willen als einheitlichen Wesenskern; er ist
serer Erkenntniß allein und als solcher angehört, von dem Rea- erkenntnislos, jedoch »unveränderlich, unzerstörbar ... , nicht
len, d. h. dem unabhängig von ihr Vorhandenen, rein zu sondern, physisch, sondern metaphysisch, nicht zur Erscheinung gehörig,
durch einen in der rechten Linie wohlgeführten Schritt, und so sondern das Erscheinende selbst«.3?
das Verhältniß Beider zu einander festzustellen.«32 Andererseits bedarf es immer auch des Physischen, wenn man
Sowenig es sich hier darum handeln kann, Schopenhauers über- darauf abzielt, sich des Metaphysischen zu v;!rsichern. Zwar
legungen aus dem ersten Band der Parerga ausführlich zu kom- werde ich des Willensprimats als einer (auf anderes irredukti-
mentieren - sie enthalten, worauf es uns ankommt, eine klare bIen) Tatsache meines Selbstbewußtseins unmittelbar inne.
Exposition der für die neuzeitliche Philosophie und ihr gegen- Doch ist, wie Schopenhauer betont, diese Erkenntnis des Willens
wärtiges Fortwirken entscheidenden Problematik. Ihre von keineswegs abzulösen von der meines Leibes: »Ich erkenne mei-
Schopenhauer vorgetragene Lösung liegt beschlossen im Titel nen Willen ... nicht als Einheit ... , sondern allein in seinen
seines Hauptwerks. Dieses - Metaphysik und Gnoseologie zu- einzelnen Akten, also in der Zeit, welche die Form der Erschei-
gleich - ist bestrebt, alles Sein und Erkennen auf etwas zurückzu- nung meines Leibes, wie jedes Objekts ist: daher ist der Leib
führen, »worüber hinaus es kein Erklärungsprincip mehr geben Bedingung der Erkenntniß meines Willens«38 oder, anders ge-
kann; weil es das Unmittelbarste und also Letzte ist«.33 Dabei wendet, was anschaulicher Vorstellung sich als Leib darstellt,
folgt Schopenhauer insofern der durch Descartes eröffneten Ent- »nenne ich, sofern ich desselben auf eine ... keiner andern zu
wicklungslinie, als auch er das Selbstbewußtsein für allein gewiß, vergleichende Weise mir bewußt bin, meinen Willen«.39
alles übrige jedoch für problematisch hält. Da wir ein für allemal
dem Umkreis des »Idealen«, das heißt unserer Subjektivität ver- 34 Ibid., S. 20f. (Hervorhebung von Schopenhauer).
haftet sind, kann uns das »absolut Reale, oder das Ding an sich 35 Ibid., S. 21 f.
36 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c., S. 270f. (Hervorhebungvon Scho-
selbst, ... nimmermehr geradezu von außen, auf dem Wege der penhauer). .
JI Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 5, I. c., S. 3. 37Ibid.
32Ibid. 3B Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, Wiesbaden 1949, S. 121.
33 Ibid., S. 20. " Ibid., S. 122.
32 33
Bezogen auf seinen Leib, ist das Subjekt der Erkenntnis empiri-
sches Individuum; es erfährt sich »über sein Wirken und Bewe- Raum und Zeit und Kausalität, ... als Vorstellung dem Idealen
angehört; als das Reale aber allein der Wille übrig bleibt ... Wille
gen auf Motive« sowie »über sein Leiden durch äußere Einwir-
kung« 40 in seinem An-sich. Unter allen möglichen Vorstellungen und Vorstellung allein sind von Grund aus verschieden, sofern sie
ist es nur die seines Leibes, welche ihm dazu verhilft, seiner selbst den letzten Gegensatz in allen Dingen der Welt ausmachen ...
Das vorgestellte Ding und die Vorstellung von ihm ist das Selbe,
als Wille bewußt zu werden, das heißt als etwas, das den Bezirk
aber auch nur das vorgestellte Ding, nicht das Ding an sich selbst:
bloßer Vorstellungen transzendiert. Wird nach der "Realität der
Außenwelt« gefragt, so kann es lediglich darum gehen, ob die dieses ist stets Wille, unter welcher Gestalt auch immer er sich in
der Vorstellung darstellen mag.«44
dem Individuum »nur als Vorstellungen bekanntencObjekte«
zugleich - analog zu seinem Leib - »Erscheinungen des Willens In Schopenhauers Scheidelinie zwischen den Sphären des Idealen
sind«.41 Wir müssen, laut Schopenhauer, annehmen, daß dem so und des Realen reflektiert sich die eigentümlich verwickelte Pro-
ist; anderenfalls wäre das Gespenst des Solipsismus, der rein blemlage seines Philosophierens. Mit Kant hält er an der Distink-
argumentativ kaum widerlegt werden kann, nicht zu bannen. tion von Erscheinung und Ding an sich fest. Sofern er jedoch, im
Was von unserem Leibe gilt: daß wir von ihm zwei gänzlich Einklang mit den (sonst von ihm souverän mißachteten) Vertre-
verschiedene Arten der Erkenntnis besitzen, muß entsprechend tern nachkantisch-spekulativen Denkens, das Ding an sich für
von allen sonstigen Objekten gelten. Wille und Vorstellung sind erkennbar erklärt, überschreitet auch er die kritizistische Grenze
die beiden Letztelernente des Selbstbewußtseins. Soll der _ zu- von Erkenntnis. Dies freilich nicht im Sinn eines schlechten
nächst nur ihm gegebenen - Körperwelt zugleich die »größte uns Widerspruchs. Daß Schopenhauer die Erkennbarkeit des Dinges
an sich mit dessen Getrenntheit von der Erscheinungswelt zu
bekannte Realität« zukommen, so kann sie nur diejenige sein,
»welche für Jeden sein eigener Leib hat: denn der ist Jedem das vereinbaren sucht, beruht auf seiner entschiedenen Absage an ein
Realste«.42 Seine Realität analysierend, stellen wir fest, daß er, positiv Unendliches. Schopenhauer hütet sich, jene Erkennbar-
abgesehen von der vorstellungsmäßigen Seite, Wille ist. >? Wir keit mit der »Vergeistigung« des an sich Erkannten zu erkaufen.
Ihm ist das apologetische, den Weltlauf verklärende Moment
können daher«, schlußfolgert Schopenhauer hieraus, »eine an-
derweitige Realität, um sie der Körperwelt beizulegen, nirgends aller Identitätsphilosophie bewußt. 45 Gleichwohl besteht auch
finden. Wenn also die Körperwelt noch etwas mehr seyn soll, als für Schopenhauer keine unvermittelte Dualität der Bereiche;
bloß unsere Vorstellung, so müssen wir sagen, daß sie ... an sich beide gehören, obzwar ihnen verschiedene Erkenntnisweisen
und ihrem innersten Wesen nach ... Das sei, was wir in uns zugeordnet sind, der nämlichen Welt an. Vorstellung und Wille
selbst unmittelbar als Willen finden.«43 (mit deutlichem Vorrang des letzteren innerhalb der Vermitt-
Hieraus ergibt sich, daß die von Schopenhauer (im Sinn der lung) sind ihre Attribute.
philosophiegeschichtlichen Entwicklung seit Descartes) gefor- Daß Schopenhauer die gemeinhin »materiell« genannte, raum-
derte Demarkationslinie zwischen Realem und Idealem so aus- zeitlich und kausal strukturierte Welt dem »Idealen« zurechnet,
dessen Wesen dagegen: das »Reale« im Willen erblickt, ist in der
fällt, daß »die ganze anschaulich und objektiv sich darstellende
Welt, mit Einschluß des eigenen Leibes eines Jeden, sammt Literatur immer wieder als objektiv-idealistischer Grundzug sei-
ner Lehre verstanden worden. Schopenhauer selbst legt diese
'" Ibid., S. 123.
'1 Ibid., S. 124. .. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 5, I. c., S. 21 (Hervorhebungen von Scho-
" Ibid., S. 125. penhauer). -
" Ihid., S. 125 f. 45 Darin strikter Gegner namentlich HegeIs, spem sich Schopenhauer dagegen, den
55 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 6, Wiesbaden 1947, S. 634. 5& Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c., S. 194.
40 41
und Moleschott betrifft, so hat Schopenhauer ihn verfolgt und nicht . . . mit der empirisch gegebenen . . . Materie« zu tun
bissig kommentiert. 57 haben, sondern mit einem Produkt bloßer Abstraktion; ihre
Materialismus (wenn wir hier nur den der Neuzeit berücksichti- Materie hat »schlechthin keine andern, als jene mechanischen
gen) ist für Schopenhauer, nach heutiger Terminologie, mechani- Eigenschaften«.61 Sämtlicher ihr wesentlich anhaftender Quali-
scher Materialismus, der - die antike Atomistik erneuernd _ Sein täten entkleidet, bleibt »Materie zurück als das Eigenschaftslose,
mit körperlichem Sein identifiziert. Dieses Sein ist ewig bewegt das caput mortuum der Natur, daraus sich ehrlicherweise nichts
im Sinn bloßer Ortsveränderung und durchweg mathematisch machen läßt«. 62 - Schopenhauer (das verbindet seine Philosophie
bestimmbar. Alles Qualitative: äußere Form des Stoffs, läßt sich mit zeitgenössischen Tendenzen etwa Blochs) ·stellt nun die -
daher auf Quantitatives reduzieren. Es handelt sich hier um freilich für ihn selbst hypothetisch bleibende - überlegung an,
dogmatischen Objektivismus, wie er zu Schopenhauers Zeiten ob nicht ein Materialismus ohne mechanistische Scheuklappen
(die allgemeine Rückbesinnung auf Kant stand noch aus) »das denkbar wäre, der sich an "die wirklich und empirisch gegebene
Ziel und das Ideal aller Naturwissenschaft«58 bildete. Schopen- Materie« hielte, »ausgestattet wie sie ist, mit allen physikalischen,
hauer ist angesichts der öde und Dürre solcher Weltansicht chemischen, elektrischen und auch mit den aus ihr selbst das
sogar bereit, die »Träumereien der Schellingischen Naturphilo- Leben spontan hervortreibenden Eigenschaften«.63 Die solcher-
sophie und ihrer Anhänger« zu verteidigen; waren sie »doch art qualifizierte Materie6 4 wäre die »wahre mater rerum, aus
meistens geistreich, schwunghaft, oder wenigstens witzig«. 59 Die deren dunkelm Schooße alle Erscheinungen und Gestalten sich
Materialisten seiner Zeit hingegen gehen »plump, platt ... und hervorwinden, um einst in ihn zurückzufallen«; so ließe »aus der
täppisch« zu Werke; sie vermögen »keine andere Realität zu vollständig gefaßten und erschöpfend gekannten Materie ... sich
denken ... , als eine gefabelte eigenschaftslose Materie, die dabei schon eine Welt konstruiren ... , deren der Materialismus sich
ein absolutes Objekt ... wäre, und zweitens keine andere Thä- nicht zu schämen brauchte«.65
tigkeit, als Bewegung und Stoß: diese zwei allein sind ihnen Dem ist beizupflichten. Nur wäre damit das strikt »physikalisti-
faßlich, und daß auf sie Alles zurücklaufe, ist ihre Voraussetzung sche« Verfahren aufgegeben; man hätte, wie Schopenhauer mit
a pn'ori: denn sie sind ihr Ding an sich. DiesesZiel zu erreichen«, Recht zu bedenken gibt, »die Quaesita in die Data« verlegt,
fährt Schopenhauer fort, »wird die Lebenskraft auf chemische »indem man angeblich die bloße Materie, wirklich aber alle ...
Kräfte ... und alle Processe der unorganischen Natur auf Me- geheimnißvollen Kräfte der Natur, welche ... mittelst ihrer uns
chanismus, d. h. Stoß und Gegenstoß zurückgeführt. Und so sichtbar werden, als das Gegebene nähme und zum Ausgangs-
wäre dann am Ende die ganze Welt ... bloß ein mechanisches punkt der Ableitungen machte«.66 Was die Materie an höheren
Kunststück, gleich den durch Hebel, Räder und Sand getriebe- Daseinsweisen erst hervorbringen soll, wird ihr von vornherein
nen Spielzeugen, welche ein Bergwerk, oder ländlichen Betrieb zugeschrieben, womit das Problem sich verflüchtigt. 67 Zustande,
darstellen. «60
61 Ibid., S. 358 (Hervorhebung von Schopenhauer).
Schopenhauer bemängelt, daß es die Materialisten »eigentlich gar 62 lbid., S. 360.
63 Ibid. (Hervorhebung von Schopenhauer).
57 Cf. etwa Sämtliche Werke, Band 4, l. c., S. Xf. sowie Sämtliche Werke, Band 3, ... Positiv vertreten wird dieser Begriff von Materie von Bloch, dessen Gewährsleu-
l. c., S. 196, wo Schopenhauer den -Mode-Materialismus« der fünfziger Jahre als te, neben Hege! und den Begründern des Marxismus, unter den neueren Philoso-
-rechte BarbiergeseIIen- und Apotheker-Lehrlings-Philosophie« bezeichnet. phen nicht zufällig Bruno, Parace!sus, Böhme und Schelling sind.
58 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, l. c., S. 33. 65 Schopenhauer, op. cit., S. 360.
59 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, l. c., S. 359. 66 lbid.
'" Ibid., S. 359f. (Hervorhebung von Schopenhauer). 67 Eine Schwierigkeit, die gerade dem marxistischen Materialismus keineswegs
42 43
sagt Schopenhauer, kommt derart »kein eigentlicher Materialis- lich die erkannte Materie, wovon Schopenhauer ausgeht, irre-
mus mehr ... , sondern bloßer Naturalismus, d. h. eine absolute duktibel auf "Aeußerungen der Undurchdringlichkeit, Form,
Physik, welche ... nie die Stelle der Metaphysik ... ausfüllen Kohäsion, Stoßkraft, Trägheit« und »Schwere«69, ist sie ange-
kann, eben weil sie erst nach so vielen Voraussetzungen anhebt, messener gekennzeichnet als» Vehikel der Qualitäten und Na-
also gar nicht ein Mal unternimmt, die Dinge von Grund aus zu turkräfte, welche als ihre Accidenzien auftreten </0, und lassen
erklären. Der bloße Naturalismus ist daher wesentlich auf lauter diese sich auf ein intensives Agens: den Willen zurückführen,
Qualitates occultae basirt, über welche man nie anders hinaus- dann ergibt sich daraus die Lehre von der Materie als seiner
kann, als dadurch, daß man ... die subjektive Erkenntnißguelle »Sichtbarkeit« .
zu Hülfe nimmt, was dann ... auf den ... mühevollen Umweg Was also Schopenhauer am naturwissenschaftlich unterbauten
der Metaphysik führt, indem es die vollständige Analyse des Materialismus der Vergangenheit und noch seiner Gegenwart
Selbstbewußtseyns und des in ihm gegebenen Intellekts und auszusetzen hat, ist zunächst dies, daß dessen Verfechter ein
Willens voraussetzt.«68 unzureichendes Bild der Materie liefern; philosophisch unbe-
Verdeutlichen wir uns nochmals die denkstrategische Rolle des kümmert, übersehen sie, daß Materie »mehr ein metaphysisches,
hier von Schopenhauer hypothetisch angesetzten »Naturalis- als ein bloß physisches Erklärungsprincip der Dinge</! ist. Es
mus« (dem freilich, wie Blochs Studien dartun, philosophiege- offenbart sich hierin die falsche Selbstgenügsamkeit von Gelehr-
schichtlich wichtige Traditionen entsprechen). Er enthält, mo- ten, die den Materialismus als unmittelbare, näherer Begründung
dern ausgedrückt, eine »vitalistische« Kritik am reinen Mechani- nicht bedürftige Konsequenz ihrer Forschungspraxis betrachten.
zismus, die (sosehr sie zunächst gegen Mängel der damaligen Demgegenüber sieht Schopenhauer, für seine Zeit erstaunlich
Naturwissenschaft gerichtet sein mag) das vermittelnde Glied früh, daß der bloß physikalische Materialismus, abgesehen von
darstellt zwischen diesem und der Willensmetaphysik. Ist näm- seiner philosophischen Naivität, sich auch innerwissenschaftlich
fremd ist. So erklän Lenin (im Anschluß an Diderot, Haeckel und andere nicht halten läßt; geht doch »die ganze mechanische und atomi-
Naturforscher): .. Der Materialismus betrachtet ... als das ursprünglich Gegebe- stische Naturansicht ihrem Bankrott entgegen, ur1d die Verthei-
ne die Materie, als das sekundäre - Bewußtsein, Denken, Empfindung; denn die diger derselben haben zu lernen, daß hinter der Natur etwas
Empfindung ist in klar ausgeprägter Form nur mit den höchsten Formen der mehr steckt, als Stoß und Gegenstoß«.72 - In Schopenhauers
Materie (der organischen Materie) verbunden, und in den .Grundsteinen des
Gebäudes der Materie, kann man nur die Existenz einer Fähigkeit, die der
Metaphysik des Willens, der sich »psychisch« wie »energetisch«
Empfindung ähnlich ist, annehmen« (in: Matenalismus und EmpiriokritizismllS, deuten läßt 73 , einer Metaphysik, die ein absolut Reales jenseits
1. c., S. 37; cf. auch S. 85). Lenin sieht sich, mit anderen Wonen, genötigt, eine- •• Ibid., S. 357.
zumindest potentielle - .Empfindungsbegabtheit. schon der anorganischen Ma- 70 Ibid., S. 360 (Hervorhebung von Schopenhauer).
terie vorauszusetzen, wenn anders das Auftreten empfindender Materie kein 71 Ibid., S. 354.
pures Wunder sein soll. Freilich ergibt sich daraus für den Materialismus die 72 Ibid.
