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350, in: Lüdtke, Nico; Matsuzaki, Hironori (Hg.) Akteur – Individuum – Subjekt: Fragen zu
Personalität und Sozialität, Wiesbaden: VS
Ausgelöst durch die Ergebnisse der empirischen Wissenschafts- und Technikforschung hat
sich in der Soziologie eine Diskussion um den Akteursstatus entwickelt, die mittlerweile auch
die Diskussion um die allgemeine Theoriebildung erreicht. Insgesamt ist diese Debatte durch
eine recht unübersichtliche empirische Lage gekennzeichnet. Dies ist insbesondere dann der
Fall, wenn man auch die Vorläufer der aktuellen Diskussion einbezieht. Bereits in den 1940er
und den 1970er Jahren hatten Kelsen (1941/1982) und Luckmann (1970/1980) gezeigt, dass
nicht nur lebende Menschen, sondern auch eine Vielzahl anderer Entitäten den Status einer
sozialen Person innehaben können. Es muss in der Frage „der Grenzen der Sozialwelt“
(Luckmann 1970/1980) mit einer großen Varianz gerechnet werden. Luckmann hatte hier ein
ernsthaftes methodologisches Problem identifiziert, denn die Annahme, dass nur lebende
Menschen soziale Personen seien, müsse als methodologischer Ethnozentrismus (vgl.
Luckmann 1970/1980: 68) gelten.
Darüber hinaus hatte Luckmann angenommen, dass es einen Zusammenhang gibt, zwischen
der Differenzierungsstruktur einer Gesellschaft und der Art und Weise, wie soziale Personen
von anderen Entitäten unterschieden werden (Luckmann 1970/1980: Abschn. IV), ohne dies
allerdings weiter auszuführen. Ich möchte in diesem Text an die frühe Einsicht Luckmanns
anknüpfen und diesen Zusammenhang für die funktional differenzierte Moderne ausarbeiten.
Damit erhebe ich zugleich den Anspruch zumindest für die funktional differenzierte
Gesellschaft allgemeine Aussagen darüber zu machen, welche Entitäten in welcher Weise
eine soziale Person sein können bzw. wie Entitäten an Handlungen bzw. Kommunikationen
teilnehmen können. Um diesen Anspruch einzulösen, ist es erforderlich, zwei auf den ersten
Blick widersprüchliche Phänomene in einer einheitlichen Theorie zu erfassen. Einerseits
scheint zumindest für die moderne funktional differenzierte Gesellschaft zu gelten, dass nur
lebende Menschen ein normativer Sonderstatus zukommt, der sie in einem allgemeinen Sinn
als Akteure bzw. soziale Personen auszeichnet (vgl. Lindemann 2009a: Kap. 3, 2009b).
Andererseits lässt sich nicht zuletzt auch im Wissenschaftsbereich feststellen, dass der
Akteursstatus nichtmenschlichen Entitäten zugeschrieben wird, wie die empirische
Wissenschafts- und Technikforschung herausgearbeitet hat (Latour/Woolgar 1979,
Callon/Latour 1992, Rammert 2007, Schulz-Schaeffer 2007). Da sich die moderne
1
Gesellschaft durch einen umfassenden Einsatz von Technik und damit durch eine Integration
von Technik in soziale Prozesse auszeichnet, muss eine Theorie des Akteursstatus in einer
modernen funktional differenzierten Gesellschaft beide Aspekte berücksichtigen. D. h., sie
muss einerseits den personalen Status von Menschen erklären können und zugleich erfassen
können, was es mit der Beteiligung von Technik an sozialen Prozessen bzw. der
Handlungsträgerschaft von Technik auf sich hat. Zur Lösung dieser Aufgabe ist eine
konsistent aufeinander aufbauende Sozial- und Gesellschaftstheorie erforderlich. Auf der
sozialtheoretischen Ebene bedarf es eines Sozialitätskonzepts, das den Prozess der
Grenzziehung zwischen sozialen Personen und anderen Entitäten als ein empirisch
beobachtbares Phänomen zu begreifen erlaubt. Dies ist die Bedingung dafür, die historische
Varianz der Grenzen des Kreises sozialer Personen überhaupt als solche erfassen zu können.
Gesellschaftstheoretisch geht es darum, die Struktur des Personenstatus 1 im Rahmen der
funktional differenzierten Moderne zu beschreiben. Auf diese Weise lässt sich einerseits der
normative Sonderstatus begreifen, den Menschen in modernen Gesellschaften einnehmen, und
andererseits erfassen, wie sich dieser besondere Personenstatus zu den anderen Formen von
Handlungsträgerschaft verhält, die in der Wissenschafts- und Technikforschung empirisch
untersucht worden sind.
Zunächst skizziere ich die sozialtheoretischen Annahmen, auf deren Grundlage die
Grenzziehung zwischen sozialen Personen und anderen Entitäten als ein empirisch
beobachtbares Phänomen gefasst werden kann. In einem zweiten Schritt werde ich
untersuchen, wie die Grenzziehung zwischen sozialen Personen und anderen Entitäten für die
moderne funktional differenzierte Gesellschaft erfolgt und welche Konsequenzen sich daraus
für die Konzeption des Akteursstatus ergeben. Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären,
warum technischen Artefakte zwar in begrenzter Weise ein Akteursstatus zuerkannt wird, es
aber nicht dazu kommt, dass technische in einem allgemein anerkannten Sinn als Akteur
anerkannt werden.
1. Sozialtheoretische Basis
Wenn man die Frage nach den Grenzen der Sozialwelt als ein empirisch zu bearbeitendes
Problem begreift, gelten lebendige Menschen nicht als natürliche Voraussetzung des
Vergesellschaftungsprozesses. Vielmehr wird diese Annahme wissenssoziologisch
eingeklammert und selbst als ein bemerkenswertes Phänomen begriffen. Als klassische
Vertreter dieser Fragerichtung können Plessner (1928/1975), Kelsen (1941/1982) und
1
Ich verwende die Begriffe soziale Person und sozialer Akteur synonym.
2
Luckmann (1970/1980) gelten. Auch die Arbeiten von Latour (1995) und anderen
(Woolgar/Latour 1979, Callon 1986) sind in diese Richtung interpretiert worden. Denn
letztgenannte Autoren verwenden einen weiten Akteursbegriff (Latour 2005), der auch
nichtmenschliche Entitäten einbezieht. Latour versucht, auf dieser Grundlage die „Verfassung
der Moderne“ (Latour 1995) zu rekonstruieren. Dabei bleibt er aber insofern einer
anthropologisch orientierten akteurszentrierten Theorie verhaftet, als er implizit menschliche
Akteure in den Mittelpunkt stellt, denen die Macht zuerkannt wird, im Weiteren auch anderen
Entitäten einen Akteursstatus zuzuschreiben (Callon/Latour 1992, vgl. Lindemann 2008a). Im
Unterschied zu Luckmann und Kelsen wird auf diese Weise die Frage nach den Grenzen der
Sozialwelt nicht ernsthaft gestellt.
