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DIE BARKE
LEHRER-JAHRBUCH
1985
Herausgegeben vom
Österreichischen Buchklub der Jugend,
zusammengestellt und redigiert vom
Internationalen Institut für Jugendliteratur und Leseforschung
(gemeinnützige Vereine)
ALLTÄGLICHES
Helmut Qualtinger: Travnicek im Schuhgeschäft 17
Karl Valentin: In der Apotheke 20
Hugo Wiener: Das Werbefernsehen 22
Ephraim Kishon: Gebrauchsanweisung 26
Eugen Helmte: Hausarbeit ist keine Arbeit 29
Carlo Manzoni: Der Haustorschlüssel 34
SCHULE
Rene Goscinny: Typen auf der Schulbank 72
Astrid Lindgren: Inga und ich machen Menschen glücklich 80
Christine Nöstlinger: S t r e n g - s t r e n g e r - a m strengsten 86
1- 3
HUMOR KENNT KEINE GRENZEN
Fritz Müller-Partenkirchen: Die Reihenfolge 93
Fritz Müller-Partenkirchen: Te 95
Loriot: Das Ei 96
H. C. Artmann: Herr Hasenbrein und der Fremdenverkehr 98
Bennett Cerf: Ausfallprämie 102
Eugen Heimle: Beamte sind auch nur Menschen 103
George Mikes: Das Auto, nach dem man sich sehnt 108
Gianni Rodari: Der Comic-Strip-Mäuserich 116
A. E. Forschneritsch: Wer hat denn da gestoßen? 118
Elfie Donnelly: Weihnachten mit Großvater 119
Quellenverzeichnis 128
2. Teil
ILLUSTRIEREN - BEARBEITEN - ÜBERSETZEN
Arbeit an und mit Texten
Herausgegeben von Dr. Lucia Binder
Vorbemerkungen der Herausgeberin 3
Prof. Dr. Hans Gärtner: Literatur „ad usum delphini". Bearbeitungen von
Kinder- und Jugendbüchern: Probleme, Praxis, Positionen 7
Dr. Wolfgang Schneider: Film- und Fernsehbearbeitungen von Kinder-
und Jugendbüchern-mit praktischen Beispielen 27
Svend Otto S.: Zur Beurteilung von Illustrationen 36
Dr. Richard Bamberger: Leichtere Aufnahme und Verständlichkeit von
Jugendbüchern durch äußere Gestaltung und Textbearbeitung 43
Dr. Hubert Hladej: Zur Auswahl von Übersetzungen - aus der Sicht des
Lektors und des Verlages 55
Claudia Rouvel: Probleme des Übersetzens in der DDR 65
Elisabeth Külling: Übersetzungen und Bearbeitungen in der Schweiz . . . 71
Mag. Heinz Steuer: Übersetzungen und Bearbeitungen in Österreich
und der BRD 78
Arbeitskreisberichte
Übersetzungen und Bearbeitungen (Wolf Harranth) 85
Das Phänomen Comics (Dr. Hermann Kupfer/Heinz Janisch) 89
Beurteilungsprobleme zur Illustration von Kinderbüchern (Svend Otto
S.) 93
Zur Arbeit mit Bilderbüchern in der Volksschule (Gabriele Berger) 95
Kritisches Lesen in der Schule der 10-14jährigen - Zum Umgang mit
bearbeiteten und übersetzten Texten (Dr. Otwald Kropatsch / Robert
Machacek) 97
Kinder- und Jugendliteratur im Curriculum - Zur Arbeit mit Kinder- und
Jugendbüchern in der Lehrerausbildung (Dr. Lucia Binder / Mag.
HeinzSteuer) 102
Herausgegeben von
EUGEN ROTH
Bücher
Wie m a n e i n B u c h b e s p r i c h t , o h n e es zu l e s e n
Die Sache mit Tola'at Shani bedrückte mich. Nein, das war wirklich
nicht schön von mir: vor einem halben Jahr hatte er mir sein neues
Buch geschickt, das ich sofort auf den Schreibtisch oder sonst irgend-
wo hingelegt hatte - und dort, wo immer das war, setzt es seither
Spinnweben an.
Zu Beginn kam ich noch mit den üblichen Ausreden durch: „Schon
bekommen!" rief ich vorbeugend, wenn ich Tola'at Shani von weitem
sah. „Sobald ich ein paar freie Stunden habe, lese ich es!" Und der
vielversprechende junge Autor lächelte mir dankbar zu.
Als ich ihn nach ein paar Wochen unversehens beinahe über den
Haufen rannte, ließ ich mich zu der Bemerkung hinreißen, daß ich
bereits mitten in der Lektüre sei und daß wir nachher darüber
sprechen müßten.
Bald darauf kam es zu einem höchst peinlichen Zwischenfall.
Tola'at Shani betrat das Cafe, und sein Blick fiel genau in der gleichen
Sekunde auf die Küchentür, als ich hinausschlüpfte. Ich entsinne mich
noch ganz genau, daß ich an diesem Tag den festen Entschluß faßte,
das Buch sehr sorgfältig zu durchblättern, wenn ich nach Hause
käme. Irre ich nicht, so hatte ich sogar schon die Hand danach
ausgestreckt. Aber gerade da ging das Telefon, oder es läutete an der
Tür, oder es geschah sonst etwas - jedenfalls kam meine Hand nicht
bis an das Buch heran. Und dabei blieb es.
Vor ein paar Tagen, als ich mich um Kinokarten anstellte, fühlte ich
mich plötzlich am Arm gepackt. Es war Tola'at Shani, und es gab kein
Entrinnen. „Haben Sie das Buch schon gelesen?" fragte er mich.
Ich nickte mehrmal und ernsthaft:
„Wir müssen uns ausführlich darüber unterhalten. Ich habe Ihnen
eine ganze Menge zu sagen. Aber hier - in dieser Schlange - auf
einem Bein - " Ich hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als an der
Kassa die Tafel „Ausverkauft" hochging. Mein Schicksal war besie-
gelt. Nur ein plötzlich herabstoßender Steinadler hätte mich retten
können, und in Tel Aviv gibt es leider keine. Hingegen gibt es sehr
viele Kaffeehäuser, so viele, daß man in einem von ihnen mit größter
Wahrscheinlichkeit einen Tisch für zwei Personen findet. Tola'at
Shani, der meinen Arm noch immer nicht losgelassen hatte, fand
einen Tisch für zwei Personen. Und jetzt saßen wir einander gegen-
über.
„Also", sagte Tola'at Shani. „Sie wollten mit mir über mein Buch
sprechen."
„Ja", sagte ich. „Ich bin froh, daß ich Sie endlich getroffen habe."
Irgendwie erinnerte mich die Situation an den dramatischen Höhe-
punkt mancher Wildwestfilme, wenn Sheriff und Schurke im Saloon
der menschenleeren Hauptstraße zusammenstoßen und die endgülti-
ge Abrechnung sich nicht mehr aufhalten läßt. Auch die Dizengoff-
Straße schien plötzlich menschenleer. Ich kann mich nicht erinnern,
sie jemals so entvölkert gesehen zu haben. Kein einziges bekanntes
Gesicht wollte auftauchen.
Verzweifelt suchte ich mir das Buch ins Gedächtnis zu rufen, aber
vor meinem geistigen Auge erschien immer nur die braune Packpa-
pierhülle, die ich noch nicht entfernt hatte. Wenn ich wenigstens
wüßte, um was für eine Art von Buch es sich handelte! War es ein
Roman? Eine Sammlung von Kurzgeschichten? Von Gedichten? Ein
Theaterstück? Ein Essayband?
Die bleierne Stille drohte mir den Atem abzuschnüren. Ich mußte
etwas sagen. „Etwas muß ich sagen", sagte ich. „Sie haben enorme
Arbeit an dieses Buch gewendet."
„Drei Jahre", nickte Tola'at Shani. „Aber das Thema habe ich noch
viel länger mit mir herumgetragen."
„Das spürt man sofort. Es ist ein reifes Werk."
Stille. Bleierne Stille. Und keine Rettung. Freunde in der Not? Daß
ich nicht lache.
„Sagen Sie mir jetzt bitte Ihre Meinung", forderte mich der vielver-
sprechende junge Autor mit vor Erwartung bebender Stimme auf.
„Ich bin sehr beeindruckt."
„Von allem, was drinsteht?"
Im letzten Augenblick entging ich der Falle. Tola'at Shani beobach-
tete mich scharf aus den Augenwinkeln. Hätte ich jetzt geantwortet:
„ja von allem" - er hätte sofort gewußt, daß ich das Buch nicht gelesen
habe.
„Ich will ganz offen sein", sagte ich. „Den Anfang finde ich nicht
gerade überwältigend."
„Auch Sie?" Tola'at Shani seufzte resigniert. „Das hätte ich nicht
gedacht. Ein erfahrener Schriftsteller wie Sie müßte doch wissen, daß
jedes Buch eine Exposition braucht."
„Exposition, Schmexposition", gab ich ein wenig unbeherrscht zu-
rück. „Die Frage ist, ob man von einem Buch sofort gefesselt wird
oder nicht."
tola'at Shani senkte den Kopf und sah so traurig drein, daß er mir
leid tat. Aber warum schreibt er auch so langweilige Expositionen.
„Später kommt die Sache in Schwung", tröstete ich ihn. „Ihre
Figuren sind sehr gut gezeichnet. Und die Geschichte hat Atmosphä-
re. Und Rhythmus."
„Sind Sie auch der Meinung, ich hätte die rein beschreibenden Teile
des Buches um die Hälfte kürzen sollen?"
„Wenn Sie das getan hätten, wäre es ein Bestseller geworden."
„Möglich", sagte Tola'at Shani frostig. „Aber mir war es wichtiger,
ganz genau zu erklären, warum Boris sich den Rebellen anschließt."
Boris!!
„Boris ist allerdings ein Charakter, den man nicht so bald vergessen
wird", mußte ich zugeben. „Man merkt, daß ihm Ihre ganze Liebe gilt."
Aus schreckhaft geweiteten Augen starrte Tola'at Shani mich an:
„Liebe? Ich liebe Boris? Dieses Schwein? Diesen Verbrecher? Ich
halte ihn für die widerwärtigste Figur, die ich je geschaffen habe!"
„Bas glauben Sie nur", wies ich ihn zurecht. „Lassen Sie sich von
mir gesagt sein, daß Sie mich im innersten Kern Ihres geheimen Ich
mit ihm identifizieren."
Tola'at Shani erbleichte.
„Was Sie da sagen, trifft mich wie ein Keulenschlag", murmelte er
tonlos. „Als ich das Buch zu schreiben begann, habe ich Boris gehaßt,
das weiß ich genau. Aber dann, als er in den Streit zwischen Peter und
dem Marine-Attache verwickelt wird und trotzdem seiner Mutter
nichts davon erzählt, daß er Abigail vergewaltigt h a t . . . Sie erinnern
sich doch?"
„Und ob ich mich erinnere! Er erzählt seiner Mutter nichts . . ."
„Richtig. Da fragte ich mich also: ist dieser Boris, mit all seinen
Verirrungen und Unzulänglichkeiten, nicht immer noch ein wertvolle-
rer Mensch als der Zoologe?"
„Wir alle sind Menschen", bemerkte ich tolerant. „Manche sind so,
manche sind anders, aber im Grunde sind wir alle gleich."
„Eben darauf wollte ich ja hinaus. Haarscharf."
Sollte ich das Buch am Ende doch gelesen haben? Sozusagen
unterbewußt, ohne es zu merken?
„Man versichert mir von allen Seiten", sagte Tola'at Shani zögernd,
„daß dieses Buch, zumindest was die Handlung betrifft, mein bisher
stärkstes ist".
Ich sah nachdenklich zur Decke hinauf, als wollte ich die bisherige
Produktion des vielversprechenden jungen Autors mit einem einzigen
Blick umfassen. Dabei habe ich noch keine Zeile von ihm gelesen.
Wozu auch? Wer ist dieser Tola'at Shani überhaupt? Warum schickt
er mir seine Bücher? Es galt, die Dinge an ihren Platz zu rücken.
„Ich würde nicht direkt sagen, daß es Ihr stärkstes Buch ist. Aber es
ist bestimmt Ihr spannungsreichstes."
Tola'at Shani zuckte zusammen. Kein Zweifel, ich hatte ihn an
seinem empfindlichsten Punkt erwischt. Tut mir leid. Oder soll ich vor
Ehrfurcht zusammenknicken, wenn er seinen Dilettantismus ins Kraut
schießen läßt?
„Ich wußte es. So wahr mir Gott helfe, ich wußte es." Die ganze
Bitterkeit des Nichtkönners, der sich von einem überlegenen Geist
durchschaut weiß, schwang in seiner Stimme mit. „Sie meinen das
Abendessen in der Wohnung des Sturmtruppenkommandanten, nicht
wahr. Ich hätte schwören können, daß Ihr Chauvinismus an dieser
Szene Anstoß nehmen würde. Hätte ich vielleicht die ganzen Ereignis-
se in diesem von der Flut heimgesuchten Gebirgstal in Saccharin
verpacken sollen, damit sie sich angenehmer lesen? Wenn Sie -
erinnern Sie sich - "
„Stottern Sie nicht", sagte ich. „Meine Geduld hat Grenzen."
„Erinnern Sie sich an die Schilderung des nächtlichen Kamelwett-
rennens um den Harem des Scheichs? Das hat Ihnen doch gefallen,
oder nicht?"
„Sogar sehr gut. Das war eine farbige Szene".
„Und daß Jekaterina die Tischlampe am Kopf des Richters zer-
schlägt - auch damit sind Sie einverstanden?"
„Unter Umständen."
„Dann können Sie unmöglich etwas gegen das Schicksal einzuwen-
den haben, das ich Meir-Kronstadt und seinesgleichen bereite!"
Heftiger Widerspruch stieg in mir auf. Hoppla, mein Junge, dachte
ich. Du kannst begeifern, wen du willst - aber Meir-Kronstadt laß mir
ungeschoren! Der ganze Verlauf des Gesprächs widerstrebte mir. Viel
zu vage und unsachlich war das alles. Jetzt sollten die Funken stieben.
Jetzt ging es mit meiner Zurückhaltung zu Ende.
„Hören Sie, Tola'at Shani! Ich an Ihrer Stelle wäre auf diese Sache
mit Meir-Kronstadt nicht so stolz!"
„Ich bin aber stolz auf ihn!"
Das Blut schoß mir in den Kopf. Unglaublich! Der Kerl wagt mir zu
widersprechen! „Kronstadt ist ein Schwindler", sagte ich scharf. „Was
er tut, überzeugt keinen Menschen. Mehr als das: er ist überflüssig.
Sie konnten ihn ohne Schaden für das Buch vollkommen weglassen "
„Und wie, wenn ich fragen darf, soll ich dann den eigentlichen
Konflikt vorbereiten"
„Papa, du hast Glück!" - „ Wieso?- „Du brauchst mir für dieses Jahr
keine neuen Schulbücher zu kaufen."
„ Vati - warum ist der Elefant so groß?" - „Ich weiß es nicht." „ Vati -
warum ist die Erde rund?" - „Keine Ahnung." - „ Vati - stört es dich
eigentlich, wenn ich dich dauernd frage?" - „Nein, frag nur, sonst
lernst du ja nichts."
KURT TUCHOLSKY
An das P u b l i k u m
0 hochverehrtes Publikum,
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: „Das Publikum will es so!"
Jeder Filmfritze sagt: „Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!"
