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Geschichte 4/2019
WUB
Nr. 94, 24. Jg., 4. Quartal 2019 / Maria / EUR 11,30 / Österreich, Luxemburg: EUR 11,80 / SFR 19,- / E 14597 / ISSN 1431-2379 / ISBN 978-3-948219-41-3
Maria
Jüdisch – christlich – muslimisch
EURO 11,30
8 20 54
Maria im Neuen Testament – Die ersten Marienbilder, Gebete, Hymnen – Schwester im Glauben: Die Reformatoren
Gott erwählt eine Frau wie die Marienverehrung beginnt entdecken Maria neu
BASEL Ein Papyrus aus dem 3. Jh. Maggider damaligen Zeit. [...] Diese
wurde in Basel als ältester christlicher Brüder verbanden ihren christlichen
privater Brief identifiziert. Der Papyrus Glauben offensichtlich mühelos mit
P.Bas. 2.43 gehört zu einem Archiv mit dem Alltag als Mitglied der lokalen
etwa 1.000 Papyri, das vor mehr als 100 Oberschicht.“
Jahren in der Oase Fayum in Ägypten Die Entdeckung kann das Bild der-
gefunden wurde. Erst rund 400 Papy- Geschichte der ersten Christen verän-
ri davon sind übersetzt und veröffent- dern. Bislang werde vor allem von der
licht. Der Brief beschreibt ganz alltäg- Christenverfolgung berichtet und da-
liche Familienangelegenheiten und ist von, dass Christen den Kaiserkult ver-
doch einzigartig: Er überliefert wertvol- weigert hätten und deshalb wegen Ver-
le Einblicke in die Welt der ersten Chris- schwörung gegen den Staat angeklagt
ten im Römischen Reich, die aus keiner worden seien, so Hübner. Die bekann-
anderen historischen Quelle bekannt ten Quellen zum frühen Christentum
sind. Der Text konnte in die 230er-Jahre stammten vor allem aus der Feder von
nach Christus datiert werden und ist Bischöfen. „Danach stellt man sich
somit älter als alle bislang bekannten vor, dass sich die ersten Christen nur
schriftlichen christlichen Zeugnisse dem Gebet widmeten, allen Reichtum
aus dem römischen Ägypten. aufgaben, sich für den Märtyrertod
Das Schreiben zeigt, dass die dama- bereithielten und reihenweise vor die
ligen Christen am politischen Leben Löwen sprangen.“ Nun wird der Alltag
teilnahmen, reisten und Ländereien plastisch.
Der Papyrus P.Bas. 2.43 besaßen. Auch kulinarischen Freuden Dass der Absender des identifizier-
gehört zu einem Fund aus seien sie nicht abgeneigt gewesen, ten Briefes Christ ist, zeige sich am
Fayum in Ägypten. Ein sehr sagte Sabine Huebner, Professorin für Grußwort „Ich bete, dass es dir gut geht
altes christliches Zeugnis aus Alte Geschichte an der Universität Ba- – im Herrn“. Auch der Name „Paulos“
dem römischen Ägypten. sel. Sie hat den Papyrus erforscht. In deute darauf hin. Der Name sei zur
© Universität Basel
dem Brief bittet der Absender namens damaligen Zeit sehr selten gewesen
Arrianus seinen reisenden Bruder, und die Eltern hätten ihren Sohn um
„die beste Fischsoße“ mitzubringen, 200 wahrscheinlich nach dem Apostel
die er finden kann. „Fischsoße war das Paulus benannt. W (Universität Basel/wb)
Gehört Adonijahu!
JERUSALEM In Schuttresten beim auch dem Aushub von Ausgrabun-
Tempel fand eine israelische Volontä- gen, die 2013 beim sogenannten Ro-
rin ein unscheinbares Tonstück, das binsonbogen durchgeführt wurden.
sich jedoch als große Überraschung Dabei wurde nun das Siegel mit der
erwies. Die Inschrift „Adonijahu, der Adonijahu-Inschrift gefunden. Die
Verwalter des Königs“ verweist auf Inschrift könnte laut Bericht in Zu-
den ranghöchsten Minister am könig- sammenhang stehen mit einem 1870
lichen Hof. Eli Schukron, Archäologe von dem französischen Archäologen
der Israelischen Antikenbehörde, da- Charles Clermont-Ganneau entdeck-
tiert es auf das 7. Jh. vC. Das Tonsiegel ten Höhlengrab aus dem 7. Jh., bei
wurde demnach in der Zeit des Ersten dem ebenfalls die Inschrift „königli-
Tempels dazu benutzt, um wichtige cher Verwalter“ entziffert wurde. Die
Dokumente zu versiegeln. heute im Britischen Museum ausge-
Im „Davidsstadt-Siebeprojekt“ stellte beschädigte Inschrift des Gra-
werden seit Jahren Erdmassen ge- bes zeigt Teile eines Namens, der auf
reinigt und analysiert, die beim Bau denselben hebräischen Buchstaben
einer Moschee auf dem Haram as endet, wie das jetzt gefundene Siegel.
Sharif ausgehoben wurden. Seit ei- War es das Grab des Siegelinhabers? Siegel eines königlichen Verwalters
niger Zeit widmen sich die Forscher W (wub)
aus dem alten Jerusalem.
Fund im Negev
Unterwasser-Archäologie
Ägyptische Schätze
Jerusalem Archäologen haben bei Über dem Weingut fanden die Forscher
mahlsgemeinschaft sagen will,
einer privaten Grabung unter einem Überreste aus mamelukischer und os- braucht sehr starke Gründe.“
Wohnhaus im nordisraelischen Dorf manischer Zeit.
Miʼilja ein großes Weingut aus der Frühere archäologische Grabungen So der katholische Bischof von Lim-
Kreuzfahrerzeit gefunden. Die Kellerei in Miʼilja deuten auf eine Besiedlung burg, Dr. Georg Bätzing. Er ist zusam-
verfügte laut Bericht über zwei paral- seit der späten Bronzezeit hin. Das men mit seinem evangelischen Kolle-
lel verlaufende Tretböden, von denen heute von rund 3.200 melkitischen gen Martin Hein (Evangelische Kirche
der Traubensaft in eine große, in der (griechisch-katholischen) Christen be- von Kurhessen-Waldeck) Vorsitzender
Römerzeit in den Felsboden gehauene wohn te Dorf trug im Königreich Je- des seit 1946 existierenden „Ökume-
Grube abfloss. Es handelt sich dem- rusalem der Kreuzfahrer den Namen nischen Arbeitskreises“. Der ÖAK hat
nach um das einzige bekannte mittel- „Castellum Regis“. nun eine Stellungnahme veröffentlicht
alterliche Weingut mit doppeltem Tret- Die erste Nennung findet sich im mit dem Titel „Gemeinsam am Tisch
boden. Weingüter dieser Größe aus der Jahr 1160, als König Balduin III. Castel- des Herrn – ökumenische Perspekti-
Kreuzfahrerzeit seien bisher nicht be- lum Regis zusammen mit umliegenden ven bei der Feier von Abendmahl und
kannt, sagte Rabei Khamisy, leitender Siedlungen an einen Ritter namens Jo- Eucharistie“. Darin wird zum Ausdruck
Archäologe von der Universität Haifa. hannes von Haifa übertrug. W (Haaretz) gebracht, dass die „wechselseitige
Teilnahme an den Feiern von Abend-
mahl/Eucharistie in Achtung der je
anderen liturgischen Traditionen (...)
theologisch begründet“ ist.
Neues Weltkulturerbe geplant
Weg der Heiligen Familie „In den fünf Jahren seit ihrer
Vertreibung haben wir nie
Ägypten Das ägyptische Ministe-
rium für Altertümer macht auf den aufgehört, uns vorzustellen,
„Weg der Heiligen Familie“ auf- wie schön unsere Kirche sein
merksam. Er soll zum Weltkulturer-
be erklärt werden. Es ist zwar keine kann, wenn sie wieder herge-
archäologische Route, aber eine
mit langer Tradition: Die 25 Orte der stellt ist.“
Route beschreiben den Weg, den die In der irakischen Stadt Karakosch
Heilige Familie auf der Flucht nach ist am Fest Mariä Himmelfahrt eine
Ägypten zurückgelegt haben soll. Kirche wiedereröffnet und geweiht
An vielen dieser Orte stehen heute worden. Die Kirche Sankt Benjamin
Kloster oder Kirchen. Darunter sind und Sara wurde im Sommer 2014 von
unter anderem die Klöster im Wadi Terrormilizen des „Islamischen Staats“
Natrun, der „Baum der Jungfrau Ma- zerstört, nachdem sie die mehrheitlich
ria“ in einem Vorort von Kairo oder von Christen bewohnte Stadt erobert
die Kirche der Jungfrau Maria in der und alle Nichtmuslime vertrieben
Provinz Minya. Auch das Kloster von hatten, wie Vatican News weiter be-
Al Muharraq ist eine der Stationen, richtet. Demnach haben sich bislang
denn in dieser Gegend soll sich die rund 800 christliche Familien wieder
Heilige Familie der Tradition nach in Karakosch niedergelassen.
fast sechs Monate aufgehalten ha-
ben. Eine Karte der traditionellen
© wikimedia
Maria aus Nazaret ist eine faszinierende ben und ihre Aufnahme in den Himmel – und
Gestalt. Schon für die frühe Kirche wird sie im Koran erhält Maria einen herausragenden
als „Gottesmutter“ wichtig und an ihr zeigt Platz. Weltweit wird Maria zur Trösterin in Not.
sich, wie Gott ist: Er ist barmherzig, fordert In vielen Ländern wird sie mit Ritualen bunter
heraus. Gott offenbart für die Gläubigen am Lebensfreude verehrt. Wie wurde aus der jü-
Menschen Maria, was seine Liebe vermag. dischen Frau eine christliche Heilige und eine
Legenden entstehen um ihr Leben, ihr Ster- muslimische Erwählte?
Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Si- dass sie schwanger war – und nicht von und sie zur Frau nimmt. Batseba wird
mon; leben nicht seine Schwestern hier ihm. Das Gesetz hätte ihm das Recht durch König David in eine äußerst skan-
unter uns?“ (Mk 6,3). Die Leute aus sei- gegeben, sie dafür entweder steinigen dalöse Episode verwickelt. Denn David
nem Heimatdorf staunen über das, was zu lassen oder sich öffentlich von ihr zu lässt sie holen – als sie schwanger ist,
er tut, und über die Selbstgewissheit trennen. Josef hatte sich zu Letzterem schickt David ihren Mann Urija auf eine
dieses Mannes, den sie doch als Kind entschlossen – allerdings für eine Tren- Selbstmordmission in den Krieg, um die
gekannt haben. Und sie nehmen Anstoß nung „in aller Stille“, um seine Verlobte soeben Witwe gewordene Frau heiraten
an ihm. nicht öffentlich bloßzustellen. Der Engel zu können (2 Sam 11).
Noch größer ist das Entsetzen bei Jesu bringt ihn nun davon ab, indem er ihm Welchen Bezug hat das alles zu Maria?
Familie. Als Jesus heilt und predigt und enthüllt, dass dieses Kind vom Heiligen Wer das liest und um die Geschichten
die Menschen sich um ihn sammeln, Geist ist. Maria steht jetzt unter dem dieser vier Frauen weiß, muss staunen,
schreitet seine Familie ein und will ihn Schutz dieses Mannes, ohne den sie in die Muttergottes hier in die Aura des
nach Hause zurückholen: „Er ist von der galiläischen Gesellschaft des 1. Jh. Skandalösen gerückt zu sehen. Anderer-
Sinnen“ (Mk 3,21). Gehört auch Maria zu einer Ausgestoßenen geworden wäre. seits respektiert Israel diese vier Frauen
und ehrt sie besonders, weil Gott durch
sie seine Gnade an seinem auserwählten
Volk geübt hat. Maria gleicht ihnen dar-
Das vierte Evangelium, Johannes, nennt Maria nicht in. Maria ist ihre Schwester. Genau wie
mit Namen, sondern nur „die Mutter Jesu“. Sie wird die Frauen im Stammbaum hat auch
Maria die Gebote konventioneller Se-
zu einer symbolischen Gestalt des Glaubens xualität gebrochen; ihr Sohn Jesus wird
unehelich zur Welt kommen, gegen die
Gesetze der Tora. Aber wie auch die vier
zu der Abordnung? Auf jeden Fall ist Dieser Episode geht bei Matthäus ein Frauen im Stammbaum Jesu ist Maria
das wenig später so, als seine Zuhörer langer Stammbaum Jesu voraus (Mt 1,1- eine Tochter Israels, mit der Gott sein
ihm sagen, „Siehe, deine Mutter und 17), und hier wird Maria bereits einmal Werk erfüllt: die Errettung seines Vol-
deine Brüder stehen draußen und su- erwähnt: „Jakob zeugte den Josef, den kes.
chen dich.“ Jesus weist sie zurück: „Wer Mann Marias; von ihr wurde Jesus gebo-
ist meine Mutter und wer sind meine ren, der der Christus genannt wird“ (Mt
Brüder? [...] Wer den Willen Gottes tut, 1,16). Überraschend ist diese Nennung, „Die Mutter Jesu“
der ist für mich Bruder und Schwester wenn man bedenkt, dass im alten Israel Das vierte Evangelium, Johannes, nennt
und Mutter“ (Mk 3,32-35). Jesus ersetzt die Abstammung nach der männlichen Maria nicht mit Namen, sondern nur
hier die biologische Familie durch eine Linie erzählt wurde. Durch Männer „die Mutter Jesu“. Zu einer symbolischen
Familie der inneren Verbindung, eine pflanzt sich der Segen Abrahams fort, Gestalt des Glaubens stilisiert tritt sie
Wahlverwandtschaft, die familia dei und durch Männer besteht die Familie nur zweimal auf, das erste Mal gleich zu
(„Familie Gottes“). Blutsbande, die in fort. Dennoch finden sich im Stamm- Anfang des Johannesevangeliums, auf
den Gesellschaften des Altertums über baum Jesu bei Matthäus noch vier an- der Hochzeit zu Kana (Joh 2). Sie ist es,
jeder anderen Bindung stehen, werden dere Frauen: Tamar, Rut, Rahab und die Jesus sagt, den Gästen sei der Wein
relativiert; die Identität des Einzelnen „die Frau des Urija“ (Batseba). Aber was ausgegangen. „Was willst du von mir,
hängt nicht mehr allein von der Clan- das für Frauen sind! Anstelle von Mat- Frau?“, bekommt sie zu hören, „Meine
zugehörigkeit ab. Wer das Wort Gottes riarchinnen wie Sarah, Judit oder Ester Stunde ist noch nicht gekommen“ (Joh
hört, gewinnt eine neue Zugehörigkeit; lesen wir skandalumwitterte Namen. 2,4). Diese Zurückweisung klingt grob,
das Wort stiftet eine Gemeinschaft, die Tamar verkleidet sich als Prostituierte, ist es aber nicht. Ja, Maria wird hier eine
aus den Rollen befreit, die jedem Men- um ihren Schwiegervater Juda zu ver- neue Rolle zugewiesen – sie ist eine
schen durch die patriarchale Ordnung führen und von ihm ein Kind zu emp- „Frau“, nicht mehr die Mutter, und hat
vorgeschrieben sind. fangen (Gen 38). Rahab ist die berühmte keine elterlichen Rechte mehr an Jesus.
Auch bei Matthäus findet sich Über- Prostituierte und Herbergswirtin aus Jesus will hier vielmehr mit Nachdruck
raschendes. Wie Lukas hat auch das Jericho, die lügt, um die beiden Spione sagen, dass der Zeitplan seines Wirkens
Matthäusevangelium eine Kindheits- aus Israel zu schützen, die gekommen auf Erden von Gott allein bestimmt wird;
geschichte Jesu (Mt 1–2), aber Hauptfi- sind, um die Stadt vor der „Landnahme“ die Stunde seiner Offenbarung als Mes-
gur ist nicht Maria, sondern Josef. Ihm auszuspähen (Ri 2 und 6); die Rabbiner sias ist noch nicht da, denn sie wird mit
erscheint hier im Traum der Engel des haben sie später zu einem regelrechten dem Drama des Kreuzes zusammenfal-
Herrn und verkündigt die wunderbare Sexsymbol, zu einer der schönsten Frau- len. Maria, die als Mutter das Schicksal
Geburt (Mt 1,18-25). Dieser Mann, den en der Vergangenheit stilisiert. Die Moa- ihres Kindes vorausahnt, will dem, was
der Evangelist „gerecht“ nennt, hatte biterin Rut schlüpft des Nachts unter die noch kommen wird, vorgreifen, und
Maria verstoßen wollen, als er erfuhr, Decke des Boas, der ihr Protektor wird daraufhin verdeutlicht Jesus ihr gegen-
en und den Brüdern Jesu als Mitglied einander anvertraut werden: Maria steht für die Glaubensbeziehung zu
der ersten Jerusalemer Gemeinde er- Christus und der Jünger für die Lehre, die sich verbreiten wird.
wähnt, auf die sich an Pfingsten der Tafel vom Polyptychon der Compagnia della Misericordia in Sansepolcro
Heilige Geist ergießt (Apg 1,14). Wenn (Toskana), Pinacoteca Comunale.
man dem historischen Gehalt zumisst,
dann haben sich Geschwister und
I
n der Zeit, in der die Evangelien die Blüte. Herodes Antipas, der Sohn des
Verkündigung des Engels Gabriel Herodes d. Gr., war 4 vC zum Tetrarchen
an die junge Maria erzählen, ist die („Vierfürsten“) von Galiläa ernannt wor-
Stadt Nazaret kaum mehr als ein für da- den und wählte sie als seine Hauptstadt.
malige Verhältnisse mittelgroßes Dorf. Nazaret ging dank der Heiligen Fa-
Schätzungen gehen von wenigen Hun- milie in die Geschichte ein und profi-
© unten: © Ryszard Parys/123rf.com; oben: Terre des Hommes
dert Einwohnern aus. Es liegt an den tierte ab dem 4. Jh. nC vom religiösen
Hängen Untergaliläas, auf halbem Weg Tourismus, der unter Kaiser Konstantin
zwischen dem Mittelmeer und dem See und seinen Nachfolgern entstand. Die
Gennesaret – ein Dorf ohne Geschich- Suche nach den Überresten aus der
ten und ohne Vergangenheit. Wenige Zeit Marias und Josefs beschäftigt die
verstreute Überreste zeugen davon, dass archäologische Forschung bis in die Ge-
in der Bronze- und Eisenzeit Menschen genwart. 1955 bot der Bau der heutigen
dort lebten, aber man sucht in der He- Verkündigungskirche anstelle einer zu
bräischen Bibel vergeblich nach dem klein gewordenen Kirche aus dem 18. Schriftzeichen im Putz: Die
Namen Nazaret. Die Entwicklung der Jh. eine einzigartige Gelegenheit, das Wörter chaire Maria, „Gegrüßet seist
Siedlung im 1. Jh. ist auf die Nähe zu Erdreich unter den Fundamenten zu un- du Maria“, werden ins 3. Jh. datiert.
Sepphoris, 6 km nördlich, zurückzu- tersuchen. Der Franziskaner Bellarmino
führen, einer jüdischen Stadt in voller Bagatti führte systematische Ausgra-
W
ie mag das Leben einer galiläischen zur Kleidung der rabbinischen Epoche lässt ver-
Jüdin im 1. Jh. nC ausgesehen haben? muten, dass Maria in eine Tunika gekleidet war,
Die Mischna hat im Traktat Ketubbot deren Faltenwurf bis auf die Knöchel reichte,
5,5 festgehalten, welche Pflichten eine jüdische und sie sich, wenn sie ausging, zusätzlich in ei-
Ehefrau in rabbinischer Zeit, im 2./3. Jh., hatte. nen weiten Mantel hüllte. Die Tuniken waren in
Da die Mischna ältere Traditionen gesammelt der Regel aus Leinen gefertigt, das aus Galiläa
hat, können wir auf die „offiziellen“ gesellschaft- selbst stammte, während Mäntel aus judäischer
lichen Vorgaben und Erwartungen an eine gali- Wolle gewoben waren. Geschmückt haben dürf-
läische Jüdin des 1. Jh. schließen – wie sich aber ten sich zumindest einige Frauen mit Nasen-
je der reale Alltag für Frauen gestaltete, ist damit und Ohrringen, Halsketten und Fingerringen,
natürlich nicht gesagt. Eine Ehefrau sollte dem- wie sie im Traktat Sota der Mischna beschrie-
nach ihrem Mann und seiner Familie den Haus- ben werden.
halt führen – unter anderem kochen, waschen Es galt, dass Männer auf den Markt gingen
und Kinder stillen. Zu ihren Aufgaben gehörte und Frauen das Haus in Begleitung eines Man-
weiterhin, den Herd in Gang zu halten, Wolle nes verlassen sollten. Der Sozialstatus einer Frau
und Flachs zu spinnen (nach rabbinischer Vor- hing also für die allermeisten Frauen von ihrem
Mann ab – wenn es auch Belege für erwerbstäti-
ge Frauen gibt und Frauen in der Realität ebenso
in Bereichen jenseits des Haushalts arbeiteten.
