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die Person fokussiert" (S. 443). Sodann wird die Negationsproblematik unter-
sucht, wobei vor allem der Skopus des Negators in dependenzgrammatischer,
textuell-diskursiver und intonatorischer Hinsicht diskutiert wird.
Im 12. Kapitel geht es schließlich um Wörter, die „einer höheren Ebene
angehören, dem Text" (S. 479), insbesondere um Konjunktionen, Konnektoren
und Abtönungspartikeln, denen nicht immer die notwendige Aufmerksam-
keit gewidmet worden ist.
Das Buch insgesamt ist dadurch gekennzeichnet, dass der Verf. syntakti-
sche Erscheinungen nicht nur im Rahmen der Syntax erörtert, sondern auch
von vielseitigen Perspektiven aus beleuchtet und auch auf bisher nicht immer
beachtete syntaktische Phänomene ein neues Licht wirft. Dies ermöglicht es,
das Wesen und Gesamtbild der deutschen Sprache ausgewogen zu erfassen.
Zu bedauern ist nur, dass die Erweiterung der Dependenzgrammatik (der S-
Knoten über dem Verb) nicht noch eingehender diskutiert wird. Das Buch ist
eine anregende, umfassende Untersuchung und trotz seines hohen wissen-
schaftlichen Niveaus leicht lesbar und gut verständlich. Auch die zahlreichen
Stemmata und Beispielsätze sowie sorgsam ausgewählten Belege erleichtern
die Lektüre.

Heinz Schlaffer:
Die kurze Geschichte der deutschen Literatur.
Hanser: München 2002

Michael FELDT

PANORAMEN DER LITERATURGESCHICHTE


ALS PROVOKATION DER LITERATURWISSENSCHAFT?

Der Titel Die kurze Geschichte der deutschen Literatur ist doppeldeutig: Das nur
158 Seiten lange Buch ist in der Tat eine recht kurze Darstellung. Und: die
mitzuteilende Geschichte der deutschen Literatur selbst - so bedeutet der Ver-
fasser - sei in Wahrheit nicht lang. Sie umfasse nicht gut zwölfhundert, son-
dern allenfalls hundert Jahre. Die Bescheidung im Umfang impliziert eine Ein-
ladung zur großen Lektüre: „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur ist so
kurz, dass ihrem Leser Zeit bleibt, sich wieder der deutschen Literatur zuzu-
wenden [„ .]" - heißt der Schlusssatz. Schlaffer setzt sich ab vom Trend zur
Monumentaldarstellung, bei der ein größeres Verfasserkollektiv eine vielbän-
dige Literaturgeschichte erarbeitet und den Zeiträumen, unabhängig von ih-