Gefahr überzugehen in sein Gegenteil: eine Philosophie der .. Allbeseeltheit«. _ 73 Um die Jahrhundenwende kommen Schopenhauer-Interpretationen auf, die
Daher der in der marxistischen Literatur permanent, häufig mit mühsamen bestrebt sind, die Vereinbarkeit der Willensmetaphysik mit dem damals unter
Distinktionen, gefühne Zweifrontenkrieg gegen .. Hylozoismus« und .. Mechani- Naturforschern noch gängigen Materialismus nachzuweisen. So heißt es in einem
zismus«; cf. dazu etwa das Werk des bulgarischen Philosophen Todor Pawlow, Jugendmanuskript Blochs Ober die Kraft und ihr Wesen aus dem Jahre 1902,
Die Widerspiegelungstheorie, Berlin 1973, S. 70 f... Widerspiegelung« wird hier .Philosophie der Kraft. löse .. alle Stoffe und Elemente in Energie auf wie die
(5. 57) als .. eine Eigenschaft. bestimmt, .. die der gesamten Materie eigentümlich, Naturwissenschaft., sie deute .das Ding an sich als energetischen allgemeinen
ihrem Wesen nach mit der Empfindung verwandt, jedoch nicht mit dieser Willen« (Motto zu Blochs Schrift Philosophische Au/sätze, Frankfun am Main
identisch ist«.
1969). - Erwähnt sei ferner, mehr als Kuriosum, das reichlich apokryphe Buch
" Schopenhauer, op. cit., S. 361 (Hervorhebungen von Schopenhauer). Aether und Wille oder Haeckel und Schopenhauer, Leipzig 1901, von Richard
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von logischem Geist und roher Dinglichkeit zu benennen sucht, den Materialismus, in der Lehre des Leukippos und Demokritos,
setzt sich die historische und sachliche Notwendigkeit eines auftreten, ja, auch später von Zeit zu Zeit sich immer wieder
qualitativ neuen Naturbildes durch. erneuern sehn«.77
Der andere Hauptmangel des traditionellen Materialismus, den Der Materialismus bildet, so betrachtet, eine beständige, prinzi-
Schopenhauer mehrfach und entschieden kritisiert hat, besteht pielle Möglichkeit des menschlichen Geistes; er ist, was seine
darin, daß jener annimmt, die Materie sei »ein schlechthin und erkennmistheoretische Seite betrifft, lebensweltlich bedingt, da-
unbedingt Gegebenes</\ er ist »die Philosophie des bei seiner her relativ berechtigt. Zunächst jedoch ist er für Schopenhauer
Rechnung sich selbst vergessenden Subjekts«.75 Nun ist die An- Gegenstand von Erkenntniskritik. Deren Hauptrnomente sind
nahme einer transsubjektiven Gegenstandswelt, eines Seienden jetzt darzustellen. - Die »Kontroverse über das Reale und
unabhängig vom Denken nichts Abwegiges; sie drängt sich der Ideale« (von ihr war hier bereits die Rede) bezieht sich letztlich
alltäglich-praktischen Erfahrung vorphilosophischen Bewußt- auf die »Existenz der Materie«.78 Ist diese, fragt Schopenhauer,
76
seins auf. Davon läßt auch Schopenhauers erkenntnistheoreti- "bloß in unserer Vorstellung vorhanden, oder ist sie es auch
sche Analyse des Materialismus sich leiten: Das »Ausgehn vom unabhängig davon« ?79 Beide Positionen werden in der bürgerli-
Objektivem, welchem die so deutliche und faßliche äußere An- chen Philosophie des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts
schauung zum Grunde liegt, [ist] ein dem Menschen so natürli- verfochten. Wer »eine an sich existirende Materie annimmt,
cher und sich von selbst anbietender Weg, daß der Naturalismus muß, konsequent, auch Materialist seyn, d. h. sie zum Erklä-
und ... der Materialismus . .. Systeme sind, auf welche die rungsprincip aller Dinge machen. Wer sie hingegen als Ding an
spekulirende Vernunft ... zu allererst gerathenmuß: daher wir sich leugnet, ist eo ipso Idealist. Geradezu und ohne Umweg die
gleich am Anfang der Geschichte der Philosophie den Naturalis- Realität der Materie behauptet hat, unter den Neueren, nur
mus, in den Systemen der Ionischen Philosophen, und darauf Locke: daher hat seine Lehre, unter Condillac's Vermittelung,
Wagner, das Schopenhauers Werk der Haeckel-Gemeinde als .Bibel der moni-
zum Sensualismus und Materialismus der Franzosen geführt.
stischen Religion« (S. 95) empfiehlt. Schopenhauers Lehre, daß die Materie Geradezu und ohne Modifikationen geleugnet hat die Materie
wesentlich Wirken, die objektiv aufgefaßte Kausalität selbst sei, kehrt bei Wag- nur Berkeley. Der durchgeführte Gegensatz ist also Idealismus
ner modifiziert wieder. Er sieht in allen Dingen »nur verschiedene Bewegungs- und Materialismus, in seinen Extremen repräsentirt durch Ber-
formen der U renergie des Aethers., der sich »ausserhalb '!nserer Vorstellung ...
keley und die französischen Materialisten (Holbach).«8o
als ein wirres Knäuel der verschiedenartigsten Bewegungen darstellt« (S. 92;
cf. S. 50). Wagner spricht der »Urenergie«, dem »Aether an sich., von vornher- Derart umreißt Schopenhauer die ihm philosophiegeschichtlich
ein »Strebung und Fühlung« zu (cf. S. 46f.). WagnersSchopenhauer-Interpreta_ vorgezeichnete Ausgangssituation seiner Erwägungen. Systema-
tion, in Haeckels »hylozoistischem« Materialismus ebenso vorgebildet wie in tisch betrachtet, laufen diese auf die Kritik des notwendig zum
Wilhe1m Ostwalds »Energetik., ist hier nicht weiter zu diskutieren. Als Zeit-
symptom ist dieser Rekurs auf den Willensbegriff von einigem Interesse. Die von 77 Schopenhauer, op. cit., S. 361 (Hervorhebungen von Schopenhauer). - Wichtig
Schopenhauer Jahrzehnte vorher vorausgesehene »Krise der Physik. wirft das- in unserem Zusammenhang ist, daß der inhaltlich reichere, weil »hylozoistische«
für Lenins philosophisches Hauptwerk entscheidende _ Problem der »Entstoff- Naturalismus durch einen Materialismus abgelöst wird, der sich wissenschaftli-
lichung., ja, des »Verschwindens« der Materie auf: cher dünkt und, methodisch gesehen, auch ist, ohne indessen die bereits mit
74 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, l. c., S. 357. seiner naturalistischen Vorstufe gesetzten Probleme lösen zu können. Die Na-
75 Ibid., S. 356.
turkräfte und -qualitäten sind für Schopenhauer ohne Annahme eines universel-
76 So schreibt denn auch Lenin: -Die >naive, überzeugung der Menschheit wird len, sie tragenden Willens unerklärbar.
vom Materialismus bewußt zur Grundlage seiner Erkenntnistheorie gemacht« 78 Ibid., S. 14.
(in: Materialismus und Empiriokritizismus, l. c., S.62; Hervorhebung Von 79 Ibid.
Lenin). .
so Ibid., S. 14 f. (Hervorhebungen von Schopenhauer).
46
47
Materialismus führenden Realismus hinaus. Existieren nämlich
Die erkenntnistheoretische »Grundabsurdität« des Materialis-
die Dinge unabhängig von jeglichem Bewußtsein und außerhalb
seiner, so liefert »empirische Anschauung«B' eine an sich beste- mus beruht Schopenhauer zufolge darauf, daß er »ein Objektives
zum letzten Erklärungsgrunde nimmt«B6; aus ihm läßt er »die
hende Struktur der Welt: die Materie und ihre Modifikationen.
Der »Naturlauf« - dies der für Schopenhauer moralisch bedenk- organische Natur und zuletzt das erkennende Subjekt hervorge-
liche Aspekt - wird »absolute und alleinige Weltordnung«.B2 hen«, wohingegen »alles Objektive, schon als solches, durch das
Das, was ist, behält das letzte WOrt'. Eine Konsequenz, der man erkennende Subjekt ... auf mannigfaltige Weise bedingt ist«.87
Alles Stoffliche, gegenständlich Vorhandene, von dem die
durch die »Annahme einer zweiten ... , einer immateriellen Sub-
stanz«B3 beizukommen suchte. Allerdings vergeblich; denn man herkömmlichen Materialisten als einem fundamentum inconcus-
verblieb so innerhalb des Realismus. Der »von Erfahrung, Be- sum auszugehen wähnen, ist - näher untersucht - ein »höchst
mittelbar und bedingterweise Gegebenes«. 88 Diese unaufhebbare
weisen und Begreiflichkeit gleich sehr verlassene Dualismus und
Spiritualismus«B4 wird von Schopenhauer ebenso verworfen wie Relativität der jeweils erfahrenen Gegenstände auf den Erkennt-
der Materialismus (wobei dieser, gegenüber einer Seelenhyposta- nisapparat bedeutet indessen kein Abgleiten in Solipsismus, den
Schopenhauer, ohne ihn ernst zu nehmen, »theoretischen Egois-
se, immer noch mit soliden Tatsachen der Anatomie und Physio-
f!1us«89 nennt. Die vielerörterte »Realität der Außenwelt« ist ihm
logie des Gehirns aufwarten kann). Schopenhauer erinnert an
Spinozas Naturrnonismus, insbesondere aber an Kant, dessen dadurch verbürgt, daß die individuell vorgestellten Objekte zu-
gleich »Erscheinungen eines Willens«9o sind. Im ausdrücklichen
Kritik der rationalen Psychologie umso stichhaltiger ist, als sie
einhergeht mit einer Neubegründung des Idealismus: »Denn mit Gegensatz zum empirischen Idealismus, vertreten etwa durch
die Schottische Schule und Jacobi, der die Außenwelt zur »Glau-
dem Realismus fällt der Materialismus, als dessen Gegengewicht
benssache« herabsetzt, »läßt« der transzendentale Idealismus die
man den Spin'tualismus ersonnen hatte, von selbst weg, indem
»empirische Realität der Welt unangetastet«.91 Er lehrt jedoch,
alsdann die Materie, nebst dem Naturlauf, zur bloßen Erschei-
daß »das empirisch Reale überhaupt ... durch das Subjekt zwie-
nung wird, welche durch den Intellekt bedingt ist, indem sie in
fach bedingt ist: ersdich materiell, oder als Objekt überhaupt,
dessen Vorstellung allein ihr Daseyn hat. Sonach ist gegen den
weil ein objektives Daseyn nur einem Subjekt gegenüber und als
Maten"alismus das ... falsche Rettungsmittel der Spiritualismus,
dessen Vorstellung denkbar ist; zweitens formell, indem die Art
das . . . wahre aber der Jdealismus, der dadurch, daß er die
und Weise der Existenz des Objekts, d. h. des Vorgestelltwerdens
objektive Welt in Abhängigkeit von uns setzt, das nöthige Ge-
(Raum, Zeit, Kausalität) ... im Subjekt prädisponirt ist«.92
gengewicht gibt zu der Abhängigkeit, in welche der Naturlauf
uns von ihr setzt. «B5 Grundgedanken der Erkenntnislehre Schopenhauers, die deren
Nähe zu Kant belegen sollen: Objektivität gründet in Subjektivi-
Bl Ibid., S. 15. tät. Die formale Analogie darf freilich nicht darüber hinwegtäu-
1!2 Ibid., S. 16. - Schopenhauers Urteil über den Materialismus wird von Lenin e schen, daß es sich hier um eine Revision des transzendentalen
contrario bestätigt: -Der Materialist behandelt die Physik als Metaphysik. Ein
,. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, I. c., S. 32 (Hervorhebung von Scho-
bekanntes Argument! Als Metaphysik wird die Anerkennung der objektiven
Realität außerhalb des Menschen bezeichnet: die Spiritualisten stimmen mit den penhauer).
Kantianern und Humeisten in diesen Vorwürfen gegenüber dem Materialismus " rbid., S. 33.
überein. (in: Materialismus und Empiriokritizismus, I. c., S. 278). 88 rbid.
8. Ibid. (Hervorhebung von Schopenhauer). 'Xl Ibid.; cf. hierzu auch Sämtliche Werke, Band 3, I. c:, S. 8f.; sowie S.12.
so
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Volkelt verweist, drei verschiedene, unwillkürlich ineinander tors. lOb Zwar steht auch er im Zeichen der »idealistischen Grund-
übergehende Bedeutungen. 101 Einmal drückt jener Satz die ener- ansicht« . Aber man gewinnt doch den Eindruck einer Verschie-
gische Absage an den naiven Realismus aus. Erfahren werden bung des Akzents; der radikale Phänomenalismus tritt zugun-
keine transsubjektiven Dinge, sondern Inhalte des je eigenen sten einer »korrelativistischen« Position zurück. - Daß etwas
Bewußtseins. Dieses ist nicht hinterschreitbar. Eine fundamenta- »unsere Vorstellung« ist, bedeutet für Schopenhauer, wie oben
le, keineswegs aber per se' idealistische Einsicht. Zu ihr könnte ausgeführt, daß es »Objekt für uns, gedacht als Subjekt«, ist. Das
auch naives Denken bekehrt werden. Schopenhauer spitzt sie aber bedeutet, umgekehrt, daß vom Subjekt zu reden nur in
jedoch - darin besteht die zweite, weitergehende Bedeutung seiner Bezogenheit auf ein Objekt sinnvoll ist. Die Kritik des
jenes obersten Satzes - zum erkenntnistheoretischen Subjektivis- Materialismus - Schopenhauer nennt ihn das konsequenteste
mus zu. Aus diesem folgt, jedenfalls für Schopenhauer, daß das »der vom Objekt ausgehenden philosophischen Systeme« - er-
Ding an sich zwar nicht aller, wohl aber diskursiver Erkenntnis weist »die untrennbare gegenseitige Abhängigkeit, bei nicht auf-
verschlossen bleibt. 102 Die dritte Bedeutung nun des Satzes, daß zuhebendem Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt«. 107 Letz-
die Welt meine Vorstellung sei, liegt darin, daß sich die zunächst tere sind Seiten eines in sich entzweiten Ganzen: der Welt als
erkenntniskritische Differenz von Erscheinung und Ding an sich Vorstellung. Nun kehrt die Korrelativität von Subjekt und Ob-
bei Schopenhauer (wie schon vorher bei Kant) als metaphysi- jekt wieder in der von Intellekt und Materie (dem Objekt also,
scher Dualismus entpuppt. »Aus dem Nichtswissen vom Dinge abzüglich subjektiver Konstituentien). Die bisherigen Systeme,
an sich«, sagt Volkelt, »wird ein verneinendes Wissen von ihm: sagt Schopenhauer, haben die Wahrheit mißachtet, »daß der
nämlich das Wissen, daß dem Dinge an sich keine einzige der Intellekt und die Materie Korrelata sind, d. h. Eines nur für das
Eigenschaften der Erscheinungswelt zukomme .... Die skepti- Andere da ist, Beide mit einander stehn und fallen, Eines nur der
sche Beurteilung des Dinges an sich ist in eine metaphysisch-dua- Reflex des Andern ist, ja, daß sie eigentlich Eines und das Selbe
listische hinübergeglitten.« 103 Schopenhauer selbst - auch darin sind, von zwei entgegengesetzten Seiten betrachtet; welches Eine
ist Volkelt beizupflichten - hat fraglos jenen Satz einheitlich ... die Erscheinung des Willens, oder Dinges an sich ist; daß
104
verstanden. Er faßt sich für ihn darin zusammen, daß das mithin Beide sekundär sind: daher der Ursprung der Welt in
Objekt mit den subjektiven Formen seines Gegeben-Seins ver- keinem von Beiden zu suchen ist«. lOB
schwindet. Kant, Schopenhauers Gewährsmann, hat die »deut- Was freilich den letzteren Gedanken betrifft, der sich für Scho-
liche Erkenntniß und ruhige, besonnene Darstellung dieser penhauer zwingend aus dieser Korrelativität von Intellekt und
traumartigen Beschaffenheit der ganzen Welt« 105 verdienstvol- Materie ergibt, so widerstreitet ihm die eigentümliche, anderswo
lerweise zur Basis seiner Philosophie gemacht. pointierte Zwischenstellung der Materie zwischen der Willens-
Demgegenüber findet sich im zweiten Band des Hauptwerks und der Vorstellungswelt. Beide Sphären verbindend und durch-
eine Art erkenntnistheoretischer Selbstkorrektur seines Au- dringend, hat sie größere Affinität zu jener als zu dieser. Scho-
penhauer erinnert an den in seiner naturphilosophischen Schrift
101 Volkelt, ArthurSchopenhauer, I.c.; cf. S. 65; 66; 68f. geführten Nachweis, daß die Materie nicht bloß »Sichtbarkeit
102 Dahingestellt bleibe hier, inwieweit nicht doch in der Willenswelt kategoriale
Bestimmungen der Vorstellungswelt wiederkehren. - Ein Gedanke, den Hork- 1116 Ansätze zu dieser Selbstkorrektur im Sinn dessen, was Volkelt .Korrelativis-
heimers, vor allem aber Blochs Schopenhauer-Interpretation nahelegt. mus- nennt, sind zwar auch im ersten Band der Welt als Wzlle und Vorstellung
103 Volkelt, Arthur Schopenhauer, I. c., S. 68f. (Hervorhebungen von Volkelt). vorhanden. Sie treten jedoch insgesamt weniger h'ervor als im zweiten.
