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Winfried Nöth
Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Winfried Nöth, geb. 1944; Studium in Münster, Genf, Lissabon und Bochum;
seit 1978 Professor für Anglistik, Linguistik und Semiotik an der Universität Kassel;
Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums für Kulturforschung der Universtität Kassel;
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Semiotik;
seit 1994 ständiger Gastprofessor für Allgemeine Semiotik an der PUC Universität Säo Paulo.
Bei J. B. Metzler ist erschienen: >>Dynamik semiotischer Systeme<< 1977.
>>Handbuch der Semiotik<<, 1. Auf!. 1985.
Nöth, Winfried:
Handbuch der Semiotik I Winfried Nöth. - 2., vollständig neu bearb.
und erw. AufL- Stuttgart; Weimar: Metzler, 2000
ISBN 978-3-476-01226-5
ISBN 978-3-476-03213-3 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-03213-3
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages
unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro-
verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Vorwort
>>Ob ich hinlänglichen Beruf zu der Herausgabe im Auge haben. Denn sie verwenden nicht nur
eines neuen Handbuchs der Semiotik habe, das unterschiedliche Namen für das von ihnen ent-
mögen billige Leser des Buches selber beurtheilen deckte Land, sondern beschreiben es auch auf
... <<Mit diesen Worten beginnt der >>Vorbericht<< zu verschiedene Weise. Hinzu kommt noch, daß
Konrad Spengels Handbuch der Semiotik aus dem etliche Historiker der Ansicht sind, daß das in
Jahre 1801. Jenes erste Handbuch in der Geschichte Frage stehende Land nicht erst von diesen neu-
der Semiotik handelte allerdings nur von einem sehr zeitlichen Pionieren, sondern bereits in früheren
kleinen Teilgebiet der Zeichenwissenschaft nämlich Zeiten, ja, schon in der Antike, entdeckt worden
der medizinischen Symptomatologie. sei. Als weitere Quellen gibt es dann auf der an-
deren Seite noch eine schier unübersehbare Zahl
von Schriften, in denen detailliert einige Gegen-
1. Topographie der Semiotik den beschrieben werden, die zu diesem Land ge-
hören sollen. Doch da diese Beschreibungen zu-
Das erste Handbuch einer Semiotik, die sich im wei- meist ganz unterschiedlich sind, einmal z.B. eine
testen Sinn als eine Wissenschaft von den Zeichen- Moorlandschaft, dann ein zerklüftetes Gebirge,
prozessen in Natur und Kultur begreift, sollte erst ein anderes Mal die Pflanzenwelt, das Tierreich
1985 bei der J. B. Metzlersehen Verlagsbuchhand- oder einen Stadtbezirk vor Augen führen, weiß
lung in Stuttgart erscheinen. Es war die inzwischen man auch hier nicht recht, ob es sich nur um
seit langem vergriffene und heute überholte erste verschiedene Regionen und ökologische Berei-
Auflage des hiermit in völlig revidierter Fassung che desselben Landes oder vielmehr um ver-
vorgelegten Werkes. Das damals enzyklopädisches schiedene Länder handelt.
Neuland beschreitende Handbuch fand ein außer-
Die bei Schmitter und den 31 anderen Rezensentin-
ordentlich positives Echo. Die Aufgabe, mit der sich
nen und Rezensenten der ersten Auflage dieses Hand-
in den frühen 1980er Jahren der Autor eines um-
buchs nachzulesenden Komplimente möchte dessen
fassenden Panoramas einer Wissenschaft konfron-
Verfasser heute mit einem Zitat von Ralph Waldo
tiert sehen mußte, deren Konturen sich erst abzu-
Emerson zurückgeben, das besagt: >>lt's the good
zeichnen begannen, beschrieb der Rezensent Peter
Schmitter (1987b: 1) mit diesem poetischen Bild: reader that makes a good book.<<
Gegen Ende des Jahrhunderts hat sich die enzy-
Man stelle sich vor, man solle - etwa in Form klopädische Landschaft der Semiotik im Vergleich
einer Atlaskarte-die Topographie eines Landes zu Schmitters Bestandsaufnahme wesentlich geän-
beschreiben, aber eines Landes, über das man dert. Seit 1986 gibt es das dreibändige, von T. A. Se-
kaum gesicherte Erkenntnisse besitzt. Weder die beok herausgegebene Encyclopedic Dictionary of
Grenzen dieses Landes sind bekannt, noch weiß Semiotics. 1990 erschien, völlig überarbeitet und
man, ob es sich bei ihm überhaupt um ein Land gegenüber seinem deutschen Vorgänger um fast das
im herkömmlichen Sinne handelt. Viele behaup- Doppelte erweitert, das Handbook of Semiotics
ten, daß es in der Tat ein echtes Land ist, und so- (Nöth 1990c), 1998 die umfassende Encyclopedia
gar eines, das alle bisher bekannten Länder an of Semiotics unter der Federführung von Paul
Schönheit und Reichtum übertrifft und dessen Bouissac, und in einem wahren enzyklopädische
Besitz, wäre er erst einmal errungen, aller Not Quantensprung erschien 1997-99 endlich das mo-
ein Ende machen würde. Andere dagegen halten numentale dreibändige Werk Semiotik, das mit dem
nicht nur diese Hoffnung, sondern selbst die Untertitel Ein Handbuch zu den zeichentheoreti-
Existenz dieses Landes für eine Utopie. Doch schen Grundlagen von Natur und Kultur von
sehen wir weiter. Als Quellen für die topogra- Roland Posner, Klaus Robering und Thomas A.
phische Beschreibung stehen einerseits einige Sebeok herausgegeben worden ist. Hinzu kommen
Berichte von verschiedenen Autoren zur Verfü- die zahllosen Bände semiotischer Fachzeitschriften
gung, von denen jeder die Entdeckung eines wie Semiotica (111969 ff.), Canadian Journal of Re-
neuen Landes für sich in Anspruch nimmt, wo- search in Semiotics (1/1973 ff.), Degres (1/1973 ff.),
bei es aber unklar bleibt, ob sie dasselbe Land Bulletin (111977 ff.) und Documents du groupe de
VI Vorwort
recherches semio-linguistiques (111979 ff.), Kodi- schaft also, die sich selbst als eine Semiotik (oder
kas I Code (11 1979 ff.), Versus (VS) (1/1979 ff.), auch als Semiologie) begreift, sondern es muß auch
Zeitschrift für Semiotik (111979 ff.), American die implizite Semiotik mit einbeziehen, alljene For-
Journal of Semiotics (1/1981 ff.), Recherehes Se- schungen also, die mit Zeichenprozessen befaßt
miotiques I Semiotic Inquiry (1/1981 ff.), Semiotic sind, ohne sich selbst explizit als >semiotisch< zu ver-
Review of Books (111990 ff.) und Interdisciplinary stehen. Die Grenze zwischen dem implizit Semioti-
Journal for Germanie and Semiotic Analysis (11 schen und dem nicht mehr Semiotischen ist aller-
1996 ff.). Die enorme Expansion der Semiotik und dings besonders schwierig zu bestimmen, und daß
des semiotischen Feldes seit den 1980er Jahren hat bei so weit gesteckten Zielen auch angesichts der
das ehrgeizige Projekt einer nochmaligen Aktuali- schnellen Weiterentwicklung der Semiotik selbst
sierung und Erweiterung des Handbuchs der Semio- Lücken verblieben oder vielleicht auch Ungleichge-
tik keineswegs erleichtert. Die Fertigstellung des wichte in der Darstellung der verschiedenen Ten-
völlig neu konzipierten Werkes zog sich über Ge- denzen der impliziten und expliziten Semiotik auf-
bühr in die Länge, so daß Umberto Eco, der die Ent- getreten sein könnten, mögen die Leserinnen und
wicklung der Arbeiten seit Jahren mit Interesse ver- und Leser dem Autor und dem Wunsch des Verle-
folgte, schon im Juni 1996 auf Schloß Cerisy-la- gers nachsehen, die Veröffentlichung dieses Hand-
Salle in seinem Gedicht für die Teilnehmer des Eco- buchs nicht länger aufzuschieben.
Kolloquiums Au Nom du Sens den Verfasser wie
folgt zur Kürze gemahnte:
3. Bibliographisches und Organisatorisches
e ehe Nöth, ehe cosi vivo
fece un Handbuch magistrale, Die bibliographischen Angaben in den Zitaten fol-
non sia qui cosi esaustivo gen dem Schema AUTOR (JAHR der Erstveröffent-
come fu nel suo manuale. lichung: SEITE), z.B. Morris (1946: 46). Bei einigen
Autoren gibt es ein anderes Verweissystem, über das
2. Pluralistische Zielsetzung die Bibliographie informiert, z.B: heißt Peirce
(CP ... ), Peirce: Collected Papers. Wenn in der Bi-
Die Zielsetzung dieses Handbuchs ist eine pluralisti- bliographie dem Namen des Autors zwei Jahreszah-
sche. Die hier versuchte Darstellung der Semiotik len folgen, z.B. Firth (1973) 1975, so verweist die
beschränkt sich nicht auf eine bestimmte Richtung erste Zahl auf das Jahr der Ersterscheinung des
oder gar Schule der Semiotik wie man sie etwa bei Werkes und die zweite Zahl auf das Erscheinungs-
Morris (1946: 359-368), Bense & Walther (1973) datum der benutzten Ausgabe. Die bibliographi-
oder Greimas & Courtes (1979, 1986) finden kann, schen Angaben zu Übersetzungen sind als Hinweise
die lexikalische Handreichungen zu ihren eigenen für die Leserinnen und Leser gedacht, denn bei den
semiotischen Schriften verfaßt haben. Andererseits Zitaten ist der Autor dieses Handbuches nicht im-
will dieses Handbuch aber auch nicht so plurali- mer dem Wortlaut dieser Übersetzungen gefolgt.
stisch sein, wie es jene enzyklopädischen Werke zur Die Querverweise durch »siehe<< (>s.<) beziehen
Semiotik notwendigerweise sind, an denen hunder- sich entweder auf einen anderen Artikel dieses
te von Autoren zur gleichen Zeit gearbeitet haben. Handbuchs oder auf andere Abschnitte innerhalb
Die Möglichkeit, das Gesamtgebiet der Semiotik in des gleichen Artikels. Im ersten Fall beginnt der Ver-
einer aktuellen Synthese darzustellen, Differenzen weis mit einer römischen Ziffer (z.B. >S. II. 1.2<), die
herauszuarbeiten und Gemeinsamkeiten zwischen den Artikel durch dessen Sektions- und Kapitel-
manchmal nur scheinbar divergierenden Tendenzen nummer spezifiziert, aber im zweiten Fall fehlt die
aufzuzeigen, ohne die verbleibenden Differenzen zu Kapitelnummer.
übersehen, sollte genutzt werden. Für Abdruckgenehmigungen dankt der Autor
Bei allen pluralistischen Vorsätzen konnte die- für ein Foto von C.S. Peirce dem Peirce Edition Pro-
ses Ziel nicht nach bloß deskriptiven Prinzipien ver- ject (lndiana University, Indianapolis), für ein Por-
folgt werden. In jedem Kapitel und jedem Abschnitt trait von Charles Morris der Indiana University
waren Auswahlentscheidungen zu treffen, und Aus- Press (Bloomington), für ein Foto von F. de Saussu-
wahl bedeutet immer auch eine Bewertung des Aus- re der Bibliotheque Publique et Universitaire de Ge-
gewählten. Wertmaßstab sollte allerdings nicht die neve, für ein Portrait von L. Hjelmslev der Kgl. Bi-
bloße persönliche Präferenz des semiotischen Be- bliotek Kobenhavn, für ein Portrait R. Jakobsans
richterstatters sein. Seine Leitlinie war vielmehr das Walter A. Koch, für Portraits von R. Barthes und J.
Ziel, ein umfassendes Bild einer Wissenschaft zu Kristeva den Editions du Seuil (Paris), Algirdas J.
skizzieren, die im weitesten Peirceschen Sinn alle Greimas für ein Portrait des Begründers der Semio-
Zeichenprozesse in Natur und Kultur untersucht. tikschule von Paris, der Gruppo Editorale Fabbri
Ein solches Panorama der Semiotik darf nicht nur Bompiani für ein Portrait von Umberto Eco und für
die explizite Semiotik berücksichtigen, jene Wissen- alle anderen Portraits dem Metzler Verlag Stuttgart.
VII
Inhaltsverzeichnis
Vorwort.............................................. ..................... V
Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXIX
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631
Einleitung
>>Es ist zweifelhaft, ob Zeichen jemals zuvor von so noch >>ohne eine umfassende theoretische Fundie-
vielen Menschen aus so vielen Perspektiven unter- rung<<, aber >>weitgehend von einer gemeinsamen
sucht worden sind. Zum Heer der Forscher gehören Perspektive<< der Forscher getragen sei.
Linguisten, Logiker, Philosophen, Psychologen, Der Aufbruchstimmung in der Semiotik zu
Biologen, Anthropologen, Psychopathologen, Äs- >>neuen Horizonten<< (Deely et al., eds. 1986) und
thetiker und Soziologen<<, schrieb vor über sechzig den Berichten über eine sich >>entfaltende Semiotik<<
Jahren Charles Morris (1938: 1). Seine Charakteri- (Borbe, ed. 1984) folgten aber schon bald aus der
sierung der Vitalität der Wissenschaft von den Zei- Richtung derer, die sich von der Semiologie Revolu-
chen ist gegen Ende des 20. Jh. nicht weniger gültig tionäres versprochen hatten, Kassandrarufe über
als damals, auch wenn es über den Ort der Semiotik die »Agonie der Semiotik<< (Blonsky, ed. 1985: xvi-
im Konzert der Wissenschaften immer noch kein ii), und schließlich war sogar auch schon vom Ende
allgemeines Einverständnis gibt. der Semiotik und einer>> postsemiotischen Zeit<< die
Interessengebiet, Forschungsfeld, Aktivität, Pra- Rede (s. I. 7.8). Derartige Diagnosen wiesen jedoch
xis, Mode, Bewegung oder gar Revolution - For- bei näherer Betrachtung nicht selten selbst ein Lei-
schungsansatz, Wissenschaft, Projekt einer Wissen- den auf, nämlich die Krankheit von der unzulässi-
schaft, Methode, Disziplin, Interdisziplin, Transdis- gen Verkürzung, manchmal geradezu der Ignoranz
ziplin, Lehre (doctrine: Locke), Theorie, Metatheorie, von dem, was das Panorama der Semiotik aus-
Metadisziplin (Hjelmslev), Metawissenschaft oder macht. Die Semiotik ist keine Mode, die mit dem
Ideologie der Wissenschaften (Kristeva) sind die Ableben bestimmter Semiotiker oder mit dem Ende
Epitheta, mit denen der Status der Semiotik um- einer intellektuellen Strömung vorüber sein könnte.
schrieben worden ist (Eco 1976; Kristeva 1969b, c: Als Wissenschaft von den Zeichen hat die Semiotik
30-32, Culler 1981b: 78; Greimas & Courtes 1969: vielmehr ein von Moden und Tendenzen unabhän-
322-23; Blonsky, ed. 1985: xx; Deely et al., eds. giges Untersuchungsfeld, das es so lange geben
1986: viii; Posner 1988b; Withalm 1988: 159-161; wird, wie das >>Leben der Zeichen<< fortbesteht.
Koch, ed. 1990f; Nöth 1990d). Manche Prognosen über die Zukunft der Zei-
Das Selbstverständnis der Semiotik war lange chen haben sich allerdings in der Tat nicht bewahr-
Zeit von Saussures Diktum von einer >>noch nicht heitet. Die Semiotik ist z.B. nicht zu einer Einheits-
existierenden Wissenschaft« bestimmt (Saussure wissenschaft geworden, als welche Morris ( 19 3 8: 1)
1916b: 33). Bis in die 1980er Jahre hinein firmierte sie im Rahmen von Otto Neuraths Projekt einer In-
noch die Frage >>Was ist Semiotik<< als Buchtitel ternational Encyclopedia of Unified Science vorge-
oder wenigstens Kapitelüberschrift mehrerer Ein- stellt hatte. Heute gibt es in der Semiotik nicht nur
führungen in die Semiotik (Toussaint 1978; San- eine »unifizierende Perspektive<<, wie Morris sie für
taella 1983; Sless 1986: 1-9). Für Ducrot & Todo- wünschenswert hielt, sondern eine Vielzahl an Ten-
rov (1972: 90) war die Semiotik ein halbes denzen, Richtungen, Perspektiven, ja sogar Defini-
Jahrhundert nach Saussure immer noch >>mehr ein tionen der Semiotik selbst (Pelc 1981b, 1984a). Zu-
Projekt als eine etablierte Wissenschaft<<, und zwar gleich hat sich die Semiotik auch weit über die
>>nicht nur wegen des notwendigerweise langsamen Grenzen der Regionen hinaus entwickelt, die einige
Rhythmus einer Wissenschaft in ihren Anfängen, ihrer Gründungsväter für das semiotische Feld ab-
sondern auch wegen einer gewissen Unsicherheit gesteckt hatten.
hinsichtlich ihrer grundlegenden Prinzipien und Be- Das Feld der Semiotik, wie es sich gegen Ende
griffe<<, Greimas & Courtes (1979: 344) sahen be- des 2. Jahrtausends darstellt, hier noch einmal zu
reits »Zeichen der Gesundheit und Vitalität<< im umreißen, hieße, das Inhaltsverzeichnis dieses
Forschungsfeld der Semiotik und gelangten zu dem Handbuchs wiederholen zu müssen. Zu der dort
Schluß, daß sich die Semiotik inzwischen als ein entwickelten Systematik der Semiotik gibt es aller-
Forschungsprojekt und zugleich als eine Forschung dings verschiedene Alternativen. Morris (1938: 9;
darstelle, die sich bereits zu entwickeln beginne. Im 1946: 366) unterschied z.B. zwischen reiner, de-
gleichen Jahrzehnt charakterisierte auch Sebeok skriptiver und angewandter Semiotik. Carnap fügte
(1976: 64) die Semiotik noch als >>eine wissenschaft- die Zweige der allgemeinen und der speziellen Se-
liche Disziplin in den Kinderschuhen<<, die immer miotik hinzu (Lieb 1971). Hjelmslev unterschied
XII Einleitung
zwischen der Semiologie als der Metasprache der se- flexivität gilt heute als ein circulus virtuosus, denn
miotischen Systeme und der Metasemiologie als der die konsequente Anwendung der Semiotik auf sich
Metawissenschaft der verschiedenen wissenschaftli- selbst läßt die Theorie von den Zeichenprozessen zu
chen Semiologien (s. II.3.2.2; II.3.4.3). Auch wenn einer stets selbstkritischen wissenschaftlichen Tätig-
vielleicht eine reine Semiotik niemals möglich sein keit werden, welche somit ihre dynamische Weiter-
wird und die Wissenschaft der Zeichen womöglich entwicklung zu sichern in der Lage ist.
immer nur eine »unreine<<, weil von der >Unreinheit< Doch kehren wir zu unserem Ausgangspunkt
ihrer Zeicheninhalte affizierte Wissenschaft sein zurück und zu der noch offenen Frage, ob die Se-
wird, wie Moles (1976) dargelegt hat, so ist doch miotik nun eine Wissenschaft sei. Die Antwort
die Differenzierung zwischen der Theoretischen und hängt natürlich nicht zuletzt von der zugrundelie-
der Angewandten Semiotik eine durchgängig akzep- genden Wissenschaftstheorie ab. Welche Wissen-
tierte. schaftskonzeption könnte aber für die Semiotiker
Und doch sind dies nicht zwei voneinander un- näherliegender sein als diejenige des Begründers der
abhängige Zweige der Semiotik. Nicht zuletzt ist je- modernen Zeichentheorie, Charles Sanders Peirce.
de Theorie selbst ein Zeichensystem. Die Theoreti- Für Peirce harte die Semiotik einen festen Ort im Sy-
sche Semiotik muß somit auf sich selbst anwendbar stem der Wissenschaften. Neben der Ästhetik und
sein, und sie wird in diesem Moment selbst zu einer Ethik gehörte für ihn die Semiotik (oder Logik) zu
Angewandten Semiotik. Bei der Entdeckung dieser den normativen Wissenschaften, aber als allgemeine
Selbstreflexivität der Semiotik gibt es eine überra- Leitlinie für die heutige Wissenschaft der Semiotik
schende Allianz zwischen zwei sonst völlig entge- ist vielleicht nicht so sehr diese Klassifikation von
gengesetzten Theorien, nämlich der Semiotik von Interesse als das, was Peirce (CP 1.232; vgl. CP
Morris und von Kristeva. Morris (1938: 2) be- 8.343) über die Aufgabe der Wissenschaftler und
schreibt die Semiotik als eine Wissenschaft, die zu- die Ziele des wissenschaftlichen Handelns, und da-
gleich ein Instrument der Wissenschaft ist, eine Me- mit auch über die Aufgabe und die Zukunft der Se-
tawissenschaft und eine >>Wissenschaft auf gleicher miotik sagt, nämlich:
Ebene wie die anderen Wissenschaften<< (s. II.4.2.2).
Kristeva thematisiert die Selbstreflexivität der Es ist einfach wichtig, daß unsere Vorstellung
Semiotik, wenn sie diese als eine Metasprache (eine von der Wissenschaft eine Vorstellung von Wis-
>>Wissenschaft vom Text<<) und zugleich als eine senschaft sein soll, wie sie lebt und nicht eine
Objektsprache (als >>Signifikationspraxis<<) be- bloße abstrakte Definition. Denken wir daran,
schreibt (s. Il.10.2). Das Dilemma der Zirkularität daß die Wissenschaft von lebendigen Menschen
betrieben wird und daß ihr auffälligstes Merk-
bei der unvermeidlichen Verwendung gleicher Zei-
mal darin besteht, daß sie sich, wenn sie authen-
chen und Instrumente auf der Objekt- und auf der
Metaebene erscheint heute nicht mehr als ein Teu- tisch ist, in einem unaufhörlichen Zustand des
felskreis. Anders als zu Zeiten des Barons von Metabolismus und Wachstums befindet.
Münchhausen, dem man nicht glauben wollte, daß In diesem Sinne stellt sich das Handbuch der kriti-
er sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zie- schen Lektüre seiner Leserinnen und Leser in der
hen konnte, denkt man heute an die Möglichkeit, Hoffnung, nicht nur zur Bestandsaufnahme der
sogar an die Notwendigkeit des bootstrapping, der Semiotik bis zum Ende des zweiten Jahrtausends,
Fähigkeit, sich methologisch an den eigenen Schnür- sondern auch zum Wachstum der Semiotik und
senkeln hochziehen zu können (Hofstadter 1980: ihrer Zukunft im dritten Jahrtausend beitragen zu
24). Der circulus vitiosus der semiotischen Selbstre- können.
1
1.1 Geschichte der Semiotik als 1.1 Wortgeschichte und terminologische Rivalen
Begriff und als Wissenschaft Etymologisch ist der Begriff >Semiotik< mit den grie-
chischen Wörtern <TIJ!JElOV >Zeichen< und ofiJla >Si-
Seit Charles Morris im Jahr 1946 davon sprach, daß gnal<, >Zeichen< verwandt. Das dieser Wurzel ent-
>>die Geschichte der Semiotik als ganzes noch zu sprechende Substantiv Semeiotik (<TIJJlEtOmxi\), das
schreiben bleibt<< (Morris 1946: 335), sind zwar vie- in der Antike noch nicht belegt ist, taucht erstmalig
le Kapitel zu den einzelnen Epochen dieser Geschich- in medizinischen Zusammmenhängen im 16. Jh. auf
te erarbeitet worden, aber eine umfassende Ge- (vgl. Meier-Oeser 1996), aber schon seit der Spätan-
schichte der Semiotik von ihren Anfängen bis heute tike wurde die Diagnostik als der »semeiotische
liegt immer noch nicht vor. Eines der Probleme einer Teil<< (J,lipo<; <TI]JlEHOTIKov) der Medizin bezeichnet.
Geschichtsschreibung der Semiotik ist die Ungewiß- 1490 findet sich im gleichen Kontext das erste Mal
heit des Gebietes, die mit der Ungewißheit der Be- die latinisierte Form des Begriffes (vgl. ebd.). Nun-
stimmung des Begriffes >Semiotik< selbst beginnt. mehr ist vom semiotischen Teil (»pars semiotica<<)
Während es nämlich eine allgemeine Theorie der der Medizin die Rede. In der Medizin des 17. und
Zeichen bereits seit der griechischen Antike gibt und 18. Jh.s finden sich dann die Formen Semeiotica
das Mittelalter sogar eine höchst elaborierte Zei- neben Semiotice und Semiotica als Varianten des
chendoktrin kannte, findet sich der Begriff >Semio- substantivischen Begriffes. (Zur Fortsetzung dieser
tik< zur Bezeichnung einer solchen allgemeinen terminologischen Tradition im Rahmen der Allge-
Theorie der Zeichen erst seit dem 17.Jh. Was hinge- meinen Semiotik s. 1.3.) Die heute im Englischen
gen in früheren Jahrhunderten bereits lateinisch oder zur Bezeichnung der Allgemeinen Semiotik übliche
griechisch als >Semiotik< bezeichnet wurde, war noch Pluralform semiotics (statt >semiotic<) ist eine Wort-
nicht die allgemeine Theorie der Zeichen, sondern bildung in Analogie zu pluralisierten Bezeichnun-
lediglich eines ihrer speziellen Teilgebiete, nämlich gen für akademische Disziplinen wie >semantics<
die medizinische Lehre von den Symptomen. oder >physics<. Sie taucht erstmalig 1964 im Buchti-
tel des Bandes Approaches to Semiotics auf (Sebeok
et al., eds. 1964).
Seit dem frühen 17. Jh. sind auch die ersten Va-
1. Begriffsgeschichte rianten des Begriffes >Semiologie<, der wichtigsten
terminologischen Alternative für Semiotik, belegt
Die Begriffsgeschichte der Semiotik wirft die folgen- (Meier-Oeser 1996: 602). So bezeichnet etwa C.
den Fragen auf: (1) Was ist die Etymologie des Wor- Timpier in einem lateinischen Traktat aus dem Jahr
tes >Semiotik<? (2) Welche terminologischen Alterna- 1617 die Lehre von den physiognomischen Zeichen
tiven hat es im Lauf der Geschichte zur Bezeichnung des menschlichen Körpers als >Semiologica< oder
der allgemeinen Theorie der Zeichen gegeben? (3) In auch >Semeiologica<. Diese terminologische Traditi-
welchem engeren Sinn wurde der Begriff >Semiotik< on wird im Rahmen der Allgemeinen Semiotik vor
in der Medizin und in anderen Zusammenhängen Saussure zuerst von J. Schultetus aufgegriffen, der
verwandt, bevor er in der Bedeutung >Allgemeine Zei- 1659 in seiner Semeiologia metaphysike eine allge-
chentheorie< verwendet wurde? (4) Wann taucht der meine Theorie der Zeichen postulierte. Auch im 18.
Begriff >Semiotik< erstmalig zur Bezeichnung der all- Jh. findet sich bei A.G. Baumgarten in seiner Meta-
gemeinen Zeichentheorie auf? Und (5) welches ist physica aus dem Jahre 1739 (§ 349) eine allgemeine
insbesondere die Beziehung zwischen den Begriffen Wissenschaft von den Zeichen unter der Überschrift
>Semiotik< und >Semiologie<? »semiologia philosophica<<.
Untersuchungen zu diesen und anderen Aspek- Bevor sich die Begriffe >Semiotik< oder >Semiolo-
ten der Begriffsgeschichte der Semiotik finden sich gie< als Bezeichnung für die Wissenschaft von den
u.a. bei Russell (1939), Sebeok (1976: 47-58), Ro- Zeichen etablierten, waren im Mittelalter und in der
meo (1977), Rey (1984), Deely (1985), Jakobson Renaissance bedeutende Arbeiten zur Theorie der
(1988) sowie Meier-Oeser (1996). Zeichen unter so allgemeinen Bezeichnungen wie
scientia de signis oder tractatus de signis erschienen.
2 I. Geschichte der Semiotik
Die Geschichte der weniger erfolgreichen terminolo- Zweige, die Erkenntnis des Vergangenen, Untersu-
gischen Rivalen zur Bezeichnung der Theorie der Zei- chungen des Gegenwärtigen und die Vorhersage des
chen beginnt im 17. Jh., als Leibniz und Wilkins erst- Zukünftigen (Sebeok 1996). Diese Dreiteilung, die
malig einen neuen Begriff, nämlich Characteristica, noch heute unter den Begriffen Anamnese (Aufnahme
zur Bezeichnung einer Semiotik der künstlichen Zei- der Fallgeschichte), Diagnose (Untersuchung der ge-
chen einführten (s. VI.7.2.3-4). Zur Bezeichnung ei- genwärtigen Symptome) und Prognose (Vorhersage
ner solchen >Charakteristik< führte allerdings bald über den weiteren Verlauf des Falles) geläufig ist,
darauf Dalgarno im Vorwort zu seinem Didascalo- bleibt über Jahrhunderte ein fester Bestandteil der me-
cophus von 1690 auch den Begriff sematology ein dizinischen Semiotik (Metzger 1785; Sprengel 1801;
und unterschied hierzu die physiology als Wissen- Michaelis 1940: 9).
schaft von den natürlichen und die chrematology als Zeitweise verstand man unter der medizinischen
Lehre von den übernatürlichen Zeichen. Semiotik bzw. Semiologie nicht nur die Lehre von
Wesentlich jüngeren Datums sind eine Reihe von den Zeichen der menschlichen Krankheiten, sondern
terminologischen Vorläufern oder Verwandten, die auch die Lehre von den physiognomischen Zeichen
zumeist auf die griechische Wurzel <n-u.ta zurückge- des menschlichen Körpers, so etwa C. Timpier in sei-
hen. Hierzu zählen Begriffe wie Semasiologie (seit nem Traktat über die Physiognomie aus dem Jahr
1825 [vgl. Kronasser 1952: 9) und wiederaufgegriffen 1617 (vgl. Meier-Oeser 1996: 602). Aus dieser Tra-
bei Gomperz 1908), Sematologie (Smart 1831), Se- dition heraus entwickelt sich im 17. und 18. Jh. auch
mantik (seit 1665, vgl. Read 1948), significs und sen- eine Erweiterung der Semiotik zu einer allgemeinen
sifics (Welby 1903, 1911), Semologie (ca. 1903 bei Wissenschaft von der Menschenkenntnis, die sich
Noreen [vgl. Lotz 1966], später wieder aufgegriffen unter der Bezeichnung semiotica moralis etablierte
durch Joos 1958) und Sematologie (Bühlers [1934] (vgl. ebd.: 603). Ein Abriß dieses Zweiges der Semio-
Version der Semiotik; vgl. Camhy 1984 ). Einige dieser tik findet sich u.a. bei Christian Wolff (1679-1754).
Begriffe sind heute auf Teilgebiete der Sprachwissen- Neben >Semiotik< wurde die Lehre von den Zei-
schaft beschränkt, wie etwa die Semantik und die Se- chen der Krankheit besonders im 18. Jh. auch als
masiologie (s. III.7.4.2). Andere sind auf spezifische Semiologie bezeichnet. Kurt Sprengel (1801: 3), der
Theorien der Bedeutung beschränkt, die heute mit Autor eines medizinischen Handbuchs der Semiotik
dem Werk einzelner Autoren verbunden sind (so die bezeichnet zwar beide Begriffe als weitgehend syn-
Begriffe Sematologie, Semologie und significs), und onym, meint aber, daß es in der medizinischen Se-
wieder andere sind heute entweder vergessen oder un- miologie eher um die Theorien der medizinischen
gebräuchlich geworden (wie significs oder Semeiotik). Zeichen geht, während die medizinische Semiotik
Ungebräuchlich oder jedenfalls im Rahmen der die gesamte Lehre der Krankheitszeichen umfaßt.
Allgemeinen Semiotik weitgehend unbekannt sind Obwohl in heutiger Zeit die Semiotik nicht mehr
heute auch zwei weitere Aspekte der semiotischen überall als eines der Hauptgebiete der Medizin gilt,
Begriffsgeschichte, die in die Gebiete der Kryptologie wird der Begriff >Semiotik< (semiotica) vor allem in
und sogar das Militärwesen führen: John Wilkins den romanischen Ländern nach wie vor zur Bezeich-
(1614-1677), einer der Pioniere in der Geschichte nung eines Gebietes verwandt, das in anderen
der Kryptologie, Stenografie und des Universalspra- Ländern besser als Symptomatologie bekannt ist
chenprojektes (s. VI.7), führte in seinem Buch (Barthes 1972; Romeo 1977: 48; Bär 1983, 1988).
Mercury: or the secret and swift messenger von In einigen älteren Lehrbüchern der medizinischen
1641 den Begriff semaeologia zur Bezeichnung ei- Semiotik wurden allerdings auch Unterschiede zwi-
ner Geheimsprache durch Zeichen oder Gesten ein schen der Symptomatologie und der medizinischen
(Wilkins 1641: 8 ), und in den Bereich des Militär- Semiotik postuliert (so etwa bei Michaelis 1940: 3).
wesens führt die im brasilianischen Standardlexi- Als Ergebnis der transdisziplinären Kooperati-
kon Nova Diciondrio Aurelio (Rio de Janeiro 1975) on zwischen Allgemeiner Semiotik und verschiede-
verzeichnete Definition von semi6tica als >>die nen Arbeitsgebieten der Medizin hat sich seit den
Kunst, militärische Manöver mit Hilfe von Signalen 1980er Jahren eine neue Semiotik der Medizin ent-
und nicht durch die Sprache zu kommandieren<<. wickelt, die sich nicht nur auf die traditionelle
Symptomatologie beschränkt, sondern medizini-
sche Prozesse von der Immunologie bis zur Psycho-
1.2 Die Semiotik in der Geschichte der Medizin therapie und Arzt-Patient-Interaktion als Zeichen-
Seit der Spätantike gilt die Semiotik als ein Zweig der prozesse untersucht (s. X. 7).
Medizin (Barthes 1972; Romeo 1977; Bär 1988; Mei-
er-Oeser 1996). Der Arzt Galen von Pergarnon (139-
199) z.B. bezeichnete die medizinische Diagnose als ei- 1.3 Semiotik als Philosophie der Zeichen
nen Prozeß der Semiose (OT]JlEioxn~), und allgemein Für die Lehre von den Zeichen, die in der mittelalterli-
war der >>semiotische Teil<< der Medizin für die Deu- chen Philosophie als doctrina oder scientia de signis
tung der Krankheitszeichen zuständig. In der Traditi- studiert wurde, findet sich bereits 1659 in der Über-
on Galens umfaßte die medizinische Semiotik drei schrift eines Traktats von J. Schultetus der neue Begriff
1.1 Geschichte der Semiotik als Begriff und als Wissenschaft 3
Semeiologia metaphysike. Da neben dieser >Semiolo- logie< international mehr und mehr durch >Semiotik<
gie< bereits seit dem frühen 17. Jh. der freilich etwas en- ersetzt wird. Zur Geschichte dieses Begriffspaars seit
ger konzipierte Begriff von der >Semeiotica moralis< Saussure siehe u.a. Rey (1976: 285-303), Sebeok
verbreitet war (s. 1.2), stellte es keineswegs eine termi- (1976: 53-57) undArrive (1982a: 127-131).
nologische Neuerfindung dar, als John Locke 1690 in Einige Autoren haben allerdings aus verschiede-
seinem Essay Concerning Human Understanding nen Gründen terminologische Unterscheidungen
(iv.21.4) die Lehre von den Zeichen als l:TtJID.cottrlt de- zwischen >Semiotik< und >Semiologie< getroffen. Ei-
finierte (s. 1.4.2.3). Allerdings entwickelt Locke selbst nige Begründungen für derartige begriffliche Diffe-
eine solche Zeichendoktrin nicht. Da es nach Locke in renzierungen sind:
der Semiotik vor allem um die Wörter als die wichtig-
(1) Semiotik kennzeichnet besser die Tradition der
sten aller Zeichen gehen sollte, war für ihn >Semiotik<
Allgemeinen Zeichentheorie vor allem von Peir-
auch im wesentlichen ein Synonym für >Logik<.
ce, während Semiologie die von Saussure be-
Nach Locke finden sich die Begriffe semiotica
gründete Tradition besser charakterisiert (vgl.
und semiologia philosophica in den Schriften von
Sebeok 1976: 55).
A.G. Baumgarten (1714-1762), der darunter eine
(2) Semiologie gilt z.B. für Mounin (1970a: 57) als
Wissenschaft der Zeichensysteme von Sprache,
eine »bessere Übersetzung<< des englischen Wor-
Schrift, Hieroglyphik, Heraldik, Numismatik
tes semiotics und ist somit aus rein stilistischen
u.a.m. verstand (vgl. Meier-Oeser 1996: 603). 1764
Gründen dem französisichen Äquivalent semio-
erschien schließlich als zweiter Band des Neuen Or-
tique vorzuziehen.
ganon von Johann Heinrich Lambert die Semiotik,
(3) Die Semiotik ist allgemeiner als die Semiologie und
oder die Lehre der Bezeichnung von den Ideen und umfaßt diese als ihr Teilgebiet: Diese Auffassung
Dingen. Die somit begründete Tradition einer expli- wird etwa von Rossi-Landi (1975a: 103) vertre-
zit >Semiotik< genannten philosophischen Wissen-
ten. Für ihn ist Semiotik die »allgemeine Wissen-
schaft wird im 19. Jh. zuerst von Bolzano (1837a-c) schaft von den Zeichen<<, Sie umfaßt sowohl die
fortgesetzt, der in seiner Wissenschaftstheorie (§§
Linguistik als »Wissenschaft aller sprachlichen
637ff.) eine Theorie der Zeichen unter der Über-
Zeichensysteme<< als auch die Semiologie, welche
schrift Semiotik entwickelt (s. 1.6.4).
die »postlinguistischen (postverbalen) Zeichensy-
Peirce beruft sich in seiner Semiotik auf die
steme<< untersucht, wie z.B. rituelle und zeremoni-
l:TJI.Iflcottrlt von Locke und verwendet vorzugsweise elle »Sprachen<< oder die Literatur.
die Wortform semeiotic. Gelegentlich finden sich
(4) Die Semiotik untersucht andere Zeichensysteme
bei ihm auch die Termini semiotic oder semeiotics,
als die Semiologie: So meint etwa Rey (1976:
seltener semeiotic, aber niemals die latinisierte
295), daß die Semiotik die Theorie der nicht-
Form semiotics (vgl. Sebeok 1976: 48). Bei Morris
sprachlichen Zeichensysteme ist, während die
findet sich durchgängig die Form semiotic.
Semiologie die Strukturen von Texten unter-
sucht. Wunderli (1981a: 18) dagegen hält die
2. Semiotik und die Semiologie Semiologie für die Wissenschaft von den
nach Saussure menschlichen Zeichensystemen, während er in
der Semiotik die Wissenschaft von den nicht-
menschlichen und natürlichen Zeichen sieht.
Nachdem Saussure 1916 in seinem Cours de lingui- Ähnliche Abgrenzungen finden sich bereits bei
stique generate die Semiologie als eine allgemeine
Greimas (1970b).
Grundlagenwissenschaft der Linguistik umrissen
(5) Bei Hjelmslev findet sich die Auffassung, daß die
hatte (s. 11.2.2.3), setzte sich vor allem in den roma-
Semiologie eine Meta-Semiotik ist, die eine Theo-
nischen Ländern in der Nachfolge Saussures zu-
rie der verschiedensten Zeichensysteme beinhal-
nächst der Begriff >Semiologie< zur Bezeichnung ei- tet, welche ihrerseits als >Semiotiken< definiert sind
ner allgemeinen Theorie der Zeichensysteme und
(s. 11.3.2.2). Diese Terminologie haben auch Grei-
der Kommunikation durch. Der Gegenstandsbe-
mas & Courtes (1979) übernommen.
reich dieser Semiologie war jedoch für Autoren wie
Buyssens (1943), Prieto (1966, 1975a) und Mounin Das Gründungskomitee der >International Associa-
(1970e, 1981) zunächst nur auf arbiträre und inten- tion of Semiotic Studies< hat 1969 auf Anregung
tionale Zeichenprozesse beschränkt. Die Semiologie von Roman Jakobson und unter Beteiligung von
in dieser Ausrichtung wurde auch Semiologie der Roland Barthes, Emile Benveniste, A.-J. Greimas,
Kommunikation genannt und später durch eine Se- Claude Levi-Strauss und Thomas A. Sebeok be-
miologie der Signifikation ergänzt, deren Gegen- schlossen, zukünftig den Begriff Semiotik als den
stand die nichtintentionalen Zeichen in Natur und allgemeinen Begriff für das Gebiet zu verwenden,
Kultur sind (s. IV.1.2.3). das bisher als Semiologie oder Semiotik bezeichnet
Semiotik und Semiologie gelten heute auch in den worden war (Eco 1976: 30; Rey 1976: 301; Arrive
romanischen Ländern häufig als Synonyme (z.B. Du- 1982a: 128). Diese Entscheidung ist international
crot & Todorov 1972: 84), wobei der Begriff >Semio- weitgehend befolgt worden.
4 I. Geschichte der Semiotik
1. Platon (427-347)
1.2 Antike Platons Gedanken über die Natur der Zeichen be-
Die Theorie der Zeichen war in der Zeit von der An- treffen zumeist die sprachlichen Zeichen (Nehring
tike bis zur Renaissance noch nicht Gegenstand 1945; Lozano-Miralles 1984; De Lacy 1986; Ma-
einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin mit dem netti 1987; Kraus 1990; Keller 1995: 22-35; Hülser
Namen Semiotik. Erörterungen über das Wesen der 1997). In Platons Zeichendefinitionen geht es um
Zeichen in der Natur und bei den Menschen finden das Wesen der Namen (ÖVOJ.la., VOJ.lOc;). Dreierlei se-
sich jedoch schon seit der Antike zahlreich im Kon- miotische Phänomene konstituieren ein Sprachzei-
text von Logik, Rhetorik, Poetik, Hermeneutik, chen nach Platon: (1) der Laut (oder die Stimme;
Theologie, Mathematik, Ästhetik (Theorie der Ma- <p66yyoc;, <p6E)'I.l<l), (2) die Idee oder der Begriff
lerei, Architektur und Musik), der Medizin und der ( elöoc;, Myoc;, ötavonJ.la) und (3) das (bezeichnete)
Philosophie der Erkenntnis (Posner et al., eds. 1997 Ding, die Sache (npö:)'l.la, oucria).
mit Darstellungen zu all diesen Bereichen). In der Ideen und Bedeutungen sind für Platon nicht
Tradition des christlichen Abendlandes war bis zum bloße mentale Bilder, sondern sie existieren in einer
Humanismus der Renaissance und darüber hinaus objektiven Realität jenseits der Erkenntnis des ein-
die Autorität der griechischen Philosophen, insbe- zelnen Menschen. In Platons Dialog Kratylos (>Über
sondere das Werk von Platon und Aristoteles, das die Richtigkeit der Namen<) geht es u.a. um die Fra-
unbestrittene theoretische Fundament der Semiotik. ge, ob die Beziehung zwischen den Namen, den Ide-
Über Zeichenkonzeptionen in anderen Ku lturkrei- en und den bezeichneten Dingen eine natürliche ist
sen des europäischen Altertums (bei den Kelten, oder ob sie durch Konventionen und Arbitrarität (s.
Germanen und Slaven) und in der nichtabendländi- Vl.3) bestimmt ist. In diesem Zusammenhang ent-
schen Semiotik (Islam, Indien, China, Japan u.a. wickelt Platon die folgenden Gedanken über die
Kulturen) siehe Posner (et al., eds. 1997). Natur der sprachlichen Zeichen: (1) Sprachliche
Platon, Aristoteles, die Stoiker, die Epikureer und Zeichen, ganz gleich ob sie nun natürlicher oder
Augustinus sind die herausragenden Zeichentheoreti- konventioneller Art sein mögen, sind nur unvoll-
ker der Antike. Eine noch frühere Quelle des antiken ständige Repräsentationen von der wahren Seins-
Denkens über die Natur der Zeichen liegt nach Ma- weise der Dinge. (2) Wörter enthüllen nichts über
netti (1987) in den Traktaten der mesoparamischen die wahre Natur der Dinge, denn die Sphäre der Ide-
Mantik: Zeichen wurden hier als Vorzeichen, als en besteht unabhängig von der Repräsentation der
Omina betrachtet, deren Interpretation durch Ora- Ideen in Form von Wörtern. (3) Erkenntnis, welche
kel(sprüche) erfolgte. Was aus dieser Tradition nach durch Zeichen vermittelt wird, ist nur indirekt. Im
Manetti für die Griechen bedeutsam blieb, ist der Ge- Vergleich zur unmittelbaren Erfahrung der Dinge
danke, daß das Zeichen (<:rr]J..IEfov) etwas anzeigt, was vermittelt die Wahrnehmung durch Zeichen nur
der Erkenntnis letztlich verborgen (iiOT]A.oc;) bleibt. Bei eine niedere Form des Erkennens. Die Wahrheit
Platon zeigt sich dieser Gedanke etwa darin, daß für über die Dinge können wir durch Wörter nur un-
ihn das Verb >bedeuten< (crT]J.latvetv} ein Synonym von vollständig erfahren. Selbst wenn die Wörter ausge-
>enthüllen<, >offenbaren< (ÖT]A.oiiv) ist. zeichnete Abbilder der Dinge sein sollten, ist die
Einige andere antike Theoretiker des Zeichens, durch sie vermittelte Erkenntnis im Vergleich zur
die in der Geschichte der Semiotik Beachtung ge- unmittelbaren Erfahrung des wahren Seins der Din-
funden haben (z.B. Manetti 1987) sind Heraklit ge grundsätzlich unterlegen (Kratylos 439 a, b). Sol-
(544-483) (vgl. dagegen Schmitter 1983: 8, 1984, che Gedanken über die fehlende Unmittelbarkeit
1987: 1-18), Parmenides (540 bis nach 480) (vgl. De- der Zeichen finden sich auch in Platons Kritik an
tel 1982), Georgias von Leantinos (ca. 480-ca. 380)
(vgl. Rodriguez Andrados 1981 ), Sextus Empiricus
(zwischen 150 und 250) und die Skeptiker (Weltring
1910: 107-113; Glidden 1983; Ebert 1987) sowie
Porphyrios (ca. 232-ca. 304) (vgl. Sebeok, ed. 1986)
und Boethius (ca. 480-525) (Meier-Oeser 1997). An-
tike Zeichentheoretiker aus der Geschichte der Me-
dizin sind die Ärzte Hippocrates (460-377) (ebd.) und
Galen (129-ca. 215) (ebd.). Aus der römischen Zeit
erwähnt Oehler (1982) als Theoretiker des Zeichens
Varro, Cicero, Quintilian, Gelius und Lukrez. Zur
Theorie der Zeichen und der Bedeutung in der Antike
im allgemeinen siehe Weltring (1910), Haller (1962),
Coseriu (1970), Kretzmann (1974), Manetti (1987},
Clarke (1990), Chiesa (1991) und Hülser (1997).
Abb.l.2.1 : Platon (427-347)
1.2 Antike 5
der Schrift (s. VI.5.5.1), denn noch mehr als die ge- 1992: 252): (a) Die Schrift ist Zeichen der Laute, (b)
sprochene Sprache vermittelt nach Platons Meinung die Laute sind Zeichen von Empfindungen der Seele
die Schrift nur auf indirekte Weise Ideen, da die (moderner: >psychischer Eindrücke<), (c) letztere
Schrift nur aus Zeichen für die eigentliche Sprache sind Bilder von Dingen. Diese Bildrelation zwischen
besteht, und dies ist für Platon nur die Lautsprache. psychischen Eindrücken und den Dingen werden
von außersprachlichen und nichtpsychischen Ge-
genständen der Welt verursacht, die auf die Psyche
2. Aristoteles (384-322) einwirken. Das Ergebnis dieser Einwirkung ist die
Wahrnehmung, die Aristoteles (De anima 416b,
Zu Aristoteles' Gedanken über die Natur der Zei- 424a) als einen passiven Prozeß beschreibt, der mit
chen gibt es Untersuchungen von Weltring (1910) den Eindrücken eines Siegels in den Wachs ver-
Bocheriski (1968), Coseriu (1970: 68-122), Kretz- gleichbar ist. Der erzeugte Sinn wird nach der Ein-
mann (1974), Lieb (1981a), Weidemann (1982, wirkung des Objektes mit diesem gleich, auch wenn
1989), Kalinowski (1985 : 22-31), Pepin (1985), er sich in seinem Sein von diesem unterscheidet,
Manetti (1987), Chiesa (1986), Sirnon (1989), Ax denn >>Wahrnehmungs- und Denkinhalte sind iden-
(1992: 243), Keller (1995: 36-43) und Hülser tisch mit ihren Objekten, aber sie sind nicht die Ob-
(1997). Andere Gedanken, die bei Aristoteles von jekte selbst, sondern ihr doo~ [Form, Bild]<< (Ax,
semiotischem Interesse sind, finden sich auch im ebd.: 243). Die Gleichheit der Empfindungen mit
Kontext der Rhetorik und der Metapherntheorie. den Objekten der Welt ist also als eine Abbildungs-
relation zu verstehen.
Über die Beziehung zwischen dem Sprachzei-
chen und dem, was es bezeichnet, schreibt Aristote-
les (Peri hermeneias 16a, 26-29): >>Ein Name ist also
ein gesprochener Laut, der durch Konvention be-
deutet (... ], denn kein Name ist von Natur aus ein
Name, sondern erst dann, wenn er zum Zeichen ge-
worden ist. Denn auch die artikulierten Laute, z.B.
der Tiere, zeigen etwas an, und doch ist keiner die-
ser Laute ein Name.<<
Aristoteles' Theorie des sprachlichen Zeichens
stimmt in drei Punkten mit Grundgedanken der
Sprachsemiotik überein, wie sie auch im 20. Jh. u.a.
von Saussure und Hjelmslev vertreten wurde: (1)
Sprache ist ein System arbiträrer Zeichen, (2) Wör-
Abb.l.2.2: Aristoteles (384-322) ter sind Zeichen mentaler Phänomene, die wir heute
Konzepte oder mentale Bilder nennen würden, und
(3) Schrift ist ein sekundäres Zeichensystem, das die
2.1 Sprachzeichen als Abbilder Lautsprache abbildet. Zugleich stehen Aristoteles'
Eine Definition der sprachlichen Zeichen gibt Ari- Gedanken aber auch in zwei wesentlichen Punkten
stoteles in Peri hermeneias (De interpretatione; 16a im Gegensatz zur Semiotik der Sprache im 20. Jh.:
3-8): Erstens glaubt Aristoteles, daß die Unterschiede
zwischen den Sprachen der Welt nur eine Sache ih-
Es sind also die gesprochenen Laute (<poovfl) Zei- rer Ausdrucksseite sind, wohingegen die Inhaltsseite
chen (cruJlßoA.a) der in der Seele ('!fUXil) hervor- eine universelle sei, denn er meint ja, daß sich nur
gerufenen Empfindungen (rrllEhlJla'ta), und die die Laute unterscheiden, und die mental hervorge-
Schrift ist wieder ein Zeichen der Laute. Und rufenen Bilder oder Konzepte überall gleich seien.
wie nicht alle dieselbe Schrift haben, so sind Zweitens glaubt Aristoteles an eine Realität der
auch die Laute nicht bei allen dieselben. Aber Dinge hinter den Zeichen, wobei er die bezeichneten
das, wofür sie in erster Linie Zeichen (<JT]JlEta) Dinge für ebenso universell hält wie die von ihnen
sind, nämlich die Empfindungen der Seele, sind mental evozierten Bilder, welche Abbilder und so-
bei allen Menschen dieselben; und das, wovon mit ikonische Zeichen der bezeichneten Dinge sind.
diese Empfindungen Abbilder sind, nämlich die
eigentlichen Dinge (rrpa')'lla'ta), ist ebenfalls
gleich. 2.2 Zeicheninterpretation als
logisches Schließen
Die Struktur des sprachlichen Zeichens in Laut und Gedanken zur allgemeinen Zeichentheorie ent-
Schrift besteht somit aus den vier Konstituenten wickelt Aristoteles auf logischer Grundlage im
Schrift, Laut, Psyche und Dinge, zwischen denen die 27. Kap., Buch II seiner Ersten Analytiken und im
folgenden semiotischen Relationen bestehen (Ax 2. Kap., Buch I seiner Rhetorik (Manetti 1967; Wei-
6 I. Geschichte der Semiotik
denmann 1989). Ein Zeichen ist danach »eine not- hypothetischen Hauptprämisse, welche eine Folge-
wendige oder aber allgemein anerkannte Prämisse rung enthüllt<< (ebd.). Ausgehend vom beobachtba-
eines Beweises [... ],denn wofür gilt, daß, wenn es ren Zeichenträger und durch die Vermittlung der
vorhanden ist, das und das ebenfalls vorhanden ist, Bedeutung des Zeichens gelangen wir danach zu ei-
[... ] das ist ein Zeichen dafür, daß jenes, [... ] vor- nem logischen Schluß über das, wofür das Zeichen
handen ist<< (70a). Damit ist logisches Schließen die steht.
Grundlage der Interpretation von Zeichen. Zwi- Auch zur Typologie der Zeichen finden sichEle-
schen Zeichen und Bezeichnetem besteht die Relati- mente in der stoischen Semiotik: Zeichen (<lTJJ.!Eta)
on einer Implikation: wenn q p impliziert, steht q als wurden in erinnernde Zeichen und Anzeichen
ein Zeichen für p. Auch zwischen zwei Phänome- (ev&ucruro) klassifiziert. Erinnernde Zeichen ver-
nen, die erfahrungsgemäß in einer Beziehung des weisen auf etwas, das zu einem früheren Zeitpunkt
zeitlichen Nacheinanders stehen, sieht Aristoteles in Verbindung mit dem Zeichen wahrgenommen
eine semiotische Beziehung. Das Spätere ist ein Zei- wurde, während Anzeichen auf etwas nicht Eviden-
chen des Früheren, oder das Frühere ist ein Zeichen tes verweisen.
des Späteren, denn wenn gilt, >>daß wenn es ge- Zur Natur des sprachlichen Zeichens vertraten
schieht, das und das früher oder später ebenfalls ge- die Stoiker eine Theorie, die Sextus Empiricus (Adv.
schehen ist<<, haben wir ein Zeichen dafür, daß jenes math. 8.11-12) wie folgt zusammenfaßt:
geschehen ist (ebd.).
Nach diesen Prämissen klassifiziert Aristoteles Die Stoiker [... ] sagten, daß drei Dinge mitein-
die Zeichen ferner nach den zwei Kriterien ihrer All- ander verbunden sind: (1) das, was durch das
gemeinheit und ihrer Zuverlässigkeit (bzw. Not- sprachliche Zeichen vermittelt wird ('Co
wendigkeit oder Unwiderlegbarkeit): >>Von den <lTJJlCltVOJ.lEVOV), (2) das sprachliche Zeichen
Zeichen verhalten sich die einen so wie etwas Ein- selbst ('to <lTJJlCXivov) und (3) der Gegenstand
zelnes zum Allgemeinen, die anderen hingegen so oder das Ereignis ('Co tu"(Xavov) [... ].Zwei von
wie etwas Allgemeines zum Einzelnen. Diejenigen diesen Dingen sind materieller Art, nämlich der
unter ihnen, die notwendig sind, heißen Tekmerien Laut und der Gegenstand bzw. das Ereignis,
('tEKili]pwv), während für die nicht notwendigen und eines ist immaterieller Art, nämlich der In-
eine[ ... ] entsprechende Benennung fehlt<< (Rhetorik halt der Rede, der durch das sprachliche Zei-
I, 2, 1357b). Ein Beispiel für ein zuverlässiges oder chen vermittelt wird, die Bedeutung (M:K't6v).
sicheres Zeichen (Tekmerion) ist Fieber, das eine
Krankheit bedeutet. Alle sonstigen Zeichen sind Hinsichtlich der Struktur der Zeichenträger in der
>>schwach<<, oder sie beruhen lediglich auf >>Meinun- Lautsprache differenzieren die Stoiker in einer
gen<<, z.B. (vom Einzelnen zum Allgemeinen): >>So- Weise, die der Hjelmslevschen Unterscheidung zwi-
krates war weise und gerecht<< als Indiz für: >>Die schen noch unstrukturierter Ausdruckssubstanz
Weisen sind gerecht<< oder (vom Allgemeinen zum und sprachlich strukturierter Ausdrucksform ent-
Einzelnen): >>Sie atmet schwer<< als Indiz für >>Sie hat spricht (s. Il.3.3.3.6). Nach Diogenes Laertius
Fieber<< (denn: >>Wer schwer atmet, hat Fieber<<). (Leben und Meinungen VII. 57) unterschieden die
Stoiker zwischen Stimme und Ausdruck (Wort):
>>Als Stimme hat auch schon ein bloßer Ton (Schall)
zu gelten, als Ausdruck aber nur der artikulierte
3. Die Stoiker (ca. 300 v.-200 n. Chr.) Ton<< (€vap9po<;). Nur dieser kann durch Schriftzei-
chen (EYfPClllJlCl'tO<;) verkörpert werden. Artikulier-
Die stoische Periode begann mit Zenon von Kition te Laute können ihrerseits bedeutungslos sein, wie
(ca. 336-264) und Chrysippos aus Soloi (ca. 280- z.B. die Lautfolge »Blityri<< (ebd.), oder sie kön-
206) und dauerte bis zur Zeit des römischen Kaisers nen eine bestimmte Bedeutung haben (<lTJJlCXVnKi]),
Mark Aurel (121-180). Zur Stoa und zur stoischen aber wenn ein artikulierter Laut als Satz (Ai>yo<;) ver-
Zeichentheorie siehe Weltring (1910), Pohlenz standen werden soll, muß er Bedeutung haben und
(1948), Rohins (1951, 1967), Mates (1953), Bar- Ausdruck von Vernunft sein.
wiek (1957), Kneale & Kneale (1962), Kretzmann
(1967), Rochenski (1968), Melazzo (1975), Graeser
(1978), Verbeke (1978), Glidden (1983), Eco 4. Die Epikureer (ca. 300 v.Chr.-0)
(1984b), Manetti (1987), Ebert (1987) und Hülser
(1997). Die Schule von Epikur (341-270) entwickelte sich
Auch für die Stoiker ist die Logik die Grundlage unter dem Einfluß von Demokrit (ca. 460-ca. 370).
der Theorie der Zeichen. Sextus Empiricus (Adv. Ihr Einfluß erstreckte sich über die ersten drei Jahr-
math. II, 245) berichtet, daß die Stoiker das Verste- hunderten. Chr. Auch die römischen Dichter Horaz
hen eines Zeichens als einen Prozeß der syllogisti- (65-8) und Lukrez (99-55) waren Epikureer. Die
schen Induktion deuteten. Danach ist ein Zeichen Zeichentheorie und Logik der Epikureer ist u.a. in
>>die vorausgehende Proposition in einer gültigen dem Traktat De signis von Philadernos von Gadara
1.2 Antike 7
aus dem 1. jh. v. Chr. dargestellt, auf das sich Peirce Derartige zoosemiotische Überlegungen und ver-
an mehreren Stellen bezieht (De Lacy 1938; De Lacy wandte Spekulationen über den gestischen Ursprung
& De Lacy, eds. 1941; Sedley 1982; Sebeok, ed. der menschlichen Sprache gehören zu den interessan-
1986: 701-702; Manetti 1987). Einen Abriß der testen Beiträgen der Epikureer zur Geschichte der Se-
epikureischen Zeichentheorie gibt Weltring (1910: miotik. Bei Lukrez etwa finden sich in De rerum na-
82-107). tura erste Gedanken über die Evolutionsgeschichte
Die Epikureer vertraten eine materialistische Er- der menschlichen Semiose (vgl. Mauro 1975: 39).
kenntnistheorie und stellten sich den Prozeß der Nach einem Abriß der verschiedenen menschlichen
Wahrnehmung eines Gegenstandes etwa so vor: das und animalischen, verbalen und nonverbalen For-
Objekt der Wahrnehmung sendet von seiner Ober- men des Zeichengebrauchs gelangt Lukrez zu dem
fläche in Form von Atomen ein Bild (Ei:öroA-ov) aus. Schluß, daß die menschliche Sprache ebensowenig
Dieses Bild erreicht dann die Seele des Wahrneh- wie tierisches Verhalten und die Gestik von Kindern
menden und hinterläßt dort Sinneseindrücke, die ihren Ursprung in intellektuellen Konventionen ha-
ebenfalls die Form eines Bildes, genannt cpav'tacria, ben, sondern in natura und utilitas begründet sind.
annehmen. Nach diesen materialistischen Prämis-
sen ist das Zeichenmodell der Epikureer ein dyadi-
sches. Das vom Objekt ausgesandte eidolon und die 5. Aurelius Augustinus (354-430)
den Rezipienten erreichende phantasia konstituie-
ren die zwei Seiten des Zeichens. Im Gegensatz zu Das Werk des Heiligen Augustinus wird von einigen
den Stoikern thematisieren die Epikureer nicht die Historikern noch zur Spätantike gerechnet (Coseriu
immaterielle Bedeutung (A.EK't6v) als dritte Dimensi- 1970; Sirnone 1972; Oehler 1982; Meier-Oeser
on des Zeichens. Plutarch (Adversus Coloten 1119 1997), während für andere mit Augustinus bereits
F) betont, daß die Epikureer >>die Kategorie der Iek- das Mittelalter beginnt (Chydenius 1960; Kretz-
ta völlig ignorieren, nur Wörter und Objekte aner- mann 1967; Clarke 1987). Viele sind mit Coseriu
kennen, und behaupten, daß etwas zwischen ihnen (1970: 123) einer Meinung darüber, daß Augusti-
Vermittelndes nicht existiert.« Somit ist das Zei- nus >>der größte Semiotiker der Antike und der
chen auf die Dyade der materiellen Einheiten des eigentliche Begründer der Semiotik ist.<< Untersu-
Bezeichnenden (CJT]f!<Xtvov) und des bezeichneten chungen zur Semiotik von Augustinus sind Kuypers
Objektes (nryx6:vov) reduziert. (1934), Markus (1957), Chydenius (1960), Engels
Trotz ihrer materialistischen Sicht der Erkennt- (1962), jackson (1969), Mayer (1969), Sirnone
nis betrachten die Epikureer jedoch die Wahrneh- (1972), Wald (1975 ), Todorov (1977: 13-33), Ruef
mung nicht als einen völlig mechanischen Prozeß, (1981), Güttgemanns (1983: 101-170), Eco
denn das Erkennen eines Zeichens setzt nach ihrer (1984b), Manetti (1987) und Clarke (1987: 19-25).
Theorie auf seiten des Rezipienten die Fähigkeit zur Die Schriften, in denen Augustinus seine Zeichen-
Antizipation (7tp6A-T]lt<Jt~) der mentalen Bilder vor- theorie entwickelt, sind De magistro (389), De doc-
aus. Eine solche Antizipation ist jedoch nur vorstell- trina christiana (397) und Principia dialecticae (ca.
bar, wenn es im Geist des Rezipienten bereits vor- 387).
handene mentale Bilder gibt, welche derartige
Antizipationen erlauben. Mit der Annahme solcher
mentaler Bilder ist die epikureische Erkenntnistheo-
rie jedoch gar nicht so weit von heutigen Modellen
der Kognition und vom triadischen Modell des Se-
mioseprozesses entfernt.
Die Epikureer lehnten auch einen anderen Ge-
danken der stoischen Semiotik ab, nämlich die
Theorie von der Semiose als einem Prozeß des
Schließens. Die Fähigkeit, Zeichen zu interpretie-
ren, so Sextus Empiricus (Adv. math. VII, 269-71),
ist nicht auf diejenigen beschränkt, die die >>Technik
der Logik<< beherrschen, »denn oft sind analphabe-
tische Schiffslotsen und Bauern ohne jede Kenntnis
logischer Theoreme in der Lage, Zeichen hervorra-
gend zu interpretieren. [... Selbst) ein Hund inter- Abb. 1.2.3: Augustinus (345-430)
pretiert Zeichen, wenn er den Fußspuren eines an-
deren Tieres folgt, aber dies bedeutet nicht, daß er
seine Eindrücke aus dem Urteil gewinnt, >Wenn dies Augustinus folgt der epikureischen Auffassung vom
eine Fußspur ist, gibt es hier ein Tier. <[...] Folglich Zeichen als einem Sinneseindruck, der von etwas
ist das Zeichen kein Urteil, das einer gültigen gegenwärtig nicht Wahrnehmbaren im Bewußtsein
Hauptprämisse vorangeht.<< eines Rezipienten hervorgerufen wird. Seine Defini-
8 I. Geschichte der Semiotik
tion des Zeichens erinnert an die spätere aliquid- diert, letztere sind stets intendiert und zumeist kon-
pro-aliquo-Formel der mittelalterlichen Zei- ventionelle Zeichen. Seine Theorie der Zeichen be-
chentheorie (s. 1.3.1.2): >>Signum est enim res, prae- schränkt sich nie bloß auf die sprachlichen Zeichen,
ter speciem quam ingerit sensibus, aliud aliquid ex sondern sie umfaßt stets auch die nonverbalen Zei-
se faciens in cogitationem venire« (De doctr. Christ. chen bei Menschen, Tieren und in der unbelebten
2.1.1). [>Das Zeichen ist also ein Ding, welches au- Natur.
ßer der Erscheinung, die es den Sinnen vermittelt, In der außerordentlichen Breite seines semioti-
aus sich heraus etwas anderes zur Erkenntnis schen Horizonts liegt nach Eco (et al. 1986: 65) die
bringt.<] Das Zeichen und der bezeichnete Gegen- Bedeutung der Schriften von Augustinus für die Ge-
stand werden somit in der Erkenntnis der Zeichen- schichte der Semiotik: >>Mit Augustinus nimmt diese
interpreten in einer dyadischen Relation verbunden. >doctrina< oder >Wissenschaft< des Zeichens [signum]
Ontologisch gehören das Zeichen und sein Objekt Gestalt an. Hier werden sowohl Symptome als auch
dabei jedoch der gleichen Klasse von Phänomenen die Wörter der Sprache, mimetische Gesten von
an. Ebenso wie das bezeichnete Objekt ist nämlich Schauspielern ebenso wie die Klänge militärischer
auch das Zeichen selbst eine >Sache< oder ein >Ge- Fanfaren oder das Zirpen der Grillen zum Gegen-
genstand< (res). Jedes Zeichen ist danach zugleich ei- stand der Untersuchung. Mit seinem Versuch einer
ne Sache, aber nicht jede Sache ist zugleich auch ein solchen Doktrin sieht Augustinus Entwicklungslini-
Zeichen. Trotz einer solchen phänomenologischen en von höchstem theoretischen Interesse voraus.<<
Trennung zwischen den Sphären der Sachen und Neu in der Geschichte der Semiotik ist auch die
der Zeichen sind diese beiden Sphären durch Zei- theologische Dimension, die Augustinus in allen
chenprozesse verbunden, denn >>die Gegenstände Zeichen erkennt. Alle als Zeichen wahrgenomme-
erkennen wir mittels Zeichen<< (De doctr. ehr. nen Phänomene sind für ihn letztlich natürliche An-
1.2.2). zeichen, die den Willen Gottes in der irdischen
Augustinus unterscheidet ferner nach dem Kri- Schöpfung manifestieren (Simone 1972: 9). Diese
terium der Intentionalität des Zeichengebers zwi- Ideen führten im Mittelalter zu der immer weiter
schen natürlichen und >gegebenen< Zeichen (signa elaborierten Lehre vom mehrfachen Sinn der Texte
naturalia vs. signa data). Erstere sind nicht inten- und Dinge in der Welt (s. VI1.6).
1.3 Mittelalter und Renaissance 9
einer Proposition an dessen Stelle stehen kann sei zur Dechiffrierung der verborgenen göttlichen
(Summa Logicae I, c. 1, vgl. Schulthess 1992). Botschaften in der natürlichen Welt war die Theorie
Ausführlich hat sich die Scholastik mit der Klas- der vierfachen Schriftsinne der christlichen Herme-
sifizierung der Zeichen beschäftigt (Eco et al. 1986; neutik (s. VII.6). Sie wurde nicht zur Dekodierung
Meier-Oeser 1997a): Noch aus der Antike stammt der Bedeutung biblischer Texte angewandt, sondern
die Unterscheidung zwischen Zeichen, die konven- gab auch die Erklärung für die tieferen Bedeutungen
tionell (ad placidum) und solchen, die natürlich (na- aller Phänomene in unserer natürlichen Umwelt ab.
turaliter) sind. Augustinus unterscheidet zwischen Nicht nur zwischen den Phänomenen der natür-
(nichtintendierten) signa naturalia und (intendier- lichen Umwelt, sondern auch zwischen den drei
ten) signa data (die zwischen Lebewesen ausge- göttlichen Personen, der Trinität von Vater, Sohn
tauscht werden). und Heiligem Geist, bestand nach den schola-
Akustische Zeichen klassifiziert Thomas von stischen Traktaten von der Trinität und von den
Aquin z.B. als entweder von menschlichen und ani- Sakramenten eine triadische Zeichenrelation: der
malischen Stimmen oder von anderen Lautquellen Vater zeugt den Sohn als ein Zeichen (verbum), wel-
stammend; sie können natürlicher oder konventio- ches die Gedanken Gottes verkündet, und diese Ge-
neller (ex institutione) Art sein und schließlich ent- danken verkörpern sich schließlich in der Gestalt
weder Bedeutung haben oder nicht (wie etwa bloße des Heiligen Geistes (Beuchot 1995: 10).
Geräusche). Noch weiter differenziert Roger Bacon Pansemiotische Gedanken anderer Art finden
die natürlichen Zeichen danach, ob sie zu notwen- sich schließlich auch bei Raymundus Lullus
digen oder wahrscheinlichen Schlüssen führen, mit (Ram6n Llull, 1232-ca. 1316), dem Autor eines uns
dem Bezeichneten ähnlich sind (Bilder) oder in einer heute esoterisch erscheinenden semiotischen Lehr-
Kausalitätsbeziehung stehen (z.B. Spuren), und un- gebäudes, das er in seiner Ars Magna und Ars Gene-
terscheidet bei den intendierten Zeichen [ex inten- ralis Ultima (1308) veröffentlichte (vgl. Wildgen
tione animae] zwischen solchen, die absichtlich und 1998b: 55-86). Auf der Grundlage eines >> Alpha-
freiwillig erzeugt (z.B. Sprache), und anderen, die bets<< von Prädikaten der Natur Gottes schlägt Llull
unabsichtlich erzeugt werden. Erstmalig bei Ock- ein logisches Kalkül und eine ars inventiva vor, die
ham werden auch mentale Konzepte, also bloße im- als Schlüssel zur Interpretation des Universums die-
materielle Ideen, als natürliche Zeichen definiert nen sollten. Im Zeitalter des Rationalismus ließ sich
(Deely 1982: 43; 1986a: 8-9). Leibniz bei seinem Projekt einer logischen Univer-
salsprache von Llulls Ideen inspirieren (vgl. Yates
1954; Bachenski 1956: 318ff.; zur Fortwirkung von
Llulls Ideen in der Renaissance s. 5.2).
Andere pansemiotische Gedanken finden sich bei
Nicolaus Cusanus (1401-1464). Auch Cusanus ver-
tritt die Auffassung von der Zeichenhaftigkeit der
Welt. Da wir die Dinge selbst nicht unmittelbar erfas-
sen können, ist die menschliche Erkenntnis für ihn
die Schöpfung einer aus Zeichen konstituierten Mut-
maßungswelt, eines »mundus coniecturalis<<(Meier-
Oeser 1997b: 1017). Dabei gibt es eine Ikonizität der
menschlichen Kognition, denn diese sei als Abbild
und Ähnlichkeit der göttlichen Vernunft zu begrei-
fen. >>Im Erkennen entfaltet der Intellekt durch
gleichnishafte Merkmale und Zeichen eine Welt der
Abb.l.3.1: Thomas von Aquin (1225-1274) Ähnlichkeiten<< , schreibt Cusanus (zit. ebd.). Es gibt
ein >>komplexes Spiel von Ähnlichkeiten, Entspre-
chungen, Verweisungen und Zeichen, deren letztes
1.3 Die Welt als Zeichen unerreichbares Signifikat Gott ist<< (Meier-Oeser
Nach der pansemiotischen Sicht der Welt im Mittel- 1997b: 1017).
alter gab es eine significatio rerum, eine Zeichenhaf-
tigkeit aller Phänomene der natürlichen Welt (vgl.
Ohly 1977: 4). Alle Dinge der Natur konnten als 2. Die Suppositionstheorie
Zeichen eines göttlichen Zeichengebers interpretiert
werden. Sie haben dabei nicht nur eine, sondern Fragen nach dem Wesen von der Bedeutung und der
eine vielfache Bedeutung. Eine der mittelalterlichen Bezeichnung sprachlicher Zeichen erörterten die Scho-
Theorien von der Bedeutung der Gegenstände in der lastiker in der von ihnen entwickelten Theorie der
Welt besagte, daß die Zahl der Bedeutungen eines Suppositionen. Die wichtigsten Traktate zu diesem
Dings mit der Zahl der Eigenschaften desselben Thema stammen von Wilhelm von Sherwood (ca.
übereinstimmte (Ohly 1977: 6). Ein anderer Schlüs- 1200-ca. 1272), Petrus Hispanus (ca. 1210-1277),
1.3 Mittelalter und Renaissance 11
Walter Burleigh (1. Hälfte 14.Jh.s) und Vincent von Thomas von Erfurt (ca. 1310), dessen Traktat
Ferrer (Ferrer 1400). Zur scholastischen Suppositi- zur Modistik lange Zeit Johannes Duns Scotus zu-
onstheorie siehe u.a. Arnold (1952), Haller (1962), geschrieben wurde. Untersuchungen zur mittelalter-
Kneale & Kneale (1962), Rijk (1967), Pinborg lichen Modistik sind O'Mahony (1964), Pinborg
(1972), Leff (1975), Ducrot (1976) und Ebbesen (1967, 1982, 1984), Bursill-Hall (1971, 1976),
(1983). Zu den Suppositionen aus der Sicht der heu- Stefanini (1973), Gabler (1987), Harris (1989) und
tigen Sprachphilosophie siehe Geach (1962). Lambertini (1989).
Seit etwa 1200 findet sich der Ausdruck sup- Die Maclisten waren von einer wesentlichen
ponere pro als ein Synonym für stare pro aliquo, also Ikonizität zwischen den Sprachzeichen und den von
für eine Zeichenrelation ganz allgemein (Geyer, ed. ihnen in der Welt bezeichneten Dingen überzeugt.