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rer Valenz für heutige Leser, gleichmäßig viel Platz einräumt. Nicht die Ge-
samtheit der je geschriebenen Werke und ihre flächendeckende Deskription
durch die Germanisten, sondern allein der Werke-Kanon, der sich im kulturel-
len Gedächtnis der Gebildeten von heute geformt habe, sei relevant. Als Kri-
terium für Auswahl und Weglassung gilt, was von den Lesern der Bil-
dungselite aufgenommen wird. Schlaffer greift nicht auf empirische Datener-
hebungen zurück, sondern entwirft eine persönliche Vorstellung vom ,gebil-
deten' Leser. Sie ist, wie könnte es anders sein, vom subjektiven ästhetischen
Geschmack des Verfassers geprägt. Schlaffer versucht, sich als Einzelner zu
vergegenwärtigen, was in der Gegenwart von der deutschen Literatur nicht
durch wissenschaftliche Darstellungen, sondern durch Lektüreerfahrung im
kulturellen Gedächtnis repräsentiert ist. Er verfährt dabei zweigleisig: Zum
einen entfaltet er vor seinen Lesern ein deutsches Literaturpanorama, das ihm
persönlich erzählenswert erscheint. Er schreibt weitgehend unter Verzicht auf
Fachjargon für Leser ohne fachliche Voraussetzungen und erinnert den Re-
zensenten damit an E.H. Gombrich, der sich bei der Niederschrift seiner groß-
artigen Geschichte der Kunst als Leser „ganz junge Leute [vorstellte], die gerade
die Welt der Kunst" entdecken (Vorwort). Schlaffer hat ein weitgehend gut
lesbares, meist gutverständliches Lehrwerk zur deutschen Literaturgeschichte
geschrieben. Auch die Aufmachung des Buches, sein Buchdeckel, erinnert an
Schulbücher. Zum anderen aber wendet sich Schlaffer - ein Vierteljahrhundert
nach Hans Robert Jauss' Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissen-
schaft - provokativ an und gegen die Literarhistorik der germanistischen Fach-
genossen: „Wegen der ungleichen Verteilung dichterischer Leistungen im
Laufe der Geschichte ist es nicht angemessen, sämtliche Jahrhunderte gleich-
mäßig zu betrachten und deren literarische Produktion in gleichmäßigen Pro-
portionen darzustellen." (156) Anders als Jauss, geht es Schlaffer nicht um eine
rezeptionsästhetische, sondern um eine bildungsgeschichtliche Explikation. Indes
wird im Buch auf eine Auseinandersetzung mit Jauss verzichtet, der 1967 für
eine am Leser orientierte Literaturgeschichte plädiert hatte, die rekonstruiert,
wie sich Literatur im Bewusstsein der Kritik, der Briefe, Tagebücher usw. so-
wie der Germanistik reflektiert darstellt. Auch was ,Leser' bildungsgeschicht-
lich bedeutet, wird als Theorie nicht diskursiv entfaltet. - Generell sind aber
die Bereiche, in denen es mehr um wissenschaftliche Konzepte der Germani-
stik geht, leicht verständlich geschrieben und führen junge Leute mit leichter
Hand an germanistische Fragestellungen heran. - Die Darstellung, die Ver-
mittlung, das Heranführen an die Literatur wird mit Erklärungen, Begrün-
dungen, kritischen Argumenten verbunden. Daraus entsteht nicht ein gleich-
förmiger, sondern eher ein freierer, mäandrierender Darstellungs-Diskurs, der
manchen Leser irritieren mag. Zitatnachweise, Anmerkungen, ein Literatur-
verzeichnis fehlen gänzlich. Für junge Leser, die sich über Lesenswertes aus

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der Geschichte der deutschen Literatur belehren wollen und die sich mit der
Materie noch nicht wissenschaftlich beschäftigt haben, kann das eine will-
kommene Erleichterung sein; bei Interesse können sie sich später mit der
Fachliteratur genauer beschäftigen. Für die germanistischen Lektüranden
mag das eine Provokation sein. Schlaffer entzieht sich jeder durch Zitate und
Fußnoten abgesicherten Disputation und trägt seine Sache nahezu monolo-
gisch so vor, wie sie sich als Ergebnis langen Forschens und Lehrens gegen
Ende seiner Professorenlaufbahn darstellt. Ein souveräner Akt der Erntezeit
und der Provokation.
Das Buch beginnt mit einer tabubelasteten Frage, der in der Germanistik
gerne ausgewichen wird: Was kann als ,deutsch' an der deutschen Literatur
gelten? Käme es allein auf die Sprache an, dann müssten englische oder fran-
11

zösische Dichtungen, sobald sie übersetzt sind, dem deutschen Leser wie Ori-
ginale erscheinen." (12) Andererseits ließen sich die Eigentümlichkeiten der
11

deutschen Literatur [... ] nicht aus einem - lediglich vermuteten - Wesenszug


der Gesamtbevölkerung" herleiten (15), „sondern aus der Bildungsgeschichte
ihrer kulturellen Elite." (15) Die dort im „literarischen Gedächtnis lebendigen
Werke" formen für Schlaffer eine Vorstellung von „Nationalliteratur" (18). Sie
habe als „deutsche Literatur" eine positive und innere Einheit" (20): Diese
11