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
„Gute Bücher gehn eben nicht!"
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?
Ja, dann . . .
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbrei-Fresser-?
Ja, dann . . .
Ja, dann verdienst dus nicht besser.
HELMUT QUALTINGER
Travnicek im S c h u h g e s c h ä f t
FREUND Höchste Zeit, Travnicek, daß Sie Ihna ein neuches Paar
Schuh kaufen, Ihre san ja schon ganz verhatscht. Was für ein Modell
suchen Sie Ihna jetzt aus?
TRAVNICEK Schauen Se, das ist eine schwerwiegende Entschei-
dung. Immerhin zwei Jahr halten meine ja.
FREUND Sehen S', i hab da noch ein Modell aus dem 52er Jahr,
ledergepolstert mit Gummieinlage. Da spürt man das Gehn über-
haupt nicht. Net amal beim höchsten Tempo.
TRAVNICEK Hör'n S' mir auf mit den übertragenen Modellen. Nix wie
Scherereien. Außerdem kennt man sein Vorgänger nicht. Da war
mein letzter Schuh was anders. Deutsche Ausführung. I sag Ihna,
das Anzugsmoment mit Schuhlöffel a Wucht.
FREUND Na und die Bremswirkung, Travnicek.
TRAVNICEK Unerhört. Der bleibt Ihnen bei Gelblicht am Zebrastreifen
wie nichts stehen.
FREUND Wieviel Geschwindigkeiten hat er, Travnicek?
TRAVNICEK Diverse. Im ersten Gang druckt er a bißl, aber im Rück-
wärtsgang: wie ein Panzer, sag i Ihnen.
FREUND Ich bin im Prinzip mehr für hochtourige Bergschuh.
TRAVNICEK Da hätten S' meinen am Konstantinhügel sehn solln.
Keiner is mir vorkommen.
FREUND Ja, aber denken Sie an die Bundesstraße.
TRAVNICEK Eine Straßenlage hat meiner, wie a Allwegbahn. Einmal
hat's mir zwar in der Kurven die Fersen hinausgetragen, aber da hab
ich ihn überbeansprucht.
FREUND Wie das, Travnicek?
TRAVNICEK Beim Rennen, Wertungsgang über die Berggasse und
zurück.
FREUND Aber vergessen Sie nicht unsere heimische Produktion,
Travnicek! Langsam, aber lebensfähig.
Peter hat ein schlechtes Zeugnis nach Hause gebracht, und sein Vater
wäscht ihm gehörig den Kopf. Da fragt der Junge nachdenklich: „ Was
meinst du, Papa, woran es bei mir liegt - an den Erbfaktoren oder an
Umwelteinflüssen ?"
Zwei Jungen stehen vor der Kirche, aus der gerade ein Brautpaar tritt.
Sagt der eine: „Soll ich die mal erschrecken?" Dann rennt er auf den
Bräutigam zu und ruft: „Hallo, Papi!"
„Mutti", sagt der kleine Peter, der schon etwas in der Zeitung lesen
kann, „hier steht, daß das Theater Statisten sucht. Was ist denn das?"
- „Statisten, mein Junge, sind Leute, die nur herumstehen und nichts
zu sagen haben." - „Aber Mutti, das wäre doch etwas für Papa!"
2* 19
KARL VALENTIN
In der A p o t h e k e
Das W e r b e f e r n s e h e n
Und doch! Ich liebe das Fernsehen! Es gibt Menschen, die sagen,
das Fernsehen habe zwei schlechte Dinge: die Werbung und das
Programm. Meine Frau liebt die Werbung. Neulich war es wieder
soweit. Die Werbung war vorüber, ich schaltete das Gerät aus, weil wir
Freunde erwarteten und noch einiges vorbereiten mußten. So mußten
wir zum Beispiel die feinen Zigaretten und die guten Keks, die noch
auf dem Tisch standen, verstecken. Unsere Freundin hatte nämlich die
Gewohnheit, ein Keks nach dem andern zu essen, während ihr Gatte
bei jedem Stück sagte: „Iß nicht so viel!" und dazu unsere Zigaretten
rauchte. Wir tauschten also die Zigaretten gegen weniger feine und
die Kekse gegen weniger teure aus. Schließlich soll man seine Mit-
menschen weder zum Rauchen noch zum Dickwerden verleiten. Un-
sere Freundin hat sowieso immer mit ihrem Gewicht zu kämpfen. Ich
weiß nicht, ob Sie, geneigter Leser, oder Sie, schöne Leserin, schon
die neuen Waagen kennen, die keine Karten mehr auswerfen, sondern
das Gewicht durch einen kleinen Lautsprecher dem Interessenten
direkt ins Ohr flüstern. Unsere Freundin stieg neulich auf eine solche
Waage, worauf die Waage keuchend sagte: „Immer nur einer, bitte!"
Aber zurück zum Fernsehen.
„Heute war es wieder gut!" sagte meine Frau. Mich riß es herum.
„Gut?" fragte ich. „Dir hat das gefallen? Der Weiße Riese mit seinem
Knotentest?"
Meine Frau belehrte mich: „Der Weiße Riese hat keinen Knotentest,
sondern eine Riesenwaschkraft und - was du brauchen würdest -
einen Kalkstopper. Den Knotentest hat Omo."
Ich war baff.
„Das merkst du dir alles?" fragte ich.
„Ja!" sagte meine Frau stolz, worauf ich nur ein bewunderndes
„Cremissimo!" hervorstieß.
„Nicht beneiden", sagte sie mit den weisen Worten von Dianas
Franzbranntwein, „nachmachen! Du würdest dir auch alles merken,
wenn du Doktor Bauers Vitaminkapseln nehmen würdest. Nur echt mit
dem Elefantenkopf!" Dabei tippte sie an mein Haupt.
„Hör schon auf mit diesen Werbeslogans!" brummte ich gereizt und
schlug mit der Faust auf den Tisch.
Das hätte ich nicht tun sollen.
„Zertrümmere nicht den gefälligen Wohnzimmertisch von Pulk &
Papanek!" rief sie. „Volleiche, ab achthundert Schilling!"
„Und du", konterte ich, „knirsche nicht mit den Zähnen!" Aber da
kam ich schlecht an.
„Ich kann knirschen, soviel ich will!" sagte sie triumphierend. „Ich
putze ja meine Zähne mit Odol!"
„Nur echt mit dem gebremsten Schaum vor dem Mund!" erwiderte
ich höhnisch. „Meinetwegen putz sie dir mit Mautner-Senf in der
vergnüglichen Plastiksprühflasche, aber mich laß in Frieden!"
Nun wurde sie persönlich. „So also bist du!" sagte sie. „Als du
während unserer Verlobungszeit zu meinen Eltern kamst, wußte ich
nicht, wie jähzornig du bist!"
Jetzt ging es frischwärts. „Damals", sagte ich mit einem ganz
gemeinen Lustgefühl, „habe ich mich ja auch sehr beherrscht! Erst zu
Hause bin ich ins Schlafzimmer gerannt und habe in die Schaumma-
tratze gebissen!" Und setzte hinzu: „Es gibt viele Schaummatratzen -
aber nur eine Sembella!"
Das war 1 : 0 für mich. Sie tat mir leid, und ich lenkte ein: „Ich
mache dir einen Vorschlag. Reden wir einige Minuten nichts, dann
werden wir diese dumme Werbung vergessen."
Meine Frau war einverstanden, was nicht immer der Fall ist. Wir
setzten uns.
„Ah!" seufzte ich behaglich. „Das is' narrisch guat für d' Füaß!"
„Du fängst schon wieder an!" schrie sie.
„Ich?"
„Ja du! Du hast gesagt: ,Das is' narrisch guat für d' Füaß' - und das
ist Burgit!"
Ich sprang verzweifelt auf. „Ich kann nichts dafür!" rief ich. „Ich
wollte stumm bleiben wie ein Fisch!"
„Vickinger", beruhigte sie sich. „Jetzt auch in der formschönen
Familienpackung bei Ihrem Fachhändler."
„Jetzt hast du angefangen!" schrie ich hysterisch und riß mir ein
paar Haare aus, was ich sofort bedauerte. Haare sind bei mir Mangel-
ware. Diesmal lenkte meine Frau ein. „Willst du etwas trinken?"
erkundigte sie sich liebenswürdig.
„Was hast du?"
„Almdudlertimonade."
„In der großen Trachtenpärchenflasche?" rief ich freudig über-
rascht.
„Genau das!" sagte sie.
Es läutete.
„Das sind die Pfandls!" Ich ging zur Tür, um sie einzulassen. Im
Vorzimmer sah ich meinen Freund erstaunt an.
„Wie kommt das?" fragte ich ihn. „Deine Wäsche ist ja viel weißer
als meine?"
„Das macht Dash!" sagte unsere Freundin und blickte verzückt auf
den Hemdkragen ihres Mannes. „Dash zwingt Grau raus und Weiß
rein!"
„Herr Lehrer, kann man für etwas bestraft werden, was man nicht
gemacht hat?" - „Nein, das wäre ja ungerecht." - „Toll, ich habe
nämlich meine Hausaufgaben nicht gemacht!"
Wieder habe ich im Lotto keine einzige Zahl richtig!" schimpft der
Vater. „Mach dir nichts daraus", tröstet ihn Julia, „mir ging's gestern
in der Mathearbeit genauso."
EPHRAIM KISHON
Gebrauchsanweisung
Zu Beginn der Woche schloß ich mich in mein Zimmer ein und
setzte mich an den Schreibtisch, um eine beißende Satire gegen das
Establishment zu verfassen. Der Titel machte mir keine Schwierigkei-
ten: „Offener Brief an das Establishment." Ich schrieb ihn auch sofort
hin, ganz oben.
Von da an geriet ich ein wenig ins Stocken. Vergebens zermarterte
ich mir das Hirn, gegen wen sich mein Artikel eigentlich richten sollte
und warum - als ich plötzlich ein scharfes Summen hörte. Es klang
wie „s-s-s". Gleich darauf landete eine kleine Fliege auf meinem linken
Ohr und begann daran zu naschen.
Da wir unsere Wohnung seit zwei Wochen gegen die sommerliche
Fliegenplage hermetisch abgeschlossen hatten, mußte die kleine Flie-
ge in der Wohnung geboren worden sein. Ich hatte es also mit dem
seltenen Exemplar eines Ureinwohner-Insekts zu tun, was mich je-
doch nicht hinderte, es von meinem Ohr zu verjagen. Was wiederum
den Ureinwohner nicht hinderte, nach einigen fröhlich durchsummten
Runden auf mein Ohr zurückzukehren. Dieser Vorgang wiederholte
sich mehrere Male. Ich wurde ein wenig nervös, trat ans Fenster und
besah mir das eingeborene Wesen etwas genauer. Ob es männlichen
oder weiblichen Geschlechts war, konnte ich nicht feststellen, dazu
kam ich nicht nahe genug heran. Auch blieb mir verborgen, warum
gerade diese Fliege gerade an meinem Ohr so großen Geschmack
fand. Es war ein Ohr wie jedes andere auch. Dennoch schien seine
Anziehungskraft schlechthin unwiderstehlich zu sein: die Fliege woll-
te mein linkes Ohr haben und sonst gar nichts. Als ich es mit der Hand
schützte, setzte sie sich auf meine Hand, und als ich sie von meiner
Hand verjagen wollte, setzte sie sich auf mein linkes Ohr.
Ich beschloß, die Fliege zu töten. Zwar bin ich ein Gegner der
Todesstrafe, aber das Leben ist hart und grausam, besonders im
Sommer.
Natürlich mußte ich mein Vorhaben in aller Ruhe ausführen, gelas-
sen, kaltblütig, ohne übertriebenen Aufwand. Ich durfte nicht etwa
wild um mich schlagen oder am Tötungsakt besonderes Vergnügen
empfinden. Es galt zu warten, bis der Ureinwohner sich in Reichweite
meiner Hand befände, und ihm sodann mit einer blitzschnellen Bewe-
gung den Garaus zu machen. Dazu war nichts weiter nötig als ein
wenig Geistesgegenwart und Reaktionsschnelligkeit.
Mindestens zehnmal hatte ich die Fliege in meiner hohlen Hand,
mindestens zehnmal entkam sie mir wieder und setzte sich geistesge-
genwärtig und reaktionsschnell auf mein linkes Ohr. Wiederholt hatte
ich den Eindruck, daß ich sie im Hohlraum meiner Faust zerquetscht
hätte und daß ein anderer Ureinwohner an die Stelle seines gefallenen
Kameraden getreten wäre, wie einst die Grenadiere bei Napoleon -
aber es war immer dieselbe Fliege, die auf mein Ohr zurückgesummt
kam. ich erkannte sie an ihren großen Augen und ihrem hämischen
Grinsen.
Ohne meine Selbstbeherrschung zu verlieren, begab ich mich -
unter Mitnahme der Fliege auf meinem linken Ohr - in die Küche,
suchte und fand die dort befindliche Fliegenklatsche und kehrte in
mein Arbeitszimmer zurück, Klatsche in der Hand, Fliege am Ohr. Hier
ergaben sich neuerliche Schwierigkeiten. Zweifellos hätte ich die
Fliege mit einem machtvollen rechten Schwinger gegen mein linkes
Ohr hinstrecken können, doch wäre dabei, ebenso zweifellos, mein
linkes Ohr - und nicht nur dieses - in schmerzhafte Mitleidenschaft
gezogen worden. Es bedurfte einer klügeren Taktik. Ich scheuchte die
Fliege in den Raum und schrie in ungarischer Sprache auf sie ein,
wovon ich mir (wie bei jedem andern Lebewesen) einen lähmenden
Effekt versprach. Er kam nicht zustande. Nach einem ungefähr viertel-
stündigen Luftgefecht ergab sich als Bilanz eine zerbrochene Blu-
menvase, eine umgestürzte Topfpflanze, ein von der Wand gefallenes
Gemälde und ein blutendes linkes Ohr.
Die Umstände ließen mir eine Kompromißlösung ratsam erscheinen.
Ich erinnerte mich an meine Tante Selma, die in Budapest einen
Frisiersalon betrieben hatte. In einer Ecke ihres Salons stand während
der Sommermonate immer eine mit gestoßenem Zucker gefüllte
Schüssel, in der sich die fliegenden Ungeheuer zu sammeln pflegten.
Eine solche Schüssel stellte ich jetzt auf meinen Schreibtisch, fügte
zwecks leichterer Verdaulichkeit ein paar Wassertropfen bei und war-
tete. Tatsächlich verließ die Fliege sofort mein Ohr, sauste im Sturz-
flug auf die Schüssel nieder, ergriff eine Portion Staubzucker und
kehrte auf mein Ohr zurück, wo sie ihre Beute geruhsam zu konsumie-
ren begann. Sobald der Vorrat aufgezehrt war, besorgte sie sich auf
dem gleichen Weg einen neuen und dann einen weiteren und dann
noch einen. Nach dem vierten oder fünften Sturzflug hatte ich ihre
Landungsintervalle berechnet und holte mit meiner Fliegenklatsche
zu einem genau tempierten Schlag aus. Das Wegkehren der Scherben
dauerte nur wenige Minuten.