Kelsen und Luckmann zufolge ist es ein Spezifikum der westlich-europäisch geprägten
Moderne, dass nur lebende Menschen soziale Akteure sein können. Kelsen rekonstruiert in
einer geistesgeschichtlichen Untersuchung, wie Naturdinge in der westlichen Moderne den
Status eines sozialen Akteurs verloren haben. Natürliche Dinge und technische Artefakte
werden zwar als materiell wirksam betrachtet, jedoch würden sie in der Moderne als Wesen
angesehen, bei denen es sich nicht um ein soziales Gegenüber mit Intentionen und
Erwartungen handelt. Kelsen zeigt auf, wie der Aspekt der Vergeltung, der in vormodernen
Auffassungen der Beziehung zu Naturdingen und Artefakten noch enthalten war, zunehmend
verschwindet. Die Beziehungen zu Naturdingen und Artefakten wurden desozialisiert.
Luckmanns Ansatz folgt methodisch Husserl, wenn er in transzendentaltheoretischer
Perspektive das Argument entfaltet, dass die Projektion des anderen Ich apriori nicht auf
lebende Menschen beschränkt werden kann. Anhand eines reichhaltigen ethnologischen
Materials legt er dar, dass in nicht-modernen Gesellschaften auch Tiere, Pflanzen oder Götter
und Verstorbene den Status von allgemein anerkannten Akteuren einnehmen können.
Luckmann sieht richtig, dass die Frage nach den Grenzen der Sozialwelt mit dem Problem des
anderen Ich zusammenhängt, d. h. mit der Frage, wie entschieden wird, welche Entitäten als
ein Alter Ego anzuerkennen sind. Dass er bei der Bearbeitung dieser Frage
transzendentaltheoretisch argumentiert, ist allerdings insofern problematisch, als sich, wie
Schütz gezeigt hat, das Problem des anderen Ich transzendentaltheoretisch nicht lösen lässt.
Eine sehr gute Darstellung der Auseinandersetzung von Schütz mit Husserl in dieser Frage
findet sich bei Lüdtke (2008).
Wenn es auch aus methodischen Gründen nicht sinnvoll ist, der Argumentation Luckmanns
direkt zu folgen, so bleiben doch zwei wichtige Einsichten von ihm erhalten: seine Kritik des
methodologischen Ethnozentrismus und die Annahme eines Zusammenhangs zwischen
3
einerseits der Grenzziehung soziale Personen/Anderes und andererseits der
Differenzierungsstruktur einer Gesellschaft. Um diese Einsichten weiterzuentwickeln, ist es
erforderlich, sie im Rahmen einer mundanen Theorie des anderen Ich bzw. einer mundanen
Theorie der kontingenten Grenzen der Sozialwelt zu reformulieren. Als Bezugspunkt für eine
solche Theorie begreife ich Helmuth Plessners „Theorie der Mitwelt“ (Plessner 1928/1975).
Auf deren Grundlage lässt sich das Konzept „gesellschaftlicher Grenzregime“ formulieren
(Lindemann 2009a: Kap. 2). Diesem zufolge unterscheiden sich Gesellschaften danach, wie
der Kreis allgemein anerkannter und deshalb legitimer sozialer Personen abgegrenzt wird.
Damit wird der Einsicht Luckmanns folgend die Analyse der Grenzen der Sozialwelt in
Richtung einer gesellschaftstheoretischen Frage erweitert.
Plessner entwickelt seine Theorie der Mitwelt im Rahmen der Theorie der exzentrischen
Positionalität (Plessner 1928/1975: 300ff). „Exzentrische Positionalität“ besagt, dass sich die
Umweltbeziehung von exzentrisch strukturierten Wesen in dreifacher Weise ausdifferenziert.
Ein exzentrisches Selbst erlebt das eigene Erleben und hat insofern eine Innenwelt, es
unterscheidet sich von der Außenwelt, die ihm gegenübersteht, und es erfährt sich als Glied
der Mitwelt. Die Mitwelt bezeichnet eine Sphäre des wechselseitigen
Aufeinanderbezogenseins exzentrischer Wesen. Aufgrund ihres wechselseitigen Bezuges
übernehmen exzentrische Selbste wechselseitig ihre Positionen, d. h., ein exzentrisch-
positionales Selbst verhält sich aus der Perspektive anderer zu sich und zu anderen. Folglich
ist sowohl der Selbstbezug als auch der Bezug auf andere darüber vermittelt, dass sich ein
exzentrisches Wesen als Glied einer Mitwelt erfährt (Plessner 1928/1975: 304). 2 Wesen, die
in einer solchen Beziehung zu anderen und zu sich selbst stehen, bezeichnet Plessner
(1928/1975: 301) als „Personen“. Für die hier behandelten Probleme ist entscheidend, dass
die Theorie der Mitwelt nicht von vornherein festlegt, wer ein Glied der Mitwelt sein kann, d.
h., es steht nicht von vornherein fest, wer in den Kreis der Personen gehört und was aus
diesem Kreis ausgeschlossen ist.
„Bei der Annahme der Existenz anderer Iche handelt es sich nicht um die Übertragung der
eigenen Daseinsweise, in der ein Mensch für sich lebt, auf andere ihm nur körperhaft
gegenwärtige Dinge, also um eine Ausdehnung des personalen Seinskreises, sondern um eine
Einengung und Beschränkung dieses ursprünglich eben gerade nicht lokalisierten und seiner
Lokalisierung Widerstände entgegensetzenden Seinskreises auf die ‚Menschen‘“ (Plessner
1928/1975: 301, Anführungszeichen im Original). Die Begrenzung auf die „Menschen“
resultiere aus einem „Ernüchterungsprozeß durch die Verstandeskultur“ (301). Folgerichtig
2
Vgl. auch Lindemann (2009a: Kap. 2).
4
unterscheidet Plessner die Mitwelt im Allgemeinen, die „Wirsphäre“, und eine je historisch
aus der „Wirsphäre ausgesonderte Gruppe oder Gemeinschaft, die zu sich Wir sagen kann“
(303). Die Mitwelt als Wirsphäre im Allgemeinen ist die Bedingung dafür, sich als Glied
einer Mitwelt in seiner Stellung erfassen zu können (vgl. Plessner 1928/1975: 303). Davon zu
unterscheiden ist der Sachverhalt, dass Personen sich als Glied einer bestimmten historisch
ausdifferenzierten Mitwelt erfassen. Entsprechend gilt es als Charakteristikum einer je
historischen Mitwelt, wie die Mitwelt konkret beschränkt wird, d. h., wie je historisch der
Kreis möglicher Personen begrenzt wird. Damit eröffnet die Mitwelttheorie, d. h. die
Sozialtheorie, eine Frageperspektive, die es empirisch systematisch zum Problem macht, wie
der Kreis legitimer sozialer Personen beschränkt wird. Dies führt im Weiteren zu einer
gesellschaftstheoretisch relevanten Frage: Lassen sich Gesellschaften danach unterscheiden,
wie die je konkrete Mitwelt begrenzt wird?
Eine konkrete Beschränkung der Mitwelt muss als eine strukturelle Bedingung des Prozesses
personaler Vergesellschaftung angesehen werden. Denn der Umgang mit Personen
unterscheidet sich praktisch vom Umgang mit Nichtpersonen. Personen gehen z. B. davon
aus, dass andere Personen Erwartungen entwickeln, die zu erwarten und zu deuten sind. Dies
bildet die Grundlage einer wechselseitigen Bezugnahme und Abstimmung. Im Umgang mit
Nichtpersonen kommt dagegen der Sachverhalt nicht vor, dass die Erwartungen des
Gegenübers zu erwarten und zu deuten sind. Die Grenzziehung zwischen Personen und
Nichtpersonen legt also auf grundlegende Weise fest, wie der Vollzug personaler
Vergesellschaftung praktisch verläuft. Insofern muss diese Grenzziehung als institutionelle
Strukturierung des Vollzugs von Vergesellschaftung begriffen werden.