Wie viele Frauen die Synagoge In einer kleinen Siedlung wie Nazaret musste
besuchten oder toragelehrt wa- sich Josef, der Vater Jesu, als Bauhandwerker
vielleicht mitunter als Tagelöhner verdingen
ren, bleibt unklar – und denkbar ist, dass solche Familien im Be-
trieb mitarbeiteten. Laut Mk 6 hatte Maria neben
Jesus vier weitere Söhne und mehrere Töchter.
schrift sollte beides nicht vermischt werden), Konnte Maria, hebr. Mirjam, von Nazaret lesen
Stoffe zu färben und Kleidung zu nähen. Die und schreiben? Jüdinnen im damaligen Palästi-
Küchengerätschaften – Gefäße und Töpfe aus na lernten nicht in einem institutionalisierten
Ton, Flaschen aus Glas und Becher – mussten Rahmen; was sie an Bildung erhielten, kam (laut
nach rituellen Reinheitsvorschriften gehand- Mischna) von ihrem Mann beziehungsweise – in
habt werden. Überreste dieser Alltagskeramik bestimmten Fällen – vom Besuch der Synagoge.
wurden bei archäologischen Ausgrabungen in Die israelischen Historiker Shmuel Safrai und
ganz Galiläa entdeckt. Zudem sollte eine Frau Lee Levine haben in Studien über das antike
darauf achten, dass keine Schädlinge die Ernte Judentum gezeigt, dass in dieser Epoche auch
befielen und die Grundnahrungsmittel sicher Frauen am Gottesdienst teilnehmen konnten,
aufbewahren – Gerste und Weizen für das Fla- um die Toralesung und die Predigt des Rabbi zu
denbrot, Stockfisch, Gemüse, Zwiebeln, Feigen, hören – aber wie häufig das geschah und wie
Granatäpfel und Oliven, die Produkte der Schaf- viele Frauen tatsächlich die Synagoge besuch-
und Ziegenhaltung. Im Gegenzug mussten Män- ten oder toragelehrt waren, bleibt unklar.
ner Unterkunft, Kleidung, Nahrung und Unter- Vermutlich hat allerdings die Volksfrömmig-
halt bereitstellen. Die schriftliche Überlieferung keit, wie sie die pharisäischen Schulen verbrei-
teten, auch Jesu Familie beeinflusst. Sein Vater lich nicht von den damals üblichen jüdischen
Josef wird zumindest im Matthäusevangelium als Gebräuchen unterschieden, deren Ablauf wir re-
vor dem Gesetz „Gerechter“ (dikaíos, Mt 1,19) be- konstruieren können. W
zeichnet. Aus den Quellen, die uns zur Verfügung
stehen, geht hervor, dass jüdische Frauen zur Zeit
Marias nach den Mahlzeiten das Dankgebet spra- Dan Jaffé ist französisch-
© Library of Congress Public Domain
D
ie Mutter Jesu ist der Aufmerk- sche Autoren aufgestellte These, Jesus Versionen in unterschiedlichen Spra-
samkeit heutiger jüdischer sei ein uneheliches Kind Marias und ei- chen populär.
Historiker weitgehend entgan- nes Soldaten namens Panthera/Pande- In einer Version lesen wir, wie Maria,
gen. Die einzige Ausnahme ist Schalom ra gewesen. Eine weitere Talmudstelle die Mutter Jesu, während sie allein zu
Ben-Chorin, der in seinem Werk Mutter (Traktat Sabbath 104b) erwähnt Maria Hause ist, von einem Nachbarn miss-
Mirjam. Maria in jüdischer Sicht (1971), Magdalena und Maria von Nazaret ne- braucht wird, der sich – von ihr uner-
das christliche Marienbild kritisch be- beneinander auf eine Weise, die beiden kannt – als ihr Ehemann ausgibt. Um die
leuchtet und seine eigene Sicht auf die Prostitution und Ehebruch unterstellt. Sache noch schlimmer zu machen, hat
Person Mirjam darstellt. Er merkt zu Aus diesen legendenhaften Erzählun- er bereits zuvor, während ihrer Mens-
Recht an, wie beschränkt unser Wissen gen spricht das konfliktreiche Verhält- truation, sexuellen Kontakt zu ihr ge-
über die „Mutter Mirjam von Nazaret“ nis der Religionsgemeinschaften. Die habt, was das mosaische Gesetz streng
ist. Man könne nur festhalten, dass die- Bezeichnung Marias als Ehebreche- verbietet. Als Maria ihren richtigen Ehe-
se jüdische Frau ein Leben geführt hat, rin mit unehelichem Sohn sollte das
über das wir fast nichts wissen und das Christentum als Religion diskreditieren
mit der Hinrichtung ihres Sohnes von – und natürlich die jungfräuliche Zeu- Im Talmud finden sich
Leiden geprägt war. Ihr Tod blieb völlig gung und Geburt Jesu durch die reine
unbemerkt, weil er in keiner bekannten Jungfrau Maria bestreiten, die im Chris- nur kurze Passagen aus
zeitgenössischen Quelle erwähnt wird. tentum dieser Zeit große Bedeutung er- dem 5./6. Jh. über
Erst später, so Ben-Chorin, sei sie in langt hatte. Und ganz sicherlich stamm-
einen strahlenden theologischen Hei- te Jesus nach diesen Erzählungen nicht Maria von Nazaret
ligenschein gehüllt worden, der so gar vom gotterwählten König David ab,
nicht zu ihr passe – sie habe nicht ah- sondern von einem hergelaufenen römi-
nen können, welche Lehrsätze die Ma- schen Soldaten! Wie sollte ein solcher mann (fälschlicherweise) wegen dieses
riologie post mortem über sie aufstellen Mann, dem im Talmud an anderer Stel- Verstoßes anklagt, so eine Fassung der
würde! le noch Götzendienst, Falschprophetie Toledot, sei er nach Babylon geflüchtet.
Im Talmud findet sich nicht viel mehr und Zauberei vorgeworfen wurde, eine Jesus sei die Frucht der unehelichen Be-
über Maria von Nazaret. Es sind kurze göttliche Legitimation haben oder sogar ziehung gewesen und habe sich als Kind
Passagen über die Mutter Jesu, die einer der Messias sein?! besonders eifrig mit dem Studium der
relativ späten Text redaktion aus dem Tora befasst – seine Lehrer aber verach-
5./6. Jh. entstammen. Sie stellen eher die tet. Nach anderen Fassungen soll Maria
jüdische Haltung dieser Zeit zum Chris- Die jüdische Polemik selbst die ehebrecherische Beziehung
tentum dar – also zu Maria als christ- Toledot Jeschu begonnen haben, und Jesus habe als
lichem Symbol – als zur historischen In diesem Kontext müssen wir auch die Junge ungewöhnliche Talente beim Ler-
Maria. Die erste dieser Passagen (Misch- bekannte jüdische Polemik Toledot Je- nen gezeigt. Maria wird hier jedenfalls
na, Traktat Sanhedrin 106a) schildert schu („Geschichte Jesu“, eine Schriften- wenig schmeichelhaft gezeichnet.
Maria als Frau adliger Abstammung, sammlung zum Leben Jesu) sehen, eine Natürlich sind diese Legendensamm-
die einen Zimmermann geheiratet und Art Gegenevangelium, das mindestens lungen polemisch gemeint und weit
anschließend Ehebruch begangen hat; bis auf die Zeit des ersten Kreuzzugs entfernt von der historischen Wahrheit.
der Ursprung dieser Schriftstelle ist die oder sogar bis auf die Spätantike zurück- Dass eine jüdische Quelle die Geschichte
schon früh durch jüdische und heidni- geht. Im Mittelalter waren verschiedene Marias derart umschreibt, lässt sich auf
vielleicht ging es aber auch um eine durch Christen wieder gegen Juden im Talmud im Kapitel „Jesus und Maria im Judentum“),
Reaktion auf die Verfolgungen und gerichtet wurden. W Vandenhoeck & Ruprecht 2009, s. Buchtipps S. 59
Nachteile für die jüdischen Gemein- • Schalom Ben Chorin, Mutter Mirjam, dtv 1971 und
den durch die politisch nun mäch- Dan Jaffé – Angaben zum Autor s. S. 15. spätere Auflagen.
1. Eine jüdische Frau bringt Jesus zur Welt. Jene, die an ihn sondern auch eine heilsgeschichtlich-personale Kontinuität zu
glauben, bekennen ihn als Christus und Sohn Gottes. Das betonen: Maria, die als fromme Jüdin an Gottes Heilswollen
Judentum kann diese Deutung nicht nachvollziehen. Wie mitwirkt, sichert die bleibende Bindung an Israel. Ohne diese
geht die frühe Kirche mit dem Jüdisch-Sein der Maria um? Bindung kann die Gemeinde Jesu Christi nach Lukas nicht sein.
Dieses Wissen um das Jüdisch-Sein Marias verblasst im
D
ie Mutter Jesu wird im Lukasevangelium in die Heilsge- Laufe der Zeit. In dem Maße, in dem die Figur der Maria
meinschaft Israels eingebunden. In den ersten beiden in die christologischen Debatten der Spätantike hineinge-
Kapiteln wird das zu einem erzählerisch-biografischen nommen wird, wird sie der Geschichte und der biblischen
Motiv ausgebaut: Maria begegnet als eine der großen Frau- Erzählung entrückt.
en der jüdischen Geschichte – wie Mirjam, die Schwester des Ein guter Beleg dafür ist die Entsprechung von Eva und Maria
Moses, Debora und Hanna. Im Magnificat (Lk 1,47-55) legt sie im Rahmen der typologischen Bibelauslegung, in der Figuren,
nicht nur die Heilsgeschichte und bedrängte Gegenwart Isra- Dinge, Ereignisse aus dem AT in Bezug zum NT gesetzt werden.
els aus und singt das Lob Gottes, sondern formuliert auch aus Das Frauenpaar ist bestimmt durch die Sünde: Kommt durch
der Überlieferung heraus ein Bekenntnis an den einzig wahren die eine die Sünde in die Welt, so wird durch die andere der
Gott. Im zweiten Kapitel des Lukasevangeliums wird dann die geboren, der von der Sünde erlöst.
fromme Gesetzeserfüllung der Maria als Selbstverständlichkeit
ihrer Praxis gezeigt. Lk 1,21-22, Verse, die von der Beschneidung 2. Auf welche Weise gehen Marienfrömmigkeit und Juden-
Jesu und der kultischen Reintegration Marias handeln, belegen feindschaft dann Hand in Hand?
diesen Sachverhalt fast beiläufig. Dieses Motiv der frommen Jü-
I
din wird im Protevangelium des Jakobus aus dem 2. Jh. noch- nsofern die Marienfrömmigkeit und die theologische Lehre
mals überhöht: Maria verbringt sogar ihre Kindheit und Jugend von der Allerheiligsten Jungfrau Maria sich in einem theolo-
im Tempel „... und das ganze Haus Israel gewann sie lieb ...“. gischen Kontext entwickelte und durchsetzte, der durch die
Nun ist die Selbstverständlichkeit, mit der von der jüdischen Irrlehre des Antijudaismus infiziert war, ist es nicht verwunder-
Maria gesprochen wird, nicht allein biografisch-geschichtlich lich, dass auch die Jüdin aus Nazaret in dieses Geflecht aufge-
begründet. Für die, die Jesus von Nazaret als den Christus nommen wurde. Ein kleines Beispiel: In einer der Legenden
glaubten, war es ganz klar und eindeutig, dass der Retter über die Entschlafung Mariens wird von einem Juden er-
nur aus Israel kommen konnte, mithin jüdisch sein musste zählt, der die Bahre der Verstorbenen aus Neid und Miss-
wie seine ganze Familie auch. Dabei handelte es sich eben gunst umstoßen will (s. Abb. S. 31). Sogleich werden ihm von
nicht um eine Zufälligkeit im Lauf der Geschichte, sondern um Engeln die Hände abgehackt. Es liegt hier das bekannte Motiv
eine im Handeln Gottes mit und in Israel angelegte Heilsnot- des Antijudaismus vor: Der ungläubige Jude als Zeuge des von
wendigkeit. Dies gilt nicht zuletzt für Gal 4,4, einen Vers der Christen Geglaubten. Dass Maria und die Apostel ebenfalls Ju-
gleichsam eine Kurzformel des Sachverhalts enthält: „... gebo- den sind, spielt in diesen Legenden keine Rolle.
ren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt ...“. Nur in diesem Eine bemerkenswerte Uneindeutigkeit findet sich bei Ambro-
Kontext konnten sich die Glaubenspraxis und das Glaubens- sius von Mailand (339–397), dessen Bedeutung für die mariani-
wissen um Jesus von Nazaret überhaupt entwickeln und in sche Frömmigkeit in der lateinischen Kirche außer Frage steht.
ständigem Bedenken der Heiligen Schriften gedeutet und ver- Zugleich aber kann er sich einer antijüdischen Deutung Marias
sprachlicht werden. Damit gewinnt die geschichtliche Vorgabe nicht enthalten, und zwar im Kontext der Perikope von der wah-
zugleich eine hohe Bedeutung für die Theologie. Das lässt sich ren Familie Jesu (Mk 3,20-21.31-35; vgl. Mt 12,46-50; Lk 8,19-21): Er
wiederum im lukanischen Werk zeigen. Nach Apg 1,14 gehörte sieht in der Familie Jesu das Judentum verkörpert, das den Glau-
Maria, die Mutter Jesu, zu der kleinen Gruppe derer, die Jesus ben an Jesus nicht angenommen hat. Maria steht dabei für die
und seiner Verkündigung nach Tod und Auferstehung glaub- ungläubige Synagoge. Hier zeigt sich, wie das Jüdischsein Marias
ten. Lukas gelingt es durch die Nennung der Mutter nicht nur, in eine negative Deutung umschlagen kann und der Antijuda-
eine Anknüpfung an den Anfang des Evangeliums herzustellen, ismus sich auch der Deutung einer positiven Figur bemächtigt.
In dem Maße, in dem die Marienfrömmigkeit wuchs, nah spielt hat, so ist nicht zu bestreiten, dass sie für die Verleum-
men auch antijüdische Legenden zu, die meist von der dungen und aggressives Handeln gegen Juden instrumenta-
Schändung eines Marienheiligtums, eines Bildes der Gottes- lisiert werden konnte und, wenn man sich auf einschlägigen
mutter oder dergleichen erzählten und zum festen Bestand Seiten im Netz umsieht, heute noch gebraucht wird. Daher ist
mittelalterlicher Marienfrömmigkeit wurden. Dass sich diese auch die marianische Frömmigkeit notwendigerweise in die
Vorstellung auch politisch und räuberisch nutzen ließ, zeigt „Reinigung des Gedächtnisses“ (Johannes Paul II.) von den Ver-
der Fall der angeblichen Schändung eines Marienbildes in Man- heerungen des Antijudaismus hineinzunehmen, um der Ehre
tua im Jahre 1495; nachdem man einen Juden seines Besitzes und der Verehrung der Jüdin aus Nazaret, der Allerheiligsten
und Vermögens beraubt hatte, wurde damit der Bau der Kirche Jungfrau Maria, willen.
Santa Maria della Vittoria finanziert. Der Markgraf von Mantua,
Francesco II. Gonzaga, hatte Maria in einer kriegerischen Aus- 3. Kann man die „jüdische“ und die „christliche“ Maria
einandersetzung den Bau einer Kirche gelobt; die Erfüllung des wieder zusammenführen?
Gelöbnisses kam ihm auf Kosten anderer recht preiswert.
F
Die Verbindung von Pogromen, Ermordung und Ausplünde- olgt man der Linie, die mit dem Konzil von Ephesus 431
rungen von Juden und von Kirchen, die Maria geweiht waren, mit der Anerkennung des Titels „Gottesgebärerin“ be-
stellt ein eigenes Feld der Judenfeindschaft vom 14. Jh. bis gann und 1950 ihren (vorläufigen?) Abschluss mit dem
zum 16. Jh. dar, so u. a. in Nürnberg (Frauenkirche), Regens- Dogma der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel fand,
burg (Frauenkirche) und Bamberg. Der Ablauf war fast immer wird man die Frage eindeutig mit Nein beantworten müssen.
gleich: Um an das gesamte Eigentum, einschließlich Häuser Denn die kirchlichen Lehren haben sich in vielfachen Formen in
und Grundstücke, der jüdischen Bewohner zu kommen, insze- der Praxis der Kirchen, nicht zuletzt der römisch-katholischen,
nierte man mittels irgendwelcher Verleumdungen und zumeist ausgedrückt. Viele der Katholikinnen und Katholiken sind in
auch der Zusicherung eines materiellen Gewinns ein Pogrom dieser Welt der marianischen Frömmigkeit beheimatet und le-
und eignete sich nach der Ermordung und/oder Vertreibung ben in ihr. Sie gehört nicht in geringem Maße zu dem, was den
der Juden deren Besitz an. Die Synagogen wurden abgerissen Katholizismus in vielen Regionen und Kulturen lebensberei-
© oben: By Titian, CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org; unten: Bernd Wannenmacher
und an ihrer Stelle Marienkirchen errichtet oder die Syna- chernd macht, ja, das Leben mit Freude begleitet. Insofern hier
gogen wurden in Marienkirchen umgewandelt (Bamberg). eine vertiefte Anbindung an die neutestamentlichen Erzählun-
Die Gewaltakte wurden durch zahlreiche Publikationen ver- gen mit den ihnen innewohnenden Verweisen auf die anderen
herrlicht; zu ihrer Rechtfertigung wurde angegeben, man habe großen Frauengestalten der Bibel gelänge, wäre schon viel ge-
es zur Ehre Mariä getan oder man habe sich im Sinne Mariä für wonnen. Und auf diesem Weg könnte auch eine Annäherung
die Kreuzigung ihres Sohnes gerächt. an das Bild der jungen jüdischen Frau aus Nazaret gelingen,
Wer nun meint, dieser Missbrauch der Mutter Jesu sei nur in die auf einzigartige Weise erlebte, was es heißt, sich auf Gott
längst vergangenen Zeiten zu finden, wird sich angesichts des einzulassen und sich auf ihn zu verlassen. Dass das nicht nur
vergangenen Jahrhunderts eines Schlechteren belehren lassen Freude und Herrlichkeit sein kann, daran erinnert das Wort aus
müssen. Im Jahr 1943, als von den Nazibanden die Töchter und Lk 2,25: „... und deine Seele wird ein Schwert durchdringen ...“ .
Söhne Zions ohne Gnade ermordet wurden, „belegte“ der Tü-
binger katholische Theologe Karl Adam (1876–1968), den einige Prof. Dr. Rainer Kampling ist Professor für Bibli-
für einen großen Theologen halten, mithilfe des Dogmas von sche Theologie/Neues Testament an der FU Berlin
der Unbefleckten Empfängnis, dass Maria keine Jüdin, son- und Verbundkoordinator des Selma Stern Zentrum
für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Er forscht
dern „eine überjüdische Gestalt“ ist. Für diese theologische
u. a. zum historischen und theologischen Verhältnis
Pornografie gab es keine kirchlichen Lehrbeanstandungen. Es von Kirche und Israel. Zum Thema hat er einen
war sag- und schreibbar. weiterführenden Band herausgegeben (mit J. Heil):
Auch wenn die marianische Frömmigkeit ohne Zweifel in der Maria – Tochter Sion? Mariologie, Marienfrömmig-
Geschichte der Judenfeindschaft nur eine geringere Rolle ge- keit und Judenfeindschaft, Paderborn 2001.
„Strahlende Lampe“
„Schrifttafel, die uns das Gesetz bringt“
„Wahre Bundeslade“
„Überaus göttliches Buch“
„Trösterin der ganzen Welt“
Abb. 1
Hymnische Anreden, die der Theologe und Dichter
Ephräm der Syrer im 4. Jh. für Maria formuliert
Die Jungfrau mit dem Kind, Malerei aus dem Rabbula-Evangeliar (mit
insgesamt 292 Folios), Syrien, 6. Jh.
Ein frühes Ganzfigurenporträt unter einer Arkade aus geschmückten Säulen,
die von Pfauen gekrönt ist. Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz.
U
m die Mitte des 5. Jh. wird die Gestalt Ma- einer theotókos, den die Konzilien von Ephesus
rias fest in der christlichen Frömmigkeit und Chalzedon im 5. Jh. für Maria bestätigen
und Liturgie verankert: Die Konzilien und der eine so große Wirkungsgeschichte hat,
von Ephesus (431) und Chalzedon (451) hatten stammt also mindestens schon aus dieser Zeit,
Marias entscheidende Rolle bei der Inkarnation aus dem 3. Jh. Im 4. Jh. ist er jedenfalls schon
Maria wird verbindlich
des Messias formuliert, sie trug nun für die Chris- üblich. Die kappadokischen Kirchenväter Basi-
als Gottesgebärerin,
tenheit den Titel theotókos, „Gottesgebärerin“ lios von Cäsarea, Gregor von Nazianz und Gre-
theotókos, bestimmt
(s. Spalte rechts). Relativ spät also entsteht die gor von Nyssa erwähnen Maria als theotókos
Marienverehrung, zumindest im Vergleich mit in ihren Schriften zur göttlichen und mensch- ... auf dem Konzil von
der Verehrung vieler Heiliger, die sich um deren lichen Doppelnatur Christi. Einen Widerhall Ephesus (431):
Reliquien schon im 4. Jh. im ganzen christlichen finden wir auch bei Kaiser Julian Apostata (re- „Wer nicht bekennt,
Orient bildet. Doch speist sich die Marienvereh- gierte 361–363 und wollte die heidnischen Göt- dass der Emmanuel in
rung auch aus älteren Schriften und schon be- terkulte wieder flächendeckend durchsetzen), Wahrheit Gott und die
stehenden Ritualen und Verehrungspraktiken. der sich darüber beklagt, dass seine Zeitgenos- heilige Jungfrau deshalb
Da wäre zunächst das Protevangelium des Ja- sen Maria hartnäckig als theotókos bezeichnen. Gottesgebärerin ist, weil
sie das fleischgewordene,
kobus (Protevangelium = „Vorevangelium“), ein
aus Gott entstammte
griechischer Text aus der 2. Hälfte des 2. Jh. Der
Gesungene Poesie Wort aus dem Fleische
Titel sagt nichts über den Inhalt aus, denn die
nach geboren hat, der sei
Schrift schildert hauptsächlich das Leben der Ein wenig weiter östlich entsteht zur selben Zeit ausgeschlossen.“
Maria von ihrer eigenen Geburt bis zur Geburt das Werk des großen Theologen und Hymnen-
Christi. Diese erste Marienvita, die sehr beredt dichters Ephräm der Syrer (ca. 306 in Nisibis im ... und auf dem Konzil von
das Schweigen der Evangelien über Leben und heutigen Irak geboren und 373 in Edessa, heute Chalzedon (451):
Sterben der Maria auffüllt, steht am Ursprung Şanlıurfa im Südosten der Türkei, gestorben). „Vor aller Zeit wurde er
der Marienfrömmigkeit und hat zahlreichen li- Ephräm schreibt in syrischer Sprache; zu seinen aus dem Vater gezeugt sei-
turgischen, hagiografischen und auch apokry- Dichtungen zählen auch zahlreiche Gebete an ner Gottheit nach, in den
phen Schriften, die in der Folge Maria gewidmet Maria. In ihnen verleiht er ihr jene Beinamen, letzten Tagen aber wurde
derselbe für uns und um
wurden, als Grundlage gedient. die durch die ostkirchliche Liturgie bis heute
unseres Heiles willen
Ein weiterer Text aus der 2. Hälfte des 3. Jh. weitergegeben werden:
aus Maria, der Jungfrau,
stammt aus Ägypten und ist ein Gebet an die „O Maria, unsere Fürbitterin“, „O Unbefleckte
der Gottesgebärerin, der
Maria theotókos („die Gottesgebärerin“, die und Jungfräuliche Muttergottes“, „Königin der Menschheit geboren.“
Muttergottes) mit dem Titel „Unter deinem Welt“, „Hoffnung der Verlassenen“ – und viele
Schutze“. Dieser Text, in dem Maria als Be- weitere (s. links).
schützerin angerufen wird, wurde 1917 in der In unzähligen Variationen bilden diese Lob-
bedeutenden Papyrussammlung der John Ry- preisungen Marias Stoff für das Gewebe der Ma-
lands Library in Manchester entdeckt. Der Titel rienhymnen und sind ein Grund dafür, dass die
zaret nach Betlehem niedergelassen haben soll, doros Anagnostes (ca. 500–550) findet, der dazu
Ruinen der
Kathisma-Kirche
Betlehem
© Beide: By ינדריה רמתcommons.wikimedia.org; Karte: Google Earth 2019 Digital Globe
Geburtskirche
Einer der unscheinbarsten und den Ölbergkirchen und Betlehem Teil der ches Heiligtum, in dem die Gebetszeiten
zugleich wichtigsten Marienverehrungs- Pilgerroute, heute erscheint sie in keinem aufgeteilt waren. Eine Mosaikfläche zeigt
orte des Heiligen Landes: die Kathisma- Reiseführer. Allerdings wurde die Kirche eine Dattelpalme. Nach dem apokryphen
Kirche. Auf den Stein in der Mitte soll auch erst 1995 beim Bau der Straße Pseudo-Matthäusevangelium aus dem
sich Maria hochschwanger zum Ausruhen entdeckt und nicht zum Besuch herge- 5. Jh. beugte sich eine Dattelpalme auf
gesetzt haben, als sie mit Josef auf dem richtet. wundersame Weise herab, um Maria
Weg nach Betlehem hier vorbeikam. Vermutlich war sie sogar Inspiration für bei ihrer Rast Schatten und Früchte zu
Über dem Felsbrocken wurde 456 nC Omaijadenkalif Abd al-Malik und Vorbild geben – und diese Geschichte fand auch
eine der größten byzantinischen Kirchen für seinen oktogonalen Felsendom. Die ihren Weg in den Koran (Sure Maryam
im Heiligen Land erbaut, die heute aber Kathisma-Kirche erhielt unter Abd al- 19,22-26).
nahezu unbekannt und unbesucht ist. Malik 637 eine Gebetsnische (Michrab) Heute gehört das Gelände dem griechisch-
Damals war sie neben der Grabeskirche, und diente fortan als muslimisch-christli- orthodoxen Patriarchat von Jerusalem.
