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M1 Mitschrift, Montag 20.05.

2019, 16-18 Uhr


7. Sitzung

Logik qualitativer Sozialforschung, Prinzip des Sinnverstehens

Ziele / Abgrenzung qualitativ vs quantitativ

quantitativ
- Ziel: Kausalerklärungen für Tatbestände liefern, allgemeine Gesetze und
Hypothesen formulieren/überprüfen: Top-Down-Ansatz: wir gehen vom allgemeinen
aus und gucken dann auf das Spezielle
- Deduktive Ausrichtung: kritischer Rationalismus, D-N-Erklärung
- Konfrontation von als gültig angenommenen Theorien mit der Realität:
Wissenschaftsforschitt durch Evolution
- Kritik: manchmal ist Quantifizierung unzulässige Verkürzung der realen Vielfalt ;
geschlossene Formate beschränken Ausdrucksmöglichkeiten (keine subjektiven
Interpretationen möglich) ; mangelnde Situationsspezifik bei Untersuchung von
sozialem Handeln ; Voreingenommenheit der Forscher durch vorgefertiges
Hypothesen + Messinstrumente
- besonders Problem bei bisher wenig erforschten Gegenständen

qualitativ
- Ziel: vertiefende Beschreibung empirischer Sachverhalte und sozialer Prozesse ;
Aufstellung von Klassifikation/Typologien (Personen in Idealtypische
Handlungsmuster einteilen) ; Gewinnung von Hypothesen und Theoriebildung an
empirischen Material ; auch Prüfung von Hypothesen (aber etwas anders, weil man
nicht auf Grundgesamtheit generalisieren kann)
- man nimmt weniger Vorwissen mit in die Forschung: eher induktiv

Qualitative Theoretische Grundlagen


1. Ethnomethodologie: Menschen konstruieren ihre Wirklichkeit im Alltag durch
bestimmte Handlungspraktiken: das wird deutlich, wenn wir in fremde Kulturen
eindringen und plötzlich gar nicht mehr verstehen, was die Menschen dort alltäglich
tun: wir versuchen dann durch Kommunikation zu verstehen, warum das die
Menschen dort so machen
2. Symbolischer Interaktionismus: Menschen konstruieren im Rahmen von
Interaktion ihre soziale Wirklichkeit: keine objektive Wirklichkeit außerhalb dieser
Interaktionen, Interaktionen sind durch symbolische Codes vermittelt (z.B. schwarze
Kleidung in Europa bedeutet Trauer)
3. Sozialkonstruktivismus: Wirklichkeit wird nicht als objektiv gegeben angesehen,
sondern wird ständig neu sozial konstruiert; wir werden bereits in eine konstruierte
Wirklichkeit hineingeboren, lernen sie kennen, werden dann aber auch Teil der
Modifikation oder Reproduktion, z.B. durch Traditionen, Riten

Folgerung aus diesen 3 Grundlagen für qualitative Forschung:


- Es gibt keine äußere objektiv-stabile Realität: deshalb sinnlos, allgemeine
Regelmäßigkeiten (Gesetze) im sozialen Handeln zu finden
- Interviewform ohne objektive Datenquelle zur Abbildung der Wirklichkeit: es geht
nur darum, die subjektive Wirklichkeiten der Befragten Akteure zu rekonstruieren/
abzubilden und zu verstehen: deshalb "Rekonstruktive Sozialforschung": In welchen
Kontext (z.B. individuelle Lebensgeschichte) ist Kommunikationsprozess/subjektive
Wirklichkeit eingebettet?
- Trotzdem Anspruch, allgemeine Handlungsmuster zu finden: konsistenten Kern
finden

Differenzierung qualitativ - quantitativ siehe auch Folie 294 - wichtig!

Sinnverstehen

Verstehen = Vorgang, der einer Erfahrung Sinn verleiht: Im Prozess des Verstehens
geben wir bestimmten Sachverhalten eine (vorerst individuelle) Bedeutung (diese
Bedeutung kann später dann auch zum geteilten Sinn werden)
- wir hinterfragen Dinge, die uns nicht selbstverständlich erscheinen
- z.B. Ureinwohner erklärt Sonnenfinsternis mit Gotteszorn: subjektive Wirklichkeit
eingebettet in Kontext des religiösen Sinn-Systems
- subjektiver Sinn durch Motive, Intentionen, persönliche Befindlichkeiten in der
Situation: nicht idiosynkratisch (individuell gültig), sondern sozial konstruiert