Ein wankelmütiger Charakter wäre an meiner Stelle vielleicht in
Panik verfallen. Nicht so ich. Ich schaltete auf psychologische Krieg-
führung um. Die Fliege, muscida vulgaris, das weiß jeder halbwegs
Gebildete, wird auf geheimnisvolle Weise vom Licht angezogen und
ist in der Dunkelheit völlig verloren. Also verdunkelte ich das Zimmer
und öffnete beide Fensterflügel, in der sicheren Zuversicht, daß das
Sonnenlicht meinen ureingeborenen Plagegeist ins Freie locken wür-
de. Obendrein zog ich ein dunkles Tuch über meinen Kopf, um der
Fliege das Verlassen meines linken Ohrs zu erleichtern. Nach einer
kleinen Weile sprang ich zum Fenster, schloß es mit einem Ruck und
wandte mich um.
Das Zimmer war voller Fliegen.
Bei 28 hörte ich auf zu zählen, weil ich mich fragen mußte, ob ich
nicht vielleicht eine Fliege zweimal gezählt hätte. Meine eigene, die
Ureinwohnerin, erkannte ich mühelos daran, daß sie sich immer
wieder mit höhnischem Summen auf meinem linken Ohr niederließ.
Auch das Summen erkannte ich, obwohl jetzt schon der ganze Raum
summte.
Als letztes Mittel bot sich der Fliegen-Spray an. Da alles auf dem
Spiel stand, las ich zuvor die Gebrauchsanweisung:
„ Flit säubert das Haus von Insekten. Für Menschen und Haustiere ist
es ungefährlich. Um das bestmögliche Ergebnis bei der Bekämpfung
von Fliegen zu erzielen, empfiehlt es sich, alle Türen und Fenster zu
schließen und alle Räume in allen Richtungen zu besprühen. Nach
ungefähr zehn Minuten sind die Fenster wieder zu öffnen und die
toten Fliegen hinauszukehren."
Ich tat, wie mir geheißen. Ich verriegelte Fenster und Türen und
besprühte das Hausinnere bis zur völligen Erschlaffung meiner Hän-
de. Hierauf setzte ich mich im Sinne der Gebrauchsanweisung für
zehn Minuten hin, die Urfliege immer noch auf meinem Ohr.
Nach ungefähr fünf Minuten befiel mich in dem engen, muffigen,
übelriechenden Raum heftiges Unwohlsein. Nach weiteren zwei Minu-
ten litt ich an Atemnot, bekam keine Luft mehr und glitt zu Boden. Mit
letzter Anstrengung kroch ich zur Tür.
Aber da waren die zehn Minuten schon vorbei, die Fliegen öffneten
die Fenster und kehrten mich hinaus.
H a u s a r b e i t ist k e i n e A r b e i t
w i e 'nc. S t e r e o - A n / a t j - e
vOri i-onert
etutS Sieht ?
Der H a u s t o r s c h l ü s s e l
3* 35
MENSCHLICHES UND ALLZUMENSCHLICHES
ERICH KÄSTNER
Die E n t w i c k l u n g der M e n s c h h e i t
Wie m a n s i c h i n t e r e s s a n t m a c h e n k a n n
(A us: „ Im Fliederbusch das Krokodil singt wunderschöne Weisen ", Jugend und
Volk, Wien)
JOHANNES PAUL
Mit dem Papa ist es wie mit dem Mond: einmal nimmt er zu, dann
wieder ab. Nur daß er noch nie so dünn wie die Mondsichel war.
Besonders arg ist es nach dem Besuch von Opa und Oma: da geht er
regelmäßig wie ein Krapfen auf.
„Iß nicht soviel", schimpft die Mama. Aber er hört erst dann auf sie,
wenn er in kein Gewand mehr hineinpaßt. „Hast du die Hose schon
wieder gewaschen?" brummt er die Mama an, während er den Bauch
einzieht und verzweifelt versucht, den Zipp zuzukriegen.
„Ich hab' die Jeans überhaupt nicht gewaschen!" antwortet ihm die
Mama. „DU hast schon wieder viel zuviel gegessen."
„Ich?!" entrüstet er sich. „Ich ess' überhaupt nichts!" Aber am
Abend verlangt er plötzlich, daß ihm die Mama nur eine GROSSE
Schüssel Salat macht. „Aber OHNE ÖL und Zucker!"
„Wozu haben wir denn den herrlichen Endiviensalat?" fragt er beim
Essen und schielt dabei auf mein Wurstbrot. „Eos, das ißt du aber
fertig, sonst darfst du nicht zur Frau Lidek!"
Natürlich weiß er ganz genau, daß ich das Brot nie schaffe: er hat es
ja extra groß abgeschnitten und mit zehn dicken Wurstscheiben
belegt - und ich weiß ganz genau, daß ich trotzdem zur Frau Lidek
gehen darf!
„Eos, iß dein Brot auf!" sagt er, wenn er die Riesenschüssel Salat
leergegessen hat, und schaut dabei noch hungriger auf das angebis-
sene Stück, das ich vor mir liegen habe. Wenn ich aufstehe und Zähne
putzen gehe, zeigt er auf das Wurstbrot, sagt zur Mama; „Also man
kann das doch unmöglich hin werden lassen!", und bevor die Mama
noch überhaupt begriffen hat, worum es geht, greift er schon danach
und schlingt es hinunter. Danach beginnt er zu fasten. Aber die Mama
hat mir verraten, daß er später am Abend, wenn ich schon schlafe,
noch einige Male auf den Gang hinausgeht und die Speisekastentür
öffnet. Wenn er hereinkommt, schluckt er schnell noch irgend etwas
Süßes hinunter. „Ich glaube, wir haben Mäuse", entschuldigt er sich.
„Ich glaube, wir haben sogar eine große Maus", sagt die Mama und
lacht. Dann schämt er sich.
Am nächsten Morgen beginnt er mit der neuen Fastenkur.
„In der Früh soll man essen wie ein König, zu Mittag wie ein Bürger,
am Abend wie ein Bettler", erklärt er mir und bestreicht sein drittes
Brot dick mit Honig, „und überhaupt ist Honig besonders gesund.
Wenn man regelmäßig Honig ißt, wird man überhaupt nie krank.
Schau mich an!"
Die Mama seufzt.
Aus lauter Angst, am Abend hungern zu müssen, ißt der Papa schon
in der Früh für den ganzen Tag: Eierspeise oder weiche Eier, ein Stück
Fisch vom Vortag, eine Dose Thunfisch oder Sardinen, Leberpastete,
Butter- oder Schmalzbrot, Wurst, Cornflakes oder Haferflocken, und
wenn wir sie gerade zu Hause haben, auch eine Knackwurst in Essig
und Öl.
„So, das war jetzt gut!" sagt er und klopft sich auf den Bauch. „So
ein richtiges Frühstück, das hält den ganzen Tag an!"
Bei ihm natürlich nicht.
Um neun Uhr schleicht er schon wieder in der Küche herum und
schaut, was die Mama kocht.
„Hm, das wird wieder gut!" lobt er und fährt mit dem Kochlöffel tief
in den Knödelteig oder die Fleischmasse.
„Mama, du bist eine wunderbare Köchin!"
So überrumpelt er die Mama, die ihm gerade den Löffel wegnehmen
wollte.
„Ich glaube, es fehlt aber noch eine S p u r .
Er kostet.
„Rosmarin. O d e r . . ."
Er kostet noch einmal.
„Thymian. Nein . . ."
Er nimmt den dritten Löffel.
„Salz. Jetzt hab' ich's!"
Auf diese Weise hat die Mama schon oft zweimal Knödelteig und
zweimal Faschiertes machen müssen. Der Papa ist aber beim Kosten
so umwerfend lieb und zärtlich, daß sie nie nein sagen kann.
Bis zum Mittagessen hat er natürlich wieder einen Bärenhunger.
„Man glaubt gar nicht", sagt er, „was man beim Schreiben für einen
Hunger bekommt. Das macht wahrscheinlich das viele Denken."
„Ans Essen, gelt?" zieht ihn die Mama auf. In der Zwischenzeit war
er natürlich wieder einige Male beim Speisekasten.
„Eos, hast du die ganze Schokolade aufgegessen?" fragt er mich
vorwurfsvoll.
„Aber Papa, ich war ja gar nicht da!" gebe ich ihm zur Antwort.
„Vielleicht hast du sie zu den Lidekkindern mitgenommen!?"
„Nein, ganz bestimmt nicht!"
„Also, dann möchte ich wissen, wer bei uns soviel Schokolade ißt!"
„Du!" mischt sich die Mama ein. „Dreimal warst du heute wieder
beim Kasten!!"
„Viermal", sagt der Papa, „aber ich hab' nur meinen Bleistiftspitzer
gesucht. Und die Pfeife."
„Im Speisekasten?"
Jetzt lachen alle.
„Ist das Essen schon fertig?" lenkt der Papa ab.
Wir nehmen Platz. Das Gigelchen wird täglich Punkt fünf vor zwölf
wach. Es ist nämlich genauso gefräßig wie der Papa. Drei vor zwölf
plärrt es, und eine Minute vor zwölf trägt es der Papa in die Küche, wo
es sofort auf die Mama zuläuft und jämmerlich „Pappi! Pappi!"
schreit.
Dann nimmt es der Papa gerührt hoch, sagt: „Du armes Kind! Geben
sie dir nichts!" und läßt sich von der Mama eine doppelte Portion
Suppe auf den Tisch stellen. „Die Kleine muß ja auch etwas essen",
sagt er. Das läßt sich das Gigelchen nicht zweimal sagen. Mit beiden
Händen greift es in die Suppe, zieht Karottenstücke oder Fleischfa-
sern heraus, zeigt sie stolz dem Papa und stopft sie in den Mund.
„Gaü" Gleich darauf will es vom Papa einen großen Löffel Suppe, und
wenn es ihm zu langsam mit dem Nachschub geht, maunzt es und
versucht, mit dem Mund die Suppe herauszuschlürfen. Kaum aber
sieht es, daß die Mama die Hauptspeise aufträgt, wird es quengelig
und will hinunter, damit es zur Mama hinüberlaufen kann.
„Pappi ga! Pappi ga!" ruft es. Auf diese Weise bleiben dem Papa
eineinhalb Teller Suppe.
Als Hauptspeise gibt es faschierten Braten mit Erdäpfelpüree und
grünem Salat, Papas Leibgericht.
„So, und jetzt noch ein bißchen Püree!" sagt er zufrieden. „Das ist ja
heute wieder ganz hervorragend!" Und er faßt mit der einen Hand
nach dem Schöpfer, mit der andern umarmt er die Mama und gibt ihr
ein Bussi. „Mama!" mampft er mitten unter dem Erdäpfelpüree. „Du
bist eine wunderbare Köchin!"
Das Gigelchen hat blitzartig erfaßt, daß sich der Papa viel mehr
nimmt als die Mama, und wechselt sofort den Platz. Jetzt sitzt es
wieder auf seinen breiten Schenkeln und läßt sich mit Faschiertem
vollstopfen. Erdäpfelpüree mag es nämlich nicht. Deshalb hat sich ja
der Papa doppelt soviel genommen!
„Herrlich! Herrlich!" seufzt er nach dem Essen. „Das sollten wir alle
Tage haben!"
Wir haben es ohnehin dreimal pro Woche.
„Eos", umschmeichelt er mich, „bringst du dem Papa die Pfeife?"
Ich gehe in sein Zimmer hinüber. Wie ich zurückkomme, sitzt der
Papa vor einem großen Teller mit Kokoskuchen und schiebt den
Bissen von einer Backe zur andern. Das Gigelchen, das eigentlich
schon schlafen sollte, ist natürlich auch wieder dabei und wippt
vergnügt auf und ab.
„Eos, und wenn du ganz lieb bist, bringst du mir noch ein Glas
Milch."
„Und ein Stück Schokolade!" ruft er mir nach, während ich schon
die Kanne herunterhole.
Nach dem Essen schläft der Papa - von März bis Allerheiligen im
Hühnerstall, die andere Zeit im Schlafzimmer.
Dann gehen wir spazieren. Wenn wir zurückkommen, fällt ihm auf,
daß man auch vom Spazierengehen ordentlich hungrig wird, und da
er entdeckt hat, daß vom faschierten Braten doch noch etwas übrigge-
blieben ist, macht er sich über ihn her, um ihn nicht alt werden zu
lassen.
Und was am Abend los ist, das habe ich euch ja schon gesagt.
Auf diese Weise verschiebt er die Fastenkur so lange, bis er nicht
einmal die weiteste und schäbigste Hose anziehen kann. Nächste
Woche aber muß er in den Verlag.
Jetzt, wo es wirklich nicht mehr anders geht und er auch zu eitel ist,
sich eine noch größere Hose zu kaufen, beginnt er zu fasten.
Er hat schon alles mögliche probiert: eine Milchkur. Bei der hat er in
drei Tagen zwei Kilo abgenommen, aber dann sind Opa und Oma
gekommen. Viel genützt hat auch die Fleischkur, aber die ist ihm zu
teuer gekommen. „Soviel Geld haben wir nicht!" hat er gebrummt und
in eine Semmel gebissen. Semmelkur hat er übrigens auch eine
gemacht. Bei der ist er noch dicker geworden, weil er die meisten
Semmeln mit Butter oder Leberpastete bestrichen hat. „So trocken
bringt man die ja nicht hinunter."
Schließlich hat er Sport betrieben, Radfahren, Turnen, Schwimmen
(im März), mit dem Ergebnis, daß er mit Fieber im Bett gelegen ist und
sich von der Mama hat verwöhnen lassen.
„Ist doch gut, wenn man Reserven hat!" hat er gejammert und mit
Appetit in ein Wurstbrot gebissen. „Man weiß ja nie, was einem alles
passieren kann!" Als er wieder aufgestanden ist, war er noch dicker.
„Ich glaube, das sind die Drüsen!" hat er gesagt und verwundert zur
Waage hinuntergeblickt. „Das gibt es doch gar nicht. Ich hab' ja gar
nichts gegessen!"
Aber nachdem ihm die Mama aufgezählt hat, was sie ihm alles ans
Bett gebracht hat, war er anderer Meinung. „Gott sei Dank, mit den
Drüsen dürfte es doch nichts sein!" hat er seufzend gesagt.
Dabei möchte er wirklich schlank sein und ärgert sich, weil alle
seine Freunde schlank und hübsch sind, nur er nicht.
„Eos, so schlank wie du möchte ich einmal sein!" sagt er oft und
klopft mir auf den Hintern. „Du bist schon heute eine schöne Frau!"
Das hör ich gerne.
Nachdem der Papa sämtliche Kuren ausprobiert hat, ist er auf die
FDH („Friß-die-Hälfte!"-)Methode gekommen. Tatsächlich hat das eine
Zeitlang genützt. Er hat zwei, drei, fünf, sieben, acht Kilo abgenom-
men, die Mama war überglücklich, weil er beinahe wieder in den
Hochzeitsanzug gepaßt hat, vor allen Freunden hat er angegeben . . .
Bis sein Geburtstag, Ostern und Opa und Oma gekommen sind.
Was soll ich euch noch erzählen? Jetzt hat er wieder neunzig Kilo —
„Neunundachtzig, Eos!" - , paßt in keine Hose und schwört Stein und
Bein, daß er ab morgen hundertprozentig abnehmen wird.
„Papa", hab' ich gesagt und mich auf seine Schenkel gesetzt,
„bleib, wie du bist. Wir haben dich auch so gern."
Und das ist wahr.
Die kleine Gabi erwartet den Briefträger, „Hast du Post für mich?" -
„Wie heißt du denn?" - „Bist du aber dumm, das steht doch auf dem
Briefumschlag!"
Die T a u f e
Ein Mann und zwei Frauen traten plötzlich in die Kirche. Eine der
beiden Frauen war die angetraute Gattin Peppones, des Führers der
Roten.