Um sich den Status der Theorie der Mitwelt im Allgemeinen im Unterschied zur je
historischen gesellschaftlichen Mitwelt zu verdeutlichen, ist es sinnvoll, sich die Funktion des
Theorems der reinen doppelten Kontingenz im Unterschied zur empirisch beobachtbaren
eingeschränkten doppelten Kontingenz zu vergegenwärtigen. Reine doppelte Kontingenz ist
empirisch nicht beobachtbar (Luhmann 1984: Kap. 3). Das Theorem doppelter Kontingenz
formuliert vielmehr ein Problem und begreift soziale Phänomene als dessen Lösung. Insofern
fungiert das Theorem der doppelten Kontingenz als eine beobachtungsleitende Annahme, die
dazu anhält, soziale Phänomene als Lösungen eines bestimmten Problems zu begreifen. In
analoger Weise fungiert die Theorie der Mitwelt im Allgemeinen als beobachtungsleitende
Annahme. Sie führt dazu, faktische Begrenzungen des Kreises sozialer Personen als Lösung
des Problems der Unbestimmtheit der Begrenzung des Kreises sozialer Personen zu
verstehen. Analog zum Problem der doppelten Kontingenz spreche ich hier vom „Problem der
5
Kontingenz der Mitwelt“. Dessen Lösung besteht in der Etablierung von Grenzinstitutionen
mit Bezug auf die reguliert wird, wie der Kreis sozialer Personen beschränkt wird
(Lindemann 2009b).
Triadisch-relationistischer Kommunikationsbegriff
Die Lösung des Problems der Kontingenz der Mitwelt, d. h. die Etablierung von
Grenzeinrichtungen, lässt sich nicht mehr im Rahmen eines dyadischen Sozialitätskonzepts
erfassen, welches die Relation zwischen Ego und Alter als Ausgangspunkt begreift. Die
Analyse des Problems der Kontingenz der Mitwelt macht es vielmehr erforderlich, von einer
triadischen Sozialitätskonzeption auszugehen. Denn nur wenn man die Ego-Alter-
Konstellation um Dritte, d. h. um Tertius, erweitert, lässt sich die Emergenz einer
institutionellen Regel der Grenzziehung begreifen und empirisch rekonstruieren (Lindemann
2009a: Kap. 6.2). Dabei ist es erforderlich, die Ego-Alter-Tertius-Relation nicht
handlungstheoretisch, sondern kommunikationstheoretisch (i.S. Luhmanns) zu begreifen. Es
ist ein Charakteristikum des Luhmann’schen Kommunikationsbegriffs, dass er nicht bei der
Mitteilungshandlung ansetzt, sondern bei der von Ego vorgenommenen Deutung des
Kommunikationsgeschehens (Luhmann 1984: Kap. 4). In diesem Sinne wird danach gefragt,
ob eine Entität A (Alterposition) eine erfahrbare Mitteilungshandlung produziert, die von
einer anderen Entität B (Egoposition) als Hinweis darauf gedeutet wird, dass A eine
Information mitteilt und damit eine Erwartung an B richtet. Der Unterschied zwischen dem
dyadischen und dem triadischen Kommunikationsbegriff besteht darin, dass der letztere eine
Objektivierung der Relation zwischen Ego und Alter erlaubt. Ego deutet die
Mitteilungshandlung Alters mit Bezug auf die Erwartung, die Tertius an den Vollzug dieser
Deutung hat. Wenn B (Egoposition) die Deutung nicht einfach nur vollzieht, sondern die
Deutung als eine versteht, die vor Tertius stattfindet, wird die Deutung objektiviert; sie
existiert für Ego, insofern Ego die Perspektive von Tertius auf den Vollzug der Deutung
übernimmt. Dies ermöglicht es, eine Regel der Anerkennung zu etablieren, durch die
festgelegt wird, wie Entitäten als erwartende und damit kommunikativ beobachtende
Entitäten, die als solche anzuerkennen sind, identifiziert werden können (vgl. auch
Lindemann 2010a, 2011a). Diese Regel ist die Lösung des Problems der Kontingenz der
Mitwelt. Im Rahmen einer dyadischen Konstellation wäre das Problem nicht lösbar. Selbst
wenn man annehmen würde, es gäbe bereits eine Regel, müsste Ego diese gegenüber dem
fraglichen Alter Ego allein anwenden. Eine nur durch den Akteur selbst kontrollierte
Regelanwendung wäre aber willkürlich und führte daher zu keinem konsistenten Ergebnis.
Dies ist das von Wittgenstein aufgezeigte Problem der privaten Regelbefolgung. Diese sei
6
nicht möglich, denn einer „Regel ‚privatim’ zu folgen“, heißt nicht der Regel zu folgen,
sondern nur „der Regel zu folgen glauben“ (Wittgenstein 1977: 128). Der systematische
Bezug auf den Dritten ist also aus zwei Gründen erforderlich: 1. Nur im Rahmen einer
triadischen Konstellation kann eine Regel der Anerkennung institutionalisiert werden; 2. Ego
kann nur mit Bezug auf Tertius sinnvoll dieser Regel folgen.
Im Rahmen solcher triadischen Vollzüge werden die Bedingungen geschaffen, unter denen
Entitäten als Personen gedeutet werden, die kommunizieren. Durch solche Deutungen wird im
Feld die Unterscheidung getroffen zwischen denjenigen Entitäten, die in einer generalisiert
gültigen Weise soziale Personen sind, und solchen Entitäten, die sporadisch oder
idiosynkratischerweise Personen sind (Lindemann 2009a: Kap. 6.2). Für die moderne
Gesellschaft gilt, dass nur lebendige Menschen in einer generalisiert gültigen Weise soziale
Personen sind. Diesen steht es frei, sporadisch auch andere Entitäten als soziale Personen zu
behandeln. In diesem Sinne können etwa Haustiere oder technische Artefakte sporadisch den
Status einer sozialen Person zugesprochen bekommen. Dieser hat jedoch keine allgemeine
Gültigkeit und kann dem Tier bzw. dem Artefakt nach Belieben auch wieder entzogen
werden. Dabei ist insgesamt zu beachten, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen
generalisiert anerkannten Personen und idiosynkratischen Personen, die den personalen Status
lediglich sporadisch innehaben, um eine feldinterne Unterscheidung handelt. Es handelt sich
nicht um eine Unterscheidung, die die soziologische Beobachterin trifft, sondern um eine
Unterscheidung, welche die soziologische Beobachterin als einen Sachverhalt im Feld
beobachtet.
Die Berücksichtigung der Lösung des Problems der Kontingenz der Mitwelt führt zu einer
Erweiterung des soziologischen Deutungsbegriffs. Es geht 1. um eine fundierende Deutung,
durch die festgelegt wird, welche Entität als kommunizierend anzuerkennen ist, und 2. um
eine im engeren Sinne kommunikative Deutung, d. h. die Deutung der Mitteilungshandlung.