Einheit wird durch das wechselnde, doch nie gleichgültige Verhältnis der
deutschen Literatur zur christlichen Religion erzeugt, vor allem zu deren my-
stischen, „protestantischen und pietistischen Richtungen" (20). Und hierin
unterscheide sie sich grundsätzlich von anderen Nationalliteraturen. Ein an-
deres Unterscheidungsmerkmal sieht Schlaffer in der Diskontinuität der
Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte der deutschen Literatur: „ Was vor
1750 in deutscher Sprache geschrieben wurde [... ],ist nahezu ausschließlich
durch die Disziplin der Germanistik aufgespürt, veröffentlicht und kommen-
tiert worden." „Zwar kennen sie [die Gebildeten von heute] manchen Titel
altdeutscher Werke, aber zu einer wirklichen Lektüre des höfischen Versro-
mans im Hochmittelalter, der Narrenliteratur des 16. Jahrhunderts, der Trau-
erspiele des 17. Jahrhunderts kommt es außerhalb germanistischer Seminare
nicht." (17) Das Fazit in polemischer Zuspitzung: „Viel wird geforscht, wenig
gelesen." (18)
Schlaffers Buch kritisiert eine Literaturgeschichtsschreibung, die die Ge-
schichte der deutschen Literatur als ein kontinuierliches Ereignis eines Zeit-
raums von 1200 Jahren darstellt, als germanistische Fiktion. Als relevant für
das kulturelle Gedächtnis der Gebildeten und damit als literaturgeschichtlich
darstellenswert sieht Schlaffer allein diejenigen Zeiträume an, die sich schlag-
wortartig als Goethe-Zeit und als Thomas Mann-Zeit etikettieren ließen. Sche-
matisch verkürzt heißt das: „langes Verweilen im Zustand der Latenz, der un-
verhoffte Aufbruch im 18. Jahrhundert, der erste Höhepunkt 1770-1830, die

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Stagnation im 19. Jahrhundert, der zweite Höhepunkt 1900-1950 und schließ-


lich" das „Ende" (21).
Im Kapitel „Das verschollene Mittelalter" argumentiert Schlaffer, erst die
Literaturgeschichtsschreibung habe die ahd. Texte zu einem Korpus zusam-
mengefasst. In Wahrheit seien sie weit verstreut vorhanden gewesen und hät-
ten neben dem lateinischen Schrifttum nur einen Bruchteil der zeitgenössi-
schen Literatur ausgemacht. Die mhd. Schriften, von romanischen Vorgaben
abhängig, könnten kaum als Zeugnisse einer „Blütezeit" angesehen werden;
selbst Werke von Rang, wie die von Wolfram, Gottfried oder Walther, waren
„im Mittelalter nur wenigen bekannt; vor allem hatten sie kaum Bedeutung
für die spätere deutsche Literatur." (23) Der Sprachwandel vom Mhd. zum
Fnhd. und der durch den Buchdruck initiierte mediengeschichtliche Wandel
haben die altdeutsche Literatur in den Hintergrund und ins Vergessen ge-
drängt. Ihre Sprache war fremd und schwerverständlich geworden. Den
Buchmarkt der frühen Neuzeit beherrschte die lateinische Literatur. „Im 15.
Jahrhundert wird das Nibelungenlied noch mehrmals abgeschrieben, aber
nicht ein einziges Mal gedruckt. Der Minnesang fand keinen Verleger, Parzival
fand zwar einen, aber keine Käufer."(24) „Bereits in der frühen Neuzeit war
die deutsche Literatur des Mittelalters nicht mehr bekannt, von wenigen Aus-
nahmen abgesehen" (26). Auch für heute sieht Schlaffer die Lage wenig gün-
stig: „Selbst Studenten des Fachs, die Abnehmer der zahlreichen Auflagen alt-
deutscher Editionen, nahmen und nehmen sie nach dem Examen nicht wieder
in die Hand. Die ,klassischen' Texte des Mittelalters zählen zum Vorrat, aber
nicht zum Bestand der deutschen Literatur. Sie sind Teil einer zweiten Litera-
turgeschichte, die man zur Unterscheidung von der deutschen die germanisti-
sche nennen könnte." (29)
Für die Neuzeit wird geltend gemacht, dass erst die protestantische Kir-
che durch Luthers Bibelübersetzung und durch die Reformation in den prote-
stantischen Elementar- und Lateinschulen, in denen die Heilige Schrift in Lu-
ther-Deutsch unterrichtet wurde, der deutschen Sprache ein allgemeines An-
sehen jenseits aller Standesgrenzen verschafft worden sei (45). Zuvor war die
Sprache der Gebildeten Latein, die des Adels Französisch und die der Bauern
und Bürger der Dialekt ihrer Region gewesen (44). Auf christlich-religiösen
Fundamenten aufbauend, könne dann Gottsched ab der Jahrhundertmitte
Deutsch als einheitliche Literatursprache durchsetzen und damit der ersten
Blütezeit der deutschen Literatur den Weg bereiten. Die Sprödigkeit des Mei-
stersangs, die Simplizität der sog. Volksbücher, der Formalismus der sog. Ba-
rockliteratur sind für Schlaffer ästhetische Eigenschaften, die diese deutsch-
sprachige Literatur nicht kanonfähig machen, weil sie außerhalb der Studien-
lektüre der professionellen Germanisten in der Gebildetenelite, die das kultu-
relle Gedächtnis repräsentieren, heute keine Leserschaft mehr finden können.