Don Camillo, der hoch oben auf einer Leiter stand und die Aureole
des heiligen Josef mit Sidol behandelte, drehte sich um und fragte,
was sie von ihm wollten.
„Es ist was zum Taufen", sagte der Mann. Und eine der Frauen
zeigte ein Wäschebündel mit einem Neugeborenen darin.
„Von wem ist es?" fragte Don Camillo, die Leiter verlassend.
„Von mir", antwortete Peppones Gattin.
„Und deinem Mann?" erkundigte sich Don Camillo.
„Natürlich! Von wem denn? Von Ihnen vielleicht?" antwortete trok-
ken Peppones Gattin.
„Kein Grund zur Aufregung", bemerkte Don Camillo, indem er seine
Schritte zur Sakristei richtete. „Was weiß ich? Hat man denn nicht
gesagt, daß in eurer Partei freie Liebe Mode ist?"
Am Hauptaltar vorbeigehend, beugte Don Camillo das rechte Knie
und blickte aus einem Augenwinkel hin zum gekreuzigten Christus.
„O Herr, hast Du gehört? Hab ich's dieser Gottlosen gesagt?"
„Rede keinen Unsinn, Don Camillo!" antwortete Christus streng.
„Wenn sie gottlos wären, würden sie ihre Kinder nicht zur Taufe
herbringen. Hätte dir Peppones Gattin eine Ohrfeige gegeben, hättest
du sie wohl verdient."
„Hätte mir Peppones Gattin eine Ohrfeige gegeben, hätte ich sie alle
drei am Kragen gepackt und . . ."
„Und?" fragte Jesus streng.
„Nichts, nur so . . .", antwortete Don Camillo und entfernte sich
eilig.
„Don Camillo, nimm dich in acht!" ermahnte ihn Jesus.
Don Camillo zog die Kirchengewänder an und stellte sich zum
Taufbecken.
„Wie wollt ihr ihn nennen?" fragte Don Camillo Peppones Gattin.
„Lenin, Libero, Antonio", erwiderte diese.
„Laß ihn in Rußland taufen", sagte Don Camillo ruhig und deckte
das Taufbecken wieder zu.
Don Camillo hatte Hände, groß wie Schaufeln, und die drei gingen,
ohne ein Wort zu sagen. Don Camillo versuchte in die Sakristei zu
entschlüpfen, Christi Stimme nagelte ihn aber fest.
„Don Camillo, du hast wieder etwas sehr Schlechtes getan. Geh,
rufe die Leute zurück und taufe das Kind!"
„Jesu", antwortete Don Camillo, „bedenke, daß die Taufe keine
Komödie ist. Die Taufe ist eine heilige Sache. Die Taufe . . ."
„Don Camillo", unterbrach ihn Christus. „Wen willst du denn beleh-
ren, was die Taufe ist? Mich vielleicht, der sie eingesetzt hat? Ich sage
dir, daß du einen bösen Streich gespielt h a s t - s t e l l dir nur vor! - , stirbt
das Kind jetzt, wird es deine Schuld sein, wenn es nicht in den Himmel
kommt."
„Jesu, bitte, nur nicht tragisch!" erwiderte Don Camillo. „Warum
sollte es denn sterben? Es ist weiß und rot wie eine Rose!"
„Das besagt noch nichts", ermahnte ihn Christus. „Es kann ihm ein
Ziegel auf den Kopf fallen, es kann einen Schlaganfall erleiden. Du
hättest es taufen müssen!"
Don Camillo breitete die Arme aus:
„Jesu, bitte, bedenke einen Moment. Wenn man sicher wäre, daß es
später einmal in die Hölle kommt, könnte man's noch machen. Aber,
obwohl es der Sohn eines großen Taugenichts ist, ist es nicht ausge-
schlossen, daß es eines Tages Dir im Paradies zur Last fällt. Und dann,
sag mir, bitte, wie kann ich denn gestatten, daß zu Dir ins Paradies
Leute kommen, die Lenin heißen? Ich habe es für den guten Ruf des
Himmels gemacht."
„Für den guten Ruf des Himmels sorge ich", rief Jesus ärgerlich Don
Camillo zu. „Was mich interessiert, ist, ob jemand ein anständiger
Mensch ist. Ob er Lenin oder Bottone heißt, ist mir gleich. Du hättest
höchstens diesen Leuten vor Augen führen können, daß es später für
die Kinder, sind sie erst groß, sehr unangenehm sein kann, solch
unmögliche Namen zu tragen."
„Ist schon gut", antwortete Don Camillo. „Ich habe nie recht. Ich
werde versuchen, es wiedergutzumachen."
In diesem Moment betrat jemand die Kirche. Es war Peppone allein,
mit dem Kind auf dem Arm. Peppone schloß das Kirchentor und schob
den Riegel vor.
Eines Tages gibt der Fernseher seinen Geist auf. Der Vater sieht sich
im Zimmer um und meint erstaunt: „Kind, was bist du groß ge-
worden. "
In der großen Pause steht Waltraud mit ihrer Freundin auf dem
Schulhof und tritt von einem Fuß auf den anderen. „Was hast du
denn?" - „Ich muß dringend aufs Klo. Aber ich bin doch nicht blöd
und gehe jetzt in der Pause!"
4' 51
OTHMAR FRANZ LANG
Wegen B a n k r a u b e s g e s c h l o s s e n
Eines Tages wurde Felix nach Passiva, das ist die Hauptstadt Defizi-
tans, gerufen. Der dortige Gesundheitsminister wollte mit ihm ein
Gespräch führen. Um schnell wieder bei seiner Familie zu sein, flog
Felix mit einem Hubschrauber der „Leuchtenfels-Transairlines". Es
war übrigens die einzige Maschine, welche die Gesellschaft besaß, sie
hießt „Gigant" und konnte einen Passagier und zwei Kilogramm Post
befördern. Dadurch war der „Gigant" zum geheimen Stolz aller
Leuchtenfelser geworden. Der Flughafen Passivas bot ein Bild der
Verwahrlosung. Das Rollfeld hatte tiefe Schlaglöcher, aber das Flug-
hafenpersonal besserte sie nicht aus, weil dies eine Angelegenheit der
Regierung war.
Die Zollbeamten streikten, weil sie im Jahr statt der 36 Monatsgehäl-
ter 38 bekommen wollten.
Felix bestieg ein schmutziges Taxi, und der Schofför grüßte kaum.
„Können Sie nicht grüßen?" fragte Felix, „schließlich zahle ich ja."
Der Schofför erwiderte unfreundlich: „Sie zahlen nicht dafür, daß
ich grüße, sondern nur dafür, daß ich fahre. Also!"
Er fuhr los, und die Kotflügel des alten Vehikels schepperten fürch-
terlich. Außerdem blieb der Wagen alle hundert Meter stehen, weil die
Benzinleitung gebrochen war und immer wieder zusammengesteckt
werden mußte.
„Warum lassen Sie das nicht reparieren?" fragte Felix.
„Ist das meine Aufgabe?" fragte der Schofför. „Wozu zahlen wir alle
Steuern? Das soll nur der Staat machen."
„Und warum sind die Straßen so schlecht?" fragte Felix.
„Weil der Staat meint, diese Straßen solle die Stadt ausbessern. Und
die Stadt meint, das sei Aufgabe des Staates."
Schon weit vor seinem Ziel mußte Felix wegen eines Verkehrsunfal-
les den Wagen verlassen. Die Straße war verstopft. Ein Auto war mit
einem Pferdewagen zusammengestoßen. Das Auto brannte, aber kei-
ner löschte es.
„Warum löschen Sie den Wagen nicht?" fragte Felix.
„Wir haben sowieso der Feuerwehr telefoniert", sagte der Besitzer
des Wagens und behielt die Hände in den Hosentaschen.
Das Pferd lag verletzt auf der Straße.
„Warum kümmert sich niemand um das Pferd?" fragte Felix.
„Wozu haben wir einen Tierschutzverein?" fragte ein anderer zu-
rück.
Der Kutscher stand daneben, ihm spritzte das Blut aus dem Arm.
Felix stürzte auf ihn zu und rief: „Warum drücken Sie sich nicht die
Ader ab, Sie verbluten ja sonst!"
Der Kutscher sah Felix verständnislos an und fragte: „Bin ich das
Rote Kreuz?"
Als Felix weiterging, stieß er auf eine Schar Schulbuben. „Habt ihr
denn jetzt nicht Unterricht?" fragte er.
„ 0 ja, aber wir wollen nichts lernen", antworteten die lieben Kleinen
treuherzig.
„Aber wenn ihr nichts lernt, werdet ihr später einmal kein Geld
verdienen."
„Das macht nichts", erwiderten die Vertreter der passivanischen
Schuljugend, „dann muß eben der Staat für uns sorgen."
Felix kam aus dem Kopfschütteln nicht heraus.
Er ging durch eine vollkommen verwahrloste Stadt. Auf den Dä-
chern fehlten Ziegel und in den Fenstern das Glas. Der Verputz war
von den Häusern gebröckelt und der Lack an den Türen und Fenster-
stöcken abgesprungen.
In einer Straße lagen Scherben von Milchflaschen auf der Fahrbahn.
Keiner beseitigte sie. Nur zwei Männer kamen mit einem Schild an-
marschiert. Das stellten sie auf. Auf dem Schild stand:
„Achtung! Scherben auf der Fahrbahn!"
Felix konnte sich nicht zurückhalten. „Warum räumen Sie die
Scherben nicht gleich weg?" fragte er.
„Das ist nicht unsere Aufgabe. Das muß die Straßenreinigung tun."
„Und warum tut sie das nicht?"
„Weil wir im Augenblick keine haben. Die Stadt will, daß der Staat
die Straßenreinigung übernimmt, und der Staat will, daß die Stadt die
Straßenreinigung weiterhin behält."
„Können Sie denn die Scherben wirklich nicht wegräumen?"
„Auf keinen Fall. Wir haben nur Schilder aufzustellen. Und wir
müssen weiter in die Hauptstraße. Dort liegt ein Nagel auf der Fahr-
bahn."
Da versuchte Felix, die Scherben mit dem Schuh an den Rinnstein
zu schieben.
Die beiden Männer hielten ihn zurück. „Sind Sie verrückt?" fragten
sie. „Wollen Sie Ihre Zuständigkeit überschreiten? Wer zahlt Ihnen
denn etwas dafür? Und wozu stünde dann überhaupt unser Schild
da? Sie wollen uns wohl brotlos machen? Sie Ehrgeizling!"
Im Weitergehen biß sich Felix in den Finger, aber er träumte nicht.
Es fiel ihm ein, daß er noch kein defizitanisches Geld eingewechselt
hatte, und er suchte eine Bank auf, um 30 000 Ruinösen*) zu erwer-
ben. Am Schalter, über dem „Geldwechsel" stand, wartete er.
M u n i , «"<>er K/V>i<r)Ul>rcr
• f u r c h t bctr c j e r l . ])e$h<*lb>
Die A f f e n
Press W o r k
Pressearbeit! - Reklame! -
In Amerika ist es Grundregel, daß von allem, sei es was immer,
gesprochen werden muß.
Gut oder schlecht, es ist gleichgültig, nur reden müssen die Leute
davon.
Die ungeheure Größe dieses Landes und das, bis auf einige wenige
Ausnahmen, wenig gepflegte Kunstinteresse zwingen den Künstler,
eine Reklame zu entfalten, die ihm anfangs widerstrebt, die aber nicht
zu umgehen ist.
Gar für einen, der an erster Stelle steht und der an erster Stelle
verdienen will. -
Amerika ist ein schnellebiges Land, die größte Sensation von heute
morgen ist am Abend schon vergessen. Alles spielt sich in solch
gigantischen Formen ab, daß man, um überhaupt bemerkt zu werden,
womöglich noch lauter schreien muß als alle andern.
Da heißt es nun, sich immer und immer wieder in Erinnerung
bringen, von sich reden machen, ohne rigorose Wahl der Mittel. Man
hält sich zu diesem Zweck einen Presseagenten.
Dieser ist ein bei allen Blättern eingeführter Reporter, der den
ganzen Betrieb, vor allem aber den Geschmack seines Publikums
kennt, und das Allerwichtigste ist, daß das, was er schreibt - auch
gedruckt wird.
Seine Hauptaufgabe ist es, jede Woche irgendeine Geschichte zu
erfinden, die, wenn sie auch noch so trottelhaft ist, durch die Blätter
der Vereinigten Staaten geschleift werden soll.
Je nach der geistigen Beschaffenheit seines Presseagenten liest
man in den Blättern Sachen über sich, die einem mehr oder weniger
die Schamröte ins Gesicht treiben.
Allerdings, wenn man ein Jahr lang drüben gewesen ist, härtet man
sich gegen so manches ab.
Bei diesen Geschichten muß man sein Augenmerk darauf richten,
daß darin ja nichts von Kunst gesprochen wird.
Das liest nämlich kein Mensch.
Das Wichtigste ist die „Headline"! Die Überschrift!
Diese „Headline" muß nicht nur einen Extrakt des Inhalts bilden, sie
muß auch neugierig machen, denn achtzig Prozent der Amerikaner
lesen nur die Headlines. - Aus denselben erfahren sie alles Wissens-
werte,, und nur wenn sie einen Witz oder sonst etwas Interessantes
erhoffen, lesen sie den Text.
Eine Amerikatournee muß schon Monate vorher vorbereitet werden.
Die in Aussicht genommenen Städte werden mit Berichten gefüttert.
Amateurbilder! - im Sommerheim! - in Hemdsärmeln! - in der
Schwimmhose! - Da dies alles schon da war, ließ ich mich im Badean-
zug mit sämtlichen Orden und dem Komturkreuz um den Hals, ein
Notenblatt in der Hand, photographieren. - Überschrift: „Mister
Slezakstudiert in seinem Countryhouse-eine neue Rollefür Amerika."-
Dem unglücklichen Bewohner wird bei jeder Gelegenheit, überall
und zu jeder Zeit versichert, daß ich in der Äolianhalle der Stadt
singen werde. - Die Preise sind von fünf Dollar bis fünfzig Cent. -
Wenn er in irgendeinem Hotel ein Löschblatt in die Hand nimmt, grinst
ihm mein Bild entgegen. - Als Othello. - Leo Slezak! - Der größte
Tenor der Welt! - Der je gelebt hat - nein - der je leben wird! -
Wo er hinkommt - aus allen Läden - in der Elektrischen - von den
Litfaßsäulen - lächeln ihm meine durchgeistigten Züge entgegen. -
Zuerst ist er irritiert, allmählich gehe ich dem Bedauernswerten derart
auf die Nerven, daß sich bei ihm ein Haßgefühl einstellt, das vor einem
Mord nicht zurückschreckt. -
Da komme ich an, er kauft sich ein Billett, geht ins Konzert und ist
das dankbarste Publikum.
Dankbar schon aus dem Grunde, weil er weiß, daß er nach dem
Konzerte vor mir Ruhe haben wird. -
Besonders die Ankunft in Amerika muß richtig gemanaged werden.
Die Anker rasseln herunter, die Postbarkasse legt auf einer Seite an,
auf der andern der Doktor, und schon flitzt das schnelle Dampferchen
des „New-York-Herald" heran mit allen Zeitungsreportern an Bord.
Man ruft einander zu - „Hallo my boy! How do you do?" - „Was
machen Frau und Kinder? . . . Ist die Katze mit? . . . Die beiden Hun-
de? . . . Der große Schnauzi?"