1951: 578). Im engeren Sinn ist eine Supposition je- Wegen ihrer ikonischen Relation zu den Phänome-
doch nur eine semantische Eigenschaft eines Subjekt- nen der Welt haben alle Sprachen der Welt nach
terms in einer Proposition im Kontext mit seinem Prä- Meinung der Modisten eine universelle Struktur. In
dikat. Supposition ist damit eine Form von Bedeutung Aristotelischen Kategorien erklärte Roger Bacon,
im Kontext. Sie steht im Gegensatz zur Signifikation daß »die Grammatik hinsichtlich ihrer Substanz in
(significatio), der kontextunabhängigen allgemeinen allen Sprachen die gleiche ist, auch wenn sie akzi-
(heute würde man sagen lexikalischen) Bedeutung ei- dentiell variiert« (Gabler 1987: 23). Ihre universelle
nes Wortes (Pinborg 1972: 59; Kaczmarek 1983 ). Grammatik nannten die Modisten auch grammati-
In einer elaborierten Typologie wurden bis zu ca speculativa et universalis. Der Begriff >Spekula-
zehn verschiedene Suppositionsarten unterschieden tiv<, der vom lateinischen Wort für >Spiegel< (specu-
(Arnold 1952: 110ff.; Rijk 1967: 589ff.). Petrus lum) herrührt, ist durch die Annahme der Modisten
Hispanus unterscheidet z.B. zwischen diskreten und begründet, daß die Sprache ein Spiegel der Welt sei.
allgemeinen Suppositionen. Bei einer diskreten Sup- Die Maclisten unterscheiden drei Aspekte des
position bedeutet ein Terminus ein einzelnes Indivi- sprachlichen Zeichens, nämlich vox, die lautliche
duum (>FIDO ist ein Hund<). Ein Terminus suppo- Seite der Sprache, intellectus, das Verstehen des
niert allgemein, wenn er sich auf Universalien Sprachzeichens, und res, die bezeichnete Sache. Je-
bezieht. Ein Terminus, der sich auf eine konkret exi- der dieser Zeichenaspekte ist mit einem eigenen
stierende Entität bezieht (wie im letztgenannten Bei- Modus verbunden, nämlich dem modus significan-
spiel), heißt auch suppositio personalis. Unterarten di, dem modus intelligendi und dem modus essendi.
sind die s. determinativa (>Ein bestimmter HUND Der Seinsmodus (modus essendi) spezifiziert die on-
läuft<) oder die suppositio confusa (>Jeder HUND ist tologische Grundlage des Zeichenprozesses, indem
ein Tier<). Zwei andere Unterklassen sind die suppo- er die bezeichneten Dinge hinsichtlich ihrer Katego-
sitio simplex: ein allgemeiner Begriff steht hier für ei- rien (ihrer Substanz, Qualität etc.) beschreibt. Der
ne Universalie (>HUND ist eine Tierart<) sowie die wahrnehmende Geist des Rezipienten erfaßt die ka-
suppositio materialis: hier geht es um die Eigenschaf- tegorialen Eigenschaften der Dinge mittels des Ver-
ten des Wortes als Zeichenträger, z.B. >FIDO ist ein stehensmodus (modus intelligendi). Nach Aristote-
zweisilbiges Wort mit vier Buchstaben<. lischer Lehre werden die Begriffe oder Ideen, die
Die materielle Supposition eines Wortes betrifft sich beim Rezipienten eines Gegenstandes bilden,
also ihre metasprachliche Charakterisierung. Die von den Sinneseindrücken verursacht, welche dieser
Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache Gegenstand hervorruft, und sind bei allen Men-
hatten die Scholastiker früher auch unter der Be- schen gleich. Der Seinsmodus geht nach dieser Vor-
zeichnung erste und zweite Imposition erörtert. aussetzung dem Verstehensmodus wie eine Ursache
Wörter der Objektsprache, wie etwa Hund, Tier ihrer Wirkung voraus (vgl. Kretzmann 1967: 375).
oder Mensch, wurden als konventionelle Zeichen Dabei wird der Prozeß der Wahrnehmung und Kon-
der ersten Imposition (>Namensgebung<) definiert. zeptualisierung im m. intelligendi als aktiver Ver-
Metasprachliche Begriffe wie Substantiv, Silbe oder stehensmodus (modus i. activus) definiert, während
species wurden als das Ergebnis einer zweiten Impo- das Ergebnis dieses Prozesses in Form der resultie-
sition betrachtet. renden mentalen Entitäten passiver Verstehensmo-
dus ( modus i. passivus) heißt.
Der für das Sprachzeichen im engeren Sinn zu-
3. Modistische Semiotik ständige modus significandi beschreibt, wie Wörter
als Ergebnis von sogenannten Impositionen die Dinge
Die scholastische Theorie der Bedeutungsmodi (mo- bezeichnen. Das Sprachzeichen selbst wird als eine
di significandi) entstand im späten 13. und frühen Verbindung eines phonetischen Zeichenträgers
14. Jh. im Rahmen der ars grammatica. Grammati- (vox) mit einem bezeichneten Objekt, dem significa-
sche Traktate zur Modistik stammen von Martin tum, definiert. Nur wenn der phonetische Laut
von Dacia (ca. 1270), Boethius von Dacia (ca. (vox) mit einem bestimmten significatum assoziiert
1270), Johannes von Dacia (ca. 1280), Radulphus ist, wird aus ihm ein wirkliches Sprachzeichen na-
Brito (ca. 1300), Siger von Courtrai (ca. 1300) und mens dictio. Die Signifikationsmodi spezifizieren
12 I. Geschichte der Semiotik
nun die semantischen Funktionen der Sprachzei- Synthese mittelalterlicher Gedanken oder eine Zeit
chen. Durch eine erste Imposition ist der phoneti- der Innovation in der Geschichte der Semiotik war,
sche Zeichenträger vox mit seinem significatum ver- gibt es unterschiedliche Meinungen, vor allem hin-
bunden. Die somit entstehende Relation heißt sichtlich der Beurteilung der Zeichentheorie ihres
Signifikation (ratio significandi). Da sie sich auf das bedeutendsten Vertreters, Johannes a Sancto Tho-
Referenzobjekt und nicht auf dessen mentales Ab- ma. Während Kretzmann (1967: 375}, Coseriu
bild bezieht, wäre der Begriff der Designation heute (1970: 160), Kretzmann (et al., eds. 1982: 818ff.},
eher angebracht. Das aus dieser Verbindung resul- Kaczmarek (1986), Ashworth (1988) und Meier-
tierende Sprachzeichen (dictio) wird als sprachspe- Oeser (1997a: 214-15) die traditionellen Elemente
zifisch und somit arbiträr angesehen. in der Semiotik der iberischen Spätscholastiker bis
Durch eine zweite Imposition ist das Sprachzei- Johannes a Santo Thoma hervorheben, sehen u.a.
chen mit mehreren anderen Signifikationsmodi ver- Deely (1982, 1986a, 1988, 1994) und Furton
bunden, die mit der grammatischen Form der Wör- (1995) Ansätze in dieser Epoche, die in die Moderne
ter zu tun haben. Den Wortarten und anderen oder gar Postmoderne weisen. Besonders innovativ
grammatikalischen Kategorien werden bestimmte sind damals die Schriften von P. da Fonseca und Jo-
semantische Merkmale zugeschrieben, die sich mit hannes a Sancto Thoma.
der lexikalischen Bedeutung der Wörter verbinden.
Die semantische Relation, die daraus resultiert, 4.1 Pedro da Fonseca
heißt Konsignifikation (ratio consignificandi). Auch Petrus Fonsecus (1528-1599) trifft in seinen Insti-
die konsignifizierten Bedeutungen werden als uni- tutionum dialecticarum libri von 1564 zeichentypo-
verselle Modi des Verstehens von Begriffen inter- logische Unterscheidungen, die nach Deely (1982:
pretiert. Die Signifikationsmodi der zweiten lmposi- 53-60) zur Erweiterung der semiotischen Phänome-
tion sind also vom Intellekt geschaffene Formen, die ne von bloßen Perzenten zu mentalen Konzepten
das Sprachzeichen mit dem Seinsmodus der Dinge führen. Augustinus hatte das Zeichen als eine Per-
in Verbindung bringen (vgl. Pinborg 1984). Die Un- zeption definiert, von der aus etwas anderes in unser
tersuchung dieser universalen kategorialen Eigen- Bewußtsein gelangt (s. 1.2.5). Fonseca folgt der au-
schaften sprachlicher Zeichen in bezug auf die von gustinischen Tradition, wenn er schreibt, daß be-
ihnen abgebildeten significata ist das zentrale The- deuten [significare] nichts anderes heißt, als >>etwas
ma der modistischen Semiotik. Ein Beispiel für die [in] einer kognitiven Fähigkeit zu repräsentieren<<;
Auffassung der Modisten von der Art und Weise, aber dieses Etwas muß für ihn nicht eine Perzeption,
wie grammatikalische Kategorien die kategorialen sondern es kann auch ein bloßes Konzept (concep-
Eigenschaften der Dinge in der Welt abbilden, sind tus) sein. Deshalb unterscheidet er zwischen signa
die folgenden semantischen Interpretationen der instrumentalia und signa formalia. (Zu Vorläufern
Wortarten in der spekulativen Grammatik nach Ro- dieser Unterscheidung in der scholastischen Tradi-
bins (1951: 83}: Substantive bedeuten nach ihrem tion siehe Nuchelmans 1987: 148.) Nur bei den in-
>wesentlichen< Signifikationsmodus Substanzen so- strumentellen Zeichen ist der Zeichenträger ein per-
wie unveränderliche Zustände oder Entitäten. Das zeptueller: Hier >>ist es notwendig, daß wir die
Verb ist die Wortart, die durch die Modi des Wan- Zeichen wahrnehmen<<, Diese Zeichen heißen in-
dels, Werdens oder der Bewegung von etwas Exi- strumentell, >>weil wir mit ihnen wie mit Instrumen-
stierendem bedeutet, und das Pronomen bedeutet ten anderen unsere Konzepte mitteilen<< (Inst. dial.
eine Substanz ohne Bezug auf deren Qualität. 1.8). Formale Zeichen hingegen >>sind Ähnlichkeiten
oder gewisse Formen [species] von bezeichneten
Dingen, die in den kognitiven Fähigkeiten existie-
4. Die iberische spätscholastische ren, durch welche die bezeichneten Dinge wahrge-
Renaissance nommen werden.[ ... ] Formale Zeichen müssen von
uns nicht [perzeptuell] wahrgenommen werden, da-
Zur gleichen Zeit, als Descartes das Zeitalter des mit uns das bezeichnete Ding zu Bewußtsein ge-
Rationalismus einleitete und Skepsis gegen die Au- langt<< (ebd.). Fonseca nennt diese Zeichen formal,
toritäten der Antike forderte, gab es eine Renais- >>weil sie die Kognition formen, ihr gewissermaßen
sance der scholastischen Semiotik, deren Zentrum Struktur geben<< (ebd.). Statt das Perzeptuelle und
die Universitäten der iberischen Halbinsel war. Zu das Konzeptuelle zwei verschiedenen Seiten des Zei-
den iberischen Spätscholastikern zählen Domingo chens (dem Zeichenträger und seiner Bedeutung)
de Soto (1494-1560) (vgl. Ashworth 1988), Pedro zuzuschreiben, wie es in der Geschichte des dyadi-
da Fonseca, Francisco Suarez (1548-1617), Fran- schen Zeichenbegriffs oft erfolgte (s. 111.2.2), wird
cisco de Araujo (1580-1664), Domingo Baiiez mit dieser Definition sowohl das eine wie das andere
(1528-1604), Cosme de Lerma (2. Hälfte 16. Jh.s- als Manifestation des Zeichenhaften (als Zeichenträ-
1642) und Johannes a Sancto Thoma. Eine Antho- ger) anerkannt. Nicht nur Wörter und visuelle Bilder,
logie mit Texten dieser Autoren ist Beuchot (1995). sondern auch Ideen, Konzepte und mentale Bilder
Darüber, ob diese Epoche nur eine Phase der bloßen können damit Zeichen(träger) sein.
1.3 Mittelalter und Renaissance 13
sehen natürlichen und institutionellen Zeichen liegt (1563-1624), bei dem sich eine besonders elabo-
für Johannes a Sancto Thoma also weit oberhalb rierte Zeichentypologie findet (Freedman 1986;
der auf physikalischen Ursachen beruhenden Relatio- Meier-Oeser 1997a).
nen. Sie liegt mitten im Bereich sozialer Handlungen,
wo sie zwischen konventionellen Zeichenphänome-
nen unterscheidet, die wir infolge bloß beobachteter 5.2 Die pansemiotische Tradition
Wiederholungen gewohnheitsmäßig interpretieren, Ebenso wie in der mittelalterlichen Pansemiotik fin-
und solchen, deren Zeichenhaftigkeit uns als soziale det sich in der pansemiotischen Tradition der Re-
Konvention bewußt ist. naissance der Gedanke von der Zeichenhaftigkeit
und einer damit verbundenen Ikonizität der Welt.
Auch die Llullsche Suche nach einer der Natur der
5. Semiotik der Renaissance Dinge entsprechenden Universalsprache findet eine
Fortsetzung. Bevor das Universalsprachenprojekt
Das Zeitalter der Renaissance ist eine Epoche des im 17. Jh. zu ersten wissenschaftlichen Ergebnissen
Übergangs. Einerseits der Antike, besonders den auf logischen oder zumindest rationalen Prinzipien
platonischen und aristotelischen Ideen zugewandt, führte (s. VI.7), wurde es im 16. und frühen 17. Jh.
andererseits von neuen humanistischen und refor- z.T. noch in der kabbalistischen und alchimisti-
matorischen Idealen inspiriert, liegt sie zwischen der schen Tradition Llulls verfolgt, etwa von Heinrich
mittelalterlichen Scholastik und dem Beginn der Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486-1535),
philosophischen Moderne im Empirismus und Ra- Giordano Bruno (1548-1600), Johann Heinrich Al-
tionalismus. Auch in dieser Epoche finden sichTen- sted (1588-1638) und Athanasius Kireher (1601-
denzen, die mehr die Tradition der logisch-gramma- 1680). Zur Semiotik der von Bruno in dieser Tradi-
tischen Semiotik fortsetzen, und solche, die an die tion entwickelten Kosmologie, Erkenntnis- und Ge-
Tradition der pansemiotischen Visionen der Welt dächtnistheorie siehe Wildgen (1998b). Andere
und des Universums anknüpfen. Theorien von der Zeichenhaftigkeit der Natur und
die Suche nach einer Natursprache in dieser Zeit,
vor allem bei Jakob Böhme (1575-1624), unter-
5.1 Die logisch-grammatische Tradition sucht Nate (1993).
Untersuchungen zur Zeichentheorie der Renais- Ein Modell zur Interpretation der Zeichenhaf-
sance in der logisch-grammatischen Tradition fin- tigkeit der Natur war die Lehre von den Signaturen.
den sich im Kontext der Geschichte von Logik, Phi- Sie wurde vor allem von Paracelsus (1493-1541) zu
losophie und Semiotik (Apel1983; Ashworth 1974, einem elaborierten System entwickelt (Böhme
1985; Kretzmann et al., eds. 1982: 785ff.; Meier- 1986). Bei Paracelsus ist nicht nur Gott ein Zeichen-
Oesee 1997a) sowie in Arbeiten zur Geschichte der geber, der sich in allen natürlichen Phänomenen
Sprachtheorie (Verburg 1952; Percival 1975; Pad- manifestiert, sondern es gibt drei weitere Quellen
ley 1976). von Bedeutungen natürlicher Zeichen in der Welt
Während die iberischen Semiotiker vor allem im (De Nat. Rer., 1591): den Menschen selbst, ein al-
Rahmen der Logik die Kontinuität ihres Denkens in len Entwicklungen inhärentes Prinzip namens ar-
der Tradition der mittelalterlichen Scholastik be- chaeus und schließlich die Sterne oder Planeten
tonten, entstanden im Rahmen der ars grammatica (astrae). Die natürlichen Zeichen, welche diese Zei-
der Renaissance mit der Entdeckung der Historizi- chengeber in der Welt als Spuren hinterlassen, heißen
tät und Arbitrarität der Sprachzeichen neue Auffas- Signaturen. Sie manifestieren sich in verschiedenen
sungen der Sprache, die gegen die von den scholasti- Bereichen der Natur. Im menschlichen Gesicht etwa
schen Modisten gelehrte Theorie einer spekulativen sind sie durch den Kode der Physiognomie be-
Universalgrammatik gerichtet waren. Vertreter stimmt; der Kode der Chiromantie erklärt die Be-
dieserneuen Richtungen in der Semiotik der Spra- deutungen der Signaturen in den Linien, die im
che sind Juan Luis Vives (1492-1540) (vgl. Coseriu menschlichen Körper und auf der Oberfläche von
1970: 161; Brekle 1985: 88-115, mit semiotischen Pflanzen sichtbar sind, und zur Erklärung der Sig-
Schwerpunkten: S.101ff.), Julius Cesar Scaliger naturen in Erde, Feuer, Wasser und in den Gestirnen
(1484-1588) (vgl. Stefanini 1976), Petrus Ramus dienen die Kodes der Geomantie, Pyromantie, Hydro-
(1515-1572) und Franciscus Sanctius Brocensis (ca. mantie und der Astrologie. Ein wesentlicher Gedanke
1552-1632) (vgl. Percival1975; Padley 1976). dieser Lehre von den Signaturen ist die Annahme einer
Einige andere Zeichentheoretiker der Renais- verborgenen Relation der Korrespondenz und somit
sance sind Thomas Campanella (1568-1639) (Pad- lkonizität zwischen den Zeichenphänomenen in den
ley 1976; Romeo 1979a), Emanuele Tesauro verschiedenen Bereichen der Natur (vgl. van den
(1592-1675) (Speciale 1986) und Clemens Timpier Broek 1987; Nate 1993; Nöth 1996b).
1.4 Rationalismus und Empirismus 15
Pierre Nicole (1625-1695). Untersuchungen zur Se- (s. VI.3). Sie wird als eine Relation zwischen den bei-
miotik dieser Schule finden sich bei Brekle (1964), den mentalen Seiten des Sprachzeichens definiert,
Kretzmann (1967: 378-79), Rey (1973), Padley wobei der Bezug zur bezeichneten Sache keine Rolle
(1976: 210-59), Auroux (1979), Swiggers (1981, spielt (Kretzmann 1967: 378; Swiggers 1981: 275).
1986) und Tsiapera & Wheeler (1993 ). Die Arbitrarität manifestiert sich dabei allein auf der
Das Zeichenmodell der Schule von Port-Royal Ebene der Signifikanten der Sprache. Während >>es
antizipiert in mancherlei Hinsicht die spätere Zeichen- völlig arbiträr ist, eine Idee mit dem einen statt mit
konzeption von Saussure (Swiggers 1986: 125). Das dem anderen Laut zu verbinden, sind die Ideen, je-
Modell ist dyadisch, und beide Seiten des Zeichens denfalls die klaren und distinkten Ideen, nicht arbi-
sind in mentalistischen Kategorien konzipiert. In trär<< (Logique 1.1). Es ist also nur die Ausdrucks-
der Definition von Arnauld & Nicole (Bd. 1., Kap. 4 form der Sprache in bezug auf die repräsentierten
der Auf!. nach 1683) >>umfaßt das Zeichen zwei Ide- Inhalte arbiträr. Die Inhaltsform dagegen ist in sich
en - eine von der Sache, welche es repräsentiert, die selbst durch die Prinzipien der Klarheit und Distinkt-
andere von der repräsentierten Sache - und es ist heit der Konzepte motiviert, und sie ist ein Abbild
dadurch charakterisiert, daß es die zweite durch die der universellen Gesetze des menschlichen Geistes.
erste hervorruft<< . Die radikal rationalistische Wende Deshalb kann sie nicht durch Arbitraritäten relati-
in der Geschichte der Zeichentheorie, die sich mit viert sein, wie sie später in der Semiotik als semanti-
dieser Definition abzeichnet, liegt darin, daß nicht sche Relativität thematisiert werden sollten.
nur die Inhaltsseite des Zeichens, sondern auch sei-
ne Ausdrucksseite (der Zeichenträger) als eine rein
mentale Entität begriffen wird. Dies entspricht ganz 1.3 Leibniz
dem späteren Saussuresehen Konzept vom Signi- Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716 ) zählt zu
fikanten als einem Lautbild (s. 11.2.3.2), denn schon den Klassikern in der Geschichte der Semiotik. Seine
in der Logik von Port-Royal (1.1 ) ist von einem Gedanken zur Zeichentheorie sind Gegenstand
>> Bild des Lautes<<die Rede. Ein Zeichen als ein bloß zahlreicher Untersuchungen (Couturat 1901;
mentales Ereignis zu beschreiben, war allerdings Schnelle 1962; AarsieH 1975; Beinekamp 1976;
doch nicht völlig neu, denn schon die Scholastiker Dascal 1978, 1987; Poser 1979, 1997; Burkhardt
hatten mit ihrer Kategorie der formalen Zeichen 1980; Dutz 1985; Widmaier 1986; M eier-Oeser
(s. 1.3.4.2.1) mentale Prozesse als zeichenhaft inter- 1997a).
pretiert. Für sie gab es neben den formalen Zeichen
jedoch noch den eigentlich prototypischen Fall des
instrumentalen Zeichens, das auf der äußeren Wahr-
nehmung eines Zeichenträgers ruht. Neu ist also die
rationalistische Reduktion beider Zeichenarten auf
eine einzige.
Die Semiotik von Port-Royal unterscheidet die
folgenden vier Zeichenklassen (Logique I.4; vgl.
Brekle 1964: 110-13; Swiggers 1981: 276): (1) na-
türliche Anzeichen, die entweder >>sicher<< sind (wie
das Atmen ein sicheres Anzeichen von >Leben< ist)
oder auch nur wahrscheinlich sein können, wie die
meisten medizinischen Symptome, (2 ) Symbole, un-
ter denen motivierte Zeichen zu verstehen sind, wie
etwa diejenigen der christlichen Ikonographie, (3)
natürliche Bilder, wie z.B. Spiegelbilder, und (4) Abb. 1.4.2: Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716)
konventionelle Zeichen ( >> Z. durch Institution<<), zu
denen vor allem die Sprachzeichen gehören. Leibniz hat mehrere Zeichendefinitionen formu-
Die Grammatik von Port-Royal ist nicht nur mit liert. Ganz in der Tradition der Scholastik schreibt
den Sprachzeichen befaßt; sie führt auch einige er: >> Das Zeichen ist ein Wahrgenommenes, aus wel-
Grundbegriffe der Semantik ein (vgl. Kretzmann chem man die Existenz eines Nicht-Wahrgenomme-
1967: 378-79), z.B. die Unterscheidung zwischen ei- nen schließen kann << (zit. in: Burkhardt 1980: 175 ).
gentlichen Bedeutungen und Nebenbedeutungen, 1672 nennt er einige weitere Kriterien der Zeichen-
die wir heute besser als Denotation und Konnotati- haftigkeit:
on kennen (s. III.5.6), ferner die Unterscheidung >>Ein Zeichen [signum] ist das, was wir jetzt
zwischen comprehension und Extension, die der wahrnehmen und was wir darüber hinaus auf
heutigen Dichotomie von Intension und Extension Grund unserer eigenen Erfahrung oder nach der Er-
entspricht (s. III.5.2). fahrung eines anderen als mit etwas anderem ver-
Wesentliches Merkmal des Sprachzeichens ist bunden betrachten<< (zit. in: Dascal1987: 31). Das,
nach der Semiotik von Port-Royal die A rbitrarität womit das Zeichen verbunden ist, nennt Leibniz
1.4 Rationalismus und Empirismus 17
einerseits die (bezeichnete) Sache (res), andererseits Zeichen zu neuen Entdeckungen führen. Das Studi-
die conceptio (auch idea, cogitatio oder notio) (Po- um der Zeichen von den Zeichenelementen bis zu
ser 1979: 312). Damit gehören zu den Zeichen so- ihrem kreativen Gebrauch umfaßt deshalb drei Teil-
wohl natürliche als auch konventionelle Phänome- disziplinen: (1) die ars characteristica, welche die
ne, aber Leibniz' besonderes Interesse gilt letzteren. Zeichen hinsichtlich ihrer Elemente untersucht, (2)
Er untersuchte Schriftzeichen und graphische Sym- das rationale Kalkül, welches, wie die Syntax von
bole als characteres und definierte diese als sichtbare Morris, die Gesetze für die Kombination dieser Ele-
Zeichen, welche Gedanken repräsentieren: >> Charac- mente aufstellt, und (3) die ars inveniendi, welche
terem voco notam visibilem cogitationes reprae- den kreativen Gebrauch der Zeichenkombinationen
sentantem<< (ebd. 321). Beispiele für das Spek- (s. VI.7.2.4) erforscht.
trum der von ihm untersuchten Zeichen nennt
Leibniz wie folgt: >>Zu den Zeichen zähle ich die
Wörter, die Buchstaben, die chemischen, die 1.4 Wolff
astronomischen, die chinesischen und hierogly- Christian Wolff (1679-1754) war in vielem der un-
phischen Figuren, die Noten der Musik, die ge- mittelbare Nachfolger von Leibniz, dessen Projekt
heimschriftlichen, arithmetischen, algebraischen einer ars characteristica er nach den Prinzipien eines
und alle anderen Zeichen, die wir zum Denken für dogmatischen Rationalismus fortzusetzen trachtete.
die Dinge verwenden<< (ebd.: 311). Zur Semiotik in der Philosophie von Wolff siehe
•Charaktere<dieser Art sind arbiträre Zeichen, Roeder (1927), Coseriu (1972: 129-39), Arndt
aber die Prinzipien ihrer Kombination im rationalen (1979), Ungeheuer (1981) und Wellbery (1984), der
Diskurs sind nicht arbiträr. Es gibt nämlich nach Wolf bereits zur Semiotik der Aufklärung zählt.
Leibniz eine Relation (proportio sive relatio) zwi-
schen den Strukturen des rationalen Diskurses und
den Dingen der Welt, auf die sich der Diskurs be-
zieht. Diese Relation ist das Fundament der Wahr-
heit (fundamentum veritatis; s. Haller 1959: 124).
Was Leibniz mit diesen Gedanken der Korrelation
zwischen Diskurs- und Weltstruktur meint, ist das,
was Peirce später als diagrammatische Ikonizität
definiert (s. III.12.1.3). Die Ikonizität im Prozeß der
Repräsentation der Welt ist dabei eine zweifache.
Erstens repräsentieren die Zeichen die Ideen, zwei-
tens repräsentieren Ideen auch die Dinge, denn Ide-
en (regio idearum) >>korrespondieren in sich selbst
mit ihren Gegenständen<<(zit. in: Poser 1979: 312).
Die tiefere Ursache für die Ikonizität, die sich nach
Leibniz in den Strukturen des rationalen Diskurses Abb. 1.4.3: Christian Wolff (1679-1754)
zeigt, liegt in dem metaphysischen Prinzip der
prästabilisierten Harmonie (vgl. ebd.). Danach ist Wolff entwickelte seine rationalistische Zeichentheo-
die ganze Welt tatsächlich im Geist eines jeden Indi- rie in §§291-324 seines 1720 erschienenen Werks
viduums repräsentiert, denn die Fähigkeit des Men- Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der
schen, diese Welt zu erkennen (facultas cogitandi), Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt
setzt voraus, daß die Strukturen der zu erkennenden sowie im 3. Kapitel »De signo <<, seiner Philosophia
Welt in gewisser Weise zuvor im menschlichen Geist prima sive ontologica von 1730 (§§ 952-967). Bei
repräsentiert sein müssen. W olff ist die zeitliche Dimension ein wesentliches
Zeichen sind nach Leibniz ferner nützliche In- Element in der Definition des Zeichens, denn: »Ein
strumente zur >> Abkürzung<< der viel komplexeren Zeichen ist ein Ding, daraus ich entweder die Gegen-
Sachverhalte und Konzepte, welche sie repräsentie- wart, oder die Ankunft eines anderen Dinges erken-
ren, und mit Hilfe der Zeichen kann die Komplexi- nen kann, das ist, daraus ich erkenne, daß entweder
tät des Repräsentierten auf ökonomische Weisere- etwas wirklich an einem Orte vorhanden ist, oder da-
duziert werden: >> Alles menschliche Denken und selbst gewesen, oder auch etwas daselbst entstehen
Folgern geschieht mit Hilfe bestimmter Zeichen werde<< (1720: §292). Auch die Wolffsche Typologie
oder Charaktere. In der Tat ist es weder möglich der Zeichen ist an der Dimension der Zeit orientiert,
noch wünschenswert, daß die Dinge selbst oder denn er unterscheidet nach ihr die folgenden drei
auch nur die Ideen von den Dingen immer vom Klassen natürlicher Zeichen (1 730: §953-54): das
Geist in distinkter Weise beobachtet werden. Des- auf etwas Gegenwärtiges verweisende signum de-
halb werden aus Gründen der Ökonomie Zeichen monstrativum (z.B. Rauch -7 Feuer), das auf ein Ver-
für sie gebraucht<< (zit. in Dascal 1987: 187). Auf gangenes verweisende signum rememorativum (z.B.
Grund dieser Eigenschaften kann der Gebrauch von nasser Boden -7 Regen) und das auf etwas Zukünf-
18 I. Geschichte der Semiotik
tiges verweisende signum prognosticum (z.B. Wol- können sie zu richtigen oder zu verzerrten Abbil-
ken ---7 Regen). Diese natürlichen Zeichen sind für dern des Verstehens werden. Verzerrungen werden
Wolff zugleich auch notwendig, denn der Grund durch Wörter verursacht, welche >>uns den Ein-
(ratio) für seine Bedeutung (significatus) ist unmit- druck eines falschen Scheins geben<< (ebd.: 134),
telbar in den Begriffen enthalten, die wir von den und solche Eindrücke sind die Idole des Marktplat-
Dingen selbst haben (in ipsius rerum notionibus zes. Es gibt zwei Arten derartiger Idole, Wörter
continetur). nichtexistierender Dinge (>>als Ergebnis phantasti-
Im Gegensatz zu den natürlichen stehen die will- scher Suppositionen<< und verwirrende oder
kürlichen Zeichen, bei denen wir >>nach Gefallen schlecht definierte Wörter, die übereilt von den Din-
zwei Dinge miteinander an einen Ort bringen, die gen abgeleitet sind (Novum organon I, 43ff.).
sonst für sich nicht würden zusammen kommen<< Skepsis gegenüber den Idolen der Sprache und
(1720: §294). Hierzu zählen >>die Schilde der Hand- die Überzeugung, daß >>Gedanken nicht notwendi-
werker und Künstler, die besonderen Trachten für gerweise vermittels Wörter ausgedrückt werden
Personen von gewissem Stande<< (ebd.) und vor al- müssen<< (1605: 136-37) begründen Bacons Interes-
lem die Wörter. Beweis ihrer Arbitrarität ist z.B., se an Zeichensystemen, die anders als die Lautspra-
daß >>der Urheber des Universums<< auf Deutsch che und die alphabetische Schrift strukturiert sind.
>Gott< heißt, aber auf Lateinisch >Deus< und auf Pol- Er erörtert gestische Zeichensprachen und die
nisch >Bog< (1730: §§958-59). Willkürlichkeit der Schriftsysteme des Chinesischen sowie die ägypti-
Sprachzeichen ist danach als Fehlen ihrer Notwen- schen Hieroglyphen, wobei er die seinerzeit verbrei-
digkeit zu verstehen, denn die Verschiedenheit der tete Auffassung vertrat, daß diese Schriftsysteme
Sprachen beweist: >>Was nun anders sein kann, ist >>Dinge und Begriffe<< direkt, also rein ideogra-
nicht notwendig<< (1720: §296). Des weiteren ent- phisch und ohne die Vermittlung ihrer Lautung re-
wickelt Wolff den Gedanken von der Zusammen- präsentieren (Kretzmann 1967: 376).
setzung komplexer Zeichen aus elementaren Zei- Bacon unterschied zwischen ikonischen Zei-
chen (1730: §964). chen, deren Zeichenträger >>eine Ähnlichkeit oder
Kongruenz mit dem (bezeichneten) Begriff auf-
weist<<, und konventionellen Zeichen (ad placitum),
>>deren Wirkung nur auf einem Vertrag oder einer
angenommenen Vereinbarung beruht<< (1605: 139).
2. Britischer Empirismus und ihre Vorläufer In einem Kommentar über die Vielfalt der Zeichen
und die Kriterien für Zeichenhaftigkeit findet sich
Locke, Berkeley und Hume sind die wichtigsten Re- auch ein Gedanke, der an das Saussuresehe Prinzip
präsentanten des britischen Empirismus, aber die von der Differenzqualität des Zeichens (s. Il.2.3.4.2)
Hinwendung zu den Sinnesdaten der Empirie und erinnert: "Denn was immer hinlänglich differenziert
die Skepsis gegen scholastische Dogmen und ratio- werden kann, ist, sofern die Differenzen durch die
nalistische Introspektion begann bereits mit Bacon Sinne wahrnehmbar sind, von Natur aus fähig, Ge-
und Hobbes. David Hume (1711-1776) und Tho- danken zum Ausdruck zu bringen<< (ebd.: 137).
mas Reid (171 0-1796) sind zwei andere Philoso- Bacons Interesse an der Kryptographie seiner
phen dieser Epoche, in deren Schriften semiotische Zeit (s. VI. 7) führte ihn zur Entdeckung eines binär
Elemente zu finden sind (siehe in Sebeok, ed. 1986 kodierten Alphabets, das dem modernen Binärkode
und Clarke 1987). in seiner Struktur nahekommt (s. III.9.2.2). Er zeigte,
daß sich das lateinische Alphabet mir Hilfe von nur
zwei Elementen, a und b, und Zeichenkombinatio-
2.1 Bacon nen, bestehend aus fünf Elementen, darstellen läßt.
In den Schriften von Francis Bacon (1561-1626) Sein binäres Alphabet beginnt wie folgt: A=aaaaa,
finden sich vier Themen von besonderem semioti- B=aaaab, C=aaaba, D=aaabb (De augmentis scien-
schen Interesse: (1) Kritik und Skepsis gegenüber tiarum VI.l).
dem Zeichensystem der Alltagssprache, (2) die Viel-
falt der Zeichen neben den Wörtern der Sprache, (3)
der Binärkode und (4) die Idee einer Universalspra- 2.2 Hobbes
che (hierzu: s. VI. 7). Einige Untersuchungen zu die- Grundlagen der Semiotik von Thomas Hobbes
sen Themen bei Bacon sind Funke (1926), Ogden (1588-1679) sind seine empiristisch-mechanistische
(1934: 9-34), Eberlein (1961), Kretzmann (1967: Kognitionstheorie und seine Theorie vom Denken
375-76), Brekle (1975: 281-87), Dascal (1987) und als eine quasi-mathematische Operation. Zu den se-
Hüllen (1989). miotischen Aspekten von Hobbes' Philosophie sie-
Seine Skepsis gegenüber der Alltagssprache he Ogden (1934: 34-45), Verburg (1952: 234-53),
bringt Bacon (1605: 126) wie folgt auf den Punkt: Formigari (1970: 141-55), Hungerland & Vick
>>Wörter sind nur die geläufigen Merkzeichen von (1973), Land (1974: 130-135), Sebeok (ed. 1986:
volkstümlichen Begriffen für Dinge<<, und deshalb 315-17), Dascal (1987) und Isermann (1991).
1.4 Rationalismus und Empirismus 19
Semiotik bezeichnet, da er 1690 in seinem Essay nicht nur Zeichen für die eigenen mentalen Reprä-
Concerning Human Understanding als einer der er- sentationen sind, sondern auch für die Ideen anderer
sten die Lehre von den Zeichen als Semiotik Menschen stehen: Die Menschen >>setzen voraus, daß
(~flJ.lEtronKii) definierte (s. 1.1.1.3). Lackes Gedanken ihre Wörter auch Kennzeichen der Ideen im Geiste
zur Theorie der Zeichen waren in der Zeit der Aufklä- anderer sind, mit denen sie sich unterhalten. Denn
rung von außerordentlichem Einfluß, aber seine Beiträ- anderenfalls würden sie vergeblich reden, und man
ge zur Semiotik waren, wie Kretzmann (1967 : 379) be- könnte sie nicht verstehen« (1690: 3.2.4).
merkt, »weder im Prinzip völlig neu, noch waren sie Lackes Trennung der Zeichenphänomene in die
gründlich ausgearbeitet«. Auch ist Lockes Theorie der zwei Klassen der Ideen und der Wörter führt zu ei-
Zeichen insofern nicht eigentlich eine allgemeine Zei- ner der großen Aporien in der Geschichte der Se-
chentheorie, als sie nur von zwei Zeichenklassen han- miotik. Sie besteht nach Kretzmann (1976: 332,
delt, nämlich den Sprachzeichen (den Wörtern oder Na- 347) darin, daß Locke verkennt, >>daß Wörter selbst
men) und den Ideen (oder mentalen Repräsentationen; Ideen sind und die Bedeutung von Wörtern ein be-
s. IV.2.1). sonderer Fall der Verknüpfung von Ideen ist«. Der
Gedanke vom wesentlichen semiotischen Unter-
schied zwischen Ideen und Wörtern ist mit Grund-
prinzipien sowohl der Saussuresehen als auch der
Feireeschen Semiotik unvereinbar. Für Saussure
sind das Wort (als Signifikant) und die Idee (als
Konzept oder Signifikat) so untrennbar miteinander
verbunden wie die Vorder- und die Rückseite eines
Blattes Papier (s. II.2.3.1). Für Peirce sind das Wort
(als Repräsentamen) und die Idee (als Interpretant)
nichts anderes als zwei letztlich gleichartige Zei-
chen, die sich nur durch ihren Ort in der Kette der
Zeichen unterscheiden, die den Prozeß der unendli-
chen Semiose konstituiert (s. II.1.3 .1).
Die empiristischen Elemente in Lackes Semiotik
Abb. 1.4.6: John Locke (1632-1704) liegen in seiner Theorie der Ideen. Im Gegensatz zu
Descartes vertritt Locke die Auffassung, daß Ideen
Locke (1690: 4.21.4) nennt Zeichen >>großartige In- keineswegs angeboren sind, sondern ihre Quelle
strumente des Wissens << . Sowohl die Wortzeichen vielmehr in der Empirie der menschlichen Erfah-
als auch mentalen Zeichen, die Ideen, beziehen sich rung haben. Ideen sind >>alles, was der Geist als sol-
auf Dinge in der Welt, aber Lockes Zeichenmodell ches wahrnimmt oder was der unmittelbare Gegen-
ist nichtsdestoweniger für beide Zeichenklassen ein stand der Wahrnehmung, des Denkens oder des
dyadisches, denn Ideen sind Zeichen von den Din- Verstehens ist« (1690: 2.8.8). Als Wahrnehmungen
gen, die sie mental repräsentieren, während Wörter gelangen die Ideen in den bei Geburt noch leeren
Zeichen von Ideen sind (ebd.: 4.21.4): Das, was der Verstand des Menschen, und dort werden sie als
Mensch in der Welt wahrnimmt, ist noch nicht zei- Zeichen gewissermaßen wie auf einer >leeren Tafel<
chenhaft. Es ist für uns unmittelbar gegeben, denn (tabula rasa) eingeschrieben. Die Wahrnehmungen,
>>von den Dingen, welche der Geist betrachtet, ist- welche zu Ideen werden, können jedoch nicht nur
abgesehen von ihm selbst - keines dem Verstande ein Reflex äußerer Eindrücke sein, sondern auch
gegenwärtig« (ebd.). Da die Dinge aber als solche aus unserem eigenen Inneren stammen. Somit gibt
nicht im Geist präsent sein können, >>ist es notwen- es zwei Quellen für die Entstehung von Ideen. Die
dig, daß der Geist noch etwas anderes als ein Zei- einen heißen Empfindungen [sensations], und sie
chen oder Stellvertreter des Dinges, das er betrach- stammen von >> äußeren sinnlich wahrnehmbaren
tet, zur Verfügung hat, und das sind die Ideen« Gegenständen<<, die anderen sind die Reflexionen,
(ebd.). Während Ideen in diesem Sinne dyadische und diese betreffen die >>inneren Operationen des
Zeichen sind, deren Zeichenträger als einziges Kor- Geistes, so wie sie von uns wahrgenommen werden
relat die von ihnen repräsentierten Dinge haben, und wie wir über sie nachdenken« (1690: 2.1.2).
sind Wörter dyadische Zeichen, die sich ihrerseits Ganz im Einklang mit seiner empiristischen
auf Ideen beziehen und somit Zeichen von Zeichen, Grundeinstellung steht auch Lackes nominalisti-
also Metazeichen sind: >>Wörter stehen[ ...] nur für sche Auffassung in der Universalienfrage (s. III.4),
die Ideen im Geist dessen, der sie benutzt« (1690: die er nicht viel anders als Hobbes beantwortet:
3.2.2). Locke sieht allerdings auch, daß die Funktion >>Das Allgemeine und das Universale gehören nicht
von Sprachzeichen sich nicht nur darauf beschränken zur realen Existenz der Dinge. [... ]Die Dinge sind in
kann, die Dinge der Welt mental zu repräsentieren. ihrer Existenz sämtlich partikulär; selbst die Wörter
Auch Kommunikation muß mit Hilfe von Wörtern und Ideen, die ihrer Bedeutung nach allgemein
möglich sein. Sie wird möglich, weil Wörter letztlich sind« (1690: 3.3.11).
1.4 Rationalismus und Empirismus 21
eine völlig entwickelte Sprache basiert immer auf Eines der Themen von Diderot war die Frage
den arbiträren Zeichen, die wir als Instrumente auf nach dem spezifischen Unterschied zwischen
der Ebene der Erinnerung benutzen. Zwischen den sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen. Unter
natürlichen und den arbiträren Zeichen liegt auch anderem vertrat Diderot die Auffassung, daß die
die semiotische Schwelle zwischen den Zeichen der Sprache der Gesten nicht nur ausdrucksvoller, son-
Tiere und denen der Menschen. dern auch logischer sei als die gesprochene Sprache.
Condillac unterscheidet zwischen Sprache im ei- Der Grund sei die Linearität der Lautsprache, die
gentlichen Sinn und einer vorsprachliehen Phase des notwendigerweise zu einer Verzerrung der Realität
menschlichen Zeichenverhaltens, die er als Hand- führe. Diese These von der Überlegenheit von Ge-
lungssprache definierte (ebd.: 11.1.1). >>Diese Hand- stik und Mimik gegenüber der Lautsprache hatte ih-
lungssprache ist der Keim der [gesprochenen] Spra- re Begründung in der Mimesistheorie des 18. Jh.s,
che und aller zum Ausdruck unserer Ideen geeigneten wonach den ikonischen und natürlichen Zeichen im
Künste<< (ebd.: XV, §163): der Gestik, des Tanzes, Vergleich zu den arbiträren Zeichen eine höhere äs-
der Lautsprache, Deklamation, der Notationskunst, thetische Qualität zugesprochen wurde.
Pantomime, Musik, Poesie, Eloquenz und Schrift.
Die Fähigkeiten zu dieser Handlungssprache sind
dem Menschen angeboren. Condillac lehnte zwar 1.4 Die Ideologen
Descartes' These von den angeborenen Ideen ab, Gegen Ende des 18. Jh.s erreichte das philosophi-
glaubte aber, daß die Fähigkeit zur Handlungsspra- sche Interesse an der Natur der Zeichen einen Hö-
che eine angeborene sei und ihre Ausbildung die not- hepunkt in den Schriften der sogenannten Ideolo-
wendige Voraussetzung für die Sprachentwicklung gen. Die wichtigsten Vertreter dieser Schule, die
sei. Die Entwicklung der Sprache beschrieb Condil- >>die Erforschung des Ursprungs der Ideen<< zum
lac als einen Prozeß der Transformation zufälliger Ziel hatte (s. VI1.5.1), waren Pierre Cabanis (1759-
und natürlicher Zeichen in arbiträre Zeichen. 1808), Antoine Louis Claude Destutt de Tracy
(1754-1836) und Marie-Joseph Degerando (1772-
1842). Zu den semiotischen Aspekten bei den Ideo-
1.2 Maupertuis logen siehe Kretzmann (1967: 387-89), Rastier
Mit semiogenetischen Fragestellungen beschäftigte (1972a), Knowlson (1975), Dascal (1983), Busse &
sich auch Pierre Louis Moreau de Maupertuis Trabant (eds. 1986), Sebeok (ed. 1986: 332-34),
(1698-1759) (vgl. Kretzmann 1967: 384-85; Rey Schlieben-Lange (et al., eds. 1989-1994), Bernecker
1973: 146-153; Formigari 1976). In seinem Essai (1996) und Dräxler (1996).
sur l'origine des connaissances humaines (1746) 1795 beschloß das Pariser Institut National,
finden sich zwei Argumente von besonderem Inter- demjenigen einen Preis zu verleihen, der zum Thema
esse für die Geschichte der Semiotik. Das erste ist ei- >>der Einfluß der Zeichen auf die Denkfähigkeit<< die
ne gewissermaßen strukturalistische Erklärung der beste Schrift einreichen würde. Zu den Fragen, die in
Genese von Zeichen durch einen Prozeß der schritt- einer solchen Schrift beantwortet werden sollten, ge-
weisen Differenzierung von Wahrnehmungen (was hörten folgende: (1) Sind unsere ersten Ideen wesent-
an das Saussuresehe Differenzprinzip erinnert; s. lich von Zeichen abhängig? (2) Wäre die Kunst des
I1.2.3.4.2). Die zweite in die Zukunft weisende The- Denkens vollkommen, wenn die Zeichenkunst ver-
se Maupertuis' betrifft seine Interpretation der er- bessert werden könnte? Als Preisschrift wurde De-
sten sprachlichen Äußerungen des Kleinkinds als gerandos Des signes et de I'art de penser ausgewählt.
Äußerungen, deren Inhalt schon bei den ersten Ein- In seiner Beantwortung der gestellten Fragen vertrat
zelwörtern bereits einer ganzen Proposition ent- Degerando die Auffassung, daß Zeichen auf der
spricht, und nicht etwa nur einem einzelnen Wort, niedrigsten Stufe der Semioseprozesse noch nicht in
wie noch Locke und Condillac es sahen. Erscheinung träten, denn hier sei eine noch nicht zei-
chenhafte Aufmerksamkeit ausreichend, um Empfin-
dungen in Wahrnehmungen zu überführen. Empfin-
1.3 Diderot und die Enzyklopädisten dungen sind nach Degerando (1800: Bd. I: 62ff.)
Denis Diderot (1713-1784) entwickelte seine Auffas- noch keine eigentlichen Zeichen, aber Zeichen kon-
sung von der Natur der Zeichen in mehreren Artikeln stituieren sich aus Empfindungen in Verbindung mit
für die Encyclopedie (von 1751-80), in seinem Lettre bestimmten Funktionen. Ein Zeichen ist >>jede Emp-
sur /es aveugles (1749), in seinem Lettre sur /es findung, die in uns eine Idee als Folge einer Assozia-
sourds et muets (1751) und in seinen Schriften über tion zwischen der Empfindung und dieser Idee her-
Themen der Ästhetik, Malerei und Poesie. Zu semio- vorruft<< (vgl. Dascal 1983: 178). Beispiele für
tischen Aspekten im Werk von Diderot und anderer Empfindungen, die eine Zeichenfunktion erfüllen,
Enzyklopädisten siehe Auroux (1979); zu semioti- sind >>der Duft einer Rose als Zeichen der Idee der
schen Aspekten von Diderots Ästhetik siehe Walther Farbe und Form, welche dieser Duft hervorruft<<
(1974: 25-26), Todorov (1977), Droixhe (1983) und oder der Anblick eines Hauses, durch den wir an sei-
Fischer-Lichte (1983: 117-130). ne Bewohner erinnert werden. Kennzeichnend für
24 I. Geschichte der Semiotik
derartige präverbale Zeichen ist nach Degerando (1975), Nef (1976), Holenstein (1978b), Hubig
(1800: Bd. I, 62ff.), daß sie einerseits Ideen in uns (1979) und Schiewer (1995).
hervorrufen, während sie andererseits unsere Auf- Lambert entwarf seine Semiotik als einen von
merksamkeit auch auf das Zeichen selbst lenken. vier Zweigen einer allgemeinen Theorie des Wis-
Sprachliche Zeichen hingegen führen unsere Auf- sens, die er in der Schrift Neues Organon oder Ge-
merksamkeit weg von den Zeichen und hin zu den danken über die Erforschung und Bezeichnung des
Ideen, die sie beinhalten. Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrtum
In seinen Überlegungen zu den >präverbalen< und Schein (1764) zusammenfaßte. Die drei Zweige
Zeichen geht Degerando auch auf die Klasse der neben der Semiotik nannte er Dianoiologie (Lehre
nichtkommunikativen natürlichen Zeichen ein. Sie von den Gesetzen des Denkens), Alethiologie (Lehre
wenden sich ohne Intentionen eines Senders gewis- von der Wahrheit) und Phänomenologie (Lehre
sermaßen >stumm< an einen Empfänger und entste- vom Schein). Die Semiotik oder >>die Lehre von der
hen durch Ideenassoziationen, welche durch Ereig- Bezeichnung der Gedanken und Dinge<< sollte in
nisse in der natürlichen Umwelt verursacht werden. diesem Rahmen die Aufgabe haben, zu untersu-
Nach diesen und anderen Gesichtspunkten gelangt chen, >>was die Sprache und andere Zeichen für ei-
Degerando (ebd.: 64-67) zu einer Typologie der Zei- nen Einfluß in die Erkenntnis der Wahrheit haben,
chen. Sie umfaßt nach den primitiven präverbalen und wie sie dazu dienlich gemacht werden können<<
>>ersten Zeichen<< die indikativen Zeichen, die natür- (Lambert 1764: Vorrede). Symbolische Erkenntnis
lichen Zeichen, die arbiträren Zeichen, die analogen ist nach Lambert ein >>unentbehrliches Hilfsmittel
(ikonischen) Zeichen und die figurativen Zeichen. zum Denken<< (ebd.: §12). In der Erkenntnis durch
Zeichen sieht Lambert (§§6-7) den großen Vorteil,
daß sie die >>Wiederholung der Empfindungen<< er-
2. Aufklärung in Deutschland lauben. Unmittelbare Empfindungen durch die Sin-
ne beruhen dagegen nicht auf einer >>zeichenhaften
Im Zeitalter der Aufklärung in Deutschland findet Erkenntnis<<. Sie haben den Nachteil, nicht nach Be-
sich nach Wolff bei]. H. Lambert die erste umfassen- lieben wiederholbar zu sein (ebd.). Die Wiederho-
de Zeichentheorie, die den Namen Semiotik trägt. In lung von Empfindungen mittels Zeichen ist auch für
unmittelbarer Nachfolge von Leibniz, Wolff und die Gewinnung der Klarheit des Bewußtseins und
Lambert steht die Schrift Semiologische Versuche mit Denkens erforderlich, und ohne eine solche Wieder-
dem Ziel der Begründung einer allgemeinen Zeichen- holbarkeit bleiben die Begriffe notwendigerweise
theorie, die Johannes C. Hoffbauer 1789 in lateini- dunkel (§§6-11).
scher Sprache veröffentlichte (1991 ins Eng!. übers. Die am Erkenntnisprozeß beteiligten Zeichen
und hg. v. R. Innis). Bei Herder, der sich ansonsten sind (§§47-51): die natürlichen Zeichen, die will-
mehr zu anderen Themen im Umkreis von Sprache kürlichen Zeichen, die bloßen Nachahmungen und
und Kunst äußert, findet sich eine poetische Vision die Abbildungen. Bei den Nachahmungen gibt es
von einer zukünftigen Semiotik. In der Philosophie >>unzählige Stufen<< der Ähnlichkeit zur bezeichne-
von Kant geht es nur am Rande um die Theorie der ten Sache (§50). Kennzeichen der natürlichen Spra-
Zeichen. Verschiedene Themen der Semiotik dieser chen ist es, daß >>das Willkürliche, Natürliche und
Zeit wurden im Rahmen der sich neu konstituieren- Notwendige miteinander vermengt sind<< (§71).
den Hermeneutik und Ästhetik vertieft. Einen enzy- Lambert untersucht nicht weniger als neunzehn
klopädischen Überblick über die Theorie des Zei- Zeichensysteme, von den Noten in der Musik, den
chens in Deutschland zu dieser Zeit vermitteln die Gesten oder Hieroglyphen bis zu den Symbolen der
Artikel zu diesem Thema in J ohann Heinrich Zedlers Chemie, Astrologie, Heraldik und anderen sozialen
Großes vollständiges Universallexikon (Leipzig sowie natürlichen Zeichen, wobei die Themen sei-
1749, Bd. 61, S.545-650). Eine erste geschichtliche ner Erörterungen die Arbitrarität, Motiviertheit,
Darstellung der Semiotik dieser Zeit ist Roeder >>Notwendigkeit<<, Systematizität und die Zuverläs-
(1927; Reprint in Kodikas/Code 15.1 [1992]). Wei- sigkeit der Zeichen sind (§§25-48; vgl. Nef 1976:
tere Aspekte zur Zeichentheorie der deutschen Auf- 173). Einer der Unterschiede zwischen den diversen
klärung behandeln Haller (1959), Coseriu (1972), Zeichentypen liegt nach Lambert (§ §23-24) in ihrer
Walther (1974), das Themenheft der Zeitschrift für Nähe zum bezeichneten Gegenstand. Die größte
Semiotik 1.4 (1979) sowie Dräxler (1996: 34-61). Annäherung zur Realität der Dinge gibt es bei den
wissenschaftlichen Zeichen. Sie dienen nicht nur zur
Darstellung von Begriffen, sondern stellen auch
2.1 Lambert Relationen dar. Das Ideal einer wissenschaftlichen
Johann Heinrich Lambert (1728-1777) schrieb Semiotik ist verwirklicht, wenn >>die Theorie der Sache
1764 das erste Werk zur Zeichentheorie, das je mit und die Theorie ihrer Zeichen miteinander verwech-
dem Titel Semiotik erschien. Untersuchungen zu selt werden können<< (§23). Hintergrund dieser Ideal-
Lamberts Semiotik sind Söder (1964), Coseriu vorstellung von der Ikonizität wissenschaftlicher
(1972: 140-49), Brinkmann (1975), Jakobsan Zeichen ist das Leibnizsche Projekt einer characteri-
1.5 Aufklärung 25
stica universalis, eines wissenschaftlichen Zeichen- keit, Dasein, Notwendigkeit). Als reine Begriffe des
systems, dessen Strukturen mit den Tatsachen der Urteilsvermögens sind diese Kategorien für Kant die
Natur isomorph sein sollten (s. VI. 7). In Überein- apriorischen Werkzeuge des Verstandes, mit denen
stimmung mit den Idealen dieses Projekts fordert der Mensch die Welt wahrnimmt. Obwohl diese
Lambert, daß wissenschaftliche Zeichen ihre Grund- Kategorien unabhängig von ihrer Anwendung als
lage in einer semiotischen Theorie haben sollten, wel- Instrumente des Wahrnehmens und Urteilens keine
che die Arbitrarität der Zeichen aufbeben könne. Bedeutung oder gar Existenz haben, existieren sie
>>Zeichen sind vollkommener, wenn sie das Kennzei- dennoch unabhängig von jeglicher Erfahrung in un-
chen ihrer Bedeutung mit sich führen«, schreibt Lam- serem Verstand. Alsapriori und somit unmittelbar
bert (§58), »und deshalb muß die Theorie ersetzen, Gegebenes kann der Inhalt eines kategorialen Be-
was das Willkürliche der Zeichen zurückläßt<<. Das griffes nicht durch Zeichen vermittelt sein. Ricceur
Projekt zur Verwirklichung einer Universalgramma- (1975b: 882) gelangt deshalb zu dem Schluß, daß
tik solle auf diesen semiotischen Prinzipien basieren Kants Theorie von den apriorischen Urteilen ein
(§71). Dabei solle es darum gehen, »das Natürliche höchst einflußreiches Modell zur Erklärung von Be-
und Notwendige in der Sprache zum Gegenstande deutung ist, die ohne Vermittlung durch Zeichen
[zu] nehmen, und das Willkürliche, so viel immer konzipiert ist.
möglich ist, teils wegschaffen, teils mit dem Natürli- Zum menschlichen Zeichengebrauch äußert
chen und Notwendigen in engere Verbindung set- sich Kant in §35 seinem Werk Anthropologie in
zen« (§71). Klarheit des Denkens ist also nach der Se- pragmatischer Hinsicht von 1798 unter der Über-
miotik der Aufklärung mit dem Prinzip der Ikonizität schrift »Von dem Bezeichnungsvermögen (facultas
verbunden. Die Arbitrarität der Zeichen steht diesem signatrix)«. Als Bezeichnungsvermögen definiert
Ideal entgegen. Kant dort »das Vermögen der Erkenntnis des Ge-
genwärtigen, als Mittel der Verknüpfung der Vor-
stellung des Vorhergesehenen mit der des Vergange-
2.2 Kant nen«. Des weiteren schreibt Kant: »Die H andlung
Zur Frage nach den semiotischen Elementen in der des Gemüts, diese Verknüpfung zu bewirken, ist die
Philosophie von Immanuel Kant (1724-1804) gibt Bezeichnung (signatio).«
es unterschiedliche Meinungen. Im Kontext der Se- Kant unterscheidet zwischen Symbolen und
miotik der Sprache spricht Mauro (1969: 62-69) Zeichen (die er auch Charaktere nennt): »Anschau-
von Kants »großem Schweigen«. Andere Autoren ungen, so fern sie nur zu Mitteln der Vorstellung
sehen bei Kant durchaus Themen von semiotischer durch Begriffe dienen, sind Symbole. [... ) Charakte-
Relevanz (Rey 1973: 175; Walther 1974: 30-31; re sind noch nicht Symbole; denn sie können auch
Nolan 1979; Aquila 1983; Oehler, ed. 1984: 335- bloß mittelbare (indirekte) Zeichen sein, die an sich
59; Sebeok, ed. 1986: 415-17; Sirnon 1989: 139- nichts bedeuten, sondern nur durch Beigesellung
152; Kelemen 1991). auf Anschauungen und durch diese auf Begriffe füh-
ren« (ebd.). Zeichen dagegen sind das Mittel der
»diskursiven« Erkenntnis, in welcher »das Zeichen
(character) den Begriff nur als Wächter (custos) be-
gleitet, um ihn gelegentlich zu reproduzieren «, wäh-
rend Symbole »bloß Mittel des Verstandes, aber nur
indirekt, durch eine Analogie« sind (ebd. §35).
Zum Symbolbegriff Kants siehe ferner Janke (1968:
168-176).
Schließlich entwickelt Kant auch eine Typologie
der Zeichen, die neben den willkürlichen und natür-
lichen Zeichen als dritte Klasse die »Wunderzei-
chen « umfaßt (ebd.: §36). Natürliche Zeichen sind
danach entweder demonstrativ, rememorativ oder
prognostisch, indem sie Gegenwärtiges, Vergauge-
nes oder Zukünftiges bezeichnen.
Abb.l.5.2 : lmmanuel Kant (1724·1804) Um Zeichen und Symbole geht es auch in §59
von Kants Kritik der Urteilskraft von 1790. Dort
In seiner Kritik der reinen Vernunft (1.2.1.13) von heißt es: »Die Realität unserer Begriffe darzutun
1781 gelangt Kant zu dem Ergebnis, daß es zwölf werden immer Anschauungen erfordert. Sind es em-
Kategorien des menschlichen Urteilsvermögens pirische Begriffe, so heißen die letzteren Beispiele.
gibt, die sich in vier Klassen gliedern: I. Quantität Sind jene reine Verstandesbegriffe, so werden die
(Einheit, Vielheit, Allheit), II. Qualität (Realität, letzteren Sehemate genannt.« Kant unterscheidet
Negation, Limitation), III. Relation (Inhärenz, Kau- dabei zwischen Schemata und Symbolen als Formen
salität, Gemeinschaft) und IV. Modalität (Möglich- der versinnlichenden Darstellung. Schemata sind für
26 I. Geschichte der Semiotik
ihn direkte (»demonstrative<<), und Symbole sind sprung der Sprache und des Zeichengebrauchs, an
indirekte (>>analoge<<) Darstellungen von Begriffen: der sich u.a. Peter Süßmilch (1707-1767), Dietrich
Schematisch wird »einem Begriffe, den der Verstand Tiedemann (1748-1803) und Herder beteiligten.
faßt, die korrespondierende Anschauung a priori
gegeben<<. Ein Symbol hingegen ist ein Begriff, »den
nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche
Anschauung angemessen sein kann <<, so daß eine
solche unterlegt wird. Diesen beiden Formen der
Darstellung stellt Kant die »bloßen Charakteris-
men<< als Kategorie der rein arbiträren Zeichen ge-
genüber, »d.i. Bezeichnungen der Begriffe durch be-
gleitende sinnliche Zeichen, die gar nichts zu der
Anschauung des Objekts Gehöriges enthalten, son-
dern nur jenen, nach dem Gesetze der Assoziation
der Einbildungskraft, mithin in subjektiver Absicht,
zum Mittel der Reproduktion dienen << . Zu den Cha-
rakterismen zählt Kant »Worte oder sichtbare (al-
gebraische, selbst mimische) Zeichen als bloße Aus-
drücke für Begriffe<< (ebd.). Abb.l.5.3: Herder (1744-1803)
Von Kant stammt schließlich auch die Unter-
scheidung zwischen analytischen und synthetischen Auch bei Johann Gottfried Herder (1744-1803),
Urteilen: Analytisch ist ein Satz, bei dem die Bedeu- der sich in erster Linie zu Fragen der Poetik, Ästhe-
tung des Prädikates bereits in derjenigen des Subjek- tik und Sprachphilosophie geäußert hat, finden sich
tes (oder Arguments} enthalten ist, z.B. wie in >Alle einige Gedanken zur Semiotik (vgl. Schmidt 1968:
Dreiecke haben drei Ecken<. Analytische Urteile 36-65; Schiewer 1995). Herder entwarf eine Kritik
sind eigentlich tautologisch. Zumindest können sie der Zeichen und eine Theorie von den Grenzen der
nichts Neues über das Argument beinhalten. Syn- menschlichen Erkenntnis durch Zeichen. Er be-
thetische Urteile (Erweiterungsurteile) hingegen klagt, daß die menschliche Erkenntnis nur die Zei-
vermitteln uns neues Wissen über das Argument. chen, aber nicht die bezeichneten Dinge erkennen
Das Prädikat ist nicht schon dem Argument inhä- könne: »Keine menschliche Vernunft also erkennt
rent. Es erweitert die Erkenntnis. Einige Beispiele Sachen, sondern sie hat nur Merkmale von ihnen<<
für synthetische Urteile sind die Sätze >Einige Kör- (Herder 1784: 358). Wir kennen nur die »äußeren
per sind schwer< oder >Grünes Licht heißt >Freie Merkmale, die das Innere der Existenz keines einzi-
Fahrt<. gen Dinges berühren, weil[... ] wir [dafür] durchaus
kein Organ haben << (ebd.).- »Keine Sprache druckt
Sachen aus, sondern nur Namen<< (ebd.), und »un-
2.3 Herder im Kontext der Semiotik des 18. Jh.s sere arme Vernunft ist also nur eine bezeichnende
Nach Lambert nahm im Zeitalter der Aufklärung in Rechnerin<<. Sie rechnet mit »ganz unwesentlichen
Deutschland das Interesse an der Allgemeinen Zei- Lauten,[ ...] mit Rechenpfennigen, mit Schällen und
chentheorie deutlich ab. Für die Geschichte der Se- Ziffern << (ebd.: 359).
miotik wurden aus dieser Zeit einige speziellere se- Herder (1768: 91-95) erörtert auch Lamberts
miotische Themen interessant, die damals im Idee einer »Semiotik a priori«, das Projekt einer phi-
Rahmen der Hermeneutik und Ästhetik diskutiert losophisch vollkommenen Universalsprache, und
wurden (s. 2.4-2.5). Verschiedene Beiträge zur Se- charakterisiert diese im Gegensatz zur poetischen
miotik finden sich in dieser Zeit auch bei einigen Sprache als ein Zeichensystem ohne jegliche Redun-
weniger bekannten Denkern. Roeder (1927), Ver- danzen: »Hier ist alles, was zu viel oder zu wenig
burg (1952), Haller (1959), Walther (1974) und sagt, [...]ein Fehler. Jeder deutliche Begriff habe hier
Eschbach (1986) weisen auf semiotische Elemente also nur einen Ausdruck; hätte er mehr, so wären sie
in den Werken der folgenden Autoren hin: Her- überflüssig, unnütz oder schädlich<<(ebd.: 92).
mann Samuel Reimarus (1694-1 768), Johann An- Herder hatte folgende eigene Vision von der Zu-
dreas Segner (1704-1777), der Wolffianer Georg kunft der Semiotik:
Bernhard Bitfinger (1693-1 750), Hegels Lehrer
Gottfried Plouequet (171 6-1 790), der Mathemati- Es gibt eine Symbolik, die allen Menschen ge-
ker und Logiker Leonard Euler (1707-1783), der mein ist - eine große Schatzkammer, in welcher
Theologe und Pansemiotiker Johann Georg Hamann die Kenntnisse aufbewahrt liegen, die dem gan-
(1730-1788) (Weiß 1990), Georg Jonathan zen Menschengeschlechte gehören. Der wahre
H olland (1742-1784) und Salomon Maimon Sprachweise, den ich aber noch nicht kenne, hat
(1753-1800). Ebenso wie in Frankreich begann zu dieser dunklen Kammer den Schlüssel: er
auch in Deutschland eine Debatte über den Ur- wird sie, wenn er kommt, entsiegeln, Licht in sie
1.5 Aufklärung 27
bringen, und uns ihre Schätze zeigen. - Das wür- natürliches Zeichen [ist] eine Wirkung Gottes und
de die Semiotik sein, die wir jetzt bloß dem Na- in Absicht auf Gott ein willkürliches Zeichen, und
men nach in den Registern unserer Philosophi- also eine Folge der weisesten Wahl des besten Wil-
schen Enzyklopädien finden: eine Entzifferung lens<< (§38).
der menschlichen Seele aus ihrer Sprache. (Her-
der 1768: 13 ).
2.5 Semiotische Ästhetik
Die Entwicklung der Ästhetik in der deutschen Auf-
2.4 Semiotische Hermeneutik klärung ist eng verbunden mit den Schriften von
Die Theorie der Zeichen fand bei der Neuorientie- Alexander Baumgarten (1714-1762), Gotthold
rung der Hermeneutik und bei der Entstehung der Ephraim Lessing (1729-1781) und Moses Mendels-
Ästhetik im 18. Jh. eine große Beachtung. son (1729-1786). Eine Untersuchung der Semiotik
Bedeutsam für die Hermeneutik der Aufklärung und Ästhetik dieser drei Zeitgenossen findet sich bei
war Georg Friedrich Meiers (1718-1777) Versuch Wellbery (1984). Baumgarten war der eigentliche
einer allgemeinen Auslegungskunst von 1756 (vgl. Begründer der Ästhetik überhaupt (s. VIII.1.1.1).
Szondi 1975: 98-134; Bühler & Madonna 1996). Semiotik ist für ihn einer von drei Zweigen der Äs-
Sie beginnt mit einer Untersuchung über die Natur thetik, neben der Heuristik und Methodologie.
der Zeichen im allgemeinen: »Ein Zeichen (signum, Baumgarten unterscheidet zwischen einer logischen
character) ist ein Mittel, wodurch die Wirklichkeit Semiotik (im Sinne von Leibniz und Wolff) und ei-
eines anderen Dinges erkannt werden kann. [... ] ner (in der Tradition von Rhetorik und Poetik ste-
Das Zeichen ist der Erkenntnisgrund der bezeichne- henden) ästhetischen Semiotik >>als Instrument zur
ten Sache<< (§7). Meier unterscheidet im einzelnen Erfindung und Auslegung von Zeichen, insoweit sie
die natürlichen (§35-83) und die arbiträren Zeichen Ausdruck sensitiver Erkenntnis sind<< (Franke
(§§84-102), ehe er sich den Prinzipien der Interpre- 1979: 348). - Zu Lessings Gedanken vom Unter-
tation zuwendet (§§103-248). schied zwischen den Zeichen in der Literatur und
Im Gegensatz zu Johann Martin Chiadenins Malerei s. VIII.6.2.1.1; zu Mendelssons Ästhetik
(1710-1759), der zuvor ein bedeutendes Werk zur siehe auch Franke (1979). Eine weniger bekannte
Hermeneutik geschrieben hatte (vgl. Fischer-Lichte Ästhetik auf semiotischen Grundlagen in dieser Zeit
1980), betont Meier die Rolle der natürlichen Zei- erschien 1785 von Philip Gäng (vgl. Eschbach
chen für die Interpretation. Natürliche Zeichen er- 1980: 45). Ein weiteres wichtiges Werk zur semioti-
klärt er aus Beziehungen der Kausalität (§68): Jede schen Ästhetik des 18. Jh.s sind die Ideen zu einer
Ursache bezeichnet eine Wirkung und jede Wirkung Mimik (1785) vonJohannJakob Engel (1741-1802).
eine Ursache, wobei Meier auch die kausal beding- Dieses Werk ist von ebenso großer Bedeutung für
ten natürlichen Zeichen als ikonische Zeichen inter- die Geschichte der Theatersemiotik (Fischer-Lichte
pretiert, denn: »Eine jedwede Ursache ist der verur- 1983b: 156-76) wie für die Geschichte der nonver-
sachten Sache ähnlich und gleich<< (§80). balen Kommunikation (s. V.4). Zur Semiotik der
Meiers Sicht von der zu interpretierenden Welt Musik und in der Malerei im 18. Jh. siehe Jensen
ist eine pansemiotische: >>In dieser Welt ist<<, (1997).
schreibt Meier (§35), >>weil sie die beste ist, der al- Beherrschendes Thema in der Ästhetik des 18.
lergrößte allgemeine bezeichnende Zusammenhang, Jh.s ist die Frage nach der Natur der Zeichen, die
der in einer Welt möglich ist. Folglich kann ein jed- dem Ideal des Schönen in der Kunst entsprechen.
weder wirklicher Teil in dieser Welt ein unmittel- Lessing hält das Prinzip der Ikonizität für das wich-
bares oder mittelbares, entfernteres oder näheres tigste Bestimmungskriterium des Ästhetischen. Äs-
natürliches Zeichen eines jedweden anderen wirkli- thetische Vollkommenheit setzt nach seiner Mei-
chen Teils der Welt sein.<< Derartige Auffassungen nung die Überwindung der Arbitrarität der Zeichen
von der semiotischen Kohärenz des Universums voraus (s. VIII.6.2.1.1). Zeichen, die das Bezeichne-
weisen sowohl in Richtung der mittelalterlichen te wie in der Malerei durch das Prinzip der Ähnlich-
Hermeneutik als auch in Richtung der pansemioti- keit darstellen, entsprechen dem ästhetischen Ideal
schen Ideen der Romantik, etwa bei Novalis (s. der Zeit. Lessing betrachtet sie nicht nur als abbil-
1.6.1). Zugleich greift sie auch ein rationalistisches dende, sondern zugleich auch als natürliche Zei-
Moment auf, nämlich die Leibnizsche Idee von die- chen. Auch in der Literatur besteht die Aufgabe des
ser Welt als der besten aller möglichen. Auch für Dichters darin, das Material der an sich arbiträren
Meier haben die natürlichen Zeichen, als welche Sprachzeichen in natürlichen (und ikonischen) Zei-
sich die Phänomene unserer Welt darstellen, ihren chen zu transformieren. Ein Vorläufer dieser Idee
Ursprung in einer göttlichen Instanz. Dadurch, daß von der Ikonizität der Künste ist Vico (s. 3.).
die Phänomene dieser Welt das Ergebnis der weisen Eine andere Erklärung der ästhetischen Zeichen
Entscheidung des Allmächtigen sind, haben sie aber findet sich bei Kant. Nach seiner Theorie des Schö-
nicht nur den Charakter eines natürlichen, sondern nen in der Kunst entspricht nicht das abbildende,
auch den eines arbiträren Zeichens, denn >>jedwedes sondern das auf sich selbst verweisende (autotelische
28 I. Geschichte der Semiotik
in der anthropomorphen Form mythischer Helden. und wörtlich zu verstehen. Diese neue Form des Zei-
Die Bedeutung von >Tapferkeit< wurde z.B. durch chengebrauchs bedeutet zugleich den Niedergang der
die Gestalt des mythischen Helden Achilles verkör- Poesie und der Imagination. Es wäre jedoch falsch
pert (§934). Sowohl das göttliche als auch das he- anzunehmen, daß nur dieses rationale Zeitalter dem
roische Zeitalter waren Epochen der poetischen Menschen den Zugang zur Wahrheit ermögliche.
Weisheit. Die Menschen dieser Zeit waren genuine Vielmehr meint Vico, daß die antike Mythologie kei-
Dichter. In der Poesie, den Metaphern und den My- ne bloße Fiktion oder Verzerrung der Realität, son-
then der heutigen Zeit manifestieren sich somit nach dern ein früher poetischer Ausdruck menschlicher
Vico archaische Formen des Denkens. Weisheit sei (§352). Die Folgerung daraus ist, >>daß
Das dritte Zeitalter, das Zeitalter der Menschen, die erste Wissenschaft, die zu entwickeln ist, die My-
ist das Zeitalter der Vernunft und der Zivilisation. thologie ist[ ... ], denn die Geschichte aller Heiden hat
Die Zeichen sind in dieser Epoche arbiträr, abstrakt mythische Anfänge<< (§51).
30 I. Geschichte der Semiotik
gilt die zeichenhafte, mit einer >>selbständigen Vorstel- Theorie von der inneren Form einer Sprache und ih-
lung« verbundene Anschauung »nicht als positiv und rem Einfluß auf das Denken ihrer Sprecher antizi-
in sich selbst, sondern als etwas anderes vorstellend" piert Humboldt Gedanken, die sich später in der von
(ebd.). Auf Grund einer solchen Differenz zwischen Sapir und Whorf vertretenen These von der sprachli-
der bezeichnenden Anschauung und der >>selbständi- chen Relativität wiederfinden (vgl. Brown 1967;
gen Vorstellung« oder Bedeutung >> ist das Zeichen Lepschy, ed. 1992: 114-118). (3) Humboldt unter-
vom Symbol verschieden, einer Anschauung, deren ei- scheidet zwischen Form und Materie in der Sprache
gene Bestimmtheit ihrem Wesen und Begriffe nach in einer Weise, die später bei Hjelmslev ähnlich in der
mehr oder weniger der Inhalt ist, den sie als Symbol Unterscheidung zwischen Form und Substanz neu
ausdrückt; beim Zeichen als solchen hingegen geht der aufgegriffen wird (Coseriu 1975: 157ff.). (4) Zu-
eigene Inhalt der Anschauung, und der, dessen Zei- kunftsweisend ist auch Humboldts ganzheitliche
chen sie ist, einander nichts an. Als bezeichnend be- Auffassung vom Primat des Textes im Vergleich zu
weist daher die Intelligenz eine freiere Willkür und dessen Elementen. Er betont, daß nicht der Text aus
Herrschaft im Gebrauch der Anschauung, denn als Wörtern entsteht, sondern vielmehr >>die Wörter aus
symbolisierend« (ebd. sowie III.10.3.1.1 zu Hegels der Totalität des Diskurses hervorgehen" (vgl. Kretz-
Zeichen- und Symboldefinitionen). mann 1967: 392). (5) Humboldt thematisiert sowohl
Auch die Hegeische Ästhetik enthält an mehre- den Aspekt der Arbitrarität (und kulturellen Ver-
ren Stellen zeichentheoretische Gedanken zum We- schiedenheit) der Sprachen als auch ihre ikonischen
. ........
sen der Kunst. Hege! vertritt die Auffassung, daß Elemente (Trabant 1986: 81-90).
das spezifisch Ästhetische weder in der Wahrneh-
mung eines unmittelbar gegebenen Zeichenphäno-
mens, noch im Bewußtsein von der Differenz zwi- -·.,~·"·•.,., ' ........~
schen Bezeichnendem und Bezeichnetem liegt, wie .