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Im Teil „Der geglückte Anfang: Das 18. Jahrhundert" (54-112), der das
Herzstück der Darstellung ausmacht, zeigt der Verfasser an kurzen Fallstu-
dien und Einzelbeispielen, wie das protestantische Pfarrhaus, die von ihm
ausgehende Unterweisung und dann der Pietismus die Entwürfe der deut-
schen Literatur im Wortschatz und in der kulturellen Semantik geprägt haben.
Im Verweis auf Goethes Werther, Jean Pauls Vorschule und Flegeljahre sowie auf
Herders Weimarer Predigten u.a. zeigt Schlaffer, wie hier im 18. Jahrhundert
eine „Verwendung christlicher Muster zu unchristlichem Zweck" (59) sich
durchsetzt. Was Schlaffer an Beispielen und Erläuterungen zusammenträgt,
ist nicht neu. Aber es bietet ein lebendiges, anschauliches Panorama der deut-
schen Kultur- und Literaturprozesse zu Goethes Lebzeiten. August Langen
hatte schon auf die sprachbildende Bedeutung des Pietismus für die Literatur
des 18. Jahrhunderts, Robert Minder auf die kulturelle des protestantischen
Pfarrhauses, Albrecht Schöne auf die diskursprägende des Protestantismus
hingewiesen. Es ist durchaus faszinierend zu lesen, wie Heinz Schlaffer nun
die Rolle der protestantischen Universität für die deutsche Literatur dem Le-
ser entfaltet: Zum einen habe die Universität die Rolle, die in anderen Ländern
dem Hof, der adligen Erziehung oder der großstädtischen Zivilisation zufiel,
übernommen: nämlich „die Integration einer durch Beruf und Wohnort ge-
trennten kulturellen Elite." (65) Zum anderen „lassen sich die Wirkungen der
neuen Idee einer Universität [... ] an den offenen, studentischen Lebensformen
romantischer Intellektueller ablesen [... ]. Den Stil von Vorlesung, Rede, Ge-
spräch übertragen sie aus den Hörsälen und Seminarräumen in die Literatur
[ ... ]" (66), wie an den Dialogdiskursen im Werke von Novalis, F. Schlegel, in
Brentanos und Goethes Philistersatiren ablesbar sei. Der Student als Hauptfi-
gur der Romane, die tolle, freie, wilde Lebensform, der vorübergehende Zu-
stand absoluter Freiheit, das Unterwegssein bzw. Wandern, die Suche nach
tieferem Sinn - all das habe hier seinen Ursprung. Darüber hinaus zeige sich
die literaturprägende Rolle der protestantischen Universität darin, dass hier
Freundschaftsgruppen entstehen, die Literatur produzieren und kritisieren
und beschreiben: die Anakreontiker in Halle, der Göttinger Hainbund, die
Stürmer und Dränger in Straßburg, die romantischen Gruppierungen in Jena,
Heidelberg, Berlin; die Tübinger bzw. schwäbischen Gruppierungen Hölder-
lin, Hegel, Schelling, dann Kerner und Uhland, schließlich Mörike, Waiblin-
ger, Vischer. Schlaffer zieht diese Linie aus bis zur Wandervogelbewegung der
Jahrhundertwende und der Studentenrevolte von 1968 (67). Von hier aus er-
klärt er auch, warum „in der Geschichte der deutschen Literatur[ ... ] [selten]
der Habitus gereifter Männlichkeit zu finden" (68) sei. „Der jünglingshafte
Zug aber, der an den deutschen Schriftstellern und ihren Helden auffällt, die
Verführbarkeit durch den Enthusiasmus weitgespannter Ideen, [... ] rührt von
dem Wunsch her, den studentischen Ausnahmezustand zu verewigen." (68)

