Am Ende einer Unterrichtsstunde werden Schüler gefragt, wie ihnen der Un-
terricht gefallen hat. Tina sagt, dass Frau Müller streng sei und wenig Humor
habe. Gut, dass jetzt Pause sei. Tom meint, dass ihn das Thema »Vulkane« sehr
interessiere und dass ihm der Unterricht gut gefallen habe. Eine Studentin, die
den Unterricht gesehen hat, findet alles prima. Sie nimmt an, dass der Unter-
richt den Schülern Spaß gemacht habe. Eine Hochschuldozentin, die den Un-
terricht beobachtet hat, hat sich eine Liste an Stichpunkten notiert, über die sie
ins Gespräch über diesen Unterricht kommen könnte. Ganz besonders fiel ihr
auf, dass das Anspruchsniveau nicht angemessen war.
T tT
Die Schülerinnen und
Ich fand den Ich finde, Frau Müller
Schüler haben wenig
Unterricht gelungen. ist ziemlich streng
dazugelernt. Der
Es hat den Schülern und lacht wenig …
Unterricht war lehrer-
Spaß gemacht …
zentriert …
Im Jahr 1970 wurde folgendes Experiment von D. H. Naftulin, John E. Ware und
Frank A. Donnelly erstmals durchgeführt: Ein Schauspieler, Michael Fox, sollte einen
vollkommen unsinnigen Vortrag zum Thema »Mathematical Game Theory as Applied
to Physician Education« (»Die Anwendung der mathematischen Spieltheorie in der
Ausbildung von Ärzten«) halten. Der Schauspieler wurde als Experte vorgestellt und
war instruiert, einen witzigen Vortrag zu halten und Aussagen gestenreich zu unter-
streichen. Es wurde mit mehreren Experimentalgruppen gearbeitet (in einer Gruppe
befanden sich Psychiater, Psychologen und Ausbilder für Sozialarbeit). Die Teilneh-
mer/innen (zwischen 87 und 100 Prozent der Gruppen) gaben an, dass sie durch
den Vortrag zum Nachdenken über das Thema angeregt worden seien.
Das Beispiel zeigt, dass auch Merkmale bei Bewertungen eine Rolle spielen
können, die mit dem Gegenstand der Beurteilung (Qualität des Vortrags)
nichts zu tun haben. Im »Dr.-Fox-Experiment« konnte gezeigt werden, dass die
Vortragstechnik die Einschätzung der inhaltlichen Qualität stark beeinflusst.
Sprechen wir von »gutem« oder »schlechtem« Unterricht, so haben wir vorab
einen Maßstab angelegt. Um Aussagen zur Unterrichtsqualität einordnen zu
können, ist es wichtig, diesen Maßstab zu kennen und dabei andere mögliche
Maßstäbe sowie mögliche Einflussfaktoren im Blick zu haben. In diesem Kapi-
tel werden unterschiedliche Maßstäbe vorgestellt. Zunächst sei jedoch geklärt,
was Unterricht überhaupt ist.
Definition: Unterrichten
Jeder Unterricht ist strukturiert, denn die Lehrperson erdenkt sich Arbeits-
schritte, die einen Zugang zur Sache eröffnen sollen. Die Strukturiertheit ist
für jeden Unterricht bedeutsam, unabhängig vom Maß der Lenkung, denn
auch offene Unterrichtsformen (z. B. Projektunterricht) müssen sorgfältig
geplant und strukturiert werden. Allerdings gibt es methodische Zugänge, bei
denen das Planen und Strukturieren zum Arbeitsprozess gehören und die
Strukturierung der Lehrperson darauf zielt, den Schüler/innen Planung zu er-
100 | Unterrichtsqualität: Was ist guter Unterricht?