'I ·.
,...
dies sonst für Zeichen bestimmend ist: >> Bei einem
-, ..
,
Kunstwerke fangen wir bei dem an, was sich uns
unmittelbar präsentiert, und fragen dann erst, was
daran die Bedeutung oder Inhalt sei. Jenes Äußerli-
\'fii i
che gilt uns nicht unmittelbar, sondern wir nehmen ~
dahinter noch ein Inneres, eine Bedeutung an, durch
welche die Außenerscheinung begeistet wird<< (He-
gell817: I. Ein!. II.l).
Das Kunstwerk ist somit für Hege! kein autono-
mes oder gar selbstreferentielles (ein sich >>unmittelbar
präsentierendes«) Zeichen, sondern es ist ein Zei-
chen, dessen >>äußerer « Zeichenträger eine >> innere« Abb.l.6.2: Wilhelm von Humboldt (1767-1835)
Bedeutung zum Inhalt hat. Zwischen beiden Seiten
des ästhetischen Zeichens sieht Hege! jedoch eine Trotz der vielen Beiträge Humboldts zur Semiotik
Beziehung der Korrespondenz oder gar Ikonizitä t, der Sprache spricht Trabant (1983, 1986: 80) von
denn >>das Innere scheint im Äußeren und gibt einer antisemiotischen Sprachauffassung Hum-
durch dasselbe sich zu erkennen, indem das Äußere boldts. Der Grund für diese Interpretation ist aller-
von sich hinweg auf das Innere hinweist« (ebd.). dings eher terminologischer Art. Humboldt sieht
nämlich einen wesentlichen Unterschied nicht nur
zwischen Wörtern und Zeichen, sondern auch zwi-
schen Wörtern, Zeichen und Symbolen (Trabant
3. Wilhelm von Humboldt (1767-1835) 1986: 72-74; Scharf 1994: 178-192). Zeichen sind
für ihn Werkzeuge, mit denen auf etwas verwiesen
Humboldt war in erster Linie Sprachwissenschaftler werden kann, das unabhängig von diesem Zeichen
(vgl. Arens 1969; Coseriu 1970: 184-88; Gipper & existiert. Bei Wörtern hingegen ist dies anders, denn,
Schmitter 1975: 532-68; Conte 1976; Scharf 1994), da Sprache und Denken untrennbar miteinander
aber einige Elemente seiner Sprachtheorie sind auch verbunden sind, besteht auch der sprachliche Zei-
aus der Sicht der Allgemeinen Semiotik von Interesse: chenträger, das Wort, nur durch seine Verbindung
(1) Humboldt definiert die Sprache nicht als statisches mit seiner Bedeutung. Anders als Trabant interpre-
erstarrtes Produkt (ergon), sondern als eine dynami- tiert Schmitter (1985, 1986, 1987a) Humboldts
sche, prozessmale Aktivität der sprachlich handeln- Auffassungen von der Sprache nicht als asemio-
den Menschen (energeia). (2) Er hebt die Unterschie- tisch, sondern als transsemiotisch. Mit diesem Be-
de in der inneren Form der verschiedenen Sprachen griff will Schmitter zum Ausdruck bringen, daß
der Welt hervor und vertritt die Auffassung, daß Humboldt die Sprache zwar einerseits als zeichen-
jede dieser Sprachen auch ein das Denken formendes haft begreift, sie andererseits aber als etwas das Zei-
Organ ist (vgl. Schmidt 1968: 66-79). Mit dieser chenhafte Transzendierendes definiert.
32 I. Geschichte der Semiotik
sichtspunkten. U.a. differenziert er zwischen allge- tologie sind nach Eschbach (1978: 26-27) die Rolle
mein und nur für einzelne Menschen gültigen Zeichen. des Kontextes und des Zeichensystems für die Inter-
Natürliche Zeichen sind allen Menschen gemein; zu- pretation der Einzelzeichen, die Bestimmung von
fällige Zeichen sind solche, die nicht universell an- Sprache als Erkenntnis- und als Kommunikations-
wendbar sind; willkürliche Zeichen sind zufällige mittel sowie die explizite Berücksichtigung des Zei-
Zeichen, bei denen Gegenstand und Vorstellung >>mit chenbenutzers im Prozeß der Zeicheninterpretation.
Wissen und Willen<< verknüpft sind(§ 285.1). Alexander Bryan ]ohnson (1786-1867), der er-
Zeichen sind ferner einzeln oder zusammenge- ste amerikanische Sprachphilosoph, schrieb zwi-
setzt, eindeutig oder mehrdeutig, ursprünglich oder schen 1828 und 1854 einen Traktat über Sprache,
abgeleitet, bestimmt und deutlich oder unbestimmt. der in den 1940er Jahren eine zweite Auflage erfuhr,
Sie werden in ihrer eigentlichen oder uneigentlichen wohl weil er teilweise semiotische Positionen der lo-
Bedeutung verwendet, im letzteren Fall entweder gischen Positivisten antizipierte. Bedeutung setzt
metonymisch oder bildlich, figürlich bzw. metapho- Johnson mit dem visuell, akustisch, taktil o.a. mani-
risch. Zeichen evozieren nicht nur Vorstellungen, festierten Phänomenen gleich, auf welches sich ein
sondern auch Nebenvorstellungen, die vorteilhaft Wort bezieht. Somit gelangt er zu einer Identifikati-
oder schädlich sein können, und danach gibt es rei- on von Bedeutung und Bezeichnung, die ihn, so
ne und unreine Zeichen(§ 285.1-9). Kretzmann (1967: 393), zu dem >>verheerenden
Trotz seiner der Praxis entzogenen Zeichenon- Trugschluß<< veranlaßte, das Bedeutungsvolle als
tologie war Bolzano (§§ 334-344) sehr an der Pra- das Wahre und das Bedeutungsleere als das Falsche
xis des Zeichengebrauchs interessiert, und er ent- zu betrachten.
wickelte eine Art Didaktik des Zeichengebrauchs, ]ohn Stuart Mill (1806-1873) hat vor allem
die aus einer Liste von Eigenschaften, die ein >>zum durch seine Bestimmung der Dichotomie von der
Behufe des eigenen Nachdenkens taugliches Zei- Denotation und der Konnotation Bedeutung für die
chen<< haben soll. Ein Zeichen soll z.B. ein sinn- Geschichte der Semiotik (Kretzmann 1967: 393-95;
licher Gegenstand sein, leicht und überall darstell- Sebeok, ed. 1986: 551-52). Im Buch 1 seines System
bar und produzierbar sein und keine >>schädlichen of Logic von 1843 definiert er die Denotation eines
Nebenvorstellungen << evozieren. Bolzanos >> Emp- Namens als die Dinge, auf welche sich ein Wort be-
fehlungen<< zur Pragmatik der Zeichen erstrecken zieht, und die Konnotation als die Attribute jener
sich ferner auch auf die Beständigkeit und Deut- Dinge. Die Denotation entspricht also in etwa der
lichkeit der Zeichen. U.a. sollen die Zeichen di- Bezeichnung oder der Extension eines Sprachzei-
stinkt sein: >>Verschiedene Vorstellungen sollen chens, während die Konnotation die Bedeutung im
nicht durch Zeichen, die allzu ähnlich sind, ausge- Sinne einer Definition des Sprachzeichens ist. Da-
drückt werden<< (§ 342). Schließlich formuliert nach haben z.B. Eigennamen nur eine Denotation
Bolzano auch 13 >>Regeln für die Erfindung und und keine Konnotation.
den Gebrauch der Zeichen<<(§ 344) mit Ratschlä- Gottlob Frege (1848-1925) trug als Philosoph
gen für die Vermeidung von Fehlern beim Zeichen- und Mathematiker zur Klärung von Grundfragen
gebrauch. der Semiotik bei (Holenstein 1983; Grodziflski
1991; Keller 1995: 43-57; Stekeler-Weithofer
1998). 1879 entwikkelte er in seiner Begriffsschrift,
5. Semiotische Sprachphilosophie mit der er eine >>Sprache des reinen Denkens nach
des 19. Jh.s dem Vorbild der Arithmetik<< anstrebte, die Grund-
lagen der modernen Formalen Logik.- Wesentlich
Die Logik und Sprachphilosophie des 19. Jh.s ist für die Geschichte der Semiotik ist Freges Aufsatz
unter einer Reihe von Gesichtspunkten auch für die >>Über Sinn und Bedeutung<< (1892). Hier definiert
Geschichte der Semiotik von Interesse. Nur einige er die Bedeutung eines Wortes als den Gegenstand,
der semiotischen Sprachphilosophen des 19. Jh.s auf den sich ein Name bezieht (auf den er >hindeu-
können hier stichpunktartig Erwähnung finden. tet<) und den Sinn als die subjekt- und zeitvariante
]eremy Bentham (1748-1832) entwickelte unter Vorstellung, die mit diesem Namen verbunden ist
dem Einfluß von Locke und den französischen Ideo- (s. ausführlicher III.5.2, auch zur Terminologie).
logen einige Gedanken zur Semiotik der Sprache, Der Wahrheitswert eines Satzes ist nach Frege allein
die bei Kretzmann (1967: 391-92) zusammenfas- nach Maßgabe seiner Bedeutung (in heutiger Termi-
send dargestellt sind. nologie: Referenz) zu überprüfen und nicht nach
Benjamin Humphrey Smart (1786-1872) veröf- seinem Sinn. Zur Nachwirkung dieser Unterschei-
fentlichte 1831 und 1839 unter dem Titel Abriß der dung Freges in der weiteren Geschichte der Semiotik
Sematologie eine semiotische Sprachtheorie. An- und zu ihrer Kritik aus der Sicht einer postmoder-
knüpfend an Locke bestimmt er dort die Sematolo- nen Semiotik siehe Ruthrof (1997: 59-75).
gie als die Wissenschaft der Zeichen und nennt die Einige weitere Beiträge zur Geschichte der Semio-
Grammatik, die Logik und die Rhetorik als ihre drei tik im Kontext der Allgemeinen Philosophie und der
Teilgebiete. Thematische Schwerpunkte dieser Sema- Sprachphilosophie dieses Jahrhunderts erörtern Kie-
34 I. Geschichte der Semiotik
sow (1998) und Scheffczyk (1998). Ergänzend sei richtet. Die Konzeption des erkennenden >>Ichs<< als
noch auf den weniger bekannten Ernst Sehröder ein >>Individuum<< nennt er eine >>perspektivische Illu-
(1841-1902) hingewiesen, dessen Schrift >>Über das sion<<. Das Ich konstituiert sich nicht als eine Einheit,
Zeichen<< im Jahr 1890 in Karlsruhe erschien. sondern es zeigt sich in >>ungeheurer Vielfachheit<<,
und ebenso wie das Ich ein >>werdendes<< ist, ist auch
die Welt eine >>werdende<<. Eine >>werdende Welt<<
6. Semiotische Sprach- und Kultur- kann aber >>im strengen Sinn nicht >begriffen<, nicht
wissenschaft >erkannt< werden<<, denn sie bestehe »aus lauter
Scheinbarkeiten<< (Wille zur Macht [WM] §§ 518-
Unter den Sprachwissenschaftlern des 19. Jh.s sind 20). Nach diesen Prämissen entwickelt Nietzsche eine
neben Humboldt (s. 3.) aus semiotischer Sicht noch ·radikale Zeichen- und Sprachkritik: »Wir glauben an
Dwight Whitney (1827-1894) und Michel Breal die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grau-
(1832-1915) besonders zu erwähnen (Bailey 1978; en Begriffe, die Sprache ist auf die allernaivsten Vor-
Aarsleff 1982: 382-98; Sebeok, ed. 1986). Whitney urteile hin gebaut. [... ] Das vernünftige Denken ist
war für Saussures Auffassung von der Arbitrarität ein Interpretieren nach einem Schema, welches wir
der Zeichen von Einfluß, und Breal konzipierte eine nicht abwerfen können« (WM § 522). Durch Den-
Bedeutungswissenschaft ( >>science des significati- ken in Kategorien der Logik und mittels der Redukti-
ons<<), in der Gedanken über das Zeichensystem on der Welt auf mathematische Formeln wird »nie-
Sprache thematisiert sind, die dann unmittelbar nach mals etwas begriffen, wohl aber etwas bezeichnet,
Breal von Saussure weiterentwickelt wurden. Dem verzeichnet<< (WM § 554).
Essai de semantique von Breal (1897) verdankt zwar Nicht nur in der Logik und beim rationalen
die linguistische Semantik ihren Namen, aber dieses Sprachgebrauch sind wir nach Nietzsche wie in ei-
Werk entwickelt noch keine eigentliche Semantik im nem Netz von Zeichen gefangen, sondern vielmehr
heutigen Sinn, auch wenn dieser Essai auf einigen beim Sprachgebrauch überhaupt, denn:
Seiten das Thema Bedeutungswandel erörtert.
Es steht nicht in unserem Belieben, unsere Aus-
Die Erweiterung von der historischen Sprach-
drucksmittel zu verändern: es ist möglich, zu be-
wissenschaft zu einer allgemeinen Kulturwissen-
greifen, inwiefern es bloße Semiotik ist. Die For-
schaft führte im Zeitalter des Kolonialismus und
derung einer adäquaten Ausdrucksweise ist
dem wachsenden Interesse an fremden Kulturen zu
unsinnig: es liegt im Wesen einer Sprache, eines
ersten Ansätzen einer Ethnosemiotik. Rudolf Klein-
Ausdrucksmittels, eine bloße Relation auszu-
pani (1845-1918) beschrieb in seinem Werk Spra-
drücken ... Der Begriff >>Wahrheit<< ist widersin-
che ohne Worte (18 8 8) die Gestik und die kulturelle
nig ... das ganze Reich von >>wahr<< »falsch<< be-
Symbolik historischer und anderer fremder Kultu- zieht sich nur auf Relationen zwischen Wesen,
ren (vgl. Sebeok 1976). Andrea De Iorio (1769-
nicht auf das >>An sich<< ... Unsinn: es gibt kein
1851) legte die Grundlagen zu einer Semiotik der
>>Wesen an sich<<, die Relationen konstituieren
Gesten mit seiner Untersuchung über Gestik im
erst Wesen, so wenig es eine »Erkenntnis an
Neapolitanischen, die er mit der Gestik der Antike
sich<< geben kann ... (WM § 625)
in Verbindung brachte (La Mimica degli Antichi In-
vestigata nel Gestire Napoletano, 1832). Garrick Obwohl Nietzsche sicher alles andere als ein Struktu-
Mallery (1831-1894) schrieb eine ethnosemiotische ralist war, antizipiert er hier doch zwei zentrale Ge-
Studie über die Zeichensprache der Plains-Indianer danken der strukturalistischen Semiotik, nämlich er-
(s. VI.8.3.1), und auch Wilhelm Wundt (1832- stens den Topos von der Befangenheit des Menschen
1920) trug mit seiner Völkerpsychologie (1900) viel in einem Netz vorgegebener und unveränderter Zei-
zur Kultursemiotik und zur Semiotik der Gestik und chen-Jameson (1972) sprach vom >>Gefängnis der
Mimik bei. Charles R. Darwin (1809-1882) schließ- Sprache<<- und zweitens den später für Saussure zen-
lich wagte es, die Brücke vom Zeichenverhalten bei tralen Gedanken vom Vorrang der Relationen gegen-
den Tieren zur menschlichen Gestik und Mimik zu über den Elementen (die Nietzsche >>Wesen<< nennt)
schlagen (s. V.4.4). im System der Zeichen (s. 11.2.3.4.2).
Nietzsches Kritik an der »vollständigen Fikti-
on<< einer Logik, die das >>tatsächliche Geschehen<<
7. Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844-1900) wie ein »Simplifikationsapparat filtriert<<, zielt vor
allem auf deren Vernachlässigung der Affekte ab:
Nietzsche hat sicher keine Semiotik im Sinne einer um- >>Alle Affekte, alles Fühlen und Wollen wird hinweg
fassenden Theorie der Zeichen entwickelt, aber von gedacht.<< Der Ausweg ist: »die Einführung voll-
ihm stammen bemerkenswerte Fragmente zu einer ständiger Fiktionen als Schemata, nach denen wir
Philosophie und Kritik des Zeichens (Sini 1985: 83- uns das geistige Geschehen einfacher denken als es
121; Ungeheuer 1983; Sirnon 1989; Wohlfart 1992). ist. Erfahrung ist nur möglich mit Hilfe von Ge-
Nietzsches Philosophie ist gegen das kartesiani- dächtnis: Gedächtnis ist nur möglich vermöge einer
sche Ego ebenso wie das Kantsche >>Ding an sich<< ge- Abkürzung eines geistigen Vorgangs zum Zeichen<<
1.6 Semiotik im 19. Jahrhundert 35
(Krit. Ces. Ausg. VII.3.34.249). Nicht das >>Zeichen Peirce' finalen Interpretanten antizipierend (s.
selber<< kann also nach Nietzsches Perspektivismus II.1.3.4.3)- immerhin für theoretisch möglich, daß
interpretiert werden, sondern nur seine >>Abkür- die Bedeutung eines Phänomens im Konsens aller
zung<<, denn, wie Sirnon (1989: 132) Nietzsche in- Zeicheninterpreten in Erscheinung treten könnte,
terpretiert: >>Das >Zeichen selber< statt >seine Abkür- denn: >>Ein Ding wäre bezeichnet, wenn an ihm erst
zung< zu verstehen, hieße nicht nach seiner Be- alle Wesen ihr >was ist das?< gefragt und beantwor-
deutung zu fragen, zu verstehen, ohne zu fragen, tet hätten<< (WM § 556). Allerdings hält Nietzsche
wie man hier zu verstehen habe.<< ebenso wie Peirce einen solchen Konsens realiter
Trotz seiner Einsicht, daß es einen >>Tatbestand eher für ein bloßes Ideal, denn: >>Gesetzt, ein einzi-
an sich<< nicht gibt, und daß >>ein Sinn immer erst ges Wesen, mit seinen eigenen Relationen und Per-
hineingelegt werden [muß], damit es einen Tatbe- spektiven zu allen Dingen, fehlte, und das Ding ist
stand geben kann« (WM 556), hält es Nietzsche- immer noch nicht >definiert<<< (ebd.).
36 I. Geschichte der Semiotik
kenntnisse zur Vermeidung von Mißverständnissen sehen Semiotik und nennt folgende weitere Vertreter
liefern und den einzelnen gegen den Mißbrauch von einer >>präphänomenologischen Semiotik<<: Anton
Sprache in Agitation und Propaganda wappnen soll- Marty (1847-1914), Alexius Meinong (1853-1920),
te. Mit diesem, den Zielen der General Semantics-Be- Carl Stumpf(1848-1936) und Kazimierz Twardowski
wegung in den USA (s. III.7.3) nicht unähnlichen (1866-1938). Zu den Zeichen- und Bedeutungs-
Programm verfolgte in Holland die Signifik-Bewe- theorien von Marty und Meinong siehe auch Mor-
gung unter der intellektuellen Führung von Gerrit scher (1973), Raynaud (1982) und Kiesow (1998).
Mannoury (1867-1956) eine praxisnahe Sprachkri- Auf Brentano geht die Theorie der Intentionalität
tik und -therapeutik. Der Einfluß von Lady Welbys zurück: Mentale Phänomene sind für Brentano im
Gedanken erstreckt sich in England auf die Semiotik Gegensatz zu den physikalischen Phänomenen inten-
von Charles K. Ogden (1889-1957; Gordon 1991) tional auf einen Inhalt oder Gegenstand gerichtet.
und in Deutschland auf das Werk des Soziologen F. Das Psychische ist gewissermaßen indexikalisch auf
Tönnies (Schmitz 1985a). Zur Wiederentdeckung Objekte bezogen. Hier bahnt sich eine für die Phäno-
Lady Welbys und der Signifik-Bewegung siehe Esch- menologie typische Dichotomie zwischen der zei-
bachs Einleitung zu Welby (1903), Schmitz (1985b, chenhaften und der nichtzeichenhaften Welt an. Es
1992, 1993, 1998), Schmitz (ed. 1920), Heijerman gibt eine reale Existenz der physikalischen Dinge und
& Schmitz (eds. 1991) und Visser (1999). die auf sie gerichteten Intentionen. Diese können Zei-
chen eines realen Gegenstandes sein oder sich auch
auf nichtexistierende Objekte beziehen.
3. Husserl und die Phänomenologische
Semiotik
3.3 Edmund Husserl (1859-1938)
Die Phänomenologie als eine Richtung der Philoso- 1890 schrieb Husserl sein semiotisches Hauptwerk
phie geht auf Husserl, den Begründer der >>reinen mit dem Titel Über die Logik der Zeichen (Semio-
Phänomenologie<<, zurück. Es gibt Vorläufer der tik). Diese ersten Ansätze zu einer semiotischen
Phänomenologie und Phänomenotogen nach Hus- Phänomenologie vertieft er im zweiten Band sei-
serl. Peirce hatte eine eigene Phänomenologie, die er ner Philosophischen Untersuchungen (1900-1901).
auch Phaneroskopie nannte. Untersuchungen zur Einzeluntersuchungen zu Husserls Semiotik sind
phänomenologischen Semiotik allgemein sind Lani- Klein (1983), Kalinowski (1985), Bonami (1986),
gan (1972, 1977, 1986, 1992), Garvin (ed. 1976), Scheffczyk (1988) und Münch (1993), z.T. auch
Aschenberg (1978), Bentele & Bystrina (1978), Sini Derrida (1967), Gillan (1982) und Descombes
(1985), Bonami (1986), Smith (1992), Münch (1983: 49ff). Zu Husserls Theorie der Bedeutungs.
(1993), Kiesow (1997) und Rosenthai (1998). Um III.6.2.1.2, und zu seiner Theorie der Anzeichen als
die Phänomenologische Semiotik geht es auch in ei- nichtintentionale Zeichen s. III.11.2.1.2.
nem Themenheft von Semiotica 41 (1981).
unmittelbaren Erscheinung gegeben. Bloße Sinnes- mentalonthologie<< des Daseins. Sein Ansatz hat ih-
wahrnehmungen vollziehen sich nach Husserl noch ren Ausgangspunkt in der Hermeneutik. Verstehen
ohne die Vermittlung von Zeichen. Die unmittelba- ist in einen hermeneutischen Zirkel der Historizität
re Wahrnehmung kann aber dennoch zu einer Er- und Voraussetzungshaftigkeit eingebunden, denn
kenntnis vom Wesen der Dinge (eidos) gelangen, »Auslegung ist nie ein voraussetzungsloses Erfassen
und zwar durch eine sogenannte phänomenologi- eines Vorgegebenen<<, und das Dasein ist immer be-
sche Wesensschau. reits ein >>ln-der-Welt-sein<< (Heidegger 1927: 150-
Im Gegensatzzur »eigentlichen<< (präsemiotischen) 250). -Zu den semiotischen Aspekten in Heideggers
Erkenntnis gibt es für Husserl (1890: 340) die >>un- Werk siehe u.a. Lanigan (1972), Rey (1976: 271-
eigentliche oder symbolische<< Gegebenheit der Ge- 283), Emanuele (1982), Sini (1985), Bendandi
genstände. Uneigentlich werden die Phänomene (1986), Scheffczyk (1988) und Sirnon (1989, 1993).
nicht länger >>in sich selbst<< wahrgenommen, son- Heidegger betont den Aspekt der Indexikalität
dern die Erkenntnis geschieht im Bewußtsein, daß der Zeichen, wenn er Zeichen als >>eine >Art< von
das Phänomen etwas anderes darstellt >>oder es mit- Verweisen bestimmt<< und Verweisungsphänomene
tels Zeichen anzeigt<< (Husserl1913: 99). Das Zei- als etwas noch Allgemeineres begreift als Zeichen-
chen als Zeichenträger (>Ausdruck<) bezieht sich da- phänomene (ebd. 77-78). >>Verweisung ist nämlich
bei einerseits auf den Gegenstand, anderseits auf das schon den Dingen der Welt inhärent. Die bloßen
Bewußtsein, das diesen Gegenstand >>intendiert<< Dinge zeigen ihre >>Dienlichkeit<<, Funktion, ihr
und dem Ausdruck Bedeutung verleiht: >>Jeder Aus- >>Um-Zu<<, ihre Relation zu den anderen Dingen der
druck besagt nicht nur etwas, sondern er sagt auch Welt an (vgl. Wetze! 1989), sind aber selbst noch
über etwas, er hat nicht nur eine Bedeutung, son- keine Zeichen: Ein Hammer, so Heidegger (1927:
dern er bezieht sich auf irgendwelche Gegenstände<< 78) >>ist durch eine Dienlichkeit konstituiert<<, ohne
(Husserl1913: 26). dabei zum Zeichen zu werden. Während die Zei-
Zeichen sind also Phänomene der uneigentli- chenfunktion im >>Zeigen<< liegt, besteht die Objekt-
chen Wahrnehmung, und die Unterscheidung zwi- funktion in ihrer »Dienlichkeit zu<<. In beiden Fällen
schen der semiotischen und der nichtsemiotischen gibt es ein noch präsemiotisches »Verweisen<<.
Welt (s. III.1.4) ist daher eine zwischen dem unmit- Im Gegensatz zu Peirce erstreckt sich bei Heideg-
telbaren Bewußtsein eines Phänomens und dem Be- ger die hermeneutische Zirkularität der Zeichen (die
wußtsein vom >> Anderssein << des wahrgenommenen Peirce als unendliche Semiose thematisiert, s. 11.1)
Gegenstandes, welches die Erkenntnis eines Unter- nicht mehr auf die Zeichen selbst. Die Zeichen ver-
schieds zwischen dem Bezeichnenden und dem Be- weisen für ihn nicht mehr auf andere Zeichen, son-
zeichneten impliziert. In diesem Zusammenhang dern auf eine nichtzeichenhafte Welt, und selbst zwi-
werden zwei weitere Elemente von Husserls Semio- schen dem Zeichen und seiner Bedeutung sieht
tik deutlich: Erstens sind Zeichen durch ihren Diffe- Heidegger keine grundsätzliche Differenz. Sirnon
renzcharakter zeichenhaft, denn >>Zeichen einer Sa- (1993: 6) faßt Heideggers Gedanken hierzu wie folgt
che (eines Inhalts überhaupt) kann alles und jedes zusammen:
sein[ ... ], was geeignet ist, sie von anderen zu unter- Ein Zeichen soll für etwas stehen, das selbst
scheiden<< (Husserl 1890: 341). Zweitens haben nicht Zeichen ist.[ ... ] Was wir verstehen, ist aber
Zeichen immer auch ein indexikalisches Substrat, zunächst unmittelbar Zeichen. Entweder verste-
das nicht zuletzt auf die Intentionalität (als einer hen wir Zeichen unmittelbar, oder wir fragen
Gerichtetheit) aller Zeichen zurückzuführen ist: nach ihrer Bedeutung. [... ] Eine von den Zeichen
>>Damit wir Zeichen mit Absicht gebrauchen und verschiedene >Bedeutung< haben Zeichen gerade
erfinden können, muß das Verhältnis von Zeichen nur, insofern wir sie zu einer bestimmten Zeit
und Bezeichnetem besonders bemerkt worden sein. nicht verstehen und nur deshalb nach ihrer Be-
[... ]Äußerlich-sinnliche und begriffliche Merkmale deutung fragen. Die Antwort muß wieder in
sind dazu geeignet, auf die Inhalte, die sie besitzen, Zeichen erfolgen, zuletzt in Zeichen, die wir zu
unsere Gedanken hinzulenken. Der Begriff des Zei- einer bestimmten Zeit ohne Frage nach ihrer Be-
chens ist eben ein Verhältnis begriff; er weist auf ein deutung verstehen. Sonst hätte alles Fragen,
Bezeichnetes hin<< (ebd.). >was< etwas >in Wahrheit< sei, keinen Sinn.
3.4 Phänomenologische Semiotik nach Husserl 3.4.2 Schütz, Merleau-Ponty und Husserls
Die Phänomenologie ist nach Husserl von Heideg- Einfluß auf den Strukturalismus
ger, A. Schütz und Merleau-Ponty weiterentwickelt Die Phänomenologie der Zeichen im kommunikati-
worden (Lanigan 1986; Rosenthal1998). ven Kontext des Alltagslebens (s.X.3) ist das Thema
der Phänomenologie von Alfred Schütz (1899-
3.4.1 Martin Heidegger (1889-1976) 1959). Zu den semiotischen Aspekten seines Werks
Heidegger geht es um weit mehr als um Phänome- siehe Bentele & Bystrina (1978: 64-74), Böttner &
nologie und Semiotik, nämlich um eine >>Funda- Günther (1982) sowie Lanigan (1985, 1986).
1.7 Semiotik im 20. Jahrhundert 39
Semiotische Aspekte in der existenzphilosophi- 1936). Seine Schrift heißt Grundzüge einer Psycho-
schen Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty logie des Zeichens. Gätschenberger (1923: 26) for-
(1908-1961) erörtern Lanigan (1972, 1977, 1986, dert eine >>allgemeine Sematologie<< als >>Lehre vom
1992}, Malmberg (1977: 218-224), Aschenberg Handwerkszeug aller exakten Wissenschaft<<. Ihr
(1978), Gillan (1982) und Mazis (1991). Von be- Untersuchungsgegenstand sollen die >>Darstellungs-
sonderem semiotischen Interesse ist Merleau-Pon- mittel<< (Symbole, Bilder, psychische und physiolo-
tys Schrift mit dem Titel Zeichen (Signes, 1961}, in gische Zeichen) sein, nicht jedoch die natürlichen
der sich auch eine Auseinandersetzung mit der Zei- >>Annzeichen<< oder >>Kennzeichen<<, die kein Dar-
chentheorie Saussures findet. stellungsmittel seien, sondern ein bloßer >>Erkennt-
Einflüsse von Husserls Phänomenologie auf den nisgrund<< für Sachverhalte in der Welt.- Zur Ein-
Strukturalismus hat Holenstein (1974: 82; 1975, ordnung Gätschenbergers in die Geschichte der
1978b: 53ff.) nachgewiesen. U.a. zeigt Holenstein, Semiotik siehe auch Eschbach (1987b) und Heck-
daß Jakobsan bei seiner Suche nach linguistischen mann (1988).
Universalien und distinktiven Merkmalen der Pho- Die 1908 von Heinrich Camperz (1873-1942)
nologie von Husserls Theorie der eidetischen Ab- verfaßte Semasiologie ist als Einleitung zu einer
straktion beeinflußt war, die auf die Entdeckung noch umfassenderen Noologie (Denklehre) konzi-
der invarianten Merkmale eines Objekts oder einer piert (Kiesow 1986, 1996). Hier findet sich ein in
Bedeutung abzielte. Holenstein (1975: 57) unter- Form eines Dreiecks dargestelltes Zeichenmodell (S.
streicht, daß dieser Husserlianismus in Jakobsans 77) mit den drei Eckpunkten Aussagelaut (Aussa-
Strukturalismus im Gegensatz zum Französischen ge), Aussageinhalt und Aussagegrundlage (Sachver-
Strukturalismus der 1960er Jahre steht (s. 1.8), der halt), das für Odgen & Richards (1923: 11) zum
mit Ricceur als antireflexiv, antiidealistisch und an- Vorbild ihres semiotischen Dreiecks wurde (s.
tiphänomenologisch gekennzeichnet werden kön- 111.2.4.2)
ne. - Zu Husserls Einfluß auf den Strukturalismus Ein weiterer Zeichentheoretiker dieser Zeit ist
der Prager Schule und Mukarovskys Theorie der Oswald Külpe (1862-1915). Zu seiner Theorie der
ästhetischen Autonomie siehe Chvatik (1984). >>Realisierung<< als >>Setzung von Realität<< und sei-
ner Auffassung von den Zeichen als Gegenstands-
art, Darstellungsmittel und Bewußtseinsphänomen
4. Zeichenpsychologie und Sematologie siehe Heckmann (1988).
um 1900
In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jh.s ent- 5. Die Philosophie der symbolischen Formen
standen einige Entwürfe zur Psychologie und Philo-
sophie des Zeichens, die zwar aus heutiger Sicht von Ernst Cassirer (1874-1945) hat im Rahmen seiner
geringem Einfluß auf die Geschichte der Semiotik Philosophie der symbolischen Formen (Cassirer
geblieben sind, damals aber von einiger Bedeutung 1922, 1923, 1935, 1944, 1954) eine anthropolo-
für das semiotische Denken der Zeit waren. Kiesow gisch fundierte Kulturphilosophie und Erkenntnis-
(1998) gibt einen zusammenfassenden Überblick zu theorie entwickelt, deren Relevanz für die Semiotik
diesem Abschnitt der Geschichte der Semiotik. erst relativ spät erkannt wurde (Malmberg 1977:
Allein im Jahre 1901 erschienen zur Psychologie 146-48; George 1978; Steiner 1978; Krois 1984a,
des Zeichens zwei Werke. Eduard Martinak (1859- b; Göller 1986; Ranea 1986; Roggenhafer 1987;
1943) verfaßte seine Psychologische[n] Untersu- Paetzold 1994, 1998; Kiesow 1998; Scheffczyk
chungen zur Bedeutungslehre (Knobloch 1986; 1998). Die Resonanz von Cassirers Kultursemiotik
Eschbach 1993a}, die auch einige Ansätze zur Prag- bei den Semiotikern war zunächst schwach (Paet-
matik enthält. Martinak (1901: 80) unterscheidet zold 1994: 52}: Während Morris Cassirers Werk
z.B. zwischen finalem und realem Bedeuten: ersteres »mehr suggestiv als wissenschaftlich« fand (1946:
ist intentional und geschieht durch >>willkürlich ge- 229) und Steiner (1978: 103) seine >>Unpräzisheit
wisse Zeichen zum Zweck der Mitteilung<<, letztere des Diskurses und quasi-mystische Ansichten<< kriti-
erfolgen durch >>unwillkürliche Ausdrucksbewegun- sierte, sehen Ducrot & Todorov (1972: 87) in der
gen ohne Absicht der Mitteilung<< (z.B. in Interjektio- Philosophie der symbolischen Formen eine der vier
nen). Martinak (1901: 83) unterscheidet ferner zwi- >>Hauptquellen der modernen Semiotik<<. Inzwi-
schen >>mitteilenden<< und >>begehrenden<< Zeichen, schen hat Cassirer wohl in der Geschichte der Se-
was Bühlers Differenzierung zwischen Darstellungs- miotik einen festen Platz gefunden (Paetzold 1994,
und Appellfunktion entspricht (s. III.9.3.2), denn 1998).
>>erstere wollen im Empfänger ein Wissen um irgend- Zeichen sind für Cassirer Mittel zur Erkenntnis
einen Tatbestand hervorrufen, letztere ein - physi- der Welt. Dieser Grundgedanke basiert auf Hum-
sches und psychisches - Tun anregen<<. boldts These, daß Kognition durch die Kategorien
Die zweite Zeichenpsychologie aus dem Jahre der Sprache geleitet sei (s. 1.6.3 ). Sinnliche Erfah-
1901 stammt von Richard Gätschenberger (1865- rung ist immer auch an Zeichen gebunden, denn nur
40 I. Geschichte der Semiotik
Kulturphilosophie stellt den Begriff des Symbols in 6.2 Biologie und Sprachwissenschaft
den Mittelpunkt der Diskussion (s. III.10.4.2.1 Kie- Als einen Klassiker der Semiotik würdigen Kram-
sow 1998: 1534). Langer (1942, 1957) betont den pen et al. (eds.) die Theoretische Biologie von Jakob
Unterschied zwischen Symbolen in der Sprache der von Uexküll (1864-1944). Uexkülls Relevanz für
Kunst, untersucht die evolutionsgeschichtlichen die Semiotik des 20. Jh.s wird ausführlicher im Kon-
Wurzeln des Symbolverhaltens und der Künste in text der Biosemiotik und der Ökosemiotik (s. IV.5-
archaischen Riten und Mythen und sieht in diesen 6) erörtert.
symbolischen Wurzeln der menschlichen Kultur Unter den Sprachwissenschaftlern des 20. Jh.s
Formen des Zeichengebrauchs, die der Entwicklung steht Kar/ Bühler (1879-1963) der Semiotik beson-
der Sprache vorausgegangen sind. ders nahe (Innis 1982, 1998; Sebeok 1981a; Esch-
bach, ed. 1984; Graumann & Hermann, eds. 1984).
Bühler war nicht nur Sprachwissenschaftler, son-
6. Semiotische Themen dern auch Psychologe. Aus psychosemiotischer
in den Nachbarwissenschaften Sicht sind seine Beiträge zur Erforschung der non-
der Semiotik verbalen Kommunikation von Interesse (Bühler
1933a). Aus der Sicht der Allgemeinen Semiotik ist
In den Nachbarwissenschaften der Semiotik finden es bemerkenswert, daß auch Bühler (1934) unter der
sich im 20. Jh. einige Klassiker, die aus verschiede- Bezeichnung Sematologie die Begründung einer
nen Gründen von semiotischem Interesse sind. neuen Zeichenwissenschaft angeregt hat (Camhy
1984). Semiotische Themen in Bühlers Sprach-
wissenschaft sind seine Theorie der Metapher (Büh-
6.1 Logik, logischer Positivismus ler 1933b, 1934), sein »Prinzip der abstraktiven
und Sprachphilosophie Relevanz« (s. III.1.3.1), sein Organonmodell der
Z.T. noch im 19. jh. entstanden die Arbeiten des Sprachfunktionen (III.13.3.1) und seine »Zweifel-
Mathematikers und Logikers Gottlob Frege (1848- derlehre der Sprache«, die den Unterschied zwi-
1925), dessen Differenzierung zwischen Sinn und schen dem Zeigefeld und dem Symbolfeld als zwei
Bedeutung in die Geschichte der Semiotik eingegan- elementaren Funktionen des Sprachgebrauchs the-
gen ist (s. III.5.2; Grodzinski 1991; Keller 1995; matisiert: Während das Zeigefeld die Bezugnahme
Ruthrof 1997). Für ihre Antworten auf Grundfra- des Sprechers auf die Speechsituation (Verweisen,
gen der Semantik (s. III. 5), insbesondere ihre Re- Präsentieren, Deixis, etc.) erfaßt, meint das Symbol-
duktion der Bedeutung auf die semantische Dimen- feld das referentielle Umfeld der Sprechsituation,
sion der Bezeichnung (Referenz) (s. III.6) und ihre auf welches sich die Rede bezieht.
Kritik an allem nicht Verifizierbaren gelten die Lo-
gischen Positivisten heute als Reduktionisten unter
den Semiotikern. Ausgangspunkt vieler ihrer Ideen 6.3 Marxistische Semiotik
ist der Wiener Kreis (1922-1938), dessen prominen- Auch wenn der marxistischen Semiotik keine nen-
teste Mitglieder Moritz Schlick (1882-1936), Otto nenswerte Bedeutung mehr zukommt und der Mar-
Neurath (1882-1942) und Rudolf Carnap (1891- xismus heute wohl eher als eine Ideologie statt als
1970) waren. Neurath (1991) ist darüber hinaus eine Nachbarwissenschaft der Semiotik gilt, ver-
auch wegen seiner Ansätze zu einer internationalen dient doch die marxistische Semiotik im Kontext
Bildersprache von Bedeutung für die Augewandte der Semiotik des 20. Jh.s Erwähnung. Coward &
Semiotik des Bildes und der graphischen Kodes. Ellis (1977), Bentele & Bystrina (1978: 50-63),
Auch Bertrand Russell (1872-1970) hat das Thema Ponzio (1979, 1990), Heim (1983), die Themenhef-
einer die Realität ikonisch repräsentierenden philo- te von Versus 23 (1979) und der Zeitschrift für Se-
sophischen Universalsprache beschäftigt (Rosenthal miotik 10.1-2 (1988) sind der marxistischen Semio-
1998: 2105). Sein Ansatz war sprachphilosophisch. tik gewidmet. Neben Lasar 0. Resnikow (1964,
Ebenso wie die Logischen Positivisten findet sich bei 1977), Georg Klaus (1912-1977; Reschke 1965;
Russells ersten Arbeiten zur philosophischen Se- Kalkofen 1979), Adam Schaff (geh. 1913; Schaff
mantik die reduktionistische Tendenz, die Bedeu- 1960; Fischer-Lichte 1979: 81-98) zählte Ferruccio
tung allein als Beziehung begreifen zu wollen. Rossi-Landi (1921-85) zu den Anhängern einer
Ludwigvon Wittgenstein (1889-1951) ist ein Phi- marxistischen Semiotik (Bernard & Withalm 1986;
losoph, dem die Semiotik viele Einsichten in die Bezie- s. II.4.2.3.5, VII.6). - Zu den zeichentheoretischen
hungen zwischen Sprache, Sprachgebrauch und Welt Grundlagen des orthodoxen Marxismus s. II.4.3.6.
verdankt. Die Erforschung seiner Theorien ist schwer-
punktmäßig eine Aufgabe der Sprachphilosophie.
Spezifisch semiotische Perspektiven erörtern Rossi-
Landi (1984), Harris (1988), Bezzell (1992), Wohl-
fart (1992), Keller (1995) und Ruthrof (1997).
42 I. Geschichte der Semiotik
tik« vor. Threadgold (1989) und Smith (1991) geben noch nicht das Ende der Semiotik gekommen, kriti-
weitere Abrisse der Semiotik Sebeoks, die von Bouis- siert aber eine Semiotik, die sich ganz auf die Analy-
sac et al. (eds. 1986) und Bernard et al. (eds. 1993) se von Zeichen konzentrieren will. Seine eigenen
herausgegebenen Sebeok-Festschriften würdigen sein Vorstellungen von der Natur des Zeichens und dem
Gesamtwerk, und auch die Semiotik-Enzyklopädie >> Exosemiotischen « jenseits der Zeichen stehen da-
von Bouissac (ed. 1998) enthält ein Portrait Sebeoks. bei allerdings kaum in Einklang mit wesentlichen
Sebeok hat sich durch umfangreiche editorische Erkenntnissen der Semiotik des 20. Jh.s. Sein Vor-
Tätigkeiten um die internationale Verbreitung der wurf gegen eine Semiotik, die sich zu sehr >>auf das
Semiotik Verdienste erworben. Er ist Herausgeber Zeichen allein (die >linke Seite< der Peirceschen Tria-
der Zeitschrift Semiotica (1[1969]ff.), der Buchseri- de)« beschränke (ebd.), trifft daher auch keine der
en Approaches to Semiotics (1968ff.), Advances in nennenswerten kultursemiotischen Strömungen des
Semiotics (1974ff.), Studies in Semiotics (1975-78), 20. Jh.s. Seine Untersuchungen tragen eher zu einer
Topics in Contemporary Semiotics (1984ff.) und Semiotik der Kultur in der Postmoderne bei als zu
des ersten enzyklopädischen Wörterbuchs der Se- einer postmodernen Semiotik.
miotik (Sebeok, ed. 1986). Das Ende der Semiotik beschwört Stewart
(1995) mit seiner Theorie von der Notwendigkeit
einer postsemiotischen Philosophie herauf. Seine
Vorstellungen von der zu überwindenden Wissen-
schaft von den Zeichen beruhen allerdings auf ei-
nem Zerrbild der Semiotik des 20 Jh.s. So geht Ste-
wart von der völlig abwegigen Annahme aus, die
Semiotik sei einem Modell der Repräsentation ver-
pflichtet, das auf der Annahme basiere, Sprache sei
>>irgendwie eine Widerspiegelung von etwas Nicht-
sprachlichem- von >Gedanken<, >Signifikaten<, >Be-
deutungen< oder anderen Merkmalen der >natürli-
chen< oder >objektiven< Welt« (ebd.: xii), und die
Semiotik sei einem >>Symbolmodell « verpflichtet,
das die Welt in zwei Sphären spalte, >>Zeichen und
Abb. 1.7.3: Thomas A. Sebeok Bezeichnetes, Symbol und Symbolisiertes, Name
und Benanntes, Wort und Gedanke, aliquid und ali-
In seinen eigenen Arbeiten zur Semiotik (vor al- quo« (ebd.: 7). Da ein solches Zweiweltenmodell
lem in Sebeok 1976, 1979, 1981, 1986b, 1991b, c, vom Zeichenhaften und Nichtzeichenhaften keines-
1994) plädiert Sebeok für die Erweiterung der Se- wegs in der Tradition von Saussure und schon gar
miotik und die Überbrückung der Grenzen zwi- nicht in der Peirceschen Semiotik zu finden ist, dürfte
schen den Geistes- und N aturwissenschaften im sich auch die These von der Notwendigkeit einer
Rahmen der Semiotik. Die Entstehung und Ent- Postsemiotik erübrigen. Ohnehin leidet diese These
wicklung der Zoosemiotik, der Biosemiotik und der an einer falschen Voraussetzung, der Annahme
Evolutionären Semiotik als neue Teilgebiete der Se- nämlich, daß die Semiotik einem bestimmten Mo-
miotik in Erweiterung der Anthroposemiotik sind dell der Interpretation von Zeichen verpflichtet sei.
wesentlich mit dem Namen T.A. Sebeoks verbun- Da ganz im Gegenteil die Semiotik die allgemeine
den. In diesen Kontexten werden auch Sebeoks Bei- Wissenschaft von den Zeichen ist, wird es diese
träge zur Semiotik in diesem Handbuch näher erör- Wissenschaft so lange geben, wie Zeichen in Prozes-
tert (s. IV.6.-8.). sen der Semiose vorkommen und als solche unter-
sucht werden können.
Auch Simpkins (1998 ) und Bouissac (ed. 1998)
haben bereits der Postsemiotik eine Platz in der
8. Postsemiotik? Geschichte der Semiotik des 20. Jh.s eingeräumt.
Neben Stewart nennt Simpkins aus unterschied-
Die Semiotik im Zeitalter der Postmoderne themati- lichen Gründen als weitere Vertreter dieser Ten-
siert Gottdiener (1995: 19-30). Gegen Ende des 20. denz (nach?) der Semiotik einige sehr verschiedene
Jh.s, so Gottdiener, müsse die Semiotik postsaussu- Autoren: H odge & Kress, Lyotard, Deleuze und
risch vorgehen, sich an den Poststrukturalisten ori- Merrell.
entieren, soziasemiotisch arbeiten und dabei nie- Die Soziosemiotik von Hodge & Kress (1988; s.
mals den kulturellen Kontext außer acht lassen. 7.2) sei postsemiotisch, weil sie von der Untersu-
Kultur sei »nicht bloß ein Bedeutungssystem, son- chung des Systems zur Untersuchung dynamischer
dern ein Zeichensystem im Kontext von exosemioti- sozialer Interaktion fortgeschritten sei. Auch hier
schen Prozessen - insbesondere ökoorniseher und greift die Annahme zu kurz, daß die '' Mainstream-
politischer Art << (ebd.: 30). Gottdiener sieht also Semiotik« sich überwiegend für die Aspekte >>Sy-
44 I. Geschichte der Semiotik
stem und Produkt« interessiere und dabei die semio- tralen Themen aller seiner Bücher (Merrell 1982,
tische Prozesse vernachlässige (ebd. 510). 1985, 1991, 1992, 1995a,b, 1996, 1997), und seine
Jean-Fran(ois Lyotard (1924-1998) zählt nach Theorien haben in der Semiotik von Peirce einen fe-
Simpkins vor allem wegen der Semiotikkritik zur sten Bezugspunkt. Was ihn aber mit Denkern wie De-
Postsemiotik, die Lyotard 1974 in seiner Ökonomie leuze und Lyotard verbindet, ist seine Verankerung
des Wunsches formuliert hat. Auch das sich hier ab- in der Philosophie der Postmoderne und seine Orie-
zeichnenede kritische Bild der Semiotik ist ein re- nierung an naturwissenschaftlichen Modellen der
duktionistisches: Die Semiotik habe die Produktion Nichtlinearität (Chaos- und Katastrophentheorie,
durch das Produkt verstellt, sie sei dem simplen in- Ungleichgewichtsdynamik). Die hieraus gewonne-
formationstheoretischen Sender-Empfänger-Modell nen Erkenntnisse sind nach Merrell jedoch keine
verpflichtet und sei für die Redkurion sinnlicher postsemiotischen, sondern sie lassen sich unmittelbar
Formen auf bloße konzeptuelle Strukturen verant- durch die Semiotik von Peirce begründen:
wortlich, ohne jemals die Präsenz des Zeichens »in
Der Fluß der Zeichen ist letztlich alles, was wir
Fleisch und Blut<< anzuerkennen. Allerdings will
haben. Es gibt keine Wahrnehmung, Begrifflich-
Lyotard die Semiotik nicht prinzipiell überwinden,
keit oder Gedanken hinter Zeichen[ ... ] Jedes se-
sondern sein Plädoyer gilt einerneuen (poststruktu-
miotische System, vom Quark zum Quasar, von
ralistischen) Semiotik, in der die Materialität des
der Amöbe bis Einstein ist Teil eines großartig
Zeichens und deren >>Intensität<< sowie Emotionali-
verflochtenen Flusses von Zeichen, die zu Zei-
tät anerkannt würde.
chen werden. [... ]Nach Peirce' biologisch-orga-
Gilles Deleuze (1925-1996) und Pierre Felix
nischer Sicht vermittelt der kreative und evolu-
Guattari (1930-1992) zählen zu den führenden
tionäre Prozeß der Semiose eine fruchtbare
Poststrukturalisten, ohne damit Postsemiotiker zu
Vision von der Generativität der Zeichen. Diese
sein. Weit mehr als Lyotard setzten sie sich mit den
Vision hilft bei der Überbrückung der Lücke
Klassikern der Semiotik auseinander, etwa mit
zwischen dem postmodernen freilaufenden
Hjelmslev und Peirce. Die Prozesse der Semiose und
Spiel und der modenern Zweckgerichtetheit,
die dabei entstehende Vernetzung der Zeichen ge-
zwischen Zufall und Bauplan, Unordnung und
hören zu den zetralen Themen von Deleuze und
Ordnung, Anarchie (oder Heterarchie) und
Guattari. Ihr Plädoyer gilt einer >>organischen<< Se-
Hierarchie, Abwesenheit und Anwesenheit,
miotik, die die Begriffe >Struktur< und >System<
Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit - oder, um
durch die biologische Metapher von Rhizom er-
semiologische Begriffe zu verwenden, zwischen
setzt, ein Begriff, der auf eine Art Wurzelwerk ver-
Metonymie und Metapher, Kombination und
weist, welches anders als bei der hierarchisch aufge-
Selektion, Signifikant und Signifikat. (Merrell
bauten Baumwurzel aus einem Netzwerk besteht, in 1995: 40-41, 44)
dem jeder Punkt mit jedem anderen verbunden wer-
den kann. Das Rhizom symbolisiert eine antihierar- Die Wissenschaft von den Prozessen der Semiose ist
chische Semiotik, die sich transversal, netzartig und mithin keine Postsemiotik, sondern eine sehr wohl in
pluralistisch mit unendlich vielen Denkpositionen der Tradition verankerte Semiotik. Die Postmoderne
verbindet, ohne dabei reduktionistisch oder einen- benötigt somit keine neue Semiotik, sondern viel-
gend vorgehen zu wollen. - Zu den semiotischen mehr ein tieferes Verständnis der Traditionen der Se-
Aspekten im Werk von Deleuze und Guattari siehe miotik. Daß die semiotischen Wurzeln im Denken
auch Bogue (1991) und Olkowski (1991). der Postmoderne nicht nur bei Peirce zu finden sind,
Floyd Merrell (geb. 1937) verdient es am allerwe- sondern weit bis in die mittelalterliche Scholastik rei-
nigsten, zu den Postsemiotikern gezählt zu werden, chen, ist eine These, die John Deely (geb. 1942) aus-
denn Semiotik, Semiose und Zeichen sind die zen- führlicher dargelegt hat (Deely 1994).
1.8 Strukturalismus, Poststrukturalismus und die Semiotik 45
sein. Zugleich wird die Bedingung der Geschlossen- diejenigen Prinzipien, an denen sich bald die Kritik
heit des Korpus und der vollständigen und erschöp- am Strukturalismus entzünden sollte, an erster Stel-
fenden Analyse gestellt (Gleason 1955: 195-98). Im le nämlich am Prinzip der Immanenz, das auf das
nächsten Analyseschritt werden durch die Verfahren Konzept eines geschlossenen Systems hindeutet.
der Segmentierung und Klassifizierung die Elemente
des Korpus (Phoneme, Morpheme etc.) ermittelt. Da- 1.3.2 Die strukturalistische Tätigkeit als Mimesis
nach werden die Relationen zwischen diesen Elemen- Als der Strukturalismus in Frankreich zum dominie-
ten bestimmt. Die Gesamtheit der Elemente und Re- renden Paradigma in den Geisteswissenschaften ge-
lationen konstituiert die Struktur der Sprache. worden war, antwortete R. Barthes (1964b) auf die
Dieses Analyseverfahren heißt auch >distribu- Frage, woran man einen Strukturalisten erkenne:
tionelle Analyse<. Unter Distribution versteht man >>Achten Sie darauf, wer die Begriffe Signifikant und
die Vorkommensweise der Sprachelemente in den Signifikat, Synchronie und Diachronie verwendet,
für sie spezifizierten Kontexten. Die Klassifizierung und sie werden die strukturalistische Sichtweise vor
der Elemente berücksichtigt immer auch deren Dis- sich haben.<< Als weitere Kennzeichen der struktura-
tribution, also ihre mögliche Vorkommensweisen listischen Tätigkeit nannte Barthes noch die Prinzipi-
im Text. Der nach derartigen klassifizierenden Prin- en der Segmentierung und Klassifizierung sowie die
zipien arbeitende klassifizierende Strukturalismus Suche nach den Elementen und der Syntax von Tex-
wurde später auch als taxonomischer Strukturalis- ten (ebd.). Diese Verfahren haben den Strukturali-
mus bezeichnet. sten die Kritik des positivistischen Vorgehens einge-
bracht, einen Vorwurf, gegen den sich Barthes wie
1.3 Das strukturale Verfahren folgt wendet:
Das für den Strukturalismus charakteristische Ver-
Das Ziel der strukturalistische Tätigkeit [... ]
fahren ist die Übertragung und Anwendung der
liegt darin, ein Untersuchungsobjekt so zu re-
Methoden der Strukturalen Linguistik auf andere
konstruieren, daß die Regeln sichtbar werden,
Gebiete der kulturwissenschaftlichen Analyse. Der
nach denen dieses Objekt funktioniert. Die
Strukturalismus ist allgemein durch die Dominanz
Struktur ist somit ein Simulakrum des Objektes,
der Paradigmas der Strukturalen Linguistik in den
und zwar ein gerichtetes, ein interessiertes Si-
Geisteswissenschaften überhaupt gekennzeichnet.
mulakrum, denn das nachgebaute Objekt bringt
etwas zum Vorschein, das in den natürlichen
1.3.1 Regeln der strukturalen Analyse
Objekten unsichtbar geblieben war [... ]. Es er-
Als paradigmatisch für die in den 1960er Jahren herr-
eignet sich etwas Neues und dieses Neue ist
schende Auffassung von den Prinzipien des Struk-
turalismus können die >>sieben Regeln<< des struktura- nichts weniger als das allgemein Verständliche.
[... ] Somit könnte man sagen, daß der Struktu-
len Verfahrens gelten, die Fages (1968: 45ff.) aufstellt:
ralismus im wesentlichen in einer Aktivität der
(1) Regel der Immanenz: Strukturalisten erfor-
Imitation besteht, und deshalb gibt es genau ge-
schen die Strukturen eines Systems, in erster Linie in
nommen auch keinen technischen Unterschied
synchroner Perspektive. (2) Regel der Pertinenz:
zwischen Strukturalismus als einer intellektuel-
Strukturalisten untersuchen die distinktiven Merk-
len Tätigkeit einerseits und den Künsten im all-
male des Systems, Merkmale, die einen differentiel-
gemeinen, insbesondere der Literatur, anderer-
len Wert haben (s.ll.6.2.1). (3) Kommutationsregel:
seits. Beide beruhen auf dem Prinzip der
Strukturalisten wenden den Kommutationstest an
Mimesis. Sie basieren nicht auf der Analogie
(s.II.6.2.2), um mittels minimaler Paare die system-
von Substanzen (wie in der sogenannten realisti-
relevanten Oppositionen zu ermitteln. (4) Kompati-
schen Kunst), sondern auf der Analogie von
bilitätsregel: Strukturalisten untersuchen die Re-
Funktionen (was Levi-Strauss Homologie nennt).
geln, die für die Kombination von Elementen des
(Barthes 1964b)
Systems im Test gelten, und stellen dabei Regeln der
syntagmatischen Kompatibilität der Elemente auf.
(5) Regel der Integration: Die elementaren Struktu- 1.3.3 Kulturelle Tiefenstrukturen und der
ren werden in die Gesamtheit des Systems integriert. Tod des Subjekts
(6) Regel des diachronen Wandels: Jeder Untersu- Der Strukturalismus richtet seine analytische Auf-
chung zum (diachronen) Wandel eines Systems muß merksamkeit auf die Tiefenstrukturen der Kultur.
die synchrone Analyse der Strukturen des Systems Hinter der Fassade des Individuellen und Subjekti-
vorausgehen. (7) Regel der Funktionen: Der Struk- ven verbergen sich für den Strukturalisten kulturelle
turalist untersucht die Funktionen der Strukturen Tiefenstrukturen, die von den Konventionen und
im System (Iangue) und in dessen Gebrauch (parole) Kodes des Systems geprägt sind und die letztlich das
(s. III.13, III.15). semiotische Handeln des Individuums im Unterbe-
Dieses strukturalistische Manifest verdeutlicht wußten steuern. Die Tendenz des Strukturalismus,
die zentrale Bedeutung der Methoden der Struktu- mehr auf den Kode als auf seinen Gebrauch durch
ralen Linguistik und formuliert zugleich deutlich das Individuum zu achten, hat dem Strukturalismus
1.8 Strukturalismus, Poststrukturalismus und die Semiotik 47
gar den Vorwurf des Antihumanismus eingebracht. semiotisch definiert war, zeigt sich an einer Definiti-
Eagleton formuliert diese Kritik wie folgt: on von Wahl (1968a: 10), in der es heißt: >>Struktu-
Um zu einer wahren Erkenntnis zu gelangen, ralismus ist der Name, unter dem die Wissenschaft
vom Zeichen und von den Zeichensystemen klassi-
muß der Strukturalist nicht nur das Signifikat
oder den Referenten eines Systems aufheben, fiziert werden.<<
sondern auch die subjektive Erfahrung des Wis- Einen Unterschied zwischen dem strukturalisti-
senden. Wie der Marxismus und der Freudianis- schen und dem semiotischen Paradigma sieht Culler
mus ist der Strukturalismus somit eine Form des (1975: 4) in den Forschungszielen: Während die Se-
Antihumanismus, zutiefst der Privilegierung der miotik mehr an Zeichen und Bedeutungen interes-
subjektiven Erfahrung des Individuums abge- siert sei, interessiere sich der Strukturalismus mehr
neigt, die das Hauptkennzeichen des Humanis- für Relationen und Strukturen. Culler (ebd.) folgert
mus in der bürgerlichen Gesellschaft des Westens allerdings: >>Tatsächlich sind beide [Paradigmen]
war. Stattdessen ist für den Strukturalisten das unzertrennlich, denn bei der Erforschung von Zei-
menschliche Subjekt nicht mehr als die komplexe chen muß man das System von Relationen erfor-
Auswirkung einer bestimmten Menge gegebener schen, welches die Produktion von Bedeutung er-
Strukturen, das Produkt eines Bedeutungs- möglicht, und umgekehrt kann man nur die
systems. Wenn der Strukturalist jedes einzelne relevanten Relationen zwischen den Einheiten be-
Objekt gemäß einer tieferen strukturalen Logik stimmen, wenn man sie als Zeichen betrachtet.<<
auflöst, dezentriert er ebenso das individuelle
Subjekt in ein allumfassendes System, welches
dem Subjekt per Definition unbewußt bleibt.
1.5 Poststrukturalismus, Neo- und
(Eagleton 1989: 184)
Superstrukturalismus
Das Ende des Strukturalismus zeichnete sich zumin-
dest terminologisch mit der Einführung des Begriffs
1.4 Vom Strukturalismus zur Semiotik des Poststrukturalismus ab (Harari, ed. 1979; Young,
Nicht lange nachdem der Strukturalismus in Frank- ed. 1981; Culler 1982; Schiwy; Berman 1988; Sarup
reich den Existentialismus als intellektuelle Mode 1993; Neumann, ed. 1997). Der Poststrukturalismus
ersetzt hatte, wurde auch schon dessen Tod verkün- stellt allerdings weniger ein Paradigma dar, welches
det (Posner 1969: 130; Benoist 1970: 50; entgegen einen Bruch mit dem Strukturalismus vollzieht, als es
Koch 1971b: 1; 1986b: 49). Vieles von dem, was der Begriff nahelegt. Auf Elemente der Kontinuität
unter dem Zeichen des Strukturalismus begonnen strukturalistischen Denkens im Poststrukturalismus
hatte, wurde jedoch nun teils unter der Bezeichnung haben u.a. Frank (1984) und Harland (1987) hinge-
Semiologie bzw. Semiotik, teils unter der Über- wiesen, als sie das neue Paradigma als Neostruktura-
schrift >Poststrukturalismus< fortgesetzt und weiter- lismus bzw. Superstrukturalismus interpretiert haben.
entwickelt. Poststrukturalismus bedeutet auch keineswegs
Die Kontinuität im Übergang vom Strukturalis- >Postsemiotik<, auch wenn Stewart (1995) in seinem
mus zur Semiotik, vor allem in der Textsemiotik wenig in der Semiotik fundierten Buch die postse-
thematisieren u.a. Heath (et al., eds. 1971), Schiwy miotische Ära bereits heraufbeschwören möchte.
(1973), Segre (1973: 26-77; 1979a), Baran (ed. Besonders deutlich zeigt sich die Kontinuität der Se-
1974), Brütting (1975, 1976), Culler (1975, 1981a, miotik innerhalb des poststrukturalistischen Para-
1982), Coward & Ellis (1977), Hawkes (1977), digmas etwa bei Barthes (s. I1.8). Über die Kontinui-
Lindner & Pfister (1984) und Lechte (1994). Bei- tät der Semiotik über den Poststrukturalismus
spielhaft für den nahtlosen Übergang vom struktu- hinaus siehe auch das Themenheft der Zeitschrift
ralistischen zum semiotischen Paradigma ist die für Semiotik 15.3-4 (1993) mit dem Titel Semiotik
Entwicklung der Arbeiten von Jakobson, Barthes, nach dem Strukturalismus. Dort stellt Posner (S.
Greimas und Eco (s. II), die zuerst als strukturalisti- 224-225) u.a. die folgenden Thesen über die Konti-
sche, bald aber auch als semiotisch galten. Ähnli- nuität von Strukturalismus und Semiotik im Post-
ches gilt für Riffaterre, Segre oder Todorov. In der strukturalismus auf:
Text- und Literatursemiotik gab es eine Phase des (1) Der Poststrukturalismus hat den Strukturalismus
Übergangs vom strukturalistischen zum semioti- nicht einfach abgelöst, er ist Teil seiner Entwick-
schen Paradigma, während derer hybride Begriffe lung und wurde gleichzeitig mit ihm vertreten.
wie >>semiotisch-strukturalistische Kritik<< (Cerisola (2) Der Poststrukturalismus überwindet die Para-
1988) oder >>strukturalistisch-semiotische Kritik<< ein- doxien des Strukturalismus nicht, sondern er
geführt wurden. Bald wurde jedoch in Fortsetzung führt sie in aller möglicher Breite vor und spielt
dieser Entwicklungslinie nur noch von Semiotik ge- die beteiligten Kategorien gegeneinander aus.
sprochen (Fages 1968; Baran, ed. 1974; z.T. auch (3) Der Poststrukturalismus liefert keine neue semio-
Hawkes 1977). Wie sehrdas strukturalistische Den- tische These, sondern betreibt nur eine Akzent-
ken in der Übergangsphase zur Semiotik bereits als verschiebung im Bereich der strukturalistischen
48 I. Geschichte der Semiotik
Kategorien, eine Umgewichtung der Saussu- schaft der Humanwissenschaften überhaupt geeig-
resehen Dichotomien. net sei: >> Phonologie muß für die Sozialwissenschaft
(4) Poststrukturalistische Diskursanalyse ist ihrem die gleiche Rolle des Erneuerers spielen, wie z.B. die
Wesen nach keine Wissenschaft, sondern eine Kernphysik für die Gesamtheit der exakten Wissen-
Kunst. schaften«, argumentiert er (1958: dt. 45 ). Von Tru-
betzkoy, dem Klassiker der Prager Phonologie, lei-
tet Levi-Strauss die folgenden Analyseprinzipien ab
2. Claude Levi-Strauss' (ebd.): (1) Übergang >> vom Studium der bewußten
Strukturale Anthropologie Spracherscheinungen zum Studium ihrer unbewuß-
ten Infrastruktur «; (2) nicht >>die Ausdrücke als un-
Claude Levi-Strauss (geb. 1908) wurde in den abhängige Entitäten « sind zu behandeln, sondern
1950er und 1960er Jahren als>> Vater des Struktura- auch >> die Beziehung zwischen den Ausdrücken«;
lismus<< gefeiert (Kurzweil 1980). Damit kann na- (3) nur das System kann Gegenstand der Analyse
türlich nur der Strukturalismus in den Kultur- und sein; (4) Ziel der Untersuchung ist >>die Entdeckung
Geisteswissenschaften mit Ausnahme der Linguistik der allgemeinen Gesetze«, die für das System gelten.
gemeint sein, denn die Quellen von Levi-Strauss' Ganz im Sinne Saussures begründet LCvi-Strauss die
Strukturalismus in der Anthropologie liegen ihrer- Prinzipien des strukturalistischen Verfahrens in den
seits in der Strukturalen Linguistik von Saussure Humanwissenschaften zusammenfassend wie folgt
und Roman Jakobson, was Levi-Strauss zum >Sohn< (ebd.: 61 ): >> Der Irrtum der traditionellen Soziologie
dieser strukturalistischen Tradition macht. Seinen wie auch der traditionellen Sprachwissenschaft liegt
Ruhm als Strukturalist begründete LCvi-Strauss vor darin, die Glieder und nicht die Beziehungen zwi-
allem mit seinem Werk über Die elementaren Struk- schen den Gliedern betrachtet zu ha ben.«
turen der Verwandtschaft (1949), die Strukturale Nach den Prinzipien des strukturalen Verfah-
Anthropologie (1958) und Das wilde Denken rens in der Phonologie erforscht Levi-Strauss die
(1962). Literatur zum Strukturalismus und zur Se- Kultur der sogenannten primitiven Gesellschaften,
miotik des Begründers der Strukturalen Anthropo- deren Sitten, Riten, H eirats- und Verwandtschafts-
logie findet sich bei Auzias (1967), Corvez (1 969), regeln, ihre Totems und Tabus. Dabei gelangt er zu
Schiwy (1969a), Leach (1970), Macksey & Donato dem Ergebnis, daß die primitive Logik des Konkre-
(eds. 1970), Gardner (1973), Rossi (ed. 1974), ten, die z.B. das Rohe dem Gekochten, das Eßbare
Clarke (1981), Champagne (1990), Ruijter (1991), dem nicht Eßbaren, das Süße dem Sauren gegen-
Lechte (1994), Walitschke (1995 ) und Hainzl überstellt, mit der Logik des Abstrakten, die mit
(1997). Das Strukturalistische am Werk Levi- mathematischen Symbolen wie+ I- operiert, durch-
Strauss' soll im folgenden nur am Beispiel seiner An- aus eine gemeinsame Tiefenstruktur hat. Die Oppo-
wendung von Kategorien der Strukturalen Lingui- sitionen zwischen Mensch und Gesellschaft sowie
stik bei der Analyse einiger sozialer und kultureller zwischen Natur und Kultur sind die zentralen The-
Phänomene aufgezeigt werden. Zu Levi-Strauss' men der Kultur der Primitiven. Ihre Logik des Kon-
Verfahren der Mythenanalyse s. VII.4.2. kreten sucht z.B. durch den Totemismus zwischen
diesen Oppositionen zu vermitteln, ähnlich wie
auch der Mythos auf dem Prinzip der Vermittlung
zwischen Gegensätzen beruht (s. VII.4.2.2 ).
Die von Levi-Strauss erforschten Homologien
zwischen Sprache und Kultur reichen von den My-
then, Riten und Religionen bis zur Musik, Kunst
und Kochkunst. In seiner Studie über Das Rohe und
Gekochte (1964) wird sein Prinzip der Übertragung
phonologischer Prinzipien auf andere Bereiche der
Kultur besonders deutlich (Leach 1970: dt.31-33 ),
wenn er nämlich Homologien zwischen Jakobsans
Vokal-Konsonanten-Dreieck mit den phonologischen
Oppositionen >kompakt vs. diffus< und >dumpf vs.
spitz< (niedrige vs. hohe Frequenz) einerseits und
Abb.l.8.1: Claude U!vi Strauss kulinarische Oppositionen wie >materiell unverän-
dert< vs. >m. verändert<postuliert und zum Ergebnis
gelangt, daß es eine strukturelle Homologie zwi-
2.1 Phonologie als Paradigma der Wissen- schen dem Vokaldreieck a-u-i und den kulinari-
schaften vom Menschen schen Kategorien >roh-gar-vefault<gibt. In diesem
Durch die Vermittlung von J akobson entdeckt Levi- Zusammenhang postuliert Levi-Strauss auch struk-
Strauss die Phonologie und gelangt zu der Überzeu- turelle Analogien zwischen den Minimaleinheiten
gung, daß die Strukturale Linguistik zur Leitwissen- der Phonologie, den Phonemen, und Minimalein-
I.8 Strukturalismus, Poststrukturalismus und die Semiotik 49
heiten der Kochkultur für die er den Begriff Gustem 3. Lacans semiotischer
einführt. (Post-)Strukturalismus
In der Psychoanalyse von Jacques Lacan (1901-
2.2 Verwandtschaftsstrukturen: 1981) zeigt sich besonders deutlich, daß Struktura-
Arbitrarität und Kommunikation lismus, Poststrukturalismus und Semiotik nicht ver-
Ein weiteres Beispiel für das Verfahren der Homolo- schiedene Phasen oder gar Epochen der Geisteswis-
gisierung von Strukturen der Sprache und der Kultur senschaften sind, sondern nebeneinander und von
ist die Analyse der Verwandtschaftsbeziehungen: vornherein parallel verlaufen können.
>>Bei der Erforschung von Verwandtschaftsproble-
men<<, so Levi-Strauss (1958: dt. 46), >>sieht sich der
Soziologe in einer Situation, die formal der des pho-
nologischen Sprachforscher ähnelt: wie die Phoneme
sind die Verwandtschaftsbezeichnungen Bedeutungs-
elemente, wie diese bekommen sie ihre Bedeutung
nur unter der Bedingung, daß sie sich in Systeme
eingliedern; die >Verwandtschaftssysteme< werden
wie die >phonologischen Systeme< durch den Geist
auf der Stufe des unbewußten Denkens gebildet. <<
Verwandtschaftsbeziehungen bestehen einerseits
aus Regeln der Abstammung, andererseits aus den
Heiratsregeln. Nicht nur bei den Heirats-, sondern
auch bei den Abstammungsregeln zeigt sich für Levi-
Strauss (1958: 59) das Prinzip der Arbitrarität, denn
während die eine Kultur die Abstammung über die Abb. 1.8.2: jacques Lacan
Mütter (matrilinear) definiert, geschieht dies bei
anderen Kulturen über die Väter (patrilinear). Die 3.1 Lacans Psychoanalyse und ihre Erforschung
elementaren Strukturen werden z.B. in einem der un- Strukturalistisch ist das Werk Lacans insofern, als es
tersuchten Kulturkreise aus vier binären Oppositi- dem Paradigma der Strukturalen Linguistik ver-
onspaaren gebildet (ebd.: 57): Bruder I Schwester, pflichtet ist und sich auf Elemente der Linguistik
Mann I Frau, Vater I Sohn, Onkel mütterlicherseits I Saussures und Jakobsens sowie auf die Strukturale
Sohn der Schwester. Nach derartigen Kulturverglei- Anthropologie von Levi-Strauss stützt. Poststrukura-
chen gelangt Levi-Strauss (ebd.: 66) zu dem Schluß, listisch ist sie in ihrer Tendenz, die klassischen Dicho-
daß Verwandtschaftssysteme nicht von Natur aus tomien Saussures, insbesondere diejenige vom Signi-
(biologisch) gegeben, sondern ein >>System aus Sym- fikanten und von Signifikat, aufzulösen und sie neu
bolen<< seien: >>Ein Verwandtschaftssyrern besteht zu begründen. Semiotisch ist seine Psychoanalyse,
nicht aus den objektiven Bindungen der Abstammung weil sie den psychoanalytischen Prozeß als einen viel-
oder der Blutsverwandtschaft zwischen den Indivi- schichtigen Zeichen- und Semioseprozeß beschreibt
duen; es besteht nur im Bewußtsein des Menschen, es und das Werk Freuds als ein semiotisches System
ist ein arbiträres System von Vorstellungen.<< interpretiert (Hiebel1990: 57).
Eine andere Analogie, die Levi-Strauss zwischen In der Entwicklung von Lacans Psychoanalyse
Sprache und Verwandtschaftssystemen sieht, liegt gab es nach Farrester (1990) jedoch auch verschie-
in deren kommunikativen Funktionen. Heiratsre- dene Phasen, wobei die Nähe Lacans zur Semiotik
geln in primitiven Gesellschaften sind Regeln für in den 1950er und 1960er Jahren am größten war
den Frauentausch. Levi-Strauss (ebd.: 74) begreift (Lacan 1949, 1956, 1966, 1973). Neben Saussure
diesen als einen kommunikativen Prozeß, bei dem und Jakobsan wird neuerdings auch Peirce als eine
>>die >Nachricht< durch die Frauen der Gruppe weiter- weitere semiotische Quelle des Werks vonjakobson
gegeben wird, die zwischen den Clans, den Sippen in Betracht gezogen. Zu den Parallelen zwischen La-
oder Familien ausgetauscht werden<<. Unter einer cans drei Registern und Peirce' drei Fundamental-
solchen kommunikationstheoretischen Perspektive kategorien siehe Santadia (1985, 1989), Balat
sieht Levi-Strauss (ebd.: 97) sogar eine dreifache (1988), Spinks (1991) und Muller (1996).