Abb. 4
Abb. 5
schreibt: „Eudoxia brachte der Pulche- Das Zweite Konzil von Nicäa Wiedereinführung der Bilderverehrung
ria aus Jerusalem das Bild der Muttergot- und der Bildersturm initiiert hat, in Begleitung mehrerer Kir-
tes mit, das der Evangelist Lukas gemalt Als im 8./9. Jh. die Krise um die Ikonen- chenfürsten verehrt wird (Abb. 6). Dass
hat.“ Dieser berühmte Ikonen-Bildtyus verehrung, der sogenannte „Byzantini- es gerade eine Ikone der Heiligen Jung-
zeigt die Hodegetria, „die Wegweiserin“: sche Bilderstreit“, ausbricht, sind Iko- frau ist, die diesen Sieg symbolisiert,
Die Heilige Jungfrau zeigt mit der Rech- nen und andere Bilder der Gottesmutter zeigt, wie stark ihre Darstellungen die
ten auf ihren Sohn und weist so den im Osten also bereits weitverbreitet. Der Bilderverehrung bestimmten!
rechten Weg. Hodegetria-Ikonen sind in Bilderstreit führte zur Zerstörung von
Rom, auf dem Balkan, in Russland und Heiligenbildern – auf die Anordnung
quer über den Nahen Osten bis nach mehrerer Kaiser des 8. und 9. Jh. hin, Die Ausbreitung der Marienikonen
Äthiopien verbreitet. die der Bilder- und Reliquienverehrung Seit dem Ende des Mittelalters nehmen
Das maphórion wurde – wie die dem ablehnend gegenüberstanden. In ihren die Darstellungen der Muttergottes mit
Evangelisten Lukas zugeschriebene Ho- Augen war Bilderverehrung ein Götzen- Kind einen herausragenden Platz im
degetria-Ikone – bei Belagerungen als dienst an Kultbildern, wie ihn schon das christlichen Repertoire ein. Sie variieren
palladium, als schützendes kultisches Alte Testament untersagt hatte (Ex 20,4: je nach den verschiedenen Beinamen
Feldzeichen, in der Stadt aufgestellt. „Du sollst dir kein Kultbild machen und der Muttergottes in der Hymnendich-
keine Gestalt von irgendetwas ...“). Die tung. So gibt es neben der Jungfrau Ho-
orthodoxe Kirche wehrte sich jedoch ge- degetria auch Ikonen der
Die antiken Darstellungen der gen diese Haltung im Zweiten Konzil von • Jungfrau Panhagia (der „Überaus-Hei-
Gottesmutter Nicäa 787, auf dem sie verkündete: ligen/Allerheiligsten“),
Durch das Aufkommen der Marienfröm- „Verehrungswürdige heilige Bilder • der Glykophilousa (der „Süß-Küssen-
migkeit finden sich ab dem 4. Jh. Mari- sind darzubieten, sowohl mit Farben den/Süß-Liebenden“),
endarstellungen im christlichen ikono- gemalt als auch als Mosaiken wie aus • der Eleousa (der „Erbarmerin/Liebe-
grafischen Repertoire: in Manuskripten jedem anderen passenden Material, in vollen“),
ebenso wie auf Ikonen, auf Mosaiken den heiligen Kirchen Gottes auf heiligen • der Platytera („die weiter denn der
oder Schmuckstücken wie in Gewand- Gefäßen und Gewändern an Wänden Himmel ist“),
stickereien. Zu den frühesten gehört das und auf Tafeln, als nämlich das Bild • der Psychosostria („Seelentrösterin“) ,
syrische Rabbula-Evangeliar, ein Manu- unseres Herrn und Gottes und Hei- • der Pelagonitissa (Maria mit dem spie-
skript aus dem 6. Jh., das in der Biblio- lands Jesus Christus wie auch unse- lenden Jesuskind) und anderer mehr.
teca Medicea Laurenziana zu Florenz rer unbefleckten Herrin, der heiligen Einige Ikonen der Gottesmutter wer-
aufbewahrt wird. Es enthält mehrere Ma- Gottesgebärerin (theotokós), und der den zum Symbol eines ganzen Landes,
riendarstellungen, darunter ein großarti- verehrungswürdigen Engel und aller wie etwa die berühmte Jungfrau von Vla-
ges Ganzfigurenporträt der Jungfrau mit heiligen und segenbringenden Män- dimir (Abb. 7), das Urbild der russischen
dem Kind unter einer Arkade aus auf- ner.“ Ikone. Es handelt sich dabei um eine
wendig geschmückten Säulen, die von
Pfauen gekrönt sind (Abb. 1).
Im Katharinenkloster auf dem Sinai Unzählige Ikonen sind den verschiedenen
wird eine Ikone aus derselben Epoche
gezeigt, auf der die Gottesmutter mit
Lebensphasen Mariens gewidmet – ihrer Geburt,
dem Jesuskind auf den Knien auf einem der Verkündigung, ihrem Tod ...
Thron sitzt, flankiert von den Heiligen
Georg und Theodor mit zwei Engeln
(Abb. 4). Diese Erklärung nimmt eine Bilder- byzantinische Darstellung, angefertigt
Das Koptische Museum in Kairo be- theologie auf, die Kirchenväter wie Jo- in Konstantinopel, die 1155 nach Kiew
wahrt ein Fresko des Abbas-Apollos- hannes von Damaskus (8. Jh.) im Ver- kam. 1395 wurde sie nach Moskau ge-
Klosters in Bawit auf, das Christus als lauf der Krise ausgearbeitet hatten. Der bracht, um die Stadt vor dem Angriff der
Weltenherrscher zeigt, darunter die Bilderstreit flammte noch einmal auf, Mongolenhorden Tamerlans zu schüt-
Jungfrau Maria mit den Aposteln, um- wurde dann aber 843 durch die Wieder- zen. Sie ist eine Eleousa-Ikone: Das Je-
geben von den Erzengeln (Abb. 5). Im einführung der Bilderverehrung endgül- suskind drückt seine Wange an die der
selben Museum ist eine Altarnische des tig beigelegt, was bis heute durch ein Mutter und umarmt zärtlich ihren Hals.
Abbas-Jeremias-Klosters mit einem Bild eigenes Kirchenfest gefeiert wird, den Diese Ikone genießt heute einen Son-
der stillenden Maria aufgebaut. Diese „Triumph der Orthodoxie“. Zu diesem derstatus, weil sie nicht nur Kunstwerk,
wenigen Beispiele sollen genügen, um Fest gehört ein Ikonentyp gleichen Na- sondern nach wie vor heiliges Kultbild
die reiche Vielfalt an solchen Darstel- mens. Darauf sieht man einen Altar mit ist. Sie steht zwar unter Verantwortung
lungen in der Spätantike zu belegen. der Ikone der Jungfrau Hodegetria, wie der Tretjakow-Galerie in Moskau, die für
sie von Kaiserin Theodora II., die die ihre Erhaltung und Pflege sorgt, wird
Die thronende
Maria mit dem
Jesuskind auf
den Knien in
einem zentralen
Medaillon
Oberes
Register:
die himmlische
Welt
Unteres
Register:
Das Volk Gottes
zas (aktiv 1615–1648), Kreta, 58 Zu Füßen Marias sind alle Heiligen des Alten und
x 54 cm. Die Hymne war im 8. Jh. Neuen Testaments und das gesamte Volk Gottes versam-
von Johannes von Damaskus zum melt: Propheten, Erzeltern, Könige, Apostel, Kirchenväter,
Lobpreis Mariens gedichtet wor- Märtyrer, Jungfrauen und Asketen sowie die kaiserliche
den. Musèe des Beaux-Arts, Paris, Familie und Angehörige des Hofes. Sie alle verehren Maria
Petit Palais. und betrachten das himmlische Bild.
W
eder über die Geburt Marias noch „Anschließend verteilten sie sich [gemeint sind
über ihren Tod erfahren wir irgend- die Apostel nach der Auferstehung] in verschie-
etwas aus den Schriften des Neuen dene Gegenden, um das Wort Gottes zu verkün-
Testaments. Während die apokryphe Überlie- digen.
ferung über Marias Geburt und Vorgeschichte Als schließlich die gesegnete Maria ihren Le-
dann schon relativ bald, nämlich im 2. Jh., mit benslauf vollendet hatte und von dem Zeitlichen
dem sogenannten Protevangelium des Jakobus weggerufen werden sollte, versammelten sich alle
einsetzt, dauert es noch wesentlich länger bis zu Apostel aus den verschiedenen Gegenden in ih-
ersten Nachrichten über ihren Tod. Der Kirchen- rem Haus. Sowie sie nun hörten, dass sie von der
vater Epiphanius von Salamis schreibt noch am Welt bald weggenommen würde, wachten sie mit
Ausgang des 4. Jh., dass er über das Ende Mari- ihr alle zusammen. Und siehe, der Herr Jesus kam
as überhaupt nichts weiß. Seines Erachtens gibt mit seinen Engeln, er nahm ihre Seele auf und gab
es verschiedene Möglichkeiten: Maria könnte sie dem Engel Michael und ging weg.
einfach gestorben und begraben worden sein, Bei Tagesanbruch aber erhoben die Apostel ih-
vielleicht sogar als Märtyrerin – er erschließt ren Körper mit dem Lager und legten ihn in ein
dies aus dem in Lk 2,35 erwähnten Schwert, das Grabmal und bewachten ihn, die Ankunft des
ihre Seele durchbohren werde –, oder sie könn- Herrn erwartend.
te auch am Leben geblieben sein, da bei Gott Und siehe, der Herr stand wieder bei ihnen
nichts unmöglich sei (Panarion 78). und nahm den heiligen Körper in eine Wolke auf
und ließ ihn ins Paradies bringen, wo sie nun, bei
wiederaufgenommener Seele mit seinen Auser-
Chaos in der Überlieferung – wählten sich freuend, die unvergänglichen Güter
Ratlosigkeit in der Forschung genießt.“ (In Mart. 4; PL 71,798)
Die ersten Textzeugen, die sich genauer zum Diese kurze Version der Geschichte ist aller-
Marientod äußern, gibt es erst gegen Ende des dings nur eine Version von vielen – und auf
5. Jh. Und hier beginnen auch die massiven verschlungenen Wegen von älteren Textzeugen
Schwierigkeiten der Forschung, die damit zu- abhängig. Die diversen Zeugnisse aus früheren
sammenhängen, dass die Textüberlieferung – Zeiten lassen sich insgesamt in vier unterschied-
man nennt diese Schriften Transitus-Mariae-Li- liche Gruppen einteilen:
teratur – extrem uneinheitlich und fragmentiert 1. In einer Gruppe von Texten gibt es eine
ist. Es gibt Texte (oder Teile davon) in diversen Überlieferung, in der Maria neben ihrem Haus
antiken Sprachen (darunter syrisch, griechisch in Jerusalem noch ein weiteres Haus in Betle-
lateinisch, koptisch, äthiopisch, georgisch, hem besitzt, wo einige der Szenen vor ihrem Tod
armenisch und altirisch) – und ihr jeweiliger spielen.
Inhalt ist insgesamt so unterschiedlich, dass 2. Eine andere Textgruppe zeichnet sich durch
es der Forschung bislang nicht gelungen ist, eine vorgeschaltete Geschichte aus, in der Maria
eine allgemein überzeugende Entwicklungsge- von einem Engel oder von Christus (oder auch
schichte der Überlieferung zu rekonstruieren. von einem Engel, der sich dann als Christus her-
Bei Gregor von Tours (gest. 594) findet sich ausstellt) ihr eigener Tod angekündigt wird. Da-
folgende kurze Zusammenfassung einer Version bei wird ihr ein Palmzweig überreicht.
der Geschichte: 3. Daneben gibt es eine Gruppe von kopti-
schen Texten, die im Vergleich mit den beiden
genannten Gruppen eigene Wege gehen,
Himmelfahrt Mariens von Tizian (1516–1518). Wann 4. sowie noch eine Reihe von Texten, die sich
die Idee der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel keinem der bislang erwähnten Überlieferungs-
genau entstand, lässt sich kaum mehr ausmachen. Jeden- stränge zuordnen lassen.
falls wird ihre „leibliche Aufnahme“ 1950 zum Dogma. Relativ konstant ist in den unterschiedlichen
Hochaltar von St. Maria Gloriosa dei Frari, Venedig. Textzeugnissen davon die Rede, dass sich meh-
rere oder alle Apostel (inklusive Paulus) an
Marias Sterbebett versammeln – zu- sich auf zahlreichen orthodoxen Ikonen sie sich auseinander entwickelt. Dazu
meist werden sie vermittels verkehrs- findet und dann auch die westliche Bild- kommt, dass das postmortale Schicksal
tüchtiger Wolken aus den verschiede- darstellung beeinflusst hat. von Marias Körper sehr unterschiedlich
nen Weltgegenden dorthin transferiert. dargestellt wird – und zwar auch inner-
Zudem ist es auch ein zentraler Teil halb der verschiedenen Textgruppen.
der Überlieferung, dass Christus er- Was geschieht mit Marias Körper? Oft wird zwar erzählt, wie Marias Kör-
scheint, um Marias Seele abzuholen. Während das Erscheinen Christi zur Ab- per ins Paradies transferiert worden sei,
Diese beiden Motive sind ein fester holung der Seele Marias ein konstantes aber das heißt nicht, dass er dort auch
Bestandteil der östlichen, dann byzan- Element der Überlieferung darstellt, gibt bleibt – oder gar, dass das Paradies ein-
tinischen Darstellung geworden, wie sie es allerdings beträchtliche Differenzen fach mit dem Himmel als finalem Ort
30 welt und umwelt der bibel 4/2019 20021901362921-01 am 10.04.2021 über http://www.united-kiosk.de
Wie kommt Maria in den Himmel?
des Aufenthalts der Seligen identisch wäre. In In relativ vielen Überlieferungen gibt es auch
einigen Texten wird die Seele Marias, die sich einen deutlich antijüdischen Zug: Während die
zwischenzeitlich im himmlischen Bereich be- Apostel die Bahre vom Haus der Maria in Jeru-
funden hat, nach drei Tagen (manchmal auch salem zu ihrem Grab tragen, haben „die Juden“
nach längerer Zeit) mit ihrem Körper im Paradies
wiedervereinigt, in anderen Texten ist es umge-
kehrt, d. h., die Vereinigung findet im Himmel Die Apostel öffnen das Mariengrab und
statt – oder aber der Körper bleibt schlicht im
Paradies, gedacht als eine Art „Zwischenlager“ finden es leer. Gelegentlich sind noch
für Verstorbene, um erst bei der endgültigen einige Kleider darin vorhanden
Totenauferstehung am Jüngsten Tag wieder re-
animiert zu werden. In einer Reihe von Texten
folgt am Ende der Erzählung dann noch eine Art vor, ihren Leib zu verbrennen, woraufhin zahl-
Reise durch Himmel und Hölle, bei der Maria für reiche von ihnen erblinden sowie einer unter
die in der Hölle Gefolterten Fürsprache einlegt ihnen, der die Bahre ergreifen will, seine Hän-
– und damit tatsächlich auch so weit Erfolg hat, de einbüßt: Sie werden von einem Engel abge-
dass diese eine sonntägliche Pause von den Höl- schlagen (oder, alternativ, verdorren) und erst
lenqualen erhalten. nachdem er sich zu Jesus Christus und Maria
bekennt, wird er geheilt und kann seine Hän-
de wieder benutzen. Zusätzlich spielt in diesen
Der Apostel Thomas kommt zu spät Versionen oft noch der Palmzweig (s. o.) eine
Nebenmotive weiterer Textüberlieferungen be- Rolle, der vor der Bahre hergetragen wurde und
stehen noch darin, dass einer der Apostel, gerne dann dazu verwendet wird, die Erblindeten zu
ist dies Thomas (vgl. Joh 20,24-29), erst verspä- heilen – allerdings natürlich nur diejenigen, die
tet ankommt, nämlich z. B. drei Tage nach Ma- zum Glauben gekommen sind.
rias Tod, und einen Beweis für die besonderen Unter den verschiedenen Versuchen der For-
Ereignisse haben möchte. Daraufhin öffnen die schung, Ordnung in diese Vielfalt der Legen-
© British Library Board, MS 49999/Folio 61r
versammelten Apostel das Mariengrab und fin- denbildungen zu bringen, scheinen mir jene am
den es leer. Gelegentlich sind noch einige Klei- aussichtsreichsten, die zwar davon ausgehen,
der darin vorhanden – oder ein Gürtel fällt vom dass sich verschiedene Textgruppen erkennen
Himmel. Die Geschichte vom leeren Grab lässt lassen (so etwa die Palmzweig-Überlieferungs-
sich aus der Perspektive des Reliquienkultes ver- gruppe sowie jene mit dem zusätzlichen Haus
stehen: Erklärt sie doch sowohl das Fehlen von in Betlehem), aber keine dieser Textgruppen
Knochenreliquien Marias wie auch das Vorhan- eindeutig an den Beginn der Überlieferung zu
densein ihrer Kleidungsstücke, was später u. a. stellen ist (vgl. zur Begründung die Veröffent-
für Konstantinopel belegt ist (vgl. S. 22). lichungen von Stephen J. Shoemaker). Auch ist
31
20021901362921-01 am 10.04.2021 über http://www.united-kiosk.de
welt und umwelt der bibel 4/2019
Wie kommt Maria in den Himmel?
eine Klassifizierung der Texte im Sinne Protevangelium des Jakobus betont, und Und sie sollte dies nicht erst ab dem Zeit-
des modernen Dogmas nicht weiterbrin- auch die von der alten Kirche festgehal- punkt der generellen Totenauferstehung
gend: Die antiken Texte passen nicht zu tene Vorstellung, sie sei Gottesgebärerin am Ende der Zeit sein, sondern schon
den neuzeitlichen Kategorien. Was sie (griech. theotókos) und immer Jungfrau jetzt – sonst wäre eine Bitte um Für-
indes zeigen, ist eine große Freude am gewesen (d. h. vor, während und nach sprache in der Jetztzeit sinnlos. Auf die
Erzählen, Ausschmücken und Variieren der Geburt) dürfte hier eine besonde- helfende Rolle Marias verweisen auch
von Motiven. re Rolle spielen. Später heißt es in der
mittelalterlichen Legenda aurea im Ab-
schnitt „Von Mariae Himmelfahrt“:
Wieso wird all das über Maria „Ward auch deine heilige Seele auf na- Viele Texte konstatieren,
erzählt? türliche Weise von dem Leibe getrennt, dass Marias Körper nicht
Fragt man sich nach den theologischen und der Leib der Erde übergeben, so ver-
Beweggründen hinter der Vielzahl von harrte er doch nicht im Tode und ward verwesen kann und darf
Transitus-Mariae-Überlieferungen, so nicht aufgelöst in Verwesung:
lassen sich dennoch – mit der gebote- die beim Gebären ihre jungfräuliche
nen Vorsicht – einige Grundideen aus- Reinheit behielt, die hatte auch nach diverse Wundererzählungen in den Tex-
machen, die die Überlieferung geprägt ihrem Tode einen unverweslichen Leib ten, die Marias Schutzfunktion betonen,
haben: und führte ihn hinüber in ein besser und und zwar sowohl für lebende Menschen
• Zunächst ist dies die Überzeugung, heiliger Leben, nicht vom Tode vertilgt, als auch für solche, die sich schon in der
dass Marias Leib nicht verwesen kann sondern lebend in alle Ewigkeit.“ (Übers. Hölle befinden.
und darf. Dies konstatieren viele Tex- Benz, 1979, 603) • Eine entscheidende Rolle für die
te, und es wird dabei immer wieder ein • Ein weiterer maßgeblicher Aspekt Ausgestaltung der Überlieferungen
Bezug zu Marias Reinheit und Heiligkeit ist Marias Vermittlerrolle: Um Maria als dürfte vor allem die Volksfrömmigkeit
hergestellt. Marias Körper ist von einer Fürsprecherin zu haben, die sich in be- spielen. Dies zeigt sich nicht nur in di-
so herausgehobenen Art, dass die Vor- sonders bedrohlichen Lebenslagen an- versen Aus schmückungen der Texte,
stellung, er könnte einfach postmortal rufen lässt, muss sie in irgendeiner Form sondern lässt sich schon für den An-
verwest sein, undenkbar erscheint. Ma- bei Gott, im himmlischen Bereich sein, fang der Überlieferung vermuten. Inte-
rias besondere Reinheit wird schon im um dort Fürsprache einlegen zu können. ressanterweise sind nämlich schon vor
dem Beginn der erhaltenen Textüber-
lieferung Ende des 5. Jh. Indizien für
eine zunehmende Verehrung Marias zu
finden. In Jerusalem und Umgebung
QUELLENTEXT dogma assumptio mariae (1950) gibt es alte Marienheiligtümer, deren
Ursprünge sich archäologisch bis min-
© Ievgenii Fesenko/123rf.com
von ihm außergewöhnlich geliebten Men-
schen, Maria, zuwendet.