Bislang wurde in der soziologischen Deutungskonzeption lediglich die Deutung der
Mitteilungshandlung einbezogen. Die erste Stufe der Deutung, d. h. die Lösung des Problems
der Kontingenz der Mitwelt, wurde als unproblematisch vorausgesetzt. Wenn man dieses
Problem in gleicher Weise berücksichtigt, wie das Problem der doppelten Kontingenz, das der
kommunikativen Deutung zugrunde liegt, wird der Dritte grundlegend in die
beobachtungsleitenden Annahmen eingearbeitet. Damit trägt jeder Vollzug einer triadischen
Konstellation einen gesellschaftlichen Index, denn in der fundierenden Deutung wird die
institutionalisierte Regel der Grenzziehung zwischen sozialen Personen und Anderem
7
aktualisiert. Mit der kommunikativen Deutung wird also die spezifische institutionalisierte
Regel, die „Grenzinstitution einer Gesellschaft“ (Lindemann 2009b), reproduziert.
Für die moderne funktional differenzierte Gesellschaft führt dies zu der These: Der diesseitig
biologisch-lebendige Mensch und die Menschenrechte bilden einen Institutionenkomplex, an
dem sich die Praxis der Unterscheidung soziale Person/Anderes orientiert. Zugleich bildet
dieser Institutionenkomplex die strukturelle Bedingung der modernen Differenzierungsform,
der funktionalen Differenzierung. Ebenso scheint umgekehrt der Institutionenkomplex
Mensch/Menschenrechte nicht ohne funktionale Differenzierung bestehen zu können.
Dass der Mensch als ein diesseitiges lebendiges Wesen verstanden wird, das nur mit anderen
Menschen bzw. von Menschen gebildeten Organisationen legitime soziale Beziehungen
unterhalten kann, ist alles andere als selbstverständlich. Das institutionelle Kriterium, das sich
mit dem Übergang zur Moderne für die Abgrenzung des Kreises legitimer sozialer Personen
in kognitiver Hinsicht durchgesetzt hat, ist der diesseitig lebendige Mensch, der sich anhand
8
einer vierfachen Abgrenzung begreifen lässt. Zum einen stellt sich die Frage, ab wann
menschliches Leben beginnt, für welches die spezifischen Schutzrechte gelten, die in den
Menschenrechten zum Ausdruck kommen. Anders gesagt, ab wann ist ein Mensch lebendig
genug, um ein Recht auf Leben zu haben. Dies führt auf die bekannten Grenzziehungs-
probleme am Lebensanfang. Welchen Status hat ein Embryo, ein Fötus, ein Frühchen oder ein
gerade geborenes Kind? Analog stellt sich die Frage am Lebensende, wenn es darum geht, ab
wann ein Mensch nicht mehr lebendig genug ist, um eine Person sein zu können, der die
garantierten Schutzrechte zukommen. Dies sind die bekannten Grenzfragen, die sich am
Lebensende stellen. Ab wann ist der Mensch tot? Ab wann dürfen lebenserhaltende
Maßnahmen eingestellt werden usw.? Bei diesen beiden Grenzziehungen handelt es sich um
überschreitbare Grenzen. Etwas, das noch keine menschliche Person ist, wird zu einer
solchen. Auf der anderen Seite wird aus einer menschlichen Person etwas, das keine
menschliche Person mehr ist, ein Leichnam. Darüber hinaus lassen sich zwei
unüberschreitbare Grenzen identifizieren: die Mensch-Maschine-Differenz und die Mensch-
Tier-Differenz.
Die These ist, dass seit dem 18. Jahrhundert der Mensch zu einem diesseitig natürlichen
Wesen wird, das anhand dieser vier Grenzziehungen zu verstehen ist. Dabei ist es wichtig
festzuhalten, dass es sich nicht um eindeutig fixierte Grenzziehungen handelt, sondern von
Anfang an um umkämpfte Grenzen. Das anthropologische Quadrat beschreibt keine
festgezogenen Grenzen, sondern es beschreibt die Dimensionen, in denen die Grenzen des
Menschlich-Lebendigen gezogen und bestritten werden. Der Mensch wird als ein diesseitig-
lebendiges Wesen begriffen, das ab einem identifizierbaren Zeitpunkt für einen begrenzten
Zeitraum lebt, das als lebendiges Wesen nicht mit Wesen auf einer Stufe steht, die als Tier
verstanden werden, und keine Maschine ist. Andere Unterscheidungen werden für das
allgemein verbindliche Verständnis des Menschen bedeutungslos, etwa die Differenz
Mensch-Gott oder Mensch-Dämon usw. Die so verstandene anthropologische Differenz ist
eine für die Moderne entscheidende Einrichtung, durch die die für die moderne Gesellschaft
verbindlichen Grenzen des Sozialen gebildet werden.
Als Institution ist der biologisch lebendige Mensch der Referenzpunkt für die Zuerkennung
von Grund- bzw. Menschenrechten. Das heißt, dieses Verständnis des Menschen ist die
kognitive Bedingung dafür, in einem allgemeinen Sinn von „Mensch“ zu sprechen und dabei
alle menschlichen Wesen einzubeziehen, ohne auf Besonderheiten des Standes, der Kultur
oder des religiösen Jenseitsbezuges zu achten. Diese kognitive Universalität des Menschen
erweist sich als eng verflochten mit der normativen Universalität, die in der Zuerkennung von
9
Menschenrechten zum Ausdruck kommt. Aufgrund des engen Zusammenhanges von
kognitiven und normativen Aspekten bei der historischen Entstehung des diesseitigen
Menschen erscheint es mir angemessen, von dem „Institutionenkomplex
Mensch/Menschenrechte“ zu sprechen.
10
Strafprozesses. Dieser war dadurch gekennzeichnet, dass die Folter als reguläres Mittel der
Wahrheitsfindung eingesetzt wurde. Dies war unter der Voraussetzung eines bestimmten
Verständnisses von Leib und Seele möglich. Danach war die Seele, die den freien Willen
verbürgte, ein höheres Sein gegenüber dem Körper. Da es als unmöglich galt, dass das höhere
Sein durch das tiefere Sein gezwungen werden kann, konnte der Zugriff auf den Körper, die
Folter, nicht dazu führen, dass das höhere Sein, die Seele, unter Zwang gesetzt wurde. Aus
diesem Grunde galten die unter der Folter zustande gekommenen Aussagen als spontane und
freiwillige Aussagen, d. h. als letztlich freiwillige Geständnisse (Fried 1985). Die
Durchsetzung der Zweifel an der unter der Folter zustande gekommenen Aussagen basierten
darauf, dass die Seele und der freie Wille als ein diesseitiges verkörpertes Phänomen
verstanden werden. Nur dann kann der Körper nämlich als ein „Mittel gegen das Gewissen“
(Bayle, zitiert nach Schmöckel 2000: 162). Wenn die Seele als ein diesseitiges Phänomen
begriffen wird, das im diesseitigen Körper steckt, kann der freie Wille durch die Folter
gezwungen werden (Lindemann 2009b).
Erst mit der Institutionalisierung des diesseitigen Menschen, die sich im 18. Jahrhundert
vollzogen hat, ist es zur Grundbedingung der Vergesellschaftung geworden, dass alle
Menschen soziale Personen sind – aber auch nur diese –, dass es keine Jenseitsakteure gibt,
die in einem allgemein anerkannten Sinn Akteure seien, dass der Mensch ein diesseitiges
Wesen ist, dessen freier Wille im Körper steckt und nicht mehr durch den Bezug auf eine
unsterbliche Seele verbürgt wird.