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Wenn Schlaffer dann fortfährt: „Er begründet in der deutschen Literatur eine
Tradition der Traditionslosigkeit, der ständigen Abbrüche und des ständigen
Neubeginns" (68), dann fragt sich doch, ob diese Aspekte, die eigentlich dem
Moderneprozess zugerechnet werden, nicht etwas einseitig an Institutionen,
Riten, Formen der protestantischen Kultur gebunden werden. Reflexionen
dazu bezieht Schlaffer in seine Darstellung nicht ein. Frappierend sind dann
aber wieder seine Explikationen zum romantischen Wandern als studentische
Erfindung, zum Populismus der Kalendergeschichten-Erzählung, die von He-
bel über Stifter, Gotthelf, dann Oskar Maria Graf bis zu Brecht (und - könnte
man ergänzen - zu Günter Kunert) reicht und sich eigentlich aus den protes-
tantischen, pietistischen Predigtexempeln ableitet. Auch im Kapitel „Die neue
Sprache" (73ff.) vergegenwärtigt Schlaffer die „Umformung protestantischer,
besonders pietistischer Sprech- und Schreibweisen in poetische Haltungen"
(77), was sich besonders im lyrischen Sprechgestus des Gebets, der Metapho-
rik des Wassers, der Haltung der Ergriffenheit zeige. „Doch auch für die neue
Prosa hielt die protestantische Tradition brauchbare Formen bereit: Predigt,
Sendschreiben, Erbauungsbuch, Bekenntnis" (80), das „Buch im Stillen" zu
lesen (80), den Brief, die „Übersetzung sprachloser Seelenbewegungen in
sprachlichen Ausdruck" (83), die Zentrierung alles Geschehens in was Rilke
später „Weltinnenraum" nannte (86), die Wendung zu den dunklen Tiefen-
schichten der Seele, die in Metaphern der bergmännischen Sehachterkundun-
gen, dann der archäologischen Ausgrabungen und später der Tiefenpsycholo-
gie nach im Dunkeln verborgener ,Tiefe' suchte. Schlaffer sieht diese Linie von
Hamann über Schlegel bis zu Benjamin als „ein der Dichtung analoges Verfah-
ren[ ... ], um durch dunkle Andeutungen hinter dem knapp Gesagten noch
weitere, ungesagte Bedeutungen aufscheinen zu lassen." (92) An Stellen wie
diesen, wenn Zusammenhänge über lange Zeiträume rhapsodisch konstruiert
werden, zeigt sich die Schwäche einer nur „kurze[n] Geschichte der deut-
schen Literatur". Allzu oft findet sie Genüge in Gemeinplätzen: „Mit der
Übernahme religiöser Sprachgebärden beginnt der Aufstieg der deutschen Li-
teratur, mit der Ersetzung der Religion durch die Kunst ist sie vollendet." (93)
Auch Bemerkungen wie die, dass in Deutschland „der Enthusiasmus für die
Antike [ ... ] bei den Gebildeten an die Stelle einer konfessionellen Bindung
tritt" (93), schillern zwischen einsichtsvoller Überschau und geraffter Platti-
tüde. Ähnliches gilt für die Explikation der Unsterblichkeits-Diskurse des
Idealismus (97ff.). Je mehr Schlaffer sich mit dem 19. Jahrhundert beschäftigt,
desto sprunghaft-rhapsodischer und desto schematisierender werden seine li-
teratur- und bildungsgeschichtlichen Panoramen. Sie verlieren an Aussage-
kraft: „Was mit Wielands Agathon [... ]beginnt, setzt sich über Goethes Wilhelm
Meister und Friedrich Schlegels Lucinde fort bis zu Thomas Manns Zauberberg,
Musils Mann ohne Eigenschaften und Brochs Tod des Vergil." (106) Das ist name