Nun steigen sie an Bord, man begrüßt einander, und jetzt kommt der
Clou: ich trete ihnen mit einer Ziege und einer Schildkröte - beide an
einem Schnürl befestigt, entgegen. - „Was ist das?"
„Meine Mascotte! - Mein Porte-bonheur! - Ich bin außerstande,
ohne diese Ziege zu singen, sie muß im Konzertsaal mit dabei sein,
auch die Schildkröte liebt mich, wedelt mit dem Schwanz, wenn ich
mit ihr rede - sie darf nicht fehlen." -
OTHELLO
Oper in 4 Akten von G. Verdi.
I. Akt
Hafen in Cypern
Alles Volk liegt auf den Knien, um für die Errettung Othellos, der in
schwerer Seenot auf seinem Schiff gegen die Elemente kämpft, zu
beten.
5* 67
Die Gefahr ist gebannt: Othello erscheint und begrüßt das Volk mit
den Worten:
Koche nur mit dem berühmten Speisefett „Krusto!"
„Freut euch alle! - Der Türke ist besiegt und ins Meer geworfen."
Das Volk jubelt Othello zu! -
„Krusto" ist das einzig mögliche Speisefett!
Jago, eifersüchtig auf Cassio, der die Gunst Othellos besitzt, macht
ihn betrunken. Ein Trinklied
Wer nicht mit „Krusto" kocht, ist wahnsinnig!
ertönt, und Cassio, bereits ziemlich bezecht, dringt auf Montano mit
der Waffe ein. Es entsteht großer Lärm - Othello erscheint und ruft mit
fürchterlicher Stimme:
„Nieder mit den Schwertern!" Cassio wird seines Ranges als Haupt-
mann entsetzt, da erscheint Desdemona, die liebliche Frau Othellos,
im Rahmen der Schloßpforte. - Othello geht ihr entgegen und singt
mit ihr ein herrliches Duett,
Man darf sich natürlich nicht nur auf seinen Pressmanager allein
verlassen, man muß auch selbst dafür sorgen, in der Leute Mund zu
kommen.
Gerichtsverhandlungen sind sehr beliebt.
Man provoziert einen Streit mir irgendeinem Kameraden und bricht
ihm im Laufe des Gesprächs das Nasenbein.
Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Kunde.
Als Rohling steht man in den Blättern von ganz Amerika.
Bilder erscheinen. - Erst der Rüpel, mit dem Gesichtsausdruck
eines Schwerverbrechers. - Daneben der Kollege Y mit dem gebro-
chenen Nasenbein. - Ein Pfeil bei der Nase deutet die Stelle an, wo es
gebrochen ist, - und damit kein Zweifel herrscht, steht daneben:
„broken!" -
Einmal passierte mir folgendes:
Ich sang in der Academy of Music in Brooklyn den Othello.
Meine Desdemona, Madame Alda, klagte vor der Vorstellung über
sehr starke Schmerzen im Blinddarm und bat mich, recht vorsichtig
mit ihr umzugehen.
Im dritten Akt habe ich sie nämlich einige Male liebevoll auf die Erde
zu hauen.
Ich markiere die Stellen so vorsichtig wie nur möglich und lasse sie
sanft zur Erde gleiten.
Sie vermochte unter den schrecklichsten Schmerzen die Oper kaum
zu Ende zu singen und mußte sich noch in der gleichen Nacht einer
schweren Operation unterziehen.
Am nächsten Morgen brachten die Blätter unter großen Aufschriften
mein Bild als Othello mit dem Titel: „Roher Russian Tenor bricht den
Appendix von Madame Alda!"
Und ich lese in der Zeitung, wie sie mich bat, sie zu schonen, aber
ich vergaß mich in der bestialischen Wiedergabe des eifersüchtigen
Mohren so sehr, daß ich die Arme mit dem ganzen Aufwände meiner
ungeheuren Kraft, die mir tschechischem Giganten innewohnt, mit
solcher Gewalt auf den Boden schleuderte, daß man ihren Blinddarm
bis in die hinterste Parkettreihe krachen hörte.
Ich war bestürzt. - Mein Press-Agent strahlte. -
„Mister Slezak, das ist ein Haupttreffer, das sind Sie ja nicht imstan-
de zu bezahlen, wenn Sie sich das kaufen wollten." -
Erst nach acht Tagen verstand ich ihn ganz.
Da kamen nämlich die Zeitungsausschnitte aus ganz Amerika in
großen Mengen. - Wohlwollende Stimmen, - gehässige, - solche, die
meine Kraft bewunderten, dann wieder welche, die meine tierische
Roheit verdammten, - Abhandlungen über meine Körperstärke, Grö-
ße, Gewicht und so fort. - Das ging Wochen hindurch. -
Allmählich beganfi mir Madame Aldas Appendix zum Halse heraus-
zuhängen.
Später dann, nach Absolvierung der Abende an der Metropolitan-
oper, als ich allein auf meine Konzerttournee ging, fühlte ich den
Effekt.
Mit einer gewissen Hochachtung fragte man mich: „Also Sie sind
der Fellow, der seinen Partnerinnen die Blindgedärme zerbricht?"
Meine Muskeln wurden befühlt, meine Bizeps einer eingehenden
Prüfung unterzogen.
Als Headline stand über der Kritik: „The giant tschech Appendix-
breaker wins Audience."
Die Hauptsache ist: es muß viel von einem gesprochen werden - gut
oder schlecht - ganz egal - nur immer wieder die Leute auf sich
aufmerksam machen.
Es ist sehr unbequem - aber einträglich.
Moderne Sinfonie
Der G e i g e r
RENE GOSCINNY
T y p e n auf d e r S c h u l b a n k
2. Die a n d e r e n S c h ü l e r
Man könnte sie so definieren, daß sie die Schule besuchen,um sich
allerlei höchst wichtigen Beschäftigungen zu widmen - nur nicht dem
Bemerkenswerte Arbeit eines Bastlers wenige Minuten nach dem Zünden der
Maschine - und dem Feuern ihres Erfinders.
Lernen. Mithin müssen wir sie genauer kennenlernen und werden sie
wie folgt unterteilen:
a) Die Bastler
Betriebsam, immer beschäftigt, mögen ganz und gar nicht gestört
werden. Vom Lehrer leichtfertig in ihrer Arbeit unterbrochen, blicken
sie müde auf und fragen mit träger Stimme: „Was'n los?"
Die Bastler sind eine verfolgte, aber niemals aussterbende Gattung.
Ihre unter dem Pult eingerichtete Werkstatt ist zusammenlegbar und
kann bei der geringsten Gefahr in speziell dafür vorgesehene Taschen
verschwinden - Taschen, in die die Hand des Lehrers niemals zu
greifen wagt, aus Furcht vor ausgeklügelten Fallen.
Die von den Bastlern hergestellten Gegenstände sind zahlreich und
verschiedenartig: Miniaturautos, Flugzeuge, Schiffe, Schleudern, Ka-
tapulte, falsche Würfel, Spielkarten, Barometer, Fliegenkäfige und so
weiter...
Einem der berühmtesten Bastler in den Annalen der Schulbehörden
gelang es sogar, hinter seinem Federkasten heimlich einen Radio-
empfänger zusammenzubauen, dessen Vollkommenheit und Lautstär-
ke die größten Fachleute hätte erblassen lassen. Leider vernichtete
eine donnernde Marschmusik, die mitten in der Lateinstunde los-
brach, schlagartig die Laufbahn des begabten Konstrukteurs. Dieser
Märtyrer der Wissenschaft endete übrigens auf traurige Weise: Er
landete als Fräser in einer Fabrik, wurde aber unter dem Vorwand
entlassen, daß er, statt zu fräsen, Bücher unter seiner Werkbank
versteckt gehalten und für die Abendschule gepaukt habe . . .
Dabei hatte er sich lediglich an die Faustregel der „anderen" gehal-
ten: „Was du tun sollst, tue niemals dann, wenn du es mußt."
b) Die Künstler
Diese Schüler sind den Bastlern sehr verwandt, wenngleich ihre
Tätigkeit differenzierter ist. Die Künstler verbringen die langweiligen
Unterrichtsstunden damit, auf dem Rand ihrer Schulhefte und Bücher,
auf dem Pult, auf ihren Manschetten, ja sogar auf ihren Nägeln zu
malen. Manche malen grundsätzlich immer wieder dasselbe Motiv
und reproduzieren es mit bewundernswerter Geduld, noch und noch.
Anläßlich des Besuchs einer Ausstellung konfiszierter Werke fanden
wir 2507 Burgerstürmungen, die einander aufs Haar glichen, mit
jeweils genau der gleichen Anzahl Belagerer und Belagerter. Außer-
dem konnten wir 4209 bärtige Pfeifenraucher entdecken, ferner 1003
Seitenansichten von Autos und 812 Flugzeuge von vorne, ganz zu
schweigen von abstrakten, mit Zirkel und Winkelmesser ausgeführten
oder mit Tintenfingern gezeichneten Werken sowie ein paar in Kreide
gemeißelten Skulpturen, die weniger Beachtung verdienen.
c) Die Zoologen
Sie besitzen die eigentümliche Gabe, sich der flinksten und mißtrau-
ischsten Insekten zu bemächtigen, fast als übten sie eine besondere
Anziehungskraft auf sie aus. Statt Fallen zu verwenden, die die Bastler
ihnen zu unerschwinglichen Preisen feilbieten, ziehen es die Zoolo-
gen vor, ihre natürlichen Waffen zu benutzen. Sie legen dann ein
erstaunliches Maß an Geschmeidigkeit und Gewandtheit an den Tag.
Es lohnt sich unbedingt, den Zoologen bei seiner Tätigkeit zu
beobachten. Sein Blick streift durch die ganze Klasse und erstarrt
plötzlich. Lauernd, aufs äußerste gespannt, sieht der Zoologe mit
kleinen, grausamen Augen der Fliege nach. Sollte ihn der Lehrer in
diesem Augenblick drannehmen, gibt der Zoologe ein energisches
„Psst!" von sich, das den abgebrühtesten Lehrer zögern läßt. Lässig,
elegant, mit dem bloßen Auge kaum wahrnehmbar, schnellt plötzlich
die Hand durch die Luft: „Zack! Da hab ich dich!" Der Zoologe hat das
Insekt gefangen. Und der Lehrer, dem die erhabende Schönheit der
Geste entgeht, setzt beide vor die Tür: den triumphierenden Jäger und
seine Beute, beide vom gleichen Schicksal geschlagen.
Was aber macht der Zoologe mit seiner Beute? Falls er sie nicht
aufißt, unterzieht er sie meist einer ziemlich unappetitlichen Vivisek-
tion, die zugegebenermaßen der reinen Wissenschaft kaum etwas
Neues bringt, so etwa die Erkenntnis, daß ein Insekt, dem zwei Flügel
ausgerissen werden, nicht fliegen kann.
Unsere Sympathie gilt jedoch den Dompteuren, die ihren bunten
und kuriosen Kleintierzoo mit außergewöhnlicher Geduld dressiert
haben. Den Kopf in den Rachen eines Löwen zu stecken, ist gewiß
keine Kleinigkeit; aber eine Wegschnecke dazu zu bringen, daß sie
einen astreinen Salto springt - das ist doch eine ganz andere Sache!
d) Die Vorsager
Wir stoßen hier auf einen seltsamen Typ, dessen bevorzugter Sitzplatz
im allgemeinen die vorderste Bank ist. Manche werden glauben, der
Vorsager sei ein guter Kamerad, stets bereit, dem in Not geratenen
und den indiskreten Fragen eines verständnislosen Lehrers ausge-
setzten Mitschüler zu helfen. Das mag schon sein; wir glauben aber,
daß es sich hier vielmehr um Besessene handelt. Vorsager sind wie
Souffleure; sie flüstern, weil sie flüstern müssen. Sie können es nicht
lassen, jedem etwas zuzuflüstern, selbst ihrem schlimmsten Feind, mit
dem sie in normalem Ton kein Wort sprechen würden.
Als Beweis dafür, daß der Vorsager gar nicht anders kann, erlauben
wir uns, eine persönliche Erinnerung anzuführen. Ein neuer Lehrer in
unserer Klasse deutet mit dem Finger auf jeden von uns und fragt
nach unseren Namen; ich stehe auf - und ehe ich auch nur den Mund
aufmachen kann, flüstert mir mein Hintermann zu: „Gos - cinny!"
Es muß außerdem gesagt werden, daß Vorsager beachtliche Panto-
mimen sind: Erscheint ihnen das Flüstern wegen des nahen Lehreroh-
res zu gefährlich, improvisieren sie die reinsten Scharaden. Wenn sie
einem zum Beispiel „Karl der Kahle" soufflieren wollen, krempeln sie
ihr Hosenbein auf und deuten dabei mit energischem Finger auf ein
ebenso schmutziges wie vielsagendes Knie . . .
e) Die Schläfer
Es handelt sich bei ihnen in Wirklichkeit um Schüler, die am norma-
len, liegenden Schlaf gehindert werden. Im Gegensatz zu den Vorsa-
gern lassen sich die Schläfer auf der hintersten Bank nieder. Solch ein
Pennäler, der im übrigen völlig normal zu sein scheint oder zumindest
nur wenig anders als seine Leidensgenossen, fällt, sobald er die
Klasse betritt, in eine Art Winterschlaf. Er schläft im Sitzen, manchmal
sogar mit offenen Augen.
Harmlos wie er ist, läßt er sich durch nichts stören, nicht einmal
durch den Lehrer, der nach einigen fruchtlosen Versuchen, ihn von
seiner Schlafsucht zu befreien, ein stillschweigendes Abkommen mit
ihm schließt: Der Lehrer nimmt den Schläfer nicht mehr dran - und
dieser vermeidet es tunlichst, sich der Länge nach auf die Bank zu
legen . . .
Die Schläfer fallen dadurch auf, daß sie die Schule fleißig besuchen;
sie wissen nämlich, daß die Klasse der beste Ort ist, um sich ihrem
Lieblingsport zu widmen. Denken Sie also daran: Steht Ihr Filius
morgens frisch und munter auf, freuen Sie sich nicht zu früh, vor allem
brüsten Sie sich nicht damit vor Freunden und Bekannten: Vielleicht
gehört er in der Schule zu den Schläfern.
Wenn Sie nun Ihren Sprößling in dieser Aufzählung vermissen,
seien Sie unbesorgt; es gibt natürlich noch andere Schülertypen, aber
es wäre schwierig, alle untersuchen zu wollen. Wir möchten nur noch
hinzufügen, daß sich einzelne Schüler, ganz gleich, zu welchem Typ
sie gehören, manchmal zu einer Gruppentätigkeit vereinen und dann
unter der Bezeichnung „Unterrichtsstörer", wenig später aber als
„Nachsitzer" erfaßt werden.
Als wir im Herbst wieder in der Schule angefangen hatten, sagte die
Lehrerin eines Tages, wir sollten uns immer bemühen, andere Men-
schen glücklich zu machen. Niemals aber sollte man etwas tun, wovon
Menschen unglücklich werden könnten.
Am Nachmittag saßen Inga und ich auf unserer Küchentreppe und
sprachen darüber. Und da beschlossen wir, sofort damit anzufangen,
Menschen glücklich zu machen. Das Schlimme war nur, daß wir nicht
genau wußten, wie wir es anstellen sollten. Wir wollten es erst einmal
mit Agda, unserem Hausmädchen, versuchen und gingen in die Kü-
che. Sie scheuerte gerade den Fußboden.