Homologie zwischen Frauentausch, Warentausch Allgemeine Einführungen in das Werk Lacans,
und Austausch verbaler Botschaften: >>Die Ver- Überblicksartikel und z.T. auch kritische Auseinan-
wandtschafts- und Heiratsregeln dienen ebenso dersetzungen mit Lacan sind Ehrmann (ed. 1966: 94-
dazu, den Austausch der Frauen zwischen den 137), Corvez (1969: 113-148), Bär (1974, 1975),
Gruppen zu sichern, wie die ökonomischen Regeln Coward & Ellis (1977: 93-121), Bowie (1979,
den Austausch von Gütern und Dienstleistungen 1991), Lemaire (1979), Kurzweil (1980: 135-164),
und die Sprachregeln die Nachrichtenübermittlung Thom (1981), Silverman (1983: 149-193), Teich-
garantieren. << mann (1983), Juranville (1984), Gallop (1985),
50 I. Geschichte der Semiotik
MacCannell (1986a), Tallis (1988), Page! (1989), Die Dominanz des Signifikanten gegenüber dem
Forrester (1990), Hiebe! (1990), Arrive (1992), Signifikat läßt sich nach Lacan (ebd. I, 268; dt. II, 35)
Sarup (1992, 1993: 5-31) und Brennan (1993). auch aus Freuds Sicht von der Funktion der Bilder im
Traum her begründen: >>Freud zeigt uns auf unter-
schiedlichste Weise, daß dieser Signifikantenwert
3.2 Das Unbewußte als Sprache überhaupt nichts mit seiner Bedeutung zu tun hat.<<
<<Das Unbewußte ist wie eine Sprache strukturiert<<, Die seltsamen Bilder des Traums >>dürfen nur in ih-
so lautet eine der zentralen Thesen Lacans (1964: rem Signifikantenwert interpretiert werden, d.h. nur
23 ), aber diese Sprache des Unbewußten steht im insofern, wie sie es uns erlauben, den >Spruch< des
Widerstreit mit der bewußt artikulierten kommuni- Traumrebus nachzubuchstabieren<< (ebd.).
kativen Sprache. Der Diskurs des bewußten Ichs ist Den Traumbildern darf schon deshalb nicht das
eine >>leere<<, von Lücken durchsetzte Rede, die sich Signifikat zugeschrieben werden, das mit diesen Bil-
an einen imaginären >>anderen<< richtet (Lacan dern sonst verbunden ist, weil die Logik des Traums
1966: I, 123; dt. I, 84). Die Ursache dieser Lücken nach den Gesetzen der Metapher und Metonymie
ist die Zensur des Bewußten, die das Ich nicht die (Freuds Verdichtung und Verschiebung) operiert
volle Wahrheit sagen läßt. Erst wenn die Zensur und dadurch eine feste Zuordnung der Signifikan-
nachläßt, wie im Traum oder in Versprechern, ten zu ihren Signifikaten verbietet. Diese Prinzipien
kommt der Diskurs des Unbewußten zum Vor- gelten auch für die Rede im alltäglichen Sprachge-
schein, der deshalb auch eine >>volle<<, stets >>wahre<< brauch, wenn sich nämlich in Versprechern, Puns
Rede beinhaltet (vgl. Sarup 1992: 82). Diese Rede oder Witzen, die den Regeln der Sprache des Unbe-
stammt nicht vom Ich, sondern von einer Instanz wußten folgen, eine Durchbrechung der Kontinui-
jenseits des Ichs, die Lacan den Anderen nennt. Mit- tät des Diskurses ereignet.
hin ist >>das Unbewußte des Subjekts der Diskurs
desAnderen<< (Lacan 1966:1, 143;dt.l, 104).Diese
Instanz des Anderen ist für die Fragmentierung, die 3.3 Die drei Register und das Spiegelstadium
fehlende Kontinuität im Diskurs des Ichs verant- Lacan reinterpretiert die Freudschen Triade vom
wortlich, denn: >>Das Unbewußte ist der Teil des Ich, Über-Ich und Es durch seine drei Register, dem
konkreten Diskurses als eines überindividuellen, Imaginären, dem Symbolischen und dem Realen
der dem Subjekt bei der Wiederherstellung der Kon- (Sarup 1992: 101-119). Das Symbolische ist das Re-
tinuität seines bewußten Diskurses nicht zur Ver- gister der kulturellen Regeln, des Gesetzes, der Spra-
fügung steht<< (Lacan 1966: I, 36; dt. I, 97). che und der Zeichen. Psychoanalytisch ist es mit der
Lacan folgt Saussure, indem er für die Sprache Rolle des Vaters als dem >Gesetzgeber< verbunden.
des Unbewußten auch die Prinzipien der Arbitrarität, Das Reale, nicht zu verwechseln mit dem, was
der Differenz ohne positive Werte und der Irrelevanz in der Realität ist, ist das nicht Symbolisierbare, das
des Referentiellen postuliert. Er führt aber eine Neuin- nie Erreichbare, welches jenseits der Sprache liegt.
terpretation des Saussuresehen Zeichenmodells ein. Das Symbolische ist jedoch stets auf das Reale bezo-
Saussures dyadisches Modell (s. 11.2.3.1) notiert La- gen, denn das Reale ist das, was sich, so Lacan, im-
can (1966: I, 253; dt. II, 21) zunächst durch die For- mer >an seinem Platz< befindet, wobei >>nur das, was
mel >>Signifikant über Signifikat<< wie folgt: abwesend ist, symbolisiert werden kann<< (Lechte
1994: 69) und jedes Symbol die Abwesenheit seines
~ Referenzobjektes voraussetzt.
s Das Imaginäre schließlich entsteht während des
sogenannten Spiegelstadiums, einer Phase der psy-
Damit will er zweierlei zum Ausdruck bringen: (1) chischen Entwicklung des Kindes, die für die Genese
Der Signifikant (S) dominiert gegenüber dem (des- des Selbst wichtig ist (Lacan 1949). Im Alter von 6-
halb auch klein geschriebenen) Signifikat (s), und 18 Monaten mit dem eigenen Spiegelbild konfron-
(2) es gibt von Anfang an eine (durch den Bruch- tiert (oder mit einem anderen, als Vorbild dienen-
strich dargestellte) Schranke zwischen den beiden den Gleichaltrigen), verkennt das Kind das auf diese
Seiten des Zeichens, die den Zugang von der einen Weise reflektierte Selbst als das Bild eines anderen,
zur anderen Seite versperrt. Es sei eine Illusion, zu begreift jenes andere Vorbild als sich selbst und be-
glauben, daß der Signifikant ein Repräsentant des ginnt, sein entstehendes soziales Selbst nach diesem
Signifikats sei, denn jede Bedeutung entstehe (ganz Bild jenes anderen zu formen, mit dem es sich je-
im Sinne Saussures) immer nur in bezugauf eine an- doch nicht nur identifiziert, sondern auch rivali-
dere Bedeutung. In Anbetracht derartiger intrasy- siert. Die Identifikation mit dem anderen hat nun
stematischer Selbstbezüglichkeit der Zeichen folgert die Illusion von der Einheit des eigenen Selbst zur
Lacan (ebd.: I, 260; dt. II, 27), >>daß der Sinn in der Folge. Das Register des Imaginären ist mithin die
Signifikantenkette insistiert, daß aber keiner der Domäne des Illusionären, aber es handelt sich um
Elemente dieser Kette seine Konsistenz in der Be- eine notwendige Illusion, denn sie ermöglicht den
deutung hat, zu der sie momentan gerade fähig ist<<. Schritt zum Symbolischen, das die Identifikation
1.8 Strukturalismus, Poststrukturalismus und die Semiotik 51
mit den Signifikanten verlangt, die nicht mehr bloße da dieses Andere, die Sprache, ein Gefängnis ist, er-
Bilder sind. setzt Lacan Descartes' cogito durch ein »zweiseiti-
ges Mysterium<<: »[ ... ] Man muß sagen: Ich bin
nicht, da wo ich das Spielzeug meines Denkens bin;
3.4 Selbstbezügllchkeit der Kommunikation ich denke an das, was ich bin, dort wo ich nicht den-
Außer der Dualität vom bewußten Ich und vom un- ke zu denken<< (Lacan 1966: I, 277; dt. Il, 43).
bewußten Anderen besteht also noch eine zweite
Spaltung des Subjektes, nämlich diejenige zwischen
dem Selbst und dem selbst imaginierten Bild vom
Ich als einem anderen. Das derart zweifach gespalte- 4. Strukturallsmus und Marxismus
ne Subjekt erfährt die Sprache und die Kommunika-
tion auf höchst subjektive, gar selbstbezügliche Louis Althusser (geh. 1918) ist der prominenteste
Weise. Kommunikation versteht Lacan (1966: I, strukturalistische Interpret des Marxismus (Corvez
180-81;dt.II, 141, 143)deshalbauchalseinenPro- 1969: 151-177; Coward & Ellis 1977: 61-92; Kurz-
zeß, bei dem >>der Sender seine eigene Botschaft in weil1980: 35-56). Levi-Strauss, Foucault, Lacan und
umgekehrter Form vom Empfänger wieder emp- die Strukturalen Linguisten sind die wichtigsten Be-
fängt. [... ] Denn die Funktion der Sprache besteht zugspunkte in der Neuinterpretation des Marxismus
nicht darin, zu informieren, sondern zu evozieren. durch Althusser (1965; Althusser & Balibar 1968).
Was ich in der Rede (parole) suche, ist die Antwort Ebenso wie Lacan entdecken Althusser & Balibar
des anderen. Was mich als ein Subjekt konstituiert, (1968: 16) »unter der Unschuld der Rede und des
ist meine Frage.<< Mit dieser Interpretation der auto- Zuhörens die schuldige Tiefe eines zweiten ganz an-
nomen Rolle des Subjektes in der Kommunikation deren Diskurses, dem Diskurs des Unbewußten<<.
antizipiert Lacan nicht zuletzt die spätere system- Das unbewußte, strukturierte System einer Gesell-
theoretische Konzeption von der Kommunikation schaft manifestiert sich in ihrer Ideologie, und Ideo-
als einem autopoietischen Prozeß (s. IV.3.2.2). logien sind wie eine Sprache, die in der Rede unbe-
wußt bleibt (ebd.: 59).
Eine typisch strukturalistische These, die sich
3.5 Das Gefängnis der Sprache nach diesen Prämissen begründen läßt, lautet: Der
Lacans radikale Zweifel an der Einheit des Subjek- Mensch kann nicht mehr als Mittelpunkt der Welt-
tes, die er in seiner Theorie des Imaginären thema- geschichte gelten. Tatsächlich gibt es einen solchen
tisiert, und seine Auffassung von der Fremd- Mittelpunkt gar nicht, denn das einzelne Subjekt ist
bestimmtheit des Subjektes durch die Gesetze der seinerseits durch die Totalität des sozialen Systems
Sprache, wie sie in seiner Theorie des Symbolischen bestimmt (Althusser & Balibar 1968: II, 8). Die Ge-
zum Ausdruck kommt, führen schließlich zu der schichte wird nicht durch eine lineare, sondern
Metapher von der Sprache als einem Gefängnis, aus durch eine strukturale Kausalität determiniert
dem es kein Entkommen gibt (Jameson 1972). Da (ebd.: 164).- Zu weiteren Aspekten des strukturali-
die Struktur der Sprache bereits festgelegt ist, bevor stischen Marxismus siehe auch Füssel (1983) und
das Subjekt zum Sprecher wird, folgert Lacan: Heim (1983).
Auch das Subjekt, das als Sklave der Sprache er-
scheinen mag, ist umso mehr Sklave eines Dis-
kurses in jener universellen Bewegung, in wel-
cher sein Platz schon bei seiner Geburt festgelegt
ist - und sei es bloß in Form seines Eigenna-
5. Foucaults semiotische und
mens. Die Bezugnahme auf die Erfahrung der (post)strukturallstische Ideengeschichte
Gemeinschaft als die Substanz dieses Diskurses Michel Foucault (1926-1984) ist ebenso wie Lacan
bringt keine Lösung; denn diese Erfahrung ge- Strukturalist und Poststrukturalist zugleich. Frank
winnt ihre wesentliche Dimension in der Tradi-
(1984) sieht in ihm einen Neostrukturalisten. Mit
tion, die dieser Diskurs selbst erst festlegt. Diese
seinem analytischen Verfahren der historischen Dis-
Tradition begründet, lange bevor das Drama kursanalyse hat er ein eigenständiges Paradigma der
der Geschichte sich in sie einschreibt, die ele- Diskurstheorie begründet. Weniger auf Grund sei-
mentaren Strukturen der Kultur. (Lacan 1966: ner diskursanalytischen Prinzipien als auf Grund
I, 251-52; dt. Il, 19-20) seines thematischen Interesses an der Theorie des
Das Subjekt als Sklave der eigenen Sprache und Kul- Zeichens kann Foucault auch als Historiker und
tur läßt für Lacan die humanistische Vorstellung Theoretiker der Semiotik gelten. Sein Werk über
von der Einheit des >Individuums< (als dem >Unteil- Die Ordnung der Dinge ist eine implizite Geschich-
baren<) nicht mehr zu. An Stelle von Descartes' »Ich te der Zeichen und der Zeichentheorie. Die folgende
denke, also bin ich<<, setzt Lacan deshalb die Devise Darstellung muß auf die semiotischen Aspekte sei-
fa pense, >es denkt<, d.h., es, das Andere denkt, und nes Werks beschränkt bleiben.
52 I. Geschichte der Semiotik
Literatur zum Werk von Foucault findet sich bei und extradiskursive Dependenzen, die zwischen dem
Piaget (1968: 128-135), Corvez (1969: 35-78), Diskurs und Elementen seines nichtdiskursiven Um-
Kurzweil (1980: 193-226), Hoy (ed. 1986), Kamm- feldes bestehen (vgl. Threadgold 1998).
ler (1986, 1990), Marti (1988), Barker (1993),
Sarup (1993), Kögler (1994), Lechte (1994) und
Threadgold (1998). 5.2 Foucaults antihumanistischer
Strukturalismus
Ebenso wie für Lacan ist auch für Foucault das Ver-
5.1 Foucaults historische Diskursanalyse schwinden des Subjektes im System der Diskurse
Foucaults diskuranalytisches Verfahren ist zugleich und der diskursiven Praktiken ein zentrales Thema.
strukturalistisch und einigen Prinzipien des Struktu- Foucaults Ziel ist die >>Destruktion des Subjektes<<
ralismus entgegengesetzt. Strukturalistisch ist das (Kögler 1994: 27), die Aufdeckung der Fiktion vom
Analyseverfahren, das Foucault 1964 als kenn- humanistischen Konzept eines wissenden, wollen-
zeichnend für die Diskursanalyse nennt (Foucault den und urteilenden Subjektes. Nach Foucault
1963: dt. 15; Kammler 1990: 31-32). Danach ist (1966b: 15) >>bewegen wir uns in einem anonymen
>>der Sinn einer Aussage nicht definiert durch den und uns einzwängenden Denksystem, welches das
Schatz der in ihr enthaltenen Intentionen, durch die System einer Epoche und einer Sprache ist<<. Eine
sie zugleich enthüllt und zurückgehalten wird, son- Autonomie des Subjektes kann es deshalb nicht ge-
dern durch die Differenz, die sich an andere, wirk- ben, denn der Mensch ist immer das Produkt der
liche und mögliche, gleichzeitige oder in der Zeit Diskurse und der Geschichte, und ganz im Sinne der
entgegengesetzte Aussagen anfügt.« Hier wird der strukturalistischen Auffassung von der Systemim-
Saussuresehe Gedanke vom semiotischen Wert, der manenz der Zeichenwerte thematisiert Foucault die
sich nur aus den Oppositionen im System ergibt, Unmöglichkeit eines die Diskurse transzendieren-
deutlich. Foucault wendet sich im gleichen Kontext den Subjektes. Diese Einsicht in die Unmöglichkeit
gegen die Hermeneutik und ihr Prinzip des Kom- der Transzendenz der Diskurse hält Foucault auch
mentars, wonach es im Text >>einen Überschuß des den Humanisten entgegen, denen er vorwirft, ihre
Signifikats im Verhältnis zu Signifikanten« gebe Begriffe von Moralität und Wert von außen in ein
(ebd.: 14), den der Interpret nur aufzudecken habe. semiotisches System einführen zu wollen, wo doch
So gesehen, sind Diskurse nach Foucault struktura- Bedeutung nach strukturalistischer Einsicht nur in-
listisch definiert als >>Systeme von Aussagen, deren nerhalb eines Systems generiert werden könne. Sil-
Sinn sich aus den synchronen und diachronen Op- verman (1983: 129) faßt diese Foucaultschen Ge-
positionsbeziehungen ergibt<< (Kammler 1990: 32). danken wie folgt zusammen:
Unvereinbar mit den Prinzipien des Saussu-
resehen Strukturalismus ist dagegen Foucaults Theo- Foucault besteht darauf, daß der Mensch, so
rie von den diskursiven Praktiken, die er nicht als das wie wir ihn kennen, durch Diskurse bestimmt
Produkt eines Kodes, Systems oder einer Iangue be- ist und daß wir ihn >>auflösen<< können, indem
greift, sondern als etwas, das sich erst durch den Dis- wir jene Diskurse auf die Probe stellen. Foucault
kurs selbst konstituiert. Lechte (1994: 111) faßt die- sagt nicht, daß wir dadurch die Kategorie des
sen Aspekt von Foucaults Diskurstheorie wie folgt Menschen aufheben werden, sondern, daß wir
zusammen: >>Eine diskursive Praxis ist die Regulari- die Begriffe dekonstruieren werden, mit denen
tät, die sich erst aus dem Akt ihrer Artikulation er- wir jene Kategorie bisher verstanden haben.
gibt. Sie besteht nicht vor ihrer Artikulation. Die Sy-
stematizität der diskursiven Praktiken ist weder
logischer noch linguistischer Art. Die Regularität des 5.3 Foucaults diskursanalytische Geschichte
Diskurses ist eine unbewußte, und sie geschieht auf der Semiotik
der Ebene von Saussures parole und nicht auf der Foucault stellt mit seinem Werk Die Ordnung der
Ebene einer vorgegebenen Iangue. << Dinge (1966a) den Entwurf einer Kulturgeschichte
Durchaus semiotisch ist schließlich Foucaults der Zeichenkonzeptionen in drei geschichtlichen
weit gefaßter Diskursbegriff, der sich nicht nur auf Epochen vor, in der Renaissance, der Aufklärung
verbale Texte beschränkt, sondern auch visuelle und und während des Zeitabschnitts vom 19. Jh. bis
nonverbale Zeichen, Verhaltensweisen, Ereignisse, zum Strukturalismus des 20. Jh.s. Der französische
Praktiken, T echnologien und kulturelle Verfahren Titel dieser Untersuchung, Les mots et /es choses,
mit umfaßt (Threadgold 1998). Entsprechend weit besagt deutlicher, worum es geht, nämlich um die
gefaßt ist auch Foucaults Theorie der diskursiven De- Beziehungen zwischen den Zeichen und dem, was
pendenzen, mit der er einen eigenen Beitrag zur sie bezeichnen. Die untersuchten Zeichen entstam-
Theorie der Intertextualität liefert. Foucault unter- men den drei Wissenschaften Biologie, Ökonomie
scheidet intradiskursive Dependenzen zwischen den und Sprachwissenschaft. In der Sprache sind die
Elementen eines Diskurses, interdiskursive Depen- Wörter die Zeichen, und ihr referentieller Bezug
denzen zwischen Elementen verschiedener Diskurse liegt in der repräsentierten Welt. In der Ökonomie
1.8 Strukturalismus, Poststrukturalismus und die Semiotik 53
handelt es sich um Geld als Zeichen von Werten, sen war Diskurs. Der Sprache kam somit eine fun-
und in der Naturgeschichte geht es um die Zeichen- damentale Bedeutung in bezug auf alles Wissen zu:
systeme zur Klassifizierung von Fauna und Flora. nur durch das Medium Sprache konnte Wissen über
Foucaults Ziel war es, zu bestimmen, >>nach wel- die Dinge der Welt gewonnen werden<< (ebd.: 295-
chem Ordnungsraum das Wissen sich konstituiert 96). Folglich erhält die Allgemeine Grammatik ei-
hat, auf welchem historischen Apriori f... l Ideen er- nen zentralen Stellenwert in der Philosophie (ebd.:
scheinen können<< (1966a: dt. 24). Die Bedingungen 83 ). Sie wird zum universellen Modell aller wissen-
für die Konstitution des Wissens in einem gegebe- schaftlichen Reflexion.
nen Wissensgebiet nennt Foucault Episteme. Seine Das 19. Jh., das Jahrhundert des Historismus
These lautet: >>In jeder Kultur und zu jedem gegebe- und des Empirismus, ist von der Entdeckung der
nen Zeitpunkt gibt es immer nur ein Epistem, wel- Geschichtlichkeit und der Gesetze des Sprachwan-
ches die Bedingungen und die Möglichkeit allen dels geprägt. Sprache wird nunmehr zu einem Ob-
Wissens bestimmt<< (ebd.: 168). Von diesen Grund- jekt: >>Sprache zu kennen, bedeutet nicht mehr, dem
gedanken ausgehend, sucht Foucault nun die Epi- Wissen so nah wie möglich zu sein. Es heißt jetzt nur
steme zu bestimmen, die für die Theorien der Spra- noch, die Methoden des Verstehens im allgemeinen
che, Biologie und Ökonomie in den drei Epochen auf einen bestimmten Bereich der Objektivität an-
den gemeinsamen Bezugsrahmen darstellten. zuwenden<< (ebd.: 296). Mit der Entstehung von
Für die Renaissance arbeitet Foucault als allge- Philologie, Biologie und politischer Ökonomie ge-
meines Denkmuster der drei Wissenschaften das horchen die Dinge nicht mehr den Gesetzen des Dis-
Epistem der Similarität heraus: kurses und der Allgemeinen Grammatik, sondern
denjenigen ihrer eigenen historischen Entwicklung.
Bis zum Ende des 16. Jh. hat die Ähnlichkeit im
Dies ist das Ende des Epistems vom Diskurs. Der
Denken der abendländischen Kultur eine tra-
Mensch beginnt, sich in einer neuen Relation zwi-
gende Rolle gespielt. Sie hat zum großen Teil die
schen Wörtern und Sachen zu emanzipieren. Fou-
Exegese und Interpretation der Texte geleitet.
cault zitiert Humboldt: >>Sprache ist menschlich: sie
[... ] Die Erde war die Wiederholung des Him-
verdankt ihren Ursprung und Fortschritt unserer
mels, die Gesichter spiegelten sich in den Ster-
vollständigen Freiheit.<< Foucault folgert daraus:
nen, und das Gras hüllte in seinen Halmen die
>>Sprache ist nicht mehr mit der Erkenntnis der Din-
Geheimnisse ein, die dem Menschen dienten.
ge verknüpft, sondern mit der Freiheit des Men-
Die Malerei imitierte den Raum, und die Reprä-
schen<< (ebd.: 291). Dieser Ursprung der Freiheit ist
sentation [... ]gab sich als Wiederholung: Thea-
für Foucault der Ursprung der Humanwissenschaf-
ter des Lebens oder Spiegel der Welt. (Foucault
ten, aber:
1966a: dt. 46).
Der Mensch hat sich gebildet, als die Sprache
In der Klassik war das Epistem ein anderes:
zur Zerstreuung bestimmt war, und wird sich
Ähnlichkeiten mußten jetzt der Überprüfung durch
deshalb wohl auflösen, wenn die Sprache sich
Vergleich unterzogen werden. Die Ordnung der
wieder sammelt. [... ]Der Mensch ist eine Erfin-
Dinge wurde ohne Bezug auf etwas anderes ermit-
dung, deren junges Datum die Archäologie un-
telt. Das Wort war nicht länger Zeichen einer
seres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch
Wahrheit, vielmehr war es Aufgabe des Wortes, die-
das baldige Ende. (ebd.: 461-62).
se Wahrheit, sofern möglich, zu übersetzen. Seit den
Stoikern bis zur Renaissance waren die Zeichen
nach Foucault triadischer Natur gewesen, mit der
Objektreferenz als drittem Korrelat (s. III.2), aber 6. Derridas Dekonstruktivismus
im Zeitalter von Port-Royal wurden die Zeichen als
dyadisch begriffen. Nunmehr seiner Beziehung zur Jacques Derrida (geb. 1930) setzt sich mit dem Struk-
externen >Realität< beraubt, wird das Zeichen zu ei- turalismus auf der Grundlage einer von Husserl und
ner Verknüpfung zwischen der Idee eines Dinges Nietzsche beeinflußten Philosophie auseinander
und der Idee eines anderen (ebd.: 63). Die Folge die- (Derrida 1967a, b, c, 1968, 1992). Seine Theorien im
ser Entwicklung war eine wachsende Bedeutung des Kontext des (Post-)Strukturalismus oder gar Neo-
Zeichens im Denken der Klassiker: >>Zuvor waren strukturalismus (Frank 1984) bzw. Superstruktura-
die Zeichen Mittel der Erkenntnis und Schlüssel lismus (Harland 1987) erörtern u.a. Wahl (1968b),
zum Wissen gewesen; jetzt sind sie mit der Reprä- Jameson (1972), Seung (1982b), Kamuf (ed. 1991),
sentation, d.h. mit dem Denken als Ganzem, dek- Wood (ed. 1992) und Sarup (1993). Von besonderer
kungsgleich<< (ebd.: 65). Somit entstand eine Spal- Relevanz für die Semiotik sind Derridas Theorien der
tung zwischen den Zeichen und seinem Objekt. Da Repräsentation (s. 111.8.6.2), seine Zeichentheorie
die Wörter nicht mehr den direkten Zugang zu den (Englert 1987), seine Philosophie der Schrift, die er
Dingen ermöglichten, war alles, was noch übrig Grammatologie nennt (ausführlicher: s. VI.5.5.2),
blieb, Repräsentation, Diskurs und Kritik (ebd.: 78- und sein Verfahren der Dekonstruktion in der Text-
79). >>Sprache war eine Form des Wissens, und Wis- und Literaturtheorie und Praxis der Interpretation
54 I. Geschichte der Semiotik
(Harari, ed. 1979; Culler 1982; Norris 1982; Ulmer gnifikanten, niemals auf Signifikate verweisen, son-
1985; Culler 1988; Kimmerle 1988; Tallis 1988; dern auch die strukturalistische Konzeption von der
Menke 1990; Zima 1994; Dillon 1995; Brannigan et Markiertheit binärer Oppositionen (s. II. 7.3; Nöth
al., eds. 1996). 1994a: 42). Den Gedanken einer Asymmetrie der
Werte in Oppositionen wie positiv/negativ, wört-
lich/nicht-wörtlich, normal/abweichend, wie sie sich
6.1 Derridas Zeichen- und Strukturtheorie in der Dominanz je eines dieser binären Glieder im
Ausgangspunkt der zeichentheoretischen Über- System der Werte zeigt, lehnt Derrida (1977: 236)
legungen Derridas ist der Strukturalismus F. de als >> hierarchisch-axiologisch << oder gar als eine
Saussures, vor allem seine Thesen von der Arbitra- >>metaphysische Geste<< ab, da er an die Priorität ei-
rität und der dyadischen Struktur des Zeichens nes semiotischen Fundamentes erinnere, welches es
sowie seine Theorie von der Struktur als Produkt nicht geben könne.
eines Systems von Differenzen (s. 11.2). Diese und
andere Prinzipien des Strukturalismus revolutio-
niert Derrida, denn nicht die Struktur, sondern die 6.2 Differenz, Aufschub und Textualität
Dekonstruktion der Zeichen und Texte ist sein Die Theorie der Dekonstruktion kritisiert den her-
Ziel. Dabei wendet er sich gegen jegliche, wie er meneutischen Gedanken von einer den Texten inhä-
meint, metaphysische Bezugnahme, auf ein >>tran- renten Struktur. Ebensowenig könne es textuelle
szendentales Signifikat<<, eine Bedeutung, die ein Universalien und Kodes der Interpretation geben.
Bezugspunkt des Zeichens außerhalb der Welt der Derrida begründet diese Theorie mit der Abwesen-
Zeichen selbst sein könnte. Es gibt für Derrida kein heit des transzendentalen Signifikats, welche das
Fundament der Bedeutungen, kein finales Signifi- Spiel der Signifikation bis ins Unendliche fortsetze.
kat außerhalb des Systems der semiotischen Diffe- Die Triebkraft in diesem Spiel der Signifikation sind
renzen, denn jedes Signifikat verweist auf alle an- das, was Derrida (1967b) mit dem Neologismus dif-
deren Zeichen im System der Differenzen und wird (erance (im Gegensatz zu difference >Differenz<) um-
dadurch selbst zum Signifikanten. Die Bedeutung schreibt.
bleibt somit letztlich immer nur eine bis ins Unend-
liche aufgeschobene Bedeutung, die niemals er- Die dif(erance ist das systematische Spiel der Dif-
reicht werden kann. ferenzen (differences) [... ].Das Spiel der Differen-
Bei diesen Überlegungen stützt sich Derrida zen verlangt in der Tat Synthesen und Verweise,
auch auf Peirce' Theorie der unendlichen Semiose die es verbieten, daß zu irgendeinem Zeitpunkt in
(s. 11.1 ), ohne freilich die Feireesche Theorie vom irgendeinem Sinn ein einfaches Element für sich
finalen Interpretanten zu akzeptieren. selbst präsent sei und ganz allein auf sich selbst
verweise. Sei es nun im gesprochenen oder im ge-
Peirce kommt der von uns intendierten Dekon- schriebenen Diskurs: kein Element kann als Zei-
struktion des transzendentalen Signifikats sehr chen fungieren, ohne auf ein anderes Element zu
nahe. [... ] Er sieht im Indefiniten des Verweises verweisen, das seinerseits einfach gegenwärtig
das entscheidende Kriterium, mit dessen Hilfe wäre. Diese Verkettung bewirkt, daß jedes >Ele-
man feststellen kann, daß es sich tatsächlich um ment< - Phonem oder Graphem - sich aus der
ein Zeichensystem handelt. [... ]Das sogenannte Spur konstituiert, welche es von den anderen Ele-
>>Ding selbst<< ist immer schon ein Repräsenta- menten des Systems in sich trägt. Diese Verket-
men. [... ]Das Repräsentamen kann nur funktio- tung, dieses Gewebe, ist der Text, der sich in der
nieren, indem es einen Interpretanten hervor- Transformation eines anderen Textes bildet.
bringt, welcher seinerseits zum Zeichen wird Nichts, weder in den Elementen, noch im System,
und so ad infinitum. Die Identität des Signifi- ist irgendwo jemals einfach gegenwärtig noch
kats mit sich selbst verbirgt und verschiebt sich abwesend. Es gibt nur Differenzen von Differen-
unaufhörlich. [... ] Das Eigentliche des Reprä- zen und Spuren von Spuren. (Derrida 1978: 142)
sentamens besteht darin, es selbst und ein ande-
res zu sein, als eine Verweisstruktur zu entste- Mit dieser These vom Spiel der Differenzen wider-
hen und sich von ihr selbst zu trennen. [... ] Das spricht Derrida letztlich Saussure nicht, sondern ra-
aber bedeutet, den Zeichenbegriff in dem Au- dikalisiert lediglich seinen Gedanken vom Wert, der
genblick zugrunde zu richten, wo - wie bei sich allein aus den negativen Differenzen ergibt. Die
Nietzsche - sein Absolutheitsanspruch aner- Spuren, die ein Zeichen von allen anderen Zeichen
kannt wird. (Derrida 1967a: dt. 85-87) in sich trägt, sind die Spuren jener Oppositionen,
jener Werte, die es nicht selbst als positiven Wert be-
Nicht nur die Saussuresehe Theorie vom Zeichen als inhalten kann. Derridas Theorie von den Spuren der
einer Dyade von Signifikant und Signifikat revolu- Differenzen impliziert eine zeitliche und eine räum-
tioniert Derrida und ersetzt sie durch die These von liche Dimension, die für ihn prototypisch in dem
den Signifikanten, die eigentlich nur auf andere Si- frz. Verb diffiirer (>unterscheiden< und >aufschieben<)
1.8 Strukturalismus, Poststrukturalismus und die Semiotik 55
zum Ausdruck kommt. Der zeitliche Effekt der Dif- sehen, stets provozierenden Gesellschafts- und Me-
ferenzen ergibt sich daraus, daß die Zeichen nie dientheorie vom Strukturalismus F. de Saussures
bloß anwesend oder ganz abwesend sind. Da näm- aus. Bei allem Wandel in seinem Werk, das sich vom
lich die abwesenden Zeichen durch ihre Spuren in Strukturalismus zum Poststrukturalismus und vom
den anwesenden präsent sind, besteht zwischen ih- Marxismus zum Postmarxismus entwickelte, blei-
nen ein dynamischer Prozeß: Die Wirkung der dif(e- ben zeichentheoretische Themen ein Leitmotiv der
rance ist letztlich immer eine der zeitlichen Verzöge- Kultur- und Medientheorie Baudrillards. Zum
rung, des Aufschubs, des zeitlichen Verschiebens, (Post-)Strukturalismus Baudrillards s. u.a. Kellner
aber auch eine Verräumlichung, die darin besteht, (1989), Gane (1991), Blask (1995) und Levin
daß sich die Elemente im mentalen Raum über Di- (1995). Den semiotischen Elementen bei Baudril-
stanzen hinweg aufeinander beziehen. >>Diese Ver- lard geht Genesko (1994) nach.
räumlichung ist die zugleich aktive und passive Her- Die Arbitrarität der Zeichen, die Saussuresehe
stellung der Intervalle, ohne die die >vollen< Theorie der Werte und der (nach Saussure) fehlende
Ausdrücke nicht bezeichnen, nicht funktionieren Referent der Zeichen sind die thematischen Leitlinien
würden (das a der differance weist auf jene Unent- für viele kulturkritische Thesen Baudrillards. In sei-
schiedenheit in bezug auf die Aktivität oder Passivi- nen ersten Schriften über das System der Dinge
tät)<< (Derrida 1978: 142). (1968) und die Konsumgesellschaft (La societe de
Als Verfahren der Textinterpretation kann so- consommation, 1970) geht es ihm um Konsumgüter
mit nicht die Konstruktion einer Textstruktur, son- als Zeichen, die ihren Referenten verloren haben,
dern nur eine niemals endende Dekonstruktion der weil ihr Wert nicht von der Sache her (ihrem Ge-
Texte in Betracht kommen, die ja ihrerseits Trans- brauchswert), sondern von einem durch Moden und
formationen anderer Texte sind. Der Dekonstrukti- Konsumterror erzeugten Konsumkode determiniert
vismus kann und will nun kein Verfahren der Text- ist. In Der symbolische Tausch und der Tod (1976)
analyse anbieten, das für die Aporien von der und in seinen späteren medienkritischen Schriften er-
zugleich anwesenden und abwesenden Textstruk- weitert Baudrillard seine zeichentheoretische Kultur-
tur, vom Fehlen eines Bezugssystems moralischer und Medienkritik zu einer semiotischen Kritik der
und ideologischer Werte und von der Unendlichkeit Postmoderne, in der die Zeichen nur noch Simula-
der textuellen Spuren einen Ausweg wüßte. Aber, tion, >> Simulakra << von Realität sind und das Original
so Lechte (1994: 107), >>der Dekonstruktivismus zur Kopie geworden ist. Selbst das Geldzeichen ist
behauptet auch nicht, diese Paradoxien und Wider- von seinem ökonomischen Referenten, der gesell-
sprüche aufheben zu können oder [... ] ein eigenes schaftlichen Produktion abgekoppelt und somit zu
Denksystem aufzustellen. Er sieht vielmehr ein, daß einem >>flottierenden Signifikanten<< geworden (Bau-
er gezwungen ist, eben diese Begriffe zu benutzen, drillard 1976: 41), denn >>der Referenzwert wird ab-
die er hinsichtlich ihres traditionellen Geltungs- geschafft, und übrig bleibt allein der strukturale
anspruchs für unhaltbar hält. Kurz, er muß (zumin- Wertzusammenhang<< (ebd.: 17). In einer Gesell-
destens vorläufig) diese Geltungsansprüche auf- schaft, die von ,, leeren Zeichen<< und ,, Kodes ohne
heben.<< Referenten<< beherrscht ist, wird schließlich selbst die
Alltagswelt und die Zeitgeschichte zu einem Simula-
krum. Statt Realität gibt es nur noch Hyperrealität,
7. Baudrillards poststrukturale Kultur- und die Kritik an den Medien, die die >Realität< nur
und Mediensemiotik noch selbst erzeugen, veranlaßt Baudrillard schließ-
lich, die postmoderne Mediengesellschaft sogar
Auch der Soziologie, Medien- und Kulturkritiker durch die These La guerre du golfe n'a pas eu lieu
Jean Baudrillard (geh. 1929) geht in seiner kriti- (1991; >Der Golfkrieg hat nicht stattgefunden<) zu
schen und poststrukturalen und oft apokalypti- provozieren, die der Titel eines seiner Bücher ist.
56 I. Geschichte der Semiotik
wohl Kretzmanns Thema die Geschichte der Seman- se & Mucci (1975: 207-285). Kapitel über einzelne
tik ist, finden sich bei ihm auch Erörterungen zu den Klassiker der Semiotik seit Peirce enthält der Band
Grundfragen der Theorie der Zeichen. Ein kurzes von Krampen (et al., eds. 1981).
und einflußreiches Panorama zur Geschichte der Se- Einzelne Artikel über die Geschichte der Semiotik
miotik bietet Jakobsan (1975). Monographien mit finden sich in den Sammelbänden von Eschbach &
Kapiteln zur Geschichte der Semiotik sind Walther Trabant (eds. 1983), Dutz & Schmitter (eds. 1985,
(1974: 9-43), Sebeok (1976: 3-26 und 1979) und 1986), in der Buchserie von Sulowski (ed. 1971,
Clarke (1987: 12-42). Deely (1982), Eco (1984b), 1973, 1976, von der nur der letzte Band in englischer
Kalinowski (1985) und Jakobsan (1988) erörtern Sprache erschien), in Kongreßbänden wie Lange-
verschiedene Themen der antiken, mittelalterlichen Seid! (ed. 1981: 62-85), Borbe (ed. 1984) oder Deely
und modernen Semiotik. Zur antiken Semiotik liegt (ed. 1986) und in den Semiotikenzyklopädien von
die Monographie von Manetti (1993) vor. Zur Er- Sebeok (ed. 1986) und Posner (et al., eds. 1996). Ei-
weiterung der semiotischen Geschichtsschreibung nige Themenhefte der Zeitschrift für Semiotik (z.B.
von ihren abendländischen Wurzeln auf Zeichen- 4.3 [1982] und 10.4 [1988]) sind einzelnen Kapiteln
theorien und -praktiken im Islam, in Indien, China der Geschichte der Semiotik gewidmet. Eine leider
und Japan, siehe vor allem Posner (et al., eds. 1996). nicht fortgesetzte Buchserie mit Reprints von Wer-
Ein Reader mit kommentierten Texten zur Ge- ken aus der Geschichte der Semiotik sowie anderen
schichte der Semiotik seit Platon ist Rey (1973, Arbeiten über die Ursprünge der Semiotik ist die von
1976). Eine kürzere Anthologie mit Auszügen von A. Eschbach herausgegebene Reihe Foundations of
Texten aus der Geschichte der Semiotik ist Calabre- Semiotics (Amsterdam: Benjamins).
59
Peirce und Saussure ist das Thema mehrerer Un- oft die Frage aufkommen ließen, ob sich mit der Ter-
tersuchungen, die vor allem auf den Unterschied minologie nicht auch das theoretische Gerüst verän-
zwischen den dyadischen Modellen von Saussure dert haben mochte (Weiss & Burks 1945: 383). We-
und dem triadischen Semiotikmodell von Peirce ein- gen dieser Schwierigkeiten sind gute Einführungen
gehen (Köller 1977; Deledalle 1979: 29-49; Cola- und Gesamtdarstellungen wichtige Hilfen beim Stu-
pietro 1991; Merrell1995a: 1-14; Liszka 1996: 15- dium der Feireeschen Semiotik.
17). Auf Hjelmslev und die strukturalistische Se- Wissenschaftliche Biographien zum Leben und
miologie erweitern Parret (1983: 23-40), Gorlee Werk von Peirce sind Walther (1989), Deledalle
(1992) und Johansen (1996c) diese Gegenüberstel- (1990a), Brent (1993) und Oehler (1993).
lung von Peirce mit der Semiotik in der Nachfolge Einführende Artikel zur Semiotik von Peirce
von Saussure. Den Vergleich von Peirce' triadischer sind Ransdell (1977, 1986), Zernarr (1977b), Fisch
Semiotik mit Bühlcrs triadischem Organonmodell (1978; auch in 1986), Savan (1980), Oehler
zieht Nagl (1992: 56-61). Santadia (1986) unter- (1981a), Skidmore (1981), Rochberg-Haiton &
sucht die Parallelen zwischen der Feireeschen Theo- McMurtrey (1983), Farmentier (1985) und Houser
rie von der unbegrenzten Semiose und Bachtins (1989).
Theorie der Dialogizität in Texten. Gesamtdarstellungen und allgemeine Studien der
Die linguistische Rezeption der Feireeschen Zei- Feireeschen Zeichentheorie sind Fitzgerald (1966),
chentheorie beginnt mit jakobson. Zum Einfluß Greenlee (1973), Walther (1973), Deledalle (1979),
von Peirce auf Jakobsous semiotische Linguistik Calvet de Magalhäes (1981), Scherer (1984), Pharies
und Ästhetik siehe Bruss (1978), Liszka (1981), (1985), Callaghan (1986), Savan (1988), Pape
Burg (1989) und Gorlee (1992). (1989), Marty (1990), Schönrich (1990), Proni
Peirce und Greimas vertreten vor allem wegen (1990), Spinks (1991), Johansen (1993), Merrell
Greimas' strukturalistischer Grundaxiome und sei- (1995a, 1997), Santadia (1995) und Liszka (1996).
nem programmatischen Ausschluß des Objektes als Zeitschriften, die sich in Themenheften der Se-
Korrelat des Semioseprozesses in wesentlichen miotik von Peirce gewidmet haben, sind Languages
Punkten unvereinbare semiotische Positionen. Den- 58 (1980) und American Journal ofSemiotics 2.1-2
noch gibt es auch Darstellungen der beiden Semioti- (1983). Sammelbände und Schriftenreihen zur
ker, in denen auf Komplementarität der beiden Se- Feireeschen Zeichentheorie allgemein sind die Peir-
miotikrichtungen verwiesen wird (van Wolde 1986; ce Studies 1(1979)ff., Ketner (et al., eds. 1981), die
Larsen 1991). Peirce Seminar Papers (1[1993]ff.) sowie Colapie-
Einen Einfluß von Peirce hat Derrida (1967a: tm & Olshewsky (eds. 1996).
85) in seiner Grammatologie anerkannt, wo er von Monographien zur Philosophie von Charles S.
Parallelen zwischen seiner Theorie der Dekonstruk- Peirce allgemein und zu seinem Pragmatismus im
tion und dem Feireeschen Prinzip der unendlichen besonderen, die zumeist auch die Feireesche Semio-
Semiose spricht (siehe ferner Buczyflska-Garewicz tik ausführlich darstellen, sind Goudge (1950),
1992; Pettigrew 1996). Kempski (1952), Murphey (1961), Gallie (1966),
Auch zwischen Peirce und Lacan gibt es Paralle- Ayer (1968), Feibleman (1970), Apel (1975), Alme-
len (Balat 1988; Santadia 1989; Spinks 1991). Sie der (1980), Esposito (1980), Freeman (ed. 1983),
betreffen die drei Feireeschen Kategorien von der Hookway (1985), Fisch (1986), Deledalle (1987),
Erstheit, Zweitheit und Drittheit einerseits und an- Kevelson (1987), Colapietro (1989), Nagl (1992),
dererseits die Triade vom Imaginären, dem Realen Corrington (1993), Hausman (1993), Oehler
und dem Symbolischen bei Lacan. (1993), Tiercelin (1993) und Brunning & Forster
In vielerlei Hinsicht ist auch Eco von Peirce be- (eds. 1997).
einflußt (z.B. Eco 1990 über Abduktion und den
Prozeß der unbegrenzten Semiose). Zu Parallelen
zwischen der Theorie der Dialogizität und unbe- 1.4 Editionen der Peirceschen Schriften
grenzten Semiose bei Peirce und der Literatursemio- Die Standardedition der Feireeschen Schriften sind
tik von Bachtin siehe Santaella (1986) und Ponzio die von 1931 bis 1958 edierten Collected Papers
(1990: 251-273). Zu Peirce undMorris s.l.l. (CP). Trotz ihrer 8 Bände (in 4) geben sie nur einen
fragmentarischen Einblick in die Schriften von Peir-
ce, zumal die CP keine chronologische Edition sind.
1.3 Zur Forschungslage Peirce' Complete Published Works sind bisher nur
Peirce hat nie eine Gesamtdarstellung seiner eigenen als Mikrofiche-Edition zugänglich (Peirce 1977a).
Zeichentheorie geschrieben, und seine Semiotik hat Eine Bibliographie ist Ketner et al. (comps. 1977).
sich über den Zeitraum eines halben Jahrhunderts in Die noch unveröffentlichten Manuskripte (MS) und
verschiedenen Phasen entwickelt (Murphey 1961; Briefe (L) von Peirce sind bisher nur als Mikrofilm
Apel1975; Proni 1990). Im Verlauf dieser Zeit hat es zugänglich (Peirce 1963-66; Robin, comp. 1967).
in der Zeichentheorie von Peirce viele, nicht zuletzt Eine neue und vollständige chronologische Werk-
auch terminologische Veränderungen gegeben, die ausgabe in ca. 30 Bänden ist seit 1982 in Vorberei-
Il.1 Charles Sanders Peirce 61
tung. Bisher sind aber nur 5 Bände erschienen (Peirce einer Gesetzmäßigkeit (CP 1.356-59). Es ist die Ka-
1982-1993). Einige Schriften zu semiotischen The- tegorie der Bezugnahme, der Reaktion, der Hand-
men sind auch in der vierbändigen Ausgabe der Ma- lung, des Faktischen, der rohen Gewalt, der Realität
thematischen Schriften von Peirce enthalten (Peirce und der Erfahrung in Zeit und Raum. Zweitheit
1976). Zwei andere wichtige Ausgaben semiotisch >>begegnet uns in Tatsachen wie dem Anderen, der
relevanter Schriften sind seine Contributions to » The Relation, des Zwangs, der Wirkung, Abhängigkeit,
Nation« (Peirce 1975-79) und seine Briefe an Victo- Unabhängigkeit, Negation des sich Ereignenden,
ria Lady Welby (Peirce 1977b). Ausgewählte semio- der Realität und des Ergebnisses<<. Während also
tische Schriften sind Peirce (1940, 1958, 1972, 1991, Phänomene der ersten Kategorie bloße Möglichkei-
1992a, b). In deutscher Übersetzung erschienen u.a. ten beinhalten, gehören die Phänomene der Zweit-
die 2 Bände Schriften I und II (übers. K.O. Apel, heit zur Welt des Faktischen, das sich in Opposition
Frankfurt: Suhrkamp 1967 u. 1970), Phänomen und zu etwas anderem darstellt.
Logik der Zeichen (übers. H. Pape, ebd. 1983) sowie Drittheit bringt ein Zweites in Bezug zu einem
Semiotische Schriften I-III (übers. Chr. Kloesel u. H. Dritten (CP 1.337ff., 5.66). Es ist die Kategorie der
Pape 1986, 1990 u. 1993, ebd.). Vermittlung, Erinnerung, Gewohnheit, Notwendig-
keit, Gesetzmäßigkeit, Kontinuität, Synthese, Kom-
munikation, Repräsentation, Semiose und der Zei-
chen.
2. Phänomenologische und semiotische
Grundlagen
2.2 Peirce' pansemiotische Sicht des Universums
Grundlage der Peirceschen Semiotik ist seine Ontolo- Obwohl Zeichen genuin nur der Kategorie der
gie und Phänomenologie, deren Kern seine Lehre von Drittheit angehören, sieht Peirce auch in Phänome-
den drei Universalkategorien Qualität, Relation und nen der Erstheit und der Zweitheit semiotische
Repräsentation ist. Zeichen und semiotische Prozesse Aspekte. Er beschreibt sie als Fälle der sogenannten
sind danach als Phänomene der dritten Kategorie de- degenerierten (uneigentlichen) Semiose (s. 4.2). Die-
finiert, aber auch die Phänomene der ersten und se Möglichkeit der Allgegenwärtigkeit von Zeichen-
zweiten Kategorie haben nach Peirce semiotische haftern führt Peirce zu der pansemiotischen Grund-
Aspekte, so daß es in seiner Zeichentheorie keine se- annahme, daß Kognition, Denken und sogar der
miotische Schwelle zwischen den semiotischen und Mensch selbst semiotischer Natur sind. Wie jedes
nichtsemiotischen Phänomenen gibt. Die Peircesche Zeichen bezieht sich auch jeder Gedanke auf Objek-
Semiotik basiert somit auf einer pansemiotischen te der Welt und auf andere Gedanken, denn >>alles,
Sicht des Universums. worüber wir nachdenken, hat eine Vergangenheit<<
(CP 5.253). Peirce gelangt schließlich sogar zu dem
Schluß, daß >>jeder Gedanke ein Zeichen ist<<. Diese
2.1 Die drei Universalkategorien Zeichenhaftigkeit der Gedanken >>in Verbindung
Die Phänomene (Peirce nennt sie Phanerons), die mit der Tatsache, daß das Leben ein Gedankenfluß
sich dem menschlichen Geist (mind) als bloße Ima- ist, beweist, daß der Mensch ein Zeichen ist« (CP
gination, als Wahrnehmung, Vorwissen oder im 5.314; vgl. auch Burks 1981 und Singer 1984: 53-
Verlauf der mentalen Interpretation der Welt dar- 73 zur These vom Menschen als Zeichen). Diese se-
bieten, reduziert Peirce auf drei Wahrnehmungska- miotische Sicht vom Menschen und der menschli-
tegorien, denn es gibt nur >>drei Arten von Elemen- chen Kognition bezieht sich auf Gegenwärtiges,
ten, die eine aufmerksame Wahrnehmung in einem Vergangenes und Zukünftiges:
Phänomen erkennen kann« (CP 8.265). Während
Aristoteles zehn und Kant zwölf ontologische Kate- Ein Mensch denotiert, was immer das Objekt sei-
gorien postuliert hatten, basiert die Peircesche Phä- ner Aufmerksamkeit zum gegenwärtigen Zeit-
nomenologie auf nur drei Universalkategorien, die punkt sein mag. Er konnotiert, was immer er von
er Erstheit, Zweitheit und Drittheit nennt (CP diesem Objekt weiß oder fühlt und was die
1.300ff.; 1.545f.; 8.328ff.; Zeman 1977b: 23-24; Verkörperung dieser Form oder die Art seines
Esposito 1980: 163): Verstehens sein mag. Sein Interpretant ist die
Erstheit ist >>die Seinsweise dessen, das so ist, zukünftige Erinnerung dieser Kognition, sein zu-
wie es ist, in positiver Weise und ohne Bezug auf ir- künftiges Selbst oder eine andere Person, an die
gend etwas anderes« (CP 8.328). Es ist die Katego- er sich wendet oder ein Satz, den er schreibt oder
rie des unreflektierten Gefühls, der bloßen Möglich- ein Kind, das er bekommt. (CP 7.591)
keit, der Unmittelbarkeit, Spontaneität, Freiheit,
der noch undifferenzierten Qualität und Unabhän- Nach dieser pansemiotischen Sicht des Universums
gigkeit (CP 1.302-303, 1.328, 1.531 ). sind Zeichen nicht eine Klasse von Phänomenen ne-
Zweitheit manifestiert sich in der Relation eines ben anderen nichtsemiotischen Gegenständen, denn
Ersten mit einem Zweiten, unabhängig von irgend- >>das gesamte Universum ist von Zeichen durch-
62 II. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
drungen, wenn es nicht sogar ausschließlich aus Zeichen sind danach nicht eine bestimmte Klas-
Zeichen besteht« (CP 5.448, FN). Nach diesen Prä- se von Gegenständen, sondern jedes beliebige Et-
missen erweist sich die Semiotik als eine Universal- was, das die triadische Relation der Vermittlung
wissenschaft, über die Peirce am 23.12.1908 folgen- (mediation) zwischen einem Ersten und einem
des an Lady Welby schrieb: Zweiten begründet. Beispiele für Zeichen sind somit
>>Bilder, Symptome, Wörter, Sätze, Bücher, Büche-
Es ist mir noch nie möglich gewesen etwas zu reien, Signale, Befehle, Mikroskope, Parlamentsab-
untersuchen, ohne es als einen Gegenstand se- geordnete, Konzerte und ihre Aufführungen<< (MS
miotischer Studien zu betrachten, sei es Mathe- 634: 18). Während aber einerseits jedes beliebige
matik, Ethik, Metaphysik, Gravitation, Ther- Phänomen als Zeichen fungieren kann, gilt anderer-
modynamik, Optik, Chemie, Vergleichende seits, daß >>nichts Zeichen ist, was nicht als Zeichen
Anatomie, Astronomie, Psychologie, Phonetik, interpretiert wird<< (CP 2.308).
Ökonomie, Wissenschaftsgeschichte, Whist, Interpretation bzw. ein >>interpretierender Ge-
Männer und Frauen, Wein oder Metrologie. danke<< (CP 8.322) als Bedingung für Zeichenhaf-
(Peirce 1977b: 85) tigkeit scheint zugleich auch einen menschlichen
oder zumindest animalischen Interpreten vorauszu-
setzen, und in der Tat beschreibt Peirce in vielen sei-
3. Das Zeichen als triadische Relation ner Definitionen den Interpretanten des Zeichens in
Kategorien des menschlichen Geistes. Seine Semio-
Als Phänomen der Drittheit bringt das Zeichen drei tik geht jedoch über eine mentalistische Konzeption
Konstituenten oder besser Korrelate in eine triadi- des Zeichens hinaus, denn Peirce definiert neben
sche Beziehung, nämlich erstens das Zeichen im en- Zeichen, die einen mentalen Interpretanten erzeugen,
geren Sinn, auch Repräsentamen genannt, zweitens auch solche triadischen Phänomene als Zeichen, an
das Objekt, auf das sich das Zeichen bezieht, und denen kein menschlicher Geist beteiligt ist (Santaella
drittens der sogenannte lnterpretant, in etwa die Be- 1995: 24). Statt von >>Geist<< spricht Peirce in diesen
deutung des Zeichens. Fällen von >>Quasi-Geist<< ([quasi-mind], CP 4.551),
er spricht aber auch dem >>Quasi-Geist<< die Fähigkeit
zu, Gedanken zu haben. >>Gedanken [thought] sind
3.1 Das Zeichen und der Prozeß der Semiose nicht notwendigerweise mit einem Gehirn verbun-
Anders als bei Saussure, für den das Zeichen Ele- den. Sie erscheinen in der Arbeit von Bienen, von Kri-
ment eines Systems ist, das sich durch seine bloße stallen und überall in der rein physikalischen Welt<<
Opposition oder Differenz zu anderen Elementen (CP 4.551). Deshalb finden sich nach Peirce Zeichen
des Zeichensystems konstituiert, ist das Zeichen nicht nur in mentalen, sondern auch in biologischen,
bei Peirce als eine triadische Relation definiert, die chemischen und sogar physikalischen Prozessen, und
einen dynamischen Prozeß der Interpretation aus- aus diesem Grund ist >>das gesamte Universum mit
löst. Zeichen durchdrungen<< (s. 2.2).
3.2 Das Zeichen und das Repräsentamen mentales oder imaginäres Konstrukt und somit
Wenn wir vom Peirceschen Zeichenmodell oder von >>von der Natur eines Zeichens oder Gedankens
seinem Modell des Zeichens als einer triadischen sein« (CP 1.538).
Relation sprechen, so verwenden wir dabei einen Selbst wenn das Objekt ein materielles >>Ding«
Zeichenbegriff im weiteren Sinn, der alle drei Korre- ist, so ist es doch nur insofern Objekt des Zeichens,
late des Zeichens beinhaltet. Auch Peirce benutzt als es >>etwas ist, das in gewisser Hinsicht unseren
den Begriff des Zeichens gelegentlich in diesem wei- Geist erreicht«, denn das Objekt ist »dasjenige, was
teren Sinn, z.B. wenn er davon spricht, daß sich ein erwähnt wird oder worüber wir [gerade] denken«
Zeichen als solches aus drei Bezügen konstituiert: (L 482; vgl. Santaella 1985: 47). Das Objekt muß
,, Erstens ist es ein Zeichen für einen bestimmten Ge- dem Interpreten deshalb bereits bekannt sein und ist
danken, der es interpretiert; zweitens ist es ein Zei- somit ein dem aktuellen Zeichen vorausgehendes
chen für ein Objekt, mit dem es in jenem Gedanken Zeichen. Deshalb »kann das Zeichen das Objekt
äquivalent ist; drittens ist es ein Zeichen in einer ge- nur repräsentieren und über es berichten. Es kann
wissen Hinsicht oder Qualität, durch die es mit seinem kein Kennen oder Wiedererkennen des Objektes lei-
Objekt in Verbindung gebracht wird<< (CP 5.283 ). sten.[ ... ] Es setzt eine Bekanntschaft voraus, um da-
Zumeist meint Peirce jedoch mit Zeichen nicht bei eine weitere Information über das Objekt zu ver-
die vollständige triadische Zeichenrelation, sondern mitteln« (CP 2.231). Das Objekt ist in seiner
allein >>das erste Korrelat der triadischen Zeichenre- Zeichenhaftigkeit deshalb vom Repräsentamen nur
lation« (CP 2.242). Dieses erste Zeichenkorrelat insoweit unterschieden, als es ein weniger entwickel-
oder Zeichen im engeren Sinn definiert Peirce in sei- tes Zeichen ist, denn an Stelle des aktuell durch das
nen Schriften bis 1903 oft auch als Repräsentamen, Zeichen vermittelte Wissen beinhaltet das Objekt
oder er spricht vom ,, Zeichen oder Repräsentamen « nur das dem gegenwärtigen Semioseereignis voran-
(CP 2.228, 2.274; Benedict 1985). gehende Vorwissen vom Repräsentierten.
Das Repräsentamen ist das >>wahrnehmbare Ob- Das Objekt repräsentiert danach in der Regel
jekt«, das als Zeichen fungiert (CP 2.230). Peirce auch »etwas anderes« als das Zeichen, wenngleich
spricht auch von einem »Vehikel, das dem Geist et- auch der Grenzfall einer Identität der Extension des
was von außen übermittelt« oder vom Zeichen selbst Repräsentamens und seines Objektes denkbar ist
>>in seiner eigenen materiellen Natur« (CP 1.339, (CP 2.230). Eine solche Identität findet sich z.B. teil-
8.333-34 ). Gelegentlich differenziert Peirce aber weise bei indexikalischen Zeichen, die auf einer
auch zwischen dem Repräsentamen und dem Zei- Teil-Ganzes-Beziehung beruhen und ferner bei
chen im engeren Sinn (vgl. Liszka 1996: 110-111). ostensiven Indices. Zu einer Identität von Zeichen
Nach einer dieser Unterscheidungen ist >Repräsen- und Objekt kommt es schließlich beim reinen Ikon,
tamen< der weitere Begriff, der für mental und das eine bloße Möglichkeit bezeichnet (Santaella
nichtmental verarbeitete Zeichen gilt, während >>ein 1995: 53) und auch bei dem, was Morris »optimale
Zeichen ein Repräsentamen mit mentalem Interpre- Ikonizität« nannte sowie bei dem sich selbst be-
tanten ist« (CP 2.274; Santaella 1995: 24). Während zeichnenden (autoreferentiellen) ästhetischen Zei-
danach alle Zeichen einem menschlichen Geist Vor- chen (s. VIII.l.2).
stellungen übermitteln, ist diese Bedingung nicht für
jedes Repräsentamen die Voraussetzung. 3.3.2 Unmittelbares und dynamisches Objekt
Peirce unterscheidet zwei Arten von Objekten, das
unmittelbare und das mittelbare oder auch dynami-
3.3 Das Objekt des Zeichens sche Objekt (Deledalle 1981; Santaella 1995: 53-66).
Mit >Objekt< meint Peirce nicht einfach ein außerse- Das unmittelbare Objekt ist das »Objekt im Zei-
miotisches Referenzobjekt oder einen >Gegenstand<, chen«, das Objekt »wie es das Zeichen selbst reprä-
der etwas anderes als ein Zeichen ist, denn da für sentiert und dessen Seinsweise folglich von der Re-
Peirce die Opposition zwischen Zeichen und Nicht- präsentation im Zeichen abhängt« (Peirce 1977b:
zeichen nicht gilt, ist für ihn auch das Objekt des 83; CP 4.536). Es ist mithin das Objekt, wie es das
Zeichens letztlich ein Zeichen, allerdings ein von Zeichen vermittelt, unabhängig davon, ob dieses Ob-
dem Repräsentamen unterschiedliches Zeichen (MS jekt >wirklich< existiert oder nicht. Berücksichtigt
599: 35-36; vgl. Santaella 1995: 55). man, daß das Objekt, wie oben erörtert, letztlich
auch ein Zeichen ist, so ist das unmittelbare Objekt
3.3.1 Definition des Objektes »die unmittelbare mentale Repräsentation dessen,
Das Objekt ist nicht etwa ein Gegenstand, der dem was das Zeichen anzeigt« (Santaella 1995: 55).
Zeichen gegenübersteht (L 482), sondern das, was Das mittelbare, reale oder auch dynamische
das Zeichen >>repräsentiert« (CP 2.230). Dabei Objekt ist das »Objekt außerhalb des Zeichens«,
kann es sich um ein einzelnes materielles Ding oder »die Realität, die auf bestimmte Art und Weise das
eine Klasse von Dingen handeln, vorausgesetzt, es Zeichen zu seiner Repräsentation zu bestimmen
ist uns>> wahrnehmungsmäßig vertraut« (CP 2.230, vermag« (Peirce 1977b: 83; CP 4.536). Das Zeichen
2.232). Das Objekt kann aber auch ein bloßes »kann dieses Objekt nicht ausdrücken, sondern nur
64 II. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
anzeigen, und es bleibt dem Interpreten überlassen, brochen, aber nie beendet werden (CP 5.284). Die
dieses Objekt durch kollaterale Erfahrung zu erken- Unendlichkeit dieses Prozesses ist allerdings prak-
nen<< (CP 8.314). Das dynamische Objekt ist dasje- tisch nur eine potentielle, wie Gallie (1966: 126)
nige, als welches sich das Objekt nach >>einem un- hervorhebt, denn >>Peirce will sagen, daß jeder wirk-
endlich langen und endgültigem Studium erweisen liche Interpretant eines gegebenen Zeichens theore-
würde«, das Objekt wie es als Ergebnis der Erfor- tisch durch ein weiteres Zeichen interpretiert wer-
schung durch eine >>objektive Wissenschaft« zutage den kann, und dieses durch ein weiteres, ohne daß
treten müßte (CP 8.183). Es hat somit den Charak- ein notwendiges Ende erreicht wird.[ ... ] Die Erfor-
ter einer finalen und deshalb aber auch unerreichba- dernisse des praktischen Lebens verkürzen unver-
ren Referenz. Da es nicht nur ein >reales Objekt< im meidlicherweise diese Möglichkeit einer endlosen
Sinne einer Realität ist, spricht Peirce von einem dy- Entwicklung.«
namischen Objekt, denn »vielleicht ist das Objekt ja
insgesamt ein fiktives« (CP 8.314). 3.4.3 Die drei Interpretanten
Während das Objekt als Kategorie der Zweitheit
nur eine zweifache Unterteilung erfordert (s. 3.3.2),
3.4 Der lnterpretant führt die Analyse des Interpretanten als Phänomen
Mit dem Begriff des Interpretanten ersetzt Peirce der Drittheit zu einer dreifachen Untergliederung.
den klassischen Begriff der Bedeutung. Significati- Die Wirkung des Zeichens auf den Interpreten läßt
on, significance und Interpretation sind Begriffe, die sich nach Maßgabe der drei Fundamentalkategori-
Peirce gelegentlich vereinfachend zur Definition des en unter dem Gesichtspunkt ihrer Qualität und Po-
Interpretanten anführt (CP 8.179, 8.184). tentialität, ihrer Faktizität und Realisierung sowie
ihrer Gesetzmäßigkeit oder Finalität bestimmen.
3.4.1 Pragmatische Grundlagen Dementsprechend unterscheidet Peirce zwischen
Die Feireesche Sicht von dem, was in der semioti- dem unmittelbaren, dem dynamischen und dem fi-
schen Tradition als Bedeutung definiert wurde, ist nalen Interpretanten (CP 4.536, 5.475-76, 8.314-
eine pragmatische (Gentry 1952; Alston 1956: 82- 15, 8.343; Fitzgerald 1966; Santaella 1995: 83-116;
85), denn der Interpretant ist für Peirce z.B. >>das ei- Liszka 1996: 24-31).
gentliche bedeutungshafte Resultat« oder die >>Wir- Der unmittelbare lnterpretant ist der Interpre-
kung des Zeichens<< (CP 5.474-75), »etwas, das im tant, wie er sich >>im Zeichen selbst zeigt« (CP
Geist des Interpreten erzeugt wird<< (CP 8.179). In 4.536). Er manifestiert sich in der >>Qualität des
Übereinstimmung mit seiner These vom Gedanken Eindrucks, den ein Zeichen zu erzeugen vermag,
als einem Zeichen (s. 3.1.1) und seiner Sicht von der nicht in konkreten Reaktionen« (CP 8.315). Ent-
Interpretation als einem Semioseprozeß definiert sprechend der Kategorie der Erstheit stellt der un-
Peirce auch den Interpretanten als ein Zeichen: >>Ein mittelbare Interpretant ein bloßes interpretatives
Zeichen wendet sich an jemanden, d.h., es erzeugt Potential dar, denn er ist >>die vollständige, noch un-
im Geiste dieser Person ein äquivalentes Zeichen analysierte Wirkung, die das Zeichen zu produzie-
oder vielleicht ein noch mehr entwickeltes Zeichen. ren vermag oder von der man annehmen könnte,
Das Zeichen, welches es erzeugt, nenne ich den In- daß es sie produzieren würde( ... ], die Wirkung, die
terpretanten des ersten Zeichens« (CP 2.228). das Zeichen zuerst in einem Geist produziert oder
produzieren kann, ohne daß irgendeine Reflexion
3.4.2 Unendliche Semlose über es erfolgt« (Peirce 1977b: 110-111). Der un-
und semiotische Dialogizität mittelbare lnterpretant ist somit die dem Zeichen
Da jedes Zeichen einen Interpretanten erzeugt, der >>eigene Interpretierbarkeit, bevor das Zeichen ei-
seinerseits das Repräsentamen eines weiteren Zei- nen Interpreten erreicht« (ebd.).
chens ist, erweist sich der Prozeß der Semiose als eine Der dynamische Interpretant ist die >>tatsächliche
>>Folge sukzessiver lnterpretanten« ad infinitum Wirkung des Zeichens« (CP 4.536), >>die direkte
(CP 2.303, 2.92). Es gibt kein >erstes< und kein Wirkung, die das Zeichen tatsächlich bei einem In-
>letztes< Zeichen im unendlichen Prozeß der Semiose, terpreten erzeugt[ ... ], das, was in jedem Interpreta-
aber dieser Gedanke der unendlichen Semiose be- tionsakt erfahren wird und was sich von jedem an-
deutet nicht etwa semiotische Orientierungslosig- deren unterscheidet« (Peirce 1977b: 111 ).
keit, sondern er verweist vielmehr auf den sehr ak- Der finale (normale, eventuale oder letzte) In-
tuellen Gedanken, daß >>Denken immer in Form terpretant ist entsprechend der Kategorie der Ge-
eines Dialogs vorgeht - eines Dialogs zwischen ver- wohnheit und Gesetzmäßigkeit definiert: >>Er ist
schiedenen Phasen des Egos - so daß das Denken, das, was am Ende als die wahre Interpretation be-
da es dialogisch ist, wesentlich aus Zeichen besteht« stimmt werden würde, wenn die Betrachtung der
(CP4.6). Angelegenheit so weit fortgesetzt würde, daß eine
Da sich >>jeder Gedanke selbst an einen anderen abschließende Meinung erreicht wäre« (CP 8.184).
wenden muß« (CP 5.253), kann der kontinuierliche Das mit diesem Interpretanten formulierte Ziel ei-
Prozeß der Semiose (oder des Denkens) nur unter- nes interpretativen Konsenses stellt ein bloßes Ideal
11.1 Charles Sanders Peirce 65
dar, das praktisch immer nur in Annäherung erreicht meines Gesetz [Drittheit] ist<< (CP 2.243). >>Ein
werden kann, aber es ist >>dasjenige interpretative Qualizeichen ist eine Qualität, die ein Zeichen ist<<
Ergebnis, zu dem jeder Interpret gelangen muß, wenn (CP 2.244), z.B. eine beliebige Farbe oder eine
das Zeichen nur ausreichend untersucht wird<< Form, wie ein Kreis oder eine beliebige andere Fi-
(Peirce 1977b: 111). Die Festlegung von Bedeutun- gur. Qualizeichen beinhalten jedoch nur die Mög-
gen in Lexikondefinitionen und die davon abgeleite- lichkeit eines Zeichens und bedürfen noch der Rea-
ten Sprachnormen und -gewohnheiten sind ein Bei- lisierung im Prozeß der Semiose. Sobald aber ein
spiel für eine weitgehende Annäherung an das Ideal Qualizeichen konkret in Raum und Zeit realisiert
der Zielsetzung eines finalen Interpretanten. (z.B. zu Papier gebracht) ist, ist es ein Sinzeichen (CP
Als weitere Klassifizierung der Interpretanten 2.244 ). Als Sinzeichen (>singuläres< Zeichen) ist es
hat Peirce die Trichotomie vom emotionalen, ener- >>ein tatsächlich existierendes Ding oder Ereignis<<
getischen und logischen Interpretanten eingeführt. (CP 2.245), also z.B. eine konkrete Warnlampe an
Einige Interpreten haben in diesen Begriffen Syn- einer bestimmten Stelle oder ein bestimmter Buch-
onyme oder Varianten der oben erörterten drei In- stabe auf diesem Blatt Papier.
terpretanten gesehen (Apel 1975: 125; Greenlee <<Ein Legizeichen ist ein Gesetz, das ein Zeichen
1973: 117; Liszka 1996: 120-123). Fitzgerald ist.[ ... ] Jedes konventionelle Zeichen ist ein Legizei-
(1966: 80) und Savan (1976) interpretieren die Tri- chen. Es ist kein singuläres Zeichen, sondern ein all-
chotomie >emotional- energetisch -logisch< als Un- gemeiner Typ, von dem Übereinkunft darüber be-
tergliederung des dynamischen Interpretanten. Jo- steht, daß er Bedeutung hat<< (CP 2.246). Jeder
hansen (1985) und Santaella (1995: 110-116) Buchstabe des Alphabets, jedes Wort einer Sprache
zeigen jedoch, daß die Trichotomie von emotiona- ist somit ein Legizeichen. Konventionalität ist je-
len, energetischen und logischen Interpretanten als doch kein notwendiges Kriterium für ein Legizei-
dreifache Subklassifizierung der Triade von unmit- chen. Auch der für eine bestimmte Vogelart typische
telbaren, dynamischen und finalen Interpretanten Vogelgesang ist ein Legizeichen, insofern er eine ar-
zu verstehen ist, aus der sich eine neunfache Unter- tentypische Form hat und gewohnheitsmäßig er-
gliederung des Interpretanten ergibt. zeugt wird (vgl. Liszka 1996: 36).
Zwischen den drei Klassen der ersten Tricho-
tomie ebenso wie bei denjenigen der anderen Tri-
chotomien bestehen vielfältige Überschneidungen.
4. Klassifikation der Zeichen Jedes Qualizeichen bedarf einer Aktualisierung
durch ein Sinzeichen, um wirklich Zeichen zu wer-
Grundlage der Peirceschen Zeichentypologie sind den, und jedes Legizeichen bedarf einer konkreten
seine drei Zeichentrichotomien, die die drei Korre- Realisierung durch ein Sinzeichen, um wirklich als
late des Zeichens in ihren möglichen Beziehungen Zeichen zu fungieren. Dennoch kann in einem Sin-
zueinander nach dem Gesichtspunkt ihrer Teilhabe zeichen der Aspekt des Qualizeichens oder auch
an den Kategorien Erstheit, Zweitheit und Drittheit des Legizeichens dominieren. In der konkreten
klassifizieren. Dabei sind triadisch voll entwickelte Poesie oder in der Dada-Poesie dominiert das Wort
Zeichen als genuin und Zeichen mit unvollständi- als Schriftbild oder Lautform und somit als Qua-
gen Triaden als degeneriert definiert (s. 4.2). Aus lizeichen. Betrachten wir dagegen einzelne Wörter
den Kombinationsmöglichkeiten der Klassen, die als lexikalische Einheiten, so sehen wir sie als Legi-
sich aus den drei Trichotomien ergeben, entstehen zeichen. Interessieren wir uns dagegen für ihre
die vollständigen Zeichenklassen. konkrete handschriftliche oder phonetische Reali-
sierung im Einzelfall, betrachten wir sie als Sin-
zeichen.
4.1 Die drei Zeichentrichotomien Im Falle der konkreten Realisierung eines Sin-
Die drei Zeichentrichotomien beschreiben (1) den zeichens durch ein Legizeichen spricht Peirce von ei-
Aspekt des Zeichens an sich, das zunächst auf nicht- ner Replik des Legizeichens (CP 2.246). Wenn z.B.
relationale, monadische Weise betrachtet wird, (2) der Artikel >die< neunmal auf einer Seite vorkommt,
den Aspekt des Zeichens in (dyadischer) Relation zu so handelt es sich hier um ein einziges Legizeichen,
seinem Objekt und (3) den Aspekt des Zeichens als von dem es auf dieser Seite neun Repliken gibt. In
die triadische Relation der Repräsentation eines der statistischen Linguistik, wo derartige Unter-
Objektes für einen Interpretanten. scheidungen zwischen Buchstaben bzw. Wörtern
als einmalige Einheiten des Sprachsystems und ih-
4.1.1 Erste Trichotomie rem vielfachen individuellen Vorkommen im Text
Die erste Trichotomie bestimmt das >>Zeichen als nützlich sind, wird der Unterschied zwischen dem
solches<< (CP 8.334). Ein Zeichen ist Qualizeichen, Legizeichen und seinen Repliken durch die Begriffs-
Sinzeichen oder Legizeichen, »je nachdem ob das dichotomie Type-Token zum Ausdruck gebracht.