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dropping ohne Anschauungswert - vor allem für junge Leser. Auch Charak-
terisierungen wie: „Die sehr deutschen (sie!) Gattungen der Gedankenlyrik,
des Ideendramas und des Bildungsromans stehen unter der Schirmherrschaft
der Philosophie" (106) bieten einen geringen Erkenntniswert, weil sie die be-
nutzten Kategorien weder diskursiv noch komparatistisch veranschaulichen
und lediglich Verdikte sind, die ohne Explikation den Referenzrahmen von
der protestantischen Religion zur Philosophie wechseln. Aber immer dann,
wenn Schlaffer gegen die Fachgenossenschaft polemisiert, wie etwa in seinen
kontroversen Einlassungen zu Klassik-Ideologie, Nationalis·mus und Germa-
nistik (108ff.), bietet er superben Diskussionsstoff, mag indessen die nicht vor-
gebildeten Leser mit fachinternen Streitigkeiten frustrieren. Am Ende des
Teils über die von den Gebildeten kanonisierte erste Blütezeit kehrt Schlaffer
zur Ausgangsfrage zurück: Was ist das spezifisch ,Deutsche' an der deutschen
Literatur? August Wilhelm Schlegel und Goethe sahen sich als „Kosmopoliten
der Europäischen Kultur" (111). Das „Wesen der deutschen Literatur" lässt
sich mithin „nicht durch das ,deutsche Wesen' bestimmen, sondern durch die
Überschneidung internationaler intellektueller Prozesse, die aus verschiede-
ner Epochen datieren" und in denen „christliche Religiosität, bürgerliche Inti-
misierung, philosophische Aufklärung" einen neuen, besonderen Diskurs bil-
den (111).
Dem 19. Jahrhundert widmet Schlaffer ganze 19 Seiten, dem 20. Jahrhun-
dert immerhin eine Seite mehr. Um die „Mißglückte[n] Anfänge" des Mittel-
alters und der Neuzeit darzustellen und den Ausschluss dieser Zeiträume zu
begründen, hatte er indes 31 Seiten aufgewandt. Der ersten Blütezeit (1750-
1830) waren 57 Seiten gewidmet. Damit sind die Gewichtungen evident: Was
nach der -von Goethes Lebenszeit umspannten - Blütezeit übrig bleibt, wird
denn auch als „Fortgang, Wiederkehr und Ende" im Schlussteil des Buches
(113-152) rubriziert. All das ist für Schlaffer Nach- und Verlustgeschichte. Die
Literatur des Jungen Deutschland und des Vormärz wird nur en passant ge-
streift (später wird auf Büchner eingegangen), die Biedermeierkultur indes in
den Vordergrund gesetzt: „Am besten gelingen Dichtungen, die sich jeder Ak-
tualität verweigern und in einer Innenwelt voll verschollener Träume oder ei-
ner Außenwelt einsamer Landschaften das Rückzugsgebiet der verlorenen
Poesie entdecken: die Gedichte Mörikes, die Erzählungen Stifters." (116) Fon-
tane wird zum größten deutschen Autor der Nachgoethezeit des 19. Jahrhun-
derts erhoben (120). Schlaffer unterschlägt die Bedeutung von Hoffmann und
Heine u. a. Gottfried Keller hinwiederum wird Platz eingeräumt, weil sich an
seinem Werk erst die Bindung, dann die Distanzierung gegenüber der prote-
stantischen Kultur als Produktionsmovens leicht demonstrieren lässt anhand
der Wirkungen des Feuerbach-Studiums, das Keller jeglichen Gottglauben als
anthropomorphe Illusionsbildung sehen lehrte und ihm den Weg zu einer