„Trampelt nicht auf dem Fußboden herum, wenn er noch naß ist",
rief sie.
„Agda", sagte ich, „kannst du uns etwas nennen, was wir tun
könnten, um dich glücklich zu machen?"
„Ja, das kann ich! Wenn ihr sofort aus der Küche verschwindet und
mich in Ruhe scheuern läßt, dann macht mich das unglaublich glück-
lich!"
Wir gingen. Aber wir fanden es nicht besonders erfreulich, auf diese
Art Menschen glücklich zu machen. Und so hatte es Fräulein Lund-
gren wohl auch nicht gemeint.
Mutti war im Garten und pflückte Äpfel. Ich ging zu ihr und sagte:
„Mutti, sag irgend etwas, was ich tun kann, damit du glücklich
wirst!"
„Ich bin doch glücklich", sagte Mutti.
Das war doch ärgerlich! Aber ich wollte nicht nachgeben, sondern
sagte:
„Aber ich könnte doch vielleicht etwas tun, damit du noch glückli-
cher wirst?"
„Du brauchst nichts weiter zu tun, als auch weiterhin mein liebes,
gutes, artiges Mädchen zu bleiben", sagte Mutti. „Dann bin ich ausrei-
chend glücklich."
Da ging ich zu Inga zurück.
Ich sagte ihr, die Lehrerin hätte keine Ahnung, wie schwer es sei,
jemanden zu finden, den man glücklich machen dürfe.
„Wir versuchen es mit Großvater", sagte Inga.
Und wir gingen zu Großvater.
„Ah, das sind doch sicher meine kleinen Freunde, die da kommen!"
sagte Großvater. „Nun bin ich aber glücklich!"
Das war doch auch ärgerlich! Wir waren kaum zur Tür herein -
schon war Großvater glücklich! Da gab es für uns ja nichts mehr zu
tun.
„Großvater", sagte Inga, „erzähl uns nur nicht, daß du glücklich bist.
Wir wollen etwas tun, damit du glücklich wirst. Du mußt uns helfen
und dir etwas ausdenken. Die Lehrerin hat gesagt, wir sollen andere
Menschen glücklich machen."
„Ihr könntet mir vielleicht aus der Zeitung vorlesen", schlug Großva-
ter vor.
Ja, natürlich konnten wir das. Aber das taten wir doch so oft, es war
also nichts Besonderes. Plötzlich rief Inga:
„Du armer, armer Großvater, dauernd hockst du hier oben in deinem
Zimmer! Es wird dich sicher sehr glücklich machen, wenn wir einmal
mit dir Spazierengehen!"
Großvater sah aus, als sei er nicht sonderlich begeistert von diesem
Vorschlag, aber er versprach uns, mitzukommen. Wir gingen also.
Inga und ich gingen jeder auf einer Seite von Großvater und führten
ihn, denn er kann ja selbst nicht sehen, wo er geht. Durch ganz
Bullerbü zogen wir mit ihm und erzählten und berichteten ihm die
ganze Zeit, was wir sahen.
Es hatte angefangen, ein wenig zu wehen und zu regnen, aber das
kümmerte uns nicht. Wir hatten uns in den Kopf gesetzt, Großvater
glücklich zu machen.
Plötzlich sagte Großvater: „Glaubt ihr nicht, es reicht jetzt? Ich
würde gern nach Hause gehen und mich hinlegen."
Da führten wir Großvater wieder auf sein Zimmer zurück, und er zog
sich sofort aus und legte sich ins Bett - dabei war es noch nicht
einmal Abend. Inga stopfte die Decken fest um ihn. Großvater sah
etwas müde aus.
Bevor wir gingen, fragte Inga: „Großvater, wann bist du heute am
glücklichsten gewesen?"
Wir hofften beide, er würde sagen, er sei auf dem Spaziergang am
glücklichsten gewesen. Aber Großvater sagte: „Am glücklichsten Kin-
der, war ich heute, als . . . ja, als ich in mein molliges, weiches Bett
kriechen konnte. Denn ich bin sehr müde."
Dann mußten Inga und ich Schularbeiten machen. An diesem Tag
hatten wir also keine Zeit mehr, weitere Menschen glücklich zu ma-
6* 83
„Jaha", sagte Svensson.
Ich sah zu Inga, weil ich fand, sie könnte mir etwas behilflich sein.
Und da sagte Inga:
„Man könnte glauben, daß das Wetter morgen auch schön wird,
nicht?"
„Jaha", sagte Svensson.
Dann wurde es wieder still. Doch nach einer Weile sagte ich:
„Gestern war das Wetter auch schön, nicht?"
„Jaha", sagte Svensson.
Jetzt kam Vati über den Hof. Svensson stand auf und ging. Aber als
er schon aus der Tür war, drehte er sich noch einmal um, steckte den
Kopf in die Küche, grinste und sagte: „Wie war eigentlich das Wetter
vorgestern?"
Minuten später sagte Inga endlich: „Vielleicht haben wir ihn auf
jeden Fall ein bißchen glücklich gemacht!"
„Möglich", sagte ich. „Aber jetzt ist endgültig Schluß damit. Ich will
keine Menschen mehr glücklich machen."
Aber ich tat es doch. Und Inga auch. Denn am nächsten Tag erzählte
die Lehrerin, ein Mädchen aus unserer Klasse, die Märta heißt, könne
auf lange Zeit nicht mehr in die Schule kommen. Sie sei sehr krank
und müsse viele, viele Monate im Bett liegen bleiben. Abends, bevor
ich einschlief, mußte ich immer an Märta denken. Und da beschloß
ich, ihr Bella, meine beste Puppe, zu schenken, denn ich wußte, Märta
hatte überhaupt keine Spielsachen.
Am nächsten Morgen erzählte ich Inga, daß ich Märta meine Puppe
schenken wollte. Da ging Inga und holte ihr schönstes Märchenbuch.
Nach Schulschluß gingen wir zu Märta. Sie lag in ihrem Bett und sah
blaß aus.
Niemals habe ich einen Menschen so glücklich gesehen, wie Märta
es wurde, als wir Bella und das Märchenbuch auf ihre Bettdecke
legten und sagten, Bella und das Märchenbuch seien für sie. Oh, oh,
oh, wie wurde sie glücklich! Sie drückte Bella und das Märchenbuch
an sich und strahlte. Und dann rief sie ihre Mutter, sie solle kommen
und sich das ansehen.
Als wir wieder draußen vor der Tür standen, sagte ich zu Inga:
„Ja a b e r - j e t z t haben wir einen Menschen glücklich gemacht, ohne
daß wir es wollten!"
Inga bekam große, erstaunte Augen und sagte:
„Wahrhaftig!" Sie dachte nach, und dann sagte sie: „Du, es war nur
gut, daß wir nicht angefangen haben, Märta etwas vorzusingen. Ich
glaube, Menschen werden glücklicher, wenn sie Puppen und Mär-
chenbücher bekommen."
„Ja! Wenigstens Kinder!" sagte ich.
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CHRISTINE NÖSTLINGER
S t r e n g - s t r e n g e r - am s t r e n g s t e n
Kathi wußte genau: Es geht ganz einfach. Man wickelt den Faden
um den linken Zeigefinger, hinter Mittelfinger und Ringfinger vorbei,
und vor dem kleinen Finger läßt man ihn wieder heraus. Dann nimmt
man eine Nadel in die rechte Hand und eine in die linke. Und sticht mit
der Nadel von der rechten Hand in die erste Masche von der Nadel von
der linken Hand und holt den Faden, den, der von der ersten Masche
der rechten Hand zum Zeigefinger der linken Hand geht, durch die
erste Masche der Linken-Hand-Nadel durch. Und dann zieht man die
erste Masche der Linken-Hand-Nadel herunter, und die durchgezoge-
ne Schlinge ist jetzt die erste Masche von der Rechten-Hand-Nadel.
Kathi war das klar. Aber stricken konnte sie trotzdem nicht. Einmal
rutschte die Rechte-Hand-Nadel aus dem verdammten Dings und
einmal die Linke-Hand-Nadel. Dann zog sich der Faden durch das
falsche Loch. Und dann waren plötzlich zwei oder drei Fäden da, und
die Maschen wurden von Reihe zu Reihe weniger, und Kathi konnte
sich nicht erklären, wohin sie gekommen waren.
Mama sagte, Kathis Finger sind noch zu klein und zu dünn.
Oma sagte, stricken ist sowieso unmodern und lohnt sich nicht.
Papa sagte, stricken verdirbt die Augen und macht den Rücken
krumm.
Berti - der Bruder - sagte, häkeln geht leichter.
Der Opa setzte sich in den Lehnstuhl und strickte Kathi vier Reihen
vor. Zwei schlicht, zwei kraus, im Wechsel. Er sagte, stricken ist
schön. Aber nur, wenn man es freiwillig macht.
Die Frau Handarbeitslehrerin Krause aber sagte: „Kathi, du strickst
auf eine Fünf! Wenn du es nicht bald lernst, bekommst du einen
Fünfer ins Zeugnis!"
Kathi ging nach Hause und heulte. Die Mama, die Oma, der Papa,
der Opa und Berti lachten und sagten: „Aber Kathi, man kriegt keinen
Fünfer in Handarbeiten. Das hat es noch nie gegeben! Ehrenwort!"
„Sie hat's aber gesagt, Ehrenwort", schluchzte Kathi.
„Sie hat nur gedroht", sagte die Mama.
„Sie erzieht nach der alten Methode", sagte die Oma.
„Die soll dich mal", sagte Berti.
„Einfach ignorieren", sagte Papa.
„Sie kann dir höchstens einen Vierer geben", sagte der Opa.
Kathi fand auch einen Vierer schlimm genug. Aber das sagte sie
nicht. Sie kannte ihre Familie. Die würden doch alle nur sagen, daß ein
Vierer eine lustige Sache sei, und der Opa und die Oma würden dann
wieder mit sämtlichen Lateinfünfern und Griechischvierern angeben,
die sie als Kind bekommen hatten.
Weil ihre Familie nichts von ihrem Kummer verstand, beriet sich
Kathi am nächsten Tag in der Schule mit Evi. Evi hatte nämlich bereits
dreißig Zentimeter wunderbar gleichmäßigen schweinsrosa Topflap-
pen. Und alle siebenundsiebzig Maschen, die sie unten angeschlagen
hatten, hatte sie oben immer noch.
„Lern mir bitte stricken", sagte Kathi zu Evi.
Evi schüttelte den Kopf. Und dann erklärte sie Kathi - sehr leise,
damit es die anderen nicht hörten: „Die dreißig Topflappenzentimeter
hat meine Mutti gemacht!"
„Hast du denn", flüsterte Kathi und bekam vor lauter Schreck eine
Gänsehaut auf dem Rücken, „das Topflappending mit nach Hause
genommen?" Evi nickte. Kathi war ganz ergriffen. Topflappen-nach-
Hause-nehmen war streng verboten. Topflappen-nach-Hause-nehmen
war ungeheuerlich!
Die Topflappen hatten nach der Stunde samt dem schweinsrosa
Garnknäul in ein weißes Tuch gewickelt zu werden. Den weißen Binkel
mußte man dann ins Handarbeitsköfferchen legen, das Köfferchen
verschließen und der Handarbeitsordnerin aushändigen. So hatte das
zu geschehen! Und jenes Zuwiderhandeln, das hatte die Handarbeits-
lehrerin gesagt, würde streng-strenger-am strengsten bestraft
werden!
Kathi hatte vor der Handarbeitslehrerin und vor streng-strenger-am
strengsten große Angst. Aber Kathi wollte keinen Fünfer und auch
keinen Vierer im Zeugnis haben.
Am Ende der nächsten Handarbeitsstunde klopfte Kathis Herz so
laut, daß Kathi sicher war, die Handarbeitslehrerin, vorn beim Lehrer-
tisch, müßte es hören. Doch die holte gerade eine verlorengegangene
Masche im Topflappen der Schestak Anni hoch und hörte nichts.
Kathi schielte zu Evi. Evi nickte. Kathi schob den Topflappen samt
schweinsrosa Garnknäul und Nadeln unter das Pult. Dann wickelte sie
zwei angebissene Äpfel in das weiße Tuch und legte den Apfelbinkel in
das Köfferchen. Wegen der Handarbeitsordnerin. Die war eine Strebe-
rin, und es hätte leicht sein können, daß sie das Köfferchen gepackt
und gerufen hätte: „Bitte, Frau Lehrerin, das ist so leicht, ich glaub',
da ist gar nix drinnen, bitte, Frau Lehrerin!"
Die Handarbeitsordnerin nahm die angebissenen Äpfel ohne Ver-
dacht entgegen. Kathi trug das Topflappendings in der Schultasche
nach Hause. Sie war sehr stolz und hatte ein schlechtes Gewissen.
Zusammen ergab das ein komisches Gefühl.
Kathi zeigte den Topflappen der Mama, und die Mama lachte Tränen
darüber. Außerdem versprach sie, bis nächsten Montag genauso flei-
ßig zu sein wie die Mutter von der Evi.
Das Topflappending lag nachher einige Stunden auf dem Küchen-
tisch, und das schweinsrosa Garnknäul lag gegenüber vom Küchen-
tisch, vor dem Gasherd. Dann kam die Oma in die Küche, stolperte
über den Garnfaden und zog dadurch das Topflappendings vom
Küchentisch. Dabei rutschten die Nadeln heraus und rollten unter die
Küchenkredenz. Eine Stunde später kam die Katze in die Küche. Sie
balgte mit dem Garnknäul herum und trug es ins Wohnzimmer. „Da
hängt ja ein Faden dran, Schnurlimurli", sagte der Opa. „Komm,
Schnurlimurli, wir reißen den Faden ab! Sonst kann der Schnurlimurli
nicht schön spielen!"
Der Opa riß den schweinsrosa Faden ab, und die Katze packte sich
den Knäul ins Maul und sprang zum Fenster hinaus.
Das Topflappendings lag noch in der Küche auf dem Fußboden, als
Berti nach Hause kam. Er kam vom Fußball spielen.
„Berti, putz dir die Hufe ab", rief der Papa, „ich habe heute überall
gesaugt und gewischt!"
Berti war ein artiger Junge und sofort bereit, den Dreck von seinen
Schuhen zu putzen. Doch der Kasten mit dem Schuhputzzeug stand
draußen im Vorzimmer. Außerdem war es nicht sicher, ob im Schuh-
putzzeugkasten wirklich ein Putzlappen war. Da entdeckte Berti auf
dem Küchenboden ein kleines graurosa Dings. Ein häßliches, dreiek-
kiges Dings. Er nahm es in die Hand und stellte fest, daß es garantiert
nur zum Schuhputzen geeignet war. Er hielt das Dings unter den
Wasserstrahl der Abwasch, und dann fuhr er gewissenhaft damit über
die Sohlenränder seiner Schuhe. Das Dings wurde tiefbraun davon.
Berti warf es in den Mistkübel.
Nach dem Nachtmahl setzte sich die Familie zum Fernsehen. Sie
schauten sich etwas an, wo ein dicker Mensch, der aussah wie ein
Meerschwein, die Zuseher aufforderte, nach einem Ausschau zu hal-
ten, der aussah wie der Postbeamte. Gerade als die Oma aufschrie
und behauptete, der Postbeamte sei ganz sicher der Fleischhauer, der
ihr die stinkenden Knacker verkauft hatte, und gerade als die Mama
rief, die Oma solle sich nicht aufhetzen lassen, fiel Kathi der Topflap-
pen ein. Sie fragte: „Mama, trennst du jetzt den Lappen auf und
machst mir dreißig Zentimeter neu?"