3 Sinnebenen:
1. individuell-subjektiv: situationsabhängig aktivierter, subjektiv intendierter Sinn (z.B.
pünktlich zur Arbeit kommen: Wahrscheinlichkeit geblitzt zu werden ist
unwahrscheinlicher, wahrscheinlicher, dass Chef Unpünktlichkeit bemerkt): meine
eigenen aktuellen Intentionen in einer bestimmten Situation (für Soziologie weniger
interessant)
2. gruppen- und milieuspezifisch: intersubjektiv: zwischen verschiedenen Subjekten
geteilter Sinn: sozialisatorisch erworbene Einstellungen
3. gesellscahftlich-universell: allgemeine Überzeugungen und kulturspezifische
Werte (Common Sense): das was wir als "Gesunden Menschenverstand" betiteln:
Homosexualität war lange in Gesellschaft als widerlich angesehen, deshalb haben
wahrscheinlich viele nie bemerkt, dass sie homosexuell sind

Verstehen in verschiedenen Ordnungen:

1. Ordnung: Ureinwohner sieht Sonnenfinsternis: will Sonnenfinsternis einen Sinn


zuschreiben: das ist noch kein sozialer bzw. sozial geteilter Sinn
2. Ordnung: Fremdverstehen: Kommunikationsprozess: Person A versprachlicht
einen bestimmten Sinn, diese Botschaft wird an Person B übermittelt, Person B
muss diese Botschaft erst enkodieren und dann ihre Interpretation dieses Sinns
wiederum Versprachlichen: Erst wenn dieser Kommunikationsprozess abgelaufen ist
(durch mehrfachen Austausch der Botschaften) entsteht Fremdverstehen
- Fremdverstehen nur durch Kommunikationsprozesse möglich, die ausgetauschten
Botschaften beinhalten Sinn von z.B. Beobachtungen
- Botschaft ist auch kontextabhängig: abhängig von Sender sowie Empfänger
3. Ordnung: Prozess rekonstruktiver SInnzuschreibung: Nun auch eine Person, die
außerhalb des Sinn-Prozesses steht: diese außenstehende Person versucht von
außen zu rekonstruieren, was die Kommunizierenden als gemeinsamen Sinn
miteinander teilen: = Ziel der qualitativen Sozialforschung
- birgt einige Schwierigkeiten, wie z.B. kulturelle Differenzen
- Deutung von Fremden: es bleibt aber trotzdem eine Selbstdeutung, da wir Fremde
nur mit unserem Relevanzsystem verstehen können ("hermeneutischer Zirkel")
- dass Person B wirklich genau das gleiche versteht wie Person A gemeint hat, ist eig
nie gegeben, denn wir sind einem anderen immer ein Stück weit fremd: nur relative
Annäherung (durch Idealisierung, durch Aushandlungen kommunikativer
Basisregeln)
- Wichtig: Offenheit: eigenes Relevanzsystem zurücknehmen um Fremde verstehen
zu können
4. Ordnung: Selbstreflexivität: ein wiederum 4. Beobachter versucht, ein Verstehen
nach 3. Ordnung zu verstehen und zu hinterfragen (noch eine Vogelperspektive
höher), auch der außenstehende Beobachter wird mit seinem Sinnverstehen
hinterfragt

Bsp.: Menschen die am Bahnhof auf einer Bank sitzen: Deutendes Verstehen: wird
direkt als Sinn verstanden: die Personen warten auf einen Zug
- aber in qualitativer Forschung darf das nicht passieren: sondern: wir sehen nur
Leute, die im Bahnhof auf einer Bank sitzen: wer weiß schon warum!? vllt ist es ein
Faulheitsgen? vielleicht ist es eine Versammlung?

deutendes Verstehen (Weber): Soziologie will soziales Handeln deutend verstehen


und dadurch ursächlich erklären. Sinnfremde Vorgänge (Beobachtung untypischer
Dinge) müssen als Daten hingenommen werden. Man versucht einen
Sinnzusammenhang zu erklären, in den ein aktuell verständliches Verhalten
hineingehört. Jede Deutung ist erst mal nur eine Hypothese (siehe Folien) kp ob das
so wichtig ist?

qualitativ - Induktivistisch?
- Missverständnis: Forscher kann sich nicht komplett induktiv und
unvoreingenommen der Realität nähern
- empirisches Vorwissen belastet Forscher, erzeugt Vorurteile
- Forscher muss ein gewisses Vorwissen oder mindestens Ideen haben

Abduktion:
- anstatt Deduktives Vorgehen
- man versucht mittels qualitativer Induktion auf Grundlage unserer bereits
bestehenden Regeln auf neue Phänomene anzuwenden
- neues Phänomen taucht auf: dieses will man erklären: dafür nutzt man bereits
bestehende Wissensbestände