Auf dem Zionsberg in Jerusalem wird
seit dem 7. Jh. der Ort verehrt, an dem
Maria gestorben sein soll (die Grabtradi
tion bleibt im Kidrontal, s. Folgeseite).
Aber weshalb auf dem Zionsberg? Hier
sollte die Urgemeinde ihren Versamm-
lungssaal gehabt haben – das „Ober- Namen Hagia Sion. Ihre Grundmauern sind Die entschlafene Maria. In der
gemach“, in dem das letzte Mahl vor der noch unter dem heutigen Benediktiner- Krypta des Benediktinerklosters auf
Verhaftung Jesu gefeiert worden war und kloster auf dem Zion zu sehen. Das Kloster dem Zionsberg wird mit einer Skulptur
auch das Pfingstereignis stattgefunden trägt den Beinamen Dormitio Beatae an die alte Tradition erinnert, nach der
hatte. Maria als tragende Gestalt der Urge- Mariae Virginis – nach der byzantinischen Maria hier gestorben sein soll.
meinde war nach dieser Legende in diesen Ortstradition. In der Krypta der Abteikirche
Räumlichkeiten gestorben. Eine Basilika wird Jahr für Jahr am 15. August das Patro- weltweit. Die geweihten Sträußchen sollen
für diesen Gedenkort wurde schon im spä- natsfest „Entschlafung Mariens“ mit einer vor Krankheiten und Gefahren schützen
ten 4. Jh. auf dem Zion erbaut. Sie trug den Kräuterweihe gefeiert – wie an vielen Orten und Zeichen von Heilung sein. (hk)
zung mit der Marienverehrung übertrie- Die genannten Indizien verweisen Prof. Dr. Silke Petersen
ben hat. Diese sogenannten Kollyridi- darauf, dass schon etliche Zeit vor un- ist außerplanmäßige
anerinnen heißen bei Epiphanius so, seren ersten Textzeugnissen liturgische Professorin für Neues
weil sie eine Kollyris, eine Art Brotfla- Praktiken und Rituale, Kultstätten so- Testament an der Univer
sität Hamburg. Schwer-
den, zum Gedenken an Maria darbrach- wie damit verbundene Legenden exis-
punkte ihrer Veröffent-
ten und dann gemeinsam verspeisten. tiert haben dürften. Eine Entstehung lichungen sind unter
Epiphanius wirft ihnen übertriebene solcher Marienfrömmigkeit jenseits der anderem die apokryph
Verehrung bis zur Vergöttlichung Mari- offiziellen Theologie würde auch erklä- gewordenen Schriften
ens vor, und verwendet dieses Beispiel ren, dass die Traditionen – sobald sie des frühen Christentums,
für heftigste Polemik gegen Frauen im die Schwelle des uns noch Zugängli- Maria aus Magdala, das Johannesevangelium und
Allgemeinen sowie speziell gegen Frau- chen erreichen – schon so divers sind, Genderfragen. Derzeit Arbeit an der Herausgabe
des Bandes über „Antike christliche Apokryphen“
en als Priesterinnen oder Lehrerinnen. dass sich eine klare Entwicklungsge-
in der Reihe „Die Bibel und die Frauen“,
Jenseits dieser Polemik verweisen die schichte nicht mehr feststellen lässt. vgl. www.bibleandwomen.org/DE/
Nachrichten jedoch auf eine Frauen- Möglicherweise sind in ihnen auch
gruppe des 4. Jh., die Maria mit spe- Elemente lokaler vorchristlicher Göttin- Lesetipps
ziellen Riten verehrt hat. Und es gibt nenverehrung aufgegangen, auch wenn • Hans Förster, Der Transitus Mariae,
eine Querverbindung zur frühen Text- eine solche Verbindung von offizieller in: Christoph Markschies/Jens Schröter (Hg.),
überlieferung der Betlehem-Tradition, katholischer Seite nicht gern zugege- Antike christliche Apokryphen in deutscher
da auch dort von einem Brotopfer im ben wird. Die Dogmatisierungen kön- Übersetzung. I. Band: Evangelien und Verwand-
Zusammenhang mit Maria die Rede ist. nen aus dieser Perspektive auch als ein tes, Mohr Siebeck 72012, S. 299–307.
Damit lässt sich für diesen Teil der Tra- Versuch gelesen werden, volkstümliche • Stephen J. Shoemaker, The Ancient Traditions
dition mindestens eine Vorgeschichte Marienverehrung zu begrenzen, zu ka- of the Virgin Mary‘s Dormition and Assumption,
im 4. Jh. annehmen. nalisieren und zu domestizieren. W Oxford University Press 2006.
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und begraben?
Oder in Ephesus?
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Mondsichel- oder Strahlenkranzmadonna, sind aber vielleicht auch Erinnerungen an antike weibliche
ein Motiv, das auf die Johannes-Offenbarung zurückgeht: Gottheiten wie Ischtar/Astarte, Artemis/Diana, oder Aphro-
„... eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter dite/Venus. Sie alle sind mit Mond und Sternen verbunden.
ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Gotische Glasmalerei in der Abteikirche des Zisterzienser-
Haupt.“ (Offb 12,1). Die lunaren und astralen Aspekte stifts Viktring, Klagenfurt,13. Jh.
W
er in die Länder rund um das Weibliche Weisheit versus Kopf die prinzipiellen Unterschiede zwischen
Mittelmeer fährt, stößt wieder- geburt: Ein Vergleich mit Athene polytheistischem Kult und biblisch be-
holt auf das Phänomen von in Wenn wir anstelle von „Glauben“ also gründeter Gottesverehrung, ja zogen
Kirchen umgewandelten Tempeln: be- besser vom „System“ antiker religiöser wahlweise die Weiblichkeit oder die
sonders anschaulich bei der heutigen Ideen sprechen, so kommen rasch die Jungfräulichkeit Athenes polemisch in
Kathedrale von Syrakus (s. Abb. S. 38) mit ihnen assoziierten göttlichen Ge- Zweifel, um entsprechende heidnisch-
und besonders prominent im Falle des stalten in den Sinn, die ihre einzelnen religiöse Verehrung zu diskreditieren.
Parthenons auf der Athener Akropolis. Aspekte versinnbildlichen: die großen, Auch die besonderen Umstände von
Beide wurden in Spätantike und Mittel- olympischen Gottheiten. Doch hätte es, Athenes Geburt riefen christlicherseits
alter christlich genutzt und beide waren auf Maria bezogen, im Kreis der Zwölf- noch um 400 Widerspruch hervor: Ma-
fortan der Gottesmutter geweiht. Ließen götter überhaupt Anknüpfungspunkte ria habe Jesus auf natürlichem Weg zur
sich also anhand der Mariengestalt Räu- für eine Interpretatio christiana geben Welt gebracht, und das sei ja wohl plau-
me eröffnen, in denen sich die Kulturbe- können? sibler und glaubwürdiger als die Ge-
gegnung von Antike und Christentum Athene, der die eingangs erwähn- burt der Athene aus dem Kopf des Zeus
vollzog? ten, in Kirchen transformierten Tempel (s. Quellentext S. 38).
Landläufig wird dieser Prozess gern so zuzuordnen gewesen sind, wird in der Identifizierung Marias mit Athene?
begriffen, dass pagane Traditionen bloß Literatur der Kirchenväter vergleichs- Fehlanzeige.
einen firnisshaften Marien-Überzug er- weise selten aufs Korn genommen – ist
halten. Aber es lässt sich doch nach tie- der Orgiasmus anderer, weitaus häufiger
fer liegenden Schichten dieser In- und attackierter Gottheiten doch ihre Sache Alternative Kandidatinnen: Artemis
Auseinandersetzung schürfen. Tritt mit nicht. Mehr noch, die Zeustochter wur- – Große Mutter – Aphrodite
Blick auf Maria dann tatsächlich das de – zumindest in gnostischen Kreisen Als eine andere Gestalt des Pantheons,
bruchlose Fortleben griechisch-römi- – in die Nähe der biblischen „Frau Weis- an die antiker Volksglaube Maria hätte
scher Anschauungen in christlichem heit„ gerückt (Spr 8,22-26: „Der Herr angleichen können, lässt sich Artemis,
Gewand zu Tage – kann gar in einem hat mich geschaffen als Anfang seines Göttin der Jagd, der jungen Mädchen,
mehrdeutigeren Sinne als üblich von ihr Weges, vor seinen Werken in der Urzeit; aber auch des Mondes, nennen. Sie wur-
als „Mutter aller Gläubigen“ gesprochen in frühester Zeit wurde ich gebildet, am de heidnischerseits ebenfalls als sexuell
werden? Oder zeigen sich vielmehr, wie Anfang, beim Ursprung der Erde ...“). So unberührt vorgestellt. Tatsächlich ist
an jeder Art von Schnittstelle, Spannun- konnte sich Athene hier einer gewissen es in Ephesos, dem Sitz des immerhin
gen, die Rückschlüsse über unterschied- Reputation erfreuen, wie etwa Irenäus unter die Sieben Weltwunder gezählten
liche Eigenschaften von Systemen er- überliefert (Gegen die Häresien 1,23,4). Artemisions, zu einer Art Umkodierung
lauben, die miteinander in Verbindung Die Apologeten der ersten Jahrhunderte dieses Ortes und seiner sakralen Topo-
treten? verkannten dagegen aber keineswegs grafie auf die Gottesmutter gekommen.
Vom Athenetempel
zur Marienkirche
Der Athenetempel
von Syrakus (Sizilien)
wurde im 7. Jh. zu einer
Kirche umgebaut. Die
dorischen Säulen des
antiken Tempels sind
bis heute in der Seiten-
mauer sichtbar.
Im 18. Jh. erhielt der
Duomo di Siracusa eine
barocke Fassade.
Welche Rolle dabei dem Konzil von identifiziert, die insbesondere in Rom schoben einer Parallelisierung dieser
Ephesus im Jahr 431 zukommt, das Ma- für blutig-orgiastische Feiern ihrer An- Mysterien mit der biblisch begründeten
ria als theotókos („Gottesgebärerin“) ti- hänger bekannt war. Zudem erzählte der Auferstehungshoffnung den Riegel vor
tulierte, ist dabei bis heute keineswegs Mythos ihres jugendlichen Kultgefährten (vgl. Firmicus Maternus, Vom Irrtum der
klar. Jedenfalls hat sich diese Ehrung Attis von dessen Tod und Fortleben im heidnischen Religionen 3; 27,1).
Marias sicher nicht nachteilig darauf Ohne diesen Aspekt überbetonen zu
ausgewirkt, dass die ionische Stadt spä- wollen, so ist doch an den ganz grund-
testens in frühbyzantinischer Zeit zum Am Himmel lassen sich sätzlichen Konflikt zu erinnern, der
Marienwallfahrtsort avancieren konnte. Paulus mit den artemisfrommen – und
Jedoch auch hier gilt es Einschränkun-
Bildverbindungen Marias profitbewussten – Einwohnern von
gen zu machen: Artemis, gerade in ihrer mit Aphrodite suchen Ephesos aneinandergeraten ließ (Apg
ephesischen Ausprägung, trägt nicht 19,23-34): Die Hoheit der „von aller Welt
nur aus Sicht der Kirchenväter beunru- verehrten, großen Artemis“ stand sei-
higende Züge. Sie wurde mit der asia- vegetativen Zyklus der Natur – Vorgän- ner Verkündigung offensichtlich eher
tischen „Großen Mutter“ sowie ande- ge, die sich für die Anhängerinnen und im Weg als ihr Anknüpfungspunkte zu
ren Fruchtbarkeitsgottheiten des alten Anhänger des Kybele-Attis-Kults rituell bieten – anders als die deutungsoffene
Orients, darunter nicht zuletzt Kybele, ausdeuten ließen. Christliche Autoren Inschrift für den „unbekannten Gott“,
„Und nun soll ein Vorgang, der durch gegen die Natur? In unserem Fall ist da
göttliche Macht zur Wiederherstellung eine Frau [Maria], es wird die Ordnung der
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der ganzen Welt bewirkt worden ist, als Natur gewahrt, Empfängnis und Geburt
unglaublich erscheinen [...]! Übrigens ist finden statt zur bestimmten Zeit: Hier [d.
es zu verwundern, dass dies den Heiden h. bei der Geburt der Minerva] kein weibli- Geburt der Athene: Aus dem Kopf
unmöglich scheint, da sie doch glauben, ches Geschlecht, sondern allein der Mann des Zeus springt Athene, erwachsen
ihre Minerva [= röm. Athene] sei aus dem und die Geburt.“ und voll bewaffnet. Hephaistos in der
Gehirn des Jupiter geboren. Was ist denn (Rufin von Aquileia, Auslegung des Mitte hält noch das Beil, mit dem er
schwerer zu glauben, oder was ist mehr Glaubensbekenntnisses 9) den Schädel gespalten hatte.
die er auf dem Areopag in Athen vorgefunden „Wie die Jungfrau zum Kind“
hatte (Apg 17,23). Überhaupt wurde Maria nur allmählich zum
Fakt ist jedoch gleichzeitig, dass der lunare Gegenstand theologischer Reflexion, so dass
Aspekt der Artemis/Diana auch in der späte- eine Verhältnisbestimmung zu religiösen Phä-
ren Marienikonografie in Form der Mondsichel nomenen aus der Umwelt des Christentums erst
prominent vertreten ist, so wie sich am Himmel sukzessiv nötig erschien. Die „Symbolizität Ma-
auch Bildverbindungen Marias mit Aphrodite- rias“ (Greshake) erfuhr dabei in Verknüpfung
Urania beziehungsweise der römischen Venus mit christologischen Anliegen eine graduelle
Caelestis suchen lassen – in Darstellungen der Steigerung. Um die Mitte des 2. Jh. sah sich der
Maria als Himmelskönigin. Auch hier können Apologet Justin dazu veranlasst, seinen Lesern
außergriechische Vorstellungen eingewirkt die Aspekte von Jungfräulichkeit und Mutter-
haben, insbesondere der babylonischen Ištar schaft plausibel zu machen. Er tut dies offen-
beziehungsweise der phönizischen Astarte sichtlich mit Blick auf die Vorstellungswelt eines
(Aštart), deren Symbol der Stern war, wobei der römischen Publikums, wenn er dabei christli-
Jungfräulichkeitsaspekt offensichtlich in den che Glaubensaussagen mit Beispielen aus der
Hintergrund tritt. Mythologie zu erhellen sucht, wobei Maria im
Haben wir es angesichts dieses widersprüch- Analogieschluss wahlweise die Rolle der Nym-
lich scheinenden Befundes mit Maria, der thro- phe Maia oder der Königstochter Danaë zukäme
nenden Mutter und Himmelskönigin, als einem (s. Quellentext S. 41). So erstaunlich die Metho-
weiteren jener Synkretismusprodukte zu tun, de auf den ersten Blick anmuten mag, so steht
wie sie die griechisch-römische Antike in gera- sie doch bei Justin unter dem Vorbehalt, dass die
dezu verwirrender Menge hervorgebracht hat? Inkarnation des göttlichen Logos sich ohne ge-
Gegen eine solche Ansicht spricht, dass bereits schlechtliche Zeugung ereignet habe. Überhaupt
Paulus sehr selektiv vorging bei der Entschei- seien die heidnischen Götter mit bösen Dämo-
dung, was sich in der paganen Welt als außer- nen zu identifizieren, wie er ein Kapitel zuvor
christlicher Verweis für seine Botschaft von Gott erläutert (1. Apologie 21).
eignete. „Synkretistisch“ war seine Missions- Wenn eine solche Einordnung der jungfräuli-
und Inkulturationsmethode nicht. chen Geburt Jesu dem Ausweis seiner göttlichen
Maria lactans
Fresko im Nordflügel
der Kirche im Roten
Kloster nahe Sohag
(Ägypten), ca. 7. Jh.
Ägypten ist die
Heimat der Isis
darstellungen, wie
sie ihren Sohn
Horus/Harpokrates
stillt. Im Territorium
der frühen kopti-
schen Kirche ist das
Maria-lactans-Motiv
© B.O‘Kane / Alamy Stock Foto
beliebt. Zufall?
Natur diente, so lag hier selbstverständlich det sich auch eines der frühesten bekann-
ein Ansatzpunkt für heidnische Gegen- ten Beispiele für die exklusive Verbindung
kritik. Der offenkundig näher mit christli- der Gottesmutter mit dem Jesuskind in der
chen Lehren vertraute Intellektuelle Kelsos frühchristlichen Ikonografie, eine berühm-
kommt in seiner vermutlich noch im 2. Jh. te Darstellung aus der Priscilla-Katakombe
verfassten Kampfschrift Wahre Lehre daher in Rom (s. Bild links). Im westlichen wie
auch auf Maria zu sprechen. Um die Gottes- östlichen Christentum sollte das Motiv
sohnschaft Jesu in Abrede zu stellen, gerät Schule machen. Nicht selten sind dabei
gleich im ersten Teil die Jungfrauengeburt
ins Visier. Dabei macht sich Kelsos in ver-
schärfter Fassung die jüdische Panthera- Marias ursprüngliche
Legende zu eigen, wonach in der ehebre-
cherischen Verbindung Marias mit einem Rolle als verheiratete
römischen Offizier dieses Namens die tat- Mutter entwickelte
sächliche Abstammung des Nazareners zu
Maria mit dem Jesus- suchen sei (Origenes, Gegen Kelsos 1,32). Ori- sich im 4. Jh zu einer
kind. Die erste bekannte
Darstellung dieses Motivs,
genes, der um die Mitte des 3. Jh. die kelsi- „Frage der Ehre“
sche Argumentation überliefert, ist nicht nur
das sich durchsetzen wird –
diesem Vorwurf begegnet; der bedeutende
obwohl Jesus nach dem
Theologe zeigt sich an anderer Stelle davon Verbindungslinien zur im antiken Mittel-
Markusevangelium noch
überzeugt, dass hinsichtlich Reinheit und meerraum äußerst populären Isisgestalt
weitere Geschwister hatte.
Keuschheit Maria die Erste unter den Frau- gezogen worden, ist doch gerade im kop-
en gewesen sei – was die Vorstellung von tischen Bereich, der ägyptischen Heimat
weiteren Kindern neben Jesus ausschließe der Göttin Isis – aber nicht nur hier – der
(Matthäuskommentar 10,17 zu Mt 13,53-58). Typus der Maria lactans gut belegt (s. Abb.
S. 39). Zu bedenken ist dabei aber, dass im
Fall der ihren Sohn Horus stillenden Isis die
Maria als Mutter mit Kind Züge göttlicher Unnahbarkeit gegenüber
Es mag ein Zufall der Überlieferung sein, späteren, betont menschlicheren Darstel-
doch aus der Zeit zwischen 230 und 250 fin- lungsvarianten die ursprünglicheren sind.
Zudem klafft zwischen letzteren (bis zum
4. Jh. nC) und dem zweifelsfreien Aufkom-
men des christlichen Maria lactans-Typs
(ab dem 7. Jh.) eine nicht unerhebliche
zeitliche Lücke. Die Vergleichbarkeit iko-
nografischer Motive gestattet daher keine
schlichte religionsgeschichtliche Herlei-
tung Marias aus ägyptischer Isis-Mytholo-
gie, wie sie noch heute in zweifelhaften In-
ternetforen gelegentlich angestrengt wird.
Damit sei nicht geleugnet, dass es zu hete-
rodoxen Fehldeutungen kommen konnte,
wonach Maria selbst als Göttin verehrt wur-
de, wie es die im häresiologischen Schrift-
tum auftauchenden „Kollyridianer(innen)“
offenbar taten (s. Quellentext rechts).
Hierbei mochte es sich um Randgruppen
handeln. Wenn nicht göttliche Ehrenbezeu-
© sedmak/123rf.com; public domain
„Andere nämlich haben wiederum in der Man erzählt sich nämlich, dass einige Namen der immerwährenden Jungfrau
Wertschätzung der heiligen, immerwäh- Frauen dort in Arabien von Thrakien her über alles Maß hinaus eine ungerechte
renden Jungfrau den gesunden Verstand diesen Aberwitz eingeführt haben, dass und lästerliche Sache unternehmen und
verloren und sich bemüht und bemühen sie auf den Namen der immerwährenden auf ihren Namen Gottesdienst halten
sich noch, sie als Göttin vorzustellen, von Jungfrau eine Art Brotkuchen darbrin- durch Frauen.“ (Epiphanius von Salamis,
Wahnwitz und Verrücktheit getrieben. gen, dazu sich versammeln und auf den Panarion 78,23,3)
Römische Mythologie und das Einen von ihnen, den für seine Positio- Lesetipps
christliche Maria semper virgo nen gegen Ende des 4. Jh. verurteilten • Gregor Emmenegger, Wie die Jungfrau zum
Zu einer „Frage der Ehre“ entwickelte Mönch Jovinian, der versucht hatte Kind kam. Zum Einfluss antiker medizini-
sich die ursprüngliche Rolle Marias als zu zeigen, dass Ehe und Jungfräulich- scher und naturphilosophischer Theorien auf
verheiratete Mutter insbesondere in der keit gleich verdienstliche Lebensfor- die Entwicklung des christlichen Dogmas,
Kirchengeschichte des 4. Jh. Nun war men darstellten, ging der askese- und Fribourg 2014.
die theologische Erkenntnis zur Ver- jungfräulichkeitsbegeisterte Hierony- • Sabrina Higgins, Divine Mothers: The Influ-
hältnisbestimmung von göttlicher und mus hart an. In seiner literarischen ence of Isis on the Virgin Mary in Egyptian
menschlicher Natur in Jesus Christus Attacke führte der Kirchenvater aus Lactans-Iconography, Journal of the Canadian
vorgestoßen. Nicht unabhängig von Stridon auch pagane Beispiele ins Feld Society for Coptic Studies 3–4 (2012) 71–90.
dieser Entwicklung gewann das Ideal und verwies kurzerhand auf den Um- • Jutta Dresken-Weiland, Maria mit dem Kind:
asketischer Lebensführung an Bedeu- stand, dass die Jungfräulichkeit einer Ein Figuralkapitell in Herakleia Pontike, in:
tung, was sich im vielfachen asketi- Mutter ja bereits in der Gründungsle- Heike Grieser/Andreas Merkt (Hgg.), Volks-
schen Auszug in Wüste und Einsamkeit gende Roms vorkomme (Gegen Jovinian glaube im antiken Christentum, Darmstadt
zeigte. 1,42): 2009, 275–290.