104 Cf. ibid., S. 70. 107 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, l. c., S. 37.
105 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, l. c., S. 497. 108 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, l. c., S. 18.
52 53
des Willens« ist, sondern »zuletzt, in gewissem Sinne, als iden- wie abwegig Fichtes »Ich-Lehre« ist, die »das Objekt vom Sub-
tisch mit dem Willen betrachtet werden kann«.109 Ist der Wille jekt hervorgebracht oder aus diesem herausgesponnen werden
das schlechthin Reale und sind die Dinge wirklich allein durch läßt«.1l5 Die Materie, unausrottbares Substrat der Erscheinun-
die Materie llo , so werden beide hinsichtlich des »Ursprungs der gen, ist irreduktibel auf die Formen, unter denen sie erscheint.
Welt« austauschbar. Auch daran läßt Schopenhauer keinen Das führt uns zurück zur Diskussion des Schopenhauerschen
Zweifel. »Wollen die Herren«, fragt er ironisch, »absolut ein Korrelativismus. Er ist nicht nur formal unanfechtbar, sondern
Absolutum haben; so will ich ihnen eines in die Hand geben, befindet sich auch im Einklang mit der vorstellungs-idealisti-
welches allen Anforderungen an ein Solches viel besser genügt, schen Ausgangsthese; denn zum Gegenstand wird mir etwas
als ihre erfaselten Nebelgestalten: es ist die Materie. Sie ist unent- einzig vermittels des Bewußtseins; und dieses ist vorhanden,
standen und unvergänglich, also wirklich unabhängig und quod sofern es sich auf einen Gegenstand richtet, Bewußtsein von
per se est et per se concipitur: aus ihrem Schooß geht Alles hervor etwas ist. Nun gibt aber Schopenhauer, worauf wiederum Vol-
und Alles in ihn zurück: was kann man von einem Absolutum kelt verweist116 , dem Korrelativismus mitunter eine Wendung,
weiter verlangen ?« 1Il die ihn mit jener Ausgangsthese in Konflikt bringt. Es kommt
Erkenntnistheoretisch bedeutet diese - bis zur Identität gehende zum äquivoken Gebrauch des Subjektbegriffs. Die Korrelativität
- Verwandtschaft von Wille und Materie, daß letztere nicht 'von Subjekt und Objekt bezieht sich einmal auf die beiden, im
länger »als ausschließliches Vorstellungsphäno!TIen«1,12 figuriert; vorstellenden Bewußtsein sich darbietenden Aspekte der Welt;
sie nimmt realistische Züge an. Was, wie Schopenhauer selbst sie ist, wie Volkelt hervorhebt, »von vornherein mit dem Sinn
sagt, »unzerstörbare Grundlage alles Existierenden«113 ist, des- verknüpft, daß das Bewußtsein, der subjektive Boden das der
sen Begriff kann sich unmöglich in einer apriorischen Erkennt- Korrelativität Vorausgesetzte und Obergeordnete ist und dem-
nisform erschöpfen. Dieser Einwand wird auch nicht durch nach eine unvergleichliche Stellung hat«.1l7 Eben diese geht in
Schopenhauers ganz richtige überlegung - ihr hätte'selbst Marx der zweiten, bei Schopenhauer anzutreffenden Auffassung des
mutatis mutandis beigepflichtet - entkräftet, daß »jede empin'sch Subjekts verloren, derzufolge es nur die eine der beiden vom
gegebene Materie, also der Stoff (den unsere heutigen unwissen- Bewußtsein umschlossenen Seiten bildet. Schopenhauer argu-
den Materialisten mit der Materie verwechseln) schon in die mentiert nämlich gelegentlich so, als sei der »subjektiv-idealisti-
Hülle der Formen eingegangen« 114 ist. Es ist abermals Schopen- sche Boden, auf dem allererst der Korrelativismus seine Geltung
hauer, der uns, auch hierin auf Kants Spuren, darüber belehrt, hat, nicht vorhanden«.118 Er begibt sich damit, ohne jedoch die
Korrelativität von Subjekt und Objekt zu leugnen, auf die Ebene
109 Ibid., S. 5\ (eigene Hervorhebung). - Schopenhauer selbst kommt also Interpre- des natürlichen Bewußtseins, das mit einer völlig unabhängig
tationen wie der Blochsehen entgegen. Die von ihm -letztinstanzlieh _ zuge- von ihm existierenden Dingwelt rechnet. Andererseits zögert
standene Identität von Materie und Wille schlösse freilich ein, daß jener im
nämlichen Maße .. Eigenstruktur« zugesprochen werden müßte wie diesem, der
Schopenhauer nicht, innerhalb dieser Korrelativität dem Subjekt
- sich immerhin steigernd, Stufen der Objektivation durchlaufend - nicht wieder jenen ersterwähnten Sinn beizulegen, den es nach vollzo-
absolut chaotisch gedacht werden kann.
110 Cf. ibid., S. 53.
111 Schopenhauer, Siimtliche Werke, Band 2, I. c., S. 574. 115 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, I. c., S. 31.
112 Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, I. c., 116 Volkelt, Arthur Schopenhauer, I.c.; cf. S. 83ff. - Der Autor folgt in einigen
5.276. Punkten dem Gedankengang Volkelts. •
III Schopenhauer, Siimtliche Werke, Band 3, I. c., S. 55. 117 Ibid., S. 84 (Hervorhebungen von Volkelt).
114 Ibid., S. 53 (Hervorhebungen von Schopenhauer). 118 Ibid.
54 55
gener Trennung von Korrelativität und subjektivem Idealismus beobachtbaren »Wegwendung des Korrelativismus von seiner
nicht mehr haben kann. idealistischen Grundlage«121 sprechen können. Verdeutlichen
Daher die - der Sache selbst immanente - Widersprüchlichkeit läßt sie sich daran, daß Schopenhauer (wie oben bereits erörtert)
der Schopenhauerschen Erkenntnislehre. In ihr arbeiten sich, die Korrelativität von Subjekt und Objekt häufig durch die von
unausgesprochenermaßen, zwei Denkansätze aneinander ab. Al- Intellekt (»Erkennen«) und Materie ersetzt. Es kommt zur -
les Objektive, sagt Schopenhauer, ist »durch das Subjekt zwie- problematischen - Verknüpfung von Aussagen, die in Wahrheit
fach bedingt ... : erstlich materiell, oder als Objekt überhaupt, verschiedenen Ebenen zuzuordnen sind. So erklärt Schopen-
weil ein objektives Daseyn nur einem Subjekt gegenüber und als hauer: »Der Behauptung, daß das Erkennen Modifikation der
dessen Vorstellung denkbar ist; zweitens formell, indem die Art Materie ist, stellt sich ... immer mit gleichem Recht die umge-
und Welse der Existenz des Objekts, d. h. des Vorgestelltwerdens kehrte entgegen, daß alle Materie nur Modifikation des Erken-
... , vom Subjekt ausgeht«.119 Was hier »formelle« Bedingtheit nens des Subjekts, als Vorstellung desselben ist.«122 An anderer
des Objektiven durch das Subjekt heißt, bezieht sich auf Kants Stelle gar werden, entgegen der entschieden idealistischen Aus-
transzendentale, von Schopenhauer in intellektualisierter Gestalt gangsposition Schopenhauers, Idealismus und Materialismus zu
übernommene Ästhetik. Was dagegen die »materielle« Bedingt- ebenso notwendigen wie beschränkten »Gesichtspunkten«, die
heit des Objektiven durch das Subjekt betrifft, so handelt es sich gleichermaßen zu berücksichtigen sind: »Es ist eben so wahr, daß
hier nur scheinbar um einen einheitlichen Gedanken; denn daß das Erkennende ein Produkt der Materie sei, als daß die Materie
»ein objektives Daseyn nur einem Subjekt gegenüber ... denk- eine bloße Vorstellung des Erkennenden sei: aber es ist auch eben
bar ist«: das einfache Faktum der Wechselbezüglichkeit zweier so einseitig.... Darum eben muß der Behauptung, daß ich eine
Begriffe, enthält keineswegs eo ipso eine Option für den Idealis- bloße Modifikation der Materie sei, gegenüber, diese geltend
mus. Naiver Realismus setzt sich denn auch bei Schopenhauer, gemacht werden, daß alle Materie bloß in meiner Vorstellung
gleichsam naturwüchsig, innerhalb der Korrelation immer wie- existire: und sie hat nicht minder Recht.«123
der durch. Indem freilich Schopenhauer die - metaphysisch vor- Formale Reziprozität von Begriffen täuscht in diesen Sätzen
erst neutrale - Erwägung, ein )~objektives Daseyn« sei »nur Schopenhauers darüber hinweg, daß sie, inhaltlich betrachtet,
einem Subjekt gegenüber ... denkbar«, mit dem (Berkeley ent- Unvereinbares verbinden. Daß das erkennende Bewußtsein, wie
lehnten) Zusatz versieht: »und als dessen Vorstellung«12o, ent- Schopenhauer sich in der Sprache westeuropäischer Aufklärung
steht ein doppelter Schein. Einmal sieht es so aus, als impliziere ausdrückt, »Modifikation«, gar »Produkt« der Materie ist - mit
Korrelativität von Subjekt und Objekt von vornherein dessen welcher Formulierung der Materialismus unwiderruflich vom
idealistische Interpretation; zum anderen wird suggeriert, es Problem zum Bestandteil seiner Philosophie avanciert -, liegt
handle sich bei der »formellen« und »materiellen« Bedingtheit keineswegs auf der nämlichen Ebene wie die umgekehrte Aussa-
des Objektiven durchweg um das nämliche - bedingende _ ge, die Materie sei »Modifikation des Erkennens«, sie existiere
Subjekt.
»bloß in meiner Vorstellung« .124 Der damit benannte Sachverhalt
Schopenhauer selbst hadraglos seine Lehre von der Phänomena-
lität der Körperwelt für primär gehalten. Gleichwohl wird man, 12. Volkelt, Arthur Schopenhauer, 1. c., S. 84f.
mit Volkelt, von einer, zumal im zweiten Teil des Hauptwerks, '22 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, I. c., S. 33 .
•23 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c., S. 15; cf. auch S. 14.
'19 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, 1. c., S. 9 (Hervorhebungen von Scho- 12' Man beachte auch hier Schopenhauers äquivoken Sprachgebrauch. Der Ter-
penhauer).
minus »Modifikation .. wird einmal benutzt, um die empirisch gegebene Abhän-
120 Ibid. (eigene Hervorhebungen).
gigkeit der Denkakte von Him- und Nervenprozessen zu bezeichnen; anderer-
56
57
(sowie seine Problematik) ist zweifelsfrei vorhanden und un- denn nichts erscheint einleuchtender, als daß »mit jenem wech-
überspringbar; er läßt sich jedoch nicht als Wahrheit ausspre- selseitigem unabtrennbaren Haften der subjektiven und der ob-
chen, der gleiches Gewicht zukommt wie dem ersterwähnten, jektiven Hälfte an einander ebensowohl das Vorstellungsdasein
m~terialistischen Sachverhalt: das Sein des erkennenden Geistes der Materie als auch das materielle Dasein der Vorstellung gege-
ist qualitativ anders auf das der Materie bezogen als deren Er- ben ist«.128
kannt-Sein auf ihn. Daß alles Erkennen Funktion der Materie, Tatsächlich aber (darauf war bereits einzugehen) ist mit der
speziell des Gehirns ist, bildet die real-ge~etische (auf die Tierrei- Korrelativität als solcher nichts präjudiziert über die metaphysi-
he zurückverweisende) Seite des hier diskutierten Zusammen- sche Beschaffenheit der Korrelata. Daß die Materie bloße Vor-
hangs. Daß, umgekehrt, unsere (alltäglichen wie wissenschaftli- stellung ist, geht aus ihr so wenig hervor wie, umgekehrt, die
chen) Aussagen über die materielle Weh immer schon unter der These, alles Vorstellen sei Produkt der Materie. 129 Beide Male
Perspektive erkennender Subjektivität stehen (die selbst jener handelt es sich um zusätzliche InterpretationenYo Wenn Scho-
durch sie »vermittelten« Welt angehört), macht die kognitive
Seite des Zusammenhangs von Intellekt und Materie aus. Scho-
128 Volkelt, ibid., S. 86.
penhauers Versuch, ihn (seinem ursprünglichen Programm zu- 12' Cf. ibid. - Mit Recht sagt Volkelt in diesem Zusammenhang: "Der Korrelativis-
liebe) idealistisch zu formulieren, kann sich darauf berufen, daß mus ist eine verhältnismässig gleichgültige und mit allem Möglichen verträg-
die Differenz von Genetischem (oder Ontologischem) und Kog- liche Aussage im Vergleich zu der scharfgeprägten Eigentümlichkeit des Vor-
nitivem jeweils nur innerhalb der Einheit des Kognitiven artiku- stellungsidealismus ...
130 Diese in die Korrelativität erkenntnistheoretischer Grundbegriffe einwan-
lierbar ist. Das gestattet freilich nicht, sie subjektiv-idealistisch
dernden Jnterpretationen verbinden - zum al idealistische - Denker, die sonst
einzuebnen. Dem trägt Schopenhauer insofern Rechnung, als er wenig Gemeinsames haben. So hat Adorno auch bei Hegel die hier anläßlich
seine Erkenntnistheorie zuweilen vergißt, wodurch sich, so Vol- Schopenhauers untersuchte Denkstruktur aufgespürt; sie besteht, wie wir sa-
kelt, der Phänomenalismus »nach der Seite des Materialismus hen, darin, daß sich der Primat des Subjekts gerade in der durchgeführten
.. Vermittlung« von Subjekt und Objekt verbirgt. Materialistische Kritik daran,
hin«125 verschiebt. Unvermerkt wird Materie als bewußtseins-
die abzielt auf den "Vorrang des Objekts«, kann sich, nach Adornos Einsicht,
unabhängiges Sein anerkannt. Das erweckt den Anschein, als nicht durch objektivistische Dekrete aus dem Umkreis vermittelnder Subjekti-
könne man gleichberechtigt von der »Welt im Kopf« und der vität herausbegeben. Sie kann jedoch deren Qualität innerhalb der Vermittlung
» Weh außer dem Kopf« 126 sprechen - damit von zwei gleichbe- insofern neu bestimmen, als sie darauf verweist, daß die wechselseitig vermittel-
rechtigten, einander notwendig ergänzenden »Ausgangspunk- ten Momente einander nicht im nämlichen Sinn bedürfen. "Vermöge der Un-
gleichheit im Begriff der Vermittlung«, schreibt Adorno, "fällt das Subjekt ganz
ten« des Philosophierens. 127 . Indem jedoch Schopenhauer die anders ins Objekt als dieses in jenes. Objekt kann nur durch Subjekt gedacht
Korrelativität von Intellekt und Materie in die - vorweg phäno- werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als Anderes; Subjekt jedoch
menalistisch gedeutete - Korrelativität von Subjekt und Objek~ ist der eigenen Beschaffenheit nach vorweg auch Objekt. Vom Subjekt ist
zurückübersetzt, gewinnt der Idealismus wieder die Oberhand; Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt. ... Nicht
daß Objektivität ein Unmittelbares, daß die Kritik am naiven Realismus zu
vergessen wäre. Vorrang des Objekts bedeutet die fortschreitende qualitative
seits aber soll sich in ihm der wesentliche Gehalt der erkenntnistheoretischen Unterscheidung von in sich Vermitteltem, ein Moment in der Dialektik, nicht
Lehre von der Welt als meiner Vorstellung ausdrücken. Es ist jedoch evident, dieser jenseitig, in ihr aber sich artikulierend« (in: Negative Dialektik, Frank-
daß die Materie nicht ebenso "Modifikation« des Erkennens sein kann wie dieses furt am Main 1966, S. 182; 183; cf. auch S. 124f.). - Freilich hat Adorno, allem
.Modifikation. der Materie.
abhold, was auch nur entfernt nach .. Ontologie« aussieht, darauf verzichtet,
115 Volkelt, Arthur Schopenhauer, 1. c., S. 85 (Hervorhebung von Volkelt). seine Lehre vom ..Vorrang des Objekts« so abz~stützen, wie dies durchaus
I" Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, 1. c., S. 4. möglich ist. Ihm entgeht, daß jener Vorrang des Objekts vor dem Subjekt
127 Volkelt, op. cit.; cf. S. 85 f.
innerhalb der Vermittlung, auf kognitiver Ebene also, nur dann verbindlich
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penhauer bald diese, bald jene Interpretation bevorzugt, wenn in im Rahmen vorausgesetzter Phänomenalität dinglichen Seins,
seinem Werk die philosophischen Grundpositionen llnentwegt materialistische Abhängigkeiten drastischster Art aussprechen.