Vorwissen
- quantitativ: fest formulierte und empirisch gehaltvolle Hypothesen werden getestet:
theoretisches Vorwissen, Abhängigkeit von Instrumenten
- qualitativ: größere Bedeutung von alltagsnahen Vorwissen (empirisch weniger
gehaltvoll), dadurch offeneres Vorgehen

5 Verfahrensprinzipien qualitativer Forschung


1. Gegenstandsangemessenheit - nicht ein Untersuchungsthema, das für alle
Fragestellung geeignet, sondern wir passen je nach Fragestellung unser Thema an
2. Prinzip der Offenheit (nicht bereits den Sinn für bestimmtes Handeln im Kopf
haben, sondern Versuchen die Daten für sich sprechen zu lassen)
3. Datengewinnung durch sozialen Kommunikationsvorgang
4. Prozesshaftigkeit: wir versuchen nicht etwas gleichbleibendes zu erfassen durch
einmalige Untersuchung, sondern eher Erfassung einer dynamischen sozialen
Realität: deshalb ein PROZESS der Interaktion um diese Dynamik erfassen zu
können
5. Reflexivität: Bedeutung von Äußerungen können erst durch den Kontext erfasst
werden, Kontext ergibt sich jedoch wiederum erst durch die Äußerungen: Zirkularität

Gütekriterien
1. Validität: keine richige Validität möglich, nur in der Weise, dass wir an alltägliche
Kommunikationsmodi der Akteure anknüpfen, dadurch erreichen wir eine Alltagsnähe
2. Reliabilität: einfache Messwiederholung nicht möglich durch "Offenheit", hier viel
eher Reproduktionsgesetzlichkeit: z.B. Erlebnis der Trennung wird von
unterschiedlichen Personen ähnlich empfunden - Konsistenzregel
3. Objektivität: kann es auch eigentlich nicht wirklich geben: es wird ja auch davon
ausgegangen, dass es keine objektive Realität gibt, sondern eher intersubjektiv:
Durchführer kann also niemals komplett objektiv sein, aber zumindest alles
dokumentieren

Stichprobenverfahren

Theoretical Sampling:
- in qualitativer Forschung keine statistische Repräsentativität nicht möglich
- aber man kann möglich machen, dass sich die untersuchten Fälle nicht allzu
ähnlich sind: heterogene Stichprobe herstellen
- nicht festlegen, wen wir alles in die Stichprobe aufnehmen: sondern wir tasten uns
eher von Fall zu Fall vor: Im Prozess der Auswertung der ersten Befragten,
überlegen wir, was für Personen wir außerdem noch befragen wollen =
Fallkontrastierung
- Fallkontrastierung: Hypothese durch systematische Suche nach weiteren
Beispielen und Gegenbeispielen im Untersuchungsfeld entwickeln und modifizieren
- maximale Kontrastierung: möglichst unterschiedliche Befragte suchen
- Ablauf: vorläufige Stichprobe ziehen, Material analysieren, dann schauen ob wir
noch weitere Fälle brauchen, gezielt nach neuen Fällen suchen, die der Überprüfung
des Wissensbestandes dient: so lange, bis man keine großen, neuen Erkenntnisse
mehr erlangt (bis theoretische Sättigung erreicht)

- Differenzierung Theoretical Sampling vs Zufallsstichproben

Verallgemeinerung
- auch bei qualitativ möglich: wenn bestimmte Falltypen über untersuchte Fälle
hinweg gültig
- Voraussetzung: 20-100 Fallanalysen, heterogenes Sample durch Theoretical
Sampling

Sampling-Techniken
- Schneeballsystem
- Gatekeeper
- Selbstaktivierung, Selbstselektion (Anwerbung durch Flyer, etc)

Datenauswertung

siehe Folien ab hier!

- Probleme beim Sinnverstehen

- formal-analytisch: SInngehalt der Äußerungen wird analysiert


- abduktives Schließen: Raster durch neue Aussagen erweitern

- keine standardisierten Fragebogen, evtl nur Leitfäden

- Indexikalität: alle Ausdrücke müssen transkripiert werden (z.B. auch Lachen,


Räuspern etc.)

Zusammenfassung:
quantitativ: Ziele, Eigenschaften, Kritik
qualitativ Ziele
qualitative Grundlagen + Folgerungen für Forschung
Sinnverstehen
3 Sinnebenen
hermeneutischer Zirkel
Deutendes Verstehen (Weber)
qualitativ & induktiv
Abduktion (Induktion, Deduktion) + Bedeutung des Vorwissens quantitativ vs
qualitativ
5 qualitative Verfahrensprinzipien
Gütekriterien
Sitchprobenverfahren
Theoretical Sampling, theoretische Sättigung
Verallgemeinerung
Sampling-Techniken
Datenerhebung

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