Welchen Grad die Hochschätzung „Und damit uns wegen des Herrn als • Gisbert Greshake, Maria–Ecclesia. Perspek-
der Gottesmutter im 4. Jh. erreicht hat- des von der Jungfrau geborenen Hei- tiven einer marianisch grundierten Theologie
te, ließe sich kaum besser ausdrücken landes nicht römische Macht Vorwürfe und Kirchenpraxis, Regensburg 2014.
als mit der Frage des Ambrosius, des Bi- machte, halten sie die Urheber ihrer
schofs von Mailand: „Was ist nobler als Stadt und ihres Volkes [Romulus und Dr. Ingo Schaaf
die Gottesmutter?“ (Über die Jungfrauen Remus] für Sprösslinge der Jungfrau Theologe und Philologe,
2,7). Ambrosius propagierte prominent Ilia und des Mars.“ Mitarbeiter im Fachbe-
die soteriologisch aufgeladene Lehre So fand die Methode früherer Auto- reich Literaturwissen-
schaft an der Universität
von der immerwährenden Jungfräulich- ren, wonach sich Jesu Geburt aus Ma-
Konstanz. Er beschäftigt
keit Mariens – das heißt auch während ria der Jungfrau mithilfe antiker My- sich schwerpunktmäßig
(in partu) und nach ihrer Niederkunft thologie plausibilisieren ließe, nun im mit Fragen aus dem
(post partum). Doch diese Lehre hatte Dienste innerkirchlicher Polemik ihre Forschungsbereich von
bereits in der Alten Kirche ihre Gegner. unvermutete Fortsetzung. W Antike und Christentum.
V
iele Aspekte antiker Volksfröm magischen Texten allerdings recht un als zusätzliche förderliche Kräfte anzu
migkeit zeigen sich auch in ma terschiedlich ausfallen. rufen.
gischen Schriften und Amulett In einigen Texten, die zusammenge Eine noch ungewöhnlichere Funkti
zaubern. Bis heute haben wir Zugang zu rollt als Amulett getragen wurden und on nimmt Maria dann in einem Liebes
diesem Bereich über Texte, die oft auf Heilung bewirken sollten (z. B. der Papy zauber ein: In diesem Zauberspruch
Papyri erhalten sind. Betrachtet man rus aus Oxyrhynchus, s. Abb.), wird Ma (London Hay 10376) wird u. a. der Engel
magische Texte aus der Zeit der Spät ria als Mutter Jesu angerufen, um sich für Gabriel angerufen, damit das Ziel des
antike, also in etwa des 4. bis 6. Jh., die Trägerinnen dieser Objekte einzuset Zaubers sich so in den Ausführenden
der Zeit, in der sich die ersten Formen zen und Fieber oder andere Krankheiten verliebt, wie Maria in Josef.
der Marienfrömmigkeit herausbilden, abzuwehren. Gelegentlich wird Maria in Auf die gleiche Idee, dass Gabriel eine
so kommen auch biblische Gestalten in Zaubersprüchen auch als „Gottesgebäre wirkmächtige Kraft hat, wird auch in ei
ihnen vor. Erwartungsgemäß treten Gott rin“ (griech. theotókos) beschworen, um nem Amuletttext gegen böse Geister (P.
und Christus hier am häufigsten auf, Fieber oder Gifte im Körper unwirksam Kairo 10263) verwiesen. Allerdings wur
mitunter begegnen auch Moses oder zu machen. Im übertragenen Sinn kann de die Geburtsankündigung durch Gab
Salomo, die wegen ihrer in der Bibel er die Rolle Marias als Mutter Jesu auch in riel etwas missverständlich formuliert:
wähnten Fertigkeiten manchmal als Ex einem Zauberspruch zur Abwehr gegen Christus wird beschrieben als derjenige,
perten magischen Wissens interpretiert Reptilien (Papyrus Rylands 104) gefun „der gekommen ist durch Gabriel in den
werden. Aber auch Engel spielen in die den werden: Dort identifiziert sich der Leib Marias, der Jungfrau“. Wenn Gabri
sen magischen Texten oft eine gewichti Ausübende des Zaubers mit Jesus und el hier als Erzeuger erscheint, ist das in
ge Rolle und werden innerhalb einzel Johannes dem Täufer in den Leibern dogmatischer Hinsicht eine Häresie –
ner Zaubersprüche zum Teil in großer ihrer Mütter Maria und Elisabet und Christus könnte als Engelwesen verstan
Anzahl beschworen – unabhängig von erhofft sich dadurch eine besondere den werden oder sogar als Mischwesen
der Frage, ob die Verfasser dieser Texte Schutzwirkung. Die Mutterrolle Marias aus einer Verbindung von Mensch und
Christen oder Juden oder sogar pagan wird manchmal noch stärker mystisch Engel (vgl. die Riesen im 1. Henochbuch).
waren. Dass gewisse Gestalten aus der erlebt, wie etwa in einem Zauberspruch
Bibel in magischen Texten immer wie (Papyrus Rylands 103) mit unklarem
der anzutreffen sind, liegt offensichtlich Verwendungszweck, in dem der Aus Die „sieben Namen Marias“
daran, dass man sie als Garanten für das führende Maria als seine eigene Mutter Doch darüber hinaus können noch
Gelingen des jeweiligen Zaubers ansah. bezeichnet: Seine magische Fähigkeit wesentlich mystischere Erwähnungen
führt er dann entsprechend darauf zu Marias in Zaubertexten gefunden wer
rück, diese quasi „mit der Muttermilch“ den: So wird in einem Zauberspruch
Maria wehrt Fieber oder Reptilien ab Marias aufgenommen zu haben. (Berlin 8324) auf „sieben Namen Mari
Entsprechend ist es also auch kaum ver Auf ebenso außergewöhnliche Art as“ verwiesen, die – wohl analog zum
wunderlich, dass wir in diversen spätan und Weise geht ein anderer Zauber Gebrauch geheimer Namen Gottes in
tiken Zaubersprüchen und Schutzamu spruch (Heidelberg Kopt. 686) ausführ magischen Texten – diesen Zauber wirk
letten (oft Texte ägyptischer Herkunft, lich auf die Zeit von Marias Schwanger samer machen sollen.
die auf Griechisch oder Koptisch ver schaft und einige sie bewachende Engel Besondere Aufmerksamkeit verdie
fasst wurden) auch Maria begegnen. ein und personifiziert die Wehen Marias, nen in den spätantiken Zaubertexten
Dabei kann die Rolle Marias in diesen um diese für die Wirkung des Zaubers die sogenannten Gebete Mariae ad
zum Teil auch mystifiziert, wobei dann hervorgehoben wird, Éliphas Lévi, der in seiner
zeigt sich dann wenig Schrift Dogme et Rituel de
überraschend auch in la Haute Magie (1854–1856)
„Setz dich, setz dich, späten, schillernden viele antike biblische Tra
Grimoires – Zauber ditionen aufgreift und ver
Biene: das gebietet dir büchern, die ab dem mischt, spielt Maria in eso
die heilige Maria“ Spätmittelalter beliebt terisch-magischen Schriften
wurden und magische bis heute eine Rolle. W
(sog. Lorscher Bienensegen, 10. Jh.) Anweisungen, Zauber
rezepte und astrologische Regeln sam
melten; etwa im Liber Juratus (13. Jh.),
Dr. Matthias Hoff-
auch bekenntnishafte Formeln, etwa die im Arbatel (16. Jh.), im Armadel (17. Jh.), mann habilitiert sich
Anrede Marias als „Gottesgebärerin“, in La Véritable Magie Noire (18. Jh.) oder an der Evangelisch-
hinzutreten können. Letztlich zeigt sich selbst in Spruchsammlungen aus entle Theologischen
Maria ferner in diversen Zaubertexten generen Regionen, wie im isländischen Fakultät der Uni-
auch selbst als wundertätige Gestalt, de Galdrabók (um 1600), im Romanus- versität München.
ren machtvolle Taten als quasi magische Seine Forschungs-
Büchlein (18. Jh.) und in der deutsch-
schwerpunkte sind
Taten gedeutet werden. amerikanischen Zauberspruchsamm
frühjüdische Literatur,
Auch in mittelalterlichen Zauber lung „Der lange verborgene Freund“ Magie im frühen
texten wird Maria erwähnt. So wird sie (1820) von J. G. Hohmann. Ein Zauber Judentum und Neuen Testament und die
beispielsweise im Codex Upsaliensis spruch aus dieser Sammlung lautet: Johannesoffenbarung.
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Muslima in der chaldäischen Kirche von
Bagdad. Wie im Christentum gibt es im Islam vie-
le Menschen, die zu Maria um Segen in schwierigen
Lebenssituationen beten und an ihre Kraft glauben,
Wunder zu wirken. Maria, Mutter des Propheten Jesus,
hat einen herausragenden Platz unter den Heiligen des
Koran. Sie wird im Koran sogar ausgiebiger erwähnt als
im Neuen Testament: 70 Verse gehören zu ihr, ihr Name
wird 34-mal genannt. Im Islam ist Maria eine Mukhtârah
min Allâh („von Gott Erwählte“), eine sddîqah („Ge-
rechte“), eine Waliyah min awliyâ‘ Allâh („Heilige unter
den Heiligen Gottes“). Sie verkörpert Gottergebenheit
schlechthin. Diese Elemente bilden eine muslimische
marianische Frömmigkeit.
© Ahmad Al-Rubaye/AFP
Gottes Erwählte
Was sollte man wissen, um miteinander über Maria sprechen zu können?
Zuerst, wie wichtig Maria im Islam ist. Und dann, welche inspirierende, aufs Wesentliche
reduzierte Auslegung Marias sich im Koran findet. Von Karl-Josef Kuschel
N
ur wenige Frauen werden im Koran ja eine Gottesbotschaft an Maria, und zwar
erwähnt, wie beispielsweise die Frau durch den Engel Gabriel. In Sure 19 erfolgt sie
des Adam oder die Frau des Pharao. durch Gottes Geist. Schon Lukas berichtet von
Sie bleiben namenlos. Nur eine einzige Frau Furcht als Reaktion Marias. Sie „erschrickt“,
wird direkt mit Namen genannt, und das ist als der Engel ihr erscheint, und muss beruhigt
nicht nur für Muslime höchst aufschlussreich, werden: „Fürchte dich nicht …“ (Lk 1,29f). In
sondern auch für Christen: Maria, die Mutter Sure 19 stellt sich die sichtlich eingeschüch-
Jesu. Warum ist das so? Welches Interesse hat terte Maria vor der plötzlichen Erscheinung
man im Koran ausgerechnet an einer Zentral- unter den Schutz des „Allerbarmenden“ (Sure
gestalt des Glaubens von Christen? 19,18). Schon Lukas weiß von Zweifeln auf
In Sure 19 aus mittelmekkanischer Zeit Seiten der jungen Frau: „Wie kann das gesche-
(615–620 nC) spielt Maria chronologisch erst- hen? Ich bin mit keinem Mann zusammen
mals eine Rolle – bei einer Untersuchung die- gewesen“ (Lk 1,34). Entsprechend heißt es in
ser exemplarischen Sure, ihres Stil, der Struk- Sure 19: „Wie soll ich einen Jungen bekom-
tur und des Inhalts, stößt man auf spannende men, wo mich kein Mensch berührt hat und
Informationen, wie der Koran Maria versteht! ich keine Hure gewesen bin?“ (Sure 19,20).
Schon Lukas überliefert eine Prädikation des
angekündigten Kindes: „Sohn des Höchsten“
Maria als Mutter Jesu: (Lk 1,32.35). In Sure 19 entsprechend: „Zei-
Eine Auslegung von Sure 19,16-29 chen [Gottes] für die Menschen“, Zeichen von
Auffällig ist: Der erste koranische Schlüssel- Gottes „Barmherzigkeit“ (Sure 19,21).
text zur Geschichte Marias ist durch drei Orts- Zugleich sind entscheidende Unterschiede
angaben oder „Raumsignale“ klar strukturiert unverkennbar. Anders als der Evangelist be-
(vgl. Text der Sure auf S. 47): tont Sure 19 auffällig den visionären Charakter
1. Die Geistbegegnung und -schöpfung findet der Geistbegegnung: Der Geist Gottes stellt
an einem „östlichen Ort“ statt (16-21). sich Maria dar „als“ ein stattlicher Mensch
2. Die Geburt Jesu findet an einem davon noch (19,17). Warum? Weil dadurch „von vornher-
einmal unterschiedenen „fernen Ort“ statt ein der Gedanke abgewiesen“ werden kann,
(22-26). „dass Marjam durch diesen ‚Mann’ – man-
3. Die Rückkehr Marias zu ihrem Volk erfolgt che setzen ihn mit dem Engel Gabriel gleich
an einem dritten Ort (27-29). – empfangen hätte. Der Text bringt nur einen
Vergleich! Der ‚Geist’ ist nicht inkarnierter
• Gottes Geist erscheint Maria Mensch, er erscheint Marjam nur in sinnen-
Schauen wir auf den Abschnitt Sure 19,16-21: hafter Weise“ (C. Schedl, Mohammed und
Wer als christlich geschulter Leser diesem Jesus, 1978, 193). Mehr noch: Von der literari-
Text begegnet, wird hier zunächst Parallelen schen Form her ähnelt auch diese koranische
zu den Berichten des Neuen Testaments zie- Ankündigungsszene mehr einer feinen Skizze
hen, namentlich zur Geburtsgeschichte des als einer ausgearbeiteten Szene. Andeutun-
Lukas. Übereinstimmungen sind mit Händen gen, knappste Angaben genügen offenbar
zu greifen. Schon der Evangelist Lukas kennt auch hier. Plötzlich ist Maria präsent, ohne
16 Gedenke in der Schrift der Maria! Als sie sich vor ihren Leuten
an einen östlichen Ort zurückzog.
17 Da nahm sie sich vor ihnen einen Vorhang.
Da sandten wir zu ihr unseren Geist und er erschien ihr als stattlicher Mensch.
18 Sie sagte:
„Ich suche Zuflucht vor dir beim Allerbarmenden, falls du gottesfürchtig bist.“
19 Er sagte: Verkündigung =
Begegnung mit dem
„Ich bin der Gesandte deines Herrn, um dir einen lauteren Jungen zu schenken.“ Geist Gottes
20 Sie sagte:
„Wie soll ich einen Jungen bekommen, wo mich kein Mensch berührt hat und ich
keine Hure gewesen bin?“
21 Er sagte:
„So ist es. Dein Herr sagt:
‚Das fällt mir leicht. So wollen wir ihn zu einem Zeichen für die Menschen machen
und zu Barmherzigkeit von uns. Es ist beschlossene Sache.‘“
22 Da war sie mit ihm schwanger und zog sich mit ihm an einen fernen Ort zurück.
23 Die Wehen drängten sie zum Stamm der Palme. Sie sagte:
„Wäre ich doch vorher gestorben und ganz vergessen worden!“
24 Da rief er ihr von unten zu: Geburt Jesu
„Sei nicht traurig! Dein Herr hat unter dir fließendes Wasser geschaffen.
25 Schüttle den Stamm der Palme zu dir hin, dann lässt sie frische, reife Datteln auf dich fallen.
26 So iss, trink und freu dich! Wenn du jemanden von den Menschen siehst, dann sag:
‚Ich habe dem Allerbarmenden ein Fasten gelobt. Da werde ich heute mit keinem
Menschen reden.‘“
27 Da kam sie mit ihm auf den Armen zu ihrem Volk. Sie sagten:
„Maria, du hast eine unerhörte Sache begangen. Rückkehr Marias
zu ihrem Volk
28 Schwester Aarons, dein Vater war kein schlechter Mann und deine Mutter keine Hure.“
29 Da zeigte sie auf ihn.
(Sure 19,16-29: mittelmekkanische Zeit, Mk II)
dezu revolutionären Lobgesang, das be- • Zeugung spirituell, nicht sexuell beschränkt sich der Koran – wie das
rühmte „Magnificat“, in den Mund („Die Für den zweiten Teil des Textes gilt Ähn- Neue Testament – auf ein Minimum an
Mächtigen stürzt er vom Thron und er- liches. Auffällig ist, dass der Vorgang Erklärung: Jesus ist durch das Einhau-
höht die Niedrigen / die Hungernden be- der Geistzeugung als solcher erzähle- chen des göttlichen Geistes von Maria
schenkt er mit seinen Gaben / und lässt risch ausgespart ist. Wir erfahren, dass empfangen worden. Die entsprechen-
die Reichen leer ausgehen“ Lk 1,52f) und Maria schwanger ist, mehr nicht. Wie den Stellen im Neuen Testament und im
lässt Maria alle Geschehnisse um ihren Lk 1,35 ist auch Sure 19,22 frei von jeg- Koran sind auffällig parallel:
Sohn „in ihrem Herzen“ bewahren (Lk licher sexueller Anspielung. Nichts soll „Der Heilige Geist wird über dich kom-
2,51). In Sure 19 dagegen ist Maria eine offensichtlich an mythologische Szenen men, und die Kraft des Höchsten wird
eher passive Figur, gänzlich stilisiert zu einer gott-menschlichen Zeugung er- dich überschatten“ (Lk 1,35).
einem Menschen in völliger Gotterge- innern. Das Schweigen zwischen Sure „Und die ihre Scham schützte (Maria).
benheit, an dem Gott ein großes Zeichen 19,21 und 19,22 wahrt den Respekt, den Da bliesen wir in sie von unserem Geist
wirkt. Weder ein Fiat noch gar ein Mag- Menschen dem Göttlichen schulden und und machten sie und ihren Sohn zu ei-
nifikat wird ihr in den Mund gelegt. schulden sollen. Auch in späteren Suren nem Zeichen für alle Welt“ (Sure 21,91:
evangelium.
48 welt und umwelt der bibel 4/2019 20021901362921-01 am 10.04.2021 über http://www.united-kiosk.de
Gottes Erwählte
Mk II; ebenso Sure 66,12: Md; vgl. auch Auffällig auch: Der Koran erzählt von die Rettung der Hagar erkennen, wie sie
Sure 4,171: Md). diesem Ereignis äußerst zurückhaltend. im Buch Genesis geschildert wird (Gen
Bemerkenswert in Sure 19 ist auch, An narrativer Ausschmückung des Mira- 21,14-19). Diese Assoziation ist schon
dass fast gleichzeitig mit der Tatsache der kelhaften wie später in der christlichen deshalb nicht abwegig, weil zwar nicht
Schwangerschaft (19,22) „Wehen“ bei Ma- Überlieferung ist er nicht interessiert. im Koran, wohl aber in der nachkorani-
ria erwähnt werden (19,23). Übergangs- Maria wird lediglich aufgefordert, den schen Überlieferung Hagar als „Mutter
los, ohne weitere Informationen. Ko- Stamm der Palme zu schütteln (19,25). des Islam“ eine zentrale Rolle spielen
rantypisch eben. Wir erfahren nur, dass Mirakelhaft ist das nicht. In der christ- wird. Undenkbar, dass ihre Geschichte
Maria sich mittlerweile an einem „fernen lichen Quelle neigt sich die Palme auf dem Propheten nicht bekannt gewesen
Ort“ befindet. Dieser kühne „Sprung“ in Befehl des Kindes spektakulär mit ihren sein soll. Denn über ihren mit Abraham
der Erzählung hat muslimische Ausle- Ästen zu Boden und richtet sich ebenso gemeinsamen Sohn Ismael wird schon
ger zu Spekulationen über die Dauer der dramatisch auf Kommando wieder auf. im Koran die Verbindung der Muslime
Schwangerschaft Marias provoziert (H. zu Abraham hergestellt (vgl. Sure 2,127;
Busse, Islamische Erzählungen von Pro- • Wiederholung des Hagar- 3,54: beide Md). Nach den biblischen
pheten und Gottesmännern, 2006, 485). Schicksals und nachkoranischen Erzählungen wird
Doch lassen wir solch gynäko-theologi- Was immer es an Motiv-Verbindungen Hagar von Abraham und Sara zwar ver-
sche Spekulationen beiseite und konzen- und -Verknüpfungen gegeben haben stoßen und gerät mit ihrem dreizehnjäh-
trieren uns auf den Wortlaut des Textes. mag, der Koran selber liefert uns in Sure rigen Sohn Ismael in die Wüste, doch
19,22-29 diese Signale: Gott lässt sie durch einen Engel retten.