8.02 – Hinführung zum L: »Heute soll es um ein Tier ge- Klassengespräch Text mit Gedicht
8.07 Uhr Thema hen, das ihr alle kennt und schon (Schülerinnen und und freie Seite
(5 Minuten) oft gesehen habt. In einem Buch Schüler bilden mit Fragezeichen.
habe ich ein Gedicht zu diesem einen Halbkreis im
Tier gefunden.« vorderen Teil des
Lehrerin trägt ein Gedicht vor, das Klassenzimmers)
bestimmte Merkmale der Schnecke
akzentuiert (Langsamkeit,
Fühler, Sehen, Schneckenhaus).
Schülerinnen und Schüler begrün-
den, weshalb das Gedicht von
einer Schnecke handelt. Es besteht
die Gelegenheit, dass die Kinder
eigene Erfahrungen und Wahrneh-
mungen thematisieren.
( Download zur Vertiefung und Ergänzung: Textauszug aus Johann Friedrich Her-
barts Pädagogischen Schriften; Auflage aus dem Jahr 1890 und 1891).
»Das Ziel des Unterrichts liegt darin, Kinder und Jugendliche zu erziehen, ihren Cha-
rakter zu bilden, Sittlichkeit zu erreichen. Bedeutsam sind hierbei die Ausbildung des
Gedankenkreises sowie die Ausbildung eines vielseitigen Interesses. Um dies zu er-
reichen, sollte der Unterricht folgendermaßen strukturiert sein:
– Stufe der Klarheit (Herausarbeiten der Inhalte, des Themas) Abb. 27: Johann Friedrich
– Stufe der Assoziation (Verknüpfung des Neuen mit bekannten Vorstellungen) Herbart (1776–1841)
– Stufe des Systems (Einfügen in eine Ordnung; Systematisierung)
– Stufe der Methode (Anwendung des Gelernten)
Diese Grundstruktur von Unterricht wird auch Formalstufentheorie genannt. Die Ab- Vertiefung
folge von Unterrichtsphasen bezeichnet man auch als Artikulation von Unterricht.
Mehr zum Thema finden
Sie im Download-Bereich.
Herbarts Schriften waren ihrer Zeit weit voraus; Ansätze und Themenstellun-
gen, die die modernen Sozialwissenschaften (insbesondere die Kognitionspsy-
chologie und die Schulpädagogik) später wieder aufnahmen, sind in seinen
Werken bereits diskutiert. Herbarts Schüler/innen und Nachfolger/innen
(Herbartianer; z. B. Friedrich Wilhelm Dörpfeld, Karl Volkmar Stoy, Tuiskon
Ziller, Wilhelm Rein) entwickelten die Formalstufentheorie weiter und erho-
ben sie zum Qualitätsmerkmal für guten Unterricht. Im Ergebnis dominierte
die Lehre von den sogenannten »Formalstufen« die Gestaltung des Unter-
richts; sie wurde zum Dogma. Guter Unterricht ist in diesem Sinne ausschließ-
lich ein Unterricht, der die Formalstufen bzw. deren von den Herbartianern
entwickelte Modifikationen durchläuft. Hierbei stand das Unterrichtsgespräch
im Zentrum, das wurde von der Lehrperson gelenkt.
Reflexion/Übung ( Download)
Vertiefung
Lesen Sie den Unterrichtsverlauf einer Stunde, die Wilhelm Rein konzi- Mehr zum Thema finden
piert hat. Sie im Download-Bereich.
Finden Sie die Stufen (Klarheit, Assoziation, System, Methode), die von
Herbart entwickelt wurden.
102 | Unterrichtsqualität: Was ist guter Unterricht?