Der Opa sagte: „Das mach ich! Bring ihn her!"
„In der Küche liegt er", sagte die Mama.
Kathi ging in die Küche und fand keinen Topflappen. Kathi suchte
überall in der Wohnung. Und weil Kathi zu heulen anfing, drehte der
Papa das Meerschwein ab, und alle halfen Kathi suchen und fanden
keinen Topflappen.
Dann fiel dem Opa ein, daß die Katze ein rosa Knäul gehabt hatte,
und der Oma fiel ein, daß sie über den Faden gestolpert war, und Berti
fiel ein, daß er seine Schuhe geputzt hatte. Kathi kippte den Mistkübel
um und suchte zwischen Eierschalen und Dreck, doch sie erkannte
das Topflappendings nicht. Sie hielt es für eine gebrauchte Filtertüte.
Kathi heulte so sehr, daß sogar die Stirnfransen naß wurden. Dabei
schluchzte sie: „Dafür kriegt man die streng-strenger-am strengsten-
Strafe! Dafür kriegt man alles, was es in der Schule gibt!"
Die Mama sagte, das sei doch gar kein Problem. Sie wird morgen
früh ein Knäul schweinsrosa Wolle kaufen und den Lappen neu
stricken. Doch so einfach war das nicht. Kathi hatte das schweinsrosa
Garn von der Handarbeitslehrerin bekommen. Der hatte es der Stadt-
schulrat zugeteilt. Und der Stadtschulrat hatte das Garn „en-gros-für-
alle-Mädchen-der-Stadt" bei einer Fabrik machen lassen. Jedenfalls
gab es nirgends in der ganzen Gegend ein ähnlich schweinsfarbenes,
ähnlich häßliches Garn.
Kathi heulte sich wieder die Stirnfransen naß. Die Mama sagte, es
sei trotzdem sehr einfach. Sie wird das schon in Ordnung bringen!
„Das kann niemand mehr in Ordnung bringen", schluchzte Kathi.
„Doch", sagte die Mama, „am Montag geh' ich mit dir in die Schule
und sag der Lehrerin, daß ich von dir verlangt habe, daß du das Dings
mit nach Hause nimmst, und daß es jetzt die Katze gefressen hat, und
daß dich keine Schuld trifft! Laß mich das nur machen! Ich mach' das
schon!"
Kathi hörte zu heulen auf. Aber sie blieb blaß. Am Samstag aß sie
keine Nachspeise. Am Sonntag aß sie überhaupt nichts. Und in der
Nacht von Sonntag auf Montag wachte sie sechsmal auf. So nervös
war sie. Vielleicht wachte sie auch deswegen auf, weil die Kinderzim-
mertür neben der Klotür war und die ganze Nacht über die Wasserspü-
lung gezogen wurde. Das kam davon, d$ß der Mama schlecht war. Die
Mama hatte am Sonntagabend drei Stück Gänsebraten gegessen, und
das vertrug ihre Galle nicht. Am Morgen, als Kathi aufstand, lag die
Mama im Bett, war grün im Gesicht und stöhnte. Die Oma saß bei ihr
und hielt ihr die Hand.
„Mama, du mußt mit mir zur Handarbeitslehrerin gehen", sagte
Kathi.
Die Mama murmelte „aaah-auauau-oooooh" und drehte sich zur
Wand.
„Gehst du mit mir in die Schule?" fragte Kathi die Oma.
„Liebling, ich muß bei der Mama bleiben", flüsterte die Oma.
Kathi fragte den Papa, doch der Papa mußte ins Büro. Kathi fragte
den Opa, und der Opa sagte: „Gut, Kathi, gehn wir!"
Der Opa ging mit Kathi zur Schule. Doch knapp vor der Schule, an
der Ecke, gab es ihm einen Stich. Unten im Kreuz. Er konnte nicht
mehr aufrecht stehen. Nur mehr ganz gekrümmt. Kathi kannte diesen
Zustand am Opa. Wenn er diesen Zustand hatte, konnte er nur mehr
„ogott-ogott" sagen. Auf keinen Fall aber konnte er der Handarbeits-
lehrerin die Sache mit dem Topflappendings erklären.
Der Opa stöhnte: „Ogottogott - tut mir leid, Kathi, aber ich muß -
ogottogott - ins Bett." Er drehte sich um und humpelte schief nach
Hause. Kathi wollte ihm nachlaufen. Sie wollte auch nach Hause. Doch
da kamen die Evi und die Schestak und die Karin und noch zwei
andere aus ihrer Klasse und zogen sie mit zum Schultor.
Kathi saß auf ihrem Platz, Fensterreihe, 3. Pult-Innenseite, und
überlegte: Wenn die Mama plötzlich krank geworden ist und der Opa
den Stich bekommen hat, kann ja auch die Handarbeitslehrerin krank
werden!
Die Handarbeitslehrerin war nicht krank geworden. Sie kam in die
Klasse, sagte „setzen" und gab der Handarbeitsordnerin den Schlüs-
sel zum Handarbeitsschrank. Die Ordnerin und eine Ordnerin-Helferin
teilten die Köfferchen aus. Kathi öffnete ihr Köfferchen. Den weißen
Binkel machte sie nicht auf. Sie saß still und machte sich hinter dem
breiten Rücken der Schestak Anni klein. Manchmal schielte sie über
den Mittelgang nach vorne zur Evi. Die Evi tat, als strickte sie. Ihr
Lappen war schon vierzig Zentimeter lang.
„So", sprach die Handarbeitslehrerin, „heute tragen wir Noten ein!
Meier, Gerti, komm her!"
Die Meier saß in der letzten Bankreihe. Sie packte ihr Strickzeug
und wanderte nach vorne. Kathi hörte: „Sehr ungleichmäßig, Ma-
schen fallengelassen, mehr bemühen." Dann wanderte die Meier Gerti
mit dem Strickzeug auf ihren Platz zurück. Dabei schnitt sie Gesichter.
Die Kinder kicherten.
„Evi, bitte", sagte die Handarbeitslehrerin. Die Evi lief hinaus und
zeigte ihre vierzig Zentimeter vor. Die Handarbeitslehrerin war mit den
vierzig Zentimetern zufrieden. Nur die Kettmaschen fand sie etwas zu
locker. „Aber", lobte sie, „fast ein Einser, wahrscheinlich sogar ein
Einser!" Dann schickte sie die Eyi auf ihren Platz zurück. Nachher rief
sie die Satlasch und die Huber und die Karin und die Ilse Schneck und
dann rief sie: „Kathi!"
Kathi stand langsam auf. Sie dachte streng-strenger-am strengsten.
Sonst dachte sie nichts. Wenn sie die Karin - hinter ihr - nicht
geschubst hätte, hätte sie gar nicht bemerkt, daß die Evi die linke
Hand neben dem Pult in den Mittelgang hinausstreckte. In der Hand
von der Evi waren die vierzig Zentimeter Topflappen.
Kathi ging auf den Topflappen zu.
„Kathi, beeil dich doch", rief die Handarbeitslehrerin. Aber sie
schaute nicht auf Kathi, sondern kritzelte emsig mit rotem Kugel-
schreiber im Notenbüchlein.
Kathi griff nach dem Topflappen. Ihre Hände zitterten. Der Topflap-
pen fiel auf den Boden. Eine Nadel rutschte klappernd heraus.
Die Handarbeitslehrerin schaute vom Notenbüchlein hoch. „Paß
doch auf, Kathi", sagte sie.
Kathi bückte sich und hob den Topflappen auf. Fünfzehn schweins-
rosa Maschen hingen traurig und nadellos an der Strickerei.
„Vorsicht, Kathi, sonst laufen sie weiter", rief die Handarbeitslehre-
rin. Kathi stand still und starrte auf die schutzlosen, gefährdeten
Maschen. Die Handarbeitslehrerin sprang vom Stuhl auf und lief zu
Kathi. Sie nahm Kathi vorsichtig den Topflappen aus den Händen.
„Sind ja schon drei Reihen weit gefallen", jammerte sie. Dann trug sie
den Topflappen nach vorn, zum Lehrertisch. Zart und vorsichtig und
sanft trug sie ihn. Wie man ein kleines, krankes Kind trägt. Sie setzte
sich zum Tisch und wie man zu einem kleinen kranken Kind spricht,
sprach sie auf den Topflappen ein: „Na, du siehst aber aus" und „Das
werden wir schon hinbringen" und „Na, siehst du, dich haben wir
schon oben."
Kathi stand neben dem Lehrertisch. Ihr Herzklopfen war ganz laut.
In ihren Ohren sauste es, und vor ihren Augen, in der Luft, flogen
kleine violette Punkte herum.
. . . Streng - strenger - am strengsten, gleich ist es soweit, gleich
merkt sie es, dachte Kathi. Oder eine aus der Klasse sagt es ihr.
Vielleicht sogar die Evi, dachte Kathi.
Die Handarbeitslehrerin schnaubte laut durch die Nase.
Jetzt ist es soweit, dachte Kathi. Jetzt! „So, Kathi", sagte die Handar-
beitslehrerin, „das hätten wir geschafft!" Sie drückte der Kathi die
Strickerei in die Hände und steckte ihr das Garnknäul in die Schürzen-
tasche und sprach: „Vorsichtig tragen, nicht schlafen beim Gehen!"
Kathi ging langsam zu ihrem Platz. Alle lila Tupfen in der Luft, vor
den Augen, waren weg. In den Ohren sauste es nicht mehr, und das
Herz klopfte langsam. Kathi war gerade bei ihrem Platz, da rief die
Handarbeitslehrerin noch: „Übrigens, sehr brav, Kathi! Du warst sehr
fleißig! Siehst du, man muß sich nur bemühen!"
Kathi nickte.
Die Handarbeitslehrerin beugte sich über ihr Notenbüchlein und
schrieb emsig. Kathi setzte sich. Sie holte die Äpfel aus dem weißen
Tuch und biß in einen Apfel. Obwohl er angebissen und eine Woche
alt war, schmeckte er herrlich. Kathi aß beide Äpfel auf. Dann gab sie
die vierzig Topflappenzentimeter über den Mittelgang hinüber zur
Meier Gerti, und die Gerti gab sie der Satlasch und die Satlasch der
Evi. Dabei fielen etliche Maschen von den Nadeln. Doch die Mutter
von der Evi brachte das bis nächsten Montag wieder in Ordnung.
Kathi hat den Topflappen der Evi noch mehrere Male am Montag
vorgezeigt. Einmal nach dem Abketteln und einmal mit blauem Häkel-
rand und einmal durch durchsichtiges Papier verpackt. Die Frau
Handarbeitslehrerin war von Mal zu Mal zufriedener mit Kathi. Ins
Jahreszeugnis schrieb sie ihr einen Einser. Kathi freute sich mächtig
darüber. Und immer, wenn jetzt in der Schule etwas passiert, wo die
Kathi furchtbar erschrickt und streng-strenger-am strengsten denken
muß, dann fällt ihr das Topflappendings ein, und dann lächelt die
Kathi. Und bekommt nie mehr Herzklopfen und Ohrensausen und lila
Punkte vor den Augen.
„Die Kathi ist viel selbstbewußter geworden und viel sicherer!" hat
die Klassenlehrerin am Sprechtag zur Mama und zum Papa von Kathi
gesagt. Die Mama und der Papa von der Kathi waren darüber sehr
glücklich. Und darum ist es furchtbar ungerecht von ihnen, daß sie
immer sagen, „Mädchenhandarbeiten" sei ein ganz unnützer, altmodi-
scher Gegenstand, der nicht mehr in den modernen Schulunterricht
paßt.
(Aus: Hans-Joachim Gelberg (Hrsg.): „ Menschengeschichten ", Beitz & Gelberg,
Weinheim)
HUMOR KENNT KEINE GRENZEN
FRITZ MÜLLER-PARTENKIRCHEN
Die R e i h e n f o l g e
Meine Tochter mußte einen Aufsatz machen: „Wie ich mir mein
Leben denke."
Darin schrieb sie: „Erst mache ich die Schule fertig, dann kriege ich
ein Buberl, dann ein Mäderl, und dann heirate ich."
Als sie den Aufsatz zurückbekam, stand am Rand mit roter Tinte:
„Reihenfolge!"
Aha, dachte sie, der Bub vorher, das ist der Lehrerin nicht recht, und
verbesserte: „Erst mache ich die Schule fertig, dann kriege ich ein
Mäderl, dann ein Buberl, und dann heirate ich."
„Reihenfolge!!" diesmal mit zwei Ausrufungszeichen.
Darauf verbesserte sie: „Erst kriege ich ein Mäderl, dann mache ich
die Schule fertig . . ."
Aber die Lehrerin schmiß ihr das Heft hin und sagte, es sei unglaub-
lich.
Darauf setzte die Liesel das Buberl vor die Schule. Darauf schrie die
Lehrerin, das kenne sie, das täte sie zum Trotz. Nun entschloß sich die
Liesel, die Heirat vor die Schule einzuschieben. Die Lehrerin schlug
ihr das Heft um die Ohren. Die Liesel heulte. Wie's denn endlich richtig
wäre?
Das müsse einem der innere Anstand selber sagen! Sei es, daß die
Liesel keinen hatte oder daß er gerade auf dem Kopf stand: sie
pflanzte das Mäderl vor die Heirat und das Buberl dahinter.
Verweint kam sie nach Hause. Stumm zeigte sie auf eine rotglühen-
de Randbemerkung: Die Schule dürfe erwarten, daß über solche
grundlegende Dinge der Moral das Elternhaus richtunggebend wirke.
„Hat die Moral mit der Heirat was zu tun, Vater?"
„Manchmal."
„Ah, jetzt weiß ich's: ich laß die Heirat ganz heraus."
Darauf bekam ich einen Brief der Lehrerin.
Auf Grund desselben holte ich mein altes Algebrabuch und schrieb
zurück:
„Sehr geehrtes Fräulein! Wir haben es bei diesem Zusammensetz-
spiel mit vier beweglichen Elementen zu tun. Diese lassen laut Kombi-
natorik vierundzwanzig verschiedene Reihenfolgen zu. Um alphabe-
tisch zu beginnen:
1. Buberl Heirat Mäderl Schule
2. Heirat Mäderl Schule Buberl
3. Schule Buberl Heirat Mäderl
4. Schule Mäderl Heirat Buberl
und so weiter und so weiter. Alle vierundzwanzig Möglichkeiten kä-
men auch im Leben vor. Welche Reihenfolge die moralischste sei, das
hänge ab vom Alter, Pfarrer, Barometerstand und Taillenumfang, also
von weiteren vier beweglichen Elementen, womit die Zahl der Mög-
lichkeiten laut kombinatorischer Permutation auf 327 844 anwachse.
Davon die beste Möglichkeit herauszufinden, will ich, wenn die Zeit
erfüllt sei, meiner Tochter selber überlassen. Und die etwaige Korrek-
tur der roten Tinte, die in ihren Adern fließt.
Ergebens
Fritz Müller."
FRITZ MÜLLER-PARTENKIRCHEN
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H. C. ARTMANN
Herr H a s e n b r e i n u n d d e r F r e m d e n v e r k e h r
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BENNETT CERF
Ausfall prämie
In den USA erhalten Farmer vom Staat eine Ausfallprämie, wenn sie
auf die Aufzucht von Schweinen verzichten. Das veranlaßte einen
Farmer, folgenden Brief an das Landwirtschaftsministerium zu
schreiben:
„Sehr geehrte Herren! Mein Freund B. erhielt von Ihnen einen
Scheck in Höhe von $ 1000,- dafür, daß er keine Schweine aufgezo-
gen hat. Daraufhin habe ich beschlossen, auch das Geschäft des
.Keine-Schweine-Aufziehens' zu betreiben.