• Das Quell- und Palmwunder Auffällig ist zunächst, wie erzähle- Hagar entdeckt eine Quelle Leben spen-
Schwanger geworden, hat sich die ko- risch kunstvoll der koranische Bericht denden Wassers. Sie geht hin, füllt ih-
ranische Maria in Sure 19 ein weiteres auch in diesem Teil des Textes mit Kon- ren Schlauch und gibt ihrem Sohn den
Mal zurückgezogen. Bei dem genannten trasten arbeitet. Einerseits die Entwirk- lebensrettenden Trank (Gen 21,19). In
„fernen Ort“ ist an eine Wüsten-Oasen- lichung der Welt auf knappste Details, beiden Fällen also, in Genesis 21 und in
Szenerie zu denken, was die weiteren andererseits der Realismus der Welt: Sure 19, geht es um eine wundersame
Raum-Details nahelegen: „Stamm einer das ganz und gar realistisch geschilder- Rettung der Ur-Mütter durch Gott mit
Palme mit Datteln“ / „fließendes Was- te Erstaunen von Marias Umwelt über Hilfe einer Wasserquelle. Das von Gott
ser“. Gerade für diesen Abschnitt aus das Kind einer unverheirateten Frau, der gelenkte Schicksal von Maria und Hagar
Sure 19 hat man in der kommentieren- Verdacht der Hurerei. Dem Wunsch Ma- soll sich offensichtlich entsprechen. In
den Literatur auf Parallelen zu außerka- rias, zu sterben oder völlig vergessen zu Maria wiederholt sich Hagars Schicksal.
nonischen christlichen Überlieferungen
aufmerksam gemacht. In der Tat finden
sich christliche Parallelen im Pseudo-
Matthäusevangelium, einer christlichen
In beiden Fällen geht es um eine wundersame Rettung
Schrift zur Verherrlichung Marias als Kö- der Ur-Mütter durch Gott mit Hilfe einer Wasserquelle
nigin der Jungfrauen. Sie schildert die-
ses Ereignis im Zusammenhang mit der
Ägypten-Flucht der „Heiligen Familie“, sein (Sure 19,23), entspricht die fürsorg- So – als typologisches Urbild der Mut-
stammt aber aus nachkoranischer (!) liche Tat Gottes. Marias Todessehnsucht ter des Islam – kann Maria auch in die
Zeit: aus dem 8./9. Jh. steht das lebendige Quellwasser gegen- islamisch gedeutete „Heilsgeschichte“
Sollte es untergründige motivge- über. Die Bitterkeit ihrer Schmerzen bei einrücken.
schichtliche Verbindungen zwischen der Geburt kontrastiert mit der wunder- • Dass der Koran anders als christli-
dieser und der vorangegangenen kora- samen Labung durch süße Datteln. Dem che Überlieferung für die Geburt Jesu
nischen Version des „Palm- und Quell- Schweigegelübde der erwachsenen Ma- nicht einen Stall (Lk 2,7) oder ein Haus
wunders“ gegeben haben, so fallen vor ria entspricht das Reden des Neugebore- (Mt 2,11), sondern die Szenerie „Wüste“
allem die Unterschiede ins Auge. Denn nen. Der Text arbeitet also noch stärker bzw. „Oase“ wählt, hat tiefe theologisch-
die wundersame Erquickung Marias als im ersten Teil mit einem literarisch symbolische Bedeutung. Die Wüste ist
durch Datteln und Wasser ist im Koran bewusst gesetzten Kontrast zwischen ein nackter Raum, ein Ort der Leere, ein
ein göttliches Wunder; der Neugebore- Realismus und Stilisierung, zwischen Ort ohne Eigenmacht. Er kann gerade
ne weist lediglich darauf hin: „Der Herr Alltagsniedrigkeit und prophetischer so zum objektiven Korrelat für Gottes
... hat geschaffen“ (19,24). Bei Pseudo- Hoheit, zwischen konkreten Details der Fülle, Gottes Präsenz, Gottes Zur-Welt-
Matthäus geschieht das Wunder durch menschlichen Geschichte und Entwirk- Kommen werden. Zugleich sind die Pal-
den Jesusknaben selbst. Er, als Kind (!), lichung zum Zweck der Transparenz für me und ihre Datteln sowie das lebendige
befiehlt der Palme, sich niederzusenken das Göttliche. Quellwasser Symbole für Fruchtbarkeit,
und aufzurichten, befiehlt das Fließen • Strukturell lässt die Rettungsszene für neues Leben, für Zukunft. Sie stehen
eines Wassers zur Stillung des Durstes. mit dem fließenden Wasser Anklänge an für Gottes Leben schaffendes Handeln.
Die Wahl dieser und keiner anderen Szenerie hätten provozieren können ... Erst in Medina, als
unterstreicht somit die schöpfungstheologische dogmatisch gebildete Christen in den Horizont
Pointe der gesamten Sure 19. der muslimischen Gemeinde treten, findet sich
Was folgt daraus für das Bild von Maria, das die Debatte erweitert, und eine stärker theolo-
uns in Sure 19,16-33 entgegentritt? Gezeichnet gisch informierte Haltung gegen bestimmte
wird Maria hier vor allem als eine heiligmäßi- christliche Dogmen tritt hervor“ (A. Neuwirth,
ge weibliche Figur, als ein Urbild von Reinheit, Imaging Mary, Disputing Jesus, 2014, 353).
die auf wundersame Weise ein außergewöhn-
liches Kind zur Welt bringt. Damit spielt Maria
von Anfang an im Koran eine wichtige Rolle Geburt und Kindheit Marias: Weiter-
als eine Frau, die in besonderer Weise von Gott entwicklung des Maria-Bilds in Sure 3
ausgezeichnet wird. „Gedenke in der Schrift der Überblickt man aber den ganzen Koran, fällt auf,
Maria!“ (19,16) – das ist nicht als bloße Formel dass die Erinnerungsarbeit im Blick auf Maria
gemeint, es ist ein Signal an die Ersthörenden zunächst auf die wenigen Texte aus der zweiten
aus dem Kreis der „Ungläubigen“ in Mekka mit Periode von Mekka beschränkt bleibt. In der ers-
der Aufforderung, wie Maria dem Schöpfergott ten und dritten Periode (610–614; 620–622) kein
Vertrauen entgegenzubringen. Darin ist Maria Wort zu Maria.
buchstäblich denk-würdig und denk-notwen- Das ändert sich erst in Medina. In Sure 3
dig. Sie gehört in die Reihe der Personen, die kommt es nicht bloß zu erneuten Aussagen über
den Adressaten des Koran als besondere Zei- die Geburt Jesu. Jetzt finden sich auch völlig
chen des Schöpfergottes in der Geschichte der neue Aussagen über Maria – über ihre Geburt,
Menschheit in Erinnerung gerufen werden. Sure ihre Erwähltheit durch Gott von Kindheit an,
19 trägt nicht zufällig schon im Titel den Namen über ihr gottgeweihtes Leben im Tempel (Sure
„Maryam“. Entsprechend ernst zu nehmen ist 3,33-47). Bekräftigt wird auch in Sure 3 das Motiv
die Aussage, die in Sure 19 Jesus schon als Kind der Geistschöpfung und Jungfrauengeburt (3,45-
in den Mund gelegt wird: „ehrerbietig“ zu sein 47). Maria erscheint so vollends als eine von
gegen seine Mutter. In einer der nächsten Suren Gott erwählte Frau, schon als Kind von Gott be-
aus mittelmekkanischer Zeit kann es deshalb schützt, mit Reinheit und Sündenlosigkeit aus-
auch schon formelhaft-festgefügt heißen: „und gestattet, als Verkörperung von Gottergebenheit
machten den Sohn Marias und seine Mutter zu schlechthin. Eine exemplarische Ur-Muslima.
einem Zeichen. Wir gaben ihnen Zuflucht auf ei- Ein Vergleich zu Sure 19 ergibt:
ner Anhöhe mit festem Grund und Quell“ (Sure (1) Anders als in der mekkanischen Version
23,50: Mk II). hat Maria in diesem Bericht keine Vision, son-
An wen richten sich solche Aussagen über Ma- dern eine Audition. Ihr erscheint nicht der Geist
ria? Es dürften nichtchristlich geprägte Grup- Gottes in Gestalt eines „stattlichen Menschen“
pen gewesen sein. Zwar setzen die Texte eine wie in Sure 19,17, hier hört sie die Rede einer
Vertrautheit mit der Bedeutung von Zacharias, Mehrzahl von – wohl unsichtbar bleibenden –
Johannes, Maria und Jesus voraus, bis Sure Engeln (Sure 3, 45).
19,33 aber lässt sich keinerlei Kontroverse um (2) Die Reaktion Marias erscheint in Sure 3,47
die Christologie erkennen, die auf Konflikte mit noch stärker stilisiert. Keine Rede mehr von ei-
christlichen Bekenntnissen schließen ließe. Mit ner doppelten Angst wie in Sure 19, der Angst
diesem Maria- und Jesusbild geht der Koran eher vor der plötzlichen göttlichen Erscheinung und
in Distanz zu „heidnischen Synkretisten, die Je- der Angst, als „Hure“ beschimpft zu werden. In
sus offensichtlich in ein Pantheon von Göttern Sure 3 übrig geblieben ist von Marias elementa-
ähnlich ihrem eigenen einverleibt hatten. Es gab rer menschlicher Reaktion nur noch die Frage
ja auch keine theologisch gebildeten Christen nach der Möglichkeit von Schwangerschaft ohne
in Mekka, die eine antichristologische Polemik Berührung durch einen „Menschen“.
(3) Entschiedener noch als in Sure 19 wird in riologie und Volksfrömmigkeit zu lesen. Im Di-
Sure 3 die Schöpfermacht Gottes hervorgehoben. alog ist das eine Chance, sich über Grundlagen
Entsprechend wird auch hier die Zustimmung des Glaubens auszutauschen und jeweilige Un-
Marias nicht abgewartet, hier bekommt diese terstellungen oder Abqualifizierung durch eine
Frau noch deutlicher zu hören: „So ist Gott. Er an der Sache orientierte Theologie zu ersetzen.
erschafft, was er will. Wenn er eine Sache be- Ich fasse den koranischen Befund mit den
schließt, dann sagt er zu ihr nur: Sei, und da ist Worten der beiden katholischen Theologen Lud-
sie“ (Sure 3, 47). wig Hagemann und Ernst Pulsfort zusammen,
denen wir die kleine, heute noch lesenswerte
Studie „Maria, die Mutter Jesu, in Bibel und Ko-
Die einzige mit Namen erwähnte ran“ verdanken (1992, 97f):
Frau im Koran „Auch Maria wird im Koran zusammen mit
Wie sehr Maria im Koran herausgehoben ist, ihrem Sohn als ‚Zeichen für die Menschen‘
zeigt noch einmal eindrucksvoll Sure 66 aus charakterisiert. Auch an ihr kann Gottes Han-
medinensischer Zeit. Vier Frauen werden hier deln abgelesen werden. Sie gilt als Typos der
genannt: die Frau des Noach, die Frau des Lot, glaubensbereiten Frau und wird als Beispiel
die des Pharao und Maria. Noachs und Lots für die Gläubigen hingestellt. Wie die Frau des
Frauen werden als „treulos“ dargestellt und dem zunächst ungläubigen Pharao im Gebet ihren
Gericht überantwortet, ohne dass dies näher er- Glauben bekennt (Sure 66,11) und wie die Köni-
klärt würde. Pharaos Frau und Maria werden als gin von Saba den Ungläubigen ihrer Umgebung
Vorbilder herausgestellt: im Glauben vorangeht (Sure 27,23-33), so steht
11 Für die, die glauben, hat Gott als Beispiel Maria als Gläubige den ungläubigen Israeliten
Pharaos Frau gegeben. Als sie sagte: gegenüber. Damit wird Maria neben der Frau des
„Herr, baue mir bei dir ein Haus im Garten, ret- Pharao und der Königin von Saba und im Gegen-
te mich vor Pharao und seiner Tat, rette mich vor satz zu den ungläubigen Frauen von Noach und
dem Volk, das Unrecht tut!“ Lot (Sure 66,10f) zum Typus und zur Präfigura- Lesetipp
12 Und Maria, Imrāns Tochter, die ihre Scham tion des Glaubens der Khadîdja, Mohammads • Weitere koranische
schütze. Da bliesen wir in sie von unserem Geist. Gemahlin, die nach der Überlieferung als erste Texte zur Gestalt Marias in:
Sie glaubte den Worten ihres Herrn und seinen den Islam annahm. Maria wird in der islami- Karl-Josef Kuschel, Die
Schriften und gehörte zu den Gehorsamen.“ schen Tradition zusammen mit Âisha, Khadîdja Bibel im Koran. Grundla-
(Sure 66,11f: Md) und Fâtima als eine der vier besten Frauen, die je gen für das interreligiöse
Muslime betonen im Dialog mit Christen oft gelebt haben, angesehen und gilt als Haupt der Gespräch, Patmos 2017,
nicht ohne Stolz, dass im Koran zwar von No- Frauen im Paradies. Wie Abraham (Sure 19,41), s. Büchertipps.
achs, Lots und Pharaos Frau die Rede ist, je- Idrîs (Sure 19,56) und Josef, der Sohn Jakobs
doch ohne sie mit Namen zu nennen. Maria ist (Sure 12,46), wird auch Maria im Koran als siddî-
die einzige mit Namen erwähnte Frau im Koran. ka charakterisiert, was soviel wie „gerecht“ und
Kein Zufall somit, dass ihr in der islamischen „fromm“, auch „wahrhaftig sein“, bedeutet. Weil
Frömmigkeit eine hohe Bedeutung zukommt sie „die Worte ihres Herrn und seiner Bücher“
(A. Schimmel, Jesus und Maria in der islami- für wahr hielt, gehört sie „zu denen, die (Gott)
schen Mystik, 1996; B. Freyer Stowasser, Art. demütig ergeben sind“ (Sure 66,12)“. W
„Mary“, in: Encyclopedia of the Quran, Bd. 3,
288–296). Und da Maria im Koran die Erwählte
Gottes ist, ja die Verkörperung von Gotterge-
benheit schlechthin, kann man mit Recht von
einer theozentrischen Mariologie im Koran spre-
chen. Das unterscheidet Christen und Muslime
im Glauben: Für Christen hat Maria vor allem
eine christologische Bedeutung, für Muslime
eine theozentrische. Dass Christen mit dem alt- Prof. Dr. Dr. h. c. Karl-Josef Kuschel war bis 2013 Professor
kirchlichen Konzil von Ephesus im Jahre 425 von für „Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs“ an
Maria sogar als „Gottesgebärerin“ sprechen und der Universität Tübingen. Forschung und vielfältige Publika-
tionen u. a. zur „Theologie des interreligiösen Dialogs“ mit
sich betend an sie wenden, ist von Anfang an auf
dem Schwerpunkt „Judentum, Christentum, Islam“ sowie
das Unverständnis von Muslimen (und Juden!) zum Thema „Weltreligionen im Spiegel der Literatur“. Zuletzt
gestoßen. Das koranische Bild Marias, das im erschienen: „Dass wir alle Kinder Abrahams sind ...“. Helmut
Koran Anfang des 7. Jh. auftaucht, ist auch als Schmidt begegnet Anwar as-Sadat. Ein Religionsgespräch auf
theozentrische Korrektur einer christlichen Ma- dem Nil, Patmos 2018.
M
it der Ausbreitung des Chris- – nun weiblich gedachte – „Gegenwart rienverehrung. Die jüdische Gemeinde
tentums wurde die Gottesmut- Gottes in der Welt“ oder auch „Herrlich- lebte nicht in einem Getto, sondern in-
ter Maria im Mittelmeerraum keit Gottes“, sein weibliches Prinzip. mitten des Christentums, „sodass die
und ganz Europa bekannt, auch in Nur mit ihr ist er vollkommen (Weibli- Juden der Provence der Explosion der
den jüdischen Gemeinden. Sie wurde che Gottesbilder S. 167). Sie steht an der marianischen Theologie und Verehrung
Gegenstand jüdischer Polemik – und Schwelle zur irdischen Welt, sie bündelt der Jungfrau, die buchstäblich vor ih-
umgekehrt formulierten christliche Ma- die Kräfte aller Sefirot, sie gibt diese ren Augen stattfand, gar nicht entkom-
rienlegenden, dass die Juden Marias Be- Kräfte nach unten an die irdische Welt men konnten. [...] Selbst wenn sie keine
gräbnis und ihre Aufnahme in den Him- weiter und richtet die göttlichen Kräfte
mel verhindern wollten (s. Abb. S. 31). Ist gleichzeitig wieder nach oben (170). In
Maria damit also ein weiterer Ausdruck ihrer Gestalt, in seiner weiblichen Kraft, In seiner weiblichen
der Trennung und Feindschaft der bei- betritt Gott die Welt und durch sie erhält Kraft betritt Gott die Welt
den Religionen? Der international re- der Mensch Zugang zu Gott. Die Sche-
nommierte Judaist Peter Schäfer hat in china fungiert als „Mittlerin zwischen
seinem Werk Weibliche Gottesbilder in Gott und Mensch, Himmel und Erde“, christlichen Kirchen besuchten, um den
Judentum und Christentum dagegen eine sie ist „die Kraft, durch die die göttliche Predigten zu lauschen, dürften sie doch
These entwickelt, die Judentum und Sphäre in die irdische Welt hineinwirkt, Prozessionen mit der Jungfrau Maria auf
Christentum ausgerechnet in der Gestalt Gott mit den Menschen kommuniziert“ den Straßen gesehen und Prediger auf
der Maria auf eine erstaunliche und un- (173). Sie wird geliebte Schwester, Toch- dem Marktplatz gehört haben“ (306).
erwartete Weise zusammenbringt. ter, Gemahlin und Mutter genannt. Als Schäfer sieht sogar Indizien, dass jüdi-
Dazu reisen wir ins südliche Frank- Mutter hat sie die Aufgabe, die Kinder sche Kinder am christlichen Schulun-
reich am Ende des 12. Jh. Ein kleines mit dem Vater zu versöhnen, also Israel terricht teilnahmen (307). Nachdem sich
Buch mit dem Namen Bahir erscheint. mit Gott vereinigen (178). Sie birgt – in die Marienverehrung zuerst zögerlich in
Es ist die erste kabbalistische Schrift des den Worten der jüdischen Mystik – alle den Westen bewegt hatte, ist nun folgen-
Judentums. Darin wird Gottes vielgestal- Wege der Weisheit in sich, alle Geheim- des Phänomen zu beobachten: „die Ver-
tige innere Beschaffenheit in zehn Sefirot nisse Gottes ... (175). ehrung der Jungfau Maria, die während
(Kräften) beschrieben – die zehnte Sefira Schäfers These nun ist, dass die christ- des 10. und 11. Jh. im westlichen Chris-
ist weiblich. Eine weibliche Kraft in Gott liche Marienfrömmigkeit des 12. Jh. den tentum zunahm und im 12. Jh. – in ers-
ist neu im Judentum dieser Zeit. Denn Bahir beeinflusst haben könnte und Ma- ter Linie auf Grund der Vermittlung und
auch wenn, wie Schäfer ausführt, in der ria eine Art Vorbild dafür war, dass der leidenschaftlichen Verkündigung durch
frühjüdischen Weisheitstradition die weibliche Aspekt Gottes im Herzen der die Mönche des Zisterzienserordens –
Weisheit (griech. sophia) weiblich kon- jüdischen mystischen Tradition wieder geradezu explodierte. Es waren die Zis-
notiert ist, als geliebte Tochter (Buch der auftaucht (226). terzienser, die durch ihre der Jungfrau
Sprüche) und Gemahlin Gottes (Buch gewidmeten Kirchen und Klöster und
der Weisheit) bezeichnet wird – in rab- das tägliche in ihrer Komplet gesunge-
binischer Zeit bricht die Tradition einer Wie erlebten jüdische Gemeinden ne Salve Regina, Mater Misericordiae
weiblichen Erscheinungsform Gottes ab. die Marienfrömmigkeit? (,Sei gegrüßt, Königin, Mutter der Barm-
Daher ist die Hervorhebung im Bahir im Er nimmt also die Lebenswelt des Bahir- herzigkeit‘) die der Maria entgegenge-
12. Jh. auffällig. verfassers oder -redaktors in den Blick, brachte Liebe und Verehrung zuerst in
Die zehnte Sefira ist die Schechina. Im die Provence des 12. Jh. Zu dieser Welt Frankreich und dann in ganz Europa
mystischen Denken des Bahir ist sie die gehörte eine massiv anwachsende Ma- verbreiteten. [...] Maria, die Mutter Got-
tes und Himmelskönigin, stand vielfach schließlich wird sie sogar zur salvatrix ter und Braut Gottes ähnele Maria der
im Zentrum ihrer Predigten“ (197). („Retterin, Erlöserin“) (222). Stellung der Schechina im Bahir (224).