Die stratifizierte Ordnung der europäischen Vormoderne zeichnet sich also nicht nur dadurch
aus, dass sie die Individuen an ihrem durch den Stand vorgegebenen Platz hält (Luhmann
1997: Kap. 4, VI), sondern auch dadurch, dass es kein sachliches translokal und überzeitlich
gültiges Kriterium gegeben hat, anhand dessen zwischen Personen und Nichtpersonen
unterschieden wurde. Der Kreis möglicher Personen war nicht auf diesseitige Menschen
beschränkt und schließlich waren die diesseitigen Akteure einem verbindlichen Jenseitsbezug
unterworfen, der erst durch die Einführung der Gewissens- und Religionsfreiheit aufgegeben
wurde.
11
Individualisierung des Menschen ist demnach als ein institutioneller Prozess zu verstehen, 3
sondern auch die diesseitige auf biologische Lebendigkeit hin orientierte Auffassung vom
Menschen muss als ein institutioneller Sachverhalt gelten. Dieser Mensch ist erst im 18.
Jahrhundert entstanden. Es hat ihn zuvor noch nicht gegeben. Der moderne Mensch kann im
Rahmen einer vierfachen Abgrenzung begriffen werden, dem „anthropologischen Quadrat“
(Lindemann 2009a: Kap. 3, 2009b). Dessen vierfache Differenzierung bezieht sich auf die
Grenzen am Lebensanfang und am Lebensende sowie auf die Grenzen zwischen Mensch und
Maschine bzw. zwischen Mensch und Tier.
Dieses Verständnis der Moderne fügt dem von Durkheim (1992, 1999) 4 und Luhmann (1965)
entwickelten eine wichtige Nuance hinzu. Es geht nicht nur um funktionale Differenzierung
und Individualisierung, sondern auch um die diesseitige Verkörperung. Für Durkheim und
Luhmann steht die normativ abgestützte Individualisierung im Mittelpunkt, durch die der
Mensch aus sozialen Zusammenhängen herausgelöst wird und damit frei wird, sich gemäß
unterschiedlicher Sachlogiken zu vergesellschaften. Dies wird nun ergänzt durch den Aspekt
der diesseitigen Verkörperung. Nicht die „individuelle Persönlichkeit“ (Luhmann) oder die
handelnde „sakralisierte Person“ (Durkheim 1999, Joas 2008), sondern das menschliche
Individuum als diesseitig lebendiges, als verkörpertes Individuum bildet den kognitiv-
normativen Bezugspunkt für die gesellschaftliche Ordnung der Moderne.
Als institutionalisierte Einheiten gelten lebende Menschen in gleicher Weise als Elemente der
modernen Gesellschaft. Da diese Elemente als solche ohne ständische, transzendente oder
sonstige Bindungen sich in gleicher Weise aufeinander beziehen können, können sie in
gleicher Weise für beliebige Interaktionen – im Prinzip weltweit – mobilisiert werden. Die
Durchsetzung des Institutionenkomplexes Mensch/Menschenrechte eröffnet somit die Chance
zu einer Mobilisierung der Elemente des Sozialen, die eine Form gesellschaftlicher
Differenzierung ermöglicht, welche sich an der Sachlogik unterschiedlicher funktionaler
Bereiche orientiert.
3
Hierzu vgl. Luhmann (1965), Durkheim (1992, 1999), Dumont (1991), Simmel (1907/1989). Eine
Überblicksdarstellung der Individualisierungstheorie findet sich bei Schroer (2001).
4
Vgl. hierzu auch König (2002).
12
ist solange eine soziale Person, wie er in einer triadischen Konstellation als ein lebendiger
Körper anerkannt werden kann (Lindemann 2002, 2004).
Auf der Grundlage dieses Zugehörigkeitskriteriums wird eine spezifische Form der
kommunikativen Adressierung möglich. Der Mensch wird einmal als Mensch adressiert und
zum anderen gemäß der Zwecksetzungen und der Sachlogik eines Funktionsbereichs. Damit
der Mensch kontinuierlich für beliebige Kommunikationen adressierbar bleibt, muss es
ausgeschlossen werden, dass er von der Sachlogik eines einzelnen Funktionsbereichs
vollständig vereinnahmt wird (Lindemann 2009b, 2010a). Diese Argumentation ähnelt
zunächst derjenigen Durkheims und Luhmanns. Durkheim (1999) hatte es als notwendig
erachtet, dass das Individuum vor der Vereinnahmung durch einzelne Sekundärgruppen
bewahrt wird. Dabei war die Vereinnahmung durch konkrete Personengruppen (Familie,
lokale politische Einheit etc.) gemeint. Luhmann fasst das Argument abstrakter, wenn er auf
die Gefahr abhebt, dass der gesamte Erlebnishorizont eines Menschen durch die Sachlogik
eines Funktionsbereichs besetzt werden könne, dass der Mensch aber letztlich jede
Systembildung transzendiere (Luhmann 1965: 193). Mit Bezug auf die formale Charakteristik
des triadisch strukturierten Vergesellschaftungsprozesses lässt sich das Problem so
beschreiben. Ego-Alter-Tertius beziehen sich in konkreten Kommunikationen so aufeinander,
dass sie einander gemäß der Relevanzen und Zwecksetzungen eines funktionalen Teilbereichs
behandeln; d. h., sie behandeln einander etwa als Handelspartner, von denen Leistungen bzw.
Zahlungen zu erwarten sind, oder als Arzt und Patient, die voneinander erwarten, dass kranke
Körper zum Heilungshandeln auffordern usw. In jede dieser Kommunikationen muss zugleich
eine Grenze eingebaut werden, denn keine dieser Kommunikationen darf den
Erlebnishorizont der Beteiligten vollständig vereinnahmen. Hiermit legt die soziologische
Forschung einen Sachverhalt frei, der von der Sache mit der Kantischen Würdeformel eine
enge Verwandtschaft aufweist (Lindemann 2010b).