ineinander übergehen, so liegt das an der Schwierigkeit der Sache Der Begriff einer einfachen, immateriellen und unsterblichen
- nicht an subjektiver Willkür. Seele ist für Schopenhauer widersinnig, weil unverträglich mit
Schopenhauers Erkenntnislehre hat eine komplizierte, letzthin beobachtbaren Tatsachen. »Ich hingegen«, erklärt er, »gehe da-
unaufhebbare Zirkelstruktur. Der Widerstreit ihrer idealisti- von aus, daß ich die vorausgesetzte Einfachheit unseres subjektiv
schen und materialistischen Momente läßt sich nicht dadurch bewußten Wesens, oder des Ichs, aufhe~e, indem ich nachweise,
schlichten, daß man - gewaltsam - diese auf jene oder vice versa daß die Äußerungen, aus welchen man dieselbe folgerte, zwei
IJI
reduziert. Immerhin wird, wie Volkelt bemerkt, Schopenhau- ~ sehr verschiedene Quellen haben, und daß allerdings der Intel-
ers ursprünglicher Phänomenalismus »schon in den grundlegen- lekt physisch bedingt, die 'Funktion eines materiellen Organs ...
den Aufstellungen« abgeschwächt und verunreinigt; es mischt sei,~ ... daß hingegen der Wille an kein specielles Organ g~bun
sich ihm »eine Neigung zum Matentdismus«132 bei. Dies als den, sondern überall gegenwärtig, überall das eigentlich Bewe-
Folge der von Schopenhauer bald realistisch, bald idealistisch gende und Bildende ... sei, daß er ... das metaphysische Sub-
verstandenen Korrelativität von Subjekt und Objekt, mit wel- strat der gesammten Erscheinung ausmache.«1J5 Halten wir uns
cher der Anschein einhergeht, als hätte »der Phänomenalismus zunächst nur an den Intellekt, so kann er auf zweierlei - einander
seine natürliche Kehrseite am Materialismus«. IJJ notwendig ergänzende - Weisen betrachtet werden: subjektiv
Schopenhauer selbst kümmern die hier diskutierten Probleme und objektiv. Die erstere, von Locke und Kant begründet, geht
wenig. Er vereinbart Erkenntniskritik und Physiologie, Kant vom Bewußtsein aus und schildert, »durch welchen Mechanis-
und Cabanis. Ist »der Raum nur in meinem Kopf« und entspricht mus in demselben die Welt sich darstellt, und wie aus den Mate-
dem empirisch, daß )'mein Kopf im Raum«1J4 ist, so lassen sich, rialien, welche Sinne und Verstand liefern, sie sich darin auf-
geltend zu machen ist, wenn herausgearbeitet wird, daß ihm, auf ontologischer
, baut«. 136 Die objektive, empirische Betrachtungsweise des Intel-
Ebene, ein Vorrang der Materie vor dem Bewußtsein entspricht. Kein Objekt lekts, entwickelt namentlich von französischen Physiologen wie
~ohne Subjekt, gilt im Grunde selbst dann, wenn dem Objekt Präponderanz Cabanis und Bichat, »nimmt die Welt und die darin vorhandenen
zugesprochen wird. Wohl aber ist Materie ohne Bewußtsein denkbar. _ Beide thierischen Wesen als schlechthin gegeben, indem sie von ihnen
.. Vorränge u spiegeln sich ineinander; sie sind, ohne daß die ihnen zugeordneten
ausgeht. Sie ist demnach zunächst zoologisch, anatomisch, phy-
Begriffspaare verwechselt werden dürfen, Momente der einheitlich-materiali-
stischen Theorie. siologisch, und wird erst durch die Verbindung mit jener erstern
131 Große Philosophie gehorcht selten dem Gebot absoluter Widerspruchslosig- und von dem dadurch gewonnenen höhern Standpunkt aus phi-
keit. Häufig genug hat sie ihr Leben an Brüchen und scheinbaren Unvereinbar- losophisch.« 137
keiten. Schopenhauers Lehrgebäude ist für eine materialistische Interpretation Unmittelbar freilich besteht zwischen beiden Betrachtungs-
deshalb so instruktiv, weil sich der von marxistischen Philosophiehistorikern
immer wieder beschworene .. Kampf« von Idealismus und Materialismus in ihm
weisen des Intellekts ein schroffer Gegensatz. Das wird klar,
selbst abspielt. Zwar bleibt er, wie im Haupttext vermerkt, letztlich unge- »wenn man ... sich vergegenwärtigt, daß was die eine als beson-
schlichter. Aber hier gilt, wenn irgendwo, Adornos Won, .. auch nur einge- nenes Denken und lebendiges Anschauen ... zu ihrem Stoffe
schränkt«, sei das idealistische Subjekt .. bereits enanächtigtu (in: Negative macht, für die andere nichts weiter ist, als die physiologische
Dialektik, I. c., S. 182).
132 Volkelt, op. cit., S. 86 (Hervorhebungen von Volkelt).
lJl Ibid., S. 87. - Cf. zu den teils latenten, teils manifesten Materialismen bei J35 Ibid., S. 105 f. (Hervorhebungen von Schopenhaue'f).
Schopenhauer auch S. 88f. und S. 92f.
Ibid., S. 307.
I" Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. C., S. 22.
lJ6
146 Hans M. Wolff, Arthur Schopenhauer. Hundert Jahre später, Bern 1960, 151 Cf. ibid., S. 327.
S.57. m Ibid., S. 326 (Hervorhebung von Schopenhauer).
64 65
ausnahmsweise, kraft gesteigerter Intelligenz sich der Dienstbar- sucht und aus rein mechanischen Ursachen erklärt«156 wur<~e.
keit des Willens zu entziehen und in seiner Person den »höchsten »Diese ausschließliche Anwendung des Maßstabs der Mechanik
Grad der Objektivität des Erkennens« 153 darzustellen. auf Vorgänge, die chemischer und organischer Natur sind und
Wenden wir uns jetzt der eingangs gestellten Frage zu, wie sich bei denen die mechanischen Gesetze zwar auch gelten, aber von
Schopenhauers Kritik am Materialismus angesichts einer verän- andem, höhern Gesetzen in den Hintergrund gedrängt werden,
derten Problemlage in Wissenschaft und Philosophie ausnimmt. bildet ... eine spezifische, aber ihrer Zeit unvermeidliche Be-
Zunächst ist festzustellen, daß die noch ins neunzehnte J ahrhun- schränktheit des klassischen französischen Materialismus.« 157 Im
dert fallende, den deutschen Idealismus voraussetzende Fortent- Anti-Dühring legt Engels dar, daß sich die Bewegung der Mate-
wicklung des mechanischen zum historisch-dialektischen Mate- rie keineswegs »auf die mechanische Kraft als ihre angebliche
rialismus sich weithin deckt mit Schopenhauers Bemühen um ein Grundform«158 reduziert. Vielmehr »begreift« sie, wie es in der
qualitativ-dynamisches, nicht mechanistisch beschränktes Na- Dialektik der Natur heißt, »als Daseinsweise, als inhärentes At-
turbild. So schreibt Marx bereits in der Heiligen Familie, dem tribut der Materie ... alle im Universum vorgehenden Verände-
ersten gemeinsam mit Engels veröffentlichten Buch: »Unter den rungen und Prozesse in sich, von der bloßen Ortsveränderung
der Materie eingebornen Eigenschaften ist die Bewegung die bis zum Denken«.159 Auf den »übermechanischen Gebieten« -
erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanische und mathe- solche werden von Engels ausdrücklich anerkannt - ist Bewe-
matIsche Bewegung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, gung »auch Qualitätsänderung«.16o Engels vermeidet zwar den
Spannkraft, als Qual - um den Ausdruck Jakob Böhmes zu von Schopenhauer gegen die verabsolutierte Mechanik pole-
gebrauchen - der Materie. Die primitiven Formen der letztem misch ins Spiel gebrachten Begriff der »Lebenskraft«, aber deut-
sind lebendige, individualisierende, ihr inhärente, die spezifi- lich wird doch, daß er die qualitative Eigenart des Lebendigen
schen Unterschiede produzierende Wesenskräfte.«154 Weniger gewahrt wissen will: »Indem die Chemie das Eiweiß erzeugt,
renaissancehaft und romantisch, aber der Sache nach ebenso greift der chemische Prozeß über sich selbst hinaus ... , d. h. er
entschieden, spricht sich der reife Engels in seinen naturphiloso- gelangt in ein umfassenderes Gebiet, das des Organismus. Die
phischen Arbeiten aus. Er verwahrt sich dagegen, daß man den Physiologie ist allerdings die Physik und besonders die Chemie
Materialismus überhaupt verwechselt mit der »verflachten, vul- des lebenden Körpers, aber damit hört sie auch auf, speziell
garisierten Gestalt«, worin der des Aufklärungszeitalters im Chemie zu sein, beschränkt einerseits ihren Umkreis, aber erhebt
neunzehnten Jahrhundert »in den Köpfen von Naturforschern sich auch darin zu einer höheren Potenz.«161
und Ärzten« fortbestand »und in den fünfziger Jahren von Büch- Mit der Kritik am - vormarxschen - Materialismus, dessen Ding
ner, Vogt und Moleschott gereisepredigt wurde«.155 Unter den an sich, ausgestattet allein mit »Stoßkraft«, sonstige Qualitäten
Mängeln der materialistischen Philosophie des achtzehnten Jahr- nur als deren Erscheinung zuläßt l62 , gehen bei Schopenhauer,
hunderts, die von den Vulgarisatoren des neunzehnten keines-
wegs überwunden wurden, nennt Engels an erster Stelle, daß der 15. Ibid, S. 278.
»pflanzliche und tierische Organismus ... nur im groben unter- 157 Ibid.
158 Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (.Anti-Düh-
153 Ibid., S. 331 (Hervorhebung von Schopenhauer). n·ng.), in: Marx/Engels, Werke, Band 20, Berlin 1968, S. 55.
154 Engels/Marx, Die heilige Fam,ilie, in: Marx/Engels, Werke, Band 2, Berlin 1959, 15' Engels, Dialektik der Natur, in: ibid., S. 354.
S. 135 (Hervorhebungen von Marx). 160 Ibid., S. 517.
155 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philoso- ,., Ibid., S. 520.
phie, in: I. c., S. 278; cf. dazu auch S. 280. 161 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c., cf. S. 196.
66 67
wie wir sahen, erkenntnistheoretische Bedenken einher.' Jene den Schultern der vorhergehenden stand, ihre Industrie und
»absolut objektive Welt, außerhalb des Kopfes, unabhängig von ihren Verkehr weiter ausbildete, ihre soziale Ordnung nach den
ihm und vor aller Erkenntniß«, von der die Materialisten (im veränderten Bedürfnissen modifizierte«.169 Diese Präformiert-
Einklang mit dem naiven Bewußtsein) zu reden vorgeben, ist heit der empirischen Welt erstreckt sich auf die »Gegenstände
keine andere als die immer schon »subjektiv erkannte ... der einfachsten ,sinnlichen Gewißheit«<; auch sie sind »nur
Welt«.163 Eine überlegung, die Schopenhauer abermals - sach- durch die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den
lich - mit Marx verbindet. Auch ihm ist bewußt, daß die uns kommerziellen Verkehr gegeben« .170
jeweils erscheinende Wirklichkeit »mit ... großen, vielen und
Das hat - worauf es hier besonders ankommt - Konsequenzen
verschiedenen subjektiven Bedingungen behaftet« 164 ist. Aller-
für das Verständnis der vom alten Materialismus zur unmittelba-
dings werden letztere von Marx nicht, wie bei Schopenhauer ren Grundlage dogmatischer Aussagen erklärten Naturwissen-
erkenntnis-anthropologisch, sondern sozialhistorisch verstan- schaft. Deren »Anschauung«, wenden Marx und Engels gegen
den. "Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus«, heißt es Feuerbach ein, ist hochgradig vermittelt. Sicher gibt es »Geheim-
in Marxens berühmten Thesen über Feuerbach, beruht darauf, nisse, die nur dem Auge des Physikers und Chemikers offenbar
"daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter werden; aber wo wäre ohne Industrie und Handel die N aturwis-
der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht senschaft? Selbst diese >reine< Naturwissenschaft erhält ja ihren
aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjek- Zweck sowohl wie ihr Material erst ... durch sinnliche Tätigkeit
tiv.«165 Marx begrüßt es deshalb, daß die idealistische Philoso- der Menschen. So sehr ist . . . dieses fortwährende sinnliche
phie seit Kant "die tätige Seite« im Gegensatz zum objektivisti- Arbeiten und Schaffen, diese Produktion die Grundlage der
schen Materialismus "entwickelt« 166 hat. Dies freilich um den ganzen sinnlichen Welt, wie sie jetzt existiert, daß, wenn sie auch
Preis einer Entstofflichung des Subjekts; denn der Idealismus nur für ein Jahr unterbrochen würde, Feuerbach eine ungeheure
kennt die "wirkliche, sinnliche Tätigkeit« nicht "als solche«.167 Veränderung nicht nur in der natürlichen Weit vorfinden, son-
Menschliche Tätigkeit im philosophisch umfassenden Sinn von dern auch die ganze Menschenwelt und sein eignes Anschau-
Weltkonstitution ist "gegenständliche Tätigkeit«.168 Ihren Be- ungsvermögen ... sehr bald vermissen würde.«l7l Heben wir
griff entfalten Marx und Engels in der Deutschen Ideologie. Auch hervor, daß Marx und Engels hier von der Gegebenheitsweise
hier gilt die Kritik, soweit sie sich auf Feuerbach bezieht, dessen der jetzt, für und durch die Menschen, bestehenden Gegen-
naivem Realismus. Feuerbach, schreiben die Autoren, "sieht standswelt sprechen - nicht von der Natur überhaupt. Deren
nicht, wie die ihn umgebende sinnliche Welt nicht ein unmittel- »Priorität« 172 bleibt unangetastet. Sie liegt aller Gesellschaft und
bar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, Geschichte voraus. Ihr materialer Bestand wird von menschli-
sondern ... ein geschichtliches Produkt ... , das Resultat der cher Praxis jeweils vorgefunden, geht also in dieser nicht auf.
Tätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen, deren Jede auf Gleichwohl wissen wir von Natur nur insoweit, als sie in unse-
rem menschlichen Horizont erschienen ist. Natur und Geschich-
163 Ibid., S. 11 (Hervorhebungen von Schopenhauer).
te sind keine separat zu behandelnden »Dinge«; der Mensch hat
164 Ibid., S. 4 (Hervorhebung von Schonenhauer).
165 Marx, Thesen über Feuerbach, in: Marx/Engels, Werke, Band 3, Berlin 1962, S. 5
(Hervorhebungen von Marx). 16' Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, in: ibid., S. 43.
166 Ibid. 170 Ibid.
167 Ibid. 171 Ibid., S. 44. - Cf. dazu auch Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre
168 Ibid. (Hervorhebung von Marx). von Marx, Frankfurt am Main 1962, S. 23ff.
172 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, in: ibid., S. 44.
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stets »eine geschichtliche Natur und eine natürliche Geschichte Forschern anerkannt, die mit Marx und Marxismus wenig ge-
vor sich«. 173 Mit seinem - praktischen - Auftreten wird es theo- mein haben. So schreibt Heisenberg in einer Diskussion der
retisch unmöglich, von einer subjektlosen Welt oder einem welt- neuen, durch die Quantenmechanik entstandenen Lage: »Der
losen Subjekt zu sprechen. Das dialektische Salz dieser je anders dogmatische Realismus behauptet, daß es keine sinnvollen Aus-
gearteten Wechselbezüglichkeit besteht darin, daß sie alles abso- sagen über die materielle Welt gibt, die nicht objektivien werden
lut Primäre und absolut Sekundäre ausschließt. 174 können .... Der dogmatische Realismus ist aber, wie wir jetzt
Schopenhauer, dem der Materialismus lediglich als physikalisti- sehen, nicht eine notwendige Voraussetzung für die Naturwis-
sche, dazu erkenntnistheoretisch unbedarfte Verkürzung der senschaft .... Die Naturwissenschaft beschreibt und erklärt die
Wirklichkeit präsent ist, deckt überzeugend auf, was Bloch »die Natur nicht einfach so, wie sie >an sich< ist. Sie ist vielmehr ein
echte Aporie im Materialismus als einem rein mechanischen« Teil des Wechselspiels zwischen der Natur und uns selbst. Sie
nennt, »dessen Welt ... unendlich groß sein will und dabei so beschreibt die Natur, die unserer Fragestellung und unseren
klein ist, daß nicht einmal ein menschlicher Kopf darin Platz Methoden ausgesetzt ist. An diese Möglichkeit konnte Descartes
hat«.175 Freilich kann der Satz' »kein Objekt ohne Subjekt«, von noch nicht denken, aber dadurch wird eine scharfe Trennung
dem Schopenhauer glaubt, er werde für immer allem Materialis- zwischen der Welt und dem Ich unmöglich.«178
mus den Garaus machen 176, dem - recht verstandenen - marxisti- Beschließen wir diesen Abschnitt mit einer weiteren Erwägung
schen Materialismus wenig anhaben. Er kann jenen Satz (der per über das Verhältnis des marxistischen Materialismus zur N atur-
se keine Option für den subjektiven Idealismus enthält) akzeptie- wissenschaft. Marx und Engels haben, nicht anders als Schopen-
ren, ohne aufzuhören, Materialismus zu sein. »Das Sein«, heißt hauer, die lautstarke, aber gedankenarme Agitation der Büchner,
es beim späten Engels, »ist ... überhaupt eine offene Frage von Vogt und Moleschott scharf verurteilt, weil sie einzelwissen-
der Grenze an, wo unser Gesichtskreis aufhört.« 177 Das - trans- schaftliche Aussagen, weltanschaulich aufbereitet, ungerechtfer-
subjektiv anzusetzende - Ding an sich ist nie unmittelbar als tigterweise in den Rang von Letztaussagen erhebt. So bezeichnet
solches thematisch; erkannt wird es einzig in dem Maße, wie es, Engels Büchner als »Dogmatiker des plattesten Abspülicht des
im epochenspezifischen Rahmen gesellschaftlicher Produktions- deutschen Aufklärichts« 179, und Marx rügt im Kapital die »ideo-
verhältnisse erscheinend, zum »Ding für uns« wird. logischen Vorstellungen« der Wortführer des »abstrakt natur-
Auch die naturwissenschaftliche Praxis ist, ob dies nun den wissenschaftlichen Materialismus, der den geschichtlichen Pro-
Gelehrten bewußt wird oder nicht, ihrer jeweiligen Grundform zeß ausschließt«.18o Letzterer Vorwurf trägt einen »kritizisti-
nach ein (freilich vielfach vermitteltes) Moment der allgemein- sehen« Akzent und verbindet insofern, merkwürdig wie dies
praktischen Auseinandersetzung von Mensch und Natur. Auch zunächst klingen mag, den Kantianer Schopenhauer mit den
sie ist auf jenen geschichtlich vorgezeichneten Rahmen verwie- Begründern des historischen Materialismus. Darauf verweisen
sen. Das wird unterdessen, zumindest der Sache nach, auch von Horkheimer und Adorno: »Die Auflösung aller Realität ... in
17) Ibid., S. 43. atomare Partikel, oder was nach dem Stand der Wissenschaft
174 Cf. dazu Engels, Dialektili der Natur, in: Marx/Engels, Werke, Band 20, 1. c., jeweils als letzte Komponenten gilt, ist selbst keineswegs unbe-
5.441. dingt. Nicht unähnlich der Kantischen Lehre, daß alle Erkennt-
175 Bloch, Das Maten'alismusproblem, seine Geschichte und Substanz, 1. c.,
5.273. 178 Werner Heisenberg, Physik und Philosophie, Fral1 kfurt am Main/Berlin 1959,
176 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, 1. c., cf. S. 35. 5.61; 6of.
m Engels, Anti-Diihring, in: Marx/Engels, Werke, Band 20, 1. c., S. 41; cf. dazu 179 Engels, Dialektik der Natur, in: Marx/Engels, Werke, Band 20, l.c., S. 472.
auch S. 508. IBO Marx, Das Kapital, Band I, Berlin 1955, S. 389 (Hervorhebungen von Marx).