Maria übernehme also gemäß der Schäfer entwirft das Bild der zwei sich
Mariologie des 12. Jh. geradezu eine befruchtenden Religionsgemeinschaf-
Der weibliche Aspekt Gottes und Heilsfunktion, die eigentlich allein Je- ten, die sich aus denselben biblischen
mariologische Aussagen im 12. Jh. sus vorbehalten war (222). Maßgebli- Weisheitstraditionen speisen und ge-
Wenn im Judentum seit rabbinischer che Theologen des 11. und 12. Jh. (etwa meinsame Entwicklungen durchma-
Zeit das Konzept der weiblichen bibli- Hermann von Tournay, Bernhard von chen. Es ist ein Bild jenseits der christ-
schen Weisheit aufgegeben wurde, so Clairvaux und Hildegard von Bingen) lichen Pogrome, der gegenseitigen
sieht Schäfer im Christentum eine ähn- formulieren das: Sie setzen Maria mit „ewigen“ Feindschaft und Polemik. Er
liche Entwicklung von neutestamentli- der biblischen Weisheit gleich, der nimmt eine dynamische Wechselwir-
cher Zeit an – in der Konzentration auf „Erstgeborenen vor aller Schöpfung“, kung zwischen Judentum und Chris-
den männlichen Erlöser und Logos. Im und sehen Maria gleichzeitig – durch tentum seit der byzantinischen Zeit ins
Christentum sei der weibliche Aspekt ihre Himmelfahrt – mit Leib und Seele Mittelalter hinein an, in der sich Ideen in
Gottes aus der biblischen Weisheits bei Gott. Damit ist Maria vor ihrer Geburt beständiger Anziehung und Ablehnung
tradition in der Gestalt Marias allmäh- und nach ihrem Tod in einer göttlichen, entwickeln (311).
lich reintegriert worden, im Judentum himmlischen Stellung. Zudem erhält Schäfers Ausführungen sind selbst-
schlagartig in der Gestalt der weiblichen Maria Konnotationen als Tochter, Mut- verständlich kontrovers diskutierbar,
Schechina im Bahir – und für beide ter wie auch Braut und Gemahlin. „Aller vielleicht sogar „starker Tobak“ in der
macht Schäfer einen Höhepunkt im 12. göttlicher Segen wird durch sie hinab- Bewertung, ob man in der Mariologie
Jh. aus. geleitet [...]. Gott liebt uns und gelangt des 11./12. Jh. einen Prozess der Vergött-
Schäfer sieht in den Erklärungen der zu uns hinab durch sie“ (223). Marias lichung Marias benennen kann. Aber sie
Konzilien von Ephesus und Chalzedon Fürsprache bezeichnet die umgekehrte werfen am Beispiel der Maria ein Licht
(431 und 451), die Maria als theotókos Bewegung hinauf zu Gott. auf den Kulturtransfer und Ideenaus-
und ewige Jungfrau beschrieben, den tausch, der wesentlich zur Geschichte
Beginn eines Prozesses, der einer Ver- der Religionen gehört. „Vielleicht gehen
göttlichung Marias (199) in der Frömmig- Eine Art des religiösen Austauschs wir zu bereitwillig von einem statischen,
keit des 12. Jh. nahekomme: „Durch die Neben deutlichen Unterschieden sind eindimensionalen Bild der Begegnung
leibliche Beziehung zwischen ihr und für Peter Schäfer Ähnlichkeiten zwi- zwischen Christen und Juden aus“, so
ihrem göttlichen Sohn hat Maria an der schen der Vorstellung von der Schechi- Peter Schäfers Resümee (306). W
Göttlichkeit ihres Sohnes teil. [...] Allein na und von Maria offensichtlich. Am
,durch sie‘ wird die Heilige Dreifaltigkeit ähnlichsten sind sich die beiden in ihrer
verehrt, allein ,durch sie‘ kehrt die ge- Funktion: Schechina und Maria fungie-
© Joaquin Ossorio-Castillo /123rf.com
fallene Schöpfung zum Himmel zurück, ren als Mittlerin und Fürsprecherin für
nur ,durch sie‘ erstehen die Toten auf alle Menschen. „Allein durch die Sche- Lesetipp
usw. [...] Sie wird zur heilsnotwendigen china hat die Menschheit Zugang zu • Peter Schäfer, Weibliche Gottesbilder im
mediatrix (,Mittlerin‘) zwischen Gott und ihrem Vater [...] Ähnlich ist Maria me- Judentum und Christentum, Verlag der Weltreli-
den Menschen und übernimmt – ge- diatrix und interventrix aller Menschen. gionen 2008.
meinsam mit ihrem Sohn Jesus Christus Sie lenkt die Gebete der Menschheit und
– die Rolle der corrdemptrix (,Miterlöse- deren Bitte um Vergebung zu Gott“ (225). Helga Kaiser ist Redakteurin von „Welt und
rin‘)“ (199). Bei Hildegard von Bingen Auch in ihrer Stellung als Tochter, Mut- Umwelt der Bibel“
Schwester im Glauben
© AKG-Images
W
er im Jahr 1522 im reformatorisch er- nicht etwa eine klassische Madonnendarstel-
regten Zürich als Gastprediger auftrat, lung, sondern Christus am Kreuz und darunter
hatte es nicht unbedingt leicht. Im Juli auf der einen Seite Maria mit Johannes, auf der
predigte der Franziskaner Franz Lambert von anderen Seite, kniend, Maria Magdalena. Auch
Avignon im Fraumünster nachdrücklich über das war natürlich eine Mariendarstellung, aber
die Verehrung der Heiligen, insbesondere Mari- eben eine solche, die zeigte, worin Maria durch
as. Aus der Gemeinde aber scholl ihm entgegen: alle Transformationen hindurch auch für die
„Bruder, da irrst du!“ Der Ruhestörer war kein Frömmigkeit im reformatorischen Zürich von
Geringerer als der Leutpriester am Großmüns- bleibender Bedeutung sein sollte: als vorbild-
ter auf der anderen Seite der Limmat: Huldrych liche Verehrerin des Gekreuzigten. Genau das
Zwingli. Der Eklat war wohlkalkuliert und hatte stand im Zentrum der Predigt: die Erlösung
jedenfalls zur Folge, dass der Rat der Stadt sich durch das Blut Jesu Christi.
mit der Frage der reformatorischen Neuerungen Von hier aus konnte der Prediger dann auch
befasste. Bald schon ließ er diese in einer Dispu- Maria würdigend in den Blick nehmen, eben als
tation verhandeln. Im Ergebnis ordnete der Rat Mutter des Erlösers Jesu. Als solche war sie nicht
am 21. Juli 1522 den Zürcher Ordensleuten die Ursprung der Gnade, sondern ihr selbst war Gna-
evangeliumsgemäße Predigt an – und damit war de zuteil geworden. So deutete Zwingli auch das
offenkundig nicht die Verehrung der Heiligen „Ave Maria“ ganz betont in diesem Sinne: Auch
oder Marias gemeint. wenn man den Gruß des Engels Gabriel mit „voll
Das war die eigentliche erste Zürcher Disputa- der Gnade“ oder ähnlich übersetze, sei dies,
tion – ein halbes Jahr vor dem Ereignis aus dem dem griechischen Original entsprechend, pas-
Januar 1523, das in den Geschichtsbüchern uner- siv zu verstehen: Maria empfing die Gnade (und
müdlich als „Erste Zürcher Disputation“ geführt verschenkte sie nicht!) – wie sie es denn auch in
wird. ihrem Lobgesang in den folgenden Versen, dem
Dass die Verehrung Marias hierzu Anlass ge- berühmten Magnificat (Lk 1,46b-55), besang. Vor
geben hatte, war kein Zufall: Schon länger stritt allem aber sollte man bedenken, dass das „Ave
man in Zürich um die rechte Haltung zur Got- Maria“ kein Gebet sei, sondern bloß ein Gruß, so
tesmutter. Konrad Hofmann, der eine minutiö- wie man auch zu einer Grete sagen könne: „Got
se, nicht unbedingt böswillige, aber doch recht gruotz dich, Gret“.
scharfe Anklageschrift gegen Zwingli verfasste, Maria wurde so aus dem reformatorischen Kreuzigung
war skeptisch geworden, weil der Leutpriester Frömmigkeitsleben nicht ausgeschieden, son- Christi mit
zu Beginn einer Predigt das seit dem Hohen Mit- dern auf eigene Weise eingeordnet: als die Mutter, Maria, Mag
telalter übliche „Ave Maria“, den sogenannten die zur Geburt des Heilands unumgänglich nötig dalena und
englischen Gruß, fortgelassen hatte. Leugnung war, und als besonderes Vorbild, an welchem die
Johannes,
der fortdauernden Jungfernschaft und des Sta- Gnade Gottes erkennbar war, vor allem aber als
Lucas Cranach d. Ä.,
tus als Gottesmutter argwöhnte er – und drang eine Figur, die eben deswegen als besonders ge- um 1510–1520.
darauf, diese Sachlage zu klären. segnet und hochgelobt wahrgenommen und ge- Die Reformatoren
grüßt werden konnte. Das war eine Anerkennung weisen Maria ihren
der Rolle Mariens – und doch zugleich, gemessen Platz unter dem
Maria als Verehrerin des Gekreuzigten an der reichen mittelalterlichen Marienfrömmig- Kreuz neu zu: Ma-
Das tat Zwingli selbst in einer Predigt, die unter keit, eine gewaltige Reduktion, eine Rückführung riengedächtnis ja,
dem bezeichnenden Titel „Von der Ewigreinen auf den biblischen Kern der Mariologie. Verehrung nein.
magt Maria, der Mutter Jesu Christi unsers Erlö- Dass Maria zumal in der reformierten Fröm- Museum Unterlin-
sers“ im Druck erschien. Ebenso bezeichnend migkeit immer geringere Bedeutung haben den, Colmar.
war der Holzschnitt auf dem Titelblatt: Er zeigte sollte, lag nicht zuletzt auch an der Beseitigung
der Bilder in der Schweizer Reformation. Mari- Maria nie selbständige Bedeutung gehabt hatte,
enfrömmigkeit ist, allein schon weil die Marien- sondern stets nur in Bezug auf Christus erinnert
legende überwiegend aus nachbiblischen Quel- und verehrt wurde. In der Praxis aber hatten
len schöpft, auf Bildlichkeit angelegt und lebte sich die Darstellungen aus der Marienlegende
im Mittelalter vielfach durch deren Vermittlung schon so sehr verselbständigt, dass die reforma-
und Verehrung. Die reformierte Kirche verzich- torischen Neuerungen ein großes Loch rissen –
tete auf sie und machte das geschriebene Wort vor allem wohl ein emotionales.
zu dem entscheidenden Medium, in welchem © unten: Iakov Kalinin /123rf.com, oben: Pubic Domain
Seine Beschäftigung mit Maria ist also ein gu- Frömmigkeit und die Besonderheit Marias aus,
tes Jahr älter als die zuvor erwähnte Zwinglis, führte sie zur rechten Demut: Lutherisch
und der Zürcher mag auch vom Wittenberger „Rechte demut weysz nymmer das sie demutig wurden die Kirchen in
profitiert haben. Und doch zeigen sich auch die ist, denn wo sie es wiszte, szo wurd sie hohmu- vielen großen Territorien
Unterschiede in der Herangehensweise: Luther tig von dem ansehen der selben schonen tugent“ im Deutschen Reich des
ringt um die Vorstellung der „Demut“, die ihn (WA 7,562,19f). 16. Jh. Sie fußen auf der
Theologie Luthers und
von früh an beschäftigt hat. Eine Art „Existenz des Als ob“ wird hier von
Melanchthons, festgehal-
In der älteren Forschung meinte man, mit Luther empfohlen, eine Demut, die nicht mehr
ten in den lutherischen
seiner reformatorischen Theologie habe Luther um sich selbst weiß. Maria wird so zu einem Ex- Bekenntnisschriften und
eine frühere klösterliche Demutstheologie ge- empel reformatorischer Rechtfertigungslehre, in seinen theologischen
wissermaßen abgelegt. Die Auslegung des Mag- die ausdrückt, dass das Heil auf keine Weise vom Schwerpunkten, bspw.
Menschen verdient werden kann, sondern allein Rechtfertigungslehre.
aus Gottes Gnade herrührt und allein durch den Reformiert
Die reformatorischen Glauben den Menschen erreicht. Gerade die
Deutung Mariens zeigt, dass Luther dieses Ver-
wurden die Kirchen vor al-
lem in den oberdeutschen
Neuerungen rissen ein großes ständnis von Rechtfertigung nur vor mystischem Städten und der Schweiz,
Loch – vor allem wohl ein Hintergrund entwickeln konnte. „Den die solchs
ym leben uben, sind gar fridlich, gelassene, ein-
wo Zwingli und Calvin
einflussreich waren.
emotionales feltige menschen, nemen sich keynisz dings an, Uniert
wissen wol, das nit yhr, szondern gottis ist“, so nennt man Kirchen, die
verallgemeinert er die Haltung Marias als Vor- aus einer Vereinigung von
nificat aber zeigt, dass es nicht darum ging, das bild für andere Glaubende (WA 7,574,21-23). Reformierten und Luthera-
Ideal der Demut hinter sich zu lassen, sondern Die Gelassenheit als Ideal christlichen Lebens: nern im 19. Jh. hervorge-
gangen sind.
es reformatorisch zu transformieren. Wichtiger Diese Vorstellung stammt von Meister Eckhart.
Anhaltspunkt für die entsprechenden Ausfüh- Luther wurde sie bekannt, als er während seiner
rungen wurde Lk 1,48a: „Denn er hat die Nich- Arbeit an der Römerbriefvorlesung die Predigten
tigkeit seiner Magd angesehen“. Die wahre, vol- von Eckharts Schüler und Erben Johannes Tauler Martin Luther
le Anerkennung dieser Nichtigkeit machte die las. Maria ist das Urbild dieser Gelassenheit, die (1483–1546),
Porträt von Lucas Cranach
d. Ä., 1526.
Nationalmuseum Stockholm.
In seinem langen Pamphlet „Auß was gründ seinem grus.“ (WA 30/2, 638,16-20)
vnnd vrsach Luthers dolmatschung (…) vorbot- (Volker Leppin)
nichts auf Erden hat und nichts auf Erden will in Maria zu betrachten und dabei zu wünschen,
und genau darum alles empfängt: nämlich Gott. dass alle Menschen diese Erkenntnis erführen.
So geschah es Maria, und das Magnificat drückt Nicht Marias Bedeutung zu schmälern, war
dies in besonderer Weise aus – preist darin Maria Luthers Ziel – sondern sie so zu ehren, wie es der
doch den Gott, der nicht zu den Mächtigen ge- Einsicht in das Gnadenwirken Gottes entsprach:
kommen ist, sondern zu ihr, der unbedeutenden als Mensch, der nicht aus sich heraus besonders
Magd. Demut, Gelassenheit, Rechtfertigung: Sie war, sondern den Gott in seiner Gnade beson-
kommen in Maria zusammen, und sie kommen ders gewürdigt hatte.
zusammen in Luthers Beschreibung eines rech- Ein solches Mariengedächtnis war nicht Aus-
ten christlichen Lebens. Maria verdient so Wert- druck der Privatfrömmigkeit Martin Luthers. Im
schätzung nicht wegen ihres Handelns, sondern evangelischen kollektiven Gedächtnis ist nicht
überall präsent, dass die Confessio Augusta-
na einen eigenen Artikel (21) über die Heiligen
aufweist, der versichert, dass die Evangelischen
Nicht Marias Bedeutung zu ihrer gedenken, um an ihnen die Wirkungen der
schmälern, war Luthers Ziel – Gnade Gottes und sie selbst als Vorbilder guter
Werke zu sehen. In der Apologie, die Philipp Me-
sondern sie so zu ehren lanchthon hierzu verfasste, als eine Annahme
auf dem Reichstag gescheitert war, ging er auch
ausdrücklich auf Maria ein: Sie sei „alleshöchs-
weil sie Gott an sich handeln lässt. Auch das war ten lobes wird“, aber nicht als Erlöserin von Sün-
in der mittelalterlichen Mystik angelegt, in der de und Tod, sondern als Vorbild in Glauben und
die Gelassenheit Voraussetzung für die Gottes- Demut (Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-
geburt in der Seele war. Die Seele der Gläubigen Lutherischen Kirche, hg. v. Irene Dingel, Göttin-
Confessio Augustana wurde so als Ort der Jungfernschaft gesehen, gen 2014, 570,4–9).
Bekenntnisschrift, in der
durch welche an jedem einzelnen glaubenden So ist die Beschreibung rechten Mariengeden-
die lutherischen Reichs-
Menschen neu innerlich vollzogen wurde, was in kens Teil der evangelischen Bekenntnisschriften
stände 1530 ihre Glau-
bensinhalte formulierten
Empfängnis und Geburt an Maria geschehen war. geworden – und damit auch eine Art Testfall
und die bis heute in den Was die Mariendeutung Luthers so neu mach- der Ökumene. Es gibt für Evangelische keinen
lutherischen Kirchen große te, war, dass er die damit beschriebene Fröm- Grund zu erschrecken, wann immer Maria im
Bedeutung hat. migkeitshaltung nicht in den Gesamtzusam- katholischen Glaubensleben eine große Rolle
menhang der Heiligenverehrung einzeichnete, spielt. Sie können dies sogar als Anregung auf-
sondern ihr entgegenstellte. Als Vorbild, nicht nehmen, selbst intensiver Mariens zu gedenken,
als um Fürbitte Angerufene verdiente sie die freilich in dem Rahmen, den die reformatorische
Aufmerksamkeit der Glaubenden. Theologie hierfür sachte und doch deutlich ge-
zeichnet hat:
Maria ist die Mutter Jesu und damit, wie Lu-
Die neue Maria ther ganz selbstverständlich formulieren konn-
Auch damit verschwand Maria freilich nicht te, auch die Gottesmutter. Darin bleibt sie für
aus der evangelischen Frömmigkeit. Vielmehr den evangelischen Glauben von dauernder Be-
ließ der Wittenberger Reformator in seinem Bet- deutung: als Mensch, der die Gnade Gottes emp-
büchlein 1522 unmittelbar auf die Zehn Gebote fängt. W
und das Vaterunser auch eine Auslegung des
Ave Maria folgen, die später auch Eingang in
die Fastenpostille fand. Die Anknüpfung an die
tradierte Frömmigkeit erfolgte nicht ohne War-
nung: Niemand, so betonte Luther, solle sein Prof. Dr. Volker Leppin
Vertrauen und seine Zuversicht „auff die mutter lehrt Kirchengeschichte am
gottis odder yhr verdienst“ setzen – Gott allein Institut für Spätmittelalter und
sei zu preisen, durch Maria und durch die ihr Reformation an der Universität
„auß lautter gnaden on verdienst“ zuteil gewor- Tübingen. Unter vielfältigen
Publikationen – vom heiligen
dene Gnade (WA 10/2,407,9-14). Wer dies berück-
Franziskus über reformatorische
© Daniela Wagner
Hippos
60 welt und umwelt der bibel 4/2019 20021901362921-01 am 10.04.2021 über http://www.united-kiosk.de
Inhalt
60 bis 67
Panorama
Leben am Toten Meer – Ausstellung in Chemnitz
68 bis 71
Die großen Städte der Bibel
Ur in Chaldäa – Abrahams Heimat
72 bis 75
Die Bibel in berühmten Gemälden
Max Beckmann: Christus und die Sünderin
76 bis 77
Ausstellungen und Veranstaltungen
oben: © Landesamt für Archäologie Sachsen/Staatliches Museums für Archäologie Chemnitz; Mitte: SMAC; unten: © Wolfgang Zwickel
Peilstöcker (Lehrstuhl für Exegese
und Literaturgeschichte des
Alten Testaments, Berlin).
Biblische Geschichten
D er 90 x 17 km große Kessel zwischen
Palästina, Israel und Jordanien
ist heute ein unwirtlicher Ort, 427 m
die Höhlen von Qumran, die Felsenfes-
tung Masada oder die Burg Machaerus,
in der Johannes der Täufer enthauptet
Den Namen „Salzmeer“ verdankt das
Tote Meer der Tatsache, dass sein Was-
unter dem Meeresspiegel gele- wurde. Seit Jahren bringen Fachleute ser einen Salzgehalt von etwa 30 %
gen. Doch bereits vor 10.000 Jah- aus den Gebieten Archäologie, Numis- besitzt. So entstehen salzhaltige Stein
ren entstanden hier Siedlungen wie matik, Klimaforschung, Geschichtswis- formationen. Zum Beispiel geht der
Jericho oder En Gedi, die auch in der Bi- senschaft u. a. aus vielen Ländern die Ausdruck „zur Salzsäule erstarrt“ auf
bel eine Rolle spielen. Am Rand liegen Geschichte zum Vorschein, die sich hier eine biblische Geschichte zurück (Gen
im Tal von Sodom und Gomorrha abge- 19,1-29): Bei der Flucht aus Sodom blickt
spielt hat. Zum ersten Mal werden nun Lots Frau verbotenerweise auf die Stadt
die Funde in einer musealen Präsenta- zurück und wird in eine Salzsäule ver-
tion in Chemnitz zusammengefasst. Die wandelt. Unterschiedliche Überliefe-
Idee zur Ausstellung über die Archäolo- rungen lokalisieren die beiden Städte an
gie in Israel wurde während einer Israel- verschiedenen Orten rund um das Tote
reise 2013 geboren. Bei der Besichtigung Meer. Die Geschichte von Lot und seiner
Masadas und Jerichos wurde klar: Es Frau ist im Christentum (Lk 17,28-30)
sollte eine Ausstellung über die Region und im Koran (z. B. in den Suren 7:80 84,
des Toten Meeres werden. Verschiedene 11:77 83, 15:58-77) bekannt und im Ara-
Das Tote Meer heute. Früher war Themenfenster erschließen die Region bischen wird das Tote Meer daher Baḥr
es doppelt so groß und der Wasser- (in diesem Beitrag sind exemplarisch Lūṭ, das Meer Lots, genannt.
spiegel 40 m höher. Wellness, Mobilität, Macht und Ohn-
macht sowie Kult und Religion erwähnt).
Ghassul, am Nordufer des Toten Replik einer mit der römischen Eroberung (Pompei-
Meeres im heutigen Jorda steinernen Maske us) eine weitere Facette hinzu. Vor allem
nien, erstreckte sich über Die Maske ist Teil eines in der Sprache (Griechisch) und in der
etwa 25 ha. Sie gab einer Ensembles der vorkera- (städtischen) Architektur wird die Ver-
der Kulturen dieser Epo- mischen Jungsteinzeit änderung deutlich.
che den Namen „Ghas- aus der Nahal-Hemar- In der späteren hellenistischen und
sul-Kultur“. Schon früh Höhle, Israel. Zu dem römischen Zeit entwickelt sich rund
wurde der Ort – eigent- Fund gehören weitere um das Tote Meer eine Oasenwirtschaft
lich auf der Suche nach Steinmasken sowie Net- (Qumran, En Gedi, En Boqeq, Kalliröe,
Sodom und Gomorra – ze, Körbe, Stoffe, Feuer- Zeora) mit Dattelpalmen und Balsam
untersucht. Funde dieser steingeräte und Teile von produktion, ergänzt durch Handel mit
alten Grabungen sind in Gipsstatuetten. Asphalt und Salz, der durch die Schiff-
der Ausstellung zu sehen. fahrt auf dem See abgewickelt wird.
Eine Analyse von Textilien und deren kerung in einigen Orten. In diese Webgewicht vom
Verwendung oder das Fehlen bestimm- Zeit fällt die Erstellung der Schrift- Toten Meer.
ter Materialien erlaubt Rückschlüsse auf rollen, die in den Höhlen bei Qum- Textilreste finden
die Anwesenheit einer jüdischen Bevöl- ran gefunden wurden. sich nur sehr selten
Mit der Zerstörung des herodia in archäologischen
nischen Tempels in Jerusalem und Ausgrabungen, da
der Eroberung der Festung von sie aus organischen
Die Forschungs- Masada geht die Blütezeit der Region
zu Ende. Aber auch aus der folgenden,
Materialien hergestellt
sind. Eine Ausnahme ist die
geschichte der byzantinischen Zeit (324–638 nC),
gibt es bemerkenswerte Zeugnisse. Die
trockene Region des Toten Meeres.
Wir erhalten durch die Funde vom
Die Forschungsgeschichte der Gegend rückt in das Interesse christli- Toten Meer wichtiges Wissen auch
Regiondes Toten Meeres spiegelt cher Pilger. Klöster werden gegründet. für die Textilherstellung in anderen
gleichsam die verschiedenen Sta- Archäologische Zeugnisse davon sind Regionen.
dien der archäologischen und his- Kirchenbauten auf Masada oder in Ain
torischen Erforschung des Heiligen Abata. Das Mosaik von Madaba (Jorda-
Landes und der biblischen Archäo- nien) zeigt auf der ersten Landkarte des fluss gut zu erkennen ist. Weiterhin gibt
logie wider. Heiligen Landes ein lebendiges Leben in es in Jericho neben Moscheen auch eine
Die neuzeitliche, wissenschaftli- der Region, u. a. beim Schiffsverkehr auf jüdische und eine christliche Bevöl-
che Erforschung des Heiligen Lan- dem Toten Meer. kerung. Die Gegend um das Tote Meer
des beginnt im 19. Jh. Amerikaner, Die jüngste Forschung wirft ein neues blieb demnach eine Region kultureller
Deutsche, Franzosen und Briten Licht auf die geschichtlichen Prozesse Vielfalt. W (Martin Peilstöcker und Sabi-
reisten in die Gegend und waren fas- des Aufkommens des Islam in der früh ne Wolfram)
ziniert vom Toten Meer. Dabei waren islamischen Zeit der Umajjaden und
die Forscher immer auch aus religiö- Abbasiden (638–1099 nC). Der Früh- Info zur Ausstellung: s. S. 77
sen oder politischen Gründen in der islam hinterlässt beeindruckende Ge- leben-am-toten-meer.de
Region unterwegs. bäude, wie zum Beispiel die Paläste in
Khirbet el-Mafjar in Jericho, in denen
auch der christlich-byzantinische Ein-
oben: © Martin Peilstöcker; links: © Wikimedia CC, Hoshvilim; rechts: © Israel Museum, Jerusalem; unten: © dreamstime
Ein 1961 in der Höhle von Nahal
Mischmar gefundenes Depot umfasst
insgesamt 442 Objekte, davon 429 aus
Kupfer. Der Fund wird mit kultischen
Handlungen in Verbindung gebracht.