Der Doppelbezug auf den Menschen, der in der Kommunikation funktional differenzierter
Gesellschaften (Lindemann 2009b) immer vorhanden sein muss, weist eine normative
Strukturvorgabe auf. Die Beteiligten dürfen sich nicht nur anhand aktueller
funktionsgebundener Zwecksetzungen aufeinander beziehen, sondern müssen immer zugleich
anerkennen, dass das Gegenüber ein Mensch ist, der als solcher in beliebige andere
Kommunikationen involviert sein kann. Diese jedem kommunikativen Vollzug immanente
Grenze weist eine Ähnlichkeit mit dem Objektivierungsverbot auf, das Kant im kategorischen
13
Imperativ formuliert. 5 Der diesseitige Mensch wird in der funktional differenzierten
Gesellschaft zu einer jeden funktionalen Einzelzweck übersteigenden Größe, weil er die
Bedingung der Ausdifferenzierung einzelner Zweckordnungen ist. Insofern kann der Mensch
unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung nicht zu einem Zweck unter anderem
werden. Vielmehr ist der Mensch selbst als der Zweck der kommunikativen Ordnung
insgesamt zu verstehen; denn der Mensch bzw. die Menschheit bildet die stets zu
reproduzierende Bedingung funktionaler Differenzierung. Diesen Sachverhalt bezeichne ich
mit dem Wort „Menschenwürde“. Jeder sozialen Person der funktional differenzierten
Gesellschaft kommt Menschenwürde zu, insofern sie ein Mensch ist. Eine menschliche
soziale Person ist ein Glied einer aus prinzipiell gleichartigen Individuen bestehenden
Menschheit. Da jeder sozialen Person in diesem Sinn Würde zukommt, ist das Kriterium für
die Zuerkennung von Würde das gleiche wie das Kriterium für die Zuerkennung des Status
der sozialen Person. Es reicht aus, in einem gesellschaftlich anerkannten Sinn ein lebendiger
Körper zu sein. 6 Hier liegt der entscheidende Unterschied zu den
individualisierungstheoretisch gedachten Modernisierungstheorien von Durkheim und
Luhmann, denn diese beziehen den Würdestatus der Person auf die Leistungsfähigkeit als
individuelle Persönlichkeit (vgl. Lindemann 2011b). 7
Der Bezug auf den lebendigen Körper als entscheidendes Kriterium der Zugehörigkeit zum
Kreis sozialer Personen und zum Kreis derjenigen, denen menschliche Würde zukommt, ist
empirisch belegt (Lindemann 2002, 2004). Gesellschaftstheoretisch muss man aber auch die
Frage stellen, ob hierin eine strukturelle Notwendigkeit funktionaler Differenzierung liegt. D.
h., erlaubt es diese soziologische Theorie menschlicher Würde, Gründe dafür anzugeben,
warum menschliche Würde nicht an personale Leistungen gebunden ist? Hier kann folgende
Überlegung weiterhelfen. Leistungen werden in einer funktional differenzierten Gesellschaft
in spezialisierten Teilbereichen erbracht. Wissen wird in der Wissenschaft erzeugt,
Krankenbehandlung in der Medizin, verbindliche Entscheidungen in der Politik, Güter und
geldwerte Dienstleistungen in der Wirtschaft usw. Diese Leistungserbringung ist jeweils an
5
Der praktische Imperativ wird also folgender sein: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner
Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“
(Kant 1985/1974: 61)
6
Stratifizierte Gesellschaften können darauf verzichten, allen Gliedern, die in den Vergesellschaftungsprozess
involviert sind, eine gleiche Würde zuzusprechen, denn es kommt ja gerade auf die unterschiedlichen
Statuspositionen an. Wenn es zweifelhaft ist, welcher Status einem Wesen zukommt, ist die einzig mögliche
Reaktion in stratifizierten Gesellschaften, dass eine in der Hierarchie zuständige Stelle identifiziert wird, die den
Zweifelsfall entscheidet. Ein paradigmatisches Beispiel hierfür war etwa die Junta von Valladolid, bei der
untersucht wurde, um was es sich bei den Indianern Südamerikas handelt. Diese Verhandlungen machen direkt
die personalen Leistungen der fraglichen Entitäten zum Thema.
7
Sowohl Durkheim (1983: 391) als auch Luhmann (1965: 69) stellen in Rechnung, dass bei einem Mangel an
personaler Leistungsfähigkeit der individuellen Persönlichkeit ein Würdeverlust erfolgt.
14
eine bestimmte Logik der Interaktion bzw. Kommunikation gebunden. Solche Leistungen
erscheinen, wenn sie als Leistungen einem Individuum zugerechnet werden, als personale
Leistungen. Solche Zurechnungen als personale Leistungen gelten etwa für das
Wirtschaftssystem, in dem Nutzenorientierung und eine rational kalkulierende Stellungnahme
zu sich und zu anderen gefordert werden. Ähnliche Modi des Rational-zu-sich-
Stellungnehmens werden auch in der Politik gefordert.
Wenn man einen derart anspruchsvollen personalen Vollzug zum Kriterium für die
Anerkennung als soziale Person einführen würde, würde ein leistungsgebundenes Kriterium
institutionalisiert, das zwar für die Ausdifferenzierung eines Funktionsbereichs relevant ist
bzw. vielleicht in abstrakter Form als Bedingung einiger Funktionsbereiche gelten kann. Es ist
aber unwahrscheinlich, dass solche anspruchsvollen Kriterien alle Funktionsbereiche
umfassen. Der zentrale Grund hierfür ist die Offenheit funktionaler Differenzierung. Auch
Luhmann geht davon aus, dass es nicht möglich ist, einen festen Satz von Funktionen
festzulegen, die in einer funktional differenzierten Gesellschaft erfüllt sein müssen (Göbel
2011). Vielmehr können sich immer neue Funktionen und entsprechende Teilbereiche
ausdifferenzieren. Der Prozess funktionaler Differenzierung ist prinzipiell als ein offener
Prozess zu denken. Mit der Einführung eines Kriteriums, das eine bestimmte Form personaler
Leistung voraussetzt, wird diese Offenheit gefährdet.
Die Institutionalisierung eines anspruchsvolleren Kriteriums – also etwa der Rekurs auf den
aktuellen Vollzug anspruchsvoller personaler Eigenschaften (wie z. B. selbstbewusst zu sich
Stellung zu nehmen, Vernünftigkeit, intentional zu handeln, Selbstdarstellung als individuelle
Persönlichkeit (Luhmann)) – wäre für eine moderne Gesellschaft problematisch und aller
Wahrscheinlichkeit nach dysfunktional (Lindemann 2010b). Um sich die Probleme zu
vergegenwärtigen, ist es sinnvoll, ein Gedankenexperiment durchzuführen.
Wenn das aktuelle Kriterium der Zuerkennung des Status einer sozialen Person, nämlich
lebendig zu sein, durch das Kriterium ersetzt würde, aktuell die Fähigkeit zu zeigen, rational
zu sich Stellung zu nehmen und intentional handeln zu können, müssten alle diejenigen, die
diese Merkmale nicht aufwiesen, aus dem Kreis der Personen ausgeschlossen werden. Dies
müsste politisch-rechtlich in der gleichen Weise strikt durchgesetzt werden, wie gegenwärtig
die Gültigkeit des Kriteriums lebendiger Körper. Darüber hinaus müssten solche
gesellschaftlichen Bereiche, in denen es geradezu geboten ist, sich von einer äußeren Gewalt
überwältigen zu lassen, ohne dazu rational Stellung zu nehmen, negativ sanktioniert werden.
Wenn einem Körper der Personstatus und damit Würde nur zukommt, insofern er das Niveau
15
personaler Leistung erfüllt, muss die Ausdifferenzierung von Funktionsbereichen, in denen
dieses Niveau systematisch unterschritten wird, als eine Verletzung menschlicher Würde
gelten. Unter solchen Bedingungen müsste die Ausdifferenzierung etwa des
Funktionsbereichs Religion durch den politisch-rechtlichen Bereich negativ sanktioniert
werden. D. h., der Prozess der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Funktionsbereiche
müsste unter politische Kontrolle gestellt werden. Denn es müsste verhindert werden, dass
sich Bereiche herausbilden, deren kommunikativer Logik es widerspräche, dass Akteure sich
als rational zu sich Stellungnehmende begreifen. Damit wäre der Prozess gesellschaftlicher
Differenzierung partiell blockiert. Ein solcher Vorgang wäre für die moderne Gesellschaft
dysfunktional (Lindemann 2010b). Gläubige Menschen, deren Leben dem eigenen
Selbstverständnis nach durch eine Offenbarung bestimmt wird, wären als pathologische Fälle
einzustufen, denen im strengen Sinn kein Personenstatus und keine Würde mehr zukommen
kann.