Können Sie mir bitte mitteilen, welche Schweinesorte man am
besten nicht aufzieht? Ich würde am liebsten keine Hausschweine
aufziehen, bin aber auch bereit, dasselbe mit Berkshires oder polni-
schen Schweinen zu machen.
Wieviel kann ich erwarten, wenn ich zunächst einmal 100 Schweine
nicht aufziehe? Und bleibt der Grundbetrag derselbe, wenn ich meine
Kapazität auf 1000 Schweine erhöhe? Kann ich auch mit einer zusätz-
lichen Überweisung von Ihnen dafür rechnen, daß ich den Mais und
die Gerste, die ich für die Schweine ja nicht gebrauche, auch nicht
anbaue? Bitte, antworten Sie bald, da heuer ein gutes Jahr für das
Nichtaufziehen von Schweinen zu sein scheint.
PS. Bestehen irgendwelche Bedenken, wenn ich neben der Nicht-
Schweine-Zucht mir etwa zwei Schweine halte, damit wir im Herbst
und Winter etwas Schinken und Speck haben?"
(Aus: Erich Kästner (Hrsg.): „Heiterkeit kennt keine Grenzen", Ullstein, Frank-
furt/Main)
EUGEN HELMLE
SOHN: Papa, Charly hat gesagt, sein Vater hat gesagt, Beamte fahren
auch nicht besser als andere Leute.
VATER: So? Und wo hat Charlys Vater diese Erfahrung gemacht?
SOHN: Weiß ich nicht.
VATER: Der hat doch erst seit ein paar Wochen seinen Führerschein.
SOHN: Nö, Charly sagt, sein Vater hat den Führerschein schon vor
-zig Jahren gemacht.
VATER: Vor -zig Jahren! Überleg doch mal richtig! Charlys Vater ist
höchstens fünfunddreißig. Vielleicht auch etwas älter. Außerdem
hat er sein Auto erst seit kurzem.
SOHN: Deshalb kann er den Führerschein doch schon längst ge-
macht haben.
VATER: Ja sicher. Ist dem auch zuzutrauen, daß er sich ans Steuer
setzt, obwohl er seit Jahrzehnten nicht mehr gefahren ist. Diese
Leute haben ja kein Verantwortungsgefühl! Kein Wunder, daß es so
viele Unfälle gibt.
SOHN: Wieso seit Jahrzehnten? Gerade hast du gesagt, daß Charlys
Vater höchstens fünfunddreißig ist.
VATER: Na und, sind das etwa keine Jahrzehnte?
SOHN: Aber vor achtzehn Jahren kann man gar nicht den Führer-
schein machen.
VATER: Viel zu früh! Wenn es nach mir ginge, nicht vor fünfundzwan-
zig! Dann gäbe es mit Sicherheit weniger rücksichtslose Fahrer.
SOHN: Die Jungen sind nicht allein rücksichtslos.
VATER: Aber meistens.
SOHN nach kurzer Pause: Du Papa, ist das nicht verboten, wenn man
auf der Autobahn ständig auf der Überholspur bleibt?
VATER: Sicher ist das verboten. Und zwar zu Recht!
SOHN: Du bist aber schon eine ganze Weile auf der Überholspur.
VATER: Soll ich vielleicht im Zickzack fahren, mal rechts, mal links?
Du siehst doch, daß alle hundert Meter so eine Schnecke auf der
rechten Spur dahinkriecht. Deshalb bleibe ich gleich links, bis die
Bahn ganz frei ist. Das tue ich aber nicht ständig.
SOHN: Ich meine ja nur, wegen der Straßenverkehrsordnung. Charly
sagt nämlich, gerade Beamte hätten sich an die Vorschriften zu
halten, von wegen Vorbild und so.
VATER: Sieh mal an! Der Beamte wird plötzlich für die Charlys zum
Vorbild! Aber immerhin, wenn sie so einsichtsvoll sind, ist ja noch
nicht jede Hoffnung bei diesen Leuten verloren.
SOHN: Du, Papa, hör doch mal, wie der Flitzer hinter uns hupt.
VATER: Der denkt wohl, er ist schneller als ich. Aber dem werd ich
was husten. Erst überholen wir noch diese beiden lahmen Enten da
vorn, dann geh ich rüber.
SOHN: Der ist ganz schön sauer!
VATER: Ein Sportwagenfahrer! Die halten sich für was Besseres.
SOHN: Weil die halt mehr PS unter der Haube haben.
Das Hupen des Sportwagens wird immer lauter. Der Vater ordnet sich
rechts ein, und der schnelle Flitzer überholt.
SOHN: Du Papa, warum bezahlen Beamte eigentlich weniger für die
Autoversicherung als andere? Charly sagt, das ist ungerecht.
VATER: Weil sie besser fahren, das ist alles.
SOHN: Aber Charlys Vater sagt, daß Beamte gar nicht besser fahren.
VATER: Daß Charlys Vater das sagt, glaube ich gern, aber was der
sagt, ist zum Glück nicht maßgebend.
SOHN: Das sagt aber Charlys Vater nicht allein. Die Versicherungen,
sagt Charly, die sind jetzt auch dahintergekommen, daß Beamte
nicht besser fahren.
VATER: Laß dir doch keinen Bären aufbinden, Junge.
SOHN: Das ist kein Bär. Weil, die Beamten müssen nämlich mehr
bezahlen.
VATER: Moment mal, was ist denn das für eine Logik! Bezahlen sie
nun mehr oder bezahlen sie weniger?
Ich denke, Charlys Vater reißt den Mund auf, weil sie weniger
bezahlen.
SOHN: Ja, weil das ungerecht ist, sagt er, daß ein Arbeiter, der
sowieso schon weniger verdient. . .
VATER: Larifari!
SOHN: Jedenfalls muß ein Arbeiter mehr Geld für seine Autoversiche-
rung bezahlen als ein Beamter, obwohl er bei einem Unfall auch
nicht mehr bekommt.
VATER: Ist das auch von Charlys Vater?
SOHN: Ich glaube. Oder von Charly.
VATER: Dann kannst du deinem überschlauen Charly sagen, daß
auch ein Beamter nichts bekommt, wenn er einen Unfall baut. Die
Autoversicherung ist nämlich eine Haftpflichtversicherung, das
heißt, die Versicherung kommt nur für die Schäden auf, die der
Fahrzeughalter verursacht.
SOHN: Zahlt sie für Beamten-Schäden weniger?
VATER: Nein.
SOHN: Warum bezahlen die dann weniger für die Versicherung?
VATER: Weil Beamte in der Regel weniger Unfälle bauen.
SOHN: Und woher weiß man das?
VATER: Aus der Statistik!
SOHN: Und woher weiß das die Statistik?
VATER: Mann, du kannst einen vielleicht dusselig fragen! Die weiß
das eben!
SOHN: Und warum bauen Beamte weniger Unfälle, in der Regel?
VATER: Weil Beamte überlegter, besonnener, rücksichtsvoller sind,
weil sie die Verkehrsregeln beachten usw. Und das wird ihnen von
den Versicherungen durch einen zwanzigprozentigen Rabatt hono-
riert.
SOHN: Kommt honorieren von Honorar?
VATER: Ja, richtig, das kommt von Honorar.
SOHN: Und dieses Honorar kriegen alle Berufe, die rücksichtsvoll
fahren?
VATER: Wie meinst du das? Rabatt bekommt jeder, der schadensfrei
fährt. Nur Beamte bekommen zusätzlich noch einen Vorausrabatt.
SOHN: Was ist ein Vorausrabatt?
VATER: Das ist der Rabatt, den die Versicherung von vornherein
gewährt, weil sie weiß, daß Beamte besser fahren.
SOHN: Und wenn die Statistik nun sagt, die Friseure oder die Bäcker
bauen weniger Unfälle als die anderen Berufe, bekommen dann alle
Friseure oder Bäcker auch einen zusätzlichen Rabatt?
VATER: Natürlich nicht.
SOHN: Warum dann die Beamten?
VATER: Zum Teufel, das erkläre ich dir doch die ganze Zeit!
SOHN: Mir ist aber nichts klargeworden.
VATER: Jetzt laß mich endlich mal mit deiner Fragerei in Ruhe. Du
siehst doch, daß ich auf den Verkehr achten muß.
SOHN: Ja, ja. Aber jetzt müssen die Beamten mehr bezahlen, sagt
Charly.
VATER: Nur in den Großstädten.
SOHN: Fast 20 Prozent. Dann fahren die Beamten jetzt genauso
schlecht wie alle anderen auch?
VATER: Nein. Sie fahren immer noch besser.
SOHN: Warum müssen sie dann mehr bezahlen?
VATER: Weil die Unfallhäufigkeit gestiegen ist.
SOHN: Von den Beamten?
VATER: Ganz allgemein.
Bei der augenblicklichen Verkehrsdichte vor allem in den Großstäd-
ten kann es vorkommen, daß auch Beamte öfters mal in Schadens-
fälle verwickelt sind.
SOHN: Ich denke, die fahren besser und rücksichtsvoller und so?
VATER: Tun sie auch. An den Beamten liegt es bestimmt nicht.
Sondern daran, daß man jeden Verkehrsrowdy auf die Menschheit
losläßt.
SOHN: Und wer läßt die los?
VATER: Die Behörden.
SOHN: Ich denke, die Behörden sind auch Beamte?
VATER: Behörden sind keine Beamte! Lediglich die Bediensteten
einer Behörde sind Beamte!
SOHN: Sag ich ja!
VATER: Hast du eben nicht gesagt. Du mußt lernen, dich präziser
auszudrücken.
SOHN: Als ob da ein Unterschied wäre.
VATER: Maul nicht.
SOHN: Erst laßt ihr die Rowdies los, dann beklagt ihr euch darüber.
VATER: Wir - wir! Das liegt an den Vorschriften! An die müssen
Beamte sich halten. Die in erster Linie.
SOHN: Und wer macht die Vorschriften?
VATER: Der Gesetzgeber.
SOHN: Wer ist denn das?
VATER: Parlament und Regierung.
SOHN: Und die lassen die Rowdies los?
VATER: Junge, du kriegst mich an den Rand . . .
SOHN: Da sind wieder ein paar hinter uns.
VATER: Wir haben es genauso eilig wie die.
Das A u t o , n a c h d e m m a n s i c h s e h n t
8* 115
GIANNI RODARI
Der C o m i c - S t r i p - M ä u s e r i c h
W e r h a t d e n n da g e s t o ß e n ?
W e i h n a c h t e n mit Großvater
Artmann, H. C.: „Herr Hasenbrein und der Fremdenverkehr" aus „Im Schatten
der Burenwurst", Residenz, Salzburg und Wien.
Busch, Wilhelm: „Die Affen"aus „Gesamtwerk in 6 Bänden" Xenos, Hamburg.
Cerf, Bennett: „Ausfallprämie" aus „Heiterkeit kennt keine Grenzen" (Hrsg.:
Erich Kästner), Ullstein, Frankfurt/Main.
Donnelly, Elfie: „Weihnachten mit Großvater" aus „Wenn Weihnachten kommt"
(Hrsg.: Barbara Homberg), Oetinger, Hamburg.
Erhardt, Heinz: „Moderne Sinfonie" und „Der Geiger" aus „Das große Heinz
Erhardt Buch", Fackelträger Verlag, Hannover.
Forschneritsch, A. E.: „Wer hat denn da gestoßen?" aus „Ueberreuters Großes
Lach- und Schmunzelbuch" (Hrsg.: Maria Marbach), Ueberreuter, Wien.
Goscinny, Rene: „Typen auf der Schulbank" aus „Prima, prima, Oberprima",
Rowohlt, Reinbek.
Guareschi, Giovannino: „Die Taufe"aus „Don Camillo", Otto Müller, Salzburg.
Heimle, Eugen: „Beamte sind auch nur Menschen" und „Hausarbeit ist keine
Arbeit" aus „Papa, Charly hat gesagt. . ." Band 1, 2, Rowohlt, Reinbek.
Kästner, Erich: „Die Entwicklung der Menschheit" aus „Kurz und bündig",
Atrium, Zürich.
Kishon, Ephraim: „Gebrauchsanweisung" aus „Salomos Urteil, zweite In-
stanz", Langen Müller, München.
Kishon, Ephraim: „Wie man ein Buch bespricht, ohne es zu lesen" aus „Arche
Noah, Touristenklasse", Langen Müller, München.
Lang, Othmar Franz: „Wegen Bankraubes geschlossen" aus „Die Erfindungen
des Felix Hilarius", Arena, Würzburg.
Lindgren, Astrid: „Inga und ich mächen Menschen glücklich" aus „Die Kinder
aus Bullerbü", Oetinger, Hamburg.
Lobe, Mira: „Wie man sich interessant machen kann" aus „Im Fliederbusch das
Krokodil singt wunderschöne Weisen", Jugend und Volk, Wien.
Loriot: „Das Ei" aus „Loriots Dramatische Werke", Diogenes, Zürich.
Manzoni, Carlo: „Der Haustorschlüssel" aus „Rot mit weißen Streifchen",
Büchergilde Gutenberg, Wien.
Merz, Carl/Qualtinger, Helmut: „Hamlet" oder „Der Schwierige" (Josefstädter
Version) aus „An der lauen Donau", Langen Müller, München.
Mikes, George: „Das Auto, nach dem man sich sehnt" aus „Rot mit weißen
Streifchen", Büchergilde Gutenberg, Wien.
Nöstlinger, Christine: „Streng - strenger- am strengsten" aus „Menschenge-
schichten" (Hrsg.: Hans-Joachim Gelberg), Beltz, Weinheim und Basel, Pro-
gramm Beltz & Gelberg.
Paul, Johannes: „Warum mein Papa nie schlank werden wird" aus „Mein
unverbesserlicher Papa", Annette Betz, Wien.
Qualtinger, Helmut: „Travnicek im Schuhgeschäft" aus „Qualtingers beste
Satiren", Fischer, Frankfurt/Main.
Rodari, Gianni: „Der Comic-Strip-Mäuserich" aus „Ueberreuters Großes Lach-
und Schmunzelbuch" (Hrsg.: Maria Marbach), Ueberreuter, Wien.
Roth, Eugen: „Bücher" aus „Ein Mensch", Buchgemeinschaft Donauland,
Wien.
Slezak, Leo: „Press Work" aus „Meine sämtlichen Werke", Rowohlt, Reinbek.
Tucholsky, Kurt: „An das Publikum" aus „Ausgewählte Werke, Band II",
Rowohlt, Reinbek.
Valentin, Karl: „In der Apotheke" aus „Das große Karl-Valentin-Buch", Piper,
München.
Wiener, Hugo: „Das Werbefernsehen" aus „Krokodile fliegen nicht", Langen
Müller, München.
In den Text eingestreute Witze und Cartoons aus „Cartoons, Witze, Scherzfra-
gen" (Hrsg.: Dieter Dambach), Cartoons von Detlef Kersten, Otto Maier,
Ravensburg.
Wir danken allen Verlegern und Autoren für die freundliche Förderung
unseres Vorhabens und bitten sie, eventuelle Errata bei der Quellenangabe zu
entschuldigen.