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atheistischen Weltsicht eröffnete. In der Charakterisierung der Nachblütezeit


des 19. Jahrhunderts mäandrieren die Zeitbezüge (mal ist pauschal vom 19.
Jahrhundert die Rede, mal von der zweiten Jahrhunderthälfte, mal von der
Zeit nach 1830), und auch das Aufrufen von Autoren, Philosophen, Werken
und Themen ist mäanderhaftin Schlaffers Diskursführung. - Als charakteri-
stische Tendenzen dieser ,Zwischenzeit' werden genannt: „Niedergang der li-
terarischen Qualität" (116), Bewusstsein von Verlust und Unwiederbringlich-
keit, Sentimentalität, „betriebsame Gedächtniskultur" (126), Analyse und Ver-
abschiedung von „überlieferten Moral- und Religionsvorstellungen" (130),
Entwertung der „alten Ideenwelt" und des „traditionellen Formenkanons"
(131), „Vergreisung der deutschen Eliten" (132).
Im ersten Teil über das 20. Jahrhundert, der zweiten und letzten Blütezeit
von 1900 bis 1950, wird zunächst die Kanonisierung der deutschen Literatur-
moderne beschrieben. Die Ausgangsfrage ist: „Weshalb kam es nach der lange
anhaltenden Abneigung gegen ästhetische Neuerungen im 19. Jahrhundert
wieder zu einer deutschen Literatur von Weltrang zu Beginn des 20. Jahrhun-
derts?" (134) Eine zentrale Rolle hätten Wien und Prag gespielt, die beide „ka-
tholische Städte mit einer jüdischen Minderheit" gewesen seien (134). Das
plötzliche Anwachsen von literarischer Kreativität im katholischen Süden er-
klärt Schlaffer als Aufholbegehren einer nahezu illiteraten Region, die im 18./
19. Jahrhundert von kirchlichen und staatlichen Zensurmaßnahmen in Zaum
gehalten worden war, gegenüber dem literaten protestantischen Norden. Eine
ähnliche Emanzipationsmotorik unterstellt Schlaffer für die deutschen Juden:
„Die deutsche Kultur[ ... ] wird von den emanzipierten Juden am Ende des 19.
Jahrhunderts resakralisiert. Sie glauben an diese für sie neue Kultur, als wäre
sie eine neue Religion." (139) Sie bemühen sich um sprachliche und kulturelle
Angleichung und mobilisieren dabei hohe kreative Energien. Die Sprachme-
taphysik von Kraus, Benjamin und Kafka, die Sprachskepsis von Freud,
Mauthner und Hofmannsthal habe hier ihre Wurzeln und ihre Antriebskraft.
- Von hier aus werde auch verständlich, warum unter diesen ,Modernen' viele
„Parteigänger eines ästhetischen Konservatismus" waren. „Was sie erstrebten,
war eine Wiederholung und Fortsetzung der klassisch-romantischen Epoche"
(141), nicht Avantgardismus, nicht Negation. Von „fröhlicher Zerstörung ist in
der deutschen Moderne kaum etwas zu spüren. Sie spricht in dunklen Tönen
von tragischen Vorgängen, [... ] Krankheits- und Todesgeschichten, [... ]
schmerzlichen Elegien, [„.] düstrer Melancholie [„ .], Apokalypse" (144-145)
usw. Thomas Bernhard und Heiner Müller „führen die Untergänge, dieses
Spezialgebiet der deutschen Literatur [sie!] im 20. Jahrhundert, bis in die Ge-
genwart fort." (145) Lustvoll-kreative Avantgarde-Bewegungen des Expres-
sionismus, des Dada, der Neuen Sachlichkeit, der experimentellen Literatur
zieht Schlaffer nicht in Betracht.