Diese soziologische Theorie menschlicher Würde kann also darlegen, warum menschliche
Würde nicht an personale Leistungen gebunden ist. Leistungen werden in der Moderne in
spezialisierten Teilbereichen erbracht. Wissen wird in der Wissenschaft erzeugt,
Krankenbehandlung in der Medizin, verbindliche Entscheidungen in der Politik usw.
Menschenwürde ist die institutionelle Garantie dafür, dass der Mensch von solchen
Leistungsanforderungen nicht vereinnahmt wird. Nur unter dieser Voraussetzung wird die
Offenheit des Differenzierungsprozesses dauerhaft gewährleistet.
Freiheit lässt sich ebenso als funktionales Erfordernis moderner Gesellschaften verstehen. Sie
bezeichnet den Anspruch, sich im Prinzip in alle Kommunikationen funktionaler Teilbereiche
involvieren zu können. Die einzige Vorbedingung besteht darin, die Erfordernisse, die durch
die Sachlogik des jeweiligen Teilbereichs vorgegebenen Erfordernisse erfüllen zu können. An
der Wirtschaft kann jeder teilnehmen, sofern er/sie etwas zu verkaufen hat oder etwas kaufen
kann. An der Wissenschaft kann jeder teilnehmen, sofern er/sie die erforderlichen
Qualifikationen mitbringt. An der Medizin kann jeder teilnehmen, wenn er/sie krank oder
heilbefugt im Sinne des Systems ist. Usw.
Diese Theorie menschlicher Würde und Freiheit erweitert das Szenario für mögliche
Selbstgefährdungen funktionaler Differenzierung. Durkheim folgte noch einem
grundsätzlichen Optimismus bezogen auf die historische Entwicklung. Für ihn bestand die
Voraussetzung funktionaler Differenzierung in der Begrenzung der Macht der Familie und
anderer lokaler Gruppen. Luhmann thematisiert darüber hinaus die Selbstgefährdung
16
funktionaler Differenzierung durch das politische System. Wenn man die Offenheit
funktionaler Differenzierung und die Würde des Menschen als eines biologisch-lebendigen
Wesens in den Mittelpunkt stellt, wird auch die Gefährdung etwa durch eine liberal-
ökonomische oder szientifische Orientierung deutlich. Denn wenn ein anspruchsvoller
personaler Vollzug zum Kriterium für die Zugehörigkeit zum Kreis sozialer Personen
gemacht wird, gefährdet dies die Offenheit funktionaler Differenzierung.
8
Vgl. auch den Beitrag von Meier in diesem Band.
17
durch technische Artefakte ersetzt werden. Hierfür hat die Wissenschafts- und
Technikforschung eine Vielzahl von Beispielen geliefert. Der Akteursstatus, der sich daraus
ergibt, ist einerseits an die Leistungserbringung gebunden, und er ist andererseits sporadischer
Natur. Ausschlaggebend ist einzig die erwünschte Effizienz. Dies gilt im wissenschaftlich-
technischen Bereich in ausgeprägter Weise. Nicht zuletzt aus diesem Grund entstammt die
Infragestellung der Annahme, dass nur lebendige Menschen als soziale Personen gelten
können, aus der empirischen Wissenschaftsforschung. Der gleiche Sachverhalt lässt sich aber
auch im Bereich Medizin und Psychotherapie beobachten. Selbst PsychotherapeutInnen
können durch nichtmenschliche Akteure ersetzt werden, etwa durch Tiere oder durch Roboter.
Denn hier steht die zu erbringende Leistung im Mittelpunkt. Wenn der Einsatz eines Chatbots,
wie etwa des Computerprogramms ELIZA (Weizenbaum), einen besseren therapeutischen
Erfolg erzielen sollte, als ein menschlicher Therapeut, kann dieser ersetzt werden –
vorausgesetzt der Roboter funktioniert als anerkannter Leistungserbringer. Wenn der Einsatz
eines Hundes therapeutisch effizienter ist, wird er eingesetzt werden; wenn die
Streichelroboter Paro (Shibata et al. 2009) bei Alzheimerpatienten besser wirkt, wird sie
eingesetzt werden. Usw. usf.
In der Wirtschaft werden in gleicher Weise Leistungen nach Möglichkeit durch Maschinen
erbracht. Auf die darin liegende Logik der Effizienz und in diesem Fall Gewinnsteigerung hat
bereits Marx (1890/1977) aufmerksam gemacht. Selbst das Aushandeln von Börsenkontrakten
kann durch komplexe Computerprogramme, effizienter und damit gewinnträchtiger gestaltet
werden. Der japanische Roboterforscher Ishiguro arbeitet an der Entwicklung seines
robotischen Doppelgängers, der für ihn Vorlesungen hält oder Interviews gibt
(Ishiguro/Nishio 2007). Das Servicepersonal eines Restaurants kann durch Roboter ersetzt
werden. Dass im Funktionsbereich der Familie Kinder durch Dackel, Geschwister durch
Goldhamster oder Eltern durch Bernhardiner substituiert werden können, ist seit Längerem
bekannt. Ich sehe keine rationale Grenze für den Einsatz von Maschinen im Sinne einer
zunehmenden Leistungssteigerung im Rahmen der Logik einzelner Funktionsbereiche.
Wenn es zutrifft, dass die Ersetzbarkeit dadurch ermöglicht wird, dass eine Reduktion auf
eine spezifische Funktion erfolgt, wäre dies ein gesellschaftstheoretisches Argument dafür,
dass die Leistungserbringung durch Maschinen im Rahmen funktionaler Differenzierung
dramatisch forciert wird. Es ist die Logik funktionaler Differenzierung, die zum gesteigerten
Einsatz von Maschinen führt. Für den Ersatz durch Maschinen gibt es vermutlich zwei
immanente Grenzen. Die eine liegt in der Logik der Leistungserbringung und die andere im
Bezug auf die interne Bedingung funktionaler Differenzierung insgesamt.
18
Bezogen auf die Leistungserbringung zeigt sich, dass der Mensch als Leistungserbringer
zumindest in vielen funktionalen Teilbereichen durch Technik ersetzt werden kann.
Allerdings kann der Mensch nicht in gleicher Weise als das „Woraufhin-der-Leistung“ ersetzt
werden. Der Chirurg als Leistungserbringer kann eher durch einen Roboter ersetzt werden, als
der zu operierende Patient, d.h. der Mensch als das Woraufhin-der-Leistung. In der letzteren
Position der Mensch nicht ersetzt werden, ohne den Funktionsbereich als sinnlos erscheinen
zu lassen. In der Leistungsrolle ist der Mensch leichter technisch zu substituieren als in der
Publikumsrolle. Eine tiefer liegende grundsätzliche Begrenzung der Ersetzung menschlicher
Personen durch Technik ergibt sich aufgrund der Logik funktionaler Differenzierung selbst.