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nis auf die Leistung ordnender Funktionen des Subjekts zurück- III
geht, hängt sie bei Marx mit menschlicher, freilich realer gesell- Wenden wir uns abschließend den materialistischen Erfahrungs-
schaftlicher Arbeit zusammen. Damit ist der Naturbegriff des gehalten zu, die sich in Schopenhauers Werk trotz aller Erkennt-
physikalischen Materialismus relativiert. Ihn absolut zu setzen, niskritik durchsetzen. Dabei können wir uns kürzer fassen, da
wäre >vulgär<. Die quantifizierende Vorstellung von Natur, wie einschlägige Gesichtspunkte bereits dargelegt worden sind.
sie in Laboratorien heute herrschen muß, kann nicht unmittelbar Auszugehen ist vom durchgängigen Bestreben Schopenhauers,
dieselbe sein wie der Naturbegriff einer nicht mehr in sich gespal- den Materialismus aus dem emphatischen Begriff von Metaphy-
tenen, in Natur nicht durchaus mehr verstrickten Mensch- sik auszuschließen. Unsere These hingegen lautet, daß ihm dies
heit.«181 Entsprechend ist Schopenhauer bemüht, die »Unhalt- insofern nicht gelingen kann, als die Inhalte seiner eigenen Meta-
barkeit einer absoluten Physik« 182 darzutun, die sich bald gebär- physik ebenso durchgängig auf den Materialismus zurückver-
det, als sei sie selbst Metaphysik, bald so, als mache sie diese weisen. Der Pessimismus in Schopenhauer ist das geheime Bin-
entbehrlich. deglied zwischen Materialismus und Metaphysik. In diesem Sinn
Unbeschadet solcher Parallelen sind Differenzpunkte zu be- heißt es denn auch beim späten Horkheimer: »Der Marxsche
achten. Wohl handelt es sich bei Schopenhauer wie bei Marx und Materialismus, von der idealistischen Selbsttäuschung befreit,
Engels um einen, wenn man so will, »materialisierten« Kritizis- kommt Schopenhauer näher als dem Demokrit.«185 Und anders-
mus. Aber beide Male wird die Konstitutionsfrage verschieden wo schreibt er, seine intellektuelle Entwicklung überblickend:
angegangen. Hier wie dort trägt die alltäglich und wissenschaft- »Der metaphysische Pessimismus, implizites Moment jedes ge-
lich erfahrene Welt immer schon den Stempel des Menschen: sie nuinen materialistischen Denkens, war seit je mir vertraut. Meine
ist »Phänomen«: ein - im Gegensatz zum Ding an sich - von erste Bekanntschaft mit Philosophie verdankt sich dem Werk
Erkenntnis nur relativ Unabhängiges. Schopenhauer, hinsicht- Schopenhauers; die Beziehung zur Lehre von Hegel und Marx,
lich des Raumes, der Zeit und Kausalität entschieden kantia- der Wille zum Verständnis wie zur Veränderung sozialer Realität
nisch, erblickt in ihr ein »Gehirnphänomen«.183 Marx und Engels haben, trotz dem politischen Gegensatz, meine Erfahrung seiner
dagegen, konkret-soziologisch gerichtet, sprechen dem im Me- Philosophie nicht ausgelöscht. Die bessere, die richtige Gesell-
dium geschichtlicher Arbeit erscheinenden Weltmaterial Eigen- schaft ist ein Ziel, das mit der Vorstellung von Schuld sich
bestimmtheit zu. Erkenntnis ist indessen auch für sie kein bloßes verschränkt.«186 Sollte es je, was angesichts des Weltlaufs frag-
Abbild an sich seiender Strukturen, sondern - als Ideelles - »das würdig genug ist, zu jener Gesellschaft kommen, so würden in
im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle«.184 ihr (wie dies Marx zumal in den Ökonomisch-philosophischen
Manuskripten angedeutet hat) »die Menschen ... nicht bloß zu
ihren eigenen Helfern, sondern zu denen der Natur, und schließ-
IBI Max Horkheimerffheodor W. Adorno, Vorbemerkung zu: Alfred Schmidt,
lich würden sie ... , ... an die Kreatur sich verschenkend, sich
Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, L c., S. 7; cf. hierzu ferner Alfred hingebend zugrunde gehen. Aber der Zerfall müßte seine Schat-
Schmidt, Friedrich Albert Lange als Historiker und Kn'tiker des vormarxschen ten vorauswerfen, und so würden sie selbst wieder zu einem ...
Materialismus, Einleitung zu Langes zweibändiger Geschichte des Materialis- primitiveren Zustand zurückkehren. Wie das höhere, edlere In-
mus, Frankfurt am Main 1974, S. X-XXI.
182 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c., S. 195 (Hervorhebung von Scho-
penhauer); cf. auch S. 194. I8S Max Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung, I. c., S. 75f.
18) Ibid., S. 4. 186 Horkheimer, Kritische Theorie, herausgegeben von Alfred Schmidt, Band I,
18. Marx, Das Kapital, Band I, 1. c., S. 18. Frankfurt am Main 1968, S. XIII.
72 73
dividuum eine geringere Widerstandskraft besitzt und dem Tod Metaphysik, die Kants Werk ebenso berücksichtigt wie kritisch
verfällt, muß .auch die Menschheit, sofern sie ihrer Bestimmung überschreitet. Kant hat zunächst das unbezweifelbare Verdienst,
genügt, zerfallen, sie ist selbst Natur.«187 die Untauglichkeit des alten Dogmatismus dargetan zu haben,
Eben diese Erfahrung ist es, die - in metaphysisch höchst belaste- der sich anheischig machte, aus reinen Begriffen unmittelbar und
tem Sinn - Schopenhauers Philosophie durchherrscht. Sie ist die verbindlich über die höchsten Gegenstände des metaphysischen
eines Mannes, der sich nichts vorgaukeln läßt; der lebendige, . Interesses zu urteilen; »daher haben alle seitdem aufgetretenen
anschauliche Erkenntnis hohlen Wortkünsten vorzieht. Nicht dogmatischen Versuche« - Schopenhauer denkt namentlich an
anders als Marx zieht Schopenhauer- erstaunlicherweise in Mar- die Systeme Fichtes, Schellings und Hegels - »ganz andere Wege
xens Sprache - gegen die gigantische »Mystifikation« Hegels zu einschlagen müssen, als die früheren«.19o Schopenhauers eigener
Felde. »Seit Locke«, betont er, »forschten die Philosophen nach Ansatz nun, sein Schritt über Kant hinaus, beruht auf der Kritik
dem Ursprung unsrer Begriffe. Hegel hatte den Einfall die Sache dessen, was er, § I der Prolegomena zitierend, die petitio principii
umzukehren, Alles auf den Kopf zu stellen, nämlich die Begriffe der Kantischen Grundannahme nennt. Sie besteht darin, daß
zum Ursprünglichen, zum Ersten, unmittelbar Gegebenen zu vorweg Metaphysik und Erkenntnis apriori identifiziert werden,
machen, davon man auszugehn habe; wonach sich dann freilich woraus sich dann prompt das Scheitern jener ergibt und die
aus ihnen konstruiren ließ, was man beliebte, um so mehr als Gültigkeit dieser nur für die Erscheinungswelt. Indem Kant
bloße Worte leicht an die Stelle der Begriffe treten. « 188 Schopen- darauf beharrt, »daß Metaphysik ihre Grundbegriffe und
hauer ist strenger Nominalist; die Begriffe entstammen samt und Grundsätze nicht aus der Erfahrung schöpfen dürfe«, unterstellt
sonders der »anschaulichen Vorstellung, welche daher Ur- er insgeheim, »daß nur Das, was wir vor aller Erfahrung wissen,
erkenntniß ist und also bei Untersuchung des Verhältnisses zwi- weiter reichen könne, als mögliche Erfahrung« .191 Schopenhauer
schen dem Idealen und dem Realen allein in Betracht dagegen bestimmt Metaphysik weit bescheidener als »richtige
kommt«.189 Erklärung der Erfahrung im Ganzen«. 192 Für ihn ist völlig unbe-
Gilt es, unsere Begriffe empirisch abzusichern, müssen wir uns wiesen, »daß der Stoff zur Lösung des Räthsels der Welt schlech-
davor hüten, die sinnliche Welt aus bloßen, ihr selbst immer terdings nicht in ihr selbst enthalten seyn könne«; es besteht
schon entstammenden Abstraktionen zu deduzieren, so ergeben daher keinerlei Anlaß, sich, »bei der wichtigsten und schwierig-
sich daraus für Schopenhauer wichtige überlegungen zu einer sten aller Aufgaben, die inhaltsreichsten aller Erkenntnißquellen,
innere und äußere Erfahrung zu verstopfen, um allein mit in-
187 Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung, l. c., S. 75 (eigene Her- haltsleeren Formen zu operiren«.!93 Die empirische Welt ist
vorhebung); cf. auch S. 76. nicht (im schlechten Sinn) spekulativ zu überfliegen, sondern es
.88 Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß, herausgegeben von Arthur Hüb- kommt darauf an, sie gründlich zu erfassen. Das »Ganze der
scher, IV. Band, Erster Teil, Frankfurt am Main 1974, S. 208. - Cf. dazu auch Erfahrung«, sagt Schopenhauer, »gleicht einer Geheim-
die EngeIssche, ähnlich wie Schopenhauer argumentierende Hegel-Kritik: »Bei
Hege! ist ... die in der Natur und Geschichte zutage tretende dialektische
schrift«.194 Metaphysik hat sie zu entziffern. Freilich bringt die
Entwicklung ... nur der Abklatsch der von Ewigkeit her, man weiß nicht wo,
aber jedenfalls unabhängig von jedem denkenden Menschenhirn vor sich gehen- .90 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, l. C., S. 505 f.
den Se!bstbewegung des Begriffs. Diese ideologische Verkehrung galt es zu 19. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, l. C., S. 200 (Hervorhebung von Scho-
beseitigen« (Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen penhauer).
Philosophie, in: Marx/Engels, Werke, Band 21, l. c., S. 292). 19' Ibid., S. 201.
189 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, l. C., S. 215 (Hervorhebung von Scho- .93 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2, l. C., S. 506 f.
penhauer). 19' Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, l. C., S. 202.
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Endlichkeit unserer Natur es m.it sich, daß dieses sauere Geschäft Schopenhauers - materiale - Metaphysik bietet Raum für Ein-
»nur innerhalb gewisser Schranken« vonstatten geht; wir gelan- sichten, für welche die akademischen Idealismen wenig Neugier
gen zum »richtigen Verständniß der W.elt ... , ohne jedoch eine bekunden. Sie entlarvt, was Nietzsehe, in vielem sein Schüler, das
abgeschlossene und alle ferneren Probleme aufhebende Erklä- Menschlich-Allzumenschliche genannt hat. Mit großem Mate-
rung ihres Daseyns zu erreichen«.195 ~ rialismus, der sich nicht in einer simplen Abbildlehre erschöpft,
Schopenhauer sieht sein Unternehmen gleich weit entfernt von sondern auf Eros und Thanatos versteht, teilt sie urbane Skepsis,
der »Allwissenheitslehre« rationalistischer Dogmatik und der auch gütiges Verstehen. Wo immer Materialismus positiv-»welt-
»Verzweiflung«, die mit Kants Kritik einhergeht. l96 Er hält sich- anschaulichem« Anspruch entsagt, nähert er sich der Schopen-
darin ein im strengen Sinn moderner, antitheologischer Denker- hauers ehen Philosophie, wird er, wie diese, Einsicht ins Sinn-
an die in sich ruhende Immanenz dieser Welt. Ihr Wesenskern widrige, vielfältig Bedingte und Brüchige unserer Existenz. Das
fällt zwar nicht mit der unmittelbaren Weise ihres Erscheinens schließt den Willen nicht aus, inmitten alles malum metaphysi-
zusammen. Aber ebensowenig ist er ein »ens extramundanum,,; cum, das malum physicum: abschaffbares Leiden energisch zu
erkannt wird er einzig vermittels der Erkenntnis seiner »Bezie- bekämpfen. Insgesamt freilich wohnt materialistischer Philoso-
hungen zur Erscheinung selbst«.197 Wohl überschreitet Meta- phie, die etwas taugt, ein pessimistisches Moment inne. So rühmt
physik die Natur, indem sie »zu dem in oder hinter ihr Verborge- Schopenhauer an Voltaire, sein Denken sei »von der überwiegen-
nen«198 vorstößt. Sie tut dies jedoch, ohne den universellen Na- den Größe des Uebels und vom Jammer des Daseyns ... tief
turzusammenhang zu verlassen. Schopenhauer - das macht sei- durchdrungen«; und er nennt außerdem an Voltairesehen Resul-
ne Schwierigkeit aus - hält einerseits an der kritizistischen Diffe- taten den Gedanken der »strengen Necessitation der Willens-
renz von Erscheinung und Ding an sich fest lind verflüssigt sie akte« sowie die (von Locke übernommene) Vermutung, daß »das
andererseits (wodurch er in die Nähe der sonst von ihm befehde- Denkende auch materiell seyn könne«.2oo Beide Resultate hängen
ten nachkantisch-spekulativen Dialektiker gerät). »Ich lasse«, er- unmittelbar mit dem Pessimismus zusammen. Sind geistige
klärt Schopenhauer, »Kants Lehre bestehn, daß die Welt der Funktionen materiell determiniert und dadurch begrenzt, so
Erfahrung bloße Erscheinung sei ... : aber ich füge hinzu, daß leuchtet auch Schopenhauers These ein, »der Intellekt« sei »ur-
sie, gerade als Erscheinung, die Manifestation Desjenigen ist, sprünglich nicht bestimmt ... , uns über das Wesen der Dinge zu
was erscheint, und nenne es mit ihm das Ding an sich. Dieses belehren«20I; er ist Werkzeug, grobes Mittel zur Orientierung im
muß daher sein Wesen und seinen Charakter in der Erfahrungs- unaufhörlichen Kampf ums nackte überleben.
welt ausdrücken, mithin solcher aus ihm herauszudeuten seyn, Das unausrottbar »Naturgeschichtliche« unseres Daseins: die
und zwar aus dem Stoff, nicht aus der bloßen Form der Erfah- höchst profane Unterlage aller Geschichte wird letztlich von
rung. Demnach ist Philosophie ... das richtige, universelle Ver- Schopenhauer genauso beurteilt wie von Marx. Dieser bezeich-
ständniß der Erfahrung selbst, die wahre Auslegung ihres Sinnes net im Kapital den Arbeitsprozeß, die »Aneignung des Natürli-
und Gehaltes. Dieser ist das Metaphysische, ... das in die Er- chen für menschliche Bedürfnisse«, als »allgemeine Bedingung
scheinung bloß Gekleidete und in ihre Formen Verhüllte.«199 des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur«; sie ist »ewige
Naturbedingung des menschlichen Lebens und daherunabhän-
195 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 2. L c., S. 507. gig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesell-
1% Cf. ibid.