Zeichen an sich eine bloße Qualität [Erstheit], etwas Type und Token sind von Peirce selbst eingeführte
tatsächlich Existierendes [Zweitheit] oder ein allge- Synonyme für Legizeichen und Replik.
66 II. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
~
I II III
e des Repräsentamens der Objektrelation des Interpretantenbezugs
Erstheit
(Möglichkeit) Quallzeichen Ikon Rhema
Zweitheit
(Existenz) Sinzeichen Index Dicent
Drittheit
(Gesetz) Legizeichen Symbol Argument
Abb. 11.1.2: Peirce' neun Subzeichenklassen
(1984), Pape (1989: 483-88), Gorlee (1990), Proni 8. Rhematisches Symbol (und Legizeichen),
(1990: 165, 207, 255) und Hausman (1993). z.B. »ein Gattungsname<< (Substantiv).
Es gibt zwei Stufen der Zeichendegeneration. 9. Dicentisches Symbol (und Legizeichen), z.B.
Einfach degenerierte Zeichen sind solche, die auf »eine gewöhnliche Proposition<<.
dyadischen Relationen beruhen, also dicentische 10. Argument (und Symbol sowie Legizeichen),
und indexikalische Zeichen. Zweifach degenerierte z.B. »ein Syllogismus<<.
Zeichen sind solche, die auf der Kategorie der Erst-
heit beruhen, also rhematische und ikonische Zei-
chen. Bei einem völlig auf der Kategorie der Erstheit
basierenden Zeichen, dem ikonisch rhematischen 5. Peirce' Theorie der Abduktion
Qualizeichen (s. 4.3) kann allerdings von Degenera-
tion eigentlich nicht mehr die Rede sein, denn hier Als Methode der wissenschaftlichen Argumentation,
handelt es sich nicht mehr um ein wirkliches Zei- als Verfahren zur Entdeckung neuen Wissens und als
chen, sondern nur um die reine Möglichkeit eines Weg zur Kreativität ist das von Peirce beschriebene
Zeichens. Aus der Degeneration der Zeichen von Schlußverfahren der Abduktion außer für die Wis-
Triaden zu Dyaden oder gar Monaden entstehen die senschaftstheorie und die Theorie der Argumentati-
verschiedenen Zeichenklassen. on vor allem für die Hermeneutik, die Textsemiotik
und die semiotische Ästhetik von besonderer Bedeu-
tung. Zur Peirceschen Theorie der Abduktion allge-
4.3 Die zehn Hauptzeichenklassen mein siehe Kempski (1952: 83-115), Fann (1970),
Aus den möglichen Kombinationen der jeweils drei Reilly (1970), Savan (1980), das Themenheft Versus
Subzeichen aus den drei Zeichenkorrelaten Reprä- 34 (1983), Hookway (1985), Anderson (1986), Kru-
sentamen (I), Objekt (II) und Interpretant (III, vgl. se (1986), Bonfantini (1987), Schönrieb (1990), Nagl
Abb. Il.l.2) ergeben sich die zehn Peirceschen (1992), Rohr (1993) und Richter (1995). Zur An-
Hauptzeichenklassen. Statt 3 x 3 x 3 = 2 7 Kombina- wendung des Prinzips der Abduktion in der Textse-
tionen der neun Subzeichen gibt es auf Grund eini- miotik und Hermeneutik siehe Sebeok & Umiker-
ger zeichenlogisch nicht möglicher Kombinationen Sebeok (1980), Eco & Sebeok (eds. 1983), Herrero
nur zehn Hauptzeichenklassen, denn z.B. kann ein (1988), Biere (1989), Eco (1990), Reichertz (1990),
Qualizeichen nur ikonisch und rhematisch, ein Sin- Schillernans (1992) und Rohr (1993). Zur Abduk-
zeichen kein Symbol und ein Index kein Argument tion in der semiotischen Linguistik siehe Andersen
sein. Zu den Peirceschen Zeichenklassen siehe aus- (1973), Savan (1980), Wirth (1993), und zur Rolle
führlicher Peirce (CP 2.254-63, 8.341), Pape (1989: der Abduktion in der Computersemiotik siehe
460-512), Proni (1990), Schönrieb (1990), Müller 1osephson & 1osephson (eds. 1994).
(1993), Santaella (1995) und Colapietro & 01-
shewsky (eds. 1996: 143-189).
In der folgenden Liste der zehn Hauptzeichen- 5.1 Abduktion, Induktion, Deduktion
klassen mit Beispielen nach Peirce sind die für die je- Peirce entwickelt seine Theorie der Abduktion in
weiligen Zeichenklasse redundanten bzw. voraus- mehreren Phasen seines Werkes (vgl. Richter 1995).
zusetzenden Subzeichen eingeklammert: Als Vorläufer des Abduktionsbegriffes finden sich
auch die Begriffe Hypothese (CP 8.227) und Retro-
I. 1. (Rhematisch ikonisches) Qualizeichen, z. B. duktion (NEM 4: 344). In der Geschichte der Logik
>>ein Gefühl von >rot<<<. wurde die Abduktion als Schlußverfahren von Peirce
li. 2. (Rhematisch) ikonisches Sinzeichen, z.B. neu eingeführt, aber Peirce führt sein Konzept des ab-
>>ein individuelles Diagramm<<. duktiven Schließens auch auf Aristoteles zurück, der
3. Rhematisch indexikalisches Sinzeichen, z.B. mit dem Begriff der arcayüY'(f] (An. Pr. 2.25) ein Ver-
>>ein spontaner Schrei<<. fahren des wissenschaftlichen Ratens auf logisch un-
4. Dicentisch (indexikalisches) Sinzeichen sicheren Voraussetzungen definierte.
oder auch Spuren (CP 8.341), z.B. >>eine 1903 beschreibt Peirce die Abduktion als einen
Wetterfahne<<. Prozeß, in dem wir eine »erklärende Hypothese auf-
III. 5. (Rhematisch) ikonisches Legizeichen, z.B. stellen<< und nennt sie »die einzige logische Operation,
Eigennamen (CP 8.341) oder »ein Dia- die zu einerneuen Idee führt<< (CP 5.171). 1878 defi-
gramm, unabhängig von seiner konkreten niert Peirce Abduktion als ein neues Schlußverfahren,
und individuellen Realisierung<<. das im Gegensatz zur Induktion und Deduktion steht.
6. Rhematisch indexikalisches Legizeichen, Eine Deduktion beweist, daß ein Sachverhalt
z.B. »ein Demonstrativpronomen<<. notwendigerweise so ist. Wir gehen von einer all-
7. Dicentisch indexikalisches Legizeichen, z.B. gemeinen Regel und einem beobachteten Einzelfall
»der Ausruf eines Straßenhändlers<<, Ver- aus und folgern daraus ein weiteres Wissen über die-
kehrszeichen, ein imperativer Befehl oder sen Einzelfall. Peirce (CP 2.623) gibt folgendes Bei-
ein Porträt mit einer Legende. spiel:
68 II. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
Regel: Alle Bohnen aus diesem Sack sind punktdie Annahme einer bloßen Möglichkeit, noch
weiß. ohne gesicherte Relation zum Tatsächlichen und
Fall: Diese Bohnen sind aus diesem Gesetzmäßigen ist, ist ein Phänomen der Erstheit.
Sack. Indem Peirce die Abduktion als wissenschaftliche
Resultat Methode zuläßt, stellt er sich zugleich gegen den po-
(Folgerung): Diese Bohnen sind weiß. sitivistischen Geist seiner Zeit, der nur direkte Verifi-
kation als wissenschaftliches Verfahren anzuerken-
Da der deduktive Schluß ein notwendiger ist, weil nen bereit war (vgl. Reilly 1970: 36-37). Abduktion
das Resultat bereits in der Regel enthalten ist, kann führt nach Peirce jedoch über die bloße Anwendung
er nie zu einer neuen Erkenntnis führen. von logischen Gesetzen hinaus, denn sie führt die Ka-
Eine Induktion entsteht aus der Umkehrung ei- tegorie der Imagination als heuristische Größe in den
ner Deduktion. Vom Einzelfall bzw. einer Vielzahl Prozeß der wissenschaftlichen Erkenntnis ein: >>Nur
experimentell beobachteter Einzelfälle und einem Imagination kann uns schließlich einen Schimmer
verifizierten Resultat wird verallgemeinernd auf ei- der Wahrheit vermitteln« (CP 1.46), und >>die wis-
ne Regel geschlossen. Die induktiv gewonnene Er- senschaftliche Imagination träumt von Erklärungen
kenntnis ist aber letztlich immer nur eine Wahr- und Gesetzen<< (CP 1.48). Deshalb ist auch nicht die
scheinlichkeitsaussage: Deduktion oder Induktion, sondern die Abduktion
Fall: Diese Bohnen sind aus diesem der Garant der wissenschaftlichen Kreativität: >>Alle
wissenschaftlichen Ideen entstehen auf dem Wege
Sack.
der Abduktion<< (CP 5.145).
Resultat: Diese Bohnen sind weiß.
Regel: Alle Bohnen aus diesem Sack sind
weiß. 5.3 Abduktion als kreativer instinktgeleiteter
Eine Abduktion schließt von einem erklärungsbedürf- Prozeß
tigen Resultat auf eine bisher unbekannte und nur Peirce hat in seinen späteren Schriften stärker den
probeweise angenommene (hypothetische) Regel, um Unterschied zwischen dem probabilistischen Cha-
einen Fall zu erklären: rakter der Induktion und dem kreativen Moment
Resultat: Diese Bohnen sind weiß. in der Abduktion hervorgehoben. Abduktion ist
(Hyp.) Regel: Alle Bohnen aus diesem Sack sind weder durch Wahrscheinlichkeitsannahmen noch
weiß. durch bloßen Zufall bestimmt. Wir gewinnen eine
Fall: Diese Bohnen sind aus diesem abduktive Einsicht >>blitzartig<< (CP 5.181), nach-
dem wir auf eine überraschende oder ungewöhnli-
Sack.
che Beobachtung gestoßen sind, und durch die neue
Aufgrund ihres bloßen hypothetischen Charakters Hypothese gelingt es uns, etwas zu verbinden, >>was
ist eine solche Abduktion als wissenschaftliches zusammenzubringen wir uns vorher nicht hätten
Verfahren und in Verbindung mit den anderen träumen lassen<< (ebd.). Das abduktive Verfahren
Schlußverfahren einsetzbar, wenn es zu einer wah- verläuft danach wie folgt:
ren Aussage führen soll (CP 2.270). Die Abduktion
führt von Wahrnehmungsurteilen zunächst nur vor- Die überraschende Tatsache C wird beobachtet.
läufig zu einer allgemeinen Regel. Aus dieser ab- Wenn aber A wahr wäre, wäre C eine natürliche
duktiven Regel müssen weitere allgemeine Sätze Folge.
deduziert werden, und diese müssen danach noch Folglich gibt es Grund zur Annahme, daß A
induktiv überprüft werden (CP 2.776). Je mehr Be- wahr ist. (CP 5.189)
obachtungen einen induktiven Schluß auf die ab- Abduktion ist zwar ein >>bloßes Raten« (CP 7.219),
duktiv postulierte Regel erlauben, desto mehr ge- aber dennoch abduzieren wir nicht einfach nach
winnt diese an ErklärungspotentiaL Gesetzen des Zufalls. Vielmehr spricht die begrenz-
te Zahl an richtigen Theorien, die Menschen im
Verlauf der Weltgeschichte aus der möglichen Zahl
5.2 Abduktion als Imagination der möglichen an Milliarden von Hypothesen tatsächlich abdu-
Gesetzmäßigkeit ziert haben dafür, daß wir beim Abduzieren von
Ein theoretischer Rahmen für die drei Formen des Prinzipien geleitet werden, die von vornherein mit
logischen Schließens ist die Peircesche Lehre von einer gewissen Wahrscheinlichkeit in eine richtige
den drei Kategorien (vgl. Apel1975: 299): Die De- Richtung führen (CP 5.591). Peirce nimmt hier die
duktion als Prozeß der Vermittlung durch rein logi- Wirkung eines evolutionsgeschichtlichen Instinkts
sche Gesetzmäßigkeiten gehört der Kategorie der für die richtige Einsicht an. Wir raten mit größerer
Drittheit an. Die Induktion als Prozeß der Bestäti- als nur Zufallswahrscheinlichkeit richtig, weil es
gung des Faktischen durch Konfrontation und Be- sonst zweifelhaft wäre, ob im Lauf der Evolutions-
gegnung mit den Tatsachen gehört zur Kategorie geschichte die Menschheit je das Wissen hätte er-
der Zweitheit. Die Abduktion, deren Ausgangs- reichen können, das sie erlangt hat (CP 2.753). Die
11.1 Charles Sanders Peirce 69
Fähigkeit zur richtigen Abduktion ist also ein Phä- sind in einigen Teilgebieten der Sprachwissenschaft
nomen der evolutionsgeschichtlichen Anpassung Tendenzen einer an Peirce orientierten semiotischen
des Menschen an seine Umwelt. Diese Anpassung Linguistik entstanden. Diese werden ausführlicher
hat zu einer Homologie bzw. Ikonizität zwischen in Artikel VI.2.1.2 erörtert.
Geist und Natur geführt, denn »es kann keinen ver-
nünftigen Zweifel darangeben, daß der menschli-
che Geist, der sich unter dem Einfluß der Naturge- 6.2 Peircesche Ansätze
setze entwickelt hat, aus eben diesem Grunde ganz in Text- und Literatursemiotik
natürlich etwas nach dem Muster der Natur denkt« Erste Anwendungen der Feireeschen Semiotik in der
(CP. 7.39). Analyse von Texten finden sich in der Texttheorie
von Max Bense (1962). Walther (1962) begründet
eine an Peirce und Bense orientierte Textsemiotik,
5.4 Semiotik der Abduktion in der es vor allem um die zeichentypologische Klas-
Abduktion, Induktion und Deduktion sind Formen sifizierung literarischer Texte und Textelemente
des Arguments und gehören als solche der zehnten geht (Walther 1965a, 1965b, 1971; Bense 1967:
Hauptzeichenklasse, der Klasse des argumentisch- 73-79, 1969: 91-96; Gerhardt 1969). Andere Un-
symbolischen Legizeichens, an (s. 4.3). Wie jedes tersuchungen zu literarischen und nichtliterarischen
Legizeichen sind Argumente Symbole, die auf Ge- Texten, die von der Feireeschen Zeichentypologie
setzmäßigkeiten verweisen bzw. diese herstellen. ausgehen, finden sich bei Browne (1971), Pignatari
Während jedes Argument als Repräsentamen sowie (1974), van Zoest (1974, 1977), Nöth (1980),
hinsichtlich seines Objekt- und Interpretantenbe- Dressler (1989) und Johansen (1996b). Das Thema
zugs der Kategorie der Drittheit angehört, unter- der Abduktion in der literarischen Kreativität wur-
scheiden sich die Argumente kategorial bei der wei- de mit der Studie von Sebeok & Umiker-Sebeok
teren Differenzierung ihres Interpretantenbezugs (s. (1980) zu Peirce und Sherlock Holmes ein Thema
5.2). Danach stellt die Abduktion ein Phänomen der von besonderem textsemiotischen Interesse (Eco &
Erstheit innerhalb der Drittheit des Interpretanten- Sebeok, eds. 1983; Herrero 1988; Eco 1990; Rohr
bezugs dar, da sie durch Merkmale wie Spontanei- 1993). Den Prozeß der literarischen Interpretation
tät, Originalität und bloße Möglichkeit gekenn- aus der Sicht der Feireeschen Interpretantentheorie
zeichnet ist (vgl. auch Rohr 1993: 106). Ferner und seiner Theorie der unbegrenzten Semiose the-
beinhaltet das abduktive Argument auch einen matisieren u.a. Riffaterre (1985) und Eco (1990).
Aspekt der Ikonizität, da es eine Ähnlichkeit zwi- Weitere Themen einer allgemeinen Literaturtheorie
schen den Prämissen und der Konklusion gibt (Rohr auf der Grundlage der Semiotik von Peirce erörtern
1993: 91-92; Richter 1995: 154-56; CP 2.96). Die u.a. Köller (1977, 1980), Sheriff (1989), Johansen
in den Prämissen dargestellten Tatsachen (z.B. von (1986a, 1996a), Santaella (1992) und mehrere
der weißen Farbe einiger Bohnen und aller Bohnen Arbeiten in Colapietro & Olshewsky (eds. 1996).
in einem Sack) sind ein Ikon des in der Konklusion Um Fragen der Stilistik, Rhetorik und der Meta-
repräsentierten Faktums (hier: >Die weißen Bohnen pherntheorie aus der Sicht der Feireeschen Semiotik
sind aus diesem Sack<). Peirce illustriert diesen Pro- geht es bei Kirstein (1982), Podlewski (1982), Gum-
zeß der >Substitution von Ähnlichkeiten< beim ab- pe! (1984) und Jappy (1996). Zu Einzelheiten s.
duktiven Schließen durch folgendes Beispiel: >>Der VI.4.4.
Mantel, Hut und die Redeweise etc. dieses Mannes
sind wie bei einem Quäker; deshalb nehme ich an, er 6.2.1 Das textuelle Reprisentarnen
ist ein Quäker<< (W 2: 446). Als Repräsentamen betrachtet, kann ein Text Qua-
li-, Sin- oder Legizeichen sein (Bense 1967: 73-74).
Wie jedes Sprachzeichen allgemein ist ein Text inso-
6. Anwendungen der Peirceschen Semiotik fern ein Legizeichen, als er aus Elementen eines kon-
ventionellen Zeichenrepertoires besteht. Betrachtet
Elemente der Feireeschen Zeichentheorie sind die man ihn jedoch hinsichtlich seiner Einmaligkeit in
semiotische Grundlage für die Analyse von Zei- Zeit und Raum, in seiner konkreten Kommunikati-
chensystemen und -phänomenen in Linguistik, Lite- onssituation oder hinsichtlich seiner stilistischen Be-
ratur- und Textwissenschaft, Ästhetik, Malerei, sonderheiten und seiner Originalität, so erweist sich
Musik und auch in den Kognitions- und Computer- der Text als ein Sinzeichen. Als Qualizeichen fun-
wissenschaften. giert er, wenn seine bloße lautliche oder visuelle
Qualität im Mittelpunkt des Interesses steht. Aus
der Sicht der Feireeschen Semiotik handelt es sich
6.1 Semiotische Linguistik bei der poetischen Funktion nach Jakobson (s.
Obwohl Peirce kein Sprachwissenschaftler war, hat II.7.4) um den Text als Qualizeichen, denn Poetizi-
die neuere Linguistik verschiedene Elemente der tät ist nach dieser Bestimmung als bloße Qualität
Feireeschen Zeichentheorie aufgegriffen, und es der Sprachlaute (oder des Schriftbildes) definiert.
70 li. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
Das Wesen des literarischen Zeichens nach seiner Deskriptive Texte haben den Charakter eines
Dimension der Erstheit zu bestimmen, steht auch im dicentischen Zeichens, da sie informieren, aber
Einklang mit Peirce' Bemerkung, daß künstlerisches nichts behaupten (CP 2.309, 8.337). Wissenschaft-
Schaffen hauptsächlich mit der Erzeugung von >Ge- liche und juristische Texte sind primär argumenta-
fühlsqualitäten< zu tun hat (CP 1.43). Geht es dage- tive Zeichen. Je nach ihrem Effekt auf ihre Inter-
gen um die stilistischen Qualitäten des Textes (im preten wirken sie entweder als dynamischer oder
Sinne der Deviationsstilistik, s. VII.2), so handelt es als finaler Interpretant (vgl. Kirstein 1982). Texte,
sich um den Text als Sinzeichen. Als literarische die Emotionen hervorrufen, z.B. larmoyante Ro-
Konvention, die den Regeln einer traditionellen mane, oder die unmittelbare Handlungen evozie-
Poetik folgt, kann das literarische Zeichen sich ren, z.B. Agitationsliteratur oder Werbung, zielen
schließlich auch als Legizeichen darstellen. auf den dynamischen Interpretanten ab. Texte, die
neue Gewohnheiten und Verhaltensweisen zur Folge
6.2.2 Der Text als lkon, Index oder Symbol haben, z.B. Dekrete, Verordnungen oder ideo-
Auch hinsichtlich seiner Objektrelation ist das tex- logische Manifeste, streben einen finalen Interpre-
tuelle Zeichen polyfunktional (Johansen 1986a: tanten an.
115). Als Sprachzeichen allgemein ist ein Text zu-
nächst Symbol. Dominiert seine Appellfunktion (als
Instruktion, Befehl oder Frage) und auch seine Dar- 6.3 Peircesche Ansätze in Ästhetik, Malerei
stellungsfunktion, durch die er auf eine konkrete und Musik
Realität verweist, so ist der Text primär ein indexi- Um die Relevanz der Peirceschen Semiotik für wei-
kalisches Zeichen. Im Drama einerseits (s. VIII. 7) tere Gebiete der Angewandten Semiotik geht es aus-
und in der realistischen Literatur (Bettetini 1971) führlicher in den Artikeln über Ästhetik (s. VIII.1),
andererseits findet sich eine solche Dominanz des Malerei (s. VIII.3), Photographie (s. IX.6), Musik
Indexikalischen. (s. VIII.2). Themen der Untersuchung sind die Pro-
Als Ikon präsentiert sich ein Text z.B. in der vi- zesse der Repräsentation und Zeichenhaftigkeit
suellen Poesie (Whiteside 1988). Texte, deren Zei- der Malerei (Schönrich 1990: 46-68; Santaella &
chenfolge der Chronologie der repräsentierten Er- Nöth 1998) und Musik (Baest & van Driel1995;
eignisse (ordo naturalis) entsprechen, stellen ein Martinez 1997), Prozesse der Interpretantenbil-
diagrammatisches Ikon dar (Browne 1971: 337). dung oder die Relevanz der Ikonizität und anderer
Jakobsons (1965: 27) Beispiel hierfür war Caesars semiotischer Kategorien der Erstheit für die
>>Veni, vidi, vici<< (>>Ich kam, ich sah, ich siegte<<). Ästhetik von Malerei und Musik (Santaella
Zur Ikonizität der Literatur allgemein s. VIII.6.2.1. 1994; Parret, ed. 1994a; Martinez, ed. 1996) so-
wie die Indexikalität und Ikonizität der Photo-
6.2.3 Texte in der Interpretantendimension graphie (s. IX.6.2.2-4).
Hinsichtlich ihres Interpretantenbezugs sind Texte
rhematisch, wenn ihre Ausdrucksfunktion dominant
ist, oder wenn sie durch eine besondere interpretato- 6.4 Peirce in den Kognitionswissenschaften
rische Offenheit gekennzeichnet sind (Bense 1967: und in der Computersemiotik
75). Als Repräsentation des Möglichen und nicht Auch in den Kognitions- und Computerwissenschaf-
Faktischen erscheint die Literatur durch ihre Fiktio- ten ist Peirce die semiotische Grundlage für die Ana-
nalität und als Ausdruck der bloßen Imagination ein lyse verschiedener Zeichenprozesse. Außer den Themen
Rhema (Johansen 1986a; Sheriff 1989; Tejera 1995). von der Zeichenhaftigkeit der mentalen Repräsen-
Insofern als Literatur jedoch gültige Argumente über tation (s. IV.2) und der Frage nach der Semiose in der
die conditio humana vermittelt, fungiert sie als Argu- Datenverarbeitung oder der Mensch-Maschine-Inter-
ment. Während Sheriff (1989) und Tejera (1995: aktion (Nöth 1997) steht insbesondere in der For-
127) im literarischen Werk vor allem ein symboli- schung zur künstlichen Intelligenz die Feireesche
sches Rhema sehen, folgertJohansen (1995: 281) da- Theorie der Abduktion im Mittelpunkt des Interesses
nach, daß Literatur in erster Linie aus Argumenten (Peng & Reggia 1990; Josephson & Josephson
über ikonische Zeichen besteht. 1994).
11.2 Ferdinand de Saussure 71
2. Saussures semiologisches Projekt erwähnt, hat sich Saussure selbst nicht nur mit den
literarischen eingehender befaßt. Sein Interesse galt
Semiologie war zuerst nur das Projekt einer zukünf- zwei sehr verschiedenen Themen, zum einen der
tigen Wissenschaft von den Zeichensystemen, aber germanischen Mythologie, zum anderen der Dich-
Saussure deutete bereits ihren Platz innerhalb eines tung Vergils. Die germanische Nibelungensage ist
allgemeinen Systems der Wissenschaften an. Zur für Saussure ein >>Teil der Semiologie<<. Er interpre-
terminologischen Äquivalenz zwischen Semiologie tiert sie als ein >>System von Symbolen<< und kommt
und Semiotik seit den 1970er Jahren s. I.1.2. zu dem Ergebnis, daß die Symbole dieses Mythos
>>unbewußt denselben Variationen und Gesetzen
unterworfen sind, wie alle anderen Symbole, z.B.
2.1 Definition und Konzept der Semiologie die Symbole, welche die Wörter der Sprache sind<<
Der Begriff der Semiologie wurde offenbar von (Starobinski 1971: 5). Das zweite literatursemioti-
Saussure selbst geprägt. Mit ihm wollte er die »ge- sche Interesse Saussures galt den in Anagrammen
genwärtig noch nicht existierende<< allgemeine Wis- verborgenen Bedeutungsschichten in Texten der la-
senschaft von den Zeichen benennen (Engler 1980). teinischen Versdichtung Vergils. Beide Studien, die
Ein in einem anderen Kontext vorgeschlagener Be- zu Lebzeiten Saussures unveröffentlicht blieben,
griff war Signologie (1916c: § 3342: 6). Saussure wurden erst in den 1970er Jahren entdeckt (Staro-
umreißt sein Projekt einer zukünftigen Semiologie binski 1971; Avalle 1973a, b; Culler 1976: 106-114
wie folgt: sowie das Themenheft Semiotext[e] 2.1 [1975]).
Weniger mit diesen Arbeiten als mit seinen allgemei-
Man kann sich also eine Wissenschaft vorstellen, nen strukturalistischen Theorien war Saussure auch
welche das Leben der Zeichen im sozialen Le- noch für die strukturalistische Literatursemiotik bis
ben untersucht. [... ]Wir werden sie Semiologie in den Poststrukturalismus hinein von Einfluß (Tal-
nennen (von gr. crT]f.!Etov >Zeichen<). Sie würde lis 1988).
uns lehren, worin die Zeichen bestehen und
welche Gesetze sie bestimmen. Da sie noch nicht 2.2.3 Semiologie als Wissenschaft
existiert, kann man nicht sagen, was sie sein von den Zeichen der Menschen
wird; aber sie hat einen Anspruch auf ihre Exi- Auch wenn Saussures Abriß der Semiologie keines-
stenz; ihr Stellenwert ist von vornherein be- wegs vollständig oder gar systematisch ist, so zeigen
stimmt. (Saussure 1916a: 33). seine Beispiele doch, daß seine Auffassung von die-
ser Wissenschaft auf eine Semiotik verweist, die aus-
schließlich mit den Zeichen in der menschlichen
2.2 Saussures semiologisches Forschungs- Kultur befaßt ist. Für Themen der Allgemeinen Se-
programm miotik, wie etwa die natürlichen, die zoo- oder gar
Bei Saussure (1916a: 33) finden sich nur einige An- die biosemiotischen Zeichen und Kodes gibt es da-
merkungen über die >>semiologischen Tatsachen<<, die gegen keinen Platz in Saussures semiologischem Pro-
Gegenstand der semiotischen Untersuchung sein gramm. Grundlage der Saussuresehen Zeichentheo-
sollten. Er hat auch selbst keine eigenen vertieften rie ist nämlich das Prinzip der Arbitrarität und
Untersuchungen zu nichtsprachlichen Zeichensyste- Konventionalität der Zeichen (s. VI.3), und dieses
men vorgelegt. Prinzip gilt in erster Linie für die Zeichen in der Kul-
tur und nicht für die Zeichen in der Natur. Die
2.2.1 Beispiele für semiologische Systeme Wichtigkeit des Arbitraritätsprinzips für die semio-
Über andere Zeichensysteme neben der Sprache logische Forschung unterstreicht Saussure wie folgt:
schreibt Saussure (1916a: 33): >>Die Sprache ist ein
Zeichensystem, welches Ideen zum Ausdruck Wenn die Wissenschaft der Semiologie etabliert
bringt. Insofern ist sie z.B. der Schrift, dem Alpha- ist, wird sie sich fragen müssen, ob die Aus-
bet, der Gebärdensprache, den symbolischen Riten, drucksformen, die auf völlig natürlichen Zei-
den Höflichkeitsformen und den militärischen Si- chen beruhen - wie die Pantomime - ihr mit
gnalen vergleichbar. Allerdings ist sie das wichtigste Recht zukommen. Selbst wenn sie diese berück-
dieser Systeme.<< Weitere Zeichensysteme, die Saus- sichtigt, so wird ihr Hauptgegenstand gleich-
sure an anderen Stellen als mögliche Themen für die wohl in den auf der Arbitrarität des Zeichens
semiologische Forschung erwähnt, sind die Braille- begründeten Systemen liegen. Tatsächlich be-
schrift, der Flaggenkode der Seeschiffahrt, militäri- ruht jedes in einer Gesellschaft anerkannte Aus-
sche Trompetensignale, Ziffernkodes und die ger- drucksmittel im Prinzip auf einer Kollektivge-
manischen Mythen (vgl. Wunderli 1981a: 20-21). wohnheit oder, was auf dasselbe hinauskommt,
auf der Konvention.[ ... ] Man kann also sagen,
2.2.2 Saussures Beitrag zur literarischen Semiotik daß völlig beliebige Zeichen besser als andere
Von allen Zeichensystemen, die er neben der Spra- das Ideal des semiologischen Verfahrens ver-
che als Gegenstand semiologischer Untersuchung wirklichen. (Saussure 1916a: 100-101)
Il.2 Ferdinand de Saussure 73
2.3 Die Semiologie im Rahmen des Systems Mit reinem Zufallläßt sich allerdings der beson-
der Wissenschaften dere Stellenwert der Linguistik innerhalb der Semio-
Saussure hatte ein großes Interesse an der Klassi- logie nun auch nicht erklären. Dem Cours und Na-
fikation der Wissenschaften und suchte verschie- villes Interpretation der Saussuresehen Semiologie
dentlich den Ort der Linguistik und Semiologie im zufolge (Engler 1980: 4) gibt es drei treffendere Ar-
Rahmen der Geisteswissenschaften zu bestimmen. gumente, welche die Besonderheit der Sprache im
Verhältnis zu anderen Zeichensystemen charakteri-
2.3.1 Semiologie als Zweig der Soziologie sieren: Das erste Argument "ist ein empirisches: Spra-
und Psychologie che ist das wichtigste aller Zeichensysteme. Das
Als Wissenschaft wurde Saussures Semiologie bereits zweite Argument ist wissenschaftsgeschichtlicher
1901 in einer Klassifikation des Genfer Wissenschafts- Art: Linguistik ist die am weitesten fortgeschrittene
theoretikers Adrien Naville erwähnt (vgl. Saussure von allen semiologischen Wissenschaften und ist
1916b: 352; Engler 1980: 4-5). Naville bestimmt die weiter entwickelt als die Semiologie selbst. Das drit-
Semiologie als ein Teilgebiet der Soziologie, wobei er te Argument ist heuristischer Natur und besagt, daß
als übergeordnete Wissenschaft von Soziologie, Se- >>nichts so sehr wie die Sprache geeignet ist, die Natur
miologie und Linguistik die Gesetzeswissenschaften des semiologischen Systems verständlich zu machen<<
nennt. Saussure (1916a: 33) selbst ordnete die Semio- (Saussure 1916a: 33-34).
logie der Sozialpsychologie zu, wobei er es den Psy-
chologen überlassen wollte, die gerraue Stellung der
Semiologie im Konzert der Wissenschaften festzule- 2.4 Bestimmungsmerkmale der Sprache
gen. An verschiedenen anderen Stellen nennt Saussure Eines der Hauptanliegen Saussures war der Ver-
(1916c: 45, 49, 51) allerdings die Semiologie eine Wis- such, die spezifischen Merkmale der Sprache im
senschaft der sozialen Institutionen und spricht davon, Verhältnis zu anderen Zeichensystemen zu be-
daß die semiologische Forschung mit der Erforschung schreiben. Lange ehe Hockett seine vieldiskutierten
juristischer Institutionen verwandt ist. Bestimmungsmerkmale der Sprache aufstellte (s.
Vl.2.4.1), hat Saussure die Spezifika der Sprache
2.3.2 Linguistik als Modell der Semiotik auf andere Weise bestimmt. Wunderli (1981a: 33)
Innerhalb der Semiologie weist Saussure der Lingui- faßt wie folgt zusammen: (1) völlige Arbitrarität; (2)
stik eine herausragende Rolle zu: soziale Institution der Sprachgemeinschaft; (3) Im-
mutabilität: d.h.Unveränderlichkeit der Sprachzei-
[Da] die völlig arbiträren Zeichen besser als alle chen für das Individuum; (4) Fehlen jeglicher im
anderen das Ideal des semiologischen Verfahrens voraus festgelegter Einheiten, d.h., die Sprachzei-
verkörpern, ist auch die Sprache, das Ausdrucks- chen sind in ihrer Ausdrucks- und Inhaltsform
system von größter Komplexität und weitester durch nichts als durch das System bestimmt; (5)
Verbreitung, das charakteristischste System von Produktivität, d.h., es gibt unbegrenzte Möglichkei-
allen; in diesem Sinn kann die Linguistik zum all- ten der Produktion von Nachrichten mit einem be-
gemeinen Modell [patron general] der ganzen Se- grenzten Zeicheninventar; und (6) akustische Mani-
miologie werden, obwohl die Sprache nur ein Sy- festation der Zeichen.
stem unter anderen ist. (Saussure 1916a: 101)
3.1 Bilateralität des Zeichens ente des Zeichens differenziert, benutzt er doch den
Das sprachliche Zeichen hat nach Saussure (1916a: Begriff des Zeichens gelegentlich auch im Sinne
99) eine dyadische Struktur, denn es ist eine ••zwei- eines bloßen Signifikanten (Wells 1947: 5-6). Eine
seitige psychologische Entitität«, bestehend aus ei- solche Inkonsequenz findet sich übrigens auch bei
nem Lautbild, dem Signifikanten, und einer Vorstel- Peirce, der in seinen Schriften nicht immer deutlich
lung, dem Signifikat des Zeichens. Saussures zwischen dem Repräsentamen und dem Zeichen un-
Diagramm für dieses Modell (Abb. II.2.2) bezieht terscheidet.
sich auf das Beispiel des lateinischen Wortes arbor:
Die Lautsequenz arbor in der unteren Hälfte der El-
lipse repräsentiert den Signifikanten dieses Sprach- 3.2 Die mentalistische Konzeption des Zeichens
zeichens. Die mit ihm verbundene Vorstellung ist Nicht nur das Signifikat, sondern auch den Signi-
das Konzept oder Signifikat •Baum<, das als Vorstel- fikanten begreift Saussure als eine rein mentale En-
lung auch bildlich dargestellt ist. Die Pfeile zeigen tität. Die mentale Natur des Signifikats wird schon
eine ••psychologische Assoziation« an, mit der beide in den Begriffen des »Konzeptes<< (concept) und
Seiten des Sprachzeichens mental verbunden sind. »Idee« deutlich, mit dem Saussure die Inhaltsseite des
Nach einem von Saussure verwendeten Bild Sprachzeichens alternativ beschreibt. Keineswegs
kann die bilaterale Struktur des sprachlichen Zei- steht das Signifikat dabei in irgendeiner Verbindung
chens in ihrer untrennbaren Verbindung mit den mit der Welt der Referenzobjekte. Die mentalistische
zwei Seiten eines Blattes Papier verglichen werden: Konzeption des Signifikanten zeigt sich in Saussures
>>Das Denken ist die Vorderseite und der Laut die Begriff des Lautbildes, mit dem er den Signifikanten
Rückseite. Man kann die Vorderseite nicht zer- alternativ beschreibt. Das Lautbild (und somit der Si-
schneiden, ohne zugleich die Rückseite zu zer- gnifikant) ist nicht etwa der »materielle Laut, der et-
schneiden« (1916a: 157). was rein Physikalisches ist, sondern vielmehr der psy-
chische Eindruck dieses Lauts, die Repräsentation,
!@!
die uns das Zeugnis unserer Sinne von diesem Laut
!~!
gibt« (1916a: 98). Seine mentalistische Sicht von den
zwei Seiten des Zeichens begründet Saussure aller-
dings nicht etwa mit psychologischen Argumenten,
denn die Aufgabe des Semiologen unterscheidet sich
von derjenigen des Psychologen, der »den Mechanis-
Abb. 11.2.2: Saussures (1916a: 99) Modell des mus des Zeichens beim Individuum erforscht«, was
sprachlichen Zeichens (links) mit einem Beispiel nicht das Zeichen selbst "berührt, welches seiner Na-
(rechts): Die Vorstellung wird mit dem Bild eines tur nach sozial ist« (ebd.). Wenn das Zeichen als so-
>Baums<veranschaulicht, das Lautbild (»image acou· ziale Tatsache begriffen werden soll, müssen auch
stique«) mit dem lateinischen Wort arbor. der Signifikant und Signifikat als kollektive Lautbil-
der bzw. Vorstellungen aufgeiaßt werden.
Neben den Begriffen Signifikant und Signifikat ver-
wendet Saussure auch den Begriff des Zeichens: Das
Zeichen [signe] bezeichnet das Ganze, das den Si- 3.3 Saussures Ausschluß des Referenzobjekts
gnifikanten und das Signifikat als seine zwei Teile Den dyadischen Charakter des Zeichens unter-
enthält (s. Abb. II.2.3). Neben dem Begriff des Si- streicht Saussure, wenn er einer Bezugnahme auf
gnifikats spezifiziert Saussure die Inhaltsseite (das das Referenzobjekt, auf die »Sachen« außerhalb des
Signifikat) des Sprachzeichens noch durch den Be- Zeichens, jegliche semiotische Rechtfertigung ab-
griff der Signifikation. Hierzu siehe Wunderli spricht: »Das sprachliche Zeichen verbindet nicht
(1981b) und Raggiunti (1990: 199-230). eine Sache [chose] und einen Namen, sondern eine
Vorstellung und ein Lautbild« (1916a: 98). Für
Saussure gibt es nichts Semiotisches jenseits des Si-
Signifikat (Vorstellung)
gnifikanten und des Signifikats. Seine Semiologie
operiert ausschließlich innerhalb des Systems der
Zeichen Zeichen. Da nur ein semiologisches System einer an-
sonsten amorphen Welt Struktur zu geben vermag,
Signifikant (Lautbild) bleibt das Referenzobjekt von der semiotischen Be-
trachtungsweise ausgeschlossen.
Einige Autoren haben einen Widerspruch zwi-
Abb. 11.2.3: Saussures dyadisches Modell schen Saussures Argumenten für den Ausschluß des
des Zeichens Referenzobjekts und seinen Argumenten bei der Be-
gründung der Arbitrarität des Zeichens gesehen, denn
Obwohl Saussure theoretisch klar zwischen dem in seinen Beispielen für die Unterschiede der Sprach-
Zeichen und dem Signifikanten als bloßer Konstitu- zeichen für die Konzepte •Ochse< oder >Schwester<
Il.2 Ferdinand de Saussure 75
scheint Saussure doch auf Außersprachliches Bezug die Ideen außerhalb des semiologischen Systems eine
zu nehmen (s. VI.3.2-3). Helbig (1974: 40) behauptet bloß amorphe und präsemiotische Substanz. Das
in diesem Zusammenhang z.B., daß Saussure eigent- Zeichensystem formt, d.h. strukturiert, nicht nur die
lich ein triadisches Zeichenmodell verwende, wenn Signifikanten sondern auch das Signifikat. Form
er die Arbitrarität auf diese Weise begründet. Zwar (Struktur) haben also nicht nur die Signifikanten,
definiere Saussure die Arbitrarität ausdrücklich als sondern ebenso die Signifikate der Zeichen.
eine Relation, die nur zwischen dem Signifikanten
und dem Signifikat des Zeichens besteht (1916a: 3.4.2 Bedeutung als differentieller Wert
100). Wenn er aber argumentiert, daß >>das Signifi- Für Saussure ergibt sich die Bedeutung eines Zei-
kat >Ochs< auf dieser Seite der Grenze o-k-s als Be- chens aus seinem Wert in bezug auf alle anderen
zeichnung hat, auf jener Seite aber b-ö-f (breuf)<<, so Zeichen des gleichen Systems (s. III.15.2.2.1). Diese
könne das tertium comparationis dieser beiden fran- Gesamtheit der Werte ist ein Netzwerk struktureller
zösischen und deutschen Signifikanten eigentlich Relationen, in denen nicht eigentlich die Zeichen als
nicht ein und dasselbe Signifikat sein, denn da das Si- solche, sondern nur die Differenzen oder Oppositio-
gnifikat sich nach Saussure nur aus dem Stellenwert nen zwischen ihnen semiotisch relevant sind (s. III.
innerhalb eines Sprachsystems ergibt und da es sich 14.2.1).
hier um zwei Systeme handelt, müßten auch die Obwohl erst Hjelmslev diese Ideen systemati-
Signifikate dieser beiden Signifikanten unterschied- scher entwickelte (s. 11.3.2), finden sich ihre Grund-
lich sein. Somit müsse es also doch das außersprach- lagen doch schon bei Saussure. Zur Sprache als Sy-
liche Objekt sein, das hier als Basis der Vergleiche stem von Werten schreibt er:
dient (s. VI.3.2.3).
Die Sprache ist ein System, in dem sich alle Ele-
mente gegenseitig bedingen und in dem der
3.4 Bedeutung als semantische Struktur Wert des einen allein aktiv aus dem gleichzeiti-
Als Signifikat beschreibt Saussure denjenigen Aspekt gen Vorhandensein des anderen resultiert. [... ]
des Zeichens, der in der semiotischen Tradition zu- Der Inhalt [eines Sprachzeichens] ist tatsächlich
meist als Bedeutung oder Inhalt thematisiert worden nur durch die Mitwirkung dessen bestimmt,
ist. Was ist nun die >Bedeutung der Bedeutung< nach was außerhalb dieses Zeichens vorhanden ist.
Saussures Semiologie? Das Neue an der Saussu- Da es Teil eines Systems ist, hat es nicht nur eine
resehen Zeichentheorie ist ihre rein strukturale Be- Bedeutung [signification], sondern auch und
stimmung der Bedeutung: Das Signifikat eines Zei- vor allem einen Wert, und das ist etwas ganz an-
chens ist ohne jegliche mentale Substanz, sondern es deres. (Saussure 1916a: 159-160)
besteht und entsteht ausschließlich aus Differenzen
und Relationen innerhalb des semiotischen Systems. Als Beispiel für seine semiotische Werttheorie dient
Saussure die Semantik des französischen Wortes
3.4.1 Bedeutung: nicht Substanz, sondern Form mouton im Vergleich zum englischen Wort sheep:
Zugleich mit seiner Ablehnung einer »objektiven Der Wert des englischen Wortes unterscheidet sich
Welt<< wendet sich Saussure gegen die Auffassung von seiner französischen Übersetzung, denn im Eng-
von der Existenz »fertiger Ideen, welche schon vor lischen gibt es einen Unterschied zwischen sheep
den Worten vorhanden sein könnten<< (1916a: 97). und mutton (>Hammelfleisch<). Im Französischen
Für Saussure gibt es nichts Semiotisches außerhalb hingegen gibt es diesen Unterschied nicht. Beide Si-
des Zeichens mit seinem Signifikanten und Signifi- gnifikate werden durch den gleichen Signifikanten
kat. Das Denken ohne sprachlichen Ausdruck ist für ausgedrückt. Das Wort sheep hat somit einen ande-
ihn »nur eine amorphe und unbestimmte Masse.[... ] ren Stellenwert im System der englischen Sprache
Das Denken, für sich allein genommen, ist wie ein (und somit eine andere Bedeutung) als das Wort
Nebelstern [une mfbuleuse], in welchem nichts not- mouton in der französischen Sprache.
wendigerweise begrenzt ist. Es gibt keine von vorn-
herein feststehenden Ideen, und nichts ist bestimmt,
ehe die Sprache in Erscheinung tritt<< (ebd.: 155). Mit 4. Das dyadische Zeichen:
diesen Argumenten begründet Saussure seine These Zwischen Monaden und Triaden
von der Semiologie als einer Wissenschaft der Form
und nicht der Substanz - eine Theorie, die später Im Gegensatz zu Peirce, dessen semiotische Philoso-
Hjelmslev vertieft und radikalisiert hat. Form heißt phie auf einem System von Triaden beruht, sind die
in diesem Zusammenhang Struktur. Gemeint ist mit Grundbegriffe Saussures zumeist dyadischer Art.
Form nicht etwa die Ausdrucksseite des Zeichens, al- Sein dyadisches Zeichenkonzept verteidigt er nicht
so sein Signifikat wie dies bei vielen anderen Bestim- nur gegenüber triadischen, sondern auch gegenüber
mungen von Form im Gegensatz zu Inhalt der Fall naiv monadischen Auffassungen vom Zeichen.
ist. Form im Sinne Saussures kann nur als Struktur
innerhalb eines Systems existieren, und deshalb sind
76 II. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
4.1 Gegen das naiv monadische Zeichenmodell chens in der Logik von Arnauld & Nicole beruft,
Monadische Zeichentheorien sind in der Semiotik wo es heißt: >>Das Zeichen umfaßt zwei Ideen, eine
praktisch ohne theoretische Relevanz. Eine monadi- von dem repräsentierenden Ding, die andere von
sche Auffassung vom Zeichen findet sich z.B. in der dem repräsentierten Ding.« Rey (1973: 119) argu-
Umgangssprache, wenn zwischen dem Zeichen und mentiert hingegen, daß in dieser Zeichentheorie mit
seinem bloßen Signifikanten nicht differenziert wird dem Referenzobjekt, das an anderer Stelle in der Lo-
(Helbig 1974a: 38). Saussure erinnert an diese Un- gik von Port-Royal erwähnt wird, eine dritte Di-
differenziertheit des umgangssprachlichen Gebrauchs mension impliziert ist.
des Wortes Zeichen: >>Alltagssprachlich bezeichnet Die Frage, ob ein Zeichenmodell einen dyadi-
dieser Begriff [vom Zeichen] im allgemeinen nur das schen oder triadischen Charakter hat, kann aller-
Lautbild, z.B. ein Wort (arbor usw.). Man vergißt dings nicht danach entschieden werden, ob und wie
dabei, daß, wenn arbor Zeichen genannt wird, dies oft in den verschiedenen semiotischen Theorien
nur insofern gilt, als dieses Zeichen Träger der Vor- vom bezeichneten Objekt die Rede ist. Auch bei
stellung >Baum< ist« (1916a: 99). l.a.W., alltags- Saussure ist ja mehrfach von der bezeichnenden Sa-
sprachlich ist der dyadische Zeichenbegriff oft auf che [chose] die Rede, ohne daß damit sein Modell zu
die Monade vom bloßen Zeichenträger reduziert. einem triadischen würde. Wichtig ist allein, ob dem
Monadische Zeichenmodelle gibt es aber auch in ei- Begriff des Referenzobjektes ein wirklich systemati-
nigen semantischen Theorien, die die Dimensionen scher Ort der jeweiligen semiotischen Theorie zu-
der Bedeutung und der Referenz als außersprachli- kommt. Für Saussures semiologisches System ist
che Tatsachen ansehen, als Gegebenheiten, deren dies sicherlich nicht der Fall.
Existenz von der Sprache unabhängig ist und auf
welche die Sprachzeichen allenfalls indexikalisch
hinweisen. In diesem Sinne ist auch Saussures Kritik
an der naiven Auffassung von der Sprache als einer 5. Langue- porole, Synchronie- Diachronie
Nomenklatur zu verstehen. Das System der Sprache
ist eben keine Nomenklatur, d.h. keine >>Liste von Obwohl Saussure seine im Cours zentralen Dicho-
Begriffen, die ebensovielen Sachen entsprechen« tomien Iangue vs. parole und Synchronie vs. Dia-
(Saussure 1916a: 97). chronie in erster Linie als Kategorien der Linguistik
entwickelte, sind auch diese Saussuresehen Dicho-
tomien für die Analyse anderer semiotischer Systeme
4.2 Die dyadischen und triadischen Traditionen bedeutsam.
Der Gegensatz zwischen der dyadischen und der Als Iangue definiert Saussure das linguistische Sy-
triadischen Tradition der Zeichentheorie und dabei stem einer Einzelsprache. Dem System stellt es die Re-
vor allem der Gegensatz zwischen der Semiotik von de (parole) als den individuellen Gebrauch dieses Zei-
Saussure und derjenigen von Peirce hat in der chensystems gegenüber. Mitparole ist allerdings nicht
Semiotik des 20. Jh.s deutliche Spuren hinterlassen nur die mündliche Rede gemeint, sondern jeglicher
(Köller 1977; Deledalle 1979: 29-49; Colapietro Gebrauch von Sprache in Texten und im Diskurs.
1991; Merrell 1995: 1-14; Liska 1996: 15-17; s. Mit der Dichotomie von der Synchronie und der
III.2). Das dyadische Modell hat eine lange Traditi- Diachronie beschreibt Saussure den Unterschied
on in der Geschichte der Semiotik (vgl. Koerner zwischen der Sprache als System zu einem bestimm-
1973: 312-24 sowie s. II1.2.2, Abb. III.2.1). In der ten Zeitpunkt und dem Wandel dieses Systems im
Dialektik der Stoiker erscheint es als Dichotomie Verlauf der Geschichte. Die Kategorien Synchronie
von O'JlJl<livov und O'JlJl<llVÜJlEVov (s. 1.2.3). Mit und Diachronie erfassen somit das System als Struk-
Bezug auf diese Tradition hat Jakobsan (1965: 345) tur zu einem gegebenen Zeitpunkt und das System
die lateinische Übersetzung dieser Begriffe, nämlich im Laufe seines historischen Wandels. Zum Zeit-
signans und signatum, als Äquivalent für Saussures punkt der Saussuresehen Vorlesungen über die All-
Signifikant und Signifikat eingeführt. Allerdings ist gemeine Linguistik war die damalige Sprachwissen-
es in der Forschungsdiskussion nicht unumstritten, schaft fast ausschließlich eine diachronische, und
ob man die stoische Tradition als eine genuin dyadi- Saussures Betonung der Notwendigkeit einer syn-
sche bezeichnen kann oder ob sie nicht vielmehr chronen Perspektive war damals eine gänzliche
Teil eines eigentlich triadischen Modells ist (s. neue Perspektive.
1.2.3). Während Jakobsan die dyadische Zeichen-
theorie als >>ein über zweitausendjähriges Modell«
(ebd.) bezeichnet, nehmen Coseriu (1970) und Lieb 6. Saussure und die Geschichte der Semiotik
(1981a) viele triadische Elemente in dieser Traditi-
on an. Über Saussures Beitrag zur Geschichte der Semiotik
Foucault sieht im Zeichenmodell von Port-Roy- gibt es recht unterschiedliche Auffassungen. Während
al (s.l.4.1.2) geradezu den Prototyp der dyadischen die einen Saussure als den eigentlichen Begründer der
Tradition, wobei er sich auf die Definition des Zei- Semiotik nennen, heben andere hervor, daß Saussure
Il.2 Ferdinand de Saussure 77
über die Allgemeine Sprachwissenschaft hinaus we- 6.3 Heuristischer Wert der Saussuresehen Ideen
nig zu anderen Zeichensystemen geschrieben hat. Saussures Beitrag zu einer allgemeinen Zeichen-
theorie war tatsächlich eher skizzenhaft. Der Genfer
Sprachwissenschaftler hat wenig über nichtsprach-
6.1 Saussure als Begründer der Semiotik? liche Zeichen gesagt und hat nichts zur allgemeinen
In den romanischen Ländern wurde Saussure lange Zeichentypologie beigetragen. Dennoch war Saus-
Zeit als der eigentliche Begründer der Semiotik be- sures Einfluß auf die Semiotik in heuristischer und
trachtet (Buyssens 1943: 5-6; Prieto 1968: 93). Die- systematischer Hinsicht beträchtlich.
se Einschätzung ist eine Sichtweise von Linguisten, In heuristischer Hinsicht war Saussures These
für die die Erweiterung des linguistischen Horizon- von der Linguistik als Leitwissenschaft der Semiolo-
tes durch Fragestellungen der allgemeinen Zeichen- gie von großem Einfluß auf die semiolinguistische
theorie ein völliges Neuland bedeutet. und an Saussure orientierte Semiotik. Sie konnte
sich bei ihren ersten Ansätzen zur Erforschung
nichtsprachlicher Zeichensysteme am Modell der
6.2 Saussure als Vorläufer der Semiotik Sprache orientieren, solange spezifischere Modelle
Mounin (1968b: 33) z.B. schätzt den Stellenwert zur Analyse der semiotischen Systeme noch nicht
Saussures in der Geschichte der Semiotik relativ ge- bekannt waren. Saussures Beitrag zur Systematik
ring ein. Alles, was Saussure zur Semiologie geäußert der Semiotik liegt darin, daß nach seinen Leitlinien
hat, war nach Meinung von Mounin allein durch das Zeichen nur noch in bezugauf ein System oder, wie
Bemühen der Genfer Linguisten motiviert, den Stellen- es später im Zeichen des informationstechnischen
wert der Linguistik im Konzert der Wissenschaften Paradigmas hieß, in bezug auf einen Kode in ange-
zu bestimmen. Nach dieser Auffassung ist Saussures messener Weise erforscht werden konnten. Da die
Cours zwar ein wichtiger Beitrag zur Linguistik, das Einsicht in die Systemhaftigkeit der Zeichen in der
semiologische Projekt ist dagegen allenfalls eine erste zweiten großen semiotischen Tradition des 20.
Skizze ohne wirkliche theoretische oder methodolo- Jahrhunderts, der Semiotik von Peirce' im Gegen-
gische Konsequenzen. Mounin sieht deshalb in Saus- satz zu Saussure nicht oder allenfalls in klassifikato-
sure nicht den Begründer, sondern allenfalls einen rischer Hinsicht entwickelt ist, kann dieser Aspekt
Initiator oder einen bloßen Vorläufer der Semiotik. des Saussuresehen Erbes als der vielleicht wichtigste
Auch Jakobson (1975: 12) schätzt den Beitrag Saus- Beitrag Saussures zur Semiotik des 20. Jahrhunderts
sures zur Geschichte der Semiotik als gering ein, und gewertet werden.
schließlich resümiert auch Sebeok (1976: 153), daß
die Überbewertung von Saussures Beitrag zur Ge-
schichte der Semiotik eine »extreme Verzerrung des
wahren historischen Gleichgewichts<< darstellt.
78 li. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
aber seine Theorie war zu abstrakt, seine Beispie- und jede beliebige nichtsprachliche semiotische Struk-
le aus anderen semiotischen Systemen sehr be- tur kann durch Sprache zum Ausdruck gebracht
grenzt und ziemlich sporadisch, und sein glosse- werden. Mit einem Zitat von S. Kierkegaard folgert
matischer Jargon war undurchdringlich. Hjelmslev Hjelmslev (ebd.): >>In einer Sprache und nur in einer
ist aber in den letzten zwei Jahrzehnten höchst Sprache können wir selbst >am Unsagbaren arbei-
einflußreich gewesen. ten, bis es gesagt ist<.<<
stieren sich die Elemente des Systems. Danach wer- 2.2 Semiologie und Metasemiotik
den die Elemente und Strukturen klassifiziert, und Hjelmslev (1943: 108) verfolgt sein Ziel einer »Lin-
die Dependenzrelationen zwischen den Elementen guistik im weiteren Sinn<< auf >>immanenter Grund-
des Systems werden bestimmt. Das strukturalisti- lage<< in der Tradition des Saussuresehen Projektes
sche Analyseverfahren besteht darin, »die Elemente einer allgemeinen Semiologie. Auf diesem Wege soll
nach Maßgabe ihrer kombinatorischen Möglichkei- >>eine gemeinsame Perspektive für eine große Zahl
ten in Klassen einzuteilen<< und auf Grundlage die- wissenschaftlicher Disziplinen entstehen, von der
ser Klassifikation zu >>einem allgemeinen und er- Literatur-, Kunst-, Musik- und der allgemeinen Ge-
schöpfenden Kalkül der möglichen Kombinationen schichtswissenschaft bis zur Logik und Mathema-
zu gelangen<< (Hjelmslev 1943: 16). Auf diese Weise tik, wobei diese Wissenschaften sich, von dieser ge-
wird das ehrgeizige Ziel einer >>der Sprache imma- meinsamen Perspektive ausgehend, auf das Umfeld
nenten Algebra<< (ebd.: 80) verfolgt. Sprache wird eines linguistisch definierten Problemkontextes kon-
schließlich zu einer >>bloßen Struktur<< (ebd.: 33), zentrieren sollten<< (ebd.).
wobei es nur auf die Relationen und nicht auf die Semiologie ist für Hjelmslev (1943: 120) die
Relata ankommt. theoretische Metasprache für die Analyse der se-
miotischen Systeme, >>eine Metasemiotik, deren Ob-
2.1.4 Schema oder System, Norm und Gebrauch jektsemiotik eine nichtwissenschaftliche Semiotik
Hjelmslev (1937: 158) entwickelt das Saussuresehe ist<<. Semiotik und Semiologie unterscheiden sich
Konzept von der Iangue als dem sprachlichen Sy- somit durch ihr Abstraktionsniveau. Auf der höch-
stem weiter, indem er zwischen drei Arten oder sten Stufe der wissenschaftlichen Abstraktion steht
Aspekten eines semiotischen Systems differenziert, die Metasemiotik (oder Semiologie). Sie ist eine wis-
nämlich dem System als Schema, als Norm und als senschaftliche Semiotik, die um eine vollständige
Gebrauch (usage; vgl. auch Coseriu 1962). Analyse der Zeichenphänomene nach den Prinzipi-
Das Schema des Sprachsystems ist seine reine en des deduktiven Empirismus bemüht ist. Eine Me-
strukturelle Form. Es besteht nicht nur aus der Sum- tasemiotik hat eine oder mehrere Semiotiken als
me aller Strukturen der Sprache, wie sie sich in Tex- Analyseebene(n). Diese Semiotiken sind als Unter-
ten manifestieren, sondern es umfaßt darüber hinaus suchungsgegenstand der Metasemiotik die noch
noch all diejenigen Strukturen, die gemäß der Regeln nicht wissenschaftlichen Objektsemiotiken. Die
des Systems möglich sind, auch wenn sie in Texten Struktur aller Semiotiken ist eine hierarchische. Sie
nicht üblicherweise vorkommen. Die Norm der Spra- besteht aus Elementen und Klassen sowie aus De-
che umfaßt dagegen nur jene Strukturen, die in einer pendenzrelationen zwischen ihnen.
Sprachgemeinschaft üblicherweise, aber unabhängig In diesem Sinn ist auch die Linguistik eine Se-
vom Einzelfall realisiert werden. Hjelmslev spricht miologie. Ihr Gegenstand (ihre Objektsemiotik) ist
von der materiellen Form der Sprache: eine natürliche Sprache. Neben der Linguistik gibt
Unter dem Gebrauch des Systems versteht es andere Semiologien, die andere Zeichensysteme
Hjelmslev schließlich die Gesamtheit der Sprachge- zum Gegenstand haben. Die gemeinsamen Prinzipi-
wohnheiten einer Sprachgemeinschaft in ihrer kon- en all dieser Semiologien sind der Gegenstand der
kreten materiellen Form. Metasemiologie. Sie ist nach Hjelmslev (1943: 120)
Der Unterschied zwischen den bloß potentiel- >>eine (meta-)wissenschaftliche Semiotik, deren Ob-
len Strukturen des Systems und den aktuellen jektsemiotiken Semiologien sind<<.
Strukturen der Norm läßt sich auf verschiedenen
Ebenen der Analyse darstellen. Ein Beispiel für die-
sen Unterschied auf der Ebene des Wortes im Sy-
stem des Deutschen sind die phonetisch möglichen 3. Hjelmslevs Zeichenmodell
im Gegensatz zu den nicht möglichen Wörtern:
Lautfolgen des Typs *sro, *fpe oder *tla können in Hjelmslev (1943, 1954) entwickelt ein Modell des
der deutschen Sprache als Wörter bekanntlich Zeichens, das in der Tradition der dyadischen Zei-
nicht vorkommen, da sowohl das System als auch chenkonzeption von Saussure steht (s. 11.2.3), aber
die Norm die Konsonantenverbindungen, die in der Glossematiker Hjelmslev erweitert Saussures
diesen Lautfolgen vorkommen, wortinitial nicht Konzeption durch Einführung weiterer Ebenen
zulassen. Dem System der deutschen Sprache zu- (Strata) auf beiden Seiten des bilateralen Modells.
folge können jedoch die Konsonanten s, r, f, p, t
und I einzeln vor, nach und zwischen allen beliebi-
gen Vokalen vorkommen. Das System läßt also 3.1 Zeichen und Zeichensystem bei Hjelmslev
Wörter wie siro, fepo oder tela zu, auch wenn diese Genau genommen, hat Hjelmslev kein Zeichenmo-
phonetisch möglichen Wörter nicht in Gebrauch dell, und er gibt auch keine Definition des Zeichens.
sind. Die bloß phonetisch möglichen Wörter gehö- Unter den 108 Definitionen im Anhang zu Hjelms-
ren also zum Schema, aber nicht zum Gebrauch levs Prolegomena fehlt eine Definition des Zeichen-
der Sprache. begriffs. Hjelmslev (1943: 54) meidet den Begriff
II.3 Hjelmslev 81
3.3.1 Zur Begriffsgeschichte von >Substanz<, Form und Substanz ebenso auf der Inhaltsebene wie
>Form< und >Materie< auf der phonetischen oder graphemischen Ausdrucks-
Substanz, Form und Materie sind Schlüsselbegriffe ebene der Sprache unterscheidet und dabei Substanz
der abendländischen Philosophie. Bei Platon und sowohl im Gegensatz zur Materie als auch im Gegen-
Aristoteles heißen die entsprechenden Begriffe satz zur Form der Zeichen definiert.
oucria (>Substanz<), döo~ (>Form<, Platos >Idee<) Eine Unterscheidung zwischen Form und Mate-
und UAT) (>Materie<). Als Substanz wurde traditio- rie sowohl auf der lautlichen als auch auf der inhalt-
nell das Wesen einer Sache verstanden. Die Sub- lichen Seite der Sprache findet sich vor Hjelmslev
stanz ist das, was immer gleich bleibt, während sich schon bei Wilhelm von Humboldt (vgl. Fischer-Jor-
die Form, die äußere Erscheinung eines Gegenstan- gensen 1966: 2). In Humboldts Sprachtheorie be-
des, verändern kann. steht die Materie der Sprache teils aus Lauten, teils
Nach Aristoteles besteht eine Substanz sowohl aus den noch ungeformten Gedanken, wobei die
aus Materie und Form, aber das Wesen der Sub- Laute durch die Regeln der Phonologie zur Lautform
stanz ist von der Form und der Materie eines Gegen- werden und die noch ungeformten Gedanken durch
standes unabhängig. In diesem Sinn ist die Substanz die Semantik der jeweiligen Einzelsprache zur >Ideen-
das eigentlich Unerkennbare. Materie ist dagegen form< oder >inneren Form< der Sprache werden.
das Konkrete, gewissermaßen das Rohmaterial, aus
dem die Dinge der Welt bestehen. Im Gegensatz zur 3.3.2 Inhalts- und Ausdrucksmaterie
Materie steht entweder der Geist oder die Form. Jene >>amorphe Gedankenmasse<<, die in den ver-
Aristoteles kontrastiert die Materie als das Unge- schiedenen Einzelsprachen unterschiedlich geformt
formte mit der Substanz als dem, was Form hat. Je- wird, ist also die Inhaltsmaterie der Sprache. Als
der konkrete Gegenstand besteht aus Materie und Beispiel führt Hjelmslev das >>amorphe Kontinu-
hat eine Form. Materie ohne Form ist amorph. Die um<< des Farbspektrums an, welches die Einzelspra-
Form verleiht der Materie die Gestalt eines wahr- chen auf unterschiedliche Weise sprachlich bezeich-
nehmbaren Gegenstandes. nen (Hjelmslev 1943: 52-53):
Die Dichotomie von Form und Materie wurde
Auf Kymrisch heißt >grün< gwyrdd oder glas,
im weiteren Verlauf der Geschichte dieser Begriffe
>blau< heißt glas, >grau< heißt glas oder 1/wyd,
auf verschiedene Weise mit der semiotischen Dicho-
und >braun< heißt 1/wyd. Somit wird der Bereich
tomie von der Ausdrucks- und Inhaltsseite verbun-
des Spektrums, der von unserem Farbwort grün
den (vgl. Fischer-Jorgensen 1966: 1-2). Ferner wur-
abgedeckt wird, im Kymrischen von einer Linie
de der Substanzbegriff oft im Sinne von >Materie<
durchgeschnitten, die einen Teil davon demsel-
verwandt. In der Geschichte der Linguistik finden
ben Bereich zuweist wie unser Wort blau, wäh-
sich u.a. folgende Begriffsbestimmungen: (1) Mate-
rend das Kymrische die Grenze, die unsere Spra-
rie der Sprache sind die Laute, und diese erhalten ih-
che zwischen grün und blau zieht, nicht kennt.
re Form in der sprachlichen Artikulation; (2) die
[... ] Die folgende schematische Gegenüberstel-
Form der Sprache liegt in ihrer syntaktischen Struk-
lung zeigt die fehlende Übereinstimmung zwi-
tur, während sich die Materie durch ihren Inhalt
schen den Grenzen:
konstituiert; (3) Form in der Sprache ist ihre phone-
tische Manifestation, die Form steht damit im Ge- gwyrdd
gegen nicht das Vorhandensein anderer, nichtse- die Form. >>Ebenso wie ein und der gleiche Sand in
miotischer Strukturen aus. Die Analyse der Inhalts- verschiedene Formen gegeben werden kann«, so
materie mit anderen als mit semiotischen Mitteln, Hjelmslev (1943: 52-53), wird die Materie in eine ge-
z.B. durch Methoden der Physik oder der Sozialan- formte Substanz umgesetzt: >>Kraft der Inhaltsform
thropologie ist sehr wohl möglich, betont Hjelmslev und der Ausdrucksform, und aus keinem anderen
(1943: 77-78). Die Ausdrucks- und die Inhaltsmate- Grund, existieren die Inhaltssubstanz und die Aus-
rie muß sogar >>wissenschaftlich geformt<<, also druckssubstanz, die dadurch in Erscheinung treten,
durch andere als die semiotischen Wissenschaften daß das Wesen der Form auf die Materie projiziert
strukturiert sein, >>zumindest bis zu einem Grad, der wird, gerade so wie ein offenes Netz seinen Schatten
erlaubt, sie von anderen Materien zu unterschei- auf eine ungeteilte Oberfläche wirft« (ebd.: 57). In
den« (Hjelmslev 1954: 50). diesem Bild entspricht die »ungeteilte Oberfläche«
Im Hinblick auf das Beispiel des Farbspektrums der Materie, das >>offene Netz« der Form und der
bedeutet dieser Gedanke Hjelmslevs, daß die Welt >>Schatten« der Substanz (vgl. Metz 1971: 226).
der Farben aus der Sicht der vielen Sprachen, durch Wenn die Substanz aber immer von der Form ab-
die sie unterschiedlich bezeichnet werden, amorph hängt (ebd.: 50), warum ist dann die Unterscheidung
ist, denn jede Sprache gliedert das Farbspektrum zwischen diesen beiden Ebenen überhaupt notwen-
auf eigene Weise. Die semiotisch noch unstruktu- dig? Hjelmslevs Antwort darauf lautet, daß >>Sub-
rierte Inhaltsmaterie der Farben ist jedoch durch an- stanz keine notwendige Vorbedingung für die lingui-
dere Wissenschaften, etwa die Physik bzw. die Op- stische Form, aber die linguistische Form eine
tik, ganz unabhängig von der Semiotik strukturiert, notwendige Vorbedingung für Substanz ist« (1943:
denn das chromatische Spektrum der Optik ist nach 106). Reine Form ist somit eine abstrakte Struktur,
Gesetzmäßigkeiten strukturiert, die physikalischer während geformte Substanz nur ein >>Reflex der rei-
und nicht semiotischer Natur sind. nen Form ist, der auf die Substanz projiziert wird«
Der Bereich der semiotisch amorphen Materie (Hjelmslev 1957: 108). Die Substanz (und mit ihr die
ist somit der Ort der Begegnung verschiedener Materie) ist demnach der variable und nichtnotwen-
Wissenschaften, die den gleichen Gegenstand un- dige Operator der Semiose, während die Form der
tersuchen. Für Hjelmslev stand dabei der Gesichts- konstante und notwendige Operator ist (vgl. Abb.
punkt der Differenz zwischen den Ergebnissen 11.3.2). Diese Ansicht vom Primat der Form über die
dieser Wissenschaften im Vordergrund, eine Diffe- Substanz kehrt die traditionelle Aristotelische Auf-
renz, die die Quelle der Arbitrarität der Zeichen fassung vom Primat der Materie (und Substanz) über
ist. Was Hjelmslev nicht sah, sind die heute von der die Form um, aber diese Umkehrung ist auf zwei un-
kognitiven Linguistik stärker beachteten Formen terschiedliche Perspektiven zurückzuführen. Die tra-
der Konvergenz oder sogar Homologie zwischen ditionelle Auffassung von der Form als etwas Sekun-
den semiotischen und nichtsemiotischen Struktu- därem im Verhältnis zur Materie bzw. Substanz
rierungen der Welt, etwa zwischen der Kognition basiert auf einer evolutionären Perspektive: jede
der Farben und der Gemeinsamkeiten in der Ver- Form entsteht aus etwas Substantiellem, welches ei-
balisierung der Farben in den verschiedenen Spra- ner jeden Form notwendigerweise vorausgehen muß.
chen (vgl. Berlin & Kay 1969). Diese Gemeinsam- Hjelmslevs Auffassung vom Primat der Form über
keiten geben heute Anlaß zu der Vermutung, daß die Substanz gilt dagegen aus einer synchronen und
die Inhaltsmaterie kognitive Formen aufweist, die kognitiven Perspektive; danach determiniert unsere
für die Strukturierung der Welt durch Zeichen re- semiotisch und kulturell geprägte Sichtweise der
levant sind. Insofern wäre auch die Inhaltsmaterie Welt unsere Wahrnehmung ihrer Substanz.
bereits protosemiotisch geformt.