Dasjenige, was der internen Logik funktionaler Differenzierung zufolge nicht ersetzt werden
kann, ist die Bedingung funktionaler Differenzierung selbst. Als diese hat die Analyse die
Doppeladressierung sozialer Personen ausgemacht, diesen als lebendigen Menschen Würde
und Freiheit zukommt. Diese kommen Menschen aber nicht zu im Sinne von Eigenschaften
eines Individuums, sondern Freiheit und Würde sind institutionelle Bedingungen, die den
Vollzug triadischer Konstellationen strukturieren. Diese Institutionen legen fest, dass der
Bezug von Ego-Alter-Tertius aufeinander derart zu erfolgen hat, dass eine Reduktion auf eine
spezifische Leistungserbringung verunmöglicht wird.
Die Grundbedingung dafür, die Wirksamkeit von Technik im Rahmen sozialer Prozesse zu
begreifen, ist auf sozialtheoretischer Ebene ein gradualisiertes Wirkkonzept. Nur wenn man
theoretisch unterschiedliche Formen des Sich-selbst-Aufrechterhaltens, des Merkens und des
19
Wirkens voneinander unterscheidet, kann man zugleich in den Blick nehmen, dass
Personalität eine spezifische Existenzweise darstellt und dass es andere Formen des
Existierens und Wirkens gibt, die sich aber gerade durch ihren nicht-sozialen Charakter
auszeichnen. D. h., die soziologische Sozialtheorie muss so angelegt sein, dass sie soziale und
nichtsoziale Existenz- und Wirkformen kategorial voneinander abheben und ihr
Wechselverhältnis empirisch untersuchen kann. In diesem Sinne hat Rammert (2007) ein
Konzept gradualisierter Handlungsträgerschaft entwickelt, das drei Formen des Handelns
bzw. Wirkens voneinander unterscheidet. Das bewusst intentionale Handeln, das dem
Handeln in sozialen Beziehungen entspricht, das Handeln von Softwareagenten, die zwischen
zwei oder mehr Alternativen „wählen“ können und einfaches mechanisches Wirken im Sinne
von Ursache und Folge. Die Positionalitätsformen von Plessner lassen sich ebenfalls als
unterschiedliche Formen des sich von der Umwelt Abgrenzens und auf die Umwelt
Einwirkens verstehen, die ihrerseits von der Selbstorganisationsform von gestalthaften
Ganzheiten zu unterscheiden wären (Lindemann 2008b). Ich möchte diesen Punkt nicht
weiter ausführen und beschränke mich auf die entsprechenden Literaturverweise. Mir kommt
es hier lediglich darauf an, dass die Theorie der modernen Gesellschaft zu besonderen
Anforderungen an die kategorialen Differenzierungsmöglichkeiten auf der Ebene der
Sozialtheorie führt.
Schluss
Zu den zentralen institutionalisierten Merkmalen, die den generalisierten Akteur der
modernen funktional differenzierten Gesellschaft auszeichnen, gehören „Freiheit“ und
„Würde“. Würde bezeichnet den Anspruch der generalisiert anerkannten Person, nicht auf den
Status eines funktionsspezifischen Akteurs reduziert zu werden, dessen Akteursstatus auf der
Erbringung bestimmter Leistungen basiert. D. h. als institutionalisierte Menschen der
funktional differenzierten Gesellschaft anerkennen Ego-Alter-Tertius an, dass sie sich
wechselseitig nicht vollständig auf einen funktionsspezifischen Akteur reduzieren. Freiheit
bezeichnet den Sachverhalt, dass eine generalisiert legitime Person grundsätzlich einen
Anspruch hat, an jedem gesellschaftlichen Funktionsbereich teilnehmen zu können, wenn sie
die leistungsbezogenen Bedingungen dafür erfüllt, ein funktionsspezifischer Akteur zu sein.
Freiheit und Würde wären in diesem Sinn als Basisinstitutionen der funktional differenzierten
Gesellschaft zu verstehen. Sie stellen die generalisiert legitime Person von
funktionsspezifischen Leistungsanforderungen frei und garantieren darüber eine spezifische
Offenheit der Differenzierungsordnung. Nur wenn der legitime Akteur nicht mit Bezug auf
irgendeine personale Leistungsanforderung gedacht wird, kann ein solcher Akteur offen dafür
20
sein, an beliebigen und evtl. jetzt noch gar nicht definierten Leistungsanforderungen zurzeit
auch noch gar nicht vorhandener, sondern erst noch entstehender Funktionsbereiche
teilzunehmen.
Wenn diese Struktur des Akteursstatus der funktional differenzierten Gesellschaft zutrifft,
muss es scheitern, den Akteursstatus positiv über Leistungsmerkmale zu definieren, die von
einzelnen Akteuren zu erbringen sind. Jede auch noch so minimale Anthropologie oder jede
Summe von leistungsbezogenen Merkmalen bzw. jeder Querschnitt von Leistungsmerkmalen,
die ein echter Akteur aufweisen muss, würde zu einer Festlegung führen, die die spezifische
Offenheit der funktionalen Differenzierung schließt.
Wenn man diese Struktur des Akteursstatus sozialtheoretisch rekonstruiert, ergibt sich
folgendes. Der wechselseitige Bezug von Personen aufeinander erfolgt über die Mitwelt im
Allgemeinen, deshalb ist jede konkret beobachtbare Ego-Alter-Tertius-Relation durch eine
spezifische Offenheit und damit Notwendigkeit der Grenzziehung charakterisiert. Für die
moderne Gesellschaft gilt, dass beobachtbare Entitäten sich im Vollzug einer Ego-Alter-
Tertius-Konstellation wechselseitig als Menschen anerkennen und sich über dieses Kriterium
vermittelt als generalisiert anerkannte Personen behandeln. Bei dieser Anerkennung geht es
nicht um beobachtbare Leistungen im Sinne funktionsspezifischer Anforderungen kognitiver
oder normativer Art, sondern ausschließlich um den Sachverhalt der Lebendigkeit des
menschlichen Körpers selbst. Diesen Körpern kommt Freiheit und Würde zu, auch wenn sie
im Koma liegen, behindert sind oder nicht bis drei zählen können. Die Freistellung von
funktionsspezifischen Leistungsanforderungen garantiert die Offenheit der legitimen
Personen, identifiziert anhand der Unterscheidung lebender Mensch/Anderes, für beliebige
funktionale Leistungs- und/oder Publikumsanforderungen.
21
etc. funktionsspezifisch in Ego-Alter-Tertius-Konstellationen zu kooptieren. Zugleich gibt es
im Rahmen funktionaler Differenzierung keine logische Grenze für die Ersetzbarkeit der
funktionsspezifischen Leistungserbringung von legitimen Personen durch die
Leistungserbringung durch Maschinen.
Diese Theorie des Akteursstatus der funktional differenzierten Gesellschaft bietet für
empirische Analysen Vorteile. Sie kann einerseits einen theoretisch nachvollziehbaren Grund
dafür angeben, warum eine bestimmte Gruppe von Akteuren – nämlich lebendige Menschen –
in ihrem Akteursstatus nicht anhand von individuell-akteurshaften Leistungen identifiziert
werden. Zugleich kann sie eine Erklärung dafür anbieten, warum es mit stark zunehmender
Tendenz leistungsbezogene, aber begrenzte Zuerkennungen des Akteursstatus an Technik
gibt.
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