197 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, L c., S. 203.
198 Ibid. 200 Ibid., S. 671; 672.
199 Ibid., S. 204 (Hervorhebung von Schopenhauer). 201 Ibid., S. 195 (eigene Hervorhebung).
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schaftsfonnen gleich gemeinsam<<.202 Marx spricht in seinem ist weithin eine Funktion unserer Animalität: unserer Gesund-
Hauptwerk ferner von den unseren materiellen Verhältnissen heit, Ernährung und sonstigen Lebensweise. Auch hier geht es
"entquellenden geistigen Vorstellungen<<.203 Auch darin steckt um höchst alltägliche, aber unentbehrliche Tatbestände. Pessi-
fraglos ein Pessimistisches: die der Hinfälligkeit seiner Basis mismus, der - so gesehen - in metaphysischen Materialismus
entsprechende Ohnmacht des Geistes. Engels hat darauf (wenn- einmündet, besagt, daß der Wesenskern des Menschen nicht
gleich, wie aus dem Kontext erhellt, ganz ohne Absicht) deutli- Intellekt, sondern Wille ist, der sich im unersättlichen "Drang
cher noch verwiesen. Er schreibt: "Sind unsre juristischen, philo- zum Daseyn und Wohlseyn<<208 äußert. Anders als dem Tier ist
sophischen und religiösen Vorstellungen die nähern oder ent- uns jedoch die - mit dem Glück der Einsicht verbundene -
ferntern Sprößlinge der in einer gegebnen Gesellschaft herr- Aufgabe zuteil geworden, uns genau Rechenschaft abzulegen
schenden ökonomischen Verhältnisse, so können diese Vorstel- über die essentielle Beschaffenheit der Welt. Gelingt uns dies, ist
lungen sich nicht auf die Dauer halten, nachdem die ökonomi- der absolute Bann des bloß Stofflichen gebrochen.
schen Verhältnisse sich gründlich geändert. «204
Ist der systemhaft verhärtete Materialismus absolut gesetzte
Physik, so bedarf es - nach der in Schopenhauers Werk zentralen
Reflexion - einer Metaphysik, welche die Ansprüche physischer
Welterklärung nicht sowohl bestreitet als relativiert. Indem frei-
lich für Schopenhauer die Basis jener Metaphysik nicht in den
Formen reinen Denkens besteht, sondern in dem unmittelbar
leiblich, sodann gesellschaftlich-geschichtlich erfahrenen Welt-
inhalt selbst, verringert sich der Abstand zwischen seiner Philo-
sophie und einem - aufgeklärten, nicht scientistisch beschränk-
ten ~ Materialismus. Das wird, in der Sache, von Schopenhauer
selbst insofern anerkannt, als er das "metaphysische Bedürfniß«
des Menschen wesentlich auf die "Endlichkeit alles Daseyns«
und die "Vergeblichkeit alles Strebens«205 zurückführt; es folgt
"dem physischen auf dem Fuße«.206 Es ist das "Wissen um den
Tod, und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der
Noth des Lebens, was den stärksten Anstoß ... zu metaphysi-
schen Auslegungen der Welt giebt«.207 Was wir Glück nennen,
78 79
Die geistige Physiognomie Max Horkheimers
, Ibid., Vorwort, S. 7.
3 Ibid.
81
durch seine Novellen geht der schmerzliche Riß von Ideal und rend dieser Zeit steht er unter dem Einfluß seines Frankfurter
Wirklichkeit: sie schildern das gnadenlose Schicksal kompro- Lehrers Hans Cornelius, bei dem er 1922 mit der Dissertation
mißloserTugend »in dieser Welt«.4 Verstricktheit des Menschen Zur Antinomie der teleologischen Urteilskraft promoviert. 1925
in ewige Natur und unbeirrter Kampf gegen zeitliches Unrecht erfolgt die Habilitation mit der Arbeit Kants Kritik der Urteils-
bilden schon damals Hauptmomente seines Denkens. So uner- kraft als Bindeglied zwischen theor~tischer und praktischer Phi-
läßlich es für ihn ist, daß die »Ungerechtigkeit der Verteilung der losophie. Cornelius, ursprünglich Schüler von Mach und Avena-
Güter« beseitigt werde, so fragt er sich doch zugleich, ob nicht rius, bezeichnet die »erkenntnistheoretische Klärung des Welt-
selbst die »Erfüllung der kühnsten Utopien« die »große Qual« bildes und die Beseitigung der metaphysischen Scheinprobleme«
unberührt ließe, »weil der Kern des Lebens ... Qual ~nd Sterben als »erste Forderung des philosophischen Klarheitsbedürfnis-
ist«5 j ob nicht die »übersinnliche Bedeutung« selbst »menschen- ses«.10 In seiner »transzendentalen Systematik« verbinden sich
freundlicher, mitleidiger Tat«6 problematisch wird, ist der psychologisch-sensualistische Elemente mit Kantischen. Hork-
»Welt- und Höllenapparat«7 einmal durchschaut. heimers genaue, ihm nützliche Kenntnis der (teilweise vom Neu-
Man sieht: Horkheimers Jugendschriften nehmen, ausgehend kantianismus schwer ablösbaren) positivistischen Erkenntnis-
von Schopenhauers (streckenweise radikalisierter) Willensmeta- theorien, seine antidogmatische, Kants Verdienste bewahrende
physik, wesentliche Züge seiner späteren Konzeption vorweg. Grundhaltung bilden sich in dieser Zeit heraus. Allerdings wird
»Der metaphysische Pessimismus«, erklärt Horkheimer denn er schon früh an der Frankfurter Universitätsphilosophie irre.
auch rückblickend 1968, »war seit je mir vertraut. Meine erste Ihn bewegen vor allem inhaltlich-metaphysische Fragen. So
Bekanntschaft mit Philosophie verdankt sich dem Werk Scho- schreibt er im November 1921 seiner späteren Frau: »Nicht
penhauersj die Beziehung zur Lehre von Hegel und Marx, der formale Erkenntnisgesetze, die im Grunde genommen höchst
Wille zum Verständnis wie zur Veränderung sozialer Realität unwichtig sind, sondern materielle Aussagen über unser Leben
haberi, trotz dem politischen Gegensatz, meine Erfahrung seiner und seinen Sinn haben wir zu suchen.«l1
Philosophie nicht ausgelöscht.«B Marxsche und Schopenhauer- Während seiner Privatdozentur, 1926-1930, gelingt es Horkhei-
sche Denkmotive - diese stehen fürs malum metaphysicum, jene mer, die akademischen Eierschalen abzustreifen und den für ihn
fürs malum physicum - arbeiten sich in der Kritischen Theorie künftig verbindlichen Begriff von Philosophie zu entwickeln.
auf allen ihren Stufen aneinander ab, weil die •• richtige Gesell- Gekennzeichnet ist diese dritte Phase durch den entschiedenen
schaft« stets auch »ein Ziel« ist, »das mit der Vorstellung von übergang zum Marxismus (dessen Sprengkraft er sich freilich
Schuld sich verschränkt« 9 - nicht nur mit der eines wissenschaft- bereits an den revolutionären Ereignissen der Nachkriegszeit
lich beherrschbaren Gesamtprozesses. vergegenwärtigt hatte). Die Radikalität des von Horkheimer
Die Studien- und Assistentenjahre Horkheimers (1919-1925) inzwischen erreichten Bewußtseins reflektiert sich in dem erst
bilden die zweite Stufe seiner intellektuellen Entwicklung. Wäh- 1934 in der Schweiz unter d~m Pseudonym Heinrich Regius
veröffentlichten Aphorismen-Band Dämmerung, der - wenig-
4 Ibid., S. 8. stens hierzulande - in den späten sechziger Jahren eine wichtige
5 Ibid., S. 165.
Rolle bei der politischen Selbstverständigung studentischer Pro-
, Ibid., S. 337.
7 Ibid., S. 349.
testgruppen spielte. Die »gelegentlichen Notizen«, wie Horkhei-
8 Max Horkheimer, Kritische Theorie, herausgegeben von Alfred Schmidt, Band I,
Frankfurt am Main 1968, S. XIII. 10 Hans Comelius, Einleitllng in die Philosophie, Leipzig und Berlin 1921, S. VI.
, Ibid.
11 Unveröffentlicht, Horkheimer-Archiv.
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mer, allzu bescheiden, seine Schrift bezeichnet; leiten in Wahr- menschlicher Gedanke, »der mit denen, die ihn fassen, stirbt und
heit über zu den Kategorien der Kritischen Theorie. Untersu~ verweht«.17 Wir sind es, die ebenso aus Furcht und Mißtrauen
chen wir zunächst einige Nervenpunkte dieses 1926-1931 ent- wie aus Hoffnung darauf verfallen, den zahllosen übeln der
standenen Buches. sinnlich erfahrbaren Welt eine ewige, absolut gute und gerechte
Von Anbeginn bewegt sich Horkheimers Denken - was selten Instanz entgegenzusetzen. Wann immer unsere Aussagen das
verstanden wird - im Medium einer doppelten Frontstellung: Bedingte, zeitlich Befristete überschreiten, sind sie »gleich be-
gegen »sinngebende«, dogmatisch verkündete Metaphysik und rechtigt oder gleich unberechtigt«.18 Die dem unbestechlichen
gegen begriffsfeindlichen Positivismus, der jeglichen übers Hier Blick offenkundige »Sinnlosigkeit der Welt« geht für Horkhei-
und Jetzt hinausreichenden Sinn abstrakt verneint. Sowenig der mer namentlich daraus hervor, daß der Differenz eines moralisch
Gedanke im unmittelbaren Nutzeffekt aufgeht, so wenig gibt es guten von einem moralisch schlechten Leben keine überzeitliche
für Horkheimer einen reinen, der materiellen Realität enthobe- Symbolkraft zukommt; sie »straft die Metaphysik, d. h. ihre
nen Erkenntnistrieb. Wer vorgibt, einem »interesselosen Streben sinnvolle Deutung Lügen«. Das freilich irritiert »nur den ... ,
nach Wahrheit« zu folgen, unterliegt einer ideologisch aufberei- welcher aus Furcht vor irgendeinem Herrn und nicht aus Mitleid
teten »philosophische[n] Täuschung«.12 Ein »um des Denkens mit den Menschen ein menschliches Leben führt«.19
willen« betriebenes Denken hat »seinen Sinn, Mittel zur Verbes- All dies spricht Horkheimer ohne Zynismus aus: als »traurige
serung menschlicher Verhältnisse zu sein, verloren«.13 Zudem Erkenntnis«.2o Nur soweit es den Menschen - radikal endlichen
widerstreitet jenes »Streben nach Wahrheit« insofern dem eige- Wesen - gelingt, konkrete Vernunft in ihrer geschichtlichen Welt
nen Anspruch, als »es an ihre Stelle notwendig ein Phantom, die durchzusetzen, bleibt diese kein »Spiel blinder Natur«.21 Dem
absolute, d. h. die überirdische Wahrheit setzen muß«.14 materiellen Universum freilich sind unsere Ängste und Nöte,
Wenn Horkheimer - was prima lacie befremden mag - immer unser ephemeres Glück schlechthin äußerlich. »Güte« oder »Ge-
wieder betont, »Metaphysik« sei unmöglich, so versteht er dar- rechtigkeit« wohnen dem Weltall nicht inne: es ist »dumpf und
unter den Inbegriff theologischer, auch rationalistischer Ansprü- erbarmUrigslos«.22 - Die Menschheit ist allein.
che, positiv über ein Absolutes zu urteilen. Wohl sind, umge- Erwägungen, die Horkheimers Materialismus mit der Philoso-
kehrt, »Aussagen über die Zufälligkeit, Endlichkeit, Sinnlosig- phie Schopenhauers verbinden. Wohl verwirft dieser aus er-
keit der sichtbaren Welt möglich«.J5 Aber Horkheimer weigert kenntnis kritischen und ethischen Gründen den als »absolute
sich, mit Kants Ideenlehre das selbst noch »in solchen Negatio- Physik«23 auftretenden Materialismus. Aber er vermag dessen
nen ... fungierende Kriterium der Notwendigkeit, Unendlich- (zunächst von ihm entschieden behauptete) Unvereinbarkeit mit
keit und Sinnhaftigkeit ... als Bürge der Existenz des Ewigen im metaphysischem Denken insofern nicht durchzuhalten, als er
menschlichen Gemüt«16 zu interpretieren. Jenes Kriterium _ Kant vorwirft, Metaphysik und Erkenntnis apriori voreilig iden-
davon ist nichts abzumarkten - bleibt ein menschlich-allzu- tifiziert zu haben: »Dazu hätte man ... beweisen müssen, daß
17 Ibid.
12 Dämmerung, jetzt in: Max Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämme- 18 Ibid., S. 335.
mng, herausgegeben von Werner Brede, Einleitung von Alfred Schmidt, Frank- " Ibid.
furt am Main 1974, S. 272; 273. 20 Ibid., S. 334.
lJ Ibid., S. 273. " Ibid., S. 336.
H Ibid. 22 Ibid.
15 Ibid., S. 334. 2J Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Sämtliche Werke,heraus-
,. Ibid. gegeben von Arthur Hübscher, Band 3, Wiesbaden 1949, 5.195.
84 85
der Stoff zur Lösung des Räthsels der Welt schlechterdings nicht was die Menschen quält«.30 Was die offiziellen Philosophen oder
in ihr selbst enthalten seyn könne, sondern nur außerhalb der GeisteswissenschaftIer »über Geist, Kosmos, Gott, Sein, Freiheit
Welt zu suchen sei, in etwas, dahin man nur am Leitfaden jener ... , ... über Kunst, Stil, Persönlichkeit, Gestalt, Epoche, ja über
uns apriori bewußten Formen gelangen könne. So lange aber Geschichte und Gesellschaft« berichten, ist unanfechtbar objek-
Dies nicht bewiesen ist, haben wir keinen Grund, uns, bei der tiv; »Leid oder gar Empörung über das Unrecht oder Mitleid mit
wichtigsten und schwierigsten aller Aufgaben, die inhaltsreich- den Opfern«31 sind ihnen fremd. Was die um überzeitliche Sach-
sten aller Erkenntnisquellen, innere und äußere Erfahrung, zu lichkeit bemühten Metaphysiker als das wahre Wesen des Seien-
verstopfen, um allein mit inhaltsleeren Formen zu operiren.«24 den ausgeben, ist offenbar »so geartet, daß man es erforschen und
Entsprechend handfest fällt aus, was Schopenhauer die »Entzif- in seinem Anblick leben kann, ohne in Empörung gegen das
ferung der Welt«25 nennt. So unterstreicht er (ganz wie die gro- , bestehende Gesellschaftssystem zu geraten. Der Weise, der den
ßen Materialisten der französischen Aufklärung) die kreatürliche Kern der Dinge schaut, kann zwar aus dieser Schau alle mögli-
Hinfälligkeit und Mangelsituation des Menschen. Ihr - nicht chen philosophischen, wissenschaftlichen und ethischen Konse-
etwa einem autonomen Erkenntnisdrang - entspringt Schopen- quenzen ziehen, ... aber der Blick für die Klassenverhältnisse
hauer zufolge »das Bedürfniß einer Metaphysik«.26 Anima! me- wird wenig geschärft. Ja, die Tatsache, daß man unter den vor-
taphysicum ist der Mensch nur, weil er zuvor anima! physicum handenen Klassenverhältnissen diesen Aufschwung zum Ewigen
ist: »Ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod, und neben nehmen kann, bildet je mehr eine gewisse Rechtfertigung der
diesem die Betrachtung des Leidens und der Noth des Lebens, Verhältnisse, als der Metaphysiker diesem Aufschwung absolu-
was den stärksten Anstoß ... zu metaphysischen Auslegungen ten Wert zuerkennt.«32 Er erhebt die Menschen über die Niede-
der Welt giebt. Wenn unser Leben endlos und schmerzlos wäre, rungen des Alltags, gewährt ihnen Zugang zu einer höheren, der
würde es vielleicht doch Keinem einfallen zu fragen, warum die bloß empirischen vorgeordneten Wirklichkeit und verhilft ihnen
Welt dasei und gerade diese Beschaffenheit habe.«27 derart, inmitten des Bestehenden, zur wahren Bestimmung.
Aus Schopenhauers Perspektive ist denn auch genauer zu verste- Es gibt jedoch keinen einheitlich-geistigen, die empirische,
hen, was es mit Horkheimers schroffer Absage an »Metaphysik« raumzeitlich bestimmte Wirklichkeit, sei's die des Menschen
auf sich hat: sie ist ihrerseits metaphysisch - materialistische oder die der Natur, tragenden, erzeugenden oder sinnstiftend
Einsicht in die physische Bedingtheit und Gebrechlichkeit alles überwölbenden Grund. Darin faßt sich die marxistische Kritik
Menschlichen. 28 Die Themen amtlicher Metaphysik dagegen de- zusammen, die Horkheimer in der Dämmerung an den ontolo-
maskieren sich bereits durch die »Fragestellung« und den »mehr gisch wiedererstandenen Metaphysiken der zwanziger Jahre übt.
oder weniger gepflegte[n] Ton ihrer Behandlung«.29 Man merkt Deren Vertreter, obenan Heidegger, tendieren dazu, umgangs-
sogleich, daß ihre Verfechter kaum »von dem beeindruckt sind, sprachliche, der Lebenspraxis entstammende Begriffe - in ent-
stofflichter Form - aufzunehmen. Ihres geschichtlichen, jeweils
24 Ibid., Band 2, S. 506f. überprüfbaren Gehalts ledig, erhalten sie die - ideologische -
2' Ibid., Band 3, S. 204. Würde fachmännisch ermittelter Bestimmungen der condition
26 Ibid.,.S. 176. humaine.33 Horkheimer durchschaut schon damals die apologe-
27 Ibid., S. 176f.
" Cf. hierzu auch meinen Aufsatz Adomo - ein Philosoph des realen Humanismus, 30 Ibid., S. 263.
in: Theodor W. Adomozum Gedlichtnis, herausgegeben von HermannSchwep- 31 Ibid., S. 352f.
penhäuser, Frankfurt am Main 1971, insbesondere S. 67-75. 32 Ibid., S. 263.