Auf der Ausdrucksebene besteht die Materie der 3.3.4 Reine Form
Zeichen in dem phonetischen Potential der mensch- Hjelmslev definiert die zwei Ebenen der Form als
lichen Lautartikulation, das allen Sprechern gleicher- Systeme reiner Relationen: >>Die Einheiten der lin-
maßen zur Verfügung steht, das aber einzelsprachlich guistischen Form sind >algebraischer< Art und haben
auf unterschiedliche Weise entsprechend den Regeln keine natürliche Festlegung; sie können daher auf
der verschiedenen Phonemsysteme genutzt wird. Die verschiedene Weise arbiträr bestimmt werden«
Ausdrucksmaterie der Schrift liegt in den Möglichkei- (1943: 105). Es ist dieses abstrakte formale System
ten der Gestaltung von Buchstaben oder von anderen von Relationen, das nach Hjelmslev Gegenstand der
Schriftzeichen durch die Schreibwerkzeuge und die semiotischen Forschung sein soll: >>Die eigentlichen
menschliche Hand. Die physiologischen Möglichkei- Einheiten der Sprache sind nicht Laute, geschriebe-
ten des gestischen und mimischen Ausdrucks bilden ne Buchstaben oder Bedeutungen [d.h. Substanzen];
die Ausdrucksmaterie der Zeichensprachen. die eigentlichen Einheiten der Sprache sind die Rela-
ta, welche diese Laute, Buchstaben und Bedeutun-
3.3.3 Geformte Substanz gen repräsentieren« (1948: 27).
Die semiotische Substanz ist das Ergebnis einer spezi- Die Abhängigkeit der geformten Substanz von
fisch zeichenhaften Strukturierung der Materie durch der reinen Form bedeutet allerdings nicht immer eine
84 li. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
genaue 1:1-Homologie zwischen den beiden Ebe- der Verabsolutierung des Saussuresehen Dogmas
nen. Unterschiede können dadurch entstehen, daß der Arbitrarität (s. VI.3).
innerhalb des axiomatischen Systems der reinen
Form >>alle Möglichkeiten vorhergesehen sein müs- 3.3.6 Ausdrucksform und -substanz
sen, einschließlich derer, die in der Welt der Erfah- Auf der Ausdrucksebene einer Sprache bildet die
rung nur virtuell sind oder jenseits einer >natürli- spezifische Art und Weise, wie die Phoneme konkret
chen< oder >tatsächlichen< Manifestation bleiben<< artikuliert werden, die Ausdruckssubstanz. Die zu-
(Hjelmslev 1943: 106). Dieser Unterschied zwi- grundeliegenden abstrakten Relationen in diesem
schen reiner Form und tatsächlicher Substanz ent- System sind die Ausdrucksform. In Sprachen mit ei-
spricht der von Hjelmslev (s. 2.1.4) getroffenen Un- ner relativ autonomen Orthographie, wie Englisch
terscheidung zwischen dem System als der Form und Französisch, ist nicht nur die graphemische
und der Norm und ihrem Gebrauch als der Sub- Ausdruckssubstanz, sondern auch die Ausdrucks-
stanz. Eine lexikalische Lücke in einer Sprache wie form von der phonetischen unterschieden. Bei Spra-
z.B. das Fehlen eines Wortes im Deutschen zur Be- chen mit einer Orthographie, die das Phonemsy-
zeichnung eines weiblichen Wellensittichs (im Ver- stem genau abbildet, stimmen die phonemische und
gleich etwa zu >Katze< vs. >Kater<) ist ein Beispiel für die graphemische Ausdrucksform überein, da sie ein
eine Kategorie der Form ohne Substanz. Andere und das gleiche System von Relationen darstellen
mögliche Unterscheidungen zwischen Substanz und (Hjelmslev 1954: 49-50). Die phonetische Sprache
Form lassen sich von Hjelmslevs Postulat ableiten, und ihre genaue Transkription durch ein phoneti-
daß >>sich ein und dieselbe Form in verschiedenen sches Alphabet sind ein Beispiel für zwei Substan-
Substanzen manifestieren kann<< (1957: 107). zen, die eine Ausdrucksform manifestieren. In ähn-
Hjelmslevs Argumente für die Möglichkeit einer licher Weise sind die sekundären Kodierungen der
Form ohne Substanz sind allerdings auf die Aus- alphabetischen Schrift, etwa in Form des Morse-
drucksebene beschränkt. oder des Flaggenalphabets (s. III.16.5.3) Beispiele
für verschiedene Ausdruckssubstanzen von gleicher
3.3.5 Inhaltsform und -substanz Ausdrucksform.
Die Inhaltsform >>ist unabhängig von, und sie steht
in einer arbiträren Beziehung zur Materie. Sie formt
diese zu einer Inhaltssubstanz<<, schreibt Hjelmslev 3.4 Zeichen, Figur und Symbol
(1942: 52). Der Vergleich lexikalischer Felder in Hjelmslev unterstreicht die Neuartigkeit seines Zei-
verschiedenen Sprachen gibt Aufschluß über die Ar- chenbegriffs gegenüber den traditionellen Zeichen-
bitrarität der Inhaltsform. Viele Sprachen untertei- definitionen. Sowohl hinsichtlich der Frage nach
len den Übergang vom Hellen zum Dunklen durch der Bedeutung und der Bezeichnung der Zeichen als
die drei Wörter, die im Deutschen weiß, grau und auch hinsichtlich der Systemhaftigkeit der Zeichen
schwarz heißen. Einige Sprachen unterscheiden nur und ihrer Elemente führt er völlig neue Begriffe ein.
zwischen schwarz und weiß; andere haben sogar
mehr als drei Lexeme und differenzieren zwischen 3.4.1 Janusköpfigkelt der Zeichen
mehreren Graustufen (ebd.: 53). Hjelmslev (1943: 47-48) lehnt die traditionelle De-
Ein Beispiel aus der Morphologie ist die zwei- finition des Zeichens als ein aliquid pro aliquo (s.
wertige Numerus-Kategorie, die in den meisten III.2.3) ab. Zeichen verweisen nach seiner struktu-
Sprachen nur zweiwertig ist. Nur zwei Kategorien ralistischen Definition nicht auf einen Inhalt, der
kennen nämlich all die Sprachen, die nur zwischen womöglich unabhängig von der Ausdrucksseite des
Singular und Plural differenzieren. Es gibt aber auch Zeichens besteht. Seit Saussure gilt das Zeichen als
andere Sprachen, deren Inhaltsform die Inhaltsma- eine unauflösbare Verbindung eines Ausdrucks mit
terie der >Pluralität< weiter differenzieren, indem sie einem Inhalt: >>Ein Ausdruck ist nur Ausdruck, weil
morphologische Kategorien wie den zusätzlichen er Ausdruck eines Inhalts ist, und ein Inhalt ist nur
Dual, Trial oder sogar den Quadral (Morpheme für Inhalt, weil er Inhalt eines Ausdrucks ist<< (ebd.: 48-
Zweier-, Dreier- oder Vierergruppen) haben. Diese 49). Hjelmslev definiert das Zeichen als eine semio-
und andere Beispiele der linguistischen Relativität tische Funktion, die aus den zwei Funktoren be-
führen zu dem Schluß, daß es unmöglich ist, Spra- steht, und spricht von der Relation der Solidarität
che ausgehend von der Substanz zu beschreiben: zwischen der Zeichenfunktion und ihren Funkto-
>>Die Beschreibung der Substanz ist abhängig von ren: Eine Zeichenfunktion kommt nur durch die Si-
der Beschreibung der linguistischen Form. Der alte multanität beider Funktoren, Ausdruck und Inhalt
Traum von einem universalen phonetischen System zustande (ebd.: 47-48, 57).
und einem universalen Inhaltssystem, einem System Das, was man bisher unter Bezeichnung ver-
von Konzepten, kann daher nicht realisiert werden<< standen hat (s. III.5.2), interpretiert Hjelmslev als
(Hjelmslev 1943: 76-77). Mit dieser Anspielung er- eine Relation zwischen einer Inhaltsform und ihrer
innert Hjelmslev an das Scheitern des Universal- Inhaltssubstanz: >>Daß ein Zeichen ein Zeichen für
sprachenprojektes (s. VI. 7), wird aber zugleich Opfer etwas ist, bedeutet also, daß die Inhaltsform eines
11.3 Hjelmslev 85
Zeichens dieses Etwas zur Inhaltssubstanz haben lev 1957: 111, 1973: 143). Sie besteht aus den drei
kann<< (1943: 57). Statt einer Bezeichnung, die vom Ausdrucksfiguren b, i und n und hat die fünf ln-
Zeichen auf ein Objekt des Zeichens verweist, gibt haltsfiguren >sein<, >Indikativ<, >Präsens<, >erste Per-
es nur noch Relationen. Diese Auffassung von der son< und >Singular<.
Immanenz aller semantischen Relationen in der
Sphäre der Bedeutung prägt auch die Semiotik der 3.4.3 Ausdruck und Inhalt:
Neo-Hjelmslevianer Greimas und Eco. Hjelmslev analog, aber nicht konform
geht aber noch weiter in seiner Revolutionierung Im Gegensatz zu der Theorie von der doppelten Ar-
des Zeichenbegriffs. Aufgrund seiner Annahme von tikulation (oder Gliederung), die den Unterschied
der Solidarität zwischen Ausdruck und Inhalt zwischen der ersten und zweiten sprachlichen Glie-
kommt er zu dem Schluß, daß es nicht nur eine auf derungsebene der Sprache unterstreicht (s. Vl.2),
den Inhalt, sondern auch eine auf den Ausdruck ge- betont Hjelmslev die Parallelen zwischen der Aus-
richtete Zeichenhaftigkeit gibt. Das Zeichen ist so- drucks- und der lnhaltsebene. Die Ausdrucks- und
mit nicht ein unidirektionales aliquid pro aliquo, Inhaltsebenen der Sprachzeichen sind insofern ana-
sondern Zeichenhaftigkeit muß als bidirektional be- log strukturiert, als beide Ebenen dreifach in Mate-
griffen werden. Wie ein Januskopf weist das Zei- rie, Substanz und Form gegliedert sind und außer-
chen in zwei entgegengesetzte Richtungen: dem jede Ebene weiter in minimale Komponenten
zerlegbar ist. Für Hjelmslev (1943: 101) beweisen
Das Zeichen ist dann - so paradox es auch diese strukturellen Parallelen, daß >>die zwei Ebenen
scheinen mag- zugleich ein Zeichen für eine ln- einer Sprache eine völlig analoge kategoriale Struk-
haltssubstanz und ein Zeichen für eine Aus- tur haben<<.
druckssubstanz. Nur in diesem Sinne kann man Die Analogien zwischen Ausdrucks- und In-
sagen, daß ein Zeichen ein Zeichen für etwas haltsebene bedeuten jedoch nicht, daß das Zeichen
sein kann. [... ] Das Zeichen ist eine zweiseitige auf beiden Ebenen isomorph strukturiert ist, denn
Entität. Es ist ein Januskopf mit Blick nach zwei die Ebenen haben >>keineswegs die gleiche Struktur,
Seiten und einer Wirkung in zwei Richtungen: und es gibt keine Eins-zu-Eins-Relation zwischen
>>nach außen<< zur Ausdruckssubstanz und den Funktoren der einen und jenen der anderen
>>nach innen« zur Inhaltssubstanz. (Hjelmslev Ebene<< (ebd.: 112). Die Verbalform bin z.B. hat
1943: 58) drei Ausdrucks- und fünf Inhaltsfiguren, und beide
Strukturierungen bestehen nach völlig eigenen, für
3.4.2 Zeichen und Figuren jede der Ebenen unabhängig geltenden Regeln. Die-
Die Analyse der Struktur der Zeichen innerhalb des sen Aspekt der Unabhängigkeit zwischen den bei-
Zeichensystems führt zu Hjelmslevs Unterscheidung den Ebenen nennt Hjelmslev die Nonkonformität
zwischen dem Zeichen und seinen elementaren Kon- zwischen der Ausdrucks- und der Inhaltsseite eines
stituenten. Hjelmslev (1943: 46) definiert diese Zei- Zeichens.
chenelemente, die selbst noch nicht Zeichen, sondern
lediglich Komponenten eines Zeichens sind, als Figu- 3.4.4 Zeichen vs. Symbol
ren (1943: 46) oder auch Zeichenkomponenten Hjelmslev versteht unter Zeichen nur solche semio-
(1973: 144, 175, 234). Es gibt Figuren auf der Aus- tischen Phänomene, die wie die Sprachzeichen die-
drucks- und der Inhaltsseite der Zeichen. Die Aus- ses Merkmal der Nonkonformität zwischen Aus-
drucksfiguren einer Sprache sind ihre Phoneme oder drucks- und Inhaltsebene aufweisen. Nicht alle
Grapheme. Hjelmslev (1937: 157) führt den allge- semiotischen Phänomene haben jedoch diese Struk-
meineren Begriff des Kenems (von Gr. KEv6c; >leer<, tur. Viele nichtsprachliche Zeichen lassen sich nicht
d.h. ohne semantischen Inhalt). Mit diesem neuen in kleinere Ausrucks- bzw. Inhaltskomponenten
Begriff soll die Idee einer abstrakten Einheit der rei- zerlegen. Hjelmslev (1943: 113) führt als Beispiel
nen Form zum Ausdruck gelangen, mit der nicht nur Schachfiguren, mathematische Symbole, das Bild der
die Komponenten der phonetischen Substanz gemeint Waage als Symbol der Gerechtigkeit sowie Hammer
sind. Keneme können in phonetischer, graphemi- und Sichel als Embleme des Kommunismus an. Bei
scher, gestischer oder anderer Substanz manifestiert keinem dieser Beispiele ist eine systematische De-
sein. Die Untersuchung der Keneme nennt Hjelmslev komposition der Ausdrucks- und der Inhaltsseiten
auch Kenematik. möglich. Ein anderes Beispiel ist der Kode der Ver-
Die minimalen Zeichenkomponenten auf der kehrsampel. >Rot< bedeutet >Anhalten<, >Grün< heißt
Inhaltsebene, die Inhaltsfiguren, nennt Hjelmslev >Weiterfahren< und >Gelb< steht für >Aufpassen<.
auch Plereme (von gr. nA.i]pTJc; >voll<, d.h. mit seman- Keine der drei Farben und Bedeutungen besteht aus
tischem Inhalt). Die strukturale Semantik über- kleineren Komponenten. Ausdruck und Inhalt sind
nahm später den Terminus Sem bzw. semantische hier konform strukturiert, d.h., >>jeder einzelne Be-
Komponente (s. 11.9.3.2). Ein Beispiel dafür, welche standteil von einem der beiden Funktoren hat aus-
Komponenten ein sprachliches Zeichen auf seinen schließlich die gleichen Funktionen wie ein einzelner
zwei Ebenen aufweist, ist die Verbform bin (Hjelms- Bestandteil des anderen Funktors und umgekehrt<<
86 Il. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
(ebd.: 113). Hjelmslev definiert derartige >>interpre- (dA, di) besteht. Abb. Il.3.4 ist das Modell dieser
tierbare nichtsemiotische Entitäten<< (ebd.: 114) Erweiterungen des denotativen Zeichens. Hjelmslev
und führt für sie den Begriff Symbol ein. Die Struk- (1943: 114) spricht von einer Semiotik mit einer
tur von Symbolen in diesem engeren Sinn nennt zweiten Semiotik in ihrer Ausdrucksebene und defi-
Hjelmslev auch monoplan. Symbolsysteme definiert niert demgegenüber das denotative Zeichen als eine
er als Strukturen, die interpretierbar sind (d.h., man »Semiotik, bei der keine der beiden Ebenen eine
kann ihnen eine Inhaltsmaterie zuordnen), die aber semiotische ist«. Die Konnotatoren können ferner
keine Inhaltsform aufweisen (ebd.: Def 97). Elemente des Sprachschemas und somit der reinen
Form oder des Sprachgebrauchs und folglich der
konkreten Ausdruckssubstanz sein (s. 2.1.4). Die
Konnotatoren, die anzeigen, daß die eine Sprache
4. Konnotation, Metasemiotik und Ästhetik Dänisch und die andere Portugiesisch ist, gehören
zum Sprachsystem und somit zur Ausdrucks- und
Nach der Theorie der Zeichen und der semiotischen Inhaltsform der Zeichen. Die sprachlichen Merk-
Systeme sind die semiotische Stilistik, die Literatur- male der Stimme, die die Artikulation einer be-
semiotik und die Theorie der Metazeichen weitere stimmten Person kennzeichnen, sind Konnotatoren
Hauptthemen der Glossematik. Hjelmslev erweitert der Ausdruckssubstanz. Als Wissenschaft der reinen
in diesem Kontext die Theorie der einfachen (deno- Form interessiert sich die Glossematik nur für die
tativen) Zeichen zu einer Theorie der komplexen Form, nicht für die Substanz der Inhaltsseite des
Zeichen, die entweder in ihrer Ausdrucks- oder in konnotativen Zeichens. Die Inhaltsform von Kon-
ihrer Inhaltsseite weitere sekundäre Zeichenstruk- notatoren wie >Dänisch< oder >Portugiesisch< er-
turen beinhalten, und gelangt dabei zu einer Theo- schöpft sich in ihrer reinen Struktur, die sich inner-
rie der Konnotationen und der Metazeichen. halb des Systems aller Konnotationen, d.h. z.B. in
der Opposition dieser Konnotatoren zu Konnotato-
ren wie >Italienisch<, >Japanisch< oder >Französisch<
4.1 Denotation und Konnotation zeigt. Sonstige Inhalte dieser Konnotate, wie z.B.
Das Grundmodell des Zeichens mit einer Aus- unser kulturelles Wissen über das >Französische<
drucks- und einer Inhaltsseite, wie es Abb. II.3.2 oder >Italienische< oder >Japanische< gehört nicht zur
darstellt, versteht Hjelmslev zugleich als das Modell Inhaltsform, sondern zur Inhaltsmaterie der konno-
einer denotativen Semiotik. Seine Konzeption einer tativen Semiotik (Hjelmslev 1943: 119).
denotativen Semiotik basiert auf der idealisierten
Vorstellung eines homogenen Zeichensystems, einer
Art Nullstufe der Zeichen, wonach in jeder Zeichen-
funktion im wesentlichen nur ein Ausdruck mit ei-
nem Inhalt verbunden ist. Eine solche Homogenität kl
gilt nicht in einer konnotativen Semiotik. Hier ha-
ben die Zeichen nicht nur die übliche denotative Be- dl
deutung, sondern sie sind darüber hinaus auch in ih-
dA
rer Ausdrucks- und Inhaltsseite Indikatoren einer
momentanen Stimmung der Sprecher, des verwand-
ten Kodes (Schrift, Gestik, etc. ), eines individuellen
oder kollektiven Sprachstils, einer literarischen Kon- Abb. 11.3.4: Hjelmslevs Modell der Konnotation als
vention, eines geographischen oder sozialen Dia- ein erweitertes (sekundäres) denotatives Zeichen.
lekts oder einer Nationalsprache. Übersetzungen
von einem Sprachstil oder Dialekt verdeutlichen
den Unterschied zwischen Denotation und Konno- 4.2 Konnotation als ästhetisches Prinzip
tation, denn durch die Übersetzung geht die Konno-
tation des Ausgangstextes verloren, während die Johansen (1949), Stender-Petersen (1949, 1958),
Denotation unverändert erhalten bleibt. Die Indika- Sorensen (1958),Jansen (1968) und Trabant (1970)
toren konnotativer Bedeutungen nennt Hjelmslev entwickeln Hjelmslevs Theorie der Konnotation
(1943: 115-116) Konnotatoren, und die Summe aller weiter zu einer glossemarischen Literatursemiotik.
Konnotatoren eines semiotischen Systems ist eine (Siehe auch Busse 1971 und Ihwe 1972a.) Die
konnotative Semiotik. Grundannahme dieser Autoren besteht darin, daß
In glossemarischer Interpretation stellt sich die ein Text, wenn er als ein Kunstwerk verstanden
konnotative Erweiterung der denotativen Zeichen wird, eine ästhetische Ausdrucksebene besitzt, die
wie folgt dar: Die Konnotatoren bilden die Inhalts- einen ästhetischen Inhalt konnotiert.
seite, den konnotativen Inhalt (ki), eines Zeichens, Johansen (1949: 292-93, 301) unterscheidet
dessen Ausdrucksseite durch ein denotatives Zei- zwischen einfachen und komplexen ästhetischen
chen mit denotativer Ausdrucks- und Inhaltsseite Konnotatoren. Einfach nennt er Konnotatoren, de-
Il.3 Hjelmslev 87
ren Ästhetizität nur von einem der Strata des deno- 4.3 Metazeichen und Metasemiotik
tativen Zeichens herrührt. Nach diesem Kriterium Auch die Metazeichen, die Zeichen über Zeichen,
unterscheidet Johansen vier Typen einfacher ästhe- sind ein System sekundärer Zeichen. Die von der
tischer Konnotatoren: (1) einfache Konnotatoren logischen Sprachphilosophie als objektsprachlich
der denotativen Ausdruckssubstanz (z.B. Reim und definierten Primärzeichen (s. 111.5.6) interpretiert
expressive Lautwerte); (2) einfache Konnotatoren Hjelmslev (1943: 119-20) als denotativ. Anders als
der denotativen Ausdrucksform (rhythmische Ef- die Konnotationen erweitern die Metazeichen die
fekte, die aus Relationen zwischen den Elementen denotativen Zeichen jedoch nicht auf ihrer Inhalts-,
der Ausdrucksform entstehen); (3) einfache Konno- sondern auf ihrer Ausdrucksseite. Eine Grammatik
tatoren der denotativen Inhaltsform (nämlich se- z.B., ist eine Metasprache, deren Objektsprache die
mantische und syntaktische Figuren und Tropen) alltäglich gesprochene Sprache ist. Dem Wortschatz
und (4) einfache Konnotatoren der denotativen In- der alltäglichen Sprache fügt die Grammatik neue
haltssubstanz, die sich in der individuellen Themen- Begriffe und Kategorien, d.h. neue Ausdrücke hin-
wahl, den materiellen und intellektuellen Präferen- zu, deren Inhalt Strukturen der alltäglichen Sprache
zen eines Autors manifestieren. sind. Metazeichen sind in diesem Sinne Ausdrücke,
Im Gegensatz zu den einfachen haben die kom- deren Inhalt denotative Zeichen sind. Hjelmslev de-
plexen ästhetischen Konnotatoren das denotative finiert danach eine Metasemiotik als eine wissen-
Zeichen mit all seinen Schichten als ihre Aus- schaftliche Semiotik, deren Inhaltsebene eine eigene
c
drucksbasis (Johansen 1949: 292, 298, 302). Das (denotative) Semiotik darstellt (Abb. 1!.3.5).
konnotative Zeichen ist dabei selbst in vier Schich-
ten strukturiert: (1) Die konnotative Ausdrucks-
35=ml
substanz wird von dem denotativen Zeichen gebil-
det; (2) die konnotative Ausdrucksform besteht in dl
der spezifischen ästhetischen Struktur des literari-
dA
schen Werkes; (3) die konnotative Inhaltsform
besteht aus den Relationen zwischen den Elemen-
ten des konnotativen Inhalts, und (4) die konnota-
tive Inhaltssubstanz liegt in der »autonomen psy- mA
chischen Struktur<< der ästhetischen Erfahrung
(ebd.: 298-299). Diese manifestiert sich auf spon-
tane, emotionale Weise oder in Form von Kom- Abb. 11.3.5: Metazeichen als Zeichen, deren
mentaren und Interpretationen. Die Erweiterung Inhaltsebene (m I) ein denotatives Zeichen
der glossemarischen Ästhetik von einer Theorie (d AI d I) ist.
der ästhetischen Form zu einer Theorie der ästheti-
schen Substanz führt vom immanenten Textstruk-
turalismus in die Richtung einer literarischen Re- Die Semiologie im Sinne Saussures nennt Hjelmslev
zeptionstheorie. danach eine Metasemiotik, deren Objektsemiotik ei-
Johansen (ebd.: 302) greift in seiner Ästhetik ne nichtwissenschaftliche Semiotik ist (insofern als sie
auch Hjelmslevs These von der Form als der semio- sich mit den konkreten Zeichensystemen im Alltagsle-
tischen Konstante und der Substanz als der semioti- ben befaßt). Auch die Linguistik ist eine Semiologie in
schen Variablen auf, um damit zu beschreiben, daß diesem Sinne. Auf einer Metaebene gelangen wir zu
ästhetische Erfahrung individuell variiert, während einer Metasemiologie, einer Theorie der Zeichentheo-
»das unveränderliche Netzwerk der Zeichenkom- rien. Diese nennt Hjelmslev Metasemiologie und defi-
plex als formale Struktur ist.<< Diese Sichtweise von niert sie als eine wissenschaftliche Metasemiotik, de-
der literarischen Interpretation als einer Domäne ren Objektsemiotiken Semiologien sind. Gegenstand
der literarischen Inhaltssubstanz greift Trabant in der Metasemiologie ist insbesondere die Terminolo-
seiner Literatursemiotik wieder auf. Trabant (1970: gie der Semiologie (bzw. Allgemeinen Semiotik). Auf
274) liefert allerdings eine Neuinterpretation der li- der metasemiologischen Ebene erweitert sich schließ-
terarischen Inhaltsform. Nach seiner Auffassung ist lich auch das Analysespektrum. Während die reine
sie eine leere Form, >>weil der [literarische] Text sei- glossemarische Semiotik auf die Ebenen der Aus-
ne Bedeutung nicht offenbart. Literarische Bedeu- drucks- und Inhaltsform beschränkt ist, geht es in der
tung existiert allein in einer jeden neuen Erzeugung Metasemiologie auch um die Strata der Zeichensub-
dieser Bedeutung durch individuelle Interpreten. stanz (vgl. Trabant 1981a: 104-106). Auf diese Weise
Die Einheiten, dagegen, die durch Interpretationen sieht der Semiotiker Hjelmslev nicht nur Platz für eine
mit Bedeutung gefüllt werden, existieren nur als lee- strukturale Pleremik und Kenematik (s. 3.4.2), son-
re Einheiten, unabhängig von der Interpretation<< dern er öffnet seine strukturale Theorie für interdiszi-
(ebd.: 274). plinäre Kooperation mit Nachbardisziplinen der Se-
miotik im engeren Sinn, z.B. die Pragmatik, die Sozio-
und Psychosemiotik oder die Kultursemiotik.
88 II. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
die Rezeption des Werkes von Morris in der Ge- lieh oder sozial vorkommen. Semiotik ist daher ein
schichte der Semiotik gibt Posner (1988: 2221-26). interdisziplinäres Unternehmen<<. Zu den an dieser
Interdisziplin beteiligten Fachwissenschaftlern zählt
Morris (1938: 1 = 1972: 17) >>Linguisten, Logiker,
Philosophen, Psychologen, Biologen, Anthropolo-
2. Semiotik und ihre drei Dimensionen gen, Psychopathologen, Ästhetiker und Soziologen<<.
Als Zeichentheorie steht die Semiotik nach
Die Semiotik ist für Morris (1938: 1-2) die >>Wissen- Morris in einer zweifachen Relation zu allen ande-
schaft von den Zeichen<<, und ihr Gegensstandsbe- ren Wissenschaften, denn >>sie ist einerseits eine
reich erstreckt sich von der Kommunikation bei den Wissenschaft unter anderen Wissenschaften und an-
Tieren bis zur Sprache der Menschen. Das Projekt dererseits ein Instrument aller Wissenschaften<<. Als
dieser Wissenschaft ist ein interdisziplinäres, und Einzelwissenschaft untersucht die Semiotik >>Dinge
für ihre Systematik sieht Morris die dreifache Glie- oder Eigenschaften von Dingen in ihrer Zeichen-
derung in Syntaktik, Semantik und Pragmatik vor. funktion. (... ] Daher, daß jede Wissenschaft Ge-
brauch von Zeichen macht und ihre Ergebnisse in
Zeichen formuliert, kommt es, daß die Wissen-
2.1 Peirce und Morris schaftstheorie (die Wissenschaft von der Wissen-
Morris hat sich an vielen Stellen auf die Semiotik schaft) die Semiotik als Organon benutzt<< (1938:
und das pragmatische Erbe von Peirce berufen 2). Weil die Semiotik >>für jede Formalwissenschaft
(Morris 1971: 470; Fisch 1978: 58-60; 1986: 345- [... ] die Grundlagen schafft<<, war Morris davon
47), hat aber einen Ansatz verfolgt, der sich in we- überzeugt, daß sie >>einen Schritt in Richtung auf die
sentlichen Punkten von der Semiotik seines Vorgän- Integration der Wissenschaften geht<< (ebd.).
gers unterscheidet (Dewey 1946; Rochberg-Haiton
& McMurtrey 1983). Ebenso wie Peirce definiert
auch Morris (1946: 79) die Semiotik als die Wissen-
schaft jeglicher Art von Zeichen. Ebenso wie für 3. Semiose und die drei Dimensionen
Peirce ist die Semiotik auch für Morris >>nicht mit ei- der Semiotik
nem speziellen Gegenstandsbereich befaßt, sondern
mit allen Gegenständen, insoweit (und nur inso- Ebenso wie für Peirce steht für Morris das Zeichen
weit) sie an einer Semiose beteiligt sind<< (Morris im Prozeß der Semiose in einer triadischen Bezie-
1938: 4). Mehr als Peirce ist Morris (z.B. 1946: 83, hung. Die drei Korrelate des Zeichens sind jedoch
366) dabei im Zeitalter des Behaviorismus auch bei Morris andere als bei Peirce, und somit sind
ganz konkret an den Zeichenprozessen bei Tieren auch die drei Dimensionen der Syntaktik, Semantik
oder noch allgemeiner >>Organismen<< interessiert. und Pragmatik, die Morris als Rahmen für die se-
Wenn er allerdings Semiose als einen Prozeß be- miotische Forschung bestimmt, nicht auf den ersten
schreibt, >>in dem etwas ein Zeichen für einen Orga- Blick mit einer der Peirceschen Triaden deckungs-
nismus ist<< schränkt er damit bereits den noch wei- gleich (s. jedoch 3.2).
teren Geltungsbereich der Semiotik nach Peirce ein.
Auch in vielerlei anderer Hinsicht vollzieht Morris
insgesamt eine >>fundamentale Abkehr von der 3.1 Morris' Rahmenmodell der Semiose
Peirceschen Tradition<< (Hervey 1982: 38). Wäh- Ausgangspunkt der Analyse eines Semioseprozesses
rend Peirce nämlich eine Semiotik begründet, die ist nach Morris' Rahmenmodell (Abb. 11.4.2) ein
den Gegensatz zwischen Geist und Materie aufzu- Zeichenträger, der mit drei anderen semiotischen
heben trachtete und die das Universum gänzlich mit Konstituenten in Beziehung steht, dem Denotat
Zeichen durchdrungen sah, reduzierte Morris (und Designat), den anderen Zeichen im Kontext
(1946: 80) die Semiotik auf eine Wissenschaft der des Zeichenträgers und schließlich dem Interpreten
Zeichen >>auf biologischer Basis<< im Rahmen einer bzw. dem Interpretanten. In einer ersten Annähe-
Verhaltenswissenschaft, die er auch Behavioristik rung nennt Morris (1938: 3) den Zeichenträger
nannte, einer Wissenschaft, deren letzter Bezugs- >>das, was als Zeichen dient<<, das Denotat >>das,
punkt immer die Kategorien der Erfahrung bzw. des worauf sich das Zeichen bezieht<< und den Interpre-
Verhaltens zu sein hatten (Morris 1977: 78). tanten >>die Wirkung [des Zeichens] auf einen Inter-
preten, kraft derer der betreffende Gegenstand für
diesen Interpreten ein Zeichen ist<<. Statt von einer
2.2 Die Semiotik als wissenschaftliche Disziplin >>Wirkung<< spricht Morris (1971: 366) später von
Die Wissenschaft von den Zeichen ist nach Morris einer >>Disposition in einem Interpreten, aufgrund
(1964: 1) >>eine allgemeine Theorie der Zeichen in all eines Zeichens mit Reaktionsfolge zu reagieren<<. In
ihren Formen und Manifestationen, ob sie nun bei beiden Definitionen zeigt sich die große Distanz zur
Menschen oder Tieren, in normaler oder pathologi- völlig unpsychologischen Konzeption des Interpre-
scher Form, sprachlich oder nichtsprachlich, persön- tanten bei Peirce.
90 li. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
DESIGN AT
jekt und lnterpretant bestimmt waren. Der erste Be-
DENOTAT reich ist die reine Grammatik. >> Ihre Aufgabe ist es
festzustellen, was an einem von jeder Wissenschaft
verwendeten Repräsentamen wahr sein muß, um ir-
gendeine Bedeutung verkörpern zu können. << Der
zweite Bereich ist die eigentliche Logik: >>Sie ist die
Wissenschaft von dem, was an den wissenschaftlich
verwendeten Repräsentamina quasi-notwendiger-
weise wahr ist, wenn diese für jedes beliebige Objekt
gelten sollen, d.h. wahr sein können.<< Der dritte Be-
reich ist schließlich die reine Rhetorik. >>Ihre Aufgabe
besteht darin, die Gesetze festzustellen, nach denen
ein Zeichen für jede wissenschaftliche Erkenntnis ein
anderes hervorbringt und insbesondere ein Gedanke
einen anderen erzeugt<< (ebd.). Die Parallelen zu den
drei Dimensionen bei Morris sind leicht erkennbar.
Die >>reine Grammatik<<betrifft die Syntax, die »rei-
ne Logik << die Semantik, und die »reine Rhetorik« ist
INTERPRETAMT die Vorläuferirr der Pragmatik. Zu weiteren Aspek-
r······J
' '......... , INTERPRET
ten der drei Dimensionen der Semiotik nach Morris
und Peirce siehe Deledalle (1979: 71-79) und Roch-
t I
SEMlOSE t
'
SEMIQnK berg-Halton & McMurtrey (1983:147-52).
SYNTAKTIK SEMANTIK PRAGMATIK
Abb. 11.4.2: Die drei Korrelate der Semiose 3.3 Syntaktik oder Syntax
und die drei Dimensionen der Semiotik Nach Morris wurde die erste der drei Dimensionen
nach Morris (1939: 417; 1972: 94) der Semiotik statt als Syntaktik bald auch als Syntax
benannt (so z.B. Reichenbach 1947: 15; Carnap
1954: 79). Für Linguisten, die unter Syntax ein spe-
zifischeres Teilgebiet ihrer Wissenschaft verstehen,
3.2 Die drei Dimensionen und ihre Geschichte stellte sich danach bald die Frage, ob die Triade von
Die Analyse des Zeichenträgers jeweils in Beziehung Syntax, Semantik und Pragmatik tatsächlich ihr
auf eins seiner drei Korrelate der Semiose führt zu ganzes Forschungsfeld abdekken könne. Wozu z.B.
den drei Dimensionen der Semiotik, d.h. zu den drei die Phonologie oder Graphemik gehört, war nur ei-
großen Forschungszweigen der Zeichentheorie nach ne der Fragen, die Linguisten sich stellten (Althaus
Morris. Gerrau genommen, geht es in jedem dieser & Henne 1971: 3-4; Trabant 1976a: 42; Lyons
Forschungsfelder um dyadische Relationen, näm- 1977: 114-119), und auch Jakobsans Unterschei-
lich in der Syntaktik um die Relation zwischen dem dung zwischen der syntagmatischen und paradig-
zu analysierenden Zeichenträger und anderen Zei- matischen Dimension des Zeichensystems der Spra-
chenträgern, in der Semantik um die Relation zwi- che scheint kaum mit den Morrisschen Kategorien
schen diesen Zeichenträgern und ihren Designata kompatibel zu sein. Im Gegensatz zur linguistischen
und in der Pragmatik um die Relation zwischen den Syntax ist mit Morris' Syntaktik allerdings weit
Zeichenträgern und ihren Interpreten (vgl. Morris mehr als das System der syntaktischen Regeln einer
1938: 6-7). Unter anderen Gesichtspunkten unter- Sprache gemeint. Syntaktik, so Morris (1938: 16),
scheidet Morris ferner zwei weitere Teilbereiche der hat viel allgemeiner auch mit »den Zeichen der
Semiotik, und zwar die reine Semiotik, in der >>in sy- Wahrnehmung, den ästhetischen Zeichen und auch
stematischer Form die Metasprache ausgearbeitet<< dem praktischen Zeichengebrauch << zu tun. Posner
wird, und die deskriptive Semiotik, die diese Meta- (1985b) weist darauf hin, daß Morris die Dimen-
sprache >>auf konkrete Zeichenvorkommnisse<< an- sion der Syntaktik in der Tat nicht im engeren lin-
wendet (ebd.: 9). Zu den Beziehungen zwischen die- guistischen Sinn versteht, sondern sie auf dreierlei
sen fünf Bereichen der Semiotik siehe Lieb (1971 ). Weise begreift, nämlich (1) Syntaktik als »Untersu-
Für Morris' Theorie von den drei Dimensionen chung von Zeichen und Zeichenkombinationen, so-
der Semiotik gibt es nach Posner (1985b: 75) zwei fern sie syntaktischen Regeln unterworfen sind<<
historische Vorläufer, nämlich das mittelalterliche (Morris 1938: 14), (2) Syntaktik als die Untersu-
Trivium der drei sprachlichen Künste (s. VII.2.1.2) chung »der Art und Weise, auf die Zeichen verschie-
und die Neuinterpretation dieses Triviums durch dener Klassen kombiniert werden, um zusammen-
Peirce. Auch für Peirce gab es drei Dimensionen (oder gesetzte Zeichen zu bilden << (Morris 1946: 367) und
zumindest Forschungsfelder) der Semiotik, die durch (3) Syntaktik, als »formale Relation der Zeichen zu-
die drei Aspekte des Zeichens, Repräsentamen, Ob- einander<< (1938: 6).
11.4 Charles W. Morris 91
Die dritte Definition der Syntaktik erlaubt es 30).- Zu den Wurzeln von Morris' Pragmatik in der
nun, so Posner (1985b: 82), sie als ein Forschungs- Tradition der humanistischen Rhetorik siehe Apel
gebiet zu begreifen, das neben den syntagmati- (1976: 154-163). Zur Weiterentwicklung der Prag-
schen auch die paradigmatischen Relationen einer matik nach Morris und zur Beziehung zwischen der
Sprache erfaßt. Aufgabe der Syntaktik sei es da- Pragmatik und der Allgemeinen Semiotik siehe
nach, alle >>formalen Aspekte der Sprache«, Spra- Parret (1983), Deledalle (ed. 1989) und Posner
che als semiotische Struktur überhaupt zu untersu- (1991).
chen. Nach diesem Verständnis wären nicht nur
die Syntax, sondern auch die Morphologie und die 3.6 Exkurs zur Sigmatik
Psychologie Gegenstandsbereiche dieser weiter Im Rahmen seiner marxistischen Semiotik schlägt
konzipierten Syntaktik. Wenn die Syntaktik aller- Klaus als vierte Dimension der Semiotik die Sigma-
dings auch die paradigmatischen Relationen in der tik vor (s. auch Bentele & Bystrina 1978: 70-79;
Sprache beschreibt, so kann sie nicht länger die Odmark 1980). Klaus (1963: 60) beschreibt dieSig-
Wissenschaft von den Zeichenkombinationen, al- matik als eine Dimension neben der Semantik.
so vom Nebeneinander der Zeichen im Satz und im Während die Semantik die Beziehungen der Zeichen
Text bestimmt werden, denn bei den paradigmati- »zu den durch sie dargestellten Begriffen und Aussa-
schen Strukturen geht es ja im Gegensatz zu syn- gen<< thematisiert, soll die Sigmatik die Beziehungen
tagmatischen Relationen um Beziehungen des behandeln, »die zwischen den Zeichen und den ab-
Statteinanders und der möglichen Substitution im gebildeten Objekten und Sachverhalten bestehen<<.
Text. Zur Weiterentwicklung von Morris' Idee der Ausgehend von der marxistischen Widerspiege-
Syntax in verschiedenen Bereichen der Semiotik lungstheorie meint Klaus (1964: 14) sogar, diesig-
siehe Marcus (1992). matischen Sachverhalte auf dyadische Relationen
zwischen den Zeichen und den »Objekten der Rea-
lität<< reduzieren zu können. Ein solcher Reduktio-
3.4 Morris' Semantik nismus und der mit dieser Semiotik verbundene nai-
Nach Morris' erster Definition untersucht die Seman- ve Realismus ist allerdings überwiegend auf Kritik
tik >>die Beziehung zwischen den Zeichen und den Ge- gestoßen. Selbst der sowjetische Semiotiker Resni-
genständen, auf die sie anwendbar sind<< (1938: 21, kow (1964: 98) lehnte die Sigmatik als eine Dimen-
3 ). Semantik ist danach eine Wissenschaft von den Be- sion der Semiotik neben der Semantik ab. Klaus
zeichnungen, nicht von den Bedeutungen (s. ill.5.2). selbst hat danach seine eigene Auffassung von der
Semantik war für Morris also zuerst Referenzseman- Sigmatik modifiziert. 1964 bestimmt er Sigmatik
tik. Später vertritt Morris allerdings eine weitere Auf- nur noch in abgeschwächter Weise als Synonym
fassung vom Gegenstand der Semantik. 1946 nennt er von Referenztheorie und unterstreicht:
die Semantik »denjenigen Zweig der Semiotik der die
Die Relation zwischen den Zeichen und den
Signifikation von Zeichen erforscht<< (1946: 366), wo-
bei er Signifikation nicht unmittelbar als das bezeich- Objekten ist keine direkt und unmittelbar vom
erkennenden Subjekt erlebte. Sie wird vielmehr
nete Objekt bestimmt, sondern als die Bedingungen,
die erfüllt sein müssen, damit etwas das Denotat (oder auf einer bestimmten Stufe des Erkenntnispro-
Objekt) eines Zeichens sein kann (s. 4.2). zesses durch Zuordnung konstruiert. Zunächst
wird das Objekt 0 auf einen Begriff A abgebil-
det, und erst die Existenz dieses Begriffes ist der
3.5 Morris' Pragmatik Ausgangspunkt für die Konstruktion von B.
Für Morris ist die Pragmatik »die Wissenschaft von Wegen des engen Zusammenhangs zwischen
der Bezeichnung der Zeichen zu ihren Interpreten<< der Bedeutungs- und der Bezeichnungsfunktion
(1938: 30), wobei er als Interpret ganz allgemein der Zeichen ist es gerechtfertigt, die Sigmatik in
»lebende Organismen<< versteht (ebd.). Pragmatik die Semantik einzuordnen. (in Klaus & Buhr
1964: 1098-99)
ist ferner »der Zweig der Semiotik, der den Ur-
sprung, die Verwendungen und die Wirkungen von
Zeichen erforscht<< (1946: 365). Im Gegensatz zur
Pragmatik, die sich etwa in der Linguistik darauf 4. Zeichenbegriff und -typologie
beschränkt, zu untersuchen, »wie sprachliche Äuße-
rungen in Situationen Bedeutungen haben<< (Leech Morris hat seine Zeichentheorie von 1938 bis 1964
1983: x), hat die semiotische Pragmatik einen weit kontinuierlich weiterentwickelt und dabei teilweise
größeren Untersuchungshorizont. Aufgabe dieser auch seine Terminologie verändert (Dutz 1979;
weiter konzipierten Pragmatik ist es nach Morris Hervey 1982). Bei aller Verschiedenheit in den De-
(1938: 30), »sich mit den lebensbezogenen Aspek- finitionen des Zeichens und seiner Korrelate durch
ten der Semiose zu beschäftigen, d.h. mit allen psy- Morris gibt es jedoch eine Kontinuität hinsichlieh
chischen, biologischen und soziologischen Phäno- der verhaltenstheoretischen Grundlagen von Morris'
menen, die im Zeichenprozeß auftauchen<< (1938: Begriffsbestimmungen.
92 li. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
einer bestimmten Stelle nach Futter zu suchen, als 4.3.2 Einige semantische Bestimmungen
den Interpretanten, >>das Futter an der aufgesuchten von Zeichentypen
Stelle, das den Abschluß der Reaktionsfolge ermög- Nach semantischen Kriterien bestimmt Morris u.a.
licht<<, als Denotat und die »Bedingung, ein eßbares die folgenden Zeichentypen:
Objekt (vielleicht einer bestimmten Art) an einer be- Vages Zeichen: ,, Ein Zeichen ist für einen gege-
stimmten Stelle zu sein,<< als das Signifikat (ebd. 94). benen Interpreten in dem Maße vage, wie seine Signi-
In seinen früheren Schriften hatte Morris die semioti- fikation nicht die Bestimmung erlaubt, ob etwas ein
sche Semantik noch ganz auf die Bezeichungsdimen- Denotat ist oder nicht; in dem Maße, wie ein Zeichen
sion reduzieren wollen. Zu dieser Zeit unterschied nicht vage ist, ist es präzise<< (Morris 1946: 97).
Morris (1938: 5) in der semantischen Dimension der Eindeutiges Zeichen: ,, Ein Zeichenträger ist ein-
Zeichen zwischen dem Denotat und dem Designat deutig, wenn er nur ein Signifikat hat [... ]; andern-
des Zeichens. Wenn ein Zeichen einen »real existie- falls ist er mehrdeutig« (ebd.).
renden Gegenstand<< bezeichnet, so hat es ein Deno- Singuläres Zeichen: >>Ein Zeichen ist singulär,
tat. Nicht alle Zeichen haben ein Denotat, aber jedes wenn sein Signifikat nur ein einziges Denotat zu-
Zeichen hat ein Designat, denn das Designat umfaßt läßt; andernfalls ist es allgemein<< (ebd.: 97).
»diejenigen Objekte, die die Eigenschaft haben, von Synonyme Zeichen: ,, Ein Zeichen ist mit einem
denen der Interpretant durch die Gegenwart des Zei- anderen Zeichen synonym, wenn beide Zeichen ver-
chenträgers Notiz nimmt, wobei diese Notiznahme schiedenen Zeichenfamilien angehören oder ver-
geschehen kann, ohne daß es Gegenstände oder schiedene Zeichenfamilien sind und dennoch das
Sachverhalte gibt, welche die notierten Merkmale be- gleiche Signifikat haben<< (Morris 1946: 98).
sitzen<< (Morris 1938: 5). - Zur späteren Revision
dieser Dichotomie siehe Morris (1944: 169). 4.3.3 lkon, Index und Symbol
Teilweise im Gegensatz zu, teilweise in Anlehnung an
Peirce definiert Morris (1938: 24) die zeichentypolo-
4.3 Zeichentypologie gische Triade Ikon, Index und Symbol wie folgt: ,, Ein
Morris entwickelte eine höchst differenzierte Zei- Index bezeichnet das, worauf es die Aufmerksamkeit
chentypologie, teils nach pragmatischen und teils lenkt. Ein indexikalisches Zeichen leistet keine Cha-
nach semantischen Kriterien. Betrachten wir im fol- rakterisierung dessen, was es denotiert. [... ] Wenn ein
genden einige dieser Zeichentypen und deren Defi- charakterisierendes Zeichen in sich selbst die Eigen-
nitionen nach Morris. schaft aufweist, die ein Objekt haben muß, wenn es
sein Denotat sein soll, nennt man es Ikon; anderen-
4.3.1 Einige pragmatisch determinierte falls heißt das charakterisierende Zeichen Symbol<<
Zeichentypen (ebd.). Statt von indexikalischen Zeichen spricht
Da Zeichen nach Morris nicht singuläre Phänome- Morris später von Identifikatoren. (Zu Morris'
ne sind, sondern zu einer >>Verhaltensfamilie<< von Theorie der Ikonizität s. III.12.3).
sich immer wieder unter gleichen Umständen wie-
derholenden Verhaltensmustern gehören (s. 4.1.2), 4.3.4 Signale vs. Symbole
sind Zeichen in der Regel auch plurisituationale Morris, der sich schon 1927 in einer längeren Studie
Zeichen, wohingegen unisituationale Zeichen nur mit dem Begriff des Symbols auseinandergesetzt
in einer einzigen Situation signifikant sind. Eine an- hat, thematisiert auch den Unterschied zwischen Si-
dere Klassifizierung der Zeichen nach pragmati- gnalen und Symbolen (s. III.11.3). Nach seiner De-
schen Gesichtspunkten ist diejenige zwischen ver- finition ist ein Symbol >>ein von seinen Interpreten
läßlichen und unverläßlichen Zeichen (ebd. 99). hergestelltes Zeichen, welches als Ersatz für ein an-
Nach dem Kriterium der Zeichenbenutzer unter- deres Zeichen fungiert, mit dem es synonym ist; alle
scheidet Morris (1946: 97) zwischen personalen und Zeichen, die nicht Symbole sind, sind Signale. [... ]
interpersonalen Zeichen: ,, In dem Maße, wie ein Zei- Eine Person kann ihren Puls als ein Zeichen für den
chen für eine Anzahl Interpreten die gleiche Situation Zustand ihres Herzens auffassen. [... ] Solche Zei-
hat, ist es ein interpersonales Zeichen; in dem Maße, chen sind einfach Signale; die daraus folgenden
wie dies nicht der Fall ist, ist das Zeichen ein persona- Wörter wären jedoch Symbole, wenn sie als Ersatz
les Zeichen<<. Zu den interpersonalen Zeichen gehö- für diese Signale dienten<< (Morris 1946: 100-101).
ren die Comzeichen. Ein Comzeichen ist ein Zeichen,
»das für den Organismus, der es produziert, dieselbe
Signifikation hat wie für andere Organismen<< (Mor-
ris 1946: 111). Eine Kombination von mehreren zei- 5. Morris' semiotische Diskurstypologie
chentypologischen Kriterien erlaubt es Morris (ebd.:
114), die folgende Definition von Sprache zu formu- Morris hat ferner eine Theorie der Signifikations-
lieren: ,, Eine Sprache ist eine Gruppe plurisituationa- modi und eine Theorie des Zeichengebrauchs ent-
ler Comzeichen, die in ihren Kombinationsmöglich- wickelt. Sie dient ihm als Grundlage einer Diskurs-
keiten eingeschränkt sind.<< typologie und ist von einem gewissen Einfluß auf
94 II. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
die Theorie des Diskurses gewesen (Morris 1946: Organismen interpretieren?<< (ebd.: 172). Morris
140ff., 203ff.; Klaus 1964; Fiordo 1977). unterscheidet die folgenden vier primären Formen
des Zeichengebrauchs, die eine gewisse Parallele zu
den vier wichtigsten Situationsmodi aufweisen.
5.1 Signifikationsmodi Nach dem Gesichtspunkt des Verhaltenszieles eines
Nach dem Gesichtspunkt des Umgebung des zeichen- Organismus gibt es (1) den informativen Zeichenge-
interpretierenden Organismus unterscheidet Morris brauch, wenn das Zeichen dazu verwendet wird,
(1946: 142) fünf Modi der Signifikation. Drei von über etwas zu informieren, (2) den valuativen Zei-
ihnen lassen sich am Beispiel von Pawlows konditio- chengebrauch, wenn das Zeichen den Interpreten zu
niertem Hund (s. 4.1.2) aufzeigen: »Der Summton einer Wertschätzung gegenüber etwas anderem ver-
designiert Futter an einer bestimmten Stelle, er appre- anlassen soll, (3) den inzitiven Gebrauch, wenn das
ziert dieses deutlich in Beziehung zum Hunger, d.h., Zeichen spezifische Reaktionen eines Interpreten
er ist die Ursache einer Wertschätzung, und er und hervorrufen soll, und (4) den systemischen Ge-
präskribiert in einer gewissen Weise die Handlungs- brauch, wenn es darum geht, ein >>bereits durch Zei-
reaktion<< (Morris 1946: 2). In diesem Beispiel von chen hervorgerufenes Verhalten<< weiter zu organi-
Zeichengebrauch zeigt sich der designative (oder in- sieren (Morris 1946: 176). Wenn die Ziele des
formative), der appreziative (wertschätzende) und Zeichengebrauchs unter dem Aspekt dieser Geba-
der präskripive Signifikationsmodus. Diese drei Mo- rauchsmodi erreicht wurden, dann war der infor-
di sind unterschiedlich stark an jedem Zeichenge- mative Gebrauch überzeugend, der valuative Ge-
brauch beteiligt, aber bei Aussagen dominiert der de- brauch effektiv, der inzitive Gebrauch persuasiv
signative, bei Bewertungen der appreziative und bei und der systemische Gebrauch korrekt (Morris
Befehlen der präskriptive Signifikationsmodus. Als 1946: 176).
vierten und fünften Signifikationsmodus nennt Mor-
ris den identifikativen Modus- er designiert ein Ob-
jekt in Raum und Zeit- und den formativen Modus, 5.3 Diskurstypologie
welcher Formataren designiert. Formatoren sind Morris (1946: 203-205) war davon überzeugt, daß
Sprachzeichen, die nur kontextuelle Bedeutung ha- die wichtigsten Diskurstypen im Alltagsleben nach
ben, so z.B. Konjunktionen, Quantifikatoren, Funk- zwei Dimensionen klassifiziert werden können, und
tionswörter oder Interpunktionszeichen. Auch diese zwar einerseits nach dem Modus der Signifikation,
Signifikationsmodi beschreibt Morris in behaviori- andererseits nach dem Modus des Zeichengebrauchs.
stischen Kategorien. Formataren sind z.B. >>Zeichen, In jedem Diskurstyp gibt es einen dominaten Signi-
die ihre Interpreten dazu disponieren, in bestimmten fikationsmodus und einen dominanten Gebrauchs-
Weisen die Reaktionsdispositionen zu modifizieren, modus. Fiktion ist beispielsweise überwiegend desi-
die durch andere Zeichen der Zeichenkombinatio- gnativ, wenn sie den Ablauf der Ereignisse in einer
nen, in denen der Formator vorkommt, verursacht Erzählung bezeichnet. Urteile und Vorschriften sind
werden<< (Morris 1946: 362). dagegen in der Fiktion von geringerer Bedeutung.
Der kommunikative Zweck der Fiktion ist nach
Morris in erster Linie valuativ, denn der Leser wird
5.2 Gebrauchsdimensionen dazu angehalten, die in der Erzählung dargestellten
Während es bei den Signifikationsmodi vor allem Ereignisse zu bewerten, während ein fiktiver Text
um die semantische Dimension der Zeichen geht, weder informiert noch Handlungsanweisungen gibt.
betreffen die Gebrauchsdimensionen der Zeichen Insgesamt gibt Morris sechzehn Beispiele von Dis-
pragmatische Aspekte der Semiose. Dabei lautet die kurstypen. Nach den Kriterien des Signifikationsmo-
Fragestellung: >>Zu welchem Zweck stellt ein Orga- dus und der Gebrauchsdimension ergibt sich die in
nismus ein Zeichen her, das er selbst oder andere Abb. 11.4.3 dargestellte Diskurstypologie.
~ s
informativ valuativ inzitiv
rechtlich
systemisch
kosmologisch
designativ wissenschaftlich fiktiv
1. Russischer Formalismus
1.2 Literatursemiotik und semiotische Poetik
Der Russische Formalismus kann im Gegensatz zur Es ist kein Zufall, daß die Ästhetik des Russischen
Semiotik der Schule von Moskau und Tartu noch Formalismus zur Zeit des Futurismus in der Poesie
nicht als eine Richtung der Semiotik im eigentlichen sowie des Konstruktivismus und Kubismus in der
Sinn gelten, denn die Beiträge der Formalisten zur Se- Malerei entwikkelt wurde. Die Lösung der künstleri-
miotik sind zumeist nur implizit semiotischer Art. schen Ausdrucksform in den verbalen und visuellen
Die Kontinuität in der Entwicklung vor allem der äs- Künsten von den Zwängen der inhaltlichen Reprä-
thetischen und literaturtheoretischen Gedanken vom sentation motivierte die Formalisten zu Reflexionen
Russischen Formalismus bis zur expliziten Semiotik über die autonome und nicht auf den Inhalt reduzier-
in der Sowjetunion, die wegen der vom Stalinismus bare Funktion der Zeichen in der ästhetischen Kom-
erzwungenen Unterbrechung von 1930 bis 1960 munikation. In den Mittelpunkt des Interesses rückt
nicht immer deutlich gewesen ist (vgl. Schnaiderman, nach Sklovskij das Verfahren (>priem<; Striedter, ed.
ed. 1979: 10), ist heute jedoch nicht mehr umstritten 1969: 2), das besondere sprachliche Mittel, welches
(Grübel1998). Der Einfluß der Russischen Semiotik das Poetische und Literarische eines Textes aus-
auf die Semiotik des 20. Jh.s ist auch in der Semiotik macht. Im Gegensatz zur praktischen Sprache und
der Prager Schule deutlich zu erkennen. entgegen der Tradition des Symbolismus soll die poe-
tische Sprache nicht mehr als Instrument der Über-
mittlung von Inhalten, sondern als autonomes Mittel
1.1 Geschichte und Forschungsstand des Ausdrucks betrachtet werden. Die >>Einstellung<<
Der Russische Formalismus hatte zwei Zentren, der Rezipienten verlagert sich, so Jakobsan (in Stem-
Moskau und Petersburg. Der >Moskauer Linguisti- pel, ed. 1972: 30), in der Poesie ganz auf den Aus-
sche Zirkel< war von 1914 bis 1924 aktiv, und die druck (s. auch VIII.5.1.1.1). Statt ein >>Denken in
Petrograder >Gesellschaft zum Studium der poeti- Bildern<< fordert Ejchenbaum >>verbales Erleben<<
schen Sprache< (OPOJaZ) trat von 1916 bis 1930 in (Grübel1988: 2235).
Erscheinung. Herausragende Vertreter dieser For- Als zentrale Funktion des poetischen Verfahrens
schergruppen waren außer R. Jako~son (s. II. 7) die stellt Sklovskij (1916) das Prinzip der Verfremdung
Literaturwissenschaftler Viktor B. Sklovskij (1893- (>>ostranenie<<) heraus (s. VIII.5.2.1): Durch Abwei-
1984), Boris Eichenbaum (1896-1959),Jurij Tynja- chungen vom alltäglichen Sprachgebrauch soll in der
nov (1894-1943) und Boris Tomasevskij (1890- Poesie zu einerneuen Wahrnehmung, einem >>neuen
1957), der Philosoph Gustav G. Spet (1878-1940), Sehen<< (Lachmann 1974) der sprachlichen Phäno-
in dessen Arbeiten nach Grübe! (1998: 2241) >>die mene führen, die dem Prozeß der Automatisierung,
erste explizite moderne russische Semiotik, semioti- der Gewöhnung an die Strukturen, entgegenwirkt.
sche Geschichtstheorie und semantischer Ästhetik Für Sklovskij dient das Prinzip der literarischen
formuliert ist<<, sowie der Ethnograph Peter G. Bo- Verfremdung auch zur Erklärung des Unterschiedes
96 II. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
zwischen den erzählerischen Grundkategorien Sujet 1994). Bachtins Prinzip der Offenheit und Unabge-
(Plot) und Fabel (s. VII.3 ): Die chronologische Folge schlossenheit der Zeichen und Texte besagt:
der erzählten Ereignisse, die Fabel, dient als Refe- >>Nichts auf der Welt ist endgültig. Das letzte Wort
renzrahmen für die Bemessung der narrativen Ab- der Welt und über die Welt wurde noch nicht ge-
weichungen, wie sie sich im erzählerischen Rearran- sprochen. Die Welt ist offen und frei. Alles ist noch
gement der Ereignisse, im literarischen Sujet zeigen in der Zukunft und wird immer in der Zukunft blei-
(Striedter, ed. 1969: 108). Die sprachlich gestaltete ben<< (Bakhtin 1929: 166). Unvollendetheit (neza-
Erzählfolge (Sujet) ist somit eine literarische Ver- vershennost) ist Bachtins Schlüsselbegriff in diesem
fremdung gegenüber der Reihenfolge der erzählten Konzext (Morson & Emerson 1990: 36).
Ereignisse (Fabel). Die Quelle der Offenheit der Texte liegt in ihrer
Heteroglossie: >>Sie ist das, was das Primat des Kon-
textes gegenüber dem Text ausmacht<< und die Bedeu-
1.3 Dynamik der literarischen Evolution tung eines Wortes von Situation zu Situation verän-
Automatisierung ist bei Tynjanov (1927) schließlich dert. Sie ist >>der Ort, wo zentripetale und zentrifugale
auch ein Schlüsselbegriff für eine Theorie der literari- Kräfte aufeinanderprallen, und als solches ist sie das,
schen Evolution. Tynjanov beschreibt die Gesamt- was die Systemlinguistik immer unterdrücken muß<<
heit der Literatur einer gegebenen Epoche als ein dy- (Bakhtin 1981: 428). Die Heteroglossie bedingt, daß
namisches System, in das ständig Elemente der >>jede Äußerung in sich die Spur anderer Äußerungen,
Kreativität neu eingehen, das aber zugleich zur Auto- sowohl der Vergangenheit als auch der Zunkunft ent-
matisierung dieser Elemente tendiert, weil die ästhe- hält<< (in Morris, ed. 1994: 249).
tische Wirkung dieser Elemente im Laufe der Zeit Dem Antagonismus zwischen den zentripetalen
durch Prozesse der Gewöhnung und Konventionali- und zentrifugalen Tendenzen in Sprache und Kultur
sierung verloren geht. Aus diesem Grund müssen entspricht der Antagonismus zwischen dem Mono-
stets innovative literarische Verfahren neu erfunden logischen, dem Kodifizierten und Genormten einer-
werden, um die Dynamik des literarischen Systems seits und dem Dialogischen, dem Polyphonen und
vor seiner Erstarrung zu bewahren: Jede literarische Karnevalesken, die Normen stets durchbrechenden
Innovation ist somit gegen frühere Verfahren gerich- andererseits. Das Monologische ist das Prinzip des
tet und bestrebt, sie zu ersetzen. Die Dynamik des li- Totalitären. Es will die Dialogizität der Texte unter-
terarischen Systems manifestiert sich in der Fähigkeit drücken. Dialogizität ist aber das Grundmerkmal
der Literatur, automatisierte Strukturen aufzugeben einer heteroglossen Welt. >>Jedes wahre Verstehen
und kreative Innovationen neu zu integrieren. Zu ist dialogischer Art<<, schreibt Volosinov (1973:
diesem semiotischen Prozessen aus systemtheore- 102), und für Bakhtin wird das Dialogische gar zum
tischer Sicht siehe Nöth (1977a) und Ehlers (1992). Prinzip des Lebens überhaupt: »Das Leben ist von
Natur aus dialogisch. Leben bedeutet, am Dialog zu
partiztipieren: Fragen zu stellen, achtzugeben, zu
2. Bachtins Zeichen- und Texttheorie antworten, zuzustimmen usw.<< (Bakhtin 1929
[1984]: 293). Es gibt keine Bedeutung, keinen Ge-
Von den Grundpositionen der Russischen Formali- danken, der nicht dialogisch wäre, denn >>alles be-
sten unabhängig entwickelt Michail M. Bachtin deutet und wird begriffen als Teil eines größeren
(1895-1975) seit den 1920er Jahren eine Zeichen- Ganzen - es gibt eine ständige Interaktion von Be-
und Texttheorie, die im Westen erst vierzig Jahre deutungen, von denen alle das Potential in sich tra-
später u.a. durch die Vermittlung von J. Kristeva re- gen, andere zu bedingen<< (Bakhtin 1981: 426).
zipiert wurde, die ihre Theorie der lntertextualität Dialogizität erfolgt nicht nur bei der Kommuni-
aus Gedanken Bachtins entwickelte. Von Bachtin kation mit anderen, sondern sie findet auch statt als
beeinflußt ist auch die von Pavel Medvedev und ein innerer Dialog. Durch ihn konstituiert sich das
Valentin Volosinov erarbeitete Theorie von der Zei- Selbst, welches mit dem Anderen auch als einem
chenhaftigkeit der Ideologien (s. VII.5.2.1). Zur früheren oder späteren Selbst konfrontiert ist und
Texttheorie Bachtins und ihren Bezügen zur Semiotik somit ein sich stets wandelndes Selbst ist (Bakhtin
siehe u.a. Titunik (1976), Grübe! (1979), Ponzio 1981: 427; Danow 1991: 23).
(1980), Morson (ed. 1981), Todorov (1981), Lach- Bakhtins Prinzipien des Dialogischen und das
mann (ed. 1982), Clark & Holquist (1984), Hishkop Prinzip der Unvollendetheit weisen überraschende
& Shepherd (eds. 1989), Morson & Emerson (eds. Parallelen zu Peirce auf, der den Prozeß der Semiose
1989), Shukman (1989), Morson & Emerson (eds. als dialogisch und unendlich beschrieben hat (San-
1990), Holquist (1990), Danow (1991), Gardiner tanella 1986). Im folgenden Zitat werden diese Par-
(1992), Bernard-Donals (1994) und Dentith (1995). allelen besonders deutlich:
Die prinzipielle Offenheit, die Kontextualität
und die Pluralität der Bedeutungen in Texten stehen Es gibt weder ein erstes noch ein letztes Wort,
im Mittelpunkt von Bachtins Texttheorie (Bakhtin und es gibt keine Grenzen für den dialogischen
1929, 1965, 1984, 1986; Bachtin 1979; Morris, ed. Kontext. (Er erstreckt sich in die unbegrenzte
11.5 Vom Russischen Formalismus zur Schule von Moskau und Tartu 97
Vergangenheit und in die unbegrenzte Zu- sind Rewar (1976), Winner & Winner (1976), Fok-
kunft.) Sogar vergangene Bedeutungen, d.h. je- kema & Kunne-Ibsch (1977), Lucid (1977), Shuk-
ne, die im Dialog früherer Jahrhunderte ent- man (1977), Lhoest (1979), Eimermacher (1982),
standen, können niemals stabil sein (vollendet Chernov (1988), Grzybek (1988), Fleischer (1989,
und ein für alle Male beschlossen) - Sie werden 1998), Eimermacher & Grzybek (eds. 1991) und
sich immer wandeln (erneuert werden) im Pro- Portis Winner (1994). Speziell zu Ivanov und Lot-
zeß der nachfolgenden, zukünftigen Entwick- man siehe Ivanov (1983, 1986, 1991), Lotman
lungen des Dialogs. (Bakhtin 1986: 170) (1970, 1972, 1973, 1981, 1990), Grübe! (1979),
Städtke (1981), Halle & Matejka (eds. 1984) und
Pocheptsov (1993). Als Sammelbände mit Überset-
3. Die Schule von Moskau und Tartu zungen sind zu nennen: Eng & Grygar (eds. 1973),
Lotman & Uspenskij (eds. 1973), Baran (ed. 1974),
Die Schule von Moskau und Tartu wurde in den Maranda (ed. 1974), Lucid (ed. 1977), Prevignano
1970er und 1980er Jahren im Westen als Sowjeti- (ed. 1979), Eimermacher & Eimermacher (eds.
sche Semiotik bekannt (z.B. Lucid, ed. 1977), ob- 1982), Nakhimovsky & Nakhimovsky (eds. 1985)
wohl die Orientierung dieser Forschergruppen nur und Eimermacher (ed. 1986). In russischer Sprache
geographisch und nicht ideologisch eine sowjetische erschienen Eimermacher (ed. 1971), Eng & Grygar
war. Schnaiderman (ed. 1979) hat die Bezeichnung (eds. 1973) und Matejka (et al., eds 1977). Biblio-
Russische Semiotik vorgezogen, die zwar für die graphien sind Eimermacher (comp. 1974), Eimer-
Sprache dieser Forschergruppe, nicht jedoch für die macher & Shishkoff (comps. 1977), und sie finden
Geographie zutreffend ist, denn Tartu (früher Dor- sich bei Eimermacher (ed. 1986) sowie Eimerma-
pat) ist eine Universität in Estland. cher & Grzybek (eds. 1991). Der Semiotik in allen
slawischen Ländern ist die Zeitschrift Znakalog -
Internationales Jahrbuch für slawische Semiotik
3.1 Geschichte und Forschungsstand (Bochum 1/1989ff.) gewidmet.
Die Semiotik in der Sowjetunion konnte sich erst
nach dem Ende der Ära des Stalinismus entwickeln.
Ähnlich wie die Semiotik in Frankreich und Italien 3.2 Themen, Ansätze und Theorien
liegen ihre Wurzeln im linguistischen Strukturalis- Die Semiotik der Schule von Moskau und Tartu hat
mus. Der Übergang vom sowjetischen Strukturalis- keine einheitliche Theorie entwickelt. Ihre theoreti-
mus (Eimermacher, ed. 1971) zur sowjetischen Se- schen Grundlagen sind vielmehr pluralistischer Art.
miotik vollzog sich in wenigen Jahren (Meletinsky Das Interesse der Forschung gehört vor allem der
& Segal 1971; Baran, ed. 1974; Eimermacher Augewandten Semiotik. Die Themen sind von gro-
1975). Mehr als die linguistisch orientierte Semiotik ßer Vielfalt. Allein in dem von Lucid (ed. 1977) her-
im Westen bezog die Semiotik in der damaligen So- ausgegebenen Sammelband geht es um so verschie-
wjetunion auch Elemente der Informationstheorie, dene Themen, wie die Semiotik des Schach- und
der Kybernetik und der mathematischen Linguistik Kartenspiels, der Höflichkeitsregeln, der Kommuni-
mit in ihre Forschung ein. kation, der Erzählung, Mythologie und Geschichte,
Die Zentren der sowjetischen Semiotik seit den der Kunst und Literatur, der Metapher und der Kul-
1960er Jahren waren Moskau und Tartu. Unter den turtypologie. Zu den Beiträgen der sowjetischen Se-
Moskauer Semiotikern ist an erster Stelle Vjaceslav miotiker zur Semiotik des Mythos und der Literatur
V. Ivanov zu nennen, dessen Einführung in allge- s. auch VII.4.3 und VIII.6.2.1.2. Programmatisches
meine Probleme der Semiotik aus dem Jahr 1976 zur Semiotik der Geschichte findet sich bei Uspen-
auch deutsch erschienen ist (1985). Weitere Mos- skij (1991). Trotz aller Heterogenität gibt es auch in
kauer Semiotiker sind Vladimir N. Toporov, Boris der Theorie einige rekurrente Grundbegriffe und
Uspenskij, Aleksandr Zolkovskij und Sebastian K. theoretische Ansätze, von denen nur einige im fol-
Saumjan (s.VI.2.1.3.2). Die Arbeitsfelder dieser For- genden skizziert werden können.
schungsgruppe reichen von der Linguistik und All-
gemeinen Vergleichenden Sprachwissenschaft über
die Poetik bis zur Mythologie und allgemeinen Kul- 3.2.1 Zeichen und Text
turwissenschaft. Die Semiotik in T artu wurde her- Die Zeichenkonzeption der sowjetischen Semioti-
ausragend durchJurij M. Lotman (1922-1993) ver- ker (Grzybek 1989) ist zumeist eine dyadische, wie
treten, dessen Arbeitsschwerpunkte die Literatur-, überhaupt das binäre Denken die theoretische Dis-
Film- und Kultursemiotik waren (Lotman 1970, kussion beherrscht. Saussure und Hjelmslev bilden
1972, 1973, 1990; Shukman 1977; Halle & Matej- den Hintergrund mancher zeichentheoretischer Re-
ka, eds. 1984; Broms & Kaufmann, eds. 1988; Flei- flexionen, deren Theorien werden aber kaum ver-
scher 1989). tieft rezipiert. Charakteristisch ist die eklektische
Einführungen, Überblicksreferate und Gesamt- Zeichendefinition, auf die sich Lotman 1964 beruft
darstellungen der Schule von Moskau und Tartu und in der außer der dyadischen Struktur auch die
98 II. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
Arbitrarität der Zeichen, die binäre Struktur der Bestimmte mathematische Systeme mit emer
Zeichensysteme und das Thema der Figur-Grund- minimalen Modellierungskapazität, wie etwa
Dichotomie angesprochen wird (zit. in Fleischer die abstrakte Mengentheorie, exemplifizieren
1998: 2291): den höchsten Abstraktionsgrad. Ein entgegen-
gesetztes Beispielliefern die Zeichensysteme der
Zeichen und Bezeichnetes sind komplementäre Religionen, die einen geringen Abstraktions-
Begriffe ähnlich wie >rechts< und >links<. Jedes
grad und ein Maximum an Modellierungskapa-
Zeichen ist Zeichen von etwas.[ ... ] Das Zeichen
zität haben. Hier hängt die Struktur der model-
und das Bezeichnete verbinden sich beliebig.
lierten Totalität W in höchstem Maße von den
[... ]Das Zeichen steht in Relation[ ... ] zu Abbil- internen semiotischen Eigenschaften des model-
dungen, die sich vom Hintergrund abheben, lierenden Systems S ab. Die Zeichensysteme der
z.B. kann ein Zeichen ein schwarzer Buchstabe natürlichen Sprache nehmen eine mittlere Posi-
auf weißem Papier sein oder ein Ton, der die
tion zwischen den mathematischen und den re-
Ebene des Rauschens überschreitet. Mehrere ligiösen Zeichensystemen ein. (Zaliznjak et al.
Zeichen erfüllen ihre Funktion dann, und nur 1962: 47).
dann, wenn sie paarweise gegliedert sind. Jedes
Zeichen ist mehrmals reproduzierbar. Als theoretisches Modell der Zeichensysteme gilt
Kennzeichnend für die Semiotik der Schule von für die Semiotiker von Moskau und Tartu das Sy-
Moskau und Tartu ist ferner der erweiterte Textbe- stem der Sprache, und da es die Aufgabe der Semio-
griff, mit dem nicht nur Phänomene der sprachlichen tik ist, auch semiotische Systeme und Texte zu un-
Rede (Saussures parole), sondern auch kulturelle tersuchen, die sich ihrerseits aus sprachlichen
und ästhetische Phänomene wie Malerei, Film, Mu- Zeichen konstituieren, wird der Unterschied zwi-
sik oder nonverbales Verhalten gemeint sind (Lucid schen primären und sekundären Zeichensystemen
1977: 12-14). Dabei sind Texte sowohl Komplexe, wichtig. >>Ein modellierendes System••, so Lotman
die aus Zeichen bestehen als auch Komplexe, die ein (in: Lucid 1977: 7), >>kann als eine Sprache bezeich-
Zeichen bilden (Fleischer 1998: 2293 ). Als Kriterien net werden. Für Systeme, die die natürliche Sprache
der Textualität nennt z.B. A.M. Pjatigorskij (in Lu- zur Basis haben, dabei zusätzliche Superstrukturen
eid 1977: 13) neben Intentionalität und Verständ- bilden und auf diese Weise Sprachen auf einer zwei-
lichkeit die Fixiertheit gegenüber dem, was als ten Ebene schaffen, ist die Bezeichnung sekundäres
Nichttext gilt. Ebenso wie in der o.a. Zeichendefini- modellierendes System angemessen.« Alle kulturel-
tion Lotmans hebt diese Textdefinition den gestalt- len und ästhetischen Zeichensysteme außer der na-
theoretischen Aspekt der Figur-Grund-Beziehung türlichen Sprache selbst gelten also als sekundäre
der Zeichen hervor. Zeichen bzw. Texte sind die Fi- Sprachen bzw. modellierende Systeme. Der Begriff
gur, die sich gegenüber dem Grund als dem Nichtse- der >Sprache• wird allerdings später auch über die
miotischen abhebt. natürlichen Sprache hinaus erweitert schließlich
auch zur Bezeichnung eines jeglichen Zeichensy-
3.2.2 Zeichensysteme als modellierende Systeme stems verwendet (vgl. Fleischer 1998: 2295-97).
Ein Schlüsselbegriff der Semiotiker von Moskau Ein zentrales Merkmal der Sprache und aller
und Tartu ist derjenige des Modells bzw. des model- modellierender Systeme ist ihre normative oder re-
lierenden (oder auch modellbildenden) Systems gulative Funktion. Dabei wird ähnlich wie in der se-
(Zaliznjak et al. 1962; Lotman 1970: 9; Lucid miotischen Theorie der Kodes (s. 111.16) das Span-
1977: 4-8; Sebeok 1994: 117-127; s. 111.15.3.4). nungsverhältnis von Norm und Abweichung als
Zeichensysteme (Z) werden als Modelle oder Mo- wesentliches Element .der kulturellen Dynamik the-
dellierungen der Welt (W) begriffen, wobei Lotman matisiert. Das Ergebnis einer Normverletzung ist
sogar eine Relation der Ikonizität (»Analogie<<) zwi- von System zu System unterschiedlich. Mal ist es ein
schen Z und W sieht, wenn er schreibt: >>Ein model- Fehler (Sprache), eine Mogelei (Spiel), ein Verbre-
lierendes System ist eine Struktur von Elementen chen (Recht), mal führt es gar zur Kreativität (Poe-
und Kombinationsregeln, und diese Struktur steht sie) oder zu einer Erfindung (Wissenschaft) (Lucid
in einer festen Analogie zur Gesamtheit eines Wis- 1977: 8): >>Die Stärke des Verbots gegen eine Regel-
sensbereiches« (in Lucid 1977: 7). Verschiedene verletzung reicht vom unverletzlichen Tabu gegen
Zeichensysteme modellieren nun die Welt auf un- die Sünde in der Religion bis zur spielerischen Her-
terschiedliche Weise, wobei die Unterschiede zwi- ausforderung zur Nachahmung oder zur Verände-
schen diesen Modeliierungen als Unterschiede in rung der traditionellen Standards in der Poesie.«
der Abstraktion begriffen werden. Auf diesem Kri-
terium des Abstraktionsgrades der Zeichensysteme 3.2.3 Kultursemiotik und die Semiosphäre
basiert die Typologie der semiotischen Systeme, die Von der Sprache, der Literatur und den Künsten er-
ein weiteres Hauptthema der Schule von Moskau weitert die Schule von Moskau und Tartu ihren Ho-
und T artu ist: rizont schon früh in Richtung einer allgemeinen
Kultursemiotik. Der Begriff Kultur wird dabei zu-
11.5 Vom Russischen Formalismus zur Schule von Moskau und Tartu 99
meist in einem engeren ethnologischen Sinn und Elemente markiert und das andere nicht. In der Op-
nicht im weiteren Sinn der Evolutionären Kulturse- position der Phoneme /d/ und /t/ ist z.B. /d I als
miotik (s. IV.8.6) verstanden. Nicht alle Produkte stimmhaft gegenüber dem stimmlosen /t/ markiert.
menschlichen Handeins sondern eher nur die >geisti- Morphologisch ist beim Oppositionspaar Katze I
gen< im Gegensatz zu den >materiellen< Produkten Katzen die Pluralform gegenüber dem Singular
stehen im Mittelpunkt dieser Kultursemiotik (Flei- markiert und semantisch ist in der Opposition von
scher 1998: 2295). Es geht dabei nicht eigentlich um Katze - Kater die zweite Form hinsichtlich des
den Gegensatz zwischen Kultur und Natur, sondern Merkmals >maskulin< markiert, während die erste
um die Differenz zwischen einer bestimmten (ethni- unmarkiert ist, wenn sie als Gattungsname zur Be-
schen) Kultur und dem, was nicht zu ihr gehört, zeichnung aller Katzen verwandt wird. Am Beispiel
nämlich sowohl die Nichtkultur und das Nichtzei- der Opposition >links vs. rechts< hat Ivanov (1984)
chenhafte als auch eine jede andere fremde Kultur. die kulturellen Dimensionen der Asymmetrie in der
Lotman beschreibt die Beziehung zwischen der Opposition der Zeichen untersucht und ihre logi-
Kultur und der Nichtkultur einerseits in binären schen und neurologischen Grundlagen beschrieben.