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Für den unterstellten Verlust an literarischem Potential nach 1950 führt er


einmal die „Emigration der jüdischen, der linken, zum Teil auch der konser-
vativen Intelligenz" (146) an, verweist aber auch auf die Wirkungen der „Serie
von Sprachverboten" 1914, 1918, 1933, 1945, 1968, 1989 - und vor allem dann
auf die erfolgreiche Umerziehung durch die Siegermächte in Ost- und West-
deutschland: „Aus gelehrigen Zöglingen werden gewiss bessere Menschen,
jedoch keine guten Dichter" (148). Im Osten wie im Westen habe seit Kriegs-
ende weniger die freie Phantasieproduktion als vielmehr das politische Enga-
gement zum Metier des Schriftstellers gehört (149). Eine Reihe von Autoren
übernahm „die Rolle des Bußpredigers", die eine „predigende Literatur- von
Böll und Frisch bis Fried und Christa Wolf-" (149) geschrieben habe. Schlaffer
meint, dass nach 1945 „die Angst vor der Verführung durch die Phantasie[ ... ]
das eigentlich ästhetische Vermögen" blockiert habe (150).
Der Stuttgarter Germanist Heinz Schlaffer hat sein neuestes Werk in einer
Buchdeckel-Gestaltung publiziert, die den Rezensenten an Schulbücher erin-
nerte. Es ist aber kein schulisches Lernbuch, sondern ein eigenwilliges Lehr-
werk entstanden, das ohne didaktische Register arbeitet und seinen Stoff in
Panoramen vorträgt. Solche Großzügigkeit des Verfassers vernachlässigt den
strengen wissenschaftlichen Diskurs und will offenbar den Leser zu einem freie-
ren Umgang mit deutscher Literatur einladen. Die Fachgermanisten werden man-
cherlei zu kritisieren haben und Einsprüche anmelden. Die Vielzahl der Re-
zensionen in Tageszeitungen und Magazinen zeigt indes, dass dieses gerade
erst im Frühjahr erschienene Buch ein lebhaftes Gespräch über die deutsche
Literatur, ihre Geschichte und über das, was heute als lesenswert in Deutsch-
land und Europa gelten kann, ausgelöst hat. Das zählt vielleicht mehr als die
Vielzahl möglicher Einwände. Wünschenswert wäre jedoch gewesen, wenn
Schlaffer auf die lange Leserdiskussion seit Roman Ingarden (der „ideale Le-
ser"), Wolfgang Iser (der „implizite Leser"), Hans Robert Jauss (der ,rezepti-
onsästhetisch beglaubigte Leser') eingegangen wäre, und seinem Konzept
vom ,kulturellen Gedächtnis des gebildeten Lesers' schärfere Konturen gege-
ben hätte. Was bedeuten ,gebildeter Leser' und ,Bildungseliten' im nationalen,
im europäischen Zusammenhang oder im Kontext der „Weltliteratur", auf die
verschiedentlich rekurriert wird? Bildung und die Rollen von Bildungseliten
sind bis in die Gegenwart global äußerst differenziert, nicht aber globalisiert.

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