Weiterführende
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde diese Form des Unterrichts massiv infrage
Literatur
gestellt. Das Hauptargument war, dass der gestufte buch- und lehrerzentrierte
Jürgens, E. (2010): Was ist Unterricht die Schülerinnen und Schüler nicht mehr im Blick habe. Er wird
guter Unterricht aus der
Perspektive »der« Reform- ohne Reflexion mechanistisch durchgeführt. Der Unterricht werde träge, mo-
pädagogik? Vom Aktivi- tiviere nicht, nehme die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nicht auf,
tätsparadigma zum trage nicht zu einer demokratischen Grundhaltung bei und sei ungesund. Die
»schüleraktiven Unter-
richt«. In: Jürgens, E./
Lebenswirklichkeit werde ausgeblendet; Selbsttätigkeit unterdrückt. Mit dem
Standop, J. (Hrsg.): Was ist Buch von Ellen Key, »Das Jahrhundert des Kindes«, war die Zeit reif, die ver-
»guter« Unterricht? Bad staubte, an Formalstufen orientierte Buchschule zu kritisieren und ihr alterna-
Heilbrunn: Klinkhardt,
tive Konzepte entgegenzustellen: Die Zeit der Reformpädagogik setzte ein. Hier-
S. 39–81.
bei handelt es sich um eine Bewegung, in der unterschiedliche Ansätze und
Konzepte sich an einer Stelle trafen: Es ging darum, besseren, d. h. kindgerech-
teren, Unterricht zu entwickeln. Hierbei lassen sich verschiedene Strömungen
unterscheiden: Die Arbeitsschulbewegung, bei der die Einlassung auf eine Sa-
che durch praktische Arbeit erreicht wird. Sehr bekannt und beispielhaft ist der
Bau eines Starenkastens. Friedrich Kerschensteiner gab seinen Schülerinnen
und Schülern eine herausfordernde Aufgabe, indem sie aus einem Brett nach
Anleitung einen Starenkasten bauen sollten. In Frankreich entwickelte Célestin
Freinet den Schuldruck und ließ Kinder in Ateliers arbeiten. Die Kunsterzie-
hungsbewegung setzte auf die Ausdruckmöglichkeiten des Kindes. Es wurden
auch mit Bezug auf Entwicklungen in England (Public Schools) Landerzie-
hungsheime (Herrmann Lietz, Gustav Wyneken, Paul Geheeb, Kurt Hahn)
und Lebensgemeinschaftsschulen gegründet (Peter Petersen). Die Nähe zur
Natur sollte zurückgewonnen und die Gemeinschaft erlebt werden. Die Ent-
wicklung des Kindes und die Besonderheiten von Kindheit wurden stärker
wahrgenommen (Maria Montessori) als zuvor und ein Unterricht gefordert,
der zu Demokratiefähigkeit erzieht (John Dewey). Insgesamt ist für die re-
»Guter Unterricht« im Wandel der Zeit
| 103
formpädagogische Bewegung bezeichnend, dass guter Unterricht am Kind ori-
entiert sein soll, schülergerecht, und dass das Kind seine Möglichkeiten (Kräfte)
entfalten können soll.
Reformpädagogik
Die Hauptphase der Reformpädagogik lag zwischen 1890 und 1930. Zwei Kernvor-
stellungen sind allen Strömungen innerhalb der Reformpädagogik gemeinsam:
● Erziehung und Bildung müssen am Kind orientiert sein.
Guter Unterricht ist ein Unterricht, der diese Zielperspektiven im Blick hat
und einlöst.