Oppositionen und andererseits in topalogischen Asymmetrisch ist der semiotische Raum schließ-
Kategorien: »Die Kultur fungiert als ein Zeichensy- lich auch hinsichtlich seines Zentrums und seiner
stem vor dem Hintergrund der Nichtkultur« Peripherie. Das Zentrum ist der Ort der kulturellen
schreibt er (in Lucid 1977: 17). Figur und Grund, Werte. Hier werden die kulturellen Texte >gene-
das Innere und das Äußere sowie das Zentrum und riert<, die Normen der Kultur festgelegt, während an
die Peripherie sind die Metaphern, mit denen er die der Peripherie die Kultur von Unordnung und Cha-
Dichotomie von der Kultur und der Nichtkultur zu os bedroht ist (Lotman 1990: 240, 162). Das Span-
erfassen sucht. Seine Kulturtheorie formuliert er nungsverhältnis von Zentrum und Peripherie macht
schließlich zu einer Theorie des semiotischen Rau- die Heterogenität der Kultur aus. Dabei wird die Pe-
mes, der Semiosphäre, die im Gegensatz zur Bio- ripherie zum Ort der kreativen Innovationen, der
sphäre des biologischen Lebens die Semioseprozesse schließlich das Zentrum der Kultur selbst transfor-
in der Kultur bestimmt (Lotman 1990: 125). Die Se- miert.
miosphäre ist der Ort der Kultur und der Sprache: Wesentlich für die Konstituierung eines semioti-
>>Außerhalb der Semiosphäre gibt es weder Kom- schen Raumes ist schließlich auch die Grenze zwi-
munikation noch Sprache« (ebd. 124). schen der Semiosphäre der Kultur und dem, was
Binarismus, Asymmetrie und Heterogenität jenseits dieser Kultur liegt (ebd.: 131-142). Diese
sind die zentralen Merkmale von Lotmans Semio- Grenze ermöglicht und konstituiert die kulturelle
sphäre (ebd. 123-130). Binär und asymmetrisch Identität, indem sie einen inneren von einem äußeren
sind z.B. die Oppositionen in der natürlichen Spra- semiotischen Raum und somit die eigene von der
che, denn bei einem Oppositionspaar ist eines der fremden Kultur abgrenzt.
100 li. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
zwei Lauten für die mögliche Bedeutung von Wör- den. Jedes dieser Merkmale für sich (z.B. >nasal<
tern haben kann. Zur Bestimmung dieser Relevanz oder >stimmhaft<) bildet noch kein eigenständiges
dient der sogenannte Kommutationstest, in dem der Segment der Sprache. Wir befinden uns deshalb
eine Laut im gleichen Kontext durch den anderen auf einer subsegmentalen Analyseebene unterhalb
ersetzt wird. Klassen von Lauten, deren gegenseitige des Phonems. Die Zahl der Merkmale ist geringer
Substitution im gleichen Kontext zu unterschiedli- als die Zahl der Phoneme. Jakobsou hat hervorge-
cher Bedeutungen (und somit zu anderen Wörtern) hoben, daß eine begrenzte Anzahl distinktiver
führen, heißen Phoneme. Im heutigen Englisch, Merkmale ausreicht, um die phonologische Struk-
z.B., sind die Laute /s/ und /9/ zwei Phoneme, denn tur aller Sprachen zu beschreiben. Diese universell
der Austausch von /s/ durch /9/ kann bedeutungsdif- gültigen Merkmale sind die sogenannten phonolo-
ferenzierend sein, wie das Minimalpaar >sin< und gischen Universalien.
>thin< beweist. Die Laute /s/ und /9/ sind insofern Als binäres System lassen sich die distinktivEn
verwandt, als beides stimmlose Frikativlaute sind. Merkmale der Phoneme dadurch beschreiben, daß
Die phonetische Differenz zwischen ihnen liegt in die für ein einzelnes Phonem zutreffenden Merkma-
ihrem Artikulationsort, der bei /9/ dental und bei /s/ le mit (+) und die nichtzutreffen den Merkmale mit
alveolar ist. Diese phonetische Differenz allein be- (-) gekennzeichnet werden. Somit ist das Phonem /sl
weist jedoch noch nicht, daß /s/ und /9/ zwei Phone- z.B. nicht nur positiv durch das Vorhandensein von
me sind. Nur der Kommutationstest kann diesen Merkmalen wie + alveolar, + kontinuierlich oder+
Beweis erbringen. Die gleiche phonetische Differenz frikativ gekennzeichnet, sondern auch negativ
kann nämlich in anderen Sprachen, wie dem Deut- durch das Fehlen von Merkmalen wie -vokalisch, -
schen oder Französischen, keine Bedeutungsdiffe- stimmhaft oder -nasal. Jeweils zwei Phoneme unter-
renz erzeugen. In diesen Sprachen gibt es kein einziges scheiden sich mindestens durch ein distinktives
Wortpaar, in dem die Substitution von /9/ durch /s/ Merkmal. Die englischen Phoneme lol und 191 un-
bedeutungsdifferenzierend ist. Personen, die auf terscheiden sich allein durch das Merkmal +I-
Grund eines Sprachfehlers (Lispeln) zwischen bei- stimmhaft. 191 und lsl sind durch die Merkmale +I-
den Lauten nicht unterscheiden können, laufen nie- dental und +1- alveolar unterschieden. Auf diese
mals Gefahr, mißverstanden zu werden. Trotz der Weise sind nicht mehr die Phoneme die minimalen
phonetischen Differenz handelt es sich in diesem Elemente der Sprache, sondern es sind deren di-
Fall also nicht um eine phonologische Opposition. stinktiven Merkmale, deren Kombination die Struk-
tur der Phoneme konstituiert.
Mittelpunkt des strukturalistischen Denkens ten unmittelbarer Funktionen, die praktische und die
steht die These von der Interaktion der Kräfte [im theoretische Funktion (ebd.):
System], die miteinander im Einklang oder im
Bei den praktischen Funktionen steht im Vorder-
Gegensatz stehen und dabei die Störung eines
grund das Objekt, denn das Sich-geltend-Ma-
Gleichgewichts durch eine ständig wiederholte
chen des Subjekts gilt hier der Umgestaltung des
Synthese beheben können.<<
Objektes, d.i. der Wirklichkeit. Bei der theoreti-
(2) Funktionalistische Betrachtung von Kultur (Bo-
schen Funktion dagegen steht im Vordergrund
gatyrev 1937) und Kunst im gesellschaftlichen
das Subjekt, denn sein allgemeines und letztes
und historischen Kontext. Ein Schlüsselbegriff ist
Ziel ist eine Projektion der Wirklichkeit in das
dabei derjenige der ästhetischen Funktion: Sie ist
Bewußtsein des Subjekts.
das Ergebnis eines dialektischen Prozesses der
Fokalisierung einer Botschaft (foregrounding Im Gegensatz zu diesen unmittelbaren Funktionen
bzw. aktualizace), die zu einer neuen, >entauto- sind die mittelbaren Modi des >>Sich-geltend-Ma-
matisierten< und auf diese Weise ästhetischen Be- chens<< als semiotische Funktionen definiert (ebd.:
trachtungsweise führt, welche im Gegensatz zu 128):
den >automatisierten<, den Normen und Ge-
Auch sie gliedern sich in zwei Gruppen, wenn wir
wohnheiten des Alltags entsprechenden Sehwei-
die Dichotomie in den Zielrichtungen auf das
sen der Dinge steht.
Subjekt und das Objekt auf sie anwenden. Die
(3) Erweiterung des Analysehorizonts von den
Funktion, bei der das Objekt im Vordergrund
Strukturen der sprachlichen Ausdrucksseite zu
steht, ist die symbolische. Die Aufmerksamkeit
Strukturen der Inhaltsseite und von den sprach-
wird hier konzentriert auf die Wirksamkeit der
lichen zu den nichtsprachlichen Strukturen, vor
Beziehung zwischen dem symbolisierten Gegen-
allem den nonverbalen und visuellen Kodes.
stand und dem symbolischen Zeichen. [... ] Die
(4) Mit Mukaiovskys Arbeit aus dem Jahr 1934 Zeichenfunktion, die das Subjekt in den Vorder-
über >>Die Kunst als eine semiologische Tatsa-
grund stellt, heißt ästhetische Funktion.
che<< (in Mukai'ovsky 1977: 82-89) erhält der
Prager Strukturalismus eine explizit semiotische An anderer Stelle hat Mukai'ovsky das ästhetische
Dimension. Das Kunstwerk wird als ein Zeichen Zeichen auch als autonom und nichtkommunikativ
definiert, das sowohl eine kommunikative (nich- definiert (s. VIII.l). Wie ist dieser Gedanke von der
tästhetische) als auch eine autonome (ästheti- Autonomie des ästhetischen Zeichens mit dem Ge-
sche) Funktion hat (s. VIII.l). danken von seiner Subjektivität vereinbar (vgl. Fietz
1982: 61-69)? Mit dem >>auf das Subjekt gerichteten
Fokus<< meint Mukai'ovsky (1942: 42) nicht etwa ei-
ne Einstellung, wie sie für die emotionale oder ex-
pressive Ausdrucksfunktion im Sinne von Bühler
3.2 Mukarovskjs Theorie der semiotischen oder Jakobsan (s. II. 7) charakteristisch ist, denn für
Funktionen Mukai'ovsky ist das >>Subjekt<< nicht etwa >>ein Indi-
Mukai'ovsky entwickelt seine semiotische Ästhetik viduum, sondern der Mensch im allgemeinen<<. Des-
im Rahmen seiner Theorie der semiotischen Funktio- halb bedeutet für ihn eine Einstellung, bei der das
nen: »Die Funktion ist die Art und Weise des Sich- Subjekt im Vordergrund steht, eine Sichtweise, bei
geltend-Machens des Subjekts gegenüber der Außen- der es um ein kollektives Bewußtsein und somit um
welt<<, schreibt Mukai'ovsky (1942: 125). Das Ver- die Menschheit allgemein geht.
halten des Subjekts in seiner realen Umwelt kann ent- Wesentlich für die Bestimmung der symbolischen
weder ein direktes oder ein indirektes sein. Indirektes im Gegensatz zur ästhetischen Funktion ist dabei der
Verhalten geschieht >>durch Vermittlung einer ande- Gedanke, daß das zeichenhafte Verhalten allgemein
ren Wirklichkeit<< (ebd.). Mukai'ovsky definiert die (die >>symbolische<< Funktion) ein mittelbares, instru-
direkten Formen der Interaktion mit der Realität als mentales ist, insofern es (im Sinne der referentiellen
unmittelbare Funktionen und unterscheidet zwei Ar- Funktion Jakobsons) um das Objekt geht.
Il.7 Roman Jakobson 103
stems (s. III.15.2.4), der Struktur, Funktion, Kom- 2.3 Der interdisziplinäre Rahmen
munikation, zur Übersetzung im weitesten Sinn Trotz der Universalität seines Forschungshorizontes
(vgl. Sturrock 1991), zur Theorie der Kodes (s. vertritt Jakobsan keine pansemiotische Sicht der
111.16.5.1) und zur Geschichte der Semiotik (Jakob- Wissenschaften. Der Ort der Linguistik und Semio-
san 1975). Jakobsan war einer der ersten Lingui- tik liegt nach Jakobsan vielmehr in einem noch grö-
sten, der die Relevanz der Peirceschen Semiotik für ßeren Gebiet, nämlich demjenigen der Kommunika-
die Sprachwissenschaft erkannte (vgl. Jakobsan tionswissenschaften:
1965, 1980: 31-38; Bruss 1978; Liszka 1981; Burg
1989; Gorlee 1992). Sein Einfluß auf den Struktura- Drei integrierte Wissenschaften stehen in einem
lismus ist besonders in der Strukturalen Anthropo- Inklusionsverhältnis und unterscheiden sich in
logie von Levi-Strauss, aber auch in der semioti- drei stufenweise zunehmenden Graden an All-
schen Psychoanalyse Lacans bemerkbar. Zu gemeinheit:
Jakobsans Einfluß auf die verschiedenen Gebiete
(1) Forschung zur Kommunikation verbaler
der Textsemiotik, insbesondere der semiotischen
Botschaften = Linguistik;
Poetik siehe auch Culler (1975: 55-74), Hawkes
(2) Forschung zur Kommunikation jeder belie-
(1977: 76-87) und Bradford (1994).
bigen Nachricht= Semiotik (wobei die Kom-
munikation verbaler Botschaften mit einge-
2.2 Semiotische Systeme und die Sprache schlossen ist);
(3) Kommunikationswissenschaft = Sozialanthro-
Jakobsan bestimmt die Beziehung zwischen Semio-
pologie mit Ökonomie (wobei die Kommu-
tik und Linguistik als eine Relation der Inklusion:
nikation von Botschaften allgemein einge-
die umfassendere Wissenschaft von den Zeichen all-
schlossen ist). (Jakobson 1973a: 36)
gemein schließt die Wissenschaft von den sprachli-
chen Zeichen ein. Obwohl aber Sprache nur eines An dieser Stelle folgt Jakobsan einem Gedanken
der Zeichensysteme der Humansemiose ist, sind von Levi-Strauss (s. 1.8.2), wonach es auf der Ebene
dennoch alle anderen Modi der menschlichen Kom- der Kommunikation allgemein, also in der Sozialan-
munikation durch den Kontext sprachlicher Bot- thropologie, um den Austausch von Botschaften,
schaften bestimmt, so daß Sprache zur Grundlage Waren und (innerhalb sozialer Systeme) von Frauen
und Voraussetzung der Humansemiose wird: (allgemeiner: Ehepartner) geht: Jakobsan (1973a:
33) folgert in diesem Zusammenhang: »Die Lingui-
Der Gegenstand der Semiotik ist die Kommuni- stik (gemeinsam mit den anderen semiotischen Dis-
kation von Botschaften jeder beliebigen Art, ziplinen), die Ökonomie und schließlich auch die
während das Gebiet der Linguistik auf die Kom- Forschung zu Verwandtschafts- und Heiratsregeln,
munikation verbaler Botschaften beschränkt untersuchen folglich die gleichen Probleme auf un-
ist. Von diesen beiden Humanwissenschaften terschiedlichen strategischen Ebenen, und sie gehö-
hat folglich die Linguistik ein engeres Gebiet ren tatsächlich dem gleichen Forschungsgebiet an.<<
zum Gegenstand, aber andererseits setzt jede
menschliche Kommunikation nonverbaler Bot-
schaften einen Kreislauf verbaler Botschaften 3. Einige Jakobsonsche Prinzipien
voraus. Das Umgekehrte ist dabei nicht impli- semiotischer Forschung
ziert. (Jakobson 1973a: 28-31)
In seinen eigenen Worten war Jakobsan sein ganzes
Das Nonverbale steht nach Jakobsan also immer im Leben lang bemüht, >>den bloß kurzsichtigen Empiri-
Kontext von verbaler Kommunikation. Sprache zismus einerseits und den abstrakten spekulativen
hingegen kann auch ohne nonverbalen Kontext zur Dogmatismus andererseits zu überwinden<< (Jakobson
Übermittlung von Botschaften dienen. In diesem et al. 1984: 8). In dieser und vielerlei anderer Hinsicht
Zusammenhang entwickelt Jakobsan (1973a: 28- war Jakobsan ein Geist der Synthese (vgl. Koch
31) eine Typologie von Zeichensystemen, deren 1986a: 130-139). Er widersprach dem Antinomiecha-
Kriterium die Beziehung dieser Systeme zur Sprache rakter der strukturalistischen Grunddichotomien wie
ist. Sie umfaßt die folgenden drei Gruppen von Zei- Iangue vs. parole, Varianz vs. Invarianz, Kode vs. Bot-
chensystemen: (1) Sprachsubstitute einschließlich schaft oder Kompetenz vs. Performanz und plädierte
Schrift, Trommel- und Pfeifsprachen (s. Vl.9) sowie für eine Überwindung dieser Antinomien durch Prin-
der Morsekode, der ein sekundäres Sprachsubstitut zipien seines dynamischen Strukturalismus (vgl. Ja-
darstellt, da er Schriftzeichen kodifiziert; (2) Trans- kobson et al. 1984: 10). Viele der methodelogischen
formationen der Sprache, wie sie in formalisierten Prinzipien, die Jakobsan auf dem Gebiet der Sprach-
wissenschaftlichen Sprachen vorkommen sowie (3) studien entwickelte, hatten Modellcharakter für die
idiomorphe Systeme, wie Gestik, Musik, die nur in- Erforschung anderer semiotischer Systeme (vgl. Eco
direkt mit Sprache in Beziehung stehen. 1977a, Krampen 1981). Einige semiotische Grundbe-
griffe Jakobsanscher Prägung sind:
II. 7 Roman Jakobson 105
kobson übernahm diesen Begriff, um Botschaften zu zwei Ebenen des Sprachgebrauchs auf: Objektspra-
beschreiben, >>die primär dazu dienen, Kommunika- che ist der Diskurs, der sich auf die nichtsprachliche
tion herzustellen, zu verlängern oder sie abzubrechen, Welt bezieht. Metasprache ist der Diskurs über Spra-
um zu überprüfen, ob der Kommunikationskanal che. In Grammatik, Lexikographie, Etymologie oder
stimmt (>Hallo, hörst Du mich?<), um die Aufmerk- Terminologie geht es immer um Metasprache. Jede
samkeit des Gesprächspartners zu gewinnen oder um Definition, jede Rechtschreiberegel bildet einen me-
dessen andauernde Aufmerksamkeit zu sichern tasprachlichen Diskurs, aber auch in alltagssprachli-
(>Hörst Du zu?<)« (Jakobson 1960: 355). Gruß- und chen Situationen, etwa bei Bemerkungen wie >Was
Höflichkeitsformeln gehören zu den Botschaften mit meinst Du?< oder >Ich kann Dir nicht folgen<, begeg-
dominant phatischer Funktion. nen wir Situationen, in denen die metasprachliche
Die metalinguistische Funktion dominiert in Funktion dominiert.
Sprache, die sich auf Sprache selbst und den Prozeß Als poetische Funktion definiert Jakobson
der Kommunikation bezieht. Jakobsongreift hier die schließlich eine Einstellung, die primär auf die Bot-
Unterscheidung der logischen Semantik zwischen schaft selbst gerichtet ist (s. VIII.5.3.1-2).
Il.8 Roland Barthes 107
Sekundäres Konnotation
Ausdruck2
Zeichen:
Primäres
I
Denotation Ausdruck1 (R1) lnhalt1
Zeichen: Abb. 11.8.2: Das konnotative
I Zeichen
druck (A 1) eines denotativen Zeichens, als dessen Instrument, um verborgene ideologische Zusatzbe-
Inhalt die Leser einen Schwarzafrikaner in französi- deutungen in Texten aufzudecken. In seinen My-
scher Uniform erkennen, der vor einer französi- then des Alltags (1957: 131) definiert er solche Sy-
schen Flagge salutiert. Hinter diesem denotativen steme der sekundären (konnotativen) Bedeutung als
Zeichen A 1 R 1 I 1 verbirgt sich jedoch ein zweites Mythos (ausführlicher: s. VII.4.4.1). Später spricht
konnotatives Zeichen. Sein Inhalt (I 2 ) lautet in et- Barthes von Ideologien (hierzu s. VII.6.3.1.2). Die
wa: >>Frankreich ist ein großartiges Kolonialreich Massenmedien erzeugen Mythologien bzw. Ideolo-
mit treuen schwarzen Bürgern in der Armee, etc., gien als sekundäre konnotative Systeme, indem sie
etc.<< Ausdruck (A 2 ) dieses neuen Inhalts (1 2 ) ist das versuchen, ihren Nachrichten den Anschein einer
gesamte denotative Zeichen A 1 R 1 I 1 • primären denotativen Botschaft zu geben, deren
Die Erweiterung des primären Zeichens kann Fundament in der Natur der Dinge liege, meint
nun auch auf der Ausdrucksebene erfolgen, und das Barthes (ebd.). Auf ihrer denotativen Ebene be-
geschieht bei den metasprachlichen Zeichen. Dies inhalten sie primäre und insofern >>natürliche<< Be-
sind Zeichen, die sich nur auf Sprache und nicht auf deutungen. Auf ihrer konnotativen Ebene wollen sie
die sonst von der Sprache bezeichnete Welt bezie- aber ihre sekundären, ideologischen Bedeutungen
hen, z.B. linguistische Begriffe wie Silbe, Wort und verschleiern. Dadurch, daß z.B. das oben erwähnte
Satz oder auch alltägliche Ausdrücke wie buchsta- Photo aus Frankreichs Kolonialzeit sich in seiner
bieren, bedeuten oder sozusagen. Metasprache ist denotativen Ebene auf eine Tatsache bezieht, die
ein sekundäres Zeichensystem, das die gewöhnli- nicht in Frage gestellt werden kann, erweist es sich
che, auf die Welt bezogene Sprache, die sogenannte als ein Mythos, denn ein Mythos in diesem Sinne
Objektsprache zum Inhalt hat (ausführlicher: Dro- >>leugnet nicht die Dinge; (... ) er reinigt sie nur ein-
ste 1983 ). Der Begriff Wort z.B. ist metasprachlich, fach, er macht sie unschuldig, er gründet sie als Na-
weil er alle Wörter einer Sprache zum Inhalt hat, tur und Ewigkeit<< (ebd.: 143; dt. 131).- Zu diesem
u.a. das Wort blau. Als primäres Sprachzeichen hat Prinzip der Konnotation als Instrument der Ideolo-
der Ausdruck blau (A 1 ) die Vorstellung von einem giekritik s. auch Baker (1985).
bestimmten Farbspektrum zur Bedeutung (I 1). Dies Der spätere Roland Barthes hat allerdings seine
ist die objektsprachliche Ebene. Der Satz Blau ist ein ideologiekritische Interpretation der Konnotatio-
Wort mit vier Buchstaben zeigt, daß das ganze nen wieder aufgegeben, weil er an ihrer Vorausset-
Sprachzeichen blau einer der Inhalte I2 eines meta- zung, nämlich der Möglichkeit einer noch ideolo-
sprachlichen Ausdrucks (A 2 ) Wort ist. Der Inhalt I2 giefreien denotativen Bedeutungsschicht der Texte
eines metasprachlichen Ausdrucks A2 ist also ein zu zweifeln begann. In S/Z interpretiert Barthes
objektsprachliches Zeichen mit einem Inhalt (A 1 R 1 schließlich die Denotation als das, was allenfalls als
I 1 ). Die Verschachtelungen, die sich aus diesen Zei- Ergebnis am Ende eines konnotativen Prozesses
chenrelationen ergeben zeigt Abb. II.8.3. steht und dabei eine semiotische Schließung be-
wirkt: Nunmehr ist >>die Denotation nicht die erste
der Bedeutungen, sondern täuscht nur vor, dieses zu
2.2 Ideologische und mythologische sein; mit dieser Illusion ist sie letztlich nur die letzte
Konnotationen der Konnotationen (diejenige, die die Lektüre so-
In seiner Kultur- und Literaturkritik verwendet wohl zu begründen als auch zu beschließen scheint),
Barthes sein Modell der konnotativen Zeichen als der überlegene Mythos, dank dessen der Text vor-
Sekundäres lnhalt2
Metasprache
Zeichen:
Primäres
Objektsprache Ausdruck1 (R 1)
I lnhalt1
Abb.ll.8.3:
Zeichen: Das Metazeichen nach
I R. Barthes
II.8 Roland Barthes 109
täuscht, zur Natur der Sprache zurückzukehren<< (3.) Analog zu Saussures Dichotomie von Iangue und
(1970c: 16). Mit dieser Neuinterpretation der Di- parole unterscheidet Barthes zwischen dem Klei-
chotomie von der Denotation und Konnotation dungskode, dem System der Modeelemente und
wird das Prinzip der Konnotation als textkonstitu- -regeln, und dessen individueller Aktualisierung in
ierend überhaupt aufgewertet. Die Konnotation ist konkreten Kleidungsstücken. Der Kleidungskode
jetzt nämlich »eine Determination, eine Relation, bestimmt, was in der jeweiligen Saison modisch
eine Anapher, ein Merkmal, welches die Kraft hat, ist. Er gehört nach Barthes zur Ebene der Denota-
sich auf vorangehende, spätere oder externe Äuße- tion im Modesystem. Die Modezeitschriften le-
rungen zu beziehen, auf andere Orte des Textes gen nicht nur fest, was modisch ist, sondern sie
(oder eines anderen Textes)<< (Barthes 1970c: 14). vermitteln außerdem eine ganze >>Mythologie<<
der gesellschaftlichen Effekte beim Gebrauch der
Mode und der Verwirklichung eines persönlichen
3. Das System der Mode Stils bei der Auswahl und Kombination bestimm-
als Paradigma der Kultursemiotik ter Kleidungsstücke. Diese zusätzlichen Inhalte,
die laut Modejournal durch Kleidung vermittel-
In seiner Phase der >wissenschaftlichen< Herangehens- bar sein sollen, konstituieren das Konnotations-
weise an semiotische Systeme wandte sich Barthes system der Mode. Auf dieser Ebene wird das Sy-
kultur- und mediensemiotischen Themen zu. Die stem der Mode zu einem rhetorischen System.
Zeichen- und Systemhaftigkeit von Autos, Archi-
tektur, Möbeln, Speisen und Kleidung thematisierte
Barthes (1964a), bevor er sich paradigmatisch in ei- 3.2 Ideologiekritik der Mode
ner groß angelegten Untersuchung mit der Sprache Die Unterscheidung zwischen Denotation und Kon-
der Mode (1967b) befaßte. notation dient Barthes als Instrument der Ideologie-
kritik auch der Mode: >>In einer Aussage wie Das
Imprime triumphiert bei den Rennen [... ] deutet
3.1 Semiotisches Analyseverfahren nichts darauf hin, daß die Äquivalenz zwischen be-
Gegenstand dieser Untersuchung ist die Mode in druckten Stoffen und Pferderennen modebedingt
Frankreich, wie sie in zwei Modejournalen des Jahr- sein könnte, obwohl diese Äquivalenz de facto im-
gangs 1958-59 dargestellt ist. Der Ansatz ist ein mer Signifikant des Signifikats >Mode< ist<<, argu-
strukturalistischer. In seiner Untersuchung befolgt mentiert Barthes (1967c: 282). Auf diese Weise ver-
Barthes die folgenden Prinzipien: kündet die Mode immer nur eine Nachricht, ob
nämlich etwas modisch oder unmodisch sei (ebd.:
(l.)In Übereinstimmung mit Prinzipien des lingui- 270). In dieser einfachen (binären) Semantik liegt
stischen Strukturalismus wählt Barthes ein ge- die einzige denotative Botschaft der Mode. Sie wird
schlossenes Analysekorpus (nämlich zwei Mo- jedoch durch Konnotationen maskiert, und die Ar-
dezeitschriften einer Saison), um dieses Korpus bitrarität ihrer Regeln werden durch eine >>Natura-
einer synchronen Analyse zu unterziehen. lisierung der Zeichen<< verschleiert (ebd.: 282-85),
(2.) Methoden der strukturalen Linguistik, wie die >>denn die Mode verhüllt sich wie ein Gott; sie ist
Distributionsanalyse und den Kommutations- allmächtig und tut doch so, als ließe sie dem >Impri-
test (s. III.13.2.1.1) werden auf die Daten ange- me< alle Freiheit, die Pferderennen ganz natürlich ZU
wandt, um die relevanten bzw. distinktiven Ein- bedeuten< (ebd.: 283).
heiten des Systems Mode zu bestimmen. Im Durch den Widerspruch zwischen der extrem
weiteren Verlauf ermittelt Barthes Klassen äqui- simplen Botschaft der Denotation und der höchst
valenter Einheiten des Systems Mode, bestimmt elaborierten Botschaft über die vielen Konnotationen
Regeln der syntagmatischen Kombination dieser der Mode entsteht nun ein einzigartiges Paradox.
Elemente und sucht nach den minimalen Einhei- Mode erweist sich nämlich als >>ein semantisches Sy-
ten des Modesystems, die er als Vesteme definiert stem, dessen einziges Ziel es ist, die Bedeutung, die es
(1967: 76). Nach diesen Methoden gelangt üppig elaboriert, zu verraten. Das System gibt also
Barthes zu Kategorien von Kleidungsstücken, zu die Bedeutung auf, ohne jedoch auf irgend etwas von
einer Typologie der möglichen Oppositionen im dem eigentlichen Spektakel der Signifikation zu ver-
System der Vesteme und schließlich zu einer um- zichten. [... ] Ohne Inhalt, wird sie dann das Spekta-
fassenden Taxonomie aller möglichen Elemente kel, das die Leute sich selbst vormachen, das Spekta-
des Kleidungskodes. Der Vorteil der Beschrän- kel von der Macht, die sie haben, das Unbedeutende
kung dieser Analyse auf ein geschlossenes Daten- bedeutsam zu machen<< (ebd.: 287).
korpus ist die Verifizierbarkeit der Ergebnisse.
Der Nachteil besteht in der Nichtberücksichti-
gung von Elementen, die vielleicht tatsächlich in 3.3 Sprachdependenz der kulturellen Systeme
der Mode vorkommen, aber zufällig nicht im Barthes vertritt mit seinem Ansatz zur Semiotik der
Korpus vertreten sind (Culler 1975: 32-40). Mode eine logozentrische Position (Hervey 1982:
110 II. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
132). Obwohl die Mode ein Kode ist, dessen Einhei- bestimmt hatte (s. 11.2.2.3-4; Vl.l) und akzentuiert
ten eigentlich kulturelle Artefakte sind (s. X.4), be- auf diese Weise seine logozentrische Position.
schäftigte sich Barthes' Untersuchung nur indirekt Barthes begibt sich allerdings selbst in einen ge-
mit Kleidungsstükken als Objekten, und selbst Pho- wissen Widerspruch, wenn er nämlich in diesem
tographien dieser Kleidungsstücke finden sich in sei- Zusammenhang die Semiologie auch als eine Trans-
ner Untersuchung keine. Statt ein System kultureller linguistik definiert, deren Themen u.a. Mythen, Er-
Objekte oder deren photographische Repräsentation zählungen und verbalisierte Gegenstände unserer
zu untersuchen, analysiert Barthes allein die >>ge- Kultur seien. Zu fragen bleibt dann nämlich, wie die
schriebene Mode«, also die Kommentare, die sich in Semiotik translinguistisch und somit eine Erweite-
den Journalen auf die photographisch abgebildete rung der Linguistik sein kann, wenn sie doch als
Mode beziehen. Barthes argumentiert, daß die pho- Teilgebiet der Linguistik definiert ist.- Zu weiteren
tographisch repräsentierte Kleidung in den Mode- Argumenten gegen diese Ortsbestimmung der Semio-
zeitschriften nur auf sehr rudimentäre Weise Bedeu- tik in bezug auf die Linguistik siehe Prieto (1975a:
tung haben könne. Erst der verbale Kommentar zu 133-35).
der photographisch repräsentierten Mode, durch den
die Aufmerksamkeit der Leserinnen auf bestimmte
Merkmale der Kleidung gelenkt wird, erzeuge die Be-
deutungen. Erst dieser Kommentar schreibe den De- 4. Poststrukturalistische Semiotropie
tails der Mode eine spezifische Bedeutung zu, indem
er aus den Elementen der gezeigten Kleidungsstücke Rückblickend hat Barthes (1971a: 97) über seine
>>Signifikanten extrahiert und dabei deren Signifikate strukturalistische Phase der Systematizität selbstkri-
benennt<< (Barthes 1967b: xi; 1964a: 10). Die Bedeu- tisch geäußert: >>Ich habe damals mit Eifer an die
tungen der Objekte allein sind vage und polysem, un- Möglichkeit geglaubt, mich in eine semiologische
terstreicht Barthes (1966c) auch in einem Aufsatz Wissenschaft einzubringen: Ich habe einen (eupho-
über >>die Semantik des Objekts«. rischen) Traum von der Wissenschaftlichkeit durch-
Derartige Einsichten zur Semiotik der Mode schritten.<< Diese spätere Skepsis gegenüber der
und anderer kultureller Objekte veranlassen >>strukturalistischen Tätigkeit<< ist kennzeichnend
Barthes, die semiotische Autonomie nichtsprachli- für Barthes' poststrukturalistische Phase. In den
cher Zeichensysteme überhaupt in Frage zu stellen. Mittelpunkt dieser Spätphase stellt Barthes (1985:
Dies formuliert er in der erweiterten Einleitung zu 11-13) die Auseinandersetzung mit dem Text, wo-
seinen Elementen der Semiologie wie folgt: bei er sich von Propp, Levi-Strauss, Kristeva, Derri-
da, Foucault und Lacan beeinflußt sieht.
Es ist wahr, daß Gegenstände, Bilder und Verhal- Zunächst folgt Barthes in dieser textsemioti-
tensmuster Bedeutung haben können, und dies schen Phase in einer Arbeit der Semiotik der Erzäh-
haben sie sogar in großem Maße, aber nie auf au- lung (1966a) noch den Prinzipien des Strukturalis-
tonome Weise. Jedes semiologische System hat mus. Mit S/Z (1970c) jedoch vollzieht sich der
seine linguistische Beigabe. Wenn es sich z.B. um Übergang zum Poststrukturalismus. Barthes' Inter-
visuelle Substanz handelt, wird die Bedeutung pretationsansatz wendet sich gegen monoseme
bestätigt, indem sie durch eine sprachliche Bot- Theorie der mehrfachen Kodiertheit der literari-
schaft verdoppelt wird (dies ist der Fall im Kino, schen Texte. Am Beispiel der Novelle Sarrazine von
in der Werbung, bei den Comics, der Pressepho- H. de Balzac stellt Barthes sein neues Analysever-
tographie etc.), so daß zumindest ein Teil der iko- fahren vor. Den Text gliedert er in nicht weniger als
nischen Botschaft, was ihre strukturalen Bezeich- 561 Lektüreeinheiten (>>Lexien<<). Seine Kommenta-
nungen angeht, entweder redundant ist oder vom re sind von fünf Kodes gesteuert, (1) dem hermeneu-
sprachlichen System wieder aufgegriffen wird. tischen Kode (der mit Fragen der Interpretation zu
(Barthes 1964a: 79-80) tun hat), (2) dem semischen Kode (der sich auf das
Netz von Konnotationen, Metaphern, Allusionen
u.ä. bezieht), (3) dem symbolischen Kode (der die
3.4 Das Verhältnis zwischen Linguistik symbolischen Oppositionen strukturiert), (4) dem
und Semiotik proairetischen oder Handlungskode (der die Hand-
Als Konsequenz seiner Theorie von der Abhängig- lungslogik bestimmt) und (5) dem referentiellen
keit nichtsprachlicher Zeichensysteme von der oder auch kulturellen Kode des kulturellen Wissens
Sprache gelangt Barthes zu dem Schluß, daß >>die und der alltäglichen Erfahrung. Im Gegensatz zu
Linguistik nicht ein Teilgebiet der allgemeinen Wis- seiner strukturalistischen Phase betont Barthes nun-
senschaft der Zeichen ist, auch nicht etwa ein be- mehr jedoch die Ungewißheit und Instabilität der
sonders privilegiertes.Teilgebiet. Vielmehr ist die Se- Seme, die Arbitrarität und das Fragmentarische sei-
miologie ein Teilgebiet der Linguistik<< (Barthes nes eigenen Ansatzes (Rylance 1994: 74-75).
1964a: 79-80). Damit widerspricht Barthes Saussu- Den Aspekt des Instabilen, Fragmentarischen
re, der die Linguistik als ein Teilgebiet der Semiotik oder gar Destruktiven der Interpretation bezieht
II.8 Roland Barthes 111
Barthes immer mehr auf die Ebene der Signifikate, in der Kultur Japans beeindruckt. Um leere Zeichen
die er als mögliche Orte von Ideologemen zu diskre- geht es auch in seiner Studie Sade I Fourier I Loyola
ditieren sucht. Von den solchermaßen in Frage ge- (1971), die von drei >>Logotheten<< handelt, Erfin-
stellten Signifikaten wendet er sich mehr und mehr dern von Sprachen, die nichts bedeuten.
den Signifikanten zu. Nunmehr thematisiert er die Ebenso wie der Text nicht mehr ein >> Untersu-
Lust am Text (1973), befaßt sich mit der Musik chungsgegenstand und eine Gesamtheit geschlossener
(1979, 1982), da er in der reinen phone die idealen Zeichen" sein könne, sondern >>Arbeit und Spiel"
Signifikanten zu finden glaubt (Zima 1995: 269). bedeute, geht es in der neuen Semiologie von Ro-
Bei alledem besteht für Barthes (1978: 36) die land Barthes (1985: 13) durchaus in Anknüpfung
Rolle der so transformierten Semiotik darin, eine an seine früheren ideologiekritischen Thesen dar-
negative ( >>apophantische<<) Disziplin zu sein: >>apo- um, Sprache als ein unterdrückendes System zu de-
phantisch nicht insofern, als sie das Zeichen ver- maskieren, dem sich die Literatur als revolutionäre
neint, sondern insofern als sie verneint, daß es und kreative Tätigkeit entgegenstellt. Diese neue
möglich sei, ihm positive, feste, ahistorische, unkör- und negative Semiologie (s.o.)
perliche, kurz: wissenschaftliche Eigenschaften zu-
zuschreiben<< (Barthes 1978: 36). beruht nicht auf einer >>Semiophysis<<, einer ange-
Infolge seiner Skepsis gegenüber der ideologi- borenen Natürlichkeit des Zeichens, und sie ist
schen Herrschaft der Signifikate hat Barthes stets auch keine >>Semioklastie«, keine Zerstörung des
ein besonderes Interesse an Zeichen gezeigt, deren Zeichens. Vielmehr [... ] ist sie eine Semiotropie:
Signifikate (ihm) verborgen schienen. Die Semiotik dem Zeichen zugewandt, ist diese Semiologie
derartiger >>leerer Zeichen<< thematisiert er seit sei- von ihm gefangen. Sie empfängt das Zeichen, be-
ner Mythologie (1957: 235) und insbesondere in handelt es und ahmt es, wenn nötig, nach wie ein
seiner Studie über die japanische Kultur, Das Reich imaginäres Spektakel. Kurz, der Semiologe ist
der Zeichen (1970), wo ihn die >>Leere<< der Zeichen demnach ein Künstler. (Barthes 1978: 38-39)
112 Il. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
der Grundlage der strukturalen Lexikologie (vgl. Iet, ed. 1997). Die Reichweite der Anwendungen
Coseriu & Geckeier 1974: 136) ist das Ziel dieser der Greimasschen Modelle erstreckt sich von der
Arbeit die semantische Analyse von Textstrukturen. Linguistik, der Literatur- und Textsemiotik, der
Die Strukturale Semantik ist somit mehr als eine Mythenforschung (Greimas 1985; Courtes 1986),
linguistische Wortsemantik, wie sie von Pottier, Co- der Semiotik des Raums, der Architektur, Malerei
seriu, Katz & Fodor oder Lyons entwickelt wurde, (s. VII1.3 ), Musik (s. VIII.2) oder Werbung (s. IX.8),
denn sie verfolgt die Erarbeitung einer Semantik des der Psychologie der Emotionen, Theologie (s.
Textes (Ruprecht 1984). VII.?), Rechts- und Sozialwissenschaft (Greimas
Nach seiner Strukturalen Semantik setzte Grei- 1976b; Greimas & Landowski, eds. 1979) bis zu
mas sein semiotisches Projekt vor allem in einer Rei- den Dokumentationswissenschaften (Lagrange
he von Aufsätzen fort, die in den Bänden Du sens 1973) oder gar zu einer Semiotik der Eskimospra-
(1970), Semiotique et sciences sociales (1976b) und che (Collins 1971).
Dusens li (1983) zusammengefaßt sind. Exemplari- Bei aller Breite der Ansätze und Themen ist je-
sche Anwendungen seiner Textsemiotik finden sich doch die Pariser Schule eine recht auf sich selbst be-
in Greimas' Studien Maupassant: La semiotique du zogene Richtung der Semiotik. Der Dialog und Ge-
texte (1976a) und Des dieux et des hommes (1985). dankenaustausch mit anderen Richtungen der
Die systematischen Zusammenhänge seiner Text- Semiotik und ihren Nachbarwissenschaften war
semiotik werden vor allem in seinen mit J. Courtes nicht selten durch eine gewisse terminologische
und anderen Mitgliedern der Pariser Schule verfaß- Hermetik der Schule und manchmal auch eine ge-
ten Wörterbüchern dargelegt (1979 und 1986). Die wisse methodologische Dogmatik einiger Greimas-
letzte Phase der Entwicklung des textsemiotischen sianer beeinträchtigt (vgl. Larsen 1992). Kritiker
Projektes von Greimas zeigt sich in den Studien De der Semiotik von Greimas haben deren Verhaftetsein
l'imperfection (1987a) und der Semiotique des pas- mit den statischen Elementen des Strukturalismus
sions (Greimas & Fontanille 1991). und ihre klassifikatorische Vorgehensweise als Be-
grenzung empfunden: »Die Klassifikation als
grundlegendes Prinzip macht es schwierig, den dy-
1.2 Greimas' Konzept der Semiotik namischen Faktoren der Bedeutung eine selbständi-
Greimas vertritt eine Konzeption der Semiotik, in der ge Rolle zu geben<< (Larsen 1992: 435). Dennoch
er von Anfang an der üblichen Definition der Semio- war die Semiotik von Greimas stets auf dynamische
tik als einer Wissenschaft von den Zeichen wider- Weiterentwicklung des eigenen Modells angelegt.
spricht (Broden 1996: 2). Für ihn ist die Semiotik Ihre Grundbegriffe, so folgert Larsen (ebd.), >>mar-
nicht eigentlich mit Zeichen befaßt, sondern sie ist kieren eine Grenze, die nicht gezogen wurde, um in-
eine Theorie der Bedeutung (•signification<), deren nerhalb ihrer zu bleiben, sondern um sie zu ver-
Aufgabe es ist, auf Ebenen tätig zu werden, die einer- schieben. Es ist allerdings charakteristisch, daß in
seits oberhalb und andererseits unterhalb der Ebene dem Moment, in dem Greimas, wie in De l'imper-
des Zeichens liegen (Greimas & Courtes 1979: 287, fection, über die Grenze der Klassifikation hinaus-
14 7): Auf der Ebene >unterhalb des Zeichens< geht es ging, der methodische Zugriff an Stärke verlor. Und
nach den Prinzipien der Strukturalen Semantik ana- es ist ebenso charakteristisch, daß Greimas, wenn er
log zur Dekomposition des Phonems in seine distink- die prozessuralen Begriffe definierte, wie im Dic-
tiven artikulatorischen Merkmale (s. II.6.2) um die tionnaire, diese unter dem Primat der Klassifikation
Zerlegung der Zeichen (genauer: der Inhaltsseite von einordnete, z. B. in Form des semiotischen Vier-
Zeichen) in ihre minimalen semantischen Kompo- ecks.<< Nach Greimas gibt es jedoch auch kreative
nenten. Ergebnis dieser Analyse sind semantische Weiterentwicklungen seiner Strukturalen Semantik
Einheiten, genannt Seme, die noch nicht selbst Zei- und Semiotik, die gerade auf die Dynamisierung ih-
chen, sondern nur Zeichenkomponenten sind. Auf rer statischen Elemente durch eine dynamische Se-
der Ebene >oberhalb des Zeichens< geht es nach Grei- miotik abzielt, deren neues Paradigma die Katastro-
mas dagegen um Einheiten, die mehr als einfache phentheorie ist (Petitot-Cocorda 1985, 1992;
Zeichen, nämlich Textstrukturen sind. Brandt 1992, 1994).
Modell sind u.a. Courtes (1976, 1986, 1995), Grei- ses bezieht sich allerdings nur auf Strukturen, die
mas & Nef (1977), Stockinger (1983), Patte (1984), der Diskurs in seiner semantischen Dimension er-
Latella (1985), Keller & Hafner (1986), Schleifer zeugt, bevor er sich als Text in Form einer gespro-
(1987), Barras (1988), Budniakiewicz (1992) und chenen, geschriebenen oder anderen Ausdrucks-
Perron & Danesi (1993). form manifestiert (Greimas & Courtes 1979: 107).
GENERATIVER PARCOURS
Syntaktische Komponente semantische Komponente
I
I
semio- Tiefenebene TIEFENSYNTAX TIEFENSEMANTIK Abb.ll.9.2:
narrative Oberflächen- NARRATIVE NARRATIVE SEMANTIK
Strukturen ebene Greimas' generatives
OBERFLÄCHENSYNTAX
diskur- DISKURSIVE SYNTAX DISKURSIVE SEMANTIK Diskursmodell (Modell des
sive Diskursivierung Thematisierung generativen Parcours';
Strukturen - Aktorialisierung Figurativisierung
nach Greimas & Courtes
- Temporalisierung
- Spatialisierung 1979: 134).
11.9 Greimas und das Projekt der narrativen Diskursgrammatik 115
Sie haben die propositionaleForm F(A), d.h., siebe- deutungen entsteht das >semantische Universum<.
schreiben Funktionen (F) von Aktanten (A). In der Terminologisch unterscheidet Greimas zwischen
Verknüpfung derartiger Propositionen entwickelt Bedeutung und Sinn [sens]. Sinn ist »das, was der
sich die Handlung zu einer Erzählung. Die Haupt- semiotischen Produktion vorausgeht<<, während Be-
aktanten sind das Subjekt und das Objekt, die sich deutung »artikulierter Sinn<< ist (Greimas & Cour-
entweder in einer Relation der Disjunktion (Tren- res 1979: 352). Greimas entwickelte sein Modell der
nung, Sehnsucht) oder der Konjunktion (Vereini- elementaren Bedeutungsstruktur zuerst in seiner
gung, [Wieder-]Begegnung) befinden. Zwischen Strukturalen Semantik (1966). In seiner späteren
Disjunktion und Konjunktion erfahren die Aktan- generativen Diskurssemiotik ist der Ort der elemen-
ten eine Transformation, deren Dynamik die we- taren Bedeutungsstrukturen bei den Tiefenstruktu-
sentliche Quelle der narrativen Entwicklung ist. ren angesiedelt (Abb. 11.9.2).
Die narrative Semantik der semio-narrativen Einführungen und Darstellungen der Greimas-
Oberflächenstruktur ist der Ort der Aktualisierung schen Strukturalen Semantik sind Grosse (1971),
der semantischen Werte, die aus der Tiefenstruktur Dierkes & Kiesel (1973), Culler (1975: 75-95),
kommen und auf der semantischen Oberfläche den Courtes (1976), Nef (ed. 1976), Schleifer (1983,
Aktanten der narrativen Oberflächensyntax zuge- 1987), Keller & Hafner (1986), Rastier (1987,
wiesen werden. Greimas & Courres (1979: 414) un- 1989, 1991), Barras (1988), Zilberberg (1988),
terscheiden zwischen deskriptiven und modalen Quere (1992), Rastier (et al. 1994), Rastier (ed.
Werten. Als deskriptiv sind essentielle oder akziden- 1995, 1996) und Coquet (1997).
tielle Werte definiert. Modale Werte umfassen Wer-
te wie diejenigen des Wissens, der Pflicht oder der
Begierde. Diesen Bereich der narrativen Oberflä- 3.1 Die elementare Bedeutungsstruktur
chensemantik entwickelt Greimas später zu seiner Ausgangspunkt der Strukturalen Semantik ist Grei-
Grammatik der Modalitäten weiter (s. 6.). mas' minimalistische Definition der Struktur (s.
III.14): Strukturen sind nicht in den Elementen selbst
vorhanden, sondern sie konstituieren sich immer nur
2.3 Diskursive Strukturen aus den Relationen (Differenzen) zwischen diesen
Die diskursiven Strukturen des generativen Prozes- Elementen (Greimas 1966: 19). Bedeutungen dürfen
ses haben die Funktion, die semio-narrativen Ober- danach nicht als autonome Elemente gelten, sondern
flächenstrukturen in den Diskurs einzubringen, ihn sie sind Strukturen innerhalb eines semiotischen Sy-
in Zeit und Raum zu lokalisieren (Temporalisierung stems. Als solche beziehen sie im Sinne Saussures ih-
und Spatialisierung) und in Form konkreter Perso- ren Wert allein aus den Relationen zwischen den Ele-
nen zu aktualisieren (Aktoralisierung; Greimas & menten innerhalb des Systems.
Courres 1979: 160). Auch hier gibt es eine diskursi- Der Ursprung der Bedeutung liegt mithin in einer
ve Syntax und Semantik. Die diskursive Syntax ge- elementaren Relation zwischen zwei semantischen
neriert die konkret handelnden Personen der Erzäh- Termen. So besteht beispielsweise die Differenz zwi-
lung in ihrem zeitlichen und räumlichen Umfeld schen den beiden Lexemen >Sohn< und >Tochter< in
(ebd.: 107, 330). Hier werden also die in der tiefer einer Opposition, die man durch die semantischen
gelegenen semio-narrativen Struktur noch abstrakte Merkmale >maskulin< und >feminin< beschreiben
Aktanten zu konkreten Individuen in Zeit und kann. Jede derartige elementare Opposition weist
Raum. jedoch nicht nur auf die spezifische Differenz zwi-
Die diskursive Semantik des generativen Dis- schen den Termen hin, sondern zugleich auch auf
kursmodells leistet nach Greimas die sogenannte das, was dem Begriffspaar, welches die Opposition
Thematisierung und Figurativisierung des Diskur- artikuliert, semantisch gemeinsam ist: Die Oppositi-
ses. Sie soll zeigen, wie im Diskurs aus abstrakten, on zwischen >maskulin< und >feminin< ist ja nur des-
in Isotopieketten rekurrenten Themen, historisch halb elementar, weil beiden oppositiven Bedeutun-
und kulturell geprägte konkrete Figuren und Hand- gen etwas ebenso Wesentliches gemeinsam ist. Das
lungen entstehen. Was in der Tiefensemantik als Gemeinsame ist in diesem Fall das, was die Konzep-
Möglichkeit angelegt ist, kann z.B. in der diskursi- te >maskulin< und >feminin< semantisch verbindet,
ven Semantik durch kulturelle Prägung hervorgeho- die semische Kategorie >Geschlecht<. Somit hat jede
ben oder durch Zensur unterdrückt werden (Grei- binäre semantische Struktur immer zwei semanti-
mas 1970: 249-70; Rastier 1973, 1995, 1996). sche Seiten (Greimas & Courtes 1979: 362), das,
was die Opposition, und das, was das Gemeinsame
ausmacht. Dabei begründet das Oppositive nach
3· Bedeutung und Greimas eine Relation der Disjunktion, während
das semantische Universum die semische Kategorie des Gemeinsamen eine Rela-
tion der Konjunktion ausmacht. Die Struktur, die
Bedeutung [signification] ist ein Schlüsselbegriff zur sich aus einer derartigen zweifachen Relation er-
Semiotik von Greimas. Aus der Gesamtheit aller Be- gibt, nennt Greimas eine elementare Bedeutungs-
116 II. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
struktur. Das Modell zu seiner Veranschaulichung rentiell und nicht alloreferentiell, wie die These von
ist dasjenige einer semantischen Achse. Die End- der Trennung zwischen Objekt- und Metasprache
punkte der Achse repräsentieren die oppositiven impliziert.
elementaren Konzepte (>maskulin< vs. >feminin<), die Greimas jedenfalls hält an dieser Unterschei-
als Seme definiert sind. Die Achse selbst, die die bei- dung fest und führt sie in seiner Semiotik unter den
den Seme verbindet, symbolisiert das semantisch Begriffen Immanenz und Manifestation weiter. Das
Gemeinsame. Sie steht also für die sogenannte Sem- Universum der abstrakten metalinguistischen Seme
kategorie. nennt er die Ebene der Immanenz. Auf dieser Ebene
spiegelt das semantische Universum die Gesamtheit
der konzeptuellen Kategorien des menschlichen
3.2 Analyse der Seme Geistes wider, wobei diese Kategorien noch unab-
Seme und Semkategorien sind abstrakte Einheiten hängig von ihrer spezifischen einzelsprachlichen
der Inhaltssubstanz im Sinne von Hjelmslev (Grei- Realisierung sind. Eine solche Realisierung erfolgt
mas 1966: 27). Wie Hjelmslev gezeigt hat, kann eine erst auf der Ebene der Manifestation, wo die ab-
semantische Achse, wie jene, die das Farbspektrum strakten Seme, zu konkreten Wortbedeutungen
lexikalisch artikuliert, einzelsprachlich verschieden kombiniert, in Form von Lexemen, den lexikalisch
ausgeprägt (artikuliert) sein. Während die eine Spra- realisierten Wörtern, in Erscheinung treten.
che in ihrem Grundwortschatz nur drei Farben lexi- Lexeme sind allerdings nicht die eigentlichen
kalisch unterscheidet, sind es bei der anderen viel- Einheiten in der Ebene der Manifestation, denn Le-
leicht sieben Farben (s. 11.3.3.3.2). Einzelsprachlich xeme gehören zur Ausdrucks- und nicht zur In-
sind also die Seme und Semkategorien der Inhalts- haltsform der Sprache. In der Inhaltsebene bzw. der
substanz verschieden kombiniert und führen da- semantischen Ebene der Manifestation heißen die
durch zu Unterschieden in der Inhaltsform (vgl. Ra- Einheiten, die als Semkombinationen die Bedeu-
stier 1987, 1989, 1991). tung eines Lexems wiedergeben, Sememe. Da Lexe-
me polysem sein können, kann ein Lexem mehrere
Sememe haben. Das deutsche Lexem >Band< z.B.
3.2.1Seme, Sememe, Immanenz hat die Sememe >Stoffstreifen zum Binden< und >Se-
und Manifestation parat gebundener Teil eines mehrbändigen Druck-
Greimas' Wortsemantik ist im Prinzip so aufgebaut werks<.
wie auch andere Modelle der Strukturalen Seman-
tik. Seine Seme entsprechen den sogannten seman- 3.2.2 Prinzipien der Semkombination
tischen Komponenten, etwa in der Generativen Greimas unterscheidet zwei Arten von Semen, die
Semantik. Das Sema ist wie die phonetische Kom- sich zu Sememen kombinieren: nukleare und kon-
ponente in der Phonemanalyse (s. 11.6.2) die Mini- textuelle Seme. Nukleare Seme charakterisieren den
maleinheit der Analyse. Seine Funktion ist es, Be- kontextunabhängigen Kern einer Wortbedeutung,
deutungen zu differenzieren. Im semantischen während kontextuelle Seme, auch Klasseme ge-
Universum bilden Seme Hierarchien von semischen nannt, Bedeutungselemente sind, die ein Semem mit
Systemen (Greimas 1966: 33). Die hierarchische anderen Sememen gemeinsam hat, mit denen es in
Struktur beginnt bereits bei jeder einzelnen seman- kontextueller (syntagmatischer) Beziehung steht
tischen Achse, denn die Seme (z.B. >maskulin< vs. (Greimas 1966: 46-60). Während also die Klasseme
>feminin<), die die Achse artikuliert, sind der sie arti- im wesentlichen relationaler Art sind, haben die nu-
kulierenden Achse, also der Semkategorie (>Ge- klearen Seme eine eigenständige Bedeutung. Die
schlecht<), semantisch untergeordnet. Abgrenzung der beiden Semtypen entspricht derje-
Seme und Semkategorien gehören zu einer ab- nigen, die Katz & Fodor in der Generativen Seman-
strakten Tiefenstruktur. Sie haben einen rein me- tik mit den Begriffen >semantisches Merkmal< und
talinguistischen Charakter und sind somit als Ein- >semantischer Distinktor< vorgenommen haben,
heiten konzipiert, denen einzelsprachlich nicht aber die Unterscheidung zwischen beiden Semtypen
immer ein konkretes Wort entsprechen muß. Die hat sich als höchst problematisch erwiesen (Bolin-
von Greimas betonte strikte Trennung zwischen ger 1965; Rastier 1987, 1989, 1991 ).
Objekt- und Metasprache in der Semantik ist aller- Während die meisten Lexeme sowohl nukleare
dings nicht unumstritten. Schon mit Bolinger als auch kontextuelle Seme aufweisen, gibt es auch
(1965) ist ihre Möglichkeit angezweifelt worden, Lexeme, die nur kontextuelle Seme und keine nu-
und viele Semantiker sind seitdem davon ausgegan- klearen Seme haben. Hierzu gehören die Funktions-
gen, daß die semantische Metasprache keineswegs wörter wie Konjunktionen, Artikel oder Präpositio-
von der Objektsprache grundsätzlich getrennt wer- nen, die nur Relationen zwischen Sememen anzeigen.
den könne. Semantische Beschreibungskategorien, Ihre Bedeutung hat wegen des Fehlens eines eigenen
so lautet die Gegenthese, können letztlich immer Kernsemems nicht den Status eines Semems, sondern
nur aus der Objektsprache selbst stammen. Somit ihre Semkombinationen heißen Metaseme (Greimas
ist die semantische Beschreibung letztlich autorefe- 1966: 122).
11.9 Greimas und das Projekt der narrativen Diskursgrammatik 117
3.3 Die semantische zieht. Das Resultat ist eine Konstellation von vier
und die semiologische Ebene Termen, in der ein neuer Relationstyp, derjenige der
Die Unterscheidung zwischen nuklearen und kon- Implikation oder Komplementarität in Erscheinung
textuellen Semen hat mit zwei unterschiedlichen tritt. Er besteht zwischen s 1 und s 2 oder s2 und s 1 ,
Ebenen der semiotischen Analyse bei Greimas zu tun denn >Leben< impliziert >Nicht-Tod< und >Tod< im-
(Greimas 1966: 53-68, Greimas & Courres 1979: pliziert >Nicht-Leben<. Diese Konstellation stellt
338). Die Kernseme gehören nämlich einer eigenen Greimas in Form eines semiotischen Quadrats dar
Untersuchungsebene an, die Greimas die semiologi- (Abb. 11.9.3; vgl. Greimas 1970: 160; Greimas &
sche oder auch figurative Ebene nennt. Sie beziehen Courres 1979: 309 sowie dasThemenheftLe carre
sich auf die wahrnehmbare Welt als nichtsprachli- semiotique des Bulletin du Graupe de Recher-
che Welt der Kognitionen und Perzeptionen. Grei- ehes semio-linguistiques 17 [1981]). Die Form
mas betrachtet diese Ebene als tiefste Ebene der des Quadrats als Darstellung der vier logischen Ge-
Untersuchung. Die kontextuellen Seme hingegen ge- gensatzrelationen geht letztlich auf ein bereits seit
hören einer Ebene an, die Greimas als semantische der aristotelischen und mittelalterlichen Logik be-
Ebene definiert. Die Einheiten dieser Ebene sind kanntes Modell dieser Relationen zurück (vgl. Rei-
nichtfigurativ, abstrakt und ohne Entsprechung in chenbach 1947: 95; Liberia 1976; Hendricks 1989;
der Welterfahrung. Im Gegensatz zur semiologi- Petitot 1985, 1992; Bordron 1987; Ohno 1995).
schen Ebene, deren Einheiten Kategorien der wahr-
genommenen Welt entsprechen, bezieht sich die se- Negation
Tod
mantische Ebene allein auf konzeptuelle Kategorien
~
des menschlichen Geistes. Greimas hat deshalb den
Unterschied zwischen beiden Ebenen auch durch das :"
a:i
Begriffspaar Exterozeptivität und Interozeptivität :~ ~=
!I·
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c.
zum Ausdruck gebracht (Greimas 1966: 120). Ex-
terozeptive Kategorien beziehen sich auf Eigenschaf-
ten der äußeren Welt, während interozeptive Kate-
f
gorien sich auf Kategorien ohne Entsprechung in der
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wahrnehmbaren Welt beziehen. s,
Nkltt·Tod Nkhi·I..-
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4.11sotopie als Prinzip der Textkonstitution kognitive Strukturen und Rekurrenzen auf der Aus-
Greimas definiert Isotopie als »das Prinzip, welches drucksebene als kohärenzbildend. Auch morpholo-
die semantische Verkettung von Äußerungen er- gische und phonetische Rekurrenzen wie Reim oder
laubt<< (Greimas 1974a: 60; 1970: 188). In einem Assonanz sind danach isotopiebildend. Weitere Kon-
ersten Ansatz entwickelte Greimas eine Theorie der zepte zu einer Typologie der Isotopien entwickelt
Textkohärenz auf der Grundlage seines Begriffs des Eco (1984b).
kontextuellen Sems. Die Rekurrenz von kontextuel-
len Semen, die ja die Sememe des Textes in syntag-
matische Beziehung setzen, hielt er für die Quelle 5. Elemente einer narrativen Syntax
der textuellen Homogenität und Kohärenz (Grei-
mas 1966: 69-101). Greimas (1974a: 60) sieht eine Die Oppositionen der semantischen Tiefenstruktur
Verbindung zwischen dem Prinzip der Textkohä- in Form von semantischen Quadraten sind zunächst
renz aufgrundvon rekurrierenden kontextuellen Se- atemporal und weisen noch keinerlei Möglichkeit
men und dem Prinzip der Disambiguierung in der einer textuellen Sequenz auf. Auch auf der Ebene
Generativen Semantik: Ein polysemes Lexem wie der Tiefensyntax postuliert Greimas zunächst eine
>Band< (s. 3.2.1) wird kontextuell disambiguiert atemporale Struktur, bevor er deren temporale Ent-
(und der Text wird dadurch kohärent), daß es mit wicklung in Form von spezifischen narrativen Pro-
einem folgenden Lexem wie >Buch< in Beziehung ge- grammen vorsieht. In der Tiefensyntax ist diese
setzt wird. Die Minimalbedingung textueller lsotopie noch atemporale Struktur diejenige des Aktanten-
ist deshalb die syntagmatische Beziehung zwischen modells, wonach ein Subjekt mit Hilfe eines Helfers
zwei kontextuellen Semen. Diesen Grundgedanken und behindert durch einen Gegner, nach einem Ob-
der textuellen Kohärenzbildung erweitern Greimas jekt strebt. Zur Entwicklung dieser narrativen
& Courtes (1979: 163) später durch den Gedanken, Struktur s. VII.3.4.1.3.
daß auch durch semiotische Quadrate textuelle Iso-
topien entstehen.
Alle Textsegmente, die durch ein gemeinsames
kontextuelles Sem verbunden sind, bilden eine Iso- 6. Modalität, Aspekt und die Semiotik
topie(ebene). Da Texte häufig nicht geradlinig und der Emotionen
manchmal auch nicht eindeutig in ihrem Inhalt sind,
berücksichtigt Greimas (1966: 109-115) das Über- Die narrative Semiotik von Greimas beschränkt sich
lappen von Isotopien und deren Parallelität in ver- nicht nur auf eine bloße deskriptive Analyse von ak-
schiedenen Isotopieebenen. Wenn ein Text nur eine tantiellen Strukturen auf der Grundlage einer binä-
Interpretation erlaubt, bildet seine Struktur eine ren Handlungslogik. In Weiterentwicklung seiner
einfache Isotopie. Die Simultaneitätzweier Lesarten Handlungssyntax und -semantik ergänzt Greimas
eines Textes, wie sie bei Ambiguitäten, ideologi- seine Textsemiotik durch eine modale und aspektu-
schen oder mythologischen Interpretationen vor- elle Grammatik, die nach einer Semantik und
kommen, heißen Bi-Isotopie. Überlagern sich meh- Grammatik des Textes eine Semiotik der Emotio-
rere semantische Isotopieebenen, so handelt es sich nen und Leidenschaften der Aktanten ermöglicht.
um Pluri- oder Poly-Isotopien (vgl. Arrive 1973).
6.1 Modalitäten des Seins und des Handelns
4.2 Erweiterung der lsotopietypologie Greimas unterscheidet zwischen aktantieilen Mo-
Vom Konzept der Verknüpfung von Semen erwei- dalitäten des >Tuns< und deskriptiven Modalitäten
terte sich das Prinzip der Isotopien auf immer weite- des >Seins<.
re Ebenen der Textualität. Greimas & Courtes Die Modalisierungen des Seins führen zu einem
(1979: 164) unterscheiden schließlich zwischen semiotischen Quadrat mit den Oppositionen >Sein-
grammatischer, aktantieller, partieller und globaler müssen< (Notwendigkeit) vs. >Nichtsein-Müssen<
Isotopie, wobei die beiden letztgenannten für Pro- (Unmöglichkeit) und >kein Nichtsein-Müssen< (Mög-
zesse der textuellen Kondensation (als Zusammen- lichkeit) vs. >kein Seinmüssen< (Kontingenz; d.h., we-
fassung) und Expansion (Erweiterung) relevant der unmöglich, noch notwendig) (Greimas 1983:
sind. Darüber hinaus führte Rastier (1972b: 84) den 78). Die Modalisierung des Seins manifestiert sich
Begriff der semiologischen Isotopie ein, um Rekur- z.B. in spezifischerer Form als veridiktorische Moda-
renzen des >>exterozeptiven<< Weltwissens zu erfas- lität auf der diskursiven Ebene, wo sich Möglichkei-
sen (s. 3.3). Semiologische Isotopien differenzieren ten des Diskurses als semiotisches Quadrat beste-
sich des weiteren in thematische und figurative Iso- hend aus Wahrheit (>sein< und >scheinen<), Lüge
topien (s. Abb. 11.9.2). Eine noch weitere Ausdeh- (>scheinen< und >nichtsein<), Falschheit (>nicht schei-
nung des Isotopiebegriffs findet sich bei Rastier nen< und >nichtsein<) oder schließlich als Geheimnis
(1972b, 1981, 1987, 1989, 1991; Rastier et al. (>nicht scheinen< und >sein<) artikulieren (Greimas &
1994; Rastier, ed. 1995, 1996). Hier gelten auch Courtes 1979; Zilberberg 1981).
11.9 Greimas und das Projekt der narrativen Diskursgrammatik 119
Nach der Modalisierung des Tuns der Aktanten Beobachters, also die Relation zwischen Erzählung
sind die Handlungen der Aktanten nicht nur bloße und Handlung weist nach Greimas Aspektualisierun-
Resultate eines >Tuns<, sondern auch eines (>Tun-) gen auf, die denjenigen der Verbgrammatik ähneln:
Wollens<, eines >Begehrens<, eines >Müssens<, >Wis- Durative narrative Aspektualisierungen zeigen sich
sens< oder eines >Könnens<. Die Modalisierung des in Darstellungen der Kontinuität des Ereignisses.
Tuns führt nach Anwendung der semantischen Inchoative Aspektualisierungen konzentrieren sich
Oppositionsmöglichkeiten zu einem semiotischen auf den Beginn eines narrativen Prozesses, und termi-
Quadrat mit den Termen >Tunmüssen< (Präskripti- native Fokalisierungen thematisieren das Ende eines
on), >Nichttundürfen< (Verbot), >kein Nichttun- Handlungsprozesses. Narrative Aspektualisierungen
Müssen< (Freizügigkeit) und >kein Tunmüssen< (Fa- beschreiben also Kontinuität, Diskontinuität, Stabili-
kultativität). Derartige Handlungsmodalitäten cha- tät und Instabilität in der erzählerischen Repräsenta-
rakterisieren bereits die Beziehungen zwischen den tion der Ereignisse.
Aktanten in der Tiefenstruktur des Aktantenmo-
dells (s. VII.3.4.1.3). Die Subjekt-Objekt-Achse z.B.
ist durch die Modalität des >Wollens< verbunden. 6.3 Semiotik der Leidenschaften
Die Achse >Helfer- Gegner< repräsentiert die Moda- Die Kategorien der Aspektualisierung und Modali-
lität des >Könnens<, und die Achse >Sender - Emp- sierung stehen im Mittelpunkt der sich neu entwik-
fänger< die Modalität des >Wissens<. kelnden Semiotik der Leidenschaften (Parret 1986;
Die modale Grammatik von Greimas ist eine Greimas & Fontanille 1991; Henault 1994; Broden
Grammatik der Evalutation von Handlungen, eine 1995: 233; Ouellet, ed. 1997): Wenn sich die Moda-
narrative Axiologie auf verschiedenen Ebenen des litäten des Wollen, Könnens, Wissens und Müssens
narrativen Universums. Die Modalitäten des >Wol- auf das Sein beziehen, manifestiert sich die Oppositi-
lens< und des >Müssens< gehören der virtuellen Ebe- on vom Wollen und Nichtwollen im Zögern des han-
ne der Werte an. Die Modalitäten des >Könnens< delnden Subjekts, während sich aus der Spannung
und des >Wissens< gehören zur Ebene der Aktualität. zwischen dem Können und Wissen die Emotion der
Die Modalitäten des >Tuns< und des >Seins< gehören Erregung ergibt. Die Wende von der Hoffnung zur
zur Ebene der Realisierung. Auf dieser Ebene sind Verzweiflung stellt sich mit einem Zustand des defi-
die Relationen konjunktiv. Auf der Ebene der Virtua- nitiven Nichtseinkönnens ein. Verzweiflung resul-
litäten sind sie disjunktiv. Zur Weiterentwicklung tiert aus dem Wissen von der Unmöglichkeit des Ge-
dieser Grammatik der Modalitäten des Handeins wollten, und der Konflikt zwischen dem Seinmüssen
auf der Grundlage einer katastrophentheoretischen und der gleichzeitigen Unmöglichkeit dieses Seins,
Semantik siehe Brandt (1992, 1994). zwischen dem Begehren zu sein und dem Wissen vom
Nichtsein, führt zu einer Bedrohung und Spaltung
des Subjekts (ebd.: 73-74).
6.2 Aspektualisierung der Handlungen Aspektuelle Komponenten von Leidenschaften
und Prozesse sind z.B. das Inchoative. Es manifestiert sich in den
Die Aspektualisierung des Diskurses ist eine weitere Leidenschaften der Neugier und Begeisterung, die
Dimension des generativen Prozesses. Greimas & einen Prozeß des Möglichen einleiten. Befriedigung
Courtes (1979: 21, 79) unterscheiden zwischen ak- und Resignation hingegen sind terminative Emotio-
tantieller, räumlicher und temporaler Aktualisierung nen, denn sie stehen am Ende von positiven bzw. ne-
als drei Modi der Perspektivierung des Subjekts, des gativen Erfahrungen. Während all diese Emotionen
Raums und der narrativen Zeit. Die zeitliche Aspek- auch durch einen perfektiven Aspekt gekennzeich-
tualisierung ist aus der Linguistik der Verben be- net sind, ist der Aspekt von Geduld, Zweifel, Hoff-
kannt, wo u.a. zwischen durativen, perfektiven, im- nung und Groll ein durativer. Die Aspektualität des
perfektiven, terminativen und inchoativen Verben Iterativen manifestiert sich in den Emotionen der
unterschieden wird. In der narrativen Diskursgram- Hartnäckigkeit, Treue und der Langeweile (ebd.:
matik beschreibt die aktantielle Aspektualisierung 153-163). Weitere Differenzierungen in der Emoti-
die Nähe oder Distanz, die der Erzähler zwischen onssemiotik ergeben sich aus Modulationen der
sich und den narrativen Subjekten, dem Helden oder Modalitäten und Aspektualisierungen, z. B. durch
Antihelden aufbaut. Die Sichtweisen des narrativen Beschleunigung vs. Verlangsamung der Prozesse.
120 Il. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
von Texten, eine Intertextualität: Im Raum ei- Freud eröffnet daher die Problematik der Arbeit als
nes Textes kreuzen und neutralisieren sich meh- ein spezifisches semiotisches System, die sich von
rere Äußerungen die aus anderen Texten ent- der des Austauschs unterscheidet<< (ebd.: 38).
nommen sind. (Kristeva 1969c: 113)
position, impliziert dann die Praxis einer Ver- wir eine chora nennen: eine ausdruckslose Tota-
schiebung. Diese Auslegung schließlich führt auf lität, die durch die Triebe und deren Stasen in ei-
den eigentlichen Kern des für den gesamten ner ebenso flüssigen wie geordneten Beweglich-
Poststrukturalismus maßgeblichen Sprachbe- keit geschaffen wird. [... ] Die chora geht als
griffs. Man könnte ihn kennzeichnen als Über- Einschnitt und als Artikulation - als Rhythmus -
gang vom Primat der Metapher zum Primat der der Evidenz und Wahrscheinlichkeit, der Räum-
Metonymie. [... ]Nicht die Arbeit am Sinn, die lichkeit und Zeitlichkeit voraus. (Kristeva
Prozeduren der Metaphorisierung zeichnet Dich- 1974b: 23; dt. 36)
tung aus, sondern die Bewegung der Verschie-
bung, der Ent-Stellung, der Metonymie. (Mersch Das Symbolische ist nun bei Kristeva die Domäne
1999: MS 9-12) des durch Thesis gesetzten arbiträren Zeichens. Die
Phase der Setzung dieser Zeichen, die mit dem Spie-
gelstadium beginnt und die die Identifikation des
Subjekts in Abgrenzung von den Objekten einleitet
(s. 1.8.3.3), nennt sie auch die thetische Phase. Zur
5. Das Semiotische, das Symbolische Domäne des Symbolischen gehören aber nicht nur
und die Chora die artikulierte Sprache, sondern auch die visuellen
Symbole und andere bildhafte Repräsentationen.