Kalliröe
Die Madaba-
Karte, ein
Mosaik aus
dem 6. Jh. nC
Der sogenannte „PEF Rock“,
zeigt ein Schiff
oberhalb der heutigen Landstraße
auf dem Toten
entlang des Westufers, zeigt den
Meer.
Wasserstand des Toten Meeres zum
Zeitpunkt der Messungen Anfang
des 20. Jh..
Mobilität
Das Tote Meer war in der Antike von Norden und von Süden recht leicht zu er-
reichen. Dabei spielte die Schifffahrt zu allen Zeiten eine wichtige Rolle. Die Mo-
bilität der Menschen im Altertum wird zum einen an Produkten deutlich, die im
Austausch für Salz, Balsam oder Datteln sowie für Rohstoffe aus dem Toten Meer
und der Region hierher gelangten. Sie zeigen den Kontakt mit fremden Ländern.
Manchmal lassen sich auch Zeugnisse für das Reisen zu Lande und zu Wasser be-
legen, wie römische Straßen oder Hafenanlagen und Anker.
Anker vom Toten Meer. Funde wie diese beweisen, dass es früher auf diesem
Gewässer eine rege Seefahrt von Handelsschiffen gab. Bitumen, Salz, Oliven,
Dattelhonig und Öl wurden über das Meer transportiert.
Gesundheit von höheren Mächten ab- delt wurden. Mit der Übernahme der griechisch-rö-
hängig zu sein. mischen Badekultur entstanden die ersten Bäder,
Die Archäologie belegt das durch die von prominenten Besuchern wie König Herodes
zahlreiche Funde. In einigen Epochen wegen der heilenden Wirkung der mineralsalzrei-
scheint die Gegend geradezu eine An- chen Thermalquellen aufgesucht wurden.
ziehungskraft auf religiöse Eiferer ge-
habt zu haben. Das 8,4 cm hohe Fläschchen aus Fayence
In allen Epochen fand man verschie- stammt aus einem Grab in Jericho (Tell es-Sultan), das
dene kultische Ausdrucksformen wie 1650–1550 vC datiert. Es zeugt von einem Kulturaus-
Bestattungen und Ahnenkult, Tempel, tausch mit Ägypten.
Synagogen, Kirchen und Moscheen
oder Hinweise auf persönliche Fröm-
migkeit wie beispielsweise koscheres
Leben der Juden in römischer Zeit.
Macht & Ohnmacht
Kultkrug aus Nur selten sind es die Bewohner vom Toten Meer selbst, die die
Jericho. Solche Macht in Händen halten, was auch Schriftzeugnisse und Münzprä-
Gefäße wurden Toten gungen bestätigen. Eine von blutigen Auseinandersetzungen der
bei der Bestattung lokalen Bevölkerung mit der Besatzungsmacht geprägte Zeit ist die
mitgegeben. der römischen Herrschaft. Bis in unsere Zeit ist die Region um das
Israel-Museum, Tote Meer umstritten und die dort lebenden Menschen kommen
Jerusalem nicht zur Ruhe.
Ur in Chaldäa –
Bagdad Abrahams Heimat
Ur in Chaldäa war bis zum 19. Jh die vergessene Vaterstadt Abrahams.
IRAK Die Ausgrabungen des Briten Leonard Woolley ab den 1920er-Jahren
enthüllten eine dem Mondgott geweihte Stadt, die ihren Höhepunkt im
21. Jh. vC erlebte. Von Estelle Villeneuve
Ur
Wichtige Daten
2600–2450 vC I. Dynastie von Ur und Königsgräber
2112–2004 vC Machthöhepunkt unter der III. Dynastie von Ur
19. Jh. vC Zeit Abrahams nach traditionellem Ansatz
556–539 vC Nabonid König von Babylon
5. Jh. vC Aufgabe des Siedlungsplatzes Ur
1922–1934 Grabungen durch Leonard Woolley
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welt und umwelt der bibel 4/2019
2
3
1
Luftaufnahme des Nanna-Tempels in Ur (Irak), Süden ist oben. 1) Der von Ur-Namma Ende des 2. Jahr-
tausends vC erbaute Ziggurat, im 7. Jh. vC durch den babylonischen König Nabonid restauriert, im 20. Jh. teilweise
rekonstriert; 2) Königsgräber; 3) Palast Ur-Nammas und seines Sohns Šulgi.
oben: © Georg Gerster/Gamma-Raph; unten: © Luis Amoros y Miguel Orellana/La Caixa Foundation
Virtuelle Rekonstruktion der Stadt Ur und ihres Hafens im 21. Jh. vC.
Die Hauptstadt der Könige von Ur war eine Hafenstadt in unmittelbarer Nähe des Persischen Golfs.
© The British Museum, London, Dist. RMN-Grand Palais/The Trustees of the British Museum
sein Bett 10 km von der Stadt entfernt gefunden hat. Damals
jedoch floss er direkt an den Stadtmauern entlang, die die Stadt
schützten und sie von ihren Vororten trennten. Möglicherweise Die sumerische Königsliste
zweigte sogar ein Kanal ab, der die Stadt durchquerte. Woolley
machte zwei geschützte Häfen hinter Molen aus, die zur Stadt- Diese Aufstellung der Könige von Sumer wurde in
mauer gehörten. Die schriftlichen Quellen enthüllen außerdem mehreren Exemplaren gefunden, deren vollständigs-
die Existenz eines wichtigen Hafenviertels vor den Mauern. tes sich im Ashmolean Museum (Oxford) befindet. Sie
Zusätzlich zu dem fruchtbaren, landwirtschaftlich genutzten enthält die Abfolge der Herrscher in den verschiede-
Umland war es diese Lage an einem über Tausende Kilometer nen sumerischen Stadtstaaten seit der Zeit vor der
schiffbaren Strom, die der Stadt Ur im 21. Jh. vC einen strah- Sintflut, »als das Königtum vom Himmel herabkam«,
lenden Aufstieg bescherte. Aber es bedurfte eines gewaltigen und reicht bis zum 14. König von Isin (1763 - 1753),
Organisationstalents, um dieses Potenzial in eine tatsächliche der sie zweifellos auch in Auftrag gegeben hat. Die Re-
Erfolgsgeschichte umzuwandeln. Letztere war das Verdienst gierungszeit der ältesten Könige zählt nach Jahrhun-
Ur-Nammus (2112–2095) und seines Sohns Šulgi (2094–2047). derten und erinnert an die Angaben zur Lebensdau-
Unter ihrer Herrschaft errichtete Ur dank einer bis ins Letzte er der biblischen Erzväter. Trotz ihrer ideologischen
geregelten Verwaltung, des Ausbaus der Kommunikationsmit- Prägung ist die Sumerische Königsliste jedoch für
tel und der intensiven Ausnutzung der Ressourcen ein regel- die letzten Jahrhunderte des 2. Jahrtausends vC eine
rechtes Imperium, das sich über ganz Sumer und Akkad, also weitgehend realistische Quelle.
das untere und mittlere Zweistromland ausdehnte, mit einem
Reichtum, den der Bau des großen Zikkurat illustriert, und ei-
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welt und umwelt der bibel 4/2019
Die groSSen Städte der Bibel | Ur in chaldäa
ner Hochkultur, von der die beeindruckenden Rückkehr aus dem babylonischen Exil in Me-
literarischen Werke jener Epoche zeugen. War es sopotamien verblieben waren, in die nationale
die Schwäche der nachfolgenden Herrscher, der Geschichte zu integrieren.
Druck der amurritischen Nomadenstämme oder Ur hat also vielleicht Abraham verloren, ist aber
gerade die übermäßige Bürokratie, die den Un- im Gegenzug zu einem Symbol der Einheit in der
tergang brachten? Tatsache ist jedenfalls, dass Zerstreuung geworden. Ein glücklicher Tausch!
das Reich von Ur III nach weniger als 50 Jahren
zusammenbrach und die Herrschaft der Sumerer
für immer beendete. Die Städte Mesopotamiens Eine Ausgrabung, ein Ausgräber
wurden fortan von amurritischen Königen be- Leonard Woolley (1880–1960) hat bereits eine
herrscht, bis sie schließlich im 17. Jh. vC unter schöne Karriere als Archäologe vorzuweisen, als
dem Szepter Babylons vereinigt wurden. er 1922 im Auftrag des Britischen Museums und
der University of Pennsylvania die Grabungen
in Ur wieder aufnimmt. Nach einem Studium
Abrahams Vaterstadt der Theologie hat sich der ehemalige Hilfskus-
Für Leonard Woolley war dies Ur in Chaldäa, tos (Junior Assistant Keeper) am Oxforder Ash- Lesetipps
© The British Museum, London, Dist. RMN-Grand Palais/The Trustees of the British Museum
der Ort, aus dem Abraham im 19. Jh. vC auszog molean Museum in Ägypten, auf dem Sinai (wo • Leonard Woolley (Autor),
– eine reiche, vom geistigen und religiösen Erbe er den biblischen Ort Kadeš Barnea bestimmen G. Steigerwald, Ur in
der Sumerer geprägte Stadt. Die Anhänger der konnte) und in der Türkei ausgezeichnet. Unter Chaldäa. Zwölf Jahre
Auswanderungstheorie waren begeistert, hier dem Deckmantel der Archäologie spioniert er Ausgrabungen in Abrahams
den idealen Rahmen zu finden, in dem sie den außerdem das Osmanische Reich aus, gemein- Heimat, Wiesbaden 1957
biblischen Stammvater Israels verwurzeln konn- sam mit seinem berühmten Mitarbeiter „Law- • Ernst Heinrich: Die
ten, während kritische Exegeten die Herkunft rence von Arabien“! Tempel und Heiligtümer
Abrahams aus dem Zweistromland und die His- Woolley ist ein Pionier der modernen wissen- im alten Mesopotamien.
torizität seiner Wanderung überhaupt ernsthaft schaftlichen Grabungstechnik. Er war einer der Berlin 1982.
in Zweifel zogen. Zu viele Ungereimtheiten ent- ersten, die in den 1920er-Jahren die strengen Me- • Harriet Crawford: Ur:
hält der Bericht, und sein religiöser und politi- thoden der Dokumentation prähistorischer Stät- The City of the Moon God.
scher Hintergrund passt viel besser zur Zeit der ten auf historische anwandten. In Ur hat seine London/New York 2015
Assyrerherrschaft im Nahen Osten zu Beginn Ausgrabung des heiligen Bezirks wie der Wohn- • Richard L. Zettler, Lee
des 1. Jt. vC. Laut dem Exegeten Thomas Römer gebiete selbst Geschichte gemacht, ebenso wie Horne (Hrsg.): Treasures
(Collège de France) stammte der biblische Patri- seine Aufdeckung der Ursprünge der mesopota- from the Royal Tombs of
arch und Begründer des israelitischen Glaubens mischen Zivilisation im 4. Jt. vC Aber es ist vor Ur, Philadelphia 1998.
vielmehr aus Hebron in Judäa. Seine Verbin- allem die „königliche“ Begräbnisstätte mit ihren
dung mit Mesopotamien sei nur ein literarischer fabelhaften Schätzen, die ihn weltweit berühmt
Kunstgriff, um diejenigen Israeliten, die nach macht und ihm die Ehre einbringt, von König
der vom Perserkönig Kyros 539 vC gestatteten Georg V. zum Ritter geschlagen zu werden! W
(Einband des Codex Aureus von St. Em- ist die Grisaille Pieter Bruegels d. Ä., in der Je- des Bildthemas.
Die Quelle
Joh 8, 3-8 diesen Worten wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen
Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, Grund zu haben, ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich und
die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig weiter-
Mitte und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehe- fragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch
bruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vor- ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. Und er
geschrieben, solche Frauen zu steinigen. Was sagst Du? Mit bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.
© akg
stuttgart Wels
Maria – in den Religionen David: Geschichte(n) eines Kriegers, Königs und
21. Januar 2020 (18:00–20:30) Auserwählten Gottes
Haus der Katholischen Kirche, Königstraße 7, 70173 Stuttgart 25. Januar 2020 (10:30–16:30), Bildungshaus Schloss Puchberg
Maria ist nicht nur im christlichen Kontext im Gespräch, sondern Kaum eine andere biblische Gestalt wird so ausführlich, aber auch so
auch in Judentum und Islam. Welche Spuren finden sich in den ambivalent dargestellt wie David. Bereits als junger Mann von Gott
Religionen, wie wurden sie in der Geschichte aufgenommen oder auserwählt und beschützt, steigt David zum König auf und gründet
verändert? Wie kann Maria im interreligiösen Dialog einbezogen eine Dynastie, die selbst Jahrhunderte später noch als Zeichen der
werden? Die Zeitschrift „Welt und Umwelt der Bibel“ beschäftigt Hoffnung wirkmächtig bleibt. Dieser positive Blick auf David wird in
sich in Heft 4/2019 mit Maria in der Geschichte der Religionen. Im den biblischen Erzählungen allerdings auch von kritischen Stimmen
ersten Teil des Abends gehen wir an einzelnen Artikeln in diesem begleitet. Auf diese Weise werden an Davids Beispiel die Chancen und
Heft entlang, das bei der Veranstaltung erworben werden kann. Im Grenzen eines Königs ausgelotet. Am ausgewählten Texten aus den
zweiten Teil arbeiten wir mit einem biblischen Text. Daviderzählungen werden wir in diesem Seminar die Figur König
Davids gemeinsam erarbeiten.
REFERENTIN
DIpl.-Theol. Bärbel Janz-Späth REFERENTIN
Univ.-Prof.in Susanne Gillmayr-Bucher, KU Linz
TEILNAHMEGEBÜHR: € 6
TEILNAHMEGEBÜHR: € 45
ANMELDUNG und INFORMATION:
ANMELDUNG und INFORMATION:
Katholisches Bildungswerk Stuttgart, Königstr. 7, 70173 Stuttgart,
Bildungshaus Schloss Puchberg, Tel. +43 (0)7242 475 37.
Tel. +49 (0)711 7050600, info@kbw-stuttgart.de.
Das Studienprogramm und alle weiteren Informationen finden Sie auf www.weltundumweltderbibel.de
76 welt und umwelt der bibel 4/2019 20021901362921-01 am 10.04.2021 über http://www.united-kiosk.de
Ausstellungen und veranstaltungen
CHemnitz FRANKFURT
Bis 29. März 2020 bis 22. DEZEMBER 2019
Mitte Mai – 15. OKtober in Paderborn
#heilig
Leben am Toten Meer
Das Bibelhaus Erlebnis Museum präsentiert
Beschreibung s. S. 64–67 eine Ausstellung mit Beiträgen des Schüler-
innen- und Schülerwettbewerbs 2019 der
Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz Stiftung Bibel und Kultur zur Frage „Was ist
Stefan-Heym-Platz 1 mir heilig?“ Dabei kamen erstaunliche Ergeb- Taufkannen, die eine
09111 Chemnitz Berufsschulklasse entwor-
nisse zustande. Daneben ist das Museum mit
Tel. +49 (0)371 911999-0, seiner Dauerausstellung zur Bibel ohnehin fen und erstellt hat.
Di–So/Feiertage 10–18 Uhr, einen Besuch wert.
Do 10–20 Uhr
Eintritt 8/5 EUR, Bibelhaus Erlebnis-Museum
leben-am-toten-meer.de Metzlerstraße 19, 60594 Frankfurt
Tel. +49 (0)69 66426525, Di–Sa 10-17 Uhr, So 14–18 Uhr
bibelhaus-frankfurt.de, Eintritt 5/4 EUR
Völklingen
bis 30. november 2019
3000 Jahre altägyptische Kultur Salzburg
Nähere Informationen s. WUB 2/2019. bis 14. November 2020
bis 31. Oktober 2019 Mo, Do, Fr, Sa 10–18 Uhr; So/Feiertage 11–18 Uhr
Gaza 1900 Eintritt 9,50/8,50/5 EUR
bibelwelt.at
Die Ruhr-Universität Bochum (RUB) präsen-
tiert eine Ausstellung zur Geschichte von
Gaza um das Jahr 1900. „Gaza 1900 – Eine
Stadt des östlichen Mittelmeers im Umbruch“
zeigt anhand von historischen Fotos, Karten Brahmsche-Kalkriese
und Texten, wie der Ort seit Jahrtausenden bis 30. november 2019
von seiner besonderen Lage im Mittelmeer-
Roms Legionen
raum profitierte. So wird der Blick auf eine
historische Dimension geweitet und die Stadt Das Römische Reich erstreckte sich in seiner
von der Engführung auf den aktuellen politi- größten Ausdehnung vom Atlantik bis nach
schen Konflikt befreit. Kleinasien. Zu verdanken war diese erfolg-
reiche Expansionsgeschichte den kaiserli- Römischer Legionär
Ruhr-Universität Bochum, chen Legionen. Deren Organisationsstruktur,
Haus der Archäologien hochwertige und standardisierte Ausstattung
Am Bergbaumuseum 31 und nicht zuletzt eiserne Disziplin machten die römische Armee auf
44791 Bochum Eroberungszügen (nahezu) unbesiegbar. Diese Erfolgsmerkmale werden
Tel. +49 (0)23432 28075 in der Sonderschau thematisiert.
täglich 10–12 Uhr
und 14–16 Uhr Museum und Park Kalkriese, Venner Straße 69, 49565 Bramsche-Kalkriese
Tel. +49 (0)5468 92040, tägl. 10–18 Uhr, Eintritt 9,50/6,50 EUR
IMPRESSUM
Die nächste Ausgabe im JANUAR 2020: Heft 4/2019
ersten Christen
„Welt und Umwelt der Bibel“ ist interdisziplinär
und ökumenisch ausgerichtet und entsteht in
enger Zusammenarbeit mit international
anerkannten Wissenschaftler/innen.
Verlag: Katholisches Bibelwerk e.V.,
W Marktplatz der Religionen edition „Welt und Umwelt der Bibel“,
Postfach 15 03 65, 70076 Stuttgart,
W Die Juden Roms Tel. 0711/61920-50, Fax 0711/61920-77
W Christen im Reich der Flavier E-Mail: bibelinfo@bibelwerk.de
www.weltundumweltderbibel.de
W Christliche Lehrer und Philosophen www.bibelwerk.de
W Von Kaisern und Apostelfürsten
Konto: Liga Stuttgart, BIC: GENODEF1M05
W Biblischer Spaziergang durch Rom IBAN DE94 7509 0300 0006 4515 51
Ihre Redaktion Helga Kaiser, Wolfgang Baur und Barbara Leicht Eine Kündigung des Abonnements ist mit einer
vierwöchigen Kündigungsfrist zum Jahresende
möglich.
Gesamtübersicht der lieferbaren Hefte und weitere Infos zur Zeitschrift unter www.bibelheute.de
Einzelheft € 4,90
e [A] 5,50 / sFr 9,50
o Der Tempel von Jerusalem, 3/99 o Entlang der Seidenstraße, Sonderheft 2002
o Christus in der Kunst (1): o Die Kreuzzüge, 3/03
Von den Anfängen bis ins 15. Jh., 4/99 o Der Nil, 1/04
o Der Koran und die Bibel, 1/00 o Flavius Josephus, 2/04
o Faszination Jerusalem, 2/00 o Der Jakobsweg, 3/04
o Christus in der Kunst (2): Von der o Prophetie und Visionen, 4/04
Renaissance bis in die Gegenwart, 4/00 o Von Jesus zu Muhammad, 1/05
o Auf dem Weg zur Kathedrale, Sonderheft 2000 o Religionen im antiken Syrien, 2/05
o Petra. Stadt der Nabatäer, 1/01 o Babylon, 3/05
o Paulus, 2/01 o Juden und Christen, 4/05
o Petrus, Paulus und die Päpste, Sonderheft 2006 o Türkei. Land der frühen Christen, 3/10
o Athen. Von Sokrates zu Paulus, 1/06 o Kindgötter und Gotteskind, 4/10
o Ostern und Pessach, 2/06 o Die Apostel Jesu, 1/11
o Mose, 3/06 o Der Weg in die Wüste, 2/11
o Auf den Spuren Jesu 1: Von Galiläa nach Judäa, 4/06 o Unter der Herrschaft der Perser, 3/11
o Heiliger Krieg in der Bibel? Die Makkabäer, 1/07 o Bedeutende Orte der Bibel, 4/11
Einzelheft € 9,80
o Auf den Spuren Jesu 2: Jerusalem, 2/07 o Der Koran. Mehr als ein Buch, 1/12
o 150 Jahre Biblische Archäologie, 1/15 o Juden, Christen, Muslime: Kunst des Zusammenlebens, 4/17
o Jesus der Heiler, 2/15 o 70 Jahre Qumran: Neue Forschungen, 1/18
Einzelheft € 11,30
o Christen in Äthiopien – Hüter der Bundeslade, 3/15 o Nächstenliebe – ein christlicher Wert?, 2/18
o Judäa und Jerusalem, 256 S., 2 12,80, 2 [A] 13,20, sFr 16,– o Das Land der Bibel. Ein biblischer Reiseführer, 144 S., 2 16,80
Bücher
o 1001 Amulett, 224 S., 2 14,80, 2 [A] 15,30, sFr 19,– 2 [A] 17,30, sFr 21,–
o Musik in biblischer Zeit, 104 S., 2 11,90, 2 [A] 12,30, sFr 15,– o Engelwelten, 196 S., 2 35,–, 2 [A] 36,–, sFr 45,–
o Kleider in biblischer Zeit,112 S., 2 14,80, 2 [A] 15,30, sFr 19,–
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