" Max Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmemng, l. c., S. 352. 3J Als blanken Hohn auf die namenlosen, sehr empirisch verursachten Leiden der
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tische Rolle der offiziellen Philosophen, die »lieber ein System ... herauszudeuten seyn ... aus dem Stoff, nicht aus der bloßen
der Werte als eines der Unwerte aufstellen, " . lieber ,vom Form der Erfahrung. Demnach ist ... Philosophie ... das richti-
Menschen überhaupt< als von den Menschen im besonderen, ge, universelle Verständniß der Erfahrung selbst, die wahre Aus-
vom Sein schlechthin als von ihrem eigenen Sein handeln«.34 Sie legung ... ihres Gehaltes. Dieser ist das Metaphysische, ... das
sperren sich gegen die Wahrheit, daß »ihr Geschwätz ... vom in die Erscheinung bloß Gekleidete und in ihre Formen
,Ewigen<<< zum ideologischen Mörtel gehört, der das »Haus der Verhüllte. <Y - Beachten wir, daß auch der Materialist Marx, bei
gegenwärtigen Menschheit« zusammenhält, wie Horkheimer es politisch gegensätzlichen Intentionen, sowenig wie Schopenhau-
im Aphorismus ,Der Wolkenkratzer< eindringlich beschreibt: er die »Wirklichkeit« naiv-realistisch hinnimmt. Er bezeichnet
»Dieses Haus, dessen Keller ein Schlachthof und dessen Dach sie ausdrücklich als "Erscheinungswelt«.3B Wissenschaftliches
eine Kathedrale ist, gewährt in der Tat aus den Fenstern der Verhalten besteht ihm zufolge darin, die »Oberfläche der Er-
oberen Stockwerke eine schöne Aussicht auf den gestirnten scheinung«39 zu durchdringen; es muß "durch den Schein hin-
Himme1.«35 Sosehr Horkheimer das »scheußliche Gespenster- durch das innere Wesen und die innere Gestalt« des kapitalisti-
reich«36 der bürgerlichen Metaphysik jener Jahre verachtet, so schen Gesamtprozesses »erkennen«.40
sehr hält er fest an der Idee einer vernünftig eingerichteten Dieser durchaus sachliche, nicht nur auf formaler Analogie beru-
Menschheit. Sie verbindet ihn, wenn auch in eigentümlich gebro- hende Zusammenhang von Schopenhauer und Marx ist hier her-
chener Weise, mit dem Denkzusammenhang des deutschen Idea- vorzuheben, weil er, ohne daß dies unmittelbar deutlich würde,
lismus. Dieser versieht ihn mit einem materialeren Begriff von in Horkheimers Philosophie eingegangen ist. Er erstreckt sich
Philosophie als der damals zeitgenössischen. Sein Gewährsmann übers Erkenntniskritische hinaus auch aufs Metaphysische und
Schopenhauer, Kantianer und Kant-Kritiker zugleich, besteht Moralische. Beide Denker lehren die Bewußtlosigkeit und Blind-
(nicht anders als der von ihm grimmig befehdete Hegel) darauf, heit des Weltlaufs. Marx freilich, darin Kant verpflichtet, be-
daß »die Welt ..., gerade als Erscheinung, die Manifestation schränkt diesen negativen Zustand auf die - wie er hofft - revolu-
Desjenigen ist, was erscheint«: des Dinges an sich. »Dieses muß tionär beendbare "Vorgeschichte« der Menschheit; seine Theo-
daher sein Wesen ... in der Erfahrungswelt ausdrücken, mithin rie zielt darauf ab, daß human vergesellschaftete Individuen »ihre
Geschichte selbst machen«, und zwar »mit Gesamtwillen nach
Unteren mußte Horkheimer es empfinden, wenn er 1929, dem Jahr der Welt-
einem Gesamtplan«Y Der weit skeptischere Schopenhauer da-
wirtschaftskrise in Heideggers Sein und Zeit auf folgende (sich auch noch radikal
dünkende) Definition stieß: .Die Einheit der transzendentalen Struktur der gegen sieht im historischen Prozeß "stets nur das Selbe wieder-
innersten Bedürftigkeit des Daseins im Menschen hat die Benennung .Sorge< holt, unter anderen Namen und in anderm Gewande«: jeder
erhalten« (Cf. ibid., S. 320). - Nietzsehe, dem Horkheimer Entscheidendes ver- fortschrittsgläubige Versuch, die »Weltgeschichte als ein plan-
dankt, hat in der Götzendämmerung (Stuttgart 1954, S. 96) die .Idiosynkrasie.
der idealistischen Philosophen gerügt, die darin besteht, .. das Letzte und das 37 Schopenhauer, Sämtliche Werke. Band 3, 1. c., S. 204.
Erste zu verwechseln. Sie setzen Das, was am Ende kommt-leider! denn es sollte J8 Man<. Das Kapital. Band Irr, Berlin 1953, S. 67.
gar nicht kommen! - die .höchsten Begriffe<, das heißt die allgemeinsten, die 39 Ibid., S. 63.
leersten Begriffe, den letzten Rauch der verdunstenden Realität an den Anfang als '0 Ibid., S. 194. - .. Sozialforschung., schreibt Horkheimer im Anschluß an Man<,
Anfang. Es ist dies wieder nur der Ausdruck ihrer Art zu verehren: das Höhere .. erstrebt Erkenntnis des gesamtgesellschafrlichen Verlaufs und setzt daher vor-
darf nicht aus dem Niederen wachsen. darf überhaupt nicht gewachsen sein ... aus, daß unter der chaotischen Oberfläche der Ereignisse eine dem Begriff
Die Herkunft aus etwas anderem gilt als ... Wert-Anzweiflung .• zugängliche Struktur wirkender Mächte zu erkennen sei. (Zeitschrift für Sozial-
" Notizen . .. und Dämmerung, 1. c., S. 288. forschung. Jahrgang I, Leipzig 1932, Doppelheft 112, S. I).
35 Ibid.
" Engels an Heinz Starkenburg, Brief vom 25.1. 1894, in: Marx/Engels, Ausge-
36 Ibid., 296.
wählte Briefe. Berlin 1953, S. 560.
88 89
mäßiges Ganzes zu fassen«42, ist verwerflic~er Hegelianismus. nen ableiten, nicht aus sich selbst oder aus der Luft a la
Damit verzichtet Schopenhauer auf einheitliche Geschichtstheo- Hegel.«46
rie überhaupt :- nicht nur auf metaphysische. Der Annahme Sätze, die Schopenhauer fraglos unterschrieben hätte. Auf einem
überindividueller Strukturen und Tendenzen begegnet er mit anderen Blatt steht, daß die Begründer des Marxismus, anders als
unüberwindlichem Mißtrauen: »Selbst das Allgemeinste in der der Willensmetaphysiker, bei jener (polemisch ,gewonnenen,
Geschichte ist an sich selbst doch nur ein Einzelnes und Indivi- noch feuerbachianisch getönten) »Basis« nicht Sfrhenblieben,
duelles, nämlich ein langer Zeitabschnitt, oder eine Hauptbege- sondern sie zur ökonomischen, entwicklungs gesetzlichen Basis
benheit: zu diesen verhält sich daher das Besondere, wie der der Sozialgeschichte erweiterten. Eine konkret-klassenmäßige
Theil zum Ganzen, nicht aber wie der Fall zur Regel; wie dies Betrachtungsweise, die - wie gesagt - in der Dämmerung durch-
hingegen in allen eigentlichen Wissenschaften Statt hat, weil sie weg erreicht ist. Dadurch freilich, daß Horkheimer den histori-
Begriffe, nicht bloße Thatsachen überliefern.«43 schen Materialismus von vornherein aus einem Schopenhauer-
Freilich - und davon geht Horkheimer aus - genügt es nicht, den schen Blickwinkel rezipiert, bleibt er davor bewahrt, »die« Ge-
offenkundigen Mangel dieser rein narrativen Interpretation der schichte pantheistisch zu verklären: sie ist keine selbsttätige,
Geschichte bloß zu tadeln, die deren Gang auf eine Summe teleologisch sich entfaltende SubstanzY Die von Marx entdeck-
einzelner Geschehnisse reduziert. In Schopenhauers Beharren ten ökonomischen Gesetze besagen nach Horkheimer lediglich,
darauf, daß Historiographie es mit dem »schlechthin Einzelnen daß die »Ele!l1ente« des Sozialismus »in gewisser Weise im Kapi-
und Individuellen« 44 zu tun hat, steckt nämlich zugleich materia- talismus vorhanden sind«: als objektive »Tendenzen«.48 Dabei
listischer Protest gegen konformistische Metaphysiken, die indi- ist das »Erfahrungsmaterial, auf Grund dessen wir annehmen,
viduelles Leiden entschärfen oder gar verklären, indem sie es in daß die Tendenzen sich wirklich durchsetzen, ... sehr gering«. 49
die - vermeintlich sinnvolle - Totalität des Geschichtsverlaufs Horkheimer hält jedoch wenig von der weisen Skepsis jener, die
eingliedern. Demgegenüber - das bezeugen die Anfänge gerade Marx ehrerbietig als neutrales Bildungsgut in die Geschichte der
von Marx und Engels - besteht der philosophische wie politische Philosophie »einordnen«. Indem er zu »auch so einem Philoso-
Ubergang zum Materialismus zunächst einmal darin, wolkige
Universalien zu kritisieren und sich der realen Nöte »des wirkli- 46 Engels an Marx, Brief vom 19. 11. 1844, in: MarxiEngels, Werke, Band 27, Berlin
chen individuellen Menschen«45 anzunehmen. »Wir müssen«, 1963, S. 12.
47 Dieses Motiv wird wichtiger noch auf den späteren Stufen der Horkheimerschen
schreibt Engels 1844 an Marx, »vom Ich, vom empirischen,
Entwicklung. So heißt es in den (1930 erschienenen) Anfängen der bürgerlichen
leibhaftigen Individuum ausgehen, um ... uns von da aus zu Geschichtsphilosophie mi~ deutlich antihegelschem Akzent: .. Die vollständig
,dem Menschen< zu erheben. ,Der Mensch< ist immer eine Spuk- gelungene Erklärung, die durchgeführte Erkenntnis der Notwendigkeit eines
gestalt, solange er nicht an dem empirischen Menschen seine geschichtlichen Ereignisses, kann für uhs, die wir handeln, zum Mittel werden,
Basis hat. Kurz, wir müssen vom ... Materialismus ausgehen, Vernunft in die Geschichte hineinzubringen; aber die Geschichte hat keine
Vernunft, >an siehe betrachtet, ist keine wie immer geartete ~Wesenhei[c, weder
wenn unsre Gedanken und namentlich unser ,Mensch< etwas .Geist<, dem wir uns zu beugen hätten, noch Macht, sondern eine begriffliche
Wahres sein sollen; wir müssen das Allgemeine vom Einzel- Zusammenfassung von Ereignissen, die sich aus dem gesellschaftlichen Lebens-
prozeß der Menschen ergeben. Von der ,Geschichte< wird niemand ins Leben
gerufen oder getötet, sie stellt weder Aufgaben noch löst sie solche. Die panthei-
42 Schopenhauer, Sämtliche Werke, Band 3, I. c., S. 507; S. 505. stische Verselbständigung der Geschichte zu einem.einheitlichen substanziellen
4) Ibid., S. 503. Wesen ist nichts als dogmatische Metaphysik« (Frankfurt am Main 1971, S. 69) .
... Ibid., S. 502. 48 Notizen . .. "nd Dämmerung, I. c., S. 251.
"Marx/Engels, Die heilige Familie, in: Werke, Band 2, Berlin 1959, S. 7. 49 Ibid.
90 91
phen« wird, büßt seine Lehre ihre sachliche und - für Horkhei- Farbe des Relativismus, Historismus, Soziologismus anzu-
mer noch wichtiger - moralische Verbindlichkeit ein. Denn die schmieren«.54 Der materialistischen Dialektik abhold, setzen sie
an sich richtige »Feststellung, daß aus der marxistischen Theo- »das Relativieren oder das Fragen überhaupt«55 absolut. Derart
rie der Sozialismus nicht >folgt<, auch wenn er ... wünschens- genügen die realpolitischen Ideologen nicht einmal dem eigenen
wert sein sollte, wirkt« - skeptisch vorgetragen - »als wissen- positivistischen Credo, es komme darauf an, die Tatsachen nüch-
schaftliche lind moralische Begründung des Kapitalismus«.5o tern anzuerkennen: auch ihre Erkenntnis verfällt schlechtem
Für Horkheimer indessen ergibt sich hieraus keine Resigna- Relativismus. Die Reformisten treten »unparteiisch und illu-
tion, sondern das kämpferische »Bekenntnis zur Praxis, deren sionslos«56 auf. Aber ihre »Liebe zum >Konkreten«<, muß un-
die Theorie bedarf«. »Marx«, so schreibt er damals noch, »hat glücklich bleiben; denn es erschließt sich »nur dem aus der Praxis
das Gesetz der herrschenden unmenschlichen Ordnung aufge- entspringenden Interesse«, das gesellschaftliche Ganze zu än-
deckt und die Hebel gezeigt, die man ansetzen muß, um eine dern. Ihr Begriff des Konkreten geht auf im »Stoff, mit dem sie
menschlichere zu schaffen.«51 ihre Schematismen füllen, er wird bei ihnen nicht durch die
Was die Skepsis betrifft, so ist sie Ausdruck eines akademischen, bewußte Parteinahme im geschichtlichen Kampf, über dem sie
in selbstgenügsamer Kontemplation verharrenden Denkens. Ihr vielmehr zu schweben glauben, organisiert«.57 Umgekehrt be-
Gegenteil, betont Horkheimer, ist nicht wiederum eine theoreti- kennen sich die kommunistischen Theore.tiker zwar zu den mar-
sche Haltung - das optimistisch verkündete Dogma -, sondern xistischen Prinzipien, aber diese nehmen in ihren Schriften keine
der Vollzug der geschichtlichen Praxis selbst. - Bloße Heilsge- »durch die Menge des theoretisch verarbeiteten Stoffs ... zeitge-
wißheit hat bürgerlicher Skepsis nichts voraus: »Die Illusion des mäße Gestalt an, sondern werden undialektisch festgehalteq.«.58
naturnotwendigen Eintritts der sozialistischen Ordnung gefähr- Entsprechend doktrinär fällt die kommunistische Politik aus. Sie
det aas richtige Handeln kaum weniger als der skeptische Un- setzt sich vielfach über reale Gegebenheiten hinweg und »er-
glaube ... Die sozialistische Gesellschaftsordnung ... ist histo- schöpft sich ... in erfolglosen Befehlen und moralischer Zu-
risch möglich; verwirklicht wird sie aber nicht von einer der rechtweisung der Ungehorsamen und Treulosen«.59 Leeren Ka-
Geschichte immanenten Logik, sondern von den an der Theorie tegorien hier steht begriffslose Stoffhuberei dort gegenüber. Die
geschulten, zum Bessern entschlossenen Menschen, oder über- politische Ohnmacht und Spaltung der deutschen Arbeiterklasse
haupt nicht.«52 reflektiert sich theoretisch darin, daß die »beiden Momente der
In diesem Kontext stehen auch Horkheimers prinzipielle über- dialektischen Methode: Tatsachenerkenntnis und Klarheit über
legungen zur proletarischen Politik der zwanziger Jahre. Den das Grundsätzliche;<60, voneinander isoliert sind. Geradezu pro-
reformistischen Sozialdemokraten wirft er vor, sie hätten »das
Wissen um die Unmöglichkeit einer wirksamen Verbesserung 54 Ibid.
der menschlichen Verhältnisse auf kapitalistischem Boden verlo- 55 Ibid.
56 Ibid., S. 285.
ren«Y Soweit sie spezifisch theoretische Arbeit nicht völlig ver-
57 Ibid.
werfen, neigen sie dazu, »alle bestimmten Begriffe und Ansich- " Ibid., S. 283.
ten ... zu diskreditieren ... und alles mit der gleichen grauen " Ibid.