Unter dem Einfluß von Freud und Lacan führt Kri- Das Semiotische und das Symbolische befinden
steva (1974b: 17-100) die Unterscheidung zwischen sich nun stets in einer antagonistischen Konfliktbe-
dem Semiotischen und dem Symbolischen ein ziehung denn
(Suchsland 1992: 88-94; Mersch 1999). Die Dicho-
tomie hat ihre psychoanalytische Grundlage in das Semiotische muß als Negativität definiert
Freuds Unterscheidung zwischen den in der Ent- werden, die in das Symbolische eingeschleust
wicklung des Menschen von Anfang an vorhande- wird und seine Ordnung verletzt. Diese Übertre-
nen Primärprozessen des Unterbewußten (des Es) tung liest sich wie ein Einbruch, der nach der the-
und den sich erst im Laufe der psychischen Entwick- tischen Phase in die symbolische Ordnung verübt
lung herausbildenden Sekundärprozessen des Vor- wird, der das Thetische >negativiert< und ver-
bewußten (des Ichs), welche die Primärprozesse sucht, die Schichtung Signifikant I Signifikat I Re-
hemmen und überlagern. ferenz zusammenzubinden entsprechend der
Das Semiotische gehört demnach zu einer Triebahnung. Ein solcher Einbruch ist keine
sprachlichen, präödipalen und vor dem Lacanschen Setzung; alles andere als thetisch. (Kristeva 1974
Spiegelstadium (s. I. 7.3.3) liegenden Phase derTriebe b: 67-68; dt. 78)
und ihrer Artikulation. Kristeva sieht es eng verbun-
den mit dem Genotext (s. 3.1) als dem Prozeßhaften
und noch nicht Vokalisierten in der Produktivität
des Textes. Dabei zieht sie eine Verbindungslinie 6. Kristeva und die feministische Semiotik
zwischen dem Semiotischen und dem griechischen
crruu:fov als einem körperlichen Anzeichen (im Ge- Kristevas Beiträge zur Semiotik des Weiblichen und
gensatz zu den arbiträren Zeichen, die zur Domäne die durchaus kontroverse Rezeption ihrer Semiotik
des Symbolischen gehören; Kristeva 1974b: 22, dt. durch die feministische Semiotik erörtern u. a. Moi
35). Diesen Gesichtspunkt der Körperlichkeit des (1985), MacCannell (1986), Seilers (1991), Suchs-
Semiotischen vertieft sie mit der Einführung ihres land (1992), Oliver (1993) und Feldmann & Schüt-
Begriffs der Chora (gr. >leerer Raum<), der sich im ting (1998).
weitere Sinne auch auf die Materialität der Sprache Kristevas Reflexionen über die Semiotik des
bezieht. In der Phase des Semiotischen manifestiert Weiblichen beginnen mit ihrem Buch über Die Chi-
sich die Chora im Zusammenhang mit den Primär- nesin (1974a) und gelangen in ihrem Buch über die
prozessen, Abjektion (1980b) zu einer psychoanalytischen
Ausarbeitung. Hier thematisiert sie die Semiotik der
bei welchen sich Energie sowie deren Einschrei- Abjekte, Körperausscheidungen wie Urin, Kot,
bung verschieben und verdichten: diskrete Ener- Schleim und Speichel, die weder Teil des Körpers,
giemengen durchlaufen den Körper des späteren noch von ihm getrennt sind. Zusammenfassend be-
Subjekts und setzten sich im Laufe der Subjekt- sagt ihre Theorie nach Feldmann & Schütting
werdung nach Maßgabe von Zwängen ab, die (1998: 287):
auf den schon immer semiotisierten Körper
durch Familien- und Gesellschaftsformen aus- Gleichermaßen innen wie außen, markieren die
geübt werden. Auf diese Weise artikulieren die Abjekte die Körperteile, die später zu erogenen
Triebe, ihrerseits sowohl >energetische< Ladun- Zonen werden. Abjektion, die somit den Körper
gen als auch >psychische Markierungen< das, was als corps propre (der >eigene< und der >saubere<
124 Il. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
Körper) in die symbolische Ordnung einschrei- Trennung zwischen Subjekt und Objekt nicht
ben, verweist gleichzeitig auf die Instabilität des gelte. Mutterschaft ist für Kristeva der Ort des
Symbolischen und auf die Dynamik des Semio- Semiotischen, Herausforderung für das Symbo-
tischen. [... ) Kristeva führt [ferner] aus, daß die lische und gleichzeitig Modell für eine >Häretik<,
Ablösung von der Mutter und die Identifizie- eine neue Ethik der Liebe.
rung mit dem >Vater der persönlichen Vorzeit<
die Voraussetzung für eine stabile Subjektkon- Derartige Thesen über die Bedeutung der Mutter-
stitution sei. Die Liebe als symbolische Idealisie- schaft konnten nicht ohne Kritik des main-stream-
rung des Anderen und als Streben nach Vereini- Feminismus bleiben (Oliver 1993: 152-162), der
gung mit ihm sei >Verneinung< (denegation) des nichtsdestoweniger andere Elemente von Kristevas
Verlusts der Mutter. Gleichzeitig mißt Kristeva Theorie positiv aufgegriffen hat. Vor allem der Be-
der Mutterschaft aber eine spezifische Bedeu- griff der Chora wurde von den Feministinnen häu-
tung zu. Wie das Abjekt sei auch die Schwanger- fig übernommen und als ein Prinzip der Weiblich-
schaft ein borderline-Phänomen, für das die keit interpretiert (Moi 1985; Seilers 1991).
11.11 Umberto Eco 125
(Eco 1973b). Die Weiterentwicklung von Ecos All- Autors im Einklang stehen. Der interpretative Weg
gemeiner Semiotik vollzieht sich u.a. 1984 in Semio- eines Lesers durch einen literarischen Text ist nach
tik und Philosophie der Sprache (1984b), Über Eco im Werk selbst vorgezeichnet, denn dieser im-
Spiegel und andere Phänomene (Eco 1985b) und pliziert in seiner Struktur einen >modellhaften Le-
Kante l'ornitorinco (Eco 1997b). Peirce, Denotati- ser<, der ein interpretatives Potential des Werks ver-
on, Ikonizität, die Theorie der Metapher, des Sym- folgt und ergründet, welches durch eine vom Text
bols und der Kodes sowie die allgemeine Zeichenty- selbst gelieferte Evidenz gerechtfertigt ist. Im Ver-
pologie und Grundfragen der Semantik sind einige lauf des Prozesses der Interpretation verfolgen die
der hier weiterentwickelten Themen. modellhaften Leser mehrere von Peirce beschriebe-
Ecos Semiotik der >abwesenden Struktur< von ne semiotische Prinzipien: Ihre Interpretationen er-
1968 enthält eine pluralistische Synthese aus ver- folgen mit Hilfe von Abduktionen und Inferenzen
schiedenen Ansätzen zur Analyse von Texten, Bil- aus den Propositionen des Textes in einem Prozeß
dern, von Architektur und Grundfragen der Bedeu- der unbegrenzten, aber nicht unkontrollierten Se-
tung. Neben Methoden der strukturalistischen miose (s. IV.1 ). Entsprechend dem Peirceschen Ideal
Semiologie der 60er Jahre, der strukturalen Seman- einer Progression zur Vervollkommnung führt sie
tik und Syntax sowie der Zeichentheorie von zu Ergebnissen, die durch gemeinsame Gewohnhei-
Hjelmslev verwendet Eco Analyseinstrumente der ten und interpretative Übereinkünfte der literari-
Kommunikations- und Informationstheorie, der schen Gemeinschaft bestimmt sind. In diesem Pro-
Kulturanthropologie und der Allgemeinen Semiotik zeß ist der ideale Leser kein vollkommener Leser,
von Peirce. Der Höhepunkt dieser Studie ist eine sondern ein Leser, der für die Pluralität der mögli-
philosophische Kritik des Strukturalismus (vgl. Seg- chen und zulässigen Lesarten offen ist, sofern diese
re 1973: 37-41). Eco greift Strukturalisten wie Levi- durch die Textstruktur zu rechtfertigen sind. (Zu
Strauss wegen ihres Versuchs an, in den untersuch- weiteren Aspekten der Literatursemiotik Ecos siehe
ten Phänomenen Strukturen zu entdecken und Tejera [1991), Garcia-Berrio [1992: 190-210) und
ihnen dabei zugleich den Status einer objektiven Wenz [1994)).
Realität zuzuschreiben. Ein solch >>ontologischer
Strukturalismus<< kann nach Eco (1968: 395) nur
zu einer >>ontologischen Selbstzerstörung der Struk- 1.4 Ecos literarische Semiotik
tur<< führen. Wenn es nämlich eine letztgültige Eco wurde zum international bekanntesten Semioti-
Struktur gäbe, so könnte diese nicht bestimmt wer- ker durch seine berühmten und in viele Sprachen
den, denn es gäbe keine Oppositionen mehr, zu der übersetzten Romane I/ nome della rosa (1980), I/
sie sich konstituieren könnte, und keine Metaspra- pendolo di Foucault (1988) und L'isola del giorno
che, die ihre Beschreibung ermöglichen würde prima (1994c). In gewisser Weise sind diese Roma-
(ebd.: 411). Eco fordert deshalb statt eines ontologi- ne kreative Ergebnisse einerAngewandten Semiotik
schen einen methodologischen Strukturalismus (s. (vgl. Hüllen 1987; Kroeber, ed. 1987; Burkhardt &
III.14.3.2). Danach sind Strukturen und strukturelle Rohse 1991). Eco selbst hat diese Einschätzung sei-
Modelle nur als Operationale Verfahren zu verste- ner schriftstellerischen Tätigkeit bestätigt, als er sei-
hen, die nur so lange Verwendung finden sollen, bis ne Arbeit in einem Interview mit dem Time-Repor-
sie ggf. durch neue Modelle ersetzt werden, die auf ter Sullivan (1986: 46) wie folgt charakterisierte:
Grund neuer Einsichten und Erkenntnisse das frü- >>Alles, was ich geschrieben habe, läßt sich auf fol-
here Modell ersetzen. gende Formel bringen: ein hartnäckiger Versuch,
die Mechanismen zu verstehen, durch die wir der
Welt um uns herum Bedeutung geben.<<
1.3 Ecos Literatursemiotik
Die Literatursemiotik ist ein weiteres Hauptgebiet,
das er vor allem in Leetor in fabula (1979a), The 2. Ecos Definition der Semiotik
Role of the Reader (1979b), Die Grenzen der Inter-
pretation (1990a), Interpretation und Überinter- Eco definiert die Semiotik im wesentlichen als eine
pretation (1992) und Im Wald der Fiktionen kulturwissenschaftliche Zeichentheorie und be-
(1994b) entwickelt. Das literarische Werk ist für stimmt auf dieser Grundlage die Grenzen zwischen
Eco nicht offen für jede beliebige Interpretation, wie dem Semiotischen und dem, was er als nichtsemio-
es der Titel seiner Arbeit von 1962 und die Praxis ei- tisch einstuft.
niger postmoderner Dekonstruktivisten suggerieren
mag. Seine Literatursemiotik verlangt vielmehr ein
Gleichgewicht zwischen den beiden Extremen einer 2.1 Semiotik als Kultursemiotik
Praxis, die für jeden Text eine unendliche Zahl an Eco (1976: 8) definiert die Semiotik als ein For-
Interpretationen zulassen möchte, und einer norma- schungsprogramm, das »alle kulturellen Prozesse als
tiven Hermeneutik, die nur diejenigen Interpretatio- kommunikative Prozesse untersucht<<. Der semioti-
nen autorisieren will, die mit den Intentionen des sche Ansatz ist dabei ein perspektivischer, denn Ku!-
11.11 Umberto Eco 127
tur kann man nach Eco (ebd.: 26-27) einerseits und unveränderlichen Grenzen. Als vorläufig defi-
»völlig nach einem semiotischen Profil untersu- niert Eco die politischen und die epistemologischen
chen«, aber kulturelle Phänomene können anderer- Grenzen der Semiotik. Die politischen Grenzen lie-
seits auch unter nichtsemiotischen Gesichtspunkten gen in den Beschränkungen durch den immer un-
betrachtet werden. Beispielsweise kann in semioti- vollkommenen Stand der Forschung. Mit dem Fort-
scher Hinsicht ein Auto ein Zeichen sein, das den schritt der semiotischen Forschung werden diese
sozialen Status seines Besitzers kommuniziert. Das Grenzen überwunden. Die epistemologischen Gren-
gleiche Auto hat jedoch auch nichtkommunikative zen betreffen die Unterscheidung zwischen der Se-
Funktionen, etwa in physikalischer und mechani- miotik als einer Theorie und dem Untersuchungsge-
scher Hinsicht, und die Semiotik ist mit diesen Ebe- genstand, auf den die Theorie bezogen ist. Es ist also
nen der Betrachtung nicht befaßt. Zeichen haben die Grenze zwischen der Theorie, dem Feld der Se-
somit keine ontologische Realität, sondern sie erge- miotik, und der Praxis, die die Semiotik untersucht.
ben sich allein aus der Perspektive des Betrachters, Semiotiker sollten diese Grenze im Sinne einer kriti-
und da diese Perspektive die Möglichkeit des semio- schen Intervention überschreiten. Von der semioti-
tischen Irrtums oder gar der Täuschung impliziert, schen Theorie sollten danach ständig Einwirkungen
gelangt Eco zu seiner folgenden Definition des Zei- auf die Praxis erfolgen. Die Intervention der Theorie
chens und der Semiotik: im Feld der Praxis sollte zur permanenten Neuge-
staltung des semiotischen Feldes führen.
Die Semiotik befaßt sich mit allem, was als Zei-
Anders als die veränderlichen Grenzen können
chen aufgefaßt werden kann. Ein Zeichen ist al- die unveränderlichen Grenzen der Semiotik nicht
les, was in signifikanter Weise als stellvertretend
überschritten werden, denn sie führen in ein nichtse-
für etwas anderes gelten kann. Dieses andere Et-
miotisches Territorium, in dem Semiotiker nicht
was muß nicht notwendigerweise existieren
mehr tätig werden können. Hier gibt es zwei Ab-
oder in dem Moment, in dem ein Zeichen für
grenzungen zur Semiotik, eine an der >>unteren«
dieses Etwas steht, auch wirklich irgendwo vor-
und die andere an der >>oberen« Schwelle.
handen sein. Deshalb ist die Semiotik im Prinzip
Die untere Schwelle stellt die Grenzlinie zwi-
die Disziplin, die alles untersucht, was benutzt
schen der semiotischen und der präsemiotischen
werden kann, um zu lügen. (Eco 1976: 7)
Welt dar. Hier sieht Eco (1976: 19-21) die Tren-
Wenn Eco fordert, daß ein Zeichen sich potentiell nungslinie zwischen der (präsemiotischen) Natur
zur Lüge eignen muß, so steht dies im Zusammen- und der (semiotischen) Kultur. Da seine Semiotik
hang mit zentralen Thesen der strukturalen Seman- programmatisch eine Kultursemiotik ist und Zei-
tik (s. 111.7.4): Wenn ein Zeichen nicht dazu benutzt chen für ihn auf einer sozialen Konvention beruhen
werden kann, eine Lüge auszudrücken, so ist es ei- müssen, liegen biologische oder gar physikalische
nes, zu dem es keine semantische Opposition gibt. Prozesse außerhalb des semiotischen Feldes. So ge-
Aus der Sicht der strukturalen Semantik hätte es so- langt Eco (1976: 21) zu der Schlußfolgerung, daß
mit auch keine Struktur (s. III.14) und folglich über- physiologische Reize, Signale und physikalische In-
haupt keine Bedeutung. Ohne die Möglichkeit einer formationsprozesse unterhalb jener semiotischen
Lüge gibt es darüber hinaus auch nicht die Möglich- Schwelle liegen, wo »semiotische Phänomene aus
keit, mit dem Zeichen eine Wahrheit zu formulie- nichtsemiotischen « entstehen.
ren. Ecos obere semiotische Schwelle betrifft die
Das Kriterium des Potentials zur Lüge ist aller- Grenze zwischen der semiotischen und verschiede-
dings ein extrem restriktives Kriterium der Semioti- nen anderen nichtsemiotischen Perspektiven der
zität. Tatsächlich ist auch die Dichotomie >wahr vs. Welt. Selbst im Bereich der Kultur, der ja mit dem
falsch< für viele Zeichenphänomene, z.B. für Bilder semiotischen Feld deckungsgleich ist, sind wir nach
und Architektur, kaum relevant. Eco selbst hat des- Eco (1976: 27) nicht immer ausschließlich mit
halb 1995 in Toronto dieses Kriterium abge- Zeichenphänomenen konfrontiert, denn kulturelle
schwächt und definiert seitdem nur noch wie folgt: Objekte sind nicht nur Zeichen, sondern sie haben
»Ein Zeichen ist alles, was man dazu benutzten auch eine nichtsemiotische physikalische, chemi-
kann, um etwas auszudrücken, das nicht notwendi- sche, biologische oder ökonomische Funktion (s. 2.1 ).
gerweise der Fall ist.« All diese Funktionen verlangen Betrachtungswei-
sen, die jenseits Ecos oberer semiotischer Schwelle
liegen.
2.2 Ecos semiotisches Feld
und die semiotischen Schwellen
Eco (1976: 5, 9) spricht vom Forschungsgebiet der 2.3 Ecos Kodetheorie
Semiotik als dem >>semiotischen Feld« und definiert Eco entwickelte seine einflußreiche semiotische Ko-
die Trennungslinie zwischen diesem Feld und der detheorie in mehreren Phasen (Eco 1968, 1973b,
nichtsemiotischen Welt als >>Grenzen oder Schwel- 1976, 1984b). Kulturelle Konvention ist das Haupt-
len«. Dabei unterscheidet er zwischen vorläufigen kriterium seiner Definitionen. Obwohl das Gebiet der
128 II. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
als Kode zu untersuchenden Phänomene danach semiotischen Terminologie nicht allgemein akzep-
sehr weit ist, gibt es auch Systeme, die Eco aus sei- tiert ist, schlägt Eco in späteren Arbeiten die Begrif-
nem Konzept vom Kode ausschließt. fe Kode (im eigentlichen Sinne) und S-Kode (<<oder
Kode als System<<) vor (1976a: 37-38, 1984b: 169).
2.3.1 Kultur und Konvention In der Linguistik ist der sogenannte phonologische
Konventionalität ist Ecos Hauptkriterium für Ko- Kode ein Beispiel für einen S-Kode, da es sich ledig-
des. In einer ersten Annäherung akzeptiert Eco lich um ein System von Ausdruckselementen (di-
(1968: 19) Millers (1951: 7) Definition des Kodes stinktive Merkmale mit Kombinationsregeln) ohne
als >>jedes System von Symbolen, das aufgrund von ein korreliertes System von Inhaltselementen han-
vorheriger Übereinstimmung zwischen Quelle und delt (Phoneme haben ja keine Bedeutung).
Ziel dazu verwendet wird, Informationen zu reprä-
sentieren und zu übertragen<<. Eco (1968: 130, 134) 2.3.4 Überkodierung und Unterkodierung
beschreibt den Kode genauer als ein System signifi- Nach Eco (1967a: 129) ,,führt die Mobilität des se-
kanter Elemente mit Regeln für deren Kombina- mantischen Raums dazu, daß sich Kodes flüchtig
tion und Transformation. Zusammengefaßt, ist ein und prozeßartig wandeln<<. Die Interpretation von
Kode »ein System von Regeln, die von einer Kultur Botschaften erfordert deshalb eine ständige Extra-
gegeben sind<<. Kodierung, d.h., das Infragestellen und die hypothe-
tische Modifikation bestehender Kodes. Eco unter-
2.3.2 Ecos Ausweitung des semiotischen scheidet zwei Formen der Extra-Kodierung in der
Kodebegriffs Textinterpretation, und zwar Überkodierung und
Eco (1968: 20-27; 1976: 9-14) gibt einen Abriß des Unterkodierung (ebd.: 133-36, 155). Überkodie-
semiotischen Feldes, das Kodes mit verschiedenen rung ist der interpretative Prozeß der Veränderung
Graden von Konventionalität und Komplexität eines gegebenen Kodes durch den Vorschlag einer
umfaßt. Diese Auffassung vom Feld ist kennzeich- neuen Regel, die eine seltenere Anwendung der frü-
nend für einen extrem weiten Kode begriff. Er umfaßt heren Regel bestimmt. Stilistische und ideologische
tierische Zeichensysteme, taktile, kinesische und Konventionen sind Beispiele solcher Regeln, die bei
paralinguistische Kommunikation, Sprache, Texte, der Überkodierung angewandt werden. Nach Eco
Erzählstrukturen und -konventionen, Massen- verläuft die Überkodierung in zwei Richtungen:
kommunikation und Rhetorik, medizinische Regeln
zur Interpretation von Krankheiten, Musik, visuelle Es kann sein, daß bei einem Kode, der gewissen
Kommunikation einschließlich der Architektur und minimalen Ausdruckseinheiten Bedeutungen zu-
der Malerei, Systeme von Objekten und andere kul- weist, die Überkodierung den makroskopischen
turelle Kodes wie Regeln der Etiquette. Im Gegensatz Ketten dieser Ausdrücke zusätzliche Bedeutun-
zu den engeren Kodedefinitionen schließt Eco (1973: gen zuschreibt. Rhetorische und ikonologische
171) in seiner Definition vage Kodes, schwache Ko- Regeln sind dieser Art. Es kann aber auch sein,
des (die schnell wechseln), unvollständige Kodes (mit daß die Überkodierung bestimmte kodierte Ele-
wenigen Signifikanten, die mit großen Inhalts- mente in analytischere Einheiten analysiert, so
komplexen assoziiert sind), vorläufige Kodes (die wie etwa die Paralinguistik bei einem gegebenen
bald ersetzt werden) und sogar kontradiktorische Wort festlegt, daß verschiedene Möglichkeiten
Kodes ein. Als Beispiel erwähnt er den Kode der Mo- der Aussprache [... ] verschiedenen Bedeutungs-
de als unpräzise, schwach, unvollständig und vor- nuancierungen entsprechen. (Eco 1976a: 134)
läufig.
Unterkodierung ist nach Eco (1976a: 135-136) eine
2.3.3 Kode vs. System Art von grober, unpräziser und hypothetischer Ko-
Eco unterscheidet zwischen Kodes und Systemen, dierung, eine »Bewegung von unbekannten Texten
indem er darauf hinweist, daß jeder Kode zwei mit- zu Kodes<<. Die Entdeckung von Bedeutungen beim
einander korrelierte Systeme paradigmatischer Art Erwerb einer Fremdsprache oder fremden Kultur ist
umfaßt, und zwar ein System der Inhalts- und eines ein Beispiel für Unterkodierung:
der Ausdrucksstrukturen (1973: 85-86). Der Kode
der Verkehrszeichen besteht z.B. aus einem System Unterkodierung kann somit als die Operation
visueller Ausdruckselemente, in dem >rot< den Ele- definiert werden, mit der beim Fehlen verläßli-
menten >grün<, >gelb< und >rot+ gelb< gegenübersteht. cher und bereits festgelegter Regeln gewisse ma-
Dieses ist auf arbiträre Weise mit dem folgenden Sy- kroskopische Segmente bestimmter Texte pro-
stem von Inhaltselementen bezogen: >Anhalten<, visorisch als relevante Elemente eines sich
>Weiterfahren<, >Vorbereiten zum Anhalten< und formierenden Kodes angenommen werden kön-
>Vorbereiten zum Weiterfahren<. Ein Kode ist also nen, selbst wenn die kombinatorischen Regeln,
eine Regel, die Elemente eines Ausdruckssystems welche für die mehr elementaren Konstituenten
mit Elementen eines Inhaltssystems koppelt. Da die des Ausdrucks gelten, zusammen mit den ent-
Unterscheidung zwischen Kode und System in der sprechenden Inhaltselementen noch unbekannt
II.ll Umberto Eco 129
bleiben. [... ] Die Überkodierung schreitet also Nichtsemiotisch ist unsere Sichtweise etwa,
von den existierenden Kodes zu den mehr analy- wenn wir die Natur bloß beobachten und aus natür-
tischen Subkodes vor, während die Unterkodie- lichen Ereignissen einfache Folgerungen (lnferen-
rung von nichtexistenten Kodes zu den poteniel- zen) ableiten: Wenn wir z.B. Rauch bemerken und
len Kodes fortschreitet. (ebd.) daraus auf Feuer schließen, wenn wir sehen, daß die
Straße naß ist, und daraus auf Regen schließen, also
von einer natürlichen Wirkung auf ihre Ursache
2.4 Semiotik und die anderen Wissenschaften schließen, dann sind dies für Eco keine semiotischen
Mit seinem semiotischen Perspektivismus wendet Prozesse, sondern bloße Inferenzen (Eco 1976: 17).
sich Eco gegen einen semiotischen >Imperialismus<, Auch wenn auf einen Reiz eine unmittelbare physio-
der sich für zu viele Phänomene zuständig fühlt, die logische Reaktion erfolgt, so ist der Reiz noch kein
eigentlich im Zuständigkeitsbereich anderer Wis- Zeichen, denn es fehlt ihm an Konventionalität und
senschaften liegen (Eco 1976: 6-7). Eco beruft sich eine durch Regeln (Kodes) begründete Beziehung
dabei auf das Argument von Morris (1938: 4), wo- (ebd.: 78, 19). Ahnlieh sind auch die Signale einer
nach die Semiotik nicht mit der Untersuchung eines Maschine noch keine Zeichen.
bestimmten Gegenstandsbereichs befaßt ist, >>son- Sobald aber Verbindungen zwischen natürlichen
dern mit gewöhnlichen Gegenständen insofern (und Ursachen und deren Wirkungen hergestellt werden,
nur insofern) sie an Semioseprozessen beteiligt die kulturelle Regeln und Lernprozesse beinhalten,
sind«. Auch Hjelmslev hat einen ähnlichen semioti- sieht Eco die Bedingung für Zeichenhaftigkeit erfüllt.
schen Perspektivismus vertreten (s. Il.3), aber wäh- Auf diese Weise werden eine Vielzahl natürlicher Se-
rend Morris (1946: 80) eine Zeichentheorie auf mioseprozesse für Eco doch noch zu Zeichenprozes-
>>biologischer Grundlage« postulierte, war Hjelms- sen. Wenn wir z.B. durch eine sozial gelernte Regel
levs Modell die Struktur der Sprache. den Rauch mit dem abwesenden Feuer verbinden, so
liegt hier nicht mehr eine bloße Inferenz, sondern ein
Zeichenprozeß vor (Eco 1976: 17). Auf diese Weise
2.5 Eco zwischen Linguozentrismus werden auch die medizinischen Symptome für den
und Universalsemiotik Arzt, der sie im Studium gelernt hat, zu kulturellen
Zwischen dem biosemiotischen Expansionismus Zeichen. Nur der Arzt, der diese Symptome zuerst
von Charles Morris und dem linguozentristischen entdeckte, hatte es noch nicht mit Zeichen zu tun.
Reduktionismus nach dem Vorbild von Hjelmslev Seine Beobachtung war eine bloße Inferenz. In der
verfolgt Eco einen mittleren Kurs und verlangt ei- medizinischen Lehre entstand danach aber die semio-
nerseits Erweiterungen und andererseits Begren- tische Konvention, diese Symptome als Zeichen einer
zungen des semiotischen Feldes. Im Gegensatz zu Krankheit zu interpretieren. Durch die Anwendung
Semiotikern wie Buyssens (1943) und Prieto dieser Konvention wurden aus den Symptomen Zei-
(1966) betrachtet Eco (1976: 15) unter bestimm- chen (Eco 1976: 17).
ten Bedingungen (s. 3.) auch natürliche, animali- Was Eco hier beschreibt, ist nicht wirklich Kultur
sche und nichtintentionale Zeichen als möglichen innerhalb der Natur, sondern der Wechsel von der
Gegenstand der Semiotik. Anders als Morris und natürlichen Semiose zu ihrer kulturellen Interpretati-
Peirce verlangt er aber, daß natürliche Phänomene on, d.h., es geht um einen Wechsel zwischen den zwei
nur dann als Zeichen gelten können, wenn sie nach verschiedenen Ebenen der Semiose. Während Ereig-
kulturellen Konventionen interpretiert werden. nisse der natürlichen Semiose von kulturellen Kon-
Bloße Stimuli und Signale, die nicht kulturell kodi- ventionen unberührt bleiben, ändert sich ihre Inter-
fiziert sind, kommen nur als Schwellenphänomene pretation mit der Zeit und der Kultur. Selbst jeder
der Semiotik in Betracht, die Zeichenprozesse be- Interpretationsmodus, welcher der Realität der Tat-
gleiten, aber keine Zeichen bilden können (Eco sachen der natürlichen Semiose am nächsten kommt,
1976: 41). nämlich die wissenschaftliche Erklärung, steht im-
mer noch unter dem Einfluß der Kultur, wie es aus
den Veränderungen der physikalischen Weltmodelle
3· Ecos kultursemiotische Sicht ersichtlich wird. In der fernen Vergangenheit wurde
natürlicher Semioseprozesse z.B. der Blitz als Ausdruck eines übernatürlichen
Wissens angesehen, während die moderne Meteoro-
Kodiertheit (s. III.16) und Konventionalität sind die logie ihn als elektrisches Phänomen erklärt. Die bei-
Zeichenkriterien, die bei Eco die Trennungslinie den Erklärungsweisen veranschaulichen den Wechsel
zwischen Kultur und Natur bestimmen. Der Begriff von einem mythischen zu einem wissenschaftlichen
des >natürlichen Zeichens< ist für Eco somit eigent- Kode als Grundlage für die Interpretation natürlicher
lich ein Widerspruch, und doch besteht nach Ecos Phänomene (vgl. Schales 1982: 143).
Semiotik die Möglichkeit, daß auch Phänomene der Im Gegensatz zu Peirce und einer bis auf die
Natur, unter semiotischer Perspektive betrachtet, zu Stoiker zurückgehende Tradition, wonach bereits
Zeichen werden. bloße Inferenzen aus Beobachtungen natürlicher Er-
130 li. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert
eignisse zeichenhaft sind und schon die Ereignisse in Ecos Festhalten an den Kriterien der Konven-
der Natur (vor allem indexikalische) Zeichen sein tionalität und Kodiertheit aller Zeichen und seine
können, vermag Eco Zeichenhaftes in der Natur nur Bedingung, daß >natürliche< Indices, wie etwa me-
dort zu sehen, wo der Mensch und seine Konventio- dizinische Symptome, nur dann als zeichenhaft
nen zu einer bestimmten Sichtweise dieser Prozesse gelten dürfen, wenn sie kulturell tradiert sind,
geführt haben. Nach diesen kultur- und anthropo- bedeutet letztlich, daß er alle Zeichen eigentlich
semiotischen Prämissen lehnt Eco denn auch die auf jene Kategorie reduziert, die Peirce als Symbol
Möglichkeit einer eigentlichen Biosemiotik ab. In definiert. Die Bedingungen, die er dafür nennt, daß
seinem Beitrag über »Semiotik und Immunologie<< indexikalische Phänomene als Zeichen anerkannt
zu dem Internationalen Kolloquium über Semiotics werden können, laufen letztlich darauf hinaus, daß
of Cellular Communication in the Immune System Eco nur das Symbolische (die Konventionalität) an
erklärte Eco (1988) deshalb auch zur Enttäuschung ihnen als zeichenhaft anerkennen möchte. In die-
der versammelten Biosemiotiker, daß die Interpre- sem Zusammenhang steht auch Ecos grundsätz-
tation immunologischer Prozesse durch Kategorien liche Kritik an der Peirceschen Kategorie des
wie >Kommunikation<, >Zeichenwahrnehmung< oder Ikons als eines Zeichens, das nicht durch Konven-
>Semiose< bloße Metaphern in einem Gebiet seien, tion, sondern durch Similarität begründet ist (s.
das nicht zur Semiotik gehöre. III.12.2.2).
131
2. Sind Zeichenelemente auch Zeichen? chen unabhängig von einer materiellen bzw. menta-
len Realisierung? Derartige Fragen nach der Onto-
In Zeichensystemen, bei denen es wie in der Sprache logie des Zeichens werden im folgenden zunächst
(s. Vl.2) außer einer ersten Gliederungsebene von nur im Hinblick auf den Zeichenträger erörtert. Um
bedeutungstragenden Einheiten auch eine zweite die Frage nach der Existenzweise von Bedeutung
Ebene von nur bedeutungsdifferenzierenden Einhei- und Referenz geht es in Kap. Ill.5.
ten gibt, fungieren die Einheiten der zweiten Gliede-
rungsebene nicht als Zeichen, sondern nur als Ele-
mente von Zeichen, denn sie haben keine eigene 3.1 Materielles Objekt oder mentales Konstrukt?
Bedeutung. Dies gilt z.B. für die Phoneme und Gra- Der Zeichenträger wird von den einen als ein mate-
pheme der Sprache. Sie bedeuten nichts Außer- rielles, konkretes Objekt definiert, das uns durch
sprachliches, sondern erfüllen nur die Aufgabe, Be- unsere Wahrnehmung gegeben ist, während andere
deutungen zu differenzieren. im Zeichenträger ein abstraktes oder mentales Kon-
Neben der Auffassung, wonach Zeichenelemen- strukt sehen (vgl. Pelc 1981a: 2-3).
te keine Zeichen selbst sind, finden sich jedoch auch Morris (1946: 96, 367) definiert den Zeichen-
weitergefaßte Definitionen des Zeichenbegriffs, wo- träger als ein materielles Etwas, als >>ein bestimmtes
nach auch Elementen der zweiten Gliederungsebene physikalisches Ereignis oder ein Objekt<<. Saussure
der Status eines Zeichens zugesprochen wird. Auch (1916b: 66) dagegen sieht im Zeichenträger, dem
Phonemen, Graphemen und ähnlichen Einheiten Signifikanten, ein mentales Konstrukt, denn der Si-
der zweiten Gliederungsebene kann man nämlich gnifikant ist nichts Physikalisches, sondern viel-
durchaus eine Bedeutung zuschreiben. Diese Bedeu- mehr allein die mentale Spur, der >Eindruck<, den
tung ist dann allerdings keine außersprachliche, ein akustisches oder visuelles Ereignis beim Zei-
sondern eine inner- oder metasprachliche. Wenn chenprozeß im Geiste eines Rezipienten hinterläßt.
nämlich Phoneme die Funktion der Bedeutungsdif- Obwohl Hjelmslev Saussures Grundannahmen
ferenzierung erfüllen, so liegt hier eine, wenn auch über die mentale Natur des Zeichenträgers (seiner
nur auf die Sprache bezogene, innersprachliche Zei- Ausdrucksseite des Zeichens) teilt, führt er darüber
chenfunktion vor. Die Elemente der zweiten Gliede- hinaus mit seiner Unterscheidung zwischen der Aus-
rungsebene eines Zeichensystems sind in diesem druckssubstanz und Ausdrucksform eine zusätzli-
Sinne indexikalische Zeichen. Als Zeichen definiert che Dimension jenseits der Semiotik ein, die der
somit z.B. auch Resnikow (1964: 14) diese Einhei- Materialität des Zeichenträgers doch wieder Rech-
ten: >>Ein materieller Gegenstand, der keine eigen- nung trägt. Die Materialität der Zeichen ist nämlich
ständige Zeichenfunktion hat, weil er nur eines der für ihn eine Angelegenheit ihrer Ausdruckssub-
Elemente im Prozeß der Bezeichnung ist, heißt im stanz, wobei die Untersuchung dieser Seite der Zei-
allgemeinen auch >Zeichen<. In diesem Sinn wird der chen Aufgabe der Physik und Psychologie sei. Die
Begriff des Zeichens auch auf Phoneme oder Buch- Semiotik hingegen ist nach Hjelmslev allein für die
staben angewandt.<< abstrakte Ausdrucksform des Zeichenträgers zu-
Diese Verwendung des Zeichenbegriffs auch in ständig, denn das Zeichen als solches konstituiert
bezug auf Zeichenelemente findet sich auch in der sich nicht aus seiner Substanz, sondern allein aus
deutschen Industrienorm DIN 44 300, die termino- seiner Form (s. Il.3.3.3).
logische Empfehlungen für das Gebiet der Informa- Für Peirce kann der Zeichenträger, das Repräsen-
tionstechnologie ausspricht. Hier ist >Zeichen< so- tamen, konkreter, materieller, mentaler oder abstrak-
gar ausschließlich als ein Minimalelement eines ter Art sein. Es kann ein Gegenstand, eine Wahrneh-
Zeichenrepertoires definiert. Einzelne Buchstaben mung oder ein bloßer Gedanke sein. In seiner
oder Ziffern sind Beispiele für Zeichen nach dieser Definition ist das Repräsentamen >>ein wahrnehmba-
Definition. Größere bedeutungstragende Zeichen- res oder nur imaginäres oder sogar ein in gewisser
komplexe im Sinne von Einheiten der ersten Gliede- Hinsicht unvorstellbares Objekt; denn das Wort
rungsebene (Morpheme oder Wörter) sollen nach >schnell<, das ein Zeichen ist, kann man sich nicht vor-
DIN 44 300 nicht >Zeichen<, sondern >Symbol< ge- stellen, ist es doch nicht dieses Wort selbst, welches
nannt werden. - Zu anderen Abgrenzungen zwischen man zu Papier bringen oder aussprechen kann, son-
Zeichen und Symbol s. III.1 0. dern nur ein Exemplar desselben<< (CP 2.230).
sen, denen sie angehören, sind die Zeichenreper- nes Kodes, das auf verschiedene Weise konkret rea-
toires verschiedener Kodes. lisiert werden kann, ohne dabei zu einem anderen
Gegen die Auffassung, daß es sich bei Zeichen Zeichen zu werden, so spricht man vom Zeichen als
um bestimmte Klassen von Objekten handelt, hat Type. Der Artikel >das< kommt als Type nur einmal
Morris (1938: 4) unterstrichen, daß >>die Semiotik im System der deutschen Sprache vor. Als Token
nicht mit dem Studium einer bestimmten Art von hingegen finden wir das Wort in konkreten Texten
Objekten, sondern vielmehr mit ganz gewöhnlichen vielleicht durchschnittlich zehnmal auf jeder Seite.
Objekten beschäftigt ist, und zwar insofern (und Als Type ist das Zeichen also Einheit eines Kodes,
nur insofern), als sie an einem Semioseprozeß betei- während es als Token die Manifestationen eines
ligt sind<<. Jedes Objekt, jedes Ereignis oder Verhal- Zeichens im konkreten Zeichengebrauch ist.
ten ist somit ein potentielles Zeichen. Sogar Schwei-
gen, das ja die Abwesenheit von Materialität und
Zeichen zu beinhalten scheint, kann als ein Zeichen
fungieren (s. V.1). Sebeok (1976: 118) z.B. definiert 4. Das Zeichen und die
ein solches Zeichen der Abwesenheit von Materiali- nichtsemiotische Welt
tät als ein Nullzeichen. Da letztlich alles zum Zei-
chen werden kann, d.h. als etwas betrachtet werden Die nichtsemiotische Welt steht mit den Zeichen in
kann, das auf etwas anderes verweist, gibt es keinen zweierlei Beziehung. Die eine hat mit dem Aspekt der
ontologischen Unterschied zwischen zeichenhaften Referenz des Zeichens zu tun und wird in Kap. 111.5
und nichtzeichenhaften Objekten, sondern nur den erörtert. Sie betrifft den Verweis vom Zeichen auf die
Unterschied zwischen Objekten, die aktuell (oder Welt jenseits des Zeichens, die sich im Zeichen in ge-
auch im allgemeinen) als Zeichen betrachtet wer- wisser Weise widerspiegelt. Die andere hat mit der
den, und solchen, die nicht als zeichenhaft rezipiert Abgrenzung zwischen den Zeichen und denjenigen
werden. Phänomenen der Welt zu tun, die nicht als Zeichen
wahrgenommen werden. Für diese Abgrenzung zwi-
schen dem Zeichenhaften und dem Nichtzeichenhaf-
3.3 Aktuelle und potentielle Zeichen ten gibt es, vereinfachend, sechs Haupttendenzen, die
Wenn nun aber, wie Morris (1938: 4) es formuliert, in den folgenden Abschnitten nur schlagwortartig
»etwas nur Zeichen ist, weil es von einem Interpre- skizziert werden können. Für einige Tendenzen gibt
ten als Zeichen für etwas interpretiert wird, so müß- es Parallelen in der Theorie vom referentiellen Bezug
te man annehmen, daß sogar die konventionellen des Zeichens zur Welt (s.III.1).
Zeichen, wie etwa die Verkehrszeichen oder die
Wörter einer Sprache, aufhören Zeichen zu sein, so-
bald niemand sie mehr wahrnimmt. Um diesem Pa- 4.1 Transsemiotischer Agnostizismus
radox von der Nichtzeichenhaftigkeit der konven- Vom klassischen Strukturalismus bis zu Derridas
tionellen Zeichen zu entgehen, unterscheidet man Dekonstruktivismus findet sich die Tendenz zum
zwischen aktuellen und potentiellen Zeichen (Kam- transsemiotischen Agnostizismus, wonach die Welt
lah & Lorenzen 1967: 58). Wörter in einem Lexikon jenseits der Zeichen unserer Erkenntnis verschlos-
oder auch in jedem beliebigen Buch, die gerade nicht sen bleibt. Für Saussure (1916b: 111-12) ist z.B. in
gelesen werden, sind für jeden, der sie lesen kann, der Welt nichts strukturiert, ehe die Sprache in Er-
potentielle Zeichen. In jedem Kode gibt es so viele scheinung tritt, und auch für Derrida gelangen wir
potentielle Zeichen, wie es Elemente des Zeichenre- nie zu einer Welt jenseits der Zeichen, denn die Welt
pertoires gibt, und da auch die Welt der natürlichen der Zeichen bildet ein unendliches Netz der Verwei-
Objekte als zeichenhaft rezipiert werden kann, ist se von einem Zeichen zum nächsten und konstitu-
die Zahl der potentiellen Zeichen letztlich unbe- iert sich durch das Spiel der Differenzen zwischen
grenzt. Die potentiellen Zeichen werden zu aktuellen diesen Zeichen. Der transsemiotische Agnostizis-
Zeichen immer dann, wenn sie von bestimmten Re- mus ist gepaart mit einem anthroposemiotischen
zipienten als zeichenhaftinterpretiert werden. Grundaxiom: Semiotik gilt hier ausschließlich als
eine Wissenschaft der menschlichen Zeichen.
logen die Welt in jeder Hinsicht eine zeichenhafte (s. 4.5 Das Nichtsemiotische
VII.7). Die Erweiterung des semiotischen Feldes in als das unmittelbar Wahrgenommene
Richtung auf eine Semiotik der natürlichen Welt Sowohl in der phänomenologischen Semiotik seit
durch die Biosemiotik, Zoosemiotik, semiotische Husserl (s. I. 7.3.3) als auch in verschiedenen Me-
Kognitionstheorie oder Ökosemiotik wird von den diationstheorien des Zeichens (vgl. Metz & Par-
Anhängern einer enger konzipierten Semiotik gern mentier, eds. 1985) gilt das Nichtzeichenhafte als
als Pansemiotismus kritisiert. In der Theorie der ein Bereich der unmittelbaren Welterfahrung. Im
nonverbalen Kommunikation ist das metakommu- Gegensatz zur unmittelbaren Wahrnehmung der
nikative Axiom, wonach alles letztlich kommunika- Welt liefern die Zeichen nur einen indirekten oder
tiv ist, eine Variante des Pansemiotismus (s. 1.3.5.2). vermittelten Zugang zur Welt.
Whitehead (1928: 16) etwa charakterisiert die
Welt der unmittelbaren Sinnesdaten unterhalb der
4.3 Semiotisierung der natürlichen Welt Schwelle des Semiotischen wie folgt: >>Die unmittel-
Greimas unternimmt den Versuch eines Brücken- bare Welt um uns herum ist eine Welt von Sinnesda-
schlages zwischen der pansemiotischen Sicht der ten, die von den unmittelbaren Zuständen der betref-
Phänomene in Natur und Kultur einerseits und der fenden Körperteile bestimmt ist. [... ] >Sinnesdatum<
strikt anthroposemiotischen Sicht der Zeichen ande- ist ein moderner Begriff. Hume benutzt das Wort
rerseits, die alle die Phänomene der Natur jenseits >Eindruck<.<< Im Gegensatz zur Wahrnehmung einer
der menschlichen Zeichensysteme als eine nichtse- sich derart unmittelbar präsentierenden und deshalb
miotische Welt definiert. Für ihn werden die Phäno- nichtsemiotischen Welt nehmen wir nach Whitehead
mene unserer natürlichen Umwelt in einer Semiotik (ebd.: 9) Zeichenhaftes wahr, >>wenn einige Elemente
der Natur semiotisiert, die auf kulturellen Kodes der unserer Welterfahrung ein Bewußtsein, Glauben,
Interpretation dieser Umwelt beruht. Die natürliche Emotionen oder Gewohnheiten hervorrufen, die an-
Welt ist für Greimas dabei nur insofern zeichenhaft, dere Aspekte unserer Erfahrung betreffen<<. Auch bei
als sie von Menschen semiotisiert wird. Die natürli- Morris findet sich der Gedanke von der nichtsemioti-
che Semiotik ist danach allein das Ergebnis der schen Welt als einer Welt der unmittelbaren Interak-
menschlichen Kodifizierung der Natur. Die Relation tion mit den uns umgebenden Dingen, denn Semiose
zwischen einer auf diese Weise semiotisierten Natur ist für ihn >>ein mittelbares Wahrnehmen<< (Morris
und den von Menschen konventionell produzierten 1938:4 sowie 11.4).
Zeichen ist eine intersemiotische, denn die Zeichen
der natürliche Welt werden durch kulturelle Zei-
chensysteme kodifiziert und interpretiert (s. 11.9). 4.6 Nichtsemiotische Handlungen
Eine weitere Variante der Mediationstheorie des Zei-
chens findet sich bei Vygotsky (1930: 137-38; vgl.
4.4 Nichtzeichen im naiven Realismus Rissom 1979: 11). Hier ist die Unterscheidung zwi-
Für den naiven Realisten ist die nichtzeichenhafte schen dem Zeichenhaften und dem Nichtzeichen-
Welt eine Welt der konkreten Objekte, die sich haften in erster Linie nicht erkenntnis-, sondern viel-
grundsätzlich von den Zeichen unterscheiden. Augu- mehr verhaltenstheoretisch begründet. Vygotsky
stinus (397: 624-25) z.B. teilt die Welt in Dinge und unterscheidet zwischen einerseits natürlichen und an-
Zeichen (res und signa). In De doctrina christiana 1.2 dererseits künstlichen oder instrumentellen Hand-
unterscheidet er zwischen Dingen und Zeichen wie lungen. In natürlichen Handlungen gibt es eine direk-
folgt: >>Ich benutze das Wort >Ding< im engeren Sinn, te assoziative Verknüpfung zwischen einem Reiz A
um das zu bezeichnen, was niemals als Zeichen für ir- und einer Reaktion B (einen sogenannten bedingten
gend etwas anderes benutzt wird: zum Beispiel Holz, Reflex). Bei instrumentellen Handlungen hingegen
Stein, Vieh oder andere derartige Sachen.<< Dennoch werden >>zwei neue Verknüpfungen, A-X und B-X
ist die Welt nach Augustinus nicht völlig in zwei on- mit Hilfe des psychologischen Werkzeuges X herge-
tologisch unterschiedliche Klassen von Phänomenen stellt<<. Das Werkzeug X ist dabei ein Stimulus, der
geteilt, denn zwar gibt es die Kluft zwischen den Zei- >>als ein Mittel der Beeinflussung von Geist und Ver-
chen und den nichtzeichenhaften Sachen, aber die halten<< dient (ebd.: 141). Der vermittelnde Reiz X ist
Zeichen selbst sind ihrerseits auch zugleich Sachen: demnach das Zeichen, während der direkte Weg von
>>Jedes Zeichen ist auch eine Sache, denn was keine A nach B den Weg des Nichtzeichenhaften be-
Sache ist, ist überhaupt nichts. Nicht jedes Ding ist schreibt.
dagegen auch ein Zeichen<< (ebd.). Auch erkenntnis- Auch die funktionale Zeichentheorie Mukarov-
theoretisch ist nach Augustinus (ebd.) die Welt der sky (1942: 41-42) zieht die Trennungslinie zwischen
Dinge mit der Welt der Zeichen verbunden, denn die Zeichen und Nichtzeichen nach dem Kriterium der
>>Dinge werden durch Zeichen erlernt<<. Mittelbarkeit der Handlung (s. 11.6.3.2). Nichtsemio-
tisches Verhalten ist danach die unmittelbare prak-
tische (ungewöhnlicherweise aber auch die >theore-
tische<) Interaktion mit der Realität, während ein
111.1 Zeichen: Zeichenträger, das Zeichenhafte und die nichtzeichenhafte Welt 135
Zeichen eine mittelbare Interaktion voraussetzt und der Welt der subjektiven Erfahrung beginnen die se-
als Mittler zwischen zwei Realitäten fungiert. miotischen Prozesse. Dies ist die Welt der Biosemio-
tik und Psychosemiotik. Mit der Welt 3, nach Pop-
per die Welt der Produkte des menschlichen Geistes,
4. 7 Evolutionstheoretische Sicht beginnt schließlich die Semiotik der Sprache und
des Präsemiotischen der Kultur.
Aus evolutionstheoretischer Sicht erscheint die Im Rahmen seiner evolutionären Kultursemio-
Sphäre des Zeichenhaften zumeist als eine Stufe der tik entwickelt auch Koch (1986a, b, c) ein holisti-
Evolution, der eine Welt des noch nicht Zeichenhaf- sches Weltmodell, in dem die Schwelle des Semioti-
ten vorausgeht. Das Modell der drei Welten von schen evolutionstheoretisch begründet ist. Die
Popper sieht z.B. eine derartige evolutionstheoreti- Welten, die der Sprach- und Kultursemiotik voraus-
sche Schwelle vor (Popper & Eccles 1977: 16ff.): gehen sind hier (1) die kosmische, (2) die galakti-
Die Welt 1 als Welt der physikalischen Objekte ist sche, (3) die geologische, (4) die biologische und (5)
noch eine präsemiotische Welt. Erst mit der Welt 2, die soziologische Welt.
136 III. Zeichen und System
einem Trapezmodell, das u.a. auch auf die semanti- »etwas anderes<< in der Kognition der Interpreten her-
schen Komponenten und auf die Polysemie des vorruft. Markus (1957: 71-72) und Sirnone (1972:
Sprachzeichens eingeht. 16) haben in dieser Triade vom Zeichen, dem Be-
zeichneten und der sie verbindenden Kognition be-
reits ein triadisches Zeichenmodell sehen wollen, aber
das Modell ist doch eher dyadisch, da ihm die syste-
2. Dyadische Zeichenmodelle matische Unterscheidung zwischen der Bedeutungs-
und der Bezeichnungsfunktion der Zeichen fehlt.
Die allgemeinste dyadische Formulierung des Zei- Nach Augustinus findet sich das Zeichen in
chenmodells findet sich in der mittelalterlichen De- ähnlicher dyadischer Bestimmung auch bei Ockham
finition vom Zeichen als aliquid stat pro aliquo, als und Poinsot (s. 1.3.4.2). Ockham definiert das Zei-
>etwas, das für etwas anderes steht<. Nach Eschbach chen als das, was etwas anderes in der Kognition
(1980: 44) stammt diese Formulierung der Zeichen- hervorruft (>>ille, quod aliquid facit in cognitionem
definition von Albert dem Großen (13. Jh.), aber die venire<<, zit. in Geyer, ed. 1951: 578). Bei Poinsot
Benennung der zwei Korrelate des Zeichens durch (1632: 25) heißt es: >>Ein Zeichen ist etwas, das für
die unbestimmten Pronomina aliquid und aliquo eine Kognition etwas anderes außer sich selbst re-
findet sich schon bei Augustinus. Während mit dem präsentiert [.. .id, quod potentiae cogniscivae ali-
aliquid des dyadischen Zeichens der Zeichenträger quid aliud a se repraesentat ]. ''
gemeint ist, kann sich unter dem aliquo zweierlei In der Semiotik des 20. Jh.s ist das auf die Be-
verbergen, einerseits die Idee oder Bedeutung des zeichnungsfunktion reduzierte dyadische Zeichen-
Zeichens oder das bezeichnete Objekt selbst. Im er- modell die Grundlage der extensionalen Semantik.
sten Fall ist das Zeichen auf seine Bedeutungsfunk- Eine dyadische Zeichenkonzeption findet sich auch
tion, im zweiten auf seine Bezeichnungsfunktion re- bei Goodman (1968: xi, 5). In seiner Terminologie
duziert (s. 111.5). heißt der Zeichenträger Symbol. »Symbole können
Buchstaben, Wörter, Texte, Bilder, Diagramme,
Landkarten, Modelle u.a.m. sein.« Ein Symbol >>re-
2.1 Zeichen als Dyade von Zeichenträger präsentiert, steht für, verweist auf ein Objekt«, wo-
und Referenzobjekt bei ein Objekt all das sein kann, was vom Symbol
Eines der frühesten explizit dyadischen Modelle des repräsentiert wird, >>sei es ein Apfel oder eine
Zeichens, in dem die Dyade auf die Bezeichnungs- Schlacht« (ebd.). Eine Übersicht einiger dyadischer
funktion reduziert ist, war das Modell der Epiku- Zeichenmodelle, die auf die Bezeichnungsfunktion
reer (s. 1.2.4). Auch bei Augustinus ist das Zeichen beschränkt sind, gibt Abb. III.2.1.
in diesem Sinn als Dyade konzipiert, wenn er es als
eine Sache (res) definiert, die auf eine andere Sache
verweist (s. 1.2.5). Eine dyadische Definition des 2.2 Zeichen als Dyade von Zeichenträger
Sprachzeichens findet sich bei den Römischen und Bedeutung
Grammatikern, die davon sprechen, daß ein Wort Ein auf die Bedeutungsfunktion reduziertes dyadi-
eine Sache bezeichnet (nomen significat rem, vgl. sches Zeichenmodell findet sich zuerst in der Zei-
Padley 1976: 164). Bis zu Albert dem Großen und chentheorie der Grammatik von Port-Royal (s.
den Scholastikern des 13. ]h.s findet sich diese Defi- 1.4.1.2). Die Dyade ist hier radikal mentalistisch
nition vom Sprachzeichen als einer Dyade, deren konzipiert, denn ein Zeichen besteht nach dieser
aliquid ein Laut (vox) und deren aliquo eine Sache Theorie einerseits (anstelle eines materiellen Zei-
(res) ist. Zum Sprachzeichen als einer Wort-Sache- chenträgers) aus der >>Idee der repräsentierenden
Dyade in der Sprachtheorie der mittelalterlichen Sache« und andererseits aus der >>Idee der repräsen-
Modisten siehe auch Bursill-Hall (1971: 97), Ebbe- tierten Sache«. Saussure und Hjelmslev stehen in
sen (1983: 73) und Gabler (1987: 48). dieser mentalistischen Tradition des dyadischen
Die Dyade von Zeichenträger und Referenzob- Zeichenmodells. Bei Saussure besteht das Zeichen
jekt ist allerdings schon bei Augustinus (397: 636) (signe) aus der Dyade von signifiant und signifie, bei
durch die Kognition des Zeicheninterpreten verbun- Hjelmslev heißen die beiden Seiten des Zeichenmo-
den, denn nach Augustinus ist ein Zeichen etwas, das dells >Ausdruck< und >Inhalt<.
~
e- Zeichen aliquid: aliquo:
e Zeichenträger Referenzobjekt Abb. 111.2.1: Terminolo-
gische Synopse einiger
Augustinus Zeichen ein Ding ein anderes Ding dyadischer Zeichen-
Albert der Große signum vox (Laut) res (Sache)
Carn~ Tarski Ausdruck Desi9nata, Objekt modelle, die das Zeichen
Willgenstein (1905) Name Objekt auf seine Bezeichnungs-
Goodman Symbol Wörter, Bilder etc. Denotat, Objekt funktion reduzieren.
138 III. Zeichen und System
I~
a/iquid: a/iquo:
Zeichen Zeichenträger Bedeutung
Eine sensualistische Bestimmung des Zeichenträ- wurde diese Relation auch mit dem Begriff der Sup-
gers findet sich zuerst im dyadischen Zeichenmodell position beschrieben (s. !.3.2): supponit aliquid pro
von Degerando (1800: I, 63): Das Zeichen besteht hier aliquo (>etwas dient an Stelle von etwas anderem<,
aus einer Empfindung (sensation), mit der eine Idee vgl. Kneale & Kneale 1962: 250). Die Relation des
verbunden ist. Auch Cassirer (1923ff.) definiert in sei- starepro darf nicht im Sinne einer Substitution miß-
ner Theorie der symbolischen Formen das Symbol als verstanden werden (vgl. Wells 1977: 6), von der die
Dyade, bestehend aus einem >>konkret wahrnehmba- behavioristische Semiotik gelegentlich verkürzend
ren Zeichen<< mit einer Bedeutung (oder einem Inhalt, spricht (Morris 1946: 84), denn, wie Peirce (CP
vgl. Cassirer 1922-38: 175; Krois 1984b: 440). 2.228) es formuliert, ist das Zeichen >>etwas, das
Weitere dyadische Modelle des Zeichens in die- [... ] für etwas (nur] in einer bestimmten Hinsicht
ser Tradition sind diejenigen von Bühler, Buyssens oder Fähigkeit steht<<.
und Jakobson. Bei Bühler (1933b, 1934; s. 1.7.6.4) Eine andere Interpretation des >stehen für< hat
besteht die Dyade aus einem >>Repräsentanten (ei- Bühler (1933b: 93-96) in seiner Repräsentations-
ner konkreten Sache)<< und einer >>Bedeutung<<. Ja- theorie des Zeichens gegeben. Mit Bezug auf H.
kobson spricht in Latinisierung der Saussuresehen Gomperz definiert er das aliquid als ein concretum,
Terminologie vom >signans< und >signatum< des Zei- welches das aliquo durch einen Prozeß der Abstrak-
chens (Jakobson 1959a: 260; 1961: 575, 1975: tion repräsentiert. Bühler nennt diesen Prozeß das
10ff.; vgl. Waugh 1976: 38-53). Bei Buyssens Prinzip der abstraktiven Relevanz.
(1943: 34-41) heißt dagegen das Zeichen >Sema<, Einer sehr allgemeinen Bestimmung der Relati-
der Zeichenträger >semischer Akt< und die Bedeu- on zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung be-
tung signification. Eine Synopse der dyadischen dient sich auch Jakobsan (1975: 22): >>Jedes einzel-
Zeichenmodelle, die auf die Bedeutungsdimension ne Zeichen stellt einen Verweis (renvoi) dar.<< Zur
reduziert sind, gibt Abb.III.2.2. Analyse der verschiedenen Modalitäten des renvoi
Dyadisch ist schließlich auch die Zeichenkon- in Zeichenprozessen siehe Deely (1994).
zeption des Behaviorismus mit seiner Reduktion des
Zeichens auf eine Abfolge von Signal (Stimulus) und
Reaktion im Hörer (z.B. Bloomfield 1933). Die Dya- 3.2 Signifikation
de thematisiert hier jedoch weder die Bedeutungs- Die Relation zwischen dem Zeichenträger und seiner
noch die Bezeichnungsfunktion des Zeichens, son- Bedeutung heißt auch Signifikation (significatio) in
dern Verhaltensmodi der Zeichenbenutzer. der mittelalterlichen Semantik (vgl. Pinborg 1972:
43 ). Nach dem Kriterium dieser Relation unterschei-
det die Semiotik in der Nachfolge von Saussure zwi-
3. Relationen zwischen schen arbiträren und motivierten Zeichen (s. VI.3).
dem aliquid und aliquo Einige Zeichentheoretiker postulieren auch eine Re-
lation der psychologischen oder sozialen Kausalität,
Die Relation zwischen dem aliquid und aliquo ist in auf Grund derer die Zeichenbenutzer die Relation
der Geschichte der Semiotik sehr unterschiedlich zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung her-
definiert worden. stellt. Für Saussure handelt es sich um eine Relation
der >>psychologischen Assoziation<< (s. II.2). Für
Peirce ist die Dimension der Signifikation (oder
3.1 Repräsentation Interpretation) entscheidend durch die Kategorie der
Die mittelalterliche Formel aliquid stat pro aliquo hebt Gewohnheit (habit) gekennzeichnet, die den Zeichen-
auf die Relation der Repräsentation ab: Das Zeichen benutzer veranlaßt, die Relation zwischen Zeichen-
>steht für< etwas anderes (s. III.8). In der Scholastik trägern und ihrer Bedeutung herzustellen.
111.2 Zeichenmodelle, Zeichenkonstituenten und Zeichenrelationen 139
3.3 Designation, Referenz oder Bezeichnung und eines Referenzobjektes gibt es seit der Antike.
Designation, Referenz oder Bezeichnung sind die Das semiotische Dreieck von Ogden & Richards
Begriffe, mit denen die Relation zwischen der Dyade scheint den Prototyp dieser Auffassung vom Zei-
von Zeichenträger und seinem Referenzobjekt (De- chen zu veranschaulichen. Die theoretische Begrün-
signat) definiert werden (s. III.5.4.2). In der mittel- dung des Zeichens als eine triadische Relation ist je-
alterlichen Semantik wurde die Relation zwischen doch nur in der Semiotik von Peirce vertieft. Unter
dem Wort und dem bezeichneten Ding als appella- den anderen triadischen Modellen gibt es auch sol-
tio bezeichnet (Pinborg 1972: 43). che, bei denen die Triade nur aus einer Verknüp-
Die Relation zwischen Zeichenträger und Objekt fung der zwei Dyaden von der Bedeutungs- und der
ist für Peirce die Grundlage für die Unterscheidung Bezeichnungsfunktion des Zeichens besteht. Zur
zwischen ikonischen, indexikalischen und symboli- Übersicht von triadischen Modellen des Zeichens
schen Zeichen (s. III.11-12). Zeichen, die auf einer siehe auch Gomperz (1908: 76-91) und Lieb
unmittelbaren Relation zwischen Zeichenträger und (1981a).
Objekt beruhen, sind die indexikalischen Zeichen.
Sie können auf einer Relation der Kausalität zwi-
schen Zeichen und Objekt beruhen, die der Zeichen- 4.1 Triaden, die auf Dyaden reduzierbar sind
benutzer durch Schlußfolgerungen ermitteln kann. Einige triadische Zeichenmodelle sind auf jeweils
Ob Kausalität bereits die Quelle von Zeichen sein zwei (oder gar drei) Dyaden reduzierbar, die entwe-
kann, wird kontrovers diskutiert (s. III.11.4). Ogden der als alternative Zeichendyaden oder als eine Ab-
& Richards (1923: 10-11) lehnen es z.B. ab, in der folge von Dyaden definiert sind. Als ein Nacheinan-
Relation zwischen Zeichen und Objekt eine andere der zwei er Dyaden definiert z.B. Boethius (480-524)
als nur eine >indirekte< Relation zu sehen. Die Relati- das Sprachzeichen (Coseriu 1970: 153): »Der Laut
on vom Zeichenträger (dem >Symbol<) über seine Be- (vox) bedeutet die Begriffe (conceptiones) der Seele
deutung (den >Gedanken<) zum Objekt ist nach und des Geistes, aber der gleiche Geist hat eine Vor-
Ogden & Richards (ebd.) jedoch durch eine psycho- stellung von den Dingen (res) und wird durch die
logische und soziale Kausalität gekennzeichnet (s. 4.2). Laute bedeutet.<< Anselm von Canterbury (1033-
1109) zerlegt die Triade von Wort, Bedeutung und
Bezeichnung in die zwei alternativen Dyaden von
3.4 Kausalität, Schlußfolgerung und Semlose der appellatio (Wort - Ding) und der significatio
Kann Kausalität, die naturgesetzmäßige Verbin- (Wort- Bedeutung) (Pinborg 1972: 43).
dung zwischen einer Ursache A, z.B. dem Feuer, und Eine Zerlegung der Triade Zeichenträger- Be-
einer Wirkung B, z.B. dem Rauch, eine Zeichenrela- deutung- Objekt in zwei Dyaden nimmt auch Locke
tion begründen, i.a.W., kann eine Ursache A Zei- vor (s. I.4.2.3). Locke unterscheidet zwei Arten von
chen einer Wirkung B oder eine Wirkung B Zeichen dyadischen Zeichen, die im Zeichenprozeß neben-
einer Ursache A sein? An der Antwort scheiden sich einander relevant sind, nämlich erstens Ideen als
zwei Auffassungen von der Schwelle des Semioti- Zeichen von Dingen und zweitens Wörter als Zei-
schen. Für die Semiotik, die auch eine Theorie der chen von Ideen. Ideen sind Zeichen von Dingen,
natürlichen Zeichen umfaßt (s. III.ll.4), lautet die »denn von den Dingen, welche der Geist betrachtet,
Antwort ja, für die Semiotik, die Semioseprozesse ist [... ] keines dem Verstande gegenwärtig. Daher
von kulturellen Konventionen und Kodes abhängig ist es notwendig, daß er noch etwas anderes als Zei-
macht, lautet die Antwort nein. chen oder Stellvertreter des Dinges, das er betrach-
Kausalität ist insofern eine präsemiotische Rela- tet, zur Verfügung hat, und dies sind die Ideen«
tion, als sie sich auch unabhängig von Zeichenbe- (Locke 1690: IV.21.4). Wörter sind dagegen Zei-
nutzern ereignet. Erst wenn ein Zeichenbenutzer die chen von Ideen, denn sie stehen für nichts als >>die
Relation zwischen der Wirkung B und der Ursache Ideen im Geiste dessen, der sie benutzt. [... ] Dem-
A als kausal interpretiert, wird aus der präsemioti- nach sind es die Ideen des Sprechenden, als deren
schen Relation der Kausalität eine Zeichenrelation. Kennzeichen die Wörter dienen wollen<< (Locke
Der Prozeß im Geiste des Zeicheninterpreten ist eine 1690: III.2.2).
Schlußfolgerung. Nicht die Kausalität allein, son-
dern nur der Prozeß des Schließens von Wirkungen
auf Ursachen kann Zeichenrelationen begründen 4.2 Das semiotische Dreieck
(vgl. Pelc 1984b; s. Ill.11.4.3). Gomperz (1908: 77) und Ogden & Richards (1923:
11) haben das Modell des Zeichens in Form eines
Dreiecks dargestellt. Im vielzitierten semiotischen
Dreieck von Ogden & Richards (Abb. III.2.3) sind
4. Triadische Zeichenmodelle jedoch die zwei Korrelate der Bedeutung und des
Referenzobjektes terminologisch unklar voneinan-
Definitionen des Zeichens als eine Triade mit den der abgegrenzt. Den Ort der Bedeutung in der Tria-
Korrelaten eines Zeichenträgers, einer Bedeutung de des Zeichens nennen die Autoren >Gedanken
140 III. Zeichen und System
Zeichen- Referenz-
träger objekt Abb. 111.2.6: Graph einer genuinen Triade nach Peirce
Abb. 111.2.4: Das semiotische Dreieck
in heutiger Terminologie
4.3 Mediation in der Zeichentriade
Das triadische Zeichenmodell von Peirce hat Peirce Der Schlüssel zu einer genuin triadischen Konzepti-
selbst nie in Form eines Dreiecks dargestellt. Bei on des Zeichens ist der Begriff der Mediation, der
Morris (1939: 417) findet sich zwar auch ein semio- Vermittlung zwischen zwei Zeichenkorrelaten
tisches Dreieck, seine drei Korrelate sind jedoch die- durch ein drittes.
jenigen von Syntax, Semantik und Pragmatik. Eine Der Gedanke vom Zeichenprozeß als Prozeß
systematische graphentheoretische Darstellung der der Vermittlung findet sich bereits in der scholasti-
Feireeschen Zeichentheorie, deren Grundform dieje- schen Formulierung vom Sprachzeichen, das die Sa-
nige eines Dreiecks ist, beginnt bei Bense (z.B. 1971 che mittels Begriffen bedeutet: Vox significat rem
sowie Bense & Walther, eds. 1973). Die Anordnung mediantibus conceptibus (zit. in Lyons 1977: 96).
der drei Zeichenkorrelate vom Repräsentamen (Zei- Der Mittler liegt nach dieser Konzeption also in der
chenträger), seiner Bedeutung (lnterpretant) und sei- Bedeutungsdimension des Zeichens. Die Ideen oder
nem (Referenz-)Objekt ist jedoch anders als bei Og- Vorstellungen des Zeichenbenutzers vermitteln zwi-
den & Richards. Das erste Korrelat des Zeichens, das schen dem Zeichenträger, der nicht die Sache ist,
Repräsentamen, befindet sich im Dreieck oben. Das und der Sache, auf die er verweist. Diese Konzepti-
zweite Korrelat folgt links und das dritte rechts un- on der Mediation ist auch dem semiotischen Drei-
ten. Bense nennt das Zeichen, in dem die Korrelate in eck von Ogden & Richards inhärent. Der Zeichen-
der Reihenfolge Repräsentamen (in Benses Termino- träger ist die erste Instanz im semiotischen Prozeß,
logie: Mittel) -7 Objekt -7 Interpretant verknüpft der Referent als Objekt der Bezeichnung ist die letz-
sind, das generative Zeichen (Abb. III.2.5). te Instanz.
111.2 Zeichenmodelle, Zeichenkonstituenten und Zeichenrelationen 141
Völlig anders ist der Begriff der Mediation im Interpretationen von der Reihenfolge im Semiose-
triadischen Zeichenmodell von Peirce begründet prozeß. Nach der Zeichentheorie von Platon und
(vgl. Metz & Parmentier, eds. 1985). Hier ist der Aristoteles (s. 4.4) haben die Zeichen in gewisser
Zeichenträger die vermittelnde Instanz, denn nach Weise ihren Ursprung im Objekt (vgl. Schmidt 1969:
Peirce vermittelt das Repräsentamen zwischen dem 13), denn die Ideen sind hier >Ähnlichkeiten< tatsäch-
Objekt und dem Interpretanten und nicht der Inter- licher Dinge. Den Dingen folgen zweitens die Ideen,
pretant zwischen Repräsentamen und Objekt. Ob- die sie hervorrufen, und drittens die Namen, die die
jekt und Interpretant sind bei Peirce allerdings nicht Ideen bezeichnen. Bei diesem Modell des Zeichen-
in der gleichen Weise definiert wie das Referenzob- prozesses handelt es sich allerdings nicht so sehr um
jekt und die Bedeutung in der von Ogden & Ri- ein Modell der Semiose als Mediation, sondern viel-
chards vertretenen Tradition. Nach der traditionel- mehr um ein Modell der Genese der Zeichen aus den
len Konzeption beginnt der Prozeß der Semiose Dingen. Ebenfalls um ein Modell der Genese der Zei-
erstens mit der Rezeption eines gewissermaßen von chen, allerdings nicht aus den Dingen, sondern aus
außen kommenden Zeichenträgers, findet zweitens ihrem a priori bestehenden Sinn, geht es etwa bei
in der mentalen Verarbeitung durch den Zeichenin- Husserl. Hier ist die Bedeutung, der Sinn der Zei-
terpreten seine Fortsetzung und führt drittens den chen, ihr Ursprung. Der Sinn verleiht dem Zeichen
Interpreten hin zum bezeichneten Objekt, das wie- als Namen (dem >Namensding<) ihr Leben, und vom
der auf eine Welt außerhalb der Zeicheninterpreten Namen führt der Weg im Prozeß der Semiose, der für
verweist. Bei Peirce hingegen, nach dessen Semiotik Husserl ein Prozeß der Zeichenmetamorphose ist,
letztlich alle drei Konstituenten des Zeichens eine ei- schließlich zum gemeinten Objekt.
gene Zeichenhaftigkeit haben, ist das Objekt nicht
dasjenige, was der Zeichenwahrnehmung folgt,
sondern die Erfahrung, die der Zeicheninterpretati- 4.4 Synopse der triadischen Zeichenmodelle
on vorausgeht und somit ihre Voraussetzung ist, Abb. 111.2. 7 gibt eine terminologische Synopse eini-
während der Interpretant diejenige Form der Semio- ger triadischer Zeichenmodelle aus der Geschichte
se ist, die im Prozeß des >Wachstums der Zeichen< der Semiotik. Zu den Zeichendefinitionen der hier
dem Zeichen folgt (s. 11.1.3.4.2). aufgelisteten Autoren siehe im einzelnen I. Zu wei-
Neben beiden erörterten Sichtweisen von der teren terminologischen Differenzierungen zwischen
Reihenfolge der Konstitutenten im Prozeß der Me- den Korrelaten der Bedeutung und des Referenzob-
diation gibt es auch noch zwei grundlegend andere jektes s. auch 111.5-6.
Zeichenkorrelate
Zeichen
Zeichenträger Bedeutung Referenzobjekt
Platon (ca. 400 v. Chr.) Name Laut Idee Sache
Aristoteles [Zeichen] Laut Empfindungen Ding, Sache
l(ca. 350 v. Chr.)
Stoiker (ca. 250 v. Chr.) [Zeichen] "'li·HxtVOV crTl!.latVOIU'VOV, Sache
MK10V
Boethius (ca. 500) [Wort] Laut Begriff Sache
(conceptus)
Bacon (1605) [Wort] Wort Begriff (notio) Sache
Leibniz (ca. 1700) [Zeichen] Charakter Konzept Sache Abb. 111.2.7: Synopse
Peirce (ca. 1900) Zeichen Repräsentamen lnterpretant Objekt einiger triadischer
Husserl ( 1900) Zeichen Ausdruck Bedeutung Sache Modelle des Zeichens
Ogden & Richards [Zeichen] Symbol Gedanke o. Referent
(1923) Referenz (s. auch Abb. 111.5.3;
Morris Zeichen Zeichenträger Signifikatum Denetaturn s. 111.5.2).
142 III. Zeichen und System
gny 1974: 1788). Nach dieser Definition besteht ein sehen zuverlässigen und unzuverlässigen Zeichen.
grundlegender Unterschied zwischen Prozessen der Nach dem Gesichtspunkt verschiedener Modalitäten
Indikation, bei denen Anzeichen Verwendung fin- der Referenz unterscheidet er zwischen singulären
den, und Prozessen der Signifikation oder Reprä- und allgemeinen Zeichen: Erstere haben nur ein De-
sentation, bei denen Zeichen verwendet werden. Im notat, letztere haben viele Denotate. Indikatoren,
Gegensatz zu dieser Auffassung von der essentiellen Deskriptoren und Namen sind nach dem Gesichts-
Differenz zwischen Zeichen und Anzeichen steht die punkt der Lokalisierung der Denotate in Zeit und
Auffassung von der Indexikalität als Fundament al- Raum unterschieden, während Designatoren Be-
ler Zeichen überhaupt. Hierzu siehe III.11.2.2. zeichnungen bestimmter Objekteigenschaften sind.
Aus der Geschichte der Semiotik stammen eini- 2.4 Ecos Dimensionen der Zeichentypologie
ge Zeichenklassifizierungen, deren Kriterium die Einen Überblick über die verschiedensten Ansätze
strukturelle Komplexität der Zeichen ist. So wird zur Klassifizierung von Zeichen gibt Eco (1973b:
u.a. zwischen einfachen und zusammengesetzten 3 7-77). Er gelangt dabei zu dem Schluß, daß das Pro-
oder primitiven und derivativen Zeichen unterschie- jekt einer Zeichentypologie einen radikalen Fehl-
den. Die Theorie der Kodes bietet einen systemati- schlag in der Geschichte der Semiotik bedeutet. An-
schen Rahmen für eine solche Typologie. Auf dieser stelle einer Typologie der Zeichen schlägt Eco selbst
Grundlage beruhen etwa die folgenden Zeichen- eine Typologie der Zeichenproduktion vor (Eco
klassen von Mulder & Hervey (1980: 176; vgl. 1976: 217ff.). Ihre Grundlage sind die folgenden vier
Hervey 1982: 199): einfache Zeichen, komplexe Modi der Zeichenproduktion: Zeichenerkennung
Zeichen ohne Gliederung (Artikulation), Zeichen (wie z.B. bei den Symptomen), Ostension (z.B. von
mit einer sowie Zeichen mit doppelter Gliederung Mustern), Repliken (Zeichen nach den Regeln eines
(s. VI.2.5.1). Kodes) und Inventionen (nichtkodierter Zeichen).
III.4 Realismus, Nominalismus und die Zeichen 145