renziertheit, die mit dem realen Unterricht wenig zu tun hatten. In der Folge
wurde die Bedeutung der Erziehung wieder hervorgehoben, erkennbar auch
an der Terminologie. Es war nicht mehr die Rede von Lehrplänen, sondern von
Bildungsplänen. Fallanalysen, Unterrichtsstörungen, die Kategorie des Verste-
hens wurde wiederentdeckt. Enge und ausdifferenzierte Zielformulierungen
wurden nun zurückgestellt zugunsten einer Idee von Bildung, die auf die
Zusammenhänge setzt. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre lebte die Dis-
kussion um die Integration von Lerninhalten in Deutschland neu auf. »Vernet-
zung«, fächerverbindender Unterricht, fächerübergreifender Unterricht wur-
den propagiert. Das vernetzte Denken und die Bedeutung von Komplexität
wurden beschrieben und diskutiert (Dörner 1990; Vester 1993). Schülerinnen
und Schüler sollten Zusammenhänge verstehen und übergreifende Qualifika-
tionen (Mertens 1974) erwerben. Schlechter Unterricht wurde mit stückhaf-
tem, zersplittertem, separiertem, oberflächlich-flüchtigem Wissen gleichge-
setzt. In der Folge wurde der Fächerkanon revidiert und integrative Fächer ge-
schaffen (»Mensch, Natur, Kultur« oder »Naturwissenschaftliches Arbeiten«
oder »Arbeit, Wirtschaft, Technik« oder »Darstellendes Spiel«). Weiterhin
wurde guter Unterricht als Unterricht gesehen, bei dem der Anteil der Selbsttä-
tigkeit der Schülerinnen und Schüler möglichst hoch war. Diese Orientierung
an überfachlichen Aspekten und am Erkennen von Zusammenhängen lässt
sich auch vor dem Hintergrund verstehen, dass die Biografie des Einzelnen
Projektcharakter bekommen hat: Werte, Lebensstile, Berufswahlentscheidun-
gen, Wohn- und Lebensorte, Familienformen sind nicht vorgegeben, sondern
müssen in der einzelnen Biografie »zusammengestellt« und gestaltet werden
(Beck 1986). Die Bedeutung der Selbsttätigkeit, Eigenverantwortung und Ent-
scheidungsfähigkeit nahm zu, und der Schule kam die Aufgabe zu, diese Fähig-
keiten zu entwickeln. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre wurde in Integra-
tionsbestrebungen und der Auflösung der Fächer (»Schubladenwissen«) ein
fruchtbarer und zukunftsfähiger Ansatz gesehen.
Beispiel
Anne erhält ihre Klassenarbeit in Religion zum Thema »Miteinander leben – fürein-
ander da sein« zurück. Unter der Arbeit ist die Note 4,5 vermerkt.
Im Zeugnis der Klasse 3 ist zu lesen: »Anne zeigt sich ihren Mitschüler/innen gegen-
über aufgeschlossen. Sie ist gut in die Klassengemeinschaft integriert, freundlich
und gegenüber allen Kindern hilfsbereit.«
An dem Beispiel wird deutlich: Ein Test misst nur einen Ausschnitt an Wissens-
und Könnensbeständen. Einige Intentionen, die mit Schule und Unterricht
verbunden sind, lassen sich schwer (legt man die klassischen Gütekriterien an)
oder gar nicht messen: Sozialverhalten, respektvoller Umgang, Qualität von
Texten (Aufsätze), Qualität von Kunstwerken. Deshalb konzentrieren sich die
Leistungsvergleichstests auf den messbaren Bereich. In der Regel ist ein Fach
wie beispielsweise die Mathematik besonders geeignet, denn hier lassen sich
Überlegungen, Rechenwege, richtig/falsch rekonstruieren und begründen. Un-
terricht muss jedoch auch auf der Ebene der Kommunikation und des Mitein-
anderlebens gut sein. Hier ist der empirische Nachweis schwieriger. Orientiert
man sich am Output, der messbar ist, so steht der auch im Vordergrund.
Kompetenzen, die wichtig, schwer messbar und auf den Prozess und dessen
Qualität angewiesen sind, geraten in den Hintergrund und werden vermeint-
108 | Unterrichtsqualität: Was ist guter Unterricht?
Beispiel
Ein anderer Lehrer lässt Versuche machen; besucht einen Zoo und lässt die Schüle-
rinnen und Schüler beobachten. Diese Schüler lernen anderes: Sie lernen das Beob-
achten, einen Versuchsaufbau nachzuvollziehen.
Download (Unterrichtssequenzen)
Vertiefung 1. Sequenz A: Betrachten Sie die Unterrichtssituation unter dem Aspekt der Nutzung
von Lernzeit. Wie müsste die Lehrperson vor diesem Hintergrund handeln?
Mehr zum Thema finden
2. Sequenz B: Ein Qualitätsmerkmal guten Unterrichts ist die klare Strukturierung.
Sie im Download-Bereich.
Die Lehrperson in dieser Sequenz gibt klare Arbeitsanweisungen. Ist damit der
Unterricht »gut«?