60 Ibid., S. 285. - Es sei daran erinnert, daß die hier auf politischer Ebene erörterte,
50 Ibid., S. 252. ebenso produktive wie spannungsvolle Einheit von theoretisch-kategorialer Ar-
51 Ibid.
beit und empirischem Studium für die spätere Kritische Theorie insgesamt
" Ibid., S. 253; cf. hierzu auch S. 323. verbindlich geblieben ist. Die auf »die gegenwärtige menschliche Wirklichkeit«
53 Ibid., S. 284.
abzielende »Sozialforschung«, schreibt Horkheimer 1932 im Vorwort zur ersten
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phetisch klingt Horkheimers Urteil über die damalige kommuni- d. h. sie verweisen häufig . . . bloß auf die Autorität. In der
stische Orthodoxie, wenn er etwa schreibt, die Treue zur mate- überzeugung, die ganze Wahrheit für sich zu haben, nehmen sie
rialistischen Lehre drohe »zum geist- und inhaltlosen Buchsta- es mit den einzelnen Wahrheiten nicht so genau und bringen ihre
ben- und Personenkult« zu verkümmern, sofern »nicht bald eine besserwissenden Gegner mit moralischer, notfalls auch mit phy-
radikale Wendung«61 eintrete. Die »Erkenntnis der wirklichen sischer Gewalt zur Räson.«65
Welt« aber, den »materialistische[n] Inhalt«, sieht er zu dieser Bei alledem weiß Horkheimer, wie wenig damit getan ist, ange-
Zeit »im Besitz jener, welche dem Marxismus untreu geworden sichts dieses Zustands der Arbeiterbewegung nur an den guten
sind«.62Da sie die weltgeschichtliche Perspektive verloren ha- Willen der Beteiligten zu appellieren. Er ist objektiv vermittelt.
ben, stumpft ihre Erkenntnis zur (im Hegelschen Sinn) abstrak- Daß die unmittelbar am Sozialismus Interessierten und diejeni-
ten Faktizität ab; »ohne das materialistische Prinzip werden die gen, die - potentiell wenigstens - über die zu seiner Herbeifüh-
. Tatsachen zu blinden Zeichen ... oder ... geraten ... in den rung notwendigen - theoretischen und politischen - Qualitäten
Bereich der das geistige Leben beherrschenden ideologischen verfügen, sich auf zwei einander bekämpfende Gruppen des
Mächte«.63
Proletariats verteilen, liegt daran, daß »der Typus des tätigen
Politisch drückt sich dieses - letztlich ökonomisch bedingte _ Arbeiters ... nicht mehr kennzeichnend [ist] für die, weIche am
Nebeneinander von begriffslosem Inhalt und inhaltslosem Be- dringendsten einer Änderung bedürfen. Es vereinigt vielmehr
griff darin aus, daß die einen zwar das Bestehende als schlecht eine bestimmte untere Schicht der Arbeiterklasse . . . immer
erkennen, es ihnen aber an Wissen fehlt; »die Revolution prak- ausschließlicher das übel und die Unruhe des Bestehenden in
tisch und theoretisch vorzubereiten«, während den anderen, sich. Diese ... am dringendsten an der Revolution interessierten
weIche über die erforderlichen Kenntnisse verfügen, die grundle- Arbeitslosen besitzen aber nicht wie das Proletariat der Vor-
gende Erfahrung von der »dringenden Notwendigkeit der Ände- kriegszeit die Bildungsfähigkeit und Organisierbarkeit, das Klas-
rung«64 abgeht. Daher haben die Sozialdemokraten, wie Hork- senbewußtsein und die Zuverlässigkeit der in der Regel ... in
heimer schließlich die Weimarer Situation der Linksparteien be- den kapitalistischen Betrieb Eingegliederten.«66
urteilt, wenn sie miteinander diskutieren, »viel zuviele Gründe. Horkheimers soziologische Notizen zu den Weimarer Linkspar-
Sie berücksichtigen peinlich genau alle Umstände, erweisen da- teien sind in doppelter Hinsicht wichtig. Einmal belehren sie
durch der Wahrheit und Objektivität eine Reverenz und beschä- über den - prekären ~ politischen Ort auch der späteren Kriti-
men ihre unwissenden Gegner durch die Vielfältigkeit der Ge- schen Theorie, zum anderen - das ist der umfassendere Aspekt-
sichtspunkte. Die Kommunisten haben viel zuwenig Gründe, darüber, daß Sozialismus für Horkheimer von Anbeginn keine
Frage der Sozialtechnik, sondern wesentlich eine sittliche Idee
Nummer seiner Zeitschrift (I. c., s. IrI), »wird ... zusammenfassender Begriffs-
ist. Wie sich ein Gelehrter zu der geschichtlichen Aufgabe stellt,
bildungen ... nicht entraten können, aber im Gegensatz zu breiten Strömungen
der gegenwänigen Metaphysik schließen ihre Kategorien die weitere Aufhellung die Klassengesellschaft durch eine gerechtere Ordnung zu erset-
und berechtigten Widerspruch durch die empirische Forschung nicht aus. So- zen, bezeichnet »den Grad seiner Moralität«.67 Die »Verwirkli-
wenig übergreifende begriffliche Zusammenfassungen bei der wissenschaftlichen chung des Sozialismus« ist für Horkheimer geradezu die
Arbeit zu entbehren sind, dürfen sie diese doch nirgends abschließend vorweg-
nehmen und sich an die Stelle der zu lösenden Probleme setzen.« 65 Ibid.
61 Notizen . .. und Dämmerung, I. c., S. 285.
"·Ibid. 66 Ibid., S. 282; cf. zu Horkbeimers soziologischer Einschätzung der Arbeiter-
63 Ibid.
bewegung der zwanziger Jahre auch die Monographie Max Horkheimer von
Helmut Gumnior und Rudolf Ringguth, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 4off.
.. Ibid., S. 286.
67 Notizen . .. und Dlimmerung, l. c., S. 252.
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»Form«, welche die Moral »in der Gegenwart angenommen mer unterstreicht - "zur primitivsten intellektuellen Klarheit
hat«68, ohne daß deshalb die analytische Bedeutung des wissen- und Wahrhaftigkeit des modernen Menschen«, völlig frei zu sein
schaftlichen Materialismus geschmälert würde. Um das gesell- vom »Glauben an die Existenz einer von der Geschichte unab-
schaftlich Wünschenswerte zu erreichen, bedürfen die revolutio- hängigen und sie doch bestimmenden Macht,/l, so sind die
nären Kräfte genauen Studiums der ökonomischen Verhältnisse. Menschen auf sich selbst angewiesen. Wenn etwas sie motivieren
Nicht deren Selbstlauf freilich, sondern allein die durchdachte kann, solidarisch zu handeln, Partei zu ergreifen für ihre besseren
Aktion der heute Leidenden kann den besseren Zustand her- Möglichkeiten, dann die Tatsache ihrer Verlassenheit. Sie verbin-
beiführen: »die ihr Sein selbst regelnde, rational organisierte det in Horkheimers Denken Schopenhauer mit Marx, den meta-
sozialistische Gesellschaft«.69 Der frühe Horkheimer ist von der physischen Materialismus mit dem ökonomischen. Auch die
objektiven Möglichkeit überzeugt, die Fremdherrschaft des Ka~ humane Praxis hat keinen absoluten, über Raum und Zeit hin-
pitals zu brechen und die vereinigten Individuen zu den Herren ausreichenden Sinn. 72 - Ein spezielles Merkmal des frühen
ihres Schicksals zu machen: "Wenn die Menschen ihren gesell- Aphorismen-Bandes ist noch zu erwähnen: die in ihm waltende
schaftlichen Lebensprozeß bewußt in die Hand nähmen und an Methode. Sie ist insofern hegelianisch, als sie das Allgemeine im
die Stelle des Kampfes kapitalistischer Konzerne eine klassenlose besonderen Inhalt aufsucht und darstellt. Horkheimer begnügt
und planmäßig geleitete Wirtschaft setzten, dann könnten auch sich nicht damit, den überkommenen Lehrgehalt des Marxismus
die Wirkungen des Produktionsprozesses auf ... ihre Beziehun- bloß kommentierend vorzutragen. Er folgt darin Marx selbst, bei
gen überschaut und reguliert werden.,/o dem es heißt, die »wahre Theorie« müsse »innerhalb konkreter
Der Rekurs auf den letztlich moralischen Kern des Horkheimer- Zustände und an bestehenden Verhältnissen klargemacht und
schen Sozialismus lenkt unseren Blick abermals auf dessen (von entwickelt werden«.73 Die "Zustände« und »Verhältnisse«, mit
Interpreten kaum wahrgenommenen) negativ-metaphysischen denen Horkheimer es zu tun hat, sind die des vorfaschistischen
Hintergrund. Bleibt das materielle Universum taub für mensch- Deutschland. Zu ihnen gehören - überbauhaft - auch Begriffe
liches Hoffen und Leiden und gehört es vollends - wie Horkhei- wie »Metaphysik, Charakter, Moral, Persönlichkeit und Wert
des Menschen«, auf die seine Notizen sich »immer wieder kri-
68 Ibid.
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tisch« beziehen und die, bei aller thematischen Vielfalt, eine bestreitet er biologisch vorgegebene Anlagen. Zahlreiche »Reak-
gewisse »Einheitlichkeit«?4 des Buches konstituieren. Freilich tionsnuancen« haften uns seit der Geburt an. »Aber der Hori-
geht es Horkheimer weniger um die (fachphilosophisch neutral zont, der jedem von uns durch seine Funktion in der Gesellschaft
bleibende) Zergliederung jener Begriffe als darum, sie hinsicht- vorgezeichnet ist, die Struktur der Grundinteressen, die uns
lich ihrer gesellschaftlichen Genesis und Funktion zu untersu- durch unser Schicksal von Kindheit an aufgeprägt wird, läßt
chen. Dabei fällt einiges ab zur Soziologie namentlich der geistes- sicher nur in den seltensten Fällen eine relativ ungebrochene
wissenschaftlichen Gelehrtenzunft dieser Periode, die den Mar- Entfaltung jener individuellen Anlagen zu. Diese Chance besteht
xismus teils vornehm totschwieg, teils akademisch einzugliedern um so mehr, je höher die soziale Schicht ist, in der einer das Licht
suchte.
der Welt erblickt.... Die Lust an billigen Vergnügungen, der
Daneben enthält der Band Stücke anderer Art. Man könnte sie bornierte Hang an kleinlichem Besitz, das hohle Gespräch über
Beiträge zu einer mate;ialistischen Analytik des A1ltagslebens eigene Angelegenheiten, die komische Eitelkeit und Empfind-
nennen. Ihr Verfahren ist das jener »zarten Empirie«, von der samkeit, kurz die ganze Armseligkeit der gedrückten Existenz
Goethe in seinen Maximen und Reflexionen schreibt, sie mache brauchen sich dort nicht vorzdinden, wo die Macht dem Men-
sich »mit dem Gegenstand innigst identisch« und werde »da- schen einen Inhalt gibt und ihn entwickelt.<.?? - Horkheimer
durch zur eigentlichen Theorie«/5 Wird diese, wovon Horkhei- verfügt schon in der Dämmerung über ein erstaunliches Senso-
mer überzeugt ist, nicht durch die offizielle Bedeutsamkeit ihrer rium für Soziales; er weist - kritisch - nach, wie sich die Tausch-
Objekte geadelt, sondern durch wahre Einsicht, so kann solche gesellschaft noch in den Bezirken der Innerlichkeit fortsetzt, wie
auch im soziographischen, genau beobachteten Detail stecken. sie einwandert in die subtilsten Verästelungen einer Freundschaft
Das Mienenspiel eines Mannes, der in Gegenwart eines anderen oder Liebe. Die Menschen sind komplizierte Echo-Apparate; die
telefoniert, ist dann nicht weniger aufschlußreich für gesamtge- - zum Guten oder Schlechten - zurückspiegeln, was ihnen in der
sellschaftliche Tendenzen als ein Gespräch im Salon oder der Welt widerfährt.
Argwohn eines Hotelportiers, der ein allzu reichliches Trinkgeld Die Jahrzehnte von 1930 bis 1950 umfassen diejenigen beiden
erhält. Horkheimers durchgängiges Thema ist »die Abhängigkeit Etappen der Entwicklung Horkheimers, die sein Bild wie das der
der psychischen Reaktionen und der Bildung des Charakters« von ihm begründeten Kritischen Theorie im Bewußtsein einer
der Individuen von ihrer »materiellen Situation«.76 Keineswegs breiteren öffentlichkeit geprägt haben. Die eine - sie kann als
74 Notizen . .. und Dämmerung, 1. c., S. 224. vierte Etappe gelten - reicht von 1930, dem Jahr seiner Berufung
75 Goethes Werke, Band XII, Hamburger Ausgabe, 1967", S. 435. auf den eigens für ihn geschaffenen Frankfurter sozialphiloso-
76 Notizen . .. und Dämmemng, 1. c., S. 264. - Die Kunst mikrologischer Beobach-
phischen Lehrstuhl, bis 1940, dem Jahr seiner Übersiedlung von
tung verbindet Horkheimer mit Benjamins Einbahnstraße, Blochs Erbschaft
dieser Zeit und Adornos Minima Moralia. In der älteren deutschen Soziologie
New York nach Kalifornien. In diese ungemein produktive Zeit
nehmen Simmels kulturkritische Essays manche Züge der Horkheimerschen fallen so wichtige Studien wie die Anfänge der bürgerlichen
Methode vorweg, die freilich in der ZeitschnJt für Sozia/forschung in wesentlich Geschichtsphilosophie (1930), Hegel und das Problem der Meta-
durchgearbeiteterer Form "vorliegt. Wird die »wirkliche Geschichte., heißt es physik (1932), zuerst erschienen in der Festschrift für Griinberg,
hier, »mit ihren vielfältigen, die Individuen übergreifenden Strukturen. aner-
vor allem aber die großen Essays der Zeitschrift für Sozia/for-
kannt und nicht, »wie es der Existenzphilosophie entspräche .. , als ein »Abgelei-
tetes, Sekundäres. betrachtet, so »verwandelt sich die Lehre vom Sein im Men- schung, von denen hier nur Materialismus und Metaphysik
schen ebenso wie jede Art philosophischer Anthropologie ... in die Psychologie (1933), Maten·alismus und Moral (1933), Bemerkungen zur phi-
der in einer bestimmten Geschichtsepoche lebenden Menschen. (Geschichte und
Psychologie, in: Kritische Theorie, Band I, I. c., S. 11).
77 Notizen . .. ,md Dämmerung, I. c., S. 264f. und Anmerkung.
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losophischen Anthropologie (1935), Egoismus und Freiheitsbewe- von Gesellschaft und Psychologie«81 wi~klich ins Zentrum der
gung (1936) sowie die programmatische Arbeit Traditionelle und Theorie. Primär freilich bleibt dabei der ökonomisch-soziale
kritische Theorie (1937) genannt seien. Ausgehend vom Gedan- Druck: Freuds »Lebensnot«. Es geht nicht an, gesellschaftliche
ken einer - empirisch unterbauten - »Sozialphilosophie« gelangt Antagonismen dadurch abzuschwächen, daß »man sie unvermit-
Horkheimer in dieser Zeit zu einem spezifischen Begriff von telt auf den Menschen, auf bloß inwendige Vorgänge redu-
»Sozialforschung« und von diesem schließlich zur schulbilden- ziert«.82 jener Druck aber - darin konkretisiert Freud die Marx-
den Kritischen Theorie. sche Lehre - pflanzt sich »in sozialpsychologischen unbewußten
Demgegenüber ist das jahrzehnt von 1940 bis 1950, die Kriegs- Prozessen« fort, »welche die Menschen dazu bringen«, ihn »auch
und Nachkriegszeit, gekennzeichnet einerseits durch inhaltlich~ noch zur eigenen Sache zu machen und den Verlust der Freiheit
soziologische Studien über rassistische und ethnozentrische in Kauf zu nehmen«.83
Vorurteile, Ideologien und Verhaltensweisen, andererseits durch Mit der energischen Aufnahme Freudscher Einsichten in die
negativ-geschichtsphilosophische Arbeiten wie Vernunft und (damit weniger starr vertretbare) materialistische Geschichtsauf-
Selbsterhaltung (1942) sowie, beide 1947 veröffentlicht, Eclipse fassung geht in Horkheimers Denken während seiner kaliforni-
of Reason und die (gemeinsam mit Adorno geschriebene) Dia- schen jahre zweierlei einher: die rigorose Kritik spätkapitalisti-
lektik der Aufklärung. Setzt Horkheimer noch während der scher Massenkultur und - sofern diese unter dem Diktat refle-
dreißiger jahre - bei aller Distanz zur kommunistischen Partei- xionsloser Selbsterhaltung steht - eine gewisse, die Eigenständig-
politik - die Kritische Theorie mit dem Lehrgebäude des »dialek- keit von Philosophie betreffende Korrektur an Marx. - Sicher:
tischen Materialismus« gleich 78 , weiß er sich damals noch in auch in den großen Traktaten der dreißiger jahre betont Hork-
einem theoriegeschichtlich verbürgten Rahmen 79 , so erweist sich heim er, daß marxistische Gesellschaftslehre »über das Erbe des
ihm dieser während der fünften Etappe seines Wirkens als unzu- deutschen Idealismus hinaus das der Philosophie schlechthin«
länglich. Angesichts des »Widerspruch[s] zwischen den hand- bewahrt; »sie ist nicht irgendeine Forschungshypothese, die im
greiflichen Interessen der Massen und der faschistischen Politik herrschenden Betrieb ihren Nutzen erweist, sondern ein unab-
... , für die sie sich enthusiastisch einspannen«8o lassen, wird es lösbares Moment der historischen Anstrengung, eine Welt zu
unabdingbar, die Kritische Theorie durch psychoanalytische Ka- schaffen, die den Bedürfnissen und Kräften der Menschen
tegorien anzureichern. Nicht, daß Freud vorher in Horkheimers genügt. Bei aller Wechselwirkung zwisch