Alltagsdeutsch – Manuskript
„Uns ging es damals darum in irgendeiner Form, die eben öffentlichkeitswirksam ist,
dem was entgegenzusetzen und einfach zu erklären, dass sprachliche Entlehnungen was
ganz Natürliches sind, in allen Sprachen hat das schon immer stattgefunden – mal
mehr, mal weniger. Mal war eine Sprache dominant, mal eine andere.“
Zum Anglizismus des Jahres kann allerdings nicht jedes Wort werden, das aus dem
Englischen entlehnt wurde. Zunächst mal muss die Häufigkeit eines Wortes im
jeweiligen Jahr so stark gestiegen sein, dass es sich in Zeitungen und anderen Medien
fest etabliert hat. Darüber hinaus differenziert die Jury weiter, sagt Stefanowitsch:
„Manchmal gibt es auch so Wörter, die sind unglaublich häufig, aber das ist eigentlich
ein einziges Thema, was einmal kurz intensiv diskutiert wird. Genau diese Art von
Modewort, die schließen wir dann eigentlich aus, wenn wir sehen, im laufenden Jahr
geht eigentlich die Häufigkeit wieder nach unten. Aber wir sehen eben normalerweise:
Es gibt so ’nen langsameren Anstieg, der fängt erst mal an, dann wird das Wort etwas
bekannter und plötzlich ist es wie so ’ne Rakete, da zündet das und verbreitet sich.“
Bevor eine endgültige Entscheidung getroffen wird, schauen sich die Jurymitglieder die
Entwicklung eines Begriffs über einen Zeitraum von fünf Jahren an. Dann stellen sie
sich zwei Fragen: Ist es eventuell ein Modewort, ein Wort, das eine Zeit lang sehr gern
und häufig benutzt wird, in Mode ist, dann aber wieder verschwindet? Oder ist es eines,
das sich nachhaltig in den deutschen Wortschatz eingebürgert hat? Mancher
Begriff bietet sich anfangs noch nicht als Anglizismus des Jahres an, entwickelt sich
nur langsam. Dann erlebt er aber plötzlich einen kometenhaften Aufstieg zu einem
gesellschaftlich relevanten, prägenden Schlagwort – vergleichbar mit einer Rakete,
die zündet, zu brennen beginnt und in die Luft steigt. Beispiele dafür waren etwa
„Influencer“ und „Crowdfunding“.
Manchmal steckt die Jury bei einer Entscheidung auch in einer Zwickmühle: Da
gibt es einen Begriff, der zwar ein kulturelles Phänomen benennt, aber eben nicht
typisch für ein bestimmtes Jahr ist. Der schafft es dann nicht auf Platz eins – sehr zum
Bedauern der Jury:
„Ein Wort, was uns als Jury immer wieder leidgetan hat, dass es das nie geschafft hat,
ist das Wort ‚bingen‘, wie man das auch in ‚Binge Watching‘ hat, oder die neue Serie,
die ist sehr gut ‚wegbingebar‘. Das ist ja so ’n neues kulturelles Phänomen, dass man
eine Fernsehserie nicht mehr Woche für Woche guckt, sondern im Prinzip wartet, bis
die Folgen alle da sind und dann guckt man die innerhalb von 36 Stunden alle
hintereinander weg.“
Der Anglizismus „bingen“ spiegelt eine gesellschaftliche Veränderung wider, die vor
allem durch kommerzielle US-amerikanische Streaminganbieter wie Netflix und
Amazon Prime aufkam: Sie produzieren Filme und Serien mit mehreren Staffeln, die
im Internet abrufbar sind. Sie können dann hintereinander weggeguckt, an einem
Stück geschaut, werden, sind sehr gut wegbingebar. Für dieses „Binge Watching“, im
Deutschen umgangssprachlich auch „Komaglotzen“ genannt, sollte man aber
Sitzfleisch haben.
Ähnlich wie bei der Entwicklung von „bingen“ verhielt es sich mit „Hipster“, ein
Anglizismus, der 2012 immerhin Platz zwei belegte. Dass man sich nicht für den ersten
Platz entschied war eine Fehlentscheidung, die Sprachwissenschaftler Stefanowitsch
noch heute wurmt:
„Da ärgere ich mich, dass wir gesagt haben: ‚Ja, das Wort ist langsam immer häufiger
geworden, aber es ist nicht typisch für irgendein Jahr.‘ Und ich glaube doch, dass es
aber für das Jahrzehnt vielleicht eins der prägendsten Wörter gewesen wäre.“
Ungeachtet dessen meint Sprachforscher Stefanowitsch, dass man doch mit Begriffen
wie „Influencer“, „… for future“ und Co. immer wieder den Nerv der Gesellschaft
getroffen hat:
„Wenn wir uns diese Wörter angucken, dann sehen wir sehr schnell, das sind auch die
Wörter, an denen sich eben ganz zentrale Diskussionen in den sukzessiven Jahren
festgemacht haben. Und so kann man, zumindest wenn man sich immer die ersten drei
Plätze, die wir ja normalerweise wählen, gemeinsam anguckt, dann hat man so eine
kleine Kulturgeschichte.“
Ein Beispiel für so eine „kleine Kulturgeschichte“ ist „Fake News“, Anglizismus des
Jahres 2016, der in Zeiten von Falschmeldungen und irreführenden Informationen
seinen Siegeszug angetreten hatte, und gesellschaftlich immer noch relevant ist.
Dieser Begriff steht allerdings auch stellvertretend für englische Bezeichnungen, die
nicht nur im Deutschen, sondern auch weltweit im Umlauf sind, ein Fakt, der für die
Jury kein Ausschlusskriterium darstellt. Denn, so sagt Stefanowitsch:
„Das hat eben etwas damit zu tun, dass das Englische diesen besonderen Status hat,
dass es Lingua franca ist, dass es sowieso die Sprache der Globalisierung ist, und dass
tatsächlich Wörter gar nicht entlehnt werden aus der englischen oder aus der
amerikanischen Sprachgemeinschaft, sondern bereits in diesem internationalen
Sprachgebrauch eigentlich vorhanden sind und von dort aus in die unterschiedlichen
Sprachen gelangen.“
Weltweit gilt Englisch als Lingua franca, als Sprache, in der sich Menschen
unterschiedlicher Muttersprache miteinander verständigen können, was in Zeiten einer
globalisierten Welt nützlich ist. Doch ungeachtet dieser allgemeinen Entwicklung: Es
geht auch umgekehrt. Das deutsche Wort „Zeitgeist“, findet sich auch in englischen
und anderssprachigen Wörterbüchern. Sprachliche Entlehnungen sind eben keine
Einbahnstraße – trotz der zunehmenden Dominanz des Englischen.
Glossar
Publikumsliebling, -e (m.) – hier: etwas, das vom Publikum sehr gemocht wird
Purismus (m., nur Singular) – hier: das häufig übertriebene Bemühen, eine Sprache
frei von Fremdwörtern zu halten
nachhaltig – hier: so, dass etwas auch nach langer Zeit noch existiert
auf|kommen – entstehen
Sitzfleisch haben – umgangssprachlich für: lange und geduldig warten bzw. Zeit für
etwas haben
Hipster, - (m., aus dem Englischen) – jemand, der meist modisch gekleidet ist, einen
Bart und Brille trägt und sich von anderen unterscheiden möchte
etwas wurmt jemanden – umgangssprachlich für: etwas ärgert jemanden über einen
längeren Zeitraum
Zeitgeist (m., nur Singular) – Denkweise, die für eine Zeit typisch ist